diff --git a/fluter/%20ultra.txt b/fluter/%20ultra.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..94522e52ca5eec0024cb1e08c23a273a792f823f --- /dev/null +++ b/fluter/%20ultra.txt @@ -0,0 +1,42 @@ +Normalerweise würde Omar an einem Tag wie heute, einem Spieltag, in sein schwarz-grünes Outfit schlüpfen. Maleek würde ihn mit seinem Roller abholen, sie würden die restlichen Hardcorefans aus der Nachbarschaft treffen und gemeinsam in Richtung Stadion ziehen, um ihren Fußballverein zu unterstützen: Raja Casablanca. Das Stadion unterliegt ihren Gesetzen – so zumindest verhalten sich die Ultras von Raja Casablanca. Denn sie sind jene Fans, die besonders leidenschaftlich und loyal hinter ihrem Team stehen. Und das wollen sie zeigen. Um jeden Preis. Ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. +Der zwölfmalige marokkanische Meister wird vom deutschen Josef Zinnbauer gecoacht. Gegründet wurde Raja Casablanca Ende der 1940er-Jahre von marokkanischen Nationalisten: ein Verein von Marokkanern für Marokkaner, ein Protest gegen die französischen Kolonialherren. Raja Casablanca ist traditionell der Verein der Arbeiter. Der Soziologe Abderrahim Bourkia sagt: "Wenn du in einem Arbeiterviertel geboren wirst, bekommst du zwei Dinge in die Wiege gelegt: deine Familie und Raja Casablanca." Der Erzrivale und zweite Verein der Stadt, Wydad Casablanca, habe hingegen seine Fangemeinschaft eher in der oberen Einkommensschicht. +Im Stadion waren Omar und Maleek aber seit vier Wochen nicht mehr, zuletzt am 8. Oktober. Videos von diesem Tag zeigen die Curva Sud, jenen Teil des Stadions, in dem sich Raja-Ultras versammeln, wie die Cannstatter Kurve des VfB Stuttgart oder die Nordtribüne des Hamburger SV, eingehüllt in roten Nebel und graue Rauchschwaden. So dicht, dass die Ultras, die Feuerwerkskörper und Rauchbomben gezündet haben, nicht mehr zu erkennen sind. +Das Zünden von Rauchbomben ist laut dem Code Disciplinaire der Königlichen Marokkanischen Fußballföderation (FRMF) verboten. Genau wie das Werfen von Gegenständen und das Aufhängen von Spruchbändern mit beleidigenden oder politischen Texten. Die Folgen des 8. Oktober: eine Geldstrafe für den Verein und Spielausschluss der Raja-Fans für die nächsten beiden Spiele der laufenden Saison. Diese Prozedur ist nicht ungewöhnlich, vielmehr ist sie das Symbol des Kräftemessens zwischen Behörden und Ultras. Dabei geht es nicht nur um den Fußball. +Immer wieder gab es in der Vergangenheit Vandalismus und regelrechte Gewaltexzesse zwischen Ultragruppen oder Ultras und den Behörden. Der Höhepunkt der Gewalt war 2016 ein Spiel von Raja Casablanca. Dort starben nach Kämpfen rivalisierender Raja-Ultragruppen zwei Fans. Ultragruppen seien Kriminelle, so sehen das viele Marokkaner. +Der Soziologe Abderrahim Bourkia hat die Ultras aus Casablanca erforscht und ein Buch über sie geschrieben. Er sagt: "Die Gewalt hat zwei Ursprünge." Erstens: Sie sei im Kern der Ultrakultur verankert. "Ultras wollen furchtlos und stark sein", sagt er. Und weil alle Gruppen diese Attribute für sich beanspruchen, sei ein Ziel, sich über die anderen zu erheben. Der Stärkere sein, mit allen Mitteln. +Der zweite Ursprung der Gewalt seien gesellschaftliche Probleme. Viele der Ultras kommen aus Arbeitervierteln. Sie fühlten sich ausgeschlossen, sozial und wirtschaftlich benachteiligt. Vandalismus und Gewalt gegen Behörden seien ein Weg, Frust zu äußern. Das Stadium biete den Jugendlichen ein Ventil, die Gruppe ein Ort der Zugehörigkeit und Sozialisierung. Positiv sei, dass die Ultragruppen Werte wie die Meinungsfreiheit lehren. Doch auch die habe Grenzen, sagt er: "Ja, das Stadion ist ein Ort der Freiheit, und ja, Ultras äußern dort ihre Meinung. Aber auch sie überschreiten nicht die roten Linien, die in Marokko gelten: Die Religion und der König dürfen nicht direkt kritisiert werden. Territoriale Fragen sind tabu." +Das Königreich Marokko scheint stabil: Hierzulande liest man vor allem vom neuen Migrationsabkommen zwischen Deutschland und Marokko und Investitionen des Staatsoberhauptes, König Mohammed VI., derden Ausbau erneuerbarer Energien fördert. Oder von den jüngsten Erfolgen der Marokkaner bei internationalen Fußballturnieren. Doch bei genauerem Hinsehen brodelt es. Die Armut im Land ist nach wie vor hoch, besonders betroffen sind Jugendliche. Dazu kommen Einschränkungen der persönlichen Freiheit. Wer in Marokko den König kritisiert, riskiert, im Gefängnis zu landen. Friedliche Proteste werden immer wieder gewaltsam unterdrückt. Auf derRangliste der Pressefreiheitbelegt Marokko unter 180 Ländern Platz 129. +Für viele junge Marokkaner wie Omar und Maleek ist das Stadion einer der letzten Orte, an dem sie ein Gefühl der Freiheit haben, zu sagen, was sie denken. Zu sein, wer sie sind. Wo sie ihrer Wut und ihrem Frust freien Lauf lassen können. Ein Stück individuelle Freiheit unter dem Deckmantel des Kollektivs. +Im Café in Casablanca hört man Jubel. Raja trifft in der dritten Minute. Omar und Maleek starren mit glänzenden Augen und offenen Mündern auf den Bildschirm unter der Decke. Im Stadion sehen sie vor lauter Freudenrufen, Singen und Springen oft die Tore nicht. Trotzdem würden sie gerade viel dafür geben, genau dort zu sein. +Maleek sagt, andere seien süchtig nach Zigaretten, er sei süchtig nach dem Gefühl im Stadion. Er studiert Ingenieurwesen, Omar kämpft um seinen Schulabschluss. Als Kind träumte er davon, eines Tages bei Raja zu spielen. Weil daraus nichts wurde, sattelte er um: Wenn er schon nicht als Spieler die Liebe zu seinem Team beweisen kann, dann als Ultra. + + +Mit 18 Jahren, denn Volljährigkeit ist laut dem Gründer der Green Boys eine Voraussetzung für die Mitgliedschaft, trat Omar der Ultragruppe bei. Seine Eltern waren anfangs dagegen. Ultras, das seien Kriminelle, habe sein Vater gedacht. Er befürchtete, sein Sohn könnte in Gefahr geraten oder im Gefängnis landen. Nicht ohne Grund: Immer wieder kam es in der Vergangenheit zu Gewalt im Stadion und auch außerhalb. +Das alles ändert nichts: Die Green Boys sind jetzt Omars und Maleeks Familie. Ihre Regeln sind Gesetz. Drei davon sind Maleek besonders wichtig. + +Regel 1: Unterstütze dein Team, egal was kommt. +"Normale Fans verlassen das Stadion oder kommen erst gar nicht, wenn ihr Team schlecht spielt", sagt Maleek. "Das würden die Green Boys niemals tun. Wir finden immer neue Wege, Raja zu unterstützen." +Beim Derby gegen den Erzrivalen Wydad Casablanca im November 2019 hielten alle Ultras farbige Folien in die Luft. Gemeinsam formten sie einen Schriftzug, der sich über die gesamte Curva Sud erstreckte. "Room 101", stand da. Der Raum 101 ist jene Folterkammer aus George Orwells Roman "1984", in der die schlimmsten Ängste eines Häftlings wahr werden. + +Regel 2: Sei mutig, das zu sagen, was gesagt werden muss. Egal, welche Folgen das haben wird. +Einmal, erzählt Maleek, hat die Königliche Marokkanische Fußballföderation ein Spiel von Raja Casablanca verlegt für ein Spiel eines afrikaweiten Turniers. Dass Raja aus dem eigenen Stadion verdrängt wird, stößt bitter auf. Die Ultras protestieren auf der Tribüne. "FRMF allez vous faire enculer",  stand auf ihrem Tifo, wie sie ihre Transparente nennen – "FRMF fickt euch". Ein gestreckter Mittelfinger in Richtung der Organisation, die als eine der liebsten des marokkanischen Königs gilt. +"Das Risiko ist uns egal", sagt Maleek. "Wir sagen, was wir wollen. Wenn der Chef der FRMF im Stadion ist, pfeifen wir ihn aus. Und wenn wir für ein ganzes Jahr verbannt werden." Und Omar ergänzt: "Wir sind mehr als nur Fußball, wir haben politische Botschaften." Botschaften, die sie mit ihren Gesängen lauthals verkünden; die Originaltexte sind im marokkanischen Dialekt Darija verfasst: +Ihr habt Talente vergeudet,mit Drogen habt ihr sie gebrochen.Ihr habt das ganze Vermögen dieses Landes geraubtund es Ausländern gegeben.Ihr habt diese Generation unterdrückt. +Damit sprechen die Ultras die prekäre Lage einer hoffnungslosen Generation an. Solche Kritik an der Macht sei außerhalb der Kurve, ohne den Schutz der Menge, nicht möglich. +"Es gibt keine Zukunft hier", sagt Maleek. Wer etwas erreichen wolle, der müsse Marokko verlassen. "Draußen in Europa gibt es Rechte und eine Perspektive, selbst für Migranten", glaubt Omar. "In Marokko kann ich die beste Bildung genießen und muss trotzdem am Ende Taxi fahren, um über die Runden zu kommen", sagt er. +Während die marokkanische Wirtschaft langsam wächst, liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei über 30 Prozent. Viele junge Menschen verlassen ihre Heimat deshalb, oft in Richtung Deutschland. Für einen kurzfristigen Aufenthalt benötigen sie hierzulande ein Schengen-Visum, für ein Studium ein nationales Visum. Zum Studieren wollen viele auch nach Frankreich. Diplomatische Spannungen zwischen Paris und Rabat aber sorgten in den letzten Jahren für Verschärfungen bei der Visavergabe für Marokkaner:innen. 2022 lehnte Frankreich rund 50 Prozent aller marokkanischen Anträge ab. +Im vergangenen Herbst verkündete die französische Regierung, dass die Beschränkungen für marokkanische Bürger:innen aufgehoben seien. Nach Berichten Betroffener soll es aber nach wie vor sehr schwer sein, an ein Visum zu kommen – unter anderem, weil es innerhalb Marokkos äußerst schwierig sei, einen Termine bei der entsprechenden Behörden zu erhalten: Medien berichten über nicht autorisierte "Zwischenhändler", die, zum Teil mit Hilfe von Bots, von der offiziellen Vergabestelle freigeschaltete Termine blockieren und dann teuer weiterverkaufen. +Omar möchte nach Toulouse, dort studieren und arbeiten. Die Idee kam von seinen Eltern. Sollte er den Schulabschluss schaffen, würden sie ihm das Studium dort finanzieren, das ist der Deal. Es ist Omars dritter Versuch, das marokkanische Abitur zu bestehen. Omar sagt, er fühle sich von seiner Familie unter Druck gesetzt. Er hat Angst, sie zu verärgern, am schlimmsten wäre die Enttäuschung seiner Mutter. Letztes Jahr hat ein Verwandter, der ein Jahr jünger ist, den Abschluss gemacht. Seitdem sage sie ihm: "Sieh ihn dir an, er ist nach dir geboren und hat es geschafft." +Maleek träumt von einem Leben in Deutschland. Mit dem Geld, das er dort verdienen könne, würde er seine Familie daheim unterstützen. Dieser Gedanke treibt ihn an. Auch wenn die Vorstellung, von zu Hause wegzugehen, schmerzt. +"Wir lieben unser Land", sagt Omar. Wenn es nach ihm ginge, würde er sein Land nur als Tourist verlassen. Trotzdem würden fast alle jungen Menschen gehen wollen, auch viele ihrer Freunde bei den Green Boys. Im Fußball-Café in Casablanca hat Omar nach 60 Minuten Spielzeit seinen Rucksack noch immer nicht abgezogen. Er wird ihn auch das restliche Spiel aufbehalten, als wolle er bereit sein, jederzeit aufzubrechen. + +Regel 3: Brüderlichkeit! +Betritt ein Green Boy die Tribüne, weiß er, wo er hingehört. Er kennt seinen Platz, an dem er Woche für Woche steht, weiß, welchen Text er singen muss, welchen Teil eines Bildes er formt und wer vor, hinter oder neben ihm steht. Auf der Straße erkennt er seine Mitstreiter mit einem Handzeichen. Omar und Maleek machen es vor: Sie ballen die Hand zur Faust und spreizen Daumen und Zeigefinger ab. +Am Tag seines Beitritts schärfte der Verantwortliche der Zone C – die Green Boys organisieren sich in Zonen – Omar Folgendes ein: "Du musst organisiert und diszipliniert sein, wir müssen uns auf dich verlassen können. Du sollst gutes Benehmen an den Tag legen und keine Drogen nehmen." Omar hält sich daran, sagt er. Andere nicht so sehr. Wer zu oft Mist baut, fliegt raus und verliert damit den begehrten Platz im Schoße der Ultragemeinschaft. Wer eine Frau ist, darf laut den Green Boys übrigens gar nicht erst mitmachen. Tatsächlich erspäht man im ganzen Stadion, neben Tausenden Männern, nur eine Handvoll Frauen. +Mittlerweile seien Omars Eltern entspannter, was die Green Boys angeht. Er habe sie überzeugt, indem er nach den Treffen oder Stadionbesuchen pünktlich wieder zu Hause war. Zum Glück. "Wirklich frei fühle ich mich nur im Stadion und in der Moschee", sagt er. "Und mit meinen Eltern", fügt er nach einigen Augenblicken pflichtbewusst hinzu. +Wenig später spielt Raja Casablanca gegen Jeunesse Sportive Soualem. Das Spiel findet in einem kleineren Stadion in Mohammedia statt, 25 Kilometer von Casablanca entfernt. Tausende junge Männer füllen die Ränge, sie stehen auf den ungesicherten Mauern des Stadions und auf den Hausdächern gegenüber. Einige Fans legen auf der Wiese hinter der Tribüne ihre Schals und Pullis ab, um zum Gebet zu knien. Andere werfen von der Tribüne Wasserflaschen auf Polizisten und Fotografen. Manche zünden sich einen Joint an. Alle unterstützen Raja Casablanca, Fans aus Soualem sind nicht angereist. +Omar und Maleek sind nicht dabei. Omar muss zur Verlobung seiner Schwester. Maleek hat natürlich eine Eintrittskarte, doch sein Geld reicht nicht für das Zugticket nach Mohammedia. + + +Mitarbeit: Yassine Oulhiq +Titelbild: Fadel Senna/AFP via Getty Images diff --git a/fluter/%C3%B6pnv-luxemburg-kostenlos.txt b/fluter/%C3%B6pnv-luxemburg-kostenlos.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/100-sekunden-mit-videoserie-berlinale-2020.txt b/fluter/100-sekunden-mit-videoserie-berlinale-2020.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6665840d4b1a3a8380b56cf3328e9ba74d2f5acb --- /dev/null +++ b/fluter/100-sekunden-mit-videoserie-berlinale-2020.txt @@ -0,0 +1 @@ +hier geht's zur Rezension von "Schlaf" diff --git a/fluter/140journos-Journalismus-in-der-Tuerkei.txt b/fluter/140journos-Journalismus-in-der-Tuerkei.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0df89fa5c0f4fe537396aad5af77a83e92842f1f --- /dev/null +++ b/fluter/140journos-Journalismus-in-der-Tuerkei.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +fluter: Euer Ansatz ist es, neutral und faktenorientiert zu berichten. Doch die politische Polarisierung in der Türkei ist jetzt noch stärker als im Juni, als wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben. Wie geht ihr damit um? +Engin Önder: Es ist auf jeden Fall schwieriger geworden. Wir versuchen, uns weiterhin auf die Fakten zu konzentrieren. Mittlerweile berufen wir uns immer öfter auf Organisationen, um nicht zu riskieren, dass wir Verschwörungstheorien verbreiten. In der Berichterstattung über die Ermittlungen zum Putsch informieren wir uns in erster Linie über die Veröffentlichungen der Gerichte. Im Zweifelsfall machen wir deutlich, dass die Faktenlage nicht geklärt ist und dass es sehr unterschiedliche Standpunkte gibt. +Seitdem der Ausnahmezustand in der Türkei ausgerufen wurde, werden kritische Stimmen unterdrückt und viele Oppositionelle verhaftet. Wie wart ihr davon betroffen? +Als Organisation sind wir bisher weder von der Zensur noch von polizeilichen Ermittlungen oder Anzeigen betroffen gewesen. Wir machen, was wir immer gemacht haben. Aber was wir deutlich merken, ist eine Abnahme der Diversität unter unseren Contributors. Das ist hier gerade richtig schwierig. Man spürt die Anspannung deutlich. Uns schicken insgesamt deutlich weniger Leute Material. Vor dem Putsch haben uns Menschen aus dem gesamten politischen Spektrum ihre Nachrichten zugeschickt. Neben der etablierten Meinung gab es da auch viele kritische Stimmen, zum Beispiel von Liberalen oder Linken. Das hat sich verändert: Viele sind eingeschüchtert durch das, was in der Türkei gerade passiert, und haben Angst oder haben resigniert. Deshalb ist es schwieriger geworden, an Informationen zu gelangen, die in den offiziellen Nachrichten nicht vorkommen. Dadurch gibt es einen Mangel an Perspektiven in unserer Berichterstattung. Wir verwenden deshalb jetzt auch Meldungen der Nachrichtenagenturen, die wir überprüfen und in eine neutralere Sprache übersetzen. Momentan berichten wir zu 90 Prozent über die Gerichtsverhandlungen. +140journos versucht via Twitter unabhängigen Journalismus zu organisieren. Aber das wird immer schwieriger, weil viele Menschen in der Türkei sich nicht mehr trauen, offen zu reden +Wie erklärst du dir, dass 140journos nicht direkt von Repressionen betroffen ist? +Unser Umgang mit Sprache ist entscheidend. Wir versuchen, Wörter zu vermeiden, die nur einer bestimmten politischen Perspektive entsprechen: Wenn es um Fethullah Gülens Bewegung Hizmet geht, schreiben wir nicht von einer Terrororganisation, wie das die Regierung und regierungsnahe Medien machen. Wir wollen aber auch nicht im Jargon der herkömmlichen Oppositionsmedien schreiben, die oft nur das berichten, was zu ihrer Version der Geschichte passt. Deswegen versuchen wir, bei polarisierenden Sachverhalten lediglich die Eigennamen zu verwenden, Strittiges wörtlich zu zitieren und einseitige Adjektive zu vermeiden. Das schützt uns, weil uns niemand einfach Parteilichkeit unterstellen kann. Anders als die meisten Journalisten in der Türkei machen wir bei 140journos keine Politik, sind also auch nicht Teil der Opposition. Dafür zahlen wir natürlich einen Preis: Es ist nicht sexy, wenn man keine reißerischen Überschriften verwenden kann. +Ihr betont immer wieder, wie wichtig Transparenz für 140journos ist. Aber wie gewährleistet ihr dann in der heutigen Situation die Sicherheit eurer Contributors? +Uns ist es generell wichtig, dass unsere Arbeitsweise für alle offen und transparent ist. Unserem Online-Newsroom kann jeder beitreten, der über unsere Website eine Einladung bekommt. Dort besprechen wir die meisten redaktionellen Angelegenheiten. Bisher haben wir bei großen Ereignissen auch immer die Klarnamen unserer Contributors veröffentlicht. Aber in der momentanen politischen Situation sind wir auch bereit, Nachrichten anonym zu veröffentlichen, sollte sonst jemand in Gefahr geraten. +Blicken wir noch mal kurz zurück auf die Nacht vom 15. auf den 16. Juli, als Teile des türkischen Militärs versucht haben, gegen die Erdoğan-Regierung zu putschen. Was geschah in dieser Nacht auf 140journos? +In dieser Nacht haben wir die höchste Anzahl an Twitter-Impressionen erreicht, seit es 140journos gibt – 110 Millionen an einem Tag. Sonst kommen wir in einem ganzen Monat auf 55 Millionen. Wir hatten ja bereits ein großes Contributor-Netzwerk, so konnten wir zur verlässlichsten Nachrichtenquelle im ganzen Land werden. Die anderen Medien haben sich nicht getraut, kritisch zu berichten – sie haben sich selbst zensiert. Präsident Erdoğan und Ministerpräsident Yıldırım haben dieses Verhalten anschließend gelobt. Es hieß, die Medien hätten gute Arbeit geleistet und keine Panik verbreitet. Daran sieht man sehr gut, was nach der Vorstellung der türkischen Regierung guter Journalismus ist. 140journos dagegen hat wirklich guten Journalismus gemacht. Das kann man sich auf unserer Website anschauen: Tausende Retweets in jedem Beitrag. Wir haben die Leute auf dem Laufenden gehalten. +Ihr verwendet Twitter, Facebook und WhatsApp für die Verbreitung eurer Nachrichten. Hattet ihr in der Putsch-Nacht Probleme mit Internetzensur? +Nein, denn es gab ein Missverständnis zwischen unterschiedlichen Regierungsorganen und den Mobilfunk- und Internetanbietern. Wir haben von einem Turkcell-Manager die Information bekommen, dass in der Putsch-Nacht die Befehle der Regierung, das Internet zu sperren, nicht ausgeführt wurden, weil davon ausgegangen wurde, dass es sich um Befehle der Putschisten handele: Nur deshalb gab es Nachrichten aus den sozialen Medien. Erst später im November wurden die sozialen Medien in großem Umfang blockiert. Aber wir hatten über VPN (Virtual Private Networks) trotzdem Zugang zu Twitter, WhatsApp und Facebook. Einen Tag später hat die Regierung auch die bekanntesten VPN-Zugänge gesperrt und IP-Adressen blockiert. Das gab es so zum ersten Mal. +Weil sie sich nicht mehr drauf verlassen können, dass Menschen ihnen Informationen zusenden, arbeiten die Leute von 140journos an einer neuen Strategie +Wie wird sich deiner Ansicht nach der Journalismus in der Türkei entwickeln? +Der etablierte Journalismus hat ein großes Problem: Nachrichten aus großen Medienhäusern und die Arbeit in einer Komfortzone – das ist vorbei. Die Journalisten müssen neue Allianzen eingehen, selbstständig arbeiten, anonym arbeiten. Es wird bald noch mehr Internetjournalismus geben, weil das einfach leichter zu organisieren ist. Aber auf jeden Fall wird es noch schwieriger werden, investigativ zu arbeiten, weil man kaum an Informationen kommt, denn viele Menschen haben Angst. Wir müssen also neue Wege finden. Auch 140journos ist gerade dabei, sich neu aufzustellen. Wir müssen unsere Struktur verändern, weil wir uns nicht mehr darauf verlassen können, dass uns Menschen weiterhin Informationen zusenden. +Was erwartest du von EU-Politikern, Journalisten aus der EU und der Zivilgesellschaft? +Zwei Dinge: eine Kritik und eine Bitte. Die Türkei ist momentan in keiner guten Verfassung. Das ist so deutlich, und ich glaube, ich muss das hier nicht genauer erklären. Die europäischen Medien berichten manchmal nicht korrekt, das liegt wahrscheinlich auch daran, dass populistische Bewegungen auf dem Vormarsch sind. Womöglich hindert manche Journalisten ihre politische Einstellung daran, selbst über Erdoğan objektiv zu berichten. Ich bitte daher um bessere Berichterstattung. Europa muss besser informiert werden über die Verhältnisse in der Türkei. Wenn man sich auf Gerüchte verlässt, was mitunter passiert, wirkt das nicht glaubwürdig für die Menschen in der Türkei und schürt im Zweifelsfall antieuropäische Stimmungen. Europäische Medien sollten türkischen Journalisten die Möglichkeit geben zu publizieren. Wie das in Deutschland zum Beispiel die "Zeit" mit Can Dündar [dem in der Türkei verurteilten ehemaligen Chefredakteur der türkischen Zeitung "Cumhuriyet"] gemacht hat. + diff --git a/fluter/21021916.txt b/fluter/21021916.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2f324bcefcfdc21e9fa50859368c8f05e948abbb --- /dev/null +++ b/fluter/21021916.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Im individuellen und kollektiven Gedächtnis stehen historische Jahrestage für Terror, Tyrannei und Unterdrückung, manche auch für Revolution, Sieg und Befreiung –  und immer hängen daran die Gefühle und Traumata, die mit den einschneidenden Ereignissen einhergingen. Es handelt sich um Zahlen, die mit Emotionen aufgeladen sind. +Auch deshalb waren sie immer schon Gegenstand des offiziellen Gedenkens von Staaten, politischen Gemeinschaften und ideologischen Bewegungen. Doch nur zum Teil geht es dabei um eine gemeinsame Verarbeitung und Bewältigung des Erlebten. Gedenktage werden oft auch instrumentalisiert, um die Menschen auf eine bestimmte Sicht der historischen Ereignisse einzuschwören und Identität zu stiften. Daten werden zu Denkmälern, errichtet von den jeweils Herrschenden. +Marc Beckmann fotografiert seit 2004 auf der ganzen Welt solche offiziellen Feierlichkeiten. Dabei verlässt er mit seiner Kamera bewusst den protokollarischen Rahmen und die Sichtweisen, die durch die Rituale, Paraden und Kranzniederlegungen vorgegeben werden. Diesen plakativen Vereinfachungen, die wenig Raum für eine Mehrdeutigkeit der Erinnerung lassen, möchte Marc Beckmann mit seiner Fotoarbeit "Anniversaries" etwas entgegensetzen. Insofern kommt es bei seinen Bildern besonders darauf an, dass es keine offiziellen Bilder sind. +Marc Beckmann, geboren 1978, studierte Fotografie an der Fachhochschule Bielefeld und arbeitet als freier Fotoreporter in Berlin. Mit "Anniversaries" und anderen Arbeiten sucht er immer wieder nach Möglichkeiten, um die Produktion und Rezeption heutiger Medienbilder zu hinterfragen – und findet sie im Grenzbereich zwischen Fotojournalismus und Kunst. www.marcbeckmann.com +27. Januar 2005: Polnische Soldaten bei der Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee. +9. Mai 2005: Veteranen und junge Soldaten feiern in Moskau den 60. Jahrestag vom Ende des Zweiten Weltkriegs. +11. Februar 2009: Zum 30. Jahrestag der Islamischen Revolution, die zur Absetzung des Schahs und der Monarchie im Iran führte, finden auf dem Azadi-Platz in der Hauptstadt Teheran offizielle Feierlichkeiten statt. +17. Juni 2008: In Berlin Nikolassee wird an den 55. Jahrestag des blutig niedergeschlagenen Volksaufstands in der DDR erinnert. +21. Februar 2011: Der Beginn der Schlacht um das französische Verdun im Ersten Weltkrieg wird alljährlich mit einem Fackelzug begangen – hier am 95. Jahrestag. +1. September 2009: Menschen knien in Danzig nieder bei einer Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag des Überfalls von Nazideutschland auf Polen, der den Zweiten Weltkrieg auslöste. +11. September 2011: Menschen beim 10. Jahrestag des Terrorangriffs von al-Quaida auf das World Trade Center in New York. +13. August 2011: Mutter und Kind am 50. Jahrestag vom Bau der Berliner Mauer im Dokumentationszentrum Berliner Mauer. +30. April 2010: Besucher des Kriegsopfermuseums in der vietnamesischen Hauptstadt Ho-Chi-Minh-Stadt am 35. Jahrestag des Falls von "Saigon", wie die Stadt früher hieß. Der Tag markierte das Ende des Krieges gegen die US-Amerikaner. +11. Juli 2011: Trauernde am 16. Jahrestag des Massakers von Srebrenica im Balkankrieg. Sie beerdigen 613 Angehörige, die erst im Jahr zuvor aus Massengräbern geborgen und identifiziert wurden. +25. Januar 2013: Am zweiten Jahrestag der Revolution in Ägypten ist das Land noch weit davon entfernt, zur Ruhe zu kommen. +28. Juni 2014: Enthüllung eines Denkmals für den Attentäter Gavrilo Princip. Anlass ist der 100. Jahrestag des Attentats auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand, das zum Ersten Weltkrieg führte. diff --git a/fluter/5-einfache-wahrheiten.txt b/fluter/5-einfache-wahrheiten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f2e1c9b1c3c27fa43f35f092c6d55c2070ea3d68 --- /dev/null +++ b/fluter/5-einfache-wahrheiten.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +01Das farb- und geruchlose Kohlenstoffdioxid (CO2) ist eine chemische Verbindung aus Kohlenstoff (C) und Sauerstoff (O) und natürlicher Bestandteil der Luft. Es entsteht bei der Verbrennung fossiler Stoffe und in lebenden Organismen bei der Zellatmung. Gelöst kennen wir es als Kohlensäure. Es nimmt Teile der Wärmestrahlung der Sonne auf, weswegen es mit anderen Treibhausgasen dafür sorgt, dass die Erdoberfläche von circa −18 °C auf +15 °C erwärmt wird. Sein natürliches Vorkommen sorgt also für ein lebensfreundliches Klima. Zum Problem wird es erst durch den menschengemachten – den anthropogenen – Treibhauseffekt, der durch ein Übermaß an CO2-Emissionen entsteht. Die Erde erwärmt sich. Die vergangenen zehn Jahre waren die wärmste Dekade, die auf der Erde je gemessen wurde. Laut Berechnungen der NASA hat sich die globale Durchschnittstemperatur in den vergangenen 30 Jahren um 0,17 Grad erhöht. Klingt ziemlich wenig, ist es aber gar nicht: Der Temperaturunterschied von heute zur letzten Eiszeit beträgt gerade mal sechs Grad. +02vom Menschen gemachten Treibhauseffekts verantwortlich – aber es gibt weit stärkere Treibhausgase. Die im Kyoto-Protokoll erwähnten Gase sind Methan (vor allem durch Massentierhaltung), Lachgas (Viehhaltung und Düngemittel), Fluorkohlenwasserstoffe (z.B. in Kühlmitteln) und Schwefelhexafluorid, womit früher Reifen gefüllt wurden. Die Wirkung dieser Gase wird in CO2-Äquivalent ausgedrückt. Es beschreibt, um wievielmal höher die Wirkung eines Gases gegenüber CO2 ist. So hat Methan die 25-fache Wirkung und daher ein Äquivalent (CO2e) von 25. Lachgas ist sogar 298-mal schlimmer. + + +03Auch wenn es einem nach einem langen Winter nicht so vorkommt: Die Erde erwärmt sich. Die vergangenen zehn Jahre waren die wärmste Dekade, die auf der Erde je gemessen wurde. Laut Berechnungen der NASA hat sich die globale Durchschnittstemperatur in den vergangenen 30 Jahren um 0,17 Grad erhöht. Klingt ziemlich wenig, ist es aber gar nicht: Der Temperaturunterschied von heute zur letzten Eiszeit beträgt gerade mal sechs Grad. +04Ein weiteres Indiz für eine Erwärmung ist das Schmelzen der Gletscher. Dass der Urmensch "Ötzi" 1991 unter dem Eis auftauchte, ist dem Schwinden der Gletscher zu danken, die als Indikator für klimatische Veränderungen dienen. +05Deutschland bläst in Europa das meiste CO2 in die Luft: 2007 waren es 861 Millionen Tonnen, an zweiter Stelle folgt Großbritannien mit 590 Millionen Tonnen. Ganz Afrika kommt gerade mal auf knapp über 1.000 Millionen Tonnen. Größter CO2-Produzent sind die USA mit 6.575 Millionen Tonnen CO2. + diff --git a/fluter/50-jahre-rap-chronik.txt b/fluter/50-jahre-rap-chronik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4fc4ea6012ad98dacfebb55192de12f2c9207da2 --- /dev/null +++ b/fluter/50-jahre-rap-chronik.txt @@ -0,0 +1,52 @@ +Sylvia Robinsonist schon als Soulsängerin erfolgreich, als sie mit anderen Sugar Hill Records gründet."Rapper's Delight", der erste Song des Labels, wird direkt ein Hit. Er beginnt so: "I said a hip-hop, the hippie, the hippie / To the hip, hip-hop and you don't stop the rockin'." Nonsens eigentlich. Aber das Genre hat seinen Namen. +Aus Japan kommt derDrumcomputer TR-808. Er gibt auch denen einen Rhythmus, die sich keinen Drummer leisten können. Der 808-Sound wird ein Grundnahrungsmittel für Rap: Afrika Bambaataa, Run-D.M.C., Missy Elliott, Pharrell Williams,die Trap-Rapperaus den US-Südstaaten, alle bedienen sich. +Mit Blondies Song"Rapture"trittweißer Rapauf den Plan. Die New Yorker Boheme hat Wind von der Hip-Hop-Sache bekommen, die Blockpartys kommen nach Harlem und Manhattan. Im Jahr darauf wollen auch die drei Punker Ad-Rock, MCA und Mike D rappen: DieBeastie Boyswerden die erste kommerziell erfolgreiche weiße Rap-Crew. +Johann Hölzel akaFalcolandet mit "Der Kommissar" einen Hit. "Das ist Rap", sagt er in einem Interview, "das istein schneller Sprechgesang. Kommt vom Stil her aus Amerika." Falcos Sprache, Sound und Aura beeinflussen Deutschrap bis heute. +"The Message"vonGrandmaster Flash & The Furious Fivekritisiert die Lebensumstände in der Bronx. Der Song tritt eine Wellegesellschaftskritischer Rap-Textelos. Rap etabliert sich als"Ghetto-CNN", als Livesendung aus den Brennpunkten. +Ice-Tveröffentlicht erste Aufnahmen. Er gilt als PionierdesGangsta-Rapvon der US-Westküste. Der wird die Alltagsgeschichten aus den Schwarzen Vierteln der Ostküste und die Wut über die Lebensumstände ausbauen: zu Großerzählungen umAutos, Knarren und Crack. Dadurch werden die MCs langsam wichtiger als die DJs. +Rick Rubin und Russell Simmons gründenDef Jam– im Wohnheimzimmer von Rubin, der aufs College geht. Ihr erstes Release kommt vom 16-jährigenLL Cool J. Def Jam wird das Rap-Label schlechthin, Rubin einer der größten Musikproduzenten. +"Beat Street", einFilmüber den Alltag afroamerikanischer Jugendlicher, macht Hip-Hop auch unter Jugendlichen in derDDRbekannter. Dass der Film vor der strengen Kulturbehörde besteht, liegt vermutlich an Co-Produzent Harry Belafonte. Der Sänger kritisiert öffentlich den Kapitalismus und das Apartheidsregime in Südafrika, steht also in der Gunst der Behörden. +DerSP-12kann Klänge digital aufnehmen, wiedergeben, verzerren, neu zusammensetzen: alles, was vorher per Hand mit Vinylplatten gemacht werden musste. Vor allem können sich den Drumcomputer auch die noch weitgehend im Untergrund operierendenHip-Hop-Produzentenleisten. +"My Adidas"vonRun-D.M.C.lässt die Verkäufe der berappten Sneaker explodieren. Und beschert der New Yorker Crew einenMillionenvertrag. Die Modeindustrie hat Rapper als Werbeträger entdeckt. +In"Straight Outta Compton"erzählenN.W.Aaus einem der ärmsten Viertel von Los Angeles,sie wüten über Polizeigewalt, Ungerechtigkeiten und Kriminalität. EinGangsta-Rap-Meilenstein, der die Rivalität zwischen East und West Coast anschiebt: Kalifornien schickt sich an, New York als Rap-Hauptstadt abzulösen. +Hip-Hop bekommt seineFernsehshow: "Yo! MTV Raps" ist ein großer Schritt RichtungMainstream, MTV war damals so was wie Instagram und YouTube zusammen. In Deutschland rappen die Pioniere wie Bionic Force, LSD oder No Remorze derweil noch auf Englisch: Deutsch gilt als zu lame. +Die GruppeA Tribe Called Questdebütiert mit "People's Instinctive Travels and the Paths of Rhythm". Das Album steht für einen neuen Sound: Es mischt Hip-Hop, live eingespielteJazzelementeund gewagte Samples, zum Beispiel von Jimi Hendrix. +"Die da!?!"chartet als erster deutscher Rapsong. Dafür erntenDie Fantastischen Viereinen dicken Vertrag bei Sony. Und Hass aus dem Rap-Untergrund, der seine Subkultur nicht als seichte Partyhits an den Mainstream verscherbeln will.Realkeeperwie die Stieber Twins oder Advanced Chemistry wollen politischen Rap. In"Fremd im eigenen Land"thematisieren Letztere die Erfahrungen von Migrantinnen und Migranten in Deutschland. Der Song ist bis heute eine antirassistische Hymne. +Moses Pelhamist einer der Gründer desRödelheim Hartreim Projekts. Und später der Plattenfirma 3P, die mitSabrina Setlureine der ersten großen deutschen Rapperinnen signt. Pelham hat das Rappen von GIs gelernt. Die in Süddeutschland stationierten US-Soldaten bringen Hip-Hop unter die Leute, als Radio und TV noch nicht hinhören. +Seit 20 Jahren tobt in den USA der"War on Drugs": ein politisches Programm gegen den Handel und Konsum illegaler Drogen. Es kriminalisiert vor allem junge Schwarze. Und führt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei – von denen Rap erzählt. In"Sound of da Police"demonstriert KRS-One deninstitutionalisierten Rassismus gegen Schwarze, indem er die "Officers" (Polizeibeamte) mit den "Overseers" (die Wächter auf Sklavenplantagen) verschwimmen lässt: "Overseer, overseer, overseer, overseer / Officer, officer, officer, officer / Yeah, officer from overseer." +Mit "Enter the Wu-Tang (36 Chambers)" bringt derWu-Tang Clan, zehn MCs mit dem ikonischen gelben W als Symbol, einen neuen,härteren Sound, der unter anderem von Martial-Arts-Filmen beeinflusst ist. +VIVAgeht in Deutschland an den Start. Das Musikfernsehen macht Songs wie "Jein" von Fettes Brot, "Du liebst mich nicht" von Sabrina Setlur, "A-N-N-A" von Freundeskreis, "Hammerhart" von den Absoluten Beginnern oder "Danke, gut" von Eins Zwo mit Dendemann bekannt. Stuttgart, Hamburg, Frankfurt und Heidelberg kämpfen um denTitel der "Hip-Hop-Hauptstadt". +Nasist gerade 20, als er"Illmatic"veröffentlicht. Ein Album, das bleibt: Der New Yorker rappt so anspruchsvoll und lyrisch aus seiner Hood, dass er zumVorbildfür Rapper wie Eminem, Drake und 50 Cent wird. +Queen LatifahundSalt-N-Pepagewinnen als erste Rapperinnen Grammys. +"La Haine"(Hass) läuft in den Kinos. DerFilmzeigt, wie wichtig Hip-Hop für die Jugendlichen in denPariser Hochhaussiedlungenist. Und er visualisiert die Polizeigewalt und Trostlosigkeit, von denen Rap "nur" reimen kann. Die französische Polizei protestiert, der Vorsitzende des Front National (heute Rassemblement National) will die Macher des Films einsperren lassen. +Der 25-jährige2Pacläuft eine Modenschau für Versace. Wenige Monate darauf wird er in seiner Limousine erschossen. Es ist die Eskalation eines Streits zwischen East und West Coast, der von beiden Fanlagern angeheizt wird und 1997 auch The Notorious B.I.G. das Leben kostet. +Lauryn Hillverlässt mit 23 ihre supererfolgreiche Band Fugees. Auf"The Miseducation of Lauryn Hill"mischt sie Soul, R 'n' B, Gospel und teilt ihre Erfahrungen als junge Schwarze Frau in den USA. Ihr einziges Soloalbum gewinnt fünf Grammys und gehört zu den bestverkauften Alben aller Zeiten. In Deutschland rappt sichCora E.mit ihrem Album "CORAgE" aus Kiel nach oben. Sie ist ein Vorbildfür Frauen, die im ultramaskulinen Rap was werden wollen. +In einem Chemnitzer Jugendzentrum findet das erste"splash!"statt. Heute ist es eines der größten Hip-Hop-Festivals in Europa. +Kool Savasrappt härter und bildhafter als alle zuvor. Mit ihm und demLabel Royal Bunkerkriegt Deutschland seinen Straßenrap. +Aggro Berlinkommt mitSido,BushidoundFler– und hat aus dem Nichts eine riesige Fangemeinde. Das Label macht Gangsta-Rap neuer Berliner Härte. Die Texte strotzen vorfrauenfeindlichen, homophoben und rassistischen Zeilen, einige der ersten Alben landen auf dem Index der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien. +Mit "The Eminem Show" und dem Film"8 Mile"zementiertEminemseinen Status als Superstar. Die Filmsingle "Lose Yourself" gewinnt einen Oscar, den ersten für einen Rapsong. +Der 16-jährigeSoulja Boyveröffentlicht seine Musik selber, online,ohne Major-Labelim Rücken. Durch Plattformen wie MySpace oder DatPiff, später auch Facebook und SoundCloud ist es einfacher denn je, Rapmusik zu veröffentlichen. Das öffnet sie für andere Genres. +Migrantinnen und Migrantenund ihre Kinderhaben deutschen Rap geprägt. Ihr Einfluss wird dank Rappern wieXataroderCelo & Abdiimmer deutlicher. Letztere legen mit "Mietwagentape" einen neuen deutschen Straßenrap vor, der von Wortwitz, vielen verschiedenen Sprachen und absurden Reimen lebt. +Nicki Minajs"Pink Friday" führt die US-Charts an. Minaj rappt über hart erarbeiteten Erfolg, Geld und ihrSelbstverständnis als "bad bitch". Das Album ebnet den Weg für die nächste Generation um Cardi B, Megan Thee Stallion oder Doja Cat. +Crokrönt sich selbst zum"King of Raop"(Rap + Pop). MitPeter Fox("Stadtaffe") oderCasper("XOXO") zeigen auch andere, dass deutscher Rap vielseitiger ist als sein Ruf. +"Russisch Roulette"vonHaftbefehlverändert alles. Der Offenbacher erzählt ultrapräzise aus den Crackküchen, Saunaclubs und Armutsmilieus, die die Mehrheitsgesellschaft sonst nur aus Reality-TV-Dokus kennt. Neu ist aber vor allem seine Sprache: ein Flow auskurdischen, arabischen, türkischen, zazaischen, bosnischen, armenischenund deutschen Vokabeln. Sein Rap lässt viele Menschen (und nächste Rap-Generationen) selbstbewusster ihre zweite oder dritte Muttersprache sprechen. +Schwesta EwaoderSXTNzeigen, dass Rapperinnen kontrovers und trotzdem verdammt erfolgreich sein können. Shirin David ist schon eine bekannte YouTuberin, als sie mit einem Sabrina-Setlur-Cover chartet. +Kendrick Lamars"Alright" ist einer der zentralen Protestsongs derBlack-Lives-Matter Bewegung. +RAF Camora und Bonez MCetablieren mit dem Album"Palmen aus Plastik"einen neuen Deutschrap, der sich an karibischen und westafrikanischen Sounds bedient. +In"Grauer Beton"reflektiertTrettmannseine Plattenbaukindheit in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) und die Nachwendezeit im Osten. Durch ihn, Marteria, Kraftklub, Zugezogen Maskulin, Finch, MC Bomber und andere werdendieostdeutschen Geschichtenim Rap lauter. +Kendrick Lamarkriegt als erster Rapper denPulitzer-Preis.KollegahundFarid Banggewinnen auch etwas: einenEcho. Für viele ist daseinSkandal, weil beide auch antisemitische Zeilen rappen. Der Musikpreis wird daraufhin abgeschafft. + +Louis VuittonholtVirgil Ablohals Kreativdirektor. Er ist der ersteAfroamerikanerin einer solchen Position und kommt aus der Hip-Hop-Kultur. + +Capital Bralandetseinen 13. Nummer-eins-Hit– und überholt damit die Beatles an der Spitze der deutschen Charts-Geschichte. + +In "Old Town Road" kreuztLil Nas XRap und Country. Ein Schwarzer Rapper, derCountryhitslandet: für viele Fans ein Fehler im System. Lil Nas X kann es egal sein: Er verkauft Millionen Alben, erist der neue Superstar. Undoffen schwul. Immer noch eine Seltenheit im Rap. +Kollegahlehrt in Onlineseminaren, worauf es im Leben ankommt. Teilnahmegebühr für das"Alpha Mentoring": 2.000 Euro. Andere Rapperinnen und Rapperverkaufen Vapes, Tiefkühlpizza, Shishatabak und vor allemEistee. +Bei einem Konzertim Videospiel"Fortnite"trittTravis Scottals Avatar vor mehr als zwölf Millionen Gamern und Gamerinnen auf. Sein größter Liveauftritt, mitten im Corona-Lockdown. +Eine Frau wirft dem RapperSamravor, sie vergewaltigt zu haben. Unter#DeutschrapMeTooerzählen Betroffene von Übergriffen und Machtmissbrauch im Deutschrap. +Missy Elliottist die erste Rapperin in derRock & Roll Hall of Fame. +Ghostwriter977veröffentlicht Songs mit Travis Scott, 21 Savage und The Weeknd – indem er einekünstliche Intelligenzdie Stimmen der Stars rappen lässt. Sein Erfolg ist groß, wirft aber Fragen auf: Sind solche Deepfakes die Zukunft der Musikindustrie – oder einfachUrheberrechtsverletzungen? +Für"Friesenjung"tun sichSki Aggu, der niederländische Rapper Joost und das HumordenkmalOtto Waalkeszusammen. Der Techno-Rap-Remix geht über TikTok bis auf Platz eins der Charts. Und reanimiert eine tot geglaubte Debatte:Ist das noch Rap? +Drakeerreicht als erster Musiker100 Milliarden Spotify-Streams. + +Dieser Beitrag ist im fluter Nr. 93 "Rap" erschienen.Das ganze Heftfindet ihr hier. diff --git a/fluter/Atomkraft-fuer-Ghana.txt b/fluter/Atomkraft-fuer-Ghana.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..06f43480a9e177c13460ab736f44c6e8c08c1cbe --- /dev/null +++ b/fluter/Atomkraft-fuer-Ghana.txt @@ -0,0 +1,36 @@ +seit diesem Jahr haben wir in Ghana eine neue Regierung, und ich habe tatsächlich die Hoffnung, dass es vorangeht. Eines unserer größten Probleme sind die täglichen Stromausfälle. Oft geht am Abend das Licht aus, und es können schon mal 24 Stunden vergehen, bis es wieder da ist. Das heißt: keine Musik mehr in den Bars, kein kaltes Bier, kein Buch vor dem Einschlafen. Es geht aber gar nicht so sehr um den fehlenden Komfort, sondern vor allem darum, dass unsere Wirtschaft ohne Elektrizität nicht vorankommt. Die Wasserturbinen am Voltasee sind zu schwach, um noch mehr Strom zu liefern, außerdem sind wir durch alte Verträge verpflichtet, Strom an unsere Nachbarländer zu liefern. +Deshalb hoffe ich, dass der neue Präsident Akufo-Addo seinen Plan umsetzt, ein Atomkraftwerk zu bauen. Euer Stöhnen kann ich praktisch bis Accra hören. Während meines Praktikums bei euch habe ich ja gemerkt, dass die meisten Menschen in Deutschland die Atomkraft kritisch sehen und den Ausstieg begrüßen. Solche Bedenken gibt es auch hier, aber der Strom wäre für uns wie Sauerstoff – überlebenswichtig. +In den letzten Jahren hat der Regen so stark abgenommen, dass sich der Bau weiterer Wasserkraftwerke kaum lohnt. Schuld ist der Klimawandel, den vor allem Industrienationen wie Deutschland verursachen. Mir scheint Atomkraft nicht die schlechteste Alternative zu sein, wenigstens produziert man kein weiteres CO2 wie ihr mit euren Kohlekraftwerken. Mich würde auch interessieren, wie viele Menschen in Deutschland gegen die Atomkraft wären, wenn ihre Kinder im Schein von Kerzen Hausaufgaben machen müssten. Was meint ihr? +Wir können es uns schlicht nicht leisten, gegen Atomkraft zu sein. Laut Weltbank haben 1,1 Milliarden Menschen weltweit keinen Strom, in Ghana sind es 27 Prozent der Bevölkerung. +Kann ja sein, dass es in alten AKW Störfälle gibt. Ich bin der Überzeugung, dass heutige Kernkraftwerke viel sicherer gebaut werden könnten, weil man um die Schwachstellen weiß: dickere Reaktorhüllen, Software, die vor Hackern geschützt ist, Standorte, die absolut erdbebensicher sind. Man ist ja heute nicht gegen Autos, weil sie in den 50er-Jahren noch unsicher waren. Es gibt heute Konzepte, den radioaktiven Müll in tiefe Bohrlöcher einzulagern – bis zu fünf Kilometer unter der Erde. In North Dakota in den USA gibt es erste Versuche dazu. +Und, ja, Atomtechnik ist teuer. Aber denkt mal darüber nach, dass unsere Unternehmen einer Studie von 2015 zufolge jedes Jahr fast 700 Millionen Dollar allein deshalb verlieren, weil der Strom ausfällt. Wir sollten lieber ein gewisses Risiko eingehen, als die Menschen an der Entwicklung ihres Landes zu hindern. +Euer Agomo + + +Dass Agomo sich für unsere Snackbox und den Kicker begeistern konnte, war während seines Redaktionspraktikums im Sommer 2016 deutlich zu erkennen. Seine Atom-Euphorie hat er nicht so offen gezeigt + + + + + +Oliver Gehrs ist seit Jahren völlig elektrisiert vom Thema Kernenergie – aber eben als erklärter Atomkraftgegner + + +ich freue mich, dass dir die neue Regierung Hoffnung macht. Das Problem mit dem Strom kenne ich selbst. Als ich vor zwei Jahren in Ghana war, fand ich es ziemlich nervig, ständig warmes Bier trinken zu müssen und vor dem Schlafengehen kein Buch lesen zu können. +Ob aber ausgerechnet die Atomkraft die Lösung für dieses Problem ist, möchte ich bezweifeln. Man muss nicht mal damit argumentieren, dass die Atomkraft sehr gefährlich ist und es weltweit noch keine tauglichen Endlager für den Strahlenmüll gibt, die Technik macht auch ökonomisch keinen Sinn. +In Deutschland war der Atomstrom immer nur günstig, weil er massiv staatlich subventioniert wurde. Die Unternehmen bekamen für die Errichtung der AKW Bundesbürgschaften, und es wurde ihnen erlaubt, die Meiler mit einem Betrag zu versichern, der nur einen winzigen Bruchteil möglicher Schäden abdecken würde. Außerdem wurden sie von der Verpflichtung, für die Endlagerung aufzukommen, weitgehend entbunden. Nun sitzen wir als Steuerzahler vor einem Milliardenberg, den uns die Hinterlassenschaften noch kosten werden. So gesehen gibt es eigentlich keine teurere Energie als die aus Atomkraft. +Auch wenn die Atomlobby gern so tut, als stünde die Atomkraft vor einer großen Renaissance, gibt es außer Projekten nur wenige tatsächliche Neubauten. Und bei denen, die es gibt, explodieren oftmals die Kosten. Der Bau des finnischen Reaktors Olkiluoto 3 begann 2005, er sollte 2009 in Betrieb genommen werden. Nun, acht Jahre später, ist er immer noch nicht fertig. Die ganze Welt lacht ja über die Misere am Flughafen von Berlin, aber verglichen mit diesem Reaktorbau läuft es da gut. Für das finnische AKW musste Frankreich schon eine Staatsbürgschaft leisten, weil der französische AKW-Konzern Areva sonst aufgegeben hätte. Klingt nicht nach Fortschritt, oder? +Ich glaube nicht, dass ein relativ armes Land so viele Milliarden riskieren sollte – für eine Technik, die nicht nur finanziell außer Kontrolle geraten kann. Du hast uns zwar geschrieben, dass es ein Verfahren gibt, wie man den Atommüll unkompliziert in Röhren weit unter die Erde bringen kann, aber ich habe mich erkundigt: Dieses Verfahren ist alles andere als sicher. In Deutschland beginnen wir gerade mit einer weiteren Endlagersuche, bei der nach tiefen Gesteinsschichten gesucht wird, die den radioaktiven Müll für eine Million Jahre abschirmen. Klingt absurd viel, aber wenn man sich die Halbwertszeiten vieler radioaktiver Stoffe anschaut, macht es Sinn. Es gibt Plutoniumisotope, deren Strahlung sich erst nach Hunderttausenden von Jahren halbiert. +Ich kann verstehen, dass die Stromknappheit nervt, aber seid froh, dass ihr euch bislang nicht auf das Atomabenteuer eingelassen habt. Die Milliarden, die man dafür braucht, sind in der Windenergie oder der Wasserkraft besser aufgehoben. +Liebe Grüßedein Oliver + + +vielleicht sollte ich wirklich dankbar dafür sein, dass Ghana bislang atomfrei ist, aber sollte ich nicht noch dankbarer sein, wenn die permanenten Stromausfälle irgendwann mal der Vergangenheit angehören, auch wenn das bedeutet, in die Atomenergie einzusteigen? +Politische Stabilität, die in Afrika leider allzu selten ist, ist auch eine Frage der Versorgungssicherheit. Ein Land, in dem die Menschen unzufrieden und wütend sind, ist schwerer zu regieren und immer in Gefahr, dass sich Bürger radikalisieren. Was ist teurer: das Risiko der Kosten beim Bau eines AKW oder das Risiko von gesellschaftlichen Verwerfungen? Ich frage das auch, weil die Stromfrage in Ghana ungeheuer wichtig ist. Sie entscheidet über das Schicksal von Regierungen. Und wir sehen in vielen Nachbarländern, wozu eine veraltete oder überlastete Infrastruktur führen kann.Ein anderer Aspekt ist die Frage der Alternativen. Schon jetzt werden fossile Energieträger im großen Maßstab verbraucht. Die ganzen Diesel- und Benzingeneratoren verpesten die Luft in den Städten und machen die Menschen krank. Sollen wir in Zukunft noch mehr Öl verfeuern? +Wir haben jahrelang mit Solarenergie herumexperimentiert, aber die Wahrheit ist, dass all diese dezentralen Solarzellen kein Ersatz für eine sichere, zentrale Energieversorgung sind. Die meisten Haushalte können sich diese Module auch gar nicht leisten. Die Atomenergie würde aber nicht nur diese Haushalte günstig und ohne Schwankungen beliefern, sondern auch die Industrie. +Es stimmt: Benutzte Brennstäbe sind gefährlich, aber ich bin der Überzeugung, dass verantwortlich damit umgegangen werden kann. In Deutschland habt ihr doch gerade ein neues Gesetz zur Endlagersuche verabschiedet, mit dem bürgernah und transparent nach einem Ort für den Abfall gesucht wird. Gefährlicher aber als jeder radioaktive Abfall ist eine verzweifelte und wütende Bevölkerung. Wütend darüber, dass Babys sterben, weil die Brutkästen im Krankenhaus nicht funktionieren. Oder sie ihre Familien nicht versorgen können, weil die Geschäfte ohne Strom nicht laufen. +Kann schon sein, dass es Menschen gibt, die es nicht so schlimm finden, bei Kerzenlicht zu lesen, aber sollen wir wieder die Wäsche im Fluss waschen? Wie machen wir das Wasser heiß? An einem Lagerfeuer? Wir haben Gott sei Dank eine wachsende Mittelschicht, deren Bedürfnisse größer werden. Wir benötigen also eine Politik, die darauf reagiert, wenn wir das Wachstum nicht abwürgen wollen. +Es ist ja auch nicht so, dass wir uns nicht um die Umwelt sorgen. Das ist kein Privileg reicher Länder. Mir zum Beispiel liegt die Umwelt sehr am Herzen, deswegen bin ich auch gegen den weiteren Ausstoß von CO2. Jeder Mensch, der sich wegen des Klimawandels Sorgen macht, kann nicht ernsthaft von uns erwarten, dass wir die Atomenergie nicht in unseren Energiemix miteinbeziehen. Jedenfalls nicht bis zum Ende dieses Jahrhunderts. +Alles LiebeAgomo + + diff --git a/fluter/Baumkrone-Regenwald.txt b/fluter/Baumkrone-Regenwald.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b38ef89a8aa75738ce3359f22a36f7ed846d1907 --- /dev/null +++ b/fluter/Baumkrone-Regenwald.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Um ihn zu umrunden, mitsamt seiner Stützwurzeln, die sich in Kopfhöhe strahlenförmig vom Stamm zum Boden neigen, brauche ich 29 Schritte. Sein Stammdurchmesser beträgt drei Meter, einen Meter mehr als die Säulen des Parthenon-Tempels auf der Akropolis. Dennoch ist der Baum längst nicht so alt wie manche Kiefern, Oliven- oder Mammutbäume in kühleren und trockeneren Klimazonen, die jahrtausendealt werden können. Im Regenwald mit seinen gefräßigen Pilzen und Insekten werden nur wenige Kapokbäume älter als ein paar Jahrhunderte. Dieses Exemplar schätzen Ökologen auf 150 bis 250 Jahre. Der Baum ist nicht aufgrund seines Alters so groß, sondern weil junge Kapokbäume pro Jahr zwei Meter wachsen, worunter die Holzdichte und die chemische Abwehrkraft allerdings leiden. +Die Kapokbaumkrone erhebt sich wie eine Kuppel über ihren 40 Meter und damit mindestens zehn Gebäudestockwerke hohen Nachbarbäumen, die sie noch um weitere zehn Meter überragt. Wenn ich auf meinem Hochsitz im Kapokbaum sitze, breitet sich unter mir ein Kronendach aus, das mit den gleichmäßigen Wipfelngemäßigter Wälderwenig gemein hat. Ich zähle bis zum Horizont ungefähr zehn Kapokbäume, die wie Hügelkuppen aus einer unregelmäßigen, zerklüfteten Landschaft ragen. +Der Kapokbaum ist ein Baumriese. Auch eine Weltachse? Axis mundi? Vielleicht. Doch das Rauschen des Regens führt jeden Gedanken ad absurdum, den Baum von seiner Gemeinschaft zu trennen. Die Regentropfen prallen auf Blättertrommeln: Der botanische Reichtum wird vom Regentrommler vertont. Jede Pflanzenart erzeugt ihren eigenen Regenklang. Im Geräusch des Regens spiegelt sich die Blättervielfalt des Kapokbaums und anderer Arten, die auf und neben ihm leben. (...) +In der Kapokbaumkrone wird das pflanzliche Trommeln von Tiergeräuschen überlagert, von Meckern, Heulen, Jaulen, Pfeifen, Kreischen, Summen oder Murmeln. Jedes akustische Verb hat hier seinen Meister gefunden, und viele Arten kommunizieren mit Lauten, für die unsere Sprache kein Wort kennt. Die flirrenden Flügel einer Schwalbennymphe dröhnen, punktiert von scharfem, peitschenähnlichem Pfeifen. Der Kolibri, ein daumengroßes Schillern in Blau und Grün, taucht seinen Schnabel in den roten Blütenbogen einer gestreiften Lanzenbromelie. Ein Frosch quakt zwischen den aufragenden fleischigen Blättern der Pflanze quak-quak-quaAK!, was umgehend von einem Dutzend weiterer Frösche beantwortet wird, die sich im Bromeliendickicht der Kapokbaumäste verstecken. Anders als Träufelblätter können die aufrechten Blattrosetten der Bromelien das aufgefangene Wasser festhalten. In dem Trichter zwischen den Blattansätzen kann eine Bromelie vier Liter Wasser sammeln: ein hervorragender Laichplatz für Frösche undHunderte andere Arten.Die Bromelien in den Baumwipfeln fangen auf einem Hektar Wald 50.000 Liter Wasser auf, zumeist in den Ästen der Baumriesen. +Der Kapokbaum ist ein Himmelsteich. Doch Teiche sind nicht das einzige Habitat im Kronendach. In den Ästen dieses Kapokbaums gibt es so viele Mikroklimazonen wie sonst auf Hunderten Hektar gemäßigter Wälder. In manchen Astgabeln haben sich Sümpfe gebildet und in einigen Astlöchern Feuchtgebiete, die bald wieder trockenfallen. In der Krone ist durch das herabgefallene Laub von Jahrzehnten eine Erdkrume entstanden, die genauso tief und nährstoffreich ist wie die des Waldbodens. Der Humus bleibt auf den breiten Ästen liegen oder im Gewirr der Schlingpflanzen hängen. Ein Feigenbaum, mit einem Stamm, so mächtig wie ein menschlicher Torso, wurzelt dort inmitten anderer Bäume: ein Wald, 50 Meter über dem Erdboden. Er gedeiht vor allem auf der Nord- und Ostseite des Kapokbaums, wo die Kronendach-Erde so feucht und das Blätterdach beinah so dicht ist wie in einer schattigen Schlucht. +Auf den südwestlichen Ästen der Wetterseite erduldet eine Gemeinschaft aus Kakteen, Flechten und rasiermesserscharfen Bromelien dagegen ein Wechselbad aus Wolkenbruch und Wüste: Bei Regen schwellen die Pflanzen an, um unter der erbarmungslosen Äquatorsonne wieder zu schrumpfen. Die senkrechten Stämme der Bäume sind mit einem Geflecht aus Kletterpflanzen und Orchideengärten bedeckt, mit einer Wasser speichernden Matte, in der auch Farne wurzeln. Und über all dem sind noch die meist achtfingrigen Blätter des Kapokbaums aufgefächert, die nicht größer sind als eine Kinderhand. Sie schweben an ihren Stielen wie hauchdünne Schleier. Sie scheinen nicht zum Wesen des riesigen Baums zu passen, doch sie müssen, anders als die geschützten Pflanzen weiter unten, Stürmen und Fallböen standhalten. Bei Sturm gibt der Kapokbaum nach und klappt die kleinen Fächerblätter ein. +Die Tropen wurden bislang meist vom Boden aus erforscht. Erst seit Kurzem klettern Biologen über Türme, Strickleitern und Kräne bis in die Kronen. Und haben dabei entdeckt, dass mindestens die Hälfte aller Regenwaldpflanzen ausschließlich im Kronendach wächst. (...) +Wie jemand, der in Platos Höhle zurückkehrt, bin ich bei meiner Rückkehr in die vertraute Welt nicht mehr derselbe. Ich weiß nun, dass weit über mir unvergleichlich schöne, komplexe biologische Welten liegen. Ich bewege mich in der Ebene, doch durch meinen Kopf und über den Boden, auf dem ich gehe, flirren das Echo und die Schatten der oberen Welt. + + +Titelbild: Klaus Schönitzer, 2008/Wikipedia/Creative Commons diff --git a/fluter/Bedeutung-von-Reichtum-in-der-Gesellschaft.txt b/fluter/Bedeutung-von-Reichtum-in-der-Gesellschaft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8c4ff8c1b0a4a59e0e161b32cbadcd8da7e4e7ad --- /dev/null +++ b/fluter/Bedeutung-von-Reichtum-in-der-Gesellschaft.txt @@ -0,0 +1,36 @@ +Aber die Möglichkeiten des Zeigens sind heute ganz andere. +Die sozialen Medien ermöglichen das Zeigen von Reichtum nicht nur intensiver, sondern auch selbstbestimmter. Jeder kann selbst entscheiden, was er in die Kamera hält, und ist nicht von Journalisten und ihren Darstellungen abhängig. Instagram etc. bieten ganz neue Formen der Inszenierung. Ein Nebeneffekt dieser Entwicklungen ist, dass die Reichen plötzlich wieder stärker als "Vorbilder" des Konsums in Erscheinung treten. Interessant daran ist, dass das Zeigen von Luxusgegenständen noch lange nichts darüber aussagt, wie reich derjenige, der sie zeigt, wirklich ist. +Verlieren klassische Statussymbole bei vielen jungen Leuten nicht eh zunehmend an Wert? +Das ist schwierig zu beantworten. Ich denke, wir können aber durch Gruppen wie Occupy Wallstreet eine deutliche Gegenbewegung feststellen. Viele junge Leute sehen, dass beim Streben nach Reichtum Wichtiges auf der Strecke bleibt, und kritisieren von Politik und Finanzmärkten. Sie besinnen sich deswegen ganz bewusst auf Nachhaltigkeit und betrachten monetären Reichtum eben nicht mehr als einzig erstrebenswertes Ziel. Aber das ist nur eine Gruppe, es gibt auch andere, die ganz bewusst die Inszenierung von Reichtum nachahmen. +Seit wann ist der Begriff Reichtum überhaupt an Geld gekoppelt? +In Wörterbüchern finden wir noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zwei Begriffsbedeutungen: den geistigen und den monetären Reichtum. Ende des 19. Jahrhunderts wird Reichtum dann aber zunehmend an Geld gekoppelt. Das erklärt sich auch durch die Entstehung der großen bürgerlichen Vermögen in der Zeit der Industrialisierung. Auch der Begriff des Millionärs erlebte erst hier, also in den 1880er-Jahren, seine Blütezeit. +Als nicht mehr nur Adlige reich waren? +Richtig. Vor der Industrialisierung besaß die Aristokratie in großen Teilen die hohen Vermögen in Deutschland, die ja vor allem an Grundbesitz gekoppelt waren und von Generation zu Generation vererbt wurden. Mit der Industrialisierung entstanden dann die großen bürgerlichen Vermögen. Hier war die Quelle eben nicht mehr allein Herkunft und Grundbesitz, sondern Unternehmertum und Finanzwesen. Beispielhaft für solche Karrieren sind die sogenannten Stahlbarone wie Thyssen oder Krupp. Diese neuen Vermögen entstanden von 1880 bis 1890 und setzten sich allein in ihrer Anzahl vom alten Reichtum ab. 1874 gab es in Preußen 170 Millionäre, 1900 waren es bereits 10.000. Reichtum war plötzlich nicht nur eine Sache des Erbes, sondern etwas, das man durch Erfolg, durch Erfindergeist, aber auch durch all die Vor- und Nachteile des Kapitalismus erlangen konnte. +Was ist schon reich? Erst seit Ende des 19. Jahrhunderts wird Reichtum mehr und mehr mit Geld assoziiert +Galten die neuen Millionäre als neureich? +Die Aristokratie empfand die Wirtschaftsbürger teilweise als geschmacklose Emporkömmlinge und entwickelte in dieser Zeit die bereits erwähnte "Kultur der Kargheit". Gerade jene Teile des Adels, die zum Ende des 19. Jahrhunderts Macht und Reichtum verloren hatten, nutzten diese Praxis der Abgrenzung; Sie stellten Reichtum bewusst nicht mehr zur Schau, wie es dann die großen Industriellen taten, die sich entsprechende Anwesen bauten – etwa die Villa Hügel der Familie Krupp in Essen. +Damit ging auch die moralische Frage einher, wie mit Reichtum umzugehen sei. Interessant bei der Einteilung von altem und neuem Geld ist ja, dass diese Einteilung immer wieder neu definiert wird. In den 1920er-Jahren waren es eben die Thyssens und Krupps, die das alte Geld darstellten und den Neureichen und Profiteuren der Wirtschaftskrise den Umgang mit Geld vorleben wollten. +Was hat die Erkenntnis, dass Reichtum nicht mehr ausschließlich eine Frage der Geburt ist, für Folgen gehabt? +Sie bedeutete Hoffnung, vor allem in Zeiten des Umbruchs. Im Ersten Weltkrieg gingen viele Vermögen verloren, aber es entstanden auch neue. In der Weimarer Zeit erschienen dann zahlreiche Ratgeber, die erklärten, wie man reich werden könne. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es ähnlich – eigentlich immer, wenn es große politische oder wirtschaftliche Zäsuren gab, durch die sich neue Möglichkeiten ergaben. Da wuchs bei vielen die Hoffnung auf Umverteilung. +Auch in den sogenannten Wirtschaftswunderjahren in den 1950ern? +In den 1950er- und 1960er-Jahren war der Aufstieg der sogenannten Neureichen weniger als zuvor an Bildung und Herkunft gekoppelt, mehr an Ideen und geschicktes Unternehmertum. Damals erschien in der Illustrierten Stern eine Serie mit dem Titel "Deutschland – deine Jungmillionäre". Solche medialen Homestories waren eine Botschaft für die Mitte. Sie versprachen: Jeder kann es schaffen. +In Deutschland reden manche nicht so gern über Geld und zeigen auch den Reichtum nicht. Woher kommt das? +Die Erklärungen, die wir in der Literatur finden, sind ganz unterschiedlich. Sicher kann man zuallererst auf die starke Bedeutung der Religion in Deutschland verweisen. In vielen Religionen wird Reichtum stigmatisiert. Interessant ist, dass wir nicht nur ein bewusstes Beschweigen des Reichtums von einem Teil der Reichen selber feststellen können, wir haben es auch grundsätzlich mit einem blinden Fleck im Wissen über Reichtum und Reiche zu tun. Es fehlte uns lange Zeit an statistischen Daten oder Forschungen zu Reichtum. +Soziologische Studien sagen, dass dies vor allem daran liegt, dass viele Reiche an den Schaltstellen der Gesellschaft säßen und kein Interesse daran hätten, dass Erhebungen stattfänden. Aber auch vonseiten der Politik können wir immer wieder eine gewisse Zurückhaltung in der Erhebung zum Vermögen feststellen. Bis in die 1960er- Jahre beispielsweise erhob das Statistische Bundesamt keine Statistiken über Einkommen oder Vermögen. Die Vermutung zeitgenössischer Medien war, dass die Unterschiede bewusst ausgeblendet wurden, um den Glauben an die gleichen Startbedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht ins Wanken zu bringen. Als dann Mitte der 1960er erstmals Daten zeigten, wie groß die Kluft war, wuchs auch gleich der politische und mediale Protest. +In den USA scheint es genau andersherum zu sein. Da gibt es geradezu mythische Figuren vom großen Gatsby bis zum Wolf of Wallstreet, die ihren Reichtum zur Schau stellen. +Es gibt eben ganz unterschiedliche Reichtumskulturen oder -mentalitäten, wie es die Forschung nennt. Dass der Umgang in Deutschland anders ist, hat auch damit zu tun, dass sich der Reichtum gegenüber der Gesellschaft immer stärker legitimieren musste. Dagegen war und ist der Rechtfertigungsdruck in den USA viel geringer. Hier galt und gilt Reichtum als Zeichen des Erfolgs und diente auch der Bekräftigung der Vorstellung von sozialer Mobilität. Dass Industrielle wie Rockefeller mit Öl, Vanderbilt mit Eisenbahnen oder Hearst mit Zeitungen reich wurden, stärkte den Mythos "Vom Tellerwäscher zum Millionär". +In sozialen Medien kann jeder selbst bestimmen, wie er oder sie rüberkommen will +Ein Versprechen, das es bis heute gibt und das gleichwohl für viele hohl ist. +Es ist ein künstliches Versprechen, eine medial inszenierte Hoffnung. Es gab weder damals noch heute eine Chancengleichheit, die diese Hoffnung für viele rechtfertigen würde. Die Geschichten von Rockefeller, Vanderbilt und Hearst waren Geschichten einzelner Männer, die Medien gerne für die Erzählungen für die breite Masse nutzten. +In den USA haben die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung mehr als 50 Prozent des Gesamtvermögens. Und auch bei uns besitzen immer weniger immer mehr. Was bedeutet das für die Gesellschaft? +Sie haben eigentlich zu jeder Zeit unterschiedliche Studien darüber, inwiefern die Kluft zwischen Arm und Reich größer wird oder abnimmt. In den 1950er-Jahren konstatierten Soziologen eine große soziale Mobilität, bekräftigten Ludwig Erhards Credo vom Wohlstand für alle. Andere hingegen widerlegten diesen sozialen Fahrstuhleffekt. Aufschlussreich ist, dass zu unterschiedlichen Zeiten ganz unterschiedlich über soziale Ungleichheit diskutiert wurde. Das hing immer auch von der gesellschaftlichen und ökonomischen Situation ab. Mit den ersten Rissen im Wirtschaftswunder um 1967 wurden dann auch verstärkt Studien veröffentlicht, die die Chancengleichheit in Frage stellten. Und solch eine Wahrnehmung von Ungleichheit führte schließlich zu einem größeren Legitimationsdruck. Die Politik reagierte mit einer großen Steuerreform, und gesellschaftliche Kräfte wie Kirche und Gewerkschaften diskutierten stärker über Bildungsfragen und forderten mehr Chancengleichheit. +Geht mit Reichtum eine soziale Verantwortung einher? +Schon die Entstehung der großen Industrievermögen ging mit der Gründung von Stiftungen oder kulturellem Engagement einher. Große Kunstsammlungen wie die von Thyssen waren nicht nur Investitionsmöglichkeiten, sondern ihre Aufgabe war es, zugleich kulturelle Schätze zu bewahren. Mit Kunstsammlungen und Museen war und ist aber immer auch Macht über Wissen darüber verbunden, was zu bewahren ist und was nicht. +Auch die Art der Geschichtsschreibung kann durch solch eine Gründung bestimmt werden. Die Erbin des Wal-Mart-Konzerns in den USA hat zum Beispiel ein großes Museum zur amerikanischen Kunst gestiftet, bei dem manche kritisierten, dass die Kunst der indigenen Völker darin nicht vorkomme. +Schon Herrscher wie August der Starke haben ihren Ländern durch ihren Kunstsinn zu großer kultureller Blüte verholfen, von der viele Regionen heute profitieren. +Wenn sich Reichtum mit einem gewissen Freisinn verbindet, kann eine Gesellschaft sehr von Spendern und Stiftern profitieren. Aber Kritiker werden immer sagen, dass das alles im Eigeninteresse geschieht, um sich zu inszenieren und sein Vermögen zu vermehren. Vermögen en sind stets auf verschiedene Arten symbolisch aufgeladen, ihre Deutung liegt im Auge des Betrachters. +Ein Beispiel für einen speziellen Umgang mit Geld ist Hamburg. Dort hält sich das wohlhabende Bürgertum viel zugute darauf, dass man sich gesellschaftlich engagiert und das Interesse der ganzen Stadt im Auge hat. +In Hamburg empfinden viele Wohlhabende eine starke soziale Verantwortung für die Stadt, egal ob das Vermögen ererbt oder erarbeitet ist. Es gibt eine lange Tradition der Stiftungen und des Mäzenatentums. Dennoch engagiert man sich dort lieber im Hintergrund. Das mag viel mit einer bewussten Inszenierung des Hanseatischen zu tun haben, vielleicht aber auch damit, nicht Gefahr zu laufen, für seinen Einfluss kritisiert zu werden. Denn Reichtum impliziert immer Macht, immer Zugang zu Ressourcen, immer die Möglichkeit, über andere zu entscheiden. In einem Theaterstück von Volker Lösch am Hamburger Schauspielhaus wurden zu Beginn die Namen der 28 reichsten Hamburger verlesen. Lösch löste damit einen Theaterskandal aus, einige der Betroffenen klagten sogar dagegen. +Dr. Eva Maria Gajek lehrt am Historischen Institut der Universität Gießen und hat zu unserem Thema bereits einiges erforscht. Unter anderem schreibt sie derzeit ein Buch über die "Geschichte des Reichtums von 1900 bis 1970". + +Fotos: Dougie Wallace / institute diff --git a/fluter/Belarus-protest.txt b/fluter/Belarus-protest.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8cb2f9dcbc7c0f2d400852addaaa84582c973b8a --- /dev/null +++ b/fluter/Belarus-protest.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Ljuba heißt eigentlich anders, ihren Namen hat sie geändert, damit die Behörden sie nicht identifizieren können. Als sie im April 2021 per Zoom von solchen Erlebnissen berichtet, wirkt sie erschöpft: Eine Frau mit langen braunen Haaren und traurigen Augen erzählt davon, dass ein Mitstreiter von ihr verhaftet wurde, weil er eine kleine weiß-rot-weiße Schleife in sein Fenster gehängt hatte – die Farben der Opposition. +Belarus oder Weißrussland, wie es lange genannt wurde, hat 9,4 Millionen Einwohner. Als ehemalige Teilrepublik der Sowjetunion ist es wirtschaftlich vor allem nach Osten orientiert. In der sowjetischen Folklore galten die Weißrussen immer als besonders reinlich, aber eher passiv, im Gegensatz etwa zu denaufsässigen Ukrainern.Wer vor dem August 2020 das Land bereiste, fand zumeist sehr gut gefegte breite Straßen und stille Menschen vor. +Doch im Herbst und Winter 2020 erreichenBilder von Demonstrationen die Welt, friedliche Massenproteste Zehntausender, die weiß-rot-weiße Fahnen schwenken und demokratische Reformen fordern.Schon diese Proteste werden von brutaler Polizeigewalt überschattet, von Verhaftungen und Todesfällen. Aber immerhin kämpfen die Menschen noch. Mittlerweile aber, so beschreibt es der belarussische Schriftsteller Viktor Martinowitsch auf dem Medienportal budzma.by, gebe es "keine Nischen mehr", nicht einmal aufsässige Theaterstücke oder Lesungen regimekritischer Texte in Kellern. Sogar in der Sowjetunion, zu der Belarus bis zur Unabhängigkeit 1991 gehörte, hätten diese Freiräume existiert. Was in Belarus geschehe, sei der Versuch, "alles zu verbieten" – vor allem die Meinungen Andersdenkender. Seit Spätsommer vergangenen Jahres hat Ljuba an unzähligen Protesten teilgenommen. Vor allem die Bilder von Menschenketten, die nur von Frauen gebildet wurden, gingen um die Welt. Weiß gekleidet – als Zeichen des Friedens – standen sie den dunkel uniformierten Polizisten und Soldaten gegenüber, immer in Gefahr, geschlagen und verhaftet zu werden. +Aber der Druck der Behörden hat sich in den vergangenen Monaten stetig erhöht. Inzwischen trifft sich Ljuba selbst in ihrem eigenen Hinterhof nur kurz mit Mitstreiterinnen; größere Proteste gebe es aktuell gar nicht mehr. Eine seltene Ausnahme sei zuletzt ein Protestzug von etwa 30 zumeist jungen Menschen gewesen. Ljuba schickt ein Video. Verglichen mit dem, was noch vor Monaten möglich schien, wirkt diese Demo wie ein letztes verzweifeltes Aufbäumen. +Auch Julian musste aus Belarus fliehen – weil er spontan an einer Demo teilnahm.Hier lest ihr seine Geschichte +Viele von Ljubas damaligen Mitstreiterinnen sind ins Ausland geflohen. Aus Angst davor, im Gefängnis zu landen oder eine Geldstrafe zu bekommen, die einem die Zukunft nimmt. Die belarussische Menschenrechtsorganisation Viasna gibt die Zahl der politischen Gefangenen Mitte Mai mit 404 an. "Viele werden weggesperrt, andere halten es nicht mehr aus und wandern aus, dazu kommt Corona." Auch Ljuba und ihre Familie haben eine Infektion durchlebt, zum Teil mit schweren Verläufen. "Da denkst du dann erst einmal nicht an Proteste."Die Behörden leugnen die Gefahren der Pandemie.Präsident Lukaschenko hat mal empfohlen, gegen das Virus Wodka zu trinken und Traktor zu fahren. +Wie viele Menschen in Belarus an Corona erkranken, ist ebenso schwer zu benennen wie die Prozentzahl der Anhänger von Lukaschenko. Den gegenwärtig besten Eindruck vermittelt eine aktuelle Studie des "Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien" (ZOiS), die bilanziert, dass etwa 30 Prozent der Menschen in Belarus weiter den Präsidenten unterstützen. +Schon vor den Protesten kannte das Land nur marginale Formen der Pressefreiheit. Mittlerweile ist es in der Rangliste der Reporter ohne Grenzen auf Platz 158 von 180 abgerutscht. Kein anderer Staat in Europa rangiert so weit hinten. Ende Mai wurde sogar ein Verkehrsflugzeug, das von Athen nach Litauen flog, von einem Militärjet gezwungen, in Minsk zu landen, damit der regierungskritische Blogger Roman Protasewitsch festgenommen werden konnte, der an Bord war. +Auch für Journalisten aus dem Ausland werden Recherchen in Belarus immer schwieriger. Auf Presseanfragen aus dem Westen antworten die Behörden nicht mehr, es ist also unmöglich, die andere Seite der Geschichte zu hören. Gleichzeitig trauen sich Menschen kaum noch, mit den Medien zu reden. Die erste Protagonistin, um die es in diesem Text gehen sollte, wurde am Morgen vor dem Interview verhaftet. Ihr Aufenthaltsort ist ungewiss. Daher läuft auch die Kommunikation mit Ljuba nur verschlüsselt. Wenn sie das Haus verlässt, nimmt sie ihr Smartphone oft nicht mit, damit es der Polizei nicht in die Hände fällt – und mit ihm all ihre Kontakte. +Trotzdem hat sich Ljuba entschieden, weiterzukämpfen – auch wenn ihr dramatische Konsequenzen drohen. Doch davon lässt sie sich nicht beirren. Neben der Organisation von Protesten verfasst sie mit Mitstreiterinnen Protestnoten an die EU oder die UN. Vor Kurzem ging im Namen von Folteropfern beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe eine Strafanzeige gegen Lukaschenko ein. Ljuba ist noch jung, sie könnte weg, zumindest theoretisch: nach Litauen oder Polen etwa, die wichtigsten Exilorte belarussischer Oppositioneller. Der Grund, warum sie bleibt, ist nicht nur der Kampf gegen das Regime, sondern auch das Schicksal ihres Sohnes, der seit vier Jahren im Gefängnis sitzt. Er ist einer der in Belarus so genannten "Kinder 328", also ein Minderjähriger oder junger Erwachsener, der nach dem Paragrafen 328 verurteilt wurde, womit Drogendelikte geahndet werden. Weil er mit weniger als einem Gramm Spice, ein synthetisches Cannabinoid, erwischt wurde, bekam er zehn Jahre Lagerhaft. +Kinder zu haben bedeutet für Ljuba, dass sie ein noch größeres Risiko eingeht, da sie nicht nur für sich selbst verantwortlich ist. Wenn sie festgenommen wird, könnte sie das Sorgerecht für ihre Tochter verlieren. "Das Regime weiß, dass es die Menschen am härtesten trifft, wenn es ihnen ihre Kinder wegnimmt." Neulich wurde sie von einer Lehrerin ihrer Tochter aufgefordert, Kritik an Lukaschenko aus ihren Social-Media-Kanälen zu löschen – sonst werde ihre Tochter "weggebracht". +Sie fühle sich häufig ausgelaugt und leer, gerade in letzter Zeit, da es so aussehe, als würde Lukaschenko gewinnen. "Nachbarn sagen oft, dass ich Ruhe geben soll, sonst wäre ich auch bald dran", sagt Ljuba. "Aber wenn ich jetzt aufgebe, waren all die schlaflosen Nächte und die ganze Angst umsonst." Manchmal, in ihren dunkelsten Momenten, wolle sie schon aufgeben und ausreisen. Aber dann denke sie an ihren Sohn – und es geht weiter. "Dieses Regime nimmt uns alles", sagt Ljuba, "deshalb werden wir kämpfen." + diff --git a/fluter/Berlinale-Blog-2018-tag10.txt b/fluter/Berlinale-Blog-2018-tag10.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d3d4cc1b2302eac60c50cb9ae392e273a80d1005 --- /dev/null +++ b/fluter/Berlinale-Blog-2018-tag10.txt @@ -0,0 +1,70 @@ +Man wolle kulturelle Teilhabe ermöglichen, begründete Festivalchef Dieter Kosslick die ungewöhnliche Vorstellung im Vorfeld. Der Berliner Justizsenator Dirk Behrendt, der in einer der vorderen Reihen sitzt, sagt, man könne mit solchen Screenings das Leben in Haft dem Leben in Freiheit ein Stück weiter angleichen. Auch Regisseur Lars Kraume ist gekommen. "Das schweigende Klassenzimmer", das heute in der JVA Tegel gezeigt wird, ist sein Film. "Ich bin hier, um Ihre Fragen zu beantworten", sagt er. Kurze Pause. "Wenn Sie welche haben." Der Abend wirkt wie eine unsichere Annäherung zwischen Häftlingen, Journalisten und Filmteam im Raum. +Die sind nur zu Gast im Knast: Regisseur Lars Kraume mit dem Team des Film "Das schweigende Klassenzimmer", der im Rahmen des Berlinale-Kiez-Kinos in der JVA Tegel gezeigt wurde. +Nach seinem Erfolgsfilm "Der Staat gegen Fritz Bauer" hat Kraume erneut einen Stoff der deutschen Nachkriegsgeschichte aufgegriffen. "Das schweigende Klassenzimmer" erzählt die wahre Geschichte einer DDR-Schulklasse, die sich 1956 mit den Demonstranten des Ungarischen Volksaufstands solidarisiert. Durch ihre Schweigeminute im Geschichtsunterricht gerät sie zwischen  die Fronten der Politik. +Viele Häftlinge ziehen an diesem Abend Parallelen des Filmes zu ihrem Leben. "Im Film herrscht so eine Unfreiheit, die herrscht hier auch", sagt einer in der Diskussion. Ein anderer meint : "Ich habe mich im Film der Macht ausgesetzt gefühlt und mich so ohnmächtig gefühlt, wie oft auch hier." Spätestens als der DDR-Bildungsminister, gespielt von Burghart Klaußner, in der Schule auftaucht und wissen will, wer der Kopf hinter der Schweigeminute ist, spitzt sich die Handlung zu. Mal werden die Schüler von ihren Eltern, mal von den SED-Funktionären ins Kreuzverhör genommen. +Der Film wirft die ganz großen Fragen auf. Nach Schuld und Unschuld, nach Solidarität und Verrat, nach Lüge und Wahrheit. Im anschließenden Gespräch geht es verhaltener zu. Die meisten Fragen kreisen um die Zeit, in der die Geschichte spielt, und wie sie sich von heute unterscheidet. +Ein älterer Insasse, der seine grauen Haare zum Zopf zusammengebunden trägt, schildert seine Erinnerungen an den Osten, wo er wie einige andere im Publikum geboren wurde. Viele der Gefangenen aus der Justizvollzugsanstalt in Brandenburg wurden auch nach der Wende in die JVA Tegel verlegt. +Als Regisseur Lars Kraume den Saal verlassen will, fragt einer der Häftlinge nach einem Autogramm. Ein bisschen hat der Abend in der JVA Tegel vielleicht doch etwas von Berlinale und rotem Teppich, auch wenn unten am Eingang längst die Aufräumarbeiten begonnen haben, als die Journalisten den Saal verlassen. Eine der Justizvollzugsbeamtinnen bahnt sich den Weg durch die kleine Gruppe nach vorne: "Ohne Schlüssel kommen Sie hier nicht raus." +Nikola Endlich + + +Ein länger Gefängnisaufenthalt könnte auch den Juan und Wilson blühen, die im Wettbewerbsfilm "Museo" einen Kunstraub begannen haben. Ob sich der Film lohnt, das weiß unser rappender Rezensent Damian Correa. + + +Größtenteils in geschlossenen Räumen spielt auch der Wettbewerbsfilm "In den Gängen" von Thomas Stuber. Allerdings im Großmarkt, nicht im Gefängnis. Einen kurzen Auftritt hat auch Stapelfahrer Klaus, der es 2001 bis auf die Filmfestspiele von Cannes schaffte. Und "In den Gängen"? Simone Ahrweiler würde sich freuen, wenn dieser so zärtliche Film rund um die Flurfördermittel einen Bären abräumen würde. Hier geht es zum Steckbrief. + + +Ein lauter Knall beendet das hypnotische Spiel der polynesischen Trommeln : Wie disruptiv der französische Kolonialismus im südlichen Pazifik wirkte, das hört man schon nach wenigen Minuten des Films "Ma'Ohi Nui, in the heart of the ocean my country lies". Der Knall kommt von einem Atomtest. Von 1966 bis 1996 zündeten die Franzosen 193 Bomben, 46 davon oberirdisch. Was das für das Volk der Ma'ohi bedeutete, die auf den umliegenden Atollen lebten, das erzählt der Film von Annick Ghijzelings so eindrucksvoll wie bedrückend. +Ihr Film erzähle die Geschichte von zwei Kolonialisierungen, sagt die belgische Regisseurin bei der Premiere. Die Erste war militärisch, die Zweite leiser, aber nicht weniger folgenschwer. Durch die wirtschaftliche Hilfe, die die Ma'ohi nach ihrer Umsiedlung erfahren haben, hätten sie sich von ihren Traditionen entfremdet. Viele wohnen auf Tahiti in Wellblechhütten genau neben der Landebahn des Flughafens. Die ehemals großen Seefahrer haben ihre Traditionen vergessen. Sie fahren nicht mehr mit ihren Booten über die Atolle, sie fischen nicht, betreiben keine Landwirtschaft mehr, haben ihre Sprache verlernt. Zur kulturellen Entwurzelung kam die ökonomische: Sie haben ihre traditionelle Lebensgrundlage verloren und hangeln sich von Job zu Job, wenn sie denn einen bekommen. Zaghaft findet auch eine Rückbesinnung statt. Doch ein leichter Weg ist das nicht. Denn der Schatten des Kolonialismus ist lang. + + +Festivals sind Ausnahmezustand. Man schaut drei oder vier, manchmal fünf Filme an einem Tag, und, zugegeben, vieles hat man auch schnell wieder vergessen. In Erinnerung bleiben oft Szenen, in denen der Soundtrack besonders stark zum Tragen kommt. Deshalb hier unsere ganz persönlichen Soundtrack-Hits der Berlinale – und warum wir uns an die Momente in den Filmen erinnern werden. + +The West Coast Pop Art Experimental Band: I Won't Hurt You(aus "Isle of Dogs" von Wes Anderson) + + +Was wäre Wes Anderson ohne seine Soundtracks? Auf der Kultskala von Filmnerds kommen sie jedenfalls nur knapp hinter denen von Quentin Tarantino. Was dabei nie fehlen darf: Ein verträumter Psychedelic-Track aus den späten Sixties. In "Isle of Dogs" wird "I Won't Hurt You" sogar zum Leitmotiv. Immer wenn Atari und die Hunde-Gang zur nächsten Etappe ihrer Reise aufbrechen, setzt der Song ein. + +Gianni Bella: Questo Amore Non Si Tocca(aus "Figli mia – Daughter of Mine" von Laura Bispuri) + + +In "Figlia mia" ist Vittoria zerrissen zwischen ihrer Adoptivmutter und ihrer leiblichen Mutter Angelica, die sie nach der Geburt fortgab. Eine Annäherung an Angelica, einer impulsiven Draufgängerin, entwickelt sich erst nur zögerlich – bis die beiden miteinander tanzen. Aus dem Autoradio plärrt ein schlüpfriger Italoschlager, Angelica singt inbrünstig mit und Vittoria entdeckt, das sie auch kein Kind von Traurigkeit ist. Einen Ausschnitt der Szene gibt's hier. + +Talking Heads: Road to Nowhere(aus "Transit" von Christian Petzold) + + +Christian Petzold setzt nur spärlich Songs in seinen Filmen ein. Aber wenn, dann haben sie auch was zu erzählen. In "Transit" geht es um den Schwebezustand auf der Flucht in ein anderes Land, um die Ungewissheit, wohin es gehen wird. Das Ende bleibt offen und mit der Schwarzblende setzt passend "Road to Nowhere" ein. Der Song habe mit seinen Gospel-Anklängen aber auch etwas Tröstliches, findet der Regisseur. + +Stromae: Alors on danse(Aus "Première Solitudes" von Claire Simon) + + +"Première Solitudes" (etwa: "erste Einsamkeiten") ist ein kleiner Dokumentarfilm, den Claire Simon mit einer Schulklasse aus einem Pariser Vorort gedreht hat. Der Film zeigt die Kids auch auf dem Weg zur Schule, wie es heute eben alle machen: Ohrstöpsel rein, Lieblingssong einschalten, Welt kurz mal ausschalten. Besonders wichtig war der Filmemacherin, dass "Alors on danse" von Stromae im Film ist. Der erzähle quasi die Geschichte einer Protagonistin: Scheidung der Eltern, Geldsorgen, Gerichtsvollzieher vor der Tür – aber eine trotzige Lust aufs Leben. + +ACDC: Hells Bells(aus "Khook – Pig" von Mani Haghighi) + + +Hasan, ein iranischer Filmemacher mit Berufsverbot, hat einen ziemlich eindimensionalen Style: Er trägt jeden Tag Band-T-Shirts, und zwar ausschließlich von den klischeehaftesten Rockbands, die man sich so vorstellt: AC/DC, Kiss, Black Sabbath. Als er an einer Stelle des Films im Knast landet, wird es surreal. Auf dem Boden liegt ein rot leuchtender Tennis-Schläger, mit dem Hasan plötzlich Gitarre spielt. Das Riff von "Hells Bells" setzt ein und Hasan singt auf Persisch selbstmitleidig, wie schlecht es die Welt schon wieder mit ihm meint. + +Wang Chung: To Live and Die in L.A.(aus "To Live and Die in L.A." von William Friedkin) + + +Eine Wiederentdeckung der Berlinale, dank der "Hommage" an Willem Dafoe: Der Polizei-Thriller "To Live and Die in L.A." von William Friedkin aus dem Jahr 1985. Fitness-Studios, schmierige Erotikbars, VHS-Rekorder, Föhnfrisuren und Neonfarben – mehr Eighties als in diesem Film geht kaum. Fehlt nur noch treibender Synthie-Pop auf der Tonspur? Check. Die britische Band Wang Chung hat den kompletten Soundtrack geschrieben. +Franco Battiato: L'animale(aus "L'animale" von Katharina Mueckstein) + + +Gegen Ende von "L'animale" gibt es eine eindringliche Szene. Die betrogene Mutter, der ängstliche Vater, die verlassene Tochter, ihr wütender Freund und ihre noch wütendere Freundin erleben parallel einen Moment der totalen Verzweiflung und singen gemeinsam das Lied von Franco Battiato, das dem Coming-of-Age-Film seinen Titel gibt. Die Kritiken zu dieser surrealen Szene schwanken zwischen kitschig und wunderschön. Sicher ist, dass eseine sehr ähnliche Szeneschon mal gab, nämlich 1999 im Drama "Magnolia" von Paul Thomas Anderson). +Jan-Philipp Kohlmann und Christine Stöckel + + +Heute das große Finale, das allerletzte Quiz. Mindestens für die nächsten 51 Wochen. Wie immer gilt: zwei dieser drei Filme laufen, so schräg das klingen mag, tatsächlich auf der diesjährigen Berlinale. Einen haben wir erfunden. Welcher ist es? +Apartament nr. 32(von Dorinel Corduneanu, Rumänien 2018) +Wenn Bogdan einsam ist, steigt er auf das Dach seines Plattenbaus und blickt über die Dächer von Bukarest. Eines Tages sitzt dort eine fremde Frau, Mihaela. Sie ist in Wohneinheit Nr. 32 gezogen, in der zuvor ein greiser Spitzenfunktionär der Partidul Comunist Român lebte. Die von vielen Missverständnissen begleitete Annäherung von Bogdan und Mihaela reflektiert den schwierigen Selbstfindungsprozess der postkommunistischen rumänischen Gesellschaft. +Yours in Sisterhood(von Irene Lusztig, USA 2018) +Frauen unterschiedlicher Hintergründe und Herkunft lesen und kommentieren Briefe, die in den 70er Jahren an das liberal-feministische Magazin "Ms." gingen. Irene Lusztig gelingt es in ihrer dokumentarischen Inszenierung, einen Fundus der Frauenbewegung in eine vielschichtige Beziehung mit der Gegenwart zu bringen. Das Wort steht dabei nur vermeintlich im Vordergrund. Dem Publikum ist es überlassen, einen feministischen Kosmos zu entdecken. +An Elephant Sitting Still(von Hu Bo, China 2018) +In der nordchinesischen Stadt Manzhouli soll es einen Elefanten geben, der einfach nur dasitzt und die Welt ignoriert. Manzhouli wird zur fixen Idee für die Helden dieses Films, zum erhofften Ausweg aus der Abwärtsspirale, in der sie sich befinden. Hu Bo, der in China bereits mit seinen Romanen Aufsehen erregte, gibt mit diesem vierstündigen Porträt einer Gesellschaft von Egoisten sein elektrisierendes Regiedebüt. +Michael Brake + +Und für alle Willensstarken, die beim letzten Quiz vom Donnerstag dem Googledrang widerstehen konnten: No me olvides war eine Erfindung. Über einen Besuch von Alejandro González Iñárritu auf der Berlinale würden wir uns aber wirklich sehr freuen! + +Was gestern so los war auf der Berlinale? Das erfahrt ihrhier. diff --git a/fluter/Berlinale-Blog-2018-tag11.txt b/fluter/Berlinale-Blog-2018-tag11.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..acab6dda87cc43816659cd12a79df2ae20c1bd12 --- /dev/null +++ b/fluter/Berlinale-Blog-2018-tag11.txt @@ -0,0 +1,52 @@ +Greatest Shit +Es ist ja schön, dass zu den Filmen der Generation 14Plus immer viele Jugendgruppen kommen. Aber dann doch bitte um den Film zu sehen und nicht, um die ganze Zeit zu quatschen. + +Das hat mich berührt +Marie Bäumer als Romy Schneider in "3 Tage in Quiberon". Als das Licht im Saal wieder anging, hatte nicht nur die Schauspielerin Tränen in den Augen – ich auch. Noch nie hat mich ein Schauspiel so berührt. Ich warte jetzt schon sehnsüchtig auf den regulären Kinostart. (12. April) +Das hab ich gelernt +Dass der Gang über den roten Teppich nicht für alle selbstverständlich ist – Cast & Crew von "High Fantasy" aus Südafrika bedankten sich nach der Premiere herzlich dafür. Diese Natürlichkeit und Bodenständigkeit geht im Berlinale-Glamour ansonsten doch ein wenig unter. + + +Greatest Hit +Okay, das ist unfair. Ich mag: Animationsfilme. Filme mit Tieren. Filme, die in Japan spielen. Und Filme von Wes Anderson. "Isle of Dogs" ist alles vier auf einmal und dazu noch liebevoll bis ins kleinste Detail, wahnsinnig lustig, rührend, spannend und nicht zu lang. Den schau ich mir im Mai nochmal beim normalen Kinostart an. +Greatest Shit +Der schwedische Wettbewerbsbeitrag "Toppen av ingenting" über eine schrille Hauserbin war mir zu laut, zu anstrengend, zu bemüht schrill und provokant und nicht richtig zu Ende gedacht. +Das hat mich berührt +Wie die Videokünstlerin Margaret Honda ganz allein in ihrer 36-Stunden-Echtzeit-Kinoprojektor-Testbildgenerator-Installation "6144 x 1024" saß, versteckt in einem Nebensaal und praktisch nicht beworben. Ich hoffe, ich habe einfach nur zwei schlechte Momente erwischt, und sonst war es voller. +Das habe ich gelernt (schmerzhaft und immer wieder): +Es reicht nicht, einfach pünktlich zu sein, wenn man einen Berlinale-Film sehen will. Man sollte mindestens zehn Minuten vorher da sein, lieber noch früher. Außer, man sitzt gern in der ersten Reihe. + + +Greatest Hit +Easy: die RAP-Zensionen von Damian Correa zu "Isle of Dogs", "Denmark", "Gülvercin" und "Museo". Ok, die sind natürlich außer Konkurrenz, aber vielleicht laufen sie ja nächstes Jahr bei den Berlinale Shorts? Ansonsten: "In den Gängen", der zärtlichste Film, der je über Gabelstapler gedreht wurde. +Greatest Shit +Einige. Nur einmal zum Street Food Markt geschafft, "Chef Flynn" verpasst, in "Ma Oui Nui" kurz nach der Eingangsmusik eingeschlafen und erst zum Abspann wieder aufgewacht, in einer herumliegenden BZ gelesen, dass es Profi-Lamentierer Gunnar Schupelius ernsthaft als Aufreger empfand, dass es auf dem Berlinale Abschlussdinner keine Currywurst serviert wird. So 1970er... +Das hat mich berührt +Eröffnungsfilm der Generation 14Plus, "303": Als Jule und Jan nach gut zwei Stunden Filmzeit, tausenden von Kilometern Busfahrt und hunderten von aufgesagten Skriptseiten endlich mal knutschen, da brandet im Publikum spontaner Szenenapplaus auf. +Das hab ich gelernt +Während des Zweiten Weltkriegs wurden auch in der neutralen Schweiz die Nahrungsmittel rationiert. Das Brot, das verkauft wurde, war zwei Tage alt, damit man es nicht zu schnell isst. Gelernt in der ebenfalls berührenden, weil ganz persönlich erzählten Flucht-Dokumentation "Eldorado" von Markus Imhoof. + + +Greatest Hit +Shout-out an die beiden so unterschiedlichen deutschen Wettbewerbsfilme von Christian Petzold und Thomas Stuber: "Transit" (Kinostart: 5. April) schlendert als Genrefilm verkleidet auf der Flucht vor den Faschisten durchs heutige Marseille und "In den Gängen" (Kinostart: 26. April) entdeckt die anmutige Eleganz der Gabelstapler. +Greatest Shit +Die Missbrauchsvorwürfe gegen Kim Ki-Duk versandeten in einer halbgaren Debatte mit dem südkoreanischen Filmemacher. Sein Film "Human, Space, Time and Human" aber ist eine so frauenfeindliche und stumpfsinnige Gewaltparabel, dass seine Einladung nach Berlin auch deshalb ärgerlich war. + +Das hat mich berührt +Ein Dokumentarfilm-Moment: In "Premières solitudes" bringen zwei Mitschülerinnen einen schüchternen Jungen zum Reden. Wie heftig seine Mundwinkel zucken und eine Riesenträne langsam kullert, wenn er von der Abwesenheit des Vaters spricht, könnte kein Schauspieler der Welt so spielen. Herzallerliebst auch, wie die Mädels ihn dann trösten. +Das hab ich gelernt +Im Dokumentarfilm "I See Red People" erfährt man, dass Filmkritiker im kommunistischen Bulgarien, die damals auf internationale Festivals fahren durften, vermutlich Spitzel der Geheimpolizei waren. Ja nun. Was glaubt ihr eigentlich, was ich auf der Berlinale neben den paar Blogeinträgen so mache? + + +Greatest Hit +Wie die Fußballtrainerin in der norwegischen Serie "Heimebane" fünf Mal hintereinander die Torlatte trifft – das ist gewollt – und damit ihren Schauspielerkollegen John Carew abzieht. Der trifft nur dreimal. Eine schöne Szene, zumal Carew mal Nationalspieler war. +Greatest Shit +Die Rückenlehnen im Zoo Palast. (Die kann man nicht feststellen, so dass man plötzlich ruckartig wie auf dem Zahnarztstuhl liegt, Anm. d. Red.) +Hat mich berührt +Vor allem eine Szene aus der Dokumentation "Soufra". Der Film spielt in einem Flüchtlingscamp im Libanon und zeigt Mariam Shaar, wie sie mit einem dutzend anderer Frauen ihren eigenen Cateringservice aufzieht. Über anderthalb Jahre muss sie, davon handelt der Film hauptsächlich, auf einen eigenen Foodtruck warten. Für Flüchtlinge ist es schwer, eine Lizenz zu bekommen. Als es dann nach langem Warten soweit ist, sitzt Mariam Shaar im Auto, strahlt übers ganze Gesicht, drückt aufs Gas, nimmt einen Bordstein mit und düst zu ihren Frauen. +Wieder was gelernt +Bevor man einen Truthahn in den Ofen schiebt, sollte man ihn in seine Einzelteile zerlegen. Denn jedes Teil braucht unterschiedlich lang. Ich koche zwar sehr selten Truthahn, also eigentlich nie, trotzdem danke dafür, Flynn McGarry. + +Gestern abend wurden auch noch die Bären verliehen, was in diesem Jahr durchaus für Spannung sorgte, liefen doch sehr viele gute Filme im Wettbewerb. Die Entscheidung der Jury um Tom Tykwer war dann eine ziemliche Überraschung. Den Goldenen Bären bekam der semifiktionale rumänische Beitrag "Touch me not". In ihrem Debütfilm fragt die Regisseurin Menschen mit unterschiedlichen seelischen und körperlichen Beeinträchtigungen nach ihrem Sexleben sowie ihren Ängsten und Sehnsüchten. Der Film erhielt eine ziemlich gemischte Resonanz. Bei der Pressevorführung verließen zahlreiche Journalisten die Vorführung. Alle Ergebnisse der Jury um Tom Tykwer gibt eshier,und was wir so die letzten Tage auf der Berlinale erlebt haben, das könnt ihrhierlesen. + +Titelfoto: Daniel Seiffert diff --git a/fluter/Berlinale-Blog-2018-tag5.txt b/fluter/Berlinale-Blog-2018-tag5.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3f06640defa2b8cfc3d254a187e4f6fd36d54a30 --- /dev/null +++ b/fluter/Berlinale-Blog-2018-tag5.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Dann entwickelt der Film einen eigenartigen Sog. Die Tänzerinnen wie Egypt und Mahogany sind Szenestars, bei ihren Auftritten werden sie von den Frauen im Publikum mit Dollarscheinen beworfen. Ronnie Ron, Stud-Lesbe und Profi am Mikro, heizt als flamboyante Gastgeberin die Party an. Und als irgendwann die Polizei den Laden hochnimmt – obwohl er die nötige Lizenz hat – will auch der letzte weiße cis-männliche Hetero auf die Barrikaden gehen. #Ungerecht! +Regisseurin Leilah Weinraub war, wie sie in dem Q&A nach der Premiere sagte, jahrelang bei den Partys mit ihrer Kamera dabei. Später betrieb sie das New Yorker Modelabel Hood by Air, das mit seinen geschlechtsneutralen Looks für Furore sorgte und das von Hiphop-Größen wie A$AP Rocky gerne getragen wird. Shakedown ist ihr Debütfilm. Und für solche Filme wurde die Berlinale quasi erfunden. Die wilde Mischung passt zu Berlin. Und Berlin steht auf solche Filme. Die Premiere von Shakedown war sofort ausverkauft, die übrigen Vorstellungen auch. In Cannes und Venedig, deren Festivals die 79 Filmschaffenden als Vorbilder für eine Berlinale nach Kosslick zitieren, da laufen solche Filme wohl kaum. +Felix Denk + + + +Dieser Song, den Blumfeld auf ihrem Album Testament der Angst singen, sorgt in Christian Petzolds Wettbewerbsfilm "Transit" für eine bewegende Szene. Georg, gespielt von Franz Rogowski, ist auf der Flucht vor den Nazis. In Marseille wartet er darauf, weiter zu kommen. Dort lernt er den Jungen Driss kennen, den Sohn eines verstorbenen Freundes. Wie Georg dem Jungen das Gute-Nachtlied vorsingen will, ist ganz großes Schauspielerkino, findet Jan-Philipp Kohlmann.Hiergeht es zu seinem Steckbrief. + + +Der Film Profile von Timur Bekmambetov ist gleich in zweifacher Hinsicht ungewöhnlich. Einmal thematisch. Es geht um den realen Fall einer Journalistin, die sich bei einer Recherche in einen IS-Kämpfer verliebt, mit dem sie dann zärtlich Katzen-GIFs hin- und herschickt, aber auch formal: Er spielt komplett auf einem Computerbildschirm. Und, ja, das funktioniert, findet Michael Brake.Hiergeht es zu seinem Steckbrief. + + +Ist ja schön, dass auf der Berlinale so viele tolle Filme laufen. Aber was bringt mir das, wenn ich gar nicht in Berlin wohne? Wie, naja, so ziemlich alle. Oder wenn die Tickets mal wieder in Sekundenschnelle vergriffen waren? Für alle derart Gepeinigten gibt es dieses Jahr erstmals ein kleines Streamingangebot. Bis zum 28. Februar können acht Filme aus dem Berlinale-Programm beiFestival Scopefür 3 Euro pro Film abgerufen werden. Allerdings nur von jeweils 300 Menschen, mehr Plätze bietet der virtuelle Kinosaal aus unerfindlichen Gründen nicht. Und auch nur von deutschen IP-Adressen (oder: und auch nur in Deutschland). Aber hey, immerhin! +Mit dabei ist unter anderem der tolle argentinische Dokumentarfilm "Theatre of War", der sich mit dem Krieg um die Falklandinseln beschäftigt – 74 Tage dauerte der Konflikt um die unwirtlichen Inseln im Südatlantik im Frühjahr 1982, über 900 Soldaten kamen ums Leben. +Man merkt, dass die argentinische Regisseurin Lola Arias aus der Kunst- und Theaterszene kommt, denn ihre Herangehensweise ist so ungewöhnlich wie aufregend: Sie hat sechs Kriegsveteranen, je drei britische und drei argentinische, mehrere Wochen zusammengebracht. Ihre Erinnerungen und Geschichten erzählen sie in perfomancehaften Situationen, mit Margaret-Thatcher-Masken, in einem Schwimmbad, nachgestellt mit Modellbaufiguren. So entstehen Bilder von künstlerischer Schönheit, wie man sie in einer Kriegsdokumentation genau nicht erwartet – und deren Wucht und Ideenreichtum zeigen, wie man "Oral History" auch anders als nach dem Prinzip "sprechende Köpfe vor dunklem Hintergrund" inszenieren kann. +Michael Brake + + +Die Berlinale wäre nicht die Berlinale ohne...Hong Sang-soo. +Beruf:Regisseur & Kaffeehaus-Poet des Kinos. +Auffallende Merkmale:Äußerlich ist das schwierig: Er ist Ende 50, trägt Schnurrbart, kurze graue Haare und spricht – selbst mit Mikrofon – sehr leise. Aber man weiß allerspätestens nach zwei Minuten, dass man wieder in einem seiner Filme sitzt. +Warum braucht ihn die Berlinale?Weil der Südkoreaner in jedem Jahr mindestens einen Film macht, der aus den folgenden, bestechend einfachen Zutaten besteht: einem Kaffeehaus, Männern & Frauen, Trauer & Selbstmitleid, Witz & Spott, Kino & Schauspiel sowie mindestens einer Szene, in der sich die Protagonisten mit dem Reisschnaps Soju gegenseitig unter den Tisch trinken. Sein diesjähriger Berlinale-Beitrag heißt "Grass". +Und was sagt er selbst?"Ich stehe um vier Uhr auf und fange an, Dialoge zu schreiben. Ich weiß noch nicht, worum es gehen wird, verlasse mich ganz auf spontane Einfälle. Am Vormittag entwickle ich die Szenen mit den Schauspielern, dann drehen wir. Bei meinem neuen Film haben wir vier Tage gedreht und drei Tage geschnitten. Nach einer Woche war der Film also fertig." +Jan-Philipp Kohlmann diff --git a/fluter/Berlinale-Blog-2018-tag6.txt b/fluter/Berlinale-Blog-2018-tag6.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ced4c489b9cea183d663d258d483356323ccb45b --- /dev/null +++ b/fluter/Berlinale-Blog-2018-tag6.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Dabei fallen im Tipi einige wichtige Sätze. Die Vorwürfe der Vergewaltigung von Schauspielerinnen in den USA und in Deutschland – gegen Harvey Weinstein und Dieter Wedel – werden auf der Bühne als Machtmissbrauch verurteilt. Solche Taten dürfen sich nicht hinter "künstlerischer Freiheit und Genie" verstecken, erklärt Familienministerin Katarina Barley gleich am Anfang der Veranstaltung. Moderatorin Verena Lueken von der F.A.Z. fragt: Wie kann sexuelle Gewalt verhindert werden? Brauche es einen Verhaltenskodex am Set? +"Über ein paar Dinge muss man reden", sagt Schauspielerin Jasmin Tabatabai. "Vor allem mit jungen Frauen. Wenn man besetzt werden will, gibt es da diesen Gott, das ist der Regisseur und dem muss man gefallen. Da sollte es Regeln geben, was okay ist und was nicht. Castings zum Beispiel müssen nicht auf Hotelzimmern stattfinden", erklärt Tabatabai. +Plötzlich wird es laut im Zelt. Mehrere Frauen (und wenige Männer) der rechtsextremen "Identitären Bewegung" entfalten auf der Bühne ein Transparent und versuchen, #Metoo für eine ihrer rassistischen Kampagnen zu nutzen, die Migranten pauschal für sexuelle Übergriffe auf Frauen verantwortlich macht. Nach einiger Verwirrung und vielen Buhrufen verlassen sie den Saal. Wie mit dieser Situation umgehen? Dazu gibt es gespaltene Meinungen: "Das sind junge Frauen, die denken, sie würden unsere Kultur retten. Ich würde gerne mit ihnen in den Dialog kommen", erklärt Barbara Rohm, Mitbegründerin von Pro Quote Film e. V.. "Wir sollten denen auf gar keinen Fall eine Bühne bieten! Mit denen reden wir nicht", rufen vereinzelt ZuschauerInnen. +Die Moderatorin lenkt das Gespräch wieder in Richtung der eigentlichen Debatte: die Schieflage von Machtverhältnissen in der Branche. Die nicht-paritätische Verteilung von Jobs an Männer und Frauen ist einer der Gründe dafür. Es arbeiten mehr Männer in Schlüsselpositionen. 72 Prozent der Kinofilme werden von Regisseuren gemacht,so eine Studie der Filmförderungsanstalt (FFA) von 2017. +Die Geschlechterverteilung von Filmschaffenden ist ein wichtiges Thema und ein wichtiger Bestandteil der #Metoo-Debatte. An dieser Stelle aber eine Ablenkung von anderen Themen. Kaum ein Wort fällt über konkrete Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs, über den Umgang mit Gewalt am Set und über das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Die Vorwürfe der Vergewaltigung, sexueller Nötigung und Demütigung, die mehrere Frauen etwa gegen den deutschen Regisseur Dieter Wedel erheben, bleiben unkommentiert. Obwohl mit Thomas Kleist der Intendant des Saarländischen Rundfunks (SR) auf der Bühne sitzt. Auch während einer Produktion des SR vor ungefähr 40 Jahren soll es zu Übergriffen durch Wedel gekommen sein. +Die Berlinale und #Metoo – das ist ein schwieriges Verhältnis. Es wurde einiges unternommen: Im Vorfeld sollen Filme von Regisseuren, die Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe begangen haben, nicht ins Programm aufgenommen worden sein. Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) kündigte an, eine Anlaufstelle für Missbrauchsopfer aus der Kreativbranche finanzieren zu wollen. Die Berlinale gibt der Initiative #Speakup viel Raum, die Betroffene von sexueller Belästigung in der Filmbranche ermutigt, ihre Stimme zu erheben. Das ist sind alles gute Zeichen. + +Trotzdem fehlt ein starkes, öffentliches Symbol der Solidarität mit SchauspielerInnen und anderen Frauen, die sexuelle Gewalt erfahren haben. Das traut man sich nicht. Kein schwarzer Teppich wie bei den Golden Globes.Fragen zu #Metoo an SchauspielerInnen werden von PR-Leuten auf der Berlinale schnell abgewürgt. Umstritten auch dieEinladung des koreanischen Regisseurs Kim Ki-duk, gegen den ein sexueller Missbrauchsvorwurf erhoben wurde, den er selbst allerdings bestreitet. +Auch im Tipi findet die Solidaritätsbekundung nicht auf der Bühne, sondern davor statt. Viele SchauspielerInnen, RegisseurInnen, DrehbuchautorInnen, Masken- und KostümbilderInnen stehen nach der Veranstaltung beieinander, tauschen Erfahrungen aus, sind wütend. Vielleicht hätten sie auf der Bühne sitzen sollen. +Christine Stöckel + + +Die deutsche Filmkritik ist sich relativ einig: "Utoya 22. Juli", der norwegische Wettbewerbsfilm über die Terroranschläge von 2011, geht für die meisten Kritikerinnen und Kritiker gar nicht. Nach der Pressevorführung war der Gesamteindruck allerdings ein anderer. Applaus und Buhrufe hielten sich die Waage. Auf der Pressekonferenz erhielt Regisseur Erik Poppe Gratulationen, meist von internationalen Kollegen. Der Film ist die erste große filmische Kontroverse der Berlinale. Jan-Philipp Kohlmann ihn gesehen – und zweifelt zwar nicht an den guten Absichten Poppes, sehr wohl aber an der filmischen Umsetzung.Hier gehts zum Steckbrief. + +Und weiter geht's mit dem Fake-Film-Quiz. Gut die Hälfte der 385 Filme, die auf der Berlinale laufen, hatten jetzt Premiere. Aber nur zwei von den Filmen in der Kurzbeschreibung unten laufen auch auf der Berlinale. Welcher ist von uns erfunden? + +Dikkertje Dap (Niederlande / Belgien / Deutschland 2017)"Dikkertje Dap" – aus einem der berühmtesten Kindergedichte der Niederlande entspinnt sich eine fantasievolle Geschichte um den Wert und den Wandel einer ungewöhnlichen Freundschaft. Dikkertjes bester Freund hat große, dunkle Augen, einen superlangen Hals und weiches, hell geflecktes Fell: Er heißt Raf, kam am selben Tag wie Dikkertje zur Welt und ist eine sprechende Giraffe. Nun werden die beiden vier Jahre alt und ihr erster Schultag steht bevor. Das zumindest hat Dikkertje versprochen. Doch in der Schule sind Tiere nicht erlaubt. +El otoño (Spanien / Portugal 2018)Maria und Sophia werden bald 80 Jahre alt. Ihre Männer sind vor Jahren gestorben. Die beiden Schwestern haben das Alleinsein satt – und gründen gemeinsam eine WG. Schnell wird aus dem Duo ein Trio. Die quirlige Nachbarin Dana bringt Einkäufe und wäscht die Wäsche. Eines Tages erstellt Dana zwei Online-Datingprofile für die Schwestern und bekommt überraschend Antwort. Was folgt, ist ein Roadtrip in farbenprächtigen Bildern. Die drei Frauen fahren in einem limonengrünen Oldtimer ins nahe Madrid, wo zwei Rendezvous auf Maria und Sophia warten. Regisseurin Elena Barnal zeigt, dass der Herbst des Lebens noch lange nicht sein Ende bedeutet.The Green Fog (USA / Kanda 2017)Die Prolog von "The Green Fog": Ein Schalter wird von "Sprechen" auf "Zuhören" gedreht. In einem Studiokino betrachtet ein Mann in Handschellen und von einer Waffe bedroht Bilder auf der Leinwand. Eine Landkarte ist zu sehen, ein Finger zeigt auf San Francisco. Vor einem Haus stehen Reporter, die verängstigte Bevölkerung wartet auf Lautsprechernachrichten. In grünes Licht getaucht erscheint die Golden Gate Bridge. Die Struktur des Films ist eine Hommage an Hitchcocks "Vertigo": eine schwindelerregende Komposition vertrauter und unbekannter Film- und TV-Bilder. + + +Ein deutscher Film über sinnliches Begehren mit John Malkovich und eine Rock-Oper aus dem philippinischen Urwald? Hört sich ausgedacht an? Ist es aber nicht: "Casanovagen" (Forum) und "Season of the Devil" (Wettbewerb) laufen tatsächlich auf der Berlinale. In letzteren hat Jan-Philipp Kohlmann mal "reingeschaut". Während er beim letzten Berlinale-Film des Philippinen Lav Diaz, einem achtstündigen Historienepos, noch echtes Sitzfleisch besaß, kapitulierte er diesmal nach beschämenden anderthalb Stunden. Zwar ist "Season of the Devil", wieder ein Historienfilm über die Marcos-Diktatur, nur schlappe vier Stunden lang, aber die dauernden A-cappella-Einlagen haben ihm den letzten Nerv geraubt. +JPK + + +Auch gestern lief so manches auf der Berlinale. Darüber liest Duhier diff --git a/fluter/Berlinale-Blog-2018-tag9.txt b/fluter/Berlinale-Blog-2018-tag9.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2aae745d25789dbbc51474f27b43e87b5184c99a --- /dev/null +++ b/fluter/Berlinale-Blog-2018-tag9.txt @@ -0,0 +1,53 @@ +Wie wir reden können +Da wäre zum Beispiel "Aggregat" von Marie Wilke, eine Bestandsaufnahme zur Lage der Nation. Zum Forum des Dialogs wird dieser Film über Diskurs und Demokratie(-Krise), indem er Orte in Deutschland aufsucht, an denen diskutiert wird: den SPD-"Küchentisch" für Bürgerbeteiligung, das Bundestagszelt auf dem Tag der deutschen Einheit, Redaktionssitzungen von Rundfunk und Zeitungen und eine Pegida-Demo gegen die "Lügenpresse". Wilkes will sich dabei nicht einmischen, filmt aus der Distanz und registriert das Reden miteinander, das Aneinander-vorbei-Reden und das Reden übereinander. Die Szenen sind teils erhellend, teils bitter, manchmal aber auch witzig – und wir lernen: Wer anderen Argumenten wirklich zuhört und selbst beim Thema bleibt (Stichwort: Whataboutism), der macht schon mal einiges richtig. + +Filme, die eng mit ihren Protagonisten arbeiten, bringen den Dialog hingegen durch geschickte Methoden selbst hervor: In "Premières solitudes" schafft Claire Simon eine Bühne für Jugendliche einer sozial durchmischten Pariser Schulklasse, indem sie "Begegnungen" an Schul- und Freizeitorten inszeniert und die Teenager über zuvor verabredete Themen sprechen lässt. Das Verblüffende: In diesen "konstruierten" Situationen entspinnen sich ganz natürliche Gespräche, die Teenager überwinden ihre Hemmungen, sprechen offen über Herkunft, Konflikte mit den Eltern, Lebensentwürfe. "Theatre of War" (Blog vom 19.02.) spitzt diese Methode noch zu, wenn argentinische und britische Veteranen des Falkland-Krieges in künstlichen Studiokulissen umfangreich geprobte Gespräche "aufführen" – oder sich am Bartresen über die kleinteiligen Regieanweisungen von Lola Arias aufregen. +Worüber wir reden müssen +Nicht selten sorgt eine unaufgeklärte nationale Vergangenheit für den strittigsten Gesprächsstoff. Dabei können Filmemacher einen persönlichen Zugang zur Geschichte wählen, wie etwa Bojina Panayotova, die in "I See Red People" ihre Eltern penetrant mit deren Rolle im Spitzelsystem des kommunistischen Bulgarien konfrontiert. Es kann ein Fallbeispiel sein wie die österreichische Präsidentschaftswahl 1986, in deren Zusammenhang "Waldheims Walzer" das Verhältnis des Landes zum Nationalsozialismus auslotet. Die Aufnahmen von aufgebrachten Debatten, die Menschen auf dem Stephansplatz über historische Schuld führen, hat Ruth Beckermann in den Archiven gefunden. Dass es für solche Prozesse nationaler Selbstfindung einen langen Atem braucht, zeigt ein Film über die Nachwehen des Militärregimes in Uruguay (1973-1985): Nur "One or Two Questions" über den Umgang mit der Diktatur stellten zwei Frauen in den 1980er-Jahren den Passanten auf der Straße – der Film dauert 237 Minuten. +Jan-Philipp Kohlmann + +In Teil 3 unserer RAP-Zensionen sieht Damian Correa den türkischen Film "Güvercin", in dem es ziemlich lange vor allem um Tauben geht. Bis dann doch das dicke Ende kommmt. + + +Kurzer Besuch bei den Talents, dem Berlinale-Nachwuchscampus für Filmschaffende. Hier treffen wir Anne Haug, die dieses Jahr bei dem Programm dabei war. Die 33-Jährige kommt aus der Schweiz, lebt in Berlin und spielte im Kinofilm "Lux – Krieger des Lichts" neben Franz Rogowski. +fluter.de: Frau Haug, Sie sind in diesem Jahr eines der Gesichter der Berlinale Talents, was genau bedeutet das? +Das bedeutet, dass ich eine von 250 internationalen, jungen Teilnehmern bin und ein sehr einzigartiges Programm während der Berlinale  besuchen darf. Es gibt individuelle Veranstaltungen für alle Berufszweige der Branche, zum Beispiel für Drehbuchautoren, Regisseure, Cutter und SchauspielerInnen wie mich. Ich habe in den letzten zwei Tagen an einem Schauspielcoaching teilgenommen. Außerdem hat man natürlich Gelegenheit, viele andere Künstler kennenzulernen und sich auszutauschen. +Auf dieser Berlinale wurde viel über #Metoo gesprochen. Inwiefern hat das Thema auch bei den Berlinale Talents eine Rolle gespielt? +In ziemlich vielen Unterhaltungen am Rande der Veranstaltungen ging es auch um #Metoo und die vielen Themen die zu der Bewegung gehören. So viele Diskussionen wie in diesem Jahr habe ich auf keiner Berlinale zu diesem Thema erlebt. Das freut mich. Die Menschen machen sich Gedanken. + + +Worüber genau? +Ich habe auch mit Männern über #Metoo gesprochen, bei denen eine Art Verunsicherung herrscht. Ich habe mich zum Beispiel mit einem Regisseur unterhalten, der gerade ein Drehbuch schreibt, in dem es Passagen gibt, die er im Zuge der Debatte nun ganz anders sieht. Ich finde diese Verunsicherung aber ganz wichtig und empfinde sie nicht als negativ. Nur so kann man Dinge hinterfragen. +Im Tipi am Kanzleramt wurde am Montag über sexualisierte Gewalt in der Filmbranche gesprochen und auch darüber, was man am Set verbessern könnte. Zum Beispiel durch Anlaufstellen oder einen Verhaltenskodex. Was sagen Sie dazu? +Ich finde die Idee einer Anlaufstelle, vielleicht sogar einer deutschlandweiten Anlaufstelle, gut. Es muss einen Ort geben, an den man sich wenden kann. Übrigens sollte es die Stelle auch für andere Branchen geben. Gleichzeitig finde ich, dass man sein Bewusstsein am Set schärfen sollte. Sowohl die Regisseure als auch die Kollegen. Ein füreinander Einstehen ist total wichtig. Und dass man sich traut, den Mund aufzumachen, wenn es sein muss. +Was sollte sich noch ändern? +Ich bin für eine Quote. Und ich glaube, wenn mehr Frauen als Regisseurinnen, Drehbuchautorinnen, Kamerafrauen, Cutterinnen und so weiter an Filmsets arbeiten, weicht das alte Machtstrukturen auf. + + +Was für Frauencharaktere spielen Sie normalerweise? +Meine erste Hauptrolle war in Isabell Šubas Film "Männer zeigen Filme & Frauen ihre Brüste", einer improvisierten Fake-Doku über das Filmfest in Cannes. Dort habe ich eine unabhängige Frauenfigur gespielt. Die hat mich in eine tolle Richtung gelenkt, ich hab seither viele sehr selbstständige und freiheitsliebende Frauen gespielt. +Diese Rollen sind nicht selbstverständlich. Meistens haben Frauen weniger Sprechanteil als Männer im Film und verschwinden ab 35 Jahren langsam von der Leinwand. Warum? +Ich glaube, dass über Filmstoffe oftmals – von Produzentenseite, Sendern oder auch Autoren – so gedacht wird: Eine Geschichte über eine Frau ist eine Geschichte über eine Frau. Und eine Geschichte über einen Mann ist eine allgemeingültige Geschichte. Ein Film mit einer Frau in einer Hauptrolle ist schnell ein sogenannter Frauenfilm. Und bei einem Film mit einem Mann in einer Hauptrolle müssen schon 15 weitere Männer mitspielen, dann erst ist es ein Männerfilm. Es gibt aber langsam andere Rollen für Frauen. Und ihre Rollen werden auch anders wahrgenommen. Auch weil ProQuote Film mit dem Vorlegen von Zahlen immer wieder ein Bewusstsein dafür schafft. +Warum sind diese Frauenfiguren wichtig? +Weil es Heldinnen braucht, an denen sich junge Frauen orientieren können. Wenn ich eine Tochter hätte, würde ich ihr heute immer noch Pippi Langstrumpf vorlesen. Das ist gut, aber irgendwie auch schade. +Christine Stöckel + + + +Weltpremieren von Fernsehserien sind längst fester Teil des Berlinale-Kanons. Dieses Jahr mit dabei: "Bad Banks" und "Heimebane", zwei Serien, in denen sich weibliche Hauptfiguren in von Männern dominierten Teilen der Gesellschaft behaupten müssen. In Heimebane ist das Fußball. Helena Mikkelsen (Ane Dahl Torp) ist die erste Frau auf einem Trainerposten in der ersten norwegischen Männerfußballliga. Ihre Aufgabe: einem hoffnungslos unterlegenen Aufsteiger den Klasserhalt sichern. Doch schon in der ersten Teamsitzung wird klar, dass sie sich erstmal gegen den Platzhirsch und Mannschaftskapitän behaupten muss. + + +"Bad Banks" hat eine ungleich schrillere Tonlage. Die Serie beginnt mit Ausschreitungen im Frankfurter Finanzviertel, die Pleite einer deutschen Großbank versetzt Kleinsparer in Panik. Danach tauchen wir ein in die zynische Glasbauten-und-Overperformance-Welt des Investmentbankings. Im Mittelpunkt und immer unterwegs zwischen Brüssel, Frankfurt, Luxemburg: die hochbegabte Jana Liekam (Paula Beer), die lernen muss, dass Topkenntnisse in Finanzmathematik und Steuerrecht allein nicht für die Karriere reichen. +Denn eins zeigen beide Serien: Frauen müssen schon 120 Prozent an Leistung und Kompetenz bringen, damit sie so ernst genommen zu werden wie ein Mann in der gleichen Position – und selbst das reicht oft nicht. Unfair, klar. Und auch ganz konkreter Alltagssexismus wird thematisiert, von harmlos gemeinten dummen Sprüchen bis zu brutalen Beschimpfungen am Telefon. +Während es bei "Heimebane" noch nicht sicher ist, ob, wann und wo die Serie in Deutschland zu sehen sein wird, steht der Ausstrahlungstermin von "Bad Banks" unmittelbar bevor: kommende Woche auf Arte, ab dem 2. März im ZDF. In der Arte-Mediathek ist sie schon jetzt abrufbar. +Michael Brake + + + + +Die Berlinale wäre nicht die Berlinale ohne… die Tasche +Beruf:Sie ist Werbegeschenk und Packesel für die unzähligen akkreditierten Festivalgäste. Für alle anderen gibt es sie auch im Berlinale-Shop zu kaufen. +Besondere Merkmale:Ihre Wandlungsfähigkeit. Jedes Jahr sieht die Tasche anders aus und spiegelt – wenngleich mit einer gewissen Verzögerung – die Trends urbaner Tragemode wieder. In den Nullerjahren trat sie lange in Form der seitlich getragenen Umhängetasche auf, seitdem gab es sie es sie mal Jutebeutel, mal in Kartoffelsackstoff oder Filz gehalten, mal mit Anschnallgurt-Trageriemen. Seit 2016 hat die Festivaltasche zur Rucksackform gefunden, wobei sie sich dieses Jahr mit ihrem Toploader-Rollverschluss deutlich an Fahrradkuriertaschen orientiert.Warum braucht die Berlinale sie?Während des Festivals trennt sie rund um den Potsdamer Platz das Festivalvolk von Touristenhorden und schafft so ein Gemeinschaftsgefühl. So richtig zum Distinktionsobjekt wird sie erst im Anschluss: "Schaut mal, ich war auf der Berlinale. Und zwar schon 2009!", das wollen ihre Träger mit ihr sagen.Und was sagt sie selbst?"Ich werde herumgetragen und komme in jede Weltpremiere. Besser geht es doch nicht." +Mbr + +Was bisher geschah? Die ersten acht Tage unseres Berlinale Blogs findest Duhier. diff --git a/fluter/Berlinale-Doku-victory-day-losnitza-sowjetisches-ehrenmal.txt b/fluter/Berlinale-Doku-victory-day-losnitza-sowjetisches-ehrenmal.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8d5a25eb3e352b49e8e57450656fc7918b7cfc0d --- /dev/null +++ b/fluter/Berlinale-Doku-victory-day-losnitza-sowjetisches-ehrenmal.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Was zeigt uns das? +"Geschichte hat keine Eigner", so hat ein RBB-Journalist 2015 das Treiben am Sowjetischen Ehrenmal kommentiert. Und tatsächlich finden hier ganz verschiedene Feierlichkeiten statt. Für manche ist es eine Erinnerung an die Toten, für andere Freude über den Sieg über den Faschismus, wieder andere feiern ein russisches Volksfest oder machen einen Familienausflug, und für einige ist es eben eine Party für einen Staat, den es nicht mehr gibt: die Sowjetunion, an die mit vielen Hammer-und-Sichel-Fahnen erinnert wird. +Wie wird's erzählt? +Sergei Loznitsa, der schon Dokumentarfilme über die Besucher deutscher KZ-Gedenkstätten und die ukrainischen Maidanproteste gedreht hat, übt sich in maximaler Zurückhaltung. Stumm beobachtet die Kamera das Geschehen und nimmt Eindrücke auf, die in einer warmen, an alte Analogfotos erinnernden Farbstimmung gehalten sind. Dazu gibt es ausschließlich Originalton: Gesprächsfetzen auf Deutsch und Russisch, Reden, die Verlesung der Namen von Verstorbenen und immer wieder Lieder, von kleinen Bands gespielt oder spontan gesungen. Was Sergei Loznitsa dabei an Details und Beobachtungen eingesammelt hat, ist enorm. Nur die Dramaturgie und der Rhythmus des Gezeigten wirken mitunter etwas unentschlossen. +Beste Nebenrolle +Katjuscha – die junge Frau, die zwischen blühenden Apfelbäumen sehnsüchtig auf die Briefe ihres Liebsten von der Front wartet. Der sowjetische Schlager "Katjuscha", geschrieben 1938, wurde im Zweiten Weltkrieg als Soldaten- und Hoffnungslied enorm populär und ist es bis heute. Im Film wird er allein dreimal angestimmt. +Taschentuchmoment +Immer wenn gesungen wird. Es sind fröhliche und traurige russische Lieder, von der Heimat und der Natur, vom Fluss Don, vom Krieg und von Liebenden. In den Feierlichkeiten am Ehrenmal mischt sich grimmig-traurige Ernsthaftigkeit mit ausgelassener Freude, was aber ganz natürlich wirkt. +Gut zu wissen +Viele der Anwesenden tragen schwarz-orange gestreifte Schleifen. Es ist das Sankt-Georgs-Band, das schon zur Zarenzeit mutigen Soldaten verliehen wurde. Ein Symbol bei den Gedenkfeiern wurde es allerdings erst 2005 auf Initiative der Putin-Regierung, die den 9. Mai in den vergangenen rund zehn Jahren mit nationalistischer Bedeutung aufgeladen hat. Das Band gilt mittlerweile als ein politisch bedeutsames russisches Staatssymbol, das aber in vielen postsowjetischen Staaten nur ungern gesehen wird. So wurde es unter anderem von den prorussischen Kräften in der Ostukraine getragen – und ist in der Ukraine seit Mai 2017 sogar verboten. +Auch gut zu wissen +War die deutsche Kapitulation im Zweiten Weltkrieg nicht eigentlich am 8. Mai? Richtig – doch so spät am Abend, dass nach Moskauer Zeit schon der nächste Tag begonnen hatte. Deswegen feiert man in Russland am 9. und nicht am 8. Mai. +Ideal für … +… alle die Russland mögen, allein wegen der Lieder. Aber auch für alle, die einen Sinn für den Umgang mit Geschichte, für etwas skurrile Veranstaltungen oder für präzise Beobachtungen haben. + +"Den' Pobedy" ("Victory Day"), Deutschland 2018; Regie, Drehbuch: Sergei Loznitsa; 94 Minuten diff --git a/fluter/Berlinale-Film-vice-dick-cheney.txt b/fluter/Berlinale-Film-vice-dick-cheney.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..298cc812b6ee6090cff0e4750348a0724fd31eef --- /dev/null +++ b/fluter/Berlinale-Film-vice-dick-cheney.txt @@ -0,0 +1,23 @@ + +Was zeigt uns das? +Dass Dick Cheney vermeintlich der mächtigere Mann in der Bush-Administration war und die treibende Kraft für den Irakkrieg und den war on terror. Regisseur und Drehbuchautor Adam McKay will mit seinem Film hinter die Kulissen der Macht blicken. Ihn interessiert, wie viel Einfluss einzelne Personen auf institutionelle Entscheidungsprozesse nehmen können. Im zurückhaltenden Bürokraten Cheney sieht McKay eine prägende Persönlichkeit für die neokonservativen Trendwenden in der US-Politik der vergangenen Dekaden. Dazu gehören die Deregulierung der Wirtschaft, der steigende Einfluss von Lobbyisten sowie die militärischen Interventionen der USA nach dem 11. September 2001. Entwicklungen, die bis heute nachwirken. + + +Wie wird's erzählt? +Als beißende Satire mit komplexer Erzählstruktur. "Vice" springt hin und her zwischen den Zeitebenen und unterbricht regelmäßig die Handlung, um schwierige Zusammenhänge in einer Art Erklärfilm zu erläutern: etwa wenn der Kellner in einem Restaurant das "Menü Guantánamo" empfiehlt, weil man dort ohne Rechtsverletzung Gefangene foltern kann. Adam McKay hat dieses Stilmittel schon in seinem letzten Film "The Big Short" etabliert, um einem Massenpublikum die sperrigen Abläufe des Finanzmarkts näherzubringen. In "Vice" bricht er die "vierte Wand" aber auch, um darauf hinzuweisen, dass in einem Film über reale Politiker vieles dann eben doch erfunden ist. In diesen Szenen, zum Beispiel wenn die Cheneys im Ehebett plötzlich geschwollenes Shakespeare-Englisch reden, ist der Film am witzigsten. + +Good Job! +Christian Bale ist großartig in der Hauptrolle und beweist erneut, dass er der wandlungsfähigste Schauspieler Hollywoods ist. Der 44-Jährige spielt Cheney im Alter von Mitte 20 bis Ende 60 –mit Perücken, jeder Menge Make-up und knapp 20 Kilo mehr auf den Rippen. Hörbar schnauft er jedes Mal durch die Nase, bevor er maulfaule one-liner von sich gibt. Bale ringt auch einer Figur, die als eindimensionaler bad guy angelegt ist, differenzierte Emotionen ab. Am Ende wirkt Cheney trotz seiner Skrupellosigkeit eigentlich ziemlich sympathisch. + +Hat mich berührt +Als der konservative Hardliner von seiner Tochter Mary erfährt, dass sie lesbisch ist, reagiert er verständnisvoll. "Es macht keinen Unterschied, wir lieben dich so oder so", sagt er nur. Politisch bringt das ihn und seine andere Tochter Liz, die selbst als republikanische Abgeordnete kandidiert, in den Konflikt, mit der Partei trotzdem gegen die Rechte von Homosexuellen einzutreten. + +Schwächste Szene +Cheney beginnt seine Karriere als Assistent von Donald Rumsfeld, seinem politischen Vorbild. Einmal fängt er seinen Boss vor dessen Büro ab. "Eine Frage noch: Woran glauben wir eigentlich?" Rumsfeld bricht in Gelächter aus, schüttelt den Kopf, geht wortlos in sein Büro und lacht dort hinter verschlossener Tür weiter. Die größte Schwäche des Films: dass er Machtpolitiker wie Cheney und Rumsfeld für unideologische Opportunisten hält. Dabei ist deren Politik doch stark verankert im neokonservativen Wertekosmos. + +FYI +Aktuelle Bezüge zur Trump-Regierung hat "Vice" in der Frage, wie weit die Macht des US-amerikanischen Präsidenten tatsächlich geht. Cheney handelt im Film auf der Grundlage der sogenannten Unitary Executive Theory. Nach diesem Verständnis der Verfassung wird die Macht des Präsidenten als ausführende Gewalt in keiner Weise eingeschränkt, zum Beispiel bei Personalentscheidungen. + +Ideal für … +… desillusionierte Linksliberale, die der Film augenzwinkernd als Kernzielgruppe identifiziert, und selbstironische Konservative, die den Irakkrieg trotz allem immer noch für gerechtfertigt halten. Regisseur Adam McKay glaubt, dass auch Dick Cheney gegen seine Darstellung nichts einzuwenden hätte. + diff --git a/fluter/Berufe-in-der-Politik-Referent-im-Bundestag.txt b/fluter/Berufe-in-der-Politik-Referent-im-Bundestag.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ec8ce87b1ad7690dba7660118ba817ca44432869 --- /dev/null +++ b/fluter/Berufe-in-der-Politik-Referent-im-Bundestag.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Mein Werdegang zur Referentin verlief "klassisch". Ich habe Politikwissenschaften studiert und im Rahmen meines Studiums ein dreimonatiges Praktikum bei einer Abgeordneten der Grünen-Fraktion gemacht. So bekam ich nicht nur eine erste Orientierung, sondern auch Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen, die mir wenig später davon erzählten, dass eine Stelle für eine studentische Mitarbeiterin ausgeschrieben wurde. Ich habe mich beworben und zwei Jahre als studentische Mitarbeiterin im Büro der damaligen Fraktionsvorsitzenden der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/ Die Grünen, Renate Künast, gearbeitet. Der Anschluss hat danach wieder sehr gut gepasst. Als meine heutige Referentenstelle intern ausgeschrieben wurde, hatte ich gerade mein Studium beendet. Ich habe mich beworben und bin Referentin geworden. +In mein Thema bin ich im Laufe der Zeit hineingewachsen. Im Studium spielten Demografiefragen keine große Rolle. Während meiner Tätigkeit als studentische Mitarbeiterin hatte ich jedoch immer wieder mit Themen zu tun, die im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel stehen. +Inzwischen bin ich also mittendrin im politischen Geschehen. Nach politischer Macht fühlt sich das trotzdem nicht jeden Tag an. Ich arbeite für eine Oppositionsfraktion, der tatsächliche Einfluss, Dinge umzusetzen, ist dadurch ziemlich begrenzt. Manchmal finde ich es schon schade, dass die erarbeiteten Anträge in den Ausschüssen oder im Parlament in aller Regel abgelehnt werden. Das kann frustrieren, aber wer weiß, wie es im Herbst 2017 aussieht. +Parteimitglied bin ich nicht. Allerdings teile ich die Werte der Partei. Ich denke, dass man in diesem Umfeld und in der Funktion nur arbeiten kann, wenn man mit der Politik und mit den Grundwerten der Partei übereinstimmt. Ob ich mal in die Partei eintrete, weiß ich nicht. Ich hätte nichts dagegen, aber so fühle ich mich neutraler in meiner Beraterfunktion. So passiert es auch nicht, dass sich Funktionen vermischen. Wenn Kollegen innerhalb der Partei eine andere Funktion haben als in der Arbeitswelt, kommt das schon vor. +Referent werden –wie geht das? +Den ersten Kontakt und die erste Orientierung bekommt man in der Regel in einem Praktikum während des Studiums der Politikwissenschaften. Manchmal ergeben sich daraus weitere Kontakte und Vorteile, wenn etwa studentische Mitarbeiterstellen besetzt werden. Referentenstellen gibt es nicht nur beim Bundestag, sondern auch in den Landtagen, bei der EU, in Ministerien oder bei politischen Stiftungen. +Und was verdiene ich da? +Bezahlt werden Referenten nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst in der Entgeltgruppe 13. Im ersten Berufsjahr entspricht das3.573 Euro monatlich. +Obwohl ich wusste, worauf ich mich einlasse, war ich am Anfang überrascht, dass ich nicht nur Aufträge bekomme, sondern selbst mit Ideen zu meinen Vorgesetzten gehen kann. Ich arbeite nicht nur zu, sondern bin gehalten, aus eigener Initiative zu beraten. Mir macht das großen Spaß, und es motiviert mich, mit Kreativität und Eigeninitiative an die Arbeit zu gehen. Was mir an meinem Job auch gefällt, ist, dass er sehr abwechslungsreich ist. Empfehlen kann ich meinen Job auf jeden Fall. Ich finde mein Aufgabenfeld auch nach vier Jahren noch total spannend und lerne ständig Neues dazu. +Wenn jemand sich vorstellen kann, in diesem Beruf zu arbeiten, würde ich dringend dazu raten, Praktika in dem Bereich zu machen und selbst Erfahrungen im politischen Raum zu sammeln. Als studentische Mitarbeiterin habe ich schon vieles mitbekommen, was ich im Studium niemals gelernt hätte. Dabei geht es um ganz unterschiedliche Dinge, zum Beispiel darum, wie das politische Berlin tickt, wie Fraktionen funktionieren und dass jede Partei ein ganz eigenes System mit einer speziellen Funktionsweise ist. +Franziska Gehrke, Referentin für Demografie und Jugendpolitik Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag + diff --git a/fluter/Bettina-wilpert-nichts-was-uns-passiert-vergewaltigung-oder-nicht.txt b/fluter/Bettina-wilpert-nichts-was-uns-passiert-vergewaltigung-oder-nicht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cde5fe07845f129b884bbb8b848d23674f9c9a5e --- /dev/null +++ b/fluter/Bettina-wilpert-nichts-was-uns-passiert-vergewaltigung-oder-nicht.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Bettina Wilpert: "Nichts, was uns passiert", Verbrecher Verlag, Berlin 2018, 168 Seiten +Nein heißt Nein, auch hierzu gibt es einen Hashtag. Das Sexualstrafrecht in Deutschland wurde Ende 2016 überarbeitet, sodass nun der Grundsatz nun gilt, dass bestraft wird, "wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt". Hat Anna Nein gesagt, gelallt, und, wenn ja, hat Jonas es nicht gehört, oder wollte er es nicht hören? Hat er blaue Flecke auf ihrem Handgelenk hinterlassen, die, als es zwei Monate später zur Anzeige kommt, längst verheilt sind? Lügt Anna, um sich für Jonas' Ablehnung zu rächen? Oder ist dieser eben doch nicht der brave Frauenversteher, für den ihn alle halten? +Aus diesen Fragen werden im überschaubaren Leipzig, wo auch die 1989 geborene Autorin lebt, erst Mutmaßungen und schließlich Verleumdungen, weil so eine "Sache" ja niemals nur die Betroffenen betrifft. Dem Protagonisten wiederfährt das, was vor einigen Monaten von einem deutschen Feuilletonisten als "Hexenjagd" bezeichnet wurde: Er verliert seine Doktorandenstelle, bekommt Hausverbot im besetzten Haus, Freunde wenden sich ab, seine Mutter wird auf offener Straße angespuckt. Anna hingegen verspielt Teile ihrer Glaubwürdigkeit, indem sie ihr traumatisches Erlebnis mithilfe Dutzender One-Night-Stands verarbeitet. Denn, so viel steht fest: Traumatisiert ist Anna, die Frage ist, wie weit sich dieses Trauma in ihrem eigenen Kopf abspielt. Erinnerung funktioniert in Schemen, nicht in Schubladen, heißt es an einer Stelle. +Wilpert wählt eine nüchterne Sprache und die indirekte Rede. Es ist die Perspektive eines oder einer unbeteiligten Dritten, der oder die "Interviews" mit den Betroffenen und den Menschen aus deren Umfeld führt, wobei unbeteiligt natürlich nicht stimmt. Plötzlich werden andere Vergewaltigungsopfer durch Jonas' bloße Anwesenheit getriggert, erinnert sich seine Ex-Freundin an fliegende Geschirrtücher im Pärchenurlaub und seine Studentinnen an sexistische Sprüche. Und hat Anna etwa Daddy Issues? +Die Stärke dieses literarischen Debüts ist, dass es keine klaren Verhältnisse schafft. Somit berührt es eine andere große Debatte unserer von twitternden Präsidenten bestimmten Gegenwart. Annas Vergewaltigung als Kategorie Fake News? Kurz bevor eine "Sache" das Leben zweier Menschen für immer verändert, stimmen die Geburtstagsgäste ein Lied von Bertolt Brecht an: "Denn für dieses Leben/ist der Mensch nicht schlau genug/niemals merkt er eben/allen Lug und Trug." Und damit ist eigentlich alles gesagt. + +Du willst es genauer wissen? In Deutschland gilt: Wer Sex nicht will, muss das deutlich sagen. Nur, wo beginnt Sexual Consent und wo ist Schluss?Fünf Leute berichten vor der Kamera + +Titelbild: linonono diff --git a/fluter/Bollewick-in-Mecklenburg-Vorpommern.txt b/fluter/Bollewick-in-Mecklenburg-Vorpommern.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f26fcd2c15392e477b5f47ecccbb8f544281a8e6 --- /dev/null +++ b/fluter/Bollewick-in-Mecklenburg-Vorpommern.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Heute kann man in der Scheune übernachten, nicht im Stroh, sondern in bequemen Betten. In einem richtigen Hotel. Es gibt auf zwei Etagen Lebensmittelstände mit Wurst, Honig oder Sanddornsaft aus Mecklenburg, einen Bäcker und sogar einen Friseur. Im Grunde genommen müsste man nie mehr raus aus diesem dörflichen Shoppingcenter, es ist alles da. +Die Scheune ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich Orte verändern können. Und dafür, wie ihnen Menschen eine neue Bedeutung geben, neues Leben einhauchen. Früher, zu DDR-Zeiten, war die Scheune ein Ort, um den die Menschen einen großen Bogen machten. "Das stinkende Dorf" wurde Bollewick genannt. 650 Kühe lebten zusammengepfercht in der Scheune, nachdem die DDR-Führung viele kleine Bauernhöfe in einer riesigen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) kollektiviert hatte. Die sozialistische Massentierhaltung vergiftete die Böden und die Gewässer im Umland, für den Protest gegen diese Umweltverschmutzung geriet man schnell ins Visier der Stasi. So erging es auch Bertold Meyer, der vor 62 Jahren in Bollewick geboren wurde und erlebte, wie seine Eltern ihre Selbstständigkeit als Bauern verloren – und wie das Land vergiftet wurde. Erst mit der Wende kam für ihn die Gelegenheit, in seinem Heimatort die Dinge zum Besseren zu verändern. "Wolfserwartungsland" oder "Altersheim der Nation", so habe man Anfang der 1990er-Jahre über viele Regionen in Mecklenburg-Vorpommern gelästert, weil die Menschen in Scharen weggezogen seien, nachdem die meisten DDR-Betriebe dichtmachten. "Auch heute noch reden viele von Dunkel-Deutschland, wenn sie Orte wie diesen meinen", sagt Meyer, der nach der Wende ehrenamtlicher Bürgermeister wurde – wohl weniger, weil er es wollte, sondern weil sonst niemand Lust auf den Job hatte. Und auch, weil er schon ein paar Ideen hatte, wie der aussterbende Ort seinem Schicksal entgehen könnte. +Dabei war die Scheune der Beginn vom Neuanfang. Meyer verhinderte, dass sie abgerissen wurde. Die Trümmer hätten im ohnehin kontaminierten Dorfteich versenkt werden sollen. Stattdessen ging die Scheune in den Besitz der Gemeinde über. Zunächst hatte er gehofft, dass irgendein Aldi oder Lidl einzieht, aber die winkten alle ab. Zum Glück. Schließlich bekam Meyer Zuschüsse von EU, Bund und Land für seinen Plan, die größte Feldsteinscheune Deutschlands zu renovieren. Dass sich viele Touristen locken ließen, lag auch an der Nähe zur Mecklenburgischen Seenplatte. +Mittlerweile kommen im Jahr mehr als 100.000 Besucher, 70 Menschen haben in der Scheune Arbeit. Manche von ihnen pflegen noch alte Handwerksberufe wie Kürschner oder Holzdrechsler und verkaufen die Produkte direkt aus der Werkstatt. +Die Scheune war der Beweis, dass sich in Bollewick was machen ließ. Meyers Tatendrang war belohnt und noch mal gesteigert worden. Das nächste große Ding war dann die Sache mit dem Mist. +Die Inspiration kam ihm, als Mitte der Nullerjahre mal wieder ein durchreisender Experte in der Scheune einen Vortrag hielt, diesmal über regenerative Energien. Im kleinen Bürgermeisterbüro in der Scheune fragte der Experte an-schließend, warum man denn in Bollewick von der krumm gewachsenen Rübe über das gemähte Gras bis hin zu den Holzabschnitten vom Wegesrand alles wegschmeiße? Ob sie denn noch nie etwas davon gehört hätten, dass all das in kleinen Kraftwerken schön vorsich hingären könne, um die umliegenden Haushalte mit Strom und Wärme zu versorgen. Worte, die in Bollewick wie Samen auf fruchtbaren Boden fielen. +Heute ist Bollewick ein sogenanntes Bioenergiedorf. Das heißt, es produziert den Strom, den die Menschen benötigen, in Biogasanlagen. "Bollewick ist nicht unbedingt schön", sagt Meyer. "Aber wir haben erkannt, welches Potenzial unser Dorf hat." Mit einem Lächeln zeigt er auf den Gehweg. Darunter sind die Nahwärmerohre verlegt, die das Dorf mit Warmwasser versorgen. Wie eine Fußbodenheizung sei das im Winter. Die Leitung verläuft entlang der Durchgangsstraße. Im Minutentakt fahren Traktoren und Güllewagen vorbei. An einem lindgrünen Holzhaus biegen sie in einen Feldweg ab. Im hinteren Teil des kleinen Hauses sind die Wärmepumpen fürs Dorf untergebracht; im vorderen bekommt man rund um die Uhr Grillfleisch, Käse aus der Region oder frische Milch aus dem Automaten. +Eine der zwei Biogasanlagen steht auf dem Land von Hendrikus van der Ham, der vor 14 Jahren aus den Niederlanden hierherzog, um den Hof eines verstorbenen Bauern zu übernehmen. Damals war er 24. In seiner Heimat könne man sich kaum noch etwas Eigenes aufbauen, so teuer sei Ackerland dort, sagt van der Ham. Der Strom, den er zusam- men mit seinem Nachbarn aus Gülle und Pflanzen produziert, reicht für etwa 3.000 Haushalte, viel mehr, als es in Bollewick gibt."Ich mach aus Scheiße Gold, könnte man sagen", lacht van der Ham. Ob die Dorfbewohner ihn als Eindringling sehen? "Nein.Die sind froh, weil es billiger ist als Heizöl und das Geld nicht bei Putin landet, sondern in ihrer Region bleibt. Und wir schaffen Arbeitsplätze. Über fünf Millionen Euro hat die Umrüstung in ein Bioenergiedorf gekostet, einen Großteil davon haben die Landwirte übernommen. +Es gibt nun sogar LED- Straßenlampen. Und es gab den Traum von einem Elektrobus, der von einem Windrad gespeist wird, aber ein seltener Vogel brütet in der Nähe und hat den Bau verhindert. Dennoch gibt es seit ein paar Wochen wieder einen öffentlichen Nahverkehr in Bollewick. Die drei Kleinbusse fahren die Dorfbewohner auf Abruf selbst. +Bollewicks Einwohnerzahl ist seit der Wende gestiegen. Viele finden im Dorf Arbeit, andere pendeln in größere Orte, manche kommen auch nur am Wochenende. Wie viele Menschen hier ihre Zukunft sehen, zeigen auch die drei Kindertagesstätten. Das Dorf gehört zu den jüngsten Gemeinden der Region. Und das, obwohl Bollewick auch ältere Menschen anlockte. +Menschen, die gemeinsam alt werden wollen, sollten sich hier ansiedeln. Diese Idee scheiterte jedoch: Zwölf bunt gestrichene Holzhäuser stehen hufeisenförmig in der neu angelegten Straße, "Unterm Regenbogen" heißt sie. Viele zogen aus Westdeutschland hierher. Jetzt seien sie untereinander so zerstritten, dass einige ihr Haus wieder verkaufen wollen. Andere haben es nie bezogen. "Ein paar Rückschläge gehören dazu", kommentiert Bertold Meyer. +Ein Dorf in Deutschlands Osten, das Menschen anzieht, wo doch sonst nur von Orten die Rede ist, die aussterben. Ein Dorf auf halber Strecke zwischen Berlin und Hamburg als Labor für Innovationen: Mittlerweile interessiert man sich auch andernorts dafür, wie Bollewick sein Comeback geschafft hat. Aus vielen Ländern kommen Unternehmer und Politiker zu Besuch. Sie wollen ihre Dörfer in Russland, Brasilien oder Vietnam lebenswerter machen. Die Besucher bestaunen dann die Scheune, sie kaufen handgemachte Kleidung oder Seidenblumen, essen Würste aus Mecklenburg und lassen sich über die Energiegewinnung aufklären. Und sehr schnell wird ihnen klar, dass das wichtigste Kraftwerk nicht auf dem Feld herumsteht. Es hat seinen Sitz in einem kleinen Büro in der Scheune. diff --git a/fluter/Breitbart-expandiert-nach-Deutschland.txt b/fluter/Breitbart-expandiert-nach-Deutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b3d88f46e5ecaf6cf200d4af8a4c4bc5fdea0db8 --- /dev/null +++ b/fluter/Breitbart-expandiert-nach-Deutschland.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Stephen Bannon, den Andrew Breitbart einmal bewundernd als "Leni Riefenstahl der Tea-Party-Bewegung" bezeichnet hatte, wurde im August von Donald Trump als Chef in sein Wahlkampfteam geholt, in dem es gerade drunter und drüber ging. Eine selbst für US-Verhältnisse ungewöhnliche Verquickung von Medien und Politik, auch wenn Bannon seine Tätigkeit bei Breitbart offiziell ruhen ließ. + + +Nach dem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen soll Bannon Trumps Chefstratege im Weißen Haus werden. Dagegen gibt esmehrere Internet-Petitionenmit überschaubarem Zulauf, aber der frühere Ku-Klux-Klan-Anführer David Duke und die American Nazi Party haben diesen Vorschlag ausdrücklich begrüßt. Breitbart hat unterdessen angekündigt, den medialen Output erhöhen und Dependancen in Frankreich und Deutschland errichten zu wollen – offenbar mit dem Ziel, rechte Politiker bei den dort anstehenden Wahlen zu unterstützen. Marion Maréchal-Le Pen, Nichte der Front-National-Chefin Marine Le Pen, könnte sich eine Zusammenarbeit mit Breitbart jedenfalls schon mal gut vorstellen, wie sie zu Protokoll gab. +Dierk Borstel, Professor für Praxisorientierte Politikwissenschaft an der FH Dortmund, sieht Breitbart als "politische Kampagnenplattform mit journalistisch anmutender Aufmachung", deren Chancen auf dem deutschen Markt er als gut einschätzt: Etwa zehn Prozent der Bevölkerung verfügten über Einstellungen, die dem Rechtspopulismus zugrunde liegen. Eine Plattform wie Breitbart könnte seines Erachtens vor allem jene ansprechen, die sich vom bestehenden demokratischen System nicht mehr vertreten fühlen, seriösen Journalismus als "Lügenpresse" beschimpfen und sich in rassistischen Vorstellungen bestätigt fühlen wollen, ohne dabei als Rechtsextremisten zu gelten. +In den USA hat Breitbart mehr Besucher als die Webseiten von "New York Post", ABC News oder "Time", im Oktober waren es mehr als elf Millionen einzelne Besucher. Angebote wie die Publikationen des Kopp-Verlags, das rechtspopulistische Magazin "Compact" von Jürgen Elsässer oder die Website PI News, die hierzulande durchaus schon ein Publikum erreichen und mit ihren (teilweise abgesagten) Veranstaltungen mediale Aufmerksamkeit erzielen, wirken dagegen eher wie Nischenprodukte. +Nun könnte man einwenden, dass sich die Medienlandschaften in Deutschland und den USA sehr stark voneinander unterscheiden und es hier auch nie einen Sender wie Fox News gegeben hat (der konservative Moderator Glenn Beck, der früher bei Fox News war, hat Breitbart News und Bannon jüngst dafür kritisiert, der "Alt-Right"-Bewegung eine Stimme zu geben). Auch unterscheidet sich die politische Landschaft in den USA sehr von der in Deutschland. Aber der Zuwachs, den rechtspopulistische Parteien in ganz Europa erleben, ist nicht zu leugnen. +So sieht Dierk Borstel bei allen Unterschieden zwischen Trump- und AfD-Wählern dann auch einige Gemeinsamkeiten: "die Entfremdung vom bestehenden demokratischen System und seinen tragenden Säulen und Repräsentanten, der Glaube an eine lügende Presse, das Gefühl, in sozialer und kultureller Gefahr zu sein, und dazu noch die Lust, jeglichen politisch-menschlichen Anstand gegenüber Minderheiten, aber zum Teil auch gegenüber emanzipierten Frauen endlich über Bord werfen zu dürfen". Dies sei eine internationale Bewegung, die sich gegen die Idee der offenen und liberalen Gesellschaft wende. +Borstel beobachtet derzeit eine "doppelte Radikalisierung" – am äußersten rechten Rand zur Gewalt und in Teilen der Mitte der Gesellschaft zum Rechtspopulismus, wie die Erfolge der AfD, aber auch Straßenbewegungen wie Pegida zeigten. Wie erfolgreich Breitbart in diesem politischen Klima sein könne, hänge davon ab, wie das konkrete Angebot aussehen wird. In den anhaltenden Diskussionen über Flüchtlinge und den Islam sieht er aber mindestens zwei Themen mit Mobilisierungspotenzial. +Der Aufstieg der AfD ist den Redakteuren bei Breitbart nicht entgangen, bei Twitter bekundeten AfD-Vertreter schon einmal Sympathie für die Expansionspläne der Plattform nach Deutschland. Laut Breitbart-Chefredakteur Alexander Marlow laufen schon Gespräche mit Journalisten in Deutschland, die die deutsche Plattform aufbauen sollen. Vielleicht findet er welche bei der rechten Wochenzeitung "Junge Freiheit", über die AfD-Vize Alexander Gauland einmal gesagt hat, wer AfD-Wähler verstehen wolle, müsse die "Junge Freiheit" lesen. Bei Facebook gibt es andererseits bereits einenAufruf an Berliner Immobilienbesitzer, ihre Räumlichkeiten nicht an Breitbart zu vermieten. diff --git a/fluter/Christen-im-Westjordanland-Bierbrauer.txt b/fluter/Christen-im-Westjordanland-Bierbrauer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fd16eb92427ce018ed1fd53980f97a5d4c85e16a --- /dev/null +++ b/fluter/Christen-im-Westjordanland-Bierbrauer.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Canaan Khoury +Nadim Khoury +In der Euphorie nach dem Priedensprozess von Oslo, als Israel und die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) einander erstmals offiziell anerkannten und den Palästinensern für eine Interimsphase eine autonome Verwaltung des Gazastreifens und des Westjordanlandes zugesprochen wurde, hat Canaans Vater, Nadim Khoury, 1994 das Familienunternehmen gegründet. Der langjährige PLO-Chef und Palästinenserführer Jassir Arafat höchstpersönlich hat ihm damals seinen Segen gegeben: "Mit Gottes Willen, brau dein Bier!", soll er gesagt haben. Ein Bild auf Nadims Schreibtisch verewigt den Moment des Handschlags. Der Name Khoury bedeutet auf Arabisch Priester, und in der Tat gibt es davon in der Familie 13 Stück. "Der Vorname meines Vaters, Nadim, bedeutet jedoch Saufkumpan. Vielleicht hat das unsere Berufung verändert", fügt Canaan lachend hinzu. +Da weiß man, was man zu tun hat: Das Dorf Taybeh, die letzte Hochburg des Christentums im Westjordanland, ist umgeben von Weinbergen +Das Foto erinnert dran: Palästinenserführer Jassir Arafat höchstpersönlich hat Nadim Khoury damals seinen Segen gegeben: "Mit Gottes Willen, brau dein Bier!" +Die Zutaten für das Getränk bezieht die Familie aus der ganzen Welt: Malz kommt aus Belgien, Hopfen aus Deutschland und Hefe aus Großbritannien. "Wir brauen nach dem deutschen Reinheitsgebot", sagt Nadim Khoury stolz. In Anzug und Krawatte inspiziert er das heutige Bräu. Vor zwei Wochen war die Familie zu Besuch in Nürnberg, um sich bei der Fachmesse BrauBeviale mit den neuesten Trends der Bierkultur vertraut zu machen. Deutschland sei das erste Land gewesen, das Taybeh-Bier vertrieben habe. Mittlerweile findet man es sogar in Bars in Israel, wo es eher schwierig ist, Produkte aus dem Westjordanland zu vertreiben. Nadim Khoury deutet auf ein riesiges Poster an der Hausfassade. Eine Werbung für das Oktoberfest, das sie vor einem Monat in Taybeh veranstaltet haben. Es ist mittlerweile eines der größten Events in Palästina – dieses Jahr sind 16.000 Menschen gekommen. Seit 2005 veranstaltet die Brauerei das Fest. Lediglich während des Gazakriegs 2014 ist es aus Respekt gegenüber den Opfern ausgefallen. "In diesem Jahr hat eine Gruppe sogar den Schuhplattler getanzt", erzählt Nadim und klatscht auf seine Oberschenkel. Nicht nur Christen, sondern auch viele Moslems seien gekommen, trotz ihrer religiösen Zurückhaltung dem Alkohol gegenüber. "Natürlich trinken sie", sagt Nadim. "Niemand glaubt ja auch im Ernst, alle Christen hätten keinen Sex vor der Ehe." +Probleme mit den muslimischen Nachbarn gebe es in der Regel keine, betont Canaan. Eine andauernde oder systematische Benachteiligung aufgrund seiner Religion habe er in seinem Leben glücklicherweise nie erfahren müssen, so der 25-Jährige. Man könne die Situation nicht mit der im Libanon, in Syrien oder in Ägypten vergleichen, wo Christen zunehmend diskriminiert werden. "Wir haben hier wahrscheinlich genug mit den Israelis zu tun, so dass wir nicht auch noch untereinander Streit anfangen können", überlegt Canaan. Die muslimischen Arbeiter hätten am Anfang ein wenig gezögert, an der Herstellung eines verbotenen Getränks mitzuwirken, das war dann aber auch schon alles. Das Problem sei eher, dass die meisten Christen ihr Glück lieber an anderen Orten der Welt versuchen. Auch Canaan hat im Ausland studiert. Aber nach seinem Abschluss in Winzerei ist er nach fünf Jahren aus den USA nach Palästina zurückgekehrt. Es sei eine Entscheidung der emotionalen Art gewesen. "Besonders viel Sinn macht es nicht", findet auch Madees Khoury, Canaans Schwester. Auch sie war lange fern der Heimat: 14 Jahre lang hat sie in Boston gelebt und studiert. +Das Bergdorf Taybeh mit seinen Kirchen, dem Kloster und einer byzantinischen Ruine haben die dort lebenden 1.400 palästinensischen Christen fast ganz für sich allein. Lediglich zwei Prozent der Gesamtbevölkerung machen Christen im Westjordanland noch aus +Gemeinsam hat die Familie Khoury 2013 die Winzerei gegründet. Aber es ist schwierig, im Westjordanland ein profitables Geschäft zu betreiben. Seit der zweiten Intifada – dem fünfjährigen Konflikt zwischen Israel und Palästina, an dessen Beginn der Besuch des israelischen Politikers Ariel Scharon auf dem Tempelberg stand – hat sich der Tourismus nie wieder ganz erholt. Außerdem besitzen Palästinenser keine ausgeprägte Weinkultur. Das Unternehmen beruht größtenteils auf Exporten ins Ausland. Aber die Infrastruktur im Westjordanland macht internationalen Handel zu einer nervenaufreibenden Angelegenheit: Lediglich an den wenigen kommerziellen Checkpoints können Waren in Richtung Mittelmeer, zu den Häfen von Haifa und Akko, transportiert werden. Manchmal werden die Lastwagen vom israelischen Militär zurückgewiesen. "Den genauen Grund erfahren wir selten", sagt Canaan und klingt resigniert. Oder aber es herrscht dort so viel Andrang, dass die Ware tagelang in der Sonne warten muss und das Bier schließlich schal wird. "Dann müssen wir die Ladung wieder zurücknehmen und eine neue schicken." Hinzu kommt der chronische Wassermangel. Die drei jüdischen Siedlungen am Fuße des Berges von Taybeh hätten privilegierten Zugang zu Wasser, sagt Canaan. An sieben Tagen die Woche würden die Einwohner dort mit fließendem Wasser versorgt, während palästinensische Ortschaften oft nur ein- bis zweimal pro Woche für mehrere Stunden Wasser erhielten. Die Khourys haben deswegen einen unterirdischen Wasserspeicher gebaut. "Außerdem fülle ich immer die riesigen Biertanks, sobald wir Wasser haben. Davon zehren wir dann die ganze Woche." +An diese Hindernisse haben sich die Khourys mittlerweile gewöhnt. Der Konflikt ist selbstverständlicher Teil des Alltags: "Ich denke gar nicht mehr darüber nach, warum es eine Straßenblockade gibt. Ich fahre einfach einen anderen Weg", sagt Canaan und gibt damit ein gelebtes Beispiel für die Mentalität vieler Bewohner des Westjordanlandes. Als man jedoch einen Teil der Weinanbaufläche wegen "Sicherheitsmaßnahmen" beschlagnahmt hat oder als einmal Siedler ein ganzes Weizenfeld niederbrannten, da habe er schon schlucken müssen, gibt er zu. Das seien die Momente, in denen er sich wieder nach dem unbeschwerten Leben in Kalifornien sehne. Aber das Familienunternehmen habe ihn gebraucht. Der Großvater habe ihn angefleht, zurück in die Heimat zu kommen. "Und wenn die Menschen, die es schaffen, hier etwas auf die Beine zu stellen, auch noch gehen, dann gibt es für diese Region wirklich keine Hoffnung." +Heute Abend verkaufen die Khoury-Geschwister gemeinsam Honig, Olivenöl und Glühwein auf einem der beiden Weihnachtsmärkte in Ramallah. "Mein Bruder macht den Glühwein nach dem deutschen Rezept", erklärt Madees. Rotwein, Orangen, Zimt, Sternanis. "Die Leute fanden heißen Wein anfangs natürlich sehr seltsam", erinnert sich Canaan. "Aber er ist süß. Und Palästinenser lieben alles, was süß ist." +Bilder: Yaakov Israel diff --git a/fluter/Chronik-der-US-Wahlnacht.txt b/fluter/Chronik-der-US-Wahlnacht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6ec35d98880a0ae0042b0e379820274082ac9243 --- /dev/null +++ b/fluter/Chronik-der-US-Wahlnacht.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +6.40 Uhr: Es sind noch acht Staaten offen. Alaska geht eh an Trump, und in vielen anderen sieht es gut für ihn aus: Wisconsin, Michigan, Pennsylvania, New Hampshire, Arizona. Bis auf Arizona wurden die 2012 alle von Obama gewonnen. Minnesota und Maine könnten noch an Clinton gehen, aber das wird nicht reichen. +6 Uhr: Trump holt Georgia, Utah, Iowa … Er hat jetzt 244 Wahlmännerstimmen, Clinton 215. Es fehlen Trump also noch 26 Stimmen. +Im einstigen sozialdemokratischen Herzland, der größten Industrieregion der USA, droht für Clinton der finale Schlag. Sollte sie weder Michigan noch Wisconsin gewinnen, wird es für Clinton unmöglich, die Wahl zu gewinnen. +Clinton gewinnt jede Menge Stimmen, aber nur dort, wo es eh erwartet worden war: Kalifornien, Oregon. Es steht damit zwar jetzt 202 zu 187 zugunsten von Clinton, aber es bleibt dabei: Trump holt die entscheidenden Wackel-Staaten und fügt sie den vielen eh eisern republikanischen Staaten hinzu. Genau das geschieht nun auch mit North Carolina. +Die "New York Times" berichtet, dass die Leute auf der Party in Trumps Hotel in Washington rufen: "Sperr sie ein". Sie meinen damit Hillary Clinton. +Jetzt kommt es wohl auf die Staaten um die großen Seen an: Michigan, der problembeladene Autostaat, und Wisconsin. Nach der Auszählung der Hälfte der Stimmen liegt Trump auch hier vorn. +4.45 Uhr: Trump holt wohl auch Florida. Zumindest melden das AP und Politico. Dabei war zuvor viel darüber spekuliert worden, ob die große Zahl der lateinamerikanisch stämmigen Frühwähler nicht für Clinton spräche. +Der Albtraum der Demokraten nimmt Gestalt an. Weißes Haus, Repräsentantenhaus, Senat und letztlich auch das Recht, die vakanten Richterposten im Supreme Court auf lange Zeit mit gewogenen Kandidaten zu besetzen – das alles scheint an die Republikaner zu gehen. +Clinton hatte die volle Unterstützung ihrer Partei, sie hatte wesentlich mehr Geld als Trump, konnte sich auf den Wahlkampfapparat von Obama stützen, die meinungsführenden Blätter waren auf ihrer Seite – aber all das könnte nichts genutzt haben. +4.30 Uhr: Ohio geht an Trump. Der Staat, den Obama 2012 mit zwei Prozentpunkten mehr als Mitt Romney knapp gewonnen hatte. +Die Frage, die ziemlich groß im Raum steht: Kann Hillary Clinton ohne Florida und Ohio gewinnen? +"This team has so much to be proud of. Whatever happens tonight, thank you for everything" twittert Hillary Clinton. Das klingt nicht sehr zuversichtlich. Obama schreibt: "Egal, was passiert, morgen geht die Sonne auf." +Oje. Das ZDF zeigt Bilder von der Wahlparty der Demokraten. Aber was heißt überhaupt Party. Man sieht traurige, kopfschüttelnde, ja sogar weinende Menschen. Ganz anders die Bilder von Trumps Party. Jubelnde Menschen, die den deutschen Reportern drohen, dass Trump nun auch nach Deutschland komme, um dort aufzuräumen. +Und dann wurde es doch noch ein haushoher Sieg: das Empire State Building in New York am Wahlabend +Das, was viele nicht wahrhaben wollen, nimmt zumindest vage Konturen an. Vielleicht ist es doch so, dass sich viele Trump-Wähler in den Umfragen nicht zu ihm bekannt haben – aber in der Wahlkabine. +3.35 Uhr: Laut "New York Times" liegt Clinton in fünf von sechs Schlüsselstaaten hinten. Nur in Pennsylvania nicht. In Florida, Virginia, New Hampshire, North Carolina und Ohio hat Trump einen Vorsprung. Aber noch sind ja nicht alle Stimmen ausgezählt. +3.30 Uhr: Im Clinton-Lager wächst die Nervosität. Bei 93 Prozent ausgezählten Stimmen liegt Trump in Florida mit 49 zu 48 Prozent knapp vorne. Eine Reporterin der New York Times berichtet, dass die Stimmung auf der Wahlparty der Republikaner steigt und sie aufgefordert wurde, schon mal das für viele Unaussprechliche zu üben: "Präsident Trump". +Keine Überraschung: Das Repräsentantenhaus bleibt republikanisch. Diese Kammer im Kongress wird von den Republikanern regiert. Sollte Clinton gewinnen, wäre nun zumindest eine Mehrheit im Senat wichtig, damit die Demokraten wenigstens wichtige politische Ämter wie die Verfassungsrichter ernennen, und die Republikaner keinen eigenen Gesetze durchbringen können. +Stand jetzt: 123 zu 97 Wahlmännerstimmen für Trump. 270 muss der Sieger gewinnen. +3 Uhr: Zwei bevölkerungsreiche Staaten wählen unterschiedlich und wie immer: Texas geht mit 38 Stimmen an Trump, New York State mit 29 an Clinton. +2.30 Uhr: Die "New York Times" spekuliert, dass Ohio an Clinton fallen könnte. Das wäre eine echte Überraschung, weil Trump in den letzten Umfragen relativ deutlich vorn lag. +Verschiedene Medien berichten, dass nicht so viele Schwarze zur Wahl gegangen sind wie vor vier Jahren. Dafür aber dürften mehr Latinos zur Wahl gehen, nicht zuletzt, weil Trump dezidiert Einwanderer aus Lateinamerika beleidigt hatte. Insgesamt können 27,3 Millionen lateinamerikanischstämmige Amerikaner wählen – vier Millionen mehr als 2012, als Barack Obama gegen Mitt Romney antrat. Damals  waren über 50 Prozent der Latinos nicht zur Wahl gegangen. In Staaten wie Florida kann ihre Stimme den Ausschlag geben. +2 Uhr: Keine großen Überraschungen: Trump holt unter anderem South Carolina, Oklahoma, und Tennessee, Clinton New Jersey, Massachusetts, Washington DC, Delaware, Rhode Island und Illinois. Spannend wird es tatsächlich in Florida. Dort liegen die beiden Kandidaten Kopf an Kopf. +1.30 Uhr: West-Virginia geht mit fünf Stimmen an Trump. Natürlich hat niemand damit gerechnet, dass Hillary Clinton in den stramm republikanischen Staaten irgendwas gewinnen kann, und dennoch sind manche Ergebnisse schon jetzt bemerkenswert. So hat sie im Osten von Kentucky und in Teilen von West Virginia gerade mal 20 Prozent bekommen. Gegenden, die ihr Mann Bill Clinton bei den Wahlen 1992 und 96 für die Demokraten noch gewinnen konnte. +1 Uhr: Vermont geht mit drei Wahlmännerstimmen an Hillary Clinton, acht Stimmen aus Kentucky und elf aus Indiana an Trump. Alles keine Überraschung. Kentucky ist einer dieser Staaten mit sterbenden Industrien (Auto, Kohle), wo viele arme weiße Amerikaner leben, die sich abgehängt fühlen. Trumps Kernwählerschaft. Das Bruttoinlandsprodukt von Kentucky gehört zu den niedrigsten aller Staaten. Nur Whiskey gibt's reichlich. +24 Uhr: Die Auszählungen gehen los, und die "Washington Post" scheint ihre Reporter direkt in der Wahlkabine zu haben. Sie verkündet bereits die ersten Zwischenergebnisse. Nach Sichtung von zehn Prozent der Wahlzettel haben sich im bestimmt schönen Coos County, New Hampshire, 26 Menschen für Trump entschieden, 18 für Clinton. +Die "New York Times" berichtet in ihrem Newsticker, dass die Stimmung im Trump-Lager den ganzen Tag über eher bedrückt war. Am Morgen hätten sich einige Berater noch vorsichtig optimistisch gegeben, später habe man auf die Frage nach der Stimmung geantwortet: "Not great." +Hohe Wahlbeteiligung, lange Schlangen vor den Wahllokalen, Unterstützer von Hillary Clinton am Grab der 1906 verstorbenen Frauenrechtlerin Susan B. Anthony. Das sind so die Meldungen, bevor die lange Wahlnacht losgeht. In den Umfragen liegt Hillary Clinton leicht vorn, aber es wäre ja nicht die erste Wahl, die die Prognosen Lügen straft. Remember Brexit. diff --git a/fluter/D%C3%A4nemark-will-Syrer-abschieben.txt b/fluter/D%C3%A4nemark-will-Syrer-abschieben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..be70f77c01c9fad274db916029680bca042df6af --- /dev/null +++ b/fluter/D%C3%A4nemark-will-Syrer-abschieben.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Der Arabische Frühling war eine Welle von Protesten und Revolutionen in vielen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens. Dabei protestierten die Menschen vor zehn Jahren auch in Syrien für Freiheit, Gerechtigkeit und das Ende der Willkürherrschaft von Diktator Baschar al-Assad. Der antwortete mit Gewalt. Bald brach ein Bürgerkrieg aus, in den bis heute Staaten wie Russland, Iran, die Türkei oder Saudi-Arabien eingreifen. Mehr zum Thema seht ihrim Atlas des Arabischen Frühlings +Auch Bilal lebte vor seiner Flucht mit seinen Eltern und drei Geschwistern in der Nähe von Damaskus. Er war gerade zehn, als sich 2011 Tausende Syrer:innen im sogenannten "Arabischen Frühling" gegen das Regime Baschar al-Assads erhoben. Der Krieg hält bis heute an und kostete laut Schätzungen eine halbe Million Menschen das Leben. Mehr als zwölf Millionen Syrer:innen sind auf der Flucht, der größte Teil innerhalb Syriens und in benachbarten Staaten. Etwa 35.000 Syrer:innen kamen nach Dänemark, meist über diegefährlichen Mittelmeer- und Balkanrouten.Die Bomben, die Leichenteile, die Angst – all das wollte Bilal vergessen, als er in Dänemark ankam. +"Wir haben alles hinter uns gelassen", sagt Bilal am Telefon. Die Flucht nach Europa trat er vor fünf Jahren ohne seine Familie an: Sein Vater war vorausgegangen und holte die anderen nach. Heute lebt Bilal mit seinen Eltern und seinen Geschwistern in Randers, einer beschaulichen Stadt in Jütland. In Sicherheit, aber nicht unbeschwert: "Der Krieg hat uns hart gemacht", sagt Bilal. Zu viel sei passiert, ein neues Leben aufzubauen koste Kraft. + + +Gerade versucht Bilal seinen Schulabschluss zu machen. Das mit dem Dänisch werde immer besser, aber viel Zeit zum Lernen habe er nicht. Um seine Familie zu unterstützen, fährt er mit dem Fahrrad Essen aus, arbeitet bei einer Zeitarbeitsfirma und im Café. Anders als Schwester, Mutter und Vater haben Bilal und seine Brüder politisches Asyl erhalten, weil ihnen als jungen Männern in Syrien Militärdienst droht. Die anderen sollen gehen. "Als ich davon erfahren habe, ließ ich alles stehen und liegen und bin nach Kopenhagen gefahren", sagt Bilal. +Seit die Entscheidung der Behörden im Frühling 2021 auch international bekannt wurde, rufen betroffene Syrer:innen und ihre Unterstützer:innen in verschiedenen dänischen Städten zu Demonstrationen auf. Mitte Mai errichteten sie ein Protestcamp vor dem Parlament in Kopenhagen, manche gingen sogar in den Hungerstreik. Bilal war nach einigen Tagen vor dem Parlament frustriert: Die Presse berichtete nur sporadisch. Und Mette Frederiksen, die dänische Ministerpräsidentin, habe absichtlich einen Nebenausgang des Parlaments benutzt, um den Fragen der Protestierenden zu entgehen. +"Kennen die Dänen Caesar nicht?", fragt Bilal. Caesar ist der Deckname eines Militärfotografen, der Tausende Bilder von misshandelten und getöteten Menschen aus syrischen Gefängnissen ins Ausland schmuggelte und anschließend nach Europa floh. Bilal fürchtet, dass seiner Familie das Schicksal von Caesars Motiven droht, wenn sie nach Syrien zurückkehren. Laut dem Syrischen Netzwerk für Menschenrechte sind allein 2019 mehr als 600 Menschen nach ihrer Rückkehr in Syrien verschwunden, 15 starbendurch Folter. +Weiterlesen: +Dänemark listet bestimmte Wohngebiete offiziell als "Ghettos" –in einem ist der verstorbene Dichter Yahya Hassan aufgewachsen +Diese Zahlen scheinen die Regierung in Kopenhagen nicht umzustimmen. Dänemark versucht schon seit Beginn der 2000er-Jahre, mit einer strengen Asyl- und Integrationspolitik die außereuropäische Einwanderung ins Land zu verringern – etwa durch die sogenannten "Ghetto"-Gesetze in migrantisch geprägten Vierteln. +Im Januar erklärte Ministerpräsidentin Frederiksen, dass sie die Anzahl neuer Asylanträge auf "null" reduzieren wolle. Und kürzlich verabschiedete das Parlament ein Gesetz, aufgrund dessen Dänemark Asylsuchende ohne Verfahren in Länder außerhalb der Europäischen Union ausfliegen darf. Bis über ihren Asylantrag entschieden ist, sollen die Menschen dort in sogenannten Asylzentren ausharren, was von der Europäischen Union und der UNO kritisiert wurde. Einzelnen afrikanischen Staaten hat Dänemark bereits Geld und Unterstützung angeboten, um solche Asylzentren zu bauen. Bisher lässt sich kein Land darauf ein. + +Die 22-jährige Jawaher engagiert sich ehrenamtlich für diejenigen, die vor der Abschiebung stehen: "Für mich ist dieser Aktivismus nur menschlich" + +Wie in anderen Ländern Europas sind rechtspopulistische Parteien in den vergangenen Jahren auch in Dänemark stärker geworden. Sie haben die politische Debatte verändert. Bei der letzten Parlamentswahl 2019 traten die dänischen Sozialdemokrat:innen deswegen mit einem gemischten Programm aus rechten und linken Positionen an: höhere Steuern für Reiche, mehr Geld für Bildung, aber auch härtere Einwanderungs- und Asylpolitik. Auch das könnte dazu beigetragen haben, dass die rechtspopulistische Dänische Volkspartei zwölf Prozentpunkte verlor. +Dieser Strategie folgt womöglich auch die Entscheidung, die Region um Damaskus als sicher einzustufen und damit Abschiebungen theoretisch wieder möglich zu machen. Praktische Folgen hat das bisher noch nicht, denn abschieben kann nur, wer diplomatische Beziehungen zum Herkunftsland unterhält. Das ist zwischen Dänemark und dem Assad-Regime nicht der Fall. Die dänische Botschaft in Damaskus ist seit 2012 geschlossen. Genauso die deutsche Botschaft. Eine Möglichkeit, "Straftäter" nach Syrien abzuschieben, wie es immer wieder Politiker:innen in Deutschland fordern, besteht daher nicht. Es gibt aber eine andere Möglichkeit: die Rückkehrförderung. Migrant:innen bekommen Geld, wenn sie das Land freiwillig wieder verlassen. Solche Programme existieren sowohl in Deutschland als auch in Dänemark. Grundsätzlich argumentieren viele Politiker:innen, dass die freiwillige Rückkehr die bessere Lösung ist. Oftmals kostet sie den Staat sogar weniger als eine Abschiebung. Aber wenn Syrer:innen in Dänemark nun ohne Aufenthalt dastehen, kein anderes Land finden, das sie aufnimmt, oder das Geld zur Rückkehr nicht annehmen, bleibt denen, die nicht zurückkehren wollen, nur die Flucht in den Untergrund. Oder das Leben in einem Abschiebelager. Dort dürfen Menschen weder arbeiten noch studieren – ein Dämmerzustand auf unbestimmte Zeit. +Es gibt die sogenannte "residency granted to a non-deportable person". Dieser Aufenthaltsstatus ähnelt der deutschen "Duldung", wirdlaut Danish Refugee Councilaber extrem selten vergeben – und erst dann, wenn die Behörden eine Person mindestens 18 Monate lang nicht abschieben konnten. +Bilals Familienmitglieder haben inzwischen Einspruch gegen das Auslaufen ihrer Aufenthaltsgenehmigungen eingelegt. In den nächsten Tagen soll eine Antwort mit der Post kommen. Das Warten zehrt an der Familie. +Diese Situation soll möglichst vielen Syrer:innen erspart bleiben, sagt Jawaher. Die Kurdin ist 2015 aus dem nordsyrischen al-Hasaka nach Dänemark geflüchtet. Die 22-Jährige lebt heute nahe Kopenhagen, spricht akzentfrei Dänisch und engagiert sich seit vier Jahren bei einer Organisation, die sich für die Integration von Migrant:innen in Dänemark einsetzt. Als immer mehr syrische Familien Post von der Einwanderungsbehörde bekamen, wurde dieses freiwillige Engagement fast zum Vollzeitjob für Jawaher. "Ich versuche, die Familien zu beraten, und besorge ihnen die Nummer von Anwälten", sagt sie. Jawaher appelliert aber auch an die dänische Öffentlichkeit. Unter dem Label "Die Abgelehnten" erzählt Jawaher auf Facebook und Instagram von den Schicksalen der Syrer:innen. "Für mich ist dieser Aktivismus nur menschlich", sagt Jawaher. Aber ihre Mutter mache sich schon Sorgen, weil sie sich dabei immer wieder gegen das Assad-Regime ausspricht. Und gerade wird auch Jawahers Aufenthaltsstatus von den Behörden geprüft: Es gibt im dänischen Parlament Überlegungen, weitere Gebiete in Syrien als "sicher" einzustufen. +Wegen ihres Einsatzes für andere Syrer:innen war Jawaher Anfang Juli zu einem großen Musikfestival in Dänemark eingeladen. "Nach dem Sommer möchte ich mit der Uni beginnen", sagte sie in ihrer Rede: "Ich bin also in einer Situation, in der ich nicht weiß, ob es die Schultüte oder der Koffer ist, den ich packen werde." diff --git a/fluter/DDR-Stasiakten-Einsicht.txt b/fluter/DDR-Stasiakten-Einsicht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..169156063bec1e4001ca16a2ce693bb8909ea745 --- /dev/null +++ b/fluter/DDR-Stasiakten-Einsicht.txt @@ -0,0 +1,32 @@ +Jetzt, nach 25 Jahren, frage ich mich: Wie erging es anderen Betroffenen, die ihre Akten einsahen? Wie leben sie mit den Erkenntnissen? Wer hilft ihnen? Würden sie die Akte noch mal einsehen, wenn sie die Zeit zurückdrehen könnten? War es für viele nicht auch befreiend, endlich zu wissen, wo sie dran waren? Und was ist mit denen, die eine Akte haben, sie aber bis heute nicht einsehen wollen? + +Unser Artikel ist bebildert mit Aufnahmen, die der Künstler Simon Menner 2011 in den Archiven der Stasi entdeckt hat und in dem Bildband "Top Secret" veröffentlicht hat. Es sind Fotos, die die Arbeitdes Überwachungs- und Unterdrückungsapparates Staatssicherheit dokumentieren. Dies obigen Bilder zum Beispiel sind nachgestellte Szenen von Observationen, die in der Schulung angehender Agenten verwendet wurden. + +Im Lesesaal der Außenstelle Leipzig treffe ich Herrn Richter. Er hat den mittlerweile dritten "Wiederholungsantrag" gestellt, und jedes Mal taucht neues Material auf. Material, das 1993 bei seiner ersten Akteneinsicht noch nicht gefunden oder nicht zugeordnet werden konnte. Herr Richter war damals in der Arbeitsgruppe Menschenrechte in Leipzig aktiv. Sie vernetzten sich mit anderen Oppositionellen, stellten Westkontakte her, dokumentierten Fälle von Menschenrechtsverletzung und organisierten Friedensgebete. "Wir waren uns der Überwachung durchaus bewusst. Gehindert hat uns das in unserer Arbeit nicht, wir waren eben vorsichtig", erklärt er. Deshalb habe er 1992 auch gleich einen Antrag gestellt, um herauszufinden, wer was über ihn und seine Freunde geschrieben hat. +Ich frage ihn, was er sich von der Einsicht versprach. "Das Interesse war weder damals noch heute von einem ‚Rachegedanken' getragen", sagt Richter. "Gleichwohl erwartete ich ein Stück weit Gewissheit – und die habe ich bekommen." Denn durch die Akteneinsicht konnte seine Angst ausgeräumt werden, dass möglicherweise seine engsten Freunde der Stasi Informationen zugespielt hätten. "Das war eine große Erleichterung." Von denen, die ihn dann tatsächlich als inoffizielle Mitarbeiter (kurz: IM) bespitzelt hatten, hätte er sich das schon denken können. Mit denen habe er nach der ersten Einsicht allerdings nie gesprochen, und es sei auch nie einer direkt auf ihn zugekommen. +Ich finde das seltsam. Wieso redet keiner darüber? Auch mein Opa hat mit keinem der ehemaligen IM gesprochen, stattdessen all seine Enttäuschung in sich hineingefressen. "Hätte er sich diese Akte doch bloß nie angesehen!", schimpft meine Oma noch heute. Ich selbst kann meinen Opa nicht mehr fragen, ob er die Akte lieber doch nicht eingesehen hätte, könnte er die Zeit zurückdrehen. Vor ein paar Jahren ist er gestorben. +Herr Richter hingegen hat keinen Zweifel. Er würde seine Akte immer wieder einsehen, um ein möglichst vollständiges Bild von der Vergangenheit für sich selbst zu erhalten. +Es muss schlimm sein zu erfahren, dass Freunde und Nachbarn einen bespitzelt haben. Während meine Großeltern im Urlaub waren, haben ihre Nachbarn, die zum Blumengießen einen Schlüssel hatten, ihre Wohnung durchsucht. Und alles nur, weil mein Opa nie ein Blatt vor den Mund genommen hat und weil er bei einigen Leuten im Dorf Antennen für den Westempfang angebracht hat. Im Stasijargon hieß das: "störendes Mitglied auf Parteiversammlungen" und "organisierter Bau von Fernsehantennen für den Empfang des Westfernsehprogramms". Mein Opa war überzeugter Sozialist beziehungsweise Kommunist. Ein Vorzeigearbeiter, wie ihn Marx sich nicht besser hätte wünschen können. Er hatte proletarisches Klassenbewusstsein, war politisch top informiert und besaß einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Nur irgendwann merkte mein Opa eben, dass Theorie und Praxis immer weiter auseinanderklafften. Selbst von seinen Erwägungen, aus der SED auszutreten, wusste die Stasi. Doch dann fiel die Mauer. Und mit ihr ein System, an dessen reale Ausformung mein Opa zwar zum Ende hin nicht mehr glaubte, dessen Utopie er aber so gerne mal verwirklicht gesehen hätte. Den gelebten Sozialismus. + +Die Staatssicherheit führte oft heimliche Wohnungsdurchsuchungen durch. Viele Bewohner erfuhren erst nach der Wende von diesen staatlich verordneten Einbrüchen. Damit die möglichst spurlos vonstatten gingen, nutzten die Stasi-Mitarbeiter Polaroid-Kameras, um vor der eigentlichen Durchsuchung Sofortbilder anzufertigen. So konnten sie im Anschluss alles wieder in die ursprüngliche Position bringen. Das Filmmaterial für die Kameras wurde in Westdeutschland eingekauft – oder bei der routinemäßigen Öffnung privater Postsendungen aus dem Westen beschlagnahmt. + + +Minutiös gibt der IM ein Gespräch wieder, in dem mein Opa mit einem Kollegen über die schlechte Wirtschaftslage und das schlechte Fernsehprogramm der DDR schimpft. Diese exakte Dokumentation erscheint mir surreal. Meine Oma ärgert sich stattdessen über die Verzerrung bestimmter Sachverhalte und falsch gedeutete Beobachtungen der inoffiziellen Mitarbeiter. So hätten sich Opa und ihre Schwester entgegen einer Einschätzung eines IM sehr gut verstanden! Trotz der flächendeckenden Überwachung der DDR-Bevölkerung hat die Stasi also nicht alles richtig interpretiert und auch nicht alles mitgekriegt. +Darüber freut sich Ralf Bartholomäus nach seiner Akteneinsicht. Seit 30 Jahren leitet er die Galerie Weißer Elefant in Berlin-Mitte. Schon damals verkehrte er in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) und dann später in Berlin in Künstler- und Intellektuellenkreisen. Früh setzte die Stasi deshalb IMs auf ihn an. Vor allem aufgrund seines Briefwechsels mit dem Schriftsteller und DDR-Dissidenten Reiner Kunze, aber auch, weil er Teil einer "negativen Gruppe Jungerwachsener" war, wie es damals offiziell hieß. Um dazuzugehören, reichten schon seine Freundschaften mit Künstlern, das Vorhaben, mit oppositionellen Künstlern in Kontakt treten zu wollen, und seine damalige Arbeit in einer Galerie und einem Kulturladen. "Die wirklich wichtigen Dinge aber, die hat selbst die Stasi nicht mitgekriegt. Man durfte sich halt nicht erwischen lassen", sagt er schmunzelnd. + +Wenn in der DDR die Post abging: Gerne überwachte die Stasi auch Briefkästen und fotografierte jede Person, die einen Brief einwarf. Auf einigen Filmen ist dann noch zu sehen, wie Personen in Zivil die Kästen im Anschluss an die Observierung leeren + +Bartholomäus stellte erst vor wenigen Jahren einen Antrag auf Akteneinsicht. Er konnte sich nicht erklären, wieso sich bestimmte Menschen in der Zeit des Mauerfalls und danach von ihm distanzierten. Er suchte Antworten. Vor allem eine sehr gute Freundin brach plötzlich den Kontakt ab. Vor ein paar Jahren dann stellte er sie zur Rede. Sie war sich sicher, dass er sie verraten hatte. Das stimmte nicht, aber nun wusste er, woher diese plötzliche Distanzierung rührte, die er auch mit anderen Bekannten schon erlebt hatte. Das war für ihn der Anstoß, seine Akte zu beantragen. Mit der Einsicht klärte sich dann vieles auf. Aber vor allem hatte er nun das Schriftstück in den Händen, das bewies: Er hatte nie für die Stasi gearbeitet, sondern wurde selbst bespitzelt, stand sogar fälschlicherweise unter Spionageverdacht. +Stefan Trobisch-Lütge von der Beratungsstelle Gegenwind für politisch Traumatisierte der SED-Diktatur in Berlin-Moabit erklärt, der späte Antrag von Bartholomäus sei kein Einzelfall: "Es gibt viele Menschen, die erst jetzt bereit sind oder für die es erst jetzt relevant ist, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen." Zwar nehmen die Anträge auf persönliche Akteneinsicht jährlich leicht ab, aber die Zahl ist immer noch hoch. Allein 2016 beantragten 48.634 Menschen Akteneinsicht, 27.348 davon waren Erstanträge. +Ich frage mich, warum es solch eine Anlaufstelle, in der die Antragsteller vor und nach ihrer Akteneinsicht mit drei Psychologen Gespräche führen oder sich in der Gruppe mit anderen Betroffenen austauschen können, nicht auch für meinen Opa gab. Herr Trobisch-Lütge erklärt mir, dass es weiterhin schwer sei, die Menschen auf den kleinen Dörfern zu erreichen. Insgesamt überwiege für die Mehrheit der Menschen, die Einsicht in ihre Akte genommen haben, das positive Erlebnis des Erkenntnisgewinns gegenüber den menschlichen Enttäuschungen. Letztlich müsse aber jeder selbst entscheiden, ob er oder sie die Akten einsehen oder herausfinden will, ob es überhaupt eine Akte gibt. + +Da fasst man sich an den Kopf: Diese Bilder kamen als Lehrmaterial in einem Seminar zum Einsatz, in dem angehenden Agenten beigebracht wurde, wie geheime Zeichen zu übermitteln sind + +Manche Menschen wollen die Vergangenheit einfach nur ruhen lassen. Zum Beispiel meine Mutter. Auch von ihr gibt es, so die Vermutung, in irgendeiner Stasi-Außenstelle in Mecklenburg-Vorpommern noch eine Akte. Ihre Freundin hatte damals versucht, zu ihrem Freund in den Westen zu fliehen. Klar war meine Mutter da auch involviert. Schließlich ging es um Liebe. Und schon stand die Stasi bei ihr vor der Tür – und ein Vermerk in der Akte meines Opas. +Es ist der 25. Dezember 2016. Meine Mutter, meine Tante, meine Oma und ich sitzen am Weihnachtstisch. Topthema: die Stasi und die Akten. Meine Tante mahnt, dass ich die Zeit damals nicht einfach schwarz-weiß in Opfer und Täter einteilen soll. Viele hätten auch für die Stasi gearbeitet, weil sie selbst unter Druck gesetzt wurden. Auch meine Oma weiß von vielen Bekannten zu berichten, die nur studieren konnten, weil sie mit der Stasi kooperierten. "So war das eben damals, trotzdem: Uns ging es gut", sagt meine Oma. +"Die DDR ist für mich Vergangenheit, ich lebe jetzt", sagt meine Mutter. Ihre Entschiedenheit wirft für mich Fragen auf: Gibt es da möglicherweise Dinge, die ich nicht wissen soll? Oder woher kommt diese absolute Weigerung? +Ich kann ihre Akte leider nicht beantragen. Diese Möglichkeit besteht seit 2011 zwar für Angehörige von Vermissten oder bereits Verstorbenen, aber nur, "wenn ein berechtigtes Interesse vorliegt" und kein gegenteiliger Wille des Betroffenen bekannt ist. Meine Mutter beendet das Gespräch mit den Worten: "Es war keine einfache Zeit. Letztendlich habe ich aber sehr viel Glück gehabt." Ihr klares Nein lässt mich schweigen. Stattdessen träume ich wie mein Opa von einer Zukunft, in der der gelebte Sozialismus ohne Überwachung Realität wird. +Auch eine Observation scheint manchmal langweilig gewesen zu sein. Dieser Agent hier hatte jedenfalls nichts besseres zu tun, als sich währenddessen selbst zu fotografieren +Denn darum geht es eigentlich für mich als Kind der dritten Generation, das dieses Land namens DDR nur aus Familiengeschichten, Büchern, Filmen und Fernsehdokumentationen kennt: Ich bin ebenso tief enttäuscht wie mein Opa, dass der Sozialismus, den sich die DDR auf die Fahnen schrieb, nur mit einer Bespitzelung seiner eigenen Bürger zu haben war. Für mich stehen diese Akten und ihre Einsicht also nicht nur für eine aktive Geschichtsaufarbeitung gerade in Zeiten, da wieder über mehr Befugnisse für Polizei und Sicherheitsdienste diskutiert wird, sondern vor allem für die Frage: Was kann man daraus für ein zukünftig anderes Gesellschaftsmodell lernen? +Klar wünschte ich deshalb, meine Mutter würde ihre Akte doch noch beantragen. Aber ich verstehe auch, dass manche Wunden nicht mehr aufgerissen werden müssen. Den Herren Richter und Bartholomäus hat die Einsicht zu Aufklärung und auch Befreiung verholfen, denn beide hatten konkrete persönliche Fragen. Ganz anders meine Mutter. Die hat keine Fragen mehr. Sie kann sich offenbar auch so denken, was in den Akten steht. Meinem Opa hingegen ging es nicht so sehr um persönliche Aufklärung, sondern vor allem darum, seinen Staat, die DDR, zu verstehen. Zumindest ein wenig hat er das durch die Einsicht wohl auch erreicht. Deshalb würde er, da bin ich mir ziemlich sicher, seine Akte immer wieder einsehen – trotz alledem. +Titelbild: Nach dem Fall der Mauer versuchten Stasi-Mitarbeiter, im großen Stil Unterlagen zu vernichten. Viele Dokumente sind tatsächlich verloren gegangen, andere wurden aus Bruchstücken rekonstruiert. Auch einige Bilder aus den Archiven zeigen Spuren des Vernichtungsprozesses. diff --git a/fluter/Dawod-Adils-Flucht-aus-Afghanistan.txt b/fluter/Dawod-Adils-Flucht-aus-Afghanistan.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..de12ac93c49353211c8178bccdf05dd4b9593a51 --- /dev/null +++ b/fluter/Dawod-Adils-Flucht-aus-Afghanistan.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Dann ging es über eine weitere Grenze: etwa 18 Stunden zu Fuß durch die Berge. Am Nachmittag liefen sie los, erst am Morgen kamen sie im Iran an – das Land, das neben Pakistan die meisten afghanischen Flüchtlinge aufnimmt. Am Tag versteckten sie sich und schliefen, nachts fuhren sie mit 16 Personen in einem kleinen Transporter über die Autobahn nach Teheran. Dabei lagen sie so eng beieinander, dass Adil kaum Luft bekam. Ich habe geklopft, sagt er, doch einer der Schleuser drohte, ihn zu erschießen. +Nachts kamen sie an die Grenze zur Türkei: Wieder ging es zu Fuß durchs Gebirge – in einer Schlange mit Frauen und Kindern. Es war November, kalt, Kinder weinten. Als sie in einem Lager eine Decke anhoben, fanden sie eine Leiche darunter. Das Bild verfolgte Adil lange in seinen Träumen. Er wusste, dass auf der Route viele Afghanen getötet wurden, und tatsächlich fielen plötzlich Schüsse. Die iranische Grenzpolizei verletzte zwei seiner Bekannten. Um sich zu beruhigen, las Adil Verse im Koran. "Damals war ich gläubiger", sagt er. +In Istanbul fühlten sie sich zum ersten Mal seit Tagen in Sicherheit. Sie konnten sogar einfach einkaufen gehen – ohne die Angst, aufgegriffen oder erschossen zu werden. Dann ging es weiter – Richtung Griechenland. Die Schleuser ließen sie am Strand vor einem Schlauchboot zurück, das sie selbst aufpumpen mussten. 16 Menschen sollten damit über das Meer, für sieben war es ausgelegt. +Wieder musste Adil entscheiden, ob er sein Leben aufs Spiel setzen wollte. Obwohl er nicht schwimmen kann, stieg er in das Boot. Als schon nach kurzer Zeit Wasser hineinlief, fuhren sie zurück zum Strand. Eine Familie stieg aus und weigerte sich mitzufahren. Auch Adils Freund Farid blieb zurück. Dann starteten sie einen zweiten Versuch und erreichten nach stundenlanger Fahrt eine griechische Insel in der Ägäis. "Ab da war es einfach", sagt Adil. Tatsächlich hielt ihm niemand mehr eine Waffe ins Gesicht, es gab kein Meer mehr zu überqueren und keine Luftnot in überfüllten Laderäumen. Zu Fuß, im Bus und mit dem Zug erreichte Adil nach einem Monat auf der Flucht Deutschland. +Die Wüste, die Berge, das Meer, die Taliban, die bewaffneten Grenzer – Adil hat viel riskiert. Aber hat es sich gelohnt? War es das alles wert? +Adil sitzt auf einer Schlafcouch in einem etwa acht Quadratmeter großen WG-Zimmer in Berlin und muss nicht lange überlegen. Ja, es hat sich gelohnt. Er lebt, er ist sicher. Vorerst zumindest, denn sein Asylantrag ist abgelehnt worden und er nur geduldet. Das bedeutet, dass er Deutschland verlassen muss – nur nicht sofort, da seine Abschiebung vorübergehend ausgesetzt ist. +Vielen Afghaninnen und Afghanen droht die Abschiebung,obwohl die Taliban in ihrem Land gerade wieder zunehmend Terror verbreiten. Wenn Adil die Angst überkommt, abgeschoben zu werden, sagt er sich: Er hat ja schon ganz anderes geschafft. +Und damit meint er nicht nur die Flucht, denn die Jahre danach in Deutschland waren auch nicht einfach. Keine Berge, aber Ämter. Kein Meer, aber eine Flut von Bestimmungen. Jahrelang teilte er sich mit zwei weiteren Geflüchteten ein Zimmer in einem Flüchtlingsheim in Herzberg in Brandenburg. Als er einen festen Job als Videojournalist in Berlin fand, konnte er nicht dort hinziehen – wegen der Residenzpflicht in Brandenburg. Die bedeutet, dass Geflüchtete, deren Asylverfahren nicht abgeschlossen ist, nur in einem vom Amt bestimmten Bereich wohnen dürfen. Jeden Morgen musste Adil deshalb anderthalb Stunden mit dem Zug nach Berlin pendeln und abends zurück. Wenn er den letzten Zug zurück um 21.35 Uhr verpasste, schlief er am Bahnhof. +Eine Anwältin schaffte es schließlich, dass sein Fall nach Berlin verlegt wurde und er dort hinziehen konnte. Eine Arbeitskollegin vermittelte ihm das WG-Zimmer, in dem er nun seit gut einem Jahr lebt. Adil findet, dass er es weit gebracht hat. Er arbeitet, er wartet auf gute Nachrichten vom Amt, er hört in seinem Zimmer persische Musik und trinkt schwarzen Tee mit Kardamom. Wenn er aktuelle Nachrichten aus Afghanistan hört, wacht er nachts oft auf – weil ihm die Bilder von seiner Flucht durch den Kopf gehen. Aus der Zeit, in der er beschloss, alles zu riskieren. 4.777 Kilometer von hier entfernt. + diff --git a/fluter/Der-Roman-2084-von-Boualem-Sansal.txt b/fluter/Der-Roman-2084-von-Boualem-Sansal.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..38110550aa2048c028068858c1c0805e2d1e7d8d --- /dev/null +++ b/fluter/Der-Roman-2084-von-Boualem-Sansal.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Sansals Roman ist eine bitterböse – oder vielleicht eher tieftraurige Phantasie darüber, wie es aussehen könnte, wenn der islamistische Fundamentalismus die Weltherrschaft übernähme. Zusammen mit Michel Houellebecqs Roman "Unterwerfung", worin ein radikaler Islamist französischer Staatspräsident wird, war "2084 – Das Ende der Welt" in Frankreich der meistdiskutierte Roman des letzten Jahres. Das sagt noch nichts aus über die tatsächliche Zukunft des Islamismus, aber viel über den Zustand der französischen Gesellschaft. Zumal wenn ein Roman zum preisgekrönten Bestseller wird, der wirklich alles andere als leichte Lektüre ist. + + +Boualem Sansal: "2084 – Das Ende der Welt". Aus dem Französischen von Vincent von Wroblewsky. Merlin Verlag, 288 S., 24 Euro +Es sei sehr schwer gewesen, einen ganzen Roman mit nichts zu füllen, sagte Boualem Sansal vor einiger Zeit in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Für seine Leser auf der anderen Seite ist es schwer, das Nichts auszuhalten. Das liegt zum Teil daran, dass es im gesamten Roman praktisch keine echten Personen gibt. Natürlich spielen Menschen eine Rolle, die auch namentlich eingeführt werden, aber sie werden niemals charakterlich so weit ausgestaltet, dass sie als Personen wirklich voneinander unterscheidbar würden. Das trifft sogar auf den Protagonisten zu, dessen Geschichte der Roman verfolgt, einen Mann namens Ati, der zu Beginn in einem abgelegenen Sanatorium gegen Tuberkulose behandelt wird. In der dortigen Leere infiziert er sich mit dem Virus des Zweifels an der herrschenden Gesellschafts- und Religionsordnung, die er vorher nie hinterfragt hatte. +Wie Ati mit einer Karawane zurückkehrt in das besiedelte "Viertel" Abistans, aus dem er stammt; wie er auf dem Weg eine Begegnung hat mit einem anderen, der möglicherweise auch ein Zweifelnder ist; wie er sogar im Viertel einen Verbündeten findet, der ihm wieder verlorengeht, weil Ati am Schluss in ganz und gar mehrdeutige Gesellschaft gerät – das alles wird mehr oder weniger nebenbei erzählt. Oder untendrunter. Es ist nämlich fast so, als wolle dieser Roman jede eigentliche Handlung unmöglich machen unter einem riesenhaften, statischen atmosphärischen Überbau, der, eben genau so wie in der geschilderten, der endgültigsten aller Welten, noch jedes Aufflackern von individuellem Schicksalsbedürfnis im Keim erstickt. Das zu lesen ist in etwa so, wie in schwarzem Nebel im Kreis zu wandern, ohne zu wissen, was das eigentliche Ziel hätte sein sollen. +Die Hommage an George Orwells "1984", die Boualem Sansal im Titel seines Romans unterbringt und auch in kleineren Hinweisen im Text versteckt, bedeutet noch lange nicht, dass beide Bücher sich irgendwie ähnlich sind. Sie sind es allein in ihrer Ablehnung jeder totalitären Ideologie, unterscheiden sich in der Durchführung aber ganz grundsätzlich. Der große Unterschied liegt darin, dass Orwell letztlich doch an den Menschen und seine immer wieder aufflackernde Widerstandsfähigkeit glaubte. Sansal dagegen glaubt an nichts. An den Menschen schon mal gar nicht. +Titelbild: V. Muller/Opale/Leemage/laif diff --git a/fluter/Dirk-Gieselmann-wie-ich-zu-dem-wurde-der-ich-bin.txt b/fluter/Dirk-Gieselmann-wie-ich-zu-dem-wurde-der-ich-bin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..799d00c21b540bec08588de396040356a62ed26b --- /dev/null +++ b/fluter/Dirk-Gieselmann-wie-ich-zu-dem-wurde-der-ich-bin.txt @@ -0,0 +1,46 @@ +Sie hatte damals ein eigenes Bewertungssystem. Noten lehnte sie ab, stattdessen stand unter den Arbeiten "fein" oder "leider nicht so gut", geschrieben mit rotem Kugelschreiber. "In Ordnung" entsprach einer Drei. +Eines Tages gab ich ihr ein Erinnerungsalbum, in das sich zuvor schon meine Mitschüler eingetragen hatten, die Kategorien lauteten "Lieblingsfarbe", "Lieblingsbuch" oder "Was ich einmal werden möchte". Ihre Antwort lautete: "Weise". +Ganz unten gab es eine leere Sprechblase, über der "Was ich Dir immer schon mal sagen wollte" stand. Mit großer Spannung erwartete ich die Geständnisse der Mädchen aus meiner Klasse. Die Lehrerin indes schrieb mit ihrem roten Kugelschreiber hinein: "Du bist in Ordnung." +"Guten Abend, hier spricht Dirk Gieselmann.""Bitte, wer?" +"Ich war Ihr Schüler von 1989 bis 1991.""Wie war noch gleich Ihr Name?" +"Gieselmann, Dirk. Klasse 5 a und 6 a.""Hm. Ja. Dirk. Kann sein. Warum rufen Sie mich an?" +"Ich rufe Sie an, um zu fragen, warum Sie mir als Mensch eine Drei gegeben haben." +Der zweite Anruf. Er bellt ins Telefon: "Ja?" Natürlich bellt er, er hat ja immer nur gebellt: der Dorfschläger. Der um einen Kopf größere und um einen Kopf dümmere Junge, der mich meines Lebens nicht mehr froh werden ließ. +Einmal kam er auf einem winterlichen Stoppelfeld auf mich zu, aus einem guten Kilometer Entfernung, immer größer werdend, ein Bote des Unheils und das Unheil selbst, und als er schließlich vor mir stand, schlug er mir, wortlos grinsend, mit der Faust ins Gesicht. Das Blut troff in den Schnee, und er ging davon, wie ein Handwerker, der Feierabend hat. +Ich war nicht vor ihm geflohen, weil ich es hinter mir haben wollte. Schlug er mich nicht heute, schlug er mich morgen. Seine Abreibungen waren so unausweichlich wie die Badewanne am Samstagabend. +"Ja?""Hallo. Ich bin's, Dirk. Der Junge, den du früher verprügelt hast." +"Ja, und?""Ich rufe an, um dich zu fragen, was die Scheiße sollte." +Der dritte Anruf. "Sie sind verbunden mit der Mailbox von …" Den Namen sagt sie selbst, aber nicht mehr mit der Stimme, die mir noch immer im Ohr klingt, vom Vorlesen im Deutschunterricht. Ich schloss stets die Augen, wenn sie dran war, sie klang wie ein Engel: "Es war einmal …" +Wir gingen ein paarmal Eis essen, im Sommer, als es bei Tomasella den Italia-90-Becher gab, einen Pokal mit sechs Kugeln, die wir uns teilten. Als er leer war, fragte ich sie, ob sie mit mir gehen wolle. Sie schaute mich an, ich schaute zu Boden, sie sagte: "Ich habe schon einen Freund, er sieht aus wie Hobie von ‚Baywatch' und wohnt in Wilhelmshaven. Wir haben uns im Urlaub kennengelernt." +"Hallo, bist du es, Dirk?""Ja, vielen Dank für deinen Rückruf." +"Mensch, das ist ja ewig her! Wo steckst du? Was machst du? Warum hast du angerufen?""Ich habe angerufen, um dich zu fragen, warum du mir das Herz gebrochen hast." +Irgendwann in jenen Jahren, in denen diese drei Menschen auf den Plan traten, zwischen 1989 und 1991, zersprang mein Leben in zwei Hälften. +Die eine, nennen wir sie mein Dasein, ist die, auf der ich jetzt stehe: ein sogenannter Mann von 38 Jahren, verheiratet, zweifacher Vater, dreifacher Patenonkel, Raucher, Gelegenheitsschwimmer, Journalist mit Sozialversicherungs- und Steuernummer, IBAN und BIC, leicht überdurchschnittlichem Jahreseinkommen, 571 Freunden bei Facebook und fünf im echten Leben, mit beginnendem Haarausfall, einem fehlenden Zahn und einem Hang zu herbstlicher Trübsal, verhinderter Langschläfer, Besitzer einer erklecklichen Sammlung melancholischer Schallplatten und eines 18 Jahre alten Autos, Trauergast auf bislang elf Beerdigungen, darunter die eines Schulfreundes, leicht kurzsichtig, aber zu eitel für eine Brille, ein kleines schwarzes Herz auf dem linken Handgelenk, tätowiert in einer Phase des Liebeskummers vor nunmehr elf Jahren. +Kurz: Ich bin ein leidlich funktionierender, von Zumutungen mehrfach vernarbter Erwachsener, einer von vielen. Von sehr vielen. +Die andere Hälfte, nennen wir sie Kindheit, treibt unaufhörlich fort von mir wie der durch tektonische Kräfte abgebrochene Teil eines einstmals ganzen Kontinents. Erst war da ein Riss, der zum Rinnsal wurde, dann zum Fluss und schließlich zum unüberwindlichen Ozean. Ich kann meine Kindheit nicht mehr sehen, nur noch vermuten, was dort vor sich geht, auf diesem anderen, fernen Kontinent. Ich spähe in den Nebel, dorthin, wo das verlorene Land ja schließlich irgendwo liegen muss. +Lebt mein geliebter Hund noch? Spiele ich mit meiner Eisenbahn? Freue ich mich auf Weihnachten? Weine ich, wenn der SV Werder verliert? Verstecke ich mich hinter dem Sofa, wenn Ajatollah Chomeini in der "Tagesschau" gezeigt wird? Werde ich von meinen Eltern getröstet, wenn ich Angst habe? Sitze ich im Baumhaus und lese Indianercomics? Träume ich davon, ein berühmter Sportler zu werden? Bin ich immer noch so gleichbleibend glücklich und freue mich auf jeden neuen Tag? Glaube ich noch, dass ich der Mittelpunkt der Welt bin? +Schwer zu entziffernde Botschaften, die Antworten auf meine Fragen sein könnten oder auch nicht, dringen zu mir herüber, wie Schildkröten, die den Atlantik überqueren, um auf der anderen Seite ihre Eier am Strand abzulegen. Nennen wir es Erinnerung. +Es gibt auch Artefakte, in denen ich lesen kann, sie stehen in der Schrankwand meiner Eltern, im Fach hinten links, unter dem guten Kaffeeservice, aus dem zuletzt bei meiner Konfirmation getrunken wurde. Man muss das Sofa zurückschieben, um die Tür öffnen zu können: Dort stehen die Fotoalben. Darin bin ich noch das Kind, das Dirki heißt. Der Mittelpunkt der Welt. +Auf jedem Foto bin ich der Hauptdarsteller: Ich sitze feist am Geburtstagstisch, vor mir ein Teller Waffeln mit Puderzucker, ich fliege im Kettenkarussell vorüber, unscharf und fidel, stehe mit Eimerchen und Schippe am Strand von Norderney, Bauherr einer erbärmlichen Sandburg. Der Stolz meiner Eltern steht als Gestaltungswille hinter diesen Bildern: Unser Sohn! Ist er nicht einzigartig? +Ich war frei von Zweifeln und Kummer, es gab keine Brüche, alles war Gegenwart. Der Gedanke, dass mich jemand nicht mögen könnte, war mir fremd. Ich war ein Ganzes, eins mit mir selbst. Dumm genug, um glücklich zu sein. +Dann bekam ich zum ersten Mal auf die Fresse. +Ich glaube, es war an der Bushaltestelle, an einem Herbstmorgen, als der Dorfschläger befand, ich sei nun alt genug, um zu erfahren, dass mich nicht alle Menschen liebten, vor allem er nicht. Ich saß hinterher schluchzend auf der Rückbank, das Mädchen von der weiterführenden Schule reichte mir krankenschwesterlich ein Taschentuch. +"Äh, hahaha", sagt der Dorfschläger. "Das ist lange her.""Ich kann mich ganz gut erinnern", sage ich. Das Herz pocht mir bis zum Hals. Uns trennen 500 Kilometer, aber ich habe immer noch Angst, dass er mir eine reinhaut. +"Also, ja", sagt er. "Was soll ich sagen? Mir war wohl langweilig." +"Deswegen hast du mich verprügelt?""Denke ich mal." +Es waren ganz sicher nicht nur seine Prügel, die Benotung durch meine Klassenlehrerin als mittelmäßiger Mensch und die Abfuhr in der Eisdiele, die das Ende meiner Kindheit bedeuteten: die bittere Erkenntnis, verletzlich zu sein, die ungemütliche Ahnung, dass die Welt zu groß ist, um ihr Mittelpunkt zu sein, und zu feindlich. Aber sie stehen symbolhaft für diese Zäsur, finstere Metaphern meiner Biografie. Als wären sie die ersten Buhrufe für einen Kinderstar gewesen, der bislang nur "Mama" hatte singen müssen, um alle zu verzücken. Ein Schock, eine narzisstische Kränkung. +"Ich habe Ihnen als Mensch eine Drei gegeben?", sagt die Lehrerin, als hörte sie zum ersten Mal von einem himmelschreienden Skandal. "Das kann ich ja kaum glauben.""Doch, doch. Sie haben es mir sogar ins Album geschrieben", sage ich. "Es liegt hier vor mir. Du bist in Ordnung, steht da. Das war doch Ihre Drei." +"Ja, das stimmt schon. Aber …""Warum habe ich keine Zwei bekommen? Was hat gefehlt?" +"Das habe ich da wohl einfach so hingeschrieben, ohne groß nachzudenken." +Als ich mit sieben Jahren bei einem Schwimmwettkampf im Freibad meiner Heimatstadt die Goldmedaille über 50 Meter Kraul gewann, fühlte ich mich wie der einzige Olympiasieger der Geschichte. Unerheblich, dass ich in meiner Altersklasse der einzige Teilnehmer gewesen war. Heute kann ich berufliche Erfolge erzielen, Lob einheimsen, Preise verliehen bekommen: Ich halte mich dennoch für nur einen von sieben Milliarden Menschen, dessen Tun nicht wesentlich wichtiger ist als das einer Waldameise. Mitunter denke ich sogar, meine Frau hat mich nur geheiratet, weil der Junge aus Wilhelmshaven, der aussieht wie Hobie aus ‚Baywatch', nicht mehr zu haben war. +"Ich habe dir das Herz gebrochen?", fragt das Mädchen aus der Eisdiele. "Das ist ja niedlich.""Finde ich eigentlich nicht", sage ich. "Um ehrlich zu sein." +"Entschuldigung. Wie lange warst du denn traurig?""Lange. Sehr lange." +"Also, das ist schon ein bisschen gespenstisch jetzt.""Ich bin verheiratet." +"Aha. Glückwunsch. Du, ich hab nicht viel Zeit, ich muss …""Nur eine Frage noch." +"Ja, bitte.""Was war an Hobie toller als an mir? An dem Typen aus Wilhelmshaven." +"Hahaha.""Was war toller an ihm?" +"Er hatte ein Skateboard." +Ein Brett mit Rollen, Langeweile und die Unachtsamkeit des Einfach-so-Hinschreibens: Das waren also die drei Auslöser für meine Vertreibung aus dem Kinderparadies. Ich hätte es gern ein bisschen weniger profan gehabt. Aber wie so vieles kann man sich auch das nicht aussuchen. +Von dort aus wurden die Kränkungen fortgeschrieben, von Frauen und Männern, denen ich aus verschiedenen Gründen gern gefallen hätte, von Schwiegermüttern und -vätern, von Auftraggebern, Leserbriefschreibern, von Smalltalkpartnern und Tischnachbarn, Freunden von Freunden, die mich auf Partys stehen ließen, um sich dem Nächstinteressanteren zuzuwenden. Und ich blickte stumm in meine Sektflöte, weit außerhalb des Mittelpunkts der Welt. + +Dirk Gieselmann reiste in den vergangenen Monaten durch Deutschland, um die Menschen nach ihren Ängsten zu befragen. Er ist außerdem ehemaliger Vorstopper des TuS Sankt Hülfe-Heede diff --git a/fluter/Dokumentarfilm-das-Gelaende-Zentrale-des-Naziterrors.txt b/fluter/Dokumentarfilm-das-Gelaende-Zentrale-des-Naziterrors.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5a8c9210aee074ffe7587d1ec5f1f8063ba8f7c2 --- /dev/null +++ b/fluter/Dokumentarfilm-das-Gelaende-Zentrale-des-Naziterrors.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Das Gelände an der heutigen Niederkirchnerstraße ist einer dieser Orte, an dem sich die Gräuel der Nazis verdichteten. Ein deutscher Erinnerungsort. Jahrelang kämpfen Historiker und Bürgerinitiativen darum, dessen Geschichte sichtbar zu machen. Doch sie scheitern immer wieder – mal an politischen Differenzen, mal an bürokratischen Hürden. +Ende der 80er-Jahre bringen Ausgrabungen die Kellerwände der NS-Gebäude zum Vorschein. Der Kameramann Martin Gressmann wird aufmerksam auf den Ort und beginnt, ihn zu filmen. +Seine Oma hatte ihm erzählt, dass es in der Nazizeit "in Berlin eine bestimmte Straße gegeben hätte, durch die man einfach nicht durchging." Das sind Gressmanns Worte aus dem Off am Beginn seines Films "Das Gelände". +Als Gressmann anfing mit dem Filmen, dachte er, die Brache würde bald mit Häusern bebaut, und plante einen Kurzfilm. Aber sie wurde nicht bebaut. Im Laufe der Jahre kommt Gressmann immer wieder zum Gelände und hält die Kamera drauf. Beobachtet Stapel aus alten Autoreifen. Halb herunterhängende Plakate. Wie Gräser im Wind schaukeln. Archäologen in einen Betontunnel steigen. Einen Mann, der nach der Grenzöffnung durch ein Loch in der Mauer schaut und schimpft. Bauarbeiter Sand schaufeln. Kinder Schlitten fahren. Die Kamera erkundet auch die Gegend um das Gelände. Vor dem Berliner Abgeordnetenhaus spielt eine Bundeswehr-Kapelle Blasmusik zur Verabschiedung der Alliierten. Am ehemaligen Reichsluftfahrtministerium wird ein Film gedreht. Die Jahre vergehen, der Dokumentarfilm ist gegliedert durch Zwischentafeln, auf denen Jahreszahlen stehen, 1985, 1989, 1999, 2006 … +Im Off hören wir Personen, die etwas zum Gelände erzählen. Ein Historiker schildert, dass die Gestapo gar nicht so "geheim" vorging. Eine Biologin beschreibt, welche Pflanzen auf der Brache wachsen. Der gescheiterte erste Architektur-Entwurf für ein Ausstellungsgebäude kommt auch zur Sprache. Und so weiter. Ein Puzzle aus Informationsfragmenten breitet sich aus, zusammen mit den Bildern. Die Personen der Off-Töne bleiben unsichtbar, ihre Namen werden erst im Abspann genannt. +Gressmann beobachtet. Und wir beobachten mit ihm. Das ist das Schöne an diesem stillen Film. Er lässt uns in eineinhalb Stunden eine Reise machen, bei der wir mit den Augen am selben Ort bleiben, aber durch die Jahre wandern. Von 1985 bis 2013. Es ist ein Ort deutscher Geschichte, doch es geht darum, was hier Jahrzehnte später passiert. Oder nicht passiert. Und wie auch das Geschichte wird. +Der Film schenkt Atmosphäre und Blicke. Aber wenig Information. Die muss man selbst mitbringen oder sich nach dem Film holen. Wer mit wenig Vorwissen in diesen Film geht, wird mit noch mehr Fragezeichen hinausgehen. Das ist nur dann frustrierend, wenn man eine traditionelle Doku erwartet, mit Interviewpartnern, die in die Kamera schauen, mit Archivaufnahmen, Erklärungen und Einordnungen. +Gressmann hat hingegen einen radikal kontemplativen Film gemacht. Da hätte er auch auf den Tonspur-Schmuck verzichten können, der an einigen Stellen erklingt, zum Beispiel ein Straßenbahnbimmeln, wenn aus dem Off von der Tram berichtet wird, die früher dort vorbeifuhr. In die Reduziertheit des Films passen aber die Zwischentafeln mit Hinweisen, die manchmal auftauchen wie in Stummfilmen. Gegen Ende steht auf so einer Tafel: "Am 6. Mai 2010 wird das Dokumentationszentrum ‚Topographie des Terrors' eingeweiht." Es folgen die letzten Bilder, die Gressmann gefilmt hat. Das Gelände hat sich gefunden. + +"Das Gelände", Regie und Buch Martin Gressmann, Deutschland 2014,www.das-gelaende.de diff --git a/fluter/Dunkelhaeutige-und-der-Trend-zum-Bleichen.txt b/fluter/Dunkelhaeutige-und-der-Trend-zum-Bleichen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2dae9f8917a31e4070468e49e0a4cdfc6c93cd48 --- /dev/null +++ b/fluter/Dunkelhaeutige-und-der-Trend-zum-Bleichen.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Vybz Kartel, der ja schon eine Menge erreicht hat, geht denn auch gleich noch den nächsten Schritt. Er hat nicht nur für sich selbst das Aufhellen der Haut mit Hilfe von Chemikalien entdeckt, er hat auch eine eigene Reihe von Kosmetikprodukten auf den Markt gebracht, für die er nun selbst als Testimonial wirbt. Zwar gibt es auch Gegenstimmen aus der Dancehall-Szene, etwa von Künstlern wie Mavado und Sizzla Kalonji,die das Bleaching verurteilen. Und sogar Vybz Kartel selbst zeigte sich für die Länge eines Songs mit dem Titel "School" reumütig undwarnte zumindest Schulkinder, seinem Bleaching-Vorbild zu folgen. Aber insgesamt gibt Dancehall mittlerweile nicht nur den Ton, sondern auch das Toning an. +Was in Teilen Afrikas als "Skin Toning", "Skin Whitening" oder "auch Skin Bleaching" bekannt ist, wird in Jamaika meist "browning" genannt. Die Produkte tragen Namen wie "Piona", "Ambi", "Nadinola", "Betnovate", "Dermovate", "Movate", "Maxi white", "Fair" und einfach "White". Und nicht wenige Jamaikaner mögen sich gar nicht für eines der Produkte entscheiden. Sie kaufen gleich mehrere davon und rühren sie zu Hause in Mischverhältnissen zusammen, die als Geheimtipps gehandelt werden: Ein bisschen davon, ein bisschen hiervon und dann noch ein bisschen Zahnpasta dazu –und es wirkt gleich noch mehr. +Besonders verbreitet ist das Skin Bleaching unter jungen Jamaikanern in den größeren Städten. Mit einer helleren Haut, so die weit verbreitete Überzeugung, würden sich ihnen ganz neue Chancen im Berufs- und auch im Liebesleben eröffnen. Da könnten sie, wie es scheint, durchaus recht haben. Betrachtet man die Elite des Landes in Kultur, Wirtschaft, Politik und Sport, so zeichnet die sich fast durchweg durch eine etwas hellere Haut aus. Menschen mit dunkler Haut hingegen leben in Jamaika oft in der ständigen Erwartung von Zurückweisung und ahnen, sowieso nie dort oben an die Spitze der Gesellschaft hinzukommen. Sie erleben es immer wieder, dass ihre Fähigkeiten und Leistungen allein wegen ihrer Hautfarbe nicht gewürdigt werden. Also suchen sie ihr Heil in chemischen Mitteln, mit denen sie ihre Haut aufhellen. +Sozialer Status, Klasse und Hautfarbe sind in Jamaika, wie in vielen anderen Ländern, eng miteinander verflochten. Die Hautfarbe kann für die soziale Mobilität ein Beschleuniger oder eine Bremse sein – je nach Helligkeit eben. Der jamaikanische Sprint-Weltmeister Usain Bolt redete jüngst ganz offen darüber, wie die Hautfarbe sein Leben in Jamaika beeinflusst: "Ich lebte mal in einem Wohnkomplex, wo ich einige Schwierigkeiten mit Nachbarn hatte, die eine hellere Haut haben. Mein Nachbar war Rechtsanwalt und warnte mich: Sei vorsichtig, hier werden junge, strebsame Leute nicht gerne gesehen." Auch Portia Simpson Miller, die frühere Premierministerin von Jamaika, führt einen großen Teil der an ihr geübten Kritik auf ihre Hautfarbe zurück. Auch wer es weit gebracht hat in Jamaika, fühlt sich dennoch oft als Opfer des in der jamaikanischen Gesellschaft weit verbreiteten "Kolorismus". +Viele der Bleichmittel, die oft harmlos wie einfache Gesichtscremes daherkommen, sind in Wirklichkeit ungesund, weil sie schädliche Stoffe wie Hydrochinon und Quecksilber enthalten, die Hautirritationen, Hautausschläge und eine verstärkte Pigmentierung auslösen und schlimmstenfalls sogar krebserregend sein können. Mediziner und Politiker warnen eindringlich vor den Gefahren des Skin Bleachings und setzen sich dafür ein, diese Praxis zu stoppen. Die jamaikanische Regierung sah sich 2007 gar zu einer Aufklärungskampagne mit dem Titel "Don't Kill the Skin" herausgefordert – mit bescheidenem Erfolg: Untersuchungen zeigen, dass das allgemeine Aufhellen ungebrochen weitergeht. +Hinter dem Geschäft mit den Hautaufhellern steckt eine Milliardenindustrie. Bis zum Jahr 2020 soll der Markt laut Schätzungen von Global Industry Analysts weltweit 23 Milliarden US-Dollar schwer sein. Die Firma Unilever zählt mit ihren Marken Vaseline und Dove zu den wichtigsten Akteuren dieser Industrie. Die Aufhellungscreme "Fair and Lovely" von Unilever etwa ist in Indien ein Verkaufsschlager. Die meisten Konsumenten dieser Produkte leben in Asien, Afrika und der Karibik. In Nordamerika und Europa sind solche Produkte wegen ihrer Inhaltsstoffe meist verboten oder werden nur unter massiven Einschränkungen zugelassen. Aber angesichts einer schwach ausgeprägten gesetzlichen Regulierung in vielen Entwicklungsländern haben die Firmen es dort oft viel leichter, Absatzmärkte zu finden. +An diesem Geschäft möchte auch Dancehall-Star Vybz Kartel mitverdienen. Er weiß eben sehr genau, wie man in Jamaika zu etwas kommt. + +Agomo Atambire ist 27 Jahre alt und kommt aus Ghana, wo er in der Hauptstadt Accra Biotechnologie studiert hat. Im Sommer hat er ein sechswöchiges Praktikum in der Redaktion von fluter.de absolviert und währenddessenüber seine Erfahrungen in Deutschland Tagebuch geführt. Nun ist er zurück in Accra und will seinen Master machen. + +Illustration: Héctor Jiménez diff --git a/fluter/Experteninterview-Proteste-Korruption-Rumaenien.txt b/fluter/Experteninterview-Proteste-Korruption-Rumaenien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2d66dcf15ef923f1741b3ae6c41c2b9db643e977 --- /dev/null +++ b/fluter/Experteninterview-Proteste-Korruption-Rumaenien.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Die Menschen lassen nicht mehr alles mit sich machen. Sie wehren sich gegen den Versuch, beim Kampf gegen die Korruption das Rad zurückzudrehen. Dieses Thema ist seit 1989, dem Ende der Ceauşescu-Ära, prägend für die rumänische Politik. +Die Regierung wollte manche Korruptionsvergehen weniger hart bestrafen. Außerdem sollten viele der Korruption oder des Amtsmissbrauchs überführte Politiker vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen werden. +Ja. Und auch wenn die Regierung unter dem Druck der Straße nachgegeben und die umstrittene Eilverordnung zurückgezogen hat, bleibt das Misstrauen der Menschen groß. Sie befürchten, dass die Regierungsseite auf Umwegen und mit ein paar kosmetischen Veränderungen doch einige ihrer ursprünglich geplanten Maßnahmen durchsetzen wird, wenn sie jetzt nachlassen. Deshalb gehen die Proteste weiter, obwohl die Demonstranten ihr Ziel scheinbar schon erreicht haben. +Haben die Demonstranten noch weitere konkret formulierte Ziele? +Viele wollen personelle Veränderungen oder sogar den Rücktritt der Regierung erreichen. Aber die aktuelle Regierungskoalition aus sogenannten Sozialdemokraten und Liberalen ist durch einen überzeugenden Wahlsieg im Dezember 2016 legitimiert und verfügt über eine satte Mehrheit im Parlament. Ein Misstrauensvotum der Opposition hat sie denn auch problemlos überstanden. Deshalb wird sie nicht so schnell aufgeben und es bei "Bauernopfern" belassen – der für die Verordnung verantwortliche Justizminister ist daher zurückgetreten. Darüber hinaus wurde in der Protestbewegung der Ruf nach weitergehenden Schritten und neuen Gesetzen gegen Korruption und Amtsmissbrauch laut. +Seit 1989 ist der Kampf gegen Korruption prägend für die rumänische Politik. Jetzt wehren sich viele Menschen gegen den Versuch, das Rad zurückzudrehen. +Die Sozialdemokraten haben die Parlamentswahl vor zwei Monaten mit gut 45 Prozent der Stimmen gewonnen. Nun sehen sie sich Massenprotesten gegenüber. Wie passt das zusammen? +Es gibt praktisch zwei Rumänien. Die urbane Bevölkerung, welche jetzt demonstriert, viele Jüngere und die neuen Mittelschichten, wollen Ehrlichkeit und Transparenz. Diese Bevölkerungsgruppe war auch die treibende Kraft hinter den erfolgreichen Demonstrationen gegen den ehemaligen Ministerpräsidenten Victor Ponta. Der musste 2015 zurücktreten, nachdem in einem Bukarester Nachtclub über 60 Menschen bei einem Brand gestorben waren, wohl auch, weil Auflagen nicht eingehalten wurden. Für die Städter war es der eine Fall von Korruption zu viel. +Und wer steht auf der anderen Seite? +Das andere Rumänien, das sind große Teile der ländlichen Bevölkerung sowie viele Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, Menschen aus kleinen Städten und Gemeinden, aus dem Osten und Süden des Landes. Auch die sehen, wie korrupt ihre Regierung und viele Politiker sind, nur hat für sie dieses Thema nicht die gleiche Priorität wie etwa ökonomische und soziale Themen. Und die Sozialdemokraten tun ja auch etwas für ihre Klientel, sie haben beispielsweise den Mindestlohn erhöht. +Welche Rolle spielt der rumänische Staatspräsident Klaus Johannis? +Wie in Deutschland hat der Präsident in Rumänien mehr repräsentative Aufgaben. Er ist aber schon so eine Art Gewissen der Nation. Johannis hat stets für einen ehrlichen Politikstil geworben, er wirft seine Persönlichkeit in die Waagschale und versucht sich als ein Kopf der Bewegung zu positionieren. Es ist aber insgesamt so, dass die aktuellen Proteste weitgehend aus dem Volk heraus, also von unten, entstanden sind. Jenseits von Johannis spielen Politiker, etwa der Oppositionsparteien, kaum eine Rolle. Das hat auch damit zu tun, dass sich die Kritik der Demonstranten in gewisser Weise auch gegen die etablierten Parteien der Opposition richtet, deren Vertreter keineswegs allesamt sauber und transparent sind. +Es ist vor allem die urbane Bevölkerung, ... +... die jetzt mit viel Wut im Bauch für Ehrlichkeit und Transparenz kämpft +Was halten Sie von dem Vorurteil, dass so gut wie alle Staaten Osteuropas größere Probleme mit Korruption haben? +In der Tat ist Korruption und im weiteren Sinne "schlechte Regierungsführung" ein chronisches Problem, mit dem im Grunde alle Länder zu kämpfen haben, die den Kommunismus hinter sich gelassen haben. Es gibt allerdings immense Unterschiede. So hat zum Beispiel Estland große Fortschritte erzielt, und auch in Mitteleuropa haben sich Dinge zum Positiven entwickelt. Demgegenüber sieht es in Südosteuropa und erst recht in den Nicht-EU-Staaten in Osteuropa noch recht düster aus. Dennoch ist auch in Rumänien einiges passiert. Vor allem durch den Beitrittsprozess zur EU, der ja 2007 zur Mitgliedschaft des Landes in der EU führte. Es gibt eine Nationale Antikorruptionsbehörde, die wirklich effektive Arbeit verrichtet. Selbst ehemalige Spitzenpolitiker sitzen hinter Gittern. Auch dafür, dass eben all diese Errungenschaften nicht wieder abgewickelt werden, protestieren die Menschen. Gleichwohl besteht trotz aller Fortschritte weiterhin eine Art klientelistisch-korrupter Komplex, der seine Interessen hartnäckig verteidigt. +Warum hat Rumänien dieses Korruptionsproblem? +Oh, auf diese Frage hat wohl niemand wirklich eine umfassende Antwort. Ich kann nur einige Aspekte aufwerfen, die relevant sein könnten. Zunächst hat es beim Übergang zwischen Kommunismus und Demokratie eine sehr hohe personelle Kontinuität gegeben. Vertreter der kommunistischen Eliten und des Sicherheitsapparates haben ihre Positionen auch unter neuen Vorzeichen halten können. Außerdem konnten sich Oligarchen etablieren, die weite Teile der Medienlandschaft unter ihre Kontrolle gebracht haben. Bei gleichzeitig kaum entwickelter Zivilgesellschaft konnten sich so Klientelstrukturen etablieren, die sich in Staat und Wirtschaft festgesetzt haben und die nur sehr schwer aufzubrechen sind. +Nationalistische Töne aus Ungarn und Polen, gleichzeitig Proteste in Polen und Rumänien. Kann man sagen, dass in Osteuropa vieles ins Wanken zu geraten scheint? +Die Situation in den genannten Ländern ist aber kaum vergleichbar. In Polen und Ungarn haben die Regierungen konservativ-patriotische Agenden. Sie streben große Veränderungen an. In Rumänien – wie auch in Bulgarien – spielen ideologische Aspekte kaum eine Rolle. Dort wollen die Regierungen eben gerade keine Reformen, sondern die Aufrechterhaltung undurchsichtiger Strukturen. Dort geht es also nicht um Ideologie, sondern schlichtweg um Bereicherung. + +Titelbild: Vadim Ghirda/picture alliance/AP Photo diff --git a/fluter/Facebook-Fakenews-Journalismusprojekt.txt b/fluter/Facebook-Fakenews-Journalismusprojekt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8bf1b9ea206af687c9ec4d021b413f2169de2cf6 --- /dev/null +++ b/fluter/Facebook-Fakenews-Journalismusprojekt.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Da sich Facebook nun seit geraumer Zeit mit Forderungen konfrontiert sieht, endlich etwas gegen solche kalkuliert in die Welt gesetzten Falschmeldungen zu unternehmen, kommt das "Journalismus-Projekt" nicht ganz überraschend. Konkret soll es darum gehen, gemeinsam mit Medienpartnern nach neuen Wegen zu suchen, wie redaktionelle Inhalte auf Facebook präsentiert werden können. Außerdem sollen sowohl Journalisten als auch die Nutzer des Netzwerks fortgebildet werden, damit sie "fundierte Entscheidungen über die Vertrauenswürdigkeit von Nachrichten treffen können", wie es in der Ankündigung heißt. Dazu soll es Onlinekurse geben. Zumindest die Förderung der Medienkompetenz normaler Nutzer dürfte ein kompliziertes Unterfangen werden. Fast 1,8 Milliarden Menschen weltweit nutzen Facebook pro Monat aktiv. +Als einer der ersten Partner steht das unabhängige Recherchebüro Correctiv fest.Wie dessen Leiter David Schraven mitteilte, werde in den nächsten Wochen getestet, wie die Zusammenarbeit konkret aussehen wird. Nutzer sollen die Möglichkeit bekommen, Beiträge als "Fake News" zu markieren. Ab einer nicht genannten Verbreitungsschwelle sollen sich dann die Journalisten vom Correctiv mit der Prüfung befassen; von ihnen als falsch beurteilte Inhalte sollen danach mit einem Warnhinweis angezeigt werden. Correctiv soll während der Testphase kein Geld für diese Arbeit erhalten. +Experten bekräftigen schon sehr lange, dass Facebook von vielen Menschen als Nachrichtenseite benutzt wird und der Plattform damit eine Verantwortung zukommt, der sie sich stellen muss. Claire Wardle von der Forschungseinrichtung "Tow Center for Digital Journalism" analysiert etwa: "Facebook ist ins Nachrichtenbusiness hineingestolpert, ohne System oder redaktionelle Richtlinien. Nun gibt es den Versuch einer Kurskorrektur." Allerdings lässt sich zu diesem frühen Zeitpunkt kaum sagen, ob der Kampf gegen "Fake News" auf diese Weise gelingen kann. Auch wäre es noch zu früh zu sagen, ob das Projekt dazu dienen wird, vor allem die eigene Position auf dem Nachrichtenmarkt zu stärken und neue Vertriebswege zu erschließen. +Aus den Medienhäusern selbst kommt einige Zustimmung. Die "Washington Post" zitiert auf ihrer Website ihren Informationschef Shailesh Prakash mit der Einschätzung, dass er sich aus der Verbindung der journalistischen Expertise der Medienhäuser und der technischen Expertise von Facebook viel Gutes erhoffe. Die Zeitung zählt ebenfalls zu den bereits bekanntgegebenen Partnern der Facebook-Initiative. +Auch wenn die Details noch unklar sind, scheint Facebook mit dem Projekt seine Rolle als Nachrichtenseite anzunehmen – eine Rolle, gegen die sich das Netzwerk und sein Chef Mark Zuckerberg lange gesträubt haben. + +In der ersten Version dieses Artikels war zu lesen, Correctiv werde dem Vernehmen nach von Facebook kein Geld für seine Arbeit erhalten. Diese Aussage ist nicht richtig. Wie Correctiv mitteilte, habe man bislang bloß keine Vorstellung vom Arbeitsaufwand und könne somit die Kosten noch nicht beziffern. diff --git a/fluter/Film-Foxtrot-Samuel-Maoz.txt b/fluter/Film-Foxtrot-Samuel-Maoz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..98d7a7df550a9025e6569830b122fc56fec17520 --- /dev/null +++ b/fluter/Film-Foxtrot-Samuel-Maoz.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Im ersten Akt wird zum ersten Mal sprichwörtlich "Foxtrott getanzt". Während Dafna nach einem Zusammenbruch sediert wird, bedrängen die Vertreter/-innen des israelischen Militärs ihren Mann mit entmündigender Fürsorge – "ein Glas Wasser hilft über den ersten Schock", heißt es gut gemeint. Im Verlauf der Sequenz wird die tragische Grundsituation immer wieder durch satirische Momente irritiert. Michaels Bruder schlägt etwa vor, bei der Traueranzeige den Ausdruck "gepflückt" statt "gefallen" zu verwenden. Auch der Militärrabbiner scheint eher einem vorgeschriebenen Protokoll zu folgen statt sich seelsorgerisch um den Trauernden zu kümmern. Die Bürokratisierung der Trauer – eine Tragikomödie. +In die bleierne Atmosphäre platzt unvorbereitet eine zweite Nachricht. Bei dem toten Soldaten soll es sich um einen anderen Jonathan Feldmann handeln. Dafnas und Michaels Sohn hingegen sei am Leben. Auf den ersten Blick geht also alles auf die Anfangsposition zurück. Und doch lässt sich der "Fehler im System" nicht ungeschehen machen. Michaels angestaute Wut bricht nun aus ihm heraus – und er trifft eine Entscheidung, die das Schicksal der Familie erneut auf tragische Weise ändern soll. +Ein abgelegener Checkpoint, der von vier israelischen Soldaten, darunter auch Jonathan Feldmann, bewacht wird, ist das Setting des zweiten Aktes. Der von Ereignislosigkeit bestimmte Alltag hat etwas Surreales, der geringe Grenzverkehr wird hauptsächlich von Dromedaren bestritten. Aus der Lethargie heraus beginnt ein Soldat mit seinem Maschinengewehr einen Foxtrott zu tanzen, der sich in Begleitung von Pérez Prados schmissigen "Que Rico Mambo" zu einer entfesselten Tanzeinlage steigert. Maoz' Kritik am Militär zeigt sich in der Inszenierung der Waffe als erotisch aufgeladene "Tanzpartnerin" – oder in der Frage, ob der Einsatz der jungen Soldaten in der Einöde einen Sinn hat. +Nach dem visuell eher klinisch-kühlen Auftakt mit seinen wiederholten Vogelperspektiven, die Michael wie in einer Laborsituation beobachten, bestimmen Sepiafarben und diffuse Lichtstimmungen das Bild. Maoz verleiht dem gesamten Mittelteil etwas Wirklichkeitsentrücktes, die Zeit erscheint mitunter wie gedehnt, Wahrnehmungsdetails treten überscharf hervor und wirken fast abstrakt. "Alles, was du siehst, ist eine Illusion", sagt einer der Soldaten – eine These, die durch den plötzlichen Einbruch der Realität schmerzhaft widerlegt wird. Das Kriegsdrama verdrängt die Traumszenerie, als eine angebliche Gefahrenlage fehlgedeutet wird und dadurch eine Gruppe junger Araber/-innen stirbt, die den Checkpoint in einem Auto passieren wollte. Von "oben" wird Stillschweigen geboten, der Wagen wird samt der getöteten Insassen in einer nächtlichen Militäraktion vergraben. +Zum Bild für die Unübersichtlichkeit der Lage wird der zunehmend im Schlamm versinkende Container, der als provisorisches Schlaflager für die Soldaten am Checkpoint dient. Er ist auch ein Raum zum Teilen von Geschichten: etwa die einer Thora, die mit Jonathans Großmutter die Shoah überlebte und vom Vater gegen ein Pin-Up-Heft eingetauscht wurde, das dieser wiederum an seinen Sohn weitergab. Die kollektive Erfahrung des Militärdiensts zeigt sich hier als ein "Erbe" vor allem zwischen Vätern und Söhnen. In einer Animationssequenz imaginiert Jonathan seinen Vater gar als einen von Scham- und Unzulänglichkeitsgefühlen geplagten Antihelden. +Und noch einmal wechselt "Foxtrot" den Takt. Maoz entwirft den Schlussteil als ein klassisches Drama um Schuld und Verantwortung. Zeit ist vergangen, doch zugleich werden die im ersten Akt abrupt abgebrochenen Handlungsfäden wieder aufgenommen: Jonathan ist tot, verunglückt auf der Heimfahrt von seinem Einsatz, die Vater Michael im ersten Teil des Films vehement eingefordert hatte – der Systemfehler bekommt nun rückblickend fast etwas Utopisches. An Jonathans Geburtstag treffen Michael und Dafna, deren Ehe längst zerrüttet ist, in der Wohnung aufeinander. Bei einer konfrontativen Aussprache erzählt Michael von einem traumatischen Erlebnis während seiner eigenen Militärzeit. Am Ende einer aufwühlenden Nacht tanzen die Verletzten gemeinsam einen Foxtrott. Dieses Mal ist es ein Trauertanz – mit läuternder Wirkung. + +Dieser Text erschien zuerst auf kinofenster.de, dem Onlineportal für Filmbildung der bpb.Dort erfährst Du noch viel mehr zu "Foxtrott". Etwa über die Rolle von Krieg und Militär im israelischen Film, warum Regisseur Saumel Maoz sein Land für traumatisiert hält sowie Zahlen, Daten und Fakten über die israelischen Verteidigungsstreitkräfte. + diff --git a/fluter/Filme-zum-Thema-Flucht-Haunted-und-Les-Sauteurs.txt b/fluter/Filme-zum-Thema-Flucht-Haunted-und-Les-Sauteurs.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3009e7628dd3cb3fcade874f7c6723484ac6d691 --- /dev/null +++ b/fluter/Filme-zum-Thema-Flucht-Haunted-und-Les-Sauteurs.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Der Dokumentarfilm "Les Sauteurs" unterscheidet sich jedoch in einem entscheidenden Punkt von den Nachrichtenbildern und Fernsehreportagen. Denn Moritz Siebert und Estephan Wagner sind nur nominell die Macher des Films. Die Regie haben sie an Abou Bakar Sidibé abgegeben, damit das, was in Europa pauschal "Flüchtlingskrise" genannt wird, endlich auch aus der Perspektive der Betroffenen erzählt wird, also von jenen, die in westlichen Medien meist nur als anonyme "Masse" oder "tote Afrikaner" Erwähnung finden. +"Les Sauteurs" umgeht mit diesem so einfachen wie politisch korrekten Trick dem Problem der Repräsentation: der Frage, wer hier eigentlich für wen spricht. Siebert und Wagner haben Abou eine Kamera und etwas Ausrüstung in die Hand gedrückt. Die Kamera erfüllt dabei zweierlei Funktion: Sie hilft Abou, der sein ganzes Leben in Mali zurückgelassen hat, auf seiner Identitätssuche in dieser für ihn neuen Umgebung. Und sie dokumentiert auf empathische und verblüffende Weise den Alltag im Flüchtlingscamp. +Hier sind die Hierarchien flach, die verschiedenen Nationalitäten bilden Räte, welche wiederum einen "Präsidenten" wählen, der die Ordnung im Camp herstellt und die Fluchtstrategie bestimmt. Die disziplinierte Selbstorganisation mit einem strengen Regelwerk (Verräter werden zum Tode verurteilt) widersetzt sich allen medialen Darstellungen der chaotischen Zustände in Flüchtlingslagern. Im Gegenteil liefert "Les Sauteurs" ein differenziertes Bild vom Gemeinschaftsgefühl unter den Geflüchteten. +Abou filmt seine Freunde bei Gesprächen über ihre Zukunftspläne und über die illegalen Methoden des marokkanischen Polizeichefs, er zeigt die Verwüstungen nach den regelmäßigen Polizeirazzien im Lager und ist bei einigen – vergeblichen – Versuchen, den Zaun zu überwinden, sogar mitten im Geschehen. +Erstaunlicherweise erweist sich Abou im Laufe der Dreharbeiten als zunehmend kompetenter Filmemacher mit einem genauen Blick für die Widersprüche, die in den vereinfachten Darstellungen in den westlichen Medien nur selten zur Sprache kommen. Zum Beispiel, dass es für den Wunsch, nach Europa zu gehen, aus historischer Sicht durchaus plausible Argumente gibt. "Jahrzehntelang wurde mein Land ausgebeutet", sagt Abou einmal in die Kamera. "Sie können uns nicht alles nehmen und jetzt sagen, dass wir draußen zu bleiben haben." +Gurugú ist ein Ort der Hoffnung und des Schmerzes. "Das Schlimmste hier ist, deine Brüder sterben zu sehen", meint einer der Männer. Einmal müssen sie die Eltern eines Kameraden anrufen, der die Flucht über den Grenzzaun nicht überlebt hat. Abou lässt die Kamera mitlaufen, eine heftige Szene, aber den Luxus der Pietät können sich diese Männer, die um ihre Existenz kämpfen, nicht leisten. "Les Sauteurs" ist ihr Film, und wie zum Beweis stellen Siebert und Wagner den Aufnahmen Abous zwischendurch immer wieder Schwarz-Weiß-Bilder aus den Wärmebildkameras der Grenzposten gegenüber. Sie zeigen die unbarmherzige Perspektive der Europäer, in der die Geflüchteten beim hilflosen Anrennen gegen das Bollwerk nur an das Gewimmel in einem Ameisenhaufen erinnern. +Ebenfalls gegen weit verbreitete Vorstellungen über die gegenwärtigen Migrationsbewegungen geht der syrische Dokumentarfilm "Haunted" (Kinostart: 24. November) vor. Regisseurin Liwaa Yazji hat für ihren Film Opfer des Bürgerkriegs in Syrien in ihren zerstörten Häusern aufgesucht und dort mit ihnen über den Begriff "Heimat" und den Verlust ihres Eigentums gesprochen. Ihre Gesprächspartner/-innen stehen großenteils noch unter Schock, auch während der Dreharbeiten sind Einschüsse und Bombardements allgegenwärtig. + + + +Erschütternd sind die Bilder, in denen Yazji die Menschen durch ihre zerstörten Häuser begleitet, während diese von den Erinnerungen erzählen, die sie mit den Gegenständen aus den Ruinen verbinden. Deutlich wird dabei in allen Interviews, dass eigentlich keiner der Betroffenen Syrien verlassen möchte. Die Identifikation mit der eigenen Kultur, dem eigenen Besitz ist so groß, das einer der Befragten sogar zugibt, lieber sterben zu wollen, als sein Land zu verlassen. +Indem "Haunted" sich auf konkrete Orte – die Häuser der Menschen auf der Flucht, ihren Lebensmittelpunkt – konzentriert, gelingt der Regisseurin die eindrucksvolle Studie einer "Flucht-Psychologie". Eine modische junge Frau berichtet, dass bei den Bombenangriffen alle Spiegel im Haus zerstört wurden. Sie könne sich nicht mehr selbst betrachten und hat dadurch den Bezug zu sich verloren. Damit liefert sie ein treffendes Bild für die traumatische Erfahrung des Krieges und der Flucht, die den Menschen ihre Identität, das Heim und die Heimat, nimmt. +"Les Sauteurs" und "Haunted" ergänzen sich auch deshalb so gut, weil sie sehr unterschiedliche Vorstellungen von "Heimat" behandeln. Für Abou und seine Freunde hat der Begriff "Heimat" jede Bedeutung verloren; sie haben keinen Bezug mehr zu ihrem Herkunftsland. Der Status des Migranten ist ihnen zur zweiten Natur geworden. Für die Menschen, die Liwaa Yazji interviewt, ist der Verlust ihres Hauses hingegen gleichbedeutend mit einer Entwurzelung. Beide Filme zeigen, wie nötig es ist, im Westen ein Verständnis für die Sichtweisen von Geflüchteten zu entwickeln, um die tatsächlichen Ursachen und Folgen der heutigen (und zukünftiger) Flüchtlingsbewegungen besser zu verstehen. +Les Sauteurs, Regie und Buch: Moritz Siebert, Esteban Wagner, Abou Bakar Sidibé, Dänemark 2016, 80 Min. +Haunted,Regie und Buch Liwaa Yazji, Syrien 2014, 112 Min. diff --git a/fluter/Gefaengnisfilme-und-serien.txt b/fluter/Gefaengnisfilme-und-serien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1c169724d01ba89d20619f32e43d32d5fac1b8e5 --- /dev/null +++ b/fluter/Gefaengnisfilme-und-serien.txt @@ -0,0 +1,46 @@ + + + + +Lebenslänglich, zweimal sogar, lautet das Urteil für den jungen Bankmanager Andy Dufresne (Tim Robbins), einen Doppelmord soll er verübt haben. Im Gefängnis muss Dufresne, eher der stille Typ, Schikanen und Willkür durch das Wachpersonal und Mitgefangene ertragen, gleichzeitig findet er Freunde und Aufgaben wie den Aufbau einer Gefängnisbibliothek. Der Handlungsbogen von "Die Verurteilten" – dessen Drehbuchvorlage übrigens eine Kurzgeschichte von Stephen King ist – umfasst Jahrzehnte, und immer geht es um eine Frage: Wie schafft man es, in einem entmenschlichenden Umfeld und ohne Perspektive auf Entlassung seine Menschlichkeit, seine Würde und auch seine Hoffnung zu bewahren? +"The Shawshank Redemption", USA 1994, 142 Minuten + + + + +Ist die Hinrichtung eine gerechte Strafe für ein Kapitalverbrechen, kann sie den Hinterbliebenen eines Mordopfers Genugtuung bieten? In den USA befürwortet eine knappe Mehrheit die Todesstrafe.Ungefähr 3.000 Häftlinge warten hier auf ihre Hinrichtung. "Dead Man Walking" schildert – semifiktiv, denn basierend auf zwei wahren Fällen – die letzten Monate des Todeskandidaten Matthew Poncelet (Sean Penn), der von der Nonne Helen Prejean (Susan Sarandon) seelsorgerisch begleitet wird und ein letztes Gnadengesuch erwirken will. Dabei ist Poncelet alles andere als ein Sympathieträger, und gerade das macht "Dead Man Walking" so differenziert bei Fragen nach Moral und Gerechtigkeit. Klare Antworten sollte man allerdings nicht erwarten. +"Dead Man Walking", USA 1995, 122 Minuten + + + + +Für ein Drogenvergehen in ihrer Jugend muss Piper Chapman (Taylor Schilling), eine prototypische weiße Mittelschichts-US-Amerikanerin, ein Jahr ins Frauengefängnis. Und erlebt dort stellvertretend für das Netflix-Mittelschichtspublikum all das, was man sich im Mikrokosmos Gefängnis eben so vorstellt: eine florierende Schattenwirtschaft, das knallhart durchgesetzte Recht der Stärkeren, Schutz durch Gruppenbildung, Liebschaften, sexistische Wärter. "Orange Is the New Black" mischt Sozialkritik mit Emotionen und viel Humor, ist so vielschichtig erzählt, dass es seit Jahren zu den beliebtesten Serien des Streamingdienstes Netflix gehört – und beweist ganz nebenbei, dass eine Serie natürlich auch sehr gut funktioniert, wenn fast alle Figuren weiblich sind und viele davon auch noch queer und/oder of color. +"Orange Is the New Black", USA, seit 2013, bisher 78 Folgen in sechs Staffeln + + + + +66 Tage. So lange dauerte der Hungerstreik von Bobby Sands. Am 5. Mai 1981 starb der Mann, der aus Sicht der britischen Regierung ein Terrorist der IRA war, aus Sicht nicht weniger katholischer Bewohner Nordirlands ein Freiheitskämpfer. Vom Hungerstreik im Maze Prison, wo in den 1970er- und 80er-Jahren Hunderte Teilnehmer des nordirischen Bürgerkriegs inhaftiert waren, handelt Steve McQueens Debütfilm "Hunger". Die Häftlinge wollen als politische Gefangene anerkannt werden, sie weigern sich, die normale Sträflingskleidung zu tragen, beschmieren ihre Zellen mit Kot und erdulden Misshandlungen durch die Wärter. "Hunger" ist so radikal wie das Anliegen von Bobby Sands, intensiv, hochästhetisch, schonungslos – auch für Hauptdarsteller Michael Fassbender: Der nahm während der Dreharbeiten 20 Kilo ab. +"Hunger", Großbritannien 2008, 92 Minuten + + + + +Die Zeit im Gefängnis verändert einen Menschen – manchmal sogar zum Guten. Als glühender Nazi geht Derek Vinyard (Edward Norton) in Haft, verurteilt zu drei Jahren für den Totschlag an zwei Schwarzen. Im Gefängnis schließt er sich Mithäftlingen aus der rechten Aryan Brotherhood an. Doch als er wieder rauskommt, hat er sich von der Szene abgewandt, sehr zum Missfallen seines kleinen Bruders Danny, der ein Neonazi geworden ist. In Rückblenden wird der Läuterungsprozess Derek Vinyards gezeigt, dem sich in einem Umfeld, in dem Weiße in der Minderheit sind, neue Sichtweisen eröffnen. +"American History X", USA 1998, 114 Minuten + + + + +Misshandlungen, Hungerstreiks, Rassismus, Todeskandidaten, die auf ihre Hinrichtung warten: Wenig überraschend, dass das Gefängnisfilmgenre eine eher ernste Angelegenheit ist. Dabei kann so ein Film auch ganz anders aussehen – zum Beispiel wie ein Jazzmusical aus den 1920ern, mit Theaterkunstlicht, Kostümwechseln und ausgefeilt choreografierten Gesangseinlagen. Die Story von "Chicago" dreht sich um eine Möchtegern- und eine echte Varietékünstlerin (Renée Zellweger, Catherine Zeta-Jones), beide wegen Mordes im Frauengefängnis, und einen windigen Staranwalt (Richard Gere), der genau weiß, wie er seine Klientinnen in der Öffentlichkeit präsentieren muss. So ist "Chicago" auch Mediensatire, vor allem aber: große Hollywood-Unterhaltung, prämiert mit sechs Oscars. +"Chicago", USA 2002, 113 Minuten + + + + +Treffen sich ein Radio-DJ, ein Zuhälter und ein Italiener in einer Gefängniszelle in New Orleans … Klingt wie ein Witz und ist auch ziemlich lustig: "Down by Law" ist einer der früheren Filme des Independent-Regisseurs Jim Jarmusch, und der lässt seine Protagonisten (Tom Waits, John Lurie, Roberto Begnini) in einem präzise gefilmten schwarz-weißen Theaterstück voller absurder Szenen und Dialoge aufeinander los, erst in Freiheit, dann im Gefängnis, schließlich auf der Flucht. Zwischendurch tanzen die drei durch ihre Zelle und skandieren "I scream. You scream. We all scream for ice cream." Viel Spaß! +"Down by Law", USA 1986, 107 Minuten + + + +Titelfoto: Netflix diff --git a/fluter/Gene-in-Buechern-Filmen-und-Serien.txt b/fluter/Gene-in-Buechern-Filmen-und-Serien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..758a15d43278a5d8addcf81e99018754c90ee16d --- /dev/null +++ b/fluter/Gene-in-Buechern-Filmen-und-Serien.txt @@ -0,0 +1,30 @@ +"Singe jetzt, o Muse, die Geschichte der rezessiven Mutation auf meinem Chromosom fünf!", lässt Jeffrey Eugenides den Ich-Erzähler in seinem Erfolgsroman "Middlesex" homerisch raunen. Eugenides, Amerikaner mit teils griechischen Wurzeln, erzählt darin viel aus seiner Familiengeschichte, um das Leben seines Helden farbig zu grundieren. Dieser Held ist intersexuell, zweigeschlechtlich aufgrund eines seltenen Gendefekts. Er wird als Mädchen aufgezogen, entscheidet sich aber später, als Mann zu leben. Die Frage, was den Menschen als geschlechtliches Wesen vor allem bestimmt – die Gene oder die Umwelt –, zieht sich durch das Buch. Mit großem Erzählgestus kreuzt Eugenides seinen Gender-Bildungsroman mit einer groß aufgezogenen Familiensaga. Entsprechend dickleibig ist das Endprodukt ausgefallen, liest sich aber süffig weg. Übrigens spielt ein Teil der Rahmenerzählung in Berlin – vermutlich allein deshalb, weil der Autor damals dank eines Stipendiums dort lebte. +Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Rowohlt TB, 736 S., 10,99 Euro + +Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (2005) +Alles könnte so schön sein in dem Internat, in dem Kathy, Tommy, Ruth und die anderen aufwachsen – aber nein, es könnte nicht nur, es ist sehr schön! Die Jugendlichen werden gut umsorgt, haben viele Möglichkeiten, Sport zu treiben und kreativ zu sein, alles ist toll. Da sie nichts anderes kennen, nehmen sie es als ihr natürliches Schicksal hin, "Spender" zu sein: menschliche Ersatzteillager, geklont allein zu dem Zweck, sämtliche verwertbaren Organe zu spenden und an der finalen Spende noch in jungen Jahren zu sterben. Das klingt nach hartem Stoff, aber der britische Autor Kazuo Ishiguro hat alles andere als einen gruseligen Gentechnik-Schocker geschrieben. Eher ist sein Roman ein philosophisches Gedankenexperiment zur ewig unlösbaren Frage nach dem Sinn des Lebens und des Todes. Ein sanfter, traurig-schöner Hauch von Melancholie liegt über seinem Roman, in dem niemand seinem vorherbestimmten Schicksal entkommt. Denn nicht einmal die Liebe rettet vor dem sicheren Tod. Und das gilt schließlich nicht nur für Ishiguros Klonkinder, sondern für uns alle. +PS: Ja, dieser Roman wurde auch verfilmt, sogar mit Carey Mulligan und Keira Knightley in Hauptrollen, die Verfilmung stieß aber nicht auf einhellige Zustimmung bei der Kritik. +Aus dem Englischen von Barbara Schaden. btb, 352 S., 9,99 Euro + + +Wolverine (1974) +The Incredible Hulk #181: Der Superheld Wolverine ist mit seinen ausgeprägten Sinnen und Selbstheilungskräften einer der spektakulärsten unter den X-Men-Mutanten +Unter den genetisch außergewöhnlichen Figuren im Comic-Universum stechen besonders die X-Men-Mutanten hervor. Einer von ihnen ist der Superheld Wolverine, der als James Howlett mit animalisch ausgeprägten Sinnen und spektakulären Selbstheilungskräften im späten 19. Jahrhundert geboren wird. Seine Markenzeichen sind Klauen, die aus den Handrücken hervorschnellen und, gemäß der heutigen Ursprungsgeschichte, bereits in jungen Jahren zum Einsatz kommen. Zur Flucht aus seinem Elternhaus gezwungen, baut der zwischenzeitlich in der Wildnis lebende James seine Fähigkeiten aus, was ihn für das geheime Regierungsprogramm "Weapon X" interessant macht. Dort verschmilzt man sein Skelett und seine Krallen mit dem unzerstörbaren Metall Adamantium und schafft so eine perfekte Kampfmaschine. Seinen ersten Auftritt hat der später zum X-Men-Team hinzustoßende Mutant 1974 im Marvel-Comic # 180 "The Incredible Hulk". Spannend ist die Figur des Wolverine vor allem deshalb, weil sie den oftmals tragischen Außenseiterstatus von Menschen mit exzeptionellen Fertigkeiten unterstreicht und exemplarisch für all die Superhelden steht, die von eigennützigen Organisationen als Versuchskaninchen und Handlanger missbraucht werden. + + +Ridley Scott: Blade Runner (1982) +Ursprünglich sollte dieser düster-geniale Science-Fiction-Klassiker, dessen erste Version 1982 in die Kinos kam, "Android" heißen – nach Philip K. Dicks Roman "Träumen Androiden von elektrischen Schafen?", der ihm zugrunde liegt. "Replikanten" werden die Androiden im Film genannt. Sie sind gentechnisch hergestellte menschliche Klone, die erschaffen wurden, um für die Menschheit die Lebensbedingungen auf anderen Planeten zu testen. Das Betreten der Erde ist ihnen streng verboten; wer es dennoch wagt, wird verfolgt und liquidiert. Angeblich unterscheiden sich Replikanten darin von "echten" Menschen, dass ihnen die Empathiefähigkeit fehlt. Diese Prämisse aber wird im Film immer wieder in Frage gestellt. Nicht nur verliebt sich (Harrison Ford als) Replikantenjäger Rick Deckard in eine Replikantin; auch sein übermenschlich starker Widersacher Roy erweist sich letztlich als "menschlicher" als viele Menschen. Was also macht einen Menschen dann wirklich aus? Eine große Frage, auf die "Blade Runner" eine letztgültige Antwort verweigert. Jahrtausendkino. + +Andrew Niccol: Gattaca (1997) +In "Gattaca" erschafft die Medizin Menschen, die nur die besten genetischen Eigenschaften ihrer Eltern tragen. Und es entsteht eine Gesellschaft, in der nur solch makellos konstruierten Retortenbürger Aufstiegsmöglichkeiten haben +"In einer nicht allzu fernen Zukunft", wie es am Anfang heißt, kann die Medizin Menschen erschaffen, die lediglich die besten genetischen Eigenschaften ihrer Eltern tragen. Entstanden ist eine Gesellschaft, in der nur makellos konstruierte Retortenbürger Aufstiegsmöglichkeiten haben. Natürlich gezeugte Individuen wie Vincent Freeman (Ethan Hawke) müssen einfache Tätigkeiten verrichten, was den jungen Mann jedoch nicht davon abhält, seinem Traum zu folgen: Um Raumfahrer zu werden, erwirbt er verbotenerweise die genetische Identität eines künstlich ausgereiften, inzwischen aber gelähmten Sportlers. Andrew Niccols bedächtig erzählter Science-Fiction-Film zeigt in ausdrucksstarken Bildern, wohin der Glaube an den perfekten Menschen führen kann: Diskriminierung und Unterdrückung sind die Merkmale einer "schönen neuen Welt", die heute, 20 Jahre später, immer realistischer erscheint. + + +Diane Arbus: Identical Twins, Roselle, N. J. (1967) +Das berühmteste Porträt von Diane Arbus ist das von Cathleen und Colleen Wade, beide damals sieben Jahre alt und nur wenige Minuten nacheinander zur Welt gekommen. Die eineiigen Zwillinge stehen nebeneinander, beide dunkles Kleid, helle Strümpfe, helles Haarband, exakt gleich frisiertes Haar. Man sucht förmlich den Unterschied zwischen den Mädchen mit den genetisch fast identischen Erbanlagen. Ihre extreme Ähnlichkeit wirkt unheimlich. Kein Wunder, dass Stanley Kubrick ebenfalls eineiige Zwillingsmädchen in seinem Horrorfilm-Klassiker "The Shining" (1970) auftreten lässt. Weniger gut gefiel das Bild den Eltern der Zwillinge. Sie ließen die Verbreitung damals verbieten. Immer wieder wurde Arbus vorgeworfen, sie würde die Menschen bloßstellen, die sie fotografiert, darunter Hoch- und Kleinwüchsige, Menschen mit Downsyndrom. Nachts durchstreifte sie die Spelunken, Peepshows und Bordelle in New York und besuchte Nudistencamps, Leichenschauhäuser und psychiatrische Anstalten. Die Tochter aus gutem Hause war fasziniert von allem, was anders war. Normalität und Abweichung war ihr großes Thema. Nach ihrem Selbstmord 1971 wandelte sich der Blick auf ihr Werk. Viele der Porträtierten wurden nun als Wahlverwandtschaft der depressiven Fotografin gesehen. + + +Orphan Black (seit 2003) +Eines Tages stellt Trickbetrügerin Sarah Manning fest, dass sie in einem Klon-Projekt entstanden ist und weltweit viele baugleiche "Schwestern" hat – von denen schon einige getötet worden sind +Im Mittelpunkt der kanadischen TV-Serie steht die Trickbetrügerin Sarah Manning. Nachdem sie eine Frau, die ihre Doppelgängerin sein könnte, dabei beobachtet, wie sie sich vor einen einfahrenden Zug wirft, nimmt Sarah deren Identität an. Schon bald muss die junge Frau jedoch feststellen, dass sie einem Klon-Projekt entsprungen ist und über den Globus verteilt viele "Schwestern" existieren. Als einige von ihnen getötet werden, stellt Sarah gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Leidensgenossinnen Nachforschungen an und gerät dabei immer wieder in große Gefahr. Dank eines hohen Tempos und unzähliger schockierender Wendungen reißt die Mischung aus Science-Fiction, Thriller und Horror den Zuschauer mit, schafft es aber auch, das Ringen der Klone um eine eigene Identität zu beleuchten. Immer wieder erstaunlich ist die Darbietung von Hauptdarstellerin Tatiana Maslany, die diversen Figuren über Mimik, Gestik und Verhalten eine individuelle Persönlichkeit verleiht. +Titelbild: Replikant Zhora in Blade Runner / Foto: Warner Bros. / via Getty diff --git a/fluter/Guyana-Suriname-Franzoesisch-Guayana.txt b/fluter/Guyana-Suriname-Franzoesisch-Guayana.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9d092f73bb2cd47c5570931786aca5b5bfe3f301 --- /dev/null +++ b/fluter/Guyana-Suriname-Franzoesisch-Guayana.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Es liegt schon einige Jahre zurück, da machte Guyana weltweit gruselige Schlagzeilen: Am 18. November 1978 kam es in der Siedlung Jonestownim Nordwesten des Landes zu einem kollektiven Selbstmord von mehr als 900 Menschen. Der US-amerikanische Sektenführer Jim Jones, der zu dieser Zeit mit seinen Anhängern völlig abgeschottet im Urwald lebte, hatte allen befohlen, Zyankali zu nehmen. Wahrscheinlich weil er fürchtete, nach dem Besuch eines US-Abgeordneten könnte bekannt werden, dass einige Sektenmitglieder gegen ihren Willen in Jonestown festgehalten wurden. Er selbst starb bei dem Massaker. +Das heutige Guyana geht auf niederländische Kolonien im 16. und 17. Jahrhundert zurück, gehörte später dann aber auch zu Großbritannien und Frankreich, bis das Land 1966 unabhängig wurde. Gut 20 Prozent der rund 780.000 Einwohner leben in der Hauptstadtregion Georgetown. Die größten ethnischen Gruppen der Republik sind die Afro-Guyaner, die von ehemaligen Sklaven aus Afrika abstammen, und die Indo-Guyaner, deren Vorfahren ab 1838 als Vertragsarbeiter aus dem ehemaligen Britisch-Indien ins Land geholt wurden. Die Amtssprache ist Englisch. Seit 2015 wird Guyana von dem Präsidenten David Arthur Granger, einem ehemaligen hochrangigen Militär, geführt. DieBestrafung homosexueller Handlungenund auch die Todesstrafe imStrafrechtgehören zur traurigen Realität unter seiner Regierung. + +Suriname mit der Hauptstadt Paramaribo ist das kleinste unabhängige Land Südamerikas. Im Jahr 1498 entdeckte es Christoph Kolumbus – ebenso wie Französisch-Guayana. Geprägt wurde es dann vor allem durch die Niederländer, die dort 1613 einen Handelsposten errichteten, und später durch die Engländer. Von der ethnisch sehr heterogenen Bevölkerung der rund 570.000 Einwohner stammt heute mehr als ein Drittel vonafrikanischen Sklavenab, fast die Hälfte der Surinamer ist christlich. Die Amtssprache ist Niederländisch. Die wechselvolle Geschichte des Landes reicht von der Abschaffung der Sklaverei (1863) über die Unabhängigkeit von den Niederlanden (1975) bis zu der Zeit der Militärdiktatur (1980–1987). Ein großer Teil der Bevölkerung emigrierte im 20. Jahrhundert, etwa um Arbeit zu finden. So gingen mehrere Hunderttausend Surinamer in die Niederlande. Heute lebt ein großer Teil der Surinamer im Ausland. Nach demokratischen Wahlen im Jahr 2015 regiert Präsident Desi Bouterse, doch immer noch wird die Politik bestimmt vom Einfluss des alten Militärs und ist durch Korruption gekennzeichnet. Die Wirtschaft des Landes profitiert vor allem von Bodenschätzen wie Gold und Erdöl. + +Die sogenannte Teufelsinsel, 13 Kilometer vor der Küste Französisch-Gua­yanas, wurde fast 100 Jahre lang bis 1946 als Strafkolonie für Schwerverbrecher genutzt. Bis zu 70.000 Häftlinge lebten unter menschenunwürdigen Verhältnissen in dem Arbeitslager. Im 20. Jahrhundert brachten das als autobiografischer Roman vermarktete Buch "Papillon" von Henri Charrière und die Verfilmung des Stoffes die Teufelsinsel erneut ins kollektive Gedächtnis. Heute befindet sich auf dem Archipel auch eine Radar- und Funkstation, um die Raketenstarts aus dem Raumfahrtzentrum Guayana zu überwachen. 1968 von den Franzosen in der Stadt Kourou in Betrieb genommen, wird der für das Land wirtschaftlich bedeutende Weltraumbahnhof seitdem immer wieder erweitert. Wenngleich Französisch-Guayana wie viele Länder Südamerikas von Niederländern, Briten und Franzosen kolonialisiert wurde, besitzt es eine Sonderstellung auf dem Kontinent. Denn seit 1946 gehört das ethnisch sehr diverse Land mit seiner Haupt­stadt Cayenne und seinen circa 260.000 überwiegend christlichen Einwohnern als Übersee-Département zu Frankreich. Damit gelten die französischen Gesetze, und das Land ist Teil des EU-Binnenmarkts. diff --git a/fluter/Heroinsucht-in-den-USA.txt b/fluter/Heroinsucht-in-den-USA.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..952f64a1ff5e6d163060094a106a59e1de54553a --- /dev/null +++ b/fluter/Heroinsucht-in-den-USA.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Letztere Statistik überrascht, galten doch vor allem junge Dunkelhäutige in den Großstädten als suchtgefährdet.  Doch die neuen Junkies sind weiße Vorstädter. Leute, die mal ein bürgerliches Leben hatten – bis sie aus der Bahn geworfen wurden und schließlich auf Heroin hängen blieben. Oft wegen einer Krankheit. +Der Verfall vieler Menschen ist wie ein Spiegel des Verfalls der Landschaften, in denen sie leben – wie hier in einem Vorort von Detroit +Kathleen Frydl ist Historikerin an der University of California und Autorin des Buches "The Drug Wars in America, 1940-1973".  Sie hat sich die Statistiken in den Staaten des "Rust Belts", dort wo die Stahlindustrie darniederliegt und Trump entscheidende Gewinne erzielen konnte, genau angeschaut: Wisconsin, Pennsylvania, West Virgina, Michigan und Ohio. Es sind genau die Wahlkreise, die am stärksten von der Heroin-Epidemie betroffen sind, die früher mehrheitlich demokratisch gewählt und nun für Donald Trump gestimmt haben. In Pennsylvania zum Beispiel weisen alle Wahlkreise, die 2012 mehrheitlich Barack Obama und 2016 Trump gewählt haben, außergewöhnlich hohe Raten von Menschen auf, die an einer Überdosis gestorben sind.Viele dieser Menschen entstammen also einem Milieu und einer Region, in der Donald Trump bei den Präsidentschaftswahlen viele Stimmen holen konnte. +Dort, wo sich einmal Fabrik an Fabrik reihte, um chromblitzende Straßenkreuzer und Wolkenkratzerträger zu produzieren, und wo man als Arbeiter besser verdienen konnte als viele Akademiker, sind jetzt fast nur noch Ruinen und Brachflächen übrig – und kaum noch Jobs. In der Stahlindustrie sind die USA weit hinter Asien zurückgefallen. Von außen betrachtet glitzern die Skylines der Städte im Nordosten immer noch in der Sonne. Doch wer genauer hinsieht, entdeckt die verlassenen Häuser, die arbeitslosen Jugendliche, die armen Alten und die zusammengestürzten Brücken zwischen Straßen voller Schlaglöcher. +Good Morning America, Bonjour Tristesse: Ein Vorort irgendwo im Rustbelt, wo man früher als Arbeiter besser verdienen konnte als viele Akademiker, heute aber kaum noch Hoffnung ist +Waren die Trump-Wähler also alle high? +Historikerin Frydl selbst warnt vor einer simplifizierten Darstellung. Doch es gebe Anzeichen dafür, dass die Drogenproblematik bei der Wahlentscheidung zumindest indirekt eine Rolle gespielt habe. Die Heroin-Epidemie erscheint als Symptom der gleichen sozialen Misere, aus der heraus vielen Menschen dieser Region Trump als die letzte Hoffnung erschien, hier würde sich jemand noch um ihre Probleme kümmern – während die Demokraten sie vergessen hätten. Exemplarisch zitiert Frydl einen Mann, der zu ihr sagte: "Trump hat eine Chance verdient, denn bisher ist nichts passiert. Wir leben seit Jahren in einer Hölle und nichts ist besser geworden." +Wirklich verstehen lässt sich diese Heroin-Epidemie allerdings nur, wenn man sie auch vor dem Hintergrund der weiten Verbreitung bestimmter Arzneimittel in dieser sozialen Schicht betrachtet –und der Sucht der Pharmahersteller nach Profiten. Dass es so viele Heroinabhängige gibt, hängt untrennbar zusammen mit der Geschichte des Schmerzmittels Oxycontin, der Heroin-Ersatzdroge Suboxone, und Naloxon, das im Falle einer Überdosis lebensrettend wirken kann. Alex Lawson, Leiter der gemeinnützigen Organisation "Social Security Works", die sich um die wirtschaftlich Absicherung sozial Benachteiligter kümmert, beschreibt das Vorgehen der Pharmakonzerne so:  "Die Heroin-Epidemie ist keine unvermeidliche Tragödie, sondern die Konsequenz einer pharmazeutischen Industrie, die mit einer immer aggressiveren Taktik, Ärzte dazu bringt, hochwirkungsvolle Opioide für alle Arten von Beschwerden zu verschreiben, auch für geringe Schmerzen, für die sie absolut unnötig sind." +Unter Opiaten und Opioiden versteht man natürliche, halbsynthetische und synthetisch hergestellte Substanzen, die Schmerzen lindern, indem sie bestimmte Gehirnregionen beeinflussen. Der Einsatz von Opioiden als Schmerzmittel ist in den USA in den vergangenen 25 Jahren explodiert. +Die Wirkung des Schmerzmittel Oxycontin potenziert und beschleunigt sich noch, wenn es zerkrümelt und gespritzt wird wie Heroin. Viele Menschen rauchen es aber auch +Oxycontin wurde 1996 von dem Konzern "Purdue Pharma" auf den Markt gebracht, basierend auf inzwischen als unseriös eingestuften wissenschaftlichen Gutachten, die selbst einen Langzeitkonsum des Schmerzmittels als nicht suchtgefährdend deklarierten. Die Wirkung des Mittels potenzierte und beschleunigte sich indessen noch, wenn es zerkrümelt und gespritzt wurde wie Heroin. Es wurde zum "Blockbuster-Medikament". Als Blockbuster gelten in der Pharmaindustrie Medikamente, die einen jährlichen Umsatz von über einer Milliarde US-Dollar machen. Mehr als 30 Milliarden Dollar Umsatz soll die Pille dem Unternehmen Purdue Pharma insgesamt eingebracht haben. +Noch im Jahr 2012 wurde durchschnittlich jedem Amerikaner eine ganze Flasche der so genannten Oxys verschrieben, Schmerzmittel, die Oxycodon enthalten. Bei jedem achten, dem sie verschrieben wurden, führte das in die Abhängigkeit. Von 1999 bis 2015 starben in Amerika über 183.000 Menschen allein an einer opioidhaltigen Schmerzmittel-Überdosis. Auch der Sänger Prince, der im April letzten Jahres gestorben ist, soll aufgrund einer solchen Überdosis sein Leben gelassen haben. +Die Schmerzmittel wurden verschrieben, sie wurden gehandelt, und viele der Menschen, die keine Krankenversicherung hatten, dafür aber große Schmerzen, kauften die Pillen direkt, anstatt vorher noch Geld für einen Arzt und dessen Beratung auszugeben. Allerdings: Wohl nicht alle hatten Schmerzen physischer Art. Vielen ging es auch darum, der Hoffnungslosigkeit ihrer Welt wenigstens für Momente zu entfliehen. Gerade im Rust Belt gibt es kaum noch Jobs, gerade von den Jüngeren haben viele die Regionen verlassen, um woanders Arbeit zu finden. Was übriggeblieben ist, beschreibt Historikerin Kathleen Frydl als "eine Zeitbombe für den Generationenvertrag, die langsam explodiert und noch Jahrzehnte in verlassenen Straßen und zusammenbrechenden lokalen Einwohnerzahlen widerhallen wird." +In vielen Bundesstaaten wurde den Behörden das Problem langsam bewusst und sie begannen, die Schmerzmittelabgabe zu reduzieren. Die Opioidabhängigen aber brauchten einen Ersatz. Und fanden ihn bei den Heroindealern auf der Straße. +Auch einige Regionen in den Appalachen hat es hart getroffen. Viele Menschen dort haben keine Arbeit mehr, seitdem die meisten Kohlenminen geschlossen worden sind +Doch auch im Kampf gegen die Sucht vertrauen die US-Behörden nun wieder auf die Pharmahersteller und ihre Mittel. So sind im US-Haushalt 2017 mehr als 1 Milliarde Dollar für die "zwei Jahre laufende obligatorische Förderung der besseren Verfügbarkeit von Arzneimitteln bei Medikamentenabhängigkeit und Heroinkonsum" vorgesehen. Die wichtigsten Waffen sind die Mittel Suboxone, ein dem Methadon ähnliches Ersatzmittel und Naloxon (Narcan), ein sogenannter Opioid-Gegenspieler.Nora Volkow, die Leiterin des "National Institute of Drug Abuse" (Nida) in den USA, beschreibt das Problem auf biochemische Art: "Da die Opioide auf dieselben Hirnsysteme wirken wie Heroin und Morphin, gibt es eine Neigung, sie zu missbrauchen, insbesondere wenn sie für nichtmedizinische Zwecke verwendet werden. Sie sind am gefährlichsten und am stärksten süchtig machend, wenn sie über Methoden eingenommen werden, die ihre euphorischen Effekte erhöhen sollen." +Es gibt viele Verlierer im Rust-Belt, und es gibt viele Verlierer der Heroin-Epidemie in den USA. Die Pharmaindustrie gehört nicht dazu. + diff --git a/fluter/Hip-Hip-aus-der-deutschen-Provinz.txt b/fluter/Hip-Hip-aus-der-deutschen-Provinz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e89469a37328c9c8be60e84d4bf84ef5fd9b4976 --- /dev/null +++ b/fluter/Hip-Hip-aus-der-deutschen-Provinz.txt @@ -0,0 +1,17 @@ + +Casper "Die letzte Gang der Stadt" +"Ein richtig zufriedenes Land kann man nur mit einer zufriedenen Provinz haben" hat Casper mal in einem Interview gesagt. In seinen Texten spielt dasHinterlandimmer wieder eine Rolle – ob es nun gleich ein ganzes Album mit dem gleichnamigen Titel ist oder zusammen mit Marteria eine Reise durch seine ostwestfälische Heimat. Alle, die schon mal auf einem Schützenfest waren, eine urdeutsche Provinzerfahrung, werden sich sofort daran erinnern, wenn sie "Die letzte Gang der Stadt" hören. Daran, dass es etwas Peinliches hatte, zu der Dorfband abzugehen und sich trotzdem dabei irgendwie geil zu fühlen.Weil es eben nirgendwo so schön einfach ist wie auf dem Dorf, Teil des Ganzen und gleichzeitig doch dagegen zu sein. + +grim104 "Crystal Meth in Brandenburg" +Manche Lieder sind auch Filme. Bei "Crystal Meth in Brandenburg" schießen einem sofort Bilder verödeter Landschaften, dunkler Wälder und deprimierender Menschen vor versifften Gardinen in den Kopf. "Sie sitzen und warten. Und auf was? Dass der Nettomarkt endlich wieder aufmacht, in der Kneipe jemand auflacht? Dass Geld da ist zum Bausparen? Das kannst Du aber sehr schnell vergessen." Klingt hart, ist es auch. Vor allem, weil es in manchen Regionen Deutschlands der Realität ziemlich nahekommt, was grim104 da rappt. Als die brandenburgische CDU 2017 dazu aufrief, Funklöcher zu melden, gingen innerhalb eines Jahres 23.237 Meldungen ein. Auch bei den diesjährigen Landtagswahlen in Brandenburg gaben die meisten Wähler*innen an, dass sie vor allem imBereich Infrastrukturdringenden Handlungsbedarf sehen würden. Wenn die vernachlässigt wird, ist es kein Wunder, wenn sich auch die Menschen abgehängt fühlen. Um das zu verstehen, muss man nicht immer eine soziologische Studie lesen, hinhören reicht manchmal auch. + +Shindy "Bietigheim Sunshine" +Manchmal ist das Gras in der Provinz grüner. In "Bietigheim Hills" etwa, wie Shindy seine schwäbische Heimat besingt. Und der auch Rin und Bausa die Treue halten. Shindys Bling Bling beginnt jedenfalls erst in Bietigheim-Bissingen so richtig zu glitzern: "Deinen krassen Porsche sehe ich alle zwei Minuten hier". Wenn er seinen "koksweißen S-Coupé in der zweiten Reihe vor der Kreissparkasse" parkt, ist das mehr als nur stumpfes Aneinanderdroppen irgendwelcher Edelmarken. Es ist auch Realität, jedenfalls ein bisschen: Die Stadt zählt zu den reichsten Gemeinden Deutschlands, im März lag die Arbeitslosenquote bei 2,4 Prozent, Porsche und der Hemdenproduzent Olymp haben unter anderem ihren Hauptsitz dort. Eine Kleinstadt also, die alles andere als abgehängt ist – wirtschaftlich wie musikalisch. + +Dendemann "Wo ich wech bin" +Was als "Eins Zwo" zusammen mit DJ Rabauke begann, setzt Dendemann auch als Solokünstler mit absoluter Leichtigkeit fort: unfassbar originell und witzig über das Leben in all seinen Alltäglichkeiten zu rappen. Auch über das Aufwachsen. Mit nur wenigen Worten und frei von irgendwelchen Wertungen schafft Dendemann es in "Wo ich wech bin" nicht nur generell zu beschreiben, was uns alle als Jugendliche so umgetrieben hat beziehungsweise treibt, sondern ganz nebenbei auch noch die Besonderheiten des Großwerdens auf dem Dorf zu verhandeln. Kleine Kostprobe gefällig? "Idyllabfuhr wo bleibst du nur?/ 1:0 für die Vereinskultur/ Die reinste Ruhe, Borderline und radikal/ So wie Sportverein und Abiball/ Dis is' wo ich wech bin, hör mal merkst du was?/ Meine Skyline reicht vom Bordstein bis zum Kerzenwachs". Rap mit Land-Dialekt. Auch mal was Neues. + +Juse Ju "Kirchheim Horizont" +Dass in der Realität doch immer alles komplizierter ist und nicht einfach schwarz-weiß, auf der einen Seite die geile Großstadt und auf der anderen die langweilige Provinz, beweist Juse Ju mit "Kirchheim Horizont". Und er muss es wissen: Geboren im kleinen Städtchen Kirchheim, folgten Jahre in Japan, El Paso, München, Berlin und zwischendurch eben immer mal wieder Kirchheim. In seinem Track macht er deutlich, wie absurd und lächerlich teilweise die Klischees über die Provinz sind ("Jap, wir haben Internet hier, heißt, wir sind informiert") und benennt gleichzeitig doch das Typische, wie Lebenswege hin zum Eigenheim, unterstützt von Papa, dem alten "Sparkassendude" und seinen Beziehungen. Und während es an der einen Stelle heißt "Ich komme wohl nicht wieder", heißt es an anderer "Ich will zurück nach Hause." Wie gesagt: Es ist kompliziert. + +Titelbild: Daniel Biskup/laif diff --git a/fluter/Hongkonger-Aktivist-Joshua-Wong-im-Interview.txt b/fluter/Hongkonger-Aktivist-Joshua-Wong-im-Interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..92a2a1221b9dfadb0dfc97507bdb31cf850e68dc --- /dev/null +++ b/fluter/Hongkonger-Aktivist-Joshua-Wong-im-Interview.txt @@ -0,0 +1,31 @@ +Stattdessen wurden Joshua Wong und weitere Aktivisten zu Gefängnis- und Bewährungsstrafen verurteilt. Von den sechs Monaten, die Wong bekommen hatte, saß er knapp die Hälfte ab und kam dann gegen Kaution frei, um in Berufung gehen zu können. Im Januar wurde er erneut zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wegen "Auflehnung gegen die Staatsgewalt". +Nachdem Chinas Staatschef Xi Jinping seine Machtfülle noch erweitert hat und diese auch in der Verfassung festschreiben ließ, sind die Zukunftsaussichten für die Demokratiebewegung in Hongkong nicht gerade besser geworden. +fluter.de: Herr Wong, sind Sie durch die Erfahrungen der letzten Jahre zahm geworden? +Joshua Wong: Falls die Zeit im Knast irgendwas mit mir gemacht hat, dann hat sie meinen Glauben daran gestärkt, dass das, wofür wir kämpfen, das Richtige ist. Allein wie viele Leute wir auf die Straße brachten, war beeindruckend. Mehr als 100.000 zu verschiedenen Zeitpunkten protestierten für die demokratische Selbstbestimmung von Hongkong und gegen den zunehmenden Einfluss aus Peking. Ich weiß jetzt, dass den Menschen die Zukunft unserer Stadt wichtig ist. Mit dieser Gewissheit lohnt es sich, jeden weiteren Schritt zu tun. +Also auch den Gang ins Gefängnis. Aber war Ihnen vorher klar, dass es so weit kommen könnte? +Mit den Aufständen begannen wir, als klar wurde, dass die Kandidaten zu den Hongkonger Gouverneurswahlen zunächst aus Peking abgesegnet werden sollten. Demokratische Mitbestimmung wurde also zur Farce herabgestuft. Wenn man sich dagegen wehren will, ist auch klar, dass man sich in Gefahr begibt. Am Ende ist jeder Protest ein Akt des Ungehorsams. Genau das sollte durch die politischen Neuerungen aus Peking ja unterbunden werden. + + + +Wegen Verstößen gegen das Versammlungsrecht wurden Sie zu sechs Monaten Haft verurteilt. Es ging darum, dass Sie während der Proteste einen öffentlichen Platz nicht rechtzeitig geräumt hatten. Wie war der Alltag im Knast? +Für den Kopf war das Leben dort ganz einfach, auf gefährliche Weise sogar. Es gab nämlich keine Optionen. Auf alles Mögliche, was einem die Offiziellen sagten, durfte man nur mit "Ja" reagieren. Und wenn die richtige Antwort mal "Nein" war, zum Beispiel auf die Frage, ob man noch irgendwas brauche, sollte man stattdessen "Sorry, Sir" sagen. Die Moral davon ist wohl: Zustimmen ist einfach, ablehnen aber schon ein halbes Vergehen. Der Tagesablauf war auch klar geregelt: aufstehen, antreten, essen, wieder antreten. Die Hierarchien waren natürlich auch klar. Immerhin durfte jeder Insasse eine Zeitung abonnieren, und über einen Fernseher konnte man die Nachrichten sehen. + +Regierungssystem Hongkong +Die Verfassung Hongkongs heißt Basic Law und wurde am 1. Juli 1997 wirksam. Darin ist unter anderem geregelt, dass Hongkong ein Teil Chinas ist und dennoch weitgehend Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit besteht. Dieses Konzept nennt man "ein Land, zwei Systeme". Der Chief Executive der Sonderverwaltungszone Hongkong, der die Funktion des früheren Gouverneurs übernimmt, wird von einem rund 1.200-köpfigen Komitee gewählt. Dieses Wahlkomitee soll die Interessen in Hongkong widerspiegeln. Es wird nur von einem Bruchteil der Bevölkerung gewählt. Seine Mitglieder kommen aus vier verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, darunter auch Hongkonger Delegierte des Nationalen Volkskongresses von Festlandchina. Der Chief Executive ernennt dann sein Kabinett. Das Stadtparlament wiederum, genannt Legislative Council, wird durch Wahlen bestimmt. Das seit der Rückgabe Hongkongs 1997 geltende Basic Law hatte der Bevölkerung Hongkongs einst direkte Wahlen in Aussicht gestellt, doch eine Wahlreform gab es bislang nicht, auch nicht nach den sogenannten Regenschirm-Protesten im Jahr 2014. Diese entzündeten sich auch an Pekings Entschluss, die Kandidierenden zum Chief Executive künftig vor der Wahl zu "begutachten". Dazu kam es zwar nicht, Peking blieb jedoch dabei, die Kandidaten weiterhin über das nicht repräsentative Wahlkomitee wählen zu lassen. Demokratieaktivisten kritisieren, dass den demokratischen Kräften nur wenige Plätze im Wahlkomitee zugesprochen werden und somit in der Bevölkerung beliebte Politiker kaum Gouverneur werden können. +Das Gefängnis ist also auch eine charakterliche Umerziehungsanstalt. +So sieht es aus. Wer wieder rauskommt, soll Autoritäten gehorchen, sich anpassen, nicht mehr anecken. Im Gefängnis geht es deshalb nicht nur um Einschüchterung und schon gar nicht nur um Bestrafung. Demokratisch denkende Bürger sind von Peking nicht gewollt. Deshalb sollen Hongkongs Gefängnisse die schwierigsten Fälle zurechtstutzen. +Sind die Erfahrungen hinter Gittern ein hochkonzentrierter Vorgeschmack auf das, was die Hongkonger in Zukunft auch draußen erwartet? +Zum Gefängnis ist Hongkong noch nicht geworden. In einigen Bereichen ist unsere Stadt jetzt semiautokratisch. Im letzten Jahr wurde die Hongkonger Wahl auf die Weise durchgeführt, wie sie von Peking angedacht worden war und wogegen wir uns gewehrt hatten. Wir konnten wählen, aber was den wichtigsten Gouverneursposten anging, durften viele unserer beliebten Alternativen eben nicht auf dem Zettel stehen. Es kommen immer weitere Beschneidungen. Auch die Presse vertritt mehr und mehr die Linie Pekings. Und wir merken, dass wir nicht viel dagegen tun können. Durch die Umbrella-Proteste hat sich ja auch herausgestellt, dass sich die Pekinger Regierung unter Xi Jinping von Volksaufständen nicht besonders beeindrucken lässt. +Das klingt nach Aufgabe, auch wenn es niemand wahrhaben will. +So will ich es nicht nennen. Für viele der jüngeren Hongkonger, die Proteste in früheren Jahren nicht miterlebt haben, war das Umbrella-Movement ein Weckruf. Es ist ein Wir-Gefühl entstanden, das sich gegen politische Vereinnahmung richtet. Heute gibt es mehr öffentliche und halböffentliche Veranstaltungen, bei denen das politische Schicksal des Stadtstaats zumindest diskutiert wird. Wir haben eine lebendige Zivilgesellschaft und viele Menschen, die bereit sind, für ihre Überzeugungen ins Gefängnis zu gehen. Und dass die ganze Welt weiß, was in Hongkong vor sich geht, ist unser Verdienst. +Xi Jinping hat sich mit neuen Rechten ausstatten lassen, Kritik an ihm kann künftig als Verstoß gegen die Verfassung interpretiert werden. Wird sich dies auch negativ auf die Demokratieaktivisten in Hongkong auswirken? +Das Hongkonger Basic Law garantiert Meinungsfreiheit, insofern sollten wir geschützt sein. Andererseits bekamen wir Aktivisten schon für unsere Proteste im Herbst 2014 große Probleme. Generell wird die Luft für demokratische Stimmen dünner, und die Entwicklungen in Peking sind bestimmt kein gutes Zeichen. + +Wie kann man sich wehren? +Wir müssen aktiv bleiben. Internationale Aufmerksamkeit ist wichtig. Denn anders als in China können die Menschen in Hongkong Informationen über das Internet erhalten. Wir dürfen also nicht müde werden. +Zur Zeit der Umbrella-Proteste waren Sie noch Schüler, mittlerweile studieren Sie Politikwissenschaften. Ihr Leben werden Sie jetzt also dem Kampf um Freiheit widmen? +Das ist der Plan. Mit Nathan Law, der nach 2014 auch ins Gefängnis musste, habe ich vor zwei Jahren die Partei Demosisto gegründet. Nathan bekam bei der Wahl 2017 gleich einen Platz im Stadtparlament, wurde aber später disqualifiziert, weil er seinen Schwur bei Amtsantritt angeblich nicht auf die richtige Weise abgelegt hatte. Durch solche unverhältnismäßigen Strafen lässt uns die Regierung wissen, dass wir hier keinen Platz haben sollen. Aber Hongkong ist auch unsere Heimat. Wir werden weitermachen. +Wie geht es für Sie persönlich weiter? +Für mich steht erst mal eine zweite Gefängnisstrafe an. Ich weiß noch nicht genau, wann ich sie antreten muss, aber es dreht sich noch immer um meine Rolle bei den Umbrella-Protesten. Und dann muss ich mein Politikstudium abschließen. Aber den Kampf für Hongkong werde ich nicht vernachlässigen. + +Titelbild: ANTHONY WALLACE/AFP/Getty Images diff --git a/fluter/Hool-von-Philipp-Winkler.txt b/fluter/Hool-von-Philipp-Winkler.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..58cbed3630535aa4ab1ffd704c7aabb0b0bc5b93 --- /dev/null +++ b/fluter/Hool-von-Philipp-Winkler.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Die Literaturkritik geriet ja schon vor Jahren ganz aus dem Häuschen, als mit Clemens Meyer ein waschechter Tätowierter den Literaturbetrieb betrat, dessen mittlerweile von Andreas Dresen verfilmter Roman "Als wir träumten" eine ähnlich verstrahlte Jungmännerhorde in Leipzig beschrieb. Auch damals speiste sich die Begeisterung aus der Sehsucht der satten Feuilletonisten nach einer Räudigkeit, die ihrem eigenen Leben zwischen Schreibtisch und Eigenheim abgeht. Dabei steckt im Anhimmeln der prolligen Prosa auch noch der Beweis der eigenen politischen Korrektheit. Seid doch mal still: Die Unterklasse spricht! +Philipp Winkler "Hool", Aufbau Verlag, 310 Seiten, 19,95 € +So gesehen passt das Buch, das mit sechs weiteren auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2016 steht, prima in eine Zeit, in der hitzig über cultural appropiation diskutiert wird – also überkulturelle Aneignung. In der das Tragen von Dreadlocks unter Rassismusverdacht gerät, weil es angeblich die Leidensgeschichte afrikanischer Menschen banalisiert. Oder in der sich Schauspielschüler weigern, arme Menschen zu spielen, weil sie deren Entbehrungserfahrungen nie gemacht haben. Dieser Authentizitätszwang aber stellt die Frage nach dem Wesen vieler Künste in Frage, die ja oft eben genau aus einer Form der Aneignung bestehen. Goethe hat ja nie versucht, sich umzubringen, aber dennoch mit "Die Leiden des jungen Werther" ein wahrhaftiges Buch geschrieben. Im übertriebenen Lob für für den Debütroman von Philipp Winkler lässt sich nun unschwer ein Echo auf diese Debatte heraushören. Selbst wenn es nicht gut ist, ist es gut, weil es authentisch ist. +Der Reporter Moritz von Uslar hat für sein Buch "Deutschboden" ein ähnliches Milieu ausgeleuchtet und sein tapferes Mittrinken an den Theken Brandenburgs nicht Roman genannt, sondern eine teilnehmende Beobachtung. Tatsächlich hat er die dortige Verrohung stilistisch gekonnt und feinfühlig beschrieben, dass man nach der Lektüre sofort in die nächste Eckkneipe aufbrechen wollte, um mit den dortigen Stammgästen das Gespräch zu suchen. +Derlei Empathie kommt bei Hool leider nicht auf. Oder nur kurz. Wenn sich nämlich der Freundeskreis von Heiko letztlich auflöst, weil sich seine Kumpel eines Besseren besonnen haben und er ganz allein mit einem Pitbull auf dem Beifahrersitz in die Abendsonne fährt. Die in Niedersachsen natürlich ein feiner Sprühregen ist. diff --git a/fluter/Hotel-und-Hilfsprojekt-fuer-Araber-in-Israel.txt b/fluter/Hotel-und-Hilfsprojekt-fuer-Araber-in-Israel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8cee9b603ee981cf2227e38c83aaa157b6f603ef --- /dev/null +++ b/fluter/Hotel-und-Hilfsprojekt-fuer-Araber-in-Israel.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Hochtouriger Leerlauf: Die Kinder in Dschisr az-Zarqa fahren den ganzen Tag mit dem Rad herum und wissen offensichtlich nicht viel mit ihrer Zeit anzufangen +Keine Touristenhochburg, nur Schrottberge in den Dünen +Allen Widrigkeiten zum Trotz hat Neta Hanien sich bei ihrem ersten Besuch sofort in den Ort verliebt. Die Anwältin, Tauchlehrerin und Israelin fühlte sich an die Beduinencamps im Sinai am Roten Meer erinnert. "In meinem Leben bin ich viel gereist und habe das touristische Potenzial hier erkannt. Dschisr liegt direkt am Meer, und einer der bekanntesten Wanderwege, der Israel Trail, verläuft direkt durch den Ort. Also bin ich von Tür zu Tür gegangen und habe nach einem Partner für ein Backpacker-Hostel gesucht", erzählt sie. Allein, als Außenseiterin, Israelin und Frau wäre ein solches Unternehmen eine Unmöglichkeit. Orte wie Dschisr beruhen auf Vertrauen und Familienbande. Auch ihre Freunde und Verwandten hielten sie für waghalsig und naiv. "Aber dann traf ich Ahmad." +Ahmad Juha nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Die hellblauen Augen stechen aus dem braun gebrannten Gesicht hervor. Jeder hier kennt Juha. Er betreibt nicht nur mit Neta das Hostel, ihm gehört in Dschisr auch ein Café. Seine sieben Kinder helfen dort oft als Kellner aus. Und die Männer des Ortes trinken hier Espresso aus kleinen Pappbechern und rauchen selbst gedrehte Zigaretten. Arbeit gibt es für sie weder hier im Ort noch sonst irgendwo. "Aufgrund der Vorurteile über Dschisr werden sie fast nirgendwo angestellt", erzählt Juha in fließendem Hebräisch. Einige Frauen finden Arbeit als Putzfrauen in jüdischen Siedlungen. Jeden Abend rollen 20 Busse durch den Tunnel nach Dschisr az-Zarqa und bringen die Arbeiterkolonne wieder nach Hause. Nur über eine Brücke und durch diesen Tunnel, vier Meter breit, knapp vier Meter hoch, ist der Ort erreichbar. Eine Abfahrt von der 100 Meter entfernten Autobahn im Osten gibt es nicht. Dschisr ist wie eingekesselt: Im Westen das Mittelmeer, im Norden die Fischfarmen des Kibbuz Ma'agan Micha'el, und südlich des Ortes liegt Caesarea, eine der reichsten Nachbarschaften des ganzen Landes. Auch Benjamin Netanjahu besitzt dort ein Haus mit Rasensprenkler und Malibu-Feeling. Getrennt werden die beiden Ortschaften durch einen Wall, bei dem es sich offiziell um eine Lärmschutzwand handelt. "Damit man unseren Muezzin nicht hört, sagen sie", erklärt Ahmad. "Außerdem ist es bei uns Tradition, an Feiertagen mit Gewehren in die Luft zu schießen. Das gefällt den Anwohnern nicht." +Neta lacht und schüttelt ihren braunen Lockenkopf. Das könne sie schon irgendwie verstehen, gibt sie zu. Als das Hostel bereits den Betrieb aufgenommen hatte, kam ihr und Juha die Idee zu einem Social Business. Sie stellten internationale Volontäre im Hostel an. "Wir wollen, dass sie teilhaben am Leben in der Stadt", sagt Juha und deutet auf ein Holzschild mit dem Wort "Supermarket". Die Freiwilligen haben im ganzen Ort Wegweiser für die Touristen angebracht. Auf Englisch mit blauer Farbe auf Holz. "Am Anfang waren die Anwohner über die Anwesenheit von Fremden in der Stadt so aufgeregt, dass sie ihnen alles umsonst geben wollten. Ein Eiscafé ist deswegen fast bankrottgegangen", sagt Juha. Gemeinsam mit Neta gründete er das Young-Leaders-Programm, um Kinder aus der Stadt zum Austausch mit den Gästen im Hostel zu motivieren. "Die arabischen Kinder führen die Reisegruppen selber durch das Dorf. Sie sind gezwungen, Englisch zu sprechen und ihre Social Skills mit Fremden zu üben", sagt Neta. Viele kommen nur ein Mal und dann nie wieder. Aber andere bleiben. "Das hier wird ihr Ort des Friedens, ein zweites Zuhause." Für die meisten sei es nicht einfach, an dem Programm teilzunehmen: "Oft werden sie von ihren Freunden gehänselt und ausgelacht." Neta sieht sich an der Kreuzung um. An einer Straßenecke plaudern ein paar bunt gewandete Frauen, aus einem Auto wummert lauter Techno. Hupen, Hundebellen, Kindergeschrei. Ein Falafel-Laden, eine Apotheke und Juhas Café. Von allen Seiten isoliert, ohne Möglichkeit des Wachstums, scheint das Leben in Dschisr immer gleich zu bleiben. Und irgendwie scheint keiner so recht die Schuld daran zu tragen. "Es ist gut, wenn die Kinder sich trauen herzukommen", schließt die vierfache Mutter nachdenklich. "Was sie hier lernen, ist ihre Eintrittskarte zur Außenwelt." +Die Einwohner Dschisrs haben mit kulturellen Stigmata zu kämpfen, die sie daran hindern, am israelischen Arbeitsmarkt teilzuhaben. "Sie sind sowohl den Israelis als auch ihren arabischen Nachbarn ein Dorn im Auge", erzählt Neta. Einst siedelten Ghawarina-Beduinenfamilien aus Jordanien hier, Nomadenstämme, die ihre Büffel in den umliegenden Sümpfen weideten und widerstandsfähig gegen die in dieser feuchten Gegend weit verbreitete Malaria zu sein schienen. "Man war misstrauisch. Die Menschen hier waren offensichtlich anders als ihre palästinensischen Nachbarn." Als Anfang der 1920er-Jahre die ersten jüdischen Einwanderer in die Gegend vordrangen, halfen die Ghawarina ihnen dabei, die todbringenden Sümpfe auszutrocknen. Viele der jüdischen Arbeiter starben, und Ghawarina gingen in die Geschichtsschreibung der Palästinenser als Kollaborateure ein. Die jüdischen Siedler hingegen gaben ihnen zum Dank für die Hilfe einen Hügel am Strand, auf dem Dschisr seit rund einem Jahrhundert gewachsen ist. Genug Weideland für Vieh gab es dort nicht. Und der Handel mit den arabischen Nachbarn wollte nicht mehr in Schwung kommen. "Selbst Ehen mit Menschen aus Dschisr sind seither verpönt", erzählt Neta. "Deswegen heiraten sie dort lediglich Menschen aus ihrem Ort." Mittlerweile hat das Dorf 14.000 Einwohner, Dschisr platzt aus allen Nähten. Auf vielen Dächern ragen Metallstäbe in die Höhe und künden davon, dass hier wahrscheinlich bald eine weitere Etage draufgesetzt werden muss. +Eine Lösung für Dschisr muss her. Das wissen sowohl die Einwohner als auch die Regierung. "Ich bin allerdings nicht aus politischen Beweggründen hierhergekommen", betont Neta. Ein arabisch-israelisches Business, ein ideologisches Koexistenz-Projekt sei nicht ihre Motivation gewesen: "Es war einfach mein heimlicher Traum, ein eigenes Hostel zu haben." Jeder Tourist, der in Juha's Guesthouse nächtigt, gibt ungefähr rund 25 Euro im Ort aus. 60 Prozent der Backpacker kommen aus der ganzen Welt, 40 Prozent aus Israel. Zurzeit wohnen vier Dänen und eine Amerikanerin in dem bunt bemalten Hostel. "Wir sind die Ersten, die überhaupt Business und Geld in den Ort bringen", sagt Neta stolz. "Aber ich will, dass mehr Menschen aus Dschisr selbst solche Projekte angehen. Der Erfolg muss hier im Ort bleiben." + + +Titelbild: PhotoStock-Israel / Alamy Stock Photo diff --git a/fluter/Impfprivilegien-corona-pro-contra.txt b/fluter/Impfprivilegien-corona-pro-contra.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1bc09dc972b3915ecb7e831551401641f5f388a3 --- /dev/null +++ b/fluter/Impfprivilegien-corona-pro-contra.txt @@ -0,0 +1,30 @@ +Wer in die Zentralafrikanische Republik oder die DR Kongo einreisen will, muss eine Impfung gegen Gelbfieber nachweisen. Wer Niger oder Malaysia besucht, sollte gegen Kinderlähmung immun sein. Und wer im Jahr 2021 auf die Seychellen oder nach Slowenien reisen will, muss eine Covid-19-Impfung nachweisen, wenn er einen negativen PCR-Test oder mehrere Nächte in Quarantäne vermeiden möchte. +Während niemand gegen die gängigen Reiseimpfungen aufbegehrt, ist die Sache mit den Covid-Impfungen heikler. Auch weil sie nicht nur den internationalen Reiseverkehr, sondern bald schon unseren Alltag betreffen könnten. Private Anbieter wie Konzertagenturen, Fluglinien und Reiseveranstalter wollen die Impfung als Einlassbedingung adaptieren. Wer Antikörper hat, dem steht die Welt offen? +Für die meisten Menschen ist die Vorstellung einer baldigen Rückkehr zur Normalität ein sehnsuchtsbeladener Gedanke. Cafés, Kino, Saunagänge! Doch dass wir nicht alle gleichzeitig in den Alltag zurückkehren können, scheint bei vielen Deutschen Ängste zu wecken. Und Neid.In einer aktuellen repräsentativen Umfrage der Wochenzeitung "Die Zeit" lehnten es 68 Prozent der Befragten ab, dass Geimpfte ihre Freiheitsrechte zurückbekommen sollen. +Die Debatte darüber ist mit dem Wort "Impfprivilegien" überschrieben. Und da fängt es schon an: Das Wort "Privileg" suggeriert, man dürfe mehr als andere, wenn es in Wirklichkeit andersherum ist: Jene, die keine Antikörper im Blut nachweisen, dürfen weniger – wer geimpft ist, bekommt nur die ganz normalen Freiheiten wieder, die alle hierzulande normalerweise genießen. +Angst und Neid sind keine guten Berater. Das zeigt ein Blick auf das, was nicht gefühlt, sondern gesellschaftlich festgeschrieben ist. "Jede Neuinfektion ist die Ansteckung eines Menschen durch einen anderen, und zwischen diesen bestehen – anders als zu Erdbeben – Rechtsbeziehungen", schreibt Rechtsphilosoph Christoph Bublitz im Essay"Es gibt keine Freiheit, Teil einer Infektionskette zu sein". Auch wenn wir uns gerne als losgelöst agierende Individuen sehen: Wir haben unseren Mitmenschen gegenüber Pflichten. Zum Beispiel die, sie nicht zu verletzen. +Diese Pflicht gilt auch für Gefahren, die vom eigenen Körper ausgehen. Da wir bei einer Covid-19-Erkrankung nicht sicher wissen, ob wir ansteckend sind oder nicht, waren Einschränkungen unserer Freiheiten lange Zeit die einzige Möglichkeit, den Zusammenbruch des Gesundheitssystems und den Tod vieler Menschen zu verhindern – bis jetzt. +Im Kampf gegen die Pandemie sind Impfstoffe ein vielversprechendes Werkzeug. Sie schützen in einem hohen Maße gegen eine Covid-19-Erkrankung. Erste Untersuchungen weisen darauf hin, dass vollständig Geimpfte eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit haben, eine asymptomatische Infektion zu erleiden und andere anzustecken. +Die US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention haben deshalb bereits erste Verhaltenslockerungen für Geimpfte zugelassen. Der Deutsche Ethikrat ist zurückhaltender, dennoch sagte dessen Vorsitzende Alena Buyx mit Blick auf die neuesten Erkenntnisse,"dass diese ganz harten individuellen Freiheitsbeschränkungen rein rechtlich sehr, sehr schwierig durchzuhalten sind, wenn der sogenannte Sachgrund entfällt, der Sachgrund der Infektiösität."Aus dem Gesundheitsministerium heißt es, dass Geimpfte vielleicht schon im April erste Freiheiten zurückerhalten könnten. +Sollten weitere Studien belegen, dass Impfungen die Weitergabe von SARS-CoV-2-Viren verhindern und immer mehr Menschen nach dem Prinzip "Alt vor Jung" geimpft werden, dann könnte die Generation 60 plus schon bald wieder das Leben genießen – mit beschwingten Kreuzfahrten, Theaterabenden und Bruce-Springsteen-Konzerten. Denn privaten Anbietern steht es frei, ihre Waren und Dienstleistungen nur geimpften Personen anzubieten. +Auch wenn das für einige Pandemiemüde schwer zu ertragen ist: Außer vagen Gefühlen gibt es keinen Grund, Menschen einzuschränken, die keine Gefahr für andere darstellen. Wer sich davon ungerecht behandelt fühlt, dem mag ein Blick über den Tellerrand der BRD helfen: In den meisten Ländern Afrikas und in den armen Staaten Zentral- und Südostasiens werden die Menschen noch bis zu zwei Jahre auf den Schutz vor Covid-19 warten müssen. Wer auf gleiche Rechte für alle pocht, sollte auch so lange auf den Kneipenbesuch verzichten, bis die letzten Impfwilligen in Afrika ihre Spritze bekommen haben. Sinnvoller wäre es, wir würden uns stattdessen für einefaire globale Impfstoffverteilung einsetzenund die Kampagne gegen die Freiheitsrechte der Geimpften schnell begraben. +Julia Lauter schreibt für Magazine und Zeitungen über Wissenschaft,Umwelt und soziale Bewegungen – sie ist in der allerletzten Impfkategorie und hofft, dass bis zum Herbst nicht noch alles in Flammen aufgeht. + + + +Collagen: Renke Brandt +meint Anina Ritscher +Gesundheitsminister Jens Spahn möchte Geimpften die Möglichkeit geben, zu reisen oder zum Friseur zu gehen, ohne ein negatives Testergebnis vorzulegen. Damit wären Geimpfte und Menschen mit negativem Testergebnis gleichgestellt. Die EU geht mit ihrem "Impfausweis" noch weiter und möchte Geimpften auch die Quarantänepflicht ersparen und so internationale Reisen erleichtern. Politiker:innen aus fast allen Parteien sind sich einig, dass beides gute Ideen sind. Aber ist das fair? +Bald schon werden weitere Fragen aufkommen: Sollte der Immunitätsnachweis noch mehr Freiheiten wiederherstellen? Sollten Geimpfte etwa auch von Maskenpflicht und Kontaktverbot ausgenommen oder ihnen Restaurant- und Kinobesuche ermöglicht werden? +Diese Fragen müssen gestellt werden, doch sie bringen auch unangenehme Überlegungen zutage. Denn weitreichende Privilegien für Geimpfte könnten Ungerechtigkeiten verschärfen und Gräben vertiefen. +Befürworter:innen der Impfprivilegien bevorzugen es, von einer Rückkehr zu den zeitweise eingeschränkten Grundrechten zu sprechen, anstatt von Sonderrechten. Doch Grundrechte sind nur dann etwas wert, wenn sie ausnahmslos für alle gelten. +Als Argument wird daraufhin manchmal herangezogen, dass es gerecht sei, wenn diejenigen Menschen, die in der Krise am meisten litten, also die Risikopatienten, da auch schneller rauskommen. Ein Rentner etwa, der seine Ehefrau nach Monaten wieder im Pflegeheim besuchen möchte, sollte schnellstmöglich das Recht dazu haben. Das klingt erst einmal logisch. +Trotzdem ist es unsinnig, die Befreiung von Corona-Maßnahmen an die Immunität zu knüpfen. Denn das verkompliziert die ethischen Überlegungen, die der Impfstrategie zugrunde liegen. Viele Menschen, die besonders unter den Maßnahmen leiden, gehören nicht zur Risikogruppe und werden demnach spät geimpft. Bewohner:innen in Asylunterkünften etwaoder Obdachlose. +Wäre es dann nicht gerechter, diese Menschen hätten ebenfalls verfrühten Anspruch auf eine Impfung – wenn Geimpfte von den Beschränkungen befreit würden? Stattdessen werden bei der Festlegung Reihenfolge insbesondere das Alter und Vorerkrankungen berücksichtigt. Das ist nicht gerecht. +Zurzeit wird der Impfstoff aber noch nicht einmal gemäß dem aktuellen System der Impfstrategie gerecht verabreicht. Bereits jetzt gibt es zahlreiche Berichte über einzelne Menschen – zum Beispiel Politiker:innen –, die sich ihre Impfung erschlichen haben, obwohl sie gemäß Impfstrategie noch nicht an der Reihe waren. Es ist vorstellbar, dass solche Vorfälle sich häufen werden. Mit dem Immunitätsnachweis würden solche sozialen Ungerechtigkeiten noch verschärft. +Für den Besuch im Pflegeheim bräuchte es abgesehen davon nicht zwingend einen Immunitätsausweis. Der Ethikrat spricht stattdessen in einer Stellungnahme davon, dass Ärzt:innen in besonderen Fällen eine Befreiung von den Corona-Einschränkungen ausstellen – zum Beispiel mit einem aktuellen PCR-Test – und so etwa Besuchsregeln in Pflegeheimen für einzelne Personen lockern könnten. +Würden weitreichende Impfprivilegien eingeführt, müssten wir zudem auch darüber reden, ob es tatsächlich nur um Freiheiten ginge – oder auch um Pflichten. Schließlich würde mit der Immunität, zumindest wenn man es zu Ende denkt, auch der Anspruch auf staatliche Hilfestellungen hinfällig werden. Könnten Arbeitnehmer:innen etwa dazu verpflichtet werden zu arbeiten, während ihre ungeimpften Kolleg:innen nochin Kurzarbeitsind? +Ganz zu schweigen von Verschwörungsideolog:innen, die sich mit der Einführung eines Immunitätsausweises in ihrer Befürchtung bestätigt sähen, dass wir uns in einer vermeintlichen "Impfdiktatur" befinden. Impfprivilegien könnten diese ohnehin schon gefährliche Stimmung womöglich weiter anheizen – das ist es nicht wert. +Diese Pandemie ist ein gesamtgesellschaftlicher Kraftakt. Sie erfordert Mühen von jedem und jeder Einzelnen. Auch der Weg aus der Pandemie hinaus ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und muss von allen gleichermaßen mitgetragen werden. Sonderrechte für Geimpfte würden das Gegenteil suggerieren: Einige könnten – oder müssten – die Pandemie schneller überwinden als andere. +Das würde sogar rückblickend die Appelle der Bundesregierung unglaubwürdig machen. Schließlich waren Zusammenhalt und Solidaritätdiepolitische Message in der Pandemiebekämpfung. Und jetzt soll mit einem Immunitätsausweis wieder in vielen Bereichen zum individualistischen Status quo zurückgekehrt werden? Es wäre schädlich für die Bewältigung weiterer Krisen, die bestimmt kommen werden, wenn die Forderung nach Solidarität sich als Floskel enttarnt. +Anina Ritscher schreibt über Rechtsextremismus, Desinformation und Verschwörungsideologien – mit Impfverweigerung schlägt sie sich also schon länger herum. Sobald sie geimpft ist, will sie wieder eine ganze Nacht in der Kneipe verbringen. diff --git a/fluter/Interview-Herfried-Muenkler-Nation-Deutschland.txt b/fluter/Interview-Herfried-Muenkler-Nation-Deutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dc3ce2cd11ad9b6a784b45d1f96e1872c62aceae --- /dev/null +++ b/fluter/Interview-Herfried-Muenkler-Nation-Deutschland.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Sind Herkunft und Pass die entscheidenden Faktoren, die einen Menschen zum Deutschen machen? +Nicht unbedingt. Es gibt ja sehr viele, die aus anderen Räumen nach Deutschland gekommen sind und dennoch Deutsche sind. Die lange Zugehörigkeit zu diesem Raum und seiner Kultur ist keine Voraussetzung der Zugehörigkeit. Ein wichtiges Element, um Deutscher zu werden, ist aber die Bereitschaft, sich mit der Geschichte des Raums und seinen Gepflogenheiten zu beschäftigen. +Was sind denn deutsche Gepflogenheiten? +Da bewegt man sich schnell im Bereich der Klischees. Vielleicht kann man es am allerbesten herausfinden, indem man etwa Türken, die lange in Deutschland gelebt haben, beobachtet, wenn sie in der Türkei sind. Was ihnen dort fehlt, ist ein guter Indikator dafür, wie deutsch sie geworden sind. So haben sie beispielsweise eine gewisse Erwartung an Pünktlichkeit oder Akkuratesse. +Bilden wir also Identitäten, indem wir zwischen dem Eigenen und dem Anderen unterscheiden? +Identitätsbildung von individueller bis zu kollektiver Identität ist ein ständiger Prozess des Hin und Her. Wer wir sind, erfahren wir durch die Beobachtung der Anderen, die wiederum uns beobachten. Deshalb fordert uns das Ankommen der vielen Flüchtlinge auch heraus. Allerdings – das darf nicht übersehen werden – entsteht ein Bewusstsein von Identität gerade dann, wenn man mit solchen Herausforderungen konfrontiert wird. Wenn wir nur unter unseresgleichen sind, stellen wir uns gar nicht erst die Frage, wer wir sind. Der Andere oder der Fremde nötigt uns dazu, dass wir erstens darüber nachdenken, wer wir sind, zweitens, wer wir sein wollen, und drittens, wer wir sein können. Und das ist ein Jungbrunnen für jede Gesellschaft. +Inwiefern ein Jungbrunnen? +Ein Gemeinwesen muss sich immer wieder erneuern, sonst vermodert es. Zur Erneuerung des Gemeinwesens hat zum Beispiel die Wiedervereinigung beigetragen oder eben jetzt die massenhafte Zuwanderung. Wenn wir solche Herausforderungen annehmen und bestehen, gibt das Selbstvertrauen und Zuversicht. +Könnten gerade die Zugewanderten diejenigen sein, die ein "Wir-Gefühl" in Deutschland auslösen? +So ist es. Wenn die Integration gelingt, hat sich die deutsche Gesellschaft angesichts eines großen Problems bewährt, und das eint. Diejenigen, die grundsätzlich gegen Zuwanderung sind, sind nicht zukunftsfähig. Sie verhindern jede Erneuerung und jeden Fortschritt. +Die Gegner der Zuwanderung warnen vor dem Verlust einer kulturellen Identität. Was ist damit gemeint? +Vernünftig hat das noch keiner beantworten können. Wenn man damit Goethe oder Schiller meint, dann ist das keine nationale Inklusion, sondern ein bildungsbürgerliches Projekt. Auch über die Essgewohnheit lässt sich keine Nation machen, denn es mögen nicht alle Sauerkraut und Rippchen. Außerdem verändert sich die kulturelle Identität immer wieder. Nehmen Sie zum Beispiel die Überwindung der konfessionellen Differenzen. Heute ist es ohne Weiteres möglich, dass ein Protestant eine Katholikin heiratet. Das ist ein wesentliches Element bei der Modernisierung dieses Landes gewesen. Insofern kann ich eine kulturelle Identität nur im Grundgesetz sehen und darin, dass wir zu dessen Werten stehen. +Jahrzehntelang hatten besonders junge Menschen in Deutschland ein Problem mit einem Bekenntnis zur Nation, weil dieser Begriff durch den Nationalsozialismus pervertiert wurde. +In den 1950er- und 1960er-Jahren wollten viele angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen lieber keine Deutschen sein. Hinzu kam, dass die Nation ohnehin politisch geteilt war. Das änderte sich erst mit der Wiedervereinigung, als es wieder eine Vorstellung davon gab, dass die Nation eine politische Gestalt als Staat bekommen hat. Ab da mussten die Deutschen wieder anfangen, sich zu definieren. +Hat das geklappt? Oder wird unter der "deutschen Identität" in Ostdeutschland etwas anderes verstanden als in Westdeutschland? +Das Problem war, dass die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte in Westdeutschland eine ganz andere war als in Ostdeutschland. In der DDR sah man sich als "Sieger der Geschichte", der Nationalsozialismus wurde vor allem hinsichtlich der Dimension Kapitalismus versus Sozialismus behandelt, die Dimension des Rassismus blieb außen vor. Die intensive Beschäftigung mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten und deren Verbrechen wurde in Westdeutschland hingegen zu so etwas wie der geschichtspolitischen Staatsräson und entsprechend in den Schulen unterrichtet. Das hat sich ausgezahlt, zum Beispiel in einer höheren Populismusresistenz. Man weiß, welche Folgen bestimmte Formen des Ausgrenzens und des Sichselbst- Erhöhens haben, während unsere Nachbarländer, weil sie ja nicht das Tätervolk waren, immer ein gutes Gewissen hatten. Das Wahlverhalten in Sachsen ähnelt also nicht ohne Grund eher dem in Polen als dem im Westen. Und nicht ohne Grund sind im Osten bei der Bestimmung von Identität viel eher ethnische Vorstellungen im Spiel als im Westen. +Identifizieren sich nicht ohnehin viele Menschen in Deutschland eher mit den Regionen, aus denen sie kommen? +Deutschland ist ja nie ein zentralistischer Staat gewesen, es hat eine föderalistische Tradition, die infolge der Vertreibungen nach 1945 ordentlich durchmischt wurde. Eine zweite intensive Durchmischung fand durch die soziale und regionale Mobilität statt. Ich lebe nicht mehr in meiner hessischen Heimat, sondern in Berlin. Aber ich habe immer noch die weiche Aussprache, die für den Oberhessen typisch ist. Insofern bin ich ein Hesse geblieben, aber nur zum Teil. Zum Teil bin ich Berliner geworden. Dass ich Deutscher bin, haben wir schon festgestellt. Und dann bin ich noch Europäer. Es gibt also gar nicht die eine Identität. Jetzt, wo Trump neuer Präsident der USA ist, werden sich viele Europäer wieder stärker als Europäer fühlen, und der Begriff des Westens wird an Bedeutsamkeit verlieren. Es ist ein permanenter Prozess, der auch von Situationen abhängt. +Ist der Wunsch nach einer intakten Nation auch eine Reaktion auf eine komplexe Welt und die ausbleibenden Vorteile einer Globalisierung, wie sie oft versprochen wurden? +Für Verlierer der Globalisierung ist die Nation gewissermaßen die Garantie der sozial-staatlichen Versorgung. Das heißt, sie tun das nicht einfach, weil sie die Nation so schätzen, sondern weil diese ihre Versicherung in schlechten Zeiten ist. Gerade in komplexen Situationen braucht man Mittel des Halts und der Vergewisserung. Deshalb können wir zurzeit die politische Sehnsucht nach einer kleinräumigeren und überschaubareren Welt beobachten. Das heißt: Man kann sich mehr Globalisierung zutrauen, je gewisser man seiner eigenen regionalen oder nationalen Identität ist. Die Bedeutung der Nation wird also nicht abnehmen, sondern zunehmen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang jedoch, welchen Begriff von Nation wir zugrunde legen. +Welchen sollte man Ihrer Meinung nach zugrunde legen? +Eine Nation, die menschenfreundlich ist. Eine, die sich nicht durch Exklusion auszeichnet, sondern durch die Bereitschaft zur Inklusion. Eine, die dabei aber auch bereit ist, für gewisse Werte einzustehen. Und eine, die gut gemanagt ist – also ein Land, das dazu in der Lage ist, Wohlstand für seine Bürger bereitzustellen, und das nachhaltig. Wer ein Interesse daran hat, dass der Sozialstaat auch unter veränderten Rahmenbedingungen in Zukunft aufrechterhalten werden kann, der muss sich auch auf den Begriff der Nation einlassen. +Warum? +Die Bereitschaft, in ein System einzuzahlen mit dem Wissen, dass ich nie dieselbe Summe herausbekommen werde, macht unseren Sozialstaat aus. Die Bereitschaft, dies zu tun, ist auf der Grundlage einer erhöhten Zurechnung – "Das ist auch ein Deutscher" und nicht irgendwie die Welt – wesentlich höher. Man konnte das in der Vergangenheit beobachten. Die "alten" Bundesbürger waren im hohen Maße bereit, die neuen Bundesländer finanziell zu unterstützen. Aber als die Empfänger solcher Transfers nicht mehr Deutsche waren, sondern vermeintlich Griechen, war das deutlich anders. Es braucht also ein Gemeinschaftsgefühl, damit es mit der Solidarität klappt. + diff --git a/fluter/Interview-Wolfgang-Engler-Ernst-Busch.txt b/fluter/Interview-Wolfgang-Engler-Ernst-Busch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b070ea1669814009d8136a5f05d06d98ed51e604 --- /dev/null +++ b/fluter/Interview-Wolfgang-Engler-Ernst-Busch.txt @@ -0,0 +1,41 @@ +Ist es sinnvoll, nach einem Wesenskern hinter den Rollen zu suchen, die wir in unserem Leben spielen? +Das ist sozusagen die Königsfrage. Was ist der Mensch, wenn man mal alle sozialen Rollen, die er spielt, von ihm abzöge? Ist er dann überhaupt noch jemand? Meine Antwort wäre: Ja, aber das ist schwer zu fassen. Denn es stimmt ja, dass wir in all diesen Rollen nicht wirklich aufgehen. Wenn es gut geht, bin ich der Spiritus Rector meines Rollenspiels. +Sind wir alle nur Selbstdarsteller? +Es bleibt immer eine Inszenierung. Und die Idee, alle Masken abzureißen und alle Inszenierungen abzuschaffen, um das wahre Selbst zum Vorschein zu bringen, ist eine komplette Illusion. +Kann man als Schauspieler eine Rolle nur gut verkörpern, wenn sie auch einen persönlichen Bezug zu einem hat? +Jemand, der mit 23 Jahren Schauspieler werden will, hat ja meist keine Ahnung, wie es als Junkie oder Obdachloser ist – oder auch als König oder Königin. Also geht es um die Fähigkeit, sich dem, was ich nicht bin, zu nähern; durch Beobachtung oder durch Nachahmung. Gerade das macht ja Lust auf das Spiel. Warum spielen Menschen, und warum spielen Kinder? Natürlich nicht, weil sie etwas schon sind. Sondern weil sie in einer Situation sind, wo sie gucken und testen: Was machen die anderen? Einen persönlichen Bezug braucht es also nicht unbedingt. Aber um etwa in die Rolle des Obdachlosen zu schlüpfen, kann es hilfreich sein, in seiner eigenen Biografie zu schauen: Welche Demütigungserfahrungen habe ich selbst mal gemacht? +Wäre es nicht tatsächlich glaubwürdiger, wenn ein echter Obdachloser einen Obdachlosen spielen würde? +Man kann den Kern dieses Themas, das politisch und wirklich ernst zu nehmen ist, an der Blackfacing-Debatte festmachen. Ist es okay, wenn ein weißer Schauspieler Othello spielt, obwohl es doch genug schwarze Schauspieler gibt? Man kann auch fragen: Wer hat das Recht, auf der Bühne zu stehen und eine Rolle zu spielen, ohne dass er anderen das Recht wegnimmt, für sich selbst zu reden? Darf ein Mann eine Frau spielen? Weiß ein Mann jemals, wie eine Frau wirklich ist? Kann ein Schauspieler, der aus der Mittelschicht kommt – so wie fast alle, die hier studieren –, einen Arbeitslosen spielen? Wäre es nicht viel besser, wir lassen den ganzen Quatsch und casten einfach Leute auf der Straße? Gehen zum Bahnhof Zoo, sprechen einen Obdachlosen an und fragen, ob er gegen ein kleines Handgeld sich selber spielen würde. + + +Kommt die Fähigkeit, in die Rolle eines anderen hineinzuschlüpfen, der Gesellschaft als Ganzem zugute? +Das ist eine Fähigkeit, die soziale Fantasie fördert. Man versteht, wie die anderen leben. Wenn jeder nur noch er selbst sein darf, schränkt das die Möglichkeiten unerhört ein – auch die Möglichkeit der Empathie: mal zu erfahren, wie es sich anfühlt, ein anderer zu sein. +Die Frage nach der kulturellen Aneignung gibt es nicht nur im Theater. Derzeit gibt es eineDiskussion, ob weiße Menschen Dreadlocks tragen dürfenoder ob das eine Banalisierung der Leidensgeschichte afrikanischer Sklaven ist. +An den US-amerikanischen Universitäten ist diese Art von Empfindlichkeit besonders ausgeprägt: Ich möchte nicht, dass mein Professor mir einen Text vorlegt, der meine ethnische Identität oder meine Gender-Identität verletzt. Und wenn der das macht, dann gehe ich raus. Es gab den Fall, dass Studenten aus der weißen Mittelschicht das Recht abgesprochen wurde, asiatisches Essen zu kochen, weil sie sich damit etwas anmaßen. Das ist ein seltsamer Besitzanspruch: Ich besitze meine Herkunft, und die lasse ich mir auch nicht wegnehmen. Du ziehst dich nicht so an, du sprichst nicht so und du kochst nicht so – das bin ich! Stellen Sie sich vor, das machen jetzt alle so. Dann dürfte auch ein Sachse, der nach Stuttgart gezogen ist, nicht mehr versuchen, ein bisschen wie die Schwaben zu werden. Dann ziehe ich als Schwabe gleich mal vor Gericht und klage an, dass der meine kulturelle Identität nur kopiert. +Aber ist es nicht legitim, mit kulturellen Formen von Völkern, die wir als Europäer uns ehemals unterworfen haben, ein bisschen behutsamer umzugehen? +Ich sehe das anders, für mich ist das eine Fortsetzung der kulturellen Herablassung mit anderen, scheinbar zivilisatorisch-emanzipatorischen Mitteln und Rhetoriken. Nichts anderes. +"Erkenne dich selbst" lautet eine Inschrift am Eingang des Apollontempels in Delphi. Heute heißt es in der Werbung oft: "Sei ganz du selbst". Die Forderung nach Authentizität ist anscheinend sehr alt. +Sie hat über die Jahrhunderte und sogar Jahrtausende hinweg sehr verschiedene Antworten hervorgebracht. Eine Antwort war zum Beispiel: Ich bin ich selbst, wenn ich natürlich bin. Das heißt in der Konsequenz: Der Mensch ist am authentischsten, wenn seine Selbststeuerung zusammenbricht. Wenn er Unruhe zeigt, wenn seine Augen flattern, der Kehlkopf. Dann glaubt man: Jetzt ist der Mensch wirklich da, bis dahin hatte er sich verstellt. +Im Job wird erwartet, dass man sich ganz mit seiner Tätigkeit identifiziert und darin aufgeht. Warum ist die Forderung, man selbst zu sein, heute so massiv? +Bis vor 100 Jahren haben sich Unternehmen damit begnügt, dass ihnen Menschen ihre Fähigkeiten zur Verfügung stellen. Irgendwann schien das nicht mehr zu reichen, und es wurde erwartet, dass die Menschen den Firmen auch ihre Persönlichkeit zur Verfügung stellen. +Klingt anstrengend. +Nehmen wir mal die schöne alte Arbeitswelt des klassischen Angestellten. Der kommt morgens, macht seine Arbeit, dann schaut er auf die Uhr: 17 Uhr. Der Stift fällt nieder, und das donnernde Leben beginnt. Zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu unterscheiden, also zu sagen: Das ist mein Leben, und das ist das Leben fürs Unternehmen, das hat natürlich etwas Befreiendes. Der heutige Angestellte fragt sich ja auch am Feierabend immer noch, ob er sich gerade Skills aneignet, die ihm mal nutzen könnten. Ist es gut für die Arbeit, dieses Buch zu lesen, ins Theater zu gehen, diese Freunde zu treffen? Die Unterscheidung wird immer schwerer: Wo ist eigentlich der Raum, der nur mir gehört? +Woher kommen diese Gedanken? +Die neue Art der Unternehmenssteuerung, wie sie auch im Silicon Valley vorgelebt wird, heißt: Entfremdung verboten. Du darfst dich in einem Beruf nicht mehr fremd fühlen, du musst du selber sein. Auch sonst wird viel Identitäts-Fastfood angeboten. In Form von Werbung, die mir verspricht, dass ich durch einen millionenfach produzierten Turnschuh ganz ich selbst werden könnte, in Form von Ratgeberliteratur, die mir sagt, was ich tun muss, um ganz ich selbst zu werden. +Es gibt in einer Zeit der Selfies und derOptimierung durch Wellnessviel Beschäftigung mit sich selber. Leidet darunter die Initiative, die Gesellschaft als Ganzes positiv weiterzuentwickeln? +Der Aufwand, den man mit dem Bild und dem Entwurf von sich treibt, die Leidenschaft und die Zeit, die investiert werden, sind schon auffallend. Ich denke, dass sich da etwas staut, das ebenso gut der Weltveränderung zugutekommen könnte. Aber die Welt wirkt so schwierig und so komplex und scheint auch von selber zu laufen – da ist die Beschäftigung mit sich selbst ein bequemer Ausweg. In den späten 1960er- Jahren war das ganz anders: Da war mein Authentischsein eigentlich nur vor dem Hintergrund möglich, dass die Welt eine andere wird. Ich konnte in dieser als falsch betrachteten Welt gar kein Richtiger sein. Also musste ich mich mit anderen zusammentun, um gemeinsam das große Ganze zu verändern, damit man überhaupt dieses Ideal – sei du! – erreichen konnte. Wenn ich aber nicht mehr daran glaube, dass ich die falsche Welt zum Besseren ändern kann, dann fließen diese Energien in mein Projekt der Selbstveränderung. Hier bin ich, hier ist mein Entwurf, hier ist mein Fake. +Viele Menschen haben das Gefühl, dass die Welt zu komplex ist. +Komplexität ist heute eine der ganz großen Legitimationsformen. Das ist zu komplex! Wer sagt das heute nicht alles! Aber ich glaube, dass das eine Fehlwahrnehmung ist. Oft kann man ganz klar Ross und Reiter benennen – etwa in der Finanz- oder der Flüchtlingskrise. Der Widerspruch zwischen dem, wie wichtig wir unser Ich nehmen und wie sehr sich dieses Ich andererseits degradiert, wenn es um die vermeintlich zu komplexen Verhältnisse geht, ist schon erstaunlich. +Viele YouTuber reden zu einem großen Teil darüber, wie sie selbst die Welt sehen. +Dieser enorme Aufwand, den die Leute heute mit ihrer Selbstformung und Selbstgestaltung treiben, ist Rückstau sozialer Problematiken, die wir uns nicht mehr trauen anzupacken. Es geht nicht darum, das zu moralisieren. Aber es sind Phänomene, die einfach nicht zusammenpassen und wo die Widersprüche die Leute selber durchziehen. Mal schauen, wo das hinführen wird. + + +Ist es nicht erst mal etwas Gutes, dass die Leute heute eine Ich-Stärke entwickeln? +Die Frage, wer bin ich, wer möchte ich sein, und welche Fähigkeiten habe ich, von dem, der ich bin, zu dem zu werden, der ich sein möchte – das waren lange Zeit Themen und Fragen, mit denen sich zu beschäftigen ein Privileg der Eliten war. Es darf aber nicht ausufern. Was heute Authentizität heißt, hätte man früher Narzissmus genannt. Ich kippe den anderen mein Sosein vor die Füße und unterwerfe mich weder Konventionen noch Rollenklischees. Und morgen bin ich vielleicht schon wieder ganz anders. +Schaut man sich die Hassreden im Netz an, hat man den Eindruck, dass viele Menschen durch Hass in ihrer Identität zusammengehalten werden. +Was gar nicht so selten passiert, ist, dass Menschen aus der Not eine Tugend machen. Dass sie ihr Leben mit all den negativen Erfahrungen, um darunter nicht begraben zu werden, zu einer überlegenen Existenz aufplustern. Sie finden dann einen Grund, auf die, die eigentlich auf sie herabschauen, ihrerseits herabzuschauen. +Der wütende Mob, der auf Pegida-Veranstaltungen und auch am Rande der Feierlichkeiten zur deutschen Einheit in Erscheinung getreten ist, kann sich mit der Mehrheitsgesellschaft jedenfalls nicht mehr identifizieren. +Das scheint auf einen wachsenden Teil der europäischen Gesellschaften zuzutreffen, etwa auch auf Frankreich, auf Österreich, auf die Schweiz und auch auf skandinavische Länder. Überall dort fühlen sich viele Menschen offenbar durch das System der politischen Repräsentation – zu der ich weiter gefasst auch die Medien und die veröffentlichte Meinung zählen möchte – nicht mehr repräsentiert. Das stimmt für die nicht mehr, das trifft sie nicht. Und was macht man dann? Dann gibt es verschiedene Möglichkeiten. Man kann sich selber organisieren, um denen zu zeigen, was man von ihnen hält, nämlich gar nichts mehr. Man kann regelmäßig aus der Haut fahren. +Was wäre denn der richtige Weg, zu sich selbst zu finden? +Sich davon frei zu machen, wäre schon mal toll, das wäre ein Anfang. Einfach mal zu fragen: Kann ich nicht mal nicht ich sein? Es gibt eine Definition für Authentizität, die meines Erachtens eine recht hohe Gültigkeit beanspruchen kann: Das ist Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber. Wo stehe ich, wer bin ich, wo will ich sein? Und wenn da Unstimmigkeiten sind, dann versuche ich vielleicht, die in eine größere Harmonie zu bringen. Ich denke, man muss mit manchen seiner Gegebenheiten einfach Frieden schließen. Ich bin so, so sehe ich aus, diese und jene Fähigkeiten habe ich, andere habe ich eben nicht. Dies sind meine Stärken, dies sind meine Schwächen. Wenn man das erkennen kann, ist man aus dem permanenten Druck der Selbstoptimierung raus. + diff --git a/fluter/Interview-mit-Rabbi-Wolff.txt b/fluter/Interview-mit-Rabbi-Wolff.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..44e944ecbb3b63e5aa37b991540330f72edc6349 --- /dev/null +++ b/fluter/Interview-mit-Rabbi-Wolff.txt @@ -0,0 +1,39 @@ +Lieber Herr Wolff, geboren im Berlin der 20er-Jahre, wurden Sie in England nach der Flucht vor den Nazis zum Politikjournalisten. Mit über 50 Jahren ließen Sie sich dann zum Rabbiner ausbilden und arbeiteten zuletzt in jüdischen Gemeinden in Schwerin und Rostock. Wie kommt es, dass Sie sich immer wieder neu erfinden? +William Wolff: Ich habe mich niemals neu erfunden. Ich musste dieses Land verlassen, sonst wäre ich in Auschwitz gelandet. Das verstehen Sie, oder? +Natürlich. Aber es ist ja schon ungewöhnlich, von der Millionenstadt London in die ostdeutsche Provinz zu wechseln – und vom Journalismus zum Rabbinertum. Wollten Sie denn schon immer Rabbi werden? +Ich weiß noch, wie wir in der Schule Berufsberatung hatten. Ich war 16 Jahre alt. Da habe ich gesagt, ich möchte entweder Journalist oder Rabbiner werden. +Mit 90 noch auf der Überholspur unterwegs – also mit 90 Jahren, nicht Stundenkilometern. Rabbi Wolff lebt zwischen drei Orten, fährt damit aber gut +Und dann haben sie 30 Jahre das eine und über 30 Jahre lang das andere gemacht. "Wenn irgendwas im Leben keinen Spaß mehr macht, dann habe ich immer dafür gesorgt, dass ich gewechselt habe", erzählen Sie im Film "Rabbi Wolff". Ist das Ihr Rat an Menschen, die Angst vor Veränderungen haben? +Einen allgemeinen Rat zum Thema Veränderung kann ich nicht geben, denn das hängt immer von den Umständen ab. Ich zum Beispiel konnte mein Leben ändern und damit auch ein finanzielles Risiko eingehen, weil ich keine Familie hatte. +Sie essen kein Fleisch und machen regelmäßig Yoga – gerade so als wären Sie ein hipper Großstadtbewohner. Den Wandel zum Handy haben Sie aber nicht mitgemacht. Warum? +Ich habe mich mit der Handykultur einfach nicht angefreundet. Zu Hause in England habe ich zur Sicherheit eines im Auto – immer geladen, falls ich mal eine Panne habe und jemanden rufen muss. Aber zu Hause? Da habe ich doch in jedem Zimmer ein Festnetztelefon. Und hier in Schwerin bin ich meistens im Büro, da kann man ja einfach reinkommen, wenn man mit mir sprechen will … + + +Warum sind Sie denn 2002 überhaupt hierhergekommen – war das nicht schwer für Sie, sich wieder Deutschland zuzuwenden? +Am 10. November 1989 wurde mir plötzlich klar, wie viel mir meine deutsche Herkunft bedeutet. Ich war damals in Nordengland unterwegs, um einen Freitagabendgottesdienst zu führen, und im Autoradio kamen die ersten detaillierten Nachrichten über den Durchbruch der Mauer in Berlin. Wie ich das hörte, kamen mir die Tränen! Und ich habe dann in meinem Gottesdienst sofort ein Dankesgebet gesagt, und das war auch ein Gebet für das Deutschland, das in diesem Moment neu geboren wurde. +Wie ist denn in Ihren Augen die Situation für Juden in Deutschland im Moment? Haben Juden und der Rest der Gesellschaft wieder zueinandergefunden? +Unsere jungen Leute gehen auf die Schulen und Hochschulen wie alle anderen und sind völlig integriert. Die Integration geht hauptsächlich über die Arbeit. Wenn sie aber keine Arbeit haben, leben sie eher unter sich. Dazu kommt, dass das Fernsehen, das sie sich abends anschauen, aus Russland kommt – und das macht die Integration schwieriger. Wenn sie Arbeit haben, dann integrieren sie sich aber schnell. +Sie selbst haben mit Mitte siebzig noch mal ihr Russisch aufgefrischt, weil die meisten Gemeindemitglieder in Schwerin und Rostock Russisch sprechen. +Ja, ich bin jeden Donnerstag in eine Russischstunde gegangen. Hier in Schwerin schreibe ich meine Predigten auf Deutsch, sie werden dann übersetzt, und ich lese sie im Gottesdienst auf Russisch vor. In Rostock halte ich die Reden auf Deutsch, weil da auch Deutschsprachige in die Gemeinde kommen. Das wird dann auf Russisch übersetzt. +Veränderungen hat er zu Genüge erlebt. Aber was er vermisst, ist eine eigene Familie mit Kindern, sagt Wolff +Wie steht es denn um die jüdische Identität hier in Schwerin? War es nicht schwierig für Sie, als liberaler Rabbiner in einer eher orthodoxen Gemeinde zu arbeiten? +Nein, das war kein Problem. In England gelte ich als liberaler Rabbiner, und als ich herkam, wurde ich gefragt: Also, was sind wir denn jetzt: Sind wir liberal oder sind wir konservativ – oder was sind wir? Und ich habe gesagt: Wir brauchen uns kein Etikett aufkleben (haut auf den Tisch) – wir sind die einzige jüdische Gemeinde in Schwerin. Punkt. Ich wollte, als ich kam, dass Männer und Frauen zusammensitzen. Aber die Gemeinde meinte, man hätte sich an die Trennung gewöhnt und ich solle das bitte so lassen. Männer und Frauen sitzen also getrennt, aber es ist kein Vorhang da, und wenn's mal sehr voll ist, dann sitzen sie in den hinteren Bereichen der Synagoge auch zusammen. Streng orthodox sind wir also nicht, und wir hatten auch einen gemischten Chor. +Bedauern Sie es, dass immer weniger Menschen religiös sind? +Na ja, als religiöser Mensch kann ich das nur bedauern, und ich finde, das macht das Leben der Menschen geistig und kulturell ärmer. Religion war und ist Teil der westlichen Kultur. +Auch der Islam ist Teil Europas. Bereitet Ihnen die Stimmungsmache gegen Muslime und der Aufstieg rechter Parteien in Europa und anderswo Sorge? +Jede Diskriminierung macht mir Sorge. Aber man muss auch sehen: Bei der letzten Wahl in Deutschland hat die AfD 4,7 Prozent der abgegebenen Stimmen bekommen. Das bedeutet auch, dass 95,3 Prozent der Wähler nicht für diese Partei gestimmt haben. Und das ist die überwältigende Mehrheit. Das genügt mir. Ich glaube auf jeden Fall nicht, dass wir die Gefahr haben, dass sich die Ereignisse der 1940er-Jahre noch einmal wiederholen. +Sie selber gehen ja ganz offen auf andere Religionen zu – gerade haben Sie in Wismar einen evangelischen Gottesdienst besucht. +Ja, ich habe mit dem protestantischen Kollegen sozusagen zusammen eine Predigt gehalten. Diese Zusammenarbeit, das Brückenbauen ist mir persönlich ungeheuer wichtig. Das Brückenbauen ist eine Verpflichtung. +Nicht gebaut, sondern abgerissen werden mit dem Brexit wohl einige Brücken zwischen Großbritannien und der EU. Was sagen Sie dazu? +Es gibt im Englischen einen schönen Ausdruck, der besagt, dass man sich mit einer Aktion in den eigenen Fuß schießt. Mit dem Brexit haben sich die Briten leider in beide Füße geschossen. +Bei einem 90-Jährigen türmen sich viele Erinnerungen auf. Dennoch ist Rabbi Wolff mit seinen Gedanken ganz im Hier und Jetzt und interessiert sich fürs aktuelle politische Geschehen +Haben sich Ihr Blick auf die Politik und Ihre politische Einstellung im Laufe des Lebens geändert? +Ich nehme es an. Aber als Rabbiner bin ich mir bewusst, dass ich mich nicht in Politik einmischen darf, und das tue ich auch nicht. Zur israelischen Siedlungspolitik etwa äußere ich mich nicht, und ich bin auch keiner, der in Predigten über Nahost-Politik spricht. Aber Meinungen habe ich sehr starke. +Noch eine große Frage zum Schluss: Würden Sie etwas anders machen, wenn Sie heute noch einmal jung wären? +Ja, auf alle Fälle! Ich habe ein großes Bedauern, und zwar dass ich nie geheiratet und meine eigene Familie gegründet habe. Ich habe mich aber immer wieder um die Tochter von sehr guten Freunden gekümmert. Mit ihr und ihren Kindern bleibt eine enge Beziehung, und das ist für mich eine große Bereicherung. +Sie feiern im Februar Ihren 90. Geburtstag und sind immer noch ständig auf Achse. Sehnen Sie sich nicht manchmal nach etwas Ruhe? +Nein, nie! Mir würde höchst langweilig sein. (lacht) + +Anm. d. Red.: Im Juli 2020, fast drei Jahre nach diesem Interview, ist William Wolff in seiner englischen Heimat gestorben. Er wurde 93. + +Titelbild: Katja Hoffmann/laif diff --git a/fluter/Interview-ueber-das-Nichtwissen-im-postfaktischen-Zeitalter.txt b/fluter/Interview-ueber-das-Nichtwissen-im-postfaktischen-Zeitalter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a312c065bbd9371b249b566afac040d1601cdd5f --- /dev/null +++ b/fluter/Interview-ueber-das-Nichtwissen-im-postfaktischen-Zeitalter.txt @@ -0,0 +1,30 @@ +Nichtwissen, Unwissen, Ignoranz – wie unterscheiden sich diese Begriffe? +Die Wörter Unwissen und Ignoranz sind im Deutschen – übrigens im Gegensatz zum englischen ignorance – ganz klar negativ konnotiert. Sie beinhalten das aktive Ausklammern von Wissen, das man hätte haben können und das für eine Entscheidung wichtig gewesen wäre. Bei dem Wort Unwissen schwingt auch noch ein Hauch von "Dummheit" mit. Wenn wir in der Forschung von der Abwesenheit von Wissen sprechen, verwenden wir das Wort Nichtwissen. Das ist neutraler. +Alles mitkriegen geht nicht, irgendwo muss man mal einen Schnitt machen – aber wo? +Ob Brexit oder die Wahl von Trump zum US-Präsidenten – in letzter Zeit hört man oft die These, dass Menschen über wichtige Hintergründe einer Entscheidung gar nichts wissen wollen. Welche Rolle spielt willentliches Nichtwissen, wenn es um demokratisches Handeln geht? +Eine sehr große. In politischen Entscheidungsprozessen gibt es viele Dinge, die Menschen zu hören leid sind und deshalb nicht weiterverfolgen. Und dann gibt es noch Wissensbestände, die sehr strategisch ausgeklammert werden. +Zum Beispiel? +Das ist dann oft der Fall, wenn Wissen in Konflikt mit dem eigenen Verhalten steht: wenn es um Konsum oder Umwelt geht. +Sprich, wer gern und viel Auto fährt, klammert womöglich gezielt Erkenntnisse über den Klimawandel aus? +Zum Beispiel. Was man aber im Hinterkopf behalten sollte: Wenn ich etwa wissen will, ob der Klimawandel menschengemacht ist oder nicht, muss ich als jemand, der nicht gerade Atmosphärenphysik studiert hat, verlässliche Informationen von Leuten holen, denen ich vertraue. Mit der Sache selbst – dem Klimawandel – hat das erst mal wenig zu tun. +Aber man kann doch gezielt nach Beiträgen suchen, in denen verlässliche Experten zu Wort kommen. +Das würde man erwarten. Häufig ist es aber so, dass man sich auf Personen verlässt, denen man eine richtige Einschätzung "halt einfach zutraut" – weil sie sich in anderen Dingen als kompetent erwiesen haben oder weil sie über sekundäre Merkmale wie Charisma, schöne Haare oder was auch immer verfügen. Auch wenn dieses Verhalten je nach Neigung, Bildung etc. unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann – grundsätzlich trifft es auf uns alle zu. Man muss das aber auch mal neutral betrachten: Über komplexe Dinge wie die Wahlen in den USA oder die Flüchtlingskrise können wir gar nicht alle Informationen einholen. Eine gewisse Vorauswahl müssen wir vornehmen, um Entscheidungen überhaupt treffen zu können. +Wann wird das gefährlich? +Wir leben in einer Zeit der widersprüchlichen Gewissheiten. Egal um welche Lebensbereiche es geht: Wir werden überwälzt von Informationen. Ganz profan: Ich renoviere gerade meinen Keller und recherchiere, wie man am besten verputzt. Aus dem Internet, in verschiedenen Baumärkten und von meinem Nachbarn bekomme ich unterschiedlichste Informationen. Soll ich jetzt dem Fachmann vertrauen, der Erfahrung eines Freundes oder dem Wissen möglichst vieler Menschen? Dieses Problem gibt es in allen Bereichen. Was die Politik betrifft, gibt es oft keine andere Möglichkeit, sich zu informieren, als über die Massenmedien. Viele Leute sind diesen gegenüber aber sehr skeptisch. Gefährlich wird es dann, wenn Menschen aus Unsicherheit heraus Heuristiken entwickeln, subjektive Raster, mit denen sie das herausfiltern, was sie als wahr erachten. +Mut zur Wissenslücke: Man kann nicht erst Atmosphärenphysik studieren, bevor man sich über den Klimawandel eine Meinung bildet +... und alles andere ignorieren. +Genau. Wer sich einmal auf ein Weltbild festgelegt hat, klammert Dinge, die diesem widersprechen, leicht aus. Seine Meinung zu ändern, wenn man Neues erfährt, ist dann schwierig. Ein Strang der Nichtwissensforschung sieht sich an, wie diese Dynamik funktioniert und wo es mögliche Einfallszonen gibt, um damit konstruktiv umzugehen. Wenn zum Beispiel ein neuer Lebensabschnitt beginnt, ein Studium zu Ende geht oder eine Heirat ansteht, sind wir generell aufgeschlossener für Veränderung. Deshalb kann es sinnvoll sein, gerade in solchen Phasen entsprechende Angebote zu schaffen, etwa finanzielle Anreize, um vom Auto auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen. +Wächst das Nichtwissen in der Bevölkerung? +Das ist eine viel diskutierte Frage, die man auf einem Stammtischniveau vielleicht bejahen mag. Ich sehe aber keinen empirischen Hinweis darauf. In den Fünfzigern war die Bevölkerung in ganz vielen Bereichen viel unwissender als heute. Damals dachten zum Beispiel viele, Rauchen wäre gesund. Es besteht immer eine Symmetrie: Je mehr wir wissen, desto mehr sind wir uns dessen bewusst, was wir noch nicht wissen. Zumindest sollte das so sein: Manche Menschen glauben leider, ausgelernt zu haben, nur weil sie über irgendeine Sache einen Artikel gelesen haben. +Ist das der Grund, warum Populisten mit zum Teil konspirativen Theorien so viel Gehör finden? +Auch wenn du das jetzt vielleicht gar nicht wissen möchtest: Matthias Groß ist Professor für Umweltsoziologie am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig und am Institut für Soziologie der Universität Jena. Neben Wissen und Nichtwissen gehören zu seinen Forschungsschwerpunkten unter anderem experimentelle Praktiken in Wissenschaft und Gesellschaft +Verschwörungstheorien, egal welcher politischen Couleur, sind momentan vor allem deshalb so erfolgreich, weil sie die Welt vereinfachen. Sie teilen Menschen in Gut und Böse, behaupten, dass es irgendwo eine böse Macht gibt, die uns an der Nase herumführt. +Einige Medien halten mit "Fact Checks" dagegen, zum Beispiel als Reaktion auf Falschaussagen in TV-Duellen oder Tweets. Kann man damit an festgefahrenen Meinungen rütteln? +Denkbar ist das. Manche von uns sind aber auch schon abgestumpft, was das angeht. Gerade in den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkämpfen erwartet man direkt, dass kurz vor den Wahlen noch dieses oder jenes aufgedeckt wird, um einen bestimmten Teil der Wählerschaft in eine Richtung zu lenken – manche schmunzeln nur noch, wenn im Fernsehen "Fact Checks" kommen. Andere wiederum vermuten, dass hinter jeder Enthüllung eine Verschwörung steckt: böse Absichten von Journalisten oder irgendwelcher Lobbygruppen. "Fact Checks" erreichen also leider nicht immer das beabsichtigte Ziel. +Gibt es Lebensbereiche, in denen man auch mal auf seinem Nichtwissen beharren darf? +Ganz sicher sogar. In der pränatalen Gendiagnostik zum Beispiel gibt es für die werdenden Eltern ein Recht auf Nichtwissen, ein Recht darauf, ihr Kind nicht auf mögliche Krankheiten testen zu lassen. Ebenso, wenn es um das eigene Erbgut geht: Was hat man davon, mit 25 Jahren zu erfahren, dass man im Alter von 50 an einer obskuren Krankheit sterben könnte, für die es gar keine Vorsorge- oder gar Heilungsmöglichkeit gibt? Aber das ist ein sehr schwieriges Thema, weil wir in der modernen Gesellschaft natürlich denken, dass mehr Wissen immer eine Verbesserung bedeutet. +Apropos moderne Gesellschaft: Die spezialisiert sich ja immer weiter – und mit ihr das Wissen. Sehen Sie darin eine Gefahr? +Im Sinne einer produktiven Arbeitsteilung ist das einfach notwendig. Eine Ausdifferenzierung von Expertisen kann aber auch ein Hinweis darauf sein, dass Ungleichheit wächst. Die zunehmende Komplexität der technisierten Gesellschaft führt dazu, dass wir immer mehr auf das Wissen anderer vertrauen müssen. Spezialisierung darf man deshalb auf keinen Fall mit Transparenz verwechseln: Gerade im Bereich der Politik muss Wissen so dargestellt werden, dass es für jeden verständlich ist. + +Wer noch mehr über das Nichtwissen wissen will:Hier gibt es die Eröffnungsrede nachzugucken, die Matthias Groß bei der Konferenz "Ingorance: The Power of Non-Knowledge" vergangenen Herbst in Berlin gehalten hat (ab Minute 13:00) +Fotos: Jan Q. Maschinski diff --git a/fluter/Jarett-Kobek-Ich-hasse-dieses-Internet.txt b/fluter/Jarett-Kobek-Ich-hasse-dieses-Internet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..adb9546d5223e56aebf1747723939fdce857ccf4 --- /dev/null +++ b/fluter/Jarett-Kobek-Ich-hasse-dieses-Internet.txt @@ -0,0 +1,9 @@ + +Jarett Kobek: "Ich hasse dieses Internet". S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2016, 368 Seiten, 20 Euro +Es ist einerseits die Dreistigkeit der Konzerne, jedes Bit Daten ohne Bezahlung zu verwerten, und andererseits die Naivität der User, die Marketinglügen zu glauben, die Kobek in eine wunderbar produktive Weißglut treiben. "Das Internet war eine wunderbare Erfindung", schreibt er. "Es war ein Computer-Netzwerk, über das Menschen andere Menschen daran erinnern konnten, dass sie nur ein Stück Scheiße waren." + +Wer es mit Zwinkersmileys hält, wird diesen kraftstrotzenden Sarkasmus nicht mögen, für die anderen ist das Buch trotz weitgehender Abwesenheit einer sinnvollen Handlung ein rauschhaftes Vergnügen. Es gibt zwar eine Art Plot, bei dem es unter anderem um eine junge Frau geht, die durch unbedachte Tweets über Beyoncé eine Flut vulgärer Beschimpfungen auslöst – aber diese und ähnliche Geschichten sind nur ein grobes Gerüst, auf das Kobek steigen kann, um der Riesenblase Silicon Valley die Luft rauszulassen. +Dabei beherrscht Kobek nicht nur den Holzhammer, er schafft es auch durch ganz einfache Stilmittel, Zweifel an der schönen neuen Welt zu säen. So schreibt er über gegenwärtige Phänomene und deren Erfinder grundsätzlich in der Vergangenheitsform. "Google verdiente Geld an Diskussionen darüber, ob Präsident Obama in der Hölle Schwänze lutschte." + +Ein sehr schöner Einfall ist auch, dass Kobek immer wieder auf der Dominanz weißer Männer in der IT-Branche herumreitet, indem er stets akribisch vermerkt, wer "kein Eumelanin in der Basalschicht seiner Epidermis" hat. Dave Eggers mag mit "The Circle" einen sehr korrekten Roman über das orwellhafte Innenleben von Google geschrieben haben. Aber Jarett Kobek hat mit diesen 360 Seiten gut gelaunten Hasses das weitaus eindrucksvollere Buch abgeliefert. Einen Verlag dafür hat er in den USA trotz monatelanger Suche nicht gefunden, so dass er es schließlich im Selbstverlag veröffentlicht hat. + diff --git a/fluter/Jobs-im-Bereich-Politik-Mediencoach.txt b/fluter/Jobs-im-Bereich-Politik-Mediencoach.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0bcc3ae435ea09130c6bdf62552fdd2a60b453d9 --- /dev/null +++ b/fluter/Jobs-im-Bereich-Politik-Mediencoach.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Jeder Kunde hat andere Stärken und Botschaften, deswegen ist kein Training wie das andere. Wir trainieren die realen Situationen, in denen es für die Kunden wichtig ist, erfolgreich zu sein. So führen wir zum Beispiel ein Stressinterview und nehmen die Situation mit einer Kamera auf. Gemeinsam analysieren wir das Video und trainieren anschließend die Optimierungen. Wichtig ist, dass wir Situationen durchspielen, die sehr nah an der Lebenssituation des Kunden sind. So kann der Trainierte die positiven Erlebnisse aus der Übung im Ernstfall reproduzieren. +Weil meine Auftraggeber nicht alle in Berlin sitzen, bin ich beruflich viel unterwegs, vorwiegend in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Wenn ich für Inhouse-Seminare, Workshops, Auftritte als Keynote-Speaker zu Themen wie Präsentation und Rhetorik oder als Moderator gebucht werde, reise ich auch meistens an. Zum Glück kommen viele meiner Kunden zum Einzeltraining zu mir nach Berlin. Das hat auch Vorteile für das Training. Wenn die Unternehmenszentrale weit weg ist, sind die Kunden bei unserer Arbeit meistens offener und fokussierter. +Wie werde ich das?Die Berufsbezeichnung Coach ist nicht geschützt. Coach kann sich also jeder nennen, und Ausbildungsangebote und Seminare gibt es viele. Direkt nach dem Studium in Richtung Coach zu denken wird nicht empfohlen. Wer Berufs- und Lebenserfahrung zu bieten hat, wird von Kunden und Kollegen eher ernst genommen. Empfehlenswert ist beispielsweise Berufserfahrung im Journalismus, in der Öffentlichkeitsarbeit oder im Personalbereich. Trotz großer Nachfrage nach Coaching gibt es sehr viel Konkurrenz. Der Markt für Trainer, Coaches und Berater ist hart umkämpft. Neueinsteiger sollten sich klar positionieren und gut überlegen, was sie anbieten und wie sie arbeiten wollen.Orientierung über Ausbildungswege und Fragen zum Beruf bietet der Deutsche Bundesverband Coaching e.V. Viele Infos gibt es auch unter www.coaching-report.de. +Was verdiene ich da?Die Honorare sind auf dem freien Markt sehr unterschiedlich. Ist ein Coach gut im Geschäft, kann er als Politikercoach bis zu 1.500 Euro am Tag verdienen. In der Wirtschaft liegen die Tagessätze etwa zwischen 800 und 2.000 Euro und höher, je nach Marktwert von Coach und Kunde, der empfohlene Stundensatz für Einzelcoachings liegt bei 150 Euro. Bedenken sollte ein Neueinsteiger, dass natürlich viel Zeit für Akquise, Vorgespräche sowie An- und Abreise draufgeht und ein selbstständiger Coach in der Regel nicht jeden Tag mit Kunden zu tun hat, sondern auch mit der Organisation des eigenen Büros. Großzügige Tages- oder Stundensätze müssen also nicht zu einem hohen Einkommen führen. Auch unter fest angestellten Coaches gibt es große Unterschiede. In der Regel liegen die Gehälter zwischen 3.000 und 6.000 Euro monatlich. + +Politisch bin ich überwiegend auf der Bundesebene unterwegs, unter meinen Kunden gibt es Minister und Abgeordnete. Namen und Parteien darf ich nicht nennen. Auf eine Partei bin ich nicht festgelegt. Solange die Inhalte mit meinen Werten übereinstimmen, komme ich nicht in persönliche Konflikte. Radikalen Parteien würde ich nicht zu einem besseren Auftritt verhelfen. Wenn ich Aufträge nicht mit meinem Gewissen vereinbaren kann, lehne ich sie ab, das gilt für Anfragen aus der Politik und der Wirtschaft. Selbstverständlich achte ich darauf, dass meine Kunden nicht in direkter Konkurrenz zueinander stehen. In der Politik bin ich nicht für jeden Kunden interessant. Da gibt es immer Leute, die nur Trainer mit Parteibuch beauftragen. Ich bin unabhängig und werde bestimmte Kunden nie bekommen. Aber für mich ist es besser, nur einige Politiker und Verbandsvertreter zu haben und zusätzlich Kunden aus der Wirtschaft. Die Mischung ist für mich interessanter. +Einen klassischen Werdegang gibt es für einen Coach nicht. Welche Ausbildung für den Einzelnen sinnvoll ist, hängt davon ab, was er anbieten möchte. Ich konzentriere mich auf Medientraining, öffentliche Wirkung und Krisenmanagement. Deshalb sind meine journalistischen Erfahrungen wichtig. Ich habe für verschiedene investigative Formate gearbeitet und für ARD und ZDF zum Beispiel Angela Merkel und Horst Seehofer interviewt. Es gibt aber viele andere Möglichkeiten, sich als Coach zu positionieren, zum Beispiel in den Bereichen berufliche Neuorientierung, Teamkonflikte oder Selbstmanagement. +Ich selbst bin sehr froh über meinen Berufswechsel. Für mich gab es damals mehrere Gründe, den Journalismus zu verlassen. Erstens habe ich als freier TV-Journalist zwar in der Champions League gespielt, wurde aber bezahlt wie in der Regionalliga. Ich bin damals als investigativer Journalist allein gegen die Rechtsabteilungen großer Unternehmen angetreten – wurde aber schlechter entlohnt als eine dortige Assistentin. Als junger Mensch war mir Geld nicht wichtig. Spätestens seitdem ich Kinder habe, möchte ich für meine Leistung angemessen bezahlt werden. Ein anderer Grund war der oft sehr raue und wenig wertschätzende Umgangston in vielen Redaktionen. Ich habe beschlossen, nur noch mit Menschen zusammenzuarbeiten, die sich gegenseitig respektieren. Das gelingt mir heute. Natürlich gibt es auch in meinem Beruf Dinge, die ich nicht so gerne mache. So versuche ich das meiste, was Steuern, Buchhaltung, IT oder Akquise betrifft, auszulagern. Ganz kann ich mich davon als Geschäftsführer leider nicht fernhalten. Aber viel lieber nutze ich meine Zeit, um mit meinen Kunden zu arbeiten. +Politberufe, Teil 1 – Ich bin dann mal in der Politik. Franziska Gehrke ist Fachreferentin bei den Grünen im Bundestag +Politberufe, Teil 2 – Bei einer NGO zu arbeiten, ist für viele ein Traumjob. Roman Ebener setzt sich bei abgeordnetenwatch.de für mehr Transparenz in der Politik ein diff --git a/fluter/Jobs-im-Bereich-Politik-Regierungssprecher.txt b/fluter/Jobs-im-Bereich-Politik-Regierungssprecher.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7b3044182960c1b265de1df1ee0eb58e1872160e --- /dev/null +++ b/fluter/Jobs-im-Bereich-Politik-Regierungssprecher.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Für mich ist die neue Aufgabe eine Bereicherung. Es ist spannend, die Arbeit der Bundesregierung, über die ich viele Jahre geschrieben und berichtet habe, nun aus nächster Nähe mitzubekommen. Am Ende war der Schritt auf die andere Seite kein so großer, weil ich die Welt, in der ich mich heute bewege, schon gut kannte. Ich habe Jura studiert, als Journalistin über Politik berichtet, in den letzten acht Jahren immer aus der Hauptstadt. Das Universum ist das gleiche geblieben, nur die Blickrichtung hat sich geändert. Im September finden die Bundestagswahlen statt. Und so ist offen, wie es dann für mich weitergeht. Aber bis dahin ist noch viel zu tun. Mit dem Großereignis "G20-Gipfel" etwa wartet eine Menge Arbeit auf uns. +Wie werde ich das?Sprecher der Bundesregierung wird man nicht einfach so. Wenn eine der drei Stellen neu besetzt werden muss, werden gezielt bestimmte Personen angefragt. Aber es gibt noch mehr Jobs im Bundespresseamt. Die Chefs vom Dienst beantworten Anfragen von Journalisten. Diese Stellen sind in der Regel mit Journalisten, Juristen und Politologen besetzt. In den Fachreferaten sitzen Experten, die verfolgen, was in den einzelnen Ministerien erarbeitet wird, und die zum Beispiel die Sprecher für die Pressekonferenz informieren. Mitarbeiter der Abteilung Medienbetreuung besichtigen vor den Terminen der Kanzlerin die Orte, an denen sie auftritt, und organisieren, wo genau die Kanzlerin spricht, wo fotografiert wird, wo die Interviews gegeben werden. Generell gilt: Politologen, Juristen und Verwaltungswissenschaftler haben gute Chancen auf einen Job im Bundespresseamt, aber auch Absolventen anderer Fächer arbeiten hier. Studierende können ein Praktikum machen. +Was verdiene ich da?Das Bundespresseamt bezahlt nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst, kurz TVöD. Ein Referent in einem Fachreferat oder in der Medienauswertung bekommt zum Beispiel in der Entgeltgruppe 13 im ersten Berufsjahr etwa 3657 Euro brutto monatlich. Die drei Regierungssprecher der Bundesregierung werden nach dem Bundesbeamtengesetz bezahlt. Die stellvertretende Regierungssprecherin ist in die Besoldungsgruppe B 10 eingestuft. Das entspricht einem Grundgehalt von 13.231,89 Euro im Monat. +Das Leben als Regierungssprecherin ist abwechslungsreich. Kein Tag ist wie der andere. Ich habe im Grunde drei Jobs: Zum einen gibt es jeweils montags, mittwochs und freitags die Regierungspressekonferenz, in der sich immer einer von uns Regierungssprechern den Fragen der Hauptstadtjournalisten stellt. Dann gibt es die Aufgabe, die Kanzlerin auf Terminen zu begleiten. Egal ob die Kanzlerin eine Kita mit Wissenschaftsschwerpunkt besucht oder den NATO-Gipfel in Warschau, einer von uns Sprechern ist immer dabei. Während dieser Termine ist es die Aufgabe des Sprechers, die Nachrichtenlage im Blick zu behalten. Über eine sich akut entwickelnde Nachrichtenlage muss die Bundeskanzlerin schnell informiert werden. Darüber hinaus sind bei solchen Terminen häufig Journalisten anwesend, für die ich dann die erste Ansprechpartnerin bin. +Und zu guter Letzt bin ich stellvertretende Leiterin des Bundespresseamtes. Mit rund 450 Mitarbeitern informiert die Behörde jeden, der sich für die Arbeit der Bundesregierung interessiert – auf Websites, über Facebook, Twitter, aber auch ganz klassisch mittels Broschüren und auf Veranstaltungen wie etwa dem Tag der offenen Tür. Unsere Chefinnen und Chefs vom Dienst beantworten fast rund um die Uhr Fragen von Journalistinnen und Journalisten zu allen Themen, die Regierungshandeln betreffen. Und das Lagezentrum des Bundespresseamtes hält das Kanzleramt und die Ministerien über die aktuelle Nachrichtenlage auf dem Laufenden. +In der Regel stehe ich morgens um sechs Uhr auf. Zwischen sieben und acht Uhr lese ich die Kanzlerinnenmappe, eine Zusammenstellung von etwa 100 relevanten Zeitungsartikeln. Sie ist zu dieser Zeit die zentrale Arbeitsgrundlage, wenn es darum geht, sich auf die aktuelle Nachrichtenlage des Tages vorzubereiten. Die Kanzlerinnenmappe ist auch die Basis meiner Vorbereitung auf die Regierungspressekonferenz. Im Bundespresseamt gibt es eine Abteilung, die morgens um halb vier damit beginnt, Zeitungen und Websites für diese Zusammenstellung auszuwerten. Auch Interviews im Radio oder Fernsehen werden ins Intranet gestellt. So können sich alle Kollegen im Bundespresseamt und im Kanzleramt mit der Kanzlerinnenmappe schnell einen Überblick über die Nachrichtenlage verschaffen. +Um halb neun gibt es dann die "Lage". Da bespreche ich mit den CvDs, den Kollegen der Internetabteilung und der Fachreferate die aktuelle Nachrichtenlage. Gemeinsam überlegen wir, welche Themen relevant sein könnten für die Regierungspressekonferenz. Nachdem wir die relevanten Themen identifiziert haben, werden nun Sprechzettel zur Innen- und Außenpolitik erarbeitet, die dann Grundlage meiner Antworten in der Regierungspressekonferenz sind. +An Tagen der Regierungspressekonferenz ist es wichtig, gut mit Drucksituationen umgehen zu können. Die Zeit zur Formulierung von Antworten ist kurz, und ich muss immer damit rechnen, dass auch Themen abgefragt werden, zu denen es keinen Sprechzettel gibt. Denn die Themenpalette eines Regierungssprechers deckt die Inhalte aller Ressorts ab. + diff --git a/fluter/John-Object-Krieg-Ukraine.txt b/fluter/John-Object-Krieg-Ukraine.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3aae15238915f2b3295c7f92f1ebb3fb207ba5d1 --- /dev/null +++ b/fluter/John-Object-Krieg-Ukraine.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Vor allem seit der Euromajdan-Revolution von 2013/14 gehört die Technoszene Kyjiws zu den vielfältigsten in Europa. Günstige Mieten, verlassene Fabriken aus der Zeit der Sowjetunion und die permanente Lust auf Neues haben der ukrainischen Hauptstadt viele Vergleiche mitdem Berlin der 1990er-Jahreeingebracht. Timurs Tracks klingen industriell, nach rostigen Maschinenteilen, klirrendem Glas, nach Stahlfedern, die aus der Fassung springen. Trotz dieses düsteren Sounds ist Timur nicht auf die Schrecken des Krieges vorbereitet. Er verarbeitet sie bei Instagram, postet immer wieder Beiträge, Videos, Storys. +"Ich wünschte, ich könnte über Musik posten oder Musik machen, Gigs spielen, ich wünschte, ich müsste nicht das hier sein. Aber das ist es, was Russland aus mir gemacht hat: eine Uniform und eine Waffe. Ein Ziel. Ich bin das hier nicht, wir sind das hier nicht, aber wir müssen kämpfen, um zu überleben." +Vor dem Krieg hatte Timur als Übersetzer Geld dazuverdient, nun bietet er, als Freiwilliger, auch der Armee seine Sprachkenntnisse an. So übersetzt er die Gebrauchsanweisung einer US-amerikanischen Waffe, die an die Ukraine geliefert wurde. +Obwohl viele Menschen Timurs Beiträge kommentieren, ihn aufmuntern oder es zumindest versuchen, entsteht für ihn schon bald eine Kluft zwischen ihm und jenen Menschen, die in der Ukraine ihren Alltag so normal weiterzuleben versuchen, wie es eben geht. Die Bilder, die Timur postet, zeigen ihn immer häufiger mit leerem, entgeistertem Blick, hinter ihm zerbombte Landschaften, ausgebrannte Fahrzeuge, Tod. "Ich verurteile die Leute nicht dafür, dass sie ihr Leben leben", schreibt er, nachdem sein Vorgesetzter ihn für einige Tage Fronturlaub nach Kyjiw geschickt hat – und kann dann doch nicht anders, als die wachsende Distanz zu den Zivilisten zu beschreiben. So wird ein Künstler zum Krieger. +Während er an der Front ist, wird Timur 27 Jahre alt. Er beschreibt die Abscheu vor der Verrohung aller, die in diesem Krieg kämpfen müssen. Auch er selbst kann ihr nicht entgehen. Seine Abneigung gegen Russen wird immer größer, seine Posts immer radikaler. Er wünscht den russischen Soldaten den Tod und hofft, nie wieder in seinem Leben einem Russen zu begegnen. Um der Gewaltspirale zu entkommen, macht er nun auch an der Front Musik – mit der App GarageBand auf seinem Smartphone. So werden Klänge in einer Zeit, da Worte die Realität nicht mehr erfassen können, zu der Sprache, die Timur Dzhafarov aka John Object bleibt. + +Titelbild: Polina Polikarpova diff --git a/fluter/Jose-mujica-uruguay.txt b/fluter/Jose-mujica-uruguay.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fe379637b76690a4a1b9ae6e3dd955b33ae471f8 --- /dev/null +++ b/fluter/Jose-mujica-uruguay.txt @@ -0,0 +1,14 @@ + + +Warum ist Uruguay immer noch eine Ausnahme in Südamerika? Wieso geht's vielen dort so mies, warum kippen Regierungen reihenweise von links nach rechts?Sabine Kurtenbach vom Institut für Lateinamerika-Studien weiß weiter +Seine Bodenständigkeit hat Mujica vermutlich vor Höhenflügen bewahrt, die manche seiner Amtskollegen in Lateinamerika teuer zu stehen kamen. Mujica wollte nicht in die Geschichte eingehen wie Hugo Chávez in Venezuela, der sich als Wiedergeburt des Befreiungshelden Simón Bolívar sah. Er fühlte sich auch nicht zum Erlöser der Armen berufen wie Lula da Silva in Brasilien – und Reichtümer scheffeln wie die Kirchners in Argentinien wollte er sowieso nicht. +Pepe, das ist sein Spitzname, den jeder Uruguayer kennt. Und fast jeder weiß auch, wo er wohnt: am Fuße des Cerro, eines Arbeiterviertels am Rande von Montevideo. Dort baut er Gemüse und Blumen an – auf seiner "Chacra La Puebla". Eine Chacra ist ein kleinbäuerlicher Betrieb, weit entfernt von den Estancias, riesigen Landgütern mit enormen Rinderherden, bewacht von den Gauchos, den südamerikanischen Cowboys. + +Uruguay ist ein Land des Mittelstands und der Bescheidenheit. Die rund 3,5 Millionen Menschen sind eher stolz darauf, keine Schlagzeilen zu machen, und wenn, dann höchstens im Fußball, bei dem das kleine Land zu den besten der Welt gehört. Dabei gäbe es durchaus noch andere Gründe, stolz zu sein: Uruguay ist das erste lateinamerikanische Landmit 5G-Mobilfunkstandard, derStrom kommt zu großen Teilen aus Wind- und Wasserkraftwerken– und während viele Länder Südamerikas von Korruption geplagt werden, steht Uruguay auf dem "Corruption Perception Index 2018" von Transparency International einen Platz hinter den USA. +Dass der ehemalige Blumenzüchter Mujica den Samen dafür legte, dass Uruguay das modernste Land Südamerikas werden konnte, war erst mal nicht absehbar – sein Leben hätte auch eine andere Richtung nehmen können: Als junger Guerillero und Mitbegründer der sozialistischen Untergrundbewegung Tupamaros kämpfte Mujica gegen dieMilitärdiktatur. Die Stadtguerilla radikalisierte sich im Laufe der Jahre und ermordete eine Vielzahl an Polizeioffizieren. Mujica saß über 13 Jahre im Gefängnis, einige davon allein in einem Erdloch. Erst nach dem Ende der Militärdiktatur 1985 kam Mujica frei und engagierte sich in der 1989 gegründeten Tupamaros-Partei Movimiento de Participación Popular (MPP), bis er Ende 2009 zum Präsidenten gewählt wurde. +Auch wenn er als solcher weltweit zum Polit-Popstar avancierte, war seine Politik in Uruguay nicht unumstritten. Mit Vorstößen wie der gleichgeschlechtlichen Ehe, der Legalisierung von Abtreibung und von Marihuana machte er zwar international Schlagzeilen, bei seinen eher wertkonservativen Landsleuten war vieles davon umstritten. Umweltschützer kritisierten, dass er trotz sozialistischer Parolen unkritisch ausländische Investoren ins Land holte, die Rinderweiden in Eukalyptushaine zur Papierherstellung umwandelten. Durch die Bildungsreform von 2008 sollte erreicht werden, dass 75 Prozent der Schüler ihre schulische Laufbahn mit Erfolg abschließen, doch tun dies nur 43,4 Prozent. Das Programm zum Sozialwohnungsbau verfehlte ebenfalls das vorgegebene Ziel: Statt der angekündigten 4.000 neuen Sozialbauten wurden bis zum Ende seiner Amtszeit lediglich 1.008 errichtet. +2015 gab Mujica die Macht ab. Uruguay wird nun von Tabaré Vázquez regiert, einem Arzt, der wie Mujica dem Mitte-links-Bündnis "Frente Amplio" (Breite Front) angehört und nicht nur Mujicas Nachfolger ist, sondern auch sein Vorgänger war. In seiner ersten Amtszeit von 2005 bis 2010 hatte sich der Krebsspezialist mit dem Tabakkonzern Philip Morris angelegt, als er strenge Rauchergesetze auf den Weg brachte. +Uruguayhat rund 3,5 Millionen Einwohner und ist halb so groß wie Deutschland. Es gehört zu den stabilsten und reichsten Ländern Südamerikas. Fast die Hälfte der Menschen wohnt in der Hauptstadt Montevideo, eine der wenigen Großstädte. +Trotz eigener Vorbehalte setzte Vázquez Mujicas liberales Drogengesetz um und sorgte dafür, dass Uruguay heute das erste Land Lateinamerikas mit einem staatlich regulierten Marihuanamarkt ist. Im Gegensatz zu Mujica drängte Vázquez das Militär entschiedener dazu, bei der Aufklärung von Verbrechen der Militärdiktatur der 1970er- und 1980er-Jahre zu kooperieren – obwohl er selbst kein direktes Opfer war. Seit Ende vergangenen Jahres hat Uruguay zudem eines der modernsten Trans-Gesetze der Welt. Die Bürger dürfen ohne große Formalitäten im Pass ihr Geschlecht ändern, der Zugang zu Hormonbehandlungen wurde erleichtert. Einen Rückschritt hingegen gibt es bei der öffentlichen Sicherheit: 2018 stieg die Zahl der Morde um 46 Prozent auf 414. +In jedem anderen Land Lateinamerikas hätten sich zwei so unterschiedliche Charaktere wie der Bauer Mujica und der Arzt Vázquez längst überworfen, und jeder hätte wohl seine eigene Partei gegründet. In Uruguay hält das Bündnis, das von Kommunisten über Sozialdemokraten bis zu Christdemokraten reicht und insgesamt 40 Parteien und Gruppierungen umfasst, schon seit 1971. Einige von ihnen wollten Mujica sogar erneut zum Präsidenten machen. Ein Angebot, dem kaum ein Politiker widersteht. Bis auf Mujica. Es sei jetzt endgültig Zeit für andere, Jüngere, befand er, bescheiden wie immer. + diff --git a/fluter/Jugendliche-Liebe-Sex-Beratung.txt b/fluter/Jugendliche-Liebe-Sex-Beratung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e561ce613fdc076d3f89288ad0ce6edf4bb0e022 --- /dev/null +++ b/fluter/Jugendliche-Liebe-Sex-Beratung.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Petra Winkler: Gesellschaftliche und politische Entwicklungen schlagen sich auch in unserem Angebot nieder. Als es Schwangerschaftstests noch nicht in jeder Drogerie günstig zu kaufen gab, haben wir die angeboten. Genau wie die Pille danach, als es sie noch nicht rezeptfrei gab. Große Verunsicherung herrscht immer noch beim Thema hormonelle Verhütung, alsodurch die Pilleoder Hormonspiralen. Und auch durch die Migration ergeben sich hier neue Konstellationen. +Kommen Jugendliche mit Migrationshintergrund mit anderen Problemen? +Da gibt es keine Automatismen, ausschlaggebend ist immer die individuelle Lebenswelt. Je nach Familie können aber bestimmte kulturelle Wertvorstellungen eine Rolle spielen. Jugendliche, die hier in einem offenen Umfeld zur Schule gehen, im Elternhaus aber ganz andere, aus meiner Sicht konservative, Lebensmodelle vorgelebt bekommen, bewegen sich zwischen diesen beiden Welten. Die Fähigkeit, tagtäglich zwischen diesen Systemen zu switchen, sehe ich als Stärke. +Wann wird es problematisch? +Zum Beispiel,wenn Jugendliche eine Beziehung verheimlichen müssen, weil die Eltern sagen, die würde die Familienehre beschmutzen. Manche Jugendliche fürchten, zu Hause Gewalt zu erfahren oder verstoßen zu werden. Solche Restriktionen betreffen vor allem junge Frauen, den Männern werden tendenziell mehr Freiräume zugestanden. Zu immens belastenden Situationen kommt es, wenn aus einer solchen Beziehung eine Schwangerschaft entsteht. Oft entscheiden Paare, die Schwangerschaft abzubrechen, damit niemand davon erfährt. Und nicht selten bin ich die einzige Person, die weiß, was diese beiden Menschen gerade beschäftigt. +Wie können Sie in solchen Fällen helfen? +Ich überlege, was die Jugendlichen brauchen, um sich sicherer zu fühlen. Ihre Lebenswelt kann ich als Beraterin nicht ändern, aber ich kann entlasten, die Trauer auffangen, die Angst nehmen, sachlich informieren. Dabei respektiere ich jede Entscheidung, auch wenn ich es selbst manchmal anders machen würde. Wichtig ist, die jungen Menschen darin zu bestärken, dass sie für sich und ihre Lebens- und Liebeswünsche einstehen. Das heißt auch, dass niemand anderes als das Paar entscheiden darf, ob es ein Kind bekommt oder nicht. +Bitten Jugendliche Sie manchmal, mit den Eltern zu sprechen? +Ganz selten. Wir würden das tun, aber meist sind die Vorgaben zu Hause so streng, dass die Jugendlichen wenig Hoffnung haben, etwas zu bewegen. Dazu kommen psychische Gründe, etwa die Angst, die Eltern zu enttäuschen, oder die Scham, weil die Eltern erst durch die Schwangerschaft erfahren würden, dass man schon Sex hat. +In Deutschland leben mindestens 1,5 Millionen binationale Paare zusammen. Gibt es Eltern, für die nicht die Beziehung an sich, sondern die Herkunft des Partners das Problem ist? +Ja, und da sitzen auch viele deutschstämmige Eltern auf diskriminierenden Klischees. Für die ist ein Problem, dass der Freund der Tochter türkisch ist. Das geht nicht spurlos an den Paaren vorbei. +Richtige Romeo-und-Julia-Situationen. +Der Widerstand draußen ist das eine. Aber natürlich kriselt es auch innerhalb solcher Beziehungen mal. Und dann können die sich im Ernstfall nicht an die Familien wenden, weil dort das Vertrauen fehlt. Das macht heimliche Beziehungenanfälliger für Gewalt, auch sexuelle Gewalt. +Dieser Text istim fluter Nr. 89 "Liebe"erschienen +Mit welchen Vorstellungen und Vorgaben sind denn Jugendliche in deutschstämmigen Familien am häufigsten konfrontiert? +Die Vorstellung, dass Sex vor der Ehe tabu ist, hält sich auch in deutschstämmigen Familien hartnäckig. Und bestimmte Rollenbilder: Viele haben klare Vorstellungen davon, was typisch männlich ist und was weiblich, und dazwischen gibt es nichts. +Was bedeutet das für queere Jugendliche? +Die traditionellen Geschlechterbilder machen es ihnen oft noch schwerer, herauszufinden, wer sie sind, wen und was sie begehren. Zu uns kommen LGBT-Personen, die Angst haben: vor Diskriminierung, vor dem Coming-out oder weil sie eine heimliche Beziehung führen. Das ist ganz unabhängig von Herkunft und Hintergrund. + +Titelbild: Marcus Glahn diff --git a/fluter/Kennzahlen-erkl%C3%A4rt.txt b/fluter/Kennzahlen-erkl%C3%A4rt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f071bb3fa87ac33d26304a1f71fac710c2219214 --- /dev/null +++ b/fluter/Kennzahlen-erkl%C3%A4rt.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Ist der Numerus Clausus sinnvoll? Unsere Autoren streiten +Dass das nicht immer gerecht ist, hat vor ein paar Jahren sogar das Bundesverfassungsgericht beanstandet. Eines von seinen Argumenten:Die Anforderungen an das Abitur unterscheiden sich in den Bundesländern so stark, dass die Abschlussnoten wenig vergleichbar sind. Tatsächlich erzielen Abiturienten und Abiturientinnen in Thüringen seit Jahren die mit Abstand besten Schnitte. Wer also in Erfurt zur Schule geht, hat statistisch gesehen deutlich bessere Chancen, einen der begehrten Studienplätze in Humanmedizin oder Psychologie zu ergattern, als Absolvierende aus Stuttgart, Kiel oder Mainz. Wegen dieser Verzerrung müssen Hochschulen mittlerweile auch andere Kriterien bei der Auswahl ihrer Studierenden berücksichtigen, etwa praktische Erfahrungen oder Eignungstests. Welche genau, das bleibt den Hochschulen überlassen. Das wichtigste Kriterium bei der Studienplatzvergabe ist aber nach wie vor: die Abinote. +Im Jahr2019, kurz bevor die Pandemie den Arbeitsmarkt lähmte, hatte die Bundesregierung Grund zum Feiern. Die Arbeitslosenzahl befand sich auf dem niedrigsten Wert seit der deutschen Wiedervereinigung: unter2,3Millionen. Keine15Jahre früher waren es schon mal mehr als doppelt so viele. Zu der Statistik werden in Deutschland alle Personen gerechnet, die sich bei einer Arbeitsagentur, einem Jobcenter oder einer Kommune arbeitssuchend melden und für eine Jobvermittlung zur Verfügung stehen.In Wahrheit ist die Zahl der Arbeitslosen aber höher– im Jubeljahr2019fielen nach Schätzung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung fast eine Million Menschen aus der offiziellen Statistik, unter anderem weil sie gar nicht beim Amt gemeldet waren, sich in Warteschleifen des Bildungs- und Ausbildungssystems befanden oder gerade an einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme wie einer Umschulung teilnahmen. Im internationalen Vergleich hat Deutschland eine eher niedrige Arbeitslosenquote, allerdings zum Preis eines florierenden Niedriglohnsektors, den die Politik in der Vergangenheit gezielt gefördert hat und in dem vor Corona fast acht Millionen Menschen beschäftigt waren. Hunderttausende dieser Minijobber haben nun in der Pandemie ihre Arbeit verloren – auch deshalb sprang die Zahl der Arbeitslosen im Jahr2020um fast eine halbe Million in die Höhe. Mittlerweile nähert sie sich aber wieder früheren Bestwerten. +Sie ist ein Gradmesser für die Gesundheit einer Volkswirtschaft. Von Inflation spricht man, wenn das allgemeine Preisniveau anhaltend über einen bestimmten Zeitraum steigt. Je höher die Preissteigerung, desto schneller verliert die Währung ihren Wert. Heißt: Die Kaufkraft des Geldes sinkt, die Menschen können sich für ihr Geld weniger leisten. In Deutschland hat die Preisentwicklung – mit Ausnahme einzelner Steigerungen wie zuletzt bei den Mieten – selten für öffentliches Aufsehen gesorgt. Im vergangenen Jahr jedoch lag die Inflation im Jahresdurchschnitt mit3,1Prozent gegenüber2020plötzlich so hoch wie seit fast30Jahren nicht mehr. Und sie steigt munter weiter: Im Mai2022lag sie schon bei7,9Prozent. Ökonomen führen den Anstieg unter anderem auf pandemiebedingte Lieferengpässe und teurere Rohstoffe zurück. Aktuell treibt der Krieg in der Ukraine die Energiepreise in die Höhe. Um eine Inflation zu bremsen, können die Zentralbanken der jeweiligen Staaten den Geldumlauf drosseln – zum Beispiel über Leitzinserhöhungen. Weil das aber auch die Konjunktur abwürgen kann, schrecken Währungshüter vor solchen Maßnahmen zurück. Den EU-Staaten passt das gut, so können sie günstig Kredite aufnehmen, die sie derzeit dringend benötigen (siehe Punkt4). Für die Bürger aber bedeutet das: Die Preise werden erst mal weiter steigen. +Das vergangene Jahr hielt gleich zwei haushaltspolitische Rekorde parat:215Milliarden Euro nahm die Bundesregierung2021an Nettokrediten auf – so viel wie nie zuvor. Und auch die öffentliche Verschuldung erreichte einen neuen Höchststand:2,32Billionen Euro. Vor20Jahren war der Schuldenberg noch etwa halb so groß. Und vor der Pandemie und den gewaltigen Hilfspaketen kam der deutsche Staat einige Jahre lang sogar ganz ohne neue Schulden aus. Jetzt benötigt er mehr Geld, als er über Steuern und andere Abgaben einnimmt. Er macht also Schulden, um seinen Haushalt auszugleichen. Auch in diesem Jahr will die Bundesregierung knapp140Milliarden Euro an neuen Krediten aufnehmen. Aus Sicht vieler Ökonomen kein Problem, solange die Zinsen niedrig sind und die Wirtschaft schneller wächst als die Schulden. So wie in den Jahren nach der Finanzkrise. Trotz massiver Neuverschuldung blieben Deutschland dank des Wachstums Steuererhöhungen oder drastische Einschnitte erspart. Ob es erneut so kommt, ist offen. Schließlich will die Ampelkoalition ab kommendem Jahr wieder die2016eingeführte (und seit Beginn der Pandemie ausgesetzte) Schuldenbremse einhalten. Sie bedeutet, dass Bund und Länder ohne neue Kredite auskommen sollen. Manche Experten befürchten, dass dringend notwendige Investitionen deshalb unterbleiben, und fordern mehr Flexibilität im Umgang mit Staatsschulden. Diesen Weg scheint auch die EU-Kommission gehen zu wollen. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, eine Art Schuldenbremse für den Euroraum (zurzeit ebenfalls ausgesetzt), soll reformiert werden, weil viele der Länder die Kriterien für Schuldenquoten und Haushaltsdefizite nicht mehr erfüllen. Auch Deutschland nicht. +Kaum eine Nachricht löst hierzulande so viele Sorgen aus wie die über einen bevorstehenden Wachstumseinbruch. Also darüber, dass das Wirtschaftswachstum über mindestens zwei aufeinanderfolgende Quartale abnimmt. Ökonomen sprechen dann von einer Rezession. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine und den damit verbundenen Folgen für die Wirtschaft haben die Warnungen vor dieser Entwicklung wieder zugenommen. Vorherige Rezessionen zeigen, warum: Immer wenn das Wirtschaftswachstum stark schrumpft, hat das meist erhebliche Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt – was wiederum der Wirtschaftsentwicklung schadet und damit potenziell den Wohlstand aller gefährdet. Zumindest nach der verbreiteten Auffassung, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das die Wirtschaftsleistung eines Staates misst, auch dessen Wohlstand treffend beschreibt. Diese Gleichsetzung greift jedoch selbst Ökonomen zu kurz. Wie gut es einer Gesellschaft geht, könne nicht allein an der Menge der produzierten Waren und Dienstleistungen gemessen werden. Demnach nämlich müsste es den Menschen in Deutschland heute deutlich besser gehen als vor30Jahren. In dem Zeitraum hat sich das BIP schließlich mehr als verdoppelt. Alternative Messinstrumente wie der Nationale Wohlfahrtsindex, der neben wirtschaftlicher Leistung etwa auch die Einkommensverteilung, Umwelteinflüsse oder Ehrenämter in den Blick nimmt, zeigen aber, dass es einer Gesellschaft schlechter gehen kann, selbst wenn die Wirtschaft wächst.Viel grundsätzlicher ist eine andere Kritik am Wirtschaftswachstum, nämlich dass kapitalistische Gesellschaften einem regelrechten Wachstumszwang unterworfen seien– die Ressourcen des Planeten aber endlich sind. Die Regierung in Berlin setzt wie die EU-Kommission daher neuerdings auf "klimaneutrales Wachstum". Experten bezweifeln, dass dies überhaupt möglich ist. Sicher ist nur: Deutschland hat1967ein "angemessenes" und "stetiges" Wirtschaftswachstum als Ziel seiner Wirtschaftspolitik festgelegt – und ist seither nicht davon abgerückt. diff --git a/fluter/Kommentare-zur-US-Wahl.txt b/fluter/Kommentare-zur-US-Wahl.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..65d1a5d7de3eb1fb684993ff6c8254fe411a30d4 --- /dev/null +++ b/fluter/Kommentare-zur-US-Wahl.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +An American Tragedy + +"Süddeutsche Zeitung": Verfall politischer Tugenden +Schwere Zeiten sieht Stefan Kornelius in der "Süddeutschen Zeitung" aufziehen. Und das nicht nur in den USA. Der Sieg Trumps sei eine Revolution – auch weil die beiden Kammern des Kongresses nun den Republikanern zufielen und die beiden neu zu vergebenden Sitze im Obersten Gerichtshof auch von der konservativen Mehrheit besetzt würde. Polarisiert und hassgetrieben sei das Land schon seit den 90er-Jahren. Es gebe aber auch einen tiefgreifenden Verfall der politischen Tugenden, der unter anderem im sinkenden Bildungsniveau und der Krise des klassischen Journalismus. Die USA scheitere an dem Versuch, Globalisierungstreiber und Tech-Gewinner zu sein und sich gleichzeitig einen Dritte-Welt-Hinterhof mit Armut und sozialem Niedergang zu leisten. +Trumps Sieg - eine Zäsur für die USA und die Welt + +"The Guardian": Wahlprognosen sind keine Wettervorhersagen +Warum die Wahlvorhersagen so dermaßen falsch waren – die der "New York Times" räumte Trump noch am Montag eine Siegeschance von 15 Prozent ein –, damit beschäftigt sich die Big-Data-Expertin Mona Chalabi vom "Guardian", die selbst jahrelang für Nate Silver von fivethirtyeight.com gearbeitet hat, der in den USA als Wahrsager und Orakel verehrt wird (und auch danebenlag). Wahlvorhersagen sind eben nicht Wettervorhersagen. Menschen und Planenten unterscheiden sich fundamental. Erstere ändern ihre Meinung schon mal, sagen sie nicht – oder lügen einfach. Eigentlich sei das alles hinlänglich bekannt, schreibt Chalabi. Und ist umso mehr darüber erstaunt, dass wir immer noch Statistiken glauben und als Entscheidungshilfe vor der Wahl verstehen. +Yes, the election polls were wrong. Here's why + +Neue Zürcher Zeitung: Die Rache der Vergessenen +Eine Parallele zum Brexit zieht die NZZ aus Zürich. Auch hier lagen die Umfragen ja falsch, auch hier kam es zu einem heftigen Wandel. Die weiße Unter- und Mittelschicht im rostigen Industriegürtel im Mittleren Westen habe Trump die Stimmen beschert: "die früher gewerkschaftlich linke, weiße Unter- und Mittelschicht, die sich von den Eliten in Washington, von Wall Street und von der Demokratischen Partei verraten und verkauft fühlte und in Trump jene Figur sah, die ihrem Schmerz und ihrer Perspektivlosigkeit ein trotziges ‚Nein, wir verschwinden nicht einfach!' entgegenschleuderte." +Analyse zur Wahl in den USA – Trump stellt Amerika auf den Kopf + +"Die Zeit": Die Kriegsgefahr steigt +Europa müsse jetzt die westlichen Werte verteidigen, kommentiert Bernd Ulrich in der "Zeit". Und die EU rücke in die vorderste Front im Kampf um die Demokratie. Denn sie verfüge über den stärksten globalen Binnenmarkt sowie einen immerhin leidlich funktionierenden institutionellen Organismus: "Von heute an ist sie die am besten funktionierende demokratische Weltmacht." Daher sei sie jetzt gefordert: Die Kriegsgefahr steige durch den unberechenbaren neuen Präsidenten der USA. Kleiner Trost: Für das wirklich Böse, schließt Ulrich, würde dem irrlichternden Trump wohl die Konzentrationskraft fehlen. +Trumps Wahlsieg: Ganz unten ... aber nicht am Ende + +Politico: Abgehobenheit der Demokraten mitverantwortlich für die Niederlage +Der Sieg Trumps hätte das Weiße Haus kalt erwischt, schreibt die Website Politico. Bis zum Schluss hätte niemand damit gerechnet, dass der Milliardär aus New York tatsächlich die Wahl gewinnen könnte. Obamas Kampagnenmanager von 2008, David Plouffe, der auch Clinton beriet, twitterte, er habe in seinem ganzen Leben noch nie so danebengelegen. Auch diese Abgehobenheit hätte den Sieg Trumps bewirkt, der auch das politische Erbe Obamas in Frage stellt. +Obama reeling from gut punch of Trump win + +"The Economist": Le Pen ist Trump light +Ob die Wahl Trumps einen Sieg Marine Le Pens bei den Wahlen nächsten Mai in Frankreich plötzlich realistischer erscheinen lässt, fragt sich der "Economist". Die Spitzenkandidatin des Front National sagte gleich nach der US-Abstimmung, Trumps Sieg sei gut für Frankreich. Bei den vielen Parallelen zwischen den Politikern sei Le Pen eine Art Lightversion von Trump. Ein Sieg sei unwahrscheinlich, aber es wäre gefährlich, ihn auszuschließen. +Trumpette – Does Donald Trump's victory presage a win for Marine Le Pen? diff --git a/fluter/Konflikte-um-die-AfD-Hochschulgruppe-Campus-Alternative.txt b/fluter/Konflikte-um-die-AfD-Hochschulgruppe-Campus-Alternative.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..434d076c3313671a7bf483b2fc6aea6041e9d2d6 --- /dev/null +++ b/fluter/Konflikte-um-die-AfD-Hochschulgruppe-Campus-Alternative.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Ein Veranstaltungsformat, das viele Kommilitonen offenbar provozierte. So lud der Studierendenrat kurzerhand zu einer Gegenveranstaltung mit der Gleichstellungsbeauftragten der Hochschule – im selben Raum, unmittelbar vor der AfD-Veranstaltung. Alle blieben wie abgemacht sitzen. Auf zahlreichen Videos im Netz kann man sehen, wie der Protest eskaliert, wie von beiden Seiten Gewalt ausgeht. Als Poggenburg zu reden beginnt, kommt es zum Handgemenge, jemand schlägt Professor Wolf ein Gehirnmodell aus der Hand, ein Böller explodiert. Zuletzt verlassen die AfD-Leute unter Beifall den Hörsaal. Später wollen verschiedene Anwesende die Antifa sowie Mitglieder der rechtsextremen Partei "Die Rechte" gesichtet haben. +Es ist nicht die erste Blockade gegen eine AfD-Veranstaltung an einer deutschen Hochschule. Anfang 2015 verhinderten Studierende in Erfurt den Auftritt von AfD-Politiker Alexander Gauland. Veranstalter: die Campus Alternative Erfurt. Im Juni 2015 nahm die Georg-August-Universität Göttingen eine Raumzusage für eine AfD-Veranstaltung zurück. "Unrichtige" Angaben der Hochschulgruppe der Jungen Alternative – nicht die vehementen Proteste von Studierenden – seien dafür ausschlaggebend gewesen. Im April 2016 zog der AStA der Universität Düsseldorf eine Einladung des Hochschulpolitikreferats und des Referats für Umwelt und Nachhaltigkeit an AfD-Mitbegründer Bernd Lucke zurück. Begründung: Man könne seine Sicherheit nicht garantieren. Im Juli 2016 hob der Konvent der Fachschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München das Akkreditierungsstatut für Hochschulgruppen auf. Es war die einzige Möglichkeit, die Zulassung einer AfD-Hochschulgruppe an der Universität zu verhindern. +Was viele linke Hochschulgruppen als Zivilcourage gegen rechts feiern, stößt bei Hochschulleitern häufig auf Entsetzen. "Gewalt gegen Personen und Sachen ist absolut nicht tolerabel", sagte der Magdeburger Universitätsrektor Jens Strackeljan im MDR. Auch wenn er überzeugt sei, dass kein Studierender den Böller geworfen habe. Die Uni müsse aber auch sehen, dass die AfD mit 24 Prozent der Wählerstimmen in Sachsen-Anhalt eine große gesellschaftliche Frage stelle. Die zu beantworten ginge nur im Dialog, auch bei völlig unterschiedlichen Positionen. Das sei die Aufgabe von Universitäten. +Und dieser wird sie künftig wohl häufiger nachkommen müssen. Denn die AfD und ihre Jugendorganisation "Junge Alternative" (JA) gründen fleißig Hochschulgruppen. Wegen der oft geringen Wahlbeteiligung an Universitäten haben deren Mitglieder auch mit wenigen Anhängern gute Chancen, ins Studierendenparlament (StuPa) einzuziehen. In Kassel, wo vergangenen Juli erstmals ein AfD-Vertreter einen Sitz holte, reichten 113 Stimmen – von fast 23.000 Studenten. Gewählt hatte nur rund jeder Siebte. Auch an der Universität Düsseldorf sowie an der Fernuniversität Hagen sitzt je ein AfD-Mitglied im StuPa. An der Christian-Albrechts-Universität Kiel gewann eine Gruppe einen Sitz, der auch mehrere AfD-Mitglieder angehören. +Besonders aktiv ist die Campus Alternative Düsseldorf. Sie kritisierte, dass eine Turnhalle für den Hochschulsport geschlossen wurde, weil darin vorübergehend Flüchtlinge untergebracht worden waren. Sie verhüllte die Heinrich-Heine-Statue auf dem Campus mit einer Burka und hängte ein Schild mit der Aufschrift "Bildungsbombe" auf, um auf den angeblichen Bildungsmangel bei Musliminnen hinzuweisen. Ein Video dieser Aktion stellte sie online. +David Eckert, der für die AfD als stellvertretender Sprecher im Bezirksvorstand Düsseldorf sitzt, sagt gegenüber Journalisten, dass er wegen seiner politischen Haltung auf dem Campus angefeindet werde. Seither habe er immer Pfefferspray dabei. Seit November sitzt Eckert im "Studierendenparlament ". Unterhält man sich mit AfD-Mitgliedern an anderen Hochschulen, wird klar: Sie bewundern Eckert dafür, mit soeinfachen Mitteln so viel Aufmerksamkeit zu bekommen. +Derweil macht die sachsen-anhaltische AfD-Landtagsfraktion deutlich, wie sie den Veranstaltungsboykott an der Universität Magdeburg sieht. Fraktionsvorsitzender Poggenburg bezeichnete die Tumulte in einer Stellungnahme als "problematisches Erbe jahrzehntelanger linker Ideologisierung der Hochschulen". Sie erinnere ihn an "prügelnde und pöbelnde Studenten-SA, die 1933 jüdische und politisch andersdenkende Professoren aus den Hörsälen vertrieb". Knapp eine Woche später stellte Poggenburg Strafanzeige – unter anderem wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung – und reichte eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Dekan der Fakultät für Humanwissenschaften, Michael Dick, ein, der die Proteste begrüßt haben soll. +Ein Vorwurf, den Dick gegenüber fluter.de zurückweist. Er habe allein die Haltung der Studierenden gelobt, die sich gegen die Instrumentalisierung des Ortes Universität zur Wehr setzen wollten. Für ihn sei klar, dass die Veranstaltung nicht der wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern parteipolitischen Zielen diente. So habe nicht die AfD-Hochschulgruppe, sondern die Landtagsfraktion die Dienstaufsichtsbeschwerde gegen ihn eingereicht und den Vorfall damit auf eine landespolitische Ebene gehoben. Die AfD-Fraktion beantragte zum Thema sogar eine Aktuelle Debatte im Landtag. Nach deren Meinung werde der politische Diskurs zunehmend vom Linksextremismus beherrscht, was eine sachliche Auseinandersetzung unmöglich mache. Die Redner anderer Fraktionen widersprachen dieser Sichtweise. +Dass es die AfD geschafft habe, einen Großteil der Studierenden medienwirksam in eine Ecke mit Linksextremisten zu stellen, wurmt den Dekan. Ihn stellt der Umgang mit der AfD vor ein Dilemma: "Lassen wir die Veranstaltung zu, geben wir der rechtspopulistischen Provokation ein Forum. Lassen wir sie nicht zu, setzen wir uns dem Vorwurf der Unterdrückung von Meinungen beziehungsweise Minderheiten aus." Die Frage betrifft ihn auch persönlich: Wie Rektor Strackeljan erhielt Michael Dick nach den zahlreichen Medienberichten Morddrohungen. Um die Sicherheit auf dem Campus zu gewährleisten, hat der Hochschulsenat den Entwurf neuer Regeln angekündigt. Wer künftig einen Raum haben will, muss die Hochschule über Inhalt, Format und Teilnehmerkreis informieren. Kontrollmechanismen, die einer offenen Hochschule zuwider sein müssten. +Was ist der richtige Umgang mit der AfD und AfD-nahen Hochschulgruppen auf dem Campus? Das hängt auch davon ab, was man unter Demokratie versteht. Für die Hochschulen selbst ist das oberste Ziel Gleichbehandlung und Meinungsfreiheit. Viele linke Hochschulgruppen verstehen unter Demokratie aber auch, dass Rassismus, Sexismus oder auch Hetze gegen Homosexuelle und Transgender-Leute im Keim erstickt werden müssen. Und die Linksextremen unter ihnen sagen: Notfalls auch mit Gewalt. +"Die Positionen der Campus Alternative und der AfD stehen konträr gegenüber denen der Universität und der Studierendenschaft", fasst ein StuPa-Sprecher nach der AfD-Blockade zusammen. Und rechtfertigt den Protest. +Dazwischen gibt es bisher wenig. Allerdings sind sich alle Gegner der AfD einig, dass man über ihr Gedankengut und ihre Provokationsstrategie aufklären muss. Der AStA der TU Berlin beispielsweise organisierte vergangenes Sommersemester eine "Aktionswoche gegen rechte Stichwortgeber*innen". In den Vorträgen ging es darum, was neurechte Kernthemen sind und wer sie auf dem TU-Campus vertritt. Die Gegenseite war dort unerwünscht. +Der Magdeburger Dekan Michael Dick würde eine Diskussionsveranstaltung begrüßen, in der sich Studierende, Hochschul- und Medienvertreter über die inhaltliche Nähe der AfD-Hochschulgruppen zur Partei auseinandersetzen – natürlich unter Anwesenheit der Campus Alternative. An der Universität Leipzig hat es so etwas schon gegeben. Nachdem dort vergangenes Jahr ein Juraprofessor (Thomas Rauscher) wegen seiner islamfeindlichen Tweets heftig von Studierenden angefeindet worden war, verteidigte die Rektorin (Beate Schücking) zwar dessen Meinungsfreiheit. Sie initiierte aber auch eine Podiumsdiskussion mit dem Professor, auf der sie persönlich ganz klar gegen dessen Positionen Stellung bezog. +Ohnehin muss jetzt an vielen Orten mit der Campus Alternative gestritten werden. Überall dort, wo sie bereits wie etwa an der Universität Düsseldorf im StuPa sitzt. Auf der ersten Sitzung dort Ende Januar beantragte der Vertreter der Campus Alternative unter anderem eine Deutschlandfahne auf dem Campus, die Abschaffung des Genderreferats sowie die Ausweitung einer ausgeschriebenen Stelle gegen Rechtsextremismus auch auf "Linksextremismus". Das Parlament lehnte mit den Stimmen der Mehrheit alle Anträge ab. + diff --git a/fluter/LGBT-Verfolgung-Tschetschenien.txt b/fluter/LGBT-Verfolgung-Tschetschenien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e42d7f817fb8c6c6b89c5ed649515f3d4085059b --- /dev/null +++ b/fluter/LGBT-Verfolgung-Tschetschenien.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Der US-amerikanische Investigativreporter David France folgt in seinem dritten Dokumentarfilm vor allem den AktivistInnen Isteev und Baranova: auf einer nervenaufreibenden Flucht über die tschetschenische Grenze; in einen Unterschlupf für Geflüchtete in Moskau oder bis in ein Fast-Food-Lokal, in dem sie undercover die lesbische Tochter eines hohen Beamten treffen. Da selbst in den riskantesten Situationen eine Kamera dabei ist, wirkt "Welcome to Chechnya" stellenweise wie ein Actionfilm. +Gut zu wissen:Deepfakes– ein Kompositum aus "Deep Learning" und "Fake" – sind mithilfe von künstlicher Intelligenz generierte Fakebilder und -videos. Heute kann Software, gefüttert mit Abertausenden Originalbildern, täuschend echtes Bildmaterial herstellen, indem Gesichter vertauscht werden und Personen Dinge sagen oder tun, die sie nie gesagt oder getan haben.Per App können mittlerweile auch Laien Deepfakes erzeugen. +Wie real Angst und Verfolgung sind, zeigt sich aber unter anderem darin, dass France die Identität der Geflüchteten schützt. Am Anfang fragt man sich noch, warum ihre Gesichter offen gezeigt werden – bis man realisiert, dass sie durch Deepfakes ersetzt wurden. Ein Kunstgriff: Dass France die Gesichter nicht – wie sonst bei Anonymisierungen üblich – verpixelt, ermöglicht den ZuschauerInnen eine stärkere Beziehung zu den ProtagonistInnen. +Daneben greift "Welcome to Chechnya" immer wieder auf Videos von Überwachungskameras oder Smartphones zurück. Sie zeigen, wie Männer und Frauen misshandelt werden. Die extreme körperliche undsexuelle Gewaltist verstörend, nicht jeder kann und sollte sich diese Szenen anschauen. Sie funktionieren aber als Reality-Check: Ob man von Menschenrechtsverstößen hört oder sie direkt sieht, macht einen Unterschied. + + +Die Doku lässt einen über die extreme Nähe zu den ProtagonistInnen weit tiefere Gefühle durchleben, als man es vom Genre Dokumentarfilm sonst gewohnt ist. In einer denkwürdigen Szene erzählt Maxim Lapunovvon der Gastfreundschaftder TschetschenInnen, die er anfangs erlebte und aus Russland nicht kannte. Wie können Menschen gleichzeitig so freundlich und so grausam sein? +DassHomofeindlichkeitnichts Abstraktes ist – sondern fatal für einzelne Menschen. "Welcome to Chechnya" macht solche Schicksale greifbar. Auch indem die Doku keinen Hehl aus der krassen Gewalt macht, die den Menschen widerfährt. Die Lage in Tschetschenien selbst wird eine Doku nicht verändern können. Aber der diplomatische Druck steigt: Die EUverhängte kürzlich Sanktionengegen zwei ranghohe tschetschenische Beamte. Einer von ihnen ist Kommandeur einer speziellen Sicherheitseinheit, die für die Verfolgung von Schwulen verantwortlich ist. + +"Welcome to Chechnya" ist unter dem deutschen Titel"Achtung Lebensgefahr!"bis 17. Juli 2021 in der Arte-Mediathek zu sehen. + diff --git a/fluter/Medizinethikerin-%C3%BCber-Genetik.txt b/fluter/Medizinethikerin-%C3%BCber-Genetik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0d61657d5ee13bc1752e3ac1b2c03d5b09c1a056 --- /dev/null +++ b/fluter/Medizinethikerin-%C3%BCber-Genetik.txt @@ -0,0 +1,38 @@ +Warum so skeptisch? Weil Genforschung von vielen als Eingriff in die Natur gesehen wird +Es gibt auch viele nichtreligiöse Menschen, die Eingriffe ins Erbgut von Pflanzen und Menschen kritisch sehen. +In der deutschen Mentalität spielen Folgeabschätzungen eine große Rolle. Wenn man nicht genau weiß, was passieren wird, neigt man eher zur Zurückhaltung. Das ist etwa bei gentechnisch veränderten Pflanzen der Fall. Wenn die Risiken unkalkulierbar erscheinen, lehnt man sie lieber ab. +Die Entwicklung in den Laboren ist zum Teil atemberaubend. Sind viele Menschen angesichts der Möglichkeiten der Gentechnik überfordert? +Freiheit ist immer Segen und Fluch zugleich. Wir wollen alle frei sein, aber das heißt auch, Verantwortung zu übernehmen. Und das wird in der Tat oft als Überforderung wahrgenommen. "Ach, hätten wir doch all diese Techniken nicht." So einen Satz hört man etwa von Kritikern über die vorgeburtliche Gen- Diagnostik. Man möchte also lieber etwas als Schicksal annehmen, anstatt selbst schwierige, konfliktbehaftete Fragen beantworten zu müssen. +Wie verändert sich unser Verhältnis zum Leben, wenn wir Pflanzen, Tiere und Menschen nach unseren Wünschen gestalten können? +Da stellt sich ganz fundamental die Frage, inwieweit wir in natürliche evolutionäre Prozesse eingreifen möchten. Es ist ein ethisch relevanter Unterschied, ob ich eine Krankheit vermeide oder ob ich jemanden mit gewünschten Eigenschaften versehe. Eingriffe am Embryo sind immer Eingriffe an einem anderen Menschen. Wenn es um schwere Krankheiten geht, die sich vermeiden lassen, würde man wahrscheinlich zu dem Schluss kommen, dass der Mensch später schon damit einverstanden sein wird. Anders ist es mit vermeintlichen Optimierungen. Wie ich meinen eigenen Körper gestalten möchte, ist meine Entscheidung. Ich kann es aber nicht für jemand anderen entscheiden. +Die Gentechnik eröffnet viele Möglichkeiten. Die werfen schwierige Entscheidungen auf. Und davon fühlen sich viele Menschen überfordert +Ist es ethisch verantwortbar, wenn Kindern irgendwann mal eine besondere Augenfarbe oder ein besonderes Talent mit auf den Weg gegeben wird? +Nein, aber man darf Gene auch nicht überbewerten, weil sie eben kein Programm des Lebens sind, sondern nur Teil eines komplexen organismischen Systems, das auch in Wechselwirkung mit der Umgebung steht. Man tauscht ja nicht einfach ein Gen aus und hat dann einen genialen Musiker. Zudem weiß man bei vielen Eingriffen gar nicht, ob die Risiken nicht viel größer sind als der Nutzen. Man hat bei Versuchen an Embryos in China gesehen, dass die Methoden sehr unsicher sind und es viele Mutationen gab, und zwar an ganz anderen Stellen als dort, wo die Eingriffe stattfanden. +In Zukunft könnte es dazu kommen, dass jemand, der eine genetische Veranlagung zu bestimmten Krankheiten hat, mehr in die Krankenkasse zahlen muss. Ist das gerecht? +Ich sehe da die Gefahr einer Entsolidarisierung der Gesellschaft. Wir sollten gemeinsam dafür einstehen, dass alle eine gute Gesundheitsversorgung bekommen, und zwar unabhängig von den biologischen Ausgangsbedingungen. Unser solidarisches Gesundheitssystem, in dem letztlich die Gesunden die Kranken und die Reicheren die Ärmeren unterstützen, halte ich für eine wichtige soziale Errungenschaft. + + +Es gibt aber bereits Versicherungen, die sehr individuelle Tarife haben. Wenn ich etwa jung und unerfahren bin, zahle ich eben mehr für die Autoversicherung. +Beim Autofahren würde ich das anders bewerten als bei der Gesundheit. Wenn wir da verhaltensbasierte Tarife zulassen, die darauf beruhen, dass man ständig Daten etwa über sein Fitnessarmband an die Versicherung weitergibt, sehe ich drei Gruppen von Verlierern zum einen die, die ihre Daten aus Gründen der Privatheit nicht freigeben wollen. Dann diejenigen, die die vorgegebenen Ziele nicht erfüllen können, zum Beispiel Menschen mit Behinderungen, die keine 10.000 Schritte am Tag gehen können. Oder alleinerziehende Mütter, die versuchen, ihre Kinder durchzubringen, und keine Zeit für ein Fitnessprogramm haben. Das sind aber genau die Menschen, mit denen unsere Gesellschaft Solidarität zeigen sollte, die wir unterstützen müssen, anstatt sie von Bonusprogrammen auszuschließen. Und die dritte Gruppe besteht aus Menschen, die diese Anforderungen erfüllen könnten, aber nicht wollen, weil sie andere Vorstellungen von einem gesunden und gelingenden Leben haben. Die möchten eben nicht 10.000 Schritte am Tag gehen, aber die helfen in einem Flüchtlingsheim und leisten einen Beitrag zur Gesundheit anderer. Warum sollen die dann keinen Vorteil in der Krankenversicherung bekommen? +Ist es nicht ein relevanter Unterschied, ob ich eine Krankheit vermeiden oder ob ich jemanden mit gewünschten Eigenschaften versehen will? + +Das Sammeln von menschlichen Daten ist ja auch in anderen Bereichen sehr relevant. Man kann sich vorstellen, dass Strafverfolgungsbehörden schon gern wüssten, wer eine Neigung zur Aggressivität hat. +Ich finde es hochgefährlich, wenn solche Vorhersagen aufgrund biologischer Daten gemacht werden. Statistisch kann das vielleicht zu interessanten Zusammenhängen führen, nicht aber zu einer Vorhersage im Einzelfall. Selbst wenn man sagen könnte, dass 70 Prozent der Menschen, die ein bestimmtes genetisches Profil haben, im Laufe von zehn Jahren eine Straftat begehen, kann ich das immer noch nicht auf den Einzelnen beziehen. +Das Beispiel großer IT-Konzerne zeigt, dass die Gesetzgebung oft hinter neuen Entwicklungen herhinkt. Wenn man derzeit sieht, wie Google oder Facebook mit persönlichen Daten umgeht, fragt man sich, was das für Informationen über das Genom bedeuten könnte. +Das ist richtig. Die internationale Gesetzgebung ist eher ein mittel- bis langfristiges Unterfangen. Wir haben aber immerhin die europäische Datenschutz- Grundverordnung, nach der sich auch ausländische Konzerne richten müssen, wenn der Kunde in Europa sitzt. Das ist ja schon mal ein Fortschritt. Aber damit ist natürlich die wahre globale Dimension der Datenströme noch nicht erfasst. + + +Eben noch bestaunen wir die Datensammelwut großer Konzerne, nun bekommt man mit der Gentechnologie die Möglichkeit, den Menschen noch gläserner zu machen. +Die zentrale Frage ist die nach dem Eigentum an den Daten. Momentan bezahlt man ja im Internet mit seinen Daten und bekommt dafür kostenlose Anwendungen. Wir wissen aber auch aus Studien, dass viele Menschen lieber mit Geld als mit Daten bezahlen würden. Wenn Unternehmen die Daten nutzen und weiterverkaufen, dann sollte derjenige, der die Daten hergibt, vielleicht auch Geld dafür bekommen, oder das Unternehmen zahlt einen anteiligen finanziellen Beitrag zum Gemeinwohl. +Gläserne Aussichten: Und nicht zuletzt ist da noch die berechtigte Sorge, als Mensch in Zukunft noch durchschaubarer zu werden +Wird genügend darüber aufgeklärt, was es heißt, das Genom aufschlüsseln zu lassen? +Nein. Darüber sollte man schon in den Schulen sprechen. Der Deutsche Ethikrat hat zudem für ein staatlich gefördertes Internetangebot plädiert, das darüber aufklärt, welche Aussagekraft genetische Tests haben und welche Risiken damit verbunden sein können. Das ist von der Politik leider noch nicht aufgegriffen worden. Wenn man seinen Speichel ohne ärztliche Beratung irgendwohin schickt, um sein Genom untersuchen zu lassen, sollte man sich auch im Klaren darüber sein, dass die Aussagekraft dieser Tests begrenzt und die Ergebnisse in ihrer Bedeutung oft unklar sind. +Oder etwas herauskommen könnte, das man vielleicht gar nicht wissen will … +Christiane Woopen ist Professorinfür Ethik und Theorie der Medizinan der Universität zu Köln. Sie warvon 2001 bis April 2016 Mitglieddes Deutschen Ethikrates, von2012 bis 2016 dessen Vorsitzende.Von 2014 bis 2016 war sie zudemPräsidentin des Global Summit ofNational Ethics/BioethicsCommittees +Ja, etwa ein hohes Risiko, an einer Demenz zu erkranken. Das kann dann einen erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität haben. Deswegen ist es wichtig, dass eine solche Diagnostik unter ärztlicher Beratung erfolgt. Was macht das mit einem Menschen, wenn er etwa erfährt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Darmkrebs entwickelt oder mit Sicherheit die tödlich verlaufende Erbkrankheit Chorea Huntington +Wie gehen die Menschen mit einer solchen Diagnose um? +Bei tödlich verlaufenden und unbehandelbaren Erkrankungen nehmen manche Menschen nach einem ausführlichen Beratungsprozess Abstand von der Diagnostik und wollen lieber nicht wissen, ob sie das betreffende Gen tragen. Erstaunlich ist, dass viele von denen, bei denen die Untersuchung zeigt, dass sie den Gendefekt von ihren Eltern nicht geerbt haben, nicht einfach nur glücklich darüber sind. Manche haben Schuldgefühle ihren betroffenen Verwandten gegenüber. Man nennt das "Survivor-Guilt" – ein Überlebensschuld- Syndrom, obwohl es mit Schuld im eigentlichen Sinne gar nichts zu tun hat. +Ist eine Institution wie der Ethikrat stark genug, um die Politik zu beeinflussen? +Der Ethikrat hat schon verschiedene Gesetze angestoßen und mitgeprägt. Zudem hat er die Aufgabe, die öffentliche Diskussion anzuregen, wie durch die Jahrestagung zur Gen-Schere im Juni, die im Internet abrufbar ist. Und es gibt die internationale Zusammenarbeit: Im März durfte der Ethikrat das Weltgipfeltreffen der Ethikräte in Berlin ausrichten. Dort ging es unter anderem um Genom-Editing und Big Data. + +Statt gewöhnlicher Rahmen nutzt der KünstlerMichael Mapesfür seine Porträts Setzkästen, wie Biologen sie für ihre Präparate benutzen. Die Bilder bestehen aus kleingeschnittenen Fotos und"biographischer DNA", wie Mapes sagt, also aus so ziemlich allem, was wir in unserem Alltag an"Proben"hinterlassen: Haare, Fingernägel, Taschentücher, Krümel... Die Ästhetik passt – Mapes seziert das Leben der Porträtierten, als wäre er ein Forensiker. diff --git a/fluter/Meine-Identitaet-als-Bayer.txt b/fluter/Meine-Identitaet-als-Bayer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e8a0c173a7f5f8975b3bbedbb175bc7f28481cf3 --- /dev/null +++ b/fluter/Meine-Identitaet-als-Bayer.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Es ist nicht so, als hätte ich Bayern keine Chance gegeben. Im Gegenteil: Ich habe fast jede Station mitgenommen, die zu einer bayerischen Dorfjugend gehört: Selbstverständlich war ich im Fußballverein. Natürlich bin ich zur Kommunion gegangen, mit 13 Jahren habe ich mich auch firmen lassen. Gehörte sich so. Genauso, wie es sich gehörte, mit 14 der Freiwilligen Feuerwehr beizutreten. Sogar in einer Trachtenkapelle habe ich gespielt, bin jeden Sonntag in Lederhose aus dem Haus gegangen. +Ich hatte also allen Grund, mich hyperbayerisch zu fühlen. Trotzdem konnte ich mich mit meiner Umgebung nicht identifizieren. Warum, das weiß ich gar nicht so genau. Ich weiß nur, dass ich dem Maibaumaufstellen oder dem Faschingszug nicht wochenlang entgegengefiebert habe. Dass mir die Berge und die Seen, dieser ganze Naturporno, ziemlich egal waren. Und dass mich irritiert hat, was bis heute in der Kern-DNA der Bayern gespeichert ist: die Aufteilung der Welt in Bayern und Nichtbayern. In Hiesige und Dasige, "wir" und "die anderen". +Das ging schon vor der Haustür los. Auf der einen Seite unser Dorf, 1.000 Einwohner, ein Kaff. Auf der anderen Seite die Stadt, Traunstein, nur vier Kilometer weiter, auch nicht gerade mondän. Trotzdem: Wer aus Traunstein kam und hochdeutsch sprach, dem hat man im Dorf das Etikett "Preuße" verpasst. Paul zum Beispiel, mein bester Freund während der Schulzeit: ein Preuße, einer, der "nach der Schrift redet". Warum man das betonen muss, habe ich nicht verstanden. Wie ich auch das Trara nie verstanden habe, wenn neue Leute ins Dorf gezogen sind. Zugezogene: suspekt. Wenn sie dann noch kein Bairisch gesprochen haben: erst recht suspekt. +Irgendwann wurde mir das zu viel. Der Brauchtumskram, das Nachbarschaftsgedöns, all das, was ich für "das Bayerische" hielt. Ich stand kurz vor der Oberstufe am Gymnasium. Männer in Lederhosen waren für mich inzwischen Befürworter autoritärer Strukturen. Also bin ich aus der Trachtenkapelle ausgestiegen, aus dem Fußballverein, aus der Feuerwehr. +Habe mich in alle möglichen Winkel der Popkultur verkrochen, mir die Haare wachsen lassen und unmögliche Klamotten getragen. Die Reaktion im Dorf: irritiert. Man muss nicht jeden Scheiß mitmachen – den Satz habe ich sehr oft gehört. +Ich wollte längst weg, nach dem Abitur konnte ich dann. Aber Bayern hat mich verfolgt. Egal, wo ich neue Leute kennengelernt habe, Berlin, Hamburg, Mannheim, nach ein paar Minuten kam immer: "Du bist aber nicht von hier." Freilich, mein rollendes "R" hatte mich nach dreieinhalb Wörtern verraten. Ich war aufgeflogen. Und weil Bayern so eine knallige Bildsprache hat – Brezen, Maßkrüge und Dirndl kennt jeder –, schob mein Gegenüber meistens noch ein paar Stichwörter hinterher: das Oktoberfest, der FC Bayern, die weißblaue Assoziationskette halt. +Am liebsten hätte ich mein Bayer-Sein abgelegt. Nächster Versuch: Ich habe darauf geachtet, "nich" statt "nicht" zu sagen, "wichtich" statt "wichtig". Spätestens bei meinem rollenden "R" habe ich gemerkt, wie behämmert das Gurgeln klingt, das ich alternativ parat hatte. Den Rest habe ich auch schnell wieder sein lassen. +Ich war schon über 20, hatte schon ein, zwei Semester studiert, als ich mich manchmal noch bei dem Gedanken erwischt habe, dass es doch großartig sein muss, wenn man Bremer ist. Oder Hannoveraner, Dortmunder, irgendwas nördlich von Hof. Aber ich kam nicht drum rum: Bayern und ich, das sollte so bleiben. +Ungefähr zur selben Zeit lernte ich ein Bayern kennen, das mir im Dorf nicht begegnet ist. Ein Freund hatte mir von den Regisseuren Rainer Werner Fassbinder und Herbert Achternbusch erzählt. Nachdem ich ein paar ihrer Filme gesehen hatte, "Faustrecht der Freiheit" von Fassbinder oder Achternbuschs "Das Gespenst", habe ich einen bedenklichen Teil meines Grundstudiums nur noch damit verbracht, mich in ihr Werk hineinzunerden. War fasziniert von dem anarchischen Bayern, das sie verkörpern. Habe die Vorgarten-Bürgerlichkeit erkannt, die sie in ihren Filmen hopsnehmen, die doppelbödige Frömmigkeit und die bayerische Arroganz. Habe verstanden, dass auch Fassbinder und Achternbusch Bayern sind. Als ich dann noch erfahren habe, dass der Filmemacher Werner Herzog in Sachrang aufgewachsen ist, nicht allzu weit von Traunstein, dachte ich: Vielleicht doch nicht so schlimm, von hier zu kommen. +Dass es in Bayern auch widerborstige Typen gibt, hat mich beruhigt. Nach und nach habe ich mir eingestanden, dass ich viel bayerischer bin, als ich zugeben wollte. Vor allem in der Sprache. Ein Beispiel: Fluchen im Straßenverkehr. Ich nenne andere Autofahrer nicht "Idioten". Bei mir sind es "Rindviecher" oder "Hornochsen". Überhaupt, der Dialekt: Sosehr ich zwischendurch versucht habe, meine Sprache zu verstellen, am wohlsten fühle ich mich, wenn ich Bairisch spreche. Vor Freunden von früher sowieso. Vor Arbeitskollegen oder Mitbewohnern rutsche ich mittlerweile auch manchmal ins Bairische. Meistens dann, wenn ich sie besser kenne, wenn ich merke, dass ich ihnen vertraue. +Vielleicht musste ich nur lange genug von zu Hause weg sein, nur genug Filme von Regisseuren sehen, denen es selbst zu eng war zwischen Stammtisch und Herrgottswinkel. Knapp zehn Jahre nachdem ich aus meinem Dorf weggezogen bin, finde ich es jedenfalls sehr okay, Bayer zu sein. Sogar mit meinem Namen habe ich Frieden geschlossen. Jedes Jahr zum Namenstag mit Vater und Großvater telefonieren: hat auch was. Macht man eh zu selten. Nur Lederhosen trage ich bis heute nicht. Sind mir immer noch zu sehr Statement. Außerdem stehen sie mir nicht, und überhaupt: Man muss nicht jeden Scheiß mitmachen. + diff --git a/fluter/Michael-Moore-Fahrenheit-11-9-kritik.txt b/fluter/Michael-Moore-Fahrenheit-11-9-kritik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4460592d73140ffca5879546ce7eb3f9785c0b94 --- /dev/null +++ b/fluter/Michael-Moore-Fahrenheit-11-9-kritik.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Wie zum Teufel also konnte es dazu kommen? Wie Moore zu Trump steht, legt bereits der an seinen Anti-Bush-Film "Fahrenheit 9/11" angelehnte Titel nahe. Polarisierend sind beide, Moore wie Trump. Der Regisseur tut gar nicht erst unparteiisch. Zu Trumps Wahlparty spielt er das finstere Stück "Ave Satani" aus dem Horrorfilm "Das Omen" ein. Später unterlegt er eine Hitler-Rede mit O-Tönen von Trump. Der Polemiker liefert, wofür er steht: agitatorisches Dokutainment mit klarer Haltung. +Die Ursachen für Trumps Aufstieg sieht Moore in dessen Spiel mit den Medien. Der anfangs belächelte "Goldesel" bescherte hohe Quoten. Jeder noch so abstruse Tweet wurde (und wird) breit besprochen – was unvorstellbar schien, schlich in den Bereich des Möglichen. Eine Szene zeigt, wie Trump den Kameramann bei einer Kundgebung anweist, die große Zuhörerschaft zu filmen. Der Fernsehmacher, willfährig, tut wie ihm geheißen. + + +Natürlich attackiert Moore Trumps von weißer Identitätspolitik, Rassismus und Frauenfeindlichkeit geprägte Wahlkampagne. Aber auch die Demokratische Partei lässt Moore nicht ungeschoren. Er zeigt, wie die Führungsriege den an der Basis beliebten Kandidaten Bernie Sanders ausgebootet hat, um Clinton zu hofieren.Die Arbeiterschicht fühlte sich verlassen, Trumps Populismus verfing dagegen. +Nur ein gutes Viertel des Films gilt Donald Trump. Als wie so oft in Moores Filmen seine Heimatstadt Flint in Michigan in den Blick rückt, avanciert die Doku zum Recherchestück. In Flint hatte Michigans republikanischer Gouverneur Rick Snyder 2014 den Bau einer Pipeline veranlasst. Das spülte Geld in die Kasse – und bleihaltiges Wasser in die meist armen Haushalte. Krankheitsfälle folgten, die Bevölkerung wurde mit falschen Messwerten irregeführt, der verantwortliche Konzern General Motors blieb unbehelligt. Auch der hoffnungsvoll erwartete Auftritt des damaligen Präsidenten Barack Obama enttäuschte. Während der Rede in Flint verlangte Obama ein Glas Leitungswasser und tat so, als würde er die Plörre trinken, nippte aber nur. +Auf die Wasserkrise in Flint kommt Moore mehrfach zurück. Dazwischen sammelt er reichlich Material zum politischen Klima in den USA, kommentiert eine Abfolge aus TV-Beiträgen, Pressekonferenzen, Fotos, Artikeln, kurzen Interviews. Im schnellen Takt montierte Sequenzen reißen zig Themen an, darunter Lehrerproteste in West Virginia und Jugendmärsche nach dem Schulattentat von Parkland. Unterm Strich zeichnet der Gedankenstrom eine Nation, die zu zerreißen droht. +Für Michael Moore erfordert die Krise politische Beteiligung. Das Amerika der Trumpisten könne nur eine liberale Gesellschaft überwinden. Eine, die bereit ist, die bedrohte Freiheit zu verteidigen. Als ein Mitarbeiter von General Motors dem Notruf meldet, dass eine Gruppe Demonstranten im Anmarsch ist, will die Polizistin wissen, ob die Leute Waffen tragen. Die Antwort: "Michael Moore is here." + diff --git a/fluter/Multiple-Pers%C3%B6nlichkeit.txt b/fluter/Multiple-Pers%C3%B6nlichkeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..56f80eaeead119222270788e87a70f2c1fb5d88f --- /dev/null +++ b/fluter/Multiple-Pers%C3%B6nlichkeit.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Wir – das sind ich (Fay), Liz, Hannah, Luna, Alex, Alice und der sogenannte Geburtsanteil. Ich übernehme den ganzen Alltagskram, da ich am besten mit Menschen reden und Dinge organisieren kann. Hannah ist erst vier Jahre alt und bewahrt uns ein Stück Kindheit auf. Luna ist neun und noch ziemlich neu. Alice ist 16 und hilft dabei, Sachen nicht immer so negativ zu sehen. Dann gibt es noch Alex, diese Persönlichkeit ist zwischen 16 und 20. Alex erträgt Schmerzen und übernimmt sofort, stoße ich mir zum Beispiel den Zeh. Habe ich wirklich starke Panikattacken, schaltet sich Liz, 20, ein. Die letzte Persönlichkeit ist der Geburtsanteil, der das Trauma trägt. Er ist normal mitgealtert und 18 Jahre alt. Seinen Namen behalten wir für uns,weil er uns triggert.Wahrscheinlich gibt es noch einige weitere Persönlichkeiten. Zwischendurch spüren und hören wir sie, aber wir kennen sie noch nicht wirklich. +Diese dissoziative Störung (DIS) wurde bei mir im vergangenen Jahr diagnostiziert. Die Erkrankung entsteht oft durch traumatische Ereignisse in der frühesten Kindheit. Das Gehirn versucht einen dann zu schützen, indem es die Persönlichkeit in viele eigenständige Persönlichkeiten aufspaltet. Das ist auch bei uns passiert. Überdas Traumasprechen wir aber nicht. Aktuell sind wir auf der Suche nach einem Therapieplatz. +Gerade überlegen wir, in welche berufliche Richtung wir uns bewegen. Ich würde gerne etwas Kreatives machen, wo ich meinen Freiraum habe. In einem Büro mit 20 Menschen sitzen und produktiv arbeiten könnte ich nicht. Liz hingegen würde so einen Bürojob mit Freude machen. Noch sind wir uns nicht einig. +Politische Meinungsverschiedenheiten hatten wir bisher noch keine. Wir sind uns recht einig und eher linksorientiert. Wen wir im Herbst bei der Bundestagswahl wählen, haben wir aber noch nicht entschieden. Ich habe noch nie gewählt und bin allein deshalb schon nervös. Am Ende habe ich, Fay, das größte Stimmrecht darüber, wen wir final wählen. +Abends haben wir feste Zeiten, in denen Switches erlaubt sind. Jeder, der gerade möchte, kann jetzt nach außen kommen. So braucht tagsüber niemand das Gefühl zu haben, vorpreschen zu müssen. Dennoch erleben wir durchschnittlich zwei- bis dreimal pro Tag unvorhergesehene Switches – manchmal gar keine, manchmal gleich zehn. Es kommt immer darauf an, in welcher Umgebung ich bin und ob es Trigger gibt wie laute Geräusche, Gerüche, bestimmte Musik oder Menschen, die jemandem ähnlich sehen, der mit meinem Trauma zu tun hat. Da das jederzeit passieren kann, bin ich nur selten alleine draußen. Aber ich kann mich nicht vor allen Menschen verstecken. +Nachdem ichauf YouTubeDokus über andere Erkrankte gesehen habe, habe ich entschieden, selbst offen darüber zu sprechen – damit andere vielleicht auch ihre Stimme erheben und wir uns nicht mehr verstecken müssen. Es kann sehr unangenehm sein, wenn Leute mitbekommen, wie man zwischen Persönlichkeiten wechselt. +Auf meinemTikTok-Kanalteile ich Videos über mein Leben mit DIS. Mein erster Account hatte 46.000 Follower, wurde aber gesperrt – nicht weil ich gegen Community-Richtlinien verstoßen hätte, sondern weil einige User nicht mit meinem Content klarkamen und mich sehr oft "gemeldet" haben. Auf meinem neuen Account läuft es mit fast 20.000 Followern bisher ganz gut. +Ich bekomme eine Menge Zuspruch, Fragen und positive Nachrichten. Teilweise komme ich gar nicht hinterher, alle zu beantworten. Es gibt natürlich Leute, die negativ eingestellt sind und uns nicht glauben. Auf solche Nachrichten reagiere ich trotzdem freundlich. Die meisten Leute sind dann ganz überrascht, dass da nichts Fieses zurückkommt. So entsteht am Ende oft doch noch ein gutes Gespräch. + diff --git a/fluter/N%C3%BCrnberg-Gostenhof-Gentrifizierung.txt b/fluter/N%C3%BCrnberg-Gostenhof-Gentrifizierung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..14aa895c677900357d8d14ddb87be243f0f9b4da --- /dev/null +++ b/fluter/N%C3%BCrnberg-Gostenhof-Gentrifizierung.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Franziska Schwingel hat ein Café eröffnet, das manche zu schick finden +Egal ob in Berlin-­Neukölln, im Hamburger Schanzenviertel oder in Nürnberg-­Gostenhof: Erst ziehen Stu­dierende, Alternative und Künstlerinnen dorthin, wo die Mieten niedrig sind. Cafés, Kneipen und kleine Läden entstehen und damit eine kreative Atmo­sphäre, die das Viertel auch für Menschen attraktiv macht, die höhere Mieten zah­len können. Also werden die Cafés und Restaurants schicker, Investoren sanie­ren Häuser und bieten Wohnungen für Besserverdienende an.Schließlich kön­nen sich viele alteingesessene Bewohner und Bewohnerinnen ihr Viertel nicht mehr leisten.Und manche Ladenbesitzer werden plötzlich als Yuppies beschimpft. +"Wir haben uns nicht als Reichen­verein wahrgenommen", sagt Cafébesitzerin Franziska. "Wir haben nur Studenten beschäftigt oder Leute, die hier im Umkreis wohnen und ihre Familie davon er­nähren. Wir haben im­mer fair bezahlt und re­gional eingekauft. Und es sind weiß Gott nicht nur Besserverdienende, die hier ein und aus gehen." Die Graffi­tis ließ sie auf den Scheiben und ergänzte das "Scheiß Hipster" mit "Nice Hipster". +Gostenhof hat einiges zu bieten, was junge studierende Menschen anzieht: innenstadt­nahe Altbauten, hohe Kneipen­dichte, bunte Sticker an den Laternen. Im 19. Jahrhundert war Gostenhof für den Bahnhof, das Gaswerk und die Spielzeug­fabriken bekannt – ein Arbeiter­viertel, das im Gegensatz zur Nürnberger Altstadt vom Krieg weitgehend verschont blieb. +Während große Teile der Stadt neu aufgebaut wurden, zogendie Menschen hier in die noch erhaltenen Häuser aus der Gründerzeit. Die Wohnungen waren heruntergekommen, es gab we­nig Grün und kaum öffentliches Leben. Ab den 1960er­-Jahren brachte man hier schließlichdie angeworbenen "Gastarbei­ter"und ihre Familien unter. Aus Gostenhof wurde im Volks­mund Gostanbul. +Neben alten Häusern entstehen teure Eigentumswohnungen +Ab 1980 startete die Stadt schließlich eine Stadtteilsanierung – mit Bürgerbeteiligung. Die "Erneuerung von unten" sollte möglichst sozialver­träglich stattfinden. Alle Wohnungen sollten Bäder und der Stadtteil mehr Grünanlagen bekommen. Die Sanie­rung des Viertels dauerte bis 1997. Plötz­lich wurde es schick, nach Gostenhof zu ziehen. Davon kündete auch der neue Spitzname: Aus dem an Istanbul angelehnten Gostanbul wurde GoHo – wie SoHo, das New Yorker Stadtvier­tel, das lange für Kunst und Partys berühmt war, mittlerweile jedoch eher für teure Luxusapartments. Der Ver­gleich mit SoHo ist gar nicht so ab­wegig: Auch die Veränderung in Gos­tenhof lockte Investoren an, die hier neu bauten oder teuer sanieren lie­ßen. Wer heute durch die Nürnberger Straßen zwi­schen Petra-­Kelly­-Platz und Jamnitzerplatz spaziert, merkt, dass der Konflikt unter anderem auf den mit Graffitis überzogenen Fassaden ausgetragen wird. "Yuppies Fuck Off" oder "Hände weg von unse­ren Nachbarn" steht da. Politische Meinungsbildung und das erstbeste Instrument, um der Aufwertung von Immobilien etwas Abwertendes entgegenzusetzen. Zuletzt traf es das neu eröffnete Restaurant Veles: "Verpisst euch nach Erlenstegen!", hatte jemand an die Wand gesprüht, so heißt das Nürnberger Villenviertel. +Die Szene, die auch regelmäßig gegen den "Mietenwahnsinn" auf die Straße geht, organisiert sich rund um den Stadtteilladen "Schwarze Katze" am Jamnitzerplatz. (Gegenüber dem fluter möchten sich die Aktiven lieber nicht äußern.) Ausgerechnet in direkter Nachbarschaft zur Schwarzen Katze wurde 2013 ein kastenartiger Bunker zwischen die alten Gründerzeitfassaden gesetzt, damals der teuerste Neubau der ganzen Stadt. Die Projektentwick­ler bewarben ihre bis zu 750.000 Euro teuren Wohnungen auch damit, dass sie sich eben nicht in einem sterilen, sondern in einem multikulturellen, au­thentischen und organisch gewachsenen Stadtteil befänden. +Durch Studierende ist der Stadtteil auch jünger geworden +Selbst die Graffitis scheinen den Charme des Viertels aus­zumachen, der Menschen aus ihren gutbürgerlichen Stadtteilen anlockt. +Aber ist es wirklich so, dass Arbeits­lose, Geringverdienendeund Allein­erziehendevor die Tore der Stadt ver­drängt werden, wie die Aktivistinnen und Aktivisten befürchten? Die Stadt Nürnberg erklärt dazu, dass die Bau­ und Investitionstätigkeiten in Gostenhof fast vollständig zum Erliegen gekommen seien. Die Bevölkerungszahl sei momen­tan leicht rückläufig, die Mietpreise bewegten sich 2019/2020 mit 9,75 Euro (vgl. 2013/2014: 7,69 Euro) pro Quadrat­meter auf einem Niveau, das leicht unter dem städtischen Durchschnitt liege – obwohl die Bodenpreise rund um den Jamnitzerplatz von 2014 bis 2020 um 135 Prozent gestiegen seien. Aber das ist im Rest der Stadt ähnlich. Von Gen­trifizierung, so Nürnbergs Wirtschafts­referent Michael Fraas, könne also keine Rede sein, allenfalls von politisch gewollter Aufwertung des Quartiers. So dramatisch die Initiativen die Situation beschreiben, so harmlos klingt das, wenn städtische Stellen darüber sprechen. +Vielleicht helfen die nackten Zah­len allein nicht weiter, wenn es vor allem um ein Gefühl geht, das langjährige Bewohnerinnen und Bewohner teilen. Nicola Nemeth ist Sozialpädagogin, seit 1993 wohnhaft in Gostenhof und viel­fach engagiert für die Mieterinnen und Mieter. Einige gute Bekann­te von ihr mussten das Viertel in den vergangenen Jahren wegen der gestiegenen Miete verlassen, sagt sie. Und: "Ich habe das Le­ben hier früher als familiärer, so­zialer, gemeinschaftlicher emp­funden. Es ziehen Leute in die Neubauten, die es hier schön fin­den, weil es Biergärten gibt. Aber wehe, um 22.05 Uhr ist es noch laut auf der Straße, dann wird die Polizei gerufen." +Der Eindruck der Verdrän­gung hängt anscheinend nicht nur mit Neubauten und schicken Cafés, sondern auch mit der Polizeipräsenz und den vielen Beschwerden wegen Ruhestörung zusammen. Einige Alteingesessene glauben, dass die Stadt für die neu Zuge­zogenen in einem einst belebten Viertel für Ruhe sorgen wolle. +Uns stinkt's: Der Protest besteht auch aus Bildern an Fenstern & Fassaden +In den Neunzigern lebte Nicola Nemeth am Petra-­Kelly­-Platz, der damals Bauern­platz hieß. "Da gab es Bänke und Grün", sagt sie, "und es war ein Treffpunkt für die Obdachlosen, die sich dort aufhal­ten konnten und uns manchmal bei schweren Einkäufen geholfen haben."Dann habe die Stadt saniert, und die Bänke seien weggekommen.Ein Treff­punkt sei der Platz geblieben, allerdings nicht mehr für die weniger Privilegier­ten. "So zerstört man den Sozialcha­rakter eines Viertels", sagt Nemeth, "und die Stadt hat das meiner Meinung nach auch mit verstärkter Polizeipräsenz vorangetrieben nach der Devise: Die Straßen müssen sauber sein." +Nur ein paar Meter weiter vom schick sanier­ten Platz leben die Men­schen, um die sich Ne­meth sorgt. Die Heils­armee, eine evangelische Freikirche, unterhält in der Gostenhofer Hauptstraße sowie der Leonhardstraße zwischen türkischem Café, Spielothek und Biomarkt Nordbayerns größte Unter­kunft für wohnungslose Menschen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten. Rund 200 Männer leben in den Apart­ments, nicht selten mit Suchterkrankung oder Gefängniserfahrung. Die Heils­armee bietet hier nicht nur ein Bett und ein Dach überm Kopf, sondern auch Beschäftigungsangebote, sozialpädago­gische Betreuung und ein Freizeitzen­trum. Motto: "Suppe, Seife, Seelenheil." +Kilian Brandenburg arbeitet seit 22 Jahren hier. Seit März leitet er die Einrichtung und hat die Entwicklung des Viertels hautnah mitbekommen. Der Petra­-Kelly­-Platz habe früher einen etwas zweifelhaften Ruf gehabt, der auf das Sozialwerk abfärbte. Heute seien die Obdachlosen dort nicht mehr willkom­men. Aber wo seien sie das schon in Deutschland, fragt er."Das ist grund­sätzlich so und nicht nur dort. Wohnungslosigkeit existiert,es ist aber politisch nicht so erwünscht, dass man das irgendwo sieht." +Brandenburg kann nicht bestäti­gen, dass die Heilsarmee mehr Men­schen aufnehmen müsse, weil sie von Investoren und gierigen Vermieterinnen vertrieben worden seien. Aber die Ver­weildauer derjenigen, die hier den Ent­schluss gefasst haben, wieder eine eigene Wohnung zu finden und neu anzufangen, sei länger geworden. "Wenn du deine Wohnung verloren hast, ist es im Laufe der Jahre immer schwie­riger geworden, wieder eine bezahl­bare zu finden. Unsere Bewohner kon­kurrieren um den billigen Raum mit vielen anderen Leuten." +Den findet man in Gostenhof kaum noch. Gerade entstehen in direkter Nach­barschaft der Obdachlosenunterkunft wieder einmal modernistisch schlichte Wohnungen im hochprei­sigen Segment: "Die neue Spielzeugfabrik" nennt sich dieses Projekt. +"Wer hier lebt, ist direkt am Puls der Zeit", schrei­ben die Projektentwick­ler in ihr Exposé. Man darf sich wohl auf Farbbeutelflecken an der Fas­sade einstellen. diff --git a/fluter/Nach-dem-Friedensvertrag-Wie-FARC-Rebellen-in-Kolumbien-wieder-eingegliedert-werden.txt b/fluter/Nach-dem-Friedensvertrag-Wie-FARC-Rebellen-in-Kolumbien-wieder-eingegliedert-werden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2c1410d5ff8c8d5337e3cd49c8a30db72d819c4d --- /dev/null +++ b/fluter/Nach-dem-Friedensvertrag-Wie-FARC-Rebellen-in-Kolumbien-wieder-eingegliedert-werden.txt @@ -0,0 +1 @@ +Fürfluter.detraf der kolumbianische Filmemacher Alejandro Hainsfurth die Verantwortlichen der Initiative Panaca und sprach mit der Ex-Kämpferin Violeta: 17 Jahre lang lebte sie mit den FARC-Rebellen im Dschungel. diff --git a/fluter/Netflix-serie-elite-sozialporno.txt b/fluter/Netflix-serie-elite-sozialporno.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..451a13cae201ad3657babcc9677cbc8b7ba1694c --- /dev/null +++ b/fluter/Netflix-serie-elite-sozialporno.txt @@ -0,0 +1,7 @@ + + +Doch dort wird den drei Außenseitern das Leben nicht leicht gemacht. Ihre Mitschüler lassen keine Gelegenheit ungenutzt, sie wegen ihrer sozialen Herkunft bloßzustellen. Nadia trifft es dabei gleich auf doppelte Weise: Sie wird rassistisch beleidigt und von der Schulleitung aufgefordert, ihr Kopftuch abzulegen. Die Diplomatentochter und bisherige Klassenbeste Lucrecia (Danna Paola) hat Angst, dass Nadia ihr ihren Platz streitig macht. "Wollen Sie ein Mädchen fördern, das frauenfeindliche Werte vertritt?", fragt sie in einer Folge ihren Lehrer. +Samuel wird gleich in der ersten Schulstunde als armer Kellner verhöhnt. Er versucht danach, im Schulalltag möglichst nicht aufzufallen, und schluckt die täglichen Beleidigungen runter. Nur Christian lässt sich nicht einschüchtern. Er reagiert selbstbewusst auf die Attaken. Sein Motto: Ich bin nicht zum Lernen hier. Sondern um Kontakte mit den Reichen und Einflussreichen zu knüpfen. So freundet er sich mit Ander (Arón Piper), dem Sohn der Schulleiterin, an und beginnt eine Affäre mit der adligen Carla (Ester Expósito). +Doch während er mit Carla schläft, schaut ihr langjähriger Freund zu und holt sich einen runter. Sie nutzen den Wunsch Christians, Zutritt in ihre Welt zu bekommen, aus und machen ihn zum Objekt. Bis auf die muslimische Schülerin Nadia und den schüchternen Samuel sind die Teenies in "Elite" extrem selbstbewusst in ihrer Sexualität. In diesem latenten Softporno-Setting fehlen Momente der Verletzbarkeit, des Zweifelns in der gemeinsamen Intimität. Die Jugendlichen haben nicht nur perfekt choreografierten Sex, sie sind auch immer perfekt gestylt – vor allem die Mädchen. Selbst Marina, die als HIV-Positive die Rolle der Rebellin übernimmt und aus der Welt des Überflusses ihrer Eltern ausbrechen will, trägt die meiste Zeit Designerklamotten. +So spricht die Serie zwar wichtige und ewige Jugendthemen an, verbleibt aber in einer Hochglanzoptik, die an schlechte Hollywoodserien wie "Gossip Girl" erinnert. Dadurch entsteht das Gefühl, die Macher der Serie konnten sich nicht so richtig zwischen Highschool-Thriller und Sozialdrama entscheiden. Dem Erfolg tat das keinen Abbruch: Eine zweite Staffel hat Netflix schon in Auftrag gegeben. + diff --git a/fluter/Netflix-serie-glow-%23metoo-zweite-staffel.txt b/fluter/Netflix-serie-glow-%23metoo-zweite-staffel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..462ae1dbf6c5662d64549afb8b969d36a5871549 --- /dev/null +++ b/fluter/Netflix-serie-glow-%23metoo-zweite-staffel.txt @@ -0,0 +1,16 @@ + + + +Basierend auf einer wahren Geschichte haben die Glow-Macherinnen Liz Flahive (Homeland) und Carly Mensch (Weeds, Orange Is The New Black) sich ein so offensichtlich sexistisches Setting ausgesucht, um daraus einen Ort der Befreiung für die unterschiedlichsten Frauen zu machen. +Das geht so: Der erfolglose, frustrierte Regisseur Sam Sylvia castet auf Wunsch eines reichen Muttersöhnchens und Wrestling-Fans aka Produzent eine Gruppe "unkonventioneller" Frauen zusammen, wie die beiden es nennen. Zunächst müssen alle Frauen ihren "Wrestling-Character" finden, der bei den meisten irgendetwas mit ihrer Abstammung zu tun hat – oder dem, was die Männer für ihre Abstammung halten. Aus der Inderin Arthie wird "Beirut – The Mad Bomber", die schwarze Tammé (gespielt von Ex-Wrestlerin Kia Stevens) wird zur "Welfare Queen". Jenny, die eigentlich kambodschanische Wurzeln hat, wird zum chinesischen "Fortune Cookie". +So weit, so rassistisch und verstörend. Und so satirisch.  Nach und nach entwickeln die Frauen ihre Charaktere dann selbst so weiter, dass sie Spaß an der Arbeit haben. Regisseur Sylvia lässt sie – es bleibt ihm auch nichts anderes übrig. So versuchen die "Gorgeous Ladies Of Wrestling" sich mit ihrer Show im Fernseh-Business zu behaupten. An Protagonistin Ruth ist übrigens nur "ungewöhnlich", dass sie lieber die männlichen als die weiblichen Rollen spielen würde, weil sie die spannender findet und deshalb als Schauspielerin erfolglos ist. + + + +Mitten in der zweiten Staffel steht Ruth also vor der Bungalow-Tür. "Tu's nicht!", will man ihr noch zurufen, als sie tief durchatmet und eintritt. Wenig später sitzt sie betrunken auf der Couch. Statt Essen wurde bisher nur Wein serviert. Ruth versucht, das Gespräch strikt beim Geschäftlichen zu belassen. Trotzdem landet das Ohr des Senderchefs irgendwann an ihrer Brust, getarnt als Wrestling-Move, den sie ihm zeigen soll. Ruth ergreift die Flucht, am nächsten Tag wird der Sendeplatz der Show von 10 Uhr auf 2 Uhr morgens verschoben. +Als Ruth sich der Produzentin der Show anvertraut, kommt es zum Streit. "Hätte ich mit ihm ficken sollen?", fragt Ruth. "Nein. Du sollst ihn glauben lassen, dass du wahnsinnig gern mit ihm ficken würdest, wenn du nicht verlobt wärst oder grad deine Tage hättest oder ein Gebiss hast, wo eigentlich deine Vagina wäre", bekommt sie zurück. Das sei aber nicht wahnsinnig feministisch, sagt Ruth. Die abgebrühte Antwort: "Feminismus hat Prinzipien und das Leben Kompromisse." +So könnte die #MeToo-Debatte in den 1980er-Jahren gelaufen sein. Knapp 30 Jahre später ist das Film- (beziehungsweise Netflix-) Stoff – in einer Serie über meist halbnackte aber immer kämpfende Frauen. + + + + diff --git a/fluter/Never-Rarely-Sometimes-Always-Abtreibung-Film.txt b/fluter/Never-Rarely-Sometimes-Always-Abtreibung-Film.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..02366969adf5575f2fceee10a7ba578240203c13 --- /dev/null +++ b/fluter/Never-Rarely-Sometimes-Always-Abtreibung-Film.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Autumn ist 17 und schwanger. Das weiß zunächst niemand, aber langsam wird es auffällig. Mühevoll muss sie beimNebenjob im Supermarktgegen Übelkeit ankämpfen, und auf dem Ultraschallbild ist auch schon was zu sehen. "Gibt es eine Möglichkeit, dass aus positiv wieder negativ wird?", fragt sie ihre Frauenärztin. Die zeigt ihr daraufhin einen Anti-Abtreibungsclip mit dem Titel "Hard Truth". In Pennsylvania ist Abtreibung nicht verboten, aber für Minderjährige nur mit Zustimmung der Eltern möglich – und gesellschaftlich kaum akzeptiert. Heimlich fährt Autumn schließlich mit ihrer Cousine Skylar nach New York, um den Eingriff vornehmen zu lassen. Das dauert aber überraschend mehrere Tage, weil Autumn schon über die zwölfte Woche hinaus ist. Die mittellosen Mädchen müssen die Nächte in Malls, U-Bahnen und Spielhallen totschlagen. +Wie wird's erzählt? +Als leises, überaus realistisches Drama. Wegen der jungen Protagonistinnen könnte man einen klassischen Coming-of-Age-Film erwarten; aber "Never Rarely Sometimes Always" schwelgt nie – wie für das Genre üblich – in der Schönheit der Jugend und will auch nicht aufeinen Reifeprozesshinaus. Die Regisseurin Eliza Hittman hat schon in ihrem letzten Film "Beach Rats" (2017) bewiesen, dass sie großes Einfühlungsvermögen und einen Sinn für die Identitätskrisen junger Menschen besitzt – vor allem, wenn es um den eigenenKörpergeht. Die Kamera (Hélène Louvart) rückt auch hier schmerzhaft nah an die Hauptdarstellerin Sidney Flanigan heran, wenn sie sich selbst ein Piercing in die Nase sticht oder verzweifelt auf den schwangeren Bauch trommelt. +Was soll uns das zeigen? +Dass das Recht auf einenSchwangerschaftsabbruchfür Frauen unverzichtbar ist. Auf dieser Haltung baut der Film zweifelsohne auf, er trägt sie aber nicht mit dem Holzhammer vor. Sondern in kleinen, unaufdringlichen Momenten. Immer wieder ruft "Never Rarely Sometimes Always" ins Bewusstsein, wie viel Sexismus Frauen und Mädchenim Alltagaushalten müssen: vom ignoranten Vater bis zum übergriffigen Vorgesetzten, vom Aufreißerstudenten bis zum U-Bahn-Wichser. + + + + +Gut zu wissen +Seit dem berühmten Fall "Roe vs. Wade" vor dem Obersten Gerichtshof im Jahr 1973 sind Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich in allen US-Bundesstaaten legal. Allerdings haben in den vergangenen Jahren einige republikanisch regierte Bundesstaaten versucht,das Recht auf Abtreibung einzuschränken. US-Präsident Donald Trump,selbst erklärter Abtreibungsgegner, hat in seiner Amtszeit außerdem schon zwei Richter für das Oberste Gericht der USA ausgewählt, die sich klar gegen Schwangerschaftsabbrüche ausgesprochen haben. Wenn es nach Trump geht, wird baldnoch eine Abtreibungsgegnerindazukommen: Die Juristin Amy Coney Barrett soll der im September verstorbenen liberalen Richterin Ruth Bader Ginsburg nachfolgen und damit die konservative Mehrheit am Supreme Court zementieren.Pro-Choice-Unterstützer fürchten, dass das Oberste Gericht dann das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch kippen oder zumindest stark einschränken könnte. + +Stärkste Szene +"Never. Rarely. Sometimes. Always." Mit diesen Worten soll Autumn in der New Yorker Klinik auf ein paar sehr persönliche Fragen antworten, etwa: "Haben deine Sexualpartner jemalsVerhütungsmittelabgelehnt? Haben sie jemalsgegen deinen Willen mit dir Sex gehabt?" Die vertrauensvolle Stimme der Ärztin kommt hier nur aus dem Off, minutenlang fixiert die Kamera die Protagonistin. Ein großer Schauspielmoment für Sidney Flanigan, die kein großes Geständnis ablegt, aber viel Schlimmes erahnen lässt. + +Good Job +Lob fürs Casting von Sidney Flanigan und Talia Ryder: keine 30-jährigen Hollywoodstars, die auf jugendlich machen. Die beiden extrem talentierten Hauptdarstellerinnen sehen tatsächlich aus wie 17-jährigeProvinzmädchen mit Angst vor der Großstadt. Kein Wunder, dass "Never Rarely Sometimes Always" auf der diesjährigen Berlinale mit dem Großen Preis der Jury – dem wichtigsten der Silbernen Bären – ausgezeichnet wurde. + +Ideal für … +… junge Männer zwischen 15 und 25 Jahren. Richtig gelesen. Aber auch für alle anderen. + +"Never Rarely Sometimes Always"(USA 2020) ist 101 Minuten lang und kommt am 1. Oktober in die deutschen Kinos. + diff --git a/fluter/Olympia-Sportf%C3%B6rderung-Deutschland.txt b/fluter/Olympia-Sportf%C3%B6rderung-Deutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ee9648d34403e5454beb895f5d59ccc9cc7c0ccc --- /dev/null +++ b/fluter/Olympia-Sportf%C3%B6rderung-Deutschland.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +"Ziemlich fragwürdig" fand Andreas Kuffner das Statement deshalb. Der Hüne mit dem Schumi-Kinn hat 2012 bei Olympia in London die Goldmedaille im deutschen Ruder-Achter gewonnen und sich in den vergangenen Monaten intensiv auf die Spiele von Rio vorbereitet. Sieben Tage pro Woche hat er trainiert, zwei- bis dreimal am Tag. Zusammen mit den Fahrtzeiten, den Physiotherapie- und Regenerationseinheiten war das ein Fulltimejob. Millionengehalt? Fehlanzeige. Kuffners Miete zahlen seine Eltern. +Außerdem unterstützen ihn sein Ruderverein, der Olympiastützpunkt Berlin und vor allem die Deutsche Sporthilfe. Die durch Spenden, Vermarktung und Lotteriegelder finanzierte Stiftung fördert insgesamt rund 3.800 Sportler mit jährlich bis zu 12,5 Millionen Euro. Der 29-Jährige, der nun schon sein halbes Leben rudert, erhielt anfangs 75 Euro im Monat, mittlerweile ist er im A-Kader angelangt und erhält in den anderthalb Jahren vor Olympia eine spezielle Förderung von 1.500 Euro pro Monat. Die hält ihm jetzt erst einmal den Rücken frei, nach dem Wettkampf ist damit aber Schluss. +"Finanziell gesehen lohnt sich der Aufwand für mich sicher nicht", sagt Kuffner. In Nichtolympiajahren reiche das Geld gerade so, Rücklagen bilden könne er nicht. Auch die Siegprämie für die Goldmedaille von London habe daran nichts geändert: 15.000 Euro zahlte ihm die Sporthilfe, in diesem Jahr wären es für dieselbe Platzierung 20.000 – ausgezahlt jeweils über den Verlauf eines Jahres. +Statt über die kärgliche Finanzierung zu jammern, entschied sich der Ruderer für ein Studium im Fach Wirtschaftsingenieurwesen, derzeit schreibt er an seiner Masterarbeit. Seit Studienbeginn hat er trotz seiner Verpflichtungen als Profisportler nur vier Semester über die Regelstudienzeit hinaus angehäuft. Vollzeitjob plus Vollzeitstudium – Kuffner schont sich nicht. Über die Jahre hat er allein Tausende Stunden im Zug verbracht: Er lebt und studiert in Berlin, die Ruderer des Deutschland-Achters trainieren in Dortmund. +Eine Alternative, die derzeit rund 1.000 Sportler in Anspruch nehmen, ist die Spitzensportförderung des Bundes, die ihnen durch eine Anstellung bei der Bundespolizei, beim Zoll oder etwa der Bundeswehr ermöglicht wird. Wer als Topathlet beim Bund arbeitet, kann sich weitestgehend auf den Sport konzentrieren, wird etwa von beruflichen Verpflichtungen wie Lehrgängen befreit – und hat trotzdem ein sicheres Einkommen. +Das ist umstritten. "Vor 30 Jahren haben wir auf den Ostblock und seine ‚Staatsamateure' geschimpft", sagt etwa Wolfgang Maennig, der 1988 selbst Olympia-Gold im Ruder-Achter gewann und heute Professor für Wirtschaftswissenschaften ist. Es sei verpönt gewesen, dass die Sportler dort beim Militär angestellt waren, aber in Wirklichkeit keine Ausbildung absolvierten und keinem Beruf nachgingen, sondern nur ihren Sport betrieben. "Heute machen wir genau das Gleiche." +Dabei halten Experten das Modell nicht bloß für ein Relikt des Kalten Krieges, auch die Effektivität der Förderpraxis sei bereits in einigen Untersuchungen widerlegt worden. Die Sportsoldaten und -soldatinnen würden zu wenig gefordert und ließen sich einlullen. "Auch die trainingsintensivsten Sportarten nehmen nicht den ganzen Tag ein", sagt Maennig. Die Lücken würden mit Skat und Fernsehen gestopft, am Ende entwickelten sich viele auch sportlich schlechter als ihre Kollegen außerhalb der Bundeswehr. "Wo bleibt unser Idealbild von mündigen, ganzheitlich entwickelten Athleten?" +Andreas Kuffner hat mittlerweile eine Perspektive für das Leben nach der Sportlerkarriere. Geholfen habe ihm auch hier die Deutsche Sporthilfe mit ihrer dualen Karriereförderung, die unter anderem die Vermittlung von Praktika und Mentoren beinhaltet. Das BMI hat ein ähnliches "Sprungbrett" geschaffen, um Leistungssportlern im Anschluss an ihre Sportkarriere den Einstieg ins "normale" Berufsleben zu erleichtern, und auch bei der Bundespolizei sind die beruflichen Perspektiven für Sportler gut. +Mitglieder der Sportfördergruppen der Bundeswehr hingegen erzählen hinter vorgehaltener Hand, dass sie für eine Bundeswehrlaufbahn eigentlich gar nicht geeignet seien. Sieben Jahre ist einer dabei, die Lehrgänge kann er an einer Hand abzählen: "Wie man eine P8 auseinanderbaut? Weiß ich nicht mehr." Das deckt sich mit der Einschätzung von Professor Maennig: "Zu viele stehen nach den Jahren in Bundeswehr und Spitzensport vor dem beruflichen Nichts." Das Bundesverteidigungsministerium kommentierte diese Kritik auf Anfrage nicht. +Wo liegt das Problem mit der Sportförderung also? Es gebe zu wenig Geld für die Sportler, ist regelmäßig vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) zu hören. Dabei gab allein das BMI im vergangenen Jahr rund 157 Millionen Euro für den Spitzensport aus, das Geld ging etwa an die einzelnen Verbände oder wurde in Sportstätten gesteckt. Es sei nicht ersichtlich, nach welchen Kriterien die öffentlichen Gelder verteilt werden,stellte der Bundesrechnungshof fest. Die deutsche Sportförderung sei ineffizient und voller Interessenkonflikte, sagt Sportwissenschaftler Arne Güllich, der zwölf Jahre beim DOSB tätig war. +Beim Bundesministerium des Innern kennt man die Kritikpunkte und sieht durchaus auch Handlungsbedarf: Nach den Spielen von Rio wolle das Ministerium gemeinsam mit dem DOSB ein Konzept zur Neuausrichtung der Sportförderung vorstellen, sagte die Pressesprecherin auf Anfrage von fluter.de. Vom Streben nach Medaillen wird das BMI aber nicht abrücken: Zu wichtig sei die "gesamtstaatliche Repräsentation". Außerdem würden die Steuerzahler Erfolge erwarten. +Die meisten Sportler selbst sprechen zurückhaltend über diese Themen. Nur eins ist wohl für keinen von ihnen akzeptabel: mehr von den Sportlern fordern, aber nicht auch bereit sein, dafür mehr in den Sport zu investieren. +Wenn Andreas Kuffner sich etwas wünschen könnte, wäre das dennoch nicht in erster Linie mehr Geld. Lieber wäre ihm mehr Aufmerksamkeit für Randsportarten. Damit ist natürlich auch das Finanzielle verbunden, es geht ihm aber auch um Anerkennung für das, was er macht. Für ihn ein erster Schritt: eine "Sportschau", die ihren Namen verdient – also nicht größtenteils bloß eine Fußballschau ist. diff --git a/fluter/P%C3%A4htz-Schach-Gleichberechtigung.txt b/fluter/P%C3%A4htz-Schach-Gleichberechtigung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9a28118c40dbbb5d6973f6b99a0b548188f47736 --- /dev/null +++ b/fluter/P%C3%A4htz-Schach-Gleichberechtigung.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Pähtz lernte im Kindergartenalter Schach zu spielen. Ihr Vater zählte zu den besten Schachspielern der DDR, und auch ihr älterer Bruder spielte Schach. Also verbrachte Pähtz als Kind viel Zeit auf Turnieren und lernte die Grundzüge des Spiels durchs Zuschauen. "Es macht einen großen Spaß, wenn du als kleines Mädchen sehr viel ältere oder gar erwachsene Gegner besiegen kannst", schreibt Pähtzin ihrem aktuellen Buch. Ein Spiel, bei dem sich die Verhältnisse und Hierarchien umkehren lassen – und Kinder und Jugendliche die Erwachsenen dominieren können. +Heute ist die Liste von Pähtz' Titeln lang. Mit 14 Jahren gewann sie als jüngste Schachspielerin erstmals die deutsche Damenmeisterschaft. 2001 wurde sie Großmeisterin im Schach – ein Titel, der extra für die Frauen eingeführt wurde. Denn es gibt auch noch den Großmeistertitel, die höchste Auszeichnung im Schach, die allen Geschlechtern offensteht. Die Normen dafür hat Elisabeth Pähtz vergangenes Jahr erfüllt. Als vierzigste Frau weltweit und als erste deutsche Schachspielerin ist sie auch Großmeister. +Unter den Schachgroßmeistern sind nur rund zwei Prozent Frauen. Dass deutlich mehr Männer professionell Schach spielen ist sicher ein Grund dafür, die ungleiche Behandlung der Frauen ein anderer. Auf die hatte Pähtz während ihrer Karriere immer wieder hingewiesen: Darauf, dass den Männern mehr Trainer und größere Turniere zur Verfügung standen. Dass die Honorare und Turnierzuschüsse für die Frauenkader wesentlich geringer ausfielen. Bei Weltcups und Grand-Prix-Turnieren liegen laut Pähtz die Prämien für Frauen im Durchschnitt noch immer zwei Drittel unter denen der Männer. Und selbst wenn sie in der Weltrangliste unter den besten 20 Frauen liegt, sei siefinanziell deutlich schlechter gestelltals eine Nummer 150 der Männer. +Immer wieder sei sie vom Schachbund vertröstet worden, sagt Pähtz. Sie solle die Top Ten und eine Elo-Zahl (die die Spielstärke beschreibt) von 2.500 erreichen, dann könne noch mal verhandelt werden. 2018 schaffte Pähtz beides, und nichts geschah. Schließlich war für sie der Punkt gekommen, an dem sie die Ungleichbehandlung im Deutschen Schachbund nicht mehr hinnehmen wollte. 2019 erklärte sie ihren Rücktritt aus der Nationalmannschaft +Dieser Text ist in fluter Nr. 87 "Spiele" erschienen. Das ganze Heftfindet ihr hier. +Ein Jahr später trat sie wieder ein. Der damalige Präsident des Deutschen Schachbunds, Ullrich Krause, sagte dazu: "Sie hat ihre Ziele in der Tat erreicht. Die Frauen haben jetzt einen Weltklasse-Bundestrainer, und wir haben ihren Wunsch nach Förderprogrammen für talentierte Frauen mitdem ‚Powergirls'-Programmin die Tat umgesetzt." Pähtz selber spricht davon, dass der Deutsche Schachbund inzwischen ein Vorzeigeverband sei, was die Gleichberechtigung betrifft. +Seit fast zwanzig Jahren steht Elisabeth Pähtz an der Spitze des deutschen Frauenschachs. Sie sagt selbst: Es ist längst Zeit für eine Ablösung. + +Titelbild: Filip Horvat/Polaris/laif diff --git a/fluter/Pavin-Monarchie-Thailand-Interview.txt b/fluter/Pavin-Monarchie-Thailand-Interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..75ad82ca805d962f5371a3c102b64013390aa033 --- /dev/null +++ b/fluter/Pavin-Monarchie-Thailand-Interview.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +fluter.de: Wenn man gerade nur deutsche Nachrichten verfolgt, wüsste man gar nichts von einer Demokratiebewegung in Thailand. Wird denn noch protestiert? +Pavin Chachavalpongpun: Ja, allerdings etwas weniger: Thailand hat eine neue Covid-Welle erreicht, und vier Anführer unserer Protestbewegung wurden wegen Artikel 112, einem strengen Majestätsbeleidigungsgesetz, festgenommen. In den aktuellen Protesten wird fast ausschließlich ihre Freilassung gefordert. Es fehlen die Forderungen, die die Menschen mal inspiriert haben, auf die Straße zu gehen. +Was waren das für Forderungen? +Die Auflösung des Parlaments, eine neue Verfassung, eine Reform der Monarchie, strenge Grenzen für Maha Vajiralongkorn. +Der König verbringt viel Zeit in Deutschland. Während des ersten Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 stieg er länger in einem Luxushotel in Garmisch-Partenkirchen ab, später in seiner Villa am Starnberger See. Viele Thailänder*innen sind enttäuscht, dass er sein Land mit derCorona-Kriseallein lässt, um im Ausland sein luxuriöses Privatleben zu genießen. +Die Protestbewegung hat ihn deutlich kritisiert. Diese wichtigen Forderungen rücken in den Hintergrund, weil die Öffentlichkeit durch die Pandemie weniger über die Monarchie redet. Das spielt dem Regime in die Hände. +Der König hat sich in den vergangenen Jahren immer mehr Macht verschafft, obwohl Thailand auf dem Papier eine konstitutionelle Monarchie ist. Er arbeitet eng mit dem Militär zusammen, kontrolliert persönlich die königlichen Finanzen und lässt Menschen, die ihn kritisieren, für Jahrzehnte wegsperren. Leben Sie deswegen im Exil? +Ja, und das schon seit 2014, als der letzte Militärputsch stattfand. Ich wurde damals abgemahnt, weil ich das Militär und die Monarchie öffentlich kritisiert hatte. Als ich mich weigerte zu schweigen, erließen sie einen Haftbefehl gegen mich und nahmen mir den Pass weg. Seitdem lebe ich in Kyoto. +Ihre Facebook-Gruppe "Royalist Marketplace" wird von der Regierung genau beobachtet und war in Thailand zwischenzeitlich gesperrt. Wieso? +"Royalist Marketplace" ermöglicht eine öffentliche Diskussion über die thailändische Monarchie. Dort tauschen Hunderttausende Menschen ihre Ideen zur Reform der Monarchie aus und organisieren ihre Proteste. +Das wäre sonst im Land kaum möglich – oder gefährlich. Ist der Protest im Internet am Ende sogar effektiver als der auf der Straße? +Beide Protestformen funktionieren nicht für sich allein. Sie gehen heute Hand in Hand: Im Internet mobilisieren sich die Menschen, das ist eine wichtige Voraussetzung für den physischen Protest. Aber reine Onlineproteste führen nirgendwo auf der Welt zu politischen Reformen. +Worüber diskutieren die Menschen in der Gruppe? +Über alles, was das Königshaus betrifft. Wir posten zum Beispiel Bücher oder Artikel, die sich kritisch mit der Monarchie auseinandersetzen. Wir machen Witze oder reden über die neuesten Gerüchte und Skandale des Königs. Wir fordern unser Recht auf freie Meinungsäußerung, auf Selbstbestimmung und auf Gleichberechtigung ein. Ich selbst bin queer, deshalbsetze ich mich besonders für LGBTQ-Rechte ein.Jede Gesellschaft, die sich demokratisch und frei nennt, muss die Rechte ihrer Minderheiten respektieren. Und die Gruppe dient mir auch als Plattform für meineTikTok-Videos,in denen ich thailändische Tagespolitik, wie zum Beispiel Gewalt bei den Protesten oder die Zweithochzeit des Königs, kommentiere. +Dabei kleben Sie sich auch mal falsche Wimpern an. +Die meisten denken, Akademiker sitzen immer im Seminar, lesen und schreiben Bücher. Ich sehe das anders. Ein Akademiker muss Grenzen austesten, eine öffentliche Diskussion anregen. Dafür probiere ich Dinge aus. Ich lege gern eine Performance hin, singe Lieder oder klebe mir falsche Wimpern an, wenn die politische Message so besser rüberkommt.Nicht jeder versteht akademische Sprache.Viele junge Menschen in Thailand studieren nicht. Mir ist es wichtig, alle zu erreichen. +Das scheint zu funktionieren. Ihre TikTok-Videos sind beliebt, vielleicht weil sie überdreht und sarkastisch sind, aber immer hochpolitisch. Seit ein paar Wochen sind Sie auch auf Clubhouse. Geht es da genauso lustig zu? +Nein, wir führen dort eher seriöse Diskussionen über die Monarchie. Ich rede zum Beispiel darüber, was es für Thailand bedeutet, dass der König Maha Vajiralongkorn im Ausland – in Deutschland – lebt. Clubhouse ist für mich gerade die interessanteste Plattform, weil die Kommunikation so unvermittelt ist. An manchen Abenden spreche ich live mit 50.000 Personen. +Seine Dissidenz: Pavin Chachavalpongpun wagt Kritik am thailändischen König. Seit einigen Jahren lebt er deshalb in Kyoto +Was ist mit denen, die anderer Meinung sind? Bekanntlich gibt es in Thailand ja auch viele Anhänger der Monarchie, die Royalisten, die wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. +Die Teilnehmer bei Clubhouse sind überwiegend junge Menschen, die sich Veränderung wünschen, also grundsätzlich eher meiner Meinung sind. Die Royalisten finden sie meist in der älteren Generation, den Eltern der Protestant*innen und im Militär, das das Land kontrolliert. Die thailändischen Proteste spiegeln auch einen Generationenkonflikt wider. +Wollen Sie irgendwann zurück nach Thailand? +Natürlich. Das würde bedeuten, dass Thailand sich zum Guten verändert hat. diff --git a/fluter/Plattformregulierung-interview.txt b/fluter/Plattformregulierung-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d81fd9ab466ed0aebb6a51303061bf123800a196 --- /dev/null +++ b/fluter/Plattformregulierung-interview.txt @@ -0,0 +1,35 @@ +Torben Klausa: Allerdings! Die EU arbeitet an einem großen Gesetzespaket, das die Onlinewelt regulieren soll. Dagegen wehren sich die Lobbyist:innen in Brüssel vehement: Noch stehenriesige Plattformen wie Meta, Alphabet oder TikTokeuropäischen Gesetzen gegenüber, die mehr als 20 Jahre alt sind. 20 Jahre! Das war noch vor dem ersten iPhone. Um mit den Entwicklungen Schritt zu halten, bohrt die EU gerade ein dickes Brett. +Was plant sie genau? +Die Techkonzerne haben nicht nur wirtschaftlich enormen Einfluss, sondern auch politisch: Sie entscheiden zum großen Teil, mit welchen Inhalten wir online konfrontiert werden, was wir von der Welt wahrnehmen. Diese Macht möchte die EU mit zwei großen Gesetzen beschneiden. Es geht beispielsweise um die Frage,welche Daten Konzerne nutzen dürfen, um mir personalisierte Inhalte wie Werbung anzuzeigen.Aber auch darum, besser zu verstehen, welche Auswirkungen Plattformen wie Facebook oder TikTok auf unsere Demokratie haben. Sie sollen etwa verpflichtet werden, die Nutzer:innen zu informieren, warum ihnen welche Inhalte angezeigt werden. Im Moment wissen nur die Konzerne, wie ihre Algorithmen funktionieren. Obwohl manche sagen, nicht mal die wüssten das. +Meta drohte im Februar, es könne Dienste wie Facebook oder Instagram eines Tages in der EU abschalten. +Meta sieht sein Geschäftsmodell bedroht:personalisierte Werbung.Wenn transparent wird, wie die Empfehlungsmechanismen arbeiten, könnten Wissenschaftler:innen oder Journalist:innen die Algorithmen künftig erforschen und zeigen, wann damit Schindluder getrieben wird. Es gab sogar mal den Vorschlag, personalisierte Werbung ganz zu verbieten. Dieser Vorstoß ist vom Tisch – wahrscheinlich durch intensive Lobbyarbeit der Techkonzerne. +Immer wieder wird auch eine "Entflechtung" diskutiert, also die Aufteilung und Zerschlagung der großen Techkonzerne. +Das sehe ich eher als populistischen Vorstoß. Das Geschäftsmodell und die Gefahren von Instagram und Facebook ändern sich nicht automatisch, wenn sie nicht mehr Teil des Meta-Konzerns sind. Die EU schreibt stattdessen gerade ganz neue Spielregeln für die Internetriesen. +Würden die verändern, wie gut die Dienste für mich funktionieren? +Das sogenannte Nutzererlebnis soll sich im besten Fall kaum ändern. Aber die Plattformen drohen natürlich damit, dass die EU-Gesetze ihre Produkte verschlechtern. + +Ich stelle mir gerade EU-Präsidentin Ursula von der Leyen vor, die sich jeden Morgen beim ersten Espresso ihren Insta-Feed neu zusammenstellt. Ganz ohne undurchsichtige Algorithmen und Datenlecks, dafür aber eben mit großem Aufwand. +Personalisierte Feeds wird es weiter geben. Die EU möchte nicht vorschreiben, ob man Katzen- oder Hundevideos sieht – sie will, dass angezeigt wird, warum man gerade das achte Katzenvideo in Folge sieht. +Was würde sich noch ändern? +Sogenannte "Dark Patterns" sollen verboten werden. Bekanntestes Beispiel: Die Cookieerlaubnis auf Webseiten, wo das "Ja" meist fett und grün steht, das "Nein" aber irgendwo grau in Miniatur. Solche Tricks sollen verboten werden. Außerdem muss ich der Nutzung meiner Daten widersprechen können, ohne dass ich etwa ein abgespecktes "Facebook light" bekomme. +Wo steht das Gesetzespaket gerade? +Bei beiden Gesetzen sind sich EU-Parlament und die Mitgliedsstaaten im Europäischen Rat grundsätzlich einig. Jetzt müssen die beiden Gremien die Entwürfe noch förmlich bestätigen, was wohl noch 2022 passieren soll. Beide würden dann nach einer kurzen Übergangsfrist bald in allen EU-Staaten gelten. +Die EU will die Marktmacht der Big-Tech-Unternehmen regulieren, online für einen fairen Wettbewerb sorgen und Grundrechte im Internet wahren. Dafür entstehen gerade zwei neue Gesetze: +Der Digital Markets Act (DMA) soll das "Gatekeeping" von Plattformen mit monatlich mehr als 45 Millionen Nutzer:innen in der EU begrenzen. Denn Digitalriesen wie Apple, Amazon oder Google arbeiten wie Türsteher des Internets: Sie bestimmen, welche Produkte du siehst oder welche Anwendungen du installieren darfst. Um einen faireren Wettbewerb im Internet herzustellen, möchte die EU diese Macht beschränken. Die Anbieter sollen zum Beispiel eigene Produkte und Dienstleistungen nicht mehr bevorzugen dürfen. Ende März haben sich EU-Parlament und EU-Rat auf eine finale Fassung für den DMA geeinigt. +Mit dem Digital Services Act (DSA) möchte die EU eine Art Grundgesetz fürs Internet schaffen. Die Plattformanbieter sollen offenlegen, wie ihre Algorithmen funktionieren und welche Daten sie nutzen. Außerdem sollen sie Beschwerdestellen einrichten und illegale Inhalte schneller löschen. Die Nutzer:innen wiederum sollen leichter Beschwerde einlegen können, wenn ihre Inhalte gelöscht wurden. Die Plattformen müssen dann genau darstellen, warum sie etwas entfernt haben. Wenn sie das nicht nachvollziehbar können, sollen Nutzer:innen Anspruch auf Schadenersatz haben. +Das große Ziel des DSA: die Nutzer:innen vor Desinformation und Hatespeech schützen. Je größer die Plattform, desto mehr Verpflichtungen muss sie einhalten. Ende April einigten sich Unterhändler:innen des Europaparlaments und der EU-Staaten auf eine Fassung des DSA, die jetzt vom Europaparlament und den EU-Staaten bestätigt werden muss. Das gilt als Formsache.Das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) zur Bekämpfung von Straftaten und Hassrede im Internetdürfte dann weitgehend durch den DSA ersetzt werden. +Übrigens gelten DMA und DSA zwar als starke Signale der EU an die Digitalplattformen, es gibt aber bereits Zweifel, ob die neuen Gesetze erfolgreich durchgesetzt werden können. Digitalverbände und Kritiker wie Lobbycontrol mahnen, dass über die Wirkung der neuen Gesetze vor allem entscheide, dass die EU ausreichend Personal einstelle, schnell genug handele und sich nicht auf Kompromisse mit den Plattformen einlasse. +Warum hat das deutsche Kartellrecht so wenig Einfluss auf die Plattformen? Der Bundeswirtschaftsminister kann in Einzelfällen entscheiden, ob zwei Supermarktketten fusionieren dürfen oder nicht, aber bei Internetkonzernen scheint er machtlos. +Das würden wahrscheinlich sowohl das Bundeskartellamt als auch die Plattformen anders sehen. (lacht) Das Kartellamt führt bereits Verfahren gegen Facebook, Google und Amazon. Aber es stimmt: Die neuen Möglichkeiten, kartellrechtlich gegen bestimmte Praktiken der Tech-Konzerne vorzugehen, gibt es noch nicht so lange. Und da es um weltumspannende Konzerne geht, dauert das ein bisschen. +Auch China oder die USA machen sich Gedanken, welche Regeln ein Internet braucht, das einige wenige Konzerne und Algorithmen bestimmen. Sind sie damit erfolgreich? +China ist sehr viel weiter bei der Regulierung von Algorithmen und Inhalten im Netz. Dort ist es aber eher eine Zensur: Über die Uiguren oder das Tian'anmen-Massaker wird man im chinesischen Netz nichts oder zumindest nichts Objektives finden. Am Beispiel China sieht man, dass Internetregulierung immer eine Gratwanderung ist:zwischen der Verbannung rechtswidriger Inhalte und der Beschneidung der freien Meinungsäußerung. +Und die USA? Dort sind wesentlich mehr Digitalriesen ansässig als in der EU. Den Europäern dürfte es entsprechend leichter fallen, die Techgiganten durch Gesetze zu ärgern. +Die USA arbeiten aber an ähnlichen Gesetzen. Das war übrigens auch die Hoffnung der Europäer: dass sie weltweites Vorbild sein können und den Ton bei der Internetregulierung vorgeben. Das hat bei der Datenschutz-Grundverordnung gut funktioniert, an ihr orientieren sich Staaten weltweit. Die USA haben spätestens nach der Wahl Donald Trumps erkannt, dass das Silicon Valley eine riesige politische Macht hat,weil die Unternehmen dort nicht genug gegen Fake News im Wahlkampf vorgegangen sind.Dass Elon Musk jetzt im Alleingang Twitter übernehmen will, befeuert die Debatte zusätzlich. +Nach dem Sturm aufs Kapitol im Januar 2021 haben Twitter, Facebook und Instagram Donald Trump von ihren Plattformen geschmissen. Fandest du das richtig oder falsch? +Dass er gesperrt wurde, fand ich im Ergebnis richtig. Aber nicht, wie er gesperrt wurde. Da haben kurzerhand die Chefs privater Unternehmen entschieden. Das war als Vorgang nicht demokratisch legitimiert. Genauso wie die Plattformen nicht demokratisch legitimiert sind, aber über unsere Inhalte entscheiden. +Um die private Ordnung der Techkonzerne demokratisch zu legitimieren, fordern manche sogenannte Plattformräte. Die sind wie ein Miniparlament, das die Regeln für soziale Medien festlegt. +Die Idee stammt eigentlich aus dem Medium Fernsehen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird von sogenannten Rundfunkräten überwacht. Sie vertreten die Interessen der Bürger:innen und schauen, ob alles mit rechten Dingen zugeht. +Die Ampelkoalition will solche Räte für soziale Medien fördern. +Die Idee klingt vielversprechend. Die Herausforderung wird sein, solche Räte verbindlich für die Unternehmen zu verankern. Die Plattformräte müssten ja bei den Unternehmen selbst angesiedelt sein, um sie überwachen zu können. Für die EU-Gesetze sind sie meines Wissens kein Thema, und ich bezweifle, dass es Vergleichbares in naher Zukunft in Deutschland geben wird. +Viele Menschen, darunter auch namhafte wie Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck,halten sich ganz von sozialen Medien fernoder steigen aus. Welche Plattformen nutzt du? +Ich habe ein altes Facebook-Konto, auf dem ich nie bin. Bei Instagram logge ich mich selten ein. Am meisten nutze ich Twitter, auch um berufliche Kontakte zu pflegen. Würde ich WhatsApp nicht mehr nutzen, hätte ich keine Chance, meine Familie vernünftig zu erreichen. Klar ist: Die Plattformen sind für Nutzer:innen Lebensqualität. Deshalb kann die Lösung nicht sein, dass wir komplett auf sie verzichten, sondern dass wir ihnen Regeln geben. diff --git a/fluter/Polizist-im-Einsatz-waehrend-der-G20-Krawalle.txt b/fluter/Polizist-im-Einsatz-waehrend-der-G20-Krawalle.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4591b53384a26f22c98b81c4374800fbb9302484 --- /dev/null +++ b/fluter/Polizist-im-Einsatz-waehrend-der-G20-Krawalle.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +"Ich habe Respekt vor diesem Einsatz" +Schon vor dem Einsatz hat sich Sebastian Brandt so seine Gedanken gemacht – und sie uns ganz offen mitgeteilt -->Zum Artikel +Als wir die Demo dann stoppten, flogen Wurfgeschosse. Ich habe eine Flasche ans Schienbein bekommen und einen Stein an den Helm. Es ist das erste Mal, dass mir so etwas passiert ist. Man spürt den dumpfen Aufprall an der Montur, ansonsten ist man in der Situation zu angespannt, um Wut oder Ärger zu empfinden. Emotionen sind da nicht vorhanden. Man schaut sich konzentriert um, orientiert sich an den Kollegen der Einheit und versucht, sich zu schützen. Später realisiert man, was da eigentlich passiert ist. Ich frage mich, was für eine Motivation dahintersteckt und woher dieser Hass und diese Energie kommen. Natürlich findet man keine richtige Antwort darauf. +Am Freitagabend mussten wir eine weitere Demo absichern, als meine Einheit verständigt wurde, weil die Lage im Schanzenviertel eskalierte. Es hieß, Anwohner hätten in Panik bei der Polizei angerufen, es würden Barrikaden brennen und Geschäfte angezündet. Es war die Rede davon, dass die Randalierer Molotowcocktails vorbereitet hätten. Ich habe nur gehofft, dass wir genug Polizisten sind, um da reinzugehen. Gott sei Dank hatten Sondereinsatzkräfte die Situation inzwischen einigermaßen unter Kontrolle gebracht. +Es gab brennende Schrottberge, aus einem guckte noch ein halbes Fahrrad heraus. In den Asphalt hatten sich Löcher gebrannt. Die Fahrbahnen und Gehsteige waren übersät mit Schutt, Pflastersteinen, kaputten Regalen. Es zog rauchiger Nebel aus einem Rewe-Markt die Straße entlang, in dem sich dann ein Pressevertreter abzeichnete. Er wollte aus dem Viertel raus, und ich habe ihn begleitet. Mir kam zwischenzeitlich der Gedanke, dass es hier wie im Bürgerkrieg aussieht. +Irritiert haben mich die vielen Schaulustigen. Dass Menschen in solchen Situationen Selfies vor der Polizei machen, ist fast schon ein Klassiker. Es kam immer wieder vor, dass wir einschreiten mussten, weil Leute im Weg standen. Aber es gab auch viele Situationen, die einfach großartig waren. Anwohner haben uns Süßigkeiten und kalte Cola gebracht – die war bei der Hitze und den Strapazen übrigens echt ein Segen. In solchen Momenten ist man fast schon zu perplex, um das angemessen würdigen zu können. Während der Hauptgipfel-Tage war ich gar nicht zu Hause. Ich war froh, wenn ich zwischendurch im Einsatzwagen mal ein paar Minuten die Augen schließen konnte. Zwischen den Schichten haben wir allenfalls ein paar Stunden in den Feldbetten im Polizeiquartier geschlafen. Jetzt werde ich erst einmal das Schlafdefizit ausgleichen. Ich habe sogar das große Glückslos gezogen: Ich habe zwei Tage am Stück frei, bevor es wieder mit dem ganz normalen Dienst losgeht. Viele Kollegen haben nur einen Tag zum Ausspannen. + diff --git a/fluter/Predictive-Policing.txt b/fluter/Predictive-Policing.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9813a745da6ab5f9d8f44f64bbcc4611f164a302 --- /dev/null +++ b/fluter/Predictive-Policing.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Eine Tat unterbinden, bevor sie passiert, und so verhindern, dass jemand zum Straftäter wird – ob Algorithmen das tatsächlich möglich machen, daran gibt es auch Zweifel. So befürchten einige Kritiker, dass manche Datensätze der Polizei verzerrt sind – etwa durch Fehler bei der Ermittlung oder auch durch die Vorurteile in den Köpfen der Polizisten. Und wenn vorurteilsbehaftete Daten verwendet würden, übernähmen oder verstärkten die für Predictive Policing eingesetzten Algorithmen diese Vorurteile sogar. Im schlimmsten Fall führte dies zu diskriminierender Polizeiarbeit. +Ein Beispiel dafür ist das sogenannte Racial Profiling, bei dem Polizisten Menschen nach ihrem Aussehen und ihrer vermeintlichen Herkunft beurteilen: Fälle wie der von Philando Castile haben in den USA eine öffentliche Debatte über Rassismus in der Polizeiarbeit ausgelöst. Der Afroamerikaner wurde in Minnesota bei einer Verkehrskontrolle vor den Augen seiner Freundin und ihrer kleinen Tochter durch mehrere Schüsse eines Polizisten, der dachte, Castile würde eine Waffe ziehen, schwer verletzt und starb anschließend im Krankenhaus. Castiles Freundin hatte die Situation direkt nach den Schüssen mit ihrem Handy gefilmt und live auf Facebook gestreamt. Die Welt konnte ihm daraufhin beim Verbluten zusehen. Castile ist kein Einzelfall: Immer wieder werden in den USA Schwarze Opfer falscher Verdächtigungen und übermäßiger Polizeigewalt. Eine Studie kam zu dem Ergebnis, dass bei Verkehrskontrollen vermehrt Schwarze und Lateinamerikaner ins Visier von Polizisten geraten. Wer unproportional oft kontrolliert wird, für den ist auch die Wahrscheinlichkeit höher, bei einem Vergehen erwischt zu werden und in der Datenbank zu landen, die Grundlage für das Predictice Policing wird. Einige Polizeibehörden, etwa im kalifornischen Oakland, haben sich deshalb bewusst dagegen entschieden, Predictive Policing einzusetzen. +In Chicago, wo es im Jahr 2016 rund 3.550 Schießereien mit 762 Toten gab, wurde schon vor fünf Jahren die "Heat List" eingeführt. Auf der befinden sich mittlerweile rund 400.000 Menschen, die als besonders gefährlich eingestuft werden. Für sie gilt eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie in Zukunft eine Straftat begehen. Algorithmen entscheiden darüber, wer hier erfasst wird. Sie basieren auf Daten über bisherige Verhaftungen in Zusammenhang mit Drogen oder ungesetzlichem Einsatz von Waffen, Bewährungsstrafen, Freunde und Bekannte. Wer es auf die "Heat List" geschafft hat, den besucht die Polizei. +Predictive Policing wird mittlerweile auch bei den Polizeibehörden einiger deutscher Bundesländer getestet oder eingesetzt. Das Pilotprojekt Predictive Policing (P4) mit der Software PRECOBS (kurz für Pre Crime Observation System) durchläuft gerade in Baden-Württemberg die zweite Phase. Ob es dort auch dauerhaft zum Einsatz kommt, hänge von den Ergebnissen dieses zweiten Testdurchlaufs ab, sagt Horst Haug vom LKA Baden-Württemberg. Personenbezogene Daten werden in diesem Verfahren allerdings nicht verwendet. PRECOBS sucht in Einbruchsmeldungen nach Hinweisen, die Muster für zukünftige Wohnungseinbrüche erkennen lassen, also etwa auf Straßen oder Zeiten schließen lassen, die Diebe bevorzugen. Die gespeicherten Daten ließen keine Rückschlüsse auf Personen zu, sagt Haug. +In der ersten Phase in Baden-Württemberg konnte nur eine minimale oder gar keine Verringerung der Einbrüche festgestellt werden – ob das an PRECOBS lag, ist unklar. In anderen Bundesländern sind die Ergebnisse bisher ebenfalls durchwachsen. In Hamburg kennt man ein anderes Problem: Einbrecher suchen einfach andere Orte auf oder begehen eher Ladendiebstähle. +Datenaktivistin und Bürgerrechtlerin Katharina Nocun hat bisher wenige Bedenken, was die Verfahren in Deutschland betrifft: "Software wie PRECOBS würde ich in den Anwendungsfällen als eher unproblematisch ansehen, in denen es um reine statistische Vorhersagen zu Orten der Kriminalität geht. Schwierig wird es aber, wenn es einen Personenbezug gibt und schon nicht strafbares Verhalten überwacht oder sogar als verdächtig erfasst wird." Trotzdem warnt sie vor einem ersten Schritt in Richtung der US-Standards: Ein Problem einiger Systeme sei auch, dass das Vorgehen dort einer Blackbox ähnle. "Man kann nicht nachvollziehen, wie der Algorithmus arbeitet, es ist also völlig intransparent. Wir müssen als Gesellschaft darauf bestehen, dass solche Black-boxes – die uns und unser Verhalten bewerten – gar nicht erst entstehen." Tatsächlich stammen die Algorithmen oft von Privatfirmen, deren Geschäftsgeheimnis sie sind. +Automatisierte Entscheidungsverfahren lernen aus realer Polizeiarbeit. Die Hoffnung, dass sich durch den Einsatz von Algorithmen automatisch eine maschinelle, naturgegebene Objektivität einstellen würde, kann schnell einer Ernüchterung weichen. Momentan braucht es für Predictive Policing in Deutschland aber erst einmal mehr unabhängige Untersuchungen, um den Nutzen der Methode besser einschätzen zu können. Denn die potenziellen Nebenwirkungen könnten den sozialen Frieden in der Stadt bedrohen. Wenn der Algorithmus ein Viertel als potenziell gefährlich einstuft (weil dort zum Beispiel überdurchschnittlich viele Migranten wohnen), sind dort mehr Polizisten unterwegs, die kontrollieren. Dadurch werden mehr Delikte erfasst, und der Gefährdungsscore steigt weiter. So könnte ein sich selbst verstärkendes System entstehen, das ganze Wohnviertel stigmatisiert – eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. diff --git a/fluter/Pressefreiheit-in-Russland-Erfahrungsbericht-Nowaja-Gazeta.txt b/fluter/Pressefreiheit-in-Russland-Erfahrungsbericht-Nowaja-Gazeta.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..21b486e87dac341e9a021a8855822c7c4dde2090 --- /dev/null +++ b/fluter/Pressefreiheit-in-Russland-Erfahrungsbericht-Nowaja-Gazeta.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +"Vergebt uns, Niederlande", titelte die "Nowaja Gaseta" nach dem Abschuss des Flugzeugs MH17 +Ich sitze in der Redaktion der "Nowaja Gaseta", einer der letzten unabhängigen und kritischen Zeitungen Russlands. Seit der jüngsten Entlassungswelle von Chefredakteuren in Russland vielleicht sogar der letzten kritischen Zeitung. Im Ausland ist sie bekannter als in Russland selbst, wo sie mit einer Auflage von unter 200.000 Exemplaren so wenige Leser hat wie noch nie. "Planjörka", schreit einer der Redakteure durch die Gänge, "Planjörkaaaaaa!" und ruft damit zur allmorgendlichen Planungssitzung auf. Ein Redakteur nach dem anderen trudelt ein. Ein Telefon klingelt. In der Luft steht kalter Rauch. Die Moskauer Wintersonne will sich mal wieder kaum zeigen. Auf dem Tisch der Planungsrunde liegen die neuesten Mitbringsel aus Amerika: lustige "Putin-Trump"-Gadgets, die später "in unser Museum" sollen, schmunzelt der Chefredakteur Dimitri Muratow und meint damit wohl die altertümlichen Glasvitrinen auf den Gängen. Dort stapeln sich neben allerlei Krimskrams und Auszeichnungen auch bedeutende Ausgaben, beispielsweise die mit dem Abschuss des Flugzeugs MH17 auf dem Weg nach Kuala Lumpur, in dem viele niederländische Passagiere saßen. "Vergebt uns, Niederlande", titelte die "Nowaja Gaseta".Ein Bild, das um die Welt ging, während die russische Führung eine Mitverantwortung vehement abstritt. +Es beginnt eine eigentlich stinknormale Redaktionskonferenz. Eigentlich. Hingen da nicht sechs Schwarz-Weiß-Fotografien, die mir sofort ins Auge fallen. Sie sind prominent platziert, genau über dem großen Tisch der Redaktionskonferenz. Mahnmal und Erinnerung an ermordete Kollegen: Anna Politkowskaja, vor zehn Jahren im Fahrstuhl zu ihrer Moskauer Wohnung mit Schüssen in Brust und Kopf umgebracht. Igor Domnikow, 2000 in Moskau erschlagen. Natalja Estemirowa 2009 entführt und umgebracht. Kritischer Journalismus als Todesurteil. +Im Konferenzraum der "Nowaja Gaseta" erinnern Schwarz-Weiß-Fotografien an ermordete Journalistenkollegen +"Niemand garantiert dir hier die Unversehrtheit von Journalisten", erzählt mir Kirill Martynow, politischer Redakteur der Zeitung, später: "Das war schon früher so und hat sich jetzt noch mal verschärft. Es gibt viele freiwillige Helfer des Staates. Die sind vielleicht nicht immer bereit zu morden, aber bereit, Gewalt anzuwenden." Ich frage ihn, ob er nicht Angst habe. Ob zum kritischen Journalismus hier nicht eine große Portion Mut gehöre? "Ich mache meine Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen", entgegnet Kirill nüchtern. "Ich sehe darin nichts Heldenhaftes, nichts Mutiges. Ich arbeite ehrlich. Und wenn das manchen nicht gefällt – was soll ich machen? So ist das nun mal." Dabei stehe er als Kolumnist, so fügt er noch schnell hinzu, eh nur in der zweiten Reihe. Unliebsam ist vor allem, wer investigativ recherchiert, neue Fakten auf den Tisch bringt oder Korruption offenlegt. +Als ich das geleakteMemoaus dem Inneren des wohl bekanntesten und bis dahin mächtigsten russischen Investigativmediums "RBC" lese, verstehe ich, was Kirill damit meint. Unerlaubterweise haben die Redakteure ihr erstes Treffen mit der neu eingesetzten Führung aufgezeichnet. Das Memo liest sich wie ein Krimi. Es ist ein warmer Juliabend in Moskau. "Wenn Leute hier denken, dass man immer direkt sein kann", sagt einer der Neuen, Igor Trosnikow, der von der staatlichen Agentur TASS hergekommen ist, unverblümt, "dann irren die sich." Das sei bei anderen Medien nicht erlaubt, und wie die Erfahrung jetzt zeige, "ist es auch hier nicht erlaubt. Richtig?" +Besonders die ermordete Anna Politkowskaja ist noch sehr präsent in der Redaktion +Kirill Martynow sieht es recht gelassen: "Ich arbeite ehrlich. Und wenn das manchen nicht gefällt – was soll ich machen? So ist das nun mal." +"‚RBC' übertrat dieses Jahr wohl mehrmals die rote Linie", erzählt mir Michail Komin, ein junger Kolumnist für "RBC". Wo genau die liege, das wisse er nicht. Keiner wisse das.Der Bericht über Putins jüngste Tochter Katerina Tichonowajedenfalls brachte das Fass zum Überlaufen. Köpfe auf der Chefetage rollten. Mit ihnen gingen aus Solidarität rund 20 Redakteure. Neue, staatstreuere Chefredakteure kamen. Mittlerweile ist auch die Chefredakteurin einer anderen großen Zeitung namens "Vedomosti" gegangen. Offiziell, weil sie mehr mit ihren Kindern machen wolle. Doch für Journalisten sei das ein weiteres klares Zeichen, so Kirill von der "Nowaja". Die rote Linie wurde wieder einmal enger gezogen. +Um die Pressefreiheit in Russland steht es damit laut Freedom House so schlecht wie noch nie: Imjüngsten Berichträumte Russland dieses Jahr stolze 83 von möglichen 100 Punkten für "Unfrei" ab. Vom kritischen Journalismus bleibt in Russland fast nichts mehr übrig. +In den Redaktionsräumen der "Nowaja" merke ich von alldem wenig. Auf den ersten Blick ist es wie bei jeder anderen Zeitung. Fristen müssen eingehalten und freien Autoren und ihren Texten hinterhergerannt werden. Zensur? Sehe und höre ich nicht. Erst als ich explizit nachfrage, meine ich zu verstehen. Es läuft viel subtiler, erklärt mir Michail, denn auch die "Nowaja" hatte einen Bericht über Putins Tochter veröffentlicht. Doch das Gesicht Putins prangte nicht dick und fett auf ihrer Titelseite. "Der Chefredakteur der ‚Nowaja' spürte die rote Linie da wohl besser als der ‚RBC'." +Selbstzensur also. Die funktioniert meist ganz von alleine. Den Weg dahin hat in Russland freilich die Politik über Jahre hinweg geebnet. Auch wenn die sich gerne aus der Affäre zieht und lieber den Westen der Zensur anklagt, wie vor zwei Wochen geschehen, als das Europaparlament einenBeschlussgegen dezidiert auch russische Propaganda fasste. +Von Zensur bekam unsere Autorin erstmal wenig mit. Dann merkte sie, dass es viel subtiler abläuft und die Journalisten der "Nowaja Gaseta" aus Angst vor Repressalien öfter mal Selbstzensur betreiben +Die Zensur in Russland funktioniert meist indirekt: Kremlnahe Unternehmer kauften russische Medienimperien auf und sägten dann, wenn ihre Medien neue rote Linien übertraten, deren Chefredakteure ab. So geschehen bei der Medienholding "RBC". Damit das funktioniert, erließ man ein Gesetz, das für ausländische Anteilseigner eine Obergrenze von 20 Prozent festschrieb. Das wiederum bringt unabhängige Medien in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten. +Wahlweise entzogen Kabelbetreiber kritischen Sendern wie Doschd auch einfach die TV-Lizenz. In den letzten fünf Jahren brachte man so die Stimmen von mindestens zwölf nichtstaatlichen Medien zum Schweigen. Was von diesen übrig bleibt, erreicht laut dem Meinungsforschungsinstitut Lewada nur noch 10 bis 15 Prozent der russischen Bevölkerung – wenn überhaupt. Nicht einmal die Kioskbesitzer verstehen sofort, was ich möchte, wenn ich um die "Nowaja Gaseta", zu Deutsch die "Neue Zeitung", bitte. Von gestern, entgegnet man mir dann, sei keine der Zeitungen. +Wie meine russischen Freunde lese ich deshalb vor allem im Internet. Neben der Onlineausgabe der "Nowaja" auch junge Blogs oder unkonventionelle Onlineportale. Die schossen aufgrund der Repressalien wie Pilze aus dem Boden und wurden zu Stimmführern der Protestwelle 2011. Online ging offline und ließ den Kreml zittern. Doch mittlerweile weiß sich der Staat auch hier zu helfen. Blogger mit mehr als 3.000 täglichen Lesern müssen sich bei der Presseaufsicht registrieren. Seiten werden gesperrt. +Für die "Nowaja Gaseta" sind die hauseigenen Hüter der Leserkommentarspalten deshalb überlebenswichtig geworden. Denn zwei falsche Leserkommentare und gesperrt wird die Seite. Letztes Jahr war es fast so weit, als man in einem Buchabdruck vulgäre Sprache verwendete. Das verstieß gegen das Gesetz gegen Schimpfwörter und hätte die Webseite der Zeitung fast offline gehen lassen. +Der Journalismus in Russland stecke in einer tiefen Krise, meint Kirill. Dabei gehe es gar nicht darum, oppositionell zu sein, erzählt der Redakteur, sondern schon "normaler, objektiver Journalismus scheint hier heute too much. Jede Ausgabe fühlt sich deshalb an wie die letzte." Und tatsächlich bekommt das Ganze, je öfter ich mit Journalisten spreche, einen schrecklich apokalyptischen Unterton. Einige ziehen weg, doch jeder unterzieht sich so oder so der Selbstzensur. Die ewige alte, einseitige Leier, ich weiß. Doch das macht es alles nicht weniger tragisch. diff --git a/fluter/ProjectX-von-Laura-Poitras.txt b/fluter/ProjectX-von-Laura-Poitras.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..54948c6a178b198cc6a98aee73a9c9299d1fc658 --- /dev/null +++ b/fluter/ProjectX-von-Laura-Poitras.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Unter den fünf vorab veröffentlichten Filmen ist auch einer von Laura Poitras, die für "Citizenfour", ihre Dokumentation über den Whistleblower Edward Snowden, einen Oscar bekommen hat. Auch der Kurzfilm "Project X" basiert auf Material der Snowden-Enthüllungen. Die Hauptrolle in dem zehnminütigen Film spielt ein düsteres Gebäude in der Thomas Street 33, mitten in New York. In der funkelnden nächtlichen Skyline der Stadt ragt es wie eine böse Festung in den Himmel – grau, dunkel, abweisend. Es hat 29 Stockwerke, aber keine Fenster. Warum der architektonische Stil, in dem das Haus gebaut ist, Brutalismus heißt, das erschließt sich nach den meditativen Aufnahmen von "Project X" sehr anschaulich. +Während die Kamera sich dem geheimnisvollen Gebäude nähert, das dem US-Telekommunikationsriesen AT&T gehört, hört man aus dem Off Stimmen. Sie lesen aus Handbüchern der NSA vor. Es geht um allerlei praktische Vorschriften für den Außeneinsatz. Wo die Agenten einen Wagen bekommen, welchen Weg sie fahren sollen, was zu tun ist, wenn sie einen Unfall bauen, ja sogar Tipps für besonders unauffällige Kleidung bekommen die NSA-Mitarbeiter für ihre Undercovereinsätze. Wie das alles zusammenhängt, der fensterlose Wolkenkratzer und die vielen Instruktionen für die Agenten, erfährt man allerdings erst am Schluss des Films. Mit einer Einblendung. In dem AT&T-Gebäude, in dem Kommunikationsströme aus der ganzen Welt zusammenlaufen, wurde Überwachungsequipment der NSA installiert. Und nicht nur da. An mindestens 59 weiteren Standorten in den USA passierte Edward Snowdens Dokumenten zufolge das Gleiche. Milliarden E-Mails wurden überwacht. Ausgespäht wurden die UN, die Weltbank und 38 Länder. +In den letzten Tagen wurde viel über die Rolle der Geheimdienste in der Demokratie gesprochen. Da war die angebliche russische Akte, die belastendes Material über Trump enthalten soll; sie wurde von einem Ex-Agenten den Medien zugespielt. Da war der Strafnachlass für die Whistleblowerin Chelsea Manning, den Obama als eine seiner letzten Amtshandlungen verfügte. Und immer noch wird diskutiert, ob WikiLeaks mit seinen Veröffentlichungen interner Dokumente der Demokraten Trumps Wahlsieg erst ermöglicht hat. Nach den zehn Minuten von "Project X" wird man das Gefühl nicht los: All diese Themen werden uns noch lange begleiten. +"Project X". USA 2017, Regie: Laura Poitras, Henrik Moltke, gesprochen von Rami Malek und Michelle Williams, 10 Min +Und wem danach der Sinn nach ein bisschen Entspannung steht, der schaue sich den lustigen Animationsfilm an, der zeigt, wie "Smells Like Teen Spirit" von Nirvana entstanden ist. Der kommt auf derKurzfilmplattformgleich nach "Project X": +Mehr dazu: +Einen genaueren Blick in des Gebäude des US-Telekommunikationsriesen AT&T in der Thomas Street wirft dieserArtikel von The Intercept +Ein andererText von The Interceptgeht auf die russische Akte und die Rolle der Medien ein +Mehr über WikiLeaks und Trump gibt es in diesemBericht der Süddeutschen Zeitung diff --git a/fluter/Referenden-zur-US-Wahl.txt b/fluter/Referenden-zur-US-Wahl.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a8d1e7781c8fdb85c8c903dc9d3c82e63be09a0a --- /dev/null +++ b/fluter/Referenden-zur-US-Wahl.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Dass die zahlreichen Sachabstimmungen ausgerechnet auf den Tag der Präsidentschaftswahl fallen, ist kein Zufall, sondern Auswirkung eines neuen Gesetzes, das eine höhere Wahlbeteiligung sichern soll. Ein Wunsch, der besonders bei näherer Betrachtung nicht überrascht, ging es bei den Abstimmungen doch schon mal um Leben und Tod – wie diese Auswahl zeigt: + +Todesstrafe +Über die Todesstrafe wurde in gleich drei Bundesstaaten abgestimmt: Nebraskas Bürger beispielsweise wurden gefragt, ob sie die im vergangenen Jahr abgeschaffte Todesstrafe erneut einführen wollen – und haben dem Vorschlag zugestimmt. In Oklahoma entschieden die Wahlberechtigten, die Hinrichtungen beizubehalten. Und in Kalifornien, dem mit Abstand bevölkerungsreichsten Bundesstaat der USA, gab es gleich zwei einschlägige –  bisher noch nicht ausgezählte – Abstimmungen: Vorschlag Nummer 62 zielt darauf ab, die Todesstrafe abzuschaffen und lebenslange Haft (im Sinne von: "bis zum Tode") als schwerste Strafe einzuführen. Vorschlag Nummer 66 dagegen sieht vor, die Todesstrafe beizubehalten, aber den Berufungsprozess zu beschleunigen. + +Marihuana +Ein kleiner Joint, um die Aufregung nach der Präsidentschaftswahl zu lindern? In drei Bundesstaaten, nämlich Kalifornien, Massachusetts und Nevada, wird das bald eine legale Option sein, in Maine steht die Entscheidung dazu noch aus. Einzig Arizona stimmte dagegen, Marihuana als Genussmittel zu legalisieren. In Montana, Arkansas, Florida und North Dakota gab es zusätzlich Referenden über den medizinischen Gebrauch der Droge. Die Zustimmung der letzten beiden Bundesstaaten steht bereits fest. Das "Time"-Magazin schrieb zu den Vorstößen: "Während derzeit etwa 5 Prozent der Bevölkerung in Staaten leben, in denen Gras komplett legal ist, könnte am 9. November fast ein Viertel der US-amerikanischen Bevölkerung an Orten aufwachen, an denen Hasch zum Spaß konsumiert werden darf." + +Obdachlosigkeit +Besonders inGroßstädten der US-amerikanischen Westküsteleben viele Menschen auf der Straße. Einige Orte nahmen deshalb den "Ballot Tuesday" zum Anlass, diese zu adressieren – und bei positiver Abstimmung mit großem Budget zu bekämpfen: Los Angeles etwa, wo mit44.000 Menschenbesonders viele obdachlos sind, stimmte über ein zehn Jahre andauerndes Hilfsprogramm ab. 1,2 Milliarden Dollar (zwölf Stellen hinter der Eins) könnten investiert werden, wenn zwei Drittel der Wähler ihr "Ja" geben. Auch wenn das genaue Ergebnis noch aussteht: Marqueece Harris-Dawson, Mitglied des Stadtrats twittert bereits über den Erfolg des Vorstoßes. +Kondompflicht +Weniger staatstragend, aber dennoch sensibel ist das Thema einer anderen in Kalifornien abgehaltenen Abstimmung: Die Bürger sollten über die Einführung einer Kondompflicht für Pornodarsteller entscheiden. Kritisiert wurde der Vorschlag vor allemvon den Darstellern selbst: Ein derartiges Gesetz sei ein Eingriff in ihre Freiheit, wäre durch ohnehin regelmäßig stattfindende Gesundheitstests überflüssig und würde die Filmproduktion in den Untergrund drängen – oder eben in einen anderen Bundesstaat. Doch "Porn Valley", wie das Zentrum der Pornoindustrie in Los Angeles' San Fernando Valley auch genannt wird, bleibt ein Umzug erst mal erspart, denn der Vorschlag wurdemit einer knappen Mehrheit abgelehnt. +Alle Ergebnisse und den jeweils genauen Stand der Auszählungen kann man zum Beispielhier nachlesen(rechts oben auf "State Results" klicken). +Titelbild: Foto: T.J. Kirkpatrick/ReduxRedux/laif diff --git a/fluter/Roman-als-ich-mit-hitler-schnapskirschen-as-manja-praekels.txt b/fluter/Roman-als-ich-mit-hitler-schnapskirschen-as-manja-praekels.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..234ff1ee37ef51103c036f8d8e544049db2c8fa6 --- /dev/null +++ b/fluter/Roman-als-ich-mit-hitler-schnapskirschen-as-manja-praekels.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Manja Präkels: Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß. Verbrecher Verlag, Berlin 2017. 280 Seiten, 20 Euro +Sie erzählt vom Erwachsenwerden in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist. In der die Jungs von nebenan auf einmal zu rechtsextremen Skinheads mit rasierten Köpfen mutiert sind, die sich zusammenrotten, um Angst und Terror zu verbreiten. Oliver, dessen Familie neben Mimis Familie wohnt und der einst Mimis bester Kindheitsfreund war, wird nur noch "Hitler" genannt. Nach der Wende gibt er den Obernazi und kontrolliert zudem den Drogenhandel in der kleinen Stadt. Mimi und ihre Freunde sind auf einmal die "Zecken". Die Erwachsenen sagen nur, sie sollten doch die Nazis "nicht provozieren". Einer von Mimis Freunden wird totgeschlagen. Und als Mimi und ihre Freunde ein Musikfestival organisieren, das die Nazis stürmen wollen, zieht die Polizei irgendwann ab und überlässt ihnen das Feld. +Dazwischen passieren auch noch andere, normale Coming-of-Age-Dinge wie erster Sex, erste Liebe, erstes Moped. Manches schön, anderes weniger schön. Mimi schreibt Gedichte und wird Mitarbeiterin bei der Zeitung der nächsten Kreisstadt. Doch immer wieder muss sie die Angst vor dem Neonaziterror überwinden, wenn sie nur ganz normal leben will. +Manja Präkels entwirft keine ausgefeilte narrative Dramaturgie. Ihr Roman kommt daher wie eine rein chronologische Zustandsbeschreibung; die Ereignisse geschehen halt nacheinander, und in derselben Weise muss auch von ihnen erzählt werden. Die sehr sachliche, oft extrem verknappte Erzählweise ist aber ungemein wirkungsvoll. Sozusagen an den Rändern der Berichterstattung blitzt all das hervor, was nicht explizit ausgesprochen wird: das Komische wie das Tragische, die guten und die schlimmen, die großen und die kleinen Gefühle. Und so ganz nebenbei packt sie einen beim Lesen fest am Nacken, die Havelstädter Kleinstadtchronik. + +Ideal für... +... alle, die die ungeschönte Geschichte einer ostdeutschen Kleinstadt lesen wollen. Und alsParallellektürezu Moritz von Uslars Deutschboden, das ebenfalls in Zehdenick spielt. + +Titelbild:  Tom Stoddart/Getty Images diff --git a/fluter/Schule-Unterricht-KI-ChatGPT.txt b/fluter/Schule-Unterricht-KI-ChatGPT.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1a05ea9a760b6d7a0a899fba85277aba43141e05 --- /dev/null +++ b/fluter/Schule-Unterricht-KI-ChatGPT.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +"Okay, habt ihr verstanden, was ihr tun müsst?", fragt Völker seine Klasse. Eifriges Nicken. Die Schüler benötigen drei Zeugenaussagen zu einem Unfall, bei dem ein Auto und ein Fahrrad beteiligt waren und niemand ernsthaft verletzt worden ist. Es ist das erste Mal, dass sie im Unterricht einen Chatbot mit Informationen füttern. Was die künstliche Intelligenz macht und kann, wissen sie aber längst. "Wer kann mir erklären, was ein Prompt ist?", fragt Völker sicherheitshalber. Fünf, sechs Hände schießen in die Höhe. "Ein Befehl für den Chatbot", antwortet eine Schülerin. "Und warum ist der wichtig?", hakt Völker nach. "Damit der Chatbot weiß, was er machen soll", sagt ein Schüler. Der Lehrer nickt zufrieden. "Dann an die Arbeit. Ohne einen guten Prompt können wir nicht weitermachen." +Spätestens seit der Chatbot ChatGPT frei zugänglich ist, kommen Schulen nicht mehr am Thema KI vorbei. Schnell hat sich rumgesprochen, dass der Textgenerator auf die Fragestellungen von Hausaufgaben Antworten geben und ganze Aufsätze schreiben kann. Doch wie Schulen mit solchen Programmen umgehen sollen, ist umstritten – erst recht, seitdem in Hamburg ein Schülerbeim Schummeln mit der KI während einer Abiturprüfungerwischt worden ist. Die Debatte erinnert an die Einführung von Taschenrechnern vor einigen Jahrzehnten. Damals gab es Befürchtungen, dass die Schüler das Rechnen auf dem Papier und das Kopfrechnen verlernen könnten. Programme wie ChatGPT, fürchten Eltern und Lehrer heute, könnten die Kreativität oder die Fähigkeit des selbstständigen Lernens mindern. +Die zuständigen Bildungsministerien der Bundesländer tun sich schwer mit einer klaren Position. Verbieten wollen sie den Einsatz von künstlicher Intelligenz im Unterricht nicht. Im Gegenteil. Sie sehen in KI eine Chance. Entsprechende Tools könnten lernschwachen Schülern beim Formulieren helfen oder Aufgaben auf das Niveau des einzelnen Schülers zuschneiden. Doch viel mehr als Appelle, sich nicht vor der neuen Technik zu verschließen, muten die Ministerien ihrem Personal bisher nicht zu. +Aus gutem Grund. Es liegt an der Bereitschaft der einzelnen Lehrkräfte, ob sie KI-Tools im Unterricht behandeln – und daran, wie gut die digitale Ausstattung der jeweiligen Schule ist. Deshalb dürfte es noch dauern, bis KI flächendeckend zum Einsatz kommt, vermutet die Bildungswissenschaftlerin Katharina Scheiter. "Es gibt natürlich Leuchttürme. Aber gleichzeitig gibt es Schulen, an denen Lehrkräfte noch nie von ChatGPT gehört haben." +Die Professorin für Digitale Bildung an der Universität Potsdam beobachtet seit Jahren, wie schwer sich viele Lehrkräfte mit dem Einsatz von digitalen Medien tun. Das liege auch an der Ausbildung, so Scheiter. Bis heute gebe es an vielen Unis keine Pflicht, Kurse zu digitalem Lernen zu belegen. Von ihren eigenen Fortbildungskursen und Uni-Seminaren weiß sie, wie verbreitet die Skepsis gegenüber KI-Tools ist – selbst bei der kommenden Lehrergeneration. Aus ihrer Sicht wäre es aber wichtig, dass sich Lehrkräfte mit ChatGPT & Co. befassen: "Die Jugendlichen kommen so oder so damit in Berührung", so Scheiter. "Deshalb ist es besser, die neue Technik von Anfang an zu begleiten." Dafür müsse das Kollegium aber vorbereitet sein. Dazu gehört, dass sich die Schule um den Datenschutz, passende Unterrichtsmaterialien und die nötige Hardware kümmert. +Die Bochumer Schiller-Schulehat diese Themen früh angepackt. Seit 2015 setzt das Gymnasium voll auf digitalen Unterricht. Alle Lehrkräfte und Schüler arbeiten mit Tablets. Neue Kollegen werden im Umgang mit Tools und Technik geschult, jeder neue Schüler bekommt einen Medienpaten aus einer höheren Klasse zur Seite gestellt. In schulinternen Workshops werden neue Programme eingeübt – seit ein, zwei Jahren auch verstärkt KI-Tools wie Übersetzungsprogramme oder Chatroboter. In der achten Klasse wird aktuell in Mathe ein Programm getestet, das die Aufgaben automatisch an die Stärken und Schwächen jedes einzelnen Schülers anpasst. Den Lehrern kann das bei der Einschätzung des Lernfortschritts helfen und damit auch bei der Notenvergabe. +Um Lizenzen und Datenschutz kümmert sich die Schule selbst. "Wir haben sogar einen Datenschutzbeauftragten", sagt Deutschlehrer Eike Völker, der seit vier Jahren auch stellvertretender Schulleiter der Schiller-Schule ist. "Bei jedem Tool, das wir nutzen, muss klar sein, wohin die Daten gehen." Für die unbedenkliche Nutzung von ChatGPT in seiner Deutschstunde etwa hilft ihm ein Programm, das ihm eine Firma testweise zur Verfügung stellt; es verhindert, dass sich die Schüler bei ChatGPT anmelden müssen und somit Daten auf Servern im Ausland landen. +Mehr zum Thema KI +Alle sprechen über Künstliche Intelligenz, aber woher nimmt ChatGPT eigentlich sein Wissen, helfen Algorithmen beim Flirten und könnten sie mal mächtiger werden als der Mensch? Hier geht'szum fluter-Special! +Neben dem alltäglichen Unterricht gibt es noch besondere KI-Projekte, erzählt Völker. So haben Fünftklässler im vergangenen Schuljahr ein Märchen mithilfe einer Programmiersprache visualisiert und interaktiv so gestaltet, dass sie die Handlung selbst beeinflussen können. Mit dabei waren Justus und Emilia. Ihre Eltern seien schon ein bisschen beeindruckt gewesen, erzählen sie. "Die Schule ist cooler, wenn wir solche Projekte machen", sagt Justus. Auch Emilia findet "Unterricht mit KI besser als ohne". +Und in der Oberstufe hat der Informatikkurs ein neuronales System geschaffen – also ein KI-System, das sich andauernd selbst analysiert und dabei stetig dazulernt. Mit Kameras und 3-D-Tracking haben die Schiller-Schüler Wasserflöhe – winzige Krebse – gefilmt und aus deren Bewegungsabfolgen einen Algorithmus entwickelt. Mit diesen Informationen "lernen" die Punkte des neuronalen Systems, sich wie die gefilmten Wasserflöhe zu verhalten. +Wenn die Zehntklässlerin Deborah über das Projekt spricht, gerät sie ins Schwärmen. "Das Tolle ist, dass wir für unser neuronales System Daten von echten Tieren verwenden." Deborah kann sich vorstellen, so etwas später auch beruflich zu machen. "Es fasziniert mich, biologische Prozesse mithilfe von KI sichtbar zu machen", sagt sie. Dennoch sieht die 15-Jährige auch die Grenzen von KI. "In meiner Klasse nutzen manche ChatGPT für Hausaufgaben. Aber wir merken,dass die KI auch Fehler macht." Dass viele Lehrkräfte an ihrer Schule mit KI-Tools experimentieren, findet Deborah aber gut. "So lernen wir, auf die Gefahren zu achten." +KI-Experten warnen schon länger, dass sich Programme wie ChatGPT oder KI-Bildgeneratoren bestensfür die Verbreitung von Fake News und Propaganda missbrauchen lassen. An der Schiller-Schule in Bochum ist die kritische Reflexion deshalb ein zentraler Bestandteil des digitalen Unterrichts. Eike Völker sieht seine Schüler und Schülerinnen gut gerüstet: "Auch in der fünften Klasse wissen bei uns alle, dass sie in den sozialen Medien keine Fotos oder Adressen hochladen sollen." Datenschutz und digitale Sicherheit nähmen sie im Kollegium sehr ernst. "Das Wunderbare an KI-Tools ist: Sie eignen sich sehr gut, um über Onlinequellen und Faktenchecken zu sprechen." +Das schärft Völker auch seiner Deutschklasse ein. Am Ende der Stunde haben die Sechstklässler verschiedene Prompts formuliert und mit ihrer Hilfe KI-generierte Zeugenaussagen erhalten. "Habt ihr überprüft, ob die Zeugenaussagen zusammenpassen?" Haben sie. Die Zeugenaussagen widersprechen sich, hat eine Schülerin bemerkt. Ein Junge berichtet, dass die Straßennamen nicht übereinstimmen. Woanders hat ChatGPT kein Datum mitgeliefert. "Ihr seht, ihr dürft ChatGPT nicht trauen", ruft Völker. Dann gibt er die Hausaufgabe auf. Auf Grundlage der Zeugenaussagen sollen die Schüler nun einen Unfallbericht schreiben – ohne weitere Hilfe der KI. + diff --git a/fluter/Schulhoefe-rund-um-die-Welt.txt b/fluter/Schulhoefe-rund-um-die-Welt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..47b79e47ebc595ff9e1b858f6117574fbcce0ae6 --- /dev/null +++ b/fluter/Schulhoefe-rund-um-die-Welt.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Pilgrim's School, Winchester, UK +Freretown Community Primary School, Mombasa, Kenia +Rajkumar College, Rajkot, Gujarat, Indien +Ugo Foscolo Elementary School, Venedig, Italien +Tiferet-Menachem Chabad School, Beitar IIIit, Westjordanland +Dechen Phodrang, Thimphu, Bhutan +Gomalandet Skole, Kristiansund, Norwegen +Paso Payita, Aramasi, Chuquisaca, Bolivien +Bhakta Vidyashram, Kathmandu, Nepal +Shohei Elementary School, Tokio, Japan +School #2013, Moskau, Russland +Inglewood High School, Inglewood, Kalifornien +Adolfo López Mateos Primary School, Mexiko-Stadt, Mexiko +Affiliated Primary School of South China Normal University, Guangzhou, China diff --git a/fluter/Sineb-El-Masrar.txt b/fluter/Sineb-El-Masrar.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3320d541346e55d45b06450b1ec3846daf094696 --- /dev/null +++ b/fluter/Sineb-El-Masrar.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Was soll man gegen solche Parolen tun? Sineb hat sich für das Schreiben entschieden, "Muslim Men" ist ihr drittes Buch. Ihr erstes hieß "Muslim Girls" und hat Aufsehen erregt, weil sie dafür losgezogen ist, um die Menschen hinter den Schlagzeilen und dem Geschrei zu treffen. Darin zeigte Sie, dass die "Kopftuchmädchen", wie sie sogar von Politikern zuweilen herabwürdigend genannt werden, alles mögliche sind: Kabarettistinnen, Moderatorinnen, Geschäftsfrauen und Schauspielerinnen – und eben nicht alle gleich. "Nur Leute, die tatsächlichen Kontakt zu Muslimen haben, wissen, dass Muslime nicht so oder so sind", sagt Sineb. "Und nur weil jemand muslimisch ist, heißt das nicht, er oder sie wird unterdrückt." +Es ist aber nicht so, dass Sineb die Probleme in muslimischen Familien ausblendet. Dort sei der Vater oft die ewige Autorität, die nicht infrage gestellt werde und deren Regeln befolgt würden. "Du wusstest, zu Hause ist Papa Hitler. Was er sagt, wird gemacht. Fertig!" So hat es ihr Oussama erzählt, auch viele andere berichteten ihr von der Macht der Väter. "Das Patriarchat", sagt Sineb, "wird von Generation zu Generation weitergetragen." Besonders dem Wunsch der Töchter nach Selbstbestimmung werde selten nachgegeben. +Sie selbst, meint Sineb, habe Glück gehabt. Ihre Eltern, die aus Marokko nach Niedersachsen kamen, ließen sie alles fragen. Ihre Mutter riet ihr sogar, bloß nicht zu früh zu heiraten. Beide Eltern wollten einen anderen Weg für ihre Tochter als viele islamische Familien – einen mit Bildung, Erkenntnis und Freiheit. Dieser Respekt vor ihren Vorstellungen hat Sineb gelehrt, anderen im selben Maß mit Respekt zu begegnen, anstatt in Klischees und Stereotypen zu denken. +Vierundzwanzig war sie, als sie "Gazelle" gründete, ein Magazin, das sich nicht nur an "deutsch-deutsche Frauen" richten sollte, wie Sineb Frauen ohne Migra- tionshintergrund nennt – sondern an alle Frauen, die in Deutschland leben. Mit 28 schrieb sie dann "Muslim Girls", das auch von Mädchen handelt, die sich mit Kopftuch ziemlich wohlfühlen. +Klar, dass sie sich im aufgeheizten Klima, in dem von "Überfremdung" und "Islamisierung" die Rede ist, Feinde gemacht hat. Auf beiden Seiten übrigens. Islamkritiker werfen ihr vor, den radikalen Islam zu verharmlosen, für manche Mitglieder strenggläubiger islamischer Gemeinden sind ihre Ansichten ketzerisch. Als sie 2016 aus ihrem zweiten Buch, "Emanzipation im Islam", las, erhielt sie Polizeischutz – weil sie die muslimischen Verbände in Deutschland kritisiert hatte, die viele als Hindernis für Integration sehen. Nur: Wie soll die gelingen? Nichts, so sagt Sineb, werde besser, solange die Traditionen von Familie und Religion nicht hinterfragt würden – und sexuelles Begehren als Sünde gelte. Im Zuge der Emanzipation müsse sich darum das Männlichkeitsbild verändern, dringend und vor allem: kulturübergreifend. Denn Männer, die Frauen diskriminieren, seien kein rein muslimisches Problem, ebenso wenig wie frustrierte Männer, die ihren Frust mit Gewalt kompensieren. Auch deutschen Männern falle es schwer, Schwäche zu zeigen. "Nur mal angenommen, deine Identität ist nicht ordentlich ausgebildet. Oder du brauchst Halt, eine Aufgabe. Und dann steht da im falschen Moment der Falsche, ein Rattenfänger ..." Sineb schüttelt ihre rechte Hand, als hätte sie sich verbrannt. Brenzlig, so was. "Vielen ist der Islamismus eine Ersatzfamilie." +Ihre Bücher handeln vom Respekt und davon, wie man Scheinheiligkeit entlarvt – in einem Milieu, das weniger eindeutig ist, als Islamisten und Rassisten es wahrhaben möchten. Mustafa, der als Junge den Lippenstift seiner Mutter benutzt hat, führt bis heute ein Doppelleben. Seit elf Jahren ist er Sexarbeiter. Als Transe, wie er sich selbst bezeichnet, und viele seiner Kunden sind Imame. Manche kehren gerade aus Mekka zurück. "Wenn das Licht aus ist, wenn diese Prediger von der Bühne gehen", sagt Sineb, "dann leben sie all das aus, wofür sie andere verurteilen." Und Verurteilen sei das Letzte, was man gebrauchen könne, wenn man sich eine diskriminierungsfreie Gesellschaft wünsche. +Das gelte genauso für die, die es besonders gut mit Migranten meinen und gleich wieder die nächsten Regeln aufstellen. Menschen, die schon die Frage "Woher kommst du eigentlich?" für bedenklich oder rassistisch halten. Die Frage sei vielleicht als Eisbrecher keine gute Idee und nicht sonderlich originell, meint Sineb. Wenn man aber als Reaktion auf sie aus der Fassung gerate und an die Decke gehe – da frage sie sich dann schon: "Was ist denn eigentlich bei dem los?" diff --git a/fluter/Smartphones-und-Handystrahlung-krebserregend%3F.txt b/fluter/Smartphones-und-Handystrahlung-krebserregend%3F.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..394f815aa470daeb82d60144b910bacbd1b7c095 --- /dev/null +++ b/fluter/Smartphones-und-Handystrahlung-krebserregend%3F.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Groß angelegte Studien zuvor hatten bei Tieren kein Mehr an Krebs infolge der Handystrahlen bemerkt. Entsprechend erschrocken reagierten einige auf die Entdeckung: "Damit habe ich definitiv nicht gerechnet. Offenbar hat niemand zuvor ausreichend viele Tiere über einen ausreichend langen Zeitraum untersucht", gesteht etwa David Carpenter, der Direktor des Institute for Health and the Environment an der Universität in Albany im US-Bundesstaat New York. +Die Wissenschaftler haben Mäuse und Ratten am ganzen Körper der Handystrahlung ausgesetzt. Sie benutzten dafür eine Vorrichtung, mit der die Tiere sich trotzdem frei im Käfig bewegen, normal futtern und schlafen konnten. Das ist wichtig, sonst könnte es auch der veränderte Lebensstil sein, der die Tiere krank macht. Weit mehr als 2.000 Ratten untersuchten die Wissenschaftler. Neun Stunden am Tag wurden sie der Handystrahlung mit drei unterschiedlichen Feldstärken ausgesetzt, wobei die niedrigste Dosis knapp unter dem Grenzwert lag, der in den USA bei 1,6 Watt je Kilogramm liegt. "Ein Handy sendet nur kurze Zeit derart stark, etwa in einem Aufzug. Aber die verwendete Leistung entspricht etwa der maximal denkbaren Belastung, die wir uns für den Menschen vorstellen können", erklärt John Bucher, einer der beteiligten Forscher vom National Institute of Environmental Health Sciences in North Carolina. +"Wir haben lange auf diese solide gemachte Studie gewartet", kommentiert die Expertin und Biologin Gunde Ziegelberger vom Bundesamt für Strahlenschutz in Salzgitter. Entsprechend hellhörig machten sie die Ergebnisse: Bei den männlichen Ratten traten Gliome, eine bestimmte Art von Hirntumoren, bei zwei bis drei von hundert Tieren auf. Tumoren im Herzen, so genannte Schwannome, tauchten bei fünf bis sieben von hundert Rattenmännchen auf. +Beim Menschen waren Hirntumoren bereits zuvor in einzelnen Untersuchungen mit der Handynutzung in Verbindung gebracht worden. Die Internationale Agentur für Krebsforschung der Weltgesundheitsorganisation stufte die Strahlung 2011 deshalb als möglicherweise krebserregend ein. Andere Fachleute schlossen sich dieser Meinung aber nicht an, etwa das Bundesamt für Strahlenschutz, das hierzulande dafür zuständig ist, die Gefahren durch Strahlung zu beurteilen. +Die Expertin Gunde Ziegelberger von der Behörde sieht auch Schwächen in der neuen US-Studie: Nur die Männchen bekamen infolge der Handystrahlung mehr Krebs als die Kontrolltiere, nicht aber die Weibchen. "Es gibt keine schlüssige biologische Erklärung für diesen Unterschied zwischen den Geschlechtern." Noch etwas anderes stört sie und auch andere Kritiker: Die Tiere in der Kontrollgruppe der US-Studie, die keiner Handystrahlung ausgesetzt waren, starben früher. Weshalb, weiß niemand. Der vorzeitige Tod könnte jedoch den Unterschied in der Krebshäufigkeit erklären. Denn je kürzer die Tiere leben, desto seltener sollte Krebs auftreten, da die Krankheit erst mit zunehmendem Alter kommt. +Eine Fülle von Studien zur Handystrahlung stapelt sich in Ziegelbergers Büro. So sorgte eine Untersuchung des Biologen Alexander Lerchl von der Jacobs-Universität in Bremen für Presse. Er entdeckte, dass bereits vorhandene Tumoren unter dem Einfluss von Handystrahlung schneller wuchsen. Zu demselben Ergebnis waren bereits 2010 Forscher vom Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin gekommen. Insofern ist man sich einig, dass Handystrahlung bei einem vorhandenen Tumor ungünstig sein kann. +Aber können die Strahlen auch den Keim für Krebs legen? Diese Frage scheidet die Geister. Das Problem ist, dass die Studien dazu einander zum Teil widersprechen. In Finnland, Dänemark, Norwegen, Schweden und Großbritannien nachgefragt, waren Krebskranke der Meinung, dass sie häufiger auf dem Ohr telefoniert hatten, wo sich auch der Tumor in ihrem Gehirn befand. Im Rahmen der Interphone-Studie erkundigten sich andere Forscher dann gleich in mehreren Ländern: nichts dergleichen. Bei rund 5.000 Patienten mit zwei verschiedenen Arten von Hirntumoren ließen sich keine Zusammenhänge zwischen dem Telefonieren und den Tumoren ziehen. Nur bei Personen, die das Mobiltelefon extrem viel nutzten, ermittelten die Autoren, dass die Geschwulst häufiger auf der Seite des Kopfes saß, auf der sie den Hörer hielten. Doch beim genaueren Sichten der Antworten fanden die Forscher allerlei Ungereimtheiten in den Aussagen dieser Gruppe. Vielleicht erinnerten sie sich also falsch oder nahmen die Befragung nicht ernst. Das Bundesamt für Strahlenschutz selbst hat in seinen Untersuchungen im Rahmen des Deutschen Mobilfunk Forschungsprogramms keine erhöhten Krebsrisiken finden können. +Entlastend liest sich auch eine Analyse aus Australien vom Juni 2016: Seit der flächendeckenden Nutzung von Mobiltelefonen Ende der 1980er-Jahre hat die Zahl der Hirntumoren in dem großen Land nur in der Gruppe der über 70-Jährigen signifikant zugenommen. Dieser Anstieg hat aber schon vor 1982 und damit vor der Verbreitung von Mobiltelefonen eingesetzt und ist den Autoren zufolge eher mit den verbesserten diagnostischen Methoden zu erklären. +Mit Blick auf die neuen Daten sagt Ziegelberger: "Wir werden zunächst den Abschlussbericht der US-Kollegen abwarten. Es ist spannend, ob die Krebsrate bei Mäusen ebenfalls erhöht ist. Das wäre dann doch ein Fingerzeig, dass wir weiter nachforschen müssen." Unklar ist bis heute auch, wie sich Handystrahlung auf das reifende Gehirn bei Kindern auswirkt. +Aus diesem Grund ruft das Bundesamt für Strahlenschutz zur Vorsorge auf und gibt Tipps. Die Strahlenbelastung nimmt deutlich ab, wenn man über eine Freisprecheinrichtung telefoniert. Das Handy gehöre auch nicht in die Hosentasche, sondern mit etwas Abstand vom Körper in den Rucksack. Telefonate auf dem Handy sollten lieber kurz und knapp ausfallen. Noch besser ist die SMS. diff --git a/fluter/Standortsuche-f%C3%BCr-Atomm%C3%BCll-Endlager.txt b/fluter/Standortsuche-f%C3%BCr-Atomm%C3%BCll-Endlager.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b9e0bb972f406a06b298caa7967f98264e9739fb --- /dev/null +++ b/fluter/Standortsuche-f%C3%BCr-Atomm%C3%BCll-Endlager.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Doch bis dahin dürfte es noch ein langer und steiniger Weg sein. Was die 34 Abgeordneten, Industrievertreter, Wissenschaftler, Gewerkschafter, Umweltschützer und Kirchenleute zunächst einmal festgelegt haben, sind Kriterien und Empfehlungen, auf deren Grundlage die der Bundesrat, Bundestag und die Bundesregierung den Standort eines Endlagers bestimmen soll. Und auch dieses Ergebnis ist nicht einstimmig erreicht worden. So lehnte etwa der in der Kommission vertretene Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) den Abschlussbericht ab, weil darin auch der jahrzehntelang ausschließlich fokussierte Salzstock im niedersächsischen Gorleben als möglicher Endlagerstandort nicht ausgeschlossen wird – trotz der dortigen geologischen Probleme, die aus Sicht der Gorleben-Kritiker gegen eine sichere Endlagerung von Atommüll sprechen. +"Verantwortung für die Zukunft" lautet der Titel des Abschlussberichts. In dem mit Anhängen fast 700 Seiten langen Bericht ist sich die Endlagerkommission darin einig, dass man bei der Suche nach dem Standort von einer "weißen Landkarte" ausgehen müsse, dass also alle Regionen in Betracht gezogen werden sollen und keines der drei als potentiell geeignete Wirtsgesteine Salz, Ton oder Kristallin ausgenommen werden dürfe. Der Ko-Vorsitzende des Gremiums, der ehemalige Bundestagsabgeordnete Michael Müller, mahnte eine faire Debatte an. Es gehe nicht um die Frage: "Endlager Ja oder Nein", sondern es gehe um das "Wo und Wie", sagte er bei der Vorstellung des Berichts. Die Empfehlungen der Kommission werden in das zu reformierende Standortauswahlgesetz einfließen, das der Gesetzgeber im kommenden Herbst überarbeiten wird. +Die wichtigsten Empfehlungen, die die Kommission für die Einlagerung des deutschen Atommülls festgelegt hat: Das Endlager muss in Deutschland entstehen, eine Ausfuhr radioaktiver Abfälle aus den Kernkraftwerken in andere Länder soll gesetzlich unterbunden werden. Außerdem muss ein Endlager unterirdisch in größerer Tiefe angelegt werden, so dass die sogenannten "geologischen Barrieren", also das Deckgebirge und das umschließende Wirtsgestein, über einen Zeitraum von Jahrtausenden eine stabile Umgebung bieten. +Damit diese Sicherheit zu gewährleisten ist, legt der Bericht genaue Mindestanforderungen bezüglich Wasserdurchlässigkeit, Wärmeleitfähigkeit und seismische Aktivität fest. Sichergestellt muss aber auch sein, dass die Behälter mit dem Atommüll im Notfall zurückgeholt werden können – und zwar nicht nur in der Zeit, in der das Endlager sich in aktivem Betrieb befindet, sondern auch noch über einen Zeitraum von weiteren 500 Jahren, nachdem es wie geplant irgendwann verschlossen worden ist. +Die Auswahl eines Endlagers soll in drei Etappen erfolgen. Zunächst werden auf der Basis der definierten Ausschlusskriterien und Mindestanforderungen potenzielle Standorte zusammengestellt. Das Ergebnis dieser Vor-Suche beschließen Bundestag und Bundesrat. +In der zweiten Phase des Auswahlprozesses werden die als mögliche Standorte identifizierten Regionen genauer untersucht. Experten gehen von etwa 60 Regionen in Deutschland aus, in denen es Formationen mit den Wirtsgesteinen Salz, Kristallin oder Ton gibt. Welche dieser Regionen für ein Atommüll-Endlager besonders geeignet wären, soll zunächst mit oberirdischen Untersuchungen analysiert werden. Auch das Ergebnis dieser Analyse werden Bundestag und Bundesrat beschließen. + + + + + +In der dritten Etappe schließlich sollen die noch verbliebenen Standorte auch unter der Erde erkundet werden mit dem Ziel, "den bestmöglichen Standort zu bestimmen", wie es im Kommissionsbericht heißt. Basierend auf dem Ausgang dieser Untersuchung sollen dann Bundestag und Bundesrat die Entscheidung für das Endlager in einem Bundesgesetz beschließen. +Wann das sein könnte, darauf legt sich der Abschlussbericht nicht fest. Die Bundesregierung geht von einer Standortfestlegung frühestens um das Jahr 2032 aus, hält aber auch einen Zeitraum von 40 bis 60 Jahren für denkbar. Nach der Festlegung soll der Bau des Endlagers beginnen, für den knapp zwei Jahrzehnte veranschlagt werden. Erst dann kann die sorgsame Einlagerung des Atommülls beginnen. Sie dürfte sich nach Expertenschätzungen über mehrere Jahrzehnte hinziehen. +In ihrem Bericht hat die Kommission auch festgelegt, wie die Öffentlichkeit an allen drei Phasen des Entscheidungsprozesses aktiv beteiligt werden soll. So wird auf Bundesebene ein bereits beschlossenes "nationales Begleitgremium" aus sechs "anerkannten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens" und drei zufällig ermittelten Bürgern einberufen werden. Dieses Gremium soll als unabhängige gesellschaftliche Instanz das Such- und Auswahlverfahren neutral, aber mit Fachwissen begleiten. Zu diesem Zweck werden die Mitglieder Einsicht erhalten in alle Akten und Unterlagen, die im Zusammenhang mit dem Auswahlverfahren angelegt werden. Das Gremium soll diese Inhalte beraten sowie Stellungnahmen und Empfehlungen erarbeiten, die anschließend veröffentlicht werden – einschließlich möglicher abweichender Sondervoten. +Nach der ersten Etappe des Auswahlprozesses werden zudem in allen betreffenden Regionen Regionalkonferenzen organisiert, bei denen Anwohner sich informieren und einbringen können. Diesen Regionalkonferenzen werden Vertreter der Kommunen, gesellschaftlicher Gruppen und einzelne Bürger angehören. Zudem sollen überregionale Räte einen Austausch zwischen den betroffenen Regionen fördern. +Wenn schließlich die Wahl auf einen Endlagerstandort gefallen ist, soll es mit der betroffenen Region eine Standortvereinbarung geben. Sie soll den Nachweis enthalten, dass es sich um den bestmöglichen Standort handelt und die Region in der Lage ist, unter Zusicherung staatlicher Betriebsbegleitung die Belastungen durch den Bau des Lagers und den Behältertransport dauerhaft auszugleichen. Außerdem soll diese Vereinbarung auch langfristige Entwicklungsstrategien für die vom Endlager betroffene Region beinhalten, mit denen möglichen negativen Nebeneffekten der Standortentscheidung – beispielsweise Imageverlust und Rückgang von Tourismuszahlen – begegnet werden kann. Diese Strategien sollen über einen kurzfristigen finanziellen Ausgleich hinausgehen und auch generationenübergreifend die Entwicklungspotenziale der Region stärken. +Noch unklar jedoch ist, wie bis zur Fertigstellung eines Endlagers mit dem Atommüll weiter verfahren werden soll. Gegenwärtig werden diese hochradioaktiven Abfälle in oberirdischen Zwischenlagern aufbewahrt, die sich meist an den alten Atommeilern befinden, aber auch an Standorten wie Ahaus und Gorleben. Die Genehmigungen für die meisten dieser Zwischenlager laufen im Jahre 2046/2047 aus. Dann ist wahrscheinlich noch kein Standort für das Endlager beschlossen, an dem man ein zentrales Zwischenlager für den derzeit noch auf 16 Standorte verteilten Atommüll errichten könnte. Da jedoch niemand die tatsächliche Dauer des Auswahlverfahrens sicher voraussagen kann, könnte das Thema Zwischenlager schon in ein paar Jahren drängend werden. +Titelbild: Michael Danner/laif diff --git a/fluter/Terror-in-Frankreich-Gilles-Kepel.txt b/fluter/Terror-in-Frankreich-Gilles-Kepel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ef20f50cb8fc937f1582f9c0862aa1bb1bfe2dfe --- /dev/null +++ b/fluter/Terror-in-Frankreich-Gilles-Kepel.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Der islamistische Terror schert sich nicht um Grenzzäune (und schon gar nicht um Drucktermine). Mehr noch als Ausdruck eines Krieges gegen den Westen sei er, so Kepel, Ausdruck eines Krieges innerhalb des Islams, bei dem es vorrangig um das Recht gehe, den Islam hegemonial zu vertreten. Ein Hauptakteur dieses komplizierten und langewährenden Konflikts ist der IS (Islamischer Staat), der in den heiligen Schriften die Rechtfertigung seiner globalen Terroraktionen suche. Nicht nur in seinem Buch, auch in zahlreichen Interviews betont der in Frankreich unter Polizeischutz stehende Kepel, dass er eine direkte Verbindung zwischen Terrorismus und Islam ausschließe. Die Mehrheit der Muslime bekenne sich zum Islam – mehr nicht. +In Europa habe Frankreich in der gegenwärtigen "dritten Phase des Dschihadismus", einem "Dschihadismus von unten" ohne klare Hierarchie wie noch unter Osama bin Laden, die schwersten Folgen zu tragen. Als symbolträchtiges Beispiel dieser Bewegung gilt dem 1955 in Paris geborenen Professor am Institut d'études politiques de Paris das Massaker des Franko-Algeriers Mohammed Merah an einer jüdischen Schule in Toulouse. Es fand am 19. März 2012 statt – also genau am 50. Jahrestag des Waffenstillstands, der denAlgerienkriegbeendete . Von vielen jungen Muslimen werde Frankreich bis heute als verhasster Kolonialherr betrachtet, der Krieg gegen diesen Gegner nun eben auf französischem Boden fortgesetzt. Ausführlich widmet sich der Autor dieser "retrokolonialen Dimension" des Dschihad. +Kepel zeigt, wie sich ein den kulturellen Bruch mit den westlichen Gesellschaften propagierenderSalafismusund die Neigung von Teilen der französischen Bevölkerung, Marine Le Pens rechtsextremenFront Nationalzu wählen, in den letzten Jahren wechselseitig verstärkten. Argumentativ überzeugend und ungemein differenziert analysiert er politische und soziale, kulturelle, psychologische und religiöse Motive insbesondere der auf französischem Boden agierenden (IS-)Dschihadisten. +Die sind in der Regel sehr jung, stammen aus französischen und belgischen muslimischen Migrantenfamilien oder sind später zum Islam konvertiert. Ihre Anfälligkeit für die Versprechen des Dschihadismus erklärt Kepel, und da ist er natürlich nicht der Einzige, anhand der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ausgrenzung großer Teile der muslimischen Bevölkerung. Dramatisch sichtbar wird dies in den Banlieues, den heruntergekommenen, von hoher Arbeitslosigkeit und allgemeiner Perspektivlosigkeit gezeichneten Vororten großer Städte wie Paris oder Marseille. In Deutschland gibt es – glücklicherweise – nichts Vergleichbares. +Die wochenlangen Unruhen in denBanlieuesim Herbst 2005 haben für den Soziologen eine religiöse Dimension, die von den Medien verschwiegen worden sei. Ausgelöst wurden sie durch den Tod zweier Jugendlicher, die sich auf der Flucht vor der Polizei in einem Transformatorenhaus versteckt hatten und an einem Stromschlag starben. Drei Tage später, die Unruhen waren schon fast wieder abgeklungen, landete bei einem Polizeieinsatz eine Tränengasbombe im Eingang der Moschee Bilal im 15 Kilometer von Paris liegenden Vorort Clichy-sous-Bois. Im Internet und durch Mund-zu-Mund-Propaganda habe sich eine nicht zuletzt von den Dschihadisten instrumentalisierte Version verbreitet, nach der Polizei und französische Armee die Muslime angegriffen hätten. Unruhen entflammten daraufhin in fast allen Vorstädten. Für Kepel ein Schlüsselmoment der Entstehung des neuen Dschihadismus. +Von den Geheimdiensten lange übersehen oder sträflich unterschätzt, habe es die netzwerkartige, also dezentral organisierte dritte Dschihadisten-Generation auf das Erzeugen eines "Klimas des Schreckens" in Europa abgesehen. Die darüber intendierten feindseligen Reaktionen gegenüber sämtlichen Muslimen würden, so die Vorstellung der Dschihadisten, zu einer Radikalisierung bislang friedlicher Muslime führen. Ziel sei ein großer Bürgerkrieg, in dem die europäische Gesellschaft schließlich untergehe. Ein mächtiges Kalifat würde auf ihren Trümmern errichtet werden. +Kepel glaubt nicht, dass diese ausgesprochen düstere Wunschvorstellung real werden könnte, da die überwältigende Mehrheit der Muslime so etwas überhaupt nicht wolle. Besonders heiter sind seine eigenen Zukunftsaussichten allerdings auch nicht: Die französische Gesellschaft sieht er zunehmend eingezwängt zwischen Dschihadismus und Rechtsextremismus. "Man hat das Gefühl, dass sich ein Bruch vollzieht. Ein omnipräsenter Argwohn, der Gefahr läuft, durch die Provokationen auf allen Seiten zu einer Art verkapptem Bürgerkrieg zu werden." +Um den Dschihadismus zu besiegen, erzählte Kepel in einem Interview mit der "FAZ", müsse Frankreich sich Fragen "zu einer besseren Polizei- und Geheimdienstarbeit stellen, zu den Zuständen in den Haftanstalten, die Brutstätten für radikale Dschihadisten sind". Und selbstverständlich seien wir gefordert, "die soziale Inklusion der Einwanderer zu verbessern". +Gilles Kepel (mit Antoine Jardin): "Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa", Verlag Antje Kunstmann, München 2016, 304 Seiten, 24 Euro +Ein ausführlichesInterviewmit Gilles Kepel ist in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift ApuZ, in der es überFrankreichgeht diff --git a/fluter/The-Kindness-of-Strangers-Film-Berlinale.txt b/fluter/The-Kindness-of-Strangers-Film-Berlinale.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..30a404566e827827f6932b3073d61d0be09f5f43 --- /dev/null +++ b/fluter/The-Kindness-of-Strangers-Film-Berlinale.txt @@ -0,0 +1,15 @@ + + +Was zeigt uns das? +Der Film will eine Ode an die Menschlichkeit sein, an Empathie, die keine Gegenleistung verlangt. "Warum seid ihr unfreundlich zueinander?Ihr habt keinen Grund, kein Recht dazu." Das sagt Alice, die Krankenschwester, die sich in der Suppenküche um Obdachlose kümmert und die Selbsthilfegruppe "Vergebung" leitet, während einer Sitzung zu ihren Schützlingen. Lone Scherfig beweist, dass ein Film über Mitmenschlichkeit weder schnulzig noch langweilig sein muss. +Wie wird's erzählt? +In einer Situation größter Not erfährt Clara keine Hilfe von ihrem Schwiegervater, dafür aber von Alice, dem Küchenhelfer Jeff und dem Ex-Häftling Marc, der sie schließlich in der Wohnung über seinem Restaurant Winter Palace beherbergt. Dort kreuzen sich auf schicksalhafte Weise immer wieder die Wege der Protagonisten. Sie alle stecken in einer Krise – sei es, weil sie gerade Job und Wohnung verloren oder sich vor lauter Mitgefühl für andere selbst vergessen haben, weil sie sich alleine fühlen, am Sinn des Lebens zweifeln. + +Good Job! +Der Film zeigt immer wieder die Gegensätze, zwischen denen die Protagonisten auf der Suche nach Geborgenheit hin und her trudeln: dunkle Hinterhöfe, schneeweiße Kirchendächer, das prächtig in Gold und Silber eingerichtete Winter Palace und seine Edelstahlküche, die heruntergekommene Suppenküche, grell erleuchtete Krankenhausflure. Diese Bilder funktionieren, und im Kinositz wird einem abwechselnd ganz kalt und wieder behaglich zumute. Der Soundtrack, der vor allem dunkle Bilder mit melancholischen Klavier- und Streicherstücken untermalt, trägt seinen Teil dazu bei. + +Schwierig +Es gibt nicht eine Hauptfigur, sondern sehr viele. Das ist stellenweise überfordernd – immer dann, wenn der Film eine Figur verlässt und sich den Problemen einer anderen zuwendet. Selbst die Stadt New York ist mehr Hauptdarsteller als bloß Kulisse. + +Ideal für … +… alle, die Lust auf eine weniger oberflächliche, weniger romantische Version von "Tatsächlich Liebe" haben. New York im Winter ist auch sehenswert – und Bill Nighy sorgt souverän für einen Lacher, wenn es allzu tragisch wird. diff --git a/fluter/Tuerkisch-kurdische-Beziehungen.txt b/fluter/Tuerkisch-kurdische-Beziehungen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fac143392b90137e92ce3b4c0c175bece33b0ec2 --- /dev/null +++ b/fluter/Tuerkisch-kurdische-Beziehungen.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Den Augenblick, in dem die Sonne in die schmale Gasse fiel, nutzte Emrah, um ein wenig zu dösen. Er lehnte sich in dem abgenutzten braunen Sessel zurück, den er mit den anderen Soldaten aus dem Wohnzimmer eines der Häuser geholt hatte. Sein Gewehr lag neben ihm auf dem Boden, so dass er es jeden Moment greifen konnte. Seine Gedanken flogen nach Hause, so würde er es später erzählen. Nach Ankara, zu dem glücklichen Leben, das dort auf ihn wartete, zu seinen Eltern, bei denen er noch lebte, zu seinen Freunden, mit denen er sich vor wenigen Monaten an der Uni eingeschrieben hatte und von denen viele jetzt auch irgendwo in der Kurdenregion stationiert waren. + + +Das Gassengewirr von Diyarbakır, Leilas Zuhause, ist abgeriegelte Zone. Vom November 2015 bis zum März 2016 tobte hier ein Häuserkampf, wie in vielen kurdischen Innenstädten. Kurdische Guerillakämpfer standen türkischen Soldaten gegenüber, Barrikaden schweren Panzern. Es starben Menschen. Bis die türkischen Soldaten die Angriffe mit Bomben beendeten.Im Februar 2015 hatte es noch ausgesehen, als wäre Frieden im türkischen Kurdistan möglich. Die türkische Regierung und die PKK-Führung verhandelten über Bedingungen für die Waffenniederlegung der Guerillagruppe. Doch kurz nach den Parlamentswahlen im Juni 2015 erklärte Präsident Recep Tayyip Erdoğan den Friedensprozess offiziell für beendet. +Bei der Wahl holte die prokurdische HDP mehr als 13 Prozent der Stimmen, zum ersten Mal knackte damit eine Partei, die sich explizit für das Anliegen der Kurden einsetzt, die Zehn-Prozent-Sperrklausel, die in der Türkei für den Einzug ins Parlament gilt. Erdoğans AKP hingegen gewann erstmals seit Jahren nicht die absolute Mehrheit. +Im Juli begannen die Kämpfe. Das folgende Jahr wurde eines der tödlichsten in dem drei Jahrzehnte andauernden Konflikt: Mehr als 2.400 Menschen starben nach Angaben der unabhängigen Friedensorganisation International Crisis Group, weitere 350.000 flohen aus ihren Häusern im Südosten. Die Innenstädte vieler kurdischer Städte wurden zerstört und sind seitdem von der türkischen Armee abgesperrt, auch die von Diyarbakır. +Als Leila an diesem Herbstvormittag den Platz zwischen Basar und Moschee erreichte, hielt sie wie immer Ausschau nach ihren Nachbarn. Sie kamen oft hierher. Der Platz, der keine 500 Meter von ihren Häusern entfernt lag und den seit Monaten gepanzerte Polizeiwagen und Hundertschaften säumten, war zum tristen Ersatz für ihre Gasse geworden, aus der sie alle zusammen überstürzt geflohen waren, nachdem im November einer von ihnen von Scharfschützen erschossen worden war – der 15-jährige Sohn einer Familie. +Schon in den Tagen davor hatte sie sich kaum aus dem Haus getraut, war nicht auf den Basar gegangen. Gewehrsalven donnerten in nur wenigen Metern Entfernung. War sie allein zu Hause gewesen, hatte sie sich mit den Kindern – ihre Tochter war da erst ein paar Wochen alt – oft im Badezimmer versteckt, das im Inneren der Wohnung lag. Dort hatte sie sich am sichersten gefühlt. Ausgerechnet in ihrer Gasse hatten junge Männer in olivfarbenen Kampfanzügen Barrikaden errichtet. +Die Jugendlichen standen der kurdischen Arbeiterpartei PKK nahe, die viele Kurden als ihre Retter ansehen und die der Rest der Welt als Terroristen betrachtet. Am Anfang der Auseinandersetzungen war Leila vor allem auf die PKK-Leute wütend gewesen. Sie hatten ihren Kampf gegen die türkische Regierung in die Stadt gebracht, die Gefahr in das Leben ihrer Familie, ihr Zuhause zum Kampfgebiet gemacht. Doch seit die Türken mit den Panzern vorgerückt waren, seit Granaten abgefeuert wurden, die auch Zivilisten getötet hatten, war Leila nicht mehr sicher, auf wen sie wütender sein sollte. +Sie hing noch diesen Gedanken nach, als an jenem Herbsttag auf dem Platz vor der Moschee ein älterer Mann mit weißem Schnauzer mit schnellen Schritten auf sie zukam. Einer ihrer Nachbarn. Als er vor ihr stand, sah sie Panik in seinen Augen. Er beugte sich zu ihr. Flüsterte. Ihre Häuser würden abgerissen. Um Luxusapartments Platz zu machen. Für türkischstämmige Flüchtlinge aus Syrien. Seine letzten Worte schluckte der Motorenlärm eines der Lastwagen, die seit Wochen Schutt aus der Altstadt schafften. Überbleibsel der Kämpfe. Reste von Häusern. Leila machte einen Schritt zurück, schüttelte den Kopf. Das konnte nicht wahr sein. Ihre ganzen Sachen waren doch noch in dem Haus, ihr ganzes Leben, ihr einziger Lichtblick war doch, dorthin zurückzukehren. Sie fragte, woher er die Information hatte. Er sagte, die anderen hätten es ihm gesagt, die Soldaten, die ihre Häuser belagerten, hätten es ihnen erzählt. Leila griff nach dem Kinderwagen und schob ihn, das Kinn nach vorne gereckt, vorbei an den gepanzerten Polizeiwagen, in Richtung ihres Hauses. Das sollten ihr diese jungen Soldaten ins Gesicht sagen. Während sie lief, fiel ihr auf, dass sie schon lange mit keinem nichtkurdischen Türken mehr als einen Satz gesprochen hatte. Sie erinnerte sich nicht mal mehr, wann das letzte Mal gewesen war. +Nach nicht mal fünf Minuten lag die Gasse wieder im Schatten. Emrah nahm seine Waffe und postierte sich vor den Sandsäcken, die den am heftigsten umkämpften Teil der Altstadt begrenzten. Ausgerechnet als der Konflikt mit den Kurden erneut ausgebrochen war, war er zum Militärdienst einberufen worden, ausgerechnet ins Kurdengebiet. Da war er gerade 21 geworden, hatte in seiner Heimatstadt Ankara begonnen, Maschinenbau zu studieren. Der Krieg war ihm erspart geblieben. Aber jeden Moment musste er mit einem Anschlag rechnen. +Nach dem Putschversuch Mitte Juli 2016 und im Zuge des Ausnahmezustands erhöhte die Regierung auch in der Kurdenregion auf politischer und sozialer Ebene den Druck. Mehrere tausend kurdische Lehrer wurden wegen angeblicher PKK-Kontakte suspendiert und durch Hochschulabsolventen aus der westlichen Türkei ersetzt. Ende Oktober wurden aus demselben Grund die beiden Bürgermeister von Diyarbakır festgenommen; weiterhin auch mehr als 20 andere kurdische Lokalpolitiker. In den Wochen davor waren schon 27 Bürgermeister in anderen kurdischen Städten festgenommen und 43 vom Dienst suspendiert worden. Türkische Regierungstreue ersetzten die kurdischen Politiker. Es herrschte eine faktische Nachrichtensperre. Gleichzeitig hatte die PKK wieder mehr Anschläge auf Polizisten und Soldaten verübt, bei denen ebenfalls viele Zivilisten getötet oder verletzt wurden. + + + +Als Emrah sich gerade vor den Sandsäcken in Position gebracht hatte, kam wieder die blasse Frau mit dem langen Mantel und dem Kopftuch und den beiden Kindern in dem schmutzigen Wagen. Er streckte den Rücken noch ein wenig mehr durch. Er würde sie wieder kontrollieren, sie würde wieder mit dünner Stimme fragen, wann sie zurück in ihr Haus könne. Doch diesmal würde er keine ausweichende Antwort geben. Diesmal hatte er Gewissheit. Das Haus und die ganze Gegend würden endlich auch abgerissen, wie der Rest der Altstadt. +Da stand schon wieder der Junge, der so oft in dem Sessel lümmelte, der im Wohnzimmer ihrer Nachbarin gestanden hatte. Der ihren Ausweis jedes Mal kontrollierte, als sei sie eine Terroristin, der immer sagte: "Sie können nicht hinein, Sperrgebiet." Sie schob das Kinn noch ein wenig mehr nach vorn, hielt den Kinderwagen einen Meter vor ihm an. "Wann kann ich in mein Haus?" +Emrah sah an ihr vorbei. "Das Haus wird abgerissen, das ganze Viertel wird zerstört", sagte er kühl. Er fand die Entscheidung überfällig. Die Altstadt war ein Nest der Terroristen. Alle unterstützten sie hier, hatten sie in ihre Wohnungen hineingelassen. +Leila suchte den Blick des jungen Soldaten. Sie wollte ihm sagen, dass man sie so doch nicht behandeln könnte, dass sie doch Rechte hatte. Dass ihre ganzen Sachen noch in dem Haus waren. Ihre Kleider, die Kuscheltiere ihrer Kinder. Doch er wich ihr aus. Sie merkte, dass ihr die Tränen kamen. Sie schluckte sie hinunter, sie wollte sich nicht die Blöße geben. Schnell drehte sie sich um, schob den Wagen um die Ecke, dorthin, wo er sie nicht sehen konnte. +Aus den Augenwinkeln sah Emrah, wie sie ansetzte, etwas zu sagen und wie sie dann schluckte. Bestimmt würde sie gleich weinen. Da ging sie schnell weg. Er wusste, er würde sie nie wiedersehen. Einen Moment dachte er darüber nach, dass er noch nie wirklich mit einem Kurden gesprochen hatte. Er war sicher, dass er nichts verpasste, wenn es dabei blieb. + diff --git a/fluter/US-Deserteur-Andre-Shepherd-politisches-Asyl.txt b/fluter/US-Deserteur-Andre-Shepherd-politisches-Asyl.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9798eefad8967f42b3cdd7d07648a69e99bf8e10 --- /dev/null +++ b/fluter/US-Deserteur-Andre-Shepherd-politisches-Asyl.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Juristen sprechen von einem Präzedenzfall, bei dem es über den individuellen Fall hinaus um den Schutz der Gewissensentscheidungen von Soldaten gehe. Zudem ist Shepherd der erste US-Soldat überhaupt, der in Deutschland Asyl beantragt hat. Ein Urteil zu seinen Gunsten könnte für diplomatische Verstimmungen zwischen beiden Ländern sorgen, weil der Fall auch die brisante Frage berührt, ob die Vereinigten Staaten im Irak Kriegsverbrechen begangen haben. Eine Richtlinie der Europäischen Union schützt nämlich Soldaten, die sich einem völkerrechtswidrigen Krieg oder völkerrechtswidrigen Handlungen entziehen und mit Verfolgung rechnen müssen – selbst wenn sie, wie Hubschraubermechaniker Shepherd, nicht direkt an den kriegerischen Handlungen beteiligt sind. +Die Münchner Richter machten allerdings einen Bogen um die heikle Materie und begründeten ihr Urteil damit, dass sich Shepherd vor seiner Desertion nicht um eine formale Kriegsdienstverweigerung oder eine Versetzung in eine andere Einheit bemüht habe. Seine Desertion sei nicht das letzte Mittel gewesen. +Bei alledem könnte es dem US-Amerikaner auch um die Signalwirkung gehen, die das Urteil für Soldaten in ähnlichen Situationen hätte. Zwar drohen ihm in seiner Heimat als Deserteur Gefängnis und die unehrenhafte Entlassung aus der Armee, laut seinem Anwalt außerdem soziale Ächtung und Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Doch die Abschiebung muss er nicht fürchten. Er hat in Deutschland eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. + +Deutschlandradio Kultur sendete anlässlich des Prozesses eininteressantes Interview mit dem Bundeswehrspezialisten Elmar Wiesendahlzu der Frage: Wieviel Gewissen darf ein Soldat eigentlich haben? diff --git a/fluter/US-Wahlen-Beobachtungen-aus-Los-Angeles.txt b/fluter/US-Wahlen-Beobachtungen-aus-Los-Angeles.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..74ca34ab9155ac6c9339fae712c033747312d8c0 --- /dev/null +++ b/fluter/US-Wahlen-Beobachtungen-aus-Los-Angeles.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Also zum Einstimmen das erste Bier des Nachmittags an der Bar bestellen. Schmeckt schrecklich, ist aber immerhin kalt. Die Wahllokale sind im ganzen Land noch offen und die Sonne brennt noch auf den Strand an der Ostküste. Im Fernsehen läuft Werbung von einem Hundefutterhersteller, der Trump- und Clinton-Wähler mit Hilfe eines Golden Retrievers zusammengebracht hat. Die eigentlich verfeindeten Wähler erkennen beim Streicheln des Tieres, dass sie doch etwas gemeinsam haben: "Wir lieben alle Hunde." Das ist die traurigste Werbung, die ich je gesehen habe. +Also gleich das zweite Bier hinterher, auch kalt. Ich höre mich an der Bar um, wie die Stimmung ist. Die Analysen gleichen sich: Hillary ist schlecht fürs Land, Trump wäre schlechter. Das Wahlsystem ist bekloppt und die Medien sind verrückt. Überhaupt scheinen alle vor allem froh zu sein, dass die Wahl bald zu Ende ist. Sogar die Moderatoren auf CNN machen den Eindruck, als gehe ihnen der ganze Zirkus inzwischen gehörig auf den Geist. Sie müssen den ganzen Tag Wähler interviewen, die gerade ihre Stimme abgegeben haben. Die reden meist so dummes Zeug ("Clinton schlimmer als Hitler", "Man muss das Land wie ein Unternehmen führen"), dass den Moderatoren immer wieder die Sprache wegbleibt. +An der Strandpromenade fahren in der anbrechenden Dämmerung noch einige Surferboys auf ihren Skateboards entlang. Ich bestelle mein drittes Bier und kriege Kopfschmerzen, vermutlich von den immerzu hämmernden Nachrichten über Unregelmäßigkeiten an irgendwelchen Wahlurnen in Ohio oder Nevada oder irgendeiner anderen Wüste. CNN gibt jetzt die ersten Ergebnisse aus US-Bundesstaaten bekannt, alles wie erwartet, also weiter Warten auf das Ende. +Hinter mir meldet sich Paul unaufgefordert zu Wort, Basecap, Surfershirt, schiefes Lachen. Er erklärt mir, dem Deutschen, wie das so sei mit Clinton: Sie und ihre Clique seien so wie die Bolschewiken ("und wie die Menschewiken!"), die Wahl sei manipuliert und Clinton selbst ein Nazi. Außerdem plane sie, in der Wahlnacht Hunderttausende Trump-Unterstützer umzubringen. Ich frage ihn, wie er da so ruhig sitzen könne, wenn er doch offensichtlich in ein paar Stunden getötet werden solle. Er grummelt, dass Gott ihn retten werde. Ich habe keine weiteren Fragen. +In den Tagen zuvor war die bestimmende Nachricht in den meisten Fernsehnachrichten, dass Trump aufgrund von angeblichen Wahlmanipulationen seine Wahlniederlage nicht anerkennen würde. Dazu zeigten die Sender im Loop sämtliche sexistischen und rassistischen Sprüche, die Trump in den letzten Wochen losgelassen hatte. Immer und immer wieder. Ein Moderator von CNN fragte in dem Zusammenhang treudoof-heuchlerisch, ob wohl auch Medien wie CNN Trumps Komplizen seien bei der Verbreitung der Hassbotschaften. Man kennt das von Anne Will und der AfD. +Ich brauche eine Auszeit. Die Fernsehnachrichten werden immer konkreter. Trump liegt weniger zurück als in den Umfragen, vermutlich kriegt er Ohio und Florida. Trotzdem noch Vorsprung für Clinton. Für Bier Nummer vier gehe ich zum Liquor Store nebenan und nehme mir eine Bierflasche aus dem Kühlschrank. Bevor ich aber bezahlen darf, muss ich meinen Ausweis zeigen, zum ersten Mal seit meinem 15. Lebensjahr. Ich sage dem Verkäufer, dass es doch wohl unfair sei, dass man offenbar keinerlei Qualifikationen haben müsse, um Kandidat für die US-Präsidentschaft zu werden, für den Erwerb eines Bier aber einen Ausweis vorzeigen müsse. Der Verkäufer findet den Vergleich recht schief. Ich überlege kurz und stimme ihm dann zu. Meinen Ausweis muss ich trotzdem vorzeigen. Ich bestehe mit Bravour. +Danach: warten. Trump schiebt sich vor. Weiter vor und weiter vor. Und ich halte es nicht mehr an der Bar aus. Ich kaufe noch zwei Bier und gehe an den Strand, allein. Wenn Trump tatsächlich gewinnt, wird uns das über Jahrzehnte begleiten, wie uns jetzt noch immer die verfehlte Politik von George W. Bush verfolgt. Trump legitimiert Rassismus, Trump macht das Unsagbare sagbar. +Und als ich vom Strand zurückkehre, scheint sich Trumps Vorsprung zu verfestigen. Was ich zu Beginn des Abends nicht für möglich gehalten habe, ist eingekehrt. Berlin in den 1920ern. Ich kann mir das nicht weiter anschauen, trinke noch ein Bier und noch einen Schnaps und krieche ins Bett. Mir ist schlecht. diff --git a/fluter/US-Wahlkampf-in-Ramstein.txt b/fluter/US-Wahlkampf-in-Ramstein.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6d2e48ae3a9f0a5169f7603955c49f534844ed49 --- /dev/null +++ b/fluter/US-Wahlkampf-in-Ramstein.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Auf den langen Bierbänken sitzen sowohl Deutsche als auch US-Soldaten mit ihren Familienmitglieder und Mitarbeiter der zahlreichen Kasernen der US-Armee in dieser Gegend. Viele klatschen Beifall, manche schunkeln, fast alle trinken Bier aus Maßkrügen. Aber beinahe nur die Amerikaner tragen Dirndl und Lederhose. Ein Junge, der laut "Mom, mom!" ruft, rennt in einem grünen Jägerhut umher. +Wollen die Amerikaner hier deutscher sein als die Deutschen? Während die ganze Welt gebannt dem Wahlkampf um das höchste Amt der USA folgen, scheinen viele der US-Bürger hier an diesem Tag ganz glücklich darüber zu sein, dass ein ganzer Ozean zwischen ihnen und ihrer Heimat liegt. Ein Amerikaner im gelbweiß karierten Hemd und kurzer Lederhose verzieht, angesprochen auf die Kandidaten Donald Trump und Hillary Clinton, schmunzelnd das Gesicht. "Mir gefällt gerade der Gedanke, in einem ganz anderen Land zu wohnen. Nicht USA, nicht Deutschland, sondern Republik K-Town!" + + +Der Ausdruck "K-Town" wurde nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt, als die Amerikaner diese Gegend von Rheinland-Pfalz, und vor allem die "Ramstein Air Base", zum "Flugzeugträger des Westens" ausbauten. Aktuell haben die US-Streitkräfte laut offiziellen Angaben gut 46.000 aktive Soldaten, Reservisten und zivile Mitarbeiter in Deutschland stationiert, die meisten davon in Rheinland-Pfalz. Ein stolze Anzahl, ist das US-Militär doch in den meisten Staaten der Erde vertreten – mit insgesamt 273.000 Frauen und Männern im Ausland. +Insgesamt leben Schätzungen zufolge 57.000 US-Bürger in Kaiserslautern und Umgebung, denn viele Soldaten bringen ihre Familien mit. Manche bleiben für immer. +Das sind zwar sehr viele US-Amerikaner auf einem Fleck, dennoch handelt es sich bei ihnen nicht um einen Querschnitt der Gesellschaft der USA. Wie sich Militärangehörige vom durchschnittlichen US-Bürger unterscheiden, kann Sarah Wagner erklären. Sie ist Bildungsreferentin bei der Atlantischen Akademie in Kaiserslautern, einer von der rheinland-pfälzischen Landesregierung gegründeten Institution, die sich den deutsch-amerikanischen Beziehungen widmet. "Natürlich ist das Militär kein monolithischer Block", erklärt Wagner. Traditionell gebe es weniger Soldaten, die sich den Demokraten zurechnen. Bei den niedrigeren Dienstgraden sei Trump besonders beliebt, bei den Offizieren kann auch Clinton punkten. Insgesamt zeigt eine im September durchgeführte Umfrage der Zeitschrift"Military Times", dass Clinton bei Militärangehörigen hinter Trump und dem libertären Kandidaten Gary Johnson zu dem Zeitpunkt nur an dritter Stelle lag. + + +"Genau wie in den USA gibt es aber auch unter US-Soldaten in Deutschland eine große Unzufriedenheit mit den Kandidaten", erklärt Wagner. "Viele stimmen eher gegen einen Bewerber, als aktiv jemanden zu unterstützen." Rund um die Air Base winken denn auch viele US-Bürger gefragt nach ihrer politischen Meinung ab. "Politik ist eine deprimierende Angelegenheit", sagt eine Frau in den Dreißigern, die mit einem US-Soldaten verheiratet ist. "Leider!", fügt sie lachend hinzu. "Aber ein wichtiges TV-Ereignis gibt es heute wirklich. Football!" +Doch es scheint eben nicht alles wie immer, denn nicht nur Expertin Wagner und viele andere professionelle Beobachter erklären diesen Urnengang zu einer "besonderen Wahl". Das liegt vor allem an Donald Trump, der mit seinem populistischen Stil kein gewöhnlicher Kandidat ist. +Die Mitglieder der Band aus dem Festzelt erklären hingegen, über Politik zu diskutieren, komme ihnen nicht in den Sinn, Politik sei eher "etwas Privates". In Deutschland gefalle es ihnen super, alle seien nett – und wer auch immer Präsident in den USA werde, sei dann ihr neuer Chef. "Es ist alles wie immer im Wahlkampf. Kein Grund zur Sorge!" +So fallen denn auch die Urteile über die zweite TV-Debatte weltweit vernichtend aus. Von der "hässlichsten Debatte der Geschichte Amerikas" schreibt "Politico", in Deutschland wertet "Spiegel Online" sie als "Tiefpunkt des Wahlkampfs", in den sozialen Medien gibt ein Post den allgemeinen Tenor besonders gut wieder: Es sei strittig, wer gewonnen habe, nur der Verlierer stehe fest: die USA. +Zu ähnlich drastischen Bewertungen kommen rund um "K-Town" vor allem jene US-Bürger, die keine aktiven Soldaten sind. Sie äußern sich weniger zurückhaltend als die Leute von der Armee. + + +Patty und Penny etwa, beide Anfang 60, aus dem US-Staat Michigan und zu Besuch in Deutschland, finden beide Kandidaten "sehr peinlich". Die beiden Frauen sind pensionierte Lehrerinnen und geben sich als Anhängerinnen der Demokraten zu erkennen. "Auch diesmal. Damit Trump nicht Präsident wird." In ihren Regenjacken und Wanderschuhen wirken die beiden wie auf dem Sprung in die Natur. "Es ist unglaublich wie Trump über Frauen spricht, das darf nicht sein", erklärt Patty. Den politischen Konflikt müsse sie auch zu Hause austragen – ihr Mann sei für Trump. "Wir sind uns einig, dass wir uns nicht einig werden." Penny sagt: "Ich bekomme tatsächlich Angst, wenn ich mir das ansehe. Trump hat trotz allem viele Fans." +Am Morgen nach dem zweiten TV-Duell ist es herbstlich und still, es regnet orangefarbene Blätter auf das Festzelt in Landstuhl. Unweit der Airbase erinnert ein in roten Containern beheimatetes "Docu Center" an die Geschichte der US-Soldaten in Rheinland-Pfalz, an das gegenseitige Misstrauen direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, an die bald aufkommende Begeisterung der Deutschen für Jazz und die amerikanische Lebensart, aber auch an das Unglück bei der militärischen Flugschau in Ramstein im Jahr 1988 mit 70 Toten. Unterlegt von Ella Fitzgeralds "Too darn hot" kann dort auch ins Schwärmen kommen, wer die Herzenswärme zwischen Amerikanern und Deutschen in der Zeit des Kalten Kriegs nur aus Geschichtsbüchern kennt. +Sie reden gerne mit den Deutschen, die Leute von der US-Armee, aber zurzeit eben nicht so gerne über den Wahlkampf und schon gar nicht über das TV-Duell der letzten Nacht. Dazu möchte sich an diesem Morgen kaum einer äußern. Dann findet sich doch noch jemand: Mike, 29, der hier mit seinem Schäferhund spazieren geht. Er sei "von weit weg, aus dem mittleren Westen", sagt er und erklärt: "Ich bin für Trump. Viele bei uns wollen nicht über den Wahlkampf reden, aber es geht doch nicht anders." Trump habe eben "Substanz". Mike guckt umher, nach seinem Hund. "Die Demokraten sind zu weit gegangen. Amerika muss wieder Zähne zeigen", sagt Mike und pfeift seinen Hund aus dem Gebüsch zurück. Der kommt – und fletscht kurz die Zähne. + diff --git a/fluter/USA-Mehrheitswahlrecht-und-schwache-Parteien.txt b/fluter/USA-Mehrheitswahlrecht-und-schwache-Parteien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b1a029c032433939c79f39c59e338dfe4069a20b --- /dev/null +++ b/fluter/USA-Mehrheitswahlrecht-und-schwache-Parteien.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Es ist ein Kreuz mit der Wahl: Nicht wenige, die Clinton wählen, tun dies nur, weil sie Trump verhindern wollen +Skeptisch gegenüber ihrer Kandidatin sind allerdings auch viele Demokraten. Eine Präsidentenwahl, bei der beide Anwärter auf das höchste Amt derart unpopulär sind, ist beispiellos. Und führt zu einem Dilemma. Lammert: "Traditionell ist in den USA die Parteibindung viel schwächer ausgeprägt als bei uns, früher gab es viel häufiger das Phänomen von Wechselwählern. Progressive Republikaner unterschieden sich kaum von konservativen Demokraten, da war eine sehr große Mitte. Die Leute haben geguckt, welcher Kandidat das beste Angebot macht. Das hat sich verschoben."Nicht etwa, weil die Bindung an die eigene Partei positiv gestärkt, sondern weil die andere Partei vehement abgelehnt wird, meint Lammert: "Man ist weniger Demokrat, man ist vielmehr Nichtrepublikaner. Das ist wichtig für das Verständnis des Wahlkampfs im Moment. Für viele Republikaner ist Clinton keine Option. +An einer Wand des State House Visitor's Center in Concord, New Hampshire hängen die Anstecker und Aufkleber der Wahlkämpfe von Jahrzehnten +Anfang der 1980er-Jahre war die Durchlässigkeit noch größer.Viele traditionell demokratisch wählende weiße Arbeiter im Norden konnten mit ihrem Kandidaten, dem Amtsinhaber Jimmy Carter, nichts anfangen und waren empfänglich für die Versprechen des Republikaners Ronald Reagan. "Carter war am Ende seiner Amtszeit nicht mehr populär. Reagan stand für eine sehr viel optimistischere Rhetorik, er versprach: Ich räume euch die staatlichen Regulierungen aus dem Weg und senke die Steuern, und dann geht's allen besser. Und er hat nicht die ganze Zeit von Minderheiten- und Frauenrechten geredet", erklärt Markus Hünemörder, Historiker am Amerika-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität. Die sogenannten Reagan-Demokraten vollzogen mit ihrem Seitenwechsel etwas, das Reagan vorgemacht hatte, der als junger Mann selbst Demokrat gewesen war. Hünemörder: "Er war der Meinung, nicht er habe seine Haltung geändert, sondern die Demokraten, die nach links gerückt waren." Überliefert ist Reagans Satz: "Nicht ich habe die Demokraten verlassen, die Demokraten haben mich verlassen." +So empfanden in den 1960er-Jahren auch viele Südstaaten-Demokraten, die an der Rassentrennung festhalten wollten und die Bürgerrechtsgesetzgebung der liberaleren Demokraten in Washington ablehnten. Im Wahljahr 1964 machte dieser Klientel der republikanische Kandidat Barry Goldwater mit populistischer Agenda ein Angebot, vier Jahre später profitierte der abtrünnige Demokrat George Wallace mit seiner Unabhängigkeitspartei, nun Präsidentschaftskandidat der rechtsgerichteten American Independent Party, von der politischen Heimatlosigkeit dieser Wähler. +Wallace gewann in fünf Bundesstaaten im Südwesten die meisten Stimmen. Da in diesen wie in den allermeisten Bundesstaaten das Mehrheitswahlrecht gilt, bekam er somit alle Wahlmänner. Doch kleine Parteien wie eben 1968 Wallace' Unabhängigkeitspartei oder bei den Wahlen 2000 die Grünen mit ihrem Spitzenkandidaten Ralph Nader können allenfalls Achtungserfolge erzielen. Um sich zu etablieren, zu wachsen und den großen Parteien als Partner anzubieten, bräuchten sie das Verhältniswahlrecht. So wie im politischen System der Bundesrepublik Deutschland. +Das amerikanische Mehrheitswahlrecht will diese Art Koalitionsbildungen gar nicht. The winner takes it all – es soll nur einen Sieger geben. Und der ist bei Präsidentschaftswahlen seit 1852 ohne Ausnahme entweder Demokrat oder Republikaner. Besser gesagt: Er benutzt dieses Label. Bei Präsidentschaftswahlen sind Demokratische und Republikanische Partei wie Clubs. Man muss bei einem unterschlüpfen, um Siegchancen zu haben. Man kann das allerdings auch dann tun, wenn Teile der Partei einen gar nicht haben wollen. +"Donald Trump tritt für die Republikaner an, obwohl er die Partei nicht abschätziger behandeln könnte. Obwohl viele Republikaner nichts lieber täten, als ihn wegzudrücken – gibt es da noch Parteien?", fragt Braml. +Vorgeprescht: Weil viele republikanisch gesinnte oder einfach nur wütende Wähler Trump wollten, war der plötzlich ganz oben – gegen den Willen großer Teile des Partei-Establishments +Weil eine große Zahl republikanisch gesinnter oder auch einfach nur wütender Wähler es so wollte, konnte kein Partei-Establishment den Siegeszug des Kandidaten Trump verhindern. Denn: Wer bei ihren Vorwahlen antritt, um zum republikanischen Präsidentschaftskandidaten bestimmt werden, und wer sich registrieren lässt, um bei diesen Vorwahlen seine Stimme abzugeben, darauf hat die Partei, anders als in Deutschland, nur begrenzt Einfluss. +Sie sind zu wenig Parteien in dem Sinne, wie man sie etwa in Deutschland kennt, um sich gegen eine nicht eben freundliche Übernahme, wie Donald Trump sie gerade praktiziert, zu wehren. Sie sind nicht kohärent organisiert vom kleinen Ortsverband bis hinauf auf Bundesebene, es gibt keine verbindlichen und verbindenden Programme, keine Parteidisziplin. Auch in der Verfassung spielen Parteien keine Rolle, anders als im Grundgesetz, in dem Artikel 21 proklamiert: "Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit." +Im amerikanischen Wahlkampf wirken bei der Willensbildung gerade viel Wut, viele Verschwörungstheorien und viel Verzweiflung mit. In dieser Notlage hat "USA Today", eine der auflagenstärksten Zeitungen des Landes, erstmals in ihrer Geschichte eine Wahlempfehlung ausgesprochen, so wie es die "New York Times" oder die "Washington Post" traditionell tun. "USA Today" positioniert sich mit dezidierter Argumentation gegen Trump – aber geschlossen für Clinton mochte sich die Redaktion auch nicht aussprechen.Wie so vieles in diesem Wahlkampf endet der Leitartikel mit einer Einsicht, die weniger auf Gutes hofft als bloß das Schlimmste verhindern will: "By all means vote, just not for Donald Trump." diff --git a/fluter/Uebergriffe-nach-Trumps-Sieg.txt b/fluter/Uebergriffe-nach-Trumps-Sieg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..66c4ab36214d1cd6f860b03da4c7373e3702e01e --- /dev/null +++ b/fluter/Uebergriffe-nach-Trumps-Sieg.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Die vielen Geschichten, Fotos und Videos lassen sich kaum verifizieren (der "Guardian" etwa weist auch auf einen erfundenen Vorfall hin); auch wäre es vorschnell, von einer Kausalität zu sprechen – schließlich ist nicht in allen Fällen erwiesen, dass Trump die Menschen zu ihren Taten inspiriert hat, und auch ohne den Republikaner gehören Vorfälle dieser Art in den USA leider zum Alltag. Was nichts daran ändert, dass beim Lesen der Tweets vor allem ein Gefühl aufkommt: Übelkeit. +Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle auch daran erinnert, dass sich Frauen, Muslime, Latinos, die LGBTI-Community und People of Colour nicht ohne Grund sorgen: Der künftige US-Präsident hat sich in der Vergangenheitvielfach rassistisch und sexistisch geäußert, hat Homosexuelle undMenschen mit Behinderung beleidigt– und auf seinen öffentlichen Wahlkampfveranstaltungen sogar wiederholt betont, wie gern er Demonstranten und Störer verprügeln (lassen) würde, wiedieses Videozeigt. diff --git a/fluter/Ukrainische-K%C3%BCnstlerin-Jennifer-Anorue.txt b/fluter/Ukrainische-K%C3%BCnstlerin-Jennifer-Anorue.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bef9e5eb210b41785300758f16fc1a9f337413e8 --- /dev/null +++ b/fluter/Ukrainische-K%C3%BCnstlerin-Jennifer-Anorue.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Oft glauben ihr andere Menschen nicht, dass sie Ukrainerin ist, weil sie nicht den gängigen Klischeevorstellungen entspricht. Ihr Vater ist Nigerianer, ihre Mutter Ukrainerin. Die Frage nach ihrer Identität stellte sie sich seit ihrer Geburt immer wieder: "Bin ich Ukrainerin?" Seit dem 24. Februar ist sie sich dessen sicherer denn je. Fragt man sie nach dem, was "typisch ukrainisch" ist, antwortet sie: Selbstironie,der Wunsch nach Freiheit, Mut. +Für ihr neues Projekt setzt sich Jennifer Anorue mit ihrem Status als Geflüchtete auseinander: mit dem Leben in ständiger Unsicherheit, der permanenten Befürchtung, bald wieder den Ort wechseln zu müssen – und dabei mit Vorurteilen gegenüber People of Color und Geflüchteten zugleich konfrontiert zu sein. Einerseits sei sie sehr dankbar für die Hilfe, die Geflüchtete aus der Ukraine in anderen Ländern bekämen – andererseits stoße sie immer wieder auf Missverständnisse: Geflüchtete, die sich stilvoll kleiden, in Cafés gehen oder ein Auto haben, würden von manchen Menschen dafür verurteilt. "Dabei hatten die Ukrainerinnen und Ukrainer vor dem Krieg doch ein normales Leben, ihren normalen Alltag. Es ist doch nicht verwerflich, sich ein Stück dieser Normalität zurückholen zu wollen!" +Früher machte Jennifer Anorue Werbung für Samsung, die Telekom und andere große Konzerne, Kyjiw war ein beliebter Drehort für solche Produktionen. Nun hat sie erst mal einen Vertrag bei einer Agentur in Warschau unterzeichnet. Zunehmend politische Künstlerin und Model: Zwischen diesen zwei Welten fühlt sie sich manchmal hin- und hergerissen. Einerseits. Dass sie beides leben kann, hilft ihr andererseits, gerade jetzt stark sein zu können. + diff --git a/fluter/Waehlt-das-Ruhrgebiet-AfD%3F.txt b/fluter/Waehlt-das-Ruhrgebiet-AfD%3F.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b65ffc4d5b9581c90b1914e3e16b2e1f7d171f15 --- /dev/null +++ b/fluter/Waehlt-das-Ruhrgebiet-AfD%3F.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Alles andere als schön: Eine Straße nicht mehr entlang gehen zu können, ohne dass einem hinterher gepfiffen wird +Als die Bulgaren in das Viertel, in dem immer schon viele Zuwanderer gewohnt haben, gezogen seien, sei es unangenehm geworden. "Aber seitdem die Araber hier sind, ist es fast unerträglich." Was Ulrike stört, ist, dass sie über das, was sie erlebt, nicht reden kann, dass sich SPD, Grüne und Linke nicht für diese Wirklichkeit interessieren. "Die wollen das nicht hören, weil es nicht in ihr Weltbild passt und sie Angst haben, sie würden die Rechten stärken, wenn über diese Probleme gesprochen wird. Aber das ist Unsinn. Es stärkt die Rechten, wenn nicht offen über diese Probleme gesprochen wird." Viele Politiker würden, sagt sie, von ihrem Alltag in der Nordstadt ohnehin nichts mitbekommen. "Die meisten von denen leben doch gar nicht in so einfachen Stadtteilen. Wo die leben, gibt es solche Probleme doch gar nicht." +Ruhrgebiet im WandelMit der Bergbaukrise setzte im Ruhrgebiet Ende der 1950er-Jahre der Strukturwandel ein. Nach und nach schlossen die Zechen, zurzeit ist nur noch eine in Betrieb – und auch die soll Ende 2018 schließen. Seit Beginn der 80er-Jahre sind im Ruhrgebiet gut eine Million Arbeitsplätze im Bergbau, der Stahlindustrie und in anderen Industriebereichen verloren gegangen. Nur 300.000 – zumeist schlechter bezahlte Dienstleistungsjobs – konnten neu geschaffen werden. Zu Beginn der Krise wollten sich zahlreiche Unternehmen im Ruhrgebiet ansiedeln, weil sie hier gut ausgebildete Arbeitnehmer vorfanden, doch das wurde von den Bergbauunternehmen im Verbund mit der Politik und den Gewerkschaften oft verhindert: VW, Ford oder das Chemieunternehmen Schering wurden an der Ansiedlung gehindert, weil sie keine Grundstücke bekamen: Sie waren Opfer der Bodensperre. Die alten Ruhrgebietskonzerne gaben auch Flächen, die sie nicht mehr benötigten, nicht frei. Sie wollten verhindern, dass ihre Mitarbeiter zu attraktiveren Arbeitgebern wechseln... +Felix sieht das ein wenig anders. Er wohnt in Herne. Ruhrgebiet pur. Szenekneipen und Galerien gibt es erst wieder in Bochum. In Herne lebt man nicht, hier wohnt man. "In meinem Viertel leben auch viele Ausländer, aber ich habe mit ihnen keine Probleme. Ich bin mit Türken aufgewachsen und habe türkische Freunde." Als Frau, räumt Felix ein, sehe das anders aus: "Meine Freundin sagte mir immer, dass es unangenehm für sie sei, an einem Flüchtlingsheim entlangzugehen. Ich dachte, sie würde spinnen, bis sie mich einmal anrief, als sie dort vorbeikam. Ich habe die Männer rufen und johlen gehört. So was geht nicht." Aber in seinem Viertel in Herne sei das Problem an einem Ort konzentriert. In der Nordstadt ist der Spießrutenlauf für Frauen fast im ganzen Viertel Alltag. +Seitdem Felix einen Job in einem Industriebetrieb hat, sagt er, gehe es ihm wirtschaftlich gut: "Ich war erst im Handwerk, da habe ich nicht viel verdient. Ich wollte da weg, machte meinen Meister, und jetzt habe ich eine sichere und gut bezahlte Arbeit." Zwischendurch lief es für ihn nicht gut, er war arbeitslos und bekam Hartz IV: "Klar, man kann von Hartz IV eine Zeit lang leben, aber es ist hart. Man fühlt sich so, als ob man bestraft wird." Ihn stört, dass viele Menschen, die er kennt, arbeiten gehen, aber von ihrem Einkommen trotzdem nicht leben können. "Wenn man den ganzen Tag arbeiten geht, muss man mehr bekommen, als man zum Überleben braucht. Alles andere ist ungerecht. Ich seh ja, wie das bei den Leiharbeitern bei uns im Betrieb ist. Die machen dieselbe Arbeit wie ich und bekommen dafür viel weniger Geld. Jemand, der arbeiten geht, darf nicht mehr auf Hartz IV angewiesen sein." +Teile des Ruhrgebietes, in denen es früher aus allen Schloten rauchte, pfeifen heute aus dem letzten Loch +Den Mindestlohn findet er gut, aber er ist ihm zu gering: "Damit hält man doch nur den Kopf knapp über Wasser." Felix fühlt sich als Teil der Arbeiterklasse, und er ist stolz darauf: "Ich wollte immer mit meinen Händen arbeiten und etwas schaffen." Die Arbeiter sind für ihn die Basis der Gesellschaft, sind die, ohne die nichts läuft. Er ist auf ruhige und gelassene Art selbstbewusst, jemand, der weiß, was er kann. Aber die SPD, die große, traditionelle Arbeiterpartei des Ruhrgebiets, sieht er nicht mehr als die Vertreterin seiner Interessen: "Die interessieren sich nicht mehr für Leute wie mich." Und Leute wie er, ergänzt Felix, würden sich nicht mehr für die SPD interessieren. "Die Alten, die zufrieden sind, wenn sie einmal im Jahr auf einem SPD-Sommerfest eine Bratwurst geschenkt bekommen, wählen die noch." Alle anderen, und das seien die meisten, mit denen er in seinem Betrieb und in der Nachbarschaft spricht, hätten das nicht mehr vor. "Viele werden AfD wählen. Warum sie das tun wollen, können sie meistens nicht erklären. Aber sie sind unzufrieden." +Unzufrieden wie sein Freund Sebastian, der als Elektriker auf dem Bau arbeitet: "Ich bin nicht stolz darauf, Deutscher zu sein, das ist mir egal. Aber ich bin stolz darauf, ein guter Handwerker zu sein." Aber das zähle immer weniger. "Auf dem Bau kommen die Kolonnen aus Polen. Das meiste, was die machen, ist Schrott, aber es ist billiger, die den Schrott machen zu lassen und uns die Nacharbeiten zu geben. Das ist nicht in Ordnung, das geht auf Kosten der guten Handwerker." Vieles, was Felix aus seinem Betrieb kennt, gebe es im Handwerk nicht: "Wir haben keinen Betriebsrat, und wer den Mund aufmacht, fliegt raus. Wenn mein Chef vor dem Arbeitsgericht verliert, ist ihm das egal. Dann zahlt er eben." Ja, all die Gesetze, die Arbeiter wie ihn schützen sollen, kenne er. "Aber es gibt sie bei uns im Betrieb nicht. Für uns stehen die nur auf dem Papier." +Grau war es im Pott schon immer. Aber mit der Dauerkrise wurde es für viele auch immer trostloser +... Doch die Bodensperre funktionierte nicht immer: Ob Opel in Bochum, die Telefonwerke von Siemens in Witten, Gladbeck und Kamp-Lintfort oder der TV-Hersteller Graetz in Bochum, der später von Nokia übernommen wurde: Es gab große Unternehmen, die sich ab den 60er-Jahren im Ruhrgebiet ansiedelten. Doch keines von ihnen hat überlebt. Erfolgreich sind heute vor allem mittelständische Unternehmen. Durch die Energiewende sind weitere wichtige Arbeitgeber wie RWE, Steag oder Unternehmen aus dem Kraftwerksbau unter Druck geraten. Mit 10,5 Prozent liegt die Arbeitslosenquote im Ruhrgebiet heute deutlich über der von 6,3 Prozent bundesweit. Die Dauerkrise ist dem Ruhrgebiet anzumerken: Viele Städte machen einen vergleichsweise verwahrlosten Eindruck, junge Menschen ziehen fort, vor allem nach dem Besuch der Unis. Von 5,7 Millionen im Jahr 1967 ist die Zahl der im Ruhrgebiet lebenden Menschen heute auf 5,1 Millionen zurückgegangen. +Das ist bei Simon anders. Er arbeitet wie Felix in einem Industriebetrieb. Arbeitsschutz, Betriebsrat – das alles sei gut geregelt. Mit seinem Geld kommt er gut aus. Sorgen macht ihm seine 19-jährige Stieftochter: "Sie ist zum Islam übergetreten." Dass sie kein Schweinefleisch mehr isst, ist Simon egal. Dass sie dafür ist, Dieben die Hand abzuhacken, nicht. "Das ist barbarisch." Auch er hat türkische Freunde, die seien aber nicht so radikal wie seine Stieftochter. Er diskutiert viel mit ihr, aber er dringt nicht mehr zu ihr durch. "Ich hoffe, das legt sich wieder. Sie ist kein schlechtes Mädchen", sagt Simon, und man spürt seine Angst um das Kind. +Simon ist neugierig und interessiert sich für Politik. Die Angebote der klassischen Verlage und das öffentlich-rechtliche Fernsehen meidet er. "Ich habe in die alle kein Vertrauen mehr." Er informiert sich online, wo, mag er nicht sagen, aber es gäbe so viele Informationen zu entdecken, die man früher nie bekommen hätte. Der Staat, sagt er, wolle die Menschen bevormunden und die Medien würden ihm dabei helfen. "Ich bin Nichtraucher, aber was geht es den Staat an, ob jemand raucht oder nicht? Die sollen die Menschen einfach mal in Ruhe lassen und aufhören, sie zu erziehen." Viele hätten Angst zu sagen, was sie denken, weil sie wüssten, dass sie als Nazis beschimpft würden. "Wenn ich sage, dass jemand, der in ein anderes Land kommt, sich an dessen Regeln zu halten hat, hat das nichts mit Nazis zu tun. Ich will doch niemanden umbringen. Aber ich will nicht, dass sich dieses Land in Richtung Arabien entwickelt." Und klar, wer kriminell wird, solle gehen. +Wen er wählen wird bei der Landtagswahl in NRW im Mai und der Bundestagswahl im Oktober, will er auch nicht sagen. Aber er wisse, dass viele seiner Kollegen die AfD wählen werden: "Die glauben alle nicht, dass die AfD es besser machen wird. Aber sie haben das Gefühl, dass die AfD Klartext redet." Außerdem bräuchten die großen Parteien einen Warnschuss. Und dieser Warnschuss, da ist er sich sicher, sei für viele die Wahl der AfD. + diff --git a/fluter/Warum-der-Berliner-Volksentscheid-Fahrrad-so-erfolgreich-ist.txt b/fluter/Warum-der-Berliner-Volksentscheid-Fahrrad-so-erfolgreich-ist.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..75d8715389b3244811c54f1dfb164ebae6ce2b5d --- /dev/null +++ b/fluter/Warum-der-Berliner-Volksentscheid-Fahrrad-so-erfolgreich-ist.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Aber erst einmal fahren an diesem Tag die Radler, verkleidet als Nikoläuse. Heinrich Strößenreuther, Pressesprecher und Gesicht der Initiative, gibt das Startkommando: "Ho, ho, ho, es falschparket sehr!" Dann geht es durch von der Polizei für diese Demonstration auf Rädern kurzzeitig gesperrte Straßen, Großer Stern und Ku'damm. Aus den Boxen, die auf einem Anhänger mitfahren, schallt es "New York, New York". Menschen am Straßenrand winken. Autos müssen warten. Für zwei Stunden ist Berlin schon mal ein Fahrradparadies. +Seit dem Sommer 2015 hat sich der Volksentscheid Fahrrad zur wohl lautesten Pro-Rad-Interessengruppe in Deutschland entwickelt. Die Aktivisten wollen ein "Gesetz zur Förderung des Radverkehrs in Berlin", das die Hauptstadt verpflichten würde, auch eine Hauptstadt des Fahrrads zu werden. Zu den zehn Zielen gehören 350 Kilometer neue Fahrradstraßen, zwei Meter breite Radwege an Hauptstraßen und grüne Wellen fürs Fahrrad. Aktuell verklagen die Aktivisten gar den Senat. Die Innenverwaltung verschleppe die Zulässigkeitsprüfung ihres Gesetzes, meinen sie. Ohne diese Prüfung kann die zweite Phase ihres Volksbegehrens nicht starten. Dann braucht es etwa 174.000 Unterschriften. Gelingt auch das, könnte es zum Volksentscheid über das Radgesetz kommen. +Die erste Hürde, 20.000 Unterschriften für einen Antrag auf ein Volksbegehren, wurde locker übersprungen. Über 100.000 Berliner unterstützten die Ziele des Volksentscheids Fahrrad in kürzester Zeit. Das Gesetz selbst erarbeiteten die Aktivisten nach einiger Vorbereitung vor allem in einem "Gesetzes-Hackathon" an einem einzigen Wochenende. Es war die erste Veranstaltung dieser Art in Deutschland. Beim Hackathon vernetzten die Aktivisten anwesende und per Internet und Telefon zugeschaltete Experten aus ganz Deutschland miteinander, die alle kniffligen Fragen sofort beantworten konnten. Dadurch konnte sowohl die Schwarmintelligenz genutzt als auch das Tempo hoch gehalten werden, denn sonst dauern solche Vorgänge deutlich länger. Frei nach dem Erfolgsgeheimnis der Aktivisten von Volksentscheid Fahrrad: Die Politik einfach überrumpeln. Aber da war ja auch noch die Sache mit der Provokation. +"Provokation hat heute oft einen sehr negativen Beiklang", erklärt Heinrich Strößenreuther. "Dabei wollen wir einfach von der Politik eine Reaktion einfordern." +Strößenreuther empfängt in einem Büro unweit der Spree und entschuldigt sich zunächst: "Ich bin heute etwas durch den Wind. Es gab vorhin den 16. Radtoten in Berlin dieses Jahr." Der Oberaktivist trägt Brille, ist hochgewachsen und hat immer mindestens ein Auge auf dem Bildschirm – schließlich sind soziale Netzwerke für ihn und sein Anliegen unerlässlich. "Es ist zunächst einmal eine nachvollziehbare Haltung, wenn Politiker nichts gegen das Auto machen, sie wollen ja gewählt werden", erklärt Strößenreuther. "Wir wollen Michael Müller zeigen: Mit dem Rad kann man Wahlen gewinnen!" +Der harte Kern der Gruppe besteht aus nur 20 Personen. Strößenreuther selbst arbeitet schon seit über 200 Tagen Vollzeit und ehrenamtlich für den Volksentscheid Fahrrad. "So langsam ist das Konto leer", sagt er und schmunzelt. Der große persönliche Einsatz ist ebenso wie das hohe Tempo und das Mittel der Provokation eine weitere Tugend der Radaktivisten. Außerdem gilt: Laut sein! +Sie haben schon Autos mit Sahne besprüht, sind in Straßenkleidung mit dem Fahrrad in die Spree gesprungen oder haben beim "Ride of Silence" Berlin zu einem Teil einer weltweit ausgeprägten Fahrradbegeisterung gemacht. "Wir wollen das Gesetz!", sagt Strößenreuther bestimmt. Zu seinen gedanklichen Bezugsgrößen zählt er den Soziologen Harald Welzer, der in seiner "Anleitung zum Widerstand" zwölf Regeln für erfolgreiches Aufbegehren formuliert hat, deren erste lautet: "Es könnte anders sein." +Doch auch Strößenreuther und die anderen haben schon Begriffe geprägt, die sich mittlerweile in der öffentlichen Debatte festsetzen. "Flächengerechtigkeit" ist so ein Wort, oder mehr schon: ein Kampfbegriff. Denn wer mehr Platz in der Stadt für das Rad einfordert, muss diesen Platz schlussendlich jemandem wegnehmen. In diesem Fall: den Autofahrern. Die Radler haben nach Darstellung des Volksentscheids aktuell etwa drei Prozent der Stadtflächen für sich, die Autofahrer dagegen 20-mal so viel. Das ist ein heikler Punkt, denn zwar betont Strößenreuther, dass er "keine Kampagne gegen das Auto" möchte. Aber der Platz in der Stadt ist nun mal begrenzt, solange die Menschen nicht alle in Turbo-Kapseln durch die Gegend fliegen. Doch das ist Zukunftsmusik. +Das Thema Fahrrad ist aber eines, das bestens zur Melodie der Gegenwart passt, denn es bewegt viele Berliner. Außerdem passt es gut ins Raster für erfolgreiche Bürgerinitiativen, erklärt Carsten Koschmieder, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin und Experte für politische Soziologie. "Statistisch gesehen haben Unterstützer von Volksbegehren eine höhere Bildung und ein höheres Einkommen als der Durchschnitt der Bevölkerung." Beim Volksentscheid Fahrrad falle zusätzlich auf, dass er präsenter sei als die meisten Bürgerinitiativen. Allerdings dürfe laut Koschmieder die Rolle von Medien und sozialen Netzwerken auch nicht überschätzt werden: "Es wird sich online verabredet und organisiert. Aber das Kerngeschäft ist immer noch, selbst rauszugehen, die Unterschriften zu sammeln und die Menschen zu überzeugen." +Trotz seiner bisherigen Erfolge ist der Siegeszug des Volksentscheids Fahrrad aber keinesfalls sicher. Ein Volksentscheid gilt nämlich erst dann als erfolgreich, wenn die Mehrheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer und zugleich mindestens ein Viertel der Berliner Stimmberechtigten zugestimmt haben – es müssen also mindestens rund 613.000 "Ja"-Stimmen erreicht werden. Deshalb wollten die Aktivisten die Abstimmung am gleichen Tag stattfinden lassen wie die Bundestagswahl 2017. Das allerdings wird zunehmend schwieriger, je länger die momentane Zulässigkeitsprüfung dauert. Doch vielleicht wird ja gar keine Abstimmung nötig. +Im 100-Tage-Programm des neuen Senats steht bereits, dass "im Dialog mit dem Volksentscheid Fahrrad und weiteren Verbänden" ein Radverkehrsgesetz auf den Weg gebracht werden soll, und zwar als erster Baustein eines weitreichenden Mobilitätsgesetzes. Die Koalition will auch viele Inhalte übernehmen, die der Volksentscheid Fahrrad formuliert hat – sagt bislang aber nicht klar, wann genau und in welcher Form das Gesetz kommt. Die parteilose Verkehrssenatorin Regine Günther kündigte nur an, dass ein Gesetz "bis Frühjahr" stehen solle. Im Gegenzug allerdings soll der Volksentscheid dann auf eine Anmeldung zum Volksbegehren verzichten. Auch wenn also absehbar ist, dass weite Teile der Forderungen der Radaktivisten künftig reale Politik werden, ist der genaue Ausgang ihres Kampfes um die Fahrradstadt Berlin daher noch ungewiss. Einigen sich die Aktivisten und der Senat nicht, werden also aller Voraussicht nach die Bürger befragt. +Und was ist eigentlich mit dem berüchtigten Berliner Wetter? Ist es nicht ein noch größeres Hindernis als alle Lokalpolitiker, wenn aus der Autostadt wirklich mal eine Fahrradstadt werden soll? Nicht für die demonstrierenden Radler des Volksentscheids Fahrrad. Nicht einmal bei ihrer winterlichen Fahrt durch Berlin, für die einige von ihnen Nikolauskostüme angelegt haben. Sogar ein Baby fährt dick eingepackt in einem Anhänger mit. Das ist verkehrspolitische Erziehung, die mal wirklich früh ansetzt. Aktivistin Lena zieht sich die Handschuhe an, steigt aufs Rad und sagt: "Wir zeigen, dass Radeln keine Sommerangelegenheit ist!" + +Titelbild: Gerhard Westrich/laif diff --git a/fluter/Warum-die-Marke-Apple-so-stark-ist.txt b/fluter/Warum-die-Marke-Apple-so-stark-ist.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f2a42acf4db657f511e2d17775c1a06e8b3e4026 --- /dev/null +++ b/fluter/Warum-die-Marke-Apple-so-stark-ist.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +"Der Konsum von Marken ist kein reflektierter Vorgang", erklärt mit der Neuropsychologe Christian Scheier. Er leitet die Marketingberatung Decode in Hamburg und untersucht, was Marken in unseren Köpfen auslösen. Er sagt: Wenn wir das Produkt einer Marke sehen, die uns zusagt, handeln wir intuitiv, wie im Autopilot. Und genau da muss ich auch eingestehen: Ich mag Apple-Produkte eben. Mir gefällt einerseits das Design. Andererseits passt aber auch das Image, dass Apple die Marke der Kreativen sei, natürlich dazu, wie ich mich selbst als Journalistin sehen möchte. +Cool und kreativ – Apple hat sich über die Jahre eine extrem starke Markenidentität aufgebaut. Darunter verstehen Wissenschaftler die Merkmale, die aus Sicht des Unternehmens dauerhaft prägend für den Charakter der Marke sind. Wenn man so will, ist die Markenidentität also das Selbstbild einer Marke, das nach außen getragen wird.Apple gilt heute – neben Google – als weltweit wertvollste Marke. +Christoph Burmann ist Professor für Innovatives Markenmanagement an der Universität Bremen und erforscht, was erfolgreiche Marken ausmacht. Im Fall von Apple sei der Erfolg stark mit der Person Steve Jobs verknüpft. Jobs hat das Unternehmen 1976 zusammen mit Steve Wozniak und Ronald Wayne gegründet. "Hinter dem Unternehmen stand ein Gründer, der seine persönliche Identität und seine Vision von Design und intuitiver Bedienung zur Marke gemacht hat", sagt Burmann. +Wer Apple-Produkte kaufte, der erwarb über Jahrzehnte hinweg auch immer einen Teil der Philosophie des 2011 verstorbenen Jobs. Er, der von Apple erst gefeuert wurde und das Unternehmen nach seiner Rückkehr aus der Krise führte. Der nicht nur auf Technik, sondern auch auf Design setzte. Und der schnöde Produktankündigungen als Events mit rituellem Charakter inszenierte: In der immergleichen Uniform aus schwarzem Rolli, Bluejeans und Turnschuhen trat er auf die Bühne, erklärte, welches Produkt den Kunden bisher noch gefehlt habe, und enthüllte zuletzt – nach dem berühmten "We call it..." das nächste iIrgendwas. +Ganz schön verapplet: Gerade viele Kreative und Journalisten, die sich für kritische Geister halten, sind begeisterte Mac-User und schauen bei Apple lieber nicht so genau hin +Steve Jobs war ein Meister des Marketings – und vergaß gleichzeitig nie den User und den konkreten Nutzen, den ein Gerät für ihn haben sollte: "Mit der Markenidentität geht immer auch ein Versprechen des Unternehmens an die Konsumenten einher", erklärt Markenforscher Burmann. Das iPhone etwa, das erste Smartphone für ein Massenpublikum, das Apple 2007 auf den Markt brachte, erleichterte den Alltag seiner Nutzer. Außerdem habe es Technik erlebbar gemacht, findet Burmann: "Bei vielen Innovationen können Laien nur schwer einen Nutzen für sich entdecken. Beim iPhone und anderen Geräten von Apple ist das anders. Man wischt ganz intuitiv darauf herum und kann Nachrichten schreiben, telefonieren und surfen." +Damit ein gut inszeniertes Produkt wie das iPhone tatsächlich gekauft wird, ist die Qualität des Produkts allerdings Grundvoraussetzung. Davon ist jedenfalls Neuropsychologe Scheier von Decode überzeugt: "Geht das Gerät schnell kaputt oder bietet es dem Kunden keinen Mehrwert, dann nützt in der Regel auch die stärkste Marke nichts", sagt Scheier. Wenn das Produkt dagegen stimmt, dann wirkt die Marke wie ein verstärkender Rahmen. "Sie aktiviert das Belohnungssystem im Gehirn und gibt den Kunden das Gefühl, sich durch diese Marke von anderen Menschen abgrenzen zu können", erklärt er. +Bei Apple geschah dies über längere Zeit auch durch geschicktes Marketing jenseits der Jobs'schen Produktpräsentationen: Jahrelang lautete der Slogan des Unternehmens "Think different". Der dazugehörige Werbespot richtete sich bewusst an "Sonderlinge", an "Rebellen und Querdenker", an jene, "die die Dinge anders sehen". Dazu kam ein auffälliges Design: Mit dem iMac von Apple gab es Ende der Neunziger zu den ansonsten grauen und kastigen PCs auf einmal eine rundliche und farbenfrohe Alternative. Und wer Anfang der Nullerjahre seine Musik auf dem iPod hörte, trug unverkennbar weiße Kopfhörer – nicht das bis dahin übliche Schwarz. "Es ist das Ursprungsversprechen der Marke Apple, kreativer als die Masse zu sein", erinnert Psychologe Scheier. Also das, was auch mich anspricht. Für viele Kunden bedeute das, so formuliert es Scheier: "Wenn sie Apple kaufen, borgen sie sich diese Kreativität." +Um sich von den angeblich weniger Kreativen abzugrenzen, nehmen Apple-Kunden wie ich einen höheren Preis in Kauf. Für das aktuell günstigste iPhone muss man mindestens 479 Euro zahlen. Samsung oder LG haben zwar deutlich preiswertere Smartphones im Angebot, trotzdem greifen viele Menschen zum iPhone – auch, weil Apple anders als Samsung immer noch für etwas steht. US-amerikanische Forscher haben herausgefunden, dass Samsung-Nutzer keinerlei emotionale Bindung zu ihren Geräten aufbauen. Bei Apple besteht diese emotionale Beziehung. Dazu gehört auch, dass die Kunden der Marke ihre Geräte besonders schön finden. + +Design, intuitive Technik und ein kreatives Image kommen längst nicht mehr nur bei Grafikern, Fotografen oder Textern wie mir gut an. MacBooks oder iPhones sieht man längst auch in Arztpraxen und BWL-Hörsälen. Eines haben alle Nutzer der Marke gemein: Ethische Bedenken lassen wir tendenziell zu Hause, bevor wir den Apple-Store ansteuern. Denn während zum Beispiel die in Teilen etwas nachhaltiger agierende niederländische Firma Fairphone noch längst nicht im Mainstream angekommen ist, lässt Apple seine Produkte in Asien genau wie viele Konkurrenten unter höchst fragwürdigen Bedingungen billig produzieren. Den eigenen Sicherheitsstandards des Unternehmens entspricht das oft nicht. In der Produktionsstätte des Zulieferers Foxconn im chinesischen Shenzen nahmen sich in den vergangenen Jahren aufgrund der harten Arbeitsbedingungen sogar mehrfach Mitarbeiter das Leben. +Monotone Arbeit und Hungerlöhne passen zwar weder zum Image der Marke Apple noch zu mir als Konsumentin. Im Supermarkt greife ich zu den Bio-Eiern und kaufe möglichst wenig Fleisch. Doch als ich vor einem Jahr ein neues Smartphone brauchte, habe ich mich null Komma null mit Produktionsbedingungen auseinandergesetzt. Die Markenidentität macht den Unterschied zwischen Ei und i: Wenn ich Eier kaufe, hält mich keine starke Marke davon ab, mein Hirn einzuschalten und nachhaltiger zu denken. Wenn ich ein hübsches Apple-Produkt im Regal sehe, schon. +Allzu sehr sollte sich Apple aber nicht auf die Treue der Fans verlassen, glaubt Markenmanagementprofessor Burmann. "Ähnlich wie in einer menschlichen Beziehung kann es auch im Vertrauensverhältnis zwischen Marken und ihren Nutzern mit der Zeit Brüche geben", sagt er. Solange Apple noch als coole und kreative Marke anerkannt ist, sehen viele von uns Fans über so manches Fehlverhalten hinweg. Doch wenn das Image der Marke Schaden nimmt, könnten fragwürdige Produktionsbedingungen viel stärker ins Gewicht fallen, vermutet Burmann. +Zumal Apple auch sonst nicht immer so cool agiert, wie sich die Marke gerne gibt. Wenn dem Konzern eine App nicht zusagt, macht er sich die Welt gerne mal, wie sie ihm gefällt – undlöscht nicht nur Anwendungen mit pornografischen und gewaltverherrlichenden Inhalten, sondern auch kritische Kolumnen oder satirische Karikaturen. Zu den Inhalten, denen Apple in der Vergangenheit den Zugang zum App-Store versagt hat, gehörte auch eine App mit den Zeichnungen des politischen Karikaturisten und Pulitzer-Preisträgers Mark Fiore. Apple nimmt sich die Entscheidungsmacht heraus, zu sagen, welche Inhalte in seinen Stores stehen. Und haben es Apps einmal dort hinein geschafft, so werden sie nach einem Ranking angezeigt,dessen Kriterien intransparent sind. +Apple behält eben gern die Kontrolle. Nicht nur über die Inhalte, die Nutzer sich herunterladen können, sondern auch über deren Daten. Nur ein Beispiel: Solange man die Funktion nicht aktiv ausschaltet,merken sich die iOS-Geräte Orte, an denen man sich vor Kurzem aufgehalten hat, sowie wie oft und wann man diese besucht hat. +Die Kritik an Apple wurde in den vergangenen Jahren lauter. Glaubt man Experten wie Burmann oder Scheier, dann hat die Marke bereits gelitten. Vor allem, weil es Apple seit dem Tod von Steve Jobs nicht mehr schafft, bahnbrechende Innovationen zu kreieren, die Menschen begeistern, sagt Burmann. Apple verkauft nicht mehr so viele iPhones und MacBooks wie früher und enttäuschte die Öffentlichkeit vor einigen Monaten damit, dass die einzige wirkliche Neuerung beim iPhone 7 eine fehlende Kopfhörerbuchse ist. Und weil die neuen kabellosen Kopfhörer auch noch aussehen wie die Köpfe elektrischer Zahnbürsten, posteten die Nutzer in den sozialen Netzwerken spöttische Bilder von Menschen mit Zahnbürsten im Ohr. Apple wird von seinen eigenen Fans, den Kreativen, verspottet. +Ich selbst habe zwar noch kein Zahnbürsten-Bild gepostet. Aber zumindest habe ich diesen Text geschrieben. + diff --git a/fluter/Weltfrauentag-graphic-novel-weibliche-selbstbestimmung-drei-wege.txt b/fluter/Weltfrauentag-graphic-novel-weibliche-selbstbestimmung-drei-wege.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6996d8acbf671710d2a1403c965a2ea1997afc80 --- /dev/null +++ b/fluter/Weltfrauentag-graphic-novel-weibliche-selbstbestimmung-drei-wege.txt @@ -0,0 +1,11 @@ + + +50 Jahre später ist Marlies bereits in der Position, Entscheidungen zu treffen, muss dafür aber kämpfen. Sei wie Jutta, sagen ihre Eltern, denn Marlies' ältere Schwester hat schon einen Gatten (Manni), eine Waschmaschine (Miele) und einen Babybauch. Marlies möchte lieber arbeiten und verliebt sich außerdem in einen feschen Germanistikstudenten, für den die Gleichberechtigung aber auch nur ein "Nebenwiderspruch" bei der Überwindung des Kapitalismus ist. +Selin stehen heute wiederum so ziemlich alle Möglichkeiten offen. Und nun? Das weiß sie nicht. Während sich ihre Mutter als Chia-Yoga-Influencerin neu erfindet, hängt Selin mit ihrem besten Kumpel ab, schaut mit ihrer Katze Youtube, macht so diesdas am Smartphone und ist ein wenig traurig, dass ihre Freundin Alina bald zum Studieren in die USA geht. + +Dass eine 18-Jährige auch im Jahr 2018 noch nicht so viele Möglichkeiten hat wie ein 18-Jähriger, erst recht, wenn sie Deutschtürkin ist, wird zwar, anders als andere politische Fragen, in "Drei Wege" nicht thematisiert, aber trotzdem ist Selins Geschichte die stärkste im Buch, gerade weil sie so offen und ziellos ist, während es bei den Episoden mitunter so wirkt, als müsste eine Liste historischer Begebenheiten abgearbeitet werden. Marlies' Proletariervater liest die "Bild"-Zeitung: Check. Idas Verlobter schickt einen Brief von der Weltkriegsfront: Check. Es geht um die Beatles: Check. Kriegsbegeisterte Kaiserzeitjungs: Check. +Das macht es mitunter etwas hölzern, aber letztlich schafft es Julia Zejn sehr gut, dass man dranbleiben will an ihren Protagonistinnen, deren Erlebnisse sie in kurzen Episoden hintereinandermontiert hat. +DerWeltfrauentagwurde 1910 von der deutschen Sozialistin Clara Zetkin auf dem zweiten Kongress der Sozialistischen Internationalen initiiert, um das Wahlrecht für Frauen und mehr politische Teilhabe zu fordern. Im damaligen Europa war der Urnengang nur den Finninnen erlaubt. In Deutschland durften die Frauen dann ab 1918 wählen. Die lange Geschichte des Weltfrauentages ging dennoch weiter. Während er Nazi-Zeit wurde er verboten, in der DDR war er zwar kein offizieller Feiertag, wurde aber festlich begangen. In Westdeutschland gewann der Weltfrauentag durch die Frauenbewegung ab den 1960er Jahren an Bedeutung. Dieses Jahr ist erin Berlin erstmalig ein Feiertag. +Zejn zeigt sich dabei als eine Meisterin des Leisen, Unspektakulären. Ihre größte Stärke ist es, Impressionen einzufangen: durch Worte, mitunter nur kurze Dialogfetzen, und ganz besonders durch ihre Bildauswahl und -montage. Mit feinem Gespür wechselt Zejn Detailaufnahmen, Totalen und Gesichter ab, variiert Groß- und Kleinformate, aber auch Geschwindigkeiten. Immer wieder zieht sie Momente mehrere Panels in die Länge, lässt sie wirken, um dann einmal auf zwei Doppelseiten die drei Episoden stakkatohaft bildweise abzuwechseln und auf diese Weise grandios zu verdichten, wie ähnlich und zugleich wie unterschiedlich sich eine Mädchenjugend 1918, 1968 und 2018 gestalten kann. +Zejns markanter und gleichzeitig dezenter Bleistiftstil, ihre blasse Kolorierung – jede Epoche hat eine eigene Farbe – passen zu diesem wohltemperierten Erzählstil. Und der passt wiederum gut zu diesen drei eher stillen, etwas unauffälligen jungen Frauen, deren Lebenswege wir ein Stück weit begleiten dürfen. +Julia Zejn: "Drei Wege". Avant, Berlin 2018, 184 Seiten, 25 Euro diff --git a/fluter/Wie-ich-Kriegsfotograf-wurde.txt b/fluter/Wie-ich-Kriegsfotograf-wurde.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0835675cf3d3937ef947ea857190bb5057c3e39c --- /dev/null +++ b/fluter/Wie-ich-Kriegsfotograf-wurde.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Sommer 2016: Auf einer sechsmonatigen Reise durch Mittel- und Nordamerika fuhr ich nach Chichigalpa, eine Kleinstadt in Nicaragua. Ein großer Teil der Bevölkerung dort leidet unter einer chronischen Nierenkrankheit namensCKDnT, vor allem die Arbeiter auf den Zuckerrohrfeldern. In den vergangenen zehn Jahren starben in Mittelamerika rund 20.000 Menschen an den Folgen dieser Krankheit. Ich lebte eine Woche lang bei einer Witwe und ihren acht Kindern, um den Alltag und die Arbeit auf den Feldern zu dokumentieren. Auf diese Fotos wurde ein Bildredakteur desWellcome Trustaufmerksam. Ich stellte ihnen einige meiner Bilder zur Verfügung und bekam einen Arbeitsvertrag. Das war das erste Mal, dass ich als Fotojournalist Geld verdiente. +Ich stamme aus einer australischen Kleinstadt – der Inbegriff von toter Hose. Ich wollte schon früh weg, um mir ein eigenes Bild von Ländern zu machen, die ich nur aus Büchern und Dokus kannte. Mit 16 beschloss ich, in Kenia als Freiwilliger bei einer Hilfsorganisation zu arbeiten. Meine Eltern waren alles andere als begeistert, aber sie merkten, wie ernst es mir war, und willigten ein. Kurz vor der Abreise schenkte mir meine ältere Schwester ihre gebrauchte Spiegelreflexkamera. +Fotografie war schon immer mein Hobby, aber erst in Afrika fing ich an, mich ernsthaft damit zu beschäftigen und die Menschen und das Leben dort zu dokumentieren. Von da an wollte ich Fotojournalist werden und begann, Bücher über Berühmtheiten wie Sebastião Salgado, Jimmy Nelson oder Lynsey Addario zu lesen. +Mit 18 zog ich nach London und fing in einer Cocktailbar an. Nach ein paar Monaten hatte ich mich zum Teamleiter hochgearbeitet und dabei ganz gut verdient. Das wurde die Basis, so finanzierte ich alle meine Trips, von hier brach ich immer wieder auf. Im Jahr 2014 war ich für mehrere Monate im Mittleren und Nahen Osten, unter anderem in Jordanien, Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten. Dort habe ich auch den Gaza-Konflikt dokumentiert. Die Fotos habe ich Presseagenturen und Tageszeitungen kostenlos zur Verfügung gestellt. Rückblickend war das nicht besonders clever. Es schadet dem Metier. Oft entstehen die Bilder eines Fotojournalisten unter schwierigen und gefährlichen Bedingungen. Ich war damals ziemlich naiv, heute weiß ich es besser. +Ein irakischer Polizeioffizier. Im Hintergrund ist noch der Rauch einer Ölquelle zu sehen, die kurz zuvor gelöscht worden war. IS-Terroristen hatten sie auf der Flucht vor der irakischen Armee in Brand gesetzt und damit eine Umweltkatastrophe angerichtet +Das wohl einschneidendste Erlebnis war eine Reise in den Irak im November 2016. Als ich den Flug nach Erbil buchte, saß ich gerade in einem kleinen Café in London, die Sonne schien, ich fühlte mich gut und war fest entschlossen, die Sache durchzuziehen. Doch je näher der Tag der Abreise rückte, desto panischer wurde ich. Meine Hände zitterten, und ich konnte nicht schlafen. Ich war völlig unvorbereitet, hatte weder ein medizinisches oder militärisches Training absolviert, noch besaß ich eine schusssichere Weste oder ein Satellitentelefon. Ich war kurz davor, einen Rückzieher zu machen. +Dann sprach ich mit einer befreundeten Fotojournalistin, die wiederum Kollegen kannte, die gerade im Irak arbeiteten – eine erste Anlaufstelle. Ich lernte vor Ort eine Gruppe von erfahrenen Kollegen kennen, die schon jahrelang aus den Krisenregionen der Welt berichten. Das hat mir ein Gefühl von Sicherheit gegeben. Wir absolvierten gemeinsam ein mehrtägiges Training bei einer NGO. Wir lernten Erste-Hilfe-Maßnahmen, bekamen eine schusssichere Ausrüstung und ein Medical Kit. Außerdem wurden wir über Verhaltensregeln und die jeweiligen Gebiete und deren Gefahren informiert. +An vorderster Front: Dieser irakische Soldat zielt auf IS-Stellungen in Haj Ali +Diese Koalition aus irakischen Soldaten und schiitischen Milizen will die Region Sharqat südlich von Mossul vom IS befreien +In einem "befreiten Haus", das Zuflucht vor dem Beschuss durch IS-Scharfschützen bietet +Josh wollte einen pinkfarbenen Teddybär fotografieren, der einsam auf einem Feldbett lag. Sofort kam ein Soldat und schleuderte das Stofftier weg +Ich schloss mich drei Journalisten an, und wir beauftragten einen Fixer. Das ist ein Einheimischer, eine Art Guide, der sich in der Gegend hervorragend auskennt und Englisch spricht. Er hat gute Beziehungen zum irakischen Militär, die braucht man, um die vielen Kontrollstützpunkte zu passieren. In den ersten Tagen haben wir mehrere Flüchtlingslager und Krankenhäuser besucht. Anschließend ging es weiter nach Kayara, eine Stadt in der Nähe von Mossul, wo der "Islamische Staat" kurz zuvor 19 Ölfelder in Brand gesteckt hatte, vermutlich, um Luftangriffe zu verhindern. Der schwarze Himmel hatte etwas Apokalyptisches. +Eine Ölquelle in Al Qayyarah steht in Flammen. Der Rauch ist so dick, dass man ihn aus dem All sehen kann +An den letzten zwei Tagen wagten wir uns dann direkt an die Front und dokumentierten, wie das irakische Militär ein Dorf befreite. Erst als wir mehrmals unter Beschuss gerieten, wurde mir wirklich bewusst, was ein Job wie dieser bedeutet. Man trägt nicht nur die Verantwortung für sich selbst, sondern auch für seine Kollegen. Wird einer von ihnen angeschossen und man weiß nicht, wie man ein Bein abbindet … Schon viele Journalisten sind so gestorben. Im Ernstfall muss ich so etwas deshalb aus dem Effeff und unter erschwerten Bedingungen beherrschen. Bevor ich wieder in ein Kriegsgebiet fahre, werde ich mich so gut wie möglich vorbereiten. +Im Moment lebe ich in Melbourne und helfe einem Freund in seiner Bar aus, außerdem absolviere ich ein Fernstudium an einer Journalistenschule. Gemeinsam mit einer befreundeten Fotojournalistin arbeite ich auch noch an einem Magazin, das eine Auswahl unserer Arbeiten der vergangenen Jahre zeigen soll. Einige Bilder aus dem Irak habe ich bereits an Magazine verkauft. +Ich bin jetzt 21 und stehe noch relativ am Anfang. Beruflich hat mich die Zeit im Irak ein ganzes Stück weiter gebracht. Ich habe dort viele Journalisten kennengelernt, konnte mein Netzwerk erweitern und von ihrer Erfahrung profitieren. In den nächsten drei Jahren möchte ich unter anderem nach Indien, Bangladesch, Pakistan, Afghanistan, El Salvador und Somalia reisen. + diff --git a/fluter/Wir-brauchen-mehr-Streit-im-Bundestag.txt b/fluter/Wir-brauchen-mehr-Streit-im-Bundestag.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..69d5ca86c5a38f8f64284e51aaa32c7070e33d67 --- /dev/null +++ b/fluter/Wir-brauchen-mehr-Streit-im-Bundestag.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Als ich vor ein paar Jahren in Berlin den Bundestag mal wieder besuchte, reichten sich die Abgeordneten über politische Gräben hinweg Hustenbonbons zu und tuschelten gerne mal über alle Parteigrenzen hinweg. Während auf dem Podium "scharfe Angriffe" gegen eine Person gefahren wurden, spielte diese nur gelangweilt mit ihrem Smartphone. "Die verstehen sich da unten alle ganz gut", sagte ich zu meinem Nebenmann, einem gegen den Schlaf kämpfenden Rentner aus Krefeld. Der schnaubte nur verächtlich. +Der verstorbene Publizist Roger Willemsen hat für sein Buch "Das Hohe Haus" 2013 ein ganzes Jahr auf der Besuchertribüne verbracht und sagte in einem Interview: "Ein Volk ist durch diese Form von Floskelhaftigkeit schlicht nicht zu finden, sondern es wird überzeugt, dass Politik von ihm nichts weiß." +Aber war denn früher alles besser? +Tatsächlich waren Leute wie Herbert Wehner oder Franz Josef Strauß von einem ganz anderen Kaliber. Der langjährige SPD-Fraktionschef Wehner hält mit 58 Ordnungsrufen bis heute den Rekord. Widersacher nannte er im Parlament "Übelkrähe", "Schleimer", "Quatschkopf", "Ungeziefer" oder riet ihnen, sich zu waschen. Der CSU-Chef und bayerische Ministerpräsident Strauß stand Wehner kaum in etwas nach und verglich Autonome mal mit Hitlers Propagandaminister Goebbels. Auch nannte Strauß Wehner einmal "eine unerträgliche Belastung des Parlaments und der Demokratie". +Das waren Angriffe auf ganz persönlicher Ebene. Ein solcher Ton wäre heute undenkbar und wohl auch nicht wünschenswert. Schließlich ist das heroische Zeitalter profilierter Persönlichkeiten vorbei, in unseren Parlamenten sitzen sich nicht mehr ehemalige Frontkämpfer und kommunistische Dissidenten gegenüber – sondern überwiegend Anwälte, die nach 1930 geboren wurden und folglich nicht während der Zeit des Nationalsozialismus schuldig wurden (Helmut Kohl sprach von der"Gnade der späten Geburt"). Sie waren schon beruflich eher auf das Studium komplizierter Akten spezialisiert. +Auch waren die rhetorischen Gefechte damals womöglich ebenso ritualisiert, wie es heute die weitgehend geräuschlosen und geschmierten Abläufe im Parlament in der Großen Koalition sind. Da erschöpfen sich selbst weltanschauliche Gegensätze im gesitteten Austausch ermüdender Sachargumente. Es knallt nicht mehr, es amtsschimmelt vor sich hin. Das könnte man einen zivilisatorischen Fortschritt nennen, ergäben sich daraus nicht gleich drei fatale Entwicklungen. +Erstens hat sich die Debatte zum Teil aus dem Parlament in die Talkshows verlagert, wo das gleiche Trauerspiel nur vor größerem Publikum stattfindet – und zugleich haben sich die Umgangsformen der Talkshows "mit ihren Effekten und Eröffnungsgags" (Willemsen) auch im Bundestag durchgesetzt. Zweitens finden selbst interessante Auseinandersetzungen im Bundestag nicht mehr den Weg in die Nachrichten, weil sogar das mediale Interesse an parlamentarischen Debatten zusehends erlahmt. Drittens sind es heute nicht mehr die Volksvertreter, die einander im Plenum an die Gurgel gehen. Es ist das Volk selbst, das in sozialen Netzwerken den ideologischen Bürgerkrieg probt – während die meisten Politiker zuschauen und sich händeringend fragen, was sie denn falsch gemacht haben könnten. Sofern sie ihre Haltungen nicht selbst längst in hastigen Tweets unter die Leute bringen. +Der Historiker Andreas Schulz, Experte für die Geschichte des Parlamentarismus, fordert deshalb eine Rückkehr der "Show" ins Hohe Haus: "Es kann gar nicht anders sein, weil ein Parlament für einen ja unsichtbaren Souverän antritt." Deshalb müssten Debatten "möglichst artikuliert und möglichst interessant dann auch öffentlich repräsentiert" werden. Denn eine neue Kohorte von Politikern hat begriffen, wie aus diesem strukturellen Problem Kapital zu schlagen ist. Vermisst der Souverän eine solche Spiegelung und Zuspitzung widerstreitender Meinungen in der offenen Redeschlacht, ist seine Gunst sehr leicht zu gewinnen. Denn in einem Klima der Ausgewogenheit werden alle Ausschläge ins Ätzende zwangsläufig als "erfrischend" wahrgenommen. Dazu braucht es keine komplizierten Lösungen für komplizierte Probleme. Es genügt, sich dem Gebot gedeihlicher Einvernehmlichkeit zu widersetzen und das Ressentiment zurück auf die politische Bühne zu bringen. Es genügt, "es" endlich "mal wieder sagen zu dürfen". +So geht Populismus, und eine Rückkehr zum polternden Gepöbel der 50er-Jahre käme solchen Populisten gerade gelegen. Wenn dieses Dilemma aufzulösen ist, dann nur über eine Rückkehr zur Debatte im eigentlichen Sinne. +In einer Debatte herrscht keineswegs nur "der zwanglose Zwang des besseren Arguments und das Motiv der kooperativen Wahrheitssuche" – wie der Philosoph Jürgen Habermas den Diskurs definiert. Eine Debatte ist vielmehr ein Streitgespräch im Rahmen formaler Regeln. Im Boxen nennt man das einen Infight: reingehen, Uppercuts und Haken schlagen, den K.o. des Gegners suchen – dabei aber Regeln beachten. Es ist die Öffentlichkeit, die über die Zusammensetzung von Parlamenten entscheidet. Deshalb sollte ein Politiker seine Positionen auch öffentlichkeitswirksam vortragen und verteidigen können. Wer dazu nicht in der Lage ist, hat im Ring der Öffentlichkeit nichts verloren und sollte besser, was auch zum Geschäft gehört, in Hinterzimmern nach Kompromissen suchen. +Das wäre jetzt das andere Extrem, das will natürlich auch keiner: Im Parlament der Ukraine kommt es zwischen Abgeordneten aus dem rechten und dem linken politischen Lager zu Handgreiflichkeiten +Was es also braucht, ist eine neue Streitkultur – mit Betonung sowohl auf "Streit" als auch auf "Kultur". Es gibt keinen Grund, sachliche Argumente in Form von Verlautbarungen vorzutragen. Es gibt, im Gegenteil, eine ganze Reihe guter Gründe, sachliche Argumente mit Eleganz und Verve vorzubringen. Nur beherzter Streit kann Bürger dazu ermuntern, sprichwörtlich und buchstäblich "Partei zu ergreifen" mit einem der Debattierenden. Ohne die Identifikation mit einem Redner und der Haltung, die sich in seiner Rede ausdrückt, können wir unsere Wahlentscheidungen auch ganz in die Hände von Algorithmen legen. +Streit gehörte schon in vergangenen Jahrzehnten zum parlamentarischen Spiel. Einem Spiel nach festen Regeln und dem Vorteil, als "Show" bisweilen intellektuell unterhaltsam zu sein. Dazu gehörte früher auch, dass die Gegner bei aller Härte der Auseinandersetzung einander mit einem gewissen sportlichen Respekt begegneten, jedenfalls in der Regel. Bei allen ideologischen oder auch persönlichen Abneigungen waren sich die Kontrahenten früherer Tage doch – weitestgehend – einig über den Wert eines guten Streits. +"Und das können wir ja wohl in diesem Staat", schmetterte einst Herbert Wehner im Bundestag, "darüber streiten. Sonst wären wir alle zusammen, Sie und wir, verurteilt, unterzugehen!" So war das früher. Und so ist es noch heute. + +Titelbild: Fritz Engel/laif diff --git a/fluter/a-cop-movie-berlinale-netflix-rezension.txt b/fluter/a-cop-movie-berlinale-netflix-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c0f140e082533afb23c9a486322be97bbb274579 --- /dev/null +++ b/fluter/a-cop-movie-berlinale-netflix-rezension.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Der Streit von damals berührt die immer noch aktuelle Frage, welche Rolle die großen Filmfestivals im Konflikt zwischen Kinos und Streamingdiensten einnehmen. Sollten die Festivals nicht die Interessen der Kinos stärken, also der Orte, wo sie – normalerweise – stattfinden? Die Filmfestspiele von Cannes haben sich schon 2018 klar positioniert und einen geplanten Kinostart in Frankreich zur Bedingung für alle Wettbewerbsfilme gemacht. Das Festival von Venedig erklärte im selben Jahr, dass es vor allem auf die künstlerische Qualität ankomme – und zeichneteden herausragenden Netflix-Film "Roma"prompt mit dem Hauptpreis aus. Das neue Berlinale-Führungsduo Carlo Chatrian undMariette Rissenbeeksieht das ähnlich: Ein Ausschluss von Streamingtiteln wäre falsch, sagten die beiden bei ihrem Amtsantritt. +Wenn 2021 völlig normal erscheint, dass ein sogenanntes Netflix-Original wie "A Cop Movie" auf einem virtuellen Berlinale-Event präsentiert wird, passt das zur Gesamtsituation der Filmwirtschaft. DieKinobetriebe sind in einer schweren Krise, die sich deutlich in der Jahresbilanz zeigt: Im Vergleich zum Vorjahr kamen 2020 ganze 69 Prozent weniger Besucher*innen in die deutschen Lichtspielhäuser. +Zeitgleich boomt der Streamingmarkt. Die neu gestartete Plattform Disney+ konnte weltweit in ihrem ersten Jahr 87 Millionen Abos verkaufen, Netflix gewann 37 Millionen neue Mitglieder, auch Amazon Prime Video und HBO Max (in Deutschland noch nicht gestartet) legten 2020 zu. Während einige große Kinotitel des letzten Jahres immer noch auf ihre Veröffentlichung warten, starten immer mehr Filme digital. Allein Netflix hat für 2021 mindestens einen neuen Film pro Woche angekündigt. Die Anbieter befinden sich im Konkurrenzkampf um Lizenzen und Eigenproduktionen. Festivalruhm und Filmpreise sollen da zum jeweiligen Markenprestige beitragen. + + +"A Cop Movie" scheint auf den ersten Blick ein paar Merkmale für festivaltaugliche Filmkunst zu erfüllen. Das Werk des mexikanischen Regisseurs Alonso Ruizpalacios hat politisch eine gewisse Wucht, weil es von der Realität des Polizeiberufs in Mexiko-Stadt erzählt. Es beweist Gespür für filmische Repräsentation, indem es die Erfahrungen einer indigenen Frau in diesem patriarchalen Umfeld ins Zentrum stellt. Und es hat eine ambitionierte Form, die fiktionale und dokumentarische Stilmittel miteinander verschmelzen lässt. +Die Frau im Zentrum heißt Teresa und hat in 17 Jahren Polizeidienst einiges erlebt: Korruption, Bedrohungen, Verfolgungsjagden. Einmal leistet sie spontan Geburtshilfe, als ihre Streife anstelle eines Krankenwagens gerufen wird. Anerkennung erhält die Polizei in Mexiko-Stadt für so viel Einsatz selten. Sie gilt als machtlos im Kampf gegen die organisierte Kriminalität und zu Recht als korrupt. Teresa schildert freimütig, dass jede Interaktion innerhalb der Behörde – sogar das tägliche Ausleihen von Waffen und Westen – nur mit Bestechungsgeld funktioniert. Die Ausgaben holen die Beamten ihrerseits bei Verkehrskontrollen und Ähnlichem von Zivilpersonen wieder herein. +Teresa muss sich außerdem jahrelang gegen den Sexismus des eigenen Vaters wehren, der ebenfalls als Polizist arbeitet. Doch Teresa findet als Beamtin ihre Berufung und später auch ihren Mann Montoya. Die beiden werden in der Truppe die "Love Patrol" genannt. Sie bestechen sogar ihre Vorgesetzten, um weiterhin zusammenarbeiten zu können. +Nicht partnersin crime, sondern partnersagainst crime: Das Kuriose an dieser Geschichte mag Netflix bewogen haben, einen Non-Fiction-Film zu produzieren, der zwar dokumentarisch daherkommt, sich aber peu à peu selbst als Taschenspielertrick entlarvt. Erst wirkt die Inszenierung arg stilisiert, dann wird offengelegt, dass Teresa und Montoya hier von dem Schauspielerduo Mónica del Carmen und Raúl Briones verkörpert werden. Bilder vom Interview mit dem realen Paar, auf dem der Film hauptsächlich basiert, gibt es ganz zum Schluss. "A Cop Movie" macht diese Täuschung so offensiv zum Thema, dass er ab der Hälfte fast zum Making-of wird. Das drängt die eigentlich starken Protagonist*innen in den Hintergrund, entfaltet aber auch keine Reflexion über das Wesen von Dokument und Fiktion. An einer Stelle heißt es, dass Raulpalacios schlicht keine reale Polizeiarbeit filmen durfte. So erscheint die ganze Form des Films als Verlegenheitslösung. Wie ein Festival, das als Streaming-Event stattfinden muss. + +"A Cop Movie" startet ab dem 28. Oktober in den deutschen Kinos und ab dem 5. November auf Netflix. +Titelbild: No Ficcion diff --git a/fluter/ab-in-die-zukunft.txt b/fluter/ab-in-die-zukunft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0412da34cd251762b7e3b520dc3f782caa9f6c6e --- /dev/null +++ b/fluter/ab-in-die-zukunft.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Seit Jahren schottet sich das kleine Land am Horn von Afrika ab, es belegt den letzten Platz auf der "Rangliste der Pressefreiheit" von "Reporter ohne Grenzen". An gesicherte Informationen zu kommen ist schwer. Mehrere Quellen bestätigen jedoch, dass die von der Regierung angekündigte erneute Begrenzung des Militärdienstes auf 18 Monate, die ab Oktober 2015 gelten sollte, bis heute nicht umgesetzt worden ist. Wie so vieles andere. Geplante freie Wahlen fanden nicht statt, die Verfassung besteht weiterhin nur auf dem Papier und ist nie in Kraft getreten. Bis heute herrscht nur eine einzige Partei, und bis heute vereint Afewerki in sich das Amt des Regierungschefs und Staatspräsidenten. In den Gefängnissen sitzen Tausende Oppositionelle, Deserteure oder Mitglieder religiöser, vor allem christlicher Minderheiten. +"Ich habe gehofft, dass ich eines Tages ein freies Leben führen, heiraten, Kinder bekommen kann", erzählt Josef. Doch all die Jahre des Militärdienstes zertrümmerten jegliche Hoffnung. "Mir wurde klar: Die Lage wird sich nie ändern." Josef floh. Nach syrischen und afghanischen machten eritreische Staatsangehörige die drittgrößte Gruppe aus, die in der ersten Jahreshälfte 2015 über das Mittelmeer nach Europa kam. +Einer von ihnen war Teklit. "All die Demütigungen und Ungerechtigkeiten haben mich fliehen lassen", erklärt der 27-Jährige, der in Eritrea als Mathelehrer arbei-tete. Er sei für vier Tage ins Gefängnis gekommen, weil er nicht unterrichten konnte. "Ich war krank! Aber in Eritrea stecken sie dich eben einfach so ins Gefängnis. Jeder saß schon mal." Selbst seine Mutter, weil ein Nachbar der Polizei verraten habe, dass sein Bruder zwei Tage nicht in der Schule gewesen sei. "Ich bin zum Gefängnis gegangen, um die Freilassung meiner Mutter zu erbitten. Sie brachten meine Mutter. Dann haben sie mich verprügelt, und sie musste zusehen. Ihre Schreie höre ich heute noch." Teklits Augen füllen sich mit Tränen, wenn er diese Geschichte erzählt – es ist nur eine von vielen. "Du hast keine Chance, dich zu wehren, wenn es keine Gerechtigkeit gibt", sagt er. Eine Katastrophe sei das, für die Menschen und das Land. +Zurück nach Eritrea? Für Josef und Teklit ist das undenkbar: "Wir würden den Rest unseres Lebens im Gefängnis verbringen. Oder sie bringen uns gleich um." diff --git a/fluter/ab-ins-gruene-das-naturheft.txt b/fluter/ab-ins-gruene-das-naturheft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/abschied-von-wolke-7.txt b/fluter/abschied-von-wolke-7.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ca0e2c45d0435abae9e123ab8c4038faf3bd87d1 --- /dev/null +++ b/fluter/abschied-von-wolke-7.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Ist sowohl der Anbieter der Cloud als auch der Nutzer in der EU beheimatet, gilt der europäische Datenschutz. Genauso, wenn amerikanische Cloud-Provider reine EU/EWR-Clouds anbieten und vertraglich festgelegt ist, dass die Daten in bestimmten Rechenzentren verarbeitet werden und den europäischen Wirtschaftsraum nicht verlassen dürfen. Das bedeutet, dass Daten gegenüber Zugriffen von außen geschützt und nach dem Willen der EU-Kommission bald auch auf Verlangen der Nutzer gelöscht werden müssen. +Bei Anbietern wie Google, Microsoft, Dropbox oder Apple (iCloud) ist das allerdings anders, da sich ihre Server womöglich auf US-Territorium befinden. Wie eine Studie im Auftrag des Europäischen Parlaments ergab, haben die amerikanischen Bundesbehörden dort seit Einführung des Patriot Act umfangreiche Befugnisse. Als Antwort auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 sicherte die US-Regierung dem FBI und anderen Geheimdiensten gesetzlich die Möglichkeit zu, Telefone unbemerkt abzuhören, Universitäten und Bibliotheken zu überwachen und E-Mails auszuspionieren. Bei einem Tatverdacht haben sie auch ohne Gerichtsbeschluss das Recht, Daten von Providern anzufordern. Was ein Tatverdacht ist, entscheiden die Behörden selbst. +Wer dann ins Visier der amerikanischen Terrorfahnder gerät, ist nur sehr schwer nachzuvollziehen. Noch schwieriger ist es, sich gegen mögliche Folgen zu wehren. So könnte unter Umständen schon der Austausch von Cloud-Daten mit islamischen Gelehrten genügen, damit das FBI den Nutzer auf eine "No-Fly List" setzt. Abe Marshals Name steht trotz massiven Protests noch immer auf der Liste. diff --git a/fluter/abtreibungen-serien-typologie.txt b/fluter/abtreibungen-serien-typologie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ebe2bfe7d92cd3477e4a977e4a39dd94c139f751 --- /dev/null +++ b/fluter/abtreibungen-serien-typologie.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Die US-amerikanische Serie "Shrill" dreht sich um das turbulente Leben von Annie(s. Titelbild), einer jungen Frau mit unbefriedigendem Job und unzuverlässigem Lover. Mit wachsendem Selbstbewusstsein meistert sie die Herausforderungen ihres Alltags. Schon in der ersten Episode wird sie ungewollt schwanger. Sie berät sich mit ihrer besten Freundin, nimmt sie mit zum Abtreibungstermin, liegt kurz darauf auf dem Behandlungsstuhl und fertig. Nach einer Minute ist alles vorbei. +Die Einfachheit dieser Szene spricht Bände: Die Abtreibung ist nicht dramatisch und kompliziert, sondern ein routinierter, sicherer und vor allem schneller Eingriff. "Das grenzt an langweiliges Fernsehen", sagt die Autorin Lindy West, die selbst am Drehbuch mitgeschrieben hat. Darzustellen, dass Schwangerschaftsabbrüche eher unaufregend und Teil des Alltags sein können, war ihr besonders wichtig – auch wenn das gegen die Logik vieler Fernsehnarrative spricht, nach denen es Konflikte und Hindernisse geben muss, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer*innen zu halten. Eine Abtreibung ohne Drama werde von Sendern meist aus dem Drehbuch gestrichen. Aber, so Lindy West, "diese Erfahrung hat auch Berechtigung. Eine, die man nicht oft im Fernsehen sieht." + +Inmitten des bunten Treibens eines Nagelstudios, das eigentlich illegale Geldwäscherei für eine dubiose Schmerzklinik nebenan betreibt, stellt die Mitarbeiterin Virginia fest, dass sie ungeplant schwanger ist. Ein dummer Unfall: Weil die Pille ihre Füße anschwellen ließ und sie damit keine High Heels mehr anziehen konnte, hatte sie sie einfach abgesetzt. Genauso wenig beschämen lässt sie sich bei ihrem Entschluss, die Schwangerschaft nicht fortzusetzen: "Wir sind noch nicht bereit für ein Kind." Punkt. Zur Abtreibungsklinik begleiten sie ihr Freund und eine Freundin aus dem Salon. Kurz vor dem Termin hat Virginia doch Angst vor der Verurteilung anderer. Sie fragt ihre Freundin, was die Frauen im Salon über sie denken werden. +Was folgt, ist eine Szene zum Niederknien: In einer abstrakten Montagetauschen sich die Frauen über ihre eigenen Abtreibungsgeheimnisse aus. Die eine sagt: "Ich hatte zwei und hab nie wieder drüber nachgedacht." Eine andere: "Zumindest kann sie eine bekommen. Damals in Texas waren sie illegal. Ich musste für meine zu der netten Frau im Imbiss gehen." Eine sehr besondere Szene, weil sie Frauen offen und schamlos über ungewollte Schwangerschaften reden lässt und Virginia damit den Rücken stärkt. + +Die Serie "Dear White People" zeigt das Leben auf einem US-Campus aus der Perspektive unterschiedlicher Schwarzer Studierender. Im Zentrum steht die titelgebende Radiosendung der Studentin Sam, in der sie die Diskriminierung durch ihre weißen Mitstudierenden anprangert. +Nicht cool: Die Bilder von "Dear White People" sind warm – bis es in die Abtreibungsklinik geht + +Auch das Thema Abtreibung wird in der Serie behandelt. Die mit 19 ungeplant schwangere, sehr ehrgeizige Studentin Coco wird absolut bedingungslos von ihrer Mitbewohnerin Kelsey unterstützt, und auch ihr innerer Konflikt ist nicht unrealistisch. Bei der Abtreibung selbst dominieren negative Darstellungen. So traut sich Coco kaum, das Wort "Abtreibung" auszusprechen. Statt der sonst eher warmen Bilder der Folgen sind die Szenen in der Klinik in kühles blaues Licht getaucht. Es gibt keine Beratung, keine freundlichen Mitarbeiter*innen. Nur das ungemütliche Wartezimmer, in dem Coco von einem rosigen Leben mit Tochter tagträumt, das sie aber am liebsten sofort wieder verlassen würde. + +Die Serie "Euphoria" wird von vielen gefeiert – für ihren offenen Umgang mit psychischen Problemen, die vielen queeren Charaktere, die tolle Kameraführung und fantastischen Make-up-Looks. Aus der Perspektive der drogenabhängigen 17-jährigen Protagonistin Rue blicken wir auf eine Highschool-Welt voller Gewalt, Sexualisierung, Missbrauch, Manipulation und schönem Schein, hinter dem all das versteckt wird. Die jungen Frauen sind in der Serie selbstbewusst und schlagfertig, die meisten bleiben aber trotzdem machtlos und passen damit zur frauenfeindlichen Grundstimmung in der Highschool. So auch der Teenager Cassie, der mit seiner ungeplanten Schwangerschaft größtenteils alleingelassen wird: das Klischee der gängigen Abtreibungsdarstellungen. Ihre Freund*innen hören Cassie nicht richtig zu, ihr Freund schiebt Panik und ihre Eltern sind nicht die richtigen Ansprechpersonen. +Der einzige empowernde Moment für Cassie – sie stellt sich während des Eingriffs als starke und selbstbestimmte Eiskunstläuferin vor – ist untermalt mit einem dramatischen Song, der das Gegenteil von Empowerment vermuten lässt:Arcade Fires "My Body Is a Cage". Klar können Abtreibungen aus verschiedenen Gründen Traumata hinterlassen, aber in dieser Serie wird die ungeplante Schwangerschaft höchst dramatisch dafür genutzt, Cassies Charakter etwas Unheilvolles anzudichten. Einfach weil in dieser Serie jedem weiblichen Charakter etwas Traumatisches widerfahren muss. + +Ein Juwel unter den Abtreibungsszenen in Serien findet sich in der australischen Produktion "Please Like Me". Sie zeigt das Zusammenleben der Freund*innen Josh, Tom und Claire und ihren humorvollen Umgang mit Coming-out, Beziehungsleben und Familiendramen. In der Serie wird eine medikamentöse Abtreibung gezeigt, die in Filmen und Serien eher unterrepräsentiert ist, obwohl sich in vielen Ländern der Großteil der ungewollt Schwangeren für diese Methode entscheidet. + + +In der dritten Staffel begleitet Josh seine beste Freundin Claire bei allen Schritten ihrer Abtreibung. Er geht mit ihr zur Beratung in die Klinik, unterhält sie während der 30-minütigen Wirkzeit der Tablette, harrt vor der Badezimmertür aus, als die Krämpfe bei ihr einsetzen, und kümmert sich danach mit frittiertem Hühnchen und Gesellschaft um sie. Dann schlägt er vor, dass jetzt beide ihre Gefühle ohne Urteil äußern dürfen: "Ich bin neidisch, weil du schwanger werden kannst", sagt er. Claire erwidert: "Ich habe mich für die Klinik schick gemacht. Ich wollte nicht, dass sie denken, ich sei wie die anderen Mädchen." Besonders Claire nimmt Humor als Strategie, um mit der Abtreibung klarzukommen. Als sie den abgestoßenen Fruchtsack im Klo sieht, fragt sie Josh: "Soll ich ein Foto machen und es den Leuten zeigen, wenn sie mir Fotos ihrer Kinder zeigen?" Please Like Me – yes, I do! + +Schwangerschaften dürfen in Deutschland bis zur zwölften Woche abgebrochen werden, wenn vorher an einem Beratungsgespräch teilgenommen wurde oder eine kriminologische Indikation vorliegt, zum Beispiel bei einer Schwangerschaft durch eine Vergewaltigung. Nach diesem Zeitraum ist eine Abtreibung rechtswidrig. Es sei denn, der Abbruch wird aufgrund einer medizinischen Indikation vorgenommen, wenn also etwa bei Risiken für die Gesundheit der Frau infolge der Schwangerschaft zu hoch sind. + + +Franzis Kabisch ist Filmemacherin und Kulturwissenschaftlerin in Berlin und Wien. Aktuell forscht sie zur Darstellung von Abtreibungen in Filmen und Serien. Ihr Ergebnisse teilt sie nicht nur in der Uni, sondern auch auf dem Insta-Kanal@abortion.tv. diff --git a/fluter/abtreibungsrecht-polen-reportage.txt b/fluter/abtreibungsrecht-polen-reportage.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1ccf630783cd0ef46cb6d22690551bc147fb9bcf --- /dev/null +++ b/fluter/abtreibungsrecht-polen-reportage.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Für Kasia war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. In ihrem kleinen Dorf, Sztumska Wieś, etwa 60 Kilometer südöstlich von Danzig, gründete sie die Ortsgruppe "Sztumski Strajk Kobiet", deren einziges Mitglied sie selbst ist. Denn auf dem Land findet die Politik der PiS-Partei bei vielen eher Unterstützung: die Einschränkung der Unabhängigkeit der Gerichte, die Polemik gegen die EU, die Gängelung der freien Presse, die Beschneidung von Frauenrechten. Das alte Vorurteil vom konservativen Dorfvolk, es bestätigte sich in Polen bei der Präsidentschaftswahl 2020. +Zu Kasias Haus, etwas abseits des Dorfkerns, führt eine Straße mit Betonplatten, drum herum erstrecken sich Felder, Wiesen und Wald. Im Ort mit 500 Bewohnenden stelle sie immer wieder ungemütliche Fragen zur Politik, sagt Kasia, und werde dafür als "zu revolutionär" abgestempelt. "Die Leute mögen mich zwar, aber sie halten mich auch auf Abstand." Der Wind rauscht in den Bäumen, als Kasia das ehemalige Bienenhotel und die Apfel- und Pflaumenbäume im Garten zeigt. "Auf den ersten Blick ist das wenig, aber in Wirklichkeit ist es ein Reichtum." Woanders leben möchte Kasia nicht, auch wenn sie sich im Ort zeitweise ausgestoßen fühle. Weil sie allein lebt, hört sie auch oft, dass sie sich endlich einen richtigen Kerl suchen soll. Darüber kann Kasia nur lachen. Zum Nägel-in-die-Wand-Hämmern braucht man keinen Mann. +Mit ihrem Kleinwagen fährt Kasia durch den dichten Wald, auf dem Rücksitz ein Blumenstrauß, Hafermilch und Kuchen – alles für ihre Oma Alina (96), deren Haus nicht weit entfernt liegt. Heute trifft sie dort auch ihre Mutter Wanda (66) und ihre Tochter Nadja (24): Vier Generationen nehmen bei Kaffee und Apfelkuchen am Wohnzimmertisch Platz und sprechen über die Rolle der Frau in Polen. + +Vier Generationen, die sich für ihre Heimat Polen eine freiere Gesellschaft wünschen + +Den Anfang macht Oma Alina, die erzählt, dass sie als junge Frau viel Zeit in der Küche verbracht habe. "Das war unsere Aufgabe", ihr Mann habe nur Tee machen können. Dass auch Männer heute kochen, sei eine gute Entwicklung. Kasias Mutter Wanda erinnert sich an ein Familienessen. Für einen Verwandten sei kein Besteck gedeckt gewesen, da habe er angefangen, mit den Händen zu essen. "Das war nicht böse gemeint. Es war seine Art, uns seine Haltung klarzumachen", sagt Wanda. Dass sich ihre Tochter an den derzeitigen Frauenprotesten beteiligt, macht ihr Sorgen, es handle sich "um einen schwierigen Kampf". +Oma Alina interessiert sich nicht wirklich für die Proteste – letztlich aber solle jede Frau selbst über eine Abtreibung entscheiden. Für ihre eigene Generation hätte das Thema ohnehin nie eine Rolle gespielt. Die beiden Älteren wissen von keiner Frau in ihrem Umfeld, die je einen Schwangerschaftsabbruch hatte. Was nicht heißen muss, dass es da keine Frauen gegeben hat, die sich so gegen ein Kind entschieden haben. "Es war legal und deswegen kein Thema", sagt Wanda. +Schwangerschaftsabbrüche waren tatsächlich in Polen lange erlaubt. In öffentlichen Kliniken wurden sie sogar kostenlos durchgeführt, bis zur zwölften Woche. Damit galt das sozialistische Polen selbst für Frauen aus der DDR eine Zeit lang als "Abtreibungsland" –bis auch die DDR die Gesetze lockerte. Doch ab 1989 wuchs der Einfluss der katholischen Kirche auf die Gesetzgebung in Polen. Gemeinsam mit konservativen Parteien und politischen Gruppen setzte sich die Kirche für ein absolutes Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen ein. Das konnte zwar nicht durchgesetzt werden, dennoch gab es 1993 ein neues Gesetz. Es erlaubte Abtreibungen noch in drei Fällen: wenn die Schwangerschaft infolge einer Straftat eintrat, bei Gefahr für die Gesundheit der Schwangeren oder bei unheilbarer Erkrankung des Fötus bis zu dem Zeitpunkt, zu dem das Kind als eigenständig lebensfähig gilt. +Kasias Mutter Wanda hält es für unehrlich, dass die Politik mit dem Abtreibungsverbot nun vermeintlich Leben schützen wolle, sich aber andererseits nicht für die Lebensumstände der Menschen interessiere. Den Frauenprotest hat Kasias Tochter Nadja damals noch aus der Schule mit nach Hause gebracht.Schon damals stand die Verschärfung des Gesetzes im Raum, die "schwarzen Proteste" 2016 waren eine Antwort darauf. Die junge Erwachsene engagierte sich und steckte ihre Mutter damit an, hat irgendwann aber selbst resigniert. +Nadja sieht das Land gespalten: Die einen würden an Traditionen festhalten, andere wären offen gegenüber aktuellen Debatten. Dazwischen gäbe es wenig – "obwohl, Uroma Alina. Die ist neutral". Ihre Zukunft sieht Nadja nicht in Polen, dafür fühle sie sich vor allem als Frau nicht sicher genug, erst recht nicht, wenn die PiS-Partei auch die kommende Wahl gewinne. +Zurück in ihrem Haus, mit der Pride Flag im Rücken, spricht Kasia von ihrer Bisexualität. Auch die kann in Polen zum Problem werden. Es gibt ganze Regionen, die sich damit brüsten, "LGBT-freie Zonen" zu sein. Ihre Tochter Nadja, sagt Kasia, hätte damit kein Problem, sie sei selbst bi – aber ihrer eigenen Mutter habe Kasias Beziehung zu einer Frau zugesetzt. Sie brauchte ihre Zeit, um die Partnerschaft zu akzeptieren. "Viele Menschen unterstützen weniger traditionelle Lebensmodelle – bis es um jemanden geht, der ihnen nahesteht." +Für Kasia und viele Frauen (und auch Männer) geht es nun nicht mehr nur um das Abtreibungsrecht,sondernum eine freiere Gesellschaft. "Wir kämpfen für alles: freie Gerichte, den Verbleib in der EU, Bildung." Dass sich das Land ändern könne, dafür sei sie selbst der beste Beweis. Auch sie sei schließlich mit einer klaren Vorstellung von der Rolle der Frau aufgewachsen. Autoritäten waren gesetzt und die Regeln unangreifbar. Doch ihr Gerechtigkeitssinn und der Input der jungen Generation in Gestalt ihrer Tochter haben sie dazu gebracht, Denkmuster abzulegen, die noch für Mutter und Oma selbstverständlich waren. Inzwischen sind diese es selbst für die beiden nicht mehr. diff --git a/fluter/abwanderung-aus-ostdeutschland.txt b/fluter/abwanderung-aus-ostdeutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..58c9c7c64e122e193c98512ada2e4b94583afd30 --- /dev/null +++ b/fluter/abwanderung-aus-ostdeutschland.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Wenn ich zu Besuch bin, spüre ich die Schuld besonders. Wenn ich höre, wie manche im Café reden oder im Fußballstadion. Wie das, was sie überKlimawandelund Geflüchtete sagen, meist unwidersprochen bleibt. Dann ist da das Gefühl, dass diese Stadt eine andere wäre, wenn ich geblieben wäre. Ich und so viele andere. +3,7 Millionen Menschen haben die neuen Bundesländer zwischen 1991 und 2017 verlassen. Cottbus verlor in dieser Zeit fast 14 Prozent seiner Einwohner,nur zwei ostdeutsche Regionen traf es härter. Ein kleiner Exodus, zu dem ich beigetragen habe: Ich bin in Cottbus geboren, war sieben als die Mauer fiel und ging 2003 zum Studieren nach Frankfurt. (Am Main, wie nur Ossis hinzufügen.) Später ging ich nach München, heute lebe ich in Berlin. Das ist näher dran, aber eben auch nicht Cottbus. +In den neuen Bundesländern leben laut einerStudiedes ifo Instituts für Wirtschaftsforschung heute nur noch 13,9 Millionen Menschen - etwa, 2,2 Millionen weniger als noch in der DDR. "Wäre die Einwohnerzahl in Ostdeutschland nach Kriegsende genauso gewachsen wie in Westdeutschland", schreibt Felix Rösel, Autor der Studie, "würden in Ostdeutschland heute rund doppelt so viele Einwohner leben. Dresden und Leipzig wären Millionenstädte." +Manchmal wünsche ich mich zurück. Cottbus ist nicht das gesellschaftliche Krisengebiet, als das es von außen oft beschrieben wird. Die Stadt ist schön, grün und ruhig. In ihr leben aufgeräumte, manchmal ein wenig sture Menschen. Die Stadt fehlt mir. Ich glaube aber – und das muss ich schreiben, obwohl es anmaßend klingt –, dass auch ich Cottbus fehle. +Nach der Wende gingen viele Junge, Neugierige. Es ging, wer sich etwas von der Zukunft versprach. Weil nur wenige zurückkamen, hinterließen sie ein gesellschaftliches Vakuum; eine Leere, die das Rückständige und Reaktionäre füllen konnte. Ganz einfach weil zu wenige da sind, die erzählen können, wie bereichernd das Neue sein kann und wie wenig man sich vor ihm fürchten muss. Wieso es gute Gründe dafür geben kann, ein Braunkohlekraftwerk zu schließen, Flüchtlinge aufzunehmen oder schwul nicht als Schimpfwort zu nutzen. +Abschottung und Intoleranz gelten dort als Antworten und Wahlargumente, wo viele Menschen gegangen sind. Das ist statistisch erwiesen und einfach zu erklären: Die, die weltoffen handeln, sprechen und wählen, tun das oft woanders. Und die, die geblieben sind und für eine offene Stadt kämpfen, haben es zwischen den Einschüchterungen der Neonazis und der üblichen Lausitzer Gleichgültigkeit noch schwerer. +Deshalb geht es mir gar nicht um die Neonazis, die auch durch Cottbus laufen. Mit denen lässt sich nicht diskutieren. Das Problem sind die, die ihre Vorurteile hegen wie Balkonpflanzen, sei es aus Borniertheit, Trotz oder verletztem Stolz. Die, die nicht wählen, um eine Partei zu stärken, sondern um andere abzustrafen. Die sich von Politikern und Journalisten abwenden, statt von ihnen einzufordern, sich mehr mit ihrem Leben zu befassen. Menschen, über die sich jeder Rechtspopulist freut. +Und ich? Beobachte das aus der Ferne, mit einem schlechten Gewissen, weil ich mich nicht einmischen kann. Ich habe mich einem der wichtigsten Bestandteile derDemokratieentzogen: dem Gespräch. Weil ich es woanders besser haben wollte, habe ich meine Heimat im Stich gelassen. Ökonomisch, kulturell, vor allem politisch. Wie egoistisch. + +In diesem Interviewerklärt der Historiker Marcus Böick, warum nach 1990 in Ostdeutschland so viele Menschen arbeitslos wurden +Schließlich hätte ich den Menschen auf dem Altmarkt etwas zu sagen: Zuallererst, dass ich sie verstehe. DieTreuhand, die Wessis,die ewigen Klischeesund Zurechtweisungen. Viele, die die DDR als zu eng empfanden, sich 1989 über ihr Ende und die neue Aussicht freuten,wurden in der wiedervereinigten Republik gleich noch mal verarscht. Arbeitslos heißt wertlos, haben sie gelernt. Das prägt eine Region, die sich über Jahrzehte darüber definierte, die Kohle für ein ganzes Land aus dem Boden zu holen. Die mit demKohleausstiegbald ein zweites Mal abgewickelt wird, ohne dass es klare Alternativen gibt. +Ich habe wie alle, die gingen, einen Vorteil: Ich kann solche Gespräche ebenbürtig führen. Ohne die Arroganz und das Unverständnis vieler westdeutscher Kommentatoren, die sich aus ihren Altbauwohnungen kopfschüttelnd über die Hinterwäldler im Osten auslassen. Ohne zu bemerken, dass ihre Blätter dort eh niemand liest. +In diesem Jahr sind erstmalsmehr Menschen nach Ostdeutschland gezogen als fortgegangen. Auch ich habe zuletzt häufig darüber nachgedacht. Ob ich wirklich mal zurückziehe, weiß ich nicht. Aber ich war zuletzt wieder häufiger zu Hause. Ich will mich einmischen, im Zug, auf der Straße, im Stadion. Darum geht es doch in einer Demokratie: miteinander reden, andere Position nachvollziehen, Vorurteile hinterfragen, die des Gegenübers und die eigenen. Ich will niemanden belehren. Ich will nur sagen, dass ich manches ganz anders sehe. Das könnte schon reichen. + + +Collage: Renke Brandt diff --git a/fluter/ach-geh.txt b/fluter/ach-geh.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b4c219e3f9677c40a5f1364345c2c5d9f4fd2d72 --- /dev/null +++ b/fluter/ach-geh.txt @@ -0,0 +1,36 @@ +Sind Ihre Spaziergänge ein Protest für Entschleunigung und gegen den Wahn, ständig um die Welt zu jetten? +Nein, ich mache das nicht aus ideologischen Erwägungen und habe mir auch keine poststrukturalistische _eorie gebastelt. Der erste lange Spaziergang, über den Sie geschrieben haben, führte einmal rund um Berlin, vorbei an gelben Ikea-Würfeln und Imbissbuden, an denen Krankenhauspatienten mit Bade-mantel und Kippe standen. Das war kurz nach der Wende. Ich bin damals mit dem Zug in der Umgebung von Berlin herumgefahren und sah erlöschende Landschaften. Die zerfallenden Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, die Orte der Transformation. Das wollte ich mir einfach mal genauer ansehen. +Macht das Laufen gleich Spaß, wenn man losgeht? +Es dauert eine Weile. Am Anfang habe ich mich gefragt, was ich hier eigentlich mache, warum ich hier entlang einer tristen Straße marschiere, auf der die Autos vorbeipreschen. +Und wann wird es interessant? +Wenn es plötzlich fremd wird. Wenn man von Berlin aus nach Ostpolen geht, dann sieht es dort nicht so anders aus als in Brandenburg. Aber irgendwann ändern sich die Dinge. Fuhrwerke tauchen auf, orthodoxe Kirchen. Und plötzlich war da dieses blau-grüne Licht des Ostens. +2.500 Kilometer in 82 Tagen: Woran denkt man denn die ganze Zeit, wenn man so lange unterwegs ist? +Man denkt gar nicht so sehr über andere Dinge oder über sich selbst nach. Dafür ist man viel zu sehr mit dem Gehen beschäftigt. Das sieht vielleicht von außen betrachtet nicht so aus, aber das Gehen füllt einen voll und ganz aus. Die Strecke von Berlin nach Moskau hat eine kriegerische Geschichte. Ja, es ist der Weg, den schon Napoleon genommen hat, und im Dritten Reich war es die Route der Heeresgruppe Mitte. Bei den Seelower Höhen gab es die Allee der Gehenkten, wo die SS 1945 Deserteure aufgehängt hat. +Haben Sie Menschen getroffen, denen diese Geschichte bewusst ist? +Ja, einige. Es gab einen seltsamen Moment in Russland, als ich aus dem Wald kam und dort ein junger Mann stand, der sein Auto reparierte. Als ich ihn nach dem Weg nach Moskau fragte, wollte er wissen, ob ich Deutscher sei, und als ich bejahte, sagte er nur: "Den Weg nehmt ihr immer, was?" +Sie sind mit großer Zähigkeit auch durch traumatische Landschaften gewandert. Doch einmal schreiben Sie in Ihrem Buch über einen Moment in Russland: "Hausschrott. Staatsschrott. Essundtrinkschrott. Autoschrott. Atomschrott. Stadtlandflussschrott. Benimmschrott. Kirchenschrott. Seelenschrott. Was habt ihr aus eurem Land gemacht?" Gab es Momente, wo Sie hinschmeißen wollten? +Die kleineren und mittleren Härten haben mich nicht umgehauen. Die forderten eher meinen Widerstand heraus. Aber eine Situation hat mich fertiggemacht: Ich war im äußersten Osten von Weißrussland. Es war schon Herbst, von oben kam der Regen, unten war alles Matsch. Und durch diesen Matsch sah ich junge Frauen auf hohen Schuhen gehen. Und es war mir klar, dass der Matsch letztlich stärker sein wird und früher oder später das Schöne und Junge runterziehen wird. Das war eine ganz starke Meta-per. In dem Ort fuhr plötzlich ein großer Zug ganz langsam durch den Bahnhof, auf dem "Berlin–Moskau" stand. Ich weiß nicht, ob ich stark genug gewesen wäre, weiterzugehen, wenn der angehalten hätte. Ich stelle mir Ihre Ankunft in Moskau wie bei einem Marathonläufer vor: ein Moment voller Glückshormone. Ich kann seitdem tatsächlich Leistungssportler verstehen. Es war eine solche Euphorie. Die letzten Kilometer bin ich durch graue, verschneite Vorstädte gegangen, aber schon wie auf Wolken. Ich wurde immer schneller, habe nicht rechts und links geschaut, und als ich das Ortsschild von Moskau sah, habe ich mich draufgestürzt und es umarmt. Es war ein Glücksrausch – mit dem einzigen Makel, dass ich allein war, obwohl ich ein Riesenbedürfnis hatte, mich mitzuteilen. +Sie sind nicht nur von Berlin nach Moskau gegangen, sondern auch einmal durch die USA, und zwar von Norden nach Süden. Sollte das in einem Land, in dem kaum einer zu Fuß geht, so eine Art Demonstration werden? +Ich habe auch das nicht ideologisch überfrachtet, aber es war schon ein Thema. Von Kollegen und Freunden wurde ich gewarnt, dass das gar nicht geht – das Laufen in den USA. Und ich wusste ja auch selbst, dass man da auf all den Landstraßen und Bürger-steigen niemanden trifft, der zu Fuß geht. Ich habe mir aber gesagt: Das ist meine Methode, und ich mach das mal. Und am Ende war es nicht schlecht, denn so habe ich unheimlich viele Amerikaner kennengelernt, die ich sonst niemals getroffen hätte. +Sind die nicht alle in Autos an Ihnen vorbeigerauscht? +Nein. Es haben viele angehalten und gefragt, ob sie mich mitnehmen können. "Need a ride?" – diese Frage habe ich etliche Male gehört. Das waren diese klassischen Typen mit Basecaps und Latzhosen. +Die Anhänger der Tea-Party-Bewegung, die Obama zum Teufel wünschen? +Wir sind in unserer USA-Wahrnehmung sehr von West- und Ostküste geprägt, das andere sind die bösen Fly-over-Countrys. Die Verrücktheit der Tea Party ist mir ehrlich gesagt nur im Fernsehen begegnet, auf dem Motelzimmer. In der Realität nie. Es war schon so, dass niemand für Obama war, aber das waren alles keine Fanatiker, sondern Menschen, die vernünftige Argumente hatten, ob man deren Meinung nun teilt oder nicht. +Sie sind im Norden an der Grenze zu Kanada bei minus zehn Grad gestartet und in Texas bei plus 40 Grad angekommen. Ich denke mal, dass Ihr Gepäck allmählich leichter geworden ist. +Ich nehme nie viel mit, und manches lasse ich unterwegs zurück. In den USA hatte ich einen Parka aus dem Militärladen an. Als er zu warm wurde, habe ich das dicke Futter einem Jungen in Nebraska geschenkt. +Alle Welt trägt doch Funktionskleidung – und ausgerechnet Sie als Fernwanderer nicht? +"Dort, wo man hinfliegt, gibt es Zonen, wo man – ohne groß fremd zu sein – in der Sonne liegen kann und die Menschen von zu Hause trifft" Stimmt. Es ist schick, herumzulaufen wie ein Wanderer. Aber das habe ich nie gemacht. Ich will nicht herumlaufen wie ein Out-doorfuzzi. Da ist auch ein Schuss Eitelkeit. +Reden wir mal über die Härten des Gehens: Was machen Ihre Gelenke? +Es ging immer ganz gut, keine großen Probleme. Ich habe eher Gelenkprobleme, wenn ich nicht laufe, beim Autofahren habe ich manchmal Knieschmerzen. +Einsamkeit? +Ist etwas Schönes. Wenn es auf Zeit ist, kann ich sie gut ertragen. +Heimweh? +Schon, ab und zu. Als ich nach Moskau gelaufen bin, hatte ich noch keine Kinder. Mittlerweile ist es anders. Sie haben mal gesagt, dass Sie von jeder Reise europäischer zurückkommen. +Wie meinen Sie das? +Wenn ich zum Beispiel an meine Asien-Reisen denke, fühle ich mich dort grundsätzlich wohl, aber am Ende gehöre ich hierhin. +Nach Europa oder nach Deutschland? +Nach Deutschland – schon wegen der Sprache. Ich arbeite damit, sie ist für mich extrem wichtig. Ich könnte daher nie lange woanders sein. +Weiß man vieles in der Heimat eher zu schätzen, wenn man fort war? +Ja, das ist so. Es geht mir aber nicht um alltägliche Annehmlichkeiten oder Sicherheiten. Es geht zum Beispiel um unser Recht, um die Abwesenheit von Willkür. Das ist mir wahnsinnig viel wert. +Hat die Ferne auch ein wenig von ihrem Zauber verloren, weil mittlerweile Hinz und Kunz in die Karibik oder nach Südostasien reisen? +Und dort, wo man hinfliegt, gibt es dann Zonen, wo man – ohne groß fremd zu sein – in der Sonne liegen kann und die Menschen von zu Hause trifft. Während einem das Fremde schon nach wenigen Metern vor der Haustür begegnen kann. diff --git a/fluter/ach-germanski.txt b/fluter/ach-germanski.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..450baf5719c62096be55d11beacf3e4bbeeafcb2 --- /dev/null +++ b/fluter/ach-germanski.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Zur Statue geht es von der Wolga steil hoch über viele Treppen, die einem den Atem nehmen. Vorbei an Denkmälern im neoklassizistischen Stil: Muskelberge, verzerrte Gesichter, Wille, Kraft aus allen Blickwinkeln. Menschen werden hier als Götter abgebildet. Durch einen Bogen mit der Aufschrift "Gedenkstätte für die Soldaten der Roten Armee, die in der Schlacht um Stalingrad im Großen Vaterländischen Krieg 1941–1945 fielen" geht es zum "Stand des Todes", einer Zwölf-Meter-Statue, ein muskelbepackter Held aus Granit, der mit blankem Oberkörper und einer Maschinenpistole eine Handgranate schleudert. Ein alter Mann mit einem langen Mantel und dicker Mütze sieht, dass ich stehen bleibe, um mir den Granithelden anzuschauen. Er sagt "Schukow" und deutet auf die Statue, in der manche Marschall Georgi Schukow erkennen wollen, sowjetischer Feldherr im "Großen Vaterländischen Krieg". Als ich "Germanski" sage, berührt der alte Mann meine Schulter. Als wolle er schauen, ob ich wirklich echt bin. +Von dem Denkmal gehen Treppen hinauf durch eine künstliche Schlucht, an ihren steilen Wänden steinerne Reliefs mit Kriegsszenen. Aus versteckten Lautsprechern hallen Schlachtgeräusche, darunter auch Todesschreie. Der Gedenkpark ist voller Schulklassen, dazu Familien mit Kindern. Ein Junge hält einen grünen Luftballon in Form eines Panzers. Zwei Inder mit einem russischen Touristenführer sind außer mir die einzigen Nichtrussen, die ich in vier Tagen Wolgograd treffe. Viele Russen sind von weit her gekommen. Jeder sei einmal hier in seinem Leben, sagt ein 52-jähriger Mann aus Moskau. Manche nennen den Park "sozialistisches Disneyland", für andere ist es schlicht "totalitärer Kitsch". Ein kleines Tor führt ins Innere eines Hügels, eine Treppe geht steil hinunter in eine riesige runde Tempelhalle, die nach oben offen ist. Goldene Wände, in die Namenslisten von Gefallenen graviert sind, symphonische Musik mit einem Trauerchor, eine flackernde Fackel, Soldaten in starrer Haltung, stundenlang. Weiter über einen Wendelweg entlang der Wand rund um die Halle nach oben. Ins Freie auf einen großen Platz. Auf ihm marschieren Soldaten in grüngrauen Paradeuniformen. Im Gleichschritt lassen sie ihre Stiefel auf die Steinplatten knallen. Ihr Kommandant brüllt zu jedem Schritt. +Weiter südlich, in der Nacht. Auf der westlichen Seite der Wolga am Ende einer Allee voller Statuen wird es laut. Eine Gruppe junger Leute zündet Fackeln an, eine Anlage ballert trashige Tanzmusik mit russischen Texten in die Nacht, russischer Rap, ab und zu Metal-Rock. Man feiert ein Examen. Junge Frauen, trotz der Kälte mit Miniröcken und tiefen Ausschnitten, heben Gläser. Schreie, Jubel, Kreischen. Jungs köpfen Krimsektflaschen. Einer mit rasiertem Kopf, schwarzem Anzug und weißem Hemd schlägt einer Flasche mit einer Art Säbel den Hals ab, ein anderer ruft "Schampanski, Schampanski". +Wodkaflaschen gehen rum. Einer der Jungs schmeißt eine leere Flasche gegen eine Mauer, ein paar lachen herüber und winken. Dann kommen zwei mit Flaschen zu mir herüber. Sie sagen "Party" und "Diploma", fragen nach meinem Namen und merken: "Germanski". Das verändert die Stimmung. "Germanski?" Einer lacht erschrocken, einer wird ganz ruhig. Ein anderer berührt meine Schulter wie der Mann am großen Denkmal. "Germanski?" Jetzt kommen immer mehr hinzu. Ich beginne mich unwohl zu fühlen und gehe. Sie rufen noch etwas hinter mir her, das ich nicht verstehe. Ich steige in mein Auto und winke noch kurz. Zum ersten Mal seit ich hier bin, finde ich es seltsam, mit einem deutschen Nummernschild durch die Stadt zu fahren. +Im Zentrum Wolgograds: Ein alter Mann mit Orden auf der Brust steht an einem großen Platz. Im Kopf habe ich sofort die Rechnung: Sagen wir, er ist 80, das heißt Jahrgang 1934. Dann kann er sich noch erinnern, aber gekämpft hat er nicht. Ich werde es nicht genau erfahren, denn wir kommen nicht ins Gespräch. +Die Kellnerinnen in grünbraunen Uniformen in einem Café mit W-LAN und zuckersüßen Törtchen – ganz in der Nähe, wo früher das deutsche Oberkommando saß. Sie lachen, als ich auch am dritten Tag wiederkomme. Sie wollen jetzt etwas wissen über Deutschland, fragen in schlechtem Englisch. Sie sagen, die meisten Wolgograder seien erst nach dem Krieg hergekommen. "Wiederaufbau." "Wiedergeburt." Gedenken sei schön und gut und wichtig auch, sagt eine, aber: "Ist Vergangenheit." Sie macht eine lange Pause, lacht kurz, sagt: "Ja, besondere Stadt." Vor der Tür, mitten auf der Straße, üben junge Menschen in grünen Uniformen das Marschieren mit Fahnen. Sie seien, sagt Natalja, 16, "Naschi" – "die Unseren", die kremlnahe Jugendorganisation. "Wir üben für morgen", sagt Natalja. "Gedenktag." Es ist einer der Feiertage, die in Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg stehen und an denen die Stadt in Stalingrad umbenannt wird. +Später gehe ich zum "Panorama-Museum Schlacht von Stalingrad" am Wolga-Ufer. Es ist riesig, auf dem Platz davor spucken Busse Jugendliche aus. Wenige Erwachsene gehen die Reihen ab, zupfen an Uniformkragen. Einige Mädchen und Jungen lachen nervös. Ein paar machen Handyfotos vor dem Panzer, der auf dem Vorplatz steht. +Die Tore öffnen sich, die Jugendgruppen gehen im Gleichschritt hinein. Drinnen ist ein Relief namens "Die Zerschlagung der deutschen faschistischen Armee vor Stalingrad". Alte Männer mit Dutzenden Orden an der Brust halten lange Reden. Eine Frau, die für das Museum arbeitet, sagt, heute sei ein schlechter Tag, sie etwas zu fragen. "Schauen Sie nur zu." Und: Das sei ein Museum für Russen, es gebe kein Material in anderer Sprache. Hier sei man "im Herzen Russlands". Sie schaut, als würde sie sich über sich selbst wundern. +Christian Litz empfand es als besonders schlimm, dass man sich als Deutscher in Wolgograd genau so fühlt wie bei einem Besuch in einer KZ-Gedenkstätte, obwohl die Stadt ja lebhaft ist und die Leute feiern und Spaß haben. diff --git a/fluter/achtung-ihr-syrischen-kriegsverbrecher.txt b/fluter/achtung-ihr-syrischen-kriegsverbrecher.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/achtung-probe.txt b/fluter/achtung-probe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2328d858f0f65e6fa355f024b566a5416e673945 --- /dev/null +++ b/fluter/achtung-probe.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Nun sehen die Bewohner der Kanaren beides bedroht – das Wasser und den Tourismus –, und zwar durch Probebohrungen vor der Küste, die der spanische Ölkonzern Repsol vornehmen will. Repsol und die spanische Regierung erhoffen sich riesige Ölvorkommen tief unter dem Meeresgrund, etwa 140.000 Barrel pro Tag könnten schätzungsweise 25 Jahre lang gefördert werden. Das wären knapp zehn Prozent des nationalen Bedarfs, was größere Unabhängigkeit und bis zu 3000 Arbeitsplätze bedeuten würde. +Viele der zwei Millionen Canarios haben allerdings ein weitaus hässlicheres Szenario vor Augen. Sie erinnern an die Umweltkatastrophe, die sich im April 2010 im Golf von Mexiko ereignete. Damals explodierte die Ölplattform "Deepwater Horizon" – ebenfalls während der Probebohrungen – und hinterließ eine Katastrophe ungeheuren Ausmaßes. Unter der litten nicht nur Fauna und Meeresflora, sondern auch der Tourismus. Fast 40 Milliarden Dollar musste der Ölkonzern BP für die Schadensbeseitigung und Entschädigungszahlungen zurückstellen. +Bislang haben die Proteste nichts ausrichten können. Zu groß scheint im wirtschaftlich gebeutelten Spanien die Hoffnung auf neue Einkünfte zu sein. In einem Gutachten von Repsol und dem Landwirtschaftsministerium wird die Gefahr einer Ölpest auf 0,003 Prozent geschätzt. Selbst das Umweltministerium hegt keine Einwände. +Offiziell sollen die Probebohrungen 60 Kilometer vor den Küsten Lanzarotes und Fuerteventuras (an der Grenze zu marokkanischen Gewässern) stattfinden. Selbst bei einer Katastrophe, so das Gutachten, sei zwar die Fauna bedroht, jedoch nicht die Strandidylle. Allerdings präsentierten Zeitungen bereits andere Karten der geplanten Bohrungen, auf denen die betreffenden Gebiete bis auf zehn Kilometer an die Küste Fuerteventuras heranreichen. Für Aufsehen in der spanischen Presse sorgte auch die Zustimmung des Industrie- und Tourismusministers José Manuel Soria, dem eine so große Nähe zum Ölkonzern Repsol nachgesagt wird, dass ihn viele Journalisten im Anschluss an seine Politkarriere dort im Management sehen. +Die Mehrheit der Canarios ist gegen die Bohrungen, allerdings nimmt das Protestpotenzial ab, je größer die Entfernung zum Geschehen ist. Auf Lanzarote ist der Widerstand größer als auf Gran Canaria, auf Gran Canaria größer als auf La Gomera. Dass der schottische Konzern Cairn Energy seine Probebohrungen vor der Küste Marokkos wegen mangelhafter Qualität des Öls abgebrochen hat, ist ein schwacher Hoffnungsfunke auf Seiten der Umweltschützer. Denn inzwischen hat auch das Tribunal Supremo, der Oberste Gerichtshof des Landes, grünes Licht für Bohrungen gegeben. Es kann also losgehen. +Boris von Brauchitsch ist als Publizist und Kunsthistoriker ein wahres Multitalent. Er schrieb bereits Biografien über Caravaggio und Michelangelo und zuletzt für das Staatstheater Kassel ein Stück über die documenta. Er verbringt die Hälfte des Jahres auf Gran Canaria und beobachtet von dort aus seit Jahren die spanische Politik. diff --git a/fluter/achtung-sie-betreten-nun-das-welt-netz.txt b/fluter/achtung-sie-betreten-nun-das-welt-netz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..af0ec71efbb24665afc1699bf2b0dffc8c592fb2 --- /dev/null +++ b/fluter/achtung-sie-betreten-nun-das-welt-netz.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Unverdächtige Codes und Comics statt Nazi-Logos. Populistische Propaganda statt Hetztiraden: In ihrer Ansprache setzen Neonazis auf angesagte Optik und kurze Texte. Verkauft wird ein Image bestehend aus Events, Lifestyle und Multimedia. Die Strategie: erst menscheln, dann einnehmen. "Es hat sich gezeigt, dass subtiler Propaganda eher zugestimmt wird als offen geäußerten neonazistischen Überzeugungen", sagt Stefan Glaser, Leiter des Referats Rechtsextremismus von jugendschutz.net. Um Neulinge zu ködern, setzten Neonazis auf aktuelle, sozial und emotional aufgeladene Themen, die nicht direkt mit rechtsextremem Gedankengut in Verbindung gebracht werden. Themen wie Arbeitslosigkeit, die Euro-Krise oder Kindesmissbrauch. Weil die Nachrichten voll von Schreckensmeldungen sind und vielen das Verständnis für die wirklichen Zusammenhänge fehlt, ist das Bedürfnis nach Antworten groß. "Wer hier einfache Lösungsansätze anbietet, hat gute Chancen, auf Zuspruch zu stoßen", sagt Martin Ziegenhagen von der Online-Beratung gegen Rechtsextremismus. So ist es eine neue Technik der Rechtsextremen, in sozialen Netzwerken seriös wirkende Seiten mit "Gefällt mir"-Funktion anzulegen und ihren rechtsextremen Ursprung zu verbergen. Die Zustimmung bringt den Rechtsextremen ihren Zulauf. "Engere Verbindungen werden später über persönliche Kontakte auf Konzerten oder Partys geknüpft." +"Keine Gnade für Kinderschänder" hieß die wohl erfolgreichste Online-Rechtsaußen-Kampagne des letzten Jahres. Zuletzt hatte die auf den ersten Blick harmlos wirkende Facebook-Gruppe mehrere Zehntausend Fans. Doch zeigt ein Blick in die Mitgliederliste, welcher Geist sich in der Gruppe wirklich zusammenfindet: ein undifferenziert rassistischer. "Irgendwann wurde in der Gruppe behauptet, dass es sich vermehrt um Täter mit Migrationshintergrund und ‚rein' deutsche Kinder handele, die missbraucht worden seien. Außerdem wurden Lieder von rechtsextremen Musikern zum Thema Missbrauch und Leseempfehlungen von NPD-Texten gepostet. Kritische Stimmen wurden gelöscht", sagt Groß von no-nazi.net. Im November letzten Jahres wurde die Anti-Kinderschänder-Seite von Facebook gesperrt. Doch hat die Nachfolgeseite "Deutschland gegen Kindesmissbrauch" erneut über 9.500 Fans. Eine Jeanette L. schreibt: "Eine Partei, die was tut!! Andere schauen nur weg!" +Die Online-Strategien der Rechtsextremen sind unterschiedlich und hängen vom Thema ab. In der Rolle des Tabubrechers, der "ja wohl noch etwas sagen darf", kommentieren sich täglich Hunderte Besucher durch die Artikel des islamfeindlichen Blogs "Politically Incorrect" (PI). Das Portal beschreibt sich selbst als proamerikanisch und -israelisch. "Die Nutzer von PI sind ein Zusammenschluss Politikverdrossener, die sich als Repräsentanten der schweigenden Mehrheit verstehen, die in der Öffentlichkeit nicht zu Wort kommt, weil die Eliten sich angeblich mit den Minderheiten verschworen haben und die etablierten Medien diese Realität absichtlich verzerren", sagt Yasemin Shooman. Sie promoviert am Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin zum Thema Islamfeindlichkeit. Wenn PI-Nutzern beispielsweise der Artikel einer Zeitung nicht passt, verlinken sie ihn und bombardieren das Kommentarfeld, um das Meinungsbild ins radikal Rechte zu verzerren. Dabei verstünden sie es, bestimmte Themen und Kampfbegriffe – zum Beispiel den der "Deutschenfeindlichkeit" – in den Mainstream zu überführen und dabei aus der bürgerlichen Mitte heraus zu argumentieren, aus der die meisten von ihnen vermutlich stammen, sagt Shooman. "PI ist ein Beispiel dafür, wie der Rechtspopulismus als Scharnierstelle zwischen dem demokratischen Spektrum und der extremen Rechten dient, die die islamfeindlichen Ressentiments in der Gesellschaft für sich nutzt." +Mehr als 1.700 rechtsextreme Websites gab es laut jugendschutz.net im Jahr 2010. Einige von ihnen wurden mehrfach von Gegnern "gehackt" und ihre Inhalte offengelegt. So rief beispielsweise das Hackerkollektiv Anonymous nach Bekanntwerden der Taten des Nationalsozialistischen Untergrunds zur "Operation Blitzkrieg" auf. Auf dem Portal nazi-leaks.net wurden Namen und Adressen von vermeintlichen Unterstützern von Neonazis veröffentlicht und immer wieder rechtsextreme Portale lahmgelegt – zuletzt zum Jahreswechsel. Im Netz herrscht eine Art Kampf der politischen Spektren. Denn die rechtsextreme Szene arbeitet schon länger mit derartigen Strategien, um Druck auf ihre vermeintlichen Gegner auszuüben. Seit Jahren werden Politiker, Jugendliche in Vereinen, Journalisten und linke Aktivisten auf Internetpranger- Seiten von unbekannten Rechten gelistet. Auf einer Seite des "Nationalen Widerstands Berlin" zum Beispiel werden Hasslisten mit Fotos und privaten Informationen über Personen aufgeführt und zu "Stadtrundgängen" durch den Multikultibezirk Neukölln eingeladen. Ähnliche Informationen präsentiert auch die Webseite "Nürnberg 2.0". Doch kann man die Seiten nicht sperren, weil sie von einem Server im Ausland gespeist werden. Die Szene hat eigene Dienste, sogenannte Neonazi-Hoster, die Gesinnungsgenossen Speicherplatz im Ausland anbieten. +In Deutschland können Internetprovider Webseiten mit fragwürdigen Inhalten sperren, wenn sie darüber informiert werden. Auch Web-2.0-Betreiber können reagieren. Die Autoren Astrid Geisler und Christoph Schultheis kritisieren jedoch deren Nachlässigkeit. In einem Buch über Neonazis schreiben sie, dass sich die Betreiber dabei nicht mit moralischen, sondern vor allem mit juristischen und wirtschaftlichen Fragen beschäftigen und viele von ihnen "vor allem auf die ,Aufklärung der Nutzer' setzen". Denn auch die können auf rechtsextreme Inhalte reagieren und Beiträge melden – sowohl bei den Betreibern als auch beispielsweise bei jugendschutz.net. Wer verliert am Ende in der Masse an Meldungen schneller den Atem? "Jeder Nutzer sollte sich immer die Frage stellen, wo Toleranz endet und Zivilcourage gefragt ist. Aber nichts ist schlimmer, als nichts zu tun", sagt Online-Berater Ziegenhagen. Denn Nazis wollten nicht diskutieren – sie wollten ihre Meinung durchsetzen. Deshalb sei es wichtig, sich zu positionieren und rassistische Hetzer in Diskussionen auszubremsen, dabei aber selbst nicht beleidigend zu werden, sondern ruhig und sachlich zu bleiben, sagt Anne Groß von no-nazi.net. Nachfragen, wie ein Kommentar gemeint ist, Verallgemeinerungen ansprechen und sich nicht auf Gespräche über "gute" und "schlechte" Migranten einlassen: Wichtig ist es, die Opfer zu schützen. Wie im realen Leben hilft es, sich dabei Verbündete zu suchen. "Denn wenn Nazis nerven, ist es gut, wenn sich mehrere gegen sie aussprechen", sagt Groß. Und wer mehr über das Thema Rechtsextremismus weiß, sollte dieses Wissen auch weitergeben. diff --git a/fluter/adas-raum-otoo-rezension.txt b/fluter/adas-raum-otoo-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e53acd71c2f1c1adc3e12c6aefed7a1768be26f5 --- /dev/null +++ b/fluter/adas-raum-otoo-rezension.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Die Debatte dreht sich um die Frage: Wer erzählt was aus welcher Perspektive, und wie wird der Text rezipiert? Momentan kursiert der Begriff postmigrantisch, wenn über Literatur von Autor*innen gesprochen wird, die in zweiter oder dritter Generation in Deutschland leben und deren Elterneine Migrationsgeschichtehaben. Zu Otoo passt postmigrantisch streng genommen nicht: Sie ist eine Migrantin der ersten Generation, 2006 zog sie mit Mitte dreißig von London nach Berlin. Trotzdem wird sie häufig unter dem Begriff subsumiert oder automatisch mit postmigrantischen Autor*innen verglichen, was allein schon zeigt, wie brüchig der Begriff ist – und wie nötig die Diskussion darüber. +"Adas Raum" (320 Seiten, 22 Euro) von Sharon Dodua Otoo ist im S. Fischer Verlag erschienen +Bücher von Fatma Aydemir, Cemile Sahin oder Hengameh Yaghoobifarah wurden in den vergangenen Jahren in großen Verlagen veröffentlicht und viel diskutiert. In den Texten sprechen nicht, wie imklassischen westlichen Kanonüblich, vorwiegend weiße Männer zum*r Leser*in, sondern unter anderem muslimische oderSchwarze Frauen.Dass postmigrantische Autor*innen und Erzählperspektiven mehr Raum bekommen, ist gut. Aber es gibt ein Problem: Texte werden häufig nach den Biografien der Autor*innen durchforstet, die Familiengeschichte wird untrennbar mit der Literatur verknüpft, und Autor*innenwerden zu einer Gruppe zusammengefasst, ihnen wird die Individualität geraubt.Und es gibt eine Erwartungshaltung an die Texte und deren politischen Gehalt, der wiederum mit der Biografie verknüpft wird. Über Stil wird seltener gesprochen als über den Inhalt der Texte. "Ich möchte auch nicht, dass mein Kurdischsein als Katalysator für meine Kunst gelesen wird", sagte etwa Cemile Sahinvor kurzem in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". "Ich bin doch nicht Künstlerin, weil ich Kurdin bin. Und ich bin auch nicht Kurdin, weil ich Künstlerin bin." Der Grund: In Rezensionen und Interviews zu ihren letzten beiden Romanen ging es ständig um die Herkunft der Autorin. +Die Frage ist nun: Wie lässt sich die mit bestimmten Etiketten einhergehende Rezeption umgehen, und was hat das mit Blumen zu tun? Otoo schreibt in ihrer Rede über Stil, Perspektiven und Politik. Auch Schwarze Autor*innen sollten, so Otoo, über Blumen schreiben können und gleichzeitig, aber nicht nur, über die politischen Themen, die vermeintlich von ihnen erwartet werden. Auch ihre Texte müssten als Fiktion, als Literatur gelesen werden. Erzähler*innen in Texten seien zu trennen von den Autor*innen. +"Adas Raum" ist die praktische Umsetzung von Otoos theoretischen Gedanken. Es ist die Geschichte von vier Frauen mit dem Namen Ada, von Zeitschleifen und von einem übernatürlichen Wesen, das die Einzelgeschichten zusammenhält und das Ada mal in Gestalt eines Besens, mal in Gestalt eines Reisepasses beobachtet. +Ada lebt 1459 in Totophe, Ghana, 1848 als Mathematikerin im Londoner Stadtteil Stratford-le-Bow, 1945 in Kohnstein bei Nordhausen als Zwangsprostituiertein einem Konzentrationslager,2019 als schwangere, gerade aus Ghana nach Berlin eingewanderte Frau. Alle Protagonistinnen sind mit den Problemen ihrer Zeit konfrontiert, mal mit Rassismus, immer mit einem patriarchalen System, doch sie geben nicht auf, sondern begehren auf. +Oft tun sie das subtil: "Seine Gewissheit, dass er mir irgendetwas Gescheites zum Thema Wahrscheinlichkeitsrechnung sagen konnte, war denkbar lächerlich", denkt Ada zum Beispiel über ihren Geliebten im Jahr 1848 selbstsicher, ohne es sich anmerken zu lassen. Dem*r Leser*in ist klar, wer hier intellektuell überlegen ist, dem Geliebten nicht. Diese Selbstgewissheit der Adas zieht sich durch das Buch. +Otoo schafft mit den einzelnen Erzählsträngen eine neue Perspektive aufGeschichte aus den Augen von Schwarzen Frauenund rückt sie und ihre gegenseitige Unterstützung in den Fokus. Ada knickt nie ein und hat an ihrer Seite immer eine oder mehrere Frauen, die sich mit ihr solidarisieren. +Die große Stärke des Buchs ist, dass Otoo es schafft, sich sprachlich den jeweiligen Jahrhunderten anzunähern, in denen die Erzählstränge spielen. Sie springt in einem unheimlichen Tempo zwischen den Jahrhunderten und Realitäten hin und her, ohne dass der Roman an Eindringlichkeit verliert. +Adas Raum ist ein komplizierter, aber zugänglich erzählter emanzipatorischer Roman. Ein Roman, der für sich steht und unter keinem Sammelbegriff abgeheftet werden muss. Auch über Blumen wird an einer Stelle geschrieben. Aus der Hand eines Freiers in Nordhausen fällt vor Ada, der Prostituierten, eine Blume zu Boden. Der Freier monologisiert, ist hilflos, Ada nicht. Sie ist Herrin der Lage. + +Titelbild: Gene Glover / Zeit Literatur diff --git a/fluter/aegypten-nahostkonflikt.txt b/fluter/aegypten-nahostkonflikt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6476a0ccffd25b4882cefdc4c0b080403a2c7495 --- /dev/null +++ b/fluter/aegypten-nahostkonflikt.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Im Gegensatz zu Ländern wie dem Libanon oder Transjordanien suchte nur ein geringer Teil der Nakba-Flüchtlinge Zuflucht in Ägypten. Allerdings nahm Ägypten im Zuge des Kriegesden Gazastreifen ein, in den rund 200.000 Palästinenser flüchteten. Die ägyptische Kontrolle des Küstenstreifens überdauerte das Kriegsende von 1949 und hielt – mit kurzer Unterbrechung währendder Suezkrise 1956/1957– bis 1967 an. +In der Zwischenzeit wurde innerhalb Ägyptens das Klima gegenüber den dort lebenden 80.000 Juden und Jüdinnen feindseliger. Angesichts zunehmender staatlicher Repressionen, die vor allem nach der Suezkrise zunahmen und etwa Verhaftungen und die Konfiszierung jüdischer Unternehmen beinhalteten, verließen Tausende das Land oder wurden ausgewiesen. Heute besteht die jüdische Gemeinde in Ägypten offiziell nur noch aus weniger als einem Dutzend Personen. +1967 kam es zum Sechstagekrieg zwischen Israel und Ägypten, Jordanien und Syrien, an dessen Ende Israelsein Territorium verdreifacht hatte. Im Verlauf des Krieges erlangte Israel die Kontrolle über den Gazastreifen, die Sinaihalbinsel, die Golanhöhen, das Westjordanland und Ostjerusalem. Der Schock der arabischen Staaten war groß. Ägyptens damaliger Präsident Gamal Abdel Nasser verlor innen- und außenpolitisch massiv an Ansehen. Als Reaktion auf den Krieg verabschiedete die Arabische Liga im September 1967 ihre Resolution der "Drei Neins" von Khartum: Kein Frieden mit, keine Anerkennung von und keine Verhandlungen mit Israel. +Am 6. Oktober 1973 kam es zum Jom-Kippur-Krieg. Ägypten, unter der Führung seines damaligen Präsidenten Anwar as-Sadat, griff zeitgleich mit Syrien und unterstützt von anderen arabischen Staaten Israel an. Die ägyptischen Truppen schafften es nicht, den Sinai wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Trotzdem ist der 6. Oktober bis heute in Ägypten ein nationaler Feiertag. +Der nach dem höchsten jüdischen Feiertag Jom-Kippur benannte Krieg läutete einen Wandel in den ägyptisch-israelischen Beziehungen ein. Unter Vermittlung der USA näherten sich beide Staaten vorsichtig an und unterzeichneten 1979 schließlich den Camp-David-Friedensvertrag. Dieser sah unter anderem die vollständige Räumung der israelischen Siedlungen auf dem Sinai vor. Im Gegenzug erkannte Ägypten Israel als erster arabischer Staat an. +Sadat und der damalige Ministerpräsident Israels, Menachem Begin, erhielten für ihre Bemühungen schon 1978 den Friedensnobelpreis. Aus arabischer Sicht stand der Vertrag hingegen im klaren Gegensatz zu den "Drei Neins" von Khartum. Ägypten wurde aus der Arabischen Liga ausgeschlossen, und auch innenpolitisch war Sadats Frieden mit Israel, der von den USA mit steigenden Finanzhilfen belohnt wurde, umstritten. 1981 verübte ein ägyptischer Offizier während einer Parade zu Ehren des 6. Oktobers ein tödliches Attentat auf Sadat. +Die Regierung seines Nachfolgers Husni Mubarak hielt den Friedensvertrag aufrecht, auch wenn sich Mubarak in den ersten Jahren bemühte, öffentlich Abstand zu Israel zu halten und die abgekühlten Beziehungen zu den Palästinensern aufzuwärmen. Als etwa die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) 1988 aufdem Höhepunkt der ersten Intifadaein unabhängiges Palästina proklamierte, drückte Ägypten seine Unterstützung aus. +Wegen seiner strategischen Zweigleisigkeit konnte Ägypten in den darauffolgenden Jahren immer mehr die Rolle des Vermittlers einnehmen. Das Land unterstützte Friedensbemühungen wie den Oslo-Prozess, dessen zweites Abkommen 1995 im ägyptischen Taba unterzeichnet wurde. +Anfang der 2000er-Jahre näherten sich Ägypten und Israel an, obwohl sich weite Teile der ägyptischen Bevölkerungmit der zweiten Intifadasolidarisierten. Israel und Ägypten schlossen 2005 einen Deal, dem zufolge Ägypten Israel mit Gas beliefern sollte. Sicherheitspolitisch rückten beide Staaten vor dem Hintergrundder Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen2007 weiter zusammen, auch weil die Terrororganisation ein ernst zu nehmender politischer Gegner für den diktatorisch regierenden Mubarak schien. Ägypten beteiligte sich an der israelischen Blockade des Gazastreifens und riegelte den Grenzübergang Rafah ab. +Als Mubarak 2011 schließlich im Arabischen Frühling gestürzt wurde, war Israel um das Friedensabkommen besorgt. Vor allem, nachdem Ägypten den Grenzübergang zu Rafah lockerte und bei den ersten freien Präsidentschaftswahlen 2012 der Muslimbruder Mohammed Mursi gewann. Gegen Mursi, der den Friedensvertrag und Ägyptens Vermittlerrolle im Nahostkonflikt wider Erwarten aufrechterhielt, putschte bereits ein Jahr später das Militär unter der Führung des heutigen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi. +Dieser ging nach Mursis Absetzung rigoros gegen die Muslimbrüder vor, was sich zunächst auf Ägyptens Beziehungen zur Hamas im benachbarten Gazastreifen auswirkte. Tausende Tunnel wurden laut ägyptischen Behörden zerstört, über die etwa Lebensmittel oder Baustoffe, aber wohl auch Waffen von Ägypten in den Gazastreifen geschmuggelt worden waren. +Zudem vermutete die Regierung al-Sisis, dass die Tunnel von militanten Islamisten im Nordsinai genutzt wurden, die dem selbst erklärten Islamischen Staat die Treue geschworen hatten. Angesichts des gemeinsamen Feindes kooperierten Ägypten und die Hamas bei der Bekämpfung des IS. Gleichzeitig hielt al-Sisi an gemeinsamen Sicherheits- und wirtschaftlichen Kooperationen mit Israel fest, stärkte die wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Länder vor allem im Energiesektor und unterstützte die von den USA initiierten Abraham-Abkommen, die Israels Beziehungen zu anderen arabischen Staaten verbessern sollten. +Seine weitreichenden Beziehungen setzt Ägypten auch seit dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 und dem Krieg im Gazastreifen ein. Zum Beispiel bei den von ihm und Katar vermittelten Verhandlungen um Feuerpausen und die israelischen Geiseln. Dabei hat Ägypten seine eigenen roten Linien von Kriegsbeginn an klargemacht: An einer Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen – einer "zweiten Nakba", wie sie viele Palästinenser fürchten – wolle sich Kairo nicht beteiligen. Um eine Massenflucht von Palästinensern auf den nach wie vor sicherheitspolitisch angespannten Sinai zu vermeiden, hat Ägypten seine Grenzanlage zu Gaza in den letzten Monaten ausgebaut. +Über die Grenze und den Übergang Rafah gelangte zudem ein großer Teil der humanitären Hilfsgüter nach Gaza, in der entgegengesetzten Richtung wurden Verletzte ins Ausland evakuiert. Auch zahlungsfähige Palästinenser konnten Gaza über den Grenzübergang Rafah verlassen. Dafür mussten sie sich auf das bereits zuvor existierende System einer selbst erklärten ägyptischen Reiseagentur einlassen, mit dem sie sich in ihrer Verzweiflung und gegen Barzahlung mehrerer Tausend US-Dollar die Ausreise in Richtung Ägypten erkaufen konnten – wahrscheinlich im vollen Wissen der ägyptischen Behörden. Mit Israels Einnahme der palästinensischen Seite des Grenzübergangs Anfang Mai kam dieses System jedoch zum Erliegen. +Noch vor der Offensive soll Ägypten Israel davor gewarnt haben, im Falle eines Einmarschs in Rafah den Friedensvertrag von 1979 aufzukündigen. Passiert ist das bislang nicht. Vielmehr sollte die Drohung wohl als ein Zeichen nach innen verstanden werden: Ägyptens Wirtschaft hat aktuell einen erneuten Tiefpunkt erreicht, und die Anteilnahme der ägyptischen Bevölkerung gilt klar den Palästinensern. Al-Sisi hat laut ägyptischen Menschenrechtsorganisationen mehrere Aktivisten verhaften lassen, die sich an propalästinensischen Demonstrationen im Land beteiligt und von ihrer Führung eine klare Position gefordert hatten. +Auch außenpolitisch hat Ägypten kein echtes politisches Interesse daran, dass es zur Konfrontation mit Israel kommt: Neben arabischen Staaten wie den Vereinigten Arabischen Emiraten ist Kairo von westlichen Finanzhilfen aus den USA und Europa abhängig. Erst im März stellte die EU Ägypten 7,4 Milliarden Euro in Aussicht. Der Deal beinhaltet neben Wirtschaftshilfen unter anderem Investitionen in die Grenzsicherung, da Ägypten ein wichtiges Transit- und Herkunftsland für viele Migranten und Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa ist und Europa daher ein starkes Interesse an der Stabilität Ägyptens hat. diff --git a/fluter/aeltere-generationen-und-smartphones.txt b/fluter/aeltere-generationen-und-smartphones.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..64ceda8f87c098e46f42368d5382f40fa02bc337 --- /dev/null +++ b/fluter/aeltere-generationen-und-smartphones.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Bald konnte meine Oma googeln. Sie macht das lieber per Sprachbefehl, als zu tippen, wegen der kleinen "Tasten". Zuerst schrie sie die Namen ihrer Enkel aufs Display. Sie wurde ein richtig guter Stalker, sie las zum Beispiel jeden meiner Artikel, fand jedes Foto meines Bruders. Als es nichts mehr über uns zu finden gab, brauchte sie neue Inhalte für die abendliche Übungssession. Und was machen Omas, zumindest meine Bilderbuchoma, am liebsten? Richtig: kochen. Eine kurze und unvollständige Liste meiner Lieblingsgerichte von Oma: Wurstgulasch, Käseschnitzel, Käsespätzle, Putenbraten mit Semmelknödeln. +Als ich vor Kurzem zu Besuch nach Hause kam, gab es bei Oma was Neues: Spaghetti mit Gemüseragout. "Lecker. Wo hast du denn das Rezept her?", fragte ich. "Hab ich gegoogelt", sagte sie. Hätte die Konversation auf WhatsApp stattgefunden, hätte ich das Emoji geschickt, das mit geschlossenen Augen verzweifelt den Mund aufreißt. +Ich weiß schon, wie autoritär das klingt, aber ich will nicht, dass meine Oma neue Rezepte googelt. Ich wünsche mir, dass sie das Wurstgulasch für mich macht wie seit zwei Jahrzehnten und keine Rezepte von Chefkoch.de nachkocht. Da habe ich nämlich die "Spaghetti mit Gemüseragout" gefunden. Es kommt noch so weit, dass ich mich ernsthaft um das kulinarische Erbe der Familie sorgen muss, weil Oma die alten Rezepte vergisst, während sie neue googelt. +Letztens wollte ich meinen Lieblingskuchen backen und habe meine Oma per WhatsApp nach dem Rezept gefragt. Es hat nur eine Stunde gedauert, dann kam ein Foto zurück. Das handschriftlich geschriebene Rezept aus ihrem Büchlein. Ganz oben, schnörkelig unterstrichen, stand: "Russischer Zupfkuchen". So geht's natürlich auch. diff --git a/fluter/aeltester-baum-der-welt-fichte-schweden.txt b/fluter/aeltester-baum-der-welt-fichte-schweden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..041dc5ae835ca7715df7fd3b45c2a30f0dcf9b89 --- /dev/null +++ b/fluter/aeltester-baum-der-welt-fichte-schweden.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Dabei wächst der aktuelle Stamm frühestens seit den 1930er-Jahren. Doch er könnte die Wiedergeburt der Wiedergeburt vieler anderer Wiedergeburten desselben Baumes sein. Die toten Reste aus dem Boden, so vermuten Kullman und Öberg, sind genetisch identisch mit dem lebendigen Stamm, weil sich die Fichte immer wieder selbst geklont hat. +Viele Pflanzen können sich vegetativ, also ohne Geschlechtspartner, vermehren. Ein Ableger einer Zimmerpflanze ist ihr Klon.Ein Waldaus Amerikanischen Zitterpappeln hat in Utah die vergangenen 80.000 Jahre mit vegetativer Vermehrung überdauert. Pando, so heißt der Wald, ist nicht nur das äteste Lebewesen der Welt, sondern auch das schwerste. Über 43 Hektar erstreckt sich die Klonkolonie. +Doch es gibt Zweifel an der Theorie vom ewigen Klonbaum, denn Kullman und Öberg haben offenbar nicht untersucht, ob das Holz aus dem Boden und der lebende Stamm tatsächlich genetisch identisch sind. Genauso gut könnte der aktuelle Baum das Kind zweier anderer Fichten sein. Denn die generative Fortpflanzung, also die Besamung eines Baumes durch einen anderen – und somit die Vermischung der Gene beider –, hat Vorteile: Sie ermöglicht Anpassungen an die Umwelt. Die dazu nötigenSamenträgt auch Old Tjikko in Zapfen an den Ästen – und Funde im Boden deuten darauf hin, dass die Fichten in der Region schon während früherer warmer Phasen Zapfen produzierten. Hatte nur einer von Old Tjikkos Vorfahren Sex, würde ihn das den Titel als ältester lebender Baum kosten. + diff --git a/fluter/aerosole-luftverschmutzung-klima.txt b/fluter/aerosole-luftverschmutzung-klima.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ef1727bac32ac97f3df76108fa8f5d10d81cafdd --- /dev/null +++ b/fluter/aerosole-luftverschmutzung-klima.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Welche Rolle spielen Aerosole für dasKlima? +Sind sie groß genug, absorbieren sie das Sonnenlicht oder streuen es. Ruß absorbiert zum Beispiel sehr viel Licht und sieht deshalb schwarz aus. Außerdem erwärmt er die Luftschichten um sich herum. Ohne Aerosole gäbe es auch keine Wolken. Wenn zum Beispiel über dem Meer Wasserdampf aufsteigt und sich abkühlt, entstehen Wassertropfen. Aerosole dienen dann als Keime, an die sich Tropfen anlagern. Je mehr solcher Keime es gibt, desto mehr Wolkentröpfchen bilden sich in einer Wolke. Wolken mit diesen kleinen Tröpfchen bleiben länger bestehen und streuen das Licht besser ins All zurück als solche, in denen es weniger Aerosole gibt und die deshalb größere und schwerere Tröpfchen haben. Dadurch haben sie einen großen Einfluss auf das Klima. +Mit welchen Methoden erforschen Sie die Aerosole? +Wir messen zum Beispiel, wie viele Aerosole es in der Luft gibt. Dazu saugen wir sie ein, schauen uns an, wie das Licht in der Luft gestreut wird, und ermitteln so ihre ungefähre Anzahl. Mithilfe der Lichtstreuung und anderer Messtechniken versuchen wir auch herauszufinden, wie groß die Aerosole sind, weil das eben Aufschluss über ihre Eigenschaften gibt. Darüber hinaus ist die Masse der Aerosole ein Indikator für gute oder schlechte Luft und wird deshalb an gezielt ausgewählten und sehr unterschiedlichen Messstationen in Stadt und Land ermittelt. +Das klingt, als ob Aerosole auch die Gesundheit beeinträchtigen können? +Wenn wir Aerosole einatmen, können diese tief in unsere Lunge gelangen und dort das chemische Material, aus dem sie bestehen, abgeben. Unter Umständen – je nach Expositionsdauer, Dosis, Vorerkrankungen etc. – kann das krank machen. Akute Symptome, die mit Luftverschmutzung einhergehen, sind zum Beispiel Asthma, Herzattacken und die Verstärkung von Atemwegsinfektionen. Aber auch chronische Beschwerden bis hin zu Krebs werden mit ihr in Verbindung gebracht. +Wie hängt dasmit Gerüchen zusammen, zu denen Sie ebenfalls forschen? +Gerüche sind oft nur einzelne Moleküle, also Gase. Das frische und harzige Aroma eines Waldes stammt zum Beispiel von dem Molekül Alpha-Pinen, das von Bäumen gebildet wird. In der Atmosphäre wandeln diese Gase sich dann unter dem Einfluss anderer Moleküle und des Sonnenlichts um. Die dabei entstehenden Produkte bilden dann mit anderen Molekülen Aerosole. Dieser Prozess spielt auch in Städten eine entscheidende Rolle, denn auch dort gibt es viele typische Geruchsquellen, wie etwa Tankstellen, an denen sich Aerosole bilden. +Oft denkt man beim Thema "verschmutze Luft" ja an Städte in China und Indien. Istdie Luftqualität dortwirklich viel schlechter als in Europa? +Man muss nicht um die Welt reisen, um große Unterschiede zu bemerken. Auch innerhalb Deutschlands unterscheidet sich die Luftqualität in Städten zum Teil erheblich. Abhängig ist das unter anderem von den Wetterbedingungen, die vor Ort herrschen. Stuttgart etwa liegt in einem Talkessel und ist von Randhöhen umgeben. Das ist aus meteorologischer Sicht ungünstig, weil dadurch wenig Winde durch die Stadt wehen und die Aerosole sich ungestörter bilden können – anders als zum Beispiel in Hamburg, wo es häufig windig ist. Aber natürlich unterscheidet sich die Luftqualität auch weltweit. In Ländern wie China und Indien leben zum Teil sehr viele Menschen auf engem Raum zusammen. Es gibt viel mehr unkontrollierte Emissionen, was schlussendlich zur Aerosolbildung beiträgt. In Europa haben wir zwar viel für die Verbesserung der Luft getan, allerdings stagniert der Fortschritt hier seit einiger Zeit. +Wie wurde die Luftqualität in Europa denn besser? +Hauptsächlich liegt es daran, dass der Ausstoß von Schwefeldioxidmassiv zurückgefahren wurde. Schwefeldioxid wird in der Atmosphäre zu Schwefelsäure, was zu vielen Aerosolen geführt hat. Auch Maßnahmen wie der Einbau von Filteranlagen und Abgasnormen für Autos haben die Luftqualität erhöht. Allerdings hat man sich bislang stark darauf konzentriert, die Masse der Aerosole zu verringern – und nicht zielgerichtet die wirklich gesundheitsschädigenden Substanzen. So können zum Beispiel die ganz kleinen Aerosole, die quasi nichts wiegen, tief in die Lunge eindringen. Reguliert wird das bislang nicht. Deshalb gibt es auch in europäischen Städten immer noch Potenzial, die Luftqualität weiter zu verbessern. Eine Rolle dabei könnten künftig E-Autos spielen, die den Tankstellengeruch reduzieren, durch den Reifenabrieb aber auch selbst Aerosole bilden. Daneben gibt es noch weitere Quellen für die Bildung von Aerosolen wie etwa Asphalt. Darum müssen wir uns auch kümmern, wenn wir in Zukunft noch sauberere Luft haben möchten. +Woran könnte das scheitern? +Wenn wir zum Beispiel statt Asphalt ein neues Material für den Straßenbau verwenden wollen, müssen wir im Vorfeld einiges prüfen: ob das neue Material überhaupt verwendbar ist und welche Folgen die Nutzung für die Umwelt hat. Und dann muss natürlich auch der politische Wille da sein, das mögliche Potenzial solcher neuen Stoffe auszuloten. +Eine kontrovers diskutierte Möglichkeit, den Klimawandel zu bremsen,ist Geo-Engineering. Ein Ansatz dabei ist, durch das Einbringen von Schwefeldioxiddie Wolkendichte künstlich zu erhöhen, wodurch das Sonnenlicht in den Weltraum reflektiert werden und die Erde abkühlen soll. Warum sehen Sie und einige Ihrer Kolleginnen und Kollegen das kritisch? +In einer typischen urbanen Luft gibt es Zehn- bis Hunderttausende organische Moleküle. Bei dieser Vielfalt könnte es ein bisschen zu kurz gedacht sein, nur auf dieses eine Molekül zu setzen. Wissenschaftlich betrachtet würde ich sagen, dass wir beim Geo-Engineering an zu vielen Stellschrauben drehen würden, ohne genau zu wissen, was dadurch passiert. Hinzu kommt, dass der Klimawandel die Zusammensetzung der Atmosphäre weiter verändern wird. Durch die Erwärmung gehen Stoffe leichter in die Atmosphäre, und es wird viel mehr Brände auf der Erde geben, wodurch mehr Ruß in die Atmosphäre gelangt. Daneben gibt es noch weitere relevante Folgen des Klimawandels wie sich verändernde Niederschlagsmuster und die Ausbreitung von Wüsten. Zusammenfassend kann man sagen, dass der Klimawandel die heute schon bestehenden Luftprobleme noch verschlimmern wird. + +Dominik Stolzenburg forscht an der Technischen Universität Wien. Neben Tankstellen und Asphalt interessiert er sich auch für andere Gerüche und ihren Einfluss aufs Klima – zum Beispiel von Lacken und Putzmitteln. +Portrait: Jürgen Christandl/KURIER + +Illustration: Alexander Glandien diff --git a/fluter/afghanistan-klimakrise.txt b/fluter/afghanistan-klimakrise.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/afrika-wachsende-mittelklasse.txt b/fluter/afrika-wachsende-mittelklasse.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ed99ac81341a3999f4beee526d569124dece2f75 --- /dev/null +++ b/fluter/afrika-wachsende-mittelklasse.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Vor rund zehn Jahren häuften sich in der Presse Berichte über ein stetiges Wachstum der Mittelschicht in vielen Staaten Afrikas. Die meisten dieser Untersuchungen kamen von Unternehmensagenturen und Banken, die mit ihrem Bild von denboomenden Märktenwohl auch eigene Interessen verfolgten. Eine dieser Studien trug den Titel "The Rise and Rise of the African Middle Class". Ganz so, als gäbe es nur eine einzige Richtung. + + +Zehn Jahre später leben in Kenia von den rund 50 Millionen Menschen immer noch weit mehr als ein Drittel in Armut. Andererseits konnten sich tatsächlich viele daraus befreien. Eine wachsende Zahl gut ausgebildeter Ke­nianerinnen und Kenianer versorgt als Ärztinnen und Pfleger Kranke, gründet wie Ruth Abade kleine Unternehmen oder entwickelt innovative IT-­Lösungen für lokale Märkte. Das jahrelange Wirt­schaftswachstum hat in vielen afrikani­schen Ländern eine unternehmerische Mittelschicht hervorgebracht.Dazu beigetragen hat auch die Verbreitung von Smartphones,die für viele Menschen Zugang zu Informationen und Finanz­dienstleistungen bieten. +Wer genau zur Mittelschicht gehört, bleibt umstritten. Laut einer Studie der Afrikanischen Entwicklungsbank ist die Mittelschicht des Kontinents schon zwi­schen 1980 und 2010 von 126 Millionen auf 350 Millionen gewachsen – von 27 auf 34 Prozent der Bevölkerung. Aller­dings schloss das jeden Menschen ein, dessen Pro­-Kopf-­Ausgaben zwischen 2 und 20 Dollar am Tag lagen – wobei die Zahl derer, die zwischen 2 und 4 Dollar am Tag ausgaben, am größten war. So räumte die Entwicklungsbank denn auch ein, dass 60 Prozent dieser Mittelschicht an der Grenze zur Armut leben. +Die Angst abzurutschen kennt auch der 41­-jährige Familienvater Mike Mbu­ru. "Ein medizinischer Notfall", antwor­tet er auf die Frage, wovor er sich am meisten fürchtet. "Was wird aus meinen Kindern, wenn mir etwas passiert?" Erst seit drei Monaten hat er eine feste An­stellung bei einem Verlag, die ihn, seine Frau und die drei kleinen Töchter im Krankheitsfall absichert. Als freiberuflicher Eventmanager musste er noch jede Behandlung beim Arzt selbst be­zahlen. Teure Behandlungen sind aller­dings nicht abgedeckt. So kann ein schwerer Unfall oder eine chronische Krankheit ganze Familien in den Ruin stürzen. Denn die meisten Angestellten in Kenia versorgen mit ihrem Einkom­men die erweiterte Familie und oft noch Menschen im Bekanntenkreis mit. + + +Auch im Alter müssen sich viele Menschen in Kenia Sorgen machen, denn die Leistungen aus der staatlichen Rentenversicherung – wenn man überhaupt eine hat – sind viel zu gering, um davon leben zu können. Um später nicht zu verarmen, gehen viele noch einer Neben­beschäftigung nach. Mike Mburu hat im Garten seines Opas auf dem Land Bienenstöcke aufgestellt. In einem guten Jahr mache er damit bis zu 1.600 Euro Gewinn, sagt er. +Die Modedesignerin Ruth Abade verfügt über kein solches Sicherheitsnetz. "Darüber denke ich gar nicht nach", sagt sie. "Ich betrachte das Leben nicht aus dieser Perspektive. Ich versuche im Hier und Jetzt zu tun, was ich kann." In all den Jahren hat sie es geschafft, ihre Angestellten pünktlich zu bezahlen. Sie verdienen im Durchschnitt 200 Euro monatlich. Als die Coronapandemie Kenia traf, nutzte Ruth ihre Erspar­nisse, um das Label am Laufen zu hal­ten. Die Miete für ihre Wohnung, die sie sich mit einer Freundin teilt, trägt das Label. Für Essen zahlt sie sich ein Taschengeld aus. "Diese afrikanische Mittelklasse, von der alle reden: Ich glaube nicht, dass die überhaupt exis­tiert", sagt Ruth Abade. "Viele Leute leben ein Leben, das sie sich gar nicht leisten können, nehmen Kredite auf, die sie nicht zurückzahlen können.Das hat die Pandemie deutlich gemacht: Leute verlieren ihren Job, haben keine Erspar­nisse und stehen vor dem Nichts." +Vivian Magero muss sich diese Sor­gen vorerst nicht machen. Ihren Master hat die 32­-Jährige in Deutschland ge­macht. Als Teamleiterin bei einer deut­schen Organisation, die sich um den kulturellen Austausch zwischen Kenia und Deutschland kümmert, verdient sie etwa 1.500 Euro im Monat. Damit gehört sie in Nairobi zu denen, die ins Restau­rant gehen, anstatt nur an den Straßen­ständen zu essen. Sie macht Reisen und Ausflüge mit dem Mountainbike. Aber Magero denkt nicht nur an sich. Sie unterstützt ihre Familie auf dem Land. "Ich sehe das nicht als Last", sagt sie. Ihrer Mutter, die eine Grundschule leitet und etwa 100 Euro im Monat verdient, überweist sie monatlich 200 Euro und hilft damit auch ihren jüngeren Geschwis­tern und weiteren Kindern, die die Mut­ter aufgenommen hat. Sie alle leben in einem kleinen Haus, das Magero ihrer Mutter bauen ließ. Weitere 200 Euro kann sie sparen, während sie einen Stu­dienkredit und den Kredit für das Haus der Mutter abbezahlt. "Wenn man mehr hat, muss man etwas abgeben", sagt sie. "Das ist die Tradition." diff --git a/fluter/afrikabild-geschichte-postkolonialismus.txt b/fluter/afrikabild-geschichte-postkolonialismus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e7619f1a0a6825c0c61e09f16a291417797366e2 --- /dev/null +++ b/fluter/afrikabild-geschichte-postkolonialismus.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Genau das aber wollen Schriftstellerinnen aus Afrika wie Petina Gappah ändern, indem sie zeigen, dass Geschichte aus Sicht der Europäer längst nicht die ganze Wahrheit ist. Genau deshalb schreiben sie historische Romane, in denen die Erfahrungen und Sichtweisen der Menschen in Afri­ka eine zentrale Rolle spielen. "Ich wollte mir aus der Absurdität von Livingstones Forschungsreise einen Spaß machen", sagt Gappah. "Da läuft dieser unglaublich egoistische Mann durch die Gegend und gibt afrikanischen Orten Namen, obwohl sie bereits Namen haben." +Der kenianische Literaturwissenschaftler Oduor Obura ist am Ufer von Afrikas größtem Süßwassersee aufgewachsen, der 1858 von einem anderen britischen Reisenden nach der englischen Königin Victoria benannt wurde. Diesen Namen trägt der See bis heute. "Dabei haben die Ethnien, die um den See herum leben, schon lange vorher eigene Namen für ihn gehabt", sagt Obura. Bei den Luo zum Beispiel, zu denen Obura gehört, heiße das Gewässer Nam Lolwe. "Leider lernen wir das nicht in der Schule. Auch dort beginnt die Geschichte Kenias mit der Ankunft der Europäer, und wir sehen uns selbst durch eine europäische Brille." +Afrika seine eigene Geschichte abzusprechen hat eine lange Tradition. Der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel behauptete im 19. Jahrhundert, dass Afrika kein historischer Kontinent sei und es weder Entwicklung noch Bildung gebe. Und als die Europäer dort ein Bildungssystem etablierten, zementierten sie diese Sichtweise – die selbst nach dem Ende des Kolonialismus Bestand hatte – in den Lehrplänen. +Noch heute, 57 Jahre nach der Unabhängigkeit Kenias von britischer ­Kolonialherrschaft, wird in den Geschichtsbüchern selbstder transat­lantische Sklavenhandel, in dessen Zuge schätzungsweise zwölf Millionen Menschen innerhalb von 400 Jahren verschleppt wurden, nur kurz abgehandelt. Die Zahl der Opfer bleibt unerwähnt. Kein Wort auch zu den muslimischen Sklavenhändlern, die schon vor den Europäern Millionen Menschen verschleppten, oder über die wissenschaftlichen Forschungen früherer afrikanischer Völker. Dass es in Afrika bereits im 14. Jahrhundert Zentren der Forschung und Gelehrsamkeit gab – auch darüber erfahren die Schülerinnen und Schüler an kenianischen Gymnasien nichts. +"Die Rolle von Afrikanerinnen und Afrikanern als Schöpfer ursprünglicher Kulturen, die Jahrhunderte überdauert haben, wird übersehen", sagt die kenianische Bildungswissenschaftlerin Mary Nasibi. "Man fragt sich, wie junge Menschen aus Afrika ihren Platz in der Welt finden sollen, wenn sie ihre Wurzeln nicht kennen." +Für den kenianischen Historiker Babere Chacha ist diese Form der Geschichtsvermittlung für die Regierung eine Form des Machterhalts. "Sie hat Angst davor, dass die jungen Menschen zu viel über ihre Geschichte lernen, auch vom Widerstand gegen Unterdrückung, und sich so radikalisieren", sagt er. Vor einigen Jahren wurde sein Berufsverband vom Erstellen von Lehrplänen ausgeschlossen. "Wir hatten uns gegen diese oberflächliche Geschichtsdarstellung gewehrt." +Schriftstellerinnen haben es da leichter – sie schreiben einfach Bücher über historische Ereignisse wie die in Ghana geborene Yaa Gyasi. In ihrem Roman "Heimkehren" setzt sie sich mit der Geschichte der Sklaverei auseinander und beschreibt das Leben von Zwillingsschwestern von der Goldküste (heute Ghana), deren Leben sehr unterschiedliche Verläufe nehmen. Die Schicksale der Nachkommen der beiden Frauen zeigen, wie verheerend die Auswirkungen der Sklaverei auch noch über mehrere Generationen hinweg sind. Auch die bekannte nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie hat sich mit der Historie ihres Heimatlandes beschäftigt. In "Die Hälfte der Sonne" erzählt sie die Geschichte des Biafrakrieges 1967 bis 1970, in dem Hunderttausende verhungerten, aus der Perspektive einer nigerianischen Familie. +International vernetzte Autorinnen wie Petina Gappah, Yaa Gyasi und Chimamanda Ngozi Adichierecherchieren den Stoff ihrer Romane in historischen Quellen, die nicht zuletzt in Archiven und Museen in Europa und Amerika aufbewahrt werden. "Wir können Dinge ans Licht bringen, sie exhumieren, wir können Ansprüche erheben. Historische Fiktion ermöglicht uns, die Geschichte aus der Sicht ganz kleiner Leben zu betrachten", sagt Gappah. +Doch auch in den Archiven spiegelt sich das Ungleichgewicht europäischer und afrikanischer Erzählungen wider. So fand die äthiopische Schriftstellerin Maaza Mengiste, die für ihr Buch über die Rolle der Frauen im Widerstand gegen die Invasion der italienischen Armee in Äthiopien in den 1930er-Jahren recherchierte, in den italienischen Archiven hauptsächlich Propagandamaterial, das aus der Zeit des italienischen Diktators Mussolini stammt. Es sei nicht einfach gewesen, die Rolle der äthiopischen Frauen zu erforschen. "Diese Geschichte war versteckt." Mengiste hat sie dennoch gefunden. "Wir müssen die Menschen zurückgewinnen, die nicht mehr leben", sagt sie. "Diese Verantwortung haben wir gegenüber der zukünftigen Generation." diff --git a/fluter/afro-punk.txt b/fluter/afro-punk.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/afro-unter-strom.txt b/fluter/afro-unter-strom.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9f9e1096a80a45a394cd9f8ec6bd181ee8601479 --- /dev/null +++ b/fluter/afro-unter-strom.txt @@ -0,0 +1,11 @@ + +Drogen, Schulden, Paranoia: Ende der 1970er-Jahre war Miles Davis nach einigen Pionierleistungen – Innovator des Hardbop, Erfinder von Cool Jazz und später Jazz Fusion – ganz unten angekommen. Sein Label Columbia, an das er vertraglich gebunden blieb, wartete seit Jahren auf neues Material. Davis litt unter einer kreativen Blockade und verbarrikadierte sich wie ein Eremit in seinem New Yorker Apartment. +Von hier aus arbeitet sich "Miles Ahead", auch der Titel eines der besten Alben, wenig systematisch, aber umso furioser durch das Leben von Miles Davis. Er nimmt dabei musikalische wie biografische Motive auf und variiert diese mit Mut zur Auslassung in rasanten impressionistischen Arrangements, die ein wenig an die Improvisationen des Free Jazz erinnern. +Cheadle, der seinen Film zum Teil durch Crowdfunding finanzierte, springt mit eleganten Überblendungen zwischen den späten 1950er-Jahren, als Davis auf dem ersten Höhepunkt seiner Karriere seine Frau, die Tänzerin Frances Taylor (Emayatzy Corinealdi), kennenlernte, und den späten 1970ern. Davis' paranoiden Kokainwahn simuliert Cheadle mit mit irren Einstellungen einer entfesselten Handkamera und wilden Jump Cuts. Ewan McGregor spielt den Reporter Braden, der Davis für eine Comeback-Geschichte aufsucht, sich dann aber wie ein lästiger Parasit an ihn hängt und zwei durchgeknallte Tage mit ihm verbringt, in denen sie exzessiv Drogen nehmen, einer verlorenen Aufnahme hinterherjagen und in Autoverfolgungsjagden inklusive einer Schießerei verwickelt werden. +"Miles Ahead" ist eine rasante Kolportage, die an die "Rolling Stone"-Reportagen des Gonzo-Journalisten Hunter S. Thompson erinnert: immer ganz nahe dran und immer larger than life. Cheadle hat gar nicht den Anspruch einer wahrheitsgetreuen Hommage an Davis' Lebenswerk. Es geht ihm auch nicht um eine Heiligsprechung – das hat die Geschichte längst erledigt, als Miles Davis 2006 in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen wurde. +Cheadle geht es vor allem um Intensitäten: das Einfühlen in die kreativen Energien, die Davis' beste Arbeiten auszeichneten. Eine große biografische Genauigkeit stünde dem nur im Weg. Gleichzeitig geht er dem Mythos nie auf den Leim. Davis konnte auch ein ziemlicher Bastard sein, selbstgerecht, aufbrausend, mit einem äußerst traditionellen Rollenverständnis der Frau. Cheadle lässt diese Facetten nicht aus, er spielt die Ambivalenzen in Davis' Persönlichkeit mit phänomenaler Intensität aus: den jungen Davis als unwiderstehlichen smooth operator mit samtigem Timbre in der Stimme, den späten als durchgeknallte cool cat mit exaltierten Hemden und einem fisseligen, wie unter Strom stehenden Afro. + + +"Miles Ahead" ist der perfekte Film für Miles-Davis-Einsteiger, weil Cheadle die Liebe zur Musik genauso zum Ausdruck bringt, wie er die kreative Hybris, die Davis zu einem Ausnahmemusiker machte, zeigt. Am Ende findet Davis durch einen Nachwuchsmusiker zu neuer Inspiration, die ihn auf einen letzten Karrierehöhepunkt in den 1980er-Jahren führt. Diese Phase deutet "Miles Ahead" in einem inszenierten Jam mit Mitstreitern des 1991 verstorbenen Davis, u.a. Herbie Hancock und Wayne Shorter, an. Das Todesjahr spart der Film im Abspann aus. Nur konsequent: Seine Musik hat Miles Davis unsterblich gemacht. + +"Miles Ahead", USA 2015, Regie: Don Cheadle, mit Don Cheadle, Ewan McGregor Emayatzy Corinealdi, Lakeith Lee Stanfield, Michael Stuhlbarg, 100 Minuten diff --git a/fluter/afrozensus-daten-zu-rassismus-erheben.txt b/fluter/afrozensus-daten-zu-rassismus-erheben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4d61f14f3a28cb0c238c0fd601d9a79d6e0a736c --- /dev/null +++ b/fluter/afrozensus-daten-zu-rassismus-erheben.txt @@ -0,0 +1,34 @@ +Was sind das für Erfahrungen? +Teresa: Rassismus funktioniert über ähnliche Mechanismen wie andere Diskriminierungsformen auch. Unter anderem werden Menschen wegen bestimmter Merkmale, zum Beispiel ihrer "Hautfarbe" oder vermeintlichen Herkunft, bestimmte Eigenschaften zugeschrieben. Anti-Schwarzer Rassismus ist insofern spezifischer, als in diesem Falldie kolonialhistorische Vergangenheiteine große Rolle spielt. Wir möchten bewusst keine konkreten Beispiele nennen, um diese Stereotype nicht zu reproduzieren. Aber ein großer Punkt, der aus diesen Zuschreibungen resultiert, ist beispielsweise Racial Profiling. +Von racial profiling spricht man, wenn Menschen allein aufgrund ihres physischen Erscheinungsbildes oder ethnischer Merkmale polizeilich kontrolliert werden. Mehr dazu findest duhier. +Muna: Schwarzen Menschen werden bestimmte Zugänge, beispielsweise im Schulsystem,auf dem Wohnungsmarktoder auch auf dem Arbeitsmarkt, systematisch verwehrt, und es findet keine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft statt. Anti-Schwarzer Rassismus ist nicht nur eine Einzelerfahrung auf individueller Ebene, sondern ein strukturelles und institutionelles Problem. + +Wieso gibt es in Deutschland bislang noch keine Daten dazu? +Teresa: Bisher hat sich Deutschland damit herausgeredet, dass angesichts der historischen Begebenheiten, alsoder Verfolgung von Minderheiten im Nationalsozialismus, keine Daten über solche Gruppen erhoben werden sollen. + + +Könnt ihr dieses Argument nachvollziehen? +Teresa: Wir halten das – zumindest in unserem Fall – für eine faule Ausrede. Wir wollen ja gar keine Minderheiten zählen, sondern deren Erfahrungen sichtbar machen. Deutschland hat auch schon eine Rüge bekommen von der UN, weil es diese Daten nicht erhebt und nicht genug unternimmt, um Rassismus zu bekämpfen. Diese Daten tragen aber einen wichtigen Teil dazu bei, Anti-Schwarzen Rassismus zu erfassen und Strategien zu entwickeln, diesen abzubauen. +Muna: Und diese auch einzufordern! Bei unserer Arbeit mit Each One Teach One haben wir schon häufig die Erfahrung gemacht, dass von Politik und Verwaltung die Frage kommt: "Ja, ihr Schwarzen Menschen, wie viele seid ihr, was wollt ihr, was ist denn eure Erfahrung, gibt es dazu Daten?" Wir wollen endlich etwas in der Hand haben. +Sensible Informationen über das Internet abzufragen ist nicht gerade ohne. Schützt ihr die Daten der Befragten? +Muna: Natürlich! Die Umfrage erfolgt anonym, und die Ergebnisse werden zusammengefasst dargestellt. Es ist also nicht möglich, einzelne Ergebnisse einer bestimmten Person zuzuordnen. Auch technisch stellen wir die Daten der Befragten sicher: So werden alle Daten auf einem verschlüsselten Server gespeichert und die E-Mails getrennt von den inhaltlichen Umfragedaten hinterlegt. Bei datenschutzrechtlichen Fragen und der Erstellung des Fragebogens werden wir von unserem Projektpartner Citizens for Europe (CFE) unterstützt. +DerAfrozensuswird von dem Berliner Verein Each One Teach One (EOTO) gemeinsam mit Citizens for Europe (CFE) durchgeführt und von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gefördert. EOTO setzt sich seit 2012 für die Interessen Schwarzer, Afrikanischer und Afrodiasporischer Menschen in Deutschland und Europa ein. Unterafrozensus.dekann man sich für eine Teilnahme anmelden. Bis jetzt haben sich fast 2.800 Menschen registriert. +An wen richtet sich die Umfrage? +Teresa: Teilnehmen können alle Schwarzen, afrikanischen, afrodiasporischen Menschen über 16, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben oder bis vor kurzem hatten. +Muna: Die Ergebnisse werden wir dann in einem Bericht veröffentlichen. Sie sollen in erster Linie den Schwarzen Communitys zur Verfügung stehen, aber auch der Politik und der Gesellschaft allgemein. Anti-Schwarzer Rassismus sollte nicht nur für Betroffene ein Thema sein, vor allem die deutsche Mehrheitsgesellschaft muss daran arbeiten, etwas zu ändern. + +… einige besuchen sonntags die freikirchliche Gemeinde, in einem Flachbau zwischen Kleingärten und Garagen + +Inwiefern können diese Daten Schwarzen Communitys nützen? +Muna: Wenn durch unsere Daten sichtbarer wird, dass der Rassismus in Deutschland strukturell ist und nicht nur einzelne Individuen betrifft, kann das für Betroffene eine heilende Wirkung haben – zu wissen, dass man nicht allein diese Erfahrungen macht. +Teresa: Außerdem erheben wir nicht nur die Diskriminierungserfahrungen, sondern auch, wie die Menschen damit umgegangen sind. Beispielsweise ob sie den Vorfall gemeldet haben und, wenn ja, an welche Stelle und wie zufrieden sie damit waren. Außerdem gibt es eine Rubrik, in der die Befragten politische Forderungen aufschreiben können. Das hat auch eine empowernde Wirkung, wenn man weiß: Wir erfahren nicht nur etwas, sondern wir sind auch handelnde Personen. +Was, glaubt ihr, kommt bei der Umfrage heraus? +Muna: Wir gehen davon aus, dass viele Befragte von Diskriminierungsvorfällen berichten werden, aber wie viel, das wird sich erst zeigen. In Deutschland gibt es ja auch nicht die eine Schwarze Community, sondern viele unterschiedliche; da sind diverse Menschen mit unterschiedlichen Ansichten und Erfahrungen. Wir wollen schauen: Welche Standpunkte gibt es? Wo gibt es Überschneidungen? Was sind Themen, bei denen sich die Befragten über alle Communitys hinweg einig sind, dass sie in Deutschland angegangen werden sollen? +Was für eine Reaktion erhofft ihr euch von der deutschen Politik und der Gesellschaft? +Muna: Das Thema Rassismus ist aktuell sehr präsent.Nach Taten wie denen in Hanauist die Aufregung immer groß, aber danach passiert viel zu wenig. Das ist ein bisschen wie ein Echo, das immer wieder kommt. Die deutsche Politik muss Rassismus strukturell angehen. +Teresa: Unsere Hoffnung ist, dass wir stärker durch die Politik und auch Gesetze unterstützt werden, wenn wir die Daten haben, und nicht mehr von einem individuellen Verständnis abhängig sind. Die Stimmen, die unsere Geschichten erzählen, sind da, und das nicht erst seit gestern, sondern schon seit Jahrhunderten. Da haben sehr viele Schwarze Menschen und Organisationen schon unheimlich viel gekämpft und Arbeit geleistet. Unsere Anliegen dürfen nicht länger ignoriert werden. + + + +Übrigens schreiben wir "Schwarz" groß, um zu verdeutlichen, dass es keine "Eigenschaft" ist, die mit "Hautfarbe" zu tun hat, keine Kategorie, in der man Menschen einordnen kann. Der Begriff "Schwarz" ist hier eine politische Selbstbezeichnung von Menschen afrikanischer Herkunft, deren Erfahrung durch Kolonialismus und Rassismus geprägt ist. + diff --git a/fluter/afrozensus-ergebnisse-rassismus-deutschland-interview.txt b/fluter/afrozensus-ergebnisse-rassismus-deutschland-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..126b27e9af33a403915aba26e38caf35a0204f30 --- /dev/null +++ b/fluter/afrozensus-ergebnisse-rassismus-deutschland-interview.txt @@ -0,0 +1,31 @@ +Muna Aikins: Es fühlt sich etwas komisch an, die eigene Arbeit als Meilenstein zu bezeichnen, aber historisch gesehen ist es ja schon so. Zumindest gab es diese Daten in der Form bisher nicht. Deswegen hat der Afrozensus für uns als Forschende und als Schwarze Personen eine so grundlegende Bedeutung. +Teresa Bremberger: Während des Umfrageprozesses hatten wir eigentlich kaum Zeit, darüber nachzudenken, oder haben es ausgeblendet, weil wir uns natürlich auch der großen Verantwortung bewusst waren, die da auf uns lag. Erst hinterher, als wir die Ergebnisse präsentiert haben, dachten wir uns: "Krass, was hier gerade passiert!" + +Es war ein langer Weg, bis ihr die Ergebnisse veröffentlichen konntet. Wie hatdie Corona-Pandemieeure Arbeit beeinflusst? +Teresa: Ursprünglich hatten wir einige Präsenzveranstaltungen geplant, auch in den Communitys, weil ja nicht alle Zugang zu einem PC haben oder mit Onlineumfragen vertraut sind. Wir wollten auch in Afroshops gehen, um direkt mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Leider war das kaum möglich. +Muna: Ja, die persönliche Ansprache war auf jeden Fall schwieriger. Manche Gruppen konnten wir kaum erreichen, zum Beispiel geflüchtete Menschen. Insgesamt haben an der Befragung verhältnismäßig mehr jüngere Menschen teilgenommen, mehr Menschen mit einem höheren Bildungsabschluss, mehr Menschen aus größeren Städten und überdurchschnittlich viele Frauen. +Teresa: Für uns selbst war die Pandemie natürlich auch eine große Belastung. Viele aus dem Kernteam haben kleinere Kinder. All die Einschränkungen und Kitaschließungen mit unserem Arbeitsalltag zu vereinbaren war eine große Herausforderung. +Obwohl über 6.000 Menschen am Afrozensus teilgenommen haben, sind eure Ergebnisse statistisch nicht repräsentativ, das heißt nicht auf die Grundgesamtheit verallgemeinerbar. +Die Grundgesamtheit umfasst alle Personen einer exakt abgegrenzten Gruppe. Wenn diese Gruppe sehr groß ist, befragt man meist nur eine Teilmenge: die Stichprobe. Damit sie für die gesamte Personengruppe aussagekräftig ist, muss die Stichprobe repräsentativ sein. Dafür muss sie groß genug sein, und wichtige Merkmale wie etwa Alter, Einkommen oder Geschlecht sollten hier genauso verteilt sein wie in der Grundgesamtheit +Teresa: Ja, das hat vor allem methodische Gründe, denn bisher liegen keine quantitativen Daten zur Grundgesamtheit vor. Gleichzeitig war es schwer, die Grundgesamtheit überhaupt zu erreichen, da es sichfür viele Betroffene um ein sensibles Thema handelt– und dann kamen auch noch die Einschränkungen durch Corona hinzu. Statt die Teilnehmenden über eine Zufallsstichprobe auszuwählen, wie es für repräsentative Befragungen üblich ist, haben wir daher die sogenannte "Schneeballmethode" verwendet. Das bedeutet, dass wir gezielt Personen oder Organisationen angesprochen haben, die wiederum weitere Personen auf die Umfrage aufmerksam gemacht haben. Zusätzlich haben wir den Afrozensus groß beworben, vor allem in den sozialen Medien. +Muna: Dadurch konnten wir aber auch gezielt Gruppen ansprechen, die bei großen Befragungen sonst häufig übersehen werden, wie Trans- oder beeinträchtigte Menschen, und so mehr Facetten Schwarzer Lebensrealitäten abbilden. + + +Euer Bericht ist mittlerweile öffentlich zugänglich und umfasst über 300 Seiten. Was sind für euch die wichtigsten Erkenntnisse? +Muna: Für uns war es wichtig zu zeigen, dass Rassismus kein persönliches,sondern ein strukturelles Problem ist.Und dass es Rassismus speziell gegen Schwarze Menschen gibt. Das hat der Afrozensus nun in vielen unterschiedlichen Lebensbereichen sichtbar gemacht. Besonders stark finde ich, dass diese Daten Schwarzen Menschen helfen können, ihre Erfahrungen als geteilte Erfahrungen wahrzunehmen. +Teresa: Eine wichtige Erkenntnis war auch, dass es unter den Befragten zwar viele Gemeinsamkeiten gibt – zum Beispiel haben viele angegeben, dass sie häufig aufgrund ihres Aussehens oder ihrer Herkunft sexualisiert oder kriminalisiert werden –, aber trotzdem können Schwarze Lebensrealitäten sehr unterschiedlich sein. Auch innerhalb der Schwarzen Communitys gibt es bestimmte Gruppen, die besonders marginalisiert oder vulnerabel sind, wie Trans- oder nichtbinäre Menschen, Menschen mit Fluchterfahrung oder auch Menschen mit Beeinträchtigung. +Hat euch etwas an den Ergebnissen überrascht? +Muna: Positiv überrascht hat mich, wie viel Kraft und Expertise Schwarze Menschen oft aufbringen, um ihre Situation zu analysieren und Strategien zu entwickeln, mit der Diskriminierung umzugehen. +Teresa: Interessant war auch, dass es vor allem im Gesundheitswesen großen Handlungsbedarf gibt. Viele Schwarze Menschen müssen sich täglich mit Rassismus und Diskriminierung auseinandersetzen, das kann sich auch auf die psychische und körperliche Gesundheit auswirken. Dieses Thema sollte besser evaluiert und aufgearbeitet werden. + + +Was passiert jetzt mit euren Ergebnissen? +Muna: Zum einen sollen sie die Schwarzen Communitys stärken und es ihnen ermöglichen, auf dieser Grundlage selbst weiterzuarbeiten. Zum anderen sollen die Ergebnisse bei Politik und Verwaltung strukturelle und institutionelle Veränderungen anregen. Sei es auf dem Wohnungsmarkt, in der Bildung oder im Gesundheitsbereich. + +Welche konkreten Forderungen habt ihr an die Politik? +Muna: Am Ende unseres Berichts gibt es eine detaillierte Aufzählung von Forderungen und Handlungsempfehlungen. Ein zentraler Punkt ist, dass anti-Schwarzer Rassismus als spezifische Form von Rassismus anerkannt und adressiert werden sollte. Aktuell werden die Bedürfnisse von Schwarzen Menschen häufig nicht wahrgenommen oder allgemein dem Aspekt "Migrationshintergrund" untergeordnet. Die Befragten selbst haben häufig angegeben, dass Schwarze Personen auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu wenig repräsentiert sind und dass es an professionellemUmgang mit Rassismusfehlt. Dazu gehören zum Beispiel auch unabhängige Beschwerdestellen. +Teresa: Wir haben die Datengrundlage geliefert, die immer von uns gefordert wurde. Jetzt liegt es an Politik und Verwaltung, die Ergebnisse zu nehmen, um auf Landes- und Bundesebene gegen anti-Schwarzen Rassismus vorzugehen. +Ihr habt circa zweieinhalb Jahre an dem Projekt gearbeitet. Hat der Afrozensus eure Arbeit oder euren Blick auf das Thema verändert? +Muna: Es ist wahrscheinlich noch zu früh, um das zu beantworten. Auf jeden Fall habe ich mehr über die Vielfalt der Schwarzen Communitys gelernt und ein tieferes Verständnis für anti-Schwarzen Rassismusentwickelt. Für mich war die Arbeit am Afrozensus aber auch sehr intensiv und kräftezehrend. +Teresa: Dem kann ich mich nur anschließen. Es war ein emotionaler Prozess. Jetzt müssen wir erst mal durchatmen und alles verarbeiten. + diff --git a/fluter/aggro-bangkok.txt b/fluter/aggro-bangkok.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f3f09078f05464a0b32adb81be743e0d44c05d76 --- /dev/null +++ b/fluter/aggro-bangkok.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Sinkan wohnt nun in Bangkok, neben einem jungen Paar, An und Bum. Zusammen haben sie sich für umgerechnet 20 Euro im Monat ein etwa zehn Quadratmeter großes Zimmer in einem zweistöckigen, einfachen Holzhaus gemietet. An ist 25 Jahre alt, er hat kurze, zur Seite gekämmte schwarze Haare. Er trägt frische Bermuda-Shorts, ein T-Shirt, darüber einen Sportsweater – und dazu tiefrot unterlaufene Augen. "Vor drei Jahren habe ich zum ersten Mal Yaba geraucht", sagt er, und: "Yaba macht gute Laune. Danach kann man gut ausgehen, es macht Spaß. Wenn ich wollte, könnte ich damit aufhören." +Yaba-Nutzer beschreiben die unmittelbare Wirkung als stark euphorisierend: Die Droge bringt das Gehirn dazu, riesige Mengen an Dopamin, also Glückshormonen, auszustoßen. Doch auf jeden Höhenflug folgt ein schwerer Absturz. Die Droge richtet Schäden im Gehirn an, viele Konsumenten bekommen Aggressionsschübe und entwickeln Wahnvorstellungen, die manchmal nie wieder weggehen. Und alle leiden nach dem Abklingen des Rauschs unter – zum Teil schweren – Depressionen. +Dabei kommen die Konsumenten von Yaba aus der Mitte von Thailands Gesellschaft, denn für die Ärmsten sind selbst drei Euro zu viel. Es sind Lehrer, Fabrikarbeiter, Soldaten, Leute, die kleine Geschäfte haben. Die Pillen, die sie nehmen, kommen bereits seit den 1970er Jahren aus dem benachbarten Birma (dem heutigen Myanmar) nach Thailand. Einige Rebellengruppen in Nord- und Ostbirma stellten die Droge millionenfach in Drogenlabors her und finanzieren damit bis heute ihren Krieg gegen die dortige Militärdiktatur – aber auch von Myanmars Junta unterstützte Milizen sind in dieses Geschäft eingestiegen. Für Thailands Gesellschaft, wo sich viele Menschen bis heute mit schlecht bezahlten Jobs durchschlagen müssen und permanent von Existenzängsten gequält werden, war Yaba genau die richtige Droge, um dem tristen Alltag zu entfliehen. Auch An und Bum, die beide aus dem Norden des Landes nach Bangkok gekommen sind, müssen ständig zusehen, wie sie die Miete und ihr Essen verdienen. Zurzeit helfen sie Ans Mutter dabei, "süßes Schweinefleisch" herzustellen. Sie kochen es morgens in einer kleinen Garküche im Haus und verkaufen es an Händler auf einem nahe gelegenen Markt. +Bum ist nicht sehr überzeugt davon, dass ihr Freund seinen Drogenkonsum im Griff hat. "Also mich macht er schon oft sauer, wenn er sein Zeug geraucht hat", sagt sie. "Denn auf der Droge ist er schon manchmal anders. Manchmal brüllt er mich ohne Grund an." Beide kennen Menschen, deren ganzes Leben sich nur noch um die Droge dreht. "Manche haben auch Frauen und Kinder. Einige kümmern sich noch um die, aber andere kümmern sich um gar nichts mehr. Und legen auch auf ihr Äußeres keinen Wert mehr." Manche landen auch für Jahre im Gefäng- nis – je nachdem, wie viele Pillen in ihren Taschen gefunden wurden. "Wenn die dich mit dem Zeug erwischen und du kannst denen nicht an Ort und Stelle 250 Euro oder mehr geben, dann nehmen sie dich fest", sagt An, der schon die meiste Zeit daran denkt, dass er gerne die nächste Pille rauchen würde. "Wenn ich mehr Geld hätte, dann würde ich jeden Tag rauchen, obwohl ich manchmal das Gefühl habe, dass ich mich nicht an Sachen erinnern kann. Und dass mein Gesicht einfällt." +Ans persönlicher Abstieg vollzieht sich in dem südostasiatischen Land Millionen Male, Anfang des Jahrtausends drohte die Billigdroge das Land regelrecht zu destabilisieren. Daher rief der damalige Premierminister Thaksin Shinawatra 2003 den Antidrogenkrieg aus. Überall im Land begannen Todesschwadrone von Polizei und Armee Jagd auf vermeintliche Drogendealer zu machen. Binnen weniger Monate wurden Zigtausende von ihnen festgenommen, geschätzte 2.500 starben. Menschenrechtsgruppen kritisieren bis heute die schweren Menschenrechtsverstöße aus dieser Zeit, in der viele Unbeteiligte getötet worden sind. Auf dem Drogenmarkt zeigte diese Radikallösung jedoch Wirkung. "Nach dem Drogenkrieg hat es in unserer Gegend drei Jahre lang praktisch gar keine Yaba-Pillen mehr gegeben", erzählt Sinkan. Bis heute seien sie schwieriger zu beschaffen und kosten zudem erheblich mehr. 200 Euro verdienen An und Bum im Monat, ein Drittel davon gibt An für Yaba aus. Daher wird es schwer für die beiden, sich ihren Traum zu erfüllen – ein kleines Haus im Norden des Landes, fern der Hektik von Bangkok. "Da möchte ich eigentlich hin", sagt An. "Aber dafür wäre es eigentlich besser, ich hätte nie damit angefangen, Yaba zu rauchen." diff --git a/fluter/ahnenkult-der-kubanischen-santeria-religion.txt b/fluter/ahnenkult-der-kubanischen-santeria-religion.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..55d452ed9df13304d0ac167a04e35fa328fd7cb1 --- /dev/null +++ b/fluter/ahnenkult-der-kubanischen-santeria-religion.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +In der Religion der Yoruba aus Nigeria und Benin waren die heiligen orishas einmal echte Menschen. Sie waren nicht unfehlbar, ganz im Gegenteil: Sie haben geschimpft, gefeiert, geraucht, waren eifersüchtig, eitel und voller Sehnsüchte. Nach ihrem Tod wurden sie zu Geistern, die sich immer wieder einen menschlichen Körper suchen, um dadurch zu den Lebenden zu sprechen. +Vor kleinen Altaren zeigt man seinen Respekt gegenüber den Göttern +In der Santería wird jeder Mensch durch diese Heiligen und durch die eigenen Ahnen geleitet. Man ist kein abgetrenntes Ich, sondern besteht auch immer aus den Vorfahren und den Geistern der Santería. Wen diese Geister aufsuchen, um sich mit dem Diesseits zu verbinden, bestimmen die Menschen nicht selbst. Es ist eine angeborene Gabe. Die Auserwählten erteilen den anderen wichtige Ratschläge und warnen vor Gefahren. Den Menschen auf Kuba gefällt der Gedanke, dass sie von jahrtausendealten Erfahrungen lernen. Die Zeremonien bestehen aus ununterbrochenem Trommeln und gemeinsamem Gesang und Tanz, Zigarren werden geraucht, Rum wird getrunken und sich damit angespuckt, um die Götter gnädig zu stimmen. Manchmal werden Tiere geopfert, dann riecht es nach Blut und Exkrementen, dazu mischt sich süßes Parfüm und Blumenduft. Ist ein Mensch einmal von einem orisha besessen, muss ein Priester (santero/santera) oder Hohepriester (babalawo) die Botschaften entschlüsseln und mitteilen. Dafür werden sie in ihrer Ausbildung von einem padrino oder einer madrina, einer Art Pate, angeleitet, der sie in das gesammelte Wissen und die Geheimnisse einweiht. Denn es gibt keine Bücher, die über falsch und richtig der Santería-Deutungen entscheiden. +Je älter ein Mensch ist, desto höher ist er in der Santería angesehen. Die Jungen gelten als ungestüm und müssen gelenkt werden. Das Konzept der Einheit von Vater, Mutter und Kind ist auf Kuba nicht so bestimmend, viel mehr zählt die große Gemeinschaft. So kommen zu den Ritualen zuweilen Hunderte Menschen jeden Alters. Denn die Religion ist wie auch der Alltag ein Gemeinschaftsprojekt. +In fast jedem Haus auf Kuba steht zumindest eine geweihte Opferschale am Eingang. Denn die Macht der Santería beruht auch immer ein Stück weit auf der Angst, die Geister gegen sich aufzubringen. Zuweilen haben die Priester einen so großen Einfluss auf die Ratsuchenden, dass manche keine größere Entscheidung im Alltag mehr treffen, ohne vorher die Ahnen zu befragen. Einen Tag ohne den Einfluss der Ahnen gibt es für viele auf Kuba nicht. +Die katholische Kirche hält bis heute nicht viel von den mystischen Praktiken. Nach jahrhundertelanger Unterdrückung des Glaubens war es dann ausgerechnet der kommunistische Staatschef Fidel Castro, der die Santería befreite. Am 8. Januar 1959 hielt er eine Rede, um die gelungene Revolution zu feiern. Dabei setzte sich eine weiße Taube auf seine Schulter. Genau 30 Jahre später, am selben Ort, wiederholte sich das Ereignis. Für viele Gläubige ein Wunder. Das Tier ist eines der wichtigsten Symbole der Santería, und Castro galt unter den Gläubigen seitdem als auserwählt. Er wiederum wusste um die Macht der Santería. Der Durchbruch gelang dem Ahnenkult jedoch erst 1992 – seit diesem Jahr gilt Religionsfreiheit auf Kuba. +Santería ist nun die inoffizielle Hauptreligion, die alles in sich vereint: Sozialismus, alle Hautfarben, katholische Bräuche, medizinisches Wissen – und inzwischen auch Tourismus. So sind die Santería-Rituale neben dem obligatorischen Besuch einer Zigarrenfabrik und den Rum- und Rumba-Partys ein beliebter Programmpunkt von Kuba-Reisenden geworden. Je nach Geldbeutel variiert die Intensität einer Zeremonie – je mehr Wirbel, desto teurer. Für die oft am Existenzminimum lebenden Kubaner ist das ein gutes Geschäft geworden, auch der Verkauf von spirituellen Utensilien wie der omiero-Kräutermischung auf den Märkten in Havanna läuft gut. +So tragen die Ahnen nun auch noch ihren Teil dazu bei, dass Kubas Ökonomie nach Jahrzehnten des Sozialismus ein wenig vorankommt. + +Fotos: In Pictures Ltd./Corbis via Getty Images diff --git a/fluter/ahrtal-flut-wiederaufbau.txt b/fluter/ahrtal-flut-wiederaufbau.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7b8f668396a646603e35870421afcfbb8e366d5b --- /dev/null +++ b/fluter/ahrtal-flut-wiederaufbau.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Szenen aus dem Juli 2021, die nicht nur die Menschen im Ahrtal, sondern in ganz Deutschland erschüttert haben. Innerhalb von 24 Stunden fielen vom 14. auf den 15. Juli 2021 regionalmehr als 100 Liter Regen pro Quadratmeter. Eine Wassermenge, die vielerorts nicht schnell genug versickern konnte. Der Pegel der Ahr stieg stellenweise auf über fünf Meter – zum Vergleich: beim Jahrhunderthochwasser von 2016 erreichte er knapp mehr als 3,7 Meter. +Menschen wurden von der Flut mitgerissen oder ertranken in ihren Häusern, Straßenzüge wurden verwüstet.134 Tote, mehr als 750 Verletzte, rund 17.000 Betroffene, die ihr Hab und Gut verloren haben. Etwa 70 Prozent der Gebäude entlang der Ahr sollenSchätzungen zufolgebeschädigt worden sein. Auch in Nordrhein-Westfalen starben durch starke Überschwemmungen 49 Menschen, mit 180 Städten und Gemeinden war fast die Hälfte der dortigen Kommunen betroffen. +Und doch kehrte an der Ahr ein Alltag zurück. Eine neue Realität, mit der die Menschen heute leben. +Am Tag direkt nach der Flut sollte Notfallsanitäterin Kristina Esser Erkundungstouren machen. Die heute 30-Jährige ist im Landkreis Ahrweiler aufgewachsen, hat hier ihre Ausbildung gemacht. Sie kennt die Straßen rund um die Ahr. Eine davon hat es besonders stark getroffen: Die Flut hat einen Teil der B 266 bei Heimersheim mitgerissen. Sie war vierspurig, es blieben zwei Spuren – bis heute ist das so. "Da fehlt halt einfach die Hälfte der Straße", sagt Esser. "Das ist jetzt Normalität." +Eine Normalität, an die sich Esser nur schwer gewöhnen kann. Einige Orte, die die Flut zerstört hat, meidet sie bis heute. Ihre Joggingstrecke an der Ahr zum Beispiel: "Ich war da seit anderthalb Jahren nicht laufen." +Der Wiederaufbau im Ahrtal geht voran, aber langsam. Etliche Gebäude sind in Gerüste gekleidet, manche noch immer unbewohnbar. Die Betroffenen beklagen, es fehle an Handwerkern, Baumaterial, Planern und Ingenieuren. +Die Kommunen kommen kaum hinterher mit den Anträgen für den Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur. Teils warten Betroffene monatelang auf finanzielle Hilfen vom Staat. 30 Milliarden Euro haben Bundes- und Landesregierung für den Wiederaufbau in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen bereitgestellt. Das größte Hilfspaket nach einer Flut in Deutschland. Geld, mit dem sich neue Häuser und Straßen bauen lassen. Aber wie es war, wird es nie wieder sein. Auch weil beim Wiederaufbau darüber nachgedacht wird, wie solche Katastrophen künftig verhindert werden können. +Die zwei zerstörten Fahrspuren der Bundestraße 266 bei Heimersheim sollen beispielsweise nicht wieder aufgebaut werden. Bauingenieur Robert Füllmann, der aus dem Nachbarort kommt, hat für den Vorschlag zusammen mit Mitbürgern eine Arbeitsgruppe gegründet. Die Stadträte von Bad Neuenahr-Ahrweiler konnten sie bereits überzeugen, der Ahr zwischen Heimersheim und Heppingen mehr Platz einzuräumen. Dann könnte sie bei einer erneuten Flut deutlich schneller abfließen. "Die sind alle einstimmig dafür", sagt Füllmann. Jetzt gehe es darum, die Landesverkehrsplaner zu erreichen. Keine leichte Aufgabe, meint der Bauingenieur. Deren Priorität sei hauptsächlich eine gute Anbindung und Vernetzung. Dabei wäre dieses Projekt eine ganz konkrete Möglichkeit, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, um sich andas veränderte Klimaanzupassen. +"Vieles, was man in Erinnerung hat, ist kaputt, ist einfach weg", sagt der mittlerweile 21-jährige Nils Arzdorf, der in Bad Bodendorf aufgewachsen ist. Er vermisst sein Freibad. Das im Grünen gelegene Thermalbad, unweit von dem Wohnkomplex, auf dem er damals mit seinen Kollegen kauerte, ist komplett zerstört. "Da bin ich oft mit meinen Freunden gewesen." Diesen Sommer blieb es zu. Erst war unklar, ob es jemals wieder aufmacht. Nun hat aber die Stadt Sinzig die Sanierung beschlossen. Mit dem Fußballplatz ging es wesentlich schneller: Der war bereits nach wenigen Monaten wieder spielbereit. Darüber ist Arzdorf froh. Orte, an denen man sich trifft, Freunde wiedersieht, sind ihm seit der Flut noch wichtiger. +Viele Menschen wurden in der Flutnacht nicht rechtzeitig gewarnt. Zwar war Feuerwehrmann Nils Arzdorf mit Kollegen am Nachmittag vor der Flut mit Lautsprecherwagen ausgerückt, um die Anwohner über das angekündigte Hochwasser zu informieren. Nicht alle hat die Botschaft erreicht. +Damit hat die Ahr-Flut Schwachstellen offenbart. Katastrophenschutz und Warnsysteme in Deutschland müssen verbessert werden, solche Naturkatastrophenwird es wegen des Klimawandelshäufiger geben. Ein Anfang sind zumindest die neuen Sirenen im Kreis Ahrweiler, insgesamt 85 Anlagen sind dort auf Dächern und Masten angebracht worden. +Der fehlende Kontakt zu Angehörigen war in den ersten Tagen nach der Flut ein großes Problem: Das Mobilfunknetz war in weiten Teilen der Region zusammengebrochen, der Strom weg. "Man war froh, wenn man den Leuten mitteilen konnte, dass man noch lebt", sagt Kristina Esser. Eigentlich unvorstellbar für einemobilfunkverwöhnte Gesellschaft. "Wir ärgern uns über jedes Funkloch auf der Autobahn", sagt Esser. "Zu dem Zeitpunkt wussten wir nicht mal, ob manche Ortschaften überhaupt noch existieren." +Die Menschen im Ahrtal, sagt Nils Arzdorf, seien jetzt für kommende Unwetter sensibilisiert. Im Sommer 2021 seien alle "den Ereignissen hinterhergelaufen", sagt Notfallsanitäterin Kristina Esser. Für die Zukunft gelte deshalb auch: schneller reagieren. Angst vor einer erneuten Flutwelle haben die beiden nicht. + + +Am 14. Juli 2023 wurde eine Passage im Text korrigiert. Zuvor war fälschlicherweise von Talsperren im oberen Flusslauf der Ahr die Rede. diff --git a/fluter/aktien-handel-einsteiger-hype.txt b/fluter/aktien-handel-einsteiger-hype.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b7f5da4ec40e245ea0e3c9041af5f6e8dba553d4 --- /dev/null +++ b/fluter/aktien-handel-einsteiger-hype.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Für diesen kleinen Aktienboom gibt es mehrere Gründe: +1. Das niedrige Zinsniveau. +2. ETFs. +3. Onlinebanking und neue Apps. +Fangen wir vorne an. Ein klassischer deutscher Kleinsparerweg war lange das Festgeld. Man gibt seiner Bank z. B. für ein paar Jahre Geld und bekommt dafür ein wenig höhere Zinsen als sonst – je länger, desto mehr. Das Risiko geht dabei gegen null. Dummerweise sind die sogenannten Leitzinsen, an denen sich die Banken orientieren und die unter anderem von der Europäischen Zentralbank festgelegt werden, seit vielen Jahren sehr niedrig. Festgeld bringt daher fast nix mehr, die Leute suchen sich andere Anlageformen, je nach Geldbeutel. Immobilien, Rohstoffe wie Gold oder Öl, Kryptowährungen wie den Bitcoin. Und eben Aktien. +Die sind kurzfristig betrachtet ein recht riskantes Investment. Man kann seinen Einsatz in einem Jahr verdoppeln. Aber auch viel verlieren. Niemand kann genau vorhersehen, wie sich einzelne Unternehmen oder auch ganze Branchen entwickeln. Um dieses Risiko zu minimieren, gibt es Aktienfonds. Darin werden zahlreiche Aktien von verschiedenen Firmen, Branchen oder Ländern gesammelt. Verliert eine Aktie davon an Wert? Kein Problem. Der Rest federt das ab. +Doch bei Fonds muss man immer auch den Verwalter bezahlen. Hier kommen die ETFs (aus dem Englischen: Exchange Traded Funds) ins Spiel: ETFs stecken das Geld nicht in eine einzelne Aktie, sondern direkt in mehrere Aktien eines Index wie dem Dax – und brauchen viel weniger Betreuung, da vieles automatisiert abläuft. ETFs gibt es seit rund 30 Jahren, in den vergangenen Jahren sind sie aber noch mal deutlich populärer geworden. Auch für mich waren sie eine ideale Lösung: Neben meinem kleinen riskanten Impf-Investment war ich nämlich in der privilegierten Position, noch einiges an Erspartem zu besitzen, das ich schon länger anlegen wollte. Das investierte ich in verschiedene ETFs. +Außerdem machte ich einen Sparplan, durch den ich jetzt jeden Monat automatisch noch ein paar Anteile kaufe, was überhaupt für viele Menschen der normale Weg des Aktienkaufs ist: ein wenig Geld beiseitelegen, womöglich schon mit Blick auf die Altersvorsorge. +Können Hobbytrader wie unser Autor die Börse demokratisieren und so Vermögen umverteilen? Oder sollten wir die Börse lieber den Profis überlassen?Wir streiten +Das alles ist in den vergangenen Jahren deutlich leichter geworden, was viel mit dem Internet zu tun hat. Vor allem mit Social Media. Influencer auf YouTube, TikTok und Instagram haben Börsenthemen für sich entdeckt und ziehen damit viele junge Menschen an. Accounts wie "Finanzfluss" oder "Aktien mit Kopf" haben zum Teil mehrere Hunderttausend Follower. Aber auch sonst muss man nicht mehr in die Bankfiliale fahren oder extra mit einer Fondsgesellschaft sprechen. Fast alle Banken haben entsprechende Services in ihrem Onlineangebot. Und es geht sogar noch einfacher: Trading-Apps holen den Aktienhandel aufs Smartphone und dürften ein weiterer Grund dafür sein, warum besonders viele junge Leute neu dazugekommen sind. Zwei dieser Apps einzurichten kostete mich jeweils weniger als eine halbe Stunde: ein paar persönliche Daten angeben, anklicken, wie viel Vorerfahrung ich habe, ein Videotelefonat, bei dem ich meinen Ausweis in die Kamera halte, eine will immerhin noch meine Steuernummer wissen. Ein, zwei Tage später konnte ich loslegen. +Mit Aktien zu handeln ist nun so einfach, wie bei Tinder nach rechts zu wischen oder einen empörten Tweet zu schreiben. Und das birgt durchaus Gefahren: In den USA beging vergangenes Jahr ein 20-Jähriger Suizid, weil in der Trading-App für sein Konto ein Minus von 730.000 Dollar angezeigt wurde. Er hatte hochriskante Geschäfte getätigt und Geld eingesetzt, das er gar nicht besaß. Dass er dabei keineswegs so viel Verlust gemacht hatte, wie ihm angezeigt wurde, hatte er nicht durchschaut. +Je populärer Aktien werden, desto mehr werden sie zum Medienthema, was den Hype weiter anfacht. Ebenso die Gier. Ständig liest man von irgendeinem Wert, der sich seit Jahresbeginn vervielfacht hat, vom Bitcoin-Goldrausch, vom nächsten großen Aktiending. FoMO, die Fear of Missing Out, also die Angst, etwas zu verpassen, ist ein ständiger Begleiter auf dem Geldanlagemarkt. Hätte ich mal! Und würde ich doch!! Wenn der Kurs schon so weit gestiegen ist, dann sollte ich besser nicht mehr einsteigen. Oder erst recht? Und wann verkauft man seine Aktien eigentlich wieder? +Meine ETFs machen sich bisher gut. Einige von ihnen haben ihren Wert um mehr als 20 Prozent gesteigert. Klingt zu schön, zu einfach, um wahr zu sein? Das stimmt natürlich. Denn wenn alle das Gleiche wollen, steigt der Preis. Das gilt für Häuser, für Limited-Edition-Sneaker, für Gold und auch für Aktien, deren Wert mit dem realen Unternehmensgewinn mitunter nicht mehr viel zu tun hat. Kaufen alle weiter, gewinnen alle. Doch wehe, die Ersten steigen irgendwann aus. Dann fallen die Kurse, die Nächsten verkaufen, um ihre Gewinne zu retten, und so weiter. Die Blase platzt.Auf dem Aktienmarkt ist so ein Crash schon einige Male vorgekommen. Und auch heute halten einige die Börsen für überhitzt. Wenn irgendwann der Leitzins wieder steigt, könnten andere Anlageformen wieder interessanter werden. Zwar haben sich die Aktienkurse auf lange Sicht bisher immer wieder erholt. Doch für den Moment ist der Gewinn dahin – und man hat vielleicht sogar Geld verloren. Liest man Ratgeber zur Geldanlage, wird einem deswegen immer wieder gesagt, dass man sein Risiko streuen soll: nicht alles in dieselbe Aktie stecken. Generell nicht alles in Aktien stecken. Nur anlegen, was man nicht braucht. Und riskant anlegen nur das, was man nun wirklich gar nicht braucht. Wer den Kick will, zu spekulieren wie die Profis, sollte sich deshalb ein bisschen "Spielgeld" beiseitelegen. Und kann dann, so wie ich, auch mal Impfstoffhersteller-Aktien kaufen, ohne Ahnung davon zu haben. + +Titelbild: Ethan Miller/Getty Images diff --git a/fluter/alaska-back-to-russia.txt b/fluter/alaska-back-to-russia.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..314a38a51038abfce91beea302d7c93c4d0d172b --- /dev/null +++ b/fluter/alaska-back-to-russia.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Dieser Kauf war mit einem Preis von nur 4,74 Dollar pro Quadratkilometer einer der billigsten Landkäufe der Geschichte. Dennoch gab es in den USA eine Menge Gegner, die es nicht fassen konnten, dass der damalige US-Präsident Andrew Johnson ein riesiges "Eisbärengehege" erwarb. Doch der Kauf erwies sich als Glücksgriff: Nur wenige Jahrzehnte später wurde in Alaska Gold gefunden, am Klondike River setzte ein wahrer Goldrausch ein. Rund 70 Jahre später, 1968, entdeckte man zudem an der Polarmeerküste riesige Erdölfelder, die bis heute zum Wohlstand der USA beitragen. Kein Wunder also, dass es immer wieder russische Politiker gab, die den Verkauf Alaskas am liebsten rückgängig gemacht hätten. In den USA stellte man sich aber stets taub, wenn es um den Status der größten Exklave der Welt ging. +Natürlich hat auch die Petition "Alaska back to Russia" nichts daran geändert – obwohl sie durchaus auf Resonanz stieß. Nach drei Tagen hatten den Antrag schon 14.000 Personen unterschrieben, nach zwei Wochen 35.000. Beachtlich, denn Alaska hat nur 700.000 Einwohner. Allerdings wird 
eine Eingabe erst dann vom Weißen Haus beantwortet, wenn sie mindestens 100.000 Leute für sich gewinnt – und das innerhalb eines Monats. Und so scheiterte das Gesuch mit gut 42.000 Unterzeichnungen am Ende doch recht deutlich. Vielleicht hat der Urheber der Petition zu einem späteren Zeitpunkt mehr Erfolg mit seinem Anliegen: Irgendwann werden die Erdölquellen in Alaska erschöpft sein. diff --git a/fluter/alexandria-ocasio-cortez-gewinnt-vorwahlen-demokraten.txt b/fluter/alexandria-ocasio-cortez-gewinnt-vorwahlen-demokraten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9940dc123edd93b50d75b30f48fa923c3173a21d --- /dev/null +++ b/fluter/alexandria-ocasio-cortez-gewinnt-vorwahlen-demokraten.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Bei den Kongresswahlen gewannen die Demokraten die Mehrheit im Repräsentantenhaus, der Senat bleibt konservativ. Alle Ergebnisse im Überblickgibt es hier. +Mit 78,5 Prozent der Stimmen gewann die 29-jährige Alexandria Ocasio-Cortez ihren Wahlkreis in New York. Sie zieht damit als jüngste Abgeordnete der US-Geschichte ins Repräsentantenhaus ein. +Mindestens 112 Frauen werden demnächst im Kongress Entscheidungen treffen – so viel wie nie zuvor. Erstmals werden auch Muslima und Native Americans vertreten sein. +Bereits im Sommer porträtierten wir Ocasio-Cortez, kurz nachdem sie die Vorwahlen gewonnen hatte. +Ihre Ziele sind klar und kompromisslos links: Sie kämpft für eine staatliche Krankenversicherung, strengere Waffengesetze, gegen Studiengebühren und will die umstrittene Einwanderungsbehörde abschaffen. Genau die Behörde, die zuletzt für Aufregung gesorgt hatte, weil sie Kinder und Eltern an der mexikanischen Grenze bei der illegalen Einreise trennte. Alexandria Ocasio-Cortez hat puerto-ricanische Wurzeln, ihre Wahlplakate warben auf Spanisch und Englisch für sie. In der Bronx, ihrem Wahlbezirk, leben 50 Prozent Latinos, 70 Prozent sind "People of Color". Hier wurde auch sie 1989 geboren. Bis vor ein paar Monaten hat sie noch in der Cocktailbar ihrer Mutter gejobbt und als Sozialarbeiterin gearbeitet. Nun möchte sie sich auf großer Bühne für die "working class" einsetzen. Ein Wort, das nur wenige benutzen. +Wie Bernie Sanders, dem Ocasio-Cortez im Wahlkampf half, will sie die Politik unabhängig machen vom großen Geld aus der Wirtschaft. Deshalb hat sie als einzige Kandidatin der Repräsentantenhaus-Vorwahlen ihre Wahlkampagne zu 100 Prozent mit Privatspenden finanziert und so 300.000 Dollar eingesammelt. Davon wurden vor allem die Social-Media-Kanäle finanziert: Dort gab Ocasio-Cortez mehr Geld aus als ihr Kontrahent trotz deutlich kleinerem Budget. Im Straßenwahlkampf hingegen ging es eher familiär zu: Das Plakat entwarf eine Freundin, mit der sie früher kellnerte, das Büro war in einem Gebäude, in dem noch ein Tätowierer und eine Handleserin ihre Läden hatten. +Ocasio-Cortez selbst stellte sich an U-Bahn-Eingänge, klopfte mit ihren Helfern an mehr als 120.000 Türen, lud ihre Nachbarn zum Kaffeeklatsch. Dazu kamen Hunderttausende SMS, eine forsche Social-Media-Kampagne und ein Wahlwerbespot, der an einen Netflix-Trailer erinnert. +In ihrem New Yorker Wahlbezirk hatte sie mit ihrer Kampagne überraschend Erfolg: Sie setzte sich klar gegen ihren Konkurrenten Joe Crowley durch. Der ist doppelt so alt wie sie, hatte über zehnmal mehr Geld für den Wahlkampf zur Verfügung und sitzt seit 1999 im Washingtoner Abgeordnetenhaus. Er gilt also als politisches Schwergewicht und hatte berechtigte Hoffnungen, nach der Wahl die Fraktion der Demokraten anzuführen. Die Wahl ist insofern bedeutsam, als das Repräsentantenhaus eine wichtige Rolle bei der Gesetzgebung einnimmt undgegenüber dem US-Präsidenten eine Kontrollfunktionausübt. Die Demokraten hoffen, dort die Mehrheit zurückzugewinnen. Da in der Bronx, in der Ocasio-Cortez antritt, stets eine große Mehrheit für die Demokraten stimmt, gilt ihr Einzug als sicher. +Die drei Mitglieder der Führungsriege im Repräsentantenhaus sind allesamt über 75 Jahre alt. Dafür, dass sich die Demokraten traditionell als Partei der jungen Menschen sehen, ist das Durchschnittsalter sehr hoch. Ocasio-Cortez wäre die jüngste Abgeordnete aller Zeiten. Sie spricht eine wichtige Wählergruppe an, denn die Wählerschaft der Demokraten ist in den letzten Jahren zunehmend weiblicher und hispanischer geworden. +Die Begeisterung geht bei manchen so weit, dass sie ihren Lebenslauf mit dem des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama vergleichen: Beide verkörpern nicht nur das weiße Amerika, sondern das der Minderheiten. Sie haben sich auf lokaler Ebene als Sozialarbeiter und Aktivisten eingesetzt, bevor sie als Kandidaten für den Einzug ins Repräsentantenhaus gewählt wurden. +Für viele vom linken Flügel der Demokraten gilt Ocasio-Cortez als Hoffnungsträgerin – das Parteiestablishment bleibt gelassen: Nancy Pelosi, Vorsitzende der Demokraten im Repräsentantenhaus, meinte, man solle Ocasio-Cortez' Sieg nicht überbewerten. Ocasio-Cortez' Ansichten sind in der Partei im Moment eher nicht mehrheitsfähig. Dafür sind sie zu umstritten. Im Wahlkampf warf die Jungpolitikerin dem Staat Israel vor, ein "Massaker" an Palästinensern in Gaza verübt zu haben, und zog damit auch viel Kritik auf sich. +Der Sieg von Ocasio-Cortez ist kein Einzelfall. Bei den Vorwahlen der Demokraten sind Frauen auf dem Vormarsch. Fast genau die Hälfte aller Kandidaten für die Wahlen im Herbst sind weiblich – und noch wichtiger: Wenn eine Frau antrat, gewann sie in 71 Prozent der Fälle. + +Titelbild: DAVID DEE DELGADO/NYT/Redux/laif diff --git a/fluter/algen-klimawandel-ernaehrung.txt b/fluter/algen-klimawandel-ernaehrung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/algorithmen-KI-diskriminierungen.txt b/fluter/algorithmen-KI-diskriminierungen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b28455da87c820f267f712768392c194c3a701f9 --- /dev/null +++ b/fluter/algorithmen-KI-diskriminierungen.txt @@ -0,0 +1,16 @@ + +Einen sogenannten Data Bias merkten auch viele Frauen, die sich mit der beliebten App "Lensa" Avatare generieren lassen wollten – undungewollt Softnudes von sich erhielten. Auf Grundlage von eigenen Fotos erstellt eine KI digitale Porträts und verwandelt die Nutzer:innen in magische Avatare. Für Männer generierte die Software in der Regel Avatare, in denen sie als Astronauten in ferne Galaxien schauen oder als wackere Elfenkrieger die Schwerter wetzen. Die Avatare für Frauen waren eher selten so heroisch, sondern leicht oder gar nicht bekleidet. Bei vielen war die Brust deutlich vergrößert, und für Menschen, die von der KI als asiatisch gelesen wurden, zeigte Lensa sexualisierte Avatare im Anime-Stil. +Die Ursache für diese Resultate ist vermutlich der riesige Bilddatensatz LAION-5B, mit dem die KI trainiert wurde. Für diese Trainingsdaten wurde das Internet nach Bildern durchsucht, deswegen ist auch viel pornografisches Bildmaterial enthalten, was vermutlich die Ursache für die Resultate der Lensa-App ist. + + +Und jetzt? Drei Lösungsansätze gegen Diskriminierung durch KI +1Damit schon in die Programmierung der Algorithmen unterschiedliche Perspektiven einfließen, müssten Softwareunternehmen (mehr) darauf achten, diverse Entwicklerteams zu beschäftigen. +2Datensätze für das Training von KI können kuratiert werden. Dabei können Filter pornografische, gewaltvolle oder rassistische Inhalte aussortieren. Eine so gewissenhafte Filterung ist aber aufwendig – und dementsprechend teuer. Viele Firmen halten die konkreten Datensätze, mit denen sie arbeiten, geheim. Ein Ansatz wäre hier, sie zu Transparenz zu verpflichten. +3Viele fordern, dass der Einsatz von KI in sensiblen Bereichen wie der Gesundheitsversorgung stärker reguliert wird. Die EU hat kürzlicheinen ersten Gesetzentwurf (EU AI Act) vorgelegt, der Leitlinien für den Einsatz von KI formuliert. KI-basierte Systeme mit hohem Risiko sollen Auflagen unterliegen, während solche mit inakzeptabel hohem Risiko verboten werden sollen. So sollSocial Scoringnicht erlaubt sein, also die Bewertung des sozialen Verhaltens einer Person, um es vorauszusagen oder zu steuern. Auch der Einsatz von Gesichtserkennung durch Strafverfolgungsbehörden an öffentlichen Orten soll eingeschränkt werden. +Auch wer einen Kredit beantragt, kann von einer künstlichen Intelligenz beurteilt werden. Banken setzen seit Jahren Software ein, umdie Kreditwürdigkeit zu beurteilenund Zinssätze festzulegen.Eine Untersuchungvon Forschern aus Stanford und der University of Chicago zeigt, dass diese Berechnungen ungenauer ausfallen, wenn sich jemand aus einer Minderheit oder mit weniger Einkommen bewirbt. Für Menschen aus dem untersten Einkommensfünftel war das errechnete Risiko für einen Kreditausfall zum Beispiel zehn Prozent ungenauer als für alle anderen. Das liegt daran, dass für Menschen dieser Einkommensgruppe weniger Daten vorliegen, weil sie weniger Kredite aufnehmen und nur wenige oder keine Kreditkarten besitzen. Das kann zu fehlerhaften Kreditvergaben führen – sowohl bei Ablehnungen als auch bei Zusagen, zum Beispiel bei Hypothekenkrediten, bei denen man den Kredit mit einer Immobilie absichert. + +Wo jede Abweichung von der (statistischen) Norm eine Herausforderung ist, ist es für Menschen mit Behinderung besonders schwer. Viele von ihnen würden durch KI diskriminiert, beklagen Aktivist:innen. Das kann lebensgefährlich werden, zum Beispiel im Straßenverkehr: Selbstfahrende Autos machen Fortschritte, aber immer noch fällt es ihren Algorithmen schwer, Menschen mit körperlichen Behinderungen zu erkennen und ihre Bewegungen korrekt einzuordnen. Jutta Treviranus, eine Spezialistin für inklusive KI, hat simuliert, wie verschiedene Modelle das Bewegungsmuster einer Frau erkennen, die sich mit ihrem Rollstuhl rückwärts schiebt. Jedes Mal haben die selbstfahrenden Autos die Frau überfahren. + +Was liefert eine künstliche Intelligenz, wenn man sie bittet, romantische Bilder zu generieren? Rosen, Hochzeiten in Weiß und heterosexuelle Paare, bei denen der Mann größer ist als die Frau. Die Resultate bilden eine Gesellschaft ab, in der monogame Heterosexualität die Norm ist. Auch hier handelt es sich um ein Problem der Trainingsdaten. Die großen Bildermengen, mit denen die künstliche Intelligenz lernt, sind nicht ausgewogen. Da viele Bilder in den Datensätzen Heterosexualität abbilden, macht die bildgenerierende Software Queerness unsichtbar, andere Beziehungsmodelle und Lebensrealitäten verschwinden. +Doch viele Menschen aus der LGBTQ-Community sorgen sich noch aus einem anderen Grund: 2017 haben Forscher:innen in einer – allerdings umstrittenen – Studie eine Software mit Fotos von Menschen aus einer Dating-App gefüttert, damit die sie als homo- oder heterosexuell klassifiziert. Angeblich war die Trefferquote der KI deutlich höher als die menschlicher Proband:innen. Eine solche Entwicklung wäre in Ländern, in denen Homosexualität verfolgt wird, für viele Menschen gefährlich. Expert:innen und die LGBTQ-Community kritisieren die Entwicklung solcher Software daher massiv. + diff --git a/fluter/algorithmus-populismus-l%C3%BCgen-interview.txt b/fluter/algorithmus-populismus-l%C3%BCgen-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4abd283f54127b58a4257e56653fcb1a600cddba --- /dev/null +++ b/fluter/algorithmus-populismus-l%C3%BCgen-interview.txt @@ -0,0 +1,38 @@ +Welche sozialen und psychologischenBedürfnisse stecken hinter dem Konsum? +Die Sozialen Medien basieren auf grundsätzlichen Erkenntnissen über die menschliche Psychologie. Sie wurden nicht entwickelt, um uns einen Ruhepol mitzugeben, sondern um uns dauerhaft in Unsicherheit zu wiegen. Der ideale Kunde fürFacebook, Instagramoder YouTube ist ein zwanghafter Mensch, der nicht anders kann,als jeden Tag Hunderte von Male die Seite aufzurufen, um sich seine kleine Ration Glückshormone zu holen, von denen er abhängig geworden ist.Wie viele Likes habe ich bekommen? Diese Frage ist selbst für erwachsene Menschen entscheidend geworden. +Was passiert, wenn der Abstand zwischen der analogen und der digitalen Welt immer größer wird? +Das erzeugt Frust. Psychologen zufolge ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass wir auf zwei Arten von Webseiten landen, die diesem Frust noch mehr Nahrung geben:pornografische Seitenund Verschwörungsseiten. Der Verschwörungstheoretiker hat immer eine einfache Antwort. Er versteht die Genervten, kennt ihren Zorn und liefert gute Gründe dafür: Es ist nicht ihre Schuld, sondern die der anderen. +Verleiten uns also Algorithmen, extremere Inhalte zu schauen? +Sie sind so programmiert, dass viele Nutzer, dieauf YouTubezum Beispiel nach Informationen zum Sonnensystem suchen, Videos mit der Flat-Earth-Theorie vorgeschlagen bekommen. Wohingegen Nutzer, die sich über Gesundheitsthemen informieren möchten, schnell bei Impfgegnern und Verschwörungstheoretikern landen. Laut einer Studie des MIT ist die Verbreitung einer Falschinformation im Internet um 70 Prozent wahrscheinlicher als die Verbreitung einer richtigen Information. + + +Warum hat die Lüge diesen Vorsprung? +Weil sie meistens origineller ist und deswegen häufiger geklickt wird. Die Forscher haben herausgefunden, dass die Wahrheit sechsmal länger braucht, um 1.500 Personen zu erreichen. Wir haben also den wissenschaftlichen Beweis für Mark Twains geflügeltes Wort: Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, ehe sich die Wahrheit die Schuhe anzieht. +Donald Trump hat in seiner Amtszeit nachweislich Zehntausende Male die Unwahrheit gesagt. Trotzdem hielt fast die Hälfte der Wähler zu ihm. Was sagt das über die Wahrheit in der Politik? +Manche politische Organisationen haben die Logik der Internetplattformen übernommen. Sie kümmern sich nicht darum, was falsch oder wahr ist. Das Einzige, was sie interessiert, ist, die Menschen zu Wählern zu machen – auf Basis der Daten, die sie sammeln. Trump hat zudem gezeigt, dass Lügen und Fake News nicht aufhören, wenn man in einem wichtigen Amt ist. Im Gegenteil: Erst dann kann man die Lügen zu einer neuen Normalität machen. +Reden, aushandeln, Kompromisse finden: All das macht die Politik aus. Ist das für die an Schnelligkeit gewöhnten User zu langsam? +Durch das Internet sind wir gewöhnt, dass unsere Erwartungen und unsere Wünsche immer sofort erfüllt werden. Wir leben in ständiger Ungeduld. Google, Amazon und Co. haben uns sogar daran gewöhnt, dass unsere Wünsche erhört werden, noch bevor wir sie aussprechen. Warum sollte es in der Politik anders sein? +Ist Politik also mehr denn je Technologie? +Wenn Sie heute politisch erfolgreich sein wollen, dann benötigen Sie Experten, die Daten sammeln und analysieren können – zum Beispiel Physiker, die Sie sich im Rahmen einer individualisierten Kommunikationskampagne zunutze machen. Die Wissenschaft der Physiker ermöglicht es, mit widersprüchlichen Kampagnen Menschen anzusprechen, die sich unter normalen Umständen nie begegnen, und das bis zum Wahltag. +Oder bis sie alle zusammen auf einer Demo gegen die Corona-Maßnahmen stehen: Rechtsextreme, Friedensbewegte, Verschwörungsideologen, Rassisten, Esoteriker … +Der Philosoph Michel Foucault hat schon vor vier Jahrzehnten prophezeit, dass die kompakte Menschenmasse zugunsten der Vereinigung von einzelnen Individuen, die alle, jedes für sich, bis ins kleinste Detail nachvollzogen werden können, abgeschafft wird. In der neuen Welt wird die Politik zur Zentrifugalkraft. Es geht jetzt nicht mehr darum, Wähler um den kleinstmöglichen gemeinsamen Nenner zu vereinen, sondern darum, eine größtmögliche Anzahl von unterschiedlichen Gruppierungen anzusprechen mit unterschiedlichen Botschaften. Neben Trump ist der brasilianische Ministerpräsident Jair Bolsonaro ein gutes Beispiel. Es geht gar nicht um klassische Autorität, sondern darum, mit extremen, aufregenden Botschaften verschiedene Gruppen anzusprechen, die zusammen zur Mehrheit reichen. Ich nenne das Quantenpolitik. Und die ist voller Widersprüche: Milliardäre werden zu den Fahnenträgern des Zornes für die Benachteiligten. + +... denn nur die gefühlte Wahrheit scheint zu zählen + +Wie wichtig sind im Zeitalter der Quantenpolitik noch charismatische Politiker? +Sehr wichtig. Sie müssen als Fassade herhalten, die die Menschen fasziniert, während im Hintergrund die Vorlieben der Menschen erhoben werden. Man kann viel über Trump, Boris Johnson oder Bolsonaro sagen, aber langweilig sind sie nicht. Sie sind die absurden Personen, die das alles verkörpern. Ein noch besseres Beispiel ist Beppe Grillo, der Komiker, den sich die italienische Bewegung Cinque Stelle als Führungsfigur ausgesucht hatte. Cinque Stelle ist eine Schöpfung des IT-Unternehmers Davide Casaleggio, für den die alten Parteien Blockbuster waren und die neuen wie Netflix. Die politische Linie kann sich von Jahr zu Jahr ändern – und das politische Personal wird nach Unterhaltungswert gecastet. +Sind denn die Menschen nicht enttäuscht, wenn sie merken, dass es gar keine demokratische Bewegung ist, sondern alles von Algorithmen abhängt? +Im Falle von Cinque Stelle sind die Menschen eher enttäuscht, weil die Anti-Establishment-Partei jetzt an der Macht ist und sich dort verhält wie alle anderen. Da war Trump besser. Ihm ist es gelungen, als US-Präsident das Outsider-Image zu bewahren. Der Außenseiter, der es den Eliten zeigt. Ihm nützt es jedesmal, wenn Akademiker und Factchecker auf seine Lügen hin empört Artikel schreiben und tweeten. So zeigt er seinen Anhängern: Schaut, sie hassen mich, weil ich nicht wie sie bin. +Heißt das, dass er gar nicht in erster Linie Wahlversprechen halten musste? +Nationalistische Populisten halten ihre Versprechen nicht, wenn man sie beim Wort nimmt. Es ist aber auch egal, ob die Mauer zu Mexiko wirklich existiert. Denn das größte Versprechen der Populisten ist, dass sie das Establishment demütigen. Wenn die verhassten Eliten an Lügen Anstoß nehmen und die Ausdrucksweise vulgär finden, umso besser. Ob in Italien, in Trumps Vereinigten Staaten oder in Orbáns Ungarn: Eine Auswirkung dieser neuen Propaganda ist die Befreiung von den Konventionen des Anstands. Vorurteile, Rassismus und Sexismus kommen aus ihrer Deckung hervor. Lügen und Verschwörungen werden zu einer anerkannten Interpretationsform von Realität. Und das Ganze wird dann als Kampf gegen die Political Correctness und für die Redefreiheit dargestellt. +Sie schreiben in Ihrem Buch, dass der Populismus den Algorithmus heiratet und beide eine gefährliche politische Maschinerie gebären. Ganz schön dicke. +Ich bin der festen Überzeugung, dass es das trifft. Man kann auch sagen: Wut und Algorithmus gleich Chaos. +Klingt nicht so, als käme man mitFactchecking dagegen an … +Natürlich muss man Fakten prüfen, aber das ist nicht das Gegenmittel. Es geht nicht darum, ob etwas falsch oder wahr ist, die Frage ist, was die Menschen als Realität empfinden. Man kann ja mit den einzelnen Fakten richtigliegen, aber wenn sich das große Bild für viele Menschen falsch anfühlt, nützt es nichts. Es gibt viele Menschen, die sich als Verlierer der Globalisierung fühlen, obwohl ihnen jahrelang erzählt wurde, dass alle davon profitieren. Und sie fühlen sich von einer akademischen Klasse verachtet, deren Kampf für Minderheitenrechte sie als moralisch überheblich empfinden. Die Populisten erzählen zwar ständig Lügen, aber sie bieten eine Realität, die mit ihrem Erleben übereinstimmt. Das ist ihre Kraft. Die kann man nicht schlagen, indem man sagt: Das und das ist falsch. +Was kann man denn stattdessen machen? +Man muss dieselben Mittel nutzen.Der Erste, der die Sozialen Netzwerke effektiv für seine Politik eingesetzt hat, war Barack Obama. Stephen Bannon, der Mastermind hinter Trumps erster Kampagne, hat zu mir gesagt: Als Obama gewonnen hat, wart ihr froh über das Internet, jetzt beklagt ihr euch. Und er hat recht. In Neuseeland sieht man, dass man in den Sozialen Medien auch mit verantwortungsvoller Politik Erfolg haben kann. Die Leute hinter der Internetkampagne des kanadischen Premiers Justin Trudeau waren ebenfalls sehr effektiv. In der Schweiz gibt es die "Operation Libero", die sehr smart und effektiv Botschaften framt und für Rechtsstaatlichkeit steht. Wir sind noch am Anfang, aber das ist ein Gegenmittel. +Gibt es noch andere? +Es wird nicht ohne gesetzliche Regeln gehen – und da liegt alle Hoffnung auf der EU. Denn von den USA oder von China ist nichts zu erwarten. Auch in Bezug auf die Meinungsfreiheit gibt es Regeln, die von den Plattformen im Internet missachtet worden sind. Die EU plant ja gerade weitere Gesetze, um die Internetfirmen in die Pflicht zu nehmen, wenn sie Inhalte verbreiten, die zu Gewalt und Hass führen. Vielleicht sollte man auch personalisierte Werbung abschaffen – oder den Like-Button, der so viele unter Druck setzt. +Aber das ist doch genau das Geschäftsmodell der IT-Firmen. Das werden sie sich wohl kaum wegnehmen lassen. +Zunächst mal muss man aufhören, in den Plattformen Informationsunternehmen zu sehen.Es sind große Werbekonzerne, nichts anderes.Und deren Businessmodell muss man brechen, denn es ist offensichtlich zerstörerisch. Wenn die Firmen ihr mangelndes Verantwortungsbewusstsein Geld kostet, wenn sie also Strafen undSteuern vermeidenwollen, werden sie sich ändern müssen. Vielleicht erst mal in kleinen Schritten. So wie jetzt auf einmal auf Unbewiesenes in Tweets aufmerksam gemacht wird – oder man nicht mehr so leicht etwas retweeten kann, das man gar nicht gelesen hat. Die Firmen sind nicht plötzlich gut geworden, sie sind auch nicht böse. Sie haben Angst, Geld zu verlieren. +Giuliano da Empoli wurde 1973 in Paris geboren. Er studierte Politikwissenschaft und war stellvertretender Bürgermeister für Kultur in Florenz. Er leitet den Volta-Thinktank in Mailand, der sich für mehr Transparenz in der Politik und eine verantwortungsvolle politische Rhetorik einsetzt. Sein Buch "Ingenieure des Chaos" ist im Blessing Verlag erschienen. diff --git a/fluter/aljochina-pussy-riot-interview.txt b/fluter/aljochina-pussy-riot-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5c52dd2400384957d9ae2c21139d2f10d1523064 --- /dev/null +++ b/fluter/aljochina-pussy-riot-interview.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Die Debatte in Deutschland war in den vergangenen Wochen geprägt von zwei Lagern: die einen, die Waffenlieferungen fordern. Und die anderen, die zögern, auch aus Angst, dass der Krieg weiter eskaliert. +Ich habe von dieser sogenannten neuen Welle des Pazifismus in Deutschland gehört. Was zur Hölle? Leute sterben. Und nicht, weil zwei Seiten gegeneinander kämpfen. Das ist eine Invasion durch ein gigantisches Imperium mit Ressourcen und Geld aus dem Westen. Wenn jetzt nicht die Zeit ist, Waffen an die Ukraine zu schicken, wann dann? +Einige Menschen fürchten einen dritten Weltkrieg. +Können Sie diesen Leuten etwas ausrichten? In den 2000ern hat die russische Propaganda begonnen, eine Siegesschleife als das Hauptsymbol für "unseren großen Sieg 1945" zu benutzen (Aljochina sucht kurz auf ihrem Smartphone und zeigt ein Foto eines Sankt-Georgs-Bands). Das wird überall hingehängt am 9. Mai. Aber es wurde auch auf einer Pro-Putin-Demo in Berlin benutzt. Damit geht meistens ein Slogan einher: "на берлин." +Was heißt das übersetzt? +"Auf nach Berlin." Leute in Deutschland glauben vielleicht, dass dieser Krieg jetzt noch weit weg ist. Aber ein zweiter, sehr beliebter Slogan ist: "можем повторить", "Wir können es wieder tun". Einige Leute aus dem Team von Alexej Nawalny und einige Journalist*innen von Doschd, dem unabhängigen russischen TV-Sender (Anm.: Der Sendebetrieb wurde im März "vorläufig eingestellt"), übersetzen russische Propaganda ins Englische und zeigen damit: Es ist dumm zu glauben, dass Putin mit der Ukraine aufhören wird. + + +Weil Sie von Nawalny sprechen: Sehen Sie eine politische Zukunft für ihn in Russland? +Natürlich hat er eine Zukunft.Er kam zurück, nachdem er vergiftet wurde.Das war eine der heroischsten Gesten der modernen Geschichte. Aber wir können diesen heldenhaften Teil überspringen. Er hat ein fantastisches Team. Und dieses Team macht einzigartige und wichtige Arbeit – auch jetzt. Sie recherchieren und finden Besitztümer von russischen Oligarchen, Villen, Yachten, Bankkonten, und sie drängen westliche Politiker*innen dazu, zu handeln. +Wie sieht es mit der übrigen Opposition aus? +So viele Menschen sitzen gerade für ihre politischen Ideale im Gefängnis. Wir haben Tausende, wenn nicht sogar Millionen, die im Parlament sitzen könnten, auf dem Stuhl des Präsidenten, auf Ministerposten. Es ist nur so: Jedes Mal, wenn sie es versuchen, landen sie nicht im Ministerium, sondern im Gefängnis. +Wie steht es um kritische Künstler*innen? Gibt es noch Proteste innerhalb Russlands? +Proteste auf der Straße gibt es, soweit ich weiß, nicht – weil die Leute schon direkt in der Nähe ihrer Häuser festgenommen werden, auch wenn sie einfach nur etwas in Social Media gepostet haben. Aber es gibt Partisanenaktionen. Mehrere Rekrutierungszentren der Armee wurden angezündet. Es gibt auch ganz viele subtile Aktionen in den Straßen, Graffiti, Sticker. +In einem Interviewhaben Sie von der Autorin und Musikerin Sascha Skotschilenko erzählt. Sie hat in einem Supermarkt den PreisschildernTodeszahlen des Ukraine-Kriegshinzugefügt. Nun sitzt sie im Gefängnis. +Sascha ist Teil einer Initiative des feministischen Anti-Kriegs-Widerstands, eine Gruppe von jungen Frauen, die sich kurz nach Beginn des Krieges gegründet hat. Die Sache mit den Preisschildern war nur eine Aktion. Sie haben zum Beispiel selbst Friedhofskreuze gebaut und überall hingestellt, in Gärten, Innenhöfe, in den Wald, auf Felder, die Straßen. Und anstelle von Namen und Lebensdaten haben sie die Zahlen der Toten in der Ukraine draufgeschrieben: 5.000 Menschen in Mariupol gestorben. + + +Tun sich Akteur*innen auch zusammen? +Es gibt viele Initiativen, aber sie sind nicht zentral koordiniert. Es gibt kein Zentrum. Aber es gibt diese Menschen. Schauen Sie sich Juri Schewtschuk an, ein alter russischer Rockmusiker. Er hat kürzlich ein großes Konzert gegeben und auf der Bühne gesagt: "Das Mutterland ist nicht der Arsch des Präsidenten, der die ganze Zeit geküsst werden muss." Die Polizei hat backstage zwar schon auf ihn gewartet, aber das Publikum hat geschrien: "Fuck the war!" Ein paar Tage später dasselbe bei einem Konzert des feministischen Kollektivs Kis-Kis in St. Petersburg. +Protestkultur und Aktivismus haben sich im Westen mit einer jüngeren Generation sehrauf Social Media verlagert. Das wird manchmal jedoch als rein performative Solidaritätkritisiert. +Natürlich sind Straßenaktionen am besten. Aber jede Geste ist wichtig. Wenn du nicht bereit bist oder aus irgendeinem Grund nicht auf die Straße gehen kannst, dann poste! Das ist das Minimum. Jede Aktion ist wichtig. Seid nicht gleichgültig! Wir müssen weitermachen, damit unsere Stimmen nicht zum Hintergrundrauschen verkommen. Das wäre schrecklich. Weil die Ukraine dann den Krieg verlieren könnte. Und das wäre ein Albtraum. + +Maria Wladimirowna Aljochina wurde 1988 in Moskau geboren. Sie ist eine politische Aktivistin und Performancekünstlerin. Bekannt wurde sie als Mitglied der feministischen Punkband Pussy Riot. Nach deren berühmtester Putin-kritischen Protestaktion, dem"Punk Prayer"in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau 2012, wurde sie zu zwei Jahren Straflager verurteilt. Ihre Erlebnisse hat Aljochina in dem Buch "Riot Days" niedergeschrieben, das die Grundlage für die aktuellen Performances von Pussy Riot bildet. diff --git a/fluter/all-muell-weltraumschrott-interview.txt b/fluter/all-muell-weltraumschrott-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..62010eb0c5f446cac80433bb9f31621f6a9885e4 --- /dev/null +++ b/fluter/all-muell-weltraumschrott-interview.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Also schießen alle munter weiter Raketen und Satelliten ins All und damit auch potenziellen Müll? +So könnte man das sagen. Denn bisher gibt es zu dem Thema nur Richtlinien der Vereinten Nationen, also der UN, aber keinen ratifizierten Vertrag. Man kann also niemanden zur Rechenschaft ziehen. +Könnte man nicht einfach mit einer Art Roboter aufräumen oder mit einem Magnet Splitter einsammeln? +Das wäre schön, geht aber leider nicht. Ein Magnet kommt nicht infrage, weil fast keiner der Trümmer und Splitter magnetisch ist. Im Raketen- und Satellitenbau kommen hauptsächlich Kunststoffe und Aluminium zum Einsatz. Und ein solcher Roboter würde wohl nicht lange überleben, wenn man versuchen wollte, den Weltraumschrott wie mit einem Schneepflug wegzuräumen. Der Weltraumschrott kreist mit einer Geschwindigkeit von über sieben Kilometern pro Sekunde, das sind mehr als 25.000 Kilometer pro Stunde, und verwandelt sich gewissermaßen in ein Geschoss. Kommt dann mal ein größeres Teil angeschossen, durchbohrt oder zerfetzt es den Roboter, und es entstehen noch mehr Trümmer. Weil sich der Weltraumschrott so unkontrolliert vermehrt und es zu Kettenreaktionen kommen kann, ist der Müll im All so gefährlich. +Was können Unternehmen und Regierungen dann tun, um den Müll im All zu reduzieren? +Da gibt es mehrere Möglichkeiten, die etwa beim Bau von Satelliten für die deutsche Bundesregierung durch die DLR-Raumfahrtagentur bereits umgesetzt werden. Zum Beispiel können Satelliten am Ende ihrer Lebensdauer auf eine niedrigere Flugbahn gesteuert und dort abgeschaltet, wir sagen passiviert, werden. So treten sie nach spätestens 25 Jahren wieder in die Erdatmosphäre ein und verglühen. Der Müll verschwindet also. +Das ist doch eigentlich eine einfache Regel. Warum halten sich nicht alle daran? +Für Betreiber eines Satelliten ist es eine Abwägung, ob es sich lohnt, den Satelliten gemäß der Vermeidungsrichtlinien zu entsorgen oder ihn einfach länger zu betreiben, bis er den Geist aufgibt. Der Müll kostet ja erst mal nichts. Und es kommt auch vor, dass Satelliten einfach kaputtgehen oder nicht mehr erreichbar sind, bevor sie gezielt Richtung Erde gelenkt werden können. Große Fernsehsatelliten im sogenannten geostationären Erdorbit über dem Äquator werden aber immerhin auf eine "Friedhofsumlaufbahn" etwas weiter weg von der Erde gesteuert, sodass der Orbitbereich wieder frei wird. Dort kreisen sie dann zwar weiter als Müll, können aber zumindest keinen großen Schaden mehr anrichten. +Mittlerweile gibt es Start-ups, die als Weltraummüllabfuhr arbeiten wollen. Die Europäische Raumfahrtbehörde ESA kooperiert zum Beispiel mit dem Schweizer Start-up Clearspace. Könnten solche Projekte das Problem lösen? +Die ESA fördert solche Ideen und hegt große Hoffnungen. Geplant ist, dass eine Sonde sich mit so was wie Tentakelarmen einen kaputten Satelliten oder Raketenteile greift und die dann auf eine niedrigere Erdumlaufbahn befördert oder sogar damit abstürzt und verbrennt. Ob das so funktioniert, müssen die ESA und das Start-up aber erst noch unter Beweis stellen. Im Jahr 2025 soll ein Testlauf stattfinden. +Dann könnte es in ein paar Jahren also schon ordentlicher im Weltraum aussehen? +Ich habe da keine große Hoffnung. Denn selbst wenn der Testlauf glückt, gibt es rechtliche Probleme. Die meisten großen toten Satelliten gehören den USA oder Russland. Und die darf ein Start-up oder die ESA nicht einfach so abschleppen. Ich halte es auch für unwahrscheinlich, dass die Staaten die Kosten der Müllabfuhr zahlen würden. Ein anderes Problem ist, dass wir aktuell so viele Satelliten wie noch nie ins All schießen. Das US-Unternehmen SpaceX hat allein seit 2019 über 1.730 Starlink-Satelliten entsendet, um weltweit Internetzugang per Satellit zu ermöglichen. Früher oder später werden die ersten kaputtgehen und könnten damit ein weiteres Risiko für die noch funktionierenden darstellen. Wenn Start-ups wie Clearspace sich schlau anstellen, gehen sie also auf solche Unternehmen zu. +Und was müsste sich ändern, damit das All nachhaltig sauberer wird? +Am besten wäre es wohl, wenn es einen ratifizierten UN-Vertrag geben würde. Insellösungen von einzelnen Staaten sind zwar gut, bringen aber nichts Grundlegendes. Wir müssen das – ähnlich wie den Klimawandel – global angehen. + +Manuel Metz ist Astrophysiker, Mitarbeiter in der Raumfahrtagentur des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) und Co-Vorsitzender der Europäischen Konferenz über Weltraummüll. Sein Ziel: Unternehmen und Regierungen sollen ihren Müll aus dem All holen. +GIF: Renke Brandt diff --git a/fluter/all-that-breathes-brueder-interview.txt b/fluter/all-that-breathes-brueder-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b4d6b3dc4287cad1d7c9572470e70467a987ddbe --- /dev/null +++ b/fluter/all-that-breathes-brueder-interview.txt @@ -0,0 +1,42 @@ +fluter.de: Könnt ihr euch an den ersten verletzten Vogel erinnern, den ihr gefunden habt? +Nadeem:Das war Mitte der 90er-Jahre, wir sind noch zur Schule gegangen. Wir fanden einen verwundeten Schwarzmilan(Anm. d. Red.: Raubvögel, die überall über Delhi kreisen)am Straßenrand und brachten ihn zu einem Vogelkrankenhaus. Dort wollte man ihn nicht behandeln: Die Klink wird von Anhängern der Jain-Religion betrieben, die nicht mit Fleisch in Kontakt kommen wollen. Sie hätten den Schwarzmilan also gar nicht füttern können. +Was ist mit ihm passiert? +Nadeem:Wir versuchten es in anderen Kliniken. Aber alle lehnten den Vogel ab. Da haben wir ihn an den Ort zurückgebracht, wo wir ihn gefunden hatten. Uns blieb nichts anderes übrig. Über die Jahre fanden wir immer wieder solche Schwarzmilane. Erst 2003 haben wir die ersten mit nach Hause genommen. +Saud:Wir setzten sie in einen kleinen Käfig auf unserem Dach. Als es noch mehr wurden, fingen wir an, sie in unserem Keller zu behandeln. Irgendwann brachten uns auch Nachbarn und Fremde verwundete Vögel. Und die Dinge nahmen ihren Lauf. + + +Mit welchen Verletzungen kommen die Vögel? +Saud:Viele haben verletzte, manchmal sogar abgetrennte Flügel. Die Menschen in Indien vertreiben sich gern die Zeit mit dem Fliegenlassen von Papierdrachen. Die Fäden, an denen die Drachen befestigt sind, werdenmit Glaspulver beschichtet, um das Schneiden eines gegnerischen Drachens zu erleichtern. Wenn ein Vogel im Flug mit so einem Faden kollidiert, durchtrennt der ihm Muskeln, Sehnen, Haut und manchmal sogar die Knochen. Wir operieren diese Vögel, sodass sie wieder fliegen können. Dann gibt es, vor allem in der Brutzeit zwischen April und Juni, viele dehydrierte Jungvögel. +Die Sommer in Delhi werden aufgrund desKlimawandelsimmer heißer … +Saud:… und wir behandeln mehr und mehr Vögel. Im Winter, wenn die Luftverschmutzung in Delhi sehr hoch ist, haben die Vögel Atemprobleme. +Die Vögel leiden genauso unter dem Smog wie Menschen? +Saud:Alle Lebewesen in unserer Stadt leiden unter der schlechten Luft. Wir Menschen können uns im Haus noch ein wenig schützen. Die Vögel können es nicht. +Ihr seid keine Veterinärmediziner. Habt ihr euch selbst beigebracht, die Vögel medizinisch zu versorgen? +Saud:Als wir anfingen, hatten wir keine Ahnung, was wir taten. Wir schauten Videos. Ab und an kam ein Tierarzt und half uns. Es gab Fälle, in denen Vögel nach unserer Operation nicht mehr fliegen konnten. Das war schlimm, hat uns aber geholfen, unsere Behandlung zu verbessern. Heute sind wir sehr erfolgreich. Trotzdem überleben nur etwa 60 Prozent aller Vögel, die zu uns kommen. +Wie viele Vögel habt ihr behandelt? +Nadeem:Die ersten sieben Jahre waren es rund 500, also nicht viele. 2010 gründeten wirunsere Organisation "Wildlife Rescue". Mit den Spenden konnten wir ein Team mit fünf Mitarbeitern aufstellen und bis heute rund 27.000 Vögel behandeln. Es kommen ständig neue, sieben bis acht am Tag, in der Brutzeit bis zu 60. +Wer bringt sie euch? +Nadeem:Meist andere Tier- und Vogelkrankenhäuser. Viele Jains und Hindus lehnen Raubvögel ab, weil sie Fleisch fressen. In den Kliniken hat kaum einer eine Ahnung, wie man die Vögel versorgt. Das muss man aber: Bei Schnitt- und Wundfällen haben wir sie fast einen Monat hier, bevor wir die Vögel freilassen können. + + +Wie bringt ihr die Vögel unter? +Saud:In unserem Gehege auf dem Dach unseres Zuhauses. Das ist immer geöffnet, die Vögel können es verlassen und zurückkommen, wann sie wollen. Viele Jungvögel lernen bei uns erst das Fliegen. Sie brauchen zwei bis vier Monate, um sich in freier Wildbahn anzupassen, und kommen zwischendurch immer wieder zurück. Manchmal kommen Vögel, die wir bereits behandelt haben. Wir erkennen sie an ihren Operationsnarben. +Nadeem:Manche kamen auch zurück und starben. +Ihr rettet einen Vogel, der dann aus denselben Gründen, die ihn beim ersten Mal krank gemacht haben, wieder zurückkommt. Eine Sisyphosarbeit. +Nadeem:Wir können einen verletzten Vogel nur behandeln und ihn freilassen. Mehr können wir nicht tun. +Welche Verbindung habt ihr zu den Vögeln? +Nadeem:Vögel sind eine Schöpfung Gottes. Genau wie wir. Wenn du ihnen gnädig bist, ist Gott dir gnädig. Wir glauben, dass die Vögel auch Gefühle haben. Sie sind unterschätzt, Vögel sind sehr intelligent. Das versteht man, wenn man mit ihnen zusammenlebt. +Der Regisseur Shaunak Sen hat dieses Zusammenleben über drei Jahre begleitet. Wie war es, mit ihm zu arbeiten und von Kameras begleitet zu werden? +Nadeem:Da waren plötzlich immer mindestens drei Kameraleute, drei Tontechniker, ein Regieassistent und Shaunak um uns herum. Am Anfang waren wir sehr kamerascheu. Aber Shaunak sagte, sein Film beginne erst, wenn es uns nicht mehr peinlich sei vor der Kamera zu gähnen. Weil wir sie nicht mehr bemerken. Als er fertig war, waren wir alle sehr emotional. Er war nicht nur in der Vogelstation, sondern auch in unserem Zuhause immer dabei. Er ist ein Freund geworden. + + +Habt ihr"All That Breathes"schon gesehen? +Nadeem:Ja. Als gedreht wurde, dachten wir: Das wird der langweiligste Film der Welt. Aber er ist sehr anders als andere Filme. +Warum? +Nadeem:Es wird nicht viel erklärt. Man muss selbst nachdenken, sich fragen, was wir denken. Es ist, als würde der Zuschauer mit uns im Raum sitzen. +Wie würde sich euer Leben verändern, wenn "All That Breathes" einen Oscar gewinnt? +Nadeem:Es würde sich nichts ändern. Na gut, vielleicht wüssten mehr Leute von der Arbeit, die wir hier machen. +Saud:Wir werden nicht von der Regierung unterstützt, aber durch Spenden. Seit der Veröffentlichung haben viele Menschen gespendet. Unser Traum ist ein großes Vogelkrankenhaus mit einer Vogelforschungsstation – auf einem eigenen Grundstück außerhalb unseres Hauses. + +"All That Breathes" läuft aufHBO Max. + diff --git a/fluter/alla-turca.txt b/fluter/alla-turca.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2c6c3788d6bbcf7b12e0655bd6cc8c44f63582c2 --- /dev/null +++ b/fluter/alla-turca.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +GRUNDIG2004 übernahmen Beko Elektronik, Ableger des türkischen Industrieriesen Koc, und der britische Konzern Alba je zur Hälfte die Geschäfte des insolventen deutschen Traditionsunternehmens Grundig – einst Symbol für Aufschwung und Wirtschaftswunder made in BRD. Im Bereich der TV-Geräte produzierte sich Koc in kürzester Zeit auf Platz zwei in Europa, die Wiederbelebung der Marke Grundig ist gelungen. +JOGHURTMit Körpertemperatur Joghurt produzieren – eine wunderbare Entdeckung der Thraker, die vom 6. bis 4. Jahrhundert vor Christus auch in Kleinasien siedelten. Um den Gürtel sollen sie ein mit Milch gefülltes Lammfellsäckchen getragen haben. Körperwärme und die Mikroflora im Beutel sorgten für die Milchsäuregärung und damit für einen Ahn unseres heutigen Joghurts. Im 16. Jahrhundert verbreitete sich der Joghurt in Westeuropa: Ein türkischer Arzt soll die Magenschmerzen des französischen Königs Franz I. mit Joghurt gelindert haben. Der Begriff selbst stammt aus dem Thrakischen und bedeutet "dicker machen". Womit das Milchprodukt gemeint ist, nicht der Körperumfang des Verbrauchers. +TROMMEL & BECKENBei der Entwicklung der großen Trommel (davul), in der Schlagzeugszene heute besser als Bassdrum bekannt, gaben die Türken einst den Takt vor. Gleiches gilt für die Becken mit ihrem hallenden Zischklang, auch sie stammen aus Asien. Über die Janitscharenmusik gelangten diese Schlaginstrumente "alla turca" während der Türkenkriegeim16.Jahrhundertindiemitteleuropäischen Militärorchester. Doch nicht nur dorthin: Auch in der Klassik komponierte man perkussionsinspiriert, Mozart etwa Die Entführung aus dem Serail. +MAVI-JEANSKate Winslet hat eine, Juliette Lewis auch, Antonio Banderas schlüpft hinein und auch den Sugababes sollen sie ausge- zeichnet stehen: Mavi-Jeans. 1991 in Istanbul gegründet, verkauft das türkische Unternehmen heute pro Jahr mehr als sieben Millionen "perfect fitting jeans" in 50 Ländern. Damit gehört Mavi zu den weltweit führenden Jeansproduzenten, was vielleicht am "mediterranen Gefühl" liegt, das die Hosen laut Marken-Philosophie vermitteln sollen. Weniger einfallsreich als die Kreationen ist im Übrigen der Name: mavi bedeutet übersetzt ganz simpel "blau". +GELDAUTOMATKarte rein, Scheine raus, und das rund um die Uhr. Wie konnte die Welt je ohne Geldautomaten existieren? Ideengeber für die praktischen Maschinen war der aus derTür- kei stammende Armenier Luther George Simjian. Geboren und aufgewachsen in Südostanatolien, wanderte er in die USA aus und steckte dort im besten Wortsinne eine Menge Geld in seine Erfindung, eine automated teller machine. Die City Bank of New York nahm das Gerät, Baujahr 1939, testweise in Betrieb – mangels Nachfrage aber nur für sechs Monate.Erst in den Sechzigern wurde die Idee von anderen Tüftlern wieder aufgegriffen und weiterentwickelt. Und Simjian? Der bastelte fortan ferngesteuerte Frankiermaschinen und Teleprompter. +HASELNUSS +In Deutschland muss die Haselnuss für eine Menge herhalten. Für Volkslieder zum Beispiel oder als "Küsschen", zumindest wenn sie mit Nougatcreme und Schokolade umhüllt ist. Für die Germanen war die Hasel Symbol für Fruchtbarkeit und Zeugungskraft. Ursprünglich stammen die kleinen Kalorienschleudern mit durchschnittlich 61 Prozent Fettgehalt aus Eurasien. Heute kommen drei Viertel der Welthaselnussproduktion aus der Türkei, die Nuss von der Schwarzmeerküste wird in mehr als neunzig Länder exportiert. Stärkster Abnehmer ist Deutschland. diff --git a/fluter/allah-erdogan-und-die-todesstrafe.txt b/fluter/allah-erdogan-und-die-todesstrafe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a0a3f42e31ed705751f40567ffc8afbd78bb5955 --- /dev/null +++ b/fluter/allah-erdogan-und-die-todesstrafe.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Aus den Lautsprechern klingen die ewigen Hits der Nazigegner wie "Alerta Antifascista". Hier haben sich eine junge internationale linke Szene und einige Jungliberale versammelt – Flagge zeigen gegen die zunehmend autoritäre und religiöse Politik in der Türkei. Gleichzeitig protestieren sie gegen den Aufmarsch der rechten Splittergruppe Pro NRW, die wiederum gemeinsam mit Neonazis und Hooligans gegen die Tatsache hetzt, dass Türken und Deutsche mit türkischem Migrationshintergrund in Köln auf die Straße gehen. +Als am Rand des Heumarkts ein paar Erdoğan-Anhänger mit türkischen Fahnen auf die Straßenbahn warten, die sie auf die andere Rheinseite nach Deutz bringen soll, wo sie auf einem Kirmesgelände an der Kundgebung für den türkischen Präsidenten und seine Politik teilnehmen wollen, wird es kurz brenzlich, eine Rauchbombe fliegt in hohem Bogen auf die Gleise. Protestfolklore ohne Wirkung, die Polizei hat alles im Griff. +In Deutz zeigt sich ein anderes Bild. Laut Einschätzung der Kölner Polizei sollen bis zum Abend rund 40.000Menschen auf der Deutzer Werft zusammengekommen sein, um gegen den Putsch und für Recep Tayyip Erdoğan zu demonstrieren, der in der Präsidentschaftswahl 2014 gut die Hälfte der Türken hinter sich hatte. +Komplette Familien sind angereist, sie kommen aus ganz Deutschland und dem angrenzenden Ausland. Viele Organisationen und Vereine haben die Kundgebung unterstützt, zu der die UETD aufgerufen hatte, darunter der Dachverband von rund 900 Moscheegemeinden – die sogenannte Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion DITIB –, mehrere Verbände türkischer Unternehmer sowie Sportvereine wie Galatasaray. Die Kleidung der meisten ist festlich und hat mit dem Gammel-Look deutscher Demonstranten wenig zu tun. Viele der Frauen tragen Kopftücher, aber man sieht auch Miniröcke, offene Haare und Jeans. Die älteren Männer tragen oft Anzüge, die jüngeren kämen in jeden Club hinein. Aber es gibt auch Trachten zu sehen, den von Atatürk – dem ersten Präsidenten der Türkei – als Symbol der Rückständigkeit vor über 90 Jahren verbotenen Fez, einen topfartigen roten Hut, und verschlissene Armee-Uniformen, die von den Alten stolz getragen werden. Alle sind in Feierstimmung. Erdoğans Name und "Takbīr – Allāhu Akbar" und "Wir sind Deutschland" klingen über den Platz. Tausende türkische Fahnen wehen im Wind des eher kühlen und nassen Sommertages. Die Menge berauscht sich an ihrer Größe, es ist ein Fest der Selbstvergewisserung und des Stolzes. +Kritik an Erdoğan ist hier nicht zu hören. Die, die hier sind, wollen offenbar, was er ihnen bietet: Führung. "Wir halten zu unserem Präsidenten, egal was er macht", sagt Özlem Süngü, und so wie sie sehen es viele hier – daran lassen die vielen Transparente und Ausrufe keinen Zweifel. Erdoğan ist ihr Idol, der Mann, der die Türkei wieder groß gemacht hat. Wer ihn kritisiert, ist auch gegen sie. Nach der Verlesung der Namen der Opfer des Putsches fordert die Menge laut die Todesstrafe für die Putschisten. Die Rede von Martin Lejeune, der als radikaler Israelkritiker und Fürsprecher der Hamas bekannt ist, wird laut bejubelt. Lejeune beschuldigt die Deutschen, das türkische Volk zu besudeln. "Hört endlich auf mit eurer einseitigen und tendenziösen Berichterstattung gegen die Türkei, gegen das Volk der Türkei." +Sein Ton trifft die Stimmung bei vielen Teilnehmern, die in ihrem Misstrauen der Presse gegenüber an Pegida-Aufmärsche erinnert. Auch hier fällt das Wort "Lügenpresse", und mit der mag kaum einer reden. Doch im Gegensatz zu vielen Pegida-Demos bleibt diese hier friedlich. Jagd auf Oppositionelle, auf Anhänger des Predigers Fethullah Gülen oder Kurden und Aleviten wird nicht gemacht, sie sind hier auch nirgends zu sehen. Wer gegen Erdoğan war, demonstrierte in der Kölner Innenstadt. Deutz gehört in diesen Stunden Erdoğan und seinen Anhängern. diff --git a/fluter/allah-schickt-keine-freundschaftsanfragen.txt b/fluter/allah-schickt-keine-freundschaftsanfragen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5a890f654a68a7595c783e513555a3192c7ff08f --- /dev/null +++ b/fluter/allah-schickt-keine-freundschaftsanfragen.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Die beiden 17-Jährigen verbrachten viel Zeit miteinander. Sie diskutierten über den Koran und schickten sich gegenseitig YouTube-Videos deutscher Prediger wie andere Teenies Links zu Schmink-Tutorials. Eines Tages blieb Rebeccas Platz in der Klasse leer. Sie war in den Krieg gereist und schrieb ihrer Freundin einige Zeit später: "Silvia, meine Schwester, wir sind gut angekommen. Komm bald nach." +Auch wenn genaue Zahlen fehlen: In Deutschland gibt es viele junge Menschen, die sich für die islamistische Szene interessieren, sich wie Silvia aus Wiesbaden radikalisieren oder wie Rebecca in Richtung Syrien oder Irak aufbrechen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz zählte in den vergangenen vier Jahren 920 Personen, die Deutschland verlassen haben, um in den "Heiligen Krieg" zu ziehen. Der Großteil wurde in der Bundesrepublik als Kind muslimischer Eltern geboren, ein Achtel konvertierte erst später. Darunter sind auch junge Frauen: Jeder fünfte Ausreisende ist weiblich, die Hälfte von ihnen jünger als 25. +Die radikalen Islamisten werben damit, dass sie im sogenannten Kalifat von IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi endlich ihren Glauben uneingeschränkt ausleben können. Manche Jugendliche träumen auch davon, mit Maschinengewehren im Anschlag Abenteuer zu erleben. Andere davon, sich mit einem tapferen Muslim zu vermählen, viele kleine Kämpfer zu gebären und so am Aufbau des selbst ernannten Islamischen Staates mitzuhelfen, einem Ort ohne Kriminalität und Klassenunterschiede. Dass die Realität, die sie im "Islamischen Staat" erwartet, rein gar nichts mit diesem verklärten Bild gemein hat, bemerken viele erst, wenn es schon zu spät ist. +Auch Silvia sehnte sich immer mehr nach einem muslimischen Mann. Am besten einen dieser furchtlosen "Löwen", deren heroische Taten sie ständig online sah. Dass Silvias Vater ein halbes Jahr zuvor ganz plötzlich gestorben war, könnte auch etwas damit zu tun haben. Mit ihrer Mutter konnte Silvia über vieles nicht reden. Also schluckte sie ihren Schmerz hinunter und zog sich zurück – bis Rebecca kam. Sie tröstete Silvia und erzählte ihr vom Jenseits: "Das ist ein Ort, an dem du keinen Schmerz mehr fühlst, da gibt es kein Leid, keine Eifersucht, keinen Streit." In der salafistischen Szene nahm man Silvia warmherzig auf. + +Kleine Shoppingpause beim freundlichen Koranverteiler? Die Vereinigung "Die wahre Religion" alias "LIES! Stiftung" wurde vom Bundesminister des Innern wegen der Verbreitung verfassungsfeindlicher Ideologien verboten + +"Die Rekrutierer der Szene schauen sich die emotionalen Bedürfnisse der Jugendlichen genau an, und dann erfüllen sie eines nach dem anderen", sagt Thomas Mücke. Der 1958 in Neukölln geborene Berliner gründete zusammen mit anderen Pädagogen das "Violence Prevention Network". Anfängliches Ziel der NGO: beweisen, dass der Spruch "Einmal Nazi, immer Nazi" nicht stimmt. Die Dienstleistung, die es dafür brauchte, heißt "Deradikalisierung" und lässt sich, wie sich bald zeigte, auch auf andere Ideologien anwenden. Tatsächlich aber, so Mücke, spielen die Inhalte einer Ideologie bei der Rekrutierung von Jugendlichen gar keine so große Rolle: "Würde ein Punk oder irgendein Fanclub des Weges kommen und die Sorgen dieser Jugendlichen ernst nehmen, dann würden sie sich eben diesen anschließen." +Laut den deutschen Sicherheitsbehörden haben soziale Kontakte und Verbindungen zur islamistischen Szene den größten Einfluss auf die Radikalisierung von Jugendlichen. Bedeutend sind zum Beispiel die Koran-Verteilaktion "Lies!", vermeintliche Benefizveranstaltungen für die syrische Bevölkerung und Islamseminare. Besteht der Kontakt erst einmal, lässt die Szene so schnell nicht mehr von den Jugendlichen ab. Sie schickt regelmäßig Nachrichten, lädt zum gemeinsamen Essen oder Fußballspielen ein. +Auch das Internet trägt zur Radikalisierung bei. Zwar ist die Anzahl der Ausreisenden, die sich einzig über das Netz radikalisiert haben, mit drei Prozent verschwindend gering. "Gerade in der Anfangsphase und zur Stabilisierung spielt das Internet aber eine große Rolle", sagt Mücke. +Für die Kleinsten bringt die Terrororganisation bunte Apps heraus. Das mobile Spiel "Moalem Al-Huruf" (dt. "Lehrer der Buchstaben") bringt Kindern das Rechnen bei: Eine Machete plus eine Machete sind zwei Macheten. Die App "Huruf" (dt. "Buchstaben") vermittelt das arabische Alphabet: "G wie Gewehr". Und bei "Dua" (dt. "Bittgebete") kann man ausländische Kampfjets vom Himmel bomben. So erlernt man Feindbilder ganz spielerisch. +Für die Älteren produziert der IS aufwendige Filme. Videos von Enthauptungen sorgen regelmäßig für Publicity und Schrecken, andere zeichnen von den Kämpfern ein fast sinnliches Bild: in goldenes Licht getaucht und mit Sturmgewehr auf dem strammen Rücken. Manche – unter anderem auf Twitter gepostete – Bilder suggerieren wiederum eine heile Welt: Da wird die inoffizielle Hauptstadt Raqqa schon mal zum Paradies auf Erden. + +Wer es nicht so mit dem Lesen hat, kann sich auch mit vor Tiefenschärfe strotzenden Propaganda-Filmen radikalisieren. Kriegen besonders viele Views: Videos von Enthauptungen + +Auf Facebook laden Anwerber Jugendliche in geschlossene Gruppen ein. "In Deutschland ist kein Platz für euch", verbreiten sie, wenn auch subtiler formuliert, im Chor; auf ihren Profilen "I love Allah"-Schriftzüge. Weil Facebook und Twitter derzeit verstärkt gegen IS-Propaganda vorgehen, bauen die Dschihadisten, so Europol Anfang Mai, nun sogar ein eigenes Social-Media-Netzwerk auf. Auch abseits der großen Plattformen ist der IS aktiv: Es gibt Blogs, auf denen Mädchen über das gute Essen im Dschihad schwärmen und Rezepte für deutsch-syrische Spätzle und syrische Brownies veröffentlichen ("Schmecken tut er am besten bei hohen Verlusten seitens der Russen. Einfach mal ausprobieren"); E-Books, die den IS als Sozialstaat darstellen, der nicht nur für die Strom- und Wasserrechnung aufkommt, sondern auch alle Arztkosten übernimmt; und schließlich Dschihad-Guides, die Schritt für Schritt geeignete Routen erläutern, detaillierte Tipps fürs Packen geben (Solarladegeräte!) und sogar SIM-Karten empfehlen (Turkcell mit einem Gigabyte Datenvolumen). Auf gar keinen Fall sollte man die Hidschra antreten, wenn die "Eltern das Handy konfisziert" haben. +Und dann ist da noch eine Versprechung, die in der IS-Propaganda nur selten oder indirekt zu finden ist, aber viele Jugendliche anspricht: endlich nicht mehr zweifeln müssen, endlich alles richtig machen und auf alle Fragen des Lebens eine einfache Antwort bekommen. "Die haben ihren Verstand in der Jackentasche anderer Menschen abgelegt", sagt Thomas Mücke, "und wir müssen jetzt zusehen, dass sie ihn wieder zurück in ihren Kopf holen." +Zurzeit betreuen Mücke und seine rund 80 Mitarbeiter, darunter Sozialarbeiter, Psychologen, Islamwissenschaftler und Seelsorger, etwa 300 Jugendliche. Manche haben erst seit Kurzem Kontakt zur salafistischen Szene, andere haben ihre Hidschra-Koffer längst gepackt. Wieder andere sitzen als Dschihad-Rückkehrer in Vollzugsanstalten. "Da müssen wir aufpassen, dass nicht ein Extremist reinkommt und mehrere wieder raus", sagt Mücke. +Was Mücke und den anderen Betreuern bei ihrer Arbeit immer wieder auffällt: Die meisten Jugendlichen haben weder eine Ahnung vom Syrienkrieg noch von ihrer Religion. "Wir stellen immer wieder fest, dass sie religiöse Analphabeten sind", sagt Mücke. Deshalb gibt es für viele erst einmal einen Crashkurs in Sachen Islam. "Wenn sie durch gemeinsames Studium erkennen, dass es nicht den einen Islam gibt und man Ausrichtungen historisch einordnen muss, können sie sich auch leichter von extremistischen Meinungen distanzieren." +Dass Silvia, die eigentlich anders heißt, immer noch in Wiesbaden lebt und nicht in Raqqa, liegt zu einem großen Teil an ihrem Vertrauenslehrer. Als er bemerkte, dass sich die Schülerin immer mehr zurückzog, nahm er sie einfach mal beiseite und bot an, über ihre Trauer zu reden. Später vermittelte er Silvia an das Violence Prevention Network. Dass viele der Betreuer selbst Muslime sind, hilft in härteren Fällen enorm. Für die meisten Jugendlichen aber, so Mücke, zähle vor allem, dass jemand sie und ihre Fragen ernst nehme. Wäre ihnen das erst einmal klar, wäre das Schlimmste überstanden. In neun von zehn Fällen verabschieden sich die Jugendlicher wieder aus der Szene. + +Titelbild: picture alliance/abaca diff --git a/fluter/alle-fuer-alle.txt b/fluter/alle-fuer-alle.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/alle-zusammen-jeder-allein.txt b/fluter/alle-zusammen-jeder-allein.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1e49d14d63bfcd1032bf91a3fd080112b435eef2 --- /dev/null +++ b/fluter/alle-zusammen-jeder-allein.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Auf den ersten Blick könnte man denken, das sei so etwas wie eine Wohngemeinschaft in Deutschland. Stimmt aber nicht. Kommunalkas sind Gemeinschaftswohnungen. Institutionalisiert wurden sie, als die Bolschewiki nach der Oktoberrevolution 1917 die Wohnungen der reichen Bürger verstaatlichten und zimmerweise an die neuen Sowjetbürger verteilten. Eine Familie, ein Zimmer – das sollte reichen. Die Sowjetunion ist seit fast einem Vierteljahrhundert Geschichte. Kommunalkas gibt es immer noch. Vor allem in -
St. Petersburg, der alten Zarenstadt, in der die Wohnungen besonders groß und prächtig waren. Einen entscheidenden Unterschied gibt es zu den sowjetischen Kommunalkas: Die Bewohner sind inzwischen Eigentümer ihrer Zimmer. +In der 5. Sowjetskaja-Straße 38 knarrt der Holzfußboden in der Diele, als ob er gegen jeden Schritt protestieren wolle. So kann Antonina jede Bewegung im Flur mitverfolgen. Ihr Kopf taucht in ihrer Zimmertür auf. "Was gibt's denn hier?" Eigentlich passiert in dieser Kommunalka nichts, ohne dass Antonina etwas davon merken würde. Es fällt sehr schwer, sich vorzustellen, dass Antonina – 55 Jahre alt, Matrjoschka-Figur, pinkfarbenes T-Shirt – ihr ganzes Arbeitsleben lang beim Militär tätig war, erst für das sowjetische, dann für das russische. Sie arbeitete für die Personalabteilung, und natürlich trug sie Uniform. Das Zimmer in der Kommunalka wurde ihr vor über 30 Jahren zugeteilt. Kostenlos. Sie lebte dort mit ihrem Mann und ihrer Tochter. Irgendwann bekamen sie auch noch das Nachbarzimmer. Antonina besaß immer ein wenig mehr als ihre Nachbarn. Seit ihr Ehemann gestorben und die Tochter ausgezogen ist, wohnt Antonina in dem Zimmer mit den glänzenden weißrussischen Tapeten. In der Schrankwand steht eine Porzellanfigur: Pionier mit Schäferhund. In einem der unteren Schrankfächer hat Perserkatze Afina gerade drei Junge zur Welt gebracht. Antonina spricht viel mit ihren Katzen. Und die Katzen drehen ihren Kopf, als würden sie ihr tatsächlich zuhören. "Die neuen Zeiten gefallen mir nicht", sagt Antonina. +Die neuen Zeiten begannen, als die Sowjetunion zerfiel. Als vorherige Sowjetstaaten ihre Unabhängigkeit erklärten und Antonina vor dem Lebensmittelladen in einer langen Schlange nach Brot anstand. "Und das soll Demokratie sein? Ich verstehe es nicht", sagt sie. Antonina nennt ihre Heimatstadt nicht St. Petersburg, sondern Leningrad, so wie sie in der Sowjetunion hieß. Bei jeder Wahl stimmt sie für Wladimir Putin, den russischen Präsidenten. Weil er ihr das letzte bisschen Hoffnung erhält. "Er ist der Einzige, der das Land noch zusammenhält." Antonina hat seit wenigen Monaten zwei neue Nachbarn, das junge Paar im Nebenzimmer. "Sehr nett", sagt sie. "Neue Freunde." +Sascha und Sascha sagen, sie wüssten nicht genau, wer da neben ihnen wohne. Aber sie hätten einmal versucht, mit Antonina über die Renovierung der Küche und des Bades zu sprechen. Richtig zugehört habe ihnen die Rentnerin wohl nicht. Im Badezimmer einer früheren Kommunalka hat Alexandra mal Pilze wachsen sehen – "richtig mit Stiel und Hut". So schlimm ist es in der Sowjetskaja-Straße nicht. Auch wenn die Toilette jedem Bahnhofsklo Konkurrenz macht, Rohre und Kabel ein Labyrinth an den Wänden bilden, und der Wasserdruck  nachlässt, wenn jemand in der unteren Etage den Hahn aufdreht. Theoretisch sind in einer Kommunalka alle gemeinsam für die Gemeinschaftsräume verantwortlich. In der Realität herrscht oft Verwahrlosung, weil niemand sich so richtig verantwortlich fühlt.Sascha und Sascha verlassen ihr Zimmer so wenig wie möglich. Noch wird der Raum renoviert, aber das spätere Aussehen ist schon zu erahnen: die Garderobe neben der Tür, die Nische mit Toaster und Küchenmaschine, der Arbeitsplatz mit Smartphone, Tablet und Netbook, die große Matratze, wo später das Bett stehen soll. Es sind nur 26 Quadratmeter, aber auf denen schotten sie sich so gut wie möglich ab von allem außerhalb ihres Zimmers. +Vielleicht liegt das daran, dass Alexander und Alexandra manchmal an ihrem Land und seinen Bewohnern verzweifeln. Sie sind 25 Jahre jung, an diversen Stellen gepierct und tätowiert, er ist Ingenieur, sie organisiert Umwelt-Bildungsprojekte. Sie trennen ihren Müll, obwohl das in Russland fast niemand macht. Alexandra hilft manchmal als Freiwillige, wenn einmal im Monat der getrennte Müll an Sammelpunkten in der Stadt abgegeben wird. Am Frühstückstisch am Sonntag reden sie über eine Revolution in Russland, die hoffentlich bald kommt. Sascha und Sascha gehen nicht wählen. Beide sagen gleichzeitig: "Das hat doch keinen Sinn." In 15 Jahren möchte Alexandra in einem Haus in einem Dorf wohnen. In den vergangenen 
20 Jahren haben viele Russen die Dörfer verlassen. Alexandra möchte genau dorthin. Raus aus der Kommunalka, weg 
von den Menschen.In der Küche der Kommunalka steht Namasat Senalowa und zerlegt ein Hühnchen. Sie braucht dafür nur Sekunden – und ein paar heftige Hiebe mit dem Messer. Sie bewegt sich mit schweren Schritten durch die Küche, wie eine Frau, die jeden Weg schon zu oft gegangen ist. Sie bewohnt das kleinste Zimmer in der Kommunalka. Nachts schläft sie mit einem Sohn auf der Klappcouch, die anderen zwei teilen sich das Bett. +Namasat kam 1986 mit ihrem Mann aus Aserbaidschan nach St. Petersburg. Er starb vor vielen Jahren, Namasat blieb. Zurück nach Aserbaidschan kann sie nicht. "Keine Arbeit." In eine größere Wohnung kann sie auch nicht: "Nicht genug Geld." Namasat und ihr ältester Sohn arbeiten sechs Tage in der Woche in einem Obstlager. Ihr größter Traum: genug Geld zu haben für ein eigenes Auto. Während Namasat in einer Pfanne Zwiebeln in Öl ertränkt, erzählt sie zuerst von ihren Zwillingen, die viel zu früh auf die Welt kamen. Sie sind jetzt 15 Jahre alt und besuchen die sechste Klasse. Dann von ihrer Mutter in Aserbaidschan, die auf den Besuch der Tochter wartet. Und schließlich von einem Russland, das sie sich einmal ganz anders vorgestellt hat. "Ich dachte, hier gibt es keine Betrüger." Immer wenn Namasat nicht weiterweiß, sagt sie: "Man muss ja irgendwie leben." Über ihrem Kopf baumelt ein Zweig mit Lorbeerblättern. Durch das Fenster mit dem gesprungenen Glas drückt der kalte St. Petersburger Winterwind. Namasat trägt das fertige Essen durch den Flur. Hinter der Tür von Sascha und Sascha ist es still. Hinter der anderen hört sie Antonina mit einer ihrer Katzen sprechen. Namasat betritt ihr Zimmer. "Genug geschlafen, Jungs, Essen ist fertig!" Allein in der Küche am Herd brennt weiter eine einzelne Gasflamme. Sie soll noch für ein wenig Wärme sorgen. diff --git a/fluter/alleinerziehende-mutter.txt b/fluter/alleinerziehende-mutter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..aa2127f275ba50742cea0bf5dd605f12f6fed822 --- /dev/null +++ b/fluter/alleinerziehende-mutter.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Noch heute ist Isabelles Alltag von ihrem Kind bestimmt. Die Zeit, in der es in der Kita ist, verbringt Isabelle in di­gitalen Vorlesungen und Semina­ren ihres Studiums der Sozia­len Arbeit. Wenn ihr Sohn um 20 Uhr schläft,muss sie sich um den Haushalt kümmern. Regelmä­ßig stapeln sich bei ihr zu Hau­se Geschirr und Wäsche."Ich bin sehr glücklich darüber, Mutter zu sein, aber manchmal wünsche ich mir schon, dass ich einfach mal abends in eine Bar gehen könnte", sagt die heute 31-­Jäh­rige. "An richtige Hobbys mag ich gar nicht denken." Wenn sie noch Energie hat, lernt sie oder entspannt sich in der Badewanne. "Solange abends keine Kinderbe­treuung angeboten wird, kann ich weder zu einem Elternabend noch zu einem Theaterstück gehen." +Als alleinerziehende Mut­ter ist Isabelle hin-­ und her­gerissen zwischen dem Gefühl, alles einfach hinschmeißen zu wollen, und der großen Freu­de über ihren Sohn. So wie ihr geht es vielen der 1,34 Millio­nen alleinerziehenden Mütter in Deutschland, die 88 Prozent al­ler Alleinerziehenden ausmachen. Alleinerziehend zu sein bedeu­tet für die meisten tatsäch­lich auch finanzielle Not. Viele Väter zahlen keinen Unterhalt oder müssen erst per Gerichtsbeschluss dazu gebracht werden. Da oft Kitaplätze fehlen, können viele Mütter nicht in Vollzeit arbeiten, nur 42 Prozent waren es 2017. So verwundert es nicht, dass alleinerziehende Mütter in Deutschland eines der größten Armutsrisiken aufweisen. "Die existenzielle Angst ist immer da", sagt Isabelle. Gerade lebt sie von einem Studienkredit, hinzu kommen Unterhaltszahlungen vom Vater des Kindes und Zuwen­dungen ihrer Eltern. Trotzdem hat sie damit insgesamt gerade mal 50 Euro mehr,als ihr mit Hartz IV zustehen würde. +Der Austausch mit ande­ren Alleinerziehenden helfe ihr, denn oftmals könnten Eltern, die gemeinsam ein Kind großziehen, ihre Probleme nicht nachvollzie­hen. "Wenn ich höre: ‚Ich bin ja eigentlich auch alleinerziehend', weil der Partner ständig auf Geschäftsreise ist, werde ich echt schnell wütend." Oft ernte sie Mitleid anstelle von Anerkennung. +Aber Isabelle hat einen Plan. Sie will eine Beratungsstelle für alleinerziehende Mütter auf­bauen, in der diese unbürokrati­sche Unterstützung bekommen. + +Titelbild: Cavan Images/Getty Images diff --git a/fluter/alles-auf-zucker.txt b/fluter/alles-auf-zucker.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/alles-gehoert-allen.txt b/fluter/alles-gehoert-allen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c1f7ba373c488d7c7ee6e8e95fab04c9619caaef --- /dev/null +++ b/fluter/alles-gehoert-allen.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +In den Anfangsjahren der Computergeschichte standen die Programme jedem offen. Sie waren als Quelltext gespeichert, in einer Form also, die Menschen lesen und verstehen können. Heute gilt der Quellcode Firmen wie Microsoft als gehütetes Geheimnis, damals aber war er selbstverständlich jedem zugänglich. Programme waren wie ein Text, jeder konnte sie verstehen, sie verändern, besser machen. Software war eine Beigabe, die Hersteller verdienten ihr Geld mit den Maschinen, nicht mit dem Code. Doch je wichtiger dieser wurde, desto mehr Unternehmen sperrten ihre Programme ein, damit sie nicht mehr kopiert und verändert werden konnten. Stallman sah darin eine Gefahr, denn Computer und vor allem das Internet waren anders gedacht gewesen. Der Zustand der Freiheit, den Stallman damals schwinden sah und der uns heute fast schon als Utopie erscheint, war die Grundeinstellung des Internets. +Reisen wir noch ein Stück weiter zurück. Joseph Carl Robnett Licklider war Professor für experimentelle Psychologie. Ende der 50er-Jahre arbeitet er an einer Studie mit, die das Bomberwarnsystem der USA untersuchte. SAGE (Semi-Automatic Ground Environment) war das erste Luftüberwachungssystem, das Computer nutzte. An 23 in den ganzen USA verteilten Stationen starrten Operatoren auf Radarschirme, deren Computer über Telefonleitungen miteinander verbunden waren, und suchten nach sowjetischen Bombern. Licklider kam angesichts dieses Netzes die Idee, Mensch und Maschine könnten enger verknüpft werden, ja sie könnten eine regelrechte Symbiose eingehen. In Echtzeit könnten die Maschinen den Menschen beim Denken helfen, so glaubte er, und sie könnten Partner bei der Suche nach Lösungen sein. Licklider sah in Computern auch keine Rechenmaschinen, er betrachtete sie als Kommunikationsgeräte, geschaffen, um Menschen miteinander zu verbinden. Ein weltweites Netz aus Rechnern schwebte ihm vor, ein "Intergalactic Computer Network", wie er es in seinen Vorträgen nannte. Jeder sollte von jedem Ort aus Zugriff auf seine Daten haben, viele Menschen sollten einen Computer gleichzeitig nutzen, sich seine Macht teilen können, gar neue Gemeinschaften sollten darüber entstehen. Das hört sich schon ziemlich nach dem Internet von heute an, oder? +Nichts davon war damals technisch möglich, und nicht wenige warfen Licklider vor, seine Ideen seien ein Irrweg der Computertechnik. Er versuchte es trotzdem. Als er Anfang der 60er-Jahre Leiter eines Programms beim Verteidigungsministerium der USA wurde, begann er, entsprechende Projekte zu fördern. So auch das sogenannte Arpanet, das Universitäten, die für das Pentagon forschten, miteinander verbinden sollte: ein dezentrales Netz, um die teuren Rechner besser auslasten und um problemlos wissenschaftliche Daten austauschen zu können. Verbinden, teilen, tauschen – das waren die Grundgedanken des Arpanets, das als Ursprung des Internets gilt. Sie entstanden aus der Tradition der Forschung, Wissen miteinander zu teilen, damit andere davon profitieren und so mehr Wissen schaffen können. Und sie entstanden, weil die begrenzten Ressourcen so gut wie nur möglich ausgenutzt werden sollten. Urheberrechtsmodelle wie Creative Commons, die das Teilen von Texten, Musik und Bildern erleichtern, sind also nach wie vor Ausdruck der technischen Umwälzung, die vor mehr als 40 Jahren erdacht wurde. Denn Creative Commons will eben das Teilen erleichtern. Jeder darf danach ein Werk nutzen, es anpassen, verändern, solange er sich an ein paar Bedingungen hält. Die wichtigste ist, dass er das Ergebnis selbst wieder teilt und es anderen zu den gleichen Bedingungen zugänglich macht. Creative Commons, Wikipedia, Freie Software – sie alle wollen die vorhandenen Dinge so einsetzen, dass alle sie nutzen können. +Zurück zur Geschichte des Internets: Damit das Teilen technisch funktionieren konnte, brauchte es nicht nur Computer und Telefonleitungen, es brauchte vor allem Regeln, wie Daten durch diese Leitungen geschickt werden sollten. Begrüßen wir Robert Elliot "Bob" Kahn. Er führte für das Arpanet ein Verfahren ein, das kurz zuvor in Großbritannien erdacht worden war: "Packet Switching" – also Paketvermittlung. Beim Telefonieren wird eine feste Verbindung aufgebaut; der Anrufer wählt, der Angerufene hebt ab, fortan ist ihre Leitung reserviert. Ob sie reden oder schweigen, niemand sonst kann sie nutzen. Praktisch für die beiden, unpraktisch für alle anderen. Packet Switching hingegen kennt keine festen Leitungen. Informationen werden in kleine Pakete zerlegt und über die Leitungen geschickt, die gerade frei sind. Jedes davon reist im Zweifel auf einem anderen Weg zur Zieladresse. Erst dort werden alle wieder zur fertigen Botschaft zusammengesetzt. Besetzte Leitungen gibt es nicht. Genutzt wird nur so viel Bandbreite, wie nötig ist, um ebendieses Paket hindurchzuschleusen, anschließend können andere kommen, von anderen Absendern mit anderem Ziel. Ursprung dieses Verfahrens war erneut ein Mangel, es gab zu wenig Telefonleitungen, und sie hatten eine sehr begrenzte Bandbreite. +Packet Switching löst nicht alle Probleme, es entstehen trotzdem Staus, und es gehen auch immer wieder Pakete verloren. Kahn entwarf ein Protokoll, um mit diesen Problemen klarzukommen und Pakete so effizient wie möglich zu verteilen. Eine universale Regel zur Verständigung zwischen Rechnern. Das Internetprotokoll, wie es Kahn und der Informatiker Vinton "Vint" Gray Cerf nannten, ist bis heute Basis der Datenübertragung im Netz. Der Witz: Das Internetprotokoll, später weiterentwickelt und umbenannt in TCP/IP, behandelt jedes Datenpaket gleich, keines wird bevorzugt, keines benachteiligt. Gleichzeitig ist dem Protokoll egal, was es befördert. Genau wie die Post schaut es nicht in die Daten hinein, um zu erfahren, was es damit machen soll, es interessiert sich nur für den Adressaufkleber. Dank des Internetprotokolls konnten nicht nur alle Arten von Daten durch das Netz transportiert werden. Das IP begründete auch die bis heute im Internet gültigen Prinzipien der Anonymität und der Neutralität der Informationen. Wieder aus der Erfordernis heraus, die begrenzten Ressourcen so einzusetzen, dass alle etwas davon haben. +Sogenannte Tauschbörsen sind also nicht etwa ungeplanter Auswuchs einiger Radikaler, sie sind eine logische Folge des Internets, eine konsequente Umsetzung seiner Prinzipien. Und sie sind, was die Nutzung von begrenzten Ressourcen angeht, ein riesiger Fortschritt. Weil große Datenmengen auf viele Rechner und auf viele Wege verteilt werden, können sie problemlos durch das Netz geschickt werden – viel effektiver zumindest, als wenn jeder Tauschpartner zu jedem anderen Tauschpartner eine feste Verbindung aufbauen und diese blockieren würde. +Das Transportprotokoll ist jedoch längst nicht die einzige Struktur, die offen und für alle zugänglich ist. Willkommen bei Tim Berners-Lee. Auch er, der Erfinder des World Wide Web, ist Physiker und Informatiker, auch er will vor allem eines: Informationen so einfach wie möglich mit anderen austauschen. Als Mitarbeiter am Kernforschungszentrum CERN in der Schweiz entwickelt er ab 1989 die Hypertext Markup Language, kurz HTML. Es ist eine Sprache, um Informationen zu strukturieren. HTML sagt in einfachem Code, was ein Bild ist und was eine Überschrift, sie beschreibt, wo ein Text anfängt und in welcher Schrift er verfasst wurde. Mit dem sogenannten Link schafft Berners-Lee außerdem ein System, um diese Dokumente beliebig untereinander zu verknüpfen. Und er entwickelt ein Programm, das sich die Daten holen, diesen Code nutzen und aus ihm wieder Texte zusammensetzen kann, die so aussehen wie die ursprünglichen Dokumente. Berners-Lee nennt das Programm World Wide Web. Es ist der erste Browser. Selbstverständlich stellt Berners-Lee seine Sprache und seinen Browser jedem zur Verfügung. Er will, dass viele sie nutzen und dann miteinander Daten tauschen. Nur so kann das Netz überhaupt nützlich werden. +Heute sind all diese Freiheiten in Gefahr. Immer mehr Firmen und Regierungen versuchen, die technischen Prinzipien auszuhebeln und in diesem schranken- und klassenlosen Reich abgesperrte Bereiche und Überwachungspunkte einzuführen, um Geld zu verdienen. Sollte die Kultur des Teilens, sollten Neutralität und Anonymität verloren gehen, wird das Netz nicht nur weniger anarchisch und weniger anstrengend sein. Es würde dadurch auch weniger innovativ und weniger offen. Und nicht nur das Netz. Denn, so sagt Richard Stallman bis heute: Freie Daten sind ein Garant für ein freies Zusammenleben. diff --git a/fluter/alles-gott-oder-was.txt b/fluter/alles-gott-oder-was.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/alles-heisse-luft.txt b/fluter/alles-heisse-luft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6a1e2da7ff748ce729af25d55dc1f3afe48c442b --- /dev/null +++ b/fluter/alles-heisse-luft.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Um fast ein Grad ist die Temperatur bereits angestiegen, und kein Land steuert entschieden dagegen. Im Gegenteil. Der CO2-Ausstoß vieler großer Staaten nimmt noch zu. "In den vergangenen 25 Jahren ist er trotz internationaler Klimapolitik fast in jedem Jahr gestiegen, seit 1990 um insgesamt etwa 40 Prozent", sagt Oliver Geden. +Geden fordert konkrete Maßnahmen, die sofort umgesetzt werden, um die globalen Treibhausgasemissionen so schnell wie möglich zu senken. So sollten Kohlekraftwerke künftig nicht mehr staatlich gefördert werden. Das sei mehrfach beschlossen worden, werde aber nur halbherzig umgesetzt. Außerdem sollten besonders klimaschädliche Gase (sogenannteHFC) und Schadstoffe wie etwa Methan reduziert werden. Das würde sich besonders schnell positiv auf die globale Temperatur auswirken. +Und das Zwei-Grad-Ziel? "Man sollte auf ein festes Temperaturziel verzichten", sagt Geden. Die Politik werde von Klimaexperten aus der Wissenschaft beraten, die "erstaunlich wenig von den Eigenlogiken politischer Prozesse verstehen". Es gebe schlicht keine Instanz, die das Einhalten des Zwei-Grad-Ziels international durchsetzen könne. +Felix Ehring arbeitet als freier Journalist. Bei der Recherche wurde ihm von Zahl zu Zahl klarer: Ob es nun um Armut, Geburten, Arbeitslosigkeit oder Klimaschutz geht – Interessengruppen führen eine teilweise erbitterte Debatte um die Deutungshoheit dieser Zahlen. Und: Einige Journalisten vermelden amtliche Zahlen einfach, ohne sie zu hinterfragen und einzuordnen. Dabei gilt für jede Zahl: Sie sagt nicht nur etwas aus, sie verschweigt auch etwas. diff --git a/fluter/alles-im-fluss.txt b/fluter/alles-im-fluss.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8263943f20a785470c0144f4d28aeee5c2270772 --- /dev/null +++ b/fluter/alles-im-fluss.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Schon im Verlauf der 60er-Jahre hatten sich Leute wie der Journalist und Filmemacher Oswalt Kolle darangemacht, anstelle einer von vielen empfundenen Verklemmtheit auf Aufklärung und Zärtlichkeit zu setzen. In seinem zweiteiligen Aufklärungsfilm "Wunder der Liebe" hatten zwischen 1968 und 1970 schätzungsweise sechseinhalb Millionen Deutsche wahrscheinlich das erste Mal in ihrem Leben Paaren beim Liebesakt zugeschaut. Zuvor musste Kolle lange mit der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) verhandeln, die noch heute Altersempfehlungen für Filme ausspricht. Angeblich sagte einer der Zensoren folgenden Satz: "Herr Kolle, Sie wollen wohl die ganze Welt auf den Kopf stellen, jetzt soll sogar die Frau oben liegen!" +Tatsächlich änderte sich die Welt des Sex in diesen Jahren rapide: Zur Popularisierung der sexuellen Aufklärung trugen auch Zeitschriften wie "Quick" oder "Jasmin" bei. Auch die als "Produkte für Ehehygiene" getarnten Sexspielzeuge von Beate Uhse fanden seit Anfang der 60er-Jahre ihre Abnehmer. Den größten Effekt auf das Sexualleben der Deutschen hatte aber die Erfindung der Antibabypille (später nur Pille genannt), die 1961 in Deutschland zugelassen wurde. Frauen, die vorher eine ungewollte Schwangerschaft und damit auch eine gesellschaftliche Ächtung befürchtet hatten, konnten nun angstfrei ihre Sexualität leben. +Schon zu Beginn der 60er-Jahre verschärften sich die Konflikte zwischen Jung und Alt. Jugendliche, die lange Haare trugen, wurden von älteren Leuten offen als "Gammler" beschimpft. Als eine Gruppe junger Leute an einem späten Juniabend im Jahr 1962 auf Münchens angesagtestem Boulevard Musik machte und Passanten spontan dazu tanzten, eskalierte die Lage: Polizei rückte an, und es kam zu mehrtägigen Straßenschlachten, aus denen die sogenannten Schwabinger Krawalle wurden. In den folgenden Jahren stellten viele Jugendliche die Grundwerte ihrer Eltern zunehmend infrage: Disziplin, Sauberkeit und Gehorsam. Sie fragten nach der Aufarbeitung des Nationalsozialismus, sie protestierten gegen den Krieg der USA in Vietnam und die in ihren Augen hetzerische Presse aus dem Verlag von Axel Springer, allen voran die "Bild"-Zeitung. +Viele Universitäten waren zu diesem Zeitpunkt Hochburgen des Protests. In autonomen Seminaren wurden Texte von Philosophen wie Adorno, Horkheimer und Marcuse diskutiert. Oder auch die des Psychologen und Sexualforschers Wilhelm Reich, auf den der Begriff "sexuelle Revolution" zurückgeht. Reich, dessen Buch "The Sexual Revolution" in Deutschland bereits 30 Jahre zuvor unter dem Titel "Die Sexualität im Kulturkampf" erschienen war, war der Meinung, dass eine Befreiung der Sexualität zu friedlicheren Verhältnissen führte. Diese Überzeugung fand sich schließlich in einer viel zitierten Parole wieder: "Make love, not war." +"Das Private ist politisch!" – so lautete ein anderes Motto aus der damaligen Zeit. Und so sollte nicht nur theoretisch diskutiert werden, sondern jeder seine Lebensumstände ändern. Wie das aussehen konnte, zeigte die Kommune 1, eine Art politische Wohngemeinschaft, die zunächst in einer geräumigen Berliner Altbauwohnung ihre Heimstatt fand und zu deren Programm auch die Liberalisierung des Sexuallebens gehörte. "Was geht mich der Vietnamkrieg an, solange ich noch Orgasmusschwierigkeiten habe", sagte Dieter Kunzelmann, einer ihrer Bewohner. +Wer dort einziehen wollte, musste mit seinen materiellen Eigentumsansprüchen auch jene an einen Partner für alle Zeiten drangeben. Die monogame Zweierbeziehung wurde als kleinbürgerlich und spießig angesehen. Ein Foto aus der Kommune 1 wurde zur Ikone der sexuellen Revolution: Nackt und mit ausgestreckten Armen stehen die WG-Bewohner wie bei einer Razzia mit dem Gesicht zur Wand. Nur ein kleiner Junge dreht sich neugierig um. Auch sonst wussten die Kommunarden um ihren medialen Wert und ließen sich eifrig von Journalisten besuchen. +Als "Busen der Revolution" wurde das Fotomodell Uschi Obermaier bezeichnet, das zunächst mit dem Kommunarden Rainer Langhans (einer der prominentesten 68er) zusammen war, dann aber auch Liebesbeziehungen zu weltbekannten Musikern wie Jimi Hendrix oder Mick Jagger hatte, die den Soundtrack für das damalige Lebensgefühl lieferten. +Wie wahrhaftig das Leben in all den politischen Gruppen war, die sich damals nach dem Vorbild der Kommune 1 gründeten, ist bis heute umstritten. Auf jeden Fall fühlte sich das freie Sexualleben mit wechselnden Partnern für manchen schmerzvoller an, als es die Theorie vorsah. Die Autorin Gabriele Gillen schreibt in ihrem Buch "Das Wunder der Liebe. Eine kleine Geschichte der sexuellen Revolution", dass die freie Liebe nicht selten an Eifersucht und Überforderung scheiterte. In endlosen Gruppensitzungen seien Beziehungsprobleme und Geschlechterrollen durchgearbeitet worden, und mancher habe beim Versuch, die bürgerlichen Ideale hinter sich zu lassen, emotionalen Schiffbruch erlitten. So wurde wohl unterschätzt, wie sehr man durch völlig freies Ausleben seiner Triebe auch andere Menschen verletzen kann und wie sehr sich viele Menschen nach Geborgenheit in einer Zweierbeziehung sehnen. Außerdem wurde die Sehnsucht nach sexueller Freiheit sehr schnell kommerzialisiert. Findige Zeitschriften- und Filmemacher ("Schulmädchen-Report") warfen Unmengen von Softporno-Schund auf den Markt, um am neuen Lebensgefühl zu verdienen, und trugen so zum Ende der Unschuld bei. +"Ohne Achtundsechzig wäre es nie zu dieser Freiheit gekommen, mit der heute jeder seine sexuellen Vorlieben ausleben darf, geschweige denn zu der Selbstverständlichkeit, mit der man heute überhaupt beansprucht, sexuelle Erfüllung zu finden", sagt Wolfgang Kraushaar, Politikwissenschaftler und Chronist der 68er-Generation. Aber er übt auch Kritik. "Maßlos überschätzt wurde sicher die politische Bedeutung des Sexuellen als revolutionäre Kraft, und unterschätzt die Fähigkeit des Marktprinzips, diese Strömungen in sich aufzunehmen und in Sex sells zu verwandeln." Doch es gebe auch eine Habenseite: Das Ende der alten Rollenmuster, die Neudefinition der Geschlechterbeziehungen, die Frauenbewegung, die Schwulenbewegung, all diese Emanzipationsschübe hätte es wohl nie gegeben. Ist die Sexrevolution damit am Ziel? Ganz ein Vertreter seiner Generation, sagt Kraushaar: nein. Das heutige System erzeuge mitunter Illusionen von sexueller Freiheit, wo die Gefühle längst vom Marketing vereinnahmt sind. +Jährlich gibt es am 17.5. weltweit Aktionen gegen Schwulenfeindlichkeit. Das Datum wurde gewählt, weil die Weltgesundheitsorganisation (WHO) an diesem Tag des Jahres 1990 Homosexualität aus der Liste psychischer Krankheiten gestrichen hat. In Deutschland erinnern die Zahlen zusätzlich an ein umstrittenes Gesetz: Der Paragraf 175 des deutschen Strafgesetzbuches trat 1872 in Kraft und stellte sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe (bezeichnenderweise auch Sex mit Tieren). Er existierte 122 Jahre lang in verschiedenen Fassungen. Insgesamt wurden etwa 140.000 Männer nach §175 verurteilt. Erst unter der Großen Koalition wurde das Gesetz 1969 liberalisiert. Seitdem waren nur noch homosexuelle Handlungen mit unter 18-Jährigen strafbar (bei Lesben und Heterosexuellen lag dieses Schutzalter bei 14 Jahren). +In der DDR wurde Homosexualität unter Erwachsenen bereits Ende der 50er-Jahre nicht mehr bestraft. Es existierte aber der §151, der homosexuellen Kontakt mit Jugendlichen sowohl für Männer als auch für Frauen unter Strafe stellte. 1988 wurde er ersatzlos gestrichen. Im vereinigten Deutschland wurde der §175 erst 1994 abgeschafft. Heute ist das Schutzalter für Hetero- und Homosexuelle gleich (14 Jahre). Sex mit Tieren ist straffrei, solange es sich nicht um Tierquälerei handelt. +Während männliche Homosexualität lange Zeit strafbar war, wurde eine Vergewaltigung in der Ehe über Jahrzehnte nicht geahndet. Der entsprechende §177 StGB galt nur für erzwungene außereheliche sexuelle Handlungen. Erst 1997 stellte eine Gesetzesnovelle die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe. diff --git a/fluter/alles-ist-drin.txt b/fluter/alles-ist-drin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d0e453db6c2ce5a0adbcfaf8cbcb61a94fdefab8 --- /dev/null +++ b/fluter/alles-ist-drin.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Aber Fakt blieb: Da schwimmt dieses Zeug, und zwar ziemlich viel davon. Inzwischen ist sogar erwiesen, dass es fünf solcher Garbage Patchesauf den Weltmeeren gibt. Moore hatte nur den größten entdeckt. Doch erst ein paar Jahre nachdem Moore darauf gestoßen war, wurde die Größe des Müllproblems erkannt. Institute, Stiftungen, Organisationen, Bürgerinitiativen kümmern sich seither darum. Sie erkannten auch das Problem, dass Fische und Vögel Plastik fressen – Bilder verendeter Albatrosse machten die Runde. +Rote Biber, blaue Schildkröten, gelbe Enten +Dabei ist nach wie vor unklar, wie viel Müll wirklich in den Ozeanen schwimmt. Das Umweltbundesamt gibt an, dass es Schätzungen zufolge rund 100 bis 140 Millionen Tonnen Abfälle sind – drei Viertel davon bestehen aus Kunststoffen. Sicher ist: 80 Prozent des Plastiks, das im Meer gefunden wird, stammt vom Land. Es gelangte unter anderem mit dem Abwasser hinein, ein anderer Teil fällt von Schiffen. +Bei Stürmen verlieren Frachtschiffe immer wieder mal Container, die auf ihrem Deck gestapelt sind und deren Haltebänder reißen, wenn der Seegang zu hoch wird. Es sind viele, aber genaue Zahlen gibt es auch hier nicht. Nach Angaben des World Shipping Councils sollen es über die vergangenen sechs Jahre durchschnittlich 546 im Jahr sein; rechnet man Katastrophenereignisse mit ein, sogar 1.679. Die Container zerbrechen meist, wenn sie ins Wasser fallen. So landeten 1999 beispielsweise 18.000 Nike-Sneakers im Pazifischen Ozean. Im Januar 2000 waren es weitere 26.000, im Dezember 2002 noch einmal 33.000 Paar. Bereits im Januar 1992 hatte ein Schiff südlich der Aleuten, einer Inselkette zwischen Nordamerika und Asien, zwölf Container verloren. In einem davon war Plastikspielzeug, 28.800 gelbe Enten, rote Biber, blaue Schildkröten, grüne Frösche, in Fabriken in der chinesischen Provinz Guangdong für amerikanische Badewannen und Pools produziert. +Mit diesen an Küsten angeschwemmten Schuhen und Plastiktieren haben Wissenschaftler Modelle entwickelt, mit denen sich der Weg des Plastiks über die Weltmeere berechnen lässt. So tauchen seit einigen Jahren Legosteine an der Küste des englischen Cornwall auf. Sie stammen von dem Schiff "Tokyo Express", das 1997 vor der Küste von einer riesigen Welle erfasst wurde und dabei 62 Container verlor. +Außerdem erkannte man, dass 70 Prozent des Plastiks im Meer nicht lange herumschwimmt, sondern auf den Meeresgrund sinkt. Allerdings bleibt wiederum nicht immer alles für immer unten. Was hilft? Die Sammelaktionen an Stränden, die inzwischen weltweit stattfinden, gelten eher als Möglichkeit, das Problem ins öffentliche Bewusstsein zu bringen. "Das Wasser befindet sich in einem ständigen Austausch. Wenn man etwa bei Sammelaktionen am Strand an einem Ende ankommt, kann man eigentlich gleich wieder von vorn anfangen", sagt Lars Gutow, Meeresbiologe am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. +Also muss schon früher etwas passieren, nicht erst, wenn der Müll am Strand landet. Es gibt viele Versuche: 150 Gemeinden und Behörden in Ländern an der Nord- und Ostsee haben einen Verbund gegründet, der an Fischer Müllsäcke verteilt, mit denen sie das Plastik sammeln sollen, das statt Fischen in ihren Netzen landet. In einigen Häfen Nordeuropas gibt es Sammelcontainer für die kostenlose Entsorgung. In Deutschland kümmert sich der Nabu, der Naturschutzbund, um den Müll, den Fischer mitbringen. +Eine andere Idee hat der 20 Jahre alte Boyan Slat. Mit 16 Jahren hatte sich der niederländische Schüler beim Tauchurlaub in der griechischen Ägäis geärgert, dass er mehr Plastiktüten als Fische im Wasser sah. Er gründete eine Stiftung, die Ocean Cleanup Foundation. Eine Zeit lang studierte Slat dann Luft- und Raumfahrttechnik an der Technischen Universität in Delft und entwickelte mit 100 Helfern weltweit ein Konzept, um die Meere zu reinigen. Innerhalb kurzer Zeit fand Slat mehr als 25.000 Unterstützer, die über 1,3 Millionen Euro spendeten. Noch läuft die Aktion. +300 Kilometer lange schlauchartige "Fangarme" sollen alle vier Kilometer am Meeresgrund befestigt werden und die ohnehin existierenden Strömungen ausnutzen, um Plastikmüll zu sammeln. Die Energie dafür sollen Solarzellen auf den treibenden, rochenförmigen Inseln liefern, wo der Müll laut Slat zunächst gesammelt wird. So könnten innerhalb von zehn Jahren 42 Prozent des Mülls aus dem nordpazifischen Müllstrudel eingesammelt werden, für relativ geringe Kosten von 317 Millionen Euro. +Damit das Prinzip funktioniert, muss man wissen, welche Strömungen den Abfall wohin treiben lassen. Bisher gibt es diese Daten aber trotz der Sportschuh- und Quietscheentchen-Erhebung nur als Computersimulation. Noch ist also Slats "Ocean Cleanup Array" nur ein Plan, auch wenn die Initiative selbstbewusst verkündet, dass ihr Konzept "wahrscheinlich eine Methode ist, um fast die Hälfte allen Plastiks des Great Pacific Garbage Patches in zehn Jahren zu entfernen". Sollte man den Plan erfolgreich umsetzen können, wäre tatsächlich ein Teil des Plastikproblems gelöst. +Aber eben nur ein Teil, denn immer noch gäbe es genügend Plastik in den Tiefen des Meeres, das in der Nahrungskette landet. Denn Plastik wird durch die Wellenbewegungen und das UV-Licht der Sonne in winzige Teile zersetzt, die von kleinsten Lebewesen gefressen werden, die wiederum auf dem Speiseplan der Fische stehen. So gelangt der Müll schließlich zurück zum Menschen. +Der amerikanische Meeresbiologe Tracy Mincer sieht in den Plastik fressenden Mikroorganismen im Meer sogar eine Möglichkeit, den schwimmenden Plastikabfall loszuwerden. An einem privaten, von der Industrie mitfinanzierten Institut in Massachusetts untersucht er mit Kollegen den Stoffwechsel von Mikroorganismen und hat bereits welche entdeckt, die von Plastik leben könnten. Nun soll die Frage geklärt werden, was übrig bleibt, wenn die Mikroben das Plastik verdaut haben. Vielleicht bleibt am Ende ja nur noch kleineres Plastik übrig. Vielleicht werden Gifte im Plastik erst freigesetzt. +Die Experten des Bundesumweltamts glauben nicht an die Lösung, Mikroorganismen die Meere einfach sauber fressen zu lassen: "Bei der Zersetzung geben Kunststoffe giftige und hormonell wirksame Zusatzstoffe wie Weichmacher, Flammschutzmittel und UV-Filter in die Meeresumwelt oder den Organismus ab, der sie aufnimmt", heißt es dort. +Charles Moore, der Entdecker des Great Pacific Garbage Patchs, ist mittlerweile Berater einer zweiten gemeinnützigen Organisation, des 5 Gyres Institute, das sich ebenfalls dem Kampf gegen die Plastikmüllverschmutzung der Meere verschrieben hat. Das Wort Gyre (Strudel) wird auch für den Müllteppich verwendet. Selbst der als Öko-Schreihals verschriene Moore scheint also noch Hoffnung zu haben. Immerhin. diff --git a/fluter/alles-oder-nichts.txt b/fluter/alles-oder-nichts.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..85d0738d112a02bbd641c7039b18da3093d88af8 --- /dev/null +++ b/fluter/alles-oder-nichts.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Doch warum ist das Unternehmen überhaupt so erfolgreich? Amazon gilt als schnell und relativ günstig, und es hat ziemlich viel Auswahl. Und während klassische Versandhändler aus der Katalog-Ära die Entwicklungen des Onlinehandels verschlafen haben, peitscht Firmenchef Bezos seinen Konzern mit dem absoluten Bestreben nach Innovation voran. Erst kürzlich hat er angekündigt, in naher Zukunft Päckchen mit Minidrohnen zum Kunden bringen zu wollen. Vom Lager zur Haustür sollen dann nicht mehr als 30 Minuten vergehen. +In seinem Buch "The Everything Store" erzählt der US-amerikanische Wirtschaftsjournalist Brad Stone von einem "Alexandria- Projekt", das sich Bezos vorgenommen hatte, als es noch vor allem um Bücher ging. Je zwei Exemplare von allen Büchern, die jemals erschienen waren, sollten in einem Amazon-Lager vorgehalten werden. Das klingt biblisch wie die Geschichte der Arche Noah, doch christliche Nächstenliebe trauen die wenigsten Amazon zu. +Im öffentlichen Ansehen kommt der Online-Riese hierzulande schlecht weg. Gewerkschaften werfen ihm miese Arbeitsbedingungen vor und fordern seit Jahren mehr Gehalt. Ausgerechnet zu Amazons Hauptgeschäftszeit vor Weihnachten erreichte der Protest den bisherigen Höhepunkt: Hunderte Lagerarbeiter in Deutschland ließen die Päckchen über viele Tage in den Regalen und traten in Streik. Amazon hat den Forderungen nicht nachgegeben, der Arbeitskampf soll sich dieses Jahr fortsetzen. +Legal, aber moralisch fragwürdig versteuert das Unternehmen die Einnahmen aus seinem zweitwichtigsten Markt hinter den USA nicht etwa beim deutschen Staat, sondern in Luxemburg – zu einem viel geringeren Steuersatz. Und schon immer waren Kritikern die Unmengen von Kundendaten ein Dorn im Auge. +Aus beruflichen Gründen ist Thilo Weichert kürzlich auf amazon.de gegangen. Was dann passierte, erstaunte den Leiter des "Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz" Schleswig-Holstein. "Das Erste, was die Seite angezeigt hat, war eine Buchempfehlung über Datenschutz. Ein sehr spezielles Buch sogar, zu einem Thema, mit dem ich mich gerade beschäftigt hatte. Beweisen kann ich das nicht, aber es ist plausibel, anzunehmen, dass Amazon sämtliche Aktivitäten seiner Kunden im Netz auswertet." Und anscheinend nicht nur seiner Nutzer. +Über seine Geschäftspraktiken gibt der Konzern nur sehr spärlich Auskünfte. Schon lange kein Geheimnis ist aber, dass Amazon so viele Daten seiner Kunden wie möglich zu Marketingzwecken verwendet: Die Chronik der Einkäufe, Sucheingaben und sogar die Cursorbewegung auf der Seite werden gespeichert und als Grundlage für Einkaufstipps herangezogen, die dann noch Wochen später auf dem Bildschirm auftauchen. +Zu gern würden Weichert und seine Mitarbeiter Amazon und andere Giganten des Internet-Zeitalters wie Facebook und Google in ihrem Eifer bremsen. "Die Gerichte haben uns das aber im wahrsten Sinne des Wortes aus der Hand geschlagen", sagt der Datenschützer. Im vergangenen Jahr erklärte das schleswig-holsteinische Oberverwaltungsgericht, im Fall Facebook sei das deutsche Recht nicht anwendbar und die Behörden nicht zuständig. Denn seine europäische Zentrale betreibt Facebook in Irland. Ähnliches dürfte auch für Amazon gelten. +Für viele Nutzer scheint der persönliche Datenschutz jedoch weniger wichtig zu sein als der Komfort, den Amazon bietet. Seine Kunden sollen branchenübergreifend die treuesten sein, wie eine repräsentative Studie der Uni Bamberg kürzlich ergeben hat. "Amazon hat es wirklich extrem einfach gemacht, zu bestellen und die Ware zurückzuschicken, wenn sie nicht funktioniert oder nicht gefällt", sagt Peter Höschl, dessen Portal "shopanbieter.de" sich als Forum für den E-Commerce etabliert hat. Höschl ist seit den 90er-Jahren im Onlinehandel tätig und stellt eine bedrohliche Entwicklung fest: Wenige große Unternehmen wachsen prächtig, während kleine Anbieter stagnieren. +Tausende kleine und mittelgroße Händler nutzen Amazon als Marktplatz, um ihre Waren zu verkaufen. Das Unternehmen verdient mit den Geschäften seiner Partner durch Provision einen Gutteil seines Umsatzes – und auf neue Ideen kommt es auch."Es macht nicht wirklich Spaß, auf Amazon zu verkaufen", sagt ein Branchenkenner. Es heißt, dass das Unternehmen auch die externen Verkäufe genau analysiert, gut laufende Produkte in das eigene Sortiment aufnimmt und die kleinen Verkäufer durch einen niedrigeren Preis langfristig ausbootet. +Für manche Händler ist Amazon mittlerweile der wichtigste Vertriebskanal. Allein wegen der Sichtbarkeit in Suchmaschinen gebe es keine andere Wahl, als unter den Mantel des Branchenprimus zu schlüpfen. So bleibt am Ende für viele Konkurrenten die fatalistische und vermeintlich einzige Erkenntnis: Man kann nicht mit Amazon, und man kann nicht ohne. diff --git a/fluter/alles-was-dich-ausmacht.txt b/fluter/alles-was-dich-ausmacht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/alles-was-man-falsch-machen-kann.txt b/fluter/alles-was-man-falsch-machen-kann.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6c754f7d285f07201d4d62fe0edeb872e4d84adf --- /dev/null +++ b/fluter/alles-was-man-falsch-machen-kann.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Knallbunte Collagen hängen in Kuhls Kölner Hinterhofatelier, Szenen aus Hollywoodklassikern wie "Frühstück bei Tiffany", "Der Pate", ein verfremdetes Porträt von Benjamin Franklin, wie ihn der 100-Dollar-Schein zeigt. Es sind Ikonen der Konsumwelt, das Geld, das Glitzernde, das Verruchte. Jetzt, in Freiheit, will Kuhl Handtaschen mit Blumenmotiven bedrucken und sie für 1.500 bis 2.000 Euro pro Stück an die "Schickimickis" bringen, an Damen, "die Louis Vuitton kaufen und Gucci und so etwas". Aber die Siebdruckmaschine ist kaputt. Zwei Bekannte sind gekommen und wollen sie reparieren. Wirklich bezahlen kann Kuhl sie nicht, und im Flüsterton, aus Scham, aber vielleicht auch weil ihm das Konspirative liegt, bietet er ihnen dafür eines seiner Bilder. Es ist nicht das erste Mal, dass Kuhl wieder ganz unten anfängt. Er hat die Schule abgebrochen und nur mit Mühe die Lehre zum Fotokaufmann durchgezogen. Lieber tauchte er ins Nachtleben ein, zog mit Kumpels aus der Kölner Unterwelt um die Häuser. In den Sechzigern bat ihn einer, Kuhl, den Langen, der seine Sachen ständig selbst passend nähte, lederne Hotpants zu schneidern. So wurde Kuhl Modemacher, erst knappe Damenhosen, später Jacken, er gründete eine Firma und verlor sie, weil ihn ein Freund betrog. In den Achtzigern verdiente er gut mit Kunstdrucken im Stile des Pop-Art-Malers Andy Warhol. Er imitierte den Imitator, wurde reich, sparte nie, an Roulette-Tischen gewann er und verlor. +Es ist ein Leben wie im Rausch, Partys, Frauen, Drogen. Kuhl erinnert sich an eine kleine Beobachtung vor Jahren, die viel offenbarte. Im Porsche schoss er Richtung München, freie Bahn, als ihm kurz bange wurde: Wenn du hier durch die Leitplanke fliegst und im Feld stirbst, wird dich niemand finden, alle sind weit weg. "Dass ich einfach mal vom Gas gehen könnte", sagt Kuhl, "auf die Idee bin ich gar nicht gekommen." Läuft das Spiel, zieht er es durch. Auch zum Geldfälschen hat Kuhl sich irgendwie verführen lassen und es dann durchgezogen. Das erste Mal war Ende der neunziger Jahre. Kuhl hatte eine Kunstserie mit D-Mark-Scheinen gemacht, Collagen mit vergrößerten Details. Das war vielleicht der Grund, weshalb ein Freund ihn fragte, ob er nicht einmal etwas Ähnliches machen könnte, kleiner, authentischer. Über ein paar Ecken sollte das an zwei Schweizer Immobilieninvestoren gehen. Deren arabische Geschäftspartner verlangten angeblich, dass sie mit einem Koffer, gefüllt mit knapp fünf Millionen Dollar, ihre Liquidität demonstrierten. Reine Formsache, nichts wirklich Krummes. Für Kuhl sollte es zwei Millionen Mark geben. "Kommt nicht in Frage", will Kuhl gesagt haben. "Ich habe auch nicht die passende Maschine für so etwas." +Sie legten noch einmal 200.000 Mark obendrauf, und Kuhl überlegte hin und her, na ja, dachte er, die Scheine kämen ja nie in Umlauf, sie würden einmal gezeigt und dann vernichtet. Wie Spielgeld. Das Problem war bloß, dass es keine Investoren gab, kein Immobilienprojekt, keine misstrauischen Araber. Hinter der Geschichte steckten verdeckte Ermittler des BKA. Sagt Kuhl jedenfalls. Sie erst hätten aus ihm einen Geldfälscher gemacht. "Nur damit sie einen Fahndungserfolg haben und ihre Beförderung kriegen." +Viereinhalb Monate saß Kuhl in Untersuchungshaft, in Stuttgart-Stammheim, eine Zelle unter der, in der sich einst der RAF-Terrorist Andreas Baader erschossen hatte. Immerhin kam Kuhl mit einer Bewährungsstrafe davon, womöglich weil die Geschichte so seltsam war. Alle haben mich beschissen, dachte Kuhl, packte seine Sachen in einen Transporter, fuhr nach Barcelona, von da auf die Fähre, und versuchte ein neues Leben auf Mallorca. Aber er kam nicht so richtig rein in den lokalen Kunstmarkt, und im Winter, wenn der Strand matschig war und die Insel ausgefeiert hatte, langweilte er sich unendlich. Keine zwei Jahre später war er wieder in Köln. Ein Kumpel aus dem Milieu, den man dort den Albaner nannte, kam in Kuhls Atelier vorbei. Schön, dass du wieder da bist, Jürgen. Er packte mit an, strich Bilderrahmen. "Heute weiß ich, warum", sagt Kuhl. +Wenn Kuhl über die schlechten Geschäfte klagte, orakelte der Albaner nur: "Tja Junge, du könntest doch in drei Monaten aus deinem Schlamassel raus sein." "Lass deine Sprüche", entgegnete Kuhl, wieder und wieder und irgendwann nicht mehr. Er habe da jemanden, sagte der Albaner, in der Heimat, die brauchen da Dollar, sichere Sache. Es ist schwer zu verstehen, warum Kuhl sich wieder hinreißen ließ. Das Geld? "Ein Köfferchen für die Rente", sagt er, "klar, das war interessant." Aber eine Ahnung, was ihn trieb, bekommt man erst, wenn man sieht, wie er einen 100-Dollar-Schein durch die Hände gleiten lässt. Wie er Benjamin Franklin wehmütig in die Augen blickt, über die Farbe streicht, die man fühlen kann, was man mit einer normalen Druckmaschine so eigentlich nie hinbekommt. "Hunderte Spezialisten", sagt Kuhl mit glänzenden Augen, "sitzen da dran, um den Schein fälschungssicher zu bekommen." Andere lösen Sudoku, Kuhl knackt Geld. +Er scannte den Schein ein. Vergrößerte ihn. Studierte jede Rille. Änderte mit Photoshop die Seriennummern. Wälzte Hunderte Musterbücher mit Papierproben. Er mischte Farbe, gab Chemikalien dazu, damit sie schnell trocknet und sich auf dem Papier fast so erhaben anfühlt wie beim Original. Beim Rühren spritzte ihm ein Grüntupfer auf die Hand und ätzte die Haut weg. Gut ein Jahr dauerte die Produktion, doch als die Dollar fertig waren, 16,5 Millionen insgesamt, war der Käufer weg. Tja, sagte der Albaner, vielleicht liquidiert von der Mafia, weiß man nicht. "Ohne garantierten Abnehmer hätte ich die ganze Scheiße niemals durchgezogen", schimpfte Kuhl. Das Geld packte Kuhl in Umzugskartons, mietete einen Container an und lagerte sie ein. Und da wären all die Blüten auch geblieben, beteuert Kuhl, wenn nicht eines Tages eine Eventmanagerin, vielleicht Ende 20, namens Susanne Falkenthal sein Atelier betreten hätte. Seinen Frauengeschmack hatte man durchaus getroffen, für Kuhl, den Charmeur, hieß sie bald nur noch Susanne. +Ursprünglich sollte Susanne für eine andere Kundin ein Bild abholen, aber dann sah sie Kuhls Kunst und war so angetan, dass sie ihn fragte, ob er ihr nicht Einladungskarten für ein Geschäftsevent in Litauen machen könnte. Vielleicht etwas mit einem Dollarmotiv. Ein paar Wochen später kam sie begeistert wieder, an der Hotelbar sei sie angesprochen worden, ob sie nicht irgendwo falsche Dollar auftreiben könne. Sie flachsten. "Na ja", meinte Kuhl irgendwann, "ich könnte mich mal in Druckerkreisen umhören." Vorher fährt er nach Essen zu ihrer Eventagentur, eine ansehnliche Büroetage, erkundigt sich nach Susanne und lässt sich von der Dame am Empfang sagen, Frau Falkenthal sei gerade geschäftlich in Lettland. Na gut, denkt Kuhl. Für einen Tag im Mai 2007 vereinbaren sie die Übergabe. +Das BKA weiß da schon längst von Kuhls Fälscherei. Acht Monate vorher war auf der Deponie ein Gabelstaplerfahrer in einen der blauen Müllsäcke gefahren, die Kuhl und der Albaner dort entladen hatten. Zerschredderte Fehldrucke quollen heraus. Die Ermittler sortierten Schnipsel für Schnipsel und puzzelten einen Brief von der Versicherung zusammen, adressiert an Kuhl, der irgendwie unter die Abfälle geraten sein musste. 16.000 Telefonate hörten sie ab, bezogen heimlich ein Haus gegenüber von Kuhls Atelier, sie wollten wissen, für wen die falschen Millionen bestimmt waren, und dann zuschlagen. Aber es gab keinen Abnehmer. Am Tag der Übergabe beschleicht Kuhl kurz ein mulmiges Gefühl, wie im Porsche damals. Er packt eine Sporttasche für die ersten Tage im Gefängnis. Jetzt geht es entweder schief, oder es klappt, Kopf oder Zahl. Zum Bremsen ist es zu spät. +Kuhl hilft Susanne gerade, die gelben Pakete in den Kofferraum zu laden, als ein Lkw in die Einfahrt rollt und die GSG-9- Männer herausspringen. Susanne, die wohl nie so hieß, sieht er im Gefecht nur noch in einen Dienstwagen des BKA steigen. So ein Theater, so ein Riesenaufwand für nichts, denkt Kuhl, aber die Susanne, die hat ihren Part gut gespielt, denkt er anerkennend, als er abgeführt wird. Die hat ihn sehr gut ausgetrickst. diff --git a/fluter/alles-was-recht-ist.txt b/fluter/alles-was-recht-ist.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/alles-wichtige-zum-thema-punk-ausser-musik.txt b/fluter/alles-wichtige-zum-thema-punk-ausser-musik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..36687ea2e9dca950a59174462af1ee8817725653 --- /dev/null +++ b/fluter/alles-wichtige-zum-thema-punk-ausser-musik.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +Rule the waves: Die Sex Pistols unternehmen eine Bootstour um ihre Single "God save the Queen" vorzustellen – inmitten der Festwoche zum silbernen Kronjubiläum von Elisabeth II. (Foto: Brian Cooke / Kontributor) + + +2. Der Film "Rock 'n' Roll Highschool" (1979) +Die Handlung ist schnell erzählt: Rock 'n' Roll-liebende Schüler verschleißen Direktoren und lassen friedliche Anarchie in einer Schule ausbrechen. Nur: Die Rock 'n' Roll-Helden wurden nicht, wie vom Produzenten, dem legendären Trash-Horror-Filmemacher Roger Corman, ursprünglich vorgesehen, von Mainstream-Langweilern wie Todd Rundgren oder Cheap Trick gegeben, sondern von den Punkrock-Pionieren themselves, den Ramones. Das Ergebnis: die Punk-Revolution getarnt als Teenie-Komödie, ein Wolf im Schafspelz. Für viele in der Provinz wahrscheinlich der erste, eher zufällige und scheinbar unschuldige Kontakt mit Punk, und auch heute noch ein erstaunlich frischer Film, nicht nur wegen der großartigen Songs der Ramones. + +3. Das Buch "England's Dreaming" von Jon Savage (1991/2001) +Im Vorwort zur 2001 erschienenen Neuauflage seines Standardwerkes schrieb Jon Savage: "Punk hatte Wert darauf gelegt, in einer hyper-intensiven Gegenwart zu leben, aber nun ist er Geschichte – lediglich ein weiterer englischer Traum." Das ist natürlich wahr und richtig, Punk ist Geschichte und wirkt in der Rückschau mitunter wie ein lustiger Karneval, den ein paar verzogene Kunststudenten vom Zaun gebrochen haben. Dass er das durchaus war, aber eben auch mehr, eine musikalische Revolution, ein ästhetischer Umsturz, ein sozialer Aufstand und nicht zuletzt eine politische Bewegung, die an den Grundfesten der westlichen Werteordnung nagte, das kann man nirgendwo so analytisch, hellsichtig, umfassend, gut formuliert und auch noch unterhaltsam nachlesen wie in "England's Dreaming". + +4. Die Mode von Vivienne Westwood +Bereits im Jahr 1971 eröffneten Vivienne Westwood und Malcolm McLaren in London eine Boutique und nannten sie "Let It Rock". Der Laden in der King's Road 430 verkaufte Klamotten, Schallplatten, Memorabilia, Musikmagazine und Sexspielzeug, wurde mehrfach umgetauft, ging aber schließlich unter dem Namen "SEX" in die Popgeschichte ein. McLaren rekrutierte hier die Sex Pistols, und auch sonst ging der Punk-Hochadel hier ein und aus. Chrissie Hynde von den Pretenders arbeitete als Verkäuferin, Adam Ant oder Siouxsie Sioux kauften ein, aber nicht zuletzt wurde Westwood hier zu der Designerin, die die auf den Straßen entwickelte Punkästhetik zu Kleidern schneiderte, die schließlich auch auf Laufstegen und roten Teppichen zu bewundern waren. Dass Punk mehr ist als nur hingerotzter Schrammelrock, dass es auch um künstlerische Selbstermächtigung, um individuellen Ausdruck, um das Ablehnen von Eliten und das Do-it-yourself-Prinzip geht, das wird vielleicht nirgendwo so deutlich wie in der Barock und Müllhalde versöhnenden Mode von Vivienne Westwood. + +5. Die Filme von Julien Temple +Es gibt viele Filme, die von Punk erzählen. Aber niemand hat so viele wichtige Punkfilme gedreht wie Julien Temple. Sein Langfilm-Debüt "The Great Rock 'n' Roll Swindle" (1980) ist Geschichtsklitterung, Grenzüberschreitung, ein großer Klamauk, unglaublicher Schwachsinn und bis heute ein bahnbrechender Musikfilm. Man darf von dieser scheinbaren Nacherzählung der Geschichte der Sex Pistols zwar keine historische Korrektheit erwarten (die holte Temple selbst 21 Jahre später mit "The Filth and the Fury" nach), aber dafür ein damals ästhetisch radikales, großartig konstruiertes Machwerk, das mal Dokumentar-, mal Spielfilm, mal Animation, mal Film noir, mal Nachrichtenkanal, mal Manifest ist, das Traum und Realität, Vergangenheit und Zukunft ebenso konsequent durcheinander bringt wie die verschiedenen filmischen Formen. Der Anblick eines erbärmlich blassen, von den Drogen gezeichneten Sid Vicious, wie er, nur bekleidet mit einem viel zu kleinen Schlüpfer, den Eddie-Cochran-Klassiker "Somethin' Else" singt und sich ständig am Sack kratzt, ist eines von vielen mittlerweile ikonografischen Bildern aus diesem Film geworden. Temple, der auch viele Musikvideos inszenierte, ist dem Thema Musik und vor allem dem Punk immer treu geblieben. + +6. Der Talkshow-Auftritt von Nina Hagen (1979) + +Nina Hagen bei Club 2 + +Das österreichische Fernsehen dachte sich nichts Böses, als es Nina Hagen am 9. August 1979 in die Talkshow Club 2 einlud. Hagen war damals eine recht erfolgreiche Rocksängerin, die für ihren kapriziösen Gesang und ihr noch exaltierteres Auftreten berühmt war und in ihrer Musik geschickt den damals noch als extrem provokativ geltenden Punkrock popularisierte. Kurz vor Mitternacht demonstrierte die damals 24-jährige Hagen den anderen Studiogästen und dem Fernsehpublikum, an welchen Stellen und mit welchen Methoden sich eine Frau erfolgreich sexuell befriedigen könne. Die darauffolgende Aufregung beförderte den Moderator der Sendung in die Arbeitslosigkeit und die Hagen zur Skandalnudel, bewies aber vor allem wie verklemmt die Gesellschaft damals noch war. + +7. Die Kunst der Neuen Wilden +Die grundsätzliche Idee von Punk war simpel: Jeder kann Musik machen. Handwerk galt plötzlich sogar als hinderlich, wenn man zu einem unverstellten, direkten Ausdruck gelangen wollte. Andere Kunstformen übernahmen dieses Prinzip: In der Malerei setzten dieNeuen oder auch Jungen Wildenin den frühen 1980er-Jahren diese Idee in Deutschland, aber auch anderen europäischen Ländern und Nordamerika mit zuerst großem künstlerischen und später dann auch kommerziellen Erfolg um. Viele der Künstler übersetzten nicht nur den rotzigen Punkrock in Malerei, oft mit großformatigen, grellen Bildern mit figurativen Motiven und wuchtigen Pinselstrichen, sondern pflegten auch direkte Verbindungen zur Musik. Martin Kippenberger führte eine Weile den legendären Berliner Punk-Club SO 36, Markus Oehlen spielte in Bands wieMittagspause,Fehlfarbenoder The Red Krayola, und auch Salomé gründete in der Berliner Bar Dschungel eine Punkband namensGeile Tiere. +Kunst kommt von Chaos: Die Maler Martin Kippenberger und Albert Oehlen beim Wodka-Wetttrinken in der Wiener Kneipe "Club" (Fotos: ullstein bild - Imagno / Didi Sattmann) +8. Das Klagenfurter Blutbad von Rainald Goetz (1983) +Rainald Goetz ist kaum einer Jugendbewegung begegnet, in die er nicht eingetaucht wäre. Aber bevor er der literarische Prophet des Techno wurde, war der 1954 geborene Schriftsteller ein Punk. Sein erster Roman "Irre" (Suhrkamp) war wie ein guter Punkrock-Song: ein verzweifelter, nihilistischer Aufschrei eines gesellschaftlichen Außenseiters. Als Goetz beim Literaturwettbewerb in Klagenfurt 1983 vor Jury und Publikum aus dem Buch vorlas, ritzte er sich mit einer Rasierklinge die Stirn auf und ließ das Blut auf sein Manuskript tropfen. Goetz in Klagenfurt, das ist bis heute die ultimative Punkgeste in der Literaturgeschichte geblieben. +Rainald Goetz: Ingeborg Bachmann-Preis +Titelbild: "JORDAN OUTSIDE OF SEX " Sheila Rock +Thomas Winkler, 51, entdeckte Punk erst mit Provinz-bedingter Verspätung. Erstes Album: "London Calling" von The Clash diff --git a/fluter/alltag-im-knast.txt b/fluter/alltag-im-knast.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..245133442a212577a88a2c7d51f63c06207251f1 --- /dev/null +++ b/fluter/alltag-im-knast.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +Wird der Haftraum regelmäßig untersucht? +Die Gefängnismitarbeitenden müssen durch das "Guckloch" in der Tür immer einsehen können, was der Insasse gerade macht. Die Hafträume werden außerdem regelmäßig und in unregelmäßigen Zeiträumen gründlich durchsucht. +Wie viel "kostet" ein Gefangener am Tag? +Die Tageshaftkosten sind sehr unterschiedlich. In Hamburg schwanken die täglichen Kosten je nach Auslastung der Anstalten zwischen ca. 150 und 180 Euro, berichtet Marco Lange, der Pressesprecher der Hamburger Justizbehörde. In Baden-Württemberg rechnet das Justizministerium dagegen mit rund 120 Euro je Häftling am Tag. Den größten Anteil daran haben Personal- und Gebäudekosten. +Dürfen Gefangene fernsehen und im Internet surfen? +Fernseher sind in der Regel in der Zelle erlaubt. Sie können im Gefängnis gemietet oder als Neugeräte mitgebracht werden. Ganz anders ist es beim Internet: Grundsätzlich herrscht für die meisten Insassen ein Internetverbot. Das hat vor allem Sicherheitsgründe: Das Internet könnte zur Strafvereitelung genutzt werden, oder um Straftaten zu planen. Es gibt jedoch Ausnahmen von dem Verbot: In manchen JVAs dürfen die Gefangenen per Internet-Terminal unbedenkliche Angebote wie die Website des Arbeitsamtes, Wikipedia oder Hochschulangebote für ein Fernstudium nutzen. +Dürfen die Gefangenen ein Smartphone haben? +Innerhalb der Justizvollzugsanstalten dürfen keine Smartphones genutzt werden. Allerdings werden immer wieder Handys gefunden, die ihren Weg in die Anstalten gefunden haben. Allein in Berlin wurden laut Justizverwaltung 2017 1.303 Mobiltelefone beschlagnahmt. Erst im Rahmen von Lockerungen wie Ausgang oder Freigang dürfen private Handys benutzt werden. Diese müssen nach Rückkehr in die Anstalt wieder abgegeben werden. Für denKontakt zur Außenweltgibt es aber in jedem Trakt fest installierte Telefone, mit denen Gefangene auf eigene Kosten telefonieren können. + +Müssen Inhaftierte eigentlich arbeiten? +Strafgefangene können in 13 Bundesländern bis zu drei Monate im Jahr gesetzlich zur Arbeit verpflichtet werden. Davon ausgenommen sind Menschen über 65 Jahre sowie werdende und stillende Mütter. Sicherungsverwahrte und Untersuchungsgefangene dürfen, müssen aber nicht arbeiten. Die Regelarbeitszeit beträgt acht Stunden am Tag, von Montag bis Freitag. Die Wochenenden sind auch im Gefängnis frei. Die Arbeiten sind ganz unterschiedlich, von Putzen im Gefängnis über Hilfe in der Küche bis zur Arbeit in verschiedenen Werkstätten. Hier wird oft für externe Betriebe produziert, zum Beispiel Ventile für Autobremsen oder Schaltkästen für Elektrobetriebe. Die Arbeit gilt als einwichtiger Bestandteil der Resozialisierung. Dazu gehören auch Aus- und Weiterbildungsangebote. Insassen können zum Beispiel ihren Schulabschluss nachholen, eine Berufsausbildung machen und in manchen Gefängnissen sogar studieren. +Werden Inhaftierte für ihre Arbeit im Gefängnis entlohnt? +Ja, allerdings liegt die Bezahlung weit unter demgesetzlichen Mindestlohn: Inhaftierte bekommen zwischen 9 und 18 Euro, je nach Bundesland und Qualifikation – allerdings nicht pro Stunde, sondern pro Tag. Diese geringe Vergütung – Kritiker sprechen auch von Lohndumping – sorgt immer wieder für Diskussionen. +Als Orientierung ist im Strafvollzugsgesetz der Länder eine Vergütung von neun Prozent des Grundlohns veranschlagt, also dem Durchschnittseinkommen aller Versicherten der gesetzlichen Rentenversicherung im vorvergangenen Jahr. 2018 betrug diese Vergütung 13,15 Euro. In die Rentenversicherung zahlen die Insassen übrigens nicht ein. Von ihrem Lohn wird nur ein kleiner Anteil für die Arbeitslosenversicherung abgezogen. +Für die Gefängnisse wiederum lohnt sich die Arbeit für die Industrie. Allein in Bayern machten die Haftanstalten im letzten Jahr einen gemeinsamen Umsatz von 41,5 Millionen Euro. Das Geld fließt in die Landeskasse, die Kosten für die Versorgung und Unterbringung der Gefangenen deckt es allerdings nicht. +Pingpong spielen geht okay, aber was ist mit Sex? Mehr über zwischenmenschliche Beziehungen hinter Gitternlest ihr hier +Dürfen Gefangene ein Konto haben? +Gefangene verfügen über ein Anstaltskonto, auf das Bezugspersonen von draußen Geld überweisen können. Damit können die Gefangenen Einkäufe tätigen oder telefonieren. Auch ein Teil des Arbeitslohns geht auf dieses Konto. Von dem größeren Rest muss der Gefangene ein Überbrückungsgeld für die erste Zeit nach der Entlassung ansparen. Durch das niedrige Gehalt sind das meistens kaum mehr als 1.500 bis 2.000 Euro. +Welche Einkaufsmöglichkeiten gibt es im Gefängnis? +Oft gibt es einen kleinen Laden für Süßigkeiten, Zeitungen, Getränke oder Zigaretten. Auch Sonderbestellungen sind beim Anstaltskaufmann möglich. Alle verkauften Waren müssen allerdings von der Anstalt freigegeben werden. +Welche Freizeitangebote gibt es im Gefängnis? +In der Regel haben Inhaftierte pro Tag eine Stunde Hofgang im Freien. Die Freizeitangebote reichen von einem Kraftraum über Fußballmannschaften bis zu Kochkursen oder eigenen Bands. Gelegentlich finden auch Konzerte oder Kinovorführungen im Gefängnis statt. Außerdem gibt es in den meisten Gefängnissen eine Bücherei, regelmäßige Gottesdienste und Gesprächsrunden. +Dürfen Gefangene wählen? +Grundsätzlich haben alle Gefangenen die Möglichkeit, sich per Briefwahl anWahlenzu beteiligen. Bei sehr schweren Straftaten wie dem Verrat von Staatsgeheimnissen oder Abgeordnetenbestechung können Gerichte den Gefangenen das aktive Wahlrecht für zwei bis fünf Jahre entziehen. Wer mindestens ein Jahr im Knast sitzt, darf sich für die folgenden fünf Jahre nicht bei Wahlen aufstellen lassen (passives Wahlrecht). +Was, wenn ein Inhaftierter krank wird? +Im Gefängnis gibt es Ärzte, die die Insassen untersuchen und behandeln. Sie sind entweder fest angestellt oder niedergelassene Hausärzte, die sich für ein paar Stunden pro Woche um die Insassen kümmern. Viele Gefangene habenSuchtproblemeund machen im Knast einen Entzug. Auch verschleppte Infektionskrankheiten, Diabetes oder alte Verletzungen sind auf der Krankenstation an der Tagesordnung. Besonders schwere Fälle werden in einem Gefängniskrankenhaus behandelt. + +Titelbild: Jordis Antonia Schlösser/OSTKREUZ diff --git a/fluter/als-bedienung-auf-dem-oktoberfest.txt b/fluter/als-bedienung-auf-dem-oktoberfest.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..db8a74ad15c15e07d15b58020dfa6fe4ed3b89c8 --- /dev/null +++ b/fluter/als-bedienung-auf-dem-oktoberfest.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Während der Wiesn arbeite ich 17 Tage durch. Deshalb muss ich davor und danach drei Tage freinehmen. So will es das Arbeitsschutzgesetz. Unsere Frühschicht beginnt unter der Woche um neun Uhr und am Wochenende um acht Uhr. Wir wischen die Tische ab, richten sie aus, stellen Besteck und Speisekarten bereit. Eine Stunde später ist Einlass, die ersten Gäste kommen und bestellen. Die Spätschicht bleibt bis 23 Uhr, wenn die Zelte zumachen. Eine Schicht dauert um die zehn Stunden. +Meine Mittagspause verbringe ich oft im Biergarten eines kleinen Zeltes. Der Garten ist zwar für alle zugänglich, aber ein Hotspot unter uns Kollegen. Hier sitzen dann 20 bis 50 Bedienungen, trinken Weißbier und lästern über die Gäste. Gestern hat eine erzählt, dass bei einer Betriebsreservierung ein Angestellter in die Schuhe der Chefin gekotzt hat, die unter dem Tisch standen. +Auch bei uns im Zelt passiert es, dass jemand über den Durst trinkt. Kotzt ein Gast, hole ich die Security, die verweisen die Person des Zeltes. Eigentlich ist es die Aufgabe der Hausmeister, das wegzuwischen. Erreichen wir sie nicht und putzen selbst, verlangen wir 30 Euro vom Gast. +Weiterlesen +"Mia san mia" heißt der Wahlspruch der Bayern, und schon wegen dieser Abgrenzung wollte unser Autor kein Bayer sein. Aber dann hat ihn die Magie des Regionalen doch gepackt.Ein Geständnis +Bereits im Vorfeld musste ich einiges organisieren. Eine Unterkunft habe ich über den Wiesn-Wohnungsmarkt auf Facebook gefunden. Ich teile mir nun ein Zimmer mit einer Freundin, die auch auf dem Oktoberfest arbeitet. Der Festwirt gibt vor, welche Tracht wir anziehen sollen. Deswegen musste ich mir für 140 Euro ein neues Dirndl kaufen. +Wir bekommen kein Geld vom Festzeltbetreiber, für den wir arbeiten, sondern nur durch verkaufte Maß. Jeder aus meinem Team hat 3.000 Euro seines privaten Geldes investiert, damit wir davon die ersten Bierchips kaufen konnten. Mit den Bierchips, die ein bisschen wie Pokerchips aussehen, bezahlen wir. Es gibt auch fortschrittlichere Zelte, in denen die Bedienungen einen Kellnerschlüssel haben, auf den sie Geld laden und digital bezahlen. Der Bierpreis ist zurzeit super für uns. Wir kaufen eine Maß Bier für 12,19 Euro ein und verkaufen sie für 13,40 Euro an den Gast weiter. Die meisten runden auf 15 Euro auf.Das Trinkgeldmacht also den größeren Anteil unseres Verdiensts aus. An einem Bier verdiene ich etwa 2,80 Euro. +Mir ist wichtig, dass sich die Gäste wohlfühlen. Ein bisschen flirten gehört zum Beruf dazu und stört mich nicht. Sprüche wie "Oh, du bist so schön" oder Küsschen rechts und links von fremden Besuchern erlebe ich häufig. Mich hat zum Glück noch nie jemand betatscht, aber ein paar Kolleginnen haben erzählt, dass ihnen an den Hintern gefasst wurde. +Einer meiner männlichen Kollegen wird gefühlt häufiger angemacht. Frauen fragen ihn oft nach seiner Handynummer oder ziehen ihn am Kragen zu sich, um ihm ungefragt ein Bussi zu geben. Besonders krass fand ich, als mir ein Gast einen Teller Rahmschwammerln aus der Hand geschlagen hat und diesen nicht bezahlen wollte. Ich bin hartnäckig geblieben, daraufhin meinte er: "Hier hast du einen Fuffi, und jetzt verpiss dich, du Schlampe." +In unserem Team sind wir zwischen 22 und 47 Jahre alt. Ich kenne auch Bedienungen, die 70 Jahre alt sind und den Job immer noch machen. Das ist beeindruckend, denn eine einzelne Maß hat ein Gewicht von 2,3 Kilo – ein Kilo Bier, 1,3 Kilo Krug. Und zehn Maß sollte eine Bedienung schon auf einmal tragen können. Ein paar meiner Kolleginnen tragen zur Sicherheit Bandagen an den Armen und Knien. +In den zwei Wochen nehme ich Grippostad als Dauermedikation ein, neben Zink, Vitamin D und Ingwer-Kurkuma-Shots – lauter Sachen, die das Immunsystem ein bisschen stärken oder auch nur den Anflug einer Erkältung unterdrücken. Auf dem Oktoberfest sind wir einem ständigen Temperaturwechsel ausgesetzt: Zwischen den Gästen im Zelt ist es sehr warm, bei der Schanke, durch die Bierkühlung, dagegen ziemlich kalt. Dadurch sind die meisten von uns immer ein bisschen krank. Soweit ich weiß, testet sich niemand aufCorona. Man ist krank, aber wir nennen das dann eben die "Wiesngrippe". +Jeden Tag machen wir eine Abrechnung – teilen unseren Gewinn durch fünf. Aktuell verdiene ich am Tag um die 400 Euro. Beim letzten Oktoberfest habe ich insgesamt etwa 7.000 Euro brutto verdient. + +Weitere Texte aus der Reihe "So ist es, ich zu sein"findest du hier. + diff --git a/fluter/als-berufsbetreuer-arbeiten.txt b/fluter/als-berufsbetreuer-arbeiten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b0384aa13eed3797cbeea3758bf69eacedbd8744 --- /dev/null +++ b/fluter/als-berufsbetreuer-arbeiten.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Eine staatlich anerkannte Ausbildung gibt es für Berufsbetreuer in Deutschland nicht. Also habe ich mich intensiv in Erbrecht und Unterhaltsrecht weitergebildet und mich dann schrittweise selbstständig gemacht. Ich bin außerdem der Meinung, dass vor allem ‚Soft Skills' wichtig sind für diesen Job. Man muss sich in die psychische Situation des Gegenübers hineinversetzen können. Welche Geschichte steckt hinter den Menschen? Welche Themen darf ich,zum Beispiel wegen eines Kindheitstraumas, nicht ansprechen? Gleichzeitig muss man eine wahnsinnige Geduld haben und sich auch mal durchsetzen können. Heute führe ich ein Betreuungsbüro und arbeite dort gemeinsam mit einer Mitarbeiterin. Pro Klient und Stunde bekomme ich zwischen 22 Euro und 44 Euro. Aktuell betreuen wir 44 Menschen. Vorwiegend ‚junge Wilde', wie ich sie gern nenne. +Unter ihnen ist zum Beispiel ein junger Mann, der mit 18 aus der Jugendhilfe geflogen ist, weil er sich krankheitsbedingt – er ist drogenabhängig und hat eine Psychose – nicht an die Regeln halten konnte. In seiner neuen Wohnung hatte er seine Miete nicht gezahlt und wurde fristlos gekündigt. Sobald das monatlicheHartz IVauf seinem Konto eintrudelte, hat er es abgehoben und innerhalb der ersten zwei Wochen verprasst. Als sein Betreuer kümmere ich mich nun um seine Angelegenheiten im Bereich Wohnung, Gesundheit, Behörden und Finanzen. Ich regle zum Beispiel, wie viel Geld ihm pro Woche zur Verfügung steht. Ich kann Verträge rückgängig machen – zum Beispiel, wenn er einen Handyvertrag abschließt, den er sich gar nicht leisten kann. Und ich verwalte seine Post, das heißt, seine Briefe, die er sonst wegschmeißen oder verbrennen würde, werden an mich geschickt. Seine private Post darf ich natürlich nicht öffnen, die gebe ich an ihn weiter. Ein paarmal die Woche kommt ein Pflegedienst zu ihm, kümmert sich darum, dass er seine Medikamente nimmt und geputzt und eingekauft wird. Rechtliche Betreuer machen das niemals selbst, sondern sorgen dafür, dass alles geregelt wird. Ich bespreche jede einzelne Angelegenheit mit ihm, entscheide nicht über ihn hinweg. Die Büokratie kann ziemlich nervig sein an diesem Job – manchmal liegen Schreiben wochenlang beim Amt, bevor sie bearbeitet werden. Persönlich sehe ich den Klienten einmal im Monat. +Manchmal treffe ich Klienten zufällig bei einem Bummel in der Stadt. Wenn sie mit mir einen Kaffee oder Bier trinken und plaudern wollen, lehne ich freundlich, aber konsequent ab und entgegne: ‚Das ist ja toll, ich habe eine sehr gute Kaffemaschine in meinem Büro, kommen Sie doch gern morgen früh vorbei!' Mir ist es wichtig, dass ich eine klare Grenze ziehe zwischen meinem Privatleben und meinem Job. Nur so schaffe ich es, dass ich nicht mit den Sorgen der Betreuten schlafen gehe. +Grundsätzlich kann jede Person eine Betreuung für jemanden vorschlagen – das kann auch ein Fremder sein, der das Gefühl hat, dass seine Nachbarin mit dem Leben nicht mehr richtig fertig wird. Jede dieser Anfragen landet erst mal beim Betreuungsgericht. Die schicken dann Sozialarbeiter vorbei und lassen, wenn es wirklich einen Anlass gibt, ein amtsärztliches Gutachten anfertigen, ein Attest der Hausärztin oder ein psychiatrisches Gutachten. Es muss eine körperliche oder psychische Behinderungoder eine schwere Drogenabhängigkeitfestgestellt werden. Und jemand muss aufgrund dessen mit seinem Leben nicht klarkommen. Mein Eindruck ist, dass viele der Betroffenen sich auch selbst eine Betreuung wünschen. Wenn die erst mal eingerichtet ist, läuft sie in der Regel zwei Jahre lang. Spätestens dann bewertet ein Richter den Fall neu. +Oftmals empfindet das engere Umfeld die Lage etwas anders als die Betreuten selbst. Ich betreue zum Beispiel einen 80-Jährigen, der eine leichte Demenz hat. Seine Familie wollte ihn schon vor einigen Jahren ins Altersheim schicken, weil er einmal den Herd angelassen hat und seine Wohnung abbrannte. Der Herr selbst wollte aber nicht ins Heim und war zufrieden, auch seine Nachbarn meinten, dass er gut zurechtkomme und zuvor noch nie etwas passiert sei. Er lebt mittlerweile seit fünf Jahren statt im Heim in einer neuen Wohnung und bekommt Unterstützung beim Putzen. Und wenn er vergisst, seinen Schlüssel mitzunehmen, hilft ihm der Nachbar mit einem Ersatzschlüssel aus. In diesem Fall konnte ich für die Rechte eines Menschen einstehen, die sonst verletzt worden wären. Das mag ich besonders an meinem Job." + +Collage: Renke Brandt diff --git a/fluter/als-der-jazz-die-flucht-ergriff.txt b/fluter/als-der-jazz-die-flucht-ergriff.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7a584a908ff15c479a323de0864402d37984686d --- /dev/null +++ b/fluter/als-der-jazz-die-flucht-ergriff.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Gleichzeitig sorgte der Erste Weltkrieg dafür, dass im Norden Arbeitskräfte für die Rüstungsindustrie gesucht wurden. Auch andere Industrien boomten. Und so kam es zu einer regelrechten Massenbewegung: Die sogenannte Great Migra-tion war eine "Revolution ohne Führer", wie die Journalistin Isabel Wilkerson in ihrem Bestseller "The Warmth of Other Suns" schreibt. Es gab Wochen, in denen täglich Hunderte Migranten aus dem Süden Chicagos Bahnhöfe erreichten. Allein hier wuchs die Zahl der Afroamerikaner in den 30 Jahren nach 1910 von 40.000 auf knapp 280.000. +Die "Große Migration" sollte die USA für immer verändern, denn die Menschen waren gekommen, um zu bleiben. Viele der meist schlecht ausgebildeten Arbeiter aus dem Süden standen ökonomisch aufgrund der florierenden Industrie nun auf eigenen Beinen und konnten ihren Kindern eine bessere Bildung ermöglichen. Ein neues Selbstbewusstsein entstand, was den Grundstein für die spätere Bürgerrechtsbewegung legte. +Die Afroamerikaner brachten auch den Jazz mit nach Norden, von wo aus er dann im Sturm die Metropolen der Welt eroberte. In den neuen "schwarzen" Stadtvierteln wie der South Side Chicagos oder Harlem in New York blühte das Nachtleben. Weiße begannen, die Musik der Schwarzen zu hören und nicht selten selbst zu spielen. Die ersten "gemischten" Bands entstanden, schwarze Musiker ernteten Anerkennung, und ihre Plattenverkäufe schossen in die Höhe. +Die "wunderbare Welt", die Armstrong in seinem gleichnamigen Song beschrieb, wurde für manch Schwarzen Realität. Doch die Geschichte der "Großen Migration" ist auch eine Geschichte von geplatzten Träumen. So mussten schwarze Musiker selbst im liberalen New York oft den Hintereingang benutzen, wenn sie in einem von Weißen besuchten Club auftraten. Vor allem aber setzte sich die Rassentrennung des Südens in den Siedlungsstrukturen des Nordens fort. Schon bald gab es in Städten wie Chicago oder Baltimore Stadtviertel, die fast ausschließlich von Schwarzen bewohnt wurden. Die Weißen, die dort bislang gelebt hatten, fürchteten den Preisverfall ihrer Immobilien, Gewalt oder schlicht die Veränderung ihres Lebensumfelds und zogen in andere Teile der Stadt – ein Phänomen, das als "White Flight", als "Flucht der Weißen" bekannt wurde. Der Boom der Autoindustrie nach dem Zweiten Weltkrieg beschleunigte diese Entwicklung noch. Die, die es sich leisten konnten, bauten sich neue Häuser am Stadtrand und pendelten mit dem Auto zum Arbeitsplatz. Zurück blieben vor allem Schwarze, die wegen ihres geringen Einkommens nur wenig Steuern zahlten – was zu einem Verfall der Krankenhäuser, Schulen und der Infrastruktur führte. Eine stadtplanerische Katastrophe nahm ihren Lauf. +Ein extremes Beispiel dieser Entwicklung ist die Stadt Flint, wo 1908 der Automobilkonzern General Motors gegründet wurde. Die Einwohnerzahl kletterte von 13.000 im Jahr 1900 auf 156.000 in 1930 – darunter viele Afroamerikaner. Musikclubs eröffneten, Bürotürme wuchsen in den Himmel. Das ging bis 1960. Dann kamen Flint im Zuge der Automatisierung und Globalisierung erst die Industriejobs abhanden, dann die Menschen. Wer es sich leisten konnte, zog weg. +Doch natürlich gibt es auch Orte in den USA, die sich anders entwickelten, Orte der gelebten Vielfalt, wo Schwarze und Weiße, Hispanics und Asian Americans Tür an Tür leben. Vor allem in den hippen Quartieren und Uni-Vierteln der Großstädte ist das so. In Williamsburg in New York, Wicker Park in Chicago oder San Franciscos Mission District. Allerdings ist die soziale Mischung überall dort gefährdet, wo Viertel gerade wegen ihrer Vielfalt in Mode kommen und einkommensstärkere Mieter und Käufer die Preise hochtreiben. Diese Gentrifizierung ist zum Beispiel in Brooklyn stark zu spüren. +"Ich höre Babys schreien, ich sehe sie aufwachsen, sie werden viel mehr lernen, als ich jemals wusste, und ich denke mir: Was für eine wundervolle Welt", so lauten einige Zeilen des Armstrong-Songs "What a Wonderful World". Für die meisten Nachkommen derer, die während der "Great Migra-tion" in die heute abgehängten Stadtviertel der US-Großstädte gezogen sind, ist das ein Wunschtraum geblieben. Joel Stone, Kurator bei der Historischen Gesellschaft Detroit, drückte es in einem Interview so aus: "Wir mussten die Erfahrung machen, dass Integration manchmal 100 Jahre dauern kann." diff --git a/fluter/als-punker-auf-dem-dorf.txt b/fluter/als-punker-auf-dem-dorf.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d4dbe73f9f2bac0ab1da9f57047d25cd54247895 --- /dev/null +++ b/fluter/als-punker-auf-dem-dorf.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Die Stadt meiner Kindheit, Abensberg, ist, was Menschen, die viel von Ordnung und nichts von Poesie verstehen, als "Mittelzentrum" bezeichnen. Ein Ort mit renoviertem histori- schen Stadtkern und einem Geschwür von Einkaufszentrum am Stadtrand. Drei Kirchen, genauso viele Brauereien, ein Judo-Leistungszentrum und immer noch derselbe Bürgermeister wie 1993. +An einen Iro hat sich unser Autor nicht getraut. Wild war er trotzdem +In der Antike lag Abensberg an der Grenze des Römischen Reiches, heute liegt es wie eine Insel irgendwo zwischen Hopfen- und Spargelfeldern. Die nächste große Stadt ist 40 Kilometer entfernt, München eine halbe Realität. +Ich malte Anarchiesymbole in meine Schulblöcke, zeichnete mit Edding Tattoos auf meine Arme und Hände. Ich trug Nietengürtel, die bis zu den Kniekehlen hingen, und Jeans, die an den Knien nicht schnell genug aufreißen konnten. Ich trug T-Shirts mit Totenköpfen und Jacken mit Band-Buttons. Und obwohl ich mich – anders als meine Freunde – nicht traute, mir einen Iro schneiden zu lassen, war ich gefühlt nie härter als damals. +Mit den Fußballern der örtlichen B-Jugend pflegten meine Freunde und ich eine fast innige Feindschaft. Sie nannten uns "Zecken", wir sie "Fußballdeppen". Sie schlugen uns auf der Liegewiese des Freibads, und wir pinkelten in ihre halb leeren Apfelsaftflaschen, während sie im Becken waren. Weil ich wusste, dass ich als Libero nur verlieren konnte, stilisierte ich mich selbst als das Gegenteil. +Ich war gerade 16 geworden, da fragten mich Freunde, ob ich in ihrer Band mitmachen wollte. Skatepunk, Ska, die nächs- ten NOFX, Welttour irgendwann. +Von da an lebten wir im Rhythmus wöchentlicher Bandproben im elterlichen Keller. Wir coverten die Ramones und NOFX und begannen, eigene Songs zu schreiben. Wir spielten in Partykellern von Freunden, bei Geburtstagsfeiern und in der Aula der örtlichen Realschule. Wir hatten Fans, Freunde, die, rückblickend betrachtet, wohl eher trotz unserer Musik kamen – und nicht deswegen. + +Die Band unseres Autors spielte Songs, die "Destroy the System" oder "Fuck the Government" hießen. Eigentlich fühlten sich die Jungs aber ganz wohl in ihrer behüteten Welt + +Unsere erste CD nannten wir "Law and Order". Die Songs hießen "Fuck the Government" und "Destroy the System". Immer öfter fuhren wir weg aus Abensberg. Spielten in München, Regensburg, in Hof, Erfurt und Wien. Die große Welt lag jetzt offen da, und doch sahen wir sie kaum. Tage im Sprinter wechselten sich ab mit Nächten auf Bühnen und Matratzenlagern. +Hätte uns damals jemand gefragt, ob Punk für uns politisch sei, wir hätten ihn wohl empört auf die Songtexte hingewiesen. Unserer Ansicht nach waren wir Band gewordener Widerstand gegen die Engstirnigkeit und die Enge unserer Heimat. Ich erinnere mich an einen Tag auf dem Volksfest, wir mit Nietengürteln und Totenkopfshirts, die anderen in Lederhosen. Wie in jedem Jahr traten Vertreter der Parteien in den Bierzelten auf, irgendwann rief einer von der Bühne in den Bierdunst: "Wir brauchen keine Chaoten!" +Wir waren nie stolzer. Im Kern jedoch gab es eigentlich nichts, wogegen wir wirklich hätten opponieren können. Unsere Eltern waren Erzieher, Sozialpädagogen und Ärzte, sie organisierten Seminare für gewaltfreie Kommunikation. Trotzdem schrien wir samstagnachts im Wald vor der Stadt "Fuck you, I won't do what you tell me". Wir waren Rebellen ohne Gegner, von verständnisvollen Eltern erzogene Mittelschichtjungs, die die Krassesten sein wollten. +Manche Erinnerungen an Erlebnisse von damals sind ganz schön verschwommen. Vielleicht waren sie das aber auch von Anfang an +Und so blieb der Bruch mit dem System, den wir so brachial in unsere frühen Songtexte packten, immer nur Pose. Wir brauchten ja gerade die Enge der Provinz, um uns selbst zu definieren. In der Stadt hätte sich kein Mensch um uns geschert, hier aber war die Rolle des Dorfpunks zu vergeben, und ich übernahm sie mit Freude und Leidenschaft. +Das Ende meiner Zeit als Punkrocker kam schleichend, als ich zu studieren begann. Eine Weile noch versuchte ich Bandproben, Konzerte und mein Leben als Student in einer anderen Stadt unter einen Hut zu bringen. Dann war Schluss. Das Einzige, was von dieser Zeit heute sichtbar bleibt, ist ein tätowierter Stern auf meinem Oberarm, den ich mir mit 19 stechen ließ. Und trotzdem sitze ich jetzt hier, 500 Kilometer und einige Jahre weg von alledem, und bekomme Gänsehaut, wenn "Tropical London" von Rancid durch meine Wohnung dröhnt. Mein Herz schlägt 169 Schläge pro Minute, und ich fühle etwas, das ich lange nicht gespürt habe: wohlige Krassheit. Und Kalifornien liegt für einen kurzen Moment nicht ganz so weit hinter dem Atlantik. + diff --git a/fluter/als-wuerde-man-staendig-kiffen.txt b/fluter/als-wuerde-man-staendig-kiffen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..14fac7cf144f759b17d1e31c5044002670586584 --- /dev/null +++ b/fluter/als-wuerde-man-staendig-kiffen.txt @@ -0,0 +1,45 @@ +Weil Sie vieles schon kennen, was in der Zeitung steht? +Ja, es gibt einen Überfluss an sich ewig wiederholenden Informationen und Meinungen. Irgendwann hat man das Gefühl, von allen Katastrophen und Perversitäten schon mal gehört zu haben. Der Journalismus hat generell das Problem der "Füllung ", das heißt, eine tendenziell größere Anzahl von Produkten und Kanälen muss quantitativ gefüllt werden, ohne dass der Spannungsgehalt steigt. Abwechslung bieten dann nur noch Megaereignisse: Nine Eleven in New York, mysteriöse Flugzeugabstürze … +Das klingt, als würde man durch hohen Medienkonsum zum abgestumpften Zyniker? +Nein, sicherlich auch durch die realen politischen Verhältnisse, aber es hat auch mit dem ermüdenden Alarmismus der Journalisten zu tun … +Wenn zum Beispiel tagelang auf den ersten Seiten und im Fernsehen die Schweinegrippe grassiert … +… und sich das Ganze dann als Luftnummer herausstellt. Der Journalismus verspielt hier Vertrauen, und das ist die zentrale Währung im Verhältnis von Publizisten und Publikum. Es ist wie bei einer dauernden Versorgung mit milden Drogen; als würde man ständig kiffen. Auch wenn man weiß, dass es einen nicht umbringt, führt es doch zu einem dösigen Zustand – das macht der Journalismus mit der Gesellschaft. +Liegt es nicht auch am fehlenden Geld, dass der Journalismus schlechter wird? Wenn die Anzeigen wie in der Krise ausbleiben, leidet schließlich auch die Recherche. +Es gibt vier Faktoren, von denen außergewöhnlicher Journalismus abhängt: Geld, Zeit, Recherche und Stil. Man kann auch als Solist oder Amateur oder Blogger gute Ideen haben und intensiv recherchieren, aber die professionelle Kombination von ganz eigenem Stil, hartnäckigem Nachhaken und auch Wirkung in die Gesellschaft hinein garantieren nur ökonomisch gut ausgestattete Institutionen mit hohen Standards. In Deutschland fehlt es aber nicht nur am Geld: Der Journalismus ist nicht auf der Höhe der Zeit. Ich finde es gibt wenige, die hier formal etwas Neues wagen, ohne ins Neckische oder nur Verspielte zu verfallen… +Wie kommt es dazu? +Die Tagespresse hält starr an einer traditionellen Ressorteinteilung fest. Vorne Parteipolitik, in der Mitte das Feuilleton, dann Sport und Reiseteil. Das ist ein Spartendenken aus dem 19. Jahrhundert, völlig antiquiert. Ähnlich beim Fernsehen. Deshalb ist das wildere Internet auch für jüngere Leute attraktiver. Zudem gibt es einen deutlichen Überhang von Parteipolitik, die aber von den Bürgern so nicht mehr gewollt wird, ohne dass es dazu eine deutliche Alternative gäbe, wie ich gerne zugebe. Aber insgesamt überwiegt der Eindruck von einem Eliten-Brummkreisel aus Journalismus und Parteipolitik, mit weitgehendem Intelligenzausschluss. +Soll das heißen, dass sich die Journalisten vor allem um sich selbst drehen? +Es gibt einen zentristischen Mainstream, der die alte linksliberale Gesinnung abgelöst hat. Der Journalismus ist wie die gesamte Gesellschaft in die Mitte gerückt. Die meisten Medienleute leben in einem wohlanständigen Leben, das vor allem verteidigt werden soll. Natürlich geht man ab und zu mal zu den Arbeitslosen und zu den Neonazis – das sind dann so Pflichtthemen. Aber eigentlich hat man sich gemütlich eingerichtet. Wie wenig prognostisch der Journalismus im Fall dieser fundamentalen Krise des Konsumkapitalismus war – das fand ich schon signifikant. Der Journalismus muss aber wie ein Seismograf funktionieren, wenn er noch ernst genommen werden will. Er müsste viele Fragen früher stellen. +Klingt so, als hätten Journalisten ihr schlechtes Image zu Recht. +Ich glaube gar nicht, dass Journalisten ein schlechtes Image haben. Sonst würden so viele junge Leute nicht in die Medien wollen. Wenn der Journalismus aber langsam stirbt, und das befürchten ja viele Journalisten selbst, stirbt er von innen. Er wird nicht technologisch erledigt – durch Blogs, durch das Web oder durch die Abwanderung der Werbung ins Internet, sondern weil er von denen nicht mehr beachtet wird, für die er sprechen will. Die intellektuelle Ermattung dieses Landes, die durch das Wohlstandsniveau gefördert wurde, spiegelt sich im Zustand der publizistischen Medien wider. Da gibt es wenig Neuerung, Energie und Angriffslust, aber viel Saturiertheit. +Sie klingen ja nicht gerade optimistisch. Liegt es denn nur an der Trägheit der Journalisten, dass die Medien in der Krise stecken? +Es liegt auch daran, dass man von einem Medienmanagement in Deutschland kaum noch sprechen kann. Nennen Sie mir jemanden, der ein neues Blatt, einen neuen Sender heute publizistisch prägt und eine Linie auch mal durchhält. Jakob Augstein mit dem "Freitag" vielleicht, da muss man mal sehen, was daraus wird. In der Nachkriegszeit hat man sich wenigstens noch einiges von den Briten und Amerikanern abgeschaut. Der "Spiegel" ist ja eine Kopie des "Time Magazines", "ARD" und "ZDF" haben bei der englischen "BBC" gelernt. Damals gab es diese Verlegerpersönlichkeiten wie Rudolf Augstein, Gerd Bucerius oder Henri Nannen. Aber über die Jahrzehnte versiegte die Kraft, originelle Titel auf den Markt zu bringen. Und mittlerweile gibt es eine völlige Angststarre, rein ökonomistisches Denken. Die Managementschwäche in diesem Sektor ist verblüffend. Man wünscht sich ja beinahe Leo Kirch zurück, obwohl der nun wirklich viele Fehler gemacht hat. +Wie hart trifft die traditionellen Medienunternehmen – also Verlage und Sender – die Konkurrenz des Internets? +Ziemlich hart, aber zumeist selbst verschuldet. Viele Unternehmen haben zu spät reagiert und lediglich probiert, ihre alten Formen ins Internet zu transportieren. Der englische "Guardian " macht es vor, wie man neue und alte publizistische Sphären integrieren kann – also den professionellen Journalismus und die Kommentare und den Sachverstand der Leser. In den USA haben sich eigenständige journalistische Foren im Netz etabliert; "Huffington Post", "The Daily Beast" … +Während hierzulande selbst seriöse Medien im Internet mit Boulevardthemen wie dem schönsten Busen möglichst viele Klicks sammeln … +Das hat viel mit dem Zwang zu tun, für das Netz eine Währung zu finden, nach der sich der Preis der Werbung richtet – wie die Auflage bei Zeitschriften oder die Einschaltquoten im Fernsehen. Man weiß zwar, dass diese Zahlen alle nicht stimmen und da gemogelt wird, aber dennoch wird an diese Zahlen wie an eine Religion geglaubt. Wir wissen ja, dass in asiatischen Ländern diese so genannten Klick-Schweine arbeiten, mit denen die Anzahl der Page-Visits künstlich nach oben getrieben wird. +Ist denn das bloße Schielen auf die große Masse noch zeitgemäß, wo doch immer mehr Lebensstile nebeneinander existieren? +Ich finde die Absicht, möglichst viele Leute mit einem Film, einer Zeitung, einem Fernsehsender zu erreichen, nicht schlecht. Es ist ja wichtig, dass man sich mit den Lebensstilen der anderen auseinandersetzt. In diesem Sinne bringt ja die Zurschaustellung der viel beredeten Unterschicht bei "RTL" auch Lerneffekte mit sich, ob einem das angenehm ist oder nicht. Ansonsten gäbe es ja nur noch Monaden und Ego-Kulturen. Und dennoch liegt die Zukunft der publizistischen Medien eher in den Nischenprodukten, das sieht man am Zeitschriftenmarkt. +Wird es im Internet auf absehbare Zeit Medien geben, die durch Werbung finanzierbar sind? +Das Internet ist strukturell antikapitalistisch und damit zerstört es die Struktur der traditionellen Medienwirtschaft. Es ist das Metamedium, das alle anderen Medien aufsaugt, und damit diese alten Medien in ihrer Existenz bedroht. Das Internet bietet die beste Möglichkeit für den Nutzer, Werbung komplett zu ignorieren. Sie wird als lästig empfunden, während sie bei Zeitschriften durchaus eine ästhetische Komponente hat. Das macht es zunächst kompliziert und schwierig, Geld zu verdienen, außer für Google und wenige andere Pionierunternehmen. Aber, wer weiß, wie das Internet in zehn Jahren aussieht, und wer es strukturell beherrschen wird. Murdoch hat gerade eine Rückkehr zu Paid Content, zu bezahlten Inhalten angekündigt. +Früher war die Meinungsfreiheit die Freiheit weniger, die Geld genug hatten, ihre Meinung zu verbreiten. Heute kann im Netz jeder sein eigener Verleger werden. Ist das nicht ein Demokratisierungsprozess? +Das ist eine Gewinn-Verlust-Rechnung. Früher gab es klare Gegnerkonstellationen: Das rechte, bürgerliche Blatt las man als Linker nicht, oder auch nur, um sich darüber aufzuregen und seinen eigenen politischen Standpunkt zu schärfen. Heute gibt es eine hochgradige Zerstreuung der Meinungen und Ansichten. Der Gewinn der Millionen Meinungen ist auch der Verlust der klaren Konstellationen. Meine These ist, dass diese zuweilen fast spirituelle Hingabe an das Internet eine Art technologisches 1968 ist. Also vor allem ein Widerlager gegen diese formalpolitisierte Elterngeneration und gegen ihre bürgerlichen Traditionsmedien. Das Internet ist das erste Medium, das als solches vorbehaltlos von einer ganzen Generation verteidigt wird. Das hat sozialpsychologische und kulturelle Ursachen, die über die reinen Funktionsmöglichkeiten der Online-Kommunikation hinausgehen. Das Medium ist hier wirklich die Botschaft und umgekehrt, unabhängig von irgendwelchen Inhalten. +Laut Studien verliert auch das Fernsehen massiv Nutzer ans Internet. +Viele Fernsehmanager in Deutschland haben noch nicht begriffen, dass sich die jüngeren, gebildeteren Schichten scharenweise vom offiziellen Programmfernsehen abwenden. Das liegt aber auch an den mangelnden Investitionen in Talent und im geringen Aufwand für neue Formate. Es wird inzwischen fast alles von der "BBC" kopiert, die sehr frühzeitig moderne Strategien für das Online-Zeitalter entwickelt hat. Andererseits werden bewegte Bilder, Filme bis hin zur Mischung mit Games, gerade für das Internet immer wichtiger. Die Fernsehsender mit ihren hohen Budgets haben also ein enormes Potential in ihrer Rolle als Produzenten und Auftraggeber. +Am Vorabend laufen selbst bei ARD und ZDF Daily Soaps und danach Herz-Schmerz-Filme, die auch zu RTL passen würden. Erfüllt das öffentlich- rechtliche Fernsehen noch seinen Bildungsauftrag? +Ich bin für ein werbefreies öffentlichrechtliches Fernsehen nach dem Vorbild der "BBC", schon damit diese komische Argumentation nicht mehr trägt, dass man Daily Soaps machen muss, um ein möglichst großes, jugendliches Publikum zu bekommen. Wenn man das junge Publikum nur erreichen will, damit man Werbespots verkaufen kann, ist das eine armselige Definition der eigenen Tätigkeit. Es gibt jede Menge interessante Sendungen, vielleicht mehr denn je, aber eben spät in der Nacht und eben nicht im Schaufenster. Es gibt einen merkwürdigen Vertrauensverlust des Fernseh- Managements zu den Möglichkeiten des eigenen Mediums, ähnlich wie beim Journalismus. Das Fernsehen war mal näher dran an der Gesellschaft. Außerdem fehlen die markanten Reporterpersönlichkeiten. Wenn man heute fragt, wer ein auffälliger Reporter ist, fällt einem ja kein Name mehr ein. +Johannes B. Kerner. +Ja, danke schön. Der würde sich selbst nicht als Reporter bezeichnen. +Wie kann man denn vor dem Hintergrund von Überalterung und Niveaulosigkeit des Fernsehens noch die Rundfunkgebühren rechtfertigen, die man ja selbst für einen fernsehtauglichen Computer zahlen muss? +Die Abgabe für einzelne Geräte ist absurd. Sie wird bald durch eine Medienabgabe für alle abgelöst. Ich glaube nach wie vor, dass alle Länder gut fahren, die ein starkes öffentlichrechtliches System haben. Die USA leiden zum Beispiel gerade jetzt darunter, dass es das dort nicht gibt. Ein Land verliert so irgendwann seine Stimme – das merken die Amerikaner gerade, die lange Zeit auf Hollywood und das kommerzielle Fernsehsystem gesetzt haben. Gerade wenn man für ein starkes öffentlich-rechtliches System ist, muss man aber erst recht die reale Programmleistung beobachten. Mit den fast acht Milliarden Euro, über die "ARD" und "ZDF" verfügen, wäre schon ein Programm zu liefern, das die Gesellschaft mehr interessiert, aufregt und sie nicht nur einschläfert. +Wird das öffentlich-rechtliche System nicht dadurch behindert, dass vor einer inhaltlichen Debatte erst eine Diskussion über die Parteizugehörigkeit der Redakteure kommt? +Ja, man denkt mitunter, da sind doch viele aus der Adenauerzeit nie herausgekommen. Wir brauchen eine wirkliche Programmdebatte außerhalb der Rundfunkräte – mit Leuten, die in keinem Abhängigkeitsverhältnis stehen. Es ist ja schon bezeichnend, dass die Politiker "ARD" und "ZDF" so sehr lieben, wie niemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik, weil sie da noch ungefiltert zu Wort kommen. Ich plädiere auch für ein Medien- und Kulturministerium auf Bundesebene, das wirkliche medienpolitische Entscheidungskompetenzen hat. Die bisherige Medienpolitik der einzelnen Bundesländer ist so träge und bürokratisch wie die Bildungspolitik. Da kommen nur Gesetzesungetüme heraus, während die eigentlichen Probleme nicht gelöst werden. +Vor welchen Aufgaben steht die Medienpolitik? +Neben einer Reform des öffentlichrechtlichen Systems müssen vor allem Fragen des Urheberrechts gelöst werden, die Wissenskonzerne wie Google aufwerfen. Darf ich ständig auf Inhalte zugreifen und damit Gewinne machen, ohne dass ich etwas an die ursprünglichen Autoren zurückgebe? Ein weiteres Problem ist die Nutzung sozialer Netzwerke, also von Freundschaftsseiten, die Daten weiterverkaufen oder anderen Geschäftsfeldern zuspielen. Außerdem müssen wir stärker erforschen, wie Jugendliche Medien konkret nutzen, und in welchem Zusammenhang das mit ihrem Bewusstsein von Politik, Geschichte und Gesellschaft steht. Da gibt es so gut wie keine intelligenten Studien oder auch nur Befragungen. Es ist sehr interessant, wie stark die Kommunikationsmittel selbst zum inhaltlichen Thema werden. Man unterhält sich mit dem Handy über die Möglichkeiten des Handys oder diskutiert im Internet über das Internet als solches. +Müsste es nicht auch eine internationale Medienpolitik geben? +Ja, sollte und müsste es, vor allem wegen der Verflechtung von Medienunternehmen mit der handelnden Politik. In Frankreich bestimmen Präsident Nicolas Sarkozy und seine Freunde aus der Rüstungsindustrie die Publizistik, eine Art neuer Bonapartismus: Wenn man durch Frankreich fährt und an den Kiosken nur noch Sarkozy, Carla Bruni und ein paar Minister sieht, hat man den Eindruck, dass die Presse sich selbst aufgegeben hat. In Italien gibt es hingegen eine dauernde Komödie. Der Medienlenker Berlusconi ist gleichzeitig der oberste Staatsclown. Der EU ist so etwas offenbar gleichgültig … +Wie kommt es, dass in Russland Journalisten erschossen werden und sich das kaum auf die internationalen Beziehungen auswirkt? +Da überwiegt die nackte Machtpolitik, im Falle Russlands: das gute Einvernehmen in Sachen Energieversorgung. Das überlagert jede Überlegung zum Thema Meinungsfreiheit. Wenn, wie im Fall von Anna Politkowskaja, jemand umgebracht wird, gibt es nur einen kurzen Aufschrei und lauwarme Proteste der deutschen Politik, aber kein substanzielles Verlangen nach Aufklärung. Dasselbe gilt für China, wo ja auch deutsche Medienkonzerne umtriebig und auf das Wohlwollen der dortigen Regierung angewiesen sind. Das funktioniert eine Zeit lang, aber nicht auf Dauer. Es wird in diesen Ländern zu demokratischen Gegenbewegungen kommen. +Welche großen Umwälzungen wird es im Mediensektor in Zukunft geben? +Die nächsten großen Spieler im Markt sind die Telekommunikationsunternehmen. Sie greifen das Terrain der traditionellen Medienkonzerne an oder kooperieren mit ihnen, indem sie neue Inhalte-Pakete anbieten – wie die deutsche Telekom bei Sport und Entertainment. Die kränkelnde "New York Times" musste ja gerade von dem mexikanischen Telefonmilliardär Carlos Slim Helú gerettet werden, der ihr einen Kredit über 250 Millionen Dollar gewährt hat. Das ist vielleicht eine gerechte Umkehrung der Verhältnisse – dass ausgerechnet ein Mexikaner das führende amerikanische Blatt kaufen kann. +Lutz Hachmeister, 49, unterrichtet Journalisten, schreibt Sachbücher und produziert Filme. Er war Leiter des Adolf-Grimme-Instituts, das einmal im Jahr die besten Fernsehsendungen auszeichnet. Er hat zudem über die Nazivergangenheit vieler Redakteure beim Spiegel kurz nach Gründung des Magazins geschrieben. 2005 eröffnete er in Berlin das Institut für Medien- und Kommunikationspolitik. Zuletzt veröffentlichte er das Buch "Nervöse Zone – Politik und Medien in der Berliner Republik", Verlag DVA diff --git a/fluter/altenheim-prostituierte-mexiko.txt b/fluter/altenheim-prostituierte-mexiko.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..41129db4afcfdf285d1481ea84e172d40a917695 --- /dev/null +++ b/fluter/altenheim-prostituierte-mexiko.txt @@ -0,0 +1,9 @@ + + +Die Frauen sind gleich dreifach gebrandmarkt, sagt Jesica Vargas González, die Direktorin des Heims: weilsie Prostituierte waren, weilsie Frauen sindund weil sie alt werden. "Es kommt immer wieder vor, dass Familienmitglieder, sogar ihre Kinder, die Frauen verstoßen und schlagen. Es ist immer noch ein sehr stigmatisierter Beruf." +Gerade kämpft González um das Überleben der Casa, wie so oft. Das Gebäude kriegen sie mietfrei, aber seit der Pandemie zahlt die Regierung nichts mehr. Platz gäbe es für viel mehr Frauen, aber die privaten Spenden reichen gerade so für ein Dutzend. +Sie bekommen hier ein Zimmer, drei Mahlzeiten am Tag, ärztliche Versorgung und eine Gemeinschaft, die viele draußen nicht hatten. Die Frauen können lesen, schreiben, sticken oder backen lernen und ihren Hauptschulabschluss nachholen. Im Gegenzug gibt es ein paar simple Regeln: Der Fernseher läuft nicht vor 18 Uhr. Beim Aussuchen des Programms wechseln sie sich ab, genau wie beim Küchendienst und Badputzen. Arbeiten ist erlaubt, auch auf dem Straßenstrich. + + +Dieser Beitrag ist im fluter Nr. 89 "Liebe" erschienen. Das ganze Heftfindet ihr hier. +Fotos: Bénédicte Desrus/Sipa/ddp images diff --git a/fluter/alter-was-soll-der-kack.txt b/fluter/alter-was-soll-der-kack.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3205b25963195cd6eb89c23e1b43b0058cae4acd --- /dev/null +++ b/fluter/alter-was-soll-der-kack.txt @@ -0,0 +1,36 @@ +Jonny: Das war schon ganz nice alles. Viel gechillter! Auf jeden Fall ein gutes Erlebnis, aber es muss auch nicht zur Gewohnheit werden. Es hatte auch Nachteile. +Nämlich welche? +Jonny: Zum Beispiel musste man den Eltern die ganze Zeit sagen, was sie machen sollen. Irgendwie ist es auch nervig, jedem sagen zu müssen: "Mach dies, mach das!" +Aber es hat euch schon auch Spaß gemacht, andere herumzukommandieren? +Lara: In manchen Momenten: Ja! Wenn meine Mutter wieder versucht hat, mir zu sagen, dass sie das an meiner Stelle ganz anders machen würde. Diese Gewissheit: Das kann sie jetzt ja sagen und finden – aber es bringt nix und hat überhaupt keine Auswirkung auf das, was passieren wird. Das war eine Genugtuung. +Erzählt mal genauer. Was habt ihr in den vier Wochen besonders ausgekostet? +Lara: Vor allem saßen wir vor dem Fernseher – wir sind von der Schule nach Hause gekommen und haben ihn eingeschaltet, davor gegessen, davor Hausaufgaben gemacht. Mein Bruder hat auch einen ausgeliehenen Nintendo zurückverlangt von dem Freund meines Vaters. Vorher durften wir damit nicht viel spielen, aber das konnte uns dann ja keiner mehr verbieten. +Jonny: Mein Papa hatte auch eine Wette verloren und musste mir ein neues Spiel dafür kaufen. Das hab ich dann eine Weile lang gesuchtet. +Dein Vater hat irgendwann ja auch heimlich den Fernseher sabotiert, weil du Serien in Dauerschleife geschaut hast. +Jonny: Ja, ich habe erst mal gedacht: "Alter, was soll der Kack?" Ich hätte so gerne die ganze Zeit Fernsehen geguckt! Multitaskingmäßig – mit einer Hand Nintendo spielen, mit der anderen durchs Fernsehen zappen! Ich fand es aber auch ganz lustig, dass Papa mich die ganze Zeit reingelegt hat. +Lara, dein Vater hat beschrieben, dass du die Familie geführt hast wie ein Unternehmen. Hast du dich auch wie eine Unternehmerin gefühlt? +Lara: Ja, ein bisschen wie eine Managerin. Ich habe mich oft hingesetzt und Pläne für die ganze Woche gemacht, was es zu essen gibt, was eingekauft werden muss und wann. +Bei dir gab es strikte Geldrationen und Gartenarbeit als Strafe für die ungehorsame Mutter. Meinst du, man wird mit zunehmender Verantwortung auch ein bisschen spießiger? +Lara: Ja, auf jeden Fall. Zumindest wenn man eine bestimmte Vorstellung davon hat, wie es laufen soll. +Und welche hattest du? +Lara: Ich wollte meinen Eltern nicht zu viele Vorschriften machen, man hat irgendwie auch an die Zeit nach dem Experiment gedacht. Ich wollte nicht so tyrannisch sein und den "neuen Kindern" eine schlimme Zeit bereiten. +Wart ihr am Ende froh, dass die Rollen wieder getauscht wurden? +Jonny: Also für mich war das alles sehr entspannt! Aber ich glaube, wenn man alleine lebt wie Pippi Langstrumpf – dann ist es schwieriger. Man muss selber kochen und das Haus sauber halten. Die Aufgaben habe ich eigentlich gar nicht übernommen, die anderen haben ja gearbeitet. Lara hat das alles ein bisschen ernster genommen. +Lara: Neben der Schule wurde mir das am Ende viel zu viel, obwohl ich Sachen delegiert habe an meine Eltern. Ich genieße es deshalb gerade, noch nicht die volle Verantwortung für mein Leben übernehmen zu müssen. +Funktioniert das Zusammenleben am besten mit Regeln? +Lara: Ich finde schon, dass Regeln wichtig sind. Zum Beispiel, dass man zumindest grob einteilt, wer wofür verantwortlich ist und welche Aufgaben übernimmt. Damit man sich nicht in die Haare kriegt, weil man das Gefühl hat, dass nichts passiert – während man selbst aber auch nichts tut. +Jonny: Hm, nicht unbedingt Regeln. Ich finde, das Wichtigste ist, dass jeder wenigstens ein bisschen Verständnis für den anderen hat. Damit es nicht zu Streit kommt. Ich bin ja nicht so scharf darauf, die ganze Zeit zu helfen, aber ab und zu mal den Geschirrspüler ausräumen und so – das sollte jeder mal machen. Später mach ich das auch öfter. +Wenn Verantwortung für euch so anstrengend war: Könnt ihr verstehen, warum manche Politiker oder Manager ihre Macht nicht wieder abgeben wollen? +Lara: Ich nicht. Wahrscheinlich ist es diese Gewissheit von Kontrolle: das Wissen, dass sie sich durchsetzen können. +Jonny: Es gibt bestimmt auch Leute, die ihre Macht genießen. Ich bin ja jetzt noch ein Kind, und die sind erwachsen, die sind es also schon gewohnt, über sich selbst zu bestimmen. Dann finden sie diesen Zusatz, über noch mehr Leute bestimmen zu können, gar nicht so schlecht und kosten das aus. +Kann es denn nicht manchmal auch sinnvoll sein, dass nur einer bestimmt – wie ein König, der regiert? +Jonny: Ab-so-lu-tis-mus! Finde ich total blöd. Ist doch viel besser, wenn die Leute zusammen entscheiden. +Lara: Wenn man der König ist, ist es vielleicht praktisch für einen selbst. Aber dadurch sind viel mehr Leute unzufrieden mit den Dingen, die geschehen, weil nur eine einzige Person ihre Interessen durchsetzt. Ich finde zum Beispiel, dass es den Menschen im Durchschnitt in Demokratien wesentlich besser geht als in Diktaturen, dass es einen größeren Mittelstand gibt und es vielen gut geht. +Glaubt ihr, dass Kinder in Deutschland im Familienalltag genug mitentscheiden dürfen? +Lara: Ich finde, dass Kinder mehr entscheiden sollten bei Sachen, die ihr eigenes Leben betreffen. Irgendwann ist man von zu Hause weg, hat aber bis dahin vielleicht immer nur von den Eltern zu hören bekommen, was man wie tun soll. Eltern sollten ihre Kinder früher mehr Verantwortung übernehmen lassen und sie nicht so stark bevormunden. +Jonny: Der Vorteil wäre doch auch, dass Eltern mal denken würden: "Ah, so habe ich das vorher noch gar nicht gesehen!" Dass sie sich in das Kind hineinversetzen und seine Entscheidungen auch nachvollziehen können. +Wie ist das jetzt bei euch nach dem Experiment: Hat sich etwas verändert im Umgang miteinander? +Lara: Mein Bruder und ich können viel besser nachvollziehen, wie viel Arbeit und Verantwortung es ist, sich um alles zu kümmern. Wir helfen auch von uns aus mehr mit. +Jonny: Dass die Erwachsenen auch mal rummosern, kann ich jetzt besser verstehen. Lara: Und wenn wir mal keine Lust haben, irgendwohin mitzukommen, sagen unsere Eltern jetzt: "Okay, das ist eure Entscheidung." + +Laras und Jonnys Vater, Jochen Metzger, hat ein Buch über den Versuch geschrieben. Es heißt "Alle Macht den Kindern" diff --git a/fluter/alternativer-bildungskanon-schule.txt b/fluter/alternativer-bildungskanon-schule.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9d0b4159553279f3cc04268db720aed0a70d3a44 --- /dev/null +++ b/fluter/alternativer-bildungskanon-schule.txt @@ -0,0 +1,396 @@ + +Mit neun Nennungen wurde in der Kategorie "Gelesen" Tupoka Ogettes "Exit Racism" am häufigsten genannt – ein Buch zu rassistischen Strukturen in Deutschland, dessen Relevanz durch die Black Lives Matter-Bewegung noch mal deutlicher wurde. Viele von euch sind dabei aber nicht an klassischen "Kulturcontainern" wie Buch oder Song interessiert, sondern vor allem an anderen Perspektiven: Wo sind im aktuellen Kanon die Frauen? Wo junge Leute, People of Color oder Queere? Und welches Werk erklärt mir,wie komplex sich verschiedene Diskriminierungskategorien überschneiden können? Viele von euch wollen lieber Nina Simone (5-mal) als Joseph Haydn hören, Margarete Storkowskis "Untenrum frei" lesen (5-mal), die Doku "I Am Not Your Negro" über die Lebensgeschichte des Schwarzen Denkers James Baldwin sehen (3-mal,hier im Stream auf bpb.de) und bitte endlich schonungslos überdie deutsche Kolonialgeschichteaufgeklärt werden. +Hier streitet eine Abiturientin mit ihrem Politiklehrer,ob es überhaupt einen Bildungskanon braucht … +Nicht nur bei den Urheber*innen, sondern auch in den Werken selbst spielt Diversität eine Rolle. Wäre "Call Me By Your Name" nicht zum Beispiel eine LGBTQ+-freundliche Alternative zum alten Drama "Die Leiden des jungen Werther"? "Mir fehlen die Stimmen und Werke von mehr QTIBPOC[Anm. d. Red.: "Queer Trans Intersex Black People & People of Colour"]Menschen mit Behinderung und anderen marginalisierten Gruppen", schreibt eine Nutzerin. Häufig wurde auch der Film "Systemsprenger" (11-mal) genannt,in dem ein Mädchen durch alle Raster der Jugend- und Sozialhilfe fällt. Kanonische Geschichten undErzähler*innen sollen genauso bunt sein,wie es unserere Gesellschaft ist, da sind sich viele einig. +Durch das Internet hat jede*r immer und überall Zugang zu weltweiten Diskursen. Also auch zuFake News. Ihr wollt in der Lage sein, an diesen teilzuhaben unddie digitale Informationsflut richtig filtern zu können– viele fühlen sich dabei von der Schule nicht richtig vorbereitet. Medienkompetenz sollte bestenfalls gleich als eigenes Schulfach sein, fanden einige. Anderen würde es schon reichen, wenn die Lehrpläne flexibler werden. Damit öfter mal Zeit bleibt, aktuelle Nachrichten wieWahlmanipulation,PolizeigewaltoderTerrorim Unterricht zu besprechen. + + +Tupoka Ogette – Exit Racism (Buch) (9) +Kübra Gümüşay – Sprache und Sein (Buch) (5) +Margarete Stokowski – Untenrum frei (Buch) (5) +James Baldwin (4): (Schriftsteller) (2); I Am Not Your Negro (1) & The Fire Next Time (1) +Yuval Noah Harari (4): Eine kurze Geschichte der Menschheit (1); Homo Deus (1); Sapiens (2) +J.K. Rowling – Harry Potter (Buch) (4) +Chimamanda Ngozi Adichie (3): (Schriftstellerin) (2); Americanah (1) +Fatma Aydemir – Eure Heimat ist unser Albtraum (Buch) (3) +Jonathan Safran Foer – Tiere essen (Buch) (3) +Mely Kiyak (Schriftstellerin) (3) +Virginia Woolf (3): (Schriftstellerin) (1); A Room of One's Own (Buch) (1); Ein eigenes Zimmer (Buch) (1) +Simone de Beauvoir – Das andere Geschlecht (Buch) (2) +Rutger Bregman – Utopien für Realisten (Buch) (2) +Max Czollek: Desintegriert euch! (Buch) (2) +Carolin Emcke (2): Gegen den Hass (Buch) (1); Wie wir begehren (Buch) (1) +Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo (Buch) (2) +Stephen W. Hawking – Kurze Antworten auf große Fragen (Buch) (2) +Alice Haster – Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen (Buch) (2) +Natascha A. Kelly – Schwarzer Feminismus: Grundlagentext (2) +Irmgard Keun – Das kunstseidene Mädchen (Buch) (2) +Marc-Uwe Kling – QualityLand (Buch) (2) +George Orwell (3): 1984 (2) & Animal Farm (1) +Frank Schätzing – Der Schwarm (Buch) (2) +Juli Zeh (2): Corpus Delicti (Buch) (1) & Spielbetrieb (Buch) (1) +Mohamed Amjahid – Unter Weißen (Buch) (1) +Hannah Arendt (Publizistin) (1) +Margaret Atwood – The Handmaid's Tale (Buch) (1) +Jane Austen (Schriftstellerin) (1) +Paul Auster – 4321 (Buch) (1) +Fatma Aydemir – Ellbogen (Buch) (1) +U.A. May Ayim – Farbe bekennen – (Buch) (1) +Ingeborg Bachmann – Malina (Buch) (1) +Walter Benjamin (Philosoph) (1) +Ray Bradbury – Fahrenheit 451 (Buch) (1) +Thomas Brezina – Tu es einfach und glaub daran (Buch) (1) +Brontë (Schriftstellerinnen) (1) +Bushido – Biografie (1) +Albert Camus – Die Pest (Buch) (1) +James Clear – Die 1%-Methode (Buch) (1) +Brandy Colbert – Little & Lion (Buch) (1) +Garrard Conley – Boy Erased (Buch) (1) +Caroline Criado-Perez – Unsichtbare Frauen (Buch) (1) +Virginie Despentes – King Kong Theorie (Buch) (1) +Delphine de Vigan – No & ich (Buch) (1) +Reni Eddo-Lodge (Schriftstellerin) (1) +Giulia Enders – Darm mit Charme (Buch) (1) +Didier Eribon – Rückkehr nach Reims (Buch) (1) +Jenny Erpenbeck – Gehen, ging, gegangen (Buch) (1) +Felicia Ewert – Trans.Frau.sein: Aspekte geschlechtlicher Marginalisierung (Buch) (1) +Timo F. – Neonazi (Buch) (1) +Silvia Federici – Aufstand aus der Küche (Buch) (1) +Milena Michiko Flašar – Ich nannte ihn Krawatte (Buch) (1) +Deborah Feldman – Unorthodox (Buch) (1) +Elena Ferrante – Meine geniale Freundin (Buch) (1) +F. Scott Fitzgerald – Der große Gatsby (Buch) (1) +fluter(1) (<3) +Max Frisch – Biedermann und die Brandstifter (Theaterstück) (1) +Erich Fromm (Schriftsteller) (1) +Thomas Fuchs – Alleingelassen (Buch)(1) +Mirna Funk – Winternähe (Buch) (1) +Fabio Geda – Im Meer schwimmen Krokodile (Buch) (1) +Alex Gino – George (Buch) (1) +Anna Gmeyner – Automatenbüffet (Theaterstück) (1) +Johann Wolfgang von Goethe – Faust (Buch) (1) +William Golding – Herr der Fliegen (Buch) (1) +Yaa Gyasi – Home going (Buch) (1) +Hermann Hesse – Narziss und Goldmund (Buch) (1) +Hermann Hesse – Unterm Rand (Buch) (1) +E.T.A. Hoffmann (Schriftsteller) (1) +Franz Kafka – Die Verwandlung (Buch) (1) +Daniel Kahneman – Schnelles Denken, langsames Denken (Buch) (1) +Katapult-Magazin (1) +Daniel Kehlmann – Die Vermessung der Welt (Buch) (1) +Ibram X. Kendi – How to Be an Antiracist (Buch) (1) +Jack Kerouac – On the Road (Buch) (1) +Grada Kilomba – Plantation Memories (Buch) (1) +Ephraim Kishon (Autor) (1) +Victor Klemperer – LTI (Buch) (1) +Marc-Uwe Kling – Känguru-FChroniken (Buch) (1) +Sandra Konrad – Das beherrschte Geschlecht: Warum sie will, was er will (Buch) (1) +Christian Kracht – Faserland (Buch) (1) +Dalai Lama/Desmond Tutu/Douglas Abram – Das Buch der Freude (Buch) (1) +C.S. Lewis – Die Chroniken von Narnia (Buch) (1) +Felix Lobrecht – Sonne & Beton (Buch) (1) +Ijeo Maluo – So You Want to Talk About Race (Buch) (1) +Mark Manson – The Subtle Art of Not Giving a Fuck (Buch) (1) +Casey McQuiston – Red White & Royal Blue (Buch) (1) +Haruki Murakami – Naokos Lächeln (Buch) (1) +Mika Murstein – I'm a queerfeminist cyborg, that's okay (Buch) (1) +Friedrich Nietzsche – Also sprach Zarathustra (Buch) (1) +Jennifer Nivenová – All the Bright Places (Buch) (1) +Marcel Pagnol (Schriftsteller) (1) +Sophie Passmann – Alte weiße Männer: Ein Schlichtungsversuch (Buch) (1) +Edgar Allan Poe (Schriftsteller) (1) +Terry Pratchett (Schriftsteller) (1) +Kate Raworth – Donut-Ökonomie (Buch) (1) +Morton Rhue – Die Welle (Buch) (1) +Caroline Rosales – Sexuell verfügbar (Buch) (1) +Hans Rosling – Factfulness (Buch) (1) +Fran Ross – Oreo (Buch) (1) +Cemile Sahin (Schriftstellerin) (1) +Reyhan Şahin aka Dr. Bitch Ray (Schriftstellerin) (1) +Georg Saunders – Fox 8 (Buch) (1) +Seneca – Von der Gelassenheit (Buch) (1) +Shakespeare (Schriftsteller) (1) +Saša Stanišić (Schriftsteller) (1) +Adriana Stern – Hannah und die Anderen (Buch (1) +Margarete Stokowski (Schriftstellerin) (1) +Liv Strömquist (Schriftstellerin) (1) +Wladyslaw Szpilman – Der Pianist (Buch) (1) +Janne Teller – Nichts (Buch) (1) +Jackie Thomae – Brüder (Buch) (1) +Angie Thomas – The Hate U Give (Buch) (1) +Thees Uhlmann – Sophia, der Tod und ich (Buch) (1) +Timur Vermes – Die Hungrigen und die Satten (Buch) (1) +Neale Donald Walsch – Gespräche mit Gott (Buch) (1) +H.G. Wells (Schriftsteller) (1) +Olivia Wenzel – 1000 Serpentinen Angst (Buch) (1) +Rebecca Westcott – Pusteblumentage (Buch) (1) +Jo Whitford – A Celebration of Vulva Diversity (Buch) (1) +Ronan Winter – Ökoterroristin (Buch) (1) +Wir müssen mal reden (Blog) (1) +Sophie von La Roche – Geschichte des Fräuleins von Sternheim (Buch) (1) +Hanya Yanagihara – Ein wenig Leben (Buch) (1) +Pose (Serie) (6) +Schindlers Liste (Film) (4) +13th (Film) (3) +Dear White People (Serie) (3) +Disclosure (Film) (3) +I Am Not Your Negro – Raoul Peck (Film) (3) +Nanette – Hannah Gadsby (Comedyshow) (3) +Paris is Burning (Film) (3) +The Hate U Give (Film) (3) +When They See Us (Serie) (3) +The Wire (Serie) (3) +Call Me By Your Name (Film) (2) +Dominion (2) +Parasite (Film) (2) +Pride (Film) (2) +Tote Mädchen lügen nicht (Serie) (2) +Wir sind jung. Wir sind stark. (Film) (2) +1917 (Film) (1) +14 Arten, den Regen zu beschreiben (Film) (1) +Absolute Giganten (Film) (1) +Alphabet (Film) (1) +Angst essen Seele auf (Film) (1) +Die Anstalt (Serie) (1) +Apocalypse Now (Film) (1) +The Arrival (Film) (1) +Aus dem Nichts (Film (1) +Babylon Berlin (Serie) (1) +Black Earth Rising (Serie) (1) +Black Mirror (Serie) (1) +Blau ist eine warme Farbe (Film) (1) +Captain Fantastic – Einmal Wildnis und zurück (Film) (1) +Chasing Coral (Doku) (1) +Der Club der toten Dichter (Film) (1) +Cowspiracy (Doku) (1) +Dogtown Boys (Film) (1) +Dokus von STRG_F oder followme.reports (1) +Drachenläufer (Film) (1) +Earthlings (Doku) (1) +The Fall (Serie) (1) +Female Pleasure (Doku) (1) +Full Metal Jacket (Film) (1) +Gegen die Wand (Film) (1) +Der goldene Handschuh (Film) (1) +Graffiti wie Banksy (Kunst) (1) +Green Book (Film) (1) +The Help (Film) (1) +Inception (Film) (1) +Into the Wild (Film) (1) +Isao Takahata (Regisseur) (1) +It takes a family – Susanne Kovács (Film) (1) +Jenseits von Afrika (Serie) (1) +Jung & Naiv (Interview-Serie) (1) +Kids (Film) (1) +Kombat Sechzehn (Film) (1) +The Last Dance (Serie) (1) +Das Leben der Anderen (Film) (1) +Das Leben ist schön (Film) (1) +Die letzten Glühwürmchen (Film) (1) +Lord of War – Händler des Todes (Film) (1) +Loriot (Film & Serie) (1) +MacGyver (Film) (1) +Das Mädchen Wadja (Film) (1) +maiLab (YouTube-Kanal) (1) +Marriage Story (Film) (1) +The Mask You Live In (Film) (1) +Matilda (Film) (1) +Mein Nachbar Totoro (Film) (1) +Midnight Gospel (Serie) (1) +Mudbound (Film) (1) +Nader und Simin (Film) (1) +NSU-Monologe (Theaterstück) (1) +The Pervert's Guide to Ideology (Film) (1) +Der Pianist (Film) (1) +Plastic Planet (Film) (1) +Portrait de la jeune fille en feu (Film) (1) +Queen & Slim (Film) (1) +Rafiki (Film) (1) +Roots: Die Geschichte der Sklaverei (Serie) (1) +Selma (Film) (1) +Sex Education (Serie) (1) +Shutter Island (Film) (1) +Snowpiercer (Film) (1) +Sofia Coppola – Werke (Regisseurin) (1) +Sorry We Missed You (Film) (1) +Stadtgeschichten (Serie) (1) +Star Trek: The Next Generation (Serie) (1) +Das System Milch (Film) (1) +Systemsprenger (Film) (11) +Tenet (Film) (1) +Der Teufel wohnt nebenan (Serie) (1) +Thrive (Film) (1) +To All The Boys I've Loved Before (Film) (1) +To the Bone (Film) (1) +Die Tribute von Panem (Film) (1) +Unbelievable (Serie) (1) +Unorthodox (Serie) (1) +Voll verzuckert (Film) (1) +Vulva und Vagina – Einblicke in die weibliche Lust (Film) (1) +WALL·E – Der Letzte räumt die Erde auf (Film) (1) +Watchmen (Serie) (1) +We Feed The World (Film) (1) +Das weiße Band (Film) (1) +What the Health (Film) (1) +Who am I (Film) (1) +Wild Wild Country (Serie) (1) +Zeiten ändern dich (Film) (1) +Die zwölf Geschworenen (Film) (1) +Exit Racism (Hörbuch) (11) +Nina Simone (Sängerin) (5) +Feuer und Brot (Podcast) (4) +K.I.Z (4): (Band) (1) + Boom BoomBoom (Lied) (1) + Hurra die Welt geht unter (Lied) (2) +Rice and Shine (Podcast) (3) +2Pac (Rapper) (2) +Auf eine Tüte … (Podcast) (2) +Beyonće (Sängerin und Album) (2) +Missy Elliott (Rapperin) (2) +Oddisee – The Iceberg (Album) (2) +AB Syndrom (Musikgruppe) (1) +Advanced Chemistry (Band) (1) +Alligatoah (Rapper) (1) +Antilopengang (Rap-Crew) (1) +Biggie (Rapper) (1) +Mykki Blanco (Rapper) (1) +Bloc Party (Band) (1) +BSMG – Platz an der Sonne (Lied) (1) +Bushido – Vom Bordstein bis zur Skyline (Lied) (1) +Dead Prez – Let's Get Free (Lied) (1) +Dendemann (Rapper) (1) +Depeche Mode – Where's the Revolution? 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Fremdsprache (1) +Unternehmensgründung (1) +Versicherungen (1) +Vorbereitung für das Leben nach der Schule (1) +Wie funktioniert Wissenschaft (1) +Wirtschaft (1) +Work-Life-Balance (1) +Zwischenmenschliche Qualifikation (1) + +In der Schule lernt man, wie man eine Bewerbung schreibt. Wer den Job dann tatsächlich bekommt, für den geht alles oft ganz schnell:eigene Wohnung, Steuererklärung, Versicherungen. Das Fach "Lebenskunde" könnte auf die Zeit nach der Ausbildung vorbereiten: Wie wird die Rentenversicherung errechnet? Wo spare ich mein Geld? Muss ich eine Steuererklärung machen und eine Haftpflicht abschließen? "Wir sollten in der Schule besser für die bürokratischen Aufgaben des Lebens vorbereitet werden", schreiben einige. So wäre es zum Beispiel hilfreich, im Unterricht die Antragstellung für dasBAföGoder Sozialleistungen zu besprechen. Schon ein kleiner Fehler kann sonst dazu führen, dass der Antrag nicht bewilligt wird. "Einen Vorbereitungskurs für das Leben nach der Schule" wünscht sich eine Nutzerin. Damit das Leben nicht aus Formularen besteht, die auszufüllen niemand gelernt hat. +Moment, da fehlt doch dieses eine queere Game. Und wo ist das Rapalbum, das mir den Kapitalismus erklärt hat?Hiergibt's den Fragebogen zum Weiterkanonisieren +Schneller, intelligenter, kreativer – bis das Leben nur noch aus Superlativen besteht. Die Schule baut auf dem Konzept der Leistungsgesellschaft auf. Was wir dabei nicht lernen: Wie wir den ganzen Stress wieder abbauen. Unserer physischen Gesundheit gehen wir im Sportunterricht nach, die mentale Gesundheit bleibt – weitgehend unerwähnt – auf der Strecke. Dabei zeigen die Zahlen: Immer mehr Menschen leiden an psychischen Erkrankungen. Laut "Fehlzeiten-Report 2020" der AOK haben die Krankheitstage aufgrund psychischer Erkrankungen seit 2008 um 67,5 Prozent zugenommen. Burn-out, Depressionen und Angststörungen sind oft die Folgen. Jungen Menschen sollte beigebracht werden, wie sie mit dem Druck umgehen und ihre mentale Gesundheit pflegen können, fordern viele. Manche wünschen sich ganz konkret Yoga oder Meditation als Schulfach. Oder wie wär's mit einer Doppelstunde"Work-Life-Balance"am Mittwochmorgen? +Schüler*innen verbringen die meiste Zeit des Tages: sitzend. Das ändert sich in vielen Berufen auch später nicht. Ihr wünscht euch deshalb mehr Bewegung, weniger Frontalunterricht und mehr Alltagspraktisches. "Werken, weil ich keinen Bock habe, das mit meinem Vater zu machen", heißt es in einer Antwort. Neben Tischlern, Nähen und Schnitzen hätten einige auch gerne Kochen undsaisonal Einkaufengelernt. +Auch Nachhaltigkeit,Mülltrennungund Gartenarbeit stehen auf euren Stundenplänen. Kein Wunder, schließlich ist derKlimawandeltäglicher Begleiter. Oder in den Worten eines Lesers: "Das Fach Umweltschutz, gerne anstelle von klassischer Erdkunde. Wir haben jetzt Google Maps, niemand muss mehr an der Karte vorgeführt werden." + +Collage: Renke Brandt diff --git a/fluter/altkleidercontainer-was-passiert-mit-der-alten-kleidung.txt b/fluter/altkleidercontainer-was-passiert-mit-der-alten-kleidung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3148dec06fcf13d5f70b1eab82084dbd49bb0237 --- /dev/null +++ b/fluter/altkleidercontainer-was-passiert-mit-der-alten-kleidung.txt @@ -0,0 +1,20 @@ + +Die Fotos hat der Fotograf Paolo Woods in Haiti aufgenommen. Berge von Altkleidern türmen sich auf dem dortigen Markt. +Die meisten Haitianer*innen tragen "Pèpè", Klamotten, die zuvor irgendjemand in den USA getragen hat. +Das Internet verrät mir, woran ich seriöse Container erkenne: Auf ihnen müssen Adresse sowie Rufnummer der sammelnden Organisation stehen. Wenig später stehe ich vor einem roten, leicht zerbeulten Container des Deutschen Roten Kreuzes (DRK). Ich entziffere die Anschrift und die Telefonnummer, unter der sich tatsächlich ein Anrufbeantworter meldet und eine freundliche Stimme darauf hinweist, dass es sich hier um einen Altkleidercontainer des DRK handelt. Wird schon stimmen. Test bestanden. Ich bin zufrieden und werfe meinen Pullover hinein. +Das DRK gibt an, dass es im Jahr knapp 100.000 Tonnen Altkleider sammelt, den Großteil verkauft es an eine Verwertungsfirma. Nur fünf Prozent verteilt das DRK in Kleiderkammern an Bedürftige in Deutschland. Ich bin neugierig und will herausfinden, ob mein Pullover in einem Umsonstladen des DRK gelandet ist. +In einem kleinen Häuschen treffe ich Frau Camps von der Kleiderkammer und Frau Ahmed, eine der vier Frauen, die drei- bis viermal die Woche ehrenamtlich helfen. Frau Ahmed steht hinter einer Theke, hinter ihr ein Regal, das voll ist mit Büchern, Gläsern, Vasen und einem Teddybären. +Auch der restliche Raum ist vollgestopft, mit Kleiderständern, Boxen und Tüten voller Kleidung. Ich finde schwarze Lederstiefel einer Fast-Fashion-Marke, einen Parker eines nachhaltigen Labels, sogar eine Jacke eines großen Designers.Aber keine Spur von meinem Pullover. "In unserer Kleiderkammer landen nur Sachen, die Leute direkt vorbeibringen oder in den Container vor unserer Tür werfen", sagt Frau Camps. Wohin ging dann mein Pullover? Der wurde wahrscheinlich weiterverkauft. + +I'm in Haiti, Bitch: Die "Pèpè"-Klamotten haben einen interessanten Kreislauf durchlaufen … +… es kann passieren, dass ein in Haiti produziertes Walmart-T-Shirt von einem US-Amerikaner gekauft wird, als Kleiderspende wieder auf der Karibikinsel landet – und dort von einer Frau getragen wird, die in einem der Sweatshops arbeitet. +Die Verwertungsfirmen, die die Kleidung ankaufen, sortieren sie nach Qualität. Etwa die Hälfte landet direkt im Müll oder wird zu Putzlappen und Dämmmaterial für die Autoindustrie verarbeitet. Einen kleinen Teil der sauberen, gut erhaltenen Kleidung verkaufen die Firmen an Secondhandläden in Deutschland. Der Rest landet in unterschiedlichen Ländern. Neben West- und Osteuropa, dem Nahen Osten und Asien geht das meiste nach Afrika. +Dort können Großhändler die Klamotten nach unterschiedlichen Kriterien bestellen. Wintermäntel? Eher was für die Ukraine als für Uganda. Am wahrscheinlichsten ist es, dass mein Pullover mit dem ausgeleierten Ärmelsaum in einem Flieger nach Afrika liegt. Wo er von einem Großhändler an einen Secondhandladen verkauft und vielleicht von einemskatebegeisterten Mädchenauf einem Wühltisch gefunden und gekauft wird. + +T-Shirts sind für viele US-Amerikaner*innen eine Art persönliche Werbetafel, auf der sie politische, philosophische und religiöse Überzeugungen teilen … +… auf Haiti suchte der Fotograf nach den absurdesten Prints. +Eine schöne Vorstellung, finde ich. Aber ist das vertretbar? Bei dieser Frage scheiden sich die Geister. Kritiker*innen argumentieren, dass durch den Export von Secondhandkleidung die regionaleTextilindustriein Afrika zerstört werde: Mit den billigen Preisen könne die nicht mithalten. 2019 hat Ruanda deswegen ein Importverbot verhängt, um die lokale Industrie wiederaufleben zu lassen. +Befürworter*innen sehen das anders: Von einem Verbot profitiere nicht zwangsläufig die lokale Textilindustrie, sondern chinesische T-Shirts, Hosen oder Jacken könnten den Markt überschwemmen. Viele Menschen in Afrika würden gerne Secondhandkleidung tragen, weil sie den westlichen Modetrends entspräche, die durch Social Media auch in Afrika ankommen. +Ernüchtert stelle ich fest, dass mein Versuch, meine Spende sinnvoll einzusetzen, nicht ganz geglückt ist. Altkleiderspenden sind nur eine halbherzige Lösung für ein Problem, das viel tiefer liegt.Das eigentliche Problem bin ich, die Konsumentin, die zu vielen kurzlebigen Modetrends nacheifert. +Am Tag nachdem ich meinen Pullover in den Container warf, kam ich an einem Schaufenster vorbei. Darin hing ein Pullover, den ich mir schöner kaum vorstellen kann. Es tat fast ein bisschen weh, als ich die Ladentür nicht öffnete, weiterlief und mir fest vornahm, einen ähnlichen im Secondhandladen zu suchen. + diff --git a/fluter/altneuland.txt b/fluter/altneuland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..539ca7e273c9569e957425923c0da127b9fb5101 --- /dev/null +++ b/fluter/altneuland.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Sie hatte damals gerade die Lehre abgebrochen, war zu ihrem Freund nach Bremen gezogen und jobbte. Ab und zu flog sie in den Urlaub zu ihrer Mutter. Einmal fotografierte sie dort ein befreundeter Modedesigner, "einfach so". Sie war wieder in Bremen, als eine türkische Modelagentur anrief: "Wir wollen dich." Eliz kam. Jetzt arbeitet sie als Sekretärin im Istanbuler Büro einer deutschen Seefrachtgesellschaft, die Modelkarriere liegt auf Eis. Denn Eliz will ihre 25 000 Euro, sie hat einen Anwalt eingeschaltet. Das passe der Agentur nicht, vermutet sie, während sie in ihrem Müsli stochert. Statt zu essen zieht sie an ihrer weißen Damenzigarette. Ihre Finger sind manikürt, die Fußnägel granatapfelrot, ihre aktuelle Haarfarbe "karamell-honigfarben". +Sie hofft noch auf den Gewinn aus der TV-Show, damit will sie sich ein Modestudium finanzieren. Der Ärger um ihren Pass, das sei typisch Türkei, schimpft Eliz, in Deutschland gehe es geregelter zu. "Es ist gut für sie, dass sie hierher gekommen ist", findet ihre Mutter. Sie sagt etwas von "Reifeprozess". Vielleicht meint sie: Eliz hat begriffen, was es bedeutet, in Istanbul zur Oberschicht zu gehören. Eliz weiß, dass ihre Kollegen nicht mit dem Taxi zur Arbeit fahren. Und sie weiß, dass sie es in Deutschland ohne Abitur bei der Arbeitssuche schwer gehabt hätte. "Hier bin ich mit Deutsch, Türkisch und Englisch top qualifiziert." Eliz sagt, was sie denkt. Ihre Offenheit wirkt auf manche fremd in dieser Stadt. Türkische Mädels, sagt sie, hielten sie für eine Schlampe. In Istanbul hat sie erst wenige Freunde, einige davon aus Antakya. In Passau war sie "die Eliz", "da kannten mich alle". Sie vermisst ihre Schwester, die in Deutschland geblieben ist und eine Ausbildung in einem Hotel macht. Sie telefonieren fast täglich. Seit ein paar Monaten hat Eliz ihren ersten türkischen Freund, die Fernbeziehung nach Deutschland klappte nicht mehr. +"Ich hätte nie gedacht, dass ich das könnte", sagt sie. "Türkische Männer sind so eifersüchtig. Wenn wir essen gehen, schaue ich nur noch ihn an und meinen Teller. Rumgucken ist nicht." Seine Eltern erlauben immerhin, dass sie bei ihm im Zimmer schläft. Eliz trägt jetzt lange Hosen, keine Miniröcke. Tiefe Ausschnitte sind noch genehmigt. Ob sie ein Kopftuch tragen würde? "Niemals!", davon stehe sowieso nichts im Koran, habe ihr Opa ihr erklärt. "Ich bin Muslimin", sagt Eliz. "Aber ich rauche, ich trinke – und bete nicht. Im Ramadan versuche ich zu fasten. Nur wird mir schlecht, wenn ich nichts esse." "Sie ist türkischer geworden", findet ihre Mutter und meint damit auch "häuslicher". Eliz passt sich an. Aber sie lässt sich im Hammam von Männern massieren, obwohl das ihrem Freund nicht gefällt. Noch testet sie, welche Teile ihrer deutschen Freiheit sie in der Türkei beibehalten kann. Sie streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr, der Ansatz ist schon nachgedunkelt. Wenn Türken sie für eine blonde Touristin halten, schnauzt sie sie mit "Siktirin gidin!" an. Was das heißt? Sie lächelt: "Verpissts euch!" diff --git a/fluter/am-anfang-war-die-gurke.txt b/fluter/am-anfang-war-die-gurke.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dca99ceb40c3c95d313cddcdc7d71cb5f568d2fc --- /dev/null +++ b/fluter/am-anfang-war-die-gurke.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Mehrere Dutzend Qualitätsnormen und Kriterien widmete die damalige Europäische Gemeinschaft der Gurke. Dort wird zum Beispiel festgelegt: "Die Gurken müssen genügend entwickelt, die Kerne jedoch noch weich sein." Und so geht das munter weiter, die philosophisch-ästhetischen Betrachtungen zur EU-Gurke, bis die Sätze kommen, die sich zum Klassiker entwickelt haben: Die EU-Gurke müsse "ziemlich gut geformt und praktisch gerade sein (maximale Krümmung: 10 mm auf 10 cm Länge der Gurke)". +Man muss heute sagen: Ja, so war das mit der EU. Neben der Gurken- Vorschrift gab es Ähnliches für Zucchini, Möhren, Lauch, Spargel, Aprikosen und vieles mehr. Indes: Vom 1. Juli 2009 an sind diese Vorschriften entfallen. Gut. Schlecht: Viele Obstsorten dürfen weiterhin nicht so wachsen, wie sie wollen. Aufrechterhalten werden nämlich die Vorschriften für die in Europa umsatzstarken Obst- und Gemüsesorten, z. B. Äpfel, Erdbeeren und Tomaten. Die einzelnen EU-Staaten können aber eine Abweichung von der Norm erlauben, sofern eigenwillig geformte Früchte etwa als "zur Verarbeitung bestimmt" gekennzeichnet werden. +Und wie ist das mit der Gleichmacherei, mit dem Schleifen nationaler Identitäten? Will die EU den Franzosen ihren Wein verpanschen und den Deutschen ihr Bier? Die EU sieht sich als Freihandelszone. Es geht also weniger darum, Deutschen ihr Bier und Franzosen ihren Wein zu verpanschen, es geht darum, dass nationale Vorschriften nicht andere Wettbewerber behindern sollen. Beispiel deutsches Reinheitsgebot: Nach einer über dreijährigen Auseinandersetzung fällte der Europäische Gerichtshof am 12. März 1987 sein "Reinheitsgebotsurteil". Biere, die in anderen Mitgliedsländern der EU rechtmäßig hergestellt oder "verkehrsfähig" waren, erlangen diese "Verkehrsfähigkeit" auch auf dem deutschen Markt – unabhängig davon, ob sie entsprechend den strengen Vorschriften des Reinheitsgebotes hergestellt werden oder nicht. Einziges Zugeständnis: Bei Abweichungen vom Reinheitsgebot müssen alle dem Reinheitsgebot fremden Stoffe im Zutatenverzeichnis deutlich erkennbar angegeben werden. Bier ist also auch das belgische Fruchtbier. +Ähnliche Liberalisierungen gibt es für viele Lebensmittel. Indes verbietet die EU weniger strenge oder traditionelle Standards, sie öffnet tendenziell eher Märkte für Mitbewerber, die mit jeweils weniger strengen Regeln operieren. Daran zeigt sich der eigentliche Charakter der EU als Wirtschaftsverbund, in dem Handelsgrenzen abgebaut werden sollen. Gezwungen, minderwertige Lebensmittel zu essen, wird aber niemand. Der EU-Konsument wird als mündiger Einkäufer gesehen, der sich selbst informiert. +Doch wie wird überhaupt produziert, was später in Vorschriften reglementiert wird? Hier kommen die Agrarsubventionen ins Spiel. Sie haben nicht nur Auswirkungen auf die Produktionsweise in der EU, sie haben Auswirkungen auf die Nahrungsmittelproduktion und die Lebensweise von Menschen in der ganzen Welt. Jeder EU-Bürger zahlt im Jahr durchschnittlich 250 Euro an Steuern in die Kasse der Europäischen Union. Davon fließen rund 100 Euro allein in den klassischen Agraretat. Das sind mehr als ein Drittel des EU-Gesamtetats, insgesamt etwa 43 Milliarden Euro. In Deutschland gehen jährlich mehr als fünf Milliarden Euro an EUAgrarsubventionen als Direktzahlungen an landwirtschaftliche Betriebe. Die Subventionen kommen vor allem wenigen Großbetrieben zugute, die eine industrialisierte und rationalisierte Landwirtschaft auf großer Fläche betreiben. Auf 0,5 Prozent der Betriebe entfällt in Deutschland ein Fünftel der Subventionen in Höhe von jeweils mehr als 300.000 Euro. Dagegen bekommen 70 Prozent der Bauernhöfe in Deutschland im Schnitt weniger als 10.000 Euro Subventionen im Jahr. +Dazu kommen Exportsubventionen, mit denen die Preise von europäischen Landwirtschaftsprodukten für den Weltmarkt häufig auf ein Niveau unterhalb der Produktionskosten gedrückt werden. Diese gefährden auch in den Ländern des Südens die Existenz vieler Kleinbauern. Subventionierte europäische Importe überschwemmen mit Dumpingpreisen die dortigen lokalen Märkte und verdrängen die Erzeugnisse heimischer Produzenten. Die regionale Lebensmittelproduktion bricht daher vielerorts zusammen. Die Entwicklungshilfeorganisation Oxfam hat diesen Subventionswahnsinn für die EU-Milchproduktion einmal anhand der Exporte in die sogenannten AKP-Staaten, die Gruppe der afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten, und in Entwicklungsländer aufgeschlüsselt. 68 Prozent der Milchexporte der EU gingen 2007 in Entwicklungsländer, darunter 24,6 Prozent allein nach Afrika. +Ein Beispiel für die Folgen der Exportsubventionen: In Bangladesch wurde ein mehrjähriges Programm von der FAO (Food and Agriculture Organization der UN) zum Aufbau der Milcherzeugung aufgelegt. Seit Jahresbeginn 2009 exportieren europäische Molkereien nun Milchpulver zu Schleuderpreisen in das von Naturkatastrophen gebeutelte Land. Das bedroht die Existenzen der Milchbauern dort. Ähnlich wie bei der Milch sieht es auch bei anderen Lebensmitteln aus: Für Getreide plante die EU-Kommission für 2009 62 Millionen Euro Fördermittel ein, für den Export von Zucker werden dieses Jahr 440 Millionen Euro und für Geflügel 91 Millionen Euro ausgegeben. Die Welthandelsorganisation (WTO) hat dazu eine eigene Meinung: keine gute. Nämlich die, dass EU-Exportsubventionen den Weltmarkt kaputt machen und verhindern, dass ärmere Länder am Markt bestehen können (siehe auch Interview S. 5). Nach Berechnungen der Weltbank aus dem Frühjahr 2008 sind die Preise für Nahrungsmittelvon Anfang 2005 bis Februar 2008 um 83 Prozent gestiegen, Weizen legte sogar um 181 Prozent zu. Daher sind die EU-Subventionen gar nicht mehr notwendig. Die Exportzuschüsse auch nicht, die nur dazu dienen, die Nahrungsmittelproduktion in der EU konstant zu halten. +Das Problem ist erkannt: Die sogenannte Doha-Runde (Wirtschaftsund Handelsminister der WTO-Mitgliedstaaten 2001) will alle Exportsubventionen abschaffen. Bis 2013. Bis dahin werden noch einige Bauern außerhalb Europas vom Markt verdrängt. Denn die EU hat ihr Milchpulver noch lange nicht verschossen. +Jost Kaiser (40) war Mitarbeiter der "Süddeutschen Zeitung" und Politik-Redakteur bei "Vanity Fair", zurzeit arbeitet er als freier Autor und Blogger in Berlin. diff --git a/fluter/am-besten-einfach-loslabern.txt b/fluter/am-besten-einfach-loslabern.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9bea7e9834083dd01790e5d64a46708a86d7fc15 --- /dev/null +++ b/fluter/am-besten-einfach-loslabern.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Ein bekannter Autor aus Österreich wettert, wo er geht und steht, über den Bachmann-Preis, er wünscht ihn zum Teufel und würde niemals dort antreten, das sei Kindergarten sagt er und würde demnach nur mit Unselbständigkeit belohnt, unter der Prämisse von antiquierten Demütigungsritualen. +Der Mann muss dort auch nicht mehr lesen, er ist erfolgreich genug ("alles alleine geschafft"), seine Texte und Bücher werden eben woanders bewertet, in Rezensionen, auch ein öffentlicher Raum, ein Gericht mit vielen Zuschauern, das soll dann plötzlich eine andere Aufmerksamkeit sein. +Aber was seinen Furor eigentlich erklärt, ist, dass er nicht lesen kann. Er glaubt, er könne es, aber leiert seine Texte in einer grauenvollen, selbst antrainierten theatralischen Art runter, vermutlich weil er glaubt, der Text reiche schon, der sei so stark, dass die Präsentation desselben nebensächlich wird, und in diesem Sicherheitsvakuum entwickelt er eben diese unästhetische Leier der Selbstüberschätzung, zusätzliches Problem wird auch sein, dass sich niemand traut, es ihm zu sagen. +Aber so geht es 90 Prozent aller Autoren. Ihnen beim Vorlesen zuzuhören wird zur Qual, sie imitieren da einen Stil, der sich vage an dem von Schauspielern orientiert, die ja reine hohle Sprechmaschinen mit ausgefeilter Intonation sind, diese Maschinen tun aber nur so, als wären sie in der intellektuellen Lage, das Vorgelesene selbst zu fabrizieren. Auch hier kann man pauschalisierend sagen, dass 90 Prozent der Schauspieler nicht schreiben können. +Ausnahmen gibt's natürlich, etwa Joachim Meyerhoff. Als er 2013 in Klagenfurt einen Auszug aus seinem Lücke-Bestseller las, hypnotisierte er gleichsam Publikum wie Jury, ein Magier, er saß und atmete auch ganz anders als die mit ihm konkurrierenden Autoren, er nahm nicht diese geduckte Autorenhaltung an, bei der sich der Körper gewissermaßen um das vor ihnen stehende Wasserglas wickelt, Meyerhoff las körperlich, alles war die perfekte Inszenierung eines selbstbewussten Kunstwerks, in der Fehler und Schwächen keinen Platz haben, einen Preis hat er dafür dann dennoch nicht bekommen, der unter dieser Inszenierung befindliche Text hatte dann doch eher etwas von einer Schnurre. +Und darum geht es beim Bachmann-Preis, um Texte, nicht um die Inszenierung derselben, das ist ja immer das Missverständnis, dass 30 Jahre vor Meyerhoff Rainald Goetz seine Stirn geschlitzt hätte, um vom Text abzulenken, aber so war es nicht, der Einzige, der das damals erkannt hat, war Marcel Reich-Ranicki, er hat das Aktionistische einfach ignoriert und sich mit dem Text befasst und ihn gelobt. Es geht um Geschichten, dass jemand etwas zu erzählen hat, aus einer interessanten, vielleicht so noch nie zuvor gelesenen oder gehörten Perspektive, dass er sich etwas traut, dass die ihn einladenden Juroren sich mit ihm oder ihr etwas trauen, was sie verteidigen müssen gegen die Kritik der anderen Juroren, die ja ihrerseits ihre Pferdchen ins Ziel zu bringen trachten. +Auch dieser Wettbewerbscharakter stört viele Kritiker, Literatur dürfe sich nicht aneinander messen, das ist kein Stabhochsprungwettkampf, es gibt bei Literatur keine Latten, über die man springen muss, alles ist subjektiver Stil, über den man zwar streiten kann, aber nicht richten darf, so der Vorwurf. Und wenn, dann sagt das mehr über den Juror und dessen eitles Befinden und tagesaktuelle Verfassung aus als über das, um das es eigentlich gehen soll. +Ich glaube meine relative Entspanntheit dort 2014 angetreten zu sein, hat damit zu tun, dass ich es schon als große Ehre empfand, überhaupt eingeladen worden zu sein, das hätte mir schon gereicht, ich kannte den Betrieb schon recht gut, die Codes, die Rituale, ich war zehnmal vor Ort, weil Freunde und Bekannte gelesen haben, und genauso lange verfolgte ich das an meinem kleinen Fernsehgerät, vor Ort ist es natürlich wunderbar, die Atmosphäre ist von entspannter Kameraderie geprägt, in der Stress, Panik, Konkurrenzgefühle und Zweifel kaum aufkommen, man wird dort gut behandelt, der Ort ist idyllisch, alles ist gratis, beim Bürgermeisterempfang wird man schon gefeiert, kaum dass es losgegangen ist. +Vielleicht hatte meine Entspanntheit auch damit zu tun, dass ich nicht etwas gelesen habe, was ich vorher lange "gebaut" habe, also etwas mühevoll Konstruiertes, sondern einfach losgelabert, etwas erzählt habe und nur so getan, als hätte ich gelesen, weswegen mich die einzige Kritik, nämlich die vom Juryvorsitzenden Burkhard Spinnen, ich hätte "scheußlich gelesen" nicht wirklich verletzt hat, weil ich annahm, dass er unterschwellig mein Motto erkannt hat, dass man sowieso keine Literatur schreiben könne, wenn man Literatur zu schreiben vorhat, also kann man es gleich lassen und sich das Lesen sparen. +Ich nenne das instinktiven Stil, nicht ich schreibe den Text, sondern er schreibt mich, und vielleicht wurde am Ende nicht ich belohnt, sondern ein Text, mit dem ich nur bedingt zu tun habe. Das erspart auch, sich darauf groß etwas einzubilden. + +Tex Rubinowitz ist Zeichner, Cartoonist, Reisereporter und Schriftsteller (zuletzt erschienen: Irma, Rowolt). Er hatte mal eine Band (Die Mäuse), gründete ein Musiklabel (Angelika Köhlermann) und das ForumHöfliche Papparazzi. 2014 gewann er den Bachmann-Preis mit seinem Text "Wir waren niemals hier". diff --git a/fluter/amanda-gorman-gedicht-analyse.txt b/fluter/amanda-gorman-gedicht-analyse.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7dfe10c097f65418622ce5014743404bcf2b260b --- /dev/null +++ b/fluter/amanda-gorman-gedicht-analyse.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Dass Gorman kurz nach dem Sturm auf das Kapitol genau dort nun sehr versöhnliche Verse vorgetragen hat, ist an sich schon symbolträchtig. Im Gespräch mit NBC sagte die 22-Jährige: "Ich wollte mit meinen Worten die Idee der Vereinigten Staaten wieder heiligen, die wir durch Gewalt so befleckt gesehen haben". Dabei arbeitet Gorman gern mit Metaphern und Alliterationen ("We've braved the belly of the beast", dt.: Wir haben dem Bauch der Bestie getrotzt) und spielt mit Zufällen, etwa indem sie die Begriffe "Waffen" und "Arme", die im Englischen gleich lauten, in einem Vers verbindet: "We lay down our arms, so we can reach out our arms to one another" (dt.: Wir legen unsere Waffen nieder, damit wir uns gegenseitig die Arme reichen können). +Bei ihrem Auftritt trug sie einen Ring mit einem Vogel in einem Käfig als Hommage an die verstorbene US-amerikanische Schriftstellerin Maya Angelou, die 1993 bei der Amtseinführung von Bill Clinton ebenfalls ein Gedicht vorgetragen hatte. Angelou gilt als Ikone der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung und ist unter anderem für ihr autobiografisches Werk "Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt" bekannt. Darin schreibt sie über Identität und Rassismus in den USA. +Gormans Outfit kam allerdings nicht bei allen gut an: Die "Neue Zürcher Zeitung" äußerte Kritik an ihrem auffällig gelben Prada-Mantel, der für eine als Stimme des Volkes inszenierte Person zu elitär sei. Gorman selbst sagt, sie wolle mit dem Kleidungsstück ihre Bewunderung für die feministische Haltung der Designerin Miuccia Prada ausdrücken. + + +Wer Gormans Auftritt gesehen hat, den:die dürfte wundern, dass sie noch bis vor ein paar Jahren wegen eines Sprachfehlers Angst hatte, frei zu sprechen. Gedichte laut vorzutragen habe ihr dabei geholfen, sagt sie heute.In einem TED-Talkerzählte Gorman 2018, dass die Entscheidung, die eigene Stimme zu erheben, immer auch eine politische sei. Poesie könne wie eine tote Kunstform für weiße Männer erscheinen, doch tatsächlich sei sie "die Sprache des Volkes" – offen für alle und mit dem Potenzial, Veränderung anzustoßen: "Poesie ist immer am Puls der gefährlichsten und kühnsten Fragen, denen sich eine Nation oder eine Welt stellen kann." +Die 22-Jährige ist mit Abstand die jüngste Dichterin, die jemals bei der Amtseinführung eines neuen US-Präsidenten sprechen durfte. 2017 wurde sie als erste Jugendpoetin der USA ("National Youth Poet Laureate") ausgezeichnet. Sie steht für einen Neuanfang, für eine Generation, die daszerrissene Landwieder einen möchte. In ihrem Text blickt sie selbstbewusst in eine bessere Zukunft: "Lasst uns also ein Land hinterlassen, das besser ist als das, das uns hinterlassen wurde." Der ehemalige US-Präsident Barack Obama twitterte, dass junge Menschen wie Gorman Beweis dafür seien, dass es immer Licht im Dunkeln gebe, wenn man nur mutig genug sei, es zu erkennen und zuzulassen – ein Zitat aus Gormans Gedicht. +Gorman erzählt von sich selbst. Sie beschreibt sich als "dünnes Schwarzes Mädchen, das von Sklaven abstammt und von einer alleinerziehenden Mutter aufgezogen wurde". Wie wichtig der 22-Jährigen ihre Herkunft ist, wird auch an dem Mantra deutlich, dass sie sich vor jedem Auftritt laut aufsagt: "Ich bin die Tochter von Schwarzen Schriftstellern, die von Freiheitskämpfern abstammen. Die ihre Ketten sprengten und die Welt veränderten. Sie rufen mich." Dass Gorman trotz ihrer Biografie und ihres Sprachfehlers an der Spitzenuniversität Harvard studiert hat und nun bei Bidens Amtseinführung sprechen durfte, macht sie für viele zum Sinnbild des "American Dream". Nach dieser Vorstellung kann jede:r in den USA erfolgreich sein, solange er:sie nur hart genug dafür arbeitet. +Die Kulturjournalistin Azadê Peşmen sieht darin allerdings auch die Gefahr der Instrumentalisierung. Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk sagte sie, man müsse aufpassen, dass Gorman im Diskurs um Chancengleichheit nicht "ein bisschen vorgeschoben wird: ‚Hier, sie hat es geschafft, warum schaffst du es nicht auch?'" Amanda Gorman hat sich übrigens ein weiteres Ziel gesteckt: Bereits 2017 erzählte sie der "New York Times", dass sie 2036 gerne als Präsidentschaftskandidatin antreten möchte. Ob sie dann wohl mit Gedichten Wahlkampf machen wird? + +Titelbild: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Patrick Semansky diff --git a/fluter/amazon-serie-electric-dreams-phillip-k-dick.txt b/fluter/amazon-serie-electric-dreams-phillip-k-dick.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..eb31d08c849c23d2a6d1cc2df4fa76b509cfb94b --- /dev/null +++ b/fluter/amazon-serie-electric-dreams-phillip-k-dick.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +"Electric Dreams" erkundet Dicks philosophischen Science-Fiction-Ansatz jedoch nicht in einer kontinuierlich erzählten Serienstaffel, sondern in zehn unabhängigen Episoden, die jeweils auf einer Kurzgeschichte beruhen. "Anthologie-Serie" nennt sich dieses Konzept, das in den letzten Jahren öfters aufgegriffen wurde, aber eigentlich aus den Kindertagen des Fernsehens stammt: "Alfred Hitchcock presents …" und die frühe Science-Fiction-Serie "Twilight Zone" funktionierten schon in den 1950er-Jahren nach diesem Prinzip. +So taucht in der ersten Folge – "Das wahre Leben" – eine junge Polizistin mithilfe einer Virtual-Reality-Anwendung in eine täuschend echte Parallelwelt ab und zweifelt bald daran, welches der beiden Szenarios nun real ist – "Matrix" lässt grüßen. In der zweiten Folge ("Autofac"), die der Idee von "Blade Runner" und dem postapokalyptischen Setting der "Mad Max"-Reihe ähnelt, nimmt es eine menschliche Rebellengruppe mit einer selbstständig gewordenen Roboter-Fabrik auf. In der dritten Episode ("Menschlich ist …"), diesmal mit "Star Trek"-Anleihen, spielt Bryan Cranston einen Weltraumoffizier, der nach einem Kriegseinsatz auf einem fernen Planeten als Außerirdischer zurückkehrt. Und natürlich fehlen auch leicht modernisierte Varianten des "Big Brother"-Motivs nicht ("Fosters neue Welt", "Tötet alle anderen!"), die angesichts von Terrorismus und Digitalisierung vor den Folgen eines paranoiden Überwachungsstaats warnen. +Dass die Grundideen vieler Episoden sattsam bekannt sind – die literarischen Vorlagen stammen meist aus den 1950er-Jahren –, ist nicht das wesentliche Problem der Serie. Dick ist deswegen einer der meistverfilmten Autoren des Genres, weil seine visionär-philosophischen Stoffe auf der einen Seite konkret genug sind, um in Bildsprache übersetzt zu werden, und auf der anderen Seite offen genug, um in der Filmadaption mit drängenden Fragen der Gegenwart infiziert zu werden. +Besonders bei den großen Weltentwürfen, die etwa die Hälfte von "Electric Dreams" ausmachen, ist eine zeitgemäße Aktualisierung eigentlich unverzichtbar. Gerade diese Episoden fallen aber deutlich ab gegenüber "Black Mirror", dem offensichtlichen Vorbild für zeitgenössische Sci-Fi-Dystopien. Hier hingegen wirken viele Folgen so, als würde man ein fürs Serienformat lieblos zurechtgestutztes Remake eines Filmklassikers sehen, das mit den bereits zum Klischee gewordenen Schauwerten der Streamingdienste punkten will: Ein bekannter Schauspieler fungiert als Zugpferd, eine kinoreife CGI-Sequenz besorgt dasworldbuilding, und im abfallenden zweiten Teil der Episode soll eine beliebig platzierte Softcore-Erotikszene das adoleszente Publikum bei der Stange halten. +Dennoch lassen sich in der Serie auch weniger bekannte Motive von Dick entdecken, die durchaus einen Blick lohnen. In der gelungensten Episode "Der Pendler" etwa entdeckt der Bahnwärter eines Transitbahnhofs (Timothy Spall), dass etliche Reisende täglich mitten auf der Strecke aus dem Zug springen, um eine idyllische Fantasiestadt aufzusuchen, in der sie ihre realen Sorgen hinter sich lassen können. Ein fantastisches Szenario, das mit dem für Briten gut zu erkennenden Drehort verschwimmt – der nostalgischen Modellstadt Poundbury –, filmisch an "Und täglich grüßt das Murmeltier" erinnert und darüber hinaus noch die ganz reale Tristesse einer Trabantenstadt einfängt. Wenigstens einmal verschmelzen hier Traum, Realität und Utopie auf jene Weise, die den besonderen Reiz dieses Genres ausmacht. +"Philip K. Dick's Electric Dreams", GB 2017; von Ronald D. Moore und Michael Dinner (Showrunner), mit Bryan Cranston, Juno Temple, Timothy Spall, Sidse Babett Knudsen, Steve Buscemi, Annalise Basso u.a., 10 Episoden à 45–55 Minuten, verfügbar auf Amazon Video diff --git a/fluter/amir-sommer-interview-nahostkonflikt.txt b/fluter/amir-sommer-interview-nahostkonflikt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..554d5a8a1b1ff58cca5835f0cca477b2d75c8f82 --- /dev/null +++ b/fluter/amir-sommer-interview-nahostkonflikt.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Was für ein Buch soll es werden? +Es ist ein Roman, der Fiktion, Historisches und Prosa verbindet. Er folgt einer israelisch-palästinensischen Familiengeschichte, die auf meiner eigenen basiert, denn meine Mutter ist Israelin, mein Vater Palästinenser. Mit diesem nicht eindeutigen Genre können die Verleger manchmal schwer umgehen, das Buch ist eine Art Hybrid. +Wie Ihre eigene Biografie. +Ich versuche, in meiner Arbeit eindeutigen Zuordnungen zu trotzen und begriffliche Mauern einzureißen. Wenn es eine Sache gibt, die ich als Schriftsteller über den Konflikt gelernt habe, dann, dass beide Seiten Angst vor bestimmten Wörtern haben. Sie entziehen sich der Verantwortung für Gewalt und Kriegsverbrechen durch Semantik. Ich mache da nicht mit und lehne keinen Begriff kategorisch ab. +In Israel gibt es keine Zivilehen, sondern die anerkannten Religionsgemeinschaften sind für die Eheschließungen zuständig. Jüdische Ehen müssen zum Beispiel vom Oberrabbinat genehmigt werden. Das erlaubt aber keine interreligiösen Ehen. War es schwierig für Sie, unter diesem Stigma aufzuwachsen? +Obwohl beide Gesellschaften unsere gemischte Familie nicht vollständig akzeptiert haben, sind meine frühen Kindheitserinnerungen eigentlich sehr schön. Wir hatten Islam und Judentum unter einem Dach, habendas jüdische Fest Chanukkaunddas muslimische Zuckerfestgefeiert. Ende 2000, während des Aufstands der Palästinenser gegen die israelische Besatzung, als sich der Krieg verschärfte und meine Mutter einen Terroranschlag erleben musste, wollte sie alles "Arabische" aus unserem Leben verbannen. Mein Vater war fortan immer weniger präsent, und irgendwann trennten sie sich. +Der Anfang Ihrer Identitätskrise? +Genau, als junger Erwachsener schwankte ich immer wieder von Extrem zu Extrem, mal überzeugter Zionist, mal stolzer, nationalistischer Palästinenser. Das scheint ein Ding zu sein unter Menschen wie mir, die beides, Israeli und Palästinenser, sind. Ich denke, man möchte um jeden Preis dazugehören, auch wenn es bedeutet, einen Teil seiner selbst aufzugeben. Es ist eine Art Überkompensation. Je mehr ich mir meiner eigenen Identität und Umgebung bewusst wurde, desto mehr spürte ich diese gefährliche Spannung in der Gesellschaft. Es gab da einen ziemlich bekannten Schauspieler, ebenfalls halb Israeli, halb Palästinenser, der in der Nachbarschaft meines Vaters lebte. Er hätte die Möglichkeit gehabt, in die Vereinigten Staaten oder nach Europa auszuwandern, entschied sich aber dagegen. Schlussendlich wurde er in Jenin im Westjordanland vor seinem Theater erschossen. Ich erinnerte mich daran und dachte mir: Du musst hier ganz wegziehen. +Also gingen Sie einige Jahre später nach Berlin. +Erst hier konnte ich beide Seiten in Einklang miteinander bringen. Ich glaube, das multikulturelle Umfeld hat dabei sehr geholfen. Mit der Eskalation des Konflikts seitdem 7. Oktober 2023erkenne ich jedoch zunehmend dieselben Muster und die Lagerbildung aus meiner Heimat wieder. Irgendwie bin ich doch wieder an einem ganz ähnlichen Ort gelandet, nur tragen hier alle die meiste Zeit im Jahr Winterjacken. +Was bedeutet es nun für Sie, Israeli und Palästinenser zu sein? +Momentan bedeutet es vor allem, dass ich sowohl Antisemitismus als auch Islamophobie abbekomme. Ich habe aufgehört, in der U-Bahn Bücher auf Hebräisch zu lesen. Gleichzeitig muss ich aufpassen, an welchen Orten ich meine Solidarität zu Palästina bekunden kann, um keine Probleme mit Behörden zu kriegen. +Social Media spielt in diesem Krieg eine große Rolle: Tausende Infografiken schwirren auf Instagram herum, Promis rufen zum Boykott auf, und es scheint einen Druck zu geben, sich zu positionieren. Sie selbst schreiben, dass Sie sich ganz heraushalten möchten. Warum? +Ich würde wieder in eine Identitätskrise stürzen. Direkt am 7. Oktober wurde ich mit Nachrichten überhäuft, jede Seite schickte mir Videos, machte mir Vorwürfe und drängte mich, etwas zu posten. Ich war frustriert, wurde wütend und dachte sogar kurz, ich müsse jetzt kämpfen gehen. Einen Tag wachte ich auf und verteidigte die israelische Seite, am nächsten Tag die palästinensische. Das Einzige, was mir dabei half, wieder zu einer Balance zurückzufinden, war, auf einer neutralen Position für gewaltfreie Lösungen zu beharren. Ich habe daraus gelernt, mich nicht dafür schuldig zu fühlen, wenn ich zuallererst an die eigene mentale Gesundheit denke. Ich bin nun mal ein Mensch und keine Flagge. +Wie bewerten Sie die Rolle der sozialen Medien im Nahostkonflikt? +Sie sind Fluch und Segen zugleich. Durch die sozialen Medien bekommt die Welt einen direkten Einblick in die Lage der Palästinenser. Jeder sieht die Gesichter der Menschen in Gaza, kann selbst erkennen,dass dort kleine Kinder sterben. Natürlich kann das auch für Desinformation missbraucht werden, die ebenso ein großes Problem darstellt. Aber dass diese Geschichten überhaupt an die Öffentlichkeit kommen, halte ich für einen immensen Zugewinn. Es ist ein Problem, wenn immer nur eine Seite kritisiert wird, trotzdem weiß ich, was für eine symbolische Kraft das gerade für junge Palästinenser hat, wenn sich Promis öffentlich solidarisieren. +Trotz dieser Lagerbildung sprechen Sie sich international auf Veranstaltungen weiterhin für Frieden und Koexistenz aus. +Ich habe eigentlich keine andere Wahl. Denn ohne Frieden ergibt meine Existenz, mein ganzes Leben keinen Sinn. Statt mein Volk nur als barbarisch, gewalttätig und tragisch in Erinnerung zu halten, würdige ich lieber die Schönheit und Resilienz beider Seiten. Ich denke lieber an Jugendliche in Tel Aviv, die trotz der Gefahr von Raketenangriffen am Strand abhängen, oder an palästinensische Kinder in Jenin oder Ramallah, die so viel Leid erfahren und trotzdem an ihren Träumen festhalten, mal Arzt oder Fußballspieler zu werden. +Wie stellen Sie sich diese friedliche Koexistenz vor? +Zuallererst müssen sich die Bedingungen der Palästinenser verbessern. Dazu muss die palästinensische Gesellschaft aber auch anerkennen, dassder weit verbreitete Antisemitismusnicht nur durch die Besatzung, sondern auch durch radikale religiöse Einstellung und falsche Erziehung entsteht. Weiterhin müssten die Menschen sich weniger davor fürchten, dass im Land eine gemischte Identität entsteht. Denn solange Israelis und Palästinenser nicht einmal heiraten können und ihre Beziehungen und Kinder stigmatisiert werden, kann man natürlich auch im Größeren keine Koexistenz pflegen. Frieden heißt nicht gleich vergeben und vergessen, ganz im Gegenteil: Ich stelle mir vor, dass ich eines Tages durch die Straßen Israel-Palästinas laufen kann und Denkmäler für Opfer beider Seiten finde, ohne dass dabei ein Narrativ dominiert. + +Amir Sommer, 31, wuchs in Haifa auf und ist heute Dichter und Autor. Auf internationalen Veranstaltungen setzt er sich für Frieden und Dialog im Nahen Osten ein. + +Titelbild: Mark Oblow diff --git a/fluter/an-den-weissen-kragen.txt b/fluter/an-den-weissen-kragen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..20cf7d375d896e5755b601d83dcd8e242b5ea17a --- /dev/null +++ b/fluter/an-den-weissen-kragen.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Der volkswirtschaftliche Schaden der Korruption beläuft sich bundesweit auf etwa sechs Milliarden Euro. Dennoch ist der Frankfurter Oberstaatsanwalt von der Wirkung seiner Sisyphusarbeit überzeugt. "Wir haben ein tolles Gesellschaftssystem, es gibt nur zu viele, die es gefährden." Mit Verve kämpft Schaupensteiner gegen die "ethisch-moralische Verschlampung" unserer Gesellschaft. In Rathäusern und Banktürmen, in feinen Villen und vornehmen VIP-Etagen. Weniger luxuriös residiert Schaupensteiner in seinem Büro, das zwischen einem Möbelhaus und einem Musikverlag in der Frankfurter Innenstadt liegt. Die hellbraun furnierten Aktenschränke stammen aus der Gefängnisschreinerei. Die Bilder und Grafiken, die an den Wänden hängen, sind eigene Handarbeit. Schaupensteiner ist kein Asket. Er geht gern gut essen und fährt einen flotten Alfa Spider. Aber er hat Prinzipien. "Zuverlässigkeit, Loyalität, Ehrlichkeit", das habe ihm sein preußisches Elternhaus anerzogen. Wenn der begeisterte Hobbymaler ein Sittengemälde dieser Republik entwirft, greift er zu düsteren Farben.Er klagt über "den Rückzug ins Private, verbunden mit der Verweigerung, Verantwortung zu übernehmen." Er konstatiert "eine zunehmende soziale Skrupellosigkeit". Er bedauert "die Flucht, insbesondere der Jugend, in eine oberflächliche Zerstreuungskultur und Spaßgesellschaft". Dieser moralische Werteverfall begünstige einen "egoistischen Materialismus" - den Resonanzboden für die Korruption. Bisweilen mutiert der Fahnder zum Moralapostel. "Zehn Gebote der Korruptionsbekämpfung" hat Schaupensteiner aufgestellt, um "gesellschaftliche Fehlentwicklungen" zu korrigieren. Korrupte Firmen sollen künftig auf schwarze Listen ("Korruptionsregister") kommen und mindestens fünf Jahre von allen öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen werden. "Ich will, dass es fair zugeht", sagt Schaupensteiner. "Mit jedem Korruptionsfall werden doch ehrliche Anbieter verdrängt." Langsam zeigt die Arbeit der Korruptionsaufklärer Wirkung. +Fast jede größere deutsche Staatsanwaltschaft beschäftigt inzwischen Spezialfahnder wie Schaupensteiner. Im internationalen Antikorruptionsindex ist Deutschland zuletzt um zwei Plätze auf Rang 15 nach oben gerutscht, liegt aber immer noch deutlich hinter Ländern wie Neuseeland und Singapur. Die Ausbreitung der Korruption könne nur eingedämmt werden, wenn "wieder ethisch-moralische Maßstäbe unser Verhalten bestimmen und nicht die berechnende Abwägung eines Vorteils durch eine Normverletzung", doziert Schaupensteiner an dem quaderförmigen Glastisch in seinem Fahndungsbüro. Im Gegensatz zur Straßenkriminalität trete Korruption nicht offen zu Tage. Diese Form der Kriminalität verberge sich hinter den Masken undemokratischer Amigoverhältnisse, hinter Seilschaften, Vetternwirtschaft und Ämterpatronage. "Das sind die Türsteher der Korruption", sagt Schaupensteiner. Korruption ist ein modernes Gesellschaftsspiel. "Vom kleinen Buchhalter bis zum Vorstandsvorsitzenden" reicht Schaupensteiners Täterklientel.Wirkliches Unrechtsbewusstsein habe von den Ertappten kaum einer."Sie praktizieren nur, was üblich ist." Dabei kann Korruption im Einzelfall nach dem Strafgesetzbuch genauso hart sanktioniert werden wie der Totschlag: mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren. Doch in elitären Wirtschaftskreisen sei die Korruption durchaus gesellschaftsfähig, sagt Schaupensteiner. Er zieht einen Zeitungsartikel hervor. Darin bricht der Leitartikler eine Lanze für Bakschischzahlungen: "Korruption ermöglicht Investitionen und Innovationen." Außerdem, so heißt es in dem Artikel weiter, bringe "speed money", wie Bestechungsgeld im yuppiehaften Branchenjargon verharmlost wird, "die Bürokraten auf Trab und wirkt oft wie eine leistungsgerechte Entlohnung". Für den Oberstaatsanwalt ist das einfach "moralischer Werteverfall". Schaupensteiners Fahndungspraktiken sind nicht unumstritten. Meist rücke der Frankfurter bei seinen Hausdurchsuchungen gleich mit einem Haftbefehl an, um von den Beschuldigten mit der Drohung der Gefängniszelle ein Geständnis "abzupressen", kritisieren Strafverteidiger. Einflussreiche Wirtschaftsfunktionäre beklagen, Korruptionsfahnder durchsuchten mit Vorliebe die Schlafzimmer von Bankenvorständen, statt sich um die Fahrraddiebe und Dealer im Bahnhofsviertel der Mainmetropole zu kümmern. +Ob Schaupensteiner nicht zu viel wolle,"wenn er das Strafrecht als Therapie zur moralischen Gesundung von Gesellschaft und Bürgern anwendet", sorgte sich kürzlich die Zeit. Der couragierte Korruptionsfahnder ist kein Utopist. "Die moralische Ausstattung der Gesellschaft zu fördern kann nicht einfach par ordre de mufti angeordnet werden." Aber Schaupensteiner ist ein Verfechter der Volkspädagogik. Er ist Jäger und Heger zugleich. An den Frankfurter Korruptionsaffären will er die sozial schädlichen Praktiken der Schattenwirtschaft exemplarisch ans Licht der Öffentlichkeit zerren, um ein Bewusstein für dieses "flächendeckende Kriminalitätsphänomen" zu schaffen,"das die Grundfesten staatlicher Autorität und das Prinzip des freien Wettbewerbs erschüttert".Im Sommer 2001 hatte Schaupensteiner über 200 Beschuldigte im Frankfurter Hochbauamt in seinem Visier. Er stellte ihnen öffentlich ein Ultimatum. Wer sich selbst offenbare, dürfe mit Strafrabatt rechnen, kündigte er über die Medien an. Lediglich 18 bestochene Amtsträger meldeten sich. Von den 65 verdächtigten Firmen ging kein einziger Mitarbeiter freiwillig zur Staatsanwaltschaft. Nach Ablauf der Frist trat Schaupensteiner vor die Presse und verkündete den ersten Haftbefehl gegen einen prominenten Unternehmer. "Wer zu spät kommt, den bestraft die Justiz." Frankfurter Rechtsanwälte empörten sich über "diese Wildwestmethoden". Schaupensteiner lässt solche Kritik kalt. Gern würde er noch energischer ermitteln, um den Korruptionssumpf in und um Frankfurt trockenzulegen.Doch es fehlt an Fahndern und es mangelt den Ermittlungsbehörden an moderner Bürotechnik, um zumindest Waffengleichheit mit den Kriminellen im weißen Kragen herzustellen. Schaupensteiner hebt seine rechte Hand."Fünf Finger können kräftig zupacken", sagt er. Aber in ihrer Personalnot müsse die Staatsanwaltschaft bei Wirtschaftskriminellen häufig "mit zwei Fingern" zulangen. Für Schaupensteiner steckt dahinter System."Alle haben Angst,in die Blase zu stechen, weil sie nicht wissen, wie groß der Eiter ist, der herauskommen wird." diff --git a/fluter/an-der-angel.txt b/fluter/an-der-angel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..74d0794331037efdd848eeab388a3959d36a324e --- /dev/null +++ b/fluter/an-der-angel.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Seine Akte beim Jugendamt wog mindestens ein Pfund. Eine ganze Latte an Vorstrafen, die er sich eingehandelt hatte, seit er zwölf war. Hauptsächlich ging es um Sachbeschädigung, Körperverletzung war aber auch darunter. Mit 13 Jahren hatte sich Timo geweigert, die Schule zu besuchen. Seither musste er in regelmäßigen Abständen an sogenannten Reintegrationsprojekten teilnehmen, bei denen er nach kurzer Zeit einfach nicht mehr auftauchte. Eine Tischtennisgruppe hatte er angeblich nicht mehr besucht, weil dort ein afrikanischer Jugendlicher erschienen war. +Der Projektleiter hatte ihn auch gefragt, was ihn sonst noch so interessiere, worauf Timo erst was von "Fotografieren" genuschelt und später dann selbstbewusst erklärt hatte, sich in Kürze eine gute Spiegelreflexkamera zu kaufen. "Du hast doch gar kein Geld", hatte man ihm entgegnet und dass er sich, anstatt zu träumen, besser mal um das Praktikum bei einem Fotoladen kümmern solle, dessen Besitzer schon seit vier Wochen auf ihn warte. Daraufhin hatte Timo geschwiegen. +Als wir mit unseren Rädern durch sein Viertel fuhren, fing er plötzlich an zu reden. Nie wieder wolle er in dieses Projekt und zu diesen Leuten. In gewisser Weise verstand ich ihn sehr gut, obwohl ich auch den Ärger und die Konfronta-tionen der Projektmitarbeiter nachvollziehen konnte. Da jedoch in der sozialpädagogischen Einzelfallhilfe der Jugendliche und seine Wünsche im Vordergrund stehen, entschied ich, Timos Projektteilnahme abzusagen. +Bei unserem nächsten Treffen eine Woche später zeigte er mir sein Zimmer, das er in der Wohnung seiner alleinerziehenden und arbeitslosen Mutter am nördlichen Rande Berlins bewohnte. Er präsentierte mir seinen riesigen Flatscreen, ein 150-Liter-Aquarium und führte mir auf der Playstation einen Ego-Shooter vor. Über seinem Bett hing ein Plakat mit einer sogenannten Schwarzen Sonne, einem Symbol der SS, wie Timo mir erklärte. In diesem Moment entschied ich mich, ihm deswegen keine Vorhaltungen zu machen. Dann öffnete er noch eine große Schublade mit einer Angelausrüstung. +Das war also Timos Kosmos: Angeln, Sammlungen mit Fotos heimischer Fische und von Motocross-Maschinen, sein Pocket Bike reparieren, Aquarien einrichten. Und genau das machten wir in den nächsten Wochen. Wir gingen angeln, fuhren Kart, trafen uns bei McDonald's, spielten "Grand Theft Auto". Timo erzählte mir vom Streit mit seinem Bruder, von seiner Angst vor Gruppen. Deswegen habe er aufgehört, die Schule zu besuchen, und später die Tischtennisgruppe verlassen. Der Afrikaner sei jedenfalls nicht der Grund dafür gewesen. Da eine Phobie in Timos Freundeskreis nicht unbedingt cool ist, hatte er all die Zeit niemandem von seiner Panik und den Schweißausbrüchen erzählt, die ihn in der Gegenwart von mehr als drei Personen überfallen. +Ein Jahr lang trafen wir uns, verbrachten Zeit mit-einander, redeten. Dann sagte Timo immer häufiger unsere Treffen ab. Er habe keine Zeit mehr, ließ er mich wissen, sein Ziehonkel brauche ihn auf einer Großbaustelle. Er packe da mit an, von früh bis spät. +Und dann traf ich ihn doch noch mal wieder, eines Abends in seinem Viertel. Er kam gerade von einer Baustelle und trug irgendwie stolz seinen verschmutzten Blaumann und die Arbeitsschuhe mit Stahlkappen. Seitdem er angefangen hatte zu arbeiten, war er nicht mehr negativ aufgefallen. Keine Prügeleien, keine fremdenfeindlichen Aktionen mehr. +Ob ich dazu beigetragen habe, dass Timo irgendwo angekommen war, anstatt herumzuirren? Das kann man in meinem Beruf nie so ganz sagen, aber hoffen tut man es schon. Und ein bisschen glaube ich es auch. +Unser Autor ist Sozialpädagoge und verbringt im Schnitt ein bis zwei Jahre mit schwierigen Jugendlichen. Timo heißt eigentlich anders, aber das ist egal. diff --git a/fluter/an-exit-to-the-brexit.txt b/fluter/an-exit-to-the-brexit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5813016fe75e07b682e1686e6319b6f352239aa6 --- /dev/null +++ b/fluter/an-exit-to-the-brexit.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Die neue Partei Renew will den Brexit rückgängig machen +Die beiden großen Parteien – Konservative (Tories) und Labour – sind offiziell geschlossen auf Brexit-Kurs. Viele einzelne Abgeordnete aber beteiligen sich an Anti-Brexit-Gruppen. Klar gegen den Austritt haben sich die Liberaldemokraten sowie die Nationalistenparteien von Wales und Schottland positioniert. Sie wünschen sich ein zweites Referendum, genauso wie die neu gegründete ErneuerungsparteiRenew. Ihr Ziel ist, wie in der Mitte Februar veröffentlichten Gründungserklärung zu lesen, "den Brexit rückgängig zu machen und unsere einflussreiche Stellung in Europa wiederherzustellen." + +Die Graswurzelbewegung Is it worth it tourte eine Woche lang im roten Bus durchs Land, um über die Folgen des Brexit aufzuklären +Die GraswurzelgruppeIs it worth ithatte die wahrscheinlich originellste Idee. Mit kleinen Spenden von mehr als 600 Unterstützern organisierte sie im Februar die einwöchige Tour eines roten Reisebusses – ganz wie die EU-Gegner vor zwei Jahren im Referendumskampf. Nur der Slogan ist ein anderer: Statt "Wir zahlen der EU jede Woche 350 Millionen Pfund", wie die Austrittsbefürworter fälschlicherweise behaupteten, hieß es nun gemäß einer Regierungsstudie: "Brexit kostet uns 2.000 Millionen pro Woche – ist es das wert?" +Am 23. Juni 2016 stimmten knapp 52 Prozent der Briten für den Brexit. Während die Austrittsverhandlungen laufen – der Ausstieg ist für März 2019 geplant –, deutet eine Umfrage nun auf einen sachten Meinungsumschwung hin: Immer mehr Briten sind demnach der Meinung, der EU-Ausstieg wäre ein Fehler. Im Dezember war laut Meinungsforschungsinstitut BMG Research eine Mehrheit der Befragten für den Verbleib in der EU. Eine erneute Volksabstimmung gilt aber als sehr unwahrscheinlich. +"Keep calm an fight on" rät die Organisation Best for Britain +Die OrganisationBest for Britainwiederum fordert die Briten dazu auf, "ruhig zu bleiben und den Brexit zu bekämpfen". Gründerin der Bewegung ist die Geschäftsfrau Gina Miller. Sie wurde bekannt, nachdem sie erfolgreich vor dem Supreme Court eingeklagt hatte, dass die Regierung für die geplanten EU-Austrittsverhandlungen erst die Zustimmung des britischen Parlaments einholen muss. Als Chairman fungiert der frühere Vize-Generalsekretär der UN, Mark Malloch Brown. Der 64-Jährige gehört dem Oberhaus, auch House of Lords genannt, an. Schlagzeilen machte die Organisation kürzlich durch eine Spende von 400.000 Pfund (rund 458.000 Euro), die sie von dem 87-jährigen Milliardär George Soros erhielt. + + +Die Kampagne Our Future, Our Choice appelliert besonders an die junge Bevölkerung +Zu den prominentesten Unterstützern von Best for Britain gehört auch der Labour-Politiker Andrew Adonis, ebenfalls ein Mitglied des Oberhauses; er arbeitete für Premierminister Tony Blair und war kurzzeitig Verkehrsminister. Der 55-Jährige hob kürzlich mit Unterstützung der Organisation die KampagneOur Future, Our Choiceaus der Taufe. Sie wendet sich an junge Leute und verweist darauf, dass diese Umfragen zufolge mit einer Zweidrittelmehrheit in der EU bleiben wollen. "Wir wollen den Brexit auf demokratischem Weg rückgängig machen", erklärt der 20-jährige Student William Dry, der 2016 selbst noch für den Austritt gestimmt hat und deshalb jetzt "seinen Fehler wiedergutmachen will". Das Ziel der Kampagne: eine neuerliche Volksabstimmung. + +Another Europe is Possible will in der EU bleiben – sieht aber großen Reformbedarf +Dafür wirbt auchAnother Europe is Possible, eine überparteiliche Sammlungsbewegung der politischen Linken, die für Demokratie und Menschenrechte eintritt. In der Referendumskampagne trat Another Europe is Possible dafür ein, in der EU zu bleiben, diese aber zu reformieren. Die prominenteste Vertreterin ist die einzige grüne Unterhaus-Abgeordnete Caroline Lucas; zu den Sprechern zählen auch Gewerkschaftler und ein prominenter Aktivist der Labour Party. + +Als Open Britain versucht eine Gruppe Parlamentsabgeordneter den harten Brexit zu verhindern +Open Britainist die Nachfolgeorganisation der erfolglosen "Remain"-Kampagne im Referendum 2016. Weil sie im vergangenen Jahr zur Abwahl konservativer Brexit-Hardliner aufrief, verlor die ursprünglich überparteiliche Gruppierung ihre wichtigsten Tory-Unterstützer wie Nicky Morgan und Dominic Grieve. Geblieben sind Labour-Nachwuchsstars wie Chuka Umunna und Chris Leslie. + +Die European Movement ist ein europaweiter Zusammenschluss von Organisationen, die ein vereintes Europa fördern +Die Gruppe teilt neuerdings ein Büro mitBritain for Europe, die als Koordinatorin für lokale Gruppen agiert, und mit demEuropean Movement. Die ehrwürdige, 1949 gegründete Lobbygruppe wird geleitet vom früheren Tory-Gesundheitsminister Stephen Dorrell, 66. Auch andere Unterstützer wie Ex-Justizminister Kenneth Clarke und der frühere liberaldemokratische Parteichef Paddy Ashdown, beide 77, haben den Zenit ihrer politischen Karriere offiziell längst überschritten – das hindert sie aber nicht daran, sich tatkräftig für den Verbleib in der Europäischen Union einzusetzen. + +Wie konnte es eigentlich zu dem Referendum kommen? Welche Argumente sprechen für, welche gegen den EU-Ausstieg? Und wie geht es jetzt weiter? Fundierte Antworten gibt eshierundhier. + +Titelbild: Chris J. Ratcliffe/Bloomberg via Getty Images diff --git a/fluter/ana-tijoux-hiphop-chile.txt b/fluter/ana-tijoux-hiphop-chile.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2335a7cd4b231dfc199a2680bbf3399a83a2be38 --- /dev/null +++ b/fluter/ana-tijoux-hiphop-chile.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Als Tijoux zu rappen beginnt, ist das MC-Dasein eine Männerdomäne, vor allem in Südamerika. Dorthin kehrte ihre Familie nach Ende der Diktatur zurück, als Tijoux 16 Jahre alt war. In Chile traf sie auf ein ungleiches Land, "in dem Studieren und der Zugang zum Gesundheitssystem Luxus sind". Als Schüler und Studenten dort auf die Straße gingen, um für bessere Bildungschancen für alle zu protestieren, komponierte Tijoux das Lied "Shock", das zur Hymne der Bewegung wurde. Der Rhythmus lädt zum Marschieren ein. Das Lied kritisiert die Bildungspolitik der Regierung: Bildung dürfe kein Geschäft sein. +Für Tijoux ist die Musik ein "Werkzeug, um mit der Welt im Dialog zu stehen" – ein Dialog, in dem sie ihre Haltung nie verbirgt. Obwohl ihr viele anfangs rieten: Du machst Musik, halt dich raus aus der Politik! Aber für Tijoux muss Musik ehrlich sein. Und das ausdrücken, wofür sie steht: Feminismus, sexuelle Selbstbestimmung, Gewaltfreiheit, Indigenenrechte, Antifaschismus, Internationalismus. Die Liste ließe sich fortführen. Denn wenn ein Problem ihr nahegeht, setzt Tijoux sich ein. +Etwa Gewalt gegen Frauen: Ana Tijoux fordert in "Antipatriarca" Frauen dazu auf, nicht länger unterwürfig und gehorsam zu sein, sondern emanzipiert und selbstständig die "Ketten der Gleichgültigkeit" zu durchbrechen. In etlichen Ländern Lateinamerikas gibt es seit ungefähr zwei Jahren regelmäßig Proteste gegen Frauenmorde und Gewalt gegen Frauen. Viele Teilnehmer posten vor den Demos "Antipatriarca" von Ana Tijoux auf Facebook oder Twitter. Und die Organisatoren einer Demo in Chile baten die Teilnehmer darum, den Text von "Antipatriarca" auszudrucken und zu verteilen. +Tijoux sagt von sich selbst, sie sei eine "Anarchistin der Komposition und Antifaschistin der Musik". Weil sie alles hört, von Public Enemy bis Chopin. Und in ihrer Musik verschiedenste Einflüsse vereint: Panflöten treffen auf elektronische Drums, südamerikanische Saiteninstrumente wie etwa das Charango auf Samples, melodiös gesungene Refrains auf klassischen Rap. +Längst hat Tijoux mit ihren kritischen Texten so großen Erfolg, wie ihn viele angepasste Musiker niemals erreichen werden. Mehrfach wurde sie für den Grammy nominiert. Ihr autobiographischer Song "1977" wurde durch die US-amerikanische Fernsehserie "Breaking Bad" weltweit bekannt. DieNew York Timesnannte Tijoux die "südamerikanische Antwort auf Lauryn Hill". +Doch Tijoux will Glamour-Welt und Kommerz von ihren beiden Kindern fernhalten, solange es geht. Ein Stück weit scheint das sogar zu funktionieren. Einmal fragte ihr Sohn nach einer der Trophäen im Regal: "Wofür hast du diese bekommen, für welchen Sport? Fürs Schwimmen?" "Die ist von den Grammys", erklärte Tijoux. "Was für ein Sport ist das?", wollte das Kind wissen. +Aber die Kleinen von allem abschirmen – ein Ding der Unmöglichkeit. Das musste Tijoux kürzlich dank Twitter erfahren. Ganz die stolze Mutter schrieb sie: "Wenn deine vierjährige Tochter ein Lied erfindet und singt: ‚Ich bin frei, endlich frei', sagst du dir: Was für ein kleines wunderschönes und denkendes Monsterchen habe ich erschaffen!" Allerdings: Das Lied war von Disney, gesungen von Elsa in Walt Disneys Animationsfilm "Frozen". Für ihren Fauxpas erntete Tijoux den Spott der Twitter-Gemeinde. Kein Problem für die Rapperin: Dass Fehler zum Leben gehören, davon ist sie überzeugt. "Ich habe selbst mehr Fragen als Antworten", pflegt sie zu sagen. Eine Ode an das Fehlermachen hat sie ohnehin schon geschrieben: "Somos Todos Erroristas". + diff --git a/fluter/anarchy-in-the-gdr.txt b/fluter/anarchy-in-the-gdr.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..85a6102114d520692b3d659b1690c2ca302165b0 --- /dev/null +++ b/fluter/anarchy-in-the-gdr.txt @@ -0,0 +1,30 @@ +Vorsicht: "negativ-dekadente Jugendliche" +Anfang der 80er-Jahre tummelten sich zwischen Sassnitz und Suhl die ersten Punks und Bands in der DDR. Über Westradio und Westfernsehen waren die meisten Jugendlichen in der DDR über sämtliche Trends und Jugendkulturen bestens im Bilde. Verwandte schmuggelten Musikzeitschriften bei ihren Westbesuchen in den Osten, und auch Schallplatten fanden ihren Weg über die Mauer. Doch den einheitssozialistischen Machthabern in der DDR waren Punks, deren Ideologie und Musik ein Dorn im Auge. Punker wurden vom Ministerium für Staatssicherheit als "negativ-dekadente Jugendliche" eingestuft und verfolgt. +Mit solchen Frisuren bekam man in der DDR keine Auftrittserlaubnis. Da konnten die Otze und Klaus Ehrlich von Schleimkeim noch so fleißig üben / Foto:Jörg Dietrich +Viele Punkkonzerte gab es nicht.Jede Band, die in der DDR in öffentlichen Clubs auftrat, musste vorher eine "Einstufung" machen. Vor einer Kommission aus staatlichen Aufpassern musste aufgezeigt werden, dass die Musiker ihre Instrumente beherrschten und dem Bild aufgeschlossener sozialistischer Menschen entsprachen. Das kam für keine echte Punk-Band in Frage, ihre Musik war ein klares Statement – gegen den Staat. +Deshalb erschien die erste Punkplatte der DDR nicht in der DDR, sondern in Westberlin. Das Album war eine Split-LP der Bands Schleimkeim (SK) und Zwitschermaschine. Die Thüringer Punk-Band Schleimkeim nannte sich aus Gründen der Tarnung auf der LP Saukerle. Aufgenommen wurde die Platte in einem Nest in der Nähe von Dresden, produziert und veröffentlicht von einigen progressiven Westberliner Musikfreunden um Dimitri Hegemann, dem späteren Gründer des legendären Berliner Technoclubs Tresor. Die LP "DDR von unten" war die erste Vinylscheibe, die Punkrock made in GDR unters interessierte Volk in der BRD brachte. Schleimkeim war nicht erste Wahl, zuvor wurden zwei weitere DDR-Punk-Bands gefragt, die aber absagten, weil ihnen das Risiko zu groß erschien. Die A-Seite wurde von der heute längst vergessenen Artband Zwitschermaschine um den Sänger Sascha Anderson bespielt. Ich kenne keinen, der sich jemals die A-Seite bis zum Ende anhörte. + +Die Stasi hört mit +"Alles ist rot", "Scheiß Norm", "Untergrund ist Strategie", "Spione im Café", "Ende", "Haushaltsgeräte", "Frankreich" heißen die Titel der B-Seite, die SK in einer knappen Stunde aufnahmen. Besonders der SK-Hit "Spione im Café" begeisterte die Punker in der DDR. Es geht darin um böse Stasi-Spitzel, die dem Protagonisten des Songs nicht gefallen und ihm Schmerzen "von der Schnauze bis zum Zeh" verursachen. Im Titel "Scheiß Norm" wird auf brachiale Art die tägliche Fron am Fließband beanstandet, "Alles ist rot" ist eine komplexe Allegorie auf von der Volkspolizei gejagte und verprügelte Punkrocker. "Untergrund ist Strategie" scheint eine Art Aufruf zur Revolution, während sich die ruppigen Lieder "Ende", "Haushaltsgeräte", "Frankreich" dem Punkersein in der DDR im Allgemeinen und Besonderen widmen. +Nur wenige Exemplare der LP erreichten den Osten. Je nach Quellenlage sollen zwischen 1.500 und 4.000 Stück von der Platte gepresst worden sein. Sie erzielen heute Höchstpreise bei Sammlern und waren seinerzeit im Westen erbärmliche Ladenhüter. Sascha Anderson soll drei Exemplare der LP in die DDR bekommen haben, ob über Diplomaten oder ein Drittland eingeschmuggelt, ist heute nicht mehr exakt zu verifizieren. Angeblich soll auch Geld geflossen sein. Als Dieter "Otze" Ehrlich, Bandleader und Spiritus Rector von Schleimkeim, davon hörte, soll er Sascha Anderson in Ostberlin besucht haben. Eine Tür wurde eingetreten, und Otze soll eine LP bei Anderson mit einem soliden Knüppel und jeder Menge wohlklingender Worte eingetrieben haben. 120 D-Mark sowie eine der Platten wechselten laut Aussage von Otze an diesem Tag den Besitzer. Anderson hat das später indirekt bestätigt. + +Wer im Arbeiter- und Bauernstaat anders als die anderen war, dem begegnete man nicht eben freundlich. Gerade die frühen Punks wurden von der Stasi rigoros verfolgt (Foto: Christiane Eisler) +Als die Platte in Stotternheim, dem thüringischen Stammsitz von Schleimkeim, ankam, stand das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) schon vor der Tür. Und stellte den Bauernhof der Eltern auf der Suche nach der LP auf den Kopf. Von dem, was dann passierte, kursieren unterschiedliche Legenden. Version eins: Otzes Mutti (Arme wie Keulen, kochte die größten Thüringer Klöße der Welt) schickte in Rotkäppchenmanier die jüngste Tochter mit einem Korb zu Vati in den Stall. Im Korb unter dicken Lagen von Schweineschnitzelbroten versteckt ruhte die LP. Version zwei: Otzes Mutti hat die Platte hinter eine Schrankwand geworfen, wo sie die nächsten Jahre ruhte. Version drei: Otze hat nie eine der Platten besessen. Version vier: Die Stasi hat die Platte eingezogen. +Klar ist hingegen: Der Geheimplan von Schleimkeim, sich einfach in Saukerle umzubenennen, konnte nicht aufgehen, weil bei der Produktion der LP zwei IM unerkannt mitwirkten (informelle Mitarbeiter des MfS). Dem einen gehörte der Aufnahmeraum. Der andere organisierte die ganze Sache: Sascha Anderson, seinerzeit ungekrönter König der künstlerischen Subkultur in der DDR. +Karrieristen, Faschisten, falsche Kommunisten +Für die drei damals knapp 20-jährigen Schleimkeim-Mitglieder hatte die Veröffentlichung der LP im Westen ernste Konsequenzen. Nach zweimonatiger Observation und Ermittlungen wurden sie am 29. März 1983 in Untersuchungshaft genommen. Otzes Bandkollegen kamen nach wenigen Tagen wieder frei, während er vier Wochen in U-Haft blieb, zwei davon verbrachte er in Einzelhaft. Besonders der Text zum Lied "Ende" – "… Ich schäme mich schon lange nicht mehr für meine Heimat, die DDR … Bin damit durch … Karriereristen und Faschisten und nur falsche Kommunisten …" – erregte die Aufmerksamkeit des MfS. Die restlichen Lieder wurden vom MfS als: "… sehr primitiv gestaltete Entäußerungen einer pessimistischen Lebenshaltung mit anarchistischen Zügen, allgemeiner Unzufriedenheit und einer grundsätzlichen Opposition gegenüber der staatlichen Ordnung …" beschrieben. Echter Punk halt. +Nachdem die Stasi Schleimkeim auf die Schliche kam, bekamen die Bandmitglieder ordentlich Ärger, wie diese orthografisch ziemlich punkige Gerichtsakte zeigt +Otze gab im Verhör seine Autorschaft zu und versuchte ansonsten, sein Fell zu retten. Nach einem Monat wurde er entlassen und in die großen Arme seiner Mutter übergeben. Doch der Preis für Otze war hoch. Die nächsten zwei Jahre musste er als "Inoffizieller Kriminalpolizeilicher Mitarbeiter für operative Aufgaben" (IKMO) unter dem Decknamen "Richard" gegen geringe Geldbeträge und Zigaretten über die Punkbewegung berichten. Bis zum Ende der DDR wurde Ehrlich immer wieder verhaftet, auch weil er 1985 seine Mitarbeit als Spitzel aufkündigte. +Krawall mit den Wildschweinpunks +Dimitri Hegemann erhielt ein Einreiseverbot in die DDR und durfte eine Zeitlang nicht einmal die Transitstrecke nach Westdeutschland benutzen, während die Mitglieder von Zwitschermaschine komplett von Repressalien verschont blieben, weil das MfS eine Enttarnung ihres IM Anderson befürchtete. +Mehr zu Dieter "Otze" Ehrlich und Schleimkeim in: Anne Hahn/Frank Willmann, Satan, kannst du mir nochmal verzeihen? Otze Ehrlich, Schleimkeim und der ganze Rest, Ventil Verlag, 4. Auflage, Mainz 2013 +Praktisch alle DDR-Punks besorgten sich im Laufe der Zeit die B-Seite der LP. Kassetten oder Tonbänder halfen bei ihrer Verbreitung in die hintersten Winkel der DDR. Noch heute ist Schleimkeim die wichtigste Punk-Band der DDR, deren eingängige und einfache Musik mit klarer Botschaft nach wie vor gehört wird. +SK spielte rauen und schnellen Punkrock, die Texte stammten fast alle vom Bandleader Otze, der auch die Musik zusammenfriemelte. Vorbilder von SK waren unter anderem die Ramones und Motörhead. Otze war ein Naturtalent, er konnte nach fünf Minuten jedes Instrument spielen, obgleich er nie eine musikalische Ausbildung genossen hatte. SK wurde immer von einer Horde Wildschweinpunks begleitet. Finstre Kerle aus dem Thüringer Wald mit schwarzem Hals, wenig Zähnen und großem Bierdurst. Wo die Band war, war Krawall. Nach der Wende hat Otze sich auf alle besorgbaren Drogen gestürzt +Dieter "Otze" Ehrlich starb am 23. April 2005 an Herzversagen in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung in Mühlhausen. Er hatte die letzten sieben Jahre seines Lebens dort verbracht, weil er seinen Vater, den er im Drogenwahn für den Teufel hielt, getötet hatte. + + +Titelbild: Christiane Eisler +Frank Willmann ist nicht nur Punk, sondern auch Schriftsteller, Publizist und Coach der Autorennationalmannschaft. Geboren ist er 1963 in Weimar, 1984 reiste er nach Berlin (West) aus, wo er heute noch lebt. +In unserer Themenwoche 40 Jahre Punk bisher erschienen: +Heißer Sommer: "Anarchy in the UK" hat die Popmusik erschüttert. Verstehen kann man die Wut der Musik nicht ohne die gesellschaftliche Krise, die im Sommer 1976 England spaltete +"Oh Bondage! Up Yours": Vom Groupie zur Gitarristin einer der wichtigsten Punk-Bands: Das Leben von Viv Albertine von den Slits zeigt, wie wichtig der Punk für Frauen war diff --git a/fluter/andere-umstaende-comic-schwangerschaftsabbruch.txt b/fluter/andere-umstaende-comic-schwangerschaftsabbruch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..32940221c34cd8034900d91084f54ee4974ebc2c --- /dev/null +++ b/fluter/andere-umstaende-comic-schwangerschaftsabbruch.txt @@ -0,0 +1,9 @@ + + +Ob und unter welchen Umständen Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden dürfen, wird vielerorts noch immerkontrovers diskutiert. Seit einerGesetzesverschärfung Anfang September im US-amerikanischen Bundesstaat Texassind dort zum Beispiel Schwangerschaftsabbrüche ab dem Zeitpunkt, an dem eine Herzaktivität des Fötus festgestellt werden kann, also etwa ab der sechsten Schwangerschaftswoche, untersagt – ein Zeitpunkt, an dem viele Frauen noch gar nicht wissen, dass sie schwanger sind. Auch in Deutschland ist ein Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich rechtswidrig und bleibt nur unter bestimmten Umständen straffrei. Nämlich dann, wenn eine Frau sich einem Beratungsgespräch unterzieht und der Abbruch bis zur zwölften Woche nach der Befruchtung stattfindet. Bei medizinischen Indikationen gibt es längere Fristen. Geregelt ist das alles in den Paragrafen 218 und 219 des Strafgesetzbuches. In den meisten Fällen müssen Frauen, deren Einkommen oberhalb einer gesetzlichen Grenze liegt, außerdem die Kosten für den Abbruch – laut Pro Familia zwischen 200 un 570 Euro – selbst übernehmen. Befürworter:innen dieser Gesetzgebung argumentieren mit dem Schutz des ungeborenen Kindes. Kritiker:innen finden dagegen, dass Frauen selbst über ihren Körper entscheiden und nicht kriminalisiert werden sollten – genauso wie die Ärzt:innen, die Abbrüche durchführen. +Zejn erzählt Anjas Geschichte auf mehreren Zeitebenen: Die erste Szene zeigt Anja, wie sie in ihrem Bad einen Schwangerschaftstest macht ("Oh Fuck" ist ihre Reaktion, als zwei Streifen erscheinen und sie erkennt, dass sie tatsächlich schwanger ist). Ein Flashback versetzt die Leser:innen anschließend zwei Jahre in die Vergangenheit und erklärt, wie Anja hierhingekommen ist: vom ersten Kennenlernen mit Olli über die Verliebtheitsphase bis zu den Beziehungsproblemen. Erst im Anschluss, im letzten Drittel des Comics, zeigt Zejn, wie Anja die Entscheidung trifft, die Schwangerschaft zu beenden. Durch kräftige Buntstiftstriche lässt Zeijn ihre Bilder dabei skizzenhaft wirken. Auch farblich ist das Ganze reduziert: Manche Szenen taucht Zejn ganz in Blau, manche ganz in Grün oder Rot und erzeugt so gezielt bestimmte Stimmungen. Besonders deutlich wird das, wenn es um die Beziehung von Anja und Olli geht: Herrschen in den Technoclub-Szenen, in denen sich die beiden verlieben, noch explosive Rottöne vor, verdüstern sich die Bilder mit den zunehmenden Konflikten hin zu einem depressiven Schwarz. + + +Wer übernimmt die Care-Arbeit, wenn ein Paar ein Kind bekommt? Bei Mona, einer Freundin von Anja, die seit ein paar Jahren Mutter ist, hat sich in dieser Frage Ernüchterung eingestellt: Über die Beziehung mit ihrem Freund Aniq, die Anja von außen ziemlich fortschrittlich vorkommt, sagt Mona an einer Stelle: "Wir waren uns sicher, dass wir alles gleichberechtigt machen. Dann hab ich Elternzeit genommen, weil's praktischer war wegen des Stillens. Und dann machst du die Augen auf und bist in den 50ern." +Julia Zejn gelingt es ausgezeichnet, Verständnis für die Lage ihrer Protagonistin zu erzeugen. Nein, Anja ist mit ihrem Partner nicht todunglücklich, erfährt keine physische Gewalt und wurde nicht vergewaltigt. Aber sie möchte in ihrer aktuellen Situation einfach nicht Mutter werden. Nicht zuletzt, weil ihr die strukturelle Benachteiligung klar geworden ist, unter der sie und die Frauen in ihrem Umfeld leiden. Kinder hätte Anja schon gerne, aber unter anderen Umständen. Zejn verteidigt den Schritt ihrer Protagonistin nicht etwa polemisch, sondern führt die Leser:innen einfühlsam durch die Geschichte. So unaufgeregt und undramatisch, wie Zejn von Anjas Entscheidungsprozess erzählt, trägt sie dazu bei, den Entschluss für einen Schwangerschaftsabbruch zu personalisieren – und damit auch zu enttabuisieren. +"Andere Umstände" von Julia Zejn ist im Avant-Verlag erschienen. diff --git a/fluter/anders-als-der-westen.txt b/fluter/anders-als-der-westen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1b9f730e86f7b627d0e3b89f0a5645478357698e --- /dev/null +++ b/fluter/anders-als-der-westen.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Haben der russisch-orthodoxe Patriarch Kirill und Präsident Wladimir Putin ähnliche Vorstellungen von ihrem Land? +Sie haben eine gewisse Sicht, wie sich Russland entwickeln soll – nämlich anders als der Westen. In Russland sagt man, dass die Gruppe, die Gemeinschaft, die Nation die größeren Rechte als das Individuum haben. Das sind auch die zentralen Werte der russisch-orthodoxen Kirche: Die traditionelle Familie, die Gläubigen und die Nation sind ihr wichtig. Am Konflikt der Kirche mit Pussy Riot kann man gut ablesen, wie wenig der Einzelne zählt. Daher ist die Kirche auch kritisch zur Homosexualität eingestellt. Man darf aber nicht vergessen, dass die römisch-katholische Kirche ebenfalls nicht so recht weiß, wie sie mit Homosexualität umgehen soll. +Orientieren sich die Gläubigen in Russland denn stark an der Kirche? +So wie in Deutschland auch, liest in Russland kaum jemand erst die Positionspapiere der Kirche, bevor er sich eine Meinung zu Themen wie zum Beispiel Homosexualität bildet. Der Unterschied ist, dass die Werte der russisch-orthodoxen Kirche oft mit denen der Bevölkerung übereinstimmen und sie ein großes Vertrauen genießt. Es gibt langfristige Umfragen dazu, welchen Institutionen die Menschen vertrauen. Beim letzten Mal war in Deutschland das Ergebnis, dass relativ viele Leute der Polizei oder der Justiz vertrauen, während die Kirchen weit abgeschlagen hinter den Krankenkassen lagen. Das ist in Russland anders. Präsident und Kirche stehen dort weit oben. +Der Präsident und die Kirche unterstützen sich gegenseitig. Gibt es auch Differenzen? +Es gibt Fälle, in denen sie verschiedene Schwerpunkte setzen, und einer davon ist die Ukraine-Politik. Die russisch-orthodoxe Kirche hat sehr viele Mitglieder in der Ukraine, und davon gibt es wiederum sehr viele, die auf der Seite der Ukraine stehen. Wenn nun die russisch-orthodoxe Kirche eindeutig Position beziehen und sich auf die Seite Putins schlagen würde, würde sie einen guten Teil ihrer Mitglieder verlieren. Deswegen hat sie sich bisher eher zurückgehalten. +Thomas Bremer war Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde in Berlin und ist seit 1999 Professor für Ostkirchenkunde und Friedensforschung am Ökumenischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. diff --git a/fluter/angela-lehner-2001-rezension.txt b/fluter/angela-lehner-2001-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cc16d65c0036cd96e1d12c7076d70b3dcf6402f1 --- /dev/null +++ b/fluter/angela-lehner-2001-rezension.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Wie eine rasante Fernsehserie mit gutem Gespür für Schnitt und Pointen. Zwischendurch werden regelmäßig Julias musikalische Idole wie M.O.P., Nelly, N.W.A. und Texta zitiert und die Charaktere sprechen wie manch österreichischer Teenager in den 2000ern eben gesprochen hat. Über einen ihrer Freunde und dessen Verhältnis zur örtlichen Polizei sagt Julia etwa ebenso naiv wie abgeklärt: "Weil er ein Tschusch (Anm. d. Red: abwertende Bezeichnung für eine als fremd angesehene Person) ist und volljährig, muss der Tarek ganz gewaltig aufpassen." In ihrem mehrfach ausgezeichneten Romandebüt "Vater unser" ließ Angela Lehner eine Psychiatriepatientin durch die Geschichte führen, die sich Stück für Stück als unzuverlässige Erzählerin herausstellte. Die Ich-Erzählerin in "2001" manipuliert nun zwar nicht absichtlich, aber schildert, was sie sieht, ähnlich unberechenbar – abwechselnd mit kindlicher Logik oder scharfer Beobachtungsgabe. Im Laufe des Romans erkämpft Julia sich jedoch eine eigene Sprache, ihre eigene Zukunftsvision und, just als die Zwillingstürme in New York zusammenbrechen, schließlich auch den Zugang zu ihrer eigenen Wut. +Julia lässt im Vorbeigehen immer wieder lakonische Weisheiten fallen, etwa hier über die Liebe: "Man kann stolz darauf sein, dass man einen anderen Menschen gefunden hat, der einen abschlecken und sich an einem reiben will. [...] Die gekneteten und abgeschleckten Menschen sind dem Rest von uns überlegen und am Valentinstag sagen sie: Da, eine Rose." +Was durch "2001" hindurch trägt und unterhält, sind sorgfältig recherchierte Gesellschaftsmarotten, die Millennial-Leser:innen wohl wahlweise belustigen, entzücken oder anwidern, jedenfalls aber treffen werden. Allerdings werden die nur selten ausbuchstabiert. Wenn man also nicht gerade um den Jahrtausendwechsel herum ein junger Mensch in Österreich war, werden einige Gags vermutlich nicht landen. +Egal wie durchschnittlich und unauffällig sich eine Ära anfühlt, während sie erlebt wird: Ein paar Jahre später wird man doch entgeistert auf ihre Sitten zurückblicken. Die Mode und der Popkulturdiskurs beschäftigen sich gerade verstärkt mit den Nullerjahren, teils humorvoll wie der Nostalgie-AccountGalerie Arschgeweih. Oft aber auch kritisch. Viele Medien arbeiten beispielsweise den zügellosen Sexismus gegenüber weiblichen Stars wie Britney Spears oder Paris Hilton auf oder den Ursprung von Verschwörungserzählungen zum 11. September 2001. Es scheint, als seien die Gesellschaft damals weniger politisiert, Feminismus und queere Themen exotisch und Klassengerechtigkeit ein Nischenthema. Auch wenn viel zu tun bleibt und mittlerweile neue Probleme entstanden sind, spürt man nach der Lektüre von "2001": Es hat sich viel getan. diff --git a/fluter/angemessen-angry-serie-interview-sexualisierte-gewalt.txt b/fluter/angemessen-angry-serie-interview-sexualisierte-gewalt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5bb5d5bc9d01c745ce3739dd7cb40f1cecf4c1d8 --- /dev/null +++ b/fluter/angemessen-angry-serie-interview-sexualisierte-gewalt.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +fluter.de: Eine Superheldinnen-Comedyserie übersexualisierte Gewalt– wilde Mischung. Wie kamt ihr drauf? +Elsa van Damke: Lachen als Coping-Mechanismus ist etwas, mit dem ich und meine Co-Autorin Jana Forkel uns gut auskennen. Ich glaube, der Humor und das Superheldinnenelement machen den Stoff aushaltbarer. Deswegen war uns diese Tonalität wichtig. Wir haben uns dabei auch deshalb sicher gefühlt, weil wir Witze über Erfahrungen machen, die wir selbst gemacht haben. +Woher weiß man, wie viel man den Zuschauenden zumuten kann, wenn mansexualisierte Gewalt zeigt? +Das war eine riesige Reise. Meine Kamerafrau und ich haben uns die Köpfe zerbrochen, wie wir zum Beispiel die Taten filmen, die Amelie als Visionen sieht, ohne dabei zu retraumatisieren. Was in einer Gefahrensituationen mit Körper und Geist passiert, kann man außerdem nur schwer bebildern. Wir haben dafür eng mit Sophie Rieger gearbeitet, sie istSensitivity-Readerinund die Gründerin von "Filmlöwin", einer feministischen Rezensionsplattform. Wir haben zusammen viele, teilweise schlimme Filme geguckt und immer mehr gemerkt, was wir zeigen können und was wir nur andeuten dürfen. Man sieht zum Beispiel wenig Gewalt oder nackte Haut, wir filmen nicht aus der Täter- oder Opferperspektive, sondern von außen. +War es schwierig, so intensiv und lange an einem so schmerzhaften Thema zu arbeiten? +Ich mache kein Geheimnis daraus, dass ich selbst Überlebende sexualisierter Gewalt bin. Ich hatte einen sehr schlimmen Vorfall mit 15 und dann viele weitere, leider sehr übliche Vorfälle in den 15 Jahren danach. Wir möchten mit der Serie etwas bewegen, und gleichzeitig ist mir durch die ganze Recherche noch einmal klarer geworden, wie niederschmetternd die Realität in Sachen sexualisierter Gewalt ist. Aber da, wo der ganze Schmerz lag, haben wir durch das Machen der Serie auch so viel Verständnis, Gemeinschaft, Empathie und Empowerment erlebt. Es war eine Achterbahnfahrt. +Welches Feedback habt ihr von Männern auf die Serie bekommen? +Ein Freund kam nach der Premiere zu mir und hat gesagt: "Ich habe heute verstanden, dass Frauen in einer anderen Welt leben." Das war für mich ein echt besonderer Moment. Mein bester Freund hat nach dem Screening ganz doll geweint, und mir haben mehrere Freunde und Kollegen hinterher geschrieben, die alle Sätze formuliert haben wie: "Ich hinterfrage mich und gewisse Situationen." Und das sind alles Männer, für die ich meine Hand ins Feuer legen würde. Trotzdem haben wir natürlich auch von ein paar Leuten das Feedback bekommen, in der Serie würden Männer unter Generalverdacht gestellt." Auf diese Kritik haben wir uns aber schon von Anfang an eingestellt. +Was entgegnest du auf diese Kritik? +Männer sollen sich mal vorstellen, sie hätten einen Käfig mit 100 identisch aussehenden Schlangen vor sich, von denen 99 harmlos sind. Eine von ihnen ist aber tödlich giftig. Man würde jeder Schlange mit Vorsicht begegnen. Natürlich ist das vereinfacht und der Weg zur Gewalt ist komplex. Aber es geht bei diesem Gedankenexperiment um das subjektive Empfinden vieler Frauen. Und wenn wir bedenken, dass mindestens jede dritte Frau in ihrem Leben sexualisierte Gewalt erfährt, dann ist 1 zu 99 ein Witz – ein übergriffiger Mann auf 99 korrekte Männer, das nenne ich Utopie. Wer als Mann von sich selbst weiß, dass er derartige Grenzen nicht überschritten hat, sollte meiner Meinung nach über unseren "Generalverdacht" hinwegkommen und muss sich davon nicht angegriffen fühlen. +Hast du Angst vor diesen Reaktionen? In der Serie findet Selbstjustiz statt, und es gibt eine Szene, in der Hysteria in ihrem Rachefeldzug besonders weit geht. +Wir haben Respekt und können aber mit Sicherheit sagen, dass wir hinter allen Entscheidungen stehen, die wir für unsere Geschichte und unsere Hauptfigur getroffen haben. Es war uns wichtig, dass die Protagonistin Amelie Selbstjustiz vollzieht, dass sie eben nicht alles richtig macht und auch von ihren engsten Vertrauten Gegenwind bekommt. Ein Aufruf zur Gewalt ist die Darstellung von Selbstjustiz in unserer Serie nicht. Nach einem James-Bond-Film steigen ja auch nicht die Vergeltungstaten in Deutschland an. Diese Erzählungen und Bilder sind wir einfach nur mehr gewöhnt. Frauen werden im Film oft als passiv inszeniert. Das Handeln, die Gewalt, die Action gehört meist männlichen Hauptcharakteren – bisher zumindest. Selbstjustiz bei Männern im Film: Geil! Selbstjustiz bei Frauen im Film: Ungeheuerlich! Das sehe ich nicht ein. +Habt ihr im Vorfeld mit Betroffenen gesprochen? +Das mussten wir gar nicht. In 28 Jahren, die ich bis zur Entwicklung dieser Serie auf dem Buckel hatte, habe ich  – wie schon erwähnt – sehr viele Erfahrungen selbst gemacht, außerdem habe ich eine Mutter, eine Oma, einen vorrangig weiblichen Freundeskreis. So traurig es klingt: Aber Recherche war nicht nötig, das ist alles in meinem Umfeld passiert. Ich musste einige Freund*innen vorwarnen, bevor sie die Serie gucken – weil ich weiß, dass ihnen eine ähnliche Situation passiert ist. Aus diesem Grund werden Betroffene so oft zynisch und wütend: Diese Geschichten werden schon immer erzählt, es hört halt nur meistens niemand hin. +Apropos Wut: Darum geht's, wie der Name verrät, in "Angemessen Angry" ziemlich oft. Wieso habt ihr diese Emotion in den Fokus gerückt – statt zum Beispiel Scham oder Trauer? +Dass die Wut bei unserer Serie im Zentrum steht und fast schon unsere vierte Hauptfigur ist, war uns nicht bewusst, bis wir uns ganz zum Schluss auf den Namen der Serie geeinigt haben – da ist dann der Groschen gefallen. Das kam also ganz natürlich. Ich hab selbst ein paar Jahre Therapie gebraucht, um zu checken, dass ich Wut in mir habe. Das ist eine Emotion, die vor allem mit Männern assoziiert wird. Wut ist etwas Unweibliches, Frauen sind nicht wütend oder laut – und wenn doch, dann gelten Frauen schnell als überemotional oder "hysterisch". Das sind die Dinge, die wir lernen. Stimmt natürlich überhaupt nicht. Uns wird nur als Frauen von klein auf beigebracht, dass wir dieses Gefühl nicht auszuleben haben. Dabei kann Wut auch was Tolles sein! Wut verbindet Frauen auch. Und unsere Wut macht anderen Angst, das merkt man. +Würdest du sagen, die Serie hat auch einen Bildungsauftrag? Ein paar Statistiken habt ihr in einer Szene geschickt reingeschummelt. +Ja, das war vor allem für einige männliche Zuschauer, die immer wieder kommen mit Unschuldsvermutung, Generalverdacht und so weiter. Da ist es wichtig, dass man sich die tatsächlichen Fakten und Zahlen mal anguckt. Deswegen haben wir in der Serie zum Beispiel auch keine weibliche Täterin abgebildet: Wenn wir zehn Täterpersonen haben und eine davon ist eine Frau, dann wären das zehn Prozent, und das ist lächerlich, wenn man sich die tatsächlichen Zahlen anschaut: 2023 waren in 98,5 Prozent der Sexualdelikte Männer die Tatverdächtigen. +Könntest du dir weitere Staffeln vorstellen? +Mein Herz sagt Ja, mein Bauch Nein. Es gäbe noch viel zu erzählen, aber ich finde die Serie auch als das, was sie jetzt ist, sehr rund. Es war ein superbesonderes Projekt, aber auch ein harter Kampf. + +Elsa van Damke, Jahrgang 1994, hat erst Journalismus und dann Film studiert. Für ihre Kurzfilme erhielt sie schon zahlreiche Preise. Mit "Angemessen Angry" feiert sie jetzt ihr Seriendebüt. +Portrait: Mitch Stoehring diff --git a/fluter/angst-deutschland.txt b/fluter/angst-deutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1a6755c524d5faf4e87868920d0e95c12ec21a7f --- /dev/null +++ b/fluter/angst-deutschland.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Angst ist eine politisch relevante Größe. Mit Angst wird Politik gemacht. Angst vor Jobverlust, vor Einwanderung, vor Kriminalität. Doch das Gefühl zu messen ist schwer. +Eine Möglichkeit der Annäherung sinddie Zahlen der Polizei­lichen Kriminalstatistik, die jährlich erhoben werden. Sie zeigen, wie viele Straftaten in Deutschland im Berichtsjahr be­gangen wurden – und damit die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Verbrechens zu werden. Nüchtern betrachtet gibt diese Statistik seit Jahren Anlass zur Beruhi­gung: 2020 wurden 2,3 Prozent weniger Straftaten als im Jahr zuvor registriert. Die Krimina­lität in Deutschland ist auf dem niedrigsten Stand seit 1993 – bei einer wachsenden Bevölkerung. Und die Aufklärungsquote steigt. +Allein die Gewaltkrimina­lität fiel in den vergangenen zehn Jahren von ca. 201.000 auf knapp 177.000 Fälle. Und wurden 2001 noch 464 Menschen ermordet, waren es im vergangenen Jahr 280. Schlimmer geworden ist 2020 allerdings die sexualisierte Ge­walt gegen Kinder. +Obwohl also viele Delikte wie Gewaltkriminalität, Woh­nungseinbrüche oder Diebstäh­le seit Jahren rückläufig sind, scheint das Sicherheitsempfinden in der Bevölkerung leicht abzu­nehmen. Das zeigen Untersuchun­gen, die jene Kriminalität in den Blick nehmen, die nie zur Anzeige kommt: das sogenannte Dunkelfeld. Dunkelfeldstudien befragen zufällig ausgewählte Personen danach, ob sie inner­halb eines bestimmten Zeitraums Opfer einer Straftat wurden – und versuchen damit die offizielle Kriminalitätsstatistik "aufzuhellen". Gleichzeitig wird in diesen Befragungen das subjektive Sicherheitsempfinden untersucht: "Wie sicher fühlen Sie sich, wenn Sie tagsüber alleine in Ihrem Wohngebiet spazieren gehen?" Mit Standardfragen wie dieser tasten die Interviewer die Ränder der Angst ab. +Die letzte veröffentlichte bundesweite Befragung dieser Art hattedas Bundeskriminalamt (BKA) zwischen Juli 2017 und Januar 2018 durchführen lassen.Dabei zeigte sich, dass die gefühlte Unsicherheit seit der vorhergehenden Befragung fünf Jahre zuvor in fast allen Bundesländern leicht zugenommen hatte. +Am meisten Angst hatten die Menschen in Sachsen-Anhalt (30 Prozent), doch auch in Sachsen und Berlin fürchteten sich auffallend viele Menschen vor Straftaten (28 Prozent). In Ostdeutschland fühlt sich etwa jeder Vierte unsicher in seinem Wohngebiet, in Westdeutschland jeder Fünfte. +Woher die Unsicherheit rührt, dazu gibt die Untersuchung streng genommen keine Auskunft. Doch es gibt Erklärungshypothesen, wie der Studienleiter Christoph Birkel erläutert: "Der öffentliche Diskurs über den Zuzug von Flüchtlingen 2015 könnte einen Einfluss auf das Sicherheitsempfinden gehabt haben, ebenso wie die Berichterstattung über gewalttätige Übergriffe in der Silvesternacht 2015 in Köln", sagt Dunkelfeldforscher Birkel. In der Folge habe es in den Medien einen starken Fokus auf von Migranten verübte Straftaten gegeben. +Der Schluss liegt nahe,dass bestimmte Medienberichtedie Angst anheizen. Nicht nur, indem sie über Einzelfälle besonders intensiv berichten. Sondern auch in der Art, wie Kriminalstatistiken wiedergegeben werden. Im März titelte eine Tageszeitung: "Zahl der Verurteilungen von Ausländern steigt um 51 Prozent". Was wie eine exklusive Enthüllung klingt, ist öffentlich in der Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamts nachzulesen. Und das ist nur eines von vielen Problemen mit dieser Zahl: Der Vergleichszeitraum (2010 bis 2019) ist bewusst so gewählt, dass er den dramatischsten Zuwachs zeigt. +Egal ob man die Betrachtung früher (2005) oder später (2015) beginnt, die Zahl wäre weniger spektakulär. Und bei den verzeichneten Straftaten handelt es sich nicht selten um Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz, die nur Ausländer begehen können. Auch ist die Zahl der als Ausländer gezählten Menschen im Betrachtungszeitraum um mindestens 40 Prozent gestiegen. Zugespitzt gesagt: Nichts deutet darauf hin, dass Ausländer in Deutschland krimineller sind als früher. Doch für Zeitungen mit sinkender Auflage ist das Geschäft mit der Angst verlockend. +Dennoch mahnt die Juristin Rita Haverkamp davor, den Medien eine zu große Rolle bei dem Diskurs über die Sicherheitswahrnehmung einzuräumen: "Wichtig zu sehen ist, dass Medien eine verstärkende Funktion auf Unsicherheit haben können, aber keine Auslöser sind", erklärt die Professorin für Kriminalprävention an der Universität Tübingen. "Furchtsame Menschen füttern ihre Unsicherheit mit entsprechender Berichterstattung." +Größere Sorgen bereiteten ihr, ebenso wie vielen Kriminalisten, die Echokammern in den Sozialen Medien, wo Menschen sich ungefiltert undohne Faktencheck einem ständigen Zustrom von Geschichten aussetzen,die ausschließlich ihre eigenen Vorannahmen widerspiegeln.Auf YouTube und Co.ist man immer nur einen Klick vom nächsten Beitrag entfernt, der die eigenen Ängste uneingeschränkt bestätigt. Auch das Alter spiele eine wichtige Rolle, so Rita Haverkamp. Wer schlechter sehe und weniger gut zu Fuß sei, fühle sich angreifbarer. "Mich überrascht es nicht, dass in einer Gesellschaft mit dem Altersdurchschnitt von 45 Jahren auch mehr Unsicherheit herrscht." +Im Oktober 2020 begann eine weitere Befragung durch das Bundeskriminalamt und das Institut für angewandte Sozialwissenschaft (infas) aus Bonn. "Die Ergebnisse werden uns zeigen, ob es tatsächlich einen Trend zur Unsicherheit gibt", erklärt der Kriminalist Christoph Birkel, der auch diese Studie koordiniert. Der Gefühlsprofi vom BKA sagt, ihm persönlich gebe es Sicherheit, dass er die Aussage von Statistiken richtig erfassen könne: "Ich weiß, wie gering das Risiko tatsächlich ist, Opfer einer Straftat zu werden." Das lasse ihn ruhig schlafen.Richtig zitiert und verstanden, können Zahlen die Angst auch besiegen. + diff --git a/fluter/angst-vor-klimawandel-depression.txt b/fluter/angst-vor-klimawandel-depression.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a990547f9360623f542087bcc8723a5a93b674a9 --- /dev/null +++ b/fluter/angst-vor-klimawandel-depression.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Zwei Drittel der 14- bis 24-Jährigen in Deutschland gaben ineiner Umfrage des Sinus-Institutsan, Angst vor dem Klimawandel zu haben. Auch die 17-jährige Umweltaktivistin Greta Thunberg beschrieb, dass sie lange Zeit unter Depressionen gelitten hat, die mit der Angst vor dem Klimawandel zusammenhingen. Denn der kann sich nicht nur direkt auf die körperliche Gesundheit auswirken, wie etwa bei Opfern von Naturkatastrophen, sondern auch auf die psychische – auch ohne dass die betroffene Person bereits direkt mit den Folgen des Klimawandels in Kontakt gekommen ist. "Angst vor dem ökologischen Untergang", so definierte die US-amerikanische psychologische Vereinigung APA die Angst. +Eineoffizielle Diagnose "Klima-Angst", welche die Krankenkassen in Deutschland anerkennen,gibt es bisher nicht. Was man hingegen diagnostizieren kann, ist eine Angststörung. "Die ist selten auf einen einzigen Grund zurückzuführen", erklärt Katharina van Bronswijk, Psychologin und Sprecherin der Psychologists/Psychotherapists for Future einem Zusammenschlussvon Psychologen, die gegen den Klimawandel kämpfen wollen. Immer häufiger würden Patienten als eines ihrer Sorgenthemen die Angst vor dem Klimawandel nennen. "Wenn wir Angst haben, ist unser Bedürfnis nach Kontrolle verletzt – und daraus ziehen wir Energie, um auf die Gefahr zu reagieren." Wenn ein Hund gefährlich bellt, reagiert der Mensch mit Angst und bekommt die nötige Energie, um zu fliehen. "Doch vor dem Klimawandel kann man nicht weglaufen", sagt van Bronswijk. Die Reaktion darauf: Manche verdrängen und verleugnen das Thema, andere nutzen die Angst als Motor für Veränderung, so wie zum Beispiel Greta Thunberg. Wieder andere finden keinen Ausweg aus Furcht und Leiden. +Interview:Wir können die Klimakrise noch eindämmen, sagt Ökonomin Claudia Kemfert. Und dabei sogar Spaß haben + +"Je länger ich mich mit dem Thema auseinandersetze, desto größer wird die Angst", sagt der Aktivist und Buchautor Alf-Tobias. Er ist schon 37, doch auch er fragt sich: "Schaffen wir das überhaupt noch? Ich will meiner Tochter eine Welt hinterlassen, die noch intakt ist." Er hat Wege gefunden, mit seiner Klima-Angst umzugehen: Seit seine Tochter auf der Welt ist, engagiert er sich in der Umweltbewegung, geht auf Demos und regelmäßig zu einem Freund, der zum Klima-Dinner lädt. +Dort diskutieren die Gäste, wie sie mit der Angst umgehen und was sie gegen den Klimawandel unternehmen können. "Dieser Austausch fehlt oft und führt dazu, dass sich Menschen mit der Klimakrise überfordert fühlen", meint Alf-Tobias. In den USA gibt es mittlerweile Selbsthilfegruppen wie"The Good Grief Network", und auch die Psychologists/Psychotherapists for Future bieten in Deutschland öffentliche Gesprächsrunden an. +Sarah hat noch keinen endgültigen Ausweg aus ihrer Klima-Angst gefunden. Nur Möglichkeiten, diese zu lindern: "Die ganzen schrecklichen Nachrichten zur Klimakrise bedrücken mich und lösen eine Starre in mir aus", sagt sie. Daher hat sie ihren Medienkonsum extrem eingeschränkt, ist Leuten auf Instagram entfolgt und liest gerne Nachrichten, in denen konstruktive Lösungen diskutiert werden. +Auch die Psychologin Katharina van Bronswijk empfiehlt Betroffenen eine ausgewogene Mischung von Informationen: "Man muss sich bewusst entscheiden, mit welchen Meldungen man sich beschäftigt." Menschen, die die Klima-Angst lähmt, müssten wieder ein Gefühl der Zuversicht bekommen. Es helfe, tatsächliche Veränderung zu sehen, um wieder "ein Gefühl von Kontrolle zu bekommen – was ja das Grundbedürfnis hinter der Angst ist", erklärt die Psychologin. Zum Beispiel, indem man, wie Sarah, etwas bei sich im Leben ändert: Vegetarier wird, auf Flugreisen verzichtet oder nur noch unverpackt einkauft. Aber kann das reichen? Relativ schnell komme die Erkenntnis, dass der Klimawandel kein Problem sei, an dem man individuell arbeiten könne, sondern eines, das gesamtgesellschaftliche Lösungen erfordere. Wer Angst vor dem Klimawandel habe, müsse sehen, dass gehandelt werde. Das fordert auch Sarah undgeht regelmäßig zu den Fridays-for-Future-Demos. Doch über die Zukunft, sagt Sarah, wolle sie am liebsten gar nicht nachdenken. + + +Titelbild: Brooke DiDonato/VU/laif diff --git a/fluter/angst-vorm-ukrainekonflikt.txt b/fluter/angst-vorm-ukrainekonflikt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/animal-aided-design-stadt-platz-fuer-tiere.txt b/fluter/animal-aided-design-stadt-platz-fuer-tiere.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..40c8d4cd1c662837bae5d26405970d57f8477204 --- /dev/null +++ b/fluter/animal-aided-design-stadt-platz-fuer-tiere.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Das soll sich nun ändern: Ein Forschungsprojekt will Architekten und Städteplaner auf die Verdrängung der Tiere aufmerksam machen und dagegen vorgehen. Animal-Aided Design nennen das die Wissenschaftler Wolfgang W. Weisser (Technische Universität München) und Thomas E. Hauck (Universität Kassel) und beschreiben als Ziel, "Lebensräume für Tiere zu schaffen und dadurch die Gestaltung von Freiräumen für den Menschen zu verbessern". +Klingt nicht nur nach mehr Natur in Städten, sondern ist vor allem ein Ansatz zum Umdenken. Denn in Zeiten des Klimawandels kann es nicht allein darum gehen,immer mehr Menschen auf derselben Fläche unterzubringen. Zunehmend wird es wichtiger werden, Hitzeinseln in Städten einzudämmen, indem Pflanzen und Bäume Schatten spenden und das Mikroklima verbessern. Schon begrünte Fassaden können dazu beitragen und dabei gleichzeitig einen Nistplatz für diverse Vogelarten bieten. +"Der Mensch trennt sich und die Städte gern von der Natur", sagt der australische Landschaftsarchitekt Adrian McGregor und spricht von einem Biourbanismus. "Sobald Sie eine Stadt als Natur betrachten, ändert sich Ihre Planung für diese Stadt." Mit diesem veränderten Blick hat die kommunale Wohnungsbaugesellschaft Gewofag im Frühjahr insgesamt 99 Wohnungen in München fertiggestellt – und sich dafür unter anderem von der TU München und der Universität Kassel beraten lassen. Entstanden sind drei fünfgeschossige Gebäude nach dem Konzept von Animal-Aided Design. Das heißt, die Architekten versuchten von vornherein, die Bedürfnisse der dort vorkommenden Arten in ihre Planung miteinzubeziehen. +Das Ergebnis sind Brutplätze für Vögel in den Fassaden, Überwinterungsquartiere für Igel in den Außenanlagen und Sträucher und Hecken zwischen den Häusern, die extra dem Nahrungsbedarf der Tiere entsprechend gepflanzt wurden. "Die Bedürfnisse der Tiere dienen dabei als Inspiration und nicht als Einschränkung der Gestaltung", erklären Weisser und Hauck. Mit detaillierten Artenporträts informieren sie Städteplaner und Architekten über die idealen Lebensbedingungen der Tiere – von Pflanzlisten über potenzielle Nahrungsquellen und Rückzugsorte bis hin zu Gestaltungselementen. +Der Ansatz des Animal-Aided Designs ist aber nicht nur ökologisch und tierfreundlich, sondern bedeutet auch mehr Lebensqualität für uns Menschen. Dass es einen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Vögeln und psychischen Erkrankungen beim Menschen gibt, hat der britische Biologe Daniel Cox vom Institut für Umwelt und Nachhaltigkeit der Universität Exeter gezeigt. In seiner 2017 veröffentlichten Studie heißt es, dass dort, "wo mehr Vögel anwesend sind, und dort, wo die Menschen die Chance haben, ihnen zu begegnen, das Ausmaß psychischer Erkrankungen geringer ist." +Eine andere Idee, den "Nachtpark", haben die Wissenschaftler Weisser und Hauck für Berlin konzipiert. Auf einer 60 Meter breiten Magistrale, die den Ost- mit dem Westteil der Stadt verbindet, soll Lebensraum für nachtaktive Arten geschaffen werden – und ein Puffer zum motorisierten Verkehr. Im Entwurf heißt es: "Der Mittelstreifen wird in verschiedene Abschnitte unterteilt, die jeweils unterschiedliche Funktionen für die Tierarten übernehmen. Für das Rotkehlchen und die Nachtigall gibt es eine ‚Brutstätte', ein ‚Nährstofflager' und eine Badestelle. Für die Fledermaus ein ‚Ruhezimmer' und ein ‚Jagdzimmer'." +Platz genug ist auf dem 18 Meter breiten Mittelstreifen vorhanden. Die Nächte in der Hauptstadt könnten dann in Zukunft so aussehen: Während Nachtigall und Rotkehlchen um die Wette singen und Fledermäuse in der Dunkelheit Insekten jagen, sind Fußgänger und Radfahrer in einem Stück Natur unterwegs. Eine schöne Vorstellung für eine Metropole. Und eine neue Attraktion für das Berliner Nachtleben. + diff --git a/fluter/anna-mayr-die-elenden-arbeitslosigkeit.txt b/fluter/anna-mayr-die-elenden-arbeitslosigkeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..29c2fa7eb30cbb1728dd5004766998aca86b3a9f --- /dev/null +++ b/fluter/anna-mayr-die-elenden-arbeitslosigkeit.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Ihr drittes Argument ist eines, das weiter reicht, aber auch schwieriger zu belegen ist: Arbeitslose, sagt Mayr, würden aktuell auch die Funktion erfüllen, die Arbeitenden in Schach zu halten, weil ihr Schicksal für alle anderen als drohendes Beispiel dienen kann. Um der Arbeit in der "Leistungsgesellschaft" einen Sinn zu geben, brauche es als Gegenstück die Verkörperung der Sinnlosigkeit: die Arbeitslosigkeit. Dieser Gedanke lässt sich nachvollziehen. Ähnlich argumentierte der Philosoph Michel Foucault schon 1975. In seinem Buch "Überwachen und Strafen" stellt er fest, dass der Staat die Idee des Gefängnisses nutzt, um das Individuum zu reglementieren. Für das praktische Nachdenken über die Arbeitslosigkeit ist Mayrs Argument aber zweitrangig. Denn auch wenn durch dieCorona-Kriseverstärkt über Konzepte wie dasGrundeinkommendiskutiert wird, dürfte die Abschaffung der "Leistungsgesellschaft" noch etwas auf sich warten lassen. +Mayrs Ausführungen über die gesellschaftliche Funktion der Arbeitslosigkeit sind kein Selbstzweck. Sie sind viel eher das argumentative Fundament für ihr Kernanliegen: Arbeitslosigkeit, so die Autorin, müsse endlich entstigmatisiert werden. Schließlich seien die wenigsten Arbeitslosen freiwillig arbeitslos. Dafür bürgt Mayr nicht mit Zahlen, sondern mit ihrer eigenen Biografie. Die 1993 im Ruhrgebiet geborene Mayr ist das Kind von Langzeitarbeitslosen. Heute ist sie Redakteurin der "Zeit", hat ihn geschafft, den "Traum" vom Aufstieg. Eine Formulierung, die sie selbst hasst. +Das Buch wird durch ihre Schilderungen – und die Wut, mit der sie schreibt – unmissverständlich und dringend. So werden in "Die Elenden" Exkurse über Karl Marx oder das vermeintliche Ende der Sozialdemokratie unterbrochen durch persönliche Anekdoten, die ihre Argumentation belegen sollen. Anstatt nur zu behaupten, dass Hartz IV ganze Familien stigmatisiere, beschreibt Mayr, wie sie mit 16 Jahren den ersten Brief vom Jobcenter erhält – mit der Aufforderung zum Beratungsgespräch. "Natürlich", kommentiert Mayr, "bekommen ‚normale' Kinder solche Briefe nicht." +Die autobiografische Ausrichtung des Buches verweist aber auf ein Dilemma: Im Diskurs um Arbeitslosigkeit sprechen die Betroffenen selten selbst.Ihre "Sichtbarkeit" ist auf sogenanntes Trash-TV begrenzt, das von "der Mitte" für "die Mitte" produziert wird. Es gibt wenig politische Interessenvertretung für Arbeitslose, wenige Gruppen, die öffentlich in Erscheinung treten und Forderungen stellen. Mayrs Stimme hat auch deshalb Gewicht, weil sie eben nicht arbeitslos ist. Die Autorin reflektiert diesen Mechanismus in ihrem Buch, nimmt ihn aber in Kauf. Das geht so lange gut, bis die Emotionalisierung ihrer Geschichte mehr Raum einnimmt als ihre Argumentation selbst. Das passiert ihr leider in einem Kapitel, in dem sie die ihrer Meinung nach verheerende Hartz-IV-Reform rekapituliert. Jedem Jahr der Reformentwicklung stellt sie einen kursiven Absatz aus ihrer eigenen Biografie entgegen, der keinen anderen Grund zu haben scheint als die Emotionalisierung der politischen Faktenlage. +Mayr geht es in letzter Konsequenz nicht darum, Arbeitslosigkeit abzuschaffen, sondern den Umgang mit ihr zu verändern. Anstatt die Hartz-IV-Empfänger*innen zu verachten, sollten wir wütend werden, plädiert sie. Wütend darauf, dass nicht mehr Leistung zu Wohlstand führe, sondern nur Wohlstand zu mehr Wohlstand. Mayrs Traum: ein System, in dem alle, auch die ohne Arbeit, würdevoll leben können. Ein solches System, argumentiert sie, würde allen nutzen, weil es der kollektiven Angst vor dem Abstieg, der Sinnlosigkeit und der Armut etwas entgegensetzen würde. Für die Finanzierung sieht Mayr den Staat in der Pflicht, Einkommen gerechter zu besteuern und Unternehmen durch einen Bankdatenaustausch daran zu hindern,Steuern zu hinterziehen und ihre Gewinne am Fiskus vorbeizuschleusen. +Für die Größe ihrer Forderungen mangelt es Mayr aber leider an einer realpolitischen Einschätzung, die auf belegbaren Zahlen gründet. Dass Arbeitslosigkeit ein gesellschaftliches Problem ist, das auch aus einer Perspektive der Globalisierung betrachtet werden muss, bleibt bei ihr ebenso unerwähnt: Sie ergreift Partei für die Arbeitslosen und vergisst dabei die europäischen Arbeitsmigrant*innen, die den Niedriglohnsektor in Deutschland ausmachen. +Trotzdem ist Mayrs Forderung nach mehr finanziellen Mitteln gegen eine Verelendung ganzer Bevölkerungsgruppen so relevant wie lange nicht. Arme Menschen brauchen keine Bildung oder Chancen, sondern Geld, heißt es an einer Stelle ihres Buches. Und tatsächlich hat die Corona-Krise gezeigt,dass Kinder aus armen Familien häufig gar nicht die Lebensbedingungen vorfinden, um überhaupt am digitalen Schulunterricht teilnehmen zu können. Neben den abstrakten Forderungen Mayrs findet sich am Ende von "Die Elenden" deshalb immerhin auch eine sehr konkrete: Der Hartz-IV-Satz solle von 432 Euro pro Person auf 764 Euro steigen. + diff --git a/fluter/anna-sorokin-hochstaplerin.txt b/fluter/anna-sorokin-hochstaplerin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a66a085946f571860831929591bf4476cfe930b2 --- /dev/null +++ b/fluter/anna-sorokin-hochstaplerin.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Als sie noch im selben Jahr nach New York geht, erweist sich ihr sorgfältig gepflegter Insta-Account als virtuelle Visitenkarte, die ihr die Türen öffnet. Der Eindruck: eine junge Frau, die in Paris eng mit den Reichen und Schönen verkehrt. Dank ihrer Pariser Kontakte wird Anna auch in New York auf die richtigen Partys eingeladen, nicht als Ex- Praktikantin, sondern als ehemalige "Purple"-Redakteurin. Eine kleine Lüge, auf die schon bald größere folgen: Anna wohnt in einem schicken Hotel und gibt an der Rezeption reichlich Trinkgeld. Niemand kommt auf die Idee, dass die von ihr hinterlegte Kreditkarte bei Weitem nicht für die Rechnung reichen wird. Anna lässt durchblicken,dass sie eine Erbschaft von 60 Millionen Dollar erwartet,und erweckt den Eindruck, als sei Geld für sie kein Problem, sondern viel zu unwichtig, um darüber zu reden – was die Schulden, die sie bei anderen macht, einschließt. Umgeben von Künstlern und reichen Sammlern legt sie sich das passende Projekt zu: Sie will einen Kunst- und Kulturraum mit Clubcharakter in Manhattan errichten, für den sie Investoren sucht. Eine junge, kunstinteressierte, stilsichere Europäerin, Erbin eines geheimnisvollen Vermögens – diese Mischung erweist sich in Manhattan als unschlagbar attraktiv. + + +Viele ihrer neuen Freunde und Freundinnen leben verschwenderisch, zeigen sich entsprechend großzügig und scheuen sich wohl auch, eine vermeintliche Millionenerbin daran zu erinnern, dass sie ihnen ein paar läppische Hundert oder gar Tausende Dollar schuldet. So glaubt der Kunstsammler Michael Xufu Huang, dass Anna ihm das Geld für die gemeinsame Reise zur Biennale in Venedig – gut 2.000 Dollar – schon noch zurückzahlen wird. Angeblich ist Annas Kreditkarte aus Sicherheitsgründen kurzfristig gesperrt, weswegen ihr Huang das Geld auslegt. Irgendwann hat er es dann einfach vergessen, und so geht es einigen, die Annas Flüge oder Hotelrechnungen bezahlen. +Vielleicht hat Anna tatsächlich die Absicht, eines Tages alle Schulden zu begleichen. Vielleicht ist sie wirklich davon überzeugt, dass sie ihr Kunst- und Kulturraum, der ihr bis ins kleinste Detail vor Augen schwebt, bald zur Millionärin macht. Dank ihrer Kontakte gelingt es ihr tatsächlich, bei einer Bank und einer Investmentfirma ein offenes Ohr zu finden. Es geht um einen Kredit über 22 Millionen Dollar. Da Anna weder Vermögen noch ein stabiles Einkommen hat, fälscht sie Kontoauszüge, die beweisen sollen, dass ihre Eltern Millionäre sind. Die Kommunikation übernimmt der "Anwalt der Familie", den sie auch frei erfunden hat: eine gefälschte E-Mail-Adresse, ein Prepaid-Handy und jede Menge Wagemut – fast wird ihr der Kredit bewilligt. Doch irgendwann fordert eine Bank eine Sicherheit von 100.000 Dollar. Wieder handelt Anna prompt und geht zu einer anderen Bank (die sie mit den gleichen gefälschten Dokumenten versorgt), mit der Bitte um eine Erweiterung ihres Dispos – auf 100.000 Dollar. Nun wähnt sich Anna kurz vor dem Ziel. Doch wenig später meldet sich das kreditgebende Institut mit dem Wunsch, Annas Banker in der Schweiz zu treffen. Entsetzt macht sie einen Rückzieher, denn einen echten Schweizer Banker kann auch sie nicht faken. Von den 100.000 Dollar bleiben 55.000, den Rest behält die Bank als Gebühr. +An dieser Stelle wird die Geschichte etwas chaotisch: Anstatt der anderen Bank das restliche Geld zurückzugeben, beginnt sie, es mit vollen Händen auszugeben. Vielleicht glaubt Anna daran, in letzter Minute noch einen privaten Investor von ihrer Idee überzeugen zu können. Doch selbst 55.000 Dollar reichen nicht, wenn man in den teuersten Hotels wohnt, Unmengen für Frisuren, Wimpernverlängerungen, Schuhe und Kleider ausgibt und mit Trinkgeldern um sich wirft. Mit gefälschten Schecks verschafft sie sich noch etwas Zeit, doch irgendwann schuldet sie dem Hotel mehr als 30.000 Dollar. Ein guter Moment, um für eine Weile von der Bildfläche zu verschwinden. Für einen kurzenWellnessurlaubfliegt sie mit ein paar Freundinnen nach Marokko. Die Flüge übernimmt ihre Freundin Rachel, weil Annas Kreditkarte leider mal wieder "verrückt spielt". +In Marokko sind die Freunde angesichts der luxuriösen Unterkunft sprachlos. Anna hat sich in ihrer Großzügigkeit selbst übertroffen. Bis nach einigen Tagen das Hotel darauf dringt, dass endlich eine Kreditkarte für die Buchung hinterlegt werden müsse. JETZT. Nachdem keine von Annas zwölf (!) Karten funktioniert, bleibt Rachel nichts anderes übrig, als ihre anzubieten. Monatelang läuft sie daraufhin Anna und den 62.000 Dollar, die sie "ausgelegt" hat, hinterher, bis sie sich verzweifelt an das FBI wendet. Ihre "Freundin" Anna, das hatte Rachel mittlerweile begriffen, ist eine Hochstaplerin und wird dank ihrer Anzeige im Jahr 2019 zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Insgesamt hatte sie Bekannte, Hotels und Banken um etwa 275.000 US-Dollar betrogen. +Auch den Gerichtssaal nutzt Anna als Bühne. Ihre Auftritte in teuren Outfits greifen die Medien gern auf. Wegen guter Führung und unter Berücksichtigung ihrer Untersuchungshaft im Februar entlassen, postet sie auf Instagram Bilder, die einem irgendwie bekannt vorkommen: Anna, inzwischen 30,in New Yorker Nobelhotels, beim Champagnertrinken oder in teuren Markenklamotten.Und schon bald kommt auf Netflix eine Miniserie über ihr Leben. Sie heißt "Inventing Anna". + +"Inventing Anna" läuft ab dem 11. Februar bei Netflix. + diff --git a/fluter/anne-frank-tagebuch-comic.txt b/fluter/anne-frank-tagebuch-comic.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c2f94d0bf40dda96abc89a53b4e2cac16682d454 --- /dev/null +++ b/fluter/anne-frank-tagebuch-comic.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Wer war Anne Frank? Das Wichtigste über den berühmtesten Teenager der Weltgeschichte erfährst Duhier. +Bei der Adaption des Tagebuchs, das die in Frankfurt am Main geborene Anne Frank 1942 im Exil in Amsterdam zu schreiben begann, balanciert das Duo auf dem schmalen Grat zwischen Werktreue und künstlerischer Freiheit. Die Figuren sind weich, beinahe kindlich gezeichnet, die Farben leuchten. Der Text wurde kaum verändert, dafür die Handlung ordentlich gestrafft. Überwiegend wird sie in der typischen Kastenstruktur wiedergegeben, auf manchen Seiten auch als durchlaufender Text. +Für wiederkehrende Themen wie Annes Selbstzweifel oder der Vergleich mit ihrer vermeintlich perfekten Schwester reicht eine Doppelseite: Links Anne in Gestalt von Edvard Munchs "Schrei", der Sätze wie "Musst du immer so angeben?" und "Margot würde das niemals machen!" um die Ohren fliegen, rechts eine Karikatur von Klimts Porträt von Adele Bloch-Bauer, deren äußere Erscheinung – würdevolle Haltung, ordentlich gekämmtes Haar – auf die ältere Schwester übergegangen ist. Der ständige Hunger führt zu Annes obsessiver Beschäftigung mit Essen und drückt sich in grotesk verformten Rote-Bete-Knollen aus. Ihr Traum vom Schweizer Exil ist ein Kofferinhalt: "3 Sommerhemden, 4 Paar Kniestrümpfe, 2 Bettjäckchen, Bücher". +Beeindruckend, wie präzise, poetisch und selbstreflexiv die gerade mal 14 Jahre alte Anne die Welt beschrieb. Eine Welt, die heranwachsenden Mädchen schon unter normalen Voraussetzungen nicht wohlgesonnen ist. +Wie schlimm die Zumutungen der Pubertät für eine junge Frau sind, die keine Privatsphäre kennt, weil sie sich in einem winzigen Zimmer eines "melancholischen Hinterhauses" vor den Nazis verstecken muss – mit einem Zahnarzt, den Anne abschätzig "Albert Dussel" nennt –, können die Leser heute nur erahnen. Im Buch wird das in der Prinsengracht 263 gelegene Haus, das der Familie gut zwei Jahre als Versteck diente, einmal als Schneekugel dargestellt: "Miete: gratis". +Ironie und bitterer Humor mögen bei einem ernsten Thema wie dem Holocaust irritierend wirken, dabei hat sich doch gerade in der Aufarbeitung der Nazizeit das Lachen oft bewährt, wie Filme wie "Das Leben ist schön" zeigen. +Der Enge der Wohnung und andauernder Gefahr zum Trotz hat Anne Frank auch romantische Tagträume + +Schriftstellerin wollte Anne Frank werden oder Journalistin. Folman und Polonsky zeichnen sie als schöne, erwachsene Frau mit Lesebrille vor einer Wand mit "New York Times"- und "Le Figaro"-Titelseiten. Aus ihr, die ihre Periode als "süßes Geheimnis" betrachtet und sich fragt, warum Frauen den Mund halten sollen, hätte auch eine Bilderbuchfeministin werden können. +Folman und Polonsky finden dafür starke Bilder. Einmal gibt die Comic-Anne ihrem Schwarm Nachhilfe in weiblicher Anatomie, als Zeigestock haltende Biologielehrerin. Ein anderes Mal sehen wir eine lange Reihe am Boden kauernder Frauen, aus deren Unterleib Babys krabbeln, die erst zu Jungen, dann zu Soldaten werden. +Den Anstoß zu dem Projekt gab derAnne Frank Fondsin Basel, gegründet von ihrem Vater Otto, der als Einziger der Familie den Holocaust überlebte. Der Fonds hält die Rechte an den Tagebüchern, die Originalmanuskripte sind im Anne-Frank-Haus in Amsterdam zu sehen. 2020 soll ein Animationsfilm in die Kinos kommen. +Nicht ganz klar wird, wer genau die Zielgruppe dieses Comics sein soll. Erwachsene, deren Schullektüre aufgefrischt werden soll, oder Digital Natives, die das Original vielleicht nicht kennen? Beide jedenfalls werden routiniert an das Tagebuch herangeführt, das ein Stück Weltliteratur geworden ist und am 1. August 1944 endet. Drei Tage später wurde Anne Frank verhaftet und kurz darauf mit ihrer Familie ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Sie starb im Frühjahr 1945 im KZ Bergen-Belsen. + +"Das Tagebuch der Anne Frank" von Ari Folman und David Polonsky, 160 Seiten, S. Fischer, 20 Euro diff --git a/fluter/anonymisierte-bewerbungen-pro-contra.txt b/fluter/anonymisierte-bewerbungen-pro-contra.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5e32f7685107ed380ce51f5bfc1ee24467b4e6d3 --- /dev/null +++ b/fluter/anonymisierte-bewerbungen-pro-contra.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Diskriminierende Denkmuster aus den Köpfen zu verbannen braucht viel Zeit. Anonymisierte Bewerbungsverfahren aber könnten schon jetzt zumindest dafür sorgen, dass diejenigen, die für einen Job qualifiziert sind, diesen auch bekommen – unabhängig von Herkunft, Name oder Hautfarbe, von Alter, Geschlecht oder Aussehen. +Selten zeigt sich das Problem so schwarz auf weiß wie in einer E-Mail Anfang des Jahres 2020: "Bitte keine Araber", stand darin. Den Satz schickte ein Berliner Architekturbüro aus Versehen an den unerwünschten Bewerber selbst. In den allermeisten Fällen aber bleibt Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt unsichtbar. Sie äußert sich nämlich durch Abwesenheit: Auf zahlreiche einwandfreie Bewerbungsschreiben folgt einfach keine Einladung zum Gespräch. Es ist unmöglich zu wissen, ob der Grund dafür die eigene sichtbare Migrationsgeschichte ist – oder ob die Qualifikation schlicht nicht ausreicht. +Die Diskriminierung ist aber real, wie zahlreiche Studien beweisen: zum Beispiel die der Ökonomin Doris Weichselbaumer, deren fiktive Bewerberin fünf Prozent weniger Rückmeldungen erhielt, wenn sie einen türkischen Namen hatte, undsogar 15 Prozent weniger, wenn sie auf dem Bewerbungsfoto ein Kopftuch trug.Eine von der Robert Bosch Stiftung geförderte Studie zeigte, dass Ausbildungsbetriebe Schulabgänger*innen mit türkischem Namen viel seltener zum Vorstellungsgespräch einluden. +Wer zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen wird, hat den Job natürlich noch nicht in der Tasche. Aberdie subtilen Vorurteile,die gegen die muslimische Kollegin oder den Schwarzen Mitarbeiter im Team sprechen, verblassen in einem persönlichen Gespräch eher. Zwischenmenschliche Sympathie belehrt das ursprüngliche "Bauchgefühl" eines Besseren. +Bleiben solche Begegnungen jedoch aus, wird aus dem Missstand schnell eine selbsterfüllende Prophezeiung: Die kompetenten nichtweißen Kolleg*innen fehlen im Bewerbungsprozess und später am Arbeitsplatz. So bleiben positive Erfahrungen in den Köpfen der Personaler*innen weiterhin ausschließlich mit weißen Mitarbeiter*innen verknüpft. +In den USA, Kanada oder Großbritannien sind anonymisierte Bewerbungsverfahren schon gang und gäbe. Am einfachsten ist es, wenn Betriebe Bewerbungsbögen vorgeben, die keine persönlichen Daten abfragen. In Deutschland stellt die Antidiskriminierungsstelle des Bundes so ein Formular zur freien Verfügung. Doch viele Betriebe sind skeptisch. Als Argument kommt zum Beispiel, dass die Bewerbung einen ersten persönlichen Eindruck vermitteln soll. Aber mal ehrlich: Wer sieht denn auf seinem Bewerbungsfoto wirklich aus wie in der Realität? Und welchen persönlichen Eindruck soll ein Name vermitteln? Vielleicht liegt das Problem woanders: Vielleicht möchten Entscheidungsträger in Betrieben sich nicht eingestehen, dass sie unbewusst nach rassistischen Motiven aussortieren – und dass sie diesen internalisierten Blick nicht einfach abschalten können, sondern Hilfsmittel dafür benötigen. + +Hannah El-Hitami schreibt vor allem über arabische Länder, Migration und internationale Gerechtigkeit.Dass ein arabischer Name zum Nachteil werden kann, hat siebei der Wohnungssucheselbst erlebt. + + + +Collage: Renke Brandt +meint Erica Zingher +Immer wieder werden Fälle publik, in denen Menschen aus rassistischen Gründen oder wegen ihres Altes, ihres Geschlechts oder ihrer Beeinträchtigung im Bewerbungsprozess um einen Job abgelehnt wurden. Manchmal subtil, manchmal weniger subtil: Anfang des Jahres etwa bewarb sich Landu J. für einen Job als Verkäufer in einem Sportgeschäft in Köln. Als der stellvertretende Filialleiter von der Bewerbung erfuhr, schrieb er dem Vermittler:"Keine Schwarzen".Dazu ein Bild von Hitler. Das ist leider nur eines von vielen Beispielen. +Abhilfe schaffen, so glauben manche, könnten anonymisierte Bewerbungen. Also Bewerbungsschreiben ohne Foto, Name, Geschlecht und Alter. Erst wenn die BewerberInnen in die engere Auswahl kommen und zum Bewerbungsgespräch eingeladen werden, bekommen die potenziellen Arbeitgeber auch diese persönlichen Infos und der oder die BewerberIn ein Gesicht. Auf den ersten Blick mag das einleuchten: strukturellen Rassismus und Sexismus bekämpfen, indem man die Menschen zunächst unsichtbar macht. Aber gibt man ihnen dadurch wirklich eine größere Chance? Schützt sie das vor Diskriminierungserfahrungen? +Ganz so einfach ist es nicht. Wo Rassismus undSexismus im Bewerbungsverfahrenzunächst ausgeklammert werden, tauchen sie spätestens beim ersten Kennenlernen wieder auf. Das Problem wird nicht gelöst, es wird lediglich verschoben. Denn: Das Problem sind selbstverständlich nicht die BewerberInnen und ihre Hintergründe, sondern die PersonalleiterInnen der Unternehmen, die Vorurteile haben. Aischa oder Mohammed werden durch anonymisierte Bewerbungsverfahren vielleicht eher von ihnen eingeladen, aber am Ende halt doch nicht eingestellt. Und das Unternehmen kann sich für seine Fortschrittlichkeit rühmen und jeden Diskriminierungsvorwurf damit entkräften, ja schließlich anonymisierte Unterlagen auf dem Tisch liegen zu haben. +Fraglich bleibt auch, wie sinnvoll es ist, BewerberInnen ausschließlich auf ihre schulischen und beruflichen Leistungen zu reduzieren.Privilegiertere könnten so zum Beispiel weiterhin mit Auslandsaufenthalten glänzen – schwerer aber wird sich ablesen lassen, warum man keinen machen konnte, weil man einfach nicht das Geld oder Beziehungen zu wichtigen Leuten hatte, Angehörige pflegen musste oder schon bei vorherigen Bewerbungsverfahren diskriminiert wurde. Wenn man strukturell benachteiligt wurde, wird es auf den ersten Blick in einer anonymisierten Bewerbung keine Hinweise darauf geben und sich vor allem durch Lücken im Lebenslauf äußern. Und wer seine Lebenslage besser erklären will, hebt dadurch die Anonymisierung faktisch auf. +Solange zum Beispiel migrantische Biografien, mit all ihren möglichen Lücken, Umwegen und Unterschieden, nicht endlich als Bereicherung angesehen werden – und nicht als Makel –, wird Gleichmacherei nichts richten können. Wer gleiche Chancen für alle will, muss anerkennen, dass es diese in unserer Gesellschaft nicht gibt. Minderheiten sollten stattdessen in Bewerbungsverfahren bevorzugt werden. Das wäre ein angemessener Schritt der Anerkennung. +Es ist doch so: Bewerbungen zu anonymisieren ist ein einfacher Weg, aber er führt nirgendwohin. Er versucht gleichzumachen, wo nichts gleichzumachen ist. Und das aus Angst, eine bestimmte, am Lebenslauf abzulesende Biografie könnte BewerberInnen zum Nachteil werden. Genau da liegt das Problem. +Wirkungsvoll wäre, noch früher anzusetzen: dafür zu kämpfen, dass Kinder bereits dieselben Bildungschancen erhalten. Ansonsten bleiben anonymisierte Bewerbungen nur der traurige Versuch, etwas auszugleichen, wo es längst zu spät ist. + +Erica Zingher ist Redakteurin bei der taz und schreibt vor allem über russisch-jüdische Migration, Pressefreiheit in Osteuropa und Diversitätsfragen. diff --git a/fluter/anoosh-und-arash-tanzen-aus-der-reihe.txt b/fluter/anoosh-und-arash-tanzen-aus-der-reihe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9109662f0d043ad5b6a359404324e6b6a14400d0 --- /dev/null +++ b/fluter/anoosh-und-arash-tanzen-aus-der-reihe.txt @@ -0,0 +1,35 @@ +Teheran ist eine riesige Stadt. Etwa 12 Millionen Menschen leben da. Mehr als die Hälfte sind unter 30. Wie viele heimliche Partys sind denn so am Wochenende? +Auf jeden Fall viele. Das ist ja unsere Kultur mittlerweile.Bevor die Mullahs vor knapp 40 Jahren, nach der Revolution, an die Macht kamen, lief im Iran die gleiche Musik wie überall auf der Welt. Danach hat das Regime westliche Musik verboten und die Leute haben angefangen, zuhause Partys zu veranstalten. Das ist sehr populär. Besonders in Teheran, das ja auch das kulturelle Zentrum ist, nicht nur das politische. +Humor ist, wenn man trotzdem tanzt: Anoosh (links) und Arash veranstalteten in Teheran eine Party pro Woche. Seltener auch richtige Raves in der Wüste +Mit deinem Partner Arash hast du auch Raves in der Wüste. Wie seid ihr denn auf die Idee gekommen? +Ein paar Freunde hatten einen Ort in der Wüste entdeckt, der sehr weit von der nächsten Polizeistelle entfernt ist. Auf der Strecke sind auch wenige Polizeikontrollen, weil nicht so viele Menschen in diese Gegend fahren. Unsere erste Party war 2008. Mit 100 Leuten. Für iranische Verhältnisse ist das eine riesige Party. +Wie haben die Leute die Party denn gefunden? +Wir haben Freunde per SMS eingeladen und die konnten Freunde mitbringen. Es gab zu fast jedem eine direkte Verbindung. Die Leute kamen mit einem Bus und ein paar Jeeps. Das war eine tolle Party – auch für mich. Ich konnte 12 Stunden am Stück spielen. Wir fühlten uns für eine Nacht nicht wie im Iran. Natürlich wollten wir dann weitermachen. +Aus Sicherheitsgründen sind die Bilder im Film verpixelt. Die iranische Sittenpolizei hat kein Herz für Raver. Wer auf einer Party erwischt wird, kann ins Gefängnis kommen +Einmal sieht man im Film, wie die Sittenpolizei eine eurer Partys in einer Wohnung in Teheran stürmt. Wie haben die euch entdeckt? +Die haben ihre Netzwerke und überwachen Telefone und Internet. Natürlich haben die nicht jede Party auf dem Radar. Manchmal beschwert sich einfach ein Nachbar über den Lärm. Aber wenn die kommen, sagen die natürlich nicht, mach mal die Musik leiser. Die verhaften dich. +Wie oft ist Dir das schon passiert? +Viermal. Wie lange man im Gefängnis bleibt, hängt davon ab, was die auf der Party finden. Wenn es da Alkohol oder Drogen gibt, kriegst du richtig Ärger. Wenn die eine Party sprengen, haben sie Kameras dabei – fast wie Dokumentarfilmer. Die brauchen ja Beweise für das Gericht. Wenn die dich verhaften, wirst du mit Drogensüchtigen und Mördern eingesperrt. Das ist natürlich eine Bestrafung. Letztlich geht es ums Geld. Ich musste jedes Mal 4.000 bis 5.000 Euro zahlen, um nach drei Nächten wieder rauszukommen. +Ist die Situation denn unter Präsident Rohani entspannter? Der tritt ja moderater auf als sein Vorgänger. +Es ist schon besser als unter Ahmadinedschad. Trotzdem hab ich in den letzten zwei Jahren von vielen Partys gehört, die von der Polizei gestoppt wurden. Im ganzen Land. Das zeigt aber auch, dass sie die junge Generation nicht aufhalten können, ihre Partys zu feiern. +Welche Rolle spielt das Internet? Das wird im Iran ja zensiert. +Die Regierung filtert ganz viel, aber nicht alles. Ein paar wichtige Seiten für elektronische Musik sind frei zugänglich. Und viele errichten mit einem Hotspot-Shield ein VPN, ein virtuelles privates Netzwerk, über das man anonym surfen und Geoblockaden umgehen kann. So sind sie über Facebook und andere soziale Medien mit der ganzen Welt vernetzt. +Ist die Szene denn politisch? Es hat ja doch was Subversives, illegale Partys zu veranstalten. +Ich bin kein politischer Mensch. Aber uns wird ein Label aufgeklebt. Wenn du verhaftet wirst, können sie nicht einfach sagen, du bist ein Underground-Musiker. Das darf es ja gar nicht geben. Als Ahmadinedschad mal vor ein paar Jahren in den USA auf Staatsbesuch war, wurde er von Studenten der Columbia-Universität gefragt, ob es im Iran Homosexuelle gäbe. Der hat dann gesagt, nein, die gibt es bei uns nicht. Das ist natürlich falsch. Aber die Regierung kann das nicht sagen. Mit uns haben sie ein ähnliches Problem. Offiziell sollen wir ja immer beten und an Gott denken. Wenn du das nicht tust, müssen sie dich stigmatisieren. Etwa: Du bist Satan. Das passiert oft mit Rock-Musikern. Das ist ein starker Vorwurf, der bis zur Todesstrafe führen kann. +Es ist ja schon riskant, Partys zu organisieren. Aber einen Film darüber zu drehen, ist noch gefährlicher. Warum habt ihr das überhaupt gewagt? +Als wir filmten, hatten wir oft panische Angst. Aber die allermeisten Leute auf der Welt wissen fast nichts über unser Land. Nur über die offiziellen Medien. Da sieht man nur Mullahs oder die Regierung. Das ist ja fast wie Nordkorea. Ich war sehr glücklich, dass Susanne uns gefunden hat. Der Film zeigt unser Leben ganz genau. Und vielen jungen Leute im Iran geht's ganz ähnlich wie uns. +Kafkaeske Szene: Anoosh und Arash versuchen im Ministerium für Kultur und islamische Führung eine Genehmigung für ihr Album zu bekommen +Im Ministerium für Kultur und islamische Führung habt ihr mit versteckter Kamera gedreht, als ihr versucht habt, eine Erlaubnis für euer Album zu bekommen. Die Szene ist unfreiwillig komisch. Englische Worte sind verboten, heißt es, dass "Made in Iran" auf der CD steht, aber nicht. Habt ihr ernsthaft gedacht, dass ihr eine Chance habt? +Ich wusste schon ungefähr, wie das abgeht. Eigentlich wollten wir einfach ein paar Alben heimlich in Cafés verkaufen. Für den Film haben wir dann versucht, eine Erlaubnis zu bekommen und damit zu zeigen, wie schwierig das ist. Die Leute hinter uns in der Schlange mussten irgendwann lachen, weil unser Fall so sinnlos erschien. +Eine Genehmigung für ihr Album bekommen sie nicht, dafür ein Booking in der Schweiz - ein Abend mit Folgen +Dank eurer Platte wurdet ihr 2014 nach Zürich eingeladen, um dort aufzulegen. Wie war das für euch? +Natürlich unglaublich. Das war ja das erste Mal, dass wir uns nicht verstecken mussten. Wir konnten uns voll auf die Musik konzentrieren. Ohne Panik, ohne Stress, ohne an die Polizei zu denken. Das war elektrisierend. Im Iran hatten wir wöchentlich Partys. Aber wenn man mehr als 20 Leute haben will, da muss man schon ganz schön was vorbereiten. Einen Bus, Tickets verkaufen, eine Location finden. In Europa ist das natürlich leicht. Wunderbar. +Heute lebt ihr in der Schweiz. Wie ist es euch anfangs ergangen? +Zwei Jahre waren wir in den Bergen, zwischen Kühen und Schafen und mit 80 anderen Flüchtlingen. Die meisten aus Syrien und Afghanistan. Wir hatten praktisch keinen Kontakt mit Schweizern. Und wir konnten kaum Musik machen. Manche Sachen sind noch in Teheran, die Monitorboxen zum Beispiel. +Das ist ja paradox: Ihr habt euer Land verlassen, um auflegen zu können. Und die ersten Jahre konntet ihr nirgends spielen. +Nein. Für uns war das verrückt. Wir kommen aus einer Stadt mit über zehn Millionen Einwohnern. Und dann sind wir in einem kleinen Zimmer in einem Dorf. Mit den anderen Geflüchteten konnten wir nicht über Musik reden oder über unsere Situation. Niemand konnte das verstehen. Da waren wir total isoliert. +Und jetzt? +Seit April sind wir als Flüchtlinge in der Schweiz anerkannt und haben Asylstatus. Wir haben einen Ausweis und können reisen. Wir wollen jetzt Schritt für Schritt gehen. In Frankfurt haben wir ein Management und waren zweimal da für Studiosessions. Bald kommen unsere ersten Stücke raus. + +"Raving Iran"; D 2016, Regie & Buch: Susanne Regina Meures +Als Parallellektüre zu Raving Iran empfielt Felix Denk, Kulturredakteur bei fluter.de, das Buch "Stadt der Lügen" von Ramita Navai (Kein&Aber). Für ihre furiose Undercover-Reportage über das verborgene Leben in Teheran erhielt die Journalistin zahlreiche Preise. diff --git a/fluter/anschlag-hanau-trauern-corona.txt b/fluter/anschlag-hanau-trauern-corona.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..edec30a82bd59534f54129eadef2ea670596044b --- /dev/null +++ b/fluter/anschlag-hanau-trauern-corona.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Seit dem Anschlag sind zwei Monate vergangen und das öffentliche Interesse an der Tat ist abgeflaut, abgelöst von immer neuen Corona-Zahlen. Kocak kämpft um seine Existenz. Sein Laden ist seit dem Anschlag geschlossen, das Blut hat Flecken hinterlassen. Er wird ihn wohl nie wieder öffnen können, zu groß sei der Schmerz. "Unser Kiosk war voller Liebe. Wir schauten aufeinander, wie eine Familie. Wir achteten darauf, dass niemand auf die schiefe Bahn gerät", sagt sein Neffe Hassan. Die Kocaks betreiben einen zweiten Kiosk, aber der allein reiche kaum, um über die Runden zu kommen. +Kemal Kocak kann seinen Kiosk nicht mehr öffnen – sein Schmerz sei zu groß +"Unser Kiosk war voller Liebe. Wir schauten aufeinander. Das war ein familiäres Zentrum", sagt sein Neffe Hassan + +Die Hinterbliebenen und Freunde der Opfer leben nach dem Anschlag in einem doppelten Ausnahmezustand. Solche Erlebnisse zu verarbeiten ist schon in normalen Zeiten schwer – die Pandemie macht es nun nahezu unmöglich. Der Umgang mit Trauer ist subjektiv, doch viele Menschen brauchen die körperliche Nähe zu anderen. Gläubige Muslime folgen meist einer 40-tägigen Trauerzeit. So auch viele Familien der Opfer. In diesem Zeitraum besucht man einander, lässt den anderen nicht allein, bringt Essen vorbei und versucht, den Schmerz gemeinsam zu verarbeiten.All das fällt mit Corona weg. Kemal Kocak versucht trotzdem, mit den Familien zu trauern, besucht sie, trinkt Tee. "Wir telefonieren jeden Tag und sind füreinander da", sagt er. +Kais Feroz* weiß, wovon Kocak spricht. "Trauern ist zurzeit schwierig", sagt Feroz, der in der Nähe von Hanau eine Versicherungsfirma hat. Etris, einer seiner Azubis, wurde bei dem Anschlag schwer verletzt und lag einige Tage im Koma. Etris' Bruder, Said Nesar, wurde getötet. Feroz begleitete die Familie zum Empfang des Bürgermeisters wenige Tage nach dem Anschlag. +Sowohl sie als auch Feroz haben afghanische Wurzeln. Beide Familien verließen das Land vor Jahren aufgrund von Krieg und Vertreibung.Mit einem Terroranschlag in Hanau hatte niemand von ihnen gerechnet. Sie hätten stets die Nachrichten verfolgt, nachdem sich ein Anschlag in Afghanistan ereignet hat, sagt Feroz. "Am Ende passiert es vor deiner Haustür. In Hanau. Das haben wir immer noch nicht verarbeitet." +Heute wegen Nähe geschlossen: Bis zum Lockdown trafen sich im Jugendzentrum "Juz k.town" Freunde der Opfer +Traumapädagogin Newroz Duman möchte ein Ladenlokal anmieten, in dem sich die Hanauer vernetzen können + +Nach dem Ausbruch der Corona-Krise mussten in Hanau sämtliche Termine, die den Hinterbliebenen helfen sollten, abgesagt werden. Der Bürgermeister wollte die Angehörigen treffen, um gemeinsam einen Gedenkort zu planen: wegen Corona abgesagt. Der Jugendtreff, in dem viele Überlebende versuchten, gemeinsam den Anschlag zu verarbeiten: geschlossen. Gemeinsames Trauern, finanzielle Unterstützung, eine Gedenkstätte. All diese Dinge sind wegen der Pandemie vertagt. +"Wir müssen Räume schaffen, damit jene, die trauern oder Unterstützung benötigen, anderen Menschen begegnen können. Auch in Corona-Zeiten", sagt Newroz Duman, 30, Aktivistin und Trauma-Pädagogin. Sie klingt alles andere als pessimistisch. Gemeinsam mit anderen Hanauern hat sie die "Initiative 19. Februar" gegründet und möchte in einem Ladenlokal einen Ort schaffen, an dem man sich treffen, austauschen und gemeinsam trauern kann. "In den ersten zwei Wochen hat die Politik Präsenz gezeigt. Das musste sie auch, nach solch einem Anschlag. Mittlerweile findet allerdings eine Verdrängung statt, und das darf nicht passieren", sagt sie. +Auch Kioskbesitzer Kocak wirft den Medien und Politikern Desinteresse vor. "Man stelle sich mal vor, was hier los gewesen wäre, wenn ein Muslim oder Migrant für solch ein Massaker verantwortlich gewesen wäre", sagt er. "Ein weißer Rechtsextremist tötet Migranten: Das scheint für viele Menschen in diesem Land nicht so schlimm zu sein." +In den vergangenen Wochen erhielten er und andere Menschen aus Hanau anonyme Drohungen.Am Osterwochenende warfen unbekannte Täter mit Pflastersteinen die Scheibe der "Arena Bar & Café"ein, dem Anschlagsort neben seinem Kiosk. Im niedersächsischen Celle wurde in der vergangenen Woche Arkan Hussein erstochen, ein 15-jähriger Geflüchteter aus der Minderheit der Jesiden.Die Polizei schließt einen rechtsextremen Hintergrund nicht aus.Kemal Kocak überrascht all das kaum. "Es wird schlimmer. Ich habe Angst um das Leben meiner Kinder", sagt er. Corona ist im Moment seine kleinste Sorge. + +* Emran Feroz ist freier Journalist und Autor mit afghanischen Wurzeln. Zu Hanau hat er eine besondere Beziehung: Seit mehr als dreißig Jahren leben nahe Verwandte wie sein Cousin Kais in der hessischen Stadt. diff --git a/fluter/ansichtssache.txt b/fluter/ansichtssache.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/anthropologin-anna-machin-liebe.txt b/fluter/anthropologin-anna-machin-liebe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b00a991168a5ea2c722b523067a5606ecb14b29d --- /dev/null +++ b/fluter/anthropologin-anna-machin-liebe.txt @@ -0,0 +1,65 @@ +Sie forschen seit fast 20 Jahren zur Liebe. Kann man die enträtseln? +Im Gegenteil, mir wird sie immer rätselhafter. Die Wissenschaften objektivieren die Liebe, da wird sie mal zu einer Reihe chemischer Prozesse im Gehirn, zu psychologischen Bindungsprofilen, zu einer Kulturgeschichte der Ehe. Ich als Anthropologin muss diese Ebenen zusammendenken, und zwar global, nicht nur im Westen. +Gibt es einen Grund, aus dem alle Menschen lieben? +Liebe sichert unser Überleben. Das wäre wohl der ultimative Grund. Wir müssen kooperieren, um zu überleben. Wir brauchen andere, um uns fortzupflanzen, Kinder aufzuziehen, zu lernen, Nahrung zu finden. Das Leben mit anderen kann aber höllisch anstrengend sein. Liebe ist ein schmutziger evolutionärer Trick, damit wir uns an andere halten. Und zwar gern und immer wieder. +Wie funktioniert dieser Trick? +Neurochemisch.Das Gehirn schüttet Hormone aus, zum Beispiel Oxytocin, Dopamin, Serotonin und Beta-Endorphin. Die fühlen sich gut an, also tun wir es wieder. + + +Unterscheidet sich, was im Gehirn passiert, wenn wir uns verlieben, verliebt sind oder uns entlieben? +Ja, alle vier Hormone spielen zusammen, treten aber in unterschiedlichen Zuständen der Liebe auf. Dopamin motiviert: Es hilft, ein Gespräch mit einer Person zu beginnen, die wir gut finden. Oxytocin ist eher ein sozialer Stoff: Es beruhigt das Angstzentrum im Gehirn, dadurch fällt es uns leichter, Kontakt aufzunehmen. Die beiden geben uns in Nanosekunden die Motivation und die Fähigkeit, jemanden anzusprechen. +Und Serotonin? +Ist auch eher zu Beginn einer Beziehung wichtig. Interessant ist, dass Oxytocin und Dopamin steigen, wenn wir uns zu jemandem hingezogen fühlen, während das Serotonin bei den meisten Menschen sinkt. Der Serotoninspiegel von Verliebten ähnelt dem von Menschen mit Zwangsstörung. Serotonin erzeugt eine Obsession. Nicht in einem pathologischen Ausmaß wie beim Stalking, aber eben die Besessenheit, die es braucht, um sich auf die andere Person einzulassen, alles über sie herausfinden zu wollen, zwei Leben zu einem Zusammenleben zu koordinieren. +Und auf lange Sicht kommt Beta-Endorphin ins Spiel? +Richtig. Das wirkt in allen Arten von Beziehungen, auch der zwischen Kindern und Eltern oder unter Freunden, wie ein süchtig machendes Schmerzmittel. Wie Heroin oder Morphium, aber körpereigen. +Und wenn man sich trennt, fällt der Pegel ab, es kommt zum Entzug? +Ja. Das erklärt auch den sogenannten Trennungsschmerz, den viele richtiggehend physisch erfahren: Das ist der Abfall dieses körpereigenen Schmerzmittels. Wie sehr es schmerzt, fällt aber unterschiedlich aus: Wer sich trennt, hat sich vorher oft entwöhnt, weniger Zeit mit der Person verbracht, sie weniger berührt. Das Beta-Endorphin sinkt langsam ab. Wer dagegen verlassen wird, fällt von einem hohen Level ins Nichts. Ein kalter Entzug. +Warum gibt es eigentlich keine Liebesdrogen? Die Chemie der Liebe scheint genug erforscht, um eine eingeschlafene Beziehung mit Oxytocin und Dopamin zu boostern... +Die sind schon in der Entwicklung, hauptsächlich für den therapeutischen Einsatz. Gerade wird zum Beispiel MDMA, also Ecstasy, in der Paartherapie erprobt, weil es Menschen einfühlsamer macht. Aber es ist schwierig, ein Medikament zu finden, das bei allen wirkt. Manche Menschen sind immun gegen MDMA. Warum, wissen wir noch nicht. Davon abgesehen bleiben ethische Fragen: Muss der Partner wissen, dass der andere Liebesdrogen nimmt? Was, wenn man eine Beziehung unter MDMA eingeht und das Mittel dann absetzt? Ich will das nicht entscheiden müssen. +Im Deutschen gibt es den Ausdruck, jemand sei gut im Bett. Niemand sagt, dass jemand gut im Lieben sei. Kann man lernen, zu lieben? +Im Prinzipvon Geburt an. Die Beziehung zwischen Eltern und Kind ist zentral, weil der Großteil des kindlichen Gehirns noch nicht entwickelt ist. Wird es geschützt und geliebt, kann sich sein Hormonspiegel dem der Eltern angleichen. Im vorderen Hirnbereich, dem präfrontalen Kortex, vernetzen sich dann Nervenzellen, die Empathie oder Vertrauen erlauben. Das Kind bekommt, was wir ein "starkes Gehirn für Beziehungen" nennen. +Sie sagten vorhin, Liebe sei nicht nur biologisch und evolutionär bedingt. +Ja, die Basis ist die neurochemische Reaktion. Aber wir lieben nicht in einem Vakuum: Je nach Zeit, Ort und politischem System hat die Liebe eigene Gesetze, Ideen, Regeln, Geschichten. +Haben Sie ein Beispiel? +Sex vor der Ehe. Der war in den westlichen Gesellschaften vor 100 Jahren noch völlig verpönt. Oder gleichgeschlechtliche Liebe: Hier in England gibt es die Ehe für alle erst seit knapp zehn Jahren – und in einigen Dutzend Ländern ist Homosexualitätbis heute illegal. Das lässt queere Menschen die Liebe ganz anders erfahren. + + +Beeinflussen diese Liebesnormen und -tabus auch Ihre Forschung? +Auf jeden Fall. Weil diese Geschichten prägen, was Menschen für akzeptable Liebe halten undwas für inakzeptable, wie sie Liebe ausdrücken und sogar, wie sie sich anfühlt. In manchen Gesellschaften wird Liebe als etwas Schmutziges oder Schmerzliches, Unerwidertes empfunden. Wenn wir Leute hier fragen, was Liebe ist, reden sie von einer unglaublichen, fast psychotischen Erfahrung, von einer Euphorie, die sie von den Füßen gerissen hat, bla, bla, bla. Wir sind besoffen von der romantischen Liebe. +Dabei kann die romantische Liebe auch ruinieren – finanziell, emotional, körperlich. +Allerdings, die Vorstellungen haben ihre Schattenseiten. Die romantische Erzählung sagt uns, dass Liebe alle Hindernisse überwindet, dass man nicht in der Hand hat, in wen man sich verliebt, dass sich Liebende beschützen bis zum Ende. Das kann Menschen ausliefern, wenn der oder die Geliebtemanipulativ oder übergriffig wird. Der romantische Imperativ ist da nicht hilfreich. +Zumal die romantische Liebe eine vergleichsweise neue Erfindung ist. +Die Idee gibt es seit ungefähr 250 Jahren. Vorher haben Kircheund Familie mitgeredet, und eine Heirat war eher unabhängig davon, wen man geliebt hat. Die meisten haben aus praktischen Gründen geheiratet: Wer übernimmt den Hof? Welche Heirat ist politisch vorteilhaft? Vor allem Frauen, die in der Regel weder ein Einkommen noch eigenen Besitz hatten, brauchten jemanden, der sie versorgt. Erst die Ehe, dann vielleicht die Liebe, das war das Gebot. Die Romantik hat das gedreht. Mit ihr wurde Liebe zu einem Freiheitsrecht des Einzelnen, seinen Partner aus romantischen Gründen zu wählen. +Viele meinen, dass wir es mit der Freiheit übertrieben haben, weil Beziehungen weniger verbindlich seien. +Das würde ich nicht sagen. Die Umstände haben sich verändert. Zum Beispiel die Lebensspanne. Lange wurden die Menschen kaum älter als 40, entsprechend kurz waren ihre Ehen. Heute werden wir doppelt so alt. Das verändert, wie wir uns binden. + + +Die Ehe hat als Institution an Bedeutung verloren... +... und die Scheidung an Stigma. Vor 100 Jahren waren Geschiedene ruiniert, zumindest die Frauen. Heute müssen sich Menschen, die allein leben, weniger verteidigen.Der kulturelle Code ändert sich. +Es entsteht zunehmend der Eindruck, die Liebe muss auf den Lifestyle einzahlen: Wen, wie viele und wie ich liebe, muss mich und meine Autonomie zum Ausdruck bringen. Beobachten Sie einen Druck, sich über Liebe zu profilieren, gerade bei jungen Leuten? +Ich habe das nicht untersucht, kann es mir aber vorstellen. Ganz einfach, weil wir heute viel mehr über Liebe, Sexualität und Partnerschaftsformen wissen. Als ich jung war, hat kaum jemand darüber gesprochen,dass er polyamor lebt. Ich glaube, die ökonomische Emanzipierung der Frau und die Digitalisierung haben radikal verändert, wie wir romantische Liebe verstehen. +Wobei Sie kein großer Fan von Datingportalen wie Tinder sind. +Ach, in eine Zeit davor würde ich auch nicht zurückwollen.Solche Angebote helfen vielen, gerade Menschen in weniger konventionellen Beziehungen. Wenn du früher LGBTQ+ warst, wusstest du womöglich nicht, dass es in deiner Nähe andere gibt, die auch so lieben. Social Media und Dating-Apps haben den Pool möglicher Partner enorm erweitert. Sie machen es sehr viel leichter, sich in jemand viel Älteren oder in jemanden aus einer anderen Gesellschaftsschicht zu verlieben. Das ist eine gute Sache. +Aber? +Viele glauben, solche Apps lösten ihre Probleme. Dabei hat sich nicht verändert, wie wir Liebe finden und erleben, nur weil es Tinder gibt. Wenn du jemanden zum ersten Mal triffst, nimmst du instinktiv auf, wie diese Person aussieht, klingt, riecht, sich bewegt. Ein komplexer Algorithmus im Kopf berechnet aus diesen Informationen, ob die Person gut für dich ist. Online fehlen die meisten dieser notwendigen Informationen aber. Und wir vertrauen auf einen Algorithmus, der nicht annähernd so gut ist wie unser Gehirn. So sind vieleeinfach überfordert von der Menge möglicher Partner. + + +Sind Menschen monogame Wesen? +Definitiv nicht. In vielen Gesellschaften wurde das als Ideal religiös und gesetzlich verankert, damit die Leute, die an der Macht sind, nicht völlig im Chaos versinken. Monogamie ist eine Form der Kontrolle. Ein soziales Konstrukt, kein biologisches. Das sieht man im Tierreich. +Manche Tiere leben doch monogam? +Ich würde sagen, es gibt kaum ein wirklich monogames Tier. Sie sind – wie wir Menschen auch – sozial monogam, aber nicht reproduktiv. Sie bilden Paare, leben zusammen, bekommen Kinder und schleichen sich dann davon, um Sex mit jemand anderem zu haben. Weil der Partner vielleicht toll mit den Kindern ist, aber genetisch nicht viel hermacht. Also gehst du rüber zum genetisch überlegenen Nächsten, schläfst mit dem und ziehst das Baby mit deinem Partner groß. Evolutionär ist das ein Volltreffer. +Was sagt die Forschung: Gleich und Gleich gesellt sich gern, oder Gegensätze ziehen sich an? +Neurobiologisch sehen wir, dass wir jemanden mit anderem Gensatz suchen: Je unterschiedlicher die Gene, desto höher die Chance, dass ein gemeinsames Kind bei einer Krankheit gute Immunantworten findet. + +Dieser Text istim fluter Nr. 89 "Liebe"erschienen +Sozial scheint das anders zu sein: Die meisten Paare kommen aus derselben sozialen Schicht. +Das mag für westliche Gesellschaften stimmen, ich habe solche Klassenfragen noch nicht erforscht. Was wir tatsächlich sehen: Für die Langfristigkeit einer Partnerschaft ist ein gemeinsames Hobby oder ein ähnlicher Musikgeschmack weit weniger wichtig als gemeinsame Werte und Ideale: ähnliche Vorstellungen davon, was im Leben zählt, was man sich von einer Beziehung wünscht, vielleicht auch, was man Kindern beibringen sollte, wenn man welche hat oder plant. +Liebt man mit 50 andersals mit 18? +Man hat eine andere, gewachsene Vorstellung vom idealen Partner. Aber die Neurochemie bleibt dieselbe. +Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick? Glaubt die Wissenschaft an Liebe auf den ersten Blick? +Nein. Und nein. Dieses erste Gefühl ist Lust. Liebe braucht Zeit, um sich zu entwickeln. +Und was hilft gegen Liebeskummer? +So leid es mir tut: Da helfen vor allem Aktivitäten, die in so einer Trauer schwerfallen. Lachen, Sport, unter Leute gehen. Das ersetzt einen Teil der verlorenen Neurochemie. Ach, stimmt nicht, Dopamin wird auch freigesetzt, wenn man einfach nur Schokolade isst. Esst Schokolade! + +Früher hat die Britin Anna Machin untersucht, wie Affen lieben und sich binden. Zum Menschen war es dann nicht mehr allzu weit. (Porträt: Colin Kitchen) + diff --git a/fluter/anthroposophie-esoterik-demokratie.txt b/fluter/anthroposophie-esoterik-demokratie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3cd0ecaca5d528b84dcdfcf879811d2220e4f98d --- /dev/null +++ b/fluter/anthroposophie-esoterik-demokratie.txt @@ -0,0 +1,34 @@ +Was sind das für Ideen? +Anthroposophie ist eine Form der Esoterik. Sie behauptet, dass im All und in den Menschen übersinnliche Kräfte, Geister und Engel wirksam seien. Steiner präsentiert Anthroposophie als Wissenschaft, die verbindliche Mitteilungen über "höhere Welten" machen kann. Wenn man diese Kräfte erkenne, könne man sich an ihnen ausrichten und sie sinnvoll für Menschen und Erde anwenden. + +Begründet wurde die Anthropopshie vom Österreicher Rudolf Steiner (1861–1925). Bekannt wurde Steiner nach dem Ersten Weltkrieg, in den ersten Jahren in der neuen Weimarer Republik: Um 1919 bis 1921 wurde er in vielen Medien interviewt, eine Konzertagentur organisierte seine Vorträge, er begriff sich selbst als allwissender Hellseher. Auch aufgrund der Wirtschaftskrisen bekamen esoterische Strömungen damals großen Zulauf. +Aus seinen Auffassungen entsprang vor gut 100 Jahren eine Art religiöse Bewegung, von der Steiner behauptete, sie sei Wissenschaft. Die Gesamtausgabe seines Werkes umfasst rund 400 Bände mit vermeintlichen Erkenntnissen, Erklärungen und Gesetzen. +Steiners Lehre durchdringt viele Lebensbereiche: Anthroposophische Ansätze finden sich in der Medizin, der Pädagogik, der Landwirtschaft, in Kunst und Architektur und im Finanzwesen. Die ideologischen Kernelemente seiner Abhandlungen haben problematische Inhalte, wie judenfeindliche und rassistische Elemente und der Blick auf Erkrankungen als "Karma", also Strafe für Fehlverhalten im sogenannten früheren Leben. +Auch hinter vielen bekannten Marken verbergen sich anthroposophische Konzepte: Die Gründer der Drogeriekette dm und des Biohändlers Alnatura sind bekennende Anthroposophen, wobei sich diese Weltanschauung nicht zwingend auf die einzelnen Filialen niederschlägt. Die Arzneimittel- und Kosmetikmarken Wala, Weleda und Dr. Hauschka produzieren anthroposophische Produkte nach dem Vorbild von Steiner. Und bei Bioprodukten etwa von Voelkel hat der Demeterverband konkrete Vorstellungen, wie die Landwirte die anthroposophischen Praktiken anwenden sollen. +Wie werden diese Konzepte in der Praxis umgesetzt? +Zum Beispiel leitet Steiner aus seinen Anschauungen eine bestimmte "organische" Architektur ab. Ihre dynamischen Formen spiegeln seiner Meinung nach die Formen der ätherischen Welt wider. Oder er behauptet, im 14. Lebensjahr werde der "Astralleib" geboren und damit die Geschlechtsreife. Erst ab dann erwache bei Kindern die eigene Urteilskraft. Oder er verkündet, die Mistel helfe gegen Krebs, weil sie aus Urzeiten der kosmischen Evolution stamme. Steiner leitet also aus seinem Privatuniversum extrem detaillierte Forderungen für alle Lebensbereiche ab. Die Praxis an anthroposophischen Schulen oder Krankenhäusern unterscheidet sich aber stark, weil nicht jeder an diesen Einrichtungen aus der anthroposophischen Szene kommt und vermutlich kaum jemand alle vierhundert Bücher von Steiner ganz durchgelesen hat. +Am bekanntesten sind die Waldorfschulen. Welche Konzepte kommen dort vor? +Sie sind überall indirekt präsent: zum Beispiel in der Architektur der Schulgebäude. In einem Gebet, das vor Unterrichtsanfang aufgesagt wird. Steiners Entwicklungspsychologie legt fest, in welchem Alter man Bruchrechnung, Geschichte oder Chemie lernen soll. Aber Anthroposophie wird an den Schulen nicht konkret unterrichtet, sie ist eher ein Hintergrundrauschen. Im Unterschied zu den Schülern wird aber von den Lehrkräften erwartet, dass sie sich mit Steiners Welt vertraut machen. + + +Es gibt auch Universitäten. +Der Traum der Anthroposophen ist "Wissenschaft". Schon Steiner, der ja in Philosophie promovierte, wäre gerne ein Wissenschaftler des Übersinnlichen gewesen: Das Zentrum der Anthroposophischen Gesellschaft heißt "Freie Hochschule für Geisteswissenschaft". Es war ein konsequenter Schritt, dass Anhänger Steinersim Zuge der Alternativbewegungum 1980 auch eigene Universitäten gegründet haben. Manche sind inzwischen staatlich akkreditiert und bieten also gültige BA- und MA-Abschlüsse in unterschiedlichen Disziplinen an. Vieles, was da in der Forschung passiert, hat mit Anthroposophie nichts zu tun, während andere Professor:innen glühende Anthroposoph:innen sind. +Neben den Bildungseinrichtungen gibt es eine Medizin basierend auf Steiners Lehren – und sogar eigene Banken. +Anthroposophische Banken orientieren sich eher an einer bestimmten linken Wirtschaftsethik: Nach Steiners Gesellschaftsutopie der "Sozialen Dreigliederung" soll das Wirtschaftsleben nach den Idealen der Französischen Revolution "brüderlich" sein. Dagegen ist die anthroposophische Medizin eine komplexe parawissenschaftliche Vorstellung des menschlichen Körpers und seiner unsichtbaren Teile, denen mit von Steiner vorgegebenen Medikamenten geholfen werden soll. Nach Steiner haben Krankheiten ihren Sinn, sie können zum Beispiel schlechtes Karma aus dem Vorleben sein. So führe etwa fehlendes Interesse an Sternen zu Bindegewebsschwäche, Desinteresse an Musik zu Asthma. Gerade in Bezug auf Behinderung wirkt die Logik, dass wir sie im Vorleben selbst verursacht haben, unfassbar. Auch ungünstige Planetenstellungen von Mars und Venus hätten einen direkten Einfluss auf die Gesundheit der Menschen. Nahezu nichts davon scheint mit der modernen Medizin vereinbar, aber anthroposophische Ärzte müssen im Unterschied zu Heilpraktikern auch tatsächlich Medizin studieren. +Wie kann die Anthroposophie für die Demokratie gefährlich werden? +Viele Anthroposophen haben ein positives Verhältnis zur Demokratie. Sie spielten zum Beispiel eine Rolle bei der Gründung der Partei "Die Grünen". Aber die Anthroposophie enthält ein autoritäres Potenzial: Wer davon ausgeht, dass es jemanden gibt, der unfehlbares, hellseherisches Wissen besitzt, in dem Fall Rudolf Steiner, ist leichter anfällig dafür, auch auf andere autoritäre Führungsansprüche hereinzufallen. Außerdem hat Steinerantisemitische, rassistische und verschwörungstheoretische Hetze weiterverbreitet: Weiße Europäer seien höher entwickelt als andere Völker, dunkle "okkulte Logen" aus England würden versuchen, die Welt zu beherrschen. Teile seiner Anhänger glauben daran bis heute und laufen jeder rechten Mode hinterher. +Inwiefern? +Steiner beschreibt in seinen Vorträgen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs eine politische Apokalypse: Der deutsche Volksgeist soll die Welt retten, aber es gibt böse Kräfte, die sich hinter England und Amerika verstecken und diesen Plan durch eine böse Weltherrschaft durchkreuzen wollen. Dieses Schema lässt sich in einer globalen Welt auf so ziemlich alles anwenden. Zum Beispielauf die Corona-Pandemie, dann sind Bill Gates und seine Impfkampagne die Werkzeuge der angloamerikanischen Finsternis, die "Querdenker" deutsche Freiheitskämpfer. + + +Wir sind inmitten einer Wirtschaftskrise, ähnlich wie vor hundert Jahren. Damals wandten sich viele der Esoterik zu. Hat Steiner auch jetzt wieder Hochkonjunktur? +Ob unsere Zeit eine Wiederholung der Zwanzigerjahre ist, muss sich erst noch zeigen. Esoterik war nie weg, sie verändert sich nur und erlebt verschiedene Wellen, in Krisenzeiten suchen Menschen nun mal nach Orientierung. Was in den letzten Jahren neu ist, ist die gestiegene kritische Aufmerksamkeit für Esoterik in der Öffentlichkeit. +Das ewige Schimpfen und Verlachen derer, die die Waldorfpädagogik schätzen, verhärtet die Fronten aber auch. Wie geht die Gesellschaft damit um? +Ich halte Streit nicht zwingend für schlecht – es geht ja um was. Aber natürlich läuft die Debatte über Anthroposophie genauso schräg ab wie viele öffentliche Debatten. Es wird immer wieder Unsinn über Anthroposophie behauptet, viele Artikel zum Thema sind oberflächlich recherchiert. Während Corona wurden unter anderem die Anthroposophen zu Sündenböckenfür Impfverweigerungstilisiert. Mit fatalen Folgen: Sie ziehen sich jetzt in eine Opferrolle zurück und neigen immer mehr zu verschwörungstheoretischem Geraune über die bösen Methoden der Kritiker. Wenn Anthroposophen ernst genommen werden wollen, müssen sie sich aber der Kritik stellen. An dem Konflikt führt, wie gesagt, kein Weg vorbei. +Ab wann sind von Steiner propagierte, harmlos klingende Glaubensdinge wie Glückssocken beim Bewerbungsgespräch oder ein mit Kuhdung gefülltes Horn unter einem Acker, wie es in der anthroposophisch geprägten "biologisch-dynamischen Landwirtschaft" üblich ist, keine Privatsache mehr? +Es gibt die Freiheit, an Unsinn zu glauben. Wir alle tun das, und Rituale und Magie können auch einfach Spaß machen. Schwierig wird es dann, wenn ich glaube, meine Glückssocken sind wirklich magisch, und nicht zum Arzt gehe, weil sie mich beschützen. Oder, um im Bild zu bleiben, wenn ich versuche, auch meine Nachbarn davon zu überzeugen, und zwingen will, sie anzuziehen. +Ist also Aberglaube, ob anthroposophisch oder nicht, das Problem? Also die Glückssocken, dreimal auf Holz klopfen unddie Vermeidung der Zahl 13? +Ja und nein. Esoterik lebt von der Fantasie, von assoziativem Denken und einer Mindmap-artigen Weise, Schlüsse zu ziehen. Ganz ohne diese Kraft der Fantasie könnte niemand denken, sie darf auch in der Wissenschaft nicht fehlen. Aber wer überallnur noch geheime Bezüge und Codes entdeckt, hat die Fähigkeit zur kritischen Reflexion verloren. + +Ansgar Martinswurde in Religionsphilosophie promoviert über die Schnittstelle von Judentum, Marxismus und Esoterik. Aktuell ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Franz Rosenzweig Minerva Forschungszentrum an der Hebräischen Universität Jerusalem. +Portrait: privat, Titelbild: Georgios Kefalas/picture alliance/KEYSTONE – Hulton Archive/Getty Images diff --git a/fluter/anti-trump-proteste-in-den-usa.txt b/fluter/anti-trump-proteste-in-den-usa.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2ecd9b35b72b9974b2c6f99352ea678fad234d25 --- /dev/null +++ b/fluter/anti-trump-proteste-in-den-usa.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Ja, Olympia Perez protestiert auch gegen den da oben. Vor allem aber will sie für eine allgemeine Krankenversicherung, Wohnraum und safe spaces vor der Polizei kämpfen +Es ist ein symbolträchtiger Ort, den die Trump-Gegner für ihre Aktion gewählt haben. Im Juni 1969 rebellierten Schwule, Lesben und Transgender hier in der Christopher Street gegen Polizeigewalt, vorausgegangen war eine Razzia in der Bar Stonewall Inn. Ein Denkmal erinnert heute an den queeren Aufstand, aus dem eine weltweite Bewegung erwuchs. "Die Pioniere von Stonewall haben unermüdlich gekämpft und schließlich gewonnen. Wir werden das Gleiche tun", ruft Senator Schumer, doch die meisten Regenbogenfahnen bleiben bei seiner Rede schlaff. +Kurz darauf steigt eine schwarze Frau, die wohl den allermeisten Demonstranten unbekannt ist, auf das Podium. "Ich bin 26 Jahre alt, Afro-Latina, transsexuell und komme aus Bed-Stuy, Brooklyn", stellt sich Olympia Perez vor. Diese Worte reichen schon, da jubelt das Publikum geschlossen. Perez fordert Krankenversicherung und Wohnraum für alle Amerikaner sowie "safe spaces" vor der Polizei, in denen sich Minderheiten bewegen können. "Was habt ihr bislang für uns gemacht?", fragt Perez in Richtung der Politiker, die seitlich der Bühne stehen. Wieder großer Beifall, ehe die Aktivistin zum Schlachtruf ansetzt: "Es ist unsere Pflicht zu kämpfen! Es ist unsere Pflicht zu gewinnen!" Die Menge feiert sie. Anders als Senator Schumer wirkt Olympia Perez auf die Demonstranten glaubwürdig. + +Zwei Bekenntnisse zu bunten Haaren und mindestens eines zum Feminismus: Unter der Jacke trägt der linke Demonstrant ein T-Shirt mit dem Slogan "The Future Is Female" +An diesem Samstag im New Yorker West Village zeigt sich, wie divers die landesweite Protestbewegung gegen Trump ist. Politiker wie Schumer halten leidenschaftliche Oppositionsreden, fühlen sich aber gleichzeitig verpflichtet, mit dem neuen Präsidenten im Kongress zu kooperieren. Manche Aktivisten setzen alle Hoffnung in ihre Repräsentanten in Washington, D.C., andere sind so enttäuscht von den politischen Institutionen, dass sie nur noch auf radikale Konfrontation bauen. +Eineinhalb Monate ist es mittlerweile her, dass Trump als Präsident vereidigt wurde. Dass bei den zahlreichen Women's Marches am 21. Januar im ganzen Land Schätzungen zufolge bis zu fünf Millionen Menschen durch die Straßen zogen. Vor allem im linken Lager war die Befürchtung groß, dass der ersten Empörung keine dauerhafte Opposition entwächst, dass sich der Protest nicht verstetigt. + +Keine ordentliche Demo ohne schwarzen Block. Dieser hier setzt aber auf Plakate statt Militanz + +Doch die vergangenen Wochen haben das Gegenteil bewiesen: Zivilgesellschaft, politische Opposition, Justiz und Medien lassen bislang keine Normalisierung der Trump'schen Präsidentschaft zu. Manche Demonstrationen sind spontane Antworten auf Trumps neue Gesetze, andere sind wochenlang vorbereitet. Die USA sind, wie die "New York Times" feststellte, zurzeit eine"Protest-Nation"– und New York ist die Protest-Hauptstadt. Anarchisten, Kommunisten, Sozialisten, Bernie-Sanders-Fans, Hillary-Clinton-Unterstützer, Linke und Liberale sind sich einig, dass der neue Präsident diesem Land mehr schadet als nutzt. Doch sie demonstrieren nicht nur gegen Trump, sondern für den Schutz von Minderheiten, für Feminismus, für mehr Mitsprache im politischen Prozess, wenn auch die verschiedenen Fraktionen unterschiedliche Ideen haben, welche Alternativen anzustreben sind. +"Im Vergleich zu Occupy Wall Street oder Black Lives Matter ist die aktuelle Bewegung breiter, zerstreuter, und sie konzentriert sich mehr auf tatsächliche Wahlpolitik", sagt Politikwissenschaftler Daniel Schlozman, der an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore lehrt. Viele Aktivisten würden also versuchen, ganz konkret die parlamentarischen Prozesse zu beeinflussen. In seinem Buch "When Movements Anchor Parties" untersucht Schlozman das Zusammenspiel von Protestbewegungen und Parteien. Seiner Meinung nach lässt sich die derzeitige Bewegung am besten mit der Tea Party vergleichen. Im Frühjahr 2009, wenige Monate nach Barack Obamas Wahl, hatte sich eine rechte Opposition unter dem Namen "Tea Party" formiert, die in der Folge großen Einfluss auf die Republikaner nahm. Die nationalistische Kampagne ("I want my country back") wirkte. Bei den Halbzeitwahlen 2010 verloren die Demokraten die Mehrheit im Repräsentantenhaus. +Die Taktik der Tea Party hat sich nun auch eine Gruppe ehemaliger Kongressmitarbeiter zum Vorbild für den Kampf gegen Trump genommen. Ezra Levin, Leah Greenberg und Angel Padilla haben mit dem"Indivisible Guide"einen Protest-Leitfaden veröffentlicht. So wie die sogenannte Tea Party vor acht Jahren die öffentliche Meinung mitprägte und den Eindruck einer breiten Unzufriedenheit mit Präsident Obama vermittelte, wollen sie deren Methoden nun gegen Trump einsetzen: lokale Organisation, Fokus auf bestimmte Kongressmitglieder und beharrliches Blockieren aller Initiativen des Präsidenten durch die parlamentarische Opposition. Der "Indivisible Guide" wurde nach eigenen Angaben bislang von rund 4.500 Gruppen unterzeichnet und über eine Million Mal heruntergeladen. + +Gemeinsam gegen Islamfeindlichkeit, Einreisebann und die Mauer an der Grenze zu Mexiko. Man könnte auch sagen: Hier wird für die offene Gesellschaft demonstriert + +Von zentraler Bedeutung ist Kontinuität, da sind sich fast alle Aktivisten einig. "Wichtig ist, die Leute auf regelmäßiger Basis in den Widerstand einzubinden", sagt die 37-jährige New Yorkerin Elizabeth Zeldin. Sie ist eine der Organisatoren der Initiative "Resist Trump Tuesdays". Jeden Dienstag finden momentan an verschiedenen Orten in den USA Proteste gegen die neue Regierung statt. "In den Monaten vor der Amtseinführung stand die Bewegung noch unter Schock. ‚Resist Trump Tuesdays' war also so etwas wie ein Weckruf", sagt Zeldin. +Mal stehen die Aktionen im Zeichen der Solidarität mit Muslimen, mal richten sie sich gegen Trumps Wall-Street-Verbandelungen. So versammelten sich Anfang Februar ein paar hundert Menschen vor dem Hauptquartier der Bank JPMorgan Chase in Midtown Manhattan, um gegen Trumps geplante Deregulierungen zu protestieren. Der neue Präsident will den sogenannten "Dodd-Frank-Act" größtenteils außer Kraft setzen. Das Gesetz hatte Obama 2010 erlassen, unter anderem, um zu verhindern, dass Großbanken mit Steuergeldern gerettet werden können. "Wir brauchen eine Bandbreite an Veranstaltungen, um jeder Wählerschicht eine Möglichkeit zum Widerstand zu bieten. Manche haben nur tagsüber Zeit, andere nur abends. Manche wollen an Mainstream-Veranstaltungen wie dem Women's March teilnehmen, andere an radikaleren Aktionen", sagt Aktivistin Zeldin. Sie will erreichen, dass sie alle aktiv werden. +Doch wo im politischen System müssen die Protestierenden ansetzen, damit sie etwas bewirken können? "Am effektivsten ist wohl der direkte persönliche Kontakt mit den entsprechenden Politikern. Bei Bürgerversammlungen oder, für die Reichen, bei Benefizveranstaltungen oder am Telefon", sagt Politik-Professor Daniel Schlozman. Dem schließt sich Aktivistin Elizabeth Zeldin an: "Unsere Senatoren und Repräsentanten sind der Schlüssel, um die Regierung zu beeinflussen." +Die kanadische Soziologin Frances Fox Piven setzt dagegen auf zivilen Ungehorsam. In einem Artikel für die Wochenzeitschrift "The Nation" forderte Piven Ende Januar,"Sand ins Getriebe der Institutionen"zu werfen. Wie das aussehen kann? "Auch normale Bürger können Immigranten aufnehmen und sie dadurch beschützen. Und jeder von uns kann mögliche Register unbrauchbar machen, indem man sich selbst als Moslem oder Mexikaner oder Moldauer registriert", schreibt Piven. + + +Auch ein Generalstreik wird von immer mehr Aktivisten diskutiert. Bei Google wird nach dem Begriff so häufig wie seit 2012 nicht mehr gesucht. "Millionen realisieren, dass ein Generalstreik der nächste logische Schritt nach den Massenprotesten vom 21. Januar ist", schrieb der Aktivist und ehemalige Lehrer Erik Forman vor Anfang Februar in einemBeitrag für das sozialistische Magazin "Jacobin". +Und die Politiker selbst? Die Bürgermeister mehrerer Großstädte wie Chicago und Los Angeles haben bereits angekündigt, Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis vor der Abschiebung schützen zu wollen. Die Politiker der Demokraten stehen unter Druck, ihrer Rhetorik auch Taten folgen zu lassen. Vor der Wohnung von Senator Charles Schumer in Brooklyn versammelten sich erst vor ein paar WochenTausende Menschen zum Protest. Die Botschaft war eindeutig. "Lass dir ein Rückgrat wachsen, Chuck" stand auf einem Plakat. Ein paar Tage danach stand der Mann dann an der Christopher Street und fragte ins Publikum: "Seid ihr bereit zu kämpfen?" + +Titelbild: Go Nakamura/Redux/laif diff --git a/fluter/antimuslimischer-rassismus-interview-melina-borcak.txt b/fluter/antimuslimischer-rassismus-interview-melina-borcak.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..babcfa541507ea138da36a031383442b9f3fc2cf --- /dev/null +++ b/fluter/antimuslimischer-rassismus-interview-melina-borcak.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Melina Borčak: Sie ist sehr schwer. Der harte Rassismus der 1990er-Jahre ist nicht weg, sondern hat sein Gesicht verändert und ist auf eine höhere Ebene geklettert. Früher gab es viele Politiker:innen, die fragwürdige Ansichten zu Muslim:innen hatten, aber es war nicht ihre Priorität, sie aus Deutschland herauszuekeln. Die AfD würde heute am liebsten alle Muslim:innen und auch alle Flüchtlinge aus dem Land werfen und ihnen das Leben zur Hölle machen. Zudem haben viele muslimische Menschen in Deutschland Familien in anderen Ecken der Welt, wo Genozide und Kriege stattfinden. Das schlägt natürlich auf die Seele. +In diesem Jahr standen Schweden und Dänemark im Zentrum der Aufmerksamkeit, weil dortEinzelne wiederholt öffentlich Korane verbrannt haben. Wie siehst du das? +Die Koranverbrennung ist für mich Ausdruck einer allgemeinen Respektlosigkeit gegenüber Religionen, die im Westen vorherrscht. Schweden etwa lässt sie zu und argumentiert gegen ein Verbot mit der Meinungsfreiheit. Muslim:innen müssen so viel aushalten, haben Genozide überlebt und werden im Westen strukturell diskriminiert. Mit den Koranverbrennungen spuckt man uns dann auch noch ins Gesicht und will uns zeigen, dass wir wertlos sind. +Inwiefern werden Muslim:innen strukturell diskriminiert? +Es ist zum Beispiel wissenschaftlich bewiesen, dass muslimische Personen bei gleicher Qualifikation seltener zu Vorstellungsgesprächen eingeladen werden als Nichtmuslim:innen. So hat eine Studie ergeben, dass Frauen, die auf Bewerbungsfotos ein Kopftuch tragen, viel seltener eine positive Rückmeldung erhalten. Bekommen sie dennoch einen Job, müssen sie sich oft mit Rassismus innerhalb des Unternehmens herumschlagen. +In welchen Kontexten tritt antimuslimischer Rassismus besonders häufig auf? +Er tritt eigentlich ständig auf. Selbst in meinem Freundeskreis werde ich damit konfrontiert, wenn auch in einer milderen Form. Mir ist schon passiert, dass Leute Kommentare über jüdische Personen machen und mir dann einen fragenden Blick zuwerfen, weil sie denken, dass ich als Muslimin irgendwas Antisemitisches sagen würde. Da denke ich mir: Meine Vorfahren haben gegen die Nazis gekämpft, und jetzt steht eine deutsche Person vor mir, die denkt, dass ich bloß aufgrund meines Glaubens antisemitische Ansichten habe? +In Deutschland sind antimuslimische Vorurteile weit verbreitet. Woran liegt das deiner Meinung nach? +Es gibt in den Medien einen sehr starken und negativen Fokus auf Muslim:innen. Dabei wird oftmals das betrieben, was ich Koranbait – angelehnt an das Wort Clickbait – nenne. Immer wieder ist beispielsweise von "Kriegern des Korans" oder "Krieger für Allah" die Rede. Im "Spiegel" gab es mal die Headline: "Die stille Islamisierung – Mekka Deutschland". Wenn immer wieder Muslimisches mit Negativem in Verbindung gesetzt wird, geht das unweigerlich in die Köpfe der Menschen. Über positive Ereignisse, wie zum Beispiel das Ramadan-Picknick (ein gemeinsames Fastenbrechen, an demetwa in Hanau Muslim:innen und Nichtmuslim:innen teilnehmen, Anm. d. Redaktion), wird viel seltener berichtet. +In deinem Buch fokussierst du dich auf rassistischen Sprachgebrauch. Warum? +Sprache formt sowohl Gedanken als auch Verhalten. Und unser Verhalten formt die Gesellschaft. Deshalb ist es wichtig, Menschen ihre Denkfehler in Bezug auf muslimische Personen aufzuzeigen. Leute glauben einfach viel zu oft das, was ihnen in den Medien serviert wird. Mit meinem Buch wollte ich diese Fehlannahmen aufzeigen. +Du legst besonderen Wert darauf, Genozide auch immer als solche zu bezeichnen und nicht beispielsweise als Massaker. Warum ist das so wichtig? +Laut UN-Genozid-Konvention meint Genozid, vereinfacht ausgedrückt, Taten, die verübt werden mit dem Ziel, eine bestimmte Menschengruppe ganz oder teilweise zu vernichten. Genozide sind also das Maximum an Hass, Gewalt und Rassismus. Deswegen erlaubt das internationale Recht unter bestimmten Bedingungen, zum Schutz der Menschenrechte einzugreifen. Dennoch wollen viele Länder Genozide nicht als solche bezeichnen – und stehlen sich damit aus der Verantwortung. Wenn jemand den Holocaust leugnet oder verharmlost, gilt das zu Recht als antisemitisch. Aber bei anderen Genoziden fehlt diese Transferlogik oft. Wer antimuslimische Genozide, wie zum Beispiel den Genozid an den Bosniak:innen, leugnet, wird nicht automatisch als rassistisch gebrandmarkt. Dabei sind solche Genozide das Maximum an antimuslimischem Rassismus. +Wie löst man sich von rassistischen Gedankenmustern? +Ich versuche immer, Vergleiche im Kopf herzustellen. Im Fall von antimuslimischem Rassismus kann man sich fragen, ob man genauso über eine christliche oder über eine jüdische Person denken würde. Wenn mir also beispielsweise eine muslimische Person, die über Eid al-Fitr, also das Fest des Fastenbrechens, redet, irgendwie suspekt ist, kann ich mich fragen, ob ich das Gleiche über eine Person denken würde, die über Weihnachten redet. +Manche muslimische Menschen begründen zum Beispiel ihre Queerfeindlichkeit mit ihrer Religion. Wie kann bei solchen Themen eine legitime Religionskritik aussehen? +Indem man nicht die gesamte Religion dafür verantwortlich macht. Auch innerhalb des Islams gibt es liberale Strömungen, über die nur leider viel zu selten berichtet wird. In den USA, in Polen und Uganda wird menschenfeindliche Politik auch mit dem Christentum begründet. Das hat aber keinen Einfluss darauf, wie ich meinen netten Nachbarn von nebenan bewerte, der einen christlichen Namen trägt und ab und zu mal in die Kirche geht. +Wen möchtest du mit deinem Buch erreichen? +Zum einen nichtmuslimische Personen, die bessere Menschen sein wollen. Mit dem Buch möchte ich aber auch Muslim:innen erreichen. Auch sie können beim Lesen des Buches viel über rassistische Dynamiken lernen, denen sie selbst ausgesetzt sind, und die dann besser einordnen. +Melina Borčak ist Journalistin und Filmemacherin. Sie kehrte nach fast 20 Jahren in Bosnien 2015 nach Deutschland zurück und arbeitet u.a. für CNN, ARD, Deutsche Welle und funk. +Portrait: privat +Titelbild: Daniel Biskup/laif diff --git a/fluter/antisemitismus-im-rap-kollegah-farid-bang.txt b/fluter/antisemitismus-im-rap-kollegah-farid-bang.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f89b629eba246490f281b67110ae0731d2cb93d2 --- /dev/null +++ b/fluter/antisemitismus-im-rap-kollegah-farid-bang.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Wie typisch sind denn Zeilen wie die von Kollegah und Farid Bang "mein Körper ist definierter als von Auschwitzinsassen"  im Song "0815" für den deutschen Rap? +Diese Zeilen sind auf keinen Fall repräsentativ für die gesamte deutsche Rap-Landschaft, die sehr vielfältig ist. Was aber an der Zeile bemerkenswert ist: Sie befindet sich auf dem meistverkauften Rap-Album des Jahres, das nun mit einem Preis gewürdigt wurde. Deshalb werfen diese Zeile und der Umgang mit ihr eine wichtige Frage auf: Deutet sie auf ein Problem hin, das in der größten und wichtigsten Jugendkultur vorherrscht? +Welche antisemitischen Bilder und Klischees tauchen in den Battle-Lines im Deutschrap öfter auf? +Beim Battle-Rap geht es darum, eine*n tatsächliche*n oder ausgedachte*n Gegner*in abzuwerten, um sich selbst dadurch aufzuwerten. Dabei kann es auch zu verbalen Schlägen unter die Gürtellinie kommen, wenn Rapper*innen dabei beispielsweise homophobe, sexistische oder rassistische Inhalte äußern. Der Antisemitismus zeigt sich aber nicht unbedingt in einzelnen Battle-Rap-Zeilen. Sondern er zeigt sich, wenn Rapper zu Geschichtenerzählern werden, wenn sie die Welt deuten oder wenn sie vorgeben zu wissen, wie die Gesellschaft funktioniert. +Können Sie da ein Beispiel nennen? +Das Musikvideo "TelVision" (2016) von KC Rebell feat. PA Sports, Kianush und Kollegah thematisiert beispielsweise eine angebliche Einflussnahme eines kleinen, unheimlichen und mächtigen Zirkels, der zum eigenen Vorteil, und zum Nachteil der restlichen Menschheit, systematisch die Medien manipuliert. "Ihre Propagandamissionen täuschen Abermillionen", heißt es im Refrain. In einer Sequenz ist jener düstere Machtzirkel zu sehen, und in der ersten Reihe steht ein Mann, der eine jüdische Kopfbedeckung trägt. Auch die Farben seiner blau-weißen Krawatte legen eine Assoziation mit dem Judentum und dem Staat Israel nahe. Hier drängt sich die Frage auf: Warum steht ausgerechnet ein Jude in der ersten Reihe eines Machtzirkels, der angeblich weltweit die Medien manipuliert? Die Anlehnung an dieantisemitische Verschwörungstheorie, wonach Juden die Medien steuern, ist unübersehbar. +Der Frage, wie antisemitisch der Deutschrap ist und welche Klischees und Verschwörungstheorien er bedient, geht auch die WDR-Doku "Die dunkle Seite des deutschen Rap" nach + +Dabei ist eins wichtig zu betonen: Der Antisemitismus ist kein Vorurteilssystem unter vielen und deshalb nicht mit Rassismus gleichzusetzen. Sondern er ist ein Welterklärungsmodell, das alle Widersprüche auflöst, die sich in unserer komplexen und undurchsichtigen Welt auftun. Denn beim Antisemitismus sind am Ende immer Juden schuld. Dies ist entscheidend, um den Antisemitismus im Rap erkennen zu können. In vielen Liedern, insbesondere des Gangstarap, in denen Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen geübt wird, kommt ein sehr vereinfachtes Weltbild zum Ausdruck: Auf der einen Seite sind die Guten, auf der anderen Seite sind die Bösen und dazwischen gibt es nichts. Nicht selten werden Juden dann mit dem Bösen oder mit allem Schlechten in der Gesellschaft in Verbindung gebracht. Dies äußert sich mal mehr und mal weniger eindeutig. +Jetzt gibt es Stimmen, die sagen,Rapper sind ja erstmal Kunstfiguren und keine Privatpersonen, die ihre Meinung öffentlich kundtun.Al Pacino ist ja auch nicht Scarface, sondern ein Schauspieler. +Wenn Al Pacino in einem antisemitischen Film mitwirken würde, dann würde man ihn dafür kritisieren. In der Debatte um die Zeilen von Kollegah und Farid Bang sehen wir, dass die Kunstfreiheit oftmals als Rechtfertigung herangezogen wird, um sich der Kritik zu entziehen. Wenn also gesagt wird, dass die Zeile "Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen" als Kunst verstanden wird, dann handelt es sich in diesem speziellen Fall eben um eine künstlerische Ausdrucksform, in der Auschwitzopfer verhöhnt werden. Mit anderen Worten: Nur weil etwas als Kunst verstanden wird, heißt das nicht, dass man es nicht kritisieren darf. +Die ganze Debatte findet vor dem Hintergrund statt,dass die antisemitische Kriminalität in Deutschland steigt.In Berlin zuletzt sogar sprunghaft. Jetzt könnte man auch sagen: Wenn überall der Antisemitismus zunimmt, warum fährt man dann den Rappern besonders über den Mund? Sind sie ein Sündenbock für viel größere gesellschaftliche Fehlentwicklungen? +Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, weil er in allen Teilen der Gesellschaft zu finden ist. Wer glaubt, Antisemitismus gäbe es nur im deutschsprachigen Rap, der*die irrt. Man muss jedoch anerkennen, dass es sich beim Rap um die größte und wichtigste Jugendkultur handelt. Wenn dort ein Problem vorliegt, dann verdient dieses Problem eine besondere Beachtung. Das heißt aber nicht, dass man nur über den Antisemitismus im Rap redet und über andere antisemitische Erscheinungsformen schweigt. Vielmehr muss man die verschiedenen Auswüchse des Antisemitismus in Beziehung zueinander setzen und sich die Frage stellen: Gibt es vielleicht einen Zusammenhang zwischen dem Mobbing von jüdischen Schüler*innen und antisemitischen Inhalten in der Musik? Und wie können wir diesem gesamtgesellschaftlichen Problem am effektivsten entgegentreten? + + +Jakob Baier ist Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung. In seiner Doktorarbeit setzt sich der Politikwissenschaftler mit dem Judenbild im deutschsprachigen Rap auseinander. +Einlesenswerter Essay von Marcus Staigerzum Thema erschien in der Ausgabe über Rap in der Zeitschrift "Aus Politik und Zeitgeschichte" +Foto: picture alliance/Eventpress diff --git a/fluter/antisemitismus-und-islamophobie-bei-salaam-schalom-kaempfen-juden-und-muslime-gemeinsam-dagegen.txt b/fluter/antisemitismus-und-islamophobie-bei-salaam-schalom-kaempfen-juden-und-muslime-gemeinsam-dagegen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bca2d2d1093b92da635902c2342a2579ad822fbb --- /dev/null +++ b/fluter/antisemitismus-und-islamophobie-bei-salaam-schalom-kaempfen-juden-und-muslime-gemeinsam-dagegen.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +Der jüdische Berliner Ármin Langer, 26, und der muslimische Ozan Keskinkılıç, 27, kämpfen gemeinsam gegen Rassismus und Antisemitismus. Sie arbeiten beispielsweise mit Schülern, Studenten, Polizisten und Feuerwehrmännern, um Vorurteile abzubauen. Die beiden gehören "Salaam-Schalom" an. Die Initiative gründete Ármin Langer mit jüdischen und muslimischen Freunden, kurz nachdem der Rabbi Daniel Alter von Jugendlichen zusammengeschlagen worden war und Neukölln daraufhin als "No-go-Area für Juden" bezeichnet hatte. Die Initiative hat mittlerweile Ableger in ganz Deutschland und auch in Dänemark, Ungarn, Spanien und bald in der Schweiz. +Ozan Keskinkılıç: Das Problem sind nicht die muslimischen Kinder. "Jude" ist nicht erst ein Schimpfwort in Deutschland, seit arabische Jugendliche da sind. Antisemitismus musste nicht importiert werden. Oft wird er nicht erkannt und bagatellisiert – das ist gefährlich. In demLeserbrief, den ein paar Eltern nach dem Vorfall an den "Tagesspiegel" geschrieben haben, um den Ruf der Schule zu wahren, zeigte sich das eindrücklich. Da hieß es, es sei normal, dass der Israel-Palästina-Konflikt Auswirkungen auf das Zusammenleben in Berlin habe. +Ármin Langer: Der Junge stammt aus England! Viele machen keinen Unterschied zwischen Juden undUnterstützern der israelischen Siedlungspolitik. Bei Veranstaltungen fragt mich eigentlich immer irgendwer: Ihr Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat dies und das gesagt, was sagen Sie dazu? Da antworte ich: Ich habe keinen Ministerpräsidenten, sondern eine Bundeskanzlerin. Mehr nicht. Ich werde mit niemandem über israelische Politik diskutieren, das ist nicht mein Thema. Ich will, dass die Leute verstehen, dass sie unterscheiden müssen. +Ozan: Das Pendant für Muslime wäre: Warum unterstützt ihr alle Terroristen? Da schwingt immer mit, dass man etwas damit zu tun habe. +Warum kommt es trotzdem besonders oft zu Konflikten zwischen Muslimen und Juden? +Ozan: Die Frage ist komisch. Sie tut so, als hätten muslimische und jüdische Jugendliche mehr Konflikte untereinander als zum Beispiel Angehörige der Mehrheitsgesellschaft mit ihnen. Dabei zeigt der Vorfall an der Schule doch vor allem ein viel grundlegenderes Problem: Antisemitische und rassistische Vorurteile – wie die der Eltern an der Friedenauer Schule – gehen an Kindern nicht einfach vorbei. Das wird angelernt. Ich habe zum Beispiel Antisemitismus nicht in meinem muslimischen Elternhaus gelernt, sondern von meinen weißen deutschen Mitschülern. Rassistische Einstellungen gegenüber Muslimen verbreiten sich gerade ziemlich erfolgreich durch die ganze Gesellschaft hindurch, natürlich auch unter jüdischen Jugendlichen. Es gibt auf allen Seiten Nachholbedarf in Sachen Aufklärung. +Was hättet ihr in der Klasse des Jungen gemacht? +Ármin: Viele Vorurteile bringen wir schon allein durch unser Auftreten ins Wanken – zwei junge Erwachsene, einer Jude, der andere Muslim, eine gemeinsame Sache. Wir hätten dann über antisemitischen und antimuslimischen Rassismus gesprochen, über Ausgrenzung ganz allgemein, und darüber, wie wichtig es ist, dass Juden und Muslime in Deutschland eine Koalition gegen Rechtspopulismus bilden. +Treffen sich ein Bauarbeiter, ein Jude und ein Muslim – Ármin Langer (links am Tisch) und Ozan Keskinkılıç (rechts) von "Salaam-Schalom" arbeiten in ihren Workshops auch mit Witzen, um auf Vorurteile aufmerksam zu machen +Eine Koalition zwischen Juden und Muslimen? +Ármin: Sowohl Juden als auch Muslime werden in Deutschland oft zu Fremden gemacht – wie auch Schwarze, Homosexuelle und alle anderen Minderheiten, die nicht als zugehörig zur deutschen Nation wahrgenommen werden, weil sie aus keiner christlichen oder weißen Familie kommen. Zusammen können wir einfach besser auf diese Andersmacherei reagieren. Leider versuchen viele, Minderheiten gegeneinander auszuspielen. Nach dem Vorfall an der Berliner Schule behauptetenausgerechnet AfDler, sie würden jüdische Mitbürger vor Muslimen beschützen! Und die jüdisch-muslimische Feindschaft wird in den Medien und von Politikern als etwas Natürliches dargestellt. +Was sind denn typische Diskriminierungserfahrungen? +Ozan: Wenn ich bei Veranstaltungen nach Diskriminierungserfahrungen frage, passiert es oft, dass die Menschen nicht wissen, was sie erzählen sollen. Wer von Antisemitismus oder Rassismus betroffen ist, neigt dazu, solche Erlebnisse zu verdrängen. Oder er hat Angst, darüber zu sprechen, weil er erlebt hat, dass die Erfahrung geleugnet wird und er noch mehr Diskriminierung erlebt. +Ármin: Rassismus erleben wir selber auch ständig. +Welche Stereotype begegnen euch am häufigsten? +Ármin: Auf einer Party habe ich mal einen Typen kennengelernt, mein Alter. Ich habe erzählt, dass ich jüdische Theologie studiere und jüdischer Herkunft bin. Die erste Rückfrage war, ob ich aus einer reichen Familie komme. Er meinte das nicht böse, mittlerweile ist er ein Freund von mir. Seine Frage zeigte einfach, wie tief antisemitische Vorurteile verankert sind. +Ozan: In dem Dorf in Hessen, wo ich aufgewachsen bin, versteckten Mütter ihre Töchter vor mir. Und ich habe verstanden, dass ich Muslim bin, als meine Mitschüler mich nach dem 11. September nicht mehr Türke, sondern Muslim nannten. Heute denken viele: Dieser Muslim ist aber gebildet, der hat es in der Gesellschaft geschafft – der ist eine Ausnahme. Auch viele Muslime denken so. Ich werde nicht als natürlicher Teil der Gesellschaft angenommen. Diese Logik erlaubt den Leuten, ihre Denkmuster zu behalten, obwohl sie mich sehen. Sie müssen ihre Weltsicht nicht infrage stellen. Kürzlich sprach ich vor Lehrern über antimuslimischen Rassismus und Diskriminierungserfahrungen von Muslimen. Die erste Wortmeldung nach meinem Vortrag: Definieren Sie Respekt. Ich fragte zurück, worauf er hinauswolle. Der Mann antwortete, muslimische Schüler seien immer so respektlos. +Ozan und Ármin spazieren am Ufer des auch durch Berlin-Neukölln verlaufenden Landwehrkanals entlang. Der Stadtteil sei eine "No-go-Area für Juden", sagte der Rabbi Daniel Alter, nachdem er von Jugendlichen zusammengeschlagen worden war +Wie reagierst du da? +Ozan: Bei solchen Kommentaren manifestiert sich das Weltbild, das überall gelehrt und auch medial verbreitet wird. Die Leute sind sich des Problems ja nicht bewusst. Ich versuche dann, mit dem Publikum nachzudenken. Ich frage: Woher kommt die Selbstverständlichkeit, mit der Sie so was sagen? Wieso sagen Sie, dass alle muslimischen Jugendlichen respektlos sind? Wieso würden Sie nie sagen, dass alle deutschen Schüler respektlos sind? Wieso ist Mohammed repräsentativ für eine Gruppe und Max nicht? +Habt ihr das Gefühl, dass ihr mit euren Vorträgen etwas verändert? +Ármin: Gerade habe ich ein halbes Jahr eine Klasse in Neukölln begleitet, ich habe die Schüler zwei, drei Mal getroffen. Beim ersten Mal stellte mir ein palästinensischstämmiger Jugendlicher die immer wiederkehrende Frage: Warum befürwortest du die Besatzung meiner Heimat? Bei unserem letzten Gespräch habe ich mich mit dem Jungen darüber unterhalten, wo es die besten Falafel von Neukölln gibt. Er hat verstanden, dass er zwischen Menschen jüdischen Glaubens und Befürwortern der israelischen Siedlungspolitik unterscheiden muss. +Wie hast du das erreicht? +Ármin: Irgendwann habe ich die Kinder aufgefordert, antisemitische Witze zu erzählen. Danach sollten sie antimuslimische Witze erzählen. Sie kannten keine. Ich bat sie, antimuslimische Witze zu erfinden. Danach haben wir über die Vorurteile gesprochen, die drin stecken. Wir hatten dabei Spaß. Ich glaube, das ist wichtig für den Lerneffekt. +Ozan: Antisemitische Witze haben unter Juden eine lange Tradition, das Spiel mit rassistischen Begriffen ist Ermächtigungsstrategie und Widerstandspraxis. Ich selber zeige bei Workshops oft Videos von muslimischen Satirikern, die genauso mit Vorurteilen spielen. So kommen wir schnell zum Thema: Wie geht man mit Rassismus um? Es muss nicht immer ernst sein, aber wo ist die Grenze? Wenn ich allerdings Tätergruppen sensibilisieren will, lasse ich Witze und Satire außen vor. +Habt ihr das Gefühl, einsame Kämpfer zu sein? +Ármin: Wir kriegen Anerkennung von Politikern, der frühere Bundespräsident Joachim Gauck hat uns öfter eingeladen, wir haben Preise gewonnen. Aber gleichzeitig stoßen wir ständig auf Widerstände. Doch es gibt keine Alternative. Wir müssen das machen. Auch wenn es anstrengend ist. + diff --git a/fluter/apeshit-beyonce-jay-z-louvre-kulturelle-aneignung.txt b/fluter/apeshit-beyonce-jay-z-louvre-kulturelle-aneignung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4448660819664a23d29aff0a94fc39a2072bd958 --- /dev/null +++ b/fluter/apeshit-beyonce-jay-z-louvre-kulturelle-aneignung.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Auch die Carters gehenbekanntermaßen gerne ins Museum, wenn sie mal frei haben. Aber sie wären nicht das berühmteste Paar der Popwelt, wenn ihre Besuche im Pariser Louvre nicht gleich den Anstoß für ein neues Großwerk gegeben hätten. In ihrem Video "Apes**t" wagen sie einen symbolisch aufgeladenen Battle Rap mit einem der wichtigsten Kunstort der Welt. +Das zeigt schon die Eingangsszene – natürlich – vor der Mona Lisa. Die Carters stellen sich davor, links und rechts flankieren sie das Porträt von Leonardo da Vinci und rahmen es ein wie ein Triptychon. Sie sind ja nicht als Besucher hier. Sie sind selbst Kunstwerke und stehen denen der alten Meister in nichts nach. +Ein paar Takte später posiert Beyoncé vor der Skulptur der "Nike von Samorake", wie sie selbst eine Siegesgöttin, und rappt "Gimme my check – or pay me in equity". In die Gegenwart der Geschlechterdebatte holt sie auch das Bild vom Raub der Sabinerinnen von Jacques-Louis David, eine Art Metoo-Moment der Antike, immerhin handelt es von männlicher Aggression gegen Frauen. Beyoncé hat die passende Zeile: "Get of my dick". Ebenso von David ist das Bild, das die Krönung von Napoleons Gattin Joséphine zeigt, die dieser einfach mal selbst durchführt. Und nicht der Papst. Naheliegend, dass sich Beyoncé, eingerahmt von ihrem Hofstaat an Tänzerinnen, gleich symbolisch mitgekrönt hat. Wie kulturelle Aneignung, mal anders rum gedacht. +Und Jay-Z? Der macht sich so seine Gedanken über das "Floß der Medusa" von Théodore Géricault, das den Schiffsbruch einer französischen Fregatte vor dem Senegal im Jahr 1816 zeigt, symbolisch aber die Grausamkeiten des Kolonialismus meint. + +Hat auch schon mal im Louvre gedreht: Will.i.am mit seinem Stück Mona Lisa Smile + +Macht und Status.Die großen Themen bei Bey und Jay. Die großen Themen im Louvre. Das sieht man schon daran, wie wenige Schwarze dort zu sehen sind. Und wenn, dann sind sie meist Sklaven. Eine Ausnahme ist das anmutige Porträt von Marie-Guillemine Benoist, das "Jayoncé" in stiller Würde einfach einen Moment stehen lassen. Es soll eine befreite Sklavin zeigen. +Denn genau darum geht es im Video: um das Sichtbarwerden, sich in die Geschichte einschreiben, schwarze Kultur in weißen Kunsttempel feiern. "Apes**t" wirkt wie ein Akt der Aneignung. Eine kulturelle Dekolonisation des weiß dominierten Kunstkanons. Und offenbar eine ziemlich wirkungsvolle.Wie die Süddeutsche nachgerechnet hat, haben das Video in weniger als einer Woche mehr als dreimal so viele Menschen gesehen als Besucher jährlich in den Louvre kommen. Und das sind immerhin gut 8 Millionen. diff --git a/fluter/apsilon-deutschtuerkischer-rap.txt b/fluter/apsilon-deutschtuerkischer-rap.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a39a89789de7fbfb2168033ab370d35b0342b168 --- /dev/null +++ b/fluter/apsilon-deutschtuerkischer-rap.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +"Mesaj" blieb das einzige Album von $lamic Force +Wieviele Kinder und Enkel der sogenannten Gastarbeiterinnenund Gastarbeiter fühlen sich $lamic Force weder türkisch noch deutsch. In der Türkei werden die Deutschtürkinnen und Deutschtürken als "Almancılar" verspottet, in Deutschland werden sie rassistisch diskriminiert. +"Your Silence Will Not Protect You." Schon die Schwarze Feministin Audre Lorde wusste das. Und auch $lamic Force wollen nicht leiser werden, sondern lauter, sie wollen für sich und ihre Belange einstehen. Rap erweist sich dafürals geeignete Kunst. +Neben Berlin spielt das Ruhrgebiet eine Rolle. Die ersten Rap-Tracks in deutscher Sprache kommen aus Ratingen, wo türkisch-, marokkanisch-, mazedonisch- und deutschstämmige Jugendliche Ende der 1980er-Jahre die Fresh Familee gründen. Ihr Song"Ahmet Gündüz"sammelt rassistische Alltagserfahrungen, ganz bewusst in gebrochenem Deutsch. + +"Mein Name ist Ahmet Gündüz, laß' mich erzählen euch,Du musse schon gut zuhören, ich kann nix sehr viel Deutsch,Ich komm von die Türkei, zwei Jahre her,Und ich viel gefreut, doch Leben hier ist schwer" + +Weitere Acts folgen: Aziza A., Sons of Gastarbeita oder M.O.R. (Masters of Rap), bei denen Kool Savas erste Parts veröffentlicht. Rap mit deutschen Texten schafft es in den 1990er-Jahren ins Radio und in die Charts. Wie viel türkeistämmige Jugendliche dazu beigetragen haben, wird gern unterschlagen. +Aziza A. hat die erste Deutschrap-Welle mitgeprägt +1997. In Berlin kommt ein Junge zur Welt. Arda gehört zur dritten Generation: Seine Großeltern kamen zum Arbeiten nach Deutschland. Arda bekommt Möglichkeiten, die viele Türkeistämmige vor ihm nicht hatten: Er legt ein Einser-Abi hin, fängt ein Medizinstudium an. Mit 14 beginnt er, Texte zu schreiben. Und traut sich irgendwann auch, sie aufzunehmen. Aus Arda wird Apsilon. Die Musik produziert bis heute sein Bruder Arman. +Berlin-Schöneberg, eine weiße Doppelfassade. Der Meetingraum von Sony Music, einem der Big Player der Musikindustrie, ist gemütlich eingerichtet. Apsilon kommt mit einem Lächeln und einer Tasse Tee herein. Im Interview geht es aber direkt zur Sache. Kein Wunder: Er rappt über Rassismus, Weltschmerz, Zerrissenheit, Selbstzweifel und unterdrückte Gefühle. Auch sein Debütalbum, das im Herbst erschien, druckst nicht lange herum. Der erste Song,"Koffer", ist Apsilons Antwort auf die Abschiebefantasien vieler deutscher Politikerinnen und Politiker. + +"Kannst uns hassen, wenn du Angst kriegstDeutschland, ja, du kannst uns abschiebenDeine Rentner sammeln trotzdem Pfandflaschen aus den TonnenUnd die Straßen bleiben kalt hier" + +Im Musikvideo bringt ein Fahrgast einen türkischen Taxifahrer um. Es basiert auf einem realen Fall. 1998 wurde ein Großonkel Apsilons in seinem Taxi ermordet, ihm ist das Video gewidmet. +Am 19. Februar 2020ermordete in Hanauein Rechtsterrorist neun Menschen mit Migrationshintergrund. Am nächsten Tag feiern trotzdem viele Karneval. "Hanau war das erste Mal, dass ich dachte: Okay, das hätten wirklich ich oder meine Cousins sein können", sagt Apsilon. Er sei damals schon politisch aktiv gewesen. "Deswegen hat Hanau doppelt reingeknallt: Ich habe nicht nur getrauert, ich war auch wütend." Wut kann zerstörerisch sein, sie kann lähmen oder zu Hass gerinnen. Apsilon nutzt das Gefühl konstruktiv. Er schreibtseinen Track "Köfte". + +"Sie seh'n Einzeltäter oder Psychos mit 'nem ColtIch seh nur, wie es leibt und lebt,euer schönes Schwarz-Rot-Gold" + +Wie schon die Rap-Pioniere protestiert Apsilon in vielen Texten gegen die deutsche Mehrheitsgesellschaft, die Menschen mit Einwanderungsgeschichte immer noch anders sieht und behandelt. Wie steht er zu Labels, die man ihm verpasst: "türkeistämmig", "Gastarbeiterenkel"? "Diese sprachlichen Weichspülversuche sind teilweise anstrengend, weil sie nicht zum Punkt kommen: Die Wirtschaft und große Teile der Gesellschaft sind ja nicht colorblind. Die behandeln uns wie Ausländer." +Das K-Wort taucht immer wieder in Apsilons Diskografie auf, aber auf eine empowernde, selbstbezeichnende Weise, so wie es schon 1984 Cem Karaca mit seiner Musikgruppe Die Kanaken vorgemacht hat. Rock-Größen wie Karaca, Erkin Koray oder Fikret Kızılok, aber auch legendäre Bağlama-Spieler wie Neşet Ertaş oder Âşık Veysel sind türkische Musiker, die Arda und Arman seit ihrer Kindheit hören. + +"Straße glänzt, Kalbim voll,Adler glänzt im PasaportAbi, Kardeş, Halle voll" + +Apsilon spricht fließend Türkisch. Und rappt – im Gegensatz zu Pionieren wie $lamic Force – auf Deutsch. Das erklärt er damit, dass er seinen Alltag, der sich in Deutschland und meist auf Deutsch abspielt, so am direktesten einfangen kann. Aber nicht, ohne türkische Wörter einzubauen. Kalbim. Mein Herz. Abi. Großer Bruder. Kardeş. Kleiner Bruder. Alle seine Musikvideos haben türkische Untertitel. +Dieser Beitrag ist im fluter Nr. 93 "Rap" erschienen.Das ganze Heftfindet ihr hier. + +Titelbild: Sony Music Germany diff --git a/fluter/aquafarming-griechenland-film.txt b/fluter/aquafarming-griechenland-film.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/arabs-do-it-better.txt b/fluter/arabs-do-it-better.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9cdaa5b3118e25d0649c3af99148080a82c464dc --- /dev/null +++ b/fluter/arabs-do-it-better.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +"Ich war der Erste in der Familie, der Hebräisch sprach", erklärt David später und in einem ruhigeren Setting über Zoom. Um zu verstehen, warum sich David und Marwan für diese Partyreihe zusammengetan haben, muss man ziemlich weit zurückblicken. Als Davids Eltern, der Vater Christ, die Mutter Jüdin, 1993 aus Armenien nach Israel migrierten, musste er für sie die Amtstermine vereinbaren. Dass er erst als Schulkind Hebräisch lernte, hat er gemein mit Marwan, der ebenfalls in einem kleinen Quadrat auf dem Bildschirm zu sehen ist. +Beide betonen: Sie haben sich nicht zusammengetan, um der Welt zu zeigen, dass Juden und Araber miteinander feiern können und es dann allen gut geht, denn so einfach ist es nicht. "Das würde die Situation weißwaschen", sagt Marwan. David nickt: "Wir haben uns gefunden, weil wir denselben Hunger auf Musik haben." Der Techno, den sie "Electronic Hafla" nennen, spielt mit traditionell "arabischen" Rhythmen oder Melodien. Manche Israelis nennen das abschätzig "Hochzeitsmusik". Marwan sagt: "Auf Arabisch heißt ‚Hafla' schlicht ‚Party'." Er will zeigen, dass sich auch arabische Musik zeitgenössisch entwickelt. Zuerst haben sie nur zu zweit aufgelegt, später luden sie palästinensische DJs und DJanes aus dem israelischen Haifa dazu, dann sogar aus dem palästinensischen Ramallah. Vorausgesetzt, letztere bekamen eine Genehmigung. + +Marwan ist in Bethlehem geboren – das im Westjordanland in den palästinensischen Autonomiegebieten liegt – und zog mit den Elternnach den Intifadaszur Familie seiner Mutter nach Israel. Nach den Palästinenseraufständen und Selbstmordattentaten riegelten die Israelis das Westjordanland immer mehr ab, errichteten den Sperrwall und unzählige Checkpoints zwischen den Städten und Dörfern. Der Umzug bescherte ihm ein Privileg: den israelischen Pass. Damit konnte er sich nicht nur frei bewegen, sondern auch das College im jüdischen Kiryat Ono nahe Tel Aviv besuchen. Doch unter den vielen jüdischen Kommilitonen merkte er bald, dass er hier nie richtig dazugehören würde: "Ich spürte die Vorurteile und begann, Dinge infrage zu stellen." +Auch deshalb suchte er Anschluss an die arabische Community in Jaffa. Er fand: die Anna-Loulou-Bar. Die winzige Kneipe in einem Kellergewölbe behauptete sich bis 2018 gegen dieGentrifikation, dann wurde sie zum Mythos. David, der oft dort auflegte, sagt: "Es ging nicht um Juden oder Araber und doch gleichzeitig um uns alle." Keiner machte ein Ding aus Religion, Ethnie oder sexueller Orientierung. "Die Bar war wie Israel und Palästina. So winzig, dass man miteinander auskommen muss." +Das Anna-Loulou war Treffpunkt der palästinensischen Schwulenszene und der Ort, an dem die Idee zur Partyreihe "Arabs do it better" entstand. Der Titel zierte ursprünglich ein Mixtape, das David als Erinnerung an einen arabischen Ex-Freund produziert hatte. Marwan hörte den Mix und war fasziniert. Wo hatte der Israeli all die arabische Musik her? Ein halbes Jahr lang redete er auf David ein: Wir müssen hier eine Party machen! Der zierte sich. "Mir kam das wie kulturelle Aneignung vor." Überzeugen ließ er sich schließlich mit der Idee, eine Party zur Gay Pride zu machen. Es ärgerte ihn schon länger, wie kommerziell die einst so politische Veranstaltung geworden war. Mit der Elektro-Party trafen die beiden einen Nerv beim Anna-Loulou-Publikum, das sonst arabischen Popsound serviert bekam. Es war ihnen gelungen, die "Hafla-Party" mit einem neuen Wert zu besetzen. Die Musik rührte an etwas, weckte ein bittersüßes Heimatgefühl bei Arabern und Juden. Ein politisches Statement schwang auch noch mit. "Ich warte immer noch darauf, dass uns jemand wegen des Namens angeht", sagt David. Bald platzte die Party aus der Anna-Loulou-Bar, zog schließlich in einen Club im Süden Tel Avivs, sogar in Berlin gab es vor der Pandemie erste Partys. +Beim Zoom-Gespräch ist die Mainacht, in der David hinterm DJ-Pult die Tränen kamen, erst ein paar Wochen her. David ist zurück in Berlin, wo er sich mit seinem Hund auf dem Sofa fläzt. Marwan sitzt in der Gartenlaube seiner Freundin in Rom. In Israel haben sie es nicht ausgehalten. Zu viel ist passiert. Nach den beiden Partys traf David einen Freund im Café. Das war der Abend, an dem die ersten Raketen aus Gaza flogen. "Wir guckten in den Himmel und aßen weiter unsere Pommes", erinnert sich David. Später schämte er sich dafür. Marwan aber hatte Angst – vor der Eskalation der Gewalt auf den Straßen in den arabisch-jüdischen Orten. +Für Ende Juli ist eine weitere Ausgabe von "Arabs do it better" in Jaffa geplant. Spätestens dann kehren die beiden zurück. Für Marwan bewahren die Partys ein Stück palästinensische Identität, für David waren sie der Auslöser, sich mit der Lebenswelt der Palästinenser auseinanderzusetzen. Dazu gehören auch stundenlange Diskussionen mit Marwan. "Nicht jede arabische Veranstaltung braucht ein Kamel oder einen Hidschab auf dem Flyer", schimpfte ihn der zum Beispiel einmal. Politisch sei die Partyreihe allein durch ihre Existenz. Nicht nur der Name ist ein Statement in der Tel Aviver Clubszene, in der Palästinenser selten an der Tür vorbeikommen, geschweige denn hinter dem DJ-Pult stehen. Natürlich wird dann geflirtet zwischen Arabern und Juden, ein paar Worte an der Bar getauscht, aber der echte Zauber findet auf der Tanzfläche statt. Wo sie alle zu den elektronischen Hafla-Beats tanzen – und Herkunft, Gender und sexuelle Orientierung wirklich egal sind für den Moment. +In Israel ist inzwischen eine neue Regierung eingeschworen, ohne Ex-Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und so bunt gefächert wie nie. Große Hoffnung macht das den beiden nicht. "Die Wurzeln des Konflikts sitzen viel tiefer", sagt David. "Auf beiden Seiten." Bleibt noch zu klären: Was machen die Araber denn nun besser? "Partys", sagt Marwan. "Musik", sagt David. "Und Sex natürlich." + +Titelbild: Rubens Ben (Free Rubens) diff --git a/fluter/ararat-film-kundag-rezension.txt b/fluter/ararat-film-kundag-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..662bc0025c11060e6f4be11c4a2f5fe8ce9f6f93 --- /dev/null +++ b/fluter/ararat-film-kundag-rezension.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Um Selbstbestimmung – Zeynep muss sich vor ihren Eltern für ihr Leben in Deutschland rechtfertigen –, um Gewalt und Wut. "Ararat" deutet vieles nur an, zum Beispiel, dass Zeyneps Freund sie vergewaltigt hat, bevor sie den Unfall gebaut hat und abgehauen ist. Zeynep erträgt die Doppelmoral ihrer Familie nicht mehr, einmal geht sie auf Ali (Aziz Capkurt) los, der für ihren Vater arbeitet und eine Affäre mit ihrer Mutter hat. Zeynep schlägt und begrapscht ihn, er bedroht sie und packt sie an der Kehle. Während Zeyneps Mutter zunächst versucht, ihre Tochter zu verstehen, hat ihr Vater Hasan eigene Probleme. Er ahnt, dass Ali ihn in der Firma bestiehlt, und will das heruntergekommene Bergwerk, das er besitzt, verkaufen. Die Familie ist einst aus der Türkei nach Deutschland und dann wieder zurück in die Türkei gezogen. Hasan zerbricht an der Einsicht, dass das, was er sich als Paradies in der alten Heimat erhofft hatte, nicht eingetreten ist. Nun will er schnellstens weg. Dazu kommt ein Konflikt, der die Familie beschäftigt. Im Fernsehen sieht man immer wieder Bilder vonkriegerischen Auseinandersetzungen in der Region Bergkarabach, wo gerade wieder ein Waffenstillstand zwischen Armenien und Aserbaidschan gescheitert ist.Hasan, der aserbaidschanische Wurzeln hat, verfolgt die Nachrichten. + +Statt auf Worte setzt der Regisseur und Autor Engin Kundağ in seinem ersten Langfilm ganz auf Bilder. Kundağ kennt die Landschaft Ostanatoliens gut, seine Eltern sind dort aufgewachsen. So karg wie die Landschaft sind auch die Gespräche von Zeynep und ihren Eltern am Abendbrottisch. "Ararat" ist ein leiser Film, der sogar auf Musik verzichtet und damit einen sehr nüchternen Blick auf die Figuren erlaubt. Zeynep etwa fühlt sich fehl am Platz, weiß aber nicht, wohin sie sonst gehen könnte. So wie die Protagonist*innen in "Ararat" bleiben auch die Zuschauer*innen im Unklaren und ohne Anker. Eine Besonderheit ist die Sprache im Film. Zeynep spricht ihre Eltern immer wieder auf Deutsch an. Ihr Vater spricht altaserbaidschanisches Türkisch, das man unter anderem in der Gegend rund um den Ararat spricht, ihre Mutter dagegen die türkische "Hochsprache". + + +Die bedrückende Stimmung in Zeyneps Elternhaus ist in jeder Einstellung spürbar. Das Kammerspiel in den engen Räumen steht in direktem Kontrast zur weiten Gegend um den majestätisch aufragenden Ararat. Regie und Kamera (Mikołaj Syguda) erzählen das in beeindruckenden, atmosphärischen Bildern. + +Regisseur und Autor Engin Kundağ hat einen Cameo-Auftritt als Zeyneps Freund, der einmal vor ihrem Elternhaus auftaucht und sie zur Rede stellen will. + +Der Ararat, der immer wieder eingeblendet ist. Der ruhende Vulkan ist der höchste Berg der Türkei, in der Bibel strandete dort Noahs Arche. Der Ararat liegt zwar heute auf dem Staatsgebiet der Türkei, bis zumVölkermord an den Armeniern 1915 und 1916war die Region aber geprägt durch ihre armenische Bevölkerung. Noch heute ist der Ararat das Nationalsymbol Armeniens und auch Teil des armenischen Wappens. Der Ararat im Hintergrund ist eine Art Mahnmal, das an die verdrängte – familiäre und historische – Last erinnert. Engin Kundağ (der vor gut zehn Jahren auch schon einen Kurzfilm namens "Ararat" gedreht hat) erzählte am Rande der Berlinale, dass er als Kind jedes Jahr zu Besuch in der Gegend war und dort gespielt hat, mit Blick auf den Ararat, der für ihn etwas Bedrohliches und Unerreichbares hatte. "Der Ararat war ganz weit weg und doch so nah", sagt Kundağ. "Diese Erfahrung bleibt haften, wahrscheinlich komme ich deswegen nicht weg von diesem Berg." + +"Ararat" hatte auf der diesjährigen Berlinale Premiere und läuft ab dem 7. Dezember in den deutschen Kinos. + diff --git a/fluter/arbeit-als-muellwerker.txt b/fluter/arbeit-als-muellwerker.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fb8152dd52b3c651e0e5712af8010862736d97cb --- /dev/null +++ b/fluter/arbeit-als-muellwerker.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Was entgegnen Sie, wenn es mal abwertende Kommentare zu Ihrem Beruf gibt? +Unser Job ist leider immer noch klischee­behaftet, nach dem Motto: "Das sind komische Typen, die unangenehm rie­chen." Dem muss ich klar widersprechen. Wir sind ganz normale Leute, und wir müffeln auch nicht. Zum einen tragen wir Arbeitskleidung einschließlich Hand­schuhe und kommen mit dem Müll so direkt auch gar nicht in Berührung – von außen sind die Müllbehälter in der Re­gel recht sauber. Aber insgesamt ist es mit den Klischees schon viel besser ge­worden: In den Pandemiemonaten wur­de doch sehr deutlich, dass wir einen wichtigen Teil dazu beitragen, so eine Stadt am Laufen zu halten. Von vielen Menschen bekommen wir seit Corona deutlich mehr Anerkennung. +Wo und wie? +In vielen Hausfluren hingen selbstgebastelte Plakate, auf denen stand: "Schön, dass ihr da seid, und danke für eure Arbeit!" Es kam auch der eine oder andere persönliche Kontakt zustande, wenn man gerade beim Laden war: "Super, dass ihr trotz Corona unseren Müll holt, passt auf euch auf und bleibt gesund!" Das war ungeheu­er motivierend. +Gewöhnt man sich eigentlich an den Gestank, der manchmal aus den Tonnen kommt? +Klar gibt es Behälter, die unangenehm riechen. Aber auch das verfliegt, sobald der Behälter gekippt wird und der Müll im Fahrzeug verschwindet. +Welche Sorgen haben Sie in Ihrem Job? +Was ziemlich nervt, sind hupende und drängelnde Autos. Da muss man dann einfach Ruhe bewahren. Denn wir kön­nen mit dem großen Müllfahrzeug nicht einfach mal weg. Ich erinnere mich an ein Taxi, das zunächst wie wild hupte. Dann stieg der Fahrgast aus und brüllte mich an: Er sei Anwalt und müsse sofort durch! Ich habe zu ihm gesagt: Schön, dass Sie Anwalt sind – das ehrt Sie auch. Nur kann ich hier weder links noch rechts zur Seite fahren. Man ist ja mitt­lerweile schon tiefenentspannt, weil man weiß: Wir müssen unsere Arbeit erledi­gen – und wir müssen diese Arbeit sorg­fältig und sauber erledigen. +Wie steht es um dieSammel- und Trenndisziplinder Bürger, sind Sie mit der zufrieden? +Nach meinem Eindruck ist das in den letzten Jahren besser geworden. Gerade bei der Biotonne merkt man, dass mehr Leute ihren Müll vernünftig trennen. Immerhin haben sie dadurch ja auch eine Kostenersparnis, weil der Biobe­hälter für die Abfuhr wesentlich günstiger ist als der Restmüllbehälter. Trotz­ dem gibt es leider immer noch Fälle, wo man sofort sieht: Da wurde jetzt nicht korrekt oder überhaupt nicht getrennt. Bauschutt zum Beispiel gehört absolut nicht in die Restmülltonne – und wird dann auch nicht abgeholt! +War mal etwas in einer Tonne, über das Sie sich besonders gewundert haben? +Absurd ist, wenn Leute ganze Schränke einfach so hochkant in die Tonne stop­fen. Da macht man sich dann schon seine Gedanken: Warum landet so ein Schrank in der Tonne? Man kann ihn ja kostenlos auf dem Recyclinghof ab­ geben... Solche zweckentfremdeten Tonnen werden von uns natürlich auch nicht geleert. +Hat sich Ihr eigener Umgang mit Müll verändert, seit Sie bei der BSR arbeiten? +Wenn man jeden Tag damit zu tun hat, versteht man noch mal besonders, wie wichtig es ist, etwas Sinnvolles damit zu machen. Deshalb: Lasst uns den Müll gut trennen, denn wir haben alle was davon,wenn diese Ressourcen wei­terverwertet werden. +Weisen Sie seitdem auch im Privatleben andere Menschen zurecht, weil die den Müll nicht richtig trennen? +Lustig ist, dass mein Nachbar tatsächlich manchmal zu mir kommt und sagt: "Sa­scha, du arbeitest doch bei der BSR, wo muss ich das hier reinschmeißen?" Dann gebe ich ihm gern ein wenig Nachhilfe. +Wie viel verdienen Sie eigentlich als Müllwerker, und sind Sie mit dieser Bezahlung zufrieden? +Als Kraftfahrer verdiene ich ja mehr als ein Müllwerker: Mit Zulage sind das rund 3.700 Euro brutto. Davon kann ich gut leben. + +Titelbild: Barbara Dombrowski/laif diff --git a/fluter/arbeit-am-bauplan.txt b/fluter/arbeit-am-bauplan.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..31a8a5b8e576fc026dbfb18d393b569dae891b72 --- /dev/null +++ b/fluter/arbeit-am-bauplan.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Die Firma Monsanto, die auch auf Chemikalien spezialisiert ist und während des Vietnamkriegs das hochgiftige Entlaubungsmittel Agent Orange herstellte, hat nun vor allem Samen für Baumwolle, Mais, Raps und Sojabohnen mit neuen Eigenschaften im Angebot. So sind diese immun gegen die jeweils häufigsten Schädlinge und auch gegen das ebenfalls von Monsantohergestellte Pflanzenvernichtungsmittel Roundup – das so auf den Feldern versprüht werden kann und lediglich das Unkraut abtötet. Geklagt hatte das Unternehmen gegen den kanadischen Landwirt Percy Schmeiser, weil auf dessen Rapsfeld auch die Monsanto-Sorte "Canola Roundup Ready" wuchs, ohne dass Schmeiser Lizenzgebühren bezahlt hätte. Nachdem das oberste kanadische Gericht Monsanto 2004 Recht gab und dem Konzern das Eigentum an Schmeisers Ernte bestätigte, hatte der Bauer im März dieses Jahres bei einem erneuten Rechtsstreit Erfolg: Als auf Schmeisers Feld wieder Monsanto-Raps wuchs, der wohl durch Pollenflug dorthin gelangt war, stimmte der Konzern nun einer Schadensersatzzahlung zu. +Eine den Menschen direkter betreffende Art der Gentechnik ist die so genannte rote Gentechnik. Die Erforschung des genetischen Bauplans des Menschen soll in erster Linie dazu dienen, Krankheiten zu heilen oder ihnen vorzubeugen. Viele Praktiken auf diesem Gebiet sind wegen ethischer Bedenken umstritten, wie etwa die Stammzellenforschung, bei der mit befruchteten Eizellen experimentiert wird. Das Human Genome Project (HGP) hat in den Jahren von 1990 bis 2005 das menschliche Erbgut "entschlüsselt", also verzeichnet, welches Gen auf welchem der 23 menschlichen Chromosomen sitzt. Anders als erwartet hat der Mensch nur 20.000 bis 25.000 Gene, zunächst wurde angenommen, es seien etwa 100.000. Das HGP ist eine öffentlich finanzierte Forschungsgemeinschaft mit Wissenschaftlern aus 40 verschiedenen Ländern.Private Konkurrenz bekam das HGP durch den US-amerikanischen Biochemiker Craig Venter und seiner Firma Celera, die seit ihrer Gründung 1998 das gleiche Ziel verfolgten. Im Jahr 2000 hatten beide Projekte die vollständige Sequenzierung des menschlichen Genoms verkündet, im Jahr darauf veröffentlichte das HGP seine Ergebnisse im Magazin Nature, während Celera das Gleiche im Magazin Science tat. Es stellte sich allerdings heraus, dass beide Ergebnisse noch lückenhaft waren, das HGP schloss diese Lücken in den darauf folgenden Jahren fast gänzlich. Die Firma Celera, die zunächst sehr von den öffentlich zugänglichen Ergebnissen des HGP profitiert hatte, weigerte sich jedoch schließlich, ihre eigenen Ergebnisse in einer frei im Internet zugänglichen Datenbank zu veröffentlichen. Im Jahr 2005 gab Celera dann bekannt, das Projekt zu beenden.Abgesehen von diesem Konkurrenzkampf kann das genaue Wissen über die Orte der menschlichen Gene dazu beitragen, Risiken für bestimmte Krankheiten zu bestimmen. Auch für die Biologie ist das Projekt spannend: Im Vergleich mit den Genomen anderer Organismen kann der Weg der Evolution genauer nachvollzogen werden. +Weit weniger bekannt, aber schon viel länger in unseren Alltag integriert, ist die weiße Gentechnik. Sie bezeichnet industrielle Verfahren, mit denen durch Mikroorganismen wie Pilze oder Bakterien organische Chemikalien hergestellt werden. So werden etwa ein Großteil der Vitamine, die Nahrungsmitteln zugesetzt werden, mithilfe von Gentechnik hergestellt. Vitamin B2 wurde früher in einem aufwändigen chemischen Verfahren produziert, inzwischen erledigt das das gentechnisch veränderte Bakterium Bacillus Subtilis. Dieses Bakterium kann aber noch einiges mehr: Mit ihm werden ebenfalls Enzyme produziert, die den Schmutz aus der Kleidung lösen können und deshalb Waschmitteln zugesetzt werden.Das beliebteste und am häufigsten verwendete Lebensmittel-Aroma ist Vanille. Echte Vanille ist jedoch knapp, ihr charakteristisches Aroma Vanillin kommt aber auch in anderen Pflanzen vor, unter anderem in Baumrinde, Spargel und Zuckerrüben. Die daraus gewonnenen Geschmacksstoffe dürfen ebenfalls als natürliches Aroma bezeichnet werden. Auch hier gibt es ein Verfahren mit gentechnisch veränderten Mikroorganismen, das Aroma synthetisch herzustellen. Der Geschmack in Pudding oder Eiscreme kommt deshalb in den seltensten Fällen aus der Vanilleschote. Lebensmittel-Enzyme gelten in Deutschland übrigens nicht als Zutat und müssen nicht auf Verpackungen angegeben werden, egal ob durch genetisch veränderte Organismen erzeugt oder nicht.Frida Thurm schreibt für Magazine und Zeitungen. Sie lebt in Berlin und Amsterdam. diff --git a/fluter/arbeit-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt b/fluter/arbeit-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c1de5fc37cf8abe5290c130bf54ad222be560230 --- /dev/null +++ b/fluter/arbeit-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Normalerweise werden Leute, die ihren Job kündigen, nicht so einfach zu Volkshelden. Aber der Flugbegleiter Steven Slater schien irgendwie einen Nerv getroffen zu haben, als er nach der Landung seines Fluges von Pittsburgh nach New York beschloss, alles hinzuschmeißen. "Ich war 20 Jahre in diesem Geschäft. Und das war's. Ich bin fertig", teilte er den Passagieren mit, griff sich ein Dosenbier und verließ das Flugzeug über die aufblasbare Notrutsche. Später nahm ihn die Polizei fest, doch da war die Geschichte schon auf allen Medienkanälen gelaufen, und die meisten Menschen fanden Steven Slaters Aktion einfach nur mutig und bewundernswert. Und das war es auch schon. Mehr Platz für diese Heldengeschichte hatten wir leider nicht. +Es gab mal einen Beruf, der hieß Matratzensammler. Das waren Menschen, die mit einem Bollerwagen durch die Stadt zogen und alte Matratzen gesammelt haben. Es gab auch mal einen Beruf, der hieß Gasriecher. Das waren Menschen, die rochen nach Lecks in den Rohren unter der Straße. Es gab auch mal Harzer und Tapetenstecher und Wasenmeister und so weiter und so fort. Und gute Fotos von verschwundenen Berufen gibt es auch. Wir haben lange überlegt, ob wir nicht eine Bildstrecke zu diesem Thema machen, nostalgisch, schwarzweiß. Am Ende haben wir uns doch für die Gegenwart entschieden. Eine Fotoreportage über einen 17-jährigen Paparazzo kriegt man ja auch nicht alle Tage zu sehen. diff --git a/fluter/arbeit-teilzeit-hans-rusinek.txt b/fluter/arbeit-teilzeit-hans-rusinek.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4d96edb848a2665fd6e3509e0825f58f344bc718 --- /dev/null +++ b/fluter/arbeit-teilzeit-hans-rusinek.txt @@ -0,0 +1,40 @@ +Und jetzt kippt diese Logik? +Ja. Die heutige Generation der Berufseinsteiger hat Eltern, die wahnsinnig viel gearbeitet haben und deren Glücksversprechen sich trotz aller Verausgabung häufig nicht eingelöst hat. Die haben vielleicht ein Eigenheim und zwei Autos in der Garage, aber glücklich, auf sozialer oder emotionaler Ebene, sind sie deshalb trotzdem nicht. Viele Junge haben anscheinend andere Anforderungen an Arbeit. Und die Pandemie hat diese Tendenz noch mal klar verschärft. +Inwiefern? +In der Pandemie haben wir gemerkt, wie verletzbar wir sind und wie schnell man ernsthaft krank werden kann. Eine Art kollektives Nahtoderlebnis, das vielen bewusst gemacht hat, wie wichtig die Dinge außerhalb der Arbeit sind. Die Prioritäten haben sich verschoben. +Arbeitgeber klagenüber viele Teilzeitwünscheund "Quiet Quitting", also eine Art Dienst-nach-Vorschrift-Mentalität. Müssen die jetzt eine Generation von Arbeitsverweigerern motivieren? +Ich wäre generell vorsichtig mit Generationsdiagnosen: Was wir sehen, sind Phänomene dieser Altersgruppe. Diese Fragen stellen sich komplett neu, wenn die Ersten aus der Generation Z in Führungspositionen kommen und Eltern werden, also tendenziell mehr finanzielle Sicherheit brauchen oder unternehmerische Verantwortung tragen. Das Tragische ist, dass wir alle früher oder später wie unsere Alten werden. +Das ist doch ein Klischee, oder? +Seit Generationen wird erzählt, dass die jeweils Jüngeren nicht mehr so eifrig seien wie man selbst. Das Vorurteil hat schon der antike Philosoph Hesiod vor zweieinhalbtausend Jahren bemüht – und seitdem Menschen in jedem Jahrhundert. Dabei ist die Erzählung, jemand sei faul und habe generell keine Lust auf Arbeit, in den allermeisten Fällen nicht haltbar. Wir sind soziale Wesen und stark davon getrieben, etwas beizutragen undanerkannt zu werden für das, was wir tun. Zutreffender ist, glaube ich, dass viele Junge keine Lust mehr auf Überarbeitung und schlechte Arbeitsbedingungen haben. Und die Entwicklung am Arbeitsmarkt verschärft diese Haltung. +Der Personalmangel hat sich in der Pandemie weiter zugespitzt, die Generation der Babyboomer geht langsam in Rente, der Fachkräftemangel ist schon heute eklatant … +Da kreuzen sich gleich mehrere Tendenzen, die dazu führen, dass Arbeitnehmer*innen ihre Forderungen viel selbstbewusster stellen können. Ich glaube sogar, sie waren noch nie so mächtig wie heute. In vielen Bereichen, nicht in allen. +In den 1990er- und Nullerjahren wurde einem noch Angst gemacht, mit einer Lücke im Lebenslauf keinen Job zu finden. Wie hat sich das so schnell gedreht? +Der Personalmangel ist nicht allein der Demografie geschuldet. Dazu hat auch die restriktive Migrationspolitik der vergangenen Jahre beigetragen. Es vergehen oft Jahre, bis Geflüchtete und Migranten überhaupt in Deutschland arbeiten dürfen. Dazu werden Abschlüsse, die sie in ihren Ländern erworben haben, oft nicht anerkannt. Ein dritter Faktor ist die fehlende Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Dass beide Elternteile arbeiten, ist heute normal. Aber die Hürden beim Wiedereinstieg in den Job nach Eltern- oder Teilzeit treffen vor allem Frauen. Die konnten und können trotz hoher Qualifizierung oft nicht an ihre Karrieren anknüpfen. +Weniger Arbeit gegen weniger Lohn. Ist das eine gute Entscheidung? +Ich glaube, individuell liegen Leute damit richtig – weil es einen größeren Raumfür Sinn und Tätigkeit jenseits der Lohnarbeitschafft. Meine Frau ist Psychotherapeutin, die sagt klar: Wenn man Sinn allein aus einer Rolle schöpft, also alles auf den Job setzt, landet man früher oder später beim Therapeuten. Es ist gesund zu schauen, welche Rollen noch zu uns gehören: die als Vater, als Partner, als Freund, als jemand, der in der Natur entspannt, als Ehrenamtler oder eben auch als Faulenzer. +Zumal ja ganz allgemein fraglich ist, ob es sich für Jüngere heute überhaupt lohnt, viel zu arbeiten? +Früher hatte man die begründete Hoffnung, sich vom Lohn mal ein Häuschen oder eine Stadtwohnung kaufen zu können. Mit durchschnittlichem Verdienst ist das bei den heutigen Preisen für Grund- oder Wohneigentum unmöglich. Kapital zu habenund an den Finanzmärkten zu vermehrenlohnt sich hingegen immer noch. Vor allem,wenn man erbt. Das allgemeine Wohlstandsversprechen der frühen Bundesrepublik ist schon Ende der Nullerjahre gebröckelt, mit der Finanzkrise. Seitdem sind die Löhne nicht signifikant gestiegen, was heißt, dass sich Arbeit weniger lohnt. +Hans Rusinek +Trotzdem schauen viele ältere Arbeitnehmer und Führungskräfte abschätzig auf die Jungen, die nicht mehr so viel arbeiten wollen. +Ich habe auch erlebt, dass ein Chef über eine jüngere Mitarbeiterin, die pünktlich geht, plötzlich laut hörbar für alle sagt: "Das hätte ich mir nicht erlauben können." Aber das ist auch nicht leicht. Viele finden es schlicht ungerecht im Vergleich zu ihrem eigenen Berufseinstieg. Es braucht eine gute Portion menschlicher Größe, zu sagen: Gut, dass sich das jetzt für euch verändert. +Muss man es sich leisten können, Stunden zu reduzieren? +Das machen vor allem hochbezahlte Berufsgruppen. Programmierer*innen, Anwält*innen, Berater*innen, Ingenieur*innen … Eben vor allem die in der sogenannten Wissensarbeit. Bisher handelt es sich um ein reines Elitenphänomen. +Es gibt Studien, die zeigen, dass Mitarbeiter in 30 genauso produktiv sein können wie in 40 Stunden. +Und dazu erste Unternehmen, die deshalb die Viertagewoche für alle eingeführt haben, ohne Lohnkürzung. Die befragten Firmen kommen vorwiegend aus dem White-Collar-Bereich, also aus Marketing, Beratung oder Kanzleien. Die können unproduktive Arbeitszeit wie manches Meeting oder Gespräche an der Kaffeemaschine einsparen. Da wird die verkürzte Woche zur Win-win-Situation: mehr Freizeit für die Mitarbeiter bei gleichem Verdienst und ein Vorteil für den Arbeitgeber im Wettbewerb um Personal. Nur darf man nicht den Fehler machen und diese Studien auf die ganze Arbeitswelt beziehen. +Im Restaurant, in der Pflege oder beim Spargelstechen ist eine Viertagewoche schwerer vorstellbar. +Sicher, die Trennlinie verläuft klar zu Arbeitsfeldern in der Hand- und Herzarbeit, in denen man in weniger Zeit auch direkt weniger produziert. In diesen Jobs bedeutet geringere Arbeitszeit, wenn der Lohn für die Beschäftigten gleich bleiben soll, immer auch höhere Kosten für den Arbeitgeber. Das muss man bedenken. Und im Niedriglohnsektor fehlt natürlich meist auch der Puffer, um auf eigene Kosten weniger zu arbeiten. +Vollzeit oder Teilzeit? +Ist eine Reduktion der Arbeitszeit. aus Arbeitnehmer*innen-Sicht überhaupt sinnvoll?Wir streiten. +Besteht durch den Personalmangel dennoch die Chance, dass sich die Arbeitsbedingungen in solchen Branchen von alleine verbessern? +Für die Breite glaube ich das nicht. Gerade im Niedriglohnsektor können oder wollen Arbeitgeber die Mehrkosten oft nicht hinnehmen. Die Arbeit dort ist leichter austauschbar, wenn es hier keiner machen will, werden eben Menschen von woanders angeworben. In der Vergangenheit sind immer wieder auch Unternehmen abgewandert, zum Beispiel in der Textilindustrie. Das lässt sich nur ändern, wenn die reduzierte Arbeitszeit gesetzgeberisch angeordnet und staatlich finanziell unterstützt würde. +Dabei wird gerade suggeriert, dass selbst eine Kindergrundsicherung nicht drin ist im Bundeshaushalt. +Spätestens seit dem 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr sollte allen klar sein, dass es Ressourcen gibt und es viel mehr eine Frage der Prioritäten ist. Ideen für zusätzliche Einnahmen liegen auch auf dem Tisch, zum Beispieldie Wiedereinführung einer Vermögenssteuer oder eine wirksamere Erbschaftsteuer. +Was bedeutet es für die Gesellschaft, wenn die Entwicklung so weitergeht – wenn also die einen immer mehr Geld und Zeit haben und die anderen von beidem weniger? +Ein hohes Potenzial für gesellschaftliche Spaltung. Leute aus Ausbildungsberufen halten Akademiker*innen in Bürojobs ja jetzt schon für überbezahlte Wichtigtuer. Während umgekehrt viele mit Uniabschluss glauben, dass alles eine Frage des "Mindsets" sei und sich die anderen nur mehr anstrengen müssten, wenn sie auch so leben wollen. Mit dem starken Zulauf der Universitäten in den vergangenen 30 Jahren hat die nichtakademische Mittelschicht enorm an Status verloren. +Sehen Sie trotzdem eine Chance, dass die Dreißigstundenwoche sich irgendwann für alle durchsetzt? +Ich habe da Hoffnung. Die Vierzigstundenwoche und der Achtstundentag mussten auch erst von Arbeitnehmer*innen erkämpft werden. Gerade können sich nur wenige mehr Zeit leisten. Das ist ungerecht. Aber dadurch kann eben auch eine Sehnsucht entstehen, die immer notwendig ist für sozialen Protest und Wandel. +Was können Menschen in sogenannten White-Collar-Jobs beitragen, um auch Leuten in Ausbildungsberufen mehr Zeit zu ermöglichen? +Sie können sich solidarisch verhalten. Ärzt*innen können zum Beispiel Pflegepersonal bei Streiks unterstützen, Rechtsanwält*innen ihre Fachangestellten anständig bezahlen. Es geht aber auch noch simpler: Man nimmt die Kopfhörer aus den Ohren, wenn man vor den Kassierer*innen am Kassenband steht. Wir brauchen ein allgemeines Bewusstsein, dass jede Art von Arbeit würdevoll ist, weil sie zum Gemeinwohl beiträgt. Akademische Abschlüsse spezialisieren und sind aufwendig, aber sie machen einen nicht zu einem besseren Menschen. +Würden Sie persönlich mit Ihrer Elterngeneration tauschen wollen – weniger Zeit, aber mehr Chance auf Wohlstand? +Nein, trotz aller ökonomischen Chancen von damals. Wenn man die heutigen Freiheiten erst mal kennt und mehr Zeit für die Familie, Freunde und Freizeit hat, will man das nicht hergeben. Außerdem bin ich überzeugt, dass wir zur Bekämpfung der Klimakrise ohnehin eine andere Haltung zu Konsum brauchen und Geld nicht länger das Entscheidende sein wird. Denn der ökonomische Aufstieg unserer Eltern hatte natürlich auch einen ökologischen Preis. + diff --git a/fluter/arbeitsalltag-gleichstellungsbeauftragte.txt b/fluter/arbeitsalltag-gleichstellungsbeauftragte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4696dde962a875c5c8a0fd3c33d995bbb3e568ba --- /dev/null +++ b/fluter/arbeitsalltag-gleichstellungsbeauftragte.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Kırlı achtet im Vorstellungsgespräch darauf, dass niemand aufgrund des Geschlechts ungleich behandelt wird. "Die Grundsäule meiner Arbeit ist eine Parität zwischen den Geschlechtern zu schaffen, dazu gehören Personalangelegenheiten, also auch Vorstellungsgespräche und andere Maßnahmen, und zum anderendie Vereinbarkeit von Beruf und Familie", beschreibt Kırlı ihr Aufgabengebiet. +Grundsätzlich ist in Niedersachsen jede Kommune mit mehr als 20.000 Einwohner*innen verpflichtet, eine hauptberuflich beschäftigte Frau mit der Hälfte ihrer regelmäßigen Arbeitszeit als Gleichstellungsbeauftragte zu bestellen. Dass Wennigsen mit rund 14.000 Einwohner*innen eine angestellte Gleichstellungsbeauftragte hat, sei politischer Wille gewesen – und dass die Stelle neben Gleichstellung auch den Bereich Integration umfasst, ebenso. +Viermal die Woche bietet Kırlı gemeinsam mit zwei Sozialarbeitern eine Sprechstunde an. Zu ihnen kommen Frauen,die häusliche Gewalt erleben, Geflüchtete, die Probleme mit der Ausländerbehörde haben, oder Menschen, die sich zu Themen beraten lassen wollen, die etwas mit Gleichstellung oder Integration zu tun haben. So kam etwa einmal eine Schule auf Kırlı zu, weil eine muslimische Schülerin nicht beim Schwimmunterricht mitmachen durfte. Kırlı setzte sich dafür ein, dass das Mädchen einen Burkini bekam. Ein anderes Mal wurde ein Vater in ihre Beratung geschickt, weil er sein Kind geschlagen hatte. Als Kırlı ihm erklärte, dass man Kinder nicht schlagen darf, fragte er, ob er denn seine Frau schlagen dürfe. "Da sind dann von mir eben beide Perspektiven gefragt", so Kırlı. +"Man kann die Synergieeffekte der beiden Ämter nutzen und gucken, wo es Schnittmengen gibt", sagt Kırlı. Wenn sie zum Beispiel mit einem Architekten darüber spricht, wie man Gewalt in einer neuen Flüchtlingsunterkunft vorbeugen kann, schaut sie eben nicht nur, welche Anforderungen für welche kulturellen Gruppen erfüllt sein müssen – sie hat auch die Bedürfnisse der Frauen im Blick, die hier mit vielen fremden Männern zusammenleben werden. So soll in diesem Fall jede Wohneinheit mit eigener Küche und eigenem Bad ausgestattet sein, sodass Frauen sich in ihren Räumen sicherer fühlen können. +Manchmal ist das nicht ganz so einfach, dann stehen ihre beiden Rollen im Konflikt miteinander. Bewerben sich zum Beispiel bei gleicher Eignung ein Mann mit Migrationsgeschichte und eine Frau um eine Stelle, muss Kırlı, sofern Frauen unterrepräsentiert sind, die Frau vorschlagen – obwohl gerade mal 4,4 Prozent der Belegschaft in der Verwaltung eine Migrationsgeschichte haben. Besser fände es Kırlı, wenn nicht eine Person beide Ämter innehätte – sondern es zwei Zuständige geben würde, die eng zusammenarbeiten. So bliebe auch mehr Zeit für die einzelnen Anliegen. +"Vieles fällt einfach hintenüber", sagt Kırlı, die gern noch mehr verändern würde. Etwa den Blick auf andere Geschlechter –jenseits der Einteilung in Frau und Mann,so wie es das Niedersächsische Kommunalverfassungsgesetz, auf dessen Grundlage Kırlı arbeitet, derzeit noch vorsieht. Ebenso wünscht sie sich gesellschaftlich ein stärkeres Problembewusstsein dafür, dass Menschenaus mehreren Gründen diskriminiert werden können. "Nach dem Gesetz hat das Geschlecht weder einen kulturellen oder religiösen Hintergrund, noch ist es arm oder reich", sagt Kırlı. "Da ist die Gesellschaft aktuell einfach weiter als die Gesetze. Ich würde mir wünschen, dass sich gesetzlich etwas ändert." Ein aktives Stimmrecht in Vorstellungsgesprächen wäre zum Beispiel ein Anfang. Bisher kann Kırlı lediglich Empfehlungen aussprechen. +Wenn Kırlı nach ihrem Arbeitstag schließlich durch Wennigsen zurück zum Bahnhof läuft, sieht sie direkt, wo ihre Arbeit den Alltag der Menschen konkret betrifft: Die Gehwege müssen breit genug für Kinderwagen sein. Hecken dürfen nicht zu hoch sein, damit keine Angsträume entstehen. Und die Straßenbeleuchtung sollte natürlich genügend Licht spenden. Wenn sie an der Neubausiedlung Caleidis vorbeikommt, sieht sie, dass die Menschen hier nicht nur im Erich-Pollähne-Weg wohnen, sondern auch im Sophie-Sichart-Weg oder dem Laya-Semmler-Weg. Die paritätische Benennung der Straßennamen – ein Erfolg, den Kırlı für sich verbuchen kann: "Es kommt eben auch auf solch kleine öffentlichkeitswirksame Aufgaben an." + +Titelbild: Ricardo Wiesinger diff --git a/fluter/arbeitsbedingungen-plantagen-bananen-costa-rica.txt b/fluter/arbeitsbedingungen-plantagen-bananen-costa-rica.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1f4e978ec8266ba1c2d37fea7b09f9b343d7e26b --- /dev/null +++ b/fluter/arbeitsbedingungen-plantagen-bananen-costa-rica.txt @@ -0,0 +1,38 @@ +War das damals so üblich? +Das war damals in den 1970ern in Costa Rica noch nicht gesetzlich verboten und damit nicht ungewöhnlich. In den 1960ern bis 1980ern in Costa Rica glaubten viele, dass Schule nicht so wichtig sei. Sie nannten uns sogar faul, wenn wir in die Schule gingen, anstatt zu arbeiten. Zu Hause waren wir neun Geschwister. Nur ich und eine Schwester haben die sechste Klasse beendet. +Egal ob Obst aus Südamerika oder Kleidung aus Asien: In einer globalisierten Welt sind viele Menschen weltweit an der Herstellung unserer Produkte beteiligt – oft unter schlechten Arbeitsbedingungen. Das deutsche und das europäische Lieferkettengesetz sollen das ändern. +Das deutsche Gesetz wurde 2021 beschlossen und gilt seit 2024 für Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten. Es verpflichtet deutsche Unternehmen, gegen Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung in ihren Lieferketten vorzugehen – je nachdem, ob es sich um ihren eigenen Geschäftsbereich, unmittelbare Zulieferer oder mittelbare Zulieferer handelt, jedoch mit unterschiedlich scharfen Maßnahmen. Die Unternehmen müssen zum Beispiel Beschwerdeverfahren einrichten, gegen konkrete Rechtsverstöße vorgehen und ihre Bemühungen dokumentieren. Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) soll gewährleisten, dass das Gesetz durchgesetzt wird. Bei Verstößen gegen das Gesetz drohen den Unternehmen zum Beispiel Bußgelder oder Schadensersatzzahlungen. +Und dann gibt es noch die EU-Lieferkettenrichtlinie. Die ist nicht direkt ein Gesetz; die EU verabschiedet Richtlinien, und die Mitgliedstaaten müssen dann Gesetze daraus machen. Im April 2024 wurde diese Richtlinie vom Europaparlament verabschiedet, bis 2026 müssen die Mitgliedstaaten sie in nationales Recht umsetzen. Inhaltlich ist sie dem deutschen Lieferkettengesetz relativ ähnlich: Unternehmen werden verpflichtet, innerhalb ihrer gesamten Lieferkette für die Einhaltung von Menschenrechten zu sorgen – nicht nur bei ihren direkten Vertragspartnern, sondern auch bei deren Zulieferern. +Im Gegensatz zum deutschen Lieferkettengesetz müssen die Unternehmen laut der europäischen Richtlinie auch einen Klimaschutzplan erstellen und umsetzen. Außerdem sieht die Richtlinie eine zivilrechtliche Haftung vor: Betroffene, die Schäden erlitten haben, können Unternehmen vor einem nationalen Gericht innerhalb der EU auf Wiedergutmachung verklagen, dabei kommt auch das jeweilige nationale Recht zur Anwendung. Bereits heute können nach dem deutschen Lieferkettengesetz Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Ausland vor deutschen Gerichten – oder eben dem BAFA – auf Schadensersatz klagen, wenn sie sich durch ein deutsches Unternehmen in ihren Rechten verletzt sehen. Nach dem deutschen Lieferkettengesetz wird jedoch bisher nur das Recht des Landes angewandt, in dem der Schaden eingetreten ist. Dort sind Rechtsfragen der Haftung von Unternehmen in Lieferketten oft ungeklärt. +Mit 15 Jahren unterschrieben Sie dann selbst einen Arbeitsvertrag und begannen, Vollzeit auf einer Bananenplantage zu arbeiten. Was haben Sie da gemacht? +Unterschiedlichste Arbeiten: Ich erntete die Bananen oder verteilte Agrochemikalien wie Düngemittel oder Pflanzenschutzmittel. So kam ich auch mit dem Pestizid Nemagon in Berührung, das in Mittelamerika viele Tausende von Menschen sterilisiert hat – auch mich. Das war eine von vielen Ungerechtigkeiten gegenüber den Arbeitern, die ich bemerkte. Deswegen begann ich früh, mich für dieArbeitnehmerrechteauf den Plantagen einzusetzen. +In Costa Rica muss man heute mindestens 15 sein, um arbeiten zu dürfen. Wird das auf den Plantagen eingehalten? +Ja. Es gibt seltene Fälle, in denen Arbeiter einen Minderjährigen als Helfer mitbringen. Aber das ist verboten. Und dort, wo wir als Gewerkschaft tätig sind, wird das auch respektiert. +Bananen und Ananas sind einige der wichtigsten Agrarexportprodukte Costa Ricas. Auch die Menschen in Deutschland profitieren davon. Etwa 80 Prozent der Ananas im deutschen Handel stammten 2023 aus Costa Rica. Wie sind die Arbeitsbedingungen der Arbeiter auf solchen Plantagen? +Die Arbeiter verbringen oft lange Arbeitstage in der heißen Sonne auf dem Feld, manchmal mehr als zwölf Stunden. Frauen berichten von Diskriminierung und Unterdrückung. Ein sehr großes Problem ist der nicht ausreichende Gesundheitsschutz. Immer noch kommen Arbeiter regelmäßig mit Chemikalien in Berührung, wenn sie zum Beispiel aus der Luft gesprüht werden oder auch bei Bodenanwendungen. +Warum schützen die Unternehmen ihre Arbeiter nicht besser? +Ich glaube nicht, dass die Unternehmen uns Plantagenarbeiter als echte Menschen ansehen. Wir sind mehr eine Art Werkzeug für sie. Deswegen fällt es ihnen leicht, uns so schlecht zu behandeln. Ein Beispiel: Der Lufteinsatz von Chemikalien ist stark vom Wetter abhängig: Wenn an einem bestimmten Tag geplant wird, die Chemikalien auszubringen, und es regnet, dann muss das verschoben werden. Also werden die Chemikalien am nächsten Tag gesprüht – aber darüber werden die Arbeiter oft nicht informiert. Das versuchen die Unternehmen dann zu vertuschen. Zum Beispiel, indem sie das Dokument, auf dem der Chemikalieneinsatz angekündigt wurde, nachträglich manipulieren und das Datum korrigieren. So können sie sagen: Alle wussten Bescheid. + + +Die Arbeiter setzen sich also einem hohen Gesundheitsrisiko aus. Wie wird diese Arbeit denn bezahlt? +Die Löhne sind schlecht im Verhältnis zu den Lebenshaltungskosten in Costa Rica. Ein einfacher Arbeiter auf einer Plantage bekommt den gesetzlichen Mindestlohn von rund 620 Euro pro Monat. Aber die Preise für Lebensmittel sind in Costa Rica sehr hoch. Wer zum Beispiel in einem Restaurant ein Mittagessen bestellt, zahlt ähnlich viel wie in Deutschland. Ein Lohn, der in den ländlichen Regionen Costa Ricas einen angemessenen Lebensstandard sichert, müsste laut der Global Living Wage Coalition eigentlich bei 839 Euro bei einem Achtstundentag liegen. Der Mindestlohn reicht also kaum zum Leben. Und dann gibt es auch Arbeiter, die noch nicht mal den Mindestlohn erhalten. Das sind dann zum Beispiel Migranten aus Nicaragua ohne Papiere oder Arbeiter, die über Vermittler beschäftigt sind. +Was können Gewerkschaften in Costa Rica gegen diese Arbeitsbedingungen tun? +Es wird ihnen nicht leicht gemacht: In den 1980ern waren die Gewerkschaften in Costa Rica sehr stark. Das wurde nicht gerne gesehen. Um die Gewerkschaften zu schwächen, wurde von den Arbeitgebern und der katholischen Kirche der "Solidarismo" gestärkt. Das ist eine Pseudo-Arbeitnehmervertretung, die von den Betrieben selbst finanziert wird.(Der "Solidarismo" entwickelte sich Ende der 1940er-Jahre in Costa Rica und sieht unter anderem vor, dass Arbeitnehmer:innen innerhalb eines Unternehmens in Komitees gewählt werden und dort ohne Beteiligung von Gewerkschaften direkt mit ihrem Management über Arbeitsbedingungen verhandeln, Anm. d. Red.)Ich wurde in den 1980ern in eine solche unternehmensfinanzierte Arbeitnehmervertretung auf einer Plantage gewählt. Doch ich merkte bald, dass ich eine ganz andere Vorstellung von dem Schutz von Arbeitnehmerrechten hatte als das Unternehmen. Deswegen trat ich 1996 der Gewerkschaft SITRAP bei. +Die Plantage, auf der Sie arbeiteten, gehörte einem großen Obstproduzenten, der viele deutsche Supermärkte wie Rewe, Aldi, Kaufland oder Edeka belieferte. Wie wurde damals auf Ihren Eintritt in eine Gewerkschaft reagiert? +Für mich begann eine sehr schwierige Zeit. Mit allen Mitteln wurde probiert, mich von meiner Gewerkschaftsarbeit abzuhalten. Das Unternehmen versuchte, mich zu bestechen, indem es mir einen Verwaltungsposten anbot. Mir wurde auch ein Grundstück angeboten und ein Fahrzeug. Schließlich schlugen sie vor, dass ich sechs Monate bezahlten Urlaub nehmen könne, um mich von einem Psychologen behandeln zu lassen. Sie sagten, ich sei verrückt geworden. Nur ein Verrückter würde ihre Vorschläge nicht akzeptieren und sich dem "Solidarismo" widersetzen. Anfang 2000 wurde mir dann gekündigt. Der Chef, der mir meinen Entlassungsbrief gab, sagte, dass ich ein sehr guter Mitarbeiter gewesen sei. Aber sie könnten mich nicht behalten, weil ich Gewerkschafter war. + +Haben Gewerkschafter in Costa Rica heute immer noch mit Repressalien zu kämpfen? +Ja, in Costa Rica sind unabhängige Gewerkschaften nicht erwünscht. Arbeiter, die sich gewerkschaftlich organisieren, werden oft einfach entlassen. Oder sie werden diskriminiert, indem ihre Familienangehörigen zum Beispiel keine Jobs mehr bekommen oder ihr Gehalt gekürzt wird. +Auch Ihnen wird das Leben weiterhin nicht leicht gemacht, obwohl Sie mittlerweile zum Generalsekretär einer Gewerkschaft aufgestiegen sind. +Mir wurden 2.000 US-Dollar im Monat angeboten, damit ich den Kampf aufgebe. Aber das mache ich nicht, das ist eine Frage der Überzeugung. Es war gefährlich und ist auch noch heute gefährlich für mich. Jahrelang bekam ich anonyme Drohbriefe. Einmal wurde ich angegriffen und geschlagen. Vergangenes Jahr hatte ich einen Unfall. Ein Auto fuhr mich sehr heftig von hinten an, während ich auf dem Motorrad saß. Es war ein schwarzer Tuscon, einer wie ihn die Arbeitgebervertreter oft fahren. Leider kann ich keine konkreten Anschuldigungen erheben, da ich keine Beweise habe. Aber ich bin mir sicher, dass das vorsätzlich war. Ich rede nur in Costa Rica nicht viel darüber, um den Arbeitern keine Angst zu machen. +Im Jahr 2023 ist das deutscheLieferkettengesetzin Kraft getreten, seit kurzem gibt es auch eine europäische Lieferkettenrichtlinie. Kann das die Arbeitsbedingungen verbessern? +Jedes Gesetz, das die Arbeiter unterstützt, ist gut und wichtig. Aber ich habe meine Zweifel daran, ob diese Gesetze auch umgesetzt werden. Die Supermarktketten in Europa wollen bei uns Bananen von sehr guter Qualität zu einem niedrigen Preis kaufen. Meiner Meinung nach sind sie mitschuldig an der Verletzung der Menschenrechte in unserem Land. Um das zu ändern, müssten die Ketten höhere Preise zahlen und gleichzeitig darauf achten, dass die Bedingungen für die Arbeitnehmer besser sind. +Sehen Sie schon irgendwelche Veränderungen, seitdem das deutsche Lieferkettengesetz in Kraft getreten ist? +Noch nicht. Ich denke, es müssen noch einige Beschwerden eingereicht und weiterverfolgt werden, damit die Unternehmen und der Markt sich unter Druck gesetzt fühlen. Und auch die Gewerkschaften in Costa Rica sollten sich genau über den Inhalt dieses Gesetzes informieren und lernen, wie sie einen Verstoß melden können. +Wurden denn schon Beschwerden eingereicht? +Bei meinem Besuch vergangenes Jahr in Deutschland nahmen wir vier Beschwerden mit zum Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA). Zwei aus Ecuador gegen Edeka und Rewe. Da wissen wir noch nicht, wie sich die Beschwerden entwickelt haben. Zwei Beschwerden kamen aus Costa Rica und richteten sich gegen Lidl und Aldi. Hier waren die Supermarktketten bereit, mit meiner Gewerkschaft SITRAP zu sprechen und eine gemeinsame Annäherung zu suchen. +Es gibt mittlerweile eine Reihe von Siegeln, die Konsumenten bei ihrer Kaufentscheidung helfen sollen. Wie glaubwürdig sind die Ihrer Meinung nach? +Es gibt einen Interessenkonflikt bei diesen Zertifizierern, da sie von den Unternehmen, die zertifiziert werden, bezahlt werden. Die Verbraucher bezahlen mehr Geld, damit den Arbeitern ein höheres Gehalt gezahlt wird. Die Zertifikate sollen eigentlich sicherstellen, dass Mitarbeitende mitreden können. Trotzdem glaube ich, dass manche Unternehmen das zusätzliche Geld nutzen, um ungefragt ihre Infrastruktur zu verbessern. Ich glaube, dass die Supermarktketten und die Verbraucher so bewusst getäuscht werden. +Das heißt, wenn ich jetzt eine Banane aus Costa Rica mit dem Fairtrade-Siegel kaufe, dann sind die Arbeitsbedingungen für die Arbeiter auf dieser Plantage nicht notwendigerweise besser als auf anderen Plantagen? +Nein, zumindest nicht in Costa Rica. Ich kenne zertifizierte "Fairtrade"-Plantagen in Costa Rica, bei denen die Menschenrechte verletzt werden in Bezug auf Bezahlung, Gesundheit oder das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Kein Siegel kann garantieren, dass die Rechte der Arbeiter respektiert werden. Die einzige Lösung sind meiner Meinung nach Tarifverträge, die von unabhängigen Gewerkschaften mit den Unternehmen ausgehandelt werden. +Didier Leiton ist in Costa Rica geboren. Mit 15 Jahren begann er, auf einer Bananenplantage zu arbeiten, und setzte sich schon früh für die Rechte der Arbeiter ein. Seit über 20 Jahren arbeitet er für die costa-ricanische Gewerkschaft SITRAP, seit 2011 als ihr Generalsekretär. diff --git a/fluter/arbeitsbedingungen-saisonarbeiter-corona.txt b/fluter/arbeitsbedingungen-saisonarbeiter-corona.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a1989cc4c49bc731364123a3b15f86ddce44ee24 --- /dev/null +++ b/fluter/arbeitsbedingungen-saisonarbeiter-corona.txt @@ -0,0 +1,31 @@ +Die Arbeitsbedingungen für osteuropäische Saisonarbeiter:innen und Erntehelfer:innen stehen nicht erstseit der Corona-Pandemiein der Kritik. Lohnabzüge, schlechte Unterbringungsbedingungen, mangelnde Versicherungen sind nur einige der Vorwürfe, die immer wieder erhoben werden. Im April vergangenen Jahres gab es großen Wirbel um einen brandenburgischen Betrieb, in dem die Pässe der Saisonarbeitskräfte für die Zeit des Einsatzes einbehalten wurden. +Marco Richard (20) und seine Familie kommen aus einer Kleinstadt in Rumänien. Er ist das erste Mal zur Ernte in Deutschland +2020 wurden in Deutschland über 1 Mio. Tonnen Äpfel geerntet – ohne Saisonarbeitskräfte undenkbar (Quelle: Statistisches Bundesamt) +Michael Baumgarten vom Verein Peco-Institut für nachhaltige Entwicklung kritisiert diese Zustände. Das Institut hat gemeinsam mit Gewerkschaften, Vereinen und Einzelpersonen als "Initiative Faire Landarbeit" einen Bericht zur Saisonarbeit in der Landwirtschaft für das Jahr 2020 herausgebracht. Darin heißt es, zu den sowieso schon bekannten oftmals schlechten Bedingungen für Erntehelfer:innen seien 2020 noch die Nichteinhaltung von Hygieneauflagen, extrem lange Arbeitszeiten und ein enorm hoher Arbeitsdruck wegen der geringen Zahl an Arbeitenden hinzugekommen. +Baumgarten sagt, dass viele Menschen aus Sorge vor einer Ansteckung mit Covid-19 nicht in Deutschland arbeiten wollten. In Rumänien beispielsweise, dem Herkunftsland von Marco Richard und seiner Familie, habe sich über die sozialen Medien schnell verbreitet, dass die Hygienemaßnahmen oftmals mangelhaft und die Flugreise riskant sei. Nur etwas mehr als die Hälfte der erwarteten Arbeitskräfte sind 2020 nach Deutschland gereist, häufig Arbeitende mit einfacher formaler Bildung oder aus armen Verhältnissen, meist aus ländlichen Gebieten. +In Dürrweitzschen sind die Hände von Marco Richard von den Ästen der Apfelbäume zerkratzt. Er habe viele Jobs, zum Beispiel als Fahrer, sagt Marco. "Aber das Geld hier ist besser." Er sei froh über die Möglichkeit, in Deutschland bei der Ernte helfen zu können. Die Arbeit sei nicht schwer, und in seiner Heimatstadt Sfântu Gheorghe gebe es nur wenige Jobs; tatsächlich wurden allein in Rumänien seit Beginn der Corona-Pandemie bis Ende Juni rund 430.000 Arbeitsverträge gekündigt. +Nicht besonders hyggelig: Über 250 Euro müssen Saisonkräfte monatlich zahlen, um in einem dieser Container schlafen zu dürfen. Manche Betriebe nutzen die Unterbringung aus, um am Ende weniger als den Mindestlohn zu zahlen +Etwa fünf Minuten braucht Marco, um einen der kleinen Plastikkörbe vollzumachen, in denen die Äpfel gesammelt werden, bevor sie in großen Obstkisten landen. Acht Stunden am Tag, manchmal auch mehr, eine halbe Stunde Pause am Morgen, 15 Minuten am Nachmittag. Bezahlt wird er nach Mindestlohn: damals 9,35 Euro pro Stunde brutto, mittlerweile liegt er bei 9,50 Euro. +Sein Vorgesetzter sagt, die Überstunden würden an anderen Tagen wieder ausgeglichen. Eine häufige Ausrede von Betrieben, sagt hingegen Baumgarten. "Die meisten wissen, wie sie es handhaben, damit die Finanzkontrolle Schwarzarbeit nicht findet", sagt er. +Auch wenn Erntehelfer:innen per Gesetz nach dem deutschen Mindestlohn bezahlt werden müssen, lässt sich oft nicht feststellen, wie viel sie im Endeffekt tatsächlich verdienen – beispielsweise weil sie hohe Kosten für Unterkunft oder Anreise tragen müssen, die direkt von ihrem Lohn abgezogen werden. Bestimmte Abzüge, beispielsweise für ein Zimmer oder ein Bett, sind zwar erlaubt, jedoch nur bis zu einer Grenze von etwa 180 Euro pro Monat. +Einige Betriebe würden diese Grenze jedoch umgehen, indem sie die Wohnungen nicht selbst an die Arbeiter:innen vermieten, sondern dafür Tochtergesellschaften gründen. Ein Schlupfloch, das so im schlimmsten Fall die Mindestlohnregelung aushebelt. Neun Euro pro Nacht müssen zum Beispiel die Beschäftigten bei Marcos Betrieb zahlen – egal ob sie in einer Wohnung oder einem Container untergebracht sind. Die Container sind trostlose Orte mit wenig Platz und ohne irgendeine Art von Gemütlichkeit. Wenn Marco acht Wochen lang auf dem Feld erntet, dann zahlt er für diese Unterkunft insgesamt knapp über 500 Euro, ohne Verpflegung. + +Noch in der Dämmerung laufen Saisonarbeiter aufs Feld, in dem sie acht Stunden ernten werden. Morgens gibt es eine halbe Stunde Pause, nachmittags noch mal 15 Minuten + +Die Frage, wie viel Lohn genau sie am Ende bekommen, stellt sich für viele Saisonarbeiter:innen allerdings oft gar nicht. Denn mehr, als sie in derselben Zeit in ihrem Heimatland verdienen können, ist es eigentlich immer. Fragt man die Saisonarbeiter:innen auf dem sächsischen Apfelfeld, wie zufrieden sie mit ihrer Arbeit hier sind, sagen alle, es sei gute Arbeit. Niemand spricht von Problemen. Auch Baumgarten sagt, man treffe immer wieder auf gute Betriebe, die die Regelungen vorbildlich umsetzen. Aber eben auch auf die, in denen die Erntehelfer:innen von Ausbeutung, mangelnden Hygienekonzepten,Lohndumpingund Gewalt erzählen. Nur öffentlich darüber sprechen, das will kaum jemand. +Meist haben die Saisonbeschäftigten zudem weder eine Kranken- noch Sozialversicherung für die Zeit ihres Einsatzes in Deutschland. Fragt man Marco Richard, wie er und seine Familie versichert seien, wenn sie hier in Deutschland auf dem Feld arbeiten, dann zuckt er nur mit den Achseln. Sie haben keine Versicherung. +Eigentlich schreibt der Gesetzgeber vor, dass Landwirte ausländische Arbeitnehmer:innen ebenso anmelden, sozialversichern und Beiträge für sie zahlen müssen wie für deutsche Arbeitskräfte. So ist es in einer EU-Verordnung von 2004 festgehalten. Wenn die Saisonarbeitskräfte als sogenannte kurzfristig Beschäftigte angestellt sind, gilt die Regelung jedoch nicht. Solange sie nicht mehr als drei Monate im Jahr beschäftigt sind, müssen die Landwirte demnach keine Sozialversicherungsbeiträge für die Saisonarbeitskräfte zahlen. + +600 Euro – so viel bekommen Saisonarbeitskräfte für einen Monat harter Arbeit +… viele sind damit zufrieden, denn mehr als in der Heimat ist es allemal +Saisonarbeit ist eine wichtige Grundlage der deutschen Nahrungsmittelproduktion. Laut Statistischem Bundesamt waren bei der letzten Erhebung im Jahr 2016 286.300 Saisonarbeitskräfte in landwirtschaftlichen Betrieben beschäftigt, das entspricht 30,5 Prozent aller dort Beschäftigten. Binnen kürzester Zeit wurden zu Beginn der Pandemie Sonderregelungen, Vereinbarungen und Veränderungen auf den Weg gebracht, um die Arbeitskräfte zu garantieren. Schon im März galt die Landwirtschaft als systemrelevante Branche – mit bedeutsamen Folgen für die Saisonarbeit: Am 2. April, wenige Tage nachdem die Bundesregierung als Maßnahme gegen die Ausbreitung des Virus entschieden hatte, die Grenzen zu schließen, wurde im Rahmen einer Sonderregelung beschlossen, dass Saisonarbeitskräfte aus Osteuropa für die Ernte einreisen dürfen. +Charterflüge brachten Tausende Menschen auf deutsche Felder, um etwa die Spargelernte zu garantieren. 40.000 pro Monat – so die Vereinbarung von Bundeslandwirtschaftsministerium undBundesinnenministerium. Bundesagrarministerin Julia Klöckner betonte, dass dies notwendig sei, weil die Ernte nicht warte. "Um die Verbraucher auch während der Corona-Pandemie mit ausreichend und hochwertigen heimischen Lebensmitteln zu versorgen, sind die Landwirte auf die Mitarbeit ausländischer Saisonarbeitskräfte angewiesen – das sind Fachkräfte auf ihrem Gebiet." NGOs kritisieren, dass bei der Verhandlung zwar das Landwirtschaftsministerium und die Agrarlobby involviert waren, nicht jedoch Gewerkschaften und Arbeitnehmerverbände. +Im Zuge der Corona-Pandemie wurden die Regelungen für kurzfristig Beschäftigte noch einmal ausgeweitet. Seit einem Beschluss vom März 2020 dürfen Erntehelfer:innen fünf Monate im Jahr sozialversicherungsfrei in Deutschland arbeiten. Das heißt, die Arbeitnehmer müssten sich dann theoretisch selbst eine Versicherung organisieren und bezahlen. Doch es erfolgt keine Kontrolle, ob es diesen Versicherungsschutz tatsächlich gibt – und keine Zahlen dazu. So zählt eine Statistik der Bundesagentur für Arbeit für 2019 etwa 103.539 Beschäftigungsverhältnisse von ausländischen Erntehelfern in Deutschland – davon 68 Prozent als "geringfügig beschäftigt" angestellt und damit nicht versicherungspflichtig. Die Statistik erfasst jedoch nicht, wie groß der Anteil derjenigen ist, die sich tatsächlich privat versichern. NGOs kritisieren diese fehlende Verantwortungsübernahme des Staates. So manche Saisonarbeitskräfte arbeiten auf deutschen Feldern also fast ein halbes Jahr ohne Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung. +Dabei sind Versicherungen für Arbeitnehmer:innen insbesondere in Pandemiezeiten enorm wichtig. Während die Ausgangsbeschränkung in Deutschland im ersten Lockdown nicht einmal den Spaziergang von Menschen aus zwei Haushalten zuließ, waren die Saisonarbeiter:innen im Masseneinsatz auf den Feldern einer erhöhten Infektionsgefahr ausgesetzt. +Auch bei Marcos Betrieb hapert es anHygiene- und Infektionsschutzmaßnahmen.Zwar gibt es sowohl in den Wohnungen und Containern als auch auf dem Feld Hygienestationen mit Wasser, Seife und Desinfektionsmitteln sowie Hinweise zur Vorsorge, dennoch teilen sich häufig zwei Arbeiter:innen eine Unterkunft, die ansonsten keinen privaten Kontakt haben. Und auch sonst kann nicht überall auf Abstand und die erforderlichen Maßnahmen geachtet werden. Ein Teil der Arbeitenden wird morgens früh mit einem alten Bus zum Feld gefahren. Dicht gedrängt kleben ihre Körper in dem Fahrzeug aneinander, einige tragen Maske, andere nicht. +Auch wenn es ungemütlich wird, ernten die Saisonkräfte auf dem Feld weiter – manche ohne Kranken- oder Pflegeversicherung, die gerade wegen der Pandemie wichtig wären +"Man kann ja niemandem vorschreiben, Maske zu tragen", sagt eine Betriebssprecherin im Oktober 2020. Baumgarten sagt, das höre er oft. Er habe nicht den Eindruck, dass überhaupt versucht werde, die Regelungen durchzusetzen. "Die Arbeitgeber, zu denen die Beschäftigten in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen, schieben die Verantwortung von sich, hin zu den Beschäftigten selbst." +Der gemeinnützige Verein Peco-Institut unterstützt Maßnahmen, um die Saisonarbeitskräfte besser zu schützen. Zwölf Forderungen hat die Initiative "Faire Landarbeit" Ende September 2020 verabschiedet: Die Unterbringungen sollen besser werden, die coronabedingten Ausnahmen im Arbeitszeitrecht wieder aufgehoben und fairere Löhne bezahlt werden. Die Bundesregierung hat zum Anfang des Jahres ein Gesetz für einen verbessertenArbeits- und Gesundheitsschutz für die Fleischindustrieerlassen. Für die Landwirtschaft gibt es hingegen bislang keinen vergleichbaren Vorstoß. +Marco Richard und seine Familie werden auch im kommenden Jahr wieder zur Ernte kommen, da ist er sich sicher. Nur wie viel er nach den acht Wochen Ernte auf dem Apfelfeld eigentlich verdient, das, sagt er, zuckt mit den Schultern und lächelt, wisse er nicht. + +Der Text ist im Rahmen einer geförderten Recherchereise entstanden. diff --git a/fluter/arbeitsmigranten-rumaenien-europa.txt b/fluter/arbeitsmigranten-rumaenien-europa.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fdb97dd2e0143e695705b59b5359011c6b75e0a7 --- /dev/null +++ b/fluter/arbeitsmigranten-rumaenien-europa.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Am Ende des Grundstücks haben die beiden Bäume gepflanzt, Äpfel und Kirschen. Kein Zufall, ohne Äpfel und Kirschen gäbe es dieses Haus gar nicht. Giorgiana und ihr Freund fahren regelmäßig zur Ernte nach Italien, den Lohn stecken sie in ihr Haus. Erst der Wasseranschluss, dann das Fundament, auf der Wiese türmen sich schon die Steine für die Außenmauern. +"2020 war ich das erste Mal ernten", erzählt Giorgiana. Sechs Wochen wollten sie bleiben, Norditalien, Kirschernte. Es wurden vier Monate: In der Pandemie war das Reisen schwierig und nach den Kirschen kam der Blumenkohl, schließlich die Äpfel, und wenn es mal nichts zu tun gab, sammelten sie große Steine vom Feld. "Manchmal sechs Stunden, manchmal zwölf Stunden am Tag", sagt Giorgiana. "Es war harte Arbeit." Für die habe sie 6,50 Euro pro Stunde bekommen. +"Ein schlechter Deal", sagt Giorgiana heute. Freund:innen bekämen in Italien acht Euro, manchmal sogar zehn Euro pro Stunde. Damals war ihnen das egal. Nach der Arbeit rechneten sie gemeinsam die Monate durch, mehrere Tausend Euro, vielleicht würde es nach Wasseranschlüssen, Fundament und Wänden sogar noch für Fenster reichen. Also fuhren sie wieder. +Überall in Romuli entstehen neue Häuser, entlang der Hauptstraße verdrängen mehrstöckige Paläste die Holzschuppen, feste Ziegel ersetzen Wellblech. Das Dorf, so wirkt es zumindest von außen, ist im Aufschwung. Viele hier arbeiten in Westeuropa. Wie viele, weiß nicht mal der Bürgermeister. Es gibt keine Statistik. Giorgianas Bruder liefert in Süddeutschland Pakete aus. Die Mutter ihres Freundes pflegt in Italien einen alten Mann. Der Nachbar hat ein Bauunternehmen in Italien gegründet. Ein Freund pflückt Erdbeeren in Schottland. +Jeder in Romuli kennt wen, der schon im EU-Ausland gearbeitet hat. Viele sind geblieben. Gut 40 Prozent aller Rumän:innen leben dauerhaft im Ausland,schätztder zuständige Staatssekretär.Laut Europäischem Statistikamtschicken sie jährlich etwa sieben Milliarden Euro nach Hause. +Die Rumän:innen, die Giorgiana kennt, bauen, pflegen, schlachten, verpacken oder liefern. Sie sortieren, reinigen, kochen, servieren und ernten. Sie erledigen Aufgaben, die für Resteuropa essenziell sind und für die vielerorts die Fachkräfte fehlen. Und doch scheinen für sie nicht dieselben Regeln wie für Deutsche, Österreicher:innen oder Französ:innen zu gelten: Vieleberichten von Ausschluss und Ausbeutung. +Elena Cira kennt das. Sie ist auch in Romuli aufgewachsen, keine 300 Meter von Giorgiana entfernt. Heute ist Elena 42 und kann von den ersten Bussen erzählen, die Menschen Anfang der 2000er aus Romuli zur Arbeit nach Westeuropa brachten. 2005 stieg sie zum ersten Mal selbst ein. +Der Bus fuhr sie nach Balingen in Baden-Württemberg. "Es war schwer, ich war bis dahin keinen Tag ohne meine Familie", sagt Elena. In Balingen teilte sie sich mit vier Frauen eine kleine Wohnung, abends stiegen sie ins Auto, im Kofferraum Staubsauger, Mopp und Eimer. Elena putzte, erst das Fitnessstudio, dann mehrere Restaurants, dann ging die Sonne auf, und Elena legte sich schlafen. Acht bis zehn Stunden die Nacht, sechs Nächte die Woche, für 450 Euro im Monat, ohne Vertrag, bar auf die Hand. "Eigentlich lächerlich", sagt Elena. "Aber damals war das viel mehr, als ich in Rumänien verdienen konnte." +In den Jahren danach pendelte Elena: Rumänien, Österreich, Deutschland, Schweiz. Sie pflegte Menschen zu Hause, einen älteren Mann am Tegernsee, eine Dame in Rheinland-Pfalz, einen querschnittsgelähmten Fotografen in Vorarlberg. Das Modell heißt 24-Stunden-Betreuung: Die Betreuer:innen, meist Frauen aus Osteuropa, wohnen bei den Bedürftigen in Deutschland oder anderen westeuropäischen Ländern zu Hause, sie unterstützen im Haushalt, manchmal pflegen sie, obwohl das eigentlich nicht zu ihren Aufgaben gehört. Der Markt ist in Deutschland kaum reguliert,viele der Frauen verdienen weniger als 1.500 Euro bruttofür einen Job ohne echten Feierabend. +Weiterlesen +"Ich sag mal so: Ich wische hier euren Opas den Po ab." Zuletzt bekam Pflegepersonal viel Beifall,aber Danka* wünscht sich mehr als nette Gesten +"Ich achte nicht auf Arbeitszeiten", sagt Elena. "Was gemacht werden muss, wird gemacht, ob Feiertag ist oder nicht." Und doch, sagt sie, sei sie in dieser Zeit oft an ihre Grenzen gekommen. Lange Arbeitszeiten, fehlende Sprachkenntnisse, gerade anfangs habe ihr medizinisches Wissen gefehlt. +Elena hat sich mit den Jahren weitergebildet, in Rumänien ließ sie sich zur Krankenschwester ausbilden. Sie hat Deutsch gelernt und die Gesetze in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie sagt, gerade Deutschland brauche klare Regeln: zumutbare Arbeitszeiten, eine verpflichtende Sozialversicherung, eine Regulierung der Vermittlungsagenturen, die oft zu viel Geld selbst einstecken würden. Aber nach wie vorarbeiten viele Betreuerinnen "schwarz". "Momentan profitieren die Menschen in Deutschland mehr von dieser Migration als die Rumänen", sagt Elena. "Leider." +Ein paar Schritte von ihrem Familienhaus entfernt kommt Ioan Cilian den Berg heruntergerollt, seine Familie wohnt am Dorfrand. Er steigt aus seinem Pick-up. Ioan ist 24 und studierter Bauingenieur, verdient aber seit Jahren sein Geld mit Jobs in Westeuropa. Erntehelfer in Deutschland, Fahrer in England, irgendwo zwischen Sheffield und Leeds, dann Lagerarbeiter. Aber weil auf der Insel alles so teuer war, sparte Ioan praktisch nichts. "Ein Reinfall, ich habe anderthalb Jahre meines Lebens verloren", sagt er. +Heute arbeitet Ioan auf Kreuzfahrtschiffen. Für einen rumänischen Subunternehmer repariert er Balkone und Terrassen, wenn die Schiffe im Hafen liegen. Ioan zeigt Videos von der "Aida". Gerade hat er dort ein Restaurant saniert, jetzt sieht es aus wie auf einer Almhütte. Ioan schlief umsonst auf dem Schiff, die Bezahlung war pünktlich und lag vor allem über Mindestlohn. Endlich bleibt etwas übrig. +In ein paar Monaten will Ioan mit dem Ersparten in die nächstgrößere Stadt ziehen: Cluj-Napoca. Er will ein ruhigeres Leben, eine kleine Familie und als Bauingenieur arbeiten, endlich. "Es wird ein paar Jahre dauern, bis ich ähnlich gut verdiene", sagt er. "Aber es wird gehen." +Auf deutschen Feldern, italienischen Schiffen, im Lager in England – Ioan hat überall Menschen aus Osteuropa getroffen. "Habt ihr euch mal überlegt, was passiert, wenn die Osteuropäer nicht mehr kommen?", fragt er. "Eure Länder wären ruiniert." +Giorgiana Hornaru ist dieses Jahr wieder Äpfel pflücken gefahren. Der Bauer hat sie pünktlich bezahlt, 7,30 Euro die Stunde. Und in Zukunft? "Manchmal glaube ich, dass ich ein bisschen dumm bin", sagt Giorgiana. Im Ausland könne man schnell Geld verdienen. Aber mit mehr Anstrengung ginge das in Rumänien auch – und es wäre von Dauer. Ihr Freund zum Beispiel verdiene als Bauarbeiter in der Großstadt ähnlich viel wie auf den Feldern in Italien. +Die Krankenschwester Elena Cira ist nach vielen Jahren im Ausland in ihr Heimatdorf zurückgekehrt. Sie versorgt Ältere und Arme in der Region, finanziert werde das Projekt mit Geldern der EU, sagt sie. Der Job ist bald zu Ende, dann will Elena wieder weg. Deutschland ist eine Option, aber nur, wenn es in einem Land mit faireren Löhnen und geregelten Arbeitszeiten nichts wird. Vielleicht, sagt Elena, ziehe sie bald nach Norwegen. diff --git a/fluter/arbeitsplaetze-gehen-verloren.txt b/fluter/arbeitsplaetze-gehen-verloren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8e29d49582c789b25051ea33d27e88dea10bb146 --- /dev/null +++ b/fluter/arbeitsplaetze-gehen-verloren.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +In der globalisierten Welt haben die großen Arbeitgeber einen entscheidenden Vorteil gegenüber den Arbeitnehmern: Internationale Unternehmen sind mobil und können ihre Produktion von einem Land in ein anderes verlagern. Arbeiter sind in der Regel nicht so flexibel. Das führt dann auch dazu, dass Arbeitgeber immer wieder mit der Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland drohen können. So geschehen in Köln: In Rumänien könne man viel billiger produzieren, die Arbeiter würden dort nicht so viel Geld verlangen, sagte der Autobauer Ford Medienberichten zufolge. Das wollten die 4.000 Beschäftigten der Fahrzeugmontage nicht. So nahmen sie hin, dass das Unternehmen Einmalzahlungen sowie Sonderurlaub kürzte und die Produktion auf ein flexibles Zweischicht-Modell umstellte. Und so produziert Ford jetzt weiter in Westdeutschland – kostengünstiger als vorher. +Als die Drogenbeauftragte der Bundesregierung 2008 angesichts von Berichten über das Komasaufen höhere Alkoholsteuern und Werbeverbote ankündigte, ging ein Raunen durch die Berliner Lobbylandschaft. Verschiedene Verbände machten gegen das Programm mobil, darunter der Verband Privater Rundfunk und Telemedien e. V., der im Falle von ausbleibender Alkoholwerbung eine Verschlechterung der Programmqualität auf RTL II und Co heraufbeschwor. Besonders hervor tat sich jedoch die Industrie- und Handelskammer, die vor einer Gefahr für die innere Sicherheit Deutschlands warnte. Das leitete sie auch ganz logisch her: Höhere Steuern auf Alkohol gleich erhöhter Schwarzhandel, Alkoholschmuggel aus dem Ausland, Diebstahl von Alkoholika sowie Beschaffungskriminalität. Die Drohszenarien zeigten dann auch Wirkung: Höhere Steuern und neue Werbeverbote waren vom Tisch. +Deutlich schneller als die Schweine-grippe breitete sich 2009 die Angst vor der Schweinegrippe aus. Regierungen auf der ganzen Welt folgten dem Rat der Weltgesundheitsorganisation WHO und rüsteten sich für den Notfall einer weltweiten Pandemie aus. Sie kauften in Massen die Medikamente Tamiflu und Relenza der Pharmagiganten Roche und GlaxoSmithKline. Die Un­ternehmen profitierten von der aktionistischen Haltung der Politik, die schnelle Ergebnisse schaffen wollte. Eine vor Kurzem veröffentlichte Analyse ergab allerdings, dass die Medikamente vermutlich kaum gegen die Grippe helfen und manchmal sogar Patienten schaden. Da hatten die deutschen Behörden allerdings schon lange für geschätzte 500 Millionen Euro Behandlungs­dosen eingekauft und eingelagert. Bald nehmen die Pillenpackungen aber zumindest keinen Lagerplatz mehr ein. Bei den meisten läuft 2016 die Haltbarkeit ab, sie werden dann vernichtet. +Arne Semsrott ist freier Journalist und lebt in Berlin. Er engagiert sich bei Transparency International Deutschland und kennt sich daher gut mit dem Thema Lobbyismus aus. diff --git a/fluter/archiv-fuer-ns-vergangenheit-opa-nazi.txt b/fluter/archiv-fuer-ns-vergangenheit-opa-nazi.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3d02afc97a01ba5048b3f62840e0aabaf296c561 --- /dev/null +++ b/fluter/archiv-fuer-ns-vergangenheit-opa-nazi.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Es sind vor allem Familienangehörige, Kinder, Enkel, Urenkel, die auf der Suche nach der Wahrheit sind, aber auch Hobbyforscher. Das gehe bei der 14-Jährigen los, die eine Arbeit für die Schule schreibt, so Menzel, und ende beim 90-Jährigen, der die eigene Personalakte anfordert. In allen neun Dienststellen des Bundesarchivs gehen etwa 50.000 Anfragen jährlich ein, bei denen es um die NS-Vergangenheit von Familienmitgliedern geht, schätzt die Pressestelle. +Die Freiburger "Abteilung Militärarchiv" verwahrt unter anderem Personalakten der Offiziere des Heeres und der Luftwaffe der Wehrmacht, Kriegstagebücher oder Unterlagen über militärische Auszeichnungen. "Der Klassiker ist", sagt Menzel, "dass die Soldaten nach ihrer Rückkehr irgendwelche Geschichten erzählt haben, um sich interessanter zu machen oder etwas zu verschleiern." +Vor 13 Jahren fährt Gabriele Palm-Funke mit ihrer Mutter in deren frühere Heimat in Polen. Beim Abendessen sprechen sie dort über den verstorbenen Großvater. Die Mutter erwähnt seinen "Einsatz" in einem Lager in der Nähe von Katowice. Dann sagt sie einen Satz, der Palm-Funke aufhorchen lässt. Als sie ihren Vaterin diesem Lager bei der Arbeitbesucht habe, seien da "die vielen Menschen mit den Sternen" gewesen, die sie "nie vergessen" werde. Gemeint waren die Juden, die in der Nazizeit mit dem sogenannten Judenstern gekennzeichnet wurden. "Dann war der ja ein Mörder", sagt Palm-Funke zu ihrer Mutter. Die fragt nur: "Woher willst du das wissen?" Damit ist das Gespräch für eine lange Zeit beendet. +Palm-Funke hat ihren Opa als Kind täglich gesehen. Morgens vor dem Kindergarten parkte sie ihr Fahrrad in seiner Werkstatt, und nachmittags holte sie es dort wieder ab. Schweigsam sei er gewesen, sagt sie. "Ein typischer Kriegsheimkehrer. Er hat nicht viel mit mir gesprochen." Als der Opa stirbt, hört die damals zehnjährige Gabriele bei der Beerdigung zum ersten Mal, dass ihr Opa ein Nazi gewesen sein soll. Einige Leute aus dem Dorf bleiben der Trauerfeier wohl deshalb fern. Doch bis sie erwachsen ist, wird über das Thema nicht mehr gesprochen, auch sie selbst vergisst es mit der Zeit. Bis zu jenem Abend in Polen. +Als Palm-Funke von der Reise mit ihrer Mutter zurück nach Leipzig kommt, beginnt sie zu googeln. Sie findet: nichts. "Da dachte ich: Meine Güte, das kriegst du nie raus." Wie sollte sie das Lager finden, in dem ihr Großvater Wachmann war? Schließlich schreibt sie an das Bundesarchiv in Berlin. Sie nennt Name, Geburtsdatum und damalige Wohnorte des Großvaters. Zurück kommt die Abbildung einer Erkennungsmarke: Ihr Opa war bei der Polizei. Über seine Tätigkeit als Wachmann in einem KZ oder eine mögliche Funktion bei der SS weiß man in Berlin aber nichts. Palm-Funke wird nach Ludwigsburg verwiesen. Dort archiviert eine Außenstelle die Unterlagen der "Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen". +"Vielleicht war ja doch nichts", denkt sie damals und schiebt das Thema wieder beiseite – doch es lässt sie nicht los. Ein paar Jahre später schreibt sie tatsächlich nach Ludwigsburg. Von dort erhält sie eine Liste mit Aktenzeichen und Hinweise auf zwei Bücher. Eines davon ist der Bericht des jüdischenHolocaust-ÜberlebendenErich Altmann: "Im Angesicht des Todes". In diesem Buch ist ihrem Opa ein ganzes Kapitel gewidmet. Ein "Tier in Menschengestalt" steht da. +Der Mann, in dessen Schuppen sie als Kind ihr Fahrrad parkte, war im Lager Trzebinia "Oberwachtmeister Luboeinski", dessen Grausamkeiten der Überlebende Altmann ausführlich schildert. Mal habe Luboeinski den Häftlingen bei der Arbeit mit der Schaufel auf den Kopf geschlagen, dann wieder mit den schweren Stiefeln in die Geschlechtsteile getreten. Eine Passage beschäftigt Palm-Funke besonders: Einmal habe ihr Opa einem 17-Jährigen befohlen, einen Stein zu holen, der jedoch außerhalb des Lagers lag. Als der Junge den Befehl ausführte, erschoss ihn Oberwachtmeister Luboeinski, weil er versucht habe, zu fliehen. +"Mein Großvater war ja nichts Besonderes in der Hierarchie", sagt Palm-Funke heute, "aber grausam genug war er." In diesem Satz deutet sich die Schwierigkeit der Suche nach der Wahrheit nach so langer Zeit an. Denn nicht immer sagt ein bestimmter Dienstgrad, der Name einer Kompanie oder die bloße Anwesenheit an einem bestimmten Ort etwas darüber aus, was der Einzelne getan hat. "Sie können einen Opa haben, der war vielleicht Offizier bei der Waffen-SS und die ganze Zeit an der Ostfront. Das heißt nicht automatisch, dass er zum Verbrecher geworden ist. Die Wahrscheinlichkeit ist in diesem Fall sehr hoch, es muss aber nicht sein", sagt Thomas Menzel vom Militärarchiv Freiburg. "Wenn Ihr Opa umgekehrt als Unteroffizier in der Küche eines Heeresverbandes war, kann er trotzdem ein Vergewaltiger und Mörder gewesen sein." Mit diesen Unsicherheiten müsse man leben, sagt Menzel. Oder man entscheide sich, weiter und weiter zu graben. +Gabriele Palm-Funkes Akteneinsicht in Ludwigsburg ist inzwischen fast vier Jahre her – aber ihre Suche ist noch nicht beendet. Wie wurde der Großvater vom Polizisten zum Wachmann? War er Mitglied bei der SS? Beides will sie noch herausfinden. "Ich will es verstehen, und ich will es aufschreiben und weitergeben. An meinen Sohn, an Nichten und Neffen", sagt sie. "Es ist wichtig, zu zeigen, wie die eigene Familie drinsteckte. Für mich ist eine zentrale Frage: Wie ist er so geworden?" +Wieso wird der eigene Opa zum Mörder? Und wieso wurden es andere nicht? In Erich Altmanns Buch taucht noch ein anderer Mann auf, der auch Oberwachtmeister war und der als hilfreich und menschlich geschildert wird. Einer, der nicht brutal war, einer, der den Häftlingen sogar Medikamente besorgte, wenn es ihnen schlecht ging. +Palm-Funke will auch noch einmal mit ihrer Mutter über den Großvater sprechen. Die war sechs Jahre alt, als ihr Vater im Lager in Trzebinia Menschen quälte. Jetzt ist sie 84. Das Buch mit dem Kapitel über ihren Vater hat sie bis heute nicht gelesen. diff --git a/fluter/argentinische-diktatur-folter.txt b/fluter/argentinische-diktatur-folter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1f18bdf1566dfbd83d70ad734518a883703d50e4 --- /dev/null +++ b/fluter/argentinische-diktatur-folter.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +So war unter den Leichen, von denen die "FAZ" berichtete, womöglich auch die von Klaus Zieschank, einem Deutsch-Argentinier, der in Buenos Aires ein Praktikum gemacht hatte und in das Visier der Militärs geraten war, weil er sich zuvor in Deutschland gegen die Diktatur in Chile engagiert hatte. Noch in den Tagen des Putsches wurde er entführt, betäubt und mit Draht an einen anderen Menschen gefesselt aus einem Flugzeug über dem Río de la Plata abgeworfen. So verfuhr das Regime mit vielen Kritikern. + +Diktaturen und Menschenrechtsverletzungen prägen nicht nur die Geschichte Argentiniens, sondern des ganzen Kontinents.Erstaunlich ist dabei vor allem die Rolle der USA +Auch die deutsche Studentin Elisabeth Käsemann fiel dem Staatsterror zum Opfer. Sie hatte sich in Armenvierteln in Buenos Aires engagiert und Regimekritikern bei der Ausreise geholfen – als man sie ebenfalls entführte und nach monatelanger Folter erschoss. Ihr Fall machte vor allem deswegen Schlagzeilen, weil ihr Vater – ein bekannter Theologe, der einst von der Gestapo festgenommen worden war – öffentlich die damalige Bundesregierung (aus SPD und FDP) anklagte, sich aus wirtschaftlichen Gründen nicht für die Befreiung seiner Tochter eingesetzt zu haben.Deutschland exportierte zu dieser Zeit die meisten Waffennach Argentinien. Tatsächlich hatten andere europäische Staaten erfolgreich bei der Militärjunta interveniert, um ihre Bürger zu retten. +Deutschland war nicht das einzige Land, das sich nicht entschieden gegen die argentinische Diktatur stellte. Bei der Fußballweltmeisterschaft 1978 in Argentinien nahmen 16 Nationen teil, keine protestierte offiziell bei der Militärregierung. Später stellte sich heraus, dass die Inhaftierten im Folterzentrum ESMA den Jubel der Fußballfans im nahen Stadion hatten hören können. +Diese politische Tragödie hatte am 24. März 1976 begonnen, als sich das argentinische Militär an die Macht putschte und die Präsidentin Isabel Perón stürzte. Die galt als schwach, mit der Wirtschaft ging es bergab, und linke Extremisten und das rechtsgerichtete Regime bekämpften sich mit brutaler Gewalt in der Öffentlichkeit. Unter dem Vorwand, die gesellschaftliche Ordnung wiederherstellen und den Linksterrorismus bekämpfen zu wollen, verwandelte die Militärregierung unter Jorge Rafael Videla das Land in kürzester Zeit in eine Diktatur. Oppositionelle wurden gnadenlos verfolgt. Um in einem der berüchtigten Folterzentren zu landen, reichte es schon, sich in sozialen Projekten oder für Arbeiterrechte zu engagieren. Selbst die Bürger anderer Staaten konnte es treffen. +Insgesamt ließ das Regime rund 30.000 Menschen verschwinden, viele Angehörige wissen nach wie vor nicht, was mit ihren Söhnen, Töchtern, Vätern und Müttern passiert ist. Mehr als 500 Kinder und Babys wurden ihren Müttern zudem rechtswidrig weggenommen und an Angehörige der Streitkräfte oder regimetreue Familien übergeben. +Argentinienist der zweitgrößte Staat Südamerikas. Klimatisch und landschaftlich bietet es weit mehr als nur die Pampa, jene Grassteppe, die auch vielen Europäern ein Begriff ist. Die knapp 45 Millionen Einwohner des Landes leben zu einem großen Teil in Buenos Aires und wenigen anderen größeren Städten. +Nach dem Ende der Diktatur 1983 wurden zunächst einige Täter verurteilt, als aber das Militär mit einem erneuten Putsch drohte, stellte man weitere Ermittlungen ein, bereits Verurteilte wurden wieder begnadigt. Die darauffolgenden Regierungen plädierten für einen Schlussstrich, allerdings kam es in der Bevölkerung immer wieder zu Protesten. Bekannt wurden die "Madres de Plaza de Mayo" – Mütter, deren Kinder während der Diktatur verschwanden und die über Jahrzehnte jede Woche vor dem Regierungspalast gegen das Vergessen demonstrierten. +Dennoch blieb Menschenrechtsaktivisten lange Zeit nur der Gang an internationale Gerichte – unter Verweis auf dasVölkerrecht. So erließ das Amtsgericht Nürnberg 2001 Haftbefehle gegen die Verantwortlichen für den Mord an Elisabeth Käsemann, die 2009 vor einem argentinischen Gericht zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Seit 2003 hatte sich unter dem Präsidenten Néstor Kirchner die Überzeugung durchgesetzt, dass den Opfern der Diktatur eine Art Schlussstrich ohne umfangreiche Aufarbeitung nicht zuzumuten sei. Bis heute wurden von 1.500 Angeklagten mehr als die Hälfte verurteilt. Diktator Videla starb 2013 im Gefängnis. "Die Gerichtsprozesse des letzten Jahrzehnts haben zu einem gesunden Prozess der Erinnerung, der Wahrheit und der Gerechtigkeit geführt", sagt der argentinische Bundesrichter Daniel Rafecas. "Und sie haben maßgeblich zur Ablehnung der autoritären Kultur und zur Stärkung der demokratischen Werte beigetragen." diff --git a/fluter/argument-hoch-2.txt b/fluter/argument-hoch-2.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..51d3f5675481d5a5a5e2c67d56c938fe23c33df8 --- /dev/null +++ b/fluter/argument-hoch-2.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +"Zahlen werden in der Bevölkerung als unbestechliche Argumente angesehen. Und wer gut mit Zahlen argumentiert, vermittelt Kompetenz und Sicherheit. Hinterfragt werden die zahlenlastigen Aussagen deshalb nur selten", erklärt Helmut Scherer vom Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Deshalb sind Zahlen in der Politik beliebte Argumentationsstützen, wenn es darum geht, die Alternativlosigkeit des eigenen Standpunktes zu unterstreichen. Wer mit Zahlen kommt, tut dies nie ohne Hintergedanken. +Keine neue Entwicklung: Schon antike Herrscher interessierten sich für Zahlen. Die ältesten Hinweise darauf stehen auf Tonscherben aus dem antiken Babylon, die eine Volkszählung vor etwa 6.000 Jahren dokumentieren. Detailverliebt waren auch die Griechen und Römer. Neben regelmäßigen Volkszählungen gab es genaue Aufzeichnungen über Getreideeinfuhren und den Außenhandel. Und die Heerführer wussten stets, wie viele Soldaten das Reich im Kriegsfall verteidigen konnten. Erst im Mittelalter schwindet die Lust an der Statistik. Einzig Klöster und wenige Fürsten führen noch genau Buch über ihre Besitztümer. Die Urkunden aus dieser Zeit gleichen allerdings eher Beschreibungen als tatsächlichen Zählungen. Erst mit der Rückbesinnung auf antikes Wissen in der Renaissance steigt auch wieder das Interesse an Zahlen. +Vor allem die Ökonomen dieser Zeit interessieren sich für Statistiken. Die Zahlen sollen ihnen helfen, die Staatseinkünfte der Herrscher zu erhöhen und die Wirtschaft anzukurbeln. Wichtiger Vorreiter und Erfinder der "politischen Arithmetik" ist der britische Ökonom William Petty. Um 1660 versucht er zu zeigen, dass das Vermögen eines Landes vor allem aus dem Arbeitseinkommen besteht und weniger aus dem Landbesitz. Er selbst ist nicht nur ein wacher Geist, sondern auch ein Großgrundbesitzer mit Angst vor hohen Steuern. +Seine naheliegende Empfehlung lautet deshalb, man solle möglichst wenig Steuern auf Ländereien erheben und mehr auf das Einkommen. Ein geschickter Schachzug, in der politischen Argumentation mit Zahlen vielleicht sogar ein richtungweisender, wie Gerd Bosbach, Professor für Statistik an der Fachhochschule Koblenz, erklärt: "Zahlen können die Realität schönen, wenn sie nur geschickt eingesetzt werden. Politiker oder Verbände nutzen gerne für sie passende Statistiken, um ihre Ziele durchzusetzen." +Doch nicht nur als Zahlendreher ist Petty zukunftsweisend. Seine Erhebung wirtschaftlicher Daten und die Erstellung von Prognosen aus ihnen wird als politisches Instrument immer wichtiger. Die kontinuierliche Weiterentwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung als Wissenschaft verstärkt die Bedeutung zusätzlich. Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts sind Statistiken als Instrument zur Erfassung von gesellschaftlichen und ökonomischen "Wahrheiten" vollends anerkannt. +Im Ersten Weltkrieg dienen beispielsweise Opferzahlen als rhetorisches Mittel, um die Gräueltaten der Gegner greifbar zu machen. In der darauf folgenden kurzen Friedenszeit bestimmt die Debatte um die Reparationszahlungen Deutschlands und ihre wirtschaftlichen Auswirkungen das politische Leben in der noch jungen Weimarer Republik. Mit düsteren Prognosen über die wirtschaftliche Entwicklung des Landes wollen vor allem die nationalistischen Kräfte um die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) die Untragbarkeit der Forderungen deutlich machen. Selbst eine Demografie-Debatte um eine alternde Gesellschaft und schlechte Geburtenraten gibt es bereits in den 1920er-Jahren. +Aus dem Zweiten Weltkrieg stammt eine der wichtigsten Kennzahlen der wirtschaftlichen Entwicklung – das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Die Zahl wird in den USA als Index für die Wirtschaftsleistung eines Landes entwickelt und ist die Summe aller in einem bestimmten Zeitraum im Inland produzierten Waren und Dienstleistungen, gemessen an ihrem Preis. Im Krieg wird so die Leistung der eigenen Rüstungsindustrie gemessen und ihr Budget festgelegt. In Europa etabliert sich der Index nach 1945 mit dem Wiederaufbau durch amerikanische Unterstützung. Die USA ermitteln so, wie hilfsbedürftig die Empfängerländer sind. Im Kalten Krieg wird das BIP dann von der CIA benutzt, um die Wirtschaftsleistung der Sowjetunion abzuschätzen. Glaubhafte Statistiken des Gegners gibt es nicht. Längst ist da das BIP kein bloßes Informationsinstrument mehr, sondern eine Zahl, um politisches Handeln zu begründen – auch wenn sie scheinbar objektive, vermeintlich ideologie- und werturteilsfreie Wirtschaftsprozesse beschreibt. +In Deutschland etabliert sich das Bruttoinlandsprodukt als wesentliche Argumentationsgrundlage der sozialen Marktwirtschaft von Ludwig Erhard in den 50er- und 60er-Jahren. "Wirtschaftswachstum durch das Bruttoinlandsprodukt zu messen ist heute so etwas wie die heilige Kuh der Statistik und eine wichtige Grundlage für wirtschaftliche Entscheidungen", erklärt Walter Krämer vom Institut für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Technischen Universität Dortmund. Die Vorteile liegen auf der Hand: Wie viele politische Kennzahlen bündelt das BIP eine hohe Informationsdichte nach transparenten Kriterien und lässt sich regelmäßig erheben. Auch wird der Index wie viele andere Kennzahlen in ganz Europa nach den gleichen Kriterien erhoben und trägt damit zur internationalen Vergleichbarkeit bei. Mit einer kleinen Einschränkung, wie Krämer ergänzt: "Es wird ein großer Ausschnitt unseres Wirtschaftsgeschehens abgebildet, aber nicht alles. Wie jede Berechnungskonvention nähert sich das Bruttoinlandsprodukt nur der Wirklichkeit an." Zum Beispiel sei das BIP kein guter Indikator für den Wohlstand der Menschen oder die gerechte Verteilung von Einkommen. +Genau darin liegt eine Schwäche der Quantifizierung der Welt. Einzelne Zahlen zu finden, die ein umfassendes Bild der Wirklichkeit geben, ist äußerst schwierig. Das Zählbare steht immer im Vordergrund, das nicht Gezählte oder nicht Zählbare fällt oft hintenüber. Ein Beispiel dafür ist die Inflationsrate, ebenfalls eine wichtige Zahl für politische Debatten. Errechnet wird sie aus der Preisentwicklung des Warenkorbs einer Durchschnittsfamilie. Darin finden sich vor allem Produkte des täglichen Gebrauchs. Einziger Haken: In der Realität entspricht der Warenkorb eines Großstadt-Singles nicht dem einer Familie. Unterschiede entstehen auch durch Alter oder Einkommen. "Die Inflationsrate ist trotzdem eine sinnvolle Zahl, die monatlich mit viel Herzblut und Kompetenz vom Statistischen Bundesamt erhoben wird", sagt Scherer. Man müsse sich eben nur ihrer Grenzen bewusst sein. Wer eine Wohnung kaufen will, für den ist die Inflationsrate kein guter Anhaltspunkt. +In gesellschaftlichen und politischen Debatten werden solche "Schwächen" in der Aussagekraft von Zahlen und Statistiken allerdings oft übersehen. "Meistens werden weder die Zahlen noch ihre Herkunft und die Interessen dahinter wirklich in Frage gestellt", sagt Scherer. Die Folge: Mit fragwürdigen Rankings, irreführenden Durchschnittswerten und willkürlichen Prozentangaben lässt sich die öffentliche Meinung wunderbar beeinflussen – egal ob es um die Kosten für das Gesundheitssystem, Fachkräftemangel oder Demografie geht. Doch aus Sicht des Kommunikationswissenschaftlers gibt es eine einfache Lösung: "Der Matheunterricht in der Schule muss stärker vermitteln, was Zahlen für unser Leben bedeuten. Mit geschultem Blick lassen sich Widersprüche in Statistiken schnell ausmachen." +Birk Grüling hat Kultur-Journalismus studiert und schreibt als freier Journalist unter anderem für die Zeit, taz, jetzt.de und Spiegel Online. 2014 wurde er vom Medium Magazin unter die Top 30 der Nachwuchsjournalisten gewählt. diff --git a/fluter/argumente-fuer-oder-gegen-die-pille.txt b/fluter/argumente-fuer-oder-gegen-die-pille.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f30eb7e5cc63406e207566278205a88a7839b03a --- /dev/null +++ b/fluter/argumente-fuer-oder-gegen-die-pille.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Der stellte ein paar Fragen, machte eine Untersuchung, und Minuten später konnten wir diese Insignie der Weiblichkeit nach Hause tragen, während wir uns gleichzeitig in dem Bewusstsein sonnten, eine extrem erwachsene Entscheidung getroffen zu haben: Denn von nun an würden wir nicht bloß schönere Haut bekommen, sondern auch unsere Fruchtbarkeit und damit die zukünftige Karriere und das Leben überhaupt im Griff haben. Heute sind es im Alter von 15 bereits 20 Prozent der Mädchen, die täglich Hormone einnehmen, mit 16 bereits 40 Prozent, und schon mit 19 nehmen mehr als 70 Prozent aller jungen Frauen die Pille. Die Entscheidung ist damals wie heute sehr leicht, das Schwierigste daran, wenn überhaupt, der Gang zum Frauenarzt. +Dass die in der Pille enthaltenen Hormone nicht wie gut dressierte Brieftauben in unsere Gebärmutter fliegen und dort ihre empfängnisverhütende Wirkung entfalten, sondern an einer Vielzahl von Rezeptoren in unserem Körper, ja auch in unserem Gehirn wirken, das wissen die wenigsten von uns in diesem Moment. Auch dass die Pille unseren Zyklus nicht "reguliert", sondern den Eisprung und damit den Zyklus an sich unterbindet, ist den wenigsten bewusst, schließlich kriegen wir doch "regelmäßig" unsere Tage. Wer nicht die endlose Packungsbeilage liest, weiß auch nicht, dass sie negative Effekte auf unsere Psyche und unser seelisches Wohlbefinden haben kann. Dabei ist schon seit Jahrzehnten bekannt, dass die Hormongabe einige Frauen sogar depressiv, ängstlich und unsicher macht. Auch davon, dass sie laut umfangreichen Studien unsere Libido negativ beeinflussen kann, sprechen Frauenärzte nur sehr selten, und das erhöhte Risiko für Embolien und Thrombosen wird in den meisten Fällen bloß im Vorübergehen erwähnt. +Wie kommt es zustande, dass wir sie trotz dieser Risiken dennoch mit einer solchen Selbstverständlichkeit verschrieben bekommen? Nun, die Pille gilt noch immer als ein Meilenstein der sexuellen Befreiung, was vor allen Dingen auch damit zu tun hat, dass sie aus einer sagenumwobenen Allianz zwischen einer US-amerikanischen Feministin und der Pharmaindustrie hervorging. +Margaret Sanger engagierte sich bereits im frühen 20. Jahrhundert für mehr Wissen zum Thema Verhütung, um Frauen ein selbstbestimmtes Leben ohne ungewollte Schwangerschaften zu ermöglichen. Das war revolutionär und brachte sie sogar ins Gefängnis, denn sexuell aufgeklärte, selbstbestimmte Frauen waren vor rund 100 Jahren gesellschaftlich unerwünscht. +Aufklärung war damals ein unheimlich zähes Geschäft und Sanger im Jahr 1950 dermaßen frustriert über die mageren Früchte ihrer Arbeit, dass sie sofort ihre Chance ergriff, als sie dem Biologen Gregory Pincus begegnete, der bereits seit Jahren die Einsatzmöglichkeiten künstlicher Sexualhormone erforschte. Eine Pille gegen die Schwangerschaft. Ein revolutionärer Gedanke! Dank Katharine McCormick, einer wohlhabenden Frauenrechtlerin und Freundin von Sanger, die gut zwei Millionen Dollar ihres Privatvermögens investierte, wurde schließlich die erste Pille entwickelt – ein Wunschkind sozusagen aus der Zweckehe von Feminismus und Pharmaindustrie. +Obwohl die Menschen bei ihrer Markteinführung in den 1960ern bereits die Wahl zwischen Kondom, Diaphragma und Spirale hatten und schon damals auch ohne die Pille kaum jemand hätte schwanger werden müssen, schlug sie ein wie eine Bombe. Zwar wurde sie zunächst wegen Menstruationsbeschwerden verschrieben – und das auch nur an verheiratete Frauen mit mehreren Kindern –, aber man wusste um ihre empfängnisverhütende Wirkung. Neben ihrer Wirksamkeit bestand das wahrscheinlich überzeugendste Argument für die Pille darin, dass man über Verhütung nun nicht mehr sprechen musste, weder mit dem Partner noch mit dem Apotheker, dessen missbilligender Gesichtsausdruck unverheirateten Paaren damals die Schamesröte ins Gesicht trieb. +Heute leben wir in einer Welt, in der die Verbreitung von Verhütungswissen nicht mehr unter Strafe steht. Auch das Gespräch darüber müsste nicht mehr hochnotpeinlich sein. Sexualität ist allgegenwärtig, in der Werbung etwa oder im Internet. Trotzdem ist unser Wissen über Verhütung noch immer extrem lückenhaft. So erleben auch junge Mädchen von heute eine Schwangerschaft als vollkommen unberechenbares Schreckgespenst, das jederzeit über sie hereinbrechen kann. Weil nicht alle wissen, wie der weibliche Zyklus funktioniert, sind sich die wenigsten darüber im Klaren, dass ohne Pille nur an rund sieben Tagen des Monats überhaupt das Risiko besteht, schwanger zu werden. Wieso glauben wir dennoch, ohne sie nicht sicher verhüten zu können? +Die Tatsache, dass wir sie beim Arzt beziehungsweise in der Apotheke erhalten, täuscht über eine wesentliche Erkenntnis hinweg: Die Pille ist ein Produkt und die Pharmaindustrie wie alle Industrien in allererster Linie gewinnorientiert. Seit Jahrzehnten tut sie alles dafür, dass wir die Pille als notwendiges Instrument der Befreiung betrachten, und je weniger wir es zur Befreiung brauchen, umso vehementer erklärt sie uns, dass der weibliche Körper ohne hormonelle Eingriffe eine einzige Last darstellt. Besuchen wir die Webseiten, lesen wir von PMS, "schlechter" Haut, Regelbeschwerden und einem "unregelmäßigen" Zyklus als gute Gründe für hormonelle Verhütung. All das fügt sich in einen öffentlichen Diskurs, der einen weiblichen Körper immer noch als Hindernis im Leben begreift, das uns vollkommen unberechenbar immer dann einen Strich durch die Rechnung macht, wenn wir es am wenigsten gebrauchen können. +Auch deutsche Ärzte, deren Fortbildungen vielfach von der Pharmaindustrie ausgerichtet und finanziert werden, greifen diese Argumente auf, statt uns über die Vielzahl an Methoden aufzuklären, die uns als Frauen des 21. Jahrhunderts zur Verfügung stehen. Dazu gehören ganz wesentlich die Kupferspirale, Kondome und Diaphragmen, aber auch die symptothermale Methode, auch als NFP bekannt, die neben der Körpertemperatur auch den sogenannten Zervixschleim beobachtet. +So kann man mit NFP sowohl den Beginn als auch das Ende der fruchtbaren Phase bestimmen, was diese Methode laut aktuellen wissenschaftlichen Studien etwa so sicher wie die Pille macht: Ihr Pearl-Index, der die Sicherheit des Verhütungsmittels angibt, liegt bei 0,4. Das heißt, von 100 Frauen werden im Lauf eines Jahres bei Anwendung dieser Methode 0,4 schwanger. Auch die Sicherheit von Kondomen ist weitaus höher als bisher angenommen. +Überhaupt wird jede Form der Verhütung immer dann sicherer, wenn wir offen mit unserem Partner und dem Arzt unseres Vertrauens umgehen – genauso wie mit dem eigenen Körper. Es geht eben bei Verhütung nicht darum, was eine einzelne Person macht, egal ob Frau oder Mann, sondern wie ein Paar das gemeinsam geregelt bekommt. Dass die Vollendung von Margaret Sangers Lebensaufgabe darin bestand, die Antibabypille auf den Weg zu bringen, sollte uns nicht darüber hinwegsehen lassen, dass sie von einer viel wesentlicheren Überzeugung getrieben war: Frauen sollten im Angesicht aller Möglichkeiten und unter Berücksichtigung aller verfügbaren Informationen über den eigenen Körper bestimmen dürfen. + +Tilelbild: Laura Zalenga diff --git a/fluter/argumente-gegen-noten-schule.txt b/fluter/argumente-gegen-noten-schule.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..08a46aaf20c4233eb88132b02f2429b96e0e257e --- /dev/null +++ b/fluter/argumente-gegen-noten-schule.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Mit der Einführung des Zentralabiturs sollte zumindest eine Vergleichbarkeit innerhalb der einzelnen Bundesländer erreicht werden – schließlich schwitzen dort dann alle vor denselben Abituraufgaben. Doch trotz vorgegebener Bewertungskriterien hängt besonders in den Sprachen oder gesellschaftlichen Fächern viel von der Einschätzung der einzelnen Lehrkräfte ab. Dennoch wird auch über ein bundesweites Zentralabi diskutiert, um die schulischen Leistungen besser vergleichen zu können. +Aber wäre ein Zentralabi wirklich gerechter? Schulleiterin Hoppe hat Zweifel. "Eine Drei sagt bei dem einen Schüler etwas ganz anderes aus als bei einem anderen Schüler." So kann etwa bei der einen die mündliche Mitarbeit gut sein, während der andere bei Klassenarbeiten glänzt. Auch persönliche Entwicklungen und Lernerfolge können Noten nicht darstellen. Eine Note, die für sich steht, ist nicht in der Lage, die Bandbreite und Vielfalt der einzelnen Fächer treffend abzubilden. So sagt etwa eine Zwei in Deutsch wenig darüber aus, ob der Schüler oder die Schülerin über eine gute Grammatik und Rechtschreibung verfügt, kreativ schreiben kann oder pointiert Gedichte analysiert. +An Imkes Schule läuft es daher anders – statt Noten steht hier ein regelmäßiges Feedback im Vordergrund. Neben dem Lernentwicklungsbericht, kurz LEB, der halbjährig als Zeugnis dient, spielt auch die Selbsteinschätzung der Schülerinnen und Schüler eine große Rolle. Regelmäßig füllen sie einen Feedbackbogen aus, in dem sie ihre Stärken und Schwächen einschätzen. Anschließend können sie sich mit Lehrkräften oder ihren Mitschülerinnen und Mitschülern darüber austauschen. "Das Ziel ist es, den Lernprozess in die Hände der Schülerinnen und Schüler zu legen", erklärt Schulleiterin Hoppe die dahinterliegende Idee. Ergänzt wird dieses Feedback durch regelmäßig stattfindende Gespräche zwischen den Schülerinnen und Schülern, Eltern sowie den Lehrkräften. Das gesammelte Feedback wird über das ganze Schuljahr im sogenannten Lernentwicklungsordner, LEO, zusammengetragen. +Dieses Bewertungssystem kommt auch bei den Schülerinnen und Schülern gut an. "Mich hat es immer motiviert, gesagt zu bekommen, was man gut gemacht hat, und auch, welche Punkte man noch verbessern kann", sagt Imke. "Die Mischung den Gesprächen und Feedbackbögen, Lob und Kritik, macht es aus." Und ihr Mitschüler Joshua Derksen ergänzt: "Außerdem müssen die Lehrer das Feedback viel stärker begründen und erklären, warum sie einen so eingeschätzt haben. Das macht es im Vergleich zu Noten objektiver." +Aber warum sind Noten bei all der Kritik noch immer vorherrschend im deutschen Bildungssystem? "Ich denke, Schulnoten sind einfach zu vergeben. Sie erfüllen das Bedürfnis nach Rückmeldung und implizieren einen objektiven Charakter, ohne dabei aber objektiv zu sein", glaubt Schulleiterin Hoppe. Gerade an Bildungsübergängen, etwa vor dem Schulwechsel auf die weiterführende Schule oder die gymnasiale Oberstufe, aber auch nach dem Schulabschluss, erfüllen Schulnoten wichtige Funktionen:Sie sind einfach, verrechenbar und justiziabel.Das erkennt auch Rebecca Barchet. Die Schülerin steht kurz vor ihrem Wechsel in die gymnasiale Oberstufe. "Jetzt, kurz vor dem Abschluss der zehnten Klasse, ist es schon gut, zu sehen, welche Noten man hat. So kann man besser einschätzen, wo man steht, und sieht, wo man sich noch verbessern muss." +Seit der achten Klasse bekommen auch Imke, Joshua und Rebecca Schulnoten – eine Regelung, die die Schule auch zur Vorbereitung auf die Abschlussprüfungen in der zehnten Klasse getroffen hat. Eine Umstellung, an die sich die drei erst einmal gewöhnen mussten. "Die Noten erzeugen auf mich einen ziemlichen Druck. Wenn ich zuvor die Rückmeldung bekam, dass ich die Lernziele erreicht habe, war ich immer zufrieden. Um jetzt zufrieden zu sein, muss ich schon eine Eins oder Zwei schreiben", erzählt Imke. Ein Anspruch, den sie nicht immer erfüllen kann und der ihr teilweise den Spaß an der Schule nimmt. diff --git a/fluter/arkadien-bayamack-tam-rezension.txt b/fluter/arkadien-bayamack-tam-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fdb712901ac0a3f39291596616a9501c85bc022d --- /dev/null +++ b/fluter/arkadien-bayamack-tam-rezension.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Also flieht die Familie aufs Land, in eine südfranzösische Kommune. Mobilfunknetz und Internet kennen sie im "Liberty House" nicht, dafür Gemeinsinn und freie Liebe. Gegründet hat die Gemeinschaft Arcady. Seinen Namen entleiht die Autorin Emmanuelle Bayamack-Tam, die als Lehrerinin einer Pariser Banlieuearbeitet, der griechischen Mythologie: "Arkadien" beschreibt einen Ort der Idylle und Glückseligkeit. Bayamack-Tam spiegelt diesen sagenhaften Raum im Roman: Das "Liberty House" ist ein Auffangbecken für die Empfindsamen, die an der Welt Gescheiterten, für alle, die sich nicht fügen, weil sie psychisch auffällig sind, senil, fett oder einfach nicht daran interessiert,den Rollen, Normen und Härten der Mehrheitsgesellschaftzu entsprechen. +"Arkadien" erscheint in deutscher Übersetzung am 21. Juni im Secession Verlag +Arcady,sagteBaymack-Tam nach Erscheinen des französischen Originals, ist ein Sinnbild für die Lust: Der Guru liebt alle im "Liberty House", auch und gerade körperlich. Ob alt, jung, dick, dünn, attraktiv oder nicht, Arcady gibt allen das Gefühl, aufgehoben zu sein und begehrt zu werden. +Mit dieser Freizügigkeit wird die Kommune auch für Farah zum Zuhause: Sie, die immer glaubte, ein Mädchen zu sein, beobachtet während der Pubertät, wie sich ihr Körper zunehmend vermännlicht. FarahsIntersexualitätwird zu einem wichtigen, aber nicht zum bestimmenden Thema in Baymack-Tams Roman. Die erste Liebe erlebt Farah mit 15, natürlich mit Arcady, der sie*ihn auf der Suche nach ihrer*seiner geschlechtlichen Identität unterstützt. Aber bevor es allzu idyllisch zu werden droht im Idyll, setzt Bayamack-Tam die entscheidende Pointe: DerGeflüchteteAngossom erreicht das "Liberty House" und mit ihm Verrat und Enttäuschung. Die Gemeinde verschließt sich Angossom, ihre vermeintliche Toleranz wird als Farce entlarvt. Farah muss lernen, dass selbst das Gebot der universalen Liebe nur für die gilt, die dazugehören. +Im Kleinen spiegelt sich hier,was wir in vielen europäischen Ländern gerade auf größerer Ebene erleben: Das Paradies gehört den Privilegierten, die meist wenig Interesse haben, es zu teilen. Wie "Arkadien" linke Selbsterzählungen von Solidarität, Toleranz oder Antiautorität entlarvt, tut weh. Es ist aber auch ungemein komisch, weil Baymack-Tam reihenweise Normative zerlegt: Ein Techtelmechtel, bei dem ein Teenager einem 35 Jahre älteren Guru verfällt, kann nicht gutgehen? Falsch. Der vermeintliche Pädo-Guru Arcady zeigt sich einfühlsam und liebevoll. Sexszenen mit 80-Jährigen? Funktioniert, weil alle Körper begehrenswert sind. Davon scheint nicht nur Arcady, sondern auch Bayamack-Tam überzeugt, die Body Positivity in ihren Büchern immer wieder zum Thema macht. So kann eine Orgie, in dernorm-attraktiveauf adipöse, alte, auf in vielerlei Weise gezeichnete Körper treffen, zu einer der schönsten Szenen des Buchs werden. +Bayamack-Tam zeichnet diese freigeistige Kommune über den halben Roman. Bis mit dem Auftritt des Geflüchteten alle Ideale des "Liberty House" leere Versprechen zu werden drohen – wäre da nicht Farah, bei der*dem die neue Freiheit, in die sie*er geraten ist, Spuren hinterlassen hat. + + diff --git a/fluter/arm-oder.txt b/fluter/arm-oder.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0e774b948f045c053d46c08eb929c05f857afa99 --- /dev/null +++ b/fluter/arm-oder.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +In Deutschland lag im Jahr 2013 (und auch schon 2012) die Armutsgefährdungsquote bei 16,1 Prozent der Bevölkerung. Gut jede zehnte Person war dauerhaft von Armut gefährdet, das heißt: im Jahr der Erhebung und in mindestens zwei der drei vorigen Jahre. Die Zahlen sind eine Hochrechnung, die auf einer Stichprobe befragungsbereiter Haushalte in Deutschland basiert. +Dieses Konzept hat Schwächen. Denn steigt das durchschnittliche Einkommen, dann steigt auch die Armutsgefährdungsgrenze von 60 Prozent dieses Einkommens. Die Zahl der Armutsgefährdeten bliebe also konstant, auch wenn ihre Einkommen ebenfalls ansteigen würden.Statistiker kritisieren: Man kann Armut nicht messen, indem man sich an den Wohlhabenden orientiert. Man sollte stärker die Armen für sich in den Blick nehmen. +Abgesehen von diesen Kontroversen gilt als sicher, werbesonders von Armut gefährdet ist: Arbeitslose, Alleinerziehende und ihre Kinder, allein lebende Menschen sowie Menschen mit geringer Bildung. Ihnen muss die Politik besonders helfen, fordern etwa der Paritätische Wohlfahrtsverband und die Caritas einhellig,die sich wiederum uneins sindüber die Aussagekraft der Quote der von Armut Gefährdeten. +Felix Ehring arbeitet als freier Journalist. Bei der Recherche wurde ihm von Zahl zu Zahl klarer: Ob es nun um Armut, Geburten, Arbeitslosigkeit oder Klimaschutz geht – Interessengruppen führen eine teilweise erbitterte Debatte um die Deutungshoheit dieser Zahlen. Und: Einige Journalisten vermelden amtliche Zahlen einfach, ohne sie zu hinterfragen und einzuordnen. Dabei gilt für jede Zahl: Sie sagt nicht nur etwas aus, sie verschweigt auch etwas. diff --git a/fluter/armenien-wandel-samtene-revolution-ein-jahr-danach.txt b/fluter/armenien-wandel-samtene-revolution-ein-jahr-danach.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7ca6b9f95b0451b604f3800d427392aadf1c99cf --- /dev/null +++ b/fluter/armenien-wandel-samtene-revolution-ein-jahr-danach.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Früher Aktivist, heute hoher Parlamentarier: Vahan Kostanyan (Foto: Nik Afanasjew) +Am Beispiel Armeniens lässt sich verfolgen, wie eine demokratische Wende in einer Autokratie beginnen kann. Aber auch, welche Schwierigkeiten sich dabei auftun. +Um ihr Land zu erklären, bitten Ani Yavrenc und Vahan Kostanyan in ein Café nahe der Kaskade, einer mehr als 100 Meter hohen Treppe, mit Blick auf das armenische Nationalsymbol: den Berg Ararat. Er liegt heute auf türkischem Staatsgebiet, was viele Armenier kritisch sehen. Vahan aber geht es nicht um die Vergangenheit. "Wir haben vor einem Jahr eine neue Ära begonnen", sagt er. Früher war Vahan Student der Orientalistik und Aktivist, heute ist er Assistent des Parlamentssprechers – ein hoher Posten in einer parlamentarischen Demokratie. Vielleicht wirkt Vahan, der Bart trägt und einen Anzug, deshalb auch älter, als andere 24-Jährige. Neben ihm liegt ein Buch über Barack Obama. "Ich muss bald eine Rede halten", erklärt er leicht verlegen. +Ani ist 20, bei den Straßenprotesten vor einem Jahr war sie mit dabei. "Die waren so erfolgreich, weil sie dezentral waren", sagt Ani. "Die Polizei hat uns nicht zu fassen bekommen." Die neue Freiheit will Ani nutzen, um ein Kulturmagazin zu gründen unddie neu entstehende Techno-Szenevon Jerewan durch Berichterstattung zu fördern. Ani sagt: "Bisher haben wir erst einen guten Techno-Club, so nach Berliner Art." Früher hätten die lokalen Behörden verhindert, dass sich solche Clubs etablieren, weil sie den damit verbundenen Freiheitsdrang der jungen Leute nicht fördern wollten, glaubt Ani. +Für Vahan war auch der friedliche Charakter der Proteste entscheidend. "Gewalt erzeugt nur Gegengewalt." Dann erklärt er sein Konzept der "transitional justice", eines langsamen Wandlungsprozesses, bei dem den alten Eliten ihre Befugnisse nicht einfach weggenommen werden, sondern durch einen nachhaltigen Prozess Institutionen aufgebaut werden, die langfristig einen demokratischen Staat ausmachen. Etwa neue Gerichte und Gewerkschaften. Gerichtsprozesse sollen dann klären, wie früher ergaunertes Geld wieder dem Allgemeinwohl zugutekommt. +Nach der Autokratie ist vor dem großen Rave: Ani Yavrenc (Foto: Nik Afanasjew) +"Viele erwarten zu viel und haben keine Geduld. Deshalb schlagen nun alte Eliten zurück – zum Beispiel meldete sich der Vorgänger des geschassten Sargsjan wieder öffentlich zu Wort. Das sind Konterrevolutionäre!" Dieser Begriff wurde in der Sowjetzeit verwendet und meinte damals Feinde der Kommunistischen Partei. Ani gefällt er nicht: "Wir dürfen Menschen nicht so einen Stempel aufdrücken", sagt sie. Vahan verteidigt sich: "Aber sie wollen wieder alte Verhältnisse!" Es gibt noch viel zu streiten in Jerewan – das offen tun zu dürfen empfindet Vahan aber schon als "Privileg". Früher starben Menschen, wenn Demonstranten gegen die Regierung und für mehr Demokratie auf die Straße gingen – etwa 2008, als zehn Menschen ums Leben kamen. +Doch bei einigen Armeniern ist die Euphorie bereits verflogen, weil die neue Regierung zentrale Versprechen bislang nicht eingelöst hat. +So unterstehen Polizei und Geheimdienste weiter dem Regierungschef und können nicht vom Parlament kontrolliert werden. Eine geplante Verfassungsreform, die ein Einparteiensystem unmöglich machen sollte, wurde bisher nicht im Parlament diskutiert. Die Wirtschaftspolitik klingt im Regierungsalltag jetzt auch eher neoliberal als links wie noch zu Protestzeiten. Vom geplanten einheitlichen Einkommenssteuersatz von nur noch 23 Prozent profitieren vor allem reiche Armenier, sagen Kritikerinnen. Und die gesellschaftliche Freiheit? Ist für viele noch nicht so frei wie erhofft: Im Frühjahr hielt Lilit Martirosyan, Transgender-Frau und Leiterin einer LGBTQI-Organisation, vor dem Parlament eine Rede über die Diskriminierung sexueller Minderheiten. Die ging viral, Martirosyan erhält seitdem Morddrohungen. + + +Seit sieben Stunden schon ist Levon in seinem Lastwagen unterwegs. Er transportiert Waschmaschinen, Trockner, Herde. Da bietet es sich fast an, Anhalter mitzunehmen: "Sonst schlafe ich noch ein!" Levon ist 55, sein Händedruck schweißnass und fest. "Natürlich habe ich Sehnsucht nach der Sowjetunion. Es war ein sicheres Leben damals, ohne Angst, ohne Sorgen." Levon schaut dann auf seinen neuen Beifahrer und fragt lachend: "Ist dir nicht kalt?" Er meint damit nicht die Temperaturen – draußen sind es 30 Grad, in Levons Lastwagen wahrscheinlich noch zehn Grad mehr –, sondern die aus seiner Sicht unpassende Mode. "Männer tragen keine kurzen Hosen. Jungs können das machen, Männer nicht." +Die alten Verhältnisse waren in Armenien vor allem durch Stabilität und Stagnation gekennzeichnet, wie in so vielen ehemaligen Sowjetrepubliken. Prägend für das Land ist der Konflikt um die abgelegene Region Bergkarabach, die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört. Bis 1994 führte Armenien Krieg gegen seinen wirtschaftlich überlegenen Nachbarn und gewann diesen – heute ist Bergkarabach als "Republik Arzach" de facto unabhängig und eng mit Armenien assoziiert. +Levon fährt und fährt, draußen ziehen endlos Berge und irgendwann der See Sewan vorbei, wie ein weitläufiger glatter Spiegel. Trotz seiner Sehnsucht nach sowjetischer Idylle findet Levon an den neuen Zeiten auch etwas Gutes: "Die Polizisten zocken die Menschen seit der Revolution nicht mehr so ab!" Wenn Levon über seine Erwartungen spricht, redet er vor allem von besseren Straßen und höheren Löhnen, auch davon, dass es für Arbeitgeber schwieriger werden sollte, Arbeitsverträge grundlos zu befristen. In der diesigen Abendsonne erreicht der Truck Jerewan. +2018 versuchten sich junge Georgier an der bassenen Revolution.Heute ist der Techno in Tiflis verklungen, die unzufriedene Jugend bleibt +Am nächsten Tag empfängt die Abgeordnete Maria Karapetyan in einem Park unweit des Parlaments zum Gespräch. Karapetyan ist 31, war früher in einer Friedensinitiative aktiv und gehört der neuen starken Parteiallianz an. Sie trägt einen schwarzen Anzug, spricht schnell und klar, in perfektem Englisch. Sie hat ihre Ausbildung in den USA absolviert und ist nun zurückgekehrt, um ihrem Heimatland zu helfen. Früher sei das Parlament etwa ein reines "Polittheater" gewesen, nur dazu da, der Regierung beizustehen. "Wir müssen völlig neue Strukturen schaffen", sagt Karapetyan. Sie habe das am das Beispiel des Nachbarn Georgien studiert, sagt Karapetyan. "Dort kam der Wandel nach der Machtübernahme von Micheil Saakaschwili zu ruckartig. Das schafft viel Aufmerksamkeit, aber keine nachhaltigen Strukturen." +Der als Reformer angetretene Saakaschwili hatte in Georgien erfolgreich die Korruption bekämpft, sich aber mit seiner exzentrischen Art viele Feinde geschaffen und schließlich das Feld räumen müssen. Das soll den Reformern in Armenien nicht passieren. +Ein Symbol der neuen Zeiten in Jerewan ist das Parlament selbst. Es sei nun für jedermann offen zugänglich, erklärt Karapetyan und ermuntert zu einem Besuch. Am Tor des repräsentativen Gebäudes verwehren aber Wachen den Zutritt. Grundsätzlich sei das Parlament schon immer offen, erklärt Karapetyan, wegen einer Veranstaltung aber gerade geschlossen. "Kann man nichts machen", sagt sie. Und eilt schnell weiter. Damit der Wandel im Armenien langsam und nachhaltig erfolgen kann, müssen sich die Abgeordneten sputen. + diff --git a/fluter/armut-deutschland-sozialer-aufstieg.txt b/fluter/armut-deutschland-sozialer-aufstieg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9f868ce3de1d973b5583673913ef2d4a2334ee4f --- /dev/null +++ b/fluter/armut-deutschland-sozialer-aufstieg.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Warum ausgerechnet die? +Es gibt keinen Partner, der hilft, oder die Unterhaltszahlungen bleiben aus. Oft fällt sogar ein ganzes Familiensystem weg. Dazu fehlt es an Geld, weil Frauen wegen fehlender Kinderbetreuung häufig nicht arbeiten können oder nur in Teilzeit. Es gibt zwar einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz, aber der wird zurzeit nicht immer erfüllt. +Kinder, die in armen Verhältnissen aufwachsen,bleiben relativ oft arm.Was bremst ihren sozialen Aufstieg? +Abitur, Mittlere Reife, am besten ein Studium: Wenn solche Abschlüsse fehlen, droht der soziale Abstieg. Dabei wird schon bei der großen Selektion nach der Grundschule – wer kommt aufs Gymnasium, wer nicht – wenig Rücksicht darauf genommen, dass sich Kinder unterschiedlich entwickeln. Oft wird bei der Einteilung auf die Schulformen auch nach dem finanziellen Hintergrund der Eltern gefragt. Denen wird ihre Armut dann noch als Schwäche ausgelegt und als nicht bewältigbare Belastung für die weitere Schulkarriere der Kinder. +Wie kann man ihnen denn helfen? +Die Teilhabe an allem muss im Kindergarten losgehen und sich in der Schule verfestigen. Dazu gehören neben Kitaplätzen und Bildungsangeboten auch Mittagessen und Freizeitmöglichkeiten – und all das kostenfrei für Familien mit geringen Einkommen. Eine andere Frage ist: Ist die Schule eine Lehrerschule oder eine Schülerschule? Geht es also vor allem um den Arbeitsplatz der Erwachsenen oder um einen Lern- und Lebensort für die Kinder? +Wie haben sich die Probleme durchdie Pandemieverschärft? +Die Defizite haben sich klar gezeigt. Viele Schulen hatten nicht mal die digitale Ausstattung für ein vernünftigesHomeschooling.Aber es braucht nicht nur diese Hardware, sondern auch mehr Ausbildung für Lehrerinnen und Lehrer und Konzepte, die die Schule zu einem Lebens- und nicht nur Lernort machen. Beim Wettbewerb um die beste Schule Deutschlands zeigen uns Schulen, wie es geht. Diese Schulen sind immer um die Teilhabe aller bemüht, meist auch um Angebote für die ganze Familie. +Leben ärmere Menschen generell risikoreicher? +In der Pandemiehaben sich Geringverdienende häufiger mit Covid-19 infiziertund schwerere Krankheitsverläufe gehabt. Sie hattenzu wenig Platz in der Wohnung, keine Möglichkeit für Homeofficeoder um außerhalb der Wohnung – etwa im Grünen – Stress abzubauen. Durch das Schließen von Kitas und Schulen gab es plötzlich für viele Kinder kein Mittagessen mehr, für das nun die Eltern zusätzlich sorgen mussten. In der Pandemie sind viele Preise gestiegen, zum Beispiel für Toilettenpapier. Der Hartz-IV-Satz ist aber gleich geblieben. Je stärker die Eltern belastet sind, desto mehr Druck spüren die Kinder. Das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf hat festgestellt, dassdie psychische Belastungvon Kindern im vergangenen Jahr stark zugenommen hat. Ich bin sprachlos, wie wenig das Thema soziale Ungleichheiten ein Teil von Pandemiebekämpfung ist. +Wie wirken sich Klimawandel und Klimapolitik auf ärmere Menschen aus? +Arme Menschen sind oft stark von den Folgen des Klimawandels betroffen.Die Erwärmung der Städte betrifft vor allem dicht besiedelte Viertel – zum Beispiel Hochhaussiedlungen. Dort ist die Luft stickiger als dort, wo die Häuser mit Gärten stehen. Auch Spielplätze und Grünanlagen findet man viel häufiger in besseren Wohnbezirken. Mit Maßnahmen gegen den Klimawandel verringert man auch die Risiken für Armutsbetroffene. +Gerda Holz forscht seit vielen Jahren am Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt zum Thema Kinderarmut diff --git a/fluter/armut-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt b/fluter/armut-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6f375b160fb3922a155202ceaa0944068dac0b87 --- /dev/null +++ b/fluter/armut-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt @@ -0,0 +1 @@ +Es sah ganz nach einem Paradies aus: In den 1970er-Jahren hatte der Pazifikstaat Nauru kurzzeitig neben Saudi Arabien das höchste Pro-Kopf-Einkommen der Welt. Das lag daran, dass die Insel über große Phosphatvorkommen verfügte, die sich ausbeuten und zu Geld machen ließen. Fortan lebten die Menschen auf Nauru in Saus und Braus. Die Bürger zahlten keine Steuern, Strom und Gesundheitsversorgung waren kostenlos. Man leistete sich bis zu sechs Autos pro Kopf. In den 1990er-Jahren erschöpften sich die Rohstoffe jedoch. Innerhalb kurzer Zeit sank Nauru auf das ökonomische Niveau eines Entwicklungslandes zurück. Es zeigte sich, dass die Gewinne schlecht angelegt waren (unter anderem in eine Reederei, eine Fluglinie und ein Musical in London). Auch wenn Nauru bis heute ein leuchtendes Beispiel dafür ist, wie Bodenschätze zum Fluch werden können (und wir natürlich liebend gerne dorthin gereist wären), fanden wir die Reportagen über das bedingungslose Grundeinkommen in Namibia und den Kupferabbau in Sambia wichtiger für unser Heft. diff --git a/fluter/armut-gesundheitsrisiko-interview-corona.txt b/fluter/armut-gesundheitsrisiko-interview-corona.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5e309df395f9c5d6952e494dce5c7275a429a835 --- /dev/null +++ b/fluter/armut-gesundheitsrisiko-interview-corona.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +fluter.de: Menschen, die Hartz IV beziehen, hatten in Ihrer Studie ein um 84 Prozent erhöhtes Risiko, mit der Erkrankung im Krankenhaus behandelt werden zu müssen. Welche Zusammenhänge gibt es zwischen Corona und Armut? +Nico Dragano: Mehrere Studien zeigen, dass vor allem schwerwiegende Covid-19-Erkrankungen nicht nur bei Langzeitarbeitslosen, sondern generell bei ärmeren Menschen häufiger auftreten. Ein möglicher Grund ist, dass diese Menschen oft gesundheitlich vorbelastet sind. Neben der Schwere des Krankheitsverlaufs könnte es aber auch ein höheres Infektionsrisiko, also das Risiko, überhaupt erst Covid-19 zu bekommen, geben. Hierzu gibt es aber nur wenige Untersuchungen. Die bisherigen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass etwa Leute in prekärer Beschäftigung und mit schlechteren Jobs einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Die Putzkraft oder der Schlachthofmitarbeiter kann sich nicht ins Homeoffice retten. +Stimmt es, dass ärmere Menschen generell anfälliger für Krankheiten sind? +Ja, das ist bekannt, seit es medizinische Statistiken gibt. Die Gründe dafür sind vielfältig und hängen von der Krankheit ab. Ganz grob gesprochen kann man sagen, dass Armut ein Gesundheitsrisiko ist: Man kann sich weniger gesunde Nahrung, eine schlechtere Wohnung, weniger Freizeit und weniger Sport leisten. Ärmere Menschen gehen später zum Arzt. Sie scheuen die Folgekosten: Medikamente werden dann nicht wie vorbesprochen eingenommen, weil man die Zuzahlung nicht leisten kann. Geld hat unmittelbar mit den eigenen Lebensumständen zu tun, und die wiederum können Krankheiten auslösen. +Wie steht es um die psychische Gesundheit? +Armut und Arbeitslosigkeit sind eine psychische Belastung, denn Perspektivlosigkeit und Angst um die eigene Zukunft sind starke Stressfaktoren, die Menschen psychisch krank machen können. Wenn Menschen sich in so einer Lage befinden, verhalten sie sich gesundheitsschädlicher: Es wird mehr geraucht und weniger Sport getrieben. +Was läuft in der Debatte über Armut und gesundheitliche Risiken falsch? +Ganz oft wird gesagt, das seien individuelle Verhaltensfaktoren, nach dem Motto: "Die sind selber schuld", "Die rauchen ja alle, essen Chips". Es sind aber viel mehr Faktoren, die zum Teil von den Leuten gar nicht zu beeinflussen sind. Die Ernährung bei Hartz IV zum Beispiel hat platt gesagt ja mit dem wenigen Geld zu tun. Worüber wir sprechen müssten: Wie verändern wir die Verhältnisse, die Leute krank machen, oder die Verhältnisse, die Leute dazu bringen, sich krankmachend zu verhalten? Wie ermöglichen wir allen einen einfachen Zugang zu gesundem Sport, gesunder Bildung und gesunden Schulen – unabhängig vom Geldbeutel? +Im Gegensatz zu Ländern wie zum Beispiel den USA sind die allermeisten Menschen in Deutschland krankenversichert. Warum gibt es dennoch diese Ungleichheit? +Ja, Deutschland hat den Vorteil einer universellen Gesundheitsversorgung, aber die kommt natürlich immer erst am Ende ins Spiel, wenn die Menschen schon krank sind. Wir müssen das Problem schon vorher angehen. Den Stein der Weisen hat noch kein Land gefunden. Es gibt praktisch in jedem Staat der Welt, aus dem Daten vorliegen, gesundheitliche Ungleichheiten. +Was sollte die Politik tun? +Die Bundesregierung müsste dem folgen, was die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schon lange fordert: Gesundheit muss ein strategisches Thema auf höchster politischer Ebene sein. Die WHO spricht von "health in all policies".Das bedeutet, dass in allen Politikfeldern darauf geachtet werden muss, gerade Menschen mit wenig Ressourcen ein gesundes Leben zu ermöglichen. Bildungs- und Gesundheitspolitik, Ernährung, Verbraucherschutz: All das muss koordiniert werden, und dafür braucht es eine übergeordnete Strategie. +Welche konkreten Maßnahmen wären dafür denn wichtig? +Spontan fällt mir das Bildungssystem ein, das in Deutschland sozial noch immer sehr geschlossen ist. Es ist ein ganz wichtiger Hebel, hier schon bei Kindern und Jugendlichen anzufangen – damit von Anfang an Chancengleichheit besteht und sich nicht im Laufe des Lebens sozial bedingte Krankheiten ausbilden.Kinder und Jugendliche aus Familien mit Hartz-IV-Bezughaben eine deutlich schlechtere Gesundheit als andere. Da geht es um strukturelle Probleme. + + +Prof. Dr. Nico Dragano lehrt medizinische Soziologie am Universitätsklinikum Düsseldorf. Schwerpunkte seiner Forschung sind die Arbeitsgesundheit und der Zusammenhang zwischen sozialer Stellung und Gesundheit. + + +Titelbild: Niklas Grapatin/laif. Während der Coronakrise sind in vielen Städten Gabenzäune entstanden. Menschen können so Lebensmittel oder Klamotten spenden. diff --git a/fluter/armut-sozialer-aufstieg-christian-baron.txt b/fluter/armut-sozialer-aufstieg-christian-baron.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..82d50c92b260c2f43694648b68911c1289f2e865 --- /dev/null +++ b/fluter/armut-sozialer-aufstieg-christian-baron.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Über die Versetzung freute ich mich vor allem, weil fortan mein um ein Jahr älterer Bruder mit mir in dieselbe Klasse ging, er war sitzen geblieben. Heute stehe ich mit Hochschuldiplom da, er aber hat keine Berufsausbildung abgeschlossen. +Wäre alles normal gelaufen, wäre ich noch immer arm – an Einkommen sowieso, aber auch an bürgerlicher Bildung. Warum kam es anders? Unsere Familienerzählung besagt, dass mein Bruder zu wenig Ehrgeiz und Fleiß aufgebracht habe, ich aber zielstrebig und hartnäckig gewesen sei. Aber stimmt das? +Wie unser Autor als Arbeiterkind an der Universität erst einmal einen Kulturschock erlitt,lest ihr hier +Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder aus Akademikerhaushalten das Gymnasium besuchen, ist fast doppelt so hoch wie bei Nichtakademikerkindern. Von 100 Akademikerkindern nehmen 77 ein Universitätsstudium auf. Von 100 Nichtakademikerkindern tun das nur 23. Wer meint, der Zugang zu Abitur und Uni ließe sich vor allem mit individuellem Ehrgeiz und Fleiß erklären, der behauptet angesichts solcher Zahlen etwas Ungeheuerliches – dass nämlich Menschen aus Nichtakademikerhaushalten entweder von Natur aus weniger ehrgeizig und fleißig als Menschen mit Akademikerhintergrund sind oder eben Opfer einer "falschen" Erziehung. In Wahrheit ist es, wie immer, komplizierter. +Dafür bin ich das beste Beispiel. Heute liest sich mein Lebenslauf, als wäre alles auf eine steile Bildungskarriere hinausgelaufen. Wer die biografischen Brüche erkennen will, muss schon genau hinsehen. Als ich vor Jahren zu einem Vorstellungsgespräch für ein Volontariat bei einer Tageszeitung eingeladen war, hatte ich es mit jemandem zu tun, der genau hinsah. Wieso ich die Regelstudienzeit überschritten hätte, obwohl nicht mal ein Auslandsaufenthalt verzeichnet sei? Weshalb ich so wenige Praktika absolviert hätte, und dann nicht mal was Überregionales? Warum ich nicht den Studienort gewechselt hätte? Tja. Dank finanzstarker und "bildungsnaher" Eltern konnte die Konkurrenz unbezahlte Praktika in Hamburg annehmen, in England studieren und für mickrige Honorare ihr Portfolio mit Artikeln füllen. Für mich wurde es mit dem Traumberuf zunächst nichts. Es hagelte Absagen. +Je mehr Zeit ins Land ging, umso klarer wurde mir, dass die Idee, man könne sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, aus gutem Grund eine Geschichte des Lügenbarons Münchhausen ist. Es braucht Hilfe. +In meinem Fall gab es sie in der Familie. Meine Mutter las gern meine guten Aufsätze. Um mich zum Lesen zu animieren, erfand sie Tricks. Als ich sie im Alter von acht Jahren fragte, was sie sich zu ihrem Geburtstag von mir wünsche, bat sie mich, ihr Lieblingskinderbuch zu lesen und an ihrem Jubeltag darüber zu sprechen. Meinen Bruder überließ sie dem Fernseher. Kurz darauf saßen wir mit unserem Großvater im Biergarten. Beim Weizenbier sprach er von seiner Erwartung, dass aus uns mal "was Richtiges" werde. Zu meinem Bruder sagte er: "Du gehst später mal auf den Bau", zu mir sagte er: "Du gehst mal aufs Büro." Lehrerinnen nannten mich "Musterschüler", an meinem Bruder priesen sie auf Nachfrage allenfalls sein "gutes Benehmen". +Seine Noten blieben mittelmäßig, meine wurden besser. Nach der vierten Klasse erhielt ich eine Gymnasialempfehlung, er nicht. Zwischenzeitlich war meine Mutter an Krebs gestorben, darum schwang nun meine Tante das Zepter. Sie wollte mich auf einem Gymnasium unterbringen, es nahm mich jedoch keines auf. Also besuchten mein Bruder und ich dieselbe Klasse einer Gesamtschule. +Ich wurde zum "Streber", mein Bruder zu einem bei Mitschülern beliebten Regelbrecher. Immer wieder versprachen mir Lehrer, die "Streber" von heute seien die Glücklichen von morgen. Und die institutionellen und familiären Helferlein werkelten für mich weiter. Meine ersten Zeitungsartikel etwa schrieb ich nicht, weil ich mich beworben hatte. Nein, meine Tante erfuhr von meinem geheimen Wunsch, rief bei der Lokalredaktion an und bequatschte den Sportredakteur so lange, bis er mir einen Auftrag erteilte. +Am Ende wurde ich doch noch hauptberuflicher Journalist. Nach all den Absagen hatte ich drei Jahre lang in der Wissenschaft gearbeitet, gewartet, gehofft, vor allem aber: Kontakte geknüpft. Ein Studium bietet heute eben auch keine Gewähr mehr für ein Leben ohne Armut. Dennoch glaube ich, dass Bildung der sicherste Weg ist, ihr zu entkommen. Sie öffnet einem oft die Tür – wenn auch manchmal erst im zweiten Anlauf. diff --git a/fluter/arno-frank-roman-so-und-jetzt-kommst-du.txt b/fluter/arno-frank-roman-so-und-jetzt-kommst-du.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7cb318fd64beb34b9869c94ef226e723bdc77617 --- /dev/null +++ b/fluter/arno-frank-roman-so-und-jetzt-kommst-du.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Dass hier keine Kindheitsgeschichte in Ferkelrosa erzählt wird, ahnt man früh. Mehr wert als auf karamellsüße Anekdoten aus der pfälzischen Provinz legt Frank auf die Unsicherheiten und Alltagskatastrophen seines Ich-Erzählers, die wie ungünstige Vorboten erscheinen. Freunde hat der Junge keine, er neigt zu Pummeligkeit, Papa Jürgen hält ihn für begriffsstutzig; die kleine Schwester Jeany erscheint ihm äußerst seltsam, früh entwickelt sie einen Fetisch für verwesende Organismen. +Frank erzählt das alles mit einem pointensicheren Gespür für Situationskomik. Geschickt verschleiert oder verschleift er den bitteren Ernst mancher Begebenheit. Zum Beispiel bei der Sache mit dem so faszinierend sirrenden Heimtrainer im Keller, auf dem der Vater sich eines Abends abstrampelt: "Die feinen Linien der Kette wie parallel schwingende Striche. Ich streckte die rechte Hand aus und spürte einen einladenden Kitzel an der Handfläche. Dann griff ich zu. Natürlich griff ich zu." Der Vater spürt keinen Widerstand, hört "aber ein Knacken wie von trockenen Zweigen". Der Daumen des Sohnes ist ab. Fortan ist er der Freak mit der verkrüppelten Hand. +Arno Frank: "So, und jetzt kommst du", Tropen Verlag, 2017, 352 Seiten, 22,- Euro +Die "Renner" genannten Heimtrainer sind nur eine Schnapsidee des Mannes, der "zu schlau" war, das Abitur zu bestehen. Auf den Wehrmachts-Kübelwagen, Expandern und Wagenhebern, die er gewinnbringend an den Mann zu bringen gedenkt, bleibt er ebenfalls sitzen. Und obwohl der zu grandioser Großspurigkeit und rücksichtslosem Egoismus neigende Vater weiß, "es steht jeden Tag ein Dummer auf", ist doch vor allem die Familie die Dumme, da ihr das Haus unterm Hintern weggepfändet wird. +Tupperware-Partys muss Mutter Jutta allerdings nicht lange veranstalten, um finanziell wieder auf die Beine zu kommen: Jürgen veruntreut 300.000 D-Mark, und ab geht's an die Côte d'Azur, inklusive Villa, Pool, sündhaft teurer Privatschule; einen Zwerg- und einen Riesenschnauzer gibt's obendrauf. Keine Frage: Der nicht selten wie ein Flitzebogen angespannte Jürgen hat's gern größer, am liebsten wie die Reichen, über die er selbstverständlich schlecht redet, wenn gerade keiner von ihnen in geldgünstiger Anschleimnähe ist. Mutter Jutta, eine von Frank distanziert zärtlich gezeichnete, durchaus liebevolle, aber willensschwache Person, zieht bei sämtlichen Aktionen mit. Sie liebt ihren Mann und vertraut ihm, irgendwie. +In Südfrankreich sind die Kinder nicht mehr klein, aber immer noch naiv genug, ihrem Papa zu glauben. Gleichwohl sind bereits Risse in der Behausung familiären Vertrauens zu erkennen. Nach knapp zwei Jahren ist das Geld verprasst und der Betrug fliegt auf. Spätestens an diesem Punkt weiß man: Das wird alles ganz schlimm enden. Von hieran befindet sich Familie Frank auf einer nervenaufreibenden Flucht, die auf einer Bauruine als provisorische Heimstatt in der Pampa Portugals noch lange nicht endet. So wie die an absurdes Theater erinnernden Versuche des Vaters, Geld zu beschaffen. Da ist Familie Frank längst bettelarm. "Hunger ist eine Grube im Bauch", schreibt Arno Frank, und: "Zum Geburtstag bekomme ich ein Snickers." +Unwillkürlich fragt man sich: Wie das wohl sein mag, sich solche Erlebnisse erneut ins Gedächtnis zu rufen? Packt einen die Wut, wird man furchtbar traurig? Der trockene Witz Arno Franks und seine kluge, dichte Beschreibungskunst, verfasst aus dem Blickwinkel eines leicht verwunderten Jungen, bewahren die Geschichte jedenfalls vor Sentimentalität. +Die Träume der Eltern vom großen Glück sind auf diffuse Art immer auch die Träume der Kinder – oder deren angstbesetzte Albträume. Eine Familie von Gespenstern nennt der Autor sie kurz vor Ende. Keiner nimmt mehr Notiz vom anderen. Irgendwann geht's zurück nach Deutschland, wieder in die Gegend von Kaiserslautern, doch das Gefühl von Fremdheit ist erdrückend. "Ich gehöre nicht mehr dazu", schreibt Arno Frank. "Ich sollte anderswo sein. Und weiß nicht, wo." Schließlich landet der Vater in U-Haft. Von seinem neuen Klassenzimmer kann der Teenager den Gefängnishof sehen. "Dieser Gefängnishof, in dem er nie auftaucht", ist der letzte Eindruck von seinem Vater. +Arno Frank schreibt auch regelmäßig für fluter. Etwa über dieMacht der Gene, seine Schwierigkeiten mit demKonzept der kulturellen Aneignungoder die Frage,warum man zum IS besser Daesh sagen sollte diff --git a/fluter/arten-im-meer-schafskopf-lippfisch.txt b/fluter/arten-im-meer-schafskopf-lippfisch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/artenschutz.txt b/fluter/artenschutz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/artenvielfalt-schrebergarten.txt b/fluter/artenvielfalt-schrebergarten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8827aff9ab7eb542ae631ffebae4c3d3cdc1f55d --- /dev/null +++ b/fluter/artenvielfalt-schrebergarten.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Manchmal fällt mir der Verzicht auf Chemie schwer, besonders dort, wo sich manche Schädlinge explosionsartig vermehren. Bei konsequenter Giftabstinenz (und nur dann) pendelt sich das aber wieder ein: Wird nicht gespritzt, gibt es zunächst viele unerwünschte Tierchen, aber mit der Zeit auch mehr nützliche Insekten, mehr Vögel, also im nächsten Schritt weniger Schädlinge. +So ein Garten ist auch endlich mal was für unordentliche Menschen. Die Tiere lieben Laub- und Asthaufen, unaufgeräumte, zugewucherte Ecken oder moderndes Holz. So können Wildkräuter problemlos mit Nutz- und Zierpflanzen zusammenleben. Wer bestimmt überhaupt, was Unkraut ist und was nicht? Ich finde Johanniskraut, Löwenzahn, Günsel, Ehrenpreis, ja selbst Disteln ausgesprochen hübsch, und auch sie bieten Nahrung für Insekten. Selbst beim Mähen ist weniger mehr: Im hohen Grassummen Bienenund zirpen im Spätsommer Grillen. Gedüngt wird bei mir mit selbst angerührten Pflanzenjauchen, etwa aus Brennnesseln. Stinkt abartig, aber die Pflanzen lieben sie. +Wer jetzt denkt: "Ach, die paar Meter um eine Laube oder vor der Terrasse sind doch egal", sollte sich die Zahlen angucken. Bundesumweltministerin Svenja Schulze sagt, dass in Deutschland etwa 36 Millionen Menschen einen Garten haben. Vor allem Städter weichen dabei – wie ich – auf Schrebergärten aus. Derzeit gibt es in Deutschland rund 900.000 solcher Gärten. Laut dem Naturschutzbund liegt deren Gesamtfläche über der aller Naturschutzgebiete der Republik. Dabei sind Schrebergärten besonders für Insekten wichtiger als Hausgärten: Hier finden sie die perfekte Pflanzenmischung zum Bestäuben. So gesehen gelingt erfolgreicherArtenschutzauf nicht unbeträchtlicher Fläche. +Natürlich werden sich in unseren Gärten weder Luchs noch Steinbock ansiedeln – aber viele andere Tiere und Pflanzen, die es in unseren Nutzlandschaften immer schwerer haben. Gefährdete Arten wie Sommer-Adonisröschen, Frauenspiegel, Lämmersalat oder Acker-Rittersporn muss ich aussäen. Wiesen- schaumkraut oder Knoblauchsrauke kommen von allein und mit ihnen Aurorafalter, denn für deren Raupen sind sie die wichtigste Nahrungsquelle. Und wo eine Acker-Kratz-Distel einfach mal stehen bleibt, sehen wir vielleicht zum ersten Mal im Leben einen Stieglitz. + +Titelbild: Kathrin Harms/laif diff --git a/fluter/ask-mark-ve-oeluem-kaya-interview-berlinale.txt b/fluter/ask-mark-ve-oeluem-kaya-interview-berlinale.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..29af9f0d20866e391875380ac598523f69b8d1e2 --- /dev/null +++ b/fluter/ask-mark-ve-oeluem-kaya-interview-berlinale.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Eine Kultur, von der die deutsche Mehrheitsgesellschaft wenig mitbekommen zu haben scheint. +Nein, denn diese Musiker wurden halt nicht zu "Wetten, dass ..?", zu "Dalli Dalli" oder in die anderen großen westdeutschen Unterhaltungsshows der damaligen Zeit eingeladen. Die waren nicht präsent, und entsprechend hat man sich selbst auch immer sehr unterrepräsentiert gefühlt. Wenn ich meinen Freunden Ende der Achtziger, als ich so 12, 13, 14 war, türkische Musik vorgespielt habe, haben die die Nase gerümpft: "Was ist das denn? Wir verstehen die Texte nicht." Und ich habe gesagt: "Ja, aber bei Michael Jackson verstehst du ja auch die Texte nicht. Also: Come on!" +Der Film wird getragen von Aufnahmen aus den 60er-, 70er-, 80er-Jahren. Es sind tolle Bilder von Hochzeiten, von Konzerten, von Fernsehshows, aber auch von Einkaufspassagen, von Streiks oder von medizinischen Untersuchungen bei den allerersten Arbeitsmigrantinnen und -migranten. Wo haben Sie das ganze Material her? +Wir durften die Archive der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender nutzen, und das war wirklich ein Riesenfund, das hat mich selber sehr überrascht, wie viel es da gibt. Ein wichtiger Teil aus diesem Archivschatz waren die sogenannten Gastarbeiter-Sendungen, also Magazine, die sich gezielt an Italiener, Griechen, Spanier und eben auch Türken richteten. Beim WDR gab es ab 1965 "Ihre Heimat, unsere Heimat", beim ZDF den "Brief aus der Türkei" und "Nachbarn in Europa". Da gab es dann Nachrichten aus der Türkei, man hatte so einen sozialen Teil – wie beantrage ich Kindergeld, wie kommt mein Kind aufs Gymnasium? –, und der dritte Teil der Sendung war immer Kultur und Musik. +Als musikalisches Medium spielen im Film Kassetten eine tragende Rolle. Warum waren sie so wichtig? +Ganz einfach: Du kannst sie im Auto hören. Man darf nie vergessen, Migration bedeutet Mobilität. Und man ist ja in den Sommerurlaub in die Türkei mit der Großfamilie nicht geflogen, das konnte man sich gar nicht leisten. Also hat man den Ford Transit vollgepackt, ist drei Tage gefahren, und unterwegs musste man ja irgendwie unterhalten werden. Kassetten waren außerdem billig, es gab mehrere große türkische Independent-Labels, die in Deutschland Kassetten produziert, aufgenommen und vertrieben haben. Wie Türküola aus Köln, die haben Millionen verkauft. Oder Uzelli aus Frankfurt, die hatten ein Patent auf eine hitzeresistente Kassette. Damit sie auf dem Weg in den Sommerurlaub im aufgeheizten Auto nicht kaputtgeht. +Was sind die Themen der Lieder, die in Ihrem Film vorkommen? +Wenn man sich das als Ganzes anschaut, von den Songs aus den Sechzigern, als die ersten Arbeiter hierherkamen, bis später zum Hip-Hop,dann ist der rote Faden sicher die Auflehnung gegen Diskriminierung und Rassismus. Der allererste türkische Barde, der hier in Deutschland berühmt wurde, war Asik Metin Türköz. Der hat sinngemäß Texte gesungen wie: "Schaut mal, wir haben einen Vertrag bekommen in der Türkei, dann haben sie uns in den Zug gesetzt, wir sind drei Tage gefahren und ins Heim gekommen, statt einer normalen Matratze haben sie uns eine Strohmatratze hingelegt, und seitdem maloche ich hier." Oder die "Nachtigall von Köln", Yüksel Özkasap … +… die in den Sechzigern und Siebzigern von der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt mehrere Goldene Schallplatten für ihre Singles gewann und wie viele der Sängerinnen und Sänger von damals in Ihrem Film als Interviewpartnerin auftritt. +In ihren Liedern singt sie auf Türkisch so etwas wie: "Armut, du hast mich nach Deutschland gezwungen". Oder: "Ich bin in Köln jetzt und immer noch unverheiratet", also letztendlich ein Song über Sexualität. Das sind alles Texte über Diasporaerfahrungen. Oder noch mal Asik Metin Türköz mit seinem Song "Guten Morgen Mayistero", in dem es um seinen Vorarbeiter geht und in dem er als einer der Ersten deutsche Wörter mit reinmischt. Das ergibt dann einen Sprachmix, der so nur in der Diaspora möglich ist. Auch"Ahmet Gündüz" von Fresh Familee, der vielleicht erste genuine deutschsprachige Rapsong, schildert eine Diskriminierungserfahrung. +Nun sind wir bereits Anfang der 90er-Jahre, Deutschland ist wiedervereinigt … +… und im Zuge dessen hatte die Ausländerfeindlichkeit einen Hochpunkt erreicht.Rassistische Anschläge waren damals fast an der Tagesordnung, das kam noch on top auf die ganzen Diskriminierungen, die man im Alltag erlebt hat. +War Hip-Hop eine Reaktion auf den Rassismus? +Damit hatte es ja schon in den Achtzigern angefangen. Es gab 1982 bereits die große Breakdance-Welle, auf den Jams damals waren vor allem Kinder der Arbeiterklasse vertreten, und so gab es eben auch viele migrantische Kids, die gebreakt, gesprüht und gerappt haben. Nur DJs waren sie nicht, weil sie nicht das Geld hatten, um Platten zu kaufen. Da musstest du schon Mittelklasse sein. Das sieht man auch bei Fresh Familee – da war der DJ ein Deutscher. +Heute ist migrantischer Hip-Hop ein fester Teil der deutschen Popmusik. +Heute ja. 1991, 1992 hat der Mainstream den deutschen Hip-Hop à la Die Fantastischen Vier abgefeiert. In der Euphorie der Wiedervereinigung musste erst mal alles deutsch sein. Da hieß es "deutsche Reimkultur", man hat versucht, irgendwie an die großen Dichter und Denker anzuknüpfen. Da war kein Platz für den Migranten, erst recht nicht, wenn der Migrant zu politisch wurde. Das hat sich erst geändert, als der Migrant eine Rolle übernommen hat, die ihm zugedacht wurde – und das war der Gangster. Erst mit dem Gangsterrap hatte er eine Nische und hat auch Major Deals bekommen. +Die Gangsterrapper kommen in "Aşk, Mark ve Ölüm" aber nicht mehr vor. +Der Film endet in den Zweitausendern mit Muhabbet, der als Erster erfolgreich mit türkischer Kehle auf Deutsch gesungen hat. Wir mussten irgendwo die Kurve kriegen. Alles, was danach kam, also die große Erfolgsgeschichte der migrantischen Musik in Deutschland, reißen wir nur in einer schnellen Fotocollage an. Denn das ist ein komplett neuer Film. + +"Aşk, Mark ve Ölüm – Liebe, D-Mark und Tod" hatte auf der Berlinale Premiere und lief am 29. September 2022 in den deutschen Kinos an. +Mittlerweile ist der Film – bis März 2026 –in der der ARD-Mediathek zu sehen. +Bilder:  filmfaust, Film Five diff --git a/fluter/asow-jugendcamps-in-der-ukraine.txt b/fluter/asow-jugendcamps-in-der-ukraine.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7130b952db4a8ff02c4eae53c30cd7cc32cf5158 --- /dev/null +++ b/fluter/asow-jugendcamps-in-der-ukraine.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +Die Campleiter stehen bei der "Eröffnungszeremonie" ums Feuer +Welche Schusswaffe darf's sein? Die Kinder bereiten sich auf eine Kampf-Simulation vor +Schon am ersten Tag geht's für die Camp-Teilnehmer an die Kalaschnikow +Im dritten Jahr in Folge organisiert das Regiment Asow auch Camps für Kinder. Dieses Mal sind sie ganz in der Nähe der Hauptstadt Kiew. Innerhalb von zwölf Tagen sollen die Kinder im Alter von 7 bis 15 Jahren lernen, was es bedeutet, als Soldat oder Soldatin fürs Vaterland zu kämpfen. +Das Camp umrandet ein Zaun. Im Lager gibt es Ess- und Schlafräume, eine Kletterwand und einen kleinen Strand an einem Zubringer des Flusses Dnepr. Zu Beginn des Ukraine-Konfliktes haben die Nationalisten das Grundstück von der Regierung bekommen. Damals mussten sie nichts dafür zahlen, denn die Regierung unterstützte die "patriotische Bildung". +Schon am ersten Tag bekommen die Kinder Kalaschnikows. Tarakan, ein 15-jähriges Mädchen aus Kiew mit langem glatten Haar, braucht nur 25 Sekunden für die Aufgabe: Magazin, Ladehebel und Gaszylinder entfernen, dann alles wieder zusammensetzen. Vorsicht: den Lauf niemals auf eine Person richten. Außer, sagt der Campleiter, du bist sicher, dass du schießen willst. +Üben am Holzgewehr: Hier geht es nur um die richtige Haltung +Wie echte Soldaten sollen sich die Kinder fühlen. Das kann auch heißen: Lange in unbequemen Positionen ausharren +Ein Campleiter überprüft, ob die Kinder und Jugendlichen die Gewehre fest genug halten +Die Miliz wurde nach der russischen Annexion der Krim im März 2014 von den nationalistischen Politikern Dmytro Kortschynskyj und Oleh Ljaschko gegründet. Ihren Sitz hat sie im Süden der Verwaltungseinheit Oblast Saporischschja am Asowschen Meer. Die ukrainische Armee konnte sich nicht länger gegen die prorussischen Separatisten behaupten, also stiegen Freiwillige in den bewaffneten Konflikt mit ein. Finanziert wurden sie von wohlhabenden ukrainischen Geschäftsmännern. Im Sommer 2014 half das Regiment, Teile der Stadt Mariupol von prorussischen Kämpfern zu befreien. So wurde die Miliz im Land berühmt. Seit Herbst 2014 untersteht das Regiment Asow dem Innenministerium und ist damit Teil der Nationalgarde. +Die Jugendlichen tragen Militäruniformen, wenn sie zum morgendlichen Appell antreten. Auf Befehl ziehen sie ihre Schildmützen aus. Sie ballen ihre Fäuste vor der Brust und sprechen im Chor: "Ukraine, heilige Mutter der Helden, komm in mein Herz. Möge meine Seele von dir erweckt und erleuchtet sein von deiner Herrlichkeit. Du, Heilige der Heiligen, bist mein Leben und mein Glück." Dann wird die Flagge gehisst: blau und gelb für die Ukraine mit dem Bild eines stolzen Soldaten. +Liebeserklärungen ans Vaterland in strammer Reihe gehören fest zum Alltag im Camp Asow +Es folgen Geschichtsunterricht und Kurse, in denen die Teilnehmer über Zäune steigen, an Seilen und Leitern hinaufklettern und Techniken für den Kampf auf einem Schlachtfeld üben. "Wir lernen hier, wie sich Soldaten an der Front fühlen und verhalten", sagt Tarakan. "Und wie wir im Wald oder der Wüste überleben. Wir haben auch Erste-Hilfe-Kurse und lernen etwas über Militärtaktiken. Das sollte jeder können." +"Mein Vater hat mir einen Flyer vom Camp gezeigt", sagt der 14-jährige Rostislav. "Ich fand das cool und fragte meinen besten Freund, ob er auch mitkommt." Warum so viele Kinder diese Camps besuchen? "Weil wir uns in einem Krieg befinden", sagt Rostislav. +Training im Gelände +Die Kinder lernen, wie sie Verletzte aus einem Gefecht retten können +Pause: Nur die Sneaker müssen keiner Militärkleidung weichen + +Kurz vor einer Übung mit Laserwaffen hören die Kinder dem Campleiter zu +"Man kann Asow radikal nennen", sagt ein junger Mann namens Gold, ein Kampfname, wie ihn viele hier tragen. Gold leitet die Jugendabteilung des Regiments. Er ist enttäuscht vom mangelnden Engagement seiner Mitbürger. "Nur zehn Prozent der Ukrainer sind als Soldaten oder Freiwillige im Krieg. Der Rest kümmert sich nur um den Alltag. Sie denken nicht an die Zukunft ihrer Kinder." +Im Oktober 2016 hat das Regiment Asow eine Partei gegründet, die "Nationalkorps". Die Jugendcamps seien nur ein Beispiel für den Krieg des Regiments an der "zweiten Front", wie Gold seinen rechten Aktivismus nennt. Diesen Sommer haben 400 Kinder und Jugendliche ein Camp besucht. Mehr als die Hälfte sind Kinder von Mitgliedern des Asow-Regiments. Während der Schulzeit besuchen Asow-Mitglieder sogar Schulklassen. Im vergangenen Frühling haben etwa 600 Kinder in der Schule einen Tag der Militärausbildung mitgemacht. +Sieht fast aus wie ein normales Zeltlager: Erste-Hilfe-Übungen +... oder: Haareflechten +Rostislav sieht die harte Linie des Regiments auch kritisch: "Ich mag das Gebet ans Vaterland nicht. Nationalismus kann zu Faschismus führen, und das ist schlecht. Wenn das Camp weniger nationalistisch wäre, wäre es das beste Camp der Welt", sagt er. +"Nach dem Camp werde ich nicht losziehen und Leute erschießen", sagt Tarakan. Sie will Physik und Mathematik studieren und Lehrerin werden. Rostislav möchte nach der Schule für ein Jahr in die USA gehen, um sein Englisch aufzubessern. Er will Übersetzer werden. +Im Camp gibt es verschiedene Teams, die je einen Anführer aus den eigenen Reihen haben und gegeneinander antreten +Am Abend sieht das Camp aus wie jedes andere Zeltlager: die Teilnehmer starren müde ins Feuer +Plötzlich ertönt ein Pfiff. Tarakan und Rostislav eilen zum Appell. Wenn der Staub nach einem ereignisreichen Tag im Camp wieder zu Boden sinkt, ertönt noch einmal der gebetsartige Chor: "Verbrenne all die Schwäche aus meinem Herzen, damit ich keine Angst und keinen Zweifel habe. Mache meinen Geist stark." Dann wird die Flagge eingeholt, die Flammen noch einmal entzündet. Am Abend sieht alles aus wie in jedem anderen Zeltlager: Die Kinder sitzen ums Lagerfeuer, weit weg von einem Krieg, der ihr Land Tag für Tag verändert. diff --git a/fluter/assi-tv-fernsehen-vorurteile-armut.txt b/fluter/assi-tv-fernsehen-vorurteile-armut.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..62a95800edbe3d81145ebdc15db3f51896a4aceb --- /dev/null +++ b/fluter/assi-tv-fernsehen-vorurteile-armut.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Zwar sind die goldenen Tage von "Mitten im Leben" oder "Frauentausch" vorbei, auf RTL II, RTL und Vox laufen aber längst neue Formate, die diese Tradition fortführen. Da gibt es zum Beispiel die Sozialdokumentation "Armes Deutsch­land – Stempeln oder Abrackern". Hier werden in jeder Fol­ge zwei Schicksale gezeigt: Die einen "stempeln",beziehen also Sozialleistungen,und die anderen schlagen sich gerade so mit mehreren Jobs durch. +Für seine Studie "Ar­mutszeugnis – wie das Fernsehen die Unterschichten vorführt" hat sich der Medienwissen­schaftler Bernd Gäbler intensiv mit "Armes Deutschland" befasst. "Gerade dieses Format teilt durch Kommentierung stark in ‚gut' und ‚böse' ein. Die Teilnehmer werden in dieses Schema reingezwängt", sagt er. Tatsächlich gibt es durchweg gehässige Kommenta­re aus dem Off, wenn die Protagonisten einmal als vermeint­lich faule Sozialhilfeempfänger entlarvt werden. Als ein junges Paar aus Brandenburg,das von Hartz-IVund Kinder­geld lebt, zurück zu den Eltern zieht, wird höhnisch ver­kündet: "Die Ex­-Partner verteilen ihre Lebenskosten gerecht auf den Staat und ihre Eltern (...), der Weg zurück ins Kin­derzimmer hat sich für beide erst mal ausgezahlt." Auch durch den Schnitt zeigen die Macher die Teilnehmer von ihrer schlechtesten Seite. Wenn diese von gesunder Ernährung sprechen, gibt es eine Einstellung auf den Tiefkühler, in dem sich Fertigkost stapelt. Wenn sie davon sprechen, im Haushalt zu helfen, sieht man parallel den Schmutz in den Ecken. Selbst der unappe­titlich lange Zehennagel eines Teilnehmers ist vor der heran­zoomenden Kamera nicht sicher. +Als ein Hartz-IV beziehender Vater seine Schachtel Zi­garetten mit Freunden teilt, heißt es: "Statt seine Schulden zu zahlen, verteilt er das Geld vom Staat unter seinen Freunden." Bei einem anderen, der für einen Freundschaftsdienst neben Essen und Trinken auch Geld annimmt, wird kommentiert: "Auch wenn für D. die Grenzen fließend sind, betrügt er ein­deutig den Sozialstaat." Für solche Rechtsfragen gibt es sogar ein eigenes Spin­off: "Armes Deutschland – dürfen die das?" +Unter den hunderttausendfach geklickten Videos der Serie auf YouTube kann man einen Eindruck davon gewinnen, warum Menschen die Serie schauen:"Endlich die wöchent­liche Dosis asozial"oder "Endlich sieht man wieder Leute, die noch schlimmer sind als man selbst" steht in den Top­kommentaren. Auch Medienwissenschaftler Bernd Gäbler meint: "In der Regel ist es eine Mischung aus Identifikation und Vergleich – man sieht gern Menschen, die einem in ihrer Lebenssituation ähneln, denkt sich aber auch: ‚Zum Glück bin ich nicht so schlimm wie die.'" Für manche Teilnehmer hat die Sendung ernsthafte Konsequenzen. Der Familien­vater, der seine Schachtel Zigaretten teilte, erhielt nach Aus­strahlung seiner Folge Hassnachrichten und Drohungen – sein Leben "sei zerstört", berichtete er in einem Zeitungs­artikel. Auch seine damalige Frau bereut ihr Auftreten in "Armes Deutschland". Auf eine Interviewanfrage antwortete sie, dass sie ein neues Leben führe und nicht mehr mit ihrer Teilnahme konfrontiert werden möchte. +"Diese Formate tun so, als würden sie diesen Men­schen eine Stimme geben: Richtig zuhören tun sie aber nicht", resümiert auch Bernd Gäbler. Die Figur des "Assis" wird wohl fester und beliebter Bestand­teil deutscher Popkultur bleiben – dafür werden die Macher von TV­-Formaten wie "Armes Deutsch­land" schon sorgen. diff --git a/fluter/astronautin-frauen-im-weltraum.txt b/fluter/astronautin-frauen-im-weltraum.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dea1f1827c0d4aa3b1856ffeae1da72adbd9f1d2 --- /dev/null +++ b/fluter/astronautin-frauen-im-weltraum.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Siems formuliert das bewusst so verhalten: Nur sehr wenige Anwärter*innen schaffen es tatsächlich an Bord einer Raummission. Und Siems arbeitet in einer Branche, die von Männern bestimmt wird. Das DLR bemüht sich seit Jahren um Chancengleichheit. Trotzdem ist dort nur jede*r fünfte Wissenschaftler*in eine Frau. Ein typischer Wert für die Raumfahrt. Auch bei der ESA lag der Frauenanteil zuletzt bei etwa 20 Prozent, in Führungspositionen bei zwölf Prozent. Seit ihrem Start im Jahr 2000 waren 18 ESA-Astronaut*innen auf der ISS, zwei davon weiblich: die Französin Claudie Haigneré und Samantha Cristoforetti aus Italien. Eine Deutsche war noch nie im All. + +Katharina Siems wird das fürs Erste nicht ändern: Vor ihr fliegen erst mal ihre Bakterien auf die ISS. Siems hat sie im DLR-Labor gezüchtet und will beobachten, wie sich Bakterien im All verhalten. Sie verspricht sich zum Beispiel Erkenntnisse darüber, welche Materialien für antibakterielle Oberflächen und sterile Räume infrage kommen. "Aus wissenschaftlicher Sicht ist es schon problematisch, dass wenige Frauen im All sind", sagt Siems. Neben neuen Metallen und Vegetationsformen werde dort auch am Verhalten des menschlichen Körpers in der Schwerelosigkeit geforscht. So wurde unter anderem belegt, dass Astronaut*innen im All unter Knochenschwund leiden. Zurück auf der Erde, kehrt sich der Prozess wieder um. Daraus ergeben sich Hinweise für die Erforschung von Osteoporose – eine Krankheit, die besonders Frauen betrifft. "Astronauten sind wie Labormäuse auf der ISS", sagt Siems. Regelmäßig werden Blut- und Urinproben genommen –und nicht alle Daten, die an Männern erhoben werden, lassen sich auf Frauen übertragen. +Siems beoachtet aber auch, dass die Branche die Ungleichheit wahr- und ernst nimmt. "Vielleicht wird sich das in den kommenden Jahren oder Jahrzehnten langsam ausgleichen." In ihrer Arbeitsgruppe forschen derzeit mehr Frauen als Männer. Darunter auch welche, die sich beim nächsten ESA-Auswahlverfahren bewerben wollen. +Das wird voraussichtlich Ende März beginnen, in derAusschreibungspricht die ESA gezielt Frauen an. Beim letzten Verfahren 2008 gingen unter8.413 Bewerbungengerade mal 16 Prozent von Frauen ein. Sechs Personen wurden am Ende genommen, darunter immerhin noch eine Frau. Ein Grund: Vorausgesetzt wurde ein Studium in Medizin oder einem der MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) – die bis heute deutlich weniger Frauen wählen. Ein weiterer Grund: Flugerfahrung als Pilot*in steigerte die Chancen der Bewerber*innen – noch ein Job, in dem Frauen unterrepräsentiert sind. + +Claudia Kessler ahnte von alldem noch nichts, als ihr Interesse am All erwachte. Kessler war gerade vier, als der erste Mensch seinen Fuß auf den Mond setzte. Es war der Astronaut Neil Armstrong – ein US-Amerikaner. Für ihn war es der viel zitierte kleine Schritt, für Kessler ein derartiges Erlebnis, dass sie später ihre Hochzeit auf den Jahrestag der Mondlandung von 1969 legte. +Seitdem kam Kessler dem All immer näher. Sie studierte Maschinenbau und Luft- und Raumfahrttechnik, schaffte es in die Raumfahrtindustrie und blieb fast 30 Jahre. "Als ich dann immer noch die einzige Frau im Team war, habe ich gedacht: Das muss ich selbst in die Hand nehmen." Ihre Mission: die erste deutsche Frau ins All bringen. 2016 gründete Kessler dieInitiative "Die Astronautin". Aus 400 Bewerberinnen wählte sie zwei aus: Eine ist die Meteorologin Insa Thiele-Eich. Sie beschäftigt sich vorrangig mit Wetterforschung und den Auswirkungen des Klimawandels, 2021 soll sie zehn Tage auf der ISS verbringen. + +Wer Thiele-Eich trifft, ahnt, was bis dahin noch zu tun ist: Sie spricht schnell, hat viel zu erzählen, aber wenig Zeit: Fernsehdrehs, Fluglizenz, Druckkammer-Training, Raketenstart-Simulationen. Auf Raumfahrt-Veranstaltungen wurde sie schon für eine Garderobenfrau gehalten, erzählt sie. So was dürfte ihr nicht mehr passieren, wenn alles klappt – und Thiele-Eich bald im All forscht. Für sie hätte das Signalwirkung. "Da geht es um die Vorbildfunktion: Je weniger Frauen ins All fliegen, desto weniger kommen nach." +Damit Thiele-Eich bis zur ISS kommt, muss die Initiative "Die Astronautin" noch viel Geld einsammeln. "Wir brauchen jemanden, der uns die Startkosten finanziert", sagt Gründerin Kessler. Insgesamt koste die Mission rund 50 Millionen Euro. +Ginge es nach ihr, müsste die Politik helfen. Aber die ist gespalten. Vor allem die beiden Kandidatinnen aus Kesslers Initiative seien Vorbilder, heißt es auf Anfrage aus dem Bundesfamilienministerium, das auch für Gleichstellungsfragen zuständig ist. "Fakt ist, dass bis dato keine einzige deutsche Frau im All war, obwohl es an qualifizierten Bewerberinnen nicht mangelt", sagt eine Sprecherin. "Das muss sich ändern." Geld soll es für Kessler und ihr Team aber nicht geben. + +Das für Raumfahrt zuständige Wirtschaftsministerium begründet das mit dem "privaten Charakter" der Initiative. Das Projekt bekomme lediglich ideelle Unterstützung. Auch eine gemeinsame Finanzierung durch mehrere Ministerien erscheine derzeit nicht möglich, heißt es aus dem Wirtschaftsministerium. Ein Grund dafür: Die Raumfahrt habe heute weniger nationalen als europäischen und internationalen Charakter. "Die derzeitige ESA-Astronautin Samantha Cristoforetti ist auch in Deutschland ein Vorbild für Frauen in der Raumfahrt", sagt eine Sprecherin des Ministeriums. +Claudia Kessler sieht das anders. "Astronauten sind nationale Helden", sagt sie. "Auch wenn sie unter europäischer Flagge fliegen, bekommen sie die Anerkennung vor allem in ihrem Heimatland." +Die ISS (International Space Station)dreht etwa 400 Kilometer über der Erdoberfläche ihre Runden. Die Raumstation wird seit 20 Jahren von internationalen Astronaut*innen bewohnt, ein regulärer Aufenthalt dauert mehrere Monate. Am Aufbau und Betrieb der ISS sind fünf Raumfahrtorganisationen beteiligt, allen voran die NASA und Roskosmos. +Die NASA (National Aeronautics and Space Administration)hat als eine der beiden großen Weltraumorganisationen zu jeder Zeit mindestens eine*n Astronaut*in an Bord der ISS. Ende 2019 machten zwei NASA-Astronautinnen den ersten rein weiblichen Weltraumspaziergang – nachdem der Ausflug im Frühjahr verschoben werden musste, weil keine zwei passenden Raumanzüge an Bord waren. +Roskosmossitzt im sogenannten Sternenstädtchen bei Moskau. Die russische Weltraumorganisation beteiligt sich auch dauerhaft an der ISS. Neben Englisch muss die Besatzung deshalb auch fließend Russisch sprechen. +An derESA (European Space Agency)sind aktuell 22 Staaten beteiligt, unter ihnen Deutschland durch das DLR. Zur ISS hat die ESA das Weltraumlabor "Columbus" beigesteuert, das 2008 andockte und als Labor für verschiedene Fachrichtungen dient. In einem Experiment konnte gezeigt werden, dass Organismen wie Flechten längere Weltraumaufenthalte überleben können – was Hoffnung gibt, dass irgendwann Lebensformen auf Planeten wie dem Mars gefunden werden könnten. Die ESA betreibt unter anderem das "Europäische Astronautenzentrum" in Köln, in dem alle ISS-Astronaut*innen trainieren. +DieJAXA (Japan Aerospace Exploration Agency)ist ebenfalls seit 2008 mit einem Modul an der ISS beteiligt. Vier Astronaut*innen forschen hier gleichzeitig – vor allem medizinisch und biologisch. Das Modul heißt "Kibo" (dt.: "Hoffnung"). +DieCSA (Canadian Space Agency)sorgt mit einer großen Anlage dafür, dass die ISS instand gehalten werden kann. Kernstück: ein fast 18 Meter langer Roboterarm, der Fracht oder Ersatzteile von einer zur anderen Seite der Raumstation transportiert und den Astronaut*innen bei Außeneinsätzen an der ISS hilft. +Der Mikrobiologin Katharina Siems fehlen vor allem weibliche Vorbilder. Sie wünscht sich, dass die ESA gezielt Frauen für den Job anwirbt. So wie es etwa die NASA bereits seit einigen Jahren macht. +Bei der US-amerikanischen Raumfahrtagentur lag der Astronautinnenanteil der letzten Jahrgänge durchschnittlich bei mehr als 40 Prozent – ohne dass sich die NASA offiziell eine Frauenquote gesetzt hätte. Astronautinnen sind in der nordamerikanischen Raumfahrt schlichtweg präsenter als in Europa und sogar als Werbeikonen sichtbar. Unter dem Hashtag #MakeSpaceForWomen produzierte eine Make-up-Firma einen Werbespot für den Super Bowl 2020, in dem ein weibliches Team auf Weltraummission geht. +Das soll nicht lange Fiktion bleiben: Die NASA plant, zum ersten Mal überhaupt eine Frau auf den Mond zu bringen. Bis dahin ist erst mal nur der Name der Mission weiblich:"Artemis III"soll 2024 starten. diff --git a/fluter/atomenergie-pro-und-contra.txt b/fluter/atomenergie-pro-und-contra.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b203aa4da1e82d64753e29fb8b92ea37ce99398d --- /dev/null +++ b/fluter/atomenergie-pro-und-contra.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +Ganze Regionen werden bis Mitte des Jahrtausends unbewohnbar werden. Der Nahe Osten, Teile des Mittleren Ostens und der östliche Mittelmeerraum erwärmen sich beispielsweise doppelt so schnell wie der Rest der Welt. In Südasien ist man mit den Temperaturen des Sommers 2022 – verbunden mit hoher Luftfeuchtigkeit – bereits nahe an den tödlichen Bereich herangekommen, sagen Klimaforscher. Sogar in Deutschland geht manvon mehreren Tausend hitzebedingten Todesfällenallein im Juli 2022 aus. +Angesichts des Klimawandelsmuss das Risiko Atomkraft neu abgewogen werden. Bei nuklearen Anlagen ist eine Katastrophe möglich, keine Frage, beim Klimawandel ist die Katastrophe aber längst da – und zwar in einem ganz anderen Ausmaß als die kontaminierten Gebiete rund um Fukushima oder Tschernobyl. Denn auch das gehört zur Wahrheit: Die Folgen eines Atomunfalls sind in unserer Wahrnehmung viel größer, als sie tatsächlich sind. +Beim Reaktorunglück in Fukushima gab es unmittelbar keinen einzigen Toten. Keinen! Selbst wenn man alle späteren krebsbedingten Todesfälle und jene durch die jahrelange Zwangsevakuierung dazuzählt, kommt man je nach Schätzung auf einige Tausend Opfer. Der Verlust jedes einzelnen Menschen ist schlimm, doch bei der Erderwärmung haben wir es mit ganz anderen Dimensionen zu tun. +Eine Arbeitsgruppe des sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarats IPCC geht Anfang 2022 davon aus, dass schon jetzt die Hälfte der Menschheit hochgradig gefährdet ist. Allein bei dem einen Extremwetterereignis 2021 im Ahrtal kamen über 180 Menschen ums Leben. Zehntausende sind es schon jetzt weltweit. Der Klimawandel ist bedrohlicher für die Menschheit als die Gefahren der Atomkraft. Und das spricht ganz grundsätzlich für AKWs und ihren vergleichsweise geringen CO2-Ausstoß. +Atomkraftgegner*innen führen oft ins Feld, dass doch Wind und Sonne im ersten Halbjahr 2022 schon knapp die Hälfte des Stromverbrauchs in Deutschland deckten. Dabei wird gerne unter den Tisch gekehrt, dass der Strombedarf wegen des klimaneutralen Umbaus der Wirtschaft stark ansteigen wird. Mehr E-Autos, mehr Wärmepumpen und mehr grüner Wasserstoff – schon dafür werden weit über 100 Terrawattstunden mehr Strom pro Jahr benötigt. Alleindie Chemieindustrie braucht nach eigenen Berechnungen2050 mehr Strom als heute ganz Deutschland. +Selbst wenn Bundesklimaschutzminister Robert Habeck ein Jahr lang jeden Tag einen neuen Windpark à drei Windanlagen einweiht, reicht die Strommenge nicht für das Industrieland Deutschland – insbesondere dann nicht, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht, zum Beispiel bei einer Flaute in der dunklen Jahreszeit. Solange grüne Energie nicht effektiv, komplikationslos und ausreichend gespeichert werden kann, reicht sie für den wachsenden Bedarf schlicht nicht aus. +Und der Atommüll? Es stimmt, ein Endlager fehlt in Deutschland nach wie vor. Doch das bedeutet nicht, dass keines gebaut werden kann. Es wird ohnehin für den bereits entstandenen Atommüll notwendig. Und der Müll aus AKWs ist mengenmäßig nicht so groß, als dass man nicht mit einem Endlager auskommen würde. Als schlagkräftiges Gegenargument taugt der Atommüll daher nicht. +Der Weltklimabericht führt in seinen diversen Szenarien immer auch die Atomkraft als Teil eines glimpflichen Verlaufs an. Einewachsende Zahl von Klimaforschern macht sich für Nuklearanlagen stark– allein schon, um Zeit zu gewinnen für den Ausbau von Erneuerbaren. Die Grünen in Finnland befürworten mittlerweile die Atomkraft. Sogar in den Ländern, die wie Japan und die Ukraine selbst einen atomaren GAU erlebt haben, sind nicht aus der Atomkraft ausgestiegen. Sind etwa alle blind und nur wir Deutschen sehend? +Auch hierzulande wird dringend mehr Zeit benötigt. Bei der Energiewende ist in den Jahren der Großen Koalition ein dramatischer Rückstand entstanden, wie das Bundeswirtschafts- und Klimaschutzministerium höchstselbst bereits im Januar 2022in seiner Eröffnungsbilanz festgestellt hat. +In den Jahren 2022 und 2023 werden die Klimaziele wahrscheinlich verfehlt. In der Bevölkerung hat sich die Stimmung bereits gedreht; die Mehrheit befürwortet eine Laufzeitverlängerung der deutschen AKW. Dass es um die große Überlebensfrage der Menschheit geht, ist bei den Menschen spätestens in diesem Sommer angekommen. +Silke Mertins leitet das Meinungsressort der Berliner Tageszeitung "taz" und hat in früheren Zeiten gegen AKWs demonstriert. + +findet Oliver Noffke +Geschwollene Gelenke, deformierte Gliedmaßen. Auf den ersten Blick erscheinen einige Felsmalereien im Kakadu-Nationalpark recht kurios. Sie zeigen weder nutzbare Tiere noch allmächtige Gottheiten, sondern verkrüppelte Strichmännchen. Sie sollen Warnungen sein. Wer sich an bestimmten Orten in der Gegend aufhält, könnte krank werden. Die Region ist mittlerweile bekannt für ihre Uranvorkommen. Möglicherweise hatten indigene Völker im Norden Australiens, rund 15.000 Jahre bevor Marie Curie Radioaktivität beschrieb, bereits derengesundheitliche Gefahren abgebildet. +Die Brennstäbe, die in Atomkraftwerken zur Energiegewinnung eingesetzt werden, enthalten Uran. Kernkraft funktioniert nicht ohne das radioaktive Metall. Zudem funktioniert sie nur, wenn ihre Risiken penibel gemanagt werden. Lange Zeit galt Atomstrom als sicher, sauber und günstig. Er ist nichts davon. Nachdem vor einem Jahrzehnt die damalige schwarz-gelbe Bundesregierungden Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen hatteund in diesem Jahr die letzten drei aktiven Atomkraftwerke in Deutschland hätten stillgelegt werden sollen, werden in der Energiekrise nun doch wieder Stimmen laut, die eine erneute Kehrtwende in Sachen Atomkraft rechtfertigen wollen. +Atomkraft solle die Lücken füllen, die entstanden sind, weil Erdgaslieferungen aus Russland ausbleiben. Unser Land ist derart abhängig von russischem Gas, dass wir erpressbar geworden sind. Wladimir Putin hat in dieser Hinsicht keine Skrupel. Bevor 2014 im Osten der Ukraine Gefechte ausgebrochen waren, hatte er auch dieses Land mit der gleichen Taktik – der Drohung, den Gashahn zuzudrehen – vor sich hergetrieben. Lange wollten unsere Regierungskoalitionen nicht wahrhaben, wer der Mann im Kreml wirklich ist. Das ist der Grund für unsere Energiekrise. +Wie kommen wir aus dieser Lage wieder raus? Auf keinen Fall mit Atomkraft. +Nicht jede Energiequelle kann beliebig durch andere ersetzt werden. Das gilt insbesondere für Erdgas. Industrieöfen – von der Bäckerei bis zum Stahlwerk – werden damit befeuert. Man könnte sie auf Wasserstoff umstellen, aber, sofern dies überhaupt möglich ist, nur unter großem Aufwand und mit enormen Kosten. Blöd nur, dass wir noch Jahrzehnte davon entfernt sind, Wasserstoff in ausreichender Menge herstellen zu können. Wie viel Erdgas Industrie oder Privathaushalte im Winter erhalten können, müssen sich die zuständigen Behörden nun genau überlegen. +Fakt ist aber: Egal ob wir Atomkraftwerke weiterbetreiben oder nicht, Verteilungskämpfe um Erdgas werden damit nicht gelöst. In Zusammenhang mit nuklearer Energie ist oft von "Restrisiko" die Rede. Das klingt viel niedlicher, als es tatsächlich ist. Kleinste Fehler, Zufälle oder Unregelmäßigkeiten können albtraumhafte Folgen haben. So wie bei den Unfällen in Tschernobyl oder Fukushima. In der Ukraine werden Atomkraftwerke nun sogar zu Kriegszielen. Der Mensch muss aber nicht maximale Gewalt ausüben, um die Gefahr eines Zwischenfalls zu erhöhen. Das erledigt bereits der Klimawandel. +Damit sich die Reaktoren nicht unkontrolliert erhitzen, benötigen sie große Mengen Frischwasser zum Abkühlen. Als in diesem Sommer durch die Hitzewelle die Pegel in vielen europäischen Flüssen dramatisch sanken, mussten viele AKWs gedrosselt werden. Wo es wegen der Energieknappheit Ausnahmeregelungen gab, konnten die Flüsse ihre Temperatur durch den Zulauf des aufgeheizten Wassers aus den Kernkraftwerken viel schlechter ausgleichen. Für viele Tiere und Pflanzen bedeutete dies enormen Stress wegen des sinkenden Sauerstoffgehalts in wärmerem Wasser. Ausgeprägte Dürren werden künftig immer wahrscheinlicher. Wie sollen diese Atomkraftwerke dann zuverlässig und naturschonend gekühlt werden? +Aber Atomstrom ist doch billig, sagen die Unterstützer. In Wahrheit erscheint er günstig, weil die größten Kostenverursacher – die künftige Endlagerung undder potenzielle Super-GAU– gar nicht erst eingepreist sind. Gewinne privatisieren, Kosten auf die Gesellschaft abdrücken: Das ist – stark verkürzt, aber im Kern zutreffend – die betriebswirtschaftliche Seite von Atomstrom. Von Beginn an wurde er massiv subventioniert. Während Energiekonzerne am Stromverkauf kräftig verdienen, ist ihr Anteil, den sie für die Lagerung des Abfalls zahlen müssen, gedeckelt. Wie auch immer in den kommenden Jahrtausenden mit den strahlenden Überresten umgegangen wird, bezahlt wird das hauptsächlich aus Steuergeldern. +Radioaktivität ist unsichtbar, geruchs-, geschmacks- und geräuschlos. Doch die gesundheitlichen Schäden, die sie anrichtet, sind permanent. Mutationen im Erbgut können bei der Zeugung als genetisch bedingte Krankheiten an die Kinder weitergegeben werden. Man muss nicht weit reisen, um auf Leute zu treffen, die davon erzählen können. Im Erzgebirge und im Osten Thüringens, wo zu DDR-Zeiten Uran abgebaut wurde, sind die Folgen noch spürbar. Dort gibt es Landschaften, die teuer renaturiert wurden. Dort leben die Nachfahren von Bergarbeitern, die ihre viel zu früh verstorbenen Großväter nie richtig kennengelernt haben. Wenn eine Windkraftanlage abbrennt, ist das ärgerlich. Sobald die Überreste weggeräumt sind, können wir trotzdem das Korn der umliegenden Felder verzehren, ohne davon Wucherungen in der Schilddrüse zu bekommen. Wurde radioaktive Strahlung einmal am falschen Ort freigesetzt, lauert sie quasi ewig im Hintergrund. +Atomstrom ist mit enormen Risiken verbunden, der Abbau von Uran schädigt Menschen und Natur, wie mit dem Abfall umgegangen werden soll, ist nach wie vor unklar. Diejenigen, die daran verdienen, werden diese Probleme nicht lösen. Wieso sollen wir uns das weiterhin antun? +Als Student ist Oliver Noffke oft an den Abfallhalden eines Uran-Bergwerks vorbeigefahren. Seitdem ist er von schrägen Fakten zu Radioaktivität fasziniert: Etwa, dass die ersten Atombombentests der USA Wüsten in Meere aus Glasstücken verwandelt haben. + + +Collagen: Renke Brandt diff --git a/fluter/atomkraft-in-frankreich.txt b/fluter/atomkraft-in-frankreich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8b88dede5a6bb4afd48447dc4622d4beae3cef4c --- /dev/null +++ b/fluter/atomkraft-in-frankreich.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Und diese Katastrophe ist wahrscheinlicher als bei vielen anderen AKW. Tatsächlich liegt Fessenheim in einer Region, in der einst das stärkste historisch belegte Erdbeben in Mitteleuropa stattfand und es immer wieder kleinere Beben gibt. Zudem, so warnte die EU, liege der Reaktor unter dem Niveau des Rheins, weswegen der Fluss im Falle von Überschwemmungen radioaktiv verseucht werden könnte. + +Mein Nachbar, der Reaktor: die Bilder auf dieser Seite zeigen, wie nah die Menschen teilweise an den AKW leben +Dass selbst ein so umstrittenes Kernkraftwerk wie Fessenheim immer noch Strom produziert, sagt viel aus über die Beziehung der Franzosen zur Atomkraft. Anders als in Deutschland hat es nie eine große Gegenbewegung gegeben, nie den lauten Ruf nach Windrädern oder anderen regenerativen Energiequellen. 70 Prozent der Franzosen sind immer noch gegen einen Ausstieg, den das Land ohne eine fundamentale Energiewende auch nur schwer vollziehen könnte: 78 Prozent des Stroms kommen aus nuklearen Quellen, das ist weltweit der erste Platz – ebenso die Anzahl von 58 AKW, die über das Land verteilt sind. "Die Atomkraft ist das letzte Relikt der Weltmacht, die Frankreich einst war", sagt der französische Atomkraftgegner Pierre Rosenzweig von der Bürgerinitiative "Stop Fessenheim". +Tatsächlich sahen sich die Franzosen nach dem Zweiten Weltkrieg und den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki dazu berufen, der Welt zu beweisen, dass die Atomkraft auch zum Segen der Menschheit wirken kann. Es galt, wie es Raoul Dautry, der erste Leiter der nationalen Atomenergiebehörde, ausdrückte, "die schrecklichen Kräfte der unbegrenzten Zerstörung zu meistern" und "diese unglaubliche Erfindung durch den Filter unseres nationalen Genies in eine humane Entdeckung zu verwandeln". +Dieser Aufgabe widmete man sich in den nachfolgenden Jahrzehnten gründlich. Unter der Leitung von Unternehmen, an denen mehrheitlich der Staat beteiligt war, wurde Kraftwerk um Kraftwerk gebaut. Einige Architekten lieferten sich geradezu einen Wettbewerb um die schönste Meilerkuppel. In der Presse wurden die AKW gar als "Schlösser" der Neuzeit und ihre Kühltürme als "Kathedralen" gefeiert. +Das Beschwören nationaler Größe strahlte auch auf die Bevölkerung ab – zumal die AKW-Gemeinden üppigste Zuwendungen bekamen und der Atomstrom bis heute so billig ist, dass sogar damit geheizt wird. Was auch daran liegt, dass der Rückbau der AKW und die Endlagerung nie solide mit eingepreist wurden und auf den Steuerzahler in Zukunft enorme Kosten zukommen. +Wie schwer in Frankreich auch heute noch ein Umdenken fällt, zeigt der Streit im Anschluss an das Energiewendegesetz von 2015, das eigentlich die Ablösung der Atomkraft durch Solar- und Windkraftanlagen einläuten sollte. Stattdessen streiten sich seitdem Umweltministerin Ségolène Royal und das Unternehmen Électricité de France (EDF), an dem pikanterweise zu 80 Prozent der Staat beteiligt ist. So hat EDF zwar einer Entschädigung von 490 Millionen Euro zugestimmt, beharrt aber weiter da rauf, das AKW Fessenheim nur zu schließen, wenn es im Gegenzug eine Bauzeitverlängerung für seinen neuen Vorzeigereaktor Flamanville in der Normandie bekommt, dessen Errichtung von vielen Pannen begleitet ist. Nach neuestem Stand soll Fessenheim nun im nächsten Jahr vom Netz gehen, EDF konzentriert sich derweil auf sein Geschäft mit China. Dort hat man gerade begonnen, sein Herz für die Atomkraft zu entdecken. + +Fotos: Andrea Pugiotto diff --git a/fluter/attentaeter-synagoge-halle-motivation.txt b/fluter/attentaeter-synagoge-halle-motivation.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..efa101ce952e548b777f1f028b39db8173a8d852 --- /dev/null +++ b/fluter/attentaeter-synagoge-halle-motivation.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Der Anschlag am 9. Oktober 2019 schlug fehl, weil es B. nicht gelang, die gut gesicherte Eingangstür der Synagoge zu öffnen. Aus Frust darüber tötete er die 40-jährige Jana Lange, eine zufällig vorbeilaufende Passantin, und den 20-jährigen Kevin Schwarze, den er in einem nahe gelegenen Dönerimbiss regelrecht hinrichtete. Dass beide Opfer Deutsche waren, erfuhr er erst später, bei der Vernehmung durch das Bundeskriminalamt. Der Tod der Frau, die sich über das Knallen des Sprengsatzes, den sie wohl für einen Silvesterböller hielt, beschwert hatte, schien ihn dabei weniger zu erschüttern. Sie habe ihn mit ihrer Meckerei aus dem Konzept gebracht, gab er an, eine Kurzschlussreaktion. Dass er aber im Dönerimbiss einen jungen deutschen Mann aus Sachsen-Anhalt getötet hatte und eben keinen "Nahöstler", wie er glaubte, nahm ihn offenbar mehr mit. Sein Anwalt zitiert ihn später mit dem Satz: "Ich habe Menschen getötet, die ich nicht treffen wollte." +Für Terrorexperten verkörpert B. den Typus des sich selbst radikalisierenden Einzeltäters. Diese sogenannten "einsamen Wölfe" orientieren sich an derrassistischen Ideologie der "white supremacy" (weiße Vorherrschaft)und der Idee des "führerlosen Widerstandes". Sie agieren nicht in neonazistischen Kameradschaften, treffen sich nicht mit anderen Rechtsextremen auf Demonstrationen, sie sitzen nicht einmal am Stammtisch, um dort Dampf abzulassen. B. selbst beschrieb sich in seinen Vernehmungen als ein unsoziales Wesen. Er habe nie Freunde gehabt, nur ein paar Bekannte. Und nein, eine Freundin habe er erst gar nicht gesucht. +In den Internetforen, in denen er unterwegs war, hätte er auch kaum Frauen finden können. Auf diesen Imageboards, die 8kun oder 4chan heißen, tummeln sich neben vielen RechtsextremenMänner, die sich herabgesetzt, unattraktiv und minderwertig fühlen und keinen Sex haben. +Seit 2006 lebten Mutter und Sohn zusammen in einer Wohnung in Benndorf bei Eisleben. Der damals 27-Jährige mit dem jungenhaften Gesicht und der auffallend hohen Stimme wohnte in einem eigenen Zimmer, dessen Tür stets verschlossen war. "Sein Reich", wie die Mutter es nannte. Dort sah er sich auf seinem Computer unvorstellbare Grausamkeiten an, immer und immer wieder: Videos, auf denen Menschen vom sogenanntenIslamischen Staatgeköpft oder bei lebendigem Leib verbrannt werden. Wie ein Mann gesteinigt, ein Kind brutal getötet wird. Und den Mitschnitt des Anschlags von Christchurch: Am 15. März 2019 hatte der aus Australien stammende Rechtsterrorist Brenton T. zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch angegriffen und 51 Menschen erschossen sowie Dutzende weitere Muslime schwer verletzt. +Die Eltern von B. hatten sich scheiden lassen, als der Junge 14 Jahre alt war, der Vater blieb im Nachbarort wohnen. Zu ihm hatte der Sohn offenbar ein angespanntes Verhältnis. Sie seien immer wieder in Streit geraten, erzählte der Vater einem Reporter nach dem Attentat. Er sei an seinen Sohn nicht mehr herangekommen. "Der Junge war nur online", so der Vater. Seine Schwester sagte der Polizei, sie habe ihn früher häufiger mitgenommen zu ihren Freunden, damit er nicht immer zu Hause sitze. Aber ihr Bruder habe kein Interesse daran gezeigt. Auch die Mutter erzählte den Beamten, sie habe versucht, ihren Sohn unter Vorwänden aus seinem Zimmer und vom Computer wegzulocken. Vergeblich. +Sich selbst bezeichnete Stephan B. in seinem Tatvideo als "NEET" – eine im Netz übliche Abkürzung für "Not in Education, Employment or Training". Ein Mensch also, der nichts tut. Seine Mutter sorgte für ihn, schnitt ihm die Haare, steckte ihm Geld zu – und drängte ihn nicht, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen. Dabei hatte Stephan B. alle Möglichkeiten. Das Abitur bestand er mit 1,2. Nach seinem Wehrdienst bei der Bundeswehr begann er ein Studium in Magdeburg. Nach zwei Semestern warf er hin, es sei ihm zu schwer gewesen, erklärte er in den Vernehmungen. Er wechselte Uni und Studienfach, in Halle widmete er sich nun der Chemie. Es lief gut an, aber dann wurde er krank und musste operiert werden. +Studieren wollte B. nun nicht mehr, auch keinen Beruf lernen. Erst im Herbst 2018 schien sich eine Wende anzudeuten, er bewarb sich als Zeitsoldat bei der Bundeswehr. Doch noch bevor es zu einem Bewerbungsgespräch kam, zog er seine Anfrage wieder zurück. Warum, ist unklar. +Schon zwei Tage nach dem Anschlag von Halle hatte B. erstmals vor dem Haftrichter des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe vier Stunden lang ausgesagt. Dabei präsentierte er sein aus rechtsextremen undantisemitischen Verschwörungstheorienzusammengesetztes Weltbild. Demnach strebten die Juden die Weltherrschaft an, sie steckten hinter der EU und kontrollierten den Dollar und die US-Notenbank. Und auch die Flüchtlingskrise werde von Juden wie dem US-Finanzinvestor George Soros gesteuert, der Deutschland in einen multikulturellen Vielvölkerstaat verwandeln wolle. Die "Millionen Ausländer" hierzulande würden sich deutsche Frauen schnappen, weshalb weiße Männer wie er keine abbekämen, klagte er. Seine Mutter sagte der Polizei, ihr Sohn habe ständig auf Frauen in der Politik geschimpft und aufdie junge Klimaaktivistin Greta Thunberg. +Bei der Auswertung seiner Festplatten fanden Ermittler auch nationalsozialistisches Propagandamaterial, darunter Dateien mit Hitler-Bildern, Hakenkreuzen sowie ein PDF-Dokument von Hitlers antisemitischer Hetzschrift "Mein Kampf". In einem von ihm verfassten Dokument schrieb B. über seine Ziele: "Töte so viele Anti-Weiße wie möglich, Juden bevorzugt." Und doch beharrte er in seiner Vernehmung durch das BKA darauf, keinNeonazizu sein. Er besitze lediglich eine "judenkritische Einstellung". +Am Ende seines Videos, da ist er bereits auf der Flucht, entschuldigt sich B. bei seinen Zuschauern. "Sorry guys. I am a complete loser." Dann, um 12.22 Uhr, wirft er nahe dem Hallenser Hauptbahnhof sein Smartphone aus dem Autofenster. Eine gute Stunde später, rund 60 Kilometer von Halle entfernt, wird er festgenommen. + +Der Tür auf dem Titelbild ist es zu verdanken, dass es am 9. Oktober 2019 kein Blutbad gab: Sie hielt stand, als Stephan B. auf sie schoss, um in die Synagoge einzudringen. Foto: Jens Schlueter/Getty Images diff --git a/fluter/auf-das-leben.txt b/fluter/auf-das-leben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f7e4710028021b83612614222c98350690d0538c --- /dev/null +++ b/fluter/auf-das-leben.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Zwei Jahre nach dem tödlichen Unfall veröffentlichte Anne Fadiman, ihre Literaturprofessorin in Yale, zusammen mit der Familie Keegans Geschichten und Essays in einem Buch, das in den USA schnell zu einem Bestseller avancierte. Nun liegt auch die deutsche Übersetzung vor. +"Das Gegenteil von Einsamkeit" ist eine scheinbar lose Sammlung von Augenblicken und Gedanken, in der die Autorin alles verarbeitet, was sie gerade so beschäftigt. Doch was die Geschichten und Essays miteinander verbindet, ist Keegans authentischer Stil. Ihre Charaktere sind oft Studenten, fast alle studieren an amerikanischen Elite-Unis, schreiben oder spielen Theater, so wie die Autorin selbst. Sie heißen Lauren, Brian oder Kyle, haben Spaß und Sex, gehen auf Partys und nehmen auch mal Drogen. Dazu schlagen sie sich mit den ganz gewöhnlichen Zweifeln der Generation der Twentysomethings herum: das Hadern mit der Figur, Eifersucht auf die Exfreundin des neuen Freundes oder eben auch mal das Durchstöbern der 700 Facebook-Fotos einer Konkurrentin. +Aber Marina Keegan schreibt auch über die Eltern dieser Studenten, über verpasste Chancen und das Altern, über den plötzlichen Tod des Partners, die Adoption eines Kindes, eine ungewollte Schwangerschaft. Eindrucksvoll etwa nimmt uns Keegan mit in das Innere des US-Soldaten William, der sich im Irak um die Zuteilung von Wohnraum kümmert – in Form von aneinandergereihten E-Mails, die William seiner Freundin nach Hause schickt. Und auch wenn die Geschichte ein wenig zerrissen und unvollständig wirkt, erfahren wir jedes Mal ein Stückchen mehr über die Welt des Soldaten, seine Sorgen und Nöte und geraten mit ihm immer tiefer in Verstrickungen aus Idealismus und Fanatismus. +Marina Keegans Blick auf ihre Figuren ist liebevoll, unverschleiert und nie nostalgisch. Ihre Sprache ist nicht die einer jungen Frau Anfang 20, sondern klingt reifer, erwachsener. Ob Keegan diese Texte selbst auch so veröffentlicht hätte, ist allerdings zu bezweifeln. Sie war eine Perfektionistin, die ihre Geschichten immer und immer wieder umschrieb, daran feilte und sie verbesserte, schreibt ihre Professorin Anne Fadiman im Vorwort des Buches, denn: "ES GEHT IMMER (NOCH) BESSER!" war Keegans Motto und Antrieb zugleich. Tatsächlich haben viele der Texte den Anschein, als seien sie noch nicht ganz fertig. Doch gerade das macht ihren Reiz aus. +"Auf ihren hohen posthumen Podesten verliert man die Toten leicht aus den Augen. Trauer, Achtung und die homogenisierende Wirkkraft der Bewunderung verwischen die Einzelheiten, glätten die Dellen, schleifen scharfe Kanten", heißt es weiter im Vorwort. Fadiman schreibt aber auch, dass Marina Keegan trotz ihrer Freundlichkeit und ihres Idealismus "wütend, gereizt und provokant war. Ein bisschen wild. Mehr als ein bisschen nonkonformistisch." Ein fast normales Mädchen Anfang 20 eben, nur eben ein bisschen begabter als die meisten in ihrem Alter. diff --git a/fluter/auf-dem-falschen-dampfer.txt b/fluter/auf-dem-falschen-dampfer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dcbf1e48051e33de412b788393aa690d29405ddd --- /dev/null +++ b/fluter/auf-dem-falschen-dampfer.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Beim Raffinieren ist Schweröl so was wie der Abfall bei der Herstellung von Heizöl, Diesel, Kerosin, Benzin und Vorprodukten für die chemische Industrie. Irgendwie muss man es loswerden als Raffineriebetreiber. Deshalb war es superbillig. Stahlwerke und Stromkraftwerke kauften es anfangs, bald aber weniger. Es war einfach zu dreckig. Zum Glück der Mineralölindustrie rüsteten die Schiffsbesitzer damals um. Sie wollten den billigsten Treibstoff, der auf dem Markt war, denn der Treibstoff macht bis zu 70 Prozent der laufenden Kosten eines Schiffes aus. So wurde schließlich Schweröl verbrannt – etwas, das laut Dietmar Oeliger vom Naturschutzbund Deutschland eigentlich "Sondermüll ist, der dummerweise noch mal einen Abnehmer gefunden hat". Abgase aus Schiffsmotoren enthielten seit den 60ern zwischen 3,5 und 4,5 Prozent Schwefel, so eine Studie des Mineralölkonzerns Chevron. Die Internationale Seeschifffahrtsorganisation IMO hat ab 2012 einen Grenzwert von 3,5 Prozent festgelegt. Klassischer LKW-Diesel hat 0,001 Prozent Schwefelanteil. +Frachter, die beispielsweise von Schanghai nach Hamburg fahren, geben also Schwefeloxide in die Luft über dem Indischen Ozean ab. Im Hafen sind sie ja nur kurz und meist ohne dass der Motor richtig läuft. Daher fiel das Problem jahrzehntelang nicht auf. Bis der Kreuzfahrtschiff-Boom kam. +Früher war Axel Friedrich im Umweltbundesamt für die Einführung des Katalysators in Automotoren zuständig. Er gilt als Autorität, wenn es um die Verhinderung von Schadstoffen geht. Nun ist er nicht mehr Beamter, sondern Berater von Greenpeace, BUND, NABU, Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (heute GIZ), Weltbank, um ein paar zu nennen. Und er rät dazu, die Kreuzfahrtschiffe in den Mittelpunkt der Kritik zu stellen, obwohl es schätzungsweise 100-mal weniger Kreuzfahrt- als Frachtschiffe gibt. +"Transportreedereien ist ihr Image egal", so Friedrich. "Die Kreuzfahrtbranche aber braucht ein gutes Image. Sie muss an ein großes Publikum verkaufen. Also ist sie leichter angreifbar." Zweitens: "Kreuzfahrtschiffe sind sichtbarer. In Häfen liegen sie für alle wahrnehmbar am Kai. Anders als Containerschiffe." Drittens, so Friedrich: "Der Schifffahrtsbranche geht es gerade nicht gut. Die Kreuzfahrtbranche jedoch boomt. Sie hat seit Jahren ein Wachstum von zehn Prozent. Man muss Forderungen an die stellen, die Geld haben." +Bei der Handelskammer Hamburg haben sie den Computer ackern lassen. Mit folgender Formel ließen sie den Rechner arbeiten: WS + 0,577 x 0,47 = WS x (1 + 0,577 x 0,47) = 1,271 x WS. WS gleich Wertschöpfungsmultiplikator. Am Ende sagte die Statistik, dass der Kreuzfahrttourismus aktuell 270,6 Millionen Euro in die Stadt brachte. Zwischen 2011 und 2013 stieg die Zahl der Anläufe in den Hafen um 50 Prozent und, weil die neuen Schiffe immer größer werden, die Passagierzahl um 60 Prozent. Mehr als 6.000 geldausgebende Touristen kann so ein Schiff über die Binnenwirtschaft einer Hafenstadt ausgießen. Zwei Kreuzfahrtterminals gibt es im Hamburger Hafen bereits. Ein drittes soll 2015 fertig sein. +178 Kreuzfahrtschiffe liefen 2013 den Hafen an, 2014 werden es rund 190 sein, vielleicht sogar ein paar mehr. 552.459 Touristen brachten die Schiffe 2013 nach Hamburg, die Prognose für dieses Jahr liegt bei 600.000. Die Zahlen für Europa liefert die CLIA, das steht für "Cruise Lines International Association", den größten Verband der Branche: 37,9 Milliarden Euro hätte die Branche in Europa umgesetzt. Die CLIA erwartet die ganz großen Zahlen für die Zukunft. Denn die Amis kreuzen noch viel mehr, die Europäer, vor allem die Deutschen, könnten sich also noch steigern. +Es seien besonders wertvolle Touristen, sagt Nadine Palatz vom "Hamburg Cruise Center", einem Zusammenschluss von Firmen, die ihr Geld mit Kreuzfahrern machen. Dass die Reisenden, die in Hamburg an Land gehen, so wertvoll sind, liege daran, dass die meisten der Kreuzfahrtschiffe, die in Hamburg einlaufen, dort ihre Reise beginnen oder beenden. Für Tourismusmanager sind gute Touristen diejenigen, die ein paar Tage in der Stadt verbringen, einkaufen, Taxi fahren. +In Venedig, der "bella città della laguna", gibt es nicht so viele Autos und dennoch die schlechteste Luft aller italienischen Großstädte. Zumindest behauptet das die Bürgerinitiative "Comitato no grandi navi". Das liege an den Kreuzfahrtschiffen. Bis zu acht Stück laufen täglich ein. Nach Venedig kommen mit den Schiffen eher die sogenannten Transfertouristen, solche, die morgens anlegen, den Tag an Land verbringen und abends wieder ablegen. +Wenn ein Hafen Pech hat, und viele haben Pech, schlendern die Touristen mal durch – und fertig. An Bord essen sie zu Tau- senden ihre Vielgang-Menüs in hell erleuchteten Hallen, gehen in Spa-Bereiche, in Kinos, planschen in beheizten Schwimmbädern, lassen die Klimaanlagen laufen. Denn sie haben ja pauschal vorab bezahlt. Das bedeutet: Diese Kreuzfahrtschiffe sind Superstromfresser, die im Hafen die Motoren laufen lassen müssen. So ein Kreuzfahrtschiff hat einen Stromverbrauch wie eine Kleinstadt. +Der internationale Kreuzfahrtverband schickt, um gegen die Naturschützer zu bestehen, Pressemitteilungen: Auf Kreuzfahrtschiffen werde viel für den Umweltschutz getan, steht zum Beispiel darin. Um 70 Prozent sei der Treibstoffverbrauch in den letzten 20 Jahren gesunken, weil die Motoren besser geworden seien. Nur: Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Kreuzfahrtschiffe um ein paar hundert Prozent. Umweltschutzerfolge vermeldete auch der +"European Cruise Council", ein anderer Zusammenschluss von Kreuzfahrtanbietern, der sich Ende 2012 mit der CLIA zusammengeschlossen hat. Aber keiner der beiden Verbände nennt den Grund für die Fortschritte: In sogenannten Schutzzonen (Emissi- on Control Areas) darf kein Schweröl mehr verbrannt werden. +Die Vorschriften für alle Schiffe, die auf den Meeren fahren, kommen von der IMO, der "International Maritime Organization", einem UN-Gremium in London. Regionen können Sonderregelungen verlangen, und manche machen das auch: Die nordamerikanische Schutzzone (ca. 200 Seemeilen) vor den Küsten der USA und Kanadas sowie fast die komplette Nordsee und die Ostsee dürfen nur noch mit Treibstoff, der weniger als ein Prozent Schwefelanteil enthält, befahren werden. +Frachtschiffe fahren deshalb möglichst lange auf offenem Meer und schießen auf dem kürzesten Weg in den Hafen. Für diese Ausflüge nutzen sie sogenannten "Marine Diesel", der nur ein Prozent Schwefel enthält. In Häfen der Europäischen Union darf, sobald das Schiff angelegt hat, nur Treibstoff mit einem Schwefelanteil von maximal 0,1 Prozent verbrannt werden. Ab 2015 gilt diese Obergrenze auch für die Nord- und Ostsee. Ab 2020 soll dann weltweit auf allen Meeren eine 0,5-Prozent-Schwefel-Obergrenze gelten. Außerhalb der EU könnte das Inkrafttreten dieser Regelung allerdings noch auf 2025 verschoben werden, falls nicht ausreichend geeigneter Treibstoff zur Verfügung steht. Kreuzfahrtschiffe können also auch anders. Aber ihre Besitzer zeigen das nur, wo Schweröl verboten ist. +Gerade sei "alles in der Schwebe", sagt Michael Rebbelmund von der Firma Bomin Linde in Hamburg, die umweltschonenderes "Liquid Natural Gas" (LNG) verkaufen will. Gewonnen wird LNG in teuren Anlagen. Gas, riesige Tanks und neue Technik sind dafür nötig, Schiffe müssen für viel Geld umgerüstet werden. "Scrubber" könnten das Problem lösen. So werden die neuen Entschwefelungs- anlagen genannt. Sie sorgen für gute Luft, übrig bleiben aber die Reststoffe, vor allem Schwefelsäure. Die müssten entsorgt werden oder dürfen ins Meer abgelassen werden. Umweltschützer mögen sie nicht, da die Technik den Dreck nur von der Luft ins Meer verlagere. Schiffsbesitzern sind sie zu teuer. Acht bis zehn Millionen Euro koste so ein Ding, sagt Rebbelmund. Und da ist noch eine Möglichkeit: Wenn Kreuzfahrtschiffe im Hafen liegen, könnten sie von Land Strom kriegen. Quasi aus der Steckdose. Wobei das in vielen Häfen wieder nicht gehen wird. +Der Umweltschützer Axel Friedrich hält das alles für "Augenwischerei": "Die neuen Schiffsmotoren sind hocheffizient, effizienter als Kraftwerke. Landanschlüsse wären also schlechter für die Umwelt." LNG? "Teurer als Diesel." Am besten wären Dieselmotoren mit Katalysator. Bei einem Neubau koste ein Kat 1,5 Millionen Euro, bei einem Umbau 3,5 Millionen Euro. Die Branche verdiene so viel, dass sie sich das Umrüsten leisten könne. "Es werden ständig neue Kreuzfahrtschiffe gebaut. Die geben für die Luxusinnenausstattung viel Geld aus, da ist das doch ein Klacks." diff --git a/fluter/auf-der-kippe.txt b/fluter/auf-der-kippe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3f4fd13cfa5fc0d9279867184e31f3ff38f4f1b8 --- /dev/null +++ b/fluter/auf-der-kippe.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Natürlich ist die Arbeit sehr gefährlich. Fast jeder hat Haut- oder Atemwegserkrankungen, überall steigen Fauldämpfe auf, keiner trägt Handschuhe. Ich habe die Müllsammler über einen Zeitraum von zwei Monaten immer wieder besucht. Oft haben wir bis zum Abend zusammengesessen und gemeinsam gegessen. Sie leben in einer Siedlung in der Nähe des Bergs, aus ihren Fundstücken haben sie sich einfache Behausungen gebaut. Wenn ich in Deutschland bin, halte ich immer wieder Vorträge an Schulen, das Programm nennt sich "Fokus Leben – Bildung durch Bilder". Meine Fotos sehe ich als Denkanstoß, ich hoffe, dass sich Jugendliche dadurch aufgefordert fühlen, etwas aus ihrem Leben zu machen. Im Gegensatz zu vielen Indern haben sie alle Möglichkeiten dazu. +Enrico Fabian war 25 Jahre alt, als er merkte, dass er an seinem Leben etwas ändern musste. Er gab seinen sicheren Job in Deutschland auf und zog 2007 nach Indien, wo er als Fotograf zu arbeiten begann. Mittlerweile wurden seine Fotoserien international ausgezeichnet. Protokoll: Fabian Dietrich diff --git a/fluter/auf-eigene-gefahr.txt b/fluter/auf-eigene-gefahr.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/auf-einer-wahlparty-mit-jungen-briten.txt b/fluter/auf-einer-wahlparty-mit-jungen-briten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..200c711c66df3695fc8cc2784c8c2d511175d19e --- /dev/null +++ b/fluter/auf-einer-wahlparty-mit-jungen-briten.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +You kidding me?! Die Corbyn-Fans können ihr Glück noch nicht fassen: 29 Sitze legte die Labour-Partei zu und kommt somit auf 261 Mandate + +Die Ergebnisse +Die regierenden Konservativen haben die absolute Mehrheit im Parlament verloren. 326 von 650 Sitzen wären dafür nötig gewesen – erreicht haben die Tories jedoch nur 318. Die Labour-Partei dagegen legte um 29 Sitze zu und kommt auf 261 Mandate. Die drittstärkste Partei, die Schottische Nationalpartei, machte Verluste und behält 35 Sitze, die viertstärkste, nämlich die Liberaldemokraten, gewannen dazu und kommen auf 12 Mandate. Die EU-feindliche UKIP-Partei ging leer aus. +Es ist 22:02 Uhr und für einen Moment: totenstill. Dann bricht in großen Teilen der Bar Jubel aus: "Hung parliament!" Es wird keine Mehrheit mehr für die Tories geben, lautet die Prognose, die sich in den Morgenstunden bestätigen wird. Dass unter jungen studentischen Wählern in einer Stadt wie Bristol, die als kreativ und alternativ gilt und in der letzten Legislaturperiode drei Labour- und nur eine Tory-Abgeordnete zählte, eine Mehrzahl für Labour ist, überrascht nicht. Dass die Partei im gesamten Land so gut abgeschnitten haben soll, hingegen schon. +Nicht alle hier sind positiv überrascht. An einem großen Ecktisch sitzen sechs junge Menschen zwischen 19 und 21, sie sind Mitglieder der Tory-Hochschulgruppe. Einen "landslide" für die Tories hatten sie sich ausgerechnet, einen erdrutschartigen Sieg. Jamie, 20, Geschichtsstudent, ist überzeugt von Theresa Mays Brexit-Verhandlungsstrategie "No deal is better than a bad deal": "Stell dir vor, ich hätte Interesse, dein Haus zu kaufen, und würde sagen: ‚Ich kaufe es sowieso, egal was du mir anbietest.' Das ist doch keine Verhandlungsbasis! Es ist besser zu sagen: ‚Wenn der Deal nicht stimmt, dann lasse ich es eben bleiben.'" + + +Bei den Labour-Anhängern stehen sozialpolitische Themen im Fokus. "Als Transfrau weiß ich, wie wichtig es ist, dass der National Health Service, unser öffentliches Gesundheitssystem, stabilisiert und gestärkt wird", sagt Nicky, 26. Sie studiert Politik und ist Mitglied in zwei LGBT-Gruppen, einer an der Uni und einer in der Labour-Partei. Die von manchen Parteifreunden kritisierte Linksorientierung durch Jeremy Corbyn findet Nicky gerade gut: "Mein Vater zerriss seinen Labour-Mitgliedsausweis, als Tony Blair in den Irakkrieg zog. Jeremy Corbyn war damals dagegen. Außerdem ist er jemand, der sich wirklich für Minderheiten einsetzt und Menschenrechte achtet." +Für Premierministerin Theresa May bedeutet dieses Ergebnis nach Einschätzung vieler Beobachter ein Desaster. Nicht nur Labour-Chef Jeremy Corbyn, sondern auch Politiker aus Mays eigenen Reihen fordern ihren Rücktritt. May kündigte jedoch an, im Parlament bleiben und am Nachmittag die Königin um Erlaubnis bitten zu wollen, eine neue Regierung zu bilden. Wie diese aussehen wird, ist noch unklar. Wahrscheinlich ist aber ein "hung parliament", eine in Großbritannien seltene Minderheitsregierung. +Als Corbyn auf dem Bildschirm erscheint, jubeln ihm viele in der Bar zu. "Je-re-my! Je-re-my!", skandieren die Studenten, fast wähnt man sich in einem Fußballstadion. +Doch nicht alle, die für Labour sind, haben auch Labour gewählt. Lawrence, 22, hat den Liberal Democrats seine Stimme gegeben. Politisch steht er zwischen Labour und den sogenannten LibDems, deshalb ging er taktisch vor: "In meinem Wahlkreis, Richmond Park in London, hat Labour keine Chance. Deshalb setze ich darauf, dass die Lib Dems die Tories raushauen." +Diese Taktik kann aufgehen, weil inGroßbritannien kein Verhältniswahlrecht, sondern ein Mehrheitswahlrecht gilt: Die 650 Sitze im Unterhaus werden von Direktkandidaten besetzt, die die meisten Stimmen in ihrem jeweiligen Wahlkreis erhalten haben. + +Die 23-jährige Literaturstudentin Phoebe ist für die Grünen. Am meisten überzeugt sie die Arbeit der bislang einzigen Grünen-Abgeordneten, Caroline Lucas. Und in Phoebes Wahlkreis Bristol West hatte mit Molly Scott Cato auch tatsächlich eine grüne Kandidatin eine Chance auf einen Sitz. +Auch muss sich noch zeigen, wie sich das Wahlergebnis auf die in zehn Tagen beginnenden Brexit-Verhandlungen auswirken wird. Experten vermuten, dass sich die Verhandlungen verzögern, EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger etwa sagte dazu: "Mit einem schwachen Verhandlungspartner läuft man Gefahr, dass die Verhandlungen für beide Seiten schlecht laufen." +Andere kleine Parteien scheinen an diesem Abend in der Balloon Bar keine Rolle zu spielen. Zur rechtspopulistischen UK Independence Party (UKIP) mag sich niemand bekennen. Als der ehemalige Parteivorsitzende Nigel Farage als Interviewgast auf der Leinwand erscheint, heben Dutzende wütend den Mittelfinger, "Fuck you"-Rufe füllen den Raum. Auch Anhänger der Scottish National Party (SNP), die viele Stimmen verloren hat, sucht man hier vergeblich – was unter anderem daran liegen könnte, dass nur wenige Schotten in Bristol studieren: In Schottland sind Bachelorstudiengänge, anders als in England, gebührenfrei. "Nicola Sturgeon (die SNP-Vorsitzende, Anm. d. Red.) hat ihre Kampagne zu stark auf ein schottisches Unabhängigkeitsreferendum konzentriert, das hat viele jener Leute von der Partei abgebracht, die gegen eine Abspaltung oder noch unentschieden sind", vermutet Nicky, deren Mutter aus Schottland stammt. +Wenige Stunden nach Mitternacht verlieren die Tories ihren ersten Wahlkreis an die Labour-Partei; sowohl Stimmung als auch Raumtemperatur sind am Siedepunkt. Manche Studenten fächeln sich mit zusammengefalteten Prospektblättern Luft ins Gesicht, andere rufen noch immer ausgelassen, allmählich aber heiser werdend, Parolen durch die Bar. +Sie hallen bis nach draußen, Hunderte Meter weit die Straße entlang. Ein junger Mann mit kurzen Locken steigt auf sein Fahrrad, fährt lächelnd in die Nacht. Zwei junge Frauen laufen in die entgegengesetzte Richtung, zurück Richtung Balloon Bar. Als in dieser erneut Jubel ausbricht, beschleunigen sie ihre Schritte, schlüpfen schnell ins Warme. Bevor die jungen Frauen im Trubel verschwinden, hört man sie noch sagen: "This sounds exciting." diff --git a/fluter/auf-ganzer-linie.txt b/fluter/auf-ganzer-linie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/auf-herz-und-nieren.txt b/fluter/auf-herz-und-nieren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e6f0da6f72760c1c3c09a9ba9131d052c682dc50 --- /dev/null +++ b/fluter/auf-herz-und-nieren.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Aber warum eigentlich? Weil der menschliche Körper nicht zum Gegenstand ökonomischer Erwägungen werden dürfe, lautet das Hauptargument. Allerdings geschieht genau das längst. So wird eine Blutspende mit einer Mahlzeit, sogenannten Spendergeschenken oder sogar mit bis zu 40 Euro vergolten – und das Blut dann auch keineswegs in die ganze Welt verschenkt, sondern verkauft. Internationale Blutbanken verdienen viel Geld damit, denn Blut fällt in die gleiche Kategorie wie Organe: knappes Gut. Unter dem Deckmantel der "Gewebespende" findet ein weltweiter Handel mit Sehnen, Knochen, Herzlappen und anderen Körperteilen verstorbener Menschen statt. Ein kompletter menschlicher Körper, recherchierte die amerikanische Autorin Annie Cheney in Leichenhallen und an medizinischen Hochschulen, ist etwa 75 000 Euro wert, andere sprechen sogar von 250 000 Euro. Alle momentan legalen Modelle, die zu einer Transplantation von Körperteilen führen, haben eines gemeinsam: Die Spender profitieren dabei am wenigsten, von ihnen erwartet man selbstlose Motive. +Hier setzt der Professor aus Bayreuth an, er betrachtet eine stark emotional und moralisch geprägte Diskussion unter sachlich-ökonomi-schen Aspekten. "Mir wird vorgeworfen, es sei eine Verödung des Geistes, über einen Markt für Organe auch nur nachzudenken. Aber ich sehe keine andere Lösung, als finanzielle Anreize zu schaffen. Und ein Markt beutet Menschen nicht automatisch aus oder diskriminiert automatisch die Einkommensschwachen." +Den Organmarkt stellt sich Oberender so vor: Der potenzielle Spender wendet sich an einen Makler, der ihn an eine Beratungsstelle verweist. Dort soll sichergestellt werden, dass dem Spender die Konsequenzen einer Organspende bewusst sind und er aus eigenem Antrieb handelt. Ist der Beratungsschein ausgestellt, schließt der Spender eine Versicherung ab, die einspringt, falls er als Folge der Organspende selbst körperliche Probleme bekommen sollte. Diese Versicherung tritt in Kraft, sobald das Organ entnommen wurde, und wird von einem Teil des Geldes bezahlt, das der Spender erhält. Es folgt eine medizinische Überprüfung, erst dann bietet der Makler die Niere an, vermutlich auf einer speziellen Internetplattform. Das Angebot steht. +Gegner des Organmarktes befürchten, Patienten aus reichen Industrieländern könnten die Notlage anderer ausnützen, die keine andere Wahl haben, als eine Niere zu verkaufen. Oberender jedoch meint, man dürfe armen Menschen nicht aus moralischen Gründen die Möglichkeit auf ein besseres Leben nehmen: "Sonst müssten wir ihnen auch verbieten, gefährliche Arbeit etwa in ungesicherten Bergbaugruben zu verrichten." Zudem sei die Verdammung des Organhandels realitätsfern. "Es gibt längst einen illegalen, grauen Markt für Organe, mit furchtbaren Folgen. Bei uns sterben weniger als ein Prozent der Organspender, in Indien sind es sechzig bis achtzig Prozent, weil sie sich keine ordentliche Nachsorge leisten können." Auch das würde sich auf dem legalen Organmarkt ändern: Derzeit werden für eine indische Niere etwa 1500 Euro bezahlt, auf einem geregelten Markt stiege der Preis auf 40 000 Euro, schätzt Oberender. Und eine postmortale Organspende könnte wenigstens den Erben zu einer besseren Zukunft verhelfen: Das Geld aus der Versteigerung würde in die Erbmasse einfließen. +Organkäufer könnten Privatpersonen sein, aber auch Krankenkassen. "Und das ist das Entscheidende: So wird sichergestellt, dass auch einkommensschwache Patienten nicht übergangen werden", meint Oberender. Krankenkassen hätten ein ureigenes Interesse, ihren Kunden ein Ersatzorgan zu besorgen: Es würde ihnen Geld sparen, rechnet Oberender vor. "Ein Dialysepatient kostet die Krankenkasse etwa 50 000 Euro im Jahr, und das im Schnitt fünf bis sieben Jahre. Eine Niere würde inklusive Operation nur 70 000 Euro kosten. Berücksichtigen muss man hier noch die Kosten für die Medikamente, damit das Organ nicht abgestoßen wird." +Durch das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage bildet sich der Preis, das Geschäft wird abgeschlossen, und wenig später können Organentnahme und -transplantation stattfinden. In Oberenders Vision wären am Ende alle zufrieden und auf beiden Seiten Leben gerettet: die der wartenden Empfänger ebenso wie die der besser versorgten Spender. Die ethischen Aspekte eines Marktes für Organe bleiben kontrovers. Unumstritten ist die wirtschaftliche Seite, unter den Fürsprechern ist auch US-Starökonom Gary Becker. Und der ist immerhin Wirtschaftsnobelpreisträger. diff --git a/fluter/auf-immer-und-ewig.txt b/fluter/auf-immer-und-ewig.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b300270a57bc83d6af3d60375f57b2fd29068a56 --- /dev/null +++ b/fluter/auf-immer-und-ewig.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +"Damals", sagt T., "war ich davon überzeugt, dass nicht nur der größte Teil meiner Lebensgeschichte im Knast geschrieben wird, sondern dass sie hier enden wird." 1998 wurde das bis dahin gültige Höchstmaß von zehn Jahren für Sicherungsverwahrung gestrichen, sie war von nun an unbefristet. Das galt auch rückwirkend, also auch für T. Sicherungsverwahrung erschien ihm und seinen Mitgefangenen als "Todesstrafe auf Raten". T. hat sich entschieden, das stumpfe, perspektivlose Dahinvegetieren gegen die letzte Chance auf ein anderes Leben zu tauschen. Nach einer Wartezeit von knapp zwei Jahren wurde er in die Sozialtherapie verlegt. Täglich absolviert er Therapiestunden. Gruppen- und Einzeltherapie, Ergotherapie; Anti-Aggressionstraining, Opferempathie, Rückfallprävention, Kommunikation, Stressmanagement, Selbst- und Fremdwahrnehmung, sexuelle Fantasien – das Konzept ist vielfältig und anspruchsvoll. "Die 17 Monate, die ich hier bin, sind die härtesten meiner gesamte Knastzeit", sagt er. Zum ersten Mal ist er gezwungen, sich den Spiegel vorzuhalten, über seine Taten und vor allem seine Opfer nachzudenken. An manchen Tagen war er so voller Selbsthass und Ekel, dass er sich nicht aus seiner Zelle wagte. "Mir wurde klar, was ich für ein Schwein gewesen bin, was ich den Menschen Abscheuliches angetan habe. Manchmal dachte ich, ich habe gar keine Therapie verdient." +"Im besten Fall", sagt Christine Ermer, Psychotherapeutin und Leiterin der Sozialtherapeutischen Anstalt Baden-Württemberg auf dem Hohenasperg, "kann die Sozialtherapie ein Sprungbrett in die Freiheit sein." Der Weg nach draußen besteht aus vielen Schritten, die alle engmaschig therapeutisch begleitet werden. Ein Risiko gibt es natürlich trotzdem, kein Therapeut kann eine sichere Prognose abgeben. "Dieses Risiko müssen wir, unter sorgfältiger Abwägung, eben eingehen", sagt sie. Kritiker sagen, dass sich die Politik zu lange auf das Wegsperren und Verwahren verlassen und die Schaffung von Therapieangeboten vernachlässigt hat. Tatsächlich ist die Sicherungsverwahrung in den vergangenen Jahrzehnten stetig verschärft und ausgeweitet worden: Kam sie anfangs bei schweren und wiederholten Gewalt- und Sexualdelikten zur Anwendung, wurde sie in den folgenden Jahren auch bei Betrugsdelikten angeordnet, bei Heiratsschwindlern und Dieben und schließlich bei Jugendlichen und bei Ersttätern. Seit 2004 kann die Sicherungsverwahrung auch nachträglich, Jahre nach dem eigentlichen Urteil, angeordnet werden. Mit der Folge, dass die Zahl der Sicherungsverwahrten in den deutschen Gefängnissen in den letzten Jahren deutlich anstieg, auf etwas mehr als 500. +Im Dezember 2009 befand der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die nachträgliche Verlängerung der vor 1998 auf eine Höchstdauer von zehn Jahren begrenzten Sicherungsverwahrung für nicht vereinbar mit den Menschenrechtskonventionen, Anfang 2011 wurde auch die Praxis der nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung bemängelt. Rund 100 in deutschen Gefängnissen einsitzende Schwersttäter müssten nach dem Willen der EU-Richter freigelassen werden. Ende vergangenen Jahres hat das Justizministerium reagiert und eine Reform vorgelegt: Im "Therapieunterbringungsgesetz" wird die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gestrichen. "Psychisch gestörte" Täter, die von zwei unabhängigen Gutachtern als weiterhin gefährlich angesehen werden, können in geeigneten geschlossenen Therapie-Einrichtungen untergebracht werden. Der Deutsche Anwaltverein hält es für zweifelhaft, ob diese "Sicherungsunterbringung" den Straßburger Maßstäben standhält. Das neue Gesetz sei erkennbar darauf ausgerichtet, die Straßburger Rechtsprechung zu unterlaufen. +Seit diesem Februar beschäftigt sich nun das Verfassungsgericht in Karlsruhe mit dem Thema und muss entscheiden, wie deutsche Gerichte mit dem Urteil aus Straßburg umgehen. Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle befand zu Beginn der Anhörung, der EGMR habe die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung nur unzureichend in den Blick genommen, kritisierte aber gleichzeitig die Bundes- und Länderregierungen, sie hätten es versäumt, in der Vergangenheit ausreichende Therapie- und Resozialisierungsangebote zu schaffen. Die Fachleute diskutieren ausgiebig. "Die meisten Straftaten werden von Ersttätern begangen", gab Renate Jaeger, bis 2010 deutsche Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, zu Protokoll, die Fixierung der öffentliche Sorge auf eine kleine Gruppe von Haftentlassenen sei nicht rational. Auch der Tübinger Strafrechtsprofessor Jörg Kinzig befürwortet die Entscheidung aus Straßburg, er vertritt die Ansicht, dass nur ein kleiner Teil derer, die mit schlechter Prognose entlassen werden – gerade unerfahrene Gutachter neigten eher zu negativen Beurteilungen –, tatsächlich wieder rückfällig werden. Der größere Teil würde zu Unrecht weggesperrt, die Chance auf Bewährung und Rehabilitation würde ihnen verwehrt. +Michael Osterheider, Professor für forensische Psychiatrie an der Universität Regensburg, sieht die Situation differenziert. "Von den schweren Sexualstraftätern, mit denen wir arbeiten, ist ungefähr die Hälfte nicht therapierbar", sagt er. "Straftäter, bei denen die Wahrscheinlichkeit, dass sie nach der Haft weitere Straftaten begehen, laut Prognose hoch ist, müssen sicher untergebracht werden können." Die Urteile aus Straßburg, sagt er, sind für ihn "nachvollziehbar, was die Rechtssicherheit für die Betroffenen angeht, andererseits greifen sie zu kurz. Zahlreiche Täter sind nach jahrzehntelanger Strafhaft gar nicht in der Lage, sich selbstständig ohne Hilfe in die Gesellschaft zu reintegrieren. Einfach unvorbereitet auf die Straße setzen ist da keine Lösung. Diese Menschen müssen aufgefangen werden." Das Beispiel Frank T. zeigt, wie wichtig solche Einrichtungen sind, für den Täter und die Gesellschaft. "Wer zu einer langen Haftstrafe verurteilt wurde, kann sich zumindest auf das Ende vorbereiten, hat eine Perspektive. Wir wussten nicht, ob wir jemals rauskommen. Wir hatten nichts mehr zu verlieren, dachten, wir verrecken eh hier drin." Nun hat sich seine Situation geändert. Die Hoffung auf ein Leben, das nicht im Gefängnis endet, ist zurückgekehrt. Für T. ein unerhörter Gedanke. diff --git a/fluter/auf-ins-morgen-land.txt b/fluter/auf-ins-morgen-land.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d11096d0c99a3b3ae6f4fdee2f6d852da08ff711 --- /dev/null +++ b/fluter/auf-ins-morgen-land.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Immer mehr Menschen sehen in einem schicken Smartphone ein größeres Statussymbol als in einem großen Auto. Nur in Brasilien, Russland, Indien und China – dem sogenannten BRIC-Markt – taugt eine große Karre in Zukunft noch zum Angeben. Zu diesem Ergebnis kommt zumindest die Unternehmensberatung Arthur D. Little, die weltweit große Konzerne berät. Für die Studie "Zukunft der Mobilität 2020" hat sie recht unterschiedliche Typen ausgemacht, auf die sich die Autoindustrie einrichten sollte. Unter ihnen der "Greenovator", der in den westlichen Industrienationen im Jahr 2020 bereits 27 Prozent des gesamten Automobilmarktes ausmachen soll. Er möchte gern "intelligente, nachhaltige, teilweise sogar asketische Fahrzeugkonzepte". Neben diesem grünen Asketen wird es noch den "Family-Cruiser"geben, der beim Versuch, Karriere, Kindererziehung und Freizeit unter einen Hut zu bekommen, ein multifunktionales Vehikel benötigt. In größerem Ausmaß wird es auch den "High-Frequency-Commuter" geben, der zwischen Jobs, Wohnorten und Projekten hin und her fährt und deswegen auf Carsharing und kurzfristige Mietwagenangebote abfährt. "Wer spart, hungert bloß für die Erben", sagt sich wiederum der "Silver Driver" – ein Rentner, der auch im Alter noch mal Gas gibt und nach bandscheibenschonenden Sportflitzern verlangt. Am beruhigendsten für die Autokonzerne dürfte noch die Erkenntnis sein, dass die sogenannten "Car Guys" oder "Sensation-Seekers" – Typen also, für die Autofahren einfach das Schönste ist – noch nicht ganz ausgestorben sein werden. Das dürften im Jahr 2020 allerdings wesentlich weniger sein als die "Low-End-User", die sich das Autofahren wegen der hohen Spritpreise schlichtweg nicht mehr leisten können. Ganz generell sieht die Studie ein globales Anwachsen der grünen Bewegung voraus. Neue Antriebe wie Elektromotoren werde man in großen Zahlen von Kalkutta bis Berlin sehen. Ein weiteres Fazit der industrienahen Beratungsfirma: Produkte, welche am neuen grünen Denken vorbeientwickelt sind, werden kaum noch vermarktbar sein. +Woher die Unternehmensberatung das alles weiß? Sie hat eine ganze Menge Interviews geführt, u. a. mit Wissenschaftlern, Soziologen, Marktforschern und Autoentwicklern. Zudem hat sie Umfragen ausgewertet über Kaufabsichten, gegenwärtige Konsumtrends und Schätzungen über die Entwicklung von Einkommen und Populationen. +Oftmals sind die Ergebnisse von Studien nicht eindeutig, stattdessen werden unter- schiedliche Szenarien durchgespielt. Ein klassisches Beispiel für solch eine Untersuchung ist die Studie "Zukünfte und Visionen Wald 2100", für die sich im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen von Forst- und Wirtschaftswissenschaften bis hin zur Umweltethik zusammengeschlossen haben. Im Zentrum der Untersuchung stand die wachsende Bedeutung des Rohstoffes Holz vor allem als nachwachsender Energieträger in einer sogenannten biobasierten Wirtschaft. In den kommenden 100 Jahren werde der Wald laut Studie "zum Ort des Konflikts" im Spannungsfeld zwischen Umweltschutz, wirtschaftlicher Nutzug und dem Bedürfnis der Menschen nach Erholung. Derzeit werden rund 60 Mio. Kubikmeter Holz in deutschen Wäldern geschlagen, potenziell wären in den nächsten 20 Jahren durch Aufforstung und höheren Einschlag sogar etwa 79 Mio. Kubikmeter jährlich nutzbar. Der Forderung der Holzindustrie und Energiewirtschaft nach erhöhtem Holzeinschlag wurde bereits nachgekommen. Noch gehört der Wald vielen: Insgesamt verteilt sich der private und öffentliche Waldbesitz auf 1,5 Millionen Eigentümer. Doch das könnte sich bald ändern, wenn etwa verschuldete Kommunen kein Geld mehr für die teure Waldpflege haben. Hin- zu kämen neue Akteure wie Unternehmen aus der chemischen Industrie, der Biotechnologie, der Energiewirtschaft oder auch Investmentfonds. Wenn der Wald aber auf diese Weise aufgekauft wird, so warnt die Studie – dann bestehe die Herausforderung für den Staat darin, die sich verschärfenden Nutzungskonflikte durch kluge Vermittlung zu moderieren. Damit der Wald nicht nur als Ressourcenspender, sondern auch als ökologischer Rückzugsraum erhalten bleibt. +Wie kommt's, dass die Forscher den Wald vor lauter Bäumen noch sehen? Im Projektteam arbeiteten Wissenschaftler/-innen aus den Forst-, Umwelt-, Wirtschafts-, Sozial- und Regionalwissenschaften, aus der Zukunftsforschung und Umweltethik zusammen mit Praktikern der Holz- und Forstwirtschaft. Das Team stützte sich auf Untersuchungen zu zukunftsrelevanten Problemfeldern wie Globalisierung, Klimawandel oder demografischer Wandel und schaute, was davon für die Zukunft des Waldes relevant ist. +Eisen, Aluminium und Kupfer – mit diesen Metallen hat man früher das große Geschäft gemacht. Doch der eigentliche Run findet heute auf ganz andere Metalle statt: Gallium, das u.a. aus dem Erz Bauxit gewonnen wird, Neodym, das vor allem in China vorkommt, Indium, das so selten wie Silber ist und in Ostsibirien gefunden wurde, Germanium aus Kupfer- oder Zinkerz oder Scandium. Diese seltenen Rohstoffe werden dringend für die Industrien von morgen benötigt. Im Elektrofahrzeugbau, der Lasertechnik, in Handys und Flachbildschirmen sowie für Beschichtungen von Solarzellen – der Bedarf, den die Zukunftstechnologien an hauchdünn auftragbaren und mit besonderen Leiteigenschaften ausgestatteten Metallen haben, wird in den nächsten Jahren rasant ansteigen. Und zwar womöglich mehr, als von den Hightechrohstoffen verfügbar ist. Das Bundesministerium für Wirtschaft hat eine Studie in Auftrag gegeben, die untersucht hat, in welchem Umfang die Edelmetalle im Jahr 2030 benötigt werden. Fazit: Bei manchen Rohstoffen, etwa dem für die Dünnschichtfotovoltaik benötigten Gallium, steigt der Bedarf auf das Sechs- fache der derzeitigen Weltproduktion. Bei Neodym, das in Elektroautos und der Lasertechnik verwendet wird, immerhin noch auf das 3,8-fache. Dennoch, so die Autoren der Studie – darunter Experten vom Fraunhofer- Institut für System- und Innovationsforschung – gibt es ausreichend Zeit, den Rohstoffbedarf in 20 Jahren sicherzustellen. Viele technologische Entwicklungen haben nämlich einen längeren Vorlauf als die Umsetzung neuer Bergbauprojekte oder anderer Gewinnungsmethoden. +Wie man den Bedarf in 20 Jahren errechnet? Die Zukunftsstudie war vor allem eine Rechenaufgabe: Aus den derzeitigen Entwicklungszyklen neuer Technologien, dem spezifischen Rohstoffbedarf und der Verbreitung der Konsum- und Industriegüter, in denen die seltenen Metalle Verwendung finden, wurden Faktoren für Gleichungen errechnet. Das Datenfundament dafür wurde durch Auswertung von Fachdatenbanken und zahlreichen Interviews gelegt. diff --git a/fluter/auf-nach-kalifornien.txt b/fluter/auf-nach-kalifornien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..35ddffc8af5e39d5add20a874e571b3aa8e3bffc --- /dev/null +++ b/fluter/auf-nach-kalifornien.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Doch es sieht ganz so aus, als lohne sich diese Allianz nur für China, das aus Russland günstig Rohstoffe für seine Industrien importiert. Genau diese Abhängigkeit von Rohstoffen hat Russland das derzeitige Dilemma beschert. Der Öl- und Gasreichtum hat die russische Wirtschaft träge gemacht, in den Aufbau anderer Industriezweige wurde viel zu wenig Geld gesteckt. Der derzeit niedrige Ölpreis verdirbt die Bilanzen.Russland ist für China ein riesiger Absatzmarkt und gleichzeitig das gelobte Land der billigen Rohstoffe. Die Waren, die Russland selbst nicht mehr produziert, werden zu einem großen Teil aus China eingeführt. Zugleich hat China kein Interesse an einer nachhaltigen Entwicklung Russlands. Im Gegensatz zu manchen europäischen Staaten, die Russland gern mit Maschinen beliefern würden. +In diesem Dilemma bietet sich Russland eigentlich nur eine vernünftige Perspektive: Sein Potenzial liegt am Pazifik. Handelsbeziehungen zu anderen Pazifikanrainern wie Kanada, den USA, Mexiko und den Ländern Lateinamerikas sind vielversprechender als die einseitige Beziehung zu China. Die Länder, die in Russlands Osten liegen, sind technologisch gut entwickelt und haben finanzielle Ressourcen, mit denen sich die ländlichen Regionen Russlands entwickeln ließen. In dem Maße, wie China zur wirtschaftlichen Supermacht aufsteigt, werden sich diese Länder neue Partner in Asien suchen – und das rohstoffreiche Russland ist da keine schlechte Option. Die USA, Japan und Kanada könnten bei der Erschließung Sibiriens helfen.Europa hat nach 1991 den Fehler gemacht, Russland nicht in seine politischen und wirtschaftlichen Strukturen zu integrieren. Russlands Antwort darauf war die Rückbesinnung auf imperiale Verhaltensmuster, die letztlich auch zum Krieg in der Ostukraine geführt haben. Auch der Westen sollte Interesse daran haben, dass sich Russland wirtschaftlich so entwickelt, dass es diese chauvinistische Art der Politik nicht nötig hat. Europa und die USA sollten Russland im Pazifikraum eine wesentlich größere Rolle zu-billigen, der Zeitpunkt dafür könnte bald kommen. Dann nämlich, wenn Russland merkt, dass es mit der derzeitigen Annäherung an China nichts gewinnen kann. +Yulia Zhuchkova ist Mitarbeiterin des Zentrums für postindustrielle Studien in Moskau, Wladislaw Inosemzew ist dessen Direktor und seit März Gastwissenschaftler bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin. diff --git a/fluter/auf-okaye-art-ignorant.txt b/fluter/auf-okaye-art-ignorant.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d5a966c0a6cd7846abb15107f4e19033f55460a6 --- /dev/null +++ b/fluter/auf-okaye-art-ignorant.txt @@ -0,0 +1,36 @@ + +fluter.de: Herr Böss, wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine Reise in deutsche Glaubenswelten zu unternehmen? +Gideon Böss: Ich fand das Thema Religion schon immer interessant. Diese Mischung aus Geschichte, Liturgie und Mythologie, die oft so ins Fantasyhafte geht. +Sind Sie denn selbst religiös? +Nein, überhaupt nicht. Meine Familie ist ganz areligiös. Nicht religionsfeindlich, es ist einfach nicht unser Ding. Deshalb hat es mich immer fasziniert, dass für Menschen etwas so extrem wichtig sein kann, das gleichzeitig so irrational ist. Auslöser für meine Recherche war schließlich die Geschichte eines Familienvaters in Sachsen, der eines Tages beschlossen hat, dass er Gott ist. Geschichten von so wahnsinnigen Religionstypen kannte ich bis dahin nur aus Amerika. +In Ihrem Buch beschreiben Sie 26 religiöse Gruppen. Wie haben Sie die Gemeinden ausgesucht? +Mein Ziel bei der Auswahl war, dass man einen Überblick erhält, was es für eine Bandbreite an Religionen gibt, und zwar unabhängig davon, wie groß oder einflussreich sie sind. Bei den Hexen zum Beispiel sind es vielleicht 300 Leute in Deutschland, die das ernsthaft betreiben. + + +Und Hexentum ist tatsächlich eine Religion? Wie haben Sie Religion definiert? +Ich war da ziemlich großzügig, für mich reicht es aus, wenn Leute sich in einer Gruppe organisieren, die für sie Antworten gibt auf die Grundfragen "Wo kommen wir her?", "Wo geht es hin?" und "Warum sind wir hier?". +"65 Prozent aller Deutschen sind in einer Religion organisiert", heißt es in Ihrem Buch. Bezieht sich die Zahl auf den eben beschriebenen Begriff von Religion? +Die Zahl erfasst eher die klassischen Religionen. Die katholische und evangelische Kirche haben in Deutschland ein extremes Monopol. Wenn das normale Unternehmen wären, würde das Kartellamt die sofort zerschlagen. +Kann man anhand der Vielfalt von Glaubensgemeinschaften ablesen, wie in Deutschland mit Diversität umgegangen wird? +Ich habe den Eindruck, dass die Deutschen auf eine völlig okaye Art ignorant sind gegenüber dem Großteil aller religiösen Angebote. Noch vor zwei Generationen sind ganze Beziehungen daran gescheitert, dass der Partner der falschen der beiden christlichen Großkirchen angehörte. Heute müssen junge Leute lange nachdenken, ob ihr Partner überhaupt getauft ist. Der Glaube ist schlicht kein relevantes Auswahlkriterium mehr. + + + +Sie sind allen Gruppen mit der gleichen neugierigen und respektvollen Haltung begegnet. +Ja, ich habe ihnen allen zugebilligt, dass sie recht haben. Ich glaube es persönlich nicht, aber es würde mich überhaupt nicht frustrieren, wenn sich herausstellt, dass sie recht haben. Im Zweifelsfall wäre das echt spannend, weil es dann irgendwie weitergeht nach dem Tod. +Wenn man Ihre Beschreibungen liest, staunt man über alle gleichermaßen. +Man kann natürlich darüber lachen, wenn Leute wie die Raelisten glauben, dass wir von einer Alienrasse geklont wurden, aber wenn du einem komplett Außenstehenden sagst, dass dein Gott von einer Jungfrau geboren wurde und sein eigener Vater ist, klingt das nicht weniger spektakulär. +Sie haben zum Teil sehr spitzfindige Diskussionen geführt. Bei Scientology, wo man an Wiedergeburt glaubt, haben Sie gefragt, ob jemand, der im früheren Leben Adolf Hitler gewesen ist, Mitglied werden könnte. +Es ging mir gar nicht darum, spitzfindige Diskussionen zu führen, ich fand die Fragen einfach naheliegend. Wenn man beispielsweise bei den Mormonen sagt, dass Verheiratete und ihre Kinder bis in alle Ewigkeit zusammen sind, dann stellen sich für mich sofort zwei Fragen, zum einen: Wenn ich mich scheiden lasse und wieder heirate – was bei den Mormonen möglich ist –, mit wem verbringe ich dann die Ewigkeit? Und wenn meine Kinder irgendwann heiraten – wie verbringen die dann ihre Ewigkeit? Die können ja nicht gleichzeitig das Kind in meiner Ewigkeitsfamilie sein und der Mann oder die Frau in dieser anderen Ewigkeitsfamilie. Wenn ich mir ernsthaft überlegen würde, Mormone zu werden, wüsste ich das schon gerne. + + +Die meisten Gesprächspartner haben sich auf die Diskussionen eher nicht eingelassen. "Meine Fragen sind an seinem Glauben abgeprallt wie Schneebälle an einem Atombunker", schreiben Sie an einer Stelle. +Ja, das hat mich auch ein bisschen gewundert, weil ich dachte, das muss einen doch auch selber ein bisschen irritieren. Aber im Verlauf der Zeit ist mir klar geworden, dass so ein Glaube immer eingebunden ist in ein soziales Umfeld, das für die Leute oft viel wichtiger ist. Sie können gut verkraften, dass manches nicht nachvollziehbar ist. Zumal du in der Religion diesen rhetorischen Kniff hast, dass du sagst: Ich als kleiner Mensch kann mir doch nicht anmaßen nachzuvollziehen, was Gott sich dabei gedacht hat. +Das heißt, die Theorie ist für die Gläubigen gar nicht so wichtig? +Eher nicht. Offenbar geht es um etwas anderes. Es war sehr interessant zu sehen, wie engagiert alle Gruppen in der Gesellschaft waren. Die ganze Flüchtlingsthematik wurde im Verlauf meiner Reise immer wichtiger, und alle religiösen Gruppen, mit denen ich zu tun hatte, haben selbstverständlich geholfen. Und zwar nicht aus dem Gedanken "Eine Million Neue, vielleicht können wir da ein paar für uns gewinnen" heraus, sondern weil es eine Frage der Menschlichkeit ist. +Haben Sie etwas gefunden, was, wie Sie es in der Einleitung formulieren, "Heimat für die Seele" bieten könnte? +Nein, gar nichts. Ich suche ja nicht dringend einen Glauben. Ich habe das auch in schlimmen Phasen meines Lebens nie vermisst. Ich war eher froh, dass ich nicht auch noch die theologische Frage "Wie soll ich das jetzt verstehen, Gott, dass du das hast geschehen lassen?" beantworten muss. Da kam ich immer besser damit zurecht zu sagen: Du kannst auch einfach Pech haben im Leben. Du kannst der freundlichste, liebenswerteste Mensch der Welt sein und trotzdem früh sterben – aber Leni Riefenstahl, die wird halt 100. + + +Gideon Böss: "Deutschland, deine Götter". Tropen, München 2016, 398 Seiten, 19,95 Euro +Das Thema Glauben fasziniert die Journalistin Bettina Homann seit ihrer Kindheit. Die umfangreiche Sammlung an Heiligenbildchen, die sie durch fleißige Mitarbeit im Religionsunterricht erwarb hat sie bis heute aufbewahrt. diff --git a/fluter/auf-see-roman-theresia-enzensberger-rezension.txt b/fluter/auf-see-roman-theresia-enzensberger-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ca01aa8831d3e929a29b8438672a5e3d92eaa3a2 --- /dev/null +++ b/fluter/auf-see-roman-theresia-enzensberger-rezension.txt @@ -0,0 +1,13 @@ + +Um die großen Fragen, die einen beschäftigen, wenn man jung ist: Wie handelt man, wenn dieZukunft unsicherist? Ist Sicherheit oder Freiheit wichtiger? Und wie wird man eigentlich erwachsen? Behutsam und unaufgeregt erzählt Enzensberger davon, wie Yada sich zum ersten Mal verliebt, gegen ihren Vater rebelliert und eigene Entscheidungen trifft. Während Yada Idealistin ist und trotz Widrigkeiten nicht aufgibt, hat die ältere Helena längst resigniert: "Ich will die Welt aber überhaupt nicht verändern. Die Welt kann mir gestohlen bleiben", sagt sie an einer Stelle. Die Verantwortung, die mit ihrer Popularität einhergeht, will sie lange nicht akzeptieren. Letztlich konfrontiert der Roman einen mit der Frage,wie man selbst mit Zukunftsangst umgehen würde: wie Yada, wie ihr größenwahnsinniger Vater oder wie Helena? + +Abwechselnd aus der Sicht von Yada und Helena. Dazwischengestreut ist ein "Archiv", in dem verschiedene historische Fälle von ausgedachten Staaten und Schwindlern gesammelt sind. Wie von demFinanzbetrügerGregor MacGregor, der Anfang der 1820er-Jahre in London Staatsanleihen im Namen des Fantasiestaates Poyais verkaufte. Yadas Erlebnisse sind aus der Ich-Perspektive erzählt, Helenas Geschichte in der dritten Person, wobei die Erzählinstanz nur ihre Sicht, Gedanken und Gefühle kennt. +Trotzdem hat man das Gefühl, beiden nah zu sein, weil sie so realistisch und detailtreu gezeichnet werden. Zum Beispiel Yada, wie sie eine Entdeckung vor ihrem Vater in einer Tamponschachtel versteckt, oder Helena, wie sie in einem tagelangen Dunst aus Feierei und Verantwortungslosigkeit verschwindet und ihre Haare nicht aus dem Duschabfluss fischt. Obwohl die Welt, die Enzensberger entwirft, fantasievoll ist, bleibt ihre Sprache lebensecht und so klar, dass manche Sätze nachhallen, wenn man das Buch schon aus der Hand gelegt hat. + +Ja, wenn nicht wegen der Geschichte, dann wegen der Charaktere. Dystopien sind nichts Neues, und an Kreativität übertrifft Enzensberger keine Margaret Atwood oder Marlen Haushofer, keinen George Orwell oder Aldous Huxley. Aber Yada, Helena und ihre Mitstreiterinnen sind so echt und einnehmend erzählt, dass man mit ihnen mitfiebert – und dass vor allem die männlichen Charaktere ganz natürlich in den Hintergrund treten. "Auf See" regt dazu an, Machtverhältnisse zu hinterfragen – zwischen Jugendlichen und Erwachsenen, Frauen und Männern – und zu versuchen, sein eigenes Schicksal zu gestalten. So wie Yada es tut: "Obwohl sich alle Gewissheiten aufgelöst hatten, fühlte ich mich zum ersten Mal seit langem sicher. Ich konnte niemandem vertrauen, nur mir selbst." + +Die geschichtsstundenartigen Archivabschnitte will man fast überblättern, um zu erfahren, wie es mit Yada und Helena weitergeht. So bleibt die fundierte Recherche etwas auf der Strecke. Außerdem ist die zeitliche Struktur komplex: Man muss konzentriert lesen und versteht manches erst rückblickend. Wer eine entspannte Lektüre für einen Tag am See möchte, sollte zu einem anderen Roman greifen. + +… ist einer, den Theresia Enzensberger über Yadas erstes Mal schreibt und der ein Gefühl in Worte fasst, das man kennt, aber nicht selbst zu beschreiben wüsste: "Als wir miteinander schliefen, nahm mir ihre Bestimmtheit alle Hemmungen, mein Körper wurde mir selbstverständlich." + +… Fans von Karen Köhlers feministischen Inselroman "Miroloi". Und alle Menschen, die bei der Bekämpfung ihrer Zukunftsangst gut unterhalten werden wollen. diff --git a/fluter/auf-teufel-komm-raus.txt b/fluter/auf-teufel-komm-raus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9400bf316db73ee54f3afb29d9607d33e29c3030 --- /dev/null +++ b/fluter/auf-teufel-komm-raus.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Sheldon Cooper, der liebenswürdige Nerd aus "Big Bang Theory", ist da wie so oft ganz anderer Auffassung: "Welches ist die beste Zahl, die bekannt ist?", fragte er einmal seine Freunde. "Aber bedenkt: Es gibt nur eine korrekte Antwort." Vorschläge? Es ist die 73. Grund laut Sheldon: "Die 73 ist die 21. Primzahl, ihre Spiegelzahl, die 37, ist die zwölfte, deren Spiegelzahl, die 21, ist das Produkt der Multiplikation von – haltet euch fest – sieben und drei." Ist die 73 damit etwa der Chuck Norris des Zahlenuniversums? "Das hätte Chuck Norris wohl gern. Binär ausgedrückt ist die 73 ein Palindrom: 1.001.001, rückwärts gelesen 1.001.001, also exakt dasselbe. Chuck Norris ergibt rückwärts einfach Sirron Kcuhc." Noch Fragen? (Die Szene entstammt übrigens der 73. Folge der Comedy-Serie.) +Mit solchen Gedankenspielen plagen sich die Pirahã nicht herum. Das indigene Volk aus dem Amazonasgebiet könnte nur zwischen der Eins und der Zwei wählen – mehr Zahlen nutzen diese Menschen nicht. Alles andere ist "viel", wobei auch eins nicht gleich eins ist: Laut Forschern, die eine mathematische Studie mit den Pirahã durchführten, bezeichnet das entsprechende Wort eher eine kleine Menge von etwas. Mathematisches Denken,so die Schlussfolgerung, ist unter diesen Voraussetzungen unmöglich. Vielleicht gelten die Pirahã ja deshalb als"das glücklichste Volk der Welt". +Seit einigen Jahren ist übrigens auch bewiesen, dassBienen zählen können– bis vier. Die Zahl scheint in der Tierwelt eine kritische Grenze zu sein, über die die meisten Spezies nicht hinauskommen. Einige Forscher sehen darin eine Bestätigung für die Theorie eines universalen Zahlensinns, über den sowohl Menschen als auch einige Tierarten verfügen. +Im Grunde nicht überraschend: Bienen beherrschen Summen bis vier +Und dann gibt es noch eine Menge Zahlenunsinn in der Welt. Zum Beispiel:Was vielerorts die 13ist, ist bei den Italienern die 17. Sie wird als Unglückszahl gemieden. In italienischen Gebäuden fehlt häufig die 17. Etage, in den Maschinen der Airline Alitaliadie entsprechende Sitzreihe. Der französische Autohersteller Renault verkaufte seinen R17 in Italien gar als R177. Warum? Die entsprechende römische Zahl XVII ist ein Anagramm zu VIXI – "ich habe gelebt" (bzw. "ich bin tot") im Lateinischen. Im Internet finden sich noch weitere Herleitungen, etwa die biblische Sintflut, die "im sechshundertsten Jahre des Lebens Noahs, im zweiten Monat, am siebzehnten Tage" eintrat. +Weit hergeholt? So ist das mit dem Aberglauben. In Asien hat das im Fall von Zahlen häufig mit Lauten zu tun: Die Vier gilt unter anderem in China, Japan und Korea alsUnglückszahl, weil sie in der Aussprache den Worten für "Tod" und "sterben" ähnelt. Das ist in China auch bei der Sieben und der Zehn der Fall. Und umgekehrt: Weil das chinesische Wort für "acht" so ähnlich klingt wie "Reichtum", soll die Zahl Glück bringen. +Glück muss in der Zahlensymbolik aber gar nichts mit konkreten Zahlen zu tun haben. In Japan etwa wird es ganz allgemein mitungeraden Zahlenin Verbindung gebracht. Wer dort Geschenke macht, sollte daher immer drei, fünf oder sieben Gegenstände überreichen. Nicht anders beim Geld: Hier sind 30.000 oder 50.000 Yen zu empfehlen. Wenn es dann doch mal eine gerade Summe ist, kann man tricksen, indem man das Geldgeschenk auf drei, fünf oder sieben Scheine aufteilt. +Und wo wir gerade bei gerade und ungerade sind: Schon mal versucht, das Geschlecht eines Babys zu erraten? Sind dabei Zahlen im Spiel, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, sich täuschen zu lassen. Forscher einer US-Uni haben herausgefunden, dass wir Babys auf Fotos als männlicher wahrnehmen, wenn diese im Zusammenhang mit ungeraden Zahlen auftauchen. Bei geraden Zahlen ist es umgekehrt. Diese Assoziation findet sich übrigens in vielen Kulturen. +Für viele, ja alle Kulturen soll auch die Sprache Timerio verständlich sein. Es handelt sich dabei um eine auf Zahlen basierende Plansprache, die in den 1920er-Jahren von einem Berliner Architekten erfunden wurde. Jedes sprachliche Konzept erhielt eine Nummer, was die Kommunikation zwischen verschiedenen Sprachen vereinfachen sollte. Zum besseren Verständnis zwei Beispiele: "1 – 80 – 17" heißt "Ich liebe dich", "1 – – (3) – 980²" bedeutet "Ich werde drei Briefe schreiben" – total einfach, oder? +Da heißt es einen kühlen Kopf bewahren. Dabei kann die 241543903 helfen. Wenn man diese Zahlenfolge in der Google-Bildersuche eingibt, erscheinen Menschen, die ihre Köpfe in Kühlschränke stecken. Was mysteriös klingt, geht auf den New Yorker Künstler David Horvitz zurück. Der nahm als Erster ein Kopf-im-Kühlschrank-Foto auf und taggte es auf Flickr mit eben dieser Zahl, der Seriennummer des Geräts kombiniert mit den Barcodes von zwei Lebensmittelpackungen darin. Seine Follower rief er dazu auf, es ihm gleichzutun. Und – zack – hatte er ein Meme erfunden. +Kein Artikel über Zahlenmystik ohne die 666. Sie geht auf die Johannes-Offenbarung in der Bibel zurück und wird dort als "Zahl des Tieres" bezeichnet. Je nach Deutung ist damit der Antichrist gemeint, Adolf Hitler oder das Böse im Allgemeinen. In Musiktiteln verschiedener Metal-Spielarten spielt die Zahl ebenso eine Rolle wie in zahlreichen Verschwörungstheorien. +Etwas weniger teuflisch, aber umso konspirativer geht es rund um die 23 zu. Der "Zahl der Illuminaten" wird eine die Weltpolitik bestimmende Macht zugeschrieben. Es gibt dazu sogar einen Film: In "23 – Nichts ist so wie es scheint" geht es um Hacker, den KGB und – natürlich – eine weltweite Verschwörung. Allerdings sei hier gesagt, dass der preisgekrönte Thriller auf wahren Begebenheiten beruht. So oder so, die 23 wird von Verschwörungstheoretikern immer und überall gesichtet, was ihre Bedeutung unterstreichen soll. Wer einen kühleren Kopf bewahrt, wird feststellen: Egal auf welche Zahl sich jemand konzentriert – er wird sie von da an immer und überall antreffen. +Lukas Wohner arbeitet neben dem Studium als freier Journalist in Berlin – wenn er nicht gerade fluter-Praktikant ist. An Zahlenmystik glaubt er nicht. Aber als ihm ein höchst seriöser Numerologie-Rechner im Internet verriet, dass seine Schicksalszahl die Sechs ist, fand er das dann doch ganz treffend. diff --git a/fluter/auf-und-davon.txt b/fluter/auf-und-davon.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..77347c9210ede1f56a3f8390b069fce0ba71be9a --- /dev/null +++ b/fluter/auf-und-davon.txt @@ -0,0 +1 @@ +Opa Erwin war gut vorbereitet auf unser Gespräch. Er brachte Karten mit, Ausgaben eines Magazins namens "Heimatblatt", Fotos, Urkunden. "Da", sagte er und zeigte auf ein paar Schraffuren mitten im Nichts, "da war unser Hof." In einem Dorf namens Seidlitz bei Landsberg an der Warthe, schon seit Jahrzehnten heißt der Ort in Polen nun Gorzów Wielkopolski. Dort lebte er mit seinem Vater, der schon im Ersten Weltkrieg gedient hatte und aufgrund seines Alters im Zweiten nicht eingezogen wurde, seiner Mutter und seinem älteren Bruder.Als Opa Erwin 13 war, änderte sich alles. Zuerst kamen im bitterkalten Winter 1944 die Menschen, die aus dem noch ferneren Osten vor dem Krieg und vor der Roten Armee flohen. Nicht ganz zu Unrecht hatten die Menschen Angst, dass sich die vorrückenden sowjetischen Soldaten für die Untaten der deutschen Soldaten und SS-Männer rächen würden. Überfüllte Züge rollten in die Bahnhöfe, Pferdetrecks verstopften die Straßen."Der Schnee lag meterhoch. Die toten Kinder und Großeltern, die erfroren waren, haben sie einfach hingelegt und sind weitergefahren", erzählte er mir. "Wir konnten von uns aus sehen, wie Landsberg brannte", sagte Erwin. Ein paar seiner Tanten, darunter auch jene, deren Mann Willi mit anderen Nazis erschossen worden war, flohen nach Seidlitz zu ihnen auf den Hof.Nur zwei Mal während unserer Unterhaltung wirkte Erwin mitgenommen: Einmal, als er von der letzten Begegnung mit seinem Vater erzählte, der erst von den Sowjets zum Arbei- ten eingezogen und dann in die Sowjetunion deportiert wurde. "Von den Nazis sind später welche zurückgekommen, aber meinen Vater, der nicht mal Soldat und sogar gegen Hitler war, habe ich nie wiedergesehen." Das andere Mal, als er von der völlig zerstörten Stadt Küstrin berichtete, heute Kostrzyn nad Odr̨a, die sie auf der Flucht durchquerten. "Da stand kein Haus, kein Stein mehr. Ab und zu sah ich einen Arm herumliegen."An einem Maimorgen 1945, bei Kriegsende, standen dann zwei polnische Soldaten vor der Tür. "In zwei Stunden mussten wir raus sein. Und wohin? Hinter die Oder." Nachbarn, die Jahre nicht mehr miteinander gesprochen hatten, fanden sich in einem Treck zusammen. Handwagen an Handwagen. Erwins Gruppe hatte Glück und schlug sich rund 150 Kilometer über Küstrin bis nach Berlin-Weißensee durch. Seine Familie fand schließlich Verwandtschaft im zerbombten Neukölln, doch als es dort weder Essen noch Perspektiven gab, zogen sie in eine Kleinstadt nach Brandenburg weiter. Dort fanden sie schließlich Arbeit. Nur der Hund hatte Pech: Waldo tauschten sie unterwegs gegen sieben Brote ein.Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom 5. August 1950 legt "Pflichten und Rechte" fest; vor allem den Verzicht auf Rache und Vergeltung für die Vertreibung, aber auch das "Recht auf Heimat". Erst in diesem März hat die Landsmannschaft der Sudetendeutschen den Anspruch auf "Rückgabe der Heimat" und beschlagnahmtes Eigentum aufgegeben. "Ich fand es nicht richtig, dass alles so plötzlich kam, das hätten sie anders machen können. Der Krieg war vorbei", sagte Opa Erwin. "Aber Deutschland hat den Krieg angefangen. Die Schuldigen sind wir, und wir mussten deswegen leiden. Das war so. Ohne den Krieg hätte es keine Flüchtlinge gegeben. Und ohne Verbrechen keine Gegenverbrechen. Ohne den Krieg hätten wir weiter in Seidlitz gewohnt."Vor ein paar Jahren war Opa Erwin noch einmal dort. Die Kirche im Dorf sieht noch genauso aus wie damals. Er hat sich auch das Land angesehen, auf dem früher der Hof war und heute ein paar Häuser stehen. Vielleicht wäre er zurückgekehrt, wenn er gekonnt hätte. "Aber das Leben ging weiter", sagt er, "ich baute mir woanders etwas auf."Mein Opa hat eine Heimat verloren und eine neue gefunden. Und eine neue Heimat zu finden, kann man eigentlich nur jedem Flüchtling wünschen. diff --git a/fluter/aufbruchstimmung.txt b/fluter/aufbruchstimmung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..60673f89812801643ecf549c0b106258af1ffc38 --- /dev/null +++ b/fluter/aufbruchstimmung.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Aber immerhin: Zwei Stunden lang war man, so hoffte Cook, Gott näher als der Flasche. Die erste Pauschalreise der Ge schichte – wenn auch noch ohne Übernachtung – wurde ein Erfolg. Und Thomas Cook mit seinem Reise unternehmen ein reicher Mann. Der Reisescheck, die Flusskreuz fahrt, der Reisekatalog, die touristische Weltreise: alles Cooks Erfindungen. 50 Jahre später, 1891, revo lutionierte ein Deutscher den Tourismus zur See. Albert Ballin, ein Hamburger Kaufmann und Ree der, handelte nicht mit Gewürzen, nicht mit Kaffee, nicht mit Fisch. Ballin handelte mit Hoffnung und manchmal auch mit Glück: Ballin, ein Freund des deutschen Kaisers, leitete die Schifffahrtslinie Hapag, seine Schiffe brachten Emigranten über den Ozean. Zu Hunderttausenden wanderten Europäer ab Mitte des 19. Jahrhunderts in die USA aus. Weil ihre Fahrt vielfach in Hamburg begann, galt die Stadt als "Hafen der Träume". So wurde Ballins Hapag zur größten Reederei der Welt. +Doch Ballin war nicht nur der Exporteur hoffnungsfroher verarm ter Emigranten. Ihn ärgerte, dass Nordatlantikquerungen im Winter nicht ausreichend nachgefragt wur den, und er fasste einen Entschluss. An einem stürmischen Januartag 1891 ließ er die "Augusta Victoria" nicht auf besse res Wetter warten, sondern schickte das Schiff auf eine Kreuzfahrt ins Mittelmeer. An Bord: knapp 250 vornehme Damen und Herren, die es sich leisten konnten. Ein Dutzend Ziele steuerten sie an, und auch diverse Ausflüge standen auf dem Programm – sogar zu den Pyramiden in Ägypten. Die Reise gilt als erste Meereskreuzfahrt der Geschichte. Doch zunächst blieb das Verreisen zum Vergnügen ein Privileg der Reichen. Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis Urlaub in breiten Gesellschaftsschichten üblich wurde. Denn um zu reisen, benötigt man zwei Dinge: Zeit und Geld. +Die meisten Menschen im 19. Jahrhundert hatten von beidem zu wenig. 80 Stunden Arbeit pro Woche galten mal als normal – noch in der Weimarer Republik gab es höchstens drei Urlaubstage Nie schufteten Arbeiter länger als zu den Hochzeiten der Industrialisierung, als überall Stahl fabriken wuchsen. 80 Stunden pro Woche galten um 1850 durchaus als normal. Bis zum Ende der Weimarer Republik hatten die meisten Ar beiter Anspruch auf höchstens drei Urlaubstage im Jahr. Mehr als ein Wochenendausflug war da nicht drin. Das änderte sich in den 20er Jahren, als die Gewerkschaften anfingen, für ihre Mitglieder Pau schalreisen zu organisieren. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, gründeten sie die Or ganisation "Kraft durch Freude", eine Art staatlicher Reiseveran stalter. Die arischen Arbeiter sollten bei Laune gehalten und "gleichgeschaltet" werden, also offerierte man ihnen billige Kurzausflüge, gleichzeitig bot die massenhafte Verschickung von Menschen die Möglichkeit, Logistik und Organisation für den Krieg zu erproben. 20.000 Menschen sollten sich zum Beispiel im Seebad Prora auf Rügen erholen können. Doch noch bevor der grotesk große, 4,5 Kilometer lange Gebäudekomplex an der Ostseeküste fertig wurde, begann der Krieg, und die Bauar beiter wurden abgezogen. Nun schufteten hier Zwangsarbeiter am provisorischen Ausbau. Nach dem Krieg war in Deutsch land an Urlaub kaum zu denken. Erst das Wirtschaftswunder bescherte dann vielen Familien in der BRD ein Auto, das Einkommen wuchs. Gewerkschaften kämpften für kürzere Arbeitszeiten und mehr freie Tage. Mit Erfolg. In den 50ern ist noch Ruhpolding in Bayern das Traumziel, dann folgt schon Italien. 1971 fliegt zum ersten Mal ein gecharterter JumboJet nach Mallorca. Heute reisen rund drei Viertel aller Deutschen. Allerdings nutzen nicht alle die Möglichkeit, individuell zu verreisen. Versandunternehmen wie Neckermann, die bis dahin Fernseher und Sommerkleider anboten, begannen schon in den 60ern, Pauschalreisen nach Tunesien oder Spanien zu offerieren. Mancher Ort war auf einen derartigen Ansturm von deutschen Touristen noch nicht vorbereitet. Verstreut hätten die Urlauber vielleicht in einer Stadt wohnen können, in kleinen Hotels, Pensionen, Privatwohnungen. Sie für Tagesausflüge einzusammeln hätte dann aber schon Stunden gedauert. Praktikabel war das nicht. Also baute man riesige Hotels an den Strand, Bettenburgen mit oft mehreren hundert Zimmern, eine neben der anderen. So entstand das Panorama, das man heute von vielen Touri-Orten kennt: blaues Meer, Sandstrand, Hochhaus. Auf Mallorca übernachteten im gesamten Jahr 1950 rund 100.000 Touristen. 2013 kamen fast 100-mal so viele: 9,5 Millionen. Seit Kurzem sind nicht mehr die Deutschen, sondern die Chinesen die Weltmeister im Reisen. 97 Millionen von ihnen zogen 2013 in die Welt hinaus und kehrten mit Erfahrungen wieder. Verglichen mit der Einwohnerzahl des Landes ist das zwar wenig. Doch auch in China wird in den nächsten Jahren die Mittelschicht wachsen, und immer mehr werden sich eine Reise leis ten können. Bis zur zweiten Milliarde Touristen ist es also nicht mehr weit. diff --git a/fluter/auffaellig-unauffaellig.txt b/fluter/auffaellig-unauffaellig.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c03d5c8899d845ff968f2bf3aa390dee129d783f --- /dev/null +++ b/fluter/auffaellig-unauffaellig.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Was "K-Hole", ein New Yorker Trendbüro, im Oktober 2013 als Voraussage veröffentlichte, liest sich heute beinahe wie ein Mode-Manifest. Eine der Kernaussagen des Reports über die Jugend und ihre Gebräuche ("Youth Mode") lautet: Im Füllhorn des Besonderen erkennt niemand mehr das Besondere. Das ist natürlich vor allem für den Hipster ein Dilemma. Schließlich ist er der Hohepriester des Besonderen. Mit seinen präzisen wie elitären Geschmacksvorstellungen definiert er sich darüber, anders als die anderen zu sein. Und das soll auch jeder an seinem Look sehen. Sein ausgeprägter Stilehrgeiz macht ihn auch zum Vorreiter in Sachen Mode: Was er heute trägt, hängt morgen in den Läden und ist für alle verfügbar. Doch je mehr Leute besonders sein wollen und den Hipster-Look imitieren, desto weniger funktioniert er. Die Lösung: Statt mit immer noch exzentrischeren Outfits um Aufmerksamkeit zu kämpfen, sei es viel effektiver, sich möglichst unauffällig anzuziehen, argumentierte K-Hole. Diese Strategie nannten sie "Normcore" – ein Kofferwort aus "normal" und "hardcore". 2014 war es der am häufigsten gegoogelte Fashion-Begriff – und einer der umstrittensten. Marketing-Tool und Modewort für Journalisten zugleich, geistert "Normcore" bis heute durch die Welt der Medien. +Ist diese zur Schau gestellte Unauffälligkeit eine neue Form der Unangepasstheit? Möglicherweise sogar die einzig noch funktionierende? Dieser Frage geht Modetheoretikerin Diana Weis in ihrem Aufsatz "Revolte im Kinderzimmer" nach. Früher waren die Verhältnisse klarer: Hippies dienten die langen Haare und die Schlaghosen als Mittel, um sich von bürgerlichen Werten zu distanzieren. Für Punks erfüllten der Irokesenschnitt und die Sicherheitsnadeln in den Lederjacken diese Funktion. Heute sollen es locker sitzende Jeanshosen und Tennisschuhe sein, mit denen die Jugend ein Statement setzen kann. +... andere wiederum sagen, dass ihnen das dann auch wieder … +Je langweiliger, desto cooler? Nicht unbedingt, meint Weis. Es mache etwa einen Unterschied, ob ein 16-Jähriger ein unauffälliges Outfit trägt oder der milliardenschwere Facebook-Chef Mark Zuckerberg die vorherrschende Kleiderordnung von Business-Eliten außer Kraft setzt. Ähnlich wie seinerzeit Apple-Gründer Steve Jobs in seinem Rollkragenpulli hebt sich Zuckerberg mit Jeans, Sneakers und grauem Rundhals-T-Shirt vom Business-Einheitslook ab. +Die rasante mediale Verbreitung des Begriffs gibt Modetheoretikerin Weis aber recht in ihrem Argument, dass Normcore ein neuer Schauplatz des Generationenkonflikts sei und nicht dessen Ende. Bereits kurze Zeit nachdem K-Hole den Begriff in die Welt setzte, waren die ersten Ratgeber-Listen im Internet zu finden: "Die zehn Normcore-Dinge, die jeder Mann haben sollte". Oder ins Negative gekehrt: "Warum du Normcore-Typ ein Idiot bist". Allein diese mediale Aufmerksamkeit habe, wie die "New York Times" bereits im April 2014 schrieb, zu einer Verfestigung des Phänomens geführt. +... irgendwie zu angepasst ist +Sollte Normcore zumindest in Ansätzen eine Gegenbewegung gewesen sein, droht ihr bereits die Vereinnahmung – so wie das in der Vergangenheit mit anderen Trends und zuletzt auch mit dem Hipster geschehen ist. Im Herbst 2014 startete der US-Bekleidungshersteller Gap, der seit jeher ziemliche Normalo-Mode macht, eine Kampagne mit dem Titel "Dress Normal". Bei den atmosphärischdichten Kampagnen-Filmchenin Schwarz-Weiß führte David Fincher Regie ("The Social Network", "The Newsroom"). Der Widerspruch im Slogan eines der Spots fasst die Verwirrung des Bekleidungszeitgeistes gut zusammen: "The uniform of rebellion and conformity". +Die Kampagne wurde für den Konzern jedoch zum Flop. Wall-Street-Analysten haben auch eine Erklärung, warum sich die Sachen nur schwer verkaufen ließen. Die Gap-Kunden, so heißt es, wollen gar nicht "normal" sein. Oder zumindest wollen sie nicht, dass ihnen jemand sagt, was normal ist und was nicht. +Andreas Pankratz (geboren 1981 in der weitgehend jeans- und turnschuhfreien UdSSR) ist freier Journalist in Köln und freut sich über seine Reebok-Sneaker und ein paar alte T-Shirts, die gerade unverhofft eine modische Aufwertung erfahren. diff --git a/fluter/aufgenommene-gefluechtete-ukraine.txt b/fluter/aufgenommene-gefluechtete-ukraine.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6551f15afe534ab243750126149c2c7daabd84e9 --- /dev/null +++ b/fluter/aufgenommene-gefluechtete-ukraine.txt @@ -0,0 +1,52 @@ +Da habe er bereits ein paar Wochen im Ankunftszentrum für geflüchtete Ukrainer:innen in Berlin gearbeitet, erzählt Ulli. Schon sieben Personen waren Gäste in der Wohnung, die er mit seiner 19-jährigen Tochter teilt. +Good day. Are you in Berlin? +Ulli scrollt auf seinem Handy, die Unterarme auf den Tisch gestützt, die Zigarette qualmt unbeachtet zwischen seinen Fingern. Eigentlich wollte eine Freundin von Galina bei ihm wohnen, sie sei aber zurück in die Ukraine, "mal wieder ohne Absage". Am 2. April stand Galina vor seiner Tür, und er fragte, ob er ihr mit dem Gepäck helfen könne. +"Dann hat sie sich irgendwie im Zimmer eingerichtet, etwas chaotisch, aber der Geist ist ja auch chaotisch." Funktioniert habe ihr Zusammenleben, weil sie sich entschlossen haben: Sie umschifft das, was sie zu den täglichen Nachrichten, die auf ihrem Handy einlaufen, eigentlich zu sagen hätte. Und er habe ihre Launen ertragen. Dafür hat er Verständnis: "Galina und ich sind ja sozusagendurch einen Herrn Putin in diese Situation gezwungen worden." +Alle Menschen, die zu Kriegsbeginn einen rechtmäßigen Aufenthaltstitel in der Ukraine hatten, können vereinfacht nach Deutschland einreisen, darunter: Personen mit ukrainischer Staatsbürgerschaft, Studierende, Drittstaatsangehörige oder in der Ukraine anerkannte Geflüchtete.Bis zunächst Ende August befristet können sie sich ohne Aufenthaltstitel in Deutschland aufhalten. +Ukrainische Staatsangehörige können auch im Schengenraum weiterreisen. Sie müssen sich nur dann registrieren, wenn sie Unterstützung in Form von Unterbringung, Versorgung oder Sozialleistungen beantragen wollen. Wer Sozialleistungen bekommen möchte, dem wird dann auch ein Wohnort zugewiesen. Erst dort kann ein Antrag auf einen Aufenthaltstitel und Sozialleistungen gestellt werden. Wer sich selbst versorgen und privat unterkommen möchte, muss sich nicht registrieren. +Nach dem 31. August benötigen diese Menschen alle einen Aufenthaltstitel. Sie müssen deshalb bis dahin einen Antrag bei der Ausländerbehörde gestellt haben und können dann eine Aufenthaltserlaubnis für zunächst zwei Jahre bekommen. Mit diesem "vorübergehenden Schutz" dürfen die Geflüchteten arbeiten. Ihnen steht dann eine Unterstützung zum Lebensunterhalt und medizinische Versorgung zu. +Gerade ist Galina in Kharkiv, ihren Hund abholen. Bevor sie gegangen ist, habe sie Ulli gefragt, ob er glaube, dass sie zurückkäme: "Wenn es nicht so wäre, hätte ich jetzt ihre Sachen schon in den Keller geräumt." +Anfang Mai dann eine Nachricht aus Kharkiv: ein Foto von ihrem Hund. +Ulli setzt einen Daumen hoch und ein Smiley darunter. +"Wir sind am Bahnsteig von der einen und der anderen Seite aufeinander zugelaufen, um sie nicht zu verpassen", erzählt Carol. Es war der 11. März und hektisch am Hauptbahnhof in Berlin, als der EC378 eintrifft. "Aber es war nicht schwer, sie zu finden", sagt Paul: "Zwei Moms, zwei Katzen, zwei Töchter mit Katzen-Haarreifen." +Sie haben für uns gekocht, als seien sie unsere Großeltern, sagt Svitlana, und Carol nickt, das Gesicht in die Hand gelegt, und schaut zu ihrem Mann. "Yeah, wir sind ziemlich schnell eine Familie geworden." Der Kontakt kam über eine befreundete Sängerin zustande. Carol und Paul hatten Platz frei in ihrer Wohnung, seitdem die Kinder ausgezogen waren. Am Kühlschrank hängt jetzt ein Zettel mit ukrainischen und englischen Vokabeln:Gurke, lecker, Entschuldigung. +Svitlana und Marynas Männer sind Brüder. Sie haben schon davor in der Nachbarschaft gewohnt, in einer Drei- und Vierzimmerwohnung. Svitlana war Lehrerin, Maryna arbeitet in der Werbung. Als der Krieg ausbrach, flohen sie gemeinsam mit den 14 und 17 Jahre alten Töchtern. Ob sie nicht ein größeres Zimmer haben wollen, fragten Carol und Paul, aber die Cousinen sagten Nein. Endlich konnten sie in einem Stockbett übereinander schlafen. +Am ersten Tag setzte sich Carol auf die Bettkante. Anastasiia, die ältere der beiden, erzählte, wie sie am 24. Februar mit dem Geräusch von Bomben aufgewacht sei. Zwei Wochen später fragte Paul, wie sie geschlafen habe. "Gut", sagte die 17-Jährige: "Ich bin aufgewacht, und die Vögel haben gezwitschert." Dieser eine Satz, das sei ziemlich bedeutungsvoll, tief und schön gewesen, sagt Paul. Er zückt sein Handy und macht ein Foto, und Anastasiia zeigt ein Peace-Zeichen in die Kamera. +Seit kurzem wohnt die Familie in einer anderen Wohnung in der Nachbarschaft. Svitlana hat einen Job in einer Schule. Sie wohnen immer noch so nahe, dass sie manchmal Paul und Carol zufällig auf der Straße trifft. +Es wäre nett, wenn wir uns mindestens einmal die Woche sehen,sagt Paul. +Ja, ja, ja. Okay. Gut. Kommt morgen vorbei. Wir kochen Borschtsch,sagt Svitlana. +Und wir haben immer noch ein paar Flaschen Champagner zu trinken. +Franziska und ihre Mitbewohner:innen sitzen auf einer hellen Couch, tippen in ihre Smartphones. Ismael schaltet sich aus der Schweiz dazu. +"Hey, wie geht's euch?" +Das Bild wackelt. Metallstockbetten in einem dunklen Raum. Ismael erscheint mit einem schiefen Grinsen vor der Kamera. +"Gut",sagen Franziska, Felix und Berit und lehnen sich nach vorne. +"Wo bist du? Oh wow, es gibt keine Fenster?" +"Aber man kann rausgehen." +"Ist dieser Ort in Zürich?" +"Nein, an der Grenze zu Deutschland." +"Du bist wieder umgezogen?" +"Ich wurde umgezogen. Wenn du dich registrieren willst, musst du hierher gehen." +"Weißt du, wie der Ort heißt? +"Nein." +Ismael kommt ganz schön rum", sagt Felix, einer der WG-Mitbewohner in Berlin-Schöneberg. +Als sie am 10. März per WhatsApp beschlossen haben, ein Zimmer für Geflüchtete aus der Ukraine freizuräumen, waren sie selbst verstreut: Franziska gerade in Kolumbien, Felix und Berit in Portugal, und Coco war dabei, ihr persönliches Leben "umzuarrangieren". Sie arbeitet für eine Initiative, die Geflüchteten Wohnraum vermittelt. Am Ende einer langen Schicht, um ein Uhr nachts, haben nur noch Ismael und Amine, sein Zimmernachbar aus der Ukraine, auf einen Schlafplatz gewartet, erinnert sich Coco: "Und ich habe gesagt, okay, wir haben ein Zimmer. Wir können euch mit nach Hause nehmen. So ist es dann gelaufen." +Einen Monat hat Ismael in einem freien Zimmer in der WG gewohnt. "Wir sind jetzt wie Freunde", sagt Ismael. Felix lacht: "Freunde und Eltern." Das erste Mal die Waschmaschine bedienen, vegane Burger, das erste WG-Plenum. In so einem Treffen über Gefühle sprechen, auch das war neu, sagt Ismael. +Eine Perspektive sucht er jetzt weiter im Süden. Für ihn als Studierenden aus Marokko sei es nicht so leicht wie für Ukrainer:innen: "mit der Arbeit und so Zeug". Die drei Mitbewohner:innen auf der Couch nicken. Mittlerweile seien sie zu weit weg, um zu helfen. +Bist du jetzt Veganer?,fragt sie. +Ismael lacht. Nein, aber er wolle gerne wieder in einer WG wohnen. Vielleicht in Freiburg. + +Es ist der 24. Februar, kurz vor sechs Uhr, als Yana in Henningsdorf vor dem Joggen auf ihr Handy schaut. Als hätte sie es innerlich gewusst. "In der Ukraine ist Krieg", habe sie ihrem Mann gesagt und ihren kleinen Bruder angerufen, so erzählt es die 31-Jährige am Küchentisch. Im Hintergrund hängt eine Weltkarte. 2013 ist sie auf der Weltkarte weiter Richtung Westen gezogen, hat ein Praktikum gemacht, hat geheiratet, ist geblieben. Ihr kleiner Bruder war noch nie im Ausland. +In Poltava ist es eine Stunde später, 6.45 Uhr, als Artur ans Handy geht. Eigentlich hatte er an diesem Tag Termine. Aber statt eines Arztbesuches nur lange Schlangen vor Geldautomaten und Apotheken. Was ihm aufgefallen sei an diesem Tag: dass sie unter Freunden noch nie so viele Witze gemacht haben. +Die Schrauben und Metallplatten, die er seit dem Unfall im September in seinem Rücken hat, retten ihn. Er muss nicht wie alle anderen Männer zwischen 18 und 30 zur Armee. +"Wie lange haben wir gewartet?", fragt Yana. Artur zählt mit den Händen die Tage, räuspert sich. Drei Wochen nach Kriegsbeginn habe sie ihrem kleinen Bruder ein Ticket gebucht. "Ich habe gesagt: ‚Du musst nicht viel einpacken, wir haben ja die gleiche Klamottengröße.'" +Das Wichtigste, was Artur mit auf die Reise nimmt: sein Handy. Darauf: Tiktok, Instagram, die Freunde. Ein paar Kumpels, auch schon über 18 Jahre, seien sofort aufs Land gefahren: "Nicht alle wollen zum Militär", sagt Yana. +Sie haben nicht mehr zusammengewohnt, seit er zehn Jahre alt war. Damals waren sie oft mit Yanas Freunden im Kino. Letzte Woche seien sie im Kino gewesen, erzählt Artur. Danach habe er gefragt: Wie war der Film? Das gehöre auch dazu, plötzlich in einem fremden Land zu sein: außer seiner Schwester fast niemanden zu verstehen. +Eigentlich hat Felix überhaupt keine Zeit. Hastig schließt er die Wohnungstür gegenüber seiner Kreuzberger Wohnung auf. Dahinter wird gerade Staub gesaugt. +Luba hält Felix das Handy entgegen. +Gde?, fragt Felix.Wo? +Ah, um 13 Uhr also soll dein Sohn abgeholt werden? +Der selbstständige Redakteur spricht ein paar Brocken Russisch und macht gerade einen Ukrainischkurs. Wenn sie nicht in der Schule sind, übersetzen die Töchter von Luba und Halyna. Über einen Post kam sie zu Felix. Freunde nahmen Luba an der polnischen Grenze mit. Beide kamen Anfang März in die Wohnung mit den nackten Wänden. Ehrenamtliche Helfer:innen hatten sie innerhalb von zehn Tagen eingerichtet – provisorisch mit Möbeln von Ebay-Kleinanzeigen und Ikea-Bettwäsche. +In Odessa war Luba Anwältin. Halyna kommt aus Iwano-Frankiwsk und hat in einer Fabrik gearbeitet, die Kleidung herstellt. Harte Arbeit, alles musste schnell gehen. In Berlin habe sie überrascht, dass sich alles so langsam abspielt. Und dass die Beamtin bei der Registrierung sagte, dass es dauern wird. Wenn es um den Krieg geht, spricht ihr Gastgeber Felix nicht mehr von Monaten, eher von Jahren. +Chai?,fragt Halyna. +Sie stellt eine Tasse Tee auf den Schreibtisch, auf dem schon selbst gebackene Plätzchen stehen. Nur ein Hausflur trennt die beiden Wohnungen. +"Man ist schnell Teil einer Familiensituation", sagt Felix. In der Ukraine denke man, dass die Menschen in Deutschland böse seien, sagt Luba. "Wegen der Vergangenheit." Überrascht habe sie, dass fremde Menschen ihr helfen, den Weg zu finden. diff --git a/fluter/aufklaerung-0.txt b/fluter/aufklaerung-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/aufklaerung.txt b/fluter/aufklaerung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..78e55ee8f3ee687c377a123610a8b9cd3ba16c0a --- /dev/null +++ b/fluter/aufklaerung.txt @@ -0,0 +1 @@ +Hansjörg Küster ist Professor für Pflanzenökologie am Institut für Geobotanik an der Leibniz Universität Hannover. Im Jahr 2005 erschien sein Buch "Das ist Ökologie". (C.H. Beck) diff --git a/fluter/aufruestung-ukraine-streit-pro-contra.txt b/fluter/aufruestung-ukraine-streit-pro-contra.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..461d4aa7176506e8244854b454050438aa79d899 --- /dev/null +++ b/fluter/aufruestung-ukraine-streit-pro-contra.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Das gilt auch für ihre Unterstützer wie Deutschland. An der Bundeswehr wurde seit Ende des Kalten Krieges massiv gespart. Es entstand eine "Bonsaiarmee", so ein geflügelter Ausdruck unter Militärexperten. Das heißt, es gibt zwar von allem etwas – Flugzeuge, Panzer, Munition –, aber nur in geringen Mengen. Dass eine solche Armee nicht lange kämpfen und kaum Gerät an Alliierte abgeben kann, ist natürlich auch Gegnern wie Russland bewusst. Ein Beispiel: Zu Beginn der 1990er-Jahre hatte Deutschland noch mehr als 2.000 Leopard-Panzer, zurzeit noch 245. Die Ukraine hat in dem noch jungen Krieglaut dem investigativen Open-Source-Blog "Oryx"bereits um die 200 Panzer verloren. +Ob aggressive Staaten einen Kontrahenten für militärisch leistungsfähig halten, ist wichtig bei ihrem Kalkül, ob sie vor einem Angriff zurückschrecken oder nicht. Auch das verdeutlicht der Krieg gegen die Ukraine. Deren relative militärische Schwäche war vermutlich ein gewichtiger Faktor beim Entschluss Russlands, über das Land herzufallen. Das zeigt die russische Operationsführung zum Kriegsauftakt. Die russische Armee meinte, mit schnellen, aber ungesicherten Vorstößen den Krieg in wenigen Tagen gewinnen zu können.Der schnelle Sieg scheiterte dank des ukrainischen Widerstandswillensplus Waffenlieferungen. Arroganz des Angreifers ist aber kein Faktor, auf den man sich verlassen kann, sondern Glück im Unglück. +Auch wenn es unschön ist: Militär ist ein wichtiger Faktor in der Politik. Das Prinzip der Abschreckung hat zum Beispiel im Kalten Krieg gegenüber der Sowjetunion jahrzehntelang funktioniert. Dabei muss man einschränkend sagen: Dass die Rüstungsausgaben weltweit seit Jahren zunehmen, ist eine bedenkliche Entwicklung. Das berüchtigte "Sicherheitsdilemma", wonach Staaten durch ihre eigene Aufrüstung die von anderen Staaten antreiben können, gibt es durchaus – das führt aber nicht automatisch zu Krieg. Konflikte zwischen Staaten sind komplex, bei der militärischen Abschreckung spielen auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und die innere Stabilität der Länder eine Rolle. Abschreckung funktioniert am besten, wenn ein Aggressor den Eindruck gewinnt, dass sein Gegner ernsthaft daran interessiert ist, dessen Ziele zu verhindern. Hitler etwa überfiel Ende der 1930er-Jahre auch deshalb die Nachbarländer Deutschlands, weil er deren Verbündete als kriegsunwillig einschätzte. In Vietnam brauchten die USA eine jahrelange "Kriegslernkurve", bis sie erkannten, dass ein Beistand für Südvietnam sinnlos war, weil Nordvietnam bereit war, weitaus mehr Opfer in Kauf zu nehmen. +Dass Russland auch atomare Drohgebärden Richtung Westen richtet, ist im Übrigen nichts Neues: Die gab es auch schon in den Jahren vor dem Angriffskrieg. Die nukleare Angstmache soll offensichtlich Unsicherheit und Spaltung im gegnerischen Lager erzeugen. Sie ist ein perfides Werkzeug, um die Kriegskosten für Russland einzugrenzen, anstatt sie eskalieren zu lassen. +Aus all diesen Gründen ist die Stärkung der Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro, wie sie Bundeskanzler Olaf Scholz Ende Februar angekündigt hat, überfällig. In der Debatte dazu wird oft von "Hochrüstung" gesprochen. Das Bild dazu: Hier wird für einen monströsen Eurobetrag ein Berg an Kriegsgerät aufgehäuft. Die Summe ist in der Tat hoch; allerdings wurde auch über 30 Jahre an der Bundeswehr gespart. Über diesen Zeitraum ist eine Investitionslücke von 90 Milliarden Euro entstanden, so die Rüstungsexperten Christian Mölling und Torben Schützin einer Analyse für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik. Somit dient das Sondervermögen vor allem dazu, die entstandenen Lücken zu schließen. Ein Beispiel: Die Landstreitkräfte hatten zum Ende des Kalten Krieges zwölf Divisionen, heute gibt es noch drei. Bei diesen bleibt es laut Bundeswehr-Planung, sie sollen nur vollständig ausgerüstet und gestärkt werden. Wie wichtig ein gut gerüstetes Militär ist, betont übrigens schon das deutsche Grundgesetz: In den meisten Staaten kontrolliert das Parlament das Militär nur über den Wehretat. In Deutschland verlangt die Verfassung von den Abgeordneten, sich direkt mit der bestmöglichen Aufstellung der Bundeswehr zu befassen. Ein Auftrag, der über lange Jahre in Vergessenheit geraten ist und schleunigst wieder ernst genommen werden muss. + + +Björn Müller ist Journalist für Sicherheitspolitik und Redakteur bei "Loyal", dem Magazin des Reservistenverbands der deutschen Bundeswehr. Bis zum Ukrainekrieg war seinem Umfeld seine Beschäftigung mit Militärthemen meist suspekt. Seitdem kommen Bitten wie: "Können wir mal einen Info-Call machen zum diesem Kriegsshit?" + +meint Julia Lauter +Es herrscht Krieg in Europa. Der Krieg ist nah, nur acht Autostunden von der deutschen Grenze entfernt. Aber, und das ist wichtig, aktuell ist Deutschland nicht akut bedroht. Wer gegen Aufrüstung in Deutschland argumentiert, sagt nicht,dass ein von einer militärischen Übermacht angegriffenes Land wie die Ukraine sich nicht verteidigen sollte.Oder dass dieses Land bei seiner Verteidigung nicht unterstützt werden sollte. Aber trotz der Nähe ist Kiew eben nicht Berlin. In Berlin wurde jedoch kürzlicheine Grundgesetzänderung beschlossen, die ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro ermöglicht– für Rüstung und die Einhaltung des NATO-Ziels, zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigungsausgaben bereitzustellen. Der Beschluss fiel, ohne dass es dazu eine breite und tiefgehende Debatte in der Öffentlichkeit gab. Und das ist ein Problem. +Eine entscheidende Frage ist: Hätte ein besser ausgestattetes Militär in Deutschland den Krieg in der Ukraine verhindert? Die Antwort ist schlicht: Nein.Eine Mitgliedschaft im NATO-Bündnisoder in der EU, die die Ukraine seit langem anstrebt, hätte Russland vermutlich von der Invasion abgehalten – schließlich betrugen die Militärausgaben der europäischen NATO-Staaten schon 2021 rund 338 Milliarden US-Dollar und waren damit gut fünfmal so hoch wie die Russlands. Doch die Militärmacht ihrer westlichen Nachbarn nützt den Ukrainer:innen bis heute wenig, denn Waffenbestellungen für die Bundeswehr bedeuten nicht automatisch Waffenlieferungen an die Ukraine. Den Fehler, dem seit acht Jahren bedrohten Nachbarstaat die Bitten um Beistand und militärische Ausstattung nicht erfüllt zu haben, kann man mit einem milliardenschweren Rüstungspaket für das eigene Militär nicht einfach rückgängig machen. +Schon 2021 gab Deutschland 56 Milliarden US-Dollar für sein Militär aus und hatte damit den siebtgrößten Militärhaushalt der Welt. Die angekündigte Erhöhung der Verteidigungsausgaben – drei Tagenach der russischen Invasion in die Ukraine– ist auch eine Reaktion auf Ängste in der Bevölkerung. Das Sondervermögen soll signalisieren, dass etwas getan, dass Sicherheit hergestellt werden kann. Doch ist das Hochschrauben von Rüstungsausgaben das richtige Mittel? +Auch Konfliktforscher:innen wie Ursula Schröder vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg sind nicht grundsätzlich dagegen, dass die Bundeswehr besser ausgestattet sein sollte. Die Frage sei, wie viel mehr Geld es dafür brauche, sagt Schröder: Sie würde "lieber von Ausrüstung, nicht von Aufrüstung sprechen". Denn die vorhandenen Militärausgaben würden derzeit nicht effizient genug verwendet. "In einer idealen Welt käme erst eine nationale Sicherheitsstrategie, dann die Reform des mangelhaften Beschaffungssystems der Bundeswehr und dann zusätzliches Geld", so Schröder. +Denn nach zahlreichen Skandalen (60.000 Schuss Munition unauffindbar und Millionenverluste durch falsches Management) ist das Vertrauen darauf, dass das Geld bei der Bundeswehr sinnvoll verwendet wird, nicht sonderlich hoch. Oder wie der Fregattenkapitän Marco Thiele vom Bundeswehrverbandgegenüber der ARD erklärte: Sollten die bestehenden Prozesse und Strukturen (…) nicht angepasst werden, drohten die 100 Milliarden Sonderinvestitionen zu verdampfen. +Der Trend zu immer höheren Investitionen in Waffensysteme war schon vor dem russischen Überfall auf die Ukraine klar erkennbar: 2021 stiegen die weltweiten Militärausgaben auf den Rekordwert von 2,1 Billionen US-Dollar an, wie das Stockholm International Peace Research Institute bekannt gab. Aus Sicht der Friedensforschungist das eine besorgniserregende Entwicklung– sollten wir Normalbürger:innen die Aufrüstungseuphorie dann nicht ebenfalls kritisch hinterfragen? +Befeuert die Entwicklung das globale Wettrüsten? Was gehört – außer Waffen – zu einer funktionierenden Sicherheitspolitik? Und wie viel des Sondervermögens wird in Zukunft auf diese nichtmilitärischen Mittel verwendet werden? Solche Fragen geraten im Angesicht des nahen Krieges schnell aus dem Blick. +Ein gut aufgestelltes Militär würden auch viele Pazifist:innen nicht kategorisch ablehnen. Dass Investitionen ins Gesundheitswesen, in Bildung und Klimaschutzmaßnahmen hintangestellt werden, aber schon. Darüber, wie das Geld der Bürger:innen verwendet wird, sollte darum nicht nur unter Sicherheitsexpert:innen, sondern in der breiten Öffentlichkeit debattiert werden. Ein Aufrüstungsautomatismus ist keine adäquate Reaktion auf die zahlreichen Krisen unserer Zeit – von Pandemie bis Klimawandel. Denn die können nur zu einem sehr kleinen Teil durch militärische Mittel gelöst werden. Darum sollten wir über Aufrüstung weiterhin leidenschaftlich streiten. + + +Julia Lauter schreibt als freie Journalistin für Magazine und Zeitungen über Wissenschaft, Umwelt und soziale Bewegungen. Die Forderung, dass Debatten über Sicherheitspolitik nicht nur unter Expertinnen und Experten geführt werden sollten, nimmt sich die studierte Politikwissenschaftlerin zu Herzen. +Collagen: Renke Brandt diff --git a/fluter/aus-dem-feuer-geholt.txt b/fluter/aus-dem-feuer-geholt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0dfabadb6e3bc5ca1a27a6600de4a3c13cd34215 --- /dev/null +++ b/fluter/aus-dem-feuer-geholt.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Aus anderer Richtung macht sich Carsten Stormer auf den Weg in den Libanon. Der Reporter bereist weltweit Krisengebiete und will im Libanon über die Lage syrischer Flüchtlinge recherchieren. Im Hôpital de la Paix hört er am 18. März von Hanadi und Ahmad. Die Ärzte können nichts für die beiden tun – sie benötigen dringend gezüchtete Haut, die es im Libanon nicht gibt. Als Carsten Stormer helfen und die Patienten fotografieren will, lehnt der behandelnde Arzt das ab. "Ich kenne euch Journalisten", sagt er, "ihr versprecht Hilfe, macht eure Fotos und verschwindet für immer." Aber der Arzt resigniert, lässt Carsten Stormer für 10 Sekunden zu Hanadi, für 20 zu Ahmad. Noch geschockt vom Anblick der von Wundsekret durchsickerten Verbände fährt der Reporter zu einem Internetcafé und postet die Aufnahmen der beiden auf seiner Facebook-Seite: "Hanadi und Ahmad sind schwer verwundet, die Kinder werden ohne Hilfe nicht überleben." +Dieser Satz wandert ins Internet und landet binnen Sekunden bei seinen mehr als 1.300 "Freunden", die er bei Facebook hat. Im über 2.500 Kilometer entfernten München zappt sich an jenem Sonntagabend Veronika Faltenbacher, 35, durchs Fernsehprogramm, nebenbei ist sie online. Als sie Carsten Stormers Nachricht liest, denkt sie nicht lange nach. Gerade war ihr Plan geplatzt, sich selbstständig zu machen. "Ich hatte Zeit. Und ich dachte nicht nach, ob, sondern wie ich helfe. Dann lief alles automatisch ab." Veronika Faltenbacher schickt eine SMS an einen Bekannten, Hanns-Georg Klein, er ist Labormediziner und Humangenetiker. Der informiert am nächsten Morgen einen Kollegen, der wie er im Münchener Martinsrieder Zentrum für Humangenetik arbeitet: Prof. Hubertus von Voss, erfahren in Kindernothilfseinsätzen in Afghanistan. Der 69-Jährige ist überzeugt: Ein Land wie Deutschland, das so viele Waffen verkauft, muss Verletzten kompromisslos helfen. Er schickt eine E-Mail an Veronika Faltenbacher, in der er nach dem Grad der Verletzungen fragt. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit. +Zwei Tage später kursiert der erste Spendenaufruf im Internet. Während sich Veronika Faltenbacher um einen ADAC-Hilfsflug bemüht, sucht Hubertus von Voss eine Klinik, die die Geschwister aufnimmt. In einer sagen die leitenden Ärzte zu, die Verwaltung lehnt jedoch ab, eine weitere Klinik springt ein. Binnen weniger Tage hat sich ein sechsstelliger Eurobetrag auf dem Konto angesammelt, neben einer großen Einzelspende auch viele kleinere Beträge. Der Rettungsflieger hebt in München ab in Richtung Naher Osten, um die Patienten aus dem Libanon zu holen. Mit multiplem Organversagen landen die beiden Jugendlichen in der Nacht zum 31. März in München. Fünfzehn Ärzte operieren rund um die Uhr ehrenamtlich bis in die Ostertage hinein, dann steht fest: Hanadi und Ahmad sind gerettet. Sie bleiben jedoch noch im künstlichen Dauerschlaf. +Ihr 30-jähriger Cousin Amin ist bei ihnen. Er war vor dem Militärdienst aus Syrien in den Libanon geflohen und ins Krankenhaus von Tripolis geeilt, als er von dem Unfall erfuhr. Um seine Verwandten in Deutschland nicht allein zu lassen, packt Amin eine Plastiktüte mit Kleidung und fliegt ihnen nach. Während Hanadi und Ahmad im Koma liegen, helfen immer mehr Menschen. Schulkinder sammeln in München Spenden, andere verkaufen selbst gebastelte Postkarten. Und der Staat reagiert. Ein Anwalt beantragt für die drei Syrier eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland aus humanitären Gründen – mit Erfolg: Nun kümmert sich das Münchener Sozialamt um die Kosten, und das Amtsgericht bestellt einen Vormund. +Jetzt, in der Reha in Vogtareuth, müssen sich Hanadi und Ahmad auf ein Leben außerhalb der Krankenhauswände vorbereiten, in einem fremden Land. Ahmad kratzt sich am Oberschenkel. Es juckt. Die neue Haut ist zu kurz, sie zieht sich zusammen wie ein Gummiband. "Ich weiß nicht, ob ich zurückwill oder nicht", sagt er. In al-Qusair arbeitete er als Autowäscher, später wollte er Kfz-Mechaniker werden. Hanadi ging damals noch zur Schule, an den Angriff erinnert sie sich kaum. +Während Amin mit der linken Hand zu einer Cremetube greift, um den Oberschenkel seines Cousins einzureiben, hält er in der rechten die Fernbedienung für den Fernseher. Den Sender al-Dschasira, der direkt und schonungslos vom Krieg in Syrien berichtet, will er unbedingt überspringen. Auch ein deutscher Fernsehsender berichtet von syrischen Flüchtlingen, die an der türkischen Küste ertrunken sind. Amin zappt weiter. Gerade hat er eine SMS an seinen Onkel verschickt – er weiß nicht, ob sie ankommt. Hanadis und Ahmads Vater wechselt jeden Tag in Syrien den Aufenthaltsort. Hält er sich in der Nähe zum Libanon auf, kann er über ein libanesisches Handy Anrufe erhalten. Heute aber bleibt Amins Handy still. Vielleicht könnten sie über das Internet Kontakt aufnehmen. diff --git a/fluter/aus-dem-nichts.txt b/fluter/aus-dem-nichts.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7fde2e4c1ce437863aa20260c26c14b8c912ba51 --- /dev/null +++ b/fluter/aus-dem-nichts.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Der Mann legt eine laminierte, zeichenblockgroße Infografik auf den Konferenztisch. Sie hat viele waagerechte rote und blaue Balken. Die roten kommen von rechts, die blauen von links. Irgendwo treffen sich die beiden Farben. Mit dieser sogenannten "Incoterms-Übersicht" wird er gleich die Geschäfte des Unternehmens, das weltweit Chemikalien einkauft und an andere Firmen verkauft, erklären. +Beeindruckende Geschäfte sind das: Knapp zehn Milliarden Euro betrug der Umsatz im vergangenen Jahr. In einer Liste der umsatzstärksten deutschen Familienunternehmen rangiert man recht weit vorn – neben Firmen, die ähnlich viel Umsatz machen, aber wesentlich mehr Mitarbeiter haben. +Große Summen, aber wenig Mitarbeiter, das ist typisch für Handelsfirmen (siehe Kasten) und zeigt: Mit Handel wird oft mehr verdient als mit der personalintensiven Produktion. Die Firmen müssen sich nicht mal ein Image aufbauen, sie müssen nicht um Käufer werben. Bei unserer Beispielfirma in dem großen weißen Bürogebäude schmälern keine Kosten für Werbung den Gewinn. +Die Firma gehört einem Kaufmann. Im Geschäftsbericht steht er als alleiniger Aktionär. Den muss es geben, weil die Firma eine Aktiengesellschaft ist und ihre Zahlen veröffentlichen muss. Obwohl das, wenn alle Aktien einem Mann gehören, etwas eigenartig wirkt. Sein Vater hat die Firma übernommen und groß gemacht. +In den weißen Bürogebäuden wird mit Chemikalien, die andere herstellen, gehandelt: Düngemittel, Pflanzenschutzmittel, Arzneimittel, Lebensmittelzusatzstoffe, sogenannte Vorprodukte, also Grundstoffe, die andere weiterverarbeiten. Zum Beispiel Melamin, das in Trinidad und Tobago eingekauft und an Firmen, die Küchenarbeitsplatten, Teppiche, Polstermöbel oder feuerfeste Kleidung herstellen, weiterverkauft wird. +Der Mann, der darauf besteht, dass sein Name und der der Firma nicht genannt werden (sonst wird er das lukrative Geschäft zwischendrin nicht erklären), antwortet nun auf die sich wie von allein stellende Frage: Warum verkaufen Konzerne wie DuPont, Dow Chemical, Bayer oder BASF ihre Produkte nicht einfach selber? Sie würden doch ohne Zwischenhändler mehr verdienen. "Je später ein Hersteller verkauft, desto mehr verdient er. Aber dann hat er auch ein größeres Risiko und höhere Kosten. Wenn Sie auch noch am Amazonas im hintersten Dorf eine einzelne Flasche verkaufen wollen, wird die Flasche sehr teuer." Manche Konzerne haben Fabriken, die immer ausspucken, die man nicht einfach abstellen kann. Sie benötigen Händler, die kaufen, lagern, Risiken tragen. Im Gegenzug verzichten sie auf die letzten 20 Prozent. +Wenn der Produzent das, was er hergestellt hat, selbst verschickt, versichert, es auf ein eigenes Schiff lädt, es wieder auslädt, es mit Lkw transportiert, wieder lagert und weiterliefert bis zum Kunden – dann hat er auch höhere Kosten und Risiken. Es kann sich also für ihn lohnen, einiges davon an den Zwischenhändler abzugeben. +Und jetzt schnell ein Blick auf die Incoterms-Grafik: Der blaue Balken kommt von links, vom Produzenten. Blau heißt, der Hersteller trägt die Kosten und das Risiko. Rechts wird der Balken rot. Das heißt: Risiko und Kosten liegen beim Käufer. Aber eben nur auf einer ganz kleinen Strecke, knapp einem Zehntel des Balkens. +"Zwischenhändler sein ist eine Rechenaufgabe, eine firmenpolitische Entscheidung", sagt der Mann ohne Namen. "Wir haben uns hier in den 80er-Jahren gefragt: Mensch, wo bleiben wir denn, wenn die Firmen das jetzt alles selber machen wollen?" Die Angst ist aber nur kurz aufgekommen. Denn wer rechnet, kommt schnell darauf, dass es sich lohnt, wenn er nicht alle Schritte bis zum Kunden übernimmt, sondern manches abgibt. Es ist für einen Hersteller mühsam, auch noch die letzten 20 Prozent zu verdienen. +Womit kann man Geld verdienen? Der Zwischenhändler zählt eine Liste auf: Transport, Verpacken, Veredeln von Halbfertigfabrikaten, Versicherung von Waren und Transport, Finanzierung mithilfe der Banken oder: Lagern, Qualitätskontrolle, Packlisten, Frachtbriefe, Verzollen. Und jetzt kommt der große Trick: Der Händler lagert gar nicht wirklich, transportiert nicht, verpackt nicht, inspiziert nicht, veredelt nicht. Das machen Dienstleister für ihn. Der Händler hat ja keine Tanks in den Häfen, die mietet er. Schiffe hat er auch nicht, dafür gibt es Reedereien. Zoll ist auch anstrengend, da heuert der Händler jemanden an, der sich kümmert. Und so weiter: Er ist der Koordinator, der alles überblickt. Seine Fachleute wissen, wer welchen Job übernehmen kann. In vielen Abteilungen der großen Firma arbeiten heute mehr Wissenschaftler, Biologen, Apotheker, Ernährungswissenschaftler als Kaufleute. +Wieder durch den langen hellen Gang. Noch einmal fasst der Zwischenhändler zusammen: "Güter beschaffen, wo sie verfügbar sind, und dahin bringen, wo sie gebraucht werden. Es geht um das Bewegen von Gütern und Dienstleistungen." Und dann plötzlich kommt etwas, das dem bisher Erklärten widerspricht, das etwas völlig Neues ist: "Wir sind im Kopf Händler, keine Produzenten, aber wir beteiligen uns inzwischen an Produktionsanlagen, damit wir immer Zugriff auf Produkte haben. Aber nur mit Minderheitenbeteiligungen." +Der Aufzug kommt. "Früher war es einfacher", sagt er noch. Aber früher hat die Firma ein paar Milliarden weniger im Jahr umgesetzt. Wenn der Produzent selbst verschickt, ein- und auslädt und die Ware auch noch versichert, kann das ziemlich teuer werden. diff --git a/fluter/aus-der-rolle-gefallen.txt b/fluter/aus-der-rolle-gefallen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..05da4ab1be0d61d97610c72784c7640693386735 --- /dev/null +++ b/fluter/aus-der-rolle-gefallen.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Heute, elf Jahre später, ist aus dem Spaß Ernst geworden, und Baker gehört zu den besten Street-Skaterinnen der Welt. Wo mal lange blonde Haare waren, ist jetzt eine Kurzhaarfrisur, statt enger Jeans trägt sie Baggy-Pants. Seit den unbeschwerten Zeiten in Tehachapi hat sie viel dazugelernt, unter anderem, dass der kleine Unterschied in der Skateboard-Industrie eine große Rolle spielt. "Als ich meinen Kopf kahl rasierte und anfing, mich maskulin zu kleiden, hatte ich es schwer, einen Sponsor zu finden", erinnert sich die 24-Jährige. "Das Sex-sells-Prinzip funktioniert bei mir nicht, ich passe nicht in das klassische Rollenbild und bin dadurch nicht leicht zu vermarkten." +Sollte sie sich also wieder in die alte Jeans zwängen, ihre Haare wachsen lassen und einen Push-up-BH tragen, damit es mit der Karriere klappt? "Damit würde ich mich nicht wohlfühlen. Ich möchte, dass mein Können im Vordergrund steht, nicht mein Aussehen." Vor allem für ihre technische Raffinesse und artistischen Tricks erntete sie viele Ahs und Ohs in der Skaterszene. Zu ihren größten Erfolgen zählt unter anderem der Sieg bei den X-Games im Jahr 2014, ein Ritterschlag für jeden Extremsportler. Das Skateboard-Magazin "Thrasher" nannte ihren ersten Hauptpart in einem Skate-Video außerdem "einen der technisch herausragendsten im Frauen-Skateboarding". +Damals prophezeite man Lacey eine große Profikarriere und dass sie das neue Gesicht des Frauen-Skateboardings werden könne. Aber dafür hätte sie die Maskerade des sexy Skater-Girls mitspielen müssen. Sie hätte sich verleugnen müssen, und dieser Preis war ihr zu hoch. Dass sie sich als Frau lieber maskulin kleidet, ist Teil ihrer Persönlichkeit, so fühlt sie sich am wohlsten. Also tauschte sie das Skateboard gegen eine Tastatur und arbeitet jetzt hauptberuflich als Grafikdesignerin. "Ich habe mich bewusst gegen eine ernsthafte Profikarriere entschieden und mich wieder daran erinnert, was mir am Skateboarding immer am wichtigsten war – der Spaß." +Den hätte sie nämlich fast verloren. Nicht nur, dass sich Lacey im Skatepark blöde und diskriminierende Kommentare von Pubertierenden anhören musste, nachdem sie im Alter von 16 Jahren offen gesagt hatte, dass sie lesbisch ist. Ärgerlich sind für sie aus heutiger Sicht besonders die Situationen, in denen sie das Brett mehr vor dem Kopf als unter den Füßen hatte. Die Verleihung des "Skates Like a Dude"-Awards, der ausschließlich für sie kreiert wurde, ist so ein Fall. "Diese Auszeichnung war ein Schlag ins Gesicht für alle Skateboarderinnen. Ich schäme mich heute dafür, dass ich ihn angenommen habe, aber damals dachte ich, es sei cool." +Doch das dachte sie mit der Zeit immer weniger. Stattdessen stand sie mehr und mehr zu ihrer wahren Identität – hatte, so sagt sie, keine Lust mehr, für die sexistischen Klischees der kommerzialisierten Skaterszene Kompromisse zu machen. Plötzlich stand sie ohne Sponsor da. Die Marke Element wollte den Vertrag nicht verlängern. Die Begründung des Marketingchefs: Lacey zeige nicht genug Engagement. "Obwohl ich während dieser Zeit unzählige Pressetermine hatte und an vielen Contests teilnahm, reichte ihnen meine Präsenz in der Öffentlichkeit nicht", erinnert sich Lacey. In ihren Augen war dies nur ein Vorwand, um sie loszuwerden. +Auf die Straße gesetzt werden. Im Grunde ja das Beste, was einer Vollblutskaterin wie Lacey passieren konnte. Da war sie wieder, wo das Skaten eigentlich mal hergekommen war. Auf dem Asphalt, der vor dem großen Skate-Hype den Außenseitertypen und ihren Brettern vorbehalten war. Die und ihre subversiven Ideen waren prägend für die Szene. Aber davon verstünden die Marketingmanager der großen Sponsoren nicht mehr viel, sagt Lacey. +Als sie sich dem Ursprung des Skatens wieder näher fühlte, lernte sie Lisa Whitaker kennen, die Gründerin von Meow Skateboards, einem Label, das ausschließlich weibliche Talente sponsert. "Frauen, die skateboarden, sind gewissermaßen eine Subkultur in einer Subkultur. Wir unterstützen uns gegenseitig, und ich teile meine Erfahrungen mit der nächsten Generation, um sie für die Problematik in der Industrie zu sensibilisieren." +Trotz aller Kritik am großen Kommerz erkennt Lacey auch positive Tendenzen. Eine davon ist die Einführung einer Frauen-Kategorie bei Street League Skateboarding, einem Contest, der zu den wichtigsten in der Szene zählt. Im vergangenen Jahr belegte sie dort den vierten Platz. "Ich denke, es entwickelt sich langsam in die richtige Richtung, aber wenn es um Chancengleichheit geht, gibt es noch viel zu tun", sagt Lacey. Zum Beispiel fallen die Preisgelder für Frauen bis heute deutlich geringer aus als die der Männer. Auch so ein Punkt, für den es keine wirklich gute Erklärung gibt. diff --git a/fluter/aus-dir-wird-nichts.txt b/fluter/aus-dir-wird-nichts.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9b6ad2ce21615411d6e5165d729d172f5631cff6 --- /dev/null +++ b/fluter/aus-dir-wird-nichts.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Hans Wall, *1942Wie es anfingEr leidet unter seinem strengen Vater, hat schlechte Noten und bricht die Schule ab.TiefpunkHans Wall knackt einen Bananencontainer und muss in den Jugendarrest.DurchbruchWall wird mit an öffentlichen Toiletten und Wartehäuschen angebrachten Werbeflächen Millionär. +Joanne K. Rowling, *1965Wie es anfingSie wächst in einer Kleinstadt im Südwesten Englands auf. Sie ist schüchtern, in Mathe und Sport ist sie schlecht.TiefpunktSie traut sich nicht, ihre Texte einem Verlag anzubieten, arbeitet im Ausland als Lehrerin und hat verschiedene Bürojobs. Nach ihrer Rückkehr nach England ist sie alleinerziehend und bezieht kurz Sozialhilfe.DurchbruchIhre Harry-Potter-Bücher verkaufen sich weltweit über 400 Millionen Mal. Joanne K. Rowling wird eine der reichsten Frauen Großbritanniens. diff --git a/fluter/aus-steinkohleabbau-in-deutschland-und-fuer-bergmaenner-im-ruhrgebiet.txt b/fluter/aus-steinkohleabbau-in-deutschland-und-fuer-bergmaenner-im-ruhrgebiet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0d78ec0f3b13715b6a26fdc33a3f30758d784d03 --- /dev/null +++ b/fluter/aus-steinkohleabbau-in-deutschland-und-fuer-bergmaenner-im-ruhrgebiet.txt @@ -0,0 +1,38 @@ + +Prosper V, Schacht 10, Juni 2018 +Statt "Hallo" heißt es "Glückauf" an der Pforte, dann gibt es Kaffee und eine Einweisung beim Ankleiden. An Jeans und T-Shirt ist unter Tage nicht zu denken. "Kannste knicken, bisse sofort verschwitzt und dreckich", erklärt einer der Kumpel. Da unten würden es zum Teil über 40 Grad. Die Bergmannskluft ist nicht für Frauen gemacht, die taubenblaue Feinrippunterhose passt dreimal um den Leib. Macht nichts. Dazu ein blau-weißes Nadelstreifenhemd, weiße Hose und passende Jacke aus dickem Stoff, Halsbändchen, Helm. Fertig zur Ausfahrt. +Obwohl unter Tage alles dreckig wird, ist die Arbeitskleidung weiß: Nur so bleiben die Kumpels in der Dunkelheit sichtbar + +Die stahlbekappten Schuhe und Knieschoner wiegen schwer, der Gang wird dadurch breitbeinig. Marsch zum Abholen des Selbstretters (Atemschutzmaske) und der Stirnlampe. Die ist so wichtig wie Sauerstoff: "Ohne Licht, armer Wicht", sagt der Kumpel an der Ausgabe und grinst. Durch die weiß gekachelten Gänge stiefeln wir zum Förderkorb. Ein rechteckiger Kasten, vergitterte blickdurchlässige Wände, befestigt an einem Stahlseil mit dem Durchmesser einer Jungbirke. Dann ist er voll, 40 Kumpels, verschieden alt, groß, schlank, alle sind leise. Schichtbeginn. +Der Korb rast mit 12 Metern pro Sekunde in den Höllenschlund hinab. Immer unheimlicher und unerträglicher wird die lichtfressende Schwärze. Ankunft auf der Abbaustelle "Sohle 7", die liegt auf 1.229 Meter Teufe (Tiefe). + +"Hier stinkt's, hier is dreckig, hier is laut", sagt Heinrich (51), früher Bergmann, mittlerweile Unternehmer. "Da wusste ich sofort, da will ich hin. Das wird ein Abenteuer." 14 Jahre lang arbeitete er in der Bergbau-Forschung und kannte jede Zeche. "Der Bergbaubetrieb war zu meiner Zeit vor 30 Jahren noch strenger als das Militär." Es war eine archaische Welt, in der eine strenge Rangordnung galt. +"Es zählte nur, was dein Steiger (Anm. d. Red.: Aufsichtsperson unter Tage) sagte. Die Männer sollten malochen, richtig reinklotzen und nicht zu viel eigenständig denken." Weil die Arbeit so gefährlich war, mussten sie sich unter Tage aufeinander verlassen können. Sie brauchten einander, das eine Leben hing vom anderen ab. "Wehe, du hattest ma watt verschissen. Einmal habe ich erlebt, wie ein Kumpel Mist gebaut hat: Der Steiger pinkelte ihm zur Strafe ans Bein", erinnert sich Heinrich. +Die gelben Ohrstöpsel gehören zur Ausrüstung jedes Bergmanns: Es ist laut unter Tage. In Deutschland galten für Bergmänner die weltweit sichersten Arbeitsbedingungen + +Joseph (56) war ein ranghoher Reviersteiger. Er hat niemanden gedemütigt. Im Gegenteil: Er wusste genau, wer von seiner "Mannschaft" aus 68 Kumpels verheiratet war, am Wochenende bei den Kindern sein wollte oder gerne die frühen Schichten übernahm. Joseph war immer bereit, telefonierte um 24 Uhr das letzte und um vier Uhr früh das erste Mal mit den Schichtleitern. "Wir waren alle per Du, aber die Arbeit wurde so gemacht, wie ich das gesagt habe." Gehorsam wurde neben Leistung auf den Lohnschecks bedacht. +"Wir waren zwar Kumpels, aber nicht gleich Freunde." Joseph arbeitete fast 20 Jahre lang als Bergmann. "Wir organisierten Fahrgemeinschaften und spielten am Wochenende Fußball. Wir hielten zusammen." +Die viel beschworene Arbeitsmentalität der Kumpels verschwinde mit ihnen. Kumpel, wie sich die Bergmänner untereinander nennen, sei eine Haltung: füreinander einstehen, sich aufeinander verlassen können. Das dürfe der Region nicht verloren gehen, fordern viele Ehemalige. +Heinrich sieht das anders: "Ich kann diese Kumpel-Folklore nicht mehr hören", schimpft er. "Diese Heldenmacherei kam erst mit dem Kohle-Niedergang Anfang der Sechziger." Es war harte Arbeit unter schweren Bedingungen. "Und von wegen Bergbau als Schmelztiegel – die Leute waren zum Teil sehr rechts in ihrer politischen Gesinnung. Kaum einen Meter in der Erde, galten die normalen Regeln nicht mehr. Das vergessen viele hier, wenn sie der Kumpel-Zeit nachtrauern." + +Auf der Strecke zum Streb: +Wir klettern in einen schmalen Zug, der ein bisschen aussieht wie eine Schwebebahn, er soll uns durch das Gängelabyrinth zum Streb (unterirdischer Gang, in dem die Kohle abgebaut wird) bringen. Eine langsame Achterbahnfahrt durch die Nacht. Irgendwo zischt und rattert immer etwas. Es wird lauter, heißer und heißer. Die Poren sind durch die Hitze geweitet und saugen auf, was die Umgebung hergibt. Ruß, Staub, Schweiß. Begegnet man sich unter Tage, sagt man nur "Auf" statt "Glückauf". Es riecht nach Maschinenöl und modrig wie in Londoner U-Bahn-Schächten. + +Kumpels wissen, dass sie sich aufeinander verlassen müssen + +Wer hier jeden Tag zur Schicht einfuhr, musste etwas Gutes in den extremen Bedingungen finden. "Bergmänner haben viel Geld verdient", sagt Heinrich. Jeden Tag die gleiche Arbeit, aber immer anders und an einer neuen Stelle im Streb. "Dort, wo wir hinkamen, war vor uns noch kein Mensch", erzählt Joseph. Sie waren fasziniert. Und über allem der Berg und immer die Gefahr, verschüttet zu werden. Eine Steinplatte von der Größe eines Lkws hat Joseph einmal beinahe erwischt. Nur der Luftzug des stürzenden Steins drückte ihn gerade noch weg. Einen Schritt weiter vor – und der Helm hätte auch nicht mehr geholfen. +Der körperliche Verschleiß war so hoch, dass viele mit fünfzig in Frührente gingen. Gemarterte Knochen vom gebückten Gang und schweren Werkzeugen, Staublungen, Schwierigkeiten, sich über Tage wieder einzufinden. + +Wir sind "vor Ort" angekommen, dort, wo im Streb abgebaut wird. Es ist so eng, dass man, um nach ganz vorne zu gelangen, in den Gang hineinkriechen muss. Helm und Knieschoner ergeben immer mehr Sinn. Bläulicher Schweiß klebt im Nacken, die Luft ist zum Ohnmächtigwerden. +Mit einer Geschwindigkeit von 30 bis 90 Meter pro Minute schält ein Hobel die Kohle von der Wand ab. Es klingt, als würde er Knochen brechen. +Das Gesicht des Kumpels am Flöz (Kohleschicht im Berg) ist ruß- und schweißverschmiert. Er ist durch Stahlplatten vor herabfallendem Gestein geschützt. Oben, über Tage, sitzen andere Kumpels vor ihren Monitoren und überprüfen die Maschinen und das "Wetter" (Luft unter Tage). Bevor es den Kohlehobel gab, brachen die Kumpels mit einem Presslufthammer (um die 14 Kilo) und davor mit einem Hammer ("Mottek") und Eisen in das Flöz, um die Kohle zu zerkleinern. Ein alter Mottek liegt noch da – für die Besucher. Halten kann den keiner lange. + +Auf dem Weg zur Einschienenhängebahn, zärtlich "Dieselkatze" genannt. Die Sprache der Kumpel ist einprägsam: direkte, kurze Worten aus vielen Sprachen. Dieser Sprech hat auch den Regionalekt des Ruhrgebiets geprägt + +Vom Streb landet die Kohle mitsamt Sandstein und Tonschiefer auf einem Transportband. Manche Kumpel werfen sich bäuchlings auf diese Bänder, um Wege abzukürzen. Am Füllort schütten die Bänder die Kohle in einen "Skip", ein geschlossenes batterieförmiges Gefäß, das über den Förderschacht nach oben gezogen wird. Bis zu 1.000 Tonnen Kohle pro Stunde werden so nach oben befördert. Dann wird die Kohle gemischt, gesiebt und vom Gestein frei gewaschen. Das alles ist nun Geschichte. +Vielen Kumpels, die bis zuletzt in der Zeche arbeiteten, fällt der Abschied schwer. Joseph wünscht sich den 4. Dezember als Feiertag im Ruhrgebiet. Es ist der Namenstag ihrer Schutzheiligen Barbara, für die Kumpels ein Tag zum ausgelassenen Feiern. Joseph hat eine Petition unterschrieben, die sich für den Festtag einsetzt. Damit die Erinnerung bleibt. +In den letzten Tagen der Zechen lassen Zeitungen die Bergmänner hochleben, das Ruhrgebiet schwelgt offiziell in Nostalgie, und allzu viele loben die "kreuzbraven" Kumpels. Die große Umweltbelastung, die durch den Steinkohleabbau verursacht wurde, wird nur am Rande erwähnt. Das zeigt ein grundlegendes Element des Abschieds: Es ist kein Ausstieg aus ökologischen Gründen, sondern ein pragmatischer Schritt. Einfach weil der Steinkohleabbau in Deutschland zu teuer geworden ist. +Das Steigerlied kennt jeder Bergmann. Es ist auch die Einlaufhymne von Schalke 04. Der Fußballverein wurde von Kumpels der Zeche Consolidation 1904 gegründet +Was bleibt, ist nicht die Angst vor Identitätsverlust in der Region. "Was wirklich bleiben wird, sind die Ewigkeitsaufgaben", sagt Heinrich. Dazu gehört das ständige Abpumpen des Grubenwassers, um zu verhindern, dass es mit dem Trinkwasser in Berührung kommt. Kosten: jährlich rund 250 bis 300 Millionen Euro. +Nach der Feier mit Steinmeier wird die Grube bei Schacht 10 ausgeräumt. Der Steinkohleabbau ist damit zwar in Deutschland Geschichte, der Bedarf hierzulande aber nicht gestillt. Etwa 51 Millionen Tonnen Steinkohle und Steinkohlekoks wurden 2017 importiert, zum Teil aus Ländern wie Kolumbien und Russland, in denen viel geringere Sicherheitsstandards gelten. +Alle wichtigen Hintergrundinformationen:Warum der Himmel über dem Ruhrgebiet wieder blau werden musste diff --git a/fluter/ausbeutung-bei-herstellung-handy-und-laptop.txt b/fluter/ausbeutung-bei-herstellung-handy-und-laptop.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1a72404c849534bb9b5558c301ce73c174fc2928 --- /dev/null +++ b/fluter/ausbeutung-bei-herstellung-handy-und-laptop.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Im Internet mache ich unterslaveryfootprinteinen Test. Ich beantworte Fragen zu meiner Ernährung, meiner Wohnsituation, meinem Kleidungsbestand. Die Seite hat die Produktionswege von Hunderten alltäglichen Gegenständen auf Sklavenarbeit hin untersucht und mit Punkten versehen. Am Ende erfahre ich: Mein persönlicher Lebensstil beruht auf der Arbeit von 23 Sklaven. Zu einem großen Teil ist diese Zahl auf Elektronikprodukte zurückzuführen. +Man kann sich fragen, wie genau man so einen Schätzwert nehmen sollte und ob mit dem Begriff Sklaverei hier etwas freigiebig hantiert wird. Aber der Test erinnert mich daran: Hinter den Dingen, die wir kaufen, verbergen sich immer Beziehungen zu anderen Menschen. Der Anstand verlangt, dass wir Menschen respektvoll behandeln, die uns im Alltag begegnen, Kollegen, Freunde, Fremde auf der Straße. Muss das nicht auch für diejenigen gelten, mit denen wir nur über die Dinge verbunden sind, die wir kaufen? Die Bergarbeiter, die Mineralien für die IT-Industrie abbauen? Die Menschen, die in den Fabriken die Geräte zusammenschrauben? +Das Etikett auf der Unterseite verrät, dass mein Laptop in China gefertigt wurde und das Montagedatum: 18. September 2016. Ich rufe bei der Kundenhotline an. "Wo wurde mein Laptop gefertigt?", frage ich einen Mitarbeiter. Der Servicemann am anderen Ende der Leitung reagiert merklich irritiert. "Na, in China", sagt er. Pause. "Warum wollen Sie das denn wissen?" Weitere Infos finde er im System nicht. Aber ich könne ja eine Mail schreiben. +Es ist wahrscheinlich, dass mein Laptop aus Chongqing stammt, einer Millionenstadt im Herzen Chinas. Zählt man das weitläufige Umland mit, ist Chongqing mit 32 Millionen Einwohnern die größte Stadt der Welt. Mehr als 60 Millionen Geräte gingen von dort aus im vergangenen Jahr in die Welt, fast jedes dritte verkaufte Notebook stammt inzwischen aus Chongqing. +Ende 2016, als auch mein Notebook entstand, schleuste die in Hongkong ansässige Organisation "Students and Scholars Against Corporate Misbehavior" einen verdeckten Mitarbeiter in ein Montagewerk ein. Das Ergebnis: Berufsschüler aus der Region wurden dort offenbar systematisch zu billiger Arbeit gezwungen, mit Schichten von 12 Stunden, teils über Monate hinweg, ohne einen einzigen Ruhetag. Ein Manager soll dem verdeckten NGO-Mitarbeiter gegenüber gesagt haben, dass Berufsschulpraktikanten rund 60 Prozent der Belegschaft stellen. Das wäre illegal. Das Gesetz erlaubt zehn Prozent. "Die Schülerpraktikanten sind gut, weil sie so flexibel sind", wird der Fabrikmanager im Report der Organisation zitiert. "Es dauert nur wenige Wochen, um neue Praktikanten bei den Schulen zu bestellen." +Angeblich sollen auch Geräte meines Herstellers in der Fabrik produziert werden. Sicher sagen lässt sich das kaum. Auf eine Anfrage der britischen Zeitung "Guardian" zu den Vorwürfen äußerte sich mein Hersteller nicht. Auf seiner Internetseite beteuert er, dass er keine Zwangsarbeit von Schülern dulde und seine Geschäftspartner sorgfältig kontrolliere. Aber lässt sich das überprüfen? +Peter Pawlicki macht mir wenig Hoffnung. "Sie werden verschwindend wenig über Ihren Computer herausfinden." Pawlicki arbeitet für die Monitoring-Organisation Electronics Watch, die öffentliche Einrichtungen beim Einkauf von möglichst sozial produzierter IT unterstützt. Was nahezu unmöglich ist: "In der Elektronikbranche gibt es kein sozial nachhaltiges Produkt." +Man könne den Herstellern daher nur das Versprechen abnehmen, dass sie reagieren, wenn irgendwo in ihrer Lieferkette Missstände bekannt werden. Dafür sammeln Pawlicki und sein Team die Informationen von Arbeitsorganisationen vor Ort. "Aber wir können immer nur aktiv werden, wenn in den Fabriken ein Produkt hergestellt wird, das unsere Mitglieder aus den öffentlichen Verwaltungen beziehen." Mein Hersteller steht nicht auf der Liste von Electronics Watch. +Derzeit verhandeln die Vereinten Nationen über ein Abkommen, mit dem Unternehmen dazu angehalten werden sollen, die Menschenrechte in ihrer Lieferkette zu achten. Noch gibt es kein Ergebnis. Sollten sich die Staaten doch auf ein strenges Abkommen einigen, dürften die Auswirkungen für die Computerindustrie groß sein. +Wie verworren die Lieferwege sind, zeigt die Geschichte von Susanne Jordan aus Bichl in Oberbayern. Sie arbeitete zunächst bei einer kleinen Rating-Agentur, die Nachhaltigkeit von Unternehmen bewertet – und wunderte sich: Es gibt fairen Kaffee, faire Kleidung, aber warum keinen fairen Computer? Also gründete sie einen Verein, um selbst sozial nachhaltige IT herzustellen. Fürs Erste nur eine Maus. Das simpelste aller IT-Geräte. Das dürfte doch ein Leichtes sein – oder? +Tatsächlich tüftelte sie knapp drei Jahre, ehe sie den Prototypen präsentierte. Montieren lässt Jordan die Maus in einer Integrationswerkstatt in Regensburg – zu Bedingungen nach dem deutschen Arbeitsrecht. Aber wurden auch die rund 20 Bauteile der Maus fair produziert? Jordan versuchte, den Weg jedes Teils nachzuzeichnen, vom Zulieferer über dessen Zulieferer bis zu den Rohstoffproduzenten. Sie reiste nach China, sprach mit Unternehmen, erntete aber mit ihren Nachfragen wenig Verständnis. Die Spuren verlieren sich schnell. Woher bezieht der Schalterhersteller die Bleche? Und wo werden das Silber, das Zink und das Kupfer abgebaut, aus denen das Blech entsteht? Alles dunkel. Die Lieferwege ergeben ein komplexes Schaubild mit vielen Pfeilen – für ein Gerät, das doch eigentlich so simpel ist. +Nach einer Woche schickt mir der Hersteller endlich eine Antwort. Sie fällt kurz aus. Bedauerlicherweise könne man mir den Produktionsort nicht nennen. "Derartige Daten stehen uns nicht zur Verfügung", heißt es knapp. + +Titelbild: Tony Law / Redux / laif diff --git a/fluter/ausharren.txt b/fluter/ausharren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/auskunft.txt b/fluter/auskunft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/ausradierte-genossen.txt b/fluter/ausradierte-genossen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d05e3cbbf6c623c749e4e9366bc6f0400eec2600 --- /dev/null +++ b/fluter/ausradierte-genossen.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Die kommunistische Oktoberrevolution liegt zu diesem Zeitpunkt zweieinhalb Jahre zurück, die von Lenin angeführten Bolschewiki haben fast das gesamte Russland unter ihrer Kontrolle. 1922 gründen sie die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR), die fast 70 Jahre bestehen wird. +Als Lenin, der erste Regierungschef der Sowjetunion, 1924 stirbt, bricht ein Machtkampf um seine Nachfolge aus. Das sogenannte Triumvirat aus Lew Kamenew, Grigori Sinowjew und Josef Stalin setzt sich an die Spitze des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, der Konkurrent Leo Trotzki und seine Anhänger unterliegen. Doch auch das Triumvirat zerfällt kurz darauf: Kamenew und Sinowjew werden zu innerparteilichen Gegnern Stalins und 1927 aus der Partei gedrängt. Leo Trotzki wird im selben Jahr entmachtet und 1929 schließlich ins Exil getrieben. Stalin avanciert daraufhin zum unangefochtenen Alleinherrscher über die Sowjetunion, Kamenew und Sinowjew werden nach Schauprozessen in den 30er-Jahren hingerichtet. Leo Trotzki fällt 1940 in Mexiko-Stadt einem Attentat zum Opfer: Der russische Agent Ramón Mercader erschlägt ihn mit einem Eispickel. +Von dem berühmten Foto Grigori Goldsteins wurde unter Stalins Herrschaft nur ein Ausschnitt verwendet, den rechten Bildteil, der Trotzki und Kamenew zeigt, ließ man einfach weg. Später entfernte man die in Ungnade gefallenen Personen kurzerhand aus der Originalaufnahme und ersetzte sie durch Treppenstufen. +Das Bild Grigori Goldsteins gilt als das klassische Beispiel dafür, wie mit Hilfe von Fotografien historische Begebenheiten verfälscht werden. Und die beiden in diesem Fall angewandten Techniken sind ihrerseits die Klassiker der Bildmanipulation: Zunächst wurde das Foto beschnitten und der unerwünschte Teil der Aufnahme entfernt. Später machte man sich die Mühe, Teile des Bildes mit dem Retuschierpinsel zu verdecken. +Auch wenn sich die technischen Voraussetzungen seit den Zeiten der Sowjetunion stark verändert haben, werden diese beiden Methoden nach wie vor gerne angewandt. Mit Photoshop dauert so etwas heute nur noch ein paar Minuten. Nicht verwunderlich also, dass es auch viele aktuelle Beispiele von manipulierten Fotos gibt. Davon erzählen wir im nächsten Teil dieser Serie. +Tobias Krusereist seit vielen Jahren mit der Kamera durch die Welt und ist Mitglied der Fotoagentur Ostkreuz. Aus eigener Erfahrung kann er sagen, dass es in der Praxis ziemlich schwer ist, die Grenze zwischen Dokumentation und Inszenierung zu ziehen – denn oft verändert allein die Anwesenheit des Fotografen die Wirklichkeit. diff --git a/fluter/aussteiger.txt b/fluter/aussteiger.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/authentizit%C3%A4t-social-media-interview.txt b/fluter/authentizit%C3%A4t-social-media-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5128dd7cf46fae5e6711d2cfa22b28e71828196b --- /dev/null +++ b/fluter/authentizit%C3%A4t-social-media-interview.txt @@ -0,0 +1,40 @@ +Nehmen wir also die Überwachung als Fürsorge wahr? +Der Begriff "Überwachungskapitalismus" zielt darauf, dass Überwachung heute als Service daherkommt. Die Social-Media-Plattformen überwachen uns nicht, um uns zu disziplinieren, sondern um unsere Wünsche perfekt zu erfüllen. Während sich in Ländern wieChina die Unterdrückung durch Datenschon abzeichnet, werden solche Warnungen bei uns nicht ernst genommen. Dabei könnte man auch unsere Daten gegen uns verwenden. + + +Übrigens: Auf bpb.de könnt ihr dasInterview in voller Längenachlesen. + + +Sensationsgier, Bequemlichkeit und Suche nach Selbstbestätigung – ist der Mensch womöglich selbst schuld? +Das Internet ist unser Feind, weil es so sehr unser Freund ist. Es bedient, was wir wollen: viel Spektakel und die willkommene Bestätigung unserer Überzeugungen.Filterblasen, in denen wir uns gegen andere Standpunkte abschotteten, existierten früher auch schon. Wir haben uns die Zeitungen gekauft, die uns politisch näherlagen. Aber da gab es noch eine Redaktion, die dafür sorgte, dass es nicht zu einseitig wird. Die Algorithmen haben diese Sorge nicht mehr. +Aber bedienen die Sozialen Medien nicht auch positive Bedürfnisse: Zugehörigkeit zu Gruppen und Austausch mit anderen? +Das ist unbestreitbar. Doch inzwischen ist klar, dass fast alle Vorteile auch ihre Kehrseite haben. Für Minderheiten ist es leicht, im Netz ihre Community zu finden.In auto­ritären Regimen können sich die Menschen mittels der ­Sozialen Medien sehr wirkungsvoll gegen die staatliche Unterdrückung organisieren. Andererseits stehen diese Möglichkeiten eben auch Extremisten offen, die die Demokratie schwächen wollen. Positiv ist grundsätzlich auch, dass hier jeder frei seine Meinung äußern kann. Aber die fehlende Kontrolle öffnet natürlich auch die Tore für Fake News und Verschwörungsmythen. +Warum stellen die Menschen ihr Leben in den Sozialen Medien so bereitwillig zur Schau? +Es heißt oft, der Grund sei Selbstverliebtheit. Die Leute wollten zeigen, was sie für ein tolles Leben führen. Ich glaube, das stimmt nur zum Teil. Meines Erachtens zeugen die digitalen Selbstdarstellungen von einer Unfähigkeit, das Leben wirklich zu erleben. Gerade an Urlaubsorten sieht man oft, dass die Leute ihre Fotos noch vor Ort posten. Sie sind gar nicht richtig anwesend, sondern sind schon halb in der digitalen Parallelwelt. Das ist faktisch eine Flucht aus dem Moment. +Warum diese Flucht? +Meine These ist: aus Überforderung. Dem modernen Menschen steht die ganze Welt offen, aber er leidet unter einer inneren Leere, sodass er mit all diesen Erlebnissen im Grunde gar nichts mehr anfangen kann. Im Pariser Louvre eilen die Leute von Gemälde zu Gemälde, machen vor der "Mona Lisa" von Leonardo da Vinci ein Selfie, und dann geht es weiter. Man hat seine Funktion als Tourist erfüllt, und die anderen in den Sozialen Netzwerken bestärken einen: Toll, was du da gerade erlebst! Und wir bestätigen dann deren Erlebnisfotos. So delegiert man das eigentliche Erleben jeweils an die anderen, ohne dass man darüber nachdenkt, was man da eigentlich gerade erlebt. Es ist paradox: Wir leben in einer Selfiezeit mit abnehmendem Bewusstsein über uns selbst. +Was bedeutet das für die politische Meinungsbildung? +Wenn man sich immer weniger als bewusstes und auch widersprüchliches Individuum wahrnimmt, spürt man auch weniger inneren Widerstand gegen die Identifikationsangebote im Netz. Man ist eine leichte Beute für die Filterblasen, in denen dann eine Unfähigkeit entsteht, andere Sichtweisen wahrzunehmen und gegenteiligen Argumenten überhaupt zuzuhören. So kommt es immer öfter zuHatespeech. Diese Zerstörung einer dialogischen Meinungsbildung ist natürlich gefährlich für das Selbstverständnis einer Demokratie. + +Sie behaupten, kein Kulturpessimist zu sein. Was ist der Zweck Ihrer Kritik? +Zu verhindern, dass uns das als Gesellschaft noch öfter passiert – dass wir den Verlockungen neuer Technologien vorschnell auf den Leim gehen und dann merken: Oh, da ist ja was schiefgegangen! Lange hat man die Möglichkeiten der Teilhabe im Netz gelobt. In der Tat waren es zuerst überwiegend die fortschrittlichen Kräfte, die sich hier verbunden haben, wie man an der Demokratiebewegung des Arabischen Frühlings eindrucksvoll sehen konnte. Als dann aber demokratiefeindliche Kräfte verstärkt in die Sozialen Medien drangen –als etwa Donald Trump auch mithilfe von Facebook und Twitter, wie er selbst sagte, ins Weiße Haus einzog und als mit der Pandemie dann die Verschwörungsmythen ins Kraut schossen–, war es zu spät. Wir sollten vorher misstrauisch sein und genau nach den möglichen Folgen neuer Medien fragen. Das gilt auch für alle künftigen neuen Medien: Web3, Metaverse, künstliche Intelligenz. +Wie tragen die Daten- undGeschäftsmodelle der großen Plattformenzu ihrer demokratiegefährdenden Wirkung bei? +Das Ziel der Sozialen Medien ist es, Werbekunden möglichst viel Kontaktzeit mit ihrer Zielgruppe zu verkaufen. Dazu müssen sie die Nutzer so lange wie möglich auf der Plattform halten –auch um immer noch mehr Daten für eine noch perfektere Personalisierung der Werbung zu sammeln. Dies gelingt am besten, wenn man die Erwartungen der Leute bedient oder sie mit Spektakulärem fesselt. +Warum hat die Politik dem lange recht tatenlos zugesehen? +Das Problem war auch eine Überalterung der Parteienelite. Die jüngeren Generationen, denen die neuen Medien schon vertrauter waren, saßen noch nicht in den Positionen, wo die Politik bestimmt wird. Grundsätzlich ist es auch nicht die Aufgabe des Staates, technologische Entwicklung zu behindern – man will ja der Wirtschaft keine Steine in den Weg legen. Wenn irgendwo eingegriffen werden soll, muss das sehr gut begründet werden. Dafür fehlten aber die Kompetenzen. Es war leichter, sich als innovationsfreudig zu zeigen und die Dinge laufen zu lassen. + +Sind wir insgesamt als Gesellschaft zu sorglos, was die Digitalisierung betrifft? +Der politische Tenor ist heute überwiegend: erst mal bedenkenlos drauflosdigitalisieren! Dabei ist längst klar, dass es lange Zeit eher zu wenig Bedenken gab. Technologischer Fortschritt bedeutet nicht automatisch auch gesellschaftlichen Fortschritt. Andererseits liegt pandemiebedingt durch Homeschooling, Homeoffice und Videokonferenzen natürlich auf der Hand, dass weiter digitalisiert werden muss. Dadurch ist es noch komplizierter geworden, einen skeptischen Standpunkt zu vertreten. Ich tue das trotzdem. Es ist ja wichtig, den Bildungsauftrag aufrechtzuerhalten. +Muss die Zivilgesellschaft einspringen? +Ja, kritische Bürgerinnen und Bürger sind für die wachsame Begleitung der technischen Entwicklung extrem wichtig. Es wäre eigentlich die Aufgabe der Medienbildung, junge Menschen dazu noch mehr in die Lage zu versetzen. Doch bisher wird Medienbildung in Deutschland kurzfristig am Arbeitsmarkt ausgerichtet. Man will den Leuten vor allem vermitteln, wie sie die digitalen Medien erfolgreich nutzen. Es müsste aber viel mehr gefördert werden, kritisch über die neuen Technologien nachzudenken. Angesichts der millionenschweren Lobbyarbeit der IT-Giganten und der Entwicklungen auf dem Feld der künstlichen Intelligenz ist es gefährlich, diese tiefer­gehende, nachhaltige Medienkompetenz zu vernachlässigen. +Nichts verpassen? Mit unseremNewsletterbekommst du alle zwei Wochen fünf fluter-Highlights +Zu Beginn des Internets gab es große Erwartungen, es würde zu einer umfassenden Demokratisierung der Welt führen. Wie könnte sich dieses Potenzial wieder mobilisieren lassen? +Viele setzen heute auf die Blockchain-Technologien. Es gibt die Hoffnung, dass die Menschen in einem dezentralisierten Web3 wieder an den großen Plattformen vorbei direkt miteinander kommunizieren können. Diese Hoffnung auf Demokratisierung durch Technik ist so blauäugig wie vor zehn Jahren die Hoffnung auf Facebook als ein Demokratisierungswerkzeug. +Halten Sie Forderungen, die Plattformen zu zerschlagen beziehungsweise zu verstaatlichen, für sinnvoll? +Eine Zerschlagung wird nichts bringen. Die Sozialen Netzwerke funktionieren gerade wegen ihrer Größe und Monopolstellung. Es ergibt keinen Sinn, die eine große Plattform durch 5.000 kleine zu ersetzen, wo man dann seine Freunde nicht mehr antrifft. Auch bezüglich einer Verstaatlichung stellen sich viele Fragen: Wie soll das mit diesen globalen Gebilden funktionieren? Wer ist danach der Eigentümer, die USA? Was passiert dann mit den Daten der deutschen Nutzer? Will man die Unmengen bereits generierter Daten wirklich in den Händen des Staates sehen? Ich meine: nein. Aber die Politik sollte die Plattformen definitiv stärker regulieren. +In welcher Form? +Zum Beispiel: Instagram sollte von WhatsApp und von Facebook getrennt werden. Man sollte es Meta viel konsequenter untersagen, seine Monopolstellung auszunutzen, und es zwingen, Algorithmen transparent zu machen. Wir reden hier von Netzwerken, die zunehmend die Art und Weise unserer Kommunikation prägen und die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmen. Da hat der Staat eine Fürsorgepflicht. Alles, was zu einer Entkommerzialisierung unserer Kommunikation führt, ist schon mal gut. Die digitalen Plattformen sind ja nur deshalb frei zugänglich, damit wir uns Werbung anschauen. Selbst wenn ich mir zum Beispiel auf YouTube eine Dokumentation ansehen möchte, drängt sich Werbung hinein. Das untergräbt die Ernsthaftigkeit meines Unterwegsseins als politisch interessierter Mensch. + +Der Medienwissenschaftler Roberto Simanowski hat u. a. das Buch "Facebook-Gesellschaft" geschrieben und dichtung-digital.de gegründet, ein Onlinejournal für digitale Kunst und Kultur (Foto: Gunter Glücklich/laif) + +Fotos: @celestebarber diff --git a/fluter/authentizit%C3%A4t-und-political-correctness-im-film.txt b/fluter/authentizit%C3%A4t-und-political-correctness-im-film.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ede5b63950dd5e8f53d1fb14c3348a23e7205a41 --- /dev/null +++ b/fluter/authentizit%C3%A4t-und-political-correctness-im-film.txt @@ -0,0 +1,19 @@ + + +Etwas später drehte ich spontan mit Freunden einen Kurzfilm, der von klischeehaften Zuschreibungen handelte (er heißt "One Shot", und man kann ihn unter diesem Text anschauen). Hinterher saßen wir alle in meiner Küche beieinander und kamen darauf, dass Schauspieler, deren Eltern erkennbar aus nichteuropäischen Ländern stammen, hierzulande immer nur dieselben Rollen bekommen, die man kurz unter "Opfer" und "Täter" zusammenfassen kann. Lasst uns was dagegen unternehmen, sagte ich und fing an zu überlegen: Was ist das Un-migrantischste, das uns spontan einfällt? Vielleicht Zeugen Jehovas an der Wohnungstür? Okay, dann ziehen wir das durch! Jeder kann alles spielen! +Regisseur Brüggemann war genervt von den klischeehaften Rollen, die Schauspieler mit Migrationshintergrund in Deutschland oft bekommen. Deshalb hat er Burak Yiğit und Maryam Zaree in seiner Komödie "3 Zimmer/Küche/Bad" mal ganz untypisch auftreten lassen: als Zeugen Jehovas, die an Wohnungstüren klingeln + +So kam es, dass in "3 Zimmer/Küche/Bad" immer wieder Burak Yiğit und Maryam Zaree an irgendwelchen Türen klingeln und mit uns über die Bibel reden wollen. Das ist sehr lustig, außerdem auch absurd, denn wenn im echten Leben hierzulande Zeugen Jehovas auftauchen, dann stammen sie kaum je aus der Türkei oder dem Iran. Aber genau diese Absurdität hatte etwas Befreiendes, und zwar aus den gleichen Gründen wie oben: Weg mit dem Zwang zur Echtheit, weg mit der nachgestellten Realität, wir nehmen uns die Freiheit zu spielen. +Wieder ein paar Jahre später entstand der Film "Heil", in dem die schwarze Schauspielerin Thelma Buabeng eine Schauspielerin spielt, die stolz verkündet, dass sie demnächst als kölsches Mädche im "Tatort" zu sehen sein wird, denn der Zuschauer "findet das putzig, wenn Neger deutsche Dialekte sprechen". Das war natürlich eine frontale Verarschung des Klischees, in das das deutsche Fernsehen gern verfällt. Ich bezeichne es als Klischee zweiten Grades, denn es kommt von lauter gutwilligen Leuten, die Migranten gerade eben nicht immer nur mit Kopftuch und Akzent und kriminell darstellen wollen – im Gegenteil, man will Weltoffenheit betonen, gelingende Integration zeigen und zugleich auf das Lokale herunterbrechen. Alles erst mal nicht falsch, trotzdem landet man am Ende dann doch im Klischee. + + +Seinen ersten Kinospielfilm "Neun Szenen" hat Dietrich Brüggemann bei der Berlinale 2006 uraufgeführt. Für das Drehbuch zum Film "Kreuzweg", das er zusammen mit seiner Schwester Anna Brüggemann geschrieben hat, gab es dort 2014 einen silbernen Bären +Und da ist dann der Moment erreicht, wo man sich fragen muss: Wo kommt ein Klischee überhaupt her? Steckt nicht manchmal auch ein Stück wiederkehrende Realität darin? Oder ist das Klischee vielmehr Resultat einer mangelhaft durchdrungenen Realität, die man nur aus zweiter Hand kennt? Und wie verhält man sich als Filmemacher und Erzähler dazu: Will man überhaupt die Realität so schildern, wie sie "ist" (und ist sie nicht für jeden anders?), oder will man sie auf den Kopf stellen, um neue Blickwinkel zu ermöglichen? +Vor einigen Jahren lief der Film "Dallas Buyers Club", in dem der Schauspieler Jared Leto eine Transfrau spielte. Er wurde für seine Darstellung sehr gelobt, zugleich gab es aber Kritik aus der Trans-Community: Anstatt einen straighten Cis-Schauspieler für seine spektakuläre Show mit dem Oscar zu prämieren, sollte man doch bitte lieber echte Transmenschen besetzen. Da gäbe es auch genügend talentierte Leute. Völlig richtig, möchte man rufen, aber schon der logische nächste Gedanke führt zu Stirnrunzeln: Dürfen dann heterosexuelle Figuren auch nur noch von heterosexuellen Schauspielern verkörpert werden, homosexuelle von homosexuellen und so weiter? Wenn man es konsequent zu Ende denkt, darf jeder nur noch ganz authentisch sich selbst spielen. Und das wäre ja offensichtlich Blödsinn – oder zumindest schade, denn gerade das Spiel mit der Verwandlung ist es ja, was uns an Film und Theater so fasziniert. Und zugleich kann ich persönlich es nicht verhindern, dass ich es immer etwas billig finde, wenn jemand spektakulär einen Behinderten mimt und dafür Preise abräumt. Der wahre Geist der Schauspielerei zeigt sich für mein Gefühl nämlich doch auf andere Weise. + + +Es gibt hier am Ende (wie auf alle auch nur halbwegs interessanten Fragen) keine schnellen Antworten. Authentizität und Verwandlung sind zwei Pole, in deren Spannungsfeld wir uns immer neu positionieren müssen. Verwandlung kann magisch sein – oder auch zum Nachäffen werden, und das ist mindestens beleidigend, wenn nicht schlimmer. Meiner Erfahrung nach können viele Leute gut sich selbst spielen – oder gerade ihr exaktes Gegenteil. +Mir persönlich wäre es am liebsten, wenn man um all das nicht so ein großes Theater machen würde. Verwandlung ist gar keine so große Leistung, sondern Grundprinzip unserer Arbeit. Und Authentizität, also direkt mit eigenen Augen und allen fünf Sinnen erlebte Realität, oder auch das, was man mit dem sechsten und siebten Sinn erspürt, wenn man Leuten in die Augen schaut und ihnen zuhört und ihnen ihre Seele klaut und damit wegrennt und sie in ein Drehbuch hineinschreibt – das ist das Material, aus dem wir alles erschaffen. +Und trotzdem kann jeder alles spielen. +Oder wie Robert De Niro es mal formuliert hat: "Ich könnte auch ein Schnitzel spielen." + diff --git a/fluter/autobahn-teilung-arm-reich.txt b/fluter/autobahn-teilung-arm-reich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9bd314a4c2da34c02bbcaf28b75c0efe1bee00e1 --- /dev/null +++ b/fluter/autobahn-teilung-arm-reich.txt @@ -0,0 +1,30 @@ +Die A 40 teilt das Ruhrgebiet, teilt Essen, teilt vor allem aber die Menschen, die hier leben, sagt der Soziologe Volker Kersting. Inarm und reich, in gebildet und ungebildet, in erwerbstätig und prekär beschäftigt oder Arbeit suchend, in Menschen mit Zuwanderungsgeschichte und Menschen ohne. Für Kersting ist die A 40 mehr als eine Autobahn: Sie ist ein Sozialäquator. +Diese Teilung macht Kersting vor allem an vier Faktoren fest: Armut, Mobilität, Bildung und Wahlbeteiligung. In jedem Bereich beobachtet er einen Bruch zwischen Norden und Süden, der sich in den vergangenen Jahren noch verstärkt hat. Das Phänomen, das die Stadt Essen auseinanderdriften lässt, nennen Forschende "sozialräumliche Segregation". Die ist in vielen deutschen Städten ein Problem, in Essen wird sie nur besonders sichtbar. +Als 1955 der erste Abschnitt der Autobahn eröffnet wurde, konnte manim Bergbau gut verdienen. Viele zogen in den Norden. Die A 40 sei erst später zu der sozialen Grenze geworden, die sie heute ist, sagt Kersting. Heute lasse die Betonwüste den angrenzenden Stadtvierteln aber keinen Raum für Handel, Kultur oder Austausch. "Beiderseits der A 40 bilden sich eigenständige Milieus, die sich kaum mehr berühren." +Besonders betroffen von der Segregation sind Kinder und Jugendliche. In Essen lebte 2022 mehr als die Hälfte der jungen Menschen in den armutsbetroffenen Quartieren nördlich der A 40. Einige Hundert von ihnen gehen zur Hüttmannschule in Altendorf. Früher dominierte der Bergbau den Bezirk, Thyssenkrupp hat bis heute eine eigene Haltestelle. +Christian Kowalski ist schon da. "Willkommen in einem Haus, das es eigentlich nicht mehr geben sollte", grüßt der Sozialarbeiter um Viertel vor acht. Er zeigt auf den Containerbau mit Flachdach. "Asbest", sagt Kowalski. Aber weil es zu viele Schülerinnen und Schüler gibt, kann die Schule nicht auf das Gebäude verzichten. Umbauen oder in die Wände bohren dürfen sie nicht. Die Tafel im Klassenzimmer hat Kowalski kurzerhand mit Montagekleber befestigt. + +Eine Grundschulklasse wartet auf ihn. Wenn alles glattläuft, gehen die Kinder ab Sommer auf eine weiterführende Schule. Jetzt sollen sie erst mal Spielkarten vom Boden nehmen, die zu ihrer Stimmung passen. Aarau ist müde, Massin hat Angst vor einem Test, Damian ist traurig, dass er hier istund nicht am Smartphone. +Insgesamt besuchen die Hüttmannschule mehr als 400 Kinder mit 40 Nationalitäten. Für 90 Prozent gehe es danach an der Gesamtschule weiter, sagt Kowalski. Forschende sagen, hier seian der Postleitzahl eines Erstklässlers fast sicher abzulesen, ob er später aufs Gymnasium geht. +Gleich wird deutlich: Die Verständigung ist ein Problem. In den Klassen seien etwa zwei von 30 Kindern mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen, sagt Kowalski. Durch YouTube und TikTok sprechen die meisten besser Englisch als Deutsch. Um 8.45 Uhr klingelt es zur Pause. Ein Teil der Klasse geht auf den Schulhof. Weil es so viele Schülerinnen und Schüler gibt, gehen sie in zwei Durchgängen. +Die Klassengröße ist eines der wenigen Probleme, für das Kowalski keine Lösung zu kennen scheint. Der aktuelle Jahrgang Erstklässler war der erste mit fünf Klassen: 1 a bis 1 e. Zur Einschulung hatten trotzdem 30 Kinder aus dem Einzugsgebiet keinen Schulplatz, erzählt Kowalski. In Altendorf sind die Mieten überwiegend niedrig. Vielen ärmeren Familien bleibt kaum eine andere Wahl, als ebenfalls in den dicht besiedelten Stadtteil zu ziehen. + +Was heißt hier Armut? +Armut wird verschieden definiert. Allgemein gültig ist die Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Armut. Absolut arm ist, wer seine Grundbedürfnisse nicht befriedigen kann: Nahrung, Kleidung, Wohnraum, medizinische Versorgung. Relativ arm ist, wer von der Lebensweise ausgeschlossen ist, die im jeweiligen Land als Minimum gilt. Zum Beispiel weil das Geld für gesundes Essen fehlt, für einen Kinobesuch oder Geburtstagsgeschenke. In der EU wird Armutsgefährdung an relativer Armut gemessen. +Volker Kersting sieht in der Segregation eine Folge des Strukturwandels, der vom Staat nicht genügend aufgefangen und begleitet wurde. In den Nullerjahren sind die meisten Zechen im Ruhrgebiet bereits stillgelegt. Eine Kränkung für Generationen, die vom Bergbau gut leben konnten undsich mit ihm identifizierten. Und ein Armutsrisiko für die Nachkommen vieler Bergarbeiterfamilien: Ohne Bergbau und Schwerindustrie waren plötzlich kaum noch Arbeitsplätze da. Gleichzeitig seien die Sanktionen für Arbeitslose im Zugeder sogenannten Hartz-Reformen verschärft worden, sagt Kersting. Tausende fielen ins "Bergfreie", wie man hier sagt. Und hängen vielfach bis heute in der Schwebe zwischen Arbeitslosigkeit und Niedriglohnjobs. +"Die soziale Benachteiligung wird von den Menschen durchaus wahrgenommen", sagt Kersting. Der Unmut zeige sich unter anderem im Wahlverhalten. Die ärmeren Viertel im Norden haben die höchsten Anteile an Nicht- und AfD-Wählern in Essen. Kersting versteht das als Protestwahl. +Wenn er sich etwas wünschen könnte, wäre es finanzielle Unterstützung und frühe Sprachförderung. Kersting erzählt von Sportgutscheinen für Kinder aus armen Familien: Die Forschung habe ergeben, dass das Sprach- und Sozialverhalten bei der Einschulung deutlich ausgeprägter ist, wenn die Kinder früh in Sportvereinen aktiv sind. "Und die Kinder aus den Vierteln nördlich und südlich der A 40 brauchen Orte, an denen sie zusammenkommen können." +Sozialarbeiter Kowalski wünscht sich halb so große Klassen und doppelt so viel Personal. Weil Kowalski weiß, dass das Wünsche bleiben werden, ist weiter sein Pragmatismus gefragt. Die Vergleiche zwischen Nord und Süd bringen ihm im Schulalltag nichts: "Ich schaue, was ich hier machen kann. + +Klassenlehrerin Fabienne Cinzano +Sozialarbeiter Christian Kowalski +Im Klassenraum wird es laut: Fabienne Cinzano kann ihrer Klasse eine deftige Ansage machen, ohne unfreundlich zu wirken. Cinzano, 38, ist die Klassenlehrerin und heißt eigentlich anders. Als sie vor zwölf Jahren nach Essen zog, habe man ihr geraten, nur unterhalb der A 40 nach einer Wohnung zu suchen. Cinzano liebt ihren Beruf. Aber ihren Sohn würde sie hier nicht zur Schule schicken. +"Überall gibt es Defizite, weil viele Kinder keinen Kindergarten besucht haben", sagt Cinzano. Ihnen fehle oft Impulskontrolle, sie können sich kaum konzentrieren, einige halten in der Schule zum ersten Mal einen Stift oder eine Schere in der Hand. Cinzanos Erfahrung nach können im Schnitt etwa vier Kinder pro Klasse schwimmen. "Das ist politisches Versagen über Jahrzehnte." Die Eltern ihrer Grundschulkinder seien die, die finanzielle Unterstützung und Beratung bräuchten, aber nicht bekommen. Im Süden wiederum hätten viele Eltern die Zeit und das Geld, sich um Nachhilfeunterricht zu kümmern oder einen Platz im Schwimmkurs zu zahlen. An der Hüttmannschule kauft Cinzano die Unterrichtsmaterialien gelegentlich selbst. +Ein paar Hundert Meter weiter bauen Laura Schöler und ihre Kollegin Tische und Bänke vor einem Wohnhaus auf. Auf der Ladefläche ihres Lieferwagens ist eine kleine Küche montiert, in der sie jetzt Wasser kochen. Als erster Gast macht es sich eine ältere Frau mit Früchtetee und Zigarette auf der Bank gemütlich, während ihr Enkel mit dem Nachbarskind spielt. +Schöler und ihr Team von Mobilitea kommen seit zwei Jahren her, immer mittwochs gibt es kostenlosen Tee. "Altendorf ist ein kinderreicher Bezirk", sagt Schöler, "hat aber den schlechtesten Ruf in ganz Essen." Ihr Ziel sei, dass Bewohnerinnen und Bewohner ins Gespräch kommen und sich bei Problemen helfen können. +Dieser Text istim fluter Nr. 90 "Barrieren"erschienen +So wie Emine. Sie ist 2009 nach Altendorf gezogen. Ursprünglich kommt sie aus der Türkei, aus der Hafenstadt Zonguldak, und hat vier Kinder. Ihr jüngster Sohn rennt um den Klapptisch und klaut seiner Mutter das Smartphone, um bei seinen Brüdern einen Döner in Auftrag zu geben. Sie komme gerne zu diesem Treff, sagt Emine, um mit den Nachbarinnen zu quatschen. Gerade lässt sie sich von ihrem Mann scheiden. Manchmal zeigt sie Laura Schöler die Briefe vom Anwalt, weil sie die Hilfe einer Deutsch-Muttersprachlerin braucht. +Die Leier vom Sozialäquator mag Schöler nicht. Wenn man den Leuten hier den miesen Ruf ihres Viertels ständig vorhalte, verstärke man die Unterschiede nur. "Altendorf ist ja keine No-go-Area." +Obwohl sie solche Zuschreibungen für Quatsch hält, kommt Schöler selbst darauf zurück. Sie kommt aus dem Süden Essens. "Wenn dort eine Flüchtlingsunterkunft geplant wird, fragen die zuerst, wie hoch der Zaun sein wird." Die Leute dort gehen ihr gelegentlich auf die Nerven, sagt Schöler. Sie hat studiert, das mobile Begegnungscafé Mobilitea war ihr Abschlussprojekt. +Volker Kersting kennt die Kritik am Sozialäquator A 40. Ihm wird häufig vorgeworfen, er wolle nur das Ruhrgebiet, den Strukturwandel und die SPD schlechtreden, die das Land jahrzehntelang regiert hat. Universitäten, Radwege, Stammtische für Bürgerinnen und Bürger, Kulturprojekte: "Hier wurde viel erreicht", sagt Kersting, "und wenig gewonnen." Die Benachteiligung und Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsteile sei so akut wie vor 30 Jahren. Die vollgestopfte Stadtautobahn biete sich nun mal als Bild an, um diese Probleme greifbar zu machen. Menschen, die nicht von hier kommen, fahren über die A 40 und sind weg. Menschen, die von hier kommen, fahren bis zur A 40 und nicht weiter. + diff --git a/fluter/automotive-dokumentation-rezension.txt b/fluter/automotive-dokumentation-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8d5b70f4ee955f8e008514884f4a62538ee0b880 --- /dev/null +++ b/fluter/automotive-dokumentation-rezension.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Noch weitere Figuren aus dem Audi-Kosmos treten auf, allesamt mittelalte Männerprototypen der Automobilbranche: der IG-Metall-Gewerkschafter, der Chef von Sedanurs Zeitarbeitsfirma und der Audi-Manager, der von Chancen für "Jugendliche, die leistungsmäßig in der Schule nicht so positiv aufgestellt sind" redet. + + +Die zweite Hauptfigur des Films sitzt allerdings im fernen Amsterdam und ist Anfang 30. Eva Heppel – Kopfhörer im und Perlen am Ohr, Hände meist am Rechner, neben sich eine Tasse mit "Do what you love"-Aufdruck – vermittelt als Headhunterin Spezialkräfte für die Automobilindustrie. 80.000 Euro Jahresgehalt? Kein Problem. Die Menschen, die sie sucht, sollen bei Audi dieAutomatisierung vorantreiben und die Effizienz erhöhen– und letztlich Arbeitsplätze wie den von Sedanur überflüssig machen. +Jonas Heldts Stil ist nicht streng dokumentarisch: Seine Bilder sind ästhetisch inszeniert, in den Interviewsituationen durchbricht er immer wieder bewusst die sogenannte "vierte Wand", bringt sich also selbst ein. Zwischendurch zeigt "Automotive" Kamerafahrten durch die vollautomatisierten, fast menschenleeren Audi-Werkshallen. Unterlegt mit elektronischer Musik muten sie fast so an wie das Set eines Science-Fiction-Films. +Die Generation von Sedanur Koca, Eva Heppel und auch Filmemacher Jonas Heldtrechnet längst nicht mehr mit einer linearen Erwerbsbiografie. Welche Bedeutung spielt Arbeit in ihrem Leben? Was treibt sie an? Was macht die Automatisierung mit ihnen und dem Rest der Gesellschaft? Nimmt sie nur körperlich arbeitenden Menschen wie Sedanur die Jobs –oderirgendwann auch solchen wie Eva? +"Automotive" gibt keine klaren Antworten, aber bietet viel Stoff zum Nachdenken. Oder um es wie Sedanur zu sagen: "Arbeit ist auch voll das verspulte System. Du machst irgendwas und bekommst dafür Geld, die ganze Zeit … bis zur Rente, und dann bist du eh schon 60. Wirst du überhaupt bis 60 leben?" + +Die Dokumentation"Automotive"(Dokumentaristische Form, Deutschland 2020) feierte seine Weltpremiere am 22.2.2020 auf der Berlinale undläuft dort noch an vier weiteren Terminen. +Titelbild: Jonas Heldt diff --git a/fluter/autonome-waffen-KI-interview.txt b/fluter/autonome-waffen-KI-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1d7d45739697891022f41166ee4dc584206c463b --- /dev/null +++ b/fluter/autonome-waffen-KI-interview.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Gibt es so etwas schon? +Bislang sind völlig autonome Systeme rein hypothetisch, auch wenn etwa einige Verteidigungsanlagen von Schiffen bereits selbstständig anfliegende Raketen erkennen und zerstören können. Aber Systeme zum Angriff sind noch nicht wirklich im Einsatz. Das könnte sich allerdings bald ändern, weil sich die notwendige Technologie zurzeit sehr schnell weiterentwickelt, allem vorankünstliche Intelligenz(KI). Militärs in mehreren Ländern der Welt lassen Rüstungskonzerne an KI-gesteuerten Waffen arbeiten. +Was sind die Vorteile, wenn KI militärische Operationen steuert? +KI kommt beim Militär vieler Staaten schon jetzt zum Einsatz – das aber vor allem im Backoffice hinter den Frontlinien, etwa bei Logistik, Wartung oder Personalplanung. Aber natürlich wird KI zunehmend auch in Waffen implementiert. Sie kann dafür sorgen, dass man auf dem Schlachtfeld schnell und zielgenauer reagieren kann, und das ist natürlich ein riesiger Vorteil gegenüber dem Gegner. Es kann deshalb sein, dass Menschen künftig Schlachten vor allem von einem höheren Level aus beaufsichtigen. Die Maschinen vor Ort treffen in einem bestimmten Rahmen Entscheidungen und kämpfen allein. +Wann hat diese Entwicklung begonnen? +Waffen werden schon lange immer weiter automatisiert. Im Grunde kann man das zurückführen bis ins 19. Jahrhundert, bis zu den sogenannten Gatling-Gewehren im Amerikanischen Bürgerkrieg, die über per Hand drehbare Läufe mehr Feuerkraft entfaltet haben. Im Ersten Weltkrieg kamen dann die ersten echten vollautomatischen Maschinengewehre zum Einsatz. Im Zweiten Weltkrieg gab es bereits Torpedos, die anhand von akustischen Signalen selbstständig einem Schiff folgen konnten. Und jede neue Generation von Raketen hat heute ausgefeiltere Intelligenz an Bord, womit die Flugkörper inzwischen weitgehend allein manövrieren können. So werden immer neue Funktionen von Maschinen übernommen. +Internationale Debatte zur Regulierung autonomer Waffen +Die UN arbeiten schon seit 2014 an einer Übereinkunft zum Einsatz autonomer Waffen. Allerdings konnten sich die Staaten bisher nicht dazu durchringen. Russland, die USA, Indien und Israel sind zum Beispiel gegen eine gemeinsame bindende Regulierung. Andere Staaten, darunter vor allem eine Gruppe von Staaten aus dem globalen Süden, sind hingegen für einen bindenden völkerrechtlichen Vertrag. +Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag darauf verständigt, tödliche autonome Waffensysteme zu regulieren: "Letale Autonome Waffensysteme, die vollständig der Verfügung des Menschen entzogen sind, lehnen wir ab. Deren internationale Ächtung treiben wir aktiv voran."  Dass der Mensch eine gewisse Steuerungskompetenz behalten soll, ist für viele Staaten wesentlich. Wie stark diese ausgestaltet sein soll, ist allerdings ebenfalls noch umstritten. +Das klingt ähnlich wie beim Auto, wo Fahrerassistenzsysteme dem Menschen schrittweise immer mehr Arbeit abnehmen – bis das Auto irgendwann vollständig autonom fährt. +Beides ist ein vergleichbarer gradueller Prozess, bei Autos wie bei Waffen. Der Einsatz von KI beschleunigt diese Entwicklung nur. Und beides beruht sogar grundlegend auf ähnlichen Technologien: KI, die autonomes Fahren möglich macht, kann auch autonome Waffen steuern. +Werden sich dann nur Industriestaaten solche Hightech-Waffen leisten können, während ärmere Länder vor allem Bürgerinnen und Bürger in den Krieg schicken? +Es ist eine weit verbreitete Fehleinschätzung, dass autonome Waffen immer sehr teuer sein müssen. Natürlich wird es weiter hochentwickelte und damit sehr kostenintensive Waffensysteme geben, so wie auch jetzt schon. Aber einfache autonome Waffen werden leicht herzustellen sein. Man sieht das schon jetzt in der Ukraine, wo Soldaten aus kommerziellen Produkten, die jede und jeder kaufen kann, Kampfdrohnen basteln. Künftig werden sich auch KI-Modelle kostenlos downloaden lassen, um dann auf dem Schlachtfeld zum Einsatz zu kommen. Relativ gesehen könnten ärmere Länder sogar stärker von den dadurch möglichen Entwicklungsschritten profitieren als reiche Länder. +Sie sagten eben, der große Vorteil von KI-gesteuerten Waffen sei es, dass sie schneller auf Angriffe reagieren können. Was geschieht, wenn sich eines Tages in einem Krieg solche Systeme gegenüberstehen und von allein mit einer Geschwindigkeit aufeinander reagieren, die kein Mensch mehr nachvollziehen kann? +Das ist tatsächlich eine reale Gefahr. So etwas ist ja an Börsen bereits vorgekommen,wo Algorithmen in Millisekunden Aktien handeln– und dann schon mehrmals sogenannte "Flash Crashs" ausgelöst haben, also plötzliche starke Kurseinbrüche, die sehr schnell von allein in den Interaktionen dieser Systeme miteinander entstehen. Vergleichbar könnte es auch zu "Flash Wars" oder, wie ich sie nenne, "Hyperwars" kommen. KI-Systeme eskalieren dabei ungewollt einen Konflikt und kämpfen dann in übermenschlicher Geschwindigkeit gegeneinander. Um das zu vermeiden, müssten beide militärische Parteien miteinander kommunizieren – was in Kriegen ja nicht immer einfach ist. +Im Jahr 2017 haben mehr als 100 führende Expertinnen und Experten von KI- und Robotik-Firmenin einem offenen Brief gewarnt, die Entwicklung autonomer Waffen öffne die Büchse der Pandora – sie lasse also etwas Gefährliches in die Welt, das die Menschheit nur schwer wieder einfangen könne. Inwiefern halten Sie diese ganze Entwicklung für vertretbar? +Wie so vieles wird KI auch den Krieg verändern. Aber autonome Waffen werfen rechtliche, ethische und politische Fragen auf. Wie schaffen wir es, dass sich diese Maschinen an das Völkerrecht halten und etwa keine Verwundeten töten? Wie vermeiden wir Fehlentscheidungen? Wenn eine autonome Waffe unter Wasser U-Boote jagt und dort ein potenzielles Ziel entdeckt, ist es wahrscheinlich wirklich ein U-Boot – und nicht etwa eine Schule oder ein Krankenhaus. Anders sieht es in unübersichtlichen Lagen an Land aus, wo auch Zivilisten in der Nähe sein können. Und fühlen wir uns überhaupt wohl mit Maschinen, die allein Entscheidungen von solcher Tragweite treffen können? Solche Fragen sind schwer zu beantworten, und sie sollten nicht allein von Militärs beantwortet werden. + +Paul Scharre war als Army Ranger im Irak und in Afghanistan im Einsatz und hat für das Büro des US-Verteidigungsministers gearbeitet. Heute ist er Vizepräsident des Thinktanks Center for a New American Security. Er ist Autor der Bücher "Army of None: Autonomous Weapons and the Future of War" und "Four Battlegrounds: Power in the Age of Artificial Intelligence". diff --git a/fluter/avocados-aus-mexiko-abholzung-kiefernwaelder.txt b/fluter/avocados-aus-mexiko-abholzung-kiefernwaelder.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ed49446c4c0ae4b990b2191735a945e0e714eae2 --- /dev/null +++ b/fluter/avocados-aus-mexiko-abholzung-kiefernwaelder.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Zwar würden die Bauern nicht immer sichtbar den Wald abholzen, da die Avocados auch unter den Kiefern verdeckt wachsen würden, sagte der Wissenschaftler Mario Tapia Vargas von Mexikos Nationalinstitut für Forschung zu Forstwirtschaft, Landwirtschaft und Fischereider Nachrichtenagentur "Associated Press". Er fürchtet allerdings: "Früher oder später werden sie die Kiefern komplett abholzen." +Wenn anstelle von Kiefern Avocado-Bäume wachsen, kann das problematische Folgen haben: Die Avocado-Bäume sind durstige Pflanzen, sie trinken, vereinfacht gesagt, anderen Pflanzen und Tieren in der Region das Wasser weg. Außerdem – ein nicht auf Michoacán beschränktes Problem – kommen beim Avocado-Anbau Chemikalien zum Einsatz. Diese könnten der Umwelt und den Menschen in der Region schaden, warnt Greenpeace Mexiko. Für Verpackung und Transport der Avocados würden zudem große Mengen Holz benötigt. Ganz besonders könnte ein Schmetterling unter der Ausdünnung der Kiefernwälder leiden: der Monarchfalter, der in den Wäldern von Michoacán überwintert. +Wer sich dennoch nicht die Avocado vom Toast nehmen lassen will, der sollte am besten auch nicht weiterlesen: Denn am Handel mit mexikanischen Avocados verdient auch das organisierte Verbrechen mit. Die hohen Gewinne, die sich mit Avocados erzielen lassen, haben dazu geführt, dass die "Tempelritter", ein mexikanisches Kartell, ins Geschäft eingestiegen sind und es immer stärker kontrollieren.Laut "Wall Street Journal"kassiert das Kartell beim Verkauf von Düngern und Pestiziden und verlangt für jede Kiste Avocados, die verladen wird, eine Gebühr. +Die Nachfrage nach Avocados ist derzeitso hoch wie nie zuvor. In Deutschland hat sich der Avocado-Konsum seit 2008 mehr als verdoppelt. In den USA, Hauptimporteur der mexikanischen Avocadoernte, hat sich der Verkauf innerhalb von 15 Jahrensogar vervierfacht. Mexikanische Avocados werden allerdings auch in die EU importiert. diff --git a/fluter/axolotl-overkill-film-helene-hegemann.txt b/fluter/axolotl-overkill-film-helene-hegemann.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..315a40b96b0da1063a653c5643ea12733cc40e79 --- /dev/null +++ b/fluter/axolotl-overkill-film-helene-hegemann.txt @@ -0,0 +1,30 @@ + +Und was soll uns das sagen? +Letztlich geht es um Deutungshoheit. Die sucht Mifti mit ihrem selbstzerstörerischen Lebenstil, aber auch Helene Hegemann, heute 25, die ihr autobiografisches Buch "Axolotl Roadkill" verfilmt hat. Das wurde 2010 von der Literaturkritik erst zur Sensation hochgejubelt, dann aber, als zahlreiche Plagiatsvorwürfe auftauchten, wüst zerrissen. Ist das dreistes Abschreiben – oder eine neue Form von literarischem Sampling? Über diese Frage wird heute noch diskutiert. Genau wie über Hegemann. + +Wie wird's erzählt? +Assoziativ und experimentell. In manchen Momenten ist man sich nicht sicher, ob das gerade Geschehene wirklich passiert ist oder ob Mifti geträumt hat. Die Gedankenverknüpfungen machen Spaß und erinnern an Videokunst. Jedoch hangelt man sich hier in Spielfilmlänge von Szene zu Szene, ohne dass wirklich was passiert. Einmal läuft ein Pinguin durch die Wohnung. Ein anderes Mal dreht sich die Kamera und wir sehen die Regisseurin Helene Hegemann im Regiestuhl sitzen. Ein nächstes Mal tanzt ein kleines Mädchen mit unglaublichen Dubstep-Skills. Alles schön anzuschauen – ohne Frage –, aber so plätschern die 90 Minuten vor sich hin, und alle Charaktere des Films bleiben Kunstfiguren. Meist gut gekleidet, leicht entrückt und traumverloren – jedoch ohne die spannungsreiche Tiefe, die Figuren letztendlich interessant macht. +Good Job! +Herausragend ist der Look des Films. Die Kulissen sind perfekt inszeniert  – von der im  Shabby-Chic drapierten Altbauwohnung der Geschwister über teure Hotelsuiten, in denen sich Mifti mit Alice zum Sex trifft, bis zum sakral erleuchteten Schlafzimmer von Ophelia während eines Heroin-Trips. Mitreißend sind auch die Choreografien während der Clubbesuche, wenn die zuckenden Körper im Stroboskop-Licht aufleuchten. Licht, Kamera, Kulisse und ein sehr starker Soundtrack stimmen sich perfekt aufeinander ab. Immer mit dabei: Gil Scott-Heron mit seinem Lied "Me and the Devil", das mehrfach im Film zu hören ist. + +Beste Nebenrolle +Der Komiker Oliver Polak als etwas zerknautschter und wohl nicht wirklich erfolgreicher Gangster und Tierhändler, der seinen Papagei "White Hitler" nennt. Er stellt Mifti sein Lieblingstier vor – den titelgebenden Axolotl. Ein durchscheinender Lurch, der nie erwachsen wird und über Superkräfte zu verfügen scheint: "Trennt man ihm etwas von seinem Körper ab, dann wächst es nach. So Siegfried&Roy-mäßig. Wirklich das allerbeste Tier!" Klar, dass diese nackte Kreatur Miftis Wappentier wird. + +Beste Szene +Nach einer Party über mehrere Tage/Nächte/Orte stolpert Mifti mit ihrer besten Freundin Ophelia und deren wesentlich älterem Liebhaber aus einem Club. Der mit Seidenschal gekleidete Schnösel versucht ein Selfie von sich hochzuladen, stellt fest: "Facebook geht hier nicht. Wir müssen zum Funkturm fahren." Schnitt. Die drei laufen über eine Brache am Funkturm. Mit zwei Alpakas. + +Geht gar nicht +Viele Dialoge nerven. Typisch etwa dieser hier, der während einer Zusammenkunft der Familie stattfindet: +Mifti (in die Runde): "Gibt es einen Grund für dieses Treffen hier?" +Vater: "Wir machen uns Sorgen um dich!" +Mifti: "Ihr Versager."  (zischt ab) +… +(Kommt zurück) "Ich nehm mir jetzt noch ein Stück Käse und dann verpiss ich mich hier!" + +Fun Fact +Die Berghain-Szenen wurden im Tresor gedreht. + +Ideal für… +… alle, die schon immer wissen wollten, wie sich eine exzessive Jugend zwischen Antidepressiva und Wohlstandsverwahrlosung in Berlin anfühlt. + +"Axolotl Overkill", D 2017. Buch und Regie: Helene Hegemann, mit: Jasna Fritzi Bauer, Mavie Hörbiger, Laura Tonke, Julius Feldmeier. 94 Minuten diff --git a/fluter/azdar-theater-afghanistan-anschlag.txt b/fluter/azdar-theater-afghanistan-anschlag.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a6e12c2a84c133a1d6cd8f67e02b14a25cea4040 --- /dev/null +++ b/fluter/azdar-theater-afghanistan-anschlag.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Der Anschlag ereignete sich nur wenige Wochen nach den Wahlen, die eigentlich als Meilenstein der Demokratisierung in Afghanistan galten. Doch eine Wirtschaftskrise schwächte das Land, und es gelang nicht, die Taliban in einen Friedens- und Versöhnungsprozess einzubinden. +Die Mitglieder der afghanischen Theatergruppe Azdar, die auf der Bühne standen, hatten schon oft Angst um ihr Leben. Aber an diesem Tag im gut gesicherten Kulturinstitut traf sie die Gewalt unerwartet. "Vor der Show haben wir gescherzt: Der Titel ist provokant, vielleicht bekommen wir Probleme", erinnert sich Nasir Formuli, der Leiter von Azdar. Aber keiner hat geglaubt, dass sie diese Stille nach der Explosion selbst erleben würden. So politisch war das Stück doch gar nicht! Eher ein Appell, mit dem Wahnsinn aufzuhören. +"Die Explosion passte sehr gut", erinnert sich Homan Wesa, einer der Darsteller, damals 29 Jahre alt. "Das Publikum dachte, es ist Teil des Stücks, aber für mich war es real." Ihm und den anderen sechs jungen Männern, fast alles Kommilitonen vom Schauspielstudium an der Universität von Kabul, war schon klar, dass den Mullahs nicht gefiel, was sie machten. Sie klärten auf, informierten, unterhielten, kritisierten sogar. Sie belegten Workshops bei Ausländern, erarbeiteten Stücke mit ihnen, nahmen an internationalen Theaterfestivals teil. Dabei hätte schon weniger genügt, nämlich überhaupt Kultur zu machen. +Was fürchten die Taliban denn so an ihnen? Möglicherweise die Vielstimmigkeit, die Offenheit, die Auseinandersetzung. Dass Theater ein Publikum erreicht in einem Land, in dem weniger als die Hälfte der Menschen lesen und schreiben kann. "Das Theater in Afghanistan hatte Macht", erinnert sich der heute 39 Jahre alte Nasir, der inzwischen mit seiner Frau und zwei kleinen Söhnen in Gießen lebt. "Die Leute haben tagelang darüber gesprochen." + + +Dass es für sie als Schauspieler in einem unfreien Land größere Ängste gibt als Lampenfieber, hatten sie schon mit "Parwaz" erlebt, einem Puppenspielprojekt, in dem sich die meisten zusätzlich engagiert hatten, die am Anschlagsabend auf der Bühne standen. Damit reisten sie durchs Land, spielten an Schulen in der Provinz. Ihr Ziel: Kinder mit Theater vertraut zu machen, die noch nie eine Aufführung gesehen hatten. Sie zu unterhalten. Und ihnen nebenbei etwas beizubringen. +Dabei wurden sie unter anderem von UNICEF und dem Goethe-Institut unterstützt, allerdings nicht, was die Sicherheit anging. Einmal hatten sie einen Direktor vor sich, der alle Instrumente verbot. Dann drei Mullahs in der vordersten Reihe, die penibel auf ihre Version der Gottgefälligkeit achteten. Mal mussten sie abbrechen, weil Schüler die Taliban gerufen hatten. Mal waren nach der Show Sprengdrähte über die Fahrbahn gezogen. +Der Selbstmordanschlag, bei dem es etwa 40 Verletzte und drei Tote gab, hat für Azdar alles verändert. Sie konnten kaum noch Theater spielen, weil sich die Leute nicht zu kommen getraut hätten. Sie konnten nicht reisen, weil ihre Namen überall in den Sozialen Medien waren. Den Institutionen war es zu riskant, sie weiter zu unterstützen, schließlich hätte es wieder passieren können. Die Regierung machte ihnen sogar Vorwürfe: Warum habt ihr das gespielt? Sie bekamen Drohanrufe, mussten mehrfach ihre Adressen ändern. Aber vor allem: Das Attentat erschütterte ihre Zuversicht, dass Afghanistan auf einem guten Weg sei. Denn vieles hatte sich unter dem Schutz der internationalen Gemeinschaft bereits getan. Es gab Theatertreffen, Kunstausstellungen, Musikfestivals und vieles mehr. "Ich denke, eine Nation ist am Leben, wenn die Kultur in ihr am Leben ist", sagt Homan Wesa. "Und wenn man eine Nation zerstören will, braucht man nur den Kultursektor anzugreifen." +Nach und nach wanderten die Darsteller aus. Ergriffen Chancen, bekamen Stipendien an Hochschulen, temporäre Arbeitsverträge an Theatern,beantragten später Asyl. Haben die Mullahs also gewonnen? "Ich würde sagen, nicht komplett", sagt Homan Wesa, der in Berlin seinen Master in Schauspielregie gemacht hat und freelanct. "Denn wir sind in Sicherheit, reden darüber und machen einzeln weiter Kulturprojekte zu Afghanistan. Und in Zukunft wird es dort wieder etwas geben." Er würde gern Olaf Scholz gemeinsam mit anderen Künstlern im Exil einen Brief schreiben, weil es zu wenig Support gibt. Dabei sei es wichtig, dass die Kulturszene wenigstens im Ausland erhalten bliebe und Geflüchtete später wieder zurückkehren könnten. +Dieser Text ist imfluter Nr. 87 "Spiele"erschienen +Zurückkehren in ein Land, in dem die Kulturszeneseit der Machtübernahme der Talibanbrachliegt. Dort dürfen Mädchen nur nochbis zur sechsten Klasse in die Schule gehen, Frauen nicht studieren. Leute werden nachts abgeholt und bleiben Monate im Gefängnis oder tauchen gar nicht mehr auf. Kunst, Theater und Musik sind kaum noch existent. +Auch Nasir würde wieder in Afghanistan arbeiten, sobald das möglich ist. Bis zu seinem nächsten Engagement für ein Stück eines afghanischen Autors am Stadttheater Krefeld wird er am Flughafen arbeiten. "Hier bin ich niemand, es gibt so viele Künstler, die Gesellschaft braucht mich nicht." In seinem Heimatland ist das anders. + +Titelbild:  Haider Yasa/ AP Photo/picture alliance diff --git a/fluter/babys-machen.txt b/fluter/babys-machen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e82528dcd0e404fabfa9bf1c148b4013c79c5c88 --- /dev/null +++ b/fluter/babys-machen.txt @@ -0,0 +1,24 @@ + +"Ich liebe Science-Fiction", sagt Penny. Zum einen sei sie einfach "ein krasser Nerd". Zum anderen sei es die Science-Fiction, die die Vorstellungskraft der Menschen beeinflusse. "Nehmen Sie zum Beispiel ,Star Trek'. Vieles von dem, was man dort sieht, war in den 60er-Jahren, als die Reihe losging, völlig undenkbar und ist heute längst realisiert." Sie sei stark von feministischen Science-Fiction-Autorinnen wie Marge Piercy beeinflusst. +Die Idee einer künstlichen Gebärmutter, mit deren Hilfe Frauen Kinder nicht mehr selbst zur Welt bringen müssen, gehe auf die in Kanada geborene Autorin Shulamith Firestone zurück. "Das Spannende daran ist aber, dass das bis heute als völlig lächerlich abgetan wird", sagt Penny. +Wirklich? Wir haben uns mal angesehen, was aus den utopisch anmutenden Ideen geworden ist, die in der langen Geschichte der feministischen Science-Fiction entstanden sind. In Teil 1 geht es um Reproduktionstechniken. In Teil 2 um politische Systeme. +Die Idee, Frauen aus der körperlichen Abhängigkeit des Gebärens zu befreien – und damit auch aus der Abhängigkeit von Männern, die währenddessen für sie sorgen (müssen) –, ist ein Motiv, das in einigen feministischen Utopien und Manifesten auftaucht. Shulamith Firestone, die als Begründerin des Radikalfeminismus in den USA gilt, proklamierte 1970 diesen Gedanken im ersten Kapitel von"Frauenbefreiung und sexuelle Revolution": +"Das Ziel einer feministischen Revolution darf [...] nicht nur die Beseitigung männlicher Privilegien, sondern muss die Abschaffung der Unterscheidung zwischen den Geschlechtern selbst sein: Geschlechtsunterschiede würden dann unter Menschen keine Rolle mehr spielen. [...] Die Reproduktion einer Spezies durch ein Geschlecht zum Vorteil beider würde ersetzt durch (zumindest die Möglichkeit der) künstlichen Fortpflanzung: Kinder würden gleichberechtigt von beiden Geschlechtern oder unabhängig von beiden geboren." +Auch die US-amerikanische Autorin Ursula K. Le Guin verfolgte diese Idee in ihrem bereits 1969 erschienenen Roman "Der Winterplanet" (in späteren Auflagen "Die linke Hand der Dunkelheit") sowie in "Planet der Habenichtse" (1974, in späteren Auflagen "Die Enteigneten"). In "Winterplanet" sind die Bewohner von Gethen saisonal zweigeschlechtlich. Nur an einigen Tagen im Monat sind sie fruchtbar und können zu dieser Zeit sowohl männlich als auch weiblich sein. Dadurch sind alle Bewohner des Planeten zu gleichen Teilen an den "Lasten und Privilegien" beteiligt, die das Aufziehen von Kindern birgt. Die identitäre Zuschreibung von Geschlecht – und damit auch Geschlechterrollen – wird in der von K. Le Guin entworfenen Gesellschaft irrelevant. + + +In "Planet der Frauen" (1979) beschreibt Joanna Russ vier Welten. Eine davon ist Whileaway, eine utopische Gesellschaft, die in der Zukunft liegt. Dort sind die Männer ausgestorben, und die Frauen haben eine Technik entwickelt, mit deren Hilfe sie sich eingeschlechtlich fortpflanzen können. Die Frauen von Whileaway gehen lesbische Beziehungen ein und ziehen gemeinsam die Kinder auf. +Marge Piercy geht in "Die Frau am Abgrund der Zeit" (1986; Original: "Woman at the Edge of Time", 1976) noch einen Schritt weiter. Consuelo, genannt Conny, eine arme hispanische Frau aus einem New Yorker Slum, reist aus einer tristen, repressiven Gegenwart durch gedanklichen Kontakt mit Luciente in eine befreite Zukunft. Familienverhältnisse im heutigen Sinne kennt diese Gesellschaft nicht, und sogar die menschliche Biologie wurde verändert. So gibt es keine natürlichen Geburten mehr – Kinder kommen stattdessen in "Brütern" zur Welt –, und Männer haben ebenso wie Frauen Brüste, mit denen sie den Nachwuchs stillen. Gender ist in dieser Welt irrelevant und biologisches Geschlecht teilweise aufgehoben, polyamouröse Beziehungen sind üblich. + + +-Social Freezing, also das vorsorgliche Einfrieren unbefruchteter Eizellen ohne medizinischen Grund, ist seit Ende der 1990er-Jahre möglich. Die Eizellen werden der Frau entnommen und in flüssigen Stickstoff getaucht. Später können sie bei Bedarf im Reagenzglas befruchtet und wieder in die Gebärmutter eingesetzt werden. Zwar sind dazu nach wie vor männliche Spermien nötig. Aber so können Frauen auch dann noch schwanger werden, wenn die Wahrscheinlichkeit einer natürlichen Schwangerschaft mit zunehmendem Alter sinkt. +- Noch nicht verwirklicht ist die Idee der künstlichen Gebärmutter und damit die der außerkörperlichen Schwangerschaft. Das heißt aber nicht, dass in diesem Bereich nicht geforscht würde. Nach der Entwicklung von Antibabypille und In-vitro-Fertilisation sei die künstliche Gebärmutter der nächste logische Schritt, schrieb der französische Biophysiker und Philosoph Henri Atlan schon 2005 in seinem Buch "L'utérus artificiel". Und die britische Bioethikerin Anna Smajdor, die an der University of East Anglia lehrt, forderte 2007 in ihrem wissenschaftlichen Artikel"The Moral Imperative for Ectogenesis": "Schwangerschaft und die Geburt eines Kindes sind sehr schmerzvoll, riskant und sozial einschränkend für Frauen. Deshalb sollten unbedingt von Staats wegen öffentliche Gelder zur Verfügung gestellt werden, um eine künstliche Gebärmutter zu entwickeln." +Tatsächlich ist es schon heute medizinisch möglich, vier der neun Monate, die eine Schwangerschaft dauert, den Embryo beziehungsweise das Frühgeborene außerhalb des Mutterleibs am Leben zu erhalten. Zunächst bis zu fünf oder sechs Tage im Reagenzglas, bevor die befruchtete Eizelle im Blastozysten-Stadium in die Gebärmutter eingesetzt wird. Und dann ab der 24. Schwangerschaftswoche im Inkubator, wenn ein Kind zu früh auf die Welt kommt. +Darüber hinaus gelang es der US-amerikanischen Forscherin Helen Hung-Ching Liu bereits vor mehr als zehn Jahren am Reproductive Endocrine Laboratory der Cornell University in New York, Embryonen bis zu zehn Tage lang in einem künstlichen Gebärmutter-Gewebe wachsen zu lassen. Das Material für die nachgebildete Gebärmutter stammte aus einerechten. +- An der Juntendo University in Tokio forschte  an der Herstellung von künstlichem Fruchtwasser und einer künstlichen Plazenta. In den 1990er-Jahren gelang es ihm und seinem Team, Ziegenföten, die an eine künstliche Plazenta angeschlossen waren und in einem Acrylglaskasten mit künstlichem Fruchtwasser schwammen, bis zu drei Wochen weiterwachsen zu lassen. Das Experiment wurde jedoch wiedereingestellt. +Es gibt also durchaus Forscher/-innen, die daran arbeiten, die Reproduktionsmedizin im Sinne von feministisch-utopischen Ideen voranzutreiben. Ob sie aus diesen Ideen auch ihre Motivation bezogen, sei dahingestellt. Was diesen Forschungsarbeiten jedoch entgegensteht, sind in erster Linie ethische Bedenken. Embryonen außerhalb des weiblichen Körpers heranwachsen zu lassen erinnert viele an Aldous Huxleys dystopische "Schöne neue Welt" oder gar an "Frankenstein". "Frankenstein" wurde übrigens im Jahr 1818 anonym von der britischen Schriftstellerin Mary Shelley verfasst. Sie gilt damit als erste Frau, die einen Science-Fiction-Roman schrieb. + + +Laurie Penny: "Babys machen und andere Storys". Aus dem Englischen von Anne Emmert. Edition Nautilus, Hamburg 2016, 19,90 Euro + +Marlene Halser, 38, leitet das Ressort taz2 Medien und hat gerade ihre Liebe zu feministischen Utopien entdeckt. Sie findet, diese sollten endlich als das gesehen werden, was sie sind: ernstzunehmende Staats- und Gesellschaftstheorie. diff --git a/fluter/bafoeg-erhoehung-2019.txt b/fluter/bafoeg-erhoehung-2019.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4eac37d705d087d66448cdfc0d04b413c2e7685e --- /dev/null +++ b/fluter/bafoeg-erhoehung-2019.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Die jüngste Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks aus dem Jahr 2016 zeigt: 68 Prozent der Studierenden arbeiten neben dem Studium – dabei ist die Uni allein für die meisten schon ein Vollzeitjob. 33 Stunden wenden Studierende im Schnitt für Uni-Kurse und Selbststudium auf. Während der Anteil der Jobber gestiegen ist, ist die Teilnahme an Lehrveranstaltungen gesunken: zuletzt auf 15 Stunden in der Woche – den niedrigsten Wert seit 1991. +Konkret sieht der im Januar beschlosseneGesetzesentwurfFolgendes vor: Die Wohnpauschale soll von derzeit 250 auf 325 Euro erhöht werden. Die Bedarfssätze sollen bis 2020 um insgesamt sieben Prozent angehoben werden. Der Höchstsatz steigt damit auf 861 Euro. Laut Bildungsministerium sollen die ersten Erhöhungen am 1. August dieses Jahres in Kraft treten. +Eine Entwicklung, die nicht alle für bedenklich halten. Gerade in technischen Studiengängen wird den Studierenden dringend empfohlen, ihr theoretisches Wissen aus dem Studium so früh wie möglich auch praktisch anzuwenden. Das bringt nicht nur Geld ein, sondern vielleicht sogar den ersten Job nach dem Studium. Mittlerweile hat fast jede Hochschule ein eigenes "Career Center", das Studierende vor dem Berufseinstieg berät. Dort hören auch Geisteswissenschaftler, dass es sich gut macht, wenn man schon beim Nebenjob in sein angestrebtes Berufsfeld reinschnuppert. +So sinnvoll Praxiserfahrung ist – für viele Studierenden ist nicht der Karriereplan, sondern die finanzielle Not der ausschlaggebende Grund zu jobben. Und der finanzielle Druck nimmt zu, beobachtet Bildungsforscher Dieter Dohmen vom Berliner Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS). Allein zwischen 2012 und 2016 seien die durchschnittlichen Gesamtausgaben der Studierenden – Stichwort steigende Lebenshaltungskosten – um bis zu 55 Prozent gestiegen. Im Sommer 2016 hätten Studierende, die nicht mehr bei den Eltern wohnen, im Schnitt 819 Euro im Monat zum Leben gebraucht. "Heute", schätzt Dohmen, "dürfte der Bedarf im Schnitt zwischen 850 und 900 Euro liegen". Der aktuelle Bafög-Höchstsatz beträgt – inklusive Wohnpauschale und Zuschuss zur Kranken- und Pflegeversicherung – aber nur 735 Euro. +Die rasante Mietpreiserhöhung in vielen Hochschulortenist einer der Gründe, warum die Bundesregierung im Koalitionsvertrag eine Bafög-Reform versprochen hat. Ein anderer: Die Zahl der Bafög-Empfänger ist seit Jahren im Sinkflug, weil durch höhere Löhne viele mögliche Empfänger die Grenzbeträge überschreiten. Im Jahr 2017 wurden 557.000 Studierende und 225.000 Schüler gefördert – so wenige wie Anfang der 1990er-Jahre. Deshalb sollen nun die Bedarfssätze kräftig steigen, ebenso die Freibeträge für Einkommen und Vermögen. Dadurch, so erhofft sich die Regierungskoalition aus Union und SPD, werden in Zukunft wieder mehr junge Menschen Bafög erhalten. Doch reichen die geplanten Erhöhungen aus, damit Studierende wie Julia Maczejewski sich voll auf das Studium konzentrieren können? +Kaum, kritisieren unter anderem die Bildungsgewerkschaft GEW und das Deutsche Studentenwerk. Die Erhöhungen würden gerade mal die Preisentwicklung der letzten Jahre ausgleichen. Und auch Bildungsforscher Dohmen vom FiBS sagt: "Die vorgesehenen Erhöhungen der Bafög-Sätze und insbesondere der Wohnpauschale sind ein deutlicher Schritt, aber selbst die künftigen Höchstsätze reichen für die meisten angesichts der steigenden Ausgaben nicht zum Leben aus". +Zu welchen Problemen das mitunter führt, kann Malte Wünsche beschreiben. Der 34-Jährige studiert Geographie in Berlin und bezieht den derzeitigen Bafög-Höchstsatz von 735 Euro. Zum Leben aber braucht er wenigstens 900 Euro. Um regelmäßig seine Familie in Hamburg besuchen zu können oder wie neulich mal eben ein paar Hundert Euro für eine Zahnarztrechnung hinlegen zu können, muss auch Wünsche neben dem Studium jobben. + +Jeden Pfennig umdrehen: Unsere Autorinerinnert sich an ihre Kindheit mit Hartz IV + +Diese Belastung trägt dazu bei, dass Wünsche statt der vorgesehen sechs nun neun Semester brauchte, um seinen Bachelor abzuschließen. Weil er damit die Regelstudienzeit übertrat, erhielt Wünsche zunächst kein Bafög mehr. Zwar gewähren die Bafög-Ämter in bestimmten Fällen wie einer schweren Krankheit eine Verlängerung – eine finanzielle Zwicklage erkennt sie aber nicht als Grund an. "Absurd", sagt Wünsche. "Man geht davon aus, dass Studierende mit Bafög Vollzeit studieren können, obwohl die Realität ganz anders aussieht. +Dieser Widerspruch ist auch bei der Studentischen Sozialberatung der Berliner Humboldt-Universität häufig Thema. Beraterin Anna Ilgert bedauert, dass die Bafög-Reform keine Lockerung bei den Bezugszeiten vorsieht: "Für die meisten Bafög-Empfänger bedeutet das zum Ende des Studiums zusätzlichen Stress". Dann, wenn man sich eigentlich auf die Abschlussprüfungen konzentrieren sollte. +Einen ähnlichen Einwand hat zuletzt auch der Bundesrat vorgetragen und weitere Nachbesserungen gefordert – etwa, die Bafög-Sätze automatisch an die tatsächliche Preis- und Einkommensentwicklung anzupassen. So eine Koppelung hat die Bundesregierung bislang allerdings nicht vorgesehen. Ob die versprochene "Trendwende" mit der jetzigen Reform gelingt, ist umstritten. +Ob die Bafögsätze erhöht werden oder nicht,entscheidet der Bundestag am 16. Mai. Die Opposition hat bei der ersten Anhörung im Bundestag die Reform der Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) heftig kritisiert und zum Teil eigene Vorschläge vorgestellt, unter anderem eine elternunabhängige Förderung (FDP) oder die Möglichkeit, das Bafög bei guten Leistungen in ein Stipendium umzuwandeln (AfD). Die Grünen forderten Erhöhungen "nicht in kleinen Schritten, sondern in einem Rutsch." Die Linkspartei ist sich sicher, dass auch nach der Erhöhung des Wohngeldes "die meisten Studierenden ihre Miete nicht über das Bafög bezahlen" können. +Der Geographie-Student Malte Wünsche hat in der Zwischenzeit selbst eine Lösung für sein Problem gefunden: Er konnte sein Engagement bei der Fachschaft geltend machen, außerdem hat er eine chronische Krankheit – beides wurde mit je einem zusätzlichen Semester Bafög berücksichtigt. Andere stehen aber plötzlich ohne Geld da. "Ein oder zwei Semester länger Bafög würde schon total entlasten", sagt Wünsche. +Davon würden übrigens nicht nur Bummler profitieren, sondern ein Großteil der Studierenden: Vier von fünf Absolventen beenden ihr Studium mit maximal zwei Semestern über der Regelstudienzeit – und das, obwohl viele von ihnen nebenher jobben mussten. + +Titelbild: Cortis & Sonderegger / 13 Photo diff --git a/fluter/bahn-zahlen-statistiken.txt b/fluter/bahn-zahlen-statistiken.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f8ab54d1972f479bda25c558394abb491c7367ca --- /dev/null +++ b/fluter/bahn-zahlen-statistiken.txt @@ -0,0 +1 @@ +Dieser Beitrag ist im fluter Nr. 92 "Verkehr" erschienen.Das ganze Heftfindet ihr hier. diff --git a/fluter/ball-total.txt b/fluter/ball-total.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/baptismus-glauben-wahrheiten.txt b/fluter/baptismus-glauben-wahrheiten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8d49369014e7a300780c8d65f3add632daa8ab3a --- /dev/null +++ b/fluter/baptismus-glauben-wahrheiten.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Die meisten baptistischen Gemeinden in Deutschland – rund 670 – gehören zum Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG) und erfreuten sich, anders als die katholische Kirche, jahrelang relativ stabiler Mitgliederzahlen. Erst seit 2018 vermeldet der BEFG einen leichten Rückgang – auf rund 80.200 Mitglieder Ende 2019. Die Taufe findet bei den Baptisten erst bei Jugendlichen und Erwachsenen statt, da sich die Menschen bewusst für ihren Glauben entscheiden sollen, doch auch Kinder sind bereits in die Gemeinden integriert. Von manchen Seiten wird freikirchlichen Gemeinden vorgeworfen, Glaubensgrundsätze ähnlich wie bei einer Sekte auszuleben. Formell als Sekte eingestuft sind sie aber nicht. Auch Kristina sieht das noch immer anders, immerhin stehe es ja jedem frei, auszutreten. Und nach dem Austritt sei man weiterhin im Gottesdienst willkommen. +Die Absolutheit, die eine Glaubensgemeinschaft vorgeben kann, lässt in Wahrheit jedoch nicht immer allzu viele Freiheiten zu. Kristina muss, obwohl offiziell noch nicht Teil der Gemeinde, schon im Kindesalter an Bibelstunden teilnehmen, mehrfach am Tag betet sie. Sonntags geht sie mit ihren Eltern und drei Geschwistern gleich zweimal in die Kirche. Der Glaube beherrscht ihren Alltag, und doch irritieren sie die Regeln und Pflichten. Als ihr die Mutter in der fünften Klasse verbietet, mit auf Klassenfahrt zu fahren, und sie dazu drängt, in der Schule zu sagen, dass sie nicht mitmöchte, bekommt Kristinas Glaube erste Risse. +Momente der Entrücktheit: Viele evangelikale Gemeinden feiern ihre Gottesdienste mit Musik und Tanz +In seiner Fotoreihe "Communions" thematisiert Michael Alberry die Parallele zwischen ekstatischem Raven und dem Gebet +Ausgerechnet in der Schule soll Kristina lügen, dabei hat sie es dort sowieso schon nicht leicht. Als die Mädchen anfangen, sich zu schminken und auf Partys zu gehen,wird sie gemobbt,weil sie nicht mitmacht. Also beginnt sie eine Art Doppelleben: Morgens geht sie in keuscher Kleidung aus dem Haus, versteckt sich hinter dem nächsten Busch und schlüpft in eine Hose. Auf der Schultoilette trägt sie Mascara auf. Nach der Schule verwandelt sie sich zurück in eine gläubige Baptistin. Manchmal trifft sie sich auch heimlich mit Freunden außerhalb der Gemeinde. Wenn sie zu Hause Lügen darüber erzählt, wo sie war und was sie mit wem gemacht hat, quält sie das schlechte Gewissen. Ihr Leben beginnt sich falsch anzufühlen. +Trotz der Zweifel lässt sich Kristina mit 15 taufen. "Irgendwann war ich überzeugt davon, dass man nur baptistisch richtig und wahr leben kann." Da ihr damaliger Freund bereits getauft ist, fühlt sie sich verpflichtet, es ihm gleichzutun. Sie lässt ihr anderes Leben hinter sich, die Schulfreunde, die heimlichen Treffen und Partys. Ein paar Jahre später, Kristina ist gerade 18, heiratet sie. Als sie wenig später eine Fehlgeburt erleidet, ist das ein Schock für sie, zumal sie in der Gemeinde keinen Trost findet. Um den Verlust zu verarbeiten, geht sie feiern, raucht und trinkt. Ihre Beziehung zerbricht. Doch Scheidung ist für die Gemeinde keine Option. Kristina wird unter Druck gesetzt: Sie solle zu einer Eheberatung gehen, aufhören, zu rauchen und zu trinken. "Es wurde von allen Seiten gesagt, was ich jetzt alles tun müsste – aber ich hatte nicht das Gefühl, dass es mir dann besser gegangen wäre." Stattdessen fühlt sie sich in die Enge getrieben. Mitten in der Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten macht sie einen vollständigen Cut: Sie lässt sich scheiden, wird aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, schwört Gott ab. +Mit Anfang 20 erlebt sie ihre Jugend neu, geht in Clubs, trifft sich mit Männern, reist das erste Mal allein ins Ausland. Mit ihrem einstigen Glauben will sie nichts mehr zu tun haben. Ihre Familie versucht, Kristina umzustimmen, akzeptiert irgendwann aber ihre Entscheidung. Heute sei die Beziehung besser als vorher. Möglicherweise deswegen, weil Kristina vor einigen Jahren wieder zu Gott zurückgefunden hat. Als Au-pair in Brasilien trifft sie Christinnen und Christen, die ihr zeigen, wie sie ihren Glauben ohne Zwänge leben kann. In Gottesdiensten wird getanzt, mal eine Zigarette zu rauchen ist keine Kata­strophe – Kristina merkt, dass Glauben Spaß machen kann, und lernt: "Ich kann eine Beziehung zu Gott haben, ohne mich an Richtlinien zu halten." +Heute sieht sich Kristina als pluralistische Christin, sie glaubt an Gott, Jesus, ein Leben nach dem Tod. Einer Kirche fühlt sie sich nicht zugehörig. "Wenn ich das Bedürfnis habe, mich jemandem mitzuteilen, bete ich oder lese in der Bibel, aber ich mache das nicht nach Zwang." Wurde sie früher dazu gedrängt, Gleichaltrige zu missionieren, gilt heute für sie: Jeder und jede soll glauben, wie er oder sie das möchte. Für viele eine Selbstverständlichkeit. Kristina musste das erst lernen. +Fotos: Michael Alberry diff --git a/fluter/barbie-film-feminismus-mattel.txt b/fluter/barbie-film-feminismus-mattel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ff1c08dbe176422ec1dfdc71dedca246d84247dc --- /dev/null +++ b/fluter/barbie-film-feminismus-mattel.txt @@ -0,0 +1,16 @@ + + +Bis nach wenigen Filmminuten die Welt von Barbie (Margot Robbie) aus den Fugen gerät, denn die Realität schleicht sich ein: Plötzlich sind ihre Füße platt, Barbie riecht aus dem Mund, denkt über den Tod nach – und das Schlimmste: Sie hat Cellulite. Um die alte Ordnung wiederherzustellen, wird sie auf Mission in die echte Welt geschickt. Die konfrontiert sie mit einem Konzept, das Barbie desillusioniert: das Patriarchat. +Ihre Reisebegleitung Ken (Ryan Gosling) dagegen hat hier eine super Zeit. Sein Selbstbewusstsein schießt in schwindelerregende Höhen, weil ihm an jeder Ecke dieser Echtwelt Respekt gezollt wird – einfach nur, weil er ein Mann ist. Diese filmische Umkehrung der Machtverhältnisse ist keine neue Idee, sorgt in "Barbie" aber für zähneknirschende Lacher. Und macht klar: "Barbie" will erzählen, was es heißt, eine Frau zu sein – in der echten Welt. +Dabei arbeitet sich der Film auch an den Kurven des Barbieversums ab, die das reale Dasein als Frau so gar nicht repräsentieren. Unerreichbare Schönheitsstandards, kapitalistische Verwertungslogiken und Barbies unfeministische Glattgebügeltheit thematisiert der Film – mal mehr, mal weniger souverän. Einmal wird Barbie von einer Gruppe aufgeklärter Teenager als Faschistin beschimpft, woraufhin sie schluchzend entgegnet: "I don't control the railways or the flow of commerce!" +Die Frage, ob Barbie eigentlichfeministischist, begleitet das Franchise. Vermutlich seit 1959, als Ruth Handler für ihre Firma Mattel die erste Barbiepuppe produzieren ließ. (Benannt übrigens nach ihrer Tochter Barbara.) "Barbie" war die erste explizit an Mädchen vermarktete Puppe, die kein Baby darstellte und ihnen damit keine Mutterrolle aufdrängte. "Barbie always represented the fact that a woman has choices", sagte Ruth Handler mal. Diese Freiheit sorgte in der patriarchalen Welt der 1960-er Jahre auch für Unbehagen, aber nicht in der Zielgruppe selbst: Barbie wurde auf Anhieb Mattels Bestseller. +Seitdem hatte die Puppe über 200 Karrieren, hat mehrfach als Präsidentin kandidiert und war im Weltraum. Ein bisschen langsamer war Mattel, als es darum ging, nicht nur schlanken, weißen Mädchen ohne Behinderungen eine Identifikationsfläche zu bieten. Die erste nicht-weiße Puppe erschien noch in den 1960ern, die erste Barbie im Rollstuhl dafür erst gut 30 Jahre später. Einen Körperbau, mit dem sie in der Realität lebensfähig wäre, erhielt die Puppe erst 2016 – unter dem Namen "Curvy Barbie". Rechnet man die Maße um, trägt sie Größe 36. Immerhin: Inzwischen gibt es Barbies in allen möglichen Ausführungen. + + +Zur Zeit ihrer Entstehung war Barbie eine ziemlich emanzipierte Frau. Die Frage, ob sie dieser Deutung auch heute standhält, stellt sich auch Gerwigs Film. Konfrontiert mit den Machtstrukturen der echten Welt sackt Barbie zunächst zusammen. Das Patriarchat – repräsentiert von einer trotteligen Horde Anzugträger von Mattel in der einen und einer trotteligen Horde Kens in Short Shorts in der anderen Welt – ist drauf und dran, sie zu brechen. Um mit ihm fertig zu werden, braucht Barbie die Hilfe anderer Frauen aus der echten Welt: Die sind, wie es im Film heißt, bereits "immunisiert" gegen die männlichen Machtstrukturen. Eine Metapher für das Erwachsenwerden als Frau und die Konfrontation mit einer Welt, in der Barbies Slogan "You can be anything!" nur für wenige Frauen gilt. +"Barbie" ist vieles. In erster Linie sehr, sehr lustig (besonders Ryan Gosling und Michael Cera), überraschend vielschichtig, optisch beeindruckend, teilweise rührend, teilweise empowernd, teilweise aber auch Mattel-Markenkitsch, der einen unsanft auf den Boden der kapitalistischen Tatsachen holt: Mattel gehört zu den Koproduzenten des Films. +In dem funktionieren nicht alle Dialoge, die Verknüpfung zwischen Barbie- und Echtwelt geht nicht immer auf, die Diversität im Cast wirkt stellenweise aufgesetzt, alles bewegt sich im Rahmen einer recht heteronormativen Welt. Und trotzdem: "Barbie" übertrifft die meisten der Erwartungen, die man an den Film hätte haben können. Der Spagat zwischen Plastikspielzeugwelt und Gesellschaftskritik gelingt – wenn auch mühevoller, als man es von einer Barbie erwarten würde. Aber wir leben ja schließlich auch in der echten Welt. + +"Barbie" läuft ab sofort in den deutschen Kinos. + +Titelbild: Warner Bros/ASSOCIATED PRESS/picture alliance diff --git a/fluter/basken-sportart-spiel-pelota.txt b/fluter/basken-sportart-spiel-pelota.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5cb6907d6446f9ca6ec918304ac553a8b54d2783 --- /dev/null +++ b/fluter/basken-sportart-spiel-pelota.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Dieser Text ist imfluter Nr. 87 "Spiele"erschienen +In vielen baskischen Dörfern finden sich öffentliche Frontóns, meist wird hier mit der bloßen Hand gespielt. Noch spektakulärer ist aber eine Variante, bei der der Ball mit einer sichelförmigen Kelle gefangen und direkt wieder weggeschleudert wird. Hier gibt es auch eine Seiten- und eine Rückwand, das Spielfeld ist viel größer, und weil die Bälle über 100 Stundenkilometer schnell werden können, tragen die Spieler Helme. +Alle vier Jahre finden Weltmeisterschaften statt, bei der die Basken für Frankreich und Spanien antreten. Aber auch Mexiko und Argentinien schneiden regelmäßig gut ab – dort leben ebenfalls einige Menschen, die baskische Traditionen noch von ihren Familien kennen. + +Foto: Karlos Garciapons/Alamy Stock Photo diff --git a/fluter/basteln-fuers-weltklima.txt b/fluter/basteln-fuers-weltklima.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8975604955d431251db5971956cf45b3aca677ce --- /dev/null +++ b/fluter/basteln-fuers-weltklima.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Allein schon die ganzen Teilprojekte zu koordinieren und auf dem Community Board übersichtlich zu machen, ist eine stramme Bastel-Leistung +Doch es gibt noch mehr Möglichkeiten, um das Klima zu schonen. Daniel Kruse von Openstate erklärt ein anderes Beispiel: "Wir haben hier die Showerloop, eine Duschkabine, die Wasser und Energie wieder benutzt, während man duscht. Und die leicht aufzubauen und zu reparieren ist. So spart man Wasser, Energie und Ressourcen. Solche Ideen gab es schon länger, und wir wollten ihnen mit diesem Camp zum Durchbruch verhelfen." Denn auch Open-Source-Produkte müssen marktfähig gemacht werden, damit sie jeder benutzen kann. Die guten Ideen der zwölf eingeladenen Maker-Teams brauchen noch ein gutes Design und ein funktionierendes Geschäftsmodell. +Deshalb gibt es in dem Camp auch ständig sogenannte "Pitches", in denen Experten aus großen Unternehmen und Instituten den Erfindern helfen, ihre Ideen zu einem Produkt weiterzuentwickeln. "Nur so können wir viele Leute darauf aufmerksam machen und die Herstellungskosten senken", sagt Daniel Kruse. Ist das nicht ziemlich utopisch, dass jeder seine Dusche selbst baut? "Bei Ikea klappt es ja auch, dass wir alle freiwillig zu Hause zusammensetzen, was Ikea uns vorgibt." Ein politisch korrektes Ikea? Die Zukunft kann kommen. +Margaux werkelt am Bau des geodätischen Pavillons mit, in dem am 19. und 20. September die Ergebnisse des POC21 ausgestellt werden sollen. Was "geodätisch" heißt, mussten wir ehrlich gesagt auch erst googlen +Am 19. und 20. September kann das Camp nahe Paris besucht werden. Anschließend werden die Produkte im Internet veröffentlicht, und jeder kann selbst daran weiterbauen. Mehr dazu auf der Camp-Website. Und nun – vier tolle Ideen vom POC21-Camp: +DieseKreislauf-Dusche aus Finnlandfängt das benutzte Wasser auf, filtert es und lässt es wieder durch die Dusche laufen. Gesteuert wird das Ganze von einem kleinen Rechner, der auch die richtige Temperatur regelt. Das Ergebnis: Es wird zehn Mal weniger Wasser verbraucht. +Das französische Projekt "Biceps Cultivatus" möchte Essen wachsen lassen, wo es auch verbraucht wird: in der Küche. Softwaregesteuerte Pilzbeete filtern das Wasser für ein Fischbecken. Muttererde hält das Gemüse frisch, Würmer beseitigen den Abfall. +DiesesLastenfahrrad zum Zusammenbauenkann sich in fast alles verwandeln: in ein mobiles Kino, eine fahrende Küche, ein Soundsystem oder einen Campingtransporter. +DerWasserfilter für jede Getränkeflasche, besonders interessant für Krisen- und Entwicklungsländer. Ein Plastikverschluss mit einem Kohlenstofffilter macht fast jedes Wasser genießbar. Der Entwickler lief auf dem POC21-Camp die ganze Zeit damit herum – in der Flasche: Wasser aus dem nahegelegenen Teich. +POC21 - Press Conference, Berlin, 13/07/2015 from POC21 cc on Vimeo. +Carsten Janke schreibt über Bildungsthemen und hat beim Basteln zwei linke Hände. Mit dem 3D-Drucker hat er sich immerhin schon mal einen Stift selbst gedruckt. diff --git a/fluter/bastille-day-terror-wie-im-film.txt b/fluter/bastille-day-terror-wie-im-film.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..91a751c17ff9958fc5a50bf40e7edb1513bc97e5 --- /dev/null +++ b/fluter/bastille-day-terror-wie-im-film.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +"Das hier ist nicht Bagdad. Das ist Paris. Da wird nicht einfach auf offener Straße herumgeballert", heißt es an einer Stelle des britisch-amerikanisch-französischen Streifens. Und auch die (mittlerweile zurückgezogenen) Plakate mit der Aufschrift "Dieses Jahr sind sie das Feuerwerk" stoßen bitter auf. Schließlich raste der Nizza-Attentäter in eine Menschenmenge, die kurz zuvor das traditionelle Feuerwerk zu Ehren des Nationalfeiertags bestaunte. +Aus Respekt vor den Opfern und ihren Familien setzte der Filmverleih Studiocanal den Film nun in Frankreich ab. Er passe nicht in die Stimmung, in der sich das Land im Moment befinde, heißt es vom Verleih. Schon nach dem Attentat von Paris entschied sich Studiocanal dafür, die Werbetrommeln für "Bastille Day" nur mehr sachte zu rühren. +Wer es trotzdem geschmackstechnisch fragwürdig findet, dass man ausgerechnet zum französischen Nationalfeiertag einen Film über Terror in die Kinos bringt: Der Titel "Bastille Day" bezieht sich natürlich auf den 14. Juli 1789 und den Sturm auf die Bastille. Dieser wurde zum Symbol für die Französische Revolution und schließlich auch für die Demokratie – die die Attentäter im Film übrigens nicht erschüttern können. +In den deutschen Kinos gibt es den Film von Regisseur James Watkins seit dem 23. Juni uneingeschränkt zu sehen. diff --git a/fluter/battlerap-subkultur-celune.txt b/fluter/battlerap-subkultur-celune.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cd4fcab8c7af581dfd202bca57f625e0dbcddfd8 --- /dev/null +++ b/fluter/battlerap-subkultur-celune.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Battle ist in Deutschland eine Subkultur geblieben. Die MCs kriegen Gagen, die sind aber mehr Aufwandsentschädigung als Lohn: Auf manche Abende bereitet sich Celune monatelang vor. Auf der Suche nach Angriffsflächen schaut sie alte Battles ihrer Kontrahenten und hört sich in der Szene um. + +Moody, Celunes Gegner in Freiburg, arbeitet als Schauspieler. Also hat sie sich seine Filmografie angesehen. Und sein Instagram-Profil: + +Yo dieser ganze Stolz seiner Elternnennt sich auf Insta "der mächtige Hai"Du bist kein mächtiger Hai, Dicker,du bist der schmächtige Heiko. + +Hunderte solcher Zeilen formuliert Celune vorher. Viele lernt sie auswendig, damit später die "Delivery" stimmt: Bühnenpräsenz, Timing, das richtige Maß Aggressivität.Manche Zeilen improvisiert sie, wenn sie ein Gefühl für Publikum und Gegner hat. Seine Beleidigungen nimmt sie sportlich. "Ich bin eher gespannt, ob jemand einen Joke über mich macht, den ich noch nicht selbst gemacht oder schon gehört habe." +Gewonnen haben an diesem Abend beide: Das Battle ist unjugded, das haben Celune und Moody vorher in einem Chat vereinbart. In dem wird auch geklärt, ob es Themen gibt, die tabu sind. Celunehat eine posttraumatische Belastungsstörung(PTBS), rappt aber selbst darüber und würde das auch im Wettkampf nicht untersagen: Damit zu leben, sei viel härter als jede Punchline, sagt sie. "Am Ende lernen meine Gegner durchs Batteln etwas über PTBS. Besser geht's doch nicht. Also Feuer frei!" + +Dieser Beitrag ist im fluter Nr. 93 "Rap" erschienen.Das ganze Heftfindet ihr hier. diff --git a/fluter/bau-keinen-scheiss.txt b/fluter/bau-keinen-scheiss.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9744707698ab4dec96faf569708f869057b61b5c --- /dev/null +++ b/fluter/bau-keinen-scheiss.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +"Projekte der Verwaltung bedürfen der ständigen Erklärung und Begründung", sagt Cynthia Wagner von "Nexthamburg", einer Bürger-Ideenplattform für Stadtentwicklung, die schon im frühen Stadium eine Beteiligung der Bürger fördern will. Laut Webseite gibt man "Ideen, Meinungen und Wünschen von Bürgern eine Bühne und sorgt dafür, dass sie … gehört werden." Zuerst sollen die Menschen gefragt werden: Was vermissen sie in ihrer Gegend? Was wollen sie überhaupt? Wie stellen sie sich die Stadt in 20 Jahren vor? Die gesammelten Ideen werden dann anderen Teilnehmern zur Diskussion vorgestellt, zum Thema werden Experten eingeladen und Studien erstellt. "Dann erst sprechen wir mit der Verwaltung", sagt Wagner. Dabei sei der Einfluss der Bürger immer konstruktiv. "Oft benötigt man einfach eine Übersetzung des Plans der Ingenieure in die Sprache der Bürger und umgekehrt." Das Bau- und Planungsrecht erfülle einfach nicht mehr die Ansprüche einer modernen Gesellschaft. +Tatsächlich sehen viele Menschen im monatelangen stillen Aushängen von Bauplänen in Rathäusern weniger eine demokratische Teilhabe, sondern vielmehr die Herstellung der Rechtssicherheit der Pläne. Und galt eine gewonnene Wahl früher als Legitimation für so ziemlich alles und Protest, von wenigen Ausnahmen abgesehen, als Randphänomen, haben bis zum Frühsommer 2010 knapp 42.000 Bürger allein gegen den Bau der dritten Startbahn auf dem Flughafen München Einspruch erhoben. Vor Kurzem haben sie diesen auch per Bürgerentscheid abgelehnt, 17 Klagen gegen den Bau liegen vor Gericht. +"Das Wichtigste ist Transparenz", sagt auch Klaus Grewe. Der deutsche Projektmanager koordinierte die Gesamtplanung der Olympischen Spiele in London 2012. Er sagt: "Grundsätzlich müssen Großprojekte lange und konzentriert vorgedacht werden." Dabei müsse man aber den Mut haben, alles zu kommunizieren. "Auch wenn es nicht so klappt, wie es geplant war." Die Bürger müssten von Anbeginn an Projekten beteiligt und ernst genommen werden. Durch diesen simplen Ansatz hat Grewe eine enorme Akzeptanz in der Bevölkerung geschaffen – obwohl die Olympiade die Briten mehr als neun Milliarden Pfund gekostet und viele Monate Baulärm verursacht hat. +Auch andernorts macht man sich Gedanken, wie öffentliche Vorhaben mehr Zuspruch finden können. Unter dem Namen "LiquidFriesland" hat der Landkreis Friesland im östlichen Niedersachsen eine Beteiligungsplattform im Web geschaffen, über die jeder Bürger Vorschläge machen kann, die dann zur Diskussion und zur Abstimmung stehen – zu Themen, bei denen der Landkreis zuständig ist, wie zum Beispiel der Bau von Radwegen oder die Errichtung von Parkanlagen. Der Kreistag hat sich dazu verpflichtet, über jeden Vorschlag, der eine Abstimmung gewonnen hat, zu beraten. +"Bürgerbeteiligung kann nur erfolgreich sein, wenn ein tatsächlicher Einfluss auf Pläne und Projekte spürbar wird", sagt Sven Ambrosy, Landrat und Erfinder der Plattform. 700 Bürger zeigen bisher online Interesse für die Kreispolitik, zu öffentlichen Sitzungen kommen weitaus weniger Menschen. "Jeweils nur zwei oder drei", sagt Sönke Klug, Pressesprecher des Landkreises – und diese Möglichkeit besteht schon seit Jahrzehnten und nicht erst seit wenigen Monaten. Ziel von LiquidFriesland sei es, die Themen und Vorhaben so verständlich wie möglich zu kommunizieren – und das ginge eben nicht mit Aushängen im Rathaus und Erläuterungen im Behördensprech, die keiner versteht. +Dabei ist LiquidFriesland nur ein zusätzlicher Kanal der Bürgerbeteiligung. Die Plattform ersetzt nicht die Abstimmung im Kreistag – schließlich ist der von den immerhin rund 100.000 Einwohnern des Kreises demokratisch legitimiert, was für eine Online-Plattform mit ein paar hundert Nutzern nicht unbedingt gilt. Über das Ergebnis der Abstimmung im Kreistag werden die Bürger ebenfalls im Internet informiert. +Und die kann dann eben auch anders ausfallen als von den Bürgern gewünscht, wie es im Falle des Nationalparks Nordschwarzwald zu sein scheint. Denn das dortige Ergebnis der Bürgerbefragung gegen den Nationalpark ist rechtlich nicht verpflichtend. Der zuständige Minister Alexander Bonde sagt auch nur, dass er das Ergebnis der Befragung "sehr ernst" nehme, es sich dabei aber nur um ein "unverbindliches Meinungsbild" handle, das für die Entscheidung letztlich "nicht bindend" sei. Im Herbst findet die Abstimmung im Landtag statt und es ist wahrscheinlich, dass die rot-grüne Mehrheit für den Park stimmt. +Und so steht das Projekt "Nationalpark Nordschwarzwald" stellvertretend für viele andere große Projekte in Deutschland, egal ob Bahnhöfe, Stromtrassen, Windräder oder Flughäfen. Jedes dieser Vorhaben muss sich immer wieder neu demokratisch legitimieren – nicht unbedingt durch Plebiszite, aber durch Information und Aufklärung der Bevölkerung. "Ich bin nicht dafür, dass alles nur noch im Internet abgestimmt wird", sagt Ambrosy. Dafür habe man die repräsentative Demokratie. "Aber es ist schon allein ein himmelweiter Unterschied, ob ich als Bürger das Gefühl habe, dass meine Meinung gehört und wertgeschätzt wird, oder ob ich das Gefühl habe, dass sie in ein schwarzes Loch fällt." diff --git a/fluter/bauaufsicht.txt b/fluter/bauaufsicht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/baumwolle-geschichte-sklaverei-globalisierung.txt b/fluter/baumwolle-geschichte-sklaverei-globalisierung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0ee491c7babc7540d592fa6e9bfbaf4f8ed83bef --- /dev/null +++ b/fluter/baumwolle-geschichte-sklaverei-globalisierung.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Heute ist ein Leben ohne Baumwolle kaum vorstellbar: Ohne sie wären die meisten Kleiderschränke erheblich leerer, Kaffeefilter würden anders aussehen, Banknoten sich anders anfühlen, und 350 Millionen Menschen weltweit müssten sich ihren Lebensunterhalt mit etwas anderem verdienen als mit der Produktion, dem Transport und der Lagerung von Baumwolle. +Doch eine Blutspur zieht sich durch die Geschichte der Baumwolle. Sie lebt von Eroberungen und Landraub, von Ausbeutung und Ungleichheit. Genauso von Vernetzung: Das Leben eines Webers in Indien hing mit dem eines Sklaven in den USA zusammen, das eines Händlers in England mit dem einer Familie amerikanischer Ureinwohner. +Denn die Geschichte der Baumwolle hat ungezählte Protagonisten: angefangen bei den Menschen im Nordwesten Indiens und in Peru, die bereits um 5000 vor Christus Baumwolle verarbeiteten; bei den Erfindern von Webstühlen und Spinnrädern, die die Verarbeitung der Fasern erleichterten; und bei den indischen Händlern und Webern, die Indien um 1000 nach Christus zu einem Zentrum der Textilwirtschaft machten und Baumwolle nach China, Südostasien, Mesopotamien und bis nach Afrika verkauften. +In Europa blieb Baumwolle lange Zeit ein exotischer Stoff; die Menschen kleideten sich vor allem in Wolle und Leinen. Baumwolle wuchs nur in subtropischen Gegenden, sie war teuer und ihre Verarbeitung aufwendig: zunächst pflücken, Samenkapsel und Samen entfernen, die kurzen Fasern zu Fäden spinnen und dann zu Stoffen weben. Erst im 18. und 19. Jahrhundert schrieben europäische Kaufleute die Geschichte der Baumwolle um. Sie liehen amerikanischen Plantagenbesitzern Geld, damit diese auf dem Land, von dem sieamerikanische Ureinwohner vertriebenhatten, Baumwolle anbauen konnten. Sie zwangen indische Weber, für europäische Handelsgesellschaften zu arbeiten. Sie tauschten indische Stoffe gegen afrikanische Sklaven, die sie nach Amerika verschifften, wo diese für europäische Kaufleute auf Plantagen schufteten und Baumwolle pflückten. Europa wurde zum Hauptproduzenten von Baumwolltextilien – es entstand ein weltumspannendes Imperium, das sich selbst ernährte. +Und es sollte sich immer schneller ernähren, denn mit der industriellen Revolution und den zahlreichen Erfindungen, die sie hervorbrachte, ersetzten Maschinen die mühevolle Handarbeit: 1764 erfand James Hargreaves die erste industrielle Spinnmaschine. Die "Spinning Jenny" konnte mit acht Spindeln gleichzeitig arbeiten. Fünf Jahre später entwickelte Richard Arkwright mit der "Water Frame" die erste Spinnmaschine, die nicht von Menschenhand angetrieben werden musste, sondern mit Wasserkraft funktionierte und von Hilfsarbeitern bedient werden konnte. +Eine Erfindung sollte noch größere Auswirkungen haben, denn sie machte den Baumwollanbau im großen Stil erst möglich: 1793 erfand Eli Whitney die Egreniermaschine, auch "Cotton Gin" genannt. Diese Maschine trennte die Samenhaare von den fest daran haftenden Samenkörnern. Durch den Wegfall dieser vormals zeitintensiven Handarbeit konnten mehr Sklaven zum Pflücken der Baumwolle eingesetzt und mehr Samenhaare zu Fasern verarbeitet werden. Die Anbauflächen wurden vergrößert, immer mehr Arbeitskräfte waren nötig. Fast zwei Millionen Sklaven arbeiteten Mitte des 19. Jahr­hunderts in den USA auf mehr als 74.000 Baumwollplantagen. + + +Louis Hughes war einer davon. Er kam 1832 in Virginia zur Welt als Sohn eines weißen Mannes und einer schwarzen Frau zur Welt – als Sklave. In seiner Autobiografie "Thirty Years a Slave. From Bondage to Freedom", die 1896 erschien, schrieb Hughes von Sklavenmärkten, bei denen er in einer Reihe aufgestellt neben anderen Schwarzen stand, von Käufern begutachtet und gefragt wurde: "Was kannst du? Bist du ein guter Koch? Bist du ein Schmied? Kannst du schnell Baumwolle pflücken?" +Als Hughes auf die Baumwollplantage von Edward McGee kam, arbeitete er für McGees Frau, nachts schlief er auf dem Boden. Aufseher und Vorarbeiter überwachten ihn und 160 andere Sklaven, bei Vergehen wurden die Sklaven ausgepeitscht, oft so stark, dass eitrige Wunden entstanden und Narben blieben. Hughes schrieb: "Ich gewöhnte mich an die harte Behandlung der Sklaven, aber immer wieder passierte etwas, das mich wünschen ließ, ich wäre tot." +Manchmal veranstalteten die Farmer Wettkämpfe, bei denen sie zwei Gruppen von Sklaven gegeneinander antreten ließen. Von dem Team, das am meisten Baumwolle pflückte, erhielt jeder eine Tasse Zucker. Diejenigen Sklaven hingegen, die weniger als 113 Kilogramm Baumwolle pro Tag ernteten, wurden mit Peitschenhieben bestraft. +Viermal versuchte Louis Hughes von der Baumwollplantage seiner Herren zu fliehen, viermal wurde er erwischt und ausgepeitscht. Im Juni 1865 floh Louis Hughes zum fünften Mal – und war endlich frei. 1865 endete auch der amerikanische Bürgerkrieg, und die Sklaverei in den USA wurde am 18. Dezember mit Inkrafttreten des 13. Verfassungszusatzes offiziell abgeschafft – doch Schwarze wurden weiterhin behandelt wie Menschen zweiter Klasse und warenRassismusausgesetzt. Als Resultat verschwand die amerikanische Baumwolle vom Markt. +Ohne sie verloren Hunderttausende Europäer ihre Arbeitsplätze in den Fabriken und Manufakturen, Rohstoffnachschub kam aus Ägypten, Indien und Brasilien. Die europäischen Mächte zwangen Pachtbauern in den Ko­lonien, Baumwolle anzubauen, und die Ungleichheit ging weiter. Auch heute noch. +Laut dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sind rund 75 Prozent der Baumwollproduzenten Kleinbauern mit einer durchschnittlichen Betriebsgröße von zwei bis vier Hektar, deren Erträge meist nicht ausreichen, um sie und ihre Familien zu ernähren. +In Indien etwa leihen sich viele Bauern Geld, um Baumwollsamen zu kaufen –das teure genveränderte Saatgut, das sich nicht vermehren lässt –, schlechtes Wetter allerdings kann die Ernte zerstören. Noch dazu gibt es heute ein ständiges Überangebot an Baumwolle, weshalb der Preis stark gefallen ist. Laut dem Online-Finanzportal finanzen.net lag der Baumwollpreis 1995 noch bei einem Euro pro 0,4536 Kilogramm, zurzeit liegt er bei 50 Cent. Die Schulden der Bauern wachsen, viele können das Geld, das sie sich für das Saatgut leihen, nicht zurückzahlen. Mehr als 300.000 Baumwollbauern haben sich seit 1995 das Leben genommen, viele hinterlassen Frauen und Kinder. +Die Nachfrage ist groß, denn Baumwolle ist einer der beliebtesten Stoffe: In der Saison 2019/2020 wurden laut Bremer Baumwollbörse fast 26 Mil­lionen Tonnen Baumwolle erzeugt, am meisten in Indien, China und den USA. 2017 importierte Deutschland 500.000 Tonnen Baumwolltextilien im Wert von 10,6 Milliarden Euro. +Mittlerweile gibt es zahlreiche Ini­tiativen, die sich für faire Baumwollpreise einsetzen und für bessere Arbeitsbedingungen. Der Global Organic Textile Standard etwa kennzeichnet nachhaltig produzierte Textilien mit einem Anteil von mindestens 70 Prozent kontrolliert biologisch hergestellten Naturfasern. Die Hersteller müssen bestimmte soziale Kriterien einhalten wie Mindestlohn, keine übermäßige Arbeitszeit oder das Verbot von inhumaner Behandlung. Eigentlich sollte das eine Selbstverständlichkeit sein – im Baumwollgeschäft ist es jedoch fast schon eine Revolution. + +Titelbild: Buyenlarge/Getty Images diff --git a/fluter/beale-street-rassismus-gef%25C3%25A4ngnis-usa.txt b/fluter/beale-street-rassismus-gef%25C3%25A4ngnis-usa.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3da0d6efdcebd3e04f71f1ee8ff9d3cab374d300 --- /dev/null +++ b/fluter/beale-street-rassismus-gef%25C3%25A4ngnis-usa.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +1989 erscheint mit "Caper in the Castro" sogar das erste eindeutig aus lesbischer Perspektive erzählte Spiel, ein Detektivinnen-Adventure, das im Schwulen- und Lesbenviertel von San Francisco spielt. Auch in der frühen Adventure-Serie "Leisure Suit Larry" tummeln sich mehrere – zum Teil allerdings diskriminierend dargestellte – LGBTQ-Charaktere, Gleiches gilt für die bis heute populäre "Grand Theft Auto"-Reihe. Auch in Spielen, in denen die Charaktere komplexere Entwicklungen durchlaufen, werden gleichgeschlechtliche Beziehungsoptionen immer häufiger zur Selbstverständlichkeit – etwa bei den "Sims" oder in Rollenspielreihen wie "Dragon Age" oder "Fable". +Die Drag Queen Tessy LaFamme wurde entführt - und die lesbische Detektivin Tracker McDyke soll den Fall lösen. Gut möglich, dass "Caper in the Castro" aus dem Jahr 1989 das erste LGBTQ-Game ist. +Doch beantwortet "Rainbow Arcade" die Eingangsfrage auch mit Ja: Videospiele sind schon verdammt heteronormativ. Aus über 30 Jahren Gaming-Geschichte und sicherlich Zigtausenden Spielen sind letztlich nicht besonders viele queere Beispiele zusammengekommen. +Das liegt nun natürlich auch daran, dass die sexuelle Orientierung in vielen Spielen keine oder kaum eine Rolle einnimmt. LGBT-Charaktere – das ist auch in der Ausstellung so – lassen sich oft nur durch visuelle Codes identifizieren, und das häufig nur über Klischees. Ist beispielsweise Zangief aus "Street Fighter II" schwul? Oder "sieht er nur so aus"? +Doch es ist nicht nur das. Nintendo etwa kontrolliert strikt, welche Spiele auf seinen Geräten erscheinen dürfen, und achtet darauf, dass sie so wenig wie möglich mit Sex zu tun haben – wozu nach der Firmenlogik auch die sexuelle Orientierung zählt. Die Angst, dass "Homo-Inhalte" den Verkauf schmälern, hat sicherlich viele Publisher von einem liberaleren Umgang mit LGBTQ-Inhalten abgehalten – und tut es bis heute. +Das Spiel "Butterfly Soup" (2017) von Brianna Lei handelt von vier queeren Teenagern mit asiatischen Wurzeln in ihrem ersten Jahr in der High School. +Besser sieht es mit der Repräsentation auf dem wachsenden Sektor der Indie-Spiele aus, denen "Rainbow Arcade" viel Platz einräumt. Klar: Wenn ein Spiel keine Millionenproduktion eines Riesenteams ist und mit weniger Erfolgsdruck auf den Markt kommt, steigt die gestalterische Freiheit. Das erfolgreichste Beispiel dürfte dabei das Adventure "Gone Home" aus dem Jahr 2013 sein, das unter anderem mit dem British Academy Games Award ausgezeichnet wurde. Hier ist die Romanze von zwei Teenagerinnen im US-amerikanischen Nordwesten einer der zentralen Storyinhalte. +Dann gibt es natürlich noch den Content, den Gamer*innen selbst beisteuern. So fand im Multiplayer-Online-Rollenspielhit "World of Warcraft" viele Jahre eine digitale Gay Pride Parade statt. Als 2017 dann allerdings Jagex, der Publisher des Rollenspiels "RuneScape", eine ähnliche Parade in seinem Spiel veranstaltete, liefen homophobe Spieler Sturm und verabredeten sich zu einer Art Gegendemonstration. Manche traten als Ku-Klux-Klan-Men auf und wurden später aus dem Spiel ausgeschlossen. Denn das ist auch ein Problem:Die "Gamerszene" nimmt nicht gerade eine Avantgarde-Rolle in Sachen Toleranz gegenüber emanzipativen Lebensentwürfen ein– wie sich in der Vergangenheit unter anderem beim sexistischenGamergate-Skandalzeigte. +Im Indie-Game "Genital Jousting" (2018) geht es weder um Bananen, Karotten, Gurken noch um Würstchen. +"Rainbow Arcade" macht aber noch mehr, als alte Spiele zu durchforsten. Die Ausstellung stellt unter anderem mehrere LGBTQ-Programmierer*innen aus dem Mainstream- und dem Indie-Bereich vor, etwa Robert Yang. Sie beschäftigt sich auch mit Homo- und Transphobie in Computerspielen – oftmals werden stereotype, vor allem schwule Charaktere als unheimliche Gegenspieler inszeniert – und gibt einen Einblick in die queere Gaming-Community. Und spielen kann man natürlich auch. +Ganz schön viel Stoff, dessen Aufbereitung leider nicht optimal gelungen ist: Oft mangelt es an Stringenz und Struktur, viel zu viele Themen werden nur angerissen.  Während mitunter winzige Details umständlich ausgebreitet werden, sind anderswodurchaus bedeutende Schritte für LGBTQ-Repräsentationin Halbsätzen versteckt. Zudem sind die Texttafeln recht lieblos ins Deutsche übersetzt (wer kann, sollte die englischen Texte lesen) und typografisch eine mittlere Zumutung (weiß auf orange ist keine gute Idee). +So ist "Rainbow Arcade" vor allem ein Startpunkt in ein bisher unterrepräsentiertes Thema, auf dem andere nun aufbauen können – und sollten. Denn die Diversität in Videospielen wird garantiert zunehmen. + + +"Rainbow Arcade: Queere Videospielgeschichte 1985–2018".Schwules Museum, Lützowstraße 73, Berlin. Kurator*innen: Adrienne Shaw, Jan Schnorrenberg, Sarah Rudolph. Die Ausstellung läuft noch bis zum 13. Mai. Wer es bis dahin nicht nach Berlin schafft: Am 10. April wird ein Katalog zur Ausstellung erscheinen. Diesen ließ sich das Museum über eineKickstarter-Kampagnefinanzieren und schaffte es, in nur vier Wochen 25.000 Euro einzunehmen. diff --git a/fluter/beale-street-rassismus-gef%C3%A4ngnis-usa.txt b/fluter/beale-street-rassismus-gef%C3%A4ngnis-usa.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e71cde11f6cfed2b2ebc44f283f72013bcd34bba --- /dev/null +++ b/fluter/beale-street-rassismus-gef%C3%A4ngnis-usa.txt @@ -0,0 +1,16 @@ + + + + +Den Roman hat der Literat und BürgerrechtlerJames Baldwin1974 geschrieben. Zu dieser Zeit spielt auch die Handlung. Sie könnte aber kaum aktueller sein. Was Fonny widerfährt, könnte ihm heute genauso passieren. Es ist ein typischer Fall von Racial Profiling. Bei einer Gegenüberstellung, bei der ein Vergewaltiger gesucht wird, ist er der einzige Schwarze. Verhaftet hat ihn ein offenkundig rassistischer Polizist, der ihm eins auswischen wollte. +Die Ungleichbehandlung von Schwarzen und Weißen ist tief im US-Rechtssystem verankert und Teil des gigantischenprison industrial complex, der sich in den letzten 30 Jahren entwickelt hat. Obwohl imland of the freenur knapp fünf Prozent der Weltbevölkerung leben, sitzen 25 Prozent der weltweit Inhaftierten in den USA im Gefängnis.Es sind zu 37 Prozent Afroamerikaner, die aber nur 13 Prozent der Bevölkerung stellen. Das reicht weit in die Alltagserfahrungen hinein.Jedes neunte Kind hat ein inhaftiertes Elternteil. Dazu kommt: In den meisten Bundesstaaten dürfenstrafrechtlich verurteilte Gefängnisinsassen nicht wählen. +Die Ungleichbehandlung beginnt oft schon vor dem Prozess. Schwarze werden statistisch viel öfter von der Polizei kontrolliert als Weiße. Die von den Richtern nach einer Verhaftung festgesetzte Kaution können sich viele nicht leisten. So sitzen in den USA unzählige Menschen im Gefängnis, nicht weil sie eine Straftat begangen haben, sondern weil sie zu arm sind, die Kaution zu bezahlen. Und deshalb in Untersuchungshaft oft lange auf ihren Prozess warten müssen.Von den über zwei Millionen Gefängnisinsassen sitzen 20 Prozent ohne einen Prozess ein. +"Die können mit dir machen, was sie wollen", das sagt sein Freund Daniel zu Fonny, als er ihn besucht. Er war im Knast. Wegen Autodiebstahl. Dabei kann er gar nicht Auto fahren, wie er erzählt. Fonny wird einfach sagen, er sei schuldig. Auf den Prozess zu warten und dort seine Unschuld zu beweisen, das scheint ihm aussichtslos. Lieber hofft er auf eine milde Strafe, indem er sagt, was Staatsanwaltschaft und Richter ohnehin von ihm hören wollen. + + + + +Was passieren kann, wenn man ebendas nicht tut, sondern auf seiner Unschuld beharrt, das zeigt die Netflix-Doku-Serie "Time". Hier wird die traurige Geschichte eines anderen jungen Schwarzen aus New York erzählt. Mit dem Unterschied, dass esKalief Browder– anders als Fonny – wirklich gab. Als er mit 16 von einer Party heimkam, wurde er verhaftet. Ihm wurde vorgeworfen, er habe einen Rucksack gestohlen. Es gab keinen Zeugen, keine Beweise, nur die Aussage eines Mannes, um dessen Rucksack es ging. Doch der verschwand bald aus dem Land. Weil die Staatsanwaltschaft ergebnislos nach Beweisen suchte, der Teenager sich jedoch weigerte, sich schuldig zu bekennen, saß er schließlich mehr als drei Jahre in Rikers Island, einem berüchtigten Knast in New York. Und mehr als die Hälfte der Zeit in Einzelhaft. Browder wurde schließlich freigesprochen. Und dafür gefeiert. Er brachte eine landesweite Debatte ins Rollen. Ihm selbst hat das nicht geholfen. EinJahr nach seiner Freilassungerhängte er sich. +Tatsächlich ist die Reform des Justizsystems auch längst unter den Republikanern ein wichtiges Thema. Ende Dezember wurde von der Trump-Regierung der First Step Act verabschiedet, der eine Reihe von Hafterleichterungen bewirkt. Ein Fortschritt, sagen die einen. Höchstens der erste Schritt eines noch langen Weges, so die anderen. + +Titelfoto: Tatum Mangus / Annapurna Pictures DCM diff --git a/fluter/bedingungsloses-grundeinkommen-ergebnisse.txt b/fluter/bedingungsloses-grundeinkommen-ergebnisse.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..04f22361ca9d58d744b73151028a30bd9f914e7e --- /dev/null +++ b/fluter/bedingungsloses-grundeinkommen-ergebnisse.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Luise ist eine von mittlerweile 316 Gewinner*innen von "Mein Grundeinkommen". 2014 hat der IT-Unternehmer Michael Bohmeyer den gleichnamigen Verein gegründet, der auf Spenden basiert: Immer wenn 12.000 Euro zusammenkommen, wird eine Gewinnerin beziehungsweise ein Gewinner gezogen. Anfang 2019 veröffentlichte Bohmeyer ein Buch, für das er 24 Gewinner*innen getroffen und interviewt hat, um herauszufinden, was sie mit ihrem Geld machen – und was das Grundeinkommen mit ihnen macht. Sein Fazit ist durchweg positiv: Das Grundeinkommen sichere die Menschen ab und ermögliche ihnen, sich selbst zu verwirklichen. Es nehme den Stress aus ihrem Alltag und mache sie in der Folge glücklicher, gesünder und produktiver. +Bohmeyer ist natürlich nicht der Erste und Einzige, der über ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) nachdenkt. 2014 veröffentlichte der niederländische Historiker Rutger Bregman das Buch "Utopien für Realisten", in dem er unter anderem für eine 15-Stunden-Woche und ein BGE plädiert. In Deutschland trat zur Bundestagswahl 2017 das "Bündnis Grundeinkommen" an, und in der Schweiz wirbt eine Initiative seit Jahren dafür. 2016 brachte sie das BGE zur Volksabstimmung, doch der Vorschlag wurde abgelehnt. In anderen Ländern ist man konkreter geworden: In Indien und Namibia wurde das Grundeinkommen in einzelnen Ortschaften getestet, 2017 bekamen in Finnland 2.000 Arbeitslose zwei Jahre lang ein BGE. Die Bilanz ist weitgehend positiv, urteilte die finnische Projektleitung. Ab 2020 sollen weitere Experimente folgen. +Utopie in drei, zwei, eins ... Initiator Michael Bohmeyer (vorne links) checkt noch einmal die Telefonleitung. Die Verlosung wird live übertragen +Parallel wird viel geforscht, verschiedenste Modelle werden erstellt und durchgerechnet. Manche sehen vor, das aktuelle komplizierte Umverteilungssystem des Sozialstaates komplett durch das Grundeinkommen zu ersetzen, andere wollen es ergänzend einführen. Konservative Befürworter*innen sind für ein niedriges BGE, das einen Anreiz bietet, es durch Gehalt aufzubessern. Auf der linksprogressiven Seite wird ein höheres BGE gefordert, das die Menschen komplett absichert. Kritiker*innen verschiedener Lager sind währenddessen der Meinung, dass das BGE zur Sicherung der Grundbedürfnisse so oder so nicht reiche oder sich nicht realistisch finanzieren lasse. +Die meisten Modelle basieren auf einer Steuerfinanzierung, zum Beispiel durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer oder eine "negative Einkommensteuer": Der Staat kassiert kein Geld, sondern zahlt Einnahmen an Geringverdiener aus. Diese zahlen erst dann Einkommensteuer, wenn sie ein bestimmtes Einkommensniveau erreichen. Im Idealfall soll so jeder, der zusätzlich zur Grundsicherung einen Job annimmt, mehr Geld verdienen, als wenn er nur die Grundsicherung bekäme. +Bernhard Neumärker, Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg, hält das BGE für eine gute Idee. Er spricht von "Zeitsouveränität", die die herrschende Konsumentensouveränität ersetzen könnte: In unserem aktuellen System arbeiten wir, oft fremdbestimmt, um uns von dem Geld, das wir verdienen, selbstbestimmt etwas zu kaufen. Wer nicht arbeitet, wird unter Druck gesetzt,sich wieder einen Job zu suchen. Mit dem BGE, glaubt Neumärker, würden wir hingegen "die Freiheit zur selbstbestimmten Arbeit und zur produktiven, kreativen Freizeit" gewinnen. Damit argumentiert er auf einer Linie mit dem dm-Gründer Götz Werner, einem der bekanntesten Befürworter des BGE in Deutschland. +Auf dieses Argument folgt häufig der Einwand, dass in einem solchen System keiner mehr den Müll wegbringen und die Klos putzen würde. Neumärker glaubt stattdessen, dass es mehr Wertschätzung für diese Jobs geben würde, sobald niemand mehr gezwungen wäre, sie zu machen – und dadurch auch mehr Geld: weil die Arbeitnehmer*innen mit dem BGE die Freiheit hätten zu kündigen und dadurch auf Augenhöhe mit den Arbeitgeber*innen verhandeln könnten. +Christoph Butterwegge hält das für Unsinn: "Die Löhne würden sinken, weil das schlagende Argument der Arbeitgeber wäre: Ihr habt doch ein Grundeinkommen!" Butterwegge ist Politikwissenschaftler und Armutsforscher im Ruhestand, ließ sich 2017 für die Linke als Kandidat für die Wahl des Bundespräsidenten aufstellen und ist einer der prominentesten Gegner des BGE. Er hält es für unrealistisch und vor allem für ungerecht: "Es ist nicht bedarfsgerecht, wenn der Spitzensportler genauso viel bekommt wie ein Mensch mit schwerer Behinderung – dem in unserem Sozialsystem neben Geld auch noch Dienst- und Sachleistungen zustehen. Diese würden mit dem BGE einfach wegfallen." Auch für die Armutsbekämpfung sei das Grundeinkommen nicht die richtige Lösung. Bestenfalls könne es absolute Armut verringern, etwa bei Obdachlosen. "Aber die relative Armut würde es nicht beseitigen, weil die Armutsgrenze steigt, wenn jeder monatlich 1.000 Euro bekommt." +Statt für ein BGE argumentiert Butterwegge daher für einen Ausbau des bestehenden Sozialstaates:für einen höheren Mindestlohn, die Umwandlung prekärer Jobs in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse, eine solidarische Bürgerversicherung, die auch Selbstständige, Freiberufler und Beamte einbezieht, sowie eine "armutsfeste, bedarfsgerechte und sanktionsfreie" Grundsicherung. +Über die Frage der Gerechtigkeit hat auch Luise nachgedacht, als sie per E-Mail von ihrem Gewinn informiert wurde. "Ich dachte: Warum ich? Mir geht es ja nicht schlecht, andere brauchen es sicher dringender", erzählt sie. Zusätzlich habe sie erst mal das Gefühl gehabt, mit dem Geld "irgendwas Krasses" machen zu müssen – immerhin hatten andere es gespendet. "Es hat ein paar Monate gedauert, bis nicht nur das Grundeinkommen bei mir angekommen ist, sondern auch die Bedingungslosigkeit. Die Tatsache, dass ich niemandem Rechenschaft schuldig bin." +Manche Befürworter*innen glauben auch, dass sich durch die Bedingungslosigkeit eine "Sorgewirtschaft" etablieren könnte, in der Menschen es sich leisten könnten,die gebrechliche Mutter zu pflegenoder ehrenamtlich im sozialen Bereich zu arbeiten. Einfach weil sie das gerne machen wollen. +Die weit verbreitete Befürchtung, dass das BGE Menschen faul macht, teilen weder Neumärker noch Butterwegge. Das deckt sich mit Luises Erfahrung. "Es ist ein schmaler Grat zwischen angenehmem Nichtstun und dem Gefühl, nicht gebraucht zu werden", sagt sie. "Ich war auch in der Zeit nach der Kündigung den ganzen Tag beschäftigt, aber es hat sich nicht immer so angefühlt, als hätte ich wirklich etwas Wichtiges getan." Darum hatte sie angefangen, im Fitnessstudio als Trainerin zu arbeiten. Um unter Menschen zu kommen und mit ihnen zusammen an etwas zu arbeiten, für das es sich ihrer Meinung nach zu arbeiten lohnt. + +Mehr Argumente für und gegen das Bedingungslose Grundeinkommengibt es hier. +Titelbild: Gordon Welters/laif diff --git a/fluter/beef-im-rap.txt b/fluter/beef-im-rap.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4821503ed39105b0e5204f0cc438a6ed61244132 --- /dev/null +++ b/fluter/beef-im-rap.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Gekämpft wird mit allen Mitteln, auch mit Falschinformationen und strafrechtlich relevanten Vorwürfen. Das zahlt sich aus: Wenn zwei sich streiten, schauen Millionen zu. Manche Disstracks erreichten innerhalb weniger Stunden 50 Millionen Streams. Drake machte auf seiner jüngsten Tour mehr als 300 Millionen US-Dollar Umsatz, den höchsten, der je auf einer Hip-Hop-Tour eingespielt wurde, und Kendrick wird 2025 in der Halbzeitshow des Super Bowl auftreten, bei der gern mal mehr als 100 Millionen Menschen einschalten. Auf Streamingplattformen gibt es Playlists mit den Disstracks in chronologischer Reihenfolge, und der "Drake-Kendrick Lamar Feud" hateine eigene Wikipedia-Seite. + +Beefs gehören seit jeher zur Rap-Kultur. Ein guter Beef ist wie eine Serie, bei der man nie weiß, wann die nächste Folge kommt und wie genau sie zu verstehen ist. Die Disstracks sind in ihrem Reichtum an versteckten Anspielungen oft nur Eingeweihten verständlich. Die Fans verfolgen den Beef live, entschlüsseln die Songs bis ins Detail, überschlagen sich dabei mit teils kruden Analysen und Memes. Damit drehen sichdie Aufmerksamkeitsspiralen bei TikTok, YouTube und Insta immer weiter: Skandale klicken gut. Und der Wille, siegreich aus diesem Spektakel hervorzugehen, spornt wiederum die Rapperinnen und Rapper zu Höchstleistungen an. +Oderzu Gewalt. Die Beef-Kultur wird oft dafür kritisiert, dass sie die eigentlich verbal-kreative Auseinandersetzung eskalieren lässt. Laut Medienberichten soll auf Drakes Grundstück im Frühjahr ein Sicherheitsmann angeschossen worden sein. Kurz zuvor hatte Kendrick einen Disstrack veröffentlicht, dessen Cover eine Luftaufnahme genau dieses Anwesens zeigt, samt Adresse und einigen roten Personenmarkern. Auch der wohl bekannteste Rap-Beef endete gewaltsam: Beim Zweikampf zwischen der Ost- und der Westküste der USAin den 1990er-Jahrenkamen mehrere Rapper ums Leben. Auch die Morde an den Rivalen 2Pac und The Notorious B.I.G. werden oft mit dem Beef in Zusammenhang gebracht. + +Was wir heute in erster Linie als Mackergehabe kennen, hat wohl eine Jugendliche erfunden. 1984rappt die Gruppe U.T.F.O.über die fiktive Roxanne, die alle Bandmitglieder nacheinander abblitzen lässt. "Roxanne, Roxanne" wird ein Hit, und U.T.F.O. werden in die Radioshow "Rap Attack" eingeladen, eine der damals wenigen Hip-Hop-Sendungen der USA. Aber: Die Band kommt nicht. +Der Produzent will sich rächen, er bittet seine Nachbarin um eine Antwort auf U.T.F.O. Lolita Shante Gooden ist gerade mal 14 Jahre jung und eine talentierte Rapperin. Unter dem Namen Roxanne Shanté improvisiert sie in der Sendung"Roxanne's Revenge", den ersten Disstrack, von dem eine Aufnahme überliefert ist. Live und mit nur einem Versuch: Sie will nach der Sendung noch schnell zum Waschsalon. +Der Song gilt heute als Türöffnerfür Frauen in der Rap-Szene. Die spätere Single des Songs verkauft sich allein in New York eine Viertelmillion Mal, Roxanne Shanté wird der erste weibliche Hip-Hop-Star. Das wollen U.T.F.O. nicht auf sich sitzen lassen, klagen erst wegen Copyright und rappen dann zurück. Roxanne Shanté kontert, woraufhin viele Rapperinnen und Rapper ihrerseits Tracks bringen, in denen sie sich als Roxannes Brüder, Schwestern, Eltern oder Ärzte ausgeben. + +Seit den "Roxanne Wars" ist Beef nicht mehr wegzudenken aus dem Rap, auch nicht aus dem deutschen. Hierzulande beeften sich Apache 207 mit Fler, Capital Bra mit NGEE, Bushido mit Sido oder Kool Savas mit Eko Fresh. Savas' "Das Urteil" gilt dabei auch fast 20 Jahre nach Erscheinen als Rap-Großereignis. Der Disstrack war so vollendet, dass er den Beef direkt beendet hat. +Dieser Text istim fluter Nr. 93 "Rap"erschienen +Neulich versuchte sich Farid Bang mit einem extrem misogynen Diss gegen Nina Chuba, die ließ sich aber zu keiner Antwort herab. Dabei beefen nicht nur Männer. Nicki Minaj disst ständig, gegen Megan Thee Stallion, Cardi B oder Lil Kim, und Doja Cat beeft sogar mit ihren eigenen Fans, deren Fan-Accounts sie lächerlich findet. +Wie man Beefs deeskaliert, wurde im Fall der "Roxanne Wars" klar: Die Radios hörten irgendwann einfach auf, all die neuen Disstracks zu spielen. Ein Track der East Coast Crew namens "The Final Word – No more Roxanne (Please)" sorgte für ein vergleichsweise gesittetes Ende. Selbst im Rap hilft es mal, wenn man Bitte sagt. + +Illustration: Sebastian Haslauer diff --git a/fluter/beef-um-black-lives-matter.txt b/fluter/beef-um-black-lives-matter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8c2b1f3a8f032b7acd012dc5f54b014209b7bf3b --- /dev/null +++ b/fluter/beef-um-black-lives-matter.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Die Klage über institutionellen Rassismus, Racial Profiling und Polizeigewalt ist seit jeher ein Thema für Rapper gewesen. Und seit schwarze Musiker in den USA erfolgreich sind, wird in der afroamerikanischen Community darüber gestritten, ob es nicht ihre Aufgabe sei, sich diese Themen zu eigen zu machen. Und wenn sie schon nicht darüber singen und rappen, dann sollten sie sich doch zumindest öffentlich mit dem Kampf gegen Rassismus solidarisieren, ist oft zu hören. +Das aber leuchtet nicht allen ein. Im November musste sich Lil Wayne unter einem Shitstorm ducken, nachdem er Black Lives Matter kritisiert hatte. "I don't feel connected to a damn thing that ain't got nothin' to do with me. If you do, you crazy as shit." – "Ich fühle keinerlei Verbindung zu einer verdammten Sache, die nichts mit mir zu tun hat. Wenn du das tust, bist du scheißverrückt." Später bat der Rapper um Entschuldigung bei allen, die sich durch seine harschen Worte verletzt gefühlt haben könnten. Er habe sich so aufgeregt, weil er davor Fragen zu seiner Tochter beantworten sollte, die als "bitch" und "hoe" beschimpft worden war. +In der Sache selbst aber gab Lil Wayne nicht nach. Bereits Monate zuvor hatte er in Zweifel gezogen, dass es in den USA noch Rassismus gebe. Eigene Erfahrungen hätten ihn zu dieser Überzeugung gebracht, einmal habe ihm ein weißer Polizist sogar das Leben gerettet. Als er sich später zu Black Lives Matter äußerte, führte er an: "I am a young black rich motherfucker. If that don't let you know that America understands black motherfuckers matter these days, I don't know what it is." Er sei reich und erfolgreich, und wenn das nicht zeige, dass Amerika längst verstanden habe, dass Schwarze wichtig sind, dann wisse er auch nicht weiter. +Black Lives Matter wurde 2013 als Reaktion auf den Freispruch von George Zimmerman durch eine Jury gegründet. Der Wachmann hatte den afroamerikanischen Teenager Trayvon Martin erschossen – aus Notwehr, wie er behauptete. Die politischen Aktivistinnen Alicia Garza, Patrisse Cullors und Opal Tometi hatten mit dem Hashtag #BlackLivesMatter auf Twitter angefangen und schufen bald eine Graswurzelorganisation, die ohne charismatische Anführer auskommt und als Netzwerk strukturiert ist. Black Lives Matter etablierte sich als Bewegung, die in knapp 40 Ortsgruppen vertreten und dem internationalen Verband Movement for Black Lives angeschlossen ist. Sie orientiert sich an 13 Prinzipien – wie gesellschaftliche Vielfalt und gerichtliche Wiedergutmachungsverfahren – und organisiert unter anderem Demonstrationen als Antwort auf Polizeigewalt. In Ferguson, Charlotte und Baltimore kam es in den vergangenen Jahren zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei, nachdem junge schwarze Männer von der Polizei erschossen worden waren. Viele afroamerikanische Musiker solidarisierten sich seither mit den Anliegen von Black Lives Matter,darunter viel HipHop-Prominenz. +Lil Waynes Kommentare zu Black Lives Matter blieben daher erwartungsgemäß nicht lange unwidersprochen. Rap-Kollegen wie Vic Mensa oder T.I. rügten, Lil Waynes Äußerungen seien "absolut unakzeptabel", er sei "selbstsüchtig und ignorant"; er solle sich schämen, seinen Kindern ein so schlechtes Beispiel zu geben. Der amerikanische Autor Sheldon Pearce kommentierte imGuardian: "Über Generationen haben sich viele schwarze Musiker und Entertainer dafür entschieden, in Zeiten bürgerlichen Protests außen vor zu bleiben und sich aus ihrer Blackness, ihrem Schwarzsein, und ihren sozialen Verpflichtungen zu verabschieden." +Gibt es also eine Pflicht für Künstler, sich einer Sache anzuschließen, die von vielen als notwendig erachtet wird? Sind Künstler dazu angehalten, sich zu politischen Fragen zu äußern, die sie womöglich selbst betreffen? Lil Wayne war nicht der Einzige, der diese Frage mit einem resoluten Nein beantwortet hat. A$AP Rocky nannte die Black Lives Matter-Bewegung einen "fahrenden Zug" und deutete damit an, ihre prominenten Unterstützer seien Trittbrettfahrer. Er hatte außerdem offenkundig keine Lust darauf, auf Schwarzsein reduziert zu werden: "Muss ich jedes Mal, wenn was passiert, dagegen aufstehen, weil ich schwarz bin?", fragte er. Er sei kein Politiker und wolle nicht über Sachen reden, die ihn persönlich nicht betreffen und über die er zu wenig wisse: "I don't wanna talk about no fucking Ferguson and shit because I don't live over there!" ("Ich will nicht über das verdammte Ferguson und den Scheiß sprechen, weil ich nicht da drüben wohne.") +Während Lil Wayne und A$AP Rocky sich für die Kritiker so ihrer Pflichten als Afroamerikaner verweigerten, kritisierten andere Rapper den Fokus von Black Lives Matter auf Polizeigewalt: Das sei "Bullshit", meinte etwa Kevin Gates, man solle sich zuerst einmal der grassierenden Gewalt Schwarzer gegen Schwarzer widmen: "Wir bringen uns gegenseitig um." Unterstützung bekam er von Hopsin: "In dieser Woche haben mehr Niggas andere Niggas umgebracht als Polizisten." +Die Diskussionen um die Beteiligung und Nichtbeteiligung von Musikern an politischen Bewegungen werden weitergehen, nicht nur unter Afroamerikanern: Es wird immer Künstler geben, die sich verweigern. Entweder, weil sie denken, dass es nicht ihre Aufgabe ist, sich als Künstler zu konkreten politischen Fragen zu äußern. Oder weil sie persönlich nicht betroffen sind und daher keinen Grund sehen, sich entsprechenden Forderungen anzuschließen. Oder weil sie meinen, dass die gute Sache zu kompliziert ist, um sie auf Slogans herunterzubrechen. +Titelbild: Raymond Boyd/Michael Ochs Archives/Getty Images diff --git a/fluter/begriffe-wahrheit-fake-news.txt b/fluter/begriffe-wahrheit-fake-news.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b7803902787e771d011c14152cf92b0032427765 --- /dev/null +++ b/fluter/begriffe-wahrheit-fake-news.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Kampfbegriff, mit dem Medien auf polemische Weise herabgewürdigt werden. Dahinter steckt der Vorwurf, die Medien seien gesteuert und informierten nicht richtig über eine bestimmte Sache. Der Begriff wurde schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts verwendet und unter anderem auch im Ersten Weltkrieg von der Obersten Heeresleitung des Deutschen Reichs eingesetzt, um die Propaganda der Feindmächte zu stigmatisieren. Auch im Nationalsozialismus wurde das Wort verwendet, um abzuwerten, was im Ausland berichtet wurde. Heute ist der Terminus in rechts- und linksextremen Kreisen beliebt, um den politischen Gegner zu stigmatisieren und auszugrenzen. Vor allem seit den rechtspopulistischen PEGIDA-Demonstrationen hatte er in den vergangenen Jahren Konjunktur und kehrte so in die öffentliche Wahrnehmung zurück. +Aus einer oft paranoiden Weltsicht heraus wollen ihre Anhänger die gesellschaftliche Realität durch angebliche Verschwörungen erklären: das konspirative Zusammenwirken elitärer Gruppen, die ihre bösartigen Ziele verfolgen und die Mehrheit knechten wollen.Besonders in Krisenzeiten haben Verschwörungstheorien Konjunktur, weil sie komplexe Zusammenhänge simpel erklären, Feindbilder bedienen und Sündenböcke finden. "Theorien", also wissenschaftliche Erklärungen, sind sie jedoch nicht. Besser passt daher der Begriff Verschwörungsideologien. +Es heißt heute manchmal, dass wir in einem"postfaktischen Zeitalter"leben. Gemeint ist damit die Tendenz von Teilen der Öffentlichkeit, in poli­tischen Debatten weniger mit beweisbaren Fakten zu argumentieren und lieber subjektive Erfahrungen, Gefühle und den eigenen Glauben als Grund­lage der Argumentation zu betrachten. Verzerrungen und Lügen werden von politischen Propagandisten bewusst eingesetzt, um die Vorurteile ihrer Anhänger zu bedienen. Kritiker weisen allerdings darauf hin, dass es in ideologischen Diskussionen noch nie so genau genommen wurde mit der Wahrheit – und unbequeme Tatsachen immer schon gern einfach abgestritten wurden. +Bedeutet eigentlich Jux oder Scherz – oft mit dem Zweck, jemanden hinters Licht zu führen. Heute auch gebräuchlich für Falschmeldungen, die per E-Mail, WhatsApp oder andere Messengerdienste verbreitet werden. Sie geben vor, von vertrauenswürdigen Absendern zu kommen, und fordern ihre Empfänger auf, die Nachricht an möglichst viele Freunde weiterzuleiten. In der Anfangszeit des World Wide Web ging es dabei oft um Warnungen vor Computerviren. Heute ist beispielsweise auch eine wahre Flut von Hoaxes im Umlauf, die Fehlinformationen und unsinnige Tipps zum Thema Corona unters Volk bringen. +Gefälschte Nachrichten, die in Umlauf gebracht werden, um die öffentliche Meinung zu manipulieren, sind kein neues Phänomen. Aber das Internet und insbesondere die Sozialen Medien bieten heute die Möglichkeit, Falschmeldungen mit nie dagewesener Geschwindigkeit und Reichweite zu verbreiten (siehe Interview ab Seite 20). Und das machen sich zunehmend populistische Politiker zunutze. Seither spricht man von Fake News. Mittlerweile wird diese Bezeichnung oft als Kampfbegriff verwendet, um faktenbezogene Argumente des politischen Gegners herabzuwürdigen (siehe "Postfaktisch"). "Fake" ist dann immer, was der andere sagt. Viele sehen die Gefahr, dass dadurch nicht nur der Wahrheitsbegriff Schaden nimmt, sondern auch das für den gesellschaftlichen Zusammenhalt nötige Vertrauen. diff --git a/fluter/behalts-fuer-dich.txt b/fluter/behalts-fuer-dich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/bei-anruf-identitaetswechsel.txt b/fluter/bei-anruf-identitaetswechsel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/bei-den-bio-hackern.txt b/fluter/bei-den-bio-hackern.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..eb6aebb4cd06f7ef25d874cac98fa28bf116460c --- /dev/null +++ b/fluter/bei-den-bio-hackern.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Elf Jahre später, im Frühjahr 2016, steht Anthony Di Franco in Oakland in einer Mischung aus Chemielabor und Hobbykeller, zwischen einem Regal voller Gläser mit bunten Flüssigkeiten und sterilen technischen Geräten. Wohlgenährt und fit sieht er aus, er trägt eine Radlercap und blaue Schutzhandschuhe und füllt mit Hilfe einer Pipette das Bakterien-Nährmedium aus einem großen Glas um. Seine Krankheit beeinträchtigt ihn kaum, er kann alles essen. Sie beschäftigt ihn aber andauernd: Mehrmals am Tag muss Di Franco seinen Blutzuckerspiegel bestimmen und gegebenenfalls seinen Insulinspiegel regulieren. +Hinzu kommen die Kosten, denn anders als in Deutschland, wo die gesetzlichen Krankenkassen für Diabeteskranke beinahe alle Ausgaben übernehmen, musste Di Franco bei seiner US-Krankenversicherung einen teureren "Gesundheitsplan" abschließen: Der kostet mehr im Monat und deckt mehr Leistungen ab. Doch selbst damit hat er noch Ausgaben für Medikamente und Hilfsmittel zum Blutzuckermessen. Insgesamt, sagt Di Franco, kommt er auf Mehrkosten von 300 bis 400 Dollar pro Monat. + +Di Franco hat einen Job in einem Start-up in San Francisco, er kann sich das leisten. Viele andere US-Amerikaner können das jedoch nicht. Und das ist der zweite Grund, warum Diabetes Anthony Di Franco so beschäftigt. Mit der Arbeit im Labor in Oakland will er dazu beitragen, die Behandlungskosten für Diabeteskranke zu senken. Ehrenamtlich engagiert er sich im "Open Insulin Project", das er im vergangenen Jahr selbst mit ins Leben gerufen hat. +Di Franco und seine Mitstreiter treten gegen die Pharmakonzerne an. Denn die haben die Patente für Insulin als Medikament und machen damit ein gutes Geschäft. Dafür, dass das so bleibt, sorgen sie mit dem sogenannten Evergreening. Die Strategie: kurz vor oder nach Ablauf des Patents für ein Medikament ein neues Patent für eine leicht geänderte Formulierung zu beantragen, die dann als Nachfolgeprodukt häufig verschrieben wird. +Aufgrund der großen Komplexität des Insulinmoleküls lässt sich dieses von Generikaproduzenten nicht aufbaugleich herstellen – und auch die Produzenten von Biosimilaren, also hochkomplexen, biotechnologisch hergestellten Arzneimitteln, die sich nur mittels lebender Zellen produzieren lassen und nie völlig identisch (sondern nur ähnlich = similar) mit dem bereits zugelassenen Referenzprodukt sind, scheuten die kostenintensive Entwicklung und Markteinführung eines Insulin-Biosimilars lange Zeit. Erst 2014 und damit rund 90 Jahre nachdem erstmals Insulin als Medikament verwendet wurde, kam in der EU ein Biosimilar auf den Markt. In den USA wird dessen endgültige Zulassung durch die FDA in diesen Wochen erwartet. +Neben Di Franco gehören eine Handvoll Leute zum harten Kern des Open Insulin Project, rund ein Dutzend bilden den erweiterten Kreis. Sie alle machen das in ihrer Freizeit, viele von ihnen sind Amateure, haben also nicht Biologie oder Medizin studiert. Mehrmals pro Woche treffen sie sich zur Laborarbeit. Sie arbeiten daran, Insulin zu gewinnen. +In der ersten Phase des Projekts, die derzeit läuft, wurde ein Stück DNA synthetisch in E.coli-Bakterien eingesetzt. Die Bakterienkultur lassen sie auf einem Nährmedium wachsen, aktivieren dann im richtigen Moment den Trigger, der die Mikrobe Proinsulin – den Ausgangsstoff für Insulin – produzieren lässt. Anschließend probieren sie, durch Zentrifugieren und andere Verfahren möglichst viel reines Insulin aus der Zellkultur zu isolieren – wenn nicht, wie im Mai, für einige Wochen die Zentrifuge ausfällt und erst mal repariert werden muss. Immer und immer wieder setzen sie Bakterienkulturen an, verändern Parameter wie pH-Wert oder Dauer und probieren verschiedene Gewinnungsverfahren. (Wer es genauer wissen will: Hier geht es zumJuni-Update des Open Insulin Projects.) + +Das alles machen sie natürlich nicht in der Küche von Anthony Di Francos Wohnung, sondern in den Counter Culture Labs. Die sind Teil des alternativen Gemeinschaftszentrums Omni Commons, das die 2014 aus der Occupy-Bewegung heraus entstandene Omni Collective betreibt. Im Raum der Counter Culture Labs herrscht anarchische Ordnung: Ein Sammelsurium von breit gesessenen Schreibtischstühlen dient für Meetings, ein Süßigkeitenautomat wurde zum Kühlschrank für Petrischalen umfunktioniert. +Die Counter Culture Labs sind Teil der stetig wachsenden Bio-Hacking-Community. Die Anlehnung an die Hackerszene ist bewusst gewählt: Die sub- und gegenkulturellen Wurzeln, der Geist des Do it yourself und die Ethik eines offenen Austauschs sind vergleichbar. Es geht um Bürgerwissenschaft, um eine Demokratisierung von Wissen und den Abbau von Wissenshierarchien. Doch wo "klassische" Hacker Computer, Maschinen und Netzwerke ergründen, ihre Möglichkeiten austesten und bis auf die Ebene der Bits und Elektronen vordringen, um neue Funktionen zu schaffen, machen Bio-Hacker dies eben mit Lebewesen, Körperfunktionen, Sinneswahrnehmung und auf der Ebene von Molekülen und Genen. +"Die Ära der Garagen-Biologie steht uns bevor",verkündete das US-amerikanische Technikmagazin "Wired"bereits im Jahr 2005. Und in der San Francisco Bay Area, zu der auch Oakland gehört, in direkter Nachbarschaft zu den Elite-Unis in Berkeley und Stanford und den Start-ups des Silicon Valley, ist die Bewegung besonders stark vertreten. +Finanziert ist das oftmals durch Spenden. Auch das Open Insulin Project sammelte seine Mittel durch Crowdfunding ein, so kamen im Frühjahr 2015 über 16.000 Dollar als Finanzierung für die erste Phase zusammen. Rund 15 bis 20 Stunden Arbeit pro Woche steckt Anthony Di Franco seitdem in das Projekt, knapp 100 Wochenarbeitsstunden sind es aufs gesamte Team gerechnet. +Auf mehrere Jahre schätzt Anthony Di Franco die Projektdauer – doch wer weiß, wie lange die Motivation bei den ehrenamtlichen Mitarbeitern hält und ob auch in weiteren Crowdfunding-Runden wieder Geld zusammenkommt. Und überhaupt darf man sich durchaus fragen, wie ausgerechnet eine Gruppe Hobbybiologen eine so große Aufgabe stemmen will, von deren Komplexität selbst Generikafirmen bisher die Finger gelassen haben. Oder wie verlässlich Insulin aus dem Heimlabor wohl wäre und ob es jemals ohne Vorbehalte an Patienten abgegeben werden könnte. +Doch diese Fragestellung wäre zu sehr ergebnisfixiert. Dem Open Insulin Project geht es um Grundlagenforschung. "Trial and Error" ist Methode, und der Weg ist das Ziel beim Wissensgewinn. Genauso wichtig wie die Ergebnisse bei der Insulingewinnung ist für Di Franco und seine Mitstreiter daher die Dokumentation des Projektes: eine Versuchsanleitung, in der alle ihre Arbeitsschritte – auch die misslungenen – exakt beschrieben werden. Diese soll, ganz im Sinne der Open-Source- undOpen-Access-Bewegung, der Öffentlichkeit kostenlos zur Verfügung gestellt werden. So könnten andere Forscherteams – oder sogar irgendwann auch die Hersteller von Generika – damit weiterarbeiten. +Und darüber hinaus will das Projekt einen kleinen Beitrag zur Ermutigung, zum "Empowerment" leisten: Diabetespatienten haben sich in der #WeAreNotWaiting-Kampagne zusammengeschlossen, die mit Open-Source-Technologie-Projekten das Leben von Diabetespatienten verbessern will. Ihre Message ist auch die von Anthony Di Franco: Patienten und Betroffene sind im 21. Jahrhundert nicht mehr machtlos gegenüber den Pharmakonzernen. Im Zweifel nehmen sie ihr Schicksal einfach selbst in die Hand und setzen die Industrie so lange unter Druck, bis sie reagiert. diff --git a/fluter/bei-den-schildbuergern.txt b/fluter/bei-den-schildbuergern.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6d590423f9098e46d599be38f731e6e1488de8b4 --- /dev/null +++ b/fluter/bei-den-schildbuergern.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +"Man hat bereits den Eindruck, dass in Kärnten mehr Slowenen als richtige Kärntner leben", hat der Lokalpolitiker Harald Dobernig von der rechtspopulistischen FPÖ vor zwei Jahren gesagt. Das ist freilich ein sehr subjektiver Eindruck. In Kärnten leben mehr als eine halbe Million Menschen. Zu den Kärntner Slowenen zählen, je nach Quelle und Zugehörigkeitsverständnis, 5.000 bis 50.000 Personen – eine kleine Volksgruppe, die unter besonderem Schutz steht. +Der Österreichische Staatsvertrag sah deswegen schon bei seiner Unterzeichnung im Jahr 1955 vor, dass in den südlichen Kärntner Gemeinden, in denen slowenische Bürger leben, Slowenisch als Amtssprache gilt und auch die Ortsschilder zweisprachig sein müssen. Nur leider war nicht genauer definiert, wie das gehandhabt werden sollte, wie groß etwa der Anteil der slowenischsprachigen Bürger in einer Gemeinde sein muss. So begann der "Ortstafelstreit", und deswegen stehen heute die Celovec-Schilder in Klagenfurter Vorgärten. +Besonders brisant wurde es im Herbst 1972. Am 20. September ließ der damalige österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky zweisprachige Tafeln aufstellen. Der Schritt kam für viele Kärntner überraschend und löste unter einigen Teilen der Deutschkärntner große Empörung aus. In den kommenden Nächten demontierten und beschmierten Einzelpersonen immer wieder die neuen Schilder. Die Behörden beseitigten die Schäden umgehend. +In der Nacht zum 10. Oktober 1972, dem 52. Jahrestag der Volksabstimmung über die Zugehörigkeit Südkärntens zu Österreich, nahm der Widerstand organisierte Formen an. Zwei Kolonnen von jeweils über 100 Autos fuhren durch die Kärntner Gemeinden, schraubten die Schilder – zum Teil unter den Augen der überforderten oder wegsehenden Gendarmerie – ab und stimmten dann das Kärntner Heimatlied an. Die Aktion ging als "Ortstafelsturm" in Kärntens Geschichte ein. +Oktober 1972: Mehrere hundert Kärntner beteiigen sich am Ortstafelsturm +Danach ging der Ortstafelstreit erst richtig los – eine zähe Mischung aus trockener Bürokratie und verbissenem Patriotismus. Immer wieder wurden Ortsschilder übermalt und demontiert, auch deutschsprachige. Erst 2011 konnten sich die Kärntner Politiker auf einen Slowenen-Mindestanteil von 17,5 Prozent pro Gemeinde einigen und kamen so auf 24 Gemeinden, in denen 164 zweisprachige Ortstafeln aufgestellt wurden. Zufrieden waren damit nicht alle. Eine der drei an den Verhandlungen beteiligten Slowenen-Organisationen, der "Rat der Kärntner Slowenen", hatte dem Kompromiss nicht zugestimmt, und auch der damalige slowenische Europaabgeordnete Ivo Vajgl sah nach dem Beschluss "keinen Grund zum Feiern". +Der Konflikt zwischen den beiden Kärntner Volksgruppen ist dabei tief verankert. Angefangen hatte er schon gegen Ende des Ersten Weltkriegs. Damals marschierten Truppen des SHS-Staates (das spätere Königreich Jugoslawien) in Südostkärnten ein, um den Teil zu annektieren, nachdem Kärnten die Zugehörigkeit zur "Republik Deutschösterreich" (1918–1919) beschlossen hatte. Es folgten monatelange Gefechte mit einigen hundert Toten, die in Österreich "Kärntner Abwehrkampf" heißen und in Slowenien "Kampf um die Nordgrenze". Schließlich besann man sich und ließ das Volk entscheiden. Am 10. Oktober 1920 entschied sich schließlich eine knappe Mehrheit von 59 Prozent der Südkärntner für einen Verbleib in Österreich. +Der Tag ist auch heute noch ein patriotisches Spektakel. Vor allem von der in Kärnten lang regierenden FPÖ wird die Geschichte politisch instrumentalisiert. Im Ortstafelstreit spielte ihr langjähriger Vorsitzender und Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider bis zu seinem Unfalltod im Oktober 2008 eine entscheidende Rolle. Wie Haider selbst seine politische Rolle im Ortstafelstreit gewichtete, machte er spätestens im Januar 2006 in einer Rede klar: "Wahrlich, ich sage euch: Vor 2000 Jahren ist einer auferstanden und hat den Grabstein verrückt. Heute findet sich ein Landeshauptmann, der die Ortstafeln verrückt." +Es gibt viele Verbände, die sich noch heute für den Kultur- und Spracherhalt der Kärntner Slowenen einsetzen oder an die slowenischen Partisanen erinnern, die gegen das NS-Regime gekämpft haben. Dass diese Institutionen immer noch wichtig sind, zeigt sich spätestens, wenn man die Statements von Politikern wie Harald Dobernig hört, der die Ortstafellösung als "Einstiegsdroge" bezeichnete. Oder wenn der "Kärntner Abwehrkämpferbund" sich wieder mal mit slowenenfeindlichen Aussagen in die Schlagzeilen bringt. +Gerade erst im Juni stieß sich der Bund daran, dass im Ort Eisenkappel ein Schulzentrum zweisprachig beschildert wurde. Man warf dem Bürgermeister und der Schulverwaltung "rechtswidriges Handeln" vor, aber der Vorwurf wurde bislang nicht weiter ernst genommen. Der sozialdemokratische Kärntner Landeshauptmann Peter Kaiser teilte durch seinen Pressesprecher dazu mit, dass das Volksgruppengesetz die Möglichkeit vorsehe, dass die Schule über eine mehrsprachige Aufschrift entscheiden darf. +Ganz vorbei ist die Auseinandersetzung also noch immer nicht. Und so lange werden wohl auch die Celovec-Schilder als stumme Zeugen des Ortstafelstreits stehen bleiben. +Saskia Hödl, 29, ist Wienerin und arbeitet bei der "taz" als Volontärin. Kärnten kennt sie aus ihrer Kindheit vom Skiurlaub diff --git a/fluter/beirut-aufbau-nach-explosion.txt b/fluter/beirut-aufbau-nach-explosion.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ac6464d3581850e50a238e47e03bfb622a2551bc --- /dev/null +++ b/fluter/beirut-aufbau-nach-explosion.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Nun sind in einer Hafenhalle 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat detoniert. Verantwortlich für die unsachgemäße Lagerung seien, so hört man allerorts, Behörden, Politiker und der korrupte libanesische Staat – eine vollständige Aufarbeitung steht aber noch aus. Verantwortlich für die Versorgung der Opfer sind indes vorwiegend die Bürger selbst, besonders die jungen. Sie haben in den Tagen nach dem Inferno Trümmer weggeräumt, Wohnungen wieder bewohnbar gemacht und den Beirutern etwas Hoffnung zurückgegeben. + +"Eigentlich wollten wir nur ein bisschen Brot und Gemüse an die Nachbarn verteilen", erzählt Hussein Kazoun, 28 Jahre alt. Mit Grassroot-Initiativen kennt er sich aus, hat in den vergangenen Jahren einenÖkobauernhofaufgebaut. Als er am Tag nach der Katastrophe seine Nachbarn Mazen und Josephine traf, dachten sie sofort an die stillgelegte Tankstelle vor ihrer Tür. +Auf dem Gelände sollte ein Apartmentturm entstehen. Der Plan versandete, das Bauschild ist längst ausgeblichen, aber jetzt geht es dort lebhaft zu wie nie zuvor. "Schnell kamen die ersten Organisationen, um zu spenden", erzählt der Mitgründer Mazen Murr. Auch Freunde in Europa sammelten für sie über die Onlineplattform Gofundme. Mazen hat in Italien Restauration und Architektur studiert, seine Skills sind gefragt: Erst trieben sie Plastikplanen auf, um Türen und Fenster notdürftig zu schließen, dann Sperrholz, aus dem Türen gezimmert werden. +Mit roter Farbe sprühten sie den Namen ihrer Organisation auf eine Plane: Nation Station. Zwei Tage waren da seit der Explosion vergangen. Seitdem ist das Team ständig gewachsen. 20 Freiwillige tun Dienst vor Ort, verteilen Medikamente, Kleidung und Essen, pro Tag 100 warme Mahlzeiten und 2.000 Sandwiches. Alle paar Tage liefern Landwirte zweieinhalb Tonnen Obst und Gemüse. Die Spenden kommen von Privatpersonen, aber auch über Hilfsorganisationen wie World Vision oder Junior Chapter International. Manche Klamotten stammen von Familien, die den Libanon nach dem Unglück verlassen haben. +Rund 100 weitere Freiwillige sind im Viertel Geitawi unterwegs. Sie haben den früher christlich geprägten Stadtteil, der seit längerem auch Heimat von Geflüchteten und ausländischen Billiglohnkräften ist, in fünf Zonen aufgeteilt. Hier machen sie Hausbesuche, notieren sich, was die Menschen benötigen. Mazen sagt: "Wir haben schnell gemerkt, dass viele Menschen aus anderen Vierteln zu uns kommen, also mussten wir dringend Daten sammeln. Wir brauchten ein System." + +So ist eine fünfstufige Ordnung der Verwundbarkeit entstanden. Darin klassifiziert sind Verletzungen, Alter, Kinder, Berufstätigkeit und Finanzen, eine Triage der materiellen und körperlichen Not. "Die Nation Station braucht jetzt vor allem Strukturen", sagt auch Jan Pirner. Der 27-Jährige wohnt in Nürnberg, ist aber in Beirut aufgewachsen, weil sein Vater hier gearbeitet hat. Kurz entschlossen ist der Start-up-Unternehmer nach der Explosion in seine zweite Heimat gereist und arbeitet jetzt auf der Tankstelle mit. Während um Jan herum Reisgerichte und Altkleider verteilt werden, telefoniert er mit einer Organisation in einem anderen Stadtteil, tippt in seinen Laptop. In Google Maps markieren die Helfer ihre Einsatzorte. Irgendwann wollen sie ihre Systeme vernetzen. "Wir hier in der Nation Station wollen vor allem Vermittler sein für Hilfe anderer", sagt Jan, der Wirtschaftsinformatik studiert. +Im Libanon könne man leicht pessimistisch werden, so tief sitze die lähmende Vetternwirtschaft und Korruption. "Doch seit der Revolution ist das anders", sagt Jan. Die junge Generation ist erwacht: Zwar haben die Massenproteste im vergangenen Herbst nicht den erhofften Neuanfang gebracht, Posten und Gelder werden immer nochentlang konfessioneller Linien vergeben, aber das politische Bewusstsein hat sich nachhaltig geändert. +Die Regierung hat baldige Neuwahlen angekündigt. "Wenn es dazu kommt", sagt Mazen, "müssen wir Kandidaten finden und Listen aufstellen, uns wieder selbst organisieren." Seine Frau Josephine steht daneben und klingt kämpferisch, wenn sie ergänzt: "Genauso wie in diesen Tagen in Beirut." + + diff --git a/fluter/bekenntnisse-eines-klimaheuchlers.txt b/fluter/bekenntnisse-eines-klimaheuchlers.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..04a59a3515abe95c5ec2d533e1797105cad86af3 --- /dev/null +++ b/fluter/bekenntnisse-eines-klimaheuchlers.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Nun schimpfte meine Mutter und fühlte sich anscheinend persönlich angegriffen durch die Forderung nach weniger Kindern. "Hab ich euch jahrelang die Mäuler gestopft, damit ihr eines Tages heimkommt und so einen Schmarrn redet's?" + +Wir können den Klimawandel noch eindämmen – und das kann sogar Spaß machen.Sagt zumindest die Ökonomin Claudia Kemfert +Anlass zur Diskussion über diesen Schmarrn hatte uns die damals ebenfalls 15-jährige Greta Thunberg gegeben. Kurz vor unserer Familienzusammenkunft hatte die schwedische Klimaaktivistin auf der UN-Klimakonferenz in Kattowitz die Chefs der Weltpolitik zusammengeputzt: "Ihr redet nur darüber, wie wir vorankommen mit denselben schlechten Ideen, die uns in dieses Chaos geführt haben, obwohl das einzig Richtige wäre, eine Notbremsung einzulegen!" +Sie sprach für mich, meinen Bruder, die Generationen Y und Z.Zusammen sind wir die Generation Greta: die, für die der Klimawandel immer schon existiert hat. Und bis auf ein paar merkwürdige Ausnahmen sogenannterKlimawandel-Leugnerbezweifeln wir auch nicht, dass er menschengemacht ist. +Wir sind aufgewachsen mit der Ahnung, dass sich unser Planet, wenn wir nicht bald etwas unternehmen, in wenigen Jahrzehnten bedrohlich erhitzen wird – und die Bilder, die mir von dieser düsteren Zukunft in den Kopf kommen,sehen aus wie die Wüstenödnis in den alten "Mad Max"-Filmen, in der die Menschen grausame Kriege um verbleibende Nahrung und Wasserquellen führen. Längst ist die Frage "Wie hältst du es mit dem Klimawandel?" zu einem der Top-Small-Talk-Themen aufgestiegen. +Bei einem der interessanteren Gespräche dieser Art lehnte ich gemeinsam mit einem Unbekannten rauchend am Sims eines weit geöffneten Fensters einer Wiener Studi-WG. "Stell dir vor, jede Konsumentscheidung ist ein Urnengang, jeder Einkauf eine Wahl über unsere Zukunft", sagte mein Gegenüber. Die Idee schien mir plausibel: In einer Welt, in der global operierende Konzerne undLobbyistenstetig an Einfluss gewinnen, kann ich meine Haltung zum Klimawandel womöglich besser mit Kaufentscheidungen ausdrücken als mit einem Kreuz auf dem Wahlzettel. Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch fasst es so zusammen: "Der Konsument hat über den Staatsbürger gesiegt." +Im Kopf ging ich meine Urnengänge durch: Ich wählte vorzugsweise Bahn statt Auto. Kaufte rund ums Jahrdeutsche Äpfel statt der eingeschifften aus Neuseelandund Klamotten secondhand bei Humana. Noch betrunken am Dönerstand entschied ich mich gegen die Fleischlust und für die Falafel, seit mir in der Netflix-Doku "Cowspiracy" vorgerechnet worden war, dass die Produktion eines Kilos Rindfleisch 22 bis 27 Kilo CO₂-Äquivalent verursacht. Ich ging so weit, dass ich mir zum Flug nach Rio de Janeiro selbst geschmierte Stullen mitbrachte, damit ich nicht mit dreimal in Plastik verpacktem Flugzeugfraß die Weltmeere verschmutzte. Dass das Flugzeug, in dem ich saß, währenddessen viele Tonnen CO₂ in die Luft jagte? Der Gedanke kam mir erst viel später. +Viel über den Klimawandel reden, aber dabei immer schön an alten Konsumgewohnheiten festhalten – so wie am Smartphone, das übrigens auch keine gute CO2-Bilanz hat +Genau hier ist der Haken: Während ich wähle, fühle ich mich gut. Je mehr ich über die Wahl erfahre, desto übler wird mir. Zum Beispiel, dass Äpfel, wenn nicht gerade Saison ist, über Monate im Kühlhaus eingelagert werden und im Frühjahr eine schlechtere Klimabilanz erzielen als die importierten aus Neuseeland. Dass die Secondhandklamotten zum Sortieren von Deutschland nach Tunesien und zum Teil wieder zurück geschifft werden, bevor sie in der Auslage landen. Und dass ich mit einem Flug von Hamburg nach Madrid und zurück in etwa so viel CO₂ erzeuge, wie ich durch rund zwei Jahre Fleischverzicht einsparen könnte. Hinzu kommen Dinge, die ich für quasi alternativlos halte: Smartphone, Laptop, Boombox, Kosmetika und ab und zu eine Lieferpizza. +Mein Weltrettungsdeal ist ein scheinheiliger: Ich rede mir ein, das ginge auch ohne Abstriche beim Lebensstandard – einfach indem ich mir vor dem Einkauf ein paar oberflächliche Gedanken mache und so meine Ökobilanz auf dem WWF-CO₂-Rechner samt Gewissen aufpäpple. Dass ich dabei stets den Massenkonsum-Status-quo vertrete, der uns bis kurz vor die Wüste geführt hat? Will ich nicht sehen. Die meisten meiner Freunde wählen wie ich: konsequent inkonsequent. Wir sind die Heuchler. +Es gibt noch zwei andere Wählertypen. Die einen taufe ich schlicht "Pessimisten". Sie hassen das Wirtschaftssystem, glauben aber nicht an einen Wandel. Das Ergebnis ist Apathie. Mein Freund Paul ist so einer. Er sieht nicht ein, warum er sich Gedanken um seinenCO₂-Fußabdruckmachen soll, während der US-Präsident das Klimaabkommen von Paris aufkündigt und der neue brasilianische Staatschef den Weg frei macht für die Abholzung des Regenwaldes. Er ist nicht bereit, weniger zu konsumieren, solange Flüge so billig sind undRegierungen nicht endlich saftige CO₂-Steuern einführen. Solange in aufstrebenden Volkswirtschaften wie China und Indien die wohlhabende Mittelschicht wächst und mit ihr die klimaschädlichen Konsummuster nach westlichem Vorbild. Paul glaubt, dass die Tragödie des Allgemeinguts eine für alle Menschen gerechte Lösung des Klimaproblems verhindert: Solange es Nationalstaaten gibt, sagt er, würden nationale Interessen immer über den globalen stehen, die nationale Wirtschaft über dem Wohlergehen der Erdatmosphäre. Paul hat die Hoffnung längst aufgegeben. Immerhin: Er sagt es ehrlich. +Es ist nicht Hoffnung, vielmehr die Überzeugung, dass eine klimagerechtere Welt möglich ist, die die andere Wählerkategorie antreibt: die, die sich aus Protest darum bemühen, die ganze Konsumwahl zu boykottieren, weil sie ihren Idealen widerspricht. Die Radikalos, die Greta Thunbergs, die Sätze sagen wie: "Wenn es nicht möglich ist, Lösungen innerhalb des Systems zu finden, vielleicht sollten wir mal darüber nachdenken, ob wir nicht das System ändern!" Sie fordern Gerechtigkeit für alle statt Massenkonsum für die Welt. Sie fordern, dass wir uns schnellstens entscheiden müssen: Wirtschaftswachstum oder Klimaschutz? +Einer dieser Ansätze ist das Konzept der "imperialen Lebensweise" von Ulrich Brand und Markus Wissen. Für die Politikwissenschaftler ist die Klimafrage in erster Linie eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit. Die imperiale Lebensweise ist eine exklusive, die überhaupt nur von einer kleinen Gruppe der Weltbevölkerung – den Menschen im globalen Norden und der Ober- und Mittelschicht in den Schwellenländern – praktiziert werden kann. Würden sich alle 7,6 Milliarden Menschen einen Lifestyle gönnen wie wir, stünden wir nicht kurz vor der Wüste, sondern schon mittendrin. In Zahlen: Der Durchschnittsdeutsche stößt gut zehnmal mehr CO₂ aus als ein Mensch aus Subsahara-Afrika (Stand 2014). Die knapp 50 Prozent der Weltbevölkerung mit hohen und besseren mittleren Einkommen sind für 86 Prozent des CO₂-Ausstoßes verantwortlich,während die Folgen davon vor allem die Menschen im globalen Süden zu spüren bekommen – in Form von Überflutungen, erodierten Böden, Dürren, Wasserknappheit und einem steigenden Meeresspiegel. +Wollen wir die imperiale Lebensweise in eine solidarische verwandeln, so die These,brauchen wir radikalen Verzicht. Wissenschaftler der Universität Lund in Schweden haben 2017 eine Studie veröffentlicht, in der sie die vier effektivsten individuellen Maßnahmen beschreiben, um den eigenen CO₂-Ausstoß zu verringern: der Verzicht auf Tierprodukte, der Verzicht aufs Fliegen, der Verzicht aufs Autofahren. Und sogar der Verzicht auf ein Kind – also zumindest eins weniger. +Zum reinen Ferienvergnügen ins Flugzeug setzen – bei allem, was wir über den Klimawandel wissen? Geht das noch?Wir streiten +Pessimisten wie Paul würden jetzt sagen: Das ist doch utopisch! Da sind 3,8 Milliarden Menschen, die man umerziehen müsste. Unmöglich in einer Zeit, in der die Weltpolitik nicht mal einen Minimalkonsens in Sachen Klimaschutz zustande bringt! Ich würde entgegnen: Veränderungen passieren nicht einfach so, schnipp, schnapp. Veränderungen gehen von kleinen Gruppen aus, die anfangs oft als radikal gelten, und brauchen Zeit. Nehmt die Veganer! Mit jedem Jahr wächst ihre Zahl. Tim Barford, Manager von Europas größter Vegan-Event-Firma, sagte der britischen Zeitung "The Guardian" im April 2018, dass man gerade bei den Millennials einen "echten kulturellen Wandel " beobachten könne, "der sehr stark auf Gerechtigkeit basiert". +Das sieht man auch an dem Hashtag "Flygskam" (Flugscham). Darunter formierten sich vor einigen Monaten schwedische Aktivisten und riefen dazu auf, Bahnen statt Flieger zu benutzen. Auch die Autos stehen unter Beschuss: In Berlin hat es die kleine Initiative "Volksentscheid Fahrrad" geschafft, dass der Senat das erste deutsche Fahrradgesetz verabschiedet hat, das mit vielen Hundert Kilometern neuer, sicherer Radwege den Angriff auf die urbane Vormachtstellung des Autos wagt. In vielen weiteren Städten formieren sich solche Bewegungen. +Bleibt noch die Kinderkriegen-Sache und der Streit mit meiner Mutter. Zwei Wochen sind vergangen seit dem besagten Abendessen. Wir haben uns in der Zwischenzeit versöhnt, und ich habe diesen Artikel verfasst, als sie mich anruft: "Ich steh zu meinen sechs Kindern", sagt sie unvermittelt. "Weil Kinder sind's doch, die das Leben lebenswert machen – und für wen würden wir sonst das Klima retten?" "Aber …" – ich hätte jetzt noch einen klimaaktivistischen Einwand gehabt, verstumme aber. Denn ich muss an meine eigenen Inkonsequenzen denken – und den ganz wunderbaren Sandstrand an der Copacabana. + +Du hast deine Daten in der Cloud? Dann liegen sie in Wirklichkeit auf Servern, und die brauchen Strom, viel Strom, allein für die Kühlung. Wäre das Internet ein Land, läge es mit einem Stromverbrauch von mehr als 1.000 Terawattstunden pro Jahr unter den Top Fünf der Welt. So produziert laut Selbstauskunft von Google eine Suchanfrage etwa 0,2 Gramm CO² – bei rund 4,4 Millionen Suchanfragen pro Minute summiert sich das. Die großen Internetkonzerne arbeiten an Lösungen: Intelligentere Serverinfrastrukturen und eine bessere Kühlung – etwa mit Wasser statt Luft – bieten Einsparpotenziale. + diff --git a/fluter/belarus-proteste-folter-shkliarov.txt b/fluter/belarus-proteste-folter-shkliarov.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c8ac291162118020467125703f13db6c49a2186c --- /dev/null +++ b/fluter/belarus-proteste-folter-shkliarov.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Währenddessen toben draußen Proteste historischen Ausmaßes. Die Wahl am 9. August hat der amtierende Präsident Alexander Lukaschenko mit großer Mehrheit gewonnen, zumindest laut Angaben des Regimes. Viele Menschen und dieOppositionsind hingegen sicher, dass Lukaschenko der Gegenkandidatin Swetlana Tichanowskaja deutlich unterlegen war; auch die EU-Staatenerkennendas offizielle Wahlergebnis nicht an. Tichanowskaja verließ nach der Wahl das Land und macht aus Litauen Druck auf Lukaschenko – der seit 26 Jahren im Amt ist, aber betont, die Macht vorerst nicht abgeben zu wollen. +Hunderttausende gehen deshalb auf die Straßen. Inzwischen streiken die Arbeiter in den staatlichen Fabriken und selbst das Staatsfernsehen zeigt die offene Ablehnung gegen den Machthaber. Weil die Polizei zu Beginn der Proteste mit massiver Gewalt reagierte, sind bislang drei Demonstranten gestorben, Tausende wurden inhaftiert. Aber die Protestierenden machen weiter, fordern Neuwahlen und die Freilassung politischer Gefangener wie Vitali Shkliarov. +Warum sagen jetzt alle Belarus – und nicht "Weißrussland"?Durch die Proteste setzt sich die Selbstbezeichnung Belarus langsam durch. Der Begriff "Weißrussland" stammt aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, in der deutsche Soldaten das belarussische Gebiet als zum russischen Territorium gehörend wahrnahmen. Viele Belaruss*innen empfinden den Namen deshalb als Gleichsetzung mit Russland – die historisch nicht korrekt ist und die Unabhängigkeit des Volkes untergräbt. +Der habe vor seiner Verhaftung nur seinen Sohn zu den Großeltern in seine Heimatstadt Gomel bringen wollen,bloggtsein Wegbegleiter Wladimir Kaminer. "Er ging in kurzer Hose und Flip-Flops zum Markt, um eine Wassermelone zu kaufen, dort wurde er von den Sicherheitsleuten verhaftet und nach Minsk in den Knast verschleppt. Die Eltern erfuhren erst am Abend, wo er sich befand." +Für Lukaschenko könnte sich Shkliarov als wertvoller Gefangener erweisen: Seine Frau ist US-Diplomatin. Er selbst und seine Anwälte glauben, dass die Inhaftierung die Rache Lukaschenkos für seine politischen Artikel sei. Dass er für die Opposition gearbeitet habe, wie ihm die Behörden vorwerfen, verneint Shkliarov. +Er ist einer von bislang rund 7.000 Menschen, die während der Proteste festgenommen wurden. DieGefängnissesind so überfüllt, dass Insassen auf Innenhöfen von Polizeistationen und in Turnhallen untergebracht werden. Belarussische Menschenrechtler nennen die überfüllten Gefängnisse "Konzentrationslager". Der stellvertretende Innenminister Alexander Barsukow hat bereits öffentlich bestritten, dass politische Gefangene missbraucht würden. Anwohner berichten aber von Schreien aus den Gefängnissen, Videos und Fotoszeigen, wie Insassen mit Prügel und Essensentzug gezüchtigt werden. + + +"Auf dem Boden, an den Wänden, an der Decke, das Blut war überall",sagteClaudio Locatelli der "Zeit". Locatelli war während der Proteste am Wahlsonntag eingesperrt worden. Während seiner 60 Stunden in Haft sei auch das Staatsfernsehen gekommen, damit die Insassen vor der Kamera bestätigen konnten, dass die Proteste von außen gesteuert seien. Essen bekamen sie nicht. Trotzdem sei er als Ausländer noch bevorzugt behandelt worden, sagt Locatelli. "Die Belarussen hatten am meisten zu leiden." +"Sie versuchen, mich zu brechen", schreibt Shkliarov in einemBriefan seinen Anwalt. "Mit ganzer Kraft." Den ganzen Tag laufe sowjetische Propagandamusik, Kontakt zur Außenwelt sei untersagt, außer zu seinem Anwalt. Dererzählt, dass Shkliarov immer wieder in andere Zellen verlegt worden sei, darunter ein Keller voller Schimmel, Kakerlaken und rauchender Mitinsassen und das "Becher", ein Raum von einem Quadratmeter Größe, in dem Shkliarov stundenlang ohne Essen, Trinken oder eine Sitzgelegenheit ausgeharrt habe. "Es scheint", schreibt Shkliarov in seinem Brief, "als hätte irgendeine defekte Zeitmaschine mich direkt in den Gulag verfrachtet." +Um seine Freilassung kämpft nun neben seinem Anwalt auch eineInitiative. Sie appelliert an die Politik, sich für den Mann einzusetzen, der so lange in Deutschland gelebt hat. Der auszog, um die Demokratie in Berlin kennenzulernen, in den USA zu unterstützen und nach Russland zu bringen. Die Demokratie, die ganz ohne Vitali Shkliarovs Zutun nun auch in seiner Heimat Belarus Einzug halten könnte. + diff --git a/fluter/belastungstest.txt b/fluter/belastungstest.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/bella-ciao-baru-comic.txt b/fluter/bella-ciao-baru-comic.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cb647b30e7cc3029599803fd5967f90d4dfbfa4c --- /dev/null +++ b/fluter/bella-ciao-baru-comic.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Rund29 Millionen Menschenverließen in der Hoffnung auf ein wirtschaftlich besseres Leben zwischen den 1860ern und Mitte der 1980er-Jahre Italien. Viele gingen ins Nachbarland Frankreich. "Bella Ciao" handelt von ihnen. Der Comic ist eine Collage aus Szenen und Fragmenten, die von 1893 bis in die Gegenwart reichen. Vieles davon spielt sich in der industriell geprägten nordfranzösischen Region Lothringen ab, wo Baru selbst 1947 als Sohn eines italienischen Arbeiters zur Welt kam. +Da erklärt zum Beispiel ein Greis seinen staunenden Enkeln, warum auf einem vergilbten Foto ein junger Mann – sein Bruder – die Hosenbeine abgeschnitten trägt: Von ihrem hart verdienten Geld hatten sich viele italienische Migranten zu Beginn des 20. Jahrhunderts feine Lederschuhe gekauft, und die sollten nun alle sehen, um zu begreifen, dass sie keine armen Bauern mehr waren. In einer anderen Episode machen in den 1990ern zwei italienischstämmige Franzosen mit ihren Familien Urlaub auf Sardinien – und genießen es, dass sie endlich Italienisch sprechen können, ohne schief angeschaut zu werden. +In einer weiteren Szene kehrt in den 1920ern eine Gruppe Jugendlicher aus einem von den italienischen Faschisten organisierten Ferienlager zurück, sie tragen begeistert die schwarze Uniform und singen faschistische Lieder. Alle – bis auf einen. +Klingt verwirrend? Tatsächlich ist "Bella Ciao" ein Comic für Fortgeschrittene und ziemlich voraussetzungsvoll erzählt. Man muss ein wenig Freude daran haben, das Geschehen zu entschlüsseln, und Baru hilft nur bedingt dabei, seine komplex inszenierten Szenen aufzulösen, in denen immer wieder andere, sich teilweise ziemlich ähnlich sehende Figuren auftreten. +Wer war jetzt noch mal die Tante von diesem einen Typen? Und gehört sie zur gleichen Generation wie der Großvater aus der Episode davor? Vieles muss man sich selbst erschließen, so auch den formalen Kniff, dass man an der Art, wie die Texte in den Sprechblasen geschrieben sind – in Normal- oder GROSSSCHREIBUNG – erkennt, ob gerade Italienisch oder Französisch gesprochen wird. +Nach und nach erhellt sich das Geschehen aber. Und liest man den Band einfach noch ein zweites Mal, so entblättern sich immer mehr Details, taucht man immer tiefer ein in diese Geschichten von Herkunft und Identität. Der Strich, mit dem Baru diese Schicksale und Lebenslinien einfängt, ist detailliert, aber zugleich leicht und dynamisch. Seine Figuren sind ausdrucksstark, der Wechsel zwischen schwarz-weißen und in blassen Aquarellfarben gehaltenen Episoden sorgt zusätzlich für Abwechslung. +Ein beherrschendes Thema ist der Riss, der sich durch die italienische Diaspora zieht und der selbst viele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg nicht verheilt ist: Auf der einen Seite die Anhängerdes faschistischen Diktators Mussolini, auf der anderen die Demokraten und Kommunisten. +Das titelgebende Lied "Bella Ciao" taucht dabei immer wieder auf, und auch seine Herkunft wird neu verortet: Gesungen wurde es, wie Baru erzählt, ursprünglich mit einem anderen Text von Reispflanzerinnen aus dem italienischen Norden. Die antifaschistischen Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg sangen es hingegen vermutlich fast nie. Zudemitalienischen Partisanenlied wurde es wohl erst nachträglich in den 1960ern konstruiert. +Was ist wirklich passiert, was in der Rückschau verändert worden? Diese Frage durchzieht den Comic. Denn so nah an der Realität vieles in "Bella Ciao" gebaut sein mag, es bleibt ein Spiel mitden Ebenen der Erinnerungsarbeit, wie Barus Alter Ego, das auf den letzten Seiten des Buchs eine Portion Nudeln kocht, auch offen zugibt. +Zwei weitere Bände von "Bella Ciao" hat der Autor angekündigt. Es bleibt ihm also noch reichlich Gelegenheit, die vielen losen Erinnerungsfäden zu verdichten – und munter neue zu spinnen. +"Bella Ciao" (Band 1, 136 Seiten, 20 Euro) von Baru, übersetzt von Uwe Löhmann, ist bei Edition 52 erschienen. diff --git a/fluter/bereitschaftsdienste.txt b/fluter/bereitschaftsdienste.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/bergbau-ki-australien.txt b/fluter/bergbau-ki-australien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e39da4fddebd24071df2d53111c748f64d7d8127 --- /dev/null +++ b/fluter/bergbau-ki-australien.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Was kein Wunder ist: Das Buddeln sei beschwerlich, erzählt Sherpa. Hier suche man noch traditionell nach Gold, Kupfer und anderenBodenschätzen, über ein Netz von Hunderten Metern Probebohrungen. Minenbetreiber wie Sherpa orientieren sich an bestehenden Schächten, analysieren geologische Karten und nehmen Bodenproben, weil manchmal die Geochemie auf neue Rohstoffvorkommen weist. Das Graben gleicht einer Lotterie, es kostet Geld, Zeit, Energie und Nerven, nicht nur in Tasmanien. Aber die Branche verändere sich, erzählt Sherpa, immer häufiger werde der Bergbau durch künstliche Intelligenz unterstützt. "Für Menschen wie mich ist das ein Traum." +Für Roman Teslyuk ist es zunächst mal ein Geschäft. "Künstliche Intelligenz wird den Bergbau verändern", sagt er, der es wissen muss: Europa, Naher Osten, arktisches Russland, Teslyuk hat überall auf der Welt nach Rohstoffen gegraben. Heute ist er CEO von Earth AI, einem Unternehmen für KI im Bergbau. Sein Büro liegt in Sydney, rund 1.000 Kilometer Luftlinie entfernt von der Henty-Goldmine. Auf dem Parkplatz steht ein weißer Toyota Land Cruiser, ein Pick-up mit Metallboxen auf der Ladefläche. "Unser Expeditionsmobil", sagt Teslyuk und klopft mit der Hand auf das Blech der Motorhaube. +Bevor Teslyuks Expedition startet und er in die Wüste fährt, um nach Rohstoffen zu graben, arbeiten die Computer. "Hier in Australien gibt es Daten zu allen Gesteinsproben, die je im Land entnommen wurden", erklärt Teslyuk. Earth AI lässt diese geophysischen Daten mit Satellitenbildern der NASA und Drohnenaufnahmen in einer Software zusammenlaufen. Sie lernt, wo in der Vergangenheit Vorkommen lagen, und schlussfolgert daraus, wo neue Vorkommen liegen könnten. Diese Methode reduziere die Plätze, an denen gebohrt werden muss, sagt Teslyuk. "Ohne KI stoßen wir alle zweihundert Probebohrungen auf ein Vorkommen, mit unserer KI bei jeder dreißigsten." +Noch effizienter wird die Technik, wenn man verschiedene Softwares kombiniert. Zum Beispiel mit der von Tjaart de Wit. Er ist leitender Geophysiker am Institute of Mine Seismology, kurz IMS, das nahe der tasmanischen Hauptstadt Hobart ansässig ist. "Wir lauschen dem Klang der Erde", sagt de Wit. "Unsere Böden sind voller Geräusche. Bautätigkeiten, Autos, die Wellen des Ozeans, die am Ufer brechen." Die Rohstoffe im Boden reagieren wegen ihrer unterschiedlichen Dichte sehr verschieden auf die Wellen. Das IMS setzt seismische Sensoren ein, die diese unterirdische Geräuschkulisse aufzeichnen. Eine künstliche Intelligenz wertet die Wellen aus. Am Ende steht ein 3-D-Modell. "Mit dem können wir bis zu zwei Kilometer tief in den Boden blicken", sagt de Wit. + +Die Flüsse in Queenstown sind noch heute vergiftet +Sind neue Vorkommen gefunden, fängt der eigentliche Bergbau an. Equipment und Personal anliefern, Buddeln, Bodenproben auswerten. Andrew Jobs hilft, diesen Vorgang effizienter zu gestalten. Seine Firma Plotlogic ist auf die Echtzeitauswertung von Gesteinen spezialisiert: Sensoren an Baggerschaufeln liefern Informationen über die abgebauten Felsbrocken, etwa über die Dichte des gewünschten Rohstoffs im Gestein. Zwischen Datenerfassung und Auswertung lägen höchstens zwei Minuten, sagt Jobs. Unternehmen hilft das, ihre Abbaupläne laufend zu verbessern und effizienter zu bohren. +Die Entwicklungen im Bergbau sieht Jobs erst als den Anfang eines Wandels in der Branche. "Der Bergbau", sagt er, "wird durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz zunehmend autonom." In Zukunft werde künstliche Intelligenz die Entscheidungsprozesse übernehmen, der Bergbau werde dadurch effizienter und sicherer. Um Arbeitsplätze fürchtet er nicht: Man brauche weiterhin Personal, um die Maschinen zu warten, und andere Stellen würden durch den Einsatz von KI lediglich verlagert. "Ein Physiker, der Gesteinsproben auswertet, muss nicht mehr vor Ort sein. Er kann das aus der Ferne erledigen", sagt Jobs. Roman Teslyuk von Earth AI sieht sogar neue Arbeitsplätze. "Wir könnten in Australien viel mehr Rohstoffe abbauen, es fehlt nur an Fachkräften." +Mehr Bergbau bedeutet auch: weniger Naturschutz. Die Branchegilt als der viertgrößte Entwaldungstreiberweltweit.Laut Untersuchungender Wirtschaftsuniversität Wien und des WWF wurden im Umfeld von Rohstoffminen zwischen 2000 und 2020 Waldflächen von der doppelten Größe Deutschlands gerodet. Die Beratungsfirma McKinsey schreibt dem Bergbaubis zu sieben Prozent der globalen Treibhausgasemissionen zu. +Künstliche Intelligenz soll die Suche nach Vorkommen effizienter machen und dadurch den Einsatz fossiler Brennstoffe minimieren. Das lohnt sich vor allem für die Rohstoffproduzenten, die Milliarden sparen; sind die Mineralien aber erst mal gefunden,verändern Minen die Landschaft, schaffen Abraumhalden, setzen Feinstaub und klimaschädliche Gase frei. "Künstliche Intelligenz wird den Einsatz von Probebohrungen minimieren", sagt Roman Teslyuk von Earth AI, "aber nie ersetzen." diff --git a/fluter/bergkarabach-konflikt-politische-akteure.txt b/fluter/bergkarabach-konflikt-politische-akteure.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f04dca88400397694b21c072e520dfca5c6d13dd --- /dev/null +++ b/fluter/bergkarabach-konflikt-politische-akteure.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Der Bergkarabach-Konflikt reicht lange zurück. Vorangetrieben wurde er Anfang des 20. Jahrhunderts durch allgemeine nationale Bestrebungen und den Ersten Weltkrieg (1914–1918), was zum Untergang zweier Großreiche führte: des Osmanischen Reichs und des russischen Kaiserreichs. Aus letzterem ging nach einem Bürgerkrieg Ende 1922 die Sowjetunion hervor. Von den geopolitischen Umwälzungen war auch der Südkaukasus betroffen. So erklärte Moskau Armenien und Aserbaidschan zu Sowjetrepubliken. Das umstrittene Gebiet Bergkarabach hatten die Bolschewiki unter ihrem Einfluss bereits 1921 Aserbaidschan zugesprochen – nachdem sie es zwischenzeitlich auch kurz Armenien versprochen, ihre Entscheidung dann aber wieder revidiert hatten. 1923 erhielt die Region einen autonomen Status innerhalb der aserbaidschanischen Sowjetrepublik. +Mit dem Zerfall der Sowjetunion eskalierte der Konflikt und mündete im Ersten Karabachkrieg (1991–1994) zwischen Armenien und Aserbaidschan. Damals erklärte das mehrheitlich von Armeniern bewohnte Bergkarabach seine Unabhängigkeit. Russlands Einfluss blieb jedoch bestehen: Als Initiator eines gemeinsamen Militärbündnisses galt Moskau lange als Schutzmacht Armeniens und damit indirekt Bergkarabachs – ohne indes seine Verbindungen zu Aserbaidschans Führung in Baku zu kappen. +So konnte Russland als Vermittler auftreten, etwa um den Waffenstillstand zwischen Armenien und Aserbaidschannach dem Zweiten Karabachkrieg 2020auszuhandeln. Darin wurde festgelegt, dass russische Friedenstruppen die letzte verbliebene Landverbindung zwischen Armenien und Bergkarabach sichern sollten. Doch als Aserbaidschan Ende 2022 begann, diese als Latschin-Korridor bekannte Verbindung zu blockieren, und Moskau das nicht verhinderte, stieg die Unzufriedenheit der Armenier:innen. Erst recht, als Baku Bergkarabach im September 2023 angriff und Russland erneut nicht einschritt. Beobachter:innen zufolge dürfte ein Grund dafür sein, dass Russlands Ressourcen und Aufmerksamkeit sich aktuell aufden Krieg in der Ukrainekonzentrieren. Außerdem wird vermutet, dass Moskau den Demokratisierungsprozess und die proeuropäische Regierung in Armenien schwächen möchte, um das Land weiterhin an sich zu binden. +Komplett von Moskau abwenden können sich die Armenier:innen aber nicht – in Russland lebt ein großer Teil der weltweit verstreuten armenischen Diaspora, und die beiden Länder sind wirtschaftlich und militärisch immer noch eng verbunden. + + +Für Armenien mit seiner Hauptstadt Jerewan ist Bergkarabach eng mit der eigenen Kultur und Geschichte verknüpft. Ab Ende der 1980er-Jahre unterstützten viele Menschen in der armenischen Sowjetrepublik den Ruf der Karabach-Armenier:innen nach Selbstbestimmung. Mit der Forderung, Armenien und Bergkarabach zu vereinen, stellten sie Moskaus Autorität infrage. Diese Bewegung wurde zum Katalysator für Armeniens eigene Unabhängigkeitsbestrebungen. Damit verbunden sind die dunklen Kapitel jener Zeit: die Zwangsvertreibungen Tausender Aserbaidschaner:innen aus Armenien und aus Bergkarabach, während wiederum Tausende Armenier:innen aus Aserbaidschan fliehen mussten. +1991 proklamierten die Karabach-Armenier:innen ihre eigene Republik Bergkarabach (ab 2017 Arzach genannt) und brachten angrenzende aserbaidschanische Gebiete als eine Art "Pufferzone"unter ihre Kontrolle. Die Republik wurde international jedoch nicht anerkannt , auch nicht von Armenien. Dennoch wurde Jerewan zum wichtigsten Unterstützer des De-facto-Staats, wirtschaftlich, politisch und militärisch. Wer heute durch Armenien reist, findet in fast jedem Ort eine Gedenktafel für in Bergkarabach gefallene Soldat:innen. Das macht den nun erlittenen Verlust der Region für viele Menschen in Armenien besonders schmerzlich. Und es gibt viel Wut – auf die eigene Regierung. +So hatte Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan, der das Land seit einer friedlichen Revolution 2018regiert, im Mai 2023 Bergkarabachs Zugehörigkeit zum Staatsgebiet Aserbaidschans unter bestimmten Bedingungen anerkannt. So weit war vor ihm kein Regierungschef Armeniens gegangen. Für seine Kritiker:innen ist Paschinjan daher derjenige, der Bergkarabach geopfert und die Gunst Russlands durch seine Umorientierung gen Europa und die USA verspielt hat. +Die Integration Zehntausender Karabach-Armenier:innen stellt das kleine Armenien mit seinen nicht einmal 2,8 Millionen Einwohner:innen nun vor eine gewaltige Aufgabe. Gleichzeitig ringt Jerewan mit Baku um einen Friedensvertrag. Anfang Dezember tauschten beide Staaten immerhin Gefangene aus und erklärten ihre Absicht, ihre Beziehungen zu normalisieren und ein Friedensabkommen zu unterzeichnen. + +Völkerrechtlich gehört Bergkarabach zu Aserbaidschan, das ebenfalls kulturelle und historische Ansprüche auf das Gebiet erhebt. Hatte Baku im Ersten Karabachkrieg Anfang der 1990er-Jahre militärisch das Nachsehen, kehrten sich die Machtverhältnisse im Krieg 2020 um – auch weil Aserbaidschan mittlerweile durch Öl- und Gasexporte zu Wohlstand gekommen ist. +Seit 2003 steht Ilham Alijew als Präsident an der Spitze des Landes, das er wie sein Vater vor ihm autoritär regiert. Gegenüber der armenischen Bevölkerung Bergkarabachs hatte Alijew zuletzt wiederholt beteuert, ihre Rechte wahren zu wollen – sie müssten lediglich Staatsbürger:innen Aserbaidschans werden. Die Karabach-Armenier:innen sehen darin einen Erpressungsversuch und werten Bakus gewaltsames Vorgehen ihnen gegenüber als "ethnische Säuberung". Der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Luis Moreno Ocampo, warf Präsident Alijew im Augustin einem Bericht "genozidale Absichten"vor. Aserbaidschan weist die Vorwürfe zurück. Grund für die Anschuldigung Ocampos war die monatelange Blockade Bergkarabachs, wodurch die Region von Lebensmitteleinfuhren und medizinischer Versorgung abgeschnitten wurde. +Im Anschluss an die darauf folgende Vertreibung der Armenier:innen ließ sich Alijew in der nun beinahe menschenleeren Hauptstadt Bergkarabachs dabei ablichten, wie er in Militäruniform die aserbaidschanische Flagge küsste. +Seitens der Armenier:innen ist die Angst groß, dass Aserbaidschan nach Bergkarabach bald den Süden Armeniens angreifen und das Gebiet annektieren könnte. Denn seit Monaten drängt Baku auf eine Verbindung zu seiner Exklave Nachitschewan, die an Armenien und die Türkei grenzt. Diese Verbindung, der sogenannte Sangesur-Korridor, würde über armenisches Staatsgebiet führen. Beobachter:innen zufolge hätten auch Russland und die Türkei ein Interesse an dieser neuen Handelsverbindung. Russland etwa hätte so eine Verbindung in den Iran und könnte westliche Sanktionen umgehen. + + + +Als Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs, der sich bis heute weigert, den Genozid an den Armenier:innen im frühen 20. Jahrhundert anzuerkennen, sind die Beziehungen der Türkei mit ihren armenischen Nachbar:innen historisch belastet. Im Ersten Karabachkrieg solidarisierte sich Ankara mit Baku und schloss 1993 seine Grenze zu Armenien. Bis heute hat sich daran nichts geändert, wenngleich es Ende der 2000er-Jahre und zuletzt ab Ende 2021 ernsthafte Bemühungen gab, die Beziehungen beider Länder zu normalisieren. +Für eine türkisch-armenische Annäherung stellt die enge Partnerschaft der Türkei mit Aserbaidschan das größte Hindernis dar. Sie drückt sich in dem Slogan "Eine Nation, zwei Staaten" aus. Rhetorisch betonen Baku und Ankara damit ihre kulturellen Gemeinsamkeiten, beruhend auf einer sehr ähnlichen Sprache und dem Islam als dominierender Religion – wenngleich die Bevölkerung in der Türkeisunnitischund Aserbaidschanschiitischgeprägt ist. +Praktisch zeigt sich das gute Verhältnis im Wirtschaftsbereich: Nach Russland ist die Türkei Aserbaidschans wichtigstes Importland. Auch militärisch unterstützt Ankara Baku. Gut einen Monat nach der Eroberung der Region Bergkarabach führte Aserbaidschan eine gemeinsame Militärübung mit der Türkei in der Nähe von Armenien durch. + +Wie in Russland leben in denUSAHunderttausende Menschen mit armenischen Wurzeln. Ihre Unterstützung für die Armenier:innen im Südkaukasus ist groß, finanziell und politisch. Auf staatlicher Ebene haben sich die Beziehungen zwischen Jerewan und Washington zuletzt intensiviert. Enttäuscht von Russland, sucht Armenien seit 2020 auch stärker die Nähe zurEuropäischen Union. Eine größere EU-Mission soll seit Februar 2023 für mehr Stabilität in den Grenzregionen zu Aserbaidschan sorgen. Sie ist jedoch rein ziviler Natur, auf die aserbaidschanische Seite der Grenze dürfen die Beobachter:innen nicht. +Auf militärischer Ebene hatFrankreichim Oktober 2023 nach dem Fall Bergkarabachs einem Waffenlieferungsabkommen mit Armenien zugestimmt. Nach ähnlichen Deals mitIndienkonnte Jerewan damit einen wichtigen militärischen Partner in Europa gewinnen. Die EU kauft wegen des Ukrainekriegs allerdings seit 2022 auch mehr Erdgas von Aserbaidschan ein, der MitgliedsstaatUngarnschloss jüngst einen eigenen Gas-Deal ab. Die wirtschaftliche Verknüpfung dürfte einer der Gründe sein, warum die EU trotz des militärischen Vorgehens Aserbaidschans in Bergkarabach bislang keine Sanktionen gegen Baku erlassen hat. +Wirtschaftlich und militärisch spielt auchIsraeleine Rolle in dem Konflikt. Das Land bekommt von Aserbaidschan Öl und liefert dorthin Rüstungsgüter, außerdem sieht es Aserbaidschan als einen strategischen Partner gegen denIranan, einen der größten Widersacher Israels. Das Verhältnis von Aserbaidschan und Iran ist ebenfalls seit längerer Zeit angespannt. Dass Aserbaidschan Ansprüche auf den Süden Armeniens erhebt, um die Verbindung über den Sangesur-Korridor herzustellen, kommt in Teheran nicht gut an. Denn das könnte die Handelswege Irans und sein gutes Verhältnis zu Armenien stark beeinträchtigen. diff --git a/fluter/bergkarabach-krieg-armenier-opfer.txt b/fluter/bergkarabach-krieg-armenier-opfer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b86706662509b2f15c3a1ece8002998ffe550183 --- /dev/null +++ b/fluter/bergkarabach-krieg-armenier-opfer.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +David Uzunian ist am 1. Oktober 2020 gestorben, er wurde 19 Jahre alt. Der Splitter einer Rakete durchbohrte seinen Hals, als seine Einheit von aserbaidschanischen Truppen angegriffen wurde. Der Wehrpass, den sie aus seiner Brusttasche gezogen haben, liegt jetzt neben dem Porträtfoto in Davids Kinderzimmer. +Vor gut einem Jahr war David eingezogen worden. Er entschied sich für den Wehrdienst in Karabach, weit entfernt von zu Hause, an einer Grenze, die jederzeit zur Front werden konnte und dann auch wurde. So rückte Davids altes Leben, das als Fußballtorwart in der Jugendauswahl, das mit Milena oder an der Playstation mit Mher und Wladimir, schon in den Monaten vor dem Krieg immer weiter in die Ferne. +Im neuerlichen Krieg um Bergkarabach endete das Leben von insgesamt über 5.000 Männern. Darunterlaut offiziellen Angaben2.783 aserbaidschanische und mehr als 2.700 armenische Opfer. Nach sechs Wochen der Gefechte einigten sich beide Seiten Anfang November auf einen Waffenstillstand. Viele weitere Soldaten werden bis heute vermisst. +Bergkarabach liegt im Südkaukasus. Seit dem Ende der Sowjetunion streiten die verfeindeten Nachbarn Aserbaidschan und Armenien um die Region: Völkerrechtlich gehört sie zu Aserbaidschan, das auf die Unverletzlichkeit seines Gebiets (territoriale Integrität) pocht. Die in Bergkarabach lebende Bevölkerung ist aber mehrheitlich armenisch, weshalb Armenien argumentiert, den Bewohner/-innen stünde das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu. Die Vereinten Nationen haben in bereits drei Resolutionen bekräftigt, dass Bergkarabach zu Aserbaidschan gehört. +In einem Krieg in den 90er-Jahren gelang es armenischen Einheiten, das Gebiet und umliegende aserbaidschanische Bezirke zu besetzen. Der Krieg zwang rund 800.000 Aserbaidschaner/-innen und 300.000 Armenier/-innen zur Flucht, Zehntausende Menschen starben. Seither kam es immer wieder zu Gefechten: 2016, 2018 und ab Ende September 2020. Das aserbaidschanische Militär war – unterstützt von der Türkei – diesmal deutlich überlegen. Viele Städte und Dörfer wurden schwer getroffen, Zehntausende flohen. Am 10. November handelten die Kriegsparteien gemeinsam mit Russland eine Erklärung aus, die Armeniens Niederlage besiegelte. Dabei wurde vereinbart, dass Armenien Teile von Bergkarabach und umliegende Gebiete räumen muss. Aserbaidschan soll diese Territorien künftig kontrollieren. Tausende Armenier/-innen demonstrierten gegen die Beschlüsse. Der Status des restlichen Gebiets bleibt laut russischen Angaben erst mal offen, Staatschef Putin zufolge soll die Minsker Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) entscheiden. +Mehr zum Konflikt lest ihrauf bpb.de. +Für Armenien, ein Land von der Größe Brandenburgs, und seine rund drei Millionen Einwohner ist die jüngste Eskalation in Bergkarabach eine Tragödie. Nicht nur wegen der verlorenen Dörfer und Städte und Zehntausender Flüchtlinge. Die Gesellschaft muss damit leben, dass viele Männer nicht zurückkehren. Was macht der Verlust ihrer Nächsten mit Freunden und Familie? +"Im Moment", sagt Gajane Hakobian (24), "bin ich noch in der Phase der Tränen." Sie ist die vier Jahre jüngere Schwester von Hakob, einem Wirtschaftsstudenten, der schon während des Studiums für die Zentralbank Armeniens jobbte. Hakob hatte mit Ende 20 feste Pläne, war versiert in Steuergesetzgebung und Monetarismustheorie, programmierte in Python und sammelte Gelder für den aus der Universität hervorgegangenen Thinktank Enlight Studios. +In den abgedunkelten Räumen dieses Clubs sitzt nun Gajane und spricht über ihren Bruder. "Seit ich klein war, war Hakob mein Berater, mein Freund und Vertrauter", sagt sie. Ihre Sätze klingen vorformuliert, aber als sie spricht, laufen Gajane Tränen über die Wangen. "Nach außen wirkte Hakob oft kontrolliert, nur zu Hause sprach er über seine Gefühle." Als die Einberufung kam, sei er aufgebrochen, ohne Zögern, ohne falsches Pathos. "‚Wenn der Krieg vorbei ist', hat Hakob gesagt, ‚mache ich weiter mit meinem Leben.'" +Während der Kämpfe wähnte die Familie Hakob weit von der Front entfernt. Er sagte, er sei außer Gefahr. Hakob wollte nicht, dass sie sich sorgen. Das macht den Verlust nun noch schwerer. Ihr habe es aber geholfen, seine Leiche zu sehen, sagt Gajane: "Als kleiner Junge ist er gestürzt und hat eine Narbe am Kinn zurückbehalten. Als ich die sah, wusste ich, dass es Hakob ist. Sein Tod wurde real." Vielleicht, sagt sie, könne sie bald mit anderen Hinterbliebenen sprechen. Zwei Freundinnen haben auch ihre Brüder verloren. +Die Hinterbliebenen erleben diese Wochen als Zäsur. Seit derSamtenen Revolutionhat sich die armenische Gesellschaft rasant für den Westen geöffnet. Damals im Frühjahr 2018 gingen Tausende vor allem junge Armenier gegen die Wahl Sersch Sargsjans zum Premierminister, die regierende Republikanische Partei, Korruption und Machtmissbrauch auf die Straße. Mit Erfolg: Sargsjans trat zurück, der Oppositionspolitiker Nikol Paschinjan übernahm mit transparenterer Politik. Viele Expats, die früher im Ausland gelebt hatten, kehrten zurück nach Armenien. +Heute reiht sich in Jerewan ein Tech-Start-up ans nächste, und vor der gewachsenen Zahl an Coffeeshops im Brooklyn-Look scrollen armenische Jugendliche durch ihre Instagram-Feeds. Die Jungen sahen neue Chancen in ihrer immer noch armen Heimat, die hohe Jugendarbeitslosigkeit begann langsam zu sinken. Dann kam die Pandemie, dann kam der Krieg. Was hat sich für junge Armenier geändert? +"Für uns steht alles in einem anderen Verhältnis", sagt Gajane. "Die Dinge, die wir angeblich brauchten, werden wir jetzt hinterfragen." Sie selbst wolle mehr in der Gegenwart leben, nicht mehr so weit vorausplanen. "Ich versuche, die Momente mit meinen Liebsten zu genießen." +Hrant Uzunian sieht es ähnlich: "Was uns früher wichtig war, hat seinen Wert verloren." Er fühlt sich durch Davids Tod plötzlich erwachsener, kümmert sich um Angelegenheiten, die andere Familienmitglieder in ihrer Trauer nicht erledigen können. "Ich muss meinen Eltern eine Stütze sein." +Auf dem Heldenfriedhof Jerablur bei Jerewan, dessen Grabstätten sich im Krieg verdoppelt haben und auf dem weiter täglich neue Gräber ausgehoben werden, treffen sich Familie und Freunde von Davit Babajanian. Davit wurde 18 Jahre alt, auch er war noch im Wehrdienst. Am 40. Tag nach seinem Tod, ein Ritual in der armenisch-apostolischen Kirche, haben sich Angehörige und Freunde um sein Grab versammelt. "Du kommst nicht zurück!", ruft seine Mutter immer wieder in den Himmel. +Auch Davit hinterlässt Geschwister, die sich nicht verabschieden konnten. Sein großer Bruder lebt in Sibirien und konnte wegen der Corona-Pandemie nicht nach Hause kommen. Seine Schwester Jemma (21) hält die Mutter am Arm und erzählt von Davit, weil die Mutter um Fassung ringt. +Am Ende der Zeremonie bleiben drei seiner Freunde auf dem Friedhof zurück. Arman, Grigor und David sind zusammen mit Davit durch ihr Viertel Vardashen gezogen, seit sie klein waren. Davit, so erinnern sie sich, war für jeden Unsinn zu haben. In Karabach sei er plötzlich ernst geworden. "Er hat sich am Telefon und bei WhatsApp immer wieder für unsere Mühe bedankt", erzählt Schwester Jemma. "Er wollte unserer Mutter Arbeit abnehmen, wenn er zurückkehrt." +Davit kommt nicht zurück. Und seine Familie, seine Freunde versuchen wie Tausende andere, ihren Frieden zu machen mit dem Krieg und ihren Verlusten. Das kann gelingen – wenn es friedlich bleibt: Zuletzt gab eswieder Gefechtein Bergkarabach. diff --git a/fluter/bergsteiger-mount-everest-angst-protokoll.txt b/fluter/bergsteiger-mount-everest-angst-protokoll.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b8856a6d6b6c7b3ea9a34b612634af800ea2689c --- /dev/null +++ b/fluter/bergsteiger-mount-everest-angst-protokoll.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Keine einfache Entscheidung, denn dafür gibt es ja weder ein Studium noch eine Ausbildung. Und dann komme ich auch noch aus Ostwestfalen, wo es nicht mal Berge gibt. Aber was soll's. Immerhin gab es eine Kletter-AG in meiner Schule. Mit Anfang zwanzig begann ich, höhere Berge zu besteigen. Im April 2014 gelang mir eine Solobesteigung der etwa 6.800 Meter hohen Ama Dablam in Nepal. Ein Jahr später befand ich mich gerade im Basecamp des Mount Everest, als plötzlich eine riesige Lawine anrollte und alles unter sich begrub. Ich hatte Todesangst – aber ich überlebte und fühlte mich danach wie wiedergeboren. Und sah plötzlich alles glasklar vor mir: Ich wollte den riskanten Weg gehen und Profibergsteiger werden. +Wenn ich bergsteige, vergesse ich alles andere um mich herum. Es gibt nur die Gegenwart, und in der muss ich ganz bewusst sein, um keine Fehler zu machen. Natürlich habe ich auch Angst. Nur darf die Angst keine Kontrolle über mich haben, sondern sie muss einen Fokus erzeugen auf das, was ich gerade tue. Dann ist auch die Angst positiv zu bewerten. Als Kind hatte ich sogar Höhenangst. Das Klettern hat mir dabei geholfen, sie zu überwinden. Später habe ich Angst vor dem Stürzen bekommen. Beim Training in der Kletterhalle stürze ich absichtlich aus verschiedenen Höhen. Ich sage mir immer: Nur wer fällt, dem wachsen Flügel. +Heute, mit 28 Jahren, kann ich vom Bergsteigen leben. Ich halte Vorträge, habe Sponsoren und auch ein Buch geschrieben. Zuletzt noch ein kleines E-Book, in demich erkläre, warum gerade Faulheit erfolgreich machen kann. Dabei geht es nicht ums Nichtstun, sondern um fokussiertes Tun. Aktuell lebe ich in Frankreich und habe ein sehr gutes Trainingscamp direkt vor der Haustür: den Montblanc. Heute fragen mich meine Eltern nicht mehr, ob ich nicht doch lieber Medizin studieren möchte. Und das, obwohl ich noch nicht mal eine Rentenversicherung habe. + +Zivilcourage beweisen, seine Träume verfolgen oder Ängste bezwingen – ein bisschen Risiko kann sich lohnen. In unserer Reihe berichteten neben JostzweiweitereMenschen vom Wagnis ihres Lebens. + diff --git a/fluter/bericht-helfer-corona-krise.txt b/fluter/bericht-helfer-corona-krise.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3e33ac9d1721acbdaee2d3233c7e875115850a86 --- /dev/null +++ b/fluter/bericht-helfer-corona-krise.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Leoni Riedel, 21, Medizinstudentin aus Jena, arbeitet im Gesundheitsamt. +"Meine Semesterferien waren komplett durchgeplant. Als dann alles ausgefallen ist, war klar, dass ich irgendwo helfen möchte. Ich arbeite seit knapp zwei Wochen in einem Team aus sieben Studierenden im Gesundheitsamt Jena, mit Vertrag und Gehalt. Wer positiv getestet wurde, wird von uns angerufen. Die Infizierten sollen uns alle Menschen nennen, mit denen sie seit zwei Tagen vor den ersten Symptomen Kontakt hatten. Diese Personen versuche ich zu erreichen und informiere sie, dass sie in Quarantäne gehen sollten. +Wenn jemand nicht damit gerechnet hat, infiziert zu sein,sind ziemlich viele Kontaktpersonen zu ermitteln. Einmal musste ich die Eltern einer kompletten Kindergartengruppe anrufen, ein anderes Mal ging es um alle Menschen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt gemeinsam im Wartezimmer beim Arzt gesessen haben. An einem meiner ersten Tage habe ich über hundert Anrufe gemacht. Die meisten Menschen, mit denen ich spreche, sind supernett und verständnisvoll, viele bedanken sich für meine Arbeit. Durch den Job verstehe ich die Abläufe rund um die Tests und die Quarantänen viel besser. Das hilft mir, mit der Situation umzugehen." +Affan Ahmed Ghafoor, 28, ist Chirurg am Klinikum Hochsauerland und hilft bei der medizinischen Beratung von Geflüchteten. +"Anfang März wollte ich eigentlich mit der Hilfsorganisation Humanity First bei einem Projekt in Benin helfen. Das wurde wegen der aktuellen Situation abgesagt. Als die Anfrage der thüringischen Landesregierung kam, ob jemand in Suhl in der Erstaufnahme fürFlüchtlingeunterstützen kann, habe ich direkt zugesagt. +Ein Bewohner war positiv auf SARS-CoV-2 getestet worden, die gesamte Einrichtung daraufhin in Quarantäne gesetzt. Bei vielen der 500 Bewohner hat das zu Panik geführt,und es kam zu einem Polizeieinsatz, bei dem ein Teil der Menschen verlegt wurde. Zusammen mit zwei anderen Ärzten sollte ich die Bewohner kurzfristig medizinisch versorgen, weil auch der Arzt, der normalerweise in der Einrichtung arbeitet, in Quarantäne gehen musste. +Wir haben Schnittwunden und Bluthochdruck behandelt, Corona-Abstriche gemacht und vor allem: Fragen beantwortet. Welche Symptome treten auf, wenn man mit dem Virus infiziert ist? Wie lange dauert die Quarantäne? Wie kann man sich schützen?Wie im Rest der Bevölkerung herrscht natürlich auch im Flüchtlingsheim Unsicherheit, was das Thema angeht." +Noah Adler, 16, Schüler aus Berlin, hatcoronaport.netprogrammiert, ein Portal für Nachbarschaftshilfe. +"Das Portal soll Menschen, die Hilfe suchen, undNachbarn, die helfen möchten, zusammenbringen. Dafür wollte ich eine schnelle und pragmatische Lösung finden. Und weil ich gerade keine Schule und deshalb Zeit habe, habe ich einfach drauflosprogrammiert. Ich bin darauf gekommen, als ich vor ein paar Wochen gelesen habe, dass es Menschen aus verschiedenen Risikogruppen während der Corona-Pandemie besonders schwer haben werden. +Bisher haben sich allein in Berlin etwa 3.200 Helfer auf coronaport.net registriert. Einige haben mir geschrieben, dass sich so viele Menschen bei ihnen gemeldet haben, dass sie ihr Angebot wieder runternehmen wollen. Anfangs waren vor allem diejenigen beliebt, die Desinfektionsmittel abzugeben hatten. Mittlerweile sind die Angebote aber oft sehr kreativ: Es gibt Menschen, die Onlinetanzkurse anbieten, um den ‚Stress wegzuschütteln', die eine gemeinsame Reise aufs Land planen, sobald man wieder zu mehreren rausdarf, oder die schreiben, dass sie auch einfach mal vorbeikommen und winken können." +Kim Gerlach, 27, Business Developerin, bietet Hilfe in ihrer Berliner Nachbarschaft an. +"Bisher habe ich drei Einkäufe gemacht. Das läuft so ab: Ich gehe zu den Menschen in den Hausflur, sie schieben mir in einer Schüssel Geld und die Einkaufsliste hin, ich lasse meinen Ausweis als Pfand da und gebe später die Einkäufe und das Wechselgeld ab. Zuerst hat sich übercoronaport.netein junges Paar bei mir gemeldet. Sie hatten Fieber und baten mich, ein Thermometer zu besorgen. Ich hatte ein etwas mulmiges Gefühl – aus Angst vor dem Virus. Ein anderes Mal habe ich für eine ältere Frau in der Nachbarschaft eingekauft, die sich bestimmt noch mal bei mir melden wird. +Gerade komme ich von meiner dritten Tour, für die ich insgesamt 18 Kilometer Fahrrad gefahren bin – sogar durch einen kleinen Schneesturm. Ich kam klitschnass bei dem Mann an. Er saß im Rollstuhl, aber vor Corona hatte er keine Angst. Er wollte mir sogar die Hand geben und mich reinbitten. Ich habe ihm erklärt, dass wir uns auch ohne Symptome gegenseitig anstecken können. Die Begegnung hat mich nachdenklich gemacht: Ich glaube, die aktuellen Hilfsangebote werden auch von Menschen genutzt, die sie vor der Corona-Krise schon genauso gebraucht hätten – aber nicht bekommen haben. Der Einkauf für ihn war ganz witzig:Ich lebe vegan– und die Liste des Mannes war sehr wursthaltig. Ich kannte mich überhaupt nicht aus und musste bei der Hälfte nachfragen." +Louisa Strahl, 30, ist gelernte Schneiderin und schult aktuell zur Industriekauffrau um. Sie näht ehrenamtlich Mund-Nase-Masken für ein Krankenhaus. +"Wenn ich hier zu Hause sitze und sehe, was in der Welt passiert, fühle ich mich hilflos. Wenn ich nähe, habe ich aber das Gefühl, ein bisschen helfen zu können. Meine Abschlussprüfungen Ende April wurden verschoben. Ich habe also viel Zeit und über Social Media mitbekommen, dass ein Krankenhaus in Dresden Menschen dazu aufruft, Masken zu nähen. Das Krankenhaus hat eine Anleitung geteilt: Die Masken sollen mindestens zweilagig sein, aus dicht gewebtem Baumwollstoff und mit Schnüren zum Zubinden, weil Gummibänder nicht bei 95 Grad gewaschen werden können.Sie nennen sie ,behelfsmäßige Gesichtsbedeckung' und nicht ,Mundschutz', wahrscheinlich aus rechtlichen Gründen.Ich weiß gar nicht, wer sie im Krankenhaus trägt, ob das Angehörige sind, die zu Besuch kommen, oder jemand am Empfang. +Für eine Maske brauche ich zehn Minuten. Ich habe in knapp zwei Wochen schon über 100 Stück hergestellt und nach Dresden gesendet. In meinem Arbeitszimmer habe ich einen so großen Stoffvorrat, dass ich damit auch Freundinnen versorge, die mithelfen wollen. Alte Tischdecken eignen sich besonders gut, weil sie aus kochfester Baumwolle sind. Die Masken sehen ganz unterschiedlich aus: Ich habe zum Beispiel einen Stoff mit Schmetterlingen und einen mit einem ganz wilden Achtziger-Jahre-Muster genutzt. Das war früher Bettwäsche. Wenn ich rausgehe, trage ich natürlich selbst auch Maske – eine aus Eulenstoff." + + diff --git a/fluter/bericht-von%20tieraktivisten-soko-tierschutz.txt b/fluter/bericht-von%20tieraktivisten-soko-tierschutz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..559563cc1e255604c2369098a1c2fb3189935ebe --- /dev/null +++ b/fluter/bericht-von%20tieraktivisten-soko-tierschutz.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Nach 14 Stunden Verfolgung bis hinter die ungarische Grenze ging es schließlich über einen Feldweg zur Mastanlage. Jetzt begann der wichtigste Teil: die Dokumentation, bei der ich natürlich nicht erwischt werden wollte. Zwar ist das Fotografieren keine Straftat, aber die Angestellten und das Sicherheitspersonal reagieren oft aggressiv. Deshalb zog ich meinen Tarnanzug über. Langsam auf dem Bauch robbend näherte ich mich der Mastanlage. Es waren über 30 Grad, und mir war knallheiß. So mussten sich die Puten im Transporter fühlen. +Seit Juli ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen einen bayerischen Milchviehbetrieb, nachdem Aufnahmen der Soko Tierschutz veröffentlicht worden waren. Obwohl die Aufnahmen heimlich entstanden, dürfen sie im Verfahren verwendet werden, wenn ihre Echtheit bestätigt wird. 2018 wurden erstmals Aktivisten freigesprochen, die illegal in einer Mastanlage gefilmt hatten. Das Tierwohl sei in diesem Fall höher zu gewichten als das Hausrecht der Betreiber, entschied das Gericht. +Der Lkw war nur noch fünf Meter von mir entfernt. Als ich meine Kamera zwischen Brennnesseln installierte, hörte ich das erste laute Krachen: Jemand hatte eine 20 Kilogramm schwere Pute, die nicht mehr allein laufen konnte, in einen Metallbehälter des Transporters geschmissen, in den 500 bis 600 Tiere hineinpassen, verteilt auf sechs Etagen. Die Schlachthofarbeiter verluden Hunderte Puten und ließen ihren Frust an den Tieren aus, schlugen auf sie ein oder kickten sie mit Füßen in die Käfige. Daneben stand ein Kontrolleur, der eigentlich das Wohl der Tiere gewährleisten soll, und rauchte. Nach 25 Minuten war der Spuk vorbei, und wir folgten dem Laster wieder zurück nach Deutschland. "Regional" scheint mir ein sehr flexibles Siegel. +Die Mitarbeiter, die diesen Job machen, sind arme Kerle, die schlecht verdienen. Manche, die genug haben von dem Elend, wenden sich an uns. Diese Whistleblower können für uns Kameras installieren, selber filmen oder uns Dokumente zuspielen. Oft sind das so richtig harte Typen, die irgendwie in dieses System reingeraten sind, ihr Leben lang Tiere misshandelt haben und plötzlich nicht mehr können. +Nachdem wir uns in der Vergangenheit mit ähnlichen Quälereien an die Öffentlichkeit gewandt hatten, wurde mein Auto beschädigt, mein Briefkasten aufgebrochen, mir wurde aufgelauert. Aber der Erfolg ermutigt mich, weiterzumachen. Nach unseren Recherchen wurden allein in den letzten zwei Jahren sechs Schlachthöfe, ein Tierlabor und zahlreiche Mastanlagen geschlossen. Tierschutz ist zwar ein Kampf gegen Windmühlen, aber meine Arbeit hat etwas in der Gesellschaft verändert. + diff --git a/fluter/berichte-aus-dem-dreck.txt b/fluter/berichte-aus-dem-dreck.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..64e4b94780a9dd383dd414eceb1e65283004f672 --- /dev/null +++ b/fluter/berichte-aus-dem-dreck.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Arkadi Babtschenko, 1977 in Moskau geboren, geriet mit 18 Jahren als Wehrdienstleistender in die Wirren des Tschetschenienkriegs. Nach seiner Rückkehr studierte er in Moskau Jura und wurde Journalist bei der "Nowaja Gaseta", einer der wenigen kritischen Oppositionszeitungen, für die auch Anna Politkowskaja bis zu ihrer Ermordung schrieb. +In seinen Texten bewegt sich Babtschenko zwischen Literatur und Journalismus, verbindet Wahrheitsanspruch und Erzählwillen. Er schreibt, was er sieht. Zum Beispiel 2008, wie er als Journalist denKrieg zwischen Russland und Georgienum Südossetien miterlebte. +Babtschenko beschreibt die Opfer des Krieges in schonungsloser Nahaufnahme: Der getötete Georgier ist noch immer nicht verbrannt – die Leiche liegt weiter an der Kurve. Die Bauchmuskeln sind durchgebrannt, und aus der Leiste ragt ein Knäuel verschmorter gelber Gedärme hervor. +Er gibt wieder, wie ihn ein Pressesekretär der russischen Armee in Südossetien begrüßt: "Woher?" – "Von der Nowaja Gaseta." – "Oh, die kennen wir. Wieder die Armee mit Scheiße übergießen, was? Was wirst du schreiben?" – "Keine Ahnung. Ich werde schreiben, was ich sehe." +Er schildert, wie er abstumpft: Ich stelle mich auf den Bordstein und fotografiere in Großaufnahme. Mit Augenhöhlen und allen Einzelheiten. Rotes, angebranntes Fleisch kriecht ins Objektiv. Empfindungen? Absolut keine. Wie schnell sind alle moralischen Verbote in mir abgestumpft. Das ist das Abscheulichste – dass man den Tod wie einen Job betrachtet. +In "Ein Tag wie ein Leben", seinem neuesten Buch, schlägt Babtschenko einen hundert Jahre umfassenden Bogen von den jüngeren bis zu den älteren Kriegen Russlands – mit Umwegen über den Irakkrieg der USA, über Abu Ghraib, über die Folterpraxis der CIA. Das ist das Überzeugende an seiner Perspektive: Babtschenko ist auf keiner Seite – außer auf der Seite der Versehrten. Mal nah dran, als Kriegsberichterstatter oder Porträtautor, mal aus der Halbdistanz, als Protokollant vom Krieg zerstörter Schicksale, mal im Rückblick, fast als Historiker. +Und egal wohin Babtschenko geht, der Krieg ist schon dort. Er sieht ihn, besser als andere. Weil er ihn selbst erlebt hat. Er trifft ihn in einer Moskauer Metrostration, in Gestalt von drei verlorenen Veteranen: Auf diese drei kommen fünf Medaillen, sechs Krücken, zwei Prothesen und ein einziges Bein. +Er hört den Krieg in der Wut eines Veteranen, der sich von seinen Mitbürgern alleingelassen fühlt: Ihr Land führt Krieg, und sie scheißen darauf! Dann scheiße ich auch auf sie. Nicht einer von ihnen soll sterben, ohne erfahren zu haben, was Krieg ist. Ich will, dass auch sie in den Nächten schreien und im Schlaf weinen und dass sie unters Bett kriechen, wenn auf dem Hof ein Silvesterknaller explodiert, und vor Angst winseln, so wie wir gewinselt haben. +Für manchen Leser mag die Art und Weise überraschend sein, mit der Babtschenko gegen den Krieg anschreibt. Es ist nicht die klassisch pazifistische Perspektive mit bunter Fahne und Friedenstaube in der Hand. Babtschenko bedient sich militärischen Vokabulars und lässt, ganz selten, auch mal einen Windstoß von kriegerischem Abenteuer und Heldentum durch seine Zeilen wehen. +Sein Pazifismus ist ein pragmatischer, ein Pazifismus eines ehemaligen Soldaten, der auf der einen Seite stumpf vom Krieg ist, auf der anderen Seite aber bis zu Heulkrämpfen, bis zur Verzweiflung empfindsam und sensibel. Babtschenko ist "embedded" im besten Sinne: eingebettet in die körperlichen und seelischen Nöte der Kriegsversehrten. +Und so besteht sein Pazifismus auch manchmal darin, die schlechte Ausrüstung der russischen Armee anzuprangern, so fragt er in "Ein Tag wie ein Leben": Wo ist der BTR-90, wo der Panzer "Schwarzer Adler", wo der Hubschrauber "Schwarzer Hai", wo der Jagdpanzer "Berkut", wo der BMD-4, wo der "Tiger", wo der "Schiffer", wo der "Msta-S", mit denen ihr auf den Paraden so angebt? +Sein Urteil über das heutige Russland unter Wladimir Putin: Immer noch das gleiche große Imperium mit einer viehischen Einstellung zu den eigenen Menschen. Arkadi Babtschenkos Offenheit bleibt nicht ohne Folgen. Im vergangenen Jahr berichtet erin einem Interview, dass er wegen seiner Tätigkeit als Journalist in drei Strafprozesse verwickelt sei, dass man ihn beschatte und er, wenn er das Haus verlässt, sich mitunter eine kugelsichere Weste anlege. +Bei seiner Arbeit, sagt er, gehe es nicht um Interpretation. Es gehe darum, so tief wie möglich in den Dreck hineinzukriechen, wieder herauszukriechen und danach einen Text zu schreiben. Man müsse die Dinge selbst sehen. diff --git a/fluter/berlin-alexanderplatz-film.txt b/fluter/berlin-alexanderplatz-film.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..87d338cfaeafec3b941f0d0f93e0138e6cede4c7 --- /dev/null +++ b/fluter/berlin-alexanderplatz-film.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Wie wird's erzählt? +Mit allen Registern des Erzählkinos. Die Kamera fliegt virtuos durch den Raum, meist zu realen Berliner Schauplätzen, die aber nachts mit Neonlicht und Nebelschwaden verfremdet werden. Die Montage entführt in Erinnerungs- und Traumwelten. Ein wummernder Soundtrack lässt drei Stunden lang kaum Ruhe einkehren. Und Jella Haase, sie spielt Mieze, fabuliert als Erzählerin auf der Tonspur. Burhan Qurbani galt eh schon als große Regie-Hoffnung. So bombastisch wie in diesem – seinem dritten – Film fährt das deutsche Kino selten auf. + +Während der Berlinale 2020 haben wirSchauspielerinnen und Regisseure für Kurzinterviews getroffen– unter anderem auch Burhan Qurbani + +Was soll uns das zeigen? +Döblins Literaturklassiker von 1929 in eine von globalen Krisen geprägte Gegenwart zu versetzen kann man wahlweise dringlich oder plakativ finden. Abwegig ist der Gedanke jedenfalls nicht. Auch an deutschen Theatern wurden in den letzten Jahren viele Klassiker mit einer Fluchtthematik aktualisiert. Was der vorbestrafte Proletarier Franz Biberkopf – der Protagonist im Roman – in derWeimarer Zeitwar, sieht der Film heute im Geflüchteten Francis: das schwächste Glied in einer ungleichen Gesellschaft. Der Romanheld Franz erschlägt allerdings aus Eifersucht seine Frau, vergewaltigt seine Schwägerin und ist überhaupt ein total düsterer Charakter. Aus Francis macht der Film einen Sympathieträger, dem man jedes Glück gönnt. Qurbani hat Döblins Werk aufHumanismusgetrimmt. +Beste Nebenrolle +Albrecht Schuch stiehlt dem Hauptdarsteller Welket Bungué leider die Show. Das liegt vor allem am Rollenprofil: Schuch darf sich als Reinhold zwischen Clown, Ganove, Psychopath und Jammerlappen vollkommen austoben. +Stärkster Satz +DieTransfrauBerta und die Afrodeutsche Eva führen den hippen Club, wo auch Francis nach seiner Armamputation tanzen geht. Der reale Schauplatz, das Ballhaus in der Chausseestraße, ist noch aus den 20er-Jahren erhalten. Zumindest einmal vermischen sich hier die Zeit des Romans und ein queeres,postmigrantischesBerlin von heute. + +Schwierig +Eigentlich will man diesen Film unbedingt mögen. Die große Ambition, das handwerkliche Talent, die Diversität vor und hinter der Kamera – all das braucht der deutsche Film dringend. Aber irgendwie wirkt vieles an den Figuren bloß behauptet, die Dialoge manchmal auf alberne Art offensichtlich. "Du bist etwas ganz Besonderes", wird Francis ungefähr fünfmal gesagt. Die platte Symbolik, ein schuldbewusster Traum mit einem rot leuchtenden Kreuz nervt auch. Und wenn man einen Stoff schon drastisch aktualisiert, hätte man aus Mieze auch etwas anderes als die "Hure mit dem goldenen Herzen" machen können. +Ideal für … +… ganz Deutschland, zumindest wenn es nach Burhan Qurbani geht. Als Nächstes will er eine Trilogie zum Thema "Einigkeit und Recht und Freiheit" drehen. Wie gesagt, am Mut zum großen Wurf fehlt es ihm nicht. + +"Berlin Alexanderplatz" feierte auf derBerlinalePremiere – weshalb wir den Film auch schon im Februar besprochen haben – und läuft ab sofort in den Kinos. + +© Stephanie Kulbach/2019 Sommerhaus/eOne Germany diff --git a/fluter/berlin-strippers-collective.txt b/fluter/berlin-strippers-collective.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..af3f8a1386ae2bcad19911433c57488a464fea4a --- /dev/null +++ b/fluter/berlin-strippers-collective.txt @@ -0,0 +1,13 @@ + + +Die Bar im Wedding erinnert an ein Kabarett aus den 1920er-Jahren, es riecht nach kaltem Zigarettenrauch, und auf den überall im Raum verteilten Holztischchen brennen Kerzen. "Einmal hab ich einem Kunden einen Lapdance gegeben, währenddessen hat er mich gefragt: ‚Willst du später mit zu mir kommen? Ich mach dir morgen auch einen Avocadotoast zum Frühstück'" erzählt Edie und legt eine Kunstpause ein. Ihr Blick schweift ernst durch den Raum. "Als ob ich wegen einesAvocadotoastszu jemandem mit nach Hause gehen würde! Ich kann mir mein Frühstück selbst machen." Das Publikum lacht laut. +Die Stripper Stories sollen den Tänzer*innen wie Edie alternative Einnahmequellen bieten außerhalb der üblichen, ihren Schilderungen nach nicht immer ganz humanen Strukturen der Stripclubs: Sie erzählen von willkürlichen Kündigungen und Machtmissbrauch. Derzeit veranstaltet das Kollektiv zwei solcher Events pro Monat. Als einzige Einnahmequelle reicht das aber nicht. Die Veranstaltungen außerhalb der regulären Stripclubs sehen sie eher als eine Investition in ihre Zukunft: um Kontakte zu knüpfen, um dann irgendwann einen eigenen Stripclub aufmachen zu können. +Nach Edies Geschichte krachen Gitarrensounds der Rockband Rage Against the Machine aus den Lautsprechern. Edie springt an der Poledance-Stange hoch, klemmt einen Fuß hinter die Stange, hält sich mit ihrem rechten Arm am oberen Ende fest und dreht sich elegant im Kreis, bevor ihre High Heels mit einem lauten Knall wieder auf dem Boden landen. Unter lautem Jubel und Pfeifen verlässt Edie ein paar Minuten später und um einige Kleidungsstücke ärmer die Bühne. + + +Wirft man einen Blick auf das Instagram-Profil des Kollektivs, dann reihen sich knallige Bilder aus Berliner Clubs neben künstlerisch anmutenden Fotos und Videos. Die Beiträge haben meist um die tausend Likes. Dort ist auch ein Foto der Stripperin Katja Hippopotamus zu sehen: Sie räkelt sich in Unterwäsche auf einem Bett, zwischen den ins Gesicht gefallenen Haaren blickt sie lasziv in die Kamera. In der Caption: ein Ausschnitt einesoffenen Briefs, der mit "Dear SWERF" beginnt. "SWERF", das ist eine Abkürzung für "Sex Work Exclusionary Radical Feminist". Es ist eine Bezeichnung für radikale Feminist*innen, die Sexarbeit (dazu zählt auch Strippen) und Feminismus als Widerspruch sehen. Der Brief greift "SWERFs" direkt an: "Du musst dein Leben nicht damit verbringen, Frauen zu belästigen, die nur versuchen, über die Runden zu kommen." +Sexarbeit ist unter Feminist*innen umstritten. Manche als traditionell oder konservativ geltende Feminist*innen wie etwa Alice Schwarzer oder Mitglieder des Vereins Terre de Femmessprechen sich dafür aus, sie zu verbieten."Solange das eine Geschlecht den Körper und die Seele des anderen Geschlechts kaufen kann, so lange sind wir Frauen alle das ‚käufliche Geschlecht'", schreibt Alice Schwarzer ineinem Beitrag ihres Magazins "Emma". In Deutschland wird Prostitution seit 2002 als Beruf anerkannt. Es gibtverschiedene Gesetze, die regeln, wie und unter welchen Voraussetzungen Sexkauf erlaubt ist. Das Prostituiertenschutzgesetz verpflichtet seit 2017 beispielsweise Sexarbeiter*innen dazu, sich anzumelden und sich beraten zu lassen, und verankert eine Kondompflicht, die bei Nichteinhaltung Strafen für Kunden vorsieht. Das deutsche Regelwerk, das in Europa zu den vergleichsweise liberalen zählt, ist jedoch umstritten: Manche sehen den Schutz der Sexarbeiter*innen nicht als gewährleistet, andere befürchten eine ineffiziente Überregulierung. +Nach Edie kommt Mia auf die Bühne. Die 20-Jährige hat einen platinblonden Kurzhaarschnitt, trägt einen beigen Trenchcoat und lederne Dessous. Erst wirkt sie etwas nervös, bis sie anfängt, von ihrem Boss zu erzählen: "So sieht der aus", sagt sie und breitet ihre Arme aus. Dann schaut sie schräg ins Publikum und zieht mit der Nase eine imaginäre LineKoks. Sie spiele im Club immer ein Art Escape Game, da ihr Chef ständig etwas an ihr auszusetzen habe. Meistens kritisiere er ihre Haare, manchmal auch ihren Gesichtsausdruck. Nach jeder Anekdote hält Mia das Mikrofon weit von ihrem Mund weg, sonst würde es überpegeln– so laut muss sie selbst darüber lachen. + + +Das Strippers Collective hält es für falsch, Sexarbeit zu kriminalisieren, auf welche Weise auch immer. Daher lehnen sie auch das sogenannte "Nordische Modell" ab, das zum Beispiel in Schweden gilt und von einigen Vertreter*innen des prostitutionskritischen Feminismus gefordert wird: Dabei werden nicht die bestraft, die Sexarbeit anbieten, sondern die, die sie in Anspruch nehmen. Das langfristige Ziel des Modells ist die Abschaffung von Prostitution. Über soziale Programme soll Sexarbeitenden der Ausstieg aus der Branche erleichtert werden. Edi hält davon nichts: "Auf die eine oder andere Weise verkaufen in einer kapitalistischen Gesellschaft doch alle ihre Körper, eine Kellnerin genauso wie eine Sexarbeiterin." Sie findet es gar antifeministisch zu glauben, dass die Abschaffung von Sexarbeit die patriarchalen Strukturen dahinter abschaffen würde. Mit solchen Einstellungen trage man lediglich zur Stigmatisierung von Sexarbeiter*innen bei. diff --git a/fluter/berlinale-afrikabild-im-film.txt b/fluter/berlinale-afrikabild-im-film.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9f3e64d004042388d5c0fea3058cbadf8ea7cd7e --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-afrikabild-im-film.txt @@ -0,0 +1,32 @@ +Neben Ballús sitzt Perivi Katjavivi, Regisseur mit namibischen Vorfahren. Er spricht über seinen "Film Festival Film", der im Forum läuft: Er zeigt den Kampf einer jungen afrikanischen Regisseurin um ihren Platz in der Festivalindustrie. Verzweifelt auf der Suche nach einem Produzenten für ihren Debütfilm, stellt sie sich und den Zuschauern die Frage, ob sie jemals eine Chance haben wird. +Zwei Schritte zurück geht dagegen"African Mirror"von Mischa Hedinger. Der Film besteht fast nur aus Bild-, Ton- und Textdokumenten aus dem Archiv des Schweizer Reiseschriftstellers René Gardi (1909–2000). In unzähligen Büchern, Fernseh- und Radiosendungen und Filmen schwärmte er hemmungslos von den "schönen nackten Wilden". Gardis Erzählungen wurden in Dutzende Sprachen übersetzt und prägten so das postkoloniale Afrikabild vieler Europäer. +Hedinger verzichtet auf jeglichen Kommentar, lässt das Material für sich sprechen – und gegen seinen Macher. Denn Gardis Afrikabild zeigt keinerlei "Modernität". Der Regisseur erzählt damit auch die Geschichte des westlichen Afrikabildes: "Man sieht sich selbst im Anderen. Jede Gesellschaft hat das Bedürfnis nach Bildern des Anderen, um dadurch ihre eigene Identität zu bestimmen." + + + + +Für diese eindimensionale Sicht hat die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie den Begriff "Single Story" geprägt: "Show a people as one thing – as only one thing over and over again and that is what they become" ("Definiere ein Volk über einen Aspekt – nur diesen einen Aspekt, immer und immer wieder, dann wird es genau so"). +Dieser einseitigen Erzählung etwas entgegensetzen, das ist das Ziel der 38-jährigen Regisseurin Wanuri Kahiu aus Kenia. Sie hat eine Bewegung erfunden mit dem Namen"Afro-Bubblegum". Ihre Figuren sind fröhliche, hoffnungsvolle und stolze Menschen. In "Rafiki" – Suaheli für "Freund" bzw. "Freundin" –, der gerade im Kino läuft, sind das Kena und Ziki, zwei junge Kenianerinnen, die sich ineinander verlieben. Ihren Familien passt das gar nicht – nicht nur sind ihre Väter Konkurrenten auf politischer Ebene, Homosexualität ist außerdem in Kenia strafbar. + + + + +Kahiu erzählt die Geschichte der beiden Frauen trotz allem in bunten Bildern. Der Film wurde in Kenia verboten, da er versuche, "Homosexualität zu legitimieren und zu normalisieren". Kahiu reichte Klage gegen das Verbot ein – mit Erfolg: Dank einer Ausnahmeregelung lief "Rafiki" schließlich eine Woche lang in einem Kino in Kenia. Und er gewann als erster kenianischer Beitrag bei den Filmfestspielen in Cannes einen Preis. +Filme wie Rafiki zeigen, wie Menschen in afrikanischen Ländern nach Glück suchen und es finden. Laut Kahiu ist Afro-Bubblegum etwas Spaßiges, das nichts mit Aids und Armut zu tun hat. In einem TED-Vortrag präsentierte die Regisseurin eine auf den ersten Blick unkonventionelle Idee: ein Bechdel-Test für Fiktionen aus Afrika. "Gibt es in dem Werk mindestens zwei gesunde Afrikaner? Haben sie ein festes Einkommen, brauchen also nicht gerettet zu werden? Und zuletzt: Genießen sie das Leben?" +Mit "Afro-Bubblegum" hat Perivi Katjavivi, der Regisseur von "Film Festival Film", allerdings so seine Probleme: "Ich verstehe, weshalb sie es ins Leben gerufen haben. Dennoch: Eine Geschichte, die nur positive Bilder von Afrika zeigt, ist ebenso falsch wie eine, die nur die negativen Seiten zeigt." +Eine "balance of stories", wie sie die Schriftstellerin Adichie fordert, ist auch auf der Berlinale noch lange nicht gefunden. Aber die Suche hat begonnen. (sa) + + + +Die erste von uns vier fluter.de-Berlinale-Bloggern hat es geschafft: Fünf in einer Reihe. Als Christine Stöckel vorher vor dem Raum stand, in dem die Pressekonferenzen stattfinden, sah sie Festival-Chef Dieter Kosslick schnell vorbeilaufen (Feld unten links auf der Bingo-Karte). Zur Sicherheit hat sie noch mal bei den Berlinale-Mitarbeitern nachgefragt, ob es auch wirklich "Mr. Letzte Berlinale" war und nicht irgendein anderer Mann mit Hut. Voller Neid sagen wir: Herzlichen Glückwunsch! + +Die fünf Felder von Christine "Bingo" Stöckel +Simone Ahrweiler hat es selbst in der Hand: Wenn sie in einem Film einschläft oder aus einem rausgeht, dann hat sie ein Bingo. Und morgen läuft eine 218-Minütige Doku namens "Heimat ist ein Raum aus Zeit" - wenns da nicht klappt mit dem Sekundenschlaf... +Im Idealfall schaut sich Michael Brake einen traurigen Film über sexuelle Identitäten an. Wenn ihm dann mehr als eine Träne über die Wange kullert - Bingo! +Ob das noch was wird bei Felix Denk? Einen Mansplainer gibt es eigentlich bei fast jedem Q&A im Anschluss an die Filmpremieren, bloß sind ja mittlerweile sogar debütierende Regisseur*innen super abgeklärt. + + +"Beruht auf einer wahren Begebenheit": Das tun ziemlich viele Filme, die dieses Jahr auf der Berlinale laufen. Eigentlich fast alle, die irgendwie relevant daherkommen wollen. Dagegen ist natürlich nichts zu sagen, komisch ist es aber schon, wenn man der Fiktion scheinbar nichts mehr zutraut. Und ein Dilemma gibt es obendrein: Was genau im Film beruht denn nicht auf wahren Begebenheiten? Wo verlassen wir den festen Grund der Fakten und reisen in die wolkigen Gefilde der Fiktion? Dieses Problem hat Adam McKay in seinem Biopic "Vice" über den US-Hardliner Dick Cheney clever gelöst, Jan-Philipp Kohlmann erklärt,was er gemacht hat. + + +Titelfoto: Edition Salzgeber diff --git a/fluter/berlinale-berlin-2020.txt b/fluter/berlinale-berlin-2020.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5d047cced596817a1b062124460c230c6ef7bf7b --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-berlin-2020.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Die Feier haben sich die neuen Festivalleiter Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian, die den Leiter Dieter Kosslick nach 18 Jahren ablösten, aber bestimmt anders vorgestellt: Sie mussten sie sich einiges an Kritik anhören, als bekannt wurde, dass Jeremy Irons die Wettbewerbsjury leitet. Der britische Oscar- und Golden-Globe-Gewinner fiel in der Vergangenheit immer wieder mit kruden Statements über Abtreibungen oder dieHomoeheauf. +Außerdem sagte er einst, dass man einer Frau durchaus auf den Hintern patschen dürfe – das sei quasi Kommunikation und gehöre nicht vor Gericht. Dass Irons Berufung fast zeitgleich zum Auftakt desHarvey-Weinstein-Prozesses in New Yorköffentlich wurde(Anm. d. Red.: Der Filmproduzent wurde am 24.2. in zwei von fünf Anklagepunkten schuldig gesproch – nämlich der Vergewaltigung und der sexuellen Nötigung. Das Strafmaß soll am 11. März verkündet werden, es beträgt zwischen fünf und 25 Jahre Haft. Weinsteins Anwälte kündigten aber bereits an, in Berufung gehen zu wollen), hat die Erregung um die Personalie nicht unbedingt beruhigt. Zumal die Festivalleitung nicht überzeugend begründen kann, warum ausgerechnet Irons den Juryvorsitz für ein Festival übernehmen soll, das sich Toleranz undGleichberechtigungauf die Fahnen schreibt. Vielleicht ging es schlicht um den glanzvollen Namen. +Den hatte auch mal Alfred Bauer. Der erste Festivalleiter hat die Geschichte der Berlinale geprägt, allerdings nicht nur die, wie jetzt gerade herauskam. Er war nämlich auch ein hohes Tier in der NS-Filmbranche und obendrein ein eifriger SA-Mann,wie die "Zeit" recherchierte. Der Alfred-Bauer-Preis, der seit 1987 verliehen wird, wurde von der Berlinale-Leitung bis auf Weiteres ausgesetzt. Zugleich wurde die geplante Biografie über Bauer zurückgezogen, die sie in Auftrag gegeben hatte. Die zeichnete ein schmeichelhaftes Bild von Bauer, obgleich sie dieselben Quellen wie die "Zeit" zitiert. Mit dem Institut für Zeitgeschichte (IfZ) hat die Berlinale jetzt eine externe Forschungseinrichtungbeauftragt, die Sache zu untersuchen. Im Sommer soll sie ein Gutachten vorlegen. Halten wir fest: Die Berlinale lief holprig an. +Man darf gespannt sein, wie es weitergeht. Zumal das Programm – es fällt etwas dünner aus als zuvor – auf dem Papier nicht unbedingt spannender klingt als in den vergangenen Jahren. Die Hoffnungen ruhen auf ein paar alten Bekannten, die im Wettbewerb um den Hauptpreis, den Goldenen Bären, konkurrieren. Etwa Christian Petzold, der Berlin in "Undine" in eine metaphorische Unterwasserwelt verwandelt, oder Burhan Qurbani, der Alfred Döblins Klassiker "Berlin Alexanderplatz" in die Gegenwart transportiert hat. +Und natürlich bleibt keine Berlinale ohne einen Gender-Diversity-Report: Die 6.813 eingereichten Filme sind zu 31 Prozent unter weiblicher Regie entstanden; unter den Beiträgen, die die Berlinale schließlich auswählte, sind es 38 Prozent. Im prestigeträchtigen Wettbewerb dagegen nur 33 Prozent – im Jahr zuvor waren es noch 41 Prozent. Ein Rückschritt? Eine Konsolidierung? Und wie sind die Filme überhaupt? Darüber kann jetzt elf Tage lang mit Verve diskutiert – und auf fluter.de nachgelesen werden. + +Das vollständige Programm der Berlinalegibt es hier, Tickets jeweils drei Tage vor der Vorführungan den Vorverkaufsstellenoderonline– da heißt es aber schnell sein! Die Online-Kontingente sind immer sehr rasch ausverkauft. Der Tagesspiegel verrätein paar Tricks. +Auch dieses Jahr begleitet fluter.de die Berlinale mitRezensionen, Steckbriefen, Interviews und natürlich dem Fake-Film-Quiz! +Foto: Sebastian Wells/OSTKREUZ diff --git a/fluter/berlinale-blog-2017.txt b/fluter/berlinale-blog-2017.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b18963828f3eb472ca4192b5bcf8be9a55f6e406 --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-blog-2017.txt @@ -0,0 +1,309 @@ +Sonst noch auf dem Siegertreppchen vertreten: Den Großen Preis der Jury holte "Felicité", der Film über eine kongolesische Nachtklub-Sängerin. Mit dem Alfred-Bauer-Preis, der Filme, die neue Perspektiven eröffnen, zeichnete die Jury den polnischen Film "Pokot" von Agnieszka Holland aus. Georg Friedrich ("Helle Nächte") und Kim Min-hee ("On the Beach at Night Alone") wurden für ihre darstellerischen Leistungen geehrt, Dana Bunescu für den Schnitt von "Ana, mon amour" und Sebastián Lelio und Gonzalo Maza für ihr Drehbuch zum Teddy-Gewinner "Una mujer fantástica" über eine Transgender-Frau und "Sommer 1993" der spanischen Regisseurin Carla Simón als bester Erstlingsfilm. +Mutige Preise bei der Generation +Der erstmals vergebene und mit 50.000 Euro dotierte Dokumentarfilmpreis ging an "Ghost Hunting" von Raed Andoni, in dem er palästinensische Insassen des Jerusalemer Moskobiya-Verhörzentrums ihre Erfahrungen nachspielen lässt. +Und das waren noch längst nicht alle Preise. Unter anderem auch die Sektion Generation, die sich dem Kinder- und Jugendfilm annimmt, verteilt viele Auszeichnungen, über die unter anderem Kinder- und Jugendjury abstimmen. In der Generation 14 Plus kamen die "Butterfly Kisses" aufs Siegertreppchen, das Regie-Debüt des polnisch-englischen Regisseurs Raphael, in dem er sich dem schwierigen Thema Pädophilie angenommen hat. Die internationale Jury dagegen fand Shkola Nomar 3 am besten, eine Dokumentation über eine Schule in der umkämpften Ostukraine (hier geht's zum fluter.de-Steckbrief). +Bei so vielen Preisen lässt sich dieser Blog von der allgemeinen Sektlaune anstecken und gönnt sich jetzt einfach auch mal einen. Also, den großen fluter.de-Preis für den lustigsten Berlinale-Kommentar in einem Printmedium gewinnt Jens Balzer, Musikkritiker der Berliner Zeitung, der sichhierso seine Gedanken um "Wilde Maus" von Josef Hader macht. Der Film handelt von einem Musikkritiker einer Zeitung. (fd) +Jetzt sind alle Premieren durch (und wir ehrlich gesagt auch). Höchste Zeit also, einmal kritisch Bilanz zu ziehen +Greatest Hit +Josef Haders bitter-komischer Lebenskrisenfilm "Wilde Maus" hatte unfassbar lustige Momente, der japanische "Mr. Long" hat mich zu Tränen gerührt. Insgesamt am stärksten war letztlich aber doch der Beitrag, der nicht nur von mir als Bären-Kandidat gehandelt wird: Aki Kaurismäkis "Die andere Seite der Hoffnung" über einen syrischen Flüchtling und einen finnischen Restaurantbesitzer. +Ein Film, der zeigt, dass es kein Gramm Pathos braucht, um Menschlichkeit zu vermitteln. +Greatest Shit +Die lieben Kollegen. Leider laufen auch dieses Jahr viel zu viele Journalisten und Journalistinnen auf der Berlinale herum, die die Einlasserinnen und andere Leute vom Berlinale-Staff von oben herab behandeln, die sich vordrängeln, im Weg rumstehen, kurz: sich verhalten, als wären sie die wichtigsten Personen des Festivals. Das sind aber nun mal – sorrynotsorry – die Leute auf der Leinwand, nicht die davor. + +Gänsehautmoment +"Mr. Long" ist eine seltsame Mischung: Ein taiwanesischer Auftragskiller strandet in einem japanischen Slum, freundet sich mit dem kleinen Sohn einer drogensüchtigen Prostituierten an und entdeckt sein Talent als Imbisskoch. Es ist ein wenig Gangsterfilm, ein wenig Slapstickkomödie, ein wenig Liebesfilm, ein wenig Sozialdrama und insgesamt sehr asiatisch und poetisch. Die Szene, in der die Prostituierte, inzwischen clean, von den Yakuza-Geistern ihrer Vergangenheit eingeholt wird, macht dabei besonders melancholisch. + +Überraschung +"Trainspotting" ist ein Überfilm, ein Monument, ein prägendes Ereignis für eine gesamte Generation, zu der ich (Jahrgang 1980) auch zähle. Die Nachricht eines Nachfolgers erschien mir eher beängstigend: Das kann doch nur eine Enttäuschung werden. Doch Regisseur Danny Boyle findet den einzig richtigen Weg aus dem Dilemma, dass 95 Prozent der "T2"-Zuschauer ihn nur aus Nostalgiegründen schauen: Er macht Nostalgie direkt zum Thema des Films! Dazu kommen noch viele visuelle Ideen, ein paar richtig lustige Szenen – der Film ist gut, und mehr war nicht zu erwarten. + +Hoffnungsträger +Jetzt haben sie also die Pappbecher im Pressebereich abgeschafft. Sehr gut für die Umwelt! Das macht Hoffnung, dass die Berlinale langfristig auch keine Autofirma mehr als Hauptsponsor braucht. Oder die Stars zum roten Teppich zumindest in E-Modellen vorfahren lässt. + +Greatest Hit +Es war definitiv das Jahr der guten Dokus. Wie passend, wird doch 2017 zum ersten Mal ein mit 50.000 Euro dotierter Preis für Dokumentarfilme ausgelobt. Einerseits ist das nur richtig, denn das Genre erlebt derzeit ja einen steilen Aufstieg, vor zehn Jahren lief kaum eine Doku im Kino. Andererseits ist das super, weil die Dokusoft eine wackligere Finanzierung haben als Spielfilme. +Meine Lieblingsdoku neben "I am not your negro" von Raoul Peck war "Strong Island", der Debütfilm der US-Regisseurin Yance Ford über ihren ermordeten Bruder, dessen Fall nie vor Gericht kam. +Greatest Shit +In dem ziemlich guten "Mein wunderbares Westberlin" von Jochen Hick, auch eine Doku, über die Westberliner Schwulenbewegung, gab es eine Szene, die mich nachhaltig verstört hat. Nein, nicht die Super-8-Porno-Ausschnitte aus den 70ern von Wieland Speck (heute Sektionsleiter des Panorama), sondern wie hart sich die katholische Kirche in den 80er-Jahren gegenüber Aidskranken verhalten hat. +Gänsehautmoment +Jedes Mal, wenn das Licht nach der Vorstellung angeht, Applaus aufbrandet und die Regisseure auf die Bühne gehen. Immer ein besonderer Moment. Kann aber auch ein Mitschäm-Moment sein, wenn der Film nur so lauwarmen Applaus kriegt. +Überraschung +Eine interessante Doku lief im Kulinarischen Kino, einer Nischensektion, die nicht nur (aber besonders) für Foodnerds interessant ist. In "Atlantik" ging es um die Überfischung des Kabeljau vor den Küsten Norwegens. Die muss wohl auch das Team vom Buns Mobile Food Truck gesehen haben, die beim Street Food Market am Potsdamer Platz gastierten. In meinem Fisch-Burger für 7 Euro war gleich so wenig Kabeljau (aus dem Nordostpazifik, also laut Greenpeace ok), dass ich mich nebenan gleich nochmal anstellen musste. Diesmal bei den vegetarischen Tacos. +Hoffnungsträger +Ein tolles Debüt hat der Absolvent der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) Julian Radlmaier abgeliefert. "Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes" ist Kino über das Kino, aber nicht kopflastig, sondern lustig und mit tollen Schauspielern – zum Beispiel mit Julian Radlmaier. +Greatest Hit +Es gab für mich so einige gute, aber nicht den einen überragenden Film, daher ein Soundtrack-Hit. Aki Kaurismäki hat es in "The Other Side Of Hope" wieder – wie in jedem seiner Filme – +Greatest Shit +"Don't Swallow My Heart, Alligator Girl!" (Generation) vom brasilianischen Regisseur Felipe Bragança (Filmbeschreibung im Fake-Film-Quiz vom 14.2.). Ein krudes Romeo-und-Julia-Ethnokitsch-Bikergang-Splatter-Movie. Mit Sexploitation-Elementen. Es ist wirklich so absurd, wie es klingt. + +Gänsehautmoment +Filmgespräch mit dem Team von "For Ahkeem", dem bewegenden Film über das afroamerikanische Mädchen Daje aus St. Louis und ihren Freund Antonio. Mit 17 kämpft sie als werdende Mutter um ihren Schulabschluss, während ihm, wie vielen jungen Afroamerikanern, die sogenannten "school-to-prison-pipeline" droht. Auf Zuschauernachfrage erzählt einer der Regisseure von der positiven Entwicklung, die Daje genommen hat. "With Antonio, though, it's a sadder story." Er hat seine Bewährungsauflagen verletzt und ist zu sieben Jahren Haft verurteilt worden. Stille im Kinosaal. Sagen wir eher: Es-läuft-mir-kalt-den-Rücken-runter-Moment. + +Überraschung +Mehr oder weniger zufällig, auch aufgrund des Titels, bin ich in das einzige Screening von "Die Jungfrauenmaschine" im Zoo-Palast gestolpert. Der Film von 1988 über die sexuelle Entdeckungsreise einer jungen Frau lief als Panorama-Special, weil Regisseurin Monika Treut dieses Jahr den Special Teddy Award, eine Art Preis fürs Lebenswerk, bekam. Neu für mich: dass es in den 80er-Jahren einsinnliches, humorvolles feministisches Kinogab, das im lässigen Dissens zum deutschen Film der damaligen Zeit (oder überhaupt zum deutschen Film) stand. Wie feindselig ihre Filme seinerzeit in der BRD rezipiert wurden,erzählt Monika Treut in einem lesenswerten Interview mit dem "Tagesspiegel". + +Hoffnungsträgerin +Auch wenn wir sie in unserem Lieblingsfrauen-Listicle schon gewürdigt haben, kann es für mich hier nur eine geben: "Maman Colonelle" Honorine Munyole. Wer könnte schon mehr Hoffnung geben als eine hemdsärmelige kongolesische Polizistin mit akkurat sitzender Uniform und adrettem Haarschnitt, die im Dokumentarfilm von Dieudo Hamadi Dutzenden Menschen ein Leben in Würde zurückgibt? + + +Greatest Hit +Die wütenden, klugen und mutigen Frauen: Wie sich Jakob Lass' Tiger Girls durch Berlin pöbeln, wie die junge Mutter in "For Ahkeem" für ein neues Leben kämpft, wie die zynische Patricia Clarkson in "The Party" jeden auf den Punkt disst und wie Anjela Nedyalkova in "Trainspotting" mit einer Tasche voller Scheine verschwindet. +Greatest Shit +Im Pressebeutel der Berlinale war diesmal so ein toller silberner Kaffee-To-Go-Becher, damit weniger Pappbecher im Müll landen. Mein Tipp: Tolle Berlinale-Kaffee-To-Go-Becher nicht aus den Augen verlieren. Wenn es hunderte davon gibt, ist es völlig unmöglich seinen wiederzufinden. Unmöglich. + +Gänsehautmoment +Wie Maggie Gyllenhaal über ihre Ängste hinsichtlich der USA redet. Etwa als sie erklärt, dass gerade jeder Film politisch sei, weil die Menschen in ihrem Land kaum etwas anderes als Politik im Kopf hätten. "Meine Kinder träumen mittlerweile von Trump", sagt sie. +Überraschung +Da ich nie in Luxus-Hotels unterwegs bin: Die Fahrstuhlfahrt zum Jakob-Lass-Interview und die einzigen zwei Knöpfe im Fahrstuhl für 1. und dem 24. Stock. Bis jetzt frage ich mich, wo die anderen Stockwerke sind. Mein Gleis-Neundreiviertel-Moment. + +Hoffnungsträger +DJ Move Dstehtin der Doku "Denk ich an Deutschland in der Nacht" auf einer Wiese im Nirgendwo. Fünf Minuten lang erklärt er vollkommen entspannt, aber doch mit Überzeugung den Zusammenhang zwischen elektronischer Musik, Astrophysik, der ersten Mondlandung, seinem Vater, Landschaften, Pferden und Äpfeln. Und das Ganze ergibt sogar Sinn. Ich lebe seit sechs Jahren in Berlin, doch in diesem Moment mag ich Elektro zum ersten Mal. Move D deshalb: mein persönlicher Hoffnungsträger. +Die Berlinale empfängt gerne große Namen aus der Filmindustrie, will aber unbedingt auch der Ort für ein "anderes Kino" sein. Im Rahmen des Teddy Award finden die "Diversity Talks" statt, eine Debattenreihe rund ums "Queer Cinema", in der Filmkritiker Toby Ashraf mit der Schwedin Lia Hietala und dem Australier Neil Triffett sprach, zwei Filmschaffenden aus dem Kinder- und Jugendprogramm Generation. Bei "Queer for the Kids" geht es um Jugendfilme, die Gender-Diversität und Teenager-Identitäten abseits der heterosexuellen Norm zeigen. +Fünf Anregungen aus der Debatte, warum es auch für Jugendliche mehr queere Filme geben sollte: +1. Queere Filme klären auf +Vor nicht allzu langer Zeit wurde Homosexualität im Unterricht gerne mal anhand eines Pädophilie-Clips behandelt, berichtet Toby Ashraf. Auch wenn das heute eine Seltenheit sein dürfte: In Zeiten, in denen auch in Deutschland gegen eine nicht-normative Sexualaufklärung demonstriert wird, gibt es immer noch zu wenig Diversität in der Schulbildung. Queere Filme zeigen ganz nebenbei, dass Geschlechteridentitäten nicht festgeschrieben sind und dass es deutlich mehr gibt als Mann + Frau = Kind. +2. Queere Filme können ziemlich witzig sein +Und oft lernt man dabei etwas über die Klischees, die einen selbst geprägt haben. In "EMO the Musical" von Neil Triffett etwa versucht ein sehr katholischer Junge seine Homosexualität loszuwerden und besucht eine "Conversion Therapy" (gibt's leider wirklich), um schließlich einzusehen, welch absurden Männlichkeitsidealen er da nacheifert. Und im Kurzfilm "Min Homosyster" von Lia Hietala gibt es die schöne Idee, dass die Schüler einer Klasse eine neue Sprachregel einführen: Statt des Schimpfworts "Pussy" sagen sie jetzt einfach immer "Fanta Exotica". +3. Queere Filme stoßen den Erfahrungsaustausch an +"Kino heißt streiten", sagt der französische Regisseur Jean-Luc Godard. Er meint damit: Kaum eine Kunst provoziert so sehr die unmittelbare emotionale Reaktion wie der Film – im Positiven wie im Negativen. Im Positiven heißt das etwa: Wenn man sich in einem Film wiederfindet – oder gar etwas Neues über sich erfährt, gibt das oft erst den Anstoß, darüber auch sprechen zu können. +4. Heteronormative Filme gibt's eh genug +Siehe Disney, Oscars, Til Schweiger etc. pp. Und auch wenn in den letzten Jahren mehr queere Filme entstehen, schaffen sie es meist nicht ins Kino, weil sie von den Verleihen als "Nischenwerke" gelabelt werden. Deshalb: +5. Gender Diversity muss raus aus der Nische +Leider ist "Queer for the Kids" ein gutes Beispiel. Während die Festival-Prominenz direkt beim Berlinale-Palast über Nachwuchsstars und Filmförderung plaudern darf, finden die "Diversity Talks" in einer Craftbeer-Brauerei am Gleisdreieck statt, weit ab vom Festivalzentrum. Circa 15 Zuschauer sind da und – den Redebeiträgen zufolge – scheinen sich alle persönlich der Queer- oder Schwulen-Szene zuzurechnen. Wie wichtig ist dir das Thema jetzt eigentlich, Berlinale? + +Am Publikumstag der Berlinale läuft übrigens traditionell die "Teddyrolle", ein Kurzfilmprogramm mit queeren Filmen aus dem diesjährigen Festival: Sonntag, 19.02.2017, um 16 Uhr im Kino International. (jpk) + +Für blinde und sehbehinderte Menschen ist es schwierig, einen schönen Kinoabend zu haben. Aber nicht unmöglich. Christine Stöckel beschreibt, was passiert, wenn ein Film zum Hörfilm wird +Solange es im Kino still ist, schweigt auch die App. Ich sitze im Berlinalepalast und die ersten Minuten von Thomas Aslans Vater-Sohn-Drama "Helle Nächte" laufen. Dank der App Greta werde ich den Film mit Audiodeskription erleben können – also mit akustischen Filmbeschreibungen, die für blinde und sehbehinderte Menschen angeboten werden. +Die Frage ist nun: Was passiert da, wenn ein Film zum Hörfilm wird, was verändert, verbessert oder verschlechtert sich? +Das Smartphone ist mit Kopfhörern verbunden. Die Audiodeskription zum Film habe ich über Greta heruntergeladen. Die App zeigt einen großen, gelben Play-Button. Ist der gedrückt, erklingt ein gleichbleibendes Geräusch: Klack, klack, klack, klack. "Helle Nächte" ist ein ruhiger Film, zu Beginn wird kaum gesprochen. Das Problem: Greta startet erst, wenn sie sich mit dem Film synchronisiert hat. Wie bei der Musikerkennungs-App Shazam funktioniert das am besten anhand von Sprache. Beim ersten Film-Dialog macht's dann plötzlich "Pling!", Greta läuft. +Audiodeskription gibt es in Deutschland seit 1989. Auf der Berlinale werden Hörfilme seit zehn Jahren angeboten – sieben laufen 2017 im Programm. "Helle Nächte" wurde eigens für das Festival audiodeskribiert. Bei "Wilde Maus" bot die Berlinale zudem ein von Dolby entwickeltes Audio Guide System an, das App-los funktioniert. "Oft haben ältere Menschen kein Smartphone. Und wie bei jeder anderen App können Probleme auftreten, wenn das Netz schwach oder nicht das neueste Update installiert ist", erzählt Anke Nicolai, sie koordiniert die Audiodeskriptionen auf der Berlinale ehrenamtlich im Namen von Hörfilm e. V. +Wieder zurück ins Kino: Die App läuft nun einwandfrei. Eine Erzählerin beschreibt alles – es ist ein bisschen wie ich es von Hörspielkassetten aus der Kindheit kenne. Gestik, Mimik, Kostüme, Schauplätze und Handlungen werden in Worte gefasst. Teils zeitversetzt, denn die Audiodeskription muss die Pausen zwischen den Dialogen abwarten. Auf der Leinwand schweigt sich das Vater-Sohn-Duo auf seinem Norwegen-Tripp an: "Luis hat blaue Augen", sagt die Stimme. Dann: "Michael schaut missmutig nach unten." Dann: "Die beiden tragen Rucksäcke, an denen Isomatten hängen, und laufen auf einen grauen Landrover zu". +Manchmal empfinde ich Dinge anders: Sind Luis' Augen nicht eher grün? Schaut Michael nicht eher traurig? Ist das überhaupt wichtig? Manchmal erfahre ich wiederum Dinge, die ich sonst nicht gewusst hätte: Die Automarke des Jeeps. Details in der norwegischen Landschaft, die mir entgangen wären. Es dauert eine Weile, dann schließe ich die Augen ganz: Mir wird die Rolle der Filmmusik plötzlich bewusster. Ich mag die Stimme der Erzählerin. Das ist wichtig, denke ich. Sie klingt sanft, zurückhaltend, beschreibt prägnant. Sie schweigt, wenn es nötig ist. Das fängt die angespannte Atmosphäre zwischen Vater und Sohn oft besser ein als jedes Bild. +"Audiodeskriptionen sind bei allen Filmen möglich", erklärt Nicolai. "Bei Komödien oder Actionfilmen kann die Stimme auch impulsiver werden. Langjährige Erfahrung und Feedback von blinden Menschen zeigen aber, dass neutrale Beschreibungen erwünscht sind." Die Erstellung Audiodeskription ist eine Teamarbeit von sehenden, nicht sehenden oder hochgradig sehbehinderten Menschen. Es gibt feste Standards, nach denen sich die AutorInnen richten. "Die Augenfarbe vom Luis-Schauspieler Tristan Göbel etwawurde zuvor bei seiner Agentur angefragt", erklärt Nicolai. +Können Hörfilme also auch ein Mehrwert für sehende Menschen sein und zum inklusiven Austausch beitragen? "Auf jeden Fall", sagt Nicolai. "Auch für Sehende kann es eine intensive Erfahrung sein. Ihre Wahrnehmung kann durch die App im Sehen und im Hören geschärft werden. Die vielen langen, schweigsamen Episoden des Films zu gestalten, das ist eine eigene Kunstform." (cs) + +Die Berlinale geht auf die Zielgerade und auch in unserem Fake-Film-Quiz ist heute die letzte Runde. Wie immer laufen nur zwei dieser drei hier aufgelisteten Filme auf der Berlinale 2017. Welchen aber haben wir erfunden? + +Streetscapes [Dialogue] (von Heinz Emigholz, Deutschland 2017) +Ein fiktionalisierter Dialog zwischen einem Regisseur und seinem Therapeuten, der auf Protokollen psychoanalytischer Sitzungen von Emigholz basiert, gedreht in Gebäuden von Julio Vilamajó, Eladio Dieste und Arno Brandlhuber in Uruguay und Berlin. + +P:Ink (von Jacinta DeForrest, Kanada / Frankreich / Großbritannien 2017) +Baker Miller Pink gilt als Farbe mit beruhigender Wirkung, die sogar in Gefängnissen eingesetzt wird, die ewig pinke Barbie als antifeministische Ikone. Jacinta DeForrests Essay nähert sich in assoziativen Miniaturen einer äußerst ambivalenten Farbe. + +Mon rot fai (Railway Sleepers, von Sompot Chidgasornpongse, Thailand 2016) +Die erste Bahnstrecke Thailands wurde 1890 eröffnet. Diese beobachtende Dokumentation zeigt die zweitägige Reise von Nord nach Süd als eine Reihe von Alltagsmomenten, deren leise Schönheit oft noch der Vergangenheit anzugehören scheint. (mbr) + +PS: Für alle, die dringend eine Karte für "Delhi ist nicht Delmenhorst" ergattern möchten, der Film aus dem letzten Fake-Film-Quiz vom Dienstag wurde noch nicht gedreht. Leider, muss man sagen. Aber das kann ja noch kommen. Spannend ist der Stoff ja allemal. +Tiere. Meistens tote Tiere. Sie sind überall auf der diesjährigen Berlinale, ganz gleich, ob man einen Experimentalfilm aus Argentinien oder einen Kriminalfilm aus Polen schaut. Die intendierte Bedeutung der Tierbilder, vor allem der Bilder von Tierkadavern, scheint oft ähnlich oder zumindest verwandt zu sein. In den beiden Wettbewerbsfilmen aus Ungarn und Polen etwa – "On Body and Soul" von Ildikó Enyedi und "Spoor" ("Pokot") von Agnieszka Holland – steht der Umgang mit den Tieren für eine Verrohung in Gesellschaften, die zunehmend autoritärer werden, wie auch dieSüddeutsche Zeitungbeobachtet hat. Der Mensch als eigentliche Bestie – für dieses alte, aber immer noch wirksame Motiv gibt es in einem Stück von Brecht ein schönes Bonmot: "Sieh an, er behandelt ihn wieder menschlich", heißt es da über einen Mann, der wütend seinen Gaul auspeitscht. +"No animals were harmed" +Eine Frage, die sich da natürlich sofort stellt, ist: Unter welchen Bedingungen wurden denn die Tiere gefilmt – insbesondere in Filmen, die sich kritisch mit der Behandlung von Tieren durch den Menschen auseinandersetzen. Für den Zuschauer ist das rein anhand der Filmaufnahmen schwer auszumachen. Er muss sich auf den beschwichtigenden Hinweis im Abspann verlassen: "No animals were harmed in the making of this movie." Bei diesem Satz handelt es sich allerdings um ein privates Gütesiegel, dass die American Humane Association (AHA) an vornehmlich US-amerikanische Filme vergibt. Was der Glaubwürdigkeit des Siegels aber nicht eben zuträglich ist:  Die Spielfilmproduktionen sind zugleich der Hauptfinanzier der AHA. Dass das Wohl der Tiere beim Dreh daher nicht immer und unbedingt die Hauptrolle spielt, kann manhiernachlesen. +Trigger Warning: Hier wird's gleich grausam +Dokus haften im Vergleich zum Spielfilm kaum für das Wohl der abgefilmten Tiere. Doch gerade hier zeigt sich beizeiten eine geradezu perverse Lust an den Bildern toter oder verendender Tiere, etwa in "The Theatre of Disappearance" und in "Untitled" vom bereits verstorbenen Michael Glawogger und seiner Cutterin Monika Willi. Beide Filme sind größtenteils in Afrika gedreht und zeigen – wann immer ein Bild für die Unwirtlichkeit der Landschaft oder den Kampf zwischen Mensch und Natur gebraucht wird – Schlachtereien, Fische und Insekten im Todeskampf oder Tierkadaver, die von Schmeißfliegen zerfressen werden. +Den sprichwörtlichen Vogel schießt jedoch "Traces" ("Wechma") ab, ein Film aus dem Jahr 1970, der im Forum in einer kleinen Rückschau des jungen marokkanischen Kinos läuft. Eine Gruppe von Kindern, deren durch Gewalterfahrungen grausam gewordenes Gemüt die Szene illustrieren soll, legt einem Käuzchen schwere Steine auf die Flügel und zündet das wehrlose Tier bei lebendigem Leibe an. Das Bild bleibt so lange stehen, dass die Tötung des Tieres vor der Kamera zur Gewissheit wird. +Ob Berlinale-Direktor Dieter Kosslick, der gern aller Welt von seiner strikt vegetarischen Ernährung erzählt, das wohl auch auf den Magen schlägt? (jpk) + +Und jetzt ganz schnell zu etwas Erbaulichem. Denn Tiere sind gestern auch auf und neben dem Roten Teppich in Erscheinung getreten. +Erst gab sich das Berliner Bundesliga-Maskottchen Herthinho die Ehre, er hatte sein Trikot passend zum Anlass gegen einen Frack getauscht. Und dann tauchte auch noch ein Pokémon auf und versperrte den Weg in den Berlinale-Palast. Muss wohl am ungewöhnlich warmen Wetter gelegen haben, dass all diese Wesen plötzlich aus dem Winterschlaf erwacht und zum Potsdamer Platz gekommen sind. (mbr) + +"In Berlin spricht man jetzt Arabisch", sagt der Mann mit dem Rauschebart auf der Leinwand. "Ja!", ruft einer im Publikum und es gibt Gejohle. Es ist ein Berliner Heimspiel an diesem Mittwochabend und die Stimmung ist ein wenig aufgekratzt, als die ersten beiden Folgen der sechsteiligen TV-Serie "4 Blocks" Premiere feiern. Eine deutsche Mafiaserie, die um Himmelswillen nicht so aussehen will wie ein öffentlich-rechtlicher 20.15-Uhr-Krimi, sondern härter, echter – richtig street-wise eben. Produziert wurde sie vom Pay-TV-Sender TNT, wo sie ab Mai auch laufen wird. +Schauplatz ist Berlin-Neukölln, wo sich Mafiaclans um Drogen, Schutzgeld, Menschenhandel kümmern. Die libanesische Hamady-Familie wird durch die Festnahme eines wichtigen Mitglieds durcheinandergewirbelt und Tino, der sich eigentlich schon von der Straße zurückgezogen hatte und Familienvater sein will, muss die Geschäfte ordnen – auch, weil sein jüngerer Bruder Abbas dafür zu hitzköpfig ist. +"Wir lassen keine Deutschen bei uns rein." +Wirkt die erste halbe Stunde von "4 Blocks" noch etwas plump, mit Aggro-Rap, Kanak-Romantik, Koks und Nutten im Club, entfalten sich zunehmend mehr Konflikt- und Handlungsebenen: Tino Hamady hofft nach 26 Jahren Warten auf das Ende der befristeten Aufenthaltsgenehmigung, auf den deutschen Pass. Eine durchgeknallte Biker-Gang (den Anführer spielt Ronald Zehrfeld) macht dem Hamady-Clan die Geschäfte streitig. Mit Vince (Frederick Lau) kommt ein alter Freund von Tino zurück in die Stadt, ein Kleinkrimineller, dem Abbas nicht vertraut: "Wir lassen keine Deutschen bei uns rein." +Dazu kommt der immer deutlicher werdende Konflikt der beiden ungleichen Brüder – es ist viel drin in "4 Blocks", es macht Spaß, diese aufwändig produzierte Serie zu gucken. Und noch ein wenig mehr, wenn man dazu noch in Berlin lebt, vielleicht sogar in Neukölln, dessen Wandlung vom Migranten- zum Hipsterviertel ebenfalls thematisiert wird. +Der Shuttle-Bus zur HipHop-Party wartet schon +Neben den genannten deutschen Filmstars setzte der österreichische Regisseur Marvin Kren auch auf Laiendarsteller, "für den – entschuldigt das Wort – Street-Swag", wie er nach der Premiere sagt. Mit dabei sind unter anderem die Rapper Veysel und Massiv, die, auch wenn sie gar nicht wirklich aus Berlin stammen, bei der Premiere sehr gefeiert werden. In Berlin aufgewachsen ist hingegen der wahre Star des Abends und der Serie: Kida Khodr Ramadan, der die Loyalitäts-Zerrissenheit von Hauptfigur Tino Hamady mit traurigen Augen spielt. Er kriegt den dicksten Applaus und draußen vor der Tür stehen schon die Shuttlebusse bereit, für die Afterparty im HipHop-Club. (mbr) + +Bevor es weitergeht ein kurzer Werbeblock. Jeder sollte wirklich unbedingt "I am not your Negro" sehen. Der kluge, politisch engagierte, fantastisch bebilderte, elegant erzählte und trotz des total ernsten Themas manchmal sogar lustige Essayfilm über den amerikanischen Schriftsteller James Baldwin, einer der wichtigsten Stimmen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, könnte gegenwärtiger kaum sein. "The story of the negro in America is the story of America", sagte Baldwin. Und diese Geschichte spitzt sich ja gerade wieder zu. Werbung Ende. +Gestern war Premiere und Regisseur Raoul Peck, der zehn Jahre an diesem Film gearbeitet hat, war natürlich auch da. Nach dem seeeehr langen und von gar nicht so wenigen im Stehen vorgebrachten Applaus kam die übliche Fragerunde. Natürlich wollten alle was zu Trump hören, und sei es nur als Therapie gegen den Schock über die politischen Ereignisse. Doch keiner wollte den Namen direkt aussprechen. Das schien den vielen klugen Menschen im Saal wohl plump (wie Trump?). Dann lieber schwurbeln. Wie er es denn als schwarzer Europäer so empfinde, jetzt gerade in Amerika zu sein, fragte einer, der sich als schwarzer US-Amerikaner vorstellte. Naja, er sei ja überall schwarz, antwortete Peck. Etwas umständlich wurde der scheinbar Unaussprechliche später umschrieben. "Der 45ste" rief einer aufgeregt dazwischen, als Peck erklärte, wie Reality TV die Wirklichkeit der Amerikaner verzerrt. +Haben die sich das bei Festival-Chef Kosslick abgeschaut? Der sagte bei der Pressekonferenz am Anfang der Berlinale: "Wir müssen über diesen Herren bis zum nächsten Impeachment wirklich nicht reden." (fd) + +Und weil "I am not your Negro", der übrigens für den Oscar nominiert ist als bester Dokumentarfilm, erst am 30.3. in Deutschland anläuft, hier schon mal ein bisschen Baldwin im Bewegtbild. Thema der Debatte an der Cambridge University: Geht der "American Dream" auf Kosten der Schwarzen? +"Tiger Girl" von Jakob Lass gehört zu den meistdiskutierten Filmen der diesjährigen Berlinale. Kein Wunder – bei den beiden schlagkräftigen weiblichen Hauptrollen. +fluter: In Ihrem Film "Tiger Girl" streifen zwei junge Frauen durch Berlin, saufen, klauen, prügeln, und oft sind ihre Ziele männlich. Ist das jetzt eine radikale Form von Feminismus? +Jakob Lass:Feministisch – das ist ein Label, das mir gefällt. Aber das setze ich mir nicht selber auf. Ich habe mit diesem Film ja keine erzieherische Agenda. Wenn, muss das jeder für sich erkennen. Und eigentlich ist es auch kein genderspezifischer Film. +Gewalt durch Frauen – das ist dennoch ein seltenes Thema, auch auf der Leinwand. +Stimmt. Ich hatte aber einfach schon diesen Titel "Tiger Girl" im Kopf und wollte eine Heldin mit diesem Namen. Aber warum keine Frauen? Für mich ist das Thema des Films unterdrückte Wut und Aggression, die im Alltag keiner zeigen würde. Und das meine ich universell, das gilt für jeden, auch für mich. Aber es ist vielleicht etwas, was Frauen noch mehr betrifft in den gesellschaftlichen Konventionen, in denen wir leben. +Die Kritik lautet ja häufig, dass Gewalt heroisiert wird, sobald sie von Frauen ausgeht. +Das habe ich über meinen Film auch schon gehört. Und ich spiele sehr ausdrücklich damit. Die beiden Frauenfiguren werden in kurzen Momenten heroisiert. Etwa wenn Tiger Girl in der U-Bahn Vanilla rettet und diese Koks-Affen mit einem Baseballschläger verprügelt. Das ist eine Überhöhung, das ist eine Heroisierung. Für den ganzen Film gilt das aber nicht. Solche Vorwürfe kommen meist von Leuten, die den Film noch gar nicht gesehen haben. Und es ist doch komisch, dass sich diese Fragen in den vielen Actionfilmen mit männlichen Charakteren nicht stellen. Dort hat man sich wohl schon daran gewöhnt. + +Ihr Film "Love Steaks" war der erste Fogma-Film der Welt. In dem von Ihnen aufgestelltenFogma-Regelwerkist zu lesen, dass es bei den Filmen um Offenheit, Wachheit und Flow geht. Auch "Tiger Girl" ist ein Fogma-Film. Wie lief das ab? +Ich gebe den Schauspielern kleine Ziele vor, die sie am Ende der Szene erreichen sollen. Ansonsten gibt es kein festes Drehbuch, die Dialoge wurden wieder frei improvisiert, ich erfinde viel. Da bringt etwa jemand, nur so aus Spaß, ein kleines ferngesteuertes Polizeiauto mit ans Set, das Tiger Girl dann später im Film plötzlich durch die Gegend fahren lässt. Dabei waren die größten Herausforderungen diesmal die Kampfsequenzen, die ja wiederum sehr genau choreografiert wurden. Die mussten so eingefügt werden, dass sie zum Rest des Films passen und sich ebenso spontan und authentisch anfühlen. Das war schwierig für die Kamera, den Schnitt und auch für die Darsteller. +Weil das Kämpfen so eine große Rolle im Film spielt und auch Sie vorhin von Aggressionen sprachen: Haben Sie schon mal daran gedacht, sich mit jemandem zu prügeln? +Eine Assoziation wären da Rechtspopulisten, jene Leute, die sich mit Fremdenfeindlichkeit an die Macht arbeiten. Aber selbst denen möchte ich keine Gewalt antun. Sondern ich möchte, dass wir Politiker haben, die denen was entgegensetzen. Gewalt hat ihren Platz in der Fiktion. Da kann man sie ausleben. Da gehört sie hin. (cs) + +Ok – da müssen wir jetzt kurz durch. Gerade kam die Studie der Filmförderungsanstalt (FFA) zum Thema "Gender und Film" heraus, und die bestätigt, was ja längst alle wissen. Im Filmgeschäft dominieren die Männer. Nur 23 Prozent der deutschen Kinofilme stammen von Regisseurinnen. Die Studie geht noch ins Detail. In den Bereichen Schnitt, Buch, Kamera und Ton sieht es ähnlich aus, nur im Kostüm, da sind die Frauen überdurchschnittlich oft vertreten. Besonders blöd: An der Ausbildung liegt es nicht. Bei den Absolventen der Filmhochschulen ist das Geschlechterverhältnis noch recht ausgeglichen. Als Erklärung nennt die Studie unter anderem branchenspezifische Faktoren. Im Film dominieren Seilschaften – und die knüpfen oft Männer. +Auf der Berlinale übrigens sind 125 von 399 Filmen von Frauen. Das kann man noch ausbauen. Und jetzt – Reisschwenk – zu unseren Lieblingsfrauen dieser Berlinale. Und die startet natürlich mit ... + +Tiger Girl (Ella Rumpf) und Vanilla (Maria Dragus): +Zwei prügelnde, pöbelnde Frauen ziehen in Security-Uniformen durch Berlin und lernen deren Macht (aus)zunutzen. In "Tiger Girl" geht es um die Entdeckung der eigenen Kraft und das Ablegen des Immer-brav-sein-müssens – das jungen Frauen immer noch vielfach anerzogen wird. Hauende Frauen auf der Leinwand, das ist trotz Figuren wie Lara Croft, Beatrix Kiddo oder Charlies Angels immer noch neu, aufregend und manchmal kaum auszuhalten. + +April (Patricia Clarkson) in "The Party" +Patricia Clarkson ist für ihre Rollen als zynischer Sidekick bekannt – oft spielt sie die lästernde beste Freundin oder die abgeklärte Ehefrau. Dabei ist sie immer klug und bewahrt einen gewissen Stil. Selbiges gilt auch für Sally Potters Kammerspiel "The Party". Hier übertrifft sich Clarkson als April selbst, wenn sie auf jeden Nervenzusammenbruch ihrer Establishment-Freunde die passende Antwort liefert. Als ihr Mann, ein esoterisch angehauchter Lebensberater, zu einem kaputten Fenster sagt: "Viel wichtiger sind doch die Fenster zu unseren Seelen", lehnt sich Clarkson langsam vor, schaut ihren Ehemann an und sagt: "Ach Gottfried, halt doch die Klappe." +Honorine Munyole in "Maman Colonelle" +Man hat den Eindruck, als sei sie Polizistin, Bürgermeisterin, Sozialhelferin und Psychologin in einem. Honorine Munyole aus dem nach ihr benannten Dokumentarfilm "Maman Colonelle" leitet eine Polizeieinheit zum Schutz von Frauen und Kindern in Kisangani, einer Großstadt im Norden der Demokratischen Republik Kongo. Selbst Witwe und Mutter von sieben Kindern, vertritt sie die Rechte von Kriegs- und Vergewaltigungsopfern, rettet misshandelte Kinder, denen Eltern und Angehörige die "Hexerei" austreiben wollen, und appelliert eindrücklich auf dem Marktplatz an die Bevölkerung der von Kriegen gezeichneten Stadt. Wie couragiert, rational und dennoch empathisch Honorine Munyole zwischen all diesem Leid bleiben kann, ist zugleich Rätsel und Hoffnungsschimmer. + +Negros (Bim Bam Merstein) in "Django" +Junge, schöne Frauen sieht man ja oft im Kino, alte und runzlige eher nicht. Ein Jammer. Sie können nämlich die besten Auftritte hinlegen. Zum Beispiel Bim Bam Merstein. Sie gibt dem bisschen lahmen Eröffnungsfilm "Django" ordentlich Schwung. Bombenalarm? Alle rennen in die Schutzbunker, sie bleibt liegen. Niedrige Gage? Sie verhandelt mit finsteren Nazis nach: "Besser spielen kostet mehr!" Was hat sie eigentlich bisher so gemacht? +Gabi (Gisa Flake) in "Gabi" +Frauen, die 'ne Ansage machen – glaubt man den Ergebnissen desBechdel-Test, muss man einige XL-Tüten Popcorn essen, bis man die mal zu sehen bekommt. Denn der Bechdel-Test zeigt immer wieder, dass Frauen in vielen Filmen erschreckend wenig zu sagen haben. Und wenn sie doch mal reden dürfen, dann meist über Männer. Gut, dass es Gabi gibt, die Fliesenlegerin aus Brandenburg. Die muss sich zwar um den dementen Vater kümmern, aber auf dem Bau, da sagt sie, was Sache ist. +Fatima in "Tigmi n Igren" +Am liebsten geht die 16-Jährige Fatima zur Schule. Sie will lernen, denn sie will Anwältin werden. Begeistert erzählt sie einer Schulfreundin davon, was sie im Fernsehen gesehen hat: dass in Marokko Frauen und Männer ab sofort gleichberechtigt seien. Doch ob ihr Traum wahr wird? Fatima lebt in einem Dorf im Atlasgebirge, ihre drei Jahre ältere Schwester Khadija geht nicht mehr zur Schule, sie wird im Sommer einen Mann heiraten, den sie nicht kennt. + +Wir hatten ja schon über dieMehrwegbecherpolitikan den Kaffeeautomaten berichtet. Erst wurden keine Pappbecher ausgeteilt, dann doch. Nach drei Tage nun die nächste Wende: auf einmal gibt es wirklich gar keine Pappbecher mehr im Pressebereich. Dafür werden jetzt kleine weiße, an Zahnputzplastikbecher erinnernde Becher für zwei Euro vermietet. Diese No-Coffee-Cup-Policy sei übrigens üblich bei internationalen Festivals, in Cannes, Los Angeles und überall sonst, erklärte uns der Barista, bevor er den nächsten perfekt temperierten Cappuccino zubereitete. Der Kampf geht weiter! (mbr) + +Und noch was zum Anschauen, für das man weder zahlen noch anstehen muss. Im Teil drei unseres Couchkinos treffen wir Ladan, die gerne skatet, sonst aber nicht viel zu lachen hat. Beste Szene: Wie die Skater-Girls die Jungs von ihrem Spot vertreiben, weil sie die Frage: "Wer ist Angela Davis?" nicht beantworten können. Der Kurzfilm "Crystal Lake" lief letztes Jahr in der Sektion Generation, die Regisseurin Jennifer Reeder ist dieses Jahr in der Jury.  (fd) +Von den 399 Filmen auf der Berlinale ist "Combat au bout de la nuit" der Längste. Fast fünf Stunden dauert die Doku über die Krise in Griechenland. Ein Minutenprotokoll +15 Uhr +Überraschung: Der Saal ist fast voll. Viele haben was zu Essen und zu Trinken dabei. Enttäuschung: Es gibt zwar überall auf der Berlinale Kaffeeautomaten von einem der Sponsoren. Hier aber, wo man wirklich einen gebrauchen könnte, fehlt er. +15.07 Uhr +Angstschweiß! Bleibt das so? In den ersten sieben Minuten Film werden erst im Stakkato Gesetzesvorlagen vor dem leeren griechischen Parlament durchgedrückt, dann politische Positionen und wirtschaftliche Daten so übereinander gelegt, dass eine audiovisuelle Achterbahn entsteht. Aufregend, anstrengend – und völlig unmöglich fünf Stunden auszuhalten. +15.30 Uhr +Ok, es hat sich beruhigt. Wir sehen: Demos gegen Sozialabbau. Ganz vorne die 595 Putzfrauen, die vom Finanzministerium 2014 rausgeschmissen wurden. Patienten in einer Sozialpraxis, leere Geschäfte, zugemauerte Hauseingänge, die Polizei, die gegen die Putzfrauen vorgeht, die mittlerweile das Büro des Finanzministers belagern. +15.41 Uhr +Neben mir hat sich eine Frau in eine mitgebrachte Decke eingerollt, wie bei einem Langstreckenflug. +15.53 Uhr +Ewige Einstellungen, wie man Menschen über die Schulter schaut. Soll wohl Komplizenschaft erzeugen, ist aber vor allem langweilig. +16.32 Uhr +Die Polizei will die Putzfrauen verjagen. Die wehren sich verzweifelt. Eine muss im Krankenwagen abtransportiert werden. +17 Uhr +Pause. Ein paar Leute machen Gymnastik, andere holen Kaffee, den sie dann nicht in den Saal mitnehmen dürfen. Einige hauen ab. Als es wieder losgeht, ist der Saal noch halb voll. +17.25 Uhr +Ein Werftarbeiter in Piräus spricht mit einem anderen Werftarbeiter. Verständlich, dass er sich über die Situation beklagt, aber nach zweieinhalb Stunden Dauerlamento über die Krise würde ich lieber einen furztrockenen Volkswirtschaftler hören, der ein paar Zusammenhänge erklärt. +17.45 Uhr +Heimlich "Austeritätspolitik" gegoogelt. Links vor mir schläft einer. +18.07 Uhr +Jetzt singen die Werftarbeiter ein Arbeiterlied von Mikis Theodorakis. Sehr anrührend. +18.15 Uhr +Emotionaler Höhepunkt bisher: Ein obdachloser Seemann spricht über seine Kinder, die er schon seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Wer hier nicht mit den Tränen kämpft, hat kein Herz. +18.32 Uhr +Endlich wieder die Putzfrauen! Sie haben vor Gericht gesiegt. Die 595 Putzfrauen behalten ihre Jobs im Finanzministerium, sehen aber ganz schön erschöpft aus. +18.43 Uhr +Schuldgefühle: Die Griechen leiden, die Griechen kämpfen und ich denk nur, dass mir alles weh tut vom Sitzen. Hab keine Rückenspannung mehr. Bin halb Mensch, halb Kinositz. +19.00 Uhr +Ich kann nicht mehr. Die kitschigen Gedichte, die ewiggleichen Schwenks über das Wasser, der miese Ton. Was gewinnt der Film durch seine epische Länge? +19.15 Uhr +Die Leinwand wird schwarz. Aber nur kurz. Dann geht Teil 3 los. Stöhnen im Publikum. +19.17 Uhr +Tsipras schwört die Griechen mit viel Pathos auf ein "Oxi", ein Nein gegen die Sparpläne aus Brüssel ein. +19.30 Uhr +Seit zehn Minuten schimpft eine Frau darüber, dass die Abstimmung ein Verrat war. Wer ist diese Frau? +19.47 Uhr +Jetzt geht es nur noch um Flüchtlinge, die vermutlich auf Lesbos ankommen. Warum fängt jetzt nochmal was Neues an? +20.15 Uhr +Aus, aus, aus, der Film ist aus! Erleichterung und leichte Aggression gegen den Regisseur. Der kommt auf die Bühne – und ist ein total sympathischer, bisschen zerzauster, zutiefst menschlicher Typ, der fast entschuldigend erklärt, von der Krise so übermannt worden zu sein, dass er einfach immer weiter gedreht hat. Na ja, Morgen kommen Kurzfilme. (fd) + +Der Wettbewerbsbeitrag "Beuys" vom Dokumentarfilmer Andres Veiel, der ausschließlich aus Archivmaterial kompiliert wurde, in Zahlen: 20.000 Fotos, 400 Stunden Videomaterial und 200 Stunden Audiomaterial hat das Team in der Recherche ausgewertet. Sechs Monate habe allein die Rechteklärung gedauert (die nach 15 Jahren erneut erfolgen müsste) und 18 Monate war der Film im Schnitt. Als diese Zahlen in der Pressekonferenz fallen, geht ein Raunen durch die Reihen der sonst so unbeeindruckten Journalisten. +Veiel legt das radikal offene Kunstkonzept von Joseph Beuys konsequent politisch aus. "Jeder Mensch ist ein Künstler, hat Beuys gesagt. Damit meinte er nicht: Jeder Mensch ist ein Bildhauer oder ein Maler, sondern jeder kann Gesellschaft mitgestalten", erläutert der Regisseur. In dem Film geht es daher viel auch um den politischen Aktivisten Beuys, der zu den Gründungmitgliedern der Grünen zählte und als Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie kulturpolitisch provozierte. Zum Beispiel, indem er gegen den Widerstand des Instituts in einem Jahr einfach alle Bewerberinnen und Bewerber in seine Klasse aufnahm. Dass es wenige kritische Stimmen zu Beuys gibt, beobachten einige Journalisten allerdings zu Recht. Veiels Film ist zweifelsohne eine Hommage, zeichnet einen Beuys mit Witz und Weitsicht. Liegt es vielleicht auch daran, dass es sein besonders depperter Popsong von 1982 nicht in den Film geschafft hat? (jpk) + +Auf Festivals laufen schon mal Filme, die reichlich krude klingen. So wie die drei da unten. Wobei – von denen laufen nur zwei auf der Berlinale. Einen haben wir erfunden. Findet Ihr raus, welcher das ist? Die Auflösung kommt am Donnerstag, dann erscheint der dritte Teil des Fake-Film-Quiz. Und ja, genau, googeln gilt natürlich nicht. + +Don't Swallow My Heart, Alligator Girl!(Felipe Bragança, Brasilien 2017) +Der 13-jährige Joca kämpft um die Liebe zu dem geheimnisvollen Alligator-Mädchen Basano. Doch die Motorradgang von Jocas Bruder steckt im Bandenkrieg mit einer Gruppe Guaraní, der auch Basano angehört. Die bildgewaltige Romeo-und-Julia-Geschichte spielt vor dem Hintergrund aktueller Konflikte in der Grenzregion zwischen Paraguay und Brasilien. + +Delhi ist nicht Delmenhorst (Anna-Katharina Steinhövel, Deutschland 2016) +Pia hat genug von Deutschland: Sie ist durchs Studium gefallen, ihr Freund fängt etwas mit ihrer Schwester an und ihre Eltern stehen kurz vor der Scheidung. Kurzerhand reist sie nach Indien und lernt dort den 13-jährigen Ajit kennen, der Mönch werden will. Schon bald entdeckt auch Pia ihre spirituelle Seite und eine Rückkehr in die Heimat rückt in weite Ferne. + +God Johogoi (Sergei Potapov, Russland 2016) +Johogoi ist ein junger Pferdehirte aus einer ländlichen Gegend in Sacha. Er folgt dem Ruf des Pferdegottes und besucht zum ersten Mal das große Sommerfestival Ysyakh. Voller Begeisterung nimmt er an den dortigen Ritualen teil und hält unerschütterlich an dem Glauben fest, hier die Frau seiner Träume zu finden. +(jpk) +PS: Und hier noch die Auflösung von Teil eins: Der georgische Film ist erfunden. + +Die beste Frage stellt eine junge Frau ganz zum Schluss. Auf der kleinen Bühne sitzt der niederländische Regisseur Paul Verhoeven neben US-Schauspielerin Maggie Gyllenhaal – schweigend. Die Beine übereinandergeschlagen, Wasserflaschen neben sich, das Scheinwerferlicht im Gesicht. Bei den Talents, dem Nachwuchscampus der Berlinale, sollen sie über Mut sprechen. Beide suchen nach der richtigen Antwort auf eine für diese Berlinale offensichtliche Frage: "Müssen Filme politisch sein?" +Als Meryl Streep im Januar mit ihrer "Golden Globe"-Rede den neuen US-Präsidenten Donald Trump kritisierte, brachte das eine wichtige Debatte in Gang. Sollen sich Schauspieler überhaupt in der Öffentlichkeit zu politischen Fragen äußern? Gleich solidarisierten sich zig Kollegen mit Streep, die Trump kurz darauf, ähnlich wie zuvor die Schauspieler der US-Sendung "Saturday Night Live", über seinen berüchtigten Twitter-Account als "überschätzt" bezeichnete. +"Meine Kinder träumen von Trump" (Maggie Gyllenhaal) +Für Maggie Gyllenhaal stellt sich die Frage nicht – sie engagiert sich bereits. Wie viele Promis twittert auch sie gern, postet aber nicht die üblichen Promo-Posts, sondern tweetet und retweetet immer wieder Statements und Artikel gegen Trump. Mit Tausenden anderen Frauen war sie Teil des "Women's March" gegen den neuen US-Präsidenten. + +Nun soll Gyllenhaal bei den Berlinale-Talents über Mut reden. Gemeinsam mit Jury-Präsident Paul Verhoeven. Doch schnell zeigt die Veranstaltung eines: Für interessante Antworten braucht es auch interessante Fragen. Und Moderator, Filmjournalist und -historiker Peter Cowie arbeitet sich lieber eine Stunde lang an der filmischen Biografie der Künstler ab. +Es geht also erst mal um Promo: Wie war es, in diesem Film mitzuspielen? Wie war die Arbeit mit jenem Regisseur? Namedropping. Set-Anekdoten. Videos von Szenen auf einer Leinwand. Die beiden Gäste sind charmant und höflich und nett, aber mutig? +Nur sehr langsam nähert sich der Moderator auch politischen Rollen. So fragt er Paul Verhoeven nach seinem Film "Black Book", in dem er die Niederländer mit ihrer eigenen Nazivergangenheit konfrontiert. Oft verlaufen die Antworten aber ins Leere, bevor es konkret wird. "In den Niederlanden gibt es schon viele Filme zu diesem Thema. Mein Film ist also nicht so provokant", sagt Verhoeven. Auch hier hakt Cowie nicht nach – das einzig Mutige auf der Bühne bleiben seine knallroten Socken. +"Das, was zurzeit in der Politik passiert, wird uns noch die nächsten fünfzehn Jahre beschäftigen" (Paul Verhoeven) +Dabei soll diese Berlinale doch so politisch sein. Ähnlich bleibt es bei Gyllenhaal: In einem ihrer ersten großen Rolle in "The Dark Knight" spielt die Schauspielerin, die gegen Verbrechen vorgehende Anwältin Rachel. In "The Honourable Women" gibt sie die Leiterin eines Rüstungskonzerns, die sich in den Nahostkonflikt einmischt. In "Schräger als Fiktion" spielt sie eine tätowierte Bäckerin, die ihrem Finanzprüfer lauthals hinterherruft: "Du Steuerpenner!" +Aber keine Fragen zur Courage dieser Rollen. Das muss das Publikum im Q&A übernehmen. Zum Schluss kommt dann diese offensichtliche, diese dringende Frage – und siehe da, es folgen prompt zwei kluge Antworten. +Zuerst greift Gyllenhaal zum Mikro: "Ich glaube, Filme arbeiten immer mit dem Unterbewusstsein. Und politische Notfälle, wie wir gerade einen in den USA erleben, sind ständig ins unseren Gedanken. Meine Kinder etwa träumen mittlerweile von Trump. Was uns so sehr beschäftigt, wird zwangsläufig im Film transportiert, selbst wenn die Story nicht explizit politisch ist. Pauls Film ‚Elle' zum Beispiel handelt von einer Frau über 60, die missbraucht wird und stark bleibt, die einen Weg finden muss, damit umzugehen. Das ist politisch." +Paul Verhoeven sagt daraufhin: "Wenn politische Inhalte für einen Film zum Zwang werden, ist das zu diktatorisch. Wir müssen nicht jedes aktuelle politische Thema direkt in einem Film verarbeiten. Wir sollten uns Zeit lassen, um angemessen zu reagieren. Das, was zurzeit in der Politik passiert, wird uns noch die nächsten 15 Jahre beschäftigen." (cs) + +Schon doof: Da ist man als Journalist extra nach Berlin gekommen, um die großen Namen bei der Pressekonferenz zu sehen, und dann ist der Raum einfach voll. Aber zum Glück wird sie im Pressezentrum auch auf Fernseher übertragen und wenn man sie da mit dem Smartphone oder Tablet abfilmt, dann merkt daheim sicher niemand, dass man selbst gar nicht im Raum war... (mbr) + +"Ich bin sehr skeptisch, was das Potenzial von Filmen anbelangt, Dinge in unserer Gesellschaft zu verändern", sagt João Moreira Salles, als er seinen Dokumentarfilm "In the Intense Now" ("No Intenso Agora") vorstellt. "Aber das muss nichts Schlechtes sein. Ich bin vielmehr überzeugt, dass Filmemacher, die nicht so sehr an die Macht ihrer Bilder glauben und deren politischen Gehalt mehr hinterfragen, meistens die besseren Filme machen." +Den politischen Gehalt der Bilder hinterfragen – wie das geht, führt der Regisseur in seinem Film vor. So sehen wir zu Beginn den Amateurfilm einer brasilianischen Familie aus den 60er-Jahren: Ein Kleinkind (der Regisseur selbst?) macht auf einem Bürgersteig seine ersten Schritte. Es bekommt ein wenig Hilfestellung und stapft dann unsicher in Richtung Kamera. "Was bloß nach den ersten Schritten eines Kindes zur Freude seiner Eltern aussieht, erzählt nebenbei auch etwas über Klassenverhältnisse im Brasilien der 60er-Jahre", hört man Salles auf der Tonspur. Die afrobrasilianische Nanny der Familie, so erklärt das Voice-over, als der Clip ein zweites Mal gezeigt wird, gehe bewusst aus dem Bild, als das Kind allein zu laufen beginnt. "Sie gehört nicht zur Familie, hat keinen Platz in ihrem Erinnerungsbild und verschwindet absichtlich in der Menge der Passanten." +Solche Reflexionen ziehen sich kontinuierlich durch den Film "In the Intense Now", der das Bildmaterial von gesellschaftlichen Umbrüchen in den 60ern, vor allem aus dem Pariser Mai 68, kritisch und dennoch mit Faszination für die Revolte untersucht. Die Methode hat Salles offensichtlich – auch er selbst spricht das an – vom deutschen Filmemacher Harun Farocki. Dass Salles' Film mit dem berühmten Clip "Arbeiter verlassen die Fabrik" (1895) der Lumière-Brüder endet, ist also keine Überraschung – auch Farocki hat sich den Film genau angeschaut: (jpk) + +Jetzt sind auch die alternativen Fakten auf der Berlinale angekommen. Und zwar um ziemlich genau 17 Uhr am Samstag im Kino International, Premiere von "Mein wunderbares Westberlin" von Jochen Hick. Die sehr sehenswerte Doku erzählt die Geschichte der Westberliner Schwulenbewegung ab den 1960er Jahren bis zur Wende. Hauptrollen spielen der Kampf gegen denParagrafen 175, der sexuelle Handlungen unter Männern unter Strafe stellte, und gegen die ImmunschwächekrankheitAids. Im Publikum: praktisch die gesamte Berliner Schwulenprominenz inklusive dem ehemaligen Berliner Bügermeister Klaus Wowereit und Filmemacher Rosa von Praunheim (mit rotem Hut und rosa kariertem Sakko). Und was sagt der Moderator vor Beginn der Vorstellung: "So viele bekannte Gesichter! Wie schön. Ich muss wirklich sagen: Ihr habt Euch überhaupt nicht verändert!" +Leider nicht ins Reich der alternativen Fakten sondern zu den neuen Realitäten gehört das, was Rosa von Praunheim im Anschluss an die Vorstellung sagte. Es sei wieder wichtig für Schwule für ihre Rechte zu kämpfen. So wichtig, wie schon lange nicht mehr. +Einen ganz konkreten Vorschlag brachte dann auch gleich Gerhard Hoffmann vor, der das Café Anderes Ufer, das Lesbischschwulen-Straßenfest und das Magazin "Die Schwuchtel" mitinitiierte und für sein Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt wurde. Es bräuchte ein Archiv für alle Filme, die für den Teddy nominiert waren. Den queeren Filmpreis gibt es seit 1987. Nach wie vor ist er der einzige LGTBQ-Filmpreis auf einem A-List-Festival. Vielleicht könne Klaus Lederer, der amtierende Berliner Kultursenator, dafür ja Geld locker machen. Der saß nämlich auch im Publikum. + +Nachdem wir bereits am Samstag vom Experimentalfilm "The Bomb" berichteten, der zu einem Live-Soundtrack der Electronica-Group The Acid die atomare Zerstörungskraft ins Bild setzt, fügt die Berlinale dem Thema heute noch ein neues Kapitel hinzu. Oder besser gesagt: ein altes. +In der Retrospektive, die sich in diesem Jahr dem Science-Fiction-Genre widmet, läuft der sowjetische Film "Letters from a dead Man" (Pisma mjortwowo tscheloweka) von 1986, dem Jahr von Tschernobyl. Gerade in jenem Jahr muss der Film eine verstörende Vision gewesen sein, aber auch heute noch beeindrucken die gigantischen Sets einer wüsten Welt nach der atomaren Apokalypse: Mit Gasmasken bekleidet schleppen sich die letzten Überlebenden bei Wind und Wetter durch Berge von Autowracks, Schutt und Leichen, um das Nötigste auf dem Schwarzmarkt zu besorgen. Während der Sperrstunden, die das Katastrophenregime im "Zentralbunker" verhängt, warten sie in Schutzhöhlen unter der Erde auf das Ende ihrer Tage und betrauern eine Menschheit, die an ihrem Hochmut zugrunde geht. So düster das klingt, ist der Film in seiner elegischen Bildsprache dennoch zutiefst humanistisch. Am Ende zitiert er gar das sogenannte "Russell-Einstein-Manifest" von 1955, mit dem die Wissenschaftler die Menschheit vor der atomaren Vernichtung warnten. + +Der Atomkrieg im Film ist übrigens – damals wie heute denkbar – bloß ein fatales Missverständnis gewesen. "Menschliches Versagen", wie es im Nachrichtenjargon so schön heißt. (jpk) +Die Berlinale hat ein Herz für Außenseiter und unter den 399 Filmen sind echt ein paar randständige Themen und Geschichten mit dabei. Wie zum Beispiel diese drei. Aber Vorsicht: Einer davon ist gar nicht echt, den haben wir erfunden. Findet Ihr raus, welcher der Fake Film ist? Die Auflösung gibt's in der nächsten Runde am Dienstag. +Back for Good (Mia Spengler, Deutschland 2017) +Reality-TV-Sternchen Angie muss nach ihrem Drogenentzug wieder zu ihrer Mutter ziehen. Als die einen Zusammenbruch erleidet, hat Angie plötzlich ihre pubertierende Schwester an der Backe, dabei will sie einfach nur wieder zurück ins Fernsehen. +El mar la mar (Joshua Bonnetta, J.P. Sniadecki, USA 2017) +Die Sonora-Wüste zwischen Mexiko und den USA: 16mm-Aufnahmen von Vegetation, Wetterphänomenen, Tieren, Menschen und ihren Spuren verbinden sich mit einer vielstimmigen Tonspur zum Panorama einer hochgradig politisierten Landschaft. + +Ch'ven vart' dove (Wir sind wie Tauben, Davit Revishvili, Georgien 2016) +Der Sommer ist heiß in den Straßen von Tiflis. Während die junge Nino an ihrem Traum arbeitet, in Paris zu studieren, lebt ihr Freund Levan nur in den Tag hinein. Die Geschichte einer Entfremdung zeigt den Aufbruchswillen und die Orientierungslosigkeit der ersten postsozialistischen Generation Georgiens. +(mbr) + +Für alle Ticketlosen, Berlinfernen, Kälteempfindlichen oder aus sonstigen guten Gründen auf der Couch-Bleibenden hier wieder ein cooler Kurzfilm aus den Weiten des Internets. "Cracked Screen" von Trim Lamba ist eine Snapchat-Doku über den Druck, sich in den sozialen Medien zu inszenieren und die dunkle Seite des Voyeurismus, den das auslöst. +Zwei der größten Bedrohungen der Menschheit sind: der Klimawandel und Atombomben. Doch während alle Welt über das Klima spricht, ist die Gefahr der rund 15.000 weltweit vorhandenen Atomsprengköpfe seit dem Ende des Kalten Krieges aus dem Fokus geraten. Das sagt der amerikanische Journalist, Drehbuch- und Theaterautor Eric Schlosser am Freitag im Haus der Berliner Festspiele. Er hat ein Buch über die Atomwaffenarsenale der USA geschrieben, "Command and Control", war damit für den Pulitzerpreis nominiert. +Auf das Buch folgte der Experimentalfilm "The Bomb", der am Freitag mit prominenter Live-Musikbegleitung der Electronica-Supergroup "The Acid" gezeigt wurde. Zig Stunden Videomaterial, vieles davon "declassified", also erst vor kurzem von der US-Regierung freigegeben, wurden von Regisseur Kevin Ford und der Videokünstlerin Smriti Keshari bearbeitet und auf 60 Minuten verdichtet, ohne Kommentar, fast ohne Erklärungen, ein hochästhetisches Bildgewitter. +Man muss ja leider zugeben, dass es kaum etwas Hypnotischeres gibt als eine Atombombenexplosion. Auch die chinesischen und indischen Militärparaden sind beeindruckend, die Bilder von Zuschauern von frühen Atombombentests und die Zeitlupenansichten von Testgebäuden, die von der Bombendruckwelle hinweggefegt werden. Es gibt putzige US-amerikanische Volksaufklärungsvideos für den nuklearen Ernstfall ("Duck and Cover"), und Aufnahmen vom "Manhattan Project", dem Bau der ersten Atombombe in den 1940er-Jahren, die eher so aussehen wie ein Feriencamp von Bastlern. +Doch keine Sorge, das Kontrastmaterial kommt auch vor: die unfassbaren Zerstörungen von Hiroshima, das Leiden seiner Bewohner, in Bildern und Zeichnungen, zeigen das wahre Gesicht der Bombe. +Ein Ziel des Films, erklärt Smriti Keshari in der anschließenden Diskussion, ist, eine "emotionale Verbindung zum Thema zu schaffen". Denn weil Atomwaffen nicht sichtbar seien, nehme sie auch fast niemand mehr als Bedrohung wahr. Dabei werde in der Welt aktuell wieder nuklear modernisiert und aufgerüstet und es wurde gerade erst, kurz nach der Wahl Donald Trumps, dieDoomsday Clockum eine halbe Minute näher an zwölf Uhr gestellt. Der sehr dramatisch auftretende Eric Schlosser erinnert daran, dass auch in Deutschland Atomsprengköpfe stationiert sind, uns alle das Thema also angehe und, überhaupt: "Ich will nicht zu freudianisch erscheinen, aber in der menschlichen Natur liegt ein Todeswunsch. Und Atomwaffen sind die Manifestation dieses Todeswunsches." (mbr) +Mehr Infos über das Projekt gibt eshier. +Zu einer guten Berlinale-Premiere gehört, dass der Regisseur nach dem Film auf die Bühne vor der Leinwand kommt, ein paar nette Worte sagt und die anwesenden Leute aus seinem Team vorstellt. Das kann man natürlich ganz unterschiedlich machen: Jakob Lass, mit "Tiger Girl" im Panorama dabei, kam am Freitagabend hochaufgekratzt nach oben gejoggt und bot einen zehnminütigen Laberflash mit vielviel Drama. +Wenig später war dann Danny Boyle, mit seinem Trainspotting-Nachfolger "T2" außer Konkurrenz im Wettbewerb dabei, an der Reihe. Er zeigte viel britische Klasse und bedankte sich erstmal bei diesem "großen europäischen Festival", dass er als Brite überhaupt noch eingeladen wird. Ein schöner Seitenhieb auf den Brexit, die Lacher waren Boyle sicher. (mbr) +Lacher gab es während der Vorstellung auch schon viele. Was im Zuschauerraum zu spüren war: das Original aus dem Jahr 1996 sitzt tief im kollektiven Gedächtnis. Warum? +"T2" macht sich das zunutze, indem er Motive, Stilmittel, Schauplätze und Songs des ersten Films zitiert. Toilettenschüsseln, George Best, die schottischen Highlands, "Born Slippy" – all das spielt auch 20 Jahre später noch eine Rolle im Leben der Protagonisten Renton, Spud, Sick Boy und Franco, deren skurrile Charakterzüge im Sequel lebendig bleiben. Wenn Renton in seinem Kinderzimmer mit Lokomotiv-Tapete steht, eine Schallplatte auflegt und nach einem halben Takt von "Lust for Life" den Song irritiert wieder abstellt, lacht der halbe Kinosaal. Man war schon in den Groove gekommen. Aber auch wenn Boyle und Drehbuchautor John Hodge versuchen, ihren Kosmos in die Gegenwart zu übersetzen, verwalten sie hier vor allem ihren eigenen Kult. Nirgendwo wird das so deutlich, wie in der aktualisierten Version des "Choose Life"-Monologs, den Renton in der Mitte des Films auf 2017 überträgt. Warum das heute "keinen Nerv trifft", hat der Guardian in einem klugenVergleich der beiden Szenen analysiert.(jpk) + +Bilder schaffen Wirklichkeit. Und Filme erst recht. Besonders wichtig ist deshalb, dass Menschen mit Behinderungen im Film überhaupt vorkommen. Tun sie nämlich nur sehr selten. Damit sich das ändert, dafür setzt sich die NGORollenfangein, die dazu beitragen will, "ein authentisches, vielfältiges Bild unserer Gesellschaft zu präsentieren und zu leben", wie es in der Charta heißt. Denn nur was gezeigt wird, wird auch wahrgenommen. Und was macht Rollenfang zur Berlinale? Klar, sie geben Tipps für Filme, in denen Menschen mit Behinderung vorkommen. Jeden Tag. Und zwarhier.(fd) + +Kann man bei einer Filmvorführung einschlafen und trotzdem begeistert sein? Man kann. Mir ist es passiert bei2+2=22 [THE ALPHABET]von Heinz Emigholz: Abwechselnd zeigt der Film Straßenszenen und Stadtansichten aus Georgiens Hauptstadt Tiflis, unterlegt mit essayistischen Texten, und die Düsseldorfer Avantgardeband Kreidler, die in einem Tonstudio in Tiflis ihr neues Album einspielt. Man muss ihre treibende, repetitive, von Elektronika und Rhythmus befeuerte krautrockhafte Musik mögen, um mit dem Film klarzukommen. Ich jedenfalls will jetzt auf ein Kreidlerkonzert. Und nach Tiflis sowieso. (mbr) +Gestern startete die Berlinale, heute die Sektion Generation. Und die feiert dieses Jahr einen runden Geburtstag: Zum 40. Mal gibt es ein spezielles Filmprogramm für Kinder und Jugendliche. Das ist oft überraschend, meist anspruchsvoll und manchmal auch bisschen anstrengend. +Acht Gründe, warum das gefeiert werden muss: +1. +Weil unter 18-Jährige sonst auf der Berlinale draußen bleiben müssten. Dabei ist sie doch so stolz, das weltgrößte Publikumsfestival zu sein. Doch weil bei den meisten Filmen keine Zeit mehr für eineAlterseinschätzung durch die FSKbleibt, wird für die meisten Sektionen 18 pauschal als Altersgrenze festgelegt. +2. +Weil das Angebot angenommen wird: Über 65.000 Menschen besuchten die Vorführungen im letzten Jahr. Und über 2.000 Filme wurden eingereicht, von denen es 62 Beiträge aus 41 Ländern zur Berlinale geschafft haben. +3. +Weil Jugendliche ernst genommen werden. Gezeigt wird nicht Klischeequatsch wie "Die wilden Kerle" oder "Bibi und Tina", sondern Auseinandersetzungen auch mit Themen wie Tod und Trennung. Ok, manchmal übertreibt die Generation bisschen mit ihrem Relevanzkino, es sind schon viele Filme arg problemorientiert. Die grundsätzliche Haltung ist aber sehr löblich. "Wenn ein Film ins Kino kommt, geht es darum: Wie wird er verkauft, wie wird er gelabelt", sagt Maryanne Redpath dazu, die die Sektion seit 2008 leitet. So entstehe eine künstliche Trennung von Kinder- und Erwachsenenfilm. "Bei uns gibt keinen Deckel", sprich: das Programm ist alterstechnisch nach oben offen. Bestes Beispiel: Der Auftaktfilm"On The Road"über die Englandtournee von Wolf Alice, der vom etablierten "Erwachsenen"-Regisseur Michael Winterbottom stammt. +4. +Weil man hier nicht nur gucken, sondern auch mitreden kann: Wie in allen Berlinale-Bereichen sind die Filmemacher da, um nach den Filmen Rede und Antwort zu stehen. +5. +Weil man hier nicht nur gucken, sondern auch mitentscheiden kann: Über die Verleihung der Gläsernen Bären bestimmen eine siebenköpfige Jugendlichenjury (14plus) und eine elfköpfige Kinderjury (Kplus). +6. +Weil die hier der Blick geweitet wird. Eine Stärke der Sektion war immer, dass sie Filme auch aus Ecken dieser Welt bringt, die nicht so häufig auf Festivals und schon gar nicht regulär in die Kinos kommen. Wo bekommt man schon mal einen lettischen Kurzfilm, eine norwegisch-portugiesische Coproduktion oder einen Spielfilm aus Burkina Faso zu sehen? Und siehe da: So unterschiedlich sind die Probleme von den jungen Leuten da auch nicht wie bei uns. +7. +Weil es 37 Weltpremieren gibt. +8. +Weil das Programm eine Achterbahn sein wird. Die Filme seien "manchmal stringent, manchmal abstrakt, oft nicht linear; viele herausfordernde Filme, wahnsinnige Filme", verspricht Maryanne Redpath. Mit anderen Worten: Man kann auch mal ziemlichen Quatsch sehen, aber langweilig wird es nicht. Beispiel? DasFilmmusicalüber die Liebe eines australischen Emos zu einer streng gläubigen Mitschülerin. Als kleiner Teaser hier der Kurzfilm, aus dem das Musical entstanden ist. Und der hatte seine Premiere - natürlich in der Generation. (mbr) +Undhierdas komplette Programm der Generation. + +Zur kostenlosen und stadtbildprägenden Berlinale-Tasche gibt es für Journalisten dieses Jahr einen kostenlosen Aluminiumbecher mit Schraubdeckel dazu, dem Kaffeesponsor der Berlinale sei dank. Ein "To-Go-Cup" also,sehr zeitgemäß in Zeiten aufkommender Awareness für Müllirrsinn von Einwegbechern.Und, siehe da: an den Kaffeestationen im Pressebereich bekommt man seinen Kaffee auch nur, wenn man seinen Becher dabei hat. Das ganze wäre nun ökologisch noch vorbildlicher, wenn der Kaffee nicht aus Aluminiumkapseln gewonnen würde. +Update +Nur wenige Stunden sind vergangen, da geben sie auch Pappbecher aus. Journalistenzufriedenheit geht über Umweltfreundlichkeit. (mbr) + +Große Dramen gibt es bei der Berlinale nicht nur auf der Leinwand, sondern auch an den Ticketschaltern. Zwar zählt die Berlinale jedes Jahr über 500.000 Besucher. Schaut man in die nervösen Gesichter der Wartenden und die enttäuschten Mienen derjenigen, die wieder mal leer ausgingen, dann könnte man gut und gerne meinen, dass da auch drei mal so viele hingehen würden, wenn es denn genug Karten geben würde. Für alle also, die wieder mal kein Ticket abbekommen haben, hier etwas Tolles, das man ganz bequem und von zu hause anschauen kann. +In seinem Essayfilm "Not another camelot" untersucht Kevin B. Lee die amerikanischen First Ladies von Jackie Kennedy bis Melania Trump. Das ist lustig, aber auch etwas bedrückend und ziemlich beige... +Ein klugesPorträtüber Lee hat Andreas Busche im Tagesspiegel geschrieben. + +"Wollen wir ins Kino gehen, ein bisschen träumen?" Als Django Reinhardt diesen Satz zu seiner Geliebten Louise sagt, ist Paris von den Nazis besetzt und ihm, dem begnadeten Jazz-Gitarristen, droht als Sinto die Deportation. Es gibt 1943 nicht viele Orte, an denen einer wie er noch träumen kann, wie "Django", der Eröffnungsfilm der 67. Berlinale, die heute beginnt, eindrücklich erzählt. +Die Berlinale hat gerade eine Menge Konkurrenz. Wer auf Politthriller und Justizdramen steht, muss nicht ins Kino. Auch das Horrorgenre wird täglich in den Nachrichten bedient. Aber gerade deshalb lohnt es sich jetzt, einen Blick auf die 399 Filme zu werfen, die ab heute in den nächsten elf Tagen auf den Filmfestspielen zu sehen sein werden. Viele öffnen den Blick und helfen, den täglichen Nachrichtenstrom einzuordnen. +Manche Filme gehen dafür einen Schritt zurück. "Der junge Karl Marx" etwa, ein Biopic von Raoul Peck, das danach fragt, wie politische Utopien entstehen, läuft im Wettbewerb. "Schwarze Welten", ein Schwerpunktthema im Panorama, zeigt viele Filme, die die Geschichte der Rassendiskriminierung erklären. Wer die Black Lives Matter-Bewegung verstehen will, kommt um Filme wie "For Akheem", "Strong Island" oder "I am not your negro" nicht drum herum. Die queeren Filme haben ohnehin ihren festen Platz in der Berlinale und das schon seit Jahrzehnten. Immerhin ist man das erste A-List-Festival, das mit dem Teddy einen eigenen Preis für LGBTQ-Filme auslobt. +Viel Wirklichkeit +Zu den Schwerpunkten dieses Berlinale-Jahrgangs gehört auch der Dokumentarfilm, der in den letzten Jahren einen steilen Aufstieg erlebt hat und für den erstmals ein eigener Preis verliehen wird. Letztes Jahr gewann eine Doku sogar den Wettbewerb, der durchaus umstrittene "Fuoccoamare" (Seefeuer) von Gianfranco Rosi, der von der Mittelmeer-Insel Lampedusa erzählt, wo zahllose Flüchtlinge aus Afrika ankommen – und längst nicht alle lebendig. +Welche Filme werden dieses Jahr für Aufregung sorgen? Und welche die Augen öffnen? Wir werden in den nächsten Tagen in diesem Blog nach der politischen Seite der Berlinale Ausschau halten. Und wir werden fragen, wie viel Politik dem Kino überhaupt guttut. Darüber kann man nämlich sehr gut streiten. Und etwas zum Träumen, das werden wir bestimmt auch mal finden. (fd) + +Überdie Berlinale diskutiert wird schon, da hat sie noch gar nicht angefangen. Und zwar am Mittwochabend im Silent Green Kulturquartier im Wedding. "Lost in politics" heißt die Auftaktveranstaltung der "Woche der Kritik", einer von der Berlinale unabhängigen Film- und Debattenreihe, die als konstruktives Störgeräusch zum dritten Mal die Festivalwoche begleitet. +Politische Filme, politisches Festival? +Als sich die Berlinale-Filme im letzten Jahr verstärkt den Themen Flucht und Asyl annahmen, waren sich die Medien zumindest in einem Punkt einig: Die Berlinale sei 2016 "politischer denn je" (rbb) gewesen und habe "wieder einmal politische Geistesgegenwart" (FAZ) bewiesen. Dieser Meinung war auch Matteo Renzi, damals noch Italiens Ministerpräsident, der ankündigte, seinen Kolleginnen und Kollegen in der EU bei nächster Gelegenheit eine DVD des Gewinnerfilms zu überreichen. "Und nachdem sie ihn gesehen haben, wird es vielleicht möglich sein, anders über Migration zu sprechen." +Das Festival und sein Gewinnerfilm wurden also von verschiedener Seite gelobt dafür, politisch zu sein. Aber was heißt das eigentlich: Ein Film ist politisch? Für Frédéric Jaeger und Nino Klingler von der "Woche der Kritik" ist das eine Zuschreibung, die das Politische in den Filmen (und genauso im Festival) meist auf die Themen reduziert. Filme mit einem vordergründig politischen Thema und einer – zum Teil durchaus unbequemen – Message, der die filmischen Ausdrucksmittel untergeordnet würden. Der politische Inhalt der Filme unterdrücke ihre Form. Filmausschnitte preisgekrönter Kinofilme der letzten Jahre rufen die Dominanz des politischen Kinos auf den Festivals in Erinnerung: Das Arbeitslosendrama "I, Daniel Blake" (2016) von Ken Loach, der französische Flüchtlingsthriller "Dämonen und Wunder" (Dheepan, 2015) von Jacques Audiard und natürlich "Fuoccoamare" (2016). In letzterem sehen wir etwa einer italienischen Hausfrau beim Kochen zu, während zeitgleich namenlose Bootsflüchtlinge vor Lampedusa geborgen werden: "Die armen Seelen!" +Eine Frage der Ästhetik +Dass diese Filme Aufmerksamkeit schaffen und in Momenten auch eine schmerzhafte soziale Realität einfangen, will Klingler ihnen nicht absprechen. Aber sie hätten meist keine offenen Fragen mehr und würden Figuren und Dramaturgie vor allem als Funktionsträger ihrer politischen Aussage benutzen. Für "Fuoccoamare" etwa trifft das durchaus zu: Als Zuschauer kann man sich regelrecht gegängelt fühlen – und die Kunst bleibt auf der Strecke, wenn ein Film zum Leitartikel wird. Dass es aber gar nicht so leicht ist, abseits der Themen das Politische im Kino zu benennen, zeigt die anschließende Podiumsdiskussion zwischen Film- und Fernsehschaffenden, Filmkritikern, einer Festivalmacherin und einem Wissenschaftler. Während für die einen eher die Filmproduktion (Finanzierung, Zensur), für die anderen eher die Rezeption und für wiederum andere "alles" politisch ist – in einem ist man sich einig: Abseits der Themen haben Filme eine politische Ästhetik – egal, ob sie vordergründig politisch sind oder nicht. Aber sind das Filme, die durch ihre Ästhetik aufrütteln? Die Grenzen überschreiten? Die trösten? "Vielleicht hätte man vorher das Wort ‚politisch' definieren sollen", ist die letzte Wortmeldung aus dem Publikum. Und so endet der Abend immerhin mit offenen Fragen statt mit vorgefertigten Antworten. (jpk) + +Vor dem Berlinale-Palast wird heute Vormittag der rote Teppich verlegt. Also "Teppich", denn in Wahrheit sind es rote Kunststoffplatten, die wie Laminat aneinandergebaut werden. Hauptsache, die Illusion stimmt. +Die Trittleitern sind schon da, die Stars noch nicht. Fotografen haben ihre Arbeitsmaterialien mit Fahrradschlössern gesichert, klein auf den Leitern stehen die Agenturen. Es ist der Bereich neben dem Hyatt Hotel, wo die Schauspieler kurz vor den Premieren mit dem Auto abgeholt werden, Autogrammjäger warten hier mitunter mehrere Stunden. Am Vormittagtag des Berlinalestarts ist es noch leer. (mbr) +Erst ab 17.30 Uhr startet das alljährliche Rote-Teppich-Ritual. Für alle, die dafür nicht frieren wollen,hier der Livestream. +Und hier unsere Kritik zu "Django". diff --git a/fluter/berlinale-blog-2018-tag1.txt b/fluter/berlinale-blog-2018-tag1.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b874533a49ba6249f0066295cc2fa8005bdb7293 --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-blog-2018-tag1.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Sicher ist: Wenn es heute Abend mit Wes Andersons Animationsfilm "Isle of Dogs" losgeht, wird eine aufregende, streitbare Berlinale beginnen – in der es längst nicht nur um die Filme geht, sondern um die Branche insgesamt. +Übertragen wird die Gala ab 19.20 auf3Sat, Hardliner können aber schon ab 17.15 Uhr denStream der Berlinalegucken. +Felix Denk + + +Knapp 500.000 Kinobesucher kamen im letzten Jahr zur Berlinale, um sich mehrstündige untertitelte Dokus über die griechische Wirtschaftskrise oder queere Vampirfilme aus Neuseeland anzuschauen und zahlreiche weitere Werke, die es größtenteils nie ins reguläre Kinoprogramm schaffen. Das wird in diesem Jahr nicht anders sein. Die Berlinale ist eben ein "Publikumsfestival", wie Dieter Kosslick gern betont. +Aber wer oder was ist eigentlich das Publikum? Lässt es sich bestimmen, warum manche Filme zu einem "Publikumserfolg" werden – und andere nicht? Die "Woche der Kritik", organisiert vom Verband der deutschen Filmkritik, gehört nicht zur Berlinale, begleitet sie aber seit einigen Jahren mit einem filmpolitischen Gegenprogramm, das auch den Klischee-Begriffen des Festivals auf den Grund gehen soll. "Malen nach Zahlen? Über Ideen vom Publikum und ihre Auswirkungen auf das Kino" heißt die Veranstaltung am Vorabend der Berlinale und der Ort ist gut gewählt: ein Zirkuszelt auf dem Tempelhofer Feld, beides – sowohl der Zirkus als auch das Flugfeld – Orte, an denen eine besondere Form von Öffentlichkeit verhandelt wird. +Auf dem Podium sitzen Maria Köpf aus der Filmförderung (Hamburg), der Regisseur Stephan Wagner, der Kinobetreiber Christian Bräuer (Yorck-Kinos Berlin) und die Produzentin und Filmhochschul-Dozentin Anna de Paoli. Schnell zeigt sich, dass je nach Zusammenhang mal von einer statistischen Menge (etwa: 4,75 Millionen Zuschauer sahen 2017 "Fack ju Göthe 3"), mal von einer konkreten Person ("Ein Zuschauer sagte zu mir...") und mal von einer imaginierten Größe ("Das Publikum geht ins Kino, um zu träumen") gesprochen wird. Im kreativen Schaffensprozess denke man automatisch an die Wirkung auf "den Zuschauer" – aber da könne man nur von sich selbst ausgehen, sagt Anna de Paoli als Filmschaffende. In einer Schnellfragerunde ist man sich jedenfalls einig, dass "das Publikum" klug und neugierig sei. Dafür, dass von Kritikern geliebte Filme an der Kinokasse scheitern, müssen also andere verantwortlich sein. +Frédéric Jaeger moderiert die Debatte und würde sie nicht veranstalten, wenn er damit so schnell einverstanden wäre. "Als Kritiker bin ich vom Publikum regelmäßig enttäuscht", sagt er zu Beginn mit kalkuliertem Pathos. "Weil es nicht zahlreich in die Filme geht, die mir wichtig sind." Ein Anstoß für die Debatte ist für ihn vor allem eine neue Leitlinie für die Filmförderung in Deutschland: Filme, die Fördermittel von der eminent wichtigen Filmförderungsanstalt des Bundes (FFA) erhalten, sollen nun "die Erwartungen des Publikums erfüllen" und ein "Potential von mindestens 250.000 Besuchern" aufweisen. Das klingt in der Tat alarmierend: Laut Jaeger erreichen 90 Prozent der deutschen Filme nicht solche Zuschauerzahlen, darunter hochgelobte Festivalerfolge wie der letztjährige Cannes-Film "Western" von Valeska Grisebach (30.000 Zuschauer).Ohne Filmförderung sind Filme in Deutschland quasi nicht finanzierbar. +Als belastbare Vorstellung vom Publikum bleiben von diesem Abend vor allem diese ernüchternden Zahlen hängen. In Frankreich, sagt die Festivalmacherin Marie-Pierre Duhamel auf dem zweiten Podium des Abends, hätte es aufgrund solcher Beschlüsse Demonstrationen gegeben und der zuständige Minister hätte einpacken können. Ach, Frankreich. +Die Woche der Kritik findet noch bis zum 22. Februar statt. Jeden Tag ab 20 Uhr laufen ein oder zwei Filme, anschließend wird über sie diskutiert. +Jan-Philipp Kohlmann + + +Dass die Berlinale beginnt, sieht auch daran, dass die Leitern da sind. In einer kleinen Seitenstraße neben dem Hyatt-Hotel am Potsdamer Platz stehen sie bereit, mit Fahrradschlössern an den Absperrungen befestigt. Es ist die Paparazzigasse, denn von hier starten schwere Limousinen, um mehr oder weniger berühmte Filmstars vom Hotel abzuholen, selbst wenn es nur zum knapp hundert Meter entfernten Berlinale-Palast/Roten Teppich geht. Die Leitern sind für die Pressefotografen da, um sie herum schart sich das Fußvolk, Autogrammjäger, die teilweise stundenlang in der Kälte ausharren. Als Donnerstagmittag die ersten Autos bereit stehen, sind schon viele Menschen da. + + +Für fluter.de sind auf der Berlinale 2018 unterwegs: Simone Ahrweiler, Chrisine Stöckel, Jan-Philipp Kohlmann, Michael Brake und Felix Denk.Hierlest ihr den ganzen Blog vom letzten Jahr. diff --git a/fluter/berlinale-blog-2018-tag2.txt b/fluter/berlinale-blog-2018-tag2.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dc1d447df77e9fd9ae68d0f0c335cd697760e9a6 --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-blog-2018-tag2.txt @@ -0,0 +1,34 @@ +Jule und Jan sind zwei Mittzwanziger. Die Figuren in Ihren Filmen "Die fetten Jahre sind vorbei" (2004) oder "Das weiße Rauschen" (2001) waren es auch. Warum immer dieses Alter? +Die Antwort ist in diesem Fall einfach. Ich habe mit dem Drehbuch angefangen, da war ich selbst noch 27 und hab mich dann mit dem Buch an der Filmhochschule beworben. Dann war ich 15, vielleicht sogar 20 Jahre nicht in der Lage, das Drehbuch zu Ende zu schreiben. Es ist brutal schwer, so lange Dialoge wie in "303" zu verfassen, die natürlich klingen. +"303" ist ein Dialogfilm, ähnlich wie die "Before Sunset"-Filme von Richard Linklater. Die Protagonisten lernen durchs Reden viel über sich und den anderen. +Damit das funktioniert, habe ich zwei Jahre lang gecastet. Ich habe mir 100 bis 200 Schauspieler in verschiedenen Kombinationen angesehen. Mala Emde und Anton Spieker – die beiden sind es am Ende geworden – verstanden als wenige die Figuren und die Dialoge. Das war mir wichtig. In Liebesfilmen gibt es oft dramatische Ein-Satz-Sätze wie "Ich liebe dich einfach nicht mehr!". In meinem Film ist das anders, hier führen Jule und Jan längere Debatten über die Vereinzelungsstrategie im Kapitalismus und zwischenmenschliche Biochemie. Um das authentisch mit den Themen Partnerschaft und Liebe zu verbinden, müssen die Schauspieler verstehen, was sie sagen. Und viel proben. +Jule und Jan sind eher skeptisch der Liebe gegenüber, wie kommt das? +Zumindest der ewigen. Wir haben vor dem Film viele Mittzwanziger befragt. Wir haben gefragt, ob sie eine Beziehung haben, wann sie das letzte Mal verliebt waren, woran sie merken, dass sie verliebt sind, ob sie an die ewige Liebe glauben – übrigens zu 80 Prozent "Nein". Die glauben noch an die Liebe, aber nicht mehr an die ewige, und vor allem, dass man sich trennen sollte, wenn es nicht mehr passt, wenn man sich nur noch hasst. Das ist doch ein riesiger Fortschritt! +Was meinen Sie damit? +Wir müssen uns mit dem Thema Liebe neu auseinandersetzen. Und mit den alten Beziehungsmodellen. Paare reden in Filmen oft so poetisch oder käuen die immer gleichen Liebesklischees wieder: Man sieht sich, man streitet sich, man bleibt für immer zusammen, Hochzeit, für immer glücklich. Das ist ja das, wovon 99 Prozent der Menschen träumen. Und woher haben die Leute diesen Schwachsinn – aus Hollywoodfilmen! Aber in der Realität funktioniert's so ja nicht. +"303" ist Ihr erster Liebesfilm. +Ja, komplett. +Wie funktioniert Liebe in Ihrem Film? +Es wird viel über Beziehungen gesprochen, über den Unterschied zwischen sexueller Attraktion und Seelenverwandtschaft. Auch in diesem Film gibt es Streit, aber er bestimmt nicht die Dramaturgie der Geschichte. Er sorgt für Nähe, dafür, dass sich die Charaktere einschätzen können. Entsteht daraus Liebe? Der Film lässt das weitgehend offen. Er gibt keine Antworten, er stellt vielmehr Fragen: Wie ist mein Verhältnis zur Monogamie? Suche ich einen Partner, mit dem ich ewig zusammen bin? +Ihr Film läuft auf der Berlinale in der Sektion "Generation". Was macht die Generation in "303" aus? +Ich habe letztens mal gegoogelt. Es gibt jetzt schon die Generation Z – das sind die totalen Instagram-Fanatiker. Und es gibt die Generation Y, das wären wohl meine Protagonisten. Bei jetzigen Mittzwanzigern geht es anscheinend viel darum, sich selbst finden zu müssen. Es gibt keine eindeutigen Vorgaben mehr von Großeltern oder Eltern. So im Sinne von: Meine Eltern waren Nazis, ich lehne mich gegen sie auf. Ich bin Punk oder Anti-Establishment. Mit dieser Unsicherheit umzugehen, sich selbst zu definieren, das überlasse ich ganz den Figuren, ich definiere die Generation nicht. +Christine Stöckel + +Selbstfindung scheint bei Peter Švrček kein Thema mehr, als rechtsnationalistischer Vorsitzender der militaristischen Jugendorganisation "Slovenski Branci" offenbart er im Film "When the war comes" ein bedrückend geschlossenes Weltbild. Für ihn sind Flüchtlinge eine Gefahr, ein Krieg nicht unwahrscheinlich. Daher versucht die Organisation Rekruten anzuheuern, um die "slowakischen Werte" zu schützen. Christine Stöckel hat den brisanten Dokumentarfilm gesehen – und war nicht über alle Regieentscheidungen von Jan Gebert glücklich.Hier geht's zum Steckbrief. + + +Roter Teppich hin oder her, die großen Stars gestern waren eindeutig Rex, King, Duke, Boss und Chief. Die fünf vierbeinigen Hauptdarsteller aus Wes Andersons Animationsfilm "Isle of Dogs" müssen manche haarige Situation meistern. Welche, das hat unser rappender Rezensent Damian Correa hier mal zusammengereimt: + +Bei der Pressekonferenz zum Film redete vor allem einer: Regisseur Wes Anderson. Selbst als Koyu Rankin, der japanische Sprecher von Hauptfigur Atari (der übrigens seinen 11. Geburtstag feierte, was für ein unvergesslicher Geburtstag ist das bitte?), gefragt wurde, übernahm Wes Anderson den größten Teil der Antwort. Einmal aber stahl ihm Bryan Cranston, der im Film den Hund "Chief" spricht, die Show: Er würde gern die Bedeutung von Stille für Cranstons Schauspiel verstehen, fragte ein Journalist. Cranston antwortete lautlos. Seine Lippen bewegten sich, doch kein Ton kam heraus. Der Journalist schrieb trotzdem fleißig mit. +(mbr) + + +Und dann war da noch die Eröffnungsgala, bei der mehr als sonst die Looks der Frauen im Vordergrund standen. Wie oft wurde als Protestzeichen gegen sexuelle Gewalt schwarz getragen? Senta Berger kam jedenfalls ganz in schwarz, Toni Garrn ganz in weiß. Tilda Swinton in schwarz-weiß. #MeToo auf der Berlinale? Ja, aber. Einen einheitlichen Soli-Dresscode – wie etwa bei den Golden Globes – gab es nicht. +Auch wenn die ganz große Geste fehlte, ging es in fast jedem Interview um #MeToo. Immerhin ist die Berlinale das erste große Festival seit den Harvey Weinstein-Enthüllungen. Dieter Kosslick verzichtete auf seinen roten Schal und wählte stattdessen einen schwarzen. Anna Brüggemann, die unter "#nobodysdoll" zu einer selbstbestimmten Spielart der Schönheit auf dem Red Carpet aufrief, kam in Turnschuhen. Alina Levshin und Lavinia Wilson trugen Highheels und ebenfalls den "#nobodysdoll"-Button. + +Von den internationalen Stars stammten bis auf Helen Mirren fast alle aus Wes Andersons Eröffnungsfilm "Isle of Dogs": Jeff Goldblum, Liev Schreiber, Bryan Cranston, Greta Gerwig und Bill Murray, der, sobald das Wort #MeToo im Interview auch nur fiel, Reißaus nahm. Und dann war da natürlich noch Tilda Swinton, denn die ist immer da, und in diesem Jahr fand sie: "#MeToo ist sicherlich eine wichtige Debatte und es ist gut und richtig, dass wir sie führen, aber es ist nicht die einzige, und wir sollten andere Themen nicht vergessen. Wir schicken Leute weg, die kein Zuhause haben." +Politisch wurde es auch auf der Eröffnungsfeier immer wieder. "Männer und Frauen in einem Raum, wir trau'n uns was!", eröffnete wie Anke Engelke den Abend. Kulturstaatssekretärin Monika Grütters erinnerte an Marlene Dietrich, die damals im Hosenanzug ein neues Frauenbild propagierte. Es sei nun an der Zeit, "time's up", betonte Grütters, während der Applaus immer schwächer wurde. +Simone Ahrweiler + + +Und was am ersten Tag so los war auf der Berlinale? Das erfahrt ihrhier. diff --git a/fluter/berlinale-blog-2018-tag3.txt b/fluter/berlinale-blog-2018-tag3.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..08d8ea4674808182c33b47f5bc29d1fcf76bff6e --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-blog-2018-tag3.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +Dieses "Tapp und Tastkino" ist wohl ihr bekanntestes Werk – und heute, wo sich alle Welt um Machtgefälle zwischen den Geschlechtern im Allgemeinen und sexuellen Missbrauch in der Filmbranche im Speziellen die Köpfe heiß reden, nicht weniger radikal als 1968, als Valie Export diese Aktion zum ersten Mal in Wien aufführte. Damals wollte die Künstlerin die Filmwirklichkeit in die reale Welt erweitern. Die Männer, die sonst im Dunkel  des Kinos die Frauen auf der Leinwand quasi beherrschten, sollten sich mit der echten Frau auseinandersetzen. Und die schaut dann eben auch zurück. +Eine nur zweiminütige Filmaufzeichnung des "Tapp und Tastkinos", längst ein Klassiker der Performance-Kunst, läuft heute im Arsenal zusammen mit anderen Kurzfilmen aus dem Jahr 1968, die die ästhetischen Strategien der Filmemacher in diesem gesellschaftlichen Umbruchsjahr reflektieren. 1968 war ja auch ein filmischer Aufbruch. Immerhin erzwang damals eine Bande ungehobelter junger Leute den Abbruch des Festivals in Cannes (unter ihnen Jean-Luc Godard und François Truffaut). Mehr Valie Export auf der Berlinale gibt es am Dienstag, da ist sie nämlich in der Audi-Lounge zu Gast und spricht mit Deutschlandfunk Kultur über ihre Arbeit. . (ab 14 Uhr) +Felix Denk + + +Auch schon ein paar Tage her, aber wieder verstörend aktuell ist der Skandal um Kurt Waldheim. Als der Österreicher 1986 als Kandidat zur Bundespräsidentschaftswahl antrat, kam heraus, dass er in der Nazi-Zeit im Reiterkorps SA war – was erstaunlich viele seiner Landsleute nicht groß störte. Er gewann die Wahl. In Ruth Beckmanns Kompilationsfilm "Waldheims Walzer" wird die Geschichte aus der persönlichen Sicht der Regisseurin erzählt und in einen größeren geschichtspolitischen Zusammenhang gestellt. Jan-Philipp Kohlmann hat den Film gesehen – und viel darüber gelernt, wie sich in kontroversen Debatten die politischen Diskurse verschieben können.Hier geht's zum Steckbrief. + + +Es wird sicher mal was schiefgehen bei der Berlinale, ein Filmvorführgerät wird streiken, der Ton mal nicht synchron sein, das VIP-Catering kalt sein, der Sekt bei der Premierenparty schal oder ein Kino überbucht. Aber eines wird sicherlich nicht passieren: dass im Presse-Schreibraum die Tastaturen ausgehen. Dafür ist gesorgt. +Michael Brake + + + +Die Berlinale wäre nicht die Berlinale ohne.... Willem Dafoe. +Beruf:Schauspieler. Chamäleon. Die Brücke zwischen Hollywood und Independent-Kino. +Auffallende Merkmale:Das zerknautschte Gesicht, die stechenden Augen, der drahtige und knochige Körper. Mit dem er alles spielen kann: Gangster, Banker, Cops, Psychologen. Oder auch Jesus, wenn's sein muss. +Warum braucht ihn die Berlinale?Um ihm in diesem Jahr den Goldenen Ehrenbären zu verleihen. Willem Dafoe ist die Sektion "Hommage" gewidmet. 10 seiner weit mehr als 100 Filme laufen zu diesem Anlass auf der Berlinale: von "To live and die in L.A." (1985) über "Platoon" bis hin zu "Antichrist" (2009). Für seinen neuen Film "The Florida Project" (ab März im Kino) ist er in diesem Jahr auch für den Oscar nominiert. Well deserved. +Und was sagt er selbst?"Meine Filme erinnern mich an die Phasen meines Lebens: was mich beschäftigt hat, in wen ich gerade verliebt war, welche Kleidung ich getragen hab. Ich sehe mir meine alten Filme an, um mich zu erinnern." +Jan-Philipp Kohlmann + + + +Gestern war die Premiere von "303" im Haus der Kulturen der Welt, dem Eröffnungsfilm der Sektion Generation in dem schönen Saal des Haus der Kulturen der Welt. (Interview mit Hans Weingartner siehe Blog von gestern). Es geht um Jule und Jan, um die Liebe und ihre (Un-)Möglichkeit im Spätkapitalismus. Es wird ziemlich viel geredet. Der heimliche Star des Films sagt dagegen nichts. Er ist nämlich ein Camping-Bus. Chassis von Mercedes, Model O 303, Aufbau von Hymer. Da merkt man wieder mal: Gute Filme werden mit guten Bussen noch besser. Zum Beispiel... +... wenn 's rasant wird: In "Speed" darf der Linienbus, in dem eine Bombe versteckt ist, nicht langsamer als 50 Meilen werden. +... wenn Weltflucht gefragt ist: Was wäre der schweigsame Dichter Paterson in Jim Jarmuschs gleichnamigen Film ohne sein Notizbuch, in das er auf dem Fahrersitz seines 23er-Linienbusses vor dem Antritt seiner Schicht ein paar Gedanken und Gedichte schreibt. +... wenn es um Gerechtigkeit geht: Rosa Parks blieb sitzen. Und zwar da, wo eigentlich nur die Weißen sitzen durften. Mit ihrem Bus-Boykott im Jahre 1956 wurde sie zur Ikone der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Für die Verfilmung "The Rosa Parks Story" bekam Angela Bassett in der Hauptrolle in den NAACP-Award als beste Hauptdarstellerin. +... wenn die Party startet: Ziemlich weit aus ihrer Comfort zone, den Clubs von Sydney, düsen die drei Drag Queens Bernadette, Mitzi und Felicia mit ihrem silbernen Schulbus in "Priscilla Queen of the Dessert" durch die Wüste Australiens. +... wenn man irgendwie anders als die Anderen drauf ist: Im Kiffer-Klassiker Cheech & Chong ist Cheech der Schulbus-Fahrer (für die Eltern eine schreckliche Vorstellung). In seiner Freizeit kurvt er mit seinem Bong-Buddy Chong meist mit einem grünen Bus durch die kalifornischen Berge. +Felix Denk diff --git a/fluter/berlinale-blog-2018-tag4.txt b/fluter/berlinale-blog-2018-tag4.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..09ec6e0d07f54f72e97649e933701da217ec1317 --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-blog-2018-tag4.txt @@ -0,0 +1,37 @@ + +Steve Loveridge fügt aus den vielen Aufnahmen, die größtenteils von der Künstlerin selbst gedreht wurden, ein vielschichtiges Portrait zusammen. Man sieht eine Frau, die von der Suche nach sich selbst getrieben ist und die durch das, was sie entdeckt, manchmal schockiert ist. Die Reise nach Sri Lanka, die sie nach 16 Jahren wieder an ihren Geburtsort führt, ist ein zentraler Teil des Films sowie auch auf dem Lebensweg der Künstlerin. +Vom Kriegsflüchtling zum Popstar – klingt wie ein Märchen. Loveridges Film zeigt die Künstlerin als eine Frau, die auf der Suche nach ihrer Identität doch immer eine Idee davon hatte, wer oder was sie sein will. Kontrovers, wenn es sein muss. +Der Film zeigt auch, dass selbst Popstars, die mit Madonna und Nicky Minaj in der Halbzeitshow des Superbowls auftreten, in Amerika schnell wieder aus dem Rampenlicht verschwinden, sobald sie über unbequeme Wahrheiten sprechen – oder den Stinkefinger zeigen (der galt allerdings ihrem Ex-Lover). +Einen Stinkefinger zeigten viele Fans wiederum M.I.A., als sie Werbung für H&M machte. Fast Fashion und politisches Engagement – wie soll denn bitte das zusammengehen? Das erzählt der Film dann nicht. Ein paar mehr dieser Probleme des problematischen Popstars hätte man schon gern gesehen. +Simone Ahrweiler + + + +Der vielleicht lustigste Dialog der Berlinale 2018 geht folgendermaßen: Ein junges Paar von der Sorte, die es in Berlin zu Zehntausenden gibt, sitzt am Küchentisch, sein Handy dingelt. +Er: Lilly sagt, es ist soweit. +Sie: Wer ist Lilly? +Er: Mein Ovulationsassisent. Lilly sagt, du hast einen Eisprung. +Sie: Schon wieder? +Er: Komm! Lass es uns jetzt gleich machen! +Sie: Wir essen gerade! +Man sieht: Marco (Aleksandar Radenković) hat kurz vor dem fünfjährigen Jubiläum der gemeinsamen Beziehung etwas andere Prioritäten als seine Freundin Charlie (Victoria Schulz), die im Mittelpunkt von "Rückenwind von vorn" (Perspektive Deutsches Kino) steht. Er will Kinder und Zusammenziehen, sie nach Korea reisen und erstmal weiter als Grundschullehrerin arbeiten. Und so steht Charlie vor der großen Problematik der Mittzwanziger nach dem Studium: Gerade war noch alles möglich, plötzlich ist alles so klar. Wollen wir tanzen gehen oder für die neue Wohnung sparen? Erwachsenwerden oder noch ein wenig warten? +Das ist nicht unbedingt originell in Stoff und Message, aber Philipp Eichholtz ist ein schöner kleiner deutscher Kinofilm über die Quarterlife-Crisis der Millennials gelungen, versetzt mit einigen hübschen visuellen Ideen und Ahhh-Momenten (eine Paintballszene mit Charlies Oma und ein skurriler Roadtrip in die Slowakei), improvisierten Dialogen und tollen Darstellern wie Angelika Wallner und Daniel Zillmann. Dieser Film kommt bestimmt auch regulär ins Kino, also Augen offenhalten. + + + +Quaterlife-Crisis? Für Mati ist das noch ein Fremdwort. Dafür hat sie ihre ganz eigenen Probleme. Die Matura steht vor der Tür, der Umzug nach Wien zum Studium, die Eltern fahren ihre Ehe vor die Wand und ihre Position in der Motocross-Clique wird auf eine ernste Probe gestellt. Michael Brake hat "L'animale", den Debüt-Film von Katharina Mückstein, nicht nur wegen des lakonischen Humors und des niederösterreichischen Dialekts gern gesehen.Hierunser Steckbrief. + + +Und jetzt noch ein Comeback! Auch dieses Jahr gibt es auf unserem fluter.de-Berlinale-Blog wieder das Fake-Film-Quiz. Das ist praktisch Notwehr. Rund 400 Filme laufen jedes Jahr auf der Berlinale – und ganz ehrlich: Manche der Kurzbeschreibungen klingen erstmal ganz schön krude. Aber nur eine der drei da unten ist von uns erfunden. Welche, das verraten wir am Dienstag! + +All my fearless Donkeys (von Alberto Ruiz Diaz, Uruguay 2018) +Diego lebt mit 92 Jahren auf einem Bauernhof in der Pampa,den er ein Leben lang bewirtschaftet hat. Als sein Bruder stirbt, reist der Alte allein mit einem Esel-Track nach Montevideo, um als einziger Angehöriger das Erbe anzutreten. Altmeister Ruiz Diaz filmt diese Reise als Kaleidoskop der Erinnerungen an die Geschichte seines Landes. +Season of the Devil (von Lav Diaz, Philippinen 2018) +Ende der Siebzigerjahre unterdrückt eine militaristische Bürgerwehr ein abgelegenes Dorf im Urwald. Die unerschrockene Ärztin Lorena eröffnet eine Armenklinik und verschwindet kurze Zeit später spurlos. Regisseur Lav Diaz nennt seinen vierstündigen Film eine philippinische Rockoper, auch die Songs hat er selbst geschrieben. +Casanovagen (von Luise Donschen, Deutschland 2018) +Ein Mönch, eine Sexarbeiterin, ein Evolutionsbiologe bei der Arbeit, junge Erwachsene in einer Bar und John Malkovich als Casanova: mal fiktional, mal dokumentarisch nähert sich dieser Debütfilm Fragen nach Körperlichkeit und Begehren. + +Und hier noch die AGBs zum Fake-Film-Quiz: Wer googelt, riskiert den Spaß am Raten. + +Und was gestern so lief auf der Berlinale ->hiererfährst Du es. + diff --git a/fluter/berlinale-blog-2018-tag7.txt b/fluter/berlinale-blog-2018-tag7.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a453bbf65b22c94c71fc2569541856a3a1e82829 --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-blog-2018-tag7.txt @@ -0,0 +1,53 @@ +23.15 UhrSo langsam füllt es sich. Aber niemand macht Anstalten zu beginnen. Das Format "Kneipengespräch" soll übrigens so laufen: "Ein Gespräch ohne Vorne und Hinten, ohne Oben und Unten, weg von den festgefahrenen Routinen der Repräsentation." +Es ist kein Zufall, dass auf diesem Bild der Veranstaltung Berlinale 2020 der Woche der Kritik nur Brillenträger zu sehen sind. Kaum einer der kritischen Diskutanten kam ohne dickwandige Sehhilfe ins Anna Koschke in Berlin-Mitte +23.25 UhrDer hintere Raum, in dem wir an zwei langen Tischen sitzen, ist jetzt bis auf den letzten Platz besetzt. Die Dichte an dickumrandeten Brillen ist beeindruckend. Mit 25 Minuten Verspätung geht es los, also, irgendwie jedenfalls, denn nach einer eher hilflosen Startmoderation will erstmal keiner was sagen. +23.27 UhrEin Mann erbarmt sich. Und hört dann gar nicht mehr auf zu reden. Er selbst würde die Filme härter aussuchen und zwei bis drei der vielen Sektionen abschaffen. Welche sagt er aber nicht. Was gut sei: Dass die Berlinale in der gesamten Stadt präsent ist und nicht nur für die Filmcommunity. Das sollte man beibehalten. +23.32 Uhr"Weiß jemand, wie autonom die Sektionen bei der Filmauswahl sind?", fragt eine Frau. Eine wichtige Frage, um Kosslicks Arbeit zu beurteilen. Niemand im Raum weiß es. Vielleicht hat auch niemand die Frage gehört, denn die Mikros sind zu leise und im Vorraum ist normaler Kneipenbetrieb. +23.40 UhrFrage einer holländischen Kritikerin: Ist es in Deutschland normal, dass Festivalleitungen ohne öffentliche Ausschreibung bestimmt werden? Antwort: Das sei nicht Deutschland-spezifisch, aber in der Tat habe es vor Kosslick auch Ausschreibungen für den Berlinale-Chefposten gegeben. +23.45 UhrEin Weinglas fällt um. +23.47 UhrChristoph Hochhäusler, einer der Unterzeichner des Offenen Briefs, setzt zu einem längeren Redebeitrag an. Das, was es im Herbst nach dem Offenen Brief als "öffentliche Debatte" bezeichnet wurde, sei nur ein Puppentheater gewesen. Die Probleme der Berlinale? Man würde Schlampigkeit mit Freiheit bei der Filmauswahl verwechseln; die vielen Sektionen, Kategorien, Zielgruppen würden trennen, statt zu verbinden – warum eine Extrasektion für Kinderfilme, für deutsche Filme, für Essensfilme? "Die Berlinale ist das beliebteste Festival, wenn man sich die Zuschauerzahlen ansieht", wirft jemand ein. "Who cares!", erwidert Hochhäusler. +23.54 UhrDie Macht von Kosslick im Festivalgefüge sei nicht zu unterschätzen, sagt einer und verweist auch auf das riesige Organigramm der Berlinale, das an der Wand hängt: Letztlich würden alle Abteilungsleiter direkt Kosslick unterstehen +23.58 UhrAuftritt des Regisseurs und Schauspielers RP Kahl. Auch er hat den Offenen Brief unterzeichnet, war aber 12 Jahre in der Kurzfilm-Auswahlkommission der Berlinale. "Mit diesen Insights kann ich sagen: Dieter Kosslick war in den letzten Jahren kein guter Direktor mehr, er hat keine guten Entscheidungen mehr getroffen." Es ginge doch gar nicht mehr um gute Filme, sondern nur noch darum wie viele Tickets verkauft werden. "Größtes Publikumsfestival? Was für ein Bullshit." + +Damian Correa war wieder im Kino. Diesmal in Danmark von Kasper Rune Larsen, der in der Sektion Generation 14Plus läuft. Fand er gut. Warum, das rappt er hier + +0.04 UhrFrédéric Jaeger ergänzt zum Thema Publikumszahlen: Es sei falsch, Filme danach auszuwählen. Denn die Berliner würden auch kommen, wenn die Inhalte andere, anspruchsvollere wären. +0.05 UhrEin Bierglas fällt krachend zu Boden. +0.10 UhrChristoph Hochhäusler steht auf und schreit in den Raum: Können wir mal Ruhe haben! Klappt nicht. +0.13 UhrMit Dietrich Brüggemann ist inzwischen ein weiterer Offener-Brief-Unterzeichner angekommen. Seine ideale Festivalphilosophie wäre: Gebt den Leuten was sie brauchen, nicht was sie wollen – so wie Henry Ford gesagt haben soll: "Wenn ich die Leute gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie sich schnellere Pferde gewünscht, keine Autos." Für diese Philosophie fehle der Berlinale nur leider die kuratierende Hand. +0.15 UhrWenn hier fast nur Männer erwähnt werden, liegt das übrigens daran, dass fast nur Männer was gesagt haben. Kein Vorwurf, nur eine Feststellung. +Keiner hat gesagt, es wäre leicht: Das Organigramm zeigt die Struktur der Berlinale. Leider war es zu groß, um mit einem Foto vollständig und lesbar abgebildet zu werden +0.24 UhrChristoph Hochhäusler plädiert für mehr Offenheit gegenüber kinofremden Formaten und Urhebern. Er würde auch Youtube-Filme mit 5 Millionen Views bei der Berlinale sehen wollen, wenn die Qualität stimme. +0.25 UhrDas Programm der meisten Berlinale-Sektionen hätte auch von Schimpansen zusammengestellt werden können, sagt jemand. Wenngleich der gesamte Abend grausam unkonkret bleibt – auf die Schwäche in der Berliner Programmarbeit können sich alle einigen. +0.26 UhrEin Filmproduzent meldet sich zu Wort: Für die meisten wäre Berlin als Festival nur dritte oder vierte Wahl, um die Filme zu präsentieren. +0.29 UhrAuch viele Filmkritiker würden aus Relevanzgründen nicht nach Berlin kommen, sagt Frédéric Jaeger. Nachfrage: Kannst du sagen, welche? Kann er nicht. +0.37 UhrEs ist immer noch laut drüben, aber inzwischen ist das auch egal. Der Diskussionsraum ist eh nur noch zur Hälfte gefüllt. +0.50 UhrRP Kahl hat eine Idee. Er glaubt nicht, dass Bundeskulturstaatsministerin Monika Grütters, die für die Nachfolge Dieter Kosslicks verantwortlich ist, weiß, wen sie suche. Vielleicht sollte deswegen auf den Offenen Brief nun eine Offene Stellenausschreibung folgen, ein "Fake Open Call", in dem genau steht, was man sich von der kommenden Berlinale-Leitung wünsche und erwarte. Endlich mal eine konkrete Idee! Und damit endet der Abend auch. +1.01 UhrFazit: Wenn das der Zustand der Opposition gegen Kosslick ist, dann könnte er vermutlich auch bis 2030 weiter die Berlinale führen. Es soll besser kuratiert werden, von einem der mehr Ahnung hat, nur: Wie genau? Nur selten wurden Kritikpunkte und Ideen konkreter ausgeführt.  Immerhin wissen wir jetzt: Das experimentelle Format "Kneipengespräch" hat nicht funktioniert, jedenfalls nicht an diesem lauten Ort. +Michael Brake + + +Nicht gerappt, aber viel gesungen wird in dem Dokumentarfilm "Victory Day" von Sergei Loznitsa. Der zeigt, welche emotionale Kraft der Tag des Sieges über Hitlerdeutschland bei den Russen immer noch freisetzt. Michael Brake war fasziniert von der schrägen Mischung aus Trauer, Freude, Partystimmung, die am 9. Mai alljährlich am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow zu bestaunen ist.Hier geht es zu seinem Steckbrief. + + +Wie wäre es, plötzlich im Körper eines anderen zu stecken? Lexi und ihren FreundInnen passiert bei einem Campingtrip genau das. Konflikte brechen auf zwischen den drei jungen Frauen und Thami, dem einzigen Mann, aber auch zwischen der weißen Lexi und der schwarzen Xoli. Konflikte, die symptomatisch für die gesellschaftlichen Verwerfungen in der südafrikanischen Rainbow Nation stehen. Regisseurin Jenna Bass hat mit "High Fantasy" einen Film über soziale Ungleichheiten und die Situation der Jugendlichen in Südafrika gedreht, der in der Sektion Generation 14plus läuft. +fluter: Wie kamen Sie auf die Idee, diesen Film zu machen? +2015 begannen die Studentenproteste "Fees must fall" – das war wie ein Weckruf für mich, dass in Südafrika wirklich etwas schief läuft. Darüber wollte ich einen Film machen, bei dem man etwas über die Problematik lernt, aber der die Leute auch unterhält. Als ich überlegte, wie ich das erzählen möchte, kam mir die Idee mit den Jugendlichen, die ihre Körper tauschen. +An "High Fantasy" ist ja einiges besonders… +Ja, der Großteil des Casts ist weiblich. Und der Film wurde komplett mit Smartphones gedreht. Außerdem ist das Drehbuch in enger Zusammenarbeit mit den Schauspielern entstanden. Ich bin ein großer Fan des britischen Regisseurs Mike Leigh, der die Filmfiguren in einer Art Workshop mit den Schauspielern gemeinsam erarbeitet. Meiner Meinung nach sind die SchauspielerInnen die Experten für ihre Figuren – nicht die RegisseurInnen. Wir haben also die Charaktere zusammen erarbeitet und auf dieser Basis ein Drehbuch geschrieben. Vor Ort haben wir das wieder über den Haufen geworfen und einfach improvisiert. So ist eine Natürlichkeit entstanden, die man niemals mit einem Drehbuch haben kann. + + +Die Figuren im Film finden sich plötzlich im Körper eines anderen wieder, haben eine andere Hautfarbe, ein anderes Geschlecht. Welche Rolle spielen diese Aspekte für die heutige Jugend von Südafrika, die nach dem Ende der Apartheid geboren wurde? +Das große Missverständnis ist, dass es diese Trennung nicht gibt: In der Vergangenheit war alles schlecht, nach der Apartheid ist alles gut. Schwarze Südafrikaner haben immer noch große Nachteile im Vergleich zu weißen, daran hat sich wenig geändert. Die Menschen leben immer noch mit all den Problemen der Vergangenheit  – Apartheid, Kolonialismus… diese Probleme bestimmen den Alltag der Menschen in Südafrika. Die "Fees must fall"-Proteste haben viele Jugendliche dazu gebracht, sich politisch zu engagieren. Zum ersten Mal seit langem gab es wieder eine nationale Jugendbewegung, weil viele Jugendliche offen gesagt haben: So kann es nicht weitergehen. +Zurzeit wird überall über die #MeToo-Debatte gesprochen. Jodie Foster schlug kürzlich vor, man könnte sich an der Wahrheits- und Versöhnungskommission orientieren, die in Südafrika nach dem Ende der Apartheid die Aussöhnung zwischen Schwarz und Weiß ermöglichen sollte. +Bei "Truth and Reconciliation" ging es ja vor allem darum, dass Menschen offen gesagt haben, was sie getan haben, ihre Schuld offen dargelegt haben. Aber das hat sie nicht ins Gefängnis gebracht. Aber nur dadurch, dass sie es zugeben, ist es nicht getan. Auf eine Art und Weise ist es wahrscheinlich vergleichbar mit dem gesellschaftlichen Problem hinter #MeToo. Man gibt dem Täter ein Mikrofon und fragt ihn: Warum hast du das gemacht? Und danach bleibt doch alles beim Alten. Der Kern der #MeToo-Debatte ist für mich: Wenn ein Mann etwas sagt und die Frau sagt was anderes, dann glaubt man dem Mann. In Südafrika ist es eben so, wenn Weiße etwas sagen und dann Schwarze, glaubt man dem Weißen. In Südafrika würde Jodie Foster damit wahrscheinlich eine große Wut entgegenschlagen. +Simone Ahrweiler + +Die Berlinale wäre nicht die Berlinale ohne ... Tilda Swinton +Beruf: Schauspielerin, Berlinale-Dauergast, Stil-Ikone und Feministin +Besondere Merkmale: Ihr markantes Aussehen, ihr intensives Spiel, ihre einzigartige (Leinwand)Präsenz macht sie jedoch umso interessanter. +Warum braucht die Berlinale sie? Bis sie 2009 den Vorsitz der internationalen Jury übernahm, liefen bei der Berlinale bereits 15 Filme mit ihr. Die Schauspielerin war mit den Filmfestspielen schon immer eng verbunden und ist mittlerweile Dauergast. Wenn Kosslick ruft, kommen sie alle, heißt es immer wieder. Nun ja, vielleicht nicht alle – aber mit Oscar-Gewinnerin Swinton kommt immer wieder eine der ganz großen Hollywood-Stars nach Berlin. +Und was sagt sie selbst? "Ich bin so froh, dass ich im Jetzt lebe. Ich hänge nicht an der Vergangenheit, und von der Zukunft habe ich auch nichts zu befürchten." +Simone Ahrweiler + + diff --git a/fluter/berlinale-blog-2018.txt b/fluter/berlinale-blog-2018.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d23eb2afecfa790de1fd5ea210a3f0435db0427b --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-blog-2018.txt @@ -0,0 +1,289 @@ +Die Dokumentation "Soufra" handelt von einer Frau namens Mariam Shaar, deren Familie seit drei Generationen in einem Flüchtlingscamp in der libanesischen Hauptstadt Beirut lebt. Um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, eröffnet sie einen Cateringservice und bietet ihr Essen verschiedenen Schulen an. Der Kauf eines Foodtrucks wird für sie zum Symbol der Selbstermächtigung. +Empowerment funktioniert in "Chef Flynn" und in "Soufra" komplett unterschiedlich: Hier steht ein Einzelgänger am Herd, der seiner Mutter schon mit zehn Jahren erklärt, wie man einen Truthahn richtig anbrät. Kochen ist seine Berufung. Dort stehen Mariams fünfzehn Köchinnen in Schürzen, für die das Kochen erst einmal finanzielle Sicherheit bedeutet. Hier zaubert ein junger Überflieger mit teurem Equipment erstklassige Haute Cuisine. Dort bereiten Frauen traditionelle Gerichte zu, von Hummus über gefüllte Weinblätter bis Kokosnusskuchen, und kämpfen um fehlende Lizenzen und mit bürokratischen Strukturen, weil sie einen Flüchtlingsstatus haben. + +Vielleicht kann man die Welten eines US-Teenies und einer erwachsenen Geschäftsfrau im Libanon gar nicht vergleichen. Vielleicht aber doch. Sowohl Flynn als auch Mariam Shaar sprechen ganz ähnlich über das Gefühl der Kontrolle und der Selbstverwirklichung, die ihnen das das Kochen gibt. Es steht hier stellvertretend dafür, was man alles im Leben schaffen kann, wenn man etwas  wirklich will. +Flynn (mittlerweile 19 Jahre alt) macht in den nächsten Tagen sein erstes Restaurant "Eureka" außerhalb des Wohnzimmers seiner Eltern in New York auf. Und Mariam Shaar dient im Libanon vielen geflüchteten Frauen mittlerweile als emanzipatorisches Vorbild. +Christine Stöckel + +Der längste Film der diesjährigen Berlinale? Etwa die vierstündige philippinische Diktatur-Rockoper "Ang Panahon ng Halimaw"? Nein, es ist ist "6144 x 1024": 2182 Minuten lang, über 36 Stunden. Und es ist nicht nur der längste, sondern auch der einzige Live-Film des Festivals, denn er wird in Echtzeit von einem Computerprogramm generiert. Gezeigt werden dabei sämtliche Farben, die der Filmprojektor darstellen kann: 6144 Farbabstufungen in 1024 Helligkeitsstufen, das macht 6,3 Millionen Farben, jeweils als Vollbild gezeigt. +Zweimal bin ich für etwa eine halbe Stunde in "6144 x 1024". Es ist still im Kino, außer mir ist nur eine Frau da und ich befürchte, es ist die Künstlerin Margaret Honda selbst. Immer wieder wird der Regenbogen auf der Leinwand durchgespielt, fließend wechseln die Farben von rot zu rosa zu lila zu blau usw. Es dauert eine Viertelstunde, um anzukommen, dann fallen einem auf: das Rauschen der Saalbelüftung; ein Bildpunkt des Projektors, der kaputt ist und immer weiß leuchtet; unten rechts auf der Leinwand ist ein wenig Dreck; und: wie wenig Gelbschattierungen zu sehen ist, im Vergleich zu grün und blau (und überlegt mal selbst, wie viel mehr Blautöne euch einfallen im Vergleich zu Gelbtönen). +Was ich gar nicht sehe sind schwarz, weiß, grau, beige, braun. Das muss eine andere Phase des Films sein. Denn "6144 x 1024" ist auf neun Abende verteilt (Mittwoch ist Sendepause), der Film läuft immer von 19 bis 23 Uhr im Saal 2 des Arsenal-Kinos. Der Eintritt ist kostenlos. Schaut doch mal rein. Margaret Honda freut sich sicherlich über Gesellschaft. +Michael Brake + +Als ich am Zoopalast zurück zu meinem Fahrrad laufe, ist auf einmal der Bürgersteig dicht. Roter Teppich, großer Auftritt. Auf dem Teppich: eine mir unbekannte blonde Frau im Abendkleid. An den Absperrungen: Autogrammjäger, "Connie!", rufen sie immer wieder und strecken Hochglanzfotos von ihr nach vorn. "Connie!" "Connie!" "Connie!" Einige werden erhört, andere nicht. +Die Frau ist Connie Nielsen, erklärt mir R., einer der Autogrammjäger, anschließend, sie ist bekannt unter anderem aus "Wonder Woman" und bei der Berlinale mit der dänischen TV-Serie "Liberty" vertreten. Er selbst hat kein Autogramm bekommen, obwohl Connie Nielsen den Stift schon angesetzt hatte. Das Problem: Er wollte sie auf einem Foto von ihrem Auftritt in Lars von Triers "Nymphomaniac" unterschreiben lassen. Und mit diesem Film, glaubt R. nun, sei Nielsen nicht zufrieden. +Dabei hat er sogar ein Post-it mit individueller Widmung auf dem Hochglanzfoto kleben, damit Connie Nielsen sieht, dass er das Autogramm für sich selbst sammelt und nicht für den Weiterverkauf auf eBay. Das schätzen Stars, sagt R., der gut vorbereitet ist: Er hat einen genauen Zeitplan für den Tag dabei und die passenden Fotos dazu. Die Infos hat von den PR-Agent*innen-Listen auf der Berlinale-Website, ergänzt durch eigene Recherchen. +Wie hoch die Chancen sind, dass man, oft nach langem Warten, auch das erhoffte Autogramm kriegt? Ungefähr fifty-fity, sagt R.. Leider schaffe ich es nicht mehr, ihn zu fragen, wie er es aushält, den ganzen Tag in der Kälte zu stehen, denn R. muss wieder weiter. Joaquin Phoenix wird um 19 Uhr am Berlinale-Palast erwartet. +Michael Brake + + +Das Problem, das der Wettbewerbsfilm "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot" hat, verrät schon sein Titel: Er ist zu lang, zu umständlich und es wird schlichtweg zu viel gelabert. Die Zwillinge Robert und Elena bereiten sich aufs Abitur vor, lesen sich aus Schulbüchern über Heidegger vor und wenn sie nicht auf der Wiese rumlümmeln oder zum Bierholen zur Tanke gehen, sind sie am Badesee. An welchen Stellen Jan-Philipp Kohlmann sich nicht gelangweilt hat – und was ihm richtig gut gefallen hat, das stehthier. + + +Nordschweden, australisches Outback oder Mexiko? Nur zwei der drei Filme, die hier kurz beschrieben werden, laufen wirklich auf der Berlinale. Welcher ist eine windige Erfindung? Die Auflösung kommt am Samstag, dem großen Finale unseres diesjährigen Fake-Film-Quiz. + +Rå(von Sophia Bösch, Schweden 2018) +Herbst in Nordschweden. Linn ist 16 und darf endlich mit ihrem Vater auf die Elchjagd. Doch sie tötet das falsche Tier, eine Mutterkuh. Von Scham getrieben, sucht sie ihren eigenen Weg: Ein Gang in die Wildnis, der zu ihrer eigentlichen Prüfung wird. Der Film erzählt die Geschichte einer Initiation und ist zugleich eine Geschichte darüber, was es heißt, als Mädchen in einer männlich geprägten Gesellschaft zu bestehen. + +Gurrumul(von Paul Williams, Australien 2018) +Drei Tage, nachdem Geoffrey Gurrumul Yunupingu seine Zustimmung zu dem Film gab, starb er. Regisseur Paul Williams taucht respektvoll in die Gemeinschaft der Aboriginials ein und gibt uns einen tiefen Einblick in die Seele des blinden Musikers mit der "Stimme eines höheren Wesens" (Sting). In der Kombination von Rhythmen und Melodien der Yolngu mit zeitgenössischer, westlicher Musik schlägt dieses umfassende Porträt Brücken zwischen gegensätzlichen Welten. +No me olvides(von Alejandro González Iñárritu, Mexiko 2018) +Der zwölfjährige Esteban stirbt bei einem Ausflug ans Meer. Seine Familie, besonders sein großer Bruder Luiz, droht an der Trauer zu zerbrechen. Weil sein Tod ein Unfall war, erlaubt das Schicksal Esteban, als Geist zurückzukehren, doch nur sein Bruder kann ihn sehen und mit ihm sprechen. Die Brüder sind wieder vereint, Luiz scheitert jedoch zunehmend an der Realität. Einmal mehr taucht Oscar-Gewinner Iñárritu tief in die Psyche seiner Charaktere, die mit ihrem Schicksal hadern. + +Und hier noch die Auflösung vom Fake-Film-Quiz am Dienstag: El otoño, der Film über die beiden 80-Jährigen Single-Damen, die die Welt der Datingplattformen entdecken, muss auf jeden Fall gedreht werden – nur ist das leider noch nicht geschehen. + + + +Mittwoch, 21. 2. +Berlinale Blog, Tag 7: Aber wer kommt danach? Eine etwas diffuse Kneipendiskussion über die Post-Kosslick-Ära. Außerdem: eine neue RAP-Zension und Body Politics in Südafrika +Auch nach 14 Stunden Filmen ist der Berlinale-Tag noch nicht vorbei. Die "Woche der Kritik", ein seit 2015 von Filmkritikern ausgerichtetes Side-Event, hat zum "Kneipengespräch" geladen. Thema: Berlinale 2020. Dann nämlich beginnt die Zeit nach der langen Ära Dieter Kosslick. Seit 2001 ist Kosslick Berlinale-Direktor. Anfangs galt er noch als Erneuerer mit frischen Ideen, mittlerweile steht er in der Kritik, die Ende 2017 in einem sehr kurzen Offenen Brief von 79 deutschen Filmschaffenden gipfelte. Wie aber kann die Berlinale sich neu erfinden und sollte sie das überhaupt? Darum soll es gehen. +23.01 UhrOrt des Geschehens ist das "Anna Koschke", eine Art Gastwirtschaft. Es sollte jetzt losgehen, aber es sind nur knapp zehn Leute da. +23.15 UhrSo langsam füllt es sich. Aber niemand macht Anstalten zu beginnen. Das Format "Kneipengespräch" soll übrigens so laufen: "Ein Gespräch ohne Vorne und Hinten, ohne Oben und Unten, weg von den festgefahrenen Routinen der Repräsentation." +Es ist kein Zufall, dass auf diesem Bild der Veranstaltung Berlinale 2020 der Woche der Kritik nur Brillenträger zu sehen sind. Kaum einer der kritischen Diskutanten kam ohne dickwandige Sehhilfe ins Anna Koschke in Berlin-Mitte +23.25 UhrDer hintere Raum, in dem wir an zwei langen Tischen sitzen, ist jetzt bis auf den letzten Platz besetzt. Die Dichte an dickumrandeten Brillen ist beeindruckend. Mit 25 Minuten Verspätung geht es los, also, irgendwie jedenfalls, denn nach einer eher hilflosen Startmoderation will erstmal keiner was sagen. +23.27 UhrEin Mann erbarmt sich. Und hört dann gar nicht mehr auf zu reden. Er selbst würde die Filme härter aussuchen und zwei bis drei der vielen Sektionen abschaffen. Welche sagt er aber nicht. Was gut sei: Dass die Berlinale in der gesamten Stadt präsent ist und nicht nur für die Filmcommunity. Das sollte man beibehalten. +23.32 Uhr"Weiß jemand, wie autonom die Sektionen bei der Filmauswahl sind?", fragt eine Frau. Eine wichtige Frage, um Kosslicks Arbeit zu beurteilen. Niemand im Raum weiß es. Vielleicht hat auch niemand die Frage gehört, denn die Mikros sind zu leise und im Vorraum ist normaler Kneipenbetrieb. +23.40 UhrFrage einer holländischen Kritikerin: Ist es in Deutschland normal, dass Festivalleitungen ohne öffentliche Ausschreibung bestimmt werden? Antwort: Das sei nicht Deutschland-spezifisch, aber in der Tat habe es vor Kosslick auch Ausschreibungen für den Berlinale-Chefposten gegeben. +23.45 UhrEin Weinglas fällt um. +23.47 UhrChristoph Hochhäusler, einer der Unterzeichner des Offenen Briefs, setzt zu einem längeren Redebeitrag an. Das, was es im Herbst nach dem Offenen Brief als "öffentliche Debatte" bezeichnet wurde, sei nur ein Puppentheater gewesen. Die Probleme der Berlinale? Man würde Schlampigkeit mit Freiheit bei der Filmauswahl verwechseln; die vielen Sektionen, Kategorien, Zielgruppen würden trennen, statt zu verbinden – warum eine Extrasektion für Kinderfilme, für deutsche Filme, für Essensfilme? "Die Berlinale ist das beliebteste Festival, wenn man sich die Zuschauerzahlen ansieht", wirft jemand ein. "Who cares!", erwidert Hochhäusler. +23.54 UhrDie Macht von Kosslick im Festivalgefüge sei nicht zu unterschätzen, sagt einer und verweist auch auf das riesige Organigramm der Berlinale, das an der Wand hängt: Letztlich würden alle Abteilungsleiter direkt Kosslick unterstehen +23.58 UhrAuftritt des Regisseurs und Schauspielers RP Kahl. Auch er hat den Offenen Brief unterzeichnet, war aber 12 Jahre in der Kurzfilm-Auswahlkommission der Berlinale. "Mit diesen Insights kann ich sagen: Dieter Kosslick war in den letzten Jahren kein guter Direktor mehr, er hat keine guten Entscheidungen mehr getroffen." Es ginge doch gar nicht mehr um gute Filme, sondern nur noch darum wie viele Tickets verkauft werden. "Größtes Publikumsfestival? Was für ein Bullshit." +Damian Correa war wieder im Kino. Diesmal in Danmark von Kasper Rune Larsen, der in der Sektion Generation 14Plus läuft. Fand er gut. Warum, das rappt er hier + +0.04 UhrFrédéric Jaeger ergänzt zum Thema Publikumszahlen: Es sei falsch, Filme danach auszuwählen. Denn die Berliner würden auch kommen, wenn die Inhalte andere, anspruchsvollere wären. +0.05 UhrEin Bierglas fällt krachend zu Boden. +0.10 UhrChristoph Hochhäusler steht auf und schreit in den Raum: Können wir mal Ruhe haben! Klappt nicht. +0.13 UhrMit Dietrich Brüggemann ist inzwischen ein weiterer Offener-Brief-Unterzeichner angekommen. Seine ideale Festivalphilosophie wäre: Gebt den Leuten was sie brauchen, nicht was sie wollen – so wie Henry Ford gesagt haben soll: "Wenn ich die Leute gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie sich schnellere Pferde gewünscht, keine Autos." Für diese Philosophie fehle der Berlinale nur leider die kuratierende Hand. +0.15 UhrWenn hier fast nur Männer erwähnt werden, liegt das übrigens daran, dass fast nur Männer was gesagt haben. Kein Vorwurf, nur eine Feststellung. +Keiner hat gesagt, es wäre leicht: Das Organigramm zeigt die Struktur der Berlinale. Leider war es zu groß, um mit einem Foto vollständig und lesbar abgebildet zu werden +0.24 UhrChristoph Hochhäusler plädiert für mehr Offenheit gegenüber kinofremden Formaten und Urhebern. Er würde auch Youtube-Filme mit 5 Millionen Views bei der Berlinale sehen wollen, wenn die Qualität stimme. +0.25 UhrDas Programm der meisten Berlinale-Sektionen hätte auch von Schimpansen zusammengestellt werden können, sagt jemand. Wenngleich der gesamte Abend grausam unkonkret bleibt – auf die Schwäche in der Berliner Programmarbeit können sich alle einigen. +0.26 UhrEin Filmproduzent meldet sich zu Wort: Für die meisten wäre Berlin als Festival nur dritte oder vierte Wahl, um die Filme zu präsentieren. +0.29 UhrAuch viele Filmkritiker würden aus Relevanzgründen nicht nach Berlin kommen, sagt Frédéric Jaeger. Nachfrage: Kannst du sagen, welche? Kann er nicht. +0.37 UhrEs ist immer noch laut drüben, aber inzwischen ist das auch egal. Der Diskussionsraum ist eh nur noch zur Hälfte gefüllt. +0.50 UhrRP Kahl hat eine Idee. Er glaubt nicht, dass Bundeskulturstaatsministerin Monika Grütters, die für die Nachfolge Dieter Kosslicks verantwortlich ist, weiß, wen sie suche. Vielleicht sollte deswegen auf den Offenen Brief nun eine Offene Stellenausschreibung folgen, ein "Fake Open Call", in dem genau steht, was man sich von der kommenden Berlinale-Leitung wünsche und erwarte. Endlich mal eine konkrete Idee! Und damit endet der Abend auch. +1.01 UhrFazit: Wenn das der Zustand der Opposition gegen Kosslick ist, dann könnte er vermutlich auch bis 2030 weiter die Berlinale führen. Es soll besser kuratiert werden, von einem der mehr Ahnung hat, nur: Wie genau? Nur selten wurden Kritikpunkte und Ideen konkreter ausgeführt.  Immerhin wissen wir jetzt: Das experimentelle Format "Kneipengespräch" hat nicht funktioniert, jedenfalls nicht an diesem lauten Ort. +Michael Brake + + +Nicht gerappt, aber viel gesungen wird in dem Dokumentarfilm "Victory Day" von Sergei Loznitsa. Der zeigt, welche emotionale Kraft der Tag des Sieges über Hitlerdeutschland bei den Russen immer noch freisetzt. Michael Brake war fasziniert von der schrägen Mischung aus Trauer, Freude, Partystimmung, die am 9. Mai alljährlich am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow zu bestaunen ist.Hier geht es zu seinem Steckbrief. + + +Wie wäre es, plötzlich im Körper eines anderen zu stecken? Lexi und ihren FreundInnen passiert bei einem Campingtrip genau das. Konflikte brechen auf zwischen den drei jungen Frauen und Thami, dem einzigen Mann, aber auch zwischen der weißen Lexi und der schwarzen Xoli. Konflikte, die symptomatisch für die gesellschaftlichen Verwerfungen in der südafrikanischen Rainbow Nation stehen. Regisseurin Jenna Bass hat mit "High Fantasy" einen Film über soziale Ungleichheiten und die Situation der Jugendlichen in Südafrika gedreht, der in der Sektion Generation 14plus läuft. +fluter: Wie kamen Sie auf die Idee, diesen Film zu machen? +2015 begannen die Studentenproteste "Fees must fall" – das war wie ein Weckruf für mich, dass in Südafrika wirklich etwas schief läuft. Darüber wollte ich einen Film machen, bei dem man etwas über die Problematik lernt, aber der die Leute auch unterhält. Als ich überlegte, wie ich das erzählen möchte, kam mir die Idee mit den Jugendlichen, die ihre Körper tauschen. +An "High Fantasy" ist ja einiges besonders… +Ja, der Großteil des Casts ist weiblich. Und der Film wurde komplett mit Smartphones gedreht. Außerdem ist das Drehbuch in enger Zusammenarbeit mit den Schauspielern entstanden. Ich bin ein großer Fan des britischen Regisseurs Mike Leigh, der die Filmfiguren in einer Art Workshop mit den Schauspielern gemeinsam erarbeitet. Meiner Meinung nach sind die SchauspielerInnen die Experten für ihre Figuren – nicht die RegisseurInnen. Wir haben also die Charaktere zusammen erarbeitet und auf dieser Basis ein Drehbuch geschrieben. Vor Ort haben wir das wieder über den Haufen geworfen und einfach improvisiert. So ist eine Natürlichkeit entstanden, die man niemals mit einem Drehbuch haben kann. + +Die Figuren im Film finden sich plötzlich im Körper eines anderen wieder, haben eine andere Hautfarbe, ein anderes Geschlecht. Welche Rolle spielen diese Aspekte für die heutige Jugend von Südafrika, die nach dem Ende der Apartheid geboren wurde? +Das große Missverständnis ist, dass es diese Trennung nicht gibt: In der Vergangenheit war alles schlecht, nach der Apartheid ist alles gut. Schwarze Südafrikaner haben immer noch große Nachteile im Vergleich zu weißen, daran hat sich wenig geändert. Die Menschen leben immer noch mit all den Problemen der Vergangenheit  – Apartheid, Kolonialismus… diese Probleme bestimmen den Alltag der Menschen in Südafrika. Die "Fees must fall"-Proteste haben viele Jugendliche dazu gebracht, sich politisch zu engagieren. Zum ersten Mal seit langem gab es wieder eine nationale Jugendbewegung, weil viele Jugendliche offen gesagt haben: So kann es nicht weitergehen. +Zurzeit wird überall über die #MeToo-Debatte gesprochen. Jodie Foster schlug kürzlich vor, man könnte sich an der Wahrheits- und Versöhnungskommission orientieren, die in Südafrika nach dem Ende der Apartheid die Aussöhnung zwischen Schwarz und Weiß ermöglichen sollte. +Bei "Truth and Reconciliation" ging es ja vor allem darum, dass Menschen offen gesagt haben, was sie getan haben, ihre Schuld offen dargelegt haben. Aber das hat sie nicht ins Gefängnis gebracht. Aber nur dadurch, dass sie es zugeben, ist es nicht getan. Auf eine Art und Weise ist es wahrscheinlich vergleichbar mit dem gesellschaftlichen Problem hinter #MeToo. Man gibt dem Täter ein Mikrofon und fragt ihn: Warum hast du das gemacht? Und danach bleibt doch alles beim Alten. Der Kern der #MeToo-Debatte ist für mich: Wenn ein Mann etwas sagt und die Frau sagt was anderes, dann glaubt man dem Mann. In Südafrika ist es eben so, wenn Weiße etwas sagen und dann Schwarze, glaubt man dem Weißen. In Südafrika würde Jodie Foster damit wahrscheinlich eine große Wut entgegenschlagen. +Simone Ahrweiler + +Die Berlinale wäre nicht die Berlinale ohne ... Tilda Swinton +Beruf: Schauspielerin, Berlinale-Dauergast, Stil-Ikone und Feministin +Besondere Merkmale: Ihr markantes Aussehen, ihr intensives Spiel, ihre einzigartige (Leinwand)Präsenz macht sie jedoch umso interessanter. +Warum braucht die Berlinale sie? Bis sie 2009 den Vorsitz der internationalen Jury übernahm, liefen bei der Berlinale bereits 15 Filme mit ihr. Die Schauspielerin war mit den Filmfestspielen schon immer eng verbunden und ist mittlerweile Dauergast. Wenn Kosslick ruft, kommen sie alle, heißt es immer wieder. Nun ja, vielleicht nicht alle – aber mit Oscar-Gewinnerin Swinton kommt immer wieder eine der ganz großen Hollywood-Stars nach Berlin. +Und was sagt sie selbst? "Ich bin so froh, dass ich im Jetzt lebe. Ich hänge nicht an der Vergangenheit, und von der Zukunft habe ich auch nichts zu befürchten." +(SA) + + + +Dienstag, 20.2. +Berlinale Blog, Tag 6: Nicht ignorieren, nicht anecken – so geht die Berlinale mit der Debatte um sexuelle Gewalt um – nur einer kommt da nicht ganz mit +"Weitermachen! Jetzt nicht aufhören!", rufen ZuschauerInnen durch das Tipi am Kanzleramt. Sie alle sitzen an kleinen Tischen unter einer großen Zeltdecke. Auf der Bühne wurde bis gerade über sexuelle Gewalt in der Film- und Fernsehbranche diskutiert. 90 Minuten lang, das war vielen im Publikum zu kurz und zu zahm. "Zu 80 Prozent ging das an der Debatte vorbei." Auch solche Sätze schwirren durchs Zelt. +Und tatsächlich zeigt auch die Diskussion zwischen SchauspielerInnen, AktivistInnen von ProQuote Film und VertreterInnen der öffentlich-rechtlichen Sender das generelle Problem der Berlinale mit #Metoo auf: Einerseits wollen die Festivalbetreiber um Dieter Kosslick die wichtige, weltweite Debatte um sexuelle Gewalt nicht ignorieren, andererseits möchte man damit möglichst wenig anecken. +Dabei fallen im Tipi einige wichtige Sätze. Die Vorwürfe der Vergewaltigung von Schauspielerinnen in den USA und in Deutschland – gegen Harvey Weinstein und Dieter Wedel – werden auf der Bühne als Machtmissbrauch verurteilt. Solche Taten dürfen sich nicht hinter "künstlerischer Freiheit und Genie" verstecken, erklärt Familienministerin Katarina Barley gleich am Anfang der Veranstaltung. Moderatorin Verena Lueken von der F.A.Z. fragt: Wie kann sexuelle Gewalt verhindert werden? Brauche es einen Verhaltenskodex am Set? +"Über ein paar Dinge muss man reden", sagt Schauspielerin Jasmin Tabatabai. "Vor allem mit jungen Frauen. Wenn man besetzt werden will, gibt es da diesen Gott, das ist der Regisseur und dem muss man gefallen. Da sollte es Regeln geben, was okay ist und was nicht. Castings zum Beispiel müssen nicht auf Hotelzimmern stattfinden", erklärt Tabatabai. +Plötzlich wird es laut im Zelt. Mehrere Frauen (und wenige Männer) der rechtsextremen "Identitären Bewegung" entfalten auf der Bühne ein Transparent und versuchen, #Metoo für eine ihrer rassistischen Kampagnen zu nutzen, die Migranten pauschal für sexuelle Übergriffe auf Frauen verantwortlich macht. Nach einiger Verwirrung und vielen Buhrufen verlassen sie den Saal. Wie mit dieser Situation umgehen? Dazu gibt es gespaltene Meinungen: "Das sind junge Frauen, die denken, sie würden unsere Kultur retten. Ich würde gerne mit ihnen in den Dialog kommen", erklärt Barbara Rohm, Mitbegründerin von Pro Quote Film e. V.. "Wir sollten denen auf gar keinen Fall eine Bühne bieten! Mit denen reden wir nicht", rufen vereinzelt ZuschauerInnen. +Die Moderatorin lenkt das Gespräch wieder in Richtung der eigentlichen Debatte: die Schieflage von Machtverhältnissen in der Branche. Die nicht-paritätische Verteilung von Jobs an Männer und Frauen ist einer der Gründe dafür. Es arbeiten mehr Männer in Schlüsselpositionen. 72 Prozent der Kinofilme werden von Regisseuren gemacht,so eine Studie der Filmförderungsanstalt (FFA) von 2017. +Die Geschlechterverteilung von Filmschaffenden ist ein wichtiges Thema und ein wichtiger Bestandteil der #Metoo-Debatte. An dieser Stelle aber eine Ablenkung von anderen Themen. Kaum ein Wort fällt über konkrete Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs, über den Umgang mit Gewalt am Set und über das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Die Vorwürfe der Vergewaltigung, sexueller Nötigung und Demütigung, die mehrere Frauen etwa gegen den deutschen Regisseur Dieter Wedel erheben, bleiben unkommentiert. Obwohl mit Thomas Kleist der Intendant des Saarländischen Rundfunks (SR) auf der Bühne sitzt. Auch während einer Produktion des SR vor ungefähr 40 Jahren soll es zu Übergriffen durch Wedel gekommen sein. +Die Berlinale und #Metoo – das ist ein schwieriges Verhältnis. Es wurde einiges unternommen: Im Vorfeld sollen Filme von Regisseuren, die Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe begangen haben, nicht ins Programm aufgenommen worden sein. Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) kündigte an, eine Anlaufstelle für Missbrauchsopfer aus der Kreativbranche finanzieren zu wollen. Die Berlinale gibt der Initiative #Speakup viel Raum, die Betroffene von sexueller Belästigung in der Filmbranche ermutigt, ihre Stimme zu erheben. Das ist sind alles gute Zeichen. + +Trotzdem fehlt ein starkes, öffentliches Symbol der Solidarität mit SchauspielerInnen und anderen Frauen, die sexuelle Gewalt erfahren haben. Das traut man sich nicht. Kein schwarzer Teppich wie bei den Golden Globes.Fragen zu #Metoo an SchauspielerInnen werden von PR-Leuten auf der Berlinale schnell abgewürgt. Umstritten auch dieEinladung des koreanischen Regisseurs Kim Ki-duk, gegen den ein sexueller Missbrauchsvorwurf erhoben wurde, den er selbst allerdings bestreitet. +Auch im Tipi findet die Solidaritätsbekundung nicht auf der Bühne, sondern davor statt. Viele SchauspielerInnen, RegisseurInnen, DrehbuchautorInnen, Masken- und KostümbilderInnen stehen nach der Veranstaltung beieinander, tauschen Erfahrungen aus, sind wütend. Vielleicht hätten sie auf der Bühne sitzen sollen. +Christine Stöckel + + +Die deutsche Filmkritik ist sich relativ einig: "Utoya 22. Juli", der norwegische Wettbewerbsfilm über die Terroranschläge von 2011, geht für die meisten Kritikerinnen und Kritiker gar nicht. Nach der Pressevorführung war der Gesamteindruck allerdings ein anderer. Applaus und Buhrufe hielten sich die Waage. Auf der Pressekonferenz erhielt Regisseur Erik Poppe Gratulationen, meist von internationalen Kollegen. Der Film ist die erste große filmische Kontroverse der Berlinale. Jan-Philipp Kohlmann ihn gesehen – und zweifelt zwar nicht an den guten Absichten Poppes, sehr wohl aber an der filmischen Umsetzung.Hier gehts zum Steckbrief. + +Und weiter geht's mit dem Fake-Film-Quiz. Gut die Hälfte der 385 Filme, die auf der Berlinale laufen, hatten jetzt Premiere. Aber nur zwei von den Filmen in der Kurzbeschreibung unten laufen auch auf der Berlinale. Welcher ist von uns erfunden? + +Dikkertje Dap (Niederlande / Belgien / Deutschland 2017)"Dikkertje Dap" – aus einem der berühmtesten Kindergedichte der Niederlande entspinnt sich eine fantasievolle Geschichte um den Wert und den Wandel einer ungewöhnlichen Freundschaft. Dikkertjes bester Freund hat große, dunkle Augen, einen superlangen Hals und weiches, hell geflecktes Fell: Er heißt Raf, kam am selben Tag wie Dikkertje zur Welt und ist eine sprechende Giraffe. Nun werden die beiden vier Jahre alt und ihr erster Schultag steht bevor. Das zumindest hat Dikkertje versprochen. Doch in der Schule sind Tiere nicht erlaubt. +El otoño (Spanien / Portugal 2018)Maria und Sophia werden bald 80 Jahre alt. Ihre Männer sind vor Jahren gestorben. Die beiden Schwestern haben das Alleinsein satt – und gründen gemeinsam eine WG. Schnell wird aus dem Duo ein Trio. Die quirlige Nachbarin Dana bringt Einkäufe und wäscht die Wäsche. Eines Tages erstellt Dana zwei Online-Datingprofile für die Schwestern und bekommt überraschend Antwort. Was folgt, ist ein Roadtrip in farbenprächtigen Bildern. Die drei Frauen fahren in einem limonengrünen Oldtimer ins nahe Madrid, wo zwei Rendezvous auf Maria und Sophia warten. Regisseurin Elena Barnal zeigt, dass der Herbst des Lebens noch lange nicht sein Ende bedeutet.The Green Fog (USA / Kanda 2017)Die Prolog von "The Green Fog": Ein Schalter wird von "Sprechen" auf "Zuhören" gedreht. In einem Studiokino betrachtet ein Mann in Handschellen und von einer Waffe bedroht Bilder auf der Leinwand. Eine Landkarte ist zu sehen, ein Finger zeigt auf San Francisco. Vor einem Haus stehen Reporter, die verängstigte Bevölkerung wartet auf Lautsprechernachrichten. In grünes Licht getaucht erscheint die Golden Gate Bridge. Die Struktur des Films ist eine Hommage an Hitchcocks "Vertigo": eine schwindelerregende Komposition vertrauter und unbekannter Film- und TV-Bilder. + + +Ein deutscher Film über sinnliches Begehren mit John Malkovich und eine Rock-Oper aus dem philippinischen Urwald? Hört sich ausgedacht an? Ist es aber nicht: "Casanovagen" (Forum) und "Season of the Devil" (Wettbewerb) laufen tatsächlich auf der Berlinale. In letzteren hat Jan-Philipp Kohlmann mal "reingeschaut". Während er beim letzten Berlinale-Film des Philippinen Lav Diaz, einem achtstündigen Historienepos, noch echtes Sitzfleisch besaß, kapitulierte er diesmal nach beschämenden anderthalb Stunden. Zwar ist "Season of the Devil", wieder ein Historienfilm über die Marcos-Diktatur, nur schlappe vier Stunden lang, aber die dauernden A-cappella-Einlagen haben ihm den letzten Nerv geraubt. + + +Montag, 19. 2. +Berlinale-Blog, Tag 5: Heute mit einem offenen Brief, lesbischen Stripperinnen aus Los Angeles, einem üblichen Verdächtigen und (fast) kostenlosen Filmen + +Wir nähern uns rasant der Halbzeit der Berlinale – und da ist es natürlich höchste Zeit für einen offenen Brief. Ok, da sind wir jetzt nicht die Allerersten. Ende November wandten sich 79 Filmschaffende an die Öffentlichkeit mit dem dringenden Wunsch, "die Berlinale zu entschlacken und programmatisch zu erneuern." +Kurze Frage: Warum eigentlich? Das thematische Durcheinander, die kaum zu unterscheidenden Sektionen, die völlig überfordernde Zahl von jährlich rund 400 Filmen, all das bietet ja auch eine große Chance. Und zwar für Filme, die erstmal etwas abseitig klingen. "Shakedown" ist so ein Fall, eine Doku über lesbische Stripperinnen in Los Angeles Anfang der Nuller Jahre, quasi das Westcoast-Pendant zur New Yorker Ballroomszene, zu der in den letzten beiden Jahren Dokus auf der Berlinale liefen. Bisschen krude fängt der Film an. Mit grisseligen Aufnahmen, verzerrten Beats aus komischen Hinterzimmern, zerknitterten Flyern, die aussehen, als wären sie in zwei Minuten zusammenkopiert worden. +Dann entwickelt der Film einen eigenartigen Sog. Die Tänzerinnen wie Egypt und Mahogany sind Szenestars, bei ihren Auftritten werden sie von den Frauen im Publikum mit Dollarscheinen beworfen. Ronnie Ron, Stud-Lesbe und Profi am Mikro, heizt als flamboyante Gastgeberin die Party an. Und als irgendwann die Polizei den Laden hochnimmt – obwohl er die nötige Lizenz hat – will auch der letzte weiße cis-männliche Hetero auf die Barrikaden gehen. #Ungerecht! +Regisseurin Leilah Weinraub war, wie sie in dem Q&A nach der Premiere sagte, jahrelang bei den Partys mit ihrer Kamera dabei. Später betrieb sie das New Yorker Modelabel Hood by Air, das mit seinen geschlechtsneutralen Looks für Furore sorgte und das von Hiphop-Größen wie A$AP Rocky gerne getragen wird. Shakedown ist ihr Debütfilm. Und für solche Filme wurde die Berlinale quasi erfunden. Die wilde Mischung passt zu Berlin. Und Berlin steht auf solche Filme. Die Premiere von Shakedown war sofort ausverkauft, die übrigen Vorstellungen auch. In Cannes und Venedig, deren Festivals die 79 Filmschaffenden als Vorbilder für eine Berlinale nach Kosslick zitieren, da laufen solche Filme wohl kaum. +Felix Denk + + + +Dieser Song, den Blumfeld auf ihrem Album Testament der Angst singen, sorgt in Christian Petzolds Wettbewerbsfilm "Transit" für eine bewegende Szene. Georg, gespielt von Franz Rogowski, ist auf der Flucht vor den Nazis. In Marseille wartet er darauf, weiter zu kommen. Dort lernt er den Jungen Driss kennen, den Sohn eines verstorbenen Freundes. Wie Georg dem Jungen das Gute-Nachtlied vorsingen will, ist ganz großes Schauspielerkino, findet Jan-Philipp Kohlmann.Hiergeht es zu seinem Steckbrief. + + + +Der Film Profile von Timur Bekmambetov ist gleich in zweifacher Hinsicht ungewöhnlich. Einmal thematisch. Es geht um den realen Fall einer Journalistin, die sich bei einer Recherche in einen IS-Kämpfer verliebt, mit dem sie dann zärtlich Katzen-GIFs hin- und herschickt, aber auch formal: Er spielt komplett auf einem Computerbildschirm. Und, ja, das funktioniert, findet Michael Brake.Hiergeht es zu seinem Steckbrief. + + +Ist ja schön, dass auf der Berlinale so viele tolle Filme laufen. Aber was bringt mir das, wenn ich gar nicht in Berlin wohne? Wie, naja, so ziemlich alle. Oder wenn die Tickets mal wieder in Sekundenschnelle vergriffen waren? Für alle derart Gepeinigten gibt es dieses Jahr erstmals ein kleines Streamingangebot. Bis zum 28. Februar können acht Filme aus dem Berlinale-Programm beiFestival Scopefür 3 Euro pro Film abgerufen werden. Allerdings nur von jeweils 300 Menschen, mehr Plätze bietet der virtuelle Kinosaal aus unerfindlichen Gründen nicht. Und auch nur von deutschen IP-Adressen (oder: und auch nur in Deutschland). Aber hey, immerhin! +Mit dabei ist unter anderem der tolle argentinische Dokumentarfilm "Theatre of War", der sich mit dem Krieg um die Falklandinseln beschäftigt – 74 Tage dauerte der Konflikt um die unwirtlichen Inseln im Südatlantik im Frühjahr 1982, über 900 Soldaten kamen ums Leben. +Man merkt, dass die argentinische Regisseurin Lola Arias aus der Kunst- und Theaterszene kommt, denn ihre Herangehensweise ist so ungewöhnlich wie aufregend: Sie hat sechs Kriegsveteranen, je drei britische und drei argentinische, mehrere Wochen zusammengebracht. Ihre Erinnerungen und Geschichten erzählen sie in perfomancehaften Situationen, mit Margaret-Thatcher-Masken, in einem Schwimmbad, nachgestellt mit Modellbaufiguren. So entstehen Bilder von künstlerischer Schönheit, wie man sie in einer Kriegsdokumentation genau nicht erwartet – und deren Wucht und Ideenreichtum zeigen, wie man "Oral History" auch anders als nach dem Prinzip "sprechende Köpfe vor dunklem Hintergrund" inszenieren kann. +Michael Brake + + +Die Berlinale wäre nicht die Berlinale ohne...Hong Sang-soo. +Beruf:Regisseur & Kaffeehaus-Poet des Kinos. +Auffallende Merkmale:Äußerlich ist das schwierig: Er ist Ende 50, trägt Schnurrbart, kurze graue Haare und spricht – selbst mit Mikrofon – sehr leise. Aber man weiß allerspätestens nach zwei Minuten, dass man wieder in einem seiner Filme sitzt. +Warum braucht ihn die Berlinale?Weil der Südkoreaner in jedem Jahr mindestens einen Film macht, der aus den folgenden, bestechend einfachen Zutaten besteht: einem Kaffeehaus, Männern & Frauen, Trauer & Selbstmitleid, Witz & Spott, Kino & Schauspiel sowie mindestens einer Szene, in der sich die Protagonisten mit dem Reisschnaps Soju gegenseitig unter den Tisch trinken. Sein diesjähriger Berlinale-Beitrag heißt "Grass". +Und was sagt er selbst?"Ich stehe um vier Uhr auf und fange an, Dialoge zu schreiben. Ich weiß noch nicht, worum es gehen wird, verlasse mich ganz auf spontane Einfälle. Am Vormittag entwickle ich die Szenen mit den Schauspielern, dann drehen wir. Bei meinem neuen Film haben wir vier Tage gedreht und drei Tage geschnitten. Nach einer Woche war der Film also fertig." +jpk + + + +Sonntag, 18.2. +Berlinale-Blog, Tag 4: Heute mit einem problematischen Popstar, einem klingelnden Ovulationsassistenten und dem spannenden Comeback des fluter.de-Fake-Film-Quizzes +"Why are you a problematic popstar?" Diese Frage stellt Regisseur Steve Loveridge zu Beginn seines Dokumentarfilms der Künstlerin Mathangi "Maya" Arulpragasam, besser bekannt als M.I.A.. Geboren in Sri Lanka, erlebt sie als Kind den Bürgerkrieg mit, flieht als Neunjährige mit ihrer Mutter nach London während ihr Vater,  Mitgründer der militanten tamilisch-separatistischen "Eelam Revolutionary Organisation of Students" (EROS), in Sri Lanka bleibt. Jahre vergehen bis sie sich wiedersehen. +Die Aufarbeitung der eigenen Geschichte ist das Hauptthema in M.I.A.'s künstlerischem Schaffen – eine Geschichte von Flucht, Diskriminierung und Unabhängigkeit. Sie wird zum Prototypen des aktivistischen Popstars – politisch engagiert, unbequem, aber auch oft widersprüchlich. Aber nicht die Musik, sondern der Film ist ihr erstes Medium. Sie trägt ständig eine Kamera mit sich herum, will ihr Leben zeigen als "immigrant" in London, als Mitglied einer Familie, die durch den Bürgerkrieg in der Heimat zerrissen ist. + +Steve Loveridge fügt aus den vielen Aufnahmen, die größtenteils von der Künstlerin selbst gedreht wurden, ein vielschichtiges Portrait zusammen. Man sieht eine Frau, die von der Suche nach sich selbst getrieben ist und die durch das, was sie entdeckt, manchmal schockiert ist. Die Reise nach Sri Lanka, die sie nach 16 Jahren wieder an ihren Geburtsort führt, ist ein zentraler Teil des Films sowie auch auf dem Lebensweg der Künstlerin. +Vom Kriegsflüchtling zum Popstar – klingt wie ein Märchen. Loveridges Film zeigt die Künstlerin als eine Frau, die auf der Suche nach ihrer Identität doch immer eine Idee davon hatte, wer oder was sie sein will. Kontrovers, wenn es sein muss. +Der Film zeigt auch, dass selbst Popstars, die mit Madonna und Nicky Minaj in der Halbzeitshow des Superbowls auftreten, in Amerika schnell wieder aus dem Rampenlicht verschwinden, sobald sie über unbequeme Wahrheiten sprechen – oder den Stinkefinger zeigen (der galt allerdings ihrem Ex-Lover). +Einen Stinkefinger zeigten viele Fans wiederum M.I.A., als sie Werbung für H&M machte. Fast Fashion und politisches Engagement – wie soll denn bitte das zusammengehen? Das erzählt der Film dann nicht. Ein paar mehr dieser Probleme des problematischen Popstars hätte man schon gern gesehen. +Simone Ahrweiler + + + +Der vielleicht lustigste Dialog der Berlinale 2018 geht folgendermaßen: Ein junges Paar von der Sorte, die es in Berlin zu Zehntausenden gibt, sitzt am Küchentisch, sein Handy dingelt. +Er: Lilly sagt, es ist soweit. +Sie: Wer ist Lilly? +Er: Mein Ovulationsassisent. +Sie: Aha. +Er: Du hast einen Eisprung. Jetzt. Sollen wir? +Sie: Wir essen gerade! + +Man sieht: Marco (Aleksandar Radenković) hat kurz vor dem fünfjährigen Jubiläum der gemeinsamen Beziehung etwas andere Prioritäten als seine Freundin Charlie (Victoria Schulz), die im Mittelpunkt von "Rückenwind von vorn" (Perspektive Deutsches Kino) steht. Er will Kinder und Zusammenziehen, sie nach Korea reisen und erstmal weiter als Grundschullehrerin arbeiten. Und so steht Charlie vor der großen Problematik der Mittzwanziger nach dem Studium: Gerade war noch alles möglich, plötzlich ist alles so klar. Wollen wir tanzen gehen oder für die neue Wohnung sparen? Erwachsenwerden oder noch ein wenig warten? +Das ist nicht unbedingt originell in Stoff und Message, aber Philipp Eichholtz ist ein schöner kleiner deutscher Kinofilm über die Quarterlife-Crisis der Millennials gelungen, versetzt mit einigen hübschen visuellen Ideen und Ahhh-Momenten (eine Paintballszene mit Charlies Oma und ein skurriler Roadtrip in die Slowakei), improvisierten Dialogen und tollen Darstellern wie Angelika Wallner und Daniel Zillmann. Dieser Film kommt bestimmt auch regulär ins Kino, also Augen offenhalten. +Michael Brake + + +Quarterlife-Crisis? Für Mati ist das noch ein Fremdwort. Dafür hat sie ihre ganz eigenen Probleme. Die Matura steht vor der Tür, der Umzug nach Wien zum Studium, die Eltern fahren ihre Ehe vor die Wand und ihre Position in der Motocross-Clique wird auf eine ernste Probe gestellt. Michael Brake hat "L'animale", den Debüt-Film von Katharina Mückstein, nicht nur wegen des lakonischen Humors und des niederösterreichischen Dialekts gern gesehen.Hierunser Steckbrief. + + +Und jetzt noch ein Comeback! Auch dieses Jahr gibt es auf unserem fluter.de-Berlinale-Blog wieder das Fake-Film-Quiz. Das ist praktisch Notwehr. Rund 400 Filme laufen jedes Jahr auf der Berlinale – und ganz ehrlich: Manche der Kurzbeschreibungen klingen erstmal ganz schön krude. Aber nur eine der drei da unten ist von uns erfunden. Welche, das verraten wir am Dienstag! + +All my fearless Donkeys (von Alberto Ruiz Diaz, Uruguay 2018) +Diego lebt mit 92 Jahren auf einem Bauernhof in der Pampa,den er ein Leben lang bewirtschaftet hat. Als sein Bruder stirbt, reist der Alte allein mit einem Esel-Track nach Montevideo, um als einziger Angehöriger das Erbe anzutreten. Altmeister Ruiz Diaz filmt diese Reise als Kaleidoskop der Erinnerungen an die Geschichte seines Landes. +Season of the Devil (von Lav Diaz, Philippinen 2018) +Ende der Siebzigerjahre unterdrückt eine militaristische Bürgerwehr ein abgelegenes Dorf im Urwald. Die unerschrockene Ärztin Lorena eröffnet eine Armenklinik und verschwindet kurze Zeit später spurlos. Regisseur Lav Diaz nennt seinen vierstündigen Film eine philippinische Rockoper, auch die Songs hat er selbst geschrieben. +Casanovagen (von Luise Donschen, Deutschland 2018) +Ein Mönch, eine Sexarbeiterin, ein Evolutionsbiologe bei der Arbeit, junge Erwachsene in einer Bar und John Malkovich als Casanova: mal fiktional, mal dokumentarisch nähert sich dieser Debütfilm Fragen nach Körperlichkeit und Begehren. + +Und hier noch die AGBs zum Fake-Film-Quiz: Wer googelt, riskiert den Spaß am Raten. + + +Samstag, 17.2. +Berlinale-Blog, Tag 3: Heute geht's ans Eingemachte, aber nur zwei Minuten lang. Wir treffen einen üblichen Verdächtigen und eine Lektion in Geschichtspolitik gibt's obendrein +Ziemlich ungemütlich ging es bei den Aktionen von Valie Export immer schon zu. Die feministische Medien- und Performancekünstlerin rollte sich mal auf der Documenta nackt über Glasscherben, ein andermal peitschte sie ihr Publikum aus und dann wieder ließ sie sich öffentlich ein Strumpfband auf den Oberschenkel tätowieren. Wenn sie nicht ihren damaligen Partner, den Künstler Peter Weibel, an der Leine durch Wien führte, stellte sie sich mit einem vor ihren nackten Oberkörper gespannten, an einen Fernseher erinnernden Kasten in die Fußgängerzone. In dem konnten Passanten die Brüste der Künstlerin für ein paar Sekunden begrabschen. +Dieses "Tapp und Tastkino" ist wohl ihr bekanntestes Werk – und heute, wo sich alle Welt um Machtgefälle zwischen den Geschlechtern im Allgemeinen und sexuellen Missbrauch in der Filmbranche im Speziellen die Köpfe heiß reden, nicht weniger radikal als 1968, als Valie Export diese Aktion zum ersten Mal in Wien aufführte. Damals wollte die Künstlerin die Filmwirklichkeit in die reale Welt erweitern. Die Männer, die sonst im Dunkel  des Kinos die Frauen auf der Leinwand quasi beherrschten, sollten sich mit der echten Frau auseinandersetzen. Und die schaut dann eben auch zurück. + +Eine nur zweiminütige Filmaufzeichnung des "Tapp und Tastkinos", längst ein Klassiker der Performance-Kunst, läuft heute im Arsenal zusammen mit anderen Kurzfilmen aus dem Jahr 1968, die die ästhetischen Strategien der Filmemacher in diesem gesellschaftlichen Umbruchsjahr reflektieren. 1968 war ja auch ein filmischer Aufbruch. Immerhin erzwang damals eine Bande ungehobelter junger Leute den Abbruch des Festivals in Cannes (unter ihnen Jean-Luc Godard und François Truffaut). Mehr Valie Export auf der Berlinale gibt es am Dienstag, da ist sie nämlich in der Audi-Lounge zu Gast und spricht mit Deutschlandfunk Kultur über ihre Arbeit. . (ab 14 Uhr) +Felix Denk + + +Auch schon ein paar Tage her, aber wieder verstörend aktuell ist der Skandal um Kurt Waldheim. Als der Österreicher 1986 als Kandidat zur Bundespräsidentschaftswahl antrat, kam heraus, dass er in der Nazi-Zeit im Reiterkorps SA war – was erstaunlich viele seiner Landsleute nicht groß störte. Er gewann die Wahl. In Ruth Beckmanns Kompilationsfilm "Waldheims Walzer" wird die Geschichte aus der persönlichen Sicht der Regisseurin erzählt und in einen größeren geschichtspolitischen Zusammenhang gestellt. Jan-Philipp Kohlmann hat den Film gesehen – und viel darüber gelernt, wie sich in kontroversen Debatten die politischen Diskurse verschieben können.Hier geht's zum Steckbrief. + + +Es wird sicher mal was schiefgehen bei der Berlinale, ein Filmvorführgerät wird streiken, der Ton mal nicht synchron sein, das VIP-Catering kalt sein, der Sekt bei der Premierenparty schal oder ein Kino überbucht. Aber eines wird sicherlich nicht passieren: dass im Presse-Schreibraum die Tastaturen ausgehen. Dafür ist gesorgt. +(mbr) + + + +Die Berlinale wäre nicht die Berlinale ohne.... Willem Dafoe. +Beruf:Schauspieler. Chamäleon. Die Brücke zwischen Hollywood und Independent-Kino. +Auffallende Merkmale:Das zerknautschte Gesicht, die stechenden Augen, der drahtige und knochige Körper. Mit dem er alles spielen kann: Gangster, Banker, Cops, Psychologen. Oder auch Jesus, wenn's sein muss. +Warum braucht ihn die Berlinale?Um ihm in diesem Jahr den Goldenen Ehrenbären zu verleihen. Willem Dafoe ist die Sektion "Hommage" gewidmet. 10 seiner weit mehr als 100 Filme laufen zu diesem Anlass auf der Berlinale: von "To live and die in L.A." (1985) über "Platoon" bis hin zu "Antichrist" (2009). Für seinen neuen Film "The Florida Project" (ab März im Kino) ist er in diesem Jahr auch für den Oscar nominiert. Well deserved. +Und was sagt er selbst?"Meine Filme erinnern mich an die Phasen meines Lebens: was mich beschäftigt hat, in wen ich gerade verliebt war, welche Kleidung ich getragen hab. Ich sehe mir meine alten Filme an, um mich zu erinnern." +(jpk) + + +Gestern war die Premiere von "303" im Haus der Kulturen der Welt, dem Eröffnungsfilm der Sektion Generation in dem schönen Saal des Haus der Kulturen der Welt. (Interview mit Hans Weingartner siehe Blog von gestern). Es geht um Jule und Jan, um die Liebe und ihre (Un-)Möglichkeit im Spätkapitalismus. Es wird ziemlich viel geredet. Der heimliche Star des Films sagt dagegen nichts. Er ist nämlich ein Camping-Bus. Chassis von Mercedes, Model O 303, Aufbau von Hymer. Da merkt man wieder mal: Gute Filme werden mit guten Bussen noch besser. Zum Beispiel... +... wenn 's rasant wird: In "Speed" darf der Linienbus, in dem eine Bombe versteckt ist, nicht langsamer als 50 Meilen werden. +... wenn Weltflucht gefragt ist: Was wäre der schweigsame Dichter Paterson in Jim Jarmuschs gleichnamigen Film ohne sein Notizbuch, in das er auf dem Fahrersitz seines 23er-Linienbusses vor dem Antritt seiner Schicht ein paar Gedanken und Gedichte schreibt. +... wenn es um Gerechtigkeit geht: Rosa Parks blieb sitzen. Und zwar da, wo eigentlich nur die Weißen sitzen durften. Mit ihrem Bus-Boykott im Jahre 1956 wurde sie zur Ikone der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Für die Verfilmung "The Rosa Parks Story" bekam Angela Bassett in der Hauptrolle in den NAACP-Award als beste Hauptdarstellerin. +... wenn die Party startet: Ziemlich weit aus ihrer Comfort zone, den Clubs von Sydney, düsen die drei Drag Queens Bernadette, Mitzi und Felicia mit ihrem silbernen Schulbus in "Priscilla Queen of the Dessert" durch die Wüste Australiens. +... wenn man irgendwie anders als die Anderen drauf ist: Im Kiffer-Klassiker Cheech & Chong ist Cheech der Schulbus-Fahrer (für die Eltern eine schreckliche Vorstellung). In seiner Freizeit kurvt er mit seinem Bong-Buddy Chong meist mit einem grünen Bus durch die kalifornischen Berge. +Felix Denk + + +Freitag, 16.2. +Berlinale-Blog, Tag 2: Wir sprechen mit Hans Weingartner über seinen Film "303", rappen über Wes Andersons "Isle of Dogs" und werfen einen modepolitischen Blick auf den roten Teppich +Mit dem Film "303" eröffnet am Freitag die Sektion "Generation" auf der Berlinale, die einen ganz speziellen Blick auf junge Stoffe und junge Menschen pflegt. Regisseur Hans Weingartner über den Kapitalismus und seine Tücken, die Klischees in Liebesfilmen, die Selbstfindungsprobleme der Generation Z – und seinen alten Campingbus +fluter.de: Herr Weingartner, in Ihrem Film "303" fahren Jule und Jan mit einem alten Campingbus von Berlin aus in den Süden. Daraus entwickelt sich Freundschaft, später so etwas wie Liebe. Warum ist Ihr Film ein Roadmovie geworden? Die beiden hätten sich ja auch in einem Café in Neukölln kennenlernen können. +Weil der Bus – übrigens mein eigener – eine Raumkapsel bildet. Das Unterwegssein schafft eine ganz eigene Welt. Die Zwänge des Alltags spielen keine Rolle mehr. Du kannst frei über Gott und die Welt diskutieren. Man unterhält sich einfach anders als in einem Café oder in einer WG-Küche. +Jule und Jan sind zwei Mittzwanziger. Die Figuren in Ihren Filmen "Die fetten Jahre sind vorbei" (2004) oder "Das weiße Rauschen" (2001) waren es auch. Warum immer dieses Alter? +Die Antwort ist in diesem Fall einfach. Ich habe mit dem Drehbuch angefangen, da war ich selbst noch 27 und hab mich dann mit dem Buch an der Filmhochschule beworben. Dann war ich 15, vielleicht sogar 20 Jahre nicht in der Lage, das Drehbuch zu Ende zu schreiben. Es ist brutal schwer, so lange Dialoge wie in "303" zu verfassen, die natürlich klingen. +"303" ist ein Dialogfilm, ähnlich wie die "Before Sunset"-Filme von Richard Linklater. Die Protagonisten lernen durchs Reden viel über sich und den anderen. +Damit das funktioniert, habe ich zwei Jahre lang gecastet. Ich habe mir 100 bis 200 Schauspieler in verschiedenen Kombinationen angesehen. Mala Emde und Anton Spieker – die beiden sind es am Ende geworden – verstanden als wenige die Figuren und die Dialoge. Das war mir wichtig. In Liebesfilmen gibt es oft dramatische Ein-Satz-Sätze wie "Ich liebe dich einfach nicht mehr!". In meinem Film ist das anders, hier führen Jule und Jan längere Debatten über die Vereinzelungsstrategie im Kapitalismus und zwischenmenschliche Biochemie. Um das authentisch mit den Themen Partnerschaft und Liebe zu verbinden, müssen die Schauspieler verstehen, was sie sagen. Und viel proben. +Jule und Jan sind eher skeptisch der Liebe gegenüber, wie kommt das? +Zumindest der ewigen. Wir haben vor dem Film viele Mittzwanziger befragt. Wir haben gefragt, ob sie eine Beziehung haben, wann sie das letzte Mal verliebt waren, woran sie merken, dass sie verliebt sind, ob sie an die ewige Liebe glauben – übrigens zu 80 Prozent "Nein". Die glauben noch an die Liebe, aber nicht mehr an die ewige, und vor allem, dass man sich trennen sollte, wenn es nicht mehr passt, wenn man sich nur noch hasst. Das ist doch ein riesiger Fortschritt! +Was meinen Sie damit? +Wir müssen uns mit dem Thema Liebe neu auseinandersetzen. Und mit den alten Beziehungsmodellen. Paare reden in Filmen oft so poetisch oder käuen die immer gleichen Liebesklischees wieder: Man sieht sich, man streitet sich, man bleibt für immer zusammen, Hochzeit, für immer glücklich. Das ist ja das, wovon 99 Prozent der Menschen träumen. Und woher haben die Leute diesen Schwachsinn – aus Hollywoodfilmen! Aber in der Realität funktioniert's so ja nicht. +"303" ist Ihr erster Liebesfilm. +Ja, komplett. +Wie funktioniert Liebe in Ihrem Film? +Es wird viel über Beziehungen gesprochen, über den Unterschied zwischen sexueller Attraktion und Seelenverwandtschaft. Auch in diesem Film gibt es Streit, aber er bestimmt nicht die Dramaturgie der Geschichte. Er sorgt für Nähe, dafür, dass sich die Charaktere einschätzen können. Entsteht daraus Liebe? Der Film lässt das weitgehend offen. Er gibt keine Antworten, er stellt vielmehr Fragen: Wie ist mein Verhältnis zur Monogamie? Suche ich einen Partner, mit dem ich ewig zusammen bin? +Ihr Film läuft auf der Berlinale in der Sektion "Generation". Was macht die Generation in "303" aus? +Ich habe letztens mal gegoogelt. Es gibt jetzt schon die Generation Z – das sind die totalen Instagram-Fanatiker. Und es gibt die Generation Y, das wären wohl meine Protagonisten. Bei jetzigen Mittzwanzigern geht es anscheinend viel darum, sich selbst finden zu müssen. Es gibt keine eindeutigen Vorgaben mehr von Großeltern oder Eltern. So im Sinne von: Meine Eltern waren Nazis, ich lehne mich gegen sie auf. Ich bin Punk oder Anti-Establishment. Mit dieser Unsicherheit umzugehen, sich selbst zu definieren, das überlasse ich ganz den Figuren, ich definiere die Generation nicht. +Christine Stöckel + + +Selbstfindung scheint bei Peter Švrček kein Thema mehr, als rechtsnationalistischer Vorsitzender der militaristischen Jugendorganisation "Slovenski Branci" offenbart er im Film "When the war comes" ein bedrückend geschlossenes Weltbild. Für ihn sind Flüchtlinge eine Gefahr, ein Krieg nicht unwahrscheinlich. Daher versucht die Organisation Rekruten anzuheuern, um die "slowakischen Werte" zu schützen. Christine Stöckel hat den brisanten Dokumentarfilm gesehen – und war nicht über alle Regieentscheidungen von Jan Gebert glücklich.Hier geht's zum Steckbrief. + + +Roter Teppich hin oder her, die großen Stars gestern waren eindeutig Rex, King, Duke, Boss und Chief. Die fünf vierbeinigen Hauptdarsteller aus Wes Andersons Animationsfilm "Isle of Dogs" müssen manche haarige Situation meistern. Welche, das hat unser rappender Rezensent Damian Correa hier mal zusammengereimt: + +Bei der Pressekonferenz zum Film redete vor allem einer: Regisseur Wes Anderson. Selbst als Koyu Rankin, der japanische Sprecher von Hauptfigur Atari (der übrigens seinen 11. Geburtstag feierte, was für ein unvergesslicher Geburtstag ist das bitte?), gefragt wurde, übernahm Wes Anderson den größten Teil der Antwort. Einmal aber stahl ihm Bryan Cranston, der im Film den Hund "Chief" spricht, die Show: Er würde gern die Bedeutung von Stille für Cranstons Schauspiel verstehen, fragte ein Journalist. Cranston antwortete lautlos. Seine Lippen bewegten sich, doch kein Ton kam heraus. Der Journalist schrieb trotzdem fleißig mit. +(mbr) + + +Und dann war da noch die Eröffnungsgala, bei der mehr als sonst die Looks der Frauen im Vordergrund standen. Wie oft wurde als Protestzeichen gegen sexuelle Gewalt schwarz getragen? Senta Berger kam jedenfalls ganz in schwarz, Toni Garrn ganz in weiß. Tilda Swinton in schwarz-weiß. #MeToo auf der Berlinale? Ja, aber. Einen einheitlichen Soli-Dresscode – wie etwa bei den Golden Globes – gab es nicht. +Auch wenn die ganz große Geste fehlte, ging es in fast jedem Interview um #MeToo. Immerhin ist die Berlinale das erste große Festival seit den Harvey Weinstein-Enthüllungen. Dieter Kosslick verzichtete auf seinen roten Schal und wählte stattdessen einen schwarzen. Anna Brüggemann, die unter "#nobodysdoll" zu einer selbstbestimmten Spielart der Schönheit auf dem Red Carpet aufrief, kam in Turnschuhen. Alina Levshin und Lavinia Wilson trugen Highheels und ebenfalls den "#nobodysdoll"-Button. + +Von den internationalen Stars stammten bis auf Helen Mirren fast alle aus Wes Andersons Eröffnungsfilm "Isle of Dogs": Jeff Goldblum, Liev Schreiber, Bryan Cranston, Greta Gerwig und Bill Murray, der, sobald das Wort #MeToo im Interview auch nur fiel, Reißaus nahm. Und dann war da natürlich noch Tilda Swinton, denn die ist immer da, und in diesem Jahr fand sie: "#MeToo ist sicherlich eine wichtige Debatte und es ist gut und richtig, dass wir sie führen, aber es ist nicht die einzige, und wir sollten andere Themen nicht vergessen. Wir schicken Leute weg, die kein Zuhause haben." +Politisch wurde es auch auf der Eröffnungsfeier immer wieder. "Männer und Frauen in einem Raum, wir trau'n uns was!", eröffnete wie Anke Engelke den Abend. Kulturstaatssekretärin Monika Grütters erinnerte an Marlene Dietrich, die damals im Hosenanzug ein neues Frauenbild propagierte. Es sei nun an der Zeit, "time's up", betonte Grütters, während der Applaus immer schwächer wurde. +Simone Ahrweiler + + +Donnerstag, 15.2. +Heute startet die 68. Berlinale. Wie wird das Festival mit #MeToo umgehen? Was geht auf dem Teppich ab? Und welche Farbe hat der nun? Tag 1 unseres Berlinale-Blogs +Auf den Potsdamer Platz ist gerade der rote Teppich ausgerollt. Ja, der rote. Schwarz, wie die Schauspielerin Claudia Eisingerin einer Petition an Festival-Chef Dieter Kosslickforderte, die in Windeseile 21.000 Unterschriften sammelte, wird er doch nicht. Eisinger wollte damit gegen Sexismus in der Filmbranche protestieren. Gestern ging kurzzeitig das Gerücht um, es könnte sogar ein grauer Teppich werden. Aber das waren dann doch nur die Schutzfolien. Die 68. Berlinale hatte noch nicht begonnen, da hat sie mit #metoo schon ihr zentrales Thema gefunden. +Mehr als ein Stück Stoff war er ja schon immer, der rote Teppich. Wer auf ihm geht, steht im Mittelpunkt – aber eben nicht mehr über den Dingen. Aktuell ist er der Schauplatz eines Kulturkampfs. Hier finde ein absurdes Defilee überholter Geschlechterrollen statt, kritisiert die Schauspielerin Anna Brüggemann mit ihrer#nobodysdoll-Initiative, die dem alljährlichen Aufmarsch auf High Heels etwas entgegensetzen will. +Wie wird es also dieses Jahr laufen? Wie bei den Verleihung der Golden Globes Anfang Januar? Da kamen viele Stars in Schwarz, aus Solidarität mit den Opfern sexuellen Missbrauchs in der Filmbranche. Oder wie beim Deutschen Fernsehpreis vor drei Wochen, wo kein Wort zum Thema zu hören war, obwohl mit Dieter Wedel ein prominentes Fernsehgesicht schwer belastet wird. Stattdessen steppte die ModeratorinBarbara Schöneberger eine Showeinlage mit fastnackten Tänzerinnen in Bananenröckchen. +Sicher ist: Wenn es heute Abend mit Wes Andersons Animationsfilm "Isle of Dogs" losgeht, wird eine aufregende, streitbare Berlinale beginnen – in der es längst nicht nur um die Filme geht, sondern um die Branche insgesamt. +Übertragen wird die Gala ab 19.20 auf3Sat, Hardliner können aber schon ab 17.15 Uhr denStream der Berlinalegucken. +Felix Denk + +Knapp 500.000 Kinobesucher kamen im letzten Jahr zur Berlinale, um sich mehrstündige untertitelte Dokus über die griechische Wirtschaftskrise oder queere Vampirfilme aus Neuseeland anzuschauen und zahlreiche weitere Werke, die es größtenteils nie ins reguläre Kinoprogramm schaffen. Das wird in diesem Jahr nicht anders sein. Die Berlinale ist eben ein "Publikumsfestival", wie Dieter Kosslick gern betont. +Aber wer oder was ist eigentlich das Publikum? Lässt es sich bestimmen, warum manche Filme zu einem "Publikumserfolg" werden – und andere nicht? Die "Woche der Kritik", organisiert vom Verband der deutschen Filmkritik, gehört nicht zur Berlinale, begleitet sie aber seit einigen Jahren mit einem filmpolitischen Gegenprogramm, das auch den Klischee-Begriffen des Festivals auf den Grund gehen soll. "Malen nach Zahlen? Über Ideen vom Publikum und ihre Auswirkungen auf das Kino" heißt die Veranstaltung am Vorabend der Berlinale und der Ort ist gut gewählt: ein Zirkuszelt auf dem Tempelhofer Feld, beides – sowohl der Zirkus als auch das Flugfeld – Orte, an denen eine besondere Form von Öffentlichkeit verhandelt wird. +Auf dem Podium sitzen Maria Köpf aus der Filmförderung (Hamburg), der Regisseur Stephan Wagner, der Kinobetreiber Christian Bräuer (Yorck-Kinos Berlin) und die Produzentin und Filmhochschul-Dozentin Anna de Paoli. Schnell zeigt sich, dass je nach Zusammenhang mal von einer statistischen Menge (etwa: 4,75 Millionen Zuschauer sahen 2017 "Fack ju Göthe 3"), mal von einer konkreten Person ("Ein Zuschauer sagte zu mir...") und mal von einer imaginierten Größe ("Das Publikum geht ins Kino, um zu träumen") gesprochen wird. Im kreativen Schaffensprozess denke man automatisch an die Wirkung auf "den Zuschauer" – aber da könne man nur von sich selbst ausgehen, sagt Anna de Paoli als Filmschaffende. In einer Schnellfragerunde ist man sich jedenfalls einig, dass "das Publikum" klug und neugierig sei. Dafür, dass von Kritikern geliebte Filme an der Kinokasse scheitern, müssen also andere verantwortlich sein. +Frédéric Jaeger moderiert die Debatte und würde sie nicht veranstalten, wenn er damit so schnell einverstanden wäre. "Als Kritiker bin ich vom Publikum regelmäßig enttäuscht", sagt er zu Beginn mit kalkuliertem Pathos. "Weil es nicht zahlreich in die Filme geht, die mir wichtig sind." Ein Anstoß für die Debatte ist für ihn vor allem eine neue Leitlinie für die Filmförderung in Deutschland: Filme, die Fördermittel von der eminent wichtigen Filmförderungsanstalt des Bundes (FFA) erhalten, sollen nun "die Erwartungen des Publikums erfüllen" und ein "Potential von mindestens 250.000 Besuchern" aufweisen. Das klingt in der Tat alarmierend: Laut Jaeger erreichen 90 Prozent der deutschen Filme nicht solche Zuschauerzahlen, darunter hochgelobte Festivalerfolge wie der letztjährige Cannes-Film "Western" von Valeska Grisebach (30.000 Zuschauer).Ohne Filmförderung sind Filme in Deutschland quasi nicht finanzierbar. +Als belastbare Vorstellung vom Publikum bleiben von diesem Abend vor allem diese ernüchternden Zahlen hängen. In Frankreich, sagt die Festivalmacherin Marie-Pierre Duhamel auf dem zweiten Podium des Abends, hätte es aufgrund solcher Beschlüsse Demonstrationen gegeben und der zuständige Minister hätte einpacken können. Ach, Frankreich. +Die Woche der Kritik findet noch bis zum 22. Februar statt. Jeden Tag ab 20 Uhr laufen ein oder zwei Filme, anschließend wird über sie diskutiert. +Jan-Philipp Kohlmann + + +Dass die Berlinale beginnt, sieht auch daran, dass die Leitern da sind. In einer kleinen Seitenstraße neben dem Hyatt-Hotel am Potsdamer Platz stehen sie bereit, mit Fahrradschlössern an den Absperrungen befestigt. Es ist die Paparazzigasse, denn von hier starten schwere Limousinen, um mehr oder weniger berühmte Filmstars vom Hotel abzuholen, selbst wenn es nur zum knapp hundert Meter entfernten Berlinale-Palast/Roten Teppich geht. Die Leitern sind für die Pressefotografen da, um sie herum schart sich das Fußvolk, Autogrammjäger, die teilweise stundenlang in der Kälte ausharren. Als Donnerstagmittag die ersten Autos bereit stehen, sind schon viele Menschen da. +(mbr) + + +Für fluter.de sind auf der Berlinale 2018 unterwegs: Simone Ahrweiler, Chrisine Stöckel, Jan-Philipp Kohlmann, Michael Brake und Felix Denk.Hierlest ihr den ganzen Blog vom letzten Jahr. diff --git a/fluter/berlinale-blog-gefluechtete-in-sachsen.txt b/fluter/berlinale-blog-gefluechtete-in-sachsen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..07c4b3f04436620dfff9dd69d7c49b80f5a23fa2 --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-blog-gefluechtete-in-sachsen.txt @@ -0,0 +1,24 @@ + +fluter.de: In deinem Dokumentarfilm geben ehemalige Arbeiter des Kombinats "Fortschritt" syrischen Geflüchteten eine Art selbstorganisiertenIntegrationskursfür die DDR. Wie bist du bitteschön auf diese Idee gekommen? +Florian Kunert: Das war schon vor drei Jahren. Ich hatte gerade an einem anderen Film gearbeitet, auf der Weihnachtsinsel bei Australien, da ging es mit Pegida los. Ich wollte wissen, warum das ausgerechnet in Dresden passiert. Ich bin ja in der Nähe aufgewachsen. Plötzlich wurde irrsinnig hitzig diskutiert und mich hat interessiert, was diese Diskussion mit der DDR-Vergangenheit zu tun hat. Das brachte mich zu dem Fortschritt-Werk, eine Ruine in meiner Heimatstadt Neustadt, in der damals syrische Asylbewerber untergebracht waren. +Was wurde denn in dem Werk ursprünglich hergestellt? +Das haben mich die Asylbewerber, die ich dort kennengelernt habe, auch gefragt: Wo sind wir hier überhaupt? Warum steht hier so eine riesige Ruine? Da musste ich selbst erst recherchieren: Das Kombinat Fortschritt war der größte Landmaschinenhersteller der DDR. 70.000 Menschen arbeiteten da in den 1980er Jahren. Die Mähdrescher, die sie dort herstellten, wurden auch nach Syrien exportiert. + + + +Einer der ehemaligen Werkarbeiter aus Neustadt, die in deinem Film vorkommen, spricht sogar Arabisch. +Das hat mich auch überrascht. Der war sogar 15-mal in Syrien. Die DDR und Syrien verknüpfte sozusagen das sozialistische Band der Freundschaft. Ich habe auch während der Recherche erfahren, dass mein Onkel im Irak Mühlen gebaut hat. Die DDR war nicht nur abgeschottet. Allerdings musste man sich schon auf das System einlassen, um reisen zu können. Meinem Onkel wurde der Pass schnell wieder weggenommen, als er mal was Kritisches über die Arbeit gesagt hat. +Du bist 1989 in Neustadt geboren. Hast du eigene Erinnerungen an das Werk? +Nein. Nach 1989 wurde das ziemlich schnell abgewickelt. Ein paar Gebäude auf dem Gelände wurden noch genutzt, bis vor drei Jahren war ein Teil eine Asylunterkunft. Dann sind die Geflüchteten in einen Plattenbau umgezogen, der einst auch für Fortschritt-Arbeiter gebaut wurde. Mittlerweile sind die ruinösen Gebäude auf dem Gelände abgerissen. +Beide Gruppen – die Geflüchteten und die Ex-Werkarbeiter – haben gewissermaßen ihre Heimat verloren. +Den Bürgerkrieg in Syrien und das Ende der DDR kann man natürlich nicht vergleichen. Aber als Denkanstoß, um die Diskussion in ein neues Licht zu rücken, fand ich das einen interessanten Vergleich. Beide Gruppen haben etwas gemeinsam, es kursiert ja auch seit einiger Zeit die Theorie, dass die DDRler eine Migrationserfahrung gemacht haben, ohne sich räumlich zu bewegen. +In deinem Film kommt das so rüber, als seien beide Gruppen dankbar für die Begegnung. +Das habe ich auch so empfunden. Auf die Idee, beide Gruppen zusammenzubringen, bin ich überhaupt erst gekommen, weil es in Neustadt eine Initiative gab, die einen Deutschkurs für die Geflüchteten organisierte. Christian Tuschling, der ehemalige Werkarbeiter, der Arabisch spricht, konnte dabei mit seinen Sprachkenntnissen sehr helfen. Solche Engagements gibt es auch in Sachsen. Da sind nicht nur verschlossene Türen, wie es manchmal dargestellt wird. +Berühmt geworden ist Sachsen für seine Willkommenskultur aber nicht. +Nein, und ich möchte das auch nicht verschweigen. Der Film zeigt, wie ein Geflüchteter Schweinefleisch in seinem Briefkasten findet und mit einem Laser gemobbt wird. Es gibt Gründe, warum die Geflüchteten aus dem Film jetzt in der Nähe von Köln, also im Westen, leben. Und wir müssen uns damit beschäftigen, weil das Problem ja nicht weggeht. Im Osten gibt es viel mehr rassistische Überfälle pro Kopf als im Westen. +(fd) + + + +Nach dem einigermaßen gefühligen Start in den Wettbewerb mit"The Kindness of Strangers"ging es gestern ziemlich zur Sache mit einem Film ganz auf der Höhe der Zeit. Mit "Grâce à Dieu" hat François Ozon ein fast dokumentarisches Drama über sexuelle Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche gedreht, die das Erzbistum Lyon versucht hat zu verschweigen. Aktuell wird der Fall vor Gericht verhandelt. Was wiederum ein Problem für den Film werden könnte, denn derAnwalt des beschuldigten Priesters versucht den Kinostart am 20.2. zu stoppen. + diff --git a/fluter/berlinale-blog-generation-junge-filme.txt b/fluter/berlinale-blog-generation-junge-filme.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d3ca3a8a2bee90aba97f8abd17f5839957431f7d --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-blog-generation-junge-filme.txt @@ -0,0 +1,14 @@ + +Der quietschbunte "We Are Little Zombies", der heute Abend den Auftakt der 42. Generation macht, erfüllt diesen Anspruch, übererfüllt ihn sogar: Eine Million Einfälle hatte Regisseur Makoto Nagahisa (Jahrgang 1984) für sein Langfilmdebüt und fast alle davon auch umgesetzt: Er schickt seine kleinen Zombies in Stundenhotels, auf Müllhalden, durch Konzertsäle und in Schnellzüge, er spielt mit 8-Bit-Videogame-Optik, TV-Show-Einlagen, Animationssequenzen, Social-Media-Buzz, Erzählperspektivwechseln, Nahtoderfahrungen. Manchmal – aber nur manchmal – wäre in "We Are Little Zombies" weniger mehr gewesen. Aber andererseits weiß man ja nie, wie lange man noch lebt. +Der ungewöhnlichste Stoff der diesjährigen Generation ist es freilich nicht, der Blick geht weit und in die ganze Welt: Der karg-mystische"The Red Phallus"handelt von einer 16-Jährigen aus dem bhutanesischen Hochland, die ein dunkles Geheimnis hat. Wie Schüler*innen in Brasilien mehr als 1.000 öffentliche Gebäude besetzt haben, zeigt die dokumentarische Form"Espero tua (re)volta". In"Anbessa"trotzt eine äthiopische Familie den neu gebauten Planstädten und führt ihr traditionelles Leben weiter. +Gleich mehrere Filme kommen aus China und Korea, die skandinavischen Länder sind gar mit neun Beiträgen dabei: In"Hölmö nuori sydän (Stupid Young Heart)"sucht ein werdender Teenager-Vater emotionale Zuflucht bei einer Gruppe Rechtsextremer. Die Konfrontation mit Kindheits-Gewalterfahrungen mithilfe von Live-Rollenspielen verhandelt"The Magic Life of V". Und dann ist da noch"2040": ein visueller Brief an eine Vierjährige, der einen heiteren Blick auf die Zukunft wirft, allen menschengemachten Klimaschweinereien zum Trotz. +Ach, und noch ein Lob zum Schluss: Während die "große" Berlinale mit der Regisseurinnen-Quote immer noch etwas strugglet, hat die Sektion Generation sie überholt: Exakt 50 Prozent aller Langfilme und sogar über die Hälfte der Kurzfilme sind von Frauen gedreht. (mbr) + + + + +Den größten Lacher der gestrigen Eröffnungsgala hatte Anke Engelke auf ihrer Seite: "Er ist der Grund, warum Serien wie 'Four Blocks nicht nur Fiktion sind." So begrüßte sie Michael Müller, den Regierenden Bürgermeister von Berlin – und damit auch von Neukölln. Danach war's weniger lustig, aber doch herzerwärmend bei Lone Scherfigs "The Kindness of Strangers", mit dem die 69. Berlinale startete.Hier unserer Steckbrief zum Film. + + +Was bisher geschah? Hier geht eszum Tag eins unseres Berlinale Blogs +Titelbild: 2019 "WE ARE LITTLE ZOMBIES" FILM PARTNERS diff --git a/fluter/berlinale-blog-pj-harvey-seamus-murphy-a-dog-called-money.txt b/fluter/berlinale-blog-pj-harvey-seamus-murphy-a-dog-called-money.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d86f4e387d4db8fb7d458fe1bbd7eb80516e5e72 --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-blog-pj-harvey-seamus-murphy-a-dog-called-money.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Auch PJ Harvey kann bekanntlich ziemlich breitbeinig Gitarre spielen: + + +Und sie tut das schon seit gut 25 Jahren. Sie kann also locker als Vorbild für die heutige Generation durchgehen. Und so viele Vorbilder gibt es da ja auch nicht. War ja meist Männersache, das Gitarrespielen. +Dass die Engländerin auch für die gegenwärtige Repolitisierung der Popmusik ein Rolemodel ist, das zeigt "A Dog Called Money", der Film von Seamus Murphy über die Arbeit an ihrem letzten, kontroversen und ungemein politischen Album "The Hope Six Demolition Project". +An dem war Murphy, eigentlich als Fotograf in den Krisengebieten dieser Welt unterwegs, ohnehin maßgeblich beteiligt. Er reiste mit PJ Harvey nach Afghanistan, in den Kosovo und nach Washington DC. Das Spannende an seinem Film ist, dass er transparent macht, wie sie arbeitet. Wie eine Reporterin nähert sie sich dort den Menschen. Sie macht Ortsbegehungen, trifft Musiker, stellt Fragen, hört zu. Mit Block und Stift schreibt sie die Szenen auf, visuell und konkret, die dann schon fast die fertigen Texte sind. + + +Manchmal wird ein Kettenkarussell, das einsam in den Bergen im südlichen Kosovo vor sich hin rostet, zur Metapher. Einerseits für die vielen verschollenen Kinder des Balkankriegs – der Chor singt: "I heard it was 28.000" – andererseits, da dreht sich dann das Rad der Geschichte weiter, für die neuen humanitären Krisen, die in der Region stattfinden. Im ebenfalls von Seamus Murphy gedrehten Video werden Bilder aus dem griechischen Ort Idomeni zwischengeschnitten, wo Tausende im Schlamm an der Grenze zu Mazedonien hausten in der Hoffnung, über die Balkanroute nach Mitteleuropa zu gelangen. Darunter auch zahllose Kinder. +Ihr Album kam nicht überall gut an. In Washington beschwerte man sich, dass sie die armen Viertel der Stadt einseitig beschreibe, auch das Wort "Shithole" für die lokale Schule empfanden manche ehrabschneidend. Hier und da wurde ihr musikalischer Elendstourismus vorgeworfen, weil sie das Leid anderer Menschen zwar schildere, dabei aber letztlich oberflächlich und impressionistisch bleibe. Es macht eben doch ein Unterschied, wenn man sich nach der Recherche wieder ins Flugzeug nach Hause setzen kann, um den Song fertig zu schreiben. +Diese Vorwürfe kann "A Dog Called Money" mindestens teilweise entkräften. Man sieht PJ Harvey, wie sie sich auf Augenhöhe den Menschen nähert, sich ihre Geschichten anhört, aus ihrer Komfortzone ausbricht, wenn sie im Winter durch Kabul streift. Das wirkt nicht von oben herab. Der Wunsch, die Orte zu verstehen, mit den Menschen in Kontakt zu treten, kommt ernsthaft rüber. Genau wie die Songs, die sie mit großer Dringlichkeit in die Welt trägt – und manchmal, wenn es passt, auch mit ordentlich Gitarrenfeedback verstärkt. (fx) + + +Sozialkritische Filminhalte sind bei der Berlinale ja immer gern gesehen – zum Berlinale-Start materialisierte sich die soziale Frage sogar real aufs Festivalgelände. Am Freitag- und Samstagabend ertönte ein Trillerpfeifengewitter, und nein, das waren keine Autogrammjäger, die irgendwelche Stars auf sich aufmerksam machen wollen, sondern Demonstranten: Organisiert von der Gewerkschaft ver.di protestierten mehrere Dutzend Kinobeschäftigte, in gelben Westen und mit cineastischen Plakattexten ("Löhne Mini, Cine Maxx", "Großes Kino, kleiner Lohn", "Big Screen statt Homescreen"). +Auf einem Flugblatt konkretisieren sie, was in ihren Augen falsch läuft: ver.di zufolge sind 90 Prozent der Eintrittskartenverkäufer, Popcornmacher, Platzanweiser usw. nur in Teilzeit beschäftigt, Neueinstellungen erfolgten nur befristet, gezahlt werde nur knapp überm Mindestlohn (der liegt aktuell bei 9,19 Euro/Stunde). Konkret weisen die Demonstranten auf die Cinemaxx-Gruppe hin, die, sofern die geplante Übernahme der Cinestar-Kinos klappt, bald Deutschlands größter Kinobetreiber wird – und sich aktuell in Tarifverhandlungen gegen Gehaltserhöhungen aussprechen. Deswegen gab es an diesem Wochenende in mehreren deutschen Cinemaxx-Kinos Warnstreiks. +Auch die Berlinale hat für den Festivalzeitraum ein Cinemaxx mit zehn Kinosälen gemietet. Auf dem Flugblatt behauptet ver.di, dass – im Wissen der Festivalleitung – Streikbrecher bereit stehen sollen, die im Falle von Warnstreiks dafür sorgen, dass die Berlinale sauber weiterläuft. Auf Nachfrage erklärt die Berlinale, dass sie "das Engagement der Mitarbeiter*innen des Cinemaxx und der Gewerkschaft selbstverständlich respektiert" – aber ansonsten in diesem Konflikt "der falsche Ansprechpartner" sei. Die im Service eingesetzten Beschäftigten während der Berlinale stelle im Übrigen ein externer Dienstleister, der deutlich über dem gesetzlichen Stundenlohn zahle.Und damit schalten wir zurück aus der Realität in die fiktive Welt auf der Kinoleinwand. (mbr) + + + + +Zu den Filmen, die bei der Berlinale heiß erwartet wurden, zählt ohne Zweifel "Der Goldene Handschuh" von Fatih Akin nach dem Roman von Heinz Strunk. Wer ihn sehen möchte, sollte sich im eigenen Interesse andiese Tipps von Michael Brake halten. + +Streikfoto: Michael Brake + diff --git a/fluter/berlinale-blog-wie-divers-ist-die-berlinale.txt b/fluter/berlinale-blog-wie-divers-ist-die-berlinale.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..73d8c2b9938141def94816494380792f960ffb3c --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-blog-wie-divers-ist-die-berlinale.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Darüber kann man lange diskutieren. Und genau das ist dann vielleicht auch wichtiger als die Zahlen selbst: über Missstände und Fortschritte offen zu reden, sich über Diversität und Repräsentation den Kopf zerbrechen. Vor und nach dem Kino, auf den Pressekonferenzen, auf Veranstaltungen, abends beim Bier und morgens beim Kaffee. Und auch bei uns in nächsten zehn Tagen, an denen wir täglich von der Berlinale bloggen. +Wir sprechen mit Ula Stöckl, die 1968 mit "Neun Leben hat die Katze" den ersten feministischen Film in Deutschland gedreht hat. Wir treffen afrikanische Regisseur*innen, die sich über die filmische Darstellung ihres Kontinents Gedanken machen und neue Wege gehen. Wir schauen nach Neustadt in Sachsen, wo der junge Regisseur Florian Kunert einen Film über Geflüchtete aus Syrien gemacht hat: Sie treffen die ehemaligen Werksarbeiter, in deren früheren Wohnheim sie untergebracht sind. +Heute Abend geht es mit dem Eröffnungsfilm "The Kindness of Strangers" los auf dem roten Teppich – der dieses Jahr allerdingsrecht gründaher kommt. Er besteht aus alten Fischernetzen, gebrauchten Teppichen und ausgemusterten Fehlproduktionenund soll zum Schutz der Meere aufrufen. Wie nachhaltig die Berlinale selbst ist, auch das wird ein Thema sein bei uns. (fx) + + + +Und jetzt zum ersten Skandal der Berlinale: Es gibt keinen! Zucker! am! Kaffeestand! Der Hintergrund: Der Kaffeesponsor durfte keine Tütchen mit eigenem Logo mitbringen, und die Berlinale hat es verpeilt, selbst welche aufzustellen. Ein Retter in der Not war der findige Barista im Pressebereich. Der hatte nämlich selbst welchen mitgebracht. + + +Der braune Zucker war in dem Reagenzglas zwar ziemlich nachhaltig verpackt, reichte aber leider gerade mal für drei Menschen. Dass der Mann weiß, was seine gar nicht so einfache Kundschaft braucht, bewies er gleich fünf Minuten später. +Barista: "Do you want a third espresso shot in your coffee?" +Journalist: "I gonna watch a 150 minute long Indian movie, so probably yes." (mbr) + + + +Weil man bei so einem Filmfestival ja dauernd auf irgendwas warten muss, hier ein kleiner Zeitvertreib: unser Berlinale-Bingo. Wie spielt man das? Bei Eintreten eines Ereignisses das entsprechende Feld durchstreichen. Bei einer gefüllten Reihe, Spalte oder Diagonale aufspringen und "Berlinale" skandieren – egal, ob man gerade mit 1.000 Leuten in einer Weltpremiere sitzt. + +Schon fertig? Dann gleich noch dieInspirationsquelleunseres Berlinale-Bingos spielen. Das hat sich die Filmjournalistin und Kuratorin Jutta Brendemühl ausgedacht. Und wer sein Glück noch mehr herausfordern will, hiernoch einsvon den Filmfestspielen in Toronto. (fx) + diff --git a/fluter/berlinale-der-goldene-handschuh-fatih-akin.txt b/fluter/berlinale-der-goldene-handschuh-fatih-akin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3c0fddb6f1d49b6dd7991535e1e3f2debfc1c5d0 --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-der-goldene-handschuh-fatih-akin.txt @@ -0,0 +1,30 @@ + +Wie wird's erzählt? +Filmisch sehr solide mit den Mitteln des gehobenen deutschen Autorenkinos. Wir sehen wohltemperiert geschnittene, schön fotografierte Bilder, oft in dieser warmen Farbstimmung der 70er mit vielen Braun-, Orange-, Ocker- und Waldgrün-Tönen. Was an den liebevoll eingerichteten Schauplätzen passiert, ist weniger wohltemperiert. RegisseurFatih Akinzeigt die Grausamkeiten des Fritz Honka schonungslos. Es wird geflucht, geprügelt, gepisst und auch getötet, der Höhepunkt ist eine mehrminütige Strangulierungsszene. Wirklich nur die allerbrutalsten Dinge – etwa, wie einer Frau der Kopf abgesägt wird – sind lediglich indirekt zu sehen. + + + + +Was zeigt uns das? +Menschen sind grausame Wesen? Ja, das auf jeden Fall. Aber sonst? Gute Frage. Bei aller Drastik lässt einen der Film irgendwie leer und unberührt zurück. Brutalität und Ekel erscheinen wie reiner Selbstzweck, auch wird man das Gefühl nicht los, dass sich hier einer ein wenig zu sehr verliebt hat in die skurrile Gegenwelt der Kiezkneipe, mit den putzigen Namen ("Tampon-Günter", "Dornkaart-Max"), den sentimentalen Schlagern ("Es geht eine Träne auf Reisen", "Es fährt ein Zug nach Nirgendwo"), dem Doppelkorn, den Sinnlos-Dialogen. Das Ergebnis ist eine Milieustudie, in der Alkoholikerschicksale nur ausgestellt werden, wie in einem Menschenzoo. + +Gut zu wissen +Fritz Honka gab es wirklich, zwischen 1970 und 1975 tötete er in Hamburg vier Prostituierte, saß fünfzehn Jahre im Gefängnis und starb 1998 in einem Altenheim – die Originalfotos von Täter, Opfern und Schauplätzen im Abspann sorgen für mehr Gänsehaut als die 110 Minuten zuvor. Honkas Taten verursachten ihrerzeit ein großes Medienecho und waren Vorbild für den hochgelobten Roman "Der Goldene Handschuh" von Heinz Strunk (2016). An dem wiederum hat sich Fatih Akin orientiert, die Handlung aber, wie das nun mal so ist bei einem Zwei-Stunden-Film, deutlich zusammengeschnurrt. + +Good Job! +Wie die Maskenbildner*innen aus den Schauspielergesichtern Alkoholikerfressen gemacht haben, mit aufgeplatzten Äderchen, tiefen Ringen und glasigen Augen, blauen Flecken, Falten, Schweißflecken und allem, was dazu gehört, ist beeindruckend. + +Schwierig +Wie viel Misogynie sollte man zeigen?Eine ähnliche Diskussiongab es vor zwei Jahren schon beim deutschen Film "Fikkefuchs". Denn es ist natürlich so: Fritz Honka hasst Frauen, auf eine sadistische und ekelhafte Weise. Er erniedrigt sie, beschimpft sie, schlägt sie, tötet sie. Das nicht zu zeigen, wäre Quatsch und verharmlosend, außerdem wäre dann kein Film mehr übrig. Aber ab wann ist die Gewaltdarstellung nur noch voyeuristisch? Im "Goldenen Handschuh" wird diese Linie mehr als einmal hart strapaziert. + +Taschentuchmoment +Statt Taschentüchern lieber Kotztüten mit ins Kino nehmen. Ergreifend ist hier nichts. + +Ideal für … +Leute, die mit dem Saufen aufhören wollen. Wer eine Warnung braucht, wohin der Teufel Alkohol einen führen kann: Hier ist sie. + +Titelbild: Gordon Timpen / 2018 bombero int./Warner Bros. Ent. + + + + diff --git a/fluter/berlinale-film-goldie-slick-woods.txt b/fluter/berlinale-film-goldie-slick-woods.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9706a50e63a3c904d4f02738098333488acd703e --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-film-goldie-slick-woods.txt @@ -0,0 +1,25 @@ + +Was zeigt uns das? +Der amerikanische Traum ist real. Also der Traum, nicht seine Erfüllung. Goldie träumt davon, als Tänzerin in einem Hip-Hop-Video berühmt zu werden. Sie hat die Chance auf diesen einen Gig und braucht dafür nur diesen einen teuren kanarienvogelgelben Mantel. Für die Sehnsucht, jemand anders zu sein, so in ein besseres Leben zu flüchten, sind auch Perücken ein wiederkehrendes filmisches Motiv. + + + + +Wie wird's erzählt? +Mitunter so unstet wie Goldies Lebensumstände: mit rastloser Handkamera und zäh wie Sirup, wie in einem Albtraum, in dem man einfach nicht vorankommt. Dazwischen gibt es kurze surreale Momente, manchmal wird auch einfach bunt ins Bild gemalt, kantige Striche und Flächen sind das, die gleichermaßen an analoge Pop-Art-Animationsfilmtechniken und die Ästhetik von verzierten Instagram- und Snapchat-Fotos erinnern. + +Good Job! +Man lobt junge Perform*innen ja gern mal für ihre "Intensität". Das klingt immer etwas abgedroschen, aber, die, tja: Intensität, mit derSlick Woodsspielt, ist tatsächlich beeindruckend. Ihre Goldie ist eine Erscheinung! Raspelkurze Haare, blondierte Augenbrauen, dazu die markante Zahnlücke und ein schwer zu deutendes Krokodilslächeln. Sie danced und twerkt im gelben Einteiler auf einem Rooftop um ihr Leben, gefilmt von einer iPhone-Kamera, sie steht unter Strom, sie ist wütend, verletzt, stolz, beratungsresistent, kompromisslos und selbstbewusst. "I figure it out", sagt Goldie mehrfach bestimmt. Aber wie? Das weiß sie selbst oft nicht. + +Schwierig +Die Lebensrealitäten, die Darsteller*innen, die Sprache, die Musik (Cumbia, HipHop, mäandernder Jazz) – so gut wie alles in diesem Film ist schwarz. Doch Regisseur Sam de Jong ist weiß, er kommt aus den Niederlanden. Das ist nicht verboten, das darf es natürlich geben. Dennoch hat dieses "Weiße erzählen über Schwarze" immer einen Beigeschmack. + +Taschentuchmoment +Die Schlussszene. Aber die verraten wir jetzt nicht. +Stärkster Satz +"N****, I'm fly as fuck", sagt Goldie, als sie um den Auftritt im Musikvideo dealt. Erwähnten wir schon, dass es ihr nicht an Selbstbewusstsein fehlt? + +Ideal für … +Alle, die sich für soziale Realitäten jenseits ihres Mittelklasse-Lebens interessieren. Und für alle, die das noch nicht tun, aber einen Zugang suchen – so unkitschig und unpädagogisch erzählt selten ein Film davon. + +Titelbild: Goldie Films, Inc. diff --git a/fluter/berlinale-film-in-den-gaengen.txt b/fluter/berlinale-film-in-den-gaengen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b161ee8f1f07cdae3b701681a44671c8c66eec5a --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-film-in-den-gaengen.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Was zeigt uns das? +Dass man einen guten Film drehen kann, in dem Gabelstapler zu klassischer Musik durch menschenleere, kaum erleuchtete Gänge kurven, so anmutig wie Tänzer auf einer Bühne. "In den Gängen" ist nicht nur eine Liebesgeschichte, sondern vor allem eine ostdeutsche Milieustudie der Postwende-Zeit. So geht es um brüchige Identitäten, krumme Lebensläufe und die gemeinschaftsbildende Kraft täglicher Arbeitsroutinen. +Wie wird's erzählt? +"In den Gängen" nimmt sich viel Zeit. Für Details wie lange Nahaufnahmen auf den Kaffeeautomaten, aber auch für die Totalen. Die scheinbar endlos langen Gänge und ebenso die hohen Regale sind dafür quasi prädestiniert. Obwohl man bei Großmarkt gleich an Kundengewimmel denkt, wird in dem Film wenig gesprochen. Christian arbeitet meist spät abends, wenn der eigentliche Betrieb schon zu Ende ist. So bekommt man ganz neue Einblicke in den Betriebsablauf eines Großmarktes. +Good Job! +Der Film schafft es, den Figuren nah zu sein, in ihre ganz eigene Welt "in den Gängen" einzutauchen. Das ist sogar ziemlich lustig und dabei doch nie überzeichnet. Paletten-Klaus, Jürgen, Bruno – so verschroben und kleingeistig sie scheinen, nimmt der Film sie doch ernst. +Fyi +Sandra Hüller, die die Süßwaren-Marion spielt, hat für den Film extra den Flurfördermittel-Führerschein gemacht. Mit Erfolg: Im Film kurvt sie souverän mit dem Gabelstapler durch die Gänge. Auch das Drehbuch stammt von einem Ex-Gabelstapler-Fahrer: Clemens Meyer finanzierte sich sein Studium am Deutschen Literaturinstitut in einem Großmarkt. +Ideal für ... +... Fans von filmischen Milieustudien. So hat man den Großmarkt noch nie gesehen. + + +Mehr zu "In den Gängen" gibt es imKinofenster, dem filmpädagogischen Portal der BpB. Im Interview erklärt Regisseur Thomas Stuber, warum er und  Clemens Meyer Jahre brauchten, um die Kurzgeschichte filmisch umzusetzen. diff --git a/fluter/berlinale-film-l%27animale.txt b/fluter/berlinale-film-l%27animale.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e45f0aed9ab5e982aca8f87a1402b5f06f8b8059 --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-film-l%27animale.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Was zeigt uns das? +Es ist nicht immer leicht, zu sein, wer man sein will – vor allem, wenn eine Entscheidung für etwas zugleich eine Entscheidung gegen etwas Anderes bedeutet. Die Suche nach der eigenen Identität ist klassischer Coming-of-Age-Stoff, hier betrifft er auch die Erwachsenen. +Wie wird's erzählt? +Äußerst zurückgenommen, in entsättigten Farben und ohne unnötige akustische Dramatisierungen. Die Menschen in "L'Animale" leben in unspektakulären Wohnungen, sie haben unspektakuläre Berufe (Tierarzt, Bauvermesser, Supermarkthilfe), sie sehen unspektakulär aus und ihre kleinen und großen Dramen passieren ihnen einfach. +Beste Nebenrolle +Ein Steinbruch und ein Autokino. Sie sind die Treffpunkte von Matis Motorradclique. Es sind erhabene Orte, ein Extralob geht ans Location-Scouting. +Taschentuchmoment +Kurz vor Ende, als alle ein wenig ratlos auf ihre Lebenswege schauen, wird plötzlich eine italienische Schnulze eingespielt: "L'Animale". Und alle singen leise mit. Ein theatralischerer Stilbruch in diesem sonst so lakonischen Film. +Good Job! +Es geht – auch – um homosexuelles Begehren in "L'Animale", aber das Thema wird nicht größer oder kleiner gemacht, als es ist. Wie alles andere ist es halt einfach vorhanden. So geht es halt auch. +Geht gar nicht +Um die tiefere Bedeutung des Films noch ein wenig deutlicher rüberzubringen, gibt es immer wieder Szenen einer Gedichtinterpretation aus Matis Deutschunterricht. Dieser Wink mit dem Zaunpfahl, nein: Holzhammer, muss nicht sein. +Gut zu wissen +Man kann im Jahr 2018 einen im Jetzt spielenden Film ins Kino bringen, in dem kein einziges Smartphone vorkommt – ohne dass es unglaubwürdig wird. Sogar einen Film über Jugendliche. +Ideal für … +… Menschen mit einem Faible für die leise Geschichten. Und/oder den österreichischen Dialekt. "Halt die Bappn", "Geh, bitte", "Oida!" – es macht einfach Spaß, zuzuhören. + +"L'Animale", Österreich 2018; Regie, Drehbuch: Katharina Mückstein; mit Sophie Stockinger, Kathrin Resetartis, Dominik Warta, Julia Franz Richter, Stefan Pohl; 96 Min. +(Kinostart Österreich: 16. März 2018) diff --git a/fluter/berlinale-film-mein-bruder-heisst-robert-und-ist-ein-idiot.txt b/fluter/berlinale-film-mein-bruder-heisst-robert-und-ist-ein-idiot.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d4ec627b668e7c079ff7172f9a4df6fe8ae422fc --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-film-mein-bruder-heisst-robert-und-ist-ein-idiot.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Was zeigt uns das? +"Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot" ist anfangs noch eine recht verquaste Coming-of-Age-Story. Trotz aller Eigenheiten geht es auch hier um die erste Liebe und das verunsicherte Begehren spätpubertärer Körper. Roberts von Akne übersäter Rücken illustriert Letzteres anschaulich. Mit dem Fokus auf dem innigen Verhältnis der Zwillinge, die sich zu zweit eine eigene Welt erschaffen haben, entwickelt sich der Film jedoch immer mehr zur Groteske. Die Rollenspiele werden abgründiger, auch zunehmend gewalttätig, wenn die Geschwister auf der Tankstelle Mitarbeiter und Passanten belästigen. All das stellt der Film in einen Sinnzusammenhang mit dem philosophischen Konzept der Zeit, das die beiden diskutieren. "Der Sinn des Seins ist die Zeit", sagt Robert nach Heidegger-Lektüre. + +Wie wird's erzählt? +Über die volle Länge von drei Stunden wechselt der Film kaum die Schauplätze: Sommerwiese, Tankstelle, Badesee. An diesen drei Orten verbringen Robert und Elena das ganze Wochenende. Das reduzierte Setting erfasst Philip Gröning (Regisseur, Kameramann, Co-Autor und Co-Editor) mit einer gleichzeitig dialoglastigen und bildgewaltigen Inszenierung. +Good Job! +Die Kameraarbeit ist, für sich genommen, durchaus eindrucksvoll. Grasgewusel, satte Sommerfarben, verschlungene Körper und Stillleben auf der Picknickdecke: Die Bildmotive und der Kino-Look des Films, das Spiel mit Schärfe und extremen Einstellungsgrößen, erinnern zuweilen an impressionistische Gemälde. +Geht gar nicht +Allein, es ist zuviel des Guten, von allem und von Anfang an. Das fängt bei der Bildgestaltung an, die von der Leinwand zu schreien scheint: "Na los, finde mich ästhetisch!" Das geht weiter bei den zähen Philosophie-Monologen, die sich Robert und Elena aus Schulbüchern und Reclamheften vorlesen, etwa: "Die Wahrheit der Philosophie hat als Ziel das Glück", oder: "Bevor wir darüber nachdenken, wie wir richtig handeln, müssen wir lernen, richtig zu denken." Und es endet schließlich in der willkürlich wirkenden Radikalisierung des Plots, die für sich freilich immer noch ein metaphysisches Gedankengebäude beansprucht. +Ideal für... +Heidegger-Versteher, die zugleich radikales Autorenkino schätzen, das sich auf den ästhetisierten Tabubruch spezialisiert hat. + diff --git a/fluter/berlinale-film-mid90s.txt b/fluter/berlinale-film-mid90s.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2a5fde12b5aece8a4b667fdf0d0ddf684617cce7 --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-film-mid90s.txt @@ -0,0 +1,24 @@ + +Was zeigt uns das? +Schauspieler Jonah Hill hat mit seinem Debüt als Regisseur und Autor eine Hommage an die Skater-Kultur vorgelegt, in der er selbst sozialisiert wurde. Die Liebe zum Skaten und zum Hip-Hop wird zur rettenden Zuflucht vor dysfunktionalen Familien und verbindet Jugendliche unterschiedlicher Herkunft. Ray ist Afroamerikaner, "Fuckshit" hat hispanische Eltern, bei Ruben und "Fourth Grade" deutet der Film ein "White Trash"-Milieu an. Vorurteile darüber werden pubertär weggelacht, das N-Wort gehört zur normalen Ansprache. Mit dem Blick für solche Details erkundet "Mid90s" aber auch, wie toxische Männlichkeit ganz wesentlich die Gruppendynamik unter heranwachsenden Jungen prägt: Cool zu sein heißt "not to give a fuck", lernt Stevie schnell. Keinen Respekt vor anderen zu zeigen, die eigenen Gefühle zu verbergen und ständig Grenzen zu überschreiten. + + + + +Wie wird's erzählt? +Auf körnigem 16-mm-Material und im 4:3-Format gedreht, knüpft "Mid90s"  an den rauen Look von Indie-Produktionen jener Zeit wie Larry Clarks "Kids" (1995) an; dessen Autor Harmony Korine hat sogar einen Cameo-Auftritt im Film. Die Skate-Szenen der Clique, von Profi-Skatern gespielt, sind authentisch und nicht albern zusammenmontiert wie so oft in Sportfilmen. Von der Westcoast-Band The Pharcyde über A Tribe Called Quest und eher abseitige Gruppen wie die Gravediggaz läuft pausenlos 90er-Jahre-Rap auf dem Soundtrack. In den schwächeren Passagen wirkt der Film deshalb wie ein extralanges Musikvideo. In den stärkeren erzählt Hill konsequent aus Stevies Außenseiterperspektive, eine bewährte Strategie im Coming-of-Age-Genre. So wird dem Publikum die Clique gleich mit vorgestellt: Wie man den Nickname "Fuckshit" bekommt? "Na ja, immer wenn er einen guten Trick macht, sagt er so: ‚Fuck! Shit! Das war krass!'" + +Good Job! +Die erste Hälfte des Films ist wirklich stark. Wie Stevie sich heimlich in das Zimmer seines Bruders schleicht und die Titel aus dessen CD-Regal abschreibt, wie er die Skater-Kids  beobachtet, ihre Attitüden nachahmt und viel zu unsicher nach Anschluss sucht; wie er nachts vor dem Haus stundenlang einen Ollie übt und nach dem ersten geglückten Sprung vor Freude völlig ausrastet. Das beschreibt in präzisen Bildern eine Lebensphase, in der die Sehnsucht nach dem Wissen und Können der anderen die Welt bedeutet. Dabei zeigt der Film aber auch, warum pubertierende Jungs bei ihrer Identitätsfindung einen Haufen Mist verinnerlichen: weil man für Selbstüberschätzung Respekt, für homophobe Sprüche Gelächter und fürs "Flachlegen" High Fives bekommt. + +Stärkster Satz +"Du bist genau in diesem Alter, bevor Jungs zu Arschlöchern werden", sagt ein deutlich älteres Mädchen mal zu Stevie auf einer Party. Da ist er noch ein freundlicher, aufmerksamer Junge. Als er ihr später im Film nochmals begegnet, registriert die Kamera ganz beiläufig, dass er zu cool geworden ist, um auch nur nett "Hallo" zu sagen. + +Schwierig +Jonah Hill hat einen Blick für Details und schreibt witzige Dialoge, aber im großen Ganzen verliert sein Film den Faden. Diverse Spannungsbögen reißt er halbgar an, ohne sie zu vertiefen: Konflikte zwischen Stevie und seiner Mutter, die Entfremdung unter den Freunden, Fragen zu Herkunft und Aufstiegschancen. Letztlich bleibt der Film auch männlichen Initiationsriten gegenüber unentschlossen: Warnt er einerseits fast sozialpädagogisch vor jugendlichem Drogenkonsum, zeigt er am Ende, wenn die Clique den verletzten Stevie im Krankenhaus besucht, dann doch wieder rührende Momente des male bonding. + +Ideal für … +… alle, die in den Neunzigern aufgewachsen sind, posermäßig auf einem Skateboard durch die Vorstadt gerollt sind oder zumindest mal "Tony Hawk's" auf der Playstation gezockt haben. + +"Mid90s" gibt es jetzt u.a. bei Amazon, iTunes, Maxdome und Google Play im Bezahlstream. +Titelbild: 2018 Jayhawker Holdings diff --git a/fluter/berlinale-film-profile.txt b/fluter/berlinale-film-profile.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..24565f8548ff3ac2460ea6356c530aef94d871f8 --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-film-profile.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Was zeigt uns das? +Zunächst einmal, mit welchen Propagandamethoden der IS arbeitet beziehungsweise gearbeitet hat, der Film beruht auf der wahren Geschichte der französischen Journalistin Anna Erelle. Genauso geht es aber darum, wie wenig die Inszenierung im Internet über den Charakter eines Menschen aussagt: Ja, auch Dschihadisten verschicken niedliche Katzen-GIFs und können kochen. Und das bringt uns zum dritten Thema des Films: die Empfänglichkeit für psychische Manipulation, speziell wenn wir unsere Sehnsüchte und Wünsche in andere Menschen projizieren. +Wie wird's erzählt? +Das ist das Besondere an "Profile": Wir sehen die gesamte Zeit nur einen Computerbildschirm, blicken quasi Amy über die Schulter. Auf ihrem Desktop chattet und videochattet sie mit Kollegen und Freunden, recherchiert Hintergründe für ihre Geschichte, die sie auf virtuellen Notizzetteln vermerkt, zahlt ihre Miete online, hört Musik, schaut sich Fotos und andere Dokumente an. + +Good Job! +So irre die Erzählweise klingt: Sie funktioniert. Wir lernen die Charaktere und ihre Motivation so gut kennen, als wäre es ein "normaler" Film. Was Regisseur Timur Bekmambetow aus dem überschaubaren Setting eines Computerbildschirms herausholt, ist beeindruckend. Und auch, mit welcher Detailverliebtheit er das tut: Realistisch gesetzte Tippfehler; Chattexte, die noch dreimal geändert werden und so die inneren Konflikte von Amy widerspiegeln; eine Recherche via Youtube-Tutorials "Wie ziehe ich ein Kopftuch an?", "Wie schminke ich mich jünger?" +Geht nicht so gut +Um Spannung und Dynamik zu erzeugen, wird leider immer wieder der Realismus geopfert. Amy verhält sich immer wieder haarsträubend unprofessionell und bauchgesteuert, es ist schwer vorstellbar, dass irgendeine Journalistin ein derart heikles Thema so naiv angehen würde. Beispielsweise chattet sie eine Minute vor dem zweiten Skype-Videocall mit Bilel noch mit einer Freundin um dann hektisch abzubrechen – klar, nur so lassen sich die verschiedenen Handlungsebenen zusammenbringen. Aber schwierig ist es schon. +Wieder was gelernt +Im Film verschickt Bilel gern Katzenfotos, auch vom Instagram-Account "Islamic State of Cats". Ein Scherz? Nicht wirklich. Tatsächlich betrieb der IS einen Twitter-Account dieses Namens, wo er die Katzenfoto-Liebe des Internets mit Aufnahmen niedlicher "Mewjahedin"-Kitten bediente. +Ideal für … +... alle, die mal einen wirklich innovativen Kinofilm sehen wollen. Trotz einiger Schwächen, Timur Bekmambetow und sein Team setzen hier ästhetische Maßstäbe. + +"Profile". Regie: Timur Bekmambetow, Drehbuch: Brittany Poulton, Timur Bekmambetow, Olga Kharina, mit: Valene Kane, Shazad Latif, Christine Adams, Amir Rahimzadeh, Morgan Watkins, USA/Großbritannien/Zypern/Russland 2018, 105 Min. diff --git a/fluter/berlinale-film-transit.txt b/fluter/berlinale-film-transit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..235f8a97e3edfe39da22091f15c427d798324fe7 --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-film-transit.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Was zeigt uns das? +Natürlich setzt sich Christian Petzold auch mit dem Thema Flucht auseinander, weil es in den letzten Jahren eine besondere Dringlichkeit erlangt hat. Mit der historischen Geschichte schlägt er aber keinen Eins-zu-eins-Abgleich mit der Gegenwart vor. Als Fluchtbeschreibung bleibt der Film abstrakt, zeigt weder den Aufbruch von Zuhause noch das Ankommen in der Fremde, sondern nur das Dazwischen: den titelgebenden Transit. Dabei spielt der Verlust geliebter Menschen, die schmerzhafte Schuld, jemanden zurückgelassen zu haben, eine größere Rolle als der vielerorts willkürlich besetzte Begriff "Heimat". +Wie wird's erzählt? +Mit einem Kunstgriff, der verblüffend gut funktioniert. Wie im Roman von Anna Seghers spielt die Geschichte zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Frankreich wird gerade von den Deutschen besetzt, die Exilanten brauchen "Transitscheine" und "Schiffspassagen", um über den Atlantik zu kommen. Das filmische Setting der Geschichte ist jedoch gegenwärtig: Autos und gepanzerte Polizeieinheiten von 2017 bewegen sich durch die Straßen von Paris, hochmoderne Ozeankreuzer liegen vor dem Hafen von Marseille. Durch die Story führt ein sehr literarischer Off-Erzähler: Der Besitzer der Pizzeria "Mont Ventoux", in der Georg in Marseille ersatzweise "wohnt", berichtet in  der dritten Person von dessen Erlebnissen. + +Stärkster Satz +Den sagt Christian Petzold auf der Pressekonferenz über die Besetzung der Hauptrolle: "Ich hatte beim Schreiben des Drehbuchs noch keine Schauspieler im Sinn und habe die Rolle des Georg in meinem Kopf einfach mit Jean-Paul Belmondo aus "Außer Atem" besetzt." +Good Job! +Petzold gelingt es traumwandlerisch, zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart die Waage zu halten. Das liegt unter anderem daran, dass die Schauplätze und Requisiten zwar aktuell sind, aber nur solche Dinge auftauchen, die es auch damals schon gab. Züge, Schiffe und Autos gibt es, Handys und Computer hingegen nicht. Trotzdem ergeben sich aufgrund der Szenerie einer Hafenstadt am Mittelmeer ständig Bezüge zu heutigen Fluchtkonstellationen, doch sobald diese Bedeutungsebene zu überwiegen droht, schlägt das Pendel zielsicher wieder um. +Wermutstropfen +Ein Schwachpunkt des Films, wohl auch schon des Romans, ist leider die Protagonistin Marie, gespielt von Paula Beer. Sie tritt ab der Hälfte der Handlung auf und erscheint Georg wie ein Gespenst an allen Orten, an denen sich Flüchtende aufhalten. Verzweifelt sucht sie ihren Mann, von dessen Selbstmord sie noch nichts weiß. Das bleibt ihr wesentliches Merkmal. Und weil sie anmutig und verführerisch ist, wollen alle Männer des Films sie retten. Das ist auch deshalb schade, weil komplexe Figuren immer eine Stärke in Petzolds Filmen waren. +Taschentuchmoment +Zum zweiten Mal besucht Georg den Jungen Driss, der gerade seinen Vater verloren hat. Doch Driss liegt krank im Bett, aus dem geplanten Fußballmatch wird nichts. Also repariert Georg das defekte Radio des Jungen, und als es wieder läuft, muss er innehalten. Die Melodie erinnert ihn an ein Schlaflied, das seine Mutter ihm einst vorgesungen hatte. Driss will es natürlich hören, aber ganz textsicher ist Georg nicht mehr: "Elefant, der läuft nach Haus, Vogel fliegt nach Haus, Kabeljau..." Er muss sich erstmal sammeln. Wie Franz Rogowski das spielt, mit seiner nasalen Stimme, stets ein wenig brüchig wegen des Stotterns, aber mit dem perfekten Übergang von der Wehmut zum Triumph, wenn sich Georg an den Text erinnert und ankündigt: "Jetzt kommt der Kabeljau." Man versteht, warum so ziemlich alle wichtigen Leute im europäischen Film mit dem jungen Schauspieler plötzlich arbeiten wollen. +FYI +Das Lied, das Rogowski singt, ist von Hanns Dieter Hüsch, auch Blumfeld haben es gesungen auf dem Album Testament der Angst. +Ideal für... +… alle, die Geschichten auf der Leinwand lieben, wie sie auf diese Art nur das Kino erzählen kann. Mehr gibt's wirklich nicht zu sagen. + +"Transit"; Deutschland, Frankreich 2018, Buch und Regie: Christian Petzold, mit Franz Rogowski, Paula Beer, Godehard Giese, 101 Minuten diff --git a/fluter/berlinale-film-utoya-22-juli.txt b/fluter/berlinale-film-utoya-22-juli.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..74372e1ce9891338454da65f3fe0a6dcc879bc17 --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-film-utoya-22-juli.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Was zeigt uns das? +Regisseur Erik Poppe möchte mit seinem Film die Opfer wieder in den Fokus der Erinnerung an die Anschläge von 2011 rücken. Den Namen des Täters kenne jeder, seinen menschenverachtenden Motiven sei zu viel Aufmerksamkeit geschenkt worden, sagt Poppe. Fraglich ist, ob er für das Gedenken an die Opfer eine angemessene filmische Form gefunden hat. +Wie wird's erzählt? +"Utøya 22. Juli" ist pures Genrekino und erzählt den Terroranschlag als Survival-Thriller: Die Kamera bleibt immer nah an der Protagonistin Kaja, lässt den Zuschauer ihre Angst und Orientierungslosigkeit mitempfinden. Das Setting der abgeschiedenen Insel, auf der arglose Stadtmenschen der Gewalt eines unbekannten Angreifers ausgeliefert sind, erinnert auch an Backwood-Horrorfilme. Und fast die ganze Zeit über quält einen die Tonspur abwechselnd mit Schüssen, Schreien und Weinen. 72 Minuten dauerte es, bis Spezialeinheiten die Insel erreichten und Anders Breivik stellten. Diese unfassbar lange Zeit will Poppe erfahrbar machen, indem er den Anschlag in Realzeit und ohne einen einzigen Schnitt filmt. +Geht gar nicht +Die mehr als einstündige Plansequenz ist eine handwerklich virtuose Leistung. Die Kamera hetzt mit den Darstellern durchs Unterholz, kauert mit ihnen am Boden, geht mit in die Fluten des Fjords und erschafft trotz hektischer Bewegungen ästhetisch komponierte Kinobilder. Hauptdarstellerin Andrea Berntzen spielt diese Tour de Force intensiv und überzeugend. Nur macht all dies das riesige Missverständnis, das dem Film zugrunde liegt, noch schlimmer. Poppe mag vorab mit Überlebenden gesprochen haben und gibt vor, ihre Perspektive einzunehmen. Doch das ist in dieser Form vollkommen unmöglich. Genrefilme können uns mit Gefühlen konfrontieren – etwa mit dem Thrill, dieser ambivalenten Mischung aus Angst und Begehren. Sie können auch Politisches verhandeln. Was sie nicht können: Den Horror eines realen Terroranschlags in Form einer realistischen Inszenierung erfahrbar machen. So ist "Utøya 22. Juli" nur auf die perfide Spannung ausgelegt, wer am Ende lebend aus dieser Katastrophe herauskommt. +Schlimmste Szene +Die Szenen der Massenpanik und Verfolgung sind schlimm genug, aber schlimmer noch ist eine stille Szene gegen Ende des Films. Kaja und der gleichaltrige Magnus haben sich auf der Flucht wiedergetroffen und verstecken sich an der Küste zwischen den Felsen. Die Charaktere sind fiktiv – die einzige Distanz, die der Film für notwendig hält. Magnus ist ein unsensibler Depp, noch im Angesicht des Terrors quasselt er vom "Mädels Aufreißen". Er fragt Kaja, was sie vor dem Tod unbedingt noch machen möchte. Er selbst würde einen riesigen Döner essen, den aus seiner Heimatstadt, den "besten im ganzen Land". Kaja, die bereits zahlreichen Menschen geholfen hat, sagt, sie wolle Ministerpräsidentin werden. Eine berührende Szene soll das sein. Dabei ist doch so vorhersehbar, welche Figur das nächste Opfer wird. +FYI +Apropos Ministerpräsidentin: Gro Harlem Brundtland, die 1981 und später zwei weitere Male als erste Frau in Norwegen das Amt bekleidete, hatte am frühen Nachmittag das Jugendlager auf  Utøya besucht. Breivik wollte auch sie ermorden. Die Politikerin hatte die Insel verlassen - nur wenige Minuten, bevor der Anschlag begann. +Ideal für ... +Schwierig. Man fragt sich wirklich, für wen Poppe diesen Film gemacht hat. Einige Überlebende hätten ihn bereits gesehen, erklärt der Regisseur auf der Pressekonferenz. Was sie darüber dachten, sagt er nicht. Gibt es ansonsten eine Zielgruppe für Exploitationfilme, die den Survival-Thrill realer Gräueltaten nachinszenieren? + diff --git a/fluter/berlinale-film-waldheims-walzer.txt b/fluter/berlinale-film-waldheims-walzer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..17f6c6d3bccc9a76dbbf99580f4120b568f3b4b0 --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-film-waldheims-walzer.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Wenige Monate vor der Wahl wird bekannt, dass Waldheim Mitglied eines Reiterkorps der SA und des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes war. In Österreich formiert sich eine Protestbewegung, in den USA strengt die NGO World Jewish Congress umfangreiche Recherchen zu Waldheims Kriegseinsätzen an, die den Kandidaten in Erklärungsnot bringen: Er sei kein Mitglied der NS-Verbände gewesen, beharrt Waldheim, habe bei seinen Einsätzen auf dem Balkan keine Kriegsverbrechen oder Deportationen miterlebt, sondern bloß "meine Pflicht erfüllt wie Hunderttausende Österreicher auch". Große Teile der Bevölkerung solidarisieren sich mit Waldheim – und zur Stichwahl plakatiert die ÖVP einen neuen Slogan: "Jetzt erst recht!" +Was zeigt uns das? +Zum einen zeigt der Dokumentarfilm am Beispiel der Waldheim-Affäre das tief gespaltene Verhältnis der Österreicher zur Rolle ihres Landes im Nationalsozialismus. Der Mythos vom "ersten Opfer der Nazis"  war 1986 noch fest verankert. Eine Aufarbeitung der Vergangenheit scheuten große Teile der Gesellschaft. "Wir waren anständig", ruft Waldheim den Massen auf dem Stephansplatz zu und erntet begeisterten Applaus. +Zum anderen zeigt der Film, wie sich in kontroversen Debatten der mediale Diskurs verschiebt, wie es auf ähnliche Weise nun in Österreich und auch in Deutschland zu beobachten ist. Fake News 1986: Damals gelang es der ÖVP, die Kritik an Waldheim öffentlichkeitswirksam als Angriff auf die Ehre der Nation darzustellen – verübt durch eine "kleine, aber einflussreiche Gruppe aus dem Ausland". Das mobilisierte nationalistische und antisemitische Aggressionen, die sich, wie der Film zeigt, auf der Straße entluden. +Wie wird's erzählt? +"Waldheims Walzer" ist ein Kompilationsfilm. Ruth Beckermann verwendet ausschließlich historisches Bildmaterial aus TV-Archiven sowie Aufnahmen, die sie selbst als junge Frau mit einer Videokamera drehte: auf den Straßen Wiens, bei Wahlkampfauftritten und Protestaktionen. Die Regisseurin war seinerzeit von Beginn an Teil der Bewegung, die Waldheim zum Rücktritt aufforderte und sich gegen Antisemitismus positionierte. +Good Job! +Die Recherchearbeit, die spannendes Material aus der Zeit zutage fördert, verdient ebenso eine Würdigung wie die Montage, welche die Interviews, Straßenszenen, Wahlkampfauftritte und Nachrichtenbeiträge in eine übersichtliche chronologische Ordnung bringt. Beckermann leitet dabei mit einem Voice-over-Kommentar durch den Film, der die eigene Beteiligung und das selbst gedrehte Material reflektiert, aber meist angenehm nüchtern bleibt. Ihr gelingt das Kunststück, in einem persönlichenundpolitischen Film weder zu häufig noch zu selten "ich" zu sagen. +Stärkster Satz +"Wir nehmen zur Kenntnis, dass er nicht bei der SA war, sondern nur sein Pferd bei der SA gewesen ist." Fred Sinowatz, damaliger SPÖ-Bundeskanzler, über Waldheims Weigerung, seine offenkundig belegte SA-Mitgliedschaft zuzugeben. +Ideal für … +… alle, die am Beispiel von Waldheims Diskursgymnastik etwas über "österreichische Geschmeidigkeit" (Beckermann) lernen wollen. Mal im Ernst: Geschichtspolitik, Rechtsruck und Antisemitismus sind keinspecial interest. Wer sich damit auseinandersetzt, findet in Beckermanns Film Denkanstöße, die weit über den historischen Fall hinausweisen. diff --git a/fluter/berlinale-film-when-the-war-comes.txt b/fluter/berlinale-film-when-the-war-comes.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cbf872f71dbac6f900b2b45290bb20fd739f4a4c --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-film-when-the-war-comes.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Was soll uns das zeigen? +Die Doku zeigt einen zunehmenden gesellschaftlichen Rechtsruck in der Slowakei. Die Gruppe Slovenski Branci indoktriniert ihre jungen Anhänger zwischen 15 und 30 Jahren. Indem die Kamera mehrere ihrer Mitglieder begleitet und sich viel Zeit dafür nimmt, zeigt der Film zahlreiche Facetten dieser geschickten Meinungsmanipulation. Denn nach außen hin geben sich die Hobbysoldaten­ als politisch neutraler Verband, der sich gesellschaftlich engagiert. Bei ihren öffentlichen Festen und Veranstaltungen werben die Slovenski Branci dafür, Teil ihrer Bewegung zu werden. +Rund 200 Mitglieder zählt die Organisation, die sich auf rechte Vordenker aus Russland beruft. Bei Giftgasübungen und Nahkampfausbildung am Wochenende wird dann Disziplin gepredigt, patriotisch salutiert, gemeinsam "Heil Vaterland!" gerufen und vor "Überfremdung" gewarnt. Gerade in den Unsicherheiten der Pubertät sind viele der jungen Rekruten für diese Form von Orientierung anfällig – im Kinderzimmer eines Jungen, sein Name ist Adam, hängen mehrere Schusswaffen-Poster. Behörden warnen zwar vor Slovenski Branci, doch in der rechten Filterblase kommt das kaum an. Zumal manche Eltern ihre Kinder zu den Treffen fahren wie zu Schulausflügen. +Wie wird's erzählt? +Über einen jungen Mann namens Peter Švrček. Er steht im Mittelpunkt der Doku. Unter der Woche studiert er Archäologie, am Wochenende ist er Vorsitzender der Slovenski Branci. Dabei schlüpft der Anfang 20-Jährige fast gespenstisch schnell in verschiedene Rollen. Mal mimt er den schnittigen Anführer, gibt auf einem Hügel stehend Befehle, ein Bein hochgestellt, den Arm in der Hüfte. Mal nimmt er in Hornbrille und weißem Hemd wortgewandt an Podiumsdiskussionen teil. Dann wieder tritt er selbstsicher argumentierend vor die Kameras verschiedener Medien. Und in jedem Moment scheint er genau zu wissen, welche Rolle er gerade zu spielen hat und was er damit erreicht. Ganz offensichtlich gefällt ihm diese Art von Macht. +Schlimmste Szene +In einer Szene zeigt der Film mehrere Flüchtlinge, die mit ihren Kindern und schwerem Gepäck durch die Straßen eines slowakischen Ortes laufen. Die Mitglieder der Slovenski Branci verfolgen sie mit ihrem Auto, mit ihren Smartphones filmen sie die vorbeilaufenden Familien und bezeichnen diese laut rufend als "Invasion". +Klappt nicht so gut +Die Macher des Films halten sich zurück. Es gibt keine Musik, keinen einordnenden Off-Kommentar. Natürlich können die ZuschauerInnen auch selbst die rechtsextremen Reden und ausländerfeindlichen Kommentare als solche erkennen und einordnen. Dennoch lässt die Doku der rechten Propaganda sehr viel unkommentierten Raum. Besonders Peter Švrček darf sich permanent inszenieren. +FYI +Im Sommer 2017 erließ das slowakische Bildungsministerium eine Richtlinie für Schulen, nach der diese nur noch mit staatlich anerkannten Organisationen zusammenarbeiten sollen. In der Vergangenheit sprachen Mitglieder von Slovenski Branci und Peter Švrček regelmäßig vor SchülerInnen. +Ideal für … +… Leute, die einen eindringlichen Blick in eine ganz andere Filterblase werfen wollen. + +"When the war comes"; Regie, Buch: Jan Gebert. Tschechische Republik, Kroatien, 2018, Dokumentarfilm, 78 Minuten diff --git a/fluter/berlinale-film-zentralflughafen-thf.txt b/fluter/berlinale-film-zentralflughafen-thf.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e48ae8a832cc7f82e82fd72608a8ee8b283e7f57 --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-film-zentralflughafen-thf.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Was soll uns das zeigen? +Wie ein Transitraum zum unfreiwilligen Zuhause wird. Die Notunterkunft im Flughafen wird als ambivalenter Ort gezeigt. Es gibt zwar viele Freuden im Alltag – aber auch das beklemmende Gefühl, nicht weg zu können, das zermürbende Warten, das Brüten über diesen Fragen: Darf ich in Deutschland bleiben? Wie lange darf ich bleiben? Warum brauchen die Behörden so lange für eine Antwort? +Wie wird's erzählt? +Alles in der Flüchtlingsunterkunft geschieht mit Blick auf Berlins größte Freifläche – das Tempelhofer Feld. Zuerst dienten die 300 Hektar als militärischer Übungsplatz, als Spielfeld des ersten Berliner Fußballvereins, später als Flughafen. Seit 2008 ist das Feld ein riesiger Park. Dem Film gelingt es, diesen Ort mit dem Leben der Flüchtlinge in Beziehung zu setzen. Mal um die Absurdität der Situation zu zeigen: Hier leben Menschen, die ihr Zuhause verloren haben – dort ort entspannen Berliner am Wochenende. Mal um Nähe herzustellen, etwa wenn einer der Geflüchteten sagt: "Seht euch diese Aussicht an!" +Good Job! +Regisseur Aïnouz hat einen guten Blick für Details: In so vielen Facetten hat man das Tempelhofer Feld wohl noch nie in so kurzer Zeit gesehen. Im Januar, im Mai, im Oktober. Bei Schnee, im Nebel und bei Sonne. Imker ziehen Honigwaben aus Bienenkästen. Hipster picknicken. Familien grillen. Leute gehen, joggen, skaten, fahren Rad oder Segway, lassen Drachen steigen. Sicherheitsmänner drehen ihre Runden. Füchse laufen durch die Nacht. Alles verändert sich stetig. Nur der Flughafen, der bleibt. +Stärkster Satz +Ibrahim steht an Silvester vor den Hangars und schaut sich das Feuerwerk an. Es weckt böse Erinnerungen: "Feuerwerk und Krieg klingen fast gleich." +FYI +Ende 2017 wurde vor dem Tempelhofer Flughafen ein Containerdorf mit über 1.000 Wohnplätzen eröffnet. Die Stadt nennt diese neuen Unterkünfte "Tempohomes". +Ideal für ... +... alle, die Dokus mögen, die sich viel Zeit für verschiedene Perspektiven nehmen. +"Zentralflughafen THF". Regie KarimAïnouz, D, F, Bra 2017, 97 Minuten. diff --git a/fluter/berlinale-gewinner-2020.txt b/fluter/berlinale-gewinner-2020.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6476723f8b3d19f649db37986421054069b84787 --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-gewinner-2020.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Schließlich gewann auch den Goldenen Bären ein Film, der im Wettbewerb politisch ein Zeichen setzte: "Es gibt kein Böses" von Mohammad Rasoulof erzählt in vier Episoden von den moralischen Konflikten des Einzelnen im autoritären System des Iran. Es ist der dritte Goldene Bär für einen iranischen Film in den letzten zehn Jahren (die anderen beiden: "Taxi Teheran" und "Nader und Simin"). Rasoulof musste dieZensurbehördeaustricksen und hat derzeit Ausreiseverbot, weswegen seine Tochter den Preis entgegennahm. Noch vor der Preisverleihung sagte er im Tagesspiegel-Interview: "Auch meinen Kollegen und meinem Team hilft die Unterstützung aus dem Ausland. Ohne die Proteste säße ich jetzt vielleicht im Gefängnis." +Neue und aktualisierte #MeToo-Fälle bestimmten die Debatten rund ums Festival. Da lagen zwischen Filmpremiere und Breaking News nur wenige Tage: Eben noch sah man in BerlinKitty Greens Spielfilm "The Assistant"über einen Fall von Machtmissbrauch in der Filmbranche; kurz darauf wurde Harvey Weinstein vom Obersten Gericht in New York wegen Vergewaltigung und schwerer sexueller Nötigung schuldig gesprochen (ein weiterer Prozess in Los Angeles steht noch aus). +"The Assistant" zeigt den Arbeitsalltag einer jungen Frau im Filmbusiness –und rechnet dabei auch mit einem gewissen Filmmogul ab +Zahlreiche prominente Frauen kommentierten das, von Cate Blanchett ("nicht Rache, sondern Gerechtigkeit") über Nina Hoss ("geht in eine gute Richtung") bis hin zu Hillary Clinton: "Es war Zeit für eine Abrechnung." +Derweil konnte man zeitgleich in Paris sehen, wie ein in den USA wegen Vergewaltigung Angeklagter (Roman Polanski) erneut mit einem César, dem französischen Filmpreis, als bester Regisseur ausgezeichnet wurde. Polanski war 1978 aus den USA geflohen, bevor in dem Prozess wegen Vergewaltigung einer 13-Jährigen ein Urteil gesprochen werden konnte (der zuständige Richter hatte eine bis zu 50-jährige Haftstrafe angedeutet). Polanski hat die USA seitdem nicht mehr betreten und meidet Staaten, in denen er eine Auslieferung befürchten muss. Ende letzten Jahres wurde dann auchnoch ein weiterer schwerer Vorwurf bekannt. +Einen #MeToo-Verdachtsfall stellt auch der Aufreger der Berlinale dar, das Großprojekt "DAU". Der russische Regisseur Ilja Chrschanowski hatte in der Ukraine eine riesige Kunstinstallation im Stil der Sowjetunion bauen lassen, wo Hunderte Leute jahrelang lebten und arbeiteten – eine Art riesiges Menschenexperiment.Die "taz" berichtete während des Festivals von Machtmissbrauchund übergriffigem Verhalten des Regisseurs bei einem ähnlich geplanten "DAU"-Ableger in Berlin. +Beim Festival wurden dennoch zwei Filme aus dem ukrainischen Projekt gezeigt: In "DAU. Natasha" sieht man zum Beispiel, was sich zwischen den Laiendarstellern vermeintlich wirklich ereignet – echter Streit, echte Besäufnisse, echter Sex. In einer Szene erniedrigt einKGB-Agent, der früher auch im echten Leben einer war, die Hauptdarstellerin und zwingt sie, sich eine Glasflasche vaginal einzuführen. Der Vorwand ist hier, mit vermeintlich "mutiger" Filmkunst totalitäre Strukturen sichtbar zu machen; vor allem scheint es aber um den Thrill zu gehen, ob die filmische Gewalt, deren Dreh nach bisherigen Erkenntnissen höchst problematisch war, real oder Fake ist. Schlimmer als diesen Film zu zeigen war nur, ihn auszuzeichnen: Jürgen Jürges bekam einen Silbernen Bären für die Kameraarbeit. +Für einen Schwangerschaftsabbruch nach New York:Politisch trifft Eliza Hittmans Film "Never Rarely Sometimes Always" einen Nerv +Jury-Präsident Jeremy Irons war im Vorfeld kritisiert worden, unter anderem hatte er Schwangerschaftsabbrüche in Interviews als "Sünde" bezeichnet. Zum Festivalstart klang das dann auf einmal anders: "Ich begrüße von ganzem Herzen das Recht auf Abtreibung." Wenn schon Kehrtwende, dann mit Servolenkung: Nun also wurde der Große Preis der Jury an den Film "Never Rarely Sometimes Always" vergeben, dessen Grundhaltung unmissverständlich pro-choice ist. +Ein Anteil von 38 Prozent Regisseurinnen im Programm klingt mäßig, aber unter den prämierten Filmen gibt es Anzeichen für einen Paradigmenwechsel. Neben Eliza Hittman ("Never Rarely Sometimes Always", Kinostart: 11. Juni) erhielt im neuen Nebenwettbewerb "Encounters" die Regisseurin Sandra Wollner den Großen Preis der Jury für ihre gruselige Science-Fiction-Groteske "The Trouble with Being Born". Auch der Preis der Sektion Generation 14plus für "Meu nome é Bagdá" ging an eine Frau, die Brasilianerin Caru Alves de Souza. Mit dem Preis für die beste Regie im Wettbewerb wurde Hong Sang-Soo geehrt, der in "The Woman Who Ran" allerdings vier Darstellerinnen (und eine Katze!) ins Zentrum stellt. Der Teddy-Award für "Futur Drei" (Kinostart: 28. Mai) ist ein großer Erfolg für den Debütfilm des queer-feministischen Kollektivs Jünglinge aus Hildesheim. Aber den wohl größten Applaus und den Publikumspreis für den besten Dokumentarfilm bekam "Welcome To Chechnya": Der Film über russische Aktivisten, die in der Provinz Tschetschenien homosexuellen Menschen das Leben retten, erschien in diesem Jahr zugleich bedrückend und tröstlich. + + diff --git a/fluter/berlinale-neonazi-aussteiger-film-skin-bryon-widner-rezension.txt b/fluter/berlinale-neonazi-aussteiger-film-skin-bryon-widner-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bce4fa779ee30ffa7a486e721df8856d2179cac5 --- /dev/null +++ b/fluter/berlinale-neonazi-aussteiger-film-skin-bryon-widner-rezension.txt @@ -0,0 +1,17 @@ + +Was soll uns das sagen? +Es ist unendlich schwierig auszusteigen, wenn man einmal dabei ist. Der Spielfilm des israelischen Regisseurs Guy Nattiv erzählt von der Brutalität der Neonazi-Szene einerseits und vom inneren Gruppenzwang andererseits. Und er basiert auf der wahren Geschichte von Bryon, die allerdings angereichert wird mit ein paar dramatischen Zuspitzungen. Wer ihm letztlich hilft, eine neue Identität anzunehmen und vor seiner gewalttätigen Ex-Clique zu fliehen, ist Daryle Jenkins – auch ihn gibt es wirklich. Der Aktivist gründete den VereinOne People's Project, der die extreme Rechte in den USA seit dem Jahr 2000 beobachtet. Seit der Wahl Donald Trumps ist er ein gefragter Experte geworden. + + +Kein Filmtrailer, sondern ein Clip über den echten Bryon Widner, der schon noch ganz gut tätowiert ist, aber eben nicht mehr mit rassistischen Symbolen im Gesicht. + +Wie wird's erzählt? +Ziemlich schmerzhaft. Den erzählerischen Rahmen bilden die 25 Sitzungen innerhalb von 612 Tagen, bei denen Bryon sich die zahllosen Tätowierungen entfernen lässt. Immer wieder sehen wir in extremen Close-ups, wie der Laser die Tinte auf der Haut wegbrennt. Die Leiden, die diese im Film auch metaphorische Prozedur mitbringt, quälen einen auf dem Kinositz. Auch sonst lässt der Film praktisch keine Körperlichkeit aus. Es wird geprügelt, geschossen, gesoffen, gekotzt, gevögelt. Das Brutalste ist aber die autoritäre Enge des Vinlanders Social Club. Beeindruckend gespielt sind neben Bryon (Jamie Bell) auch Fred (Bill Camp) und Shareen (Vera Faminga) – die charismatischen, messianischen Chefs der Nazi-Truppe, von denen sich Bryon zu lösen versucht. Vor allem die manipulative Shareen, die alle "Mum" nennen müssen, scheint das Zentrum der Macht zu sein. Sie weiß, wie man Nachwuchs für die Bewegung rekrutiert. + +Schwierig +Der Film drückt ein bisschen zu sehr auf die Tube. Gerade gegen Ende setzt er zu viel auf Action. Dabei verrutschen auch mal die Maßstäbe. In einer Schlüsselszene wird Bryon auf der Flucht von seinen Nazi-Freunden überfallen, er kann sich in einen Wohnwagen retten, aber seine Peiniger schnappen seinen geliebten Rottweiler "Boss" und erhängen ihn. Die Szene wird als emotionaler Höhepunkt mit viel Geigenmusik inszeniert. Als die Neonazi-Truppe kurz vorher vier muslimische Männer ohne Aufenthaltspapiere auf einem Schrottplatz verbrennt, geht das in einem Actiongewitter aus schnellen Schnitten und Flammen unter. + +Ideal für … +… alle, die auch härteren Stoff aushalten und ein paar Einblicke haben wollen in die extreme Rechte,die in den USA seit einigen Jahren im Aufwind ist. + +Ab 3.10. im Kino. diff --git a/fluter/bertolt-brecht-der-gute-mensch-von-sezuan.txt b/fluter/bertolt-brecht-der-gute-mensch-von-sezuan.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b6fa8895e9482a92484e1e7e8cc41b78e6b43d0f --- /dev/null +++ b/fluter/bertolt-brecht-der-gute-mensch-von-sezuan.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Schon Anfang der 1930er-Jahre entstand in Berlin ein erstes Fragment – Bertolt Brecht arbeitete damals zeitgleich an einem Stück, das "Die Ware Liebe" heißen soll; es sollte darin um Prostitution gehen, die nach Ansicht Brechts ein Ergebnis der kapitalistischen Ausbeutungslogik ist. 1938 bis 1940 dann stellte er mit der Hilfe von Ruth Berlau und Margarete Steffin "Sezuan" im schwedischen Exil fertig, 1943 wurde es uraufgeführt. Doch Zeit seines Lebens fand der Autor, dass "Der gute Mensch von Sezuan" etwas Unfertiges habe. Wie heißt es darin so schön am Schluss: "Wir stehen selbst enttäuscht und sehen betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen." +Dieser zauderliche Umgang mit seinem Stück hat gute Gründe: Obschon "Der gute Mensch von Sezuan" geradezu beispielhaft zeigt, wie Brecht sich das so genannte "epische Theater" vorgestellt hat, kommt das Stück zu keiner Lösung – die Zuschauer/innen selbst müssen eine finden. Die berühmten letzten Sätze lassen das Publikum aber mit dem Problem allein, demselben Problem, das auch Brecht mit seinem Stück hatte: "Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach. / Sie selber dächten auf der Stelle nach / Auf welche Weis dem guten Menschen man / Zu einem guten Ende helfen kann. / Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss! / Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!". +Doch zunächst einmal zum Inhalt des Stückes. Drei Götter wandeln auf der Erde und suchen wenigstens einen Menschen, der gut ist und Gutes tut. "Die Welt kann bleiben, wie sie ist, wenn genügend gute Menschen gefunden werden." Der arme Wasserträger Wang führt sie zu der Prostituierten Shen Te, die ihretwegen einen Freier abweist, um den Göttern ein Obdach zu bieten. Am nächsten Morgen überreichen die Götter Shen Te, bevor sie weiterziehen, eine große Summe in Silberdollars, zum Dank. Shen Te kann aufhören, sich zu prostituieren, und kauft sich einen Tabakladen. +Nun versucht sie, Gutes zu tun. Sie füttert die Armen, gibt ihnen Obdach, lässt sich sogar bestehlen. Denn die, denen sie Gutes tut, danken es ihr nicht, sondern wollen immer noch mehr. Brecht demonstriert in dieser Szene sehr genau, wie unsolidarisch die Armen werden, wenn es um das nackte Überleben geht. Da sich Shen Te bald nicht mehr helfen kann, erfindet sie einen Vetter namens Shui Ta. Sie verkleidet sich als Shui Ta und kann, in der Verkleidung, jene Härte an den Tag legen, die es braucht, um im Kapitalismus Erfolg zu haben. Shui Ta ist nicht als Wohltäter bekannt; er muss nichts Gutes tun. Als Mann Shui Ta entdeckt sie die Schurkigkeit des arbeitslosen Fliegers Yang Sun, während sie als Shen Te den Flieger liebt und vor lauter Liebe sein berechnendes Wesen nicht sehen will. +Doch irgendwann verdrängt der Shui Ta in ihr die Shen Te fast vollständig. Shen Te nämlich ist schwanger und fürchtet, dass auch ihr Kind in Armut aufwachsen muss. Sie tritt daher beinahe nur noch verkleidet auf und schafft es dank großer Rücksichtslosigkeit, eine Tabakfabrik zu gründen und zu betreiben, obwohl sie als Shen Te bereits beinahe ruiniert war. Doch die Bewohner/innen Sezuans, die von der Gutmütigkeit Shen Tes profitiert haben, glauben nun, Shui Ta habe Shen Te ermordet. Bei dem anschließenden Gerichtsprozess kommt alles heraus. +Shen Te/Shui Ta klagt schließlich die Götter an, die Menschen zwingen, Gutes zu tun, doch eine Welt geschaffen haben, in der man für Gutes nicht belohnt wird: "Euer einstiger Befehl / Gut zu sein und doch zu leben / Zerriss mich wie ein Blitz in zwei Hälften. Ich / weiß nicht, wie es kam: Gut sein zu anderen / Und zu mir konnte ich nicht zugleich." Die Götter aber, die froh sind, mit Shen Te wenigstens einen guten Menschen auf Erden gefunden zu haben, entschwinden: "Leider können wir nicht bleiben / Mehr als eine flüchtige Stund: / Lang besehn, ihn zu beschreiben / Schwände hin der schöne Fund." +Brecht thematisiert in seinem Stück die Unmöglichkeit, in kapitalistischen Verhältnissen ein guter Mensch zu bleiben. Und zeigt zugleich, dass die Armen, teils durch ihre Armut gezwungen, aber auch aus Gier, denen, die ihnen helfen, ihren Wohltätern/innen zur Plage werden. Shen Te gibt täglich mehrere Schüsseln Reis aus, aber die Armen essen, ohne zu danken, ja, sie beschweren sich noch. Ihr Alter Ego Shui Ta folgert daher richtig: "Gute Taten, das bedeutet Ruin!"Alle Nutznießer/innen der Gutmütigkeit von Shen Te versuchen, möglichst viel von dem, was Shen Te vergibt, zu bekommen, und nehmen dabei keine Rücksicht auf deren finanzielle Verhältnisse. Ja, sie stürzen ganz unsolidarisch und rücksichtslos ihre hilfsbereite Nachbarin in den Ruin, ohne darüber nachzudenken, dass ihre Gönnerin ihnen ja nicht mehr nutzt, wenn sie ruiniert ist. So sehr sind die Armen mit dem Hunger und anderen Folgen ihrer Armut beschäftigt und so sehr sind sie von Neid und Missgunst zerfressen, dass es ihnen nicht gelingt, Shen Te bei ihrer Arbeit zu unterstützen.Shui Ta hingegen, der eine Fabrik begründet und die Armen darin rücksichtslos ausbeutet, ist zwar unbeliebt, aber allseits respektiert. Daher, so scheint Brecht sagen zu wollen, müssen die Armen arm bleiben und weiterhin auf gute Menschen hoffen – "Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!" –, die man dann aber wieder genauso behandeln wird wie die gutherzige Shen Te. Es ist ein selbst erwähltes Schicksal, ein selbst erwähltes Verbleiben im Elend.Hier könnte man auch einen Brechtschen Seitenhieb auf Kirchen und andere Institutionen sehen, die zwar das Gutsein predigen, aber keine gesellschaftlichen Verhältnisse aufbauen wollen, in denen das Gutsein gut möglich ist. Doch, wie gesagt: Die Lösung müssen wir, die Zuschauer/innen oder Leser/innen, uns selbst geben. Brecht hilft uns mit seinem epischen Theaterstück dabei, indem er uns nicht hilft. +Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan (Suhrkamp Verlag 1964, 5.50 €)Jörg Sundermeier lebt als Autor und Verleger in Berlin. diff --git a/fluter/beruehmte-tiere-geschichte.txt b/fluter/beruehmte-tiere-geschichte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/berufe-in-der-politik-arbeiten-bei-einer-ngo.txt b/fluter/berufe-in-der-politik-arbeiten-bei-einer-ngo.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..324fbcab1c90384fdb9c81a544f4f100ca22778b --- /dev/null +++ b/fluter/berufe-in-der-politik-arbeiten-bei-einer-ngo.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Arbeiten bei einer NGO – wie geht das? +Wer inhaltlich arbeitet, hat klassischerweise ein Studium der Gesellschaftswissenschaften absolviert, also Politik, Geschichte oder Ähnliches. Doch gerade bei großen NGOs gibt es viele verschiedene Aufgabenbereiche wie Öffentlichkeitsarbeit, Buchhaltung, Marketing und IT: Bei abgeordnetenwatch.de beispielsweise arbeiten Informatiker an der Entwicklung von Tools und an der Weiterentwicklung der Seite. Der typische Weg zu Organisationen wie abgeordnetenwatch.de führt über ein Praktikum im Studium. Wenn Bedarf besteht, gibt es vielleicht im Anschluss eine studentische Mitarbeiterstelle. Wichtig: Kontakte zu den Organisationen knüpfen und dranbleiben. +Was verdiene ich da? +Das Gehaltsniveau bei NGOs ist nicht immer, aber häufig niedriger als in der freien Wirtschaft und im öffentlichen Dienst. Bei abgeordnetenwatch.de verdient ein Mitarbeiter mit einer 35-Stunden-Woche etwa 3.100 Euro brutto im Monat. Studentische Mitarbeiter verdienen 10 Euro, freie Mitarbeiter 17 bis 20 Euro brutto pro Stunde. +Mein Schwerpunkt bei abgeordnetenwatch.de ist derzeit der Gesetzentwurf für ein Lobbyregister. Wir möchten geheimen Lobbyismus abschaffen, weil wir darin eine große Gefahr für die Demokratie sehen. Ein wesentlicher Baustein dazu ist ein verpflichtendes Register, in das sich alle Lobbyisten eintragen und Angaben zu ihren Auftraggebern, ihren Zielen und ihrer Finanzierung machen müssen. +Anfang des Jahres haben wir beschlossen, dass wir nicht nur abstrakte Forderungen in den Raum werfen möchten. Deshalb haben wir einen Gesetzentwurf ausgearbeitet. Ziel ist, zu definieren, welchen legalen Lobbyismus es geben soll und welche Formen des Lobbyismus illegal würden. +In der Vorbereitung habe ich mir existierende Vorschläge für ein Lobbyregister angesehen, Einschätzungen durchgelesen und begonnen, selbst Punkte zu definieren, die unser Gesetzentwurf beinhalten soll. Gleichzeitig organisiere ich die Abstimmung mit dem Verein LobbyControl, mit dem wir das Gesetz zusammen erarbeiten. Wir besprechen unsere Forderungen miteinander und arbeiten sie gemeinsam aus. Nun bin ich kein Jurist, deshalb habe ich unsere Anwältin ins Boot geholt, damit sie mich beim Gesetzestext unterstützt. +Für das Ergebnis haben wir eine Internetseite erstellt, auf der jeder den Text einsehen und kommentieren kann:lobbyregister.org. Das Transparenzgebot gilt schließlich auch für unsere eigene Arbeit. Als nächster Schritt steht nun eine Überarbeitung des Gesetzentwurfs an, bei dem eingegangene Kommentare berücksichtigt werden. Dann übergeben wir den fertigen Entwurf an den Bundestag. +Was, wie ich finde, bei abgeordnetenwatch.de außergewöhnlich ist, ist die gute Arbeitsatmosphäre. Das Arbeiten im Team funktioniert hier sehr gut, weil alle an einem Strang ziehen. Alle haben Lust, etwas zu erreichen, das ergibt eine gute Dynamik. Außerdem haben wir flache Hierarchien, wichtige Entscheidungen treffen wir im Team. Es geht allen darum, die selbstbestimmte Gesellschaft zu stärken, die eine gut funktionierende Demokratie benötigt. +Wenn es hier überhaupt etwas gibt, was mich ein wenig nervt, ist es, dass wir oft sehr dicke Bretter bohren müssen, um politisch etwas zu bewegen. Aber ich bin ein ausgeglichener Mensch und froh, dass es bei uns um Lösungen und gemeinsame Ziele geht, auch wenn wir es mit dicken Brettern zu tun haben. +Roman Ebener arbeitet seit August 2011 bei abgeordnetenwatch.de + diff --git a/fluter/berufsverbot-frauen-russland.txt b/fluter/berufsverbot-frauen-russland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8f24aae0c2a8cd6a98ec711ee9ae37358f0ee0a3 --- /dev/null +++ b/fluter/berufsverbot-frauen-russland.txt @@ -0,0 +1,46 @@ + + +Jewgenija Markowa, 36, Fernfahrerin aus Moskau +"Ich wollte schon als Mädchen Fernfahrerin werden, Autofahren habe ich immer geliebt. Als ich die Schule beendet habe, war das aussichtslos: Mädchen wurden nicht mal zur Ausbildung zugelassen. Ich machte zwei Universitätsabschlüsse, wurde IT-Spezialistin, arbeitete bei dem Softwareunternehmen Kaspersky. Meinen Traum habe ich aber nie aufgegeben. +Mir wurde klar, dass wir Frauen nicht von Männern oder Arbeitgebern diskriminiert werden, sondern von einem System, das an einem gestrigen Berufsverbot festhält. 2017 engagierte ich mich mit anderen Frauen für die Aufhebung des Verbots. Damals gab es in Russland etwa 20 Fernfahrerinnen. Wir drehten Aufklärungsvideos, traten im Europäischen Parlament und auf einer OSZE-Konferenz in Warschau auf. Heute machen meinen Job ein paar Hundert Frauen in Russland. +Ich fahre seit vier Jahren Lkws, Sattelschlepper und Sattelauflieger und arbeite auf Rotationsbasis: 40 Tage unterwegs, 20 Tage frei und wieder von vorn. Meist fahre ichLebensmittel, Fertigwaren, Post, manchmal Blumen. +Meine Lieblingsroute ist die Transsib-Strecke zwischen Kultuk und Ulan-Ude. Die Serpentinenstraße führt hinauf in die Berge, dann hinunter zum Baikalsee. Es ist der schönste Ort der Welt. Lkw-Fahren ist für mich Meditation. +Neulich ging mein Laster auf der Autobahn kaputt, die 30 Grad minus im Ural-Frost hat es wohl nicht verkraftet. Ich musste einen Mechaniker anrufen und einen Abschleppwagen bestellen. Die Bedingungen in Russland sind oft widrig. Aber Fernfahrten in Europa? Das ist doch ein Witz! Europa ist zu schnell vorbei, dort wechseln die Länder öfter als die einzelnen Gebiete in Russland. 500 Kilometer sind keine Fernfahrt, das ist purer Stress. Meine bisher längste Fahrt war von Sankt Petersburg nach Tschita, etwa 6.700 Kilometer." + + +Jekaterina Medwedewa, 19, Fallschirminstruktorin aus Jekaterinburg +"Mein Vater war Fallschirmjäger. Als ich klein war, hat er mir oft vom Himmel erzählt. Ich bin mit 16 zum ersten Mal und bis heute insgesamt 183-mal gesprungen. +Ich arbeite auf dem Flugplatz von Jalutorowsk, einer kleinen Stadt in Westsibirien. Dort warte ich die Fallschirmausrüstung und kümmere mich um Besucher, die sich auf einen Sprung vorbereiten. Es gibt in Russland durchaus Frauen, die beruflich Fallschirm springen, aber nur wenige. Beispielsweise Feuerwehrfrauen. Weil die hauptberufliche Brandbekämpfung aus der Luft Frauen bis heute verboten ist, gehen viele zur Freiwilligen Feuerwehr. +Ich mag alles am Fallschirmspringen: das Gefühl des freien Falls, wie schön die Erde von oben aussieht. Es hebt die Stimmung, gibt mir Kraft. Brenzlige Situationen habe ich selten erlebt. Einmal öffnete sich mein Fallschirm im Flugzeug, ein anderes Mal bin ich in einer Birke gelandet. Es herrschte starker Wind, und ich wiege nur 46 Kilo. Am Ende ging alles gut. Ich hielt mich am Schirm fest, kletterte hinunter. Der Baum wurde danach gefällt." + + +Dariya Kamenskaya, 30, Inhaberin einer Autowerkstatt, Moskau +"Ich komme aus einer Akademikerfamilie. Meine Mutter ist Künstlerin, ich bin studierte Kinderpsychologin, in einem In-Viertel von Moskau groß geworden. Mit anderen Worten: Ich war ein typisches College-Mädchen. +Bis ich mit meinem ersten Auto, einem launischen Lada Samara, ständig zur Werkstatt musste. Als der Inhaber krank wurde, bot er an, mir das Geschäft zu übergeben. Mit 22 hatte ich plötzlich eine Autowerkstatt. +Mein Autoservice heißt ‚Dasha Garage'. 90 Prozent der Kunden sind Frauen. Dass Autos ein Männerding sein sollen, ist eh Unsinn. Ich habe hier Typen, die keine Autos mit Schaltgetriebe fahren können, und Zwanzigjährige, die nur Bahnhof verstehen, wenn ich ihnen eine Reparatur erkläre. Ich biete ihnen Kurse an. Da erkläre ich, wie man ein Rad wechselt, welche Flüssigkeiten es im Auto gibt und was man bei einer Panne machen kann. Es gibt in Kfz-Berufen nichts, was nur Männer können. Klar, Räder und Autobatterien sind schwer. Aber eine Frau ist es gewohnt, ein Kind zu tragen. Warum sollte sie das nicht auch können? +Unter meiner Aufsicht arbeiten neun Männer, unter anderem mein Mann. Ich würde gerne eine Mechanikerin einstellen, aber bisher habe ich keine gefunden. Seit das Berufsverbot aufgehoben wurde, können Frauen klagen, wenn ihnen bei einem Autoservice gesagt wird, dass sie nicht eingestellt werden, weil sie ein Mädchen sind. Das wird die Branche vielleicht verändern. +Neulich war der fünfjährige Sohn einer Kundin hier. Danach hat er im Kindergarten Autowerkstatt gespielt. Da haben nur Frauen Autos repariert, er hatte ja vorher auch nur mich in der Werkstatt gesehen. Die anderen Kinder haben keine Fragen gestellt." + + +Alexandra Schkodina, 34, Industriekletterin aus Moskau +"Mein Arbeitstag beginnt mit einer Tasse Tee und der Aussicht vom Dach. Das hilft mir, mich zu konzentrieren. Der Kletterjob ist cool, aber gefährlich. Industriekletterer müssen aufmerksam sein. Vor allem wegen des Wetters: Ist die Sonne stark, trocknen die Scheiben zu schnell. Regnet es, darf ich nicht arbeiten. Eis ist eh zu gefährlich. Einmal habe ich eine Kollegin gerettet, die Probleme hatte, sich zu sichern. ‚Du warst wie eine Superheldin', hat sie gesagt. +Meist reinige ich Fenster und Fassaden. Manchmal installiere ich auch Anlagen oder repariere Elemente, die schwer zu erreichen sind. Beispielsweise im 25. Stock eines Hochhauses. Mein Job erfüllt alle meine Ansprüche: Ich will an der frischen Luft sein, körperlich arbeiten und nicht ständig von einem Chef beaufsichtigt werden. +Mein Traum ist es, eines Tages ein rein weibliches Team von Industriekletterinnen zu bilden. Bislang sind eine Kollegin und ich die einzigen Frauen in diesem Beruf, die ich kenne. Die Vorurteile klettern immer mit. Manche behaupten, dass ich nur da sei, um mich interessant zu machen, andere, dass ich durch den Job nur Männer abgreifen wolle. Die Wahrheit ist: Ich werde einfach high, wenn ich den Sonnenuntergang vom Dach aus beobachte." + + +Swetlana Medwedjewa, 35, Schiffsmechanikerin und Kapitänin aus Samara +"Nach der Schule konnte ich mich lange nicht für einen Beruf entscheiden. ‚Warum wirst du nicht Matrosin?', scherzte mein Vater. 2005 habe ich meine Ausbildung zur Schiffsführerin abgeschlossen. +Alle meine Bewerbungen danach wurden abgelehnt. Ob auf Passagier- oder Tankerschiffen, ob als Praktikantin, Matrosin, Steuerfrau oder Motorenwärterin. Da wandte ich mich an das Gericht, schrieb Abgeordneten, dem Arbeitsministerium, dem Präsidenten. Ich trat bei der Seeleutegewerkschaft auf und reichte eine Individualbeschwerde beim UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau ein. Er forderte, dass ich eine Entschädigung erhalte und dass Russland die Liste der für Frauen verbotenen Berufe überarbeitet. +Heute arbeite ich als Mechanikerin. Mein Schlepper ist sehr kompakt und fährt durch die Wolga, im Auftrag einer Ölraffinerie. Es ist ein wichtiges strategisches Projekt, mehr darf ich nicht erzählen. +Die Aufhebung des Berufsverbots ist natürlich ein Sieg für die russischen Frauen. Aber ich habe nichts gewonnen. Ich war verrückt nach dem Meer, durfte es aber nicht befahren. In der Zwischenzeit habe ich Kinder bekommen. Jetzt muss ich warten, bis sie groß sind. +Viele Kapitäne entscheiden sich immer noch für männliche Besatzungen, vor allem wegen der Belästigungen an Bord. Die sind ein ernstes Problem, besonders auf langen Fahrten. Es ist schwierig, Übergriffe zu beweisen. Wenn etwas passiert, wird die Frau bestenfalls auf ein anderes Schiff versetzt. In der Branche gibt es keine Anlaufstellen für Frauen. Die brauchen wir aber, um gegen Diskriminierung und Belästigung in der Schifffahrt anzugehen. Es lohnt sich, schließlich werden jetzt mehr Frauen eingestellt." + + +Oxana Chevalier, 46, Rettungstaucherin aus Pawlodar, lebt heute in Moskau +"Als kleines Kind war ich viel am Irtysch in Nordkasachstan. Ein wilder Fluss mit vielen Strudeln. Ich war elf, als ich ein Mädchen rausgezogen habe. Seitdem habe ich diese Leidenschaft. Wenn ich jemanden ertrinken sehe, denke ich: Du bist stark, du wirst es schaffen. +Rettungstaucherin wurde ich erst mit 35. Davor habe ich viel gemacht: Akrobatin, Lehrerin, Juristin. Beim Wasserrettungsdienst bekam ich zunächst eine Stelle als Bürokraft. Um mit zu den Suchaktionen zu dürfen, arbeitete ich jedes Wochenende als Freiwillige. Nach drei Jahren wurde meine Hartnäckigkeit belohnt: eine Anstellung als Rettungskraft, an der Krim-Brücke in Moskau. +Dort gab es immer viel zu tun. Menschen springen von der Brücke ins Wasser oder stürzen von der Böschung. Einmal habe ich sogar einen Eisbären gerettet. Er saß auf einer Eisscholle in der Mitte des Flusses, neben ihm ein Schild: "Raus aus der Arktis!" Öko-Aktivisten kommen wirklich auf seltsame Ideen. +Ob ich bisher viele Menschen wiederbeleben konnte? Ich glaube, es waren vier. Sieben Minuten bleiben einem, um einen Ertrunkenen zu finden und wiederzubeleben. Im Winter verlangsamen sich die Prozesse im Körper, also sind es mit ein bisschen Glück 20 Minuten. In der Hochsaison haben wir manchmal vier Leute pro Schicht gerettet. Die Hauptsache: Man darf nicht Gott spielen. Jeder Retter muss wissen, dass er nur ein Mensch ist. Man soll alles geben. Aber ob man Erfolg hat oder nicht, liegt nicht an einem selbst. +In ganz Russland gibt es vielleicht vier oder fünf Frauen, die als Rettungstaucherin arbeiten. Fast alle inoffiziell. Das Berufsverbot besteht eigentlich bis heute, die Änderungen im Januar haben unserem Berufsstand nichts gebracht. Im März 2017 wurde auch mir untersagt, als Rettungstaucherin zu arbeiten. Danach habe ich in Italien und Frankreich gearbeitet, mich zur Berufstaucherin ausbilden lassen und in Russland ein Ausbildungszentrum für angehende Wasserretter gegründet." + +Collagen: Renke Brandt diff --git a/fluter/besser-streiten-azubi-chef.txt b/fluter/besser-streiten-azubi-chef.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4269f90572a056cf800ef1d167b0becc51a9c97b --- /dev/null +++ b/fluter/besser-streiten-azubi-chef.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Gangolf (65): Geht mir ähnlich. Ich bin Sternzeichen Fische: sehr harmoniebedürftig. Konflikte brauchen wir bei uns im Sägewerk nicht. Wir wollen gemeinsam was schaffen. Da ist Streit eher kontraproduktiv. +Was ist für euch ein Streit? +Gangolf: Große Frage. Der eine sagt, es ist ein Konflikt, wenn man diskutiert, was es zum Abendessen geben soll. Das ist aus meiner Sicht eine Meinungsverschiedenheit. Ein Konflikt ist, wenn man gar nicht mehr auf einen Nenner kommt. Und ein Streit... +Wiebke: ...das ist etwas Persönliches. +Gangolf: Ja, das würde ich auch sagen. Ein Streit ist für mich, wenn man verbal oder sogar körperlich aufeinander losgeht. +Welche Streits kommen in eurem Betrieb auf? +Wiebke: Im Arbeitsalltag erlebe ich selten Streit. Hier reden alle offen über das, was sie stört. +Gangolf: Wirsind ein Familienunternehmen, wir duzen uns und arbeiten auf Augenhöhe miteinander. In meinem Büro steht die Tür immer offen. Ich denke, das unterscheidet uns von Konzernen. +Wiebke: Wir kommen alle aus der Gegend und treffen uns am Wochenende öfter privat. Wir haben eine stärkere Bindung zueinander. In anderen Firmen sieht man sich vielleicht nur auf der Arbeit, da nimmt man die Probleme bestimmt eher mit nach Hause. +Gangolf, wer kam zuletzt durch deine Bürotür, um ein Problem zu besprechen? +Gangolf: Zwei Angestellte, die nicht mehr miteinander auskamen. Im Gespräch habe ich bemerkt, dass der Ältere der beiden zunehmendmit der neuen Technik überfordert war. Seine Unsicherheit hatte sich schon auf die Beziehung zu seinem engsten Kollegen ausgewirkt, da konnte ich kaum sagen: "Wartet mal ab, in ein paar Wochen sieht die Welt wieder anders aus." +Wie hast du das Problem gelöst? +Gangolf: Wir haben gemeinsam entschieden, dass er innerhalb des Betriebs einen anderen Arbeitsplatz besetzt. Der Prozess ging über ein Dreivierteljahr. Aber es hat sich gelohnt. Die Lösung hat funktioniert und alle zufriedengestellt. +Wiebke, was würdest du dir von deinem Chef wünschen, wenn du einen Konflikt mit einem Kollegen hast? +Wiebke: Dasser als neutraler Berater auftritt: Er sollte beide Perspektiven anhören und versuchen, die Mitte zu finden. +Gangolf: Da sehe ich mich auch: nicht von oben herab – basta, so wird es gemacht –, sondern moderierend. +Nicht ganz leicht, wenn man mit Vorgesetzten streitet ... +Wiebke: Ich nehme es hier gar nicht so wahr, dass andere am längeren Hebel sitzen. Wenn ich mich zum Beispiel bei der Urlaubsvergabe vom Meister ungerecht behandelt fühle, würde ich ihn direkt darauf ansprechen. Und erst zum Chef gehen, wenn sich herausstellt, dass es keinen triftigen Grund für die Entscheidung gibt. + +Dieser Text istim fluter Nr. 91 "Streiten"erschienen +Gangolf: So etwas klären wir zu dritt: Gibt es objektive Gründe für die Entscheidung? Da hake ich nach. Von Leuten mit Personalverantwortung erwarte ich, dass sie unvoreingenommen sind. +Wann sind Konflikte im Unternehmen konstruktiv? +Gangolf: Wenn es um sachliche Fragen geht, bringt dich das weiter. Neulich musste an einer Maschine etwas verändert werden. Ein Mitarbeiter hat gesagt: So, wie ihr das geplant habt, ist das technisch falsch. Es fiel mir nicht leicht, aber ich habe mich überzeugen lassen. Mir ist wichtig, dass bei uns jeder zu Wort kommt und Vorschläge macht. Ich habe die Weisheit ja auch nicht mit Löffeln gefressen. +Erlebt ihr, dass Jüngere und Ältere im Betrieb unterschiedlich mit Konflikten umgehen? +Wiebke: Wir Jüngeren wollen manchmal mit dem Kopf durch die Wand und das Problem direkt lösen. Ältere denken um alle Ecken, wägen mehr ab. +Gangolf: Das sehe ich nicht so, es gibt einfach unterschiedliche Typen. Manche haben die Ruhe weg, andere eine kurze Zündschnur. Aber die Sprache unterscheidet sich: Die Jungen duzen schneller. Die sind lockerer, auch in Meinungsverschiedenheiten. diff --git a/fluter/besser-streiten-lehrerin-schuelerin.txt b/fluter/besser-streiten-lehrerin-schuelerin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c55b8a453ce63983c7ef8ad233f136e5d838d0e6 --- /dev/null +++ b/fluter/besser-streiten-lehrerin-schuelerin.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Malak (16): Das ist bei mir auch so, besonders bei nahestehenden Menschen. Bei anderen neige ich dazu, direkt in den Angriff zu gehen. Ich muss nicht jeden mögen, nicht jeder muss mich mögen. +Wie ist das, wenn du Stress mit deinen Lehrerinnen und Lehrern hast? +Malak: Kommt nicht oft vor. Aber wenn ich meine, irgendwas ist nicht fair, spreche ich es an. Bei der Notenvergabe habe ich meist das längste Gespräch: Ich will verstehen, warum ich so bewertet wurde. Einmal hatten eine Mitschülerin und ich dieselben Lösungen in einer Mathearbeit, trotzdem hatte ich eine Fünf und sie eine Vier. Der Lehrer hat sich rausgeredet, statt mir zu erklären, was falsch war. Da bin ich ein bisschen ausgetickt. +Trauen sich alle Schülerinnen und Schüler, so in den Konflikt zu gehen, Anne? +Anne: Durch das Leistungssystem, in dem die Schülerinnen und Schüler ständigbeobachtet und bewertet werden, befürchten sie Nachteile und trauen sich nicht immer. Mir ist wichtig, dass sie wissen: Wir können über Unstimmigkeiten sprechen. Ich muss nicht für alles Verständnis haben, aber offen sein für Dialog. Es dauert, dieses Vertrauensverhältnis aufzubauen. Aber wenn man es vernünftig macht, verliere ich als Lehrerin nicht das Gesicht, auch wenn ich mal etwas nicht richtig mache. +Ist es dir wichtig, von deiner Klasse als Autoritätsperson wahrgenommen zu werden? +Anne: Das System macht uns zu Autoritäten. Das müssen wir auch vermitteln. Mir geht es aber viel mehr darum, dass wir uns gegenseitig respektieren. +Malak: Lehrer sollten Autoritätspersonen sein. Wenn der Unterricht nur aus Späßen besteht und der Lehrer bei jedem Satz unterbrochen wird, nimmt man ihn irgendwann nicht mehr ernst. Aber fürchten darf man sich auch nicht. +Anne: Ein Problem mit der Autorität ist, dass ich als Lehrerin manchmal Prinzipien umsetzen muss, von denen ich selbst nicht überzeugt bin. Bei uns ist es zum Beispiel verboten, den Hof zu verlassen. Schülerinnen und Schüler, die in der Pause zur Bäckerei gegenüber laufen, muss ich verwarnen. Ich würde den Jugendlichen gern auch erlauben, freitags zu den Klimademos zu gehen. Darf ich aber nicht. Es gibt einige Regeln, die ich mir anders wünsche, an denen ich aber nicht rütteln kann. Dieses Machtverhältnis kann man nicht völlig beiseiteschieben. +Bei Konflikten innerhalb der Klasse spielt das weniger eine Rolle. Welchen Unterschied macht es, mit wem man streitet? +Malak: Wenn wir mit Lehrern streiten, geht es meist um schulische Sachen. Dabei hat man immer im Kopf, der Lehrer steht über mir, wir sind keine Kumpels. Deswegen hätte ich auch nicht gewollt, dass meine Klassenlehrerin hier mit mir im Interview sitzt. Da festigt sich vielleicht ein Bild. Bei Konflikten mit Schülern kann man sich auch mal anschnauzen, da ist man auf Augenhöhe. Aber mit Lehrern musst du vorsichtig sein. Zumindest, wenn du noch gute Noten schreiben willst. +Dieser Text istim fluter Nr. 91 "Streiten"erschienen +Wie kann man trotz des Machtgefälles gut streiten? +Malak: Wenn ein Lehrer mitbekommt, der Schüler hat Angst, ein Problem anzusprechen, sollte er mal nachfragen. Das würde vielen Schülern zeigen, dass sich etwas ändern kann, wenn man es nur anspricht. +Anne: Uns Lehrerinnen und Lehrern muss unsere Machtposition bewusst sein. Wir haben für eine gleichberechtigte Streitatmosphäre zu sorgen. Dafür müssen die Strukturen stimmen: Wenn wir einen Streit haben,holen wir eine neutrale Person dazu. Oft hat man Sorge, dass andere etwas vom Streit mitbekommen. Aber es ist nie schlecht, sich Hilfe zu holen. Das müssen wir lernen. +Malak: Wenn wir Schüler uns unfair behandelt fühlen, sollten wir trotzdem versuchen, einander zu verstehen. Lehrer sind auch nur Menschen. Das vergisst man schon mal. diff --git a/fluter/besser-streiten-mutter-tochter.txt b/fluter/besser-streiten-mutter-tochter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..103cb788ec872b000e46c585a48a162e3eb3ae3c --- /dev/null +++ b/fluter/besser-streiten-mutter-tochter.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Marie (16): Genau, wenn wir gestresst sind, schreien wir auch mal rum. Aber wir beruhigen uns auch schnell wieder. Wir können ehrlich miteinander sein. Das lockert das ganze Erziehungszeug auf. +Anja: Maries Meinung zählt genauso wie meine, auch wenn ich die Aufsichtspflicht habe. Wir haben keine Dauerkonflikte, aberunsere Triggerthemenim Alltag. +Zum Beispiel? +Anja: Ich muss Marie erinnern,im Haushalt zu helfen. Wir sind beide oft nicht zu Hause, trotzdem bleibt viel an mir hängen. Und beim Weggehen hatte sie die Angewohnheit, mir erst Bescheid zu sagen, wenn sie schon in der Tür stand. Ich möchte vorher gefragt werden. Aber nicht, weil ich die Macht will, sondern weil ich für sie verantwortlich bin. +Marie: Ich weiß ja, wo ich hingehe, und vergesse halt manchmal, dass sie das nicht weiß. Ich fand das also nicht so wichtig. Aber ich bemühe mich. Es gab auch eine Situation, da habe ich heimlich bei einer Person übernachtet, die meine Mutter noch nicht kannte. Ich hatte Megaschiss vor Mamas Reaktion und habe das zunächst nicht erzählt. Im Endeffekt haben wir dann drüber geredet. +Anja: Ich habe ihr erklärt, dass es besser ist, wenn ich die Wahrheit weiß, weil ich ihr als Mutter dann beistehen kann. +Marie: Danach war ich sehr erleichtert. +Was habt ihr durch das Streiten über euch selber und die andere gelernt? +Marie: Ich gehe manchmal aus Prinzip in den Widerstand: Ich fühle mich angegriffen, bin unsicher und will mich schützen. Das hat oft gar nichts mit dem Thema des Streits zu tun. Mittlerweile merke ich das aber schneller. +Anja: Wenn sie blockt, lass ich sie. Man lernt beim Streiten seine Verletzlichkeit kennen und die des anderen.Streiten ist wichtig, um zu wissen: Was sind meine Werte, Bedürfnisse und Grenzen? Man zeigt dem anderen, wer man ist. +Apropos wer man ist: Was sind Vorteile an eurer Rolle als Tochter beziehungsweise Mutter, und wo liegen die Herausforderungen? +Marie: Schwer zu sagen, weil ich uns auf Augenhöhe sehe. Ich kenne aber andere Familien, in denen mehr auf das Kind herabgeschaut wird, weil es ja noch ein Kind ist. Was ich mir erlauben kann, sie aber nicht: Wenn wir streiten, ist mir manchmal egal, was aus meinem Mund kommt. +Anja: Mein Vorteil als Mutter ist, dass ich aus mehr Erfahrungen schöpfen kann. Gleichzeitig habe ich eine große Verantwortung, die kann schon mal stressen: Ich will meine Sache gut machen, auch im Streit. Manchmal ist da aber eine Hilflosigkeit, bei der du denkst: Scheiße, was mach ich jetzt? +Was braucht es für einen konstruktiven Streit? +Anja: Erst mal zulassen, was ist, manchmal braucht man Zeit für sich. Sich entschuldigen, wenn es angebracht ist. Das verlangt manchmal Überwindung. Wenn danach noch was schiefhängt: aufeinander zugehen. Und dann bitte auch die Eier in der Hose haben und aushalten, was der andere einem sagt. Wenn man einander gar nicht versteht: Erklär's mir bitte anders, vielleicht anhand von einem Film? +Marie: Augenhöhe. Ehrlichkeit. Den Stolz überwinden und nicht das Ego reden lassen. Und wirklichversuchen, eine Lösung zu finden. Das sollte immer das Ziel sein. +Dieser Text istim fluter Nr. 91 "Streiten"erschienen +Anja: Humor ist auch wichtig. Wie oft sagen wir: Weißt du noch, wie du da so und so reagiert hast? Und lachen dann zusammen. +Was wünscht ihr euch von der anderen für kommende Streits? +Marie: Manchmal fragst du nach meiner Meinung und schießt direkt dagegen, wenn ich nicht antworte, was du hören willst. (Anja lacht ertappt) Obwohl du mir vertrauen kannst, dass ich es gut meine. +Anja: Ich würde mir wünschen, dass du weißt, dass ich dich never ever für schuldig halte. Wenn ich etwas kritisiere, geht es mir nie um Schuld. Mir geht es um Verantwortung. Jeder darf Fehler machen. Wenn man das versteht, ist alles halb so schlimm. diff --git a/fluter/bestetze-schulen-brasilien-doku-berlinale.txt b/fluter/bestetze-schulen-brasilien-doku-berlinale.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..78be30e8b73e70679b5383ca2581e655d55f67a0 --- /dev/null +++ b/fluter/bestetze-schulen-brasilien-doku-berlinale.txt @@ -0,0 +1,32 @@ +Die Schüler hätten ja auch demonstrieren können. +Das taten sie auch. Wie es dann genau zu den Besetzungen kam, darüber gibt es verschiedene Theorien. Eine Gruppe jedenfalls hat eine Doku auf Youtube gesehen, wo chilenische Studenten eine Uni besetzt haben. Das hielten sie für eine gute Idee, um auf die Situation aufmerksam zu machen. Die ersten Besetzungen waren spontan, dann haben es andere Schüler nachgemacht. Irgendwann waren dann 200 Schulen besetzt. +In "Espero tua (re)volta" wirkt es, als hätte da eine Generation ein politisches Erweckungserlebnis. +Ja, absolut. Das ist die erste Generation, die in der Demokratie geboren wurde, und ich glaube, das ist der Grund dafür, dass sie ihre Interessen so vehement vertraten. Sie haben damit eine Welle ausgelöst. Das Kulturministerium sollte auch viele Einrichtungen schließen. Die wurden dann von Künstlern besetzt. Die Schließungen wurden vom Präsidenten zurückgenommen. Jetzt sind sie allerdings wieder zu. +Wie lange waren die Schulen denn besetzt? +Die meisten ein bis zwei Monate, eine sogar fast drei Monate. Es war spannend, was in den Schulen in dieser Zeit passiert ist. Die Schüler haben sich selbst viel beigebracht und ihre Rollen überdacht. In Brasilien sind es immer die Frauen, die kochen und sauber machen. So war das in den besetzten Schulen am Anfang auch. Die Jungs haben die Kommunikation und die Sicherheit organisiert, die Mädchen gekocht und geputzt. Das haben die dann besprochen und umgedreht. Es wurde viel debattiert, wie man miteinander umgehen soll. +Die Doku besteht zu großen Teilen aus Aufnahmen, die die Schüler selbst gemacht haben. Man sieht, wie die Polizei mit Gewalt gegen die Kinder vorgegangen ist. +Unsere Militärdiktatur ging 1985 zu Ende. Ein Erbe dieser Zeit ist die Macht der Militärpolizei. Da herrscht noch die Mentalität der Diktatur, das hat sich nicht geändert. Das Bedrückende ist, dass die Polizei in eher reichen Gegenden so aggressiv vorging. Was machen die dann erst in den armen Gegenden, wo sie niemand filmt? Brasilien gehört zu den Ländern mit den meisten Todesfällen durch Polizeigewalt. Und das wird sicher nicht weniger werden. Unser neuer Präsident hat die Rechte der Polizei gerade noch gestärkt. +Die Schüler haben nicht nur Solidarität aus der Bevölkerung bekommen. +Ein Teil der Gesellschaft war sehr unterstützend. Manche, berühmte Lehrer und Künstler, kamen in den besetzten Schulen vorbei. Andere spendeten Matratzen, Essen, Kleidung – was auch immer gebraucht wurde. Auch auf den Straßen wurden die Schüler gegen die Polizeibrutalität verteidigt. Es gab aber auch viele, die in den Schülern Vandalen gesehen und das Vorgehen der Polizei verteidigt haben. Wie die Gesellschaft mit ihnen umgegangen ist, zeigt die Zerrissenheit unseres Landes im Kleinen. +Wie denken die Schüler aus dem Film denn über die aktuelle politische Entwicklung? +Viele sind bereit zu protestieren. Sie sind aufgewachsen in einer Zeit des sozialen Fortschritts, der jetzt gefährdet ist. Sie wollen kämpfen. Aber auch die Polizei ist radikaler geworden. Die Besetzungen haben aufgehört, weil sich die Gesetze geändert haben. Es ist jetzt viel gefährlicher für die Besetzer, denn die Polizei darf jetzt ohne richterliche Anordnung räumen. Es gibt mehr Druck auf soziale Bewegungen. Jair Bolsonaro hat ja Folter und Tötung als politische Mittel in seinem Wahlkampf propagiert. Ich hatte auch Angst, dass ich die Schüler durch meinen Film in Gefahr bringe. Ich habe mit ihnen gesprochen und das diskutiert, sie waren aber der Meinung: Wir müssen das zeigen, es ist wichtiger denn je. +(fx) +Du willst auch zum Film? Hier geben Dir Profis Tipps, wie Du den Einstieg schaffst und was Dich erwartet. + +… sind viele Mädchen und Frauen in den Filmen der diesjährigen Berlinale. Sie nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand, kämpfen gegen Widerstände und wachsen über sich hinaus. Diese hier haben uns besonders begeistert + + + + +Beauty, Natalie und Poppie aus "Flatland" (Jenna Bass) +Es wird scharf geschossen in diesem nicht ganz typischen Bonnie-und-Clyde-Roadmovie, das auf den staubigen Landstraßen Südafrikas spielt: von Beauty, der supercoolen Polizistin, deren Verlobter seit 15 Jahren im Gefängnis sitzt. Nur die Liebe zu ihm bringt sie zeitweise aus dem Konzept. Und von Natalie, die in ihrer Hochzeitsnacht vergewaltigt wird und kurz darauf einen weiteren Peiniger erschießt. Und dann ist da noch Poppie, beste Freundin und Ziehschwester von Natalie, 16 und hochschwanger von einem unsteten Trucker, der sich prompt an Natalie ranmacht. Auf der Flucht vor der Polizei, also vor Beauty, werden die Freundinnen mit Diskriminierung konfrontiert, mit unerfüllten Träumen und verbotenem Verlangen. Beauty, Natalie und Poppie sind den Männern in diesem Film auf jeder Ebene überlegen – sei es moralisch, sei es, weil sie Mut beweisen, weil sie sich nicht unterdrücken lassen und für ihre Freiheit, ihre Liebe und ihre Freundschaft kämpfen. + + +Peipei aus "The Crossing" (Bai Xue) +Die 16-jährige Peipei pendelt täglich in der Transitzone der Grenzmetropolen Hongkong und Shenzhen zur Schule. Zu Hause ist sie nirgends so richtig. Das liegt nicht nur an der Wohnsituation, denn Peipei ist vor allem auf der Suche nach der Unabhängigkeit, die das Erwachsensein verspricht. Für den lang ersehnten Japan-Urlaub mit ihrer besten Freundin braucht sie Geld, und das will sie sich endlich selbst verdienen. Durch Zufall ist sie plötzlich Teil einer Bande, die die neuesten iPhone-Modelle, aber auch Waffenattrappen über die Grenze schmuggelt. Der Reiz des Verbotenen und der Drang, sich zu beweisen, lassen Peipei zu der werden, die sie sein will: cool, selbstständig, erwachsen. Sie überschreitet nicht nur eine räumliche Grenze, sondern auch eine ganz persönliche. Tatsächlich ist der Grenzübergang für das Schmuggeln von Elektrogeräten und Luxusgütern berüchtigt. Letztes Jahr fiel den Zöllnern eine Frau auf, deren Kleidung sich merkwürdig ausbeulte –sie hatte darunter 102 iPhones und 15 Luxusuhren versteckt. +Benni aus "Systemsprenger" (Nora Fingscheidt) +… heißt eigentlich Bernadette, doch diesen Namen hasst sie. Mit ihren Wutausbrüchen jagt die Neunjährige nicht nur den Nachbarjungs Angst ein, auch ihre Mutter ist mit dem unberechenbaren Mädchen überfordert. Bald will keine Einrichtung Benni mehr aufnehmen, nirgendwo kann sie ankommen, und so rutscht sie immer tiefer in eine Spirale aus Wut und Verlustängsten. Dabei will sie eigentlich nur zurück zu Mama. Zwei Dinge sind an diesem Film besonders. Erstens, dass die Bezeichnung "Systemsprenger" tatsächlich für Kinder wie Benni benutzt wird. Ein solcher Fall begegnete der Regisseurin bei der Recherche. Den Begriff selbst findet sie schwierig, denn das Problem seien nicht die Kinder, wie man annehmen könne. Stattdessen habe das System es nicht geschafft, den Kindern ein stabiles Zuhause zu geben. Zweitens die elfjährige Helena Zengel. Ihre Benni lässt keinen Zuschauer kalt. Sie zeigt die Verzweiflung, aber immer wieder auch die Hoffnung einer kleinen großen Kämpferin. + +"Goldie" (Sam de Jong) +… muss von jetzt auf gleich erwachsen werden. Sie ist gerade 18 geworden, da wird ihre Mutter verhaftet, und Goldie steht mit den zwei jüngeren Schwestern alleine da. Die neue Situation bringt sie an ihre Grenzen. Auch ihr persönliches Glück – der Traum, als Tänzerin in einem Musikvideo groß rauszukommen – muss erst mal warten. Sie jagt Tag und Nacht durch die Stadt, hin- und hergerissen zwischen dem, was vernünftig und letztlich unvermeidlich ist – die Unterbringung ihrer Schwestern in einer Pflegefamilie –, und dem verzweifelten Versuch, doch noch selbst eine Lösung zu finden, um die Familie zusammenzuhalten. Dabei steht ihr vor allem der eigene Stolz im Weg. Und obwohl der Musikvideo-Dreh in einem Desaster endet, ist man sich irgendwie sicher, dass Goldie immer ihr Ding durchziehen wird, so grandios spielt die erst 22-jährige Slick Woods diese Rolle. Da mag auch daran liegen, dass sie mit ihrer Rolle einiges gemein hat: Auch ihre Mutter sitzt im Gefängnis. Woods war sogar kurze Zeit obdachlos bevor sie entdeckt und Rihannas Muse wurde. Im letzten September wurde Slick Woods Mutter eines Sohns. +(sa) diff --git a/fluter/besuch-bei-der-gefaengnis-leitung-oldenburg.txt b/fluter/besuch-bei-der-gefaengnis-leitung-oldenburg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b7a4aa0367b12825fc558844a8b7cef5da9f0f58 --- /dev/null +++ b/fluter/besuch-bei-der-gefaengnis-leitung-oldenburg.txt @@ -0,0 +1,22 @@ + +Was machen Inhaftierte eigentlich den ganzen Tag? Müssen sie arbeiten, dürfen sie surfen?Hier geht's zum FAQ +Anna Abraham ist 41 Jahre alt. Zusammen mit vier anderen leitet sie die Anstalt. Viele der 300 inhaftiertenMänner sitzen wegen Mordes, Sexualverbrechen oder Kindesmissbrauchs ein. Auch Niels Högel, der als Krankenpfleger mindestens 100 Menschen getötet haben soll, ist hier in Haft. Manche nennen die JVA Oldenburg das "Alcatraz des Nordens", weil es so gut wie unmöglich ist, daraus auszubrechen. Nur ein Mal ist es gelungen, da hatte ein Wärter einen Gefangenen im Wäschewagen rausgeschmuggelt. "‚Unerlaubten begleiteten Ausgang' nennen das manche Kollegen", erzählt Abraham. Mitlachen möchte sie über solche Beamtenwitze nicht. +Abraham wusste schon früh, dass sie diesen Job machen will. Mit zwölf las sie ein Buch über jugendliche Straftäter. Wie so viele Krimis endete auch dieser mit dem Richterspruch. Damals fragte sie sich: Und was passiert nun mit den Verurteilten? Welches Leben erwartet sie hinter Gittern? Als Jurastudentin dann arbeitete Abraham ehrenamtlich in einem Jugendgefängnis und ärgerte sich darüber, dass die Straftäter dort meistens 23 Stunden am Tag alleine in ihrer Zelle sitzen mussten. +Haben leicht watscheln: Die Gefängnisenten müssen sich nur eine Stunde am Tag den Hof mit den Inhaftierten teilen + +In der JVA Oldenburg ist das anders. Die Boulevardpresse nennt sie gern "Kuschelknast". Als der ehemalige Leiter, Gerd Koop, mit der Konzeption des im Januar 2001 in Betrieb genommenen Gefängnisses beauftragt wurde, setzte er sich mit Wärtern und Gefangenen zusammen. Viele ihrer Ideen flossen in die Baupläne ein. Heute wohnen die Insassen auf ihren Stationen wie in WGs zusammen – mit eigener Küche, Billardtischen und Duschräumen. Nur nachts werden sie in ihre Zellen gesperrt. +Abraham führt durch die Anstalt. Ihr lang gezogenes "Moin!" schallt durch die Flure und als Echo aus jedem Winkel der Anstalt wieder zurück. Der Soundtrack des Gefängnisrundgangs: Egal ob Wärter oder Insasse, alle grüßen sich hier ständig. Und überall riecht es penetrant nach Putzmittel – ein Gefängnis, so hygienisch wie ein Krankenhaus und so karg wie ein Schullandheim. Zwei Häftlinge säubern die Gitterstäbe, eine Putzkolonne schiebt ihren Wagen den Flur entlang, ein Gefangener wienert den bereits glänzenden Linoleumboden. Arbeit, die nur dazu da ist, Beschäftigung zu schaffen – und zu erziehen. +Früher baute man Gefängnisse, um Rache und Vergeltung zu üben. Die Körper der Gefangenen wurden gefoltert, eingesperrt, bestraft. Auch heute ist der Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten ein wichtiges Ziel der Freiheitsstrafe. In erster Linie geht es aber um Erziehung und Disziplinierung, darum, später ein sozial verantwortliches Leben führen zu können. Wer erwachsen ist, hat seine Sozialisation normalerweise abgeschlossen. Er weiß dann, wie er am liebsten Konflikte löst, Geld verdient, Gabel und Messer benutzt. Hier, hinter Gittern – und für die JVA Oldenburg gilt das ganz besonders –, wird man zum zweiten Mal erzogen: richtig putzen, richtig essen, höflich sein. Wer das kann, genießt in der Haft viele Privilegien. Er kann sie aber auch schnell wieder verlieren. + +Oberste Tugend in der JVA: Sauberkeit. Erst, wenn das Linoleum glänzt wie Parkett, ist genug gebohnert + +"So wie zum Beispiel der Pendler", sagt Abraham und meint damit einen Inhaftierten, mit dem sie gerade einen Termin hatte. Der Pendler lässt immer wieder sein Bettlaken aus dem Fenster hängen, um Gegenstände zwischen den Zellen hin- und herzutransportieren. Abraham sagt nicht, was für welche, aber um Gummibärchen handelt es sich wahrscheinlich nicht. Jetzt hat der Häftling eine Disziplinarstrafe bekommen: Für zwei Wochen muss er auf seinem Zimmer bleiben und darf bei den Gemeinschaftsaktivitäten am Abend nicht mitmachen. +Abrahams Job erinnert an den einer Schuldirektorin. Die Gefängnisleitung entscheidet über "Maßnahmen" und "Strafen", legt eine Hausordnung fest. Sie ist es, die zusammen mit Psychologen die Haftbedingungen der besonders schweren Fälle wie Mord und Sexualverbrechen bestimmt. Zweimal im Jahr sitzt die Gruppe wie bei einer Zeugniskonferenz am Schuljahresende zusammen. Auch der Gefangene ist dabei. Zusammen beraten sie über den weiteren Verlauf seiner Haft. Am Ende steht ein Plan mitArbeits- und Ausbildungsstellen, Therapien oder möglichen Lockerungen des Vollzugs. +In Abrahams Erläuterungen fallen Fachbegriffe, die man erst mal googeln muss, aber auch Wörter wie "krass" und "geil". Wenn sie ihre Leine zeigt zum Beispiel: Wer hier arbeitet, trägt immer ein kleines Gerät bei sich. Im Notfall, wenn Gefangene übergriffig werden oder es einen Selbstmordversuch gab, löst eine kleine Schnur am Gürtel den Ausnahmezustand aus. Das sei schon krass, sagt Abraham. Dann fangen hier alle an zu rennen! + +Mit der Begrenztheit des Raumes wächst die Fantasie: Nach der Arbeit wird in der JVA Oldenburg getöpfert und gemalt + +In Notsituationen trifft sich das Kernteam zur Lagebesprechung im Herzstück des Gefängnisses: der Sicherheitszentrale. Tag und Nacht werden hier die Kamerabilder aus jedem Winkel des Gefängnisses ausgewertet. Nur in den Zellen und Duschräumen gibt es keine Überwachung. In der JVA Oldenburg werde die Leine aber nur sehr selten gerissen, sagt Abraham; das Gefängnis hat eine der geringsten Gewaltquoten in Deutschland. +Zur Vorbereitung muss Abraham die Akten der "richtig harten Fälle" lesen, von Straftätern, die Kinder missbraucht haben zum Beispiel. Detailliert werden darin die Taten beschrieben. Um diese Szenen zu vergessen, hilft der Mutter von drei Söhnen: das Fenster öffnen. Oder ins Nebenzimmer gehen und laut "Scheiße" schreien. Und wenn sie dann in einer Sprechstunde einem solchen Häftling gegenübersitzt, der eine Hafterleichterung fordert? "Dann ist es natürlich eine Herausforderung, ruhig zu bleiben", sagt Abraham. Du Idiot kriegst hier gar nichts! Besinn dich mal darauf, was du getan hast, schieße es ihr dann durch den Kopf. Aussprechen würde sie solche Gedanken natürlich niemals. Egal welche Fehler ein Mensch begangen hat, in diesem Gefängnis werde jeder gleich behandelt. +Heute reicht Abrahams kurze Mittagspause nur für einen schnellen Imbiss beim "Berlin Döner", draußen an der Ausfallstraße, die das Gefängnis mit der Innenstadt verbindet: trostloser Vorstadtcharme aus Discountern, Autowerkstätten, Versicherungsbüros. Über dem Falafelteller erzählt Abraham schließlich von einem psychologischen Experiment, das großen Einfluss auf ihre Berufswahl hatte. Um nicht zu sagen: vondempsychologischen Experiment. +1971 ließ ein Forscher zehn Studenten im Keller der Stanford University einsperren und von elf anderen Studenten bewachen. Nach sechs Tagen musste der Versuch abgebrochen werden, die Situation war komplett außer Kontrolle geraten: Die Wärtergruppe hatte sich in einen Zirkel aus Gewalt und Sadismus hineingesteigert, die "Gefangenen" gedemütigt und bestraft. "Damit das nicht im echten Leben geschieht, ist es so wichtig, dass die richtigen Menschen das totalitäre System Gefängnis leiten." Das seien Personen mit wenig Machtanspruch, wenig Selbstverliebtheit und einem guten Menschenbild. Als hätte sie sich soeben selbst beschrieben. diff --git a/fluter/betreutes-wohnen-statt-gefaengnis.txt b/fluter/betreutes-wohnen-statt-gefaengnis.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d64ca6c4c5661ccbebdfdb771f0eea0428931b35 --- /dev/null +++ b/fluter/betreutes-wohnen-statt-gefaengnis.txt @@ -0,0 +1,32 @@ +RESCALED ist eine Organisation, die sich dafür einsetzt, dass Gefängnisse durch betreute Wohnhäuser ("small-scale detention houses") ersetzt werden. Konkret setzt sich RESCALED aus Partnerorganisationen in verschiedenen Ländern zusammen, darunter NGOs, Universitäten und Agenturen. Sie finanziert sich durch Mittel der Europäischen Kommission, Erasmus Plus sowie durch private Mittel. +Gibt es Straftaten wie Gewalt- oder Sexualdelikte, die zu einem Ausschluss von diesem System führen? +Veronique Aicha: Nein. Allerdings, wie gesagt: Die Häuser sind an die Bedürfnisse der Menschen angepasst, die dort leben. Sie befinden sich auch an unterschiedlichen Standorten in ihren Gemeinden. +Für Straftaten verurteilte Menschen, die einem einen Kaffee servieren: Viele können sich das vermutlich nicht vorstellen. +De Vos: Das liegt vor allem daran, dass unsere Vorstellung voninhaftierten Menschen von amerikanischen Filmenund Darstellungen prominenter Fälle aus den Medien geprägt ist. Wir überschätzen daher, wie viele Sicherheitsmaßnahmen für Menschen, die eine Straftat begangen haben, wirklich notwendig sind. Zahlreiche Beispiele aus bereits existierenden Wohnhäusern belegen, dass gewisse Freiräume Menschen darin unterstützen, Verantwortung zu übernehmen und ihr Leben zu verändern. +Aicha: Zudem haben wir gelernt zu glauben, dass Gefängnisstrafen zu Gerechtigkeit führen. Das ist eine sehr bequeme Vorstellung. Hinter Mauern sehen wir das Problem nicht mehr und denken, dass es gelöst ist. Doch so einfach ist das nicht. +Warum nicht? +De Vos: Gesellschaftliche Erwartungen an Gefängnisse entsprechen nicht der Realität. Wir erwarten, dass Menschen sich in Gefängnissen positiv verändern, Opfer entschädigen, einen Job aufnehmen, ihre Verantwortungen als Eltern oder Partner*innen wahrnehmen und sich resozialisieren. Doch in der Realität gibt es in Gefängnissen viele Spannungen, Gewalt und Drogen. In solch einem Klima können Menschen sich nicht auf die Zukunft und Wiedergutmachung konzentrieren. Sie konzentrieren sich stattdessen darauf, dieses Klima zu überleben. +Aicha: Gefängnisse brechen deine Autonomie. Du darfst oft nicht kochen, nicht entscheiden, welche Arbeit du verrichten willst. Gleichzeitig wirst du von der Gesellschaft isoliert, bist auf dich allein gestellt. Und sobald du aus dem Gefängnis entlassen wirst, wird von dir erwartet, dass du dein Leben komplett selbst in die Hand nimmst. Das funktioniert nicht. Wenn wir wollen, dass Menschen ihren Platz in der Gesellschaft wiederfinden, müssen wir sie dazu befähigen und nicht nur bestrafen. +Helene De Vos ist Geschäftsführerin von RESCALED, Veronique Aicha ist Leiterin der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit und soziale Auswirkungen sowie der niederländischen Fraktion von RESCALED. +Inwiefern werden Menschen in betreuten Wohnhäusern dazu befähigt? +Aicha: In großen Gefängnissen gelten Menschen als Akten mit Problemen. Es ist einfach, Akten wegzusperren. Doch in betreuten Wohnhäusern nehmen wir sie als Menschen mit Namen, mit Gesichtern, Familien und Geschichten wahr. Der Umgang miteinander ist viel persönlicher. +De Vos: Statt nur zu bestrafen und zu isolieren, befähigen wir Bewohner*innen, eine Rolle in der Gesellschaft zu übernehmen. Sie arbeiten gemeinsam mit Sozialarbeiter*innen daran, ein Netzwerk aufzubauen, Kontakt zu ihrer Familie wiederherzustellen oder Arbeit zu finden. +Gefängnisse haben oft hohe Rückfallquoten. Ob diese in betreuten Wohnhäusern geringer sind, ist nicht klar. Vergleichende Studien gibt es nur wenige, und wenn es sie gibt, sind die Ergebnisse oft nicht aussagekräftig. Woran liegt das? +De Vos: Im Allgemeinen geht man davon aus, dass die Rückfallquoten in den derzeitigen kleinen Haftanstalten niedriger sind, was jedoch zum Teil darauf zurückzuführen ist, dass die Bewohner*innen in der Regel hochmotiviert sind. Rückfälligkeit kann daher nicht als fairer Maßstab für einen Vergleich zwischen den derzeitigen kleinen Hafteinrichtungen und den Gefängnissen herangezogen werden. +Aktuell seid ihr in neun Ländern aktiv. Wo sind betreute Wohnhäuser bereits in Betrieb? +De Vos: Wir haben gerade eine Bestandsaufnahme in allen europäischen Ländern durchgeführt und in fast jedem Land Beispiele gefunden. Sie sind die Ausnahme, doch sie existieren. Ein schönes Beispiel kommt aus Schottland. Hier gibt es sogenannte "Community Custody Units", die speziell für Frauen konzipiert sind. Sie gehen von der Beobachtung aus, dass viele Frauen im Gefängnis traumatisiert sind und dass sie einen sicheren Raum brauchen, um an sich arbeiten zu können. +Aicha: Auch in den Niederlanden, wo ich unter anderem arbeite, gibt es bereits einige betreute Wohnhäuser. Häuser für Jugendliche werden vom Justizministerium betrieben; die für Erwachsene meist von NGOs in Zusammenarbeit mit dem Ministerium. Hier kommen Menschen unter, die ihre Haftstrafe bereits abgesessen haben oder kurz davor sind, diese zu beenden. +Ihr betreibt also selbst keine betreuten Wohnhäuser, sondern übernehmt welche Aufgabe? +Aicha: Betreiber*innen von betreuten Wohnhäusern berichten uns oft davon, wie aufwendig ihre Arbeit ist. Sie fokussieren sich daher oft nur auf ein Haus und weiten ihre Arbeit lange Zeit aus. Hier setzen wir an: Wir verbinden existierende Initiativen miteinander, damit sie voneinander lernen können, und unterstützen sie mit politischer Arbeit. Unser Ziel ist es, dass betreute Wohnhäuser die Norm werden. +Wie soll dieses Ziel in den Niederlanden erreicht werden? +Aicha: Derzeit formen wir in großen Städten Gemeinschaften aus Wissenschaftler*innen, politischen Entscheidungsträger*innen, Künstler*innen, Leuten aus der Stadtverwaltung und Betreiber*innen bereits existierender Wohnhäuser. Gemeinsam erforschen wir, wie betreute Wohnhäuser in den jeweiligen Städten großflächig umgesetzt werden können. Wir schauen uns also zum Beispiel die Geschichte und Demografie der Städte an und formulieren darauf basierend Vorschläge. Gibt es in einer Stadt eine hoheSuchtrate, schlagen wir vor, Wohnhäuser zu errichten, die auf passende Therapien spezialisiert sind. Unsere Vorschläge teilen wir gezielt mit den örtlichen Regierungen. Dann liegt es an den Politiker*innen und lokalen Gemeinschaften zu entscheiden, ob ein betreutes Wohnhaus errichtet wird, wie viel Geld es bekommt und welche Form es annimmt. +Wie reagiert die Politik auf eure Vorschläge? +Aicha: Das ist ganz unterschiedlich. Oft schrecken Politiker*innen vor Fragen wie jener nach der Finanzierung zurück. Es kostet natürlich Geld, betreute Wohnhäuser zu errichten und zu unterhalten – und in große Gefängnisgebäude wurde schon viel investiert. Gefängnispersonal müsste auch umgeschult werden, wenn wir zu betreuten Wohnhäusern wechseln. Allein in den Niederlanden wären das mehr als 15.000 Personen. All das sind Herausforderungen, doch sie lassen sich bewältigen. +De Vos: Wir arbeiten aber nicht nur auf lokaler und nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene. 2024 tun wir uns mit der belgischen Ratspräsidentschaft im Rat der Europäischen Union zusammen, um Empfehlungen für betreute Wohnhäuser zu entwickeln. Wir wollen erreichen, dass europäische Institutionen konkrete Maßnahmen einleiten, etwa in die Forschung und Pilotprojekte investieren oder lokale Initiativen unterstützen. +Welche Voraussetzungen muss ein Justizsystem überhaupt erfüllen, damit betreute Wohnhäuser möglich sind? +Aicha: Wir sollten die Verantwortung dafür, wie wir mit Kriminalität umgehen, nicht nur auf die Schultern des Justizministeriums legen. Andere Ministerien – zum Beispiel die für Gesundheit und Wohnen – sind mitverantwortlich, denn ihre Belange sind miteinander verknüpft. +De Vos: Am besten funktionieren betreute Wohnhäuser daher in Gesellschaften mit starken Sozialwesen. Hier sind die Sozialversicherung, das Bildungswesen und die Gesundheitsversorgung am besten entwickelt und stehen so auch Menschen in betreuten Wohnhäusern zur Verfügung. + +Veronique Aicha hat Sozialpsychologie studiert. Sie arbeitete für die Menschenrechtsorganisation Netherlands Helsinki Committee in Ländern wie Albanien und Kosovo und führte mehrere Jahre lang philosophische Gespräche in niederländischen Gefängnissen. Derzeit ist sie Leiterin der Abteilung für gesellschaftliche Auswirkungen und Öffentlichkeitsarbeit bei RESCALED Europe und Programmmanagerin bei der NGO Restorative Justice Netherlands. Außerdem schreibt sie Buchrezensionen für Bazarow, ist Mitglied des Vorstands der Youth Courts Foundationund arbeitet an einem Buch über zirkuläre Gerechtigkeit. + +Nach ihrem Studium der Kriminologie arbeitete Helene De Vos als Gefängnisforscherin am Institut für Kriminologie der KU Leuven. Ihre Doktorarbeit beschäftigte sich mit der Normalisierung der Lebensbedingungen in belgischen und norwegischen Gefängnissen. Da sie viel Zeit in diesen Gefängnissen verbrachte, wuchs nicht nur ihr akademisches Interesse, sondern auch ihre Motivation, das Gefängnissystem zu verändern. Als Exekutivdirektorin ist sie für die Leitung des RESCALED-Teams, die Ausrichtung der organisatorischen Strategien und die Koordinierung der Aktivitäten der europäischen und nationalen RESCALED-Büros verantwortlich. diff --git a/fluter/betriebsrat-verhindern-hilfe.txt b/fluter/betriebsrat-verhindern-hilfe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..96b697dcd7954a3b80b4be18cd59deeeb2bb3f80 --- /dev/null +++ b/fluter/betriebsrat-verhindern-hilfe.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Wissenschaftliche Erhebungen, wie etwa die der Hans-Böckler-Stiftung, die das Mitbestimmungs-, Studien- und Forschungsförderwerk des Deutschen Gewerkschaftsbundes bildet,zeigen, dass die Zusammenarbeit zwischen Management und den Betriebsräten in der Regel gut verläuft. Dass es zwar hitzige Diskussionen gibt, aber der Betriebsrat seiner Arbeit nachgehen kann und die Mitarbeitenden keine Nachteile durch ihr Engagement erfahren müssen. Wenn die Betriebsräte bereits existieren, denn auch in Deutschland werden die teilweise gezielt verhindert. Das zeigen die zahlreichen prominentenFälle von jungen Start-ups wie Gorillas, Foodora oder der Onlinebank N26, genauso von älteren Unternehmen wie McDonald's, Aldi Nord oder UPS. Hier könnten noch sehr viele andere Namen stehen. +Gerade in der Gründungsphase versucht die Geschäftsführung häufig mit Einschüchterungstaktiken und Kündigungsdrohungen, die Arbeitnehmervertretung zu verhindern. Die Hans-Böckler-Stiftung schätzt, dass jeder sechste potenzielle Betriebsrat so scheitert. Arbeitgeber rechtfertigen das häufig mit zusätzlicher Bürokratie, unternehmerischer Freiheit und finanziellen Einbußen. +Dabei ist das illegal. DasBetriebsverfassungsgesetzgarantiert eigentlich umfangreiche Informations-, Konsultations- und Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte und mahnt zu einer "vertrauensvollen" Zusammenarbeit. Behindern Unternehmen die Arbeit von Betriebsräten dennoch, können die Verantwortlichen dafür mit Geldstrafen oder bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft werden – was so gut wie nie passiert. +Albrecht Kieser gründete 2012 die OrganisationWork Watch, nachdem der ehemalige Radiojournalist gemeinsam mit dem Enthüllungsjournalisten Günter Wallraff über Fälle von Union Busting berichtet hatte. "Union Busting" – so nennt man das Zerschlagen, Be- oder Verhindern von Gewerkschaften im amerikanischen Sprachraum. Auch hierzulande wird der Begriff inzwischen häufiger genutzt. Das Phänomen sei aber im Prinzip nicht neu: "Früher hieß das Klassenkampf von oben", so Kieser. Neu sei aber die Systematisierung davon, denn um die Be- und Verhinderung von Betriebsräten hat sich ein ganzes Netzwerk aus Anwaltskanzleien, Unternehmensberatungen, Arbeitgeberverbänden und Privatdetekteien gebildet. Work Watch berät Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Betriebsräte, wie sie sich wehren können – und ab wann sie aufgeben sollten. +Weiterlesen +Der Lieferdienst Gorillas verspricht, Lebensmittel in zehn Minuten zu liefern. Die Kuriere klagen über Ausbeutung –entdecken aber jetzt ihre Macht im Arbeitskampf +Aufgeben kam für Thomas Urbanski zunächst nicht infrage. Im Gegenteil. Er sei schnell zum Betriebsratsvorsitzenden aufgestiegen und wurde Mitglied des Gesamtbetriebsrats. "Dann kam der erste Boomerang", erzählt er. Der Niederlassungsleiter habe die Weihnachtsgelder unrechtmäßig gekürzt, Urbanski habe erwirkt, dass er das zurücknehmen musste. "Von da an wurde man als Feind gesehen von der Geschäftsleitung", sagt er – "man" heißt "ich". +Weil dem Gesetzgeber klar ist, dass Betriebsräte leicht in die Schusslinie geraten, gilt für sie ein besonderer Kündigungsschutz. Vergangenes Jahr wurde der sogar ausgeweitet auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die eine Betriebsratswahl planen, solange sie sich diese Absicht notariell beglaubigen lassen. In der Vergangenheit haben Unternehmen die Gründung von Betriebsräten immer wieder verhindert, indem sie die Initiatorinnen und Initiatoren kündigten. Aber die Möglichkeiten der Schikane sind auch ohne Kündigung vielfältig. +Thomas Urbanski wurde vom Lagerleiter zum Azubi-Beauftragten herabgestuft. Das Unternehmen begründet das mit einer "Neustrukturierung" und teilt auf Anfrage mit: "Diese Änderung war für uns keine ‚Herabstufung'." Thomas Urbanskis neues Büro: ein Container auf dem Hof, darin ein Schreibtisch, ein Spind und stapelweise Kartons mit Arbeitskleidung. Doch er blieb. Also habe der Niederlassungsleiter versucht, den Betriebsrat auf andere Weise zu schwächen: "Er hat ihn totgekauft", formuliert das Urbanski. +Heißt: Er habe den anderen Betriebsratsmitgliedern Geld angeboten, damit sie das Gremium verließen – das ist eine Straftat, nicht nur des Niederlassungsleiters, sondern auch der Betriebsräte, die auf das Angebot eingegangen sind. In einem Fall ist das sogar schriftlich belegbar, der Gewerkschaftsbund Verdi erstattete Strafanzeige gegen den Niederlassungsleiter. Urbanskis Vorgesetzte bestreiten, die höheren Gehaltsangebote von einem Ausscheiden aus dem Betriebsrat abhängig gemacht zu haben – dennoch erteilte die Geschäftsleitung der Niederlassung in Bremen eine Rüge. Seit zwei Jahren liegt der Fall nun bei der Staatsanwaltschaft. +Das Problem ist: Es kommt kaum je zu Verurteilungen. "Die Rechtsordnung lässt Betroffene im Stich", sagt Albrecht Kieser von Work Watch. Staatsanwaltschaften würden solche Fälle wegen des mangelnden öffentlichen Interesses oft ablehnen, viele würden sich außerdem kaum mit dem Arbeitsrecht auskennen. Eine große Hürde: Bisher ist das Behindern von Betriebsräten ein Antragsdelikt, das heißt, es wird nur auf eine Anzeige hin verfolgt. Das verringere "die praktische Relevanz des Straftatbestands und damit die intendierte abschreckende Wirkung", räumt das Bundesministerium für Arbeit auf Nachfrage ein. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will das ändern: Die Justiz soll schon bei einem Verdacht ermitteln können. Wann das geändert werden soll, ist noch offen. +Solange bleibt das "Union Busting" bestehen. Anwaltskanzleien bieten etwa Seminare mit dem Titel "Die häufigsten Betriebsratssünden – Die richtigen Reaktionsmöglichkeiten auf 18 ‚Klassiker' der Betriebspraxis" an. Work Watch schleuste sich nach eigenen Angaben in solche Runden bereits undercover ein und dokumentierte, wie einem Unternehmer geraten wurde, eine Frau einzustellen, die dann einem unliebsamen Betriebsratsmitglied sexuelle Belästigung vorwerfen sollte, um damit einen Kündigungsgrund zu schaffen. Albrecht Kieser kennt solche Fälle: Arbeitnehmern sei schon Firmeneigentum in die Tasche geschmuggelt oder Daten auf den Computer aufgespielt worden, um sie kündigen zu können. Privatdetektive spionieren, so berichtet er, die Belegschaft aus, spielen sie gegeneinander aus oder lockern auch mal ein Rad am Auto oder Fahrrad, um einzelnen Personen zu drohen. In den meisten Fällen bleibe das folgenlos für das Unternehmen. Albrecht Kieser sagt: "Wenn das Verständnis von Recht und Unrecht so auf den Kopf gestellt wird, fragen sich die Leute: Wo lebe ich hier eigentlich?" +Thomas Urbanski fragte sich das auch. "Ich bin psychisch zusammengeklappt", sagt er. Depression, Reha, "da war viel Traurigkeit". Er bekam eine außerordentliche Änderungskündigung. Seine Firma wollte ihn also weiterbeschäftigen, aber zu geänderten Bedingungen – und das ab sofort. Weil Urbanski dem nicht zustimmte, landete der Fall vor Gericht. Zwei Jahre lang dauerte das Verfahren, 2020 einigten sie sich auf einen Vergleich von 150.000 Euro. "Ich habe sehr mit mir gehadert, diesen Deal einzugehen", sagt Urbanski. "Ich hatte das Gefühl, mich zu verkaufen." +Nach zwei Jahren Arbeitslosigkeit fand Thomas Urbanski eine neue Anstellung. Dort ist das Arbeitsklima gut, es gibt keinen Betriebsrat. Thomas Urbanski wird das nicht ändern, obwohl er findet, dass ein Betriebsrat nicht nur in Notlagen gegründet werden sollte. + + diff --git a/fluter/bettelnde-kinder-ignorieren.txt b/fluter/bettelnde-kinder-ignorieren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2c2422470c4dc4c0ae892e1fe17b3488ff42ebd3 --- /dev/null +++ b/fluter/bettelnde-kinder-ignorieren.txt @@ -0,0 +1,13 @@ + +"Ich sehe die vielen Flüchtlinge hier, und das belastet mich. Wenn man ein Herz hat, dann kann man nicht einfach darüber hinwegschauen. Erst vor kurzem habe ich ein ganz junges Mädchen aus Syrien gesehen, das ihr Baby auf der Straße stillte. Das tut mir weh, und ich bin nicht die Einzige, die das so empfindet. Hier in Istanbul spiegelt sich das ganze Elend der Welt. +"Das tut mir weh, und ich bin nicht die Einzige, die das so empfindet" +Ich bin 51 und seit Jahren hier, ich habe das alles gesehen. In anderen Städten ist das nicht so, dort kann man ruhig zur Arbeit und wieder nach Hause gehen, ohne damit konfrontiert zu werden. Jetzt haben wir dieses Abkommen. So eine Unterschrift ist schnell gesetzt, aber dann fangen die Probleme an. Die Türkei bekommt die Armen und Ungebildeten aus der Dritten Welt ab, die Ärzte und Ingenieure ziehen weiter nach Europa. Unter den Flüchtlingen sind ja auch sehr viele Muslime. Aber was machen die muslimischen Länder? Warum nehmen die sie nicht auf?" + +"Ich bezeichne mich nicht als Flüchtling. Das liegt nicht daran, dass ich nicht vor dem Krieg in Syrien geflohen bin – alle Syrer sind deswegen hier. Für Türken bezeichnet der Begriff Flüchtling aber diejenigen, die direkt hinter der Grenze lebten, herübergekommen sind und nicht einmal die Miete bezahlen können. Die auf der Straße betteln. Ich will vermeiden, so gesehen zu werden. Die Türken mögen uns nicht. Dabei sind wir Syrer gar nicht so verschieden von den Türken, unsere Lebenskonzepte, unsere Kultur, das Essen, alles ist ziemlich ähnlich. Besonders die Säkularen haben etwas gegen uns. Sie glauben, wir seien nur hier, weil die AKP uns eingeladen hat, und dass wir Erdoğan unterstützen. Einmal hat ein Mädchen in der Uni ein Gespräch mit mir angefangen, es lief gut, wir verstanden uns. Am Ende fragte sie dann, wo ich herkomme, und ich sagte es ihr. Sie wusste nicht, dass ich ein wenig Türkisch kann und sie verstand, als sie zu ihrer Freundin sagte: 'Schade, er ist Syrer, das war es dann.' Solche Situationen habe ich mehrmals erlebt." + +"Wer bei uns über Flüchtlinge spricht, meint damit Menschen, die vor dem Krieg in Syrien geflohen sind. Istanbul ist zwar ein Transitort für Menschen aus verschiedenen Regionen der Welt, aber die Syrer verkörpern das Stereotyp des Flüchtlings. Wie sie angesehen werden, ist sehr unterschiedlich, je nach sozialem Status und politischer Zugehörigkeit. Viele glauben, Erdoğan habe die Syrer aus politischem Kalkül eingeladen, in die Türkei zu kommen. Und dann gibt es natürlich eine Konkurrenz um Arbeitsplätze und Sozialleistungen. +"Jetzt muss auch der Staat aufhören, sie nur als Gäste zu betrachten, und endlich eine wirkliche Integrationspolitik entwickeln" +Das Bild des kleinen Aylan Kurdi war auch in der Türkei ein Wendepunkt und hat viele wachgerüttelt: Vorher waren Flüchtlinge besonders für Menschen der Mittelklasse unsichtbar, weil sie in Abbruchhäusern leben und die meisten nachts als Müllsammler oder in ähnlich schlechten Jobs arbeiten. Nun werden sie ein bisschen mehr wahrgenommen, und Nachbarn haben angefangen, sie zu unterstützen. Jetzt muss auch der Staat aufhören, sie nur als Gäste zu betrachten, und endlich eine wirkliche Integrationspolitik entwickeln, denn die meisten wollen gar nicht nach Europa weiterreisen. Bildung und Sprachkenntnisse sind dafür entscheidend und dass die Flüchtlinge von ihren Rechten erfahren. Sie wissen meist gar nicht, dass sie ein Anrecht auf medizinische Versorgung haben und ihre Kinder zur Schule schicken dürfen." + +"Gleich hier die Straße hinunter leben sehr viele Flüchtlinge in den Häusern, die bald abgerissen werden sollen. Sie kommen zu uns in die Apotheke, man kann ihnen ansehen, dass sie krank sind, dass es ihnen nicht gut geht. Aber wir können uns nicht verständigen. Selbst wenn sie jemanden zum Übersetzen mitbringen, können diese Leute nur bruchstückhaft Türkisch, und wir können nicht herausfinden, was ihnen fehlt. Ihre Situation ist einfach nur traurig, doch die meisten Türken kümmern sich nicht darum. Natürlich haben sie ihre eigenen Probleme. Auch ihnen geht es nicht gut, und sie haben sich daran gewöhnt, einfach ihr Leben weiterzuführen. Ein wenig Hilfe gibt es schon, die Flüchtlinge können Medikamente bekommen und ihre Kinder zur Schule schicken. Auch ich gebe den Kindern Stifte und Spielzeug. Aber schlussendlich erreicht man nicht alle. Es sind einfach zu viele, und es werden ja auch immer mehr, sie kriegen trotz ihrer Situation noch sehr viele Babys." +"Vor ungefähr drei Jahren bin ich eine Straße hier in Istanbul entlanggegangen und sah ein Auto mit syrischem Kennzeichen, das gerade eingeparkt wurde. Eine ganze Familie, acht oder neun Personen waren darin, sogar im Kofferraum – gerade aus Syrien angekommen. Das war meine erste Erfahrung mit Flüchtlingen. Ansonsten habe ich wenig Kontakt zu ihnen. Es gab Zeiten, in denen es viel mehr waren, in denen man sie deutlich im Straßenbild wahrnehmen konnte, doch jetzt wurden sie von der Polizei vertrieben. Die Türkei ist kein Einwanderungsland. Zwar sind schon immer Menschen hierher gekommen, aber noch nie in so hoher Zahl und meist aus den Balkanregionen. Die gehörten früher zum Osmanischen Reich, die Migranten galten als Türken. Und Türken mögen nun mal nur Türken. Europäer finden sie noch ganz in Ordnung, aber mit arabischen Menschen haben sie Probleme. Damit Flüchtlinge in die türkische Gesellschaft integriert werden können, müssen sie Jobs bekommen und die Sprache lernen können. Doch vor allem muss sich auch an der Mentalität der Türken etwas ändern: Zwei Millionen Flüchtlinge sind bereits hier. Dass ihre Kinder eines Tages in der Schule singen werden 'Ich bin stolz, Türke zu sein', das funktioniert einfach nicht." diff --git a/fluter/betty-serie-sky-rezension.txt b/fluter/betty-serie-sky-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bef535d60a3dd3ad877581f6bde7a74e6c633848 --- /dev/null +++ b/fluter/betty-serie-sky-rezension.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Der Begriff "Betty" entstand in den 80er-Jahren als abwertende Bezeichnung für Mädchen, die sich in Parks aufhielten, um den männlichen Skatern zuzusehen – anstatt selbst zu fahren. Kirt, Janay, Honeybear, Indigo und Camille sind keine "Bettys" im klassischen Sinn, müssen sich den Respekt der männlich dominierten Szene aber immer wieder erkämpfen. Skaterfilme werden meist von Männern für Männer erzählt. "Betty" dagegen ist überwiegend von Frauen geschrieben, inszeniert und produziert. Dieserweibliche Blickauf die Szene ist längst überfällig. + +Um Freundschaft, Feminismus, Rassismus, Sexismus, toxische Beziehungen. Das Skaten bringt die fünf Mädchen zusammen, sie entfliehen damit ihren Sorgen und Problemen. "Betty" ist eine authentische, hochaktuelle Coming-of-Age-Geschichte. Die Protagonistinnen werden dabei mit unangenehmen Fragen konfrontiert, so wie Janay, die im Rückblick erkennt, dass sie in der Vergangenheitvon ihrem Freund sexuell missbrauchtwurde. Die Serie weckt, ohne erhobenen Zeigefinger, ein Bewusstsein für Ungerechtigkeit und Unrecht. + +Fast dokumentarisch wirkende Aufnahmen mit wackeliger Handkamera wechseln sich ab mit kunstvoll durchkomponierten Bildern. So verhält es sich auch mit dem Erzählton: In der einen Minute lacht man als Zuschauerin über einen Gag, in der nächsten fesselt einen die Serie mit einem Gespräch überBeziehungsgewalt. Den Figuren kommt man im Lauf der Serie sehr nah, spürt ihre Wut und Verzweiflung – und die Freiheit, die sie auf dem Skateboard empfinden. Es gibt natürlich genug New-York-Filme und -Serien, aber diesen jungen Frauen folgt man gerne durch das sommerliche New York und seine Menschenmassen (da man es pandemiebedingt ja sonst schon nicht kann). + +Indigo soll bei einem Modeljobrassistische Stereotypebedienen. Der Artdirector, der sie auf den Fotos wütend sehen will, ruft ihr, einemModel of Color, Sprüche wie "Gib mir Ghetto" und "Raus aus der Plantage, flieh in die Freiheit" zu. Indigo schüttelt den Kopf und verlässt das Set. Den roten Gucci-Pelzmantel behält sie an und skatet darin davon, während im Hintergrund Rico Nasty "Smack A Bitch" rappt. + +Die Serie beginnt etwas schleppend; wegen des lakonischen Humors und des liebevollen Umgangs mit den Figuren sollte man aber trotzdem dranbleiben (auch wenn man keine Ahnung vom Skaten hat). Toll ist auch der diverse Cast: Die Protagonistinnen erleben zwar Rassismus – bei einer Prügelei werden zum Beispiel nur die nichtweißen Beteiligten verhaftet – innerhalb der Gruppe spielen Hautfarbe und sexuelle Orientierung aber keine Rolle. Außerdem setzen sich die Mädchen dafür ein, dass sie auch außerhalb der eigenen Gruppe als Frauen respektiert werden, dass ihr Umfeld zum Beispiel ihre lesbischen Beziehungen akzeptiert. Nur einmal zeigen sie selbst Grenzen auf: Tony Hawk, der einen Cameo-Auftritt hat, bekommt keinen Flyer für die "all-girl skate sesh". Die Skatelegende ist schließlich keine Frau. + +"Betty" läuft seit 8. Dezember auf Sky. Eine zweite Staffel ist schon geplant. + diff --git a/fluter/bevoelkerungswachstum-global.txt b/fluter/bevoelkerungswachstum-global.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/bewaesserungsanlage.txt b/fluter/bewaesserungsanlage.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/bewegungsfreiheit.txt b/fluter/bewegungsfreiheit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/beyonce-album-cowboy-carter-anspielungen-erklaert.txt b/fluter/beyonce-album-cowboy-carter-anspielungen-erklaert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8b6c7aeeb67167071a9b1dde31daa6a87b04759c --- /dev/null +++ b/fluter/beyonce-album-cowboy-carter-anspielungen-erklaert.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Der Anteil an traditionellen Countrysongs auf "Cowboy Carter" ist gering. Stattdessen vermischen sich unzählige Musikstile von Trap bis Jersey-Club zu einer impulsiven Popmixtur. Die erste Single, "Texas Hold 'Em", aber ist ein waschechter Countrysong und eine Würdigung des Banjos, eines der prägenden Instrumente innerhalb des Genres. Auch das dürfte ein bewusst gesetzter Marker sein. Denn das Instrument wurde in Nordamerika und der Karibik von Afrikaner*innen und ihren Nachfahren entwickelt,die durch den Sklavenhandel dorthin gebracht worden waren. Sklav*innen spielten es in den USA zunächst auf Plantagen, mit der Zeit wurde das Instrument von der weißen Musiktradition einverleibt. Folgerichtig ist es, dass die Schwarze Musikerin Rhiannon Giddens das Banjo auf "Texas Hold 'Em" spielt. Der Song erreichte schließlich Platz eins der Countrycharts, und auch das hat Symbolcharakter. Denn damit ist Beyoncé die erste Schwarze Frau, der das gelungen ist. + +Dass es auf "Cowboy Carter" nicht nur um Country geht, sondern wie auch auf anderen Beyoncé-Alben zuvor um black empowerment, zeigt ihr Lied "Blackbiird". Es ist das Cover eines gleichnamigen Beatles-Songs, der 1968 erschien und von einem afroamerikanischen Mädchen in den USA handelt, das Diskriminierung erfährt. Damals sollte der Song die Schwarze Bürgerrechtsbewegung stärken. Paul McCartney sagt heute, dass ihn die "Little Rock Nine" zum Song inspiriert hätten,die ersten Schwarzen Jugendlichen, die im Ort Little Rock 1957 eine bis dahin ausschließlich von Weißen besuchte Schule nutzen wollten. Damals war dazu der Schutz von Polizei- und extra entsandten Armeeeinheiten nötig. Beyoncé macht sich auf "Cowboy Carter" nun den Song zu eigen und spinnt ihn weiter. Ihr Kniff: Einen Teil der Gesangsparts übernehmen die jungen Schwarzen Countrysängerinnen Brittney Spencer, Tiera Kennedy, Reyna Roberts und Tanner Adell. Die Mehrstimmigkeit und die Kraft in den Stimmen besetzen "Blackbiird" neu. Der Chor funktioniert dabei als eine Art Inkarnation der "Little Rock Nine" – als kollektive Stimme. +Dolly Parton ist einer der größten Countrystars in den USA, und ihr Song "Jolene" von 1973 war ein Megahit. Darin fleht sie eine Frau an, dass sie die Finger von ihrem Mann lassen soll. Auf "Cowboy Carter" lässt Beyoncé Parton selbst zu Wort kommen. Die spricht in einer kurzen Sequenz darüber, dass sie die Frau mit den "flammenden kastanienbraunen Haarsträhnen", die sie in "Jolene" besingt, ein wenig an "Becky mit den schönen Haaren" erinnere. Über die sang Beyoncé bereits auf ihrem Album "Lemonade" und verarbeitete damit angeblich die Untreue ihres Mannes Jay-Z. Dolly Partons Worte und die Referenz auf den alten Beyoncé-Song funktionieren nun als Überleitung auf ein "Jolene"-Cover. Beyoncé hat die Lyrics umgeschrieben: Anstatt wie Parton die Konkurrentin anzuflehen, droht Beyoncé ihr. Sie singt, dass sie ihren Mann erzogen habe und nach wie vor eine "Creole banjee bitch from Louisianne" sei. Unabhängig davon, wie man das inhaltlich bewerten mag, ist die Beyoncé-Version in jedem Fall die selbstbewusstere. + +Noch interessanter als der Auftritt Dolly Partons ist der von Linda Martell. Sie war die erste Schwarze Countrysängerin, deren Konzert bei "Grand Ole Opry" übertragen wurde. Das ist seit knapp 100 Jahren die wichtigste Country-Radio- und Liveshow. Auf "Cowboy Carter" fragt Martell rhetorisch: "Genres sind ja ein lustiges kleines Konzept, nicht wahr?" und fügt hinzu: "In der Theorie sind sie einfach zu definieren. Doch in der Praxis, nun ja, fühlen sich manche durchaus eingeengt." Martell, die im rassistischen Amerika der 1970er-Jahre bereits ein Album mit dem Titel "Color Me Country" veröffentlichte, weiß, wovon sie spricht. Beyoncé scheinen Martells Worte auf "Cowboy Carter" zu ermutigen, mit "Spaghetti" alle Genregrenzen zu sprengen und einen Hip-Hop-Brocken abzuliefern – ein maximaler symbolträchtiger Kontrapunkt zum Countrysound. + +Taylor Swift wurde unlängst die Macht zugesprochen, die US-Wahlen beeinflussen zu können. Und Beyoncé? Um Tagespolitik geht es auf "Cowboy Carter" eher wenig. Klar, es geht ums Stärken der eigenen Community, um Durchsetzungsvermögen als Frau im Pop, um ihre Vorbildrolle für Schwarze Frauen und um einen neuen Blick auf Country, aber sonst? "Can we stand for something? / Now is the time to face the wind", singt Beyoncé gleich auf dem ersten Song "Ameriican Requiem". Was "something" konkret heißt, darauf bietet das Album keine Antwort. Als Protestslogan hält das eher nicht her. Stattdessen, und das passt gut zum Countrythema, zu den Südstaaten, zum Bible Belt, ist das letzte, wohl ironiefrei gemeinte Wort (Beyoncé ist offen gläubig): "Amen". + + +Titelbild: Mason Poole, © PARKWOOD ENTERTAINMENT LLC. diff --git a/fluter/bezahlbare-wohnungen-in-paris.txt b/fluter/bezahlbare-wohnungen-in-paris.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..edb092c8b12e6c9a6c1d4a48b9f74bc5db11e0ab --- /dev/null +++ b/fluter/bezahlbare-wohnungen-in-paris.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Die Pariser Wohnungsmieten sind mittlerweile so hoch, dass es sich kaum noch jemand leisten kann, in der Innenstadt zu wohnen. Während die Wohlhabenden weiter im Stadtzentrum nahe den prächtigen Boulevards leben, bleiben viele andere am Stadtrand – in den riesigen Wohnmaschinen der Banlieue. +Die krasse Spaltung der Stadtgesellschaft hat aber ein Umdenken begünstigt: Die Stadtplaner versuchen mehr soziale Mischung in die Quartiere zu bringen, um so der Gettobildung entgegenzuwirken. Dabei entstehen die Sozialwohnungen anders als in den 1960ern nicht mehr geballt auf einem Fleck weitab der City, sondern öfter in kleinem Maßstab überall im Stadtgebiet. + + +Grundlegend für diese Entwicklung war das "Gesetz der städtischen Solidarität und Erneuerung" aus dem Jahr 2000. Es verpflichtet alle mittleren und großen Städte, mindestens 20 Prozent Sozialwohnungen vorzuhalten. Für das Jahr 2025 gilt das Ziel von 25 Prozent. Der Clou: Gemeinden, die weniger Sozialwohnungen haben, müssen eine Strafe zahlen. So soll der Bau von Sozialwohnungen in privilegierten Gebieten angekurbelt werden – etwa im noblen Westen von Paris. +Das Ergebnis dieser Politik sieht man Frankreichs Städten an: Wenn man durch Paris läuft, entdeckt man an vielen Orten Häuser, die nicht nach der Tristesse früherer Sozialwohnungen aussehen – zum Beispiel ein mehrstöckiges Holzgebäude mit unregelmäßig angeordneten Balkonen und einem Wildblumengarten –, mitten in der Stadt. "Heldentat aus Holz" schrieb eine Architekturseite über das Projekt mit 30 Sozialwohnungen. "Man hat gelernt, dass die Gebäude anspruchsvoll gestaltet sein müssen, um das Image des sozialen Wohnungsbaus zu verbessern", erklärt Stadtforscher Frank Eckardt von der Bauhaus-Universität Weimar. +Und es gibt Visionen – vor allem in Paris. Da ist etwa die Idee eines bewachsenen Baukörpers, der zukünftig auf Stelzen über niedrigeren Bauten schweben könnte. Und die Bürgermeisterin Anne Hidalgo startete das Projekt "Reinventer Paris" – Paris neu erfinden. Etliche Architekturbüros haben kreative Vorschläge eingereicht. So könnten etwa bald Wohnhochhäuser mit hängenden Gärten entstehen, verbunden mit Luftbrücken aus Stahl und Glas. Von 1.300 geplanten Wohnungen soll rund die Hälfte gefördert werden. Doch Hidalgo will mehr: Ziel ist, jährlich 7.000 Sozialwohnungen zu bauen, um bis 2025 die Quote von 25 Prozent zu erreichen. +Vier Millionen Menschen leben in Frankreich nicht in einer menschenwürdigen Unterkunft, schreibt die Stiftung Abbé-Pierre in ihrem aktuellen Jahresbericht. Darin steht auch: Es gibt mehr Wohnsitzlose, mehr Zwangsräumungen und mehr Menschen, die aus Kostengründen ihre Wohnung nicht richtig heizen. "Für die Armen, die Arbeiter- und die Mittelschicht wird die Situation schlimmer", heißt es in dem Bericht. +Zwar gibt es in unserem Nachbarland viele geförderte Wohnungen, doch haben dort auch mehr Menschen Anspruch darauf als in Deutschland. Weit über eine Million Menschen stehen auf Wartelisten. Und die schicken Wohnungen mit den Holzbalkonen und Wildblumen sind nicht die billigsten – und kommen bisweilen eher der Mittelschicht zugute. "Selbst der hohe Bestand an Sozialwohnungen in Frankreich reicht nicht aus, um den Menschen ein halbwegs anständiges Wohnangebot zu machen", sagt Eckardt. Das liegt auch daran, dass sich viele reiche Kommunen trotz Strafen vor dem Bau von Sozialwohnungen drücken – sie kaufen sich sozusagen frei. So auch die schicke Pariser Vorstadt Neuilly-sur-Seine, wo der konservative Ex-Präsident Nicolas Sarkozy fast 20 Jahre lang Bürgermeister war. 2002, als Sarkozy dort seinen Schreibtisch räumte, waren gerade mal zwei Prozent der Wohnungen in der Stadt gefördert – heute sind es fünf Prozent. Ein WG-Zimmer mit 12 Quadratmetern gibt es hier für 500 Euro. "Ideal für Studenten und Praktikanten", steht in einer Anzeige. Willkommen in Paris. + +Titelbild: Michael Zumstein/VU/laif diff --git a/fluter/biden-und-trump-positionen-im-vergleich.txt b/fluter/biden-und-trump-positionen-im-vergleich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fff725a0a30ea8d9c7aedefec2508c61f2a39c47 --- /dev/null +++ b/fluter/biden-und-trump-positionen-im-vergleich.txt @@ -0,0 +1,17 @@ + +Das Coronavirus trifft die USA hart. Mehr als 8 Millionen postitiv getestete Fälle und 222.000 Todesopfer: Klar, dass die PandemiedasWahlkampfthema ist. Da die Zahlen seit einigen Wochen wieder nach oben schnellen, haben einige Regionen erneut strengere Maßnahmen verordnet, die von Bundesstaat zu Bundesstaat verschieden ausfallen – und für Diskussion sorgen. +Joe Biden will im Fall seines Wahlsieges am 3. November dafür sorgen, dass die Wirtschaft wieder angekurbelt wird – allerdings nur, wenn gewährleistet ist, dass landesweite Test- undKontaktverfolgungsmaßnahmeneingerichtet sind. Schulen sollen geöffnet werden, wenn für persönliche Schutzausrüstungen eine verlässliche Versorgungskette geschaffen worden ist. Kleinunternehmen will er mit den notwendigen Ressourcen ausstatten, damit sie wieder ihre Türen öffnen können. +Donald Trump hat sich im Gegensatz zu Biden gegen eine landesweite Maskenpflicht ausgesprochen. Obwohl die Regierung kostenlose Tests anbietet, ist die Koordinierung von Testmaßnahmen weiterhin größtenteils Sache der einzelnen Bundesstaaten. In der Vergangenheit hat der Präsident gesagt, dass ein erhöhtes Testaufkommen "uns schlecht dastehen lässt". Trump will Schulen wieder öffnen, lieber früher als später. Im Sommer sagte er, dass "Städte oder Staaten, die zurzeit noch Gefahrenherd sind" womöglich "eine Wiedereröffnung um ein paar Wochen verschieben müssten". Schulbezirken, sagte er im Sommer, die nicht öffnen wollen, sollten Fördermittel gestrichen werden. + +Ginge es nach Joe Biden, bliebe der "Affordable Care Act", Barack Obamas umfassende Krankenversicherungsreform, im Kern bestehen und würde in Teilen ausgeweitet. Mehr Menschen sollen die Möglichkeit bekommen, sich einen gesetzlichen Versicherungsplan auszusuchen. Biden möchte kein System einführen, das für alle gilt ("medicare for all"). Das allgemeine Eintrittsalter für Medicare, die Krankenversicherung für ältere Bürger und solche mit Behinderungen, würde von 65 auf 60 Jahre gesenkt. +Eines von Donald Trumps großen Wahlkampfversprechen vor vier Jahren war, den Affordable Care Act außer Kraft zu setzen und danach zu ersetzen. Ein detaillierter Plan wurde noch nicht ausgearbeitet. Verschreibungspflichtige Medikamente und Versicherungsbeiträge sollen zudem preiswerter werden. +In seinem Wahlprogramm hat Joe Biden ein zwei Billionen Dollar schweres Maßnahmenpaket angekündigt, um innerhalb von vier Jahren dem Klimawandel entgegenzuwirken. Er will Anreize schaffen, die zum Beispiel Gebäudeeffizienzstandards fördern, und plant, dass bis 2035 Elektrizität zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energiequellen stammt und die USA bis 2050 emissionsfrei sein werden. Das Klimaabkommen von Paris möchte er wieder unterzeichnen und sieht die USA in einer führenden Rolle im weltweiten Kampf gegen den Klimawandel. +Der Plan des Präsidenten, wie man den Klimawandel bremsen könnte, ist relativ einfach erklärt:Es gibt ihn bisher nicht.Donald Trump hat ein Problem damit, der Wissenschaft zu glauben, dass der Mensch für den Klimawandel verantwortlich ist oder ihn bremsen könnte. Unter Trumps Führung sind die USA aus dem Abkommen von Paris ausgetreten, die Kohleindustrie hat er immer wieder unterstützt und Dutzende umweltpolitische Verordnungen zurückgenommen. + +Joe Biden hat sich für eine umfassende Einwanderungsreform ausgesprochen. Bei einem Wahlsieg würde er Trumps präsidiale Verfügung rückgängig machen, die die Einreise aus diversen Ländern erschwert, deren Bevölkerung zu einem Großteil aus Muslimen besteht ("muslim ban"). Einwanderern ohne gültige Papiere will er es unter bestimmten Umständen ermöglichen, Bürger des Landes zu werden. Gleiches gilt für Menschen, die als Kinder illegal über die Grenze kamen, sogenannte "Dreamer". +Hier kannst du Obamas und Trumps Präsidentschaft direkt vergleichen +Ein weiteres großes Wahlversprechen von Donald Trump im Jahr 2016 war der Bau einer Mauer an der Grenze zu Mexiko. Dieser Plan besteht weiterhin, die Umsetzung läuft allerdings schleppend. Auch der Präsident wünscht sich eine umfassende Einwanderungsreform. Diese ist auf einem Leistungsprinzip aufgebaut, Familienzusammenführung gehört nicht zu den Schwerpunkten. Ein Gesetz, das Kinder schützt, die ohne Papiere über die Grenze gekommen sind, will Trump auslaufen lassen. Seit er im Amt ist, hat Trump mehrfach angedroht, "Millionen von Einwohnern" abzuschieben.Allerdings wurden während seiner Präsidentschaft weniger Menschen abgeschoben, als während der seines Vorgängers Barack Obama. +In Joe Bidens Wahlprogramm findet sich ein Abschnitt, der sich für umfassende Gleichberechtigung einsetzt. Demnach sollen Menschen, die sich als LGBTQ+ identifizieren, vor Diskriminierung geschützt werden und stärkere Rechte, auch im Berufsleben, erhalten. Der ehemalige Vizepräsident unterstützt außerdem die gleichgeschlechtliche Ehe. Biden hat der "Black Lives Matter"-Bewegung seine Unterstützung zugesagt, eckte dort aber auch an, weil er sich dafür einsetzt, der Polizei mehr Mittel zur Verfügung zu stellen. +Donald Trump hat die LGBTQ+-Community sowohl offen unterstützt als ihr auch Unterstützung abgesprochen. Unter seiner Regierung wurde es Transgender-Personen verboten, sich beim Militär verpflichten zu lassen. Von Trump gibt es keine eindeutige Aussage, was gleichgeschlechtliche Ehen angeht. Ende September nannte Trump die "Black Lives Matter"-Bewegung eine "extremistische sozialistische Organisation", die die Belange der Black Community beschädige. Im Dezember 2018 unterzeichnete der Präsident den "First Step Act", ein Reformgesetz, das sich gegen Masseninhaftierungen einsetzt, von denen überproportional afroamerikanische Bürger betroffen sind, und das Rehabilitierungsmaßnahmen fördert. + +Hier gibt es eine ausführliche Analyse der Wahlkampfthemen vonRepublikanernundDemokraten. diff --git a/fluter/big-apple.txt b/fluter/big-apple.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d3125d642eb8da71ed1b34778a92b7a80b51f3a6 --- /dev/null +++ b/fluter/big-apple.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Die Patente wirken so skurril, weil man den Begriff mit Technik und Erfindergeist assoziiert, nicht mit grünen Blättern und roten Früchten. Und weil hier Exklusivrechte für Lebendiges aus der Natur vergeben werden. Doch neu ist die Idee nicht: Schutzrechte auf Pflanzen gibt es schon lange. +Das liegt daran, dass Pflanzen nicht nur Naturprodukte, sondern seit jeher auch Handelsgüter sind, die sich auf dem Markt durchsetzen müssen: Züchter versuchen, Kartoffeln so auszuwählen und miteinander zu kreuzen, dass immer bessere Sorten entstehen. Das ist eher Handwerk als Hightech, doch auch für diese traditionelle Entwicklungstätigkeit braucht es einen wirtschaftlichen Anreiz. Dazu dient der sogenannte Sortenschutz: Wer eine neue Gemüsesorte hervorbringt, darf sie exklusiv vermarkten und als Einziger das sogenannte Vermehrungsmaterial (Pflanzen und Pflanzenteile einschließlich Samen) an Landwirte verkaufen – und wird so für die Anstrengungen belohnt. +Das ist zunächst mal einem Patent nicht unähnlich und war ebenfalls nie unumstritten. Ein heikler Punkt sind zum Beispiel die sogenannten Nachbaugebühren, die Sortenschutzinhaber von Landwirten verlangen können: Wenn ein Bauer einen Teil der Ernte einbehält und wieder aussät, muss er zahlen. Die Pflanzenzüchter achten penibel darauf, dass das auch geschieht. Sie haben dafür die Saatgut-Treuhandverwaltungs GmbH gegründet, die Landwirte regelmäßig befragt, was gerade auf ihren Äckern wächst. Für diese Schnüffelei wurde die Saatgut-Treuhand 2005 sogar schon mit dem "Big Brother Award" ausgezeichnet, ein von Datenschützern ausgelobter Negativpreis. Biopatente haben dagegen einen anderen Ursprung. Sie entstanden mit der Entwicklung der Gentechnik: Mit einem Mal waren Pflanzen noch mehr als nur Züchtungen vom Feld, sie waren mitunter komplexe Erfindungen aus dem Labor und wurden technischen Produkten damit ähnlicher. 1998 erließ die Europäische Union die sogenannte Biopatent-Richtlinie, die klarstellt, dass biologisches Material grundsätzlich patentierbar ist. Im Europäischen Patentübereinkommen heißt es allerdings einschränkend: "Pflanzensorten oder Tierrassen sowie im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren" sind von der Patentierung ausgeschlossen. Die Idee dahinter? Salopp gesagt: Was auf den Feldern gezüchtet wird, fällt unter den Sortenschutz. Für alles aus dem Gen-Labor gibt es das Patentrecht. +Merkwürdig ist, was das Patentamt aus dieser Vorgabe macht: In einer Grundsatzentscheidung kam es im März 2015 zu dem Schluss, dass klassisch gezüchtete Pflanzen und Tiere durchaus patentierbar sind. Ausgeschlossen ist das Verfahren, nicht das Ergebnis. Verwirrend? Ziemlich. "Logisch ergibt das keinen Sinn", findet Christoph Then vom Bündnis "Keine Patente auf Saatgut". Auch die Flavonol-Tomate von Syngenta entstammt konventionellen Methoden. +Manche glauben, dass die knifflige Auslegung einen simplen Grund hat: Das Patentamt verdient an den vergebenen Schutzrechten, die Gebühren sind eine der wichtigsten Finanzquellen. "Das Patentamt will grundsätzlich natürlich Patente ermöglichen und nicht verhindern", sagt Alexandra Bönsch, Juristin beim Bundesverband Deutscher Pflanzenzüchter. Die sind alarmiert: nicht weil sie grundsätzlich gegen Schutzrechte auf Lebewesen wären – sondern weil sich Sortenschutz und Patent so gefährlich in die Quere kommen. Und damit das Geschäftsmodell mancher Züchter bedrohen. +Juristin Bönsch erklärt das Problem am Beispiel der Schrumpeltomate, einer wasserarmen Tomate, die sich besonders gut für die Ketchup-Produktion eignet. 2003 erteilte das Patentamt dem israelischen Agrarministerium das entsprechende Patent, registriert unter der Kennnummer EP 1211926. Käme die Tomate aus dem Labor, könnten die konventionellen Züchter damit vielleicht noch leben. Das Patent wäre allein der gentechnischen Raffinesse zu verdanken – einem Geschäftsfeld, auf dem klassische Züchter nicht aktiv sind. Die Gen-Tomate vermarktet der Patentinhaber, für alle anderen können Züchter ohne Labor immerhin noch Sortenschutz beantragen. Doch die Schrumpeltomate entstand durch die simple Kreuzung existierender Tomatensorten, ohne jede Gentechnik. Die Folge: Selbst wer seit Jahren schrumpelige Tomaten auf dem Feld hat, kann sie nun nicht mehr vermarkten. Das Patent wirkt damit so, als hätte Thomas Edison sich nicht die Glühbirne als Erfindung schützen lassen, sondern gleich das elektrische Licht. +Das Europäische Patentamt möchte sich nicht konkret zu diesem Szenario äußern und spielt den Ball weiter: Wie weit die Schutzansprüche reichen können, hänge auch von den Regelungen in den einzelnen europäischen Mitgliedsstaaten ab – die durchaus unterschiedlich ausfallen. Außerdem sei die Zahl der Patente auf klassisch gezüchtete Pflanzen gering: Gerade einmal 82 Schutzrechte habe die Münchener Behörde in den vergangenen 20 Jahren erteilt. +Beruhigend wirkt das auf die Kritiker kaum. Juristin Bönsch fürchtet, dass Biopatente dazu führen können, dass kleine Züchter durch unzählige Patentansprüche eingeengt werden und am Ende aufgeben müssen. Denn Patente sind eine Sache der Großen: Gebühren müssen entrichtet, Anwaltskanzleien beauftragt werden – Kosten, die viele Traditionszüchter sich nicht leisten können. Schon jetzt teilen einige wenige Großkonzerne den Saatgutmarkt unter sich auf, wie eine EU-Studie aus dem Jahr 2013 zeigt. Die EU-Kommission hat nun immerhin eine Klarstellung zu den Biopatenten angekündigt. Viele hoffen, dass dann endlich eindeutig wird, wofür das Patentamt Schutzrechte vergeben kann. Und was wachsen darf, wie es will. diff --git a/fluter/big-business.txt b/fluter/big-business.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..08bd9ede3768db3884b8ca450ab01d7c1b3aedd7 --- /dev/null +++ b/fluter/big-business.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Vordergründig organisiert sie harmlose Projekte wie "Gute gesunde Schule" und "Musikalische Grundschule", veröffentlicht einen "Lernatlas" und andere Studien und Umfragen zu Bildungsthemen oder tritt für sozial verträglich klingende Ziele wie die Abschaffung der Sonderschulen und gemeinsamen Unterricht mit Behinderten ein. Doch eigentlich, sagt Manfred Faber, sammle sie Daten: "Mehr Daten als die Schulbehörden und die Kultusministerien zusammen." Der Fragebogen für Lehrer umfasst 145 Fragen auf 22 Seiten, für Schüler ab der 7. Klasse 96 Fragen auf 16 Seiten und für Schüler bis zur 6. Klasse und Eltern jeweils 70 Fragen auf 14 beziehungsweise 10 Seiten. Jede Frage umfasst bis zu 8 Unterfragen. Faber empfand viele Fragen als unwissenschaftlich und die Kontrolle als lästig. Die Stiftung versichert, dass die Daten den Schulen gehören, außerdem seien keine Rückschlüsse auf einzelne Schulen möglich. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat dennoch Bedenken, weil die Stiftung sich vor 2008 angeblich vertraglich zusichern ließ, dass sie die Daten auch anderweitig nutzen kann. Wozu? Dazu gibt die Stiftung keine Auskunft. Sie betont allerdings, dass sie heute keine Nutzungsrechte an den Daten der Schulen besitze. +"Die Grenzen zwischen Staat und Markt, zwischen Öffentlichem und Privatem, zwischen neutralem Bildungsauftrag und privatwirtschaftlicher Indienstnahme sind fließender und löchriger, als es auf den ersten Blick scheint", kritisiert die GEW in ihren regelmäßig erscheinenden Berichten zur Privatisierung des Bildungswesens. Dabei sei die Schule der Sektor, der am meisten dem Staat und dem Grundgesetz verpflichtet sei. Doch das grundgesetzliche Gebot der Neutralität und Chancengleichheit vertrage sich nicht mit Gebühren, Marktinteressen oder Kommerz. Es gibt mittlerweile einige gemeinnützige Stiftungen privater Unternehmen, die sich um Bildungsbelange kümmern: die Robert Bosch Stiftung, die Mercator-Stiftung, die Herbert Quandt-Stiftung, die Deutsche Bank Stiftung, die Telekom Stiftung, die Vodafone Stiftung oder die Stiftung des Haribo-Unternehmers Hans Riegel. Aber keine davon hat so viel Einfluss auf die Bildungspolitik wie die Bertelsmann Stiftung aus Gütersloh. Die besitzt mittlerweile (zusammen mit der Stiftung zur Förderung der Hochschulrektorenkonferenz) eigene Tochterinstitute wie das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE), mit dem sie einzelne Universitäten und die Kultusministerien der Bundesländer berät und ein beliebtes Ranking der Universitäten erstellt. Mit ihm bestimmt sie, welche Hochschulen starken Zulauf an Studenten und Geldmitteln erhalten. +Die GEW beschreibt die Bertelsmann Stiftung als Sphinx mit zwei Gesichtern: als "Dienerin der Gesellschaft und als trojanisches Pferd der neoliberalen Privatisierer". Die Gewerkschaft hat 2009 beschlossen, nicht mehr mit der Stiftung zu kooperieren, weil die Ziele der Stiftung "nicht mit denen der GEW vereinbar" seien. Während die GEW von Staatlichkeit, Steuerfinanzierung und Demokratie geprägt sei, gehe es Bertelsmann um Wettbewerb, Markt, Effizienz und Effektivität. In Deutschland würde die Bertelsmann Stiftung gerne den Beamtenstatus der Lehrer abschaffen und ihre Arbeitsverträge flexibler gestalten. Damit stünde Bertelsmann und anderen Unternehmen auf einen Schlag ein neues Geschäftsfeld offen: Mit Billiglehrern könnten sie Schulen betreiben und Gewinn erwirtschaften. Bislang ist ihnen das mit allgemeinen Schulen noch nicht gelungen, weil die Personalkosten zu hoch sind. +Zunächst in NRW, dann in anderen Bundesländern hat sie das Modell der selbstständigen Schule etabliert. Dabei soll ein Schulleiter selbst entscheiden, ob er seinen Etat lieber für ein Chemielabor oder eine zusätzliche Lehrkraft einsetzen will. Die GEW warnt davor, dass Schulleiter so verleitet würden, Aushilfskräfte und Billiglehrer einzustellen. Mit viel Geld und zahlreichen Konferenzen, mit langem Atem und einem ausgesuchten Netzwerk von Wissenschaftlern, Politikern und Meinungsführern haben die Stiftung und ihr Centrum für Hochschulentwicklung die Hochschulpolitik reformiert. In das Hochschulfreiheitsgesetz in NRW wurden Anregungen der Stiftung direkt aufgenommen, und dort und in anderen Bundesländern hat das CHE ihr Modell der "entfesselten Hochschule" durchgesetzt, die in sogenannten Hochschulräten von Wirtschaftsmanagern beraten wird und für deren Bedürfnisse am Markt ausbildet. Sie verändern die Ausrichtung, indem sie Studenten nicht mehr allgemein für einen Beruf bilden, sondern ausbilden. +Alte und neue Akteure kämpfen um Marktanteile. Zum einen dringen Unternehmen in neue Felder vor. Der Keks-Hersteller Bahlsen, Coca-Cola oder Sparkassen finanzieren Unterrichtsmaterialien. Der Versicherungskonzern Allianz organisiert einen kostenlosen "Berufschancen-Test" für Schüler – und nutzt die gesammelten Daten zur Kundenwerbung. Das Potential für Geschäftsideen ist riesig: Bundesweit gibt es etwa 45.000 Schulen mit rund zwölf Millionen Schülern, die über rund zweieinhalb Milliarden Euro Taschengeld und Geldzuwendungen jährlich verfügen. Seit einigen Jahren drängen auch neue private Anbieter auf diesen Markt. Sie verkaufen vor allem Dienstleistungen in den Bereichen Qualitätsentwicklung, Evaluation, Beratung, Coaching von Schulleitern, Fortbildung von Lehrkräften, E-Learning sowie Entwicklung und Vertrieb von Unterrichtsmaterialien. Dazu gehören beispielsweise der Privatschulkonzern Phorms Holding SE und der Berliner Verein Bildungscent e. V. Phorms unterhält in Berlin, Hamburg, Frankfurt, Steinbach/Taunus und München Kitas, Vorschulen, Grundschulen und Gymnasien und unterrichtet bilingual rund 1.800 Kinder. +In Stuttgart residiert mit Klett einer der größten Schulbuchverlage des Landes, der sich selbstbewusst "das führende Bildungsunternehmen in Deutschland" nennt. Das Geschäft läuft international: Die Klett Gruppe betreibt 59 Einzelfirmen an 40 Standorten in 17 Ländern. Klett verlegt nicht nur das klassische Schulbuch, den "Grammatiktrainer" sowie Ratgeber für die erfolgreiche Bewerbung, Fachliteratur oder Tolkiens "Der Herr der Ringe". Im Angebot sind heute auch Schulen und Bildungseinrichtungen für jede Altersstufe: für Kleinkinder über Schüler bis zu Erwachsenen. Dazu hat Klett im Oktober 2011 eine Tochterfirma gegründet, die derzeit rund 30 Kitas, Krippen und Ganztagesschulen betreibt und zum Schuljahr 2012/13 eine Ganztages-Grundschule in Stuttgart starten will. +Vor Jahren hat auch Bertelsmann mit seiner Dienstleistungstochter Arvato schon einmal Pläne für das Betreiben von Privatschulen in Deutschland entwickelt. Kritiker fürchten, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis Bertelsmann die Pläne aus der Schublade holt. Eine Tochterfirma von Bertelsmann hat bereits eine Plattform für Online-Nachhilfe entwickelt. "An dem Megageschäft Bildung kommt das Unternehmen Bertelsmann gar nicht vorbei", sagte Stiftungschef Gunter Thielen gegenüber der FAZ und fügte vorsichtshalber an: "Aber wir passen auf, dass wir hier die Dinge auseinanderhalten. Die Stiftung wird ja oft als Speerspitze der unternehmerischen Interessen des Konzerns beschrieben. Das ist komplett falsch." +Zwar versichert die Bertelsmann Stiftung, dass sie unabhängig agiere. Aber ihr Chef Gunter Thielen ist zugleich Aufsichtsratsvorsitzender der Bertelsmann AG und muss deshalb auch Interesse am Gewinn haben. Das Unternehmen sieht einen riesigen Wachstumsmarkt – Analysten schätzen das Volumen des tertiären Bildungssektors weltweit auf über eine Billion Dollar. Gemeinsam mit Hochschulen will Bertelsmann nun Online-Studiengänge und zusammen mit der Brandman University in den USA ab August auch bilinguale Studiengänge anbieten, die vor allem auf die spanischsprechende Bevölkerung in den USA zugeschnitten sein werden. Wenn die Privatisierung der Bildung in Deutschland weiter voranschreitet, wird man dieses Geschäft kaum auf die USA beschränken. diff --git a/fluter/bilanz-berlinale-2019.txt b/fluter/bilanz-berlinale-2019.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9718ffc0d3c4cd289dafd60e227f699a6f2955ea --- /dev/null +++ b/fluter/bilanz-berlinale-2019.txt @@ -0,0 +1,60 @@ +Ökostrom wird "innerhalb des Einflussbereichs der Berlinale" verwendet, und da wird es dann schon schwieriger. "Das gilt für Büroflächen, den Martin-Gropius-Bau und unsere Stromentnahme im öffentlichen Straßenland", sagt Wachs. Die gemieteten Kinos entscheiden hingegen selbst, wie sie sich versorgen – wobei etwa das Theater am Potsdamer Platz, wo die Premieren im Wettbewerb stattfinden, Ökostrom verwendet. +Mit Strom fahren auch die dicken Audi-Limousinen, die unter anderem die Stars zum roten Teppich bringen – also ohne Abgase. Ob eine Marke aus dem VW-Konzern, einem bedeutenden Akteur im Dieselskandal, als Hauptsponsor die richtige Botschaft in Sachen Umwelt ist, das ist dann wieder eine andere Frage. +Das größte Problem ist aber ein anderes: die vielen Flüge, wenn Filmleute, Journalist*innen und Besucher*innen aus aller Welt nach Berlin kommen. Eine Analyse des Öko-Instituts für das Jahr 2014 ergab, dass Anreise, Unterkunft und Transport der Gäste vor Ort für 92 Prozent der Gesamtemissionen der Berlinale verantwortlich waren – damals übrigens 20.242 Tonnen CO2. "Hier stößt man an Grenzen des Möglichen", sagt Wachs. "Bei einer Veranstaltung, deren Wesenskern vom persönlichen Austausch der Besucher untereinander und mit dem Publikum bestimmt wird, ist es derzeit praktisch unmöglich, diesen Faktor wesentlich zu reduzieren." Andererseits werden viele Flüge wiederum gespart, weil sich sehr viele Filmschaffende an einem Ort treffen – statt sich über das Jahr verteilt gegenseitig einzeln zu besuchen. +Immerhin verzichten die Berlinale-Mitarbeiter*innen bei Dienstreisen innerhalb Deutschlands weitestgehend auf Flüge. CO2-Kompensationszahlungen für ihre Flüge sind geplant, für Festivalteilnehmer und Besucher nicht, weil die ihre Reisen auf eigene Kosten buchen. +Bleibt die Frage, ob die Digitalisierung Umweltvorteile bringt. Da bekomme man auch von Experten keine klare Antwort, so Johannes Wachs. Einerseits fällt der Transport von über 20 Kilo schweren Filmkopien weg. Andererseits kostet die Vorhaltung und Überspiegelung digitaler Daten sehr viel Strom. Eine wissenschaftliche Untersuchung über den Umweltvorteil digitaler Datenträger gibt es noch nicht. "Gefühlt würde ich sagen, dass die Digitalisierung an dieser Stelle einen ressourcenschonenden Effekt hat", so Wachs. +(mbr) + + + + + +Der "Goldene Bär" für die beste Inszenierung des Berlinale-Presseausweises geht ganz klar an Simone Ahrweiler. Sie ist Volontärin bei der BpB und schreibt regelmäßig für fluter.de. +Greatest Hit:"Systemsprenger" nötigt dem Publikum einiges ab – die Leidensgeschichte der neunjährigen Benni, die nicht mehr bei ihrer überforderten Mutter leben kann. Benni reagiert darauf mit unkontrollierbaren Wutanfällen und wird von einer Einrichtung zur nächsten geschickt. Man leidet, zuckt zusammen, kann das Gezeigte kaum Ertragen – weil das Szenario so schlimm und die Schauspieler so gut sind. + +Greatest Shit:Männer, die auf Leinwände starren, werden mitunter sogar handgreiflich, wenn sich ein unbedarfter Journalist erdreistet, den angeblich reservierten Sitzplatz zu belegen. Der lautstarke Streit, der sich daraus entwickelte, war zwar letztlich aufregender als der nachfolgende Film, aber natürlich trotzdem total daneben. + +Hat mich berührt:Folgerichtig: Helena Zengel als unberechenbare, aggressive und doch verletzliche Benni in "Systemsprenger". Wer dieses wunderbare Mädchen nicht in sein Herz schließt, der hat keins. + +Das habe ich gelernt:Die ultimative Berlinale-Experience: Drei Filme an einem Tag gucken. Ein Klassiker unter alteingesessenen Berlinale-Akkreditierten, dachte ich, das probiere ich dieses Jahr auch mal. Außer Kopfschmerzen hat mir diese Erfahrung aber nichts gebracht. + + + + + + + +Wenn sich Michael Brake mal nicht mit den Größen der Leinwände der Berlinale Spielstätten auseinandersetzt, Bingo-Kategorien ausdenkt oder Politisches im alltäglichen Festivalgeschehen entdeckt, arbeitet er u.a. für die Taz. + +Greatest Hit:"Der Boden unter den Füßen" von Marie Kreutzer, der Film über eine junge aufstrebende Unternehmensberaterin, die neben ihrem Job auch noch die Betreuung ihrer paranoid-schizophrenen Schwester zu managen versucht und selbst dem Wahnsinn näher rückt. Die entsättigten Bilder, die Nicht-Orte der Businesswelt, die Fragilität der Ereignisse – das hat mir alles gut gefallen. +Greatest Shit:Mein schwächster Film war Fatih Akins "Goldener Handschuh". Die schwächste Veranstaltung war eine Podiumsdiskussion mit Damon Gameau, dem Regisseur des Öko-Optimismus-Essayfilms"2040". Das lag nicht an Gameau, sondern an den fünf Diskutant*innen, die mehr aneinander vorbeiredeten als miteinander. Und am oberpeinlichen Moderator, der die anwesenden Jugendlichen immer wieder fragte, ob sie die in Englisch geführte Diskussion auch verstünden, und ihnen sagte, sie dürften auch auf Deutsch fragen. Ich wollte die ganze Zeit aufspringen und rufen: "Digger, jeder Teenager in Deutschland, der zu so einer Veranstaltung kommt, spricht besser und akzentfreier Englisch als du!" Hab ich dann aber doch nicht. +Hat mich berührt:Die Erzählungen von Frauen aus Timor-Leste über die Massenvergewaltigungen indonesischer Soldaten während der Besetzung im Kurzfilm "Memoria". +Das habe ich gelernt:Dass der Mensch pro Tag 156 Millionen Tonnen Erde, Steine und andere Materie an der Erdoberfläche bewegt, die Natur aber nur 60 Millionen –in Nikolaus Geyrhalters Dokumentarfilm "Erde". + + + + + + + + + + +Schönes Hemd, hässliches Foto: Felix Denk ist Redakteur bei fluter.de und kümmert sich da im Wesentlichen um die Kultur und im Speziellen um die Berlinale +Greatest Hit:Ich hab's zwar nicht so mit Rockmusik, aber PJ Harvey in Anne-Demeulemeester-Klamotten zuzusehen, wie sie ihr letztes Album aufnimmt,das war schon gut. Gern gelesen habe ich denBlog von Dietrich Brüggemann, der aus Sicht eines Regisseurs den ganzen Festivaltrubel beschreibt. +Greatest Shit:Meine fiebrige Erkältung, die diesmal zum Start der Berlinale und nicht wie sonst immer am Ende kam. Filmisch enttäuschend fand ich die Türsteher-Doku "Berlin Bouncer", die zwar drei prägende Gestalten des Nachtlebens solide porträtiert, das Wesen ihres superautoritären, zur allabendlichen Gemeinschaftsbildung aber unerlässlichen Jobs rätselhafterweise kaum thematisiert. +Hat mich berührt:Wie in "Your Turn" die Schüler in São Paulo auf die Straße gehen, damit ihre Schulen nicht geschlossen werden. Obwohl sie die ganze Zeit von der Militärpolizei verprügelt werden. +Das habe ich gelernt:Wenn ein Film aus China über die Kulturrevolution "aus technischen Gründen" kurzfristig nicht laufen kann, wie bei "One Second" von Zhang Yimou geschehen, dann stecken da vermutlich keine technischen Gründe dahinter, sondern einfach Zensur. + + + + + + +Behält den Überblick auch bei 40 Filmvorstellungen am Tag. Kein Wunder, dass Christine Stöckel dieses Jahr unser Berlinale-Bingo gewonnen hat. +Greatest Hit:"Der Boden unter den Füßen". Psychische Erkrankungen sind leider immer noch ein Tabuthema. Viele Betroffene und Angehörige trauen sich deshalb nicht, öffentlich darüber zu reden. Der Film zeigt sehr gut, warum sich das ändern muss. +Greatest Shit:Ich habe wieder viel zu wenige Filme gesehen. Am Ende verbringt man doch mehr Berlinale-Zeit im Pressebereich am Laptop als im Kinosaal. Das muss ich im nächsten Jahr besser hinbekommen. +Hat mich berührt:Wie die "Knives and Skin"-Protagonistinnen im Chor ihrer Schule alte Popsongs aus den 80er-Jahren singen. Ich kann mich leider nicht mehr genau an die Songtitel erinnern. Wenn ihr's tut, gern in die Kommentare schreiben! +Das habe ich gelernt:Dank der Retrospektive: noch mehr überfeministische Bewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre– wie sich Frauen zusammentaten und gegen männliche Machtstrukturen vorgingen. Damals wie heute ein wichtiges Thema. + + diff --git a/fluter/bildung-chancen-junge-menschen-video.txt b/fluter/bildung-chancen-junge-menschen-video.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/bildung-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt b/fluter/bildung-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..65a6bc5d69d799bc0fe9e6daf425ba33771a2c6a --- /dev/null +++ b/fluter/bildung-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt @@ -0,0 +1 @@ +fluter-Redakteur Fabian Dietrich heckte kurzzeitig einen perfiden Plan aus. Auf einer von ehemaligen Schulfreunden bevölkerten Party lernte er einen Bierbrauer kennen, der ihn davon überzeugen konnte, dass das Studium des Bierbrauens an der bayrischen Hochschule Weihenstephan einen Menschen nicht nur zum Bewahrer einer jahrhundertealten Tradition macht, sondern ihm sozusagen auch die Welt zu Füßen legt, da man sogar in den entlegensten Teilen des Planeten händeringend nach deutschen Braumeistern sucht. Unter dem Humpen für Humpen stärker werdenden Einfluss des Biers verstieg sich Dietrich dann in seiner kurzfristigen Begeisterung darauf, ins gelobte Land nach Weihenstephan zu fahren, um eine Eloge auf das Biertrinken, äh, Bierbrauen zu schreiben. Doch es brauchte nicht erst den weisen Rat seiner Kollegen, um ihn von diesem Plan abzubringen. Als er am nächsten Morgen mit einem (sicherlich auch einer jahrhundertealten Tradition entstammenden) Mörderkater aufwachte, wurde er wankelmütig und ließ es bleiben. diff --git a/fluter/bildungsluecke.txt b/fluter/bildungsluecke.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b59bb7381e40149cf08f1caf91ffd1785aabd4aa --- /dev/null +++ b/fluter/bildungsluecke.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Die Erfahrungen aus dem Ruhrgebiet wiederholen sich täglich in ganz Deutschland. Den Grund sehen viele Forscher im steigen-den Medienkonsum der jungen Generation. Viele Kinder erleben Natur heute im "Dschungelcamp" von RTL oder durch Entwicklungen der Softwareindustrie. "Sie kennen mehr Handyklingeltöne als Vogelstimmen und mehr Automarken als Wildtiere", sagt Claus-Peter Hutter, Leiter der Umweltakademie Baden-Württemberg. Er und andere Experten sagen: Die Natur wird uns zunehmend fremd. +Konkret heißt das: Nur jeder dritte deutsche Schüler im Alter zwischen zwölf und 15 Jahren hat jemals einen Käfer oder Schmetterling angefasst, jeder vierte von ihnen hat noch nie ein Reh beobachtet. Immer weniger Jugendliche gehen Rad fahren oder paddeln. Das zeigen Ergebnisse des "Jugendreport Natur", der auf Studien des Marburger Natursoziologen Rainer Brämer basiert und zuletzt 2006 veröffentlicht wurde. +Akademieleiter Hutter vermutet einen folgenreichen Wertewandel unserer Gesellschaft: "Früher wurde das Grundlagenwissen über Tiere und Pflanzen von einer Generation zur nächsten weitergegeben. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten bricht das nun weg." Doch nur wer seine Umwelt kenne, gehe auch pfleglich mit ihr um. +Der Soziologe Rainer Brämer untersucht die Beziehung von Jugendlichen zur Natur. Eines seiner wichtigsten Ergebnisse: "Je häufiger die Kinder Medien nutzen, desto geringer ist ihr Naturinteresse." Laut "Jugendreport Natur" besitzen schon 70 Prozent der Schüler in der sechsten Klasse einen eigenen Fernseher oder PC. Jugendliche verbringen wöchentlich rund 20 Stunden mit ihren Freunden vor dem Bildschirm. Schuld an der Entfremdung sei aber nicht nur der zunehmende Medienkonsum in den Kinderzimmern, sagt der Soziologe. Allgemein vergrößere sich die Distanz zu natürlichen Prozessen. Lebten 1994 noch 18,7 Prozent der deutschen Bevölkerung in kleineren ländlichen Gemeinden, sind esheute nur noch 15,2 Prozent. Die Wege zu naturbelassenen Wäldern und Seen sind weit geworden. Und auch die Lebensmittel wachsen seltener im eigenen Garten, sie werden von Feldern und Gewächshäusern im Ausland in heimische Supermärkte geliefert. Weniger als die Hälfte der im "Jugendreport" befragten Schüler weiß, aus welchen Pflanzen Rosinen oder Speiseöl hergestellt werden. +Die Schulen können diesen Mangel oft nicht durch Ausflüge in die Natur ausgleichen. Die in vielen Bundesländern vollzogene Verkürzung der Abiturzeit auf zwölf Schuljahre und ein ohnehin voll gepackter Stundenplan machen solche Aktionen kaum möglich. Zudem hätten andere Naturwissenschaften die Artenkunde aus den Schulbüchern verdrängt, kritisiert Umweltschützer Hutter. +Während der Nachwuchs zu Hause sitzt und am Computer spielt, so scheint es, haben die Erwachsenen Wälder und Wiesen wiederentdeckt. Viele Spazierwege sind derzeit überlaufen. Wandern, Klettern, Walken: Die Outdoor-Branche boomt. Gingen im Jahr 1995 lediglich 50 Prozent der Deutschen wandern, waren es 2004 schon 62 Prozent, wie Ergebnisse des Allensbacher Instituts für Demo-skopie zeigen."Erwachsene streben heute mehr zur Natur", sagt Brämer, der in Marburg auch das Deutsche Wanderinstitut leitet. Bei Jugendlichen geht der Trend in die andere Richtung, sie vertreiben sich ihre Zeit immer lieber indoor. Das Durchschnittsalter der Wandersleute lag 2005 bei 48 Jahren. +Brämer interpretiert den Wanderdrang der Erwachsenen als "Ausbruch aus einer übertechnisierten Welt" und als "Zeichen mentaler Erschöpfung". In der Natur würden die Menschen wieder einen emotionalen Zugang zu ihrer Umwelt erleben, im Unterschied zur stark distanzierten Beziehung zu ihrer alltäglichen Umgebung in den Städten. Das steigere nicht nur die Kreativität, sondern auch das Bewusstsein für Nachhaltigkeit. Ohne Kontakt zur Natur, das predigen auch andere Fachleute, kann der Mensch nicht sein. +Roger Ulrich, Experte für Gesundheitsdesign an einer Architekturhochschule im US-Bundesstaat Texas, hat belegt, dass natürliche Umgebungen oder Parks sogar die menschliche Gesundheit fördern. Untersuchungen in Krankenhäusern haben ergeben, dass schon Blicke aus dem Fenster auf Grünflächen nach wenigen Minuten eine beruhigende Wirkung auf Patienten haben und ihre Stimmung verbessern. Vielen jungen Menschen fehlen jedoch Erlebnisse in der Natur. Der US-Journalist Richard Louv warnt daher vor der "Nature-Deficit Disorder", einer mentalen und gesundheitlichen Störung bei Kindern, die durch mangelnden Kontakt zur Umwelt hervorgerufen wird. +Durch das Ignorieren der Natur schadet der Mensch also nicht nur der Pflanzen- und Tierwelt, sondern auch sich selbst, so folgern die Wissenschaftler. Fragt man Claus-Peter Hutter, dann steht letztlich sogar die Überlebensfähigkeit der Menschen auf dem Spiel: "Wer soll denn in Zukunft mal Feuer machen, wenn die Heizung ausfällt?" diff --git a/fluter/bildungssystem-in-frankreich.txt b/fluter/bildungssystem-in-frankreich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..36f0572723f3cd96c51fdc2b369c174adfb18b47 --- /dev/null +++ b/fluter/bildungssystem-in-frankreich.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Im Zusammenhang mit den Ungleichheiten im französischen Bildungssystem wird immer wieder auf die "schulische Landkarte" hingewiesen: Abhängig vom jeweiligen Wohnsitz müssen Eltern ihre Kinder zu einer bestimmten Schule schicken. Die Folge: Vor allem Kinder und Jugendliche aus wohlhabenden Familien besuchen Schulen mit einem höheren Leistungsniveau. Seit Anfang der 1980er-Jahre wird versucht, dem entgegenzuwirken. Unter dem Schlagwort "positive Diskriminierung" sind Zonen mit besonderem Erziehungsbedarf eingerichtet worden. Schulen in diesen Zonen erhalten zum Beispiel zusätzliche Lehrerinnen und Lehrer. +Allerdings scheint das schulische Schicksal in Frankreich nach wie vor eng mit der sozialen Herkunft verbunden zu sein – zumindest kommen die letzten PISA-Studien zu diesem Schluss. Die Kluft zwischen Schülerinnen und Schülern aus bessergestellten und sozial benachteiligten Schichten war laut PISA-Studie 2009 in Frankreich und Neuseeland am größten. Auch 2012 und 2015 schnitt Frankreich in dieser Hinsicht schlecht ab. +Das französische Bildungssystem ist ein Spiegel dafür, wie sich die französische Gesellschaft selbst sieht. Auch deshalb steht es häufig im Mittelpunkt des politischen Interesses, und fast jeder Regierungswechsel bringt Reformen mit sich. Die Präsidentschaftskandidatin des rechtsextremen Front National, Marine Le Pen, hat vor einiger Zeit gefordert, dass für Personen, die zwar eine Aufenthaltserlaubnis haben, aber keine Abgaben zahlen, der Schulbesuch ihrer Kinder nicht mehr kostenlos sein soll. Das aber könnte dem Grundsatz der Gleichheit widersprechen. Schon in Frankreichs erster Verfassung von 1791 heißt es: "Es soll eine öffentliche Bildungseinrichtung entworfen und organisiert werden, die allen Bürgern offensteht, die kostenlos jedem Menschen die unerlässlichen Bildungsinhalte vermittelt." diff --git a/fluter/billie-eilish-fandom.txt b/fluter/billie-eilish-fandom.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..081e7ac7a2995e35b3b113b51c541a65de16f3b8 --- /dev/null +++ b/fluter/billie-eilish-fandom.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Fandoms gibt es, seit es Populärkultur gibt – also schon lange bevor die Beatles reihenweise Teenager in Ohnmacht fallen ließen, bevor es sexy Fanfiction über Frodo Beutlin und seinen Kumpel Sam gab oder sich jemand zum ersten Mal als Stormtrooper verkleidete. Alles soll 1887 begonnen haben, als sich Sir Arthur Conan Doyle einen Londoner Detektiv ausdachte – und die Leute nicht genug bekommen konnten von Sherlock Holmes. Sie schrieben ihre eigenen Geschichten (bevor es Fanfiction hieß) und gingen sogar auf die Straße, als Doyle seinen Protagonisten 1893 zwischenzeitlich umbrachte. +Heute gibt es unzählige solcher Fanzusammenschlüsse. Sie heißen Swifties, Bronies, BeyHives, Whovians oder Cumberbitches, sie rotten sich on- wie offline zusammen und setzen unglaubliche Kräfte frei, um ihrer geteilten Schwärmerei Ausdruck zu verleihen. Das beeindruckendste Beispiel ist derzeit wohl die "A.R.M.Y." – das Fandom rund um die K-Pop-Band BTS. Der Name ist kein Zufall, die Fans stehen wie eine durchorganisierte Armee hinter der Band aus Südkorea. 2017 bescherten sie BTS mit 300 Millionen Votes den Preis für den "Top Social Artist" der Billboard Music Awards, sie sammeln Spenden für wohltätige Zwecke und mischen sich auch politisch ein. Nachdem rassistisch motivierten Mord an George Floydkaperte die A.R.M.Y. 2020 den Hashtag #whitelivesmatter und flutete ihn mit K-Pop-Fancontent, um ihn für Rechtsextreme unbrauchbar zu machen. Im selben Jahr meldeten sich Tausende Mitglieder für eine Wahlkampfveranstaltung von Donald Trump an – um dann nicht hinzugehen. Statt einer Million erwarteter Menschen kamen 6.200. + +Unsere Autorin vor der Billie Wall in Berlin... +... und mit Cartoon-Billie auf dem Oberarm +Übertreiben es Fans mit ihrer Obsession, werden sie "Stans". Im Song "Stan" rappte Eminem 2000 über einen gleichnamigen Fan, dessen Leidenschaft für Eminem lebensbedrohliche Ausmaße annimmt. Stan schreibt Briefe an sein Idol, die klingen, als würden die beiden sich gut kennen. Er erlebt eine extreme Version dessen, was alle Stans eint: eine parasoziale Beziehung zu seinem Star, ein Gefühl von Nähe, das überwältigend ist, aber eben auch einseitig. +Billies Gesicht ist mir vertraut wie das einer besten Freundin. Manchmal sehe ich ein Outfit und denke: "Das würde ihr gefallen."Ihre Insta-Storyserscheinen bei mir immer ganz vorne, umringt von meinen echten Freundinnen. Wenn ich an Billie denke, kickt die parasoziale Beziehung auch bei mir. Das Gefühl kennt sie übrigens selbst: Als Billie Teenager war, litt sie am "Bieber Fever". Sie war derart besessen von Justin Bieber, dass sich ihre Mutter ernsthaft sorgte. +Nicht unberechtigt: Das Fansein kann gefährlich werden, wenn man vergisst, dass die eigenen Gefühle nicht von der Gegenseite geteilt werden. Als sich 1996 Take That trennten, mussten beispielsweise Sorgentelefone eingerichtet werden, weil einige Fans davon sprachen, dass mit dem Ende der Boyband auch ihr Leben vorbei sei. Viele andere stalken ihre Idole. Und von den Ausmaßen, die Fankultur bei manchen Sportarten annimmt, fange ich hier gar nicht erst an. +Dabei ist das Fansein eigentlich gesund. Studien zeigen, dass FandomsIdentität stiften, das Selbstbewusstsein stärken und so Depressionen vorbeugen können (was man besonders in der Pubertät gut gebrauchen kann). Wer Musik hört, die er kennt und liebt,setzt Dopamin frei. Fansein macht also glücklich – solange man sich der Tatsache bewusst ist, dass die eigene Liebe eine Projektion ist und eine kleine Idiotie: Ich schwärme für einen Menschen, von dem ich kaum etwas weiß, dem ich in der Regel nie begegnen werde, von dem ich nur eine Marketingversion kenne. +Überhaupt, Marketing: Meine Beziehung zu Billie unterscheidet sich auch insofern von meinen zwischenmenschlichen, als dass sie sehr viel teurer ist. Vergangenes Jahr habe ich für ein Konzert knapp 100 Euro lockergemacht. Natürlich war es jeden Cent wert. Ich dachte trotzdem wehmütig an die vor allem jungen Fans, denen das Geld für diese Erfahrung fehlt. +Dieser Text istim fluter Nr. 89 "Liebe"erschienen +Uns Billie-Fans fehlt es auch sonst nicht an Investitionsmöglichkeiten: ständig neues Merch, Meet & Greets, exklusives Vinyl, drei verschiedene Düfte, Sneaker aus einer Nike-Kooperation und so weiter. Ich bin da nicht immun. Ein paar Mal konnte ich mich noch besinnen, bevor ich dann doch das Shirt für 20 Euro Versand aus den USA bestellte, das mir zu gut gefiel. +Ist das eine Ausbeutung von Gefühlen? Vor allem den erfolgreichsten Künstlerinnen und Künstlern wird mitunter zu wenig Einsatz für ein möglichst barrierearmes Fandom vorgeworfen. Billie, Harry, Taylor und Co. haben die Regeln im Popbusiness zwar nicht gemacht, aber Einfluss auf sie. +Dabei muss ich nicht viel Geld ausgeben, um mir an einem schlechten Tag einen Lieblingssong anzuhören und den Tag so effektiv besser zu machen, mich beim Gedanken an ein neues Album zu fühlen, als wäre ich wieder acht und es wäre bald Weihnachten. Dosiert man es richtig, ist das Fansein ein Lifehack: eine kleine, nie versiegende Dopaminquelle. Danke dafür, Billie! diff --git a/fluter/biodiversit%C3%A4t-zu-wenig-schutz.txt b/fluter/biodiversit%C3%A4t-zu-wenig-schutz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..444c262673b63d99402684dc9ac9c488221e9fab --- /dev/null +++ b/fluter/biodiversit%C3%A4t-zu-wenig-schutz.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Bei den Gründen dafür wird zwischen direkten und indirekten Treibern unterschieden. Direkte Treiber sind zum Beispiel dieaktive Zerstörung der Lebensräumevon Pflanzen und Tieren sowie der Klimawandel und auch die Übernutzung durch die Landwirtschaft. Indirekte Treiber sind Faktoren wie die Bevölkerungszunahme oderKonsumgewohnheiten.Auch durch die schiere Menge an Ressourcen, die durch uns Menschen genutzt werden, ist auf 75 Prozent der weltweiten Landoberfläche die Qualität der Böden inzwischen deutlich verändert, sind 66 Prozent der Meeresfläche in Mitleidenschaft gezogen und über 85 Prozent der Feuchtgebiete bereits verloren gegangen – alles Lebensräume für Tiere und Pflanzen. +Indem bei Ackerbau und Viehzucht mehrheitlich auf industrielle Methoden wie Massentierhaltung und großflächige Verwendung von Pestiziden gesetzt wird, kann zwar kurzfristig die Produktivität erhöht werden, langfristig gefährdet dieses Landwirtschaften aber die zukünftige Ernährung aller Menschen. Denn zu etwa drei Vierteln hängt die weltweite Nahrungsmittelproduktion von Bestäubern wie zum Beispiel Insekten, Vögeln oder Fledermäusen ab, denen durch das Vordringen der Landwirtschaft und ihren Einsatz von Pflanzenschutzmitteln die Lebensgrundlage entzogen wird. Wichtige Obstbäume wie der Apfel- oder Birnbaum werden ausschließlich von Insekten bestäubt. +Bereits seit den 1970er-Jahren wird in der Politik über den dramatischen Verlust von Biodiversität diskutiert. Das erste bereinkommen der Vereinten Nationen über die biologische Vielfalt trat Ende 1993 in Kraft. Diese "Biodiversitätskonvention" zählt heute 196 Vertragspartner, nur der Vatikan und die USA haben sie bisher nicht ratifiziert. Alle zwei Jahre treffen sich die Vertragsstaaten, um den Stand der Umsetzung abzugleichen und sieweiter voranzutreiben. Im Jahr 2000 wurde Biodiversität auch in den Katalog der UN-Millenniumsentwicklungsziele aufgenommen. Doch trotz Absichtserklärungen ist eine Wende nicht in Sicht. +Experten können für das bisherige Scheitern konkrete Gründe benennen: Einerseits wird zu wenig Geld für den Naturschutz ausgegeben, andererseits stehen andere Politikfelder und ihre Lobbys im Weg. So werdenMassentierhaltung, der großräumige Einsatz von Pestiziden und riesige Flächen mit Monokulturen mit Verweis auf die globale Konkurrenz gerechtfertigt. Und während das Bundesumweltministerium dringend anmahnt, eine schonendere Landwirtschaft verstärkt finanziell zu fördern, ist das Landwirtschaftsministerium zurückhaltender. Aber auch dasKonsumverhalten der Menschen,das weiterhin auf großen Ressourcenverbrauch angelegt ist, steht einem Wandel entgegen. +Laut aktuellen Umfragen entwickeln jedoch wachsende Teile der Gesellschaft eine positive Haltung zum Schutz der Umwelt – ein Trend, der auch die Politik beeinflussen könnte, die Weichen für den Erhalt der Biodiversität anders zu stellen. Im chinesischen Kunming soll im Laufe dieses Jahres die nächste Vertragsstaatenkonferenz der UN-Biodiversitätskonvention stattfinden. Dort sollen nicht nur neue Ziele vereinbart werden. Im Kern geht es in dem Vertragsentwurf darum, wie die gelebten wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Modelle verändert werden müssen, um den weiteren Verlust von Biodiversität zu stoppen. diff --git a/fluter/biogas-klimawandel-energie-zukunft.txt b/fluter/biogas-klimawandel-energie-zukunft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ffeee1bf7b472625f96b3994ac4da3c71f6dae0a --- /dev/null +++ b/fluter/biogas-klimawandel-energie-zukunft.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Geht es nach der EU, sollen viel mehr Anlagen wie die im brandenburgischen Barsikow entstehen. SeitRusslands Angriff auf die Ukrainewill und muss Europa unabhängiger werden von russischem Erdgas, und zwar so schnell es geht.Die Europäische Kommission hat deshalb einen großen "REPowerEU-Plan" angekündigt, der auch Biomethan-Ziele vorsieht: Bis 2030 sollen in der EU 35 Milliarden Kubikmeter Methan aus Biomasse produziert werden. Das entspräche etwas mehr als einem Viertel des Erdgases, das die EU 2021 per Pipeline aus Russland gekauft hat. Aktuell liegt die Methanproduktion der EU bei drei Milliarden Kubikmetern. Fast die Hälfte kommt aus Landwirtschaftsbetrieben und Biogasunternehmen in Deutschland. Energieinstitute und NGOs zählten zuletzt etwa 1.000 Biogasanlagen in Europa, die Biomethan produzieren. Um die EU-Ziele bis 2030 zu erreichen, müsste sich ihre Zahl vervielfachen. +"Solche Anlagen funktionieren nach einem einfachen Prinzip", erklärt Sven Staffa. Als Ausgangsstoffe werden klein gehäckselte Pflanzen, Gülle, Mist und andere organische Produkte in riesige Fermenter gegeben. "Die Anlage füttern" nennt Staffa das. Dort treffen sie auf eine etwa 40 Grad warme Flüssigkeit, in der sich Bakterien wohlfühlen. Sobald die die Rohstoffe zersetzen, entsteht Biogas. Rührwerke in der Tiefe des Tanks halten die Masse in Bewegung, sodass nach und nach das Gas aus der Brühe blubbert und sich unter der blauen Dachplane sammelt. Ist Staffas Taschenlampe aus, bekommt man von alldem nichts mit. Es riecht dezent nach Bauernhof, der Tank scheint gut isoliert. + + + + +Am Ende könne man das Gas aus den Tanks pumpen, erzählt Staffa. Die meisten Biogasanlagen in Europa verbrennen es noch vor Ort, um damit Turbinen anzutreiben und elektrischen Strom zu produzieren. Staffas Anlage in Barsikow dagegen trennt die verschiedenen Gase. Das Methan wird von unerwünschten Reststoffen und Feuchtigkeit gereinigt und von Kompressoren verdichtet, um es in die auf dem Gelände verlegte Erdgasleitung einzuspeisen. "Grob gerechnet können wir mit der Anlage bis zu 4.000 Zwei-Personen-Haushalte ein Jahr mit Gas versorgen", sagt Staffa. Die vergorenen Rohstoffe sind begehrte Düngemittel und kommen wieder auf die Felder. +Biogas gilt als klimaneutral, zumindest theoretisch: Anders als beim Verbrennen von fossilem Erdgas setzt Biogas nur die Menge klimaschädlichen Kohlendioxids frei, die die "verfütterten" Pflanzen zuvor der Luft entnommen haben. Das Umweltbundesamt hält das Gas aber für nicht wirklich klimaneutral, weil ein kleiner Teil des produzierten Methans bei der Produktion unkontrolliert entweiche⁠. Die teils alte Technik mancher Anlagen könne sogar dazu führen, dass die Biomethanproduktion am Ende kontraproduktiv für die Energiewende sei. Außerdem seien die entzündlichen Gase ein Risiko für Umwelt und Nachbarschaft, weil es bislang kaum verbindliche Schutzanforderungen gebe. +Die Kritik an Biogas konzentriert sich aber auch auf den Stoff, der viele deutsche Anlagen betreibt: Mais. Auch in Barsikow vergären sie vor allem Mais. Auf dem Gelände befindet sich ein riesiges Lager. Rund 150 Meter ist es lang, 50 Meter breit, bis zu 12 Meter hoch. Klein geschnitten lagert hier der Mais, den umliegende Bauern anliefern. Im Jahr verbraucht die Anlage zwischen 30.000 und 35.000 Tonnen. +Die deutschen Anlagen für die Methanproduktion werden etwa zur Hälfte mit Mais gefüttert. Das zeigt eine Studie der Deutschen Energie-Agentur. Mais sei aus drei Gründen problematisch, sagt Pierre Johannes vom Naturschutzbund (NABU). + + + + +Über jeden einzelnen dieser Punkte streiten Kritiker und Befürworter der Biogasproduktion. Die Bundesregierung wird den Maisanteil imErneuerbare-Energien-Gesetzab 2023 deckeln. Guido Ehrhardt vom Fachverband Biogas verteidigt die Produktion: Auf vielen Mais-Anbauflächen, sagt Ehrhardt, würde gar kein Getreide für die Nahrungsmittelproduktion wachsen. Dazu habe Biogas gegenüber Strom aus Wind und Sonne den Vorteil, leicht speicherbar und flexibel einsetzbar zu sein. "Die Anlagen fahren hoch, wenn zu wenig Wind und Solarenergie da ist", erklärt Ehrhardt. Zudem sei das Biogas zum Heizen und für die Wärmeherstellung in der Industrie geeigneter als der Strom aus Wind und Sonne. +Immerhin in einem Punkt herrscht Einigkeit zwischen den beiden Lagern: Reste aus der Landwirtschaft wie Gülle und Stroh sowie biologische Abfälle aus der Industrie und Privathaushalten bieten Potenzial für weitere Methangewinnung. "Wir haben nichts gegen die Biogastechnologie als solche", sagt Pierre Johannes vom NABU. "Wenn man Abfälle nutzt, die sonst zu nichts zu gebrauchen sind, ist das super." Auch Sven Staffa stimmt dem zu. "Ich habe früher in Zypern gearbeitet", sagt er. "Da wurden Abfälle jeglicher Art vergärt. Ich glaube, in Deutschland könnte in der Hinsicht deutlich mehr getan werden." +Manche machen das bereits, zum Beispiel die Berliner Stadtreinigung (BSR). Sie betreibt rund 80 Kilometer südöstlich von Barsikow in Berlin-Ruhleben eine eigene Biogasanlage. Hier werden die Bakterien nicht mit Mais, sondern mit dem Inhalt der braunen Tonnen aus Berliner Haushalten gefüttert. Das gewonnene Methan treibt eine Flotte von 160 Müllwagen an. Die BSR spart so nach eigenen Angaben 2,5 Millionen Liter Diesel pro Jahr. +Auf die Schnelle wird Methan die gigantischen russischen Erdgasimporte nicht ersetzen. Biogas wird allenfalls einen Anteil leisten – an dem wiederum jeder teilhaben kann: Anlagen wie derjenigen der BSR hilft schon jede richtig im Biomüll entsorgte Bananenschale. + +Titelbild: Paul Langrock/Zenit/laif diff --git a/fluter/biopiraterie-pflanzliche-rezepte-indigene-diebstahl.txt b/fluter/biopiraterie-pflanzliche-rezepte-indigene-diebstahl.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ff376656084b5f1ae1372e6f9c9eea962111dd93 --- /dev/null +++ b/fluter/biopiraterie-pflanzliche-rezepte-indigene-diebstahl.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Für viele Ureinwohner ist Kava mehr als ein Getränk. Es ist Teil ihrer Identität. Es gibt unzählige Mythen, Geschichten und Rituale um die Kavapflanze. Als traditionelle Medizin wird Kava auch gegen Schlaflosigkeit, Beschwerden in den Wechseljahren und zur Behandlung von Harnwegsinfektionen eingesetzt. Die Bauern haben die Pflanze kultiviert, sie haben sie widerstandsfähig gemacht, den Ertrag erhöht, ihre Wirkung studiert. +Seit einigen Jahren taucht die Pflanze in immer mehr industrialisierten Ländern auf. In New York und Sydney trinken Menschen Kava mittlerweile in schicken Bars. Food-Firmen verkaufen es als Tee oder in Kapselform als Nahrungsergänzungsmittel,Pharmaunternehmen entwickeln Medikamente. +Der australische Wissenschaftler Daniel Robinson von der University of New South Wales fürchtet, dass die traditionellen Gemeinschaften durch die weltweite Vermarktung den Zugang zu ihrer Pflanze verlieren könnten. "Ich bin besorgt, dass sich Wissenschaftler das Wissen indigener Gruppen aneignen und Firmen dieses Wissen patentieren", sagt Robinson, der bereits 200 Patente und Patentanträge rund um Kava in internationalen Datenbanken gefunden hat. Einige Anwendungen liegen verdächtig nah an der Art, wie die Menschen im Südpazifik traditionell Kava nutzen. +Patente garantieren ihren Anmeldern die ausschließlichen Rechte an einer Erfindung, niemand darf sie in derselben Art verwenden. Was aber, wenn eine Firma den bestimmten Gebrauch einer Pflanze patentieren lässt, die zuvor alle frei nutzen konnten? Oder den Prozess, mit dem sie einen Wirkstoff aus einer Pflanze gewinnen? Was, wenn dieser Prozess derselbe ist, den traditionelle Gemeinschaften seit Jahrhunderten praktizieren? +Aktivisten und Forscher sprechen dann oft von Biopiraterie und meinen damit die Aneignung von Pflanzen und traditionellem Wissen durch große Konzerne. Mehr als drei Viertel der weltweitenBiodiversitätbefinden sich im globalen Süden, vor allem in denRegenwäldern.Die meisten Patente werden jedoch von Firmen des globalen Nordens angemeldet. +Daniel Robinson forscht seit fast zwei Jahrzehnten zu Fällen von möglicher Biopiraterie, beispielsweise zu Jasminreis in Thailand oder Arganöl in Nordafrika. Vor Kurzem hat er sich mit einer Kosmetikfirma angelegt, weil das Unternehmen in Australien ein Patent rund um die Buschpflaume angemeldet hatte, die Frucht mit dem höchsten Vitamin-C- Gehalt weltweit. Sie wächst nur im Norden Australiens, indigene Gruppen kultivieren sie seit Langem. +Robinson hat grundsätzlich nichts dagegen, wenn Firmen Pflanzen und das Wissen traditioneller Gemeinschaften nutzen. Die Frage sei, ob und wie die Menschen beteiligt würden, die dieses Wissen seit Jahrtausenden hüten und weiterentwickeln. +"Access and Benefit Sharing" heißt das im internationalen Recht: Zugang und Vorteilsausgleich. Dazu sind zum Beispiel Regeln im Internationalen Übereinkommen über die biologische Vielfalt festgeschrieben, dem sich über 190 Staaten, darunter auch Deutschland, verpflichtet haben. In einem zusätzlichen Dokument, dem Nagoya-Protokoll, werden die Regeln konkretisiert. Vor der kommerziellen Nutzung einer Pflanze muss etwa die Zustimmung indigener Gruppen eingeholt und eine Beteiligung an den Profiten ausgehandelt werden, zum Beispiel Geld oder Zugang zu Technologie. + + +Robinson hilft dabei, die Vorschriften aus dem Nagoya-Protokoll umzusetzen. Er legt Beschwerde gegen Patente ein. Und er versucht, wo es geht, alle Parteien an einen Tisch zu bekommen. Die Unternehmen, die traditionellen Gemeinschaften, die Regierungen. "Bei Kava ist die Sache schwierig", sagt er. Die Pflanze sei einfach schon zu lange im Umlauf, man könne nicht genau sagen, wer sie wann aus dem Südpazifik mitgenommen hat. +Fragt man Mariam Mayet ein paar Tausend Kilometer weiter in Südafrika nach den internationalen Vorschriften, die Robinson anzuwenden versucht, wird sie laut. "Wir glauben nicht an diese Regeln", sagt sie. "Sie ändern nichts an den ungleichen Machtverhältnissen." +Mariam Mayet leitet das "African Centre for Biodiversity" in Johannesburg, seit vielen Jahren kämpft sie für die Rechte indigener Gruppen und gegen die Saatgut- undPharmaindustrie.Saatgutunternehmen haben mit Patenten etwa auf Reis, der gegen Schädlinge resistent ist und dessen Saat immer wieder neu gekauft werden muss, Millionen Bauern in Indien in eine existenzielle Krise getrieben. 2010 schaffte es Mariam Mayet gemeinsam mit anderen NGOs, dass ein deutsches Pharmaunternehmen mehrere Patente auf die Kapland-Pelargonie zurückzog, die vor allem in Südafrika wächst. Die Pflanze soll das Immunsystem stärken und gegen Erkältungen helfen. Mayet spricht mit Bauern und Gemeinschaften in ganz Afrika – und sie versucht, deren Stimme in internationale Diskussionen zu tragen. +"Was weltweit passiert, ist nicht weit weg von einer legalenKolonisierung unserer Ressourcen im globalen Süden", sagt sie. Am Ende dürfe ein einzelner Akteur, ein Unternehmen oder eine Universität, Geld mit der Natur verdienen. Mit etwas, das eigentlich allen gehört. Geld als Ausgleich sei nicht die Lösung, sagt sie. Es spalte die Gemeinschaften. +Vergangenes Jahr stieß Mayet auf eine mögliche neue Art der Biopiraterie. Es ging um eineKartoffel, die ein britisch-US-amerikanisches Konsortium in Ostafrika exklusiv vertreiben wollte. In das Erbgut hatte man Gene anderer Kartoffelarten eingeschleust, um die Knollen gegen die Kartoffelfäule resistent zu machen. Die Gene stammen wohl von Kartoffeln, die in Argentinien und Mexiko gesammelt wurden. Nur: Das Institut besaß diese Kartoffeln gar nicht. Es lud sich die DNA-Sequenzen der Gene einfach aus einer öffentlichen Datenbank herunter, wie eine Bauanleitung. +Die Folgen dieser "digitalen Sequenzinformationen" werden auf internationalen Konferenzen zwischen den Staaten gerade heftig diskutiert. Ist das Aneignung? Wer muss entschädigt werden? Wer zahlt die Entschädigung? Wer behält bei den vielen Datenbanken den Überblick? Die Ergebnisse sollen in internationale Verträge einfließen. +Bei der Genkartoffel wurden weder Bauern in Mexiko noch in Argentinien oder Peru gefragt oder beteiligt. Mayet hat den Fall gemeinsam mit peruanischen NGOs aufgearbeitet, wo die Kartoffel für indigene Gruppen eine wichtige Rolle spielt. "Unsere Freunde in Peru waren empört", sagt sie. Für Mayet und ihre Kollegen sind die Eigenschaften der Knollen das Resultat jahrhundertelanger Züchtungen südamerikanischer Bauern. "Das gehört den Unternehmen einfach nicht." +Die Aktivistin Mayet und der Forscher Robinson verfolgen dasselbe Ziel. Sie wollen die Rechte traditioneller Gemeinschaften schützen. Und doch prallen bei ihnen zwei Welten aufeinander. Robinson glaubt an das internationale System, an Institutionen, die einen gerechten Vorteilsausgleich schaffen. An Firmen, die Ureinwohner an Gewinnen beteiligen. An die vorherige Zustimmung traditioneller Gemeinschaften. Wenn das System funktioniert, wäre das ein gerechter Zugang für alle. +Mayet lehnt das ab. Sie sieht den Menschen in einer Symbiose mit seiner Umwelt. Geben und Nehmen, alles ist mit allem verbunden, alles gehört allen. Ein Einzelner dürfe sich nicht zum Herrscher über die Natur aufschwingen. "Wir sind gegen die Inwertsetzung der Natur", sagt Mayet. "Wir müssen so viele Ressourcen wie möglich im Besitz der Allgemeinheit halten." Das wäre ein gerechter Zugang für alle. +Der Forscher Robinson hat gerade mehrere Mails an ein Kosmetikunternehmen aus Los Angeles geschrieben, das für seine Cremes zwei Nussarten aus dem Südpazifik nutzt. Er sieht gute Chancen für eine Einigung, auch wenn das Unternehmen bisher nicht geantwortet hat. Mayet organisiert zurzeit einen Workshop mit einem Richter aus Ecuador. Dort sind die Rechte der Natur in der Verfassung verankert. Das, sagt sie, könnte ein Puzzleteil auf dem Weg zu einer Lösung sein. + +Titelbild: Kirstin Scholtz/World Surf League via Getty Images diff --git a/fluter/bist-du-sicher.txt b/fluter/bist-du-sicher.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..08b9363c54db2659a02893919bf46c274c365f79 --- /dev/null +++ b/fluter/bist-du-sicher.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Bis jetzt. Denn ab heute starte ich den Selbstversuch, ab heute werde ich die guten Ratschläge der Internetprofis, der Daten- und Verbraucherschützer, der Nerds und selbst die der Paranoiker einfach mal in die Tat umsetzen! So ungefähr. Eine erste halbherzige Google-Recherche ist allerdings eher ernüchternd. Stets lande ich in irgendwelchen Foren, in denen sich auch andere nach anonymem Surfen oder Verschlüsselung erkundigen – und es nicht lange dauert, bis sie als potenzielle Terroristen oder notorische Heimlichtuer verdächtigt werden. Das bringt mich nicht weiter. +Also vereinbare ich ein Treffen mit Constanze Kurz. Die Informatikerin hat gemeinsam mit Frank Rieger ein Buch* darüber geschrieben, "wie Internetfirmen und Staat sich unsere persönlichen Daten einverleiben und wie wir die Kontrolle darüber zurückerlangen". Das Buch kenne ich schon. Ich habe es nicht gemocht, weil es einem auf seinen mehr als 250 Seiten endgültig die digitale Unschuld raubt. Das nervt, denn Constanze und ihr Kompagnon haben leider so verdammt recht. Was wiederum kein Wunder ist. Schließlich sind beide Sprecher des Chaos Computer Clubs (CCC) – eines Zusammenschlusses von Computerfreaks und Netzaktivisten, die immer wieder mit spektakulären Hacks und subversiven Aktionen für Aufsehen sorgen, längst aber auch als Sachverständige vor Gericht oder als Interviewpartner in der Tagesschau gefragt sind. Sogar die Bundesregierung lässt sich in Internetfragen vom CCC beraten. Zugleich versteht sich der Club aber auch als Lobbyist und Propagandist einer "digitalen Mündigkeit". Und genau die will ich ja. +Zunächst ist Constanze wichtig, dass ich mir klarmache, worum es bei meinem Selbsttest geht. Um einen Akt des Widerstandes gegen die Datensammelei? Oder darum, mich einfach sicherer zu fühlen? Constanze erzählt von ihrer Schwester in China und dass sie sogar ihrem Vater einen verschlüsselten E-Mail-Account eingerichtet habe, den er inzwischen gern benutze. Das sei einfach, "ja, ein gutes Gefühl", sagt sie. Am Ende unseres Treffens machen wir gemeinsam eine Liste mit meiner Mediennutzung, die immer länger wird: Wie viele E-Mail-Konten habe ich eigentlich und bei welchen Anbietern? Welchen Browser nutze ich zum Surfen? Und dann der ganze netzbasierte Kram: Skype? Twitter? iTunes? Instagram? Flickr? Facebook etwa? Google Mail?! Vor allem bei den beiden großen Datenkraken versteht Constanze keinen Spaß. Außerdem, ich hätte es fast vergessen, sei da ja noch mein Smartphone. Hier geht das Spiel von vorne los: E-Mail, Browser, Apps … "Kein Whats- App?", fragt Constanze. Ich schüttele schnell den Kopf. +Wieder zu Hause, sehe ich mir meine Mediennutzungsliste noch einmal an. Hinter die Punkte Browser/Surfen, E-Mail und Facebook habe ich ein Ausrufezeichen gemacht. Nun denn. Keine Frage, wenn ich wirklich die Kontrolle über mein digitales Ich zurückerobern will, gibt es nur eine Konsequenz: bei Facebook abmelden und das Konto löschen. Der Lösch-Button ist sogar leicht zu finden – solange man ihn nicht bei Facebook selber sucht. Gibt man jedoch Facebook bei Google ein, ist "Facebook löschen" einer der Top-Suchvorschläge. Und von da ist es dann auch gar nicht mehr weit bis zum finalen facebook.com/help/delete_account. Doch vorher schreibe ich noch ein letztes Posting, in dem ich meinen Ausstieg ankündige – mit einem kleinen <3 am Schluss, damit keiner denkt, ich sei zum Facebook-Hasser mutiert. Oder zum Selbstmordkandidaten. +Die Reaktionen allerdings verblüffen mich: Einige meiner Freunde, Kollegen und Facebook-Freunde drücken spontan den Like-Button, andere schreiben unter mein Abschiedsposting anerkennende Kommentare: "… immer einen Schritt voraus" oder "Hey, das wollte ich Anfang des Jahres auch machen. Hab's nicht geschafft: Nun bist du mein Vorbild!" Die Offline-Reaktionen im Freundes- und Kollegenkreis sind ähnlich: Daumen hoch! Nach dem Warum fragt kaum jemand. Das scheint sich von selbst zu verstehen. Die eigentliche Löschaktion meines Kontos ist dann auch kein Problem. Zumindest technisch. Ein letztes "Bist du sicher?" – und schon steht dort, wo vorher mein Facebook-Profil war: "Diese Seite existiert leider nicht." Wahr ist das allerdings nicht. Facebook lässt mein Konto noch 14 Tage lang unangetastet. Loggt man sich währenddessen wieder ein, verlängert sich die Karenzzeit erneut um zwei Wochen. +Was meine digitale Mündigkeit anbelangt, kommt es mir vor, als hätte meine eigene Entscheidung mich mehr bevormundet als die x-te Änderung der Facebook-AGB. Drinnen die Party, und ich habe mich ausgesperrt und den Schlüssel weggeworfen? Ein "gutes Gefühl" geht anders. Zumal etwas Mulmiges geblieben ist. Klar, Facebook muss jetzt ohne meine Daten auskommen – ohne neue Daten. Denn gelöscht wird nur mein Konto. Vieles, was ich die letzten drei Jahre eingegeben habe, bleibt aber offenbar für ewig auf den Facebook-Servern liegen. Ein österreichischer Student hat bereits diverse Anzeigen wegen Facebooks Umgang mit Nutzerdaten bei der irischen Datenschutzbehörde eingereicht – Ausgang ungewiss. +Und Facebook ist ja nicht das einzige Unternehmen, das ungefragt von meinen Internetaktivitäten profitiert. Was aber, wenn ich auch das nicht möchte, wenn ich nicht will, dass mir auf meinem Weg durchs Netz andauernd irgendwer hinterherschnüffelt? Klar, es gibt Einzelfalllösungen wie "Vtunnel" oder "Hide My Ass!" und allerlei skurrile Hilfsdienste. Fakenamegenerator. com zum Beispiel, wo ein Klick komplette Scheinidentitäten generiert – inklusive Anschrift, Telefonnummer, Username und Login, E-Mail-Adresse, Gewicht, Größe, Kreditkartendaten, Blutgruppe und Mädchenname der Mutter. Oder auch Frank-geht-ran.de. Und als ich mich gerade daranmachen will, ein FoxyProxy-Plugin zu installieren, lese ich bei Chip.de dies: "Für maximale Sicherheit: Tor macht Sie unsichtbar – Wer so anonym wie möglich im Netz unterwegs sein möchte, kommt an Tor nicht vorbei." Klingt perfekt. Nach der vergleichsweise unkomplizierten Installation des Tor-Browser-Pakets hat sich auf den ersten Blick nicht viel verändert. Am unteren Bildschirmrand ist nun ein neues Icon, eine Zwiebel. Sie ist das offizielle Symbol für Tor, das eigentlich "The onion router" heißt. Und als ich mich mit einem Zwiebel-Klick ins Tor-Netzwerk einwähle, öffnet sich zuerst ein Firefox-ähnlicher Browser – und begrüßt mich mit den Worten: "You are now free to browse the Internet anonymously." +Das mit dem "anonymously" müsste stimmen. Ein kurzer Online-Check zeigt mir eine ganz andere IP-Adresse als meine eigene. Außerdem liegt der Geolokationsdienst nun nicht mehr vier, sondern über 6.000 Kilometer daneben. Denn geortet werde ich auf dem Campus der Rutgers University in Piscataway/New Jersey. Und das nicht einmal lange. Wenig später ist es Skipton, eine Kleinstadt in North Yorkshire, dann das südschwedische Lund, dann Gunzenhausen. Denn genau so funktioniert das Tor-Netzwerk wohl: Überall auf der Welt stellen Leute ihre Router zur Verfügung, und man selbst spielt "Catch me if you can!". Eine Zeitlang habe ich viel Spaß, dem Wechsel meiner unterschiedlichen Identitäten zuzuschauen. Aber dann merke ich, dass ich so "free" gar nicht bin, wie mir der Tor-Browser versprochen hat. Eher so, als hätte ich mir eine dicke Eisenkugel ans Bein gekettet. Denn das Surfen geht langsam. Sehr. Sehr. Lang. Sam. +Dabei ist die mickrige Übertragungsrate nicht einmal der einzige Preis, den man für die "maximale Sicherheit" zahlt: Ständig poppen Warnhinweise auf: "Sie haben eine verschlüsselte Seite angefordert, die unverschlüsselte Informationen enthält …", heißt es dann. Oder: "Externe Applikationen sind im Allgemeinen NICHT Tor-gesichert und können Sie verraten!" Außerdem kann ich mit Tor keine YouTube-Videos mehr ansehen, und mein RSS-Reader ist auch unbrauchbar. Für die Ansicht von PDF-Dateien schlägt mir Tor lieber einen Online-Viewer namens view.samurajdata.se vor. Und benutze ich die Google-Suche im Browser, heißt es: "Torbutton hat ein Google-Captcha festgestellt. Möchten Sie für Ihre Suchanfrage zu einer anderen Suchmaschine umgeleitet werden?" Wenn ich die Anfrage bejahe, lande ich immerhin bei Startpage.com, einer cleveren Google-Alternative, die sich selbst als "die diskreteste Suchmaschine der Welt" bezeichnet – und dabei auch noch brauchbare Suchergebnisse liefert. +Da suche ich dann gleich nach Ideen für mein drittes Großprojekt: Mails verschicken, ohne dass sie (zumindest theoretisch) jeder mitlesen kann. Denn dass mein flinkes, großes, komfortables, webbasiertes Google-Mail-Konto nicht zu meinem neuen Leben in der digitalen Mündigkeit passt, war mir von Anfang an klar. Nicht ganz so klar war mir, wie viel Zeit und Nerven es mich kosten würde, eine wirklich sichere Alternative einzurichten. Gefunden war die schnell: "GNU Privacy Guard for Windows", kurz gpg4win, war schließlich vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik in Auftrag gegeben worden und hat sogar ein eigenes kleines Mail-Programm namens Claws mit an Bord. Über die Tage nach dem Download rede ich ungern: Umgebungsvarianten, Clients, Gateways, Proxys – ich verstand kein Wort. Längst hatte ich neben dem Tor-Browser ein zweites "normales", schnelles Browserfenster aufgemacht, um herauszufinden, warum zur Hölle meine Installationsversuche immer wieder scheiterten. Doch ich stolperte bloß über Sätze wie diesen: "Die Mail-Inhalte werden mit Triple-DES chiffriert; für zusätzliche Sicherheit sorgt die RSA-verschlüsselte Übergabe der Paket-Header und 3DES-Keys." Oder ich landete auf Internetseiten von Neonazis, die ihren Gesinnungsgenossen Tipps für "Weltnetz" und "E-Post" geben. +Zum Glück entdeckte ich irgendwann die Seite Verbrauchersicher-online.de, wo mir endlich in kleinen, öden Schritt-für-Schritt-Videos gezeigt wurde, wie's geht. Ohne wirklich zu wissen, was ich tat, erstellte ich also ein OpenPGP-Schlüsselpaar, ex- oder importierte und beglaubigte Zertifikate – bis ich tatsächlich verschlüsselte Mails versenden konnte! Angeblich jedenfalls. Denn selbstverständlich muss, damit in einer Mail von mir nicht nur Buchstabensalat steht, der Adressat ebenfalls das ganze Schlüsselzeugs auf seinem Rechner installieren. Aber kann ich, will ich das alles wirklich jemandem zumuten? Schreibt mir dann überhaupt noch wer? Schließlich schicke ich eine verschlüsselte Mail an Constanze vom CCC, damit ich wenigstens weiß, ob dieser vorerst letzte Schritt auf meinem Weg zur digitalen Mündigkeit tatsächlich von Erfolg gekrönt ist. Noch am selben Abend schreibt Constanze mir zurück: "hQEMAzaHe2yX25NHAQf/ ZMYQnu/rzr5uZuaHDa0 …" Nachdem ich ihre Mail entschlüsselt habe, lautet die Antwort: "funktioniert! :}" Ich bin mir da noch nicht so sicher. +*Das Buch "Die Datenfresser" gibt es bei der Bundeszentale für politische Bildung (bpb); Band 1177; 4.50 Euro diff --git a/fluter/bitte-keinen-brillentraeger.txt b/fluter/bitte-keinen-brillentraeger.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/bitte-nicht-besuchen.txt b/fluter/bitte-nicht-besuchen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a7f33de657bfb8909245c00ddb827b7aa22bd25f --- /dev/null +++ b/fluter/bitte-nicht-besuchen.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +"Zivilisation" heranzuführen, um aus der Insel eine Kokosplantage zu machen – auch mit Geschenken. 1974 brachte ein Filmteam Aluminiumtöpfe, eine Puppe +und ein Schwein mit. Die Sentinelesen attackierten beides mit Pfeil und Bogen und vergruben die Ge- schenke im Sand. Ende der 90er-Jahre stellte die indische Regierung die Versuche der Kontaktaufnahme weitgehend ein. Ein Segen für die Sentinelesen. Denn durch Kontakte mit Fremden wurden schon viele Völker dezimiert, weil sie gegen eingeschleppte Krankheiten keine Abwehrkräfte besaßen. diff --git a/fluter/bitte-nicht-mehr-chicken.txt b/fluter/bitte-nicht-mehr-chicken.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bcf22746f2d2cdd83b8ff5a7d50f985b7d118b83 --- /dev/null +++ b/fluter/bitte-nicht-mehr-chicken.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +47 afrikanische Staaten verhandeln in fünf Gruppen mit der EU, drei Gruppenabkommen stehen bereits, zudem gibt es mit fünf Ländern Übergangsabkommen, und bis Ende nächsten Jahres sollen alle EPAs ratifiziert werden. Erst vor wenigen Wochen hat Deutschland dem EPA mit der Südafrikanischen Entwicklungsgemeinschaft zugestimmt. +Viele afrikanische Staaten hätten allerdings aufgrund fehlender Infrastruktur und ineffizienter Industrie kaum Chancen, den EU-Waren standzuhalten oder selbst verarbeitete Produkte nach Europa zu exportieren – und könnten sich, sobald sie einmal in dieser ungünstigen Lage sind, auch nicht weiterentwickeln. Das sagen EPA-Kritiker wie Günter Nooke, der Afrika-Beauftragte der Bundeskanzlerin, Attac oder die Grünen. Das Entwicklungsministerium hält dagegen: Die Länder könnten die Zölle anheben, wenn die lokale Industrie in Gefahr schwebt. Jann Lay vom GIGA Institut für Afrika-Studien betont zudem, dass auch die Verbraucher vor überhöhten Preisen infolge von Zöllen geschützt werden müssten. +"Noch heute sind koloniale Hierarchien im Handel präsent", sagt Andreas Eckert, Professor für die Geschichte -Afrikas an der HU Berlin. Bereits die Römischen Verträge von 1957 sicherten in erster Linie den Zugang europäischer Länder zu afrikanischen Rohstoffen. Der Kurs änderte sich, nachdem sich viele ehemalige Kolonien zusammengeschlossen hatten. 1975 erhielten sie mit dem ersten Lomé-Abkommen die Gelegenheit, billig nach Europa zu exportieren, ohne selbst in großem Stil auf Zölle verzichten zu müssen. +Die Weltbank und der Internationale Währungsfonds setzten hingegen mehr auf Freihandel, so bei ihren Strukturanpassungsprogrammen der 1980er- und 90er-Jahre. Damit Kredite flossen, mussten afrikanische Staaten bestimmte Sektoren modernisieren und dem freien Markt überlassen. Die Programme konnten selten vollständig und mit Erfolg umgesetzt werden. Vielerorts kam es zu Tausenden Entlassungen, wie in der Bekleidungsindustrie in Sambia. +Die Welthandelsorganisation bemängelte, dass die EU-Staaten ihre früheren Kolonien gegenüber anderen armen Ländern bevorzugen, und bestand auf ihrem Prinzip der Nichtdiskriminierung. Unter anderem die EPAs lösten die Lomé-Abkommen daraufhin ab. Doch sie stießen nicht überall auf Gegenliebe. Gerade die wirtschaftlich stärkeren Länder wollen weiterhin in die EU exportieren, ohne dafür ihre eigenen Märkte öffnen zu müssen. Zehn Jahre lang wurde mit der Ostafrika-Gruppe gerungen, bis Brüssel ein Ultimatum stellte: Es erhob im Oktober 2014 auf einige afrikanische Exportschlager Zölle. Mit Erfolg: Um weiter billig Schnittblumen in die EU liefern zu können, stimmte Kenia schließlich dem entsprechenden Abkommen zu. diff --git a/fluter/bitte-nicht-so-brav.txt b/fluter/bitte-nicht-so-brav.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6fb78e14695a7eaf773fb2db961ca59590f4b389 --- /dev/null +++ b/fluter/bitte-nicht-so-brav.txt @@ -0,0 +1,68 @@ +Jutta Allmendinger: Das weiß ich gar nicht. Ich habe vor meinen Gehaltsverhandlungen mit Männern in ähnlichen Positionen gesprochen, um zu erfahren, was angemessen ist. Aber das war schwierig und unergiebig. Das Thema Geld ist ein Tabu. In den meisten Untersuchungen reden Männer sogar lieber über ihr Sexualleben als über ihr Gehalt. +Über Geld spricht man nicht. +Genau. +Geht es nur ums Geld, oder bedeutet Arbeit nicht noch viel mehr in unserer Gesellschaft? +Es geht um vieles. Wenn man sich mit nichterwerbstätigen Frauen unterhält, dann sagen die: Wenn ich Arbeit hätte, hätte ich eigenes Geld. Sie wären sogar damit zufrieden, weniger Geld zu haben, nur eigenes muss es sein. Es geht bei der Erwerbstätigkeit aber auch um die soziale Vernetztheit – darum, Freunde zu haben, anderes kennen zu lernen, etwas zu tun, das einen gesellschaftlichen Wert hat. Kurzum, es geht um Teilhabe an der Gesellschaft. Wenn man sieht, wie sehr auch unsere Freizeit von dem geprägt ist, was wir im Arbeitsalltag erfahren, dann ahnt man, was Männern oder Frauen, die lange nicht auf dem Arbeitsmarkt sind, verloren geht. +Job für dieselbe Tätigkeit? +Man erklärt ihr, dass es dabei auch um die mangelnde Verein- barkeit von Familie und Arbeit geht. Frauen unterbrechen ihre Erwerbsarbeit, dann arbeiten sie Teilzeit. Beides ist für die Entwicklung ihres Stundenlohns nicht vorteilhaft, um es mal vorsichtig auszudrücken. Der Staat ist in der Pflicht, mehr gute Betreuungsmöglichkeiten für Kleinkinder bereit zu stellen. Die Arbeitgeber müssen mehr für die Vereinbarkeit tun. +Momentan erleben wir einen wirtschaftlichen Aufschwung, und dennoch gibt es so viele arbeitslose junge Menschen wie selten zuvor – darunter sogar Hochschulabsolventen. Ist eine gute Ausbildung keine Garantie mehr für einen Arbeitsplatz? +Das sind Thesen, die Journalisten produzieren, weil sie lieber Negativ- als Positivszenarien präsentieren. Wir haben im Mo- ment 5,6 Millionen nichterwerbstätige Frauen, aber nur knapp eine Million arbeitslos gemeldete Frauen. Wenn man sich jetzt diese Nichterwerbstätigen anschaut und nach deren beruflicher Qualifikation fragt, also nach Ausbildung oder Bildungsabschluss, dann zeigt sich, dass vor allem jene nicht erwerbstätig sind, die keine oder eine ganz schlechte Ausbildung haben. Eine gute Ausbildung erhöht die Chancen auf Arbeit weiterhin ungemein, sogar noch stärker als früher. Beim Vergleich der Jobaussichten von Niedriggebildeten, Mittelgebildeten und Hochgebildeten sieht man, dass die Schere noch weiter aufgegangen ist. Diejenigen mit schlechter Bildung haben heute überhaupt keine Chance mehr. Der Abstand zu den Hochgebildeten ist viel größer geworden. +Andererseits haben selbst Jugendliche, die brav nach zwölf Jahren Abitur und dann ganz schnell ihren Bachelor gemacht haben, Probleme, Arbeit zu finden. +Nur kurzfristig. Die Suche dauert vielleicht länger. Aber wir dürfen doch nicht so zynisch sein, diese Gruppe mit Menschen ohne Ausbildung gleichzusetzen. Von daher sollten Abiturienten und Studierende auch nicht zu brav sein. Die kolossale Verkürzung der Ausbildungszeit ist auf dem heutigen Arbeitsmarkt nicht zwingend und oft nicht nützlich. Mit 14 Jahren Profilkurse wählen, die dann zu Leistungskursen werden, Abi mit 17 und dann das studieren, was man schon im Abi hatte... Das heißt doch: Ich entscheide mit 14 über meinen weiteren Lebensweg. Das ist absurd. Da müssen Jugendliche, die kaum wissen, was auf sie zukommt, weitreichende Lebensentscheidungen treffen. Das finde ich unverantwortlich. +Nach der Pisa-Studie war die Verkürzung des Abiturs doch ein Hauptpunkt der Bildungsreform. +Überall werden Globalisierung, Internationalisierung und Flexibilität gepredigt. Aber wir domestizieren unseren Nachwuchs. Schüler, die sich ein Jahr von der Schule abmelden, um ins Ausland zu gehen, verlieren ein Jahr, weil sie die elfte Klasse wiederholen müssen. Sie werden zu Sitzenbleibern. Da braucht es schon Rückgrat, um zu sagen: Ich wiederhole einfach eine Klasse. Der Verzicht auf Auslandserfahrung ist aber das Gegenteil dessen, was wir brauchen. Man muss doch auch Zeit haben, her- umzuschnuppern und in Kontakt zu kommen mit ganz unterschiedlichen Nationalitäten, Kulturen und Berufsfeldern. Ich wüsste nicht, wie Kinder sich sonst klar darüber werden können, welche Talente sie eigentlich haben. Denn der strikt durchgestylte Schulunterricht macht die Beschäftigung mit ganz anderen Gebieten – egal, ob etwa Kunst, Musik, Sport oder gesellschaftliches Engagement – kaum möglich. Aus biografischer Sicht ist das eine Zumutung, weil junge Menschen keine Zeit haben, sich auszuprobieren und ihre Interessen zu entdecken. Hinzu kommt nach wie vor die frühe Selektion im Bildungssystem hierzulande. +Die Mehrheit der Bürger will anscheinend diese zügige Selektion. In Hamburg wollte man die Grundschule gerade von vier auf sechs Jahre erweitern, damit die Kinder länger zusammen lernen. Die Mehrheit hat sich dagegen entschieden. +Aber schauen Sie doch mal, wer da abgestimmt hat: Auf jeden Fall nicht diejenigen, die von so einer Reform am meisten profitiert hätten – also zum Beispiel Menschen mit Migrationshintergrund. Die durften gar nicht mit abstimmen. Gegen die Reform haben vor allem Bürger gestimmt, die aus den besseren Hamburger Bezirken kommen und deren Kinder sowieso alle Chancen der Welt haben. Insofern taugt Hamburg nicht als Beispiel für eine allgemeine Aussage, sondern allenfalls für die Feststellung, dass Menschen aus oberen Schichten glauben, es schade ihren Kindern, wenn sie mit Kindern aus sozial schwächeren Milieus zusammen erzogen werden. +Und stimmt das nicht? +Es gibt meines Wissens keine einzige empirische Untersuchung, die besagt, dass besseren Schülern das gemeinsame Lernen mit schlechteren schadet. Die Politik darf daher über so etwas keinen Volksentscheid abhalten, weil bekannt ist, dass eine gewisse Klasse dafür sorgt, unter sich zu bleiben. Ich finde, es ist Aufgabe einer Demokratie, allen vergleichbare Lebenschancen zu geben – das steht im Übrigen auch in unserem Grundgesetz. +Werden Bildungs- und Arbeitsplatzchancen quasi von Generation zu Generation vererbt? +In unserem System ist das noch so. +Sie beraten Politik ja regelmäßig. Was raten Sie denn, um die Probleme zu beseitigen? +Ich würde hierzulande vieles verpflichtender machen – etwa den Besuch von Kindergarten oder Kindertagesstätte. Ich wäre auch rigider, was die Deutschkurse anbelangt. Wir wissen nun mal, dass Integration nur über Deutschkenntnisse stattfindet. +Das müsste dann jedes Bundesland einzeln verfügen. +Der Föderalismus ist beim Thema Bildung sehr problematisch, das Kooperationsverbot muss vom Tisch. Unsere Kleinstaaterei behindert Mobilität und damit auch den Einstieg in den Arbeitsmarkt. Wenn Sie in Berlin in die sechste Klasse gehen, können Sie nicht einfach nach Bayern wechseln – da sind die Schüler nämlich zu diesem Zeitpunkt bereits viel weiter. +Also brauchen wir eine Bundesbildungspolitik. +Unbedingt. Diese muss auch die flächendeckende Einführung von Ganztagsschulen umfassen, mit einem breiteren Curricculum, kleinen Klassen, individueller Hilfe durch ein Schulkollegium, das nicht nur aus Pädagogen besteht. Wir müssen auch über die Bildung hinaus denken und die Berufsausbildung reformieren. Auch hier brauchen wir ein möglichst breites Curriculum, das einem dann erlaubt, wieder aufzusetzen und neue Dinge zu tun. Ein einjähriges studium generale etwa. +Das Ziel des Bologna-Prozesses war unter anderem eine ver- stärkte Internationalisierung. Ist wenigstens die eingetreten? +Leider nicht, weil nicht nur bei den Gymnasiasten der Anteil jener gesunken ist, die ins Ausland gehen, sondern auch bei den Studenten. Es ist dramatisch: Diese Reform sollte einen europäischen Bildungsraum erschließen, und nun sitzen alle hier an deutschen Schulen und an deutschen Unis und haben keine Zeit mehr für die Ferne. Das ist ein extremer Verlust nicht nur an Bildung, sondern auch an Kompetenzen für das Erwerbsleben. Dabei ist es ein Mythos, dass Arbeitgeber sagen: Wenn du 22 bist, stelle ich dich ein, aber wenn du 24 bist, nicht mehr. Ich kenne keine Arbeitgeber, die das so machen. Ich kenne nur Journalisten, die das so schreiben. +Könnte das bedeuten, dass viele Studierende das Falsche studieren – also nicht das, was ihren eigentlichen Interessen und Talenten entspricht? +Langfristig kann das passieren. Im Moment haben wir eine Ausbildung, die sehr stark auf eine vergleichsweise kurze Erwerbstätigkeit zugeschnitten ist – und dann ist dieser menschliche Leistungsträger oft ausgeblutet und merkt, dass er in einem völlig falschen Arbeitsleben steckt. +Befürchten Sie, dass durch die Reformen im Bildungs- und Schulungsprozess vielleicht in zehn, zwölf Jahren ganz viele Leute depressiv sind und entdecken, dass sie im völlig falschen Job gelandet sind? +Es gibt auf jeden Fall viele Leute, die Fächer nur deshalb studieren, weil diese angeblich gerade gefragt sind oder weil es für diese Fächer Studienplätze gibt – und die anschließend Jobs machen, die sie nicht sonderlich interessieren. Die dürften dann in jungen Jahren ihren ersten Burnout haben. +Sie selbst haben in den USA studiert. Was ist dort anders? +Da ist das Leben anders getaktet, mit Phasen zwischen einzel- nen Abschnitten, in denen man schlicht andere Dinge macht und andere Interessen verfolgt, Dinge für sich ausprobiert, Familien gründet oder sich ehrenamtlich engagiert. In meinem Promotionsstudium der Soziologie und Ökonomie waren wir zwölf Studierende, darunter drei, die zunächst Biologie gemacht haben, zwei ehemalige Medizinerinnen, ein Jurist, ein Chemiker, ein Mathematiker. So etwas finden Sie bei uns nicht. Fachwechsel zwischen Bachelor- und Master-Studiengängen sind selten, zeitliche Unterbrechungen auch. Das ist vielleicht kurzfristig zielführend, aber nicht auf die Länge eines Lebens und nicht auf die langfristigen Folgen für eine Volkswirtschaft hin gesehen. +Unsere Gesellschaft wird immer älter. Kann nicht jeder Jugendliche beruhigt sein, weil er durch diesen demografischen Wandel sowieso Arbeit finden wird, wenn er gut genug ausgebildet ist? +Schon, wenn es nur darum geht, Arbeit zu finden oder nicht. Wenn man sich aber die Frage stellt, ob die Menschen gern zur Arbeit gehen, bin ich schon etwas skeptischer. Ich glaube, dass gerade diese junge Generation unter einem extremen Druck steht, sich genau so zu verhalten, wie es jeder von ihnen erwartet. Die werden alle gemainstreamt, und das finde ich ganz schrecklich. +Plädieren Sie für einen gewissen zivilen Ungehorsam? +Ich plädiere zumindest dafür, dass man die Kinder nicht diesem Zeitdruck aussetzt, sondern ihnen sagt: Jetzt entwickelt euch mal, wir geben euch auch die Zeit dazu. Und man sollte anerkennen, dass Menschen unterschiedlich lange für ihre Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse brauchen. +Jungs scheinen da länger zu brauchen als Mädchen. +Wenn man die Noten und die Abschlüsse betrachtet, schneiden Jungen auf allen Ebenen schlechter ab. Jungen durchlaufen andere Entwicklungsphasen als Mädchen. Sie hinken den Mädchen ein Jahr, manchmal auch länger, hinterher. Da wir aber eine Kultur haben, die auf schnell erlerntes und sofort zu reproduzierendes Wissen setzt, sind die Jungen automatisch die Verlierer, alleine schon durch die genetischen und biologischen Voraussetzungen. +Welche Rolle spielt die Erziehung? +Da gibt es immer noch eine geschlechtsstereotype Sozialisation. So werden Mädchen in der Familie viel stärker und viel früher zur Mitarbeit herangezogen – und zwar gerade wegen ihrer schnelleren Entwicklung. Mädchen bekommen im Alter von fünf oder sechs schon mal einen 20-Euro-Schein in die Hand gedrückt und dürfen einkaufen gehen, weil die Eltern wissen, die erledigen diese Aufgabe gewissenhaft. +Sollen die Mädchen dankbar dafür sein, dass sie eher den Tisch abräumen müssen? +Die Verantwortung, die damit einhergeht, ist etwas, das man für die Schule unbedingt braucht. Die Jungs machen das alles erst Jahre später. Mädchen werden viel früher zur Verantwortung erzogen – mit dem Effekt, dass sie sich nach der Schule besser sinnvoll beschäftigen. Erst einmal Hausaufgaben machen und dann rausgehen. Die Jungs hängen stattdessen vor dem Computer herum oder auf dem Fußballplatz und sagen sich: Hausaufgaben mache ich später. Die Zahlen sprechen ja eine deutliche Sprache:40 Prozent der Jungs schaffen es auf eine weiterführende Schule und 40 Prozent auch auf eine Hochschule. Bei den Mädchen sind es 60 Prozent. Wir verlieren vor allem am unteren Rand viel zu viele Jungs. Schauen Sie sich diese 15-Jährigen an – da gehört fast jeder Vierte zur Risikogruppe der Bildungsarmen. +So viele? +Ja, und bei den Mädchen sind es unter zehn Prozent. Diese Jungs gehen uns dauerhaft verloren. Und zwar nicht nur im Beruf, sondern auch in Beziehungen, im privaten und gesellschaftlichen Leben. Viele Frauen wollen lieber einen nichterwerbstätigen Akademiker als jemanden, der keine Bildung hat. Das finden sie ganz furchtbar. Vielleicht bekommt man in solchen Beziehungen noch ein Kind, aber dann sagen sich viele Frauen: Erziehen werde ich es lieber alleine. +Was folgt daraus, dass Jungen ständig den Mädchen hinterherhinken? +Es ist nicht schön, wenn man im Kollektiv erlebt, schlechter abzuschneiden. Da entwickeln sich kollektive Reflexe: Alle Lehrer bevorzugen Mädchen, heißt es dann, oder: Alle Jungs sind genauso schlecht wie ich. Diese jungen Männer richten sich in einer Jungmänner-Kultur maximal ein. +Wie kann man diese Kulturen auflösen? +Indem schon die Schule mehr von dem anbietet, woran Männer Interesse haben. Damit sie auch mal Hand anlegen und draußen praktisch etwas machen können. +Aber handwerkliche Fähigkeiten werden doch in einer modernen Dienstleistungsgesellschaft gar nicht mehr nachgefragt. +Es ist in der Tat ein Problem, dass diese traditionellen Männerarbeiten im industriellen Sektor immer weniger nachgefragt werden. Wir müssen also diese jungen Männer von heute schon in der Schule viel mehr auf so genannte Mädchenjobs vorbereiten. Es gibt zwar viele Programme, um Frauen in von Männern dominierten Berufen Fuß fassen zu lassen, aber komischerweise ganz wenige Programme für Männer in Frauenfächern – die aber die Fächer der Zukunft sind. Wir werden in einer alternden Gesellschaft zum Beispiel mit Sicherheit viel mehr Pflegepersonal brauchen. Aber wer schult bitte junge Männer, damit sie solche Arbeiten übernehmen können? +Pflege gilt als völlig unterbezahlter Frauenberuf. +Insbesondere bei uns. In anderen Ländern sind auch dies akademische Berufe. Das wertet ein Berufsbild auf. Man muss die Bezahlung dieser Arbeiten verbessern. Die psychische Belastung bei der Pflege ist enorm, und von der körperlichen Belastung her würde ich Pflegeberufe Jobs auf dem Bau gleichstellen. Es wird in Zukunft auch um die Betreuung von kleinen Kindern gehen, weil es in der Zukunft mehr gut ausgebildete Frauen geben wird, die erwerbstätig sind – was ja auch zu wünschen ist. Momentan sind sehr viele Berufe im Dienstleistungssektor Frauenberufe. Das muss sich ändern. +Von den Chefärzten in deutschen Kliniken oder Klinikdirektoren sind geschätzte 90 Prozent Männer. Wie kommt's? +Weil wir in Deutschland bei den Frauen das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht im Griff haben. Viele Frauen bekommen irgendwann ein Kind, und dann gibt es nicht genügend Betreuungsplätze, damit die Frau weiter arbeiten kann. Und der Vater übernimmt seinen Anteil an Betreuung und Erziehung nicht. Man muss sich mal vorstellen, dass es schon als extrem ehrgeiziges und nicht zu erreichendes Ziel gilt, jedem dritten Kind in Deutschland einen Kitaplatz zu besorgen. Im Schnitt gelingt das bei weniger als jedem sechsten Kind. Im Vergleich zu Frankreich oder Norwegen ist das läppisch. +Sind Frauen nicht gewollt in der Arbeitswelt? +Sagen wir mal so: Ich glaube, es hat sich noch nicht richtig bei allen die Erkenntnis durchgesetzt, dass Frauen nicht nur gewollt sein sollten – sondern dringend benötigt werden. Nicht nur aus demographischen Gründen. Untersuchungen in den USA zeigen, dass Teams von Männern und Frauen im Arbeitsprozess sehr gewinnbringend sind, in jeder Hinsicht. Das machen sich deutsche Unternehmen zu wenig klar. Dadurch sind auch so wenige Frauen in den Netzwerken, die einen letztlich in höhere Positionen bringen. Daher sind es immer noch die Männer, die Chefs werden. +Sind Sie für eine Frauenquote? +Ich bin zumindest für Anschub beziehungsweise Einführungsquoten, weil ein gewisser Anteil von Frauen gebraucht wird, um ein allgemeines Umdenken anzustoßen. +Wie schwer haben es denn berufstätige Frauen, nach dem Kinderkriegen wieder in den Job zu kommen? +Sehr schwer. Und je länger man unterbricht, desto schwerer wird es. Am Anfang spürt man es nicht so stark, man hat genug zu tun, wenn die Kinder klein sind. Das soziale Umfeld ist voller anderer Mütter, es gibt Aktivitäten rund um die Schule. Später aber, wenn das Kind von der Schule geht, bricht das alles weg. Selbst hoch gebildete, studierte Frauen leiden in diesen Phasen unter starken Selbstwertproblemen. Sie glauben, dass sie eigentlich gar keine Fähigkeiten haben. Dabei haben diese Frauen Kinder erzogen und in der Schule als Elternsprecherin gewirkt – alles Qualifikationen, die man gut ins Arbeitsleben einbringen könnte. Wer aber über viele Jahre vom Arbeitsprozess abgekoppelt ist, traut sich schlichtweg nichts mehr zu – das ist auch bei vielen Langzeitarbeitslosen so. +Ist "Bürgerarbeit" eine Lösung? Also die Chance, für gemein- nützige Tätigkeit eine Art Lohn zu bekommen?Ja. Erwerbstätigkeit gibt Menschen auch Würde, sie baut Selbstbewusstsein auf, bringt neue Kontakte. Würde erlangt aber nur, wer in der Lage ist, nicht nur unter Zwang tätig zu sein, sondern aufgrund eigenen Wollens. Das halte ich für absolut notwendig. +Sind Sie auch für Grundeinkommen? +Es ist die Frage, inwieweit wirklich alle Menschen ein Grundeinkommen bekommen sollen. Warum sollen Menschen, die das gar nicht nötig haben, eines beziehen können? Ich bin aber für einen Mindestlohn und für einkommensabhängige Transferleistungen. Warum bekomme ich etwa Kindergeld? Das haben andere viel nötiger. +Sehen Sie eigentlich durch die technologische Entwicklung wie das Internet mehr Chancen auf ein selbstbestimmtes Arbeiten? Dass man also nicht von neun bis fünf ins Büro gehen muss, sondern auch am Strand oder im Café seine Arbeit am Laptop erledigen kann. +Das ist eine virtuelle Mobilität, die aber ohne eine vorherige Interaktion mit realen Menschen nicht möglich ist. Man muss die Menschen, mit denen man per E-Mail vernetzt ist, schon kennen gelernt haben. Dann aber ist diese Mobilität hervorragend und kann vieles erleichtern. +Sozialforscher trauen sich manchmal Prognosen zu. In welche Richtung entwickelt sich unsere Arbeitswelt? +Weil ich keine wirklich ernst gemeinten Vorstöße zum Abbau von Bildungsarmut sehe, werden wir dauerhaft eine Schicht von mehr als zehn Prozent der Bevölkerung bekommen, die keine Möglichkeit hat, kurz-, mittel- und langfristig an der Gesellschaft teilzuhaben. Bei den Frauen befürchte ich einen weiteren Geburtenrückgang. Denn wenn sie aufgrund ihrer Bildung in gute Positionen kommen und feststellen, dass sich das mit Kindern nicht realisieren lässt, werden sie eher auf Kinder als auf die Karriere verzichten. Wir haben dann viele gut ausgebildete Frauen, die Karriere machen, aber keine Kinder haben, und auf der anderen Seite Frauen mit schlechter Ausbildung und Kindern. Es sei denn, wir legen ein höheres Tempo vor: beim Ausbau der Möglichkeiten zur Kinderbetreuung, dabei, Väter in die Erziehung einzubinden – und dabei, Vorurteile abzubauen wie jenes, dass eine Rabenmutter ist, wer seine Kinder von anderen betreut lässt. Daran müssen wir dringend arbeiten. diff --git a/fluter/bitte-noch-einen-pilz.txt b/fluter/bitte-noch-einen-pilz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..46ffbdd36b4326a38f2e9421a4dbbe89c0ba1b0c --- /dev/null +++ b/fluter/bitte-noch-einen-pilz.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Andere Mediziner sind da skeptisch. Simon Wesseley, Psychiater am King's College London, glaubt, dass die Studie zu klein gewesen sei, um aussagekräftige Schlussfolgerungen zuzulassen. "Meiner Erfahrung nach ist therapieresistente PTBS eine komplexe Erkrankung mit vielen Ursachen – wir sollten bei ‚Wunderheilungen' sehr vorsichtig sein." Ecstasy ist nicht die einzige Droge, für die sich Mediziner interessieren: LSD gegen Kopfschmerzen, Magic Mushrooms gegen Alkoholsucht, Ketamin gegen Depressionen, all diese Möglichkeiten wurden untersucht. Grund ist eine einfache Erkenntnis: Die psychedelischen Drogen greifen in die feine Balance von Botenstoffen im Gehirn ein. So versetzen sie die Partygänger in Euphorie – aber zunehmend auch ganz nüchterne Psychiater und Neurologen. "Das sind ungeheuer mächtige Substanzen", sagt der britische Psychiater und ehemalige Drogenberater der britischen Regierung David Nutt. "Leider hat ihr Verbot 50 Jahre lang die Forschung behindert." Andere Wissenschaftler halten die Verbote und Sicherheitsbestimmungen weiterhin für dringend notwendig, da manche der Substanzen gravierende Nebenwirkungen haben. +Schon einmal wurde das Potenzial von LSD und Co beschworen. Alles begann mit einem Magic-Mushroom-Trip des Harvard-Psychologieprofessors Timothy Leary in den sechziger Jahren und endete mit seinem Rat an eine ganze Generation, Drogen zu nehmen und gesellschaftliche Zwänge abzuwerfen. Zunächst unterstützte die Universität Harvard die Forschung von Leary, der etwa untersuchte, ob Psilocybin – der Inhaltstoff mancher Pilze – die Resozialisierung von Gefangenen vorantreiben könnte. Berichte über ausufernde Drogenpartys in Learys Haus und Vorwürfe, er habe Drogen an Studenten gegeben, führten dazu, dass er seinen Job verlor. Die von Drogenkonsum angekurbelte Gegenkultur wurde zu einem Problem für die Machthaber. "Wer sollte denn in Vietnam kämpfen? Es ging um Konformität", sagt Nutt. Die Substanzen wurden verboten, Leary – der laut Nixon "gefährlichste Mann Amerikas" – experimentierte weiter mit Drogen, wurde schließlich festgenommen und verurteilt, das Forschungsfeld brach zusammen. "Die Karriere vieler Forscher stand auf Messers Schneide, und sie haben sich etwas anderem zugewandt", sagt der Psychiater John Halpern. +Ausgerechnet an einem Krankenhaus in Harvard, wo die psychedelischen Träume einst begraben wurden, könnte ihre Renaissance begonnen haben. John Halpern arbeitet am McLean-Krankenhaus der Universität und untersuchte Anhänger der Peyote-Religion. Diese Kirche, der etwa 300.000 Indianer angehören, benutzt in ihren Gottesdiensten den Peyotekaktus, der das berüchtigte Rauschgift Meskalin enthält. "Das waren die perfekten Menschen, um die Langzeitwirkung so einer Droge zu untersuchen", so Halpern. "Sie haben sie über Jahre einmal im Monat zu sich genommen. Ihre Religion verbietet ihnen andere Drogen wie Alkohol." Halpern ließ die Peyote einnehmenden Navajo-Indianer eine ganze Reihe psychologischer Tests machen und verglich ihr Abschneiden mit dem zweier anderer Navajo-Gruppen: ehemaliger Alkoholabhängiger und Menschen, die kaum Alkohol oder andere Drogen zu sich nehmen. Das Ergebnis: Die Peyote konsumierenden Indianer schnitten so gut ab wie die Kontrollgruppe, bei den Alkoholikern hingegen waren klare Folgen ihrer Sucht festzustellen. +Dass der Umgang mit Drogen Risiken birgt, zeigt der Fall eines Berliner Arztes, der am 19. September 2009 in einer "Therapiesitzung" zehn Patienten ein Amphetamin namens Neocor und später Ecstasy gegeben hatte. Das traurige Ergebnis: Zwei Patienten starben an dem Drogencocktail, ein weiterer lag wochenlang im Koma. "Das war ein Scharlatan", sagt Halpern. "Diese sogenannte Therapie ist nicht zugelassen. Er hat seinen Patienten einen kaum untersuchten Stoff gegeben und dann auch noch um das Zehnfache überdosiert." Auch Halpern forscht zurzeit mit Ecstasy. Er untersucht, ob MDMA das psychische Leid krebskranker Menschen am Ende ihres Lebens mildern kann. Vor Kurzem hat er zudem eine Studie mit Menschen durchgeführt, die unter Cluster-Kopfschmerzen leiden. Diese Schmerzen sind so stark, dass sie auch als Selbstmord-Kopfschmerzen bezeichnet werden. Einige Patienten nehmen zur Linderung LSD. Zusammen mit dem Psychiatrie-Facharzt Torsten Passie testete Halpern die Substanz 2-Bromo-LSD, im Grunde ein Brom-Atom, an dem ein LSD-Molekül hängt. "Der Effekt war enorm", sagt Halpern. "Einige der Patienten, die vorher täglich Attacken hatten, hatten monatelang keine." Das Besondere an 2-Bromo-LSD sei, dass es im Gegensatz zu LSD keine Halluzinationen hervorrufe. "Wir wollten zeigen, dass der Effekt auf die Kopfschmerzen nicht unbedingt mit der halluzinogenen Wirkung zusammenhängt." Psychedelische Drogen könnten Forschern also auch nur dazu dienen, den Weg zu neuen Medikamenten zu weisen. Psychiater Nutt sieht noch einen anderen Sinn: "Wir sollten Substanzen wie Ecstasy nicht verbieten, sondern Pharmafirmen dazu bringen, besseres, sichereres Ecstasy herzustellen." diff --git a/fluter/black-is-beautiful.txt b/fluter/black-is-beautiful.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..06e57559c0dd50d7e741415d40d39426792d7cc3 --- /dev/null +++ b/fluter/black-is-beautiful.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Black Panther war eine afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung in den USA der 60er- und 70er-Jahre.Die Ermordung des Schwarzenführers Malcolm X 1965 löste landesweit schwere Unruhen aus, in deren Verlauf über 300 Schwarze von Militär und Polizei getötet wurden. Zwei junge Farbige in Kalifornien gründeten daraufhin 1966 die Black Panthers Party. Die Partei sollte bewaffneten Widerstand gegen die damalige gesellschaftliche Unterdrückung leisten. Mitglied war die schwarze Bürgerrechtlerin Angela Davis, die wegen Terrorverdachts unschuldig verhaftet wurde. +Als Watts-Unruhen werden die schweren Ausschreitungen bezeichnet, die 1965 in Los Angeles im südlichen Stadtteil Watts ausbrachen und innerhalb von sechs Tagen 34 Todesopfer sowie über tausend Verletzte forderten. Es gab rund 4000 Verhaftungen, der Sachschaden wurde auf 35 Millionen US-Dollar beziffert. Wiederum in L.A. brachen am 29. April 1992 bürgerkriegsähnliche Zustände aus, als vier Polizisten, die der Misshandlung des Afroamerikaners Rodney King beschuldigt worden waren, von einem Gericht freigesprochen wurden. Bilanz nach sechs Tagen: mehr als 50 Tote, über 2300 Verletzte. +Demny, Oliver: "Die Wut des Panthers", Münster, (1996)"The Color of Fear" (1994) Dokumentarfilm über Rassenhass unter Minderheiten."Malcolm X" (1992) Denzel Washington spielt in diesem Film von Spike Lee den Schwarzenführer."Mississippi Burning" (1988) Film über den Mord an drei Bürgerrechtlern. diff --git a/fluter/black-woodstock-harlem-cultural-festival.txt b/fluter/black-woodstock-harlem-cultural-festival.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5a1bb246d61ac0734e30658c65470c9fd2f08ebb --- /dev/null +++ b/fluter/black-woodstock-harlem-cultural-festival.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Ähnlich friedvoll verliefen alle sechs Wochenenden des Harlem Cultural Festival, das zwischen Ende Juni und Ende August 1969 in einem großen Park im nördlichen New Yorker Stadtteil Harlem über die Bühne ging. Die kostenlose Konzertserie war eine der bis dato größten Feiern afroamerikanischer Musik von Soul bis Jazz, bei der Superstars wie Nina Simone und Mahalia Jackson, B.B. King und Stevie Wonder jeweils kurze Auftritte mit ihren Hits hinlegten. Doch der Veranstaltungsreihe ging es nicht nur um Musik – sie wollte auch schwarzes Selbstbewusstsein demonstrieren. Die Musiker verlangten mehr Mitsprache, Bürgerrechte, Gleichheit im eigenen Land. + +Auf der Bühne spielte die Funkband Sly and the Family Stone ihren Nummer-Eins-Hit "Everyday People". Bandleader Sly Stone castete Musiker*innen unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe für seine Band. Auch deshalb war sie die einzige, die 1969 auf beiden Festivals spielte – einmal für die Hippies und einmal in Harlem. + +Das Harlem Cultural Festival war ins Leben gerufen worden von dem früheren Nachtclub-Sänger und Entertainer Tony Lawrence. Er war bei dem damaligen New Yorker Bürgermeister John Lindsay vorstellig geworden, einem Republikaner, der sich bereits das Vertrauen der afroamerikanischen Gemeinden seiner Stadt erworben hatte, weil er sich regelmäßig in deren Vierteln blicken ließ. Lindsay war offen für Lawrence Idee und wies die städtische Parkverwaltung an zu kooperieren. 1969 hatte das Festival bereits zwei erfolgreiche Jahre hinter sich. Doch dieses Jahr sollte sich zum erfolgreichsten entwickeln: Insgesamt strömten an den sechs Wochenenden rund 300.000 Menschen in den Park. + + + + +Zur selben Zeit trafen sich rund 150 Kilometer nördlichrund 400.000 vorrangig weiße Hippies in Woodstock. Doch während die ihr Festival mit viel Organisationschaos in den Schlamm setzten, lief in Harlem alles wie am Schnürchen: kein Chaos, keine Verhaftungen, nicht mal eine Anzeige wegen Ruhestörung. Und während sich in Woodstock vor allem junge Menschen tummelten, mischten sich in Harlem die Altersgruppen und sozialen Schichten: Schulkinder, Jugendliche, Familien, Großeltern, christliche Priester, aber auch radikale Linke. Die Älteren eher schick in Anzug oder Kleid und mit Hüten, die Jüngeren mit Schlaghosen und Afros. Auch weiße New Yorker durften selbstverständlich teilnehmen. +Vielleicht auch, weil es dabei zu keinen spektakulären Zwischenfällen kam, ignorierten die Medien die friedlich Tanzenden in dem Harlemer Park weitgehend. Stattdessen richtete sich die gesamte Aufmerksamkeit auf das chaotische Hippiefestival in Woodstock. Schon im Oktober 1969 unkte die New Yorker "Amsterdam Press", damals die führende afroamerikanische Zeitung der Stadt: "Die Welt wird Woodstock verherrlichen und Harlem vergessen." Schließlich, so die Zeitung, würde über die schwarze Community nur dann berichtet, wenn es Aufstände, Verbrechen oder sonstige Probleme gebe. + + + + +Die Zeitung sollte recht behalten. Nach dem Höhepunkt 1969 zerstritten sich der Initiator Lawrence und seine Geldgeber. Das Harlem Cultural Festival blieb letztlich nicht mehr als eine Fußnote in der Musikgeschichte. Nur eine einzige Verbindung gibt es zwischen dem berühmten Festival in Woodstock und dem vergessenen in Harlem: Die Hippie-Funkband Sly and the Family Stone ist als einzige Gruppe im Sommer 1969 bei beiden Veranstaltungen aufgetreten. + + diff --git a/fluter/blackout.txt b/fluter/blackout.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/blatt-gewendet-fuer-den-klimawandel.txt b/fluter/blatt-gewendet-fuer-den-klimawandel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2255ffb2cae9f2f0c3c82b5b65b657d3f4748627 --- /dev/null +++ b/fluter/blatt-gewendet-fuer-den-klimawandel.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +In der Tat ist der Düngeeffekt von Kohlendioxid lange bekannt. Bauern nutzen ihn in Gewächshäusern, indem sie die Luft mit dem Gas anreichern, damit Gemüse und Obst schneller reifen. Und dass es auf unserem Planeten grüner wird, haben etliche Forschergruppen unabhängig voneinander beschrieben und gilt mittlerweile als unstrittig. Nur: Wie geht das damit zusammen, dass sich viele Wüsten ausbreiten, und vor allem mit den massiven Rodungen in den Tropen und Subtropen? Myneni selbst gibt die Antwort. Nachdem gerodet wurde, "wächst wieder etwas Grünes". Zum Beispiel eine Palmölplantage. +Die Satelliten können nämlich nicht unterscheiden zwischen Wald und Plantage, zwischen Mais und Wiese. Alles, was sprießt und nicht verdorrt ist, sieht für sie grün aus. Die Instrumente an Bord der Satelliten erfassen alle Flächen, die aus einigen hundert Kilometern Entfernung grün erscheinen, und ermitteln deren Intensität an Grün. "Nadelwald ist ja intensiver grün als Laubwald und führt deshalb auch zu einem Mehr an Grün", gibt Matthias Forkel, Geowissenschaftler an der TU Wien, ein Beispiel. Wird also ein Mischwald hierzulande durch eine forstwirtschaftlich genutzte Fichtenmonokultur ersetzt, so führt dies zu einem Ergrünen. +Dass es grüner wird, hat also nicht automatisch einen positiven Effekt. Ein unberührter Wald beherbergt mehr Pflanzen- und Tierarten, bindet weitaus mehr Kohlendioxid und Nährstoffe und ist somit ökologisch fraglos wertvoller als eine Palmölplantage. +Hinzu kommt, dass Pflanzen und Bäume zwar ein Viertel des ausgestoßenen Kohlendioxids aus der Luft aufnehmen. Aber trotz Blätterboom nehmen sie kaum mehr Kohlendioxid als zuvor auf.Von 25 Prozent steigt der Wert lediglich auf 26 Prozent, stellt MatthiasForkelklar. Ein Zuwachs von einem Prozent reicht jedoch beileibe nicht aus, um die Erderwärmung aufzuhalten. Er fällt nicht einmal ins Gewicht. Also, kein Argument für Klimawandelskeptiker, auch wenn diese es gerne ins Feld führen. +Noch eine weitere Schwäche kann man der Studie ankreiden. Regional ist mitunter gar nicht das Kohlendioxid für das Mehr an Grün verantwortlich, sondern ein Faktor, der in der Studie als "Klima" subsumiert wird. Dabei geht es längst nicht nur um die Erderwärmung, die die Tundra ergrünen lässt. Der wichtigste Klimafaktor ist die höhere Bodenfeuchte, erklärt Forkel: "Dabei könnte man an Regen als Ursache denken. Aber es sind vornehmlich moderne Anbaumethoden, allen voran bessere Bewässerungsmethoden und auch eine intensivere Düngung in den letzten Jahrzehnten, die in vielen Industrie- und Schwellenländern das Plus an Pflanzen erklären." Den Autoren der Studie muss man also zusätzlich entgegenhalten: Es wird auch grüner, weil der Mensch kräftig düngt und gießt. +Foto: Riitta Ikonen and Anja Schaffner, aus der Serie: Bird and Leaf  2007 diff --git a/fluter/blaue-augen-neue-zaehne-und-stolz-geschwellte-biertitten.txt b/fluter/blaue-augen-neue-zaehne-und-stolz-geschwellte-biertitten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e7313e9953fe55f6415ed14caea781579c024f26 --- /dev/null +++ b/fluter/blaue-augen-neue-zaehne-und-stolz-geschwellte-biertitten.txt @@ -0,0 +1,74 @@ + + + + + +Es gab in Amerika das schöne Genre der "Song-Poems": Lieder, die von Hobbyautoren geschrieben und in Minutenschnelle von Profimusikern eingespielt und eingesungen wurden, um sie dann in Winzauflagen (meist für den Autor und seine Familie selbst hergestellt) zu vertreiben. Manche dieser Stücke sind tolle und ungewöhnliche Novelty-Hits. Einer der besten ist zweifellos dieser von einer großen Zärtlichkeit getragene Gedanke, wie es dem Gemächt eines blinden Mannes gehen könnte. Wurde ursprünglich im Gedenken an Stevie Wonder geschrieben. Kein Witz. + + + + + + +Auf Jamaika gibt es ja haufenweise Songs über Körperteile. Gern über die Geschlechtsteile, supergern über die Punani und über den Bomba. Auch wenn man das Patois nicht versteht, erahnt man bei den schweinösen Reggae- und Ska-Songs sehr schnell, über was die singen. Ich muss immer lachen über die Schlongprahlereien und Buttywünsche der männlichen Angeber. Stellvertretend dafür der Gottvater des Ska, Mr. Laurel Aitken, der hier lang hängen lässt. + + + + + + +Bis heute die beste deutsche Hymne über Armut und soziale Ungerechtigkeit. Aufgehängt am tatsächlich vielleicht teuersten Körperteil, das man hat: dem eigenen Mund. Was die eingebauten Werkzeuge da drin an Pflege kosten, geht ja gar nicht. Selbst das professionelle Saubermachen ist teurer als mit dem Taxi zum Sushi! Wenn man die Zahnpflege vernachlässigt, "wendet man sich ab von uns, was mich nicht wundert, denn wir sehen aus wie Kranke aus dem letzten Jahrhundert". + + + + + + +Unter all den die schönen Augen eines Menschen (ob brown, green, marbled oder grey) besingenden Songs ist das hier augenfällig der schönste: Erst "I thought of you as my mountain top, I thought of you as my peak" – und dann nur die hellblauen Augen zu haben. Uh, magic! Dazu zartbittere Musik und der zerbrechliche Vortrag eines noch nicht ledernen Lou Reed. + + + + + + +Nimmst du einem Menschen das Haar, nimmst du ihm die Würde. Das wussten indigene Völker, das weiß die Armee, das weiß Heidi Klum. Solanges Verhältnis zum Haar ist ein besonderes: Ihre Mutter besaß einen Friseursalon, und sie selbst ließ angeblich in jüngeren Jahren auch mal bis zu 50.000 Dollar pro Jahr beim Barbier ihres Vertrauens. Kein Wunder, dass ihr größter Hit Haare als eine zentrale Identitätsfrage schwarzer Frauen thematisiert: "You know this hair is my shit!" + + + + + + +Die Bodyhymne, die mich und meine zornigen Bros und Sisters am meisten in den letzten Jahren bewaffnete. Preist sie doch ein Körperbild, mit dem sich mehr Frauen identifizieren können als mit dem nackten Schwachsinn aus Netz und CB-Funk: "With my little titties and my phat belly I could take your man if you finna let me", haut die 24-jährige New Yorkerin uns ihr gut dimensioniertes Selbstbewusstsein vor die gefälligen Lätzchen. Und macht noch mal mit "My body is little but my soul is heavy" klar, wie sekundärwichtig unsere äußere Form ist: Vergiss die normalen Körperteile! Denk ans Einzige, das man nicht anfassen kann – an die Seele. + + + + + + +In den Lyrics kommen auch große Körpersäue wie Iggy Pop und Michael Jackson und Lemmy vor, aber hängen bleibt der Song wegen seiner genialen Erkenntniszeile "Du bist nicht queer, nur weil du Biertitten hast". Gut gesagt, Pisse! Im Werk (zwei Singles und eine LP) dieser tollen Band sind mitunter auch noch andere Köperteile Thema. Ich zitiere: "Das schönste Mädchen von der Rummelsburger Bucht hat keene Beene, doch sie ist 'ne Wucht!" Mit der könnte man also auch die "Sportschau" sehen. + + + + + + +Von ihren telefonischen Großtaten ermüdet, bauten Heinz Strunk, Rocko Schamoni und Jacques Palminger ab der Jahrhundertwende zunehmend auch Songs in ihre Werke ein. Traditionell bereits an Körperteilen interessiert, die sonst eher ein Schattendasein fristen (siehe ihre Ausführungen zu Wanderhoden, Spreiznieren und Sacknähten), wird hier dem Tabu der kotbenetzten Gliedmaßen ein pianogeschwelgtes Minidrama geflochten. Weltweit die lyrisch und musikalisch einzig ernst zu nehmende Verarbeitung dieses Topos. + + + + + + +Was für ein Ohrwurm! Gegen dieses befehlende Mantra, sich "voll gut drauf" und "glücklich" zu fühlen, scheint jeder Körper machtlos. Besonders solche, von denen ihre Besitzer glauben, es liege was im Argen. Also wir alle. Das Lied kommt übrigens ursprünglich aus der Tanztherapie und ist fester Bestandteil meines DJ-Sets. Falls Sie mich mal mieten wollen: Ich lege unter dem Moniker Dr. "Dr." Penis auch Musik auf, gegen die Sie sich nicht wehren können. + + + + + + + +Bonus: +Vor dir sitzt David Bowie am Klavier. Du gefällst ihm nicht. Dein Körper (und was aus ihm rauskommt) gefällt ihm nicht. Er singt über dich. Was machst du? Genau: Mitsingen. Und mittexten. + + +Gereon Klug ist ein multitalentierter Autor, der schon zwei Plattenläden gründete. Bundesweit berühmt wurde er durch seine Newsletter (erschienen gar als Buch "Low Fidelity: Hans E. Plattes Briefe gegen den Mainstream") oder Erfinder von Deichkinds "Leider geil". diff --git a/fluter/bleiben-oder-gehen.txt b/fluter/bleiben-oder-gehen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6be11fbd6a7e6580c15c22be49790f51ad81c2fe --- /dev/null +++ b/fluter/bleiben-oder-gehen.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Ich bin jetzt 25, im nächsten Jahr werde ich mein Masterstudium abschließen. Wenn man mich heute fragt, ob die Entscheidung, in die Schweiz zu gehen, richtig war, dann würde ich das vermutlich bejahen. Denn mit der Ausbildung bin ich sehr zufrieden. Und ich habe hier viele Menschen kennengelernt, Schweizer wie Deutsche, die ich nicht mehr missen möchte – auch in meiner WG, in der ich zurzeit der einzige Nicht-Schweizer bin. Allerdings dauert es hier länger, bis man miteinander warm wird. Gerade, wenn man mit einer eher offenen und direkten Art aufgewachsen ist, wie ich als Rheinländer, dann fällt einem das auf. +Für mich hat das Leben in der Schweiz viele positive Aspekte, aber auch einige negative. Zu den negativen gehören die höheren Lebenskosten: Die bekommt man als erstes zu spüren, wenn man die Grenze überquert. Dafür sind aber auch die Löhne entsprechend höher. Ich kellnere gelegentlich, um über die Runden zu kommen. Allerdings sollte man sein Curriculum genau im Blick haben, wenn man nebenbei arbeiten und in der Regelstudienzeit mit guten Noten fertig werden will. Findet man doch die Zeit, dann trifft man gleich auf das nächste Hindernis: Die Schweiz und gerade St. Gallen sind klein, dementsprechend gibt es nur wenige Studentenjobs. +In Städten wie Zürich oder Genf ist das anders, habe ich gehört – allerdings sind die Mietpreise dort auch noch mal eine ganze Ecke höher. Genf zum Beispiel zählt zu den teuersten Städten der Welt. Für die höheren Abgaben bekommt man in der Regel aber auch mehr geboten, gerade im öffentlichen Dienst. Am stärksten fällt mir das beim größten Verkehrsbetrieb des Landes auf, der SBB [Schweizerische Bundesbahnen], dem Schweizer Pendant zu Deutschen Bahn. Man könnte sagen, die SBB ist so oft pünktlich, wie die DB Verspätung hat: nämlich fast immer. +Also ist in der kleinen Alpenrepublik alles besser? Warum sollte man dann nicht gleich die Koffer packen und es einfach ausprobieren? Nun ja: Der Tipp von dem El Dorado mitten in Europa hat bereits vor langer Zeit die Runde gemacht. Und das hatte und hat Konsequenzen, die meine sonst eher positiven Erfahrungen getrübt haben. Inzwischen sind es fast eine viertel Millionen Deutsche, die in der Schweiz leben. Für ein Land mit insgesamt nur knapp acht Millionen Einwohnern ist das eine Menge. +In der Schweiz gibt es sehr starke rechtspopulistische Strömungen. Man bekommt das zu spüren, wenn man unter Eidgenossen lebt, früher oder später. Besonders rechts ist die Schweizerischen Volkspartei (SVP), die größte Fraktion in der Bundesversammlung, dem Schweizer Parlament. Sie hat großen Rückhalt in der Bevölkerung, und sie ist die finanzstärkste aller Schweizer Parteien. Vor einer Volksabstimmung, bei der es zum Beispiel um unerwünschte Ausländer geht, findet man dann eine mehrfarbige Parteizeitung der SVP in seinem Briefkasten, in der lang und breit und mit fragwürdigen Argumenten dargelegt wird, warum die Deutschen oder andere Nationalitäten die Wurzel allen Schweizer Übels seien. +Dieser Strömungen sollte man sich durchaus bewusst sein. Denn solange man nicht eingebürgert ist, und das dauert zwölf Jahre, hat man auch kein Wahlrecht in der Schweiz. Das wird spätestens dann unangenehm, wenn es um Volksentscheide geht, die einen als Ausländer betreffen. +Ist ein hohes Gehalt Grund genug zu bleiben? +Soll ich also in der Schweiz bleiben? Und später nicht mehr nach Deutschland wechseln können? Wenn ich in der Schweiz bleibe, dann werde ich nach meinem Studium schlicht und ergreifend mehr Geld als in Deutschland verdienen – und ich werde auch nur etwa 20 Prozent an Steuern zahlen. In Deutschland würde ich etwas unter 50 Prozent meiner Einkünfte zahlen. Auf der anderen Seite aber missfällt mir der Gedanke, in einem Land zu leben, in dem ich kein politisches Wahlrecht habe. Ein Land, dessen rechtspopulistische Strömung mit jedem Einwanderer stärker wird. Ich habe mich noch nicht entschieden.Nächstes Jahr werde ich mein Studium abschließen. Daher steht die Frage im Raum, wo ich mich nach meinem Studium niederlassen will. Ich habe mich auf den Bereich Wirtschaftsprüfung spezialisiert, der immer noch stark von nationalen Regulierungen geprägt ist. Konkret bedeutet das für mich, dass es nach einigen Jahren Berufspraxis für mich nicht ohne weiteres möglich wäre, das Land zu wechseln, in dem ich meinen Beruf ausüben möchte. +*Name auf Wunsch des Autoren geändert diff --git a/fluter/bleibt-wo-ihr-seid.txt b/fluter/bleibt-wo-ihr-seid.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d4982ce3859eaa75109ba48bf4f66d9e223328b4 --- /dev/null +++ b/fluter/bleibt-wo-ihr-seid.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Torsten Sevecke mag seinen Job. Der 52-Jährige, kurze graue Haare, das Hemd in der Jeans, tritt selbstsicher auf, manchmal etwas forsch. Oft sagt er Sätze wie: "Der Staat muss handlungsfähig bleiben" und klingt dabei, als würde er von sich selbst in der dritten Person sprechen. Doch momentan hat er ein Problem: Platz. Die Flüchtlingszahlen sind wie im ganzen Land rasant gestiegen. In diesem Jahr wird die Stadt schätzungsweise mehr als 5.000 Flüchtlinge zusätzlich unterbringen müssen."Flüchtlinge passen hier nicht hin", sagt der Inhaber ein Bar im Viertel. Er wohnt seit über 40 Jahren hier. Die Unterschiede seien zu groß, und überhaupt, "mindestens 70 Prozent von denen klauen". Wenige argumentieren so direkt wie er. Meistens heißt es, es werde zu sozialen Spannungen kommen, Arm und reich so dicht nebeneinander. Die Flüchtlinge würden sich hier nicht wohlfühlen. Ihre Kinder hätten in der Schule Probleme neben den wohlhabenden Klassenkameraden. Und ein Argument, das in der Presse oft wiederholt wurde: Die Einkaufsmöglichkeiten seien für Flüchtlinge viel zu teuer.Ein Thema, wie gemacht für die Medien: In Harvestehude, einem Hamburger Nobelstadtteil an der Alster, sollen 220 Flüchtlinge untergebracht werden – zumindest wenn es nach Bezirksamtsleiter Sevecke geht. Der will die Unterkunft durchsetzen, um jeden Preis. Auch wenn das gerade schwierig scheint. Das Gebäude an der Sophienterrasse 1a gehörte früher der Bundeswehr, es ist ein richtiger Behördenbau mit vielen eng nebeneinanderliegenden Fenstern. 23 Wohnungen sollen hier entstehen, in einer von Hamburgs besten Lagen, wo die Quadratmeterpreise schon mal fünfstellig sein können und der Weg zur Außenalster kurz ist. Er führt vorbei an Gründerzeitvillen und neuen Apartments mit viel Glas, gepflegten Vorgärten und einem ehemaligen NS Gebäudekomplex, der nun zu Luxuseigentumswohnungen und schönen Stadtvillen ausgebaut wird. +Keine leichte Aufgabe in einer Metropole, in der Wohnraum knapp ist und selbst Gutverdienende oft monatelang nach einer Wohnung suchen. Und umso schwieriger im reichen Bezirk Eimsbüttel, wo es kaum mehr freie Flächen oder Gebäude gibt. "Wo immer sich eine Möglichkeit ergibt, nutzen wir die", sagt Sevecke, "wurscht, was in der Umgebung passiert." Die Umgebung klagt. Drei Anwohner haben gegen die Unterkunft an der Sophienterrasse Beschwerde eingelegt. Und das Verwaltungsgericht Hamburg hat ihnen recht gegeben. Grund dafür ist ein Baustufenplan aus dem Jahr 1955, in dem es um "besonders geschütztes Wohngebiet" geht. +Ein Baustopp wurde verhängt, und seit Ende Januar stehen die Umbauarbeiten still. Noch knapp vier Monate sollte es dauern, dann hätten die ersten Familien einziehen können – eigentlich war schon für April die Eröffnung geplant. Jetzt liegt das Gebäude verlassen da, und hinter dem Bauzaun, der das Gelände abriegelt, wuchert der Löwenzahn. +In Harvestehude klagen sie gern, sagt Sevecke. Hier wohnen Menschen, die sich einen Anwalt leisten wie andere einen Cappuccino. Die drei Kläger, wahrscheinlich direkte Anwohner, wollen nicht mit der Presse sprechen. Ihr Anwalt sagt, man wolle nicht "Öl ins Feuer gießen". Und abwarten, wie das Oberverwaltungsgericht, die nächste Instanz, entscheide. +Er finde den Baustopp schade, sagt Peter Wettergren, 52, der in der Sophienterrasse wohnt. "Ich wüsste nicht, warum es zu Problemen kommen sollte", sagte er, seine Nachbarn sähen das ähnlich. "Es ist eine wohltuende Provokation für die Anwohner, weil die meisten viel Geld bezahlt haben", sagt Uwe Gutowksi, 57, der mit seiner Frau hier oft entlangspaziert. Sie meint, gegen gebildete Syrer habe sie nichts, "aber Zigeuner und Kriminelle, das wäre nicht schön". "Ich schäme mich!", sagt Cordula Prinz, die mit ihrer Familie im angrenzendenStadtteil Eppendorf wohnt: "Diese Leute haben nur Angst um ihren eigenen Wohlstand." +"Die meisten hier sehen das Asylbewerberheim positiv", sagt Heidrun Petersen-Römer, 62, eine Schauspielerin, die den Verein "Flüchtlingshilfe Harvestehude" mitgegründet hat. Sie wollten etwas tun, wie damals während des Jugoslawienkrieges, als die Bosnier kamen. Dafür sorgen, dass die Flüchtlinge sich wohlfühlen. Mittlerweile hat der Verein 110 Mitglieder, dazu kommen über 200 Unterstützer. Sie treffen sich regelmäßig in der Aula des Wilhelm-Gymnasiums, nur eine Querstraße von der Sophienterrasse entfernt. Nebenan probt das Schulorchester, an den Wänden hängen die nachgemalten Werke alter Meister, und vor der kleinen Bühne steht ein Flügel. +Die Stuhlreihen füllen sich, elegante Mäntel und Goldohrringe, eine gutbürgerliche Versammlung. Die meisten Teilnehmer sind älter. Auch Bezirksamtsleiter Sevecke ist gekommen, um den aktuellen Stand der Dinge zu erklären. Gegen die Entscheidung des Gerichts hatte das Bezirksamt Berufung eingelegt. "Sie sehen hier einen Staat unter Druck", sagt Sevecke. Er tritt routiniert auf, doch dieses Publikum macht es ihm nicht leicht. Viele kritisieren das Vorgehen des Bezirksamts, es sei ein Fehler gewesen, die Unterkunft ursprünglich als "soziale Einrichtung" zu deklarieren, und warum man das Gelände nicht einfach umwidme. +Als ein älterer Mann fragt, "ob man nicht noch einmal mit den Antragstellern reden könne", bekommt er einen kleinen Szenenapplaus. Die Kläger sind hier nicht unbekannt, und es scheint, als wolle man das Ganze gerne unter sich klären, ohne großes Aufsehen. Im Verein haben sich mittlerweile viele Arbeitsgemeinschaften gegründet, zum Deutschlernen, für Freizeitangebote oder Kinderbetreuung. Nur Flüchtlinge, die gibt es noch nicht. "Wenn es einen Bereich in Hamburg gibt, der richtig hohe Integrationsleistungen erbringen kann, dann ist das der Bezirk Eimsbüttel", sagt Sevecke. "Hier ist der geballte Mittelstand." Es gäbe so viele Menschen, die sich engagieren wollen, dass das Bezirksamt mittlerweile eine eigene Mitarbeiterin nur für die Koordination der Flüchtlingsinitiativen eingestellt habe. +Aber können sich in Harvestehude Flüchtlinge wohlfühlen, in dieser elitären Umgebung? "Wahrscheinlich brauchen diese Menschen am meisten das Gefühl von Sicherheit", sagt Heidrun Petersen-Römer. "Und dieses Gefühl können wir ihnen geben." Für Torsten Sevecke ist klar, es geht bei dem Konflikt nicht um soziale Spannungen – es geht um Geld. Die Immobilienpreise sind in den letzten Jahren stark gestiegen, und die Kläger hätten Sorge, dass eine Flüchtlingsunterkunft den Wert ihrer Häuser mindere. +Bei den Versammlungen sei das auch deutlich so gesagt worden. Doch die Flüchtlingsunterkunft werde es geben, "so sicher wie das Amen in der Kirche". Nur wann, bleibt unklar. Um den Plan durchzusetzen, will der Senat jetzt den Bebauungsplan ändern. Das kann allerdings noch ein Jahr dauern. Der Mietvertrag, den der städtische Träger der Unterkünfte mit dem Landesbetrieb Immobilienmanagement geschlossen hat, läuft indes weiter, billiger wird das Vorhaben dadurch nicht. +Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, auf die alle monatelang gewartet haben, fiel Ende Mai: Die Beschwerde des Bezirksamts gegen den Baustopp wurde zurückgewiesen. Bei der Flüchtlingsunterkunft handele es sich um keine Wohnnutzung, "weil es an der Eigengestaltung und Freiwilligkeit des Aufenthalts fehlt", heißt es in der Begründung. Das bedeutet, im noblen Harvestehude werden so schnell keine Flüchtlinge wohnen. Um den Plan durchzusetzen, will der Senat jetzt das Baurecht ändern. Das allerdings kann noch dauern.Es sind vor allem die Jüngeren im Viertel, die sich für die Flüchtlinge stark machen – wie der 15-jährige Merlin Hosak, der in Eimsbüttel wohnt und glaubt, wenn die Flüchtlinge erst mal da sind, werde es keine Probleme geben. "Wenn wir, die Jugendlichen aus dem Stadtteil, auf die zugehen und sagen ,Hey, willkommen!', dann bezweifle ich, dass es zu Spannungen kommen wird." Wenn die Flüchtlinge erstmal da sind, wollen Merlin und seine Freunde ein "Urban Gardening"-Projekt mit ihnen starten. "Ich bin auch dafür", sagt der zwölfjährige Ben-Luis, der mit seinen Eltern im angrenzenden Stadtteil Eppendorf wohnt. "Wenn man die hier auch noch vertreibt, wo sollen die denn dann hin?" Die Antwort auf seine Frage heißt: In die Gewerbegebiete. Nach Billstedt etwa, an den Rand der Stadt, wo es genug Flächen gibt, zunehmend Flüchtlingsunterkünfte und sozialen Sprengstoff. diff --git a/fluter/bloss-nichts-verpassen.txt b/fluter/bloss-nichts-verpassen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..58f90ebf77728112015ee00cc272a6544ded6e34 --- /dev/null +++ b/fluter/bloss-nichts-verpassen.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Die Arbeit für das Goethe-Institut macht mir Spaß. Ich darf Fragebögen amerikanischer Schüler und Schülerinnen auswerten, die in Deutschland bei Gastfamilien gewohnt haben. Es ist erstaunlich, was die jungen Amerikaner als "typisch deutsch" empfinden: sprudeliges Mineralwasser, Mülltrennung und sogar die Tatsache, dass in Deutschland viel mit dem Fahrrad erledigt wird.Das Tempo der New Yorker ist anstrengend. Aber schon nach kurzer Zeit steige auch ich so in die Subway ein, dass ich beim Aussteigen nah an dem Ausgang bin, der mich am schnellsten zu meinem Ziel bringt. Ich fange an, mich über die Touristen am Times Square aufzuregen, die zu fünft nebeneinander her bummeln, so dass kein Mensch an ihnen vorbeikommt. Ich verdrehe die Augen, wenn Kunden, die vor mir an der Kasse stehen, ihre Kreditkarte nicht sofort richtig durch den Schlitz ziehen. +Auch mir fallen langsam die Unterschiede zwischen meinem alten und meinem neuen Zuhause auf. Häufig schneidet das neue Zuhause schlechter ab. Ich rege mich über die Heizung in meinem Zimmer auf, die nicht regulierbar ist und mir jeden Abend das Gefühl gibt, dass ich in die Tropen nach Hause komme. Ich ekle mich vor den Eiern im Supermarkt, die so lange haltbar sind wie Bundeswehrkonserven. Und ich bin genervt von der Zapping-Mentalität der Amerikaner, die in der Oper schon beim letzten Ton aufspringen, schon bevor der Vorhang fällt. +Trotzdem, es ist immer noch New York, die Stadt, die von Frank Sinatra und auch von Udo Jürgens besungen wurde. Ich kann nicht genug davon bekommen, ziellos herumzulaufen. Hinter jeder Ecke entdecke ich etwas Neues. Obwohl auch in New York die großen Marken und Ketten die Hauptstraßen beherrschen, gibt es noch viele Orte, die ihren ganz eigenen Charme und Charakter haben. Meine WG liegt in Astoria, einem Teil von Queens. Ich fühle mich dort wie in einer Kleinstadt, wo man sich morgens grüßt und gegenseitig Zucker leiht. +Überhaupt scheint New York nicht nur eine Stadt zu sein, sondern aus vielen kleinen Städten zu bestehen, die alle ihre Besonderheiten haben und in denen keine Großstadt-Anonymität herrscht. Mein Übergangszuhause Queens ist dabei von den fünf New Yorker Boroughs der multikulturellste. Hier leben Menschen aus über 150 Nationen zusammen. Circa 46 Prozent der Einwohner Queens sind außerhalb der USA geboren. Wenn ich eine Runde um den Block gehe, komme ich an Geschäften von Italienern, Brasilianern, Chinesen, Thailändern, Koreanern und Griechen vorbei. Ich fühle mich hier zwar manchmal allein, aber nie fremd. +Es gibt viele Theorien, ab wann man New Yorker ist. Einige besagen, dass man zehn Jahre hier gelebt haben muss, andere machen es an bestimmten Handlungen fest. So kann man ein New Yorker werden, indem man jemandem das Taxi vor der Nase wegschnappt, eine Kakerlake in der Küche tötet oder Woody Allen auf der Straße trifft. Wahrscheinlich gibt es keine wirkliche Regel. Sondern man wacht eines Morgens auf und fühlt sich als New Yorker. Ich hatte dieses Gefühl noch nicht. Aber es ist mein schönster New-York-Moment, als mich der Mann aus dem Deli an der Ecke, bei dem ich nach der Arbeit oft noch etwas einkaufe, eines Abends begrüßt. Er gibt mir die Hand und fragt, wie mein Tag war. Und plötzlich gehöre ich dazu. Zumindest ein bisschen. +Shirin Schönberg (23) studiert Soziologie und Politikwissenschaft in Braunschweig und arbeitet nebenbei als freie Journalistin. diff --git a/fluter/blumen-des-boesen.txt b/fluter/blumen-des-boesen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4027e92ad5af1d32a671cdbfda282396d3343669 --- /dev/null +++ b/fluter/blumen-des-boesen.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Opium wird in Afghanistan seit Tausenden von Jahren angebaut. Früher wuchs es vor allem in den Nordprovinzen. Die eigentliche Volksdroge war aber landesweit Haschisch. Dessen Erfolg führen Historiker auf das Bedürfnis vieler Muslime zurück, angesichts der strengen Alltagsregeln des Islams eine gewisse Freiheit zu erlangen. Zwar verbietet der Koran Rauschmittel, doch Opium oder Haschisch sind im Gegensatz zum Alkohol nicht ausdrücklich verpönt. Zum internationalen Wirtschaftsfaktor geriet das Opium erst im 19. Jahrhundert durch den Handel, den die Britische Ostindien-Kompanie damit trieb. Nachdem die chinesische Regierung es verboten hatte, führte Großbritannien zwei sogenannte Opiumkriege, um sich den Profit mit dem populär gewordenen Rauschgift nicht entgehen zu lassen. In Afghanistan begann die Blütezeit des Giftes erst in den 1980er Jahren. Während das Land von den sowjetischen Truppen besetzt war, stachelte der US-Geheimdienst CIA die Produktion an, um durch die Erlöse die fundamentalistischen Mudschaheddin zu finanzieren, nach westlicher Lesart damals die "Freiheitskämpfer". +Nach dem Abzug der Sowjets brach in den neunziger Jahren unter den unterschiedlichen Warlords ein Bürgerkrieg aus. Die Drogengeschäfte gingen rege weiter, schließlich brauchte jede der Konfliktparteien Geld für Waffen und für Kämpfer. Auch die Taliban – zunächst mit westlicher Rückendeckung angetreten, um das Land wieder zu vereinen – deckten ihren Geldbedarf immer wieder durch den Rauschgiftverkauf an die "Ungläubigen". Als die USA nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 eine Koalition zum Kampf gegen den Terror schmiedeten, bedienten sie sich einer Fraktion der Bürgerkriegsparteien, der sogenannten Nordallianz. Dass viele von deren Führern mit Opium dealten, nahmen die westlichen Strategen dabei in Kauf. Man brauchte eben Verbündete. Gestützt auf diese "Nordallianzler" konzipierte die westliche Staatengemeinschaft 2001 das neue Afghanistan. Nur: Beim sogenannten Nation Building, also beim Aufbau eines Rechtsstaats, blieb nun für deren traditionelle Geschäfte kein Platz. Wie hätte man den Bevölkerungen im Westen das Engagement für Drogenhändler schmackhaft machen sollen? +Die alten Haudegen, nun zu Staatsmännern und Politikern geadelt, verstanden die Botschaft und änderten ihr Auftreten – wie im Fall des Warlords Mohammad Atta Nur, der aber nur schwer von seinen alten Geschäften lassen konnte. Um auch in dessen Einflussbereich zentralstaatliche Strukturen durchzusetzen, entsandte der afghanische Präsident Hamid Karzai 2004 einen neuen Polizeichef, der prompt versuchte, einen von Attas Drogentransporten zu beschlagnahmen. Daraufhin mobilisierte der Milizenführer seine Truppen. Karzai lenkte ein und versöhnte den mächtigen "Paten", indem er ihn zum Gouverneur ernannte. +Wie kaum ein anderer engagiert sich Atta heute bei der Vernichtung der Drogenanbaufläche in seiner Provinz Balkh. Aus guten Gründen: Die Hilfsgelder und Fördermittel, die ihm dank seiner Kooperation durch die Isaf-Staaten zufließen, sind noch weitaus lukrativer als die Einnahmen aus dem Opiumanbau. Als Partner westlicher Investoren in seiner Provinz hat Atta ein Netz aus Strohmännern und Scheinfirmen aufgebaut und profitiert direkt oder indirekt von beinahe allen Bau-Aufträgen und Entwicklungsmaßnahmen. Und als verlässlicher Partner des Westens kann er seine Hände nun umso besser über den Zwischenhandel mit dem Rauschgift halten. Beamte der deutschen Bundespolizei vermuten, dass Atta deshalb ganze Seilschaften seiner ehemaligen Milizen in die neu gebildeten Sicherheitskräfte eingeschleust hat. "Der Polizeichef, der am Flughafen von Mazar-i Scharif Dienst tut", sagt ein Kommissar, der ungenannt bleiben möchte, "ist nur deshalb da, weil er Attas Drogengelder außer Landes schafft." +Statt Opium zu erzeugen, ist der Norden nun zur gut organisierten ersten Etappe des Zwischenhandels geworden, dafür blühen die Felder aber nach wie vor im unsicheren, umkämpften Süden. Von dort – etwa aus Kandahar und Helmand – bringen die Taliban die heiße Ware dorthin und tauschen sie gegen die Waffen ein, die entweder aus Nato-Containern entwendet, über Tadschikistan aus Russland eingeführt werden oder die Milizenführer der Nordallianz noch immer in unzähligen Waffenlagern horten. Zudem setzen viele Produzenten nun anstelle des klassischen Opiums auf andere Rauschgifte wie Marihuana und Haschisch. Die neue Zollstation an der tadschikischen Grenze spielt bei der Ausfuhr eine wesentliche Rolle. "Sie sieht zwar gut aus", klagt ein Bundeswehroffizier hinter vorgehaltener Hand, "ist aber weniger eine Einnahmequelle für den afghanischen Staat als für die zuständigen Provinz- und Zollbeamten. Die scheffeln horrende Gelder dadurch, dass sie die Schmuggelgüter durchlassen." +Marc Thörner recherchierte zwei Jahre lang in Afghanistan über die Strukturen hinter den Kulissen des internationalen Einsatzes in Afghanistan. Er sprach mit Mullahs, Gouverneuren, Taliban und ließ sich bei unterschiedlichen Armeen "einbetten". Dazu erschien sein Buch "Afghanistan Code. Eine Reportage über Krieg, Fundamentalismus und Demokratie" diff --git a/fluter/blutig-ist-die-welt.txt b/fluter/blutig-ist-die-welt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/blutiger-boden-der-tatsachen.txt b/fluter/blutiger-boden-der-tatsachen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3835c0cfb518233af077ce640b718d0c508cc61e --- /dev/null +++ b/fluter/blutiger-boden-der-tatsachen.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Seit den ersten Ausgrabungen Mitte der 80er-Jahre wurden rund 510 Gruben gefunden", sagt der weißrussische Historiker Ihar Kuznjatsau. Bis 1941, als die Wehrmacht in Weißrussland einmarschierte, wurden in Kurapaty so 30.000 Menschen von der Geheimpolizei ermordet – mindestens. Andere Schätzungen gehen von bis zu einer Viertelmillion Toten aus. Der Geheimdienst ging gegen sogenannte "konterrevolutionäre Kräfte" und "Feinde der kommunistischen Revolution" vor. De facto ging der NKWD aber recht willkürlich vor. Jeder konnte zur Zielscheibe des "Großen Terrors" werden. "Aber wie viele Tote hier wirklich liegen, lässt sich nicht nachvollziehen." Unter anderem hatten die Machthaber der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg versucht, die Überreste mit chemischen Mitteln zu beseitigen. Und als ab Ende der 50er-Jahre die Ringautobahn um Minsk gebaut wurde, wurden viele Gruben geräumt. +"Natürlich erfuhr die Bevölkerung damals nicht, was für ein Morden sich hier zugetragen hat", sagt Kuznjatsau, der an der staatlichen Universität des Landes lehrt und ein Experte für die sowjetischen Repressionen in Weißrussland ist. "Die Sowjets haben einfach erklärt, hier würden Opfer der Nazi-Okkupation liegen." +In Weißrussland führte der Archäologe und spätere Politiker Zjanon Paznjak schon in den 70er-Jahren heimlich Interviews zum Thema. Doch erst ab Mitte der 80er-Jahre, zur Zeit von Perestroika und Glasnost, konnten sich Forscher dem Thema ernsthafter widmen. 1988 machte Paznjak die Berichte und die Ergebnisse erster Ausgrabungen in Kurapaty öffentlich. So sorgte er für einen Aufschrei in der weißrussischen Gesellschaft und setzte eine neue Nationalbewegung in Gang. "Die Tatsache, dass die Sowjetmacht die eigenen Leute ermordet und das viele Jahrzehnte vertuscht hatte", sagt Kuznjatsau, "ließ das Vertrauen in die sowjetischen Machthaber erodieren." +Die Kiefern ragen hoch in den Himmel. Zwischen den dürren Bäumen stehen Holzkreuze. Es sind Dutzende, vielleicht Hunderte. Aber es gibt kein offizielles Schild, auf dem erklärt wird, was für ein Horror sich in Kurapaty zugetragen hat. "Wie kann das sein?", fragt eine ältere Frau aus der Gruppe von Deutschen, die Ihar Kuznjatsau an diesem Tag hierhin geführt hat. Seit 1994, also fast seit Beginn seiner Unabhängigkeit, wird Weißrussland vom Autokraten Alexander Lukaschenko regiert. Einem Präsidenten, der nicht viel von Menschenrechten hält und der die alten Sowjetmythen liebt. +Als Lukaschenko an die Macht kam, wurden die stalinistischen Säuberungen und Repressionen wieder zum Tabuthema. Die Erkenntnisse, die man heute über die Opfer des Kommunismus hat, stammen vor allem von mutigen Einzelkämpfern und Initiativen, die Publikationen herausgeben, Erinnerungstafeln und Kreuze aufstellen. Die aber immer wieder beschädigt und zerstört werden. Von wem? Kuznjatsau: "Wir schalten in solchen Fällen die Polizei ein. Aber Täter wurden nie gefasst." +Auch in Schulbüchern wird nichts über die traurigen Seiten des Kommunismus gelehrt. Stattdessen lernen die Kinder die alten Sowjetlegenden von den glorreichen Veteranen der Roten Armee. Die Opfer des Krieges, die erschossenen Juden, die heimgekehrten Kriegsgefangenen, die in Lager geschickt wurden, werden totgeschwiegen. An den Universitäten wurde seit 17 Jahren keine Forschungsarbeit über die Repressionen in der Regierungszeit Josef Stalins mehr zugelassen. Stattdessen wird dem Diktator in Fernsehsendungen gehuldigt oder Felix Dzerschinski, dem blutrünstigen Erfinder der sowjetischen Geheimpolizei, ein neues Denkmal errichtet, wie 2006 auf dem Areal der Minsker Militärakademie. +"Die Archive des KGB, wo die Dokumente zu den Repressionen liegen, sind für uns bis heute verschlossen", sagt Kuznjatsau. Deswegen kennt man keinen einzigen Namen derjenigen Menschen, die in Kurapaty oder an den anderen circa 100 Erschießungsstellen im Land liegen. Man weiß nicht, wie viele Menschen von welchen Repressionen (Gefängnis, Deportation, Erschießung) in der Zeit von 1917 bis 1953 betroffen waren. Kuznjatsau hat häufig versucht, Zugang zum weißrussischen KGB-Archiv zu erhalten. Die Antwort: "Warum müssen Sie sich mit dem Thema beschäftigen? Warum sollte das gut sein?" +Die Folgen eines unermüdlichen Einsatzes für eine fundierte Erinnerungsarbeit kennt er nur zu gut. "Ich wurde schon häufig beim heutigen weißrussischen KGB verhört", erklärt er. "Zudem musste ich mich bei den Ideologiebeamten meiner Universität rechtfertigen." Er macht trotzdem weiter, publiziert und führt Interessierte zu den Erschießungsstellen, von denen es alleine acht im Gebiet von Minsk gibt. +"Für jemanden, der aus einer Demokratie kommt", sagt er, "ist es sicher nicht leicht zu verstehen, warum der Staat bei uns etwas dagegen hat, sich an die Gräueltaten zu erinnern." Die Sonne scheint Kuznjatsau ins Gesicht. "Die Jüngeren, die nach 1990 geboren sind, wissen meistens überhaupt nichts von Kurapaty", sagt er. Offiziell sei es nicht verboten, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Aber jeder wisse, dass dies zu bösen Konsequenzen führen könne. "Das hat mit Selbstzensur und Angst zu tun", erklärt Kuznjatsau. "Angst, die noch von diesen furchtbaren Zeiten unter Stalin herrührt." +Die Frau, die eben die Frage gestellt hat, insistiert: "Aber was würde den Machthabern passieren, wenn es eine adäquate Aufarbeitung geben würde?" Kuznjatsau antwortet, ohne zu überlegen. "Eine gute Erinnerungsarbeit würde einen mündigen Bürger hervorbringen." +Ingo Petz arbeitet seit über 15 Jahren als freier Journalist. Als studierter Slawist hat er eine besondere Vorliebe für osteuropäische Themen und ist ein Kenner der zeitgenössischen Kunst- und Musikszene Weißrusslands. diff --git a/fluter/blutsbrueder.txt b/fluter/blutsbrueder.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/blutsverwandte.txt b/fluter/blutsverwandte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..712031a1f79de2a4416c844a2e48a15034b1dc83 --- /dev/null +++ b/fluter/blutsverwandte.txt @@ -0,0 +1 @@ +Zumindest von offizieller Seite aus soll es kein Betrug gewesen sein. Von diesem Vorwurf sprachen Staatsanwälte Jan Ullrich erst im April dieses Jahres frei. Seien wir ehrlich, hieß das: Jeder weiß, dass alle dopen – und wenn es sich so verhält, dann betrügt auch keiner.Doping bedient und meint ein System von Profiteuren, die miteinander verfilzt sind und mitspielen im globalen Pharmasport: Sportfunktionäre, Trainer, Ärzte, die Erfolg fordern, weil nur dann die Steuer- und Sponsorengelder reichlich fließen. Und Unternehmen mit Faible für den Sieger, der ihr Logo auf dem Treppchen präsentiert. Auch fürs Fernsehen stimmt die Quote, wenn Zuschauer jubeln können über überirdische Leistungen der Jan Ullrichs dieser Welt. Wenn doch einmal ein Sünder auffliegt, dann bleibt diese große Koalition trotzdem bestehen. Politiker drohen dann theatralisch mit "Maßnahmen", die fast immer ausbleiben. Funktionäre entrüsten sich über "einzelne schwarze Schafe", die aber eins zeigen: wie prima Dopingtests funktionieren. Theater muss sein: Steuer- und Werbegelder kassiert der Spitzensport ja nur, weil in ihm angeblich Fair Play zu lernen ist und Glaubwürdiges zu sehen. Aber Fair Play und Glaubwürdigkeit sind meist aus den Stadien verbannt, in Labors und Gerichte.Nichts mehr zu machen, sagen die Untergangspropheten, Menschen, die Doping freigeben wollen, und jene, die den Spitzensport schon aufgegeben haben. Sie sagen: Überall wird dem Fetisch Erfolg gehuldigt, Doping, wohin man schaut. Im Breitensport, bei Kindern, die Muntermacher einwerfen, oder beim Börsianer, der sonst die falsche Taste drückt. Doping zeige Unabänderliches, die Gier nach Ruhm, Geld und Glück.Diese finale Sicht vernebelt allerdings, dass sich der Pharmasport eindämmen lässt. Zuerst von denen, die den Dopingdruck erzeugen: durch Politiker, die Haushaltsmittel nicht mehr nach Medaillenzahlen lockermachen, stattdessen aber Doping im Strafrecht verankern und den organisierten Sport mit scharfen Antidopinggesetzen wie in Frankreich oder Italien zur Einhaltung seiner Regeln zwingen. Geld zieht auch dann, wenn Politik oder Sponsoren es bei Dopingverstößen entziehen würden. Die Sportverbände wären zu verpflichten, einen größeren Teil ihrer Einnahmen in das Kontrollsystem zu stecken, und obendrein in Prävention, um junge Athleten rechtzeitig aufzuklären. Keine neuen Ideen – neu ist aber, dass sie nicht mehr aus der Welt zu schaffen sind. Neu ist auch, dass Journalisten, in Deutschland im "sportnetzwerk" verbunden, global kooperieren wie die Dopingkartelle, dass sie Siegern mit Skepsis begegnen und Verlierern mit Respekt.Im Buch Der geklonte Mensch erzählt der Kulturwissenschaftler Alexander Kissler, wie die soziale Utopie von Fortschritt, von einer besseren Welt "ins Menscheninnere wandert", in die Idee von frisierten Körpern und Hirnen. Über die bessere Welt entscheidet im Sport, dem Geschäft, das von Begeisterung lebt, "der Zuschauer da draußen". Sieht diese Utopie aus wie derzeit ein olympisches 100-Meter-Finale mit muskelbepackten Robotern, einer wie die Kopie des anderen? In der Antwort liegt Hoffnung, nicht nur für den Sport. Jan Ullrich war das vielleicht nicht bewusst. Aber formuliert hat er es, nach 33 Sekunden. diff --git a/fluter/bobby-im-wunderland.txt b/fluter/bobby-im-wunderland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a039c4f2c7e54ed8b52da5e306336bf0e9d6af33 --- /dev/null +++ b/fluter/bobby-im-wunderland.txt @@ -0,0 +1 @@ +Zwei-, dreimal die Woche führt Dekeyser Medienleute durch seine Unternehmenszentrale. Er zeigt ihnen die Showrooms, die untergebracht sind in den ehemaligen Stallungen eines Husarenregiments, er führt sie durch die Wellnessbüros und an den großen Tisch, um den mittags alle sitzen wie eine Großfamilie und sich verwöhnen lassen von Adriana, einer sizilianischen Köchin. Er zeigt Fotos von dem Ballon, der einmal die Woche in die Luft steigt, im Korb eine Hand voll Dedon-Mitarbeiter. Es kommt nicht selten vor, dass die Journalisten nach einem solchen Rundgang fragen, wo man, bitte schön, seine Bewerbung abgeben könne. Das Wirtschaftswunder von Lüneburg. Dass es funktioniert, liegt an der Freiheit, die Bobby Dekeyser seinen Mitarbeiter/innen gibt. Er nennt das Eigenverantwortung. Es macht gar nichts, wenn er selbst kein guter Kaufmann ist, solange er gute Kaufleute hat, die für ihn arbeiten, leidenschaftlich arbeiten, weil er ihnen ein Budget gibt und sie ansonsten in Ruhe lässt. Irgendwann trifft man sich wieder und guckt, was dabei herausgekommen ist. Leistung, sagt Dekeyser, kommt von innen heraus, das hat nichts mit Arbeitszeiten zu tun, man muss die Leute ernst nehmen. Was er damit meint, demonstriert er beim Ausflug zum Dedon-Angelteich, hinter dem Adriana, die Köchin, bald einen Gemüsegarten anlegen will. Der Angelteich ist Hausmeisterrevier. Dekeyser hat dem Hausmeister dafür 15.000 Euro gegeben, er durfte alles so machen, wie es ihm gefällt. Herausgekommen ist dabei ein Bassin mit 500 Fischen, am Ufer steht ein Pavillon, der aussieht wie eine übergroße Version jener Gartenlauben im Allgäu-Schick, die man im Baumarkt kaufen kann. Dort treffen sich abends die Kollegen auf ein Gläschen. Die Anlage sieht aus wie ein Kleingärtnertraum, das Gegenteil vom edlen Dedon-Geschmack. "Ich hätte es anders gemacht", sagt Dekeyser vorsichtig, aber das hier ist eben "Roberts Ranch", wie ein schmiedeeisernes Tor am Steg verkündet. Bobby Dekeyser meint es ernst, sonst hätte er wohl kaum bis heute durchgehalten. Das Konzept hat nämlich nicht immer funktioniert. Zehn Jahre lang ist er "gerade so über die Runden gekommen". Er galt als Spinner, aber er hat einfach weitergemacht, Kredite aufgenommen, für die ein Nachbar bürgte, manches Mal rettete ihn ein Auftrag in letzter Sekunde, außerdem sei er "ziemlich stur", man könnte auch sagen: Er blieb sich treu. Wissen, was man will, und sich treu bleiben: Das ist für ihn Freiheit. Das heißt aber auch: "Freiheit muss man sich hart erkämpfen."Um herauszubekommen, was er wirklich wollte im Leben, musste Dekeyser erst mit einem zertrümmerten Gesicht im Krankenhaus liegen. Er war Fußballprofi, ein ziemlich erfolgreicher sogar, er spielte in Belgien, bei Bayern München, zuletzt war er Torwart bei 1860 München, Fußballer des Monats. Trotzdem war er unglücklich."Ich war ein guter Sportler, aber im Grunde war ich kein Fußballer." Zum Fußball war er gekommen, weil die Fußballer immer schöne Mädchen hatten. Es hatte funktioniert: Mangelndes Talent habe er durch hartes Training kompensiert, und die Mädchen bekam er auch. Nachdem ihm ein Gegenspieler den Ellbogen ins Gesicht gerammt hatte, sollte Schluss sein mit dem "Hyperdruck". Auf einmal wusste er: Unternehmer wollte er sein. Nur eine Geschäftsidee hatte er nicht. Er fing an mit Skidesign, verkaufte Bastgiraffen aus Madagaskar, erinnerte sich, dass sein Großvater Henkel für Waschmitteltrommeln hergestellt hatte. Das Plastik war hübsch, Rattanmöbel mochte Dekeyser auch; also entwickelte er das Material weiter, bis er eine Faser hatte, aus der man Möbel flechten konnte.Es sind sehr schöne Möbel geworden, wetterfest, auf den Philippinen handgefertigt. Zwei Wochen arbeitet ein Flechter an einem einzigen Stuhl; es ist wichtig, dass die Arbeiter nicht zu viele Überstunden machen, sie müssen in ihrem Rhythmus bleiben, sagt Bobby Dekeyser, ansonsten würden sie nicht mehr so perfekt flechten, das Produkt würde seine Seele verlieren. Ein bisschen klingt das nach Kommunismus, die Befreiung aus der Entfremdung von der Arbeit. Dabei ist Dekeyser ziemlich unpolitisch. Politik sei unüberschaubar geworden, er aber will einfach nur Geschäfte machen. Er ist ein fast unglaublich arbeitnehmerfreundlicher Arbeitgeber; und dieser Satz, ein Kompliment natürlich, wird ihm nicht gefallen. Er mag die Trennung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern nicht, dieses Gegeneinander, das von beiden Seiten ausgehe, Arbeitgeber und Gewerkschaften wollen sich bloß noch gegenseitig kaputtmachen, wo es doch ein Geben und Nehmen sein müsste. "Unsere Generation hat viel versaut mit ihrem Egoismus." "Wissen Sie", sagt Bobby Dekeyser, "ich habe nichts gegen die Leistungsgesellschaft, gegen den Kapitalismus. Kapitalismus ist in Ordnung, solange nicht, wie in China, eine kleine Schicht dekadent reich wird. Kapitalismus ist o.k., solange der Profit geteilt wird." Das soziale Auffangnetz in Deutschland habe jedoch wenig mit Teilen zu tun, es führe nur dazu, dass einige wenige Verantwortung übernehmen und viele in Abhängigkeit gebracht werden. Dabei müsste jeder verantwortlich sein für seine kleine Welt, jeder ein kleiner Unternehmer. Was er ausdrücklich nicht meint, ist: Jede Firma müsste nur Kartrennen und gemeinsame Mittagessen einführen, um erfolgreich zu sein. "Es darf nicht aufgesetzt sein", sagt er, "das muss von innen kommen." Unser Problem, sagt Dekeyser, ist, dass Unternehmer nicht mehr respektiert werden. "Früher war ein Unternehmer ein mutiger Mann, der etwas riskiert hat." Und heute? Manchmal hat er das Gefühl, er müsse sich rechtfertigen für seinen Erfolg.In Deutschland ist so viel Freiheitswillen nicht immer wohlgelitten. Der Feind der Freiheit ist die Bürokratie. Als Dekeyser die Idee hatte, seine Geschäftspartner vom Lüneburger Showroom aus über das Flüsschen Ilmenau mit dem Boot zum Restaurant fahren zu lassen, winkte der Bauleiter ab: Ein Steg müsste gebaut, ein Zaun durchbrochen werden, und um herauszufinden, wem die paar Quadratmeter Land zwischen Showroom und Flüsschen gehören, brauche man ein halbes Jahr.Gerade hatte Dekeyser Besuch vom Brandschutz. Er lässt die Firmenzentrale umbauen, an jeder Ecke steht ein Maler. Der Brandschutz hat Einwände, Bodenplatten aus Holz müssen entfernt werden. Die Sache wird 30.000 bis 40.000 Euro kosten. Eigentlich müsste Dekeyser wütend sein. Doch der wunderliche Unternehmer scheint unerschütterlich in seiner guten Laune. Er geht jetzt erst einmal für zwei Tage paddeln mit seinem Sohn. Natürlich wird er auch beim Paddeln arbeiten, im Kopf. Eine der Fragen, die ihn im Moment umtreiben, ist die, wie man, um Himmels willen, das Wachstum seines Unternehmens auf 30 Prozent drücken kann. Zu schnelles Wachstum ist ungesund, schlecht für die Kreativität, für die Qualität. Er will nicht, dass die Freiheit im Wachstum erstickt. diff --git a/fluter/bodenlos.txt b/fluter/bodenlos.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/boerse-nur-fuer-profis-pro-contra.txt b/fluter/boerse-nur-fuer-profis-pro-contra.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9af2285d39a7a733942fadeb70bbf644d28ba3e4 --- /dev/null +++ b/fluter/boerse-nur-fuer-profis-pro-contra.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Grob lassen sich zwei Gruppen unterscheiden. Der traditionelle deutsche Kleinanleger ist in den Vierzigern, Mann und Gutverdiener (mehr als 4.000 Euro netto im Monat). Er will sein Erspartes vor der Inflation bewahren, überlässt das Tagesgeschäft den Profis und kauft etwa passive Indexfonds: eine Anlage, die moderate Gewinne verheißt. Die lässt ihm einen ruhigen Schlaf und Zeit fürWaldspaziergänge.Mehr als die Hälfte der Aktionäre hierzulande macht es so. +Ihnen gegenüber stehen die jungen Wilden. Diese Gruppe der unter 40-Jährigen ist 2020 im Vergleich zum Vorjahr um fast 50 Prozent gewachsen. Das ist enorm und auch durch die Pandemie zu erklären: Wem die Welt zum Wohnzimmer schrumpft, der holt sich die Action eben aufs Ecksofa. Diese Anleger*innen handeln gern kurzfristig, bei extrem schwankenden Kursen und mit Optionen, die den Einsatz in kürzester Zeit vervielfachen – oder vernichten. +Man könnte das als Zeitvertreib einer gelangweilten Mittelschicht abschreiben, spielten manche ihr Tun nicht neuerdings zum Revoluzzertum auf. Bei ihnen wird Daytrading in Jogginghosen zum Kampf zwischen Unten und Oben, Volk gegen Finanzelite, Rechtschaffenheit gegen Raubtierkapitalismus. So weit die Erzählung derGamestop-Saga, bei der sich Kleinanleger*innen auf Reddit verabredeten, um große Hedgefonds mit gezielten Aktienkäufen in den Ruin zu treiben. +Belegt ist, dass der angegriffene Hedgefonds Melvin Capital im Januar 2021 7,25 Milliarden Dollar verlor – über die Hälfte seiner verwalteten Vermögenswerte. Dass die Aktion ein Schlag gegen das System gewesen sein soll, ist aber falsch. Auch Hedgefondsmanager kennen Reddit, viele haben ihrerseits kräftig mitverdient. Des einen Leid ist des anderen Freud. Auch an der Börse. +Das größte Missverständnis der neuen Trader-Generation ist vielleicht, zu glauben, dass man das System nicht verstehen muss, um es anzugreifen. Wer der Finanzwelt durchs Aktienkaufen eins auswischen will, protestiert auch mit Roulettespielen gegen die Spielbank. Ein teurer Irrtum. Wer Aktien kauft, finanziert die eigentlich verhasste Börsen-Elite mit. +Was kann man daraus lernen? Die "Trading-Apps der kleinen Leute" wie Robin Hood haben die Börse demokratisiert. Aber nur insofern, als dass es nun auch Leuten mit wenig Geld möglich ist, Geld zu verlieren. Im Grunde eine faire Sache. Das heißt aber noch nicht, dass es eine gute Idee wäre, diese neue Freiheit auch wahrzunehmen. +Ob sie es sich eingesteht oder nicht: Hinter der Gamestop-Guerilla steckte keine Umverteilungsrevolution, sondern Gier. Der Wunsch, auch mal das große Los zu ziehen. Für eine Generation, die zusehen musste, wie Zockermit der Finanzkrise 2008viel Leid brachten und dafür kaum Konsequenzen tragen mussten, ist das nachvollziehbar. Ihre Wut ist berechtigt. Die Idee aber, sie durch Kleinanlegerei zu überwinden, ist unausgereift. Die Großanleger sind nicht die Dons im Kasino, die uns Arme vom Mitspielen abhalten wollen. Sie sind das Kasino. Auf Dauer verdienen sie an jedem Mitspielenden. +Also die Börse den Profis überlassen? Um Himmels willen, ja! Sollen sie den ganzen Tag auf öde Zahlenkolonnen starren und Lebenszeit an Wechselkurse verschenken. Reguliert von strengeren Gesetzen und einer Börsenaufsichtsbehörde, die endlich hinschaut, können sie einen guten und notwendigen Dienst erfüllen. Wenn Banker*innen jener Teil der Macht genommen wird,den manche missbrauchen,soll ihr Job gern auch fürstlich entlohnt werden. Ich würde ihn nicht machen wollen. + + +Holger Fröhlich schreibt über Wirtschaft, meist für "brand eins" und immer seltener mit klarem Feierabend: Seit Wochen fragen ihn selbst Freundinnen und Freunde, die sonst Enteignungsfantasien hegen, wie sie ihre Aktieneinnahmen am besten versteuern. +findet Jennifer Garić +Da schließen sich Kleinanleger einmal zusammen, investieren gezielt in ein Unternehmen, und schon wird unlautere Marktmanipulation gewittert. Wenn sich Vermögende zusammentun und im großen Stil auf steigende oder fallende Kurse wetten, können sie genauso Kursschwankungen provozieren. Dann nennen wir das Ganze aber Hedgefonds. Und finden es völlig normal. +Sollten wir die Börse also den Profis überlassen? Bloß nicht! Nach Jahren der Aktienverdrossenheit in Deutschland tut sich endlich was. Fast 40 Prozent der 18- bis 34-Jährigen investieren inzwischen in Aktien, zeigt eine Studie der Bankeninitiative "Pro Aktie". In der Vorjahresstudie lag die Rate noch mehr als zehn Prozentpunkte niedriger. +Was bleibt den Bürgern auch anderes übrig? Omas Sparbuch und Papas Bausparplan mögen gut gemeint sein, sind aber alles andere als ertragreich. Während sich die ältere Generation entspannt zurücklehnen und ihren Zinsen bei der Arbeit zuschauen konnte, sind junge Menschen mit Null- und Minuszinsen konfrontiert. Sie können Rendite also nur noch auf dem Kapitalmarkt erwirtschaften – und noch nie war das so einfach wie heute. +Apps wie Robinhood und Trade Republic machen den Aktienhandel für alle zugänglich. Wie viel Geld ein Nutzer investiert, ob er sich an günstigen oder teuren Aktien von Riesen wieApple,Amazon und Microsoft versucht, ist ihnen egal. Welcher Bankberater nimmt einen schon ernst, wenn man nur 50 Euro investieren will, um erst einmal ein Gefühl für den Aktienhandel zu bekommen? Wahrscheinlich kommt es nicht einmal zum Beratungstermin. Zugegeben, bei den immensen Gebühren einiger Banken müsste man die 50 Euro locker verdoppeln, um überhaupt mit einem Plus aus dem Geschäft zu gehen – und das ist dann doch eher utopisch. Wer die Börse den Profis überlässt, fördert ein elitäres System, das nur denen Platz lässt, die ohnehin schon Geld haben. Ein hoher Kontostand wird zur Eintrittskarte;wer nicht erbt, hat schon verloren. +Minuszinsen, Lockdown-Langeweile – kein Wunder, dass Trading-Apps gerade boomen. Das Virus hat wichtige Aktienmärkte zwischenzeitlich einbrechen lassen und viele Neulinge an die Börse gelockt. Wenn von dieser positiven Entwicklung nur Gamestop in Erinnerung bleibt, wäre das sehr traurig. Schon jetzt passiert so viel mehr. Längst nicht jeder Kleinanleger läuft Reddit-Kommentaren und Tweets von Elon Musk blind hinterher. Auch junge, unerfahrene Anleger gehen durchaus verantwortungsvoll mit Geld um. Womöglich sogar verantwortungsvoller als ihre Eltern. +Eine Studie des Fintechs Finimize zeigt: Investoren unter 29 Jahren achten weniger auf die Finanzen börsennotierter Unternehmen als ältere Generationen. Sie interessieren sich dagegen eher für die Werte, die Unternehmen vertreten. Sie setzen außerdem oft aufTrends.Damit sind sie wichtige Treiber von Innovation. Zu ihren Lieblingsaktien gehören etablierte Unternehmen wie Tesla, Apple und Amazon. Aber auchder Fleischersatzhersteller Beyond Meat,die Fahrdienste Uber und Lyft oder der Kommunikationsdienst Slack. Zugleich legen junge Anleger unter allen Investoren mit Abstand am meisten Wert auf nachhaltige Investments. +Diese Anleger beweisen also ein Gespür für den Markt, wirtschaftliche Entwicklung, für Unternehmenserfolg – auch ohne Bilanzen lesen zu können oder in der Schule gelernt zu haben, wie die Börse funktioniert. Klar: Sie tätigen mitunter Fehlinvestments und erliegen falschen Einschätzungen wie alle anderen Anleger auch. Phänomene wie Gamestop wird es deshalb weiterhin geben, es gab sie ja auch schon vor Reddit. Ich erinnere gern daran,wie Tulpen den ersten Börsencrash ausgelöst habenund holländische Investoren wie besessen ihre Gulden gegen Blumenzwiebeln tauschten. +Viele haben ihr Investment also nie blühen sehen – weder auf dem Feld noch auf dem Konto. Aber deshalb die Börse den Profis überlassen? Diskutieren wir doch lieber, welche Börsenkultur wir wollen und wie wir alle Börsenprofis werden können. + +Jennifer Garić schreibt imBüro wortwertüber Wirtschaft, Digitalisierung und Vorsorge. Sie tradet per App. Das einzige Wertpapier, das sie je gedruckt gesehen hat, war eine 1-Euro-Aktie von Beate Uhse. +Collagen: Renke Brandt diff --git a/fluter/boese-geschichte.txt b/fluter/boese-geschichte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..031e6168c5c3e3ae403e5791e2410dfe127cbd83 --- /dev/null +++ b/fluter/boese-geschichte.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Heute, weitere fünf Jahre später, ist das Thema in Deutschland wieder weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden, obwohl ein Sonderdelegierter der Bundesregierung derzeit mit Namibia über den Umgang mit der Kolonialgeschichte verhandelt. Bis zum Ende des Jahres will sich Deutschland endlich offiziell für die Verbrechen entschuldigen. Bis dahin muss aber noch geklärt werden, ob und wie viel finanzielle Entschädigung Namibia bekommt – und welche Rolle die Deutschnamibier dabei haben sollen. +Etwa 15.000 Nachfahren der deutschen Kolonialisten leben noch immer in dem Land, das zwischen 1884 und 1915 eine sogenannte Siedlungskolonie des Deutschen Reiches war. Anders als in anderen deutschen Kolonien sollten sie in Deutsch-Südwestafrika neue Existenzen gründen. Durch ein Täuschungsmanöver war es dem Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz 1883 bis 1885 gelungen, zunächst eine Bucht und anschließend weite Teile des Hinterlandes zu erwerben. Kurz darauf stellte das Deutsche Reich die von Lüderitz erworbenen Gebiete unter seinen "Schutz". Die Einheimischen wurden von nun an als Menschen zweiter Klasse behandelt und zunehmend entrechtet. Mit der Ankunft deutscher Siedler verschärfte sich zudem der Kampf um den landwirtschaftlich nutzbaren Boden. Nach und nach wurden Herero und Nama gezwungen, ihr Land zu räumen. 1904 kam es nach vermehrten Protesten schließlich zum Aufstand gegen die Deutschen. Zunächst überrascht von der Auflehnung, entsandte das Deutsche Reich im Juni ein Expeditionskorps unter der Führung von Generalleutnant Lothar von Trotha, um den Aufstand niederzuschlagen. Dieser ließ Wasserstellen besetzen oder vergiften und gab wenig später den Befehl, alle Herero, auch Frauen und Kinder, zu erschießen. Diejenigen, die vor den Deutschen flüchteten, verdursteten oder verhungerten in der Wüste – der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts. +Bis zum Ende des Krieges im Jahr 1908 wurden etwa vier Fünftel des Herero-Volkes und die Hälfte der Nama ausgelöscht. Tausende waren in Konzentrationslager gesteckt worden. +Im Juli 1915, mitten im Ersten Weltkrieg, zogen die deutschen Besatzer ab. Viele Siedler blieben jedoch. Sie bilden bis heute eine vor allem aus Bauern und Geschäftsleuten bestehende Minderheit, die zu einem großen Teil an ihren Traditionen festhält. Viele Deutsch-namibier essen in ihren Cafés Currywurst und Schwarzwälder Kirschtorte und feiern das Oktoberfest. Viele Herero pflegen indes ihren eigenen Umgang mit dem deutschen Vermächtnis. Zu besonderen Anlässen tragen sie bis heute Kleider im viktorianischen Stil, wie sie ihnen damals von den Deutschen verordnet worden waren. Die Outfits haben sie allerdings mit eigenen Akzenten geschmückt: Durch bunte Stoffe und eigens entworfene Kopfbedeckungen haben sie sich die koloniale Kleidung längst zu eigen gemacht. Bei Gedenkveranstaltungen zum Völkermord tragen einige Männer Militäruniformen, die ebenfallsan jene der Deutschen erinnern. Symbolisch gehen sie so als Sieger aus der Vergangen-heit hervor. +Die Folgen der Kolonialzeit sind bis heute spürbar. Am deutlichsten zeigt sich das an der ungleichen Verteilung des Landes. Obwohl die weiße Minderheit – rund ein Drittel davon sind Nachfahren von Deutschen – nur etwa fünf Prozent der Bevölkerung ausmacht, kontrollieren weiße Farmer bis heute 80 Prozent des kommerziellen Farmlandes. Die meisten Herero und Nama leben währenddessen weiterhin in bitterer Armut. +Die Beziehung der deutschen Minderheit zur Mehrheitsbevölkerung Nami-bias ist dementsprechend konfliktbeladen. Seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1990 (bis dahin unterstand Namibia einem südafrikanischen Mandat) werden vermehrt Rufe nach einer vollständigen Aufarbeitung des Völkermords laut. Während etwa die deutschsprachige "Allgemeine Zeitung" in Namibia vermeintlich positive Ergebnisse der Kolonialzeit wie den Straßenbau hervorhebt, fordern insbesondere Verbände der Herero eine Anerkennung des Völkermords durch die Deutschen. Dazu gehören in den Augen vieler Menschen die Umbenennung von namibischen Orten, deren Namen die Organisatoren von Völkermord und Vertreibung ehren, und die Beseitigung von Denkmälern für deutsche Kolonialisten. +Auch hierzulande ist der Umgang mit dem Völkermord umstritten: In München wurde erst im Jahr 2007 die nach dem Organisator des Völkermords benannte Von-Trotha-Straße in Hererostraße umbenannt. Im Afrikanischen Viertel im Berliner Wedding ist weiterhin eine Straße nach dem Kolonialisten Lüderitz benannt, Dutzende weitere Straßen, Plätze und Denkmäler in ganz Deutschland tragen die Namen von Kolonialisten. +Bisher hat sich die Bundesregierung geweigert, Entschädigungen für den Völkermord an den Herero und Nama zu zahlen. Stattdessen verwies sie darauf, dass Namibia in den letzten Jahren eines der wichtigsten Empfängerländer für Entwicklungshilfe gewesen sei. Dabei verhandelt Deutschland nur mit der namibischen Regierung. Ob die aber auch für die Herero und Nama spricht, die nur einen Teil der Bevölkerung ausmachen, ist unklar. Ihre Vertreter fürchten, dass die Ergebnisse der Verhandlungen zwischen den Ländern vor allem der namibischen Regierung nützen und die Bedürfnisse der Herero und Nama außer Acht lassen könnten. Deutschlands Position dazu ist jedoch klar: Es sei Aufgabe der namibischen Regierung, sicherzustellen, dass die Verhandlungsergebnisse im ganzen Land akzeptiert würden. Dass Deutschland sich aber bald offiziell für den Völkermord entschuldigen will, mehr als 110 Jahre danach, wird von allen Seiten begrüßt. diff --git a/fluter/boese-menschen-haben-keine-lieder.txt b/fluter/boese-menschen-haben-keine-lieder.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3457a31c22b7567078d3d3ef1322030f5b5f8c5e --- /dev/null +++ b/fluter/boese-menschen-haben-keine-lieder.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Während die deutsche Kandidatensuche der Belustigung dient, ist diese Art Show im Vielvölkerstaat Afghanistan immer auch ein Stück Politik. +Im Wohnzimmer von Achmed, einem in Hamburg lebenden Exil-Afghanen Ende 30, läuft der Fernseher, und die Familie nimmt interessiert zur Kenntnis, dass die meisten Sänger Hasara sind. Usbeken, schön und gut, von ihnen leben sehr viele im Norden Afghanistans, Seite an Seite mit den Tadschiken. Paschtunen stellen von jeher die Mehrheit im Land. Aber Hasara? Sie gehören zu einer Minderheit, die immer wieder verfolgt wurde. Von den meisten Afghanen unterscheiden sie sich durch ihre asiatischen Gesichtszüge, viele von ihnen sind Schiiten, gehören also zu einer Gruppe, die weltweit nur rund zehn Prozent aller Muslime ausmacht. Unter den Top Ten von "Afghan Star" sind sie überproportional vertreten. Und der Letzte, der den Wettbewerb gewann, war ein Hasara. In dem zerrissenen Land ist das für viele Anlass für Verschwörungstheorien. +Auch Achmed, der Tadschike ist, hat eine Ahnung, warum der Sender die Schiiten bevorzugt: "Afghan Star" läuft auf Tolo TV, dem populärsten Sender des Landes mit einem Marktanteil von rund 45 Prozent. Tolo TV gehört Exil-Australiern und erhielt 2004 Gelder von der staatlichen US-amerikanischen Hilfsorganisation USAID. Die Taliban sind meist Paschtunen – und damit alte Feinde der Hasara. Für Achmed steht fest: Die Amerikaner wollen die Rückkehr der paschtunischen Taliban verhindern, indem sie ihre Gegner fördern. +"Mach mal halblang!", ruft Achmeds Frau Mahsa Taji aus dem Nebenzimmer und erklärt ihre Sicht der Dinge: Afghanistan habe sich ganz einfach verändert. Trotz allem, was man in den Medien tagtäglich höre von Bomben, Taliban und Terror gegen Frauen. Es sei eine Art Öffentlichkeit entstanden, in der ethnische Zugehörigkeiten keine Rolle mehr spielten. Formate wie "Afghan Star" trügen dazu bei. Es gehe nicht darum, welchem Stamm jemand angehöre, sondern wer der Bessere sei. Und wenn die Leute direkt, per SMS, ihr Votum abgeben – ist das nicht eine Übung in Demokratie? "‚Afghan Star' ist subversiv", sagt Mahsa. "Eine der besten Waffen gegen die Mullahs und die Taliban." +Die sehen das offenbar genauso. Seit Beginn der Show im Jahr 2005 erhielten Frauen, die bei "Afghan Star" mitmachten, immer wieder Morddrohungen. Weil sie beim Singen tanzten – wie Setara Hussainzada, eine Tadschikin aus Herat. Während einer der ersten Staffeln von "Afghan Star" rutschte ihr beim Tanzen zudem das Kopftuch auf die Schultern. Bereits am nächsten Tag stachelten Geistliche die Empörung gegen die Sängerin an. Weil Herat so etwas wie das spirituelle Zentrum Afghanistans ist, verfügt der sogenannte Rat der Religionsgelehrten über viel Einfluss. Sein Vorsitzender tritt für den in Saudi-Arabien beheimateten Wahhabismus ein – eine islamisch-rigorose Glaubenslehre – und sorgte dafür, dass alle öffentlichen Musikdarbietungen als "unislamisch" verboten wurden, auch Theater- und Kinoaufführungen. +Etwa zur gleichen Zeit, als die Mullahs die "Afghan Star"-Bewerberin zur Unperson erklärten, versuchten Achmed und Mahsa gerade, ein Kino in der Stadt zu eröffnen, und wurden, wie die Sängerin, der Gotteslästerung bezichtigt. Achmed und seine Frau flohen aus Herat und gelangten im Anschluss an ihre Odyssee durch mehrere Länder nach Deutschland, das ihnen politisches Asyl gewährte. +Viele tolerantere Afghanen fragen sich, warum sich die Regierung von Präsident Hamid Karzai nicht mehr für die Freiheit einsetzt, obwohl sie doch genau für diese Aufgabe große Summen aus dem Ausland erhält und die Unterstützung internationaler Truppen bekommt. In den Augen seiner Kritiker tritt Karzai nach außen als Staatschef eines demokratischen Landes auf, im Land selbst aber setze er die konservativen Geistlichen für sich ein. "Wenn er einen politischen Gegner loswerden will, dann sagt er nicht: Du störst mich, also verschwinde aus dem Land. Er sagt: Ich habe nichts gegen dich, aber leider sprechen sich die Geistlichen gegen dich aus ...", erklärt Achmed. Und wenn die dann eine Sängerin wie Setara verdammten, könne Karzai nicht einmal daran denken, etwas dagegen zu sagen. +Harun aus Mazar-e Scharif, der größten tadschikisch geprägten Stadt im Norden des Landes, ist immer über Skype zu erreichen. Der Student arbeitet nebenbei als Dolmetscher und Begleiter für ausländische Journalisten. Auf Tolo TV verpasst er kaum eine Folge von "Afghan Star". Wenn es ans Abstimmen geht, stimmt er per SMS vorwiegend für die Tadschiken unter den Bewerbern. Gegen Frauen auf der Bühne hat er nichts, "solange sie sich nicht unzüchtig bewegen". Die Sache mit Setaras Haaren? Für ihn nicht der Rede wert. +Wieso machen die Religionsgelehrten überhaupt so einen Aufstand wegen der Musik? Nicht die Religionsgelehrten an sich, meint Harun. Die Intoleranz gehe von den Paschtunen im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet aus, genauer gesagt von den Radikalen, die in den 1980er-Jahren vom Westen und Saudi-Arabien systematisch unterstützt wurden, um gegen die Sowjetunion zu kämpfen. "Seitdem führen die bei uns das Wort. Dabei hat der afghanische Islam nichts gegen Musik." +Postwendend schickt Harun den Link zu einem Video. Aufnahmen aus der Blauen Moschee, dem größten islamischen Heiligtum Afghanistans. Dort soll Ali, der Schwiegersohn des Propheten, beigesetzt sein. In einem Gebetsraum bewegt sich ein Dutzend Männer im Kreis: Alte und Junge, Bärtige und Unbärtige wiegen sich in den Hüften, singen eine Art Litanei. Tanz und Gesang in der Moschee? Und das mitten in Afghanistan? Reine afghanische Tradition, erläutert Harun: Mystiker, die sich mithilfe der Musik in Trance versetzen, um Gott näher zu sein. +Angesichts der musikalischen Tradition, der Nähe von Singen und Leben, ist der Erfolg von "Afghan Star" nicht verwunderlich. Dennoch fragen sich viele Fans, wie lange sie die Sendung noch sehen können. "Vermutlich", sagt Mahsa in ihrem Exil in Hamburg, "wird ‚Afghan Star' ab 2014 nur noch im Exil produziert werden." Dann nämlich, wenn sich die Hardliner aus Herat weiter Gehör verschaffen. Dabei war Herat einmal das Zentrum der afghanischen Kultur gewesen, die Stadt der Literatur, Dichtkunst und Musik. Mahsas Großmutter pflegte nicht vor religiösen Eiferern zu warnen, sondern zu sagen: "Pass auf, sonst stolperst du über einen Sänger oder Poeten." So gesehen verbindet "Afghan Star" beides: Moderne und Tradition. diff --git a/fluter/boeser-russe.txt b/fluter/boeser-russe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..23edf07e3cc684faaadffe1ffbaa65c3b9e6f983 --- /dev/null +++ b/fluter/boeser-russe.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Auf psychologischer Ebene waren im Grunde auch Invasionen von Außerdirdischen nichts anderes als sowjetische Angriffe, ganz platt beschrieben in "Die rote Flut". In aktuelleren Filmen wie "The Tourist", "Jack Ryan", "Red Heat", "Iron Man 2", "The Equalizer" und "96 Hours – Taken 3" sind die Gegenspieler des Guten stets ehemalige KGB-Agenten, russische Killer, russische Geschäftsleute oder neuerdings: russische Hacker. Im letzten "Die Hard"-Film hatte es Bruce Willis mit dem Gangster Yuri Komarov zu tun, verkörpert vom deutschen Schauspieler Sebastian Koch. Und in der jüngsten Fortsetzung von "Indiana Jones" spielt Cate Blanchett eine unheimliche KGB-Agentin. Auch in der Krimi-Komödie "Snatch" ist der Waffenhändler ein Ex-KGBler, beschrieben als "so gekrümmt wie die sowjetische Sichel und so hart wie der Hammer, der sie kreuzt". +Noch heute steht "der böse Russe" ideologisch für Barbarei, Totalitarismus, Triebhaftigkeit und Chaos. Dabei ist er entweder nur böse oder betrunken, bestenfalls einfach verrückt wie der Kosmonaut Andropow, der in "Armageddon" ganz nostalgisch mit Pelzmütze und "USSR"-T-Shirt durch die Raumstation schwebt. Und längst ist das Klischee aus dem Kino in andere Bereiche der Populärkultur eingesickert, wo es als Ideologie weiterwirkt. In Computerspielen wie "Call of Duty" oder "Metal Gear Solid" sind die größten Schurken: Russen. +Der böse Russe könnte demnächst sogar noch häufiger zu sehen sein, schließlich sehen sich die Drehbuchschreiber durch die aktuelle Politik Putins bestätigt und entdecken in der Unterdrückung von Oppositionellen und dem Krieg gegen die Ukraine alte Handlungsmuster wieder. Im "Reich des Bösen" selbst hat sich für diese ausländischen Vorurteile inzwischen der selbstironische Sammelbegriff "Klyukva" eingebürgert. "Klyukva" heißt Kranbeere – lecker als Trockenfrucht, aber roh ungenießbar. diff --git a/fluter/bog-ma-zamm-und-hoif-ma-uns.txt b/fluter/bog-ma-zamm-und-hoif-ma-uns.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0ca49da5751e07fbf6aa23553335f907a6b9976f --- /dev/null +++ b/fluter/bog-ma-zamm-und-hoif-ma-uns.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Freilich, weilst du sofort woast, der is a vo da. Der muas irgendwo aus der Gengd sei, im Näheren Umkreis vo dreihundert Kilomeder, weil sonst spricht ma koa Boarisch mehr. +Bierbichler: Heimat! Du konnst di auf an Bayern verlassen, selbst wennst'n goar ned kennst. Da gibt's überhaupt koane Resantimans. Na, kumm pass auf, bogg ma zamm, hoif ma uns. +Zuaogroasdn! +Bayrisch kamma ned so einfach lerna. Mit dem muasd aufwachsen. I vergleich des immer mit dene Knackslaute in Afrika. Des wennst ned von Kind auf konnsd dann glernst as nimma. Wobei i dazu song muas – a jeder, der wo vasuacht Boarisch zum rehn – höxtn Reschpeggt! Weidamacha! Wemma drobleibt: a bisserl a Grundvokabular kamma lerna, damit ma ned ganz so nackat dasteht. +Bei mia geht's a wenn i nüchtern bin. Aber i hob des scho g'hert bei andere Leid. 's geht leichter über'd Libbn. Aber vorher mussa a weng lerna. +I hob heid oam versuacht des Woard Gschwoischädl beizubringa. Kwoischl? Gschwoischädl! Des is oana der fui red und ois besser woas. Des is hoid so a aufbumbda Möchtegern. +Na, Zipfi kladscher. (lacht sich halbtod) +Den batschda! +Oder Bruntzkachl. Woast, was a Bruntzkachl is? +Stoi da vor: Pissoir und da is a Fliesn dro. Und des is a Bruntzkachl. +Mia san mia und mir hoidn zamm. Da gibt's ka Sie, da gibt's koan Du-bist-besser-wie-i oder I-bin-besserwie-du. Da gibt's bloß mia! +Mia ham so a Art, song ma: Solidarität. Söibsd da Kloane, der auf'd Stross lebd, der konn sie immer noch mid dem identifiziern über d' Sprach. +Den Sprachkurs findet ihr auf www.bayrisch-lernen.de diff --git a/fluter/boss-und-die-braunhemden.txt b/fluter/boss-und-die-braunhemden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6bdd6fdd042a98dd46267fc3fcc8f69f1434ade2 --- /dev/null +++ b/fluter/boss-und-die-braunhemden.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Familie Gisterek bei der Beerdigung +Dort wartete auf sie laut Zeugenaussagen ein zwölfstündiger Arbeitstag bei niedrigster Bezahlung, karger Kost und den Schmähungen leitender Angestellter der Textilfirma, die ihnen unter anderem mit dem KZ drohten und sie als "Polenschweine" titulierten, wie Zeitzeugen dem Metzinger Autor Henning Kober berichteten. Die Polin Josefa Gisterek, die nach der Erkrankung ihrer Mutter unerlaubterweise zu ihrem Vater gereist war und über die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald zurück nach Metzingen verschleppt wurde, nahm sich schließlich vor lauter Verzweiflung das Leben. +Bereits 1997, nachdem in der Schweiz ein bis dato unbekanntes Konto von Hugo Boss aufgetaucht war, hatte der Modekonzern die Historikerin Elisabeth Timm beauftragt, die Geschichte des Konzerns zu erforschen. Nach jahrelanger Recherche in etlichen Archiven gab Timm ihre Studie 1999 schließlich in der Konzernzentrale ab – der Öffentlichkeit wurde sie freilich nicht vorgestellt. Dadurch entstand der Eindruck, dass der Konzern die Studie geheim halte oder unterdrücke, was man bei Boss damals von sich wies. Es fehle "die Einordnung in den historischen Kontext", hieß es dazu von Unternehmensseite. +Ob das stimmt, davon kann sich jeder selbst ein Bild machen, denn Elisabeth Timm hat ihre Studie schon vor langer Zeitonline gestellt. Darin porträtierte sie Hugo Boss als einen kühl kalkulierenden Nutznießer, der im Krieg die Gunst der Stunde erkannte: Durch seine NSDAP-Mitgliedschaft machte er aus einer kleinen Klitsche für Windjacken und Arbeitskleidung einen prosperierenden Zulieferer der sogenannten "Reichszeugmeisterei". Insgesamt, so der Tenor der Studie, sei Hugo Ferdinand Boss eben einer jener typischen Mittelstandsprofiteure gewesen, von denen viele frühzeitig um die Gunst der Nazis buhlten, weil sie sich positive Effekte auf die deutsche Wirtschaft im Allgemeinen und ihre Umsätze im Besonderen ausrechneten. +Zu einem ganz ähnlichen Schluss kommt eine weitere Studie des Münchener Historikers Roman Köster, die Boss später in Auftrag gab und die man auf der Unternehmens-Websiteeinsehen kann. In seiner Arbeit finden sich aber auch recht salomonische Passagen über den Firmengründer. Dort heißt es etwa, dass Boss sehr früh Braunhemden für die NSDAP geschneidert habe, es aber "unwahrscheinlich ist, dass Hugo F. Boss von dem Verwendungszweck dieser Hemden damals gewusst hat." Das ist eine zumindest erstaunliche Aussage, wenn man weiß, dass sich Boss Mitte der 1930er-Jahre in Werbeanzeigen als "Parteiausrüster bereits seit 1924" anpries. +Nach dem Krieg wurde Hugo Ferdinand Boss im Rahmen der Entnazifizierung zunächst als Belasteter zu Geldstrafen und Aberkennung des Wahlrechts verurteilt, nach einer von ihm angestrengten Revision aber lediglich als Mitläufer eingestuft. Die Gründe für die erstinstanzliche Verurteilung waren seine frühe Mitgliedschaft in der NSDAP gewesen und seine Freundschaft zum NSDAP-Ortsgruppenleiter in Metzingen, Georg Rath. Noch vor Zahlung der verhängten 25.000 Reichsmark Geldstrafe starb Boss schließlich am 9.8.1948 an einem vereiterten Zahn. Als Firmenchef beerbte ihn sein Schwiegersohn Eugen Holy, dessen Söhne Uwe und Jochen Holy das Textilunternehmen in den 70er-Jahren zu dem machten, was es heute noch ist: eine der bekanntesten Modemarken der Welt. +Die Studie der Historikerin Elisabeth Timm und ihre gesammelten Aussagen von ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern bei Boss sind zu finden unter:www.metzingen-zwangsarbeit.deDie Unternehmensstudie "Hugo Boss, 1924–1945. Eine Kleiderfabrik zwischen Weimarer Republik und ‚Drittem Reich'" von Roman Köster ist über Boss erhältlich. Unter history@hugoboss.com kann man sie bestellen. diff --git a/fluter/botanische-gaerten-geschichte-bedeutung.txt b/fluter/botanische-gaerten-geschichte-bedeutung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9cdc7869194a91b8dffd808440d630365dccb24e --- /dev/null +++ b/fluter/botanische-gaerten-geschichte-bedeutung.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Während einige Zoos Millionen Besucher im Jahr anlocken, müssen sich botanische Gärten oft was einfallen lassen, um Menschen in ihren Bann zu ziehen. So veranstaltet der Botanische Garten in Berlin, mit rund 20.000 Pflanzenarten international einer der artenreichsten, seit einigen Jahren Konzerte. In Bonn versucht man sich alljährlich an einer Halloween-Feier. +Kaum ein Land in Europa hat so viele und so unterschiedliche botanische Gärten wie Deutschland. Viele sind Teil einer Universität, andere werden kommunal geführt. Die wichtigste Aufgabe von botanischen Gärten ist – neben der Naherholung – die Erforschung, Sammlung und Erhaltung von Pflanzenarten. Gerade in Zeitenschwindender Artenvielfaltgewinnen sie dadurch an Bedeutung. Trotzdem musste 2016 der Garten in Saarbrücken schließen, auch um die in Berlin und Hamburg stand es zwischenzeitlich schlecht. An eine akute Gefährdung glaubt Maximilian Weigend, Präsident des Verbands Botanischer Gärten, dennoch nicht: "Die Bevölkerung steht hinter den Gärten – und für die Politik wird es immer peinlicher, an so was zu sparen." Die 97 Mitglieder des Verbands dokumentieren Pflanzen und tauschen sie untereinander, aber auch mit botanischen Gärten weltweit. +Botanische Gärten gibt es schon seit Jahrhunderten. Der älteste wurde 1545 im italienischen Padua gegründet, um Arzneipflanzen und Heilkräuter zu erforschen und zu kultivieren. Später zeigten die Gärten auch regionale Nutzpflanzen wie Tomaten oder tropische wie Ananas und boten Biotope für Moore, Gräser und Wälder. Was zu Beginn nur für Menschen mit medizinischem oder botanischem Interesse von Bedeutung war, wurde schnell zu einem gesellschaftlichen Ereignis – durch botanische Gärten konnten Menschen die (Pflanzen-)Welt bereisen, ohne ihr Heimatland zu verlassen. +Neben dem Bau des heutigen Berliner Botanischen Gartens wurde Ende des 19. Jahrhunderts auch die "Botanische Zentralstelle für die deutschen Kolonien" eingerichtet. Denn ein großer Teil der Pflanzen gelangtewährend der Kolonialzeitnach Europa. Vor allem das Vereinigte Königreich, dessen Royal Botanic Gardens Kew im Südwesten Londons mit über 50.000 Pflanzen bis heute zu den größten weltweit zählt, schickte Forscher nach Südamerika, Asien und Afrika. Die dort entdeckten Pflanzen fanden ihren Weg zum Teil auf fragwürdige Art und Weise nach Europa: So schmuggelteder Brite Henry Wickham 1876, staatlich subventioniert, 70.000 Samen des Kautschukbaums aus dem brasilianischenAmazonasnach London. In ihren kolonialen Gebieten in Südostasien bauten die Briten damit eine Plantagenwirtschaft auf und zerstörten das brasilianische Monopol. Botanische Gärten koordinierten solche Pflanzentransfers, entsandten entweder selbst Botaniker oder standen diesen in beratender Funktion bei. +Als Folge wurden erste botanische Gärten außerhalb Europas gegründet. Viele der überführten Pflanzen erhielten lateinische Namen, so etwa die Welwitschia, benannt nach dem österreichischen Botaniker Friedrich Welwitsch, die in ihrem natürlichen Lebensraum Namibia oder Angola unter dem Namen n'tumbo oder onyanga bekannt ist. Indigene Namen sowie das dazugehörige indigene Wissen gingen oft verloren. +Nicht alle botanischen Gärten klären über diese Geschichte oder geschichtliche Verwicklungen auf. Ihre bildungspolitische Verantwortung nehmen sowohl Lara Weiser als auch Maximilian Weigend trotzdem ernst. "Wir haben einen wichtigen Bildungsauftrag, um Menschen zu vermitteln, wie wichtig Naturschutz ist, um Pflanzenarten zu erhalten", sagt Weigend. Dies gelinge, indem Bewusstsein für die Artenvielfalt geschaffen werde. Dafür gibt es inzwischen an viele botanische Gärten angekoppelte Grüne Schulen, die Vorträge und Führungen rund um den Garten anbieten, speziell auch für Kinder und Jugendliche. Lara Weiser, die die Grüne Schule in Bonn seit 2019 leitet, ist sich sicher: "Nur etwas, das mir bewusst ist, das ich schätze, vielleicht sogar liebe, bin ich bereit zu schützen." +Wenn eine Pflanze vom Aussterben bedroht ist, können botanische Gärten die Retter in der Not sein, indem sie die Pflanze kultivieren und Ableger davon ziehen. Dafür gibt es internationale Samenbanken.Der Global Seed Vault, der größte Saatguttresor weltweit, gelegen im norwegischen Spitzbergen,lagert über eine Million Samenproben von Nutzpflanzen, um deren Vielfalt zu bewahren. Idealerweise werden bedrohte Arten wieder in ihr natürliches Habitat zurückgebracht. In Bonn beteiligt man sich an zahlreichen Arterhaltungs- und Wiederansiedlungsprojekten: Etwas Besonderes war die Wiedereinführung des bis dahin als ausgestorben geltenden Toromirobaums, der einzigen einheimischen Baumart der Osterinsel, in den 1990er-Jahren. +Nicht immer gelingt das, denn ist der Lebensraum durch äußere Umstände wie denKlimawandelnachhaltig geschädigt, können sich Pflanzen dort nicht wieder ansiedeln. "Wir können aber auf diese Zusammenhänge aufmerksam machen und dafür sensibilisieren", sagt Lara Weiser. +Dass Pflanzen akut vom Klimawandel bedroht sind, kann man in Bonn ebenfalls beobachten. Wo vor einigen Jahren noch Alpinpflanzen wie das Edelweiß wuchsen, haben heute Wollmispel, Oliven, Kiwis und Kakis ihr Zuhause gefunden. Maximilian Weigend verfolgt diese Entwicklung genau. Und sieht es als wichtige Aufgabe der Gärten, diese offenzulegen: "Nirgendwo sonst kann man die Gefährdung, die für Pflanzen vom Klimawandel ausgeht, so visualisieren." Das Bildungspotenzial hat auch die UNESCO erkannt und den Botanischen Garten in Padua, die Singapore Botanic Gardens sowie die Royal Botanic Gardens Kew zum Weltkulturerbe erklärt. Lara Weiser hofft indes, dass sich die Menschen künftig mehr mit Pflanzen beschäftigen – und erkennen, dass sich trotz des zunächst unscheinbaren Äußeren ein zweiter Blick lohnt. + diff --git a/fluter/botswana-homosexualitaet-urteil-motshidiemang.txt b/fluter/botswana-homosexualitaet-urteil-motshidiemang.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1b5b17c10634642caeb2eedb5974ce38d86aab13 --- /dev/null +++ b/fluter/botswana-homosexualitaet-urteil-motshidiemang.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Wie kam es, dass du gegen die botswanische Regierung geklagt hast? +Vor 2019 waren homosexuelle Handlungen in Botswana verboten. Ich bin ein schwuler Mann und wollte nicht die ganze Zeit auf mich aufpassen müssen oder Angst haben, nur weil ich gerade mit meinem Partner zusammen bin. Politik ist mir ziemlich egal, ich wollte einfach frei sein in meinem Land. Also habe ich mich 2016 an einen Anwalt gewandt. Ich war 21, hatte kein Geld. Aber er hat mir zugehört und meinen Fall übernommen. + +In ihrem Urteil erklärten die obersten Richter/-innen die geltenden Strafgesetze zur "Unzucht", die bis zu sieben Jahre Gefängnis vorsahen, für verfassungswidrig. Sie stammten noch aus der Zeit, als Botswana britische Kolonie war. "Die sexuelle Ausrichtung ist keine Modeerscheinung", erklärte das Gericht. "Sie ist dem Menschen angeboren." + +Du bist als Kläger lange anonym geblieben. Warum? +Ich war mir nicht sicher, ob ich dem Druck von Freunden und der Öffentlichkeit standhalten würde. Es hat knapp zwei Jahre gedauert, bis mir klar wurde: Ich tue doch das Richtige. Das kann andere motivieren, ebenfalls das Richtige zu tun. Die Leute sollen wissen, wer ich bin. +Wie waren die Reaktionen? +Meine Eltern haben mich immer unterstützt. Sie wollen, dass ich mein Leben so lebe, wie ich will. Was in den sozialen Medien passiert, habe ich nie wirklich verfolgt. Ich habe nicht über den Fall gepostet oder die Regierung öffentlich kritisiert. Ich wollte das vor Gericht klären. Damals war ich noch Student und wollte Lehrer werden. Mein Anwalt hat früh gewarnt, dass ich den Job mit einer Klage riskiere, weil die Regierung oder andere Organisationen verhindern könnten, dass ich eine Anstellung als Lehrer bekomme. +Hat sich seine Warnung bewahrheitet? +Überraschenderweise: nein. Früher habe ich an einer privaten Schule unterrichtet. Da wurde mein Vertrag irgendwann gekündigt. Möglicherweise, weil sie gegen meine sexuelle Orientierung waren oder wussten, dass ich die Regierung verklage. Aber das weiß ich nicht. Ich arbeite seitdem an staatlichen Schulen. Die Botswaner sind tolerant, auch wenn es immer noch einige gibt, die sich schwertun, Homosexualität zu akzeptieren. + +2022befragtedas Meinungsforschungsinstitut Afrobarometer 1.200 erwachsene Botswaner/-innen. Unter anderem dazu, ob sie gerne Homosexuelle in der Nachbarschaft hätten. Knapp 40 Prozent sagten, sie hätte eine "starke Abneigung" dagegen, knapp 14 Prozent waren "abgeneigt". 35,5 Prozent gaben an, es sei ihnen egal. Rund 10 Prozent fänden das positiv. + +Präsident Mokgweetsi Masisi sagte schon im Jahr vor dem Urteil, viele Botswaner in gleichgeschlechtlichen Beziehungen seien verletzt worden und hätten im Stillen gelitten. "Genau wie andere Bürgerinnen und Bürger verdienen sie es, dass ihre Rechte geschützt werden." Als der Oberste Gerichtshof Homosexualität 2019 entkriminalisierte, legte die Regierung trotzdem Berufung ein. Sie argumentierte, dass es keine Beweise gebe, dass sich die Einstellung der Bevölkerung gegenüber Homosexualität geändert habe, und das Gesetz daher weiter gelten sollte. +Ich habe diesen Einwand nie verstanden. Als mich 2019 mein Anwalt auf dem Weg zur Arbeit anrief und mir sagte: "Wir haben gewonnen!", habe ich geweint. Ich habe alleine gefeiert, bin nicht einmal auf einer Party gewesen. Und als ich gehört habe, dass die Regierung gegen das Urteil Berufung einlegt, habe ich noch mal geweint. Ich konnte nicht anders mit meinen Emotionen umgehen. +2021 bestätigte das Oberste Gericht schließlich seine Entscheidung – fünf Jahre nachdem die Klage eingebracht wurde. +Ich kann diesen Erfolg bis heute nicht wirklich feiern. Wie wichtig dieses Urteil ist, wird mir immer erst wieder klar, wenn ich Interviews wie dieses gebe oder auf internationale Konferenzen eingeladen werde. Ohne meine Anwälte wäre ich heute nicht, wo ich bin. + +Auch UNAIDS, das UN-Programm zur Aids-Bekämpfung, lobte das Urteil: Die Kriminalisierung und Stigmatisierung von Homosexualität führe dazu, dass HIV-Präventions-, Test- und Behandlungsstellen nicht in Anspruch genommen werden. Botswana hat eine der höchsten HIV-Infektionsraten der Welt.Nach Angaben von UNAIDShat jeder fünfte Erwachsene im Land das Virus. + +Was ist seit der Bestätigung des Urteils passiert in Botswana? +Ich finde, die Leute posten noch freier auf Social Media. Und die Politik kümmert sich um andere Themen. Es gibt eine große LGBTIQ+-Organisation in Botswana, LEGABIBO. Aber ich bin nicht wirklich vernetzt mit anderen Aktivist:innen. Meine Hoffnung ist: Irgendwann werden alle Homosexualität akzeptieren. Weißt du, ich bin froh, in Botswana zu leben, es ist ein friedliches Land. + diff --git a/fluter/bpb-wahlbot-entwicklung.txt b/fluter/bpb-wahlbot-entwicklung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..39da3763180311e381686214c4bf4f5b370e2c06 --- /dev/null +++ b/fluter/bpb-wahlbot-entwicklung.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +Was genau ist dieser "WahlBot"? +Das ist ein Chatbotder Bundeszentrale für politische Bildung (bpb)zur Wahl derAbgeordneten des Europaparlamentsam 9. Juni dieses Jahres. Er soll kurze und präzise Antworten auf organisatorische, aber auch inhaltliche Fragen von Bürger:innen rund um die Wahl liefern. +Eine Frage fällt mir ein: Wie beantrage ich die Briefwahl? +Genau. Darauf antwortet der WahlBot, dass Sie bei Ihrem Wahlamt einen Wahlschein beantragen müssen und dieser Antrag bis zum 7. Juni um 18 Uhr dort eingegangen sein muss. Per E-Mail, Onlineformular oder auf der Rückseite Ihrer Wahlbenachrichtigung – falls Sie die nicht verloren haben. +Und wenn ich wissen möchte, wer die Spitzenkandidat:innen der antretenden Parteien sind? +Der WahlBot listet die Kandidat:innen dieser 16 Parteien auf und liefert dann – auf Nachfrage – kurze Steckbriefe der einzelnen Personen. +Was, wenn ich konkrete Fragen zu den Wahlprogrammen oder Positionen der Parteien habe. Etwa: Wo bekomme ich für meine Stimme den besten Klimaschutz? +Bei einigen Fragen kann unser WahlBot ganz konkrete Antworten liefern. Die stammen aus unserer bpb-Redaktion, die auchden Wahl-O-Mat verantwortet. Er liefert dann auch immer Quellen mit und verlinkt auf die Angebote der bpb. Ziemlich häufig übrigens auch auf unser Hauptangebot, das wir genau zu diesem Zweck seit 22 Jahren für Bundestags-, Europa- und Landtagswahlen anbieten:ebenjenen Wahl-O-Mat. +Wie viel KI steckt im WahlBot der bpb zur Europawahl? +Tatsächlich gar keine. Das mag überraschend klingen, schließlich sindKIs wie ChatGPTsehr nützlich, verbreitet und können in den neuesten Versionen auch Inhalte zu aktuellen Themen liefern. Bei einem Chatbot zu einer Wahl ist aber zentral, dass er wahrheitsgetreu antwortet. Und das ist bei sogenannten "large language models" wie ChatGPT nicht immer der Fall. Sie sind so entwickelt, dass sie stets eine Antwort parat haben. Doch häufig "halluzinieren" ChatGPT und Co. Sieantworten plausibel, aber mit Falschinformationen. +Jede Antwort des WahlBots hat ein Mensch geschrieben? +So ist es. Wir haben für den Chatbot drei professionelle Journalisten als Redakteure beauftragt. Sie haben über das letzte halbe Jahr erst alle denkbaren Fragen an den Chatbot gesammelt, inklusive Tippfehler. Dabei konnten sie auch auf den Datensatz der Fragen zurückgreifen, die die Bürger:innen an den Chatbot der bpb zur Bundestagswahl 2021 gestellt haben. Und dann haben sie die Antworten recherchiert und aufgeschrieben. +Nichts gegen die Kollegen, aber auch sie können faktische Fehler machen. Oder die Antworten des WahlBots unabsichtlich mit einer politischen Tendenz formulieren. +Meine Co-Projektleiterin und ich haben alle Inhalte abgenommen, sodass mindestens das Sechs-Augen-Prinzip gegolten hat. Bei komplizierten Themen haben wir noch wissenschaftlich versierte Kolleg:innen aus den Fachabteilungen der bpb dazugeholt. +Auf welche Fragen hat der WahlBot keine Antwort? +Auf die zum Wetter und alle anderen, die nichts mit der Europawahl zu tun haben. Die Aufgabe des WahlBots ist ausschließlich, Bürger:innen dabei zu helfen, ihr Wahlrecht für die EU wahrnehmen zu können. +Wenn ich also nach dem Wetterbericht für Berlin frage, dann … +… rät der WahlBot dazu, aus dem Fenster zu schauen. Darunter bietet er ein paar "häufig gestellte Fragen" –Wer darf wählen?Was ist die Fünf-Prozent-Hürde? Kann ich mich enthalten? – und als Gimmick vier Quizze zur Europawahl und Wahlen allgemein an. +Noch antwortet der Chatbot auf ein paar Fragen zur Europawahl damit, dass er sie "nicht zuordnen" könne. Inwiefern entwickeln Sie ihn bis zur Europawahl weiter? +Wir werten quasi live aus, welche Fragen besonders häufig gestellt werden – und bei welchen Fragen der WahlBot noch nicht weiterhelfen kann. In diesen Fällen fordert er dazu auf, in ein bis zwei Tagen erneut zu fragen. Bis dahin wollen wir die Inhalte recherchiert, geprüft und eingepflegt haben. +In welchen Sprachen können Bürger:innen mit dem Chatbot kommunizieren? +Vorerst ist das nur Deutsch, bald werden wir aber noch eine englischsprachige Version anbieten. +Und auf welchen Plattformen ist der WahlBot verfügbar? +Das sind die Websitesbpb.de, fluter.de,eurotopics.netund der Telegram-Channel. + +Dr. Tobias Fernholz ist Referent im Fachbereich Politische Bildung und Social Media der bpb und einer von zwei Projektmanager:innen des WahlBots. + +Illustration: Bureau Chateau / Jannis Pätzold diff --git a/fluter/braeute-haeute.txt b/fluter/braeute-haeute.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5be6908008b838d4ad5190e4129b312262fd043a --- /dev/null +++ b/fluter/braeute-haeute.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Einer der größten Kokamärkte befindet sich in der bolivianischen Hauptstadt La Paz. Hier wird natürlich kein Kokain verkauft – dagegen kämpft die Regierung entschieden an –, sondern Haufen von Kokablättern, die gekaut oder zu allerlei Produkten wie Tee, Seife oder Bonbons weiterverarbeitet werden. +Appetit auf Hund? Dann ab auf einen der Hundemärkte in China, das eines der wenigen Länder ist, in denen es erlaubt ist, Hunde zu essen. In Yulin landen Streuner sowie eigens für den Verzehr gezüchtete Tiere in Käfigen, an Haken hängen Hunde, denen das Fell abgezogen wurde, drumherum schwirren Köche, die um jedes Kilo feilschen. Im Verlauf des Dog Meat Festivals werden ca. 10.000 Hunde geschlachtet. Nichts für schwache Gemüter. +Zwischen Odessa und Owidiopol in der Ukraine glaubt mancher an eine Erscheinung. Direkt neben der Straße stapeln sichdoppelstöckig die bunten Container – wie auf dem Deck eines riesigen Frachters. Auf 70 Hektar erstreckt sich dieser Markt, auf dem mehr als 15.000 Händler jeden Tag an die 200.000 Kunden umwerben, um ihnen Textilien, Kosmetik oder Küchenutensilien unterzujubeln – hauptsächlich gefälschte Marken zu Spottpreisen. +Einmal im Jahr kommen die Menschen zur großen Kamelmesse ins indische Pushkar. Mindestens 25.000 Kamele wechseln hier innerhalb von fünf Tagen den Besitzer. Wer kein Kamel kaufen möchte, kann sich anderweitig amüsieren. Denn es gibt während der Messe ein großes Kamelrennen und eine Menge Wettbewerbe: Wer hat den schönsten Schnurrbart, wer die tollsten Höcker? diff --git a/fluter/brandanschlag-moelln-calis-interview-theaterstuecke.txt b/fluter/brandanschlag-moelln-calis-interview-theaterstuecke.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6fd0ff9bb5178329468b49da13ea002b07ea38c9 --- /dev/null +++ b/fluter/brandanschlag-moelln-calis-interview-theaterstuecke.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +fluter.de: Sie waren 16 Jahre alt und lebten in Bielefeld, als der Brandanschlag von Mölln verübt wurde. Wie erinnern Sie sich an diese Zeit? +Nuran David Calis: Ich erinnere mich noch gut an die großen Sorgen meiner Eltern. Sie hatten in Deutschland politisches Asyl beantragt und es nie für möglich gehalten, dass die Fremdenfeindlichkeit sich nach dem Zweiten Weltkrieg hier noch mal so massiv Bahn bricht. Ich erinnere mich, dass meine Eltern in den Nächten direkt nach dem Anschlag das Licht in der Küche und im Flur, die zur Straße rausgingen, immer angelassen haben. +Von solchen Reaktionen – das Licht anlassen, die Feuerlöscher in der Wohnung überprüfen – erzählen auch andere Menschen mit Einwanderungsgeschichte, die sich für Ihr dokumentarisches Stück "Mölln 92/22" in Videointerviews an diese Zeit erinnert haben. +In der neuen deutschen migrantischen Geschichte ist das wie ein kollektiver Erinnerungsraum. Wenn ich mit Menschen aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft darüber rede, ist das interessanterweise gar nicht gegenwärtig. Was damals passiert ist, scheint für die meisten eine Randnotiz zu sein. Und das ist wirklich tragisch. Denn es darf keine Randnotiz sein. Ein großer Teil der Bevölkerung hatte damals Angst um sein Leben und das seiner Kinder. Und wir müssen auch darüber reden, dass damals die Grundsteine für den NSU-Terrorgelegt wurden. Diese Zeit war der Nährboden für die rechtsradikale Wucht, die sich in der Gesellschaft entwickelt hat. + + +In "Mölln 92/22" heißt es: "Es gab kaum Geschichten über die Opfer, die nach 1990 anfingen, in den Häusern zu brennen. Die Migrant*innen waren, wenn überhaupt, nur Objekte für unsere Projektionen, nie Subjekte." +Es wurde damals sehr viel über die Täter gesprochen, es gab Themenabende über den Rassismus, der in Ost- und Westdeutschland aufkeimte. Nach dem Motto: Man muss sich um die jungen Menschen kümmern,diese "Baseballschläger-Generation". Und die Opfer sind wirklich in den Schatten gedrängt worden.Ibrahim Arslan, einer der Überlebenden des Anschlags von Mölln, erzählt, dass, wenn er bei Vorträgen fragt "Wer von euch kennt Beate Zschäpe?", alle Finger hochgehen. Aberdie Opfer kennt niemand. Niemand kann ihre Namen aussprechen. Das war schon in den Neunzigern so. Wenn damals die Medien das Thema aufgriffen, wurden wir Migranten als Probleme dargestellt, die die Mehrheitsgesellschaft irritieren. +Sie arbeiten in Ihren Stücken regelmäßig mit Betroffenen rechtsextremer Gewalt, im Stück "Die Lücke" standen beispielsweise Überlebendedes NSU-Bombenanschlags in der Kölner Keupstraßeauf der Bühne. Wie war das in "Mölln 92/22"? +Der Theaterabend wird getragen von den Mitgliedern der Familien Arslan und Yılmaz, die den Anschlag überlebt haben. Es gibt Videointerviews mit den Eltern Faruk und Hava und den Söhnen Ibrahim und Namik Arslan. Bei der Premiere standen die Brüder selbst auf der Bühne und haben zusammen mit den Schauspielern ihr Anliegen vorgebracht. +Wie ist es für Überlebende, an so einem Projekt mitzuarbeiten? +Es ist ein sehr schmerzhafter Prozess, dieses Thema immer wieder aufzugreifen. Aber der größte Teil der Überlebenden will, dass die Gesellschaft teilnimmt an dem, was ihnen passiert ist. Und sie wollen die Hoffnung haben, dass so etwas keiner anderen Familie passiert. +Was haben Sie durch die Arbeit mit den Überlebenden gelernt? +Dass es den Angehörigen beim Gedenken nicht um Versöhnung geht. Es hat eine elementare Zäsur gegeben, etwas ist irreparabel gestört. Diese Störung müssen wir aushalten, das ist wichtig – auch wenn wir uns als Gesellschaft wünschen würden, dass da etwas heilt. Wir müssen lernen, mit dieser Wunde, diesem Schmerz zu leben. Und wir müssen lernen, dass die Frage, wie erinnert werden soll, nicht von Politikern bestimmt wird. +Die Familie Arslan organisiert seit Jahren ihre eigene Gedenkveranstaltung, weil sie sich von der Stadt Mölln nicht gehört fühlt. Auch an anderen Orten sind Überlebende rechtsextremer Gewalt enttäuscht vom Umgang öffentlicher Stellen mit dem Gedenken. +Ja, in Köln gibt es zum Beispiel immer noch kein Mahnmal für das NSU-Attentat in der Keupstraße. Oder im Falldes Brandanschlags von Solingen: Es gibt eine Straße, die nach dem jüngsten Opfer, der damals vierjährigen Saime Genç, benannt wurde. Die liegt aber nicht in Solingen, sondern in Bonn, in einem Gewerbegebiet, und führt in eine Sackgasse. Damit man solche Fehler nicht macht, müssten öffentliche Stellen sich viel stärker mit den Angehörigen beschäftigen. Aber dieser Dialog findet nicht statt. Deswegen sind die Angehörigen zum Teil wirklich am Boden zerstört. Manche sagen, das ist der zweite Anschlag, den sie da erfahren. + + +Welche Funktion haben Stücke wie Ihre, hat die Kunst generell beim Gedenken? +Erst einmal ist die Aufgabe, das, was man vorfindet, künstlerisch einzuordnen oder zusammenzufügen. Es wäre aber auch hier wichtig, dass Institutionen wie Fernsehen oder Theater stärker überprüfen, welche Themen und Stimmen sie zulassen. Da draußen gibt es ein Publikum für Themen, wie wir sie in "Mölln 92/22" und "Das Erbe" behandeln. Die Mehrheitsgesellschaft ist ein Publikum dafür, weil man ihr so andere, gegenwärtigere Narrative erzählt über die Einwanderungsgesellschaft, die wir sind. Die viel reicher und viel weiter ist, als es uns Rechtsradikale einzureden versuchen. +Ihr zweites Stück zum Anschlag von Mölln, "Das Erbe", hat am diesjährigen Jahrestag in München Premiere. Es spielt 1992 und erzählt von der fiktiven Familie Doğan, die sich in Deutschland von "Gastarbeiter*innen" zu Millionär*innen hochgearbeitet hat und nun versucht, mit der Nachricht vom Anschlag umzugehen. Was würden Sie sich wünschen, mit was für Gedanken das Publikum aus dem Theaterabend herausgeht? +Ich habe das Stück auch mal meinen, ich sage mal "deutschen" Freunden zu lesen gegeben. Die meinten, so eine Geschichte von einer Familie aus der migrantischen Szene, die Erfolg hat, hätten sie noch nie gelesen, das sei ja fast wie die türkischen Buddenbrooks. Ich würde mir wünschen, dass auch das Publikum sagt: Das hat uns überrascht. Es gibt so viele migrantische Erfolgsgeschichten. Man denke nur an das türkische Ehepaar, das Biontech gegründet hat. Aber wir erzählen zu wenig davon. +Die Regisseurin und viele der Schauspieler*innen in "Das Erbe" haben eine türkische Familiengeschichte. War Ihnen das wichtig? +Den ganzen künstlerischen Zugang und die Besetzung, darüber hat das Leitungsteam um die Regisseurin Pınar Karabulut entschieden. Aber ein türkischstämmiger Schauspieler aus der Gruppe, den ich kenne, hat sich bei mir bedankt.Er meinte, er habe die ganze Zeit nur Gangsterrollen oder andere Schubladen angeboten bekommenund er freue sich so, jetzt einen türkischen Menschen spielen zu dürfen, der auf der Business School war. Da habe ich mir gedacht: Auch wir haben uns vielleicht zu sehr begnügt mit den Schubladen, in die wir gesteckt wurden. Vielleicht ist das jetzt ein Moment des Empowerments, sich aus diesen Schubladen zu befreien – andere Ansprüche an das Theater oder Fernsehen zu stellen und auch andere Geschichten zu schreiben und zu spielen. +Nuran David Calis wurde 1976 in Bielefeld geboren. Seine Eltern sind aus der Türkei nach Deutschland eingewandert und haben armenisch-jüdische Wurzeln. Calis hat Regie studiert und für seine Theaterarbeiten, die sich häufig mit politischen Themen auseinandersetzen, zahlreiche Preise gewonnen. (Foto: Costa Belibasakis) +Titelbild: David Baltzer diff --git a/fluter/brasilien-lgbt-rechte.txt b/fluter/brasilien-lgbt-rechte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d49af0956ae569411976a4cd89532817509b2b6f --- /dev/null +++ b/fluter/brasilien-lgbt-rechte.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Seit 2015 die brasilianische Demokratie mit dem Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff ins Trudeln geraten ist, haben sich die Spannungen in Brasilien auf dem Land und an den Rändern der Städte verschärft. Die Erschießung von Marielle Franco, einer Stadtverordneten von Rio, war ein weiterer Schritt der extremen Gewalt in einem Land, in dem der Genozid an jungen Schwarzen und der Genozid an Indigenen Alltag sind, als könnte man mit dem Genozid leben, ohne dass damit zugrunde geht, was man Seele nennt. Die Ermordung von Marielle Franco war nur ein weiterer Schritt – über den Rand des Abgrunds hinaus. Sogar für Brasilien. +Marielle vereinigte viele Identitäten in sich: Sie war schwarz, wie die meisten, die umkommen; sie war aus der Favela (Maré), woher die kommen, die von allem zu wenig haben. Als schwarze Frau gehörte sie dem schutzlosesten und am meisten von Gewalt betroffenen Teil der brasilianischen Bevölkerung an, als lesbische Frau war sie Teil einer weiteren, von Homophobie gepeinigten Gruppe. Aufgeladen mit all dem, was sie war – und immer sein wird –, ließ sich Marielle für die linke PSOL in den Stadtrat von Rio de Janeiro wählen. Und machte aus ihren kriminalisierten Identitäten einen Ausbruch der Möglichkeiten. +Sie war die Inkarnation einer Bewegung, die aus dem Leben wie aus dem Leiden Brasiliens kommt. Marielle verkörperte einen Aufstand, der nicht mit ihr gestorben ist, obwohl er über die Jahre stets niedergeschlagen wurde. Ein Aufstand, der schöpferisch ist, kreativ und von einem anderen Brasilien träumt. Marielles Leben war wohl eine einzige Dreistigkeit für ihre Mörder, und sie wagte dabei noch zu lachen, und zwar viel, wie es Frauen tun, denen klar ist, dass Lachen auch eine Übertretung ist, wenn von uns erwartet wird, dass wir weinen. + +Seit mit Dilma Rousseff die erste Frau aus dem Präsidentenpalast gejagt wurde, durch ein an den Haaren herbeigezogenes Amtsenthebungsverfahren, ist die Gewalt an den Rändern des Regenwalds, auf dem Land und in den Städten brutaler geworden. Als sei etwas, das nur mühsam eingedämmt worden war, wieder freigesetzt. Die ganze Zerstörungswut, die verdrängt worden war. +Mit der Zerstörungswut meine ich vor allem den Wunsch nach Zerstörung der weiblichen Körper und der Körper von LGBTIQ, Körpern, die sich weigern, normiert zu sein –was Präsident Bolsonaro und seine Anhänger im Wahlkampf 2018 sehr deutlich gemacht haben. Für mich gehören zu dieser Liste auch noch die Körper derjenigen, die afrikanischen Religionen anhängen und damit dem Wachsen der evangelikalen Kirchen im Wege stehen und deswegen dämonisiert werden. +Nicht von ungefähr war es eine Frau, die von Bolsonaros Anhängern im Wahlkampf angegriffen wurde: Amélia Teles. Amelinha, wie sie von den meisten genannt wird, ist eine von Dutzenden, die Anfang der 1970er-Jahre von Oberst Carlos Alberto Brilhante Ustra gefoltert wurden, der einzige je von der brasilianischen Justiz angeklagte Folterer aus der Zeit der Militärdiktatur (1964–1985). Ustra ließ damals sogar ihre zwei kleinen Kinder kommen und führte ihnen die Mutter vor, voller Urin und Erbrochenem und mit Blutergüssen am ganzen Körper. Diesem Mann gab Bolsonaro seine Stimme, als er für die Absetzung von Dilma Rousseff stimmte, und sagt von da an immer wieder, dass der Folterer sein Idol sei. Amelinha wiederum sprach in einer Aufnahme für eine Wahlkampfsendung des Oppositionskandidaten Fernando Haddad über die Folter, die sie erlitten hatte, und wurde dafür von Anhängern Bolsonaros mit dem Tode bedroht. + + +Auch an Luana Barbosa dos Reis Santos muss erinnert werden, eine schwarze lesbische Frau aus der Peripherie, die 2016 von Polizisten ermordet wurde. Und man muss auf die schauen, die jetzt schon aus Angst um ihr Leben das Land verlassen mussten. +Die Gewalt richtet sich nicht gegen beliebige Körper, sondern gegen bestimmte. Es geht um die Kontrolle – darauf sei noch einmal hingewiesen – über die Körper, die sich nicht mehr ducken: Frauen, Schwarze, Indigene, LGBTIQ. Es war auch nicht ein beliebiges Bild, das Bolsonaro wählte, um den Karneval 2019 schlechtzumachen, sondern das von zwei schwulen Männern. Doch der Karneval hatte trotz all der vom Präsidenten angestachelten Gewalt gezeigt, dass der Aufstand noch lebt. Und wie er lebt. +Nicht mehr so tun, als gäbe es eine demokratische Normalität, ist das Gebot der Stunde, um bei Verstand zu bleiben. Der Hass in Brasilien kann jeden Moment explodieren. Und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Bolsonaro eine Tragödie verursacht. Und die Institutionen tun nichts, um die Bevölkerung und die Verfassung zu schützen. +Bolsonaro hat Brasilien in ein Versuchslabor für die Perversion der Politik verwandelt. Er hat Brasilien zu einem "Fall" gemacht. Wer das merkt, wird langsam krank. Andere haben das Land schon verlassen, um nicht zu Märtyrern werden zu müssen. Das Schlimmste, was wir jetzt tun könnten, wäre, so zu tun, als wäre das alles normal. Oder als sei Normalität möglich unter einem Präsidenten, der Brasiliens Alltag durch die Verbreitung von Hass in sozialen Netzwerken kontrolliert. +Die Ermittlung, wer Marielle Franco hat umbringen lassen – und aus welchem Grund –, wird nicht nur ein Verbrechens aufklären, sondern womöglich die ganze Anatomie des heutigen Brasiliens. +Die Zerstörung des Körpers von Marielle Franco, des politischen Körpers, der sich nicht unterwerfen ließ, ist der brutalste Angriff bis heute. Wir rufen "Marielle – presente!" (Marielle – anwesend!) für unsere Würde. Aus gemeinsamer Verantwortung. Aber auch, weil wir glauben, dass dadurch vielleicht einige andere Körper davor bewahrt werden können, auf offener Straße in Brasilien von Kugeln zerfetzt zu werden. Wir halten die Erinnerung an Marielle Franco wach, treiben den Preis für ihren Tod in die Höhe. Trotz derjenigen, die auch nach Marielles Tod noch sterben mussten. Weiter zu schreien hat uns womöglich davor bewahrt, völlig die Kon­trolle zu verlieren. Wie lange noch, wissen wir nicht. Deswegen müssen wir weiter schreien. Und hoffen, dass unsere Schreie die Welt erreichen, die sich noch nicht entmenschlicht hat. + +Der Text wurde von Michael Kegler aus dem Portugiesischen übersetzt. Das Titelbild von Fabio Vieira (FotoRua/NurPhoto via Getty Images) zeigt eine Hauswand zu Ehren der ermordeten Stadträtin Marielle Franco. diff --git a/fluter/brasilien-marica-grundeinkommen.txt b/fluter/brasilien-marica-grundeinkommen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..200f708e17974a23dc4937af27fd5a636329b0e0 --- /dev/null +++ b/fluter/brasilien-marica-grundeinkommen.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Die Stadt Maricá ist rund 60 Kilometer von Rio de Janeiro entfernt, liegt traumhaft zwischen Atlantik und hügeligem Hinterland und war bis vor kurzem ein verschlafenes Nest. Gut 160.000 Menschen leben hier. Dass nun Forscher*innen aus der ganzen Welt die selbsterklärte "Stadt der Utopien" aufsuchen, hat mit einem außergewöhnlichen Experiment zu tun: Maricá wurde zu einem Labor für progressive Lokalpolitik. +Herzstück des Projekts ist das Grundeinkommen. 42.500 Bürger*innen erhalten eine lokale virtuelle Währung.Mumbuca heißt sie,wie ein Fluss in der Region. Es ist keinbedingungsloses Grundeinkommen, wie es hierzulandehäufig zur Debatte steht, sondern eher eine Art niedrigschwellige Grundsicherung: Um das Geld zu erhalten, muss man seit mindestens drei Jahren in Maricá gemeldet sein und ein Familieneinkommen von weniger als drei Mindestlöhnen haben. Umgerechnet fast 40 US-Dollar pro Person gibt es pro Monat. Das ist nicht viel, aber für viele Bürger*innen eine wichtige Unterstützung. Wie für Conceição. +Nachdem sie sich von ihrem gewalttätigen Mann getrennt hatte, sei sie fast auf der Straße gelandet, sagt sie. Mit der Mumbuca habe die Mutter zweier Kinder ihre Lebensmittel bezahlen können, erhielt zudem einen Zuschuss für die Miete sowie Beratung im lokalen Frauenhaus. "Ich habe dieser Stadt so viel zu verdanken." Conceição schaffte es, wieder auf die Beine zu kommen. Heute arbeitet sie als Make-up-Artist, verdient damit aber immer noch unter der Mindestlohngrenze. Außerdem engagiert sie sich als Aktivistin. +"Wir haben nicht die kreativsten Ideen, unser Modell ist eigentlich ganz einfach", sagt Adalton Mendonça, Sekretär für Solidarische Ökonomie der Stadt. Er sitzt in einem schlichten Büro, die Klimaanlage rattert. Die Stadt müsse sich um ihre Bürger*innen kümmern, sagt er. Was nach einer Phrase klingt, ist in Maricá zu einer ehrgeizigen Mission geworden. An einer Wand hängt ein Bild des umstrittenen Revolutionärs und Guerillaführers Ernesto "Che" Guevara: "Jeder soziale Fortschritt muss erkämpft werden, dafür ist Che ein Vorbild." Mendonça ist Mitglied der Arbeiterpartei PT, der Partei des amtierenden Präsidenten Luiz Inácio "Lula" da Silva. +2008 gewann die Partei die Bürgermeisterwahl in Maricá, und eine Gruppe junger Mitglieder legte ambitionierte Pläne vor. Am Anfang seien sie belächelt worden, sagt Mendonça. Doch der Erfolg ließ die Kritik verstummen. Neben dem Grundeinkommen gibt es heute viele Dinge, von denen andere brasilianische Gemeinden nur träumen können. Der Stadtbus, liebevollvermelhinho, der kleine Rote, genannt, ist kostenlos. Ein Finanzprogramm unterstützt Studierende, massive Investitionen fördern die Infrastruktur. Die Stadt wirkt vergleichsweise sauber, es gibt kaum Obdachlose. Wie ist das möglich? +Die Antwort liegt vor Maricás Küste unter dem Meeresspiegel. Dort wurden 2006 gewaltige Ölvorkommen entdeckt. Inzwischen fördert der halbstaatliche Konzern Petrobras das "schwarze Gold", die Stadt erhält Entschädigungen. Umgerechnet rund 150 Millionen Euro spült dieser Deal pro Jahr in die Kassen der Stadt. +Hatte Maricá also einfach nur Glück? Mendonça schüttelt den Kopf. Es sei eine politische Entscheidung, was man mit dem Geld macht. In vielen anderen Gemeinden wurde Öl vor den Küsten entdeckt. Doch in diesen "kleinen Emiraten" nutzten sie das Geld anders, zogen Luxusprojekte hoch, oder es versickerte im Korruptionssumpf. Einige seien reich geworden, aber das Gros der Bevölkerung ging leer aus, sagt Mendonça. Maricás Stadtverwaltung will das anders machen und steckt den Großteil der Ölgelder in soziale Projekte. + + +An einem Ort läuft alles zusammen: das Geld vom Öl und das soziale Engagement. Nur wenige Fußminuten vom schmucken städtischen Hauptplatz entfernt befindet sich ein rot-weißer Flachbau: die Mumbuca-Bank. "Wir sehen jeden Tag, dass die Menschen hinter dem Modell stehen", meint Manuela Mello, 23, Direktorin der Bank. Obwohl sie die Bank leitet, bedient sie immer noch selbst Kund*innen. +Mello erklärt, wie das Modell funktioniert: Die Mumbuca-Währung entspricht eins zu eins der Landeswährung Real. Das Geld ist digital, man kann es nicht abheben oder umwandeln. Besonders wichtig: Mumbuca wird nur in Maricá akzeptiert. An vielen Friseurläden, Apotheken, Supermärkten und Tankstellen hängen Schilder, darauf zu lesen: "Wir akzeptieren Mumbuca." Denn das Grundeinkommen soll in der Stadt bleiben und so die lokale Wirtschaft stärken. "Zirkuläre Ökonomie" nennen Wissenschaftler*innen das. Auf jede Transaktion mit Mumbuca werden zwei Prozent aufgeschlagen. Dieses Geld geht zurück an die Bank, um weitere soziale Projekte wie zinslose Kredite für die Renovierung von Häusern zu finanzieren. +In vielen Ländern wird über solidarische Ökonomie diskutiert. Aber bisher ging es an keinem Ort über kleinere Pilotprojekte hinaus. Das soll in Maricá anders laufen: Wenn es nach Mello geht, sollen irgendwann alle Bürger*innen Mumbuca erhalten. Dem brasilianischen Parlament liegt seit vielen Jahren ein Gesetzentwurf vor, der ein universelles Einkommen vorsieht. Es ist aber unwahrscheinlich, dass ein solches Projekt im krisengebeutelten Brasilien derzeit landesweit umsetzbar ist. +Argumente für ein Grundeinkommen lieferte Maricá während der Corona-Pandemie. Die Stadtverwaltung hob den Mumbuca-Satz deutlich an und trug dazu bei, Bewohner*innen vor dem finanziellen Absturz zu bewahren. Während woanders reihenweise Menschen ihre Arbeit verloren, gelang es in Maricá sogar, neue Jobs zu schaffen. Die Stadt eröffnete ebenfalls ein neues Krankenhaus, in dem Corona-Patient*innen behandelt wurden. +Kein Wunder, dass in der Stadt fast alle Bürger*innen hinter dem Modell stehen. Der linke Bürgermeister Fabiano Horta wurde mit spektakulären 88 Prozent wiedergewählt, auch mit den Stimmen von Fans des rechtsextremen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro. Was einigen jedoch Sorgen bereitet: Irgendwann wird Schluss sein mit der Ölförderung. Und dann? +Die Stadt will sich unabhängig von den Einnahmen machen, hat einen Spezialfonds eingerichtet und testet neue Wege. Maricá bleibt kreativ. Auch dafür liebt Conceição ihre Stadt. Nie würde sie woanders hinziehen. "Wir sind auf dem richtigen Weg, ein Vorbild für das ganze Land." Sie stockt kurz, und dann sagt sie: "Und vielleicht auch für die ganze Welt." diff --git a/fluter/brasilien-unter-bolsonaro.txt b/fluter/brasilien-unter-bolsonaro.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b254215e944af6a91761b3f6ca68e4c31c1dfd14 --- /dev/null +++ b/fluter/brasilien-unter-bolsonaro.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Die #elenao-Demo war der größte Protest gegen einen Präsidentschaftskandidaten in der Geschichte Brasiliens. Sie markierte aucheinen Bruch in der Gesellschaft +Am Sonntag um kurz nach 19 Uhr, als die Wahlergebnisse bekannt wurden, jubelten Tausende Anhänger Bolsonaros am Strand vor dessen Haus in Rio. Sie feierten mit Feuerwerken, Autokorsos und lauter Musik den Sieg des Rechtspopulisten. Bolsonaros Kritiker bangen vor dem, was nun folgen könnte. +Rund 55 Prozent der Wählerinnen und Wähler hatten für Jair Bolsonaro gestimmt, der für die Sozial-Liberale Partei (PSL) ins Rennen ging. Knappe 45 Prozent stimmten für seinen Kontrahenten Fernando Haddad von der linksgerichteten Arbeiterpartei. Vier Jahre ist Bolsonaro nun regulär Präsident, und damit ist er in Brasilien nicht nur Staatsoberhaupt, sondern auch Regierungschef. +Der ehemalige Militär und langjährige Abgeordnete für wechselnde Parteienist in Brasilien und international hoch umstritten. Er drohte der Opposition mit Verfolgung, verherrlichte die brasilianische Militärdiktatur und äußerte sich wiederholt demokratieverachtend, rassistisch, frauenfeindlich und homophob. +Bolsonaro hatte in seinem Wahlkampf – den er mit illegal beschafften Kontaktdaten hauptsächlich über WhatsApp geführt hat, wo er jede Menge Falschmeldungen verbreitete – auf konservative Themen wie Sicherheit und Familie gesetzt. Themen, die offenbar bei vielen Brasilianern gut angekommen sind. Vor allem aber verkörpert er für sie eine Abkehr von linken Parteien, deren Köpfe – wie Ex-Präsident Lula da Silva und seine Nachfolgerin Dilma Rousseff – in Korruptionsskandale verstrickt waren. "Unser Land braucht den Wandel", sagt die 41-jährige Barbara Heller aus Rio, die in einer Bar mit Freunden feiert. Brasilien, findet sie, hat jetzt den Mann gefunden, der in dem Land endlich aufräumen wird. +Er warnte zum Beispiel davor, dass Kinder in der Schule zu Homosexuellen erzogen würden. Teilen der religiösen und konservativen Wählerschaft gefielen Bolsonaros Meinungen, etwa seine Position, die Ehe solle heterosexuellen Paaren vorbehalten sein. "Die traditionelle Familie muss wieder wertgeschätzt werden", findet auch Barbara Heller. "Wir brauchen wieder mehr Respekt – es kann nicht sein, dass zwei Männer sich in der Öffentlichkeit küssen." So denkt auch Jaqueline da Silva, die mit ihrer Familie in der Favela Rocinha lebt, der größten Favela von Rio de Janeiro. Sie ist auf dem Nachhauseweg, zusammen mit ihrer Tochter und einem ihrer Freunde. Dass dieser schwul ist, kommentiert da Silva schulterzuckend mit einem "Der ist halt kein richtiger Mann". +Homosexuelle wie Rafael Jaques Sorge befürchten, dass Hass und Gewalt gegen sie unter Bolsonaro legitimiert werden: "Bolsonaro hat kein Ideal der Menschlichkeit, er führt einen Hassdiskurs gegen Minderheiten wie mich." Der 28-jährige Audio-Produzent findet: "Brasilien ist jetzt schon ein Land voller Vorurteile. Es ist erschreckend, weil ich nicht weiß, was jetzt noch alles passieren wird." Schon während des Wahlkampfs gab es vermehrt Angriffe auf Homosexuelle und andere Minderheiten, aber auch auf Journalisten und Aktivisten. +Bolsonaro wird durchgreifen, wieder Recht und Ordnung herstellen, glaubt Jaqueline da Silva. Nach der Wirtschaftskrise, der Fußball-WM und den Olympischen Spielen hat sich Brasiliens Krise verstärkt, die Kriminalität in den Städten ist angestiegen –besonders in den Favelas. Allein in der 6,5-Millionen-Stadt Rio de Janeiro lebt jeder Fünfte in einem der Armenviertel. Die Bewohner leiden besonders unter der Gewalt, die Drogen- und Waffengeschäfte mit sich bringen. Drogenbanden, Milizen und Polizei bekämpfen sich unerbittlich. Gerade Bewohner der Armenviertel waren daher empfänglich für die markanten Sprüche des Rechtsaußen-Politikers. +Dabei hegte Bolsonaro bisher keine wirklichen Sympathien für die Armen. Als Abgeordneter etwa stimmte er gegen ein Gesetz, das Hausangestellten (die zu großen Teilen aus den Favelas stammen) mehr Rechte sichern sollte. Doch all das scheint vergessen, wenn sich Bolsonaro als bodenständiger Saubermann darstellt, als der Hauptmann der Reserve, der Familienvater. +Bolsonaros Anhänger reden nicht gern über die noch fehlenden Programme ihres neuen Präsidenten. Diskriminierung? Sei übertrieben. Homosexuelle? Die würden ihre falsche Haltung doch selbst erkennen. Gewalt? Mit der eigenen Waffe könne man sich besser selbst verteidigen. Rassismus und Faschismus? Der größte Faschist, Lula, Brasiliens ehemaliger linker Präsident, sitze doch im Knast. +Andere hingegen fürchten sich vor der Zukunft unter dem neuen Präsidenten: "Bolsonaro ist sehr radikal. Ich habe Angst vor dem, was kommt", sagt die 31-jährige Vitoria aus Porto Alegre. "Noch schlimmer als seine Reden finde ich die Menschen, mit denen er sich umgibt." Einen Teil seines Kabinetts hat Bolsonaro bereits aufgestellt: Sein Vizepräsident Hamilton Mourão ist ein General der Reserve, der nicht weniger extreme Parolen schmettert. Er ist wie Bolsonaro ein Fan der Militärdiktatur, spricht von einem möglichen Putsch nach der Wahl und davon, dass Brasilien die Faulheit der indigenen Bevölkerung und die Gerissenheit von den unmöglichen Afrikanern geerbt habe. Bolsonaro kündigte an, die Hälfte seines Kabinetts mit Militärs besetzen zu wollen, der ehemalige General Augusto Heleno etwa soll Verteidigungsminister werden. Er will Scharfschützen gegen Kriminelle einsetzen. +Zusammen mit anderen rechtskonservativen Politikern will Bolsonaro eine globale rechte Allianz bilden. Nach seinem Wahlsieg erreichten internationale Glückwünsche den künftigen Präsidenten – von Matteo Salvini aus Italien, Mauricio Macri aus Argentinien und Donald Trump aus den USA. +Seinen Wählern hat Bolsonaro wirtschaftlichen Aufschwung versprochen – bisher hat er aber keinen konkreten Plan präsentiert. Die Grundlinien sind jedoch klar: mehr Privatisierung, weniger Staat, Abholzung im Amazonas, weniger – seiner Meinung nach lästiger – Umweltschutz. +Bereits kurz nach der Wahl wurde in São Paulo gegen Bolsonaro protestiert, weitere Proteste sind geplant. Ob sie stattfinden dürfen, ist unklar. Antifaschistische Aktionen in Universitäten wurden vor dem Wahltag mithilfe der Polizei untersagt, Banderolen verboten. Kurz vor der Wahl hatte Bolsonaro angekündigt, "rote Banditen" aus Brasilien zu vertreiben. "Es wird eine Säuberung werden, wie sie Brasilien in seiner Geschichte noch nicht gesehen hat", sagte Bolsonaro. +Offiziell war es der Polizei während des Wahlkampfs verboten, für Bolsonaro zu werben, dennoch scheinen Brasiliens Militär und Polizei zu großen Teilen hinter ihm zu stehen: Als es nach der Wahl in Rio zwischen linken und rechten Anhängern zu Auseinandersetzungen und Flaschenwürfen kam, kritisierte die Polizei nur Personen der linken Gruppe: "Die können ihre Niederlage nicht akzeptieren." Am Wahlabend schließlich führte ein Wagen der Bundespolizei einen hupenden Autokorso an, mit blinkenden Scheinwerfern entlang der Copacabana. + +Titelbild: Fabio Vieira/FotoRua/NurPhoto via Getty Images diff --git a/fluter/brauchen-wir-noten-an-schulen-streit.txt b/fluter/brauchen-wir-noten-an-schulen-streit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c0bdfd220f8879b7be05f25b4e8756f0596a76d5 --- /dev/null +++ b/fluter/brauchen-wir-noten-an-schulen-streit.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Noten erfüllen einen anderen Zweck: Sie geben Orientierung. Sie sagen mir: Wie ist meine Leistung aktuell? Sie stehen auch nicht im Widerspruch zu differenzierten Beurteilungen. Die erfolgen sowieso, mündlich, während des gesamten Schuljahres. Lehrerinnen und Lehrer erklären den Kindern und Jugendlichen, was sie gut können und was nicht so gut. Wo sie sich verbessern können. Sie gehen auf unterschiedliche Persönlichkeiten ein. +Die Note ist nur eine Zusammenfassung der Leistungen. Eine, mit der Schülerinnen und Schüler und später Studierende sich zumindest klassenintern vergleichen können – und die motivieren kann, sich zu verbessern. +In manchen Grundschulen – die Bundesländer haben unterschiedliche Regelungen – gibt es Noten schon heute nicht mehr. In Schleswig-Holstein konnten Grundschulen bis 2017 wählen, ob sie statt Noten lieber schriftliche Leistungsbeurteilungen vergeben wollen, dann aber wurden im Regelfall wieder verbindliche Noten ab der dritten Klasse eingeführt. Noten seien ein gutes Rückmeldesystem für Eltern und Schüler, heißt es aus dem Bildungsministerium. Es komme nicht selten vor, dass diese nachfragen, in welche Note sich eine bestimmte Formulierung übersetzen lässt. +Das Bildungsbarometer 2018 des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung zeigt: Schülerinnen und Schüler selbst wollen Noten. 62 Prozent der befragten Jugendlichen sprachen sich gegen die Abschaffung aus. "Es hat mich erstaunt, wie stark die Jugendlichen – genau wie die Erwachsenen – für ein leistungsorientiertes Schulsystem plädieren", sagte der Bildungsökonom Ludger Wößmannim Interview mit der "Zeit". +Ja, beim Übertritt aufs Gymnasium spielen Notenoft eine wichtige Rolle.Und dass im deutschen Schulsystem zu früh sortiert wird, stimmt sicher auch. Eine zwangsweise Besserung muss eine schriftliche Leistungsbeurteilung aber nicht bringen. Denn wer sagt, dass Entscheidungsträger diese nicht automatisch ins einfachere Ziffernnoten-System übersetzen? Personaler wissen schon heute, dass eine Floskel wie "war im Allgemeinen engagiert" bedeutet, dass der Kandidat in seinem Job in seiner alten Firma wenig erfolgreich war. Nicht ausgeschlossen, dass Pädagoginnen und Pädagogen für Leistungsbeurteilungen ähnlich floskelhafte Textbausteine verwenden. +Ist es nun gerecht, dass mein Abischnitt mitentscheidet, ob ich Germanistik studieren darf? Meine Biologienote vorhersagen soll, ob ich später erfolgreich Texte analysiere? Nein, ist es nicht. Aber anstatt die Sinnhaftigkeit von Noten grundsätzlich infrage zu stellen,kann man über den Numerus clausus diskutieren.In Österreich etwa kann sich jede und jeder mit Abiturzeugnis für ein Studium einschreiben. Für Fächer wie Medizin oder Psychologie, in denen es mehr Bewerber als Plätze gibt, werden Aufnahme- bzw. Eignungstests durchgeführt: gleiche Chance für alle, egal welche Noten im Abschlusszeugnis standen. +Und schließlich: Während des Studiums wird man wieder mit Noten konfrontiert sein – und dann hoffentlich nicht zum ersten Mal im Leben. + + + +Benjamin Breitegger ist freier Journalist und absolvierte eine Redakteursausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München – ganz ohne Noten. + + +Collagen: Renke Brandt +meint Ralf Pauli +Dass sich im deutschen Bildungssystem alles um Noten dreht, hat sich selbst mitten in der Corona-Pandemie gezeigt. Obwohl die Wissenschaftsakademie Leopoldina früh empfohlen hatte, bei einer möglichen Wiederaufnahme des Schulbetriebs zuerst an die jüngeren Kinder zu denken (weil diese sich ohne feste Lernstruktur in der Regel schwerer tun als die älteren), hat die Politik nach anderen Kriterien entschieden: Weil ältere Schüler*innen sich vermutlich besser an die Corona-Maßnahmen halten, aber vor allem auch wegen der anstehenden Prüfungen. Also durften – oder mussten – die Abschlussklassen als erste wieder zurück in die Schule. +Dabei muss man gar nicht auf diese virusbedingte Ausnahmesituation schauen, um die Notenfixierung anSchulen zu kritisieren. Es reicht ein Blick auf die klassischen Ziffernnoten "1" bis "6" – und die alternativen Modelle, die heute schon an vielen Grund- und Reformschulen sowie Stadtteilschulen zum Einsatz kommen, darunter Lernstandsgespräche, Kompetenzprotokolle oder sogenannte Indikatorenzeugnisse. Was diese zensurfreien Zeugnisvarianten verbindet: Sie stellen die Stärken und Schwächen eines Schülers viel differenzierter dar, als es eine Note je könnte. Viele Pädagog*innen sind sich einig, dass dies vor allem schlechtere Schüler*innen motiviert, die sonst von der ganzen Klasse mit einer plakativen Zahl als Loser*in abgestempelt würden. +Man muss sich nur den Schulalltag in Deutschland vor Augen führen – Stichwort:überfrachtete Lehrpläne,Bulimielernen,aber auch Mobbing–, um zu verstehen, wie sinnvoll eine Schule ohne Noten für die individuelle Förderung und das soziale Miteinander wäre. Natürlich hieße es für die Eltern Abschied nehmen von eindeutigen Leistungszuschreibungen. Statt "befriedigend" in Deutsch hätte eine Schülerin dann beispielsweise Stärken in der Rechtschreibung, aber Defizite im Textaufbau. Ein "guter" Mathe-Schüler wäre hervorragend im geometrischen Verständnis, aber manchmal zu schlampig, um Formeln sauber zu Ende zu rechnen. +Doch eine so differenzierte Leistungsbeurteilung würde ein zentrales Ziel der klassischen Notenvergabe torpedieren: Schüler*innen auf einen Blick miteinander vergleichen zu können. Dabei wissen die Kultusministerien selbst, wie wenig vergleichbar beispielsweise die Abiturnoten sind. Nicht nur, weil die Prüfungsaufgaben teilweise unterschiedlich sind, sondern auch die Fächerkombinationen in den Leistungskursen und deren Gewichtung. Das beeinflusst natürlich auch die Gesamtnote und kann für alle, die studieren wollen, böse Folgen haben. +So haben Abiturient*innen aus Thüringen seit Jahren mit Abstand die besten Abischnitte und auch den höchsten Anteil an Einserschnitten (zuletzt 36,7 Prozent). Und damit klar bessere Karten als Abiturient*innen aus Bayern oder Bremen, in einen zulassungsbeschränkten Studiengang wie Medizin oder Pharmazie reinzukommen. Die 16 einzelnen Bildungssysteme sind so unterschiedlich, dass das Bundesverfassungsgericht beanstanden musste, dass bei der deutschlandweiten Studienplatzvergabe nach Numerus clausus die Abinote nicht mehr das alleinige Kriterium sein darf. +Vor allem aber spricht gegen Schulnoten, dass sie die eh schon große Chancenungerechtigkeit noch verstärken. Beim Übertritt auf das Gymnasium spielen Noten in vielen Bundesländern eine zentrale Rolle – und das begünstigt Kinder aus Akademikerfamilien. Schüler*innen aus sozial schwachen Familien siebt das Bildungssystem oft genau an dieser Stelle aus. Unter anderem, weil die Notenvergabe nicht vor subjektiven Faktoren wie Sympathie oder unterbewussten Vorurteilen schützt. Dann ist ein Modell ohne Noten, das zumindest ein Stück weit vor diesen Fehltritten bewahrt und zudem zum Lernen motiviert, eindeutig die bessere Wahl. Und auch die gerechtere. + + +Ralf Pauli ist Bildungsredakteur bei der taz, denkt also nicht selten über Schule und besseres Lernen nach. diff --git a/fluter/breaking-mad.txt b/fluter/breaking-mad.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fe496fe64adb61b30da22dc134569ab640d3e24b --- /dev/null +++ b/fluter/breaking-mad.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Baekeland wurde als Erfinder des ersten komplett synthetischen Kunststoffs gefeiert. Aber genau genommen kann man Plastik nicht erfinden. Man kann es letztlich nur entdecken. Und in der Vergangenheit half dabei oft der Zufall. Mal ließ ein Chemiker eine Probe in der Sonne stehen (so war es bei PVC), mal entdeckte man auf der Suche nach einem Kühlmittel durch eine ungeplante chemische Reaktion das wachsartige Pulver Teflon. Cyanacrylat sollte eigentlich ein Ersatz für Glas werden – ein Wissenschaftler suchte für die US-Armee unzerbrechliche Zielfernrohre –, aber das Material ließ sich einfach nicht verarbeiten: Es klebte zu sehr. Heute verkauft man es als Sekundenkleber. +Dank Baekeland wusste man schon 1907, wie Kunststoff hergestellt wird – aber nicht so genau, wie er funktioniert. Was fehlte, war eine chemische Betriebsanleitung für weitere Kunststoffe. Erst 15 Jahre später entdeckte der deutsche Chemiker Hermann Staudinger das Grundprinzip der Makromoleküle. +Die Herstellung von Kunststoffen muss man sich demnach vorstellen wie chemisches Lego: Aus Stoffen mit kleineren Molekülen, sogenannten Monomeren, werden zum Beispiel durch Hitze, Lösungen oder Druck langkettige Moleküle, die sogenannten Polymere. Nylon ist ein simples Beispiel: Schüttet man zwei Flüssigkeiten zusammen – eine reizend, eine sogar ätzend –, werden daraus Fäden für harmlose Strümpfe. Denn dort, wo die beiden Flüssigkeiten sich treffen, reagieren sie zu Nylon. +Der größte Vorteil von Kunststoffen ist, dass sie so formbar und wandlungsfähig sind. Fügt man zu Stahl ein paar Elemente wie Molybdän oder Chrom hinzu, wird er härter, rostfrei oder haltbarer. Er bleibt aber immer Stahl. Fügt man hingegen zu Kunststoff oft nur winzige Mengen anderer Substanzen hinzu, verändert er komplett seine Form. Oft genügen schon kleinste Änderungen in der Rezeptur, und Kunststoffe ändern ihre Eigenschaften radikal. Ein bisschen mehr Hitze hier, ein anderes Lösungsmittel da – schon wird aus ähnlichen Rohstoffen keine leichte, durchsichtige Plastikflasche, sondern eine kugelsichere Weste. +Polyvinylacetat fungiert als Grundstoff für Kleber, aber auch für Kaugummi. Und Polystyrol in seiner Reinform ist durchsichtig, hart und schlagempfindlich. Schäumt man es aber auf, wird es weiß und weniger fest. Auch hier half übrigens der Zufall: Die Probe aus glasklarem Polystyrol wurde über Nacht im Wärmeschrank gelassen und war am nächsten Tag ein Schaumstrang. Als Styropor schützt es heute unsere Fernseher, unsere Computer und früher sogar Hamburger. +Bald schon nutzte man als Oberbegriff für Kunststoffe das Wort "Plastik", vom lateinischen Ausdruck für "formbar" – ein Stoff, den man beliebig modellieren kann, je nachdem, welche Eigenschaften man benötigt. Auf der Suche nach besonderen Materialien entwickelte die Kunststoffindustrie nach Baekelands Pioniertat Tausende solcher Produkte. +Die Rohstoffe dafür stammen vor allem aus Erdöl. In Raffinerien wird das Öl in flüssige und gasförmige Bestandteile sowie Rückstände getrennt, in Chemiefabriken wieder anders zusammen-gebacken. Plastik ist eine künstlich hergestellte Substanz, es besteht aber – anders als Stahl oder Glas – aus organischem Material. Schließlich besteht Erdöl aus nichts anderem als aus hoch komprimierten abgestorbenen Meeresorganismen. Die einfachen Kunststoffe setzen sich daher aus nur drei Elementen zusammen: Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff. +Zwar ließen sich die Bausteine für Kunststoffe durchaus auch aus Kohle gewinnen. Doch das ist teurer und aufwendiger. Nur in Zeiten, als Erdöl knapper war – im Zweiten Weltkrieg oder in der DDR –, lohnte es sich, Plastik aus Kohle zu produzieren. Die Karosserie des DDR-Autos Trabant (Trabi) bestand tatsächlich aus Braunkohle-Bestandteilen und Baumwolle. Scherzhaft nannte man den Trabant "Rennpappe". +Kunststoffe werden in drei große Gruppen unterteilt, je nachdem, welche Eigenschaften sie haben. Die erste Gruppe nennt sich Thermoplaste (von griechisch "thermos" für warm). Thermoplaste wie zum Beispiel PET-Plastikflaschen können viele Male eingeschmolzen und wieder neu geformt werden. +Elastomere (von griechisch "elastós" = dehnbar) hingegen sind nicht fest, sondern zäh – wie Kaugummi, dessen Rohstoff auch zu den Elastomeren zählt –, und finden nach einer Dehnung wieder in ihre ursprüngliche Form zurück. Konventionelle Elastomere sind nicht schmelzbar. +Und schließlich gibt es Duroplaste (lateinisch "durare", Bestand haben). Sie sollen – der Name sagt es schon – möglichst lang halten, sind aber kaum wiederverwertbar. Nach der Aushärtung lassen sie sich nicht mehr verformen und auch nicht schmelzen. Bakelit gehört zu den Duroplasten. Würde man es sehr stark erhitzen, würde es einfach nur verbrennen – und dabei auch noch ziemlich giftige Dämpfe freisetzen. +Weil manches Plastik so toxisch ist, wenn es sich zersetzt oder verbrennt, und weil Erdöl eben nicht so schnell nachwächst, suchen Forscher nach umweltverträglicherem Ersatz. Beispielsweise Kunststoffbecher gibt es nun auch aus Polymilchsäure (PLA). Hier wurde die normale Milchsäure zu langen Molekülketten verbacken. Während die mechanischen Eigenschaften von reiner PLA denen von PET ähneln, ist dieses Produkt aber biologisch abbaubar. Gut 100 Jahre nach der Erfindung des Bakelits forscht man also wieder nach Stoffen, die zwar künstlich hergestellt werden, aber aus nachwachsenden Rohstoffen bestehen. Die Entdeckungsreise der Chemiker ist noch lange nicht zuende. +Jan Ludwig ist freier Journalist. Wenn er nicht gerade über den Nahen Osten, Geschichte oder unnützes Wissen schreibt, verfasst er Texte über nutzlose historische Anekdoten in Israel. diff --git a/fluter/brennpunktschule-berlin-vorzeigeprojekt.txt b/fluter/brennpunktschule-berlin-vorzeigeprojekt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c7d4169f277c59553672969ff1b92df18e2b528c --- /dev/null +++ b/fluter/brennpunktschule-berlin-vorzeigeprojekt.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +Sanela, 19 Jahre +"Früher war die Rütli-Schule schlimm, also die Schüler waren schlimm. Einige Lehrer hatten Angst, weil die Schüler sie zusammenschlagen wollten. Als ich an die Schule kam, war das schon nicht mehr so. Da hat man nichts mehr davon mitbekommen. Es wurde einem nur noch erzählt. +Ich bin dann vier Jahre auf die Rütli gegangen. Ich war immer schlecht und hatte keine Motivation. Und es gab Lehrer, die haben sich überhaupt nicht für mich interessiert. In der zehnten Klasse hat mir dann eine Lehrerin gesagt: ‚Du wirst es eh nicht schaffen. Wozu machst du noch weiter? Brich doch einfach ab.' +Das hat mir den Rest meiner Motivation genommen. Und dann bin ich mit Mittlerem Schulabschluss von der Schule abgegangen. Jetzt mach ich an einer Berufsfachschule eine Ausbildung zur Sozialassistentin. Ich will danach Krankenschwester werden." + +In Interviews betont die bekannte Leiterin der Rütli-Schule, Cordula Heckmann, immer wieder ein Prinzip der Bildungspolitik: Keiner soll zurückbleiben. Auch wenn die Eltern Hartz IV bekommen, die Schule abgebrochen haben oder kaum Deutsch sprechen – die Kinder sollen trotzdem einen Schulabschluss erreichen können. Aber so einfach scheint das nicht zu sein: Die Zahlen der Schulabbrecher schwanken. Etwa jeder sechste Schüler verließ die Schule 2016 ohne Abschluss. +Aişe (18) +"Heute gehe ich in die elfte Klasse der Rütli-Schule. Wenn du dich an der Schule bewirbst, weißt du, was das für eine Schule ist. Ich habe geheult, als ich angenommen wurde. Und ich mache mir Sorgen, wie ich nach meinem Abschluss einen Job finden soll. Die meisten Leute reagieren total schockiert, wenn ich erzähle, dass ich zur Rütli gehe. +Aber die Schule hat sich geändert inzwischen. Ich will hier mein Abitur machen. Die Schule hat viel Geld bekommen in den letzten Jahren. Leider sehen wir davon nichts. Wir bräuchten zum Beispiel neue Computer in den PC-Räumen. Aber dafür ist kein Geld da, heißt es dann. Der Neubau nebenan ist das Erste, was man wirklich sieht. Aber der ist ja nicht für uns, sondern für die Jüngeren. +Immerhin habe ich jetzt ein Stipendium, das ist besonders für sozial schwache Schüler. Mit dem Geld will ich Koreanisch lernen. Ich will K-Pop verstehen und später mal was mit Sprache studieren. Bei der Bewerbung für das Stipendium haben mir die Leute in dem Mädchentreff ‚Reachina' geholfen, in den ich immer gehe. Sie haben mir Mathe-Nachhilfe gegeben und ein Empfehlungsschreiben ausgestellt." + +Die Medien berichten inzwischen positiver. Die Rütli-Schule ist zur Erfolgsstory geworden. Vor kurzem ist die bisherige Bezirksbürgermeisterin des Stadtteils, Franziska Giffey, zur Bundesfamilienministerin aufgestiegen. Man bescheinigte ihr "Brennpunkt-Erfahrung". Sie habe die Rütli-Schule zum "Vorzeige-Campus" gemacht und ein "Umdenken" im Stadtteil bewirkt. +Es gab wichtige Veränderungen an der Rütli-Schule in den letzten Jahren. Aber viele dieser Veränderungen brauchen Zeit. Manchmal so viel Zeit, dass sie wohl erst den Schülern in ein paar Jahren nutzen werden. Bis dahin müssen die Schülerinnen und Schüler versuchen, die Erfolgsstory der Rütli-Schule auch zu ihrer eigenen Erfolgsstory zu machen. + +Meltem (22) +"Ich habe mein Abitur an der Rütli-Schule gemacht, und es war damals schon so, dass die Schulleiterin sehr damit beschäftigt war, ihre Schule in den Medien gut aussehen zu lassen. Wenn wichtige Leute zu Besuch kamen, dann wurden die Fahnen auf dem Schuldach gehisst. Dann wusste man: Besuch ist im Haus. +Aber die Schulleiterin war auch sehr streng, zum Beispiel beim Thema Rassismus. Wenn einer die anderen Schüler beschimpft hat, dann hat sie das nie durchgehen lassen. Sie hat das dann geklärt. Manche mussten die Schule auch verlassen. Wir Schüler haben auch sehr viel gemacht für diese Schule. Wir haben zum Beispiel unsere eigene Trommelgruppe aufgemacht. Manchmal denke ich, wir haben zu viel getan. Es hieß immer, wir kriegen neue Instrumente, aber die haben wir nie gekriegt. So ist zum Beispiel unser Steeldrum-Kurs verloren gegangen. Das fand ich traurig. +Als wir Abitur gemacht haben, waren wir auf dem Titelbild einer großen Zeitung. Die Kommentare, die danach im Internet standen, haben mir echt gereicht: ‚Wieso die?' oder ‚Die haben das doch gar nicht verdient, die Scheißausländer'. Da dachte ich dann wieder: Wieso war ich ausgerechnet auf dieser Schule?" + +Die Zahl der Schulabbrecher steigt auch im Stadtteil seit fünf Jahren wieder an. MillionenschwereBildungsprogrammefür Berlin-Neukölln verpuffen scheinbar ohne greifbare Erfolge. Diese Dinge werden selten angesprochen, wenn es um das "Wunder von Neukölln" geht. Kritiker bemängeln außerdem, dass inzwischen neue "Verlierer-Schulen" entstanden seien, mit schwieriger Klientel und noch größeren Klassen als zuvor, sagt zum Beispiel der Gewerkschafter Norbert Gundacker, der den Rütli-Brandbrief 2006 an die Öffentlichkeit gebracht hatte. +Was sichtbar wird, sind die Veränderungen im Stadtteil: Neukölln wandelt sich vom vernachlässigten und von Armut geprägten Viertel zum Szenekiez für Studenten und junge Familien – die Gentrifizierung macht auch vor Neukölln nicht halt,die Preise für Leben und Wohnen steigen, und nicht alle können mithalten. Die Rütli-Schule könnte aber davon langfristig profitieren. Für sie bedeutet das eine soziale Mischung ihrer Schülerinnen und Schüler. Und sie ist bestens vorbereitet: Wichtige Veränderungen wurden angepackt, und das Image der Schule hat sich ins Positive gedreht. Seit einigen Jahren gibt es wieder mehr Anmeldungen als Plätze an der Schule. +Für die Schüler bedeuten die Veränderungen im Stadtteil kurzfristig aber erst einmal neue Probleme. Aişe und Sanela müssen bald umziehen. Ihre Familien haben die Kündigung erhalten, weil die Mietwohnungen zu Eigentumswohnungen umgewandelt werden. Ihrem Mädchentreff droht das gleiche Schicksal. Das Fazit von Meltem ist ernüchternd: "Es ist wie bei der Rütli. Es wird scheinbar was gemacht. Aber in Wirklichkeit müssen erst einmal alle raus." + +Was hat sich geändert an der Rütli-Schule? +Punkt 1:Mehr Neues: Etwa 32 Millionen Euro wurden in den "Campus Rütli" investiert. Das Gelände ist einladend, die Schule wurde saniert. Ein Neubau nebenan soll im kommenden Jahr fertig werden. Die Verantwortlichen betonen, die Schule bekäme nicht mehr Geld als andere. Der Campus Rütli erhält auch Geld zum Beispiel von der EU und von privaten Stiftungen. +Punkt 2:Mehr Personal. Nach dem Brandbrief 2006 wurde die Rütli-Hauptschule mit zwei benachbarten Schulen zusammengelegt. Mehr Schüler bedeuteten auch mehr Sozialarbeiter. Und auch mehr interkulturelle Moderatoren, die bei Bedarf mit den Eltern auf Arabisch und Türkisch sprechen. Außerdem gibt es auf dem Gelände inzwischen Kitas und bald auch ein Stadtteilzentrum. Dadurch werden die Eltern von Anfang an stärker einbezogen. Und die Kinder, die zu Hause kein Deutsch sprechen, haben nun bessere Chancen, es zu lernen, bevor sie in die Schule kommen. +Punkt 3:Mehr Vernetzung. Neu ist auch die "Pädagogische Werkstatt", wo sich Lehrer über ihren Unterricht austauschen können. In monatlichen Planungsrunden setzen sie sich mit Mitarbeitern der Kitas, Schulen und Jugendeinrichtungen auf dem Gelände zusammen. Sie überlegen gemeinsam, welche Unterstützung ein Kind am meisten braucht – zum Beispiel Hausaufgabenhilfe, einen Lernpaten oder ein Stipendium. Diese Werkstätten sind ein Erfolgsmodell, und es gibt sie inzwischen an neun weiteren "Brennpunkt-Schulen" in Deutschland. + diff --git a/fluter/brexit-einfach-erkl%C3%A4rt.txt b/fluter/brexit-einfach-erkl%C3%A4rt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6d9a4078b2f49710e48d13870b66494d290af0a7 --- /dev/null +++ b/fluter/brexit-einfach-erkl%C3%A4rt.txt @@ -0,0 +1,28 @@ + +Gegen den Willen der britischen Regierung stimmte das Unterhaus mehrmals über Alternativen zu Mays Deal ab. Diese Abstimmungen sind rechtlich nicht bindend, könnten jedoch den Druck auf die Premierministerin erhöhen. May bezeichnete sie öffentlich als "Probeabstimmungen". Zur Abstimmung standen: Mitgliedschaft im EU-Binnenmarkt oder der Zollunion, ein Freihandelsabkommen mit der EU, ein neues Referendum oder ein Ende des Brexits. Jede neue Version müsste allerdings von den EU-Mitgliedsländern akzeptiert werden. Bisher haben diese nur den aktuellen Deal angenommen. Allerdings bekam keiner der Vorschläge des Parlaments eine Mehrheit. Auch Mays Deal scheiterte bei einer dritten Abstimmung am 29. März. +In den vergangenen Wochen zeichnete sich britischen Presseberichten zufolge ein Kabinetts-Putsch gegen Theresa May ab. Die Befürworter*innen eines harten Brexits finden, dass der Deal Großbritannien zu eng an die EU binde und kein wirklicher Brexit sei. May kündigte an zurückzutreten, sollte das Unterhaus ihren Deal doch noch annehmen. + +Am 23. März zogen Hunderttausende Menschen bei einer Großdemonstration durch London. Auf vielen Plakaten stand die Frage, warum das Parlament mehrmals über das gleiche Thema abstimmen darf, die Brit*innen aber nicht. Sie fordern eine Volksabstimmung über den Brexit, ein "people's vote". Am 29. März versammelten sich Tausende Brexit-Befürworter*innen vor dem britischen Parlament und riefen: "Brexit now!" Laut der aktuellsten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov sind 38 Prozent der Brit*innen gegen Mays Deal, 33 Prozent dafür und der Rest unentschieden. Eine Onlinepetition für den Verbleib in der EU hat sechs Millionen Unterschriften ergeben und ist damit die größte in der Geschichte des Vereinigten Königreichs. + +Das britische Unterhaus hat am Mittwochabend einen Gesetzentwurf gebilligt, der die Regierung zu einem weiteren Brexit-Aufschub verpflichten soll, um einen EU-Austritt ohne Abkommen zu verhindern. Er erhielt in dritter Lesung eine Mehrheit von nur einer Stimme. Sollte es rechtzeitig in Kraft treten, könnten die Abgeordneten gegen den Willen der Regierung einen längeren Brexit-Aufschub anordnen – inklusive der Teilnahme an der Europawahl. May hat der EU anschließend eine Verlängerung der Brexit-Frist bis zum 30. Juni vorgeschlagen. Der müssen die verbleibenden 27 Mitgliedstaaten einstimmig zustimmen. Die EU hält am 10. April einen Sondergipfel zum Brexit ab. +Über Mays Deal könnte erneut, und damit zum vierten Mal, abgestimmt werden. Der Deal hat sich nicht verändert, jedoch die Alternativen. Scheitert der Deal erneut, könnten mit einer Zweidrittelmehrheit im Unterhaus Neuwahlen ausgerufen werden. Eine Umfrage im Auftrag der britischen Zeitung "Mail on Sunday" sieht die Labour-Partei fünf Prozent vor den Konservativen. Daher sind viele Tories gegen Neuwahlen und stimmen vielleicht nun doch für Mays Deal. Manche Brexiteers denken, dass Mays Deal die einzige Chance ist, dass der Brexit wirklich stattfindet. Ein No-Deal-Brexit ist allerdings auch noch nicht vom Tisch. Wenn der Brexit bis zur Europawahl nicht geregelt ist, müsste Großbritannien an der Europawahl teilnehmen. Das könnte noch mehr Anti-EU-Abgeordnete ins Europaparlament bringen. + +Zum Nachlesen: +Brexit heißt, dass Großbritannien aus der Europäischen Union austritt. Zunächst wurde zwischen einem harten und einem weichen Brexit unterschieden. Hart, so haben sich das die meisten Brexiteers vorgestellt, bedeutet: sofortiger Austritt aus dem EU-Binnenmarkt und wieder Kontrolle über die eigenen Grenzen bekommen. Anschließend soll ein Handelsabkommen mit der EU ausgehandelt werden, so wie es die Schweiz hat. Weich: Großbritannien bleibt Mitglied im Binnenmarkt, ohne jedoch mitentscheiden zu können, etwa so wie Norwegen. +Recht schnell wurde klar: Es ist sehr kompliziert, wieder unabhängig zu sein. Über 40 Jahre Europäische Wirtschaftsgemeinschaft bedeutet über 40 Jahre Verträge, die neu ausgehandelt werden müssen. Allein die Verhandlungen über den Umgang mit Haustieren an der neuen Grenze würden Monate dauern. + +Der "Backstop" soll Grenzkontrollen zwischen Irland und Nordirland vermeiden. Mit einem harten Brexit würde Großbritannien aus dem EU-Binnenmarkt aussteigen, also der Vereinbarung, dass Güter ohne Kontrollen die Grenzen passieren dürfen. Das ist deshalb tricky, weil neben Wales und Schottland auch Nordirland zum Vereinigten Königreich gehört. +Allein am "Bloody Friday" 1972 explodierten in Belfast über 20 Sprengsätze. Über 3.500 Menschen starben imNordirlandkonflikt +Zwischen 1968 und 1998 herrschte in Nordirland ein teilweise bewaffneter Konflikt zwischen zwei politisch und religiös verfeindeten Lagern. Die britischstämmigen protestantischen Nordiren wollten Teil des Vereinigten Königreichs bleiben, die irischstämmigen katholischen Nordiren strebten ein vereinigtes Irland an. Seit 1998 gilt ein Waffenstillstand. Eine EU-Außengrenze, die zwischen Nordirland und Irland verläuft, könnte den Konflikt neu entfachen. +Daher gibt es im aktuellen Deal die "Backstop"-Vereinbarung: Solange es kein Handelsabkommen mit der EU gibt, bleibt Großbritannien im EU-Binnenmarkt und der Zollunion, hat aber kein Stimmrecht, da es ja nicht mehr Teil der EU ist. +Das finden die Brexiteers nicht akzeptabel. Eine andere Lösung wäre, dass die britische Provinz Nordirland Teil des EU-Binnenmarkts bleibt. Zoll- und Personenkontrollen gäbe es dann zwischen Nordirland und dem britischen Festland. Das will die konservative nordirische DUP-Partei jedoch nicht, die Bündnispartner von Mays Torys ist. Sie fürchtet, dass das der Anfang vom Ende des Vereinigten Königreichs wäre – besonders weil Schottland und Wales nicht akzeptieren wollen, dass Nordirland Sonderrechte bekommt. + +Großbritannien war immer schon ein Sonderfall in der Europäischen Union. Erst wollte die ehemalige Weltmacht nicht beitreten, und als sie es schließlich doch wollte, legte Frankreich 1961 und 1967 sein Veto ein. Als das Land 1973 dann der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beitrat, kam es zwei Jahre später zu einem Vorläufer des Brexit-Referendums. Damals siegten die Remainers mit 67,2 Prozent, aber die EU (bzw. ihre Vorgänger EWG und EG) blieb im Land immer umstritten. Großbritannien wollte stets möglichst viel wirtschaftliche bei gleichzeitig wenig politischer Integration. Das hat 40 Jahre lang gut geklappt. Doch 2016 stellte sich der damalige britische Premierminister David Cameron vor den Regierungssitz in der Downing Street und sagte: "The choice is in your hands." Es sollte ein Referendum geben. Also: Remain or leave. +Die meisten jungen Wähler*innen stimmten gegen den Brexit. Aber nicht alle: Wir waren mitzwei jungen konservativen Briten unterwegs +Es folgte ein Remain-Wahlkampf, der vielen leicht unmotiviert und müde vorkam. Denn es ist ja etwas schwierig, für den Status quo zu mobilisieren. Viele nahmen den Brexit nicht so richtig ernst. Die meisten Medien und Politiker*innen in London gingen davon aus, dass die Brit*innen knapp für "Remain" stimmen würden. +Die Leave-Kampagne hingegen schaffte es, die Wut der Menschen anzufachen, die die EU als neoliberale und antidemokratische Macht ansehen. Das funktionierte sowohl links – "Das dichte Regelwerk der EU nimmt uns die Möglichkeit, progressive Wirtschaftspolitik zu gestalten" – als auch rechts: "Dank derPersonenfreizügigkeitkommen Hunderttausende Migranten ins Land, und das wollen wir nicht. Let's take back control." +Boris Johnson, ehemaliger Bürgermeister von London, fuhr mit einemroten Bus durch das Land, auf dem in großen Lettern stand, Großbritannien würde jede Woche 350 Millionen Pfund an die EU überweisen. Das stimmt jedoch nicht. Zieht man den von der ehemaligen Premierministerin Thatcher 1984 ausgehandelten Rabatt für Großbritannien und die Zahlungen der EU an das United Kingdom ab, also etwa Agrarsubventionen, bleiben rund 136 Millionen Pfund netto pro Woche. Dafür ist das Vereinigte Königreich jedoch im EU-Binnenmarkt und kann dadurch Produkte günstiger ins Ausland verkaufen. Sogar einige britische Ökonom*innen, die für den Brexit sind, argumentieren, dass Großbritannien ökonomisch von der EU profitiert. Für John Oliver, britischer Moderator einer amerikanischen Late-Night-Show, schürte die Leave-Kampagne die Stimmung "To tell the EU to go f*** yourself". In dieser Atmosphäre sollte abgestimmt werden. Am 23. Juni 2016 votierten 51,9 Prozent der Brit*innen für den EU-Austritt. +Verschiedene Befragungen nach der Wahl zeigen die unterschiedlichen Wahlmotive von Leave- und Remain-Wählern: Wer in der EU bleiben wollte, versprach sich davon wirtschaftliche Vorteile, wer pro Brexit stimmte, erhoffte sich mehr nationale Souveränität und Kontrolle über die Migration. + +Zwar haben mehr Wähler*innen der Conservatives für den Brexit gestimmt als Labour-Wähler*innen, aber auch innerhalb der beiden großen Parteien gab es eine klare Spaltung, etwa zwischen proeuropäischen Konservativen und EU-kritischen Linken. Die größte Gruppe der Brexiteers, das zeigen Umfragen, sind ältere Männer in ländlichen Regionen mit mittleren bis niedrigen Einkommen. London, Nordirland und Schottland stimmten mehrheitlich gegen den Brexit. Je jünger die Wähler*innen, desto wahrscheinlicher, dass sie in der EU bleiben wollten. 75 Prozent der 18- bis 24-Jährigen stimmten für "Remain". Allerdings war die Wahlbeteiligung bei der jungen Wähler*innenschaft am geringsten. Nur 64 Prozent der Jungen gingen zur Wahl, während bei den über 65-Jährigen 90 Prozent abstimmten – und ihr Kreuz mehrheitlich bei "Leave" setzten. +Titelfoto (das übrigens Jean-Claude Juncker und Theresa May zeigt): Didier Lebrun/GAMMA-RAPHO/laif diff --git a/fluter/brexit-folgen-derry-nordirland.txt b/fluter/brexit-folgen-derry-nordirland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b45413f9b134b05955a0c4770999cfe4a6e88308 --- /dev/null +++ b/fluter/brexit-folgen-derry-nordirland.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Trotz der Pferdetherapie sehen 95 Prozent der Jungen keine Zukunft in Derry. +Hart an der Grenze: Kurz hinter Derry verläuft die Grenze zwischen Nordirland und Irland. +85.000 Einwohner hat Derry. Trotzdem ist die Stadt oft in den Nachrichten. Früher imNordirlandkonflikt, heute in der Debatte um denBrexit. 78,3 Prozent der Wählerinnen und Wähler im Kreis Foyle, der aus Derry und seinem Umland besteht, haben für den Verbleib in der EU gestimmt.Die meisten hier fürchten den Ausstieg. +Sie leben in einem Ort, der den Niedergang der Provinz in einer zerfallenden EU zu spiegeln scheint. 95 Prozent der jungen Menschen sehen in Derry keine Zukunft. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, im öffentlichen Sektor wird gespart: Nirgendwo sonst im Vereinigten Königreich floss 2011/2012 so wenig öffentliches Geld in den Gesundheitssektor wie in Nordirland. Auch die Selbstmordrate ist in Nordirland erheblich höher als in Wales oder Schottland – und fast doppelt so hoch wie in England. In Derry ist die Lage so besorgniserregend, dass die Ehrenamtler von "Foyle Search and Rescue" dreimal die Woche den Foyle inspiziert, Derrys sogartigen Fluss. +Schwer wiegt das Erbe des Nordirlandkonflikts, der Ende der 1960er-Jahre zwischen irisch-katholischen Unabhängigkeitskämpfern und probritischen Protestanten entbrannte. Derry war – wie viele andere nordirische Städte – fast drei Jahrzehnte lang Schauplatz blutiger Häuserkämpfe. Allein am 30. Januar 1972, dem "Bloody Sunday", hatten britische Soldaten während eines katholischen Protestmarschs 13 Demonstranten erschossen. +Die Erlebnisse prägen Zeitgenossen, aber auch nachfolgende Generationen bis heute. Laut einer Studie ist in Nordirland die Quote für posttraumatische Belastungsstörungen höher als inIsraeloder im Libanon. Louise Moorhead ist eine von denen, die helfen wollen, den Menschen diesen Ballast abzunehmen. +Mittlerweile seien die Menschen für seelisches Leid sensibilisiert, sagt sie. "Seit den späten Neunzigern, als sich das Friedensabkommen abzeichnete, ist das Bewusstsein für psychische Krankheiten gestiegen. Und damit auchdie Fähigkeit, Traumata zu verarbeitenund gegenseitiges Verständnis zu entwickeln." + +Mit Motorbooten, Jeeps und zu Fuß auf der Suche nach Lebensmüden: die Freiwilligen von der "Foyle Search and Rescue" + +Das Therapiezentrum, das sie mit einer Kollegin betreibt, heißt "Equine Enrichment". Die morastigen Koppeln, auf denen jährlich 100 Jugendliche angeleitet werden, gehören zum Gehöft eines Landwirts, dessen Familie das Anwesen seit vier Jahrhunderten besitzt. An diesem Tag werden dort erstmals vier Zehntklässler aus Creggan, einem katholischen Problemviertel, von Pferdenüstern beschnuppert: Callum, Trinity, Cliona und Owen. Die gemeinsame Geschichte mache die Menschen in der Stadt empathischer als woanders, findet Louise Moorhead. +Ein anderes Bild vom jungen Derry zeichnet Paddy Gallagher, 27. Er will den Bruch mit der britischen Krone und die Vereinigung mit Irland im sozialistischen Gewand. Gallagher, der Politik und Geschichte studiert hat, mit Hornbrille, Seitenscheitel und kerzengerader Statur, ist Sprecher der Saoradh-Partei, einer 2016 gegründeten Gruppierung. Sie ist benannt nach dem gälischen Wort für "Befreiung", Experten bezeichnen sie als parlamentarischen Arm der New IRA, dem jüngsten Zweig der paramilitärischen und als Terrororganisation eingestuften IRA. Die Partei selbst bestreitet das. +Paddy Gallagher, 27, radikal, kerzengerade, wähnt Nordirland noch immer unter britischer Besatzung. +Grauer Beton, rauer Jargon: Ein Graffiti im Viertel Bogside, in dem es im Nordirlandkonflikt besonders blutig zuging. + +Gallagher ist in einem republikanischen Viertel aufgewachsen. Als 1998 das Friedensabkommen unterzeichnet wurde, lernte er gerade lesen und schreiben. Sein Arbeitsplatz ist ein Hinterzimmer in der Parteizentrale, einem Backsteinbau in Derrys Altstadt. Dass Nordirland in der britischen Demokratie repräsentiert ist, zählt für Gallagher nicht. Er sieht sich noch immer unter einem "Besatzungsregime": Es gebe Hausdurchsuchungen, über der Stadt würden wieder Helikopter der britischen Armee kreisen. +Das ist eine Folge des jüngsten Terrors, gesät von der New IRA, einer Widerstandsgruppe, bestehend aus etwa 200 jungen und alten Dissidenten sowie Kriminellen. Bekannt wurde sie an einem Schreckenstag des vergangenen Jahres: Am 18. April schoss ein Mann währendgewalttätigen Auseinandersetzungenin einen Polizistenpulk und traf dabei versehentlich die 29-jährige Journalistin Lyra McKee; die New IRA bekannte sich später zu der Tat und entschuldigte sich. +Paddy Gallagher distanziert sich vom Treiben der Terrorgruppe. "Wir verurteilen Gewalt", sagt der Separatist. Zugleich bietet der Sitz seiner Partei ein kriegslüsternes Bild: Im Empfangsraum handelt eine Gefangenenhilfe, die auch IRA-Veteranen unter die Arme greift, mit Souvenirs. Im Angebot sind Sturmmützen und T-Shirts mit der Aufschrift "Free Derry". + +In London hält man Derry für ein weltfernes Provinznest, bei Netflix sieht man es als Kulisse für bonbonfarbene Comedy. + +Louise Moorhead bezweifelt, dass irgendjemand, ob einzelne Person oder Gruppen, ernsthaft in die Dunkelheit der Vergangenheit zurückwill. Denn das Bild der Stadt hellt sich mancherorts auf. Die TV-Sitcom "Derry Girls" macht Derry zur Kulisse für bonbonfarbene Comedy. Sie handelt vom Leben einer Mädchenclique, die im Derry der 90er-Jahre pubertiert – im katholischen Teil der Stadt, zwischen Flirts, Wodka und Take-That-Anhimmelei. Der Nordirlandkonflikt spielt nur eine Nebenrolle. Die Serie war im britischen Fernsehen so quotenstark, dass auch Netflix sie mittlerweile anbietet. +Sympathie weckt vor allem die hyperaktive Michelle: eine Göre, die flucht, baggert und sich ständig überschätzt. Gespielt wird sie von der 31-jährigen Jamie-Lee O'Donnell, die in Derry aufgewachsen und nach Wanderjahren in England wieder zurückgekehrt ist. "Ich bin stolz auf meine Wurzeln", sagt die Schauspielerin in Interviews. +Der Hype um die Serie hat sie zu einer Botschafterin des nordirischen State of Mind gemacht. "Egal wie die Lage ist: Die Leute in Derry finden in allem einen Hoffnungsschimmer", sagt O'Donnell. "Indem sie einfach über die Situation lachen." diff --git a/fluter/brexit-musik-video-ante.txt b/fluter/brexit-musik-video-ante.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/brexit-playlist.txt b/fluter/brexit-playlist.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e944c025ab8083e76e7b8a254e8a9ce483d50680 --- /dev/null +++ b/fluter/brexit-playlist.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Lori Alhadeffs 14-jährige Tochter Alyssa wurde mit einem Sturmgewehr getötet – in ihrer Klasse in Parkland +Die Arte-Doku "Never Again – Amerikas Jugend gegen den Waffenwahn" begleitet einige der "Parkland Kids" bei ihrem Kampf. Dabei sehen wir nicht nur die aus den Nachrichtenbekannten Gesichter wie das von Emma González, Hauptrednerin beim "March for Our Lifes". Auch eine Mutter kommt zu Wort, deren Tochter von dem Amokläufer in Parkland getötet wurde. Wir sehen ein Handyvideo, das während des Amoklaufs aufgenommen wurde, verwackelte Bilder, Schüsse, Schreie. Wir lernen Audrey Wright kennen, die in der Chicagoer Westside aufwächst und jeden Tag auf dem Schulweg die Angst bezwingen muss, erschossen zu werden. Sie hat an ihrer Schule die Selbsthilfegruppe "Peace Warriors" gegründet. +Nach dem Amoklauf von Parkland reagierte die Trump-Regierung mit dem Vorschlag, auch die Lehrer sollten sich ab jetzt bewaffnen. "Wo sollen sie die Waffen tragen? Was, wenn ein Schüler an die Waffen kommt?", fragt Audrey. Eine Antwort bekommt sie nicht. +Tatsächlich haben einige Bundesstaaten nach den Protesten die Waffengesetze verschärft. Auch wenn es nur Teilerfolge sind, ist es den Jugendlichen gelungen, ein Zeichen zu setzen. Sie werden nicht nur der Waffenlobby im Gedächtnis bleiben als eine ernst zu nehmende, politische Stimme, sie sind längst ein Vorbild – ob für schärfere Waffengesetzte,Klimaschutz,Upload-Filteroder das zu schwere Mathe-Abi: In Windeseile haben junge Menschen es geschafft, sich mit ihren Themen Gehör zu verschaffen. +Manch einer scheint sich an der Tatsache, dass viele der Demonstrierenden formal gesehen noch nicht erwachsen sind, zu stören. "Von Kindern und Jugendlichen kann man nicht erwarten, dass sie bereits alle globalen Zusammenhänge, das technisch Sinnvolle und das ökonomisch Machbare sehen", ließ ein führender Parteipolitiker verlauten. Andere sagen: EinSchulstreikist doch genau das, was die Schüler als solche tun können. Wem die Legitimation als politischer Bürgernur aufgrund seines Alters abgesprochen wird, müsse eben erfinderisch werden. +Während in Deutschland mitunter Monate vergehen, bis eine Pistole ausgehändigt wird, kommen Waffenfreunde in manchen US-Bundesstaaten schon in einem Stündchen zum Schuss – zum Beispiel mit diesem schallgedämpften Modell +Auch zahlreiche junge Gegner derUrheberrechtsverordnungmussten sich anhören, sie seien vonYoutubemanipuliert und nicht in der Lage, sich eine eigene Meinung zu bilden. Wenige Tage vor Beschluss der Urheberrechtsverordnung im Parlament brachte die Initiative "Safe the Internet" in Berlin, Hamburg und Brüssel Zehntausende Menschen zum gemeinsamen Protest auf die Straße. +Junge Menschen mobilisieren sich, wollen mitreden bei Themen, die sie mehr betreffen als jene, die die Entscheidungen fällen. Dabei geht es nicht um den Konflikt "Jung gegen Alt", sondern um politische Teilhabe und Anerkennung. Der "March for Our Lifes", "Fridays for Future" und die Initiative "Safe the Internet" sind Jugendbewegungen, die nicht mehr von Politikern hören wollen, dass sie vom Spiel der Mächtigen noch nichts verstehen. Sie wollen gehört werden. Und sie wissen, wie das geht. Das ist vielleicht der größte Erfolg der Parkland Kids: Sie haben eine Vorlage geliefert. + + + +"Never Again – Amerikas Jugend gegen den Waffenwahn", Arte, 11. Juni 20.15 Uhr. +Das Titelbild zeigt eine Andacht vor einer Schule in Chicago: Ein 15-Jähriger war auf dem Basketballplatz von einem 13-jährigen Mitschüler erschossen worden. diff --git a/fluter/bridge-international-academies-privatschulen-in-afrika.txt b/fluter/bridge-international-academies-privatschulen-in-afrika.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a27e98c0731e8b700ef43580a01aaee4d179820d --- /dev/null +++ b/fluter/bridge-international-academies-privatschulen-in-afrika.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Sieht ziemlich provisorisch aus, der Unterricht ist es nicht – an allen Bridge-Schulen wird zur gleichen Zeit der gleiche Stoff behandelt + +"Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung", so steht es in der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte". Bis heute aber besuchen 61 Millionen Kinder weltweit keine Grundschule. Ohne Schulbildung haben sie später wenig Chancen auf ein Leben ohne Armut. Kenia führte 2003 die Schulpflicht und den kostenlosen Besuch der achtjährigen staatlichen Grundschule ein. Der Staat jedoch investierte kaum in neue Gebäude, Lehrer und Unterrichtsmethoden. Viele Schulgebäude in Kenia sind uralt und baufällig; sie sind überfüllt mit Kindern, die von überforderten Lehrern oft wenig lernen. Mehrere Kinder teilen sich häufig ein zerfleddertes Buch. Die Lehrer erscheinen rund 30 Prozent der Unterrichtszeit erst gar nicht. +Zahllose Eltern suchen nach Alternativen zum maroden staatlichen Schulsystem. In den letzten Jahren eröffneten Kirchen, NGOs und Geschäftsleute von Unternehmen geförderte Einrichtungen mit teils sehr unterschiedlicher Qualität. Mehr als die Hälfte der Einwohner von Nairobi County schickt ihre Kinder inzwischen auf solche Schulen. +Schulfrei, wenn das Tablet streikt? In der Bridge-Zentrale in Nairobi gibt es genügend Ersatz +Marktführer unter den kommerziellen Schulen sind die "Bridge International Academies", gegründet 2008 von der US-Amerikanerin Shannon May und ihrem Ehemann Jay Kimmelman, zusammen mit ihrem Forschungskollegen Phil Frei. Neben den mehr als 400 Schulen in Kenia betreibt das Unternehmen inzwischen auch 63 Schulen in Uganda, 23 in Nigeria und rund 70 in Liberia. Seit 2017 werden auch Schulen in Indien eröffnet. "Wir wollen, um die Qualität zu sichern und unnötige Kosten zu vermeiden, eine strikte Standardisierung der Lehrmethoden und engmaschige Kontrolle: Schüler, Lehrer, Schulmanager, Eltern und die Bridge-Zentrale sollen einander rechenschaftspflichtig sein", skizziert die junge Bridge-Gründerin Shannon May die Prinzipien ihrer Schulen. +In der Bridge-Schule in Ichuga lässt Virginia Wanguri, eine 20-jährige Lehrerin, ihren Blick ständig zwischen ihrem Tablet und den Schülern schweifen. Routiniert scrollt sie durch die Mathematiklektion, arbeitet mit den Kindern im staatlichen und im Bridge-Lehrbuch und illustriert abstraktes Addieren und Subtrahieren mit Mangofrüchten, die sie von zu Hause mitgebracht hat. Auf die Frage, ob sie sich durch das Tablet nicht gestresst und in ihrem Eingehen auf einzelne Kinder gestört fühle, lächelt Virginia nur. "Im Gegenteil. Ich muss meine Lektionen nicht mehr selbst konzipieren, sondern kann mich voll darauf konzentrieren, den Kindern klar strukturierte Inhalte zu vermitteln. Und wenn etwas nicht passt, schreibe ich der Zentrale eine Mail, die innerhalb von 24 Stunden beantwortet wird." +In diesem Großraumbüro in Nairobi werden viele der Unterrichts-Skripte geschrieben +Die Unterrichtskonzepte und Tablet-Skripte entstehen teils in den USA, teils in Nairobi. Erst seit kurzem müssen die Lehrer zum mehrwöchigen Bridge-Workshop auch einen staatlichen Abschluss haben. Bridge stellt sich als erfolgreich dar: 2017 erreichten 86 Prozent der Bridge-Schüler mehr als 200 Punkte in der staatlichen Abschlussprüfung an Grundschulen und gelten somit als geeignet für die sekundäre Bildung. Im nationalen Durchschnitt schafften dies nur 76 Prozent. Die im Schnitt erreichte Punktzahl steigt zudem deutlich, je länger die Schüler die Bridge Academy besuchen, verkündet das Unternehmen. Doch in Kenia ist sie umstritten. +Gegen die Schulen gibt es vehementen Widerstand im Land – vor allem in der nationalen Lehrergewerkschaft "KNUT", in der hauptsächlich Lehrer staatlicher Schulen organisiert sind. Kenias Regierung kaufe sich von ihrer Verpflichtung, selbst guten Unterricht anzubieten, frei, wenn sie den Privatschulen freien Lauf lasse, wettert der stellvertretende KNUT-Generalsekretär Hesbon Otieno Agola. "Wenn wir die Bridge-Schulen tolerieren oder sogar unterstützen, setzen wir unsere Kinder ausländischen Ideologien aus. Wir verwässern unsere Kultur und unsere Ansprüche an uns selbst als Nation." Otieno fürchtet, dass das Unternehmen zu sehr vorschreibt, was in Kenia gelehrt wird. "Das Bildungssystem darf nicht den sogenannten ‚edu-businesses' überlassen werden", und er gibt zu bedenken: "Anstatt das globale Ziel zu erreichen, dass 2030 jeder lesen und schreiben kann, werden wir erleben, dass es sich viele Menschen gar nicht mehr leisten können, ihre Kinder zur Schule zu schicken." Zudem kritisierte der Generalsekretär Wilson Sossion im Mai 2017 auf einer Veranstaltung in Berlin, dass die Schulen außerhalb der kenianischen Gesetze arbeiteten. "Die Mehrzahl dieser Schulen ist nicht registriert und folgt nicht den nationalen Curricula", sagte er. Die dort arbeitenden Lehrerinnen und Lehrer würden schlecht bezahlt und seien unqualifiziert. "Gute Bildung geht anders. Solche Schulen fördern Ungleichheit." +Shannon May und Jay Kimmelman haben Bridge als sogenanntes "Sozialunternehmen" gegründet. Das Unternehmen möchte soziale Probleme mit wirtschaftlichen Mitteln lösen. Ein Unterschied zu einer NGO: Ein Unternehmen ist seinen Kunden – also den Eltern – Rechenschaft schuldig. "Eine spendenfinanzierte NGO mag sich noch so sehr bemühen, den Anliegen der Eltern gerecht zu werden", sagt Shannon May. "Letztlich muss sie aber immer die Vorgaben des Geldgebers erfüllen. Wenn der nicht mehr finanziert, ist das Projekt am Ende." +Rück mal ein Stück – in der staatlichen Riruta-Grundschule in Nairobi reichen die Sitzplätze nicht für alle +Um ihre Kette von Grundschulen für Arme aufzubauen, suchten sich die Bridge-Gründer Investoren, die nicht auf finanziellen Gewinn aus sind, sondern zunächst eine soziale Wirkung erzielen wollen – auch vor dem Hintergrund eines wachsenden afrikanischen Absatzmarktes. Zu den ersten Investoren zählte Ebay-Gründer Pierre Omidyar, später folgten Bill Gates, Mark Zuckerberg, die Weltbank sowie die Regierung von Großbritannien. Langfristig will Bridge Gewinn erzielen, der dann in den Aufbau neuer Schulen fließt. Vorläufig will man zumindest die laufenden Kosten durch Schulgebühren selbst erwirtschaften. 140 Euro zahlen die Eltern pro Kind und Jahr. +Für den Schreiner Alex Musili mit seinen drei Kindern ist das viel Geld. "Die Nachfrage nach meinen Tischen, Stühlen und Sofas schwankt sehr stark", sagt Musili, der in Ichuga eine kleine Werkstatt betreibt. Wie Musili sind die meisten Eltern von Bridge-Schülern Kleinstunternehmer oder Gelegenheitsarbeiter ohne festes Einkommen. Ein krankes Kind, eine Preiserhöhung für Mais oder ein Unwetter können ihre Familie in eine wirtschaftliche Krise stürzen. Bridge räumt Ratenzahlung ein. Zusätzlich bezahlt die amerikanische NGO "United We Reach" mehr als 11.000 Schülern landesweit die Gebühren und das tägliche Mittagessen. Dennoch stellt die Anmeldung für viele eine finanzielle Anstrengung dar. Vorläufig habe er nur seinen ältesten Sohn angemeldet, erzählt der Schreiner. +Ob und, wenn ja, wie in Bridge-Schulen weiter unterrichtet werden kann, hängt jedoch vor allem von ihrer Beziehung zum staatlichen Schulsystem ab. In Uganda etwa sollten die 63 Bridge-Schulen schließen, weil sie nicht lizenziert waren. Dennoch öffneten sie in diesem Schuljahr wieder ihre Pforten. Erneut tobt die Debatte darüber, ob die billigen Schulen mit eigenen Investoren, anderen Lehrplänen und umstrittenen Lehrkräften eine Chance oder ein Problem sind. diff --git a/fluter/brief-an-meine-katze.txt b/fluter/brief-an-meine-katze.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..80ac411610c3d92555cc1462c0aa6723085aa6f0 --- /dev/null +++ b/fluter/brief-an-meine-katze.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +seit zehn Jahren verbringen wir fast jeden Tag miteinander. Du bist immer da, wenn ich nach Hause komme, und du schläfst fast jede Nacht in meinem Bett. Bist du die Liebe meines Lebens? Vielleicht. +Vor zehn Jahren habe ich dich aus dem Tierheim geholt, drei Monate warst du alt und noch ganz klein. Das mit dem Kindchenschema kriegst du immer noch gut hin, obwohl du aus Sicht der Katzenfutterindustrie schon seit einigen Jahren alsSenioringiltst. Gefühlt tischtennisballgroß sind deine Augen, und du schaust mich an, als könntest du für kein Unheil auf der Welt verantwortlich sein – auch nicht für das angeknabberte Brötchen auf dem Wohnzimmerboden, das vorhin noch in meinem offenen Rucksack lag. +Doch deine Augen haben viele Formen. In manchen Momenten sind sie winzige Schlitze, und du schmiegst dich an mich, während du dich neben mich auf den Stuhl schiebst. Und wenn ich dich dann noch ein wenig kraule, rollst du dich auf den Rücken und zeigst dein weißes Bauchfell – es ist noch mal weicher als der Rest von dir. Wie kann man dich nicht lieben? +Ach Mono, ich möchte mich bei dir entschuldigen. Zu oft vernachlässige ich dich,weil ich noch irgendwas angeblich Wichtiges auf dem Handy schaue. Zu oft scheuche ich dich herum und behandle dich ein wenig grantig, weil ich es eilig habe und zu wenig Impulskontrolle. Zu oft habe ich nicht die Geduld für Spiele, nicht die Muße, dir minutenlang einen Faden hinzuhalten, bis du aus der Deckung springst und nach ihm schnappst wie nach einer Maus. +Kurz dachte ich, dass ein Leben ohne Katze auch ganz schön sein könnte +Wobei ich mich manchmal frage, wer hier eigentlich mit wem spielt und ob du den Faden vielleicht nur fängst, weil du glaubst, es mache mich glücklich. Wie siehst du mich eigentlich, Mono? Bin ich eine große Katze für dich? Ein Mensch? So was wie deine Eltern? Ich weiß es nicht, du sprichst ja nicht. Und dennoch kann man richtige Unterhaltungen mit dir führen. Ich sage was. Du miaust. Ich wieder. Miau. Dann ich. Brrrau, brrrau. Was hast du gesagt? Briau. Und so weiter. +Ich muss dir ein Geständnis machen. Neulich, du erinnerst dich vielleicht noch, hast du für einen Monat bei einem Freund gewohnt, weil ich in China war. Als ich zurückkam, habe ich dich erst vier Tage später abgeholt, und in der kurzen Zeit habe ich gemerkt, wie viel Freiheit du mir nimmst. Ohne dich konnte ich die Balkontür einfach auflassen, musste nicht mehr auf herumstehendes Essen achten, meine, äh, unsere Wohnung roch auch besser und war nicht voller Haare. Kurz dachte ich, dass ein Leben ohne Katze auch ganz schön sein könnte. +Es ist nun mal so: Ich kann niemals spontan ein paar Tage wegfahren, muss jeden Tag das Katzenklo säubern und aufpassen, dass die Küchentür immer geschlossen ist (du kannst ja den Kühlschrank öffnen). Auch kann ich deinetwegen kaum eine Nacht durchschlafen, um fünf Uhr morgens hast du Hunger. Andere Menschen kennen das, wenn sie Kinder im Säuglingsalter haben. Doch da ist es nach ein bis zwei Jahren vorbei. Du, liebe Mono, wirst nie erwachsen. +Mono mag eine Ausnahme sein, aber die Nähe zum Menschen hat die Tiere nicht gerade schlauer gemacht.Eine kleine Geschichte des Haustiers +Aber dich nicht in meinem Zimmer, nicht in meinem Bett schlafen lassen? Das wäre wie eine teure Flasche Wein zu kaufen und sie niemals zu trinken. Ein Rennrad, das nur an der Wand hängt. Gibt es doch nichts Schöneres, als wenn du dich, nachdem das Licht ausgeschaltet ist, in meine Kniebeuge einrollst. Und wenn ich morgens, nach dem Aufwachen, als Erstes dein pelziges Gesicht sehe. Manchmal schläfst du noch und träumst – vielleicht vom Mäusejagen? –, und deine Pfoten zucken hin und wieder. +"Von einer Katze lernen / heißt siegen lernen. / Wobei siegen ‚locker durchkommen' meint, / also praktisch: liegen lernen", schrieb einst Robert Gernhardt. Und liegen, das kannst du! Auf dem Sofa. Auf der Heizung. Auf meinem Rücken. Auf dem Rucksack. Auf dem Dielenboden im Sonnenstrahl. +Mono, du beneidenswertes Tier. Du hast keine Produktivitäts-App,keine "100 Reiseziele, die du in deinem Leben noch besuchen musst", keine fear of missing out und auch keine To-do-Liste. Und hättest du eine, stünde darauf: fressen, schlafen, noch mal kurz ins andere Zimmer laufen, schlafen, schlafen, aus dem Fenster gucken und schlafen. Aber klar: Wer sieben Leben hat, muss siebenmal so viel schlafen. +Inzwischen liegst du noch mehr herum: Du bist alt geworden. Früher hast du meine Wohnung mückenfrei gehalten und warst die gefürchtetste Fliegenjägerin von hier bis zur Balkontür. Heute schaust du nur desinteressiert hinter den Insekten her. Wenn ich neben dir liege, denke ich öfters an den Tag, an dem du nicht mehr da sein wirst. Ich habe Angst davor, schon jetzt. + diff --git a/fluter/bronzezeit-steinzeit-plastikzeit.txt b/fluter/bronzezeit-steinzeit-plastikzeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2c6dbd6eb9ff2fd5d9f8d29cfe2f4ea593131a42 --- /dev/null +++ b/fluter/bronzezeit-steinzeit-plastikzeit.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Die magische Substanz, aus der noch heute so gut wie jedes Kinderspielzeug besteht, ist selbst als Spielzeug in die Welt gerollt – in Form einer Billardkugel, die als Versuch entstand, einen Ersatz für die herkömmlichen Kugeln aus dem knapper werdenden Elfenbein zu erfinden. Das, woraus wenig späterdas Zelluloid werden sollte, drohte allerdings immer wieder in die Luft zu fliegen. Die "New York Times" schrieb dazu um 1870 herum ironisch: "Niemand kann beim Billardspiel echte Befriedigung verspüren, wenn er weiß, dass seine Kugeln in einer Serie dicht aufeinander folgender Explosionen detonieren, dadurch eine vielversprechende Partie verderben und die Spieler unter einem Trümmerhaufen aus Spieltisch und Queues begraben können."Bewusst machen wir uns das nicht. Zwar wird unsere Zivilisation von Kunststoff zusammengehalten. Aber es ist, als schämten wir uns dieses Materials. Im vergangenen Jahrhundert erlebten wir angeblich den Wechsel vom Atomzeitalter zum Informationszeitalter. Tatsächlich sind beides nur Kapitel einer Ära, die eines fernen Tages, wenn sie vorbei ist, genauso gut das "Plastikzeitalter" genannt werden könnte. Und es wird so würdig und endgültig klingen wie Steinzeit, Eisenzeit oder Bronzezeit. Schließlich ist es das, wonach Alchemisten jahrhundertelang gesucht haben: Ein Material so vielseitig, dass es jede beliebige Form annehmen und jede beliebige Funktion erfüllen kann. +Das Produkt setzte sich also zunächst nicht durch, weil Manschetten, Zahnersatz oder Knöpfe aus Zelluloid immer wieder in Flammen aufgingen. Segensreicher erschien den Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts der Kunststoff Bakelit, durch den etwa in Fabriken viele elektrische Leiter isoliert werden konnten, wodurch Explosionen und Feuern vorgebeugt wurde. +Seit einem Jahrhundert begleitet das Plastik den ebenfalls sich entfaltenden Kapitalismus wie ein fortwährend sich wandelndes, alle Bereiche des Lebens durchdringendes Pokémon. Tatsächlich verkörpert Plastik wie kein anderes Material das Prinzip des Konsums. Es ist günstig in der massenhaften Herstellung, von unverwüstlicher Qualität – doch so schnell "entsorgt", wie es der ewige Wettlauf aus Erwerb und Verbrauch verlangt. Dabei nahm das Plastik so verschiedene Formen und Funktionen an, dass es mühelos ganze Industrien entstehen oder untergehen ließ. +Man denke nur an die Vinylschallplatte und ihre magische Fähigkeit, auf Abruf Stimmen und Musik wiederzugeben. Die Schallplatte ist von ihren Liebhabern längst mysthisch überhöht, im Grunde aber auch "nur" ein Stück besonders schnödes Plastik gewesen, nämlich Polyvinylchlorid, kurz PVC, mit dem wir auch Fußböden auslegen. Trotzdem wären Plattenindustrie und Popkultur ohne dieses synthetische und recht billige Produkt kaum denkbar. +Als Vater vieler Dinge hatte hier natürlich auch der Krieg seine Hände im Spiel. Die moderne Schallplatte mit ihrer ungeheuren Frequenzbreite wurde entwickelt, um Soldaten zu Übungszwecken sehr tiefe Brummtöne vorspielen zu können. Nur so konnten sie lernen, das Geräusch der Dieselmotoren abgetauchter deutscher U-Boote von den eigenen Submarines zu unterscheiden. Transparentes, biegsames und splitterfreies Plexiglas gab es schon seit 1933, erlebte seinen Durchbruch aber erst in Form kuppelförmiger Fenster für die Bordschützen von Bombern im Zweiten Weltkrieg und wird heute vornehmlich von Optikern als sicheres Brillenglas verkauft. +Und kurz nachdem der Chemiekonzern DuPont das Nylon erfunden und 1939 auf der New Yorker Weltausstellung präsentiert hatte, wanderte die komplette Produktion in die Herstellung von Fallschirmen. Nicht wenige Frauen malten sich daher die entsprechenden Nähte auf die Beine, damit es wenigstens auf den ersten Blick zu aussah, als trügen sie Strümpfe aus Nylon. Kaum hatte Japan kapituliert, kam es vor Geschäften zu Tumulten, weil der Konzern mit seiner Produktion die Nachfrage nach echten Nylonstrümpfen nicht befriedigen konnte. +So sickerte nach dem Krieg in den zivilen Alltag und den Warenkreislauf, was für den Krieg entwickelt worden war. Nicht "die Raumfahrt", wie es gerne heißt, sondern die Hersteller des Nylons beispielsweise entdeckten auch das Teflon. Ein wackeres Polytetrafluorethylen, an dem kaum eine andere Substanz haften bleibt. Deshalb konnte es sogar den extrem aggressiven Chemikalien trotzen, mit denen es US-Wissenschaftler bei der Anreicherung von Uran für ihre erste Atombombe zu tun hatten. Später diente es als Beschichtung von Angelschnüren, Töpfen und Pfannen. Was das Teflon zu einem Material macht, das bei der Herstellung von Massenvernichtungswaffen ebenso hilfreich sein kann wie beim Brutzeln eines leckeren Schnitzels. +Bis weit in die 50er-Jahre hinein hatte das Plastik die Welt bereits erobert, blieb aber noch ganz gut getarnt – einfach deswegen, weil es vielleicht ein faszinierend futuristisches Material war, an Sinnlichkeit oder wenigstens optischer Strahlkraft jedoch noch zu wünschen übrig ließ. Unschätzbare Arbeit leistete hier Earl Silas Tupper, der im Zweiten Weltkrieg noch Gasmaskenteile für das Militär herstellte, danach aber mit seinen praktischen Dosen aus Polyethylen die üblichen Stoffe wie Holz, Porzellan oder Glas aus der Küche verdrängte. Er setzte dabei auf Hausbesuche, ganze Nachbarschaften einbeziehende Verkaufspartys und eine starke emotionale Bindung zur Kundschaft. Und so war es die beliebige Formen und Farben annehmende, fast unzerstörbare und doch günstige Tupperware, die das Bild der praktischen, sorgenden, allem Neuen aufgeschlossenen Hausfrau der 50er-Jahre prägte. +Von der Bohème wurde das Plastik anders wahrgenommen als vom traditionsbewussten Bürgertum – viel euphorischer nämlich. Andy Warhol veranstaltete in den 60er-Jahren in New York und San Francisco multimediale Kulturspektakel unter dem Namen "Exploding Plastic Inevitable" und verkündete: "I want to be plastic". Er hatte erkannt, dass Plastik in seiner Künstlichkeit und Oberflächlichkeit eine schöne Allegorie auf die entstehende Popkultur ist. +In den 60er-Jahren explodierte das Plastik tatsächlich unausweichlich in alle nur denkbaren Leben- und Konsumwelten hinein. 1967 stellte der dänische Designer Verner Panton den elegant geschwungenen"Panton Chair" vor, die erste Sitzgelegenheit aus Vollkunststoff und ohne traditionelle Werkstoffe. Die völlig identischen, glatt glänzenden und in Serie hergestellten Stühle unterschieden sich nur anhand ihrer Farbe, wie Panton überhaupt ganze Räume psychedelisch einfärbte – vom Boden bis zur Decke, von Wandpaneelen über Lampen und Möbel bis zu Teppichen. Es war, als hätte jetzt erst jemand der Welt Farbe beigemischt, als würden sich die Gebrauchsgegenstände plötzlich in verheißungsvolle Botschafter einer egalitären Zukunft verwandeln. "Und so", schrieb der französische Philosoph Roland Barthes wohlwollend, "ist die Hierarchie der Substanzen abgeschafft – eine einzige ersetzt sie alle". +Während aber Philosophen noch jubelten und sich selbst die Blumenkinder dem synthetischen Farbenrausch hingaben, notierte der Schriftsteller Norman Mailer bereits 1964 im Magazin "Esquire" mürrisch über sein modernes Hotelzimmer: "Die Teppiche und Tapeten, die Vorhänge und die Tischplatten waren aus Plastik, im Badezimmer roch es nach brennenden Insektenvertilgungsmitteln." Und 20 Jahre später, auf dem Höhepunkt der "Jute statt Plastik"-Bewegung, fügte er hinzu: "Ich glaube, es gib im Universum eine böse Kraft, sie ist das soziale Äquivalent von Krebs, und sie ist das Plastik." +Schon 1962 hatte der Arzt Theron G. Randolph nachgewiesen, dass zahllose Krankheiten auf die alltäglich Verwendung synthetischer Substanzen zurückzuführen seien. In den 60er-Jahren bildeten sich sogar erste Kommunen chemisch sensitiver Menschen, die vor der Synthetik in die Natürlichkeit der Wüste flohen. +Plastik ist oft dort kulturell am wirksamsten, wo es den Alltag erleichtert – wie der simple Plastikeimer, der in Afrika dazu beigetragen hat, dass etwa die Menschen das Wasser nicht mehr nur in schweren Tonkrügen auf ihrem Kopf vom Fluss ins Dorf transportieren mussten. Allgegenwärtig ist das Zellglas, bekannt unter dem Begriffsmonopol Cellophan, das Produkte nahezu luftdicht verpackt und dem Verbraucher zugleich den kleinen Zauber gönnt, etwas Frisches zu öffnen – so wie kaum ein elektronisches Gerät mehr ohne schützende Hülle aus Styropor verkauft wird. Allgegenwärtig auch die bedruckte, transparente oder reißfeste Plastiktüte als ultimatives Individualtransportmittel für Waren, die zugleich doch selbst eine Massenware ist. +Plastik steht überhaupt wie kein anderes Material für den Kunststoffwechsel des Kapitalismus, der Bürger nicht ohne Grund als "Verbraucher" anspricht und eben kein Interesse an Recycling oder einem Kreislauf haben kann. Um den Stellenwert – und unsere Abhängigkeit – von Plastik heute zu ermessen, müssen wir nicht nach Satelliten im All spähen, uns von Elektrotechnikern Halbleiter aus Polyacetylen erklären lassen, Teilchenbeschleuniger besuchen oder Computerprozessoren aus Kunststoff bestaunen: Es genügt, uns selbst anzuschauen. Brille, Zahnersatz, Hörgeräte, Prothesen, Brustimplantate, Herzklappen, Gelenke – alles Kunststoff. Wir können nicht mehr zurück, selbst wenn wir es wollten. +Arno Frank ist arbeitet als Korrespondent der "taz" und schreibt als freier Kulturjournalist unter anderem für die "Zeit", "Spiegel Online" und "Neon". diff --git a/fluter/brueder-zur-sonne.txt b/fluter/brueder-zur-sonne.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1ce548bdc03dbaa719365386c1048abb8bf27e78 --- /dev/null +++ b/fluter/brueder-zur-sonne.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Im Jahr 2003 gab es in Deutschland erst 80 000 Anlagen,im Jahr 2005 bereits 200 000. Deutschland ist mittlerweile der größte Markt für Solarenergie weltweit und wegen der großen Nachfrage sind in Thalheim auch Arbeitsplätze entstanden: Bei Q-Cells wuchs die Zahl im Jahr 2005 von 484 auf 767, insgesamt arbeiten in Deutschland schon etwa 35 000 Menschen in der Solarindustrie. Gerade für eine Region wie Bitterfeld ist das von großer Bedeutung, dort liegt die Arbeitslosenquote bei 20 Prozent. Wenn es nach Stefan Dietrich geht, dem Unternehmenssprecher, will Q-Cells Solarzellen produzieren, die den Strom so billig liefern wie Atomkraftwerke – die Kosten für Solarzellen sinken um 20 Prozent, wenn sich die Produktion verdoppelt. +"Die Regierung und die Industrie haben sozusagen einen Pakt geschlossen", sagt Stefan Dietrich, denn mit dem EEG soll auch die Technik gefördert werden, mit der man Strom aus Sonnenlicht gewinnt. Ohne Förderung wären Photovoltaikanlagen noch unwirtschaftlich. Auch Q-Cells hätte dann kein Interesse daran, die Technik weiterzuentwickeln. Der Erfolg von Q-Cells hängt jedoch nicht nur am EEG. "Unsere Zellen sind größer und haben einen höheren Wirkungsgrad", erklärt Dietrich. Er spricht von der so genannten Sechs-Zoll-Plus-Zelle, die im Vergleich zu früheren Zellen 44 Prozent mehr Oberfläche hat. Der Wirkungsgrad lag noch vor vier Jahren bei 14,1 Prozent, heute erreicht Q-Cells 15 bis 16 Prozent. Q-Cells stellt Solarzellen in Masse her, dadurch wird die einzelne Zelle billiger. Die Produktion wird in der Energieeinheit Megawattpeak (MWp) gemessen. Im Jahr 2004 stieg die Produktion bei Q-Cells von 48 MWp auf 170 MWp. Den Preis einer einzelnen Zelle verrät Stefan Dietrich nicht, Betriebsgeheimnis. +Eine Solarzelle ist ein dünnes Plättchen Silizium, oben mit Phosphor,unten mit Bor bestrichen. Die Photonen des Sonnenlichts schlagen Elektronen aus den Phosphormolekülen, die sich am oberen Rand der Phosphorschicht sammeln – dem Minuspol. Auf der Bor-Seite entsteht ein Elektronenmangel – der Pluspol. Verbindet man Minus mit Plus und schaltet eine Glühbirne dazwischen, fließen Elektronen und die Birne leuchtet. Heute trägt Solarenergie 0,2 Prozent zur deutschen Stromproduktion bei. Das Bundesumweltministerium schätzt, im Jahr 2020 könnten es etwa 1,5 Prozent sein. Notwendig dafür wäre ein technischer Quantensprung, um die Wirkungsgrade deutlich zu erhöhen. Auch die Speichermöglichkeiten müssen verbessert werden – damit es nicht nur Strom gibt, wenn die Sonne scheint. Fachleute sagen, in Ostdeutschland entstehe gerade einer der weltweit führenden Solarstandorte. Manche sagen: So ist es schon. Andere sagen: Abwarten, ob auch ohne Förderung noch produziert wird. Stefan Dietrich blinzelt in die Sonne. Er ist da guter Dinge. diff --git a/fluter/brussels.txt b/fluter/brussels.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ed979dbf559d8a3fa03d3bd3b1ef361c20e495a3 --- /dev/null +++ b/fluter/brussels.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Sympathieträger und Wahrzeichen sogleich: Seit den 30er Jahren bis zu seinem Tod zeichnete Georges Prosper Remi alias Hergé die Comicfiguren "Tim & Struppi". Die Figuren des Brüsselers werden um Tränen oder Sprüche ergänzt und symbolisieren die Trauer der Social Media Nutzer. +Auch an die Anschläge von Paris wird erinnert. Was aber fehlt: Kaum ein Nutzer färbte sein Profilbild in Schwarz-Gelb-Rot.  Vielleicht auch deshalb, weil Facebook dieses Feature seinen Mitgliedern (bisher) nicht zur Verfügung gestellt hat. +Facebook schaltete – genauso wie in der Nacht der Paris-Anschläge – seine Sicherheitsprüfungsfunktion frei, die erstmals 2011 in Japan in Zusammenhang mit dem Tsunami eingerichtet und 2014 als Feature eingeführt wurde: Nutzer, die sich in den von Anschlägen oder Umweltkatastrophen betroffenen Ländern aufhalten, können ihre Freunde per Statusmeldung wissen lassen, dass sie in Sicherheit sind. Nach den Attentaten in Ankara und Istanbul war diese Funktion nicht verfügbar. +"Le Petit Julien" ist eine 61 cm hohe Brunnenfigur an einer Straßenecke in Brüssel, besser bekannt ist sie als "Manneken Pis". Was nach den Anschlägen auf die "Charlie Hebdo"-Redaktion und einen jüdischen Supermarkt im Januar der Bleistift und im November nach Paris der Eiffelturm war, ist jetzt das Manneken Pis. Sowohl auf Twitter, als auch auf Facebook wurden Bilder der Statue per Photoshop bearbeitet. Eines haben alle Bilder gemeinsam: Der "kleine wasserlassende Mann" uriniert auf den Terrorismus oder Attentäter und zeigt somit deutlich, was er von jenen hält. +Weniger Wut beinhaltet das Hashtag, das einen Tag nach den Anschlägen viral geworden ist: #aufdieliebe. Auf die stoßen Nutzer an, filmen sich dabei, wie sie einen Schnaps trinken und stellen das Video als stillen Protest auf die Social Media Kanäle. Ihr Motto: "Keine Angst. Kein Hass. Kein Terror." +Es gibt aber auch kritische Stimmen, die erneut hinterfragen, warum die westlichen Medien die Anschläge von Brüssel fokussieren. Die Reaktionen und Sympathiebekundungen bei den Anschlägen von Paris und Brüssel seien viel merklicher, als bei den jüngsten Anschlägen von Ankara und Istanbul. +Schon kurz nach den Anschlägen am Dienstagvormittag warnten viele Nutzer davor, eine Verbindung zwischen den Anschlägen und Flüchtlingen herzustellen. Aus Angst, dass die Anschläge nun rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien und ihrer Flüchtlingspolitik in die Hände spielen könnten, posteten viele Nutzer Bilder aus dem Flüchtlingslager bei Idomeni: Flüchtlinge dort verurteilen die Anschläge. Besonders ein Foto eines Jungen, der ein Blatt mit der Aufschrift "Sorry for Brussels" hält, verbreitete sich bei Twitter. +Auch andere Reaktionen aus der Offline-Welt wurden in den Kanälen dokumentiert und verbreitet. Die Wahrzeichen vieler europäischer Städte wurden noch am selben Tag in Belgiens Landesfarben eingefärbt. +Einen Tag nach den Anschlägen trafen die Menschen am Place de la Borse zusammen und gedachten der Opfer. Die Bilder gingen via Social Media um die Welt. +Am selben Platz wurden Kreiden herumgereicht. Einwohner und Besucher Brüssels konnten ihre Botschaften gegen Krieg und Terror hinterlassen. diff --git a/fluter/buch-nachwendekinder-johannes-nichelmann.txt b/fluter/buch-nachwendekinder-johannes-nichelmann.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..20384274b5731c55087be4164c82665fc996f9ba --- /dev/null +++ b/fluter/buch-nachwendekinder-johannes-nichelmann.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Johannes Nichelmann: Nachwendekinder. Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen. Ullstein, 272 Seiten, 20 Euro +Nichelmann erzählt flüssig, feinfühlig. Sein Buch hat drei Ebenen, die er immer wieder zusammenfließen lässt. Den Rahmen bietet Nichelmanns eigene Jugend, sein Aufwachsen in Ostberlin, seine Teenagerjahre in Bayern, seine heutige Reflexion über diese Zeit – seine eigenen Beobachtungen. Er reist in sein altes bayerisches Heimatdorf, in dem er sich nie wohlgefühlt hat, aber irgendwann begann, sich als Ostdeutscher zu identifizieren, weil er von den anderen Kindern als solcher abgestempelt wurde. Er besucht ein DDR-Museum, in dem es außer Ostalgie nichts zu sehen gibt. Er trifft sich mit seinen Eltern, um endlich über die Vergangenheit zu sprechen. Und er beantragtEinsicht in die Stasi-Aktenseines Großvaters, um mehr über ihn herauszufinden. +In seine eigene Geschichte eingebettet sind Gespräche mit Nachwendekindern wie Maximilian, Melanie und Lukas, die alle unterschiedlich mit ihrem Bezug zur DDR umgehen. Sie eint, dass sie Fragen haben. Nichelmann schafft es schließlich, einige von ihnen mit Familienmitgliedern zusammenzuführen und zum längst fälligen Gespräch über die Vergangenheit zu bewegen. Die Gespräche offenbaren eine Verletzlichkeit der Elterngeneration, einen verdrängten Schmerz und Scham wegen des Verlustes des alten Heimatlandes. Um die persönlichen Ebenen sind Stimmen von Expert*innen gebettet, die Nichelmanns Erkenntnisse einzuordnen versuchen. +Der Perspektivwechsel funktioniert. Er sorgt dafür, dass man zwischendurch viel über die DDR lernt. Was bedeutet VEB, LPG, K1,Treuhand? All das wird kurz umrissen. Doch eigentlich geht es darum, Nachwendekinder,Ostdeutsche zu Wort kommen zu lassen. Nichelmann referiert nicht über "den Osten", sondern er spricht mit ihm, und er stellt sich selbst Fragen. Nichelmann differenziert die Figur "des Ostdeutschen" aus, der von Reporter*innen zu Landtagswahlen und nachrechten Ausschreitungengesucht wird. Er erklärt, warum ostdeutsche Identitäten im Plural stehen. Und wie wichtig es ist, darüber zu reden. + diff --git a/fluter/buecher-mit-migrationshintergrund.txt b/fluter/buecher-mit-migrationshintergrund.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..90561bfb103a302b924995f86e424cd6eb3cecfe --- /dev/null +++ b/fluter/buecher-mit-migrationshintergrund.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Chimamanda Ngozi Adichie: "Americanah". Fischer, Frankfurt/Main 2014, 608 Seiten, 9,90 Euro + +Alina Bronsky: "Scherbenpark" +Von so etwas wie "Lifestyle" würde die durchsetzungsstarke Heldin von Alina Bronskys Debütroman "Scherbenpark" nicht einmal träumen: Sascha ist 17 und wohnt in einer üblen Hochhaussiedlung am Rand einer faden deutschen Kleinstadt. Seit ihre Mutter von ihrem Stiefvater erschlagen wurde, lebt sie allein mit ihrem kleinen Bruder und einer Haushälterin. Sie sind Russlanddeutsche, wie fast alle anderen, die Sascha kennt, und erst wenige Jahre zuvor eingewandert. Sascha fühlt sich nirgendwo wirklich zugehörig. Sie hasst ihr Leben fast so sehr wie ihren Stiefvater, den sie eines Tages hofft, ermorden zu können. Bevor es dazu kommt, lernt sie jedoch den Journalisten Volker und dessen Sohn kennen und findet in den beiden fast so etwas wie eine neue Familie. Eine wunderbare Wahlverwandtschaft nimmt ihren Anfang. Alina Bronsky hat mit Sascha wunderbar eindrucksvoll gezeigt, dass sich kein Mensch mit dem Leben zufriedengeben muss, das er scheinbar zugeteilt bekommen hat. +Alina Bronsky: "Scherbenpark". Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, 286 Seiten, 16,95 Euro + +Jonas Hassen Khemiri: "Das Kamel ohne Höcker" +In Schweden ist er einer der literarischen Shootingstars des letzten Jahrzehnts: der halbtunesische Halbschwede Jonas Hassen Khemiri. Er schreibt nicht nur Bücher, sondern auch Theaterstücke und ist unter anderem in Deutschland ein viel gespielter Bühnenautor. "Das Kamel ohne Höcker", sein erster Roman, ist das (autobiografisch inspirierte) Tagebuchbekenntnis des 15-jährigen Stockholmers Halim, der mit seiner marokkanischen Herkunft hadert. Einerseits wäre er vielleicht lieber ein "echter" Schwede, andererseits verachtet er vorsorglich die schwedische Mehrheitsgesellschaft. In aller Heimlichkeit schwärmt er für ein schwedisches Mädchen in seiner Klasse und für den Schauspieler Mikael Persbrandt. Eigentlich ist Halims Tagebuch gar kein Tagebuch, sondern ein dickes Heft, das ihm dazu dienen sollte, Arabisch schreiben zu üben. Stattdessen verschriftlicht er darin sein Rinkeby-Schwedisch – eine migrantisch inspirierte Sprachvariante, die in den Stockholmer Vorstädten gesprochen wird. Kurz: Halim ist so etwas wie ein fleischgewordener kultureller Zwiespalt. Doch kraft seiner überlegenen Selbstironie zieht er sich aus diesem am eigenen Schopf heraus. +Jonas Hassen Khemiri: "Das Kamel ohne Höcker". Piper, München 2006, 272 Seiten, 15,50 Euro + +Feridun Zaimoğlu: "Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft" +Was den Schweden das Rinkeby-Schwedisch, ist den Deutschen die "Kanak Sprak". Feridun Zaimoğlu erfand den Begriff 1995 für sein gleichnamiges Buch, mit dem er auf einen Schlag zum gehätschelten Enfant terrible der Literaturszene avancierte. Später wurde "Kanak Sprak" sogar zum wissenschaftlichen Terminus, mit dem manche Linguisten eine Sprachvariante bezeichnen, in der sich ein umgangssprachlich abgeschliffenes Deutsch mit türkischen und arabischen Lehnwörtern mischt. Zaimoğlus "Kanak Sprak" als linguistisches Abbild der Wirklichkeit zu betrachten wäre allerdings ein Missverständnis. Das Buch vereint 24 (halb-)fiktive Monologe junger türkisch- oder arabischstämmiger Männer, die sich in der deutschen Mehrheitsgesellschaft weder zugehörig noch akzeptiert fühlen. Das "Kanakisch", in dem ihre Monologe gehalten sind, ist teilweise drastisch in der Ausdrucksweise und zweifellos vom Straßenjargon inspiriert, gleichzeitig aber eine hochstilisierte Kunstsprache. Ihr Erfinder trat damals zwar noch gern als quasikanakesker Bürgerschreck auf, wies sich aber schon mit diesem seinem Erstling als einer der virtuosesten Sprachartisten unter den deutschen Schriftstellern aus. +Feridun Zaimoğlu: "Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft". Rotbuch, Berlin 1995, 144 Seiten, 12 Euro + +Zadie Smith: "Zähne zeigen" +Familiensaga mit großen Schmökerqualitäten aus einer Stadt, wo Multikulti schon Realität war, als man in Deutschland noch nicht einmal ein Wort dafür hatte: London. Zadie Smith, Tochter einer Jamaikanerin und eines Engländers, verarbeitet in ihrem ersten Roman auch Teile der eigenen Familiengeschichte. Archie Jones und Samad Iqbal, ein Engländer und ein Bengale, sind beste Freunde seit ihrer gemeinsamen Zeit als Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Mitte der 70er-Jahre ziehen beide mit ihren Frauen in den Londoner Nordwesten und gründen dort ihre Familien. Die heranwachsenden Kinder haben ihre je eigenen Probleme, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden, und stoßen auch bei den Eltern keineswegs immer auf Verständnis. Es ist im Grunde eine alte, sich immer wiederholende Geschichte, aber nicht nur durch das wirbelige multikulturelle Setting bekommt sie hier ein ganz neues, funkelndes Flair, sondern auch durch das überragende Erzähltalent der damals noch blutjungen Zadie Smith, die erst 24 war, als der Roman im Jahr 2000 erschien. +Zadie Smith: "Zähne zeigen". Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011, 656 Seiten, 12,99 Euro diff --git a/fluter/buen-vivir-konzept-recht-auf-nachhaltigkeit.txt b/fluter/buen-vivir-konzept-recht-auf-nachhaltigkeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..baa5f33c33bcac4859e3fbf3f629693236ff6b88 --- /dev/null +++ b/fluter/buen-vivir-konzept-recht-auf-nachhaltigkeit.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Plurinationalismusbedeutet, dass ein Staat die Unterschiedlichkeit seiner Bevölkerung ernst nimmt – und sie in seinen Entscheidungen und Institutionen abzubilden. Zum Beispiel kann er dafür sorgt, dass Indigene (wieder) frei entscheiden dürfen, wie und wo sie leben, dass die Behörden mehrere Sprachen sprechen, dass die Bevölkerung bei Ressourcenkonflikten mitsprechen oder die (oft koloniale) Geschichtsschreibung ihres Landes ändern kann. +Buen Vivir ist keine Idee der politischen Eliten. Indigene wie die Quechua in Ecuador oder die Aymara in Bolivien leben die Idee seit Jahrhunderten auf ihre Weise. In beiden Ländern machen Indigene einen großen Teil der Bevölkerung aus. Als 2006 Evo Morales in Bolivien und 2007 Rafael Correa in Ecuador ihre Präsidentschaften antraten, wollten sie den Perspektiven der indigenen Bevölkerung mehr Gewicht verleihen. Beide waren linksgerichtet, beide genossen in der indigenen Bevölkerung starken Rückhalt,der Koka-Bauer Evo Morales ist selbst indigener Abstammung. Als in beiden Ländern verfassunggebende Versammlungen einberufen wurden, wurde auch das Buen Vivir diskutiert – und prominent in beide Verfassungen aufgenommen. Teile der indigenen Bevölkerung interpretierten das als klares Zeichen der Regierung: Wir sehen euch und eure Belange, wir schaffen einen plurinationalen Staat! +Das Buen Vivir war damals auch ein Gegengewicht zur "Religion Wirtschaftswachstum", schrieb Alberto Acosta zehn Jahre danach. Er war unter Correa Ecuadors Energieminister und saß der verfassunggebenden Versammlung vor. Die wollte sich 2007 vom Wirtschaftsmodell emanzipieren, das in den USA und Europa – also auch von den ehemaligen Eroberern – "erfunden" worden war: der neoliberalen Marktwirtschaft. +Politisch bekannt und auf die Probe gestellt wurde die Reform zum guten Leben gleich ab Beginn der Amtszeit Correas, und zwar im Osten Ecuadors: Dort liegt der Nationalpark Yasuní, ein Amazonasregenwald, der bekannt ist für seinen Artenreichtum und die indigenen Gemeinschaften, die dort seit Jahrhunderten leben. Unter ihren Füßen: Öl, riesige Vorkommen – etwa 40 Prozent der Reserven des Landes. Um Buen Vivir zu beherzigen, forderte Correa 2007 eine Kompensation von der Weltgemeinschaft. Der Deal: Ecuador lässt das Erdöl im Boden des Yasuní, wenn andere Staaten über Jahre die Hälfte der potenziellen Einnahmen ersetzen. 3,6 Milliarden Dollar gegen Millionen Barrel Öl und somit Hunderte Millionen Tonnen CO2, die nicht gefördert oder emittiert würden. + + + + +Politisch bewegte sich dieses Tauschgeschäft für den Umweltschutz auf Neuland. Es hätte weltweit Impulse für den Umgang mit Ressourcen und der Natur geben können. "Wir haben nicht um Almosen gebeten. Es ging um die gemeinsame Verantwortung imKampf gegen den Klimawandel", sagte Correa später. Ecuador avancierte in wachstumskritischen Kreisen zum Ideal, Buen Vivir und Pachamama wurden von manchen fast zu Religionen stilisiert. +Aber wurden sie auch den wirtschaftlichen Realitäten eines Landes gerecht, das in den internationalen Wettbewerb eingebunden ist? Kann man traditionelle indigene Lebensweisen gegen eine globalisierte Welt verteidigen? Letztlich standen Correa und Acosta nicht als Anwälte der Indigenen in der Öffentlichkeit, sondern alsPolitiker, die Armut bekämpfen, Krankenhäuser renovieren, Schulen eröffnen und Straßen ausbauen mussten. Dafür braucht ein Land Geld, das Erdöl zuverlässig einbringt. Öl macht bis heute rund ein Drittel des Exportvolumens Ecuadors aus. +Solche Abwägungen zwischen wirtschaftlicher Realität und Umweltschutz blieben der Regierung Correa aber erspart: Für die Yasuní-Initiative kamen nur 0,37 Prozent der angestrebten Summe zusammen. Auch der deutsche Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) zog den zugesagten Beitrag Deutschlands zurück: Er habe keinen Präzedenzfall schaffen wollen, anhand dessen später andere Länder Kompensationszahlungen verlangen könnten. Im August 2013 erklärte Correa das Yasuní-Projekt für gescheitert, noch im selben Jahr erschloss die Regierung neue Ölfelder im Regenwald. "Wir können doch keine Bettler sein, die auf einem Sack Gold sitzen", rechtfertigte sich Correa in einem Interview. +Doch schon vor der Ölförderung befand sich Ecuador wirtschaftlich im Aufwind. Das BIP ist seit 2008 um 74 Prozent gestiegen, die Einkommen waren mit jedem Jahr gleichmäßiger verteilt, die Armutsquote sank. Im "Latinobarómetro", einer jährlich durchgeführten Umfrage, gaben 2017 fast drei Viertel der Befragten an, mit ihrem Leben zufrieden oder sehr zufrieden zu sein. Im Jahr 2000 waren es lediglich 21 Prozent gewesen. +Fasten für die Nachhaltigkeit: Unsere Autorin wollte ein Jahr lang nichts mehr kaufen –und konnte dann gar nicht mehr damit aufhören +Dieser Aufschwung ist teuer erkauft, meint Philipp Altmann, Professor für Soziologie an der Universität Quito. "Man kann Ressourcen fördern und Armut beheben. Oder die Ressourcen schonen und Armut akzeptieren." Auch Indigene kritisieren ihren früheren Hoffnungsträger Correa und seinen Nachfolger Lenin Moreno, der seit 2017 im Amt ist. Sie fühlen sich betrogen: Man erklärte ihre Lebensweise zum Staatsziel, um fortan mit den Grundsätzen zu brechen. Die Regierung habe "die Interessen des transnationalen Kapitals und der nationalen Machtgruppen verteidigt, die die Natur zerstören und das Ende all unserer Rechte bedeutet haben", fasste die Indigenenbewegung CONAIE bereits 2010 in einer Erklärung zusammen. +Mittlerweile wird auch in Gebieten nach Öl gebohrt, die als besondere Schutzzonen des Yasuní deklariert sind. Dort leben zwei indigene Völker in selbst gewählter Isolation, die Artenvielfalt ist besonders hoch. In den vergangenen Jahren häuften sich Berichte von NGOs über Repressionen, zum Beispiel gegenüber ortsansässigen indigenen Vereinen. +Auch in Bolivien werden die Rechte der indigenen Bevölkerung trotz der neuen Verfassung nur unzureichend geschützt, wenn sie mit dem wirtschaftlichen Fortschritt kollidieren. Auf dem Boden indigener Völker wurden zum Beispiel zwei Staudämme gebaut, ohne die Bewohner vorher zu befragen. Bolivien ist heute der viertgrößte Waldvernichter der Welt. Die Waldflächen müssen Sojapflanzen weichen. Sie sollen sicherstellen, dass sich das Land selbst mit Nahrungsmitteln versorgen kann. Die Bevölkerung kann wenig tun: Obwohl das Buen Vivir in der Verfassung steht, lässt sich die Umsetzung nicht einklagen. "Buen Vivir als politisches Konzept ist gescheitert", resümiert auch Philipp Altmann. +Würde die Idee des Buen Vivir, die die Fantasien von Linken, Postkolonialisten und Postwachstumstheoretikern bis heute beflügelt, immer wieder an unserer globalisierten Realität scheitern? +Für die Industrienationen lohnt der Blick auf Buen Vivir heute vielleicht mehr denn je, während unser unbedingter Wille zum Wirtschaftswachstum die Erde an ihre ökologische Grenze jagt. In Ecuador oder Bolivien haben sich kleine Länder an großen Ideen versucht. Sie haben ein radikales Umdenken gewagt, lange bevor Schulstreiks stattfanden und Klimanotstände diskutiert wurden. Das Projekt Yasuní war ein Appell an die weltweite Solidarität – eine Solidarität, die für das globale Projekt Klimaschutz unverzichtbar ist. + + +Das Titelbild von Lou Dematteis (Spectral Q/Redux/laif) zeigt einen Protest der Indios für den Erhalt des Nationalpark Yasuní im Jahr 2007. diff --git a/fluter/buendnistheorie.txt b/fluter/buendnistheorie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/buergergeld-reform-beratung.txt b/fluter/buergergeld-reform-beratung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e19163f4cda8c90f2b9294e3e1d9ead6a7c0da9f --- /dev/null +++ b/fluter/buergergeld-reform-beratung.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Wie jeden Dienstag bekommt Wallbaum, der klare Vorstellungen hat und genaue Formulierungen findet, eine große Apfelschorle und einen Kaffee serviert. Das, was Bundesarbeitsminister Hubertus Heil die "größte Sozialreform seit 20 Jahren" nennt, ist für ihn eine "Selbstbeweihräucherung der Regierung". Echte Verbesserungen sieht er bisher nicht. "Entscheidungen im Sozialbereich sind meist Ermessenssache – also vor allem davon abhängig, wer dir im Jobcenter gegenübersitzt." Es müsste mehr "klientenzentriert" gearbeitet werden, sagt er. + + +Gesetzlich ist seit Januar, als das neue Bürgergeld das alte Arbeitslosengeld II – auch alsHartz IVbekannt­ – ablöste, eine Reihe von Neuerungen in Kraft getreten. Neben höheren Regelsätzen, durch die alleinstehende Erwachsene monatlich etwa 53 Euro mehr bekommen, entfällt beispielsweise der sogenannte "Vermittlungsvorrang in Arbeit" – was grob bedeutet, dass Erwerbslose nicht länger in nächstbeste (Aushilfs-)Jobs vermittelt werden können. Stattdessen sollen Fortbildungen und langfristige Anstellungsverhältnisse in den Vordergrund rücken. Dafür gibt es unter anderem ein Weiterbildungsgeld in Höhe von monatlich 150 Euro für die Teilnahme an abschlussbezogenen Weiterbildungen. +Ein Anspruch auf Weiterbildung sei das trotzdem nicht, sagt Wallbaum: Zwar könnten Erwerbslose nun nicht länger zum "Regaleeinräumen" geschickt werden – das Problem sei jedoch seiner Erfahrung nach, dass das Jobcenter je nach Vorgaben nur ganz bestimmte Fortbildungen vorschlägt. "EmpfängerInnen haben klare Vorstellungen von ihren Weiterbildungen, sitzen aber immer noch vor Leuten, die sagen: ‚Das wird jetzt nichts.'" +Ebenso gibt es seit diesem Jahr höhere Schonvermögen – das bedeutet, dass Arbeitsuchende durch großzügigere Vermögensprüfungen mehr von ihrem Ersparten behalten dürfen, vor allem während der sogenannten "Karenzzeit": In den ersten zwölf Monaten Bürgergeld müssen alleinstehende Erwachsene erst an das eigene Vermögen ran, wenn es über 40.000 Euro beträgt. +Zudem wurden die Zuverdienstgrenzen erhöht. Von einem Einkommen bis zu 100 Euro muss man wie bisher gar nichts abgeben. Ab dem 1. Juli 2023 wird der Freibetrag für Einkommen zwischen 520 Euro und 1.000 Euro auf 30 Prozent des erzielten Einkommens erhöht, zwischen 100 Euro und 520 Euro bleibt es bei 20 Prozent. Auch SchülerInnen, deren Eltern beim Jobcenter arbeitsuchend gemeldet sind, können ab Juli zum Beispiel außerhalb der Ferien bis zu 520 Euro monatlich verdienen, ohne dass das Bürgergeld gekürzt wird. Bisher durften sie davon nur 184 Euro behalten. Das findet Wallbaum grundsätzlich gut. Doch er bezweifelt, dass rein gesetzliche Änderungen wirklich frischen Wind ins staubige Amt bringen. Um tatsächlich etwas zu bewegen, meint er, müsse man auch die Belegschaft reformieren. Dass also die Mitarbeitenden im Jobcenter denen, die vor ihnen sitzen, auchwirklich vorurteilsfrei begegnenund sich für ihre Rechte einsetzen. Denn das erlebte Wallbaum selbst und erleben jetzt die, die er berät, nicht immer so. + + +Auf das neue Bürgergeld angesprochen, guckt Stefan Garcia nur fragend durch seine Brillengläser. "Es reicht sowieso vorne und hinten nicht, die 53 Euro mehr habe ich überhaupt nicht bemerkt", sagt er, als er von der Bühne tritt und seine Jacke anzieht. Es habe sich herausgestellt, dass seine Weiterbildung möglich sei, wenn er sich als Freelancer in Teilzeit erkläre – was das Jobcenter ihm nicht gesagt habe. Er solle im Jobcenter "gerade und bestimmt" bleiben, ruft ihm Wallbaum noch hinterher. Eine gestresst wirkende Frau mit kurzen roten Locken steht da schon am Tisch. +Seit 2004 berät Wallbaum Menschen, die zum Jobcenter müssen. Er geriet als Arbeitsloser einst selbst mit dem Amt aneinander. Nach einem gepfefferten Beschwerdebrief seinerseits saßen beim nächsten Termin plötzlich all seine Sachbearbeiter beisammen und baten ihn um Entschuldigung, erzählt er. Sie boten Wallbaum an, eine Schulung zu machen, um andere Arbeitsuchende zu beraten – er wüsste ja sowieso immer alles besser. +Wallbaum wurde also beim Arbeitslosenverband geschult, denn für das damals neue Arbeitslosengeld II sollte ein Beratungsangebot entstehen – "learning by doing", wie er selbst sagt, denn außer dem frischen Gesetz gab es zu diesem Zeitpunkt keine festgelegten Vorgehensweisen. Für zwei Jahre war er Projektleiter, danach wurde die Beratung wegen fehlender Mittel eingestellt. Anstatt auf neue Gelder zu warten, machte er sich selbstständig: Er wollte als mobiler Berater weitermachen und schaffte sich dafür den "Roller", eine Piaggio APE B 150, und alles Nötige selbst an. +Während der sogenannten Karenzzeit im ersten Jahr des Bürgergeldbezugs werden fortan Mietkosten und ein "angemessener" Teil der Heizkosten übernommen. Vermögen von bis zu 40.000 Euro für die erste Person der Bedarfsgemeinschaft und 15.000 Euro für jede weitere Person, die in der Bedarfsgemeinschaft lebt, sowie Wohneigentum (unabhängig von der Größe) werden in dieser Zeit nicht berücksichtigt. Ab dem zweiten Jahr beläuft sich dieser Freibetrag pro Person auf 15.000 Euro – immer noch deutlich höher als beim ALG II. Neu dabei ist – im Vergleich zu Hartz IV –, dass nicht ausgeschöpfte Freibeträge innerhalb der Bedarfsgemeinschaft weitergegeben werden können. +Bei einer Pflichtverletzung werden die Leistungen nun weniger rigoros gemindert. Eine solche liegt zum Beispiel vor, wenn eine zumutbare Arbeit oder Ausbildung verweigert wird. Bei einer ersten Pflichtverletzung mindert sich das Bürgergeld für einen Monat um 10 Prozent, bei einer zweiten für zwei Monate um 20 Prozent, bei einer dritten für drei Monate um 30 Prozent. Eine weitere Pflichtverletzung liegt nur vor, wenn bereits zuvor eine Minderung festgestellt wurde und seit dem Beginn des vorangegangenen Minderungszeitraums nicht mehr als ein Jahr vergangen ist. +Bis 2010 verdiente er damit einen schmalen Unterhalt, aufgestockt durch ALG II – 2011 wurde er verrentet, gründete den "Hartzer Roller e.V." und arbeitete fortan ehrenamtlich. Seine bescheidene Rente stockt seitdem das Sozialamt auf. Und die Beratung findet inzwischen nicht mehr mobil, sondern immer im Südblock statt. +Nach dem Gespräch mit Wallbaum berichtet die rothaarige Carola Bauer*: Seit derCovid-19-Pandemiesei die Naturwissenschaftlerin erwerbslos und komme regelmäßig in die Stunde. "Ich brauche Andreas, weil mir die ganze Kommunikation so unehrlich vorkommt", sagt sie. Sie fühle sich vom Jobcenter gehetzt – die ständige Korrespondenz nehme ihr die Kapazität, sich selbst nach einem richtigen Job umzuschauen. "Für mich ist es immer noch dasselbe wie Hartz IV", ruft sie beim Gehen. +"Für eine echte Reform hat die Institution Jobcenter das Vertrauen der BürgerInnen schon längst verspielt", meint auch Wallbaum. Menschen, die sich sowieso schon in einer verletzlichen Lage befinden, müssten sich mit dem Dauervorwurf auseinandersetzen, dass sie ihr Leben nicht richtig lebten. Daran würde auch die Reform nichts ändern. Wie bei so vielen Dingen hat er auch für künftige Reformen genaue Vorstellungen: "Es wäre wichtig, dass man nur noch nachweisen muss, dass man arm ist, aber nicht, warum man arm ist." +Bis dahin unterstützt er weiter Erwerbslose darin, nicht mehr vor dem Jobcenter "wegzurennen", wie er es nennt – sondern stattdessen "stehen zu bleiben, um ihr gutes Recht einzufordern". + + +* Namen geändert diff --git a/fluter/buergerkrieg-in-syrien-voelkerrecht.txt b/fluter/buergerkrieg-in-syrien-voelkerrecht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..01f381ebe9c475e26a7d298394219376f5cc8de1 --- /dev/null +++ b/fluter/buergerkrieg-in-syrien-voelkerrecht.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Drei Millionen Menschen sitzen in dem Kessel von Idlib fest. Die Hälfte von ihnen sind Binnenflüchtlinge wie Rashed und seine Familie, die von anderen zerstörten Städten hierherflohen. Er ist einer von etwa 300.000 Menschen, die es seit Ende April aus dem Kessel herausgeschafft haben. Rashed kann von dem Flüchtlingscamp, in dem er jetzt lebt,die Türkei sehen. Doch die Grenze ist dicht, seine Flucht endete hier. + + +In Idlib gehen die syrischen und russischen Streitkräfte mit größter Brutalität vor. Dem US-Außenministerium zufolge soll die syrische Armee möglicherweise Chlorgas eingesetzt haben. Auch wurden wiederholt Ackerland und zivile Einrichtungen bombardiert. Seit dem Beginn der Offensive sind laut den Vereinten Nationen 35 Schulen und 24 Krankenhäuser und -stationen bombardiert worden: Einrichtungen, die eigentlich strikt durch internationales Recht geschützt sind. +"Wenn du in einem Krankenhaus arbeitest, wirst du zur Zielscheibe", sagt Rashed, "das Regime greift systematisch diejenigen an, die Zivilisten helfen: Ärzte, humanitäre Helfer, Krankenschwestern." Assad kämpft bei seiner vermeintlich "letzten Schlacht" mit verbotenen Mitteln: Das vierte Genfer Abkommen schützt Zivilpersonen im Krieg. Angriffe auf medizinische Einrichtungen und Krankentransporte verstoßen gegen das Völkerrecht, auf das sich nach dem Zweiten Weltkrieg alle Mitglieder der Vereinten Nationen einigten. Mittlerweile gilt das Abkommen in 196 Staaten und wurde auch von Syrien und Russland unterzeichnet. +Die Vereinten Nationen hatten im vergangenen Jahr die GPS-Koordinaten von insgesamt 235 Schulen, Kliniken und anderen zivilen Einrichtungen in Idlib an Russland, die Türkei und die US-geführte Koalition übermittelt. Sie sollten nicht zum Ziel werden, so die Hoffnung. Sehr wahrscheinlich verwendete Russlands Bündnispartner Assad die Koordinaten aber für das Gegenteil: Er griff sie gezielt an. +Doch die internationale Strafverfolgung kann nicht greifen. Als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat blockierte Russland per Veto bisher die Verfolgung von Kriegsverbrechen in Syrien. Außerdem kann der Internationale Strafgerichtshof nicht aktiv werden, solange die Regierung in Damaskus ihn nicht anerkennt. +Schon im Februar 2016 warf die Untersuchungskommission der Vereinten Nationen Assad "Massenvernichtung von Zivilbevölkerung" vor. Ausschlaggebend waren rund 55.000 Fotos, die Tausende tote Gefängnisinsassen zeigten. Ein ehemaliger syrischerMilitärfotografkonnte sie aus dem Land schmuggeln. Die Fotos lieferten Beweise über Foltermethoden, die einem Kriegstribunal in dieser Form noch nie vorlagen. + +Assad testete von Anfang an, wie weit er in seinem Krieg gegen die Bevölkerung gehen kann, ohne von der internationalen Gemeinschaft zur Rechenschaft gezogen zu werden. Ihm wird zugeschrieben, dass er Aktivisten, Ärzte oder Journalisten entführen und foltern ließ. Rebellenenklaven wurden über Jahre hinweg belagert und ausgehungert, es gab Giftgasangriffe auf Zivilisten, und immer wieder bombardierte die syrische Luftwaffe Krankenhäuser, Bäckereien und Schulen. Als Russland im September 2015 in den Krieg eingriff und zusammen mit dem syrischen Regime Luftangriffe flog, entwickelten die Pro-Assad-Kräfte immer drastischere Strategien, um die von der Opposition besetzten Gebiete zurückzuerobern. +"Irgendwann haben wir angefangen, Krankenhäuser zu bewaffnen und in den Untergrund zu bauen", sagt Mohamad Katoub von der Hilfsorganisation Syrian American Medical Society (SAMS). Doch das Regime fand auch die versteckten Krankenhäuser. Es habe eine Bombe in ein Siedlungsgebiet geworfen und gewartet, bis ein Krankenwagen kam. "Dann konnten sie eine Drohne hinterherschicken und es bombardieren." +Bis heute zählte Katoubs Organisation über 200 Giftgasangriffe in Syrien. Chlor, das Nervengas Sarin und Phosphor werden hier oft zusammengemischt. "Das Giftgas dringt auch in die Intensivstationen der Krankenhäuser vor, die unter die Erde gebaut wurden", sagt Katoub. Der gelernte Zahnarzt überlebte 2013 den verheerenden Giftangriff von Ost-Ghouta. Dabei sollen 1.300 Menschen ums Leben gekommen sein. "Danach dachte ich: Jetzt muss sich etwas ändern", erinnert sich Katoub, "doch es geschah nichts." + + +Du willst es genauer wissen? +Überblicksartikel über die Lage in Syrien +Syrien, Irak und Region (APUZ 8/2015) +Analyse: Chemiewaffenkontrolle unter Stress – Syrien und Salisbury als Lackmustests für das internationale Verbot chemischer Waffen +Syrien: Die Ursprünge der Krise (Eine Folge der Serie "Mit offenen Karten") +fluter.de-Film über Syrianarchive.org, das Video-Beweise für Menschenrechtsverletzungen in Syrien sammelt +Was kann man im Syrienkrieg noch glauben? Interview mit einer Kriegsreporterin + +Titelbild: Huseyin Fazil / picture alliance / AA diff --git a/fluter/buergermeisterwahl-wiederholung-istanbul-2019.txt b/fluter/buergermeisterwahl-wiederholung-istanbul-2019.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..af4a98cb8c99dccdfb682470f677fd9e85b22b24 --- /dev/null +++ b/fluter/buergermeisterwahl-wiederholung-istanbul-2019.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Ekrem İmamoğlu (49) war ab 2014 Bürgermeister eines Istanbuler Stadtteils und bis zur Wahl im März nahezu politisch unbekannt. Deshalb nahm ihn die AKP zunächst nicht als Bedrohung für ihren erfahrenen Kandidaten wahr. Sie schickte Binali Yıldırım (63) ins Rennen. Yıldırım war Verkehrs- und Premierminister, Parlamentspräsident und gehört zum engen Kreis um Erdoğan. +Seit 2001 hat die AKP jede Wahl, bei der sie angetreten ist, gewonnen. Doch İmamoğlu gelang ein Überraschungserfolg. Die türkische Opposition ist seit jeher zerstritten und wird auch deswegen der Regierungspartei AKP selten gefährlich. Kurden, Linke, Nationalisten, Säkulare, Konservative, Grüne, Anarchisten und Religiöse grenzen sich lieber voneinander ab, als in der Opposition zusammenzuarbeiten. İmamoğlu hat es geschafft, so wie einst Erdoğan im Jahr 1994, für die Mehrheit der Istanbuler*innen wählbar zu sein. "Einer für alle" ist sein Wahlkampfmotto. +Der studierte Betriebswirt arbeitete einige Jahre in der Baufirma seiner Familie. Er kann also souverän in der Businesswelt auftreten – ein bedeutender Vorteil in Istanbul, dem Wirtschaftszentrum der Türkei. İmamoğlu beherrscht die Sprache verschiedener Interessengruppen, auch die des Erdoğan-Klientels. Weil die kurdennahe Partei HDP und andere kleine linke und nationalistische Parteien keinen Kandidaten in Istanbul stellten, konnte er ihre Wähler*innen für sich gewinnen. +Kritische Journalist*innen haben es in der Türkei schwer –hier berichten vier von ihrer Arbeit +Viele Türk*innen machen İmamoğlus CHP-Partei für die antiislamische Zeit in ihrem Land verantwortlich. Doch das war vor seinem Einstieg in die große Politik. Er ist bekennender Muslim, auch wenn seine Partei streng säkular auftritt. Der Bürgermeisterkandidat ist somit für religiöse Wähler*innen erstmals eine Alternative zur AKP. Die türkische Presse wird von Regierungsinteressen beeinflusst, İmamoğlus Team nutzt daher die sozialen Medien – und setzt sie wirkungsvoll ein. So ließ sich der Kandidat kurz nach dem Attentat im neuseeländischen Christchurch beim Gebet in einer Moschee filmen. +İmamoğlu bietet wenig Angriffsfläche für seine Gegner, denn sein Auftreten ist für türkische Politiker unüblich: Er geht kaum auf Provokationen seines Herausforderers Yıldırım ein und setzt auf positive Botschaften wie "Alles wird schön und gut". +Hinter dem Wahlerfolg der Opposition, die auch in der Hauptstadt Ankara die Oberbürgermeisterwahl gewann, stecken auch wirtschaftliche Gründe:Die Arbeitslosigkeit im Land ist hoch und die Währung so schwach wie seit neun Jahren nicht mehr.Das liegt mitunter an einem Handelsstreit mit den USA und an der Verschuldung im Land. Die Lebenshaltungskosten in Istanbul steigen, der stadtweite Hausbau erlahmt, und die Straßen sind permanent überlastet. Dabei hatte sich Erdoğan in den Neunzigern gerade mit der Verbesserung der Istanbuler Infrastruktur eine nachhaltige Zustimmung gesichert. Seine Wählerschaft hält ihm diesen Erfolg noch immer zugute. Vor Erdoğan sei Istanbul ein Moloch gewesen, sagen seine Anhänger. +Die Rathäuser der türkischen Großstädte bieten großen Einfluss, da auf kommunaler Ebene viele wichtige Entscheidungen für den Alltag der Menschen getroffen werden. Die AKP nutzte das in der Vergangenheit, um auf diese Weise ihre Wählerbasis zufriedenzustellen. Dazu kommt: Seit Jahren gibt es Korruptionsvorwürfe, dass öffentliche Aufträge illegal vergeben worden seien. Die Opposition könnte das aufklären und davon politisch profitieren. +Zum ersten Mal seit 2002, dem Jahr, als die AKP in der Türkei an die Macht kam, fand nun wieder ein TV-Duell statt. Es wurde mit Spannung erwartet. 70 Prozent der Türk*innen hatten angekündigt, ihren Fernseher einzuschalten. Sie sahen eine dreistündige, teils kontroverse Debatte der beiden Kandidaten. Danach schrieben dieRegierungszeitungen so gut wie einstimmig: İmamoğlu habe "gelogen", Yıldırım "Ruhe und Erfahrung" ausgestrahlt. Doch egal, wer am Sonntag zu Istanbuls neuem Bürgermeister gewählt wird: Die türkische Demokratie kann in Bewegung geraten. Das hat sie jetzt schon gezeigt. + +Titelbild: Burak Kara/Getty Images diff --git a/fluter/buergerrat-deutschland-teilnehmer.txt b/fluter/buergerrat-deutschland-teilnehmer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..abdf6c3369ae43220a263e75549d65486f0c5b5c --- /dev/null +++ b/fluter/buergerrat-deutschland-teilnehmer.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Schon länger wird diese deutsche Demokratie – meist verbal – angegriffen,in der Corona-Pandemie gar von manchem Verschwörungsideologen für tot erklärt. Einigen scheint im Internet die Fähigkeit, mit Menschen anderer Meinung konstruktiv zu diskutieren, ganz abhandengekommen zu sein. Nur ein kleiner Teil stellt gleich die ganze Demokratie infrage, viele aber haben den Eindruck,dass politische Entscheidungen zu weit weg von ihrem persönlichen Lebensalltag verhandelt werden. Auch Leon kennt dieses Gefühl: "Ich möchte, dass unsere Stimmen gehört werden und dass dann auch etwas umgesetzt wird." +Die Rätin: Für Tonja war gleich klar, dass sie beim Bürgerrat dabei sein will +Dass das wichtig ist, hat auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble erkannt. "Wir müssen unsere parlamentarische Demokratie zukunftsfähig machen", sagte er im vergangenen Jahr. Bereits 2019 hatte ein bundesweiter Bürgerrat, initiiert vom Verein "Mehr Demokratie", über mehr Transparenz in der Politik beraten. Einer seiner 22 Vorschläge waren weitere per Los gewählte Bürgerräte, wofür sich die Fraktionen ausgesprochen haben. Schäuble ist seither Schirmherr des Projektes. +Am 13. Januar, gegen 18 Uhr, sitzt Tonja vor ihrem Laptop in Dettelbach, einer Kleinstadt in Bayern. Die erste Sitzung – und alle weiteren Termine – finden wegen Corona digital statt. +Alle 169 ausgelosten Bürger:innen sind an diesem Tag bei Zoom dabei. Sie kommen aus allen Ecken Deutschlands, aus Großstädten und kleinen Dörfern. Es sind junge und alte Menschen dabei, Menschen mit Migrationshintergrund und ohne. Der Bürgerrat soll eine Art "Mini-Deutschland" abbilden. Damit sich alle gut informiert beteiligen können, referieren zunächst ausgewählte Expert:innen über Themen wie die Rolle Deutschlands in der Außenpolitik, derEuropäischen Unionund im internationalen Handel. +Nach zwei Tagen Einführung geht die Arbeit richtig los: Die Teilnehmenden werden per Los in fünf "Reisegruppen" aufgeteilt. Deren Themen sind "Demokratie und Rechtsstaat", "Frieden und Sicherheit", "Wirtschaft und Handel", "Nachhaltige Entwicklung" und "Europäische Union". Tonja ist in der Gruppe für Frieden und Sicherheit – und zufrieden damit. Die 22-Jährige kommt aus einer Soldatenfamilie, sowohl ihr Vater als auch ihr Bruder waren bei der Bundeswehr. "Ich fand es super, dass ich in diese Gruppe gekommen bin, weil ich mir dachte: Da habe ich schon ein bisschen Ahnung." +Insgesamt sechs Mal treffen sich die Reisegruppen in den darauffolgenden drei Wochen. Am Ende des Projekts werden sie, inklusive der Plenumssitzungen, 50 Stunden gemeinsam vor dem Laptop verbracht haben. Leon ist Teil der Reisegruppe für "Nachhaltige Entwicklung". Aus seinem Zimmer in Burgpreppach, einer kleinen fränkischen Gemeinde nahe Bamberg, diskutiert er mit seinen Mitreisenden an einem der Abende etwaDeutschlands Rolle im Klimaschutz, an einem anderen die Agrarpolitik. Um möglichst detaillierte Empfehlungen zu erarbeiten, teilen sich die Reisegruppen sogar noch mal in sogenannte "Tischgruppen" von sechs bis acht Personen auf. Moderator:innen führen durch die Sitzungen, helfen bei Formulierungen und achten darauf, dass alle zu Wort kommen. +Auch Bürger von "Mini-Deutschland": Leon +Sowohl Tonja als auch Leon sind überrascht, wie gut alles funktioniert – und wie viel Konsens unter den Teilnehmenden herrscht. "Es gab schon immer mehrere Meinungen, und es musste oft heftig diskutiert werden. Aber bei vielen Dingen waren wir uns schnell einig", erinnert sich Leon. Trotzdem glaubt Tonja, gelernt zu haben, sich besser mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen. Beide sehen sich selbst als politisch interessierte Menschen. Sie fragen sich: Haben die, mit denen man mal diskutieren sollte, vielleicht gar nicht erst beim Bürgerrat mitgemacht? Und was bringt das Ganze dann? "Die, die angeschrieben worden sind und dann nicht mitgemacht haben, wären eigentlich genau die, die mal gehört werden sollten", findet Tonja. +Die Zahlen zeigen: Nur zehn Prozent der Teilnehmenden haben einen Hauptschulabschluss, in der deutschen Bevölkerung sind es 30 Prozent. Dafür sind Menschen mit Abitur und Hochschulabschluss zusammengenommen im Bürgerrat mit knapp 54 Prozent deutlich überrepräsentiert. "Mini-Deutschland" ist das nicht gerade. +Dabei ist genau das die Idee, die hinter den Bürgerräten steckt: Menschen aus allen Bevölkerungsschichten gleichermaßen an politischen Prozessen zu beteiligen. Ein Problem, dessen sich die Initiator:innen bewusst sind. In Zukunft solle, auch durch eine Verbesserung des Losverfahrens, verstärkt daran gearbeitet werden, zum Beispiel auch Menschen mit Haupt- oder Realschulabschluss für die Teilnahme am Bürgerrat zu begeistern. +Kritiker:innen bemängeln außerdem, dass die Teilnehmenden in Bürgerräten zwar ihre Meinung äußern, letztendlich aber nichts entscheiden können. Sind die Handlungsempfehlungen erst mal ausgearbeitet, obliegt den Ausschüssen und Fraktionen des Bundestages, was sie damit anfangen. Bürgerräte haben also keine direkte Entscheidungsgewalt. +Hinter dem Projekt stehen der Verein "Mehr Demokratie" und der Thinktank "Es geht LOS". Durchgeführt wurde der Bürgerrat von den Instituten Ifok, Nexus und IPG. Für die Themenwahl haben die Organisator:innen mit Bürger:innen, den Bundestagsfraktionen, Vertreter:innen von Ministerien sowie der Zivilgesellschaft und Expert:innen gesprochen. Der Bürgerrat kostet etwa 1,9 Millionen Euro. Finanziert wird er durch Spenden – vor allem durch Stiftungsgelder z.B. von der Robert Bosch Stiftung und der Stiftung Mercator. +Sie können dennoch einen Anstoß geben. So war eine Kernforderung des 2019 abgehaltenen Bürgerrates die Einführung eines inzwischen beschlossenen Lobbyregisters. Inwieweit der Bürgerrat diese Entscheidung tatsächlich beeinflusst hat, ist aber für die Öffentlichkeit nicht nachvollziehbar. +Am 10. Februar geht es für die Teilnehmenden des diesjährigen Bürgerrates langsam in den Endspurt. In Tonjas Gruppe werden die erarbeiteten Empfehlungen noch mal in Kleingruppen angesehen, hinterfragt, es wird an Formulierungen gefeilt. Die Moderator:innen unterstützen dabei und achten besonders auf eine sensible Wortwahl, zum Beispiel darauf, dass mit Sternchen gegendert wird. Bisweilen geben sie aber auch Formulierungen vor, die so nicht wortwörtlich gefallen sind. +Zudem sind es immer wieder dieselben Personen, die ihre Hand heben – und damit auch die Richtung der Diskussion bestimmen. Leon und Tonja sind, wie viele andere, eher stille Zuhörer:innen und melden sich nur selten zu Wort. Die Stimmung ist konstruktiv, die Zeit begrenzt. +Nach nur einer Stunde geht es zurück in die "Reisegruppe" – dort werden noch einmal alle Empfehlungen vorgestellt. Der Moderator der Gruppe bittet um ein kurzes Feedback: Sieht sie sich in dem Erarbeiteten widergespiegelt? Tonja hält drei von fünf Fingern in ihre Webcam. Einige Punkte seien für sie noch nicht ausgereift genug. Trotzdem ist sie mit dem Gesamtergebnis zufrieden. Ihre Antwort: "Ich stimme nicht mit allem überein, aber wenn das die Mehrheit so will, dann ist das für mich in Ordnung." +Zwei weitere Sitzungen später ist es geschafft: Am 20. Februar wählt der Bürgerrat im großen Plenum aus allen Reisegruppen anonym die finalen Empfehlungen für den Bundestag aus. Nicht alle Teilnehmenden sind bis zum Ende dabeigeblieben, 17 Personen steigen innerhalb der fünfeinhalb Wochen aus. Tonja und Leon haben durchgehalten. Wie zuversichtlich sind sie, dass der Bundestag den ausgehandelten Empfehlungen nun nachkommt? Leon zeigt sich hoffnungsvoll, Tonja ist verhaltener: "Gewisse Themen können schon umgesetzt werden – andere sind wiederum zu optimistisch." Tonja hatte übrigens noch ein drittes Mal Glück: Am 19. März darf sie nach Berlin fahren und gemeinsam mit einem anderen Teilnehmer das Bürgerrat-Gutachten an Wolfgang Schäuble überreichen. + diff --git a/fluter/bumsen-statt-bomben-friedensbewegung.txt b/fluter/bumsen-statt-bomben-friedensbewegung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5690e0d3aa3cf4cba3cf54fdf3390130c9337fe2 --- /dev/null +++ b/fluter/bumsen-statt-bomben-friedensbewegung.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +In Deutschland hatte sich als Widerstand gegen die Wiederbewaffnung der noch jungen Bundesrepublik bereits in den 1950er-Jahren eine Friedensbewegung formiert. Als beliebtes Protestmittel etablierten sich später die sogenannten Ostermärsche. Beim ersten in Deutschland zogen 1960 rund 1.000 Demonstrierende zu einem Truppenübungsplatz der NATO im Süden der Lüneburger Heide. Mit den Jahren ging die Initiative vor allem von kirchlichen und gewerkschaftlichen Gruppen aus, die Zahl der Teilnehmenden stieg auf Hunderttausende. +Durch die Studentenbewegung in den Sechzigern kamen zu den Märschen viele andere Protestformen dazu. Beliebt waren Sit-ins, inspiriert von Mahatma Gandhi und der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung: Die Demonstrierenden setzten sich einfach auf den Boden oder stellten sich in großen Gruppen zusammen, zum Beispiel, um Straßen oder Eingänge von Gebäuden zu blockieren. Bei Go-ins wiederum wurden Seminare unbeliebter Professoren gesprengt, die anschließenden Spontandiskussionen nannten sie Teach-ins. +In der DDR hatte sich die erste unabhängige Friedensbewegung erst Ende der Siebziger gebildet. Sie hatte es ungleich schwerer als die Pazifisten im Westen, weildie Staatssicherheitsie genau beobachtete. In einem Land, in dem es kaum freie politische Meinungsäußerung gab, waren selbst bauernfreundliche Slogans wie "Schwerter zu Pflugscharen" suspekt. So nannte sich Anfang der 1980er-Jahre eine der größten Protestbewegungen in der DDR. Ihr Symbol, ein Schmied, der aus einem Schwert einen Pflug macht, war praktisch verboten. + + +Ihren Höhepunkt erreichten die Friedensbewegungen in den Achtzigern. Als die USA und Russland immer mehr Raketen mit atomaren Sprengköpfen auf ost- und westdeutschem Boden stationierten, wuchs mit der Angst vor einem dritten Weltkrieg auch die Zahl der Demonstrierenden. An verschiedenen Veranstaltungen für den Frieden nahmen 1983 in der BRD 700.000 Menschen teil. +Dieser Text istim fluter Nr. 89 "Liebe"erschienen +Nach der Wende wurde der Zulauf zur Friedensbewegung wieder kleiner. Das Ende des Kalten Kriegs und die Annäherung der Supermächte schienen ein Zeitalter der Stabilität und des Friedens in Europa einzuläuten. Diese Hoffnung wurde bereits durch die Kriege im ehemaligen Jugoslawien und im Irak geschmälert undmit Russlands Einmarsch in die Ukraineendgültig zerstört. Putins Angriffskrieg trieb wieder Tausende Friedensaktivisten auf die Straße, diesich kritischen Fragen stellen müssen: Wie soll Frieden geschaffen werden, wenn Putin keinen Zweifel daran lässt, dass er die Ukraine vernichten will? Muss man die Angegriffenennicht mit Waffen unterstützen, damit sie irgendwann wieder in Frieden leben können? Ähnliche Fragen werden auch im Fall des Einmarsches der israelischen Armee in den Gazastreifen nach den Massakern der Hamas diskutiert. +Nicht nur angesichts solcher Konflikte hat sich der Slogan "Make Love Not War" abgenutzt: Er ist als Allerweltsphrase längst in der Massenkultur angekommen, grüßt von T-Shirts und Kaffeetassen. Ein anderes Bed-in von Lennon und Yoko Ono wirkt übrigens bis heute nach. Das von Lennon im Schlafanzug komponierte "Give Peace a Chance" läuft auf jeder Demo der Friedensbewegung. + +Titelbild: dpa / Picture Alliance -- Harald Hauswald / OSTKREUZ diff --git a/fluter/bundespraesident-post-buergerbuero.txt b/fluter/bundespraesident-post-buergerbuero.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0dfb2e84dd835b8b88eab4cd8d438ecdf68673f3 --- /dev/null +++ b/fluter/bundespraesident-post-buergerbuero.txt @@ -0,0 +1,35 @@ +Welche Bitten haben die Menschen? +An erster Stelle stehen ausländerrechtliche Angelegenheiten, also Visafragen oder der Familiennachzug. Weitere Bitten, die mich erreichen, betreffen persönliche Rechtsangelegenheiten wie Nachbarschaftsstreitereien. Auch Job-und Wohnungsgesuche sind dabei.Und dann gibt es noch das, was ich den alltäglichen Wahnsinn nenne. +Was heißt das? +Heute hat zum Beispiel einer den Bundespräsidenten darauf hingewiesen,dass Angela Merkel Todesschwadronen über unserem Land verteilt habe.Ein anderer hat sich darüber beschwert,dass seine Corona-Masken manipuliert würden, um ihn giftige Fasern einatmen zu lassen.Diese Gruppe ist seit der Pandemie leider deutlich gewachsen. +Kriegen alle eine Antwort? +Ja, wir beantworten jeden Brief – außer denen, die einen offensichtlich verrückten Inhalt haben. Darauf gehen wir nicht ein. +Also schreiben Ihnen vor allem Verzweifelte und Verwirrte? +Nein, das kann man nicht sagen. Der Bundespräsident erhält Post aus allen Teilen der Gesellschaft, von Kindern und Jugendlichen, von Bürgerinnen und Bürgern mit einem politischen Anliegen, manche nachdenklich, andere aufgebracht, oder auch von Menschen, die private Sorgen haben. Die persönlichen Petitionen werden von uns im Bürgerbüro bearbeitet. Der erste Bundespräsident Theodor Heuss hat diese Briefe an ihn und sein Amt insgesamt einmal als "empfindsamen Seismografen der Hoffnungslosigkeit" bezeichnet. Das finde ich noch immer sehr treffend. Auf meinem Schreibtisch landet der Querschnitt der Probleme der Bürgerinnen und Bürger. Wer sich an uns wendet, hat oft eine Verzweiflungstour hinter sich. +Worum kann man das deutsche Staatsoberhaupt überhaupt bitten? Wo liegen die Grenzen seiner Macht? +Die Grenzen sind schnell erreicht. Der Bundespräsident kann die Interessen der Bürgerinnen und Bürger aber zum Beispiel in seinen Reden aufnehmen, oder er kann sie bei seinen Reisen im Land aufgreifen. Auch in Gesprächen, etwa mit dem Bundeskanzler oder einzelnen Ministerinnen und Ministern, kann der Bundespräsident darauf hinweisen, wo den Menschen im Land der Schuh drückt. +Machen sich die Absender falsche Hoffnungen? +Nein, die meisten wissen ganz genau, dass ihnen der Bundespräsident kein Studium oder Visum vermitteln kann, aber sie wissen einfach nicht mehr weiter. +Weiterlesen: +Und was macht der Bundespräsident abgesehen von Post erhalten sonst so?Das könnt ihr in unserem FAQ nachlesen +Sind diese Bitten dann alle vergebens? +Das würde ich nicht sagen. Wir haben keine direkte Macht, aber wir können die Anliegen mit unserem Briefkopf weiterleiten. Das hat oft einen erstaunlichen Effekt. Manchmal genügt schon unsere Bitte um nochmalige Prüfung des Vorgangs, um Bewegung in die Sache zu bringen. Ich nenne es das präsidiale Florett. +Wenden sich auch junge Menschen an den Bundespräsidenten? +Ja, zu ganz unterschiedlichen Bereichen wie Bildung, Klima- und Umweltschutz, den Folgen der Pandemiebekämpfung und vielen weiteren Themen. Unter den Schreiben mit persönlichen Petitionen sind die Jungen dagegen seltener vertreten. Die meisten sind 50 plus. Wenn uns junge Leute schreiben, geht es in erster Linie um Ausbildungs- und Studienplätze oderstrafrechtliche Angelegenheiten wie Rauschgiftdelikte. +Haben sich die Themen der Jungen seit Roman Herzog verändert? +Nein, die Themen sind die gleichen. Zu Herzogs Zeiten waren allerdings die Hürden eines Schreibens an das Staatsoberhaupt höher als heute.Damals hatte ja noch nicht jeder Internet und konnte E-Mails schreiben. Und welcher junge Mensch verfasst schon handschriftlich Briefe? +Erst die E-Mail hat ein Band zwischen Jugend und Staatsoberhaupt geknüpft? +Mit Blick auf die persönlichen Eingaben an den Bundespräsidenten kann man sagen, dass das Internet die Zugänge ganz klar erleichtert hat. +Welches Bild haben die Menschen vom Bundespräsidenten? Eher strenger Vater oder gütiger Weihnachtsmann? +Da sind wir wieder bei Theodor Heuss – den nannten damals viele "Papa Heuss", wogegen er sich immer streng verwehrte. Johannes Rau wurde vielleicht auch noch so gesehen, aber mittlerweile sieht man den Bundespräsidenten – trotz weißer Haare – nicht mehr als Vaterfigur. So etwas ist heute out. +Wie viele schreiben ihre Briefe noch von Hand? +Diese Zeiten sind vorbei. Neunzig Prozent kommen per E-Mail. Am Zeitstempel sehe ich, dass uns viele nach Mitternacht schreiben. Auffallend viel Post bekommen wir nach Vollmond. Da können die Leute wohl besonders schlecht schlafen. Das macht sich auch in den Umgangsformen bemerkbar. +Antje Siebenmorgen, 62, leitet seit 28 Jahren das Bürgerbüro des Bundespräsidenten +Je später, desto ruppiger der Ton? +Die Uhrzeit spielt schon eine Rolle. Aber der Trend ist grundsätzlicher. Der Ton ist ja überall in der Gesellschaft härter geworden. Ein großer Einschnitt war für uns der Rücktritt Horst Köhlers. Dass ein Staatsoberhaupt sein Amt aufgibt, das bis dahin als quasi sakrosankt gegolten hat, das war ein Dammbruch. Danach ging es bergab mit den Manieren der Einsender. Noch schlimmer wurde es nach dem Rücktritt von Christian Wulff. Joachim Gauck konnte das dann wieder ein gutes Stück heilen. Und Frank-Walter Steinmeier sowieso. Trotzdem beginnen heute manche ihr Schreiben mit "Tach Frank-Walter" oder drohen damit, zu RTL zu gehen, wenn der Bundespräsident nicht helfen sollte. +Gibt es auch erfreuliche Zuschriften? +Sicher. Nette Worte gibt es immer wieder. Früher, bevor wir auf die elektronische Akte umgestellt haben, kamen hier auch ab und zu gehäkelte Topflappen, selbst verlegte Bücher und hausgemachte Weihnachtsplätzchen an. +Was geschieht mit solchen kleinen Geschenken? +Dafür bedanken wir uns sehr herzlich. +Und dann? +Werden sie bei uns aufbewahrt. Kann ja sein, dass jemand seine Sachen zurückhaben will. Nicht die Plätzchen natürlich. diff --git a/fluter/bundestag-debatten-demokratie.txt b/fluter/bundestag-debatten-demokratie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..00853625d84166c10ccfbdcf46c61263f80a00f1 --- /dev/null +++ b/fluter/bundestag-debatten-demokratie.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Kommt ein Parlamentarier trotz Ermahnungen nicht zum Ende, kann ihm der Bundestagspräsident das Wort wieder entziehen. Diese und weitere parlamentarische Spielregeln sorgen dafür, dass sich Rede und Gegenrede abwechseln und die Opposition die Möglichkeit hat, die Regierung zu kritisieren. Dabei geht es oft hoch her, manchmal auch innerhalb einer Fraktion. + +Wir schreiben das Jahr 2011, Griechenland ist fast pleite, und im Bundestag sollen neue Milliardenhilfen für das Land beschlossen werden. In der CDU eskaliert es. Wolfgang Bosbach will die Griechen aus dem Euro werfen, Kanzlerin Angela Merkel will sie drin halten. Im Plenum geht es hoch her. Einige CDU-Politiker wollen die von Merkel als "alternativlos" beschworene Rettung nicht mitgehen. Einen von ihnen, Klaus-Peter Willsch, setzt die Fraktion nicht auf die Rednerliste. Woraufhin der sich kurzerhand selbst beim Bundestagspräsidenten anmeldet. +In seiner Rede kritisiert Willsch die Regierung Merkel, warnt vor einem Schaden für Europa, sollte Griechenland neue Kredite bekommen, und wendet sich am Ende an seine Parteikollegen: "Ich bedanke mich ausdrücklich, dass es mir möglich war, hier vorzutragen. Mit Blick auf meine eigene Fraktion sage ich: Danke, dass ihr das ertragen habt." Was den Kollegen leichtgefallen sein dürfte: Am Ende stimmt eine Mehrheit des Bundestags neuen Finanzhilfen zu. + +Aufrechte Demokraten lauschen auch bis 0.42 Uhr der Bundestagsdebatte zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusseszum Afghanistan-Einsatz. Dieser Enthusiasmus für demokratischen Streit hat seine Kosten: Bis in die Nacht dauernde Debatten sind enorm kräftezehrend. 2019 hatten Vertreter von SPD und Union bis in den frühen Morgen durchverhandelt, um sich auf ein Klimaschutzpaket zu einigen, wenige Wochen später erlitten gleich zwei Abgeordnete an einem Tag einen Schwächeanfall im Plenarsaal. Es folgte eine Debatte über zu lange Debatten. +Dabei gibt es einen Trick, um die zu verkürzen: In Marathonsitzungen werden die Reden zu Protokoll gegeben, also nicht gehalten, sondern nur im Sitzungsprotokoll vermerkt. Die Praxis ist verbreitet, manche Abgeordnete weichen aber davon ab und wollen auch nach Mitternacht noch sprechen. Der Rekord für die längste Plenardebatte wurde 1949 aufgestellt: 20 Stunden und 3 Minuten. Kurz vor halb 7 morgens vertagte das Parlament der jungen BRD seine Debatte über konsularische und wirtschaftliche Beziehungen auf den Folgetag. + +... stammt von Gerhard Schröder. 2002 wollen die USA nach dem 11. September ihren "Krieg gegen den Terror" ausweiten und in den Irak einmarschieren. Die Antwort des damaligen Kanzlers (SPD) ist klar: "Nein zum Krieg." +Seine Entscheidung, sich nicht am Irakkrieg zu beteiligen, entzweite den Bundestag: hier das Lager um Schröder und seinen Koalitionspartner, die Grünen, dort das um die Oppositionsführerin und spätere Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Der USA die Unterstützung zu versagen, hielt sie für ein außenpolitisches Fiasko. "Solange Schröder in Berlin regiert, wird Washington ihn als Gegner sehen. In Paris und London gilt er als überambitionierter Amateur." +Schröder wiederum gab sich besonnen. Der Irak müsse friedlich entwaffnet werden, sagte er und verteilte verbale Kinnhaken Richtung Union: "Es gibt auch in unserem Land eine Koalition der Willigen für einen Krieg. (...) Denen (...) setzen wir mit der Mehrheit in unserem Volk den Mut zum Frieden entgegen." +Viele hielten das für richtig. Zwei Tage nach der Bundestagsdebatte kam es weltweit zu Massendemonstrationen gegen den drohenden Irakkrieg, auch in Berlin. Wenn der Bundestag heute Fragen um Krieg und Frieden debattiert, gilt Schröders Nein zum Irakkrieg noch immer als Einschnitt. + +Gefängnisinsassen, die ihren Anwalt nicht sprechen dürfen? Klingt heftig, war aber Deutschland 1977.Die linksextreme Terrorgruppe RAFhat den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer entführt, und der Bundestag diskutiert das sogenannte Kontaktsperregesetz. Das soll inhaftierte RAF-Mitglieder und Terrorverdächtige isolieren, damit sie nicht über ihre Verwandten oder Anwälte mit Schleyers Entführern kommunizieren können. Ein Krisenstab hat die Kontaktsperre eilig beschlossen. Aber wie weit darf der Rechtsstaat gehen, wenn er bedroht wird? +Weit, fand Klaus Hartmann (CSU): "Nur wenn unser Staat seinen Feinden entschlossen gegenübertritt, kann er die Freiräume der rechtstreuen Bürger auf Dauer bewahren. Selbsterhaltung und Notwehr sind kein Rückfall in den Polizeistaat." Andere Abgeordnete wie Manfred Coppik (SPD) hielten dagegen: "Mit ihren Schüssen schafft die RAF die Stimmung, die die Reaktionäre in unserem Land brauchen, um das kaputtzumachen, was in vielen Jahren mühsam an demokratischen Errungenschaften und rechtsstaatlichen Garantien erkämpft wurde." Eine Gruppe FDP-Abgeordneter schlug vor, den Kontakt der Inhaftierten zu Verteidigern nicht grundsätzlich zu unterbinden, sondern die bisherigen Anwälte durch Ersatzverteidiger zu ersetzen. +Das Land ist im Ausnahmezustand, Schleyer in Lebensgefahr: Nach heftigen Kontroversen stimmen fast alle Abgeordneten dem Gesetz zu. Es legalisierte nachträglich einen schweren Eingriff in die Freiheitsrechte – und wurde danach nie wieder angewandt. Schleyer konnte das Gesetz nicht schützen. Er wurde im Oktober 1977 von der RAF ermordet. + +Selten wurden Abgeordnete im Bundestag so persönlich wie am 13. November 2014: Fast 50 Parlamentarier kamen zu Wort, viele erzählten von ihren Erfahrungen mit Krankheiten, Leiden und dem Sterben, denn das Plenum diskutierte über eine Neuregelung der Sterbehilfe. In Deutschland erlaubt waren damals die passive Sterbehilfe, bei der auf Patientenwunsch auf lebensverlängernde medizinische Maßnahmen verzichtet wird, und auch die sogenannte Beihilfe zum Suizid. Weshalb Organisationen und Vereine assistierte Suizide anboten, manche sogar gegen Bezahlung. Diese Gesetzeslücke wollte das Parlament schließen. + +Dieser Text istim fluter Nr. 91 "Streiten"erschienen +Wegen des ethisch heiklen Themas wurde die Fraktionsdisziplin aufgehoben, was zu ungewöhnlichen Bündnissen führte: Atheisten von der Linkspartei pflichteten gläubigen Christen von der Union bei, der Tod dürfe keine Dienstleistung sein. CDU-Politiker votierten mit Grünen für ein libertäres Recht auf Selbstbestimmung am Lebensende. Andere zweifelten grundsätzlich, ob solche Fragen nicht lieber Betroffene und Ärzte selbst beantworten sollten. Einig war sich der Saal später nur darin, wie respektvoll diese (damals neuartige) "Orientierungsdebatte" abgelaufen war. Michael Frieser, ein CSU-Abgeordneter, sagte sogar: "Ich bin heute stolz, Mitglied des Bundestags zu sein." Ein Jahr später stimmte der Bundestag über die Gesetzentwürfe ab – und beschloss überraschend geschlossen, die geschäftsmäßige Sterbehilfe zu verbieten.Die Debatte hält an: 2020 hat das Bundesverfassungsgericht das Gesetz wieder gekippt. + +Fotos: Uta Wagner/ IMAGO; Stephanie Pilick/dpa/picture alliance; Bernd von Jutrczenka/dpa/picture alliance; DB Steiner/dpa/picture alliance diff --git a/fluter/bundestagswahl-vorgezogener-wahlkampf.txt b/fluter/bundestagswahl-vorgezogener-wahlkampf.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..88c846570409aeb4b2749a5c5197157b125ebcd6 --- /dev/null +++ b/fluter/bundestagswahl-vorgezogener-wahlkampf.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Auch Wähler:innen bleibt weniger Zeit, sich zu entscheiden. +Ja, auch für sie geht jetzt alles viel schneller. Die Briefwahlunterlagen werden voraussichtlich ab Anfang Februar versendet, wobei es regionale Unterschiede geben könnte. Das heißt, für die Briefwahl bleiben etwa zwei Wochen Bedenkzeit. Sie müssen jetzt eilig Entscheidungen treffen, um sich auf ihre Stimmvergabe vorzubereiten: Wieinformiereich mich über die Parteiprogramme? Welche Medien nutze ich, an welchen Veranstaltungen nehme ich teil?Was Familien und Freunde wählen wollen, wird für viele angesichts der Kürze der Zeit vermutlich auch eine große Rolle spielen. Und das alles zum Jahreswechsel, im Winter. Das sind wirklich erschwerte Bedingungen für alle Beteiligten. +Gerade kleine Parteien sind nicht glücklich mit den schnellen Neuwahlen. +Sie waren die letzten Wochen damit beschäftigt, Unterschriften zu sammeln, um überhaupt auf dem Wahlzettel zu stehen. Wer in der Spalte für die wichtige Zweitstimme auftauchen will, braucht eine sogenannte Landesliste. Laut dem Bundeswahlgesetz müssenParteien, die seit der letzten Wahl nicht ununterbrochen mit mindestens fünf Abgeordneten im Bundestag oder in einem Landtag vertreten waren, bis zu 2.000 Unterschriften von Wahlberechtigten für jedes Bundesland nachweisen, in dem sie mit einer Landesliste antreten wollen. Gerade im Winter, wenn nicht viele Menschen auf der Straße anzutreffen sind, kostet das viel Zeit. Generell sind alle Parteien darauf angewiesen, Spenden für denWahlkampfzu erhalten, sie brauchen diese neben der staatlichen Parteienfinanzierung, etwa für Social-Media-Kampagnen, für Plakate, Flyer und Veranstaltungen. Große, etablierte Parteien, aber auch neue Parteien, die viel Aufmerksamkeit in den Medien hatten, wie zum Beispiel das Bündnis Sahra Wagenknecht, haben häufig durch Spenden und Mitgliedsbeiträge mehr Geld zur Verfügung als kleine Parteien. Auch von der staatlichen Parteienfinanzierung profitieren die kleinen nicht wirklich, denn die Höhe ergibt sich aus den Mitgliederzahlen und auch daraus, wie viele Stimmen sie bei den letzten Europa-, Bundes- oder Landtagswahlen bekommen haben. +Ausschlaggebend für die Sitzverteilung im Bundestag ist in Deutschland die Zweitstimme. Damit wählt man die Landesliste von Parteien. Parteien, die seit der letzten Wahl ununterbrochen mit mindestens fünf Abgeordneten im Bundestag oder in einem Landtag vertreten waren, nennt man auch etablierte Parteien. Diese müssen keine Unterschriften sammeln, um eine Landesliste einreichen zu dürfen. +Nicht etablierte Parteien benötigen jedoch, um mit einer Landesliste antreten und dann mit dieser Zweitstimme gewählt werden zu können, eine bestimmte Anzahl von Unterschriften von Unterstützern. Sie müssen pro Bundesland die Unterschriften von einem Tausendstel der Wahlberechtigten des Landes bei der letzten Bundestagswahl bekommen. Diese sind aber auf 2.000 gedeckelt, also mehr als 2.000 müssen es auch für die großen Bundesländer nicht sein. Für kleine Parteien in dünn besiedelten Bundesländern stellt dies eine deutlich größere Herausforderung dar als in bevölkerungsreichen Ländern. +Eine Landesliste brauchen Parteien übrigens nicht nur, um mit der Zweitstimme gewählt werden zu können, sondern seit der letzten Wahlreform auch, um Kreiswahlvorschläge einzureichen, die man dann mit der Erststimme wählen kann. Und dafür müssen noch mal andere Unterschriften gesammelt werden. Wer es ganz genau wissen will, wie das alles funktioniert, kann es auch auf bpb.de nachlesen: +FAQ: Parteien bei der Bundestagswahl 2025 +Gibt es auch Profiteure der vorgezogenen Wahl? +Ich würde allen demokratischen Parteien zusprechen, dass sie ein Interesse daran haben, dassNeuwahlennicht zum Standard werden. Dennzerbricht eine Regierung, kann das immer auch ein Einfallstor fürrechtspopulistische Parteiensein. Sie haben ein Interesse an der Destabilisierung demokratischer Verfahren. Ihre Erzählung lautet dann: Die da oben kriegen überhaupt nichts geregelt, mit uns wäre das anders. Wenn Menschen mit der bisherigen Regierung sehr unzufrieden sind, ist es wahrscheinlich, dass die regierenden Parteien bei der Wahl abgestraft werden. Die Opposition profitiert, weil sie etwas Neues bieten kann. Das muss aber nicht so sein. Wir sehen auch, dass eine deutliche Mehrheit von Menschen inzwischen sagt: Ich traue eigentlich keiner Partei mehr zu, die großen Probleme gebacken zu bekommen. +Die Ampel-Koalition endete mit einem Knall und vielen Vorwürfen. Worauf müssen wir uns in einem kurzen und harten Wahlkampf einstellen? +Jede Partei sieht diesen Bruch durch ihre Brille und versucht, den Menschen im Land ihre Deutung zu vermitteln und die Wahrnehmung zu beeinflussen. Davon würde ich aber nicht ableiten, wie der Wahlkampf verläuft. Und doch hat sich im Vergleich zum Wahlkampf von 2021 etwas verändert. Wir beobachten eine stärkere, affektive Polarisierung. Das heißt, Parteien unterscheiden sich inhaltlich, was für eine Demokratie und denWettbewerberst mal wünschenswert ist. Durch die affektive Polarisierung wird aber nicht mehr über die Unterschiede in der Sache diskutiert, sondern andere Parteien werden alsFeindbilderaufgebaut. Sie signalisieren: "Mit den Grünen – geht überhaupt nicht!", "Die CDU – niemals!" Das hat in den letzten Jahren stark zugenommen – vor allem mit Blick auf die AfD und die Grünen. +Das macht die Regierungsbildung nach der Wahl deutlich schwieriger. +Das können wir gerade schon in Österreich beobachten. Parteien der politischen Mitte sind dort nicht mehr in der Lage, eine stabile Regierung zu bilden. Dabei ist unsere Demokratie auf das Schmieden und Ringen um Kompromisse ausgerichtet. Es ist entscheidend, dass die Parteien der Mitte miteinander einigungsfähig bleiben. Ich glaube nicht, dass wir in Deutschland  schon bei dieser Wahl solche Verhältnisse haben. Langfristig ist die Chance aber groß, dass uns das auch droht. +2021 hat die Flutkatastrophe die Bundestagswahl geprägt. Unter welchem Zeichen steht diese Wahl? +Als die Stellenstreichungen bei VW und Ford bekannt wurden, haben wir gesehen, dass die Wirtschaft eine große Rolle spielte. Seit dem Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt geht es vor allem um Migration und innere Sicherheit. Mit Blick auf den anhaltenden russischenAngriffskrieg gegen die Ukraineund denAmtsantritt von Donald Trumpsind aber auch Außen- und Sicherheitspolitik wichtig. Beide Themenfelder – Wirtschaft und Sicherheit – werden den Wahlkampf prägen. Ob sie aber wahlentscheidend sind, lässt sich nicht vorhersagen. +Bei der Bundestagswahl 2021 war zum Beispiel dieFlutkatastrophe im Ahrtalein großes Thema. Trotzdem schafften es die Grünen nicht, denKlimaschutzzum zentralen Wahlkampfthema zu machen. Sechs Wochen bis zur Wahl sind kurz und gleichzeitig sehr lang. In jedem Fall müssen die Parteien sehr breit aufgestellt sein, um auf alles reagieren zu können. +Bis Februar müssen noch rund 60 Millionen Stimmzettel gedruckt werden. Auch organisatorisch ist diese Wahl eine Herausforderung. +Die Suche nach Wahlhelfer:innen, die Planung der Wahllokale – da gibt es wirklich viel zu tun. Bisher konnten wir allerdings beobachten, dass alles reibungsfrei abläuft. Berlin allein benötigt für den Wahlkampf rund 36.600 ehrenamtliche Wahlhelfer:innen für den 23. Februar und hat diese sehr schnell gewinnen können. +Populistische und rechtsextreme Stimmen säen immer wieder Zweifel am korrekten Ablauf von Wahlen, auch in Deutschland. Wie sicher sind die Wahlen hierzulande? +Die Wahlen sind sicher, es gibt eine strenge Überwachung. In unserer Forschung überprüfen wir, wie vertrauenswürdig Wahlen sind. Diese bewerten wir anhand sehr vieler Kriterien. Würde man sie ausdrucken, wäre die Liste sehr lang: Wurden Fristen eingehalten? Hatten alle Wahlberechtigten die Möglichkeit, ihre Stimme abzugeben? Wurden die Stimmen öffentlich ausgezählt? Die Erzählungen von unsicheren Wahlen gibt es vor allem in der Wählerschaft von populistischen und extremistischen Parteien. Und gleichzeitig kamen die gefälschten Stimmzettel bei der Landtagswahl in Sachsen letztes Jahr genau aus diesem Spektrum. Also Menschen aus dem Lager derer, die anzweifeln, dass die Wahl ehrlich war, versuchten, sie zu manipulieren. Eine Studie von Kollegen zeigte, dass die Menschen etwa durch die notwendige Wiederholung der Landtagswahl in Berlin 2021 insgesamt nicht denken, dass die Wahlen unsicher sind. Vielmehr sehen sie darin eine Fehlerkultur, die wichtig ist und zeigt: Das System funktioniert. + +Dr. Julia Reuschenbach ist Politikwissenschaftlerin an der Freien Universität in Berlin mit dem Schwerpunkt Parteien- und Wahlforschung + + +Titelbild: André Luetzen/laif; Portrait: Tobias Koch diff --git a/fluter/burakumin-japan-diskriminierung.txt b/fluter/burakumin-japan-diskriminierung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..865762e6594927e8baa91bc9c0dc0a1155c0793c --- /dev/null +++ b/fluter/burakumin-japan-diskriminierung.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Rund die Hälfte der Menschen, die heute in diesen Vierteln leben, werden als Nachfahren von Burakumin verstanden – auch wenn eine lineare Verwandtschaft über Generationen zu Menschen mit "unreinen" Berufen nicht immer der Fall ist. Heute schätzt man die Anzahl der Burakumin in Japan auf zwischen eine und drei Millionen, die größtenteils im Westen des Landes in Städten wie Kyoto und Hiroshima in einem der rund 4.000 ehemaligen Buraku-Bezirken zu finden sind. Ihre Viertel werden mit Graffitis beschmiert, die ihren Tod fordern,und auch im Internet erhalten sie Drohnachrichten. +Nishijima Fujihiko kennt diese Geschichten nur zu gut. Er ist Burakumin und seit 50 Jahren in der Buraku Liberation League (BLL) aktiv, die jedoch aufgrund ihrer Vergangenheit umstritten ist. +Die Buraku Liberation League (BLL) ist eine Organisation in Japan, die sich für die Rechte der Burakumin einsetzt. Die Vorgängerorganisation der BLL wurde bereits 1922 gegründet. Es gab in den frühen Jahren immer wieder Diskussionen, inwiefern die Organisation sich sozialistisch orientieren sollte. Vereinzelte Berichte sprechen auch über strategische Gewalt von BLL-Mitgliedern in dieser Phase. Heute agiert die BLL im demokratischen und rechtstaatlichen Rahmen. Über ihre lauten und teils radikalen Aktionen wird dennoch kontrovers diskutiert. + +Das in Japan als Wiegenlied beliebte "Takeda no Komoriuta" wurde ursprünglich von Burakumin gesungen und thematisiert deren Armut +Nishijima ist heute ihr gewählter Generalsekretär. Durch Aufklärung und Bildung will er versuchen, das ewige Stigma zu brechen. "Jeder sollte das Recht haben, stolz auf seine Herkunft und Vorfahren zu sein", sagt er. Das Ziel der BLL sei es, eine Gesellschaft zu schaffen, in der niemand verheimlichen muss, wer er ist. "Wir in der Organisation outen uns offen als Burakumin, um eine Veränderung zu erreichen." +Die BLL zählt heute rund 35.000 Mitglieder, laut Nishijima nur ein Fünftel so viele wie zu Spitzenzeiten. Er erklärt das damit, dass sich die wirtschaftliche Situation von vielen Burakumin bereits verbessert habe und sie die Hilfe der BLL nicht mehr benötigen würden. Heute gibt es zudem weitere Projekte und Einrichtungen, die sich für Aufklärung einsetzen, wie zum Beispiel das Menschenrechtsmuseum Liberty Osaka. Trotzdem gibt es weiterhin genug Betroffene, die sich lieber von ihrer eigenen Burakumin-Identität distanzieren wollen. +"Die Stigmatisierung der Burakumin in Japanist vergleichbar mit der von Hartz-IV-EmpfängerInnen in Deutschland", sagt Monika Zíková. Für ihre Dissertation erforschte die Ethnologin die Minderheit in Japan. Manche Vorurteile über Burakumin halten sich bis heute. Zum Beispiel, dass sie an einem Geruch zu erkennen seien, der von ihren "unreinen" Berufen käme. Ab einem gewissen Punkt könnten solche Zuschreibungen auch internalisiert werden: Als Zíková einmal einen Burakumin zu Hause besuchte, entschuldigte sich dieser mehrmals für "den Gestank" in seiner Wohnung – die Forscherin konnte nicht den geringsten Geruch feststellen. + +Der Sammelbegriff Burakumin beschreibt eine nicht homogene Gruppe, die als die größte japanische Minderheit gilt. Ein Klassensystem, das zwischen etwa 1600 und 1867 in Japan galt und die Gesellschaft in vier Stände einteilte – Krieger, Bauern, Kaufleute und Handwerker – zementierte ihren Status als Ausgestoßene. Die Burakumin befanden sich außerhalb dieses Systems und teilten sich in zwei Gruppen, die "Eta" (穢多, "Beschmutzte") und die "Hinin" (非人, "Nicht-Menschen"). Beide Bezeichnungen werden heute als diskriminierende Beleidigungen verwendet. Sie erledigten die Jobs, die mit Tod oder Gestank zu tun hatten, wie Metzgerei, Gerberei oder Grabwache. +Je stärker man sich optisch und im Alltag unterscheidet, meint Zíková, umso leichter falle es auch, eine Gruppe zu marginalisieren. Weil sich die Burakumin äußerlich nicht von vielen anderen Menschen in Japan unterscheiden, wurde ihre äußere Abgrenzung früher vorgegeben: Die Vorfahren der Burakumin mussten in manchen Dörfern ein rechteckiges Stück Leder sichtbar an der Kleidung tragen. Sie durften vom Rest der Gesellschaft nicht berührt werden – und falls es doch dazu kam, musste man sich rituell reinigen. Vor Gericht war ihr Leben nur ein Siebtel eines "normalen" Bürgers wert. "Minderheiten sind praktisch, wenn man jemandem die Schuld für etwas geben will oder sich selbst aufwerten möchte", sagt Monika Zíková. +1871 wurden die Buraku-Viertel offiziell aufgelöst und die Burakumin dem Rest der Bevölkerung gleichgestellt – entgegen heftiger Proteste der Mehrheitsbevölkerung. Bis 1881 gab es 200 Aufstände, die zum Teil als "Jagd" bezeichnet wurden. Einen blutigen Höhepunkt gab es 1873 in Mimasaka, wo 18 Burakumin starben und 263 ihrer Häuser in Brand gesteckt wurden. Doch aus Mangel an Alternativen und Akzeptanz blieben viele auch nach der Gleichstellung in ihren oft heruntergekommenen Vierteln. +Trotz der Gleichberechtigung, finanzieller Förderprogramme zum Aufbau der Viertel und leichter Verbesserung der wirtschaftlichen Lage arbeiten heute 81 Prozent der Burakumin in ländlichen Gebieten in der Bauindustrie oder weiterhinin traditionellen Gewerben wie Schlachtereioder Lederherstellung. Sie verdienen 70 Prozent des durchschnittlichen Einkommens und brechen dreimal häufiger ein Studium ab als der Rest der Bevölkerung. Obwohl es verboten ist, jemanden öffentlich als Burakumin zu outen, kursieren beispielsweise unter Arbeitgebern illegale Dokumente, die Wohnorte und Namen der Burakumin auflisten und sie dadurch identifizierbar machen. Diese Listen führten in einzelnen Fällen zu Kündigung, Scheidung oder Suizid. +Seit 100 Jahren kämpfen Burakumin für ihre Gleichberechtigung in der japanischen Gesellschaft. Ob es weitere 100 Jahre dauern wird, bis diese tatsächlich erreicht wird, weiß Generalsekretär Nishijima nicht. "Wir sind absolut bestürzt, dass die Diskriminierung immer noch existiert", sagt er. Er und die anderen Menschen der Buraku Liberation League wollen eine Gesellschaft schaffen, in der ein freies Leben möglich sein kann. "So bald, wie es nur geht." +Die Bilder in diesem Artikel stammen aus der Fotoserie "NIHON-JIN, BURAKU-MIN: Portraits of Japan's outcast people" des Fotografen Masaru Goto und sind aus dem Jahr 2007. Aktuellere Arbeiten zu diesem Thema finden sich kaum. diff --git a/fluter/burning-days-alper-tuerkei-filmfoerderung.txt b/fluter/burning-days-alper-tuerkei-filmfoerderung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..46a85efa2e87ad21e5ae1a3a075d5686e848c6b9 --- /dev/null +++ b/fluter/burning-days-alper-tuerkei-filmfoerderung.txt @@ -0,0 +1,47 @@ +"Burning Days" erzählt die Geschichte von Emre, einem jungen Staatsanwalt, der in eine anatolische Kleinstadt berufen wird, die von einer Wasserkrise betroffen ist. Es ist ein Film über Korruption, Machtgerangel und politische Skandale. Hätte er überall spielen können? +Die schrecklicheautoritäre, konservative Atmosphäre hier in der Türkeiwar schon der Funken für diesen Film. Die Geschichte ist lokal angelegt, aber die Ängste, Hoffnungen, Schwächen und Erwartungen der Menschen findet man überall. Das wurde mir klar, als ich an der Geschichte gearbeitet habe. Dann habe ich Zeit und Raum unkenntlich gemacht, die Verbindungen zur aktuellen Politik reduziert. +Du hast den Film universeller gemacht. +Ja. Aber um ehrlich zu sein: Dass ein urbaner Intellektueller aufs Land geht und versucht, die Verhältnisse zu verbessern, ist eine verbreitete Geschichte im türkischen Kino und in der türkischen Literatur. Oft sind die Figuren in diesen Geschichten von Idealismus durchtränkt. Das sind Karikaturen, gut bis auf die Knochen. Dabei denken selbst Idealisten irgendwann an ihren Vorteil, sie lügen, betrügen, machen Fehler oder auch mal gar nichts. Ich bin auf dem Land aufgewachsen unter genau solchen Richtern, Staatsanwälten und Politikern wie in "Burning Days". Ich wollte im Film Menschen zeigen, wie wir sie im wirklichen Leben treffen. + + +Wie macht man das? +Bei mir funktionieren genaues Hinschauen und Distanz zum Drehbuch. Ich schreibe eine Fassung fertig und lasse sie für Monate liegen. Dann liest man den Text, als hätte ihn jemand anderes geschrieben. Meine Filme brauchen dadurch etwas länger. Aber die Beantragung von Fördermitteln und das Beschaffen von Geld für den Film dauern ja auch oft Jahre. +Deinen Fall hat gerade die Finanzierung bekannt gemacht. +Nach der Premiere bei den Filmfestspielen in Cannes und wenige Tage vor dem offiziellen Kinostart in der Türkei forderte das Kulturministerium die finanzielle Unterstützung für den Film zurück. Meine Filme hatten es bei der öffentlichen Förderung immer schwer, nur zwei wurden mit staatlichen Mitteln gedreht. +Wer entscheidet in der Türkei, welche Filme gefördert werden? +Die Mittel im Bereich Kunst und Kultur werden nicht wie in Deutschland oder anderen europäischen Ländern dezentral vergeben, sondern von einer Jury. Viele Mitglieder kommen aus der Filmindustrie. Aber das Ministerium für Kultur und Tourismus kann die Förderungsentscheidungen der Jury zurückrufen. Lange schien es, als würden Jury und Ministerium auf Augenhöhe agieren. Bis es 2019 eine Satzungsänderung gab. +Wenn ich es richtig verstanden habe, wurde damals beschlossen, dass das Ministerium ein Drehbuch, das eine Förderung bekommen hat, mit der Version des Drehbuchs abgleichen darf, nach der der Film tatsächlich gedreht wurde? +Genau. Änderungen am Drehbuch müssen nun noch mal zur Genehmigung vorgelegt werden. Dabei fördern Staaten überall auf der Welt einfach die Drehbücher und lassen Regisseur und Team dann in Ruhe arbeiten. Das ist ja auch sinnvoll: Ein Drehbuch ist wie eine Route. Die kann und muss man während der Dreharbeiten oder sogar noch in der Postproduktion immer wieder ändern. +Was sollte mit dieser Änderung bezweckt werden? +Ich glaube, Regisseure sollen an Geschichten gehindert werden, die die Regierung und ihr Weltbild in irgendeiner Weise angreifen. Regierungskritisches, Drogen, Homosexualität, Zweifel an der nationalen Identität, sowas will man hier nicht zeigen. Die Regisseure und Produzenten müssen in offiziellen Berichten darlegen, warum sie Nebenstränge oder Charaktere im Drehbuch ändern wollen. Da drehen manche Filmemacher durch, es gibt einfach selten einen klaren Grund für eine Änderung. Das sind sehr intuitive Vorgänge. Ich glaube nicht, dass man ein objektives Urteil darüber fällen kann, ob Änderungen am Drehbuch eines anderen geeignet sind oder nicht. +Werden die Änderungen häufig abgewiesen? +Das weiß ich nicht. Ich bin aber der Erste, von dem sie die Fördermittel zurückfordern. +Was glaubst du, woran das liegt? +Das Ministerium erklärte, dass es die am Drehbuch vorgenommenen Änderungen nicht gutheiße. Für mich ist klar, warum: Die Änderungen haben denen politisch nicht gefallen. Zwischen dem Staatsanwalt und einem Journalisten entwickelt sich im Film eine Liebesbeziehung, die stand in der ersten Fassung des Films noch nicht drin. +Weil du wusstest, dass diese Änderung zu Problemen führen könnte? +Nein. Ich habe dem Ministerium die endgültige Fassung vorgelegt – mit der Beziehung zwischen den männlichen Charakteren – und dann keine Antwort mehr erhalten. Wir haben gedreht, wir haben den Film produziert, wir haben die Bänder dem Ministerium übergeben. Nie gab es Probleme. Bis der Film in Cannes lief und für eine Queer Palm nominiert wurde. Dann brach die Hölle los. +Regierungsnahe Medien haben berichtet, dass es sich bei dem Film um queere Propaganda handele … +… und dass wir das Ministerium betrogen hätten, weil wir ihr Geld nehmen, um einen ganz anderen Film zu drehen. Ich vermute, die Aufmerksamkeit hat das Ministerium unter Druck gesetzt. Denn in der Jury fanden alle Mitglieder, die das erste Drehbuch kannten, meine Änderungen richtig. Sie waren glücklich über die Nominierungen, die der Film in Cannes und auf dem Filmfest in Antalya erhalten hat. Aus Jurykreisen weiß ich, dass die Förderung auf Intervention des Ministeriums zurückgenommen wurde. +Der Film ist seinem Erfolg zum Opfer gefallen. +Ich glaube schon. Wenn der Film auf keinem Festival angenommen, nie für einen Preis nominiert worden wäre, wäre er in aller Stille gelaufen. Wir haben Ärger, weil wir viel richtig gemacht haben. + + +Die Fördergelder habt ihr bereits zurückgezahlt. In den vergangenen Jahren ist es in der Wirtschaftskrise in der Türkei schwieriger geworden, Filme zu machen. Gibt es Möglichkeiten, einen Film ohne die öffentliche Filmförderung zu finanzieren? +Du brauchst Co-Produzenten aus dem Ausland, die in ihrem Heimatland Fördermittel beantragen. Auch weil das Geld, das das Ministerium gibt, nicht ausreicht, um einen Film zu produzieren. Die Filmförderung wird seit Jahren gekürzt. Zuletzt wurde eine Unterstützung von eineinhalb Millionen Lira angekündigt. Für einen Indiefilm brauchst du das Fünffache. +Und ein Co-Produzent aus dem Ausland ist ein Rettungsanker für den Film? +Nicht unbedingt. Rechtlich ist es meistens so, dass das Geld, das du im Ausland bekommst, auch dort ausgegeben werden muss. Wenn du in Deutschland einen Topf mit 80.000 Euro kriegst, musst du also die Postproduktion in Deutschland machen, einen deutschen Kameramann oder Assistenten anstellen. +Wie würdest du die Filmförderung aufstellen? +Ich finde, zunächst sollte die Förderung verdoppelt oder verdreifacht werden. Dann bräuchte es einen unabhängigen Kunstausschuss, der festlegt, an wen die Gelder vergeben werden. Und neben dem Ministerium sollten auch Fernsehsender und Digitalplattformen Projekte entwickeln, die nach künstlerischen, nicht nach politischen Kriterien bewertet werden. +Das"Anti-Desinformations-Gesetz"schränkt die Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei weiter ein.Mittlerweile werdenselbst die internationalen Streamingdienste von türkischen Behörden blockiert. Du sagst: Als Filmemacher muss man sich in der Türkei jeden Tag zwischen Selbstzensur und Widerstand entscheiden. +Ich versuche, nicht einzuknicken. Ich versuche es wirklich! Aber vielleicht ist es schon zu spät. Wenn du deine ganze Karriere um die Zensur herumtänzelst, atmest du die Verbote und roten Linien ein, bis du sie kaum noch erkennst. Vielleicht zensieren wir unsere eigenen Geschichten von Anfang an, unbewusst. Ich weiß es nicht. +Eine deiner Co-Produzentinnen ist Çiğdem Mater. Sie soll 2013 die Proteste im Gezi-Park mitorganisiert haben und wurde zu 18 Jahren Haft verurteilt. +Für Çiğdems Fall habe ich keine Worte. Sie und ihre Freunde wurden völlig unrechtmäßig und ohne Beweise verhaftet. Osman Kavala(ein Mäzen und Menschenrechtsaktivist, der wegen Unterstützung der Gezi-Proteste zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, Anm. d. Red.)sitzt seit Jahren im Gefängnis. Ich denke, die Regierung hat erkannt, wie absurd es ist, Kavala allein festzuhalten. Sie haben Çiğdem und die anderen verhaftet, um Gezi als eine Organisation erscheinen zu lassen. Çiğdem lebte in Deutschland, sie ist extra für den Prozess wieder in die Türkei zurückgekommen. +Sie wurde auch wegen Fluchtverdachts verhaftet. +Jeder hier weiß, dass diese Leute unschuldig sind. Bis auf den einen Mann da oben, der dafür verantwortlich ist. Wir müssen die Rechtsstaatlichkeit zurück in die Türkei holen. Ich hoffe, die Wahlen beenden diesen Wahnsinn. +Bist du zuversichtlich? +Ja. Bei früheren Wahlen war ich es nicht. Die Opposition hat Fehler gemacht, aber die Fehler der Regierung sind viel größer. Wenn wir faire und freie Wahlen bekommen, glaube ich, dass die Wahl die Dinge im Land ändert. + + +Emin Alper ist einer der wichtigsten politischen Filmemacher der Türkei. Das Interview wurde auf Türkisch geführt und dann übersetzt. (Foto: Muhsin Akgün) + +Fotos: The Match Factory diff --git a/fluter/busfahrer-fachkraeftemangel-nahverkehr.txt b/fluter/busfahrer-fachkraeftemangel-nahverkehr.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d5a13e6f0caa1219908326bfa27ce61705ca682e --- /dev/null +++ b/fluter/busfahrer-fachkraeftemangel-nahverkehr.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Auf dem Lenkrad des N11 prangt ein Löwe, der an die Logos von Sportwagen erinnert, aber Laxay fährt im Schritttempo zur nächsten Haltestelle vor. Alle aussteigen, bitte. Sein Ausbilder deutet mit dem Finger raus, auf die Gleise: Da fährt die Straßenbahn. Aber nur tagsüber,nachts dann der Nightliner. +"Einweisung in die Fahrlinien" heißt dieser Teil der dreijährigen Ausbildung. Es gibt Theorie- und Praxisblöcke, am Ende sollen die Auszubildenden die rund 70 Buslinien im Großraum Nürnberg mit allen Eigenheiten auswendig kennen. Die Lehre beschränkt sich nicht auf den Bus. Die Fachkräfte im Fahrbetrieb, kurz FiFler, lernen auch die U- und S-Bahnen kennen, bekommen einen Einblick ins Kundencenter oder in die Finanzverwaltung. Laxay findet vor allem die Servicedienste spannend. Die helfen zum Beispiel als Erstbetreuer bei Unfällen. "Da fährt man im Funkwagen mit. Blaulicht, Action, hat schon was." +Dieser Text istim fluter Nr. 92 "Verkehr"erschienen +Seine Route führt langsam raus aus Nürnberg. Laxay manövriert den Bus zwischen einem Bordstein und einer Baustelle hindurch, Millimeterarbeit. "Man muss mitdenken und lenken. Eine viel größere Herausforderung als auf Schienen", sagt er. +Als Kind hat er diesem Moment entgegengefiebert. Laxays Kinderzimmer steht voller Modellbusse, er macht mit seinen Eltern Ausflüge zum Bahnhof, sie steigen spontan in Busse ein, die Laxay gefallen. Am liebsten ist ihm die Linie 36, mit der ihn seine Mutter zum Kindergarten bringt. Fotos zeigen einen aufgeregten Jungen beim Tag der offenen Tür der VAG, hinter dem Steuer. "Heute sitze ich genau da", sagt Laxay. "Da bin ich schon ein bisschen stolz auf mich." +In diesem September bleiben acht der 22 Ausbildungsstellen für FiFler unbesetzt, zum ersten Mal. "Früher haben die uns die Türen eingerannt", sagt Pressereferentin Susanne Jerosch. Inzwischen sei es zunehmend ein Arbeitnehmermarkt geworden: Bewerber haben mehr Auswahl und dadurch eine bessere Verhandlungsposition. +Um gegenzusteuern, versucht die VAG, auf die Menschen zuzugehen. Beim Bewerbungsbus am Hauptbahnhof können sich die Leute direkt bewerben. Für Angestellte sind seit diesem Jahr Wunschurlaube möglich, und im Hauptgebäude gibt es einen Fitnessraum. Der VDV fordert die Zuwanderung von Arbeitskräften aus dem Ausland und mehr Teilzeitstellen, um gezielter auch Frauen anzuwerben, die aktuell nur 20 Prozent der Beschäftigten ausmachen. +Der wichtigste Anreiz dürfte aber das Gehalt sein, sagt Andreas Knie, Mobilitätsexperte am Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung. "Der Fachkräftemangel bei den Verkehrsverbünden ist hausgemacht", sagt er. Die Fahrer würden schlichtweg zu schlecht bezahlt. Bei der VAG verdienen Fachkräfte im Fahrbetrieb nach der Ausbildung mittlerweile 3.200 Euro monatlich. Es habe zuletzt eine Lohnsteigerung von 15 Prozent gegeben, sagt Pressereferentin Jerosch. +Kurz vor zwölf, Zeit für die Mittagspause. Laxay fährt den Nightliner auf den Bus-Port. Dutzende E-Busse hängen hier an Ladesäulen. Bis 2030 sollen alle Busse der VAG elektrisch sein. Und, wie hat sich Laxay gemacht? Der Ausbilder nickt. "Man merkt ihm an, dass er richtig Lust aufs Fahren hat. Das ist nicht bei allen so." +Ob Laxay immer hinter dem Steuer sitzen wird, weiß er noch nicht. Er holt parallel sein Abitur am Abendgymnasium nach, vielleicht will er noch studieren. Bei der VAG wechseln ambitionierte Auszubildende wie er später oft an den Schreibtisch. +"Laxay Kapoor, künftiger Chef der Verwaltung", sagt einer seiner Azubi-Kumpel in der Kantine. Es riecht nach Currywurst und Pommes. Laxay schüttelt über seiner Schale mit Melonen-Feta-Salat den Kopf. "Ich glaube, ganz könnte ich nicht auf das Fahren verzichten. Es würde mir fehlen." diff --git a/fluter/butscha-tagebuch-russischer-terror.txt b/fluter/butscha-tagebuch-russischer-terror.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c2fbeb3f304a66e4049c10c3395af5f72405605f --- /dev/null +++ b/fluter/butscha-tagebuch-russischer-terror.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Kurz vor Kriegsbeginn hatte sich mein Freund von mir getrennt und war in eine andere Stadt gezogen. Ich hatte ihn geliebt, nun war mein Leben trist geworden. Ich dachte, ich hätte nichts mehr zu verlieren, fühlte nichts – bis die ersten Bomben fielen. +"GEH ANS TELEFON. Bitte mach dir keine Sorgen. Es ist Krieg, wir werden dich abholen. Bei uns ist es sicherer", schrieb ich meiner Großmutter. Meine Mutter und ich fuhren zu ihr, um sie zu uns nach Butscha zu bringen. Aus irgendeinem Grund glaubten wir, dass sie hier sicherer sein würde. +Oma stand unter Schock. KRIEG. Wann gab es das zuletzt? Eilig packte sie ihre Taschen. Wir nahmen ein Taxi zurück nach Butscha. Die Straßen waren voll, viele Menschen flüchteten in Richtung der polnischen Grenze. Zwanzig Minuten später, als wir endlich wieder zu Hause waren, begannen die Russen, Hostomel, einen Nachbarort nördlich von Butscha, zu bombardieren. Da bekam ich eine Panikattacke. Ich hörte die lauten Explosionen, sank zu Boden und brach in Tränen aus. Mir wurde klar, dass es ernst war – und dass es andauern würde. +Ich brauchte drei Tage, bis ich mich an die ständigen Explosionen gewöhnt hatte. Wir zogen in den Flur und schliefen dort auf einer Matratze. Wir vermieden es, hinauszugehen oder auch nur in die Nähe der Fenster. +Über Telegram informierte ich mich über die Lage. Leute schrieben Nachrichten wie "Scheiße, hier sind eine Menge Panzer auf den Straßen". Wir hörten nun permanent ohrenbetäubende Schüsse und Granatenexplosionen. Ich sah ein Video, in dem russische Soldaten das Panzerdenkmal auf dem Gartenplatz in der Nähe von uns beschossen, weil sie es für ein echtes Militärfahrzeug hielten. +Ich wusste, dass etwas Schlimmes passieren würde. Es war furchtbar. Ich fing an zu weinen, meine Mutter betete, und dann ... +*BUMM* +Eine sehr laute Explosion – direkt über unseren Köpfen. Als würde das Haus einstürzen. Jetzt sind wir obdachlos, dachte ich und schrie. Um mich zu beruhigen, sang meine Mutter ein Schlaflied. Ich umarmte sie fest, als ... +*BUMM* +... eine zweite Granate einschlug. Das ist das Ende, dachte ich. Immerhin war der Hausflur noch intakt. Ich kroch auf allen vieren zu einem Fenster und schaute hinaus. Unsere Wohnung lag im vierten Stock, und die Granate hatte den neunten Stock getroffen. Das Gebäude war zwar offenbar beschädigt, aber nicht zerstört worden. Wir würden weiter hier wohnen können. +Wir zogen um in den großen Keller und suchten uns einen Raum zum Schlafen. Für Oma bereiteten wir einen Platz auf dem Boden, während meine Mutter und ich auf Stühlen im Sitzen schliefen. Es war die Hölle. Es ist schwer zu beschreiben, wie kalt es dort war. +"Ab heute leben wir alle in Russland", sagten die Leute, als wir an diesem Morgen aus dem Keller kamen. Zu diesem Zeitpunkt ahnten wir noch nichts von den Massakern in unserer Stadt. Der Gedanke, dass russische Soldaten Zivilistinnen und Zivilisten töten würden, kam uns abwegig vor. +Die Russen liefen herum und kontrollierten jede Wohnung und jeden Keller. Aus Angst, dass jemand in unseren Kellerraum kommt, hatten wir eine Schaufel unter die Türklinke geklemmt. Einige unserer Nachbarinnen und Nachbarn waren noch nicht in den Keller umgezogen, sie waren für mich eine Art Versicherung: Solange sie in ihren Wohnungen lebten, war alles noch irgendwie in Ordnung. In unsere Wohnung gingen wir nur, um die Toilette zu benutzen, uns die Zähne zu putzen und für ein Minimum an Hygiene. Dazu benutzten wir das Wasser, das wir am ersten Tag des Kriegs in großen Eimern gesammelt hatten, denn Leitungswasser und Strom gab es nicht mehr. Weil eine weitere Granate ein großes Loch in das Gebäude gerissen hatte, war es sehr kalt. Die Hälfte der Fenster war kaputt. Wenn ich auf die Toilette ging, trug ich zwei Strumpfhosen, zwei Hosen, vier Pullover und eine Sturmhaube. Einmal, als ich mich gerade im Bad auszog und Explosionen hörte, dachte ich nur: OKAY, GOTT, JETZT HÖR MIR ZU: ICH WILL NICHT AUF DER TOILETTE STERBEN. +Als später auch das Gas ausfiel, kochten wir im Freien über einem Feuer. Zum Essen gingen wir wieder in den Keller. Es ist absurd, doch alles, woran ich im Keller denken konnte, war Sex. Je mehr Explosionen ich hörte, desto mehr Sexgedanken drängten sich in meinen Kopf. +Wir wussten nicht, wie lange die Besatzung dauern und ob es gesicherte Fluchtwege geben würde, also wurde die Gefahr des Verhungerns real. Der Inhaber des Supermarktes erlaubte den Menschen, kostenlos Lebensmittel mitzunehmen. Wir füllten drei Tüten für uns, während ein russischer Soldat mit Gewehr patrouillierte. Ich starrte ihn an, aber er machte sich nicht einmal die Mühe, zurückzuschauen. +In dieser Nacht freundeten wir uns mit den anderen Menschen im Keller an. Wir tranken zusammen Wein, und alles fühlte sich plötzlich normal an – alles bis auf eins: Es gab Gerüchte über Hinrichtungen. Wir hörten Geschichten über Zivilistinnen und Zivilisten, dievon den Russen ermordet worden waren. Und die Geschichte einer Familie, die bei der Flucht aus Butscha getötet wurde. +Meine Einstellung zum Tod änderte sich. Ich lag im Keller und wusste, dass direkt über uns russische Panzer rollten, und dachte: Gott, mein Leben war so perfekt. Es wäre ein Segen, wenn ich jetzt hier sterben würde. Das Einzige, was ich noch will, ist, dass meine Bilder sicher sind. +Meine Mutter fühlte sich für unsere Sicherheit verantwortlich und sah die Evakuierungen kritisch. Sie waren sehr gefährlich. Wir hörten Geschichten über Busse, die von Russen beschossen worden waren. Im Keller dagegen hatten wir inzwischen eine wohnliche Atmosphäre geschaffen, alle halfen sich gegenseitig, teilten das Essen, waren freundlich zueinander. Wir waren fast ein wenig verärgert, als die Evakuierungen begannen. +Ich telefonierte mit meinem Ex-Freund und bot ihm an, in unseren Keller zu ziehen, was er auch tat. Nachdem sich immer mehr Menschen evakuieren ließen, fühlten wir uns immer einsamer. Wie üblich verließen wir den Keller gegen Mittag, um Wasser aus der Wohnung zu holen und Suppe zu kochen. Zurück im Keller, beim Essen, hörten wir plötzlich ein seltsames Geräusch. Meine Mutter bat mich und meinen Ex-Freund, nachzusehen. Draußen standen plötzlich zehn russische Soldaten mit Gewehren vor mir. Sie alle starrten auf meine bescheuerte Hose, die ich schon seit Kriegsbeginn anhatte. Obwohl meine Beine zitterten, drehte ich mich um und ging langsam davon. Später im Keller hatte ich Angst davor, dass die Russen kommen und uns alle hinrichten würden. +Als wir gegen neun aufwachten, machten sich alle um uns herum für die Evakuierung bereit. Wenn wir blieben, würden wir allein sein – auch mein Ex-Freund war gerade bei seiner Großmutter zu Besuch. Wir wussten nicht, was sicherer war: gehen oder bleiben. Schließlich hörten wir auf unser Bauchgefühl, das uns sagte, dass es in Butscha bald noch schlimmer würde. +So schnell wie möglich packten wir unsere Taschen. Ich nahm all meine Tagebücher, Erinnerungsstücke und meine geliebten Green-Day-T-Shirts mit. Unser Geld verteilten wir auf verschiedene Taschen und Beutel, falls die Russen versuchen würden, es zu konfiszieren. Meine geliebten Bilder brachte ich in den Keller. Als wir die Wohnung verließen, traf ich auf meinen Ex-Freund. Er hatte keine Ahnung, dass wir fortgingen. Wir starrten uns an, und unsere Blicke sagten alles: Ich konnte nicht länger hierbleiben, er dagegen musste bleiben, weil er seine kranke Großmutter nicht in Butscha zurücklassen konnte. Ich weinte und fühlte mich wie eine Verräterin. +Unser Bus sollte von einem Hotel im nördlichen Teil Butschas abfahren. Wir liefen insgesamt vier Kilometer dorthin, in einer Gruppe von etwa 150 Personen. Überall um uns herum waren Explosionen und Schüsse zu hören. Aber wir spürten keine Angst mehr. Nachdem wir den Bus endlich gefunden hatten, stiegen wir ein und saßen dort in völliger Stille. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt weder etwas gedacht noch gefühlt. Beim Gedanken an die Evakuierung hatten wir noch befürchtet, dass die Russen auf die Busse schießen würden, aber als wir im Bus saßen, dachten wir nicht mehr daran. +Schließlich erreichten wir Bilohorodka, südwestlich von Kyjiw, das bereits wieder unter ukrainischer Kontrolle war. Wir wurdenvon Freiwilligen begrüßt, die Mittagessen an uns verteilten. Wir tranken Tee und weinten. Ich fühlte mich so leer und erschöpft. Ich dachte an meinen Ex-Freund, der noch in Butscha war. Ich betete, dass auch er evakuiert würde. + +Titelbild: Daniel Berehulak/NYT/Redux/laif diff --git a/fluter/caesar-fotos-syrien-le-caisne.txt b/fluter/caesar-fotos-syrien-le-caisne.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..af0c86a83dae3d3ab93edf189ea8513e52a013af --- /dev/null +++ b/fluter/caesar-fotos-syrien-le-caisne.txt @@ -0,0 +1,33 @@ + +fluter.de: Caesar hat sein Leben riskiert, um Beweise für die Verbrechen des syrischen Regimes zu veröffentlichen. Seitdem lebt er in völliger Anonymität irgendwo in Europa. Sie haben es 2014 als erste Journalistin geschafft, Caesar zu interviewen. Wie haben Sie das gemacht? +Garance Le Caisne: Ich arbeite seit vielen Jahren zu Syrien und war oft dort. Als die Caesar-Fotos 2014 in Frankreich gezeigt wurden, schrieb ich einen Artikel. Daraufhin fragte mich ein Verlag, ob ich ein Buch über Caesar schreiben möchte. Ich sagte direkt zu, ohne eine Ahnung zu haben, wie schwer er zu finden sein würde. Dieser erste Artikel hat mir dabei aber geholfen, meine ich: Einige meiner Artikel wurden ins Arabische übersetzt. So konnten Caesar und seine Mitstreiter verstehen, wie ich arbeite, wie ich über diesyrische Revolution gegen Assadberichte. Das hat bestimmt geholfen, das Vertrauen zu gewinnen. Ich traf zuerst Mittelsmänner aus der Gruppe rund um Caesar, über Monate führte ein Kontakt zum nächsten. +Die Arabische Republik Syrien ist offiziell ein sozialistisch-volksdemokratischer Staat mit einem Präsidenten an der Spitze und einem mächtigen Sicherheitsapparat. Seit 1970 regiert die Familie al-Assad das Land diktatorisch, seit 2000 herrscht Baschar al-Assad. +2011 gab es zunächst friedliche Proteste der Bevölkerung gegen seine Diktatur. Das Regime ging mit Gewalt gegen die Bevölkerung vor. Es kam zum Bürgerkrieg, an dem sich immer mehr Parteien, darunter die Terrorgruppe "Islamischer Staat", aber auch fremde Staaten (etwa Russland oder Iran) beteiligen. Nach verschiedenen Schätzungen wurden in dem Bürgerkrieg mehr als 500.000 Menschen getötet, darunter mehr als 30.000 Zivilistinnen und Zivilisten, 10 bis 13 Millionen Menschen sind aus Syrien geflohen. +Auf seinen Fotos sieht man nackte, misshandelte und abgemagerte Leichen. Auf ihren Stirnen kleben Zettel mit den Häftlings- und Abteilungsnummern. Die Fotos dokumentieren eine staatliche Foltermaschinerie. Wie ging es Ihnen, als Sie sie das erste Mal sahen? +Ich habe reagiert wie die meisten Menschen im Westen: erst mal gar nicht. Ich war wie gelähmt. Der Schock kam später, als ich mit den Überlebenden sprach. Es ist unbegreiflich, dass uns da Farbfotos zeigen, wie Menschen jetzt gerade zu Tode gefoltert werden oder in überfüllten Zellen verhungern. Diese Informationen erreichen einen nicht. +Es braucht jemanden, der sie einem erklärt. +Genau deshalb wollte ich unseren Film "The Lost Souls of Syria" drehen. Man muss die Fotos mit Zärtlichkeit betrachten, das waren Menschen, die geliebt wurden, die Familien, Kinder, Eltern, Geschwister hatten. + + +Sie verraten keine Details über Caesar. Aber können Sie sagen, wie es ihm heute geht, fast zehn Jahre nach ihrem ersten Treffen? +Er ist oft deprimiert, weil Assad noch an der Macht und in Syrien Krieg ist. Ich glaube, diese Enttäuschung vergeht erst, wenn Assad selbst auf der Anklagebank sitzt. Caesar will zurück nach Hause, wie so viele syrische Geflüchtete. Und es ist natürlich psychisch belastend, dass er sich nicht zeigen, seinen Namen nicht nennen, mit kaum jemandem über seine Rolle sprechen darf. Es ist doch so: Caesar hat etwas sehr Mutiges getan, und jetzt ist er gewissermaßen ein Gefangener seines Mutes. +Kann er ein normales Leben führen, mit Arbeit, Freundeskreis, einem Alltag? +Dazu kann ich nichts sagen. +Sie haben Ihren Film schon angesprochen. "The Lost Souls of Syria" läuft jetzt auch in Deutschland in den Kinos. Sie und Regisseur Stéphane Malterre haben fünf Jahre lang die Familien der Opfer begleitet, die vor europäischen Gerichten um Gerechtigkeit kämpfen. Spielen die Caesar-Fotos eine Rolle bei den Ermittlungen und Gerichtsprozessen? +Sie sind das Herzstück vieler dieser Kämpfe. Und in den Prozessen ein wichtiges Puzzleteil, neben den Aussagen der überlebenden Häftlinge, der Insider und Experten. +In Koblenz wurden die Fotos erstmals vor Gericht gezeigt, analysiert von einem forensischen Experten. Vergangenes Jahr wurden zwei ehemalige Geheimdienstmitarbeiter wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. +Danach begann in Frankfurt ein Prozess, bei dem es um medizinische Gewalt geht. Jetzt läuft ein Prozess in Berlin, der sich mit Jarmuk befasst, einem Vorort der Hauptstadt Damaskus, den das Regime belagert und ausgehungert hat. Weitere Ermittlungen in Europa widmen sich dem Einsatz von Chemiewaffen. Diese verschiedenen Puzzleteile und Prozesse werden irgendwann ein vollständiges Bild der syrischen Kriegsverbrechen ergeben. +Für den Film haben Sie allerdings Menschen begleitet, die nicht nur unglaubliche Gewalt und Verluste erlebt haben, sondern immer wieder von der Justiz enttäuscht wurden – obwohl die Verbrechen des Regimes so erdrückend klar scheinen. +Die Gespräche mit ihnen haben mich sehr berührt. Dafür habe ich mich lange geschämt. Gerade wenn man eine Frau ist, denken Leute, man sei nicht stark genug, wenn man berührt ist. Auch als Journalistin heißt es immer, man solle ein Thema sein lassen, wenn man damit nicht klarkommt. Bei der Arbeit am Film wurde mir klar, dass das Gegenteil von Gefühl nicht Vernunft ist, sondern mangelnde Sensibilität. +Im fluter-Film erzählen syrische Geflüchtete, wie sie ihre neue Heimat Deutschland sehen +Für Sie war es also genau richtig, sich derart bewegen zu lassen. +Wir können bewegt sein und trotzdem vernünftig unseren Job machen. Wir müssen von solchen Geschichten sogar bewegt sein, sonst können die Opfer und deren Familien nicht offen mit uns sprechen. Wenn Angehörige verschwinden oder gefoltert werden, ist das ein unendlicher Schmerz. Menschen zu isolieren und zum Schweigen zu bringen ist aber genau das Ziel dieser Verbrechen. Will man gegen sie kämpfen, muss man zuhören und helfen, das Schweigen zu brechen. +Syrien ist nicht Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH). Der könnte also nur gegen das Regime ermitteln, wenn er vom UN-Sicherheitsrat beauftragt wird. Was Assads Verbündeter Russland und China immer wieder durch ihre Vetos verhindert haben… +Dafür wird in den vergangenen Jahren öfter dasWeltrechtsprinzipgenutzt. +So wie in Koblenz, wo syrische Beamte von einem deutschen Gericht verurteilt wurden. Das Weltrechtsprinzip erlaubt auch einzelnen Staaten, schwere internationale Verbrechen anzuklagen. +Ich halte das für eine enorme Entwicklung. Viele Menschen denken, der IStGH stünde ganz oben in der Hierarchie, aber so ist es nicht. Im Statut des IStGH steht, dass nationale Gerichte aktiv werden sollen, wenn er es nicht kann. Sie sollen sich gegenseitig ergänzen. Dass nationale Gerichte sich für die syrische Sache öffnen, finde ich wundervoll und historisch bedeutend – nicht nur für Gewaltopfer in Syrien. Übrigens war der Prozess in Koblenz der weltweit erste gegen Täter des syrischen Foltersystems. Wenn man sich die deutsche Geschichte ansieht, finde ich es beeindruckend und wichtig, dass Deutschland hier gerade eine Vorreiterrolle einnimmt. +Normalerweise verfolgt ein Staat Verbrechen, die auf seinem Territorium (Territorialitätsprinzip), von oder an seinen Staatsangehörigen (Personalitätsprinzip) begangen werden. Das Weltrechtsprinzip setzt diese Prinzipien aus. Es folgt der Idee, dass jeder Staat das Völkerrecht schützen können soll, indem es schwerste Verbrechen wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verfolgt. +Das Verfahren gegen zwei syrische Beamte in Koblenz waren dabei nicht nur strafrechtlich wichtig, sondern auch symbolisch: Viele Länder wollen Gerechtigkeit für die Verbrechen in Syrien. Für die Verfahren wurde Beweismaterial gesammelt, das über einzelne Fälle weit hinausgeht, und Verbrechen für die Nachwelt dokumentiert. Sie können ein Ausgangspunkt sein für weitere, ähnliche Verfahren in anderen Staaten – eines Tages vielleicht sogar für ein internationales Straftribunal für Syrien. + +Garance Le Caisne (56) arbeitet als freie Journalistin in Paris und Reines. Sie ist Expertin für den Nahen Osten, hat lange in Ägypten gelebt und war mehrfach in Syrien, auch nach Beginn des Bürgerkriegs. "The Lost Souls of Syria" läuft im Februar überall in Deutschland,teilweise mit anschließender Podiumsdiskussion mit Le Caisne und Stéphane Malterre. (Foto: De Russe Axelle / picture alliance / abaca) + diff --git a/fluter/cancel-culture-positionen-video.txt b/fluter/cancel-culture-positionen-video.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/cannabis-ist-keine-spassdroge.txt b/fluter/cannabis-ist-keine-spassdroge.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1848c8f9c789c9390ae165839527cc3d99e4d1d4 --- /dev/null +++ b/fluter/cannabis-ist-keine-spassdroge.txt @@ -0,0 +1,55 @@ +Eichhorn: Nein. Wer Drogen konsumiert, begibt sich in eine Gefühlswelt, die von künstlichen Glücksmomenten bestimmt ist. Er vergisst seine Sorgen und meint, es gehe ihm gut. Die Ernüchterung kommt immer dann, wenn der Drogenrausch abklingt. +Das ist bei legalen Drogen wie dem Alkohol ähnlich. Wo ist der Unterschied zwischen legal und illegal? +Sowohl die legalen als auch die illegalen Drogen sorgen für einen bestimmten Kick, ein gutes Gefühl. Sei es durch Nikotin oder Alkohol oder illegale Drogen bis hin zum Heroin. Der Grund ist vergleichbar – aber die Auswirkungen können sehr unterschiedlich sein. +Sie halten Verbote von Drogen für notwendig. Warum? +Es wäre schön, wenn der Appell an die Vernunft und die Aufklärung alleine helfen würde, aber das ist leider nicht der Fall, und deswegen spreche ich mich auch für Verbote aus: um den Menschen zu schützen. +Macht ein Verbot die Drogen nicht noch interessanter? +Sicher ist gerade für junge Menschen das, was verboten ist, besonders interessant und reizt zum Ausprobieren. Aber letztlich soll das Verbot helfen, bewusst zu machen, dass diese Drogen gesundheitsschädigend sind. +Welche Gefahren gehen für Jugendliche von Drogen aus? +Je früher Kinder oder Jugendliche beginnen, Drogen zu konsumieren, umso schädlicher ist es, weil die Entwicklung beeinträchtigt werden kann und die Gefahr einer Abhängigkeit durch den frühen Konsum steigt. +Was ist die Rolle des Staates in der Drogenfrage? +Der Staat hat auf jeden Fall die Aufgabe, aufzuklären und den Menschen zu schützen. Und wenn die Aufklärung alleine nicht reicht: Gesetze zu erlassen. +Und welche Rolle spielt die Familie? +Die Familie trägt im Umgang mit Drogen große Verantwortung. Ich erwarte von den Eltern, dass sie mit den Kindern und Jugendlichen über die Problematik sprechen – und natürlich auch selbst verantwortungsvoll mit legalen Drogen umgehen. Werden in Familien illegale Drogen konsumiert, hat das meistens auch für die Kinder fatale Auswirkungen. +Wie wichtig ist die Schule für die Aufklärung? +Es muss schon im Kindergarten beginnen, dass Kinder stark genug gemacht werden, um auch Nein zu sagen. Junge Menschen müssen früh lernen, dass sie nicht alles mitmachen müssen, was ihre Freunde oder ihre Clique ihnen sagen. Sie müssen lernen, sich selbst eine Meinung zu bilden und selbst Verantwortung für ihr Tun zu tragen. +Und wie sieht ganz konkret eine wirksame Prävention aus? +Gute Projekte setzen auf kommunaler Ebene an. Gastwirte und kommunale Verantwortliche treffen ein Abkommen, nach dem alle Akteure vor Ort gemeinsam präventiv arbeiten und dafür sorgen, dass die Jugendschutzgesetze eingehalten werden. So wird bei Festen kontrolliert, ob die Abgabe von Alkohol tatsächlich dem Gesetz entspricht. Prävention heißt auch, über die Folgen des "Komasaufens" aufzuklären. Die Einhaltung der Gesetze und Aufklärung sind notwendig, um Jugendliche vor gesundheitlichen Schäden zu bewahren. Lokale Netzwerkarbeit kann hier viel erreichen. Neben solchen Initiativen können Kommunen beispielsweise Flatrate-Partys oder den Alkoholkonsum an bestimmten Plätzen verbieten. Verbote allein sind aber zu wenig. Die Jugend braucht Räumlichkeiten, wo sie sich trifft und wohlfühlt. +Sie haben sich wiederholt gegen die Legalisierung von Cannabis eingesetzt. Warum sollte das verboten bleiben? +Weil Cannabis, wie durch wissenschaftliche und medizinische Studien belegt wurde, schon bei einer geringen Menge erhebliche Beeinträchtigungen für die Gesundheit des Konsumenten haben kann. Es gibt eine Schweizer Studie, die besagt, dass bereits bei einer kleinen Dosis schwerwiegende Angststörungen und in weiterer Folge sogar Realitätsverlust und Entpersonalisierung ausgelöst werden können. Bei langfristigem Konsum gibt es eine Reihe von Beeinträchtigungen mit großen gesundheitlichen Risiken bis hin zur physischen und zur psychischen Abhängigkeit. Es ist keineswegs so, dass Cannabis eine Spaßdroge ist, die man so schnell zwischendurch konsumieren kann. +Was kritisieren Sie an einer liberalen Drogenpolitik? +Bei einer liberalen Drogenpolitik ist nach meiner festen Überzeugung die Gesundheit des Menschen kein Thema. Denn wenn die Liberalisierung der Drogen selbstverständlich ist, dann wird die Gefahr, die mit dem Drogenkonsum einhergeht, vernachlässigt und verniedlicht. Zugleich geht die wichtige Schutzfunktion des Verbots verloren, die eben doch eine Einschränkung des Drogenkonsums bewirkt. +Legalisierungsbefürworter kritisieren die Realitätsferne der Verbote weicher Drogen und das Elend, das durch die Kriminalisierung harter Drogen entsteht. Sie plädieren für einen kontrollierten Kontrollverlust. +Ja, es gibt diese These, dass man viele Kosten einsparen könnte, weil es zum Beispiel nicht zur Beschaffungskriminalität und den damit einhergehenden Folgen, wie Raub und noch schlimmeren Delikten, kommen würde. Aber letztlich bedeutet "gewähren lassen", dass man die Drogenabhängigen sich selbst überlässt und deren Gesundheit letztlich so stark geschädigt werden kann, dass es bis zum Tod führt. Und deswegen halte ich es für richtig, dass alles versucht wird, den Drogenabhängigen zur Abstinenz zu verhelfen. Das wäre für mich die richtige Drogenpolitik. +Kann es nicht sein, dass illegale Drogen gerade deshalb so schädlich sind, weil Produktion und Vertrieb im Verborgenen und ohne öffentliche Qualitätskontrollen stattfinden? +Natürlich können verunreinigte Drogen eine noch schwerere, schwierigere oder noch erheblich heftigere Wirkung haben. Aber auch wenn Heroin in einer Fixerstube regelmäßig konsumiert wird, führt dies zur Gesundheitsschädigung. Eine verunreinigte Droge kann durch Zusatzstoffe schon beim erstmaligen Konsum zu gesundheitlichen Schäden führen, aber auch die "saubere" Droge ist gesundheitsschädlich. +Langfristig gesehen sind ja auch die Drogen, die bei uns erlaubt sind, nicht so richtig gesund. Tabak und Alkohol sind erlaubt – wie entscheidend ist denn dafür, dass der Staat damit auch Steuern einnimmt? +Am strikten Rauchverbot in Bayern, das ja vom Volk durch den Volksentscheid herbeigeführt worden ist, zeigt sich, dass das letztlich keine Rolle spielen darf. Der Staat hat in erster Linie die Aufgabe, für die Gesundheit seiner Bürger zu sorgen. Und die Steuermittel, die aufgrund von Alkohol und Tabak eingehen, dürfen nicht maßgebend sein. +Wie konsequent ist denn die gesetzliche Trennung zwischen legalen und illegalen Drogen? +Alle Drogen können schädlich sein, egal ob legal oder illegal. Die unterschiedliche Behandlung durch den Gesetzgeber liegt sicher auch in unserer Geschichte und Kultur begründet. Alkohol ist bei uns schon immer von den Menschen hergestellt worden – als Wein oder Bier. Und auch Tabak ist in unterschiedlicher Form schon von alters her als Genussmittel verwendet worden. Deswegen haben legale Drogen einen anderen Status in unserer Gesellschaft und auch im Staat als die illegalen Drogen. Dennoch geht es auch bei den legalen Drogen darum, dass wir verantwortungsvoll mit ihnen umgehen. +Bernd Dollinger, geboren 1973, lehrt Sozialpädagogik an der Universität Siegen. Als Mitherausgeber verschiedener Publikationen widmete er sich abweichendem Verhalten, der Jugendkriminalität, der sozialpädagogischen Erziehung des Bürgers, der neuen "Lust am Strafen" und der sozialwissenschaftlichen Suchtforschung. Bernd Dollinger ist Mitglied im Schildower Kreis, einem Netzwerk aus renommierten Wissenschaftlern, die sich gegen eine Prohibition aussprechen. +fluter: Gehört die Suche nach dem Rausch nicht zum Menschen? +Dollinger: Ich halte es für ziemlich naiv, eine Gesellschaft ohne Drogenkultur herbeiführen zu wollen. Viele Menschen suchen im Drogenkonsum offensichtlich Erfahrungen, die ihnen der Alltag normalerweise nicht bietet. Insofern ist das Idealbild der völligen Abstinenz unrealistisch. Umso wichtiger ist es aber, den Drogenkonsum sicher zu gestalten. +Wäre demzufolge jede sinnvolle Prävention eine Lehre vom vernünftigen Umgang mit dem Unvernünftigen? +Der Begriff "Prävention" ist durch diese Abstinenzvorstellungen sehr belastet. Wenn man aber präventiv tätig sein will, darf man nicht mit dem erhobenen Zeigefinger kommen. +Das hört sich an, als würden Sie den Jugendlichen einen verantwortungsvollen Umgang mit Drogen zutrauen? +Den standardisierten Jugendlichen gibt es nicht, sondern sehr unterschiedliche Lebenslagen und sozial eingebundene Lebensphasen. Wenn ich zum Beispiel behaupte, "die Jugend" würde von wiederkehrenden Drogenwellen überrollt, dann ist dies nur eine Defizit-Zuschreibung und ich werde mit ihr kaum ernsthaft ins Gespräch kommen können. Man muss anerkennen, dass Jugendliche eigenständige, kompetente Akteure sind, und auf dieser Grundlage mit ihnen sprechen. +Und was ist denn mit dem 17-Jährigen, der kifft und deshalb in der Schule nicht mehr mitkommt? +Auch hier ist es nicht damit getan, den Drogenkonsum zu unterbinden. Man muss sich fragen: Gibt es hier tatsächlich eine eskapistische Verhaltenstendenz? Wenn man von einem jungen Menschen sagt, dass er sein Leben nicht im Griff hat, weil er Drogen nimmt, dann ist die Gefahr einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung groß. Man weiß aus der Forschung, dass Drogen dann kontrolliert konsumiert werden, wenn jemand sozial eingebunden ist und Perspektiven hat, zum Beispiel einen Freundeskreis oder einen Ausbildungsplatz. Dann werden Drogen etwa nur am Wochenende konsumiert. Fliegt aber jemand wegen seines Drogenkonsums von der Schule, dann werden Dinge in Gang gesetzt, die alles schlimmer machen oder Probleme verschärfen. +Macht ein Verbot die Drogen noch interessanter? +Die Konsumenten wissen doch genau, dass Cannabis verboten ist. Das heißt aber auch: Sie nehmen bewusst ein Risiko in Kauf, und dieses Risiko macht den Drogenkonsum für manche besonders attraktiv. Er ist dadurch noch weniger alltäglich. +Die einzigen Drogen, die gesellschaftlich akzeptiert werden, sind Zigaretten und der Alkohol. Ein Bierchen gehört fast schon zum Initiationsritus. +Alkoholkonsum gilt als normal unter Erwachsenen. Als schwierig gelten eher die, die dauerhaft abstinent sind. Dann wird gesagt: "Na ja, vielleicht hatte er ja mal ein Alkoholproblem." Ein kompetenter Alkoholkonsument zu werden, das ist durchaus eine Art Initiationsritus – indem Jugendliche Mengen austesten, unterschiedliche Arten ausprobieren. Das ist bei anderen Drogen genauso. Wenn ich dazugehören will, dann konsumiere ich eben entsprechende Dinge, lerne aber zugleich von der Gruppe, wie das ohne gesundheitliche oder psychische Gefahren geht. Gerade deswegen kommt es darauf an, diesen Prozess sinnvoll zu gestalten, anstatt pauschal mit Defiziten zu argumentieren oder mit dem strafrechtlichen Hammer draufzuhauen. +Gerade in Bayern, wo besonders restriktiv gegen Cannabis vorgegangen wird, gibt es ritualisierte Massenbesäufnisse wie das Oktoberfest. Ist das aus Ihrer Sicht glaubwürdig? +Das Oktoberfest ist ein ritualisierter Raum, in dem man über die Stränge schlagen kann. Wobei das nicht mit einem absoluten Kontrollverlust einhergehen muss. Die Festzelte sind sozusagen Räume für den kontrollierten Kontrollverlust, denn die Leute finden anschließend wieder in die Normalität zurück. +Andere wachen aber im Krankenhaus und nicht in der Normalität auf. Ist das Komatrinken ein Problem oder nur ein Zerrbild der Medien? +Natürlich ist es ein Problem, wenn die Jugendlichen in manchen Kneipen für einen gewissen Betrag ohne Ende trinken können. Aber mit diesen Kategorisierungen – die Jugendlichen würden immer mehr trinken, könnten nicht mit Alkohol umgehen – kommt man nicht weiter. Man muss den jungen Menschen auch einen gewissen Freiraum geben, mal ein bisschen über die Stränge zu schlagen. Sonst sagen sie: "Okay, jetzt habe ich schon eine Grenze überschritten, jetzt kann ich gleich weitertrinken." +Warum sind Alkohol und Zigaretten, an deren Folgen deutschlandweit im Jahr Zehntausende sterben, erlaubt und Marihuana nicht? +Alkohol und Tabak haben durch die Steuern natürlich einen ökonomischen Nutzen, der in der Politik auch eine Rolle spielt. Bei illegalen Drogen gibt es außerdem mittlerweile eine jahrzehntelange Erzählung, nach der sie etwas Verbotenes und Schlechtes sind. Das hat sich ins kulturelle Gedächtnis eingegraben. Dabei sollte der staatliche Umgang mit Drogen an klaren empirischen Erkenntnissen orientiert sein. Und wenn man nun einmal weiß, dass die Kriminalisierung kontraproduktive Effekte hat, dann sollte man damit entsprechend vorsichtig sein. +Gegen Drogen wird weltweit gekämpft, etwa in Kolumbien gegen den Kokaanbau und in Afghanistan gegen den Opiumanbau. Man stelle sich vor, eine Koalition aus islamischen Nationen würde Deutschland besetzen und als erstes die Hopfenfelder in Bayern niederbrennen … +Ein sehr schönes Beispiel. Es ist unglaublich, wie viel Schaden in diesem "Krieg gegen Drogen" auf vielen Ebenen angerichtet wird. Das geht los mit dem Drogenkonsumenten, der verunreinigte Substanzen bekommt, weil es keine Kontrolle gibt – bis hin zu unerwünschten Dingen wie der organisierten Kriminalität. So lange diese Gewinne existieren, ist es offensichtlich, dass es Leute gibt, die das Zeug anbauen. Erstaunlich, wie lange man daran festhält, wo doch die Kontraproduktivität gerade hier sehr deutlich ist. +Was halten Sie denn von Konsumräumen, in denen kontrolliert Drogen konsumiert werden können? +Das ist eine Quasi-Liberalisierung, die keinen echten Fortschritt bringt, weil die Leute schon verelendet sein müssen, um Zugang zu einem solchen Konsumraum zu haben. Die Frage, woher diese Verelendung rührt, wird dabei nicht beantwortet. +Sie sind Mitglied im Schildower Kreis, in dem Wissenschaftler vernetzt sind, die sich gegen die Prohibition aussprechen. Was müsste passieren, damit sich diese Haltung durchsetzt? +Es geht immer nur um Bedrohungsszenarien. Nach dem Motto: Achtung, es gibt eine neue Welle, die Jugendlichen sind gefährdet, wir müssen rigide vorgehen und das verbieten. Wenn es eine neue Substanz ist, werden einfach die Anhänge zum Betäubungsmittelgesetz geändert. Wenn man da ernsthaft Änderungen herbeiführen will, muss man erst einmal mit einer Wand der Indifferenz oder anders gelagerten Interessen rechnen. Da gibt es eine starke Dämonisierung. +Unter www.drugcom.de kann man einen Test machen, ob man seinen Drogenkonsum im Griff hat. Dort findet man auch Adressen, wo man sich helfen lassen kann. Drugcom.de ist ein Projekt der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die sich mit Aufklärung und Vorbeugung befasst. Neben Alkohol, Zigaretten und illegalen Rauschmitteln klärt sie auch über Suchtverhalten bei Computerspielen auf. diff --git a/fluter/cannabis-legalisierung-in-deutschland.txt b/fluter/cannabis-legalisierung-in-deutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..930133f8b0ff181f4e7f36e793f9f642907a8619 --- /dev/null +++ b/fluter/cannabis-legalisierung-in-deutschland.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Nina und Steffi sind extra aus Schwerin angereist. Die beiden haben gerade Abitur gemacht und sind jetzt "zum ersten Mal im Leben bei einer Demo dabei". Während Nina versucht, ihren klemmenden Regenschirm aufzuspannen, erklärt Steffi: "Wir hoffen darauf, dass Gras legalisiert wird. Das wird sicher nicht sofort passieren, aber wir erwarten so einen langfristigen Effekt." Auf der Bühne verkündet ein Moderator das Motto der Parade: "Breiter kommen wir weiter!" Um den Scherz auf die Spitze zu treiben, sagt er: "Und fetter sind wir netter!" Doch statt vollständig in den Klamauk abzugleiten, wird er ernst und spricht über "das Wohl der Patienten, für die wir kämpfen". Mit Humor dem Genuss frönen und mit Ernst die Legalisierung fordern – diesen Spagat muss die Legalize-Bewegung immer wieder aufs Neue üben. +Von wegen antriebslos: Trotz peitschendem Wind und früher Stunde trafen sich im August Aktivisten am Berliner Hauptbahnhof zur diesjährigen Hanfparade +Seit März dieses Jahres können Ärzte Cannabis zu medizinischen Zwecken verschreiben – ganz legal und ohne Ausnahmeregelung. Zuvor musste eine Erlaubnis beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eingeholt werden. Auch wenn viele Patienten über Versorgungsengpässe und Probleme mit den Krankenkassen klagen, ist damit eine erste große Forderung der Aktivisten erfüllt. Einige Städte und Bundesländer wollen die legale Abgabe von Cannabis als Genussmittel vorantreiben; der rot-rot-grüne Berliner Senat zum Beispiel spricht sich für eine Legalisierung aus. Die Deutschen sind Umfragen nach gespalten – die Umfragewerte unterscheiden sich je nach Fragestellung und Institut –, insgesamt waren die Gegner einer kontrollierten und legalen Cannabisabgabe jedoch stets in der Mehrheit (bei Umfragen von infratest dimap mit 68 Prozent im Jahr 2014 und 57 Prozent im Jahr 2015). In einzelnen Wähler- und Altersgruppen gab es aber auch Mehrheiten für eine Cannabislegalisierung, etwa bei jungen Befragten und SPD- sowie Grünen-Wählern. Noch vor einer Dekade waren die Gegner deutlicher in der Überzahl. Könnte also irgendwann das legale Konsum-Gras kommen? +Für deutsche Cannabisfreunde sind nicht nur einzelne Events wie die Hanfparade wichtig – sondern vor allem die tägliche Arbeit, die von Interessierten, Vereinen und Verbänden gemacht wird. Der Deutsche Hanfverband ist mit seinen etwa 2.400 Mitgliedern und 15 Ortsgruppen bundesweit vertreten. Er koordiniert die recht heterogene Legalize-Bewegung. +Geschäftsführer Georg Wurth empfängt mich in den Verbandsräumen in Berlin-Prenzlauer Berg. Neun Aktivisten arbeiten hier in einem kreativen Chaos. Flyer, Broschüren und Bücher stapeln sich auf Tischen und an Wänden. Oft sind sie mit dem Verbandslogo versehen – einem Bundesadler vor einem um 180 Grad gedrehten Cannabisblatt. +Der Joint da? Gehört mir nicht! Genau genommen ist in Deutschland nicht der Konsum, sondern nur der Besitz von Cannabis verboten. Ersteres ist ohne zweiteres aber praktisch unmöglich +Wurth hat kurze Haare, eine randlose Brille und wirkt auf mich insgesamt mehr wie ein Finanzbeamter als wie das deutsche Gesicht der Gras-Legalisierung. Was vielleicht daran liegt, dass er ein ehemaliger Finanzbeamter ist, der auch mal für die Grünen Fraktionsvorsitzender im Remscheider Stadtrat war und sich seit mehr als 20 Jahren mit Drogenpolitik beschäftigt. "Es gab im vergangenen Jahr 146.000 Verfahren, die mit Cannabis zu tun hatten – Drogenhandel ist da noch nicht mitgerechnet", erklärt Wurth und deutet damit auf ein oft genanntes Argument für die Legalisierung hin: die Entlastung des Justizapparats. Wurth spricht leise und deutlich, er lässt aber keinen Zweifel daran, dass es seiner Ansicht nach überhaupt keine profunden Argumente für die derzeitige Drogenpolitik gibt. +Teilnehmer der Hanfparade bauen, mehr oder weniger diskret, am Rande der Berliner Hanfparade Joints +"Natürlich brauchen wir die Legalisierung und guten Jugendschutz. Keiner will Gras am Kiosk", sagt Wurth. Er begrüße die Impulse der rot-rot-grünen Berliner Landesregierung, macht aber auch klar: "Das Wirkungsvollste, das ein einzelnes Bundesland in Richtung Legalisierung unternehmen kann, ist ein Modellprojekt." +Zuletzt – im Juli dieses Jahres – hat die Stadt Münster ein solches Projekt zur kontrollierten Abgabe von Cannabis beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte eingereicht. Wenn das Projekt durchkommt, sollen eine Experimental- und eine Kontrollgruppe mit je 100 Teilnehmenden ein Jahr lang kostenlos bis zu zwei Gramm Cannabis pro Woche erhalten. Davor waren Initiativen der rot-rot-grünen Regierung Thüringens und des rot-grünen Senats aus Bremen im Bundesrat gescheitert. Bei den Modellprojekten geht es meistens darum, Cannabis für eine Versuchsgruppe legal verfügbar zu machen, sie wissenschaftlich zu begleiten und anschließend die Ergebnisse auszuwerten. Sie sind jedoch umstritten; nicht nur bei Legalisierungsgegnern, sondern auch bei Befürwortern, die etwa bei dem Projekt in Münster bemängeln, dass das Gras kostenlos abgegeben wird und somit zu einem höheren Konsum angeregt werde, was die Ergebnisse verzerre. +Um mehr Druck auszuüben, hat der Hanfverband vor der kommenden Bundestagswahl am 24. September eine Petition gestartet. Werden 50.000 Unterschriften erreicht, kommt das Thema "Legalisierung von Cannabis" im Petitionsausschuss auf die Tagesordnung. +Wurth ist optimistisch, er sieht seinen Verband sowohl historisch als auch international im Einklang mit der Vernunft. "Geschichtlich gesehen ist die Prohibition ein eher kurzes Experiment – wie beim Alkohol in den USA –, sie ist zum Scheitern verurteilt", sagt er. "Mit Kanada wird denn auch bald das erste große Industrieland Cannabis als Genussmittel legalisieren." +Kanada hat die Freigabe von Cannabis als Genussmittel für den Juli 2018 angekündigt, in Uruguay ist es schon seit diesem Sommer so weit. Wer sich registrieren lässt, kann pro Woche bis zu zehn Gramm der Droge in der Apotheke kaufen – zu einem staatlich festgesetzten Preis und mit Qualitätsgarantie. Auch in den USA haben einzelne Bundesstaaten Cannabis legalisiert, bald gehört auch der einwohnerstärkste dazu: In Kalifornien darf ab nächsten Januar Marihuana frei verkauft werden. +Bekifft auf Arbeit? Kein Tabu für Florian Rister. Er ist stellvertretender Geschäftsführer des Deutschen Hanfverbands +Während Hanffreunde vor allem die Entkriminalisierung sowie die breite gesellschaftliche Akzeptanz feiern, beobachten andere die Legalisierungsbestrebungen mit Sorge. Einer der profiliertesten Cannabisgegner Deutschlands ist Rainer Thomasius. Er ist ärztlicher Leiter am Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kinder- und Jugendalters am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Was die Bundesrepublik betrifft, verweist er vor allem auf "Espad", eine europäische Studie zu Drogengebrauch bei Schülern, nach der "eine liberale Drogenpolitik zu deutlich höherem Gebrauch führt." Überdies treffen Sucht und gesundheitliche Schäden infolge des Cannabismissbrauchs laut Thomasius vor allem die sozial Schwachen, sodass neben der psychischen und der physischen Komponente auch die soziale klar gegen eine Legalisierung spreche. Zu den wissenschaftlich belegten Folgen von biografisch frühem, regelmäßigem, langjährigem und hochdosiertem Konsum von Cannabis gehören zum Beispiel ein erhöhtes Risiko für Psychosen und eine Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit des Gehirns. +Thomasius findet Deutschlands Drogenpolitik im internationalen Vergleich gut gelungen, auch wenn seiner Meinung nach in der Prävention mehr getan werden müsste: "Cannabis ist vor allem im Jugendalter eine sehr gesundheitsschädigende Substanz." +Wie steht es um die öffentliche Debatte? Für den Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung nahmen die Parteien zu dem Thema Stellung. Von den im Bundestag vertretenen Parteien positioniert sich die CDU/CSU klar gegen eine Legalisierung von Cannabis zum freien Konsum. Die Union betrachtet Cannabis als eine Einstiegsdroge, deren Legalisierung "fatale Auswirkungen vor allem auf Kinder und Jugendliche" habe. Auch die SPD ist gegen eine Legalisierung, findet aber, "dass die strafrechtlichen Folgen von geringfügigem Cannabiskonsum nicht den Lebensweg von jungen Menschen zerstören dürfen". Mehrheitlich für eine Legalisierung sind die Grünen und die Linke, die für Erwachsene eine kontrollierte Möglichkeit zum legalen Erwerb wollen und auch bei der Berliner Hanfparade mit eigenen Wagen vertreten waren. +Um mehr Druck auszuüben, hat der Hanfverband vor der kommenden Bundestagswahl eine Petition gestartet. Werden 50.000 Unterschriften erreicht, kommt das Thema "Legalisierung von Cannabis" im Petitionsausschuss auf die Tagesordnung +In der Realität zeigen sich viele Menschen von alldem unbeeindruckt. Wer zum Beispiel in Berlin durch den Görlitzer Park spaziert, dem zieht der süßliche Geruch von Gras mit größter Wahrscheinlichkeit schon nach ein paar Metern durch die Nase – ungeachtet dessen, dass der Besitz verboten ist. Unter CDU-Innensenator Frank Henkel war 2015 angeordnet worden, im "Görli" auch den Besitz kleinster Mengen strafrechtlich zu verfolgen – worauf trotz rechtlicher Grundlage in der Praxis häufig verzichtet wird –, nachdem Anwohner sich zunehmend über die Dealer beschwert hatten und es zu mehreren Gewalttaten von oder an Dealern gekommen war. +Inzwischen hat die Landesregierung die Null-Toleranz-Politik in dem Park aber für gescheitert erklärt, die Polizei hat die Verfolgung von Kiffern wieder heruntergeschraubt. Und wenn heute darüber gesprochen wird, wo im Rahmen eines Modellversuchs der erste deutsche Coffeeshop eröffnet und der erste legale Grasrauch aufsteigen wird, dann wird am häufigsten eine Gegend genannt: die um den Görli. diff --git a/fluter/cannabis-legalisierung-uruguay-bilanz.txt b/fluter/cannabis-legalisierung-uruguay-bilanz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6e328922ba00f1e3e4a5c1b5b58d355596709622 --- /dev/null +++ b/fluter/cannabis-legalisierung-uruguay-bilanz.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +2013 legalisierte Uruguay als erstes Land weltweit die Produktion und den Verkauf von Cannabis zum Freizeitkonsum. Gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung: Rund zwei Drittel lehnten das Gesetz damals ab. "Die Rückwärtsgewandten werden Angst bekommen", sagteder damalige Präsident José Mujica. "Aber ich fürchte mich nicht vor ihren Höhlenmenschen-Argumenten." Mit der Legalisierung wollte Mujica den illegalen Drogenhandel bekämpfen. Und die Konsumenten vor minderwertiger Schwarzware aus Paraguay schützen, die den Cannabismarkt in Uruguay dominierte. +Laut Gesetz darf seitdem jeder, der volljährig ist und sich offiziell registriert, sechs Cannabispflanzen anbauen; und bis zu 99 Pflanzen, wenn sich die Person einem Club mit maximal 45 Mitgliedern anschließt. Wer nicht selbst anbauen will, kann bis zu 40 Gramm im Monat in lizenzierten Apotheken kaufen. Die Regelungen sind großzügiger als die, die Deutschland vorsieht:Hierzulande soll jeder Erwachsene drei Pflanzen selbst anbauen und 25 Gramm straffrei kaufen können. Auch sogenannte "Cannabis-Clubs" sind vorgesehen. +Aber in einem zentralen Punkt ähneln sich beide Länder: Statt den Cannabiskonsum dem freien Markt zu überlassen, wollen sie ihn staatlich regulieren. Über die konkrete Ausgestaltung der Legalisierung in Deutschland wird gerade im Bundeskabinett diskutiert, die Erkenntnisse aus zehn Jahren Legalisierung in Uruguay können dabei Impulse geben. Welche Auswirkungen hatte die Legalisierung auf den Konsum? Wie stark kann der Staat, wie stark muss er regulieren? Und wo hapert es konkret in der Umsetzung? +"Wir haben damals viele Entscheidungen getroffen, ohne dass wir Vorbilder hatten", sagt Diego Olivera. Er war damals Präsident des Instituts für die Regulierung und Kontrolle von Cannabis (IRCCA), das mit der Verabschiedung des Gesetzes gegründet wurde. Welchen THC-Gehalt darf das lizenzierte Cannabis haben? Wie viele und welche Firmen bekommen eine Lizenz zum Anbau? Müssen die Samenbanken, die die Marihuanasamen verkaufen, ebenfalls lizenziert werden? Was muss eine Fachkraft können, die Cannabis anbaut? +Jede Entscheidung des IRCCA sei ein Kompromiss gewesen, sagt Diego Olivera, ein Abwägen zwischen dem Regierungsauftrag zu legalisieren und den zahlreichen Bedenken der Ministerien und Aufsichtsbehörden. Und Kompromisse brauchen Zeit: Die Apotheken begannen erst im Sommer 2017, Cannabis zu verkaufen. +Eine Studie, die die staatliche Drogenaufsichtsbehörde 2019 vorlegte, konnte Bedenken ausräumen. Nach der Legalisierung stieg der Konsum zwar an, aber in einem ähnlichen Maß wie vor dem Gesetz. (Wobei es hier um den erfassten Konsum geht, die Dunkelziffer erschwert den direkten Vergleich.) Der Anteil an Menschen mit problematischem, also gesundheitsgefährdendem Konsum blieb stabil, das Alter des erstmaligen Konsums stieg sogar von 18 (im Jahr 2011) auf 20 (2018). Aktuelle Zahlen will die Drogenaufsichtsbehörde im kommenden Jahr herausgeben. +Das größere Problem für Uruguay sind die Verkaufszahlen: Nur knapp jeder dritte Konsument kauft auf dem legalen Markt. Der Absatz sinkt, nicht nur in Alicia Chaverts Apotheke. Und das, obwohl das Gras dort günstig ist und von staatlichen Laboren geprüft wird. Woran liegt das? +Zum einen an der schlechten Infrastruktur. Von knapp 1.000 Apotheken in ganz Uruguay haben nur 38 eine Verkaufslizenz. In manchen Bezirken gibt es bis heute keine Anlaufstelle für Konsumenten. Das liegt vor allem an der Sorge der Apotheker, dass die Bank ihr Konto einfrieren könnte: Viele Banken, nationale und ausländische, halten sich aus dem Cannabisgeschäft raus, weil sie riskieren, damit gegen internationale Geldwäschevorschriften zu verstoßen. Diese Hürde droht auch Deutschland, das an EU-Recht und das Schengener Abkommen gebunden ist: Beide verbieten das Herstellen, Verkaufen und Ein- und Ausführen von Drogen. +Bei Alicia Chavert läuft alles cash. Das Geld lagert sie in einem Safe; aber die meisten anderen Apotheken verzichten auf das Cannabisgeschäft. "Es war ein Fehler, die Apotheken als einzige Verkaufsstellen in das Gesetz zu schreiben", sagt Diego Olivera. Der Staat habe überreguliert, als er im Gesetz von 2013 keine alternativen Geschäfte zum Verkauf eingeplant hat. Eine Änderung des Gesetzes sei unwahrscheinlich, sagt Olivera, der rechte Präsident Luis Pou ist ein erklärter Legalisierungsgegner. So lässt sich die schlechte Versorgungslage auch Jahre nach Verkaufsbeginn kaum verbessern. +"Wir könnten Pioniere sein", sagt Joaquín und zündet sich einen Joint an. "Stattdessen sind wir im Jahr 2013 stehen geblieben." Er sitzt neben seinem Bruder Manuel im Wohnzimmer ihres Cannabisclubs in einem kleinen Ort etwa zwei Autostunden von Montevideo entfernt. Durch das Fliegengitter drückt sich die dicke Luft des Gewächshauses nebenan. Die Brüder heißen anders, wollen aber anonym bleiben, um freier sprechen zu können. +Den Club haben sie vor fünf Jahren aufgebaut. Mittlerweile können sie von dem Geld leben, das sie durch die Mitgliedsbeiträge einnehmen, sagt Joaquín. Mit 99 Pflanzen und 21 Kilogramm, die sie jährlich für 45 Mitglieder ernten, bewege sich der Club knapp an der Grenze des Erlaubten. Wenn sie dürften, würden sie gern in großem Maßstab produzieren und verkaufen. Aber nach dem Gesetz sind Clubs als Gemeinschaftsgärten unter Freunden vorgesehen, nicht als Unternehmen. +Den 38 Apotheken stehen heute 296 Clubs gegenüber. Sie sind über das ganze Land verteilt. Die Brüder sind überzeugt: Hätten sie mehr Freiheiten, könnten sie dem Staat im Kampf gegen den Schwarzmarkt helfen. "Das Gesetz erlaubt uns mitzuspielen, aber es hält uns klein", sagt Joaquín. Stattdessen fängt der Schwarzmarkt oft schon am Hinterausgang der Clubs an. Wenn die Kosten-Nutzen-Rechnung der Clubs aufgehen soll, können sie sich kaum Mitglieder leisten, die ihnen weniger als 40 Gramm im Monat abnehmen. Wer nicht so viel rauchen will, verteilt oder verkauft das Gras also oft weiter. Legal angebaut – illegal erworben. +In ihrem Gewächshaus führen Joaquín und Manuel durch Reihen schulterhoher Pflanzen, sie schneiden Seitentriebe ab und deuten auf Blüten. "Die hier habe ich zum ersten Mal gepflanzt, aber ich sehe schon, dass sie eine gute Struktur hat", sagt Manuel. Er streicht mit dem Finger über eine Blüte. "Wird ein geniales Aroma haben." +Acht bis zehn Sorten bauen die Brüder auf ihrer Kleinplantage an. Staatlich lizenziert waren bis vor kurzem zwei Sorten – eine neue mit höherem THC-Gehalt, "Gamma III", ist seit Dezember zugelassen. Auch ein legales Produkt muss attraktiv sein, damit die Leute es kaufen, findet Manuel. "Vielen Leuten schmeckt das Gras aus der Apotheke nicht, oder sie kriegen dort nicht genug Abwechslung." Wer da nicht selbst anbaue oder sich keine Clubmitgliedschaft leisten könne, kaufe eben schwarz. +Um wieder mehr lizenziertes Cannabis zu verkaufen, diskutiert Uruguay, ob die Apotheken auch an Touristen verkaufen dürfen sollten. Viele halten es für erfolgversprechender, den Cannabisclubs zu erlauben, an alle staatlich Registrierten (statt nur an Mitglieder) zu verkaufen – was den Behörden allerdings deutlich mehr Kontrollen abverlangen würde. +Diego Olivera hält es für ein gutes Zeichen, dass überhaupt diskutiert wird. "Natürlich müssen wir uns die Frage stellen, wie weit wir liberalisieren. Gleichzeitig müssen wir aber nach Wegen suchen, um den legalen Markt so groß wie möglich zu machen", sagt er. Deutschland würde er raten, von Anfang an ein Angebot zu schaffen, das die Bedürfnisse befriedige. Auch wenn das erst mal zu liberal wirken könnte. "Sonst entstehen unweigerlich Parallelmärkte." +In den ersten Jahren nach der Legalisierung verlor der Schwarzmarkt rund 22 Millionen US-Dollar an Einnahmen,rechnet das IRCCA. "Das Problem des illegalen Handels an sich kriegen wir nicht gelöst", gibt Olivera zu. Das große Geld bringe immer noch der Transit von bolivianischem Kokain, das über Uruguay nach Europa gebracht werde. "Aber Cannabis ist die meistkonsumierte Droge in Uruguay, und mit der Legalisierung haben wir erreicht, dass sich weniger Konsumenten in illegalen Kreisen aufhalten." Mehr Menschen hätten nun Zugang zu Cannabis in guter Qualität – selbst wenn sie sich nicht registrierten. +Durch die Tür von Alicia Chaverts kleiner Apotheke in Las Flores ist eben eine Stammkundin gekommen. "Welche Sorte willst du?", fragt Chavert. "Die neue." Die Apothekerin zieht zwei Tütchen aus einem Pappkarton hinter der Theke, "Gamma III" steht in Großbuchstaben darauf, darunter: ≤ 15 Prozent THC. Sie scannt den Barcode, und als die Kundin ihren Daumen auf den Fingerscanner legt, bekommt Chavert eine Freigabe. +"Die neue Sorte kommt gut an", sagt sie und schiebt den Karton zurück ins Regal. "Viele Kunden kommen zurück, die vorher woanders gekauft haben." Das bestätigt auch die Drogenaufsichtsbehörde. Laut ersten Untersuchungen holt "Gamma III" wieder mehr Konsumenten in die Apotheke. diff --git a/fluter/care-arbeit-hausfrau-nandi-koenig-interview.txt b/fluter/care-arbeit-hausfrau-nandi-koenig-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cd2ff6899c89cff4319653fdef4c7c195573a431 --- /dev/null +++ b/fluter/care-arbeit-hausfrau-nandi-koenig-interview.txt @@ -0,0 +1,15 @@ + +fluter.de: Jacinta, in deinem Buch schilderst du, wie dein Freund nach der Geburt deines Kindes erwartet, dass du die komplette Hausarbeit übernimmst. Du schreibst dazu: "Das Ungewöhnliche an meiner Situation ist nur die Tatsache, dass mein Freund zugibt, dass er nicht vorhat mitzumachen. In vielen deutschen Haushalten existiert der Mythos von einer 50/50-Mitarbeit." Ist 50/50 denn wirklich so ein Mythos? +Jochen König: Sobald die Leute einen Vater mit Kind auf dem Spielplatz sehen, denken sie, dass alles gerecht aufgeteilt ist. Viele Väter gehen heute auch in Elternzeit und übernehmen einen Teil der Care-Arbeit. Die Hauptverantwortung liegt aber weiterhin klar bei der Mutter. Und warum sollten Väter daran auch etwas ändern? Die Vaterrolle ist eine sehr komfortable: Man erlebt ein Kind beim Großwerden und kann eine ganz tolle und enge Beziehung zu ihm haben – ohne die ganze Arbeit machen und zurückstecken zu müssen. Bei mir gab es diese Rollenverteilung ja auch, nur eben andersrum. Meine große Tochter hat früher immer Mama zu mir gesagt. Es war eben das Wort, das sie mit dieser Rolle verbunden hat. Alle anderen Kinder in der Kita sprachen ständig von ihrer Mama, und da bei uns ich es war, der diese Rolle eingenommen hat, war ich eben Mama. Das zeigt, finde ich, recht deutlich, wie klar hier die Geschlechterzuschreibung immer noch ist. +Mama ist die Frau fürs Grobe und Papa darf sich mit den Kindern vergnügen: Für Jacinta Nandi und Jochen König ist genau das noch immer die Rollenverteilung in vielen Familien +Jacinta Nandi: Wir haben so niedrige Erwartungen an die Papas. Das kotzt mich wirklich an. Ich bin vor einiger Zeit mit dem Vater meines kleinen Sohnes Zug gefahren. Ich habe ihn gebeten, die Windeln zu wechseln, und dann kam gleich so eine Omi auf uns zu und hat mich beglückwünscht, wie toll das doch sei, dass ein Vater so etwas macht. Klar hat sich viel verändert, seit diese Frau jung war. Aber trotzdem dachte ich mir: Windeln wechseln – das sollte doch so normal sein! Es wird alles besser, mein älterer Sohn hat schon so viel mehr von seinem Papa, als ich von meinem hatte. Aber wenn mein Sohn krank war, galt dann doch: "Ein Kind braucht seine Mutter." Manchmal denke ich, ein Papa ist immer irgendwie optional, ein bisschen Luxus. +Jochen König: Väter helfen mit, machen ein bisschen was, aber ganz klar weniger als die Hälfte. Und gleichzeitig gibt es dieses Abfeiern der "neuen Väter". Das nervt mich auch total. +Jacinta, in deinem Buch schreibst du, Hausfrauen würden mitunter dafür verachtet, dass die Arbeit, die sie machen, keine Lohnarbeit ist. Ist ein Grund für das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern also auch unser kapitalistisches System? Im Sinne von "das Geld entscheidet"? +Jacinta Nandi: Ja, mein Ex-Freund und ich haben vor der Geburt unseres Kindes auch nie darüber gesprochen, wie wir das finanziell regeln wollen. Ich war dumm, oder? Solange ich nichts verdiente, war klar, dass ich für den Haushalt zuständig bin. +Du warst dumm? Das würde ja bedeuten, wer zu Hause bei den Kindern bleibt und kein Geld verdient, ist selbst schuld. +Jacinta Nandi: Stimmt. Mütter wurden ja schon immer von allen Seiten kritisiert: Wenn sie ihr Kind zu früh oder zu lange in die Betreuung geben, sind sie schlechte Mütter. Wenn ihr Mann verdient und sie zu Hause bleiben, sind sie Schmarotzer. Und wenn es keinen Mann gibt und sie nicht arbeiten gehen, sind sie Sozialschmarotzer. +Jochen König: Ich finde, in deinem Buch, Jacinta, kommt schön raus, dass es nicht unbedingt die Hausarbeit an sich ist, die so schrecklich ist, sondern die Verhältnisse, in denen diese Hausarbeit gemacht werden muss: Unser kapitalistisches System honoriert Care-Arbeit einfach nicht genug. Ich kann zu Hause so viel arbeiten, wie ich will, am Ende des Monats habe ich trotzdem kein Geld auf dem Konto –und später keine Rente. +Was wäre die Lösung? Der Mann überweist der Frau, die zu Hause bleibt, 50 Prozent seines Gehalts? +Jacinta Nandi: Keiner weiß genau, wie Paare das regeln. Die Deutschen sprechen ja nicht über Geld, das finde ich echt interessant. Es gibt so eine Scheingleichberechtigung in Deutschland. Die meisten Mütterarbeiten entweder in Teilzeitoder sind ganz zu Hause. Diese Frauen sind vermutlich zu großen Teilen abhängig vom Geld ihrer Männer. +Jochen König: Es müsste einfach gesellschaftlich verpönt sein, zu viel Lohn- und zu wenig Care-Arbeit zu machen. Zu einem Mann, der wenige Wochen nach der Geburt seines Kindes wieder voll arbeiten geht, sollten die Kolleg*innen sagen: "Okay, in dem Moment, wo du hier bist, nutzt du gerade jemand anders aus, der deine Scheiße zu Hause wegmacht – oder eben die Scheiße deines Kindes." +Interviews in Zeiten der Pandemie: Jochen König, Jacinta Nandi und Nina Roßmann (von links im Uhrzeigersinn) beim Zoom-Gespräch diff --git a/fluter/care-arbeit.txt b/fluter/care-arbeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5e149e602ba3d5022b2b93e2094a0d217cca4616 --- /dev/null +++ b/fluter/care-arbeit.txt @@ -0,0 +1,15 @@ + +Antwort: +Beides richtig. Für manche beginnt er am Arbeitsplatz, für viele andere zu Hause: Brote schmieren, Kinder oder jüngere Geschwister anziehen, das Geschirr von gestern wegräumen. Dieses Kümmerngeht für viele den ganzen Tag weiter. Wer denkt, es sei selbstverständlich, weil es aus Liebe passiert, vergisst, wie viel Mühe und Zeit das Kümmern verlangt. Kurz: dass es Arbeit ist – die nur nicht bezahlt wird. +Care-Arbeit, die auch Sorgearbeit oder reproduktive Arbeit genannt wird, machen vor allem Frauen, auch in Deutschland. Würde man ihre Care-Arbeit bezahlen, kämen laut Statistischem Bundesamt jährlich mindestens 500 Milliarden Euro zusammen. Bis zu 830 Milliarden sogar, sagen Ökonominnen, wenn man nicht mit dem Mindestlohn rechnet, sondern je nach Tätigkeit dem Gehalt einer Erzieherin oder Pflegerin. Das wäre fast so viel wie Bund, Länder und Gemeinden zusammen im Jahr ausgeben. Und der "Mental Load", also die mentale Belastung durch die Organisation des Haushalts und Alltags (Arzttermine machen, Geburtstagsgeschenke besorgen, zum Fußballtraining anmelden), ist dabei noch gar nicht eingerechnet. + +Der Begriff Care-Arbeit ist relativ neu. Dabei forderten Feministinnen wie Silvia Federici, Selma James oder Mariarosa Dalla Costa schon in den 1970er-Jahren einen "Lohn für Hausarbeit". Ihr Punkt: Nur weil sich Frauen um Haushalt und Kinder kümmern, haben Männer Zeit für die Erwerbsarbeit. Die Frauen wollten ihren Anteil an dem, was der Kapitalismus durch sie erst erwirtschaften kann. +Die Idee eines Care-Lohns war damals umstritten – und sie ist es bis heute, auch unter Feministinnen. Haus- und Erziehungsarbeit gehöre gesellschaftlich und partnerschaftlich gerecht aufgeteilt, sagen manche. Frauen würden nicht weniger unterdrückt, nur weil sie für ihre "Zuständigkeit" für die Hausarbeit bezahlt werden. Ökonomen fürchten, ein Care-Lohn könne inflationär wirken: Mit ihm würden sich die Haushaltseinkommen plötzlich erhöhen, aber nicht die Menge der produzierten Waren. Es wäre also auf einen Schlag viel mehr Geld im Umlauf als Waren – womit das Geld an Wert verlieren könnte. +Unklar ist auch, wie der Lohn finanziert werden soll. Der Staat könnte ihn zahlen. Wenn er anderswo Ausgaben kürzt oder Unternehmen höher besteuert. Oder eine "feministische Lohnsteuer" einführt, mit der (immer noch mehrheitlich männliche) Großverdiener Geld abgeben, das (viele weibliche) Geringverdienende bekommen. Alles möglich, aber politisch umstritten. Zumal verlässliche Modelle fehlen, die Care-Arbeit volkswirtschaftlich sichtbar machen. In wichtige Kennzahlen wie das Bruttoinlandsprodukt ist die Wertschöpfung durch Care-Arbeit nicht eingerechnet. + +Bei Care-Arbeit geht es aber nicht nur um die Kluft zwischen Frau und Mann, sondern auch zwischen Arm und Reich: Wer es sich leisten kann, gibt sie an Babysitter, Putzkräfte oder Pizzaboten ab. Sorgearbeit wird "defamiliarisiert", also zu einer Dienstleistung, die oft schlecht bezahlt, in "Schwarzarbeit" undvon Arbeitsmigrantinnen erledigt wird. +Die Soziologin Arlie Hochschild sieht sogar eine "Global Care Chain": Frauen aus ärmeren Ländern ziehen in Industriestaaten, um im Care-Sektor zu arbeiten, und hinterlassen dabei Lücken in ihren eigenen Familien, die oft von ihren Müttern oder ältesten Töchtern geschlossen werden. Ein Globalisierungseffekt, der die Sorgearbeit, die in jeder Gesellschaft anfällt, nicht fairer verteilt, sondern länderübergreifend unter Frauen weitergibt – von wohlhabenden an ärmere. Und ein Effekt, der auch den Wert des Kümmerns selbst auszuhöhlen droht: In Gemeinschaften sind Individuen auf andere angewiesen. Ihre Freiheit hängt davon ab, dass andere sich kümmern. Egal, ob sie dafür Geld bekommen oder Liebe oder – am besten – beides. + +Dieser Text ist im fluter Nr. 89 "Liebe" erschienen.Das ganze Heftfindet ihr hier. + +Titelbild: Pietro Bucciarelli / Connected Archives diff --git a/fluter/cat-person-kinostart-einvernehmlichkeit.txt b/fluter/cat-person-kinostart-einvernehmlichkeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..20b1c97fd03afb8c521887e617d4c6b5c4e282c3 --- /dev/null +++ b/fluter/cat-person-kinostart-einvernehmlichkeit.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Unheimliche Schauplätze, subjektive Einstellungen und ein düsterer Soundtrack: Der Film von Susanna Fogel nutzt die Mittel des Horrorfilms, um einer One-Night-Stand-Erfahrung ein Gefühl des Ekels und der Angst zu verleihen. In seinen Textnachrichten wirkte Robert zuvor nett, witzig, sensibel. Die beiden haben sich in einem Arthouse-Kino kennengelernt, wo Margot neben dem Studium an der Snackbar arbeitet. Mehrere Wochen lang hat sie mit ihm geschrieben – über Filme, Familie, Katzen – und ein Gefühl der Vertrautheit aufgebaut. Nun liegt er auf ihr drauf, benutzt Pornosprache und nestelt ungeschickt an ihrem BH herum, während sie sich eine zweite Margot neben dem Bett vorstellt, die fragt: "Wollen wir das wirklich?" +Zu Beginn des Abends wollte sie. Statt jetzt zu sagen, dass sie keine Lust mehr hat, entscheidet sich Margot, dass es einfacher und ungefährlicher ist, den Sex mit Robert einfach durchzustehen. Diese bitter-alltägliche, dezidiert aus Frauenperspektive inszenierte Szene ist äußerst unangenehm anzuschauen. Und genau das ist der Kern der literarischen Vorlage von "Cat Person". + +Tamara (Geraldine Viswanathan) und Margot (Emilia Jones) + +Die Kurzgeschichte der US-Schriftstellerin Kristen Roupenianerschien 2017 im Magazin "New Yorker"und wurde zu einem Internetphänomen. Wenige Wochen zuvor hatten US-Medien enthüllt, dass der Filmproduzent Harvey Weinstein jahrzehntelang Schauspielerinnen sexualisiert belästigt und vergewaltigt hatte. Anders als bei den prominenten #MeToo-Fällen schilderte "Cat Person" aber keine strafrechtlich relevante sexualisierte Gewalt, sondern rechtliche und kommunikative Graubereiche. Unzählige Frauen und nichtbinäre Personen fanden sich darin wieder und teilten online ähnliche Dating-Erfahrungen. +Vermeintlich konsensuellen, aber eigentlich ungewünschten Sex: Das erleben viele Frauen, in Beziehungen ebenso wie beim Dating. Roupenians "Cat Person" war ein Beitrag in einer Debatte, in der es darum ging, das Verständnis von Consent zu überdenken. Die Verfilmung macht nun expliziter als die Vorlage, dass das Problem hier in der Nichtkommunikation liegt: So hat Robert die unausgesprochene Erwartung, dass Margot mit ihm schlafen und sogar eine Beziehung anfangen will – obwohl sie beides nie gesagt hat. Ihre eigenen Bedürfnisse zu äußern, traut sie sich wiederum nicht. "Words are very unnecessary / they can only do harm", kommentiert der Depeche-Mode-Song "Enjoy the Silence" die Szene auf dem Soundtrack. +Nach der Regel "No Means No", die in einigen Ländern als Gesetzesgrundlage für Einvernehmen beim Sex gilt, macht Robert rechtlich nichts falsch. Müsste er wissen, dass sie sich unwohl fühlt? So lustlos-passiv, wie die Schauspielerin Emilia Jones Margot in dieser Szene spielt, scheint das ziemlich offensichtlich. Nicholas Braun (bekannt aus der Serie "Succession") ist eine gute Besetzung für einen erst mal harmlos wirkenden Typen, der ständig "sorry" sagt, aber mit seiner Ignoranz dann doch gefährlich erscheint. Würden beide Figuren überzeugt sein,dass nur "Yes Means Yes" echte Zustimmung bedeutet, ginge Margot an dieser Stelle wohl nach Hause. +Zu Beginn bleiben Regisseurin Susanna Fogel und ihre Drehbuchautorin Michelle Ashford der literarischen Vorlage relativ treu. Das Problem ist, dass die beiden dem Stoff offenbar nicht zutrauen, einen Spielfilm zu tragen. Bei der Adaption einer Kurzgeschichte werden natürlich meistens Figuren und Plotlines ausgebaut. Aber in diesem Fall führt die Bearbeitung weg vom Kern, der Roupenians Werk so erfolgreich machte. +Ohne zu spoilern, lässt sich sagen, dass Robert in der zweiten Hälfte eine Wandlung durchmacht und sich nach der Zurückweisung durch Margot ziemlich creepy verhält. Der Film verhandelt nun doch strafrechtlich relevante Dinge und setzt noch stärker auf Horrorgenre-Elemente. Was er so an Spannung gewinnt, verliert er an Allgemeingültigkeit. Am Beispiel eines "normalen Typen" hätten auch männliche Zuschauer eigene Verhaltensweisen beim Dating reflektieren können; am Beispiel einer psychisch auffälligen Täterfigur eher nicht. Eine Chance, die der Film – im Vergleich zur Vorlage – leider liegen lässt. +"Cat Person" läuft ab dem 16. November in den deutschen Kinos. + +Fotos: Studiocanal diff --git a/fluter/catherine-meurisse-die-leichtigkeit-graphic-novel-anschlag-charlie-hebdo.txt b/fluter/catherine-meurisse-die-leichtigkeit-graphic-novel-anschlag-charlie-hebdo.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ef620cb74d14263d99a1ca71ffd8ab6d0ecb606e --- /dev/null +++ b/fluter/catherine-meurisse-die-leichtigkeit-graphic-novel-anschlag-charlie-hebdo.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +TAK TAK TAK TAK TAK – mehr als diese Buchstaben-Salven sieht man in "Die Leichtigkeit" nicht von dem Anschlag, bei dem zehn Menschen starben, elf schwer verletzt wurden, und der Frankreich bis heute nicht loslässt. Es folgten die Attentate im November 2015 und in Nizza im Juli 2016. Die Angst vor dem Terror polarisiert die Gesellschaft und überschattet den aktuellen Wahlkampf. Im April und Mai wählen die Franzosen ein neues Staatsoberhaupt, dabei macht sich die extreme Rechte mit ihren schrillen Parolen Hoffnungen auf einen Sieg. +Laute Töne, die gibt es nicht in "Die Leichtigkeit". Hier erzählt Catherine Meurisse ganz persönlich und mit feinem Humor, wie schwer sie sich tat, das Erlebte zu verarbeiten und findet dafür eindrucksvolle Bilder. In großen Aquarellen stapft sie als kleine Figur aus wenigen Strichen bestehend durch verlassene Straßen, menschenleere Museen und über windumtoste Dünen – in der Hoffnung, wieder festen Grund unter den Füßen zu finden. Aber das ist gar nicht so einfach. +Die Gewalt, der Verlust, aber auch der ständige Polizeischutz, unter dem sie fortan steht – damit muss sie erstmal klarkommen. Anfangs hält sie noch eine imaginäre Redaktionskonferenz ab, bald aber verlässt sie die Zeitschrift und will keine politischen Karikaturen mehr zeichnen. Dann erleidet sie einen traumatischen Schock, wie ihr ein Therapeut erklärt. Dabei fluten Adrenalin und Cortisol das Gehirn, das sich als Notwehrreaktion emotional und sensorisch entkoppelt. Was bleibt, ist ein betäubtes Gefühl der Leere. +In Frankreich war "Die Leichtigkeit" ein großer Erfolg. Vielleicht, weil die Frage, die Meurisse umtreibt, ja letztlich allen Franzosen im Kopf herumschwirrt: Wie weiterleben nach so viel Gewalt, Hass und Zerstörung? +Meurisse jedenfalls macht sich auf die Suche nach der verlorenen Schönheit. Sie führt sie nach Balbec, wo ihr Lieblingsschriftsteller Marcel Proust zu urlauben pflegte, ins Theater, wo sie sich Trost in einem Stück über einen weltentrückten russischen Aristokraten erhofft und in die Landschaften ihrer Kindheit, die sie durchwandert – doch nirgends will das taube Gefühl vergehen. +Schließlich fährt sie nach Rom, als letzte Station ihrer kunsttherapeutischen Reise. Erlösung erhofft sie sich vom Stendhal-Syndrom. Den französischen Schriftsteller überkam ein Schwindel ob der Schönheit der vielen Kunstwerke der Ewigen Stadt. Vielleicht kann diese kulturelle Reizüberflutung ja die Erlebnisse vom 7.1.2015 überschreiben. +In seinen schlechteren Momenten ist "Die Leichtigkeit" ein bisschen beflissen und bildungshuberisch. Etwa wenn Meurisse ins Namedropping abgleitet – Baudelaire, Dostojewski, Camus... – oder in jeder antiken Statue, in jedem Bild der alten Meister ihre eigene Geschichte zu entdecken glaubt. Aber schlechte Momente gibt es nur wenige in der Graphic Novel, berührende dafür viele. Da sind die inneren Zwiegespräche mit den toten Kollegen, das Unbehagen über den Tsunami der Solidarität, der auf den Tsunami der Gewalt folgt und die schelmische Freude an ihrer Guerilla-Aktion: Bei einem Graffiti der ermordeten Zeichner gegenüber der ehemaligen Redaktion sprüht sie den vergessenen Kollegen Honoré einfach bei Nacht und Nebel dazu. +Das Schönste an diesem Buch: Catherine Meurisse verliert vielleicht kurz ihren Verstand, aber nie ihren Humor. In einem Jahr, in dem man wohl oft starke Nerven brauchen wird, kann man sich so eine Haltung nur zum Vorbild nehmen. +Catherine Meurisse: "Die Leichtigkeit", Carlsen Verlag, 144 Seiten, 19,99 Euro diff --git a/fluter/centerfold-anfang-vom-ende.txt b/fluter/centerfold-anfang-vom-ende.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/centerfold-fluter-71-jetzt-beweg-dich-mal.txt b/fluter/centerfold-fluter-71-jetzt-beweg-dich-mal.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/centerfold-haute-couture.txt b/fluter/centerfold-haute-couture.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/centerfold-zum-k%C3%B6rper-heft.txt b/fluter/centerfold-zum-k%C3%B6rper-heft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/centerfold.txt b/fluter/centerfold.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/centerfold_fluter_klimawandel.txt b/fluter/centerfold_fluter_klimawandel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/ceu-schliessung-warum-es-in-ungarn-demonstrationen-gegen-orban-gibt.txt b/fluter/ceu-schliessung-warum-es-in-ungarn-demonstrationen-gegen-orban-gibt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b1bbae6eb3eef4ffddf9d6d23c2c1aa81bd49dfe --- /dev/null +++ b/fluter/ceu-schliessung-warum-es-in-ungarn-demonstrationen-gegen-orban-gibt.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +János Mécs, 25, promoviert in Verfassungsrecht und ist Mitbegründer der jungen Oppositionsbewegung "Momentum", die durch ihre erfolgreiche Kampagne gegen Olympia in Budapest bekannt geworden ist +"Ich habe in letzter Zeit viel protestiert: gegen die politischen Angriffe auf NGOs, gegen das CEU-Gesetz und diese Woche gegen die Verstrickungen der ungarischen Regierung mit Russland. Und ich muss sagen: Ich bin ziemlich erleichtert. Etwas ist in Ungarn in Bewegung geraten. Die vergangenen Jahre war das Land wie im Schlaf. Jetzt wacht es auf. Die Demonstrationen sind getragen von einer Atmosphäre der Veränderung. Hier entsteht eine neue Opposition. +Dass die Regierung eine Universität attackiert, zeigt ein neues Level antidemokratischen Verhaltens. Es hat die Menschen sehr verärgert – und zwar über politische Lager hinweg. Mit dem Gesetz gegen die CEU wurde nicht nur der liberale, sondern auch der konservative Teil der Gesellschaft angegriffen. Das hat die intellektuelle Elite vereint. +Es ist tatsächlich zum Großteil diese Elite, die im Fall der CEU auf die Straße geht. Aber ich sehe das Potenzial, dass der Protest auch andere Gesellschaftsschichten erreicht. Da kommt es auch auf das Thema an: Bei der von "Momentum" organisierten Demonstration am Montag gegen Ungarns Verstrickungen mit Russland fühlten sich nicht nur Intellektuelle angesprochen. Jeder versteht aus der historischen Erfahrung heraus die Gefahr, die eine zu große Nähe zu Russland mit sich bringt. +Es ist jetzt noch ein Jahr Zeit bis zu den Wahlen. Was wir brauchen, ist ein Sieg über die Fidesz-Regierung auf demokratischem Weg." + +Katalin Lukácsi, 29, Historikerin und Doktorandin an der Eötvös-Loránd-Universität, vor einigen Wochen ausgetreten aus der Christlich-Demokratischen Volkspartei (KDNP), die mit Orbáns Fidesz ein rechtes Parteienbündnis stellt +"Sechs Jahre lang war ich Mitglied der KDNP. Ich habe das Holocaust-Erinnerungsjahr organisiert und mich mit jüdisch-christlicher Aussöhnung beschäftigt. Vor einigen Wochen habe ich die Partei verlassen, weil mir klar wurde, ich gehöre da nicht mehr hin. +Das deutete sich schon eine Weile an. Im vergangenen Sommer schockierte mich die Propaganda gegen Flüchtlinge und Papst Franziskus. Als die kritische Tageszeitung "Népszabadság" ausgeschaltet wurde, wusste ich, dass meine Auffassung von Demokratie nicht mehr mit den Vorstellungen der KDNP einhergeht. Das Gesetz gegen die CEU war dann ein weiterer trauriger Punkt. +Ich muss mich nun meiner Verantwortung stellen, schließlich habe ich an diesem System mitgebaut. Ich will meine Bedenken nicht mehr verschweigen, deshalb protestiere ich. Ich habe Angst um Ungarn. Das Land hat eine schwere Zeit vor sich, im nächsten Jahr sind Wahlen. Wir Bürger sollten uns nicht in die Parteienkämpfe hineinziehen lassen – aber Desinteresse können wir uns auch nicht leisten. Nur wir können die Demokratie in unserem Land noch retten. Ich habe da Hoffnung. +Nach dem blutigen und tragischen 20. Jahrhundert ist die EU unsere große Chance auf ein friedliches Leben. Eine starke EU ist Ungarns Zukunft. Ich glaube auch, dass jüdisch-christliche Werte das Fundament unserer Gesellschaft sind – aber zu diesen Werten gehören weder Hass noch Fremdenfeindlichkeit und Angst." + +Der Journalist Tibor Rácz, 35, studiert an der von der Schließung bedrohten Central European University (CEU) in Budapest +"Als wir Studenten Anfang April erfahren haben, dass die Regierung unserer Universität mit einem neuen Hochschulgesetz die Grundlage entziehen will, waren wir geschockt und nervös. +Seit vergangenem Sommer bereite ich mich an der CEU mit anderen Roma auf einen Master in Wirtschaftswissenschaften vor, das Programm soll im Herbst starten. Ob ich die vorgesehenen zwei Jahre in Budapest studieren kann, steht in den Sternen: Es kann sein, dass die CEU ihren Sitz nach Wien oder Prag verlegen muss, wenn sie wie geplant in Ungarn verboten wird. +Bislang habe ich nie demonstriert. Jetzt bin ich zum ersten Mal auf die Straße gegangen. Denn mit der geplanten Schließung der CEU setzt die Regierung von Viktor Orbán meine Zukunft und die meines Landes aufs Spiel. Ich habe bisher als Journalist gearbeitet und möchte mit Kollegen ein Netzwerk aufbauen, das die Korruption in Ungarn und unseren Nachbarländern aufdeckt. Dazu brauche ich das Wissen aus dem Studium. +Meine Kommilitonen und ich sind überzeugt, dass Orbán die Schließung der CEU durchzieht, auch gegen den Widerstand aus der EU. Im kommenden Jahr sind Wahlen in Ungarn, und unsere Regierung braucht Feindbilder, gegen die sie öffentlichkeitswirksam kämpfen kann: gegen Flüchtlinge, gegen die EU und die Institutionen, die der US-Milliardär und Orbán-Kritiker George Soros in Ungarn finanziert. Und das Flaggschiff dieser Institutionen ist die CEU." + +Zoltán Fodróczi, 39, arbeitet als Datenanalyst +"Die etablierten Parteien und die Politiker haben bei uns zu Recht den Ruf, sich persönlich zu bereichern, anstatt an das Gemeinwohl zu denken. Viele junge Ungarn wollen deshalb von politischem Engagement nichts wissen. Eine Alternative bietet die Spaß- und Protestbewegung "Zweischwänziger Hund", der ich mich angeschlossen habe: Wir wollen das System mit Witz und Ironie bloßstellen und die Ungarn aus ihrer Apathie herausholen. +Bei unserer Demonstration Ende April habe ich ein Plakat hochgehalten, auf dem ich die Mitglieder des russischen Geheimdienstes KGB und der Mafia in unserem Land begrüße. Denn während unser Regierungschef Viktor Orbán Flüchtlinge in Internierungslager sperrte, lockte er reiche Chinesen und Russen nach Ungarn, die sich hier für viel Geld einen lebenslangen Aufenthaltstitel kaufen konnten, der ihnen den Zugang zur EU erschloss. +Ich habe tatsächlich Angst, dass Ungarn zu einer Autokratie nach russischem Vorbild verkommt. Unsere Presse ist schon zu 95 Prozent in den Händen von regierungsnahen Eigentümern. In den meisten Medien wird über politische Alternativen überhaupt nicht mehr berichtet. Auf die Straße zu gehen ist der einzige Weg, Kritik zu äußern und Aufmerksamkeit zu bekommen." + +Titelbild: Attila Volgyi/Polaris/laif diff --git a/fluter/ceu-universitaet-umzug-budapest-wien.txt b/fluter/ceu-universitaet-umzug-budapest-wien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b2292c5c27a033558c441f5a3548b918b362faa7 --- /dev/null +++ b/fluter/ceu-universitaet-umzug-budapest-wien.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Ministerpräsident Orbán regiertUngarnmit einer Zweidrittelmehrheit. Er nennt sein System eine "illiberale Demokratie" und meint damit die Einschränkung der Wirtschaft, nicht der Freiheitsrechte allgemein. Kritiker*innen werfen Orbán aber vor, Ungarn eigenmächtig umzubauen und die Freiheit von Medien und Wissenschaft massiv einzuschränken. Manche nennen Ungarn eine Demokratur: ein Hybrid aus Demokratie und Diktatur. Deshalb protestieren immer mehr Menschen gegen Orbáns Politik. +Orbán wirft der Universität und Soros' Stiftungen, den "Open Society Foundations", vor, Diplome auszustellen, die nicht mit dem ungarischen Gesetz vereinbar seien,und "illegale Migranten" ins Land  holen, die die "ungarische Kultur" bedrohen. Orbán, der selbst einst mit einem Soros-Stipendium studierte, blockiert Soros' Arbeit auch mit einem weiteren Gesetz, das die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen beschränkt und kriminalisiert. Für die EU-Kommission verstößt das "Stopp-Soros-Gesetz" gegen die Grundrechte der EU,sie klagt vor dem Europäischen Gerichtshof. +Was sagen die Beteiligten an der CEU zu dem Vorfall? Wir haben mit dem Prorektor und einem Studenten gesprochen: + +Liviu Matei, Prorektor der CEU: +"In den vergangenen drei Jahren gab es Momente des Hoffens und Momente der Enttäuschung. Weltweit haben uns fast alle großen Universitäten unterstützt, es gab riesige Demonstrationen in Budapest. Aber die Regierung und Regierungsmedien fuhren unbeirrt ihre Attacken. Eine Zeitung hat eine Liste von ,Verrätern der Nation' veröffentlicht, darunter auch Akademiker der CEU. Herr Orbán hat sie im Radio als ,Verräter' bezeichnet. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Kind, sitzen sonntags mit Ihrer Familie zu Hause und hören im Radio, Ihr Vater sei ein Verräter. Das zeigt den Zynismus des Orbán-Regimes. +"Stellen Sie sich vor, Sie hören im Radio, Ihr Vater sei ein Verräter": Akademiker würden in Ungarn immer wieder öffentlich attackiert, klagt Liviu Matei +Außerdem wurde die akademische Freiheit in Ungarn eingeschränkt, das Fach ,Gender Studies' ganz verboten. Welches kommt als Nächstes? Vielleicht Politikwissenschaft? Wir hatten gar keine andere Wahl, als umzuziehen. Viele Länder haben sich an uns gewandt, aber wir wollen den Charakter der Central European University erhalten, deswegen haben wir uns für Wien entschieden, das nahe an Budapest liegt. +Die Wiener Behörden, Unis und zivilgesellschaftliche Organisationen haben uns alle sehr herzlich in der Stadt begrüßt. Wir stehen in permanentem Kontakt mit dem Bürgermeister. +Was mir wichtig ist: Wir sind keine frühere ungarische Uni, die jetzt eine österreichische ist. Wir waren immer eine internationale Universität mit Studierenden aus mehr als 100 Ländern, rund die Hälfte kommt aus Zentral- und Osteuropa, die andere Hälfte aus der ganzen Welt. Unsere Professoren kommen aus mehr als 40 Ländern. +Nun geht es um einen Übergang: von der permanenten Krise in eine Atmosphäre, in der wir die Zukunft der Universität planen können. In Österreich, aber auch in Budapest. Dort wollen wir weiter interdisziplinär auf hohem Niveau forschen und Summer Schools anbieten. Wir geben Ungarn nicht auf." + +Viktor Mák, ehemaliger CEU-Student: +"Ich bin in Ungarn geboren, aber in den USA aufgewachsen. 2017 bin ich für einen Master in Public Administration zurückgekommen. Die CEU war für mich und viele Auslandsungarn die Chance, nach Hause zurückzukehren, um an einer guten Uni auf Englisch zu studieren. Diese Option gibt es nun nicht mehr. +Ironischerweise habe ich meinen Zulassungsbescheid in der Woche erhalten, in der die ungarische Regierung per Gesetz beschlossen hat, die CEU aus dem Land zu schmeißen. Mein Studium betraf das glücklicherweise nicht: Ich habe im Sommer abgeschlossen, kurz bevor die Uni umzog. +Lex mich doch am Arsch: Das sogenannte "Lex CEU"-Gesetz treibt Victor Mák (27) und Tausende andere auf die Straße +Trotzdem engagiere ich mich in einer Gruppe Studierender, die gegen das "Lex CEU" protestiert. Im November 2018 haben wir Präsentationen und Workshops auf dem Platz vor dem ungarischen Parlament veranstaltet. Wir wollten zeigen, dass wir stolz auf unsere Universität sind. Ein Jahr später haben wir dort erneut protestiert. Tausende sind gekommen. +Das vergangene Jahr war chaotisch. Die Phase des Übergangs mit einem Campus in Budapest und einem in Wien ist anstrengend für die Studierenden. Außerdem ist Wien teurer als Budapest. Die CEU vergibt großzügige Stipendien und hat angekündigt, sie noch mal zu erhöhen. Da es viele Studierende ausGhana, Uganda, Pakistan und Indien gibt, fürchte ich trotzdem, dass sich die Zusammensetzung der Studierenden langfristig ändert. Das entspräche nicht dem Leitbild der CEU. +Die Universität selbst kann sich inWienprächtig entwickeln, denke ich. Deshalb ist der Umzug vor allem ein Verlust für Ungarn. Als Ungar bin ich traurig, dass es politisch so weit gekommen ist." + + diff --git a/fluter/chance.txt b/fluter/chance.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2f8421876e9a3275b3b337bcea645ab026b85b63 --- /dev/null +++ b/fluter/chance.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +Das Bildungszentrum Hermann Hesse (BZH) ist anders als viele Schulen. Es geht seinen eigenen Weg und muss es auch, denn alle, die dort ihren Abschluss machen wollen, sind zuvor gescheitert und verbinden mit Schule nichts Gutes. Als sie eigentlich zur Schule gehen sollten, waren sie ganz woanders: auf Krankenstationen, in der Jugendpsychiatrie,auf Drogen. Hier bekommen sie noch mal eine Chance. + +Eine elfte Klasse auf der zweiten Etage. Alle blicken konzentriert zum Smartboard, an dem Björn, der Klassenlehrer, Zwei-Punkte-Steigungen erklärt, um sie auf die Mathearbeit vorzubereiten. +Florian, 28 Jahre, guckt zweifelnd. Für ihn wird es die erste Klausur seit langem sein. Vor ein paar Jahren hat er am BZH bereits seinen Realschulabschluss nachgeholt, jetzt will er noch das Fachabitur schaffen. In seiner Jugend rauchte er so viel Cannabis, dass er alles vernachlässigte. Er ging nicht raus, wurde depressiv. "Du stehst morgens auf und denkst: Jetzt erst mal einen Joint." Irgendwann fragte er sich: "Wo bin ich in 15 Jahren?" Da habe er nichts Gutes gesehen. +Viele junge Suchtkranke haben hier seit der Gründung der Schule vor über 50 Jahren doch noch ihre Abschlüsse nachgeholt – vom Hauptschulabschluss bis zum Abitur. Sie sind zwischen 15 und 35 Jahre alt, über die Hälfte war in den letzten Jahren abhängig von Cannabis, andere von Amphetaminen, Opiaten, Kokain, Alkohol oder von einem Mix daraus und häufig begleitet von psychischen Erkrankungen. Der Anteil der Schüler:innen, die ausschließlich aufgrund vonpsychischen Problemenans BHZ kommen, steigt dabei. +Um am BZH lernen zu dürfen, müssen sie den Willen mitbringen, abstinent zu leben. Durch Urinkontrollen wird überprüft, ob sie die Regel einhalten. Eingeschult wird, wer sich dazu entschließt. Warten, bis das neue Schuljahr beginnt, muss niemand, bei Bedarf können täglich neue Schüler:innen aufgenommen werden. Ein Abschluss bietet die Chance, wieder an der Gesellschaft teilzuhaben. + +Statt auf seinem Platz sitzen zu bleiben, springt Theo* auf und lehnt sich an die Wand. "Ich habe einfach Energieschübe." Theo, 18 Jahre alt, die Haare bunt gefärbt,ist Autist. Um sich konzentrieren zu können, muss er sich zwischendurch mit seinem Handy ablenken oder mit Kopfhörern abschotten. In einer anderen Schule wäre das undenkbar. Hier ist es mit Lehrer:innen und Mitschüler:innen abgesprochen. Sie wissen, dass er es nicht immer auf seinem Stuhl aushält. +Klassenlehrer Björn kommt gut mit Theos Ticks klar. Und mit vielem anderen, das zum Alltag dieser Schule gehört: Dass alle verschieden viel wissen. Dass er öfter was wiederholen muss. Wie die Kolleg:innen hat er bewusst auf das bessere Gehalt an einer Regelschule und eine Verbeamtung verzichtet: "Ich habe lieber weniger Schüler und dafür besondere, auf die ich mich einstellen muss, als 30 Leute, alle pubertierend, die keinen Bock auf Mathe haben", sagt er. Hier seien viele Schüler:innen dankbar und hochmotiviert. +Trotzdem bleiben die Stühle in Björns Klasse manchmal leer. Er ruft die Fehlzeitenstatistik auf. Einige Schüler:innen waren bisher in jeder Stunde da, andere fehlten 30 bis 40 Prozent. Strafen bekommt niemand, ernst genommen wird es trotzdem. "Wer ein Drittel der Zeit nicht da ist, verpasst auch ein Drittel der Inhalte. Wie sollen sie so die Schule packen?", fragt Björn. Außerdem könnte eine Fehlzeit immer auch einen Rückfall oder ein Depressionsloch bedeuten. +Auf der ersten Etage des Schulgebäudes ist das Büro von Harisa. Sie ist eine der vier Schulsozialarbeiterinnen und kümmert sich um das, was vom Lernen abhält: Behörden anrufen, Krankenkassenärger, Therapieplatzsuche, Finanznöte, Liebeskummer. "Wir entlasten alle, sodass sie sich auf den Unterricht konzentrieren können." Die Lehrkräfte kommen zu Harisa, wenn Schüler:innen nicht erscheinen. Spätestens am dritten Tag telefoniert sie ihnen hinterher. Ruft immer wieder an, so oft, bis jemand rangeht, oder schreibt ihnen Mails: Wir machen uns Gedanken! + +Bei einem Rückfall wird niemand sofort der Schule verwiesen. Manchmal reicht ein bisschen Motivation, manchmal eine Pause, etwa eine Kurzzeittherapie oder eine Entgiftung. Wer deshalb abbricht, kann später wieder einsteigen. +Allerdings müssen die Schulkosten dann jedes Mal erneut vom Jugendamt oder dem Landeswohlfahrtsverband bewilligt werden. Wenn Schüler:innen gar nicht mehr hingehen, bezahlen Amt und Verband auch nicht länger. Einige kommen auch nach einem gescheiterten ersten Versuch wieder für einen zweiten oder gar dritten. "Für unsere Leute ist es sehr wichtig, einen Schulabschluss zu haben", weiß Harisa, "denn dieses Versagen an öffentlichen Schulen nagt an den meisten dann doch." Auch wahr ist allerdings: Nicht alle schaffen das. +Isa*, blonde Haare, blaue Augen, sitzt auf einer Bank im Hof, der alles ist: mal Klassenzimmer, oft Rückzugsort und immer Raucherecke. Zigaretten sind das einzige Suchtmittel, das an der Schule erlaubt ist. Sie sagt: "Zu wissen, dass ich das Abitur machen kann, ist ein Riesengeschenk." Ein Chefarzt habe mal zu ihren Eltern gesagt, er glaube nicht, dass sie älter als 18 werde. Jetzt ist sie 19 und in der Abschlussklasse. +Neben Isa lehnt ihr Rennrad. Sie hat Schluss für heute und muss gleich los zu einem Termin. Ihr Handy zeigt elf entgangene Anrufe. "Meine ganze Familie ist in Alarm, wenn sie sehen, dass ich sie erreichen wollte, und danach nicht rangehe." Sie verstehe das. Sie sei früher so oft in der Notaufnahme oder in der Geschlossenen gelandet. "Eine gewisse Angst wird immer bleiben, wenn man so was mit seinen eigenen Kindern durchlebt." Heute hat sich nur ihr Handy in der Tasche selbstständig gemacht und die Nummer der Eltern angeklingelt. + +"Wir bekommen die Leute oft erst nach jahrelangem Struggle", bedauert Alice, die den Vorkurs für die Hauptschulklasse unterrichtet. Am BZH müssen sie sich zuerst wieder an die Basics gewöhnen: regelmäßig kommen, Schulsachen dabeihaben, Hausaufgaben machen, zuhören. In der Eingangsstufe gibt es weder Klausuren noch Noten, das Fächerangebot ist reduziert, bis alle auf einem Level sind. +Alice erklärt an diesem Vormittag in Politikwissenschaften, wie die Landtagswahl in Hessen abläuft, zeigt, welche Parteien auf dem Wahlzettel stehen. Fünf Schüler:innen sitzen im Unterricht. Sidney*, 20, ist eine von ihnen. Trotz der vielen Piercings in ihrem Gesicht und dem dunklen Make-up sieht sie jünger aus. Den zum Schrei aufgerissenen Mund auf ihrem Sweatshirt hat sie selbst gemalt. +"Die letzte Klasse, die ich erfolgreich abgeschlossen habe, war die siebte", sagt sie. Ihre Eltern seien oft umgezogen. Überall war sie die Neue, irgendwie anders. Siewurde viel gemobbt. "Ich hatte nie Probleme mit dem Lernen, aber das Soziale fiel mir schwer." Mit 13 flog sie von der Schule. Die Jahre danach verbrachte sie fast durchgängig in der Psychiatrie, sie verletzte sich selbst und war suizidal. + +Diese Schule, sagt sie, sei ihre letzte Option. "Hier bin ich nicht diese eine Schülerin, die vier Jahre älter ist und alles nachholen muss." Sie hatte schon angefangen zu arbeiten, doch es bleiben wenige Jobs,wenn man keinen Schulabschluss hat. Am liebsten will sie eine Ausbildung zur Notfallsanitäterin machen. +Alle Schüler:innen erzählen von der guten Stimmung an der Schule. Dass es kaum Gruppenbildung gibt, schon gar kein Mobbing, dafür gegenseitige Hilfe. Vielleicht, weil alle ähnliche Probleme kennen, alle schon mal Außenseiter:innen waren, alle Therapieerfahrung haben. Und sie alle eint ein Ziel: den Abschluss schaffen. +Alice erzählt von Absolvent:innen, die heute bei der Deutschen Bank oder an der Börse arbeiten, einige haben ihren eigenen Handwerksbetrieb eröffnet. Viele wollen nach der Schule Soziale Arbeit studieren, um etwas zurückzugeben. +"Schwierig ist der Übergang an Unis oder überhaupt zurück ins Leben trotzdem", meint Alice nachdenklich. "Statt auf dem wohnzimmerähnlichen Schulhof sitzen sie in einem Hörsaal mit 500 Leuten." Sie gehen zurück in eine Welt, in der sich nicht alle duzen und auf Augenhöhe sind, wo nicht jeder eine zweite, dritte und vierte Chance bekommt, sondern wo es Strafen und oft wenig Verständnis gibt. Und statt eines offenen Anfangs mit Gratiskaffee einen offenen Ausgang. + +* Der Schüler und die Schülerinnen möchten gern anonym bleiben. Die Namen sind der Redaktion bekannt. diff --git a/fluter/charlotte.txt b/fluter/charlotte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/chatbots-KI-liebe.txt b/fluter/chatbots-KI-liebe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cc392d3225c8febfffd349231395200a10f55cb1 --- /dev/null +++ b/fluter/chatbots-KI-liebe.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Dieser Text istim fluter Nr. 89 "Liebe"erschienen +Mit wenigen Klicks erschaffen sich Nutzer in der App einen Avatar nach ihrem Geschmack. Mit ihm können sie schreiben, Sprachnachrichten austauschen, sogar Videocalls sind möglich. Und man kann den Avatar sehen: Über die Handykamera erscheint er auf dem Platz gegenüber oder auf der anderen Straßenseite. Augmented Reality. +Die spielerische Komponente ist wichtig: Man kann in höhere Level aufsteigen, Münzen sammeln undüber In-App-Käufe Edelsteine erwerben, um den Avatar neu einzukleiden, ihn zum Fußballexperten zu machen oder den Beziehungsstatus zu definieren. Soll er nur ein Freund zum Reden sein? Ein Businesscoach? Oder ein Geliebter? +Sechzig Prozent der Replika-Nutzer führen eine romantische Beziehung mit ihrem Companion. Sagt zumindest Luka. Ob die Angabe stimmt und ob sie repräsentativ ist, lässt sich nur vermuten. In Foren und Feeds jedenfalls bekennen sich Tausende ihrer Gefühle für Bots. Wie wenig es dafür braucht, hat schon vor zehn Jahren der Film "Her" gezeigt: eine schöne Stimme, Empathie, die richtigen Worte und bang! Es ist nicht modernste Technik, die dem Code Leben einhaucht; es ist die Fantasie der Nutzer. Liebe ist Kopfsache. +"Es gibt definitiv Menschen, die sich in Chatbots verlieben", sagt auch der Maschinenethiker Oliver Bendel. "Oder zumindest eine sehr starke emotionale Beziehung zu ihnen haben." Liebe lässt sich im Gehirn ablesen, dort ist sie reine Biochemie: Dopamin macht euphorisch, Serotonin glücklich, Oxytocin bindet uns an einen Partner. Digital mischen wir diesen Botenstoffcocktail genauso zusammen wie mit einem realen Gegenüber, sagen Kognitionsforschende. +Bendel verurteilt solche Beziehungen nicht. Aber er gibt zu bedenken, dass sie immer einseitig bleiben, ganz gleich, wie sie sich für die Nutzer anfühlen. "Auf der anderen Seite ist nichts außer Nullen und Einsen. Da ist kein Interesse, keine Liebe, kein Hass." Bendel sieht die Gefahr, dass Menschen reale Beziehungen für ihre Avatare vernachlässigen könnten. "Es ist problematisch, acht oder zehn Stunden am Tag mit einem Artefakt zu verbringen, hinter dem nichts ist." +Sicher kann so ein KI-Freund nützlich sein, wenn jemand von einer Liebe enttäuscht wurde oder einen Partner verloren hat, unter einer Depression oder einer chronischen Erkrankung leidet – und deshalb einen besonders geduldigen Partner braucht. Der Vorläufer von Replika wurde angeblich entwickelt, nachdem die Gründerin ihren besten Freund verloren hatte: Sie wollte die Erinnerung an ihn wachhalten. Andere KI-Systeme unterstützen schon länger Demente und Autisten, auch den Millionen Einsamen unserer Gesellschaft könnte ein empathischer Chatbot helfen, zumindest für eine Zeit. +Zumal sich mit KI auch trainieren lässt, was im echten Leben möglicherweise nicht so gut klappt:flirten zum Beispiel, schlagfertig antworten, an sich glauben. Beim Daten eines Bots herrscht Chancengleichheit: Geld, Schönheit, Charme, Schicht, Bildung, hier kann jeder seinen Traumpartner bekommen. Auch weil man ihn selbst mitformt: Bei Replika können Nutzer die Reaktionen ihres Bots bewerten, damit er antwortet, wie man es gern hätte. Wenn wir uns an die Perfektion der Kunstfigur gewöhnen, gefällt uns dann im echten Leben überhaupt noch jemand? Verlernen wir, dass das Gegenüber selbst Bedürfnisse hat?Haben wir Geduld, wenn es mal kompliziert wird? +Kompliziert kann es allerdings auch mit den Bots werden. Was die antworten, können die Entwickler nur teilweise kontrollieren, sagt Nils Köbis, der das Verhalten von Menschen und intelligenten Maschinen erforscht. Einige User beschwerten sich, weil ihr Replika-Bot sie sexualisiert belästigt oder sich aufgrund eines Updates plötzlich nicht mehr an sie erinnert hat. Andere, weil er unvermittelt mit ihnen Schluss gemacht hat: Der Sprachbot lernt aus externen Texten, darunter vielen Liebesgeschichten. Und die sind eben voller Tragik und manchmal auchGewalt oder Grenzverletzungen. +Die Tatsache, dass wir uns auf virtuelle Beziehungen einlassen, zieht vieles nach sich, auch moralisch: Vernachlässige oder hintergehe ich meinen realen Partner, weil ich parallel eine Beziehung mit einer KI führe? Außerdem: die Daten. Alltagsabläufe und Wünsche, tiefe Blicke ins Seelenleben, Selfies: Vertraut man seiner KI, vertraut man ihr viel an. Und damit auch Techkonzernen, die nicht sagen, was sie mit diesen Daten anfangen. "Das sind Herausforderungen, auf die wir noch nicht vorbereitet sind", sagt Köbis, "weder auf Gesetzesebene noch emotional-psychologisch." diff --git a/fluter/cheerleader-protokoll.txt b/fluter/cheerleader-protokoll.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b882383b25ea28c549757120a5c7e98313dd8ee3 --- /dev/null +++ b/fluter/cheerleader-protokoll.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Ursprünglich habe ich mit Sideline-Cheerleading begonnen, also Cheerleading, das Spiele eines Footballteams begleitet. Durch meinen Vereinswechsel habe ich begonnen selbst an Cheerleading-Wettkämpfen teilzunehmen. In Deutschland werden diese beiden Arten von Cheerleading von verschiedenen Vereinen betreut. Die CVD (Cheerleader Vereinigung Deutschland) ist direkt an Football geknüpft. Der Unterschied zum CCVD, also dem Cheerleading und Cheerperformance Verband Deutschland, ist ähnlich wie bei den Netflix-Dokumentationen über die Cheerleader der Dallas Cowboys und des Navarro College. Die Dallas Cowboys Cheerleader führen einen "Cheer Dance" während der Spiele ihres Footballteams auf , bei dem Akrobatik keine große Rolle spielt. Die Navarro College Cheerleader kommen dem Leistungssport im Deutschen Nationalteam deutlich näher. Die typischen Pompons, die man aus Highschool-Filmen kennt, spielen beim Wettkampf-Cheerleading keine große Rolle. Wir nutzen sie lediglich zu Beginn vor unserer Choreo, um das Publikum zu animieren. Diesen Unterschied kennen die meisten nicht. +Im Nationalteam kommen Leute aus ganz Deutschland einmal im Monat am Wochenende zusammen, um gemeinsam zu trainieren. Das ist total wichtig, damit die Choreo, Techniken und auch Pyramiden funktionieren. Der Kader für die Weltmeisterschaft steht noch nicht fest. Jedes Jahr im April finden die ICU Worlds in Orlando in den USA statt. 2023 hat Deutschland dort den fünften Platz belegt. Um ins Nationalteam zu kommen, müssen wir uns in Viererteams bewerben – eine Flyer, die bei den Stunts in die Luft geworfen wird, zwei Bases, die die Flyer werfen und fangen, und eine Backspot, die hinten steht und die Flyer auffangen kann, falls etwas schiefläuft. Beim Auswahltraining wird dann entschieden, ob man als Gruppe weiter zum Nationaltraining eingeladen wird. Auch dann steht man noch lange nicht in Orlando auf der Matte, genauso gut kann man Ersatz sein oder in den Perspektivkader kommen, der zwar mittrainiert und gefördert wird, aber nicht zur WM fährt. +2025 wäre mein fünftes Jahr in Orlando. Gerade trainieren wir mit 14 Vierergruppen, im Wettkampfkader sind am Ende aber nur sechs. Natürlich stehen wir deshalb im Training in Konkurrenz. Diese Ungewissheit kann zu Spannungen führen, so wie in jedem Sport. Ich finde es wichtig, dass unsere Coaches die Verantwortung übernehmen und transparent und wertschätzend kommunizieren. Im Team Germany zu sein bedeutet, dass man auf jeden Fall mehr Zeit ins Training investieren muss. +Die Kleidung, die wir zum Training und zu Meisterschaften tragen, ist immer wieder Thema. In den vergangenen drei Jahren hat sich das geändert. Bis dato waren unsere Uniformen bauchfrei. Der Rock ist nach wie vor relativ kurz, aber wir treten heute mit langen Ärmeln und bedecktem Bauch auf. Das finde ich echt super. Ich fühle mich so viel wohler und bin nicht immer darauf bedacht, wie ich gerade aussehe. Das entspannt mich. Dass der Rock kurz ist, ergibt Sinn: Wir Flyer werden viel an der Hüfte und am Oberschenkel gegriffen, es ist eben ein Kontaktsport. Bei Stunts und Pyramiden wäre es gefährlich abzurutschen. Wir benutzen auch flüssiges Magnesium, um besser greifen zu können. +Der Sport vereint auf jeden Fall verschiedeneKörpertypen. Die kleinsten Sportlerinnen in einem Viererteam sind meistens die Flyer, weil sie am einfachsten zu heben und zu werfen sind. Die zwei Bases haben mehr Kraft. Eine genaue Vorgabe, wie groß man sein sollte, gibt es nicht. Es kommt immer darauf an, wie eine Vierergruppe zusammengesetzt ist. Ich gehöre mit 1,67 Meter zu den großen Flyern im Nationalteam. Backspots sind meistens die größten in einer Stuntgroup. +Flyer ist die beliebteste Rolle im Team. Ich finde das schade, da Cheerleading ein Teamsport und nicht nur die eine Position ist. Zudem bringt die Flyer-Position auch die meisten Schwierigkeiten mit sich, zum Beispiel das Gefühl, gesehen zu werden, wenn etwas nicht funktioniert. Das Körperbild ist besonders bei den Flyern ein großes Thema. Da ist es wichtig, dass man ein gesundes Verhältnis zu seinem eigenen Körper behält. Ich kenne viele, die Kalorien zählen und wenig essen. Auch die Trainerinnen oder die Abteilungsleitung des Teams bekommen so was mit und fragen dann nach. In den letzten Jahren gab es einige Fälle, in denen sie sich deshalb mit den Eltern in Verbindung gesetzt haben. Ich habe beschlossen, mich nicht mehr zu wiegen. Mir ist es am wichtigsten, mich gesund und stark zu fühlen, und ich ernähre mich dementsprechend. Ich bin echt froh darüber, dass es mir leichtfällt, mich nicht so sehr mit den anderen zu vergleichen. +Es wäre schon ein Traum von mir, als Cheerleaderin für Deutschland antreten zu dürfen. Der Weltverband International Cheer Union (ICU) wurde 2021 vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) als vollwertiges Mitglied anerkannt. Der nächste Schritt nach der IOC-Aufnahme ist die Anerkennung von Cheerleading als olympische Disziplin, um damit ein Teil der Olympischen Spiele werden zu können. Dieses Jahr in Paris hat das leider noch nicht geklappt. Die Hoffnung für Olympia gebe ich noch nicht auf. + +Fotos:  Jonas Wicker diff --git a/fluter/chiara-film-mafia-kino-mubi.txt b/fluter/chiara-film-mafia-kino-mubi.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..14c3e0f55ed367b9a92779c6355f11f75d6aad96 --- /dev/null +++ b/fluter/chiara-film-mafia-kino-mubi.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Carpignano kennt also die Lebenswelt, von der er erzählt, und seine Schauspieler:innen kennen sich: Chiaras Familienmitglieder sind auch in Wirklichkeit die Familienmitglieder der Hauptdarstellerin Swamy Rotolo. Carpignano ließ die Darsteller:innen über weite Strecken improvisieren. Das Resultat sind Szenen, die mitunter Längen haben, aber einen Familienalltag zeigen, der in seiner Mischung aus Zärtlichkeit und Genervtheit sehr authentisch rüberkommt. +Umso schmerzhafter wirkt es, als dieser Alltag plötzlich dahin ist: Eines Nachts verschwindet Chiaras Vater. Kurze Zeit später steht die Polizei vor der Tür, in den Nachrichten heißt es, der Vater sei Teil der 'Ndrangheta und befände sich auf der Flucht. Niemand aus Chiaras Familie will erklären, was los ist. Also macht sich Chiara selbst auf die Suche. + + +Ab hier nimmt der Film Tempo auf, Chiara stößt auf geheime Bunker und Rauschgiftoperationen. Die eigentliche Frage, die Carpignano interessiert, ist aber, was Chiara mit ihren Erkenntnissen anfängt: Akzeptiert sie, dass sie Teil einer Mafiafamilie ist? Oder versucht sie, aus ihr auszubrechen? +Dass Chiara so oder so einen Preis zahlt, versteht man spätestens, als sie eine Schulkameradin mit einem brennenden Böller bewirft – aus kalter Wut, ohne eine Miene zu verziehen. Plötzlich realisiert man, dass Chiaras Welt schon vor diesem Gewaltausbruch nicht so heil war, wie sie aussah. War da nicht der Onkel, der Chiara anschrie, sie dürfe nicht rauchen, weil sie ein Mädchen sei? Oder die Mutter, die ihr eine runterhaute, als Chiara sie fragte, ob der Vater Teil der Mafia sei? Die Atmosphäre aus Angst, Aggression und Hoffnungslosigkeit, die in Gioia Tauro herrscht, durchdringt auch die Bilder des Films: Ausgewaschen wirken die Farben, karg die Landschaften, selbst das Meer, das ab und zu hinter den brüchigen Betongebäuden durchschimmert, ist nur ein blauer Streifen, der nichts von Weite oder Leben hat. +Chiara bekommt die Möglichkeit, diese Welt zu verlassen: Nachdem sie ihre Klassenkameradin verletzt hat, entscheiden die Behörden, sie im Rahmen eines Mafia-Ausstiegsprogramms aus ihrer Familie zu nehmen. Solche Programmegibt es in Italien tatsächlich. Sie sind umstritten, gelten aber als erfolgreich dabei, Kinder dem organisierten Verbrechen zu entreißen undvor der Gewalt zu schützen, die Mafiaaussteiger:innen normalerweise droht. +Was das angeht, hat Chiara nichts zu befürchten: Als sie ihren Vater endlich aufspürt, rät er ihr, an dem Programm teilzunehmen. Der Vater, das legt der Film nahe, ist ein kleines Rad im Getriebe des Verbrechens, ein Mann ohne große Bildung, der seine Familie liebt und – in seinen Augen – aus reiner Notwendigkeit heraus kriminell wurde. "Sie nennen es Mafia, wir nennen es Überleben", sagt er an einer Stelle. Ohne ihn zu entschuldigen, will Carpignano klarmachen, dass die Mafia in Süditalien auch aufgrund der Armut so stark werden konnte und dass dabei auch heute noch die Klassenfrage eine Rolle spielt: Die Pflegemutter, zu der Chiara geschickt werden soll, lebt im reichen Norden und ist Ärztin. Es scheint, als bleibe Chiara nur die Wahl zwischen einem Leben mit der Kriminalität oder ohne die Menschen, die sie liebt. Eine Aussicht, die so deprimierend ist, dass man sich fast die Hollywoodwelt der blutigen Pferdeköpfe und explodierenden Autos herbeiwünscht. + +"Chiara" läuft ab dem 23. Juni in den deutschen Kinos und ab dem 26. August bei dem Streamingdienst Mubi. + +Titelbild: Frenetic Films diff --git a/fluter/chickenstreet.txt b/fluter/chickenstreet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5f82b2cda951a74d2cc6a13ff854386377a147e9 --- /dev/null +++ b/fluter/chickenstreet.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Abdul Jabar Safaar legt neben den grünen noch einen roten Stein. "Das ist ein Rubin", sagt er. Auch aus Afghanistan, auch beste Qualität. Die Steine, erzählt er, bezieht er aus den Minen in den afghanischen Bergen. Die Rohlinge bringt er zu einem Schleifer, legt die geschliffenen Steine in sein Schaufenster und wartet auf Kundschaft – nur die bleibt aus. Seitdem die Taliban vergangenen Sommer an die Macht kamen, sagt Abdul, verlor er rund die Hälfte seiner Käufer:innen. Darunter nicht nur afghanische Kundschaft, sondern mit dem Abzug der NATO auch internationale. Trotzdem macht er weiter, denn aufhören kann er nicht: "Das Geschäft ist seit 1945 im Besitz meiner Familie. Wir haben keinen anderen Job, dieser Laden ist für uns die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen." Abdul hofft, dass die Grenzen seines Heimatlandes bald wieder öffnen. "Inschallah", sagt er, so Gott will, kommen bald wieder viele Kund:innen. +Ein paar Läden weiter, hinter einer Tür voller Handschnitzereien, stapeln sich Wollschals und seidene Halstücher auf langen Regalen. Auf dem Boden liegen rote Teppiche, die die Schritte dämpfen, an der Wand ein Teppich mit runden Stickereien. "Elefantenfüße", sagt Mohammad Farid. +Seit seinem neunten Lebensjahr arbeitet der 44-Jährige in dem Ladengeschäft seiner Familie, verkauft Schals, Teppiche und Seide. Der Teppich mit den Elefantenfüßen erinnert ihn an seine Heimat Parwan, die afghanische Provinz, aus der seine Familie stammt. "Zu Hause hatten wir viele solche Teppiche", sagt Mohammad. Er steht an einem langen Tisch, faltet Schals und steckt sie in Plastiktüten. "Damit sie nicht verstauben." Das sei nötig, am Tag kämen gerade vielleicht acht, maximal zehn Leute in den Laden. "Früher waren hier jeden Tag bis zu 60 Kunden", sagt er und zeigt auf den hinteren Teil des Geschäfts. Dort stehen Webstühle zum Herstellen der Schals. Inzwischen, sagt Mohammad, stünden sie häufig still. +Beshir Abdul betreibt mit seiner Familie ein Bekleidungsgeschäft, spezialisiert auf Felle, Pelze und Lederjacken. Der 24-Jährige kniet mit einem Schraubendreher vor seinem Laden und zieht mehrere Schrauben an einem kleinen Generator fest. Stotternd springt der Motor an, Qualm pufft aus einem Metallrohr und kitzelt in der Nase. "Sorry", sagt Beshir. Stromausfall. +Mit dem Generator kann er seinen Laden beleuchten und Kund:innen empfangen – auch wenn die Stromversorgung mal wieder zusammenbricht. Das Licht brennt, allerdings komme nur noch rund ein Drittel der Kundschaft, seit die Taliban an der Macht sind, sagt Beshir. Früher hatte viele internationale Kund:innen, Amerikaner:innen kauften Lederjacken, Franz:ösinnen Mäntel aus Schafsfell oder Pelze. Er habe trotzdem jeden Tag von acht bis sechs Uhr abends geöffnet, sagt Beshir. Dann muss er wieder raus, zum stotternden Generator, der auszugehen droht. Auf dem Weg greift er nach einem Schraubendreher. +Schräg gegenüber von Beshirs Pelz- und Fellgeschäft betreibt Mohammad Jawad gemeinsam mit seinem Vater Abdul Quadir einen Teppichladen. Zusammengerollt liegt die Ware auf Regalen. Eine schmale Treppe führt in den ersten Stock, weitere Räume voller Teppiche. Viel Rot, ein bisschen Blau, kaum Weiß. Auf einigen Teppichen sind Kalaschnikows, Panzer und Artilleriegeschütze eingewebt, auf anderen stürzen Flugzeuge in das World Trade Center. Die afghanischen Kriegsteppiche bilden die konfliktreiche Vergangenheit des Landes ab und erfreuen sich vor allem bei Sammler:innen großer Beliebtheit. "Bis Mitte 2021 liefen die Geschäfte richtig gut", sagt Mohammad. +Gekauft hätten bei ihm vor allem Amerikaner:innen und Angehörige anderer NATO-Truppen, Angestellten der alten Regierung, die für internationale Gäst:innen Geschenke kauften, und afghanische Geschäftsleute auf Souvenirjagd. Seit die Taliban an der Regierung sind, komme neben Freunden und Familienangehörigen kaum noch Kundschaft in den Laden, sagt Mohammad. +Seit 1945 betreibt die Familie den Teppichladen in der Chicken Street, erzählt sein Vater Abdul. "Ganz früher, vor 80 Jahren, wurden hier Hühner verkauft", sagt er. Daher habe die Straße ihren Namen. 1985 übernahm Abdul das Familiengeschäft, inzwischen führt er es gemeinsam mit seinem Sohn. Das Problem, sagt der, sei nicht nur, dass gerade internationale Kundschaft ausbleibe. "Auch die Ingenieur:innen, die viele Projekte hier in Afghanistan betreut haben, fehlen als Käufer:innen." Nur das Rote Kreuz würde manchmal noch Teppiche kaufen. "Das reicht nicht zum Leben." Aktuell lebt die Familie von ihren Ersparnissen. Wie lange das noch reicht zum Überleben? "Es wird reichen", sagt Mohammad. "Allah wird helfen." +Mohammad fühlt sich von der Politik im Stich gelassen. "Die Regierungen in Afghanistan kommen wie Projekte, bleiben vielleicht zehn, fünfzehn Jahre, dann sind sie wieder weg", sagt er. "Ich wünsche mir, dass man uns Afghanen beibringt, Fische zu fangen, nicht nur, sie zu essen." Dann, sagt er, können sie sich selbst helfen. "Wir Afghanen haben so viel geopfert, wir können nicht mehr, wir sind erschöpft." Mohammad weiß nicht, was passieren wird, hofft aber, dass seine Heimat nach all den Kriegen bald ein sicheres Land wird. "Dann", sagt er, "kommen Tourist:innen nach Afghanistan. Die kaufen Teppiche. Und Teppiche bringen Geld." diff --git a/fluter/china-friedenspapier-russland-ukraine.txt b/fluter/china-friedenspapier-russland-ukraine.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b9f327243a8eb7630ba39e89cc6dddb211f32f28 --- /dev/null +++ b/fluter/china-friedenspapier-russland-ukraine.txt @@ -0,0 +1,31 @@ +China gibt damit dem Westen die Schuld am Krieg? +Ja, aber uneingeschränkt aufseiten Putins steht die Führung in Peking nicht. Russland bereitet auch ihr Kopfzerbrechen, einfach weil Putin so unvorhersehbar ist. Aber Peking braucht Moskau. Solange die USA weiter einen Handelskrieg mit China führen und Sanktionen verhängen, aber auchweil Taiwan sich feindlich gegenüber China positioniert, braucht Peking einen Verbündeten. In Putins Krieg möchte China aber nicht hineingezogen werden, sondern neutral bleiben. +Aber was daran ist neutral? +Von "neutral" im herkömmlichen Sinne kann man sicherlich nicht sprechen. Verbal unterstützt die Führung in Peking Russland. Aber nach allem, was wir wissen, hält sich China an die militärischen Sanktionen und rüstet entgegen einiger Medienberichte Russland bisher nicht systematisch auf. +Ein Jahr nach Beginn des Krieges in der Ukraine präsentiert China Ende Februar einPositionspapier "zur politischen Lösung der Ukraine-Krise". Peking fordert darin, den direkten Dialog so schnell wie möglich wieder aufzunehmen. Denn: "Verhandlungen sind die einzig machbare Lösung für die Ukraine-Krise." Zu den weiteren Punkten zählen unter anderem: +- Respekt für die Souveränität aller Länder- Ende der Feindseligkeiten- Lösung der humanitären Krise- Kein Einsatz von Atomwaffen oder Drohen damit- Weizenexporte ermöglichen +So gut diese Punkte klingen – sie sind vage gehalten. Konkrete Vorschläge, wie die einzelnen Ziele erreicht werden sollen, fehlen. Auch werden zentrale Fragen nicht beantwortet, zum Beispiel: Wie soll man mit den von Russland besetzten Gebieten im Osten der Ukraine umgehen? Die Ukraine lehnt das Papier in dieser Form ab, Russland begrüßt das chinesische Papier hingegen. +Welche Ziele verfolgt China? +China spricht sich klar gegen Atomwaffen aus und ruft zu einem Ende des Konflikts auf im Interesse der Länder, die auf die Getreide- und Nahrungsmittelexporte aus der Ukraine angewiesen sind. +Ist China dabei glaubwürdig? +Es geht weniger um Glaubwürdigkeit als darum, dass China mit seinem Friedensplan ausspricht, was viele Länder im globalen Süden denken. Die Kritik an der US-Hegemonieist weit verbreitet. Zwar ist das ein Konzept, das zum chinesischen Narrativ gehört, wird aber in vielen Ländern des globalen Südens vielfach auch so empfunden. Vor allem in Afrika wird der Krieg zudem als ein westliches Problem gesehen, in das sie nicht hineingezogen werden wollen. + + +Aber wenn China es ernst meint mit demFrieden– müssten die Vorschläge nicht viel konkreter sein? +Auch für Peking läuft nicht alles nach Plan. Bevor China seinen Friedensplan vorstellte, hieß es in Peking, Staatspräsident Xi Jinping höchstpersönlich werde eine Rede halten. Die fand dann aber nicht statt. Chinas Spitzendiplomat Wang Yi war kurz davor in Moskau, und ich vermute, dass Wang dort konkrete Schritte besprechen wollte. Darauf ließ sich Putin aber nicht ein. Das dürfte ein Grund gewesen sein, warum Xi dann doch keine Rede hielt. Er hatte nichts zu verkünden. +Warum überhaupt Pekings plötzliches Engagement? +Je länger der Krieg anhält, desto wahrscheinlicher ist ein Sturz Putins. Das ist aber ganz und gar nicht in Pekings Interesse. Putins Umfeld besteht aus Oligarchen. Ihre Gelder und Investitionen im Ausland sind wegen der westlichen Sanktionen gerade zum großen Teil eingefroren. Ein Szenario könnte also sein, dass Putin von Leuten gestürzt wird, die auf die USA zugehen wollen. Mit einer prowestlichen Führung in Moskau wäre China isoliert. Eine andere durchaus wahrscheinliche Option ist, dass jemand wie Ramsan Achmatowitsch Kadyrow, der Machthaber der russischen Teilrepublik Tschetschenien, an die Macht kommt. Jemand mit mafiösen Methoden. Das würde Russland noch unberechenbarer machen. Und das will Peking auch nicht. +Xi schickt seinen Chefdiplomaten nach Moskau, empfängt den belarussischen Präsidenten Lukaschenko, einen Putin-Getreuen, hat aber bislang keinen Kontakt mit Ukraines Präsident Selenskyj aufgenommen – keine glaubwürdige Herangehensweise als angeblicher Friedensvermittler. +Das stimmt. Um wahre Friedensgespräche zu initiieren, müsste Xi nach Kiew reisen. Seine Logik ist aber eine andere: Er gibt die Schuld am Krieg den USA, die seiner Ansicht nach unter dem Deckmantel der Demokratie unbewaffnete Revolutionen wie dieauf dem Maidan in Kiew oder bei der Orangen Revolution von 2004unterstützen. Er vermutet, dass die USA damit die eigenen Hegemonialbestrebungen befördern wollen. Wenn man diese Logik konsequent weiterdenkt, wäre der demokratisch gewählte Präsident der Ukraine nichts anderes als ein Produkt der USA. Aus Pekings Sicht ist also nicht Selenskyj der Hauptverhandlungspartner, sondern Washington. +Wie sollte der Westen auf Pekings Vorstoß reagieren? +Er sollte der Führung in Peking klarmachen: Das von China auf den Weg gebrachte Friedenspapier ist ein erster Ansatz. Aber es reicht nicht aus, andere anzumahnen, sondern China muss sich selbst konstruktiv einbringen. +Chinas Verhältnis zu Russland war schon zu Sowjetzeiten schwierig. Wie würden Sie das chinesisch-russische Verhältnis jetzt beschreiben? +Von Herzlichkeit und Liebe geprägt war es nie. Und auch jetzt bleibt das gegenseitige Misstrauen groß. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass Putin Xi vor dem 24. Februar 2022 über die Invasionspläne informiert hat. Xi hätte den Krieg nicht gutgeheißen, schon aus der Befürchtung heraus, Putin könnte die territoriale Ausdehnung der alten Sowjetunion anstreben. Die Staaten Zentralasiens sieht China aber als sein Einflussgebiet. +Ist China nicht dennoch Nutznießer dieses Krieges? Schließlich ist Russland nun noch abhängiger von der wirtschaftlich sehr viel stärkeren Volksrepublik? +Absolut. China profitiert von niedrigen Rohstoffpreisen, weil Russland sein Öl und sein Gas in Europa nicht mehr loswird. Im Hightech-Bereich und beim Konsum füllen chinesische Unternehmen die Lücken, die westliche Firmen in Russland hinterlassen haben. Und selbst wenn es irgendwann zum Frieden kommt, wird diese Entwicklung nicht rückgängig gemacht werden können. Den russischen Markt haben nun Chinesen besetzt. +Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup sehen die meisten US-Amerikaner in China den größten Feind der USA. Könnte diese Feindschaft Russland und China nun zusammenschweißen und zu einer Blockbildung wie im Kalten Krieg führen? +Verbal ist das sicherlich der Fall. Und doch ist die Lage eine andere als damals. China und der Westen sind heute wirtschaftlich eng miteinander verwoben. Die wirtschaftlichen Beziehungen zum Westen will China nicht grundsätzlich kappen. + +Marina Rudyak ist Sinologin an der Universität Heidelberg und derzeit Vertretungsprofessorin für Chinas Gesellschaft und Wirtschaft an der Universität Göttingen. + +Titelbild: Mark Ralston/NYT/Redux/laif diff --git a/fluter/china-imperialismus-weltmeere.txt b/fluter/china-imperialismus-weltmeere.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/chinafrika.txt b/fluter/chinafrika.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d66609e1b20e8733a7646ca21b751c10a60068dd --- /dev/null +++ b/fluter/chinafrika.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Das klang sehr fürsorglich, allerdings sichert sich China für seine Investitionen auf lange Sicht den Zugriff auf wichtige Rohstoffe. Es pachtet Land für die Versorgung seiner Bevölkerung (allein in der Demokratischen Republik Kongo 2,8 Millionen Hektar) und sorgt für den Absatz seiner Billigwaren, die viele afrikanische Märkte überschwemmen. Von den zugesagten 60 Milliarden Dollar sind denn auch 35 Milliarden Kredite, mit denen afrikanische Länder Einfuhren aus China bezahlen sollen. +Nachdem Chinas Industrie wegen der Wirtschaftskrise weniger Rohstoffe benötigt, hat sich die Handelsbilanz weiter zum Nachteil Afrikas entwickelt: 2015 übertrafen Chinas Exporte nach Afrika die Importe um 40 Milliarden Dollar. Auch Menschenrechtsorganisationen sehen Chinas Engagement in Afrika kritisch. Demokratische Defizite von korrupten Regimen seien bei der Vergabe der Gelder kein Hindernis. China verwahrt sich gegen solche Kritik mit dem Hinweis, dass nicht die Chinesen sondern die Europäer den Kontinent jahrhundertelang ausgebeutet hätten, was auch viele afrikanische Staatslenker so sehen. Gern wird von den Chinesen auch ins Feld geführt, dass die Verbindung zwischen China und Afrika sehr viel älter ist als die der Europäer. Tatsächlich gibt es chinesische Afrikakarten, die bereits 1320 entstanden. Und 2005 präsentierte Pekings Propagandaabteilung einen weiteren Knaller: ein Mädchen aus Ostafrika, dessen DNA darauf hinweise, dass sie Nachfahrin chinesischer Seefahrer sei, die im 14. Jahrhundert Afrika besuchten. +Mehr zu diesem Thema findet ihr in Alex Perrys eh sehr lesenswertem Buch "In Afrika – Reise in die Zukunft", Verlag S. Fischer diff --git a/fluter/chinesische-autobahn-montenegro.txt b/fluter/chinesische-autobahn-montenegro.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..74c881ea46e2887f0f288c56498e879502fa85ac --- /dev/null +++ b/fluter/chinesische-autobahn-montenegro.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Als eine staatliche chinesische Bank 2008 anbot, den Bau zu finanzieren, zögerte man nicht lange. Ein infrastrukturell dringendes Projekt, sagte die montenegrinische Regierung. Die Autobahn ermögliche es nicht nur, Waren zu transportieren, sie werde auch Tourismus bringen und Investoren für andere wirtschaftliche Projekte anlocken. + +Milka Tadić Mijović (54), Journalistin und Begründerin des Centre for Investigative Journalism Montenegro: +Wenn wir den Kredit der Chinesen nicht zurückzahlen können, haben sie das Recht, sich alles außer diplomatischem Besitz in Montenegro anzueignen. Der Deal hat unsere Auslandsverschuldung um 30 Prozent erhöht. Sie war davor schon hoch. Aber jetzt ist sie weit über der Grenze, die wir laut Maastricht-Vertrag erreichen dürfen, wenn wir Mitglied der EU werden wollen. +Miloš Konatar (37), ehemaliger Parlamentsabgeordneter der Oppositionspartei URA: +Die Autobahn ist das größte Bauprojekt der modernen Geschichte Montenegros. Im Großen und Ganzen sind alle Montenegriner dafür. Aber die Frage ist: Wer bezahlt das und wovon? Unsere Staatsverschuldung belief sich im Jahr 2006 auf 700 Millionen, jetzt liegt sie bei 3,4 Milliarden Dollar. Wir Parlamentsabgeordnete haben den Vertrag mit den Chinesen nie gesehen, er wird wie ein Staatsgeheimnis gehütet. +Die chinesische Exim-Bank leiht vielen Ländern Geld für infrastrukturelle Projekte – bevorzugt denen, die selber keines haben. China verfolgt damit seine Belt-and-Road-Initiative, ein Netz aus Straßen, Schienen und Seeverbindungen, das es ermöglicht, chinesische Waren in alle Welt zu transportieren. +Made in Montenegro: Etwa 3.000 Arbeiter sind extra aus China angereist, um die Bar-Boljare-Autobahn zu bauen. +In diesem Lager, mitten in den Bergen, wohnen die Gastarbeiter für mehrere Jahre. +Montenegro ist eines der ärmsten Länder Europas, verfallene Häuser sind kein seltener Anblick. Unter Autobahnbrücken … +… oder auch in Podgorica, der Hauptstadt Montenegros. Die Autobahn soll die Stadt mit dem Nachbarstaat Serbien verbinden. +Montenegros Premierminister Duško Marković feiert mit dem chinesischen Botschafter Liu Jin das 70-jährige Bestehen der Volksrepublik. +Kritiker der Autobahn bemängeln die fehlende Transparenz des Vertrags zwischen beiden Staaten. Zumindest beim chinesisch-montenegrinischen Kuchen steht außer Frage, dass beide gleich viel bekommen. +Chinesische Arbeiter auf der Baustelle nahe Podgorica: China möchte dem Balkanstaat nicht nur mit einem Kredit, sondern auch mit der eigenen Expertise helfen. +Von China aus führen Wege über Kasachstan, Russland, die Ukraine und den Balkan bis nach Mitteleuropa. Eine andere Strecke verläuft über eine Entfernung von 11.000 Kilometern über Weißrussland und Polen bis nach Duisburg – dem bisherigen Endpunkt. Für China ist der dortige Hafen ein wichtiger Logistikpunkt. 35 chinesische Züge kommen dort inzwischen jede Woche an. +Weil Duisburg wirtschaftlich unabhängig von China ist, profitiert die Stadt von der"Neuen Seidenstraße", wie die Belt-and-Road-Initiative auch genannt wird. Anders sieht es in Montenegro aus. Der Kredit hat die Verschuldung des Landes stark erhöht, sie könnte den geplanten EU-Beitritt gefährden. Sollte Montenegro seine Schulden nicht zurückzahlen können, könnte es dem Hafen von Bar genauso gehen wie dem größten Hafen von Sri Lanka: China erließ dem Land einen Teil seiner Schulden, erhielt dafür einen "Pachtvertrag" über 99 Jahre. In Kirgistan, wo China Straßenprojekte verwirklichte, sind die Schulden bei der Exim-Bank von neun Millionen auf 1,7 Milliarden Dollar gestiegen. China hält nun 42 Prozent der kirgisischen Auslandsverschuldung. +Liu Jin, Chinas Botschafter in Montenegro: +Ich verstehe nicht, warum es so viel Kritik gibt. Wir helfen Montenegro, wirtschaftlich voranzukommen. Es bekommt von uns nicht nur einen Kredit, sondern auch unsere Expertise, um diese Autobahn in schwierigem Gelände zu bauen. Sie wird dem Land einen wirtschaftlichen Schub geben, mit den Einnahmen daraus kann das Land den Kredit zurückzahlen. Wir haben das alles mit der montenegrinischen Regierung durchgerechnet. Wir übernehmen große Verantwortung in der Welt. +Das Versprechen der Regierung, dass das teure Autobahnprojekt Wohlstand für alle bringt, verblasst spätestens, wenn man sich einige Kilometer von der vorgesehenen Trasse entfernt und über schlecht asphaltierte und enge Straßen in die Bergdörfer fährt. Verlassen stehen hier die Häuser, es gibt keine Läden, keine Schule, wenig Leben. VomTourismusboom, den Montenegro besonders an seiner Küste in den vergangenen Jahren erlebt hat, ist hier nichts zu spüren. +Kojo Lakušić (67), Bauer im Dorf Lijeva Rijeka: +Ich habe 127 Euro Rente aus meiner Zeit als Fabrikarbeiter. Wir bauen alles, was wir brauchen, selber an, wir halten Schweine, Kühe und Hühner. Manchmal kommen unsere Kinder und bringen uns Dinge, die wir nicht bezahlen können, vor allem Medikamente. Im Radio haben sie gesagt, die Autobahn würde allen nützen, auch jenen, die wie wir in den Dörfern wohnen. Sie würde Tourismus bringen. Aber unser Dorf liegt weitab an einer schlechten Landstraße. Die müssten sie sanieren, aber das wird nicht passieren. Wenn wir Glück haben, kommt mit der neuen Autobahn Elektrizität in unser Dorf. +Slobodan Vešović (62), Restaurantbesitzer im Dorf Veruš: +Ich bin für die Autobahn. Wir alle wissen, wie schön Montenegro ist, aber ohne eine vernünftige Straße ist all die Schönheit verschwendet. Ich habe eine Forellenzucht, und seit sich das im Camp der Chinesen rumgesprochen hat, kommen die Chinesen jedes Wochenende, um frischen Fisch zu kaufen. Nicht die einfachen Arbeiter, die bleiben immer im Camp. Dort gibt es alles, was sie brauchen, die sind vollkommen autark. Für mich ist es gut, dass die Chinesen hier sind. Aber da bin ich die Ausnahme: Normale Leute profitieren nicht von denen, nur die mit der Regierung verwandten oder befreundeten Unternehmer. +Im September sollen die ersten 43 der insgesamt 163 geplanten Autobahnkilometer fertig sein. Bislang ist unklar, wie Montenegro die zwei weiteren Bauabschnitte finanzieren will. Wenn die Trasse fertig ist, werden 1.000 Meter Höhenunterschied überwunden, 40 Brücken und 90 Tunnel gebaut sein. Mit 25 Millionen Euro Kosten pro Kilometer entsteht hier die teuerste Piste Europas. +Sowohl die Europäische Union als auch die Weltbank sehen eine zu große Diskrepanz zwischen Kosten und wirtschaftlichem Nutzen, sie wollen sich nicht an der Finanzierung beteiligen. Außerdem haben in- und ausländische Wirtschaftsexperten errechnet, dass eine Rückzahlung des ersten Kredits, die ab diesem Jahr erfolgen soll, kaum möglich ist. Der einzige Interessent für den zweiten Bauabschnitt ist bislang die chinesische Exim-Bank. diff --git a/fluter/cholera-libanon-wasser-reportage.txt b/fluter/cholera-libanon-wasser-reportage.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a03864c40dee917a219d98c3bc5718956deb879b --- /dev/null +++ b/fluter/cholera-libanon-wasser-reportage.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Cholera überlebte bis heute in Weltgegenden mit hoher Armut und erlebte 2022 ein Comeback. 29 Länder meldeten Ausbrüche, darunter der Libanon. Cholera kann tödlich sein. Der Mensch infiziert sich mit dem Bakterium nahezu immer durch kontaminiertes Wasser, wenn er es trinkt oder sein Essen damit in Berührung kommt. Im Libanon, der im Oktober 2022 erstmals seit 1993 wieder einen Choleraausbruch erlebte, ist das leider oft der Fall: Das Wasser nutzt, wer sich keines kaufen kann. Und das sind gerade viele. + + +"Was hast du gegessen?", will die Krankenschwester wissen. "Nur Suppe", stöhnt ein Mann, er liegt auf einem Feldbett im Keller des staatlichen Medizinischen Grundversorgungszentrums in Bebnine, 20 Kilometer nordöstlich von Tripoli. Der Mittdreißiger kann kaum sprechen, matt und schwach döst er hinter hellbraunen Vorhängen. "Und das Wasser für die Suppe?", insistiert die Pflegerin. "Weiß ich nicht." Vier Patienten mit Cholera liegen hier im provisorischen Lager – getrennt von den Tagespatienten des Zentrums im Erdgeschoss. Die große Welle ist vorüber. Seit Oktober hatte man hier 1.960 Menschen mit Cholera behandelt – der starke wässrige Durchfall wird überstanden, wenn es Zugang zu Flüssigkeit gibt, zu Elektrolyten und Infusionen; wenn nicht, droht eine Dehydration binnen Stunden. Seit vergangenem Oktober verzeichnete der Libanon mehr als 6.100 Cholerafälle, davon 23 mit tödlichem Verlauf. +Cholera ist eine Krankheit, die sich an Krisen und Zerstörung nährt. Im Jemen etwa wütet sie, wo ein Bürgerkrieg die Infrastruktur lahmlegt, die Hygiene und Gesundheitsversorgung. Im Libanon herrscht ein Krieg ohne Waffen: Die Armut nimmt rasant zu, denn das Land erlebt derzeit multiple Krisen. Eine Verschuldungsspirale hat die Währung seit 2019 in eine irre Inflation getrieben. Erhielten die Bürger für einen US-Dollar bis dahin noch 1.500 Libanesische Pfund, sind es heute 45.000. Hinzu kamendie Folgen der Corona-Lockdownsund im August 2020die größte nichtnukleare Explosion der modernen Geschichte, weil Chemikalien im Beiruter Hafen jahrelang falsch gelagert worden waren. Weite Teile der Innenstadt wurden zerstört, Hunderttausende verloren ihre Wohnung. +Jetzt der Krieg in Europa: Früher importierte der Libanon 96 Prozentseines Weizens aus der Ukraine und Russlandund kämpft nun mit der aktuellen Verknappung, während schätzungsweise 20 Prozent der Gesamtbevölkerung aus syrischen Geflüchteten bestehen. All dies trifft auf ein politisches System, das durchweg korrumpiert ist und sich nicht auf die Wahl eines Staatspräsidenten einigen kann. Die Regierung ist nur geschäftsführend im Amt, gelähmt und ohnehin Reformen abgeneigt. + + +"An Gesundheit und Hygiene wird als Erstes gespart", sagt Naheed Sood El Dine, die Leiterin der Station in Bebnine, sie schaut im Keller vorbei – Routinecheck bei den Cholerapatienten. "Aus der Steckdose kommt kaum Strom, höchstens ein, zwei Stunden am Tag. Da steckt dann eine Familie ihr knappes Geld in die Beteiligung an einem Dieselgenerator und spart woanders, nimmt Wasser von irgendwo, aus dem Kanal, Fluss oder Brunnen." +An Wasser mangelt es dem Libanon eigentlich nicht. Viele Flüsse bringen das Schmelzwasser aus dem Libanon- und dem Antilibanongebirge herab. Da der Staat aber immer weniger Geld für die öffentliche Infrastruktur ausgibt, verfällt sie. Kläranlagen fehlen allerorten. 92 Prozent der Abwässer geraten ohne Aufbereitung in die Natur, 42 Prozent aller Haushalte sind nicht an eine Kanalisation angeschlossen. Allein in den längsten Fluss des Landes, den Litani, leiten auf seinen 140 Kilometern 18 Krankenhäuser ihre Abwässer ein. +Sood El Dines Handy klingelt. Ihre Finanzverwaltung ist dran, die nächste Rechnung wird fällig: Da vom staatlichen Elektrizitätswerk kaum noch Strom kommt, muss auch das Grundversorgungszentrum auf einen Dieselgeneratoranbieter umsteigen. "Alle sechs Tage muss ich 500 Dollar auftreiben." Sie checkt die Wettervorhersage. "Wenn es regnet", sagt sie, "kriegen wir wieder mehr Cholerafälle." Warum? "Keine Ahnung, vielleicht reist der Erreger auch mit dem Regenwasser." + + +Das Gesundheitsministerium dürfte von vielen Fällen nichts erfahren. Cholera hat ihren Ursprung und Hotspot im Nordosten des Landes, der ärmsten Region; die Informationswege dort sind nicht lückenlos. Keine fünf Kilometer vom Grundversorgungszentrum entfernt steht ein Meer aus weißen Zelten auf Sandsteinfels. Im Lager leben Hunderte aus Syrien Geflüchtete, die Grenze ist zehn Kilometer entfernt. Ein Provisorium, das zum Dauerzustand wurde, eingezäunt und für Journalisten derzeit nicht besuchbar. "Es gibt die Gerüchte, von hier sei die Cholera in den Libanon gekommen", sagt ein Mann am Tor. "Aber das stimmt nicht." Da wolle man keine weiteren Geschichten. Der Mann befürchtet bad news. Will vielleicht eine Skepsis nicht bestärken, die in diesen Zeiten ohnehin auch in der libanesischen Bevölkerung gegenüber "Fremden" steigt. +Irgendwoim kriegsgeplagten Syrienwird das Virus wohl treffliche Zustände gefunden und sich weiterverbreitet haben. Die erschrockenen Libanesen haben zwar gerade viele Krisen auszubalancieren – aber auf die Cholera reagierten sie rasch. Internationale Hilfsorganisationen eilten ins Land, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schickte 600.000 Impfdosen und Wasserflaschen. Damit wird die Cholera gerade zwar zurückgedrängt, aber nicht ihre Ursache bekämpft. +Zurück in Bebnine, im Grundversorgungszentrum, ordnet Stationsleiterin Sood El Dine Akten auf ihrem Bürotisch. "Wir brauchen mehr Impfdosen", sagt sie. "Sonst gibt es bald den nächsten Ausbruch." Doch der Impfstoff ist knapp. In ihrer Not hat die WHO die Verabreichung einer Dosis für ausreichend erklärt. Eigentlich braucht es zwei. Unten im Keller weigert sich der Cholerapatient, der Mittdreißiger, ein großes Glas mit gelber Flüssigkeit zu trinken – ein Zucker-Salz-Gemisch. "Das schmeckt nicht", protestiert er. Die Krankenschwester bleibt ungerührt. "Aber die Suppe mit verschmutztem Wasser ging runter, nicht wahr?" Langsam leert sich das Glas. diff --git a/fluter/chronik-auto-deutschland.txt b/fluter/chronik-auto-deutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d1686dc429d021408f7b1713a56c3c7fbdfbf5e8 --- /dev/null +++ b/fluter/chronik-auto-deutschland.txt @@ -0,0 +1,43 @@ +Im August 1932 eröffnet Kölns Oberbürgermeister Konrad Adenauer die erste "Nur-Auto-Straße" in Deutschland. Drei Jahre hatten rund 5.000 Menschen die 20 Kilometer zwischen Köln und Bonnin Handarbeit erbaut: In der Massenarbeitslosigkeit sollten möglichst viele beschäftigt werden. Es gilt Tempo 120, Leitplanken und Standstreifen fehlen, das Parken und Wenden auf der Fahrbahn ist verboten – genauso Kutschen und Fahrräder, die bis in die 1940er-Jahre hinein das wichtigste Verkehrsmittel sind. + +Nach Adolf Hitlers Machtübernahme vereinnahmen die Nazis die bestehenden Autobahnpläne für sich. Bis Kriegsbeginn 1939 sind rund 3.300 der geplanten 6.900 Autobahnkilometer gebaut. Zuständig ist die Reichsbahn, das damals größte Unternehmen der Welt. + +Der Reichsverkehrsminister erlässt die ersten einheitlichen Verkehrsregeln. Hitler will das Auto populär machen, also hebt die "Reichs-Straßenverkehrs-Ordnung" die Geschwindigkeitsbegrenzung (vorerst) auf und überlässt dem Auto die Straßen. Ab 1939 schreibt die Reichsgaragenordnung zudem vor, dass zu jedem Neubau eigene Parkflächen gebaut werden müssen. Die heutige Straßenverkehrsordnung baut auf den damaligen Gesetzen auf. + +Im Mai legt Hitler den Grundstein für das erste Volkswagenwerk in Wolfsburg. Hier soll der "Kraft-durch-Freude-Wagen" gebaut werden, ein Auto, das sich alle Bürger leisten können. Das Werk wird 1939 fertig, produziert aber nur Kriegsgüter: Die Nazis haben den Zweiten Weltkrieg begonnen. + +Nach Kriegsende sind Straßen, Tunnel und Brücken zerstört. Die Straßen werden bald wiederhergerichtet, die Schienen dagegen zu Baumaterial und Reparationszahlungen: Bis März 1947 werden in der Ostzone unter Führung der Sowjetunion 11.800 Kilometer Schienen abgebaut, weit mehr als in den anderen drei Besatzungszonen. + +Beim Wiederaufbau nach dem Krieg orientieren sich deutsche Stadtplaner an der "Charta von Athen" von 1933. Sietrennt Städte in Gebietezum Arbeiten, Wohnen und Erholen, zwischen denen "automobile" Bewohner bequem pendeln können. Hannover wird zum Prototyp. Ab 1948 lässt Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht die stark zerstörte Stadt zu einer "autogerechten" umbauen – und dafür etliche erhaltene historische Gebäude abreißen. + +Wirtschaftswunder: In den 1950er-Jahren wächst die Wirtschaft in der Bundesrepublik sehr schnell. Das Auto ist ein Symbol des Aufschwungs, von 1950 bis 1953 verdoppelt sich die Zahl der Fahrzeuge in Westdeutschland auf mehr als eine Million. Auch die DDR-Führung will neue Pkw-Typen bauen: den "Wartburg" für gehobene Ansprüche und den Kleinwagen "Trabant". Wer ein Auto kaufen will, muss sich allerdings auf jahrelange Wartezeiten einstellen. + +Westberlin beschließt, seine Straßenbahn abzuschaffen. Eine radikale Verkehrswende: Die Tram transportiert damals rund zwei Drittel aller Fahrgäste. Aber in vielen westlichen Metropolen gilt sie als Auslaufmodell. Die Stadt soll schneller werden und künftig auf Autosund Busse setzen. + +Erstmals gibt es eine Pendlerpauschale: Wer mit dem Auto zur Arbeit fährt, bekommt 50 Pfennig pro Kilometer. Ab März 1960 werden die Einnahmen aus der Mineralölsteuer zum Bau und Erhalt von Bundesstraßen eingesetzt: Je mehr Autos fahren, desto mehr Straßen werden gebaut. Das westdeutsche Schienennetz dagegen wird seit Ende der 1940er zurückgebaut. In der DDR ist die Schiene wichtiger, weil weniger private Autos fahren. Aber auch dort fehlen ab den 1970er- Jahren die Investitionen. + +Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest: Es gibt ein Recht auf öffentliches Parken. In den Folgejahren steigen die Pkw-Zulassungen rasant an, parkende Autos prägen das Straßenbild. Das Urteil gilt bis heute. + +Auf westdeutschen Straßensterben 19.193 Menschen, Rekord in der Bundesrepublik. Und Anstoß für Maßnahmen wie Helm- oder Gurtpflicht. + +DerJom-Kippur-Krieg im Nahen Ostenlöst eine Ölkrise aus. Die BRD erlässt das "Energiesicherungsgesetz": vier autofreie Sonntage, sechs Monate Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen und 80 km/h auf Landstraßen. Der ADAC startet eine Gegenkampagne ("Freie Bürger fordern freie Fahrt!"), prompt wird das Tempolimit für Autobahnen wieder aufgehoben. Auf Landstraßen gilt seitdem Tempo 100. Bis heute ist Deutschland das einzige Land, in dem auf Autobahnen kein generelles Tempolimit gilt. + +In der BRD macht der "Straßenfahrzeugbau" erstmals mehr Umsatz als der Maschinenbau.Die Automobilindustriebleibt die wirtschafts stärkste Industrie des Landes, 2023 erzielt sie einen Umsatz von 564 Milliarden Euro. + +Das Waldsterben besorgt die Deutschen, umweltschädliche Abgase sollen reduziert werden. Ab dem 1. Januar 1989 muss jeder Neuwagen einen Katalysator haben. + +Umdie neuen mit den alten Bundesländern zu verbinden, sollen sieben Autobahnen gebaut werden. Streckenlänge: rund 2.000 Kilometer. Kosten: rund 17 Milliarden Euro. Heute, 33 Jahre später, sind die Arbeiten weitgehend abgeschlossen. Im Zuge der Einheit entstehen auch neun neue Bahnstrecken. Und 1994 schließen sich Bundesbahn und Reichsbahn zur Deutschen Bahn zusammen. Der Start ist holprig: Beide Bahnen sind stark verschuldet. + +Die Finanzkrisebringt auch die Autokonzerne in Schwierigkeiten. Der Staat versucht zu helfen: Er zahlt 2.500 Euro Abwrackprämie an alle, die ihr altes Auto gegen einen (saubereren, die Prämie heißt offiziell Umweltprämie) Neuwagen tauschen. + +Rund 834.000 Menschenarbeiten in der Automobilindustrie, so viele wie nie zuvor. Bis 2023 sinken die Zahlen wieder: zum einen, weil Elektroautos weniger Teile und Arbeitskräfte benötigen, zum anderen, weil die Produktion ins Ausland abwandert. Nach China zum Beispiel, wo seit 2018 mehr Fahrzeuge deutscher Hersteller gebaut werden als in Deutschland + +Mit dem "Gesetz zum autonomen Fahren" ist Deutschland das erste Land, das selbstfahrende Fahrzeuge in bestimmten Bereichen des Straßenverkehrs erlaubt. Bis sie tatsächlich herumfahren, wird es aber noch dauern. + +Eine Million zugelassene Elektrofahrzeuge: Deutschland erreicht dieses Ziel zwei Jahre später, als der "Nationale Entwicklungsplan Elektromobilität" vorsieht. Bis 2030 sollen es mindestens 15 Millionen E-Autos sein. Aber im Winter 2023 wird die staatliche Förderung für E-Autos erst mal gestoppt. + +Eine große Reform der Straßenverkehrsordnung soll den Vorrang des Autos aufheben und Maßnahmen zum Schutz von Umwelt und Klima, von Fußgängern und Radfahrenden erleichtern. Die Reform wird im Bundestag beschlossen, aber im Bundesrat von einigen Landesregierungen blockiert. + +Dieser Beitrag ist im fluter Nr. 92 "Verkehr" erschienen.Das ganze Heftfindet ihr hier. + +Titelbild v. l. n. r.: National Motor Museum/Heritage Images/IMAGO, Rust/IMAGO, Frinke/IMAGO,  imagebroker/IMAGO, MiS/IMAGO, Sylvio Dittrich/IMAGO, Gerhard Leber/IMAGO, blickwinkel/IMAGO, Steinach/IMAGO diff --git a/fluter/chronologie-hambacher-forst-proteste.txt b/fluter/chronologie-hambacher-forst-proteste.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c00b35d73fad8b823692c65bc428f6b3f86a3d7b --- /dev/null +++ b/fluter/chronologie-hambacher-forst-proteste.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Der Beginn der nächsten Rodung war ursprünglich für Oktober 2018 geplant. Angesichts der nahenden Rodungssaison verschärfte sich bereits in den Sommermonaten der Konflikt zwischen dem RWE auf der einen und den Aktivisten auf der anderen Seite. Der Hambacher Forst wird zum Symbol für denKampf um Kohle. +Am 12. September dieses Jahres fordert das Bauministerium des Landes NRW die Stadt Kerpen auf, die Baumhäuser zu räumen. Begründet wird diese Forderung mit fehlendem Brandschutz in den Hütten. Am Tag darauf beginnt die Polizei mit der Räumung des Forsts. Ihre Vorgehensweise ist umstritten: Es kursieren Videos, die Polizeigewalt gegen Aktivisten zeigen. Gleichzeitig wird die Polizei eigenen Aussagen nach ihrerseits gewaltsam von Aktivisten angegriffen, unter anderem mit Molotowcocktails. Besonders tragisch überschattet der Tod eines Bloggers die Räumungsphase: Er stürzte von einer Hängebrücke und starb wenig später an seinen Verletzungen. +Doch auch friedlicher Widerstand und gewaltfreie Räumung werden dokumentiert. Um den Hambacher Forst formiert sich während dieser Wochen eine rege Protestkultur von Braunkohlegegnern. +Als die Räumung annähernd abgeschlossen ist, geben zwei Gerichtsurteile der Protestbewegung neuen Aufwind: Das Oberverwaltungsgericht Münster gibt einem Eilantrag des Umweltverbandes BUND statt und verhängt am Vormittag des 5. Oktober einen vorläufigen Rodungsstopp. Zudem wird die Großdemonstration "Wald retten – Kohle stoppen!" am Hambacher Forst zunächst von der Polizei Aachen verboten, doch das Verwaltungsgericht kippt das Verbot kurzfristig, sodass die Demo am 6. Oktober stattfinden kann. Nach Rodungsstopp und Demo-Erlaubnis kommen Tausende Kohlegegner zusammen und feiern den Zwischenerfolg. +Im Hauptsacheverfahren wird nun das Verwaltungsgericht Köln entscheiden, ob der Hambacher Forst vom RWE gerodet werden darf. Inwiefern die Rodung wirklich notwendig ist, um die Energieversorgung durch Kohle zu sichern, oder ob der Schutz des Waldes als Lebensraum für Flora und Fauna Vorrang hat, muss neu bewertet werden. Bis über die Klage des BUND rechtskräftig entschieden ist, darf nicht gerodet werden. Das Urteil könnte aufgrund des komplizierten Gerichtsverfahrens erst im Jahr 2020 vorliegen. Währenddessen geht der Protest gegen Kohlestrom und das RWE in eine neue Runde. Die Umweltaktivisten haben bereits mit dem Bau neuer Baumhäuser im Wald begonnen und hatten einen Bagger im Tagebau besetzt. Der "Hambi bleibt" also – zumindest vorerst. +Von dem einst 5.500 Hektar großen Wald stehen heute noch 200 +Seit 2012 ist der Konflikt über die Rodung des "Hambi" eskaliert. Protestiert wird auf dem Boden … +… und in den Baumwipfeln +Wichtiges Utensil der Aktivisten: Strickleitern, um in ihre Baumhäuser zu kommen. Seit 2013 besetzen sie den Wald +Nachhaltige Straßensperren: Zu Beginn der geplanten Rodung im Oktober 2018 verschärften sich die Proteste +Grau statt grün: Bis 2040 hat der RWE-Konzern das Recht, im Tagebau Hambach Kohle abzubauen +Der Hambacher Forst wird zum Symbol für den Kampf um Kohle +Die Polizei beginnt im September mit der Räumung der Baumhäuser. Der Grund? Fehlender Brandschutz +Sieht nach Forstarbeiten aus … +… ist aber der Beginn der Räumung. Dem Aufruf, ihre Behausungen zu verlassen, sind nicht alle Besetzer nachgekommen. Ordnungs- und Rettungskräfte waren laut Polizeiberichten von Vermummten mit Molotowcocktails, Steinen und Fäkalien beworfen worden +Mehrere Zehntausend Menschen demonstrieren am Hambacher Forst gegen die Räumung +Im Aufwind: Rodungsstopp und Demo-Erlaubnis führen die Kohlegegner zum Zwischenerfolg +Wollen sich aus dem Staub machen: Am Ende beschuldigen sich Polizei und Aktivisten gegenseitig, gewaltsam vorgegangen zu sein +Das ließ sich stämmen: Die Aktivisten haben mit ihrem Protest Erfolg +Ein Gericht prüft nun, ob die Rodung rechtens ist. Das Urteil wird 2020 erwartet. Bis dahin darf nicht gerodet werden diff --git a/fluter/chrysalis-academy-kapstadt.txt b/fluter/chrysalis-academy-kapstadt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..22a2e23f9fe3e1b86e347893ec539aad7532dff5 --- /dev/null +++ b/fluter/chrysalis-academy-kapstadt.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Wie überall auf der Welt sind es in erster Linie Männer, die gewalttätig werden. Die staatliche "Chrysalis Academy" möchte diesen Verhaltensmustern, die häufig von Generation zu Generation weitergegeben werden, etwas entgegensetzen: Seit dem Jahr 2000 absolvieren hier 18- bis 25-jährige Freiwillige aus der Region Western Cape eine militärisch anmutende dreimonatige Ausbildung, die aus ihnen bessere Väter, Brüder und Partner machen soll. Pro Jahr absolvieren drei Klassen die Kurse, darunter mittlerweile auch eine Frauenklasse. +Nun kann man fragen, ob knallharte Disziplin wohl das richtige Mittel ist, umtoxischer Männlichkeitentgegenzuwirken. Aus Sicht der "Chrysalis Academy" schon: Die Selbstdisziplin soll demnach als mentaler Rahmen für tiefergehende Arbeit an emotionaler Intelligenz undVerletzlichkeitdienen. Sensibilität soll hier also zu eigentlicher Stärke umgedeutet werden. +Der italienische Fotograf Alessandro Iovino hat die Klasse "19 Charlie" Anfang 2020 drei Monate lang begleitet. +Die einen machen Pause, die anderen müssen stramm stehen: Auf dem Hauptplatz der Chrysalis Academy gucken Studenten der Klasse "19 Charlie" dabei zu, wie ihre Kameraden gedrillt werden. Ansonsten ist ihr Tag knallvoll +Schon um 4.30 Uhr treten die Schüler zum Frühsport an. Weiter geht es mit einem militärischen Morgenregime: Vor der Inspektion der Schlafzimmer müssen die Schüler ihre Kleidung akribisch falten und die Betten machen. Außerdem ist jeder Schüler verpflichtet, den Boden und die Wände um den Schlafplatz eines Kameraden herum sauber zu halten diff --git a/fluter/citizen-science-games.txt b/fluter/citizen-science-games.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..68792391d1c03e044f0dc2c494d6bb0e481268a0 --- /dev/null +++ b/fluter/citizen-science-games.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Citizen Science stehtfür Bürgerwissenschaft. Die Idee ist einfach: Bürgerinnen und Bürger helfen bei der Forschung. Indem sie Beobachtungen melden, Messungen durchführen oder helfen, Daten zu sammeln. Nur soll das Ganze eben spielerisch ablaufen. "Es geht um Schwarmintelligenz", sagt Dominik Rinnhofer. "Der Einzelne muss nicht über eine besondere Expertise verfügen." Rinnhofer ist Professor für Game Design an der Hochschule Macromedia in Stuttgart. Spiele würden in der Wissenschaft schon länger zu Forschungszwecken eingesetzt, sagt er. Aber erst seitdem viele Spiele online spielen, ließen sich überhaupt genug Daten erheben, um Citizen Science nützlich zu machen. +Eines der bekanntesten Citizen Science Gamesist "Foldit", eine Art Puzzlespiel, das es schon seit 15 Jahren gibt. Das Browsergame hilft US-amerikanischen Forschenden dabei, Proteinstrukturen zu finden, die gegen Krankheiten helfen. Je besser das Modell eines 3-D-Proteins im Spiel "gefaltet" wird, desto mehr Punkte gibt es – denn umso besser funktioniert das Protein. Die Wissenschaft interessiert vor allem das räumliche Wahrnehmungsvermögen der Spielenden. "Menschen haben die unglaubliche Fähigkeit, Muster zu erkennen", sagt Rinnhofer. Die KI holt zwar gerade auf, aber noch sind einfache Aufgaben – zum Beispiel alle Fahrräder auf einem Bild zu finden – für Maschinen schwierig. Menschen können das sehr viel schneller. + +2011 hat die "Foldit"-Community die Struktur eines Proteins entschlüsselt, das Aids bei Rhesusaffen auslöst. Die Forschung hatte jahrelang danach gesucht, die mehr als 200.000 Gamer und Gamerinnen brauchten drei Wochen. "Citizen Science Games sind sehr gut geeignet, um über eine Masse an Daten zu Informationen zu gelangen", sagt Rinnhofer. Gerade spielt die "Foldit"-Community daran, das Krim-Kongo-Fieber-Virus unschädlich zu machen. Vielversprechende Proteine werden an der University of Washington nachgebaut und getestet. +"Spaß haben und Gutes tun", das ist laut Rinnhofer die Motivation vieler, die Citizen Science Games spielen. Der Wunsch, einen Beitrag zur Forschung zu leisten, stehe schon im Vordergrund. Das ist bei manchen Spielen auch nötig: Leicht zugänglich ist "Foldit" nicht. Zwischen vielen Erklärvideos und Probeproteinen kommt kaum Spielfluss auf. +Bei "Foldit" brauche man ein bisschen, um reinzukommen, gibt auch Dominik Rinnhofer zu. Die Playability sei eine der großen Herausforderungen für Citizen Science Games. Die müssen komplexe Wissenschaft so herunterbrechen, dass sie spielbar wird. Spielherausforderungen, die niedrigschwellig genug sind, machen dann oft keinen Spaß mehr. Das liegt auch an Design und Storytelling. "Foldit" und andere Science Games können im Vergleich mit klassischen Onlinegames nicht mithalten, was unter anderem finanzielle Gründe hat: Kommerzielle Spiele haben ein wesentlich größeres Budget. "Ich kann nicht mit 200 Leuten drei Jahre an einem Science Game arbeiten. Wenn ich die Mittel hätte, könnte ich sie direkt in die Forschung stecken", so Dominik Rinnhofer. +Eine andere Möglichkeit, Citizen Science Games zum großen Geld und Publikum zu bringen, hat "Borderlands Science" gefunden: Das Minispiel ist als Spielautomat in den Blockbuster "Borderlands 3" integriert: Spielerinnen und Spieler müssen Steine derselben Farbe in einer Reihe anordnen, ähnlich wie bei "Candy Crush". Tatsächlich handelt es sich nicht um zufällig angeordnete Spielsteine, sondern um Gensequenzen von Darmbakterien. Die Lösungswege der Spielenden werden aufgezeichnet und algorithmisch analysiert. Die kanadischen Wissenschaftler hinter "Borderlands Science" hoffen, so das Ökosystem des Darms besser zu verstehen, der zahlreiche Krankheiten wie Diabetes, Depressionen oder Alzheimer beeinflussen kann. +Diesen Hintergrund merkt man "Borderlands Science" zu keiner Zeit an, es ist inhaltlich klug integriert: Wer hier am Automaten Punkte sammelt, hat Vorteile im eigentlichen Spiel. "Borderlands Science" ist das erste Citizen Science Game, das mit einem der großen kommerziellen Gamingstudios kooperiert. So haben die Forschenden ein wesentlich größeres Publikum erreicht: In den ersten zwei Jahren seit dem Release 2019 haben knapp drei Millionen Spielende über 80 Millionen Puzzle gelöst. +Weil das Game-Design durch die Fortschritte in der KI immer einfacher wird, erwartet Dominik Rinnhofer eine ganze Reihe neuer Citizen Science Games. Die gehen bereits heute über Gensequenzen und Proteine hinaus. In "QuestaGame" (2014) lädt man Fotos von Pflanzen und Tieren hoch, um die Biodiversität zu erfassen, bei "CrowdWater" (2018) Wasserstandsfotos, um die Vorhersage von Trockenheitenoder Überschwemmungenzu verbessern. Wer Kunst liebt, kann auf "Artigo" (2010) Bilder beschreiben und so helfen, die Verschlagwortung von Kunstarchiven zu optimieren. +Das Schöne an alldem: Für die Spielerinnen und Spieler läuft die Forschung bestenfalls ganz nebenbei. Anstatt "Skill Lab" zu spielen, hätte man auch einen psychologischen Fragebogen ausfüllen können. Mäuse fangen macht aber deutlich mehr Spaß. + +Titelbild: ScienceAtHome diff --git a/fluter/clankriminalitaet-rassismus-neukoelln.txt b/fluter/clankriminalitaet-rassismus-neukoelln.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4446d797344d7d780bc9b9b3aa5f95ad0eed8a78 --- /dev/null +++ b/fluter/clankriminalitaet-rassismus-neukoelln.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Teil der Realität und nicht einer Serie ist aber, dass mehrere Mitglieder einer arabischstämmigen GroßfamilieRaubüberfälle auf Museenbegangen haben. Auch Fälle von räuberischer Erpressung, Freiheitsberaubung und gefährlicher Körperverletzung wurden schon vor Gericht im Kontext der sogenannten Clankriminalität verhandelt. +Natürlich gäbe es Familien, die ihren Lebensunterhalt mit Kriminalität verdienten, erzählt Chahrour, der gerade an einem Buch zum Thema arbeitet. Den Begriff Clankriminalität sieht er sehr skeptisch: "Großfamilien, die als geschlossene Einheit Straftaten begehen, gibt es nicht." Zudem sei die Idee dieses Begriffs zutiefst rassistisch. Tatsächlich reicht es in Nordrhein-Westfalen aus, mehrfach beim Schwarzfahren mit einem vermeintlichen Clan-Namen erwischt zu werden, um in den Statistiken als clankriminell erfasst zu werden. +Die Palette der Straftaten, die unter Clankriminalität fallen, ist groß: von Mord und Totschlag über Betrug und Drogenbesitz bis hin zu Beleidigung und Verkehrsstraftaten. Dass Clankriminalität und Organisierte Kriminalität (OK) nicht das Gleiche sind, zeigen auch die Lagebilder der Berliner Polizei. Für das Jahr 2021 registrierte die Polizei 519 Personen, die sie der Clankriminalität zuordnen, von denen lediglich 135 Personen als Tatverdächtige in OK-Komplexen registriert wurden. +In Berlin lag der Anteil an allen Straftaten, die unter Clankriminalität fallen, 2021 bei lediglich 0,18 Prozent. "Das ist kein nennenswerter Faktor", räumt auch Kriminaldirektor Stefan Majchrzak vom Landeskriminalamt Berlin ein. Dennoch findet er die besonderen Maßnahmen gegen diese Art von Kriminalität gerechtfertigt. Diese würde sich in Form von Bedrohungen, Verstößen gegen Verkehrsregeln, aber auch schweren Straftaten ausdrücken – wobei eben ein besonderes Element dazukäme: "Dieser gemeinsame ethnische, familiäre Ursprung." +Der familiäre Zusammenhalt und die Familienehre würden über allem stehen und könnten Straftaten begünstigen.Rassistisch sei das Konzept nicht, so Majchrzak. Weil "Berlin dem namensbasierten Ansatz nicht nachgeht", so der Kriminaldirektor. Sie würden sich nur um die Personen kümmern, "bei denen wir glauben, dass sie ein hohes Potenzial haben, Clankriminalität zu verantworten oder zu begünstigen". Es fände anhand der bundeseinheitlichen Definition eine Einzelfallprüfung statt. Nach dieser ist Clankriminalität das rechtswidrige Verhalten von Clanangehörigen, wobei diese die eigenen Normen und Werte über die deutsche Rechtsordnung stellen. Wie genau diese Prüfung abläuft, das sei laut Majchrzak aber geheime Verschlusssache und wird von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich gehandhabt. Es gibt jedoch eine öffentliche Liste von Indikatoren, die Majchrzak als "Ausführungsvorschrift" bezeichnet. Anhaltspunkte sind demnach z. B. eine "patriarchalischhierarchisch geprägte Familienstruktur", eine "mangelnde Integrationsbereitschaft" oder das "Provozieren von Eskalationen". +Melly Amira nennt genau das "strukturellen Rassismus". Die Aktivistin aus Neukölln, die sich für Antirassismus einsetzt, sitzt vor einer Bar, von drinnen hört man leise Popmusik, von den Nachbartischen Gesprächsfetzen mal in Arabisch, mal in Deutsch. Melly Amira ist nicht ihr richtiger Name, sie nutzt ihn als Pseudonym, aus Angst vor Angriffen durch Rechtsradikale. Auch sie hat die Initiative "Kein Generalverdacht" mitbegründet und engagiert sich heute in der "Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt". Begonnen hat ihr politisches Engagement an einem Abend Anfang 2019, den sie mit Freunden in einer Shishabar verbringen wollte – als plötzlich Dutzende mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten die Bar gestürmt hätten. Über zwei Stunden wären sie festgehalten worden, erzählt Amira. Ihnen sei verboten worden, zu essen und auf die Toilette zu gehen. "Alles wegen ein paar nicht richtig verzollten Packungen Shishatabak." +Zwei Monate später geriet sie erneut in eine solche Kontrolle. In die einst so geliebten Shishabars geht sie seitdem nur noch sehr selten: "Ich habe keinen Bock mehr, stundenlang von der Polizei schikaniert zu werden." Dabei seien Shishabars immer ein sicherer Ort für nichtweiße Menschen gewesen. "Auch als Frau habe ich hier viel weniger Belästigungen erlebt als in anderen Bars." +In den vergangenen Jahren haben Razzien in Shishabars stark zugenommen. Diese gelten als Hotspots der Clankriminalität. Eigentlich sind es ganz normale Gewerbekontrollen, die die Polizei zusammen mit Behörden wie Zoll oder Gesundheitsamt durchführt. Doch manche Politiker sehen sie als das Mittel im Kampf gegen Clankriminalität. Mit der "Politik der 1.000 Nadelstiche" will Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) für eine sichere Stadt sorgen. Diese Politik folgt der Logik, die auch Kriminaldirektor Stefan Majchrzak vertritt: Bereits kleinere Straftaten und Ordnungswidrigkeiten werden geahndet und verfolgt, um zu verdeutlichen, dass das Recht und die Stärke des Staates überall in der Stadt gelten. "Natürlich sind Gewerbekontrollen wichtig", sagt Melly Amira. Aus jahrelanger Erfahrung als Kellnerin weiß sie, dass im gesamten Gastgewerbe oft wichtige Vorschriften nicht eingehalten werden. "Aber von den Verbundeinsätzen ist fast ausschließlich migrantisches Gewerbe betroffen. Das wird unter Generalverdacht gestellt." +Dieser Text istim fluter Nr. 88 "Neukölln"erschienen +Eine vom Senat in Auftrag gegebene Studie der Hochschule für Wirtschaft und Recht sieht die Einsätze der Polizei ebenfalls kritisch. Die Gewerbekontrollen würden als "Türöffner" für polizeiliche Arbeit genutzt, was aus rechtsstaatlicher Sicht problematisch sei. Zudem würden andere Branchen wie Immobilien oder Finanzanlagen, in denen ebenfalls Straftaten vorkämen, vernachlässigt und kaum überwacht. +Dem Vorwurf, dass die Kontrolleinsätze migrantische Gewerbetreibende unter Generalverdacht stellen würden, widerspricht Kriminaldirektor Majchrzak. Man würde nur dort kontrollieren, wo man von einem Zusammenhang zur Kriminalität überzeugt sei. "Wir haben ja selber nichts davon, in die falschen Objekte reinzugehen." Bei den Einsätzen würden dann eben auch Ordnungswidrigkeiten festgestellt, die nicht im Zusammenhang mit Clankriminalität stünden. +"Ich bin vor ein paar Jahren auch mal bei Rot über die Ampel gefahren. Bin ich deswegen jetzt clankriminell?", fragt Mohammed Chahrour. Auchin Familien wie Müller und Meiergebe es Kriminelle, die sich abschotten würden, ohne dass Angehörige gleich in Sippenhaft genommen werden. + diff --git a/fluter/clans-und-kriminelle-grossfamilien.txt b/fluter/clans-und-kriminelle-grossfamilien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..370c3b8eb388ce8bf1018d617d46c7006bc3ec72 --- /dev/null +++ b/fluter/clans-und-kriminelle-grossfamilien.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Nidal R. hatte sich viele Feinde gemacht, vor allem unter anderen Kriminellen, aber er genoss auch Anerkennung. Zu seiner Beerdigung auf einem Friedhof in Berlin-Schöneberg strömten über 2.000 Menschen, darunter die Oberhäupter der wichtigsten kriminellen Großfamilien. Nidal R.s Geschichte ist auch eine Geschichte der kriminellen Clans in Deutschland. +Sie handelt von arabischen Großfamilien, die mit Diebstahl, Erpressung, Gewaltverbrechen, Prostitution, Drogenhandel und Geldwäsche mittlerweile große Teile des organisierten Verbrechens in Deutschland bestimmen – und die spätestens mit der Gangster-Saga "4 Blocks" in die Popkultur eingegangen sind. Die Hauptfiguren sind aufgepumpte Machos in getunten Autos, deren Gangsta-Rap das Gerede von Respekt und Ehre ist. Mit seinen Verbrechen zu prahlen ist wichtig – so wächst die Ehrfurcht, macht man sich einen Ruf, verschafft sich Respekt. +Die Clans folgen einem Ehrenkodex, der für Außenstehende nur schwer zu verstehen ist. Es gibt viele Regeln, manche lehnen sich an die Scharia, das islamische Recht, an. Einige Gesetze sind auf jeden Fall unumstößlich: Den männlichen Familienoberhäuptern gegenüber sind die jüngeren Mitglieder zu Respekt und Gehorsam verpflichtet. Und gegenüber der Polizei wird eisern geschwiegen, Probleme regelt man intern. +Einer, der weiß, wie es in den Clans aussieht, ist Hammed Khamis. Als elftes von 14 Kindern einer libanesischen Einwandererfamilie geriet er auf die schiefe Bahn: Raub, Erpressung, Körperverletzung. Fünf Monate saß er in Untersuchungshaft. Dann änderte er sein Leben, stieg aus, wurde Streetworker, Journalist und schrieb ein Buch: "Ansichten eines Banditen". +Heute trifft sich der 37-Jährige zum Gespräch lieber auf einem Spielplatz als in einer Shisha-Bar. "Bis ich 19 war, war ich in Deutschland nur geduldet. Du darfst nicht verreisen oder arbeiten, fühlst dich ausgegrenzt. Wenn man nur 150 Euro im Monat bekommt, denkt man sich was aus, wie man dazuverdient." Das Geld sei aber nur das eine: "Es geht auch um Respekt. Um Ehre." +Wer sich in Schlägereien behauptet, sich für die Ehre von Mutter oder Schwester prügelt, viel Geld verdient und das auch zeigt, der bekomme Anerkennung, erklärt Khamis. "Es ist wie in den Charts: Du kannst steigen oder fallen." Als er sich von der Familie distanzierte, war er "wieder bei null". Natürlich könne man sich auch als Arzt oder Anwalt Respekt verdienen. "Aber du musst auch deinen Mann stehen. Das heißt, wenn die Familie ruft, sie zu verteidigen." +Das kann bedeuten, per Handy spontan zu einer Schlägerei gerufen zu werden oder im Extremfall sogar für ein anderes Familienmitglied ins Gefängnis zu gehen. Wobei Khamis mit fester Stimme betont: Die allermeisten der Mhallami-Kurden, wie er selbst einer ist, seien keine Verbrecher. +"Dieses Phänomen gibt es mittlerweile in fast allen deutschen Großstädten", sagt Ralph Ghadban. Der ebenfalls aus dem Libanon stammende und in Berlin lebende Politologe und Islamwissenschaftler hat gerade das Buch "Arabische Clans – Die unterschätzte Gefahr" veröffentlicht. Zu den Minderheiten aus dem Libanon, wie die Mhallami, die Ende der Siebziger während des Bürgerkrieges eingewandert sind, kämen zunehmend andere ethnische Gruppen wie Türken, Albaner oder Tschetschenen hinzu. + +Es ist ein düsteres Bild, das Ghadban in seinem Buch zeichnet: Die kriminellen Clans betrachten demnachdie demokratisch-freiheitliche Grundordnung und ihre liberalen Gesetze nicht als Errungenschaft, sondern als Schwäche. Die Familien seien streng patriarchalisch-hierarchisch aufgebaut, Frauen hätten kaum Freiheiten, Recht und Gesetz würden selbst definiert, Polizisten, Zeugen und Richter eingeschüchtert. +Einige der Clans sollen deutschlandweit mittlerweile Tausende von Mitgliedern haben. Nicht alle seien kriminell, betont Ghadban, aber als Mitwisser verpflichtet, über die Taten ihrer Verwandten zu schweigen. "Die Familienehre ist ein Zwang, Verräter müssen mit Konsequenzen rechnen." Geeignete Aussteigerprogramme gebe es kaum. "Dieser Ehrenkodex in den Familien macht es schwierig, verdeckte Ermittler einzuschleusen", sagt Daniel Kretzschmar vom Bund Deutscher Kriminalbeamter. "Und wir können nicht gegen ganze Familien ermitteln, nur gegen Einzelpersonen oder Gruppen, die Straftaten begangen haben." +Nach dem Mord an Nidal R. veröffentlichten Freunde im Internet Fotos der angeblichen Täter. Manche Kommentare in sozialen Netzwerken drückten Bewunderung für Nidal R. aus, andere freuten sich auf zynische Weise: "Einer weniger." Am Tatort liegen verwelkte Blumen, auf Zetteln stehen Trauerbotschaften. Ein Graffito, das den Verstorbenen zeigte, ließ die Polizei übermalen, sie will keine Heldenverehrung. Aus Sicherheitsgründen standen die Maler unter Polizeischutz. +Jens Rockstedt, der Integrationsbeauftragte von Neukölln, befürchtet, dass angesichts der Berichte über den Mord an Nidal R. und die Beerdigung, die an ein Mafia-Begräbnis erinnerte, nun wieder von der "Parallelgesellschaft" geredet wird – und dadurch eine Negativspirale entsteht: "Vorbehalte gegen Migranten werden dadurch nicht weniger", so Rockstedt. Dabei gebe es durchaus Erfolge. +Die Polizei komme vielleicht kaum ran an die Clans, aber Sozialarbeiter aus der Community würden sehr wohl in die Familien gehen und über die Risiken sprechen, die mit den Verlockungen des schnellen Geldes einhergehen. Die Rückmeldung sei gut, gerade die Kinderkriminalität gehe zurück. "Die Integrationspolitik hat aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt", sagt Rockstedt. Damit meint er die 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahre, als in der Asyl- und Einwanderungspolitik eine harte Linie verfolgt wurde: Um Asylbewerbern keine Anreize zum Bleiben zu bieten, erschwerte ihnen der Staat sowohl die Ausbildung als auch die Möglichkeit, eine Arbeitsstelle zu finden. +1983 sank so in Deutschland die Beschäftigungsquote bei Ausländern auf 38 Prozent. Vor allem staatenlose Flüchtlinge ohne Papiere wurden nur geduldet. Einige warfen ihre Papiere aber auch bewusst weg, um nicht in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt zu werden, wo sie mitunter schon kriminell geworden waren. Hätten die Verbrecher von heute eine Chance gehabt, sich zu integrieren, wenn sie anders behandelt worden wären? Politologe Ghadban verneint die Frage. "Viele Clanmitglieder sind doch schon 40 Jahre hier und nachträglich anerkannt worden." +Nidal R. kam mit acht Jahren als Flüchtling aus dem Libanon, 2003 sagte er dem "Spiegel", er sei "unter Kriminellen" aufgewachsen und "irgendwann selbst zum Kriminellen" geworden: "Wenn du einmal drin bist, kommst du nicht mehr so leicht raus." +Anti-Gewalt-Seminare, die er besuchte, fruchteten nicht. Stattdessen lieferte er sich Verfolgungsjagden mit der Polizei, fuhr unter Drogeneinfluss und ohne Führerschein, verwüstete Gefängniszellen. Da seine eigene Familie nur wenige Mitglieder umfasste, verdingte er sich als Schläger für andere Clans. Es gab zuvor schon versuchte Anschläge in Berlin, die offenbar ihm galten. Die Polizei hatte Nidal R. vor weiteren gewarnt, trotzdem machte er weiter. +Die Polizei hofft, den Zusammenhalt in Verbrecherclans zu schwächen, indem sie dort zuschlägt, wo es denen besonders wehtut: beim Geld. Im Juli 2018 wurden in Berlin 77 Immobilien und Grundstücke im Wert von etwa zehn Millionen Euro, die mutmaßlich zur Geldwäsche dienten, vorläufig beschlagnahmt. Doch das allein wird wohl nicht reichen. "Die Bekämpfung der Clan-Kriminalität ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe", sagt Politologe Ghadban. Und fordert mehr Austausch zwischen Polizei, Justiz, Ämtern und Schulen. "Es darf nicht erst reagiert werden, wenn Blut fließt." + diff --git a/fluter/climate-fiction-genre-beispiele.txt b/fluter/climate-fiction-genre-beispiele.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ef83882ba35d472db173e38d6639ed462793adea --- /dev/null +++ b/fluter/climate-fiction-genre-beispiele.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Der Name lehnt sich an Science-Fiction an, kurz Sci-Fi. Das passt: Auch der Science-Fiction gelten Naturkatastrophen und Massenemigration seit jeher als perfekte Stoffe. Klassische Sci-Fi spielt aber oft in einer dystopischen Zukunft, in der die Gründe für den Niedergang der Menschheit klar benannt oder beschrieben sind, sei es der Ausbruch eines Weltkrieges oder einer Seuche. Hier zeigt sich eine der Schwierigkeiten für das Klima-Erzählen: Für die Krise sind viele Menschen über einen langen Zeitraum verantwortlich. Und retten kann uns kaum ein Mensch allein, sondern nur das Kollektiv. +Themen wie Umwelt oder Klima werden natürlich schon lange literarisch verarbeitet. In "Heat" ließ Arthur Herzog einen Wissenschaftler 1977 vor der kritischen Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre warnen, Jahrzehnte später machten T.C. Boyle ("Ein Freund der Erde", 2000) oder die große Margaret Atwood ("Oryx and Crake", 2003) ihre Leserschaft mit der Klimakrise bekannt; nur dass damals noch niemand von Climate-Fiction sprach. Gebraucht wird der Ausdruck seit den frühen 2010er-Jahren. Neu an heutiger Cli-Fi ist aber auch, dass sie die Klimakrise nicht mehr als hypothetische Apokalypse oder ferne Zukunft beschreibt (wie der gerade für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman "Auf See" von Theresia Enzensberger), sondern die Konsequenzen der Klimakrise real und aktuell macht. +Wie zum Beispiel im "Ministerium für die Zukunft" von Kim Stanley Robinson (deutsche Erstausgabe von 2021). Robinson betraut eine fiktive UN-Behörde mit der Bewältigung der Klimakrise im Jahr 2025, der Roman wurde ein Publikumserfolg. Und widerlegte viele Verlage, denen Climate-Fiction als "Kassengift" gilt. Angesichts der existenziellen Krise ist das eine Ironie, die mancher in der Szene selbst einräumen muss. "Es ist sehr schwierig, sich vorzustellen, wie ein Klimawandelroman aussehen müsste", sagte zum Beispiel der Schriftsteller Jonathan Safran Foer. "Aber es ist auch sehr schwer, sich eine Zukunft vorzustellen, in der nicht alle Romane auf die eine oder andere Art Klimaromane sind." +Weiterhören +Sind wir noch zu retten? Ja, sagt Jessica Strefler, die Klimamodelle berechnet,im fluter-Podcast +Wie kann es dann sein, dass Klimaerzählungen in der Literatur immer noch literarische Randerscheinungen sind? "Vielleicht weil das Thema meist in der Sprache der Politik, der moralischen Anklage, der Verleugnung oder eines vernagelten Beharrens auf Lebensweisen und Privilegien verhandelt wird", sagt Roman Ehrlich. Und Literatur sei eben selten gut, wenn sie ihre politische Agenda zu klar vor sich herträgt. In seinem Roman "Malé" (2020) beschreibt Ehrlich die apokalyptische Stimmung auf den Malediven, die dem steigenden Meeresspiegel zum Opfer fallen. Trotzdem würde er seine Bücher nicht als Climate-Fiction labeln. Als Genre interessiere ihn das nicht sonderlich, sagt Ehrlich. "Aber Bücher zu schreiben, die ganz blind sind für die reale Welt, fände ich genauso uninteressant." +Erste Studien untersuchen, ob sich Cli-Fi-Lektüre auf das Klimabewusstsein auswirkt. Bislang ohne klare Ergebnisse. Warum, könnte eineUmfrage aus den USAzeigen: Laut der sind Cli-Fi-Leser:innen klimabesorgter, denken also eher überdie ökologische Zukunft und ihr Zutunnach als Nichtleser:innen. Andererseits kann unter den teils stark negativen Emotionen, die die Cli-Fi weckt, das persönliche Engagement leiden. +Dass sich Cli-Fi hierzulande nur langsam durchsetzt, hat vielleicht noch einen anderen Grund:Andere Teile der Welt spüren die Krisensymptome der globalen CO2-Kultur länger und unmittelbarer. Dadurch sind sie auch in der jeweiligen Literatur verbreiteter. In den Romanen des indischstämmigen Schriftstellers Amitav Ghosh zum Beispiel kann man von riesenhaften Bohrwürmern lesen, die das Fundament Venedigs bedrohen, weil ihnen die gestiegene Wassertemperatur so sehr zusagt. Oder von einer Flüchtlingsmafia, deren Menschenhandel unter der massenhaften Klimaflucht erblüht. Er komme aus einem Teil der Welt,sagte Ghosh einmal der Deutschen Welle, in dem man nie rosige Erwartungen an die Welt und die Zukunft hatte. "Wir wussten, dass es viele Veränderungen geben würde, und erlebten diese Veränderungen hautnah", so Ghosh. "Menschen im Westen, glaube ich, wird der Glaube an Stabilität und ein Zukunftsversprechen mitgegeben. Das war bei mir nie so." +Climate-Fiction kann Perspektiven verschieben: Das Ökologische, das Strukturelle, das Abstrakte dringt ins Persönliche ein und umgekehrt. So auch in Kanada, wo Romane von First-Nations-Autor:innen immer beliebter werden. Während sie vom Leben im hohen Norden erzählen, kommen sie um die Klimakrise oft kaum herum – zu offensichtlich ist das Verschwinden des Eises in ihrer Heimat. Oder in Australien: Mit den Buschbränden der vergangenen Jahre ist dort deutlich mehr Cli-Fi erschienen. Kein Wunder: Von wo ließe sich besser von der Klimakrise erzählen als an einem der (schon heute) lebensfeindlichsten Orte der Welt? + diff --git a/fluter/co2-das-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt b/fluter/co2-das-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3d161eeed832c667dacca10fb3a088521172ea45 --- /dev/null +++ b/fluter/co2-das-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Manchmal sind Studien zum Thema CO2 einfach nur verwirrend. Zum Beispiel erreichte uns bei der Arbeit am Heft irgendwann die Nachricht: "Die Grenzwerte für die CO2-Belastung werden in normalen Schulstunden regelmäßig überschritten: Ab 1000 ppm treten Konzentrationsschwierigkeiten und Unwohlsein auf." Sollten wir da jetzt einen Reporter mit Messgerät losschicken? Hat das überhaupt etwas mit dem Thema zu tun? Verursacht nicht jede Schule irgendwann Konzentrationsschwierigkeiten und Unwohlsein? Wir waren ratlos. Eine Empfehlung für alle, die an dem Problem leiden, hatten wir dann doch recht schnell parat: Lüftet doch vielleicht einfach mal. +Freunde des CO2 +Ja, es gibt diesen Kurzfilm im Internet und er ist auch ziemlich gut. Er beginnt mit einer von rührender Musik untermalten Einstellung, die Menschen zeigt, die an einem Sommertag durch den Central Park von New York tollen und Seifenblasen machen. "In diesen Bildern gibt es etwas, das sie nicht sehen", sagt eine Sprecherin. "Es ist essenziell für das Leben. Wir atmen es aus. Die Bäume atmen es ein. Wir nennen es CO2." Dann Schnitt auf eine Raffinerie: "Die Treibstoffe, die CO2 emittieren, haben uns von knochenbrechender Arbeit befreit." Die Musik wird dramatisch: "Doch jetzt wollen uns Politiker plötzlich erzählen, CO2 wäre ein Gift!" "CO2 is our friend" heißt dieses Filmchen und es wurde von einer Lobbyorganisation in den USA produziert. Na ja. Das war es dann eigentlich auch schon. Eine größere Geschichte gibt das Thema einfach nicht her. + +Bakterien, die die Welt retten +Bescheiden war Craig Venter noch nie. Mit seiner Firma Celera decodierte er von 1999 bis 2000 das menschliche Genom weitgehend allein. Jetzt will er die Ölindustrie überflüssig machen. Mit winzigen Bakterien. In seinem Labor hat er ein künstliches Chromosom geschaffen, das, eingesetzt in ein weiteres Bakterium, die Kontrolle über den Fremdorganismus übernehmen soll. Sein Ziel ist, Energiebakterien zu entwickeln. Die sollen sich von CO2 aus der Atmosphäre ernähren. Das klingt nach einer absurd-stumpfsinnigen, aber wirksamen Lösung für das Treibhausproblem — zu schön, um wahr zu sein. Angesichts Venters Gelassenheit und seiner bisherigen Erfolge könnte er es womöglich tatsächlich hinbekommen.Bakterien, die die Welt retten diff --git a/fluter/comeback.txt b/fluter/comeback.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..aa5c5d45b6020e8dedbfa3d6cab3bcaf1448f48e --- /dev/null +++ b/fluter/comeback.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Der Kosovo hatte sich in einem blutigen Konflikt von Serbien abgespaltet und 2008 seine Unabhängigkeit proklamiert, die Serbien bis heute nicht anerkennt. Der Staat gehört zu den ärmsten Ländern Europas. Seit Ende 2014 haben rund 120.000 Menschen das Land verlassen. Den "großen Exodus" tauften die Medien die anhaltende Migrationswelle, schließlich hat der Kosovo nur 1,8 Millionen Einwohner. +Mirash besteht hauptsächlich aus rötlichen, einstöckigen Lehmziegelhäusern mit Zäunen aus geflochtenen Weiden. Es gibt eine Moschee, einen Supermarkt, einen Fußballplatz mit verrosteten Torpfosten. Die Arbeitslosenrate beträgt 40 Prozent – das ist immer noch besser, als in vielen anderen Kommunen. Und dennoch gab es in Mirash auch so etwas wie einen Aufbruch. In den vergangenen vier Jahren hat die Luxemburger Caritas-Stiftung eine halbe Million Euro investiert. Damit wurde die Schule saniert, die Ambulanz neu ausgestattet, 60 Familien bekamen Gewächshäuser aus Plastikplanen und Stahlrohren, um für den lokalen Markt Gemüse anzubauen. +Auch von diesen Familien sind einige auf und davon. Auf der Suche nach einer Antwort hört man in einem Café in der Hauptstadt Priština, dass die Auswanderung mit einem Einbruch begonnen habe. Drei junge Männer seien erwischt worden und nach Deutschland geflüchtet, um ihrer Verhaftung zu entgehen. Auf Facebook schwärmten sie davon, wie bequem man auf Kosten deutscher Behörden leben könne. Da habe es natürlich nicht lange gedauert, bis sich auch andere aufmachten in ein neues Leben. +Auch Valmir Murati, 19, ein ehemaliger Schüler von Bytyqi, ist im vergangenen November mit einem Bus über Ungarn nach Deutschland geflohen – auf der Suche nach "einer stabilen Zukunft, irgendeiner Form von Fortschritt, einem schicken Auto". Ein Freund hatte ihm erzählt, dass die Chancen für Ausländer gut stünden, in Deutschland einen Job zu finden. Der Freund hatte das von jemandem, der wiederum jemanden kannte, der in Deutschland war. Erst vor vier Tagen ist Valmir zurückgekehrt. Nun arbeitet er auf einer Obstplantage, sieben Hektar Apfelbäume und Erdbeerpflänzchen. +Der Busbahnhof in Priština ist ein Parkplatz mit Grill und Kiosk, in die Kurve einer Autobahn gezwängt, unter einem Blechdach stehen rote Plastiksessel für Wartende, an manchen Bussen leuchten noch die Ziele aus einer anderen Zeit: Günzburg Bhf. oder Fuldabrück. Viele der Menschen, die hier auf vollen Taschen sitzen, wollen zunächst nach Serbien, um dort einen Antrag auf einen serbischen Pass zu stellen. Mit dem können sie sich innerhalb der EU frei bewegen. "Serbien hat seine Tore weit geöffnet für illegal Ausreisende aus dem Kosovo", klagte unlängst Kosovos Präsidentin Atifete Jahjaga. +Auch Valmir ist von hier aufgebrochen. Die Fahrkarten gehen für 50 Euro von Hand zu Hand. Seit sich herumgesprochen hat, dass die Schmuggler an der Grenze zu Serbien statt bis zu 800 nur noch 150 Euro nehmen, ist die Zahl der Flüchtenden größer geworden. Junge Männer verkaufen ihre Smartphones und fahren mit dem Geld bis nach Budapest oder Berlin. +Von Belgrad reiste Valmir nach Budapest, von dort nahm er einen Zug nach München, dann ging es weiter nach Stuttgart. Dort meldete er sich bei der Polizei, um einen Asylantrag zu stellen. Er kam in eine Erstaufnahmeeinrichtung in Karlsruhe. "Es war ein gefährlicher Ort, eine improvisierte Containerunterkunft, in der es fast täglich zu Messerstechereien kam", sagt Valmir und schiebt die Hände in die Taschen seiner roten Arbeitsweste. Jeden Morgen sei er um sieben Uhr aufgestanden und im winterlichen Baden-Württemberg von Tür zu Tür gegangen, um nach einem Job zu fragen. +"Einige haben sich über uns lustig gemacht, aber die meisten waren freundlich und erklärten, dass sie niemanden ohne Arbeitserlaubnis nehmen dürften." Viereinhalb Monate hat er es so versucht. Dann wurde es Valmir zu müßig, auf eine Antwort der Asylbehörde zu warten, zumal alle seine Freunde im Heim bereits abgelehnt worden waren. Er lieh sich 80 Euro von Verwandten und kaufte sich ein Rückflugticket. "Ich habe als einer der Ersten den Ort verlassen. Aber ich habe nie irgendjemandem erzählt, dass es toll wäre in Deutschland", sagt er und hebt die Hände entschuldigend. +Rückkehrer wie Valmir werden im Kosovo liebevoll als "Ungarn" verspottet, weil sie meist über Budapest reisen. Vorwürfe macht ihnen kaum jemand, niemand weiß ja, ob die Verheißungen über ein neues Leben in einem reicheren Land nicht doch stimmen. Zudem: Über die Hälfte der Kosovaren sind unter 30 Jahre alt – dass sich viele von ihnen nach einer Zukunft in einem anderen Land sehnen, finden die meisten normal. +Es gibt sogar Gerüchte über Gerüchte: In einigen Moscheen predigen die Imame, dass die Geschichten über Deutschland von den Serben gestreut würden, um den Kosovo in die Knie zu zwingen. "Viele Kosovaren haben ein sehr geringes Bildungsniveau. Sie glauben das, was eine Person mit Autorität zu ihnen sagt. Die googeln das nicht erst", sagt der Dramatiker Jeton Neziraj, der mit "Peer Gynt from Kosovo" ein Theaterstück geschrieben hat, das sich den unrealistischen Erwartungen an ein Leben im Ausland widmet.Es sind auch vor allem die jungen Leute, die den teils absurden Gerüchten, die zirkulieren, Glauben schenken: Deutschland müsse immer eine bestimmte Anzahl schwarzer und weißer Flüchtlinge aufnehmen, heißt es etwa.  Da zuletzt so viele Araber und Afrikaner gekommen seien, gäbe es nun wieder gute Chancen auf Asyl für Weiße wie die Kosovaren. Dann wieder wird gemunkelt, dass die deutsche Gesellschaft vergreise. Es würden kaum noch Kinder geboren. Schulen und Kindergärten müssten schließen. Darum würde jungen Kosovaren Asyl gewährt. +Über dem Supermarkt in Mirash gibt es einen großen Raum mit einem Kicker, einem Billardtisch, einer Tischtennisplatte und einem Fernseher für Fußballübertragungen. "Hier treffen sich Einwohner jeden Alters in Harmonie", sagt Schuldirektor Bytyqi. Er sitzt an einem Tisch am Fenster und schaut auf den Friedhof und die Berge. Er ist stolz auf diesen Raum, den er abwechselnd als Bar, Jugendklub und Sozialklub bezeichnet. Eine der beiden Supermarktverkäuferinnen kommt hoch und stellt Cola-Dosen auf den Tisch. Am schönsten sei es hier im Sommer, sagt Bytyqi, "wenn all die Ausgewanderten zurück nach Mirash kommen". diff --git a/fluter/comic-ika-sperling-der-grosse-reset-verschwoerung.txt b/fluter/comic-ika-sperling-der-grosse-reset-verschwoerung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..001bafac66429d93bc6ac327a39e97e338ea0afc --- /dev/null +++ b/fluter/comic-ika-sperling-der-grosse-reset-verschwoerung.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +"Der Große Reset" ist, wie Sperling in einem Verlagsinterview erklärt, grob an ihre realen Erfahrungen mit ihrem Vater angelehnt. Sie habe zeigen wollen, wie die Ausnahmesituation der Pandemie, gepaart mit fehlenden sozialen Kontakten und mehr Zeit vor YouTube oder Telegram zu gesellschaftlicher Entfremdung geführt haben – und wie davon manchmal sogar das engste Umfeld betroffen ist. +Ursprünglich bezeichnete der Begriff "The Great Reset" ("Der große Neustart") eine Initiative des Weltwirtschaftsforums mit dem Ziel, die Wirtschaft und Gesellschaft nach der Corona-Pandemie weltweit nachhaltiger und gerechter zu gestalten. Verschwörungsgläubige verwenden den Ausdruck für angebliche Pläne einer politischen und finanziellen "Elite", die die Gesellschaft zu ihren Gunsten neu ordnen will. +Einfühlsam und realistisch. Sperlings Figuren sprechen Alltagssprache, streiten sich, lachen aber auch miteinander. Das macht die Momente, in denen klar wird, wie sehr die Familie sich wegen des Vaters voneinander entfernt hat, umso trauriger. Auch auf der Bildebene hat die Künstlerin ein gutes Mittel gefunden, diese Entfremdung auszudrücken. So zeichnet sie ihren Vater nicht wie die anderen Figuren als Mensch, sondern als Blase in Menschenform. Diese Blase ist mit einer Flüssigkeit gefüllt, die manchmal ausläuft und Ika und ihrer Mutter die Schuhe durchnässt. Das mag im ersten Moment witzig klingen, wirkt aber eher tragisch, weil es zeigt, wie schädlich die Pläne des Vaters für den Rest der Familie sind. +Eigenen Angaben zufolge wollte Ika Sperling sich nicht über Menschen, die an Verschwörungserzählungen glauben, lustig machen, gleichzeitig wollte sie deren Ansichten aber auch keine Bühne bieten. Deshalb sieht man Ikas Vater in der Graphic Novel etwa beim Reden über die angebliche Verschwörung hinter einer verregneten Autoscheibe. Die Regentropfen verdecken seine Worte. Zur Wasserthematik, die sich durch die Graphic Novel zieht, passt auch, dass Sperling ihren Comic in Aquarellfarben koloriert hat. +Auf jeden Fall. "Der Große Reset" hinterlässt wohl deshalb ein so bedrückendes Gefühl, weil er etwas schildert, das jedem passieren könnte oder vielleicht sogar schon passiert ist: Ein geliebter Mensch verändert sich und ist dadurch für seine Angehörigen nicht mehr erreichbar. Ika Sperling bietet keine versöhnliche Antwort auf dieses Dilemma an, sie habe keinen wissenschaftlichenRatgeber für Angehörige von Verschwörungsgläubigen, sondern einen persönlichen Erfahrungsbericht schaffen wollen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen zeigen die Familienmitglieder nur zwei ähnlich ernüchternde Wege, mit der Situation umzugehen: Entweder meiden sie jedes politisch aufgeladene Thema, oder sie brechen den Kontakt zum Vater ab. +… alle, die einen großen gesellschaftlichen Konflikt gern unterhaltsam und gefühlvoll im Kleinen dargestellt sehen möchten und sich mehr für komplexe Beziehungen als für eindeutige Ursachen und Lösungen interessieren. So bleibt zum Beispiel offen, warum Ikas Vater überhaupt anfällig für Verschwörungserzählungen geworden ist. Vielleicht liegt das auch daran, dass die Beweggründe ihrer Anhänger:innen für Angehörige wie Ika manchmal nur schwer nachzuvollziehen sind. + +"Der große Reset" von Ika Sperling erscheint am 4. Mai im Reprodukt-Verlag. diff --git a/fluter/comic-kobane-rojava-syrien-zerocalcare.txt b/fluter/comic-kobane-rojava-syrien-zerocalcare.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..54ac19268d558bc5cbd5f23c37dd9608dccc3dab --- /dev/null +++ b/fluter/comic-kobane-rojava-syrien-zerocalcare.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Mit seinem Band "Kobane Calling" feiert der 33-Jährige in seiner Heimat einen riesigen Erfolg. Bereits über 100.000 Mal wurde der Band verkauft. Das ist gut zehnmal mehr als üblich bei Graphic Novels. Übersetzt wurde er ins Englische, Deutsche und Niederländische. Auch das ungewöhnlich. So wie das ganze Buch. +"Kobane Calling" ist nämlich keine klassische Comic-Reportage. Sind die Bände von anderen Comiczeichnern wie Joe Sacco, Guy Delisle und Sarah Glidden von einem klassischen Journalismus geprägt, so ist Zerocalcares Reisebericht eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit Rojava und dem gesellschaftlichen Experiment, das sich seit ein paar Jahren im Norden Syriens vollzieht: In einem schriftlich fixierten Gesellschaftsvertrag hat sich das de facto selbstverwaltete, aber völkerrechtlich nicht anerkannte kurdische Autonomiegebiet ein paar Regeln auferlegt, die ziemlich fortschrittlich sind,wenn sie denn tatsächlich so umgesetzt werden: Basisdemokratie, Religionsfreiheit, Umweltschutz und Gleichstellung der Geschlechter. +Eigentlich kam Zerocalcare gar nicht, um zu berichten, sondern um zu helfen. Als Teil einer Soli-Gruppe reist er 2014 ins türkische Grenzgebiet, schnürt Hilfspakete für Flüchtlinge und ist fasziniert von dem gesellschaftlichen Aufbruch. Im Juli 2015 reist er dann auf die syrische Seite. Da war die Schlacht um Kobane gerade gewonnen. Besonders beeindruckt hat Zerocalcare die Stellung der Frauen. DieAusbilderinnen der YPJetwa, der Fraueneinheiten der kurdischen Milizen, hätten eine Menschlichkeit, die man im Militär sonst wohl nirgends finden würde. Dass abseits des Krieges so wenig über den gesellschaftlichen Umbruch in Rojava berichtet wird, ärgert ihn. +Ein politischer Mensch ist Zerocalcare ohnehin. Schon als Jugendlicher geht er in den autonomen Zentren seiner Heimatstadt Rom ein und aus und lebt als Straight-Edge-Punk, verzichtet also auf Alkohol, Zigaretten und Drogen. Die Tötung des Demonstranten Carlo Giuliani bei den G8-Protesten in Genua 2001 durch die Polizei ist für ihn ein Erweckungserlebnis. Und in der Schlacht um Kobane sieht er einen Endkampf um die Menschlichkeit. +Seine ganze Sympathie gilt entsprechend dem Schicksal der Kurden. Das sieht man auf jeder Seite seines 272 Seiten starken Bandes. Er versucht erst gar nicht, die Rolle des neutralen Beobachters einzunehmen. Auch nicht, als er die PKK-Einheiten in den Bergen von Kandil im Irak besucht. Gegen die PKK stehen ja viele Vorwürfe im Raum: die autoritäre Vergangenheit der kurdischen Arbeiterpartei etwa, die Exekution von Abtrünnigen aus den eigenen Reihen, die Verstrickungen in den Drogenhandel, die Kindersoldaten. Nicht immer ist die Sachlage klar, aber die Liste der Anschuldigungen ist lang. Von vielen Staaten – der Türkei sowieso, aber auch der EU – wird die PKK als terroristische Vereinigung eingestuft. Auch gegen die PYD und YPG, die herrschende Partei in Rojava und die Volksverteidigungseinheiten werden von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch Vorwürfe erhoben. +Zerocalcare verschweigt das nicht, und er fragt auch nach. Vor allem aber erzählt er, wie schwierig es ist, sich von der Lage vor Ort ein Bild zu machen. Dadurch bekommt die Geschichte eine besondere Authentizität. Sie erinnert daran, wie kompliziert es ist, in umkämpften Regionen an verlässliche Informationen zu kommen.Der Krieg ist auch immer ein Krieg der Informationen. Erst recht, wenn sich so viele Milizen gegenüberstehen wie im umkämpften Norden von Syrien. +Dass der Comic trotz des ernsten Themas mitreißend und sogar manchmal lustig ist, ist Zerocalcares anarchischem Erzählstil zu verdanken. Gerade weil er seine eigenen Ängste und Vorurteile oft ins Groteske verzerrt, schlittert "Kobane Calling" bei aller linken Romantik nie in einen Polit-Aktivisten-Kitsch. +An Überzeugung mangelt es Zerocalcare indes nicht. Einen Teil der Einnahmen aus dem Buch spendet er an Solidaritätsinitiativen für die Kurden. +Zerocalcare: "Kobane Calling", Avant-Verlag, Berlin 2017, aus dem Italienischen von Carola Köhler, 272 Seiten, 24,95 Euro diff --git a/fluter/comic-kolonialgeschichte-kamerun-widerstand.txt b/fluter/comic-kolonialgeschichte-kamerun-widerstand.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..670c98c3a2fccb99ac14f465fbc651a737c7d8eb --- /dev/null +++ b/fluter/comic-kolonialgeschichte-kamerun-widerstand.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Dass solche Biografien wieder ins Bewusstsein geraten, dafür setzt sich die "Initiative Perspektivwechsel" ein. Der Berliner Verein kümmert sich um antirassistische Bildungsarbeit. Und probiert dies hier in einer besonderen Form – mit Bildergeschichten. "Widerstand" heißt der kleine Band, in dem drei Episoden kolonialer und postkolonialer Geschichte aus kamerunischer Perspektive erzählt werden, zwei in klassischer Comicform mit Panels und Sprechblasen, eine als illustrierter Fließtext. +Neben Manga Bell geht es dabei etwa um den Kampf der Frauen vom Volk der Kom in den 1950er-Jahren. Denn als die Deutschen gingen, kamen die Franzosen und die Briten, sie blieben bis 1960 beziehungsweise 1961. Die dritte Geschichte wendet schließlich den Blick auf die Gegenwart: Der Aktivist André Blaise Essama zerstört in Kamerun Statuen undStraßenschilder, die an europäische Politiker und Generäle erinnern.Er ersetzt sie durch solche von kamerunischen Widerstandskämpfern, etwa Félix Moumié oder Osendé Afanda. + +Sachbeschädigung in der historisch-kritischen Variante: Der Kameruner Aktivist André Blaise Essama holt so manchen Kolonialherren vom Sockel, der da seiner Meinung nach nichts zu suchen hat +Die Idee zu "Widerstand" entstand 2017, als die "Initiative Perspektivwechsel" eine Methode suchte, Wissen über antikoloniale Geschichte für Schulklassen bis zur Grundschule aufzubereiten – und dafür eine Art Comic-Collage bastelte. Diesen Ansatz wollte man professionalisieren, Fördergelder wurden beantragt, die kamerunischen Zeichner Franky Mindja und Daniel Assako für das Projekt gewonnen. Hilfe und Beratung bekam das ehrenamtlich arbeitende NGO-Team von der Comiczeichnerin Paula Bulling, die unter anderem in "Das Land der Frühaufsteher" (avant Verlag, 2012) den Umgang mit Geflüchteten in Sachsen-Anhalt dokumentiert hat. +Nach mehr als einem halben Jahr war "Widerstand" schließlich fertig: in einer Auflage von 500 Exemplaren,kostenlos, eine Spende ist aber erwünscht. Mit genügend Geld wäre eine Übersetzung ins Englische und Französische möglich, damit auch die Schwester-NGO in Kamerun mit dem Comic arbeiten kann. +Das erzählerische Prinzip ist bei allen drei Geschichten das gleiche und vergleichbar mit den nachgespielten Szenen in historischen TV-Dokumentationen. Die Dialoge und einige der handelnden Figuren sind ausgedacht, die historischen und politischen Fakten aber stimmen. Das Ergebnis ist zweischneidig: Bei allem guten Willen bleiben die meisten Zeichnungen statisch und Dialoge hölzern. Allen Szenen, Sätzen, Seiten der Storys merkt man zu sehr an, dass sie der Wissensvermittlung dienen. +Comics gibt es bessere. Doch das hier ist eben keine Kunst, es ist politische Bildungsarbeit – und als solche funktioniert "Widerstand" gut. Ein Fachaufsatz oder eine Textbroschüre zum Thema würde es kaum schaffen, das historische Wissen so spielerisch und leicht zu vermitteln. Und wer neugierig geworden ist, kann mit dem an die Kapitel angehängten Literaturverzeichnis in die Tiefe gehen. + +Hiergehts zur Initiative Perspektivwechsel, wo man "Widerstand" bestellen kann. diff --git a/fluter/computerspielsucht-jugendliche-beratung.txt b/fluter/computerspielsucht-jugendliche-beratung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bcf40a7877d9ee04231e1bf71cfdf9152e9ac107 --- /dev/null +++ b/fluter/computerspielsucht-jugendliche-beratung.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Laut einer Erhebung von Newzoo, einem Anbieter von Videogame- und Spielerdaten, zockenmehr als 49 Millionen Deutscheregelmäßig oder gelegentlich, auf Smartphones, Konsolen, Tablets, Computern. Unter ihnen Spitzenpolitiker,die in Krisensitzungen "Candy Crush" spielen, Fußballprofis, die sich sovon "Fortnite" packen lassen, dass man ihnen im Trainingslager das WLAN kappt. Oder Rentner, die mit Mitte 80 in die Rollenspielwelt von "Skyrim" abtauchen. +Die meisten spielen aus Spaß, zur Ablenkung von Schule, Ausbildung, Arbeit, manchmal zwei Stunden am Tag, manchmal bis tief in die Nacht, und kehren danach zurück zu Freunden, Familien und Alltag. Sie bestimmen, wann sie aufhören zu spielen. Doch das schafft nicht jeder. +Seit 2018 klassifiziert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Gaming Disorder, die Computerspielstörung,als Krankheit. Die Entscheidung war kontrovers: Lange war unklar, ob es so etwas wie Computerspielsucht überhaupt gibt. Denn viele Betroffene leiden zusätzlich an ADHS oder Depressionen. Manche Experten sagen deshalb, exzessives Gaming sei ein Symptom dieser anderen Störungen, keine eigenständige Krankheit. Und die Diagnose Computerspielsucht so schwammig, dass sie normales Verhalten pathologisieren könne. +Die Unschärfe zeigt sich auch in den Daten: Manche Studien stufen ein Prozent der Jugendlichen in Deutschland als computerspielsüchtig ein, andere fast sechs Prozent. Die genaue Zahl kennt niemand. Natürlich ist jemand, der viel zockt, nicht automatisch krank. Die WHO hält eine Suchtdiagnose erst für sinnvoll, wenn die Kontrolle über das Spielverhalten mehr als ein Jahr beeinträchtigt ist.Wer dazu Freunde, Schule oder den Job vernachlässigt– oder auf andere Weise im Leben darunter leidet und trotzdem nicht aufhören kann –, sollte sich Hilfe suchen. +Zum Beispiel bei Claudius Boy. Er ist Sozialarbeiter bei Lost in Space, einer Berliner Beratungsstelle für Internet- und Computerspielabhängige. Wer hierherkommt – laut Boy etwa 450 Medienabhängige im Jahr, Tendenz steigend –, sei im Schnitt 25 bis 30 Jahre alt, zu 80 Prozent männlich und habe selbst gemerkt, dass er ein Spielproblem habe, sagt Boy. "Unsere Klienten realisieren, dass ihr Umfeld im analogen Leben viel mehr auf die Reihe gekriegt hat, während sie vor dem Bildschirm saßen." +Manchmal kommen Betroffene, die nicht mehr fähig sind zum Abgleich mit der Außenwelt. Boy erzählt von Klienten, die tagelang die Wohnung nicht verlassen, das Essen verweigern. Und von anderen, denen etwas Alltägliches wie ein Toilettengang die Augen öffnet. "Der Blick in den Spiegel und die Frage: Willst du das wirklich für dein Leben? Das kann der Moment sein, anzuerkennen: Nee, ich muss mir Hilfe suchen, sonst gehe ich im Spiel verloren." +Bei Lara begann das exzessive Zocken mit ihrem 14. Geburtstag, ihr Vater schenkte ihr die Playstation 4. Am Wochenende ging sie auf LAN-Partys. Auf dem Bildschirm "Black Ops III", fünf gegen fünf, nebenher auf einem Laptop E-Sports-Turniere, in denen andere Teams gegeneinander zockten. Heute ist Lara 23 Jahre alt. Rückblickend beschreibt sie die Zeit wie einen Rausch. "Ich wollte nicht aufhören, vor allem konnte ich nicht aufhören. Man hat ständig gedacht: Du hast heute einen guten Tag erwischt, du musst ihn auch nutzen." Kurz vor dem Spielen trank sie einen Koffeindrink, er wird extra für Gamer im Internet angeboten. "Wenn ich das getrunken hatte, war ich für Stunden fokussiert." +Im Rausch schütte unser Belohnungssystem Dopamin und Endorphine aus, erzählt Claudius Boy von der Beratungsstelle. Das Zocken werde gefährlich, wenn sich dieser Rausch automatisiere, ins Unterbewusstsein wandere und die Spieler die Kontrolle über Spielen oder Nichtspielen abgäben. "Die schalten ein, um sich nur mal eine Stunde zu erholen, sitzen aber dann fünf Stunden und finden eine Ausrede nach der anderen, um weiterzuzocken." +Zu Lost in Space kommen auch besorgte Eltern. Für sie sei es wichtig, sich erst mal zu orientieren, ob der Spielkonsum ihres Kindes wirklich unnormal sei, erzählt Boy. "Wenn ein Zwölfjähriger eine Playstation bekommt, zockt er nun mal rund um die Uhr. Da ist er noch kein Abhängiger. Der kommt schlicht nicht auf die Idee, seine Spielzeit zu begrenzen: Das Vernunftzentrum im Gehirn bildet sich bis Mitte 20 noch aus." +Trotzdem sei es wichtig, mit den Jugendlichen ihr Verhalten zu reflektieren. Eine Beratungsstelle kann in diesem Prozess auch die Eltern unterstützen und Tipps für den richtigen Medienumgang geben: Kinder und Jugendliche würden auf das reagieren, was die Eltern vorgeben, sagt Boy. +Bei vielen stumpft irgendwann das Belohnungszentrum ab: Das Hirn gewöhnt sich an die Glücksgefühle, braucht mehr und mehr Input, um den gleichen Effekt zu erleben. Bis er ganz ausbleibt. Dann geht es nur noch darum, mit dem Spielen die eigenen Probleme wegzudrücken. "Viele kommen erst zu uns, wenn selbst das nicht mehr funktioniert", sagt Boy. +Laras Eltern trennten sich, als sie 15 war. Das sei so eine Zeit gewesen, als sie sich in den Spielen wohler gefühlt habe als im echten Leben. "Aber als sich meine familiäre Situation ein bisschen beruhigt hatte, als ich glücklicher wurde, wollte ich das nicht mehr." Sie wohnte bei ihrem Vater, dann bei ihrer Mutter. Bei ihr hat sie ihren Spielkonsum reduziert. "Meine Mutter mag das nicht." +Verteufeln will er das Zocken nicht. Konsum, auch exzessiver, finde überall in der Gesellschaft statt. "Es geht darum, zu überlegen, wie kriege ich die Kontrolle über meinen Rausch." +Für Volljährige bietet die Beratungsstelle eine Motivationsgruppe: zwölf Sitzungen, um herauszufinden, ob man süchtig ist und ob die Abhängigkeit individuelle, soziale oder mediale Gründe hat. In der Gruppe kann auch besprochen werden, ob eine Therapie sinnvoll ist. Die Beratungsstelle unterstützt bei der Suche nach passenden Therapieangeboten. Betroffene sollen lernen, ihre Impulskontrolle zurückzuerlangen, ihre Tage mit überschaubarem Videospielkonsum zu strukturieren. +Lara findet, dass Erwachsene mehr Verständnis zeigen sollten, statt Computerspiele nur zu belächeln, zu schimpfen oder ihren Kindern einfach den Stecker zu ziehen. "Wenn ein Kind für ein Computerspiel die erste große Begeisterung entwickelt, möchte es nicht die ganze Zeit signalisiert bekommen, dass das, was es hier macht, falsch ist." Sie erzählt von ihrem großen Bruder, der ebenfalls viel gezockt habe. "Er hat das sehr negativ ausgelebt. Er hat herumgeschrien, ist nicht zur Schule gegangen." Und ihre Eltern? Hätten wie selbstverständlich das Zocken verantwortlich gemacht, nicht alle anderen Probleme, die sein Verhalten verursacht haben könnten. "Kein Wunder, dass sich so viele Jugendliche hinter ihren PCs verkriechen." +Auch in der Schule hätte sie sich mehr Akzeptanz gewünscht. "Bei uns gab es sogar Arbeitsgruppen für Golfen oder Astronomie. Warum nicht eine Gaming-AG, in der du dich über neue Spiele austauschen oder ein Turnier mit anderen Schulen organisieren kannst?" Über ihr problematisches Spielverhalten hat sie sich selbst aufgeklärt. Mit 20 sah Lara bei YouTube Videos des Streamers MontanaBlack. "Der hat erzählt, wie scheiße es ihm eigentlich geht. Er hockt da den ganzen Tag in seinem Keller vor dem PC, kommt nicht raus. Der verdient zwar krass viel Geld damit, aber dafür isoliert er sich sozial komplett." +Neben solchen Videos hat ihr das soziale Umfeld geholfen: Sie hatte immer auch Freunde, mit denen sie nicht zockt, die vom Basketball und dann noch die, mit denen sie feiern geht. Manchmal war auch das Stress: "Erst ein paar Stunden zocken, dann bis um drei Uhr nachts unterwegs und am nächsten Tag um zehn Uhr bei Oma zum Kaffee auf der Matte stehen." +Heute spielt sie manchmal wochenlang nicht. Die Computerspiele werden aber bleiben, sagt Lara. Sie mag, dass sie dort alles in der Hand hat. "Wenn du schlecht spielst, verlierst du. Und es wird immer jemanden geben, der besser ist als du." Sie habe gelernt, das zu akzeptieren. Und auch sonst von der Zockerzeit profitiert: Das Zehnfingersystem hat sie ohne Mühe gelernt, das helfe jetzt in der Ausbildung zur Kauffrau für Büromanagement. Sie habe ein Verständnis für Technik. Und sei kommunikativ sehr fit. Das würden viele nicht mit dem Zocken assoziieren, meint Lara. "Aber ist doch klar: Du spielst zu fünft in einem Team, hast nur ein Leben, musst zwei Orte gleichzeitig beschützen, und an einem platziert der Gegner eine Bombe. Da musst du taktisch gut sein. Sehr schnell, flüssig und direkt Anweisungen geben – und genau zuhören. In dem Moment ist es lebenswichtig, was deine Mates sagen." + +Dieser Text ist in fluter Nr. 87 "Spiele" erschienen.Das ganze Heftfindet ihr hier. diff --git a/fluter/containerschiffe-klimawandel-panamakanal.txt b/fluter/containerschiffe-klimawandel-panamakanal.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d32ef58a3fac2606325be986c34c64162ddb6408 --- /dev/null +++ b/fluter/containerschiffe-klimawandel-panamakanal.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Dieser Text istim fluter Nr. 92 "Verkehr"erschienen +"Bevor ein Schiff durch den Kanal fahren darf, muss es bezahlt und einen ,Panama-Piloten' an Bord haben, der die Durchfahrt leitet", erklärt Dazell Marshall. Seit mehr als 20 Jahren führt er Gruppen an den Miraflores-Schleusen, einer von drei Schleusenanlagen hier am Panamakanal. Der verbindet den Atlantik mit dem Pazifik und ist neben dem Suezkanal eine der wichtigsten Abkürzungen für den weltweiten Schiffsverkehr. +Über das Wetter sagt Marshall nichts. Dabei war der Panamakanal deshalb vergangenes Jahr in den Schlagzeilen. Wegen der anhaltenden Trockenheit fehlte dem Kanal Wasser – in einem der regenreichsten Länder der Welt. Die Kanalbehörde musste die Anzahl der Durchfahrten fast halbieren: Im Januar durften statt 40 nur noch 22 Schiffe am Tag den Kanal passieren. +In der Seeschifffahrt diskutieren sie seit Jahren verstärkt über die Herausforderungen des Klimawandels. Und darüber, wie sie ihren Anteil von fast drei Prozent der globalen CO₂-Emissionen reduzieren können. Vergangenes Jahr hat sich die Internationale Seeschifffahrts-Organisation der Vereinten Nationen (IMO) ein Ziel gesetzt: Bis 2050 soll der Seeverkehr klimaneutral sein. +"Wir befinden uns in einer Phase, in der wir viel ausprobieren müssen", sagt Nils Haupt. Er ist Pressesprecher von Hapag-Lloyd, der fünftgrößten Containerreederei der Welt. In der Zentrale an der Hamburger Binnenalster prangt im Eingangsbereich das Motto "Mein Feld ist die Welt". +Diese Weltist abhängig von der Containerschifffahrt. Sie transportiert Rohöl, Getreide, Abfälle, Smartphones, Sneaker und Autos; insgesamtrund 90 Prozent aller globalen Güter. +Hapag-Lloyd hat sich vor drei Jahren selbst verpflichtet, ihre Schiffe schon bis 2045 emissionsfrei über die Meere zu schicken. "Wir setzen auf verschiedene Treibstoffe", sagt Haupt. Containerschiffe fahren derzeit überwiegend mit Schweröl oder Marinediesel, einige mit LNG. Das flüssige Erdgas ist emissionsärmer, aber alle drei sind fossile Kraftstoffe, bei deren Einsatz viel CO₂ ausgestoßen wird. Die Lösung könnte grünes Methanol sein, ein künstlich hergestelltes Gemisch aus Wasserstoff und Kohlenmonoxid. Allerdings brauchen nicht nur die Reedereien Wasserstoff. Ganze Volkswirtschaften, darunter Deutschland,wollen mittelfristig Wasserstoffwirtschaften werden. Und es gibt noch einen Haken: Um klimaneutral zu sein, muss das Methanol mithilfe erneuerbarer Energien hergestellt werden. Auch von denen gibt es bisher nicht genug. +"Es ist ein Henne-Ei-Problem", sagt Burkhard Lemper, Professor an der Hochschule Bremen und Geschäftsführer des Bremer Instituts für Seeverkehrswirtschaft und Logistik. Die Reedereien würden in neue Schiffe investieren, wenn ausreichend grünes Methanol da ist. Das wiederum wird nur dann in großen Mengen produziert, wenn es sicher genügend Abnehmer gibt. "Die Seeschifffahrt wird ihre Klimaziele unter anderem deshalb voraussichtlich nicht erreichen", sagt Lemper. +Die Reedereien wollen vor allem Sicherheit: Sie können ein Containerschiff 20 bis 25 Jahre einsetzen. Zuletzt hat Hapag-Lloyd 22 Schweröl- und LNG-Schiffe bestellt, fünf Schiffe lassen sie auf Methanolantrieb umrüsten. "Wir können nicht alle drei Jahre einen neuen Motor einbauen, nur weil es einen neuen Treibstoff gibt", sagt Nils Haupt. Was sie können und auch machen: die Schiffe so umbauen, dass sie langsamer fahren und so weniger Treibstoff benötigen. +"Wenn man den Energieverbrauch pro Frachttonne heranzieht, ist die Schifffahrt heute schon das nachhaltigste Verkehrsmittel", sagt Burkhard Lemper. Zwar stoßen Schwerölschiffe besonders viele Luftschadstoffe wie Schwefel- und Stickoxide aus. Sie verursachen aber im Vergleich zu einem Lkw relativ wenig CO₂. "Außerdem werden Containerschiffe immer größer", sagt Lemper. "Das reduziert den Kraftstoffverbrauch pro Container und Seemeile weiter." +Am Panamakanal haben sie auf diese Entwicklung reagiert, der Kanal wurde ausgebaut: Seit 2016 können auch Frachter mit rund 17.000 Containern passieren. Gerade wird die nächste Erweiterung diskutiert, nachdem der Oberste Gerichtshof Panamas ein Gesetz von 2006 gekippt hat, das den Bau zusätzlicher Wasserreservoirs verbot. +Für den Panamakanal ist Wasser so wichtig, weil er im Gegensatz zum Suezkanal nicht auf Höhe des Meeresspiegels verläuft. Dazell Marshall vergleicht den Kanal mit einem Oberkörper. "Die eine Schulter ist der Atlantik, die andere der Pazifik. Und der Kopf ist die Hügelkette, die zwischen beiden Meeren liegt." Schleusen heben die Containerschiffe auf der Atlantikseite auf eine Höhe von 26 Metern über dem Meeresspiegel. Von dort aus durchqueren sie den aufgestauten Gatúnsee, um auf der pazifischen Seite durch zwei Schleusenanlagen zurück auf Meeres Pedro-Miguel-Schleuse höhe zu gelangen. Für jedes Schiff fließen fast 200 Millionen Liter Wasser aus dem Kanal ins Meer. Wasser, das nicht nur der Kanal braucht: "55 Prozent der Bevölkerung Panamas nutzen das Wasser des Gatúnsees als Trinkwasser", sagt Marshall. +Manche Experten sehen nicht die Trockenheit als größtes Problem für den Kanal, sondern klimawandelbedingte Stürme, die den Kanal fluten könnten. 2010 musste der den Betrieb für Stunden komplett einstellen, es hatte 72 Stunden am Stück geregnet. "Gigantische Wassermassen", sagt Marshall. "Wir konnten sie nicht kontrollieren." +Etwa sechs Prozent des Welthandels werden über den Panamakanal abgewickelt, zwölf Prozent über den Suezkanal. Wenn die Wasserstraßen nicht befahrbar sind, müssen die Schiffe auf andere Routen ausweichen. Wie im Suezkanal: Wegen Angriffen der Huthi-Rebellen lassen die Reedereien ihre Containerschiffe seit einem Jahr einmal um Afrika herumfahren. Heißt: längere Routen, mehr Organisationsaufwand, mehr Treibstoff, mehr Emissionen. Nachhaltig ist das nicht. Profitabel schon: "Die Reedereien können Preise durchsetzen, von denen sie Ende 2023 noch nicht mal geträumt haben", sagt Burkhard Lemper. +An den Miraflores-Schleusen sind inzwischen deutlich weniger Besucherinnen und Besucher. Dazell Marshall rückt seinen Hut zurecht, deutet in den Himmel. Die Sonne ist verschwunden, Marshall lächelt. "Bald wird es regnen." + +Titelbild: Jakob Wagner diff --git a/fluter/cop-klimakonferenz-verhandlungen.txt b/fluter/cop-klimakonferenz-verhandlungen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..84a71fac5f6872598795c99c153d48e021e8c143 --- /dev/null +++ b/fluter/cop-klimakonferenz-verhandlungen.txt @@ -0,0 +1,39 @@ +fluter: Auf den COPs geht es emotional zu. Menschen berichten, wie Fluten ihre Häuser unbewohnbar machen oderDürren ihre Ernten zerstören. Delegierte, deren Heimatländer Krieg gegeneinander führen, müssen miteinander verhandeln. Kann man sachlich über das Klima debattieren? +Kulthoum Omari-Motsumi:Die Auswirkungen der Klimakrise erleben Menschen überall,in den ärmeren Ländern nur eben viel stärker als in reichen. Das Verhandeln ist eine Kunst, es geht darum, deine Botschaft auf die jeweils passende Art zu vermitteln. Manchmal verwerfe ich spontan eine vorgeschriebene Rede und improvisiere. Ich komme aus Botswana, einem Land, das sehr anfällig ist für Dürren. Warum soll ich einem Skript folgen, wenn ich die Klimakrise ständig erlebe und von Herzen sprechen kann? + +Dieser Text istim fluter Nr. 91 "Streiten"erschienen +Dann müssen Delegierte ihre Emotionen und Sorgen gar nicht draußen lassen? +Michai Robertson: Wenn du wütend bist, schreist du, und wenn du frustriert bist, weinst du. Das kommt schon vor. Wir versuchen aber, unsere Emotionen zu kanalisieren, zum Beispiel, um unsere Position zu untermauern. Manchmal kann man seinen Frust in etwas Positives umwandeln. +Die COPsfolgen eigenen Choreografien. Die erste Woche gilt der Vorbereitung: Arbeitskreise filtern Kernfragen und mögliche Klimamaßnahmen für die Abschlusserklärung, die Regierungsvertreterinnen und Staatschefs in der zweiten Woche verhandeln. Wie viel erstreiten Sie denn wirklich noch vor Ort? +Robertson: Wir versuchen, die Positionen unserer Regionen schon lange vor der COP zu beschließen. Über Videokonferenzen geht das gut, auch wenn wir manchmal Probleme mit dem Internet haben. In den Tagen vor der COP gibt es eine "kleine Klimakonferenz" in Bonn, da finalisieren wir unsere Positionen. Und definieren vor allem klare rote Linien, bei denen wir auf keinen Fall nachgeben. +Welche Qualitäten brauchen Verhandlerinnen und Verhandler? +Robertson: Aktives Zuhören ist unterschätzt: Viele hören sich gern selbst sprechen. Um gut zu verhandeln, musst du aber verstehen, woher die Leute kommen, egal, ob du ihre Ideologie oder Perspektive gutheißt. Verhandlungsführer finden Kompromisse, ohne das, was sie vertreten, zu vernachlässigen. +Omari-Motsumi: Man muss die verschiedenen Strategien der Verhandlungspartner verstehen. Manche setzen auf die Wissenschaft, andere auf ihre Erfahrungen oder juristischen Kenntnisse. Die Herausforderung für uns Entwicklungsländer ist, dass wir nicht genügend Leute haben. +Länder wie Deutschland, die USA oder Brasilien leisten sich immer größere Delegationen. Je kleiner die Delegation, desto weniger kann man sich in den langen Verhandlungen abwechseln, um auszuruhen. Kann man so überhaupt gute Entscheidungen treffen? +Robertson: Erschöpfte Delegierte schaden den Verhandlungen sehr. Manche Staaten entsenden einen einzigen Verhandlungsführer, der sich in den zwei Wochen um viele Dinge gleichzeitig kümmert und Entscheidungen in Eile treffen muss. +Omari-Motsumi: Die Delegierten der Entwicklungsländer sind oft gezwungen, bis zu 20 Stunden am Stück zu verhandeln. Wir versuchen deswegen, die Gespräche früh voranzutreiben. Und laut darauf hinzuweisen, dass kleine Länder nicht den Luxus haben, die Verhandlungsführer zu wechseln. +Wie wirkt sich das auf die Verhandlungen aus? +Robertson: Ein Weg ist, zu sagen: Nein, wir beenden die Sitzung, wir brauchen eine Pause. Das habe ich schon ein paarmal gemacht. Solange nicht alle Parteien vertreten sind, darf nichts beschlossen werden. Aber solche Unterbrechungen müssen die Ausnahme bleiben. Es soll nicht wirken, als würden wir die Konferenz aufhalten. Am Ende braucht man jede Minute, wir müssen uns aus Hunderten Seiten Text mit verschiedenen Versionen auf eine Abschlusserklärung einigen. +Omari-Motsumi: Eine Realität ist leider, dass die schwierigeren Entscheidungen dabei oft auf das Ende der Konferenz verschoben werden, wenn wir extrem müde sind. Manchmal stimmen wir dann einfach zu. Eine unserer Strategien ist deshalb, schon früh nach Konferenzbeginn viele Diskussionen zu führen, wenn man noch frisch ist. +Wie bleibt man möglichst lange frisch? +Omari-Motsumi: Wir haben immer Nüsse im Gepäck, besonders zum Ende der Konferenz. +Robertson: Am Anfang gehen wir in den Supermarkt und decken uns ein. Das ist schon Tradition. +Omari-Motsumi: Ob aus Afrika oder Europa oder woher auch immer: Über die Nüsse wird nicht verhandelt, die teilen wir. +Wird es denn auch hitzig hinter den geschlossenen Verhandlungstüren? +Robertson: Hinter verschlossenen und offenen Türen. +Omari-Motsumi: Alswir 2015 das Pariser Abkommen verhandelt haben, hat es am Ende ziemlich geknallt. Da war zu merken, dass wir gerade Ergebnisse erzielen, dass wir Dinge festschreiben, die wirklich den Kern berühren. Aber so hitzig wird es vergleichsweise selten, weil größtenteils erfahrene Diplomaten und hohe Regierungsbeamte dabei sind. +Prallen da auch verschiedene Verhandlungsstile aufeinander? +Robertson: Auf jeden Fall. Manche sind sehr laut, andere ruhig und gelassen. Manche verlassen sich auf bestimmte Instrumente. Ich kenne zum Beispiel jede Menge großartiger Geschichtenerzähler unter den Verhandlungsführern der kleinen Inselstaaten. Wenn du dich in technischen Details verlierst, kann das den Fokus auf die Realität zurückbringen. +Omari-Motsumi: Als ich das erste Mal zu den Verhandlungen kam, dachte ich ständig: Wir sind uns einig, das ist fantastisch! Damals wusste ich nicht, dass es eine Menge Untertöne gibt, dass viel zwischen den Zeilen gesagt wird. +Wird auch außerhalb der Verhandlungsräume diskutiert? +Omari-Motsumi: Informelle Treffen sind sogar ziemlich wichtig. Gut funktioniert die Flurstrategie: Man trifft sich draußen mit einem Verhandler der Gegenseite und spricht bei einem Kaffee weiter. Manchmal hilft es, wenn man sich gerade nicht wie in einer Verhandlung fühlt. +Auf der COP gilt das Konsensverfahren: Ein Beschluss scheitert, wenn nur ein einziges Land widerspricht. Manche kritisieren, dass man sich so nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen kann. Was denken Sie? +Robertson: An der Kritik ist was dran. Wir sind an das Tempo der starrsten Parteien gebunden und treffen in der Regel Entscheidungen, die weniger ehrgeizig und weniger effektiv sind, als sie sein sollten. +Omari-Motsumi: Und ein Land, das gegen eine Lösung ist, auf die sich hundert andere Länder geeinigt haben, kann alle anderen als Geiseln nehmen. Das ist schon mehrmals vorgekommen. Auf der anderen Seite: Ohne Konsensprinzip könnten die mächtigen Staaten versuchen, sich in Gruppen auf bestimmte Dinge zu einigen. Dank des Konsensprinzips wird auch den kleinsten Staaten zugehört, und man denkt darüber nach, warum eine Gruppe vielleicht noch nicht so weit ist. +Robertson: Die Einstimmigkeit gibt der Konferenz eine Legitimität, die kein anderes Klimaforum hat. Bei allem Streit, bei aller Kritik ist die COP also vermutlich das beste Format, um die Klimakrise global anzugehen. + +Auf der diesjährigen COP29 wird Kulthoum Omari-Motsumi für die afrikanische Gruppe im Bereich Anpassungsfinanzierung verhandeln. Also über die Gelder, die es armen Ländern ermöglichen sollen, sich an unabwendbare Klimafolgen anzupassen. +Michai Robertson aus Antigua und Barbuda verhandelt für die Allianz der kleinen Inselstaaten (AOSIS) im Bereich Finanzierung. Die sei für Entwicklungsländer besonders wichtig, damit sie sich überhaupt Klimaschutzmaßnahmen leisten können. + + +Titelbild: Joseph Eid/AFP via Getty Images diff --git a/fluter/corona-app-pro-contra.txt b/fluter/corona-app-pro-contra.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..94aac317c3f14b2f46555d225c0135dfcfbebdd7 --- /dev/null +++ b/fluter/corona-app-pro-contra.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Ich habe ein Horrorszenario im Kopf. Es liegt in der Zukunft: Juli 2021. Eine gute Freundin hat Geburtstag. Sie feiert in einem Restaurant. Ein Türsteher steht mit verschränkten Armen vor dem Eingang: "QR-Code?" Er wedelt mit seinem iPhone vor meiner Nase herum. Ich schüttele den Kopf. Die Corona-App habe ich nicht, will ich auch nicht. "Pech gehabt", sagt er und macht von seinem Hausrecht Gebrauch. Draußen ich, drinnen meine Freunde, die alle die Corona-Warn-App installiert haben. +Nach Monaten ist die viel diskutierte Corona-App jetzt also da. Sie soll die Ansteckungsketten durchbrechen, Leben retten, mithelfen, die Normalität wiederherzustellen. Man könnte sagen: endlich. Was die Befürworter*innen übersehen: Die Corona-App zieht eine scharfe Trennlinie durch die Gesellschaft. +Ähnlich dem diskutierten Immunitätsausweis teilt die App die Menschen in "mit" und "ohne" ein – und verteilt damit im schlimmsten Fall Privilegien. Die freiwillige Nutzung könnte schnell zum indirekten Zwang werden. Hast du die App? Herzlich willkommen im Schwimmbad oder Club! Der Einlass in bestimmte gesellschaftliche Räume wäre dann daran geknüpft, ob jemand die App installiert hat. Noch ist das ein Horrorszenario – aber eines, über das wir reden müssen. +Was jetzt schon ein ganz reales Problem ist: Die App ist nicht für jede*n die Rettung. Was ist zum Beispiel mit dem türkischen älteren Fahrradschrauber um die Ecke, der Schwierigkeiten hätte, die App zu verstehen? Bis die App in Türkisch erscheint, wird es noch dauern. Was ist mit den Zehntausenden in Deutschland lebenden Geflüchteten, von denen viele weder Deutsch noch Englisch sprechen und Bett an Bett in Sammelunterkünften leben? Was ist mitdenen, die sich das neueste Smartphone nicht leisten können? Nutzer*innen berichten, dass sie die App mit ihrem fünf Jahre alten Modell nicht laden können. Was ist mit Leuten wie meinen Eltern: notorische Technologieverweigerer, Smartphone-Analphabeten, die zugleich aber auch zur Risikogruppe gehören? +Unter denen, die am gefährdetsten sind, wird die Corona-App wohl nicht genug genutzt werden. Egal, ob 15 Prozent der deutschen Bevölkerung die App installieren – ab diesem Wert zeigt sich laut Expert*innen ein Effekt – oder die angepeilten 60 Prozent: Ganze Bevölkerungsschichten sind ausgeschlossen. Schön und gut, dass Apps das Leben der Privilegierten optimieren: gesündere Ernährung, bessere Fitness, organisiertere To-dos. Für einePandemieist das Smartphone aber nicht das richtige Tool. +Die App zeichnet zwar auf, ob sich Personen für 15 Minuten in weniger als zwei Metern Abstand befanden. Nicht aber: ob sie mit dem Rücken zueinander standen, ob sie Mundschutz trugen oder an der frischen Luft waren. Weil die Bluetooth-Daten zu ungenau sind, werden die Nutzer*innen tendenziell häufiger benachrichtigt als zu selten. Das führt im besten Fall dazu, dass man die App nicht mehr ernst nimmt, im schlechtesten: zu noch mehr Verunsicherung. +Abgesehen davon, dass der Effekt der App eher ein kosmetischer sein wird, kaschiert sie, was wir eigentlich brauchen: flächendeckende Tests. Hätten wir dafür bereits Kapazitäten, bräuchten wir keine App. Und den besten Umgang mit der Pandemie haben wir doch in den vergangenen Monaten gelernt: Vorsicht. Die beste Tracing-Methode ist das eigene Gedächtnis. Statt einer App, diefragwürdige Daten aus meiner Umgebung zieht, möchte ich mich lieber selbst fragen: Mit wem war ich wann in näherem Kontakt, und was bedeutet das für mein Umfeld? + +Ann Esswein arbeitet alsfreischaffende Journalistin, Autorin und Filmemacherin. Sie recherchiert seit Wochen zur App – was ihre Meinung nur gefestigt hat. +entgegnet Eike Kühl + +Wenn man an der Corona-Warn-App der Bundesregierung etwas kritisieren muss, dann, dass sie zwei Monate zu spät kommt. Jetzt, da immer mehr Krisenmaßnahmen gelockert werden und die Zahl der Neuinfektionen trotzdem tendenziell sinkt, könnten viele denken: Also jetzt muss ich die App auch nicht mehr installieren. +Dass die Pandemie langsam vorbeigeht, ist ein gefährlicher Fehlschluss. Noch immer infizieren sich täglich Hunderte Menschen, manche kämpfen später um ihr Leben. Umso wichtiger ist es, jetzt die offizielle Warn-App zu installieren. Weil sie neben den persönlichen Schutzvorkehrungen (Abstand, Händewaschen, Mundschutz) ein weiteres Mittel sein kann, um die Pandemie einzudämmen. +Dass die Nachverfolgung und die Warnung von Kontakten eines oder einer Infizierten wichtig sind, um Infektionsketten zu durchbrechen, ist unbestritten. Gerade in der jetzigen Phase: Je mehr Normalität einkehrt, desto mehr Menschen trifft man, desto schwieriger wird es, im Infektionsfall möglichst viele Kontakte nachzuverfolgen. Oder wisst ihr noch, wer vergangene Woche in der S-Bahn neben euch saß? +Die Corona-App könnte es wissen – ohne es wirklich zu wissen: Weil nur anonyme IDs zwischen Smartphones ausgetauscht werden, die allenfalls im Fall eines positiven Tests mit anderen geteilt werden (und auch das nur, wenn der oder die Infizierte das möchte), eignet sich die App nicht für die Überwachungsfantasien, die manche Kritiker*innen derzeit gern ausmalen. +Tatsächlich haben Datenschützer*innen fast nichts an der App zu bemängeln. Und wer trotzdem fürchtet, Hacker könnten in einem extrem theoretischen Angriffsszenario an Daten kommen, sollte seine Smartphone-Nutzung generell hinterfragen:Google, Facebook, Tinder und anderen Diensten teilen die meisten völlig bedenkenlos mit, wo sie sich aufhalten, was sie mögen und mit wem sie Sex haben (wollen). +Auch das Argument der Kritiker*innen, dass die App vor allem die Menschen verfehlt, die besonders gefährdet sind, geht zu kurz. Was stimmt: Nicht jede*r wird die App nutzen können, weil nicht jede*r ein aktuelles oder überhaupt ein Smartphone besitzt. Das ist ärgerlich, die Warn-App ist deshalb aber noch lange kein Tool ausschließlich für privilegierte junge Menschen. +Ein Beispiel: Meine Mutter gehört sowohl zur Risikogruppe als auch zu den Menschen, die die App rein technisch nicht installieren können. Trotzdem kann ich sie schützen, indem ich selbst die App nutze: Werde ich benachrichtigt, dass jemand in meiner Nähe erkrankt ist, sage ich den geplanten Kaffeekranz zu Hause ab und begebe mich stattdessen in Selbstquarantäne. Die Gefahr, dass ich meine Mutter unwissentlich anstecke, ist somit gebannt. Die Liste lässt sich fortführen: von der Sozialarbeiterin, die mit Flüchtlingen arbeitet, über den Verkäufer, der jeden Tag Hunderte Menschen bedient, hin zur Pflegekraft im Seniorenheim. +Das ist der entscheidende Punkt: Je mehr von uns die Corona-Warn-App installieren, desto mehr Menschen werden geschützt – direkt, aber eben auch indirekt. Deshalb sollte sie jede*r nutzen, der oder die sie nutzen kann. Und nicht schon jetzt mit vorauseilender Paranoia warnen, dass die App eines Tages zur Eintrittskarte für den Club oder das Fitnessstudio werden könnte. +Bis es so weit kommen kann, muss die App nämlich erst mal beweisen, dass sie hält, was sie verspricht. Sollte sie sich bewähren, rettet sie Leben – wodurch die Argumente gegen die Nutzung noch schwächer werden, als sie ohnehin schon sind. Sollte die App floppen, können wir sie immer noch vom Handy werfen. Aber sie von Anfang an abzulehnen ist wie im Lockdown vor einem Krankenhaus raven: ziemlich egoistisch. + +Eike Kühl schreibt seit gut zehn Jahren über Digitales. Er wollte eigentlich warten, bis die Warn-App für PC erscheint, hat sie dann aber doch gleich auf seinem Smartphone installiert. +Was kann die Corona-Warn-App eigentlich genau?Die App erfasst mit Bluetooth den Abstand und die Begegnungsdauer zwischen zwei Personen, die die App installiert haben. Und informiert die Nutzer*innen, wenn sie sich längere Zeit in der Nähe einer Person aufgehalten haben, bei der später eine Corona-Infektion festgestellt wurde. So können Nutzer*innen schneller reagieren und laufen nicht Gefahr, das Virus unbewusst weiterzuverbreiten. Die App speichert andere Smartphones in der Nähe mit zufälligen Bluetooth-IDs und für begrenzte Zeit. Diese verschlüsselten IDs erlauben also keine Rückschlüsse auf die Nutzer*innen. Außerdem kann man die Funktionen jederzeit pausieren oder sämtliche Daten löschen. Selbst nach einem positiven Test obliegt es jeder*m, ob das Ergebnis und die ID übermittelt werden sollen. Die App ist freiwillig. Unddie Bundesregierung versichert, dass das auch so bleiben soll: Weder sollen Menschen gezwungen noch durch Geld oder andere Vorteile von der App überzeugt werden. + +Collagen: Renke Brandt diff --git a/fluter/corona-big-data-suedkorea-vorbild-fuer-deutschland.txt b/fluter/corona-big-data-suedkorea-vorbild-fuer-deutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e6c194445d0f9db421110a7a7fd61ad8966e6c7a --- /dev/null +++ b/fluter/corona-big-data-suedkorea-vorbild-fuer-deutschland.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Klingt nach Überwachung und ziemlich dystopisch. +Das kann man als Beginn eines orwellhaften Überwachungsstaates deuten – oder als effektive Gesundheitsfürsorge. Diese Daten bekommt man nicht von den Mobilfunkanbietern, weil sie zu deren Erhebung technisch nicht in der Lage sind. Diese Daten müssen die Nutzer selbst freigeben. In Südkorea läuft das über eine App, die die Bewegungen von Quarantänepatienten nachvollziehen kann. Und in Taiwan geben die Erkrankten per App die täglichen Temperaturmessungen an das Gesundheitsamt durch. Die Bürger geben also ihr Einverständnis, dass sie gerade "überwacht" werden. Welche Aufgaben erledigen die Behörden bei uns schon gut, und für welche haben wir durch die Digitalisierung bessere Lösungen? Das ist eine wichtige Frage. +In Deutschland hat das Robert Koch-Institut fünf Gigabyte an Telefondaten von der Deutschen Telekom zur Verfügung gestellt bekommen. Was sagen diese Daten über den einzelnen Nutzer aus? +Diese Daten von der Telekom sind relativ ungenau und laut Telekom anonymisiert. Das sind Daten aus Funkzellen, also jenem Bereich, in den sich das Mobiltelefon in das Netz einwählt. In eine Funkzelle sind gleichzeitig Dutzende, vielleicht sogar Hunderte Nutzer eingewählt. +Also kann man mit diesen Daten keine Corona-Patienten tracken. +Nein, denn nicht nur sind dafür die Funkzellendaten zu ungenau, auch hat man ja keine Daten von den Gesundheitsämtern und weiß nichts über den Gesundheitszustand der Nutzer. Das ist ein ganz anderer Fall als bei den App-Daten in Taiwan oder Südkorea. Solche Funkzellendaten kann man heranziehen, um zu sehen, ob sich die Bürger an die Ausgangssperre halten. Denn dafür muss man nicht wissen, ob sie fünf Meter links oder rechts stehen oder wie sie heißen, sondern es reicht zu sehen, ob sich die Bewegung im öffentlichen Raum reduziert. +Utopie oder Dystopie? In Südkorea zeigt eine App, an welchen Orten Menschen waren, die später positiv auf Corona getestet wurden (Foto: picture alliance/Kyodo) + +Angenommen, Deutschland folgt dem Vorbild Südkoreas oder Taiwans und entwickelt Apps zur Gesundheitsüberwachung: Sorgen Sie sich nicht um den Datenschutz, den Eingriff in die Privatsphäre der Menschen? +Ich finde es wichtig, diese Datennutzung in Relation zu sehen:Aktuell sind in Deutschland rund 62.000 Menschen infiziert, die Dunkelziffer wird sehr viel höher geschätzt. Dass wir derzeit 80 Millionen Menschen in die Isolation schicken, liegt ja nur daran, dass wir die Infizierten nicht besser bestimmen können – eine sehr umfassende Freiheitsbeschränkung, die wir mit einer besseren Datenlage vermeiden könnten. Ich denke, wir sollten den individuellen Datenschutz und den kollektiven Nutzen gegeneinander abwägen. Privatwirtschaftliche Anbieter wie Google, Facebook oder die Telekom werten unser aller Daten die ganze Zeit zu ihrem eigenen Nutzen aus, um neue Produkte zu entwickeln oder zu bewerben. Jetzt gäbe es die Notwendigkeit, aus diesen Daten etwas herauszulesen, was im öffentlichen Interesse ist. Aber wir haben keinen Zugriff auf die wirklich aussagekräftigen Daten. +"Was einmal eingeführt wird, das bleibt", sagte Constanze Kurz, eine Sprecherin des Chaos Computer Clubs. Überwachungstechniken, die in Krisenzeiten etabliert werden, würden normalisiert. Sehen Sie das auch so? +Ja, absolut. Natürlich kann bei dieser Art von Datennutzung viel schiefgehen. Aber was mich an dem Datenschutz-Diskurs stört, ist, dass er so defensiv ist. Dass er dieser Notlage, in der in ganz Europa Millionen Menschen in ihre Häuser gezwungen sind, nichts entgegenzusetzen hat. Hier passiert gerade etwas, und wir könnten die Chance nutzen, ein Modell zu etablieren,das die Verwendung der Daten in einen demokratischen Prozess einbindet. Ich weiß, dass das sehr heikel ist. Aber mir scheint es falsch, die Verwendung der Daten nur den Konzernen zu überlassen. +Unter welchen Voraussetzungen halten Sie die Nutzung der anonymisierten Daten zur Bekämpfung von Covid-19 für legitim? +Ganz wichtig ist, dass es eine Nutzungsbeschränkung gibt. Die Daten sollten nur zur Modellierung von Bewegungsströmen genutzt werden. Wenn sie diesen Zweck erfüllt haben, dann müssen sie auch gelöscht werden. Dafür sollte es eine klare Frist geben.Außerdem braucht es eine Stelle, die festlegt, welche Fragen bei der Datenanalyse von gesellschaftlichem Interesse sind. Das könnte in diesem Fall das Robert Koch-Institut in Absprache mit den Gesundheitsämtern sein. Damit verhindert man, dass die Daten in anderen Fragen herangezogen werden. Wichtig wäre außerdem, dass mindestens zwei verschiedene Teams aus unabhängigen Instituten mit der Modellierung beauftragt werden, neben dem Robert Koch-Institut vielleicht auch noch eine Technische Universität. Wichtig ist, die Datennutzung nach der Krise öffentlich zu evaluieren. Wenn klar ist, dass der Prozess am Ende überprüft wird, dann wird auch jetzt schon anders mit diesen Daten umgegangen. Die Gefahr von Missbrauch ist deutlich geringer. Auch grobe Bewegungsdaten sind Herrschaftswissen, mit dem man die Gesellschaft verändern kann. Aber das will man ja in diesem Fall auch! +In den USA soll es Pläne zur umfassenden Zusammenarbeit zwischen Internetgiganten wie Google und Facebook und der US-Regierung geben. Befürchten Sie einen datenschutzrechtlichen Dammbruch? +Das ist das Worst-Case-Szenario: Die GPS-Daten, die sich die Regierungen nur von den Nutzern selbst geben lassen können,hat Google ja alle schon. Und nun schicken sich die mächtigen Institutionen an – der Staat und die Big-Data-Konzerne –, diese Daten zusammenzuführen und auszuwerten. Die Bürger werden nie erfahren, was mit ihren Daten genau gemacht wurde. Sie können nichts tun als vertrauen. Das ist für eine demokratische Struktur ein bisschen wenig. Aber es ist ein guter Anlass, über die legitime Nutzung der Daten zu diskutieren, die wir Nutzer weltweit sonst so freimütig mit einem einfachen Klick freigeben. +Welche Auswirkungen könnte eine solche Zusammenarbeit auf die Nutzer dieser Dienste in Deutschland und Europa haben? +Falls diese Zusammenarbeit zwischen der US-Regierung und den Big-Data-Konzernen in der Krise sehr erfolgreich sein sollte, wird der Druck steigen, das auch bei uns hier möglich zu machen. In jedem Fall bricht eine andere Zeit der Datennutzung an.Die Frage ist, ob man diese über einen öffentlichen Diskurs demokratisch gestaltetoder sie weiterhin nur den sehr wenigen mächtigen Akteuren überlässt. + +Felix Stalder ist Professor für Digitale Kultur und Theorien der Vernetzung in Zürich. Er beschäftigt sich damit, wie Gesellschaft, Kultur und Technologien zusammenwirken, und hat das Buch"Kultur der Digitalität"geschrieben. diff --git a/fluter/corona-fotoprojekt-postkarten-von-zu-hause.txt b/fluter/corona-fotoprojekt-postkarten-von-zu-hause.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/corona-junge-generation.txt b/fluter/corona-junge-generation.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..172198f24e2ef94de2b998c05bff4fbca8916878 --- /dev/null +++ b/fluter/corona-junge-generation.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Neben den harten Zahlen gibt es ein großes, eher abstraktes Unsicherheitsgefühl: Wie wird sich die Pandemie entwickeln? Was werden die langfristigen Folgen sein? Wird die heute junge Generation in Zukunft die Schulden der Krise tragen müssen, sowohl die finanziellen als auch die gesellschaftlichen? Gibt es eine "Generation Corona"? +Seit Julisteigen die coronabedingten Entlassungen in Deutschland nicht mehr– das ist erst mal eine gute Nachricht und wird teilweise als positiver Effekt der Kurzarbeit interpretiert. Aber Entwarnung könne man noch nicht geben, sagt Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB): "Vor allem nicht, weil wir im Moment niedrige Einstellungszahlen haben." +Das Coronavirus macht vielen Unternehmen in Deutschland wirtschaftlich schwer zu schaffen. Damit von der Epidemie betroffene Betriebe während dieser Zeit niemanden entlassen müssen, zahlt die Bundesagentur für Arbeit (BA) den Arbeitgebern* ein sogenanntes Kurzarbeitergeld. Heißt: Mitarbeiter*innen in Kurzarbeit arbeiten und verdienen vorübergehend weniger, die BA übernimmt aber bis zu zwei Drittel ihres weggefallenen Lohns. +* Wenn mindestens zehn Prozent der Belegschaft einen Lohnausfall von mindestens zehn Prozent haben. +Das ist nicht nur für Arbeitslose ein Problem, sondern auch für rund eine halbe Million Studierende und 400.000 Auszubildende, die – so wie Julian Bott – 2020 ihren Abschluss machen oder gemacht haben und auf den Arbeitsmarkt drängen. "Denen bringt die Kurzarbeit nichts, denn sie haben ja noch keine Jobs, die sie halten müssen", sagt Weber. +"Das war ein Schock": Julian Bott sollte nach der Ausbildung übernommen werden, aber dann kam die Pandemie +Wenn die Einstellungszahlen nicht bald wieder steigen, kann das "scarring effects" haben, also Narben hinterlassen. Im Jahr 2006hat eine US-Studie ergeben, dass junge Menschen, die in einer Rezession, das heißt bei einem rückläufigen Wirtschaftswachstum, ins Berufsleben starten, nicht nur in den Anfangsjahren, sondern auch Jahre später im Schnitt weniger verdienten als andere Berufsanfänger*innen. Sie arbeiteten auch häufiger in Jobs, die nicht zu ihrer Ausbildung passten. Außerdem besteht bei Arbeitslosigkeit die Gefahr, dass sie sich"verfestigt": Je länger jemand arbeitslos ist, desto größer das Risiko, dass er oder sie mit der Zeit an Motivation und an Qualifikation verliert. Um eine "Generation Corona" zu verhindern, fordert Enzo Weber vom IAB darum, dass die Regierungnun gezielt Neueinstellungen fördert. +Natürlich kostet eine solche Förderung Geld – und die Bundesregierung plant in diesem Jahr ohnehin bereits, Rekordschuldenvon rund 218 Milliarden Euroaufzunehmen, um die Auswirkungen der Corona-Krise zu bekämpfen. Das geht auch zulasten der nächsten Arbeitnehmer*innen-Generation. Wirtschaftswissenschaftler*innen sagen allerdings auch, dass eine lang anhaltende Rezession langfristig noch mehr Kosten verursachen würde – Stichwort "scarring effect". Dass es also besser sei, früh gegenzusteuern, weil dadurch auch die profitierten, die die Schulden später mit abbezahlen müssten. Wobei diese Strategie nur aufgehen dürfte, wenn auch in anderen Ländern die Wirtschaft wieder wächst – Deutschland ist schließlich eine Exportnation. +Aber wie sieht es abseits von konkreten Arbeitsmarkt- und Schuldenstandszahlen aus? Lässt sich eine allgemeine Aussage darüber treffen, wie die Corona-Pandemie die junge Generation trifft? Während der Schul- und Unischließungen wurde bereits vielfach diskutiert, dass die Bildung in der Krise zuerst "geopfert" worden sei. Vor allem die Sorge, dass dabeijunge Menschen aus sozial benachteiligten Haushaltenabgehängt werden könnten, war groß. +Den langfristigen Effekt dieser Maßnahmen kann man heute noch nicht genau absehen. Was man allerdings jetzt schon weiß: Junge Menschen mit niedrigerem Bildungsabschluss waren auch stärker von finanziellen Einbußen betroffen als höher Qualifizierte. Weil sie häufiger in Jobs arbeiten, die sich nicht aus dem Homeoffice erledigen lassen. Oder weil sie besonders stark unter den coronabedingten Einschränkungen gelitten haben, zum Beispiel als Mitarbeiter*innen im Einzelhandel, produzierenden Gewerbe oder der Gastronomie. "Das betrifft auch in besonderer Weise Menschen mit Migrationshintergrund, weil diese Gruppe seltener einen akademischen Abschluss hat als ihre Altersgenossen", sagt Jörg Dollmann vom Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung. +Dollmann, seine Kollegin Irena Kogan und das Team um das CILS4EU-Projekt haben zu Beginn der deutschlandweiten Ausgangsbeschränkungen eine "Corona-Befragung" mit etwa 3.500 Teilnehmer*innen zwischen 24 und 26 Jahren gemacht, etwa zur Hälfte mit und ohne Migrationsgeschichte. Dabei interessierten sich die beiden nicht nur für die ökonomische Situation der Befragten, sondern auch für ihre Stimmung und ihr Wohlergehen. Das Ergebnis: Viele von ihnen – unabhängig davon, ob mit oder ohne Migrationsgeschichte – machten sich zwar Sorgen um die Gesundheit der Familie, aber weniger um die eigene. Vermutlich, weil junge Menschen seltener als ältere schwere Covid-19-Verläufe haben. +Will mitreden: Nora Teuma setzt sich bei der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen für die Belange junger Menschen ein +Aber auch das kann man nicht verallgemeinern. Für Stella zum Beispiel ist die Lage anders. Die 20-Jährige aus dem Vogtland, die nicht mit vollem Namen genannt werden möchte, macht aktuell eine duale Ausbildung zur Groß- und Außenhandelskauffrau und leidet an Morbus Basedow, einer Autoimmunerkrankung. Damit gehört sie nach aktuellen Erkenntnissen zwar nicht zur Risikogruppe. Aber die Auswirkungen und vor allem die Langzeitfolgen des Virus sind noch nicht vollständig erforscht, und das macht vielen Menschen mit Vor- und chronischen Erkrankungen natürlich Sorgen. +In ihrem Ausbildungsbetrieb fühlt Stella sich wohl, in der Berufsschule weniger. "Wir haben einen Hygieneplan, aber schon vor der Schultür hält sich keiner mehr daran", erzählt sie. Außerdem ärgere es sie, dass die Schule schlecht auf potenzielle Krankheitsfälle vorbereitet sei. Kürzlich wurde ein Mitschüler vom Gesundheitsamt in Quarantäne geschickt, weil er Kontakt zu einer infizierten Person gehabt hatte. "Keiner hatte einen Plan, was das für alle anderen bedeutet. Auch die Lehrerinnen nicht", sagt Stella. Sie wünscht sich zwar keine Sonderbehandlung wegen ihrer Erkrankung. "Aber es wäre einfach schön, wenn bei den Prüfungen bedacht würde, dass der Unterricht im vergangenen Halbjahr nicht normal abgelaufen ist. Wenn Leistung nicht über Gesundheit gestellt würde." +Stellas Beispiel zeigt noch einmal deutlich, dass es "die" Generation Corona nicht geben kann. Weil jede*r mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedürfnissen in diese Krise geraten ist. Nora Teuma, 22, Studentin und Jugendbeobachterin der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN), fände es trotzdem gut,wenn junge Menschen stärker in Entscheidungsprozesse einbezogen würden."Wir, die wir in der Ausbildung stecken, gerade unsere Zukunft gestalten und Fuß fassen müssen, haben zu wenig Mitspracherecht in der Politik", sagt sie. "Das war auch vor Corona schon ein Problem, aber jetzt wurde es noch mal offensichtlicher: Aktuell werden Entscheidungen getroffen, wie wir in Zukunft arbeiten oder wie unser Gesundheitssystem aussehen soll. Entscheidungen, die unser weiteres Leben maßgebend beeinflussen werden. Und trotzdem wird sehr wenig auf unsere Erfahrungen und Meinungen gehört." Zumindest sollte Franziska Giffey, die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, auch imKleinen Corona-Krisenkabinett– dem Gremium, das die Lage bewerten und Handlungsstränge identifizieren soll – dabei sein, findet Nora. Und auch Jugendverbände könnten stärker in Entscheidungsprozesse einbezogen werden. +Klar ist: Das Erlebnis der Pandemie wird alle jungen Menschen auf die eine oder andere Weise prägen. So wie der 11. September 2001 oder die Finanzkrise 2009 einschneidende Ereignisse für die Generationen vor ihnen waren. Und für manche entsteht aus der Not heraus ja auch etwas Gutes: Julian Bott hat zwar nach seinem Abschluss keinen anderen Job gefunden – dafür aber eine neue Ausbildungsstelle. Nach zwei Praktika lässt er sich nun zum Anlagenmechaniker für Sanitär- und Heizungsbau ausbilden. Ein Beruf, den er schon länger im Hinterkopf hatte und der ihm bisher sehr gut gefällt. "Dass ich nicht übernommen wurde, versuche ich als neue Chance zu sehen", sagt er. "Ich habe dadurch etwas angefangen, das besser zu mir passt." +Titelbild: Gaetano Massa diff --git a/fluter/corona-kinos-tenet-christopher-nolan.txt b/fluter/corona-kinos-tenet-christopher-nolan.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c6b0da49d7f0d5f33b8ec7a0f8bb289fec4be0b3 --- /dev/null +++ b/fluter/corona-kinos-tenet-christopher-nolan.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Die Zwangspause mussten die Kinos mit Kurzarbeit,Corona-Hilfenund – wenn möglich – aufgestockten Fördergeldern überbrücken. Die kommerziellen Kino- und Verleihbetriebe sind allerdings in einer anderen Lage als die meist strukturell subventionierten Theater- und Opernhäuser. Das Maßnahmenpaket "Neustart Kultur" des Bundes sieht zwar auch Mittel für die Filmwirtschaft vor, aber mit einem flächendeckenden Rettungspaket rechnet die Branche nicht. +Entscheidend ist also, wie die viel zitierte "neue Normalität" in der Kinobranche aussehen wird. Die harten Fakten seit der Wiedereröffnung der meisten Spielstätten am 2. Juli sind jedenfalls ernüchternd: "Die Kinos waren quasi drei Monate lang auf null – und jetzt haben sie einen Umsatzeinbruch von 80 Prozent", so Christine Berg. Sie verweist auf die Publikumszahlen im Juli, dem Monat der Wiedereröffnung. Nur 1,7 Millionen Kinotickets wurden verkauft – im vergangenen Jahr waren es im gleichen Zeitraum 9,8 Millionen. Berg nennt drei Gründe dafür: die Abstandsregeln, die Sorge des Publikums vor dem Coronavirus und den Mangel an Blockbustern. Wenn sich die Umstände nicht ändern, befürchtet sie eine Insolvenzwelle. +Ein schlechter Start war zu erwarten: Mit den geltenden Abstandsregeln – 1,50 Meter in alle Richtungen – hat jeder Saal nur 20 bis 30 Prozent seiner normalen Kapazität. Bislang wurde diese Beschränkung nur in Sachsen, Berlin und Nordrhein-Westfalen auf etwa 60 Prozent Auslastung gelockert. Ein offener Brief privatwirtschaftlicher Kinobetreiber an die Politik forderte kürzlich eine Rückkehr zum normalen Spielbetrieb im ganzen Bundesgebiet. +Die Erfüllung dieses Wunsches scheint derzeit unwahrscheinlich, aber selbst wenn er erfüllt würde: Die Plätze müsste ein Kino erst einmal füllen können. Christine Berg sieht mit Sorge, dass vielen Menschen noch das Vertrauen fehlt, eine Veranstaltung in einem geschlossenen Raum zu besuchen. Deshalb hat der HDF sogareine Studie zur Aerosol-Belastung in Auftrag gegeben. Laut Berg gibt es demnach einige Faktoren, die die Ansteckungsgefahr im Kino reduzieren: "Es wird kaum gesprochen, es gibt Abstände, Lüftungsanlagen und separate Ein- und Ausgänge." Noch wichtiger und nicht planbar dürfte für die Branche allerdings die Frage sein, wie sich die Infektionszahlen im Herbst entwickeln. +Und der Blockbuster-Mangel? Der bisher erfolgreichste Film der deutschen Kinocharts, der nach der Corona-Pause startete, war der deutsche Zeichentrickfilm "Meine Freundin Conni – Geheimnis um Kater Mau". Weil die US-Kinos brachliegen, halten die großen Verleiher ihre Toptitel zurück – oder setzen gleich auf den digitalen Markt: Disney bringt den Märchenfilm "Mulan" zur Empörung der Kinobetreiber direkt auf Disney+. Universal will Filme künftig schon 17 Tage nach Kinostart online veröffentlichen; üblich sind bisher mindestens 90 Tage. +"Die Branche ist nicht sehr solidarisch", kommentiert Petra Klemann, Geschäftsführerin der "Passage"-Kinos in Leipzig, diese Entwicklungen. "Disney scheint nicht daran zu denken, dass es die Kinos wieder brauchen wird." Laut Klemann benötigen die Filmtheater "gerade jetzt einen echten Gassenhauer". Einen Film, der die Sehnsucht des Publikums weckt und den Betrieb wieder ankurbelt. Außer Christopher Nolans "Tenet", der am 26. August startete, kommt dafür in diesem Jahr eigentlich kein anderer Film infrage. +Folgt man dieser Logik, könnte es eine bessere Symbolfigur für die "Rettung" der Kinos kaum geben. Wie wenige andere steht Nolan zugleich für Popcorn- und Autorenfilm. Sein Effektkino füllt die "Plexe", wie Klemann die Multiplex-Häuser nennt, läuft in der Originalfassung aber auch in Programmkinos wie der Leipziger "Passage". Filmnerds produzieren im Netz massenweise Content, vom GIF bis zum Videoessay über den Mindfuck – das erzählerische Verwirrspiel – des "neuen Nolan". Und schließlich ist Nolan selbst Cineast, dreht am liebsten auf 70 Millimeter im IMAX-Format – macht also Eventkino mit analogem Glanz. + + + + +Vielleicht ist "Tenet" aber ein bisschen zu viel Mindfuck, um unter widrigen Umständen zum großen Kassenerfolg zu werden. John David Washington ("BlacKkKlansman") spielt darin einen namenlosen Superagenten auf schier unmöglicher Mission: Er soll die Welt vor der Vernichtung retten – in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Spiel mit Zeitebenen und physikalischen Gesetzen war schon immer Nolans Fundament. Hier gerät etwa eine Verfolgungsjagd zum spektakulär-verkopften Bilderrausch, weil sie sich zugleich vor- und rückwärts abspielt. Das Prinzip der zeitlichen Inversion, der Umkehr von Ursache und Wirkung eines Ereignisses, ist aber so kompliziert, dass es ständig im Dialog erklärt werden muss. "Mir brummt der Kopf", antwortet eine der Figuren einmal. Ein selbstironischer Witz des Films. Es bleibt einer der wenigen empathischen Momente. +Die einseitige Hoffnung auf den Erfolg von "Tenet" ist für Tobias Lindemann vom Independent-Verleih Grandfilm hingegen ein Indiz dafür, wie "krisenanfällig das Blockbuster-Modell der großen Kinos ist".Obwohl in Deutschland pro Jahr mehr als 600 Filme starten, hängt die Bilanz vieler Spielstätten stark davon ab, ob die Top-Titel eher mäßig oder richtig gut laufen. Wenn, wie 2020, der neue "James Bond" sowie Disney- und Superheldenfilme verschoben werden oder sofort ins Netz wandern, sind die Aussichten düster. Im Arthousebereich sieht das anders aus. Dort scheint die Solidarität zwischen Kino- und Verleihszene größer zu sein. +Grandfilm ist ein gutes Beispiel dafür. Mit der Aktion "kinosolidarisches Streaming" hat der Verleih in der Coronapause Kinos, die davor regelmäßig Grandfilm-Titel zeigten, zu 50 Prozent an seinen Video-on-Demand-Einnahmen beteiligt. Exklusive Onlinestarts gab es dabei nicht. "Grundsätzlich ist für uns das Kino der wichtigste Ort, dort sollen unsere Filme zuerst zu sehen sein", sagt Lindemann. Deswegen hat der kleine Betrieb aus Nürnberg schon drei neue Filme seit der Wiedereröffnung ins Kino gebracht. So startete etwa kurz nach den weltweiten "Black Lives Matter"-Protesten "What you gonna do when the World's on Fire", ein Dokumentarfilm über die Lebenswelt einer afroamerikanischen Community. +Die Coronakrise trifft natürlich auch den Arthousebereich, aber es gibt Grund zur Zuversicht: Klemanns Leipziger Programmkino hat im Juli immerhin 50 Prozent so viel eingespielt wie im Juli 2019; die Bilanz bei Grandfilm sieht ähnlich aus. In Leipzig wird im September zudem trotz Corona die Filmkunstmesse stattfinden, ein wichtiges Branchenevent für die Programmkinos. Präsentiert werden rund 60 Filme der – hoffentlich – kommenden Saison. Es sind fast so viele wie im vergangenen Jahr. Auf einen einzigen Film als Retter in der Not sollte man sich lieber nicht verlassen. + + +Titelbild: Sean Gallup/Getty Images diff --git a/fluter/corona-krise-drogenabhaengige-beratung.txt b/fluter/corona-krise-drogenabhaengige-beratung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..623aa954394b5f5857235cbd6228433a6d044fc5 --- /dev/null +++ b/fluter/corona-krise-drogenabhaengige-beratung.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Das Bundesgesundheitsministerium zählt in Deutschland rund 600.000 Menschen mit einem "problematischen Konsum von Cannabisund anderen illegalen Drogen". 79.400 davon nehmen an "Substitutionsprogrammen" teil: Sie werden mit einem weniger zerstörerischen Ersatzstoff behandelt, um sich von "ihrer" eigentlichen Droge zu entwöhnen. Die meisten Substitutionspatient/-innen werden mit Methadon, das vor allem als Heroinersatz dient, und unter Aufsicht von niedergelassenen Ärzt/-innen oder speziellen Ambulanzen behandelt. +Mit der Corona-Krise hat sich der Alltag dieser Einrichtungen verändert: Die sogenannte Take-Home-Vergabe von Substitutionsmitteln gilt normalerweise für maximal sieben Tage, wurde mittlerweile aber erhöht. So sollen die Arztpraxen entlastet und die Patient/-innen geschützt werden: Jeder Besuch in der Praxis weniger kann wichtig sein, weil viele Suchtkranke durch Lungenvorerkrankungen, Hepatitis-C- oderHIV-Infektionenselbst zu den Covid-19-Risikogruppen gehören. +Weil der tägliche Methadongang wegfällt und sie Unterstützung braucht, verbringt Nadja ihre Zeit mit einer Freundin. Die nehme selbst an einem Methadonprogramm teil, sagt Nadja, und helfe ihr, richtig zu dosieren: das Methadon, aber auch Heroin. Denn trotz der Substitutionsbehandlung raucht Nadja wieder Heroin. "Ich bin vor einem halben Jahr rückfällig geworden", sagt sie. Ihr Arzt weiß nichts von ihrem Rückfall, weil Nadja fürchtet, dass ihre Eltern davon erfahren könnten. Um während der Krise nicht mehr täglich das Haus zu verlassen, hat siebei ihrem DealerHeroin für eine komplette Woche eingekauft. "Ich wusste nicht, ob er während der Krise noch jeden Tag unterwegs ist", sagt sie. Ihre Freundin sorge jetzt dafür, dass Nadja nicht alles auf einmal raucht. "Die Gefahr, alles auf einmal zu nehmen, wäre größer, wenn ich nicht bei meiner Freundin wäre." +Stefanie Wessels kennt solche Sorgen, aber aus einer anderen Perspektive. Sie leitet die Ambulanz für Integrierte Drogenhilfe in Berlin-Kreuzberg und betreut normalerweise täglich Menschen, die Drogen substituieren. "Ich habe Angst, dass einige meiner Klientinnen und Klienten während der Krise wieder massiv konsumieren", sagt Wessels. Ihre Einrichtung musste die Hilfsangebote wie viele andere stark reduzieren. "Dabei sind Krisen eigentlich die Zeit, in der die Klientinnen und Klienten unsere Hilfe stärker brauchen denn je." +Mehr zum Thema +Obdachlosigkeit in Corona-Zeiten:Wir waren mit Ceil (22) unterwegs, die seit fast fünf Jahren auf der Straße lebt +Die Angebote solcher Einrichtungen geben Suchtkranken Rückhalt und – oft noch wichtiger – eine Routine. Seit die Pandemie Deutschland erreicht hat, sind nicht nur die Gruppenangebote und persönliche Betreuungsgespräche gestrichen. Auch die Tageswerkstatt in Wessels Einrichtung, in der kleine Arbeiten erledigt und Geld verdient werden kann, bleibt geschlossen. Angebote gibt es derzeit nur per Telefon oder Mail. Diese Unterbrechung des Alltags könnte viele Klientinnen und Klienten zu einem Rückfall verleiten, fürchtet Wessels. "In Situationen, die Angst machen, reagieren viele Suchtkranke mit Konsum." Zumal selbst die provisorische Ausgabe der Substitutionsmittel nicht gesichert sei. "Wir arbeiten gerade wie eine Vergabemaschine", sagt Norbert Lyonn. Als Arzt in der angegliederten Praxis der Einrichtung behandelt Lyonn mehr als 300 Suchtpatient/-innen. Er macht sich Sorgen, dass jemand im Team krank wird und sie dann nicht mehr wie gewohnt arbeiten können. Schon jetzt, nach wenigen Wochen, fehlt ihnen Schutzkleidung. "Und ich weiß nicht, was mit den Patienten passiert, wenn wir oder andere Ambulanzen schließen müssen." +Ein systematischer Ausfall der Substitutionsbehandlungen wäre fatal. Ärzt/-innen und Sozialarbeiter/-innen befürchten, dass er einen ohnehin unguten Trend bestätigen könnte: Die offizielle Zahl der Toten durch den Konsum illegaler Drogen ist in Deutschland zuletzt deutlich angestiegen. Im Jahr 2019 starben 1.398 Menschen durch illegale Substanzen, 122 mehr als im Jahr davor.Die häufigste Todesursache bleibt die Überdosierung mit Opioiden wie Heroin oder Morphin, an der 650 Menschen starben. Besonders auffällig: die Zunahme der Todesfälle von Menschen mit langjährigem Drogenmissbrauch. +Einigen Menschen mit einer solchen Suchtgeschichte fällt es gerade schwer, ein Verständnis für die Maßnahmen der Beratungsstellen zu entwickeln, sagt der Sozialarbeiter Sascha Jost. Er ist Einrichtungsleiter der integrativen Sucht- und Beratungsstelle Confamilia in Berlin-Neukölln, die derzeit auch versucht, den persönlichen Kontakt zu minimieren. Während viele Klient/-innen das veränderte Hilfsangebot annehmen, seien diese Menschen eine große Herausforderung: Manche von ihnen hätten kein Handy, sagt Jost, viele seien obdachlos, was die alternative Kontaktaufnahme erschwere. +Jost sieht aber nicht nur Negatives in der Krise.Sie fordere die alten Arbeitsweisen heraus: Homeoffice und Diensthandys, telefonische oder virtuelle Beratung und Therapie – all das bewilligt durch den Kostenträger – seien vor zwei Wochen noch undenkbar gewesen. "Das ist für uns Behandelnde ein Schritt nach vorn", sagt Jost. +Innerhalb kürzester Zeit muss die Arbeit von Drogeneinrichtungen nun neu gedacht und an die dynamische Situation angepasst werden. Manche Hilfsangebote schaffen das bereits: Die Selbsthilfegemeinschaft Narcotics Anonymous zum Beispielbietet derzeit Onlinemeetings für Menschen mit Suchtproblemen in verschiedenen Sprachen an. Klar ist, dass sich der Alltag suchtkranker Menschen verändert hat. Selbst die, die ein Handy oder einen Computer haben, müssen erst lernen, mit dem veränderten Angebot umzugehen. Suchtkranke sollten derzeit nicht alleine sein, sagt Nadja. "Die Gefahr eines Rückfalls war lange nicht so hoch wie jetzt." + +Du brauchst Hilfe oder sorgst dich um jemanden? Die Sucht- und Drogenhotline (01805 313031), die Telefonseelsorge (0800 1110222) oder dasdeutsche Suchthilfeverzeichnishelfen. + diff --git a/fluter/corona-krise-in-idlib.txt b/fluter/corona-krise-in-idlib.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8ec9553146921ca06e56d01fa64f45c675548f11 --- /dev/null +++ b/fluter/corona-krise-in-idlib.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Wie ein Köder hängt die Waffenruhe über Idlib. Sie lockt die Menschen nach draußen,während sich der Rest der Welt voneinander abzuschotten versucht."Über Monate mussten wir um unser Leben fürchten, wenn wir aus der Tür gegangen sind", sagt Suad al-Aswad. Sie ist 44, Menschenrechtsaktivistin und lebt mit ihren sieben Kindern in Idlib. Immer wieder bricht während unseres Telefonats die Verbindung ab, bald schicken wir uns deshalb Sprachnachrichten auf WhatsApp. +"Die Menschen wollen jetzt endlich normal leben und die Freiheit genießen", sagt Suad. 2011 wurde sie zur Aktivistin. Damals ging sie in ihrer Heimatstadt Kafranbel auf die Straße, um gegen das Assad-Regime zu demonstrieren. "Die Revolution ist eine Idee – und Ideen sterben nicht!", schrieb sie auf ein Plakat. Aktivistin ist sie bis heute geblieben. Doch aus dem Kampf für die Revolution ist im letzten Monat ein anderer geworden: der Kampf gegen das Coronavirus. +Malt keine Plakate mehr gegen Assad, sondern gegen das Virus: Die Menschenrechtsaktivistin Suad al-Aswad +2019 hatte die letzte Offensive des syrischen Regimesgemeinsam mit den russischen Verbündeten begonnen. Idlib war eine der ersten großen Städte, die sich 2012 von Assad befreiten. In den vergangenen Jahren war die Stadt zur "Deeskalationszone" geworden, wohin sich Oppositionelle – dschihadistische und moderate – aus den vom Regime beherrschten bzw. rückeroberten Teilen des Landes zurückzogen. Russland und die Türkei versprachen, für ihre Sicherheit zu garantieren. Beobachter warnten schon früh, dass das Sammelbecken der Assad-Gegner eines Tages eine "Kill Box" werden könnte – ein Ort, wo das Regime die Gegner aus allen Teilen des Landes auf einmal vernichten würde. +Viel bekam man in Deutschland nicht mit von dieser letzten großen Schlacht. Und vielleicht wäre das so geblieben, hätte nicht am 27. Februar 2020 ein Angriff der russischen Luftwaffe mindestens 33 türkische Soldaten getötet, die an der Seite der in Idlib machthabenden dschihadistischen Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) kämpften. Erdoğan forderte von der EU Unterstützung im Kampf in Idlib. Als indirektes Druckmittel hatte er dabei auch die vielen Menschen in der Hand, die immer noch aus Syrien über die Türkei nach Europa flüchten wollten und bisher von der Türkei an der Grenze zurückgehalten wurden.Die EU hatte Ankara im Gegenzug Geld versprochen – der sogenannte Flüchtlingsdeal.Doch seit Monaten kritisierte der türkische Präsident, dass die Mittel nicht wie erhofft flossen. +Der Rest der Geschichte ist bekannt: Als die EU nicht auf Erdoğans Drohung, die Grenzen zu öffnen, einging, wurden Tausende Geflüchtete mit Bussen an die EU-Grenze gebracht. Hunderte berichteten, dass griechische Grenzschützer Eingereiste illegalerweise in Grenznähe zurückdrängten. +Und in Idlib? "Wir leben hier seit drei bis vier Jahren so, als wären Corona-Zeiten", sagt Mona Bakkoor am Telefon. Die 25-jährige Journalistin arbeitet als Korrespondentin für einen kleinen Radiosender,den syrische Exilanten in Istanbul betreiben."Die Menschen sind hungrig nach Leben", sagt Mona. Sie genießen die Waffenruhe, die der türkische Präsident Erdoğan und der russische Präsident Putin Anfang März ausgehandelt haben. Auf Videos, die Mona mir aus Idlibs Stadtzentrum schickt: Langsam wälzen sich Autos, Minibusse und Mopeds durch die geschäftigen Straßen, Händler haben ihre Waren vor den Läden ausgestellt, Familien drängen zwischen den Marktständen hindurch. "Ihr in Europa könnt euch vor dem Virus abschotten, das ist hier nicht möglich." Zu Hause bleiben, das bedeute, kein Geld zu verdienen und seine Kinder nicht mehr versorgen zu können. +"Die meisten Menschen wollen es nicht verstehen", sagt die Journalistin Mona Bakkoor. Größer als die Angst vor dem Virus sei die Angst vor dem Regime +Sie ist wie auch die Aktivistin Suad und so viele der mehr als drei Millionen Einwohner nach Idlib geflohen: erst aus Rakka vor dem IS, dann im vergangenen Jahr vor den einrückenden Regimetruppen aus Kafranbel, einer Kleinstadt nördlich von Homs. Klein-Syrien nennen sie Idlib deshalb auch. Ein ganzes Land komprimiert auf eine Region. Während für den Rest des Landes die Zukunft entschieden scheint, sagt Mona, war sie in Klein-Syrien selten so ungewiss. +Auf Twitter und in den internationalen Medien verfolgt Mona mit Sorge, wie sich das Virus über den Erdball verbreitet. "Die meisten Menschen hier wollen es nicht verstehen", sagt sie. Größer als die Angst vor dem Virus sei die Angst vor dem Regime. Kaum einer in der Region traue dem Putin-Erdoğan'schen Waffenstillstand. "Ich habe mindestens 20 Waffenstillstände miterlebt, die wurden jedes Mal vom Regime gebrochen." Mona sagt, dass sie die dschihadistischen Milizen, die jetzt – geduldet von der Türkei – die Region beherrschen, nicht unterstütze. An die Alternative zu denken, das traue sie sich gar nicht erst: "Wenn Assad nach Idlib kommt, wird es ein Blutbad geben, wie es die Welt nach neun Jahren Krieg in Syrien nicht gesehen hat." +"Der Krieg in Syrien ist längst zugunsten des Assad-Regimes und seiner Verbündeten entschieden", sagt der Wiener Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger. Es sei zum jetzigen Zeitpunkt schwer zu sagen, ob er in Frieden beendet werden könne. Im Gegensatz zu den kurdischen Syrian Democratic Forces (SDF) im Nordosten des Landes sei es unwahrscheinlich, dass es zwischen der HTS und dem Regime bald ein Abkommen gebe. Zum einen, weil die türkische Regierung die Gruppen in Idlib lange als Terroristen einstufte, "zum anderen, weil fraglich ist, ob sicheine dschihadistische Milizwie Hayat Tahrir al-Sham, die früher Teil der El Kaida war, an die Waffenruhe hält." +Ausgerechnet jetzt droht Idlib auf andere Weise zur Kill Box zu werden. NGOs warnen vor einer Katastrophe. Nicht wegen des Krieges – sondern wegen des Virus. Offiziell zählt das Assad-Regime in Syrien 43 Corona-Fälle und drei Tote (Stand 29.4.2020). In Idlib ist noch keiner bekannt. In der gesamten Region gibt es laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) für mehr als drei Millionen Menschen nur 46 Beatmungsgeräte für Erwachsene, 31 für Kinder. Außerdem gebe es laut Munzer Khalil vom Idlib Health Directorate im gesamten Nordwesten Syriens nur 200 Intensivbetten. Durch die Luftangriffe in den vergangenen Jahren wurden zahlreiche Krankenhäuser zerstört, viele Ärzte und Pfleger bei Angriffen auf Krankenhäuser entweder getötet oder sind geflohen. +"Die Regierung hat keinen Plan von dem, was sie tut", sagt Suad. Daher verteilt sie zusammen mit anderen Frauen Flyer, Seife und Desinfektionsmittel im Flüchtlingscamp +Im Gegensatz zum Rest der Welt gibt es in Idlibkeinen Staat, der Corona-Maßnahmen durchsetzen könnte."Die Regierung hier hat keinen Plan von dem, was sie tut", sagt Aktivistin Suad al-Aswad. Zwar seien die Schulen geschlossen, Märkte, Kaffeehäuser und Restaurants aber weiterhin geöffnet. Es gebe niemanden, der sich zuständig fühle."Vor ein paar Wochen hieß es: ‚Das Freitagsgebet in der Moschee ist untersagt'– dann kam eine andere militärische Gruppe und meinte: ‚Nein, das könnt ihr nicht machen.'" +Für die Aktivistin Suad steht fest: Wenn die Regierung nichts tut, dann muss eben die Zivilbevölkerung handeln. So sei es 2011 gewesen, als sie gegen das Assad-Regime auf die Straße ging; so sei es auch 2012 gewesen, als sie mit ihren Freundinnen nach der Befreiung der Stadt Kafranbel gegen den Willen der Männer ein Frauenzentrum errichtet habe, ebenso wie später, als sie den dschihadistischen Gruppen zum Trotz Workshops für Frauen angeboten und ihnen ihre Rechte erklärt habe. +Zusammen mit anderen geflohenen Aktivistinnen aus ihrer Heimatstadt Kafranbel hat sie deshalb vor einigen Tagen Flyer gedruckt: "Covid-19 – Was ist das Coronavirus?", steht darauf geschrieben. Auf einem Foto, das sie mir schickt, sieht man Suad gemeinsam mit anderen Aktivistinnen mit OP-Masken und Gummihandschuhen bekleidet. Mit Pappkartons voller Seife und Desinfektionsmittel, die die Aktivistinnen mithilfe von Spenden der deutschen Initiative "Adopt a Revolution" gekauft haben, stehen sie in einem Flüchtlingslager zwischen Baracken aus Sperrholz und Zeltplanen vor einer Menschentraube. +"Natürlich haben die Leute erst mal gesagt: ‚Wir haben unter Bomben gelebt, wir haben den Krieg überlebt, was soll denn das jetzt?'" Sie habe daraufhin geantwortet: "Wenn euch euer Leben lieb ist und ihr nicht wollt, dass eure Kinder ohne Eltern aufwachsen, dann hört jetzt gut zu!" + + diff --git a/fluter/corona-pandemie-afrika-interview.txt b/fluter/corona-pandemie-afrika-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4d98b2f1ad9a6f9b85b2c6168e61978ef6222847 --- /dev/null +++ b/fluter/corona-pandemie-afrika-interview.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +fluter.de: Herzlichen Glückwunsch! Afrikanische und asiatische Staaten scheinen die Pandemie sehr viel besser zu meistern als Europa oder Amerika. Können Sie dieses Kompliment annehmen? +Christian Happi: Ja klar, sehr gerne. Menschen in Europa und Amerika erkennen das nur selten an. +Was haben Sie anders gemacht? +Als die Pandemie Ende Februar begann, haben die meisten afrikanischen Regierungen sofort verstanden, dass nurein harter Lockdowndie Verbreitung des Virus stoppen kann. Von einem auf den anderen Tag gab es keine Flüge mehr, keine Verbindungen zwischen Städten, auch keinen Nahverkehr. Die Mobilität wurde also extrem heruntergefahren. Ich glaube, in Europa wäre ein solch strikter Lockdown nicht möglich gewesen. +Warum? +Vielleicht sind die Menschen dort freiheitsliebender, vielleicht hatten Europäer größere Angst vorden wirtschaftlichen Folgen.In vielen afrikanischen Ländern gibt es einen sehr starken Staat, der hart durchgreifen konnte. Ich habe mich wirklich gewundert, dass Europa im Frühjahr relativ schnell wieder aus dem Lockdown hochgefahren ist. Aber was wohl das Entscheidende war, warum wir so konsequent und früh, teilweise noch bevor erste Fälle in den Ländern auftraten, reagiert haben: Malaria, Gelbfieber, Cholera oder der Ebola-Ausbruch vor sechs Jahren – wir haben Erfahrung mit Epidemien und Pandemien. + + +In Westafrika grassierte 2014 das Ebolavirus, an dem rund 11.000 Menschen starben. Inwiefern hilft Ihnen diese Erfahrung heute? +Das Schlimmste konnten wir damals verhindern. Wir haben gelernt, wie man so unübersichtliche Situationen meistert. Wir wussten zum Beispiel sofort, wie das mit der Isolation von Infizierten reibungslos funktioniert. Von den Ärzten bis hin zur Bevölkerung: Das Wissen, wie man mit ansteckenden Krankheiten umgeht, war noch recht frisch. +318 Corona-Fälle hat Nigeria pro einer Million Einwohner:innen, Deutschland hingegen hat 10.200. Ist der große Unterschied an Fallzahlen damit zu erklären, dass in Nigeria weniger Tests durchgeführt werden und es eine hohe Dunkelziffer gibt? +Nein. Das Argument wird oft angeführt, um die niedrigen Zahlen in vielen afrikanischen Staaten zu erklären. Aber es stimmt nicht. Wir führen viele Tests durch. Das Labor, in dem ich arbeite, testet im Schichtbetrieb, Tag und Nacht. Die Rate an positiven Befunden ist schlichtweg relativ gering. +Womit erklären Sie sich das? +Es kann sein, dass Menschen in Afrika eine bessere Immunität gegen das Virus haben aufgrund anderer Erreger, denen sie ausgesetzt sind. Daran müssen wir forschen. Entscheidender ist aber, dass die afrikanische Bevölkerung sehr jung ist, im Durchschnitt 19 Jahre alt. Europa ist fast doppelt so alt. Es spielen also sehr viele Faktoren eine Rolle: Auch dass viele Menschen in Dörfern mit geringer Bevölkerungsdichte leben, hat sicherlich geholfen. Aber noch mal: Das Wichtigste sind unsere Erfahrungen mit pandemischen Situationen, darauf konnten auch asiatische Staaten zurückgreifen. +Hier in Deutschland gibt es einige Menschen, die das Virus für erfunden oder ungefährlich halten.Mussten Sie Überzeugungsarbeit leisten, damit die ernste Lage erkannt wird? +Die Meinung, dass Covid-19 erfunden und nicht existent sei,gibt es hier genauso. Dagegen hilft Bildung. Ich bin froh, dass es die Community Health Workers gibt. Sie leisten überall in Afrika grundlegende medizinische Versorgung in abgelegenen Gemeinden, dort, wo sie verankert sind. Wenn diese Menschen in eine Dorfgemeinschaft kommen und etwas sagen oder empfehlen, dann glauben die Leute ihnen und machen mit – sehr wichtig, wenn man eine Pandemie gemeinsam bekämpfen will. + + +Haben durch den harten Lockdown arme Menschen besonders gelitten?Menschen zum Beispiel, die von der Hand in den Mund leben und darauf angewiesen sind, auf Märkten ihre Waren zu verkaufen. +Ja, zweifellos. Die Bevölkerung, ob in Nigeria oder anderen afrikanischen Ländern, hat einen sehr hohen Preis gezahlt, aber keinen zu hohen. Ich mag mir nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn sich das Virus noch stärker verbreitet hätte. Aber natürlich haben die Maßnahmen ihre Kehrseite. Ich denke an die vielen medizinischen Ressourcen, die für Covid-19 eingesetzt werden. Die fehlen teilweise für die Erforschung und Behandlung gefährlicher Krankheiten wie Malaria oder das Lassafieber. Das wird Tote fordern. +Was lernt die Welt gerade für zukünftige Pandemien? +Im Moment reagiert die Welt, aber sie müsste in Zukunft stärker agieren. Wir bräuchten Systeme, die neuartige Viren und damit mögliche Epidemien frühzeitig erkennen. Im Januar, als Corona quasi unbekannt war, habe ich mit meiner Kollegin aus Harvard ein Frühwarnsystem für Infektionskrankheiten vorgestellt. Es kann das Erbgut von Viren sehr schnell auslesen und die Informationen mit Gesundheitsbehörden teilen. In einer App können Ärzte oder die Community Health Workers Symptome von Patienten eintragen. Schade, dass wir es nicht schon früher fertiggestellt haben. Es hätte uns gute Dienste im Kampf gegen Covid-19 geleistet. +Ein erster, sehr vielversprechender Impfstoff steht kurz vor der Zulassung. Reiche Länder, wie die USA, Frankreich oder Deutschland, haben bereits direkte Verträge mit den Herstellern abgeschlossen und sich Impfdosen gesichert. Wie schauen Sie auf die globale Aufgabe, den Impfstoff gerecht zu verteilen? +Hoffen wir erst mal, dass er bei allen Menschen weltweit wirkt. Ich setze auf die Initiative "Covax". Unter der Federführung der Weltgesundheitsorganisation haben sich dort Länder zusammengeschlossen, die insgesamt zwei Drittel der Weltbevölkerung vertreten – auch die EU-Kommission ist dabei. Die Initiative setzt sich dafür ein, dass der Impfstoff gerecht verteilt wird und ärmere Länder nicht leer ausgehen. Egal welches Unternehmen am schnellsten ist:Der Impfstoff sollte gerecht in der Welt verteilt werden. + +Christian Happi ist Professor für Molekularbiologie und Genomik und Direktor des "Africa Centres for Disease Control and Prevention" an der Redeemer's Universität in Nigeria. diff --git a/fluter/corona-pandemie-native-american-rezension-blood-quantum.txt b/fluter/corona-pandemie-native-american-rezension-blood-quantum.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1d4cbb14ce060b46f6be794c083c85f05206fe0c --- /dev/null +++ b/fluter/corona-pandemie-native-american-rezension-blood-quantum.txt @@ -0,0 +1,15 @@ + +Im Film "Blood Quantum" bricht die Zombie-Apokalypse aus – allerdings stecken sich nur die weißen "Townies" an + +Schätzungen zufolge verloren in den ersten 150 Jahren nach der Ankunft weißer Siedlerkolonisten bis zu 90 Prozent der amerikanischen Ureinwohner durch Krankheiten wie Masern, Pocken, Grippe oder Typhus ihr Leben. Die eingeschleppten Krankheiten haben mit dazu beigetragen,dass die Kolonialherren das Land so schnell erobern konnten. Wie eine Vorhut waren die Viren und Bakterien oft sogar schneller vor Ort als die Siedler und Händler selbst. Auch deshalb konnten die Neuankömmlinge ihren Landraub damit rechtfertigen, es mit einem "leeren Land" oder einer "unproduktiven Wüste" zu tun zu haben. Nicht wenige behaupteten sogar, dass die Auslöschung der amerikanischen Ureinwohner "gottgewollt" sei, da die Weißen mehr oder weniger verschont blieben. + + +Auf jede neue Krankheitswelle folgten Hunger, Flucht und erbitterte Kämpfe um Ressourcen. Zahlen können den Schrecken und das Elend nicht so eindrucksvoll abbilden. Ein Horrorfilm dagegen schon. "Sie starben wie elende Schafe", schrieb etwa ein britischer Gouverneur in den 1630er-Jahren nach Ausbruch einer Pockenepidemie in der Kolonie Plymouth. "Wenn sie sich umdrehen, schält sich eine ganze Seite auf einmal ab, und sie sind eine einzige blutverkrustete Wunde." Die Natives nannten die Pocken das "verrottende Gesicht". +Trotz eines im Austausch gegen Landrechte garantierten Rechts auf Gesundheitsversorgung wurde den Natives nie dieselbe medizinische Versorgung zuteil wie der weißen Bevölkerung – bis heute, wie die Corona-Pandemie zeigt. Kaum eine Minderheit ist dem Virus so schutzlos ausgeliefert wie die indigene Bevölkerung. In den meisten Reservaten Amerikas und Kanadas herrschen noch immer Armut und chronische Unterversorgung. Es gibt zu wenig Ärzte und zu wenig Aufklärung. Oft haben die Bewohner noch nicht einmal sauberes fließendes Wasser, um sich regelmäßig die Hände zu waschen. +Besonders heftig hat es das Gebiet der Navajo Nation getroffen. Auf drei Bundesstaaten verteilt, ist es das größte Reservat Amerikas und auch der Ort, wo das Virus am härtesten zugeschlagen hat. 350 Navajos sind an dem Virus gestorben. Damit ist die Todesrate doppelt so hoch wie in New York. "Unter der Vernachlässigung und Ignoranz gegenüber Minderheiten, die die westliche Kultur seit 500 Jahren prägen, leiden wir bis heute", sagt Barnaby, dessen Frau auf dem Gebiet der Navajo aufgewachsen ist. "So gesehen war die Epidemie keine Überraschung für uns." +Und das ist auch eine der bitter-ironischen Botschaften seines Films: Wer die Seuchen, die Ausgrenzung, die Armut, die Gewalt und die Zwangsassimilierung überlebt hat, übersteht auch eine so absurd brutale Prüfung wie die Zombie-Apokalypse. Dabei hat die Immunität der Ureinwohner in "Blood Quantum" eine Machtverschiebung zur Folge, die die Geschichte noch einmal umzuschreiben versucht: Die, die einst von Krankheiten so stark dezimiert wurden, dass ein Unabhängigkeitskampf erfolglos bleiben musste, sind nun jene, die die Menschheit vor der Auslöschung durch eine invasive, exponentiell anwachsende Bedrohung retten müssen. +Dieser Gestus von Selbstschutz und Selbstermächtigung hat in der Corona-Krise Parallelen in der Realität: Weil sie der Regierung nicht vertrauten, haben viele Gemeinschaften proaktiv gehandelt. Während Donald Trump noch die Gefahren des Coronavirus in Zweifel zog, riefen bereits 53 der 574 offiziell anerkannten Stämme der USA den Notstand aus. 39 schotteten ihre Reservate gleich ganz ab oder haben Ausgangssperren verhängt, darunter die Sioux in South Dakota, die in Eigeninitiative Checkpoints errichteten – gegen den Willen der Gouverneurin, die die Straßensperren für illegal erklärte. +Barnaby hofft,dass sein Film, der in Deutschland im Herbst auf DVD erscheint, dazu beitragen kann, auf die Situation der Natives aufmerksam zu machen. "Durch das Virus verstehen die Zuschauer noch besser, was es bedeutet, wie wir in ständiger Angst zu leben." + + +Filmstills: Koch Films diff --git a/fluter/corona-psychologische-folgen-interview.txt b/fluter/corona-psychologische-folgen-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..91855a01f68e277fbd2c93d402333abbae969625 --- /dev/null +++ b/fluter/corona-psychologische-folgen-interview.txt @@ -0,0 +1,42 @@ +fluter.de: Sie hatten lange Jahre eine Sendung im Fernsehen. Warum haben Sie eigentlich noch keinen Podcast, um die Menschen psychotherapeutisch durch die Pandemie zu begleiten? +Angelika Kallwass: Wenn ich wüsste, wie das technisch ginge … (lacht) Ich habe insgesamt den Eindruck, dass die Presse schon eine gute Arbeit darin leistet, Allgemeinpsychologisches zu vermitteln. So ein Podcast könnte höchstens sinnvoll sein, um sich auf Einzelschicksale zu konzentrieren. +In den vergangenen Monaten sind die Diagnosen für psychische Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen oder posttraumatische Belastungsstörungenrapide angestiegen. Warum ist die Pandemie so eine Herausforderung für die Psyche? +Im Vordergrund steht die Beschränkung auf sich selbst, da der Kontakt so stark eingeschränkt ist. Wir sind stärker auf die eigenen Ängste und den engsten Raum zurückgeworfen. Daneben sind Berührungen zur Gefahr geworden – schließlich könnten wir uns bei anderen anstecken. Körperliche Nähe ist aber ein menschliches Grundbedürfnis. Ich befürchte, dass dieser Verlust Wunden in den Seelen vieler Menschen hinterlassen wird. + + +Wird dieCorona-Pandemiezu einer "Psychopandemie"? +Die Pandemie existiert in unseren Köpfen in überdimensionierter Form. Ich wüsste nicht, wo man dem Thema aktuell noch ausweichen könnte. Das macht natürlich etwas mit uns. Auch an mir selbst stelle ich fest, dass ich gar nicht mehr richtig abschalten kann. In der Geschichte gab es schon viele andere Erreger, die weltweit für Aufsehen sorgten und die Menschen beschäftigten, aber ich glaube, dass diese Krankheiten nicht so allgegenwärtig waren. Und das liegt sicherlich an den Medien. Auch wenn es gut und wichtig ist, dass sie eine vermittelnde Rolle einnehmen und zum Beispiel über Vorsichtsmaßnahmen aufklären. +Durch dieKontaktbeschränkungenwerden sicher wieder viele Menschen unter Einsamkeit leiden. Was können wir diesem Gefühl entgegensetzen? +Schon die gelegentliche Vergewisserung "Ich bin nicht allein" kann hilfreich sein. Schließlich durchleben wir gerade alle zusammen diese Pandemie. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, an wen sich Menschen im Notfall wenden können, welche Kontakte sie reaktivieren könnten – in welches soziale Netz sie bereits eingebettet sind. Meine Empfehlung ist: Bleiben Sie mit anderen in Kontakt und finden Sie gemeinsame – und vielleicht neue – Rituale der Kommunikation. +1) Bleib mit anderen verbunden – egal ob über FaceTime, Zoom, WhatsApp, Telefon, E-Mail, Briefe oder Postkarten. +2) Falls Corona deinen Alltag durcheinanderbringt: Schaff dir eine Tagesstruktur mit klaren Routinen. Halte dich dabei auch an feste Zubettgeh- und Aufstehzeiten. +3) Verschaff dir einen Überblick über Aktivitäten, die dir Freude und Entspannung bringen und die du auch jetzt noch ausüben kannst. Schaff dir Zeit dafür. +4) Sei nett zu deinem Körper: Mach Sport, schlaf ausreichend, iss gesund und meide exzessiven Alkohol- oder Drogenkonsum. +5) Vom Newsfeed gestresst? Pausier zwischendurch deinen Nachrichtenkonsum und richte auch mal handy- oder laptopfreie Zeiten ein. + +Wenn es dir über Wochen hinweg psychisch schlecht geht, wende dich an Profis. DieTelefonseelsorgeist eine erste Anlaufstelle (0800 1110111). Bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung kannst du Psychotherapeutinnen und Psychotherapeutenin deiner Nähe findenoderper Telefon (116 117) einen Termin vereinbaren lassen. +In vielen Haushalten leben Menschen auf begrenztem Raum mit anderen zusammen.Was empfehlen Sie, damit Menschen in beengten Wohnverhältnissen im Corona-Winter nicht die Decke auf den Kopf fällt? +Als Haushalt könnte man gemeinsam ein Zimmer in der Wohnung bestimmen, in dem sich jeder täglich für einen festgelegten Zeitraum alleine aufhalten darf, ohne von den anderen gestört zu werden. Schließlich ist es ein Luxus, mal für sich sein zu dürfen. + + +Unser "neuer" Alltag ist mittlerweile schon über ein halbes Jahr alt.Der Krisenmodus ist zum Normalmodus geworden. +Ja. Und es hat auch etwas Positives, dass dieser Alltag zur Gewohnheit geworden ist. Sonst könnten wir ihn vielleicht gar nicht ertragen. Am Anfang haben wir alle noch gemeckert und gemotzt. Mittlerweile nehmen wir vieles klaglos und selbstverständlich hin. Was ich und meine Patienten, aber auch sicher viele andere Menschen, vermissen, ist, dass man sich nicht mehr die Hand geben kann. Auch wenn das nur eine kleine Geste ist: Das Körpergefühl kommt uns ein Stück abhanden. Im öffentlichen Raum habe ich mich mittlerweile daran gewöhnt, dass die Blicke und die Körpersprache bedeutender geworden sind, als die gesprochenen Worte. +SindVideokonferenzen, in denen wir uns jetzt so viel aufhalten, ein adäquater Ersatz für körperliche Begegnungen? +Dass diese digitalen Räume existieren, halte ich für extrem wichtig. Im Digitalen gehen jedoch viele Informationen verloren, auf deren psychische Verarbeitung der Mensch Jahrtausende trainiert war. Meine Erwartung ist, dass sich die Wahrnehmung in der jüngeren Generation, die diese digitalen Räume besonders häufig nutzt, erweitern wird. Fällt der Gesamteindruck des Gegenübers weg, fängt man an, verstärkt auf einzelne Aspekte zu achten, wie die Stimme oder den Augenausdruck, oder auch die geschriebenen Worte, die im Digitalen wieder eine wichtigere Bedeutung bekommen. Ich persönlich bevorzuge eine physische Begegnung immer gegenüber einer digitalen. Für meine Arbeit als Psychoanalytikerin ist die Wahrnehmung des gesamten Körpers des Gegenübers allerdings auch besonders wichtig. +Ich habe gehört, dass manche Menschen mittlerweile von Zoom-Konferenzen träumen … +Ja, wirklich? Träumen Sie etwa davon? In meinem Alltag ist vor allem das Telefon wichtig. Ich habe bisher aber sehr selten davon geträumt zu telefonieren. + + +Welchen langfristigen Effekt, glauben Sie, wird diese Pandemie auf uns haben? +Schon jetzt haben wir anerkennen müssen, wie verletzlich wir sind. Die Pandemie zerstörtunsere Fantasie, dass moderne Medizin alles kann. Auch wenn wir gleichzeitig das Vertrauen in die Wissenschaft haben, dass sich ein Impfstoff findet. Perspektivisch denke ich, dass die Menschen in ihrem ganzen Verhalten vorsichtiger sein werden als vor der Pandemie. Ich glaube zum Beispiel, dass wir stärker als früher differenzieren werden: Wen nehme ich noch in den Arm? Mit wem möchte ich körperlich sein? +Welchen Einfluss hat dieser ständige Wechsel von Beschränkungen und Lockerungen auf unsere Psyche? +Das ist wie schlechte Erziehung. Als würden Eltern immer wieder was anderes sagen. Allgemein verunsichert dieses Wechselspiel. Viele Leute fangen dann an, individuelle Regelsysteme zu entwickeln. Ich glaube, dass bestimmte Gruppen davon stärker verunsichert werden als andere, wie zum Beispiel ältere Leute oder auch Menschen, die aufgrund geringer Sprachkenntnisse Schwierigkeiten haben, die sich ständig ändernden Informationen mitzubekommen. +In öffentlichen Verkehrsmitteln oder in Geschäften sehe ich immer noch Menschen, die den Mundschutz runtergezogen unter der Nase oder unter dem Kinn tragen. Fast immer sind das Männer. Ist Verantwortungsbewusstsein eine Frage des Geschlechts? +Sich und andere zu schützen, das wird gesellschaftlich oft nicht als Aufgabe der Männer wahrgenommen. Das Tragen der Maske ist psychologisch für manche mit dem Eindruck von Schwäche verbunden. Ich denke da vor allem an die Männer, die die Überzeugung verinnerlicht haben "Ein echter Held kennt keine Schwäche" und im Umkehrschluss möglicherweise sogar die verachten, die Masken tragen. + + +Im Zusammenhang mit sogenannten "Corona-Partys" wurdedie Jugend in den letzten Monaten oft zum Sündenbock erklärt. Zu Recht? +Ich glaube, ja! Weil Unvorsichtigkeit und Übermut – "Mir wird schon nichts passieren" – ein Stück weit zum Jungsein dazugehören. Und die Jugend ist ja auch tatsächlich weniger anfällig für gravierende Krankheitsverläufe. Zur Pubertät gehört es dazu, Regeln brechen zu wollen. Das ist normalerweise gut so. Wenn die Jugend immer so vorsichtig wäre, würden wir heute noch auf den Bäumen sitzen. Natürlich ist es nicht in Ordnung, wenn sie durch ihr Verhalten andere, die zur Risikogruppe gehören, gefährdet. +Wie blicken Sie auf die nächsten Monate? Mit Sorge oder mit Zuversicht? +Ich blicke mit einer gewissen Sorge auf die Zukunft: Was passiert, wenn der Impfstoff endlich da ist, aber eben nicht in ausreichender Menge, um alle Menschen auf einmal zu impfen?Wer hat Vorrang, wer verzichtet zunächst auf die Impfung?Daneben habe ich Zuversicht: Ich glaube, dass in den kommenden Monaten die Kreativität der Gesellschaft weiterhin gefragt sein wird. Kreativität bedeutet, aus der Not eine Tugend zu machen, sonst könnte man gleich die ganze Zeit depressiv dasitzen und denken "Alles ist ganz furchtbar". Auch wenn eine Situation schrecklich ist, gibt es tief in uns Menschen den Wunsch, etwas zu leben oder zu erleben. Selbst im Krieg, als die Bomben gefallen sind, haben sich die Leute gefragt: Was kann das Leben jetzt ein bisschen schöner machen? Es ist doch so: Der Mensch ist ein lösungsorientiertes Wesen. Sonst hätte er die vergangenen Jahrhunderte nicht überlebt. +Angelika Kallwass, 72, ist Psychoanalytikerin und moderierte lange eine Psychologie-Sendung auf Sat.1 diff --git a/fluter/corona-schule-abschluss-protokoll.txt b/fluter/corona-schule-abschluss-protokoll.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..55a5aaa06a4746dc2df3f35f83740e87313878d0 --- /dev/null +++ b/fluter/corona-schule-abschluss-protokoll.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Als es im Februar 2020 die ersten Corona-Fälle in Bayern gab, wirkte das alles noch weit weg. Aber dann gab es bald auch Infizierte in Rheinland-Pfalz. Als einer in einem benachbarten Gymnasium gemeldet wurde, hat man alle nach Hause geschickt, die Kontakt zu der Person gehabt hatten. Da dachte ich noch: "Wie cool, die müssen heute nicht in den Nachmittagsunterricht." Ende März, kurz vor den Osterferien, hat die ganze Schule geschlossen – und blieb es nach den Ferien erst einmal. Alle waren verunsichert, und niemand wusste, wie es weitergeht. +Happy Corona-Birthday: In der Pandemie erwachsen zu werden, ist eine eher einsame Sache +DerDistanzunterricht, der nach den Osterferien einsetzte, war am Anfang total chaotisch: Manche Lehrer*innen haben Aufgaben per Mail geschickt, manche gar nichts, manche haben eine Videokonferenz gemacht, bei einigen musste man etwas Schriftliches abgeben, bei anderen nicht. Wir mussten uns jeweils anpassen, bis es nach den Sommerferien mit einer Onlineplattform einheitlicher wurde und wir in den meisten Kursen Videokonferenzen hatten. Der persönliche Austausch hat mir gefehlt, und diejenigen, die in der Schule schon immer ruhig waren, wurden online noch unsichtbarer. Insgesamt war es ziemlich still in den Videokonferenzen. Es gab in den sozialen Netzwerken ein Meme darüber, dass Lehrer*innen früher immer gesagt haben: "Seid ruhig!", und in der Videokonferenz plötzlich: "Hallo, ist jemand da?" Anfangs war ich etwas überfordert: Plötzlich hatte ich keine Routine mehr, musste mir meine Zeit selbst einteilen, habe Sachen aufgeschoben und bin unter Druck geraten. Ich habe dann angefangen, morgens zu einer festen Zeit aufzustehen, die Aufgaben abzuarbeiten, feste Pausen zu machen. Ab dem Sommer hatte ich mich ganz gut eingependelt. +Von meiner Familie hatte ich in diesen Monaten immer einen guten Rückhalt. Ich weiß aber, dass das bei vielen anders war. Manche wurden von ihren Eltern auch viel mehr in den Haushalt eingebunden als sonst, weil die dachten: "Jetzt sind sie ja eh daheim!" Dabei war es gar nicht so, dass wir im Homeschooling weniger zu tun hatten – teilweise haben wir sogar mehr Aufgaben bekommen, als wir in der Schule in der Zeit geschafft hätten. +Im Distanzunterricht ist der persönliche Kontakt zu vielen Mitschüler*innen verloren gegangen. Mir wurde in der Zeit bewusst, wen ich wirklich vermisse. Bei diesen Personen habe ich mich gezielt gemeldet. Es wurde schnell deutlich, welche Leute die Initiative ergreifen und von wem gar nichts mehr kommt. Dieechten Freund*innenhaben sich herauskristallisiert. +Weil jede Klasse und jeder Kurs die Schule vor den Sommerferien noch mal gesehen haben sollte, wurde wenige Wochen vor Ferienbeginn das Konzept für den Wechselunterricht erarbeitet: Es gab Gruppe A mit den Nachnamen von A bis K und Gruppe B mit den Nachnamen von L bis Z, die jeweils jeden zweiten Tag in die Schule gegangen sind. Anfangs war es seltsam dort, so leer, nur eine Person pro Tisch, alle Tische ganz weit auseinander. Die Stimmung war bedrückt. In meinem Bio-Kurs waren wir nur noch zu dritt, das war kurios. Aber irgendwann wurde der Wechselunterricht so normal, dass ich mir gar nicht mehr vorstellen konnte, jeden Tag in die Schule zu gehen. Und wir mussten sowieso auch später noch mehrmals einige Wochen komplett in den Distanzunterricht. Durch die Aufteilung in Gruppen wurden meine engste Freundin und ich voneinander getrennt. Wir haben uns plötzlich so gut wie gar nicht mehr gesehen. Nur wenn Kursarbeiten geschrieben wurden, konnten wir uns aus der Ferne mal zuwinken. Sie hat mir sehr gefehlt. +Ich habe Verständnis dafür, dass die Politiker*innen Entscheidungen getroffen haben, die nicht ideal waren, die Situation war für alle neu. Aber es wäre schön gewesen, mal die eigene Meinung sagen zu können. Für den Wechselunterricht zum Beispiel gab es mindestens zwei Modelle: Entweder geht man in Gruppen alle zwei Tage in die Schule oder jeweils eine Woche. Wir wurden aber gar nicht gefragt, was uns lieber wäre. Ich hatte manchmal den Eindruck, dass man es sich zu leicht gemacht und dadurch viele Schüler*innen übersehen und vergessen hat. Die Schulen wurden einfach geschlossen, ohne zu überlegen, ob es auch einen anderen Weg gegeben hätte. Wir älteren Schüler*innen konnten selbstständig arbeiten, aber für die Kleineren war das wahnsinnig schwierig. Ich finde es gut, dass wenigstens Notbetreuung angeboten wurde, teils haben auch ältere Schüler*innen Nachhilfe für jüngere gegeben. Nach einiger Zeit konnte man sichan unserer Schule iPads ausleihen. Bis dahin mussten manche übers Handy am Unterricht teilnehmen – falls sie überhaupt eins hatten. Man hat in der Pandemie gemerkt, dass die Entscheidungen teils von Politiker*innen getroffen wurden, die seit Jahren in keiner Schule mehr waren und gar nicht wissen, wie es da aussieht. Die Schulen und das Bildungsministerium sollten in Zukunft mehr mit den Schüler*innen ins Gespräch kommen. +Ich bin oft spazieren gegangen, habe viel gelesen und nachgedacht und mich dadurch besser kennengelernt. Zum Beispiel habe ich gemerkt, dass ich ganz gut alleine klarkomme und dass mir Zeit für mich guttut, mir der soziale Kontakt zu anderen aber sehr wichtig ist. Ich glaube, der Prozess, der sonst nach dem Abi anfängt, dass man plötzlich viel alleine ist und über sich selbst nachdenkt, ist durch die Pandemie nach vorne gerückt. +Abi-Kleid? Check! Feierlaune? Hielt sich in Grenzen +Das Lernen fürs Abitur war, glaube ich, gar nicht so viel anders, als es ohne Corona gewesen wäre – aber genau weiß ich es natürlich nicht, immerhin war das ja mein erstes Abitur. Bei den Prüfungen durfte man immerhin die Maske abnehmen, das wäre sonst echt anstrengend gewesen. Ich hatte mich schon lange auf die Abi-Feierlichkeiten gefreut, aber wegen Corona hatten wir keinen Abi-Streich, keine Mottotage, keinen Ball. Auch die Kursfahrt in der zwölften Klasse wurde uns genommen. Am 26. März hatten wir eine akademische Feier, bei der wir das Abiturzeugnis erhalten haben. Da konnte ich mein Abi-Kleid anziehen, und es war schön, nach so langer Zeit alle Mitschüler*innen wiederzusehen. Trotzdem war die Stimmung eher gedrückt. Wir haben von den Klassenräumen aus einen Livestream aus der Aula angeschaut, wo die Zeugnisse vergeben wurden, und die Stammkurse wurden nacheinander aufgerufen, sodass wir uns nicht begegnen konnten. Danach haben wir auf dem Schulhof Luftballons steigen lassen, und das war's. Feierlaune kam da nicht auf, und wenn alle die Maske aufhaben, kann man ja nicht mal ein Lächeln sehen. Ein richtiger Abschied von den Lehrer*innen und Mitschüler*innen fehlt mir sehr. +Ich möchte vor meinem Studienbeginn gerne noch ein bisschen reisen, am liebsten nach Indonesien – speziell Bali – oder Neuseeland, Hauptsache, ganz weit weg. Ich habe Europa bisher nämlich nur einmal verlassen. Erst mal verdiene ich jetzt aber ein bisschen Geld. Wegen der Pandemie ist es in meinem Gap Year vermutlich schwieriger als in anderen Jahren, einen guten festen Job zu finden. Ich habe bei einem Cateringservice angefangen und bin gespannt, wie lange Events stattfinden können. Nach dem Gap Year möchte ich Psychologie studieren. Ich befürchte, dass die Fallzahlen im Herbst wieder steigen und das nächste Wintersemester darum online startet. Auch deshalb habe ich entschieden, erst kommendes Jahr mit der Uni anzufangen. Denn in Onlinekursen wäre es viel schwieriger, Leute kennenzulernen. + diff --git a/fluter/corona-schule-zukunft-ideen.txt b/fluter/corona-schule-zukunft-ideen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cd3012d7f9a7dbaca405d8ae8eae42955f67e291 --- /dev/null +++ b/fluter/corona-schule-zukunft-ideen.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Den Umgang mit Internetquellen und Fake News zum Beispiel. Oder Angebote zur Selbstorganisation für die fünften und sechsten Klassen. Warum gibt es denn so etwas nicht? Klar, die Lehrkräfte wollen auch Ferien haben. Aber es könnten doch noch viel mehr Studierende als bisher schon für solche Angebote einspringen. Für diejenigen, die auf Lehramt studieren und wegen der Pandemie keine Praktika machen konnten, wäre es eine gute – und hoffentlich gut bezahlte – Übung. Ehrlich gesagt glaube ich, dass auch mehr Schülerinnen und Schüler teilnehmen würden, wenn nicht die altbekannten Lehrer die Nachhilfe geben. Es wäre also eine Win-win-Situation. Die Bereitschaft bei den Studierenden scheint auch da zu sein. Jedenfalls haben wir in den letzten Monaten zahlreiche Anfragen bekommen." +Dario Schramm war bis zu seinem Abitur in diesem Sommer Schüler einer Integrierten Gesamtschule in Bergisch Gladbach und ist Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz. + +Der Sonderpädagoge +"Ich bin an unserer Schule dafür zuständig, Kinder in Fördergruppen einzuteilen und auch Förderunterricht zu geben. Mit Beginn der zweiten Welle im vergangenen Herbst konnten wir aber wegen der Pandemie keine Ganztagsbetreuung mehr anbieten. Die Folgen sind gravierend. Zum einen stellen wir fest, dass in jeder Altersstufepsychische Erkrankungen stark zugenommen haben. Zum anderen bekomme ich nun gar nicht mehr bei allen Kindern mit, wie sie sich mit ihren individuellen Förderbedürfnissen entwickeln. +Dort, wo ich die Kinder vor den Sommerferien im Unterricht erlebt habe, sind mir sofort die Folgen desDistanzunterrichtsaufgefallen: Viele Erstklässler können sich kaum mehr länger als zwei, drei Schulstunden konzentrieren. In den höheren Klassen haben wir auch Fälle von Kindern, die während des Lockdowns spielsüchtig geworden sind. Ich schätze, dass in der Pandemie mindestens zwei bis drei Kinder pro Klasse komplett den Anschluss verloren haben. +Dazu kommen die, die vorher schon nicht mitgekommen sind. Für diese Kinder brauchen wir jetzt Raum für Beziehungsarbeit. Wir müssen dringend die sozialen Kompetenzen stärken. Dafür brauchen Kinder in erster Linie ein intaktes soziales Gefüge, die Begegnung mit Gleichaltrigen – und natürlich individuelle Unterstützung, wo das Verhalten auffällig ist. Damit wir jedem Kind gerecht werden können, müssen die Klassen kleiner werden – und die Teams multiprofessioneller. Bisher haben wir bis zu 25 Schülerinnen und Schüler in einer Klasse – und in der Regel ‚nur' einen Pädagogen. Das ist eigentlich okay, wenn aber drei oder vier aus der Klasse besondere Aufmerksamkeit benötigen, ist die Lerngruppe einfach zu groß. Gut wären maximal 15 Kinder in einer Klasse. Idealerweise gäbe es für jeden Jahrgang ein eigenes Team aus Sozialarbeitern, Integrationserziehern, Schulpsychologen und Sonderpädagogen. So könnten wir viele Kinder gut auffangen." +Manuel Honisch ist Sonderpädagoge an der Möwensee Grundschule in Berlin. + + +Die Gewerkschafterin +"2008 wurdeauf dem Dresdener Bildungsgipfelvon Bundeskanzlerin Angela Merkel und den Regierungschefs der Länder beschlossen, die Ausgaben für Bildung und Forschung auf zehn Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung zu heben. Doch auch 13 Jahre später sind wir davon noch Lichtjahre entfernt. Aktuell liegen die Bildungsausgaben bei nicht mal fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Welch gravierende Folgen die Sparmentalität vor allem für die benachteiligten Kinder und Jugendlichen hat, führt uns die Pandemie vor Augen. +Wer nicht von seiner Familie unterstützt wird, hat ein deutlich höheres Risiko, jetzt mit großen sozialen und fachlichen Lücken ins neue Schuljahr zu gehen. Daraus müssen wir lernen – und endlich mehr für die Chancengleichheit in diesem Land tun. Auch wenn das sehr viel Geld kosten wird. Um nur ein Beispiel zu nennen: Für den Ausbau der Ganztagsbetreuung an Grundschulen müssen laut Deutschem Jugendinstitut zwischen 2020 und 2025 5,3 Milliarden Euro in Räume und Ausstattung fließen. +Allein die jährlichen Betriebskosten für die zusätzlichen Plätze werden ab 2025 auf 3,2 Milliarden Euro geschätzt. Aktuell streiten Bund und Länder wieder mal darüber, wer diese Kosten tragen soll. So aber kommen wir nicht weiter. Für ein reiches Land wie Deutschland ist das ein Armutszeugnis. Ähnlich wichtig wie ein Ganztagsplatz für jedes Grundschulkind wäre, dass für jedes Kind auch tatsächlich ein Kitaplatz bereitsteht, dass jedes Schulkind ein digitales Endgerät erhält und dass der Staat ausreichend Lehrkräfte ausbildet, um guten Unterricht gewährleisten zu können. Natürlich lässt sich das nicht von heute auf morgen umsetzen. Die vergangenen 15 Monate aber haben gezeigt, wie dringend wir handeln müssen." +Maike Finnern ist Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Sie war zuvor als Lehrerin für Deutsch und Mathematik zweite Konrektorin einer Realschule in Nordrhein-Westfalen. + + +Der Wissenschaftler +"Aus der Forschung wissen wir, dass die Schulschließungen Schülerinnen und Schüler ausbenachteiligten Familienbesonders stark zurückgeworfen und belastet haben. Ausschließlich mit Nachhilfe oder Ferienschulen anzusetzen, um diese Gruppe für das kommende Schuljahr fit zu machen, wird nicht ausreichen. Unsere Daten zeigen, dass ausgerechnet die Zielgruppe – die abgehängten Schülerinnen und Schüler – solche Lernangebote oft nicht wahrnimmt. +Die Politik muss also auf andere Instrumente zurückgreifen, um diese Jugendlichen zu erreichen. Sehr vielversprechend sind nach meiner Ansicht Mentoring-Programme. Wir haben beim ifo Zentrum für Bildungsökonomik das ProgrammROCK YOUR LIFEbegleitet, bei dem Studierende benachteiligte Acht- und Neuntklässler für ein Jahr begleiten und Ansprechpartner für alles sind: für Schulleistungen, Freizeitaktivitäten, Zukunftsfragen. +Es geht also nicht um Nachhilfe, sondern um eine dauerhafte Unterstützung, die die Jugendlichen zu Hause nicht bekommen. Wie positiv sich dieses Mentoring auswirkt, haben wir systematisch ausgewertet. Nach einem Jahr waren die Schulleistungen der Teilnehmenden besser, sie konnten mehr soziale Kompetenzen wie Geduld vorweisen und hatten auch eine klarere Vorstellung davon, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen. Als Ergänzung zur Schule hat das Mentoring also das geleistet, was die Schule erreichen will: junge Menschen zum eigenverantwortlichen Lernen zu befähigen. Ich bin überzeugt, dass wir viel mehr solcher Angebote brauchen. Denn wir dürfen nicht vergessen: Die abgehängten Jugendlichen gibt es nicht erst seit Corona. Und es wird sie auch noch geben, wenn die Pandemie eines Tages vorüber ist." +Ludger Wößmann leitet das ifo Zentrum für Bildungsökonomik in München. + +Collagen: Renke Brandt diff --git a/fluter/corona-ungleichheit-klassengesellschaft.txt b/fluter/corona-ungleichheit-klassengesellschaft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..031b765de46bb0ca4e94396a199da66a9257b942 --- /dev/null +++ b/fluter/corona-ungleichheit-klassengesellschaft.txt @@ -0,0 +1,39 @@ +Wir haben drei Menschen getroffen, die sichin der Corona-Krisenicht nur um ihre Gesundheit sorgen. + + +Für Celly heißt mehr Zeit zu Hause nicht mehr Zeit für Bananenbrot, Netflix oder Yoga. Sie kümmert sich um ihre kleine Schwester und muss mit dem Hund raus. Und die Schule geht ja auch weiter + +Als Celly ihre kleine Schwester in die Kita bringen möchte, steht sie vor verschlossenen Türen. Über Nacht hat die Kita geschlossen. Eltern stehen vor der Tür Schlange, ihre Kinder an den Händen. Aber nichts zu machen. Celly, 15, sei dann stattdessen mit ihrer Schwester einkaufen gegangen, erinnert sie sich auf einem Spaziergang um ihren Wohnblock in Berlin-Hellersdorf. +Die Sonne scheint, rund um die großen Wohnkomplexe ist es grün. Celly denkt an den ersten Tag einer Quarantäne, die wie so viele Familien auch ihre vor Probleme stellt. Wer kümmert sich um die Kleinen, wenn die Eltern arbeiten müssen? Wie können die Kinder weiter am Schulunterricht teilnehmen?Wie kommen wir mit dem Kurzarbeitergeld über den Monat?Wer geht einkaufen, wenn ein Teil der Familie zur Risikogruppe gehört? +Die langen Haare liegen Celly wie ein brauner Fächer über der Schulter. Sie geht in die neunte Klasse, der Unterricht kann an ihrer Gemeinschaftsschule derzeit nur online stattfinden. Celly bekommt ihre Hausaufgaben zugeschickt. "Heute gab es wieder Nachschub." Sie zeigt auf ihrem Smartphone die Aufgaben für den Biologieunterricht. Die Lehrerin hat ein YouTube-Video rumgeschickt, zu dem Fragen beantwortet werden sollen. Manchmal versteht Celly ein Wort nicht, erzählt sie, und googelt es dann eben. Nur in ihrem Lieblingsfach Deutsch habe sie seit der Schließung keine Aufgaben bekommen. Warum, weiß sie nicht. +In der WhatsApp-Gruppe ihrer Klasse geht das Gerücht um, dass die Schule bis zu den Sommerferien geschlossen bleibt. "Ich vermisse alle", sagt Celly +Laut einerStudie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung(DIW) haben mehr als 96 Prozent der befragten Schüler*innen zu Hause Zugang zum Internet,88 Prozent zu einem PC oder Laptop. Mit diesen Zahlen ist aber nicht gesagt, ob die Schüler*innen während der Corona-Wochen genug Platz und Konzentration finden – oder Eltern, die sie unterstützen und motivieren können, die für gesunde Ernährung, Bewegung und Abwechslung sorgen. Celly kümmert sich neben der Schule um ihre kleine Schwester, damit ihre Eltern arbeiten können. Trotzdem fällt es ihr nicht schwer, allein zu lernen. +So gut verkraften nicht alle die Schulschließung. Celly erzählt von Mitschüler*innen, die zu schüchtern sind, um nach Hilfe zu fragen, die nicht lernen wollen oder können. Die Eltern von Ionut zum Beispiel müssen arbeiten und sprechen kaum Deutsch. Wenn sie außer Haus sind, passt Ionut auf seinen dreijährigen Bruder auf. Sollte er den Anschluss in der Schule verlieren, können seine Eltern ihm kaum helfen. Auch Hausaufgabenhilfe oder eine Betreuung für seinen Bruder fallen weg: Ionuts Eltern habengroße Angst vor dem Virus und nur wenig Möglichkeiten, sich in ihrer Muttersprache über die Risiken undAusgangsbeschränkungenzu informieren. Aus Angst vor einer Ansteckung wollen sie niemanden in der Wohnung – und verbieten Ionut, die Wohnung zu verlassen. +Die Corona-Krise drohe, bestehende Bildungsungleichheiten weiter zu verschärfen, warnen die Autor*innen der DIW-Studie. Leistungsschwächere Kinder und solche aus schwierigen Haushalten leiden besonders, weil die Ausgangsbeschränkungen sie auch aus Sportvereinen, Jugendzentren oder Bibliotheken fernhalten, wo andere einen Blick auf die Kinder haben können. "Ich gehör noch zu denen, die Glück gehabt haben", sagt Celly. + +Das Virus und ein Wirt: Jules Winnfield ist seit Wochen allein in seinem Restaurant +Gerade könnte alles besser laufen, aber Jules Winnfield ist zuversichtlich. Der hochgewachsene Mann, Mitte 30, steht vor seinem Restaurant in Berlin-Schöneberg und schaut die Straße runter. Seit dem 16. März ist das "Bonvivant" geschlossen, die Küche zu, die Pfannen kalt, das Geschirr gespült. Winnfield begrüßt keine Gäste und nimmt keine Lieferungen an. Selbst dieMüllabfuhrhat er abbestellt. Alles auf null fahren. Das ist seine Strategie, um die Krise zu überstehen, erklärt Winnfield bei einem Spaziergang durch den Kiez. +Rund anderthalb Millionen Menschen in Deutschland arbeiten im Gaststättengewerbe. Die Krise trifft sie hart. Wenn die Restaurants nicht gerade Essen zum Mitnehmen anbieten können, bleibt ihnen nur die Schließung. Das Personal wird dann aus Not in Kurzarbeit geschickt. Darunter leiden besonders Servicekräfte,deren Lohn auch aus den Trinkgeldern besteht. + +Winnfield hat sich nach einem "Pulp Fiction"-Charakter benannt. Jetzt ist er in seinem persönlichen Tarantino-Film aufgewacht + + +Im Vorbeigehen deutet Winnfield auf einen Brotladen, in dem er immer für das Restaurant bestellt hat, vor der Krise. Das "Bonvivant" ist nur ein Dominostein in einer langen Kette: Setzt ein Stein aus, funktioniert die Kette nicht mehr. So trifft die Krise nicht nur Winnfield und sein Restaurant, sondern auch die Bauernhöfe oder Groß- und Feinkostmärkte in der Umgebung, denen er sonst Ware abnimmt. +"Ich glaube nicht an den Nachholeffekt", sagt Winnfield. Selbst wenn er bald wieder öffnen darf, den Verlust der vergangenen Monate werde er kaum aufholen können. Mehr als einen Abend in der Woche gehen die wenigsten aus. +Seit dem Ausbruch der Krise beginnt jeder seiner Tage mit einem Blick auf das Handy. Gibt es neue Bestimmungen, die Winnfields Situation bessern? Er steht im ständigen Austausch mit anderen Gastronom*innen, es gibt Gerüchte über weitere staatliche Hilfeleistungen. Winnfields Situation ist anders als die seiner Kolleg*innen, das "Bonvivant"passt in kein Hilfsprogramm: Für den Corona-Zuschuss kann er sich nicht bewerben, weil er mehr als zehn Angestellte hat; für die Rettungsbeihilfe nicht, weil sein Restaurant erst knapp ein Jahr existiert und nicht genügend Jahresbilanzen vorweisen kann. +Wenn Winnfields Vermieter ihm mit der Miete entgegenkommt, werde er noch einige Monate überstehen können, ohne bankrottzugehen, schätzt er. Aber leicht werde es nicht. "Wenn das alles hier vorbei ist", scherzt er, "findet ihr mich auf den Malediven." + + +Vielen geht die Krise unter die Haut. Aber anders, als es sich Julia Kostić wünscht: Die Tätowiererin hat seit Wochen keine Kundschaft + +Bislang gab es keinen Tag, an dem Julia Kostić aufwacht, ohne darüber nachzudenken, wie sie ihre Miete zahlen soll. Oder ihre Mahlzeiten. Oder ihre Arbeitsmaterialien. Die 24-jährige Tätowiererin hat seit dem Ausbruch der Krise nicht eine Kundin gehabt. Kostić weiß nicht, wie es weitergehen soll. +Vor acht Monaten ist sie aus ihrer HeimatstadtBelgradnach Berlin gezogen, um in einem Studio zu lernen. Die Hauptstadt gilt alsMittelpunkt der Tattooszene, viele Tourist*innen kommen in die Stadt und verlassen sie mit einem Andenken. Kostić' Kund*innen kommen über Instagram. Dort zeigt sie ihren Stil und vereinbart Termine mit Interessierten, die fast alle aus dem Ausland kommen. Für Kostić gilt:keine Touris, keine Aufträge. +Kurz nachdem ihr Praktikumsvertrag im Studio auslief, begann die Krise. Seitdem wartet Kostić, dass etwas passiert. "Ich glaube, wir leben gerade in einem Film", sagt sie und streicht sich über den Arm. Der schwarze Schriftzug "Void" ist noch leicht gerötet. "Ein Quarantäne-Tattoo", sagt Kostić lachend. Void bedeutet soviel wie Leere oder Nichts. +Mit der Krise sanken Kostić' Einkünfte von etwa 1.200 Euro im Monat auf null. Zeitgleich stiegen ihre Lebenshaltungskosten, weil sie mit einer Freundin in eine neue Wohnung gezogen ist. Selbst wenn Kostić wollte, könnte sie gerade nicht zurück nach Belgrad: Die serbische Regierung hat dieGrenzen geschlossen. "Jetzt einfach das Land zu verlassen und zu meinen Eltern zu ziehen wäre auch zu einfach." + +Hier lässt sich's leben. Aber wie lange, ohne Einkünfte und Corona-Hilfe? + + +Kostić ist bemüht, den widrigen Umständen etwas Positives abzugewinnen. Aber ohne Einkünfte aus ihrem eigentlichen Beruf muss sie sich schnell Alternativen überlegen. Sie hat sich mittlerweile auf Plattformen wie Fiverr angemeldet,wo Kreative ihre Dienstleistungen anbieten, und versucht, ihre Tattoodesigns auf T-Shirts zu drucken. +Für die5.000 Euro Soforthilfeder Investitionsbank Berlin kann sich Kostić nicht bewerben: Ihr Gewerbe ist noch nicht in Berlin gemeldet. Aber: "Ich bin zuversichtlich, dass das Geld für alle reichen wird", sagt Kostić entspannt. Entgegen den Aussagen des Berliner Senats wurde die Corona-Hilfe des Landes kurz spätereingestellt. Für Kostić ist es unmöglich geworden, sich während der Kontaktsperre Hilfe zu sichern. Sie lebt seit Wochen von ihrem Ersparten. +Noch immer schreiben ihr über Instagram Leute, die sich trotz der Kontaktsperre tätowieren lassen wollen. Kostić erklärt geduldig, warum das nicht geht, und versucht, die Interessierten auf einen Termin nach der Krise zu vertrösten. Wann der sein wird, weiß keiner. diff --git a/fluter/corona-verschwoerungstheorien.txt b/fluter/corona-verschwoerungstheorien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..50ed7e7451ac0a24f3a1e9f113f143e12d92dfe2 --- /dev/null +++ b/fluter/corona-verschwoerungstheorien.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Nichts. Tatsächlich schadet das Coronavirus dem Kapitalismus. Kurz nachdem die Weltgesundheitsorganisation vor dem Pandemiepotenzial des Virus gewarnt hatte, stürzten weltweit die Aktienkurse ein, auch der Ölpreis brach ein. Den Volkswirtschaften vieler Länder steht die größte Rezession seit derFinanzkrise 2008bevor, sagen Ökonomen. Zwar sind durch die Hamsterkäufe bestimmte Produkte zwischenzeitlich um ein Vielfaches mehr verkauft worden als sonst: Desinfektionsmittel, Seife, Mehl und Klopapier beispielsweise. Andere Produkte wie Bier hingegen verkaufen sich weniger als vor der Krise. Hinzu kommt, dass in vielen Ländern vorübergehend Läden und Fabriken schließen mussten, was die Unternehmen Einnahmen und den Staat Steuern kostet. In Deutschland könnte das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um bis zu 8,7 Prozent schrumpfen, schätzt das Institut für Weltwirtschaft in Kiel in einem Lockdown-Szenario bis Ende Juli. Das ist schlecht für die Wirtschaft – und schlecht für die Regierung. Weshalb auch Theorie Nummer zwei ziemlich abwegig ist. + +Ende März in einer privaten Facebook-Gruppe. 73.991 Mitglieder sind hier versammelt. Ein User postet eine ganze Liste mit angeblichen Vorteilen, die das Coronavirus für Regierungen mit sich bringe: Unter anderem ließe sich die Polizeipräsenz verstärken, die Bürgerrechte einschränken oder ganz abschaffen, selbst die Verpflanzung von Chips könne nun – unter dem Vorwand der Virusbekämpfung – vorgenommen werden. +Was ist dran? +Die Theorie, dass Corona zu diesem Zweck erfunden worden sei, ist natürlich Unsinn. Corona verbreitet sich global, und vielen aktuell Machthabenden – besonders jene, die die Krise nicht in den Griff bekommen – scheint das Virus eher zu schaden. Manche der Effekte jedoch (die Chip-Verpflanzung mal ausgenommen) sind durchaus ernst zu nehmen:In Ungarn zum Beispielhat sich am 30. März das Parlament selbst entmachtet und dem Ministerpräsidenten Viktor Orbán das Recht eingeräumt, zeitlich unbefristet per Dekret zu regieren. Das System hat dadurch deutlich autoritäre Züge angenommen. Fakt ist:Auch in Deutschland sind Grundrechte derzeit stark eingeschränkt,etwa die Versammlungsfreiheit oder die Freizügigkeit. Solange sie nicht willkürlich ausgesetzt sind, sondern mit gutem Grund und zeitlich begrenzt, so wie jetzt, entspricht das aber unserer Verfassung. +In Demokratien ist es üblich, dass Rechte gegeneinander aufgewogen werden. Zum Beispiel: Privatsphäre gegen Sicherheit. Tracing-Apps sollen nachzeichnen, wie sich das Coronavirus verbreitet, Infektionsherde schneller erkennen und betroffene Personen warnen. In Österreich wird daher diskutiert, Bürger*nnen zur Nutzung der App "Stopp Corona" zu verpflichten. Und in Deutschland wird debattiert, wie die Einführung einer freiwilligen Tracing-App so gestaltet werden kann, dass persönliche Daten sicher sind oder im besten Fall gar nicht erst erhoben werden. Einen so weitreichenden Eingriff des Staates in die Privatsphäre seiner Bürger*nnen sieht der Datenschutzbeauftragte der Bundesregierung jedoch kritisch. + +In demselben Facebook-Post finden sich auch weniger begründete Unterstellungen. Etwa: Es gebe gar kein Coronavirus. In Wahrheit seien die Kranken und Toten Opfer der5G-Handystrahlen.Corona sei eine Erfindung, um davon abzulenken. +Was ist dran? +Nichts. Was stimmt: Zunächst versuchte die chinesische Regierung, Informationen über die Verbreitung des Virus gezielt zu unterdrücken. Diese Strategie gab sie aber schnell auf, als sich der Protest gegen die Zensur verstärkte. Auch die Wissenschaft bemüht sich um Transparenz: Nur Tage nachdem die chinesische Regierung Anfang Januar offiziell die Existenz des neuen Coronavirus SARS-CoV-2 bestätigte, teilten Virolog*nnen Informationen über das Erbgut auf der Plattform virological.org. Schnell war erwiesen: Das Virus hat große Ähnlichkeit mit dem Erreger der Lungenkrankheit SARS, der im Jahr 2002 auch in China entdeckt wurde und damals fast 800 Menschen das Leben gekostet hat. Nicht abschließend geklärt ist hingegen, wie sich das Virus auf den Menschen übertragen hat. Als mögliche Quelle gelten Fledermäuse und das Schuppentier. 5G-Handystrahlen spielen bei der ganzen Geschichte auf jeden Fall keine Rolle. Erstens weil sie im Gegensatz zu Viren nicht die DNA in menschlichen Zellen schädigen. Und zweitens weil sich das Virus auch dort verbreitet, wo es gar kein 5G-Netz gibt. + +Guatemala, 1946 bis 1948. Um das neue Antibiotikum Penicillin gegen verbreitete Geschlechtskrankheiten zu testen, stecken US-Forscher*nnen rund 1.300 Guatemaltek*nnen mit Syphilis und anderen Krankheiten an. Absichtlich und ohne deren Einverständnis. Das kam erst vor wenigen Jahren an die Öffentlichkeit. Vielleicht bezog sich der oberste Führer Irans, Ayatollah Chamenei, auf dieses Verbrechen, als er vor wenigen Tagen auf Twitter eine weit verbreitete Verschwörungstheorie für denkbar erklärte: nämlich dass US-Militärs das Virus als biologische Waffe gegen ihre Feinde einsetzten. "Die Erfahrung zeigt, dass man euch nicht trauen kann und dass ihr solche Sachen macht", schrieb Chamenei. Noch direkter wurde der Chef der iranischen Revolutionsgarden, Hussein Salami, als er sagte: "Es könnte sich um einen Angriff der USA mit biologischen Waffen handeln." +Was ist dran? +Nichts. Die USA und den Iran verbindet eine historische Feindschaft, und dementsprechend fällt auch die politische Propaganda aus: Der Feind hat immer Schuld – und wenn es sich um ein Virus handelt, das die eigene Regierung nicht im Griff hat. Da wundert es nicht, dass auch Russland und China die USA beschuldigen. Natürlich lässt sich die Gegenseite nicht lumpen: US-Präsident Donald Trump sprach bis vor kurzem gerne vom "chinesischen Virus". Immerhin scheint er das Virus mittlerweile ernst zu nehmen. Denn lange gehörte der US-Präsident zu jenen, die die folgende – und wohl gefährlichste – Theorie verbreitet haben. + +Griechenland, Mitte März. Der Lungenfacharzt Wolfgang Wodarg ist gerade live zugeschaltet zum Interview mit der rechtspopulistischen Website Wissensmanufaktur. Er wird angekündigt als wissenschaftliche Koryphäe und als "Gegenstimme" in all der "Panik". Was Wodarg dann verbreitet, hat auf YouTube bislang mehr als 2,5 Millionen Menschen erreicht: dass von dem neuen Coronavirus keine besondere Gefahr ausgehe. Coronaviren, so Wodarg, kursierten schon lange in der Bevölkerung und seien deshalb während Grippesaisons schon immer für zahlreiche Todesfälle mitverantwortlich. Man habe bislang nur nie darauf getestet. Dass es durch das neue Coronavirus zu mehr Todesfällen als sonst kommt, bestreitet Wodarg. +Was ist dran? +Coronaviren sind längst in Deutschland verbreitet und können ähnlich der Grippe Erkältungen auslösen. Das ist so bei vier der sieben bislang bekannten Coronaviren, die Menschen befallen können. Was nicht stimmt: dass sie alle gleich gefährlich seien. Denn die anderen drei Coronaviren – MERS, SARS und eben das neue SARS-CoV-2 – führen zu schweren Atemwegsinfektionen. Und: Sie waren dem Menschen zuvor nicht bekannt. Folglich konnte bei seiner Entdeckung niemand dagegen immun sein. Das wiederum bedeutet: Das Coronavirus breitet sich rasant länderübergreifend aus, man spricht von einer Pandemie. Und die führt zu den Bildern, die wir derzeit aus Italien, Spanien oder den USA kennen. Zu mehreren Hundert Toten am Tag und Gesundheitssystemen, die nicht alle Patient*nnen gleichzeitig versorgen können. Zwar lässt sich noch nicht vorhersagen, wie viele Menschen an Corona sterben werden (und damit die andere zentrale Behauptung Wodargs noch nicht widerlegen). Unumstritten ist jedoch: Je weniger man die Ausbreitung verlangsamt, desto mehr Menschen werden sterben. Mehrere Faktenchecks (zum Beispielhier,hierundhier) sowie zahlreiche Wissenschaftler*nnen bezeichneten Wodargs Äußerungen entsprechend als wenig wissenschaftlich. + +München, Mitte März. Der höchste religiöse Würdenträger der russisch-orthodoxen Kirche in Deutschland, Metropolit Mark, verschickt ein Schreiben an die Mitglieder seiner Gemeinde. Darin heißt es: "Lasst uns in der heutigen Heimsuchung Gottes zuallererst die göttliche Gerechtigkeit anerkennen, die uns eine Belehrung für unsere Sünden auferlegt" Er ist überzeugt: Das Coronavirus ist die Rache Gottes für frevelhafte Eingriffe in die göttliche Schöpfung. Dazu zählen aus seiner Sicht: die Sterbehilfe,die Gleichstellung von Mann und Frau,gentechnisch veränderte Lebensmittel. Einziges Mittel, der Strafe Corona zu entgehen? Beten. +Was ist dran? +Das ist natürlich eine Frage des Glaubens – aber auch eine sehr politische. Die griechisch-orthodoxe Kirche ignorierte die Versammlungseinschränkungen lange mit dem Hinweis, Kirchenmitglieder könnten sich beim Gottesdienst sicherlich nicht mit Corona infizieren. Umgekehrt zögern manche Politiker mit besonders gläubigen Anhängern – etwa der indische Premier Modi oder die iranischen Mullahs –, religiöse Rechte strikt einzuschränken. Mittlerweile sind weltweit aber viele religiöse Stätten geschlossen, darunter die drei wichtigsten islamischen Heiligtümer. Juden in Jerusalem sind aufgerufen, die Klagemauer nicht mehr zu küssen. Und Papst Franziskus nimmt das Coronavirus gar zum Anlass, alle Kriegsparteien zur sofortigen Waffenruhe aufzurufen. Man sieht also, auch wenn Würdenträger Metropolit Mark es anders sieht: Als gläubiger Mensch kann man im Kampf gegen Corona durchaus mehr tun als nur beten. diff --git a/fluter/corona-wahrnehmung-sterben-tod.txt b/fluter/corona-wahrnehmung-sterben-tod.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..70dc1d8c81b5e6fe4030aafbfc2abe6c4e590f14 --- /dev/null +++ b/fluter/corona-wahrnehmung-sterben-tod.txt @@ -0,0 +1,40 @@ +– Oberarzt Dr. Sven Laudi ist verantwortlich für die Covid-19-Intensivstation des Uniklinikums Leipzig + +"Die erste Welle hat uns in Sachsen relativ wenig betroffen. Im März und April 2020 hatten wir 15 bis 20 Patienten mit einer Covid-19-Infektion auf der Intensivstation. Im Sommer gab es vier Monate lang nicht einen einzigen Corona-Fall – bis zum 30. September 2020. Eine solche Dichte an Patienten mit derselben Erkrankung haben wir so noch nie erlebt. Stand jetzt wurden während der zweiten Welle 330 Covid-19-Fälle auf der Intensivstation behandelt, in der Spitze zwischen Weihnachten und Neujahr waren es 41 gleichzeitig. An die häufig befürchtete Überlastungsgrenze sind wir glücklicherweise nicht gestoßen – dem Einsatzwillen meines Teams, der Aufstockung während der ersten Welle und der Absprache mit anderen Krankenhäusern sei Dank. Gleichzeitig ist es bei uns lauter, hektischer und anstrengender als sonst. +Die Letalität(Anm. d. Red.: Fachbegriff für die Wahrscheinlichkeit, an einer Krankheit zu sterben)der Intensivpatienten mit Covid-19 liegt bei 40 bis 50 Prozent, ein extrem hoher Wert. Das Sterben hat sich während der Pandemie verändert, weil die meisten Patienten dabei alleine sind. Inzwischen haben wir Maßnahmen ergriffen, damit Angehörige in Ausnahmefällen zu Besuch kommen können. Für viele ist das sehr wichtig. Umso schlimmer, dass das aufgrund der Sicherheitsvorkehrungen oft nicht möglich ist. Einen ruhigen und angenehmen Abschied können wir aber selbst denen nicht bieten, die auf die Station kommen dürfen. Sondern – wenn überhaupt – lediglich die Anwesenheit inmitten eines auf Hochleistung laufenden Betriebes. +Bislang hält unser Team dem Druck sehr gut stand. Der Tod gehört zu unserem Job – und auch wieder nicht: Wenn ein Mensch verstorben ist, ist unsere Aufgabe beendet. Meine Sicht auf das Sterben und den Tod hat sich nicht verändert.Corona-LeugnerundImpfgegnerkann ich nicht verstehen.Aber letztlich behandeln wir hier alle gleich. Auf einer Intensivstation spielt Glaube oder Unglaube keine Rolle. Hier geht es darum, zu überleben." +(7-Tage-Inzidenz in Leipzig: 154,9, 472 Todesfälle seit Pandemiebeginn, Stand 14. April 2021) + +Man könnte den Inzidenzwert auch Neuerkrankungsrate nennen: Er zeigt, wie viele Menschen über einen bestimmten Zeitraum hinweg neu erkrankt sind. Während der Corona-Pandemie wird meist über die 7-Tage-Inzidenz gesprochen. Sie gibt an, wie viele Menschen sich pro 100.000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen mit dem Corona-Virus angesteckt haben. (Wobei man natürlich nur Infektionen zählen kann, die festgestellt und bei Behörden gemeldet werden.) + +– Endira Avdic, Palliative-Care-Beauftragte einer Pflegeeinrichtung in München +"Bei einer Sterbebegleitung sind viele Menschen beteiligt. Meine Aufgabe ist es, sie zu vernetzen. Mitzuhelfen, dass unsere Bewohner*innen einen würdevollen Abschied bekommen und mit ihren Angehörigen die nötige Zeit haben, sich auf den Tod vorzubereiten. Als die erste Welle im März 2020 über uns hereinbrach, hatten wir diese Zeit plötzlich nicht mehr. +Früh wurden Bewohner*innen und Pflegekräfte positiv auf das Virus getestet, in den folgenden Tagen und Wochen wurden es immer mehr. Einige unserer Bewohner*innen machten am Vormittag noch ihren Gang über die Flure, lagen am Nachmittag mit Atembeschwerden im Bett und waren am nächsten Tag tot. Wir haben monatelang über der Belastungsgrenze gearbeitet, zeitweise war ich nur zum Schlafen zu Hause. Diese erste Welle hat uns schlichtweg überrollt. +Angst habe ich nicht vor dem Tod, sondern davor, einsam sterben zu müssen. Genau das ist in den ersten Monaten der Pandemie etlichen Menschen passiert. Immerhin haben die digitalen Medien geholfen, eine Verbindung zwischen den Sterbenden und ihren Angehörigen zu schaffen. Außerdem haben wir im Außenbereich zu Abschiedsritualen eingeladen, die Bewohner*innen bemalten Steine für die Toten und verteilten sie im Garten. Abschied nehmen hilft uns weiterzuleben. +Auf die zweite Welle waren wir nach diesen schlimmen Erfahrungen besser vorbereitet, jetzt, in der dritten Welle, hilft unsder Impfstoff.Das Virus ist noch da, aber es hat seinen Schrecken verloren. Mein Blick auf den Tod hat die Pandemie nicht verändert, ich begleite seit 27 Jahren Sterbende. Aber ich glaube, dass wir das Leben anders wahrnehmen.Wie wichtig soziale Kontakte sind,wie wertvoll etwas Einfaches wie eine Berührung sein kann, hat uns Covid-19 ziemlich eindringlich vor Augen geführt." +(Inzidenz München: 134,7, 1.136 Tote, Stand 13. April) + + + +– Michael Kriebel führt das "Flamarium", ein Krematorium mit Standorten in Halle (Saale) und in Kabelsketal (Saalekreis, Sachsen-Anhalt) +"Am Tag schaffen wir etwa 100 Einäscherungen. Eine dauert im Schnitt 2,5 Stunden, unsere Öfen schaffen drei Einäscherungen gleichzeitig. Die Tore sind hermetisch abgeriegelt – damit sich die Asche nicht vermischt. +Jeder Verstorbene ist ein einzelnes Schicksal. Trotzdem muss ein Krematorium auch in Quadratmetern rechnen. Ein Sarg ist 2,10 Meter lang und 75 Zentimeter breit. Wir haben 500 Stellplätze. Macht 500-mal 1,575 Quadratmeter. Wir waren erst einmal überbelegt: Im Januar 2021 lagen 696 Verstorbene zeitgleich in Kühlung, da mussten 196 Särge draußen gelagert werden. Zum Glück war es kalt genug, sonst hätten wir mobile Kühleinheiten besorgen müssen. Zeitgleich lief ein TV-Beitrag über ein Krematorium in Meißen. Auf den Bildern sah man achtlos übereinandergestapelte Särge. Für die Angehörigen sind solche Bilder schlimm. Die denken sich: Ist das vielleicht Oma oder Opa, auf die die da zwei Särge draufgepackt haben? +Die zweite Welle hat uns voll erwischt. Im Januar gab es im Erzgebirgskreis eine Übersterblichkeit von 100 Prozent(Anm. d. Red.: Wie schwer die Pandemie ein Land trifft, zeigt auch die Übersterblichkeit. Sie liegt vor, wenn deutlich mehr Menschen sterben als in einem bestimmten Zeitraum üblich). 2018, während der Grippewelle, hatten wir im Januar und Februar 3.685 Tote. 2019 waren es 3.498. Dieses Jahr 4.504. Der Anteil der 80- bis 89-Jährigen ist um 30 Prozent gestiegen, das ist ausgerechnet die Bevölkerungsgruppe, die wir doch schützen wollten. +Angst vor einer Ansteckung habe ich nicht. Mit hochinfiziösen Krankheiten kennen wir uns aus,entsprechend hoch sind die Sicherheitsmaßnahmen. Angst habe ich vor einer dritten Welle. Ich denke, die Lockerungen kamen zu früh. Bald werden wir Infektionszahlen haben, die wir uns jetzt nicht mal vorstellen können. Allerdings nicht mehr Sterbefälle. Die Klientel, die jetzt verstorben ist, kann ja nicht noch mal sterben. +Es mag merkwürdig klingen bei diesen Zahlen, aber der Tod hat in meinem Leben leider keinen Bestand. Früher haben sich die Menschen persönlich um ihre Toten kümmern müssen. Heute macht das der Bestatter. Der Tod rückt immer weiter von uns weg. Selbst in Zeiten wie diesen." +(Inzidenz Halle/Saale): 212,3, 297 Tote, Stand 14. April) + + +– Peter Kuhlmann ist Theologe, Autor und Trauerredner aus dem niedersächsischen Celle +"Bei meinem Kontakt mit dem Tod geht es oft um das Leben. Eine gute Trauerrede ist für mich eine Form der Lebensbilanz. Dieser Rückblick auf die Jahrzehnte geht zwar meist nicht länger als eine halbe Stunde, ist aber ganz wichtig im Trauerprozess. Die Angehörigen möchten natürlich, dass der Verstorbene positiv dargestellt wird, es dient aber auch der Vermittlung zwischen denen, die bleiben, und der Person, die gegangen ist. Wie oft habe ich das schon gehört: Ich wusste ja gar nicht, dass Oma/Opa das gemacht hat. Der Tod ist eine Leerstelle. Über das Leben zu sprechen kann sie füllen. +Ich möchte helfen, dass der Verstorbene einen schönen Abschied bekommt. Mich persönlich berührt der Tod dabei nicht. Viel mehr die, die zurückbleiben. Durch die Pandemie ist der Tod auch für sie einsamer geworden. Wenn Menschen nicht richtig Abschied nehmen können, soziale Kontakte sie nicht in ihrer Trauer begleiten oder ablenken können, ist das schlimm. Bei einer Beerdigung habe ich eine junge Frau beobachtet, die zunächst versucht hat, eineinhalb Meter Abstand zu ihrer trauernden Mutter einzuhalten. Irgendwann konnte sie aber nicht mehr anders, als rüberzurutschen und sie in den Arm zu nehmen. Ich konnte sie sehr gut verstehen. Gleichzeitig habendie strengen Regelnfür Trauerfeiern manchen auch Druck genommen, zum Beispiel in ihrer Trauer daran denken zu müssen, auch ja jeden Bekannten zur Beerdigung einzuladen. Derzeit sind die Runden zwangsläufig viel kleiner und dadurch intimer, das erleben viele als positiv. +Insgesamt empfinde ich die Stimmung als sehr bedrückend. Seit einem Jahr beschäftigen wir uns mehr mit dem Tod als mit dem Leben. Auf Dauer kann das kein Zustand sein." +(Inzidenz Celle: 111,2, 59 Tote, Stand 14. April) + + +– Friedhelm Bornemann, Bestatter aus Celle +"In unserer Statistik spielt das Coronavirus so gut wie keine Rolle. In all den Monaten haben wir zwei Menschen bestattet, die an den Folgen des Virus gestorben sind. +Allerdings hat sich die Trauerarbeit nachhaltig verändert. Die begrenzte Personenzahl bei Beerdigungen, die zu wahrende Distanz, der nicht mehr vorhandene Trauerkaffee. Ich hätte nicht gedacht, dass ich den Wert einer Umarmung noch mal so intensiv erfahre. Menschen sind soziale Wesen, gerade in der Trauerbewältigung suchen und brauchen wir Körperkontakt, Nähe, eine starke Schulter. Bei Bestattungen versuchen sich die Angehörigen gerade mit Gesten zu helfen, etwa einer angedeuteten Umarmung. Das ist natürlich nicht dasselbe. Nach der Beisetzung, wenn man persönlich zu den Angehörigen geht, um sein Beileid zu bekunden, bringen es viele nicht mehr übers Herz und kommen sich näher. Was wiederum für Befremdlichkeiten sorgen kann. Diese Ambivalenz macht die Abschiednahme noch schwieriger. +Ich vermisse vor allem den sogenannten Trauerkaffee im Anschluss an die Beisetzung. "Fell versaufen" hat man das früher mal genannt, wenn mit Bier und Korn auf den Verstorbenen angestoßen wurde. Heute reichen Kaffee und Kuchen, um zusammenzusitzen, auch mal zu lachen und die Trauer abzuschütteln. Diese Möglichkeit fehlt ungemein. Stattdessen versprechen sich viele, nach dem Ende der Pandemie noch mal ‚richtig' Abschied zu nehmen. +Ich hoffe, dass wir in der Zeit nach Corona noch bewusster miteinander umgehen. Dass wir soziale Kontakte oder so etwas anscheinend Unspektakuläres wie eine Umarmung zu schätzen wissen. Den Tod hat die Pandemie nicht verändert, der Tod ist immer gleich. Aber das Leben ist anders geworden." + diff --git a/fluter/craig-atkinson-do-not-resist-dokumentation-zur-militiarisierung-der-us-polizei.txt b/fluter/craig-atkinson-do-not-resist-dokumentation-zur-militiarisierung-der-us-polizei.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2cc2a758809e3d4a52c779e681e362fd50beaaaa --- /dev/null +++ b/fluter/craig-atkinson-do-not-resist-dokumentation-zur-militiarisierung-der-us-polizei.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Mit den unkommentierten Aufnahmen aus Ferguson beginnt der Dokumentarfilm "Do Not Resist" von Craig Atkinson. "Hattest du Spaß?", fragt einer der Polizisten eine Kollegin nach ihrem Einsatz. Ein Lachen als Antwort. "Man darf diesen Jungs nicht solche Spielzeuge geben", findet eine Anwohnerin. Denn wenn man diesen Jungs Waffen gibt, wollen sie meist Krieg spielen. +Wenn Polizisten zu Soldaten werden: Diese Spezialeinheit aus dem Richland County in South Carolina ist jetzt bestens auf die nächsten gefährlichen Einsätze an der Heimatfront vorbereitet... +Den Bildern aus Ferguson stellt "Do Not Resist" Aufnahmen aus einem Seminar von Dave Grossman gegenüber. Grossman gilt als einer der erfahrensten Polizisten Amerikas, auch die US-Armee lädt ihn gerne als Gastredner ein. Im höheren Management wäre seine Jobbezeichnung vermutlich Motivationscoach. Als Vertreter der Staatsgewalt erinnert er eher an einen gefährlichen Irren: "Gewalt ist euer Werkzeug", trichtert er seinen Zuhörerinnen und Zuhörern ein, "Gewalt ist euer Gegner. Ihr seid umgeben von Gewalt." +Atkinson thematisiert zwei Phänomene: Polizeigewalt und Militarisierung der Polizei +Diese beiden Sequenzen setzen den Ton von Atkinsons Dokumentarfilm, der eine Verbindung von zwei Phänomenen der vergangenen zehn Jahre herstellt: zum einen der Polizeigewalt, die durch die Allgegenwart von Handykameras öfter als früher auch öffentlich wird, und zum anderen der Militarisierung der Polizeibehörden im Zuge des Anti-Terror-Kampfs. +"Do Not Resist" zeigt die grotesken Folgen dieser Entwicklung: etwa militärisch aufgerüstete Polizeieinheiten, die ein Wohnhaus stürmen, um Marihuanakrümel zu konfiszieren. Oder Regierungsvertreter, die zum Verkauf teurer Hightech-Panzerfahrzeuge an Kommunen befragt werden, deren Verbrechensraten gegen null tendieren. +... wie diese Hausdurchsuchung. Am Ende wird die Polizei aber nur ein paar Marihuana-Krümel konfiszieren +Atkinson hat erstaunliches Material zusammengetragen. Allerdings leidet "Do Not Resist", vielleicht auch wegen seiner Länge von nur 70 Minuten, stellenweise darunter, dass ihm in den entscheidenden Momenten die Ruhe für eine Analyse fehlt – beziehungsweise die Zeit, die Zusammenhänge seiner Fundstücke und Beweise weiter auszuführen. Formal ist der Film nicht sonderlich interessant, es gibt viele Interview- und Reportagesequenzen. Und wenn Atkinson und sein Team eine Polizeieinheit beim Einsatz begleiten, bedient sich "Do Not Resist" eines pulsierenden Thriller-Soundtracks, der Bedrohung suggerieren soll. Aber solche Mätzchen hat der Film eigentlich nicht nötig, die Materialsammlung spricht für sich. +"Do Not Resist" wirkt wie eine schnelle Reaktion auf jüngste Entwicklungen. Kein Dokumentarfilm, der lange Prozesse erklärt, eher Agitprop, die auf aktuelle Missstände aufmerksam zu machen versucht. Wer die Gewalt in den USA etwas besser verstehen möchte und gleichzeitig etwas über die Strukturen, die diese begünstigen, wissen will, kommt um Atkinsons Film nicht herum. + diff --git a/fluter/crazy-dieser-markt.txt b/fluter/crazy-dieser-markt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..be8542d8b65d5e8968e9174de2580cff4afcf20f --- /dev/null +++ b/fluter/crazy-dieser-markt.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Als aber Hafele mit Kommilitonen über seinen Unmut sprach, stellte er fest, dass er nicht allein damit war. Und dass gerade in Heidelberg vieles passierte, um diesen Unmut zum Ausdruck zu bringen. Denn die idyllische Uni-Stadt ist in Deutschland zum Zentrum einer Bewegung geworden: Ökonomen wehren sich dagegen, dass Wirtschaft nur aus Mathematik besteht. Sie wollen, dass an Universitäten nicht mehr nur gepredigt wird, dass der Markt immer recht hat – wo doch die Finanzkrise gezeigt hat, dass der Markt (in seiner Form als Finanzmarkt) fatal versagen kann. Dem wollen sie beikommen, indem in der akademischen Volkswirtschaftslehre statt dem Schein mathematischer Objektivität künftig eine größere Vielfalt von Perspektiven und Methoden zum Tragen kommen soll – verstärkt auch durch die Berücksichtigung sozialwissenschaftlicher Denkschulen. +Inzwischen tobt der Streit heftig, und das nicht nur in der Fachwelt: Junge Studenten, Doktoranden und frischgebackene Ökonomen greifen die überwiegend älteren Professoren an. Und die wehren sich mit markigen Worten. Ende des Jahres verdammte Deutschlands wahrscheinlich bekanntester Ökonom, Bestseller-Autor und der Präsident desIfo InstitutsHans-Werner Sinn die Kritiker in der "Süddeutschen Zeitung" in Bausch und Bogen als Unwissende: "All jene, die die Ökonomie heute kritisieren, haben sie in Wahrheit nicht verstanden", befand er. Die Zeitung aber gab Hafele und zwei Mitstreitern die Gelegenheit zum Konter. "Wenn Ökonomen dennoch wie Ärzte, nur eine einzige Art von Lösung als alternativlos verschreiben, wird ersichtlich, wie problematisch die Einseitigkeit der aktuellen Wirtschaftswissenschaft ist." +Solche Streitigkeiten um Methoden und Dogmen sind nicht nur ein Problem für Wissenschaftler. Sie betreffen die ganze Gesellschaft. Denn Wirtschaftsprofessoren beraten Politiker, werden von Journalisten gefragt, wenn es kompliziert wird. Sie haben großen Einfluss darauf, welchen Weg die Gesellschaft einschlägt. Hilft der Mindestlohn? Soll die EZB weiter die Zinsen niedrig halten? Können CO₂-Steuern den Klimawandel stoppen? Führt die Einwanderungsbewegung nach Europa zu mehr oder zu weniger Wohlstand bei uns und in Afrika? Solche Fragen stellen Volksvertreter und Medien den Wirtschaftswissenschaftlern, bevor sie entscheiden. Hafele & Co. haben in ihrem Zeitungstext den amerikanischen Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Samuelson zitiert: "Es ist mir gleichgültig, wer die Gesetze eines Landes macht – solange ich ihre Wirtschaftslehrbücher schreiben kann." +Im Ökonomenstreit geht es inhaltlich etwas anders zu als bei den Kontroversen anderer Fächer. In anderen wissenschaftlichen Disziplinen wird gern eine vermeintliche Irrlehre angeprangert, die durch eine andere vermeintlich richtigere Theorie ersetzt werden soll. Die Kritiker im Wirtschaftsdisput hingegen versuchen peinlichst das Bild zu vermeiden, dass sie einfach anstelle der herrschenden Lehre ein neues Dogma setzen wollen. Nein, sagen sie – und werfen der dominierenden Theorie nur vor, dass sie die Alleinherrschaft beanspruche. Sie hingegen kämpfen dafür, dass es an Universitäten und bei Fachkongressen eine größere Vielfalt der Lehrmeinungen gibt. Die Aktivisten haben sich daher den Namen"Netzwerk plurale Ökonomik"gegeben. +Man sollte in diesen turbulenten Zeiten nicht stur an alten Modellen festhalten, finden viele Studenten +Dieses Netzwerk hat inzwischen Gruppen an 24 Universitäten, die vor allem aus Studenten bestehen. Aber auch einige Professoren, die unzufrieden sind, sind dabei. Sie organisieren alternative Lehrveranstaltungen und Fachkongresse, und längst gibt es auch Fachpublikationen, in denen die zumeist jungen Wissenschaftler ihre Thesen publizieren. Während viele etablierte Professoren die Bewegung immer noch abblocken, gibt es auch einzelne, denen die Diskussionen zu denken gegeben haben. Dazu zählt Thomas Straubhaar, der lange als stramm neoliberal kritisierte Hamburger Professor und langjährige Chef des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts. "Wir müssen den Mythos von der Effizienz der Finanzmärkte zertrümmern", stellte er nach der Finanzkrise fest.Die dominante Theorie, die die Kritiker angreifen, wird meist als Neoklassik bezeichnet. Ihre Anhänger glauben an die Idee der "unsichtbaren Hand", nach der Märkte sich selbst regulieren können. Sie vertreten das Ideal des "Homo oeconomicus", nach dem alle Akteure im Markt – ob Produzent oder Konsument – sich allein von rationalen Überlegungen leiten lassen. Wer VWL studiert, muss nach ihrer Ansicht vor allem Mathematik beherrschen. Manche Professoren sind sogar der Meinung, dass die Ökonomie nach ähnlich eindeutigen Regeln funktioniert wie die Physik. Es gibt Profs, die unterstellen den kritischen Studenten, diese wollten nur nicht so viel Mathe pauken. +Dagegen spricht, dass viele der Kritiker inzwischen ihr Studium an den etablierten Fakultäten beendet haben – auch Jakob Hafele. Die anderen Theorien, die die Kritiker neben der Neoklassik an die Unis bringen wollen, kommen oft von links oder aus der ökologischen und sozialwissenschaftlichen Ecke: Marxisten,Keynesianer,feministische Ökonomikheißen die Schulen etwa. Ökologische Ökonomen etwa kritisieren, dass in der (neo-)klassischen Wirtschaftswissenschaft die Vernichtung natürlicher Ressourcen nicht als Kostenfaktor auftauche. Sie verlangen gleichzeitig, die natürlichen Grenzen des Wachstums einzubeziehen, wenn man menschliches Wirtschaften betrachtet. Andere Ökonomen wiederum betonen den sozialwissenschaftlichen Aspekt: Sie verweisen darauf, dass jede Untersuchung der Wirtschaft das Handeln von Menschen untersucht, und sie sich daher mehr mit dem sozialen Verhalten befassen müsse, als mit vermeintlichen quasi-naturwissenschaftlichen Gesetzen. +Gleichzeitig wehren sich die Kritiker aber gegen die Behauptung, sie wollten nur eine bestimmte politische Agenda durchsetzen – denn ebendas werfen sie ja der etablierten Wissenschaft vor. "Wir haben durchaus unterschiedliche politische Vorstellungen und versuchen, unsere Kritik auch immer von diesen zu trennen", sagt Hafele. So fordert das Netzwerk auch, dass die sogenannteÖsterreichische Schulemehr gelehrt wird, die in manchen Ausprägungen noch liberaler argumentiert als Professoren wie Sinn. +Der Kampf für mehr Vielfalt mischt auch international inzwischen die Szene auf. Es begann schon vor 15 Jahren mit einem Studentenprotest in Frankreich, inzwischen haben sich in den USA zahlreiche Professoren einer alternativen Ökonomenvereinigung angeschlossen, deren Wissenschaftsjournal längst einiges Renommee genießt. Jakob Hafele ist mittlerweile mit Begeisterung Ökonom. Seit er sein Studium abgeschlossen hat, arbeitet der 26-Jährige für das Netzwerk – sein Ziel ist, dass künftige Studenten an der Uni mehr Antworten finden als er zu Beginn seines Studiums. +Lutz Meier ist freier Wirtschaftsreporter in Berlin. Früher hat er bei der Financial Times Deutschland die Medienberichterstattung verantwortet und die Zeitung als Korrespondent in Paris vertreten. diff --git a/fluter/crazy-rich-asians-diversitaet-in-hollywood-studie.txt b/fluter/crazy-rich-asians-diversitaet-in-hollywood-studie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8a7cd6d7f8b54ba29972d3b31b05a82b8e31a56d --- /dev/null +++ b/fluter/crazy-rich-asians-diversitaet-in-hollywood-studie.txt @@ -0,0 +1,10 @@ + +Aschenbrödel auf asiatisch: Rachel ist zwar eine Professorin aus New York, als sie die superreiche Familie ihres Boyfriends in Singapur kennenlernt, fühlt sie sich gesellschaftlich doch irgendwie ziemlich unterlegen + +Eine im Juli veröffentlichteInequality-Studiebestätigt die signifikante Ungleichbehandlung von Frauen und People of Color. Von den 100 erfolgreichsten Filmen 2017 hatten 33 eine weibliche Hauptrolle. Lediglich vier der Hauptdarstellerinnen entstammten einem "unterrepräsentierten Kulturkreis", wie es die Studie nennt, nur fünf waren älter als 45 Jahre. In 20 Filmen existierten keine Sprechrollen für Schwarze, in 37 keine für Asiat*innen, in 43 keine für Lateinamerikaner*innen. 19 Filme beinhalteten queere Sprechrollen, wobei keine einzige eine Transperson war. Und nur 2,5 Prozent der Filmcharaktere repräsentierten Menschen mit Behinderung. +Schon vor dem Erfolg von "Crazy Rich Asians" bewegte die Debatte um Diversität in die Unterhaltungsindustrie. Die kreiste aber bislang eher um Frauen, Schwarze oder die LGBTI-Gemeinschaft. Zur Oscarverleihung 2017 verwies der Hashtag #OscarsSoWhite darauf, dass Weiße den Filmpreis überproportional dominieren. Bei der diesjährigen Verleihung prangerte Frances McDormand die Chancenungleichheit von Frauen an und verwies auf den "Inclusion Rider", eine Vertragsklausel, mit der A-Stars mehr Vielfältigkeit vor und hinter der Kamera verlangen können. Im Mai schlugCate Blanchettals Jury-Präsidentin des Filmfestivals von Cannes in dieselbe Kerbe. + +Gänsehaut-Moment bei der letzten Oscar-Verleihung: Frances McDormand macht sich stark für den "inclusion rider", eine Vertragsklausel, die für Vielfalt in den Besetzungen von Filmen sorgen soll + +Mittlerweile scheint es, dass weite Teile des Publikums nicht mehr akzeptieren wollen, dass Filme die Vielfalt der Gesellschaft verkürzt abbilden. Die seit Jahren unter immer neuen Vorzeichen geführte Diversitätsdebatte läutet in Hollywood ein langsames Umdenken ein, zumal die Studios in Zeiten von Social Media unter ständiger Kontrolle stehen und Shitstorms fürchten – wie zuletzt etwa umScarlett Johanson, die im Remake des japanischen Sci-Fi-Klassikers "Ghost in the Shell" die Hauptrolle spielte. +Natürlich steht gesellschaftliche Verantwortung in der Kinoindustrie kaum im Vordergrund. Was zählt, ist das Einspielergebnis. Filme, in denen mehr Frauen, Queer People, unterrepräsentierte Menschen und Minderheiten vorkommen als üblich, erschließen jedoch neue Absatzmärkte. Und das hat sich auch in Hollywood rumgesprochen. Die Fortsetzung zu "Crazy Rich Asians" ist bereits angedacht. diff --git a/fluter/cricket-indien-kolonialismus.txt b/fluter/cricket-indien-kolonialismus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4a39ad47c9cd0d7e4d8d617f62227ab917c2a69b --- /dev/null +++ b/fluter/cricket-indien-kolonialismus.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Erfunden wurde Cricket wahrscheinlich von den Briten. Sie brachten es in ihrer Zeitals Kolonialmachtim 19. Jahrhundert mit in die von ihnen beherrschten Teile der Welt. So kommt es, dass der Sport heute in den meisten Ländern bedeutungslos, in anderen dafür umso bedeutender ist. Zum Beispiel in Australien und Neuseeland, in vielen Karibikstaaten und in Südasien, besonders in Indien, wo manche Spieler Superstars sind. +Klassische Länderspiele dauern mehrere Tage. Inzwischen gibt es aber auch eine schnellere One-Day-Variante, mit der sich eine Weltmeisterschaft ausrichten lässt – bei der England bisher übrigens nur ein einziges Mal gewinnen konnte. + +Foto: Trent Parke/Magnum Photo/Agentur Focus diff --git a/fluter/crip-time-barrieren-schaubild.txt b/fluter/crip-time-barrieren-schaubild.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b2ee60ae8412cc7a537ff445eb6e6802728bc2dd --- /dev/null +++ b/fluter/crip-time-barrieren-schaubild.txt @@ -0,0 +1,2 @@ + +Und hier geht eszum ganzen fluter-Heftzum Thema Barrieren. diff --git a/fluter/csd-provinz-queerfeindlichkeit.txt b/fluter/csd-provinz-queerfeindlichkeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..73678151a59c3df4076a3c811fcc900a868bb992 --- /dev/null +++ b/fluter/csd-provinz-queerfeindlichkeit.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Es ist das zweite Mal, dass eine Demonstration zum Christopher Street Day durch Oranienburg ziehen soll. Die Mittelstadt mit 48.000 Einwohner*innen reiht sich damit in einen Trend ein: Pride-Demos kommen aus den Großstädtenauch raus aufs Land. Neun CSDs fanden 2024 in Brandenburg statt, mehr als jemals zuvor. Inganz Deutschlandwaren es in diesem Jahr 199 CSD-Veranstaltungen. +Vor dem CSD Oberhavel, wie die Pride in Oranienburg heißt, hatten Mitglieder der als rechtsradikal eingestuften Partei "Der Dritte Weg" 2023 im Vorfeld Flyer entlang der CSD-Route in die Briefkästen gesteckt, um dagegen zu mobilisieren. Im sächsischen Bautzen riefen vor kurzem unter anderem die rechtsextremen "Jungen Nationalisten" und "Freien Sachsen" zu einer Gegendemo auf. Rund 700 Menschen kamen zusammen und machten dort Stimmung gegen den CSD. In Dresden setzte die Polizei rund 90 Menschen fest, die einem Aufruf der rechtsextremen Gruppe "Elblandrevolte" gefolgt waren. + +Und jetzt also Oranienburg. Hier wurde im Vorfeld eine Gegendemonstration mit 300 Teilnehmer*innen angemeldet. "Ich fühle mich trotzdem relativ sicher gerade, man sieht ja, dass viel Polizei präsent ist", sagt Eliza. Die 18-Jährige kommt aus Oranienburg und hat den CSD mitorganisiert. Es ist ihr wichtig, gegen queerfeindliche Vorurteile einzutreten. "Viele denken, dass wir alle nichtqueeren Leute ausschließen wollen, das wurde mir schon vorgeworfen. Auf Partys wurde ich oft angesprochen, du machst ja beim CSD mit, voll komisch." +Im Mai 2024 stahlen Unbekannte eine auf dem Oranienburger Schlossplatz gehisste Regenbogenflagge. Im März 2023 griff eine Gruppe Jugendlicher einen schwulen Lehrer an, beleidigte, bespuckte und schlug ihn. Auch jenseits des CSD steigen die erfassten Hassverbrechen in der Region: Die Berliner Polizei hat 2023 mit 690 Straftaten so viele queerfeindliche Vergehen verzeichnet wie nie. Dabei werden nur wenige der Verbrechen eindeutig rechts politisch motivierter Kriminalität zugeordnet, sondern die meisten Delikte fallen unter "sonstige Zuordnung". Bei den Tätern wurde demnach kein festes ideologisches Profil erkannt. In Brandenburg selbst wurden der Polizei im vergangenen Jahr 23 queerfeindliche Hassverbrechen gemeldet, wobei eine hohe Dunkelziffer angenommen wird. DerZusammenschluss von Opferberatungsstellen VBRGregistrierte von 2022 auf 2023 einen Anstieg LGBTIQA*-feindlicher – rechter – Gewalt um ca. 24 Prozent. +Der Parkplatz füllt sich endlich mit CSD-Teilnehmer*innen. Von Polizei eingerahmt stehen rund 40 mutmaßliche Rechtsextreme, mehrheitlich erwachsene Männer, hinter einem Banner mit der Aufschrift "Es gibt nur zwei Geschlechter". Sie rufen Parolen wie "Wer Deutschland nicht liebt, muss Deutschland verlassen" und haben eine schwarz-weiß-rote Reichsflagge dabei. Diese war die Flagge des Deutschen Kaiserreichs und wird heute häufig von Neonazis als Alternative zur verbotenen Hakenkreuzflagge benutzt. +"Ich hatte schon Panik, als ich die gesehen habe", sagt Felix. Der 15-Jährige ist alleine aus Liebenwalde angereist, hat aber in Oranienburg Freund*innen getroffen. "Die Gruppe hat mir wieder Sicherheit gegeben." Bedrohungen durch Neonazis hat Felix vorher noch nicht erlebt, trotzdem ist er als trans Junge ständig mit Diskriminierung konfrontiert. "Ich werde in der Schulegemobbt und auch mit Gewalt bedroht. Deshalb darf ich zu meiner eigenen Sicherheit nicht mit auf Klassenfahrten fahren", erzählt er. + + +Auch seine Freund*innen, alle aus verschiedenen brandenburgischen Kleinstädten, berichten von Hass auf queere Menschen – vor allem in der Schule. "Ich bin durch meine Schulzeit abgehärtet, da habe ich wirklich schlimme Kommentare bekommen. Einmal wurde ich mit Steinen beworfen", sagt der 18-jährige Noel. "Sogar Lehrer machen sich über uns lustig und sagen zum Beispiel, der eine identifiziert sich als Fuchs, der andere als Hund", sagt die 14-jährige Stella. "Es bräuchte ein Unterrichtsfach, wo wir darüber lernen und reden." +Für Felix aus Liebenwalde ist es in Oranienburg der erste CSD. "Wir wollen zeigen, dass wir nicht alleine sind." Dieser Wunsch scheint sich zu erfüllen. Als sich der Demonstrationszug in Bewegung setzt, füllen rund 1.000 Menschen mit Flaggen und bunten Outfits die Straße. Auf ihren Plakaten steht: "Nazis raus aus den Köpfen" oder "Queers aller Länder, vereinigt euch". Als die Demo am Bahnhof und den paar Dutzend Nazis vorbeiläuft, recken sich Mittelfinger in die Höhe, und die Menge singt den traditionellen Anti-Nazi-Song "Schrei nach Liebe". +Die aktuellen queerfeindlichen Protestbewegungen gehen einher mit einem sichtbaren Rechtsruck in der politischen Landschaft. Bei den Landtagswahlen im September ist die AfD zweitstärkste Kraft geworden. Der brandenburgische AfD-Landesverband wird vom dortigen Verfassungsschutz aktuell als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft. Auch bei den Wahlen in Sachsen und Thüringen hat die AfD, deren Landesverbände beide als gesichert rechtsextrem eingestuft wurden, deutlich an Stimmen dazugewonnen. Gleichzeitig hat die AfD mit Alice Weidel eine lesbische Fraktionsvorsitzende – ob das etwas für den Kurs der Partei bedeutet, wird öffentlich heiß diskutiert. +Dass queerfeindliche und antidemokratische Haltungen oft Hand in Hand gehen, wird in der Forschung immer wieder beobachtet. Es stellt sich die Frage: Sorgen Wahlerfolge rechtsextremer und rechtspopulistischer Parteien für mehr Hass gegen queere Menschen? "Das Ausmaß von Gewalt gegen queere Menschen war auch unabhängig von rechtsextremer Hetze enorm hoch. Es herrschte also bereits ein anschlussfähiges Klima, mit dem man Politik machen kann", sagt Gideon Botsch, Professor für Politikwissenschaften mit Fokus auf Rechtsextremismus. Dennoch befürchtet er, dass die Wahlerfolge solcher Parteien Menschen mit queerfeindlichen Haltungen in ihrer Meinung bestärken. "Dadurch kommt es zu diesem Höhenrauschgefühl: ‚Jetzt sind wir dran.'" + +Botsch erklärt, wie Queerfeindlichkeit in extrem rechtes politisches Denken passt: "Rechtsextremismus basiert auf einer Ideologie der Ungleichwertigkeit. Menschen sind nicht einfach unterschiedlich, sondern es wird ihnen ein unterschiedlicher Wert gegeben." Unwert sei das Leben, das nicht einer bestimmten Ordnung entspreche – zum Beispiel der patriarchalen, heteronormativen Ordnung. +Heute gibt es verschiedene Ideen davon, was Geschlecht bedeutet, immer mehr Menschen outen sich als homosexuelloder bisexuell, fühlen sich keinem binären Geschlecht zugehörig. Die Idee, was Geschlecht ausmacht, verändert sich. Das machen sich Rechtsextreme zunutze. "Sie sprechen gezielt Jugendliche an und scheinen einen Nerv zu treffen, gerade bei jungen, in ihrer Männlichkeit verunsicherten Männern." Hier sieht Botsch eine neue Entwicklung: Seit einigen Monaten, etwa einem Jahr, würden junge Rechtsextreme, die früher noch vorgegeben haben, der bürgerlichen Mitte anzugehören, wieder wie Neonazis auftreten, für die rechtsextremen Parteien werben und für ihre Aktionen gegen CSD-Veranstaltungen Hunderte Menschen mobilisieren. +Auf dem Schlossplatz in Oranienburg endet die Demonstration. Noch eine halbe Stunde stehen die Teilnehmer*innen wachsam am Straßenrand und warten auf die rechte Gegendemo. Dann die Erleichterung: Die rund 40 Gegendemonstranten wurden bereits von der Polizei zum Bahnhof eskortiert. +Candy Boldt-Händel ist zufrieden. "Wir waren deutlich mehr und haben ein klares Zeichen gesetzt", sagt der CSD-Organisator, der die Veranstaltung 2023 ins Leben rief. Er wollte damit für mehr queere Sichtbarkeit sorgen, denn er fühlte sich in Oranienburg nicht sicher. "Ich würde in der Stadt nicht Hand in Hand mit meinem Mann herumlaufen." Für Boldt-Händel ist klar: Sich für mehr queere Sichtbarkeit einzusetzen, bedeute immer auch, sich gegen Rechtsextremismus starkzumachen. diff --git a/fluter/cum-ex-skandal-einfach-erklaert.txt b/fluter/cum-ex-skandal-einfach-erklaert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8a3d6e71f12bc3d15c76861b8a30df9c9ee56341 --- /dev/null +++ b/fluter/cum-ex-skandal-einfach-erklaert.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Der Banker bot den beiden "Milliardären" vor laufender Kamera ein Geschäft an, bei dem der ungewöhnlich hohe Profit aus europäischen Staatskassen kommen sollte. Mit einer Methode, die man Cum-Ex nennt, werden Aktien zwischen Geschäftspartnern mehrmals hin und wieder zurück gehandelt, sodass es am Ende möglich ist, eine Steuerabgabe – die Kapitalertragsteuer – zurückzufordern, ohne sie je gezahlt zu haben. Von 2001 bis 2016 sind deswegen mindestens sieben Milliarden Euro aus Deutschlands Staatskassen ohne Gegenwert abgeflossen. Wenn man die ähnliche Methode Cum-Cum dazuzählt, sind es sogar 31,8 Milliarden in Deutschland und 55 Milliarden in ganz Europa. +Dazu muss man wissen, dass die Europäische Kommission nur für grenzüberschreitende Vorfälle verantwortlich ist. Die Steuerrückerstattungen sind aber nationale Angelegenheiten.Die europäischen Partnerländer haben viel zu spät Informationen untereinander ausgetauscht. Die Regierungen hätten den Steuerraub in Milliardenhöhe womöglich verhindern können, wenn Deutschland, das zuerst und am stärksten betroffen war, rechtzeitig informiert hätte. +Was Deutschland mit31 Milliarden EuroSteuergeldern machen könnte: +- etwa anderthalb Jahre langGeflüchteteversorgen +- einmal doppelt so viel fürGesundheitausgeben wie sonst im Jahr +- mindestens1.000 Schulen bauen +-ein Jahr langdie Ausgaben für Verkehr und digitale Infrastruktur abdecken +Denn das deutsche Finanzministerium warnte seine europäischen Nachbarn erst 2015, obwohl es bereits 2002 von den Cum-Ex-Geschäften erfahren hatte. Ein erster Versuch der Bundesregierung, die Deals durch ein neues Gesetz 2007 zu unterbinden, ging in den Augen mancher nach hinten los. Die Gesetzesänderung machte zwar Cum-Ex-Deals unmöglich, bei denen der Aktienverkäufer eine inländische Bank war, nicht aber, wenn ein Händler im Ausland involviert war. Betrüger machten sich daher auch nach 2007 ans Werk. Für die Ausarbeitung des neuen Gesetzes war der Vorschlag des Bankenverbandes direkt übernommen worden. Fünf Jahre später konnten dann Cum-Ex-Geschäfte in ihrer aktuellen Form in Deutschland eingeschränkt und verboten werden. Seitdem können Depotbanken nämlich nicht mehr mehrere Steuerbescheinigungen ausstellen. +Im Juli hat die europäische Finanzmarktaufsicht eine Untersuchung veröffentlicht, die angestiegene Zahlen von Transaktionen um den jeweiligen Dividendenstichtag in einigen europäischen Ländern feststellt. Das gilt als ein starker Hinweis auf ähnliche Fälle, weil bei Cum-Ex durch das Handeln um den Stichtag herum sowohl Käufer als auch Verkäufer die Kapitalertragsteuer absetzen konnten. +Die "Correctiv"-Recherche zuGrand Theft Europeaus diesem Jahr zeigt, dass Cum-Ex nur ein Teil eines größeren Problems ist, denn in Europa werden jedes Jahr 50 Milliarden Euro Steuergelder durch sogenannte Steuerkarusselle gestohlen. Dabei werden vor allem die unterschiedlichen Umsatzsteuersätze innerhalb der EU ausgenutzt. Und auch hier steht, laut Kritikern, ein Mangel an europäischer Kooperation der Verfolgung maßgeblich im Weg. Zudem sei der politische Wille, hier tätig zu werden, nicht überall gleich groß. Die Ursachen für andauernden Betrug sind also noch lange nicht behoben. +Das "Netzwerk Steuergerechtigkeit" schlägt zum Beispiel eine Erweiterung der OECD-Steuerdatenbank vor, um Partnerländer vor Betrugsmodellen zu warnen, und fordert zusammen mit Attac einen automatisierten Datenaustausch zu Kapitalertragsteuern. Die "Bürgerbewegung Finanzwende" ist ebenso wie Attac und das "Netzwerk Steuergerechtigkeit" für eine europäische Steuerpolizei, also ein Team aus Polizisten und Wirtschaftsexperten, das länderübergreifend nach Steuerbetrügern fahndet. +Zurzeit sind die europäischen Banken- und Börsenaufsichten dafür zuständig. Die haben jedoch zwei Nachteile, meint Gerhard Schick, Vorstand von "Finanzwende": Zum einen würden die nationalen Vertreter, die die Aufsichten bilden, möglichst wenige Kompetenzen an eine europäische Institution abgeben, zum anderen hätten sie ein Interesse daran, dass es keine Aufregung im Bankensektor gibt. + +GIF: Jan Q. Maschinski diff --git a/fluter/cv-dazzle-anti-ueberwachung-makeup-harvey.txt b/fluter/cv-dazzle-anti-ueberwachung-makeup-harvey.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..eea60e0bf3a7facee7de69a0800474dbb2a373ac --- /dev/null +++ b/fluter/cv-dazzle-anti-ueberwachung-makeup-harvey.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Die Maskenbildnerin Martayla Poellinitz dokumentierthierihre ersten Versuche mit einem Antiüberwachungs-Make-up. "In der heutigen Zeit", schreibt sie, "in der ein einfacher Schnappschuss des Gesichts so viele Informationen über dich und andere, mit denen du in Verbindung stehst, preisgeben kann, ist es wichtig, sich so gut zu schützen, wie es geht." Poellinitz ist schwarz, lebt in den USA und protestiert für Black Lives Matter. Sie kann jeden Schutz gebrauchen. +Seit Mai demonstrieren Millionen US-Amerikaner*innen gegenunrechtmäßige Polizeigewaltund Rassismus. Im ganzen Land stehen sich Polizei und Demonstrant*innen gegenüber. Amnesty International berichtet, dass die US-Polizei bei ihren Einsätzen gegen gewaltbereite Demonstrierende und Plünderungen teils schwere Menschenrechtsverletzungen begangen habe. In mehreren Städten riefen Polizei und FBI dazu auf, Fotos und Videos von Demonstrierenden auf Hinweisportale hochzuladen, um mutmaßliche Straftäter*innen mittels Gesichtserkennungssoftware identifizieren zu können. +Um unerkannt zu bleiben, greifen Demonstrant*innen wie Martayla Poellinitz nun auf eine Idee zurück, die ziemlich alt ist: 2010 initiierte der Künstler Adam Harvey "CV Dazzle", ein Projekt, bei dem er Kleidung und Make-up entwirft, die vor Videoüberwachung schützen. +Harveys Looks erinnern anCyberpunk: bunte Haarsträhnen, die vom Kopf wegstehen, und Gesichtsaccessoires, die das Gesicht asymmetrisch teilen. Indem signifikante Merkmale des Gesichts verdeckt werden, kann derAlgorithmusweder saubere Daten sammeln noch Gesichter einwandfrei identifizieren. Ob solche Vermummungstechniken erlaubt sein sollten, darüber wird nicht nur in den USA seit Jahrzehnten gestritten(siehe Infokasten Videoüberwachung in Deutschland). In den Bundesstaaten und Kommunen gelten unzählige Maskierungsverbote. Das Strafgesetz von Kalifornien, wo die Black-Lives-Matter-Bewegung besonders aktiv ist, verbietet beispielsweise alle Kostümierungen, die bei möglichen Straftaten die Identifizierung oder Verfolgung erschweren. +Auch die deutsche Polizei nutzt mitunter intelligente Videotechnik – zuletzt während der G20-Proteste in Hamburg. Am Berliner Bahnhof Südkreuz testete das Bundesinnenministerium 2017 eine entsprechende Software sogar für mehrere Monate. Der Einsatz von Videoüberwachung durch die Polizei ist in Deutschland aber vergleichsweise streng geregelt, unter anderem durch das Bundesdatenschutzgesetz oder Paragraf 27 des Bundespolizeigesetzes. Personenbezogene Daten müssen unverzüglich vernichtet werden, soweit sie nicht zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr oder zur Verfolgung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit benötigt werden. Für Demonstrant*innen wiederum ist das Recht auf Versammlung seit 1985 vom "Vermummungsverbot" begrenzt: "Aufmachungen, die die Feststellung der Identität verhindern" – also beispielsweise auch die "CV Dazzle"-Looks – sind verboten. Da Harveys Prinzip aber vor allem die technische Erfassung verhindern will (nicht die persönliche) und das Versammlungsrecht von den Bundesländern geregelt wird, könnte das Make-up an vielen Orten in Deutschland erlaubt sein. +Fünf (völlig legale) Tricks gegen Überwachung +1. Gegen High- hilft Lowtech: ein Nokia 3210 oder Wegwerfhandy für überwachungsfreie Kommunikation. +2. Wer auf Demos nicht gefilmt werden will, denke an Mary Poppins: Schirme schützen gegen Regen, Flaschen und Videoüberwachung. +3. DieDemonstrant*innen in Hongkongmachen es vor: Wer unentdeckt bleiben will, zahlt nicht mit App oder Karte, sondern cash. +4. Sogenannte HyperFace-Kleidung füttert Algorithmen mit so vielen Gesichtern, dass das eigene verborgen bleibt. +5. Für den Messengerdienst Signal gibt es seit den BLM-Protesten ein Update, das Gesichter vor dem Versenden von Fotos automatisch pixelt. +Der Gedanke hinter dem Gesetz ist, dass der Rechtsstaat nur greifen kann, wenn potenzielle Straftäter*innen auch auf Demos erkennbar bleiben. Gegner*innen des Vermummungsverbotes argumentieren hingegen, dass sich Demonstrierende anonym sicherer fühlen und dass es den Staat, Arbeitgeber oder auch politischen Gegner grundsätzlich nichts angeht, wofür jemand auf die Straße geht. Sie regen eine Lockerung oder sogar Abschaffung des Vermummungsverbots an, um das Versammlungsrecht zu stärken – gerade in Zeiten von Videoüberwachung und maschineller Gesichtserkennung. +Tatsächlich war Harveys "CV Dazzle"-Projekt im Jahr 2010 so interessant, weil seine Designs auf eine Zukunft reagierten, die dystopisch war und weit entfernt. Jetzt scheint es, als sei das Projekt durch die Gegenwart eingeholt worden. Nach den Massenprotesten erhielt Harvey viele Nachrichten von Menschen, die wissen wollten, ob "CV Dazzle" 2020 noch funktioniere. Das sei die falsche Frage, schreibt Harvey: "CV Dazzle ist weder ein Produkt noch ein Muster. CV Dazzle ist ein Konzept und eine Strategie." Harveys Projekt politisiert damit wohl auch Menschen, die sich vorher nie um ihreDatengesorgt haben – und nicht wussten, wie kurz der Weg von Instagram-Filtern zu Cybersecurity sein kann. + diff --git a/fluter/cyberkriege.txt b/fluter/cyberkriege.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8cfb6281fcd54be50f86e08310af694d5049a6bb --- /dev/null +++ b/fluter/cyberkriege.txt @@ -0,0 +1 @@ +Als erster Cyberkrieg gilt der Kosovokrieg 1999. Die NATO störte und manipulierte gezielt serbische Flugabwehrsysteme und drang in Telefonnetze ein. Wie groß das Ausmaß eines Cyberkriegs werden kann, zeigte sich 2007 in Estland. Hier wurden Server von Ministerien und Banken sabotiert. Die Esten konnten online keine Bankgeschäfte mehr machen oder Geld abheben. Im Jahr 2015 wurde der Deutsche Bundestag gehackt. Seitdem wird darüber diskutiert, ob die Bundeswehr im Angriffsfall mit einem "Hackback" zurückschlagen darf. Der könnte aber unbeteiligte Dritte treffen, weil die wirklichen Angreifer oft falsche Spuren legen. In vielen Fällen stecken keine staatlichen Institutionen hinter Angriffen, daher wird oft von Cyberterrorismus gesprochen. diff --git a/fluter/da-5-bloods-spike-lee-filmkritik.txt b/fluter/da-5-bloods-spike-lee-filmkritik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9016cef20c32c2fc4e0f31bc7456774af2daf56f --- /dev/null +++ b/fluter/da-5-bloods-spike-lee-filmkritik.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Zur Umsetzung ihrer Pläne kommen die vier allerdings erst Jahrzehnte später, in der Welt von heute. Als Fast-Rentner mit gebrochener Biografie kehren sie nach Saigon zurück. Neben den dokumentarischen Einspielern von Muhammad Ali, Malcolm X oder Angela Davis wirkt der Hauptstrang des Films deshalb zunächst wie ein knuffiges Buddy-Movie: Eine Truppe alter Freunde stolpert tanzend und trinkend durch Saigon. Aber schon zu Beginn ist die Vergangenheit nicht weit, ob in Gestalt eines bettelnden Kindes, das an denSpätfolgen des Entlaubungsmittels Agent Orangeleidet, oder der Vietcong-Veteranen am Nachbartisch. +"Da 5 Bloods" ist seit 12. Juni auf Netflix zu sehen + +Und auch in der Schatzsucher-Gruppe selbst läuft es bald weniger harmonisch: Einer der vier, Paul, hat ein gestörtes Verhältnis zu seinem Sohn, der ihm hinterhergereist ist, um seinen schwer kriegstraumatisierten Vater vor einem psychischen Zusammenbruch zu bewahren. Außerdem wird immer deutlicher, dass die vier ein unterschiedliches Verständnis davon haben, was mit "unsere Leute", an die das Gold ja gehen sollte, denn nun gemeint war: Man selbst? Die eigene Familie? Oder doch die Schwarze Community an sich? +Die Suche nach dem großen Schatz verwebt Lee mit historischen Einspielern der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung und Rückblenden in die Zeit des Krieges, die an klassische Kriegsfilme wie "Apocalypse Now" oder "Full Metal Jacket" erinnern. Dass die Hauptdarsteller in diesen Flashbacks äußerlich nicht künstlich verjüngt wurden – wie etwa kürzlich in Martin Scorseses "The Irishman" –, begründete Lee im Scherz mit knappen finanziellen Mitteln. Es verdeutlicht aber auch die Gegenwärtigkeit der historischen Ereignisse, den nie endenden Krieg im Kopf, die unverarbeiteten Traumata Schwarzer US-Amerikaner. Ihnen gibt Lee in einer gewagten Mischung aus Dokumentation, Actionfilm und Psychodrama eine neue Sichtbarkeit und spannt dabei einen weiten Bogen vom amerikanischen Unabhängigkeitskrieg bis zur heutigen "Black Lives Matter"-Bewegung. +Gerade die Figur des Paul, oscarreif gespielt von Deroy Lindo, die so lange von einer rassistischen, ausbeuterischen Gesellschaft über den Tisch gezogen wurde, dass sie aus Protest und entgegen allen Interessen der eigenen Community plötzlich Trump wählt, bleibt im Gedächtnis. +Schade ist allerdings, dass die Charaktere außerhalb der Freundesgruppe so platt bleiben, dass es wehtut. Besonders die Frauen sind eindimensional gezeichnet, zum Beispiel die mysteriös-diskrete Strippenzieherin Tiên, die als ein einziges Exotismusklischee daherkommt. Auch den anderen vietnamesischen Figuren ergeht es kaum besser. Fast immer wirken sie austauschbar und bleiben damit Statisten – im Film selbst, aber auch in der neuen, nichtweißen Weltgeschichte, die Lee mit "Da 5 Bloods" doch eigentlich schreiben wollte. + + +Titelbild: Netflix diff --git a/fluter/da-dreht-was-heiss.txt b/fluter/da-dreht-was-heiss.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9618c78e003ef3aea650e5c707ca277bfdb63d9f --- /dev/null +++ b/fluter/da-dreht-was-heiss.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Matthias Hörstmann: Festivals gehören ja inzwischen für viele zum Lifestyle. Die Leute planen das fest in ihren Jahresurlaub ein, sie nutzen die Veranstaltungen für eine kurze Flucht aus dem Alltag, eine Art Aktivurlaub mit Gleichgesinnten. Sie können da Lieblingsbands sehen und neue Bands entdecken, mit Fremden Bier trinken, neue Leute kennenlernen – und vielleicht mit dem oder der Neuen auch gleich ins Zelt verschwinden. Dafür gibt es heute für jeden Anspruch, Bedarf und Geschmack individuelle Angebote, teils sogar maßgeschneidert auf die speziellen Interessen bestimmter Zielgruppen. +Carsten Schumacher: Und die Besucher bekommen statt vieler Einzelkonzerte gleich ein ganzes Paket für ihr Eintrittsgeld. Ein Festivalbesuch lohnt sich also für viele finanziell, selbst wenn die Tickets fortlaufend teurer werden. +Herr Hörstmann, Sie veranstalten seit mehr als 20 Jahren Festivals. Was hat sich in dieser Zeit verändert? +MH: Der Markt erlebt einen andauernden Boom. So haben sich die Menge der deutschen Festivals und deren Besucherzahlen in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt. Als ich vor 23 Jahren beim Osnabrücker Benefizfestival "Rock gegen Rechts" erstmals vom Fan zum Veranstalter wurde, da sahen die Rahmenbedingungen noch ganz anders aus. Unser Festival damals war im Grunde eine Protestkundgebung, bei der es einzig darum ging, mit Unterstützung von Künstlern wie Anne Clark, Slime oder Blumfeld lautstark Position zu beziehen. Der Feind war der Mainstream, darum gab es natürlich auch keine wirtschaftlichen Interessen. +Und heute? +CS: Solche Veranstaltungen gibt es heute natürlich auch noch. Aber gerade bei den Großveranstaltungen hat sich eine Menge geändert, die Festivalkultur, die Konzepte, die Konkurrenz untereinander. Es sind nicht mehr die Freaks, die das Zepter schwingen, mittlerweile sind es Aktiengesellschaften. Deren Angebot geht dann natürlich über das alte "Bühne auf Acker plus Zeltplatz"-Prinzip hinaus. Viele suchen dabei nach neuen Zielgruppen. So wollen die Veranstalter Festivals inzwischen auch für Menschen attraktiv machen, denen Zeltplatz und Dixi-Klo ein Grauen sind. +Was haben die Organisatoren denen zu bieten? +MH: Immer mehr Festivals haben etwa einen gesonderten Campingbereich mit mehr Duschen, mehr Toiletten, weniger Lärm. Viele erweitern ihr Rahmenprogramm um Lesungen, Sport, Wellness, Yoga, Kultur, Kino oder diverse Workshops. Und Festivals werden familienfreundlicher. Bei unserem Lollapalooza-Festival zum Beispiel gibt es ein Kinderzelt. +CS: Inzwischen gehen ja wirklich Menschen aller Altersklassen auf Festivals. Früher waren es hauptsächlich Anfang 20-Jährige, die nahe einer Bühne gezeltet haben, heute ist ein 40-Jähriger längst keine Seltenheit mehr. Schließlich gibt es immer mehr Menschen, die ihre Jugend und den dazugehörigen Lebensstil möglichst lang durchziehen möchten. Aber man muss auch festhalten: Das Rahmenprogramm spielt eine Rolle, am wichtigsten ist allerdings weiterhin das Gruppenerlebnis, also ob die eigenen Freunde dabei sind, dazu die gefühlte Verbindung zu den übrigen Besuchern – und natürlich nicht zuletzt die Musik. +Seit 2008 verdienen Musiker mehr Geld mit Liveauftritten als mit dem Verkauf von Platten. Und das meiste Geld verdienen sie bei Festivals. Viele legen darum sogar die Veröffentlichungsdaten neuer Alben kurz vor die Festivalsaison. Wie verändert das die Musik und die Musikbranche? +CS: Es stimmt, dass Künstler Festivalhymnen schreiben und auch sonst viel mehr für Veranstalter zu tun bereit sind. Damit folgen sie ihrer Haupteinnahmequelle, denn Musikfans wollen ja für Musikaufnahmen weniger Geld ausgeben, aber sie akzeptieren die steigenden Preise auf dem Veranstaltungsmarkt. Für manche Musiker sind Tonträger weniger interessant geworden. +MH: Damit haben sich die Rahmenbedingungen und Wertschöpfungsketten in wenigen Jahren fundamental verändert. Über Jahrzehnte hatte die Tonträgerindustrie unbestritten die Machtposition inne – heute dagegen gibt die Live-Entertainment-Branche samt Booking- und Konzertagenturen den Ton an. +Wieso sieht man auf so vielen Festivals dieselben Superstars wie U2, Metallica oder Coldplay als Headliner? +CS: Weil die Veranstalter damit sicher ihre Arenen und Wiesen füllen können. Für viele Fans sind diese lebenden Legenden attraktiv, weil die so nur noch selten nachwachsen. Und das ist zugleich eines der Grundprobleme vieler Veranstalter: Die Riege dieser Headliner ist relativ statisch, es kommen nur sehr wenige hinzu – und es sterben ja glücklicherweise auch nicht ständig welche. +Welche Folgen hat das? +MH: Alle kämpfen um dieselben Künstler – und treiben dabei die Gagen für die Headliner in schwindelerregende Höhen. Da sind jährliche Steigerungen von 20 Prozent oder mehr keine Seltenheit. +CS: Diese Entwicklung spielt denen in die Hände, die gleich mehrere Festivals veranstalten, die womöglich sogar am selben Wochenende an verschiedenen Orten stattfinden. Denn die können Paket-Deals für alle Veranstaltungen abschließen. Man kennt das Konzept von Rock am Ring und Rock im Park. Und um sich Exklusivität zu sichern, schreiben diese Veranstalter jedes Mal einen Passus in den Vertrag, der verhindert, dass die jeweilige Band innerhalb eines gewissen Radius und Zeitraums noch mal auftritt, und zwar mittlerweile sogar bei weniger gefragten Bands. Das verknappt den Markt zusätzlich. +Können es sich also irgendwann nur noch Großveranstalter leisten, Open-Air-Festivals zu organisieren? So wie in den USA, wo zwei Konzerne den Markt beherrschen – AEG Live und Live Nation? +CS: Die kleinen Festivals, deren Line-up aus ebenso kleinen Liebhaber-Bands besteht, wird es weiterhin geben. Kritisch wird es im mittleren Bereich, in dem man als Veranstalter von richtigen Headlinern abhängig ist – und sich die dann nicht mehr leisten kann. Das Serengeti-Festival in Ostwestfalen beispielsweise hat im vergangenen Jahr aus diesem Grund aufgegeben. +MH: Die Großen verdrängen oder schlucken zurzeit die Mittelgroßen. Und wer nicht mitspielt, bekommt geradezu unmoralische Angebote auf den Tisch. Viele resignieren und tun sich mit den großen Veranstalterkonzernen zusammen. Inzwischen bestimmt nicht einmal eine Handvoll globaler Player große Teile der Branche. Nur die können sich die notwendigen Headliner leisten. +CS: Hinzu kommt, dass die Politik hierzulande nach dem Unglück auf der Loveparade in Duisburg die Sicherheitsauflagen verschärft hat, aus Sorge um die Sicherheit der Besucher. Auch das kostet natürlich mehr. +Wir fassen zusammen: Die steigenden Kosten für Bookings, Sicherheit und anderes treiben die Eintrittspreise nach oben, die Nachfrage und damit die Zahl der Festivals steigt trotzdem weiter. Aber die Menschen verdienen ja nicht kontinuierlich mehr. Gibt es also eine Blase, die bald platzen wird? +CS: Das Festivalgeschäft wird sich sicher verändern, viel weiter wachsen kann es nicht. Vielleicht bleibt diese Form der Musikkultur in dieser Größenordnung bestehen, vielleicht ist es auch nur ein Trend, der vergeht. Aber bislang ist keine Festivalmüdigkeit feststellbar. +Carsten Schumacher und Matthias Hörstmann +Fotos: Waldemar Salesski; Christian Schauderna / Edith Images; privat, Arne Sattler diff --git a/fluter/da-fehlen-einem-die-worte.txt b/fluter/da-fehlen-einem-die-worte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..68c2a6bcbbc2747c4edb80d3ed5385080d9c4bb4 --- /dev/null +++ b/fluter/da-fehlen-einem-die-worte.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Die Psychotherapeutin Ute Jaehn-Niesert arbeitet seit 30 Jahren mit Menschen wie Ramona Grabow. Sie leitet den AOB, eine kleine, öffentlich geförderte Bildungseinrichtung in Berlin. "Als ich hier 1981 angefangen habe, dachte ich, wir machen uns nach ein paar Jahren selbst überflüssig. Aber die Leute kommen noch immer, und sie sind jünger als früher." Gerade bereitet eine Pädagogin den Anfängerkurs vor. Sie hängt ein Plakat mit Wörtern auf, in denen "ei" vorkommt. Eis. Geil. Freiheit. "Obwohl ... da sind schon zu viele Konsonanten für die meisten drin", sagt sie. Die Erwachsenen müssen erst einmal lernen, die verbale Sprache und die Schriftsprache zusammenzubringen. Sie machen im Grunde genau das, was kleine Kinder in der Grundschule tun. Sie reimen, sie zählen Silben, sie versuchen Buchstaben richtig zusammenzubauen. Im Computerraum des AOB arbeiten sie mit einer speziellen Internetseite für Analphabeten, auf der etwa 15.000 Menschen pro Woche trainieren (www.ich-will-lernen.de). +Im internationalen Vergleich gilt Deutschland eigentlich als ein vollständig alphabetisiertes Land. Doch seit Forscher der Universität Hamburg 2011 eine Studie zur "Literalität der deutsch sprechenden Bevölkerung" veröffentlicht haben, weiß man, dass etwa 7,5 Millionen Menschen nicht ausreichend lesen und schreiben können, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. In der Fachsprache nennt man sie funktionale Analphabeten. Diese Menschen können zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben, nicht jedoch zusammenhängende – auch kürzere – Texte. Jeder, der zum AOB findet, hat eine andere Geschichte zu erzählen. Die einen waren in der Schule lange krank, kamen dann nicht mehr hinterher und brachen irgendwann ab. Die anderen sind früh (und zum Teil auch fälschlich) als Legastheniker diagnostiziert worden und strengten sich dann nicht mehr richtig an. Wieder andere kommen aus Familien, in denen der Analphabetismus über Generationen "weitervererbt" wurde. Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, werden in einem Versuchsprojekt im AOB Eltern gemeinsam mit ihren Kleinkindern beim Lesen gefördert. +Der 29-jährige Bildhauer Jona Wolf* bekommt seit zwei Monaten Unterricht im AOB. "Lä... läläääätzteh ... Seih...teh", liest er von der Rückseite einer alten fluter-Ausgabe vor. "Die Artikel, die nur aus Text bestehen, sind der Horror für mich." In der Grundschule wurde er als Legastheniker eingestuft. Er bekam keine Noten in Deutsch und musste nie laut vorlesen. Er bildete sich ein, dass sein Gehirn einen Fehler hätte und er darum einfach niemals richtig lesen können würde. Auch wenn er offener mit seiner Schwäche umging als Ramona Grabow, hatte er im Alltag manchmal Probleme. Zum Beispiel bekam er Panik, wenn er in einer Galerie ein Kunstwerk für eine Ausstellung verpacken musste, das ein Kurier abholen sollte, und nur noch zehn Minuten Zeit waren, um das Wort "zerbrechlich" darauf zu schreiben. Als Jona einmal krank im Bett lag, schlug er eine Biografie über Christoph Kolumbus auf. Aus einzelnen Wörtern wurde ein Satz. Aus Sätzen entwickelte sich eine Geschichte. Je weiter er in dem Buch kam, desto leichter fiel ihm auf einmal das Lesen. Was früher eine Arbeit von einem Dreivierteljahr war, gelang ihm plötzlich in anderthalb Wochen: 250 Seiten Text. "Ich war echt beeindruckt von mir", sagt er. Noch immer macht er Fehler. Er schreibt "Vogel" manchmal mit "F", und das Wort "und" endet bei ihm mit "t". Aber er wird besser. Und er liest jetzt Bücher über Zivilisationskritik und Kunsttheorie. +Ute Jaehn-Niesert kümmert sich manchmal auch um die psychische Betreuung ihrer Schüler. Auf Wunsch gehen einige von ihnen parallel zum Unterricht zu einer Therapie. Die Verunsicherung, die durch das Problem mit dem Lesen und Schreiben entstehe, greife auf andere Bereiche über, erzählt sie. Viele hätten ein schlechtes Selbstbewusstsein oder hielten sich für dumm. Funktionaler Analphabetismus kostet außerdem viel Kraft. Betroffene bauen sich fast immer irgendeine Art von Doppelleben auf. Sie arbeiten in Berufen, in denen man möglichst wenig mit Schrift zu tun haben muss. Sie erfinden ständig Ausreden, um nicht schreiben zu müssen. Sie stellen sich krank, im Extremfall verletzten sich manche sogar selbst. Ute Jaehn-Niesert erzählt von einer Frau, die ihrem Ehemann seit vielen Jahren verheimlicht, dass sie Analphabetin ist. Jeden Abend tut sie so, als läse sie ihm aus der Fernsehzeitung vor. Weil sie tagsüber immer die Programmvorschauen auf allen Kanälen anschaut und sich merkt, was später läuft. Es gibt mittlerweile eine anonyme Telefonhotline für Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können. Es gibt Geld für die Forschung. Es gibt die Bildungsministerin, die die Anzahl der funktionalen Analphabeten im Rahmen der Weltalphabetisierungsdekade der Vereinten Nationen zwischen 2003 und 2012 halbieren will. Ute Jaehn-Niesert kann am Ende auch nur hoffen, dass die Betroffenen von selber den Weg zu ihr finden. Man sieht es ihnen ja nicht an. +* Die Namen wurden geändert +6.000 bis 8.000 Sprachen gibt es weltweit +Ca. eine Milliarde Menschen sprechen Englisch als Mutter- oder erste Fremdsprache +300.000 bis 500.000 Wörter (Grundformen) umfasst der Wortschatz der deutschen Gegenwartssprache +Mit 36 Buchstaben ist "Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung" das längste Wort im Duden +Mit 35,3 Prozent war laut Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft im Jahr 2005 der Anteil deutschsprachiger Musik in den offiziellen Albumcharts bislang am höchsten +14.042.789 nicht in Deutschland lebende Menschen haben im Jahr 2010 Deutsch gelernt +Es gibt über 50.000 chinesische Schriftzeichen +58 Sprachen fließend spricht Ziad Fazah, eines der größten lebenden Sprachgenies +14,5 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren fielen 2010 in die Kategorie "funktionale Analphabeten" +60,3 Prozent der funktionalen Analphabeten sind Männer +Weitere 13,3 Millionen Erwerbstätige haben Probleme beim Lesen und Schreiben +Quellen: Unesco; Duden; Goethe-Institut; leo - Level One Studie diff --git a/fluter/da-geht-noch-was.txt b/fluter/da-geht-noch-was.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..28acba6dba99d23a0d0918c90548244630efff28 --- /dev/null +++ b/fluter/da-geht-noch-was.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Die Sprüche, mit denen die Fernschule wirbt, an der Brian das Abitur macht, klingen für jemanden im Gefängnis absurd. "Sie erhalten alle benötigten Studienunterlagen – bequem ins Haus." Oder: "Sie lernen immer dann, wenn Sie Zeit haben, und dort, wo es Ihnen Spaß bringt: abends auf dem Sofa, am Wochenende im Grünen etc." Ein Werbespruch des Instituts jedoch passt: "Sie selbst bestimmen, wann und wo Sie lernen." Bei ihm heißt das: allein in der Zelle, ohne Internet und Austausch mit anderen Schülern, motiviert nur durch sich selbst. Er ist einer von nur vier Gefangenen in seinem Gefängnis, die derzeit das Reifezeugnis ablegen. "Er ist ein Idealfall", sagt Lars Hoffmann, der Pressesprecher der JVA, über ihn. "Wir freuen uns über jeden Gefangenen, der die Chance wahrnimmt. Das ist keine Selbstverständlichkeit." Der Großteil der Gefangenen hat entweder kein Interesse, keine Selbstdisziplin oder keine ausreichenden Deutschkenntnisse. "Man meint", sagt Hoffmann weiter, "man habe im Gefängnis genug Zeit. Aber so ein Fernstudium bedarf eines festen Willens und der Selbstdisziplin." +6 Uhr aufstehen, waschen, Gymnastik, Frühstück, lernen in der Zelle. So fängt Brians Tag an. Weil es am Nachmittag im Zellenblock sehr laut ist, spielt er Tischtennis oder geht duschen und lernt nach dem Zelleneinschluss um 21.30 Uhr weiter, nicht selten bis morgens um 3, auch samstags und sonntags. "Sonst ist das nicht zu schaffen." Vierteljährlich bekommt Brian Unterrichtsmaterialien geschickt, jeden Monat muss er eine Hausarbeit abgeben, alle sechs Monate wird er geprüft. Hat er Fragen, schickt er einen Brief an seinen betreuenden Lehrer und wartet in der Regel zwei Wochen auf Antwort. Manchmal nutzt er den Besuch eines Freundes oder seiner zehn Jahre jüngeren Schwester, die zeitgleich mit ihm das Abitur angefangen hat, um Antworten auf drängende Fragen zu bekommen. Im Moment beschäftigt er sich in Chemie mit dem Massenwirkungsgesetz, in Deutsch mit Stilmitteln und in Mathematik mit Potenzfunktionen. +Macht ein Gefangener eine Fortbildung, wird er so behandelt, als würde er arbeiten. Brian bekommt 250 Euro und zahlt davon die 109 Euro Kursgebühr pro Monat. Als würde er sich selbst noch nicht ganz über den Weg trauen, sagt er Sätze, die wie aus einem Resozialisierungsbuch von Strafgefangenen klingen: "Mir hat das Lernen viel gegeben." "Bildung ist sehr wertvoll, um Kriminalität entgegenzuwirken." In wenigen Monaten, im Januar 2013, wird er entlassen. Das Abitur will er in Freiheit "definitiv" zu Ende machen. Er fände es "supergeil", danach etwas zu studieren, was mit "umweltfreundlicher Optimierung von Firmen" zu tun hat. Finanzielle Sicherheit ist ihm noch immer wichtig, zumal er möglichst bald gern eine eigene Familie hätte. Er kann sich jetzt durchaus vorstellen, mit einem legalen Job ans Ziel zu kommen. + +*Name von der Redaktion geändert diff --git a/fluter/da-haben-wir-es-wieder.txt b/fluter/da-haben-wir-es-wieder.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f5568548418ed0c124129d0e356bbae00090f0e4 --- /dev/null +++ b/fluter/da-haben-wir-es-wieder.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Die Laster kippen ihre Ladung in einer weitläufigen Halle ab. Manchmal landen hier auch Sachen, die in der Wertstofftonne eigentlich nichts verloren haben: Teppichböden und Sitzpolster, Staubsauger und Bürostühle, auch ganze Motorblöcke und Schrankwände haben sie schon rausgefischt. "Aber so etwas ist eher die Ausnahme", sagt Dirk Mellen. "Die Berliner sind bei der Mülltrennung erfreulich diszipliniert." +Der Abfallberg, der hier im Laufe des Tages heranwächst, wird von einem Bagger abgetragen, der eine Schaufelladung nach der anderen in einen riesigen Trichter an der Seitenwand hebt, den sogenannten Aufgabedosierer. Wenn am nächsten Morgen die ersten Lkw kommen, wird die Halle wieder leer sein. Was dagegen immer bleibt, ist ein etwas säuerlicher Geruch – ein bisschen wie am Glaspfandautomaten im Supermarkt: schon präsent, aber durchaus erträglich. Hätte man sich schlimmer vorgestellt. +In der Halle nebenan fließt der Müllstrom in einem ratternden und klappernden Labyrinth aus Förderbändern von Sortierstation zu Sortierstation. Im Leitstand, der in der Mitte der Halle thront wie die Kommandozentrale eines Raumschiffs und von dem aus alle Abläufe via Monitor überwacht werden, läuft "Happy" von Pharrell Williams. Die gesamte Niederlassung hat rund hundert Mitarbeiter, doch den größten Teil der Arbeit erledigen Maschinen. Nur vereinzelte Irrläufer müssen noch von Hand aussortiert werden. +Beim nächsten Schritt, der sogenannten Windsichtung, werden leichte Teile wie lose Etiketten, Zeitungsseiten oder Folienstücke nach oben geblasen. Dann zieht ein Elektromagnet alle Komponenten aus Eisen und Weißblech vom Band. Um Metallteile auszusortieren, die nicht magnetisch sind, zum Beispiel Verpackungen aus Aluminium oder Spraydosen, erzeugt ein sogenannter Wirbelstromabscheider ein elektrisches Feld. Besonders stolz ist Mellen auf den Nahinfrarot-Scanner. Da jeder Kunststoff Licht auf unterschiedliche Weise reflektiert, kann diese Maschine unterscheiden, ob ihr gerade eine PET-Flasche, ein Joghurtbecher aus Polystyrol oder ein Shampoobehälter aus Polyethylen entgegenkommt. "Die Trefferquote der Nahinfrarot-Sortierung liegt bei 95 Prozent", sagt er. "Wir lassen die Teile hier zweimal durchlaufen, dadurch erreichen wir die hohe Qualität."Am Fuß des Trichters, der vom Bagger auf der anderen Seite der Wand kontinuierlich befüllt wird und der für einen gleichmäßigen Materialstrom sorgt, reißen Zahnräder die gelben Säcke auf. Die losen Einzelteile fallen auf ein Band, das sie zu einer Siebtrommel befördert. Das Gerät hat einen Durchmesser von vier Metern und ist 18 Meter lang, es trennt alle Teile vom Strom, die kleiner als drei Zentimeter sind und bei denen es sich in der Regel um Fremdkörper handelt. An seinem Kopfende kann man durch ein kleines Kontrollfenster ins Innere der Maschine schauen. Dort tanzen Plastik- und Papierfetzen lautlos und zeitlupenartig durch die rotierende Trommel wie seltsame Lebewesen aus der Tiefsee. +Die einzelnen Sorten werden auf verschiedene Bänder gepustet und landen dann in einem speziellen Container. Am Ende werden die Einzelteile aus den Containern zu nahezu sortenreinen Ballen mit einem Volumen von etwa einem Kubikmeter und einem Gewicht von etwa 600 Kilogramm gepresst. Der Weg vom Trichter bis zum Ballen dauert 30 bis 45 Minuten. Auf diesem Weg haben sich 90 Prozent der Abfälle, die von den Transportern herbeigekarrt wurden, in Wertstoffe verwandelt. Was übrig bleibt, wird größtenteils als Ersatzbrennstoff in eine Zementfabrik geliefert. +Die Ballen werden nun von Gabelstaplern nach Wertstoffgruppen geordnet – neben den verschiedenen Verpackungsmaterialien und Folienarten sind das zum Beispiel Aluminium, Papierreste und Styropor – und auf dem Hof der Anlage zwischengelagert. Hier bleiben sie allerdings nicht lange stehen. "Es dauert in der Regel nur drei Tage, bis das sortierte Material wieder abtransportiert ist," sagt Dirk Mellen. Spezialisierte Abnehmer sind bereit, gutes Geld dafür zu zahlen. Zur Weiterverarbeitung werden die Wertstoffballen in die verschiedensten Richtungen abtransportiert. Um zwei Kunststoffarten kümmert sich Alba selbst: Polyethylen (PE) und Polypropylen (PP) kommen in eine Verwertungsanlage auf dem Gelände des Stahlwerks im rund 100 Kilometer entfernten Eisenhüttenstadt. +Auch für diesen Betrieb ist Herr Mellen als Geschäftsführer verantwortlich. Hier riecht es etwas intensiver als in der Sortieranlage, da das Plastik im Zuge der Weiterverarbeitung eingeschmolzen wird. Für eine Tonne Kunststoff zahlt seine Firma im Schnitt etwa 200 Euro an die Dualen Systeme (siehe Kasten rechts). Nach der Aufbereitung in Eisenhüttenstadt hat sich der Wert des Materials ungefähr verfünffacht. Auch hier geschieht fast alles automatisch: Die schweren Ballen landen zunächst in einem Schredder, der die Kunststoffteile auf Bierdeckelgröße zerkleinert. Das geschredderte Material wird klein gemahlen und in heißem Wasser gewaschen, die Papieretiketten lösen sich dabei ab und werden herausgefiltert. Eine Zentrifuge trennt nun die schwimmenden von den sinkenden Teilen, daraufhin wird der Materialstrom getrocknet und mit Luftstößen nach Gewicht unterteilt. +Die leichten Partikel werden zu einem rieselfähigen Agglomerat verdichtet, die schweren in einem sogenannten Extruder zu einer dickflüssigen Masse verschmolzen. Diese Masse wird am Ende durch eine Art Fleischwolf gedreht, der strohhalmdicke Fäden ausspuckt. Diese Fäden werden in kleine Stücke geschnitten, bevor sie trocknen und hart werden. Was dabei herauskommt, ist ein grobkörniges Granulat, das von Weitem ein bisschen an Rollsplitt erinnert. "Unser Rezyklat ist sehr vielseitig einsetzbar", sagt Dirk Mellen. +Es wird unter anderem zu Blumenkübeln, Gartenstühlen, Plastikbehältern und Autoteilen verarbeitet. Immer wieder kommen neue Anwendungen hinzu. Durch Zugabe von Chemikalien während der Extrusion können die Eigenschaften des Kunststoffes beeinflusst und zum Beispiel farblich an die Bedürfnisse der Kunden angepasst werden. Die Qualität des Ausgangsmaterials ist beim Recycling von Kunststoffen jedoch kaum erreichbar. Ein Phänomen, das auch als Downcycling bezeichnet wird. Ein Joghurtbecher kann also nicht als Joghurtbecher wiedergeboren werden. Aber als Blumenkübel macht er sich ja auch ganz gut. +Heiko Zwirner war sechs Jahre lang Chefredakteur des Berliner Stadtmagazins "Tip" und arbeitet heute wieder als freier Autor. Keiner kennt die Hauptstadt besser als er. Aber die Müllsortierungsanlage am östlichen Stadtrand war sogar für ihn Neuland. diff --git a/fluter/da-habt-ihr-den-salat.txt b/fluter/da-habt-ihr-den-salat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5b7cb30191a5b23278157976cd194e0bd238e1df --- /dev/null +++ b/fluter/da-habt-ihr-den-salat.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Peter Janoth, 47 Jahre alt, Fünftagebart, die Zähne gefärbt von Selbstgedrehten, ist Frischgemüsefreak, seit er mit Anfang zwanzig als Fahrer für Hamburgs Sterneköche arbeitete, manchmal 20 Stunden am Tag, von morgens fünf bis nachts um eins. Von ihnen schaute er sich nicht nur die Leidenschaft für Gemüse an sich ab, für Frische, Farbe und Fantasie bei der Verarbeitung, sondern auch den Blick fürs Außergewöhnliche, für Sorten, die es sonst nirgendwo zu kaufen gibt. Heute hat er beispielsweise 15 verschiedene Tomatensorten im Angebot: kleine gelbe Zitronentomaten, große grüne und rote in Form eines Herzens. Die Samen dafür hat er aus allen möglichen Quellen, etwa von der eigenen Großmutter, die ihm einst erzählt hatte, dass es im ehemaligen Jugoslawien nicht nur rote runde Tomaten zu kaufen gab. +Ende der Neunzigerjahre kam Janoth nach Groß Kreutz, um sich in den Anlagen einer ehemaligen DDR Gärtnerei selbstständig zu machen. Er siebte die Erde und installierte ein Bewässerungssystem. Heute wachsen bei ihm insgesamt 100 Gemüse- und Kräutersorten; zehn Sorten Salat, zehn Sorten Kürbis, verschiedene Wildbeeren und etwa 50 Kräuterarten. Es gibt blaue Karotten und den Roten Meier, eine alte Spinatsorte. In der brandenburgischen Provinz nennen sie ihn den Kräuterpeter. Wenn er durch den Wald spaziert, auf der Suche nach Kräutern, an denen andere achtlos vorbeilaufen, rufen ihm die Leute zu: "Lass den Vögeln auch etwas übrig." +Zweimal pro Woche steigt Janoth in seinen Lieferwagen, um das Gemüse nach Berlin zu bringen. Damit der Ware unterwegs im Sommer nicht zu warm und im Winter nicht zu kal wird, hat er quer durch die Fahrerkabine einen mit Alufolie ummantelten Schlauch gelegt, der die Klimaanlage mit dem Laderaum verbindet. Er weiß aufs Grad genau, welcher Salat bei welcher Temperatur den Kopf hängen lässt. +Seine Kunden sind Restaurants mit gehobenem Anspruch, manche auch mit gehobenem Preisniveau. Zum Beispiel das Edelrestaurant "Margaux" unweit des Brandenburger Tors. Mit seiner gedämpften Atmosphäre, den Kellnern, die nur flüsternd von dem Gemüse sprechen, das Janoth bei sich anbaut, und einer Speisekarte, auf der zum Beispiel "eine kulinarische Reise durch den Tomatengarten" ab 60 Euro angeboten wird, könnte die Welt des "Margaux" von der des Peter Janoth nicht weiter entfernt sein.Was Michael Hoffmann, den Küchenchef des "Margaux", und Janoth aber verbindet, ist die Leidenschaft für Gemüse und dafür, dass alles seine Zeit hat. "Wenn man das ganze Jahr über alles im Supermarkt kaufen kann, geht Vielfalt, Wissen und Geschmack verloren", sagt Janoth. Zusammen mit den Küchenchefs "etwas auf die Beine zu stellen", wie er es nennt – daran hat Janoth Spaß. Sie rufen ihn an und wollen wissen, was gerade bei ihm wächst, oder erzählen ihm, was sie gern auf die Karte nähmen, und fragen, ob er dazu ein passendes Kraut hat. Er antwortet ihnen dann, was Saison hat. Was dem Kunden nicht gefällt, fliegt wieder aus dem Sortiment – was ihm nicht gefällt, kommt gar nicht erst rein. +Gemüse anzubauen, zu dem er keine Beziehung aufbauen kann, kommt nicht infrage. "Da hab ich keinen Bock drauf", sagt er und dreht sich an der Theke seines Gewächshauses, an der im Sommer das Gemüse geputzt und geschnitten wird, eine Zigarette, so luftig, dass sie nach dem zweiten Zug schon wieder aus ist. Zum Ende dieses Jahres wird er die Türen seiner Anlage ein letztes Mal hinter sich abschließen. Seine Frau hat einen Job in Bremen gefunden, in Janoths alter Heimat. Weil sie jahrelang seiner Leidenschaft wegen in Groß Kreutz blieb, ist nun er an der Reihe, ihr zu folgen. Als Janoth seinen Köchen die Nachricht überbrachte, hätten manche Tränen in den Augen gehabt, erzählt er. An wen er "Naturally Good" verkaufen wird, steht noch nicht endgültig fest. Er sieht sich die Kandidaten sehr genau an. "Man muss einen Tick haben und das machen wollen." So wie es der Kräuterpeter zehn Jahre lang gemacht hat. +Unser Autor Kai Schächtele hat das Gemüse probiert und versucht sich jetzt selbst an einem Beet auf seinem Balkon, wo bisher gar nichts wächst außer Unkraut. diff --git a/fluter/da-ist-der-wurm-drin.txt b/fluter/da-ist-der-wurm-drin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bc98f22e69e1942b2b77164e26c47818b34becef --- /dev/null +++ b/fluter/da-ist-der-wurm-drin.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +"Wir beobachten durchschnittlich 150 gezielte Angriffe täglich auf Unternehmen und Institutionen weltweit", erklärt Candid Wüest, der in Zürich als Sicherheitsexperte bei Symantec arbeitet. Das Software-Unternehmen hat sich auf die Bekämpfung von Schadprogrammen spezialisiert. Dabei sind die Zeiten vorbei, in denen sich Computerviren wie gigantische Grippewellen über den Globus ausbreiteten. Heute bekommt buchstäblich jedes Opfer seinen eigenen, individuell konfektionierten Wurm. Baukästen dazu gibt es in illegalen Foren im Internet. Und auch das Einschleusen wird geschickt eingefädelt: "Oft bekommen ganz bestimmte Personen in einem Unternehmen eine E-Mail mit einem Trojaner im Anhang." Die Anschreiben sind ordentlich formuliert, inhaltlich plausibel, thematisch interessant. Die Absender recherchieren genau, welchen Köder sie verwenden müssen. Bei "Red October" waren es Anzeigen für günstige Diplomatenwagen, zum Beispiel ein Mazda von 1998 für 2.700 Dollar. +Einen Klick später ist der Wurm bereits in den Computer eingedrungen. Und setzt von hier aus seine Reise fort. Dazu errichtet er zunächst ein Basislager, ein sogenanntes Rootkit, von dem aus er unerkannt weiter operieren kann. Oft wird dann weitere Software über das Internet nachgeladen, selten – wie bei "Stuxnet" – führt der Wurm schon seine komplette Werkzeugkiste mit sich. Zu der üblichen Vorgehensweise eines Wurms gehört auch die Installation eines geheimen Zugangs, genannt Backdoor, über den man von außen unbemerkt in den befallenen Computer eindringen und ihn weiter zweckentfremden kann, zum Beispiel als Spamschleuder. +Um Spam geht es bei den höher entwickelten Würmern allerdings fast nie – sondern meistens um Spionage oder Sabotage. Selbst wenn das Schadprogramm später auf Hunderten Rechnern nachgewiesen wird, ist das oft nur ein Kollateralschaden. Auf Computern oder in Netzwerken, für die sie sich nicht interessieren, bleiben die Eindringlinge harmlos. "Würmer sammeln in der Regel erst einmal Informationen über das sie umgebende System. Erst wenn sie genau dort sind, wo sie hinwollen, werden weitere Module nachgeladen", so Wüest. Das passiere zum Teil automatisch, zum Teil auch manuell. +Nur wer ist das? Der E-Mails mit Trojanern schreibt, Würmer fernsteuert, die erbeuteten Daten auswertet oder Industrieanlagen manipuliert? Um viele Cyberattacken ranken sich Mutmaßungen und Verschwörungstheorien. Als 2007 in Estland Teile des Internets zusammenbrachen und Webseiten von Banken, Regierungsbehörden und Medien tagelang nicht erreichbar waren, verdächtigte man zunächst die russische Regierung. Schnell lag das Wort Cyberwar in der Luft, die Nato schaltete sogar Sicherheitsspezialisten ein. Später stellte sich heraus, dass der Angriff relativ dilettantisch ausgeführt worden war, vermutlich steckten russische Nationalisten dahinter. +Anders bei "Red October", "Stuxnet" oder "Flame", einem Spionageprogramm, das 2012 auf Computern im Nahen Osten nachgewiesen wurde. Diese Würmer beeindruckten die Analysten durch ihre extrem komplexe Funktionsweise. Schnell wurde angenommen, dass hier monatelang hochspezialisierte Teams von Informatikern und Ingenieuren an der Arbeit gewesen sein müssen. Die Kosten für die Entwicklung werden auf mehrere Millionen Euro geschätzt. Summen, die sich weniger Kriminelle, sondern eher Regierungen und deren Militärs und Geheimdienste leisten können. Bei "Red October" gibt es Hinweise auf eine chinesisch-russische Urheberschaft, noch sind das aber nur Vermutungen. Bei "Stuxnet" und "Flame" dagegen hat sich der Verdacht weitgehend bestätigt, dass die USA und Israel die Auftraggeber waren. +Dazu passt, dass in Washington ohnehin die Ausweitung der digitalen Kampfzone vorangetrieben wird. Laut US-Medien stockt das Pentagon seine Cyberstreitkräfte in den nächsten Jahren von zurzeit 900 auf knapp 5.000 Netzsoldaten auf. Auch in der deutschen Hackerszene weiß man davon. "Die kaufen gerade für sehr viel Geld gute Köpfe ein", sagt ein Insider. Friedensnobelpreisträger Barack Obama befürwortet den Kurs, der US-Präsident hat im Herbst 2012 einen nichtöffentlichen Erlass unterzeichnet, der dem amerikanischen Militär auch Angriffe auf fremde Computernetze erlaubt. +In Europa sehen viele Experten diese Entwicklung kritisch. Zwar hat auch die EU-Kommission gerade eine Richtlinie für mehr Cybersicherheit vorgestellt, darin geht es aber vor allem um eine erweiterte Meldepflicht für Cyberzwischenfälle. Werden Infrastrukturbetriebe wie Wasserwerke, Energieversorger, Finanzdienste oder Serviceanbieter im Internet (zum Beispiel Suchmaschinen oder soziale Netzwerke) gezielt angegriffen, ausgespäht oder sabotiert, so sollen sie künftig staatliche Sicherheitsbehörden benachrichtigen müssen – damit die gegebenenfalls einschreiten können. Vertuschung aus Angst vor Imageschäden wäre dann verboten. +Zugleich warnte Neelie Kroes, Vizepräsidentin der EU-Kommission, aber auch vor einem globalen Wettrüsten. Auf Twitter schrieb sie an ihre knapp 62.000 Follower: "We want a peaceful strategy because you don't want to play w/ fire by developing cyberweapons." Der Schweizer Candid Wüest findet digitale Vergeltungsschläge, wie sie die USA ihren Feinden mittlerweile pauschal androhen, problematisch. "Auch wenn es aussieht, als käme eine Attacke von Servern eines bestimmten Landes, muss das nicht stimmen." Im Internet kann man nie ganz sicher sein, wer der Gegner ist. Außer man sitzt in Tallinn, am Finnischen Meerbusen. Da sind die Bösen im roten Team und die Guten im blauen. diff --git a/fluter/da-ist-noch-luft-nach-oben.txt b/fluter/da-ist-noch-luft-nach-oben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dd02f3ee7378edf43fa457da544a391d20c5caed --- /dev/null +++ b/fluter/da-ist-noch-luft-nach-oben.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Um den Klimawandel zu stoppen, müssten wir den Ausstoß von Treibhausgasen auf zwei Tonnen pro Nase und Jahr reduzieren. Sagt der Weltklimarat und demotiviert uns in Grund und Boden. Schon geht das gute Gefühl aus dem Supermarkt flöten. Die Umwelt ist nicht zu retten. Also machen wir Urlaub von unserer Verantwortung und drucken im Schummerlicht der Energiesparlampen einen Satz Flugtickets aufs Recyclingpapier. +Ganz oben in der Hitliste der Gründe für die selbst verschuldeten Klimakatastrophe: das Reisen. "Der Flug von Berlin nach New York und zurück verursacht Emissionen von zweieinhalb Tonnen CO2", sagt Kathrin Dellantonio vom Klimaschutzprojekt myclimate, einer gemeinnützigen Schweizer Stiftung. In etwa die gleiche Menge produzieren wir, wenn wir 16.000 Kilometer Auto fahren. 2,5 Tonnen CO2. Die entstehen, wenn eine Molkereifirma 250 kg Käse herstellt. Oder eine Brauerei 9.200 Liter Bier. +Beim Fliegen schießt die CO2-Bilanz durch die Decke. Diese Erkenntnis ist ein entscheidender Schritt. Auch Fluggesellschaften wollen ihre Emissionen senken, schon aus wirtschaftlichem Interesse, denn Kerosin ist teuer. "Sie bauen leichtere Flugzeuge, erhöhen die Bestuhlung in den Fliegern, versuchen die Routen zu optimieren", erklärt Dellantonio. Und suchen nach alternativen Treibstoffen aus Ölpflanzen, für die gern mal ein paar Tausend Hektar Regenwald gerodet und Landwirte vertrieben werden. Einige Biodieselprojekte sind schon wieder begraben. Zu wenig Fachwissen, zu viele Fehler, zu wenig Zeit für die Entwicklung. +Bei der Reiseplanung kreist das Gewissen vor allem um die Wahl des Transportmittels. Umweltschutz kostet entweder Zeit oder Geld. Kompensiere ich die Treibhausgase meines Fluges mit einer Ausgleichszahlung? Soll ich lieber in den Bus steigen? +"Auf Kurzstreckenflüge sollten Sie möglichst verzichten", sagt Johannes Reißland vom "forum anders reisen", einem Tourismus- verband, der auf ökologisch verantwortungsvolles Reisen ausgelegt ist. "Hierzulande kann man bei solchen Strecken gut auf die Bahn umsteigen. Auch ein Blick auf die neuen Fernbusse lohnt sich." Die Busunternehmen erweitern ihr Streckennetz ständig und werfen zurzeit mit Sparpreisen um sich. Ein Fahrgast im Bus verbraucht nur halb so viel CO2 wie einer im Zug. +Doch spätestens an der Küste enden Straßen und Schienen. Weitere Strecken lassen sich nur im Flieger überwinden. Ob ein Flug angemessen ist, könne man an der Aufenthaltsdauer festmachen, rät Johannes Reißland. "Ab 3.800 Kilometer Strecke sollte man mindestens acht Tage an seinem Ziel bleiben. Vielleicht reicht es ja auch, bloß einmal nach Lanzarote zu fliegen und die Insel komplett zu erkunden, anstatt jedes Jahr nur stückweise." +Wer über den Wolken zu viel über das Schmelzen des Eises an den Polkappen nachgedacht hat, kann sich immer noch frei- kaufen. Stiftungen und Organisationen bieten an, dass man durch Ausgleichszahlungen ökologische Projekte unterstützen kann. Wälder pflanzen, erneuerbare Energien fördern und so weiter. +"Mit den CO2-Rechnern im Netz lassen sich die Emissionen genau ermitteln", sagt Kathrin Dellantonio. "Durch eine entsprechende Gegenzahlung kann man dann genauso viel CO2 einsparen, wie man im Flugzeug verursacht hat." Ein moderner Ablasshandel. +Bei einem Transatlantikflug kostet das Gewissen bereits um die 60 Euro. Klingt nach viel Geld. Im Vergleich zu dem kleinen Vermögen, das ohnehin schon bei der Reisebuchung draufgegangen ist, geht es vielleicht wieder. Und tatsächlich scheint es so etwas wie ein sachtes Umdenken zu geben, sogar in den Köpfen der Schnäppchenurlauber. "In den vergangenen Jahren entdeckten immer mehr Leute eine Art Lebensqualität im Umweltbewusstsein", sagt Johannes Reißland. "Unsere Kernklientel sind natürlich nach wie vor die Lohas. Aber daneben steigt die Zahl der Kunden, die fairer reisen wollen." Loha steht für "lifestyle of health and sustainability", für einen Lebensstil, der Wert auf Gesundheit und Nachhaltigkeit legt. +Weil die Nachfrage wächst, springen auch die Reiseunternehmen auf den Zug auf und bieten nachhaltigen Tourismus an. Der beschränkt sich längst nicht mehr auf alternative Transportmittel und Fluggesellschaften mit annehmbarer CO2-Effizienz. "Natürlich macht es auch einen Unterschied, ob Sie Ihren Urlaub in einer Hotelkette oder in einer privat geführten Pension buchen", erklärt Reißland. "Ob Sie sich abends auf das riesige Buffet stürzen, von dem die Hälfte im Müll landet, oder ob Sie lieber selber kochen." Oder ob man bei Ausflügen gern wandert und Fahrrad fährt oder lieber mit dem Jeep durch den Nationalpark und mit dem Motorboot übers Korallenriff brettert. +Denn mehr noch als organisierte Umwelthilfe im Tourismus hilft wohl letztlich die persönliche Einstellung: Müssen wir wirklich in die Dominikanische Republik, um am Pool ein Buch zu lesen, oder geht das auch an einem See in Deutschland? Und will das Selfie vor dem regenwaldumrankten Archipel wirklich jemand sehen? Wer sich auch mal solche Fragen stellt, ist schon auf einem guten Trip. diff --git a/fluter/da-legst-dich-nieder.txt b/fluter/da-legst-dich-nieder.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..738fbac44fa02a52c7fd494ff6a80acbcbf28b22 --- /dev/null +++ b/fluter/da-legst-dich-nieder.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Schüler bis etwa zum 13. Lebensjahr haben ihre erste Hauptlernphase zwischen 8 und 10 Uhr und die zweite zwischen 14 und 16 Uhr, während Jugendliche vom 14. Lebensjahr an ihre erste Hauptlernphase von 10 bis 12 Uhr und ihre zweite von 15 bis 17 Uhr haben. Man sollte also bis zur Klassenstufe 7 beim Beginn um 8 Uhr bleiben und für die Schüler ab Klasse 8 um 9 Uhr beginnen. Eine andere Erkenntnis, die zum Gleichmacherischen vieler Schulen nicht passt: Schüler bis etwa zum 13. Lebensjahr lernen besser ohne Noten, aber ab 14 mehr mit Noten. Auch das ist eine Einsicht der Hirnforscher: Kinder lernen aus Kommunikation, durch Handeln, durch Fehlermachen und durch Einsicht, nicht aber unbedingt der Noten wegen. Besonders die Jungen lernen besser über Handeln, Ausprobieren und durch Fehlermachen, Mädchen auch durch Zuhören. Da auch in den Familien bei uns die kleinen Mädchen mehr Ansprache, Körperkontakt und soziale Herausforderungen erfahren als die kleinen Jungen, bleiben Letztere immer häufiger auf der Strecke. +Dass das alles nicht so sein müsste, belegen Norwegen, Schweden und Finnland. Dort findet man bei 15-Jährigen kaum geschlechtsspezifische Unterschiede, weder bei den Schulleistungen noch beim sozialen Engagement noch bei den Zukunftsperspektiven. Bereits im Vorschulalter werden in Skandinavien kleine Jungen von ihren Eltern ebenso behandelt und erzogen wie kleine Mädchen. Die Jungen fühlen sich auch nicht als das überlegene Geschlecht, und ihre rechte Hirnhälfte mit dem Emotionalen, Musischen, Kreativen, Kommunikativen und Sozialen wird sowohl in der Familie als auch in der Schule genauso angesprochen und gefördert wie die linke. Die deutschen Schulen sind hingegen immer noch überwiegend linkshirnige Einrichtungen, die eigentlich nur das Logische, Rationale, Zahlenverständnis, Raumvorstellungsvermögen und die technischen Anteile von Sprache zu entwickeln trachten. +Mittlerweile besteht bundesweit ein relativ großer Konsens darüber, dass Schüler mehr Individualisierung beim Lernen benötigen. Mit seinem dreigliedrigen Schulsystem und der Ergänzung der Sonderschulen hat Deutschland eine extrem ausgebaute Trennungskultur entwickelt, die viele Schulversager, Schulabbrecher und überhaupt viele lädierte Schülerseelen produziert hat. So wissen wir erst heute, dass intelligente Kinder langsamer lernen, weil sie so viel zu bedenken haben, während nicht so kluge schneller lernen. Wir haben einseitig Begabte, leserechtschreibschwache und rechenschwache sowie hyperaktive Kinder und vor allem Jungen in Massen scheitern lassen. Wenn Schüler hingegen in integrierten Schulen (Gesamtschulen, Integrationsklassen, jahrgangsübergreifende Klassen, flexible Eingangsphasen, Gemeinschaftsschulen und längere Grundschulen) ohne die Gefahr des Sitzenlassens lernen, wenn sie durch Handeln und Fehlermachen lernen dürfen, dann kommt niemand mehr auf die Idee, dass sie alle gleich leistungsfähig sind. Das ist das aktuelle Gebot der Individualisierung, mit dem zugleich gesellschaftliche Integration begünstigt wird. Den Deutschen Schulpreis 2007 hat die Robert-Bosch-Gesamtschule – eine integrierte Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe – in Hildesheim gewonnen. Dort hat jeder Schüler einen anderen Stundenplan. +Wer Schüler belehrt, statt sie selbst lernen zu lassen, wer viel von Vergleichsarbeiten und zentralen Abschlussprüfungen hält und wer Schulen alle zwei Jahre landesübergreifend quervermisst, der versündigt sich an dem Gebot des individualisierenden Vorgehens. Wer als Lehrer Lernziele wie Ostereier versteckt und dann erwartet, dass alle vor ihm sitzenden Schüler in den gleichen kleinen Schritten am Ende von 45 Minuten diese Ziele gefunden haben (wir nennen das "Osterhasenpädagogik"), der muss sich auf sehr schlechte Ergebnisse gefasst machen, zumal er dann nicht nur die Jungen benachteiligt, sondern in den Schülern auch eine artige "Buchhaltermentalität" aufbaut, was das Gegenteil von Selbstständigkeit und Kreativität ist. Wie sagte doch der Entwicklungspsychologe Jean Piaget? "Alles, was einem beigebracht wird, hat den Nachteil, dass man nicht mehr selbst drauf kommen kann." diff --git a/fluter/da-tanzen-sie-die-studierenden.txt b/fluter/da-tanzen-sie-die-studierenden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..53cb44b71ef40aee19eb0fc23ab40916bbcf55a2 --- /dev/null +++ b/fluter/da-tanzen-sie-die-studierenden.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +In diesem Sinne verschwinden an Universitäten in ganz Deutschland allmählich die Studentenwerke, weil "der Student" offensichtlich männlichen Geschlechts ist. Es handelt sich um ein generisches Maskulinum, bei dem die männliche Form das andere Geschlecht generös mitmeint. Mit der Verwendung des generischen Femininums ("Studentinnenwerk") ist es natürlich nicht getan. Und deshalb gibt es bundesweit immer mehr Studierendenwerke. So ein Studierendenwerk entspricht dem Gender Mainstreaming, also der Gleichstellung der Geschlechter auf allen gesellschaftlichen Ebenen. +Doch es regt sich Widerstand gegen die "forcierte -Gendersprache". Linguisten ohne politische Hintergedanken weisen zu Recht auf die Tücken des Partizip Präsens hin. Die Studentin bleibt eine Studentin, auch wenn sie gerade ihre Eltern besucht. Studierende ist sie nur im Hörsaal oder in der Bibliothek, wenn sie sich gerade ihrem Studium widmet. Abends auf der Party ist sie vielleicht eine tanzende Studentin, ganz sicher aber keine tanzende Studierende – es sei denn, sie hat ihre Bücher beim Tanzen dabei. +Seit den 1970er-Jahren geben feministische Sprachwissenschaftlerinnen zu Recht zu Bedenken, dass die Sprache seit Jahrhunderten zugunsten der Männer vorgeprägt ist. Und fordern, dass sich ein modernes Verständnis vom Verhältnis Frau zu Mann auch in der Sprache abbilden sollte. Besonders umstritten aber bleiben Neuschöpfungen, die etwa die Herkunft eines Begriffs ignorieren. Als Beispiel für die patriarchale Abwertung der Frau wird gern das Adjektiv "dämlich" genannt. Es klingt nur nach "Dame", tatsächlich leitet es sich vom lateinischen Wort "temulentus" (betrunken) ab. Auch erscheint es auf den ersten Blick konsequent, "man" kurzerhand durch "frau" zu ersetzen – doch das Althochdeutsche meinte damit ohnehin "irgendeinen beliebigen Menschen". Es klingt nur wie "Mann". +Wie ein reaktionärer Pedant wiederum klingt, wer unter Hinweis auf linguistische Feinheiten eine Verarmung des Deutschen beklagt. Was spricht gegen den Versuch, den Sprachwandel in eine Richtung zu lenken, an der kein vernünftiger Mensch etwas auszusetzen haben kann? So hat sich das überflüssige "Fräulein" bereits selbst entsorgt, der "Lehrling" unmerklich durch den "Auszubildenden" ersetzen lassen. Geht doch! +Ob wir aber einer gerechteren Gesellschaft durch sprachliche Kosmetik tatsächlich näher kommen, muss sich noch weisen. Fragwürdig bleibt die Prämisse der geschlechtergerechten Sprache, die sogenannte Sapir-Whorf-Hypothese, nach der das Denken eines Menschen durch Grammatik und Wortschatz -beeinflusst wird. Diese Theorie ist weder belegt noch bewiesen. Viele Sprachforscher halten das Sprechen für ebenso wirkmächtig wie das Handeln. Sie reden von "Sprachhandlungen", mit denen sich bestimmte Situationen angeblich in erwünschter Weise verändern lassen. Allerdings sind sogar abwertende Begriffe wie "Neger" oder "Zigeuner"* längst allgemein geächtet – rassistische Abwertung gibt es aber immer noch. Ein Problem, das aus der Sprache entfernt wurde, bleibt womöglich ein Problem. +Mit der sprachlichen Gleichberechtigung von Mann und Frau ist es eh nicht getan, wenn es daneben noch viele andere Geschlechtsidentitäten gibt. Das Binnen-I etwa in "LeserIn", einst als Errungenschaft gefeiert, wird heute wegen seiner Annahme der Zweigeschlechtlichkeit oft abgelehnt. Wer alle nur denkbaren Geschlechteridentitäten in seine Ansprache einbeziehen möchte, kann den als "Gender Gap" bezeichneten Unterstrich verwenden und die "Leser_innen" ansprechen, je nach Lehrmeinung auch die "Le_serin" oder die "Leser*n". Eine Professorin in Berlin will gängige Geschlechtsvorstellungen durchkreuzen und firmiert bereits unter "Professx". +So ein spielerisches Sprachregime lässt sich an der Akademie errichten, doch schon Unternehmen halten sich spürbar zurück. Und es ist mehr als fraglich, ob es radikale Vorschläge wie "Professx" jemals in den allgemeinen Sprachgebrauch schaffen. +Wer es aber befürwortet, muss kein "Gender-Irrer" sein. Wer sich dagegen sträubt, ist nicht zwangsläufig ein Sexist. Vielleicht ist die Schärfe der Auseinandersetzung aber auch ein gutes Zeichen. Denn das offene Geschlechterverhältnis unserer Tage ist nicht nur historisch beispiellos. Es ist auch sprachlos. Damit das nicht so bleibt, gilt vor allem eins: Wir müssen reden. diff --git a/fluter/dabbawalas-mumbai-lieferdienst.txt b/fluter/dabbawalas-mumbai-lieferdienst.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e4c382f7ee7a640c77a8fef06497e64d997d6907 --- /dev/null +++ b/fluter/dabbawalas-mumbai-lieferdienst.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Die Geschichte der Dabbawalas geht mehr als 130 Jahre zurück. Unter britischer Kolonialherrschaft kamen Menschen aus allen Teilen des Landes zum Arbeiten nach Mumbai. Und mit ihnen etliche Gemeinschaften, die andere Geschmäcker und religiöse Essensvorschriften hatten als die Kolonialherren. Ein Geschäftsmann eröffnete ein Unternehmen, das die von den Ehefrauen oder Müttern zu Hause zubereiteten Gerichte zu den Männern an den Arbeitsplatz brachte. +Auch Sandeep wurde Dabbawala, als er neu nach Mumbai kam, in den 1990er-Jahren war das. Seitdem hat sich die Bevölkerung der Metropolregion nahezu verdoppelt, die Rushhour hört gar nicht mehr auf, und die meisten Mahlzeiten müssen aus den Mittelschichtswohngegenden im Norden in das Geschäftszentrum im Süden gebracht werden. Um die Strecken schnell und günstig zurückzulegen, setzen Dabbawalas auf einen eigenen Verkehrsmix. Fast jede Lunchbox wechselt mehrmals das Transportmittel, bevor sie ihr Ziel erreicht. Wenige nutzen einen Roller, fast alle ihr Fahrrad, um durch die dicht befahrene Stadt zu kommen, "und die Bahn", sagt Sandeep, "die ist unsere Lebensader". +Er hat mittlerweile alle Mahlzeiten eingesammelt und wird jetzt zum Bahnhof Navi Mumbai zurückkehren. Das System ist einfach und komplex zugleich: An einem örtlichen Bahnhof sortieren die Dabbawalas die Boxen von Hand für die Weiterlieferung an Bahnhöfe im Zentrum Mumbais und bringen sie von dort zu ihren Bestimmungsorten, bei langen Touren über mehrere weitere Zweigbahnhöfe. Die schiffchenförmige weiße Kopfbedeckung hilft ihnen, sich auf überfüllten Plätzen wiederzuerkennen. Dank eines Codes aus Ziffern, Buchstaben und Farben, der auf die Box gemalt ist, wissen die Boten, woher die Box kommt, welche Bahnhöfe sie passieren muss und an welcher Adresse der hungrige Empfänger wartet. Die Boxen wandern oft durch mehrere Hände und kommen trotzdem pünktlich an. +Diese eigenwillige, kleinteilige Logistik hat Ökonomen und Firmen inspiriert. Sie lockt Touristen an, die Touren zu den Dabbawala-Spots unternehmen, das können Bürgersteige sein, Straßenecken oder die Bereiche vor Fahrkartenschaltern, an denen die Fahrer Dabbas sortieren, ihre Fahrräder parken und sich austauschen. Dank ihres Systems konnten die Dabbawalas neben den aufkommenden Bürokantinen, multinationalen Fast-Food-Kettenund Lieferservicesbestehen. +"Die Dabbawalas sind ein fester Bestandteil unserer Stadt", sagt Firoza Dadan. Als erste Fahrradbürgermeisterin Mumbais förderte sie das Radfahren in der Stadt als Freizeitbeschäftigung, als Transport- und eben auch als Arbeitsmittel. Gerade macht sich Dadan mit einer niederländischen NGO für Straßenarbeiten stark: Schlaglöcher sind für die vollgeladenen Fahrräder ein Problem. Und Hindernisse gebe es auch so genug. Im Großraum Mumbai leben etwa 22 Millionen Menschen, jeden Tag machen neue Baustellen auf, die Luftfeuchtigkeit ist hoch, im Sommer kann es wochenlang regnen. Und die Pandemie war auch für die Dabbawalas eine Zäsur: Vor 2020 lieferten 5.000 Kuriere jeden Tag rund 200.000 Mahlzeiten aus. Aber weniger Angestellte in Büros heißt weniger Lieferessen, rund die Hälfte der Dabbawalas macht heute andere Jobs, sie fahren Autorikscha, arbeiten in der Landwirtschaft oder als Wachmänner. +Dieser Text istim fluter Nr. 92 "Verkehr"erschienen +Während der Pandemie verteilte Sandeep Lebensmittel statt Mittagessen. Um der Konkurrenz zuvorzukommen, passte er seine Route an. Statt bis in den Süden der Stadt zu juckeln, konzentrierte er sich auf die Satellitenstadt Navi Mumbai: Hier steht der größte Obst- und Gemüsemarkt der Region, der vor Tagesanbruch öffnet. "Sandeep ist pünktlich und versteht sein Handwerk", lobt einer der Händler dort. +Sandeep kennt die Gewohnheiten seiner Kunden, oft auch ihre Sorgen. Er arbeitet sechs Tage die Woche für 10.000 bis 15.000 Rupien im Monat, also höchstens 160 Euro. Eine Wohnung in der Innenstadt und ein eigenes Auto könnte er sich damit eh nicht leisten. +Nach den ersten Lieferungen des Tages findet Sandeep im nahen Tempel einen Moment der Stille. Danach sammelt er die leeren Dabbas ein und fährt sie wieder zurück zu den Familien. Noch nie hat er eine Lieferung verpasst oder das falsche Mittagessen geliefert. + +Titelbild: amnat30/shutterstock – Natalie Mayroth diff --git a/fluter/dachverband.txt b/fluter/dachverband.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/daenischer-ghetto-dichter-yahya-hassan.txt b/fluter/daenischer-ghetto-dichter-yahya-hassan.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9bd5bf689fc587c3855cf76e1992112b639492f4 --- /dev/null +++ b/fluter/daenischer-ghetto-dichter-yahya-hassan.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Hassan, Sohn palästinensischer Einwanderer, veröffentlicht 2013 seinen ersten Gedichtband. Da ist er 18 Jahre alt. Wütende Worte prasseln auf die dänische Gesellschaft ein, die gerade eine hitzige Debatte über Integration führt. Gewalt, religiöser Fanatismus, Sozialbetrug – was der Dichter beschreibt, bestätigt das Image derPlattenbausiedlungenvon Aarhus-West. Sein Gedichtband wird in Dänemark zum Bestseller, macht Hassan auch in Deutschland bekannt und löst einen Medienhype um ihn aus.Islamistenschicken ihm Morddrohungen. Rechte Politiker zitierten seine Gedichte, um zu beweisen, dass Leute wie er nicht nach Dänemark passen. Und Linke warnen vor seinen Texten, weil sieislamfeindlichen Positionendienen. Hassan muss bald unter Polizeischutz leben. +Vom Vorzeige- zum Problemviertel: Die Stadt will das Ghetto Gellerup "öffnen" ... +... für die Bewohner kann das Privatisierung und steigende Mieten bedeuten +In Interviews beteuert der Jungstar immer wieder: "Ich bin nicht verantwortlich für die Auslegung meiner Gedichte." Was er aufschreibt, handle weder explizit von Muslimen noch von Einwanderern. Es gehe um die Realität der dänischen Unterschicht in den Ghettos. Mit Maßnahmen wie dem "Ghetto-Plan" sind die Wohnblöcke immer mehr zum Symbol verkommen, an dem sich Politiker jeglicher Couleur abarbeiten. Besonders deutlich wird das in Gellerup – wo man sich uneins über die Verse des Dichters ist, der Ende April tot in seiner Wohnung aufgefunden wurde. +Dabei war Gellerup mal so etwas wie ein Vorzeigeprojekt, als man das Viertel Ende der 1960er-Jahre und in den frühen Siebzigern aus dem Boden stampfte: modernes Wohnen, eigenes Einkaufszentrum, viel Platz für Kinder. Vor allem Familien aus der unteren Mittelklasse zog es hierhin, sechs Kilometer vom Zentrum entfernt. Wer Glück hat, blickt bis heute von den oberen Balkons auf einen nahen See.Ähnlich wie in Deutschland waren in dieser Anfangszeit Gastarbeiter nach Dänemark gekommen,insbesondere Menschen aus dem Libanon und Somalia fanden später in den Sozialbauten Zuflucht. Darunter auch die Familie von Dichter Yahya Hassan. +Heute hängt schon am Plattenbau neben der Autobahnzufahrt ein Großplakat, das für den Masterplan des Viertels wirbt. Denn was die Ghettopläne der Regierung in der Umsetzung bedeuten können, spüren die Bewohner in Gellerup schon lange: Eine neue Straße zieht sich wie eine Einflugschneise durch das Viertel, das nach der dänischen Schriftstellerin Karen Blixen benannt ist – eine umstrittene Entscheidung, da Rassismusvorwürfe gegen sie im Raum stehen. + +Doppelt so hohe Strafen wie im Rest des Landes: Die dänische Regierung listet offiziell 28 Wohngebiete als "Ghettos" + +Links und rechts neben der neuen Straße ragen moderne Bauten in die Landschaft, die so aussehen, als hätte man sie gerade erst aus ihrer Plastikverpackung befreit. Studentenwohnheime, Start-up-Büros, Restaurants und Geschäfte, vieles davon ist schon gebaut. Dafür hat man alte Plattenbauten abgerissen, andere wurden saniert. Die Mieten sind gestiegen. "Gentrifizierung" nennen das Kritiker des Plans. "Öffnung des Viertels" nennen es Politik und Stadt, die immer mehr Landprivatisieren. Was in Gellerup passiert, wird wohl auch die anderen 27 Viertel treffen, die in Dänemark aktuell als Ghetto zählen. Landesweit mobilisieren Aktivisten gegen die Pläne und fordern mehr transparente Mitsprache der Bewohner. Aber der Rechtsruck scheint in Dänemark unaufhaltsam. +Dichter Yahya Hassan hatte sich nur einmal aktiv in die dänische Politik undIntegrationsdebatteeingemischt: Kurz vor der "Flüchtlingskrise" wird er 2015 Mitglied einer Kleinstpartei, die für eine pluralistische Gesellschaft wirbt. Wegen eines Drogendelikts schließt die Partei Hassan bald wieder aus. Von nun an bestimmen nicht mehr seine Lyrik, sondern seine Ausraster, Prügeleien und Stalking die Presse. 2018 ordnet das Gericht in Aarhus die Einweisung in eine psychiatrische Anstalt für Hassan an. Dort entstehen neue Zeilen. +"YAHYA HASSAN 2" erscheint im Herbst 2019. "ICH WERDE VON ZWEI MÄCHTEN ZERQUETSCHT / DIE EINE VON OBEN NACH UNTEN / DIE ANDERE VON UNTEN NACH OBEN / ICH STRÄUBE MICH MIT HÄNDEN UND FÜSSEN", schreibt der nun 24-jährige Dichter. Fast zeitgleich zur Veröffentlichung zeigt das dänische Staatsfernsehen eine Realityshow. Der Plot: Sieben weiße Dänen dürfen kostenlos in Gellerup wohnen, wenn sie sich ins Ghetto trauen. + +Ein halbes Jahr später ist Hassan tot, Fremdverschulden oder ein Gewaltverbrechen schließt die Polizei aus. Kaum jemand scheint davon überrascht zu sein. Als Hassan Anfang Mai in einem schlohweißen Sarg auf dem muslimischen Friedhof in Aarhus beerdigt wird, überschlägt sich die Stimme des Imam: "Auch unter uns gibt es schlaue Leute, Ärzte und Anwälte." Warum meinen einige Dänen, in die Ghettos kommen zu müssen, um Korane zu verbrennen? Der Imam spielt damit auf Rasmus Paludan an, einen rechtspopulistischen Politiker, der wegen seiner Anti-Islam-Proteste im ganzen Land bekannt ist. Unter den 400 Trauergästen sind viele junge Männer, die betend von Hassan Abschied nehmen. +Doch wenn man die jungen Bewohner Gellerups einige Wochen später nach ihrer Meinung über den Dichter fragt, drucksen viele herum. Etwa im Jugendclub neben dem alten Einkaufszentrum, wo sie vor Graffitiwänden auf Ballerspiele starren. Zwei Jungs, die lieber anonym bleiben möchten, erzählen, dass sie Hassans Gedichte in der Schule gelesen haben. Dort seien die Verse Pflichtlektüre. Ihr Gellerup, das mit dem neuen Fußballplatz und den vielen kleinen Initiativen, erkennen sie darin nicht wieder. +Wovon würden ihre Gedichte über das Viertel handeln? "Vom Zusammenhalt", sagt einer der beiden. Es seien einzelne Familien, die Stress machen und die Kriminalitätsrate der Viertel hochtrieben. Alle Bewohner dafür zu bestrafen, wie es der "Ghetto-Plan" vorsieht, sei ungerecht. Die Angst vor Zwangsumsiedlung, das Stigma Ghetto auf dem Arbeitsmarkt – all das beschäftigt hier viele mehr als der Tod des Dichters, der das Image der Ghettoviertel in ihren Augen beschmutzt hat. +Bei der Beerdigung hatte der Kulturbeauftragte von Aarhus gefordert, eine Straße nach Yahya Hassan zu benennen. Andere Politiker widersprachen ihm öffentlich. Die Debatte um den Dichter geht auch nach seinem Tod weiter. + diff --git a/fluter/daje-beisst-sich-durch.txt b/fluter/daje-beisst-sich-durch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fa28c9ae6253732c469713a486a9902db5044da9 --- /dev/null +++ b/fluter/daje-beisst-sich-durch.txt @@ -0,0 +1,13 @@ + +Was zeigt uns das? +"For Ahkeem" zeigt uns ein Land weit abseits des American Dream – denn dieser im amerikanischen Bewusstsein verwurzelte Aufstiegsglaube übersieht die seit Jahrzehnten stattfindende, unveränderte Diskriminierung Schwarzer in den USA. Schwarze US-Bürger werden auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt öfter benachteiligt, sie verdienen im Schnitt weniger, sie besuchen weniger gute Schulen und Colleges als Weiße, sie machen seltener ihren Abschluss und sie werden häufig Opfer von Racial Profiling. Das sagt der Film nie direkt, er nennt keine Zahlen, Daten, Fakten, aber er sagt es auf die Art, wie er über Dajes Leben berichtet. + +Wie wird's erzählt? +Mit viel Zeit – die US-Regisseure Jeremy S. Levine und Landon Van Soest begleiten Daje und ihre Familie über Jahre hinweg. So vermeiden sie Zuspitzungen und übergestülpte Dramaturgien. Den Filmemachern gelingt es dafür, das Leben der jungen Frauen in zahlreichen Details einfangen. Etwa wenn im Hintergrund der Fernseher läuft und Tausende für Michael Brown und gegen Polizeigewalt im nicht weit entfernten Ferguson auf den Straßen protestieren. Oder wenn hinter vielen Namen in Dajes Jahrbuch in Klammern "R.I.P." steht. + +Stärkste Szene +Als Daje eine Ultraschalluntersuchung beim Frauenarzt machen lässt und auf dem Bildschirm die Umrisse ihres Babys sichtbar werden. "Ein Junge", sagt die Ärztin. "Ein Junge!", sagt Daje und lächelt. Dann erklärt die Gynäkologin alle Einzelheiten, während die Kamera lange auf dem zweifelnd-betrübten Gesicht des werdenden Vaters verharrt. + +Ideal für...… alle Fans kluger, wenn auch nicht immer einfacher Dokus. + +"For Akheem", Regie:Jeremy S. Levine,Landon Van Soest,USA 2017, 89 Min. diff --git a/fluter/dan-kieran-slow-travel.txt b/fluter/dan-kieran-slow-travel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fa69865050cce7841848814066955795b87becdd --- /dev/null +++ b/fluter/dan-kieran-slow-travel.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Das geruhsame Reisen ist bei Kieran allerdings nicht nur hippe Fassade: Der 39-jährige Journalist leidet unter Flugangst – da er aber leidenschaftlich gerne reist, musste er alternative Strategien entwickeln, die ihn zu seinen Zielen brachten. Und die sind meist erheblich langsamer als ein Flug. +Kierans journalistische Texte über seine ungewöhnlichen Reisen und deren oft kuriosen Umstände brachten ihm eine breite Leserschaft ein. Durch publikumsträchtige Aktionen vergrößerte er seinen Bekanntheitsgrad zusätzlich: zum Beispiel, indem er zusammen mit zwei Freunden England durchquerte, auf einem elektrisch betriebenen Milchwagen zockelnd – und die Reise später im Radio und in einem Buch aufbereitete. +Es gibt tausende Bücher über das Reisen, und eine Auswahl stellt Kieran in seinem eigenen Buch mit jeweils ein paar Sätzen auch vor. So zitiert er Passagen von Reiseautoren, die für ihn Vorbilder sind – wie Laurie Lee – und trauert den Zeiten der ersten Baedeker-Reiseführer nach: Als diese im 19. Jahrhundert erschienen, war das "gemächliche Reisen" nämlich noch keine Seltenheit. +Den Briten interessiert nicht nur die eigene Profession als Journalist und Reiseschriftsteller, sondern auch wissenschaftliche Disziplinen, die auf den ersten Blick wenig oder gar nichts mit dem Reisen zu tun haben – auf den zweiten allerdings eine ganze Menge. So zieht er Erkenntnisse aus der Neurobiologie und sogar der griechischen Mythologie als Belege für seine Theorien heran. Ausgehend von diesen Einflüssen und eigenen Erfahrungen entwirft Kieran schließlich eine eigene Philosophie des Reisens."Unser Unterbewusstsein entscheidet ständig für uns", stellt Kieran fest. Wir treffen einen Großteil der Entscheidungen in unserem Leben nicht bewusst, sondern automatisiert. Unsere Gehirne sind darauf programmiert, Routinen zu entwickeln und immer gleiche Verhaltensmuster abzuspulen. Die Verringerung der Geschwindigkeit ist, glaubt der Brite, der Schlüssel zu einem bewussteren Reisen. Ist eigentlich logisch: Wer mehr Zeit hat, lässt auch seine Gedanken gründlicher schweifen und kann so viel intensiver erleben – statt nur in den automatisierten Bahnen neue Sinneseindrücke einzuordnen. Die neurobiologische Routine selbstreflektiert zu überwinden, das ist für Dan Kieran das eigentliche Ziel jeder seiner Reisen. +Jeder Reisende wird "zu seinem eigenen Odysseus", schreibt er. Vor großen Worte und Metaphern scheut er sich nicht. Das langsame Reisen steht bei ihm durchaus auch für die Möglichkeit, das eigene Leben als "selbst verfasstes Epos" zu begreifen. Durch gelegentliches Innehalten und Reflektieren der eigenen Situation werden sowohl Reise als auch Leben zu mehr als einer im Schnelldurchlauf abgehakten Liste – nämlich zu einem echten Abenteuer, wie der Autor es ausdrückt.Auch sonst bedient sich Kieran oft bei den alten Griechen – etwa wenn er fragt, warum die Zeit manchmal schneller und manchmal langsamer zu verrinnen scheint. Die Griechen der Antike haben das Problem der subjektiv wahrgenommen Zeit elegant gelöst, erläutert Kieran: Während der Gott Chronos über den Lauf der Zeit wacht, steht Kairos für die göttliche Zeit, für schicksalhafte Momente der Entscheidung. Kieran ist überzeugt, dass uns Kairos nur erscheint, wenn wir uns die Zeit nehmen, nach ihm Ausschau zu halten – auch und vor allem auf Reisen. +Der erzählerische Bogen in "Slow Travel" führt von den Göttern des Olymp bis in die Labore moderner Verhaltensforscher. Dabei erwähnt Kieran die frühneuzeitliche Kavalierstour ebenso wie den Raubbau am Amazonas, verliert dabei aber seine Linie nie aus den Augen – sein Werk ist stets ein flammendes Plädoyer für bewusstes Reisen. +Neben erfrischenden und klugen Ansätzen hat der Autor teilweise auch banale Weisheiten im Gepäck: So empfiehlt Kieran etwa, zum besuchten Ort passende Literatur zu lesen, etwa in Paris Frederick Forsyths Spionageroman "Der Schakal" (1971), der dort spielt. Das mag Ansichtssache sein – und trotzdem: Dem britischen Journalisten ist mit seinem Traktat ein großer Wurf gelungen, der zum Nachdenken über unsere Reisegewohnheiten anregt – und diese zumindest in Einzelfällen nachhaltig verändern könnte.Dan Kieran: Slow Travel. Die Kunst des Reisens (Rogner & Bernhard 2013, übers. von Yamin von Rauch, 224 S., 19.95 €) diff --git a/fluter/dancefloor-politics.txt b/fluter/dancefloor-politics.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ec5b71acbb41e0f0fcf932743dc9b7309d2a56c4 --- /dev/null +++ b/fluter/dancefloor-politics.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Ich nahm an, ich sei hier im Begriff, in das universelle Kollektiv von Menschen einzutauchen, die in Clubs tanzen gehen, und dass Nationalitäten hier keine Rolle spielten. +"Israel", antwortete ich. +"Warum unterdrückt Israel die Palästinenser?" Vielleicht hatte das Mädel schon einen Prä-Club-Drink genommen. In vino veritas. Wie soll ich so eine Frage nur beantworten, während ich in der Schlange vor einem Club anstehe? "So schwarz und weiß ist die Sache nicht", sagte ich. Ich war nun wirklich nicht scharf darauf, an diesem Ort die Feinheiten und Komplikationen der israelischen Geopolitik zu erörtern. "Am besten fährst du mal hin und machst dir selbst ein Bild." +"Ich weiß nicht, ob ich überhaupt nach Israel möchte. Dann lieber nach Palästina." +Frag nicht: Wie viel Zündstoff doch in der Allerweltsfrage "Where are you from?" liegen kann +Monate später tanzte ich in der "Süß war gestern"-Bar in Friedrichshain, da stellte ein deutscher Mann mir auch wieder die Problemfrage: "Where are you from?" +Bereits zu angetrunken, um nachzudenken, sagte ich: "Aus Israel." +"Oh, seid ihr Israelis nicht alle so reich?" +Ich hörte auf zu tanzen und kratzte mich am Kopf. War das jetzt das Äquivalent zu "Sind nicht alle Juden reich?" – nur ohne den eifernden Beiklang? +Einmal schrieb mir ein Mann auf einer Dating-Website, dass er mich gerne treffen würde, aber nur, wenn ich die Politik von Netanjahu nicht unterstütze. Er hat es bei mir nicht bis zum ersten Date gebracht. +Apropos Dates: Bei einem ersten Date mit einem Mann, den ich im "Ritter Butzke" kennengelernt hatte, fragte der mich schließlich: "Was ist denn da los in Palästina?" +"Bist du sicher, dass wir darüber jetzt diskutieren sollten?" +"Ich finde das interessant." +"Dann sag mir doch erst mal, was dir dazu so durch den Kopf geht." +"Also, ich verstehe nicht, warum Israel in Gebieten baut, die dem Land nicht gehören. Damit verursacht Israel doch Krieg." +Er spielte offensichtlich auf die israelischen Siedler in der Westbank an, also jener Region, die zu biblischen Zeiten Judäa und Samaria hieß. An diesem Punkt wollte ich zuerst kontern mit der Frage "War dein Großvater ein Nazi?". Mein Land zu bezichtigen, dass es Kriege auslöse, ist für mich mehr als nur unhöflich. Wenn ich einen Deutschen das erste Mal treffe, würde ich nie das Thema Holocaust ansprechen oder die Politik Deutschlands kritisieren. Ich möchte erst mal die Person kennenlernen. +Stattdessen gab ich ihm eine Nachhilfestunde, die er nicht haben wollte. Die Siedlungen werden errichtet auf umstrittenem Land (und das ist die offizielle Position der israelischen Regierung). Die Existenz von jüdischen Siedlungen kann keine Rechtfertigung für Terrorismus sein (und Deutsche sollten das wissen). Die arabischen Nachbarn Israels führten auch Krieg gegen Israel, lange bevor es solche Siedlungen wie in Westbank überhaupt gab. +"Jetzt wirst du aber aggressiv", sagte er. +Heikle Mission: Wenn es in der Partylounge eine Nachhilfestunde in Nahost-Geschichte gibt, hängt das zweite Date am seidenen Faden +Ich erklärte ihm, dass er die israelische Leidenschaft einfach nicht gewohnt sei, und gab ihm noch meine Meinung mit: Da sie in einem konventionellen Krieg gegen Israel nichts ausrichten könnten, verlagerten die Feinde des Landes den Konflikt auf das Feld der öffentlichen Meinung und stellten Israel als einen kolonialistischen Unterdrücker dar – wie man an unserer Konversation ja deutlich sehen konnte. Er entgegnete, dass er die Sache noch etwas tiefer gehend recherchieren müsse, bevor wir das weiter diskutieren könnten. +"Ach, übrigens: War dein Großvater ein Nazi?", fragte ich. Es stellte sich heraus, dass einer seiner Großväter an der Ostfront gekämpft und der andere wegen einer Verletzung einen Schreibtischjob für die Nazis ausgeübt hatte. Er liebte sie beide. Ein zweites Date gab es nicht. +Ich frage mich, ob mein Bekenntnis, aus Israel zu kommen, manche Deutsche zu sehr mit ihrer nationalen Identität und dem konfrontiert, was sich unter deutscher Herrschaft vor 75 Jahren zugetragen hat. Israel zu attackieren lenkt womöglich von dem Urteil ab, dass Israelis mit einigem Recht über Deutschland und seine Vergangenheit sprechen dürfen. +Neulich im "Birgit & Bier" erzählte ich einem Typen, um weitere Konfrontationen zu vermeiden, dass ich aus den Vereinigten Staaten komme. Dann wurde mir klar: Da gibt es auch ein Problem. Donald Trump auf der Tanzfläche zu erklären ist noch viel schwieriger. + diff --git a/fluter/daniel-suarez-bios-thriller-ueber-genmanipulation.txt b/fluter/daniel-suarez-bios-thriller-ueber-genmanipulation.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ef3e8fdf69c3fda2e337a4a09e3c65b37fc36833 --- /dev/null +++ b/fluter/daniel-suarez-bios-thriller-ueber-genmanipulation.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Daniel Suarez: "Bios". Aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann. Rowohlt, Reinbek 2018, 544 Seiten, 12,99 Euro +"Bios" spielt dort, wo möglicherweise über die Zukunft der Menschheit entschieden wird: in Ostasien. Das Singapur des Jahres 2045 ist ein futuristisch-ökologisches Hochhausparadies aus Dachgarten-Joggingparcours und selbstleuchtend gezüchteten, "biolumineszenten" Bäumen, die tagsüber auf grün machen und nachts als Beleuchtung dienen. Hier lebt Kenneth Durand, Leiter der Fahndungsabteilung gegen Genkriminalität bei Interpol. Er ist einem Verbrechersyndikat auf der Spur, den sogenannten Huli Jing, die mit illegalen Genmanipulationen viel Geld verdienen. Doch die Bösen kommen ihm zuvor: Es gelingt ihnen, Durand ein gefährliches genmanipulierendes Mittel zu verabreichen, das all seine äußerlichen Körpermerkmale verändert. Als er nach Wochen im Koma in einem Krankenhaus erwacht, sieht er aus wie sein ärgster Feind, der Huli-Jing-Boss Marcus Wyckes, der von Durand und seinen Kollegen gesucht wird. Vor denen muss Durand jetzt fliehen – und sich neue Verbündete suchen, um das Allerheiligste der Huli Jing zu finden. Denn nur die Hightech-Gangster verfügen über das nötige Know-how im Gen-Editing, um ihn wieder in seinen alten Körper zurückzuverwandeln. +Durch Burma, Kambodscha und Thailand führt Durands gefährliche Mission, und man kann sich wunderbar vorstellen, wie all diese Landschaften sich wohl auf der Leinwand machen würden, aber so plastisch und szenisch, wie Suarez schreibt, braucht man den Film gar nicht, man hat ihn beim Lesen praktisch fertig vor Augen. Sogar die Verfolgungsjagden sind spannend erzählt und voller unerwarteter Wendungen. +Die Szenen in den geheimen Labors der Huli Jing wiederum leben von ihrer skurrilen Surrealität – auf der einen Seite jedenfalls. Stars und Sternchen der Pop- und Filmgeschichte laufen dort in Serie herum, denn es gehört zu den Services der Organisation, Menschen, die mit ihrem von der Natur gegebenen Aussehen nicht zufrieden sind, mit gezielten Genmanipulationen zum gewünschten Promi-Look zu verhelfen. Auf der anderen Seite werden in denselben Labors auch Klone gezüchtet, bei denen bestimmte Merkmale besonders hervorgehoben wurden, damit sie gezielt als Arbeitssklaven eingesetzt werden können. +Das Erschreckendste an diesem Szenario ist noch nicht mal die Vorstellung, dass all diese Dinge irgendwann einmal möglich sein könnten. Es ist vielmehr die Konsequenz aus dieser Möglichkeit: Was möglich ist, so zeigt Suarez ziemlich überzeugend, wird auch gemacht werden. Zu groß ist die menschliche Sehnsucht nach dem vollkommenen Leben, dem vollkommenen Körper. Zu groß auf der anderen Seite die Gier nach Macht und Geld. An Gesetze und Verbote halten sich nur die Guten; die Bösen tun heimlich Böses. +Wenn die Gentechnologie wirklich einmal so weit kommt, wie Suarez es hier ausmalt, dann können wir nur hoffen, dass die Fahnder der dann wirklich dringend zu gründenden internationalen Genpolizei so entschlossen handeln wie der Held dieses Romans. Wobei die Handlungslogik, zugegeben, schon ein paar Fragen offenlässt. Denn eigentlich ist es ein Rätsel, wie eine so riesige illegale Organisation, wie sie hier geschildert wird, so lange unter den Augen der wiederum als sehr kompetent gezeigten internationalen Fahnder ihr Unwesen treiben konnte. Wohl nur, damit Suarez seinen Helden in ein richtiges Abenteuer schicken kann. Aber das ist ja okay. Und schön, dass das alles nur Fiktion ist! + +Daniel Suarez: "Bios". Aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann. Rowohlt, Reinbek 2018, 544 Seiten, 12,99 Euro + diff --git a/fluter/danke-dass-es-dich-gibt.txt b/fluter/danke-dass-es-dich-gibt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b459842b052e0c541a01b81f8f2f94e039e9a9f5 --- /dev/null +++ b/fluter/danke-dass-es-dich-gibt.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Aber ich weiß: Andere in etwa meinem Alter spielen schon in der Bundesliga! Ich will später nicht sagen müssen, dass ich mich mehr hätte anstrengen können. Deswegen trainiere ich am Wochenende und in den Ferien sogar zweimal, ich merke ja, dass ich immer noch viel lernen muss. Mein Trainer muss mich manchmal bremsen, wenn ich es übertreibe mit dem Training. Es muss ja gar nicht der FC Bayern sein, die Zweite Bundesliga wäre auch toll. +Groundhopper sammeln Stadionbesuche. Wohin geht's als Nächstes?Eigentlich wollte ich demnächst mein letztes österreichisches Stadion feiern, das von Rapid Wien. Jetzt ist das Lokalderby doch im Ernst-Happel-Stadion. Ich fahre trotzdem. Normalerweise geht kein Groundhopper freiwillig zweimal in das gleiche Stadion. Es gibt aber unterschiedliche Typen, man muss nicht Mitglied bei uns sein: Die einen wollen nur Stadien und Länderpunkte sammeln, bei den anderen steht der Heimatverein im Mittelpunkt – so wie bei mir Alemannia Aachen.Was sind Länderpunkte?Es gibt ein Buch, in dem alle Stadien der Welt verzeichnet sind. Jeder Groundhopper führt seine eigene Statistik und hakt ab, wo er schon war. Aber eine Rangliste gibt es nicht. Ich habe etwa 1500 Stadien in 41 Ländern gesehen, ich hebe jede Eintrittskarte auf. In Europa fehlen mir fast nur noch kleine Staaten wie etwa Andorra, Mazedonien und die Färöer.Wie organisieren Sie das alles?Wir bilden Fahrgemeinschaften, ich verzichte auf Luxus wie teure Klamotten: Das ist es mir wert – ich mag die Atmosphäre im Stadion, die ist in jedem Land anders und diese Fankultur erlebt man so intensiv nur als Groundhopper. Am schönsten ist das Stadionerlebnis in England: Dort haben die Fans das beste Gespür dafür, wann die Mannschaft Unterstützung braucht. +Ich liebe Flutlichtspiele, da ist es immer so melancholisch! Mein Alltag als Sportmoderatorin ist eher sachlich. Wenn Rot-Weiß Essen spielt, gehe ich zur Presse-konferenz – da sitzen Journalisten, Trainer, Spieler. Wenn mich einer nicht kennt, denkt der: Die ist blond und 'ne Frau – forget it. Als Frau muss ich in dieser Branche doppelt so gut sein wie ein Mann. Den kleinsten Fehler bekomme ich dreimal um die Ohren gehauen. Aber rüde Sprüche klopfen kann ich auch. Ich habe schließlich schon als Kind mit meinem großen Bruder gekickt. Als der noch beim VfB Lübeck war, habe ich mal ein Spiel für den NDR-Hörfunk kommentiert. Er ist nicht gut weggekommen. Mein erster Stadionbericht fürs Radio war über das Spiel Lüneburger SK gegen Göttingen 05 am 29.8.99. Beim Fernsehen bin ich seit 2003, ich moderiere die WDR-Regionalligasendung Sport im Westen. Ich habe Sport studiert und auch schon den Tennis World Team Cup kommentiert – aber Sportberichterstattung ist ja fast nur über Fußball. Mir macht das Spaß, ich bin ja mit diesem Sport aufgewachsen. Und ich habe einen Fußballer geheiratet. Eigentlich bin ich also auch Spielerfrau. +Wenn ich sehe, wie der Spielbetrieb für mehr als 140 Mannschaften fast reibungslos funktioniert und so viele Freizeitkicker ihre Begeisterung in unserer Liga mit Abstieg, Aufstieg, Champions Liga, Pokal und Hallenturnieren ausleben können, beantworte ich gern zehn Mails und sechs Anrufe am Tag. Wie aus einer winzigen Punkterunde mit acht Mannschaften etwas so Großes werden konnte! Als ich die Ligaleitung vor elf Jahren übernahm, stand Fußball in meinem Leben klar an erster Stelle. Allein für das Infoblatt habe ich alle zwei bis drei Wochen acht Stunden lang die aktuellen Tabellen und Ergebnisse für die damals sechzig Mannschaften abgetippt, kopiert, zur Post gebracht. Heute, mit Internet, kostet mich die Liga immer noch eine Stunde am Tag, anstrengend ist aber nur der Abschlussbericht, dafür muss ich vier Tage frei nehmen. In den Vorstand wollte ich nur, weil ich dachte: Dann traut sich keiner mehr, dich umzuhauen. +Irgendwie habe ich Fußball immer im Kopf. Dabei geht es gar nicht mehr so um den Sport an sich, sondern eher um die Lebenswelt, die mir der Fußball erschlossen hat. Eine Welt, die ich mit meinem Engagement mitgestalten kann, als Capo der Schickeria. Drei bis vier Stunden am Tag beschäftige ich mich intensiv mit Fußball, wenn ich Spruchbänder oder Fahnen bemale, Artikel für das Südkurvenbladdl, unseren Internetauftritt oder Forumsbeiträge schreibe, mir neue Liedtexte ausdenke oder mit anderen Ultras zusammensitze. Am Anfang war ich einfach gern ab und zu im Stadion, diese Saison habe ich noch kein Pflichtspiel der Bayern verpasst, egal ob auswärts oder in der Allianz Arena, ob DFB-Pokal oder Champions League. Man wächst da in eine Gemeinschaft hinein und das ist es, was mich fasziniert. Mittlerweile stammen fast alle meine Freunde aus dem Ultra-Umfeld, sogar meine Freundin. Allerdings wird ihr meine Begeisterung trotzdem manchmal zu viel. Aber so ist das eben: Ultra. +Wie sieht Ihr Wochenende aus?Da spielen meine "Fußballkinder": Meine U13-Mannschaft und mein 13-jähriger Sohn spielen zum Glück zeitlich oft hintereinander, so kann ich bei beiden dabei sein. Als mein Sohn letztes Jahr in meiner Mannschaft war, haben wir unter der Woche gemeinsam trainiert: dreimal nachmittags, anderthalb Stunden. Das geht, weil ich von zu Hause arbeite.Spielen Sie auch selbst?Ab und zu bei den Senioren. Aber eigentlich spiele ich schon mein ganzes Leben: Ich bin 1960 geboren, das war noch die Zeit des Straßenfußballs. Ich wollte den Großen nacheifern: Seeler, Beckenbauer. Das Kicken war mein Ventil. In den Verein bin ich erst mit 15 eingetreten, mit 18 wurde ich Jugendtrainer. Die Trainerausbildung habe ich später nachgeholt.Und warum ausgerechnet Jugendfußball?Mit Kindern zu arbeiten macht mir Spaß. Es ist eine verantwortungsvolle Aufgabe, Talente zu fördern. Ich möchte den Kindern etwas mitgeben: soziales Miteinander, Teamgeist – das wird heute kaum geübt. Aber es ist zentral für den Mannschaftssport, das lernt ein Einzelkämpfer nicht. +Wenn ich im Stadion bin, läuft bei mir ein innerer Film ab. Sicher, es ist ein Film der siebziger und achtziger Jahre. Ein Film aus der Zeit also, als ich noch gesehen habe, vor dem Unfall mit 13 Jahren. Im Stadion sind wir Blinden stark auf Emotionen angewiesen, auf die Ohs und Ahs der Fans, auf die Gesänge, die Stimmung. Schon wenn ich von meiner Wohnung zum Stadion fahre, steigt das Adrenalin. Seit 1999 gehe ich regelmäßig zu Bayer 04 Leverkusen. Hier reportieren Jugendtrainer für blinde Fans das Spiel über Kopfhörer. Wenn ein Spieler aufs Tor zurennt und alle brüllen oder pfeifen, dann hören wir das ja. Den Rest berichten uns unsere Reporter. Mit Radiohören ist das nicht zu vergleichen, da ist man nun mal nicht mittendrin. Fußball bedeutet für mich, Teil einer riesengroßen Gemeinschaft zu sein. Deshalb bin ich auch gern bei Auswärtsspielen dabei, selbst wenn es dort den Blindenservice nicht immer gibt. Manchmal muss ich einfach in die Kurve. Fußball ist für mich mein Ventil, im Stadion kann ich so richtig aus mir rausgehen: Beim Spiel Leverkusen gegen Manchester United bin ich vor Freude mal so hoch gesprungen, dass mir der Kopfhörer um die Ohren geflogen ist.Fotos: Frederick Busch, Paul Kranzler, Alfred Jansen, Olaf Unverzart, Dorothee van Bömmel diff --git a/fluter/danke-pinochio.txt b/fluter/danke-pinochio.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/dann-aber-gute-nacht.txt b/fluter/dann-aber-gute-nacht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6f9d48aad51d025b2e71fa371e3b9d189ad73f08 --- /dev/null +++ b/fluter/dann-aber-gute-nacht.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Hier kamen wir als Nachtwächter ins Spiel. Wir mussten uns schwarze T-Shirts mit der Aufschrift "Security" anziehen und ab zehn durch die Gänge laufen. Eine Ausbildung oder Schulung für diesen Job haben wir alle nicht bekommen. Wenn wir irgendwo auf den Fluren betrunkene oder bekiffte Jugendliche fanden, die die anderen Gäste störten, baten wir sie höflich, auf ihre Zimmer zu gehen und etwas leiser zu sein. Meistens funktionierte das auch ganz gut. Ab und zu schmissen auch mal irgendwelche Jugendlichen Flaschen aus den Fenstern ihrer Zimmer oder sprühten Grafitti auf die Wände des Hostels. Auch die machten uns keine größeren Probleme. Die Polizei haben wir höchstens mal gerufen, wenn was gestohlen wurde. +Wenn ab 23 oder 24 Uhr Ruhe war, haben wir es uns gemütlich gemacht. Ab und zu mal ein Bierchen trinken oder Kippen rauchen war auch drin. +Als ich seit etwa einem Dreivierteljahr Nachtwächter war, checkten eines Abends zwei junge Frauen bei uns ein. Wir wunderten uns ein bisschen, weil sie ihren Ausweisen zufolge in Berlin lebten, kein Gepäck dabeihatten und offenbar auch keine Touristinnen waren. Aber es kam ab und zu mal vor, dass Jugendliche sich bei uns für eine Nacht ein billiges Zimmer buchten, weil sie noch bei ihren Eltern wohnten und dort nicht saufen und rumknutschen konnten. Da die beiden schon 18 waren, war ja nichts gegen einen Besuch unseres Hostels einzuwenden. +Wir machten unsere erste Runde und kontrollierten die Gänge. In einem Gang war es ziemlich laut, und es stank nach Gras. Die Tür zum Zimmer der beiden Mädels war halb offen. Als wir das Zimmer betraten, saßen da aber außerdem zwei Jungs, die wir vorher noch nie gesehen hatten. Wir machten ihnen eine Ansage: "Macht mal beim Kiffen das Fenster auf und die Türe zu. Und seid bitte ein bisschen leiser." +Beim nächsten Rundgang gegen 23 Uhr erwischten mein Kollege und ich die beiden Jungs schon wieder. Sie saßen in einem Gang und kifften. Das waren in meinen Augen zwei relativ normale Halbstarke. Turnschuhe, Kapuzenpullover, Karottenhose. Keine Gangster jedenfalls. Wir merkten aber, dass die beiden ziemlich viel gesoffen hatten. Da reichte es mir. Ich sagte: "Was macht ihr hier eigentlich? Seid ihr überhaupt Hotelgäste? An der Rezeption waren doch nur die beiden Mädels. Ihr habt hier doch kein Zimmer gebucht!" Wir schmissen die beiden raus, weil wir den Ärger mit ihnen leid waren. Das war das erste Mal, dass wir so was machen mussten, und ich spürte sofort einen Adrenalinschub dabei. Die Jungs reagierten eigentlich ganz höflich und nett. Ich hatte den Eindruck, dass sie Respekt vor uns hatten. Die Mädels gingen mit und ließen das Zimmer ziemlich vermüllt zurück. Damit war die Sache für uns eigentlich erledigt. +Etwa eine halbe Stunde später hörte ich Schreie aus dem zweiten Stock. "Messerstecherei! Messerstecherei!" Ich sprang sofort auf, lief den Gang runter und konnte noch die beiden Jungs, die wir eben rausgeschmissen hatten, aus dem Hostel fetzen sehen. Oben im Zimmer der Schüler bot sich mir ein krasses Bild. In der Mitte waren Blutlachen, an den Betten klebte Blut und sogar an der Wand. Überall war Blut. Auf dem Boden lag ein Schüler, der sich ein Bettlaken auf Po und Becken presste. Ich war völlig geschockt und wusste gar nicht, was ich tun sollte. Natürlich riefen wir den Notarzt und die Polizei, aber ich hatte Angst, dem Verletzten nicht helfen zu können. Zum Glück gab es noch eine Mitschülerin, die Sanitäterin war und mir den Verbandskasten abnahm. +Von den anderen Schülern erfuhr ich nach und nach, was geschehen war. Die beiden Jungs hatten sich offenbar ins Hostel zurückgeschlichen, waren in das Zimmer der Schüler eingedrungen und hatten einige Mädels angebaggert. Daraufhin hatte es eine wüste Schlägerei mit den Schülern gegeben. Als einer der Jungs überwältigt worden war, hatte der andere gebrüllt: "Lass meinen Freund los!" Dann hatte er ein Einhandmesser gezückt und wahllos auf einen unbeteiligten Schüler eingestochen. +Aus allen Richtungen rückten Polizeiwagen an. Die hatten auch gleich Spezialisten dabei, die Fingerabdrücke im Zimmer sicherten und Proben des Blutes nahmen. Ich musste die Täter beschreiben. Einer der Polizisten sagte mir, dass die beiden Jungs womöglich zu einer einschlägig bekannten arabischen Großfamilie gehörten. Zehn Minuten später brachten die Polizisten einen Jugendlichen mit schwarzen Haaren, Karottenhose und Kapuzenpullover. Ich sollte ihn bei einer Gegenüberstellung identifizieren, aber es war jemand völlig Unbeteiligtes, den sie da verhaftet hatten. Der verletzte Schüler wurde in die Notaufnahme gebracht und dort genäht. Auch wenn es erst mal schlimm aussah, kam er Gott sei Dank schon nach ein paar Stunden wieder zurück und übernachtete dann sogar bei uns im Hostel. +Als ich am Morgen nach Hause kam, musste ich mich erst mal beruhigen. Es war eine schreckliche Situation und eine total schräge Nacht gewesen. Die Täter wurden nach ein paar Tagen tatsächlich gefasst, weil sie versuchten, ihr Auto zu holen, das sie vor dem Hostel geparkt hatten. Soweit ich weiß, wurden sie Jahre später zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. +Der Job war danach nicht mehr derselbe. Ich bin überhaupt nicht der Typ, der bei solchen Konflikten dazwischengeht, weil ich Gewalt überhaupt nicht einschätzen kann – und auch nicht weiß, wie sich so etwas verhindern lässt. Ich fragte mich, ob mein Rauswurf eine Provokation für die beiden gewesen war. Ich bildete mir sogar ein, dass sie mich irgendwann auf der Straße erkennen und angreifen könnten, weil ich als Zeuge in ihrem Prozess geladen war. +Von einem Tag auf den anderen kündigte ich im Hostel. Es war einfach nicht meine Welt. Mir wurde klar, dass ich mich in eine Situation begeben hatte, in der es eben nicht nur darum ging, harmlose Jugendliche zur Ruhe zu bringen, sondern dass sich diese womöglich mit Waffen dagegen wehren. Ich konnte mit dieser latenten Gefahr überhaupt nicht mehr richtig umgehen. Warum jemand bei einer so banalen Auseinandersetzung ein Messer zückt und riskiert, einen anderen lebensgefährlich zu verletzen oder gar zu töten, verstehe ich noch immer nicht. +Neulich habe ich den Flur, auf dem wir früher patrouillierten, noch mal zufällig auf ProSieben gesehen. Da lief eine Reportage über einen Sicherheitsmann in meinem alten Hostel. Als ich das erkannt habe, habe ich sofort umgeschaltet. Anschauen konnte ich mir das nicht. +Falko Lauch ist ein Pseudonym unseres Autors. Auf ewig mit seiner Zeit als Nachtwächter in Verbindung gebracht werden, das wollte er nämlich lieber nicht. diff --git a/fluter/dann-bringen-wir-das-eben.txt b/fluter/dann-bringen-wir-das-eben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..40facb0f448f0aadbf03cd3d4e7ef1e8186e62db --- /dev/null +++ b/fluter/dann-bringen-wir-das-eben.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Die Idee entstand vor viereinhalb Jahren, damals starben bei einem Bombenangriff des türkischen Militärs im Osten der Türkei 34 Zivilist/-innen, weil sie nach offiziellen Angaben für Anhänger/-innen der PKK gehalten wurden. Engin Önder konnte es nicht glauben: Als er am nächsten Tag den Fernseher anschaltete, wurde nicht über den Vorfall berichtet, aber die sozialen Medien waren in kürzester Zeit voller Nachrichten. "Wir dachten uns, wenn die Fernsehsender und Zeitungen nicht über das berichten, was uns interessiert, dann machen wir es eben selbst", erzählt er. +Gemeinsam mit seinem Kommilitonen Cem Aydoğdu gründete er 140journos, um Informationen aus den sozialen Medien zu sammeln, zu überprüfen und damit Nachrichten zu machen: "Das ist unsere Form von Aktivismus gegen die zensierten Mainstream-Medien in der Türkei." Jürgen Gottschlich, der Auslandskorrespondent der "taz" bestätigt, dass es in der Türkei kaum noch kritischen Journalismus gibt: "Mittlerweile kontrolliert der Staat 90 Prozent der Medien entweder direkt oder indirekt." +In den ersten Monaten bekamen Engin Önder und Cem Aydoğdu nur selten Informationen zugeschickt, doch das änderte sich schlagartig durch die Gezi-Proteste im Frühling 2013. "Über Nacht wurden alle zu ‚citizen journalists'." Heute verbringen die Mitarbeiter/-innen von 140journos den größten Teil ihrer Zeit damit, Informationen, die ihnen geschickt werden, zu überprüfen. "Außerdem bauen wir mit der Zeit eine Beziehung zu den Leuten auf, die uns ihre Inhalte schicken. Unsere Erfahrung sagt uns, wem wir vertrauen können und wem nicht – das schafft bis heute keine Technologie." +Bis vor einem Jahr zeichnete sich 140journos vor allem dadurch aus, dass man hier die Themen fand, über die sonst nicht berichtet wurde: Schönheitswettbewerbe für Transsexuelle oder die Zerstörung des kulturellen Erbes der Armenier zum Beispiel. Jetzt möchte sich 140journos breiter aufstellen und zur "verlässlichsten Nachrichtenquelle" des Landes werden. Die Macher/-innen richten sich dabei nicht nur an die moderne urbane Mittelschicht, denn es ist ihr Ziel, alle zu erreichen. Laut Engin Önder wird die Plattform auch von konservativen Muslimen und radikalen Linken genutzt. Denn: "Alle wollen wissen, was wirklich im Land passiert." +Indem sie in ihren Nachrichten eine möglichst neutrale Sprache verwenden, versuchen sie, sich keinem politischen Lager zuzuordnen. Engin Önder vermutet, dass sie deshalb noch nie Probleme mit den türkischen Autoritäten hatten. Wenn die Regierung nicht gerade Twitter sperren lässt, kann 140journos ungestört arbeiten. Sie wollen eine unabhängige Meinungsbildung ermöglichen, um die gespaltene Gesellschaft nicht noch weiter zu polarisieren. +Tinder als Nachrichten-App +"Wir sind die Stimme der Generation Y", sagt Engin Önder. Die Leser/-innen von 140journos sind mit den sozialen Medien aufgewachsen. Wer sie erreichen will, muss dort sein, wo sie sind: auf Facebook, Twitter, Snapchat. Das heißt: Infografiken und Emojis statt langer Artikel. Über die Sprachfunktion von WhatsApp führen sie Interviews und laden sie auf SoundCloud hoch. Längere Geschichten werden auf der Social-Journalism-Webseite Medium veröffentlicht. +Sogar mit Tinder experimentierten sie ein Jahr lang. In den Chats machten sie die aktuellen Nachrichten zum Gesprächsthema. Ihre Tinder-Matches hatten keine Ahnung, dass sie mit den Redakteur/-innen von 140journos schrieben. Als die Studierenden an der Technischen Universität in Istanbul gegen den Besuch des Ministerpräsidenten demonstrierten, schrieben sie von ihrem Tinder-Account: "Ich kann mich heute leider nicht treffen, an meiner Uni wird gegen den Besuch des Ministerpräsidenten demonstriert. Ich komme hier gerade nicht weg." +140journos probiert alles aus, was gerade neu und angesagt ist. Am Anfang dachte niemand, dass man über WhatsApp Nachrichten senden könne, mittlerweile wurde ihr Broadcast dort 10.000-mal abonniert. Engin Önder stellt klar: "Wir sind die Forschungsabteilung für den zukünftigen Journalismus der Türkei." +Finanzierung noch unklar +Die größte Schwierigkeit für 140journos ist nicht die politische Lage in der Türkei, sondern ihre eigene ökonomische Nachhaltigkeit. Denn für ihre Leser/-innen ist es selbstverständlich, dass Nachrichten im Internet kostenlos sind. Noch trägt sich das Projekt deshalb nicht selbst, sondern wird vom Institute of Creative Minds querfinanziert – einer Marketingagentur, die auch Engin Önder mitgegründet hat. Für die langfristige Finanzierung experimentieren die Macher/-innen von 140journos gerade mit verschiedenen Modellen. +Sie setzen dabei auch auf "Native Advertising". Diese Form des getarnten Marketings steht besonders in Deutschland in der Kritik, weil sie die Grenze zwischen Journalismus und Werbung verwischt. Mittlerweile wird Native Advertising allerdings nicht nur von Online-Medien wie Buzzfeed oder Huffington Post verwendet, sondern auch von traditionellen Zeitungen, so zum Beispiel von der "Washington Post". Da Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit für 140journos die Grundlage ihres Erfolgs sind, ist ihr Finanzierungsmodell entscheidend. Es bleibt also spannend. +Dieser Artikel wurde am 20. Dezember 2018 aus redaktionellen Gründen bearbeitet und angepasst. diff --git a/fluter/dann-geh-doch-ins-gruene-0.txt b/fluter/dann-geh-doch-ins-gruene-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..eae5cab7526c15a5b6b2943abdf310554d392c92 --- /dev/null +++ b/fluter/dann-geh-doch-ins-gruene-0.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Doch anders als bei Marx ist es bei Thoreau weniger das System, sondern eine den einzelnen Menschen selbst treibende Kraft, die ihn erdrückt. Und seine Kritik gilt der Arbeit selbst: "Ihr macht Euch krank, damit Ihr etwas für Eure kranken Tage zusammenspart." Dabei wirft Thoreau sogar die Idee einer Art bedingungslosen Grundeinkommens in den Raum. Bevor man sich ein Urteil über einen Menschen erlaubt, schlägt Thoreau vor, sollte man ihn eine Zeitlang unentgeltlich ernähren und kleiden. +Henry D. Thoreaus Blick ist jedenfalls einer aufs Individuum. Das mag daran liegen, dass er Amerikaner ist, also aufgewachsen ist mit dem Denken, dass jeder selbst für sein Glück verantwortlich sei. Glücklich aber scheinen ihm seine Zeitgenossen nicht. Was er sieht, ist: Jeder ist sein eigener Sklaventreiber und zugleich Sklave der Meinung, die er von sich hat. Alles ist ein einziger Wettbewerb, immer schöner, reicher, beliebter sein als andere. Das klingt nach dem heute ziemlich vertrauten Prinzip der ständigen Selbstoptimierung. +Thoreau aber findet: Wer sich abrackert, der irrt, erst recht, wenn es nur darum geht, Besitztümer anzuhäufen. Das ist seine Eingangsthese, daraus leitet er alles Weitere ab – und beschreibt dann auf knapp 400 Seiten sein Leben in einer einsamen Hütte am Walden-See, ein Leben mit dem unbedingten Ziel, tatsächlich zu leben. Das Erwerbsleben nämlich, sagt Thoreau, lässt den Menschen nicht genug Zeit, den Alltag menschenwürdig zu gestalten. +Dazu gehören für ihn eher weniger als mehr Dinge. Reduzieren, nicht konsumieren, dann bleibt Zeit für das Schöne. Und ja, er nervt manchmal, wenn er selbstgefällig über mehrere Seiten seine einfachen Bohnengerichte lobt. Ein bisschen protestantisch, ein bisschen lustfeindlich kommt Thoreaus Ethik da daher. Aber er hat ja recht. Jeder, der schon mal mit ganz leichtem Gepäck gereist ist, kennt dieses Befremden, wenn man nach Hause kommt und den Föhn in der Hand hält, die Augencrème einknetet oder die elektrische Saftpresse anwirft. All die Dinge, die einem vor der Abreise so nötig schienen und die man nicht eine Sekunde vermisst hat. +Doch polstert es sich mit hübschen Dingen so schön ab gegen die innere Leere. Umso bizarrer ist es, dass sich jüngst ein neues Lifestyle-Magazin für Männer nach Thoreaus Buch benannt hat. "Walden", erfunden im Großverlag Gruner + Jahr, feiert das Raus-in-die-Wildnis, die Natur, das einfache Leben. Und preist dafür eine Menge überlebenswichtiger Utensilien an. Klar, das tun Magazine nun mal, um sich zu finanzieren, um schick aussehen zu können. Vermutlich ist es auch gar nicht bizarr, sondern nur die logische Konsequenz eines Systems, das sich seine Feinde – die Alternativen – einfach einverleibt. +Widerstand ist zwecklos, auch der Ausstieg muss konsumierbar sein? Da möchte man natürlich den Kopf gegen die Wand schlagen, aber das würde nichts ändern. Trotzdem haben immer wieder, auch über 100 Jahre nach Thoreau, Menschen das pure, das nackte Leben gesucht. Der Literat Jack Kerouac etwa war in den 50er-Jahren "On the Road", dem ging es weniger um die Natur als die unbedingte Freiheit, aber auch um den Verzicht auf alles Überflüssige. Auch auf feste Beziehungen, also das, was gemeinhin immer noch als das Ehrlichste, das Lebendigste, Unvermarktbarste gilt. +Ebenso wurden Teile der 68er von den Ideen aus "Walden" beeinflusst, genau wie einige der Lebensreformbewegungen, Naturschützer natürlich sowieso. Mahatma Gandhi und Martin Luther King beriefen sich auf Thoreau, zu dessen Werk – er starb 1862 mit 44 Jahren an Tuberkulose – auch der Essay "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat" von 1849 zählt. +Thoreaus "Walden" hat auch Christopher McCandless mit dabei, als er Anfang der 1990er-Jahre, getrieben vom Horror, den die Ehe seiner Eltern darstellt, die unbedingte Freiheit sucht. Also verbrennt er sein Geld, lässt sein Auto zurück und trampt erst einmal zwei Jahre durch die USA, bis er schließlich zu einem Trip nach Alaska aufbricht. Im Gepäck hat er – die Blattmacher des "Walden"-Magazins mögen erschauern – fast nichts, selbst ein Paar Gummistiefel muss ihm ein Holzfäller noch aufdrängen. +Er ist unbeschwert, innen wie außen, und gerade das scheint McCandless erst einmal zum Glück zu führen. Er findet einen verlassenen Bus, in dem er schläft, streift durch die Wildnis, liest und schreibt. Aber Alaska ist kein menschenfreundlicher Ort. Ein anschwellender Fluss reicht da, um den Weg dorthin, wo sich die Reisevorräte auffüllen ließen, für eine Zeit abzuschneiden – die lange genug ist, um zu verhungern. Möglicherweise hat er in seiner Not auch eine giftige Pflanze gegessen, so genau wurde das nie aufgeklärt. +Man kann Christopher McCandless, dessen Leben und Sterben im Spielfilm "Into the Wild" verfilmt wurde, hassen für diese Unvernunft, mit der er sein Leben leichtfertig weggeworfen hat und anderen damit wehtut. Man kann aber es aber auch so sehen: Warum sollte die Freiheit keinen Preis haben – und ist er tatsächlich höher als der eines Lebens, dem jede Muße zur Selbstbesinnung abhandengekommen ist? +Henry D. Thoreau kehrte nach zwei Jahren am Walden-See in die Stadt zurück, er schrieb sein Buch, das damals auf weit mehr Skepsis als Achtung stieß. Sein Prinzip aber – niemand ist gezwungen, sich ausbeuten zu lassen oder selbst auszubeuten, wenn man nur bereit ist, mit den Konsequenzen zu leben und auf manches zu verzichten – ist heute aktueller denn je. +Es ist im Smartphone-Zeitalter schon fast zur Mode geworden, nicht ständig angeschaltet, erreichbar zu sein. Dazu gehört dann auch, sich zurückzuziehen – am besten an Orte, an denen es kein Netz gibt, keinen Empfang. Was heute quasi gleichzusetzen ist mit Wildnis. Dann gibt es die, die auf Geld verzichten wollen und das auch – darüber wurden inzwischen viele Reportagen geschrieben – ausgezeichnet hinbekommen. Dafür müssen sie nicht mal in den Wald. Wer von dem lebt, was täglich an frischem Essen und anderen Dingen weggeworfen wird, bleibt besser in der Stadt, hat aber in den Augen der Restgesellschaft trotzdem etwas Wildes an sich. Etwas Freies. +Dass es funktioniert, fasziniert viele. Aber es funktioniert eben bloß, weil zu viele zu viel wegwerfen. Pessimistisch könnte man also daraus schließen: Ein kollektiver Ausstieg aus dem Kreislauf Arbeit-Konsum-Arbeit ist nicht möglich. Auch Thoreau hat sich übrigens Mobiliar für seine Hütte aus Rumpelkammern zusammengesucht. McCandless lebte in einem verlassenen Bus, schlief auf einer zurückgelassenen Matratze und nicht auf dem Waldboden. Das System Ausstieg funktioniert scheinbar, so bitter das klingen mag, nur, solange zu viel produziert wird. +Ob das System der Überproduktion, des Sich-krank-Arbeitens, wie Thoreau es nannte, deshalb tatsächlich so alternativlos ist, wie immer behauptet wird, ist damit nicht gesagt. Zumindest für den Einzelnen, daran erinnern einen Thoreau und McCandless, gibt es immer eine Alternative. +Die russische Fotografin Danila Tkachenko hat in der Fotoarbeit "Escape" Einsiedler in den Wäldern Russlands fotografiert – und wie die Welt aussieht, wenn man sie mit ihren Augen betrachtet. Das kann man auf den Bildern oben sehen. diff --git a/fluter/darf-ich-auch-mal-was-sagen.txt b/fluter/darf-ich-auch-mal-was-sagen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..65469c1f16d36af2d5092f4efacac23ff8ad3c02 --- /dev/null +++ b/fluter/darf-ich-auch-mal-was-sagen.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Wenn dem Schulleiter eine Demokratische Schule etwas zu anstrengend ist, sollte er trotzdem darauf achten, dass es demokratisch zugeht unter seinem Dach. Demokratieerziehung ist in Deutschland nämlich Aufgabe aller Lehrer: Zum Beispiel sollten sie hin und wieder Unterrichtsstunden gemeinsam mit ihren Schülern gestalten. In jedem Fach und auch außerhalb des Unterrichts, zum Beispiel auf Klassenausflügen, sollen sie Verantwortung, Toleranz und Meinungsaustausch fördern – und auch von den Schülern einfordern. Das soll denen nämlich beim Aufbau sozialer Kompetenzen helfen. +Schulversammlungen, Schülersprecherwahlen oder AGs zur Schulhofgestaltung: In jeder Schule sollte es Möglichkeiten geben, sich einzubringen. Partizipation heißt hier das Zauberwort, das auch in den Schulgesetzen der Bundesländer großgeschrieben wird, je nach Land aber durchaus variiert. In Nordrhein-Westfalens Schulgesetz regelt Paragraf 74 beispielsweise die Schülervertretung: Sie "nimmt die Interessen der Schülerinnen und Schüler wahr. Sie vertritt insbesondere deren Belange bei der Gestaltung der Bildungs- und Erziehungsarbeit der Schule und fördert ihre fachlichen, kulturellen, sportlichen, politischen und sozialen Interessen", heißt es da. Im SV-Raum gibt es außerdem meist ein Sofa zum Rumhängen. +Im Sinne des Grundgesetzes können Schüler ihre Meinung frei äußern. Wobei: Schülerzeitungen gab es bereits im 19. Jahrhundert – unser Grundgesetz entstand hingegen erst 1949 (siehe nächste Seite). Schon Bertolt Brecht konnte Anfang des 20. Jahrhunderts seine ersten Gedichte als Gymnasiast in der von ihm gegründeten Schülerzeitung "Die Ernte" veröffentlichen. Heute schreibt die Jugendpresse Deutschland, ein Verein junger Medienmacher, über die Zeitungen: "Die Schülerpresse ist ein wesentliches Element demokratischer Schulkultur. Sie kontrolliert, indem sie die Schülerschaft informiert." Übrigens, die Jugendpresse Deutschland zeichnet regelmäßig die besten Schülerzeitungen aus. Vielleicht kommt ihr damit ja so groß raus wie Brecht. +www.jugendpresse.de diff --git a/fluter/darfs-ein-bisschen-weniger-sein.txt b/fluter/darfs-ein-bisschen-weniger-sein.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..898900e871b6f93ce95141941f6aaef4c5c73af5 --- /dev/null +++ b/fluter/darfs-ein-bisschen-weniger-sein.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Wie schädlich der Stoff ist, darüber wird seit Jahrzehnten gestritten. Der Medizinprofessor Michael Hermanussen ist ein vehementer Kritiker von Glutamat, das er für einen gefährlichen Gefräßigmacher hält – obwohl er selbst für sein Leben gern Seranoschinken, Parmesan oder Leberwurst isst. "Wir essen heute, was uns schmeckt, und nicht mehr wie früher das, was gerade da ist", sagt Michael Hermanussen. Und da den meisten Fleisch und Milchprodukte besser schmecken als Obst und Gemüse, ist der Konsum von Glutamat in den vergangenen 30 Jahren stark angestiegen – besonders in Fertiggerichten und Fast Food wimmelt es vor Zusatzstoffen, die manche Wissenschaftler für regelrechte Krankmacher halten. Eine Störung des Glutamatstoffwechsels im Gehirn soll für Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson, Epilepsie, Choreahuntington und Adipositas verantwortlich sein. Einzig: Keine Forschungsmeinung konnte sich bislang durchsetzen, obwohl Glutamat einer der bestuntersuchten Zusatzstoffe ist. Aber trotz rund 100.000 medizinischen Studien herrscht eine bemerkenswerte Unklarheit darüber, ob Glutamat nun gefährlich ist. +Rund 20.000 Tonnen Glutamat werden in Deutschland jährlich verarbeitet. Das ist fünfmal so viel wie vor 1980. Weltweit werden 1,5 Millionen Tonnen Glutamat hergestellt. Der Grund für diesen Erfolg: Über die Hälfte der Herstellungskosten in der Lebensmittelindustrie sind Rohstoffkosten, und die können mit Glutamat deutlich gesenkt werden. Statt teurer Zutaten wie Fleisch, Käse oder Shrimps kann man mit Glutamat eine Illusion von Geschmack erzeugen und spart bares Geld. Der Lebensmittelmulti Nestlé, der auch Maggi herstellt, begründet die Unbedenklichkeit von Glutamat gern mit dem "Hohenheimer Konsensusgespräch", an dem 1996 führende Wissenschaftler teilnahmen. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass Glutamat keine gesundheitlichen Schäden hervorrufe. Den Gastgeber dürfte das gefreut haben: Eingeladen hatte der japanische Lebensmittelkonzern Ajinomoto, der weltweit größte Glutamat-Hersteller. +Doch auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. hält Glutamat für unbedenklich, sagt eine Sprecherin. Natürlich gebe es Vermutungen und Hinweise, doch abschließende Beweise hätte man noch nicht. Und so lange das so sei, wären bei einem mäßigen Konsum von Glutamat keine gesundheitlichen Schäden zu befürchten. Bei der Verbraucherschutzorganisation Foodwatch ist man da skeptischer. Glutamat sei "der Grund, warum man die Chipstüte leer isst", heißt es dort. Auch die gängige Lebensmittelkennzeichnung prangern die Nahrungswächter als irreführend an. Häufig finde sich statt dem Kürzel "E621" harmlos klingende Bezeichnungen wie Würze, Aroma, fermentierter Weizen oder Trockenmilcherzeugnis auf den Verpackungen. Bei Bio-Produkten wird Hefeextrakt angegeben, hinter allem aber verbirgt sich nichts anderes als Glutamat. +Den Mediziner Hermanussen macht das wütend: "Wir wissen, dass Glutamat gefräßig macht, aber das wird ignoriert und weggeredet." Er fordert, dass Lebensmittel, die technischhergestellt sind, einer Prüfungspflicht unterliegen sollen wie Arzneimittel. Seit Jahren forscht er über den Zusammenhang zwischen Glutamat und der Appetitregulation. Sein Ergebnis: Von Lebensmitteln mit viel Glutamat essen wir mehr. Nicht nur, weil es gut schmeckt und wir eigene Rezeptoren auf der Zunge haben, die den Umami-Geschmack erkennen, sondern weil es die natürliche Sättigungsregulation im Gehirn zusammenbrechen lässt. Denn über die Nahrung zugeführtes Glutamat kann über den Darm ins Blut und von da aus unter Umständen ins Hirn gelangen, wo es eh als Neurotransmitter wirkt, also als Botenstoff im Zentralnervensystem. Dort, so konnte Hermanussen zeigen, stellt zu viel Glutamat eine Menge Unsinn an: Wir wissen nicht mehr, wann wir satt sind. Und essen immer weiter. Das ist nicht nur gesundheitlich bedenklich, sondern auch eine ziemlich freudlose Vorstellung – denn in hohen Dosen verödet Glutamat die Geschmacksnerven. Und irgendwann schmeckt alles, was wir essen, ziemlich gleich. Und das ist dann so ziemlich das Gegenteil von "umami". +Felix Denk (31) ist direkt nach dem Schreiben dieses Artikels nach Indien geflogen – er hat uns aber versichert, dass er versuchen will, dort ohne Glutamat auszukommen. diff --git a/fluter/darm-mit-charme.txt b/fluter/darm-mit-charme.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1a71ac9e554eee4f136626914ca85853d69c9065 --- /dev/null +++ b/fluter/darm-mit-charme.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +In welchen Punkten ist die Epigenetik umstritten? +Strittig ist, ob sich eine epigenetische Veränderung tatsächlich auf die nächste Generation auswirkt und verantwortlich ist für manche Zivilisationskrankheiten. Dagegen lässt sich anführen, dass epigenetische Veränderungen bei keimfreien Labortieren über mehrere Generationen hinweg weitergegeben werden, etwa wenn die Großelterngeneration Stress erlebt oder einer neuen Ernährungsweise ausgesetzt ist. Es ist aber nach wie vor unklar, ob das auch für Menschen gilt. +Welche Erkenntnisse der Zwillingsforschung belegen epigenetische Prozesse? +Wir untersuchen eineiige Zwillinge, weil sie genetische Klone sind – dennoch lassen sich auch bei ihnen enorme Unterschiede beobachten: Gewöhnlich entwickeln sie unterschiedliche Persönlichkeiten und sterben infolge unterschiedlicher Krankheiten. Solche Unterschiede lassen sich nicht allein durch ihre Gene erklären, wohl aber mit den unterschiedlichen epigenetischen Markierungen an ihrer DNA, die man findet. +Welche Unterschiede haben Sie im Einzelnen festgestellt? +Zum Beispiel, dass ein Zwilling homosexuell war und der andere heterosexuell oder einer der beiden Krebs bekam. Auch bei Erbkrankheiten zeigte sich mit fortgeschrittenem Alter oftmals ein großer Unterschied: Bei dem einen Zwilling brach die Erbkrankheit aus, der andere blieb davon verschont Wir beobachteten Zwillingspaare, bei denen einer depressiv wurde und Suizid beging, während sein Zwilling psychisch vollkommen stabil war. In diesem Fall könnte Stress bei einem Zwilling die Reaktion eines epigenetischen Signals provoziert haben. +Ist selbst die persönliche sexuelle Ausrichtung und die Religiosität oder die Weltanschauung epigenetisch beeinflusst? +Verschiedene Untersuchungen legen nahe, dass epigenetische Signale die Sexualität verändern können, doch bisher wurden erst kleine Studien an Menschen durchgeführt, und deren Ergebnisse liefern noch keine schlüssigen Beweise. Das Gleiche gilt übrigens für den Glauben – in dem sich eineiige Zwillinge ebenfalls sehr stark voneinander unterscheiden können. +Sie sagen, Traumata können von der Großelterngeneration an die Enkelgeneration weitergegeben werden. Heißt das, dass die pränatal angelegten Eizellen im Laufe des Lebens der Mutter noch veränderbar sind? +Ja, Tierversuche lassen vermuten, dass durch ein sehr stressvolles Ereignis in der Schwangerschaft die neurochemischen Vorgänge im Nervengewebe aktiviert beziehungsweise inaktiviert, etwa Stresshormone an- oder abgeschaltet werden können. Das kann auf molekularer Ebene Auswirkungen auf drei Frauengenerationen haben. So hat man etwa herausgefunden, dass die Kinder und Enkel niederländischer Mütter, die im Kriegswinter 1944/45 drei Monate lang hungern mussten, signifikant häufiger Übergewicht, Diabetes, Herzprobleme und Schizophrenie haben als jene, die ein Jahr später von Müttern geboren wurden, die nicht hungerten. Eine andere Studie in China über die große Hungersnot unter Mao Zedong in den Jahren 1958 bis 1961 untermauert diesen Befund. +Wird Krebs durch die epigenetische Forschung eines Tages besiegbar werden? +Epigenetik wird schon jetzt in der Krebstherapie genutzt, bei der Chemotherapie verschiedener Krebsarten, wo mit ihrer Hilfe das Tumorwachstum rückgängig gemacht wird. Wenn der Tumor bestimmte Gene ausgeschaltet hat, werden diese durch das Medikament wieder epigenetisch angeschaltet. +Seit einigen Jahren widmen Sie sich in einem umfangreichen Projekt der Erforschung von Mikroben im Darm, die Gene beeinflussen. +Wir können über die Analyse der Mikroben in Ihrem Kot bereits mehr Rückschlüsse über Ihren gegenwärtigen Gesundheitszustand ziehen als durch eine DNA-Analyse. Mikroorganismen können Gene an- und abknipsen, so wie die Gene zum Teil kontrollieren, welche Mikroben in unserem Darm leben und gedeihen, und auch, wie das Immunsystem darauf reagiert. Ein unstrittiges Ergebnis unserer bisherigen Studien ist, dass ungesund lebende Menschen eine geringere Vielfalt von Darmmikroben haben als Gesunde. Zudem stellten wir fest, dass es übergewichtigen Menschen an nützlichen Mikroben mangelt, über die schlanke Menschen dagegen in großem Maß verfügen. Als wir diese nützlichen Mikroben aus dem Stuhl menschlicher Zwillinge auf keimfreie Mäuse übertrugen, konnten wir damit das Fettwerden der Mäuse stoppen. Die Erforschung unserer Darmbakterien halte ich für eines der aufregendsten Gebiete der Medizin. +Wie gefährlich sind Umweltgifte? +Es besteht die Gefahr, dass chemische Schadstoffe unsere Erbanlagen epigenetisch angreifen, so wie auch unsere Darmflora. Beides kann dann an unsere Kinder weitergegeben werden – weshalb die Regierungen sehr gut daran täten, verstärkt dagegen vorzugehen. +Wie kann ich denn darauf Einfluss nehmen, was meine Gene steuert? +Wenn Sie gesund sein wollen, dann vermeiden Sie Chemikalien, die Ihre Gene beeinflussen, wie Bisphenol A in Plastik. Aber auch Vitamine wie Folsäure oder Vitamin B12 können sich je nach Dosis in unvorhersehbarer Weise auswirken, indem sie unsere Gene epigenetisch modifizieren. Und auch viele andere Chemikalien könnten unseren Genen schaden, ohne dass wir das bisher absehen. Ich glaube, eine wichtige Botschaft unserer Wissenschaft sollte sein, dass jeder über Epigenetik selbst etwas dafür tun kann, dass es ihm und seinen Nachkommen gut geht. Also dass die Gene kein unabänderliches Schicksal für einen Menschen bedeuten müssen. +Tim Spector ist Professor für Genetische Epidemiologie am Londoner King's College. Er untersucht seit fast 25 Jahren die genetischen und umweltbedingten Voraussetzungen von Krankheiten anhand eineiiger Zwillingspaare. Der Mediziner begründete die weltweit größte Datenbank mit 13.000 Zwillingspaaren. Sein aktuelles Buch heißt "Mythos Diät. Was wir wirklich über gesunde Ernährung wissen", Berlin Verlag diff --git a/fluter/darum-haben-wir-nicht-mit-allen-menschen-gleich-viel-mitgef%C3%BChl.txt b/fluter/darum-haben-wir-nicht-mit-allen-menschen-gleich-viel-mitgef%C3%BChl.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4b6091f5b463f60e153cc373cc05198c8c9b71b3 --- /dev/null +++ b/fluter/darum-haben-wir-nicht-mit-allen-menschen-gleich-viel-mitgef%C3%BChl.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +Die ersten Berichte haben uns noch sehr getroffen. +Richtig, aber wer zum zehnten Mal hört, dass ein Flüchtlingsboot gekentert ist, steckt diese Nachricht in die Schublade "Kenne ich schon, nichts Neues". Wenn ich Menschen kategorisiere, indem ich zum Beispiel vom "Flüchtling", vom "Muslim" oder vom "Wähler dieser oder jener Partei" spreche, dehumanisiere ich sie. Ich spreche ihnen sozusagen zu einem Teil ihre menschlichen Eigenschaften ab. Gleichzeitig reduziere ich meine Fähigkeit, mit ihnen mitzufühlen – schließlich nehme ich sie nicht mehr als Person wahr, sondern als Kategorie. + + +Das Attentat in München, bei dem zehn Menschen ums Leben kamen, löste in Deutschland kollektive Trauer aus. Einen Tag später starben bei einem Attentat in Kabul 80 Menschen. Warum berührte das eine Leid hierzulande viele Menschen und das andere vergleichsweise wenige? +Aus Sicht der Forschung kann man das so erklären, dass wir Mitgefühl und Betroffenheit nicht auf alle Menschen gleich verteilen. Starke Verbindungen bauen wir zu jenen Menschen auf, die uns nahestehen. Ganz wichtig: Nähe kann in diesem Zusammenhang geografische Nähe bedeuten, aber auch kulturelle Nähe oder genetische. +In dem konkreten Fall waren wir also womöglich gleich mehrfach betroffen? +So ist es. Viele Deutsche haben zu München eine direkte Verbindung. Sie waren zum Beispiel schon mal in der Stadt und können sich genau vorstellen, wo das Attentat passiert ist. Der Aspekt des gleichen Kulturkreises kommt dann noch stärkend hinzu: Passiert etwas in Deutschland, gehen wir quasi davon aus, dass uns die Betroffenen ähnlich sind, und stellen deshalb eine besonders starke Verbindung zu ihnen her. Wenn dagegen etwas in Kabul passiert – wo viele wahrscheinlich erst einmal nachschauen müssen, wo das auf der Landkarte liegt –, sind die Verknüpfungspunkte in unserem Gedächtnis sehr gering. Genau diese würden aber zu Emotionen führen. +Spielt beim Beispiel München auch Angst eine Rolle? +Ja, es geht nicht nur um Empathie, sondern auch um die Frage: Was macht ein Attentat mit uns? Muss ich mein Verhalten anpassen? Fahre ich am nächsten Wochenende nach München und setze mich in einen Biergarten? Beim Attentat von Kabul fallen diese Gedanken flach. Niemand von uns fährt übers Wochenende nach Kabul und trinkt dort ein Bier. + + +Für Menschen, die weit weg sind – beispielsweise Flüchtlinge, die in der Türkei festsitzen –, zeigt man also eher wenig Mitgefühl. Viele Deutsche haben aber täglich mit Geflüchteten zu tun, weil sie etwa in der Nähe eines Asylbewerberheims wohnen. Müsste diese geografische Nähe nicht Empathie begünstigen? +Die geografische Entfernung fällt zwar weg, aber kulturelle Nähe besteht noch immer nicht. Ein Beispiel: Während der Jugoslawienkriege herrschte in der deutschen und österreichischen Bevölkerung sehr große Hilfsbereitschaft. Es gab etliche Hilfsprogramme, man schickte Lkw-weise Essen nach Bosnien, nahm viele Flüchtlinge auf etc. Nun könnte man sich jetzt fragen ... +... was war damals anders? +Genau, die bosnischen Flüchtlinge waren schließlich auch Fremde, sie waren auch Muslime. Der große Unterschied ist, dass ihre Kultur zu diesem Zeitpunkt schon wesentlich besser in die deutsche Gesellschaft integriert war. Es gab viele Gastarbeiter aus Serbien, aus Kroatien und Bosnien. Wir sahen die Neuankömmlinge praktisch schon als Teil von uns. Heute aber kommen Menschen aus Syrien, Afghanistan, Irak, Eritrea – also aus Regionen, zu denen wir noch keine unmittelbaren Anknüpfungspunkte haben. +Kann man Mitgefühl gegenüber Menschen aus fremden Kulturkreisen trainieren? +Ja, man kann Empathie – genauso wie jede andere Wahrnehmung – verändern und lenken. Und zwar sowohl zum Positiven als auch zum Negativen. +Wie funktioniert das? +Einerseits über einen rein kognitiven Weg, indem man versucht, an die Moral und ethischen Überzeugungen der Menschen zu appellieren: Warum sollte ich einen Syrer, der vor Bomben und Terror flüchtet, anders behandeln als einen Bosnier? Man appelliert damit an die Verbindung aller Menschen zueinander, unabhängig von Herkunft oder Religion. +Und das klappt? +Na ja, es ist nicht gerade einfach, weil dieser Weg über den Verstand verläuft und unsere moderne Medienwelt ganz häufig über Gefühle funktioniert. Eine Möglichkeit wäre aber, der Bevölkerung mehr Kontakt zu Flüchtlingen zu ermöglichen. Durch persönlichen Kontakt erkennen wir: "Hey, Flüchtlinge sind ja auch nur Menschen wie wir." +Was passiert im Gehirn, wenn man andere Menschen leiden sieht? +Das Modell, mit dem die Wissenschaft momentan arbeitet – erschöpfend geklärt ist es noch nicht –, ist folgendes: Wenn ich das Leid einer anderen Person beobachte, dann löst das in meinem Gehirn Reaktionen aus, die auch dann da wären, wenn ich selbst in dieser Situation wäre. Am Beispiel des Schmerzes ist das schon recht gut untersucht. Ich weiß also nicht nur, dass die andere Person Schmerz empfindet, ichfühlees auch. Das ist möglicherweise auch der Schlüssel dafür, warum sich Mitgefühl relativ schnell in Altruismus umwandeln lässt: Der Bezug zum Selbst wird fast unmittelbar hergestellt. +Manchmal bin ich von einer Nachricht zwar betroffen, versuche aber trotzdem nicht, etwas an der Situation zu ändern. Woran liegt es, dass man einmal Einsatz zeigt und ein anderes Mal nicht? +Wenn ich viel Mitgefühl empfinde, ist auch die Wahrscheinlichkeit größer, dass ich handle. Aber es spielen auch ganz andere Faktoren eine Rolle: Hab ich überhaupt die Ressourcen oder die Fähigkeit, einer Person zu helfen? Gibt es andere Personen, die eigentlich vor mir helfen sollten? Berufe ich mich zum Beispiel darauf, dass die Flüchtlingsproblematik nicht mein Bier ist, sondern vom Staat gelöst werden sollte? Unser Einsatz hängt stark von Überzeugungen ab und davon, wie gut oder schlecht die Ausreden sind, die wir finden. +Als Professor am Institut für Klinische, Biologische und Differentielle Psychologie in Wien beschäftigt sich Claus Lamm vor allem mit dem menschlichen Sozialverhalten. Der Titel seiner Antrittsvorlesung 2001 ist auch programmatisch für seine Forschung: "Von Empathie zu Altruismus: Ein interdisziplinärer Erkenntniszugang" diff --git a/fluter/das-bleibt-jetzt-aber-unter-uns.txt b/fluter/das-bleibt-jetzt-aber-unter-uns.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2aec204e33a90eda7319c7de6d69f11e575749db --- /dev/null +++ b/fluter/das-bleibt-jetzt-aber-unter-uns.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Zum Erfolg hat auch die Art und Weise beigetragen, wie die Banco Palmas Kredite vergibt. Das Bankgebäude sieht aus wie ein normales Wohnhaus, die Angestellten sind Bekannte aus dem Slum. Keiner fragt nach Schufa-Eintrag oder Verdienstbescheinigung. Aber so ein Bekannter wird den Nachbarn des potenziellen Kreditnehmers vielleicht irgendwann folgende Frage stellen: "Wie lange backt denn João schon Maniok-Pfannkuchen? Der hat bei uns ein Darlehen für ein Pfannkuchenunternehmen beantragt." Die Nachbarin könnte darauf antworten: "Das hat der João schon von seiner Oma gelernt!" Das wäre günstig für Joãos Kreditchancen. Würde sie hingegen sagen: "Der João? Der hat noch nie irgendwas gebacken!", sänken seine Chancen gen null. Die wichtigste Frage lautet meist: "Wenn es Ihr Geld wäre, würden Sie es João leihen?" Damit fahren die Kreditanalysten der Banco Palmas bestens. +Nur etwa zwei Prozent zahlen ihre Schulden nicht zurück. Darlehen in Palmas sind bis zu einem bestimmten Betrag zinsfrei, Kredite in der offiziellen Währung Real kosten einen Bruchteil der üblichen Zinsen. "Wir sind nicht an Profit orientiert, sondern an der Entwicklung des Viertels", erklärt Joaquim de Melo, "deswegen kosten bei uns Kleinkredite weniger als große." Nach anfänglicher Skepsis gelten die Palmas mit der hübschen Palme im P inzwischen in rund 240 Läden, die ihren Palmas-Kunden Preisnachlässe zur Kundenbindung gewähren. Die brasilianische Zentralbank verklagte ihre kleine Konkurrentin anfangs, verlor aber den Prozess. Stattdessen vereinbarte die Staatsbank mit der Slumbank, dass es immer ausreichend Gegenwert in Real für die ausgegebenen Palmas gibt, die Zweitwährung rücktauschbar und ihr Wert an den Real gebunden sein muss. Längst ist es keine Seltenheit mehr, dass Bankkunden am Schalter die bunte Zweitwährung verlangen. Nach zehn Jahren Palmas gab das Ministerium für Arbeit eine Studie zu den Auswirkungen in Auftrag. Das Ergebnis: Ein Viertel der Befragten konnte sein Einkommen seit der Bankgründung steigern, ein Fünftel hat erst danach Arbeit gefunden, und 90 Prozent sagen aus, ihre Lebensqualität habe sich seitdem verbessert. +Nachdem in den 1990er Jahren die meisten Experten an eine Zukunft der globalen Währungen wie den Euro glaubten, gerieten nach der Krise von 2008 solche Überzeugungen ins Wanken. Zweitwährungen, die begrenzte Wirtschaftsräume schützen und stützen können, hatten wieder Konjunktur. De Melo sagt: "Unsere Bank hat keine Filialen. Unser Kapital bleibt im Viertel, das heißt: Da draußen kann es krachen, wie es will, das hat auf uns keine Auswirkungen." Die Grenzen der Zweitwährungen ergeben sich für ihn vor allem durch das begrenzte Kapital: Heute sind in Brasilien 67 verschiedene Währungen in Umlauf, ihr geschätzter Gegenwert beträgt rund 250.000 Euro. Sie alle haben – ähnlich wie im Conjunto Palmeiras – zu einem örtlichen Wirtschaftsaufschwung geführt. Das jüngste Beispiel ist im September in Rios berühmtem Slum City of God (Cidade de Deus) entstanden, und das neue Geld boomt bereits wie verrückt, berichtet de Melo. Brasiliens Nachbarn in Venezuela haben sich ebenso von den Experten der Banco Palmas beraten lassen wie Neugierige aus Afrika und Asien. Seit 2006 haben die Venezolaner es auf mehr als 200 Zweitwährungen gebracht. Joaquim de Melo wünscht sich für Brasilien eine ähnliche Zukunft. "Unsere Präsidentin hat sich die Ausrottung des Elends bis zum Jahr 2014 auf die Fahnen geschrieben", sagt er, "und unsere Banken sind ein wichtiges Werkzeug auf dem Weg dahin!" Der Conjunto Palmeiras jedenfalls ist längst kein Slum mehr, sondern ein normales Arbeiterviertel. diff --git a/fluter/das-boese-ist-immer-und-ueberall.txt b/fluter/das-boese-ist-immer-und-ueberall.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3e67f3d0d849893ba8e478b494a7fcc4540c440d --- /dev/null +++ b/fluter/das-boese-ist-immer-und-ueberall.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Ihren Stoff fanden die Interessierten aber nicht, indem sie Wörter wie Cannabis, LSD oder Kokain in die Suchmaschinen eintippten. "Silk Road" war ausschließlich über das sogenannte Darknet erreichbar, in das sich jeder Internet-Nutzer mit einer kostenlosen Software einwählen kann. Das Darknet ist so etwas wie die Schmuddelecke des Internets, dient jedoch auch als gut geschütztes Netzwerk für Dissidenten in autoritären Staaten. Die Daten der Nutzer werden verschlüsselt übertragen, Behörden können sie in der Regel nicht zu ihrem Ursprung zurückverfolgen. Drogendealer fühlen sich im Darknet relativ sicher, da auch der Geldtransfer meistens anonym über die virtuelle Währung Bitcoin abläuft. Auch Ulbricht fühlte sich sicher. Trotzdem schnappte ihn die US-Bundespolizei nach rund zweijähriger Undercover-Fahndung, weil er zuvor zu viele Spuren im ungesicherten Netz hinterlassen hatte. +Laut FBI haben die Händler auf "Silk Road" zwischen dem 6. Februar 2011 und dem 23. Juli 2013 insgesamt 1,2 Milliarden Dollar umgesetzt. Dabei war und ist das Portal nicht der einzige Anbieter seiner Art im Darknet. Manch einer hat sogar Waffen und gefälschte Papiere im Angebot. +Ein besonders schillernder und vergleichsweise kommunikativer Konkurrent hieß "Atlantis". Die Verantwortlichen beschäftigten einen Pressesprecher und haben im vergangenen Jahr sogar einen fröhlichen Werbespot auf Youtube geschaltet. "Worauf wartest du noch, probier es aus", lautete die Botschaft. Im September war damit jedoch Schluss, die Seite ging vom Netz. Gut möglich, dass auch in diesem Fall den unbekannten Hintermännern US-Behörden auf der Spur waren. +Trotz des Fahndungserfolges der US-Kollegen bei "Silk Road" ähnelt der Krieg gegen illegale Plattformen im Darknet dem Rennen zwischen Hase und Igel. Bereits wenige Wochen nach der spektakulären Verhaftung von Ulbricht in San Francisco war ein Nachfolger seines Portals online – gleiches Design, ähnlich großes Angebot illegaler Substanzen von Anbietern rund um den Globus. Die Verantwortlichen versprechen, dass der Verkauf sicherer ist als je zuvor. Im Forum der "Silk Road 2.0" schwören sie Händler und Kunden auf den Kampf um ihre Selbstbestimmung ein und tönen großspurig: "Welcome back to freedom." +Längst beschäftigt diese Form der Cyber-Kriminalität auch die deutschen Gesetzeshüter. Im November letzten Jahres beschrieb Jörg Ziercke, Chef des Bundeskriminalamtes, die Online-Schwarzmärkte als eine der größten Herausforderungen des BKA. Ihre Strategie verrät die Behörde verständlicherweise nicht. Nur so viel: Man arbeite eng mit den USA zusammen. +Ausgerechnet die einst vertrauenswürdigen Bitcoins werden möglicherweise zur Schwachstelle der digitalen Basare. Juristen und Computerspezialisten im Dienste des Staates arbeiten daran, die digitale Währung unter Kontrolle zu bekommen, damit Händler und Käufer illegaler Waren nicht ungestraft davon kommen. +Der Hype um "Silk Road" und andere Anbieter könnte noch aus einem anderen Grund schon bald enden: Unbekannte Hacker nutzten Mitte Februar einen Systemfehler aus und erbeuteten dabei eingezahlte Bitcoins der Käufer im Wert von 2,7 Millionen Dollar. Ernüchternd für die Kunden – aber auch für die Verantwortlichen des Portals, die das Geld jetzt immerhin erstatten wollen. diff --git a/fluter/das-brauen-hat-einen-namen.txt b/fluter/das-brauen-hat-einen-namen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3637ac4415439d4484ff48670fdee3abc31bdd61 --- /dev/null +++ b/fluter/das-brauen-hat-einen-namen.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +"Ganz besonders wollen wir, daß forthin allenthalben in unseren Städten, Märkten und auf dem Lande zu keinem Bier mehr Stücke als allein Gersten, Hopfen und Wasser verwendet und gebraucht werden sollen" – so steht es in der Verordnung, die unter Wilhelm IV., dem damaligen Herzog von Bayern, erlassen wurde. Und so gilt es mehr oder weniger immer noch, wenn heute Bier gebraut wird. Lediglich die Hefe wurde später noch hinzugemogelt und die Gerste aus dem Originaltext in "Gerstenmalz" umgewandelt – das sei mit der Perfektionierung des Brauprozesses über die Jahre so entstanden, heißt es beim Bayerischen Brauerbund. Nicht ohne Stolz, denn das bayerische Reinheitsgebot von 1516 hat sich durchgesetzt gegen weitere Reinheitsgebote etwa aus Thüringen oder aus Franken, die zum Teil sogar noch früher verordnet wurden. +Seitdem gilt: Hopfen und Malz, Gott erhalt's – und die Tatsache, dass dieser Satz meist lallend rezitiert wird, sagt viel aus über den Mythos des Reinheitsgebots: "Bayerisches Bier besteht aus vier natürlichen Zutaten, das ist eine Botschaft, die wir mit diesem Rezept einfach kommunizieren können", sagt Lothar Ebbertz, der Chef des Bayerischen Brauerbunds. +Besser verkaufen sich amerikanische Crafts-Biere und Gebräue, die nach Kräutern, Früchten oder Honig schmecken. Aber da reagieren die Traditionalisten allergisch +Sein Verband setzt sich für bayerische Brauereien ein, die "reines" Bier verkaufen. Unter denen sind große Player wie etwa Paulaner, Hacker-Pschorr oder Löwenbräu (Anheuser-Busch InBev). Für sie ist das Reinheitsgebot eine Art "Trademark". Und Lothar Ebbertz so etwas wie der Intendant der anstehenden Bier-Festspiele. "500 Jahre Reinheitsgebot, das ist für die bayerische Brauwirtschaft etwas Großartiges", sagt Ebbertz. "Das haben die Menschen verstanden, und sie feiern gerne mit uns!" + + +Doch nicht alle haben das vor. In der Brauerszene gärt es. Spätestens seitdem Craft-Biere, gebraut nach amerikanischem Vorbild, in ihrem Siegeszug auch deutsche Kneipentresen erobert haben, ist eine Art Glaubenskrieg ausgebrochen zwischen Brauern. +Die Konfliktlinie verläuft zumeist zwischen alteingesessenen Großbrauereien, die das Reinheitsgebot vor sich hertragen wie eine Monstranz, und denen, die experimentieren wollen: junge Brauer, die Biere herstellen mit Namen wie "India Pale Ale", "Porter" oder "Stout". Die exotischer schmecken, nach Kräutern, Früchten oder Honig. +Ausgerechnet letzteres – der Honig – macht Christian Zwanzger Probleme. Er betreibt eine kleine Brauerei im fränkischen Uelfeld, und das bereits in der zwölften Generation. Vor einiger Zeit hat er Honig-Bier hergestellt, das er aber beinahe zynisch "mein Nicht-Honig-Bier" nennt. Der Grund: Weil im Reinheitsgebot von Honig nichts steht, darf Christian Zwanzgers Honig-Bier nicht Bier heißen. "Rein rechtlich ist es ein Bier-Mischgetränk mit Honig, weil ich in ein fertiges Bier Honig reinmische." +Viele Craft-Biere werden in Deutschland als Brauspezialität oder als "Biermischgetränk" verkauft, und die meisten Brauer nehmen schulterzuckend in Kauf, dass sie das Label "Reinheitsgebot" für ihr Gebräu eben nicht beanspruchen können. Das Problem: Immer wieder kommt es vor, dass solches Craft-Bier in Deutschland nicht einmal verkauft werden darf. +So wie das "Milk Stout" der bayerischen Craft-Brauerei "Camba Bavaria". Dort entschieden Lebensmittelkontrolleure, dass das nach traditionell britischem Stil gebraute Milk Stout kein Bier sei – da neben den üblichen Zutaten auch Milchzucker verwendet wird. Weil der Konsument zudem meinen könne, dass sich "Milch" in diesem Getränk befindet, sei auch die Bezeichnung "Biermischgetränk" irreführend. Jetzt darf es gar nicht in den Handel gehen. +In Deutschland regelt das "Vorläufige Biergesetz", was Bier ist und was nicht. Das "Vorläufige Biergesetz" ist das Paragraf gewordene Reinheitsgebot. Es stammt aus dem Jahr 1993, ist also weitaus jünger als das Schriftstück aus Ingolstadt, dessen runder Geburtstag jetzt gefeiert wird. +Das stört Lothar Ebbertz vom Brauerbund nicht, im Gegenteil: Er vergleicht die Rolle des Reinheitsgebots für das "Vorläufige Biergesetz" gerne mit jener der Zehn Gebote aus der Bibel, die ja auch nicht wortwörtlich im Strafgesetzbuch stünden – symbolisch, aber essenziell. Natürlich sei das Label "Reinheitsgebot" eine durchaus "plakative Darstellung" dessen, was 1516 beschlossen wurde. Die verkauft sich aber gut, seit Jahren schon, und daran möchten die großen Brauereien nichts ändern. "Wenn ich schaue, was für Exporterfolge wir haben, das beste Absatzergebnis im vergangenen Jahr, dann sicherlich nicht, weil an reinem Bier so viel auszusetzen ist", sagt Ebbertz. Craft-Bier sei eben nur ein Nischenprodukt. Bayerisches Bier nach Reinheitsgebot ist eine Marke. "Davon abzuweichen wäre ein Fehler", sagt Ebbertz. + + +Dass die großen Brauereien also im Jubiläumsjahr neben den Krügen vor allem ihren Markenkern hochleben lassen, ist aus einem Grund nachvollziehbar: Der Bierabsatz geht hierzulande seit Jahren zurück – die Deutschen trinken einfach weniger. Der Export jedoch nimmt tendenziell zu, allerdings müssen deutsche Brauereien auf dem internationalen Markt gegen globale Massenbrauereien wie Miller oder Heineken antreten. +Craft-Bier hingegen ist auf dem Vormarsch und vor allem für kleine Brauereien wie die von Christian Zwanzger rentabel, die sonst nur kleine Mengen brauen. Zwanzger beteuert, dass sein Bier trotz Honig "rein" sei: "Das Bier ist rein, und der Honig kommt von einem Imker aus der Gegend. Es ist reiner als manch anderes Getränk und sicherlich reiner als manch anderes Bier." +Das hört man oft, wenn man mit kleinen Brauern spricht oder etwa dem Bier-Scout und -Blogger Norbert Krines. Er bringt unzählige Beispiele, die zeigen, dass reines Bier in der Regel sogar mit Filtrationshilfen, Stabilisatoren, manchmal sogar mit dem "Farbstoff" Röstmalzbier behandelt wird: "Nach meinem Empfinden hat das mit Reinheit nichts zu tun", sagt er. Das Reinheitsgebot schütze Großbrauereien und sei eigentlich nur ein Marketingtool. Norbert Krines nennt das "Reinheitsgebots-Romantik". Lederhose, Schafkopf, Bier. Er fordert eine Reform. + + +Auch Christian Zwanzger hätte gerne mehr Rechtssicherheit für seine Braukunst und hofft auf eine Debatte im Rahmen der Reinheitsgebots-Feierlichkeiten: "Ich muss es nicht als Bier bezeichnen, ich kann es auch unter einem anderen Namen vertreiben. Aber wir brauchen einen Namen dafür und nicht irgendein generelles Verbot." +Während Christian Zwanzger sein Honig-Bier nur in kleinen Mengen auf Messen und auf Festivals verkauft, fährt bereits seit Monaten eine Sonderlok der Deutschen Bahn durch Bayern. Mit Reinheitsgebots-Aufdruck: Hopfendolden, Bayernfahne, Bier mit Schaum. Das "Bierticket" ab München oder Nürnberg und retour nach Ingolstadt gibt es nämlich während des ganzen Jahres ermäßigt: zum Jubiläumsjahrpreis von 20,16 Euro. Bei so viel bierseliger Scherzlaune scheint die Frage nach der Notwendigkeit einer Reform an den Brauerbund fast überflüssig. "Wenn die Nachfrage enorm wäre, dann würde das Gesetz darüber nachdenken", sagt Lothar Ebbertz. Das sei sie aber nicht. Er selbst freut sich auf einen Schluck klassisch gebrautes, "reines" Bier bei der Eröffnung des Festjahres demnächst in Ingolstadt. Dem Reinheitsgebot zum Wohl. diff --git a/fluter/das-dumme-gefuehl-dass-es-die-anderen-besser-hinkriegen.txt b/fluter/das-dumme-gefuehl-dass-es-die-anderen-besser-hinkriegen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..05079029349f6e1a268a1e271563e4327c6182eb --- /dev/null +++ b/fluter/das-dumme-gefuehl-dass-es-die-anderen-besser-hinkriegen.txt @@ -0,0 +1,30 @@ +Heinz Bude: Da zeigt sich das Angstparadox. Je sicherer man ist, desto mehr Ängste hat man. Gewinne werden viel schwächer verbucht als Verluste. Daran lehnt sich meine Grundthese an: Wir sind ziemlich wohlhabend und auch reich an Lebens­chancen – und haben gerade deshalb Angst davor, vieles falsch zu machen. Das hat zur Folge, dass wir uns nicht mehr dauerhaft auf etwas einlassen, sondern uns ständig Optionen offen halten wollen. Die Menschen hadern damit, Gelegenheiten nicht genutzt zu haben. Sie entwickeln ein Misstrauen gegenüber sich selbst, die quälende Vorstellung, beständig unter ihrem Po­tenzial zu bleiben. Nicht zu genügen, bei der Arbeit wie in den privaten Beziehungen. +Die berühmte Work-Life-Balance. +Da geht es um Selbstverwirklichung, "Quality Time" und Lebensgenuss. Doch dummerweise ist da immer jemand, der lässiger ist, Beruf und Familie besser unter einen Hut bekommt und das mit dem Genießen auch noch klasse hinkriegt.Im Jahr 2013 wurden in Deutschland rund 170.000 Ehen geschieden. Bedeutet diese Freiheit, sich trotz Ehe zu trennen, dass man ständig allein gelassen werden kann? +Wir sehen uns heute in allen sozialen Beziehungen mit einer Drohung der Kündigung konfrontiert. Jede Beziehung kann im Prinzip gekappt werden, wenn es dem Partner oder Gegenüber aus irgendwelchen Gründen nicht mehr gefällt. Allein zu ihren Söhnen und Töchtern gehen Väter und Mütter heute noch unkündbare Beziehungen ein. In der heutigen Musterfamilie sind nicht die Partner einander verbunden, sondern je beide Elternteile mit ihren Kindern.Wie sieht es in der Berufswelt aus? +Da ist Selbstoptimierung gefragt, Produktivität und die Ein­stellung auf sich ständig ändernde Kundenwünsche. Es herrscht das Gefühl vor, immer noch ein Extra bieten zu müssen, eine Zusatzkompetenz, um im Rennen um die besten Plätze mit­halten zu können. Es gibt eine Vorstellung, die heute in den Berufsbeziehungen, aber auch in den privaten, den intimen Beziehungen eine starke Rolle spielt: The winner takes it all. Ich bin besonders strahlend, besonders fit, besonders ironisch. Und wenn ich so bin, dann kann ich alles kriegen. +Ist das nicht legitim? +Es kann doch nicht nur Champions geben. Es gerät aus dem Blick, was diejenigen kriegen, die auf den zweiten und dritten Plätzen sind. Gleichzeitig breiten sich Verbitterung und na­gende Neidgefühle bei denjenigen aus, die sich eingestehen müssen, auf die zweite Chance angewiesen zu sein. +Bei Ihnen ist die Rede vom "außengeleiteten Charakter", den der US-Soziologe David Riesman schon 1950 in seinem Buch "The Lonely Crowd" beschrieb. Dieser "außen­geleitete Charakter" sei auf besondere Weise angstanfällig. +Außengeleitet, das meint, dass wir heute unser Leben nicht ­mit uns selber ausmachen, sondern mit den anderen. Statt an Traditionen und inneren Werten orientieren wir uns am Ver­halten der anderen. Wir sind Virtuosen der Kontaktsensibilität, können uns genau auf die anderen einstellen, weil wir ver­suchen, an den Erwartungen der anderen unsere eigenenErwartungen zu bilden. +Und wie kommt da die Angst ins Spiel? +Dieser Orientierungsprozess ist unterlegt von einer diffusen Angst, für seltsam, für merkwürdig gehalten zu werden und am Ende allein dazustehen. Denn wir wissen ja, dass die anderen nicht unbedingt zuverlässig sind. +Soziale Netzwerke und Dating-Plattformen im Internet sind relativ neu. Welche Rolle könnten die spielen bei dieser konformistischen Orientierung der Menschen? +Das Internet ist ja ein enormes Feld für die Einübung von Kontaktsensibilität. Da kann man sich selber verstellen, kann bestimmte Porträts von sich entwerfen und immer wieder testen, wie man damit ankommt bei den anderen. Das hat aber nicht nur Entfremdendes, sondern auch Spielerisches. Es könnte einen bestimmten Sozialcharakter verstärken. +Sie haben jüngst mal gesagt, bei den modernen Deutschen sei die Fähigkeit, sich an anderen zu orientieren, besonders exzellent ausgebildet. Sind wir Anpassungsweltmeister? +Wir verfügen jedenfalls über ein erstklassiges Radarsystem, arbeiten ständig an seiner Einfädelungsfähigkeit. In der Wirtschaft schätzt man so was übrigens durchaus als Soft Competences: soziale Kompetenz, Teamfähigkeit, Flexibilität. Man könnte auch von Geschmeidigkeit sprechen. +Sie schauen auch auf das Land als Ganzes – und sagen, dass Deutschland nicht darauf vorbereitet ist, sich politisch anders als reaktiv zu verhalten. Was meinen Sie damit? +Es ist ja auffällig, dass sich die Bundesrepublik in einer merkwürdigen Schwellensituation befindet: Die Tatsache, dass Deutschland die stärkste Ökonomie Europas ist, bringt hohe politische Erwartungen an uns mit sich. Und es gibt hier so eine Art von Einflussangst. Sind wir der neuen Rolle als Amerikaner Europas, also gleichzeitig beschimpft und bewundert zu werden, gewachsen? Es bereitet uns Unbehagen, dass un­sere europäischen Nachbarn deutsche Antworten auf Zukunfts­fragen erwarten. +Sie beschreiben Angst als flächendeckende Strömung in den Industriestaaten, quasi als die Grundmelodie moderner Befindlichkeit. Welche Rolle spielen heute eigentlich noch die klassischen Abstiegsängste? +Es gibt Ängste in den verschiedenen sozialen Lagen, hinzu kommt noch eine Art untergründige Systemangst. Die hat mit der Krise der Banken und des Finanzsystems seit 2008 zu tun; die nämlich hat deutlich gemacht: Der Kapitalismus ist ohne Krise nicht zu haben. +Wie sehen die Ängste in der Mitte, oben und unten aus? +In der Mitte merkt man, dass die obere und die untere Hälfte der Gesellschaft auseinanderdriften. Der Hochschulabschluss ist keine Garantie mehr – ein paar falsche Entscheidungen, und man findet sich in der unteren Hälfte wieder. Und es ist in Deutschland ein neues, dauerhaftes Dienstleistungsproletariat entstanden mit Leuten, die Knochenjobs machen. Da ist die Angst noch konkreter, denn sie müssen fürchten, dass ihr Körper irgendwann nicht mehr mitmacht und sie dann vor dem Nichts stehen. Es gibt aber auch die Furcht der reichen Gewinner vor dem Verlust der Kontrolle über die Konkurrenz. +Und was ist die Systemangst? +Wir leben in Systemzusammenhängen, von denen wir wissen, dass sie uns einerseits ein gutes Leben ermöglichen, aber andererseits Verwundbarkeit mit sich bringen, sodass wir an den Rand der Kontrollierbarkeit kommen. Das Thema Datensicherheit im Internet ist so ein Beispiel. Wir sind entsetzt darüber, was Unternehmen und Geheimdienste mit unseren Daten anstellen, doch für unser Verhalten hat das null Konsequenzen. +Wie sollen wir mit den von Ihnen beschriebenen Ängsten umgehen? +Esoterik, Coaching, Fitnesstraining – es gibt einen ganzen Markt der Angebote, mit denen man angeblich angstfrei werden kann. Doch darin sehe ich keinen Weg, denn Angstfreiheit ist letztlich nur um den Preis der vollständigen Resignation zu haben. Natürlich ist es wichtig, sich nicht von Angst treiben zu lassen, denn dann vermeidet man das Unangenehme, verleugnet das Wirkliche und verpasst das Mögliche. Andererseits ermöglicht Angst uns auch, einen hoffnungsvollen Blick auf die Welt zu werfen. Ängste sind eine Bedingung für Veränderung. +Also geht es eher um Angstmanagement statt Angstfreiheit? +Ich sehe zwei Varianten. Es gibt kraftvolle, risikobereite Politiker, die die Angst zum Thema machen und sie offen ansprechen. Und es gibt solche, die nie über Ängste sprechen würden und sie systematisch ausklammern. Doch darin liegt eine Gefahr, denn Angst kann die Menschen abhängig machen von Verführern. Angst kann zur Tyrannei der Mehrheit führen, weil alle mit den Wölfen heulen. Sie ermöglicht das Spiel mit der schweigenden Masse. +Die Bilder stammen aus der Fotoarbeit "The Parting", mit der der Fotograf Tobias Kruse 2007 die Ostkreuz-Fotoschule abgeschlossen hat. Dafür hatte er eine Abiturklasse begleitet und die jungen Menschen in dem entscheidenden Moment fotografiert, in dem ein neues Leben für sie beginnt. Ein Leben, dem sie voller Träume, voller Freude, aber auch mit Zögerlichkeit und Angst entgegentreten. Kruse ist heute Fotograf der gleichnamigen Fotografenagentur Ostkreuz und reist seit vielen Jahren mit der Kamera durch die Welt. www.tobias-kruse.com + +Prof. Dr. Heinz Bude, Jahrgang 1954, ist einer der einflussreichsten Soziologen Deutschlands. Seit 2000 hat er an der Universität Kassel einen Lehrstuhl für Makrosoziologie, zudem arbeitet er am Hamburger Institut für Sozialforschung. Seine Schwerpunkte liegen in der Generationen- und Arbeitsmarktforschung. Gerade erschien sein Buch "Gesellschaft der Angst", in dem Bude die Angst als zentrale gesellschaftliche Kraft beschreibt. diff --git a/fluter/das-echte-leben.txt b/fluter/das-echte-leben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d918ff816c56f956fa7404af4e3838806dae8156 --- /dev/null +++ b/fluter/das-echte-leben.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Sarah Geißler, 21, ist im Freiwilligen Ökologischen Jahr in der Domäne Dahlem beschäftigt. +Die meisten Menschen wissen nicht, dass man auf Kühen auch reiten kann. Ich wusste es auch nicht, bis ich es bei meiner Arbeit mit den Kühen in der Domäne Dahlem gelernt habe. Dazu müssen aber die Kuh und der Mensch ein gutes Vertrauensverhältnis haben – das hat sich bei mir und den Kühen, die hier leben, seit dem Beginn meines Freiwilligen Ökologischen Jahres im letzten September definitiv entwickelt. Seit diesem Zeitpunkt arbeite ich auf der Domäne Dahlem, einer Art Freilichtmuseum mit einem Bauernhof, auf dem schon seit knapp 800 Jahren Landwirtschaft betrieben wird. Ich übernehme dort alle anfallenden Arbeiten, die ein Landwirt auch zu bewältigen hat: von Stallausmisten und Tiere-auf-die-Weide-Treiben bis hin zum Kartoffelsortieren, was nicht unbedingt meine Lieblingsarbeit ist, vor allem nicht, wenn man dazu bei fünf Grad in einem öden Raum sitzt. Trotzdem habe ich mich vom ersten Tag an auf dem Hof vollkommen richtig ge- fühlt, ganz im Gegensatz zu meiner Schulzeit. Ich habe endlich den Eindruck, etwas Sinnvolles zu tun. Wenn ich eine Matheklausur schreibe, interessiert das wirklich niemanden und ändert nichts an der Welt. Es hilft sicherlich auch, dass ich den Eindruck habe, den anderen Freiwilligen hier geht es auch so wie mir. Ich habe noch nie vorher so viele Menschen um mich gehabt, bei denen ich dachte, dass sie auf meiner Wellenlänge sind. Wir sind eine Gruppe von Mädchen hier, die davon träumt, irgendwann mal ein Ökodorf zu gründen, auf dem wir es uns dann schön machen. Wenigstens wünschen darf man sich das ja. Erst mal werde ich aber meinen Freund davon überzeugen, dass auch für ihn Landwirtschaft das Richtige ist, damit wir zusammen auf einen Bauernhof ziehen können. +Alexandra Wolf, 22, arbeitet seit Januar 2010 als Freiwillige in der Suchthilfe Fixpunkt in Berlin. +Ich bin mit Punks aufgewachsen, von denen der eine oder andere ein Drogenproblem hatte. Und in dem Jugendclub in Rostock, in dem ich seit sieben Jahren ehrenamtlich arbeite, gibt es auch einige Leute, die von Kokain oder Alkohol ab- hängig sind. Von daher bin ich seit langer Zeit mit dem Thema Drogen vertraut und habe mir gezielt eine Arbeitsstelle für mein Freiwilliges Soziales Jahr gesucht, bei der ich meine Erfahrungen einsetzen konnte. Es war für mich nicht schwer, mich bei der Arbeit am Kottbusser Tor in Berlin, wo wir mit unserem Bus von Fixpunkt regelmäßig stehen, zurechtzufinden. Ich wusste ja schon, was viele drogensüchtige Klienten am dringendsten wollen: nicht genervt werden. Mal verschnaufen. Eine Gratiskippe rauchen. Denn deren Leben ist ja sehr stressig, ständig sind sie auf der Suche nach Stoff und Geld. Ich werde oft gefragt, ob ich keine Angst vor Infektionen oder Überfällen habe. Aber vor den Infektionen kann man sich gut durch Hygiene schützen, und die Klienten sind ja oft auf Heroin und somit völlig weggetreten. Wir kümmern uns hauptsächlich darum, dass sie saubere Spritzen und anderes hygienisches Zubehör bekommen, damit sich Infektionen und Abszesse nicht ausbreiten. Meine Arbeit besteht aber vor allem auch darin, das Lager für die ganzen Dinge, die wir in unserem Bus bereithalten, aufzufüllen und zu organisieren. Wir haben ja neben den Spritzen, Tupfern und so weiter auch Saft, Tee und Brote dabei. Im Bus selbst arbeite ich nur an drei Tagen in der Woche. Neben den 32 Stunden Arbeitszeit bei Fixpunkt muss ich im Moment allerdings auch noch einen kleinen Bürojob machen, denn von den 260 Euro Gehalt könnte ich mein WG-Zimmer und sonstigen Lebensunterhalt nicht finanzieren. +Kassandra Voß, 20, leistet ihr Freiwilliges Soziales Jahr in der Kita Sankt Laurentius in Berlin ab. +Seit dem letzten Winter habe ich ein Immunsystem wie ein Tier. Wenn man in einem Raum voller Kinder ist, die unter- schiedlichste Krankheiten haben, und man sich bei allen einmal angesteckt hat, haut einen nichts mehr um. Der Winter war auch die Zeit meines Freiwilligen sozialen Jahres, während der mich die Arbeit am meisten angestrengt hat: Kleine Kinder werden wahnsinnig laut, wenn sie über mehrere Tage hinweg nicht draußen spielen können. Verglichen damit ist die Zeit jetzt im Sommer am schönsten – allerdings auch, weil ich nun schon seit elf Monaten mit den Kindern arbeite. Sogar diejenigen, die sich zuerst hinter ihrem Arm versteckt haben, wenn eine der Erzieherinnen sie angesprochen hat, laufen jetzt auf mich zu und reden wie ein Wasserfall. Eigentlich wollte ich nach dem Abitur gleich Psychologie studieren, habe dann aber keinen Studienplatz bekommen und wollte mir auch noch mal in Ruhe überlegen, ob das Studium wirklich das Richtige für mich ist. Deshalb habe ich mich für ein Freiwilliges Soziales Jahr entschieden: um auch einmal praktische Berufserfahrungen zu sammeln. Zuerst habe ich mir eine Stelle im Herzzentrum angeschaut, dort aber schon am Hospitationstag gemerkt, dass mir Krankenhausarbeit überhaupt nicht liegt, schon allein durch den extrem frühen Arbeitsbeginn. Durch die Arbeit in der Kita habe ich nun herausgefunden, was ich wirklich beruflich machen möchte. Mehrere Kinder hier bekommen Ergotherapie, und die Arbeit der Therapeuten hat mir so gut gefallen, dass ich selbst ab Oktober eine Ausbildung zur Ergotherapeutin anfangen werde. Dann möchte ich auch bei meinen Eltern ausziehen, bei denen ich im Moment noch wohne. Von den 220 Euro, die ich im Mo- nat für meine Arbeit in der Kita erhalte, spare ich immer einen kleinen Teil, um mir den Auszug und auch mal einen Urlaub leisten zu können. Schon seit 1964 wird das Freiwillige Soziale Jahr für 16- bis 27-Jährige angeboten. Vom 1. August oder 1. September jedes Jahres an können Freiwillige gegen ein Taschengeld und eventuell Unterkunft und Verpflegung soziale Dienste in Krankenhäusern, Altenheimen, Behinderteneinrichtungen, aber auch kulturellen Institutionen im In- und Ausland leisten. diff --git a/fluter/das-ende-der-gier-wie-du-sie-kennst.txt b/fluter/das-ende-der-gier-wie-du-sie-kennst.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..34fab5b66e4a792b04d0509940b98ce26a7477a5 --- /dev/null +++ b/fluter/das-ende-der-gier-wie-du-sie-kennst.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Es ist seine Software, die den Computer zum Börsenhändler macht. Sie ist sein Gedächtnis und ersetzt die Erfahrung eines menschlichen Traders. Wie hat die VW-Aktie bisher reagiert, wenn die Daimler-Aktie um drei Cent gefallen ist? Wie reagiert die Börse in Frankfurt, wenn die Daimler-Aktie in Stuttgart um zwei Cent gestiegen ist? Was waren die Gründe für die Tulpenkrise in Holland Anfang 1637? Was Menschen im Gedächtnis haben, hat der Computer abgespeichert. Und er ist nervenstark. Wenn Menschen eine Aktie längst verkaufen, weil sie sagen: Das kann doch nicht so weitergehen, das ist doch eine Blase, dann hält sie mancher Computer noch, um mehr Gewinn zu machen. Klar, dass diese Software viel Geld wert ist. Vor zwei Jahren wurde ein ehemaliger Mitarbeiter des amerikanischen Finanzdienstleisters Goldman Sachs vom FBI verhaftet, weil er Teile der Software für den automatisierten Handel gestohlen haben soll. +Bedenkt man, dass der Computer keinen Urlaub braucht, kein Burnout-Syndrom kriegt und noch nie nach einem Bonus gefragt hat, kann man sagen: Der Computer, das ist die Zukunft. Genauer: eine Zukunft, die schon begonnen hat. In Frankfurt läuft der Börsenhandel zu 94 Prozent über das elektronische Handelssystem Xetra. Und rund 50 Prozent davon erledigen Hochgeschwindigkeitsrechner, ohne dass noch Menschen beteiligt sind. Ein italienisches Restaurant im Frankfurter Westend. Ronny Horst bestellt Spiralnudeln mit Schinkenstückchen und Äppelwoi, hessischen Apfelwein. Horst ist ein großer 34-Jähriger mit blonden Haaren, Studium der Kunstgeschichte und zwei geschwungenen S als Manschettenknöpfen, das Logo seines Arbeitgebers: "Superfund" – eine Investmentgesellschaft, die ihren Kunden Fonds anbietet, die von Computern gemanagt werden. Horst trinkt seinen Wein und erklärt, warum Superfund nur noch den Computern vertraut. "Computer haben keine Emotionen", sagt er. Wenn etwas schieflaufe am Markt, dann, weil Menschen sich nicht an ihre Strategie hielten, weil sie Nerven zeigten. "Letztlich sind Menschen auch nur Maschinen." Nur schlechter programmierte. Ronny Horsts Firma investiert in rund 150 verschiedene Werte: vom Dow Jones, dem amerikanischen Aktienindex, bis zum Palmöl. An der sogenannten Terminbörse spekuliert sie auf Transaktionen, die erst in der Zukunft abgewickelt werden, und setzt auf fallende oder steigende Kurse. Wie im Casino. Woran Superfund glaubt, bestimmen die Computer. Die Software gibt die Kaufbefehle. +Es ist vor allem der sogenannte Blitzhandel, den manche Ökonomen für fragwürdig halten. Dabei bekommen die Computer Millisekunden früher als andere Marktteilnehmer Informationen über das bevorstehende Börsengeschehen und können so den Kurs in eine Richtung treiben, die ihnen nutzt. Kritiker sprechen von Kursmanipulation, Befürworter verweisen auf die steigende Kaufkraft, die den Handel liquide hält, und die Verringerung der Handelsspannen, die den Handel letztlich für alle sicherer und günstiger machen. Doch was ist, wenn sich die Computer gegenseitig aufschaukeln, wenn sie den Kurs einer Aktie in immer neuen Millisekundenentscheidungen blitzschnell in den Keller treiben? So sollen Computer am sogenannten Flash Crash schuld gewesen sein, bei dem im Mai 2010 der Dow Jones Industrial Average innerhalb einer Viertelstunde um knapp 1.000 Punkte abstürzte. Fest steht: Wenn sich der Kurs einer Aktie nach unten bewegt, spüren es die Computer als erstes, und einige wetten auf den weiteren Absturz. Sie meinen es ja nicht böse, sie sind so programmiert. +"Der Computerhandel sollte einer besonderen Kontrolle unterworfen werden", sagt Michael Grünewald, Wissenschaftler am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung. An den Börsen läuft der Handel gesetzlich reguliert ab, mittlerweile wird er kurz ausgesetzt, wenn eine Aktie um mehr als zehn Prozent an Wert verliert. Man zieht den Computern also einfach den Stecker. Aber die Rechner handeln auch abseits der offiziellen Börsenplätze, oft direkt untereinander, ohne Kontrolle. Der Wirtschaftswissenschaftler Peter Gomber fordert daher, dass diese Grauzone gesetzlich geregelt wird. Viele Menschen haben Angst vor der Macht der Maschinen. Vor einer Welt, in der der Markt zum Pingpongspiel der Maschinen wird. Die Leute von Superfund können das nicht verstehen. "Wir akzeptieren doch auch, dass uns ein Navigationssystem im Auto die Route vorgibt", sagt der Geschäftsführer Michael Harneit. "Wir akzeptieren, dass ein Autopilot ein Flugzeug lenkt." Was denn so schlimm an Computern im Finanzgeschäft sei, die nur das tun, was vor einigen Jahren Menschen taten, nur effizienter? Man kann Ronny Horst zum Für und Wider des algorithmischen Handels viele Fragen stellen, er antwortet immer höflich, und er hat auch immer eine Gegenfrage. Zum Beispiel die, was die Öffentlichkeit eigentlich dagegen habe, dass die Märkte durch die Computer effizienter werden, klar wie Mathematik, weil sie von Rechnern geleitet werden anstatt von menschlichen Zockern. Tatsächlich stellen viele Investmentbanken mittlerweile neben Ökonomen verstärkt Mathematiker, Physiker und Informatiker ein. Sie brauchen keine Leute, die selbst handeln, sondern welche, die die Computer so programmieren, dass diese selbst handeln können. +Andreas von Brevern, Sprecher der Deutschen Börse, gleitet im Lift in den 19. Stock des Glasturms seines Unternehmens. Er läuft auf einer Brücke über das Atrium, nach Westen schaut man in den Taunus, nach unten wird einem schwindlig. Auch von Brevern ist einer, der an die Effizienz glaubt. Er glaubt an die Computer. Notfalls könnten die Menschen ja immer eingreifen, sagt er. Von Brevern ist ein ruhiger Typ, man kann ihn sich schlecht am Parkett zwischen brüllenden Händlern vorstellen, aber gut zwischen Rechnern im Computerlabor. Von Brevern erzählt von den Sicherheitsmaßnahmen, die die Börse eingeführt habe – die vorgeschriebenen Pausen, wenn ein Wert immer weiter abstürzt. Die Momente, wenn das Regime der Maschinen kurz unterbrochen werde. Von Brevern vermittelt den Eindruck, die Händler hätten die Computer im Griff. +Im Rechenzentrum der Deutschen Börse stehen die Rechner der Hochfrequenzhändler, die oft in Tagesbilanzen denken – beispielsweise im Auftrag von Investmentbanken wie Goldman Sachs und Morgan Stanley oder auch kleineren Handelshäusern. Die Börse in Frankfurt, sagt Andreas von Brevern, habe gerade ihre Datenleitung erneuert; weil es bei diesen Computern um fantastisch hohe Summen in fantastisch kurzen Zeiten gehe, sei die Nähe wichtig. "Das Rechenzentrum darf nicht weit weg sein vom Handelssystem der Börse." Kilometer entscheiden. Viele Banken und Fonds haben die Menschen in der Wertschöpfungskette schon abgeschafft. Es gibt inzwischen ein Nachrichtensystem von Computern für Computer. In der Programmiersprache C++. Das bedeutet, wenn ein Terroranschlag passiert und im Fernsehen heißt es, die Märkte reagierten nervös, dann haben zum Teil allein Computer reagiert. +"Die Computer haben ihr Gutes", sagt der Ökonom Peter Gomber und verweist darauf, dass die Börsen näher zusammenrücken – weil die Computer alle Kurse gleichzeitig wahrnehmen, zum Beispiel die von der Börse in Frankfurt und die in Stuttgart. "Sie tragen zur Preisbildung bei, das ist wie auf Ebay: Wenn mehrere Händler das gleiche Produkt anbieten, kann ich besser vergleichen." Kostet also eine Aktie in Stuttgart mehr, wird sie niemand kaufen. So lange, bis sie sinkt. Das tue dem Handel gut. Und die Computer könnten sogar Crashs – also Abstürze der Börse – vermeiden. So, wie ihnen Gier fremd ist, ist ihnen Panik meist fremd. Von Gruppenzwang hat der Computer nie gehört, er agiert, wie es ihm die Software vorschreibt, nicht, wie gerade die Stimmung auf dem Parkett ist. Die Menschen auf dem Parkett haben früher auch mal Aktien verkauft, weil es gerade in der Luft lag, weil der Händler nebenan auch verkaufte und alle nur noch schrien: verkaufen. Der Computer schreit nicht, und er hat keine Ohren. Ronny Horsts Bilanz ist dieses Jahr noch nicht so gut. Bis Ende Oktober gab es ein Minus zu verzeichnen. Das liegt am unruhigen Markt. Es liegt an den Computern, die in Tagesbilanzen denken. Die das Zickzack in den Kursen verantworten. Horsts Computer denken in Jahresbilanzen. Sie brauchen jetzt mal eine konstante Kurve nach oben oder nach unten. Langer Boom oder lange Krise, egal. Nur kein Zickzack. Computer arbeiten jetzt gegen Computer. diff --git a/fluter/das-etwas-andere-traumschiff.txt b/fluter/das-etwas-andere-traumschiff.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d34830e05806e468d178506465d083a7715f7bae --- /dev/null +++ b/fluter/das-etwas-andere-traumschiff.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Was zeigt uns das? +Sehr intime Einblicke. Milewski kommt seinen Protagonisten physisch und emotional sehr nah. Sie erzählen von Akzeptanz und Outing, was vor allem bei den Männern aus schwulenfeindlicheren Ländern neue Perspektiven eröffnet. Sie erzählen von Krankheiten und Schicksalsschlägen und wie wichtig es ist, das Leben und den Moment zu genießen. Sie erzählen von Männlichkeitsbildern und Körperkult – und so geht "Dream Boat" auch darauf ein, dass der sexbetonte Hedonismus von einem Teil der Schwulenszene ein gnadenloser Fleischmarkt ist, der auch Verlierer kennt. Speziell Marek und Dipankar erleben auf dem Partyschiff auch Momente großer Einsamkeit und Selbstzweifel. +Wie wird's erzählt? +"Dream Boat" erfindet ein neues Genre: den Hochglanzdokumentarfilm. Die sehr präsente Musik ist wie aus dem "Traumschiff", die Farbstimmung wie aus einem Urlaubsprospekt, der Titel-Schriftzug wie aus einem Kabarett-Theater und der Himmel wie aus Kalifornien. Abgesehen davon gibt es, wie oft im Kino-Dokumentarfilm, keine Sprecherstimme oder andere Erklärinstanz, alles ergibt sich aus dem Gezeigten. +Beste Nebenrolle +Eine Drohne. Sie filmt das Schiff von oben und gibt dem Hochglanzlook den letzten Schliff. +Stärkster Satz +"Ich bin schwul. Ich habe mir das nicht ausgesucht. Ich hatte einfach Glück!" +Stärkste Szene +Länderparty, Lederparty, Alles-in-Weiß-Party, Dragqueen-Party, Schwarzlicht-Party: Jeden Abend ist eine neue Sause auf dem Schiff und die beginnt mit Schminken und Ankleiden – was mit all seinen Pannen ein wiederkehrendes "Comic Relief" des Films ist. +Ideal für ... +... Überraschung: Schwule. Das ist ein Film aus der Community für die Community, es geht um nichts anderes als schwule Identitäten. Aber das können sich natürlich auch sonst alle anschauen. Es lohnt sich. +"Dream Boat", Regie: Tristan Ferland Milewski, Deutschland 2017,93 Min. diff --git a/fluter/das-fussball-heft.txt b/fluter/das-fussball-heft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/das-geheimnis-hinter-capital-bras-erfolg.txt b/fluter/das-geheimnis-hinter-capital-bras-erfolg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..61492f261db5e25d1dda5f8a45290dfc78b387ac --- /dev/null +++ b/fluter/das-geheimnis-hinter-capital-bras-erfolg.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Zu viele Zahlen? Durchatmen. Erst mal online gehen. Wer in Deutschland online Musik streamt oder Musikvideos schaut, stößt bald auf einen Capital-Bra-Song. Dafür sorgt die Autoplay-Funktion bei YouTube oder Spotify, bei der ein Algorithmus vorgibt,was als Nächstes abgespielt wird– und der Algorithmus scheint Capital Bra zu lieben. Dafür sorgen Spotify-Playlisten wie "Modus Mio" oder "Deutschrap Brandneu" mit über einer Million Followern, in denen fast jeder Capital-Bra-Song vertreten ist. Und dafür sorgen Fans, die die Musik auf Social Media verbreiten. +Capital Bra ist zwar ein Star, aber er ist nicht unnahbar. Das ist ein Grund für seinen Erfolg. Vor kurzem fährt er mit der S-Bahn durch Berlin. Einfach so. Er postet Videos davon auf Instagram. In einigen der Videosequenzen schüttelt er Hände und macht Fotos mit Fans. Security hat er keine dabei. Alles wirkt natürlich. Capital Bra ist an diesem Abend in der S-Bahn der Kumpel von nebenan. +Ein andermal stapft er wütend durch seine Luxuswohnung, filmt sich, filmt seine teuren Autos. Dieter Bohlen hatte sinngemäß gesagt, dass die meisten Rapper ja gar nicht so reich wären, wie sie behaupten. Capital fühlte sich angesprochen, rastete aus, und seine Fans machten Dieter Bohlen online das Leben zur Hölle. Die Folge: Bohlen entschuldigte sich, Capital nahm eine Version von Modern Talkings "Cherry Lady" auf – sein nächster Nummer-eins-Hit. +Zu erstem Ruhm kam Capital durch Rap-Battles +Der Erfolg der Beatles hatte mit aufwendig produzierten und millionenfach verkauften Schallplatten zu tun. Capital Bra produziert manchmal fünf Songs pro Nacht. Eine Schallplatte hat er nie veröffentlicht, einige seiner Alben sind ausschließlich digital erschienen. Ein Instrument spielt er nicht. Dafür zückt er jeden Tag sein Smartphone, öffnet die Kamera-App und spricht in seine Frontkamera. Er begrüßt seine Fans, seine Bratans und Bratuchas, und spricht von "wir", die es "zusammen schaffen können", wenn ein neuer Song oder ein neues Video erscheint. Dann sollen alle klicken, sharen, liken. Die Bratans und Bratuchas machen mit. Capitals Fans fahren auf das "Wir" ab. Capital Bra schafft es durch seine konstruierte Nahbarkeit in sozialen Medien, seinen Erfolg auch als den Erfolg seiner Fans zu verkaufen. Das motiviert. +Und motiviert ist auch Capital Bra. Damit seine Fans dranbleiben, veröffentlicht er mit protestantischem Arbeitseifer fast jede Woche neue Songs. Die sind für die Streamingdienste optimiert. Ausschaltimpulse wie lange Intros oder sich langsam aufbauende Klänge sind tabu. Ein Song muss sofort knallen. Schnell, schnell, bam, bam. Oder wie Capital es formuliert:"Roli Glitzer, Roli Glitzer Glitzer" oder "Nur noch Gucci, Bratan, ich trag nur noch Gucci".Die sofortige Attraktion, die Catchphrases und Mitsumm-Melodien hat Capital perfektioniert. Capital Bra weiß, wie man leicht verdauliche Hits schreibt, die wiederum in Playlists eingespeist werden, in denen leicht verdauliche Hits gesammelt werden. Ein gutes Viertel seiner Spotify-Klicks bekommt er über Playlists. +Du nutzt Spotify? Weißt Du auch, wie Spotify Dich nutzt? Diese Grafiken erklären, wie der Streaminggigant die Userdaten zu Geld macht +Streamingdienstleister wie Spotify leben von Künstler*innen, die sich an ihre Playlists anpassen, und die Künstler*innen leben wiederum von Spotify, seit physische Tonträger keine Rolle mehr spielen. Und beide leben davon immer besser. Der Halbjahresbericht der Musikindustrie zeigt eine Umsatzsteigerung von 7,3 Prozent, das ist der größte Sprung seit 1993. Und den Löwenanteil macht das Streaming aus, dessen Marktanteil um 27,7 Prozent stieg und seine Position als umsatzstärkstes Format ausbaute. Soll heißen: Erfolg hat, wer die Spotify-Playlists fleißig füllt. +Tatsächlich kursieren immer wieder Vorwürfe, dass Labels Künstler in ihre Playlists einkaufen können und Spotify selbst Musik produzieren lässt, die Hörer*innen bei der Stange hält. Der Pressesprecher von Spotify Deutschland verneint beides in einem Interview mit dem "Musikexpress". Und es ist ja so: Musiker*innen wie Capital Bra liefern schon selbst den Sound und eine klickkräftige Zielgruppe noch dazu. Fake-Künstler*innen braucht es da gar nicht mehr. +Durch die Playlist-Streams von Menschen, die früher Radiosender im Hintergrund hätten laufen lassen, auf der einen und durch die Unterstützung seiner Bratans und Bratuchas auf der anderen Seite, die Capitals und damit auch ihren eigenen Erfolg festigen wollen, ist einfach jeder Song ein Erfolg. Weil Streams mittlerweile auch für die Charts relevant sind, gibt's Nummer-eins-Platzierungen. Wenn der eigene Lieblingsrapper die Charts anführt, stärkt das wiederum das Wir-Gefühl der Bratans und Bratuchas. +Ein Album aufnehmen? Das wäre in diesem Geschäftsmodell fast schon Zeitverschwendung. + + +Titelbild: Uli Deck/dpa/picture-alliance diff --git a/fluter/das-geld-ist-mir-hinterhergelaufen.txt b/fluter/das-geld-ist-mir-hinterhergelaufen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a5670b5a29fc8e9da0d179a9d54d36b429ca9deb --- /dev/null +++ b/fluter/das-geld-ist-mir-hinterhergelaufen.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Ich sehe mich noch mit vierzehn den lieben Gott darum bitten, mir ein einfaches Leben zu bescheren: mit einer einzigen Frau, einer normalen Arbeit und ohne Eigentum, das ich verteidigen muss. Der liebe Gott wollte es mir dann so richtig zeigen, und hat mir drei Ehen, sechs Kinder, einen anstrengenden Beruf und viel Geld gegeben. Das hat mir schon manchmal Angst gemacht, es vielleicht wieder zu verlieren. +Ich glaube, meiner Eitelkeit schmeichelt es schon, dass wir seit 1972 in Hamburg an der Alster wohnen, der besten Adresse in Hamburg. Ansonsten sind mir meine Häuser in der Bretagne und in England am wichtigsten – vor allem, weil ich an meine Kinder und deren Kinder denke. Für die sind die Häuser eine gute Anlage. +Nie, ich weiß den mehr oder weniger aus dem Kopf. +Manchmal habe ich gemerkt, dass mir das Eigentum nicht gegönnt wird, weil jemand sich selbst für mindestens genauso klug gehalten hat wie mich, aber weniger hatte. Dabei habe ich immer wieder betont, wie viel Glück bei mir in jeder Lebensphase im Spiel gewesen ist. +Wenn es um ein gezieltes Anliegen geht, wie zum Beispiel, dass der Eppendorfer Kirchturm einen neuen Scheinwerfer braucht oder die Schule meiner Kinder eine neue Aula – dann ja. Da habe ich dann geklotzt, weil im Förderverein ansonsten nur Kleckerbeträge zusammenkamen. Aber anonym zu spenden habe ich aufgegeben. +Nein, nie. Für mich ist es so, dass wir alle verschieden sein sollten. Ohne Reibung in einer Gesellschaft wäre es langweilig. Ich hab natürlich gut reden, weil ich auf der Sonnenseite sitze – aber Sie haben mich gefragt. +Asche auf mein Haupt. Meine Söhne aus erster Ehe können das ganz gut, da hatte ich aber noch kein Geld. Meine anderen Kinder habe ich furchtbar verwöhnt, ich wollte ja auch beliebt sein bei denen, weil ich sie allein aufziehen musste. Charakterlich sind die aber trotzdem eins a. diff --git a/fluter/das-gelobte-land-der-verschwoerungstheorie.txt b/fluter/das-gelobte-land-der-verschwoerungstheorie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f16f6f780fd3346d29a6502ebb02456a758f7412 --- /dev/null +++ b/fluter/das-gelobte-land-der-verschwoerungstheorie.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Von Anfang an gehört sie zu den treuen Begleitern der Geschichte. War nicht Thomas Jefferson, dritter US-Präsident und Hauptverfasser derUnabhängigkeitserklärung, beim Geheimbund derIlluminaten? Der Kennedy-Mord, die Mondlandung, dieAußerirdischen in Area 51– die Debatten darüber gehören fest zum Inventar der populären Mythen. Um 9/11 gab es bald zwei zentrale Deutungsmuster. Auf der einen Seite ist da die "LIHOP"-Fraktion. Das steht für: "let it happen on purpose". Die Anhänger glauben, dass die Regierung wusste, dass Terroristen einen Anschlag planten und nahm das wissentlich in Kauf. Dann gibt es noch den MIHOP-Flügel, kurz für: "make it happen on purpose". Die Regierung – etwa mit einer privaten Sicherheitsagentur– hätte die Anschläge gleich selbst verübt. +Wozu das Ganze? Natürlich wegen des Öls und als Vorwand, um in den Nahen Osten einzumarschieren, meinen die Truther. Die Bush-Regierung brauchte einen Vorwand, den Nahen Osten nach den eigenen politischen Vorstellungen umzugestalten und so den eigenen Energiebedarf zu decken. Schon lange hätten die kriegslustigen Falken im Pentagon vorgehabt, die Sache im Irak endlich zu Ende zu bringen, die Bush senior noch zehn Jahre zuvor im Zweiten Golfkrieg unerledigt ließ. +Für solche Theorien bot sich mit der Bush-Regierung ein perfekter Nährboden. Ab 2003 nahm die Truther-Bewegung richtig Fahrt auf. Als klar wurde, dass es die Massenvernichtungswaffen, die noch kurz zuvor als Grund für die Invasion des Iraks genannt worden waren, dort gar nicht gegeben hatte, waren die Verschwörungstheoretiker nicht mehr zu halten. Verschwörungstheorien sind nämlich erstmal eins: Vertrauenskrisen. Je weniger Informationen die Behörden rausgeben, desto üppiger wuchern die Gerüchte. Und desto weitere Kreise ziehen sie. Fünf Jahre nach den Anschlägen glaubten nach einer Umfrage der Ohio University unter 1010 Amerikanern 36 Prozent , dass die Regierung entweder aktiv daran beteiligt gewesen sei oder sie nicht verhindert habe, weil sie in den Krieg ziehen wollte. Das änderte sich auch mit dem Abschlussbericht 2008 nicht grundsätzlich, den die US-RegierungsbehördeNational Institute of Standards and Technologyvorgelegt hat. Obwohl da alle Argumente der vermeintlichen Experten, die sich um den Beweis einer Sprengung von WTC 7 bemühten, widerlegt waren. So wurden weder Kabelreste noch Sprengkapseln oder Sprengstoffrückstände gefunden. Auch von einer Detonation hatte niemand etwas mitbekommen. +Wichtiger noch als technische Details, über die Experten ja öfter mal unterschiedlicher Meinung sind, scheint aber die Frage nach der Plausibilität eines geheimen Plans seitens der US-Geheimdienste. Warum sollten sie zusätzlich zu den Anschlägen auf das World Trade Center noch die beiden weiteren Jumbos gekapert haben, von denen der eine insUS-amerikanische Verteidigungsministeriumgestürzt und der andere in Pennsylvania zu Boden gegangen ist? Als vorgeschobener Kriegsgrund hätte ein Anschlag auf die Zwillingstürme in New York allemal gereicht. Zudem sind die US-Truppen nicht direkt in den ölreichen Irak einmarschiert, sondern zuerst in Afghanistan. Ein extrem aufwendiger Umweg, fingiert, um die Sache weniger auffällig zu machen? Als Verschwörungstheoretiker muss man zuweilen selbst Gewalt anwenden –  beim Hinbiegen der Tatsachen, sodass sie zur eigenen Theorie passen. +Ruhiger um die Truther-Bewegung wurde es schließlich nach der Wahl Barack Obamas zum US-Präsidenten im Jahr 2009. Unter den verbleibenden Aktivisten entsteht allerdings die nächste Verschwörungstheorie: Wieso wurde die Sache unter der neuen Regierung nicht noch einmal völlig neu aufgerollt? Die Erklärung ist schnell gefunden: Die Strippenzieher hinter 9/11 haben Obama installiert, um zu verhindern, dass die Wahrheit endgültig ans Licht kommt. Verschwörungstheoretiker reagieren auf jeden Einwand eben mit neuen Behauptungen. Deshalb bleibt dies nicht die einzige Verschwörungstheorie rund um den neuen Präsidenten. Da gibt es noch die "Birthers". Sie behaupten, dass Obamas hawaiianische Geburtsurkunde gefälscht sei. Er sei in Wirklichkeit in Kenia geboren und dürfte laut Verfassung gar nicht Präsident der Vereinigten Staaten sein. Doch das ist eine andere Geschichte. +Als studierter Historiker glaubt Felix Denk grundsätzlich nicht alles, was Regierungen so verlautbaren. Als Journalist bewundert er die Hartnäckigkeit der Truther. Was ihm allerdings gar nicht einleuchtet: Wozu sollten die Verschwörer auch noch einen dritten Turm sprengen? diff --git a/fluter/das-gibt-einen-eintrag.txt b/fluter/das-gibt-einen-eintrag.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..494bd034a4ad478dda6b6b835aa04b2f9c00aeae --- /dev/null +++ b/fluter/das-gibt-einen-eintrag.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Nicht alle Artikel sind gleich verlässlich. Oft sind die Quellen nicht glaubwürdig, Regierungen und Politiker zensieren Einträge, Unternehmen machen Schleichwerbung, und wer geschickt ist, kann auch Unsinn verbreiten. Die Verantwortlichen der Wikimedia-Stiftung und all die freiwilligen Helfer stellen sich aber der Kritik. Der Wikipedia-Artikel "Kritik an Wikipedia" ist noch ausführlicher als der Beitrag über Wikipedia selbst. Wie gut oder schlecht die Einträge sind, ist aber nicht das Einzige, was das Publikum und die Wissenschaft beschäftigt. Es ist vor allem die Idee, dass jeder mitmachen kann, die die Kommunikationswissenschaftler, Soziologen, Psychologen und Vertreter vieler anderer Disziplinen interessiert. Beim Projekt "Netzwerkkommunikation im Internet" untersucht Wolf-Andreas Liebert, Sprachwissenschaftler von der Uni Koblenz-Landau, wie Wissen innerhalb von gleichberechtigten Gruppen produziert und verbreitet wird. "Insgesamt kann Wikipedia als ein gesellschaftlicher Prozess der Demokratisierung und Partizipation verstanden werden", sagt Liebert. Die Online-Enzyklopädie und andere ähnliche Projekte kämen Bürgern entgegen, "die politischen Institutionen kritisch gegenüberstehen und Formen bevorzugen, bei denen sie eigenmächtig handeln können." +Weil das Internet im Allgemeinen und Wikipedia im Speziellen die Gewohnheiten, mit Informationen umzugehen, verändert hat, stellen einige Wissenschaftler die Erfindung auf eine Stufe mit der des Buchdrucks. Der Gesellschaft stünde demnach eine Revolution bevor, vergleichbar mit dem Wandel, der die westliche Kultur seit dem Ende des Mittelalters erfasst hat. Nach der Gutenberg-Galaxis könnten wir uns jetzt in einem Wikipedia-Universum befinden, wie die Medienwissenschaftlerin Daniela Pscheida vermutet. Ähnlich sieht das wohl auch der Gründer Jimmy Wales. In einer Videobotschaft ruft er die Nutzer dazu auf, sich dafür einzusetzen, dass Wikipedia von der Unesco zum Weltkulturerbe ernannt wird. +Dafür könnte es aber noch zu früh sein. In der Gemeinde brodelt es. Was lange Zeit gut funktioniert hat und Wikipedia so erfolgreich gemacht hat, wird langsam zum Problem. Dass die User selbst entscheiden können, welche Inhalte wichtig sind oder draußen bleiben sollen, was fehlerhaft oder unvollständig ist. Denn innerhalb der vermeintlich demokratischen Gemeinschaft haben sich Machtstrukturen herausgebildet, die eisern über die Beiträge und den gesamten Wissensstand wachen. "Es herrscht Neid, Kämpfe werden ausgefochten", sagt der Soziologe und Wikipedia- Experte Christian Stegbauer. Er ist überzeugt von der Idee einer überall verfügbaren Enzyklopädie, sieht in den Arbeitsweisen innerhalb des Mikrokosmos aber auch Gefahren. Wenn die Autoren auch keinen Cent bekämen, seien doch viele stolz auf ihre Beiträge und sähen es nicht so gerne, wenn andere daran herumpfuschen. +Wer schon viele Artikel verfasst hat oder an vielen mitgearbeitet hat, nimmt in der Hierarchie eine höhere Position ein als Nutzer mit wenig oder gar keinen Beiträgen. Viele vermeintlich irrelevanten Artikel werden mehr oder weniger automatisch gelöscht. Den Freiwilligen fällt es da schwer, überhaupt noch einen Beitrag zu leisten. Das frustriert. Kein Wunder, dass die Zahl der Autoren in den vergangenen Jahren weltweit zurückgegangen ist. Damit verliert Wikipedia seine wichtigste Ressource – die Intelligenz der Masse. "Wenn das so weitergeht, könnte die Zuverlässigkeit nachlassen", sagt Stegbauer. Sollte die Attraktivität auch für Leser nachlassen, sei vorstellbar, dass irgendwann eine Alternative das Monopol von Wikipedia herausfordern könnte. diff --git a/fluter/das-glueck-ist-rund.txt b/fluter/das-glueck-ist-rund.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b875db16f72ff177ae0bbe66ed79666d09c7d009 --- /dev/null +++ b/fluter/das-glueck-ist-rund.txt @@ -0,0 +1,17 @@ + +Was soll uns das sagen? +Zhao Xiangs Debütfilm zeigt im Kleinen, wie schmerzlich das Erwachsenwerden sein kann. Verlust von Freundschaften, soziale Isolation, abwesende Eltern, Geld, Lügen und Druck spielen in Stoneheads Leben schlagartig eine Rolle. Dafür genügt schon ein Fußball, der verschwindet. + +Wie wird's erzählt? +In sehr ruhigen, einfachen Bildern. Auf vernebelte Landschaften folgen schweigsame Greise, es gibt keine Telefonanschlüsse, morgens, mittags, abends steht allein Reis auf dem Tisch – auf diese Art zeichnet "Stonehead" ein vom sogenannten Fortschritt vergessenes China. Viele Kinder im Dorf wohnen bei ihren Großeltern, weil Väter und Mütter als Wanderarbeiter in der nächsten Metropole leben. + +Beste Szene +Es sind gleich zwei, die zusammenhängen: Wie sich Stonehead im Morgengrauen allein auf dem Weg in die nächste Großstadt macht, um mit seinen ersparten Yuan einen neuen Fußball zu kaufen. Und wie er nachts im strömenden Regen ohne das Geld zurückkehrt. Und ohne den Fußball. + +Wieder was gelernt +Kaputte Fußbälle lassen sich nicht mit Watte und Klebestift reparieren. + +Ideal für… +… Fußballfans natürlich. Und alle, die etwas über das China von heute erfahren wollen, das nicht in den Nachrichten zu sehen ist. + +"Shi Tou" (Stonehead), Regie: Zhao Xiang, mit Zhu Hongbo, Cai Jiakun, Deng Shuo, Luo Xiaolan, China 2017, 90 Min. diff --git a/fluter/das-grosse-durcheinander.txt b/fluter/das-grosse-durcheinander.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..676476d1458f915bd165ab625c85bf95e6a51a65 --- /dev/null +++ b/fluter/das-grosse-durcheinander.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Wer Hannah kennt, weiß auch viel über Lena. Und weiß: Alles halb so wild. Bisschen verschroben, die Gute, bisschen verrückt, aber ansonsten eher die Sorte junge Frau, bei der andere junge Frauen denken: "Ich bin nicht allein!" Nicht umsonst wurde Dunham schon "die Stimme einer ganzen Generation" genannt. Sie ist Vorbild für viele: emanzipiert, nicht klassisch schön und entwaffnend ehrlich. +Für Dunhams Authentizität spricht, dass sie auch in ihrem Buch, das in der deutschen Übersetzung den etwas unglücklichen Untertitel "Was ich im Leben so gelernt habe" trägt, ihrem Stil treu bleibt. Die Lektüre von "Not That Kind of Girl" fühlt sich beinahe so an, als würde man eine sehr lange "Girls"-Folge anschauen. Da ist der gleiche Humor: Dunham hat ein gutes Gespür für Tempo und Timing, bevor eine Episode langweilig werden kann, ist sie vorbei. Da ist die gleiche Liebe zum Detail: Szenen und Räume werden geschaffen durch eine Aufzählung und Anhäufung von Details, Kleidung, Essen, Gerüchen, Geschmäckern, Geräuschen, Gedanken. Und da sind die gleichen Sorgen und Nöte, die zur Sprache kommen: vor allem die Zwangsstörungen der Autorin sowie Jungs- und Sexgeschichten. +Um als Leser den Überblick über diese Sexgeschichten zu behalten, müsste man allerdings selbst Buch führen und all die Männer auf einem Zeitstrahl anordnen. Es herrscht einfach ein zu großes Durcheinander in der Dunham'schen Erzählung ihres Liebeslebens, und das ist auch die größte Schwäche des gesamten Buches: seine fehlende Struktur. Zwar gibt es fünf Großkapitel ("Liebe & Sex", "Körper", "Freundschaft", "Arbeit", "Das große Ganze") und in diesen jeweils Unterkapitel, aber schon die folgen keinem roten Faden mehr. Der Text mäandert von Anekdote zu Anekdote, Dunham springt in der Chronologie, mal ist sie Kind, mal am College, mal erwachsen. Auf die Liste "Was ich in meiner Handtasche habe" (seltsamerweise im Großkapitel "Körper") folgt das Kapitel "Wer hat meine Gebärmutter verschoben?". +Dazu gibt es noch Passagen, die sich weniger wie autobiografische Anekdoten und mehr wie Kurzgeschichten lesen. In einer reist Lena allein nach London, trifft dort ihre Bekannte Nellie und wird von ihr mitgenommen in eine Villa am Stadtrand, in der Nellie in einer Art Kommune lebt. Die Episode handelt von Rausch und vom Sichübergeben, von einem Mädchen mit Tierohren und einem "girl crush". Und sie bringt einen auf den Gedanken, dass es vielleicht für die Struktur und die Lesbarkeit des Textes am besten gewesen wäre, wenn Lena Dunham ein Buch voller Kurzgeschichten geschrieben hätte. Sich genommen hätte, "was sie im Leben so gelernt hat", und das überspitzt und zur Fiktion gemacht hätte. +Denn das kann Dunham ja, wie sie mit "Girls" bewiesen hat. Außerdem hätte sie dann jetzt auch keinen Ärger am Hals. Die Geschichte von dem Mädchen, das seiner kleinen Schwester in die Vagina schaut, wäre dann nämlich einfach eine Geschichte geblieben. +Nadja Schlüter, Redakteurin bei jetzt.de, hat alle Staffeln "Girls" zwei Mal gesehen. "Not That Kind of Girl" wird sie aber nicht noch mal lesen. diff --git a/fluter/das-grosse-speichern.txt b/fluter/das-grosse-speichern.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ca363a62cb6dc209343a960f26789cbb361563ab --- /dev/null +++ b/fluter/das-grosse-speichern.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +In ihnen wachsen diejenigen zusammen, die gemeinsam Zeitung lesen, Radio hören, Fernsehen schauen und im Netz klicken. Die digitale Revolution der vergangenen Jahrzehnte ermöglicht mit ihren weltweiten Kommunikationsmöglichkeiten heute sogar einen"Long-Distance-Nationalismus", wie Anderson es nennt. +Zu den Nebenwirkungen der globalen Massenkommunikation gehört allerdings nicht nur, dass sich unsere Ideen von nationalstaatlicher Souveränität und Territorialität wandeln. Dazu gehören auch die Gefahren der Massenüberwachung über Ländergrenzen hinweg. Und die dunkle Seite der Digitalwirtschaft ist der dramatische Verlust von Privatsphäre. Herausforderungen, die auch transnationale Antworten verlangen. Nichtregierungsorganisationen sorgen sich weltweit um den Schutz der "Menschenrechte in der digitalen Welt". Das Thema hat auch die Vereinten Nationen erreicht. +Das ist die Lage: Private Unternehmen wie Google oder Facebook sammeln unsere Daten, erstellen anhand von Algorithmen persönliche Profile und verkaufen diese Datensammlungen an Werbekunden. Die Wirtschaft profitiert von den digitalen Spuren, die wir im Netz hinterlassen. Aber nicht nur die Unternehmen, sondern auch der Staat und seine Geheimdienste haben ein großes Interesse am "gläsernen Menschen". Im Dienst der Terror- und Verbrechensbekämpfung gilt die Internetüberwachung auf der Grundlage des Rechtsstaates gemeinhin als legitim. Die Enthüllungen des Ex-Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden über die Ausforschungsaktivitäten der National Security Agency (NSA) und ihrer alliierten Geheimdienste haben jedoch gezeigt, dass unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung nationale Regelungen zum Schutz der Privatsphäre fortlaufend gebrochen und unterwandert werden. +Laut einemUN-Berichtaus dem Jahre 2014 "Über das Recht auf Privatsphäre im digitalen Zeitalter" ermöglicht die Kommunikation im Netz eine nahezu unbegrenzte Massenüberwachung. Und die sei nicht länger Ausnahme, sondern habe sich zu einer "gefährlichen Gewohnheit" entwickelt. Zudem wird in dem Bericht davor gewarnt, dass die Massenüberwachung das Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit bedrohe, welche die Grundlagen einer unabhängigen Presseberichterstattung sind. Freier Journalismus braucht Quellenschutz, Informanten müssen davon ausgehen können, dass ihre Kommunikation mit Journalisten vertraulich bleibt. +Bereits vor zwei Jahren haben vor diesem Hintergrund diverse zivilgesellschaftliche Gruppen und Experten aus aller Welt 13 "Grundsätzezum Schutz der Menschenrechte in der digitalen Welt" vorgelegt. In den von insgesamt mehr als 400 Organisationen – darunter auch Reporters sans frontières – unterzeichneten Grundsätzen wird gefordert, dass staatliche Maßnahmen der Kommunikationsüberwachung ausschließlich aufgrund gesetzlicher Vorschriften und für rechtmäßige Ziele angewendet werden dürften. Sie müssten nachweislich notwendig und angemessen sowie – bei sorgfältiger Abwägung der Vor- und Nachteile – verhältnismäßig sein. Zudem müssten sie von der Justiz oder anderen demokratischen Aufsichtsorganen kontrolliert werden. +Regierungen sollten die Anbieter von Hard- und Software zudem niemals zum Einbau von Überwachungsfunktionen in ihre Systeme oder zur Vorratsdatenspeicherung zwingen, lautet eine weitere Forderung. Diese Prinzipien müssen für eigene und fremde Bürger im In- wie im Ausland gelten, unabhängig vom Ziel der Überwachung – ob zur Strafverfolgung, zum Schutz der nationalen Sicherheit oder für andere Ziele. Darüber hinaus fordernReporter ohne Grenzenund andere Nichtregierungsorganisationen wieAmnesty Internationalstrengere Exportkontrollen für die in Deutschland und anderen Ländern entwickelten und hergestellten digitalen Überwachungstechnologien. +Der runde Datenträger CD-ROM kam Ende der 1970er Jahre auf, eine Abwandlung der Audio-CD +Markus Löning, FDP-Politiker und Ex-Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe, plädiert dafür, Staatstrojaner und andere Überwachungstechnologien nur an NATO-Mitglieder zu verkaufen. Er sagt: "Diese Technologien schaden Menschen. Man muss sie wie konventionelle Waffen behandeln." +Die Gefahren der digitalen Überwachung sind auf die Agenda internationaler Institutionen gerückt. In den von Deutschland und Brasilien 2013 und 2014 initiiertenUN-Resolutionenzum "Recht auf Privatheit im digitalen Zeitalter" werden zum Beispiel alle Staaten aufgefordert, Gesetzgebung und Praxis bei der Überwachung von Kommunikation und der Sammlung privater Daten auf den Prüfstand zu stellen und insbesondere das Recht auf Privatsphäre zu gewährleisten. +Erstmals in der Geschichte der UN wurde schriftlich fixiert, dass die Menschenrechte und insbesondere das Recht auf Privatsphäre offline und online gleichermaßen gelten. Zudem hat vor kurzem der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen eine Resolution angenommen, die ein neues Mandat für einenSonderberichterstatter für den Datenschutz ("Special Rapporteur on the Right to Privacy") fordert, der in den nächsten drei Jahren über die Einhaltung der Menschenrechte in der digitalen Welt berichten soll. +Aber reichen all diese Grundsätze, Berichte und Resolutionen aus? Nein, sagt Markus Löning. Dies seien zwar alles wichtige Schritte in die richtige Richtung, aber, so gibt er zu bedenken, keine dieser Initiativen sei rechtlich verbindlich. "Ziel muss es sein", sagt Löning, "all diese Erklärungen auf internationaler Ebene in ein Datenschutzrecht zu fassen, auf dessen Grundlage man Staaten oder private Unternehmen zur Achtung der Menschenrechte zwingend verpflichten kann." Löning fordert zudem eine effektive demokratische Kontrolle der Geheimdienste. Damit hat sich der Ex-Menschenrechtsbeauftragte, der neuerdings für das "Privacy Project" des Thinktanks Stiftung Neue Verantwortung tätig ist, ein echtes Dauerthema ausgesucht. +Alem Grabovac lebt als freier Autor und Journalist in Berlin. Auf einer Pressereise in Usbekistan wurde er vom usbekischen Geheimdienst physisch überwacht. Schlimmer findet er jedoch, dass er im Netz überhaupt nicht weiß, wer ihn möglicherweise gerade überwacht. Die Unsichtbarkeit der privaten und staatlichen Überwachungsapparate in der digitalen Welt beunruhigt ihn. diff --git a/fluter/das-grundgesetz-als-magazin-making-of.txt b/fluter/das-grundgesetz-als-magazin-making-of.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7b08b9fc347dc71fca07b34a43c46cb9db5fd771 --- /dev/null +++ b/fluter/das-grundgesetz-als-magazin-making-of.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Dem Grundgesetz fliegen zum 70. Geburtstag geradeviele Herzen zu. Auch dort,wo man es nicht erwarten würde. Ein mittlerweile berühmtes DPA-Foto zeigt junge Leute mit einem Laken, auf dem "Grundgesetz ist geil" steht. Dieses Laken wurde auf dem #wirsindmehr-Konzert am 3. September in Chemnitz hochgehalten, wo es kurz zuvor rechtsextreme Aufmärsche und Ausschreitungen gab. Zu dem Konzert ist auch Oliver Wurm aus Hamburg angereist. Er sah ein Banner gegenüber der Bühne, das ihn irritierte: "Die Würde des Menschen ist antastbar" stand darauf. Ein Fehler mit Absicht, in Artikel 1 heißt es natürlich "unantastbar". + + +Der Bundespräsident behält den Überblick – der Astronaut Alexander Gerst auch. Diese Fotos hat letzterer bei seiner Mission im Weltall aus der Raumstation "ISS" geschossen. Man sieht Deutschland von oben, eingebettet in Europa + +Die Idee für eine Magazin-Fassung des Grundgesetzes hatte Wurm da schon länger im Kopf. Mit den Eindrücken aus Chemnitz machte er sich sofort an die Arbeit. So gibt es das Grundgesetzheute als App,als PDF, alsOnline-Version zum Durchklicken, ineiner kostenlosen Druckfassung– und eben optisch modern aufbereitet als Magazin. Der Text ist ungekürzt, unverändert, ohne kommentierende oder erklärende Einschübe, nur manche Stellen werden grafisch hervorgehoben. Das Alleinstellungsmerkmal von Wurms Magazin: eine Leserführung, die tatsächlich zum Lesen einlädt. Große Sätze sind groß. +Etwa Artikel 5 (Freiheit der Meinung, Kunst und Wissenschaft): "Eine Zensur findet nicht statt" ist in einem ganzseitigen roten Rahmen verankert. Artikel 3, der die Gleichheit vor dem Gesetz garantiert, arbeitet mit Hervorhebungen: Dass niemand wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf, wird durch Versalien betont. Auf der anderen Seite wird Verwaltungstechnisches eher klein abgehandelt: Finanzwesen, Postwesen, da darf dann auch mal der Fließtext laufen ohne größere Akzente. +Auf manchen Seiten gibt es Satellitenfotos von Alexander Gerst, die er bei seiner Mission im Weltall aus der Raumstation "ISS" geschossen und gepostet hat. Man sieht Deutschland von oben, eingebettet in Europa. Die Bilder lenken nicht ab, sie erweitern aber den Blick. Genau wie die Anlagen auf den letzten Seiten. Da gibt es noch die Nationalhymne samt Noten, Auszüge der Weimarer Verfassung (die dieses Jahr ihren 100. Geburtstag feiert) und die UN-Menschenrechtserklärung. +Mittlerweile steht das Grundgesetz im Bahnhofshandel. Es behauptet sich zwischen "Spiegel" und "Auto, Motor und Sport" erstaunlich gut: Die erste Auflage war schnell vergriffen, mittlerweile sind 300.000 Stück gedruckt. Davon träumen die meisten Magazine. Bei Amazon kletterte es zwischenzeitlich auf Platz eins der Verkaufscharts. Vielleicht das schönste Geschenk für daseinst als Provisorium formulierte Grundgesetzzum 70. Geburtstag. + +Noch nicht genug vom Grundgesetz? +Hier berichtet ein fiktiver Stenograf des Parlamentarischen Ratesvon der Entstehung der Grundrechte – in Form von Kurznachrichten. +Filme, Apps, Grafiken und andereUnterrichtsmaterialien zum Grundgesetz sind hier gesammelt. +Zehn Persönlichkeiten aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen machendem Grundgesetz hier eine Liebeserklärung. + diff --git a/fluter/das-hat-groesse.txt b/fluter/das-hat-groesse.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..814902441e2d18cd3f22c8a6e9ec06ef069a95b3 --- /dev/null +++ b/fluter/das-hat-groesse.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Ein klassisches Beispiel für die Blindheit der Wirtschaftsstatistik sind Naturkatastrophen. Nach großen Desastern wie etwa dem Tsunami in Südostasien folgt meist eine Welle staatlicher und internationaler Hilfen, wodurch das Wirtschaftswachstum sprunghaft ansteigt. Das Wohlbefinden der betroffenen Menschen aber eher nicht. +Ein anderer Nachteil an den traditionellen Berechnungsmethoden: Sie ignorieren die immer wichtiger werdende Frage der Nachhaltigkeit. So schlägt sich etwa der Bau von Autobahnen, Kraft- werken oder Staudämmen in der Statistik bloß un- differenziert als "Wachstum" nieder, die langfristigen Folgekosten durch Umweltschäden tauchen kaum auf. Und jede Form von "Arbeit", die nicht auf dem Markt entgolten wird – Kindeserziehung, Pflege von Verwandten, ehrenamtliche Tätigkeiten, wird durch das BIP überhaupt nicht erfasst – ist aber für das Wohlergehen einer Gesellschaft ungeheuer wichtig. "Die Zeit ist reif dafür, dass sich unser Messsystem mehr mit dem Wohl- ergehen der Menschen als mit wirtschaftlicher Produktivität befasst" – so das Fazit von Stiglitz, Sen und Fitoussi. +Im Gegensatz zu traditionellen Wirtschaftswissenschaften hat die ökonomische Glücksforschung immer wieder darauf hingewiesen, dass ab einem bestimmten ökonomischen Mindestniveau die Zufriedenheit und Lebensqualität der Menschen nicht mehr automatisch mit dem wirtschaftlichen Wachstum ansteigt. Frankreichs Präsident Sarkozy hat das französische nationale Statistikinstitut IN- SEE bereits angewiesen, die Vorschläge der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission auf ihre Umsetzbarkeit hin zu überprüfen. Dennoch wird auch die INSEE weiterhin das Bruttoinlandsprodukt be- rechnen, da dies nach wie vor die Größe ist, nach der Wohlstand international bemessen wird. +Für eine fundamentale Änderung muss sich die neue Sicht auf das Glück einer Gesellschaft aber erst einmal international durchsetzen. In Deutschland immerhin hat Sarkozys Vorstoß eine lebhafte Diskussion ausgelöst. Ein Anfang, Wachstum nicht als Selbstzweck zu sehen, ist auch hier gemacht. diff --git a/fluter/das-hat-system.txt b/fluter/das-hat-system.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1b49e0edd4bdc3015c45bb9b3b90005a172e5d3f --- /dev/null +++ b/fluter/das-hat-system.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Achtung, jetzt wird es gleich ein bisschen kompliziert. Wer nämlich dachte, bei einer Wahl geht es einfach darum, Stimmen auszuzählen und die Ergebnisse zu verkünden, irrt sich. Die Zuteilung von Sitzen im Parlament kann leider nie perfekt sein. Eine Partei, die 13,3 Prozent der Stimmen erhält, wird kaum einen drittel Abgeordneten ins Parlament bringen dürfen. Für die Umwandlung der Stimmen in Sitze gibt es gibt es verschiedene Verfahren, die jeweils andere Ergebnisse produzieren können. Sie bevorzugen zum Beispiel kleinere oder größere Parteien. In Deutschland wurde das Verfahren schon mehrfach gewechselt. Die Begründung für ein neues System ist eigentlich immer die gleiche: weil es angeblich gerechter als das vorherige ist. +In Deutschland (und den meisten westlichen Demokratien) haben auch die Parteien, die bei einer Wahl unterlegen sind und nicht die Regierung stellen, Möglichkeiten, in den politischen Prozess einzugreifen. Eine beliebte Methode der Opposition, um echte oder vermeintliche Fehlleistungen der Regierung aufzudecken, sind Untersuchungsausschüsse. Das sind Gremien, die dazu gebildet werden, mögliche Missstände in Regierung und Verwaltung und mögliches Fehlverhalten von Politikern aufzuklären. Sie dürfen auch Minister und Bundeskanzlerin oder Bundeskanzler befragen. Nach Artikel 44 des Grundgesetzes kann und muss der Deutsche Bundestag auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder einen Untersuchungsausschuss einsetzen. +Es klingt erst mal harmlos, kann aber schon mal ein Ministerium in Erklärungsnot bringen oder Diskussionen über ein bestimmtes Thema entfachen. Ein häufig eingesetztes Mittel der Opposition, um die Arbeit der Regierung zu kontrollieren und auf ihre eigenen Anliegen aufmerksam zu machen, sind Anfragen. Diese können von einer Bundestagsfraktion oder mindestens fünf Prozent aller Abgeordneten gestellt werden. Fragt ein Parlamentarier bei der Regierung an, wie viele Windräder in ihrer Amtszeit errichtet oder wie viele Jobs in der Autoindustrie geschaffen wurden, muss diese innerhalb einer festgesetzten Frist darüber Auskunft geben, welche Kenntnisse sie darüber hat. +Du willst mit deinen Freunden gemeinsam als neue Fraktion in den Bundestag einziehen? Theoretisch kein Problem, denn in einer Demokratie hat jeder das passive Wahlrecht und kann sich wählen lassen, wenn er am Wahltag Deutscher oder Deutsche ist, das 18. Lebensjahr vollendet hat und nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen ist. Praktisch wird es allerdings schon schwerer. Rund 60 Parteien wollten sich zur Bundestagswahl 2013 aufstellen lassen. Dass man nur etwa die Hälfte davon auf dem Wahlzettel wiederfand, liegt am Bundeswahlausschuss, der entscheidet, ob eine Partei zugelassen wird. Kleine Parteien dürfen teilnehmen, wenn sie eine bestimmte Anzahl von Unterstützungsunterschriften von Wahlberechtigten vorlegen können. diff --git a/fluter/das-holocaust-gedenken-des-herzens.txt b/fluter/das-holocaust-gedenken-des-herzens.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2195a77fd874de46f79765a113553fc8a6711214 --- /dev/null +++ b/fluter/das-holocaust-gedenken-des-herzens.txt @@ -0,0 +1,21 @@ + + +Bei oberflächlicher Betrachtung hat Deutschland sich sehr um eine Wiedergutmachung seiner damaligen Verbrechen bemüht – beginnend damit, dass es sich diese Verbrechen überhaupt eingestanden hat. Das Holocaust-Mahnmal für die ermordeten Juden Europas in direkter Nachbarschaft des Brandenburger Tors wird gemeinhin als eine große Geste der Anerkennung dieser Schuld betrachtet. Seine Eröffnung im Jahr 2006 fiel zusammen mit Deutschlands Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft. Zwei Ereignisse, die damals eine neue Generation von Juden, vor allem aus Israel, in die deutsche Hauptstadt lockten. Deutschland und das jüdische Volk konnten wieder Freunde sein. +Deutschlands Mut zur Offenheit im Umgang mit seiner Geschichte hat es auch mir leichter gemacht, in Berlin zu leben und die Stadt zu lieben. Schon deutsche Schulkinder werden umfassend über den Holocaust aufgeklärt, Oberschüler machen Exkursionen zur Besichtigung ehemaliger Konzentrationslager. Ironischerweise hielt Deutschland es offenbar sogar für nötig, Reste seines Nazi-Images abzuschütteln und seiner "historischen Verantwortung" gerecht zu werden, indem es seine Grenzen für ungefähr eine Million Flüchtlinge aus Ländern öffnete, in denen Antisemitismus fest verwurzelt ist. + + +Aber wenn ich mir das Herz gefasst habe, Deutschen die Frage zu stellen (die ihnen viele Juden heimlich gerne mal stellen würden): "Wo waren eigentlich deine Großeltern während des Krieges?", wunderte ich mich, wie der Holocaust überhaupt geschehen konnte. +– "Sie waren Pazifisten, die gegen den Krieg waren." +– "Sie lebten auf dem Land und dachten, das mit Hitler werde schon wieder vorübergehen." +– "Mein Großvater hatte den Traum, Pilot zu werden, deshalb ist er zur Luftwaffe gegangen." +– "Er hat in der Wehrmacht gedient, also hat er eine weiße Weste." +– "Ich habe Angst, ihn zu fragen, weil ich meinen Großvater liebe." +Die meisten Deutschen, die ich kennenlerne, neigen anscheinend dazu, die Verwicklung ihrer Familie in den jüdischen Genozid entweder zu leugnen, zu entschuldigen, zu verdrängen oder schlichtweg zu ignorieren – sei diese Verwicklung nun direkt oder indirekt gewesen. Dies hat mich veranlasst, das Thema als Journalistin näher zu untersuchen. Ich musste feststellen: Es kommt wirklich nur äußerst selten vor, dass junge Erwachsene sich mit der möglichen Nazivergangenheit ihrer Familie auseinandersetzen. In den meisten Familien wird dieses Thema kaum diskutiert, obwohl bei staatlichen Archiven und Auskunftsstellen die Zahl der Anfragen nach Hinweisen auf die Familiengeschichten während der Nazizeit durchaus steigen. +Ich verstehe jetzt besser, warum ein Bundestags-Report vor kurzem zu dem Ergebnis kam, dass 40 Prozent der Deutschen israelbezogene antisemitische Einstellungen haben und warum viele Deutsche israelische Soldaten mit Nazis und muslimische Flüchtlinge mit verfolgten Juden gleichsetzen. Holocaust-Unterricht und -Gedenken laufen Gefahr, grob verallgemeinert zu werden und oberflächlich zu geraten, wenn sie nicht an persönlichen Geschichten festgemacht werden. + + +Einzelpersonen und Institutionen haben akribisch Zeugenaussagen von Überlebenden gesammelt – aber was ist eigentlich mit der Seite der Täter? So ein Vorhaben wäre natürlich nicht ganz einfach. Aber ehrliche Zeugenaussagen von Deutschen über die Kriegszeiten würden uns in die Lage versetzen, besser zu verstehen, wie es das deutsche Volk zulassen konnte, dass sich dieses Land in eine diebische und mörderische Tyrannei verwandelt hat. +Da die Nazi-Generation bald ausgestorben sein wird, liegt die Bürde des Erzählens nun auf den Schultern der zweiten, dritten und vierten Generation. Deswegen möchte ich deutsche Pädagogen und Erzieher dazu anhalten, deutsche Schüler nicht nur in ehemalige Konzentrationslager zu führen, sondern sie auch zu sorgfältiger, manchmal schmerzhafter Familienforschung anzuhalten. +Denn: Mahnmale aus Messing und Stein zu errichten, Exkursionen zu unternehmen und sogar die Tore des Landes zu öffnen, das ist leicht, sogar kathartisch. Und es macht sich gut in den Augen der Welt. +Aber es ist viel schwieriger, die Tore seines Herzens zu öffnen und in seinem eigenen Inneren ein Mahnmal zu errichten. Aber würden mehr Deutsche die schwierige, unangenehme und unerfreuliche Arbeit auf sich nehmen, ihre Familiengeschichte in die Nazi-Ära zurückzuverfolgen, könnten sie eine Tugend zurückgewinnen, die ihre Vorfahren wahrscheinlich verloren haben, als Hitler die Macht ergriff: individuelle moralische Courage. + diff --git a/fluter/das-internet-archive-und-die-wayback-machine.txt b/fluter/das-internet-archive-und-die-wayback-machine.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2e10029fd1efe0d3d3bd9355688ecba649872e40 --- /dev/null +++ b/fluter/das-internet-archive-und-die-wayback-machine.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Alexis Rossi, Director of Media and Access, ist seit dem Start dieser Internet-Zeitmaschine dabei. "Anfangs gingen wir davon aus, dass sich schon bald andere Organisationen um Dinge wie Bücher, Musik oder TV kümmern würden", erklärt sie. "Aber die Jahre vergingen, und nichts tat sich." Also nahm das Archive auch dies selbst in die Hand. +Deshalb geht es schon lange nicht mehr nur ums Internet, sondern um alles, was man auch in einer klassischen Bibliothek finden würde. Nur ist diese digitale Version eben um einiges umfassender, als es das Vorbild aus Stein und Beton jemals sein könnte: Rund 16 Millionen Texte, 1,6 Millionen Stunden Fernsehen, 4,2 Millionen Videos, 4,1 Millionen Audiodateien und 180.000 Livekonzerte von 7.000 Bands sind hier zu finden. Die Liste ließe sich fortsetzen. +Darunter findet sich ein Special rund um die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA mit der damaligen Live-Berichterstattung verschiedener Fernsehkanäle. Außerdem kann man in 40 Jahre alten Computermagazinen stöbern und Radiosendungen hören aus einer Zeit, als es noch kein Fernsehen gab. Auch Musikaufnahmen finden sich hier, die sonst nur auf Schellackplatten erhalten sind. Und seit 18 Jahren gehören nun eben auch Aufzeichnungen vom Livefernsehen zum Angebot des Internet Archive. +Eine noch vergleichsweise neue und zugleich sehr erfolgreiche Kategorie ist Software. Freiwillige haben hier Wege gefunden, alte Hardware zu emulieren. Schließlich sind auch Spielekonsolen und PCs ein Teil unserer Kultur. +Die Inhalte des Internet Archive kommen dabei aus drei Quellen. Erstens nehmen es die 150 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bisweilen selbst in die Hand, sie einzuspeisen. So werden derzeit rund 1.000 Bücher pro Tag eingescannt. Zweitens bekommt das Archive als gemeinnützige Organisation gelegentlich auch etwas geschenkt, wie etwa das Prelinger Archive, in dem sich gut 6.900 Filme aus Werbung und Lehre sowie zahlreiche Amateuraufnahmen finden. Drittens können die Nutzer selbst Inhalte hochladen und in "Kollektionen" sortieren. + + +All das soll einen "universellen Zugang zu allem Wissen" ermöglichen und ist als Werkzeug für Forschung und Recherche gedacht. So jedenfalls lautet die offizielle Mission des Internet Archive. Das Geld dafür kommt überwiegend aus Dienstleistungen. Man kann das Archive beispielsweise auch damit beauftragen, Bücher zu digitalisieren oder Internetseiten zu archivieren. Der Rest kommt über Fördermittel, Stiftungen und Spenden herein. Etwa 15 Millionen Dollar beträgt das jährliche Budget. +Eine der Herausforderungen des Internet Archive ist es, dass Menschen sich nicht immer gern erinnern und manches am liebsten vergessen wollen – manchmal auch die Geschichte ihres eigenen Landes und wie sich dessen Kultur in den letzten Jahrzehnten verändert hat. "Wir haben einige ernsthaft anstößige Inhalte in unserem Archiv", sagt Alexis Rossi. Was vor 50 Jahren noch als alltäglich galt, werde heute als rassistisch und sexistisch angesehen. Selbst zunächst harmlos scheinende Inhalte wie Cartoons oder TV-Werbespots können in diese Kategorie fallen. Propagandafilme und Hetzschriften gehören sowieso dazu. +Aber was wird nun gelöscht, und was darf bleiben? Eine offizielle, öffentlich einsehbare Leitlinie gibt es dazu nicht. "Unsere Tendenz ist es, Inhalte verfügbar zu lassen", erklärt Alexis Rossi und ergänzt: "Wir sind kein Unterhaltungsangebot. Was bei YouTube erlaubt ist und was bei uns erlaubt ist, wird sich schon deshalb unterscheiden." +Das gilt etwa für Gewaltdarstellungen in der Berichterstattung aus dem Zweiten Weltkrieg. "Auch Kriegsbilder sollten für Menschen in 50 Jahren und 100 Jahren noch zur Verfügung stehen", sagt sie. Das Archive würde keine "Wochenschau" aus jener Zeit entfernen, nur weil darin Kriegsgräuel plastisch zu sehen sind. +Trotzdem ist nicht alles für jeden erreichbar, denn auch das Internet Archive muss sich an Gesetze halten und will selbst Verantwortung zeigen. Manche Inhalte lassen sich deshalb nicht auf anderen Websites einbetten. Sie sind überhaupt nur abrufbar, wenn man als Nutzer angemeldet ist. +Andere Inhalte wiederum werden für Menschen aus bestimmten Regionen der Welt geblockt, weil sie dort illegal sind. "Lieber blocken wir zum Beispiel ein einzelnes Buch, als dass das gesamte Archive in diesem Land nicht erreichbar ist", sagt Alexis Rossi. Es zahle sich am Ende aus, hier flexibel zu sein. +Ein größeres Hindernis bei der Arbeit des Internet Archive ist das Urheberrecht. Das wurde seit seiner Einführung immer wieder ausgeweitet. Wem aber sei damit geholfen, wenn dadurch ein wissenschaftliches Lehrbuch von 1980 nicht zur Verfügung steht, fragt Alexis Rossi. "Wir brauchen das Copyright, damit Urheber mit ihren Werken Geld verdienen können. Aber wenn es endlos ausgedehnt wird, beschränkt es das, was andere mit diesen Werken tun können." +Anfangs war auch die "Wayback Machine" dadurch bedroht. Schließlich legte das Internet Archive mit diesem Angebot zahlreiche Kopien urhebergeschützter Werke an. Inzwischen aber werde der Wert erkannt, sagt Alexis Rossi. +Bei alldem möchte das Archive aber Menschen nicht in Schwierigkeiten bringen. Wer sich aus dem Speicher gelöscht sehen will, kann das mitteilen. "Wir nehmen das sehr ernst. Wir wollen sowohl respektvoll mit den Menschen sein als auch unsere Mission einer Bibliothek der modernen Welt erfüllen." Das sei natürlich bisweilen ein Drahtseilakt. Und durch strengere Datenschutz-Vorschriften wie die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) könnte das zukünftig noch etwas komplizierter werden. +Dabei legt sich das Archive durch seine konsequente Arbeit nicht zuletzt mit den Großen und Mächtigen an. "Die derzeitige US-Regierung wollte am liebsten Dinge aus dem Netz verschwinden lassen, aber wir haben es gespeichert. Alles davon", sagt Alexis Rossi mit einer gewissen Genugtuung in der Stimme. +Unbequeme Themen wie den Klimawandel kann man dann zwar beispielsweise von den offiziellen Websites verbannen. Aber wie sich die Politik hier mit dem Regierungswechsel geändert hat, lässt sich weiterhin unter archive.org nachsehen. + + +Titelbild: LIANNE MILTON/NYT/Redux/laif diff --git a/fluter/das-ist-aber-seltsam.txt b/fluter/das-ist-aber-seltsam.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c8400eb01672cad40d2de644cb3b6eabfa3802a4 --- /dev/null +++ b/fluter/das-ist-aber-seltsam.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Um die Fakten klarzukriegen: Ich bin 1982 in der Sowjetunion geboren. Meine Mutter kommt aus einer deutschstämmigen Familie, die einstmals auf der Suche nach einem besseren Leben aus Preußen in eine Gegend ausgewandert ist, die in der heutigen Ukraine liegt. Von dort wurde diese Familie einige Generationen später, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, sehr blutig vertrieben. Die Überlebenden landeten in Tscheljabinsk im Ural, wo meine Mutter meinen russischen Vater kennenlernte und ich geboren wurde. 1993 wanderten wir nach Deutschland aus. +Meine Großeltern mütterlicherseits und meine Mutter nannten es "Rückkehr", auch wenn manche von ihnen Deutschland nie zuvor betreten hatten. Für meinen Vater war es eine Reise auf einen anderen Planeten. Für mich als elfjähriges Kind war es ein Abenteuer. +Das Land, aus dem wir fortgingen, hatte eine gespaltene Persönlichkeit. Die Menschen hatten noch die Sowjetzeit in den Knochen, wo weltweite Solidarität mit der Arbeiterklasse propagiert wurde, aber in den Ausweisen neben der "Staatsangehörigkeit" noch eine "Nationalität" angegeben wurde. Bei meiner Mutter war diese Nationalität: deutsch. Manche Karrierewege waren damit verbaut. +1993 liefen viele Jugendliche in Russland mit USAT- Shirts umher. Doch auch Nationalpatrioten sammelten sich, die russische Trikolore kam auf. Manche wollten die Sowjetunion zurück, andere den Zaren, viele einfach nur Dollars. Und ich landete in Deutschland, das gerade die Wende und die rassistischen Anschläge von Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und Mölln verarbeitete. Was und wer deutsch war, schien so recht keiner zu wissen. Such dich mal selbst auf einem Schiff ohne Kompass. +Ich versuchte, mich anzupassen. Allerdings verweigerte ich eine Namensänderung, aus irgendeinem kindlichen Trotz. Ich wollte nicht Nikolas Kerber heißen – Kerber ist der Mädchenname meiner Mutter –, wie mir von einem sicher wohlgesinnten Beamten nahegelegt wurde. Es blieb bei Nikita Afanasjew. Mit diesem Namen machst du nicht einen auf deutsch. Ich kürzte später ab, auf Nik. Klingt auch nicht deutsch, aber etwas weniger fremd. Meine ganz eigene Schizophrenie. +Meine Eltern redeten weiter auf Russisch miteinander, aber nicht normal, zumindest auf der Straße: Sie flüsterten. Ich hasste diesen Flüsterton. Mussten wir uns schämen oder was? +Wir lebten im Ruhrgebiet, ich spielte Fußball. In einer Saison waren 15 von 20 Spielern im Kader Türken. Einer von denen stellte mich mal zur Rede: "Warum bist du Scheißrusse auf Gymnasium? Bist du doch Kanacke!" +Ich selbst verlor nach und nach meinen Akzent und löste mich so als Einwanderer auf. Ich wurde damit nicht einfach Deutscher, das merkte ich in den Du-sprichst-aber-gut-Deutsch- Aussagen von Erwachsenen, in der wenig ausgeprägten Begeisterung von Eltern, wenn sie merkten, mit wem ihre Tochter abhängt. Ich war kein Russe und kein Deutscher und kam in ein Alter, in dem mir das bewusst wurde. Ich wurde – nach meiner selbst gewählten Zuschreibung – Weltbürger. +Als Jugendlicher nötigt einen erst so etwas wie ein Umzug in ein anderes Land, sich über nationale Zugehörigkeit und Identität zu verständigen. Wer einfach nur als Teil der Mehrheitsgesellschaft aufwächst, im Normal-null-Zustand, hat es einfach. Wobei auch ich es mir mit meinem Weltbürgertum einfach machte. Ich wollte nicht dies sein und nicht das, nicht Russe und Deutscher, keine "hybride Identität", sondern nichts von alledem. Ich war halt jung. +Ironischerweise brachten mich erst die Reisen in jene Welt, in der ich angeblich ja beheimatet war, zu mehr Einsicht. Denn im fernen Ausland wird die eigene Identität nicht mehr so sehr durch Selbstzuschreibung definiert, sondern durch Fremdzuschreibung. In Afrika war ich halt zuallererst Europäer, egal, welche kosmopolitischen Konstrukte ich mir aufgebaut zu haben glaubte. Sich aus der ganzen Identitätsdebatte herauszuhalten erscheint irgendwann nicht mehr clever, sondern feige. +2012, als Putin als Präsident zurückkehrte, beschleunigte sich der neue Ost-West-Konflikt, ich schrieb als Journalist darüber, ich stritt mit meinem Vater über die Krim – mein Geburtsland war wieder da. Mein Mitbewohner sagte mir mal während des Ukraine- Konflikts, als ich ganze Tage mit Debatten darüber zubrachte: "Du kannst den Russen aus Russland holen, aber nicht Russland aus dem Russen." Es stimmte schon, aus irgendeinem Grund konnte ich mich der Frage danach, wer ich bin, nicht mehr verweigern. +Im Frühjahr 2016 machte mich der Osten dann zum ersten Mal ultimativ zum Deutschen. Ich war für eine Reportage in Tschernobyl, unweit des havarierten Kraftwerks. Dort lebte ein Einsiedler, der bereit war, mit Journalisten zu reden, nur Deutsche würde er leider hassen. Weltkriegserfahrung, da könne man nichts machen, erklärte mein Kontaktmann vor Ort. Ich schaute daraufhin bedauernd zu dem deutschen Fotografen, der mit dabei war, da er wohl leider draußen bleiben musste, bis mein Kontaktmann mich aufhielt und sagte: "Du verstehst nicht. Du kannst nicht mit." +Ich spreche Russisch ohne Akzent, in der globalisierten Welt tragen alle die gleichen Klamotten und Frisuren, aber … trotzdem bin ich nicht mehr im Club. +Ich fuhr in diesem Sommer lange durch Russland. Nicht nur die Erfahrung mit der Frau im Zug, die mich als "Deutschen" ja indirekt für ihr schweres Leben verantwortlich machte, ließ mich etwas germanisiert zurück. In Deutschland sagen mir Freunde, wenn ich mich im Auto nicht anschnalle: "Ja, bist halt Russe." In Russland hoffte ich nun in dieser Frage auf lauter Gleichgesinnte. Endlich. Und sah dann, dass auch Kleinkinder regelmäßig nicht angeschnallt werden. +Einmal wies ich einen Mann darauf hin, dass unser Auto so gut wie kein Reifenprofil und mehr oder weniger keine Bremsen hat, vielleicht sollte er seinen einjährigen Sohn auf dieser regennassen Straße doch lieber … Er war sehr irritiert, schüttelte nur seinen Kopf und sagte: "Diese Deutschen!" +Am meisten aber werde ich zum Westler, wenn ich die deutsche Flüchtlingspolitik oder allgemein eine freiheitliche Gesellschaft verteidige. In Deutschland wird oft kritisiert, dass Menschen nicht per eigener Entscheidung zu Einheimischen werden können. Im Gegensatz zu den USA, wo das Bekenntnis zu Land und Verfassung ausreicht, um in den Augen der USAmerikaner zu ihnen zu gehören. In Russland aber funktioniert diese Sache mit der eigenen Entscheidung zumindest in Negativform: Wer nicht für die aktuell vom Kreml verfolgte Politik ist, ist draußen. +Es war angenehmer, sich gar nicht zu der Frage nach der nationalen Identität zu verhalten, nichts zu sein und damit alles. Heute mache ich das nicht mehr. Wenn ich mich auf eine Formel festlegen will, selbst zugeschrieben, dann lautet sie: deutscher Weltbürger russischer Herkunft. Klingt jetzt auch nicht einfach. Muss es aber auch nicht. diff --git a/fluter/das-ist-alberne-rhetorik.txt b/fluter/das-ist-alberne-rhetorik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7d921521bfdb055855d326a2b13304a481ac6f7e --- /dev/null +++ b/fluter/das-ist-alberne-rhetorik.txt @@ -0,0 +1,30 @@ +Dann sind Märkte also gut? +Es gibt eine ganze Reihe von Feldern, auf denen sie versagen. Werten wie Gleichheit, Fairness oder Gerechtigkeit schenken sie nicht die notwendige Aufmerksamkeit. Ebenso wenig den Auswirkungen von Handlungen, die sich nicht unmittelbar im Preissystem niederschlagen. +Warum denn nicht? +Dafür wurden sie nicht geschaffen. Sie sollen das tun, was ich anfangs gesagt habe. Märkte sind eben nicht gerecht. Sie produzieren von manchem zu viel, von anderem zu wenig. +Wie meinen Sie das? +Zum Beispiel produziert der Markt zu viel Umweltverschmutzung. Wird nicht eingegriffen, passiert Folgendes: Die Firmen, die die Umwelt am meisten verschmutzen, können ihre Waren zum niedrigsten Preis verkaufen – sie haben ja keine Kosten für Umweltschutzmaßnahmen. Das geht so lange, bis Regeln aufgestellt und Strafen angedroht werden. +Und wovon produziert der Markt zu wenig? +Er bietet zum Beispiel nicht genug Anreize, um Impfungen und Heilmittel für Krankheiten wie Malaria zu entwickeln, unter denen vor allem arme Menschen leiden. Er bietet keine angemessene Versicherung gegen viele der Risiken, denen Menschen ausgesetzt sind. Deshalb gibt es Regierungsprogramme zur Arbeitslosen- und Arbeitsunfähigkeitsversicherung. Der Markt kann zu einer Einkommensverteilung führen, die wiederum dazu führt, dass viele Menschen ganz einfach zu arm sind, um zu überleben. Der Markt selbst, wenn man ihn allein ließe, würde diese Ungleichheiten unendlich fortsetzen. Kindern aus armen Familien können die Eltern keine Ausbildung ermöglichen – und diese Kinder können dann wiederum ihre Kinder nicht zur Schule schicken. +Wie soll man den Markt denn dann betrachten: ablehnend oder mit Zuversicht? +Der Markt spielt eine wichtige, aber zugleich auch begrenzte Rolle. Keine Gesellschaft der Welt akzeptiert den Markt heutzutage einfach so. Die spannende Frage ist daher: Welche Interventionen sind wünschenswert? +Radikale Anhänger der Marktwirtschaft sagen: Gar keine – lasst den Markt nur machen, der regelt das schon. +Das ist alberne Rhetorik. Keine ernst zu nehmende Wirtschaftsanalyse würde vorschlagen, darauf zu vertrauen, dass der Markt all die Probleme lösen wird, über die wir vorhin gesprochen haben. +Konnte man sich früher auf den Markt verlassen? +Nein. Ist ein Wirtschaftssystem simpel, finden Menschen vielleicht einfachere Wege, um sicherzustellen, dass auch Werte jenseits des Preissystems berücksichtigt werden – zum Beispiel wenn es soziale Sanktionen durch die Nachbarn gibt, wenn ich Müll auf die Straße werfe. In modernen Wirtschaftssystemen funktionieren diese einfachen Kontrollmechanismen nicht mehr. Daher müssen wir auf Gesetze zurückgreifen und auf Steuern. +Hat die Globalisierung das verkompliziert? +Schon. Heute muss sich eine europäische Firma damit beschäftigen, dass sie Firmen irgendwo anders auf der Welt einen Wettbewerbsvorteil verschafft, weil sie selbst verantwortungsvoll handelt und in neue, umweltfreundliche Technologien investiert. Unser Wirtschaftssystem ist global, deshalb wird es immer wichtiger, globale Regulierungen zu treffen – zum Beispiel beim Umweltschutz. +Ist die Globalisierung dann überhaupt gut? +So simpel darf man nicht fragen. Globalisierung bedeutet erst mal nur, dass Volkswirtschaften zusammenwachsen. Sie hat dazu beigetragen, die Einkommen in vielen Teilen der Welt zu erhöhen. Die Wirtschaft in Indien und China zum Beispiel wächst in einer noch nie da gewesenen Art und Weise, das hat Hunderten Millionen Menschen aus der Armut geholfen. Zugleich hat sie das Wachstum in den Industriestaaten gefördert. +Warum wird sie dann von vielen Menschen so skeptisch betrachtet? +Weil durch die Art und Weise, wie die Globalisierung gemanagt wurde, viele Menschen auf der Strecke geblieben sind. Dabei könnte die Globalisierung, zumindest für die meisten Menschen, das Leben verbessern. Das Hauptproblem ist: Die wirtschaftliche Globalisierung hat die Globalisierung der Politik längst abgehängt. Wir sind immer stärker voneinander abhängig. Also müssen wir mehr und besser zusammenarbeiten. Aber es gibt keinen institutionellen Rahmen, um diese Kooperation effektiv und demokratisch zu gestalten. +Können nationale Regierungen dann überhaupt etwas bewirken? +Selbstverständlich. Regierungen erlassen Gesetze, schaffen Anreize, erheben Steuern und können so Einfluss nehmen. Gleichzeitig gibt es natürlich Themen, die noch besser auf einer globalen Ebene besprochen werden. +Im Juni treffen sich die wirtschaftlich stärksten Nationen zum G8 Gipfel in Heiligendamm. Ist das die globale Ebene, von der Sie sprechen? +Die G8 ist eine informelle Gruppe ohne institutionelle Macht. Aber bleiben wir beim Umweltschutz: Die G8 kann Druck auf die USA ausüben, den größten Umweltverschmutzer der Welt. Einige Länder erheben Steuern auf Waren, die in den USA unter hohem Ausstoß von Emissionen produziert werden. Diese Botschaft – man erzielt keinen Wettbewerbsvorteil mehr, wenn man dabei die Welt zugrunde richtet – könnte den US-Präsidenten vielleicht dazu bewegen, verantwortungsvoll zu handeln. Einer der Slogans der G8 unter deutscher Präsidentschaft ist: "Wachstum und Verantwortung".In Lateinamerika haben in den letzten Jahren viele eher linke Politiker wie Lula da Silva in Brasilien, Rafael Correa in Ecuador, Evo Morales in Bolivien Wahlen gewonnen. Jetzt scheinen sie ihre heimischen Märkte abschirmen zu wollen. +Sie schotten ihre Märkte und ihre Wirtschaft keineswegs ab! Aber sie fordern angemessene und faire wirtschaftliche Bedingungen und wollen sich nicht mehr behandeln lassen wie in der kolonialen Vergangenheit der letzten 150 Jahre. Sie verhandeln Verträge mit Ölfirmen neu. Sie sagen, sie unterzeichnen keine ungerechten Handelsabkommen mit den USA. Das ist meiner Meinung nach eine wichtige Veränderung. +Warum werden Chávez und Co. in Europa eher skeptisch beäugt? +Deren Rhetorik ist manchmal etwas aufrührerisch, sie werden oft als Populisten abgestempelt. Aber das ist doch das, was in einer Demokratie geschehen soll: Es sollen Gesellschaften, Regeln, Wirtschaftssysteme entwickelt werden, die die Interessen der Mehrheit der Menschen widerspiegeln. Bevor Chávez in Venezuela auftauchte, ging die Mehrheit der Öleinnahmen dieses sehr reichen Landes an eine kleine Gruppe von Menschen an der Spitze des Landes. Zwischen zwei Drittel und achtzig Prozent der Menschen lebten in Armut. Chávez sagt: Dieses Geld gehört den Menschen, sie sollen es bekommen, wir brauchen faire Abkommen. Ich denke nicht, dass das jemand ernsthaft kritisieren kann.Die Weltwirtschaft ist sehr kompliziert. Was kann ich selbst tun, um auf dem Markt bestehen zu können? +Man muss mit der Marktwirtschaft in all ihren Formen umgehen können, es geht eben mal aufwärts und dann wieder abwärts. Dazu gehört der Arbeitsmarkt: Je mehr Fähigkeiten man hat, je besser die Ausbildung, desto besser findet man sich auf ihm zurecht, desto leichter fällt es einem, darauf zu reagieren, dass manche Jobs zerstört werden, während neue geschaffen werden. Und junge Leute haben schon immer eine sehr wichtige Rolle als Bürger gespielt. +Welche Rolle sollen sie da einnehmen? +Die ältere Generation ist oft schon zu festgefahren, sie macht sich Sorgen um ihr eigenes Wohlergehen. Junge Leute gehörten schon immer zu den Ersten, wenn es darum ging, Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in Gesellschaften zu begreifen. Sie müssen ihre Besorgnis ausdrücken über die Richtung, die eine Gesellschaft nimmt, die Gesellschaft, in der sie später leben müssen. Es ist von essenzieller Bedeutung, dass die Jungen diese Rolle verstehen und annehmen.Joseph E. Stiglitz, 64, gewann 2001 den Wirtschaftsnobelpreis für seine Arbeiten über das 
Verhältnis von Information und Märkten. Er war Berater von US-Präsident Bill Clinton und 
von 1997 bis 2000 Chefökonom der Weltbank. Sein Buch Die Chancen der Globalisierung (2006) ist bei der bpb erhältlich. diff --git a/fluter/das-ist-dein-boden.txt b/fluter/das-ist-dein-boden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/das-ist-der-neue-bundestag.txt b/fluter/das-ist-der-neue-bundestag.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..91362d109d8713ad2c482105d860bfa4bcca84da --- /dev/null +++ b/fluter/das-ist-der-neue-bundestag.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Was bedeutet das für die Arbeit im Bundestag? +Schwer abzuschätzen, aber wahrscheinlich wird es nicht einfacher oder gar besser. Die gängige Meinung ist, dass der Bundestag eher langsamer wird. Das hat vor allem damit zu tun, dass die Verwaltung überlastet sein wird, weil sie mehr Aufträge bekommt. Dazu müssen die ganzen Ausschüsse und Abstimmungsprozesse koordiniert werden. Das macht künftig alle Verfahren eher zäh. Der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert hat letztes Jahr noch versucht, die Anzahl der Mitglieder auf 630 zu deckeln. +Überhangmandat +Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate über die Erststimmen erhält, als ihr Sitze im Bundestag gemäß der Anzahl der Zweitstimmen zustehen. Sie kann dadurch mehr Mitglieder ins Parlament schicken, als ihr der Anteil an den Zweitstimmen verspricht. Seit der Wahlgesetzänderung 2013 sorgen die Ausgleichsmandate für ein Gleichgewicht: Die Gesamtzahl der Sitze wird so lange vergrößert, bis alle Überhangmandate ausgeglichen sind und keinen relativen Vorteil mehr darstellen. +Aber? +Das ist nicht so einfach mit dem deutschen Wahlgesetz. Die vorgesehene Anzahl liegt bei 598 Abgeordneten, die restlichen Mandate setzen sich aus den Überhangs- und Ausgleichsregelungen zusammen. Um den Zustimmungsproporz zwischen den Parteien aufrechtzuerhalten, könnte man alternativ zu bisherigen Regelungen die Überhangmandate noch mit Listenmandaten in den einzelnen Bundesländern ausgleichen. Langfristig müsste man aber den Zuschnitt der Wahlkreise ändern, um für einen kleineren Bundestag zu sorgen. Das wäre ein sehr aufwendiger Prozess. +Jetzt ist der Bundestag zwar groß, aber vor allem die hohe Akademikerrate wird oft kritisiert. Wie kommt's, dass etwa so viele Beamte und Juristen im Parlament sitzen? +Joachim Behnke ist Professor für Politikwissenschaft an der Zeppelin Universität +Manche haben in ihren Wahlkreisen einen besseren Stand oder können sich in den Parteistrukturen durchsetzen. Beamte lassen sich zum Beispiel eher für die Politik beurlauben. Freiberufler oder Handwerker könnten das ja gar nicht. Auch die berufliche Ausrichtung von Juristen kommt dem Politikersein zugute. Wobei man kein Jurist sein muss, um einen guten Abgeordneten abzugeben. Es ist ärgerlich, dass das alles so schräg verteilt ist, und problematisch ist auch die Überakademisierung des Bundestags. Es wäre zu begrüßen, wenn es hier eine größere Streuung von Berufen gäbe und auch der in diesen Berufen erworbenen Erfahrungen. Denn letztlich geht es im Parlament um eine angemessene Vertretung der Interessen aller gesellschaftlich relevanten Gruppen. Am besten können diese Interessen von Menschen vertreten werden, die selber Mitglieder dieser Gruppen sind, sodass die Erfahrungen dieser Menschen in den Meinungs- und Willensbildungsprozess einfließen können. Wenn manche dieser Gruppen gar nicht oder nur sehr schwach vertreten sind, ist das Risiko größer, dass ihre Interessen nicht angemessen wahrgenommen werden. Aus demselben Grund halte ich es übrigens auch für problematisch, dass es Abgeordnete gibt, die praktisch von Beginn ihres Erwachsenenalters an nur Politiker waren und über keinerlei Erfahrungen außerhalb der Politik verfügen. Diese mögen sich das Handwerk des Politikers durchaus geschickt aneignen, sie können aber eben niemals einen aus eigener Erfahrung gespeisten Input liefern, außer wenn es um die Vertretung der Interessen der Politiker selbst geht. + +Die Anteile an Frauen und Abgeordneten mit Migrationshintergrund sind auch nicht so verteilt wie in der Bevölkerung. +Ich denke, das liegt auch immer daran, wie sich die Parteien für ihre interne Vielfalt einsetzen und Positionen besetzt werden. Da sticht das multikulturelle Gesellschaftsbild der Grünen hervor. Klar kann man auch darüber streiten. Es hat aber doch den Effekt, dass sich dort und bei der Linken Menschen mit Migrationshintergrund eher engagieren, als das in anderen Parteien der Fall ist und war. Hinzu kommt ein Altersproblem: Generell sind die Parteiaktiven eher älter, außerdem haben sich vor über 30 Jahren noch nicht so viele Menschen mit Migrationshintergrund in den Parteien organisiert. Das muss sich alles ändern. +Nun ist nicht nur die Größe des Bundestags neu, sondern auch die Parteienzusammensetzung. Die AfD zieht ein, die großen Parteien CDU/CSU und SPD haben viele Stimmen und damit Sitze verloren. +Es wird spannend: Hält die AfD die inneren Zerreißproben aus und etabliert sich? Dann hätten wir etwas, das lange undenkbar schien: eine rechtspopulistische Partei im festen Parteienspektrum. Es kann aber auch anders kommen: Zwar hat die AfD sensationelle Ergebnisse eingefahren, das kann aber alles schnell wieder vorbei sein. Die Wähler der AfD sind zum großen Teil nicht Anhänger der ideologischen Ausrichtung der AfD, sondern nutzen diese als Ventil, um ihren Protest gegen das etablierte Parteiensystem auszudrücken. Diese Wähler haben früher andere Protestparteien wie die Piraten gewählt oder sind gar nicht zur Wahl gegangen. Diese Wähler können schnell wieder weg sein, weil sie eben keine inhaltliche Bindung an die Partei haben. Verhängnisvoll wäre auch, wenn einige der etablierten Parteien nun ihrerseits versuchen würden, dieses Wählerpotenzial zurückzugewinnen, indem sie die Positionen der AfD übernehmen. Eine solche Strategie war noch nie erfolgreich und hat den rechten Rand immer nur gestärkt, denn damit gibt man ja zu, dass diese Positionen grundsätzlich akzeptabel sind. Auch das gute Abschneiden der FDP sollte man nicht überschätzen: Wenn die CDU schlecht abschneidet, dann gewinnt die FDP immer dazu, weil es hier besonders starke Wählerwanderungen gibt. +Was bedeutet es für die anderen Parteien, dass die AfD jetzt in der Opposition sitzt? +Wahrscheinlich wird tatsächlich mehr gestritten. Dass die Debatten lebendiger werden, ist wünschenswert, aber nicht garantiert. Die größere Gefahr ist aber nicht, dass sich die anderen Parteien nun mit der AfD auseinandersetzen müssen. Das gehört zur Demokratie. Wie schon gesagt, wird es gefährlicher, wenn andere Parteien versuchen, der AfD das Wasser abzugraben, zum Beispiel indem sie sich ihren Themen annähern. +Und was bedeutet das für die SPD, die jetzt wieder in die Opposition geht? +Die AfD stellt für die SPD eigentlich sogar eine große Chance dar. Denn sie kann sich von dieser positiv absetzen, indem sie zeigt, wie man eine streitbare und kraftvolle Oppositionsarbeit macht, die konstruktiv ist und niemals den Boden der Verfassung verlässt. + + diff --git a/fluter/das-ist-deutschland-hier.txt b/fluter/das-ist-deutschland-hier.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..246fecdff1a1a6819ae9a9b360d45bf9239c27fe --- /dev/null +++ b/fluter/das-ist-deutschland-hier.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Trompeter einer Polka-Band im Gibbon Ballroom +Als das Glockenspiel endet, gibt Fremdenführer George Glotzbach gleich noch ein Oktoberfestlied zum Besten: "Ein Prosit der Gemütlichkeit!" Ein kleiner Vorgeschmack darauf, dass in New Ulm gerne feuchtfröhlich gefeiert wird: Unter dem Motto "Dance your lederhosen off" fließt vom Frühjahr ("Schell's Bock Fest") über den Sommer ("Bavarian Blast") bis in den Herbst (Oktoberfest) viel Bier, gebraut nach deutschem Vorbild in der zweitältesten Brauerei der USA, der "August Schell Brewery" in New Ulm. +"Wir haben Besucher aus Deutschland, die hier heiraten und berichten, dass sie sich in Deutschland nach mehr Deutschland sehnen", sagt Glotzbach. Dabei wirkt New Ulm eher wie eine Karikatur der deutschen oder vielmehr der bayerischen Kultur. Angst vor Klischees jedenfalls scheint es in der Stadt nicht zu geben: Deutsche hören gerne Blas- oder "Oom-pah Music", sie essen gerne Bratwurst und Sauerkraut und trinken viel Bier. Bürgermeister Robert J. Beussman alias "Bob" wirkt stolz auf seine Stadt "des Charmes und der Tradition", wie es hier heißt, und besonders stolz ist er auf die echten Tannenbäume, die hier zur Weihnachtszeit aufgestellt werden anstatt der Plastikimitationen, mit denen sich andere amerikanische Gemeinden zufriedengeben. +Und ganz besonders stolz ist man in der "deutschesten Stadt der USA" auf eine Kopie des Hermannsdenkmals, dessen Original im Teutoburger Wald bei Detmold steht. Es stellt Hermann den Cherusker dar, unter dessen Führung germanische Stämme die römischen Invasoren im Jahr 9 nach Christi Geburt vernichtend geschlagen haben sollen. Zwar ist der "Hermann the German" in New Ulm nicht so groß wie sein deutsches Vorbild, aber immerhin nach der New Yorker Freiheitsstatue das zweitgrößte Kupferdenkmal der USA. +Heute steht der Koloss in der Prärie sinnbildlich für das ausgeprägte Bedürfnis vieler europäischer Auswanderer des 19. Jahrhunderts, in der neuen Heimat Amerika ihre alte kulturelle Identität zum Ausdruck zu bringen. Als im Zuge der Industrialisierung Deutschlands die Landbevölkerung verarmte, folgten Millionen dem amerikanischen Versprechen auf ein besseres Leben, auch die Resignation nach der gescheiterten Deutschen Revolution von 1848/49 spielte eine Rolle. Mehrheitlich besiedelten die deutschen Einwanderer das sogenannte "German Triangle" zwischen Cincinnati, Milwaukee und St. Louis, wo der Boden besonders fruchtbar ist – aber auch in anderen Regionen des Mittleren Westens wie eben Minnesota ließen sie sich nieder. +New Ulm wurde 1854 von Siedlern aus dem südwestlichen Deutschland und dem Egerland, das heute Teil der Tschechischen Republik ist, gegründet. Und immer wieder hat es auch offizielle Verbindungen ins deutsche Ulm gegeben. In der Hungersnot nach dem Zweiten Weltkrieg stand das kleine New Ulm der deutschen Mutterstadt sogar mit Hilfspaketen bei, und seit 1986 findet zwischen den Städten das "Hans-Joohs-Austausch-Programm" statt – auch weil man in New Ulm die Sprache der Vorfahren wieder mehr pflegen möchte. Denn die ist in Minnesota über die Jahrzehnte dann doch verloren gegangen, einfach weil bei vielen Bürgern der Austausch mit den Verwandten in der alten Heimat irgendwann eingeschlafen ist. Auch war es nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA eine Zeitlang verpönt, Deutsch zu sprechen. +Die Beer Steins pflegen deutsches Lied- und Kulturgut +Mag die Sprache der frühen Vorfahren hier nicht mehr sehr lebendig sein, so lassen die Figuren im Glockenturm doch erkennen: Mit dem Pioniergeist der frühen Siedler identifiziert man sich in New Ulm bis zum heutigen Tag. Zugleich ist dies aber der Teil der Stadtgeschichte, dem immer noch Fragen von Schuld und Sühne anhaften. Die Pionierzeit war auch die Zeit der großen Landnahme durch die Siedler, wobei es politisch gesehen um Machtfragen ging. Damit die deutschen Auswanderer das fruchtbare Land in Besitz nehmen konnten, wurden die Native Americans brutal und oft blutig zurückgedrängt und gezwungen, ihre Präriegebiete abzutreten. +Für den Autor Bernd Brunner, der sich intensiv mit der frühen deutschen Massenmigration nach Amerika befasst hat, spiegeln sich in der Begegnung zwischen den deutschen Auswanderern der ersten Generation und der einheimischen Bevölkerung viele rassistische Klischees der damaligen Europäer von den sogenannten "Wilden" wider. Es sind Bilder, die bis in die Gegenwart fortbestehen, und insbesondere der "Dakota-Krieg" von 1862 gegen das Volk der Santee-Sioux prägt das Selbstverständnis der deutschen Amerikaner bis heute. +Nach Einschätzung von Darla Gebhardt, die für die Brown County Historical Society in New Ulm die Geschichte der Einwanderer aufarbeitet, hat die damalige Brutalität psychische Wunden gerissen, deren Heilung noch nicht einmal richtig begonnen hat – auf keiner der beiden Seiten. Die Siedler nahmen den Santee-Sioux das Land, das sie Jahrtausende bewohnt hatten. Die wiederum nahmen vielen Siedlern das Leben – und umgekehrt. Nach dem Krieg wurden schließlich die Kinder der Native Americans in Internate gebracht, um ihre angestammte Lebenskultur systematisch zu zerstören. +Es gibt noch viel Unaufgearbeitetes in der Beziehung zu den stets fremd gebliebenen Natives. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, warum die New Ulmer bis heute lieber unter sich bleiben. "Wir sind hier nicht verschieden, aber wir halten auch nicht daran fest, dass Fremde nicht willkommen sind", sagt Bürgermeister Bob etwas umständlich, als fühle er sich in Erklärungsnot. New Ulm ist einer der homogensten Siedlungsräume der USA, die als Land ja eigentlich für ethnische Vielfalt und ein Neben- beziehungsweise Miteinander verschiedenster Immigrantengruppen stehen. "Es gibt Menschen, die sind vor 30 Jahren hergezogen und fühlen sich noch immer als Ausländer. Es ist wichtig, hier geboren zu sein", erklärt Reiseführer Glotzbach. +Damit hat auch Kremena Spengler ihre Erfahrungen gemacht: "Ich kann nicht sagen, dass ich hier zu einer Minderheit zähle, weil ich die Einzige meiner Art bin." Die Amerikanerin mit bulgarischen Wurzeln spricht Englisch mit Akzent und arbeitet für die New Ulmer Lokalzeitung "The Journal". Spengler ist vor 20 Jahren wegen der Liebe in die Stadt gezogen. "Heute bin ich kein Kuriosum mehr, man hat sich an mich gewöhnt", sagt sie. Aber das habe gedauert. +Hadija Harunaarbeitet als Redakteurin für den Hessischen Rundfunk und als freie Autorin für den "Tagesspiegel", die "Zeit" und andere Magazine. Für eine Recherchereise zum Thema Migration war sie im Mai in den USA unterwegs und ist dabei in der Stadt New Ulm gelandet diff --git a/fluter/das-ist-gelebter-buddhismus.txt b/fluter/das-ist-gelebter-buddhismus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ba359bc5573e6580dc6b4d91e6671e108a781aa8 --- /dev/null +++ b/fluter/das-ist-gelebter-buddhismus.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Wie haben Sie sich Ihre Zukunft vorgestellt, bevor Sie verurteilt wurden? +Harry: Ich gehörte zur ganz normalen Gruppe der mittelständischen Unternehmer, mit den gleichen Bedürfnissen, mit den gleichen Wünschen wie jeder andere auch. Glückliche Familie, Kinder, Haus, Auto. Mit 55 bis 60 in den Ruhestand gehen. Darauf habe ich hin-gearbeitet. +Malte: Reich wollte ich nicht sein, nur unabhängig und sorglos. Ein Leben mit Tendenz zum Meer, Richtung Süden. +Nach wie vielen Jahren Haft kann man sich von der Außenwelt lösen? +Harry: Das ist schwer. Sie können nicht so einfach loslassen, was sie verloren haben. Da kommt bei vielen eine innere Wut auf. Man kann das nicht so einfach wegstecken. Manche brauchen vier, fünf Jahre, um sich davon geistig zu trennen. +Denken Sie an die Zukunft? Was wer-den Sie in zehn Jahren machen? +Malte: Ich denke schon an die Zukunft, weil ich ja auch noch ein bisschen Hoffnung habe. Ich habe ja auch studiert. Und ich habe das Glück, dass die sozialen Kontakte nicht ganz weggebrochen sind. Ich kann wieder arbeiten, ich kann bei einer Freundin, die eine Marktforschungsagentur hat, wieder anfangen. +Harry: Ich habe mir das abgewöhnt. Ich lebe nur noch in der Gegenwart. Diese buddhistische Auffassung, jeden Tag im Jetzt zu leben, das können Sie hier tatsächlich praktizieren. Sie denken nicht mehr an das Gestern und die Vergangenheit, weil das wahnsinnig wehtut. Wenn Sie hier in der Anstalt spazieren gehen und Sie hatten früher mal einen Garten, und dann kriegen Sie mit, wie die Tulpen blühen, dann tut das weh, weil Sie an Ihre alte, schöne Zeit erinnert werden. Sie wollen auch nicht an die Zukunft denken, weil Sie wissen: Das ist alles Spinnerei. Wenn Sie rauskommen, wartet keiner auf Sie. Sie haben keinen Job. Sie müssen sich um eine Wohnung kümmern. Es wird wahnsinnig Probleme geben. Da wollen Sie nicht dran denken. +Harry* (53) ist wegen Mordes zu lebenslanger Haft (mindestens 15 Jahre) verurteilt und hat schon neun Jahre abgesessen +Malte* (50) wollte mit einem Segelboot Drogen aus der Karibik nach Spanien schmuggeln, wurde erwischt und zu zehn Jahren verurteilt, von denen er noch fünf vor sich hat +* Namen von der Redaktion geändert. diff --git a/fluter/das-ist-hartz.txt b/fluter/das-ist-hartz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..47e497532c1d98967b45a0ddf5b7b4785fd654f4 --- /dev/null +++ b/fluter/das-ist-hartz.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +"Ich hatte nie gedacht, dass ich mal länger ohne Arbeit sein würde", sagt er. Klaus Tismer zieht Bilanz: "Die letzten eineinhalb Jahre waren verdammt hart. Ist keine Woche vergangen, in der Dani und ich nicht darüber geredet haben, wie beschissen es uns geht. Nein, wir haben seit der Entlassung keinen einzigen glücklichen Tag gehabt." Er bleibt eine kleine Weile stumm. Dann gibt er sich einen Ruck: "Na ja, aber immerhin haben wir schöne Momente gehabt – mit den Kindern und so. Geheiratet haben Dani und ich auch. Wenn ich es recht bedenke, dann waren es doch ganz schön viele Momente. Wenn wir uns mal richtig dreckig fühlen, erinnern wir uns daran. Und dann geht es schon wieder. Irgendwie." +Er sitzt im klitzekleinen Vorgarten seiner Mietwohnung in Berlin-Marienfelde, raucht, als wäre es seine letzte Zigarette. Tismer, 43, ist blass, obwohl die Sonne in diesem Sommer oft geschienen hat. Charleen, 6, seine ältere Tochter, wird von Minute zu Minute wilder. "Jetzt kommt ihre Zeit", sagt Tismer. "Da hat sie ein, zwei Stunden den Teufel im Leib. Dann legt sich das wieder. Das ist dieses ADS." Gott sei Dank, sagt er und sieht sehr müde aus, gebe es da noch die kleine Amy. "Die kannste hinsetzen, wo du willst. Die stellt nichts an." Nächste Zigarette. Wie er sich im Allgemeinen so fühlt? Ob es ihm gut geht? "Na ja, gut ist übertrieben. Wir schlagen uns so durch. Hartz IV eben." +Ja, wie sieht so etwas aus, wenn sich eine Hartz-IV-Familie, die nicht untergehen will, so durchschlägt? Rückblick: Zu Neujahr 2009 lassen's die Tismers trotz der erneuten Entlassung ein wenig krachen. Silvester hat was Tröstliches: Man hat einen Anlass zu trügerischer Sorglosigkeit. "Allet Jute für 't Neue", rufen Nachbarn rüber und winken mit der Sektpulle. Alles Gute? Man wird sehen. Im Februar hat Dani Geburtstag. 33 wird sie, ihr Mann schenkt ihr ein Handy, für das man zusammengelegt hat. Dani sagt: "Es kann nur besser werden." Im Juni 2009 wird Klaus 42. Dani schenkt ihm eine Hollywoodschaukel (Sonderangebot vom Bauhaus). So richtig fröhlich ist Klaus dennoch an diesem Tag nicht. Obwohl Charleen ziemlich brav ist. +Ein gutes halbes Jahr ist er jetzt ohne Arbeit. Zu Beginn hat Klaus für die Gesuche noch teure Mappen gekauft. Doch er bekommt ja nur ganz selten Antworten – und wenn, dann Absagen. Jetzt bewirbt er sich per E-Mail. Zwischendurch hat er sich als Kneipier versucht. "Fitzefatze" hieß die winzige Pinte. Lief anfangs gut, aber er konnte nicht so recht "mit den vielen Psychopathen, die da abgehangen sind". +Noch einmal eine Stelle als Verkäufer. Wieder gekündigt. Und diese Schulungen vom Arbeitsamt. Computer und so 'n Kram. Den Stoff kannte er schon, die Kolleginnen und Kollegen gingen ihm auf den Wecker. Da rücken sie um sieben Uhr morgens an und haben verquollene Gesichter. Lachen ist nicht, in der Klasse riecht es nach Alkohol, Zigaretten, Schweiß und Nicht- Gewaschen. Der Lehrer hat keinen Bock, und die Schüler wachen kurz vor der Rauchpause auf. Dann stehen sie sich im Hinterhof die Füße platt und quatschen über die Hertha BSC und "Deutschland sucht den Superstar" und den aussichtsreichsten Kandidaten bei "Big Brother". Nee, das hat ihn nicht weitergebracht. Tismer hat nur den Hauptschulabschluss, aber im Kopf war er immer ein Flinker. Er mag's nicht, wenn nichts weitergeht. +Und jetzt? Nüscht mehr. Er hält sich wacker, kümmert sich um die Kinder, führt den Hund aus – aber er wiegt zu viel, raucht zu viel und kann wegen der Knie keinen Sport mehr treiben. Er tröstet sich damit, dass ihm wenigstens noch der Humor geblieben ist. Doch die Realität lässt sich nicht weglachen: 1400 Euro in toto pro Monat für zwei Erwachsene, zwei Kinder, einen Hund und eine Katze. Die 80 Quadratmeter in Berlin-Marienfelde kosten 650 Euro. Haushaltsbudget? "Ach was, wir müssen generell jeden Monat irgendwas schieben, 'nen Haushaltsplan machen wir nicht mehr", sagt Klaus, von einem Tag auf den anderen ein Mensch zweiter Klasse. "Vor Kurzem waren wir im Zoo – als ich da wegen der Ermäßigung meinen Hartz-IV-Ausweis an der Kasse vorlegen musste, das war schon bitter." +Im Oktober 2009 kommt wieder mal ein Jobangebot. Klaus juckelt nach Hohenschönhausen. Sechs Tage die Woche Arbeit, Stundenlohn drei Euro und ein paar Zerquetschte. Macht netto rund 800 im Monat. Wo die Dauerkarte mit der S-Bahn schon über hundert kostet. Da kann er auch gleich zu Hause bleiben. Ein paar Tage später steht sich Klaus im Jobcenter die Füße platt. Ein Mann mit einem müden Gesicht inmitten von entmutigten, wütenden Menschen. "Würde mich nicht wundern, wenn hier mal einer mit 'ner Bombe reinmarschieren täte." +Mehr sagt Klaus nicht. Aber er wirkt in seiner Ruhe unheimlich. Wie hält der Mann den Druck nur aus? Letztes Weihnachten schenken die Tismers Tochter Charleen eine Barbiepuppe. Teuer, sehr teuer, sie reißt ein dunkles Loch in die Haushaltskasse. Aber das Kind freut sich ja so doll. Das macht alles wett. Heiligabend nimmt Tismer seine Dani in die Arme. Er sagt: "Das wird wohl nichts mehr mit dem Verkäufer. Jetzt nehme ich jede Arbeit, die kommt. Ich brauche das." +Ein knappes Dreivierteljahr ist das jetzt her. Klaus Tismer sitzt im Vorgarten und erinnert sich daran, wie alles anfing mit der Arbeit. "Als Junge wollte ich immer Spaß haben, auf der Straße bolzen, Wilmersdorf unsicher machen. Was halt die Lauser für Dinger drehen. Ordentlich Geld wollte ich verdienen." Als die Schulzeit zu Ende ging, machte er einen Test bei der Post. Er war ziemlich vorwitzig und hatte eine große Klappe. Also, der Test: Alles lief gut, eine letzte Aufgabe, lächerlich leicht. Er guckte sich den Fragebogen an und sagte zum Tester, das sei wohl nicht dessen Ernst, ihn mit so einem Kinderkram zu behelligen. Ist aufgestanden und gegangen. Hat sich einen Job in einem Kaufhaus besorgt. Nicht mal förmlich beworben hat er sich. Ist einfach hin, hat gefragt, ist sofort genommen worden. Wegen der großen Klappe, klar. Der Tismer konnte den Eskimos Eismaschinen andrehen. +Drei Verkäuferstellen waren damals frei: Autozubehör. Hobby-Heimwerker. Elektrogeräte. Keine Frage – er nahm den Job, in dem es die größten Provisionen gab. Richtig gut hat er damit verdient. Hat die Provisionen mit den zwei älteren Kollegen in einen Topf geworfen, dann gab es keinen Knatsch. "Ich mag das: den Kunden was verkaufen. Da mache ich das, was ich am besten kann – ich quatsche. Ich habe richtig viel verdient, ich habe das meiste auf den Kopf gehauen. Ich war mal wer." +Nach den Kaufhäusern kamen die Discounter. War auch nicht so übel. Da musste er nicht mehr den Immerfreundlichen mimen, konnte die Kunden auch mal anblaffen. Denn er, Klaus Tismer, hatte die Argumente für sich. Er war der Billigste. Verkaufte und verkaufte und verkaufte. Und merkte nicht, was auf ihn zukam. Dann die Kündigung. Kein Arbeitslosengeld mehr. Stattdessen das neue Leben der Tismers. +Klaus vergisst das Rauchen. Asche fällt auf die Terrasse. Er erzählt, wie er vor wenigen Wochen, zur WM-Zeit, am Potsdamer Platz als Verkäufer aushelfen sollte. Jeden Tag von zehn Uhr abends bis Mitternacht. Zwei Stunden, kaum Kunden, kein nennenswerter Umsatz. Ob das alles sei, fragte er. Ja, sagte man ihm. Das war also wieder so ein Schuss in den Ofen. Dann erzählt er von einem anderen Probejob. Weiße Ware, wie er sie liebt, gute Kundschaft. Kollegen, die von Tuten und Blasen keine Ahnung hatten. Doch nach drei Tagen wollte man ihn in die Kleingeräteabteilung abschieben – Toaster, Fritteusen, Haartrockner. Da meinte Klaus Tismer, dafür sei er nicht der richtige Mann, bei allem Respekt. Und ging. Das war seine Art, Würde zu behalten. +Regelmäßig erscheint er nun im Jobcenter. "Klaus, du hast mal gesagt, du würdest dich nicht wundern, wenn da mal einer mit einer Bombe reinmarschierte." "Hab ich das?" "Haste." "Ach weißte: Ich bin jetzt schon so lange dabei. Da wirste gelassen. Ich hasse das Jobcenter nicht. Das kann ja nichts dafür. Was ich immer noch nicht abkann, sind die vielen Typen dort, die einen für bescheuert halten, bloß weil man Hartz IV ist. Du gehst da rein – und wirst behandelt wie einer, der nicht schreiben und nicht lesen kann. Aber ich bin nicht dämlich – und ich werde auch nicht dämlich." Klaus Tismer schnuppert. "Ich glaube, ich bin gefordert. Amy riecht 'n bisschen streng." Er steht auf. Kneift die Augen zusammen und erklärt: "Ich bin kein Depp. Und ich lasse mich nicht kaputt machen." +Das ist schon ein komischer Name für eine soziale Zuwendung: Peter Hartz war eigentlich nur der Vorsitzende einer Kommission, die bis 2002 Vorschläge zur Reform des deutschen Sozialsystems erarbeitete. Je nachdem, wie lange man gearbeitet hat, bekommt man zunächst für maximal zwei Jahre Arbeitslosengeld, anschließend das sogenannte Arbeitslosengeld II. Aber, na ja. Die meisten Menschen finden das wohl ein bisschen bürokratisch und sagen deswegen lieber: "Ich bin jetzt Hartz." diff --git a/fluter/das-ist-kein-spass.txt b/fluter/das-ist-kein-spass.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e9f91dcbc0aefd9f147e2e2a2a1a6a9bdcc2fd3d --- /dev/null +++ b/fluter/das-ist-kein-spass.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +"Warum fahren zwei Typen aus Thüringen nach Dortmund?", fragt Schraven, der mittlerweile das gemeinnützige Recherchebüro CORRECT!V leitet. "Das macht alles keinen Sinn. In der Dortmunder Nordstadt ist überhaupt nichts." "Vielleicht war der Mord ein Signal. Ein Symbol, das irgendwer verstehen soll", rät ihm ein Informant. +Also beginnt Schraven zu suchen. Investigative Recherchen sind seit Jahren sein Metier. Was er aufdeckt, sind Verbindungen. Vom Westen in den Osten, zwischen den Nazis in Nordrhein-Westfalen und Thüringen, aber auch ins europäische Ausland, nach Belgien. Damit widerspricht er der Trio-Theorie der Staatsanwaltschaft im NSU-Prozess, die Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe als mehr oder weniger isolierte Täter sieht. +Schraven steigt tief ein in den braunen Dortmunder Sumpf und stößt auf eine funktionierende Terrorzelle der Kampftruppe "Combat 18", die sich als militanter Arm des rechtsradikalen Netzwerks "Blood & Honour" versteht. Er erfährt von Nazis, die in Belgien von einem Offizier mit Waffen und Equipment des Militärs ausgebildet werden. Und er überredet einen ehemaligen Neonazi aus Dortmund, ihm anonym von seiner persönlichen Geschichte zu erzählen. +Doch dann schreibt Schraven all diese Recherchen nicht in einem Artikel zusammen, sondern verarbeitet sie zu einem Comic. "Weisse Wölfe", benannt nach einer Sauerländer Nazi-Band – das Doppel-s im Namen ist Programm –, erzählt nun, wie gemäß Schravens Interpretation alles zusammenhängt. Es ist nicht Schravens erster Comic: 2012 rechnete er in "Kriegszeiten" mit der deutschen Afghanistan-Strategie ab und porträtierte das Leben von Bundeswehrsoldaten am Hindukusch. Unterstützt wurde Schraven damals vom Zeichner Vincent Burmeister. +Diesmal arbeitet er mit dem Zeichner Jan Feindt zusammen, der 2005 mit einem Stück über das Leben von Beduinenfrauen in Israel bereits Comicreportage-Erfahrungen gesammelt hat. Feindts Bilder sind fast ausschließlich in Schwarz-Weiß gehalten, die Stimmung ist düster und kalt, die Seiten sind mit reichlich Nazi-Symbolik ausstaffiert. Harte Kontraste illustrieren eine brutale Welt, die Verwendung von gezeichneten Fotos verweist immer wieder darauf, dass der Comic auf echter Recherche, auf Fakten basiert. +Drei Erzählebenen sind in "Weisse Wölfe" ineinander verschränkt. Da sind zum einen die Szenen, die Schravens Treffen mit Informanten, seine Lektüre von Polizei- und Geheimdienstakten und daraus resultierende Schlussfolgerungen rekapitulieren. Der Staat habe den Terror finanziert und über alles Bescheid gewusst, sagt Schraven. Parallel wird das Leben von Albert S. erzählt: Die etwas holzschnittartige Coming-of-Age-Geschichte eines Punks, der sich mit Türken prügelt und sich eines Tages den Iro zur Glatze rasiert. Wie im flackernden Licht eines Stroboskops gewährt der Comic so schlaglichtartig Einblick in eine Welt, die den meisten Menschen sonst fremd und verschlossen bleibt. +Und dann sind da noch die Turner-Tagebücher, die als lose und eng von Hand beschriebene Seiten dem Erzählten einen mutmaßlichen Rahmen verleihen. Der Amerikaner William L. Pierce veröffentlichte sie 1978 unter dem Pseudonym Andrew Macdonald, mittlerweile haben sie als eine Art Anleitung für den "Rassenkampf" Kultstatus in der rechten Szene erlangt. Beschrieben wird darin der "führerlose Widerstand" in winzigen Terrorzellen: Der Anschlag sei die Botschaft an die Gleichgesinnten, das Motiv die Message. Die Tagebücher gelten als Vorlage für militante Neonazis und waren es laut dem Bundeskriminalamt auch für den NSU. +Um diesen Zusammenhang geht es auch dem Autor, um "die Kommunikation der Tat". Jeder Brandanschlag, jeder Mord, sagt Schraven, sei eine Nachricht an die anderen Terrorzellen, die andernorts autark agieren. "Die warten darauf, dass sich die Brände verdichten, damit sie den großen Anschlag planen können." +All das zu lesen ist kein Spaß, und das ist gut so. "Weisse Wölfe" ist ein Blick in den Abgrund, der aufrütteln und erschrecken, ja abstoßen soll. Anfangs mögen die Zeichnungen noch glauben machen, all das sei bloße Fiktion. Doch diese Schutzvorstellung wird am Schluss brutal entlarvt. Dann, wenn das Bild aufzoomt – und alle Orte in Deutschland zeigt, die Teil sein könnten ebenjener geheimen symbolischen Kommunikation. diff --git a/fluter/das-ist-mir-ein-wenig-zu-privat.txt b/fluter/das-ist-mir-ein-wenig-zu-privat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3d9f0d1ece4ba02e4defa34fe0752fb31fa9eb23 --- /dev/null +++ b/fluter/das-ist-mir-ein-wenig-zu-privat.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Schließlich setzte sich auch in England die Überzeugung durch, dass der Staat mit einem öffentlichen Sektor nicht nur für glücklichere Bürger, sondern auch für Wirtschaftswachstum sorgen kann. Nach 1945 verstaatlichte die britische Labour-Regierung Schlüsselindustrien und Stromwirtschaft. +Bis es – zwei Ölkrisen und einen riesigen Schuldenberg später – in den 1980er- und 1990er-Jahren zu einem radikalen Wandel kam: "Die Briten haben sich vom Sozialismus verabschiedet", ­verkündete Margaret Thatcher bei ihrem ersten Wahlsieg 1979. Die konservative Premierministerin, die "Eiserne Lady" genannt, sorgte für umfassende Privatisierungen wie der des Energiesektors 1989, zudem hielten neue Arten der Steuerung in den öffentlichen Sektor Einzug: Vertragsmanagement, Ergebnis-Orientierung, Dezentralisierung – das waren die betriebswirtschaftlichen Zauberwörter jener Zeit. +Weg vom trägen Wohlfahrtsstaat hin zum effizienten "schlanken Staat", so lautete auch bald das Motto im wiedervereinigten Deutschland. Dort kur­belte vor allem die Europäische Union die Privatisierungen im kommunalen Raum mächtig an. Auf dem gemeinsamen Binnenmarkt sollten nämlich bei öffentlichen Ausschreibungen alle Un­ternehmen unter gleichen und fairen Bedingungen mitmachen können; weder staatliche Monopole noch Subventionen sollten einige Auserwählte besserstellen. Dumm gelaufen für die Stadtwerke: Das an eine EU-Richtlinie angelehnte Energiewirtschaftsgesetz von 1998 stärkte ­besonders Energiekonzerne wie RWE, EnBW und Vattenfall, der Marktanteil der Stadtwerke hingegen schrumpfte. Im Gegensatz zum Strom blieb die Wasserversorgung oftmals bei den Kommunen, allerdings nahmen die Wasserwerke vielerorts Großunternehmen als Aktionäre an Bord. +Die ambitionierten Pläne gingen leider nicht überall auf. "Es gab einige Privatisierungen, die funktioniert haben, andere, die nicht funktioniert haben. Sei es, weil man den falschen Partner ausgewählt hatte, ihn nicht richtig überwachte oder die Kriterien ungenau formuliert hat", sagt Martin Burgi, Staatsrechtler an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Hellmut Wollmann, emeritierter Professor für Verwaltungslehre an der Humboldt-Universität zu Berlin, schrieb in einem Aufsatz (PDF), dass Untersuchungen nahelegten, "dass der kommunale Sektor in der effizienten ­Erbringung öffentlicher Dienstleistungen dem privaten Sektor ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen ist". +Das ­gelte gerade für die immer wichtiger werdenden grünen Techno­logien: "Die kommunalen Betreiber haben mehr ­Erfahrungen und daher eine deutliche Stärke im Umgang mit Tech­niken für erneuerbare Energien." Ein weiteres Argument der Kommunalisierungsbefürworter ist, dass die Bürger von Über­schüs­sen profitieren könnten: Die werde ein kommunales Stadtwerk eher als ein rein marktgesteuertes Unternehmen in die Qualität und einen günstigen Verbraucherpreis stecken oder auch dafür nutzen, die Umwelt zu schützen. Das Geld bleibe in der Region. +Auf der anderen Seite läuft es auch in kommunaler Hand nicht automatisch rund. Korruptionsskandalewie beim Kölner Abfallentsorger AVG zeigen, dass auch eine Versorgung in mehrheitlich öffentlicher Hand zu eigenen Vorteilen ausgenutzt und zum Spielball der Politik werden kann +Ob nun rein private Anbieter, die Stadtwerke oder Mischformen den Job besser machen, lässt sich nicht genau ­sagen. Wissenschaftler untersuchen eher Einzelfälle. Dennoch läuten bei vielen Bürgern und Politikern die Alarmglocken, wenn Privatisierungen im Gespräch sind. Woran liegt das? Staatsrechtler ­Burgi ist sich sicher: Die Finanzkrise ist schuld. "Sie hat das Vertrauen in Märkte und Private erschüttert, über die Parteien hinweg", erklärt er. "Die Region – die Stadt – wirkt hingegen berechenbarer." +In Berlin befindet sich seit Jahren ein kommunales neues Stadtwerk in Gründung. Vielerorts treten Bürger­initiativen dafür ein, dass Teile der Daseinsvorsorge wieder direkt von den Kommunen übernommen werden, also die Grunddienste einer Stadt in den Bereichen Energie, Wasser, Abwasser sowie Verkehr und Soziales (beispielsweise Krankenhäuser). Kommunalisierungen feiern ihr Comeback, besonders im Energiesektor: Ein Teil der auf 20 Jahre begrenzten Verträge – sogenannte Konzessionen – mit Versorgungsunternehmen für Strom und Gas läuft nämlich gerade aus. Zahlreiche Kommunen können dann erneut entscheiden, wer den Job machen soll. Laut dem Verband kommunaler Unternehmen e. V. haben seit dem Jahr 2007 inzwischen 234 Kommunen die Konzessionen ihrer Strom- und Gasnetze wieder selbst in die Hand genommen, und über 140 Stadtwerke wurden seit 2005 neu ­gegründet. +Erst im Juli dieses Jahres sprachen sich über 70 Prozent der abstimmenden Augsburger gegen eine Fusion der Energiesparte der Stadtwerke mit Erdgas Schwaben aus, die von ihren Gegnern als "Weg in die Privatisierung" bezeichnet wurde. "Die Leute glauben diesen neo­liberalen Irrsinn nicht mehr, dass wir unbedingt Wettbewerb und Konkurrenz brauchen und dass Privatisierungen, ­Fusion und Größerwerden die einzigen Lösungen darstellen", unterstreicht Bruno Marcon, Sprecher der Bürgerinitiative "Augsburger Stadtwerke in Augsburger Bürgerhand". +Es scheint so, als sei die Idee der Versorgung durch die eigene Stadt heute so erfrischend wie vor rund 600 Jahren – als die erste Wasserleitung in Augsburg in Betrieb ging. +Sabrina Gaisbauer ist Referentin bei der Bundeszentrale für politische Bildung diff --git a/fluter/das-koennte-euch-so-gefallen.txt b/fluter/das-koennte-euch-so-gefallen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e6f089c69b0082fc05b2b6afa3d91605e0b0097d --- /dev/null +++ b/fluter/das-koennte-euch-so-gefallen.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Dass dieser Geist noch wach ist, liegt auch daran, dass Gorleben auch mehr als drei Jahrzehnte nach der Auseinandersetzung im Wald nach wie vor als Endlagerstandort im Gespräch ist. Außerdem rollen in regelmäßigen Abständen Züge mit Castor- Behältern durch den Landstrich, um den hochradioaktiven Müll in eine oberirdische Halle unweit des Bergwerks zu bringen. Daher hat der Widerstand der Bürger aus der Umgebung in all den Jahren nicht nachgelassen – ganz im Gegenteil. "Wir sind professioneller geworden", sagt Ehmke, der als Pressesprecher der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg die Protestarbeit vorantreibt. Dafür wühlt sich der 63-Jährige manchmal nächtelang durch wissenschaftliche und politische Dokumente, beantwortet die unzähligen Presseanfragen und überlegt sich publikumswirksame Aktionen, um Mitstreiter zu mobilisieren: gegen das Endlager, gegen die Castortransporte, gegen die Atomkraft. Die Unterstützung der Nachbarn ist der Initiative sicher. Klar, wer will schon in der Nähe einer radioaktiven Müllkippe leben? Auch die Kommunalpolitiker nicht, die sich seit Langem geschlossen und parteiübergreifend auf die Seite der Aktivisten stellen. "Ohne diese Bürgerinitiative wäre der Wandel in der Atomkraftdebatte nicht möglich gewesen", so die selbstbewusste Einschätzung Ehmkes. +Nicht nur in Gorleben stimmen die Menschen in Gedanken das Wendland-Lied an. Es gibt Tausende unterschiedliche Bürgerinitiativen in allen Winkeln der Bundesrepublik. Der Protest ist salonfähig geworden und in Deutschland längst kein rein linkes Phänomen mehr. Die Bürger kämpfen gegen ausufernde Gewerbegebiete oder Windkraftanlagen, verhindern neue Tiefgaragen, erhalten Stadtteilbüchereien und lassen mancherorts Pläne für den fünften Discount-Supermarkt im Ort platzen. In ländlichen Gebieten engagieren sich Tierliebhaber jahrelang dafür, Fröschen und Eidechsen eine sichere Passage über neu verlegte Schnellstraßen zu ermöglichen. Und wenn eine Gemeinde nachts plötzlich die Laternen ausschaltet, um Kosten zu sparen, sollte sie die Rechnung nicht ohne ihre Bewohner gemacht haben: Nachdem im vergangenen Winter eine Zeitungsausträgerin der Kleinstadt Ottobeuren bei Augsburg auf ihrem Arbeitsweg in völliger Dunkelheit auf Glatteis gestürzt war, sammelte sie 1.100 Unterschriften und überzeugte damit den Bürgermeister, alle 775 Lampen bis auf Weiteres wieder anzuknipsen. +Manche Bürgerbewegungen erregen deutschlandweit Aufsehen, wie jene in Hamburg, die eine geplante Schulreform, bei der die Schüler bis zur siebten Klasse gemeinsam lernen sollten, gekippt hat. Und Berliner haben kürzlich den Senat dazu gedrängt, umstrittene Verträge mit dem örtlichen Wasserversorger offenzulegen. Markus Henn, einer der Sprecher des "Berliner Wassertisches", war einer von Dutzenden Aktivisten, die die Hauptstädter bis zum Volksentscheid über die Ziele und Fortschritte der Initiative aufgeklärt haben. "Außerdem haben wir es geschafft, viele große Institutionen und Vereine für unsere Sache zu gewinnen", nennt der 30-Jährige ein wesentliches Erfolgsrezept. Kleingartenvereine, Mietergesellschaften und auch die Verbraucherzentrale machten in der Folge ordentlich Stimmung gegen die geheimen Absprachen von Politik und Wirtschaft. +Ähnlich populär war der Protest einer Gruppe von Studenten und Jungpolitikern, die in diesem Sommer die Münchner Kultkneipe "Schwabinger 7" vor der Abrissbirne bewahren wollten. Trotz der breiten Zustimmung schlug der Rettungsversuch fehl, immerhin aber sind die Bayern damit wieder mal ihrem Ruf gerecht geworden, besonders engagiert für ihre Ziele einzutreten. So häufig wie in keinem anderen Bundesland stellen die Menschen dort Beschlüsse der großen und kleinen Politik infrage und gründen Bürgerinitiativen. Rund 1.800 Bürgerbegehren hat es in dem Freistaat seit 1995 gegeben, etwa 1.000 davon sind schließlich zur Abstimmung gebracht worden. Die Saarländer hingegen haben seit 30 Jahren laut Informationen des Vereins Mehr Demokratie weder einen echten Bürgerentscheid durchsetzen können noch einen Volksentscheid, bei dem landespolitische Themen zur Abstimmung stehen. Das könnte allerdings auch an den eher strengen Voraussetzungen liegen, die dort für den institutionellen Protest gelten. Die Regeln sind nämlich in jedem Bundesland anders. In Hamburg etwa ist es für Bürgerinitiativen viel einfacher als in Nordrhein-Westfalen, wo beim Bürgerentscheid mindestens 20 Prozent der Wahlberechtigten abstimmen müssen, damit die Wahl gültig ist. Viele Bürgerinitiativen scheitern quer durch die Republik spätestens an dieser Hürde – an dem sogenannten Quorum. So auch der Verein Pro Nizzabad in Velbert bei Düsseldorf. Ein Jahr lang hat die Initiative für den Erhalt eines Freiluftbeckens gekämpft, nachdem die Mehrheit im Stadtrat die Schließung durchgesetzt hatte. Obwohl beim Bürgerentscheid rund 87 Prozent der Velberter ebenfalls für das Freibad waren, bleibt es geschlossen, weil das Quorum um rund 1.500 Stimmen unterschritten wurde. "Solche Regeln, die die direkte Demokratie behindern, sollte man abschaffen", fordert Dietger Döhle, Vorstandsmitglied der Initiative. +Eines aber ist in allen Bundesländern gleich: Galten die Bürgerinitiativen noch in den siebziger Jahren nicht nur machtbewussten Kommunalpolitikern als Hort von Querulanten, werden sie heute mit ihren Anliegen ernst genommen. Denn durch sie gelangt der Protest oft erst in die Mitte der Gesellschaft. Wie in Stuttgart. Rund 2.000 Menschen haben sich an einem ganz normalen Montag im Juli auf dem Vorplatz des Stuttgarter Bahnhofs versammelt, um gegen das umstrittene Milliardenprojekt Stuttgart 21 zu demonstrieren. "Es waren aber auch schon mal 100.000", sagt Gangolf Stocker. Der 67-Jährige war bis vor Kurzem noch der Kopf der aktuell wohl bekanntesten Protestbewegung Deutschlands und hat einen großen Anteil daran, dass die "21" in Verbindung mit einer beliebigen deutschen Stadt zum Inbegriff des bürgerlichen Unmuts gegen die Willkür von Behörden und intransparente Entscheidungen in Politik und Wirtschaft geworden ist. +Als "Wutbürger" hat die Presse die Stuttgarter tituliert, dabei hat die allwöchentliche Montagsdemonstration – wie die meisten der 83 zuvor – eher den Charakter eines Volksfestes: bunte Kostüme, Musik, Feierabendstimmung. Stocker schüttelt an diesem Abend viele Hände – von jungen Menschen und älteren, von Sympathisanten im Anzug und Mitstreitern mit provokantem T-Shirt-Aufdruck. "Wir haben hier den Querschnitt der Bevölkerung", betont er. Darunter auch das Großbürgertum, das laut Stocker für Glaubwürdigkeit und ein seriöses Image der Demonstranten stehen soll. 15 Jahre hat sich Stocker für den Erhalt des Kopfbahnhofes aufgerieben. Die einst so medienwirksamen Montagsdemos haben aber nicht mehr die gewünschte Außenwirkung, meint einer seiner Weggefährten. Und laut einer aktuellen Umfrage der Stadt befürwortet die Mehrheit der Stuttgarter inzwischen wieder einen Neubau unter der Erde. "Wir waren schon häufiger in schwierigen Situationen", gibt sich Stocker kämpferisch. Und erinnert an die oberste Regel einer jeden Protestbewegung: Immer dran bleiben an der Sache! +Es ist ein wiederkehrendes Ritual: Sobald die Atommülltransporte in die Zwischenlager durch das Land rollen, demonstrieren Atomkraftgegner mit Sitzblockaden, um den Zug mit den Castorbehältern aufzuhalten. Manche ketten sich an die Gleise, andere betonieren sich ein. Zwar gelingt es der Polizei am Ende doch immer, die Demonstranten von den Gleisen zu tragen, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit ist den Demonstranten dennoch sicher – eine Strafanzeige allerdings häufig auch. Bei Studenten ist die Sitzblockade in Hörsälen ein ebenso beliebtes Mittel, um den Unibetrieb gehörig ins Stocken zu bringen, wenn sich ihr Zorn mal wieder gegen Studiengebühren oder die Bologna-Reform richtet. diff --git a/fluter/das-kommt-davon.txt b/fluter/das-kommt-davon.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/das-kommt-mir-katalanisch-vor.txt b/fluter/das-kommt-mir-katalanisch-vor.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..251e64a6402514072ff03550328df1fbdbf070df --- /dev/null +++ b/fluter/das-kommt-mir-katalanisch-vor.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Das Wort "Spanien" im Satz war das Problem. Wer in diesen Monaten an die Costa Brava in Spaniens Region Katalonien fährt, macht sich vorher besser bewusst: Viele Katalanen streben nach Unabhängigkeit von Spanien. Am 9. November soll nach dem Willen der Regionalregierung eine Volksbefragung darüber stattfinden, für die selbst Bayern-München-Trainer Pep Guardiolaim Juni auf dem Berliner Alexanderplatz trommelte– im Rahmen einer europaweiten Protestaktion des katalanischen Kulturvereins Òmnium Cultural. +Das nationale Parlament in Madrid und das spanische Verfassungsgericht haben die Abstimmung für unrechtmäßig erklärt. Deshalb ist die Stimmung unter unabhängigkeitsbewegten Katalanen mindestens so aufgeheizt wie das Pflaster der Ramblas an einem Sommernachmittag. Und als nichts ahnender Tourist gerät man schnell zwischen die Fronten. +Der ohnehin verwirrende Schilderwald am Flughafen mit Hinweisen zu Flugsteigen, Ausgängen, Gepäckbändern und mehr ist an Kataloniens Flughäfen noch ein wenig unübersichtlicher, weil dreisprachig: An erster Stelle stehen die Informationen auf Katalanisch (català), dann auf Spanisch und schließlich noch auf Englisch. Der Ausgang ist eine "sortida", "auf Wiedersehen" sagt der Katalane mit "a reveure" oder "adéu". Und "bitte" heißt nicht "por favor", sondern: "si us plau". Wenn eine Flagge mit vier schmalen roten Balken auf gelbem Grund von einem Balkon hängt, handelt es sich um die katalanische "Senyera". Trägt sie zudem ein blaues Dreieck mit einem weißen Stern, handelt es sich um die "Estelada blava", und hinter den Fenstern wohnt wahrscheinlich ein überzeugter Separatist. +"Die Katalanen wollen wählen" – Pep Guardiola im Juni in Berlin. +Tatsächlich wurde das Katalanische in den Anfangsjahren der Franco-Diktatur unterdrückt. Orts- und selbst Personennamen wurden ins Spanische übersetzt, und in den Schulen wurde ausschließlich auf Spanisch unterrichtet. Erst in den 1960er-Jahren begann eine allmähliche Wiederbelebung der katalanischen Kultur. +Die Geschichte der Unterdrückung ist bis heute ein wichtiges Momentum im Unabhängigkeitskampf, in dem Symbole wie die "Senyera" und die Regionalsprache immer stärker in den Vordergrund gerückt sind. Auf dem Dach des Regierungspalastes in der Altstadt von Barcelona weht zwar die spanische neben der katalanischen Flagge. Wer ins Hinterland Kataloniens fährt, sieht aber viele Rathäuser, deren Bürgermeister dieser Pflicht nur unter Protest nachkommen. In Sant Sadurní d'Anoia, wo die erfolgreiche Sektkellerei Freixenet beheimatet ist, weist neuerdings ein Schild am Rathausportal darauf hin, dass die spanische Flagge einzig aufgrund der gesetzlichen Vorschriften dort weht. +Die Auseinandersetzung mit Madrid hat sich spürbar verhärtet. Besonders seitdem das regionale bürgerliche Parteienbündnis CiU – in Sachen Katalonien eher gemäßigt nationalistisch – bei den Wahlen 2012 zahlreiche Stimmen einbüßte und auf die Unterstützung der erstarkten ERC (Republikanische Linke Kataloniens) angewiesen ist, die sich radikaler für die Unabhängigkeit einsetzt. Umfragen zufolge würde eine Volksbefragung derzeit nur knapp die Mehrheit für eine Loslösung von Spanien verpassen. Inzwischen pochen aber 70 bis 80 Prozent der Bewohner eigensinnig darauf, dass sie zumindest selbst über ihre Zukunft bestimmen dürfen. +Viele Katalanen hätten sich erst aufgrund der starren Haltung in Madrid radikalisiert, ist Fernando Rodés Vilà, Vize der Kommunikationsagentur Havas, überzeugt. Straßenschilder und Reklametafeln sind fast ausschließlich auf Katalanisch beschriftet. Selbst Niederlassungen ausländischer Unternehmen, von denen es in Katalonien mehr als 5.000 gibt (darunter gut 900 mit deutschem Mutterkonzern), müssen Werbung und Produktinformationen auf Katalanisch verfassen und mit den Behörden vor Ort in dieser Sprache kommunizieren. +Im Rest des Landes haben die Katalanen, die auf Eigenständigkeit pochen, naturgemäß wenig Freunde. Beim Sektkonzern Freixenet – übrigens Gegner einer Abspaltung Kataloniens – klagt man bereits darüber, dass der Cava in anderen Regionen Spaniens gemieden werde. Die Weinkellerei Torres, ebenfalls aus Katalonien, hat aufgehört, bei Akquisitionen von Weingütern den Namen Torres zu erwähnen, und engagiert sich als Sponsor bei der olympischen Kandidatur von Madrid, um unter anderem ihren Verkäufern den Vertrieb außerhalb Kataloniens zu erleichtern. +Das Streben nach Eigenständigkeit hat neben kulturellen auch wirtschaftliche Gründe. Katalonien erwirtschaftet rund 20 Prozent des spanischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) und führt im Rahmen des Finanzausgleichs pro Jahr 15 bis 16 Milliarden Euro nach Madrid ab. Das sind rund acht Prozent des regionalen BIP. Zum Vergleich: Bayern zahlte 2013 rund 4,3 Milliarden Euro in den deutschen Länder-Ausgleichstopf. +Vier Prozent hielte Kataloniens Wirtschaftsminister Andreu Mas-Colell für vertretbar. "Alles, was darüber hinausgeht, müsste durch andere Vorteile kompensiert werden", sagt der 70-Jährige, der lange Jahre an der Harvard-Universität unterrichtete und zu den weltweit renommiertesten Wirtschaftsmathematikern zählt. Bei der Förderung der Sprache und Kultur zum Beispiel. Eine mögliche Lösung wäre auch, dass Katalonien ähnlich wie das Baskenland seine Steuern selbst einzieht und erst im Anschluss einen Teil davon nach Madrid abführt. Da wäre also Spielraum für Verhandlungen. +Darauf setzen in Katalonien neben den gemäßigten Nationalisten vor allem Vertreter ausländischer Unternehmen, die wegen des Risikos eines EU-Ausschlusses höchst verunsichert sind. "Wenn Katalonien nicht mehr in der EU ist, ist es zweifelhaft, dass der Euro die offizielle Währung bleibt. Es gibt keine Finanzierung durch die Europäische Zentralbank mehr, auch keinen freien Verkehr der Arbeiter, Waren, Dienstleistungen und des Kapitals", heißt es in der sogenannten "Erklärung von Barcelona". Sie zählt nach Angaben der überwiegend deutschen Initiatoren inzwischen rund 400 Unterschriften. +Große Hoffnungen ruhen nun auf dem Vermittlungsgeschick des neuen Königs Felipe. Dann müssten auch Touristen nicht vor Reiseantritt einen Diplomatiekurs belegen. Dennoch: Mit "Catalunya es muy bonita" ist man auf jeden Fall auf der sicheren Seite. +Karin Finkenzeller war von 2004 bis 2007 Korrespondentin der Financial Times Deutschland in Spanien. Seit 2008 arbeitet sie als freie Wirtschaftsjournalistin in Paris und reist regelmäßig für Reportagen – insbesondere über die Wirtschaftskrise – nach Spanien. diff --git a/fluter/das-kreuz-mit-dem-essen.txt b/fluter/das-kreuz-mit-dem-essen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dc3effe55d160253f02b8a28b0998429ce3a05ab --- /dev/null +++ b/fluter/das-kreuz-mit-dem-essen.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Halal-Fleisch ist Pflicht, falls du dich dem Islam zuwenden willst. Halal heißt "erlaubt". Das Gegenteil davon (haram) ist Schweinefleisch und Fleisch, das nicht korrekt geschächtet wurde, also bei der Schlachtung nicht komplett ausgeblutet ist. Es gibt weltweit Imbisse, die sich Halal auf die Glastür schreiben: Halal Fried Chicken!Verboten ist neben Schweinefleisch zum Beispiel auch Alkohol. Der Koran fordert eine abwägende Haltung. Es ist verboten, Alkohol zu trinken, jemanden vom Alkoholgenuss abzuhalten, könnte aber auch eine Sünde darstellen, wenn dies mit einer Kränkung des Trinkers einhergeht. Wer sichergehen will, nichts falsch zu machen, kann als Muslim auch die umfangreichen Koscher-Gesetze des Judentums befolgen. +Koscher sind Gerichte, die entsprechend der Kashrut (jüdische Ernährungsgesetze) als reinund erlaubt gelten. Als praktizierender Jude gilt es, nur Tiere mit gespaltenen Hufen und Wiederkäuer-Magen zu essen, zum Beispiel Rinder, Schafe und Ziegen. Raubtiere dürfen ebenso wenig verspeist werden wie Meerestiere ohne Schuppen und Flossen. Streng verboten sind demnach Austern, Krabben, Aale und Muscheln. Gemüse, Reis und Kartoffeln gelten im Judentum als neutrale Lebensmittel (Parve) und dürfen verzehrt werden, kombiniert mit Milch- oder Fleischprodukten, aber nie mit beidem zusammen. Eine zentrale Vorschrift der Kashrut ist nämlich, Milchiges und Fleischliches strikt voneinander zu trennen: Cheeseburger und Rahmschnitzel sind tabu! Wenn deine Küche streng jüdisch sein soll, braucht sie verschiedene Topfsets, eines für Milchspeisen, ein anderes für Fleisch. +Im Buddhismus mangelt es an definitiven Essregeln, auf einen Anweisungskatalog musst du verzichten. Klar ist aber: Nach buddhistischer Ethik sind alle Lebewesen gleichermaßen zu achten. Eine ausgewogene, verantwortungsbewusste Ernährung nach eigenen, moralisch einwandfreien Kriterien gilt als buddhistisch. Die meisten Buddhisten leben vegetarisch. diff --git a/fluter/das-land-hinter-den-news.txt b/fluter/das-land-hinter-den-news.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a73d3ae10f0c8a6eb2d7ed1ce5536c14c1e2eb1f --- /dev/null +++ b/fluter/das-land-hinter-den-news.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Mina (Farzana Nawabi) ist 12 Jahre alt und lebt in Kabul. Ihr Vater ist opiumsüchtig, ihre Mutter wurde von den Taliban umgebracht. Vollkommen auf sich allein gestellt muss Mina ihren schwer kranken Großvater versorgen, ihm Wasser holen und Essen kochen. Um Geld zu verdienen, verkauft sie Trödel auf den geschäftigen Märkten in Kabul. Nebenbei geht sie gegen den Willen ihres Vaters zur Schule, um eine bessere Zukunftsperspektive zu erhalten. All diese Aufgaben bewältigt Mina mit großem Ehrgeiz und Mut. Erst als ihr Großvater stirbt, gerät Minas Welt aus den Fugen. +Der kanadisch-persische Regisseur Yosef Baraki hat "Mina Walking" im Stil einer Reportage gedreht. Er hat das Leben auf den Märkten, die Mädchen in den Schulen und die Menschen in den ärmlichen Häusern gefilmt. Der Regisseur hat den Film unter schwierigsten Bedingungen gedreht und musste seine Kamera während des Drehs versteckt halten. +Durch den Einsatz von Schauspielern verliert der Film kein Stück seiner Authentizität. Die minimalistische Rahmenhandlung begleitet die Hauptfigur Mina nur sieben Tage durch ihr Leben . Trotzdem fesselt der Film den Zuschauer durch seine eindrucksvollen Aufnahmen und die politische Aktualität der Themen Bildung, Religion und Emanzipation. +"Mina Walking" ist ein mutiges Porträt über das Leben eines Mädchens im destabilisierten Afghanistan. In 125 Minuten erhält der Zuschauer einen profunden Einblick in den afghanischen Alltag. Minas Courage weckt die Hoffnung, dass es eine bessere Zukunft für Afghanistan gibt.Zwar herrscht nach wie vor das islamische Patriarchat, doch durch Bildung und Wahlen erhalten Frauen immer mehr Selbständigkeit. Damit liefert "Mina Walking" das, was die Berichterstattung aus Afghanistan meist nicht vermag: Ein progressives Bild von Afghanistan. diff --git a/fluter/das-leben-meiner-oma.txt b/fluter/das-leben-meiner-oma.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..21626bda1e4d5f31112ecd41b7ba1f4be01dce21 --- /dev/null +++ b/fluter/das-leben-meiner-oma.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Oma hatte sich auf der Intensivstation die Schläuche abgerissen, sie hatte geschrien und geglaubt, Opfer einer Verschwörung geworden zu sein. Sie hatte nach der Polizei verlangt und aufgehört zu schlafen. Über den Pfleger sagte sie, er sei der Teufel. Und zu Mama: Ich will nicht mehr. Die Vorstellung, dass der Pfleger der Teufel ist, fällt leichter als die Vorstellung, dass Oma schreit. +Sie sitzt da, 88, die Haare neu gemacht, die gute Strickjacke an, sie fragt: Kennst das Lied von dem mit der Mütze? Ötzi heißt der. Einen Stern, singt Oma den Refrain, der deinen Namen trägt, hoooch am Himmelszelt. Mit der linken Hand wippt sie im Takt, am Finger ihr Ehering und Opas Ehering darüber. Vor einer Weile hat sie ihn verkleinern und mit einem Saphir versetzen lassen. Manchmal denk ich dran, was er gern gegessen hat, sagt sie. Mischmasch? Ja. Und Blumenkohl mit Fleisch. Oma muss lachen. Gib mir mal deine Hand. +Malina wischt den Tisch ab, greift die verschränkten Hände, hebt sie hoch, fährt mit dem Tuch unter ihnen hindurch, legt sie wieder ab. So, sagt sie. Jetzt weiter. Oma guckt ihr nach. Weißt, am Anfang hat die Marlene alles verstellt. Töpfe, Schüsseln. Die ganze Küche. Mama würde jetzt sagen: Sie heißt Malina, Mama. +Malina ist 58 und wohnt seit zwölf Wochen hier: Nach der Klinik war Oma acht Wochen im Pflegeheim, sie hatte einen Rollator bekommen und wieder mehr Kraft, aber – ich kann nicht richtig liegen, meine Augen sind schlimm – nicht genug, um länger allein zu leben. Oma wollte nach Hause. Mama wollte, was Oma wollte. Mamas Geschwister wollten das Pflegeheim. Malina war beides: Pflege und zu Hause. Malina war der Kompromiss. Sie kam als Konfliktlösung, bei der sich Fragen stellten: Aus Osteuropa – ist das überhaupt legal? Und was soll so eine 24-Stunden-Betreuung kosten? +Als Malina bei Oma einzog, hatte sie bereits vier Frauen gepflegt, drei in Deutschland, eine in Süditalien. Eine dement, eine tot, sagt sie, mein Mann auch tot, oder: Daheim ist besser. Dort sind ihre Söhne und ihre Schwestern. Aber daheim gibt es keinen Job. Bei der ersten Begegnung stand sie in dem alten Haus im ersten Stock, wo es meistens ein bisschen zu warm ist, und gab Oma die Hand. Ich: Malina. +Sie brachte ihre Koffer in das Zimmer, in dem Opa früher Möbel entworfen hat, am Fenster sein Schreibtisch von damals, im Schrank die kleine Bar. Sie sah sich in der Wohnung um und zeigte auf die Waschmaschine: Warum noch Pulver und keine Tabs? Oma kratzte in der Nacht vor Angst ein Stück Tapete von der Wand. +Mit ihrem Rollator hat sich Oma an den Ort bewegt, der ihr die meiste Geborgenheit bietet: ihr Wohnzimmer. Wie lange quietschen die Dielen zwischen Fernseher und Sessel schon an derselben Stelle? Wie steht man von diesem Sofa wieder auf? Wie die Trägheit hier zu dir kriecht, dumpf macht und benebelt: als drücke die Heizungsluft auf den Verstand. +Omas Raffgardinen sind bestickt und hängen tief. Die Orchideen auf dem Fensterbrett rahmen sie so ein, dass kaum noch Fensterglas zu sehen ist. Das muss so sein, damit die Nachbarn nicht reinsehen können, Oma aber zwischen den Blumen und durch die löchrige Bestickung hinausschauen kann. Oma fand, Malina gieße ihre Orchideen zu oft. Da war Wasser im Untersetzer. Sie fand, die Topfpflanzen draußen auf dem Balkon gieße Malina zu selten. Brottrocken, alle. +Kennst die schon?, fragt Oma. Sie öffnet den Deckel einer Spieluhr. "Doktor Schiwago". Schön, oder? Wenn man abends so sitzt. +Malina schaut auf die gerahmten Fotos im Regal, Enkel in Farbe, Töchter in Schwarz-Weiß. Das du? Das Teresa. Das auch. Das Flo. Das Jenny. Das Caro. Das, sie dreht sich zu Oma, das dein Mann. Oma nickt. Aus einer Kiste kramt sie Zeitungsausschnitte, Opas Todesanzeige, dann lose Bilder, Hochzeiten, Kinder, Opa als Soldat. Bei einem bleibt Malina hängen, vier Kameraden in Uniform, Opa ist der links. Sie dreht die Aufnahme um und liest vor, was dort steht: 1939. Neunzehnhundertneununddreißig, sagt Malina. Das war Polen? Das war Polen. +Malina will einkaufen, runter zu Rewe, durch den Tunnel und gleich links. Sie zieht ihre Jacke an und den Schal. +Morgen Suppe? Willst du Salat? Feldsalat. Ja. Alles will sie alleine machen, hat Oma mal gesagt. Ich hab's nicht gern, wenn sie sonntags die Wäsche raushängt. Sonntags wäscht man nicht. Manchmal wird sie laut. Sie lässt die Fenster lange auf. +Malina hat ein Polnisch-Deutsch-Wörterbuch mitgebracht. Was bedeutet stur?, hat sie Mama beim Durchblättern gefragt. Mama hat ihr erklärt, wie man das Wort gebraucht. Du bist stur wie ein Esel, hat Malina danach zu Oma gesagt. Malina hat gekichert und Oma auch. Malina ist wendig, sie sucht die leeren Pfandflaschen zusammen, sie fragt: Mehr Bier? Sie läuft von Oma zum Bad zu Oma zum Balkon zu Oma. Jeden Tag geht sie für mich einkaufen, sagt Oma. Jeden Tag. +Jeden Morgen wäscht sie Oma und zieht sie an, erst den Pulli über den Kopf, dann die Hose hoch. Wenn sie ihr die Hausschuhe anzieht, kitzelt sie Oma die Füße, bis sie lacht. Zum Frühstück riecht es dann, wie es immer riecht, nach Filterkaffee und Nusskuchen, nur gibt es zu den Neujahrsbrezeln nicht Hagebutten-, sondern Himbeermarmelade. Mittags schenkt Malina ein wenig Sekt in Omas Wasserglas. Most sagt sie dazu. So geht's gut. Um 19.30 Uhr legt sie das Leberwurstbrot für Oma auf ein Holzbrett und um 20 Uhr Oma ins Bett: Gute Nacht, sagen beide. Tschüss. Und Kuss. +Malina küsst Oma also die Stirn, das muss man schön finden, auch wenn man es traurig findet: Früher war Oma länger wach als man selbst. Sie hat einem das Kissen zurechtgerückt und "Guten Abend, gut Nacht" gesungen, mi-hit Rooo-sen be-da-hacht. +Geht's dir jetzt gut mit Malina, Oma? Aus einer anderen Kiste hat Oma Manschettenknöpfe gekramt. Willste die? Für Damen, ist vielleicht gerade nicht modern, aber vielleicht bald. Sie hat eine goldene Armbanduhr ausgepackt, meine erste, hat sie gesagt, Geld und Eier hab ich dafür gezahlt, nach dem Krieg. 40 Eier. Ja, sagt Oma. Und dass es ihr gut geht jetzt. +Sonst wär ich ja allein, ohne Marlene. Malina steckt den Kopf ins Wohnzimmer. Sie hat das Radio in der Küche aufgedreht. DJ Ötzi läuft, ziemlich laut. Der Stern, ruft sie, komm! +Malina führt Oma in die Küche, sie zieht ihre Jacke wieder aus und den Schal. Sie wippt mit den Hüften, dreht sich um sich selbst, einen Stern, Malina singt den Refrain, sie nimmt Omas Hände in ihre, der dei-nen Na-men trägt, hoooch am Him-mels-zelt. Oma tanzt. Den schenk ich dir heut Nacht. diff --git a/fluter/das-leben-und-der-tod.txt b/fluter/das-leben-und-der-tod.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8c7f6577fa154c21034aae43c3a685e6757a1a56 --- /dev/null +++ b/fluter/das-leben-und-der-tod.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +In Rio de Janeiro (über 6 Mio. Einwohner) fand das bestbesuchte Fußballspiel aller Zeiten statt: 173.900 Zuschauer sahen das WM-Finale 1950 im Maracanã-Stadion. Jedes Jahr soll fast eine Million Besucher zum Karneval in die Stadt kommen. Es gibt mehr als 50 Kilometer Strand und 270 verschiedene Kletterrouten auf den Zuckerhut und die beiden Nachbargipfel. +Ihr gesamtes Leben hat Renata in Favelas gewohnt, wo das Leben und der Tod so eng beieinander liegen wie die Hütten, in denen die Menschen hausen. Erst im April verblutete neben ihr der zehn Jahre alte Eduardo, ein Nachbarskind. Er trug nichts als eine Badehose, in seinem Kopf steckten drei Kugeln. Erstmals hat die Polizei eingeräumt, dass ein unbewaffnetes Opfer von einem Polizisten getötet wurde und Untersuchungen aufgenommen. +Sieben Jahre ist es her, dass die Stadt Rio de Janeiro beschloss, die Drogendealer aus den Favelas zu vertreiben. 2010 stürmten bis zu 2.600 Polizisten und Soldaten den Complexo do Alemão. Viele Dealer kamen ins Gefängnis, andere tauchten unter. In den Straßen patrouillieren seitdem die Polizisten einer Sondereinheit, die eigens zur Bekämpfung der Drogenbanden gebildet wurde. Kurz vor der Fußball-Weltmeisterschaft im vergangenen Jahr verkündete die Stadt, die Favelas seien "befriedet". Doch ist ein Viertel befriedet, wenn es von Polizisten besetzt ist? +Renatas Mutter war früher Hausmädchen, ihren Vater hat sie nie kennengelernt. Die Familie hatte keine Krankenversicherung, zur Schule gingen die Kinder nicht oft. Von ehemals acht Geschwistern leben nur noch fünf. Eine Schwester starb an einer Hirnblutung, ein Bruder ertrank am Strand von Ipanema, ein anderer Bruder wurde 1994 bei einer Razzia umgebracht. Angst war für Renata alltäglich, bis sie sich entschied zu kämpfen. Seit eineinhalb Jahren gehört sie Papo Reto ("Klartext") an, einem Kollektiv aus Bürgerjour­nalisten. Die etwa 100 Aktivisten fotografieren ­Tatorte, filmen Polizeieinsätze, schreiben darüber und veröffentlichen alles im Internet. Sie berichten von den Gefechten zwischen den Dealern, weil sich keine Journalisten mehr in die Favela trauen. Unterstützt wird Papo Reto von Witness, einer Nichtregierungsorganisation, die 1992 unter anderen vom britischen Musiker Peter Gabriel gegründet wurde. Sie bezahlt Smartphones, Kameras, Computer. Nun hat Witness Papo Reto nach New York eingeladen. Zum ersten Mal in ihrem Leben wird Renata dann Rio verlassen. "Ich werde in New York ­andere Leute kennenlernen, die für Menschenrechte kämpfen", sagt sie. "Das gibt mir Kraft zum Weitermachen. Es zeigt, dass es sich lohnt zu kämpfen." Denn eines Tages soll ihre Tochter angstfrei durch die Straßen des Complexo do Alemão gehen. +Hier werden die Missstände dokumentiert: www.facebook.com/ColetivoPapoReto diff --git a/fluter/das-macht-mich-krank.txt b/fluter/das-macht-mich-krank.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ed4d0b5d21a862e28f0cd8a0bd0b222721caff24 --- /dev/null +++ b/fluter/das-macht-mich-krank.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Forscher haben Impfstoffe gegen die gefährlichsten HPV-Typen 16 und 18 entwickelt, die seit knapp sechs Jahren auf dem Markt sind. Die Ständige Impfkommission am Robert Koch-Institut empfahl 2009 Mädchen zwischen 12 und 17 Jahren die Impfung, Frauenärzte warben dafür. Voll wirksam ist die Impfung aber nur, wenn man noch nicht infi ziert ist. Doch nach dem ersten Sex ist das Virus oft schon im Körper. Christian Dannecker glaubt dennoch, dass fl ächendeckende Impfungen die meisten Krebsfälle verhindern würden, die nicht während der Vorsorge entdeckt werden. Doch er warnt davor, nach der Impfung nicht mehr zur Vorsorge zu gehen oder auf Kondome zu verzichten. Der Impfstoff wirkt zwar gegen die Hochrisiko-Typen, aber auch andere HPV-Varianten können manchmal Tumore verursachen. Bisher ist auch unklar, wie lange der Schutz anhält und wie oft nachgeimpft werden muss. +Die HPV-Impfung ist in Deutschland äußerst unbeliebt. Anfangs lag die Impfrate in einigen Bundesländern bei über 50 Prozent, inzwischen lässt sich nur noch etwa jedes dritte Mädchen gegen HPV impfen. Hatten viele Medien die Impfung zunächst überschwänglich als "erste Impfung gegen Krebs" gefeiert, schlug die Stimmung schnell in heftige Kritik um. Berichte über Todesfälle in zeitlicher Nähe zur Impfung verunsicherten Eltern und Mädchen, obwohl sich herausstellte, dass die Impfung nicht die Todesursache war. Frauenärzte mussten lange Gespräche führen, wenn sie die Impfung empfahlen. Das konnten sie sich im Praxisalltag nicht leisten, sie impften fortan nur noch, wenn jemand es ausdrücklich wünschte. +Die meisten HPV-Experten können die harsche Kritik an der Impfung nicht nachvollziehen. "Diese Kritik kam von Leuten, die sich mit HPV nicht auskennen, viele davon sind weder Mediziner noch Biologen. Nach allem, was wir heute wissen, ist die Impfung sicher und wirksam", sagt etwa Andreas Kaufmann von der Berliner Charité. In Studien konnten Wissenschaftler nachweisen, dass die Impfstoffe weit mehr als neunzig Prozent aller HPV-Ansteckungen verhindern, wenn man vor der Impfung noch nicht infiziert war. +Kaufmann weist darauf hin, dass zum Beispiel Australien im Gegensatz zu Deutschland ein großes Impfprogramm aufgelegt hat, Ärzte impfen dort auch an Schulen. Vier von fünf Mädchen nehmen das Angebot zur Impfung zurzeit an, und erste Untersuchungen zeigen, dass deutlich weniger problematische HPV-Infektionen in der geimpften Gruppe auftreten. Und zwar bei Mädchen und Jungen, die dann ihrerseits niemanden mehr anstecken können. +Dass dies auch bei uns passieren wird, ist angesichts der Verunsicherung in der Bevölkerung unwahrscheinlich. Das frustriert nicht nur den Forscher Lutz Gissmann, der wie Nobelpreisträger zur Hausen am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg forscht: "Es ist traurig, dass wir in Deutschland so viel zur Forschung beigetragen haben und sie jetzt kaum nutzen." Das Pro blem sei auch die allgemeine Impfmüdigkeit der Deutschen. Und dagegen können auch die größten medizinischen Entdeckungen nichts ausrichten. Der Medizinnobelpreisträger Harald zur Hausen lässt sich nicht entmutigen. Er fordert inzwischen auch eine Impfung für Jungen, um die Viren auszurotten oder zumindest wirksam einzudämmen. diff --git a/fluter/das-make-up-als-maske.txt b/fluter/das-make-up-als-maske.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2862123e87ea588f427d608a539946857a7870c9 --- /dev/null +++ b/fluter/das-make-up-als-maske.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +So etwa die Tschetschenin Zara Murtazalieva, die mit 20 Jahren in ein russisches Arbeitslager gesteckt wird. Dort müssen die Häftlinge unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten und leben: In einer Baracke schlafen an die 170 Frauen, es gibt nur fünf Toiletten und kein heißes Wasser. Mit einer täglichen Routine gibt sich Zara in dieser Umgebung Halt: aufstehen, das Bett machen, sich waschen, Make-up auftragen. An einem Ort, an dem sie nicht mehr ist als die Nummer, die auf ihre graue Häftlingsuniform genäht ist, helfen Zara der Mascara und eine schöne Frisur dabei, in der Masse der Häftlinge ihre Individualität zu wahren. Zeit und Fantasie auf ihr Äußeres zu verwenden gab ihr das Gefühl, trotz allem die Situation noch ein wenig unter Kontrolle zu haben. +Um das zu erreichen, entwickeln manche Frauen einen erstaunlichen Einfallsreichtum: Die in der DDR inhaftierte Moderatorin Edda Schönherz erinnert sich, wie sie und ihre Mitinsassinnen ihre Haare mit Kaffee gewaschen haben, weil es kein heißes Wasser gab. Butter wurde für die Gesichtspflege verwendet, und aus Schuhcreme improvisierten die Frauen Wimperntusche. Es gibt eine ganze Liste solcher Beispiele: Sowjetische Soldatinnen etwa, die einen Teil ihrer Zuckerration zu Zuckerwasser machen und dieses als Haarfestiger nutzen, oder polnische Gefangene, die sich aus Münzen, Holzstückchen und Wolle "patriotischen Schmuck" basteln. +Im Verhalten dieser Frauen sieht die Psychologin Elisabeth Jupiter, die im Buch in einem Interview zu Wort kommt, auch den Wunsch nach Normalität. Schönheitsrituale, die im Leben vor der Gefangenschaft, vor dem Krieg normal waren, lassen hoffen, dass es wieder normal werden könnte. Gleichzeitig bietet die Schminke auch Schutz vor den Blicken der feindlichen Umwelt. Das Make-up wird zur Maske, die Zeichen von Angst, wie etwa Blässe, vor anderen verbirgt. +Im sozialistischen Rumänien geriet die spätere Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller ins Visier des Geheimdienstes, weil sie sich weigerte, für diesen zu arbeiten. Regelmäßig musste sie zu Verhören gehen, für die sie sich immer gut kleidete und schminkte: "Dem Geheimdienstler wollte ich damit sagen, du hast mich noch nicht fertig gemacht. Ich lass mich nicht unterkriegen. Mit Worten konnte man das ja nicht tun. Das tat dann die Kleidung." +Sich nicht regelkonform zu kleiden kann gar zu einem mutigen Akt des Protests werden. Wie bei der Algerierin Yasmina Taya, die nie ein Kopftuch trug, selbst dann nicht, als während des Bürgerkriegs unverschleierte Frauen immer häufiger Opfer von Gewalt wurden. Taya musste in dieser Zeit Beschimpfungen – auch von Frauen – über sich ergehen lassen, wenn sie sich außerhalb ihrer Wohnung westlich gekleidet und mit offenen Haaren zeigte. Klein beigegeben hat sie nicht. +Mit ihrem Thema ist Schroeder häufig auf Unverständnis gestoßen. Wenn sie etwa Freunden die Geschichte einer Französin erzählte, die im nationalsozialistischen KZ ihre wöchentliche Margarineration als Antifaltencreme verwendete, fanden die meisten dieses Verhalten unangebracht. +Dabei wird unterschätzt, welch enormen Effekt ein gepflegtes Äußeres auf die innere Verfassung haben kann. Es ist kein Zufall, dassder Lippenstift-Verkauf in Krisenzeiten steigt: Rote Lippen signalisieren Sinnlichkeit, und Sinnlichkeit bedeutet Leben. Das Auftragen von Lippenstift wird zu einer kämpferischen Geste – gegen die Misere, gegen Resignation, gegen den Tod. diff --git a/fluter/das-mass-aller-dinge.txt b/fluter/das-mass-aller-dinge.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/das-meer-brennt.txt b/fluter/das-meer-brennt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..db2fc45974fa82891b7328013d521a00e906cb9b --- /dev/null +++ b/fluter/das-meer-brennt.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Die Insel, die viel näher an Afrika als an Europa liegt, aber zu Italien gehört, ist längst zum Symbol geworden für all die Tragödien, die sich seit einigen Jahren in Mittelmeer abspielen. Hier brennt das Meer – was "Fuocoammare", der alte Schlager, den sich Oma Maria oft wünscht, wörtlich übersetzt bedeutet. +Im Zentrum von Gianfranco Rosis aufwühlender Dokumentation, die jetzt mit dem Titel "Seefeuer" in die Kinos kommt, steht der 12-jährige Samuele. Es bastelt gerne Steinschleudern, wird schnell seekrank – was für den Sohn eines Fischers natürlich ein Problem ist – und macht ansonsten, was man halt so macht, wenn man 12 ist. Sein Alltag ist das narrative Rückgrat des Films. Man sieht ihn in der Schule, beim Augenarzt – eines seiner Augen ist blind – und hört, wie er Omas Spaghetti mit Kalamar sehr laut schlürft. Das ist manchmal lustig und auf jeden Fall: unspektakulär. +Eine weitere Hauptperson ist der Arzt Pietro Bartolo. Er ist es meist, der den vielen Flüchtlingen, die auf der Insel ankommen, als Erster hilft. 400.000 seien es in den letzten 20 Jahren gewesen, steht in den Untertiteln zu Anfang des Films. Wenn er davon erzählt, wie sehr ihn seine Arbeit belastet, wenn er all die geschundenen Körper verarztet, und – noch schlimmer – was er mit den Leichen machen muss, dann können einem schon die Tränen kommen. Der Dottore muss den Toten noch Blut abnehmen und Gliedmaßen entfernen. Finger bei Frauen, Ohren bei Kindern. Es ist fürchterlich, was dieser so menschliche Provinzarzt Bartolo da erzählt. +Wer in "Seefeuer" dagegen fehlt, ist die berühmteste Bewohnerin von Lampedusa: Giusi Nicolini, die Bürgermeisterin, die sich vehement für die Flüchtlinge einsetzt. Nicht immer zur Freude der Bürger der Insel. +Der streitbare Film, der ganz ohne Off-Kommentar auskommt, wirft viele Fragen auf. Einerseits, was das doch recht intakt dargestellte Dorfleben über das schlimme Schicksal der Geflüchteten sagen soll? Das Leben von Samuele scheint dadurch wenig tangiert. Sind wir alle wie Samuele? Leben unser Leben, mal glücklicher, mal weniger, aber grundsätzlich recht bequem, während sich vor unserer Nase schlimme Tragödien abspielen, an denen wir nichts ändern? Und wenn das so zu verstehen ist, ist es dann andererseits nicht unfair, ein Kind ins ganz große Rampenlicht zu zerren, um diese Geschichte zu erzählen? +Und: Darf man zeigen, was Gianfranco Rosi alles auf Lampedusa gefilmt hat? Über weite Strecken des Films sieht man die Geflüchteten nur als anonyme, sprachlose Masse – wie sie im Morgengrauen aus ihren klapprigen Booten von der Küstenwache gerettet werden, wie sie in raschelnde goldene Folien gewickelt an Land gehen, wie sie in ein Aufnahmelager gebracht werden. Erst spät singt eine Gruppe Nigerianer über ihre Flucht. Einer, der eine Solostimme im Chor hat, berichtet von den Ängsten und Qualen, die sie hinter sich haben. Und von denen, die es nicht geschafft haben. +Am Ende sieht man einen dramatischen Einsatz. Ein blaues Boot treibt auf dem Meer. Ein Rettungskreuzer kommt. Gerade noch rechtzeitig. Viele Menschen können gerettet werden, manche sind komplett dehydriert, im Delirium, sie zittern am ganzen Körper, sind dem Sterben nahe. Andere liegen kreuz und quer im Unterdeck – tot. All das fängt Rosi in Nahaufnahmen ein. Man wird sie lange nicht vergessen. +Natürlich, er will aufrütteln. Aber man fragt sich schon: Hätte Gianfranco Rosi auch Europäer beim Sterben gefilmt? +Über diesen Film wird noch viel gesprochen werden. +"Seefeuer" (Original: "Fuocoammare"), Italien, Frankreich 2015, Regie und Drehbuch: Gianfranco Rosi, mit Samuele Pucillo, Pietro Bartolo, 108 Minuten diff --git a/fluter/das-recht-ist-eine-riesige-maschine-1-von-2.txt b/fluter/das-recht-ist-eine-riesige-maschine-1-von-2.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b0809e7f35ccbe926f93a24b1af033ea906a59a3 --- /dev/null +++ b/fluter/das-recht-ist-eine-riesige-maschine-1-von-2.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Wesel: Seit die Menschen existieren, gibt es Regeln. Menschliches Leben ohne Regeln, ohne Ordnungsfunktion und auch ohne gewisse Organisationsformen kann nicht funktionieren. Es hat Zeiten in der Geschichte der Menschheit gegeben, in denen die Verwandtschaft auch die gesellschaftliche Ordnung war. Da gab es noch keinen Staat, keine Herrscher, keine Häuptlinge, die die institutionalisierte Macht hatten. +Wann entstanden die ersten schriftlich niedergelegten Gesetze? +Die ersten, von Stadtfürsten proklamierten Gesetze gab es bereits im dritten Jahrtausend vor Christus in Mesopotamien. Dass aber nach Gesetzen entschieden wird, ist eine Erfindung der Griechen. Das entstand so um 300, 400 vor Christus. Die haben in Versammlungen von 201, 401 oder 501 Männern entschieden. Sokrates ist von 501 attischen Männern verurteilt worden. Die attische Demokratie war ja die radikalste, die wir je in der Welt gehabt haben. Vor 501 Männern können Sie nicht juristisch argumentieren. Da müssen Sie ein bisschen auf die Pauke hauen, da müssen Sie gut reden können. Die Römer haben den Juristen erfunden. Da gab es zunächst mal den Prätor, der gab eine gewisse Prozessformel vor, und der Judex hat dann nach dieser Formel entschieden. Wenn man vor einem Mann argumentiert, dann ist das ganz anders als vor 501. So ist also in Rom, etwa 500 vor Christus, der Jurist entstanden. +So wie wir ihn heute noch kennen. +Na ja, damals waren Juristen Adlige, das waren 1 von 2 steinreiche Männer. Männer, keine Frauen. Und das war ja lange so: Als ich 1953 angefangen habe zu studieren, da waren im Hörsaal von etwa 300 Studenten vielleicht 10 oder 20 Frauen, wenn's hoch kam. +Kommen wir mal zum Grundgesetz. Es scheint das einzige zu sein, das nicht ständig veränderbar ist. +Wir müssen unterscheiden zwischen dem Grundgesetz als Verfassung und der Verfassungswirklichkeit. Das Grundgesetz selber ist auch sehr flexibel; Sie ahnen nicht, wie oft das in den letzten 62 Jahren geändert worden ist, mindestens 50 bis 60 Mal. Das ist eine völlig berechtigte Rechtsfortbildung, die nach dem Grundgesetz auch erlaubt ist. +Nehmen wir mal das Grundrecht auf Asyl. Als Laie würde man doch sagen: Das gibt es nicht. +Das Asylrecht ist im Grundgesetz durch eine so lange Reihe von Vorschriften relativiert, dass man in der Tat sagen kann: Wir haben heute kein Asylrecht mehr. +Weil das ideelle Recht auf Unversehrtheit mit dem Recht einer Gesellschaft auf sozialen Frieden kollidiert? +Als der parlamentarische Rat 1949 das Asylrecht eingebaut hat in das Grundgesetz, da waren das Frauen und Männer, die aus der Erfahrung des Krieges gesagt haben: Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass politisch Verfolgte – wie wir es zum Teil auch waren – hier bei uns Asylrecht bekommen. Diese Art von politischer Verfolgung, wie sie unter den Nazis stattgefunden hat, ist jetzt überlagert worden von der Angst, dass viele, denen es wirtschaftlich in ihrer Heimat schlecht geht, zu uns kommen. Dadurch entsteht die Angst, unser innerer Frieden könnte durch zu viele Fremde gefährdet werden. +Wandert eigentlich das Recht vom Staat zunehmend in die Gesellschaft, gibt es so etwas wie eine Rückübertragung? +Sicherlich, wir nennen das Mediation. Das bedeutet private Vermittlung, außergerichtliche Verhandlungen. Bei Eheleuten zum Beispiel, die sich scheiden lassen, ist es besser, wenn die Entscheidung nicht von oben kommt, weil die ja noch in irgendeiner Weise miteinander leben müssen. Das kommt aus den Stammesgesellschaften. In Afrika werden Konflikte heute noch durch Verhandlungen oder Palaver gelöst. +Was ist für Sie Gerechtigkeit? +Gerechtigkeit ist für mich soziale Gleichheit. Das bedeutet z.B., dass nicht alle 50 Euro zahlen müssen, wenn sie beim zu schnellen Fahren erwischt werden. Sondern, dass derjenige, der wesentlich mehr verdient, auch mehr zahlt. Es muss ja schließlich allen gleich weh tun und nicht dem Armen mehr. +Den zweiten Teil des Interviews lest ihr auf Seite 30 diff --git a/fluter/das-recht-ist-eine-riesige-maschine-2-von-2.txt b/fluter/das-recht-ist-eine-riesige-maschine-2-von-2.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..02ded2af5c1ccb664c85ea539ab23c9f4a8eb930 --- /dev/null +++ b/fluter/das-recht-ist-eine-riesige-maschine-2-von-2.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Wenn man es global betrachtet, ist es mit der Rechtsstaatlichkeit aber nicht so weit her. Große Banken dürfen fragwürdige Geschäfte machen und werden dafür kaum bestraft. +Weil sie für die Erhaltung des teilweise ziemlich entfesselten kapitalistischen Systems wichtig sind. Aber es gibt ja nicht nur Unternehmen, die sich nicht ums Recht scheren, sondern auch Länder – etwa Russland. Dort gibt es zwar wie bei uns ein Verfassungsgericht, aber selbst mächtige, reiche Menschen werden dort von der Staatsmacht vernichtet. Oder schauen Sie in viele arabische Länder: Das Unrecht, das dort im Namen der Herrschaft begangen wurde, wird nun allmählich beseitigt. Das ist schon ein toller Vorgang. +Welche Funktion hat das Recht noch neben der Gerechtigkeit? +Es hat auch eine Ordnungsfunktion – also etwa, dass man mit dem Auto nur auf der rechten Seite fahren darf – und eine Herrschaftsfunktion, weil es das Eigentum und letztlich den Kapitalismus schützt. +Wer schützt uns vor der Herrschaft? +Das Recht hat auch eine Herrschaftskontrollfunktion. Die Verwaltung kann dem Bürger gegenüber nicht tun und lassen, was sie will. Es gibt natürlich eine institutionelle Macht, also Herrschaft, die uns gegenüber Maßnahmen ergreifen kann, aber das können wir vor den Verwaltungsgerichten anfechten und bis zum Bundesverfassungsgericht gehen. +Recht ist immer in Bewegung, oder? +Ja, es verändert sich. Es ist zum Beispiel sehr stark abhängig von der Religion, fast noch mehr als von der wirtschaftlichen Situation. Denken Sie nur an die Hexenverfolgungen. Auch steht in der Bibel, dass "die Frau dem Manne untertan sei". Das hat sich sehr lange im Recht widergespiegelt. In den islamischen Ländern ist das Recht weitgehend noch abhängig von der Religion, etwa in Iran. Anders ist es in der Türkei, wo wir eine Trennung von Recht und Religion sowie von Staat und Kirche haben, die den wirtschaftlichen, demokratischen und auch ökonomischen Fortschritt erst ermöglicht. Recht ist von vielen Faktoren abhängig. +Wie kann man verhindern, dass die Leute sagen: "Recht ist inzwischen etwas, das ich sowieso nicht durchschaue"? +Mit dem Recht ist es wie mit der Technik. Das Recht ist wie eine riesige Maschine. Sie können zwar Auto fahren, aber Sie wissen gar nicht, wie das alles funktioniert. Recht hält einen kapitalistischen, demokratischen, freiheitlichen Betrieb am Laufen. Da muss man sich langsam einarbeiten. +Es dauert lange, bis sich die Liberalisierung einer Gesellschaft auch in Gesetzen zeigt. Wie kommt das? +Gerade die Loslösung von religiösen Dogmen brauchte sehr lange. Und ohne das Bundesverfassungsgericht wäre das heute immer noch nicht gelungen. Es liegt aber auch daran, dass die Juristen eher aus einem konservativen Milieu kommen. Die Eltern erfolgreicher Juristen haben in der Regel mehr Geld und können ihre Kinder besser fördern. Heute ist es sogar so, dass die jüngeren Richter, vorsichtig ausgedrückt, weniger progressiv sind als etwa die Generation, die '68 studiert hat. Und leider Gottes muss man auch sagen, dass die Juristen, die heute ausgebildet werden, nicht mehr so qualifiziert sind wie vor etwa 30 Jahren. +Was bedeutet "qualifiziert"? +Das heißt, dass der Jurist eben sein Metier beherrscht und juristisch möglichst nach dem Gesetz argumentiert, oder wenigstens die Rechtsprechung im Kopf hat und schnell und richtig zu einem Ergebnis kommt. Und das muss mit dem übereinstimmen, was Recht und Gerechtigkeit erfordern. Das ist heute nicht mehr so selbstverständlich, weil wir seit ungefähr 20 Jahren unsere Universitäten vernachlässigen. Wir machen das größte Kapital, das wir in der Bundesrepublik haben, kaputt durch eine ungeheure Vernachlässigung der Finanzierung unserer Universitäten. diff --git a/fluter/das-reicht-einfach-nicht.txt b/fluter/das-reicht-einfach-nicht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fc4e1842fb834345c9fb647b447b9eb8bb037cc1 --- /dev/null +++ b/fluter/das-reicht-einfach-nicht.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Etwa 1.200 Euro netto verdient Stephan Plaumann mit seinem Vollzeitjob im Schichtdienst. Jeden Tag fährt er mit dem Fahrrad zur Arbeit. Früh, spät oder nachts. An ein Auto ist nicht zu denken. Vor vier Jahren hat er seinen Meister gemacht, in der Hoff nung, ein bisschen mehr zu verdienen. Schließlich zahlt er jeden Monat auch noch über 360 Euro Unterhalt für ein uneheliches Kind. Doch mehr Geld gab es für ihn nicht. "Es ist schlimm, mit anzusehen, wie sich die Lohnspirale immer weiter nach unten schraubt. Wie Einkommen durch Teilzeit-, Kurz- und Leiharbeit, Niedriglöhne und eine schlechtgeredete Wirtschaftslage massiv gedrückt werden. Es kann doch nicht sein, dass man trotz Vollzeitbeschäftigung auf staatliche Zuschüsse angewiesen ist", sagt er. +Jeder fünfte Arbeitnehmer in Deutschland bekam 2010 laut Statistischem Bundesamt weniger als 10,36 Euro in der Stunde und somit nur einen Niedriglohn. Besonders hoch war der Anteil von Beschäftigten mit Niedriglohn bei Taxifahrern und Friseuren. 1,36 Millionen Erwerbstätige bezogen nach Berechnungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Mitte 2011 zusätzlich Hartz IV. "Aufstocker" nennt man sie umgangssprachlich. Über 330.000 von ihnen hatten laut DGB einen Vollzeitjob. Die Gewerkschafter kritisieren: "Gut zwei Milliarden Euro pro Jahr muss der Bund (...) über Hartz IV jährlich aufwenden, um Geringverdienern mit Vollzeitjobs ein gesellschaftliches Existenzminimum zu garantieren. Der Staat subventioniert so auch Arbeitgeber, die Arbeitnehmer zu Hungerlöhnen beschäftigen." Die Befürworter der Hartz-Reformen verteidigen sich: Es sei doch besser, man arbeitet zu einem geringen Verdienst, als gar nicht. +Die Plaumanns bekommen momentan kein Hartz IV mehr, sondern 86 Euro Wohngeld im Monat. Das ist eine "vorrangige Leistung", wie es auf Amtsdeutsch heißt. Genau wie der Kinderzuschlag, den man bekommt, wenn die Mindesteinkommensgrenze erreicht und die Höchsteinkommensgrenze nicht überschritten wird. Unterhalb des gesetzlich vorgesehenen Mindestbedarfs gibt es die Aufstockung durch Hartz IV. Das bekam Familie Plaumann zuletzt 2008. Da ihr Einkommen durch die verschieden berechneten Arbeitsschichten des Vaters aber ständig schwankt und die Kalkulation des Amtes daher nicht stimmte, zahlt die Familie die komplette Leistung seit 2010 jeden Monat mit 25 Euro zurück. Genauso den Kinderzuschlag: Wegen einer Weihnachtsgeldzahlung vom Arbeitgeber ihres Mannes forderte das Amt 1.650 Euro wieder ein. "Ich beantrage so etwas nicht mehr, ich muss ja sowieso alles zurückzahlen. Wir sind immer genau an der Grenze. Das reißt unwahrscheinlich an den Nerven", sagt Frau Plaumann. Sie fühle sich auch deshalb arm, weil sie mit ihrer Familie so wenig am gesellschaftlichen Leben teilnehmen könne. Demütigend sei es, als Familie mit Einkommen zum Amt gehen zu müssen. "Das ist wirklich ein scheiß Gefühl." +In der Evangelischen Diakoniestiftung in Herford betreut die Diplom-Sozialarbeiterin Silke Penno Menschen mit Fragen zur Existenzsicherung, auch Michaela Plaumann kommt zu ihr. Wenn sie ein Schreiben nicht versteht oder Fragen zu den Abzahlungen hat. "Es ist häufig der Fall, dass wir Menschen betreuen, die von ihrer Erwerbstätigkeit nicht leben können. Teilzeit- und Kurzzeitarbeit, keine anschließende Weiterbeschäftigung, dazu Wohngeld oder Arbeitslosengeld II: Diese Zerstückelung macht es für Familien hochkompliziert, mit dem Geld zu wirtschaften", sagt sie. Viele würden in einen Dauerstress verfallen: Reicht das Geld im Monat? Und vor allem: Was kommt noch? Wenn zum Beispiel der Kühlschrank kaputtgeht. "Das ist ein ständiges Kalkulieren." +Ihre Kollegin Doris Gerlach hat die Plaumanns ebenfalls über viele Jahre begleitet, sie arbeitet seit 26 Jahren in der Beratungsstelle. Den Sozialstaat Deutschland hält sie für viel zu bürokratisch. "Dieser Verwaltungsaufwand, der da betrieben wird! Es wird nicht schnell genug reagiert, und es ist ein Unding, dass Familien ständig zu viel oder zu wenig ausbezahlt wird", sagt sie. Familie Plaumann tat ihr immer leid. Oft warteten sie zusammen sechs Monate darauf, dass ihre Anträge bearbeitet wurden. "Furchtbar war das. Wir hatten immer mit dem System zu kämpfen." +Wenn Stephan Plaumanns Gehalt kommt, setzt sich die ganze Familie an den Tisch und rechnet. Welche Kosten stehen in diesem Monat an? "Dann schauen wir, was übrig bleibt. Wir gehen ein Mal groß einkaufen im Discounter. Am Ende des Monats entscheiden wir, ob noch mal Fleisch auf den Tisch kommt oder nicht." Urlaub machen sie bei der Schwiegermutter in Niedersachsen. Gespartes gibt es nicht. "Wir können nicht so in unsere Kinder, in ihre Bildung und Zukunft investieren, wie es wünschenswert wäre. Wir sind auch nicht in der Lage, für unsere Rente privat vorzusorgen, wie es vom Staat gefordert wird", sagt Stephan Plaumann. +Was treibt ihn eigentlich an, überhaupt noch arbeiten zu gehen, morgens um fünf zur Frühschicht zu radeln, wenn es am Ende doch nicht reicht? Frau Plaumann sagt, ihrem Mann gehe es um seine Ehre, er wolle nicht als Schmarotzer abgestempelt werden. Auch sie will unbedingt wieder arbeiten, sobald der Sohn auf der weiterführenden Schule ist. "Arbeit ist das A und O", sagt Herr Plaumann überzeugt. Hartz IV sei keine Alternative. Nur wenn er seinen Kindern vorlebe, was es bedeute, jeden Tag zur Arbeit zu gehen, bringe er sie auf den richtigen Weg. "Vielleicht wird meine Weiterbildung zum Industriemeister ja irgendwann doch noch honoriert", sagt er hoffnungsvoll. Bis dahin rechnen die Plaumanns weiter. Monat für Monat. Immer an der Grenze. +*Namen von der Redaktion geändert diff --git a/fluter/das-schicksal-ist-doch-kein-mieser-verraeter.txt b/fluter/das-schicksal-ist-doch-kein-mieser-verraeter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bb2edef59d3c3db4938b5c90efeade9d7fd02e59 --- /dev/null +++ b/fluter/das-schicksal-ist-doch-kein-mieser-verraeter.txt @@ -0,0 +1,8 @@ + + +Der stillstehenden 80er-Jahre-Welt setzt diese WG einen Empathie-Kosmos entgegen, in dem das Anderssein ohne Aufhebens akzeptiert wird. Die versprengten Jugendlichen aus mehr oder weniger gefestigten Verhältnissen bilden eine Therapiegruppe, nicht nur für Frieder. Niemand macht große Worte, das ist der mitreißende Sound dieses Buchs. Er ist einfach, schnörkellos und gerade durch die Vermeidung von Pathos oder wolkigen Gefühlsbeschreibungen einnehmend. Ein bisschen wie bei "Tschick", Wolfgang Herrndorfs Bestseller über zwei Ausreißer und ihren sommerlichen Roadtrip. "Auerhaus" ist mal poetisch, mal melancholisch, mal schnoddrig, aber nie von irgendwas zu viel. +Natürlich wird das Haus ein Magnet für gesellschaftliche Außenseiter wie Harry, ein bisexueller Handwerker, der mit seinem Ami-Schlitten in die nahe Großstadt fährt, um sich als Stricher zu verdingen. Der Einkauf der WG findet meist bargeldlos im nahen Supermarkt statt, wobei Frieder den anderen in der Küche seine Tricks beibringt, während im Radio der Madness-Song "Our House" läuft, der dem Buch seinen Namen gibt. Die Frage, warum sich Frieder umbringen wollte, ist ein anderer Soundtrack der Geschichte, und die Indizien werden ganz beiläufig serviert – etwa als die WG im Haus einen Raum ohne Fenster entdeckt, der früher mal ein Kinderzimmer war. Da läuft es einem dann doch mal kalt den Rücken runter. +Doch das Schicksal ist in diesem Buch kein mieser Verräter, es wird unaufgeregt hingenommen, es werden intuitiv die richtigen Schlüsse gezogen, wie man es vielleicht doch verändern kann. Nach Kräften repariert die WG Frieders Seele und ist sich doch jederzeit einer möglichen Vergeblichkeit bewusst. Denn wie sagt Höppner so schön: "Wir hatten immer so getan, als ob das Leben im Auerhaus schon unser richtiges Leben wäre, also ewig." + + +Bov Bjerg: "Auerhaus". Blumenbar, Berlin 2015, 240 Seiten, 18 Euro diff --git a/fluter/das-schimmern-der-see-comic-pourviseh-seenotrettung.txt b/fluter/das-schimmern-der-see-comic-pourviseh-seenotrettung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..54965fbafb7c14cc7cfcda0240fe4bc047daf807 --- /dev/null +++ b/fluter/das-schimmern-der-see-comic-pourviseh-seenotrettung.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Wie in einer Reportage: Adrian Pourviseh ist als Fotograf hautnah am Geschehen. Dabei ist die Perspektive zweigeteilt: Die Erzähltexte schreibt er in der Ich-Perspektive, seine Zeichnungen zeigen aber auch ihn selbst. Der Ton ist direkt ("Ich bin nicht bereit für eine Leiche"), die Stimmung schwankt zwischen Entschlossenheit ("Kurs halten!") und Resignation ("Wir bringen sie in ein Europa der Heuchelei"). Die Bilder sind minimalistisch und skizzenhaft. Gesichter zeichnet Adrian Pourviseh dafür besonders groß und eindrücklich – trotz weniger Striche ist die Stimmung der Protagonist:innen eindeutig erkennbar. Flächen wirken oft wie Aquarelle. Vor allem die Darstellung der nächtlichen Rettungsaktion, bei der der weiße Lichtkegel des Flutlichts die schwarze Nacht teilt, ist eindrucksvoll. + +Italiens rechtsextreme Regierungschefin Giorgia Meloni warf der privaten Seenotrettung vor, dass ihre Rettungseinsätze noch mehr Geflüchtete zu der Fahrt übers Mittelmeer motivieren. Doch laut einerkürzlich veröffentlichten Studie, die im Rahmen des Projekts "Seenotrettung im Mittelmeer" am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung entstanden ist,gibt es diesen sogenannten Pull-Effekt nicht. Bedeutende Faktoren für Flucht sind laut der Studie dagegen Konflikte, Rohstoffpreise, Naturkatastrophen, Wetterbedingungen sowie Währungsschwankungen. +Definitiv. Weil "Das Schimmern der See" deutlich macht, was Sea-Watch stellvertretend für viele weitere Vereine und Initiativen leistet, um die katastrophale Lage von Geflüchteten wenigstens etwas zu lindern. Und weil die Graphic Novel zeigt, dass an Bord trotz allem auch gelacht wird. Was Leser:innen aber klar sein sollte: "Das Schimmern der See" ist die Graphic Novel eines Aktivisten. Wer eine ausgewogene Auseinandersetzung mit dem Thema sucht, dürfte hier enttäuscht werden. Die Klage über die Migrationspolitik der EU ist laut und eindeutig, genau wie die am Ende sehr knapp präsentierten Lösungsansätze: sichere Fluchtwege schaffen, allmähliche Grenzöffnungen und Reisefreiheit für alle. +Alle. Auch wenn die Zeichnungen von verzweifelten Rettungsaktionen, bei denen jede Minute zählt, und von Geflüchteten mit Verbrennungen am ganzen Körper nicht ohne sind. Aber: Das Mittelmeer ist neben der seltener genutzten westafrikanischen Route über die Kanaren die gefährlichste Fluchtroute nach Europa. Mehr als 2.400 Menschen starben 2022 auf ihrer Flucht oder gelten als vermisst, schätzt das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR). Das geht alle an. + +"Das Schimmern der See" von Adrian Pourviseh erscheint am 5. Oktober im Avant Verlag. diff --git a/fluter/das-schlachtfeld.txt b/fluter/das-schlachtfeld.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/das-sieht-dir-aehnlich.txt b/fluter/das-sieht-dir-aehnlich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6494ae0dc07be9016dac2f77814920d79805dd9e --- /dev/null +++ b/fluter/das-sieht-dir-aehnlich.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Dabei ist das Brotschneiden ein einfa­ches Beispiel. Andere Arten des Modell­lernens sind komplizierter. So ist es zum Beispiel selten möglich, direkt nachzu­vollziehen, inwiefern sich aggressives Ver­halten erwachsener Menschen auf deren frühe Kindheitserfahrungen gründet. Dass man sich in Konfliktsituationen ähnlich verhält, wie man es als Kind bei Erwachsenen beobachtet hat, ist hinge­gen wissenschaftlich gut dokumentiert. Wer oft und regelmäßig in seiner Kind­heit Gewalt mitbekommt, neigt später zur Anwendung von Gewalt in Auseinan­dersetzungen. Oder sagen wir es so: Die Wahrscheinlichkeit dafür ist groß, zwangs­läufig ist es natürlich nicht. Wer autoritäre Eltern hat, muss deshalb nicht selbst auto­ritär werden. Es ist nur eben ungewöhnlich, ein Verhalten zu entwickeln, das ei­nem nie oder nur selten vorgelebt wurde. +Niemand wird je vorhersagen kön­nen, warum jemand ein guter Schüler wird. Es steht nicht als Vorschrift in den Genen, sondern entwickelt sich in den komplizierten Verhältnissen, in denen jeder Einzelne von uns lebt. Sicher ist nur eins: Keine Begabung ist so stark, dass sie nicht durch die Verhältnisse zerstört wer­den kann. diff --git a/fluter/das-sind-die-besten-quarantaene-spiele.txt b/fluter/das-sind-die-besten-quarantaene-spiele.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a48dec2630452ee0f3c776c2f7f49d07cea8c88a --- /dev/null +++ b/fluter/das-sind-die-besten-quarantaene-spiele.txt @@ -0,0 +1,42 @@ + +Plague Inc. +"Plague Inc." ist das Spiel überhaupt zur Corona-Pandemie, und das, obwohl es aus dem Jahr 2012 stammt. Als Spieler wird man zum Herrscher über eine Seuche und versucht, die Menschheit auszurotten. Also lässt man die Seuche mutieren, damit sie sich über die ganze Welt ausbreitet,allen Quarantänemaßnahmen zum Trotz. In China wurde "Plague Inc." mittlerweile verboten, das Spiel wirkt ja auch etwas geschmacklos in der jetzigen Zeit. Wer es spielt, lernt aber ein Stück weit, wie sich Seuchen ausbreiten – und dass es Mittel gibt, sie zu besiegen. Inzwischen haben die Macher übrigens nicht nur Geld für den Kampf gegen Corona gespendet, sondern auch einen weiteren Spielmodus angekündigt, der in Zusammenarbeit mit Experten der WHO entsteht und umsonst sein soll. Das neue Ziel: die Menschheit vor einem Virus zu retten. +System: iOS, Android, Microsoft Windows, PlayStation 4, Mac OS, Xbox One, Nintendo Switch, Microsoft Windows Phone, Linux. Je nach System kostet "Plague Inc." 99 Cent (Smartphone) oder bis zu 15 Euro (PC). Allerdings locken bei den günstigen Smartphoneversionen In-App-Käufe. +Das makabre Ziel der Pandemie-Simulation "Plague Inc.": die möglichst schnelle Vernichtung der Menschheit. Erschwert wird die Umsetzung durch Händewaschen, Forschung und ärztliche Präsenz + +Don't Starve Together +Dieses Survival-Spielin charmanter Tim-Burton-Optik katapultiert dich in eine lebensfeindliche Umgebung. Du sammelst Holz, machst Feuer, kochst etwas Leckeres und versuchst dabei, nicht von Spinnen gefressen zu werden. Bis zu vier Spieler können dabei sein und sich gegenseitig helfen. +System: PC, PS4, Xbox One. Preis: ca. 15 Euro + +Through the Darkest of Times +"Through the Darkest of Times" ist in einem kleinen Berliner Studio entstanden. Hier werden Computerspieler zu Anführern einer Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus. Arbeiter, Kommunisten, Katholiken, Sozialdemokraten, Anarchisten: Sie alle muss man zusammenhalten, allen ideologischen Gegensätzen zum Trotz. Bald wird schon das Einkaufen von Papier für Flugblätter zu einem Risiko, frühere Freunde werden zu strammen Nationalsozialisten, der Sohn will unbedingt in die Hitlerjugend. "Through the Darkest of Times" ist ein gutes Computerspiel, aber es ist zugleich mehr als das: eine kluge, eindringliche und vor allemsensible Auseinandersetzung mit den Schrecken des Nationalsozialismus. +System: PC. Preis: ca. 15 Euro + +"Through the Darkest of Times" ist ein nahezu aussichtsloser Kampf gegen den Naziterror. Ganz ohne Effekthascherei oder Naziästethik + +Polytopia +Eine Zivilisation von der Steinzeit in die Moderne führen, das ist das Ziel in "Polytopia". Das Game spielt sich dabei wie eine Instant-Tee-Version des Strategie-Klassikers "Civilization". "Polytopia" ist schnell, durchdacht und elegant. Von "Civilization" gibt es übrigens auch eine Open-Source-Version namens "Freeciv". Diese orientiert sich am zweiten Teil der erfolgreichen Serie und lässt sich auch im Multiplayer spielen. +System: Android, iOS. Preis: gratis. Für ein paar Euro lassen sich weitere Völker freischalten. + +Foldit +In "Tetris" wurden Steine gestapelt, in "Candy Crush" Süßigkeiten zusammengepuzzelt: In Computerspielen knobelen und sortieren Menschen für ihr Leben gerne. Warum also diese Leidenschaft nicht für etwas Sinnvolles einsetzen? Das dachten sich 2012 auch Wissenschaftler der University of Washington und entwickelten "Foldit". In diesem Puzzlespiel faltet man Proteine. Wer das besonders gut macht, dem winkt zurzeit nicht nur ein Platz in der Bestenliste, sondern der trägt auch zum Kampf gegen Corona bei. Die vielversprechendsten Anti-Corona-Proteine werden von den Wissenschaftlern nachgebaut und getestet. +System: Windows, Mac OS X, Linux. Preis: gratis +Höchstes Level bei "Foldit": ein Protein bauen, an das die Spike-Proteine des Corona-Virus andocken und dann unschädlich gemacht werden können + +Roll20 +Sogenannte Pen-&-Paper-Rollenspiele sind ein tolles Hobby. Mit einem großen Problem: Das Spielen kostet sehr viel Zeit. Kaum hat man den Bleistift gezückt, die Chipstüten platziert, seinen Charakterbogen hervorgekramt, ein paarmal gewürfelt und das Kopfkino angeworfen, ist der Sonntagnachmittag auch schon wieder vorbei. Heute kann man die Rollenspiele aber auch digital spielen und muss sich dafür nicht mal auf irgendwelchen Dachböden treffen. Die Internet-PlattformRoll 20macht es möglich! +System: Browser. Preis: gratis + +Portal 2 +"Portal" gilt als eines der besten Knobelspiele aller Zeiten und wird eigentlich nur durch seinen direkten Nachfolger übertroffen. Als menschliches Versuchskaninchen versuchst du, derkünstlichen IntelligenzGLaDOS zu entkommen. Dabei hilft dir eine Waffe, die allerdings keine Kugel verschießt, sondern Wurmlöcher, durch die du hindurchschlüpfen kannst. "Portal 2" ist ein kleines, kluges Spiel, ein Klassiker, den jeder mal gespielt haben sollte. Vermutlich gab es noch nie einen so guten Moment dafür wie gerade jetzt: Mittlerweile lassen sich auch Level für Freunde bauen. +System: Windows, Xbox 360, PlayStation 3, Mac OS, Linux, Xbox One. Preis: ca. 10 Euro + +In "Portal 2" erzeugt man Wurmlöcher, um einer bösen künstlichen Intelligenz zu entkommen. Wäre auch gegen Covid-19 praktisch + +Papers, Please! +Ausweise kontrollieren, Ausweise abstempeln, Ausweise unter der Luke durchschieben. Zugegeben: Das klingt nicht gerade nach einem Spiel, das die Quarantäne erträglicher macht. Aber man sollte "Papers, Please!" trotzdem eine Chance geben, schon allein, weil einen das Spiel zum Nachdenken bringt und immer wieder vor schwierige Entscheidungen stellt. Als Grenzbeamter für die fiktive Diktatur Arstotzka muss du dich fragen: Soll ich Dissidenten ins Land lassen? Lasse ich mich bestechen? Streue ichSand ins Getriebe des autoritären Staates, für den ich arbeite? Oder bin ich doch eher der stromlinienförmige Bürokrat? +System: iOS, PlayStation 4, PlayStation Vita, Mac OS, Microsoft Windows, Linux. Preis: ca. 10 Euro + +The Longing +Vielleicht wäre "Slow Game" die richtige Genrebezeichnung für "The Longing". So wie es ja auch Slow Food gibt in Abgrenzung zum Fast Food. Denn "The Longing" ist langsam, genauer: sehr, sehr langsam. Der kleine Zwerg, der in einer kleinen Höhle haust, braucht eine halbe Ewigkeit, um eine simple Tür zu öffnen, oder gar Wochen, um über einen Abgrund zu springen. Aber das macht nichts, denn du hast ja Zeit. 400 Stunden dauert das Game. 400 Stunden, in denen du im Spiel die Höhle verschönerst, Bücher wie etwa "Moby Dick" oder die "Ilias" lesenoder einfach gar nichts tunkannst. Das macht das Spiel aus dem Stuttgarter Indiestudio mit dem schönen Namen "Seufz" zu einem der interessantesten des Jahres – und zum perfekten Zeitvertreib in der Quarantäne. +System: Windows, Mac OS und Linux. Preis: ca. 10 Euro diff --git a/fluter/das-spiegelt-die-turbulenten-zeiten-wider.txt b/fluter/das-spiegelt-die-turbulenten-zeiten-wider.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8298988d3e4ab469e2c028eb5389a63866687f93 --- /dev/null +++ b/fluter/das-spiegelt-die-turbulenten-zeiten-wider.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +Pavel Klymenko: Zu Beginn der Euro hat man sicher den Eindruck bekommen, als würde sich da eine "Spirale der Gewalt" entwickeln. Aber bis auf die Ausschreitungen von Marseille waren andere Unruhen doch eher marginal. Allerdings nutzen gerade die rechtsradikalen Fans das Turnier dazu, um sich zu präsentieren. Es gab eine Gruppe deutscher Nazi-Hools, die sich mit der Reichskriegsflagge in Lille präsentiert haben, ungarische Fans mit homophoben Gesängen, ukrainische Fans mit Nazi-Tattoos, kroatische Anhänger, die Symbole der Ustascha (eine faschistische Bewegung, Anm. d. Red.) zeigten. Auch französische Fangruppen aus der rechten Ecke haben hier und da versucht, ihre "Minute of Fame" zu erhaschen. All das spiegelt auch die turbulenten Zeiten wider, die Europa gerade erlebt – mit dem Aufstieg des rechtsextremen Populismus, mit dessen Hetze gegen den Islam und gegen Flüchtlinge. +Kann man denn von einem neuen Hooliganismus in Europa sprechen? +Was Sie als "neuen" Hooliganismus bezeichnen, ist nicht besonders neu. Er hat sich in den vergangenen Jahren entwickelt – mit den Verbindungen zwischen rechtsextremen Parteien und Gruppierungen, Neonazis und Hooligans. Auf dem europäischen Clublevel beobachten wir dieses Phänomen schon lange – vor allem in Zentral- und in Osteuropa. Dieser Hooliganismus ist jünger, besser organisiert und professioneller, weil die Hools häufig von den Erfahrungen der Neonazis profitieren können, die bereits über Strukturen und Netzwerken zu Parteien oder organisierten Gruppierungen verfügen. Auseinandersetzungen werden gut vorbereitet, dafür wird hart trainiert und nicht selten werden sie mit "Guerilla-Methoden" umgesetzt. All das wurde durch die Randale von Marseille erstmals nun auch für eine breitere Öffentlichkeit sichtbar. + + +Seit Marseille wird sehr viel über den russischen Hooliganismus diskutiert. Wie lässt sich dieser charakterisieren? +Russische Hooligans bereiten sich gezielt auf die Kämpfe vor. Die meisten der Kämpfe, die sie mit verfeindeten Hooligans austragen, finden an Plätzen außerhalb des Stadions statt, im Wald oder auf dem Acker. Die Angriffe auf den Gegner werden immer taktisch geplant. Es gibt mittlerweile einen großen Markt an Mixed-Martial-Arts-Kämpfen, an denen viele aus der Hoolszene und der Neonazi-Szene beteiligt sind. Die haben ihre eigenen Klamottenmarken wie beispielsweise"White Rex". Diese Kämpfe sind ein wichtiges Verbindungsstück zwischen den Hools und den Neonazis. Dort wird der Hoolnachwuchs mit der rassistischen Ideologie der Neonazis gefüttert und Leute werden für die eigene "politische" Arbeit rekrutiert. +Sind russische Hooligans tatsächlich viel brutaler, oder wird das von der Presse aufgebauscht? +Russische Hoolsgehören nach unserer Erfahrung tatsächlich zu den brutalsten, am besten organisierten und rassistischsten Gruppen in der Szene. Allerdings stehen ihnen Polen oder Serben in fast nichts nach. Dass die russischen Hools während des Turniers die ganze "schlechte Presse" bekommen haben, hat einfach damit zu tun, dass die polnischen Hools sich aus irgendeinem Grund entschlossen haben, dem Turnier fernzubleiben. Und die serbische Mannschaft hat sich ja erst gar nicht qualifiziert. +Versucht der russische Fußballverband das Hooligan-Problem in den eigenen Stadien in den Griff zu bekommen? +Es gab von Verbands- und Staatsseite einige Versuche, den Hooliganismus zu bekämpfen. Eine Sozialarbeit, die sich wie in England oder Deutschland mit Fans beschäftigt, gibt es nicht. Aber dieses Turnier hat offenbart, dass die Russische Fußballassoziation und auch die Vereine fundamental umdenken müssen. Einige der in Frankreich nun verurteilten Hooligans haben mitunter als Fanbeauftragte in ihren Vereinen gearbeitet. Ein anderes Beispiel für den Einfluss der Hools auf die offiziellen Strukturen ist Aleksander Schprygin. Der rechtsradikale Aktivist ist Vorsitzender der Russischen Fanvereinigung (VOB). Er wurde aus Frankreich abgeschoben. Mitglieder seiner Vereinigung waren nachweislich an den Ausschreitungen in Marseille beteiligt. + + +Experten spekulieren, ob der Kreml die Hools nach Frankreich geschickt hat, um dort Unruhe zu stiften. Was sagen Sie dazu? +Die russische Regierung trägt in jedem Fall eine Mitverantwortung, weil sie nicht verhindert hat, dass rechtsradikale Köpfe wie Schprygin offizielle Strukturen für ihre Belange missbrauchen können. Gegenüber den Verschwörungstheorien, die besagen, Putin habe die Hools in einer orchestrierten Aktion geschickt, bin ich sehr skeptisch. Der Kreml mag die Ereignisse in Marseille dazu benutzen, um seinen eigenen isolationistischen Weg innenpolitisch zu rechtfertigen. Nach dem Motto: Der Westen ist gegen uns. Aber ich bin mir sicher, dass niemand damit gerechnet hat, dass die russischen Hools derart "erfolgreich" sein würden – auch die Hools selbst nicht. Denen ging es vor allem darum, der Welt zu zeigen, dass sie die neuen Könige des Hooliganismus sind. +Nochmals zur Verbindung zwischen Hooligans und der Politik in Russland: Wie sieht diese aus? Wer benutzt da wen? Gibt es keine Gegenbewegungen? +Die organisierte Fanszene hat in den vergangenen Jahren einen Wandel ihrer Beziehungen zur Regierungsseite erlebt: Zunächst wurden Fans vernachlässigt, zeitweise bekämpft, schließlich wurden Hools von der Politik benutzt, um oppositionelle Proteste einzuschüchtern oder zu bekämpfen, wie beispielsweise 2011 bei den Protesten gegen Putin in Moskau. Einige Rechtsradikale wie eben Schprygin oder wie der Duma-Abgeordnete Igor Lebedew, der über die Schirinowski-Partei an Posten gekommen ist, haben sich die politischen Netzwerke zunutze gemacht. Aber auf der Graswurzel-Ebene haben sich die Fußballfans und Hooligans ziemlich gut selbst organisiert. Die haben ihre eigene Subkultur. Die Neonazi-Szene hat sich quasi Hand in Hand mit der der rassistischen Hooligans entwickelt. Es gab einige Versuche, Gegenbewegungen zu etablieren. Einige Szenen wie die antifaschistischen Fans von Spartak Naltschik gibt es noch, aber die haben selten mehr als 50 Mitglieder. + + +Auch englische Fans sind bekanntlich keine Lämmer. Gibt es die gefürchteten englischen Hools der Achtziger und Neunziger überhaupt noch? +Es gibt noch einige Überbleibsel der altenHooligan Firms(ein feststehender Begriff aus dem Englischen für die Hooligan-Gruppierung eines Vereins, Anm. d. Red.) wie in Millwall, bei West Ham United oder in Chelsea. Auch die fahren noch zu internationalen Spielen. Aber die meisten der sogenannten englischen Hools sind ein ziemlich unorganisierter Haufen aus trinkenden, sexistischen, häufig auch xenophoben und vor allem weißen Rowdys in der Mitte ihres Lebens. Die messen sich eher in spontanen Kneipenschlägereien. Dem organisierten Hooliganismus aus Zentral- oder Osteuropa haben sie nur schwerlich etwas entgegenzusetzen. +Was erwarten Sie für die nächsten Wochen des Turniers? Ist ein Szenario wie bei der WM 1998 in Frankreich denkbar? Beim Vorrundenspiel Deutschland gegen Jugoslawien in Lens war es zwischen deutschen Hooligans und der französischen Polizei damals ja zu extrem gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen, bei denen der Polizist Daniel Nivel so brutal zusammengeschlagen wurde, dass er danach sechs Wochen im Koma lag. +Die ersten Tage der Gewalt waren auch ein Weckruf für die französischen Sicherheitsbehörden. Außerdem scheint es ja so zu sein, dass die Teams mit den problematischsten Fans bereits nach Hause fahren müssen. Die Europameisterschaft kann nun also ein richtiges Fest werden. +Pavel Klymenko ist "Fare Eastern Europe Development Officer" beim Fan-Netzwerk FARE, das seinen Sitz in London hat. Er stammt aus Kiew und war in den vergangenen zehn Jahren in einer antifaschistischen Bewegung seines Landes aktiv. Seinen Masters machte er in Leipzig und in Wien. + +"Guerilla-Methoden" von Hooligan-Gruppen +Zu der Taktik organisierter russischer Hooligans gehört es, den Ort, an dem ein Angriff auf gegnerische Fans stattfinden soll, auszukundschaften – vor allem hinsichtlich guter Fluchtwege und vorhandener Überwachungskameras. Die Angriffe werden via Smartphone koordiniert und in kleineren Gruppen ausgeführt. Sie geschehen schnell, um den Gegner mit voller Wucht zu überraschen. Ebenso schnell verschwinden die Hooligans wieder. Unter anderem aus diesem Grund konnten die französischen Sicherheitsbehörden an den Tatorten in Marseille keinen einzigen russischen Hooligan festnehmen. + diff --git a/fluter/das-spiel-des-lebens.txt b/fluter/das-spiel-des-lebens.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/das-stinkt-doch.txt b/fluter/das-stinkt-doch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2e15051bb19b2c0c1e000295dfcb940f0c7ef40c --- /dev/null +++ b/fluter/das-stinkt-doch.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Hat man dich mal getestet? +Ich war vor Kurzem in der Berliner Charité und wollte das mal testen lassen, weil ich wirklich gerne riechen möchte. Als Nächstes soll ein sogenannter "Objektiver Riechtest" gemacht werden, bei dem untersucht wird, ob überhaupt irgendetwas in meinem Gehirn reagiert, wenn man mir einen Geruch unter die Nase hält. +Welche Geschmäcker und Gerüche kommen bei dir zu kurz? +Alle, außer die Grundgeschmäcker: süss, salzig, bitter. Ich dürfte eigentlich den Unterschied zwischen Erdbeer und Pflaumenmarmelade nicht schmecken – kann ich aber. Oder bilde es mir zumindest ein. Ich würde dagegen kein Vermögen für ein Gericht mit besonders fantastischen Kräutern ausgeben, weil da vermutlich einiges an mir vorbeigeht. +Findest du es in allen Fällen schade, nicht ordentlich riechen und schmecken zu können oder gibt es auch Fälle, wo du froh drum bist? +Wer wie ich sehr viel Zeit mit sieben anderen stinkenden und schwitzenden Männern in Bussen, Probe- und Backstageräumen verbringt, kann gut damit leben, nicht alles riechen zu können. Aber wenn ich an so unterschiedliche Dinge wie Sommerregen oder guten Sex denke, weiß ich sehr genau, dass mir etwas Wichtiges fehlt. +Gibt es besonders lustige Geruchsanekdoten vom Tourleben? +Eine Zeit lang war ich der Einzige, der neben unserem Tourmanager schlafen wollte. Der hatte so eine Phase, wo er sich nicht gewaschen hat. Und neulich während eines Open-Air-Festivals saßen wir nachmittags draußen im Backstagebereich. Es war heiß und windstill, doch plötzlich kam eine kühle Brise herübergeweht. Ich sagte: "Wow, die Luft tut so gut!", meine Bandkollegen sagten: "Igitt, da weht gerade ganz übler Pissegestank von den Dixi-Klos rüber!" +Stellst du dir vor, wie andere Menschen etwas schmecken oder riechen? +Ja. Je älter ich werde, desto mehr werden in meinem Umfeld weniger Gestank und Chaos, sondern auch mal schöne Gerüche thematisiert. Vor allem Pflanzen und Essen. Da läuft die Zeit also gegen mich. +Trumpfst du manchmal auf Partys auf, indem du etwas Ekliges isst oder dir ins Gesicht furzen lässt? +Nein. Ehrlich gesagt rede ich auch nicht gerne drüber, weil ich dann immer so mitleidig angeguckt werde. Vielleicht kannst du ja meinen Namen ändern in dem Text. diff --git a/fluter/das-stop-motion-hoerspiel.txt b/fluter/das-stop-motion-hoerspiel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0e991cf5a8af566f3f568054f63c6ddaf4b47b7d --- /dev/null +++ b/fluter/das-stop-motion-hoerspiel.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Das größte Abenteuer, das die knapp 4.000 Passagiere des Kreuzfahrtschiffes "Adventures of the Sea" normalerweise erleben, ist das Anstehen an einem der vielen Buffets an Bord. Von daher ist es ein großes Ereignis, als das Schiff am 14. September 2012, 38 Seemeilen vor dem spanischen Cartagena und rund 100 Seemeilen von Algerien entfernt, auf Menschen trifft, die wirklich ein Abenteuer auf dem Meer erleben – bloß eben nicht in einem romantischen Wortsinn. +Dreizehn Geflüchtete aus Nordafrika sind es, verloren auf dem Weg nach Europa, in einem winzigen Boot, dessen Antrieb nicht mehr funktioniert. Manche sitzen, manche stehen, einer winkt mit einer Fahne. Die Kreuzfahrtpassagiere an der Reling des Schiffes winken zurück, manche filmen mit ihren Handys.Einen der Clips, dreieinhalb Minuten ist er lang, nahm der deutsche Dokumentarfilmer Philip Scheffner zum Anlass,"Havarie"zu drehen. +Er interviewte dafür zahlreiche Menschen: Besatzungsmitglieder der "Adventures of the Sea". Den Nordiren Terry Diamond, der das Video drehte. Abdallah Benhamou, einen Algerier, der zwar nicht in dem gefilmten Boot saß, aber ebenfalls ein"Harraga"ist, einer der vielen Nordafrikaner, die sich in Booten auf den Weg nach Europa machen. Benhamous Frau, die in Frankreich lebt und von ihm durch das Mittelmeer getrennt ist. Die ukrainischen Offiziere und philippinischen Crewmitglieder eines Containerschiffs, das zwischen Algerien und Spanien verkehrt und dessen Besatzung immer wieder mit Flüchtlingsschicksalen konfrontiert wird. +Nachdem all das Material gedreht war, traf Philip Scheffner eine radikale ästhetische Entscheidung: Er zeigt auf der Bildebene die extrem verlangsamte Fassung von Terry Diamonds Clip, 3:37 Minuten auf 93 Minuten gestreckt. Und sonst nichts. Das Bild eines überfüllten Schiffs voller Namenloser auf dem Mittelmeer, so Scheffler, sei im Laufe der Dreharbeiten ins Standardrepertoire der Berichterstattung über die Flucht nach Europa eingegangen. Deshalb der Verfremdungseffekt. +Wir sehen pro Sekunde etwa einen Frame des Handyvideos. Hoch und runter tanzt ein grobpixeliges winziges Schiff auf dem endlos blauen Mittelmeer, verschwindet mal kurz aus dem Bild, ist mitunter unscharf oder geisterhaft doppelt zu sehen. Die ersten rund 50 Minuten des Films passiert nichts anderes, dann kommt der Schwenk auf die hochhaushohe Glanzfassade des Kreuzfahrtschiffs, auf dem auch wir stehen könnten: weit weg, in Sicherheit – und hilflos. +Der Rest ist ein Hörspiel, strukturiert durch die Funksprüche zwischen dem Kreuzfahrtschiff und den Seenotrettungskräften, denn die "Adventures of the Sea" wartet, bis Hilfe kommt, und versorgt die Geflüchteten mit Wasser. 90 Minuten dauert das, so lange wie "Havarie". +Das klingt anstrengend. Aber es funktioniert. Jedenfalls wenn man mit ein wenig Vorwissen in den Film geht und aufgeschlossen ist. Dann kann man sich hineinziehen lassen in diesen Fluss aus Telefonaten und Schilderungen, auf Arabisch, Französisch, Englisch, Ukrainisch, Spanisch. Die Erzählungen der Protagonisten, die im Film nicht weiter vorgestellt oder eingeordnet werden, drehen weite Schleifen: bis zum Krieg in der Ukraine und dem längst vergangenen Konflikt in Nordirland. Durch die abstrakte Bildebene werden die Geräusche noch präsenter: Schiffsmotorrattern und Meeresrauschen, Vogelzwitschern, Schritte und Handyklingeln, singende Seeleute und die Band des Kreuzfahrtschiffes. + + +"Ist der Strand nicht schön? Ein ganzes Volk ist von hier aufgebrochen", sagt der Algerier Abdallah Benhamou. "Das Leben hier ist wie eingefroren. Du vergisst die Welt da draußen", sagt eine Mitarbeiterin des Kreuzfahrtschiffes. "Ich sah sie im Boot sitzen. Ich kann mich an kein Gesicht erinnern", sagt ein Kollege von ihr, der die Geflüchteten mit Wasser versorgt hat. "Sind die Straßen in Odessa sicher?", fragt der ukrainische Kapitän des Containerschiffs seine Frau am Telefon. "Ich mag das Geräusch der Wellen. Es gibt einem das Gefühl von Frieden", sagt Terry Diamond. "Ich habe von den toten Libyern gehört. Vielleicht wandern ihre Geister noch hier umher", sagt einer der Filipinos. +"Havarie", Deutschland 2016; Regie: Philip Scheffner, Buch: Merle Kröger, Philip Scheffner; 93 Minuten diff --git a/fluter/das-tor-zur-welt.txt b/fluter/das-tor-zur-welt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/das-vichy-regime.txt b/fluter/das-vichy-regime.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0f1276ee603d7b80150db0c15907e40de922e58a --- /dev/null +++ b/fluter/das-vichy-regime.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Als wichtigster Mann neben Marschall Pétain galt Pierre Laval, ein Realpolitiker durch und durch. Noch Mitte der 1930er hatte er versucht, eine französisch-italienische Allianz gegen Nazideutschland aufzubauen. Nun, da das Deutsche Reich scheinbar unaufhaltsam den Kontinent erobert, wandelt er sich zum Kollaborateur. Wie anders sollte man auch in einem Nazi-Europa das eigene Volk regieren, wenn nicht unterwürfig? Andere entscheiden sich für das Gegenteil – und kämpfen als Mitglieder der Résistance, der Widerstandsbewegung, im Untergrund oder vom Ausland aus gegen das Vichy-Regime und die Nationalsozialisten. 1943 gründet Laval die Milice française. Die faschistische paramilitärische Organisation verhaftet vor allem Kämpfer der Résistance und Juden, auch mithilfe der deutschen Sicherheitspolizei. Sofern man sie nicht sofort ermordet, werden sie zu Zehntausenden in deutsche Konzentrationslager deportiert. Beim Massaker von Guerry im Juli 1944, nur eines unter vielen, stürzen Milizionäre 36 Juden in einen tiefen Brunnen, viele von ihnen bei lebendigem Leibe. Dann werfen sie Steinblöcke hinterher. +Der weltanschauliche Riss zwischen jenen, die sich auflehnen, und jenen, die bereitwillig mitarbeiten, zieht sich im Vichy-Regime auch durch Familien. Joseph Darnand, militärischer Leiter der Milice française, wird 1943 Obersturmführer der Waffen-SS, leistet einen Eid auf Hitler. Sein Neffe, Robert Darnand, schließt sich der Résistance an und wird in das KZ Neuengamme am Rande von Hamburg deportiert. +Mit der Befreiung Frankreichs im Sommer 1944 geht das Vichy-Regime unter. Pétain und Laval werden von ihren Landsleuten angeklagt. Sie hätten doch nur das Wohl Frankreichs im Sinne gehabt, verteidigen sie sich. Zum Tode verurteilt werden beide, hingerichtet wird nur Laval. +1995 spricht Präsident Jacques Chirac von Vichy als schwarzer Stunde, die auf ewig die Geschichte Frankreichs beflecken wird: "Den kriminellen Wahnsinn der (deutschen) Besatzer haben Franzosen, hat der État français unterstützt." Kein Staatschef Frankreichs hat je zuvor die Beteiligung des Vichy-Regimes an den Verbrechen der Nationalsozialisten diff --git a/fluter/das-wichtigste-zur-nrw-wahl.txt b/fluter/das-wichtigste-zur-nrw-wahl.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f6910e9da4ac681788c8299b31691f2b501dcbfd --- /dev/null +++ b/fluter/das-wichtigste-zur-nrw-wahl.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +In Nordrhein-Westfalen will nun Armin Laschet (CDU) Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) ablösen. Laschet war in der Regierung von Jürgen Rüttgers Minister für Generationen, Familie, Frauen und Integration. Und er will nun die CDU zurück in die Regierung führen. Kraft ist seit 2010 Ministerpräsidentin von NRW. Sie führte 2010 bis 2012 gemeinsam mit den Grünen eine Minderheitsregierung. Bei der Neuwahl des Landtags 2012 erreichten SPD und Grüne dann eine Mehrheit im Landtag. + +Was sind die größten Probleme in NRW? +Nordrhein-Westfalen ist in vielen Bereichen ein gespaltenes Land: Städte wie Düsseldorf, Köln oder Münster wachsen. Gleichzeitig liegt Nordrhein-Westfalen in vielen Bereichen unter dem Bundesdurchschnitt: Die Ausgaben für Bildung pro Schüler sind niedriger als in den meisten Bundesländern, die Arbeitslosigkeit höher, und auch die Kriminalität wird von vielen Bürgern als zu hoch empfunden. Im Münsterland, Sauerland und Ostwestfalen etwa finden sich viele weltweit erfolgreiche mittelständische Unternehmen. Dort ist auch die Arbeitslosigkeit niedrig. Ganz anders sieht es im vom Strukturwandel geplagten Ruhrgebiet aus: Hier ist die Arbeitslosigkeit höher als in vielen Regionen in Ostdeutschland, es verfallen ganze Stadtteile. Hier haben Kinder und Jugendliche mehr Probleme in der Schule als in anderen Teilen Nordrhein-Westfalens. Das Ruhrgebiet ist die Problemregion des Landes und mit über fünf Millionen Einwohnern so groß, dass seine Schwierigkeiten sich auf das ganze Land auswirken. + + + + +Worüber wird am meisten gestritten? +Die beiden großen Themen der Landtagswahl sind Sicherheit und Bildung. Im Bildungsbereich gibt es zwei wichtige Themen: Soll an den Gymnasien in Nordrhein-Westfalen das Abitur wieder nach neun Jahren abgelegt werden oder wie bisher nach acht Jahren? Gegner des Abiturs nach acht Jahren (G8) haben zu diesem Thema das erste Volksbegehren in Nordrhein-Westfalen seit fast 40 Jahren auf den Weg gebracht. Ein weiterer Streitpunkt ist die Inklusion. Vor allem über die Integration lernbehinderter und sozial auffälliger Kinder in die Schulen wird viel gestritten.Auch wenn die Einbruchszahlen in den vergangenen Monaten zurückgegangen sind, haben viele Menschen das Gefühl, das Leben in Nordrhein-Westfalen sei nicht mehr sicher. Neben den vielen Einbrüchen haben vor allem die Diskussionen über sogenannte No-go-Areas – Stadtteile, in denen die Polizei angeblich die Kontrolle verloren hat – viele Menschen verunsichert. Und auch die Silvesternacht 2016, als es in Köln zu zahlreichen sexuellen Übergriffen auf Frauen am Hauptbahnhof kam, wirkt immer noch nach. + +Wer will was? +Eine gute Zusammenfassung, welche Partei im Wahlkampf welche Forderungen stellt beziehungsweise Versprechungen macht, findet ihr aufbpb.de im "Hintergrund aktuell" zur NRW-Landtagswahl. +Immer wieder erkenntnisstiftend ist es auch, die eigenen Standpunkte mit den Angeboten der Parteien zu vergleichen.Auch zur Landtagswahl in NRW gibt es einen Wahl-O-Mat. + +Wie wird die Wahl wahrscheinlich ausgehen? +Nein, natürlich kann keiner das Ergebnis einer demokratischen Wahl vorhersagen. Die Wahl am kommenden Sonntag ist extrem spannend. Umfragen zufolge liegen SPD und CDU mittlerweile sehr nah beisammen: Beide kommen auf knapp über 30 Prozent. Die Grünen, die lange in den Umfragen verloren, haben sich stabilisiert und werden wahrscheinlich wieder in den Landtag kommen – wenn auch deutlich geschwächt. Die FDP liegt in den Umfragen deutlich über zehn Prozent. Ob die Linke in den Landtag kommt, ist unsicher, sie liegt in den Umfragen zwischen fünf und sechs Prozent. Die AfD hat gute Chancen, in den Landtag einzuziehen. Die Piraten, die in NRW ihre letzte Landtagsfraktion in ganz Deutschland haben, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht die Fünf-Prozent-Hürde überspringen. +Spannend wird auch, wer die neue Regierung stellt. SPD und Grüne haben in keiner Umfrage eine Mehrheit. Die Grünen wollen nicht mit CDU und FDP regieren, haben es aber nicht kategorisch ausgeschlossen. Die FDP hat beschlossen, nicht in eine Koalition mit Grünen und SPD einzutreten. Mit der AfD will niemand reden. Aber auch mit den Linken will keine Partei koalieren. Auch SPD und Grüne nicht. Ministerpräsidentin Hannelore Kraft hat eine solche Koalition sogar ausgeschlossen. Klingt alles kompliziert? Ist es auch: Es könnte lange dauern, bis sich in Nordrhein-Westfalen eine neue Regierung bildet. Oder es geht ganz schnell, wenn SPD und CDU zusammengehen. Eine Große Koalition gilt als wahrscheinlich. + +Sollte ich NRW mal besuchen? +Ja, ganz sicher lohnt es, Nordrhein-Westfalen zu besuchen. Und man kann da auch länger bleiben. Zum Beispiel, um zu studieren: NRW hat sehr viele Universitäten und Fachhochschulen. Es gibt kaum ein Fach, das man dort nicht studieren kann. Viele Hochschulen bieten auch ein duales Studium. Einige dieser Studiengänge integrieren sogar eine anerkannte Berufsausbildung. Und wer an einer Universität im Ruhrgebiet studiert, kann sich über für Großstädte sehr günstige Mieten und einen relativ entspannten Wohnungsmarkt freuen. Natürlich wird in NRW auch viel gefeiert: Festivals wie Juicy Beats in Dortmund, Bochum Total, die C/O Pop in Köln, der Ruhr Reggae Summer und Haldern Pop ziehen jedes Jahr Unmengen von Besuchern an. Fast jede Stadt in NRW hat eine spannende Kulturszene mit Museen, Theatern, Clubs und vielen Kneipen. Und von NRW aus hat man es nicht weit zum Meer: Die Nordsee ist über die Niederlande und Belgien von den meisten Großstädten aus schnell zu erreichen. + diff --git a/fluter/das-wissen-der-haende.txt b/fluter/das-wissen-der-haende.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2b6fa02f1bd6e96544f8fbc6ffafea12d37838a2 --- /dev/null +++ b/fluter/das-wissen-der-haende.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Bis zu diesem Tag hatte es mir ferngelegen, über einen Wechsel von der Tastatur an die Werkbank auch nur nachzudenken. Wozu hatte ich acht Jahre studiert? Aber wenn man so frisch euphorisiert vom Hobby-Bauprojekt leicht widerwillig an den Schreibtisch zurückkehrt, kann einen das Buch des Philosophen Matthew B. Crawford nicht unberührt lassen. "Ich schraube, also bin ich" liest sich wie ein Pamphlet zur Befreiung von den Fesseln des Bürolebens. Glaubwürdig erscheint die Sache, weil der Autor es vorgelebt hat: Laut Klappentext hat Crawford eine große akademische Karriere als politischer Philosoph und Berater sausen lassen und auf Motorradmechaniker umgeschult. +Seine steile These kurz zusammengefasst: Massen von Studenten werden heute durch die Universitäten geschleust, um anschließend in den Großraumbüros von Unternehmensberatungen, Agenturen, Medienfirmen und Konzernen als Projektmanager, Trainees und Consultants Enttäuschung um Enttäuschung zu erleben: dass ihr Hochschulwissen gar nicht gefragt ist; dass unklar ist, wofür die vielen Strategiepapiere, Excel-Tabellen und Powerpoint-Präsentationen überhaupt gut sein sollen; dass ständig an irgendetwas gearbeitet wird, das später gar nicht umgesetzt wird; dass der Einzelne seinen Beitrag zum ständig beschworenen "Teamerfolg" in Wahrheit oft nicht erkennen kann; und dass stattdessen ein ziemliches Getue um das Engagement der Mitarbeiter gemacht werde. Ob sie "sich committen", wie es auf Manager-Deutsch heißt, sich selbst verpflichten. Sich committen, bis der Arzt kommt und Burn-out diagnostiziert. +"Erst in der Werkstatt habe ich das Denken gelernt", schreibt Crawford. Die zahllosen Varianten eines defekten Motorradmotors fordern den Mechaniker immer aufs Neue heraus, sich tief in eine Problemstellung zu versenken. So formt sich auf Dauer ein Charakter von Demut und praktischer Klugheit aus. Und der Wissensarbeiter? Der muss den Wert seiner virtuellen Konzepte unbegrenzt herbeiinterpretieren. Er schlittert entweder in die Sinnkrise oder wird ein selbstverliebter Typ. +Entfremdete Schreibtischarbeit hier und heilbringendes Handwerk dort? Das klang nun auch wieder ein bisschen grob geschnitzt. So sah das auch mein anderer Wochenend-Mitbewohner, dem ich von der verstörenden Lektüre berichtete. Olli ist Beamter. Als Oberamtsrat im Gesundheitsministerium schlägt er sich tagaus, tagein mit Excel-Tabellen herum, einem unüberschaubaren Formel- und Zahlengewirr, mit dem der finanzielle Ausgleich zwischen den Krankenkassen errechnet wird. Oder so ähnlich. Keiner von uns hat Ollis Erklärungen, was er da tut, je so ganz verstanden. Dafür haben wir viel über den Namen des bürokratischen Monstrums gelacht, an dem er da herumdoktert: "Morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich". Davon inspiriert kursierte im Freundeskreis eine Zeit lang das Gedankenexperiment, wer von uns seiner Oma noch mit einfachen Worten erklären könne, womit er sein Geld verdient. Die wenigsten. +Die meisten meiner Freunde arbeiten in Beratungs-, Dienstleistungs- und Agenturjobs, an irgendwelchen Abstraktionen, die man eher so zusammenfassen könnte: integrated, sustainable and holistic business and communication solutions for todays global markets. Mit dem passenden Firmenslogan: Even we don't know what we do. Auch Olli hat darüber gelacht. Trotzdem wollte meine neue Begeisterung fürs körperliche Arbeiten nicht auf ihn überspringen. "Du musst dir anschauen, wie die Wirklichkeit im Bereich ‚Gas, Wasser, Scheiße' aussieht. Wochenend-Noteinsätze, verstopfte Rohre. Nach komplexen Problemlösungen klingt mir das nicht." Er schickte außerdem noch eine Warnung vor Akademikern hinterher, die manchmal dazu neigten, das praktische Arbeiten zu romantisieren. +Doch ich blieb am Ball. Eine Kollegin berichtete neulich von einem Bekannten, der bereits eine kleine Karriere als Drehbuchautor hinter sich hatte, als ihm sein Job fad wurde. Er wollte endlich mal konkret mit den Händen arbeiten, am liebsten als Klempner. Also erkundigte er sich beim Arbeitsamt nach einer Umschulung. Angeblich war die Sachbearbeiterin so erstaunt über dieses Ansinnen, dass sie erst mal einen psychologischen Test anordnete. Es stellte sich heraus, dass der Mann zurechnungsfähig war, aber besser zum Fahrstuhlmechatroniker geeignet als zum Installateur. Ihr Bekannter repariere nun seit ein paar Jahren Fahrstühle, erzählte die Kollegin. Aber vor Kurzem auf einer Party habe er ihr gestanden, dass es demnächst vorbei sein könnte mit seiner Handwerkerkarriere. Fahrstuhlmechatroniker sei kein ganz ungefährlicher Beruf, man müsse viel in Fahrstuhlschächten herumkriechen. Da habe seine Frau Angst um ihn. Die Kollegin hingegen hegte eher den Verdacht, dass es der Frau ums Image ging. "Mein Mann ist Drehbuchautor" klingt eben besser. +Wie steht es nun um das echte Handwerk jenseits von Kitsch und Tratsch? Anruf bei der Handwerkskammer und ohne Umschweife die Hand-aufs-Herz-Frage: Sind die meisten handwerklichen Tätigkeiten nicht letztlich doch ein bisschen stumpfsinnig? Frau Schumann von der Pressestelle sagt: "Das Handwerk deckt ein gewaltiges Spektrum ab, von einfachen körperlichen Tätigkeiten bis hin zu anspruchsvollen technischen Berufen wie etwa im Hörgerätebau oder in der Elektrotechnik. Stupide ist Handwerk nur, wenn man auf einer bestimmten Stufe stehen bleibt, weil man sich nicht genügend engagiert." +Ich denke: sich committen oder was? Frau Schumann sagt: "Außerdem sind die Handwerksbetriebe im Schnitt nur fünf Personen groß. Da haben Sie als Mitarbeiter beste Chancen, sich auch betriebswirtschaftlich weiterzubilden und später mal die Buchhaltung zu übernehmen." Ich denke: um dann doch wieder am Schreibtisch zu landen oder was? Frau Schumann sagt: "Oder Sie machen sich selbständig und können dann beides machen, an Werkbank und Schreibtisch arbeiten. Nirgendwo wird man leichter sein eigener Herr als im Handwerk. Deshalb haben wir in Berufen wie Tischler oder Geigenbauer ja so viele Exoten und Einzelgänger." +Das wäre also das Modell Jörg, der irgendwo an der Grenze von Design, Handwerk und Kunst seine Einzelstücke baut. Am Ende hat mich aber doch Olli überzeugt. Er hatte noch die Frage aufgeworfen, warum dieser Schrauber-Philosoph Crawford denn nicht in der Werkstatt geblieben sei, sondern sich doch wieder an den Computer gesetzt hat, um sein Buch zu schreiben. Es gibt eben auch Schreibtischjobs, die tiefe Befriedigung verschaffen können. Das schöne Gefühl, wenn der Text geschrieben ist, kennt jeder Autor. Und dann erst mal joggen gehen. diff --git a/fluter/das-wunschkind.txt b/fluter/das-wunschkind.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9164a784c453cadec157ff88506955b3884b6bc8 --- /dev/null +++ b/fluter/das-wunschkind.txt @@ -0,0 +1 @@ +*Namen von der Redaktion geändert diff --git a/fluter/datenbanken-fuer-sexualstraftaeter.txt b/fluter/datenbanken-fuer-sexualstraftaeter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..259ae39b6e64de810967413caffe81493f55160a --- /dev/null +++ b/fluter/datenbanken-fuer-sexualstraftaeter.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Leah gestand schließlich auf Anraten ihres Pflichtverteidigers echten Sex, weil sie hoffte, ihren schwierigen Lebensverhältnissen zu entkommen, und wurde daraufhin für zwei Jahre in einer therapeutischen Anstalt untergebracht. Wäre sie älter gewesen, sagte der Richter, hätte er sie lebenslang ins Gefängnis gesperrt. +Das eigentliche Martyrium begann jedoch erst nach der Therapie. Leah wurde in eine öffentliche Datenbank für Sexualstraftäter aufgenommen. Mehr als 750.000 Menschen sind laut der Organisation "Women Against Registry" zurzeit mit Namen, Bild und Adresse gespeichert. Kommerzielle Webseiten wie "Family Watchdog" erstellen Karten und informieren besorgte Nachbarn, dass neben ihnen ein angeblicher Sexverbrecher lebt. Es gibt zahlreiche Beispiele von Jugendlichen, deren Leben so nachhaltig zerstört wurde. Auch Leah hatte keine Chance, ihrer Vergangenheit zu entkommen. "Ich habe unzählige Zusagen für Praktika verloren, nachdem die Arbeitgeber rausfanden, dass ich in der Datenbank bin. Ich musste das College verlassen, verlor mein Stipendium und lebte in einer Obdachlosenunterkunft. Die Chefs von Subway, Burger King und McDonald's sagten mir: ‚Wir stellen keine Sexverbrecher ein.'" +Je nach Bundesstaat dürfen ehemalige Sexualstraftäter auch nicht mehr in der Nähe von Schulen, Spielplätzen oder Kindergärten wohnen. Mittlerweile muss man noch nicht mal einen anderen Menschen berühren, um in der Datenbank zu landen. Es reicht, wenn sich Jugendliche Nacktbilder voneinander schicken und das jemand herausbekommt. Wie schrecklich die Konsequenzen des Onlineprangers sein können, zeigt der Fall von William Elliott. Er hatte mit 19 einvernehmlichen Sex mit seiner 15 Jahre alten Freundin und wurde deswegen angezeigt. Weil er in der Datenbank landete und seine Adresse frei verfügbar war, ermordete ihn später ein Killer, der es Pädophilen heimzahlen wollte. Trotz solcher Vorfälle wurde das US-amerikanische Beispiel sogar in Europa kopiert. 2018 hat Polen ein Register für Sexualstraftäter online geschaltet, in dem auch Teenager zu finden sind. diff --git a/fluter/datensammlung-stasi.txt b/fluter/datensammlung-stasi.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/datenueberwachung-mit-punktesystem-in-china.txt b/fluter/datenueberwachung-mit-punktesystem-in-china.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2da32575c5b76d48ebbad3f88b18be8d30d753fe --- /dev/null +++ b/fluter/datenueberwachung-mit-punktesystem-in-china.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Bis 2030 soll China eine Weltmacht in Sachen künstlicher Intelligenz (KI) werden, so der Plan des chinesischen Staatsrats. Auf diesem Weg ist man schon weit vorangeschritten. Im "Research Asia"-Zentrum von Microsoft werden Wissenschaftler und Ingenieure ausgebildet. Führende chinesische Unternehmen wie Baidu, Alibaba oder Tencent (Chinas Google, Amazon und Facebook) haben ihr Führungspersonal aus diesem Pool ausgewählt. Und sie alle investieren schier abenteuerliche Summen in Hardware, Forschung und Personal. +In Chinas Schulen ist KI längst angekommen. Eindrucksvoll kann man das im Gymnasium Nr. 11 der ostchinesischen Metropole Hangzhou erleben. Hier erfassen in den Klassenzimmern Kameras alle 30 Sekunden die Gesichtsausdrücke der einzelnen Schüler. Mithilfe einer Gesichtserkennungssoftware und des passenden Algorithmus wird festgestellt, ob die Schüler glücklich oder traurig, verärgert oder verängstigt, aufmerksam oder abgelenkt sind. +Fällt die Aufmerksamkeit eines Schülers unter einen bestimmten Wert, kann der Lehrer entsprechend eingreifen. Der Leiter des Gymnasiums will das Projekt keinesfalls als Überwachungsmaßnahme der Schüler verstanden wissen. Es gehe vielmehr um die Lehrer, die durch die Informationen ihren Unterricht verbessern sollen. Die Schüler hätten sich ohnehin schon daran gewöhnt, meint der Direktor. + + +In China sind derzeit rund 800 Millionen Menschen online, sie nutzen Programme wie WeChat, Baidu, Renren oder Wei-bo – Chinas WhatsApp, Google, Facebook oder Twitter – und hinterlassen jedes Mal neue Daten, die alle gesammelt werden: von persönlichen Angaben, Vorlieben und Hobbys über Kauf- und Essgewohnheiten bis hin zu Angaben zu Freunden, Bekannten und Arbeitskollegen. Dazu kommt die Erfassung biometrischer Daten, zum Beispiel durch die sich rasch verbreitende Gesichtserkennung. +Geht man in der Millionenstadt Hangzhou bei der Imbisskette Kentucky Fried Chicken essen, muss man zum Bezahlen weder seine Geldbörse noch sein Smartphone zücken. Nach der Bestellung scannt eine 3-D-Kamera das Gesicht des Kunden, der dann noch seine Handynummer eingibt. Der Vorgang dauert kaum mehr als ein paar Sekunden. Entwickelt wurde das Projekt "Smile to Pay" von Ant Financial, einer Tochter des chinesischen E-Commerce-Giganten Alibaba. Auch erste Supermärkte, die die Bezahlung nur mit dem Gesicht testen, erfreuen sich regen Zulaufs. +Während in Amerika und Europa viel über die Gefahren der neuen Technologie und den Datenschutz debattiert wird sowie über die Frage, was mit den Daten passieren soll, ist die Wahrung der Privatsphäre in China kaum ein Thema. Wenn doch, dann geht es in Gesetzentwürfen darum, einzelne Nutzer oder Unternehmen abzustrafen, die allzu freizügig mit fremden Daten umgehen, zum Beispiel im Onlinehandel. Der Staat selbst schränkt seine Behörden jedoch nicht ein. Forderungen nach mehr Datenschutz werden ignoriert, sie machen wohl in einem diktatorischen Staat, der auch in anderen Bereichen Menschenrechtsfragen hintanstellt, wenig Sinn. +Während es im Schnellimbiss um Bequemlichkeit geht, betont Chinas Polizei, dass das Leben eines jeden Einzelnen dank KI sicherer werde, wenn etwa mit ihrer Hilfe Kriminelle gefasst würden. Entsprechend setzt man die Technologie längst flächendeckend ein: Schätzungen zufolge werden Chinas Einwohner von mehr als 176 Millionen Kameras auf Schritt und Tritt beobachtet. Die Grundlage bildet die Gesichtsdatenbank des Staates. Denn jeder chinesische Personalausweis hat ein biometrisches Passbild, mit dem sich der jeweilige Bürger wiedererkennen lässt. Im Straßenverkehr werden so Verkehrssünder automatisiert zur Rechenschaft gezogen, in etlichen Städten werden Personen beim Über-Rot-Gehen innerhalb von Sekunden auf großen Bildschirmen mit Foto und nicht selten mit persönlichen Informationen wie dem Namen bloßgestellt. +Selbst in großen Menschenmengen gelingt es Chinas Polizisten, mittels spezieller Datenbrillen gesuchte Personen ausfindig zu machen. Eine kleine Kamera an der Sonnenbrille der Polizisten erfasst die Gesichter der Passanten. Die verknüpften Systeme sollen jeden Chinesen, der in der zum Abgleich herangezogenen Datenbank mit Gesichtern gespeichert ist, in Sekundenschnelle erkennen können. So seien im Getümmel am Bahnhof von Zhengzhou während des chinesischen Neujahrsfestes sieben Flüchtige und 26 Personen mit gefälschten Ausweisen gefasst worden, lobt die regierungsnahe chinesische Zeitung "People's Daily". + + +Datenschützer und Menschenrechtsaktivisten stehen den Gesichtserkennungsbrillen kritisch gegenüber. "Einzelnen Polizisten Gesichtserkennungstechnik in Sonnenbrillen zugänglich zu machen könnte den chinesischen Überwachungsstaat noch allgegenwärtiger werden lassen", befürchtet William Nee, China-Experte bei Amnesty International. +Nees Befürchtung könnte schon bald Wirklichkeit werden, denn Chinas Regierung will alle Daten zusammenführen in einem allumfassenden "Social Credit System". Schon 2014 veröffentlichte die Regierung in Peking einen entsprechenden Plan zur Schaffung eines Systems, das die Gesellschaft in gute und schlechte Menschen unterteilt. Sämtliche Lebensbereiche sollen erfasst werden: Wer pünktlich seine Rechnungen bezahlt, Verkehrsregeln beachtet, regelmäßig spendet oder sich um seine Eltern kümmert, zum Beispiel indem er oder sie deren Arztrechnungen begleicht, erhält Pluspunkte auf seinem digitalen Verhaltenskonto. +Nicht konformes Verhalten hingegen hat einen Punktabzug zur Folge – ein kleines Minus, wenn der Hund einen Haufen auf einen öffentlichen Rasen setzt; ein großes Minus, wenn man Kritik an der Politik des Landes äußert. All das wird Folgen haben: Menschen mit einem hohen Punktestand werden belohnt, können Zulassungen für Schulen, Beförderungen bei der Arbeit oder schneller einen Termin beim Arzt bekommen. Menschen im unteren Bereich des Verhaltenskontos müssen um ihre Zukunft bangen, denn nicht nur die Bürger können den Punktestand anschauen, auch Arbeitgeber, Banken, Vermieter und sogar Reiseanbieter sollen Einblick erhalten. +Viele Chinesen scheint das allerdings nicht sonderlich zu stören. Einer aktuellen repräsentativen Umfrage der Freien Universität Berlin zufolge befürworten 80 Prozent der Befragten ein solches System. Es sei gut, wenn gesetzestreue Bürger belohnt und Leute, die gegen Regeln verstoßen, bestraft würden. Auch in persönlichen Gesprächen im Himmelstempel, an der Fußgängerampel oder im Schnellimbiss mischt sich nur selten Missmut unter die generelle Zustimmung. Schon jetzt habe der Staat schier unbegrenzte Kontrollmöglichkeiten, heißt es dann. Durch das digitale Megaprojekt würde sich die staatliche Überwachung nicht erhöhen. +Das "System für soziale Vertrauenswürdigkeit" wird schon jetzt in etlichen Regionen Chinas getestet. Bis 2020 soll es dann jeden der 1,4 Milliarden Chinesen im Land digital erfassen – und bewerten. Dann wird aus Big Data tatsächlich Big Brother. + +Fotos: GILLES SABRIE/NYT/Redux/laif diff --git a/fluter/dating-liebe-games-listicle.txt b/fluter/dating-liebe-games-listicle.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ee7fbb2e4625ccf39460ff7dc3025296eed9f63c --- /dev/null +++ b/fluter/dating-liebe-games-listicle.txt @@ -0,0 +1,30 @@ + + +Videospiele sind voller Hindernisse. Die gängigste Methode, die zu überwinden, ist, sie zu bekämpfen. "Undertale" unterwandert dieses Prinzip: Als Spieler*in übernimmst du die Rolle von Frisk, der menschlichen Hauptfigur, die zu Beginn in eine Unterwelt voller Monster fällt. Nun hast du die Wahl, ob du diese Monster als Freund*innen, Flirts oder als Bedrohung wahrnehmen willst. Zuneigung und Zärtlichkeit werden so Teil der Spielmechanik, zu einer von zwei Arten, "Undertale" zu spielen. Es ist dir überlassen, ob LV (Level) für "Love" oder "Level of Violence" steht. Letzteres wäre aber schade, schließlich ist die Pixelunterwelt voll von queeren Charakteren, die kennenzulernen sich lohnt. Wie auch in der analogen Welt ist es dabei für die NPC oft nicht so leicht, beim Flirten die richtigen Worte zu finden. Umso schöner ist beispielsweise der Moment, wenn du zwei Wachen dabei helfen kannst, ihre Gefühle füreinander auszudrücken: "I like, LIKE you, bro!", bricht es irgendwann aus ihnen hervor. + +"Undertale"von Toby Fox (2015, für PC, MAC, Linux, Nintendo Switch und PlayStation 4, 9,99 Euro) + + + +"Dream Daddy" wird als "Dad Dating Simulator" angepriesen. Das Spiel gehört zum Genre der "Visual Novel", einer Art interaktivem Roman. Darin bist du als alleinerziehender Vater gerade mit deiner Teenagertochter Amanda in eine neue Gegend gezogen, in der zufällig auch sieben sehr attraktive andere Dads wohnen. Zwischen Dad-Jokes und Minispielen verhandelt "Dream Daddy" Themen rund um Dating und Familienkonstellationen abseits der heteronormativen Kernfamilie. Schon bei der Gestaltung deines Avatars kommen trans Identität,Bisexualität, Adoption und der Verlust eines Elternteils oder einer Partner*in ganz selbstverständlich vor. Die Dads sprechen offen über ihre Ängste und unterstützen sich gegenseitig bei der Elternschaft. Beim Daten hat jeder Dad seine eigenen Vorlieben und Bedürfnisse: Geht ihr gemeinsam auf ein Bier oder auf ein Konzert? Prahlst du mit den Zeugnissen deiner Tochter? Gefällt dem Dad deine Antwort, regnet esHerz- und Auberginen-Emojis. Zugegeben, ganz so einfach ist Daten im echten Leben nicht. Aber genau deshalb macht es ja so Spaß, den Dads beim unkomplizierten Flirten zuzusehen. + +"Dream Daddy"von Game Grumps (2017, für PC, MAC, Linux, Nintendo Switch und PlayStation 4, 14,99 Euro) + + + +In diesem Minigame von Anna Anthropy, der Queenqueerer Indie-Games, musst du drei Liebhaber*innen (und eine Katze) in einem Doppelbett unterbringen. Das kleine Puzzle geht humorvoll auf Probleme polyamorer Beziehungen ein und stellt sie angenehm alltäglich dar. Wer schnarcht, wer rollt unkontrollierbar auf der Matratze herum, und wer beansprucht die Bettdecke nur für sich? Heißer Sex ist also nicht das Thema von "Triad" – eher die Frage, was danach passiert. + +"Triad"von Anna Anthropy und Leon Arnott, Musik von Liz Ryerson (2015, für Windows und MAC, kostenlos) + + + +Wem "Triad" zu kurz angebunden ist, sollte es mit "Don't Make Love" probieren: Hier wird ausführlich kommuniziert. Im Mittelpunkt steht ein verliebtes Hetero-Gottesanbeter*innenpaar (ja, genau, die Insektenart), das sich am Scheidepunkt seiner Beziehung befindet. Die beiden hätten gerne Sex, fürchten aber, das Weibchen könne seinen Instinkten folgen und dem Männchen den Kopf abbeißen. Welche Seite du dabei spielen möchtest, ist dir überlassen. Mit einem Chatbot, der den jeweils anderen Part einnimmt, wägst dudie Konsequenzen deines sexuellen Handelns ab, besprichst Ängste und definierst eure Vorstellungen von Nähe und Distanz. Vorgefertigte Antworten gibt es dabei nicht, du kannst deine Entgegnungen selbst formulieren. Wie das Spiel ausgeht – ob ihr Sex habt oder nicht und was das für eure Beziehung bedeutet –, hängt ganz von dir und dem Chatbot ab. Ein Durchgang dauert etwa eine halbe Stunde, aber anders als beim analogen Dating hast du hier unbegrenzt viele Versuche. + +"Don't Make Love"von Maggese (2017, für PC, 3,99 Euro) + + + +In der Visual Novel "Genderwrecked" begibst du dich auf eine Held*innenreise über eine aus Schriftzeichen bestehende Inselgruppe – immer mit der Frage im Hinterkopf, was es mit dem Begriff "Gender" eigentlich auf sich hat. Dabei triffst du auf Monster, die in ganz unterschiedlichen Aggregatzuständen daherkommen: Manche scheinen flüssig zu sein, manche fest, manche gasförmig. Die Bandbreite der Identitäten ist – so wie ja auch im analogen Leben – groß: Sie reicht von stacheligen Baumgestalten bis zu lodernden Feuerballwesen. Mit ihnen kannst du reden, knutschen und kämpfen. Sie antworten dir auf deine Fragen zu Genderthemen, werfen dabei aber auch immer wieder neue auf, so poetisch sind ihre Antworten. Sie sprechen über ihre Familien- und Beziehungskonzepte, über Fremd- und Selbstakzeptanz, und manchmal bitten sie dich auch, ihnen bei der Suche nach den richtigen Pronomen zu helfen. + +"Genderwrecked"von Ryan Rose Aceae und Heather Robertson (2018, für PC, MAC und Linux, 6 Euro) + diff --git a/fluter/dating-lockdown-protokolle.txt b/fluter/dating-lockdown-protokolle.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..14e49ec9dc87d7990a2efcd62a647023bdd1083f --- /dev/null +++ b/fluter/dating-lockdown-protokolle.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Mit Dating in der Corona-Pandemie beschäftigt sich die Studie "Partner 5" von Heinz-Jürgen Voß, Professor für Sexualwissenschaft und Sexuelle Bildung. Repräsentativ ist sie zwar nicht, aber einige Hinweise geben kann sie laut Voß: Die partnerschaftliche Situation habe sich für 47 Prozent der Jugendlichen durch die Corona-Zeit nicht verändert, 27 Prozent beschrieben sie als verschlechtert, 26 Prozent als verbessert. +"Jugendliche wollen erst mal Leute kennenlernen, und dabei ergeben sich erste Liebesbeziehungen und Partnerschaften", sagt Voß."Es geht nicht in erster Linie um ein schnelles Sexdate per Dating-App,sondern sie probieren in ihrem nahen Umfeld oder bei Clubbesuchen aus, wie man sich kennenlernen kann." +Er sieht aber, wie auch die befragten Teenager angaben, dass es positive Entwicklung durch Social Media gibt: Online konnten viele Jugendliche auch auf Distanz soziale Interaktionen aufrechterhalten oder neue knüpfen. Wir haben drei Jugendliche und eine Mutter gefragt, wie es ihnen in der Corona-Zeit datingmäßig ergangen ist: + +– Shinda, 16, Schülerin +"Die Corona-Zeit war sehr schwer für mich", sagt Shinda mit leiser Stimme und schaut auf den Boden. Sie sitzt auf einer Treppe vor einem Neuköllner Jugendtreff. In dem Berliner Bezirk wohnt Shinda seit acht Jahren mit ihren Eltern und drei Geschwistern. +Über Instagram habe sie zwar auch während der Lockdowns ab und zu Jungs kennengelernt. Die durften aber von ihren Eltern aus nicht zu ihr nach Hause zu Besuch kommen. "Und eine Beziehung fast nur über das Internet zu führen, das klappt nicht", sagt Shinda. "Wenn man sich zum Beispiel streitet, ist es viel schwerer, sich danach wieder zu vertragen." Die neuen Bekanntschaften hielten nicht lange. +"Meine Eltern sind sehr streng, auch schon vor Corona", sagt Shinda. Sie darf selten mit Freund*innen rausgehen und durch die Straßen ziehen. Wenn der Unterricht stattfindet, hat sie in der Schule aber vorher und nachher zumindest noch ein bisschen Zeit mit ihnen. "Während der Lockdowns war es nicht schön, auf Social Media zu sehen, dass meine Freunde unterwegs sind – während ich selbst nicht rausdurfte und mit meinen zwei jüngeren Schwestern in einem Zimmer saß", sagt sie.Nicht nur zum Daten, auch zum Lernen fände sie einen Rückzugsort schön:Sie hatte zwar von der Schule ein Tablet bekommen, sitzt aber während der Onlinebeschulung mit ihren Geschwistern gemeinsam in einem Zimmer – alle in unterschiedlichen Onlinekonferenzen. + +– Eddie, 15, Schüler +"Es hat sich viel verändert für mich, aber vielleicht gar nicht so viel, wie man denken würde", sagt Eddie. Er lebt mit seiner kleinen Schwester und den Eltern in Berlin und besucht eine bilinguale Privatschule in Mitte. Für ihn seien die harten Lockdowns nicht das Ende der Welt gewesen, seine Eltern hätten genug Zeit für ihre Kinder und genug Geld, um jedem einen eigenen Laptop zu kaufen. Dafür hat Eddie aber anderes vermisst: "Ich bin mit 14 in den Lockdown gekommen. Ich hatte vor, viel rauszugehen und Leute zu treffen, der Lockdown war wie ein Stoppschild." +Stattdessen hat Eddie versucht, online Leute kennenzulernen. Über Instagram zum Beispiel werden einem Freund*innen von Freund*innen vom Algorithmus vorgeschlagen. "Wenn jemand eine Story postet, fällt es leichter, eine Nachricht zu schicken, einfach als Reaktion darauf", erklärt Eddie. Er hatte auch ein, zwei Dates. "Man durfte sich ja weiterhin zu zweit treffen", sagt er. +Seine erste Freundin hat er dann auch per Instagram kennengelernt. Beim ersten analogen Treffen war noch eine gemeinsame Freundin mit dabei, damit es nicht zu unangenehmem Schweigen kommt. "Wir hätten uns ohne die Corona-Situation wahrscheinlich gar nicht erst kennengelernt", sagt Eddie. + +– Anika, 31, Mutter +Anika hat eine heute 14-jährige Tochter. Vor der Pandemie war für Tochter Leni* Verlieben oder Flirten noch kein Thema, sagt ihre Mutter. Sie hatte geregelte Computerzeiten, doch während der Onlinebeschulung haben die nicht mehr funktioniert. "Bei uns gab es immer die Internet-Regel, dass sie, wenn sie mit Fremden chattet, nichts Privates preisgibt: keine Fotos, keine Telefonnummer, keine Adresse", sagt Anika. Leni hat dann bei einem Onlinespiel einen Jungen kennengelernt und sich dazu entschieden, mit ihm per Discord weiter in Kontakt zu bleiben – über die Plattform kann man videotelefonieren, ohne Telefonnummern auszutauschen. +Erst nach ein paar Wochen fand Anika heraus, dass ihre Tochter einen Onlinefreund hat. Er ist drei Jahre älter und wohnt etwa sechs Stunden entfernt. Den Altersunterschied findet Anika beunruhigend. Da Leni zu dem Zeitpunkt unter 14 Jahre alt ist, würde sich ihr älterer Freund bei sexuellen Handlungen mit ihr des Kindesmissbrauchs strafbar machen. Anika glaubt, dass ihre Tochter unter "normalen Umständen", also ohne Pandemie, eher jemanden in ihrem Alter kennengelernt hätte. "Das Schwierigste für mich als Mutter ist aber, die Bedürfnisse zu sehen und zu bedienen – vor allem in Zeiten, wo die ersten Annäherungsversuche oft eben nicht beim Flaschendrehen in der Schule passieren", sagt Anika. Was soll sie erlauben? Wie kann sie ihrer Tochter erste Erfahrungen ermöglichen? "Außerdem haben sich unsere Aufklärungsgespräche bezüglich der eigenen Grenzen bis dahin auf Offlinetreffen bezogen", sagt sie. Das hat sie dann schnell nachgeholt. + +– Maria*, 17 Jahre, Schülerin +Maria war 15 Jahre alt, als der erste Lockdown losging. "Erst mal war es cool, nicht mehr in die Schule gehen zu müssen, aber ziemlich schnell fand ich es dann nicht mehr gut", erzählt sie. Sie wäre sehr schüchtern gewesen, hätte nicht viele Freunde gehabt undwäre im Lockdown dann umso einsamer gewesen. +"Durch Corona hatte ich Lust darauf, wieder Kontakt mit Leon aufzunehmen", sagt Maria. Leon ist der Sohn der Freundin ihrer Mutter. Die zwei kennen sich schon lange und haben sich immer wieder mal gesehen. "Mir ging es schlecht, und er war plötzlich der Einzige, mit dem ich reden konnte." +Mitten im Lockdown näherten sich die zwei an, besuchten sich gegenseitig und schauten gemeinsam Serien. Aus der intensiven Freundschaft entwickelte sich nach einem Jahr mehr. Als feste Beziehung würde Maria ihr Verhältnis zu Leon aber nicht bezeichnen. "Es ist eher Freundschaft plus." Eine, die ohne Lockdown wahrscheinlich nicht stattgefunden hätte. + +* Namen geändert + +Titelbild: Maša Stanić / Connected Archives diff --git a/fluter/daumen-hoch.txt b/fluter/daumen-hoch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3d2f4a469394bf982f5f21f49a332ecc79587208 --- /dev/null +++ b/fluter/daumen-hoch.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Ich habe mein Facebook-Profil bei einem Like-Vermittler registriert und bin nun einer von angeblich 1,6 Millionen Claqueuren, deren Beifall der Dienstleister an Unternehmen weiterverkauft. Angeblich ist das legal, heißt es auf der Internetseite. Umstritten ist es dennoch: Der Deutsche Rat für Public Relations spricht von einer "Verletzung der ethischen Regeln öffentlicher Kommunikation", der Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft von einer "unseriösen Irreführung". +Im Netz sind Fans und ihre Gefallensbekundungen eine entscheidende Währung. Eine weltweite Umfrage der Marktforschungsfirma Nielsen hat 2015 herausgefunden, dass 66 Prozent der Verbraucher Online-Bewertungen vertrauen, nur das Wort von Freunden und Familie (83 Prozent) und Unternehmenswebseiten (70 Prozent) hat noch mehr Gewicht. Klassische Werbung ist dagegen weit abgeschlagen. "Wir lassen uns von Online-Bewertungen beeinflussen, selbst wenn wir wissen, wie unzuverlässig sie oft sind", sagt der Internetsoziologe Stephan Humer. +Oft leuchtet mir ein, was man sich von meinen Likes verspricht: Man setzt sich lieber zu einem Arzt ins Wartezimmer, der viele gehobene Daumen bekommen hat. Eine Kneipe wirkt einladender, wenn sie im Netz nicht Leere und Langeweile ausstrahlt. Und ein Bordell erscheint wie ein ganz normales Service-Unternehmen, wenn sich vermeintliche Kunden bei Facebook mit Klarnamen outen. +Nur auf dieses Hundefoto kann ich mir keinen Reim machen. Das Profil der Halterin: unauffällig. Die Bilder vom Besuch mit der Familie im Affenwald: 25 Likes. Ein anderes Hundebild: 13 Likes. Der Labrador am Strand: 957. Ich klicke auf "Gefällt mir", bin Nummer 958. +Ich frage bei einigen an, warum sie sich Likes kaufen. Zum Beispiel die Franchise-Kette aus dem Chiemgau, die aus dem Foodtruck heraus deutschlandweit Currywürste verkauft. Deren Geschäftsführer erklärt, warum es so schwierig ist, für Würste Publicity zu schaffen – und verweist ansonsten auf seine Werbeagentur. Die meldet sich jedoch nicht mehr. Der christliche Radiosender aus Berlin: Funkstille. Die Kandidatin aus dem "Promi Big Brother": schweigt. Ein rechtsextremes Blog aus Bayern: keine Reaktion. +Am ehrlichsten ist der Schauspieler, der den Kommissar in einer ZDF-Vorabendkrimiserie spielt und gleich zurückruft. Die Sache sei so gewesen, erklärt er: Er habe früher einmal eine Seite für seine Fans bei Facebook gehabt, aber die sei irgendwann übergelaufen mit blöden Kommentaren, Leute, die seinem Vorgänger nachtrauerten und über ihn nur geschimpft hätten. Also hat er die Seite gelöscht. +Aber dann meinte seine Produktionsfirma, er müsse doch als Hauptdarsteller bei Facebook präsent sein. Es würde doch ewig dauern, seine Fans von früher wiederzugewinnen, habe er entgegnet. Man könne Fans kaufen, machten doch alle. 1.000 Stück für 89 Euro, lautete die Antwort. Er habe sich nichts weiter dabei gedacht, erzählt der Fernsehermittler am Telefon. Jetzt ist es ihm allerdings peinlich. +Und die Hundebesitzerin aus Thüringen? Warum braucht man Likes für ein privates Foto? Die Antwort zeigt, in was für eine absurde Kreislaufwirtschaft der Handel mit den Likes führt. Viele Unternehmen versuchen bei Facebook durch Gewinnspiele Aufmerksamkeit für sich zu bekommen – mit redlichen Mitteln also und ohne gekaufte Fans. +Ein Tierfutterhersteller zum Beispiel ruft seine Nutzer dazu auf, Hundefotos zu posten: Wer die meisten Likes bekommt, gewinnt. Bei solchen Wettbewerben, erzählt die Hundebesitzerin aus Thüringen, mogle sie ein bisschen. Einmal sei sie aufgeflogen: Sie hatte einen Haken falsch gesetzt, und plötzlich bekam ihr Hund lauter verdächtige Stimmen aus Südamerika. Ein anderes Mal habe sie gewonnen: ein Wochenende im Fünfsternehotel an der Ostsee im Wert von 800 Euro. Mit dem Labrador am Strand ist sie knapp gescheitert. Die Likes haben diesmal nur für den zweiten Platz gereicht. diff --git a/fluter/david-meskhi-when-the-earth-seems-to-be-light.txt b/fluter/david-meskhi-when-the-earth-seems-to-be-light.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bc258fd1a2bfa5627dfd5c60caa66094724233d5 --- /dev/null +++ b/fluter/david-meskhi-when-the-earth-seems-to-be-light.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +fluter.de: Wie kommt man eigentlich auf die Idee, ausgerechnet in Georgien die Skater zu fotografieren? Gibt es denn da überhaupt welche? + +David Meskhi: Ich arbeitete vor zehn Jahren für ein Magazin und habe ein Trainingszentrum für Bodenturner fotografiert. Als ich auf der Straße zwei Skater entdeckte, merkte ich, dass die eine ähnliche Akrobatik haben wie die Turner. Das wollte ich fotografieren. Aber es war schwer, genug Skater für eine Fotostrecke zu finden. Damals gab es nämlich genau zwei in Tiflis. Ich fragte einen Freund, der in einer Punkband spielte, ob er nicht mitskaten könnte. Man sah auf den ersten Bildern wohl mehr Skater, als es damals in ganz Georgien gab. +Die müssen ein ziemlich außergewöhnlicher Anblick auf den Straßen von Tiflis gewesen sein. Wurden es dann mehr? +Ja. Wir haben viel Feedback auf die Fotos bekommen und bald vier weitere Skater kennengelernt. Mit denen haben wir dann Orte gesucht, die ein bisschen besser aussehen, und mehr Bilder gemacht. Die Skater haben die Fotos dann auf sozialen Netzwerken geteilt. So entstand irgendwann eine kleine Subkultur. Einige wollten Skater werden, aber mehr noch wollten Fotos von Skatern machen. +Die Fotos sind in den letzten zehn Jahren entstanden. Ihr Look sieht aber sehr nach 70er-Jahren aus. Das weiche Gegenlicht könnte auch in Kalifornien sein, wo das Skateboarden entstand. War das eine bewusste Entscheidung? + +Nein, Zufall. Damals habe ich noch analog fotografiert und in Georgien waren die Filme, die man kaufen konnte, halt schon oft abgelaufen. Deshalb hatten die diesen speziellen Look. Aber mir gefiel das. Ich mag diese frühe amerikanische Skateszene. Die hatte etwas Umstürzlerisches, das war ein soziales Statement. Und ich fand interessant, dass das auch in unserem Land losgeht. Diesen Moment wollte ich festhalten. Wie gut die ihre Tricks können, hat mich weniger interessiert. +Die Spots, an denen die Kids skaten, sehen aus wie Ruinen der sozialistischen Vergangenheit. +Die meisten sind verlassene Orte. Manche haben wir zusammen gesucht, an manche habe ich sie gebracht, weil man auf öffentlichen Plätzen nicht gut fotografieren oder filmen kann. Da kommt immer wer und mault die Skater an. Außerdem wollte ich Orte, die den Zustand unseres Landes repräsentieren. Viele Aufnahmen sind in einem Reitstadion entstanden, das nie zu Ende gebaut wurde, weil das Geld ausging. Genau so fühlt sich Georgien heute an. +In der Doku, die aus der Fotostrecke entstand, beschwert sich ein Skater, dass er immer Ärger wegen seiner langen Haare hat. Wie schwer ist es denn, in Georgien ein Außenseiter zu sein? +Vor über 25 Jahren zerbrach die Sowjetunion.Zu den ersten unabhängigen Staaten zählte Georgien, das bald von der EU anerkannt wurde. Wie in vielen ehemaligen Teilstaaten der Sowjetunion etablierte sich bald ein autoritäres System, das die Rosenrevolution 2003 schließlich beendete. 2008 kam es zu einer bewaffneten Auseinandersetzung mit Russland in den Provinzen Abchasien und Südossetien. Der Konflikt ist bis heute ungelöst. Seit Sommer 2016 hat Georgien ein Assoziierungsabkommen mit der EU. Das Europäische Parlament will die derzeit noch bestehende Visumspflicht für Georgier, die in die EU einreisen wollen,bald aufheben. +Ich habe in den 90er-Jahren in einer Post-Punk-Band gespielt und trug Ohrringe. Auf der Straße haben immer wieder Leute an denen gezogen. Diese Kids sind interessant, weil die immer die kalifornischen Skatevideos schauen, andererseits in diesem orthodox dominierten Land leben. Bilder aus Georgien, das sind der Staat, die Kirche, die Berge.Und die Kriege der letzten Jahrzehnte. In dieser Bilderwelt die Skater zu zeigen war mir wichtig. Es ist ja auch ein junges Land. Die anderen jungen Leute sollen sehen, dass etwas passiert. +Im Film werden immer wieder Fernsehausschnitte eingeblendet. Einmal sieht man wie ein wütender Mob, angeführt von orthodoxen Geistlichen, eine kleine LGTBQ-Parade angreift und verprügelt. Ist die Kirche wirklich so mächtig? + +Früher kontrollierte der KGB (der ehemalige Geheimdienst der Sowjetunion, Anm.) das Leben, heute ist es die Kirche. Als ich in der Filmschule war, konnte eine Unterrichtsstunde über die Nouvelle Vague damit beginnen, dass ein Priester reinkam und wir uns erstmal bekreuzigen und beten mussten. Seither hat sich nicht viel getan. Es gibt immer noch Leute, die bereit sind, jemanden um die Ecke zu bringen, weil er queer ist. Die Fernsehszenen, die wir in den Film geschnitten haben, stammen alle aus der Zeit, als wir gedreht haben. Wir haben die nicht über Jahre gesammelt. +In Russland gibt es eine starke antiwestliche Strömung. Ist das in Georgien ähnlich? +Nein, Georgien war immer schon stärker Europa zugewandt als Russland. Die denken immer noch, der Westen sei der Feind. Was den Jungen in Georgien das Leben schwer macht, ist die orthodoxe Tradition. Die Mehrheit der Menschen glaubt der Kirche auch noch. Trotzdem nähern wir uns dem Westen an. Mit sehr kleinen Schritten. +Was dachten die Skater, als sie den Film gesehen haben? +Die waren schockiert. Die dachten, wir würden einen coolen Skatefilm drehen. Aber als der Film erfolgreich auf Festivals lief und auch ihre Eltern ihn mochten, da entstand ein Dialog zwischen den Generationen. Jetzt sind sie Celebrities der Subkultur. Das finden die natürlich gut. +Was machen die Skater heute? Im Film war es ja völlig unklar, wie es mit ihnen im Leben weitergehen würde. +Fast alle sind heute an der Uni, ein paar an der Kunsthochschule. Einer ist Koch, ein anderer Kameramann, einer studiert Film in Marseille. Der mit den Tattoos ist ein Multitalent. Er macht Hip-Hop, Mode, Kunst. Geschäftsmann wurde keiner. Und der Franzose, der mitskatet und auch schon mal in einem Film von Larry Clark war, der ist gerade in einer Kampagne für Saint Laurent zu sehen. +"When the earth seems to be light". R: Salome Matschaidse, Tamuna Karumidze, David Meskhi, Deutschland, Georgien, 2015, 75 Min. diff --git a/fluter/ddr-kurze-einfuehrung-editorial.txt b/fluter/ddr-kurze-einfuehrung-editorial.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/death-doula-interview.txt b/fluter/death-doula-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..40ba05a27b460414e5f8176cb7bf2c7154017d48 --- /dev/null +++ b/fluter/death-doula-interview.txt @@ -0,0 +1,31 @@ +Warum braucht es dafür eine eigene Berufsbezeichnung? +Besonders im deutschen Raum ist der Begriff, der ja eine Anlehnung an die "Doula", eine Art Hebamme, ist, noch wenig definiert. Das ist gut: Wir können ihn also individuell mit Leben füllen. Viele der herkömmlichen Trauerangebote in Deutschland klingen nach Käsekuchen und Staubigkeit. Wir brauchen meiner Meinung nach generell einen neuen Umgang mit dem Sterben, und deshalb finde ich auch einen neuen Begriff adäquat. +Wieso sind Sie Death Doula geworden? +Bei der Geburt meiner zweiten Tochter bin ich mit der Möglichkeit des Todes konfrontiert worden. So ist das ja bei vielen Geburten – es ist eine sehr existenzielle Erfahrung. Seither fasziniert mich der Übergang von der einen in die andere Welt, der immer da ist, aber gerne wegorganisiert wird. Ich hab mich bei dem Verein Going With Grace ausbilden lassen. Gemeinsam mit den Betroffenen versuche ich dem Tod auf individuelle Weise zu begegnen und mit kreativen Ideen mit dem nahenden Ende umzugehen. +Wie gehen wir als Gesellschaft denn für gewöhnlich mit Verstorbenen um? +Eigentlich gar nicht, das übernehmen andere für uns. Genau das sollte sich ändern. Ich persönlich möchte wissen, dass es "meinen" Toten gut geht, bis sie bestattet werden. Was passiert zwischen dem Eintreten des Todes und der Bestattung? Das wissen Angehörige oft gar nicht. +Also geht es Ihnen um mehr Selbstbestimmung? +Und um Selbstvertrauen, diesen Weg zu gestalten – und sich, wenn man will, bewusst dabei begleiten zu lassen von Personen, die vielleicht mehr darüber wissen. So wie wir uns auch von einer Hebamme begleiten lassen, wenn wir ein Baby bekommen. In Gesprächen mit Kindern habe ich festgestellt, dass man sich immer viel Mühe gibt, den Tod von ihnen fernzuhalten, während sie selbst kaum Berührungsängste haben. Das spiegelt das Verständnis in der Gesellschaft gut wider: Die Sendenden haben das Gefühl, den Empfangenden nichts zumuten zu können. +Warum wird der Tod so gerne ausgeklammert? +Das ist nicht überall so. In Lateinamerikaund vielen asiatischen Ländern beispielsweise gibt es viel mehr Berührung mit dem Todals in Westeuropa. Ich kann mir vorstellen, dass das mit den Weltkriegen zusammenhängt: Da hat der Tod in übernatürlichem Maße "zugeschlagen" und die Menschen emotional, aber auch logistisch überfordert. Man hat begonnen, den Tod zu institutionalisieren, ihn in Kliniken und Bestattungsinstitute auszulagern, schnell wieder nach vorne zu schauen. Wenn jemand stirbt, ist es der natürliche Reflex, den Bestatter oder die Bestatterin anzurufen und den leblosen Körper direkt wegschaffen zu lassen. +Weil wir nicht wissen, was wir mit einem toten Körper machen sollen? +Genau, dabei wäre es doch relevant für unsere Gesellschaft zu wissen, was man tut, wenn ein toter Mensch vor einem liegt. +Und das wäre? +Um einen Körper erst mal zu Hause zu behalten und individuell Abschied zu nehmen, bedarf es eigentlich nur einer angemessenen Kühlung durch Kühlpads und einer leichten hygienischen Versorgung: waschen und Papier unterlegen, um Körperflüssigkeiten aufzufangen. Das ist, je nach Bundesland, auch für bis zu 36 Stunden erlaubt – und sogar noch länger, wenn man es beantragt, nur weiß das kaum jemand. Dass ein toter Mensch mit im Raum ist, ist für uns deshalb ein total ungewöhnlicher Gedanke. +Bestattungsinstitute haben meist zugezogene Gardinen und suggerieren, dass einen niemand beim Trauern sehen darf. +Es gibt den Satz, dass Bestatter und Bestatterinnen immer so sprechen, als wäre bei ihnen selbst gerade jemand gestorben. Dabei braucht man doch jemanden, der in so einem Moment Zuversicht und Sicherheit ausstrahlt und einen begleitet. +Weiterlesen +Verändert Corona unsere Wahrnehmung vom Sterben?Wir haben Menschen gefragt, die täglich mit dem Tod zu tun haben +Durch die Pandemie wurde der Tod präsenter, was macht das mit der Gesellschaft? +Der Diskurs hat an Schwung gewonnen, die Endlichkeit wurde visualisiert: steigende Todesfallzahlen, Särge in Bergamo, Kühltrucks in New York.Coronahat die Logistik nach einem Todesfall sichtbar gemacht, aber auch die Rituale drum herum wie das Bestatten. Wir wurden dazu angehalten, darüber nachzudenken,wie wir mit dem Tod umgehen wollen. Vieles musste neu geordnet oder gar erdacht werden. +Zum Beispiel? +Digitales Gedenken, weil man in größeren Runden nicht mehr zusammenkommen konnte. Es gibt jetzt mehr Spielraum, weil die gewohnten Reglementierungen geöffnet werden mussten. +Der Tod bringt viel Etikette mit sich: die "richtigen" Worte, die "angemessenen" Blumen. Warum sind viele so verunsichert, wenn es um Anteilnahme geht? +Wir denken immer, wir müssen eine Situation besser machen, aber das können wir nicht. Wir können nicht dieses eine geniale Ding sagen, diese einen "richtigen" Worte finden, die dann alles einfacher machen. Also sagen wir häufig lieber gar nichts oder sprechen in nichtssagenden Phrasen. Zum Beispiel: "Wenn du was brauchst, sag Bescheid." Kaum jemand, der trauert, wird sich darauf melden und konstruktiv mit so einem Angebot umgehen können. Lieber einfach machen, statt zu fragen. Selbst anrufen, statt den Ball den Trauernden zuzuspielen. +Ist es okay, den Trauerprozess aus Zeitmangel zu verschieben? +Manchen Leuten hilft es ja sogar in der ersten Phase nach einem Todesfall, etwas zu tun zu haben, den Abschied zu organisieren oder den Nachlass zu ordnen. Sofern man diese Schritte selbstbestimmt gehen darf, kann auch dieses Verschieben wichtig sein. Trotzdem wird man wohl in den meisten Fällen nicht umhinkommen, "den Rest" irgendwann zuzulassen. +In einer Welt voller Leistungsdruck ist es manchmal schwierig, Trauer zuzulassen. +Das stimmt. Aber es hat auch viel damit zu tun, dass wir glauben: Wenn wir eine Emotion zulassen, wird sie größer, und wir kommen nicht mehr raus. Dabei ist ja das Gegenteil der Fall. Unser Umgang mit Emotionen ist definitiv ausbaufähig, gerade hierzulande. Wut, Trauer, Verletzlichkeit zum Beispiel sollten meiner Meinung nach nicht ständig aus dem Berufsalltag rausgehalten werden müssen. Es ist doch irre, das eigene Gefühlschaos, nachdem man einen Menschen verloren oder ein Baby bekommen hat, nicht am Arbeitsplatz teilen zu dürfen, sondern so zu tun, als wäre nichts gewesen. +Haben Sie einen praktischen Gedanken dazu, wie man den Umgang mit dem Tod im Alltag üben kann? +Manche Teile der jungen Generationen streben enorm nach Achtsamkeit und Erfüllung. Sie machen so viele Dinge, um sich dahin zu bewegen: Yoga, Reisen, unterschiedliche Religionen ausüben. Für mein Empfinden ist der Tod eigentlich alles, was wir brauchen, um diese Themen in unser Leben zu holen. Hat man den Tod vor Augen, ist es plötzlich einfach, sich auf Dinge zu besinnen, die einem guttun und einen erfüllen. + diff --git a/fluter/death-stranding-kritik-hideo-kojima.txt b/fluter/death-stranding-kritik-hideo-kojima.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c2d1cef66025b8767b0913efd4d90e0b169254e5 --- /dev/null +++ b/fluter/death-stranding-kritik-hideo-kojima.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Ein großer Teil des Spiels besteht aus langatmigen Zwischensequenzen, außerdem nehmen Planung und Kartenstudium viel Zeit ein. Die meiste Zeit durchquert man als Spieler weite Landmassen. Läuft es gut, passiert wenig. Läuft es schlechter, trifft man auf ölige Untote, auf irre Kultisten und auf Planungsprobleme: unwegsames Gelände, fehlende Ausrüstung, durchgelatschte Schuhe. + + + +"Death Stranding" spielt in einem düsteren Zukunftsszenario, in dem tatsächlich die Toten "stranden" – es gibt ein Leben nach dem Tod, und die Vorstufe sieht wie ein leerer Strand bei diesigem Wetter aus. Die hier gelandeten Seelen der Toten können sich in ein ungewisses Totenreich aufmachen. Oder sie versuchen, aus dem Fegefeuer in die falsche Richtung zu fliehen, um als "Beached Things" zurück zu ihrem Körper zu gelangen. Wenn sie das schaffen, lösen sie allerdings einen "Voidout" aus, eine riesige, katastrophale Explosion. +In der Folge mehrerer Voidouts ist die Welt schon zu Beginn des Spiels am Ende. Die alten Städte sind zerstört, ein guter Teil der Menschheit ist verschwunden, und die Überlebenden verschanzen sich isoliert voneinander. Jetzt sind alle auf eines angewiesen: einen guten Lieferdienst. +Der Held der Geschichte ist der Energy-Drink kippende Paketkurier Sam Porter Bridges. Er muss die kaputte Welt wieder verbinden, indem er allerlei Gegenstände von A nach B trägt. +Dass so eine ungewöhnliche Idee im großen Maßstab überhaupt finanziert wird, liegt am Chefentwickler:Hideo Kojimaist ein Star der Spieleszene, von Millionen Fans für seine Schleich-Action-Seifenoper "Metal Gear Solid" geliebt. Mit "Death Stranding" hat er endlich die Möglichkeit, eine ganz neue Geschichte zu erzählen. Und er tut das mit einer bemerkenswerten Kompromisslosigkeit, auch wenn er so dick aufträgt, dass es unfreiwillig komisch wird. +Amelie Strand trifft der Held und Paketbote Sam Porter Bridges – richtig: am Strand +Starke und peinliche Momente liegen dicht beieinander. In einer Zwischensequenz erwacht Sam nackt, frierend und weinendan einem Strand voller toter Wale. Das ist absurd, wirkt in der Inszenierung aber entwaffnend traurig. Bevor irgendjemand einen Kloß im Hals haben kann, wird Sam von Amelie besucht. Sie ist ebenfalls am Strand gestrandet, heißt mit Nachnamen "Strand", und erklärt Sam ungefragt, welche Bedeutungen des englischen Wortes "Strand" noch zur aktuellen Situation passen. In der Welt von "Death Stranding" macht niemand einen Witz, ohne ihn zu erklären. +Dabei ist das Spiel als Metapher eigentlich deutlich genug. Nach umständlicher Planung muss Sam über schroffes Terrain latschen oder fahren. Wenn er nicht aufpasst, kann er stolpern, stürzen und die wertvollen Pakete beschädigen oder gar verlieren. Strandet ein Spieler hilflos in der Wildnis, dann zückt "Death Stranding" seine stärkste Idee: Dank der Online-Funktion können Spieler einander helfen und ihren Mitmenschen Kletterhaken, Brücken und sogar Straßen hinterlassen. Wer die Hilfen eines Mitspielers nutzt, der kann sie im Spiel liken, und Likes sind eine wichtige Währung. So entsteht ein stärkeres Gefühl der Verbindung als in stundenlangen Zwischensequenzen mit Schauspielstars von Norman Reedus bis Mads Mikkelsen. +Die melodramatischen Einspieler stehen der Stimmung im Weg; noch irritierender sind die Werbebotschaften. Sie legen nahe, dass Kojima seine eigene Botschaft nicht besonders ernst nimmt. Sam trinkt im Spiel nie Wasser, nur den Energy-Drink. Geht er duschen, wird außen auf der Kabine unerklärt Werbung für eine Fernsehserie von Norman Reedus eingeblendet. Ertönt im Spiel eines der stimmungsvoll melancholischen Lieder von Bands wie Chvrches, werden Interpret, Titel und Rechteinhaber eingeblendet, als würde Sam durch ein Musikvideo laufen. +Eigentlich hat "Death Stranding" eine einfache Botschaft: Die Überwindung der Gräben zwischen uns ist anstrengend, aber existenziell wichtig. Doch es verzettelt sich. Es wird ermüdend. Dagegen hilft auch kein Energy-Drink. +Death Stranding ist jetzt für 70 Euro auf der Playstation 4 erhältlich. Eine PC-Version erscheint nächstes Jahr. + diff --git a/fluter/debatte-um-pflichtjahr-freiwilligendienst.txt b/fluter/debatte-um-pflichtjahr-freiwilligendienst.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1f089057e030ff2a4be3edfe656113a6cb5d063d --- /dev/null +++ b/fluter/debatte-um-pflichtjahr-freiwilligendienst.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Circa 100.000 Menschen leisten in Deutschland jedes Jahr einen Freiwilligendienst. Die Zahl der Teilnehmenden unter 27 Jahren in Deutschland hat sich zwischen Ende der 2000er-Jahre und 2020 mehr als verdoppelt. "Die Freiwilligendienste sind so populär und verbreitet wie noch nie", sagt Soziologin Huth. "So ein großes, gefördertes, gesetzlich geregeltes Programm gibt es europaweit nur in Deutschland." +Aktuell entscheiden sich circa elf Prozent der Abgänger*innen allgemeinbildender Schulen für einen Freiwilligendienst. Wo und wie für einen Pflichtdienst Hunderttausende zusätzliche Plätze geschaffen werden könnten, ist unklar. Ein Pflichtdienst könnte außerdem gegen das Grundgesetz verstoßen und sogar völkerrechtlich bedenklich sein – die Europäische Menschenrechtskonvention verbietet Zwangs- und Pflichtarbeit. +"Hochgradig skeptisch" steht auch Kristin Napieralla der Idee gegenüber. Sie ist Sprecherin des Bundesarbeitskreises FSJ. Der Kreis vertritt die Interessen von elf großen Verbänden, die jedes Jahr rund 60.000 Freiwillige begleiten. "Jeden Sommer kommt das Thema auf. Immer unter der Prämisse, dass Freiwilligendienste etwas gutmachen sollen, was gesellschaftlich, politisch oder arbeitsmarktrechtlich in die falsche Richtung läuft." +In Deutschland gibt es viele verschiedene Möglichkeiten, sich freiwillig zu engagieren – das ganze Leben lang. Eine besondere Form sind die gesetzlich geregelten Jugendfreiwilligendienste. Sie dauern meist ein Jahr, es wird in Vollzeit gearbeitet und soll dem Gemeinwohl dienen. Wer mitmachen will, muss die Schulpflicht erfüllt haben und darf nicht älter als 27 sein. Wo man sich engagieren möchte, ist frei wählbar. Möglich sind Einsätze zum Beispiel in der Pflege, in Krankenhäusern, Kinderheimen, Theatern, Museen, Bibliotheken, aber auch im Umweltschutz oder der Denkmalpflege. Daher auch die unterschiedlichen Namen: Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) und Freiwilliges Ökologisches Jahr (FÖJ). Im Gegenzug erhalten die Freiwilligen eine pädagogische Begleitung, Weiterbildung durch Seminare und ein Taschengeld. +Freiwillige können sich auch entscheiden, ihren Dienst im Ausland zu absolvieren. Dafür gibt es spezielle Programme wie den entwicklungspolitischen Dienst"weltwärts", den kulturpolitischen Dienst"kulturweit", die Internationalen Jugendfreiwilligendienste und das Europäische Solidaritätskorps. +Seit 2011 die Wehrpflicht beendet wurde, gibt es zusätzlich noch den gesetzlich geregelten Bundesfreiwilligendienst (BFD). Diesen Dienst können auch Menschen über 27 ableisten. +Natürlich gibt es noch weitere Arten, sich freiwillig zu engagieren. Zum Beispiel über ehrenamtliche Positionen in Gemeinde- oder Stadträten, in Sportvereinen oder in Bürgerinitiativen. Es gibt Einrichtungen mit Hilfsangeboten für Geflüchtete, Familien, Obdachlose und vieles mehr. Es lohnt sich also auch, zu recherchieren, welche Stellen für Engagement und Freiwilligenarbeit der Umkreis bietet. +Ein häufiges Argument für den Pflichtdienst: Personalmangel in der Pflege.Bernadette Klapper, Bundesgeschäftsführerin des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe, freut sich über freiwilliges Engagement. Doch sie stellt klar: "Ein soziales Pflichtjahr ist keine Lösung für den Personalmangel in der professionellen Pflege." Schon jetzt reiche die Zeit häufig nicht, um Auszubildende ausreichend anzuleiten. "Kommen noch Personen im sozialen Pflichtjahr hinzu, wird es noch enger. Und es steigt unweigerlich die Gefahr, dass pflegebedürftige Menschen Schaden erleiden." +Mara Röger hat gerade einen Freiwilligendienst auf der Intensivstation eines Potsdamer Krankenhauses geleistet. Die 40-Stunden-Wochen haben die 19-Jährige herausgefordert. "In den ersten Wochen dachte ich, ich schaffe das nicht." Sie hätte lieber in Teilzeit gearbeitet, wie die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen. "Von den 40 Personen auf der Station haben nur drei in Vollzeit gearbeitet – und ich." Mara Röger musste zwei Wochen unbezahlten Urlaub nehmen, um sich auf den Medizinertest fürs Studium vorzubereiten. Aktuell ist Teilzeit für Freiwillige nur aus besonderen Gründen, wie der Pflege eines Angehörigen, möglich. +Die Freiwilligendienste in Deutschland entstanden in den 1950er-Jahren im Umfeld der Kirchen und richteten sich insbesondere an Frauen aus dem Bürgertum. Das macht sich noch heute bemerkbar: Die durchschnittliche Freiwillige ist weiblich und hat Abitur. +Männer sind hingegen unterrepräsentiert, und nur acht Prozent der Teilnehmenden haben einen Hauptschulabschluss. Zum Anteil der Freiwilligen mit Migrationsgeschichte gibt es nur veraltete und unzuverlässige Daten. Sie bewegen sich zwischen 6 und 18 Prozent für die verschiedenen Dienste. "Der Anspruch an die Freiwilligendienste ist, so inklusiv wie nur möglich zu sein, damit alle Bevölkerungsgruppen unabhängig von ihrer Herkunft oder sonstigen Voraussetzungen an den Chancen teilhaben können, die so ein Dienst bietet", so Huth. Doch in der Praxis scheitert die Teilhabe oft. Ein zentraler Grund: Geld. +Während des Dienstes auf der Intensivstation erhielt Mara Röger 325 Euro im Monat. "Wenn meine Eltern mich nicht finanziell unterstützt hätten, hätte ich es nicht machen können", sagt sie. Mara Röger schlägt vor, auch Freiwilligen den Zugang zum BAföG-System zu öffnen. +Thomas Pösz betreut seit über 15 Jahren Freiwillige im FSJ Kultur in Nordrhein-Westfalen. Auch er erlebt: Immer wieder scheitert es am Geld. Theoretisch können Freiwillige Wohngeld beantragen. In der Praxis lehnen Ämter die Anträge regelmäßig ab. "Weil die Jugendlichen nur für ein Jahr zu Hause ausziehen, werden sie als ‚vorübergehend abwesend' eingestuft und haben dann keinen Anspruch." Pösz versucht in solchen Fällen, die Ämter anzurufen und vom Gegenteil zu überzeugen. Manchmal klappt es, oft nicht. "Es müsste einen klaren rechtlichen Anspruch auf Wohngeld geben", fordert Pösz. Auch die Anrechnung des über 250 Euro hinausgehenden Taschengeldes auf etwaige Hartz-IV-Bezüge – dass das Geld also von dem, was die Freiwilligen gegebenenfalls an Arbeitslosengeld bekommen, abgezogen wird – lehnt er ab. +Selbst die Anfahrt ist für viele Jugendliche ein Hindernis. "Wir fordern seit Jahren freie Fahrt für Freiwillige", sagt FSJ-Sprecherin Kristin Napieralla. Sie meint im öffentlichen Verkehr. "Das 9-Euro-Ticket zeigt, wenn man das politisch will, geht es. Warum geht es dann nicht für junge Menschen, die sich engagieren?" +Soziologin Huth hat im April in einer Studie  beschrieben, welche Maßnahmen für mehr Teilhabe von unterrepräsentierten Gruppen sorgen könnten. Unter anderem empfiehlt sie mehr Stellen, die auch Freiwillige ohne Abitur ansprechen. Bildungsreferent Thomas Pösz und sein Team setzen das bereits um. "Wir versuchen im FSJ Kultur nicht nur Plätze in der Theaterpädagogik oder Dramaturgie anzubieten, sondern auch handwerklichere Stellen in der Maske oder im Bühnenbild." Schon lange würde Pösz gerne auch mit Social-Media-Kampagnen gezielt Freiwillige anwerben. Doch aktuell dürfen die vom Bund für die Freiwilligendienste gezahlten Gelder nicht für Werbung genutzt werden. +Dass Veränderung im System der Freiwilligendienste möglich ist, hat Natalie Weiser erlebt. Die heute 20-Jährige wollte nach der Schule in den Gesundheitsbereich. "Durch mein FSJ im Krankenhaus habe ich gemerkt, das passt doch nicht." Aber etwas anderes passte gut: Während des FSJ engagierte sich Natalie Weiser auch als Sprecherin ihres Jahrgangs und trug die gemeinsamen Forderungen im Berliner Abgeordnetenhaus vor. Mit Erfolg: Die jahrelange Forderung nach einer Landesförderung des sozialen Jahres und mehr Taschengeld soll nun umgesetzt werden. "Durch dieses Engagement habe ich gemerkt, dass mich politische Abläufe sehr interessieren." Mittlerweile studiert sie im zweiten Semester Jura. "Es war wirklich ein sehr anstrengendes und auch heftiges Jahr. Aber es hat mich so viel weitergebracht. Es ist eine totale soziale Ungerechtigkeit, dass junge Menschen, die aus Elternhäusern kommen, die das FSJ nicht mitfinanzieren können, diese Möglichkeit und Riesenchance oft nicht haben." + +Titelbild: Helena Schaetzle/laif diff --git a/fluter/debatten-themen-weltweit.txt b/fluter/debatten-themen-weltweit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9dcbe8754118dea2125bc4e72c50a9e272219886 --- /dev/null +++ b/fluter/debatten-themen-weltweit.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Eine App spaltet die USA: Nach langem Gezerre hat der US-Kongress im April entschieden, dass TikTok in den USAverboten wird, wenn der chinesische Mutterkonzern ByteDance nicht an einen US-amerikanischen Eigentümer verkauft. ByteDance gilt als verlängerter Arm der Kommunistischen Partei Chinas. In diesem Fall war sich selbst der sonst so hoffnungslos zerstrittene US-Kongress einig: Republikaner und Demokraten fürchten Spionage, Datenlecks und Einflussnahme auf die US-Wahlen – nutzen die Video-App aber selbst weiter für den Wahlkampf. +Dieser Text istim fluter Nr. 91 "Streiten"erschienen +Gegenüber stehen sich nicht nur zwei Supermächte, sondern auch zwei heilige Grundsätze der US-Politik: innere Sicherheit gegen Meinungsfreiheit. Und nicht zuletzt die Boomer in Washington gegen Hunderttausende junge User. Für viele ist TikTok die zentrale Nachrichtenquelle. Und für immer mehr Menschen eine Einnahmequelle: 15 Milliarden US-Dollar Umsatz generierten US-Kleinunternehmer 2023 über die App. TikTok selbst wehrt sich und hat seine 170 Millionen US-User zum Protest aufgefordert. Sie stehen mit Plakaten vor dem Kongress, überschütten Abgeordnete mit Anrufen und fluten die Plattform mit #KeepTikTok-Videos. Eine Nutzerin verabschiedete sich von ihrem "chinesischen Spion" in einer dramatischen Liebesszene: "Der Einzige, der mich je wirklich kannte."Annett Scheffel +Feste Zeiten, in denen nur Mädchen und Frauen schwimmen dürfen? Geht es nach dem dänischen Integrationsminister Kaare Dybvad Bek, ist dafür kein Platz im Königreich. Laut einer Umfrage seines Ministeriums bieten Bäder in zwölf von 98 dänischen Kommunen geschlechtergetrennte Schwimmkurse und Badezeiten an, die vor allem für Mädchen und Frauen aus muslimischen Familien geschützte Räume sein sollen. Dassei "undänisch", erklärte der SozialdemokratDybvad Bek und forderte die Kommunen auf, geschlechtergetrenntes Schwimmen zu verbieten. Zuspruch bekam er von den Rechtskonservativen, die bereits Debatten über Integration in Schwimmbädern losgetreten hatten. In Dänemark wurden Grenzschutz und Asylpolitik in den vergangenen Jahren massiv verschärft. Kritiker warfen Dybvad Bek Symbolpolitik vor und betonten, dass auch in Schwimmhallen Raum für Vielfalt sein müsse. Verboten ist das geschlechtergetrennte Schwimmen bislang nicht, aber für 2025 hat das Integrationsministerium eine erneute Umfrage geplant.Theresa Bachmann +Er quietscht, vereint, spaltet: Halloumi, auf Türkisch Hellim genannt. Seit 2021 darf in den Kühltheken der Europäischen Union nur Käse als "Halloumi" oder "Hellim" verkauft werden, wenn er aus Zypern stammt. Die Mittelmeerinsel ist seit 1974 politisch geteilt, jahrelang hatten der griechisch-zyprische Süden und der türkisch-zyprische Norden um die geschützte Ursprungsbezeichnung gestritten: Der Käse ist für beide Inselteile ein wichtiges Exportgut. Der Kompromiss aus Brüssel, beide Namen zu schützen, sollte die gespaltene Insel näher zusammenbringen. Das hat nicht geklappt, im Gegenteil: Produzenten aus dem Norden beschweren sich etwa, die EU-Zertifizierung sei im Süden leichter zu bekommen (im Norden sind derzeit vier Betriebe zertifiziert, im Süden knapp 60). Und auch um die vorgeschriebenen Zutaten gibt es Streit: Der Käse soll laut EU-Verordnung mehr als 50 Prozent Ziegen- und Schafsmilch enthalten. Ein Kriterium, das die Käsequalität steigert, aber auch die Produktionskosten.Theresa Bachmann diff --git a/fluter/debutroman-yaa-gyasi-heimkehren.txt b/fluter/debutroman-yaa-gyasi-heimkehren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fa6f255dbf80cb55393f66ecc3edd50aecdedce1 --- /dev/null +++ b/fluter/debutroman-yaa-gyasi-heimkehren.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Inzwischen ist Yaa Gyasi 28 Jahre alt, hat nicht nur ihren Abschluss in Creative Writing längst gemacht, sondern auch ihren ersten Roman veröffentlicht und ist damit erfolgreich. Wir treffen uns zum Gespräch in einem Berliner Café. Unter ihrem Afro ist sie eine kleine, zart gebaute Person, die von sich selbst sagt, sie sei eher schüchtern. Auf jeden Fall spricht sie druckreif und scheint ziemlich stressresistent zu sein. An jenem Tag hat sie diverse Interviews, zwei davon live im Radio. Vor Berlin war sie in Island, am nächsten Tag ist Hamburg dran. Im Prinzip gehe das so seit über einem Jahr, sagt sie. Ja, anstrengend sei das schon, aber andererseits: "Ich fühle mich sehr privilegiert. Dass das Buch so erfolgreich ist, damit habe ich wirklich großes Glück." +Yaa Gyasi: "Heimkehren". Aus dem Englischen von Anette Grube. Dumont, Köln 2017, 416 Seiten, 22 Euro +Das ist natürlich bescheiden ausgedrückt, aber klar, Glück gehört immer dazu. Ganz abgesehen davon ist "Heimkehren" ein außergewöhnlich guter Roman, der auf der "New York Times"-Bestsellerliste landete. Yaa Gyasi erzählt darin eine episch angelegte Familiengeschichte, die über sieben Generationen und mehr als 200 Jahre zurückreicht, bis ins 18. Jahrhundert. In Westafrika beginnt sie, in einer Gegend, die heute zu Ghana gehört, und mit zwei Schwestern, die nichts voneinander wissen. Denn während der Rangeleien der verschiedenen Stämme, die in der Gegend leben, ist ihre Mutter von einem verfeindeten Volk versklavt worden. In dieser Zeit hat sie eine Tochter geboren, die sie verlassen musste, als sie floh. Gerade diese Tochter aber wird später einen Engländer heiraten und vergleichsweise luxuriös auf einer Festung an der Küste leben. Die andere Tochter, die immerhin bei ihrer Mutter aufwachsen kann, wird dagegen als Sklavin nach Amerika verkauft und noch vor ihrem Abtransport von einem englischen Soldaten vergewaltigt. +Auf diese beiden Eingangserzählungen lässt Yaa Gyasi eine Kette aus in sich abgeschlossenen Geschichten folgen, für jede Generation zwei, von denen eine in Afrika und eine in Amerika spielt. Die afrikanischen Erzählungen handeln von Menschen, die schwer tragen an der Vergangenheit ihrer Familie, die sich einst am Sklavenhandel bereichert hat. In ihren ländlichen Gemeinschaften fallen sie häufig als Außenseiter auf. Die amerikanischen Erzählungen beleuchten die andere Seite der Schicksalsmedaille und verfolgen über Generationen das Leben von Menschen, die ihre Würde zunächst gegen die Zumutungen der Sklavenhalter, dann gegen die einer rassistischen Gesellschaft verteidigen müssen. +Jede dieser insgesamt 14 Lebensgeschichten kann für sich stehen und unabhängig von den anderen gelesen werden. Der äußeren Form nach ist das Buch also gar kein Roman. Dennoch empfindet man es ohne weiteres als solchen, verspürt eine starke, durchgehende inhaltliche Verbundenheit, die einen intensiven Lesesog auslöst. Es ist ein faszinierender Gedanke, dass jede neue Generation, selbst wenn sie nichts von der vorhergehenden weiß, über einen geheimen, unbewussten Unterstrom die Erfahrungen der Ahnen in sich trägt. Zum Schluss führt der Roman, nachdem der große Erzählbogen von sieben Generationen abgeschritten ist, beide Erzählstränge, den afrikanischen und den amerikanischen, zusammen. +Eine starke Symbolik. Yaa Gyasi gibt den amerikanischen Nachkommen der einstigen Sklaven ihre afrikanische Familiengeschichte zurück. Und für uns alle trifft sie damit direkt ins Zentrum des zutiefst menschlichen Wunsches nach Aufgehobensein in einem großen familiären Zusammenhang. + +Titelbild: Gabriela Hasbun/Redux/laif diff --git a/fluter/defensive-architektur-stadt-vertreibung.txt b/fluter/defensive-architektur-stadt-vertreibung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5ef3fd880796a4f79cae64d72372e76fbee6f706 --- /dev/null +++ b/fluter/defensive-architektur-stadt-vertreibung.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Es gibt einen Fachbegriff dafür: "defensive Architektur". Manche sprechen auch von "Hostile Design", also feindlichem Design, was wohl ehrlicher ist. Im Fall der Parkbank sorgen zum Beispiel Armlehnen dafür, dass sich niemand ausstrecken kann. Oder die Bänke sind gleich ganz aus Metall und damit im Winter viel zu kalt, um länger auf ihnen zu verweilen. + +Der Fotograf Julius C. Schreiner sammelt solche Designs. Bei ihm sieht man Freiflächen, die mit Gittern oder Dornen zugebaut sind, Steinbeete oder Betonpoller, die verhindern, dass sich Spaziergänger eigene Wege suchen, und Mülleimer, die so konstruiert sind, dass man nicht mehran die Pfandflaschen rankommt. In manchen Städten gibt es Lautsprecher, aus denen klassische Musik leiert, die auf Dauer nervtötend ist. Defensive Architektur, findet Schreiner, macht Innenstädte für alle weniger einladend. +Aber ist der Versuch, zu lenken, wo und wie sich Menschen in einer Großstadt aufhalten, nicht berechtigt? Sind öffentliche Plätze der richtige Schlafplatz für Obdachlose oder wünschenswerte Orte für Drogenkonsum? Ist es nicht nachvollziehbar, wenn Verkehrsbetriebe ihre Haltestellen für Fahrgäste frei halten wollen? + +Kamera und Lautsprecher einer Gated Community in New York. Einige Städte (auch deutsche) testen bereits "Mosquitos": einen hochfrequenten Ton, den angeblich nur unter 25-Jährige hören – und so unangenehm finden, dass sie nicht lange bleiben wollen +Schreiner sieht das nicht so. "Der öffentliche Raum gehört allen." Eine Stadtverwaltung, die das ernst nimmt, muss dafür sorgen, dass verhandelt wird, wer den öffentlichen Raum wie nutzen darf – und dass jeder irgendwo seine Interessen wahrnehmen kann. Defensive Architektur tut genau das Gegenteil. Weil sie die Konflikte einer Stadt – obArmut, Einsamkeit oder Wohnungslosigkeit – nicht löst, sondern still und heimlich verdrängt. +Schreiner nennt die (Um-)Bauten deshalb "Silent Agents". Was man mit "stille Polizisten" übersetzen kann. Hier übernimmt Architektur Aufgaben, die einmal Polizei und Ordnungsamt zukamen: Personen vertreiben, die andere vom Arbeiten, Einkaufen oder Sightseeing abhalten könnten und die Quadratmeterpreise im Viertel drücken. + +Dieser Beitrag ist im fluter Nr. 90 "Barrieren" erschienen. Das ganze Heftfindet ihr hier. diff --git a/fluter/degrowth-bewegung-corona.txt b/fluter/degrowth-bewegung-corona.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c685acbf7d777bdf86e0a6ddaabb80024bf8ed22 --- /dev/null +++ b/fluter/degrowth-bewegung-corona.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Gleich zu Beginn ein Dämpfer. Auf dem Podium wird klargestellt: Was wir gerade erleben, ist kein "Degrowth". Ja, die Wirtschaft schrumpft weltweit, aber das war so nicht geplant. Und genau da liegt der Unterschied: Bei "Degrowth" geht es darum, dass wir uns vom Zwang des Wachtsums lösen und uns auf ein gutes Leben für alle, Lebewesen wie Planet, konzentrieren. Denn Wachstum ist endlich. Wie das funktionieren könnte? Weniger individuell kaufen, mehr gemeinsam nutzen; mehr reparieren und Konsum generell hinterfragen; weniger staatliche Hilfen für den Flugverkehr, mehr Förderung für die Bahn; weniger Arbeitsstunden, dafür mehr Freizeit. Weniger, weniger, weniger: Das soll nicht nur jede*r Einzelne im Kleinen, sondern die Gesellschaft als ganze umsetzen. Nur wie? + + +Es ist ernst, findet die "Degrowth"-Bewegung und setzt entsprechende Gesichter auf … + + +Vor allem der globale Norden soll verzichten. Vom Ende der "imperialen Lebensweise" spricht der Politikwissenschaftler Ulrich Brand. Damit meint er, dass die reichen Staaten ihren Wohlstandauf Kosten von Umwelt und Arbeitskräften des globalen Südensnicht nur stützen, sondern auch ausbauen. Das treibe die soziale Ungleichheit und die Klimakrise voran. Um dem entgegenzusteuern, ist vor allem eines wichtig: Umdenken. +Der Gedanke, dass die Wirtschaft schrumpfen könnte, macht vielen Angst: Aktuell baut unser wirtschaftliches, politisches und gesellschaftliches System auf Wachstum auf. Unser wichtigster Messwert dafür ist das Bruttoinlandsprodukt. Eine zentrale Forderung von "Degrowth" ist daher, das BIP durch andere Indizes zu ersetzen. Warum erhebt man nicht das Glück, die Chancengerechtigkeit oder Gesundheit in einer Gesellschaft? Wenn man das Allgemeinwohl erfassen würde, würde der Fortschritt jenseits von wirtschaftlichem Wachstum kenntlich, heißt es auf dem Podium. +Vieles auf der Konferenz bleibt abstrakt und akademisch, obwohl es eigentlich um konkrete Strategien gehen sollte. Umso spannender wird es, wenn bei den Livediskussionen Personen sprechen, die Erdachtes bereits im Kleinen in die Tat umgesetzt haben. +Armin Bernhard ist einer der wenigen Speaker, die nicht vor einem brechend vollen Bücherregal sitzen, sondern in einer Holzhütte in dem kleinen Dorf Mals in Südtirol. Mit rollendem R erklärt er, warum sich bei ihm im Dorf die globalen Konfliktfelder im Kleinen widerspiegeln. Während die Apfelmonokulturen in Südtirol in Pestizidwolken gehüllt werden, halten die Bewohner*innen dagegen. Sie hätten keine Lust auf industrielle Landwirtschaft, Wettbewerb und Spekulationen. Also tun sie sich zusammen und stellen sich gegen die Agrarlobby. Mit Erfolg. Nach einem Referendum wurde beschlossen, dass die Gemeinde pestizidfrei bleiben soll. Sie hätten kürzlich eine Bürgergenossenschaft gegründet, die die Gestaltung der Region mitbestimmt. Ganz ohne Druck von außen und ohne Blick auf Zahlen. Armin sagt,dass es für Transformation Laboratorien der Zukunft benötige– und so eines möchte Mals sein. +Der Meinung ist auch die Mehrheit der Diskutant*innen. Neben regionalen Initiativen wie der in Mals braucht es eine breite Masse, die eine 180-Grad-Wende hinlegt. Zentrale Verbündete, um dies zu erreichen: dieGewerkschaften. In einer Diskussion stellt Anna Daimler, Vorsitzende der Gewerkschaft Vida, jedoch klar, dass das Verhältnis zu "Degrowth" kompliziert sei. Die Aufgabe einer Gewerkschaft sei es, Arbeit zu sichern – nicht zu reduzieren. Die "Degrowth"-Bewegung spricht jedoch von einer Woche mit 30 oder weniger Arbeitsstunden. Dafür soll es den gleichen Lohn geben. Alles machbar, so die Verfechter*innen, wenn Manager auf ihre großzügigen Gehälter verzichten würden. Wie man die Leute davon genau überzeugen soll und ob es nicht doch Zwangsmaßnahmen geben würde, bleibt offen. + + +… erst als Bauer Armin spricht, fühlt sich die Reporterin gut unterhalten. Er erzählt, wie Wandel im Kleinen funktioniert + +Ab Mitte März trendete in europäischen Städten #stayathome. Menschen,die jedoch auf der Straße leben, konnten dem nicht folgen.Laut Schätzungen sind es in Europa etwa 700.000. Ausreichend Wohnraum für alle würde es jedoch geben, so die Architektin Gabu Heindl. Er müsse nur richtig umverteilt werden. Und damit kommt man an einen kritischen Punkt. "Degrowth" fordert die Umverteilung von Ressourcen aller Art. So auch die des Vermögens. Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auf. Etwa 2.100 Personen besitzen mehr Gesamtvermögen als die unteren 60 Prozent der Weltbevölkerung. Die "Degrowth"-Bewegung fordert nicht weniger als: kein Reichtum und Privilegien für wenige, sondern mehr Geld und Chancen für alle.Aber wer verzichtet schon gern auf den eigenen Wohlstand? +Während der Vorträge wird daher heiß diskutiert, wie man die Ideen besser kommunizieren könnte. Und da kommt Corona wieder ins Spiel. Auch wenn die Corona-Krise keinen Grund zum Jubeln gibt, sehen sie viele als Chance, um auf "Degrowth" aufmerksam zu machen. Es sei ein guter Moment, um Menschen zu verdeutlichen, dass man nicht weitermachen könne wie bisher. Den Menschen werde während der Krise vorgeführt: Staaten und internationale Organisationen können handlungs- und zahlungsfähig sein und Maßnahmen beschließen, die in normalen Zeiten unvorstellbar waren. + + +Titelbild: Frieder Blickle/lOliver Ruether/laif diff --git a/fluter/dein-bauch-gehoert-mir.txt b/fluter/dein-bauch-gehoert-mir.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/deine-kleinen-augen-machen-mich-so-sentimental.txt b/fluter/deine-kleinen-augen-machen-mich-so-sentimental.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..767eafb752e383f72e6457dca13dd3f348c533cd --- /dev/null +++ b/fluter/deine-kleinen-augen-machen-mich-so-sentimental.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Meistens stellt sich nach so einem Abend, häufig noch im breiten Zustand, ein Moment der Klarheit ein, in dem man sich fragt: "Was mache ich hier eigentlich?" In solchen Momenten sieht man sich selbst aus einem anderen Blickwinkel. Aus dem der Außenstehenden. Dem der Nichtkiffer. Du weißt ganz genau, dass du zu viel rauchst. Dir ist klar, dass Gras nicht mehr zu deinen Nebensächlichkeiten gehört. Du könntest auch nicht einfach so aufhören, von heute auf morgen. Das Gegenteil ist eine beliebte Lüge, die sich viele, fast alle Kiffer erzählen. Also schmiedet man Pläne für die nahe Zukunft: Du könntest dich wieder mehr bei alten Freunden melden, die Wohnung aufräumen, nicht immer bis in die Puppen schlafen und weniger abhängen. Anfangen zu studieren. Aber natürlich fängt die Zukunft erst morgen an. Heute bin ich zu stoned. +Neulich saß ich mit Freunden, alten Kifferkollegen, bei klarem Kopf zusammen. Wir haben uns über die vergangenen Jahre unterhalten. Über verpasste Chancen. In der Schule, im Sport, bei Frauen. Über versumpfte Abende und ganz banal über all das Geld, das in all den Jahren in Rauch aufgegangen ist. Wir fragten uns, was wir machen würden, wenn wir all die Jahre des Kiffens und die damit verbundenen Erinnerungen auf einen Schlag gegen all das Geld, das wir dafür ausgegeben haben, tauschen könnten. Die Meinung ist einstimmig: Keiner von uns hätte es anders machen wollen. Gras hatte uns zusammengebracht. +Und es ist eben nicht nur die Lethargie. Wir haben zusammen auf dem Boden gelegen vor Lachen, weil der Rausch eben lustig ist. Nächtelang saßen wir zusammen und haben die aberwitzigsten Unterhaltungen geführt. Die fantastischsten Geschichten sind in solchen Nächten entstanden. Streitgespräche von kolossalen Ausmaßen wurden geführt. Episch fast. Nur will mir einfach keines mehr einfallen. Ein Phänomen, das jeder Kiffer kennt. Den Was man so als Kiffer nicht erlebt Text: Jakob Bär Abend über wurde diskutiert auf höchstem Niveau. Die Welt wurde in ihren Grundsätzen erörtert. Jeder Satz, jedes Wort gar, war erfüllt von Weisheit. Am nächsten Morgen ist alles vergessen. Also nimmt man den nächsten intellektuellen Gipfel auf Tonband auf. Was dabei herauskommt, ist purer Schwachsinn. So stelle ich mir Unterhaltungen vor, die morgens um neun in irgendeiner Eckkneipe beim ersten Bier und Korn geführt werden. Unterbrochen werden die Monologe von Ausrufen: "Wir sind so genial, Mann, bin ich froh, dass wir das aufnehmen!" Man tut aber gut daran, das Band am nächsten Tag nicht abzuhören. +Jeder Kiffer glaubt die Lüge, Gras mache nicht abhängig. Ist doch auch schön, behaupten zu können, Drogen zu nehmen, aber nicht abhängig zu sein. "Du weißt, dass es nicht gut ist", sagt die Vernunft. "Muss man denn immer vernünftig sein?", antwortet der Bauch. "Du verbaust dir deine Möglichkeiten", kontert die Vernunft. "Dafür ist morgen auch noch Zeit", erwidert der Bauch. "Und was ist mit mir?", fragt die Lunge. "Du hältst die Klappe!", schallt es zurück. Dann hört man auf. +Und nun? Der Kopf ist zwar klar, aber die Antriebslosigkeit ist geblieben. Ich dachte, ich habe aufgehört, jetzt gehe ich in den Park zum Lesen, nicht um mir einen zu drehen. Ich geh joggen oder ins Fitnessstudio. Allein schon, um den Bauch abzutrainieren, der sich durchs Rumsitzen gebildet hat. Aber es fehlt an Energie, um aufzustehen und die Pläne in die Tat umzusetzen. Das frustet. Dazu kommen Schlaflosigkeit, Aggressivität, Entzugserscheinungen eben. Ich erinnere mich, als wir das erste Mal den Abend und die Nacht durchgekifft haben. Ich war so breit wie nie zuvor, und mein Bauch tat mir vom Lachen weh. Damals dachte ich, das ist geil, so will ich mich mit 60 auch noch fühlen. Ich wusste eben nicht, dass die Lustigkeit im Übermaß vergeht und nur die Lethargie bleibt. +Klingt vielleicht so, als hätte er bereits den größten Teil seines Lebens verplempert, aber unser Autor ist erst 23 Jahre alt. Übrigens ist Jakob auch nicht sein richtiger Name. Verständlicherweise wollte er ein Pseudonym, damit später nicht jeder nachlesen kann, dass er in seiner Jugend ein phlegmatischer Kiffer war. +Ob die Touristen wirklich wegen eines "Anti- Verbrechensmuseums" auf die Hacienda Nápoles nach Nord-Kolumbien pilgern? Wohl kaum. Das ehemalige Anwesen des berüchtigten Drogenbarons Pablo Escobar ist heute eher Vergnügungspark als Gedenkstätte. Escobar, der 1993 im Kugelhagel der Polizei starb und laut "Forbes" zeitweise der siebtreichste Mensch der Welt gewesen sein soll, hatte sich auf einem 20 Quadratkilometer großen Grundstück künstliche Seen, einen Privatflughafen, eine Rennstrecke und einen Zoo gegönnt, in dem er Giraffen, Elefanten und Nilpferde hielt. Jetzt bestaunen die Touristen dort auch noch eine Kopie des ersten Flugzeugs, mit dem Escobar Kokain in die USA schmuggelte, sie wandern durch eine Dinosaurierlandschaft und decken sich im Escobar-Shop mit Plastikgewehren und falschen Schnauzbärten ein. Eine halbe Million Besucher werden im nächsten Jahr erwartet. Vielleicht steht bis dahin auch das geplante Fünfsternehotel. +Die "Oaksterdam-Universität" in Kalifornien bemüht sich redlich, wie eine ganz normale Hochschule zu wirken. Die von Marihuana-Aktivisten gegündete Privatschule hat ein offizielles Wappen, mehrere Standorte in Kalifornien und Michigan und ordentliche Seminarpläne. Trotzdem müssen die Dozenten manchmal noch kichern, wenn man sie "Professor für Marihuana-Anbau" nennt. Alles dreht sich in Oaksterdam nämlich um Gras und Hasch. Ziel der "Universität" ist es, "hochqualifiziertes Personal für die Cannabis- Industrie" auszubilden. Einer der Gründer ist Richard Lee, der seit einem Arbeitsunfall im Rollstuhl sitzt und Marihuana als Schmerzmedikament schätzt. diff --git a/fluter/deine-neue-familie.txt b/fluter/deine-neue-familie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f609fbdc39f2f66d45576605d3799f203bacbe9f --- /dev/null +++ b/fluter/deine-neue-familie.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Marie Möller, 19, war 2005/2006 mit EF in Springfield/Colorado. "Mein Jahr in den USA war ein ständiges Auf und Ab: Ich komme an und lande als Vegetarierin auf einer Rinderfarm! Alle anderen um mich herum haben nur Fleisch gegessen, da blieben mir nur Kartoffeln und andere Beilagen. Ich habe mich schon gefragt, ob die Austauschorganisation überhaupt darauf achtet, dass Schüler und Gastfamilie zusammenpassen. Aber mit der Zeit habe ich mich gut eingelebt. Ziegen habe ich selbst aufgezogen und Kühe gefüttert. Ich wurde richtig naturverbunden und war glücklich, den ganzen Tag ausreiten zu können. Allerdings fiel es mir unheimlich schwer, mich auf all die Regeln einzustellen. Man stelle sich vor: Ich durfte meinen Freund in der Schule weder umarmen noch küssen! Ich hab es trotzdem gemacht – und musste jedes Mal 45 Minuten nachsitzen." +"Als ich im Juni 2004 wusste, dass ich nach Kansas kommen würde, hatte ich sofort E-Mail- Kontakt mit meiner Gastoma. Die war 60 und hatte als Tagesmutter von 7 bis 16 Uhr acht kleine Kinder im Haus. Das hat mich aber nie gestört. Jeden Tag kamen ihr Sohn mit seinen vier Kindern und ihre Tochter mit ihrem Kind vorbei und aßen mit uns. Ich mochte meine große Familie sehr. Auch heute noch telefoniere ich zweimal im Monat mit ihnen und schreibe E-Mails. Richtigen Streit hatten wir nie, manchmal war ich ein wenig beleidigt, wenn ich nicht bis Mitternacht wegbleiben durfte. Da meine Gastfamilie riesige Bush-Fans waren, habe ich mit ihnen über Politik nie gesprochen. Einmal ist mir rausgerutscht, dass ich Homosexualität überhaupt nicht schlimm finde. Das konnten sie gar nicht verstehen. Solche Themen habe ich dann eher vermieden, weil wir auch schon auf dem Vorbereitungstreffen der Austauschorganisation lernten: Das Land tickt anders, deshalb muss man sich anpassen. Denn niemand von uns kann die Einstellung der Leute ändern. Mit meinen Freunden konnte ich dagegen über alles offen reden: Todesstrafe, Sex vor der Ehe und Abtreibung. +"An der Highschool hatte ich unglaublich viele Möglichkeiten, Sport zu machen: Fußball, Skifahren, Leichtathletik. Mein schönstes Erlebnis waren die Leichtathletik-Finalläufe bei den Staatsmeisterschaften von Oregon: Da läuft man dann auf der besten Tartanbahn der Welt – und 15.000 Zuschauer peitschen dich nach vorne. So etwas ist in Deutschland unvorstellbar. Meine Gasteltern und ihre drei Kinder waren immer dabei. Egal ob ich im Finale lief oder der Kleinste ein Baseballturnier hatte – immer haben sie uns angefeuert. So etwas kannte ich nicht." diff --git a/fluter/delegation-film-asaf-saban.txt b/fluter/delegation-film-asaf-saban.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8cd19eac5c4168a8e4ec21450cb9d0060e61ecae --- /dev/null +++ b/fluter/delegation-film-asaf-saban.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Welche Erwartungen meinen Sie? +Zum einen eine politische Agenda in Bezug auf den Holocaust, zum anderen die konkreten Erwartungen, die Jugendliche an diese Reise haben. Ich erinnere mich, dass ich vor meiner eigenen Reise als Teenager dachte, dass alles bigger than life sein müsste, heilige Orte, eine Art Pilgerfahrt. Vor Ort war ich enttäuscht: Ich war gar nicht erschüttert, ich fühlte mich gleichgültig. Als ich bei der Recherche zu meinem Film die abendlichen Feedbackrunden solcher Klassenfahrten besucht habe, kam ein ähnlicher Eindruck auf: Manche Jugendliche waren enttäuscht, weil sie nicht so viel weinen konnten, wie sie wollten. +Der Film zeigt eine jüdische Schulklasse. Treten diese Reise auch gemischte Klassen mit arabischen Israelis an? +Meine Kinder besuchen eine gemischte Schule, aber solche Schulen sind selten. Es gibt vielleicht mal eine europäisch geförderte "Reise zur Förderung friedlicher Koexistenz" für eine gemischte Gruppe. Aber ich schätze, dass 99 Prozent der Klassenfahrten nach Polen nur aus jüdischen Jugendlichen bestehen. +In "Delegation" stehen drei Jugendliche im Zentrum der Handlung. Sie sind eng befreundet, aber auf der Reise kommen Streitigkeiten und unausgesprochene Gefühle auf. Warum wollten Sie eigentlich einen Coming-of-Age-Film vor diesem Hintergrund drehen? +Im Gegensatz zu Deutschland können Jugendliche in Israel nicht mal eben über die Grenze ins Nachbarland fahren, wir leben ein bisschen wie auf einer Insel. Für viele Teenager ist die Reise nach Polen der erste Trip ins Ausland mit Freund*innen und ohne Eltern. Zwischen der ganz normalen Aufregung darüber und den Eindrücken dieser erschreckenden Orte pendeln sie dann emotional hin und her. Dieser Perspektive wollte ich treu bleiben: Für Jugendliche kann ein unerfüllter Crush oder eine Gemeinheit das größte Drama sein. Das steht im Vordergrund des Films – während das größte Drama der Menschheitsgeschichte im Hintergrund bleibt. +Musik spielt eine wichtige Rolle für die Jugendlichen, auch für ihr Gedenken. Was für Songs hören wir im Film? +Die "Memorial Songs" im Film haben eigentlich nichts mit dem Holocaust zu tun. Ein Lied von Eviatar Banai, einem der populärsten Sänger in Israel, handelt zum Beispiel von einer unglücklichen Großstadtliebe. Der einzige Satz mit einer vagen Verbindung lautet: "Ich habe eine Chance zu überleben". Diesen Song singen Schulklassen in Treblinka, in Majdanek. Banai wusste nicht mal davon, dass sein Lied so zum nationalen Symbol geworden ist, bis ich den Song für den Film angefragt habe. Das finde ich verrückt und faszinierend. +Der Film zeigt das Bildungsprogramm auf der Reise ziemlich anschaulich. Einmal sitzt die Klasse auf der Fahrt von einem ehemaligen Konzentrationslager zum nächsten im Bus und hört unterwegs denZeitzeugenberichtdes mitreisenden Yosef. Als der eine Pause braucht, sagt der Lehrer: "Dann schauen wir jetzt noch mal ‚Schindlers Liste'." +Das ist übrigens eine Anspielung: Ezra Dagan, der hier den Holocaustüberlebenden spielt, hatte in "Schindlers Liste" eine wichtige Nebenrolle als Rabbi. Ich verstehe vollkommen, warum das israelische Bildungssystem die Jugendlichen nach Polen bringt. Sie können auf der Reise von der Geschichte und den Traumata der eigenen Vorfahren lernen. Aber in der Form, wie es derzeit gemacht wird, sehe ich die Gefahr, dass sich ein Opferstatus als Identität verfestigt. +Eine Art historisches Reenactment von Holocausterfahrungen, etwa im Stil von "Schindlers Liste", wird bei manchen Gedenkreisen ja auch praktiziert. +Ja, es gibt auch eine Reenactment-Szene im Film, in dem ein Guide die Schüler*innen in einem historischen Eisenbahnwaggon in eine Ecke drängt und sagt: "Versucht euch vorzustellen, wie es gewesen ist!" Für mich ist das ein Horror. Wir haben diese Szene an der Gedenkstätte Bahnhof Radegast[in der Nähe von Łódź, Anm. d. Red.]gedreht. Das Mädchen, das in der Szene weint, spielt die Tränen nicht, sie war sehr aufgewühlt. Da verstand ich, warum Holocaustfilme – und ich denke übrigens nicht, dass mein Film einer ist – für Filmemacher*innen aufgrund des dramatischen Potenzials so verlockend sind. Man sollte sich das bewusst machen. "Schindlers Liste" nutzt dieses Potenzial sehr effektvoll. Ich wollte aus ethischen Gründen Distanz dazu schaffen und habe die Szene in einem Moment gefilmt, in dem ein moderner Zug außerhalb der Gedenkstätte vorbeifährt +Warum zeichnen Sie den Überlebenden Yosef, der die Klasse begleitet, als Gegengewicht zum offiziellen Gedenken? +Statt schneller zur "Action" zu kommen versucht Yosef, den Blick auf vermeintlich nebensächliche Erfahrungen und Erinnerungen zu bewahren, nicht nur vorgeprägte Perspektiven zu übernehmen. Darin steckt schon ein Statement des Films. Es gibt gerade einpolitisches Erdbebenin meinem Land, die größte Krise in Israels Geschichte, wenn Sie mich fragen. Und der Holocaust ist in der gegenwärtigen Politik ein zentraler Bezugspunkt. Sobald es keine Überlebenden mehr gibt, lässt sich das Narrativ darüber besser kontrollieren. Denn es gibt ja noch einen wichtigen politischen Aspekt der Reisen nach Polen: Diese Kids gehen ein Jahr später zur Armee … +Im Film sagt ein Schüler, dass ihn die Erlebnisse mental bereit gemacht haben, Israel auch in Kampfeinsätzen zu verteidigen. +Teenager zu sein bedeutet, zu etwas dazugehören zu wollen, das größer ist als man selbst. Die Gedenkorte, die Gedenklieder, die nationalen Symbole – man baut eine bleibende Verbindung dazu auf. Mein Land ist mir unter die Haut gegangen, als ich damals in Polen war. Aber ich wurde nie gefragt, ob ich mein Land unter meine Haut lassen möchte. + +Asaf Saban, 1979 in Israel geboren, lebt und arbeitet in Tel Aviv. "Delegation" ("Ha'Mishlahat"), der gerade in der Kategorie "Generation 14Plus" auf der Berlinale Premiere feierte, ist sein zweiter Langspielfilm. +Titelbild: Natalia Łączyńska + diff --git a/fluter/dem-big-game-im-wege.txt b/fluter/dem-big-game-im-wege.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e1f64bdd554c68ac798bb9ccec737ec4fe3219fd --- /dev/null +++ b/fluter/dem-big-game-im-wege.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Im November 2013 konnte man in Vila Autodromo noch unbehelligt Straßenfußball spielen. Doch im Hintergrund liefen schon Planungen für den Abriss der Favela +Die Favela Vila Autódromo ist in den letzten Jahren zum Symbol geworden für den wachsenden Widerstand gegen Olympia. Sie wird abgerissen, weil hier bis August der neue Olympiapark entsteht – mit mehreren Sportstadien und einem Medienzentrum für Journalisten. Besonders unglaublich ist die Geschichte von Altair Guimarães: Schon zum dritten Mal zerstört die Stadt sein Haus, um Platz zu machen für ein Großprojekt. +Die Reste von Altairs Haus liegen am Rand einer Großbaustelle. Bagger und Lkws fahren vorbei. Staubwolken wirbeln auf. Zwischen halb abgerissenen Häusern liegen Schuttberge. Von der ursprünglichen Favela ist kaum noch etwas zu erkennen. Früher wohnten hier einmal 800 Familien, heute sind es noch 25. Im staubigen Fußballtrikot berichtet Altair von den letzten Jahren der Vila Autódromo. Etwas heiser schreit er gegen den Baulärm an: "Beim letzten Mal war es hier gemütlicher, was?" +Das letzte Mal, das war 2012: Damals empfing Altair noch jeden Besucher am Eingang der Favela. Die meisten waren überrascht. Klein wie ein Fischerdorf lag sie am Rand einer Lagune. Zweistöckige Häuser reihten sich ordentlich entlang der breiten, schattigen Straßen, dazwischen Vorgärten und Garagen. Nicht zu vergleichen mit dem chaotischen Durcheinander, das viele bei einer Favela erwarten würden. +Der Schwächere gibt nach: Was mal ein Zuhause war, wird von einem Bulldozer innerhalb von Minuten dem Erdboden gleichgemacht +Unter großen Mangrovenbäumen saßen die Bewohner damals vor ihren Werkstätten und kleinen Läden. Ihr Präsident erzählte jedem persönlich, wenn es Neuigkeiten gab. Im Haus der Bewohnervereinigung zeigte Altair stolz auf die Fußballpokale und auf die Gerichtsurteile. Aus dicken Ordnern holte er die vergilbten Dokumente, die beweisen sollten, dass die Bewohner ein Recht hatten, hier zu bleiben. +"Wir leben doch nicht mehr in Zeiten der Diktatur, wo sie dein Haus einfach abreißen konnten", war sich Altair damals sicher. Er sprach aus Erfahrung: Als er 14 Jahre alt war, wurde seine Favela umgesiedelt, gut 20 Jahre später wurde sein Haus für eine Autobahn abgerissen. Und nun also Olympia. +Als Brasilien 2009 den Zuschlag für die Ausrichtung der Olympischen Spiele bekam, waren es noch andere Zeiten dort. Das Land boomte, die Brasilianer waren stolz, dass gleich zwei Großereignisse in ihrer Heimat stattfinden würden. Die Wende kam 2013. Zum ersten Mal überhaupt protestierten damals viele hunderttausend Menschen im Vorfeld einer Fußball-WM. Anlass war der Confederations Cup in Brasilien, ein Vorbereitungsturnier für die im Jahr darauf folgende Fußball-WM. Gegen die Milliardenausgaben bei der WM und den Olympischen Spielen, aber auch gegen Korruption, das marode Bildungssystem und gegen Polizeigewalt gingen die Menschen auf die Straße. Die FIFA hatte plötzlich ein Imageproblem, und Brasiliens Politik gelobte Besserung. +Im Januar 2016 ist die Favela Vila Autodromo schon weitestgehend zerstört und der Großteil der Bewohner ist weggezogen +Nach den Protesten von 2013 und auch mit Blick auf die Lage von Wanderarbeitern im WM-Gastgeberland für das Jahr 2022, Katar, beschloss die FIFA, dass bei künftigen WM-Vergaben auch die Menschenrechte eine Rolle spielen sollten. Auch das Internationale Olympische Komitee (IOC) will in Zukunft auf Menschenrechte, faire Arbeitsbedingungen und Korruptionsbekämpfung achten. Für Brasilien kommt das zwar zu spät, aber dennoch wurden die Proteste der Bewohner der Vila Autódromo von diesen Entwicklungen beflügelt. Die Bewohner veröffentlichten zusammen mit mehreren Universitäten einen Plan, wie es mit der Favela weitergehen könne. Diesem Plan zufolge hätten die meisten Bewohner bleiben können, auch mit dem neuen Olympiapark. Etwa vier Millionen Euro sollten die Baumaßnahmen kosten. Laut den Bewohnern habe die Stadt versprochen, den Alternativplan zu prüfen. +Umgesetzt wurde der Plan letztendlich nicht. Die meisten Bewohner haben die Vila Autódromo mittlerweile verlassen. Auch das Haus der Bewohnervereinigung haben die Bagger inzwischen abgerissen. "Ich habe das kommen sehen", sagt Altair. Der Widerstand bröckelte, als die Stadt 2014 begann, hohe Entschädigungen anzubieten und gleichzeitig einzelne Häuser abzureißen. Mehr als 25 Millionen Euro hat sie inzwischen an etwa 120 Familien ausbezahlt. Die übrigen erhielten Ersatzwohnungen. Die Verlockung war für viele zu groß. Auch Altair hat inzwischen eine Entschädigung erhalten. +Warum investiert Rio de Janeiro lieber Geld in Umsiedlungen als in Sanierungen? Die eigentlichen "Hauptnutznießer" seien die großen Bauunternehmen, sagt Dawid Danilo Bartelt. Er leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio. Nach dem Ende der Olympischen Spiele 2016 werden dieselben Bauunternehmen, die den Olympiapark errichtet haben, das Gelände weiterbetreiben. Sie werden dort luxuriöse Wohnanlagen bauen, wie sie in den letzten Jahren reihenweise entstanden sind in der Nachbarschaft der Vila Autódromo. Gegenüber steht der Wohnkomplex "Origami", nebenan das "Quality Green". Mit ihrer Umsiedlungspolitik zu Olympia hat die Stadt ihnen nun den Weg geebnet. +Vergeblich war der Protest der Bewohner trotzdem nicht: Rund zwei Dutzend Familien dürfen bleiben und erhalten von der Stadt neue Häuser. Mit einigen Bewohnern hat die Stadt vergleichsweise hohe Entschädigungen ausgehandelt und so ihre Rechte zumindest zum Teil anerkannt. Viele der ehemaligen Bewohner leben inzwischen in einer neuen Wohnanlage in der Nähe. Auch das ist eher die Ausnahme. Aus anderen Favelas, die für Olympia weichen mussten, landeten die Bewohner in Sozialwohnungen am äußersten Rand der Stadt. +Die Bauarbeiter haben inzwischen Feierabend. Altair Guimarães steht auf den Trümmern seines alten Hauses. Auch er ist überzeugt, dass die Vila Autódromo nicht für etwas geopfert wurde, was der Stadt langfristig nutzen könnte. "Ich bin nicht gegen Sport und auch nicht gegen die Spiele. Aber müssen wir wirklich mit unseren Häusern dafür bezahlen, in denen wir jahrelang gewohnt haben? Für Olympische Spiele, die nach 16 Tagen wieder vorbei sind?" diff --git a/fluter/demokratie-braucht-zeit.txt b/fluter/demokratie-braucht-zeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/demokratie-buergerversammlung-verena-friederike-hasel.txt b/fluter/demokratie-buergerversammlung-verena-friederike-hasel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3a3dc62aeee5c84997b80e284aeb51ca19264dad --- /dev/null +++ b/fluter/demokratie-buergerversammlung-verena-friederike-hasel.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Doch sind diese Gegensätze überhaupt zutreffend? Demokratie versus Autokratie? Volkswille gegen Expertenmeinung? In Wirklichkeit gibt es eine weitere Alternative, die Bürger zu Experten macht und ihnen die Verantwortung für wichtige Sachentscheidungen überträgt. Die Rede ist von Bürgerversammlungen. Ich halte sie für den nötigen nächsten Schritt einer Demokratie im 21. Jahrhundert. Ein Schritt, der zugleich eine Rückbesinnung auf ihre Anfänge bedeutet. +Unsere parlamentarische Demokratie stützt sich auf Wahlen.Alle vier Jahre entscheiden wir, welche Politiker unsere Interessen vertreten sollen. Doch wenn man sich die Zusammensetzung des Bundestags von 2017 anschaut, regen sich Zweifel, ob sie dazu geeignet sind. Von den 709 Abgeordneten, die seit 2017 im Parlament sitzen, sindnur 21 unter 30 Jahre alt, und es gibt lediglich 219 Frauen. Um die bundesdeutsche Realität abzubilden, bräuchte der Bundestag ein Plus von 140 Frauen, 63 jüngeren Menschen, 107 Menschen mit Migrationshintergrund, 33 Muslimen, 123 Alleinstehenden, 244 Hauptschülern und 124 Dorfbewohnern. +Auch die Wahlbeteiligung erscheint mir erschreckend gering. Wären Nichtwähler eine Partei, hätten sie bei der Bundestagswahl 2017 die zweitstärkste Fraktion gestellt. In einer GfK-Umfrage aus dem Jahr 2018 gaben nur neun Prozent an, Politikern zu vertrauen. Viele, so scheint es, haben den Eindruck, dass es Politikern vor allem um den Machterhalt geht und sie eine abgehobene Klasse sind. Welchen Zwängen Abgeordnete unterworfen sind, wird in dem kürzlich erschienenen Buch "Alleiner kannst du gar nicht sein" eindrücklich beschrieben. So berichtet der ehemalige Grünen-Abgeordnete Gerhard Schick: "Nach der Krisewollten viele die Finanzmärkte besser regulieren. Das ist nicht gelungen, weil dieLobbyam Ende zu wirkmächtig war." Und immer wieder bekommen Parlamentarier Schwierigkeiten, wenn sie eine andere Meinung als ihre Partei vertreten. "Dann heißt es: Wenn du nicht mit der Fraktion stimmst, wirst du nichts mehr", wird ein Abgeordneter zitiert. +Verena Friederike Hasel ist Diplom-Psychologin, Journalistin, Buch-Autorin und Verlegerin des neuseeländischen Investigativmagazins "North & South" +Um eine Lösung für diese Probleme zu finden, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. "Von da her kommt denn, dass man sich nicht regieren lässt, am besten von überhaupt niemandem, oder dann doch nur abwechslungsweise. Auch dies trägt also zur Freiheit im Sinne der Gleichheit bei", schrieb der griechische Philosoph Aristoteles vor fast 2.500 Jahren in seinem Werk "Politik". Deshalb bediente man sich in der attischen Demokratie des Zufallsprinzips. Alle Mitglieder des sogenannten Rats der 500 – so der Name eines wichtigen politischen Gremiums der damaligen Zeit – wurden per Los bestimmt. Genauso wurden auch die rund 6.000 Richter ausgewählt. Und weil jegliche Art von Machtzementierung abgelehnt wurde, durfte jeder ein solches Amt nur zwei Mal in seinem Leben ausüben. Demokratie, so wie die Athener sie verstanden, schloss Berufspolitiker aus. Doch obwohl wir Griechenland gemeinhin als Wiege unserer Demokratie bezeichnen, haben wir uns von dieser Auffassung weit entfernt. +Im Grunde ruht die Demokratie auf drei Säulen. Eine deliberative Säule mit Bürgerversammlungen, eine direkte mit Volksentscheiden und eine repräsentative mit Wahlen. Doch da wir die erste Säule weitgehend vergessen haben und der zweiten misstrauen, überfrachten wir die dritte. Dieses einseitige Demokratieverständnis hat meiner Meinung nach zur Folge, dass unser politisches System wackelt. Stabil kann es erst sein, wenn wir die Last gleichmäßig verteilen und dafür sorgen, dass die eine Säule ausgleicht, was die andere nicht tragen kann. +Wie eine gelungene Kombination der drei Verfahren aussehen kann, hat Irland im Jahr 2016 vorgemacht. Damals diskutierten 99 zufällig ausgewählte Iren und Irinnen (wobei darauf geachtet wurde, dass die verschiedenen Altersgruppen, sozialen Schichten und Geschlechter ausreichend vertreten waren) fünf Wochenenden lang über das Thema Abtreibung.Bis dahin waren Schwangerschaftsabbrüche in Irland strengstens verboten, doch nachdem die 99 Iren und Irinnen Experten angehört und miteinander diskutiert hatten, legten sie einen sehr liberalen Entwurf vor. Dieser wurde vom Parlament geprüft und dem Volk schließlich in einem Referendum vorgelegt und angenommen. "Die Bürger sind weiter gegangen, als wir Politiker jemals geglaubt hätten", sagte der damalige Premierminister Enda Kenny. +Richtungweisend in der Debatte war vor allem die Einbindung der Experten und Expertinnen. Es sprachen Ärzte, Anwältinnen und betroffene Frauen, es gab abwechselnd Plädoyers für und gegen Abtreibung. Die Fachleute trafen also nicht die Entscheidung, aber stellten ihr Wissen zur Verfügung. Und die 99 Iren und Irinnen hatten die Möglichkeit, eine Entscheidung unter Idealbedingungen zu treffen: Sie erhielten ausgewogene Informationen, sie konnten mit anderen diskutieren, und sie mussten anders als Berufspolitiker nicht um ihre Wiederwahl fürchten. +Wie wichtig es ist, die Demokratie durchlässiger zu machen, zeigte schon die 17. Shell-Jugendstudie im Jahr 2015. Heranwachsende würden in der Politik "punktuell und projektorientiert" mitarbeiten wollen. "Bestimmte Sachthemen sind Jugendlichen sehr wichtig", sagt der Politikwissenschaftler und Studienleiter Mathias Albert. Ein prominentes Beispiel ist die Fridays-for-Future-Bewegung, doch wie findenihre ForderungenEingang ins politische System? "Wir sind mit einem Paradox konfrontiert", schreibt die bulgarische Politikwissenschaftlerin Albena Azmanova. "Während auf den Straßen die intensivste soziale Mobilisierung der letzten Jahrzehnte stattgefunden hat, folgt daraus nichts von Bedeutung in der Politik." +Auch hier können Bürgerversammlungen helfen. Zwischen April und Juni 2021 hatder BürgerratKlima getagt. 160 Menschen aus ganz Deutschland, zufällig ausgelost aus den Einwohnermelderegistern, die in zwölf Sitzungen Experten und Expertinnen anhörten und dann gemeinsam Vorschläge für die Klimapolitik entwickelten. Unter anderem haben sie sich für ein Tempolimit und eine Kerosinsteuer ausgesprochen. Allerdings gab es für diese Bürgerversammlung kein Mandat. Initiator war der eingetragene Verein "Mehr Demokratie". Politiker sind also keinesfalls an die Ergebnisse gebunden. +Das muss sich ändern. Um sinnvoll arbeiten zu können, müssen Bürgerversammlungen institutionalisiert werden. Denkbar wäre zum Beispiel eine ständige Bürgerversammlung, deren Mitglieder alle sechs Monate wechseln und die während ihres Einsatzes für die Demokratie von ihrem Beruf freigestellt werden. Diese Bürgerversammlung wäre ein komplett neues politisches Gremium, eine dritte Kammer neben Bundestag und Bundesrat, in der jedoch keine Berufspolitiker sitzen, sondern zufällig ausgewählte Menschen, die in ihrer Gesamtheit die Vielfalt Deutschlands abbilden. Natürlich wissen sie in manchen Dingen weniger gut Bescheid als altgediente Politiker, aber sie lassen sich von Experten beraten und gleichen das, was ihnen an Wissen fehlt, durch ihre Freiheit aus. Auf sie nehmen keineLobbyistenEinfluss, und sie sind auch nicht an Parteizwänge gebunden. Alle bisherigen Nichtwähler könnte man mit einer zusätzlichen Alternative locken. Auf den Wahlzetteln könnte es in Zukunft das Feld "ZB" geben. Zufallsbürger. Und wenn genug Menschen hier ihr Kreuz setzen, kommen ausgeloste Normalbürger in den Bundestag. +Wenn Joe Biden mit seiner Prognose recht behält, werden Historiker unsere Zeit eines Tages als Ära beschreiben, in der sich das Schicksal der Demokratie entschied. Im besten Fall werden sie berichten, dass es uns gelungen ist, die Demokratie neu zu erfinden und damit zukunftstauglich zu machen diff --git a/fluter/demokratie-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt b/fluter/demokratie-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4cb1606e27b5c25afaec16cff0972b4edeab1652 --- /dev/null +++ b/fluter/demokratie-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Der tschechische Schriftsteller Jaroslav Hašek hat mit dem "braven Soldaten Schwejk" nicht nur ein tolles Buch über einen schelmischen Befehlsver- weigerer geschrieben, sondern auch im echten Le- ben anarchistisch gewirkt. So war er Mitbegründer einer Satire-Partei, die schon 1911 den Wahlkampf der anderen Parteien auf die Schippe nahm. Im Pra- ger Lokal "Kuhstall" forderte er unter anderem die Wiedereinführung der Sklaverei, die Verstaatli- chung der Hausmeister und den staatlich verordneten Alkoholismus. Jedem Wähler versprach er zudem ein Taschenaquarium. Der Name des amüsanten Vereins: +"Partei des maßvollen Fortschritts in den Grenzen der Gesetze". Klingt heute eigentlich nicht nach Satire, sondern nach Mainstream. diff --git a/fluter/demokratietuev.txt b/fluter/demokratietuev.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f350566297b098658af4118d2c12412d9903210d --- /dev/null +++ b/fluter/demokratietuev.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Und hier hört ihralle Folgen des fluter-Podcasts. + +Ihr habt Lob, Kritik oder eigene große Fragen, die wir in einer Pause beantworten sollen? Schreibt uns beiInstagram,Facebookoder perMail. + +Moderation & Schnitt: Paul HofmannRedaktion: Luise Checchin und Paul HofmannSound: Max LangeCover: Leonard Velte und Jan Q. Maschinski diff --git a/fluter/den-ausweis-bitte-mal.txt b/fluter/den-ausweis-bitte-mal.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..593d78a36d8c7f704c4f407e21b27c1f0a84bca4 --- /dev/null +++ b/fluter/den-ausweis-bitte-mal.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +"Wir sind völlig überflutet worden mit Arbeit", erzählt Damm. Wegen der großen Zahl von Asylanträgen, die 2015 gestellt wurden, kamen die Dokumentenprüfer nicht mehr mit der Arbeit hinterher. Das BAMF reagierte mit einer Rekrutierungsoffensive: Deutschlandweit stockte das Amt zwischen Anfang 2015 und heute sein Personal um über 6.000 Mitarbeiter auf – ein Teil davon wurde von anderen Ämtern abgeordnet. Die Leute wurden zum Teil in Schnellverfahren geschult – oder sie wurden wie Damm aus dem Ruhestand geholt. Mit 32 Jahren Berufserfahrung beim Berliner Landeskriminalamt ist er sozusagen ein Joker für das BAMF. +Das Wichtigste an den meisten Dokumenten seien die Wasserzeichen, erklärt Damm – denn die könne man quasi nicht fälschen. Was aber funktioniert: einen Pass klauen und dann Bild, Namen sowie Passnummer ändern. Der sogenannte IS stehle beispielsweise massenhaft syrische Pässe, um sie weiterzuverkaufen und damit seinen Terrorismus zu finanzieren. In Ländern wie Marokko landeten die Dokumente dann auf dem Schwarzmarkt. +Mit syrischen Pässen kennt sich der Kriminalbeamte a. D. mittlerweile aus – bei einem unbekannten Dokument kann die Prüfung aber auch mal ziemlich lange dauern. "Indische Führerscheine sind die Hölle", sagt Damm. Denn die gäbe es in allen möglichen Variationen, und die sähen manchmal kaum anders aus als ein Stück Pappe, auf das jemand einen grob geschnitzten Kartoffelstempel gepresst hat. +Wirkt ein Dokument gefälscht oder manipuliert, leitet Damm es an die BAMFZentrale weiter, wo es noch eingehender geprüft wird – unter anderem von Urkundensachverständigen. Rund 75.000 Dokumente mit Manipulationsverdacht sind zwischen Januar und September 2016 von den Außenstellen geschickt worden – etwa 7.000 davon wurden als mutmaßliche Fälschungen beanstandet. +Hinter jeder Geburtsurkunde, hinter jedem Pass steht immer eine individuelle Flucht- oder Migrationsgeschichte. Zum Beispiel ein Marokkaner, der sich einen syrischen Pass gekauft hat, um in Deutschland bessere Chancen auf Asyl zu haben (Marokkaner bekommen in Deutschland nur sehr selten Asyl). Oder ein Oppositioneller, für den die Flucht ohne gefälschten Pass noch gefährlicher gewesen wäre. +Zwar werden seit Oktober alle Urkundsdelikte nicht nur an die Ausländerbehörden der Länder, sondern auch an die zuständigen Polizeibehörden weitergeleitet – trotzdem führt der Umstand, dass jemand nicht die richtigen oder gar keine Ausweispapiere vorlegen kann, nicht zum Ausschluss aus dem Asylverfahren. "Es gibt ja Leute, die müssen mit gefälschten Pässen kommen", stellt Damm klar. In diesem Fall greift die Anhörung zu den Fluchtgründen als zusätzliche Station der Identitätsfeststellung. Wer hier transparent darlege, warum er mit seinen richtigen Dokumenten nicht hätte flüchten können, der habe trotzdem Chancen auf Asyl, heißt es beim BAMF. +Das Gleiche gilt im Prinzip für Leute, die ganz ohne Papiere nach Deutschland kommen. Bei ihnen wird im Zweifel mittels einer Sprachanalyse geprüft, ob sie tatsächlich aus der Gegend kommen, die sie als ihr Zuhause angegeben haben. Manchmal werden auch konkrete geografische oder bauliche Merkmale des angegebenen Heimatorts erfragt: Wo genau steht die Moschee? Wo in der angegebenen Stadt fließt der Fluss? Für besagten Mann aus Marokko dürfte es an dieser Stelle trotz fließenden Arabischs schwer werden, sich weiterhin als Syrer auszugeben. +De facto sind fehlende Papiere vor allem auch eins: ein Hinderungsgrund für die Ausreise. In einem Bund-Länder-Bericht von 2015 heißt es dazu in bestem Bürokratendeutsch: Fehlende Identitätsnachweise seien "nach wie vor das quantitativ bedeutendste Problem beim Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen". Um einen abgelehnten Asylbewerber abschieben zu können, müssen also Papiere her. +Damit diese Papierbeschaffung besser funktioniert, wurde 1993 die Bund-Länder-Arbeitsgruppe Rückführung gegründet – sie sollte die dezentral organisierte Rückführungsbürokratie effizienter gestalten. Ein Instrument der Identitätsfeststellung, das sich seitdem etabliert hat, sind Sammelanhörungen in Botschaften. Vor allem Menschen aus Westafrika, die keine Pässe haben, werden ihren mutmaßlichen Heimatbotschaften vorgeführt, um dort als Staatsbürger identifiziert zu werden. +Die Bundesregierung bezeichnet diese Vorführungen als "wirksame Verfahren" – doch sie stehen schon lange in der Kritik. Von "völlig intransparenten Vorgängen in den Botschaften" spricht etwa die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl. Manche kritisieren zudem die Kosten für Anhörungen und Passersatzpapiere: Die Gebühren belaufen sich auf bis zu 600 Euro, und es werden immer wieder Beamte zur Identitätsprüfung nach Deutschland eingeflogen. Die Quoten, mit denen Vorgeführte zu Staatsbürgern des jeweiligen Landes erklärt werden, variieren von Staat zu Staat deutlich. Es soll in Einzelfällen schon vorgekommen sein, dass Menschen in ein Land abgeschoben wurden, das sie noch nie zuvor betreten haben. "Dumping Ground" wird ein solcher Staat im Aktivistenjargon genannt – "Abladeplatz". diff --git a/fluter/den-einkaufsbeutel-immer-im-anschlag.txt b/fluter/den-einkaufsbeutel-immer-im-anschlag.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/den-schuh-zieh-ich-mir-nicht-an.txt b/fluter/den-schuh-zieh-ich-mir-nicht-an.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b5b9f2cf32cae7170c5a3a0921edc9c33444e51e --- /dev/null +++ b/fluter/den-schuh-zieh-ich-mir-nicht-an.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Manchmal vergleiche ich mich schon mit meinen Freunden, die mehr Geld haben, und bin dann traurig, weil mir so viel entgeht – eigene Bücher, Theaterbesuche, Filme auf DVD. Aber meiner Mutter kann ich keinen Vorwurf machen. Sie ist mit Ende Zwanzig als politischer Flüchtling aus dem Iran nach Deutschland gekommen. Weil ihre Zeugnisse hier nicht anerkannt wurden, hat sie ihr Abitur noch einmal gemacht und Soziologie studiert. Meine Eltern haben sich während des Studiums kennengelernt und wieder getrennt, als ich drei Jahre alt war. Mein Vater zog in die USA, und von da an war meine Mutter alleinerziehend. Bei ihrer Arbeit mit Flüchtlingsfrauen hat sie wenig Geld verdient, deshalb wurden ihre Einkünfte mit Sozialhilfe aufgestockt. Vor zwei Jahren hat sie eine Ausbildung zur Erzieherin begonnen und arbeitet nun in Teilzeit an einer Schule. +Ich finde: Sie hat ein ökonomisches Gespür und kennt die Stellen, wo wir Unterstützung bekommen. Die Kosten für unsere Monatstickets übernimmt zum Beispiel eine Stiftung, die sich für alleinerziehende Mütter einsetzt. Insgesamt hat sie so um die 1.100 Euro im Monat für uns drei. Taschengeld ist für uns nicht drin. Ich möchte mir jetzt gerne einen Nebenjob suchen. Am liebsten einen, der etwas mit Sprachen zu tun hat, denn ich spreche Persisch, Französisch, Englisch, Japanisch, Spanisch und ein bisschen Chinesisch. Sprachen fallen mir leicht. Mein Zukunftswunsch: Nach dem Abitur will ich Medizin studieren und später bei "Ärzte ohne Grenzen" im Ausland arbeiten. Ich möchte anderen Menschen helfen und Dinge tun, die mich glücklich machen. +Dokumentiert von Hadija Haruna +* Die Erzählerin hat ihren Namen selbst gewählt. Athena steht für Weisheit und Rolland für den Namen ihres Lieblingsautors Romain Rolland. diff --git a/fluter/deniz-yuecel-ein-jahr-haft-interview.txt b/fluter/deniz-yuecel-ein-jahr-haft-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a0ec1073ea87a928e0d8c5bb66e18abc4ad6e0e4 --- /dev/null +++ b/fluter/deniz-yuecel-ein-jahr-haft-interview.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +fluter.de: Seit einem Jahr sitzt Deniz Yücel ohne Anklage in türkischer Untersuchungshaft. Wie hält er diese Situation aus? +Imran Ayata ist Autor, Campaigner und DJ. Zuletzt erschien sein Roman "Ruhm und Ruin", Verbrecher Verlag, Berlin 2015 +Imran Ayata: Die Bedingungen sind extrem schwierig. Mein Eindruck ist, dass er trotzdem stark ist. Aber man kann sich ja vorstellen, dass das nicht wirklich ein gutes Leben ist, das man da führt. Ich habe ihn nicht von Angesicht zu Angesicht gesprochen. Seine Schwester, seine Ehefrau und seine Anwälte besuchen ihn. Sie sagen, dass er weiterhin sehr genau und sehr klug beobachtet, wie sich die Dinge entwickeln. Und dabei den Humor nicht verloren hat. +Haben Sie direkten Kontakt mit ihm gehabt? +Es ist kein direkter Kontakt möglich. Er sitzt in einem Hochsicherheitsgefängnis. Ich schicke ihm die Fußballzeitschrift "11 Freunde". Manchmal bekommen wir über seine Anwälte voneinander mit. Ich schreibe ihm Briefe, weiß allerdings oft nicht, ob er die bekommt. Jedenfalls habe ich mich im letzten Jahr mehr mit Deniz Yücel beschäftigt als in den 20 Jahren, die ich ihn kenne. Und noch nie war ein Hashtag in meinem Leben so wichtig. +Seit dem gescheiterten Militärputsch in der Nacht zum 16. Juli 2016 wurden in der Türkei über 100.000 Menschen verhaftet oder von ihrer Arbeit suspendiert – darunter zahlreiche Journalisten, Lehrer, Richter und Soldaten, aber auch Mitarbeiter internationaler Hilfsorganisationen. Derzeit sind nach Angaben des Auswärtigen Amtes sechs Deutsche aus politischen Gründen in der Türkei inhaftiert. Im Rahmen der Antiterrorgesetzgebung klagt die türkische Regierung Journalisten wegen Terrorpropaganda an. 39 Journalisten sind laut Reporter ohne Grenzen derzeit in der Türkei inhaftiert. Deniz Yücel klagt am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, weil er ohne triftigen Grund und ohne Anklageschrift festgehalten werde, was seine Menschenrechte verletze. Anfang Februar 2018 hat die deutsche Bundesregierung eine Stellungnahme vor dem Gericht abgegeben. Sie sehe in der Inhaftierung einen möglichen Verstoß gegen Grundrechte und -freiheiten, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgeschrieben sind, und einen Angriff auf die Pressefreiheit. Eine Stellungnahme des Gerichtshofs wird im Sommer erwartet. +Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim erklärte heute gegenüber den Tagesthemen, dass Yücel zeitnah mit einem Prozess rechnen könne. +Weil Sie den Freundeskreis #freedeniz mitinitiiert haben. Was macht der? +Wir veranstalten Lesungen, Konzerte, Autokorsos. Wie haben einen kleinen Anteil daran, dass das Thema in der Öffentlichkeit präsent ist. Immer wieder weisen wir auf seine Situation und die der anderen Journalisten in der Türkei hin. Jetzt erscheint sein neues Buch"Wir sind ja nicht zum Spaß hier". Darin stehen Texte, die überwiegend schon veröffentlicht wurden. Es gibt auch einen neuen Text, den er für das Buch schreiben konnte. Viele Themen werden behandelt: die Türkei, Fußball, Deutschland. Es ist aber auch ein wichtiges Symbol. Das Buch zeigt, dass man gute Journalisten nicht zum Schweigen bringen kann. +Wann hat Deniz Yücel Ihnen – als Freund, Journalist, Fußballfan – in den letzten 365 Tagen am meisten gefehlt? +Wir kennen uns schon seit den 90er-Jahren und haben uns begleitet und unterstützt bei dem, was wir tun. Über Fußball haben wir uns nicht so viel ausgetauscht, weil wir nicht zu den gleichen Clubs halten (lacht). Dadurch, dass ich mich jetzt so viel mit ihm und der Initiative #freedeniz beschäftige, ist eine größere Nähe und Freundschaft entstanden, obwohl wir uns ja nicht sprechen können. Das, was mir am meisten fehlt, sind aber seine Berichte, Reportagen und Einschätzungen. Ich weiß noch, wie er in die Türkei gegangen ist und die Gezi-Proteste begleitet hat. Er war für mich ein tolles Fenster in die Türkei. +Welche Texte würde er jetzt schreiben, welche Themen hervorheben? +Er würde wahrscheinlich nach Afrin runterfahren und sich den Einsatz vor Ort anschauen. Er liebt seinen Job über alles. Ich kenne kaum jemanden, der so für den Journalismus lebt. Er hat einen Text aus dem Gefängnis geschrieben: "Türkei-Journalist müsste man jetzt sein". Weil in diesem Land gerade so wahnsinnig viel passiert. Dass er das nicht tun kann, ist tragisch. Nicht nur, was in Afrin passiert, auch, wie sich das Land gerade verändert. +Militäroffensive in Afrin +Am 20. Januar 2018 startete die türkische Regierung die"Offensive Olivenzweig". In der Region Afrin, im Norden Syriens, geht das Militär gegen die Kurdenmiliz YPG vor. Die türkische Regierung sieht in der YPG wegen Verbindungen zur – auch in der EU und Deutschland – verbotenen"Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK)eine terroristische Vereinigung, die die nationale Sicherheit gefährdet. Die kurdische YPG ist Verbündete der USA im Kampf gegen den sogenannten "Islamischen Staat". Die "Operation Olivenzweig" hat Hunderte Todesopfer gefordert, darunter UN-Angaben zufolge auch Zivilisten; Ende Januar gab die UNHCR an, dass etwa 15.000 Menschen seit Beginn der Operation aus der Region Afrin geflohen sind. Besonders in der Stadt Afrin, die bisher als sicher galt, haben viele Flüchtlinge aus dem syrischen Bürgerkrieg Zuflucht gefunden. Der Einsatz ist international und völkerrechtlich umstritten. +Deniz Yücel sagte auf die Frage, was er als Erstes machen würde, wenn er freigelassen wird: "Meine Frau umarmen. Noch mal umarmen. Alle anderen umarmen, die gekommen sind, um mich abzuholen. Zigarette anzünden. Durchatmen." Haben Sie oder der Freundeskreis #freedeniz konkrete Hoffnungen, wann diese Szene Wirklichkeit wird? +Es ist eine sehr unübersichtliche und komplizierte politische Situation, wo ja gar nichts abschätzbar ist. Wir machen weiter, damit Deniz und seine inhaftierten Kollegen in der Türkei wissen, dass sie nicht alleine sind. Wir tun das, weil uns das Thema Meinungsfreiheit und Journalismus wichtig ist. Er ist immer noch ohne Anklage in Untersuchungshaft. Was soll man noch dazu sagen? Wir wollen einen fairen Prozess mit Anklageschrift. Auch für die vielen anderen Journalisten, die aus politischen Gründen in der Türkei verhaftet wurden. Ich kann nicht abschätzen, wann die Anklageschrift kommt, was darin steht, was das juristisch bedeutet. Ich weiß nicht, wann er freikommt. Aber die Hoffnung habe ich natürlich. + + diff --git a/fluter/denn-sie-wissen-was-sie-tun.txt b/fluter/denn-sie-wissen-was-sie-tun.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/depression-soziale-medien-hilfe.txt b/fluter/depression-soziale-medien-hilfe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cfe2206c56ab7d1491808a2b4460adf291ca8f94 --- /dev/null +++ b/fluter/depression-soziale-medien-hilfe.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe hat jeder fünfte erwachsene Deutsche zwischen 18 und 65 Jahren schon einmal eine depressive Episode durchlebt. Betroffene schildern, dass sie ihre Depression in ihrem sozialen Umfeld gern verschweigen oder deswegen sogar Schuldgefühle empfinden. Auch David twittert lieber unter einem anonymen Account, auch in diesem Text möchte er nicht mit richtigem Namen stehen. Bei depressiven Menschen sei das häufig der Fall, sagt Julia Ebhardt von der Depressionshilfe: "Ein geringes Selbstwertgefühl oder die Angst, jemandem zur Last zu fallen, sind Teil der Symptome." Was der Kinder- und Jugendpsychotherapeutin aber auffällt: Seit Beginn der Pandemie würde in den Sozialen Medien verstärkt über psychische Krankheiten gesprochen –auch über Suchtverhalten, Ess- oderAngststörungen. Früher hat sie die Posts und Anfragen von Betroffenen auf dem Instagram-Account der Depressionshilfe noch alleine beantwortet – nun sind sie dafür zu viert. Die Zahl der Follower ist seit April 2020 von 9.000 auf über 46.000 angewachsen. +"Pandemie und Lockdown haben sehr viele Menschen psychisch belastet", sagt Ebhardt. Diese Erfah­rung habe psychische Krankheiten möglicherweise ein Stück weit entstigmatisiert. Zumindest beobachtet Ebhardt, dass sich immer mehr Betroffene trauen, offen über ihre Krankheit zu reden – und mehr Sachlichkeit und Akzeptanz vom Rest der Gesellschaft einzufordern. Unter dem Hashtag #facethedepression (Stell dich der Depression) zeigen Betroffene Fotos, auf denen sie in die Kamera lächeln und glücklich aussehen – um zu zeigen, wie unsichtbar eine psychische Erkrankung selbst für Freunde und Verwandte ist. Die Betroffenen gehen damit durchaus ein Risiko ein,denn es gibt auch Trolle, die sie beschimpfen. +Unter #eatingdisorder oder #ed (Essstörung) erzählen vor allem Frauen und Mädchen, wie sie sich von gesellschaftlichen Schönheitsidealen unter Druck gesetzt fühlen. Unter den Hashtags #anxiety oder #anxietymakesme tauschen sich Menschen darüber aus, wie sie mit Panikattacken umgehen. Die Posts ermutigen Betroffene, sich ebenfalls zu outen. Eine Userin schreibt, warum ihr das Sprechen über ihren Alltag als Erkrankte so hilft: "Zu wissen, nicht allein zu sein. Gewisse Gedanken aus dem System zu bekommen. Antworten auf Fragen, die mir ewig im Kopf herumgehen. Gehört, gesehen und verstanden zu werden." +Als "Candystorms" bezeichnet man die gegenseitige Solidarität im Netz – das Gegenstück zum Shitstorm. Wie wichtig der Social-Media-Zuspruch für die Betroffenen ist, weiß auch Psychotherapeutin Ebhardt: "Das Gute an Hashtags wie #notjustsad ist, dass die Betroffenen sehen, wie die anderen mit einer psychischen Krankheit umgehen. Wenn eine Person über ihre Erfolge berichtet, die sie dank eines Therapieplatzes erzielt, denkt man eher darüber nach, sich selbst auch Hilfe zu holen." Eines ist Ebhardt aber wichtig: Die gegenseitige Unterstützung in den Sozialen Medien könne eine richtige Behandlung nicht ersetzen. Oftmals sei sie aber der erste Schritt dazu. Ebhardt erlebt häufig, dass psychisch kranke Menschen auf Instagram & Co. zum ersten Mal überhaupt über ihre Erkrankung sprechen – wie David. Seit Kurzem arbeitet er wieder. Wegen seiner Depression möchte er nun eine Psychotherapie beginnen. + diff --git a/fluter/depressionen-therapie-hirnstimulation.txt b/fluter/depressionen-therapie-hirnstimulation.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..59d9a54916848a21ab4537d1207aec71fbe4578f --- /dev/null +++ b/fluter/depressionen-therapie-hirnstimulation.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Bei dem neuen Verfahren setzt Coenen ihnen hauchdünne Elektroden ins Gehirn. Die sind mit einem Generator verbunden, der auf Brusthöhe unter die Haut implantiert wird, ähnlich einem Herzschrittmacher. Mit einem schwachen elektrischen Strom, zweieinhalb bis viereinhalb Milliampere, stimuliert der Generator einen Gehirnbereich, der für die Emotionen und Entscheidungen mitverantwortlich ist: das mediale Vorderhirnbündel. Die Behandlung nennt sich "Tiefe Hirnstimulation". +Sie befindet sich noch im Experimentalstadium. Aber die bisherigen Ergebnisse seien vielversprechend, sagt Coenen. In einer Studie hätten sich die Beschwerden bei 12 von 16 Teilnehmenden deutlich gebessert. "Und es gibt eine Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln, dass sie nach der Behandlung keine Symptome mehr haben." Bis Herbst 2025 läuft an der Uniklinik eine Folgestudie mit 47 Teilnehmenden. +Für die Menschen, die sich bei Coenen melden, ist die Tiefe Hirnstimulation so etwas wie die letzte Chance. "Sie leiden so sehr, dass sie zum Teil nicht einmal mehr die Kraft haben, sich das Leben zu nehmen", sagt Coenen. Auf psychiatrische Hilfe würden sie oft schon lange nicht mehr hoffen. +Die Depression ist eine der häufigsten neurologischen Krankheiten. In Deutschland leiden knapp neun Prozent der Männer und mehr als fünfzehn Prozent der Frauen unter depressiven Symptomatiken. Die Krankheit sei so gefährlich wie Krebs, sagen Fachleute: Depressionen sind schwer zu heilen. Laut Coenen werden rund 40 Prozent der Erkrankten durch die etablierte Behandlung wieder gesund. "Rund 60 Prozent erleben einen unruhigen Verlauf", sagt Coenen. "Mal geht es besser, mal schlechter." Heißt: Wer eine Depression bekommt, bleibt wahrscheinlicher dauerhaft krank, als dass er wieder gesund wird. +Rund 30 Prozent der Behandelten helfe keine der etablierten Methoden, sagt Coenen. Leider sei nicht für alle, die zu diesen 30 Prozent gehören, die Tiefe Hirnstimulation die richtige Therapie. Coenen erzählt von Menschen mit sogenannten Komorbiditäten, also weiteren Krankheiten. Bei ihnen könne es sein, dass Symptome auf eine Depression hindeuten, aber eine andere Krankheit ausschlaggebend sei. +Die Idee, Depressionen mit Stromstimulierungen zu behandeln, verdankt Coenen dem Zufall. Als er 2008 an der Universität von British Columbia im kanadischen Vancouver arbeitete, behandelte sein Team einen Parkinson-Patienten mit Tiefer Hirnstimulation. Das ist seit den 1990er-Jahren etabliert, heute lassen sich allein in Deutschland jedes Jahr Hunderte Parkinson-Patienten ein Neuroimplantat einsetzen. Doch bei diesem Patienten sei der Strom an eine Stelle im Gehirn gelangt, die er eigentlich nicht erreichen sollte, erzählt Coenen: an das mediale Vorderhirnbündel. "Die Stimulierung hat bei ihm manische Symptome ausgelöst." Erhöhte Impulsivität, Gefühl von Grandiosität, übersteigertes Freudeempfinden, sehr viel Energie. +Später kam Coenen auf die Idee: Könnte man das Gehirn von Menschen mit Depression so stimulieren, dass ihre Stimmung auf ein durchschnittliches Level kommt? Nach 15 Jahren Forschung, die er zusammen mit dem Psychiater Thomas Schläpfer betrieben hat, sagt Coenen: "Es scheint zu funktionieren." + +Dieser Text istim fluter Nr. 90 "Barrieren"erschienen +Wie genau, weiß er bis heute nicht. Coenen vermutet, dass es etwas mit einem Bereich im unteren Hirnstamm zu tun hat, über den der Strom das Belohnungs- und Emotionssystem erreicht. Um die Vermutung zu bestätigen, müsse wohl noch Jahrzehnte geforscht werden, sagt Coenen. +Die Tiefe Hirnstimulation birgt allerdings auch Risiken. Die Elektrode muss in einen tiefen Bereich des Gehirns gebracht werden, dabei besteht die Gefahr einer Blutung. Bei etwas weniger als einem Prozent der Operierten komme es zu dauerhaften Schäden, sagt Coenen, also Einschränkungen, die das Leben der Patientinnen und Patienten länger als sechs Monate verändern. Außerdem bestehe ein Infektionsrisiko von bis zu fünf Prozent. "Manchmal ist es notwendig, die Komponenten wieder zu entfernen." +Coenen weiß, dass es Vorbehalte gibt gegen Brain-Computer-Interfaces. Wenn Gehirn und Computer verschaltet werden, kommen Ängste hoch. Könnte ein Chip beispielsweise den Charakter eines Menschen verändern? Leichte Veränderungen, sagt Coenen, seien immer möglich. Wobei eine schwere Depression viele ohnehin charakterlich verändere. "Wir bringen eher den Menschen zurück, wie er vor der Krankheit war", sagt Coenen. Er könne sehen, dass sich die Lebensqualität der Behandelten verbessert, dass sie wieder rausgehen, am sozialen Leben teilnehmen, zum Teil arbeiten können und wieder Freude empfinden. +Und die Angst, jemand könnte die Technologie missbrauchen, sich in fremde Köpfe hacken und so Skrupel und Moral ausschalten? Auch eine Mär, sagt Coenen. Unser Wille bestehe, einfach ausgedrückt, aus mehreren Netzwerken im Gehirn: Eines könne die Hirnstimulation vielleicht kurzfristig ausschalten, aber nicht alle auf einmal. Für eine Gehirnwäsche tauge so ein Hirnimplantat nicht, sagt Coenen. "Das gibt es nur in Filmen." + +Wenn es dir oder anderen nicht gut geht, kanndie Telefonseelsorgehelfen. Anonyme, kostenlose Beratungen kriegst du zu jeder Tages- und Nachtzeit unter den bundesweiten Telefonnummern (0800) 111 0 111 oder (0800) 111 0 222. Die Telefonseelsorgebietet auch Mail- und Chatberatungen an. + +Titelbild:© Hellerhof/Tiefe Hirmstimulation/CC BY SA 3.0/Wikimedia diff --git a/fluter/der-algerische-unabhaengigkeitskrieg.txt b/fluter/der-algerische-unabhaengigkeitskrieg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7cec6540da3b7a6e301024dad275babdee516298 --- /dev/null +++ b/fluter/der-algerische-unabhaengigkeitskrieg.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +"L'Algérie, c'est la France" – Algerien ist Frankreich –, behauptete der junge Innenminister François Mitterrand 1954, doch damit verkannte er die Realität. Selbst die durch zusätzliche Soldaten, die Frankreich nach Algerien schickte, auf 500.000 Mann aufgestockten Truppen konnten den Widerstandsgeist der Algerier nicht mehr brechen. Siebeneinhalb Jahre tobte der Krieg, in dem brutale Folter und hemmungslose Exzesse zum Alltag gehörten und dem auch "pieds-noirs" und moderate Muslime zum Opfer fielen. Die genaue Zahl der Opfer ist bis heute unbekannt – und jede Schätzung ein Politikum. In Algerien spricht man von bis zu 1,5 Millionen. Französische Historiker bestreiten diese Zahl und gehen von 250.000 bis 500.000 getöteten Muslimen und etwa 28.000 französischen Soldaten und Zivilisten aus. +Mit den Friedensverträgen von Évian wurde der Krieg im März 1962 schließlich beendet und Algerien ein unabhängiger Staat. Rund eine Million "pieds-noirs" verließen verbittert das Land und siedelten sich zumeist in Südfrankreich an. In den 1980er-Jahren gehörten viele von ihnen zu den ersten Unterstützern des Front-National- Politikers Jean-Marie Le Pen – der selbst im Algerienkrieg gekämpft hatte. Zurück blieben zunächst viele der "Harki", jene Algerier, die mit den Franzosen zusammengearbeitet hatten. Sie waren der brutalen Vergeltung der Sieger ausgesetzt. +Die Association Internationale de la Diaspora Algérienne (AIDA) schätzt die Gesamtzahl der algerischstämmigen Franzosen und Algerier in Frankreich heute auf bis zu fünf Millionen. Für den Historiker Benjamin Stora bleibt die Erinnerung "auf beiden Seiten des Mittelmeers fiebrig und traumatisch". Jean-Paul Mari, Reporter des Magazins "L'Obs", kam zum 50. Jahrestag der Unabhängigkeit Algeriens zum selben Schluss: "Hier wie auf der anderen Seite des Mittelmeeres ist Algerien ein kollektives Trauma, das man durch die Zeiten und die Generationen überträgt." +Bis heute gebe es auf die meisten Fragen zum Algerienkrieg ebenso wenige Antworten wie zum Bürgerkrieg, der das Land von 1992 bis 2002 zerriss und der 1995 durch eine Anschlagswelle erstmals islamistischen Terror nach Frankreich trug. Die Groupe Islamique Armé (GIA) bekämpfte die algerische Militärregierung (nachdem diese 1991 den bevorstehenden Wahlsieg der islamistischen Partei FIS durch die Unterbrechung des Wahlprozesses verhindert hatte) und die ehemaligen Kolonialisten. Ihre Kämpfer ließ sie zum Teil in Afghanistan ausbilden. In Frankreich rekrutierte sie ihren Nachwuchs unter jungen Männern algerischer Abstammung. Einer der Ersten war Khaled Kelkal, der 1995 an der Anschlagsserie, die unter anderem auf die Pariser Metro verübt wurde, beteiligt war, bei der acht Menschen getötet und fast 200 verletzt wurden. +Die Bildungschancen und Zukunftsperspektiven der algerischstämmigen Bevölkerung sind nach wie vor deutlich schlechter als die der "Français de souche" – der "Bio-Franzosen". Die Arbeitslosigkeit ist signifikant höher, und in den Vorstädten dominiert das Gefühl der Ausgrenzung. Die fehlenden Zugangs- und Aufstiegsmöglichkeiten sind für viele abgehängte Vorstadtbewohner das Überbleibsel einer kolonialen Attitüde, der Ausdruck eines latenten Rassismus. Die Reaktion darauf ist unter anderem die Radikalisierung. So erlebt Frankreich seit den 1990er-Jahren die Ausbreitung des radikalen Salafismus – nicht zuletzt in den Gefängnissen, die mit ihrer hohen Zahl muslimischer Insassen mittlerweile zu Rekrutierungszentralen für Extremisten geworden sind. +Ebendiesen Parcours durchlief auch Mohammed Merah, jener Attentäter mit algerischen Wurzeln, der am 50. Jahrestag des Inkrafttretens des Waffenstillstands im Algerienkrieg, dem 19. März 2012, in einer jüdischen Schule in Toulouse drei Kinder und einen Lehrer erschoss. Für den Politologen Gilles Kepel, der den Islam und die Wurzeln des Radikalismus in Frankreich seit Jahren erforscht, war es bezeichnend, wie tief der Hass auf Frankreich in der algerischstämmigen Familie Merahs verwurzelt war. "Die koloniale Vergangenheit ist etwas, das wir immer noch nicht verdaut haben." Der Historiker Benjamin Stora sieht das ähnlich. "Der Algerienkrieg ist immer noch in den Köpfen, den Herzen, den Erinnerungen." +Der Grund dafür, dass Frankreich das europäische Land ist, aus dem die meisten Dschihadisten kommen, sei, dass das Land das "am wenigsten inklusive" in Europa sei, ist Kepel überzeugt. In den Lebensläufen der radikalisierten Täter wie Mohammed Merah, der Brüder Kouachi oder Amedy Coulibaly erkennt er die "Rückkehr des verdrängten kolonialen Erbes". Die Brüder Kouachi, die den Anschlag auf die Redaktion von "Charlie Hebdo" verübten, waren in Frankreich geboren. Ihre Eltern stammen aus Algerien. Amedy Coulibalys Eltern stammten aus Mali. Zwei Tage nach dem Anschlag auf die Redaktion von "Charlie Hebdo" überfiel Coulibaly in Paris einen koscheren Supermarkt, nahm mehrere Geiseln und erschoss dabei vier Menschen. Die Brüder Kouachi hatte er Jahre zuvor über den algerischen Islamisten Djamel Beghal alias Abu Hamsa kennengelernt, der Coulibaly im Gefängnis von Fleury-Mérogis radikalisiert hatte. Das ist der Verbindungspunkt zwischen den algerischen Terroristen von 1995 und den Dschihadisten von heute. Denn Beghal versuchte 2005, Smaïn Aït Ali Belkacem aus dem Gefängnis zu befreien. Der gilt als einer der Hauptverantwortlichen der Anschlagsserie, mit der die GIA Frankreich inmitten des algerischen Bürgerkriegs 1995 erschütterte. +Ebenfalls algerische Wurzeln hatten einige der in Frankreich geborenen Attentäter, die am 13. November 2015 in der Konzerthalle Bataclan, in Bars und in Cafés mehr als 100 Menschen töteten. "Frankreich wird immer noch angegriffen von den wütenden und enteigneten Erben des kolonialen Projektes", sagt der britische Kulturgeschichtler Andrew Hussey, der seit Langem in Frankreich lebt und die ehemaligen Kolonien in Nordafrika ebenso intensiv bereist hat wie die Banlieues von Paris und Lyon. Eines seiner Bücher trägt den Titel "The French Intifada. The Long War Between France and its Arabs". Frankreich, so Husseys These, habe bis heute nicht verstanden, dass der Krieg nicht beendet sei. Und solange Frankreich das nicht erkenne, werde der Krieg weitergehen, werden die Verdrängten zurückkehren; mit dem Schlachtruf "Na'al abouk la France" – Fuck France. diff --git a/fluter/der-anschlag-von-paris-5-monate-nach-dem-terror.txt b/fluter/der-anschlag-von-paris-5-monate-nach-dem-terror.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/der-besen-im-system.txt b/fluter/der-besen-im-system.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0876affa062ccb18d2f6dc1bf81829b36d861088 --- /dev/null +++ b/fluter/der-besen-im-system.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Der Rapper Serge Bambara, der sich "Smockey" nennt, würde aus dem alten Parlamentsgebäude in Ouagadougou jetzt gern eine Gedenkstätte machen – am besten mit Verbindung zum neuen Parlament, damit die Abgeordneten auf dem Weg zu ihren Büros den verwüsteten Sitzungssaal durchqueren müssen. "Sie sollen immer in Kontakt bleiben mit diesem schmerzhaften Kapitel unserer Geschichte", wünscht sich der 44-jährige Mitbegründer der Bürgerbewegung "Le Balai Citoyen", die den Protest gegen die politische Elite anführte. Der Name heißt so viel wie "Bürgerbesen" und steht sinnbildlich dafür, die Korruption wegfegen zu wollen. Smockey ließ sich davon selbst dann nicht abbringen, als sein Aufnahmestudio von einer Panzerfaust zerstört wurde. +Eine engagierte Zivilgesellschaft hat trotz jahrzehntelanger Autokratie Tradition in Burkina Faso. DemWestafrika-Experten Alexander Strohzufolge gab es in der Geschichte des Landes immer wieder kämpferische Bündnisse, die sich für die Rechte der Burkinabé eingesetzt haben. Ein Beispiel ist die "Burkinische Bewegung für Menschenrechte" (MBDHP), einer – so Stroh – "gut organisierten Großorganisation". +Aber warum haben die engagierten Bürger Compaoré erst jetzt zu Fall gebracht? Stroh vermutet, dass das coole, hippe Image von Balai-Citoyen-Initiatoren wie Smockey zum Erfolg der Bewegung beigetragen hat – ebenso wie die "Protestfreudigkeit" der extrem jungen Bevölkerung des Landes: So brachten manche zu den Demonstrationen neben ausgelassener Stimmung auch gleich noch ein paar Besen mit, die sie trotzig in den Himmel streckten. Somit sei der Balai "gar nicht unähnlich zu jüngeren, eher spontanen Protestformen in Europa", sagt Stroh. Wichtig sei jedoch gewesen, dass sich Smockey & Co. nie gegen die traditionelle Zivilgesellschaft gestellt hätten, sondern eher versucht habe, diese "zu ergänzen". +Die Vehemenz des zivilgesellschaftlichen Engagements in Burkina Faso ist umso bemerkenswerter, da der Binnenstaat sogar im afrikanischen Vergleich als unterentwickelt gilt: Etwa jeder dritte Bewohner kann weder lesen noch schreiben, und jedes dritte Kind beendet nicht einmal die Grundschule. Vor allem Frauen haben wenig Zugang zu Bildung, und ein Fünftel der Bevölkerung gilt als unterernährt. Doch trotz der Nöte prägt eine "große ethnische und religiöse Toleranz" das Land, wie es beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung heißt. Das schlägt sich sogar im Namen nieder: Burkina Faso heißt so viel wie "Land der Aufrichtigen". Der Sozialist Thomas Sankara hatte die ehemalige französische Kolonie so getauft, nachdem er sich an die Macht geputscht hatte. 1987 wurde er umgebracht – heute wird er von vielen Menschen in Burkina Faso als "Che Guevara Afrikas" verehrt. "Wehe denen, die das Volk knebeln wollen!", hat Sankara einmal gesagt – eine fast prophetische Einschätzung. +Trotz allem wäre es verfrüht, Burkina Faso als Musterbeispiel für die Demokratisierung in Afrika auszumachen. Die Organisation "Reporter ohne Grenzen" stuft die Pressefreiheit in Burkina Faso heute zwar als "zufriedenstellend" ein – und somit besser als in den meisten afrikanischen Ländern. Sogar das Staatsfernsehen kann hier kritisch über die Regierung berichten. Doch Korruption und Willkür sind weiterhin verbreitet. Deshalb machen die Bürgerbesen weiter, etwa mit Aktionen zur politischen Bildung. "We must remain vigilant", mahnt der Rapper Art Melody mit Blick auf die bekannten Gesichter in der neuen Regierung unter Roch Kaboré: "Wir müssen wachsam bleiben." +Dies ist ein Text aus demfluter-Heft "Afrika", der dort in einer gekürzten Fassung abgedruckt wurde. diff --git a/fluter/der-beste-job-der-welt.txt b/fluter/der-beste-job-der-welt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d60eed7cda93e4ad2f21fbedfbf3d003c49fcfb6 --- /dev/null +++ b/fluter/der-beste-job-der-welt.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Doch nicht nur Lifestyle-Magazine sind Überbringer platter PR-Botschaften – selbst in seriösen Tageszeitungen findet sich im redaktionellen Teil oft genug ungefilterte Werbung. Vor allem der Reiseteil ist bei den PR-Agenturen beliebt, weil sich die Tageszeitungen die ganzen Reisen zu den Traumstränden der Welt gar nicht leisten können, ihre Leser aber auch nicht ständig mit Geschichten über Langeooge langweilen wollen. Daher wird so gut wie nie kritisch über ferne Ziele berichtet, schließlich sind die meisten Reporter dankbar, dass sie kostenlos in einem Beach-Bungalow für 1.000 Dollar die Nacht schlafen konnten.Diese Entwicklung hat aber nicht nur mit der Verführbarkeit von Journalisten zu tun. Sie ist auch eng damit verbunden, dass die deutschen Medienhäuser seit Jahren in schweren Problemen stecken, die durch die derzeitige Wirtschaftskrise noch verstärkt wurden. Die Zeitungen verlieren Leser ans Internet, die Anzeigenerlöse sinken.Richard Gaul beobachtet diese Entwicklung mit Sorge. Gaul kennt beide Seiten, den Journalismus und die PR-Branche. 15 Jahre lang arbeitete der studierte Volkswirt als Wirtschaftsredakteur, bei der "Stuttgarter Zeitung", beim "Manager Magazin" und bei der "Zeit". Dann wechselte er zu BMW und war dort nach kurzer Zeit für die gesamte Öffentlichkeitsarbeit des Automobilkonzerns verantwortlich. Vor zwei Jahren gründete er seine eigene PR-Firma, seit vergangenem Jahr ist er außerdem der Vorsitzende des deutschen Rats für Public Relations. Das Gremium existiert bereits seit 22 Jahren und hat die Aufgabe, die PR-Agenturen immer wieder an die Grenzen bei der eigenen Arbeit zu erinnern. Doch das wirkt heute mitunter, als versuche man Rasern bei voller Fahrt ein Schreiben unter den Scheibenwischer zu klemmen – mit der Bitte um maßvolles Tempo. "Nur wenn es eine klare Trennung gibt zwischen Journalismus und PR, können beide Bereiche ordentlich arbeiten", sagt Gaul und räumt ein, dass davon beide Seiten im Moment weit entfernt seien.Für den 62-Jährigen sind drei Trends dafür verantwortlich, dass PR und Journalismus immer mehr ineinander verschwimmen. "Zum einen gibt es eine ungeheure Beschleunigung: Journalisten sind durch die Entwicklung des Internets gezwungen,Informationen immer schneller in Umlauf zu bringen", sagt Gaul. Zum Zweiten hätten die wirtschaftlichen Probleme der Medienunternehmen zu massiven Kostensenkungen auchbeim eigenen Personal geführt. "Zum dritten hat sich die PR-Branche in den letzten Jahren gleichzeitig immer weiter professionalisiert. " Alle drei Entwicklungen zusammengenommen hätten eine fatale Konsequenz: "Wenn sich auf der einen Seite immer mehr professionelle Leute befinden und auf der anderen Seite die Kollegen in denMedienhäusern immer weniger werden und unter Zeitdruck stehen, sind sie geneigt, Inhalte leichtfertig zu übernehmen."Allein an der Entwicklung der Mitarbeiterzahlen lässt sich die Machtverschiebung ablesen, die in den letzten Jahren stattgefunden hat: Nach Angaben der Deutschen Public Relations Gesellschaft (DPRG) e.V., des .ltesten PR-Berufsverbandes in Deutschland, arbeiteten vor 20 Jahren 30.000 Menschen in der PR, heute sind es etwa 50.000. Gleichzeitig gibt es etwa 45.000 bis 50.000 hauptberufliche Journalisten in Deutschland. Das bedeutet: Für fast jeden Journalisten gibt es im Schnitt jemanden in der PR, der ihn mit vorgefertigten Botschaften beliefert.Neben der klassischen PR-Arbeit, bei der Journalisten mit Informationsmaterial versorgt werden – und gelegentlich mit einer schönen Reise, investieren viele Unternehmen auch viel Geld darin, die öffentliche Meinung nach eigenen Interessen zu steuern. Sie gründen Institute, deren Forschungsergebnisse in ihrem geschäftlichen Interesse liegen, sie lassen Meinungsumfragen veröffentlichen, die Ergebnisse gemäß ihrer eigenen Meinung produzieren, oder bezahlen Experten, die all diese Ergebnisse in den Medien präsentieren. +Ende Mai zum Beispiel wurde bekannt, dass die Deutsche Bahn im Jahr 2007 1,3 Millionen Euro dafür ausgab, in der Öffentlichkeit ein zur Geschäftspolitik passendes Meinungsklima zu verbreiten: für den Börsengang, gegen den Streik der Lokführer. Sie hatte PR-Experten damit beauftragt, Leserbriefe und Einträge in Internet-Foren zu schreiben, an die Medien wurden Meinungsumfragen und vorgefertigte Beiträge verschickt. Die so vermittelten Botschaften lauteten: Die Deutschen haben mehrheitlich genug vom Streik der Bahnführer. Und: Vom Börsengang der Bahn erhoffen sie sich einen besseren Service. Viele Medien veröffentlichten dieses Material, ohne kenntlich zu machen, aus welchen Quellen sie stammten. "Wenn ein Medium eine vorgefertigte Botschaft schnell, leichtfertig und ungeprüft veröffentlicht, dann liegt das in der Verantwortung der Medien, nicht in der der PR- Agentur", urteilt Richard Gaul. Es sind die Journalisten selbst, die ihre Unabhängigkeit gegen die Macht der PR verteidigen müssen.Aber selbst wenn die Journalisten irgendwann zu sich kommen, wird die PR-Branche neue Felder entdeckt haben, wie sie die Konsumenten beeinflussen kann. Denn noch einfacher als Journalisten zu bestechen, ist es, sich selbst in Foren und Blogs einzuschalten und dort Stimmung zu machen.So sind viele der Foren zum Thema Medizin mittlerweile von Pharma-Vertretern unterwandert, die dort die vom Konzern gewünschte Meinung verbreiten, ohne sich als PR-Agenten zu erkennen zu geben. Die Firma Arvato bietet das sogenannte "social media monitoring" an: Überall im Internet wird geschaut, welches Image ein Unternehmen hat – anschließend wird es durch gezielte Einträge in sozialen Netzwerken wie StudiVZ oder werkenntwen.de und Blogs oder Wiki-Portalen positiv verändert. Arvato gehört im Übrigen zu Deutschlands größtem Medienkonzern "Bertelsmann", der über seinen Verlag "Gruner + Jahr" Magazine wie "Neon", "GEO" oder den "Stern" herausgibt. Man kann also beides: Am Journalismus verdienen und gleichzeitig mit seiner Zerstörung Gewinne machen.Kai Schächtele (35) – ist freier Journalist. Im letzten fluter berichtete er über die Unterwäsche-Produktion bei Bruno Banani diff --git a/fluter/der-counter-jihad.txt b/fluter/der-counter-jihad.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..42b897fa1d0c1c95974b9c54a9478d5fb4c69c40 --- /dev/null +++ b/fluter/der-counter-jihad.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Der Erfolg dieser Bewegungen im Ausland hat wohl auch dazu geführt, dass die auf die Zurückdrängung von Immigranten muslimischer Herkunft gerichteten Botschaften zunehmend in Deutschland Gehör finden. Dabei kommen die Argumente der Islamhasser gut getarnt als Bürgerprotest aus der Mitte der Gesellschaft daher. "Das wird man doch wohl noch sagen dürfen" – so lautet unausgesprochen die Ouvertüre zu den oft als wissenschaftliche Erkenntnis vorgetragenen Vorurteilen, wie etwa die provozierenden Thesen von Thilo Sarrazin, der den muslimischen Einwanderern in seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" den Willen und die Fähigkeit zur Integration abspricht. Europas neuer rechter Populismus hat die alte Unterscheidung von Rechts und Links ersetzt durch die Vorstellung von Systemverteidigern und Systemgegnern. Man selbst verteidigt bürgerliche und christliche Werte und den Wohlstand, während auf der anderen Seite jene Blauäugigen stehen, die den Multikulturalismus verteidigen, in dem auch der Islam seinen Platz hat. +Verbreitet wird diese Ideologie vor allem im Internet. Hier hat sich in den letzten zehn Jahren eine globale Einheitsfront der Islamfeinde gebildet. Bestens vernetzt sind etwa einschlägige Blogs aus Europa wie Gates of Vienna, Document.no, Islam Versus Europe, Brussels Journal und das deutsche Portal PI – Politically Incorrect mit ihren Gesinnungsfreunden in den USA, die Atlas Shrugs, Jihad Watch und andere Blogs betreiben. Sie sehen sich als geistige Vorhut eines sogenannten Counter-Jihad, mit dem man eine Gesellschaft verhindern wolle, "in der Burkas und Ehrenmorde sowie Genitalverstümmelung als kulturelle Bereicherung gelten", wie es in einem PI-Blogeintrag hieß. Diese Szene liefert die ideologische Blaupause für den "heiligen Krieg" gegen Islam und linke Gutmenschen, die die freie Welt durch Multikulturalismus dem Feind opfern. +Zur Gewalt rufen die Autoren der islamfeindlichen Blogs dabei nie ausdrücklich auf, auch um möglichen Repressionen durch die Sicherheitsbehörden zu entgehen. Dafür aber nehmen die Kommentatoren auf diesen Seiten kein Blatt vor den Mund. Vom ungebremsten Hass und der verbalen Aggressivität in den Kommentatorenspalten dieser Seiten hat sich offenbar auch der norwegische Attentäter Anders Behring Breivik leiten lassen, der nach seiner Festnahme angab, Norwegen vor dem Islam und dem "Kulturmarxismus" retten zu wollen. Insofern sei Breivik ein "furchteinflößender Auswuchs der antimuslimischen Szene", sagt der Chefredakteur der schwedischen Zeitschrift "Expo", Daniel Poohl. Die eifrigen Blogger aus der Anti-Islam- Allianz wollen freilich nicht in einem Atemzug mit Breivik genannt werden, allerdings hatte der für seine 1500-seitige Kampfschrift, in der er seine Tat rechtfertigt, manche Texte aus den Blogs übernommen. "Die Gewalt ist in der Rhetorik angelegt, auch in derjenigen der rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen", sagt der Sachbuchautor Anton Maegerle. "Wer Hass schürt, muss davon ausgehen, dass dieser Hass irgendwann explodiert." +Im Oktober 2007 hatten sich in Brüssel Aktivisten der "Counter Jihad"-Bewegung zu einem Kongress versammelt, auf dem Mitglieder von politischen Parteien und Interessensgruppen, Blogger und Autoren über "Maßnahmen gegen das Übergreifen des Islam in ihren Ländern" berieten. Zu den Rednern auf dem Kongress gehörte auch der Bergisch-Gladbacher Sportlehrer Stefan Herre. Der 46-Jährige betreibt das deutsche Blog PI – Politically Incorrect, die wohl einflussreichste in Deutschland betriebene islamfeindliche Internetseite. Will man Herre glauben, zählt PI mehr als 30.000 Besucher täglich. Die Seite verspricht "News gegen den Mainstream" – als Mainstream begreift Herre die Islamisierung Europas. Man sei proamerikanisch und proisraelisch. Trotz Letzterem finden sich auch schon mal antisemitische Blogeinträge bei PI, zuletzt bei der Diskussion um die Holocaust- Leugnung von Bischof Williamson von der Pius-Bruderschaft. Schwerpunkt des Blogs aber sind die Warnungen vor einer bevorstehenden Islamisierung Deutschlands und Europas. So kann man auf der betont sachlich und nüchtern gehaltenen Nachrichtenseite etwa von der baden-württembergischen "Türkenministerin" Bilkay Öney (SPD) lesen, die das "islamische Multikulti" fördere, oder von Subventionen für "Ekelkunst von Zuwanderern". Es wird aber auch offen gegen Homosexuelle gehetzt und Stimmung gegen die "rote Gefahr" von Links gemacht. Herre hat kürzlich in einem seiner seltenen Interviews die Einschätzung zurückgewiesen, Breivik habe sich zu seiner Tat auch durch Blogs wie den seinen inspirieren lassen. "Ich bin doch nur ein kleiner Blogger", der nicht will, dass seine "Kinder später mit einem Kopftuch herumlaufen müssen", sagte Herre dem "Stern". So tarnt sich die Islamphobie als ganz nachvollziehbarer Protest gegen eine Überfremdung. Dass in den vergangenen Jahren mehr Moslems aus Deutschland weggezogen als gekommen sind, wird dabei geflissentlich ignoriert. +Das Konzept scheint aufzugehen. Nutzer und Leser von Poltically Incorrect haben sich inzwischen in Dutzenden Aktionsgruppen zusammengeschlossen und sind politisch in der Öffentlichkeit aktiv. Personelle Verflechtungen gibt es insbesondere zur Bürgerbewegung Pax Europa, die ebenfalls eine populistische Melange aus Antiislamismus und christlich-fundamentalen Grundsätzen pflegt. Sie ist eng vernetzt nicht nur mit dem PI-Blog, sondern auch mit der English Defense League, einer 2009 gegründeten islamfeindlichen Sammelbewegung in Großbritannien, die von Geheimdiensten der extremen Rechten zugeordnet wird und Verbindungen in militante Kreise unterhalten soll. +"Religionskritik ist kein Rassismus", steht auf der Internetseite von "Die Freiheit", laut Eigenwerbung eine "Bürgerrechtspartei für mehr Freiheit und Demokratie". Gegründet wurde sie von René Stadtkewitz, der zuvor aus der Berliner CDU-Fraktion ausgeschlossen worden war, weil er den niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders zu einer Diskussionsveranstaltung eingeladen hatte. Wilders wurde durch seinen Kampf gegen eine vermeintliche Überfremdung bekannt – als er einst nach London reisen wollte, verweigerte man ihm die Einreise. Ein Prozess wegen Volksverhetzung endete mit einem Freispruch für ihn. Seine Meinungsäußerungen bewegten sich im Rahmen des Erlaubten, urteilte das Gericht. +Auch das ist ein Zeichen der neuen Bewegung. Im Gegensatz zu rechtsextremen Organisationen gibt man sich gesetzestreu, beteuert seine Sympathie mit Israel und tarnt sich als Bürgerprotest hinter unverfänglichen Namen wie "Pro Deutschland". Diese Partei trat im Herbst bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus mit Plakaten an, die eine durchgestrichene Moschee zeigten. Es ist das Symbol, mit dem die Menschen vor fünf Jahren gegen den Moscheenbau in Köln auf die Straße gingen. Mittlerweile ist es das Logo einer ganzen landesweiten Bewegung. diff --git a/fluter/der-crash-prophet.txt b/fluter/der-crash-prophet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..27019aaa621039b8fd25b2c92de80d511d6960aa --- /dev/null +++ b/fluter/der-crash-prophet.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Von Martin Armstrong prophezeiht: Der Schwarze Montag am 19. Oktober 1987 +"Sie sind kurz davor, den Jackpot zu knacken", sagt der Hellseher noch. Die Szene setzt den Tonfall für den weiteren Film. Die Dokumentation "The Forecaster" erzählt eine David-gegen-Goliath-Geschichte: Martin Arthur Armstrong, ein anscheinend genialer Finanzanalyst ohne College-Abschluss, kämpft gegen den verschwörerischen "Club" – so nennt Armstrong die mächtigen Wall-Street-Banker und ihre Unterstützer in der US-Regierung. Eine packende Geschichte, in Zeiten der Finanzkrise eine wichtige obendrein. +Was vor der okkulten Zusammenkunft in Bangkok geschah: Der 1949 geborene Armstrong entwickelt ein Modell, mit dem er Wendepunkte der Weltwirtschaft vorhersagt – darunterden Schwarzen Montag von 1987, den Nikkei-Crash gut zwei Jahre später, dieFinanzkrise RusslandsEnde der 90er-Jahre und auch die Euro-Krise seit 2009. Mit seinen äußerst präzisen Voraussagen verdient er als Unternehmensberater und Fondsmanager nicht nur viel Geld, er macht sich auch Feinde. Alle wollen an sein Modell, das vor allem auf der Zahl Pi beruht. Doch Armstrong weigert sich, gemeinsam mit dem "Club" mittels groß angelegter Manipulation Russland über den Tisch zu ziehen, wird unter Betrugsverdacht verhaftet und landet für insgesamt zwölf Jahre im Gefängnis – die ersten knapp sieben davon sogar ohne Prozess, geschweige denn Beweise. "Die" – korrupte Investmentbanker und Hedgefondsmanager, die US-Regierung, der IWF, auch FBI und CIA – wollten ihn wohl ruhigstellen, da ist sich Armstrong sicher. +Doch heute ist er wieder auf freiem Fuß und kurz davor, Großes zu vollbringen, genau wie vom Wahrsager prophezeit. Für Oktober 2015 hat Armstrong einen nie dagewesenen Crash prognostiziert. +Hat leider keinen von Armstrongs Kritikern vor die Kamera bekommen: Regisseur Marcus Vetter +Regisseur Marcus Vetter ist ein seriöser Filmemacher, mehrfacher Grimme-Preisträger gar. Und die Geschichte ist aus dem Stoff, aus dem gute Thriller gemacht werden. Leider hat sich Vetter stattdessen für eine Dokumentation entschieden, die irgendwann ein wenig zu lang und undurchsichtig wird. Auf chronologisches Erzählen wird verzichtet, und schnell kommt man nicht mehr hinterher bei den vielen Sprüngen zwischen Armstrongs Vorträgen, Interviewpassagen und Reportage-Elementen. So verdichtet sich alles zu einer Verschwörungstheorie, deren Wahrheitsgehalt für den Zuschauer schwer zu bestimmen ist. Die "interaktive"Website zum Filmpräsentiert in Tumblr-Optik Zitate, Bilder und Hintergründiges zur Geschichte der Finanzmärkte und zum Fall Armstrong, ist in ihrer Fülle aber ähnlich erdrückend wie der Film selbst. +Leider fehlt auch die Gegenseite, denn Armstrongs Widersacher haben nie auf die Kontaktversuche der Filmemacher geantwortet. So sitzt der kritische Zuschauer am Ende da und fragt sich, ob das alles wahr sein kann: Dass Banken und Regierungen gemeinsame Interessen verfolgen, klar, das kann man sich gut vorstellen. Ebenso, dass letztere unliebsame Kritiker "verschwinden" lassen. Aber mit der Hilfe von Pi Wirtschaftskrisen vorhersagen – wenn es so verlässlich ist, wieso hat der Mann keinen Nobelpreis? Und warum hat ihn nie eine Regierung um Hilfe gebeten? +Martin Armstrong reist mittlerweile um die Welt und hält Vorträge. Er will helfen, eine globale Krise abzuwenden, heißt es. Wie, das bleibt im Film offen. Ob wirklich etwas dran ist an seiner neuen Vorhersage und ob er eine Lösung hat, das wird Martin Armstrong möglicherweise im Oktober unter Beweis stellen können. diff --git a/fluter/der-den-schein-nicht-anbricht.txt b/fluter/der-den-schein-nicht-anbricht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..12d400f18b3c2ca247123d3924709d1a587f1187 --- /dev/null +++ b/fluter/der-den-schein-nicht-anbricht.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Besonders gern sparte er Wasser: Geduscht hat er nur selten. Um die Socken nicht jeden Tag wechseln zu müssen, hängte er sie abends zum Lüften raus. Auch seine Hemden hingen auf dem Balkon – tatsächlich rochen sie danach recht frisch. Dann machte Matthias den Vorschlag, nur noch bei jedem dritten Mal Pinkeln abzuziehen. Denn für das bisschen Urin würden acht Liter Wasser durch die Spülung rauschen, belehrte er mich. Ich fand die gelben Klopapierklumpen, die sich in unserer Toilette ansammelten, ganz schön ekelhaft. +Wenn wir mal in die Kneipe gingen, bestand er immer auf eine getrennte Rechnung. Einmal waren wir zusammen am Geldautomaten und danach in der Dönerbude, als er mich fragte, ob ich mal 40 Cent hätte. Auf meinen Hinweis, dass er doch gerade selbst Geld geholt hätte, antwortete er, dass er seinen Schein "nicht anbrechen" wolle. Nach dem Essen drehte er sich wie immer eine Zigarette von meinem Tabak. "Ich rauche nicht Van Nelle, ich rauche Van Andern", das war so sein Humor. Wie das ausging? Natürlich war unsere Zweckgemeinschaft irgendwann so zerrüttet, dass ich ihn nur noch loswerden wollte. Dafür setzte ich auf die totale Verschwendung. Ich schmiss halbvolle Milchtüten in den Abfalleimer, nur um ihn zu ärgern. Ich ließ überall das Licht brennen, stellte die Heizung schon im Spätsommer an und hoffte, dass er mir eines schönen Tages seinen Auszug ankündigen würde. Aber er wartete natürlich, bis es einen anderen, triftigeren Grund dafür gab, schließlich kostet jeder Umzug Geld. +Er zog schließlich nach München, wo er einen Studienplatz für Volkswirtschaftslehre bekommen hatte. Viele Jahre später habe ich ihn dort mal besucht. Er wohnte mit seiner Freundin und seinem kleinen Sohn in einer charmanten Altbauwohnung. Er servierte mir eine selbstgemachte Limonade und erzählte von seinem Job bei einem Unternehmen für Solarmodule. Ein Auto hatte er natürlich nicht, dafür war er Mitglied in einem Car-Sharing-Verein. Er fliegt so gut wie nie, macht lieber Urlaub in Deutschland, und den Konsumrausch an Weihnachten lehnt er ab. Ehrlich gesagt fand ich ihn voll sympathisch und hätte es ihm beim Abschied beinahe gesagt. Das habe ich mir dann aber doch gespart. diff --git a/fluter/der-die-zeichen-liest-film.txt b/fluter/der-die-zeichen-liest-film.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7dbc9bdf4dd2c02d82674ce7a64245b27c0f94a8 --- /dev/null +++ b/fluter/der-die-zeichen-liest-film.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Biologielehrerin Elena ist die Einzige, die mit ihrem rational-wissenschaftlichen Weltbild gegen Benjamins Glaubenskrieg hält +Warum Benjamin den Weg des religiösen Fundamentalismus einschlägt, lässt "Der die Zeichen liest", der auf dem Theaterstück "Märtyrer" von Marius von Mayenburg basiert, bis zum Schluss offen. Um eine konkrete Religionskritik geht es Serebrennikov nicht, sein Film zeigt vielmehr die grotesken und gefährlichen Auswirkungen von extremer Religiosität. +Unter Wladimir Putin nahm der Einfluss der orthodoxen Kirche in Russland massiv zu, auf dem Lehrplan der Schulen steht heute das Pflichtfach "Grundlagen der orthodoxen Kultur". Es ist also ein deutlicher Kommentar, wenn im Lehrerzimmer der Blick kurz auf ein Porträt Putins im Hintergrund fällt. Auch wenn sich der "Glaubenskrieg" in "Der die Zeichen liest" auf die Schule beschränkt, ist die staatliche Autorität stets gegenwärtig. Die Pointe des Films besteht darin, dass Benjamins aggressive Interventionen statt Disziplinierungsmaßnahmen einen Gesinnungswandel auslösen. +Um den Hausfrieden zu wahren, geht die Direktorin – gegen die Überzeugung der Biologielehrerin Elena – auf die Forderungen des aufsässigen Schülers ein. Bikinis werden verboten, im Biologieunterricht stehen kreationistische Positionen plötzlich gleichberechtigt neben evolutionstheoretischen. Benjamin wird langsam zur charismatischen Führerfigur. Besonders Lidia, die dessen neues "Bad boy"-Image reizt, und der hinkende Grigoriy, den Benjamin als seinen Jünger auserkoren hat, entwickeln eine seltsame Fixierung auf den zunehmend wahnhaften Teenager. Glaube soll wieder wehtun, für ihn müsse man bis zum Äußersten zu gehen bereit sein. "Warum gibt es bei uns keine Gotteskrieger?", fragt Benjamin den Religionslehrer. Spätestens als er ein schweres Holzkreuz ins Klassenzimmer hievt, ist klar, dass er sich für diese Rolle berufen fühlt. Seine Biologielehrerin, die an rational-wissenschaftlichen Grundsätzen festhält, stellt sich als Einzige dem neuen Regime an der Schule entgegen. +In Grigoriy findet Benjamin einen Jünger +Serebrennikov trifft mit "Der die Zeichen liest" den richtigen Tonfall zwischen Satire und Farce. Subtil geht er dabei nur selten vor, der Originaltitel "(M)uchenik" zum Beispiel ist ein Wortspiel aus Schüler und Märtyrer. Die meiste Zeit betreibt Serebrennikov selbst eine Art Intervention am Zuschauer. Die Dialoge, die Hysterie: Ständig fühlt man sich vom Film angeschrien. Für eine tiefgründige Auseinandersetzung mit dem Phänomen Fundamentalismus – Serebrennikovs unmissverständliche Warnung, dass man in Russland nicht nur den Islam im Auge behalten sollte – legt es "Der die Zeichen liest" vielleicht ein wenig zu selbstbewusst auf eine Eskalation an. Der Dauerkrawall setzt zwar erstaunliche Energien frei, die der Regisseur jedoch stärker kanalisieren müsste. So verpufft die satirische Wirkung im permanenten Alarmmodus der Inszenierung. +Andererseits: Vielleicht ist ein Film über Religionskrieger, der körperliches Unwohlsein bereitet, momentan genau der richtige Ansatz. +"Der die Zeichen liest". Regie: Kirill Serebrennikov. Mit Petr Skvortsov, Yuliya Aug, Aleksandr Gorchilin. Russland 2016, 118 Minuten diff --git a/fluter/der-einzige-schmetterling.txt b/fluter/der-einzige-schmetterling.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..32b5fd841a416b5ed90fa6bb56f9356a7ee67d1e --- /dev/null +++ b/fluter/der-einzige-schmetterling.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +30.000 Rupien fehlen ihm für die Beteiligung an einem Parkhaus am Rande von Delhi. Wenn Titli das Geld hat, kann er seine Familie verlassen: seine zwei Brüder und seinen Vater, mit denen er in einer kleinen Wohnung in einem ärmlichen Teil der Stadt lebt. Die Mutter ist schon vor Jahren gestorben, an sie erinnert nur noch ein verstaubtes Bild an der Wand. Darum ist Titlis Zuhause ein Ort des Mann-sein-Müssens und der damit einhergehenden Hierarchien. Das Sagen hat der älteste Bruder: Wenn er Hunger hat, bringen ihm die anderen Essen. Wenn er sauer ist, lassen sich die anderen prügeln. Und wenn er einen Überfall plant, machen die anderen mit. +"Titli", das ist Hindi für Schmetterling. Und tatsächlich ist der Protagonist zu zart für diese Männerwelt und zu schwach, um ihr zu entkommen. Aufbegehren kann er nur heimlich, seiner Familie von den Parkhausplänen zu erzählen – undenkbar. Deshalb fährt er den Fluchtwagen, als seine Brüder zwei Passanten blutig schlagen, um an Geld zu kommen. Und deshalb hält er die Klappe, wenn seine Brüder ihre Frauen wie Dreck behandeln. Was er eigentlich will, lässt sich nur an seinem Gesicht ablesen. Die Handkamera fährt oft nah heran und legt diese kindliche Mischung aus Hilflosigkeit und Aufbegehren offen. Eine "Was machen die da bloß?"-Mimik verleiht Schauspieler Shashank Arora seinem Titli dann. Dazu gibt es eine für den indischen Film untypische traurige Pianomusik. +Schließlich organisiert Titli die 30.000 Rupien und will verschwinden. Um ihn davon abzuhalten, verheiraten ihn die Brüder mit der selbstbewussten Neelu. Wenn sie sich ihrem Ehemann widersetzt, wird Titlis ambivalenter Charakter besonders deutlich. Dem wurde nämlich nie beigebracht, mit Frauen zu sprechen oder sie gar zu respektieren – er kennt nur die Methoden seiner Brüder. Doch während er die Hand an Neelus Kehle legt und sie zu Boden drückt, tritt wieder dieses Fragezeichen in sein Gesicht. Enttäuscht von sich selbst weicht er zurück und sagt leise: "Sorry." Es ist ein ständiges Changieren zwischen der Rolle des Mannes (Was würden meine Brüder tun?) und des Jungen (Wie werde ich nicht wie meine Brüder?). +Ein selten komplexes Männerbild +So riesig und traditionsreich Indiens Filmindustrie auch sein mag, so selten ist in ihr doch das Männerbild, das Regisseur Kanu Behl in seinem ersten Langfilm zeichnet. Denn wenn in Indien komplexe Charaktere behandelt werden, dann sind es in der Regel Frauen, die mit ihrem Schicksal hadern, wie in der "Elements"-Trilogie (1996–2005) der Filmemacherin Deepa Mehta. Behl traut sich also etwas, steht der Männerkosmos um Titli doch für die patriarchale indische Gesellschaft an sich, in derGewalt gegen Frauen Alltag ist. +Der Film ist damit das Gegenteil von dem, was Bollywood bietet – auch optisch. Behls Kamerafahrten sind unruhig, die Kulissen farblos, und die Schauspieler sehen nicht aus wie Models. Daraus ergeben sich beinahe dokumentarische Bilder. Und dann ist da noch der beige Staub der Straßen Delhis, der sich wie ein Filter über das Geschehen legt. +Vieles bleibt in diesem Film jedoch unaufgelöst. Warum die Mutter tot ist. Wieso der Vater meist stumm in der Ecke sitzt und Fernsehen guckt. Und weshalb der mittlere Bruder so sehnsüchtig anderen Männern hinterhersieht. Aber manchmal wirkt das Unausgesprochene eben viel stärker – darum weiß Behl. Und zeigt auf diese Weise, dass Indien ein Land ist, in dem viele Wünsche verschwiegen werden müssen. +Christine Stöckelist freie Journalistin in Berlin diff --git a/fluter/der-feind-ist-immer-ein-faschist.txt b/fluter/der-feind-ist-immer-ein-faschist.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7ba1fff87b06dab7c13d9e6fe63371efeb22cb29 --- /dev/null +++ b/fluter/der-feind-ist-immer-ein-faschist.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Was Dmitri und andere Kämpfer und Anhänger der prorussischen "Rebellenrepubliken" im Osten der Ukraine sagen, deckt sich mit dem, was das russische Staatsfernsehen in Endlosschleife über die Grenze sendet: Demnach ist die vom demokratisch gewählten Staatspräsidenten Petro Poroschenko geleitete Regierung in Kiew eine faschistische Junta, die von Amerika gelenkt wird. Einem Amerika, das kurz vor dem wirtschaftlichen 
Ruin stehe, weshalb Washington einen Krieg gegen Russland angezettelt habe. "Der Schwache greift immer den Starken an", erklärt Dmitri. +Von rund 48 Millionen Bürgerinnen und Bürgern der Ukraine waren nach der letzten offiziellen Volkszählung von 2001 fast 78 Prozent ethnische Ukrainer, gut 17 Prozent ethnische Russen. Letztere leben vor allem in Regionen, die in den vergangenen Monaten umkämpft waren: in Luhansk (39 Prozent) und in Donezk (38,2 Prozent). Der Grund dafür: Als 
die Region Ende des 19. Jahrhunderts industrialisiert wurde, kamen viele Russen in die dort entstehenden Städte. Inwieweit die ursprüngliche ukrainische Bevölkerung später unter Stalin in Teilen vertrieben oder ermordet wurde, darüber streiten bis heute Historiker. +Die Sprache sagt in der Ostukraine wenig darüber aus, auf welcher Seite man steht. Auch gegen die Separatisten kämpfen Männer und Frauen, die Russisch sprechen. Man hat ja auch seit der Auflösung der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 friedlich zusammengelebt. Die Bergwerke in der Region belieferten das ganze Land mit Kohle, man war stolz auf die im Verhältnis zu Russland hohen Löhne, stolz auch auf den Fußballverein Schachtar Donezk, der mit dem Geld des reichsten Menschen der Ukraine, des Oligarchen Rinat Achmetow, in der Champions League mitspielt. +Doch mit dem Beginn des neuen Jahrtausends kam eine Zeit der Unruhe. Westlich und russisch orientierte Politiker warfen sich gegenseitig Wahlfälschungen vor, auf den europa-freundlichen Präsidentschaftskandidaten Wiktor Juschtschenko wurde gar ein Giftanschlag verübt. Die Korruption nahm zu, die Ministerpräsidentin Julia Timoschenko landete 2011 wegen Amtsmissbrauchs im Gefängnis – für viele ein politisches Urteil. Der 2010 gewählte russlandtreue Wiktor Janukowitsch versagte schließlich einem europäischen Assoziierungsabkommen, durch das sich die Ukraine wirtschaftlich der EU angenähert hätte, auf Druck von Moskau hin die Zustimmung – woraufhin es zu den Protesten auf dem Maidan in Kiew kam. Bei den Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten kamen vor einem Jahr etwa 100 Menschen um. +Janukowitsch floh, im Juni vergangenen Jahres wurde Petro Poroschenko in einer freien Wahl zum Staatspräsidenten gewählt. Zuvor hatte Russland die Krim besetzt – unter dem  Protest der Staatengemeinschaft. Viele Ukrainer befürchten nun, dass dem Donbass das gleiche Schicksal wie der Krim droht, schließlich haben die Separatisten – wohl auch dank der Unterstützung durch Russland – im Februar 2015 militärisch die Oberhand gewonnen. +In den Verbänden der ukrainischen Armee befinden sich auch Unterstützer aus westlichen Landesteilen, die fast 1.000 Kilometer hierher gereist sind, um die territoriale Integrität ihres Landes zu verteidigen: Männer, die schon in die Straßenschlachten auf dem Maidan gezogen sind, wie Andrej, ein früherer IT-Spezialist, der jetzt Aufklärungsdrohnen für die Front organisiert. "Sonderbar", sagt er. "Beide Parteien sind völlig überzeugt, im Recht zu sein: Die Separatisten verteidigen ihre Erde gegen uns, wir verteidigen unsere Erde gegen die russische Armee." Auf dieser Erde wurde einst gemeinsam ein anderer Feind geschlagen: Nazideutschland. Das Andenken an den Zweiten Weltkrieg – den "Großen Vaterländischen Krieg", ist bei vielen Menschen präsent – was vom Staatsfernsehen aus Moskau propagandistisch genutzt wird. Auch jetzt sind in der Wahrnehmung mancher Ukrainer die Gegner wieder "Faschisten" – wie damals im Krieg gegen Hitler-Deutschland. Und dass man Faschisten besiegen könne, habe die Geschichte gezeigt. +Der 25-jährige Wladimir, wie Dmitri Soldat der Rebellenarmee, erzählt von seinem Urgroßvater, der im Krieg gegen die Deutschen gekämpft habe, in Gefangenschaft geriet und bei seiner Freilassung nur noch 43 Kilo wog. Viele Leute hier erzählen ähnliche Familiengeschichten. Und sie glauben den russischen Fernsehsendern, die das Grauen und den Opfermut des Krieges gegen Hitler in die Gegenwart verlängern – mit Meldungen von Dörfern im Donbass, in denen die Ukrainer Männer, Frauen und Kinder umbringen. Unabhängige Sender sind in der Region kaum noch zu empfangen. Das Land ist nach Monaten des Krieges zerrissen, Städte wie Donezk oder Debalzewo teilweise zerstört. Im Februar war die ukrainische Armee auf dem Rückzug. Tausende Soldaten und Zivilisten sind tot, und weil die Regierung in Kiew die Region mit einer Blockade belegt hat, bekommen viele der Bewohner schon seit Wochen keine Löhne oder Renten mehr. +Wie sehr die Parolen des russischen Staatsfernsehens noch immer 
verfangen, merkt Ira aus Kramatorsk immer dann, wenn sie mit ihrer Verwandtschaft in Sibirien spricht. Am Telefon diskutiert sie oft mit ihren Tanten aus dem russischen Tomsk, die ihr von den neuesten russischen Fernsehberichten über Gräueltaten der Ukrainer berichten: "Schrecklich, in einem Dorf bei euch haben diese Faschisten alle Männer ermordet und alle Frauen vergewaltigt." "Klasse", antwortet Ira dann. "Das ist doch besser als umgekehrt." In diesen Zeiten hilft ihr nur noch schwarzer Humor. Die 21-Jährige kann die pro- russischen Separatisten nicht ausstehen, schon weil sie das Autohaus, in dem sie als Managerin arbeitete, gestürmt und alle Wagen mitgenommen haben. "Das ist einfach eine Bande Kleinkrimineller", sagt sie. Ira will in keiner isolierten Volkskriegerrepublik leben, sie will auch nicht in Russland leben, sie will genauso Europäerin sein wie die jungen Ukrainerinnen in Kiew oder Lemberg. diff --git a/fluter/der-freie-knecht.txt b/fluter/der-freie-knecht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/der-geborene-student.txt b/fluter/der-geborene-student.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/der-gerechte.txt b/fluter/der-gerechte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/der-grosse-bluff.txt b/fluter/der-grosse-bluff.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..92d7e5d3beaca15c17231a2bcf13b6886d6be2e8 --- /dev/null +++ b/fluter/der-grosse-bluff.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Die GSV ist das beste Beispiel für das, was Kritiker als Graswurzel- Lobbyismus bezeichnen oder auch als Astroturfing, abgeleitet von der bekannten US-Kunstrasen- Marke Astroturf. Industrieunternehmen und Verbände versuchen den unverdächtigen Bürgerprotest für sich zu vereinnahmen. Der Vertrauensvorschuss, den zivilgesellschaftliches Engagement genießt, wird genutzt, um die Geschäftsziele voranzutreiben. "In der Lobbyszene gibt es einen klaren Trend dazu, Mitarbeiter, Kunden oder Bürger für seine Interessen einzusetzen", sagt Ulrich Müller, geschäftsführender Vorstand der Initiative LobbyControl aus Köln. Der Wutbürger wird Werbeträger für die Industrie. Tatsächlich ist auch der Verband der Automobilindustrie (VDA) Mitglied im Förderverein der GSV und unterstützt so die Bürgerinitiativen für Straßenbau. Vor allem dort, wo wirklicher Protest ausbleibt, bietet sich der künstliche an. Zum Beispiel für Atomkraft. Vor zwei Jahren kam heraus, dass der Stromerzeuger RWE seine Auszubildenden zur Teilnahme an einer Pro-Atom-Demonstration vor dem Kernkraftwerk Biblis ermutigte – sie bekamen einen Tag arbeitsfrei, wenn sie hinfuhren. Und im Juli demonstrierten Hunderte Menschen vor dem Kanzleramt in Berlin gegen den Atomausstieg der Bundesregierung. Organisiert wurde der Protest von der Kerntechnischen Gesellschaft, einer "gemeinnützigen Personenvereinigung", die unter derselben Berliner Anschrift residiert wie der Verein Deutsches Atomforum, dessen Mitglieder vorwiegend der Atomwirtschaft angehören. So entsteht der Eindruck, dass der Atomausstieg in der Bevölkerung umstrittener sei, als er in Wahrheit ist. Verbindungen zur Kerntechnischen Gesellschaft hat auch der Verein Bürger für Technik, eine Initiative, die fleißig Leserbriefe schreibt und sich nach eigener Darstellung für naturwissenschaftliche und technische Bildung in Deutschland einsetzt. Und nebenbei eben für die Atomkraft. +Ludwig Lindner, der Vorsitzende der Bürger für Technik, fungiert als stellvertretender Sprecher der Fachgruppe "Nutzen der Kerntechnik" in der Kerntechnischen Gesellschaft. Dass Bürger für Technik eine Tarnorganisation der Atomlobby sei, weist Lindner von sich. Blasphemische Anschuldigungen seien das, schimpft er durchs Telefon. In einem internen Dokument, aus dem die Wochenzeitung "Die Zeit" vor einigen Jahren zitierte, liest sich das jedoch ganz anders: Bürger für Technik sei aus der Kerntechnischen Gesellschaft hervorgegangen, um den "Wirkungskreis auch neutral zu erweitern". Spricht man Lindner darauf an, heißt es nur: kein Kommentar. Auch beim derzeit umstrittensten Bauprojekt Deutschlands in der Stuttgarter Innenstadt gibt es den Verdacht auf gesteuerte Bürgeraufstände. Ein Bündnis namens "Wir sind Stuttgart 21" verteilt Buttons und Aufkleber und organisiert regelmäßig Laufaktionen, um für den Bahnhofsneubau zu werben. Vorsitzender ist Christian List, der eine PR-Agentur betreibt, die unter anderem die Deutsche Bahn als Kunden nennt. Ein Zufall? Die Homepage ist jedenfalls nicht auf List privat, sondern auf den Namen seiner Agentur registriert. Hinzu kommt, dass die Bahn sich bereits einen gewissen Ruf erarbeitet hat, was Astroturfing anbetrifft: 2009 deckte LobbyControl auf, dass der Konzern eine Berliner Agentur indirekt damit beauftragt hatte, mit fingierten Leserbriefen und Beiträgen in Internetforen für ein gutes Image zu sorgen. Ein klarer Fall. +Meistens ist jedoch nur schwer zu sagen, was noch eine Graswurzelbewegung ist und wo der Kunstrasen anfängt. Gibt es einen ein- deutigen Auftrag oder nur zufällige Überschneidungen? Wo hören berufliche Verbindungen auf, wo fängt ehrenamtliches Engagement an? Wann wird eine Bürgerinitiative, deren Ziele sich zufällig mit den Geschäftsinteressen decken, bloß unterstützt und wann instrumentalisiert? All diese Fragen im Ungefähren zu lassen gehört beim Astroturfing dazu. Verschleierung ist Teil der Methode. Und meisterhaft darin sind die Asphaltfans von der GSV. Wer sich auf der Internetseite über die GSV informieren will, erfährt: wenig. Kaum Bilder, kaum Text und bestechende Unprofessionalität im Design. Die Mitglieder seien "überwiegend Landräte, Oberbürgermeister, Bürgermeister und weitere Repräsentanten von Gemeinden, Städten und Landkreisen" sowie "zahlreiche Bürgeraktionen und Bürgerinitiativen" steht da. Was man nicht erfährt: Rund drei Viertel des Budgets stammen von einem Förderverein, dem Unternehmen und Verbände angehören und dessen offiziellen Internetauftritt man vergebens sucht. Strabag, der Deutsche Asphaltverband und 3M bestätigen die Mitgliedschaft, wenn man bei ihnen nachfragt. Andere Unternehmen und Verbände schweigen sich aus. Erkundigt man sich bei Klaus Wild nach den Finanziers, wird das Gespräch ungemütlich. Transparenz? Interna seien das. Wer mehr wissen will, solle dem Verein beitreten. +Selbst die Initiativen vor Ort erfahren nicht immer, wer da in welcher Absicht zu ihnen kommt. Mit Bürgern seiner Heimatstadt Karben, nordöstlich von Frankfurt, kämpft Harald Ruhl seit Jahren für den Bau einer Nordumgehung. Er war froh, als ihm jemand aus der Stadtverwaltung vor Jahren einen Tipp gab: "Da gibt es eine Institution, die fördert solche Initiativen." Als die Bürger sich das nächste Mal in der Gaststätte versammelten, kam ein Vertreter der GSV, der seine Unterstützung anbot. Auch von einem kleinen Zuschuss für Werbematerial war die Rede. Ruhl war beeindruckt – bis ein Lokaljournalist wenige Tage später vom zweifelhaften Ruf der GSV erzählte. "Wir haben uns einlullen lassen, weil wir unerfahren waren", sagt Ruhl. Sofort schrieb er einen Brief an die Mitstreiter, die Bürgerinitiative werde nun doch auf die Zusammenarbeit mit der GSV verzichten. "Wir hätten uns doch angreifbar gemacht, wenn wir uns vor den Karren einer Lobbygruppe hätten spannen lassen." Auch dem Herrn von der GSV schrieb Ruhl einen Brief, mit der Bitte, ihm zu erklären, was es mit den Verbindungen zur Straßenbauwirtschaft auf sich habe. Eine Antwort kam nie. +Als die Hausbesetzer ab 1970 leer stehende Wohnungen in Frankfurt, Berlin oder Hamburg bezogen, setzten sie in jedem Fall ein Zeichen gegen überteuerte Mieten und die Wohnraumspekulationen der Immobilienbesitzer. Mit Transparenten an den Hausfassaden verbreiteten die Hausbesetzer auch in den Niederlanden, Spanien und den USA ihre politische Botschaft und wurden nicht selten von der Polizei gewaltsam zum Auszug gezwungen. Auch heute noch okkupieren meist junge Leute gesetzeswidrig leere Wohnungen – wie kürzlich in Köln. Dagegen zahlen inzwischen viele einstige Hausbesetzer der alten Schule ganz regulär die Miete oder werden von den Hausbesitzern zumindest geduldet. diff --git a/fluter/der-islam-braucht-eine-sexuelle-revolution.txt b/fluter/der-islam-braucht-eine-sexuelle-revolution.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d18d0c72de810587a2e3eea964d41a7b60123e34 --- /dev/null +++ b/fluter/der-islam-braucht-eine-sexuelle-revolution.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Na ja, wenn man mich anschaut, sieht man, dass ich nicht blond bin, keine blauen Augen habe, keine Urdeutsche bin. Gleichzeitig bin ich aber urdeutsch, bin hier zur Schule gegangen, habe deutsches Recht studiert. Diese Identität ist aber nicht sichtbar, deshalb muss man sie manchmal benennen. Mein Vater ist Kurde, meine Mutter Türkin. Ich habe einen deutschen Pass und hatte auch eine türkische Staatsangehörigkeit, die ich aber abgegeben habe. Ich habe also eine türkische und eine deutsche, also eine transkulturelle Identität. Und irgendwie muss man das ja benennen, obwohl es mir eigentlich nicht wirklich gefällt, weil ich mich als Weltbürgerin verstehe. +In Ihrer Kindheit haben Sie am eigenen Leib erfahren, wie es ist, wenn man die deutsche Sprache nicht versteht und in der Familie ein anderes Werte- und Rollenbild existiert als in der umgebenden Gesellschaft. Wie kann Integration unter solchen Vorzeichen gelingen? +Die Schule war für mich ein ganz wichtiger Ort. Ich habe schon sehr früh ein politisches Bewusstsein entwickelt und mich gegen Ungerechtigkeiten starkgemacht. Ich war Schulsprecherin und lernte, dass es Rechte für uns als Schüler gibt. Die Schule war die einzige Chance und der einzige Ort, an dem ich ein anderes Lebensmodell kennengelernt habe. Dort bin ich in der deutschen Gesellschaft angekommen. Zum Beispiel war es kein Problem, dass Lehrer und Lehrerinnen miteinander Kontakt hatten, befreundet waren, ein entspanntes Verhältnis zu-einander hatten. Zu Hause lebten wir sehr traditionell mit einem rigiden Rollenverständnis: Meine Brüder durften rausgehen, Freundinnen haben. Bei mir war das alles nicht erlaubt. Wir standen unter der sozia-len Kontrolle der gesamten Verwandtschaft. Sicher gibt es andere, modernere und gebildetere Familien, aber meine Eltern waren einfache Gastarbeiter, die sehr konservativ waren – und das ist sicher die Mehrheit in Deutschland. +Wie haben Sie diese unterschiedlichen Welten zusammenfügen können? +Indem ich mir gesagt habe: Ich möchte so frei leben wie diese Deutschen. Mein Ziel war es, mit 18 von zu Hause wegzugehen, um genauso selbstbestimmt zu leben. Ich wollte auf keinen Fall eine türkische Hochzeit feiern, einen Mann heiraten, den ich nicht will. Ich wollte nicht, dass andere über mein Leben entscheiden. Das führte natürlich zu einem Riesenkonflikt. Zehn Jahre hat es gedauert, bis meine Eltern verstanden haben: Ihr Kind wollte einfach nur studieren, Anwältin werden, ins Theater und Kino gehen, frei leben. Für meine Eltern bedeutete eine gesellschaftliche Teilhabe bei Mädchen immer nur Hurerei. +In Berlin leben im Stadtteil Kreuzberg Tausende Menschen, deren Eltern oder Großeltern aus der Türkei kamen. Funktioniert dort das Zusammenleben zwischen Muslimen und Christen Ihrer Meinung nach? +Für mich sind das Parallelgesellschaften: Da leben Menschen in Deutschland, die für sich ihre eigene Welt aufgebaut haben und den Rest des Landes gar nicht kennen. Noch nicht einmal die eigene Stadt. Die nie am Brandenburger Tor oder auf dem Fernsehturm waren oder andere Seiten der Stadt kennen. Kreuzberg ist für mich nicht multi-, sondern monokulturell arabisch oder türkisch. Das finde ich bedenklich, weil ich das Unglück vieler Menschen sehe. Es existiert teilweise eine Art Gefängnis für Frauen und Kinder, die nicht allein ohne Männer auf die Straße gehen dürfen. Ich kenne viele dieser Frauen, weil sie meine Mandantinnen sind. +Welche Fehler sind gemacht worden? +Man hat keine vernünftige Wohnungsbaupolitik betrieben und diese mit Integrationsarbeit verbunden. Es geht nicht nur um Deutschunterricht, sondern auch um Wohnungen und Arbeitsplätze – all das muss einbezogen werden. Die Frage ist doch: Wie schafft man es, dass Menschen Anteil an dem Leben hier nehmen, sich nicht ausgeschlossen fühlen oder selbst ausschließen?Meine Eltern haben erst im Wohnheim und dann mit uns fünf Kindern in einer Einzimmerwohnung gelebt. Denn keiner wollte Gastarbeiter, man hat uns in bestimmte Bezirke gedrängt und uns Rattenlöcher ohne Bad und warmes Wasser vermietet. Es wäre Aufgabe der Politik gewesen, den Gastarbeitern ein menschenwürdiges Leben in Deutschland zu ermöglichen. +Brauchen wir in den deutschen Schulen Islamunterricht? +Wir brauchen keinen konfessionellen Unterricht, aber eine Wissensvermittlung aller Religionen an der Schule. Das heißt, nicht nur Islamunterricht für die muslimischen Kinder, sondern auch evangelischen, katholischen, jüdischen und so weiter. Und umgekehrt brauchen wir für die christlichen Schüler auch den islamischen Unterricht. Damit alle Kinder etwas über ihre eigene, aber auch über andere Religionen lernen, um festzustellen, was sie voneinander unterscheidet. Zudem müssen unsere Kinder auch lernen, dass es ein Recht auf Atheismus, also nicht zu glauben, gibt. So entsteht Toleranz anstelle von Vorurteilen. Und es kann verhindert werden, dass auf dem Schulhof Religionskriege und Konflikte geführt werden: Aleviten gegen Sunniten, Kurden gegen Türken … Es braucht sehr viel mehr aktive Arbeit, die sich mit den unterschiedlichen Identitäten auseinandersetzt. +Welche Rolle spielen die islamischen Verbände bei der Integration? +Eine große, aber meiner Meinung nach haben sie in den letzten Jahrzehnten keine besonders gute Performance gezeigt. Ich war drei Jahre Mitglied der Islamkonferenz. In der Zeit arbeiteten sich die Verbände immer nur am Kopftuch ab und daran, dass wir Einzelpersonen die Muslime nicht repräsentieren: Ist das Kopftuch ein religiöses Gebot oder nicht? Themen wie Ehrenmorde und Zwangsheirat sollten dagegen nicht in die Öffentlichkeit dringen. Noch heute vermitteln die meisten Imame und Verbände eher das Abstandhalten zu den Deutschen. Es heißt: Assimiliert euch nicht! Passt auf, dass euch die Deutschen nicht zu Christen machen! Dass ihr keine ungläubigen Schweinefleischfresser werdet! Die Verbände sind meines Erachtens nicht wirklich interessiert an Integration, sondern an der Aufrechterhaltung von Parallelgesellschaften. Denn nur so haben sie Macht und Kontrolle über ihre Mitglieder. Die toleranten und weltoffenen Imame haben leider keine Chance. +Seit etwas mehr als einem Jahr können Kinder von Migranten, die nach 1990 in Deutschland geboren wurden, dauerhaft zwei Staatsbürgerschaften haben. Halten Sie das für richtig? +Ich habe nur den deutschen Pass – das war allerdings eine politische Entscheidung. Die Türkei ist für mich eine Diktatur. Wenn ich mich dort aufhalte, möchte ich von Deutschland beschützt und, wenn nötig, zurückgeholt werden. Ansonsten sollte es meiner Ansicht nach überhaupt keine Grenzen geben, sodass statt einer doppelten gar keine Staatsangehörigkeit nötig ist. Ich bin gegen nationalistisches Denken, das ist für mich das größte Übel. Wenn aber Kinder von Migranten zwei Pässe wollen, weil sie beide Identitäten besitzen, warum nicht? Bloß haben sie dann auch die doppelten Verpflichtungen und die Verantwortung für beide Länder. +Gerade Frauenrechte sind in manchen islamisch geprägten  Ländern schwer zu vermitteln. Wie sollte die Gesellschaft mit jungen muslimischen Männern umgehen, die Frauen nicht als selbstbestimmte Wesen anerkennen? +Der Sohn ist oft der Prinz in muslimischen Familien, bei dem großen Beschneidungsfest wird der Pimmel gefeiert. Bei den Mädchen ist dagegen alles Sünde, ihr Körper muss verhüllt werden. Wenn man in solchen Verhältnissen groß wird, kann man gar nicht anders, als sich abwertend gegenüber Frauen zu verhalten. Außerdem denkt die Mehrheit so – auch die Frauen. Nicht der Islam unterdrückt die Frauen, es sind beide Geschlechter, die das Patriarchat tragen. Man kann nicht nur die Männer in die Verantwortung nehmen. Natürlich müssen junge frauenfeindliche Muslime geächtet und abgelehnt werden. Genau dieses Verhalten haben wir in Deutschland ja überwunden. Ich bekämpfe das Patriarchat und nicht den Moslem und den Islam. Mein Engagement geht gegen die Geschlechterapartheid in der offenen Gesellschaft, die es übrigens auch bei Christen oder Juden gibt. Und wir dürfen nicht übersehen, dass es auch couragierte muslimische Männer gibt, die sagen: So ein Mann bin ich nicht. +Halten Sie es für möglich, dass der Islam und sein Verhältnis zur Sexualität revolutioniert werden können? +Ich bin der festen Überzeugung, dass der Islam eine sexuelle Revolution braucht. Die muslimischen Gesellschaften von Marokko bis Indonesien sind in ihrer Sexualmoral sehr rigide und stark tabuisiert. Dadurch ist Sexualität im Alltag unglaublich präsent. Selbst wenn die Frauen verschleiert sind und man nur ihre Augen erkennt, sind sie sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Jede Berührung oder jeder Blick kann bei den Männern ein sexuelles Verlangen auslösen. Aus völlig natürlichen Dingen wird etwas Perverses gemacht – das dürfen wir nicht akzeptieren. +Wir leben in einer Zeit, in der viele muslimische Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Das bedingt auch eine Zunahme an Vorurteilen: Migranten würden klauen, wollten nicht arbeiten, schlügen ihre Frauen. Wie kann zu einer differenzierteren Haltung beigetragen werden? +Diese Vorurteile gibt es, aber wir können nur gemeinsam dagegen ankämpfen. Es braucht eine vernünftige Integrationspolitik in dieser globalisierten Welt. Wir müssen akzeptieren, dass wir ein Einwanderungsland sind. Dazu gehören ein Einwanderungsgesetz und Bildungskonzepte, die Kinder direkt in den Schulen integrieren. Wir müssen eine neue Identitätsbildung schaffen. Es ist eine Generation der "third culture" entstanden. Die ist nicht mehr nur deutsch und türkisch, sondern bedeutet eine Mischung der transkulturellen Identität. Und wir müssen uns fragen: Wie können wir diese jungen Menschen aufwerten und ihnen Chancen im Arbeitsmarkt und im gemeinsamen Leben ermöglichen? +Sehen Sie schwarz für das Zusammenleben in Deutschland? +Nein, im Gegenteil. Die Globalisierung bringt es mit sich, dass sich die Welt verändert. Früher haben wir es nicht für möglich gehalten, dass der Kalte Krieg endet oder die Mauer fällt – und jetzt? Veränderungen bringen offene Gesellschaften wie Deutschland nur voran. Selbst wenn Menschen hierherkommen, die mit unserer Demokratie nicht zurechtkommen. Es ist unsere Aufgabe, den Menschen zu zeigen: Hier wird Schweineschnitzel gegessen, aber das verletzt euch nicht. Wir feiern Weihnachten, aber deshalb wirst du kein Christ. Integration ist zu schaffen, wenn man es will. Und wenn man Toleranz fördert. diff --git a/fluter/der-jaeger.txt b/fluter/der-jaeger.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cd601e099d1eccbeb168f19a19ed26a76667847b --- /dev/null +++ b/fluter/der-jaeger.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Im Jahr 2002 startete das Simon-Wiesenthal- Zentrum deswegen die "Operation Last Chance": "Gesucht werden NS-Verbrecher, die bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen worden sind. Mörder laufen frei herum und genießen ihren Lebensabend." Für Hinweise, die zur Verurteilung und Bestrafung führen, setzte das Zentrum 10.000 US-Dollar Belohnung aus. Im Dezember letzten Jahres startete das Projekt "Operation Last Chance II", das speziell auf Personen abzielt, die in den Konzentrationslagern und Einsatzgruppen "gedient" haben. Hier werden Informationen, die zur Verurteilung und Bestrafung dieser Verbrecher führen, mit bis zu 25.000 US-Dollar belohnt. Zuroff lehnt sich weit zurück in seinem Bürostuhl. Neben dem Tisch liegt ein Stapel ausgedruckter Artikel über seine Arbeit; hinter ihm hängt gerahmt der Titel der "New York Post" vom Tag der Kapitulation der Deutschen: "Nazis Quit!" Nazis geben auf. +Der Nazi-Jäger trägt ein blau-weißes Hemd, Kippa und eine randlose Brille. Sein Englisch ist schönster Brooklyn-Singsang. Dort wächst er in den 50erund 60er-Jahren auf. Zu Hause ist der Holocaust kein Thema: Die Gedanken sind auf die Zukunft gerichtet. Doch als er zwölf Jahre alt ist, fasst der israelische Geheimdienst Mossad Adolf Eichmann, der für die fabrikmäßige Ermordung von sechs Millionen Menschen verantwortlich war. In Jerusalem kommt Eichmann vor Gericht, der Prozess wird im TV übertragen. Zuroffs Mutter ruft ihren Sohn vor den Fernseher. "Das musst du sehen", sagt sie. Es ist ein erster Einblick in den Horror der Geschichte. Später studiert Zuroff in Jerusalem. Er beschäftigt sich eingehend mit dem Holocaust und schreibt darüber seine Doktorarbeit. Als die Amerikaner in den 70er-Jahren beginnen, eingewanderte Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen, arbeitet Zuroff als Mann in Israel für das "Office of Special Investigations". Er recherchiert in den Archiven von Yad Vashem, der nationalen Gedenkstätte – und ist enttäuscht. Es gibt zu wenig konkrete Hinweise auf die Täter. +Ein Kollege macht ihn schließlich auf den ITS aufmerksam, den Internationalen Suchdienst. Die Zentrale befindet sich zwar in Bad Arolsen, doch Yad Vashem ist im Besitz von Kopien auf Mikrofilm. "Es war das Beste, was mir passieren konnte", sagt Zuroff und klatscht in die Hände. "16 Millionen Karteikarten; da waren einfach alle aufgelistet, sogar samt Ausreiseziel." Eine Goldmine, sagt Zuroff, die seine Arbeit erst möglich gemacht habe. Seit das Zentrum die "Operation Last Chance" gestartet hat, haben fast 4.000 Leute mit Informationen bei Zuroff angerufen. Doch aus dem ganzen Wust seien gerade mal sechs ernsthafte Fälle hervorgegangen. Und selbst wenn die Täter identifiziert sind, selbst wenn die Beweislage eindeutig ist – eine Garantie für einen Prozess oder eine Verurteilung gibt es nicht. +Oft fehlt einfach der politische Wille. Zuroff erklärt es gerne so: "Um einen Serienmörder zu fassen, werden alle Ressourcen genutzt. Weil er jederzeit wieder zuschlagen kann. Aber wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein 90-jähriger Kriegsverbrecher einen Mord begeht? Also sitzen manche Regierungen die ganze Problematik einfach aus." In solchen Momenten nimmt der Nazi-Jäger das Heft selbst in die Hand, taucht mit Fernsehteams vor den Häusern von Kriegsverbrechern auf, gibt Pressekonferenzen. Politiker versucht er zu neuen Gesetzen zu bewegen. "Ich muss mir sehr oft anhören, dass ich es einfach sein lassen soll. Die Täter sind zu alt, bla, bla. Aber was damals in England vor sich ging, war einfach unglaublich. Solch ein Mist!" +Zuroff erzählt von der Debatte im House of Lords und wie das Gesetz zweimal abgelehnt wurde. Zuroff senkt die Stimme und versucht einen der Gegner zu imitieren: "Das ist jüdische Gerechtigkeit, aber wir sind ein christliches Land." Alte Säcke seien das gewesen, schimpft Zuroff. Kritik kommt allerdings auch aus anderen Ecken. Micha Brumlik zum Beispiel, der ehemalige Leiter des Fritz-Bauer-Instituts zur Erforschung des Holocaust, nannte das Aussetzen einer Belohnung für Hinweise "denunziatorisch und moralisch unsauber". Ein Fall, der illustriert, wie nah Erfolg und Misserfolg beieinanderliegen, ist der des ungarischen Offiziers Sándor Képíró. 1942 ist Képíró an einem Massaker an Juden, Serben und Roma beteiligt. Képíró wird verurteilt, kann aber im Kriegschaos nach Argentinien fliehen. Jahrzehnte später kehrt er nach Ungarn zurück und lässt sich gegenüber einer Synagoge nieder. +Im Jahr 2005 bekommt Efraim Zuroff Informationen zugespielt und erhärtet diese vor Ort. Er reicht das Dossier an die Behörden weiter. Zunächst passiert jahrelang nichts, doch dann kommt Képíró schließlich vor Gericht. "Was für ein Erfolg", sagt Zuroff, "es war unglaublich, das erste Verfahren seiner Art in Ungarn." Zuroff war sich seiner Sache sicher, sogar seine Frau nimmt er mit in den Gerichtssaal. "Ich wollte, dass sie diesen großen Sieg sieht", sagt Zuroff, "aber am Ende war es einer der schlimmsten Tage meines Lebens." Képíró wird freigesprochen. Jedes Jahr gibt das Jerusalemer Büro des Wiesenthal- Zentrums einen Statusreport samt einer Liste der meistgesuchten Verbrecher heraus. Auf dieser befindet sich auch Dr. Aribert Heim. Heim war Arzt in den Konzentrationslagern Buchenwald, Sachsenhausen und Mauthausen. Häftlingen hat er Organe entnommen und Benzin ins Herz gespritzt. "Der Schlächter", sagt Zuroff und holt einen von fünf Ordnern zu diesem Fall aus dem Regal. Zuroff folgte Hinweisen in Südamerika und Spanien – ohne Erfolg. 2009 dann erhalten das ZDF und die "New York Times" Informationen, dass Heim 1992 in Kairo gestorben sein soll. +Zuroff klappt den Ordner wieder zu und stellt ihn ins Regal. "Ich bin nicht überzeugt", sagt er. Doch der Nazi-Jäger weiß auch, dass seine Arbeit zu Ende geht. Ein bisschen ist er schon neidisch auf den großen, berühmten, aber auch kritisierten Simon Wiesenthal, "der noch die richtig großen Nazis jagen konnte". Wann also aufhören? Zuroff gibt zu, dass die Jagd selbst mehr von Misserfolg als Erfolg geprägt war. Allerdings ist es ihm dabei auch gelungen, das Gedenken an den Holocaust am Leben zu erhalten und Regierungen an ihre Verantwortung zu erinnern. Vielleicht ist das der wahre Erfolg und nicht die Anzahl der Verfahren. "Wenn man ein Mensch mit einer Mission ist", sagt Zuroff, "dann ist es sehr schwer, diese Mission zu beenden." diff --git a/fluter/der-klassen-chilene.txt b/fluter/der-klassen-chilene.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a4284a5ff38b62e822b940df30fec5882e24d089 --- /dev/null +++ b/fluter/der-klassen-chilene.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Nichtsdestotrotz verwöhnte mich meine chilenische Familie mit Lachsfilets und Avocado-Broten. In einem klapprigen Auto fuhren wir durch die Anden und mit der Seilbahn, dem teleférico, in die Oberstadt von Valparaíso und nach Viñadel Mar an den Strand, wo ich die schäumenden Wellen des Pazifiks bestaunte. Allein in diesem Monat liebkoste mich meine chilenische Verwandtschaft so oft wie meine deutsche in meinem ganzen Leben davor. Meine Tante neckte mich weiterhin. Irgendwann aber begriff ich, dass ich mich gegen die Hänseleien nicht verteidigen musste, sondern einfach mitlachen konnte: Ich entdeckte das Geheimnis der Selbstironie, das vielen Deutschen wohl für immer verborgen bleiben wird. Bei der Abreise weinte ich – diesmal, weil ich nicht mehr zurückwollte. +Als ich später von der deutsch-spanischen Grundschule auf ein normales Gymnasium wechselte, merkte ich, wie interessant mich die chilenische Abstammung für meine Klassenkameraden machte. Ein großes Geheimnis schien sich dahinter zu verbergen, eines, das ich wahrscheinlich nur in der Gegenwart meines Vaters oder meiner Latino-Freunde auslebte. Gerne ließ ich meine Mitschüler in dem Glauben. Ich hörte lateinamerikanische Musik, brachte Empanadas in die Schule mit und drückte bei der Fußball-WM in Südafrika im Chile-Trikot "La Roja" die Daumen. +Meine Freunde nahmen mir diese Rolle ab – wie hätten sie auch ahnen können, dass mein Spanisch alles andere als akzentfrei war? Dass ich aus der chilenischen Mannschaft nur den Top-Torjäger Humberto "Chupete" Suazo kannte und nicht mal chilenische Straßenköter meine halbgaren Empanadas gefressen hätten? Meine Affinität für lateinamerikanische Musik bezog sich einzig auf die chilenische Band aus den 1980er-Jahren, der mein Vater alsPinochet-Geflüchteternoch hinterherhing. +In die Pubertät gekommen, tat ich manchmal so, als riefe mich mein Vater an, und begann in der Gegenwart bestimmter Mädchen wie zufällig Spanisch zu sprechen, mit möglichst vielen gerollten "R"s. Gleichzeitig lehnte ich alles ab, was mir deutsch vorkam: Ich pflegte das Image des Zuspätkommers und Schludrians. Es war aber nicht so, dass ich meine Schulkameraden mutwillig anlog – ich spielte eben Identi-Tetris: Andere waren Klassenclown oder Hippie – ich war der Chilene der Klasse. +Chile zählt zu den reichsten und stabilsten Ländern Südamerikas. Und zu denen mit den meisten Frauenmorden weltweit.Wie kann das sein? +Erst bei meinen beiden späteren Chile-Reisen wurde mir dann bewusst, dass ich nicht nur meinen Freunden, sondern auch mir etwas vorgemacht hatte. Ich war mittlerweile kräftig gewachsen. In Kombination mit meinem helleren Hautton und dem gekünstelten chilenischen Akzent unterschied ich mich kaum noch von den anderen deutschen Patagonien-Touristen. Man sprach mich plötzlich auf Englisch an, Busfahrer gaben mir zu wenig Wechselgeld raus, und das eine oder andere Mal rief mir sogar jemand "Gringo" hinterher – eine despektierliche Bezeichnung für Menschen aus dem sogenannten "Westen". +Zu allem Überfluss nahm man mich nicht nur in Südamerika, sondern auch in Deutschland nicht mehr in meiner Rolle als Chilene ernst. Mein schlaksiger Tanzstil passte nicht zumeuropäischen Bild des Latin Lover, das viele deutsche Mädchen von einem südamerikanischen Jungen haben. +Das war bedrückend. So bedrückend, dass ich mich immer weniger mit dem Chilenen-Image identifizierte. Dabei wurde mir klar, dass sowohl mein Selbstbild als auch die Fremderwartungen an meine südamerikanische Identität wenig mit der chilenischen Lebensrealität zu tun hatten. Diese Einsicht tat weh. Während ich dem Latino unter Schmerzen abschwor, entdeckte ich plötzlich Charakterzüge an mir, die sich nicht geografisch oder kulturell verorten ließen: Fähigkeiten wie Empathie oder Kreativität, die mir meine Freunde zuschrieben. Sie mussten in kein Raster plumper Stereotype passen. Es fühlte sich wie eine Befreiung an. +Heute zucke ich nur noch mit den Schultern, wenn deutsche Freunde meine Unzuverlässigkeit meinen südamerikanischen Wurzeln zuschreiben oder chilenische Verwandte nach einem schlechten Witz von mir "Otto Fritz!" rufen. Salsa tanzen kann ich immer noch nicht – und werde es vermutlich auch nicht mehr lernen. Lieber genieße ich die Vorteile der Doppelbürgerschaft – zum Beispiel die Möglichkeit, mit meinen beiden Reisepässen in der Universitätsbibliothek zwei Schließfächer gleichzeitig belegen zu können. Nur das "R", das rolle ich immer noch gerne. + + +GIF: Renke Brandt diff --git a/fluter/der-klimawandel-scheint-weit-entfernt.txt b/fluter/der-klimawandel-scheint-weit-entfernt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1a6edf07f54476f6f3abc80db2d591fd2d086300 --- /dev/null +++ b/fluter/der-klimawandel-scheint-weit-entfernt.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Wetterextreme, Dürren und Überschwemmungen in anderen Ländern haben auch Auswirkungen auf uns. Wir leben in einer globalisierten Welt. Und: Was da in der Zukunft oder in anderen Ländern passiert, das verursachen wir hier und heute. Wenn wir nicht rasch aufhören, so viel Treibhausgase auszustoßen, dann werden sich noch viele Generationen der Menschheit an uns erinnern. So wie wir heute noch etwa an die Römer denken. Nur dass die Generationen der Zukunft an uns, die wir am Anfang des 21. Jahrhunderts leben, so denken werden: Die damals haben den Anstieg des Meeresspiegels ausgelöst.Was wird sich ändern? +Mal ehrlich: Haben Sie sich schon einmal bei dem Gedanken erwischt: Ein neuer Hurrikan wie Katrina oder Sandy, der auf die US-Küste zuläuft, würde dem Thema wenigstens wieder Aufmerksamkeit bringen? +Solche Unglücksfälle sind tragisch, egal wie viel Aufmerksamkeit sie bringen. Klar ist, dass wir solche Extreme in Zukunft häufiger erwarten, und ich wünsche mir, dass wir handeln, bevor sie kommen, um das Schlimmste zu verhindern. Wenn ich ein Glas in der Hand halte, dann weiß ich, dass es runterfallen würde, wenn ich es losließe. Muss ich das Glas dafür wirklich zerspringen lassen? Es ist einfach Physik. +Früher sprach man von der Klimakatastrophe, heute eher vom Klimawandel. Gut so? +Ja, der Begriff Klimawandel ist besser. Das Wort "Katastrophe" ist so ein unguter Angstmacher, der nahelegt, hier bricht ganz plötzlich was über uns herein. Die menschengemachte Veränderung des Klimas vollzieht sich aber vielfach schleichend, nur ist sie dadurch nicht weniger tiefgreifend. +Kann es überhaupt funktionieren, ein vielschichtiges wissenschaftliches Thema so rüberzubringen, dass es in der Öffentlichkeit ankommt? Dort sind doch eher ganz einfache Formeln gefragt. +So kompliziert ist das gar nicht. Wir verbrennen Kohle und Öl. Damit blasen wir Treibhausgase in die Luft. Dadurch heizt sich das Klima auf. Und das hat Folgen – nicht nur für die Antarktis und den Amazonas-Regenwald; es sorgt auch für Missernten und Wetterextreme. Nicht immer und überall. Aber insgesamt bedeutet Klimawandel: Risiko und verstärkter Druck auf die Gesellschaft. +Nennen Sie bitte mal ein Beispiel: Welcher komplexe Zusammenhang wird in der öffentlichen Debatte so stark simplifiziert, dass die falschen Schlussfolgerungen daraus gezogen werden? +Nehmen wir den Erwärmungstrend selbst. Angetrieben wird er von den menschengemachten Treibhausgasen, aber zusätzlich gibt es natürliche Schwankungen, etwa durch die komplexen Wetterphänomene El Niño und La Niña im Pazifik. Dadurch gehen die Jahrestemperaturen mal stärker hoch, mal schwächer. Hinzu kommt, dass die Ozeane im letzten Jahrzehnt offenbar mehr Wärme aufgenommen haben als vorher, was leider keine gute Nachricht ist, weil die Wärme ja nicht weg ist, sie ist nur zwischengespeichert. Wenn man sich jetzt nur ein paar Jahre anschaut, sagt mancher Nichtwissenschaftler, die Erwärmung ist vorbei. Das ist aber falsch, weil der Langzeittrend weiter nach oben zeigt. Hier ist Simplifizierung irreführend. +Es heißt: Zwei Grad Erderwärmung sind noch tolerabel, drei Grad nicht mehr. Das versteht kaum jemand. Wie erklären Sie den Unterschied? +Auch unterhalb von zwei Grad verändert sich das Klima, und wir wissen noch nicht, wie stark die Schäden sein werden. Für die internationalen Verhandlungen kann man sich auf gerade Zahlen einigen. Klar ist, dass wir ein Grad schon fast erreicht haben und ein weiteres halbes Grad zukünftiger Erwärmung bereits heute verursacht haben durch die Treibhausgase, die wir bisher ausgestoßen haben. Bei drei Grad sind wir aber relativ sicher, dass starke Veränderungen auf uns zukommen. So verlieren wir dann praktisch alle Korallenriffe der Erde, das arktische Meereis im Sommer ist weg, und der grönländische Eisschild gibt unwiderruflich seine unglaublichen Eismassen in den Ozean. Deshalb haben die Vertreter der Staaten der Welt beim Klimagipfel in Mexiko vor vier Jahren diese Zwei-Grad-Grenze gesetzt. +Es gilt als wahrscheinlich, dass der westantarktische Eisschild bereits zu schmelzen begonnen hat – ein Prozess, der nicht mehr zu stoppen ist und den Meeresspiegel langfristig um mehrere Meter ansteigen lassen wird. Das wäre ein Einschnitt in der Erdgeschichte. Warum wird in der Öffentlichkeit kaum darüber diskutiert? +Das weiß ich auch nicht. Denn in der Tat ist das ein historisches Ereignis. Wir sehen zum ersten Mal ein Kippelement im Erdsystem kippen. Wenn wir weitermachen wie bisher, dann kippen weitere. +Was raten Sie? Was muss geschehen, um dem Thema Klimawandel die richtige Aufmerksamkeit zu sichern? Bessere Bildung, charismatische Politiker, cleveres Infotainment? +Wichtig wäre vielleicht, wenn alle, die heute jung sind, erkennen: Hier geht es um unsere Zukunft. Und wenn alle, die älter sind, sich überlegen: Wir wollen für unsere Kinder doch immer nur das Beste. Ist es da nicht verlogen, dass wir ihnen einen Himmel voller Treibhausgase hinterlassen? +Vorbilder sind wichtig. Klimaschutz ist ein idealistisches Ziel. Warum soll es da schlecht sein, wenn Promis auch mal über Klimawandel sprechen? Etwa Di Caprio ist es doch offenbar wirklich ernst mit seinem Engagement. Als der vor Jahren mit einem Hybridwagen vorgefahren ist statt mit einer Stretchlimousine, hat das Schlagzeilen gemacht – Hybridantriebe waren mit einem Mal ein Thema, nicht nur für Technikfreaks.Nützt es etwas, wenn Promis sich als Klima-Aktivisten einspannen – oder einspannen lassen? So wie Leonardo DiCaprio, Emma Thompson, Katharina Witt ... +Die Beweislast ist eigentlich erdrückend. Die Ergebnisse von vielen hundert Forschern weltweit fließen in die großen Berichte des UN-Klimarats IPCC ein. Und deren Konsens ist: Es gibt den Klimawandel, er läuft bereits, und der Mensch ist der Hauptfaktor. Warum gibt es trotzdem immer noch so viele Klimaskeptiker? +Ich glaube, es gibt gar nicht mehr so viele. Das Abstreiten des Klimawandels ist eine bequeme Unwahrheit, aber ich denke, mittlerweile bestreiten nur noch einige wenige die physikalische Wahrheit. +Sind kritische Stimmen in der Wissenschaft nicht auch wichtig? +Na klar, und innerhalb der Klimaforschung gibt es genug Kontroversen, aber es geht eben nicht mehr um die Frage, ob CO2 die Temperatur der Erde erhöht. Das ist geklärt. Wenn es um die aktuellen Forschungsfragen geht, etwa die genaue Berechnung des Anstiegs des Meeresspiegels, dann wird darum gerungen. +Der IPCC hat in seinem vorletzten Report auch hanebüchene Fehler gehabt. Es hieß, die Himalaya-Gletscher schmelzen bis 2035 ab. Dabei wäre 2350 richtig gewesen ... +Das war ein Zahlendreher in einem Teil des Berichts, und das ist nicht gut. Die Berichte des Weltklimarats sind allerdings Tausende Seiten stark, Hunderte Wissenschaftler haben daran mitgearbeitet – da sind einzelne Fehler einfach menschlich. In dem Teil des Berichts, wo es um die konkreten Hintergründe und Mechanismen für das Gletscherschmelzen geht, steht es übrigens richtig. Trotzdem sollten solche Fehler nicht geschehen. Aber so etwas verändert natürlich nicht das Geringste an der grundlegenden Erkenntnis zum Klimawandel: Die Erde wird wärmer, das bringt klar verstandene Probleme mit sich, und es birgt eine Vielzahl von Risiken, die wir noch nicht alle fassen können. Aber eins ist sicher: Der Klimawandel wartet nicht darauf, dass wir ihn bis ins Letzte verstanden haben. +Joachim Wille (58) ist langjähriger Umwelt-Journalist. Er schreibt für die Tageszeitung Frankfurter Rundschau, das Online-Magazin klimaretter.info sowie andere Publikationen, darunter Bild der Wissenschaft. +Die dokumentarische Fotoarbeit "Retired Soil" des Fotografen René Zieger zeigt Bilder ehemaliger Braunkohlereviere in Ostdeutschland:www.renezieger.de +Professor Anders Levermann ist Physiker und Klimaforscher, er arbeitet am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und an der Universität Potsdam. Levermann war Koautor bei den letzten beiden großen Reports des Weltklimarats IPCC, und er schreibt regelmäßig im Blog Klimalounge:www.scilogs.de/klimalounge diff --git a/fluter/der-koenig-der-favelas.txt b/fluter/der-koenig-der-favelas.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a81f94a1715af70affd04c3a9147ff3c74894992 --- /dev/null +++ b/fluter/der-koenig-der-favelas.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Die Verhaftung von Lopes, genannt "Nem": Laut Misha Glenny in "Der König der Favelas" muss sie der reinste Krimi gewesen sein +Viel Zeit verbrachte Glenny im Hochsicherheitsgefängnis von Campo Grande. Insgesamt 28 Stunden sprach er dort mit dem ehemals "meistgesuchten Verbrecher Rio de Janeiros", dem Mann, den die Medien "zuvor immer wieder als skrupellosen Killer dargestellt" hatten. Was Glenny nach zahlreichen Unterhaltungen mit dem 39-jährigen Ex-Don der – auf 120.000 Einwohner geschätzten – größten Favela Rio de Janeiros, Rocinha, nicht einleuchten will. Ist Glenny dem höflichen, überaus auskunftsfreudigen Nem auf den Leim gegangen? Gut möglich. Vielschichtiger als die schlichte mediale Erzählung von Nem als gedungenem Mörder, der in seiner fünfjährigen Amtszeit als Drogenboss "das Leben unzähliger junger Menschen ruiniert" haben soll, ist sein Buch aber allemal. +Eineinhalb Jahre sind normal – aber fünf? Nems Herrschaftsdauer irritiert Glenny, er möchte wissen, wie er sich so lange halten konnte. Weniger seltsam als die lange "Amtszeit" des Drogenbosses findet der frühere BBC-Korrespondent Nems telenovelaartige Initiationsgeschichte: Demnach war er bis zu seinem Einstieg ins Drogengeschäft ein treu sorgender Familienvater mit ehrlichem Job. Kurz nach der Geburt erkrankte Töchterchen Eduarda schwer an einer seltenen Krankheit. Die Behandlung war ruinös teuer, Nem suchte den örtlichen Drogenboss auf und bat ihn um finanzielle Hilfe. Eine Hand wäscht die andere: Die Hilfe wurde gewährt, Nem bot seine Dienste an. Da war er 24. +Dank seiner unternehmerischen Intelligenz steigt Nem in "Amigos dos Amigos", der größten Verbrecherorganisation Brasiliens, rasch auf. Als Boss, fünf Jahre später, ist er äußerst wachsam und besonnen in seinen Entscheidungen. Er schätzt den Ausgleich konkurrierender Interessen, meidet Kriege mit anderen Kartellen. Die Polizisten des zuständigen Reviers der "Policia Militar" lässt er großzügig bezahlen, schließlich soll Rocinha der wichtigste Umschlagplatz für Kokain bleiben. Hinzu kommt, dass er die soziale Rolle, die nicht wenigen Kartellbossen in den von der offiziellen Politik mitunter im Stich gelassenen Favelas zukommt, sehr geschickt ausfüllt: Er kümmert sich um die Einwohner, versorgt sie mit Lebensmitteln, Medikamenten und Darlehen. +Nem reduziert die Mordrate seines Viertels drastisch, er gilt dort als einer, "der hier in Rocinha für Ruhe und Frieden sorgt". Glenny bezeichnet Nem als Präsidenten, Premierminister und mächtigsten Geschäftsmann in Personalunion. Seine soziale Bedeutung und politische Macht sind ungewöhnlich groß. Dass "Nem da Rocinha" mit seiner 120 Köpfe starken Armee mordet, wenn es seiner Organisation dient, dass er Gewalt gegenüber seinen Partnerinnen für angemessen hält, nur eben nicht in der Öffentlichkeit, geht in Glennys biografischer Erzählung ein wenig unter. +Politischen Tiefgang bekommt "Der König der Favelas" durch journalistische Analyse: Glenny hat die mit dem schweren Erbe der Kolonialzeit Portugals verwobene Geschichte Rios und damit auch die Geschichte der Favelas im Blick: Die ersten dieser Siedlungen entstanden vor über 100 Jahren am Stadtrand. Es waren die Wohnorte von früheren Sklaven, notdürftige Behausungen von Menschen ohne Land, Eigentum und Aussicht auf reguläre Arbeit. Laut Zensus der brasilianischen Statistikbehörde wohnten 2010 1,4 Millionen Menschen in einer der 763 Favelas von Rio de Janeiro. Heute lebt ungefähr jeder fünfte Einwohner der Stadt in so einem Armenviertel. +Der Autor beschreibt nicht nur die Funktionsweise des lokalen Drogenhandels, er skizziert auch die Drogengeschichte der Stadt: "1984 begann es in Rio zu schneien, und seitdem hat es nicht mehr aufgehört." Von Rio aus verschickt, landeten die Drogen alsbald in den USA und Europa, Gewehre und Pistolen von amerikanischen Waffenhändlern kamen dafür nach Rio. Die Wellen der Gewalt, die seither über Rio schwappen, sind noch nicht abgeebbt. Politik, Militär und Polizei verdienen am Drogenhandel bestens mit. Von letzterer geht besonders für die Bewohner der Favelas manchmal sogar eine höhere Gefahr aus als von den ansässigen Drogenkartellen und Gangs. "Die Polizei in Rio ist dein Feind", sagt man in den Favelas. +Augenfällig bewies sie dies im Zuge der Vergabe der Olympischen Sommerspiele im Jahr 2009 und anlässlich der Fußball-WM 2014. Seither ist die Polizei dabei, die Kriminalität in den Favelas gewaltsam einzudämmen, führt verstärkt Drogenrazzien durch,vertreibt die Bewohner. Im Namen der Sicherheit. Doch seit sich das Land in einer Staats- und Wirtschaftskrise befindet, scheint selbst diese Sicherheit auf dem Spiel zu stehen. "Es gibt eine große Besorgnis, dass jetzt die Sicherheitsmaßnahmen gekürzt werden müssen", erzählte Glenny dem Radiosender Bayern 2. Eine schwankende Atmosphäre herrsche in der Stadt, "als würde etwas zusammenbrechen in nächster Zeit. Es wächst die Furcht, dass da was während der Spiele passieren wird – was Schlimmes." +Und der Don? Fünf Jahre Herrschaft in Rocinha haben Nem "amtsmüde" gemacht. Bis heute ist nicht sicher, ob er sich freiwillig an die Justiz auslieferte, da er zuletzt verstärkt um sein Leben fürchtete, oder ob er gegen seinen Willen geschnappt wurde. Jedenfalls sitzt er jetzt im Gefängnis und geht hart auf die 40 zu. Glenny schreibt: "Ganz offensichtlich hat er Geld beiseitegeschafft, denn er versorgt alle sieben Nachkommen." +Misha Glenny: "Der König der Favelas. Brasilien zwischen Koks, Killern und Korruption". Tropen, 2016, 424 Seiten, 22,95 Euro diff --git a/fluter/der-konsument-ist-ja-nicht-bloed.txt b/fluter/der-konsument-ist-ja-nicht-bloed.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6ec66ae3092f64166be225032cfc713ccefdf92b --- /dev/null +++ b/fluter/der-konsument-ist-ja-nicht-bloed.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Wenn Sie ein neues Produkt auf den Tisch bekommen, das der Auftraggeber in einem möglichst guten Licht darstellen will – wie gehen Sie an die Aufgabe ran? +Der erste Schritt bei meiner Arbeit ist, mich über das Produkt objektiv zu informieren. +Das tun Sie wirklich? +Ja, klar. Das Unternehmen kommt zu mir mit einem Briefing, wo meinetwegen steht: "Das Produkt kann Heu in Gold verwandeln." Das höre ich mir alles an, gehe nach Hause, packe das Briefing zur Seite und verschaffe mir einen Überblick. Ich recherchiere im Internet, spreche mit Freunden, um die Sicht des Konsumenten einnehmen zu können. +Würden Sie Werbebotschaften verbreiten, die nicht wahr sind? +Das bringt nichts. Denn das bedeutet: Ich lüge. So etwas geht immer nach hinten los. Sobald man eine Grenze der Unglaubwürdigkeit überschreitet, weiß man, dass der Konsument das einem nicht abnehmen wird. Der ist ja nicht blöd. Werbung ist als solche erkennbar und wird nicht wörtlich genommen. +Aber die Übergänge zwischen Ironie, sympathischer Verklärung und der dreisten Lüge sind in der Werbung ja oft fließend. Da ist der Energydrink, der Flügel verleihen soll, oder das Bier, das ohne Alkohol genauso schmecken soll  wie eines mit Alkohol. Wie kommen solche Behauptungen zustande? +Ganz praktisch gesehen besteht meine Arbeit niemals darin, mir irgendwelche Unwahrheiten auszudenken. Es ist genau andersherum, und nehmen wir mal das Beispiel mit dem alkoholfreien Bier. Mein Bier hat x Eigenschaften: Farbe, Geschmack und so weiter. Ich suche aber nach genau der Eigenschaft, die es einzigartig macht, das Alleinstellungsmerkmal, zum Beispiel: "Das einzige alkoholfreie Bier, das in Tests bei den Verbrauchern nicht als alkoholfreies Bier erkannt wurde, weil es so echt schmeckt." Bingo. Das ist ein toller Vorteil. Nun fange ich an, mir zu überlegen, wie ich das den Konsumenten auf verführerische Art sagen und zeigen kann. So entsteht dann ein Satz wie "Alles, was ein Bier braucht". Dieser Satz ist in der Folge Ausgangsbasis für die Entwicklung einer ganzen Werbekampagne: Kernige, echte Typen, von denen man eigentlich nicht gedacht hätte, dass sie alkoholfreies Bier trinken, genießen in kumpelhafter Runde das Bier, denn es hat alles, was ein Bier braucht. +Gibt es Tricks, mit denen man kleine oder große Unwahrheiten in legitime Behauptungen verwandeln kann? +Das wäre ein falsches Verständnis des Berufs. Sicherlich werden beispielsweise negative Aspekte weggelassen. Aber jeder weiß, dass man auf der Autobahn sterben kann. Trotzdem fahren die Menschen mit dem Auto. +Ein Amsterdamer Billighotel gibt offen zu, dass es laut und dreckig ist – und wirbt damit. Oder ist das auch wieder nur ein lustiges Spiel mit der Wahrheit? +Trotzdem scheinen die Verbraucher der Werbung einige Hirngespinste nur zu gerne abzukaufen. Man denke nur an die angebliche "Piemont-Kirsche", die ein Schokoladenhersteller sich ausgedacht hat. Ist das Publikum manchmal nicht doch zu leichtgläubig? +Ich finde das Werbepublikum enorm kritisch und aufgeklärt. Gerade in Deutschland schauen die Leute genau hin, um festzustellen, was da im jeweiligen Fall die Aussage ist und ob es korrekt ist, das zu zeigen und zu formulieren. Und ich als Werberin würde mir wünschen, dass es etwas lockerer wäre. Vielfach wird bemängelt, dass Werbung langweilig ist, ersetzbar und blutleer. Auf der anderen Seite kritisiert die Öffentlichkeit alles, was ein wenig über die Stränge schlägt. Klar ist Werbung auch eine Informationsquelle, aber ich würde mir wünschen, dass man sie stärker als Unterhaltung begreift. +Die Organisation Foodwatch verleiht jedes Jahr den"Goldenen Windbeutel"an Lebensmittelhersteller. Zuletzt gab es den Negativpreis für Babynahrung, die als gesund beworben wird, aber aus Sicht der Organisation genau das Gegenteil ist. Und wie im Journalismus gibt es mit dem Deutschen Werberat eine Stelle, bei der man sich über nicht korrekte Werbung beschweren kann. +Ja, da gibt es auch Abmahnungen, allerdings nur in den gröbsten Fällen. Größtenteils regulieren sich die Agenturen selbst anhand des gesunden Menschenverstands. Unternehmen sind außerdem auch vorsichtiger geworden und konservativer. Sie versuchen immer mehr, die Werbung zu kontrollieren – ob sie funktioniert und welche Reaktion sie hervorruft. +Was ist aus Ihrer Sicht gelungene Werbung? +Im Idealfall erzählt Werbung eine Story, die mich mit auf eine Reise nimmt. Wie bei der Reklame für die Baumarkt-Kette Hornbach: Der Hobby-Heimwerker wird zum Helden, und jeder, der einigermaßen einen Hammer in der Hand halten kann, kann mit den Figuren auf dem Schirm mitfiebern. +Warum glauben wir so gerne an solche Heldenstorys? +Es gibt in unserer Gesellschaft nicht mehr so viel, woran man festhalten kann. Es gibt keine Religion mehr, die uns Regeln vorgibt, und niemanden, der uns sagt, was erstrebenswert ist und was nicht. Diese Rolle hat die Marktwirtschaft übernommen. Werbung ist das Sprachrohr und verkauft uns diesen neuen Glauben. Produkte sind Mittel, sich zu differenzieren. Werbung ist der Vollstrecker dieses Systems. +Mir würden noch andere Möglichkeiten einfallen, mich von anderen Menschen zu unterscheiden. +Das sehen Sie und ich so. Aber gerade Teenager identifizieren sich sehr stark darüber. Du bist, was du anhast, wie die Fotos von dir aussehen, wie deine Facebook-Seite aussieht. Das ist deine Leinwand. Wir leben in einem Mythos von grenzenloser Individualität. Das ist, was ich im Alltag beobachte, und es ist etwas, das ganz klar auf die Werbung abfärbt: Hier ist dein individueller Telefontarif, dort kannst du dir deinen Turnschuh ganz individuell zusammenstellen, um dich ganz einzigartig zu fühlen. +Ist das nicht moralisch etwas fragwürdig, diese Schwächen und Eitelkeiten der Menschen auszunutzen? +Was heißt Schwäche? Es ist der Zeitgeist. Da muss die Werbung drauf reagieren, sonst würde sie mit den Menschen nicht kommunizieren können. Zwischen der Werbung und den Menschen findet eine Interaktion statt, beide Seiten befruchten sich gegenseitig. +Heike Frank ist selbständige Werbetexterin in Düsseldorf und arbeitet seit mehr als zehn Jahren in der Branche. Die 38-Jährige ist außerdem Dozentin für Text und Konzeption an der Fachhochschule Düsseldorf und Mitglied im Art Directors Club für Deutschland.www.heikefrank.com +Fotos: Heinrich Holtgreve, KesselsKramer, privatAndreas Pankratz ist freier Journalist und arbeitet in Köln. Bevor er vor einigen Jahren seine journalistische Laufbahn begonnen hat, versuchte er sich in einem Praktikum bei einer großen Werbeagentur als Texter. Recht schnell wurde ihm damals klar: Das Wahre ist das für ihn sicher nicht. diff --git a/fluter/der-kuenstliche-baum.txt b/fluter/der-kuenstliche-baum.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..104fc44352e0cbaa860768443c7c6fb42befc5ee --- /dev/null +++ b/fluter/der-kuenstliche-baum.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Der deutsche Physiker Klaus Lackner, Professor an der New Yorker Columbia University, hat einen künstlichen Baum entwickelt, der das CO2 aus der Luft filtern soll – eben wie ein richtiger Baum, nur viel mehr davon. Lackner träumt von ganzen Wäldern aus Stahl und Glas, die ähnlich wie Windparks in der Landschaft stehen. Zur Produktion seiner Bäume hat Lackner mit drei Partnern auch eine eigene Firma gegründet. Seit 2007 gibt es einen Prototypen – nur die rund 20 Millionen Risiko-Kapital für den Aufbau einer Produktion müssen noch eingeworben werden. +Wie viel CO2 kostet das? +Während Frankreich mit dem Plan einer EU-weiten CO2-Steuer gerade gescheitert ist, wurden dort bereits im Jahr 2008 einige Privatinitiativen ins Leben gerufen, um den wahren Preis der Produkte zu kennzeichnen. So hat die Supermarktkette Leclerc damit begonnen, neben das Preisschild ein Etikett für den Carbon-Foot-Print zu kleben. Angegeben wird das Kilogramm CO2-Äqivalent, das zur Herstellung eines Kilogramms des Produkts freigesetzt wird. Auf diese Weise sollen die Verkäufer auch den Preis erkennen, den die Umwelt für unseren Konsum zahlt. +Wie Schokoriegel die Erde erwärmen +Dass der Verzehr von Rindfleisch extrem viel CO2 produziert, wissen wir nun. Aber hier kommt schon der nächste Appetitverderber: Auch der leckere Schokoriegel in der Pause kann ein Klimakiller sein. Und das kommt so: Die Brandrodung von Wäldern, um Anbauflächen für Futtersoja oder Ölpalm zu schaffen, ist eine der Hauptursachen des durch den Menschen verursachten Klimawandels. In Indonesien werden bei der Zerstörung von Urwaldgebieten, aus denen zudem Orang-Utans vertrieben werden, jährlich 1,8 Milliarden Tonnen klimaschädliche Gase freigesetzt. Das sind vier Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen. Zu den Abnehmern des Palmöls gehören u. a. Lebensmittelkonzerne, die es auch für ihre Schokoriegel verwenden. Als Reaktion auf die Kritik kündigte Nestlé an, beim Einkauf von Palmöl in Zukunft auf strenge Sozial- und Umweltstandards zu achten. Greenpeace begrüsste den angekündigten Aktionsplan von Nestlé als "streng und weitgehend". +19.000 Kilometer reist deine Jeans zu dir +Die Jeans, die wir tragen, ist ein gutes Beispiel dafür, welche Wege manche Produkte zurücklegen, bevor sie im Laden landen. Eine typische Produktion verläuft so: Zunächst wird die Baumwolle angebaut, oft in Indien und oft unter Einsatz von gesundheitsschädlichen Pflanzenschutzmitteln (und 40.000 Litern Süsswasser pro Hose). Nach der Ernte wird die Baumwolle nach China gebracht, wo sie zu Fäden gesponnen wird. Weiter geht's nach Taiwan, wo die Fäden gefärbt werden, die man anschließend in Polen zu Stoffen verarbeitet. Nun geht's zurück nach Asien, wo die Stoffe auf den Philippinen, in Vietnam oder Bangladesch zusammengenäht werden. Am Schluss wird die Jeans, je nach Geschmack, noch in Griechenland oder der Türkei mit Bimsstein oder Sandstrahlern bearbeitet, damit sie schön getragen aussieht. Dann erst landet sie in Deutschland, wo sie verkauft und getragen wird. Das Etikett, auf dem dann eigentlich "Made in Indien, China, Taiwan, Polen, Vietnam und Türkei" stehen müsste, kommt übrigens oft aus Frankreich. + diff --git a/fluter/der-laden-der-niemals-schlaeft.txt b/fluter/der-laden-der-niemals-schlaeft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/der-lange-marsch.txt b/fluter/der-lange-marsch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..157b94be0bfcd7b4fa3234f5120c87c35c102a88 --- /dev/null +++ b/fluter/der-lange-marsch.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Mehr als 6.500 Dorfbewohner gaben am 3. März 2012 ihre Stimme ab, in provisorisch zusammengezimmerten Wahlkabinen aus Pressholzplatten, bunte Sonnenschirme spendeten Schatten. Die Gemeinde wählte einen 67-Jährigen an die Spitze. Ruichao und zwei seiner Kampfkumpane, auch noch in den Zwanzigern, bekamen einen Platz im Komitee. +Bis zum 21. September 2011 war Wukan ein Dorf wie jedes andere in China. Die Regierenden wurden von der Kommunistischen Partei bestimmt, sie waren niemandem Rechenschaft schuldig außer ihren Vorsitzenden in der Partei. Und sie nutzten ihre Ämter, um reich zu werden. +Mehr als 40 Jahre lang gehörten dieselben Leute dem Dorfkomitee an. In dieser Zeit bauten sie für sich und ihre Familien mehrstöckige Villen, sie kauften sich stets die neuesten Luxuslimousinen. Das Geld dafür kam auch aus geheimen Verkäufen von Grundstücken der Gemeinde an Investoren. Land, das der Dorfbevölkerung eigentlich als Ackerfläche dienen sollte. +Während die Parteikader gut lebten, ging es der Bevölkerung schlecht. Ruichao schickte damals jeden Monat Geld nach Hause, damit seine Eltern über die Runden kamen. Wie viele andere Jugendliche war er mit 17 von zu Hause ausgezogen, um in der 200 Kilometer entfernten Wirtschaftsmetropole Shenzhen zu jobben: Er verkaufte Socken, Handys und Waschmittel, im Monat verdiente er bis zu 10.000 Yuan, etwa 1.200 Euro, ziemlich viel für einen einfachen Fischersohn. +Ruichao und zwei Schulfreunde, die ebenfalls in der Ferne jobbten, diskutierten häufig darüber, was falsch lief in ihrem Heimatdorf. Damals umging Ruichao zum ersten Mal die chinesische Internetzensur und las Nachrichten aus Hongkong über Wahlen in anderen Ländern. Die drei Idealisten gründeten die "Gruppe der heißblütigen Jugend von Wukan". Zwei Jahre lang schrieben sie Petitionen, sie demonstrierten vor Gebäuden der Provinzregierung, ein kleines Häuflein ärgerlicher junger Männer mit selbst gebastelten Bannern. Sie forderten die Rückgabe des gestohlenen Landes, den Rücktritt der korrupten Kader und freie Wahlen. +Damals interessierte sich kaum einer für die Hitzköpfe, bis sich schließlich die Älteren in Wukan den jungen Aktivisten anschlossen. Am 21. September 2011 organisierten die Einwohner ein Sit-in vor der Polizeistation im Dorf. In den Tagen danach kamen viele junge Wanderarbeiter wie Ruichao zurück in die Heimat, um den Protest zu unterstützen. Tagelang prügelten Polizisten mit Schlagstöcken auf die Protestierenden ein, die sich mit Bambusstöcken und Eisenstäben wehrten, es kam zu Festnahmen. Als einer der Demonstranten in seiner Zelle starb, eskalierte die Situation: Mit vereinten Kräften jagten die Bürger sämtliche Beamte und Kader aus dem Dorf. Sie blockierten alle Straßen, stellten sich der anrückenden Armee entgegen. +Und dann passierte das, womit keiner gerechnet hatte: Die Soldaten zogen ab. Der Parteichef der Provinz Guangdong, ein relativ liberaler Kader namens Wang Yang, wollte sich als friedlicher Problemlöser profilieren – aus Angst, dass sich die Proteste wie ein Flächenbrand über sein Territorium ausweiten. Er probierte etwas Neues: Wukan durfte sein Dorfkomitee selbst wählen. +In den ersten Wochen nach der Wahl schwelgt ganz Wukan in Euphorie. Intellektuelle aus Peking und Menschenrechtsaktivisten aus Hongkong reisen an, um zu gratulieren. Politikwissenschaftler kommen, um Chinas Asterix-Dorf zu studieren. "Die Graswurzelbewegung von Wukan – ein Modell für China?", titeln die Medien. In einem halben Dutzend Dörfern der Region gehen die Menschen nun ebenfalls auf die Barrikaden. Das demokratische Dorfkomitee macht sich im Frühjahr 2012 schnell an die Arbeit: Wasserleitungen werden verlegt, eine Hafenmole wird gebaut, Weidenbäume gepflanzt. Fischer, die in den Regenmonaten nicht aufs Meer können, dürfen Arbeitslosengeld beantragen. Alle Ein- und Ausgaben der Kommune hängen monatlich am Schwarzen Brett aus. +Die demokratisch gewählte Dorfregierung, darunter Ruichao und einige seiner Kampfgenossen, steht vor einem Berg von Aufgaben, viele davon unerwartet. Die Zahl der Einbrüche steigt, da die neuen Polizisten noch eingearbeitet werden müssen. Enteignete Bauern entladen ihren jahrzehntelang angestauten Frust und attackieren die machtlosen Ex-Kader. Um alles Mögliche sollen sich die neuen Volksvertreter kümmern: Der eine hat Streit mit seinem Nachbarn, der andere braucht einen neuen Job, der Dritte hat Schulden. Ruichao ist im Komitee für die Wirtschaft zuständig, er versucht, Unternehmer nach Wukan zu locken. Aber kaum einer will herkommen. Die Firmen fürchten sich vor "politischer Instabilität". +Im Dorfkomitee wird täglich demokratische Entscheidungsfindung geübt. Anfangs reden alle durcheinander. Mürbe von ständigen Reibereien redet irgendwann nur noch der Komiteevorsitzende Lin, der zumindest aufgrund seiner vielen Lebensjahre Autorität besitzt und die Stellung eines Bürgermeisters hat. Das wichtigste Projekt, das gestohlene Land zurückzuholen, geht nur mühsam voran. Die neuen Besitzer, frühere Parteibonzen und reiche Geschäftsleute, berufen sich auf gültige Kaufverträge. Ruichao rennt jeden Tag gegen Mauern. "Es ist so, als würde der Dieb, der ein Handy geklaut hat, zu dem Bestohlenen sagen: Guck, ich habe den Diebstahl auf Papier legalisieren lassen. Deswegen bin ich nun der rechtmäßige Besitzer." +Das Dorfkomitee geht vor Gericht. Doch im Gericht sitzen die Freunde der parteigelenkten Kreisregierung. Von den Hunderten Hektar Land kann Wukan nur einen kleinen Bruchteil zurückgewinnen. Wieder sammelt sich eine Menschenmenge. "Und, hat das Komitee das getan, wozu wir es gewählt haben? Haben wir unser Land wieder?", klagt eine ältere Frau. "Nichts haben sie getan!", sagt ein Mann. Es wird über die neuen Komiteemitglieder gesprochen wie über die alten: "Die reden nicht mehr mit uns!" "Immer nur Ausreden und Lügen!" "Gebt uns das Land zurück! Sonst werden wir nicht mehr freundlich sein!" Die Leute stürmen das Büro des stellvertretenden Vorsitzenden. Dort sitzt Ruichao auf dem Sofa und setzt Tee auf. "Seid ihr noch auf der Seite der Dorfbewohner?", fragt ein wütender Gast. Ruichao antwortet: "Es ist komplizierter, als ihr denkt." +Zhang Jianxing, 23, war der jüngste unter den Revolutionären. Als die Bewohner ihr Dorf verriegelten, filmte er und dokumentierte den Aufstand. Seit das gewählte Komitee an der Macht ist, macht er die Öffentlichkeitsarbeit der Dorfregierung. Eigentlich fühlt er sich aber als Journalist und weiter der Stimme des Volkes verpflichtet. Er schreibt auf Weibo, dem chinesischen Twitter, über die Unzufriedenheit und die ersten Risse. Er versucht, unparteiisch zu sein. Der Komiteevorsitzende ist außer sich. "Willst du uns schaden?!", schreit er. Einige Bewohner befestigen ein Banner aus weißem Stoff, der in China bei Beerdigungen verwendet wird, am Rathaustor. Darauf steht: "Das neue Komitee ist nutzlos und soll sich verpissen." Im Oktober 2012, sieben Monate nach den Wahlen, tritt das erste Komiteemitglied zurück. +Ruichao ist Wirtschaftsbeauftragter, Komiteevertreter, Sachbearbeiter, Mediator und Psychotherapeut in einer Person. Die Leute fangen aus Frust über den Landmangel an, nachts illegal zu bauen, Ruichao bleibt nichts anderes übrig, als die Häuser wieder abreißen zu lassen. Zu Hause installiert er eine Sicherheitskamera vor der Tür. Ihm kommen Zweifel: Die Menschen wollen keine Demokratie, denkt er, sie wollen nur ihr Land. +Die Mitglieder der Dorfregierung geraten immer mehr unter Druck, gleichzeitig können sie kaum überleben: Der Vorsitzende Lin hatte in den ersten Amtstagen beschlossen, das Gehalt der Komiteemitglieder, umgerechnet 190 Euro im Monat, nicht anzuheben. Die früheren Kader kamen mit dem mickrigen Betrag aus, sie hatten ja ihre illegalen Nebeneinkünfte. Doch die Neuen haben sich geschworen, sauber zu bleiben. "Ich verdiene ein Fünftel dessen, was ich früher im Monat zur Verfügung hatte", sagt Ruichao resigniert. "Trotzdem muss ich mir anhören, ein korruptes Arschloch wie mein Vorgänger zu sein." +Es ist nicht nur die Ungeduld der Bürger, die das demokratische Experiment fast zum Scheitern bringt. Es ist auch die Partei, die nie aufgehört hat, die Ereignisse in Wukan zu beobachten und zu beeinflussen. Dem Journalisten Jianxing, der die Welt über soziale Medien aus Wukan informiert, hat man inzwischen seinen Pass abgenommen. Er darf China nicht mehr verlassen. Beamte der Staatssicherheit, der höchsten Überwachungsbehörde für politische Delinquenten, haben ihn mehrmals zum "Teetrinken" aufgesucht. "Teetrinken" ist der chinesische Ausdruck für ein Verhör. Inzwischen hat Jianxing einen Laden eröffnet, er verkauft Überwachungskameras. Eine Marktlücke – jetzt, da sich die Leute im Dorf gegenseitig nicht mehr trauen. +Zwei Fußminuten entfernt sitzt Ruichao im Rathaus und betrachtet sein eingeschlagenes Bürofenster. Er denkt über die nächsten Wahlen nach, im März 2014 stehen sie an. Kürzlich war er mit einem Parteikader essen, den die Kreisregierung als "Komiteeberater" geschickt hatte. Der gab ihm bei Austern und Hummer zu verstehen, dass die Bürger ihr Land nicht mehr zurückbekommen werden – und dass man auch anders könne, wenn nicht bald Ruhe einkehre. Ruichao hörte zu und sagte kein Wort. "Ich fühle mich wie das Fleisch in der Mitte eines Hamburgers", sagt er. "Eingeklemmt von oben und von unten." +Zweimal hat er bereits an seiner Rücktrittserklärung gearbeitet, zweimal hat er das Dokument wieder von seinem Computer gelöscht. In den letzten Tagen hat er ein neues Schreiben aufgesetzt. Einige Projekte will er noch zu Ende bringen. Die Hafenmole, den Park. Die Wahlen im nächsten Jahr? Wer weiß, ob noch Leute zur Wahl gehen werden. Wer weiß, ob die Wahlen überhaupt stattfinden. Nur eines weiß Ruichao sicher: Er wird sich nicht mehr als Kandidat aufstellen lassen. Am Tag nach unserem Interview nimmt der stellvertretende Komiteevorsitzende von Wukan Urlaub und fährt mit dem Bus nach Shenzhen. In der Fabrikmetropole will Ruichao alte Bekannte treffen. Nur für den Fall, dass er wieder ins Handygeschäft einsteigt. diff --git a/fluter/der-lange-schatten.txt b/fluter/der-lange-schatten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9a059730ffdbb111e795d1cbdc751f63afc3338f --- /dev/null +++ b/fluter/der-lange-schatten.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Am Nachmittag des 23.4.1945 wird eine Gruppe von 131 Arbeitern von Soldaten aus dem Lager geführt. Sie gehen in den Wald. Einige von ihnen müssen Kisten mit Munition schleppen. An einer Sandgrube sollen sie haltmachen. Dort werden sie von den Soldaten erschossen. Mit der Munition, die sie selbst dorthin getragen, ja womöglich selbst in der Fabrik hergestellt haben. +Es kommt einem Wunder gleich, dass vier Italiener dieses Massaker überlebten. Gut möglich, dass man ohne sie gar nicht wüsste, dass dieses Kriegsverbrechen stattgefunden hat. Bis heute ist unklar, wer genau dafür verantwortlich ist. +In den letzten Kriegstagen kam es in Treuenbrietzen zu Massakern. 127 italienische Zwangsarbeiter wurden erschossen. Vier überlebten +Die innovativ aufgemachte Webdoku "Im märkischen Sand",die man frei im Netz anschauen kann, rekonstruiert nun die Ereignisse und schildert das schwere Erbe von Treuenbrietzen. Die 16 Episoden erzählen etwa von Antonio Ceseri, dem letzten Überlebenden von Treuenbrietzen, von einer Gruppe Schüler, die ihn zum Ehrenbürger ihrer märkischen Heimatstadt machen will, von Anwälten in Deutschland und Italien, die für eine Entschädigung der Zwangsarbeiter kämpfen. Das Beste an der gelungenen Webdoku: Sie zeigt mit ihren vielen kleinen narrativen Mosaiksteinchen exemplarisch, wie komplex Erinnerungskultur und Geschichtspolitik ist. +Noch heute bewegen die Ereignisse von damals die Gemüter. Da gibt es Schuldabwehr und Verdrängung, Täter-Opfer-Konflikte und lokale wie transnationale Kontroversen, an denen sich noch die zweite und dritte Generation abarbeitet. +Bis 1943 kämpfte Italien unter Mussolini mit den Deutschen. Als Italien aus dem Krieg austrat, mussten die Soldaten, die nicht mehr an der Seite der Nazis standen, in Deutschland und den besetzten Gebieten Sklavenarbeit verrichten +Eindringlich sind die Passagen, die von dem Massaker selbst erzählen. Statt auf historisches Filmmaterial zu setzen, sind diese Kapitel wie in einer Graphic Novel illustriert. Eine gute Entscheidung der Macher. Die Bilder von Cosimo Miorelli bauen sich langsam auf, als würde man live beim Zeichnen zusehen. Auch die anderen, einzeln anklickbaren Kapitel heben sich wohltuend ab von dem immer gleichen Erzählstil historischer Fernsehdokumentationen, wo die Bildebene meist von "Talking Heads" dominiert wird: Zeitzeugen und Experten im Wechsel, oft vor schwarzem Hintergrund, dazwischen grobkörnig-graue Originalaufnahmen mit dramatischer Musik. Anders als dieser Guido-Knopp-Stil verortet "Im Märkischen Sand" seine Protagonisten meist in ihrem Alltag. Dabei entstehen bei aller Kürze prägnante Porträts. +Im Grunde wird die Geschichte "von unten" erzählt. Hier geben keine Historiker die Deutung vor. Vielmehr stehen Opfer, Zeitzeugen, Angehörige und Aktivisten im Vordergrund, die berichten, wie sie mit dem schweren Erbe leben. Dass man sich in Treuenbrietzen überhaupt an dieses dunkle Kapitel erinnert und jedes Jahr am letzten Sonntag im April ein Gedenktag stattfindet, zu dem auch Antonio Ceseri immer anreist, ist der Initiative zweier Lehrer aus Berlin zu verdanken. Gianfranco Ceccanei und Bodo Förster fanden eher zufällig eine Liste der Opfer und recherchierten, was aus den Überlebenden wurde. +Entschädigungen haben die Überlebenden unter den Zwangsarbeitern bis heute nicht erhalten +Die Stärken des Formats hätte die Webdoku durchaus noch mehr nutzen können. An einigen Stellen kann man weiterführendes Material anklicken, etwa Zeitungsberichte, Fotostrecken, Interviews oder Urkunden, manchmal bleibt jedoch Bedarf an Vertiefungen. Etwa wenn es um unterschiedliche Geschichtsbilder geht. Der Leiter des Heimatvereins will auch die deutschen Soldaten und Zivilisten als Opfer gewürdigt wissen, die in den letzten Kriegstagen von der Roten Armee getötet wurden. Auf der anderen Seite steht der ehemalige Geschichtslehrer, der als Kind die Erschießung von Zwangsarbeitern gesehen hat, die ihn bis heute nicht mehr loslässt. Seine Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus ist den Eigentümern des Grundstücks wiederum ein Dorn im Auge. +Derartige Kontroversen durchziehen die deutsche Geschichte. Man denke nur an die Debatten rund um die Wehrmachtsausstellung in den 1990er-Jahren, die mit dem Mythos der aufrechten Wehrmacht aufräumte. Und sie sind offensichtlich noch längst nicht vorbei. +Die Webdoku "Im märkischen Sand"wurde produziert von Katalin Ambrus, Nina Mair und Matthias Neumann. Gefördert wurde das Projekt unter anderem vom Auswärtigen Amt, der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft und der Landeszentrale für politische Bildung Brandenburg +Filmstills:autofocus videowerkstatt diff --git a/fluter/der-lobbyismus-der-pharma-industrie.txt b/fluter/der-lobbyismus-der-pharma-industrie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a8b46d3a40b7c126e9b10bc73f31e072c822a5b4 --- /dev/null +++ b/fluter/der-lobbyismus-der-pharma-industrie.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Tjada hat Zitronentarte mitgebracht. Nach einem Besuch bei Tumor­patienten musste sie backen, um runterzukommen, erzählt die 21-jährige Medizinstudentin. Sie sagt das in einem kleinen Gruppenraum an der Berliner Charité. Mit gut einem Dutzend weiteren Studierenden ge­hört Tjada zur Lokalgruppe von Universities Allied for Essential Medicines (UAEM). Diese welt­weite studentische Initiative setzt sich für einen gerechten Zugang zu Medikamenten und für mehr For­schung zu seltenen Krank­heiten ein. +Hier in Berlin fordern die Studierenden vor allem Transparenz: Die Pharmaunternehmen sollen offen dar­legen, wie die Preise ihrer Medikamente zustande kommen und wie sie Einfluss auf die Politik nehmen. "Das Gesund­heits­wesen ist primär marktwirtschaftlich organi­siert. Da es um Leben und Tod geht, wird alles geschluckt", sagt Tjada. Sie trägt ein bedrucktes Shirt mit einer Pille und der Aufschrift "We have a drug problem". +Doch nicht nur gewinnorientierte Forschung ist ein kontroverses Thema. Wie in anderen Politikfeldern auch versuchen in der Gesund­heits­politik viele Interessenverbände Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen, etwa Ärzteverbände und Krankenkassenverbände – und eben die als sehr mächtig geltende Pharmalobby. +Nicht nur die UAEM-Lokalgruppe an der Charité fordert wegen dieser organisierten Ein­fluss­­nahme mehr Trans­parenz und dass offengelegt wird, wie Universitäten und Kliniken bei Medikamentenstudien mit Pharmaunternehmen kooperieren. Ärzten wird unterstellt, dass sie von Pharmaunternehmen beeinflusst werden und in Interessenkonflikte geraten. Kritisiert wird auch, dass manche Politiker pharmafinanzierte Nebeneinkünfte beziehen. +Das ist nicht gemeint, wenn Pharmakritiker bei neuen Wirkstoffen von "Scheininnovationen" sprechen +Zielscheibe der Kritik ist der VFA, der Verband Forschender Arzneimittel­her­steller, der die Interessen von 42 Pharmaunternehmen vertritt. Allerdings ist der Einfluss des VFA in den letzten Jahren etwas zurückgegangen. Als das so­ge­nannte Arznei­mittelmarktneuordungsgesetz (AMNOG) beschlossen wurde, konnte der VFA nicht ver­hindern, dass fortan der Zusatznutzen von Medikamenten den Verkaufs­preis für patent­geschützte Arzneimittel bestimmen sollte. +Mit anderen Worten: Nur was nachweislich mehr heilt, darf auch mehr kosten. Da diese Regelung potenziell die Einnahmen von Pharmaunternehmen mindert, wurde das Gesetz vom Verband als schwere Nieder­lage gewertet. Das war 2011. Auf die Frage, wie der VFA mittlerweile zu diesem einstmals kontrovers diskutierten Gesetz steht, formuliert Siegfried Throm, Ge­schäftsführer Forschung des VFA, hörbar vorsichtig: "Natürlich gibt es dazu unter­schied­liche Meinungen. Aber das Gesetz wurde von uns akzep­tiert." Mehr wolle er zu diesem Thema nicht sagen. Und wie sieht es mit den klinischen Studien aus, die immer wieder als zu intransparent kritisiert werden? Die werden, so Throm, seit bereits 15 Jahren veröffentlicht, und damit sei dem Transparenzgebot Genüge getan. +Das schätzt der 25-jährige Max, der im Vorstand von UAEM sitzt und im elften Semester Medizin studiert, ganz anders ein: "Klinische Studien werden selten bis gar nicht ver­öffentlicht, wenn sie negativ ausfallen." Das stört ihn. Die Uni sei ja eine öffentliche Forschungseinrichtung, daher sollten auch alle Studien öffentlich ge­macht werden, egal wie sie ausfallen. Andernfalls könne es passieren, dass Studien wiederholt und Forschungsgelder verschwendet werden. + +Die Studierenden von Universities Allied for Essential Medicines (UAEM) finden: "We have a drug problem". Im marktwirtschaftlich organisierten Gesund­heits­wesen werde alles geschluckt, da es um Leben und Tod geht + +Zwar gibt es in der EU seit dem 1. Januar 2015 eine Veröffentlichungspflicht aller Studien, egal wie sie ausfallen, doch nach Max' Auffassung hakt es noch bei der Umsetzung. "Man sieht bereits bei Studien, die registriert werden, dass es oft keine Veröffentlichung oder Publikation gibt. Und man sieht auch bei Studien, die publiziert werden, dass eine Registrierung oft erst nachträglich nach Beginn der Studie und nach Einreichung eines wissenschaftlichen Papers erfolgt." +An der Charité werden jedes Jahr mehr als 800 klinische Studien durchgeführt. Die über­wiegende Zahl dieser Studien wird von hauseigenen Wissen­schaft­lern verantwortet, wofür Drittmittel bei öffent­lichen För­de­rern, Stiftungen und Industriepartnern eingeworben werden. Patentfähige Erkenntnisse aus klinischen Studien gibt es selten. Dennoch kostet manche Studie laut VFA-Geschäftsführer Throm über 100 Millionen Euro, einfache Studien ab 50.000 Euro. +For­schende Pharmaunternehmen sind verpflichtet, solche Studien regis­trieren zu lassen und die Ergebnisse zu veröffentlichen – allerdings in einer zusammengefassten Ver­sion. Die Rohdaten werden lediglich auf Antrag weitergegeben. Auch haben Studien mit positiven und signifikanten Ergeb­nissen eine größere Chance, in einer Fachzeitschrift veröffentlicht zu werden, als Studien mit negativen Resul­taten. +Doch selbst positive Studien sind kein Garant für echte Innovationen. Denn nicht alle Medikamente, die neu sind, sind tatsächlich besser. Dann spricht man auch von Scheininnovationen, also Arzneimitteln, die gegenüber bereits erhältlichen Medikamenten keinen Zusatznutzen bringen, aber deutlich mehr kosten. Kritiker wie die Studenten von UAEM bemängeln, es werde zu wenig nachverfolgt, wohin öffentliche Forschungsförderung in der Medikamentenentwicklung genau fließt. +Ihrem Selbstverständnis nach sind die forschenden Arzneimittelhersteller allerdings Vorreiter in Sachen Transparenz. Der sogenannte Transparenzkodex des VFA soll offenlegen, welche Pharma­konzerne welchen Ärzten beispielsweise für Vorträge Geld zahlen. "Trans­parenz ist für uns ein Mantra", sagt Throm. Ein Arzt wird nur namentlich erwähnt, wenn er dem auch zustimmt. Hinzu ­kommt, dass die Pharma­unternehmen nur dazu angehalten, nicht aber verpflichtet sind, mitzumachen. Es gibt also Mittel und Wege, die Transparenz zu verhindern. +Normaler Einfluss einer starken Branche, sagen die einen – nicht so das gelbe vom Ei, die anderen +Als besonders anfällig für mangelnde Transparenz gilt laut vielen Kritikern das Verhältnis von Pharmafirmen und Politik. In der Gesundheitspolitik, wo es starke wirtschaftliche Interessen gibt, wittern sie Interessenkonflikte – etwa wenn Politiker in Aufsichtsräten von Pharmafirmen sitzen und die Unternehmen sich dadurch einen leichteren Zugang zu den politischen Entscheidern erhoffen. Der Verein LobbyControl fordert deshalb striktere Regeln für Nebeneinkünfte von Ab­ge­­ordne­ten und will mehr Offenlegungs­pflichten für Lobbyisten durchsetzen. Auch berufliche Wechsel von der Politik in die Wirtschaft werden kritisch beäugt, auch wenn sie bereits gesetzlichen Restriktionen unterliegen. +Mit Interessenkonflikten kennt sich auch Thomas Mayer aus. Bis 2013 war er Facharzt für Anästhesie auf einer Intensivstation. Heute ist er Mitarbeiter des GKV-Spitzenverbandes, der bundes­weite Verband deutscher Krankenkassen, und ehrenamtlich im Vorstand von MEZIS tätig. Hinter diesem Akronym verbirgt sich die Ärzte-Initiative "Mein Essen zahl ich selbst", die sich zum Ziel gesetzt hat, den Einfluss der pharmazeutischen Industrie auf ihre Zunft trans­parenter zu machen und vor allem zu reduzieren. +"Sehr viele Fortbildungen sind von der Industrie gekapert. Das hat zur Folge, dass die Vor­trags­­inhalte häufig interessengeleitet sind", erklärt Mayer. Er selbst hat 2015 am Jahreskongress der Internisten in Mannheim teilge­nommen. Dort liefen Frauen herum, die verkleidet als Asthmainhalatoren Werbung für ein Asthmaspray machten und kostenlose Lunch­pakete mit Logo verteilten. Für solche Fälle hat MEZIS online einen sogenannten CME-Melder einge­richtet, damit kritische Ärzte zertifizierte Fort­bildungen, wo so etwas vorkommt, anzeigen können. Falls gegen die Richtlinien verstoßen wurde, soll sich die zuständige Ärzte­kammer einschalten und die Fortbildungspunkte wieder aberkennen. +MEZIS kritisiert auch, was bei niedergelassenen Ärzten gängige Praxis ist. Tausende Vertreter von Pharmaunternehmen sind permanent im Einsatz, um Ärzten Studien zu neuen Medikamenten vorzustellen. "Das ist eigentlich Schwachsinn", sagt Mayer. "Jeder Arzt hat die Möglichkeit, sich selbst über ein neues Produkt zu informieren." In Deutschland gebe es zwei neutrale Publikationsorgane, die verhindern sollen, dass ein Arzt vom Vertreter allein durch Hochglanzbroschüren und Präsentationen in seinem Verschreibungsverhalten beeinflusst wird. +Zurück am Campus. Max von der Studierendenorganisation UAEM läuft die Charitéstraße entlang und erklärt: "Beson­ders in Bereichen mit vielen chronisch Erkrankten wie beispiels­weise bei Inter­nisten, Neurologen und Psychiatern ist die Lobby­arbeit ganz groß, da in diesen Be­reichen besonders viele Medi­kamente verschrieben wer­den." Am Virchow-Denk­mal bleibt Max plötzlich stehen. Rudolf Virchow gelte als einer der Begründer der modernen Medizin, sagt er – und zitiert dann einen Satz, den Virchow 1848 geschrieben hat: "Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen." + diff --git a/fluter/der-menschenfeind.txt b/fluter/der-menschenfeind.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..27db9f4ffa48507e4fa3ad1241b928270cb79e5d --- /dev/null +++ b/fluter/der-menschenfeind.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Als die Materie von Erde und Venus vor 4,6 Milliarden Jahren aus dem präsolaren Nebel gespuckt wurde, war nicht zu ahnen, wie unterschiedlich sie sich entwickeln würden. Ersticken, verbrennen, zerquetschen – theoretisch hält die Venus viele Todesarten bereit. Weltraumsonden, die dort landeten, fielen nach Kurzem den Bedingungen zum Opfer. Selbst Blei zerschmölze bei der Durchschnittstemperatur von 468 °C. Der Druck der CO2-schweren Atmosphäre ist etwa 100-mal so hoch wie auf der Erde, vergleichbar mit dem in knapp einem Kilometer Meerestiefe. Wichtiger Informant der Forscher ist der Venus Express der European Space Agency, der seit April 2006 in der Umlaufbahn des Planeten Klimadaten sammelt. Per Infrarot schafft er es durch das blickdichte viele Kilometer dicke Wolkengemisch aus Schwefelsäure Bilder zu erzeugen: von einer rot glühenden Ödnis voller Einschlagskrater und erstarrter Lava. Wasser jedoch – Fehlanzeige. Und das könnte der Haken sein. + +Vermutlich hatte die Erde einst eine ebenfalls CO2-lastige Atmosphäre – nur existiert dies heute hauptsächlich in gebundener Form. Regenwasser löst einen Großteil des CO2, wäscht es in die Ozeane, wo es sich mit Verwitterungsprodukten oberflächennahen Gesteins, die ins Meer gespült wurden, zu Karbonatgestein bindet. Ebenso bilden Pflanzen daraus Biomasse – das wirkt als natürliches Thermostat. Für die Venus hingegen könnte ihre größere Nähe zur Sonne negativ gewirkt haben. Die wahrscheinliche Folge der höheren Ursprungstemperatur: ein Runaway (sich selbst verstärkender)-Treibhauseffekt. Das Wasser verdampfte schnell, das Treibhausgas Wasserdampf ließ die Temperatur steigen, mehr Wasser verdampft und so weiter … An welchem Punkt driftete die Entwicklung von Venus und Erde auseinander? Wann und warum nahm die Hitze Überhand? – Auch an den vorherrschenden Hypothesen tüfteln die Wissenschaftler. Zwar liegt die Venus näher an der Sonne – andererseits war deren Intensität früher geringer. Welche Rolle spielten die Vulkane bei Erhitzung des Planeten? Oder die Wolkendecke? Das fehlende Magnetfeld? Und so streiten Forscher und Klimaskeptiker auch über die Vergleichbarkeit von Erde und Venus. Derweil kommen weitere Neuigkeiten von oben: Aus Geologensicht erst "vor Kurzem" erloschen sind die Vulkane vor 250 000 Jahren. Und andere sind vielleicht sogar noch aktiv. diff --git a/fluter/der-morgen-geh%C3%B6rt-uns-roman-coppo-interview.txt b/fluter/der-morgen-geh%C3%B6rt-uns-roman-coppo-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7c8c79491083538b3ab1eeb78f79890356da547b --- /dev/null +++ b/fluter/der-morgen-geh%C3%B6rt-uns-roman-coppo-interview.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Was genau hat Sie an den rechtsextremen Ideologien so fasziniert? Waren Sie Teil einer Gruppe? +Ich werde keine Namen nennen. Was mich vor allem faszinierte, war die Rebellion gegen den Status quo und die Positionierung gegen alles und jeden. Giorgio Albertazzi, ein bedeutender italienischer Theaterregisseur und Schauspieler, entschied sich 1943, der "Italienischen Sozialrepublik" beizutreten (die vonBenito Mussolininach dem Waffenstillstand mit den Alliierten gegründet wurde, Anm. d. Red.). Er sagte im Nachhinein, er habe sich bewusst für die verlorene Sache entschieden, aus Lust am Abenteuer. Das trifft es eigentlich ganz gut. +Beim Lesen Ihres Romans kommt man Ettores Gefühlschaos sehr nah. Obwohl er immer weiter in rechtsextremes Gedankengut abrutscht, hat man manchmal sogar Mitleid mit ihm. +Mein Ziel war es, die Leser und Leserinnen mit einer Figur mitfühlen zu lassen, die man eigentlich nicht mögen will. Dadurch möchte ich zeigen, dass auch ein politischer Feind menschlich ist. Das soll nicht im Geringsten etwas rechtfertigen. Aber ich wollte eine Komplexität schaffen, die dazu beitragen kann, bestimmte Entscheidungen besser zu verstehen. +Ettore lernt in der Schule Giulio kennen, der ihn in die "Federazione", die faschistische Jugendgruppe, mitnimmt. Warum entscheidet Ettore, sich der Gruppe anzuschließen? +Ettore handelt zu Beginn aus seinem Bedürfnis nach Zugehörigkeit, nicht der Ideologie wegen. Die Begeisterung dafür entwickelt sich erst später. Zunächst ist er einfach einsam. Es geht ihm darum, Menschen zu finden, von denen er sich verstanden fühlt, in einem Alter, in dem man voller Unsicherheiten ist. In einem gewissen Maß zieht ihn an der Gruppe sicher auch der Reiz des Verbotenen an. Hätte er allerdings jemand anderen als Giulio getroffen, dann hätte er auch in jeder anderen Art von Kriminalität landen können, denke ich. +Jeden Tag fährt Ettore aus der Provinz in die Großstadt Mailand zum Gymnasium. Er kommt aus der bürgerlichen Mittelschicht. In der Schule trifft er auf Mitschüler aus noch wohlhabenderen Familien, die manchmal auch derrechtsextremen Ideologienahestehen. Welche Rolle spielt das Verhältnis von Klasse, Stadt und Land im Roman? +Ich wollte nicht die übliche Debatte über Klasse zeigen. Es ist falsch zu denken, alle Rechtsextremen und Populisten wären Proleten, Menschen aus ärmeren sozialen Schichten oder Leute vom Land. Das stimmt so nicht. Zuletzt hat man das in Deutschland gesehen, bei dem,was auf Sylt passiert ist. Das waren junge Erwachsene aus wohlhabenden Familien. +Ettore spürt im Verlauf des Romans sehr wohl, dass er etwas Falsches tut: Er liest zum Beispiel eine fragwürdige Mussolini-Biografie, aber nur so, dass niemand das Buchcover erkennt. Warum ändert er seine Meinung nicht? +Er merkt, dass die Seite, die er gewählt hat, falsch ist, will sich aber nicht ändern, weil er den Rest der Welt als etwas Feindliches erlebt. Sein Gefühl von Einsamkeit und Trotz gegenüber der Welt wird so groß, dass der politische Aspekt schon fast in den Hintergrund rückt und seine Gefühle in Rebellion und Gewalt ausufern. Er ist hin- und hergerissen, hat Schuldgefühle gegenüber seinen Eltern und dem Mädchen, das er liebt. Ettore weiß, dass seine Wahl für die meisten Menschen in seinem Umfeld fast so etwas wie eine Erbsünde ist. Dass das so wahrgenommen wird, hat auch damit zu tun, dass das Buch im Italien der frühen 2000er-Jahre spielt. +Was ist der Unterschied zur heutigen Zeit? +Heute hat sich die gesellschaftliche Toleranz für rechtsextreme Ideologien verändert, leider. Anfang der 2000er-Jahre hätte man in Italien nicht gedacht, dass mal eine fast offen neofaschistische Partei wie dieFratelli d'Italia unter Giorgia Melonidas Land regiert. +Warum hat die Toleranz für solche Ideologien in Italien zugenommen? +Italien wurde nach dem Zweiten Weltkrieg praktisch bis 1994 von den Christdemokraten, einer Partei der Mitte, regiert (zeitweise mit Unterstützung der Sozialistischen Partei, Anm. d, Red.). Gleichzeitig galt Italien als ein sehr linkes Land mit einer starken kommunistischen Bewegung. Das änderte sich mit der erstenBerlusconi-Regierung1994, fast 50 Jahre nach der Niederlage desFaschismus. Er brachte nach und nach Neofaschisten in wichtige Positionen und verhöhnte demokratische und antifaschistische Institutionen, beherrschte 20 Jahre lang die politische Bühne. Wenn Ende der 1990er-Jahre "faschistisch" zu sein bedeutete, einer aufständischen und gewalttätigen Minderheit anzugehören, ist dieser Extremismus heute akzeptiert. +Eine Recherche italienischer Journalisten hat gezeigt, dass bei Treffen der Jugendorganisation "Gioventù Nazionale" faschistische Slogans und Symbole benutzt werden wie der römische Gruß, der in Deutschland als Hitlergruß bekannt ist. Die Ministerpräsidentin Giorgia Meloni begann ihre politische Laufbahn in so einer politischen Organisation. Was ist das Gefährliche an diesen Gruppen? +Die "Federazione", die ich im Roman beschreibe, ist erfunden. Die Gefahr, die aber von solchen realen Gruppen ausgeht, besteht darin, dass der erwachsene Teil der Gruppe kein Interesse daran hat, den Ton ihrer jugendlichen Mitglieder zu mäßigen. Das ist, als wären die Jüngeren ein Vorrat an militanter Energie, den es zu halten gilt. Je extremer die Jugend, desto mehr kann sie dazu dienen, die gesamte Gruppe zu festigen. +Wie verbreitet sind rechtsextreme Ideologien in der italienischen Gesellschaft, insbesondere unter jungen Menschen? +Dazu muss man vorab sagen: Italien hat seinen Faschismus leider nie vollständig aufgearbeitet. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs blieben viele von der faschistischen Diktatur eingesetzte Personen in ihren Ämtern. Prozesse wurden verhindert. Eine offen faschistische Partei, der Movimento Sociale Italiano, war bereits 1948 im Parlament vertreten. Nach der Berlusconi-Regierung von 1994 und den nachfolgenden Regierungen wurde der Faschismus selbst in den höchsten Staatsämtern geduldet. Ich habe den Eindruck, dass heute bei vielen jungen Menschen die Neigung zu einem gewissen Rechtsextremismus als eine leichtfertige, provokante Entscheidung gegen eine Überalterung und Verbürgerlichung der Institutionen angesehen wird. Antidemokratisch zu sein ist heute in Italien leicht, weil der Respekt vor dem Staat seit Jahrzehnten von Regierungen und Parteien geschwächt wird. In jüngster Zeit sind meiner Meinung nachdie Fünf-Sterne-Bewegung und Salvinis rechtspopulistische Legadie größten Verursacher dieses Zustands. +Bei den Europawahlen Anfang Juni haben junge Menschen in Deutschland verstärkt rechtspopulistisch gewählt. Wie war das in Italien? +In Italien war das Ergebnis etwas anders. Die rechtsnationale Partei Fratelli d'Italia ging zwar als stärkste Partei hervor, doch haben Parteien aus dem linken Spektrum im Vergleich zu den letzten Jahren besser abgeschnitten, insbesondere bei jungen Wählern. Das könnte daran liegen, dass die neue Parteivorsitzende des Partito Democratico, Elly Schlein, in den Monaten vor den Wahlen über Arbeit, Löhne und Gehälter gesprochen hat. Ich denke, man muss wieder mehr darüber sprechen. Die Mietpreise in europäischen Städten explodieren, das macht jungen Menschen Sorgen. Es sind existenzielle Dinge, die jetzt für die Millennials, aber auch die jüngeren Generationen wichtig sind. +Wie kann man ganz grundsätzlich junge Menschen wieder mehr für Demokratie begeistern? +Was mir wichtig ist: Der Roman ist kein Märchen, keine Allegorie, sondern eine autobiografisch inspirierte Geschichte, aus der man keine Universalschlüsse ziehen kann. Mir persönlich haben damals Freundschaften mit Menschen geholfen, die nichts mit dieser Ideologie zu tun hatten. Ich habe irgendwann gemerkt, dass die anderen glücklicher waren als ich. Als Teenager habe ich das Leben mit dieser Ideologie als ein Leben voller Verzicht wahrgenommen. Man muss miteinander in einen Dialog kommen, empathisch sein. +Manchmal radikalisieren sich Menschen so stark, dass ein Dialog und Empathie schwierig scheinen. Was tut man dann? +Wenn Sie von den Menschen in radikalen Gruppen, außerhalb der Regierung, sprechen: nichts. Ich glaube nicht, dass es einen Dialog mit antidemokratischen Positionen geben kann. + +Titelbild: Espen Rasmussen/VII/Redux/laif diff --git a/fluter/der-name-der-hose.txt b/fluter/der-name-der-hose.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..15a0cc1d052e1f04ef5ffc2f35a9f582021e2db0 --- /dev/null +++ b/fluter/der-name-der-hose.txt @@ -0,0 +1,12 @@ + +Back to the FutureCK fromJan-Dirk van der BurgonVimeo. +Calven kliem – Kiew, Ukraine, Petrovka Markt, 10 Hryvnia (0,40 Euro) +Calven Klain – Damaskus, Syrien, Al-Hamidiyah Suq, 400 Pounds (1,97 Euro) +Calvni Klein +Calven Kiein +Calvin Klain +Calvin Klain – Lwiw, Ukraine, Krakivsky Markt, 6 Hryvnia (0,24 Euro) +Galvin Klain - Teheran, Iran, Großer Bazar, 50.000 Rial (1,44 Euro) +Calvin Kleln +Colvin Kloin – Georgien, Sugdidi, Zentraler Markt, 5 Lari (2,22 Euro) +Kalvi Klan – Bangkok, Thailand, Patpong Nightmarket, 50 Baht (1,21 Euro) diff --git a/fluter/der-neustart.txt b/fluter/der-neustart.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4d83cf8c3dceb99c4099da6ad1aff1116e12b22b --- /dev/null +++ b/fluter/der-neustart.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +"Meine tiefste Überzeugung war und ist es, dass der Freiheitsgrad einer Gesellschaft am Freiheitsgrad ihrer Kommunikationsnetze gemessen werden muss", schreibt Urbach in seiner Biografie "Neustart", im Oktober bei Droemer Knaur erschienen. Die ÄgypterInnen waren demnach nicht mehr frei. +Doch dann gehen bei Bibliotheken, Universitäten, Computerläden, Hotels in Ägypten Faxe ein. Der Absender: Telecomix. Der Inhalt: Nummern. Nummern, die zu den Modems der Netzaktivisten gehören. Die ÄgypterInnen wählen sich mit diesen ins Internet ein – als säßen sie bei den Aktivisten mit im Wohnzimmer. So gelingt es Telecomix, dass wenigstens ein kleiner Teil vernetzt und mit der Außenwelt in Kontakt bleibt. +Und Ägypten ist bloß der Anfang. Im Februar 2011protestieren die ersten Menschen in Syrien. Im März erhält Stephan Urbach in einem der Chats von Telecomix eine Nachricht von dort: "Hello I am Muhammad. I am in Aleppo." Es vergeht fortan kaum ein Tag, an dem Urbach nicht mit Muhammad chattet, seine Sorgen und Ängste teilt, ihm versucht zu helfen. Sie werden Freunde. +Es sind nicht nur Muhammads Schilderungen, die Stephan Urbach immer mehr fortziehen von seiner Realität hinein in die Realität in Syrien, die zunehmende Eskalation und die Gewalt. Telecomix setzt sich auch hier ein. Die Netzaktivisten finden Wege, um die Firewall des syrischen Geheimdienstes zu umgehen. So können sie Videos außer Landes bringen, auf denen die Brutalität des syrischen Staats gegen Protestierende belegt ist. Zudem sorgen sie dafür, dass deren Urheber nicht identifiziert und verfolgt werden können. +Je mehr Videos Stephan Urbach bearbeitet, desto mehr muss er erfahren, dass dem Wunderbaren des Internets – der Überwindung von Grenzen und Distanzen – etwas für ihn Zerstörerisches innewohnt. "Der Arabische Frühling kam näher. Das Ganze wurde persönlich, kroch unter meine Haut und in meine ohnehin gereizten Nervenbahnen." Sein unbändiger Drang, zu helfen und die Welt besser zu machen, hält ihn jedoch davon ab, sich zurückzuziehen. "Ich war besessen. Besessen von dem Gedanken, diesen Menschen helfen zu müssen. Die Besessenheit raubte mir den Verstand und den Schlaf." +Menschen, die Panik und Angst haben, Menschen, die verzweifelt schreien, Menschen, die angeschossen oder erschossen werden – sie alle flimmern unablässig über Urbachs Bildschirm und bringen ihn schließlich so sehr an seine Grenzen, dass er nicht mehr leben will. Während eines Treffens der Telecomix-Aktivisten am 11. August 2011 ringt Urbach sich dazu durch, ihnen zu offenbaren, dass sie sich seiner Meinung nach zu viel aufgebürdet haben. Mit dieser Einschätzung steht er nicht alleine da, auch die anderen berichten von totalen Erschöpfungszuständen. In diesem Moment nimmt Urbach seinen Entschluss, sich umzubringen, wieder zurück. +Ob es um seine Depressionen oder die Vorgänge in der arabischen Welt geht – Stephan Urbach schreibt erschütternd ehrlich und direkt. Mitunter kann das ein wenig nerven, weil man gerne eine zweite Meinung hören würde. Oder weil man solch eine Offenheit und Nähe zum Autor überhaupt nicht gewohnt ist. Allerdings ist Urbachs Buch deswegen erst recht lesenswert. Der Autor gibt eine neue, persönliche Sichtweise auf die Geschehnisse während des Arabischen Frühlings. Er macht die Welt des Internets verständlich, zeigt ihre guten und schlechten Seiten auf und beschreibt, welche Bedeutung das Netz für eine freie Gesellschaft hat. All das gelingt Stephan Urbach, weil er erzählt, wie er erzählt: einfach und klar, geradeheraus, ohne Umschweife. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. +Das Buch +Stephan Urbach: "Neustart. Aus dem Leben eines Netzaktivisten"; Droemer Knaur, München 2015, 256 Seiten, 12,99 Euro diff --git a/fluter/der-nomade-in-uns.txt b/fluter/der-nomade-in-uns.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..23797345a7a77bc53a30e23147caba7bb7bd53c2 --- /dev/null +++ b/fluter/der-nomade-in-uns.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Ayers Rock, der heilige Berg der Aborigines +Und so sucht er zusammen mit Arkady Wolschok die "Traumpfade" der Aborigines. Wobei es der Titel der englischen Ausgabe, "The Songlines", genauer trifft: Songlines – das sind die zahlreichen unsichtbaren Nomadenwege ("Walkabouts"), die die Ureinwohner abschritten und teilweise noch heute abschreiten, während sie in Liedern die Erzählungen, Sagen und Schöpfungsmythen ihrer Ahnen wieder- und manchmal an den Nachwuchs weitergeben. Chatwin hatte sich das Ziel gesetzt, zu "verstehen, wie eine Songline funktioniert". Vor dem Reiseantritt sichtete er alle verfügbaren Berichte zum Thema, sprach aber auch mit Stammesältesten und Aborigines, die die Songlines noch begingen. +Aber je länger er in Australien verweilt und je mehr er über die und von den Aborigines erfährt, desto mehr wandern seine Gedanken zu einem Projekt, das er eigentlich schon aufgegeben hat: die Geschichte der menschlichen Mobilität zu schreiben. Chatwins geplante "Anatomy of Restlessness", die "Anatomie der Ruhelosigkeit", wird so, wie er es plante, nie erscheinen. Doch einiges an Material und Grundlagen seiner Studien über das Nomadentum finden sich in den "Traumpfaden" wieder. Die Fahrt entlang der Songlines wird in dem Buch bald von seinen Erinnerungen an frühere Reisen, von anthropologischen Studien und Theorien sowie von Zitaten und Fragmenten aus der Reiseliteratur erst ergänzt, schließlich überlagert.Plötzlich tauchen afrikanische Nomadenvölker, sumerische Wanderer oder mongolische Reiter auf, und wir wundern uns beim Lesen auch nicht mehr, wenn wir uns in der Frühphase der Menschheit in Afrika wiederfinden, Seite an Seite mit einem Geschöpf, das die Forscher "Australopithecus" nennen, eine Vorform des Homo Sapiens. Über den Australopithecus schreibt Chatwin: "Er war ein Tier, das gehen konnte und wahrscheinlich Lasten trug: aufrechtes Gehen, bei dem sich der Deltamuskel entwickelt, scheint das Tragen von Gewichten, wahrscheinlich von Nahrung und Kindern, von einem Ort zum anderen vorauszusetzen." Das Wandern ist des Menschen Lust, will der Autor sagen, in jedem von uns steckt noch irgendwo im Genpool ein Nomade. +Man muss Chatwin nicht alles glauben. Vieles von dem, was er zum Beweis seiner Theorie des mobilen Menschen heranzieht, war wissenschaftlich schon zu seiner Zeit widerlegt oder wurde es kurz darauf. Anderes ordnet er selbst den Mythen, Legenden und Religionen zu, denen er zwar ein Existenzrecht, nicht aber Wirkungsmacht einräumt: "Mythos ist ein Angebot, Handlung ist Entscheidung."Chatwin bereiste die Ränder der Zivilisation, ohne auf bestimmte Standards verzichten zu wollen. Selbst in der Wüste waren ihm Luxus und Kunst wichtig. In vielen seiner Texte finden sich Berichte über hervorragendes Essen und den Genuss von reichlich Alkohol. Sein Freund Salman Rushdie bescheinigte ihm in einem Nachruf ein Interesse "für alles, vom Ursprung des Bösen in der Welt bis hin zu der rätselhaften Frage des Kleinen Subaru*". +Chatwin war ein Dandy – allerdings kein typischer, eher ein Lebemann auf Reisen. Geboren 1940 in Sheffield und aufgewachsen in verschiedenen Orten Englands, landete er mit 18 Jahren als Botenjunge beim britischen Auktionshaus Sotheby's, das er nur wenige Jahre später als Direktor der Abteilung für impressionistische Kunst wegen einer drohenden Erblindung wieder verließ. Ein Arzt riet ihm, zu reisen – und als er kurz darauf im Sudan eintraf, war sein Augenleiden verschwunden. Das wurde von Chatwin als "ein Zeichen" interpretiert.1973 nahm ihn die britische Zeitung The Sunday Times unter Vertrag, zunächst als Kunstexperten, später als Reisejournalisten. Chatwin schickte Interviews, Berichte und Reportagen aus aller Welt nach London. Sein journalistischer Stil prägte auch die fünf Bücher, die er zu Lebzeiten schrieb – was den drei Romanen "Der Vizekönig von Ouidah", "Utz" und "Auf dem schwarzen Berg" nicht besonders gut bekam. +1989 starb Chatwin an Aids – und mit ihm ein Reiseschriftsteller, der von seinem Handwerk mehr verstand, als seitenlang nur Landschaften zu beschreiben und schrullige Einwohner zu Wort kommen zu lassen. Ein Zeugnis seines Könnens ist der Reisebericht "In Patagonien", ein anderes sind die "Traumpfade". Aufmerksame Leser/innen erfahren hier nicht nur viel über Australien, die Wanderungen der Aborigines und den Beginn der menschlichen Mobilität, sondern ihm oder ihr offenbaren sich ganz nebenbei auch noch sehr schöne Einblicke in die bewegte Welt des Menschen Bruce Chatwin.Bruce Chatwin: Traumpfade (S. Fischer Verlag 1992, übers. von Anna Kamp, 400 S., 9.95 €) +Mehr Reiseliteratur von Bruce Chatwin +In Patagonien: Reise in ein fernes Land (Rowohlt 1990, übers. von Anna Kamp, 272 S., 8.99 €)Was mache ich hier (S. Fischer 2007, übers. von Anna Kamp, 400 S., 9.95 €)Der Traum des Ruhelosen (S. Fischer Verlag 2004, übers. von Anna Kamp, 256 S., 8.90 €) +*Subaru: japanische Automarke, berühmt für seine Kleinwagen mit Allradantrieb und Boxermotoren diff --git a/fluter/der-oligarch-der-mich-liebte.txt b/fluter/der-oligarch-der-mich-liebte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cabd999acdacf96d02eee1cb10472d64bbac5ef1 --- /dev/null +++ b/fluter/der-oligarch-der-mich-liebte.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Die Schülerinnen schreiben alles fleißig mit. Sie haben 1.000 Dollar pro Kurswoche bezahlt. In Moskau und Sankt Petersburg finden sich Dutzende solcher "Akademien" mit Namen wie "Geisha-Schule" oder "Der Weg zur Vollblutfrau". "Ich will einen Mann, der fest auf beiden Beinen steht. Bei dem ich mich sicher fühle wie hinter einer Steinmauer", sagt Oliona. Sie hat den Kurs kürzlich absolviert und bedient sich der Parallelsprache der Gold-Digger (eigentlich meint sie, sie will einen Mann mit Geld). Die Lebensart der Gold-Digger ist zu einem der beliebtesten Mythen Russlands geworden. In Buchhandlungen stapeln sich Selbsthilfebücher mit Tipps für junge Frauen, wie man sich einen Millionär angelt. Oliona lebt in einer kleinen, funkelnagelneuen Wohnung mit ihrem nervösen kleinen Hund. Das Mietshaus liegt an einer der Hauptstraßen, die zum Nobelvorort Rubljowka führen. Reiche Männer bringen ihre Geliebten dort unter, damit sie auf dem Weg nach Hause auf einen Sprung bei ihnen vorbeischauen können. +Oliona kommt ursprünglich aus dem Donezbecken, aus dem ukrainischen Teil des Steinkohlegebietes, das in den 90er-Jahren von Mafiabossen übernommen wurde. Ihre Mutter war Friseurin. Oliona erlernte denselben Beruf, doch der kleine Frisiersalon ihrer Mutter machte Pleite. Als 20-Jährige kam Oliona dann fast mittellos nach Moskau und fing als Stripperin in einem der Kasinos an. Sie tanzte gut und lernte so ihren Sugardaddy kennen. Jetzt bezieht sie den Mindestlohn einer Moskauer Geliebten: Wohnung, Auto und zweimal jährlich ein einwöchiger Urlaub in Ägypten oder der Türkei. Als Gegenleistung bietet sie ihrem Sugardaddy, wann immer er will, rund um die Uhr, ihren geschmeidigen, sonnengebräunten Körper, stets gut drauf, stets verfügbar. +Olionas Spielwiesen sind eine Reihe von Klubs und Restaurants, die fast ausschließlich dazu gedacht sind, dass Gönner dort nach jungen Frauen Ausschau halten können und junge Frauen nach Gönnern. Die Männer laufen unter der Bezeichnung "Forbeses" (nach der "Forbes"-Liste der Superreichen); die Frauen sind "tiolki", Vieh. Es ist ein Markt, auf dem die Käufer das Sagen haben: Jeder "Forbes" hat die Auswahl aus Dutzenden, nein, Hunderten "tiolki". +Gegen Mitternacht sucht Oliona den neuesten Klub auf. Kolonnen von schwarzen (immer schwarzen), kugelsicheren Bentleys und Mercedes-Limousinen rollen im Schneckentempo Richtung Eingang. In der Nähe der Tür rutschen und schlurfen Tausende von Stilettos über Glatteis, schaffen es irgendwie, makellos die Balance zu halten. (Ach, du Volk von Ballerinen!) Tausende von platinblonden Haarmähnen streifen über nackte, dauergebräunte Rücken, auf denen der Schnee schmilzt. Rufe aus Tausenden von aufgespritzten Lippen zerreißen die Winterluft, betteln um Einlass. Diese Nacht ist die einzige Chance für die Mädchen, zu tanzen und einen Blick über die sonst unüberwindlichen Schranken aus Geld, Privatarmeen und Sicherheitszäunen zu werfen. Die bestgeteilte Stadt der nördlichen Hemisphäre, in der die Megareichen abgetrennt in einer eigenen seidigen Zivilisation leben, öffnet an einem Abend der Woche eine kleine, enge Schleuse ins Paradies. +Das Innere des Klubs erinnert an ein Barocktheater. In der Mitte ist die Tanzfläche, und an den Wänden verlaufen mehrere Reihen Logen übereinander. Die Forbeses sitzen in den verdunkelten Logen (für dieses Vergnügen blättern sie Zehntausende hin), während Oliona und Hunderte andere junge Frauen unten tanzen, einstudierte Blicke hinauf zu den Logen werfen in der Hoffnung, nach oben eingeladen zu werden. Die Logen liegen im Dunkeln. Die Frauen haben keine Ahnung, wer genau da sitzt; sie flirten mit Schatten. +"So viele 18-Jährige, die mir im Nacken sitzen", sagt Oliona. Sie ist erst 22, aber damit nähert sie sich bereits dem Ende der Karriere einer Moskauer Geliebten. "Natürlich mach ich mir noch immer Hoffnungen auf einen echten Forbes", sagt sie, "aber wenn es hart auf hart kommt, würde ich mich auch mit einem blöden Millionär begnügen, der gerade aus der Provinz eingetrudelt ist, oder mit einem von diesen langweiligen Expats. Oder mit einem widerlichen Alten." +Zurück in der Akademie, geht der Unterricht weiter. "Heute beschäftigen wir uns mit dem Algorithmus des Beschenktwerdens", erklärt die Lehrerin ihren Schülerinnen. "Wenn ihr von einem Mann ein Geschenk bekommen möchtet, stellt euch an seine linke, irrationale, emotionale Seite. Die rechte ist die rationale Seite: Wenn ihr über Geschäftliches sprecht, stellt ihr euch auf seine rechte Seite. Aber falls ihr ein Geschenk haben wollt, geht ihr links von ihm in Position. Falls er in einem Sessel sitzt, geht in die Hocke, damit er sich größer fühlt, als wärt ihr ein Kind. Spannt eure Vaginalmuskeln an. Jawohl, eure Vaginalmuskeln. Dadurch weiten sich eure Pupillen, und ihr wirkt attraktiver." +Lena möchte Popstar werden. Frauen wie sie, ohne Talent, aber mit einem reichen Gönner, heißen in Moskau "singende Höschen". Lena weiß ganz genau, dass sie nicht singen kann, aber sie weiß auch, dass das keine Rolle spielt. "Ich verstehe nicht, was es bringen soll, jeden Tag von morgens bis abends in irgendeinem Büro zu schuften. Es ist erniedrigend, so arbeiten zu müssen. Ein Mann ist ein Fahrstuhl nach oben, und ich habe vor, ihn zu nehmen." Die rothaarige Lehrerin mit BWL-Abschluss pflichtet ihr bei: "Feminismus ist ein Fehler. Warum sollte eine Frau sich zu Tode rackern? Das ist die Rolle des Mannes. Wir haben die Aufgabe, uns als Frauen zu perfektionieren." +Oliona wird sich selbst nie und nimmer als Prostituierte sehen. Es gibt da einen deutlichen Unterschied: Prostituierte können sich nicht aussuchen, mit wem sie Sex haben wollen, das entscheiden ihre Zuhälter. Oliona geht dagegen selbst auf die Jagd. Sie hat keine Angst vor Armut, vor Demütigung. Falls sie ihren Gönner verliert, wird sie einfach von vorne anfangen, sich wieder erfinden und auf "Neustart" drücken. +Um fünf Uhr morgens wird die Musik immer schneller, und in der pulsierenden, schneeigen Nacht werden die "tiolki" zu Forbeses und die Forbeses zu "tiolki", die sich so schnell bewegen, dass sie ihre eigenen verwischten Schemen im Stroboskoplicht auf der Tanzfläche sehen können. Die Männer und Frauen betrachten sich selbst und denken: "Hab ich das wirklich erlebt? Bin das da ich? Mit den vielen Maybachs und Vergewaltigungen und Gangstern und Massengräbern und Penthouses und Glitzerkleidern?"Um fünf Uhr morgens geht in den Klubs so richtig die Post ab. Die Forbeses taumeln alkoholisiert aus ihren Logen nach unten, grinsend und schwankend. Sie sind alle gleich gekleidet – teure gestreifte Seidenhemden, die in Designerjeans stecken –, alle sonnengebräunt und füllig und triefend vor Geld und Selbstzufriedenheit. Mittlerweile sind sie alle sturzbesoffen und torkeln schwitzend herum, fast wie in Zeitlupe, so langsam. Sie tauschen diese lieben, einfachen Blicke aus, die gegenseitige Anerkennung signalisieren, als wären die Masken gefallen und sie alle bei einem einzigen großen Spaß dabei. Und dann begreift man, wie ähnlich die Forbeses und die Mädchen sich in Wirklichkeit sind. Sie haben sich alle aus der alten Sowjetwelt herausgestrampelt. Der Öl-Geysir hat sie in verschiedene finanzielle Universen gespien, aber sie verstehen einander noch immer vollkommen. Und ihre lieben, einfachen Blicke scheinen zu sagen, wie lustig diese ganze Maskerade doch ist, dass wir gestern noch alle in Gemeinschaftswohnungen lebten und Sowjethymnen sangen und Levis und Milchpulver für Luxusartikel hielten, und jetzt sind wir umringt von Nobelkarossen und Privatjets und süßem Prosecco. Das Geld ist so schnell über Russland gekommen wie der Glimmer in einer geschüttelten Schneekugel, und deshalb fühlt es sich total unwirklich an, wie etwas, das man nicht hortet und spart, sondern in dem man Pirouetten dreht und tanzt, wie die Federn bei einer Kissenschlacht, wie Pappmaché, aus dem man unterschiedliche, sich rasch verändernde Masken schneiden kann. +Peter Pomerantsev hat einige Jahre als Journalist in Russland gearbeitet. Ein Buch mit seinen Reportagen, darunter auch diese, erscheint am 28. September 2015 bei DVA. diff --git a/fluter/der-online-dachboden.txt b/fluter/der-online-dachboden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0146ea5b14ad7c4d7a0a066373426d8bf90a637d --- /dev/null +++ b/fluter/der-online-dachboden.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Da sich meine Misserfolge überwiegend im Preisbereich unter 20 Euro abspielen, fehlt mir die Kraft für rechten Ärger oder gar endgültige Abkehr. Dafür ist das Stöbern viel zu spannend. Ich weiß nicht, wie früher, ohne Onlinemarkt, gebrauchte Waren verkauft wurden. Echte Flohmärkte und Secondhand-Läden waren in meiner Erinnerung viel zu wenige da und sie sind auch viel zu begrenzt in ihren Mitteln – wer nimmt schon eine komplette Bowlingbahn mit auf den Flohmarkt? Niemals benutze ich Ebay, um mir etwas Lebensnotwendiges zu ersteigern. Ich betrachte es vielmehr als riesiges Ausstattungslager und Ding-Archiv, zu dem ich netterweise Zutritt habe. Ich mag alte Sachen, und Ebay ist ein Kaufhaus der vergangenen Zeit. Wie muss man sich ein Butterfass vorstellen, das vor achtzig Jahren noch überall Alltagsgegenstand war? Ebay hat jede Menge Butterfässer. Wie sah mein Heimatdorf früher aus? Ebay hat jede Menge alter Postkarten. Ich kann, wenn mir danach ist – und mir ist ständig danach –, ein Buch ersteigern, in das mein Lieblingsschriftsteller Joseph Roth eine kleine Widmung hineingeschrieben hat, vor 78 Jahren. Einen Klick weiter wartet ein ganzer Schreibtisch aus der gleichen Zeit. Ich sehe diese Sachen, lese, was ihre Besitzer dazu schreiben, und gehe weiter, bis ich auf etwas stoße, das mir das Gefühl gibt, die Perle im Dreck gefunden zu haben, etwas, das ich unter Tausenden Artikeln ausgrub und entstaubte, ein perfektes Ding. In solchen Momenten ist Ebay der Dachboden meiner Oma und ich stehe mittendrin. +Erst nach diesem Moment gebe ich etwas in das Fenster für Gebote ein, überlege zwischen Herz und Bauchnabel eine Schnapszahl, die mein Höchstgebot ist. Ich gehe weiter, und das entdeckte Ding macht hinten im Gemüt gute Laune – das Entdecken, um genau zu sein. In den meisten Fällen, wie gesagt, bekomme ich es nicht in die Hand, weil ein anderer sich zwischen Herz und Bauchnabel höhere Zahlen ausdenken kann. Das ist egal, umso reizender finde ich es, wenn es dann doch mal wieder klappt und ich für 12,55 Euro plus Versandkosten einen selbst entdeckten Schatz nach Hause geschickt bekomme. Bei der besagten hundertsten Auktion handelte es sich übrigens um eine "Eames Sitzschale Plastik. Sehr alt. Ungemarkt". Das ist, wenn man ungnädig ist, ein kaputtes Stück Plastik, das früher einmal zu einem Stuhl gehörte. Aber mir gefällt es. diff --git a/fluter/der-parka.txt b/fluter/der-parka.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f4179a3d85122b7361ee95d7298c2fcce9124c14 --- /dev/null +++ b/fluter/der-parka.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Wir hatten eine große Bibliothek, darunter auch einige Bücher über den Zweiten Weltkrieg. Ich blätterte in einem sowjetischen Bildband mit dem Titel "Befreiung" herum und sah Waffen-SS-Männer vor brennenden Häusern irgendwo in Russland. Tatsächlich: Sie trugen die gleichen Jacken. Auch ihre Helme waren mit dem merkwürdigen Eichelmuster überzogen. Sie sahen finster und bösartig aus. +Ich überprüfte das Teil auf Blutflecken und irgendwelche Zeichen seiner Herkuft, konnte aber nichts finden. Sollte etwa jemand aus unserer Familie zur SS gehört haben? Warum hatte meine Mutter so heftig reagiert? Ich bekam Angst und konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Hatte ich nicht zu Hause mal irgendwo SS-Runen-Blitze gesehen, auf Fotos, auf irgendwelchen Gegen-ständen? Ich grübelte, kam aber zu keinem Ergebnis. Ich stand nachts auf, suchte Fotoalben durch, staubte alte Bücher ab, durchwühlte Schränke in der Garage. Nichts. "Bei uns war niemand in der SS, dein Großvater hat auf einem Flugplatz gearbeitet und ist in Belgien gefallen", reagierte meine Mutter souverän und abweisend auf meine aufgeregten Fragen. "Und erzähl bloß nicht solchen Quatsch herum, sonst kommen wir noch in Teufels Küche. Und wehe, du ziehst das olle Ding noch mal an, dann verbrenn ich es." +Der Verdacht fiel jetzt auf die Familie meines Vaters. Doch der reagierte genauso gelassen. Sein Erzeuger hatte wohl in einer Panzerwerkstatt gearbeitet und war schon früh aus britischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Er starb kurz vor meiner Geburt bei einem Unfall. "Die Jacke hat mal irgendein versprengter Soldat hier vergessen. Bei Kriegsende war doch sowieso alles durcheinander", versuchte mein Vater die Zweifel zu zerstreuen. Das leuchtete mir ein, und ich war beruhigt, vorerst. Was sollte ich sonst auch machen, woher Informationen bekommen? Die meisten Opas, die bis dahin vom Krieg erzählten, arbeiteten komischerweise alle auf Flugplätzen, in Werkstätten oder bei Nachrichteneinheiten. Erschossen hatten die alle nie jemanden. Ich beschäftigte mich nicht mehr damit, bis mein Vater seinen Fünfzigsten feierte. Wir saßen um die Kaffeetafel herum, und alle bewunderten eine goldene Brosche, die meine Mutter an ihrer Bluse trug. "Die ist noch von damals", sagte sie mit melancholischem Blick. "Von wo?", fragte einer der Kaffeegäste. Ein Onkel wandte sich an meine Mutter, während er sich ein Stück Baiser-Torte schmecken ließ, und sagte: "Du hast doch immer von einem kleinen Schmuckladen hinter dem Ghetto Krakau erzählt. Hast du die da her?" Meine Mutter zuckte ein wenig zusammen und schüttelte den Kopf. Ich hustete vor Schreck den Kaffee auf die Tischdecke, während das Thema gewechselt wurde, als sei nichts gewesen. Ich sah meine Mutter mit bohrendem Blick an, sie schaute verlegen nach unten. Ghetto Krakau? Dass sie sich in unmittelbarer Nähe des Ghettos Krakau aufgehalten hatte, hörte ich zum ersten Mal und fand es unfassbar. War etwa meine eigene Mutter Zeugin des Holocausts? Ich war plötzlich ziemlich wütend, und die Geschichte mit dem Parka fiel mir wieder ein. Wir konnten sonst über alles reden. Wieso erzählte sie mir solche Sachen nicht? +Als wir zusammen die Kaffeetafel abräumten, stellte ich sie wütend zur Rede. "Was hattest du denn hinter dem Ghetto Krakau zu suchen?" "Dein Opa war da stationiert." "Aha, und habt ihr da nichts gesehen, da sind die Leute doch gestorben wie die Fliegen, oder nicht?" "Na, da waren doch Posten davor und eine riesige Mauer, Kleener, und wir waren Kinder. Uns hat man doch erzählt, das sind alles Verbrecher." "Und was hat Opa da gemacht?" +"Na, die haben auf dem Flugplatz für Nachschub gesorgt für die Ostfront, Proviant verladen … und..." "Bomben, um die Russen plattzumachen", unterbrach ich sie. Meine Mutter schaute mich entwaffnend aus ihren blauen Augen an. "Ja, kann sein, auch Bomben, es war doch Krieg." "Und mit der SS hatte er nichts zu tun?" "Nein, wie oft soll ich dir das noch sagen!" +Damit wimmelte sie mich ab, wollte nicht mehr darüber reden. Ich wühlte abermals Fotos durch, sah meinen Opa auf einem Volksfest in Uniform. Mit einer Lupe inspizierte ich das Bild. War das auf seiner Mütze nicht ein Totenkopf, ein Symbol der SS? Ich konnte es nicht erkennen. Ich durchkramte Schubfächer, den Dachboden. Schließlich fiel mein Blick auf eine altmodische Glas-karaffe, ich hob sie an, und auf dem Boden war eine SS-Rune in das Glas eingearbeitet. Wieder konfrontierte ich meine Mutter damit. Doch jetzt wollte sie gar nichts mehr sagen. +Irgendwann verkaufte ich den Parka an einen Militaria-Händler. Er klärte mich über dessen Herkunft auf. Die genaue Bezeichnung hieß "Tarnschlupfjacke", sie wurde von den Divisionen der Waffen-SS getragen. Für mich war es eine Erleichterung, als das Ding endlich weg war, und damit auch die ständige Erinnerung an dunkle Flecken in unserer Familie. +Doch die Vergangenheit lässt sich nicht so einfach abschütteln. Das merkte ich, als eine Tante starb. Die Grabrede hielt eine resolute Dame mit strengem Gesichtsausdruck. Sie war Anfang 80, sah aber mindestens 20 Jahre jünger aus. Mein Vater erzählte mir, sie sei in der Nazizeit Jungmädelführerin beim Bund Deutscher Mädel (BDM) gewesen und in der DDR später Funktionärin in der SED. Ich traf mich mit ihr, um die Grabrede vorzubereiten. Irgendwann kamen wir auf meinen Opa zu sprechen. "Wollen wir das Detail erwähnen?", fragte sie mich vorsichtig. "Welches Detail?", lautete meine Gegenfrage, die schon voller Vorahnung war. Sie schaute mich mit einem seltsamen Blick an, so als ob sie erstaunt wäre, dass ich keine Ahnung hatte. "Na, dass dein Opa bei der Waffen-SS gekämpft hat." +Die Trauer um meine Tante und diese Information überforderten mich. "Und, äh, wo war er?", fragte ich mit einem Kloß im Hals. "Ich glaube, er war beim Reich, aber mehr weiß ich auch nicht", antwortete sie und meinte damit die 2. SS-Panzerdivision "Das Reich" – eine berüchtigte Truppe, der auch zahlreiche Kriegsverbrechen nachgewiesen wurden. Erst vor wenigen Monaten, im Sommer 2013, hatte Bundespräsident Joachim Gauck ein Dorf in Frankreich besucht, das von einer Einheit der Division dem Erdboden gleichgemacht worden war. Über 600 Menschen waren damals erschossen oder verbrannt worden. Dass mein Opa bei so einem Mörderhaufen Dienst getan hatte, machte mich wütend. +"Natürlich werden wir dieses Detail nicht erwähnen!", schrie ich die Grabrednerin an. +Ihre Trauerrede war dann wider Erwarten sehr emotional und berührte mich sogar. Sie charakterisierte meine Tante richtig und feinfühlig, sehr erstaunlich für eine alte "Nazisse" und spätere Kommunistin. Das "Detail" ließ sie weg und sagte nur, dass mein Opa auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges gefallen war. Ich atmete auf, doch nur kurz. Denn jetzt, ausgestattet mit den Möglichkeiten des Internets, wurde ich zum Naziforscher. Ich trieb mich bei einschlägigen Anbietern wie "Panzer-Archiv" und "Lexikon der Wehrmacht" herum, recherchierte Dienstalterslisten der SS, studierte Biografien von Kommandeuren und Mannschaftsdienstgraden. Ich sprach "alten Kameraden" auf den Anrufbeantworter, sie riefen nicht zurück. Ich schrieb Faxe und E-Mails, bekam jedoch keine Gewissheit darüber, was mein Opa getan hatte. Auch auf britischen und amerikanischen Naziseiten war ich unterwegs, fand einen SS-Untersturmführer mit dem Namen meines Opas in jener Division, doch Geburtsdatum und -ort stimmten nicht. +Auch bei der Kriegsgräberorganisation hatte ich kein Glück. Als ich nicht mehr weiter wusste, wollte ich die Grabrednerin meiner Tante anrufen, doch die war kurz nach ihr gestorben. Hatte sie sich vielleicht getäuscht? War er vielleicht in einer anderen Division oder gar nicht bei der SS gewesen? +Jetzt wurde meine Suche obsessiv, ich nervte meinen Freundeskreis mit Nazigeschichten, fragte meine Freunde über ihre Opas aus und recherchierte deren Namen. Bei jedem Abendessen lenkte ich die Diskussion auf das Thema, was einige Leute ziemlich befremdlich fanden. Je tiefer ich in der Recherche steckte, umso mehr verlor ich die Kontrolle über mein eigenes Anliegen. Was mein Opa wirklich getan hat und wo er abgeblieben war, fand ich nicht heraus. Irgendwann sagte meine Freundin, dass ich mit diesem "Nazischeiß" aufhören solle. +Ein paar Monate später, als ich mich endlich damit abgefunden hatte, wohl nichts mehr über die Taten meines Opas zu erfahren, lernte ich auf einer Hochzeit Robert kennen. Er arbeitet beim Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Irgendwann kamen wir natürlich auf meinen Opa zu sprechen. Er erklärte sich bereit, mir bei der Recherche zu helfen. Robert meinte, er könne mit großer Sicherheit herausbekommen, wo mein Opa gedient hat und in welchen Einsatzräumen er tätig gewesen war, und auch, wo er begraben liegt, falls man ihn gefunden hat. Damit ich endlich Sicherheit hätte. Ich dankte ihm und versprach, dass ich mich melden würde. +Ich habe ihn nie angerufen. diff --git a/fluter/der-ploetzliche-reichtum-der-buerger-von-nantes.txt b/fluter/der-ploetzliche-reichtum-der-buerger-von-nantes.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..25554ee46fe6d92e612fcd033b8c8aacba68496f --- /dev/null +++ b/fluter/der-ploetzliche-reichtum-der-buerger-von-nantes.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Erst drei Jahre nach seinem Tod 1833 wurde die Firma aufgelöst. Wie viele Händler aus Nantes hatte Joseph Mosneron ein Vermögen mit dem Sklavenhandel verdient. +Die Franzosen haben den Sklavenhandel nicht erfunden. Sie stiegen sogar erst relativ spät in das Geschäft ein, das innerhalb Afrikas und im Vorderen Orient seit mehr als 1.000 Jahren blühte. Nach der Entdeckung Amerikas im Jahre 1492 mussten die sich zu Kolonisatoren entwickelnden führenden Seemächte bald feststellen, dass es ihnen nicht gelang, genügend Arbeitskräfte für die Bewirtschaftung der neu eroberten, riesigen Landflächen zu mobilisieren. Die Lösung: Man besorgte sich Arbeitssklaven auf dem afrikanischen Kontinent. Vorreiter waren in diesem Metier die Portugiesen, die bereits im Laufe des 15. Jahrhunderts zahlreiche Handelsstationen an der afrikanischen Küste einrichteten und dort bei afrikanischen Menschenhändlern die Arbeitskräfte für ihre kolonialen Ambitionen einkauften. Spanier, Portugiesen, Briten und Holländer lieferten sich fortan einen Wettstreit um den Rang der vorherrschenden Kolonialmacht. Der Ausbau der Tabak- und Zucker-, Kaffee- und Kakaoplantagen verlangte nach möglichst billigen Arbeitskräften. +Es dauerte bis ins 17. Jahrhundert, bis Frankreich es seinen europäischen Nachbarn gleichtat. Die Antillen-Insel Saint-Christophe wurde 1626 zur ersten französischen Kolonie in der neuen Welt. Guadeloupe, Martinique und der westliche Teil von Saint- Domingue (das heutige Haiti) folgten. Anfangs waren die Zahlen der schwarzen Zwangsarbeiter auf den Plantagen noch relativ gering. 1671 etwa hatten 47 Prozent aller Plantagenbesitzer auf Guadeloupe nur einen einzigen Sklaven. Zum einen lag das daran, dass die Farmer zu wenig Kapital hatten, um sich mehr Sklaven zu leisten. Zum anderen glaubte man, die benötigten Arbeitskräfte durch natürliche Fortpflanzung reproduzieren zu können. Dies führte dazu, dass die Sklaven zunächst noch vergleichsweise gut behandelt wurden. Man achtete sogar darauf, dass die Transportbedingungen über den Atlantik nicht zu unmenschlich waren. Doch das änderte sich mit dem stetig steigenden Bedarf. +1685 legte man im "Code noir" die rechtlichen Grundlagen der Sklaverei in den Kolonien fest. Ein Sklave erhielt darin denselben rechtlichen Status wie ein Möbelstück oder ein anderes bewegliches Gut. Statt auf den langfristigen Erhalt der Arbeitskraft setzte man nun auf schnelle Rentabilität. Die Bedingungen wurden immer härter, der Bedarf an Arbeitskräften stieg drastisch. Länger als zehn Jahre überlebte kaum ein Sklave die Arbeit auf den Plantagen. +Es ist diese Entwicklung, die den französischen Anteil am weltweiten Sklavenhandel in die Höhe treibt – und den französischen Hafenstädten am Atlantik goldene Jahre bescherte: Bordeaux, Le Havre, La Rochelle, Lorient, Saint-Malo und vor allem Nantes werden zu den wichtigsten Häfen für den französischen Sklavenhandel. In Nantes begann der sogenannte Dreieckshandel erst im Jahr 1688, aber binnen weniger Jahre entwickelte sich die Stadt an der Loire dann zur Hauptstadt des französischen "traite négrière". +Zwischen 1707 und 1793 nahmen 41 Prozent aller französischen Expeditionen hier ihren Ausgang, zwischen 1707 und 1711 waren es sogar 75 Prozent. Der Vorteil der Stadt bestand darin, dass sie durch ihre Lage an der Loire über gute Verbindungen ins Hinterland und bis in die Hauptstadt Paris verfügte. "Dreieckshandel" heißt das Wirtschaftsmodell, weil die Handelsroute in einem Dreieck verlief: Reeder und Kaufleute rüsteten in Nantes ein Schiff aus und bestückten es mit Waren, die im westlichen Afrika begehrt waren – darunter vor allem bedruckte Stoffe, die in den Manufakturen in der Vendée, aber auch in Holland, England und der Schweiz hergestellt wurden. Zudem lieferten die Nantaiser Reeder Säbel, Gewehre, aber auch Alkohol, Spiegel und Schmuck an die westafrikanische Küste. Entlohnt wurden sie dort in menschlicher Währung: Die Sklaven wurden über den Atlantik in die Kolonien auf den Antillen gebracht. Für die Ladung Sklaven erhielten die "Négriers" – so nannte man die Sklavenschiffe auf Französisch – dann Baumwolle, Zucker, Tabak und Kaffee. Diese Waren wiederum wurden zurück nach Nantes gebracht. Erst nach dem Verkauf dieser Ladung auf dem französischen Festland wussten die Nantaiser Kaufleute, wie groß der Gewinn war, den sie mit ihrem Dreieckshandel erzielt hatten. +Wirtschaftlich war Sklavenhandel ein spekulatives Risikogeschäft. Schiffe konnten auf der langen Route verloren gehen, viele der unter fürchterlichen Bedingungen eingepferchten Gefangenen starben unterwegs. Etwa 13 Prozent der Sklaven überlebten die Überfahrt nicht. Oft jedoch rafften auch Seuchen einen weitaus größeren Anteil hin. Die Überlebensrate der Besatzung war indes kaum besser. +Dennoch war der Sklavenhandel ein lohnendes Geschäft, dem viele angesehene Nantaiser Handelshäuser ihren Erfolg verdankten. Große und angesehene Familien bauten auf dem Menschenhandel ihr Vermögen auf, wie die Michels, die Montaudouins oder die Sarrebourses d'Audeville. Doch es waren nicht nur die Reeder, die vom Sklavenhandel profitierten. Auch für die oft in der Region angesiedelten Hersteller jener Waren, die in den afrikanischen Kolonien begehrt waren, fielen stattliche Erträge ab. An der Finanzierung einer solchen Expedition waren oft mehrere Reeder und Kreditgeber beteiligt, denn der Bau, die Ausrüstung und Besatzung eines Sklavenschiffes kostete ein Vermögen: 400.000 Livres – das war mehr als der Preis für ein Pariser Stadtpalais. Der Kapitän eines solchen Schiffes erhielt als Lohn 150 Livres und eine sogenannte "pacotille" (ein "Päckchen"), das aus einer bestimmten Zahl Sklaven bestand, die Kapitän und Offiziere selbst verkaufen durften. Der Preis für einen erwachsenen Sklaven lag Ende des 18. Jahrhunderts an der afrikanischen Küste zwischen 100 und 300 Livres. 100 Livres waren in etwa das, was man in Frankreich pro Jahr an Pacht für einen kleinen Bauernhof aufbringen musste. +An den mehr als 400 Handelsstationen entlang der afrikanischen Küste verbrachten die Sklavenhändler normalerweise etwa drei bis sechs Monate, bis die Verhandlungen mit den Emissären der örtlichen Herrscher abgeschlossen und Waren gegen Sklaven getauscht waren. Dann begann die Überfahrt über den Atlantik, die rund zwei Monate dauerte. Die versklavten Männer und Frauen wurden auf dem Zwischendeck untergebracht, nach Geschlechtern getrennt und zu zweit aneinandergekettet. Studien gehen heute davon aus, dass einem Einzelnen etwas weniger als 1,5 Kubikmeter Raum zustanden. 350 bis 450 Sklaven nahm ein durchschnittliches Sklavenschiff auf. Während der Überfahrt durften die Gefangenen nur selten an Deck, um frische Luft zu schnappen. Je näher die Landung – und damit der Verkauf – rückte, desto häufiger gewährte man ihnen derartige Erfrischungen. Man besprühte sie mit Meerwasser, rieb sie mit Palmöl ein, um die Haut zum Glänzen zu bringen. Manchmal brachte man sie sogar mit Musik und Peitschen zum Tanzen, um ihre Muskeln geschmeidig zu halten. +Schätzungen zufolge wurden bis zu 550.000 Afrikaner auf den 1714 Schiffen, die in Nantes ablegten, in die Sklaverei transportiert. Das Volumen des Sklavenhandels versechsfachte sich in Nantes zwischen 1768 und 1789 von 20 auf 120 Millionen Livres. Zwar schaffte die Revolution 1794 offiziell die Sklaverei in den Kolonien ab. Doch der Konsul Napoleon Bonaparte führte sie 1802 gleich wieder ein. +Erst 1815, kurz vor seiner Abdankung, verbot schließlich Kaiser Napoleon den Sklavenhandel. Das war allerdings nicht seiner humanistischen Einsicht geschuldet, sondern eher eine aus der politischen Not geborene Geste an die Engländer, die ihrerseits bereits 1807 das Verbot erlassen hatten. Dies änderte jedoch nichts daran, dass der Handel illegal weiter florierte – da die Sklaverei noch immer in den Kolonien fortbestand. Ein Großteil der Bürgermeister, die Nantes während der Restauration in den Jahren von 1815 bis 1830 regierten, waren stadtbekannte illegale Sklavenhändler. Erst mit dem endgültigen Verbot der Sklaverei unter der Zweiten Republik im Jahre 1848 kam ihr Geschäft zum Erliegen. +Über diese Geschichte hat man in Nantes lange Jahre den Mantel des Schweigens gebreitet. Nur die Fassaden der prächtigen Häuser der Kaufleute und Reeder auf der Île Feydeau und am Quai de la Fossé mit ihren negroiden Masken und Verzierungen erinnerten daran, woher der Reichtum dieser Bürger stammte. Erst 1992 schließlich gab es eine erste kritische Ausstellung zum Thema. Seit zwei Jahren existiert nun ein Mahnmal sowie ein Erinnerungsweg, der von den Quais am Ufer der Loire zum Museum im Schloss der Herzoge der Bretagne führt. Immerhin. diff --git a/fluter/der-politische-neubeginn-armeniens.txt b/fluter/der-politische-neubeginn-armeniens.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b853867425be0748c6749588cfe4823840027db3 --- /dev/null +++ b/fluter/der-politische-neubeginn-armeniens.txt @@ -0,0 +1,32 @@ + + +Davit Petrosyan, 22, Politikstudent +Wir haben schon im Oktober 2017 angefangen zu protestieren. Damals ging es um das geplante neue Gesetz, das es möglich machen sollte, auch Studenten zur Armee einzuziehen. Wir waren nicht prinzipiell gegen die Armee, aber wir wollten einen Kompromiss finden, sodass niemand sein Studium deshalb abbrechen muss. Wir haben schnell gemerkt, dass niemand daran interessiert war, ernsthaft mit uns zu reden. +Ich war deshalb mit einer Studierendeninitiative von Anfang an bei den Protesten dabei. Wir haben die Forderungen der Studierenden gesammelt. Die gingen von ganz einfachen Dingen wie Toilettenpapier und sauberen Toiletten über besseres Gehalt für die Lehrenden bis zu mehr kritischem Denken und Diskussionen im Unterricht. +Ich selbst habe sogar bei einer Kundgebung auf dem Platz der Republik gesprochen. Ich hatte das Gefühl, es sei wichtig, dass jemand von den Studierenden spricht. Ein Freund hat mich ermutigt, deshalb habe ich es gemacht. +Wir haben noch viel zu tun, und wir werden auf jeden Fall weiter daran arbeiten, Hochschulreformen durchzusetzen, egal wie die neue Regierung Armeniens aussehen wird. + +Gayane Aghayan, 22, promoviert in Kunstwissenschaft +Ich war bei den Demonstrationen, weil ich wissen wollte, was passiert. Aktiv war ich nicht. Auch weil ich Angst hatte, dass wieder so etwas passiert wie am 1. März 2008, als Sargsjan an die Macht kam und gleich auf Demonstranten schießen ließ. Ich war ein Kind, aber ich erinnere mich noch, wie traurig alle waren. +Aber diesmal waren alle fröhlich, und es lief gewaltlos ab. Es wurde viel gesungen und getanzt auf den Straßen, es war eine große Einigkeit zu spüren. +Ich arbeite für eine kleine Organisation, die politische Bildung jenseits der formalen Institutionen fördert, und es war toll, bei den Protesten Studierende zu treffen, die das Gelernte umsetzten. Die jetzigen Veränderungen verdanken wir unserer aktiven Zivilgesellschaft. +Es muss sich noch viel verändern. In unserem Land trifft man bei jedem Schritt auf ein Problem. Ich hoffe, es kommen viele Armenier aus der Diaspora zurück und wir nutzen gemeinsam die Chance. + +Harutyun Hovakimyan, 23, Physikdoktorand +Die Proteste nach der Wahl 2013 waren für mich der Anstoß, mich politisch zu engagieren. Wir sind durch die Universitäten gegangen und haben über Politik gesprochen, und immer mehr Leute haben sich uns angeschlossen. So war es diesmal auch, aber wir waren noch viel, viel mehr. Wir haben Straßenkreuzungen blockiert, Lärm gemacht, demonstriert, von morgens bis in die Nacht. +Das Wichtigste ist die Reform des Bildungssystems – und die hat schon begonnen. Immer noch gibt es an Universitäten und Schulen im ganzen Land Proteste gegen korrupte Direktoren. Schüler und Studenten haben ein ganz neues Selbstbewusstsein bekommen. Am 1. September werden Schüler und Studenten dieses Jahr ein neues Schuljahr in einem neuen Armenien anfangen, das sie selbst geschaffen haben. +Es gab auch eine neue Verbindung zur Diaspora: Armenier, die ausgewandert sind, und solche, die schon im Ausland geboren wurden, sind nach Armenien gekommen, um die Revolution zu unterstützen. Ich denke, es werden viele von ihnen bleiben und noch mehr zurückkommen. Sie werden hier Unternehmen gründen, wenn sich die Verhältnisse erst mal geändert haben. Ich bin sehr optimistisch. Ich denke, jetzt können wir alles schaffen. + +Narek Simonyan, 27, Musiker +Wir mussten einfach demonstrieren, um unser Leben wieder besser zu machen. Ich habe wie alle anderen Straßen blockiert, Lärm gemacht und Online-Artikel geschrieben. Es war eine Befreiung. +Vor der Revolution waren wir tot. Wir machten nichts mehr. Wir hatten ein Gefühl davon, was wir tun könnten, was vielleicht woanders möglich wäre, aber wir konnten nichts machen. Wir dachten, alle sind gegen uns und niemand würde uns helfen, am wenigsten würden wir einander helfen. Alle waren nur traurig und verbittert, weil sich nie was ändern würde. Nun sehen wir wieder Möglichkeiten, politisch, kulturell, zwischenmenschlich. Wir vertrauen einander wieder mehr, wir sind ehrlicher miteinander, wir werden wieder offener. Als wir erfuhren, dass Sargsjan zurückgetreten ist, haben wir uns auf der Straße umarmt, wir haben getanzt, das war so lange undenkbar. +Ich hoffe, die neue Freundlichkeit bleibt. Aber es ist eine Sache, eine Revolution zu machen, und eine andere, was dann daraus wird. Aber jetzt gerade ist alles viel freier und offener. + +Arpi Balyan, 27, feministische Aktivistin +Wir sind ungefähr 100 aktive Feministinnen in Armenien, und wir haben uns den Protesten angeschlossen, weil auch wir gegen die Regierung und gegen die Oligarchen sind. So vieles ist in Armenien monopolisiert, zu vieles gehört zu wenigen. Sargsjan hat sich immer als Vater des Volkes bezeichnet, aber wir wollten nicht seine Kinder sein. +Wir haben Straßen blockiert und demonstriert, zusammen mit anderen, die sich nie mit Feminismus beschäftigt haben. Die uns sonst sogar beschimpft hätten. Das war ein großer Erfolg. Bei einer Aktion haben Frauen jede Nacht um elf mit Löffeln und Töpfen von ihren Fenstern aus Lärm gemacht. Das war ihre Form zu protestieren. Für uns war wichtig, dass wir mit anderen zusammen gekämpft haben. +Unser Kampf geht weiter. Gegen Gewalt vor allem in den Familien, gegen sexuelle Belästigung, gegen verbale Angriffe. Das sind alles Dinge, die wenig mit Gesetzen zu ändern sind und für die es eigentlich egal ist, wer Ministerpräsident ist. Wir brauchen nicht nur eine politische Revolution, wir brauchen vor allem eine kulturelle Revolution. +Ich will erst einmal ins Ausland, um dort zu studieren, mich weiterzuentwickeln. Aber ich werde ganz bestimmt zurückkommen. Wir haben hier noch viel zu verändern. + +Wer ist Nikol Paschinjan? +Der 42-jährige Nikol Paschinjan war lange ein Oppositionspolitiker unter vielen. Seit Jahren kämpft er mit seinen Mitstreitern gegen korrupte Strukturen im Land. Im Jahr 2013 gründeten sie die Bewegung Civil Contract, der vier Jahre später der Einzug in die Nationalversammlung gelang. Dort stellt sie jedoch weniger als zehn Prozent der Abgeordneten und führt auch nicht die parlamentarische Opposition an. Er ist umstritten. Seine Popularität bei seinen Anhängern verdankt der ehemalige Journalist seinem Protestmarsch gegen den geplanten Machterhalt des Präsidenten Sargsjan von der Stadt Gjumri, im Nordwesten der Republik, in die Hauptstadt Jerewan. Was anfangs wenige interessierte, wurde zu einer Bewegung, die sich mit Studentenprotesten in der Hauptstadt verband. Paschinjan wurde zu ihrem prominenten Sprecher. Im Parlament reichten die Stimmen seiner Unterstützer zunächst jedoch nicht aus: Als die Abgeordneten am 1. Mai einen neuen Premierminister wählen sollten, fehlten Paschinjan als einzigem Kandidaten mit 45 Abgeordnetenstimmen 8 Stimmen zur notwendigen absoluten Mehrheit. Paschinjan rief anschließend zu weiteren Demonstrationen und Blockaden auf. Unter dem Druck der Straße unterstützte auch die regierende Republikanische Partei letztlich Paschinjan, der beim zweiten Durchgang am 8. Mai dann doch zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. diff --git a/fluter/der-rhythmus-wo-man-mitmuss.txt b/fluter/der-rhythmus-wo-man-mitmuss.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/der-rinder-wahnsinn.txt b/fluter/der-rinder-wahnsinn.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7428184a3513c92cc9d069110a24a6a9f8f87780 --- /dev/null +++ b/fluter/der-rinder-wahnsinn.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Doch Metanito wird erst einmal nicht geschlachtet, er hat eine Art Lebensversicherung: den Rucksack mit den Messgeräten vom argentinischen Institut für Landwirtschaftstechnologie (INTA). Mit ihm wird gemessen, wie viel Treibhausgase der Bulle freisetzt. Denn das bei der Verdauung entweichende Methangas trägt 25-mal mehr zur Erderwärmung bei als CO2. Von diesem üblen Nebeneffekt des Kuhlebens hat "Metanito" auch seinen Namen – auf Deutsch heißt das: "Methanchen". "Metanito hat sich schon jetzt seine Rente verdient", sagt Guillermo Berra. Der Tierarzt steht neben dem Tier auf der Koppel, krempelt die Ärmel seines hellblauen Hemdes hoch und klopft den gewaltigen Hals. Das Messgerät, das hinter seinem Hals aufliegt, scheint den Bullen nicht zu stören. Ein Kasten, so groß wie ein Netbook, umrahmt von gelben Schaumstoffrollen und befestigt mit zwei Gurten um den Rinderbauch. Eine LCD-Anzeige auf dem Kasten zeigt: Acht Minuten nach elf hat Metanito schon einen halben Liter Verdauungsgase produziert. Wenn Metanito frisst, landet die Nahrung zunächst im Pansen, dem ersten der drei Vormägen des Rindes. Dort gärt sie ohne Luftzufuhr von außen, dabei entstehen Gase. Fast ein Drittel der in Argentinien produzierten Treibhausgase könnte von argentinischen Rindern ausgestoßen werden, so Barra; mehr als 1,2 Millionen davon werden jeden Monat geschlachtet – für den Eigenverbrauch und für den Export. +Wissenschaftler wie Berra wollen genau wissen, wie viel Methan jede Kuh produziert. Deshalb führt ein dünner Schlauch in Metanitos Bauch, zwischen den Rippen hindurch, direkt in den Magen. "Das ist für ihn so harmlos wie für ein Baby, das Ohrlöcher bekommt", sagt Berra. "Wenn wir den Schlauch rausziehen, wächst das Loch schnell zu." Berra löst das außen liegende Ende des Schlauchs aus dem Messgerät. "Da, riech mal!" Mit einem leisen Pffft drängt warme Luft aus dem Schlauch, direkt aus Metanitos Magen in die Nase – ein originaler Rinderrülpser in Rindermagentemperatur, faulig und ekelhaft. Berra führt den Schlauch auch an seine Nase und nickt zufrieden. Normaler Verdauungsgasgeruch also. Er schließt den Schlauch wieder an und die Magenluft zieht durch das Ventil im kleinen Messgerät.  Metanito bleibt auf der Koppel, während das Team von Guillermo Berra sich hinter dem einstöckigen Flachdachbau trifft. Dort, im Schatten einiger Bäume machen die Wissenschaftler das, was Argentinier am liebsten tun: grillen. Als zur Mittagszeit die Teller verteilt und die Messer ausgepackt werden – die meisten haben ihr eigenes, scharfes Fleischmesser dabei – grast Metanito noch immer auf der Koppel. 85 Liter schädliche Gase hat er allein in den letzten zwei Stunden in die Atmosphäre geschickt. +Imagine: Exbeatle Paul McCartney empfiehlt einen fleischlosen Montag im Kampf gegen das Methanproblem +Grillen fördere den Teamzusammenhalt und sei wichtig für den Informationsaustausch, sagt Berra. Tatsächlich wird beim Essen nur über den Job gesprochen. Laura war auf einem Kongress zum Thema Emissionen in Neuseeland. Dort ging es nicht nur um Kuhrülpser, sondern auch um die Verdauungsgase von Schafen. Miguel berichtet von seinen Forschungen zu den Treibhausgasen in der Landwirtschaft, besonders beim Sojaanbau. Auf dem Grill schmort kiloweise Fleisch. Es gibt Grillwürstchen, Rippchen mit Fett, Rinderhaut, saftige Steaks und eine ziemlich kleine Schüssel Salat. Keine ungewöhnliche Mahlzeit in Argentinien. Bei einem Grillfest rechnet man hier mit 500 Gramm Fleisch pro Nase. Etwa ein Viertel aller weltweiten Methan Emissionen werden durch Nutztiere wie Kühe, Schafe oder Ziegen verursacht. – wobei ein Schaf nicht mal ein Zehntel des Methans verursacht, das ein Rind ablässt. +Exbeatle Paul McCartney empfiehlt den "Meat Free Monday", um das Klima zu retten. Die Argentinier lässt das kalt. "Wir müssen realistisch sein", sagt Berra. "Niemand wird aufhören, Fleisch zu essen, um das Klima zu retten. Deshalb müssen wir versuchen, die Emissionen der Rinder zu reduzieren." Ein Rind, das Körner und Kraftfutter frisst, verursache weniger Verdauungsgase, sagt Berra. Doch auch eine Umstellung des Futters sei nicht immer klimafreundlicher. Mais muss angebaut werden, gedüngt, transportiert. Das verursacht Schadstoffe. Manche argentinische Bauern haben Angst vor Projekten wie diesem, weil sie höhere Kosten befürchten. "Die Konzepte für den Klimaschutz müssen so rund sein, dass alle gern mitmachen", sagt Berra. Darum stellt sich sein Team auch andere Fragen: Wie die Weidegründe besser werden. Wie die Mikroorganismen im Pansen des Rinds reguliert werden können, damit weniger Gase entstehen. Ob das Anreichern des Futters mit Mineralien, Proteinen oder Taninen die Gase verringert. Ob es hilft, schwer verdauliches Futter zu zerkleinern – und wie der Markt besser reguliert werden kann, damit es keine Überproduktion gibt. Aber noch will Berra keine Empfehlungen geben. "Wir sind in der Forschungsphase." Nach dem Grillfleisch gibt es Kaffee in Berras Büro. Es ist zwei Minuten vor vier – Metanito hat inzwischen 403,9 Liter schädliches Gas ausgestoßen, man kann es auf dem Monitor sehen. Auf Berras Lieblingskaffeetasse ist Metana zu sehen, Metanitos Vorgängerin: Sie hat einen riesigen blauen Ballon auf dem Rücken, zusätzlich zum Rucksack mit den Messgeräten. "Anfangs haben wir die Gase aufgefangen, um das Volumen zu messen", sagt Berra, "das ist dank der neuen Technologie nicht mehr nötig." Tausend Liter pro Rind pro Tag veranschlagen die Wissenschaftler für ein 550 Kilo schweres Tier. Je dicker die Kuh, desto mehr Gase. Rund tausend Liter Rülpsluft sind das am Tag, mal 1,4 Milliarden Rinder, die es weltweit gibt, und die nicht nur aufstoßen. "90 Prozent der Darmgase der Rinder kommen vorne raus, deshalb fangen wir damit an", sagt Guillermo Berra. "Um den Rest kümmern wir uns vielleicht später." diff --git a/fluter/der-sachse-is-hochgradisch-gommunigatief.txt b/fluter/der-sachse-is-hochgradisch-gommunigatief.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..13405f647a318e47949479a1ca17b27e605d927c --- /dev/null +++ b/fluter/der-sachse-is-hochgradisch-gommunigatief.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Der Punkt ist: Die Sachsen werden schlechdergereded, als sie sind. Das Sächssche sollde viel selbstbewussdor geschbrochen werden! Ich denge, der Sachse mid seiner Ard wirkt manchmal befremdlisch auf den sich zunehmend disdanzierd gebenden Durchschniddsdeutschen. +Der Sachse ist hochgradisch gommunigadief. Er klebt ooch mal an dem andren Menschen dran. Wenn sie än Sachsn dreffen, dann fragd der sie aus un lässd nicht logger. Fragen wie "How do you do?" meind der ernsd. +Dieser Kurs ist een Deaderschdigg, das ich endwiggelt habe. Ich bin ja bundesweid als Coach und Gommunikationsdrainerin underwegs und habe fesdgeschdellt, dass es zwischen Osd- und Wesddeudschn äschde Gondexdprobleme gibd, das heißd, wir verschdehen uns deilweise nicht, ooch wenn mir die gleischen Worde benutzen. De Studenden solln in ächd ooch nicht Sächsisch lärn. +Der Sachse will nicht gobierd werden. Durch de öffendlische Wahrnehmung ist er verletzbar geworden. Aber er möchde verschdanden und in seiner Mendalidäd akzeptiert werden. Das ist das Ziel des Gurses. +Ich erlebe eher das Gegendeil. Ich wirke sehr tough und äußerlisch vielleischd wie änne Wesdfrau – bis ich dann die Gusche offmache (lacht). Viele begreifen dann, dass Sächsisch ooch unglaublisch zard und werdschädzend ist. Weil ich Dialegd schbresche, holen viele Deilnehmer dann ooch ihrn Dialegd raus. +Ich liebe das Wort rammeln. Ich hadde mal mit ä Westanwalt zu dun, der 1993 nach Leipzsch gam. Er hatte ä Ehebaar als Mandandn und die sollden übers Wochenende Underlagen zusammensuchen. Am Montag gamen sie gleinlaud in sein Büro und sagten, sie hädden die Underlagen nicht zusammen, weil sie das ganze Wochenende nur gerammeld hädden. Dr Anwalt war völlig gonsdernierd. Aber für den Sachsen hat rammeln nischd mit Sexualidäd zu tun. Rammeln bedeutet Hektik, rumrennen, rumhetzen, sisch de Birne, den Kopp, rammeln. +Ja. Für mich ist Sächssch sehr weiblich. Eene Frau, die mit ihrem Sächssch schbield, gann hocherodisch wirken. Es liegd aber an den Bersonen und der Bersönlischgeid und nicht am Dialegd! +Ja (lacht). Aber da sinn mir wieder beim Dema Bersönlischgeid. Wenn ich mit ä Mann änne rischdisch gude Nacht hadde, dann gann der danach ooch sagen: Es war glasse. Wenn der aber nur bassiv rumgelegen hädde, dann würde ich dän abservieren. Das wäre im Bayrischen aber nicht anders. diff --git a/fluter/der-schiesser-befehl.txt b/fluter/der-schiesser-befehl.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d032f95503db59490cf307f80af7300176e59ee3 --- /dev/null +++ b/fluter/der-schiesser-befehl.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Irgendwann traf er Klaus Jungnickel, der sich im Chemnitzer Stadtteil Mittelbach mit seinen 15 Angestellten erfolglos gegen den Untergang stemmte, 1993 ging der Betrieb in Konkurs. Für Jassner war das die Gelegenheit, auf den Resten von Jungnickels Firma eine Marke nach dem Vorbild amerikanischer Wäschekonzerne aufzubauen, die in den 80ern aus bloßen Unterhosen Kultobjekte gemacht hatten. Diese Nische war in Deutschland noch unbesetzt. Am 1. November 1993 meldete Jassner die Firma an. Er hielt 80 Prozent der Anteile und kümmerte sich darum, Bruno Banani bekannt zu machen, Jungnickel bekam 20 Prozent und war verantwortlich dafür, dass die Produktion lief. Vorbild war das Modelabel Calvin Klein, das an den Hüften von Nachwuchsmodels wie Mark Wahlberg berühmt geworden war. Die Zeiten, das hatte Jassner klar erkannt, standen auf Kate Moss und nicht mehr auf Kati Witt. Wenn er von dieser Anfangszeit erzählt, klingt das allerdings weniger nach dem Rock des Aufbruchs als nach solider Volksmusik: "In Deutschland gab es damals nichts, das so war wie der Kallwinn Klein." +Heute sitzt Jassner im Konferenzraum eines kantigen Gebäudes aus Glas und schwarzemStahl im Gewerbegebiet von Chemnitz. Bereits vor zehn Jahren ist Bruno Banani aus der Mittelbacher Klinkerhalle hierher umgezogen. Jassner trägt ein rotes Hemd und ein blaues Sakko, eine Jeans und flotte Sneaker. Die wenigen noch verbliebenen Silberhaare kräuseln sich um seinen Hinterkopf. Der 67-Jährige sieht etwas müde aus, in seinen Augen schimmert es rot. Doch wenn der Unternehmer alten Schlags, auf dessen Visitenkarte "Dipl.-Betriebswirt Wolfgang Jassner" steht, über die hinter ihm liegenden Jahre spricht, merkt man ihm die Befriedigung darüber an, etwas aufgebaut zu haben, das er einmal seinen Kindern übergeben kann. Mit den hochwertigen Stoffen und dem modernen Design waren die neuen Schlüpfer schnell bei allen beliebt, die darauf hofften, dass etwas vonderen Glamour auf den Träger übergeht. Bruno Banani – das klang nach Giorgio Armani und nach Mailand. Dafür gaben die Kunden gern ein bisschen mehr Geld aus, als für die Unterhemden und Tangas, die im Regal daneben lagen. Weil der Name aber besonders in Anbetracht des anfänglichen Heißhungers auf Südfrüchte im Osten auch ganz andere Assoziationen weckt, war es von Beginn an verboten, die Unterhosen in der Nähe einerBanane zu zeigen – und mit Entwürfen in Gelb brauchten die Designer Jassner gar nicht erst zu kommen. "Sonst wären wir schnell eine Ulkmarke geworden", sagt er. Schon nach zwei Jahren machte das Unternehmen sechs Millionen D-Mark Umsatz und beschäftigte 60 Mitarbeiter. Das war Jassner aber nicht genug. +Gemeinsam mit seiner Herrenberger Werbeagentur und ein paar jungen Kreativen suchte er nach Ideen, die Marke noch bekannter zu machen. Für eine klassische Kampagne in Zeitschriften und auf Plakatwänden fehlte das Geld, es musste etwas sein, was auf einen Schlag viele Menschen sehen konnten. Also schickte Jassner am 13. August 1998 eineUnterhose zur russischen Weltraumstation MIR, und beauftragte einen Kosmonauten, sie auf ihr Verhalten in der Schwerelosigkeit zu überprüfen. Was aber viel wichtiger war, als die Ergebnisse dieser Tests: Weltweit zeigte das Fernsehen Bilder aus dem All, auf denen der Flugingenieur Nikolai Budarin mit breitem Grinsen beide Daumen hob, mit Bruno-Banani-Mütze und im Bruno-Banani- T-Shirt. Für einen sechsstelligen Betrag, den Jassnerden Russen überwiesen hatte, kannte seine Firma jetzt die ganze Welt, auf den Etiketten stand fortan der Zusatz "first space proofed underwear". Später folgten Ausflüge auf den Mount Everest und in 4.800 Meter Wassertiefe im Bermudadreieck. "Das waren alles so Ideen, die ein bisschen Spaß gemacht haben", sagt Jassner. "Wir wollten eine Botschaftvermitteln, was unsere Marke ausmacht." Mit dieser unkonventionellen Strategie ist Bruno Banani zu einer Marke geworden, die in 17 Länder nicht nur Unterwäsche verkauft, sondern auch Sonnenbrillen, Düfte, Taschen und Uhren. Insgesamt 15 Lizenznehmer nutzen ihre Bekanntheit, bis heute muss jedes Produkt erst von Jassner abgenickt werden, bevor es in seinem Namen verkauft werden darf. Im vergangenen Jahr hat dasUnternehmen so den Umsatz gegenüber dem Vorjahr um knapp 17 Prozent auf 75,2 Millionen Euro gesteigert. In Chemnitz wird davon aber nur noch ein geringer Teil erwirtschaftet. Dort arbeiten knapp 100 Angestellte und produzieren Unter- undSchwimmhosen für Männer, eigentlich wie vor 156 Jahren. +Bruno Banani ist heute eines der Vorzeigeunternehmen in Ostdeutschland. Dass es auch einen anderen Teil der Wahrheit gibt, sieht man nur, wenn man hinter den Vorhang blickt. Dort sitzt Birgit Albrecht, Gewerkschaftssekretärin der IG Metall in Chemnitz. Sie sagt: "Mit Bruno Banani zu verhandeln, war am Anfang wie Steine zu schneiden." Anfang der 90er-Jahre hatte sie die Insolvenz von Jungnickels Mittelbacher Textilfabrik begleitet,danach konnte sie aber nicht verhindern, dass die Türen von Bruno Banani für sie geschlossen blieben. Jassner und Jungnickel wollten in Ruhe ihr Unternehmen aufbauen, da hätte die Gewerkschaft nur gestört. Nach fünf Jahren aber war die Unzufriedenheit bei den Mitarbeitern groß: Die Löhne waren niedrig, Überstunden wurden nicht bezahlt. Sie wollten einen Betriebsrat, Albrecht organisierte geheime Treffen mit den Näherinnen, um sie über ihre Rechte zu informieren. Nach der Wahl dauerte es allerdings noch ein ganzes Jahr, bis Jungnickel und Jassner die branchenüblichen Gehälter zahlten. "Für die Kunden und die Medien war Bruno Banani von Beginn an eine Erfolgsgeschichte", sagt Albrecht. "Aber der Erfolg muss ja nicht unbedingt bei denen ankommen, die ihn erarbeitet haben." Doch das ist Vergangenheit. Das Verhältnis zwischen der Firma und der Gewerkschaft hat sich beruhigt, Jungnickel, mit dem sich Albrecht in vielenVerhandlungen gestritten und danach wieder vertragen hat, hat das Unternehmen im vergangenen Herbst verlassen, nicht ganz freiwillig, räumt Jassner ein. Er will nun langsam die Übergabe einleiten. "Man muss der nächsten Generation die Möglichkeit geben, sich freizuschwimmen." Sein Sohn Jan, 37 Jahre alt, in Chemnitz verheiratet,arbeitet jetzt schon in der GeschaÅNftsführung mit, er soll die Firmenleitung übernehmen.Für den Alten geht dann das Abenteuer in Sachsen zu Ende, er wird zurückkehren auf die Schwäbische Alb, wo er bis heute lebt. Denn so richtig ist er selbst im Osten offenbar nie angekommen. In Chemnitz wohnt er seit 16 Jahren im Hotel. diff --git a/fluter/der-schmutz-und-das-geld.txt b/fluter/der-schmutz-und-das-geld.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c99ac9edb1dda53718d876915f472eaa3a4f63a4 --- /dev/null +++ b/fluter/der-schmutz-und-das-geld.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Rudenko, Muskelberg, Profischwimmer und Taucher, ist in Norilsk geboren und aufgewachsen. Er arbeitet bei der Eisenbahn, die Norilsk mit dem arktischen Hafen Dudinka verbindet. Wie die meisten Einwohner will Rudenko nicht in dieser Stadt alt werden, schon mit 28 Jahren besitzt er eine Eigentumswohnung in der sibirischen Großstadt Irkutsk. +Aber noch bleibt er. Er liebt die Stadt, er liebt sogar das schwierige Leben hier. Seine Profilseite bei der russischen Facebook-Kopie VKontakte schmückt ein Zitat von Nietzsche: "Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll." +Das könnte auch das Motto der Stadtgründer von Norilsk gewesen sein. Dass hier, in der arktischen Wüste rund 300 Kilometer nördlich vom Polarkreis, eine Stadt entstand, war eine einzige Überwindung von Mensch und Natur. In den Bergen fand man Nickel, Kupfer, Palladium, Kobalt und Platin. Metalle, die der sowjetische Staat dringend für seine Industrie brauchte. Ab 1935 wurden von Gulag-Häftlingen Bergwerke und Fabriken gebaut. Wie viele von ihnen bei dieser Arbeit ums Leben gekommen sind, weiß niemand. Tausende? Zehntausende? Ihre Knochen und Schädel ragen auch heute noch an manchen Stellen aus der Erde, wenn der Sommer den Permafrostboden etwas aufgeweicht hat. +Heute gehören die Kupfer- und Nickelfabrik und das Metallkombinat "Nadeschda", was auf Deutsch "Hoffnung" bedeutet, dem Unternehmen "Norilsk Nickel", einem der größten Metallproduzenten der Welt. Der Firma gehören auch die Bergwerke, die Eisenbahn, bei der Nikita Rudenko arbeitet, und sechs Eisbrecher, die sich mit Metallen und Erzen durch das Nordpolarmeer pflügen. Norilsk Nickel ist ein Imperium mit rund 11,5 Milliarden US-Dollar Jahresumsatz, der größte Arbeitgeber der Stadt, dessen Verwaltung aus ehemaligen Managern der Firma besteht. Norilsk Nickel ist auch: einer der größten Luftverschmutzer Russlands. Millionen Tonnen Schwefel-dioxid werden jedes Jahr von den Fabriken freigesetzt. Im Ranking der russischen Statistikbehörde gilt Norilsk als die schmutzigste Stadt Russlands. +Vor allem im Sommer, wenn der Wind die Abgase in die Stadt trägt, bekommen die Einwohner den Geruch und das Kratzen im Hals zu spüren. "Wir machen die Fenster zu, was kann man sonst machen", zuckt Rudenko mit den Achseln. "Man muss es philosophisch sehen. Es ist immer besser dort, wo wir gerade nicht sind." Eigentlich reden die Einwohner nicht gern über die Umweltprobleme. Zwar haben fast alle Verwandte oder Bekannte, die in einer Nickelfabrik gearbeitet haben und früh an Krebs gestorben sind, aber dieses Trauma wollen sie verdrängen. Es ist der Preis, den sie für ihren Wohlstand zahlen. +"Ohne Norilsk Nickel gäbe es diese Stadt nicht", sagt Igor Schtschepilow. Mit 49 Jahren ist er vom Fabrikarbeiter zum Abteilungsleiter aufgestiegen. "Norilsk hat mir alles gegeben. Ich kann meine Eltern und Kinder finanziell unterstützen, und ich bin schon um die ganze Welt gereist", sagt er. +Er hat sogar einen Fahrer, der ihn am Wochenende mit dem Geländewagen in eine Garage fährt, in der ein Schneemobil geparkt ist. Sein Freund, der Bergwerksdirektor Pjotr Isossimow, und der Mechaniker Farchad Sakajew warten schon. Es sind minus 40 Grad, es windet heftig, aber Schtschepilow sagt: "Es ist nie zu kalt, nur manchmal hat man falsche Kleidung an". In eine Tasche rechts vom Steuer steckt er einen Karabiner. Waffen und Jagdlizenzen sind in Norilsk sehr verbreitet. "Als ich 16 war, nahm mich mein Vater auf die Jagd mit", sagt Schtschepilow. "Wir sind 25 Kilometer mit Langlaufski gelaufen, auf dem Rückweg musste ich auf dem Rücken oft Teile vom Rentier tragen, 20 Kilo Fleisch." Heute jagt er meist Rebhühner oder Hasen. "Früher habe ich die mit dem Schneemobil überfahren, weil mir die Patronen zu schade waren", sagt er. Dann wärmen sie alle die Motoren auf und fahren raus aus der Stadt in die Tundra. +Die Birken und Lärchen außerhalb der Stadt haben schwarze, verkohlte Zweige – sie sind durch den Schwefel aus den Fabriken verbrannt. Drei Schneemobilfahrer geben Vollgas und rasen am zugefrorenen Fluss entlang. Zum Jagen geht es 100 Kilometer nördlich in die Tundra, zum Fischen 100 Kilometer Richtung Süden. Beide Distanzen schaffen sie bei gutem Wetter in einer Stunde. "Wir fahren immer zu dritt und nehmen nur erfahrene Menschen mit, auf die man sich in der Tundra verlassen kann", sagt der Bergwerksdirektor Isossimow. "Wir mussten schon oft die Maschinen aus dem Schnee ausgraben." Die Menschen in Norilsk sind hilfsbereit, es herrscht aber auch ein deutlicher Macho-Kult. "Wir lieben das Extreme, so stellt man sich selbst auf die Probe", sagt Schtschepilow. "Ein echter Mann muss einen Ausweg für seine Energie finden. In Moskau würde ich das vermissen." +Noch immer ist das Verhältnis von Mensch und Natur in Norilsk ein Kampf. Auf der vereisten Erde werden selbst hohe Plattenbauten auf Pfählen gebaut. Dutzende Häuser in der Stadt haben trotzdem überall Risse. Sie stehen leer mit eingeschlagenen und zugeschneiten Fenstern. Wegen des Permafrosts gibt es auch keine Landwege nach Norilsk. Die Stadt ist nur mit dem Flieger erreichbar, über die Nordostpassage oder im Sommer über den Fluss Jenissei. Den Rest von Russland nennt man in Norilsk "Festland", als würde man auf einer Insel leben. +Bei der Ankunft am Flughafen gibt es zudem Passkontrollen, reingelassen werden nur russische Staatsbürger oder Ausländer mit einer Sondergenehmigung. In der Sowjetunion war Norilsk eine komplett geschlossene Stadt. In den 90er-Jahren wurde die Einreise für alle erlaubt. Doch 2001 wurde die Stadt wieder für Ausländer geschlossen, offiziell, um die Arbeitsmigranten von der Stadt fernzuhalten. +Wenn ein "schwarzer" Schneesturm beginnt, die schwefeligen Flocken durch die Luft wehen, werden die Wege gesperrt, das Leben steht dann für mehrere Stunden still. Die Menschen bleiben in ihren Wohnungen – zusammen mit ihren Topfpflanzen, die mit Tageslichtlampen beleuchtet werden, damit sie die 45 Tage lange Polarnacht überstehen. +Das erste Stück unberührter Natur liegt eine Hubschrauberstunde entfernt oder 250 Kilometer mit dem Schneemobil. Der Biologe Oleg Beglezow fährt manchmal für mehrere Monate hin. "90 Kilometer lang sehe ich nur verbrannte Landschaft, dann kommen endlich lebendige Tannen", sagt er. Er lebt dann allein in der Wildnis, beobachtet das Wetter und die Tiere. Das Naturschutzgebiet ist nach offiziellen Angaben von der Industrie nicht betroffen, weil es einen Kilometer höher in den Bergen liegt. Nun will man dort "Ökotourismus" betreiben. Auch Norilsk Nickel sponsert einige Naturschutzprogramme. Damit kämpft das Unternehmen gegen das negative Image und die Umweltstrafen, die es regelmäßig für die Nichteinhaltung von gesetzlichen Umweltnormen zahlen muss. Daher soll auch im kommenden Jahr die alte Nickelfabrik – die größte Verschmutzungsquelle – geschlossen werden. Im Januar zeigte eine Prüfung des russischen Umweltministeriums, dass die Obergrenze an Schwefeldioxidabgasen von dieser Fabrik um das 44-Fache des Erlaubten überschritten wurde. +Welche Folgen diese Produktion für die Mitarbeiter hatte, darüber wurde in der Sowjetunion nie geforscht, das Thema war tabu. Entweder starben die Arbeiter, bevor sie in Rente gingen, oder sie verließen die Stadt und wurden so von keiner Statistik erfasst. "Eigentlich ist die Lage bei uns nicht schlimmer als in jeder Großstadt", erklärt Konstantin Gorbel, der Chefarzt des größten Krankenhauses der Stadt. Sein Spezialgebiet ist Onkologie. "Leider wissen wir nicht genau, was den Krebs verursacht", sagt er. "Die Nickelproduktion ist ein Risikofaktor. Aber Rauchen ist das auch." Auf seinem eigenen Schreibtisch steht ein Aschenbecher, voll mit Zigarettenstummeln. In der Ecke steht eine E-Gitarre. "Ich war hier früher ein Rockstar", lacht er. +Viele Einwohner sehen es so: Sie sorgen für ihre Gesundheit, indem sie oft in die Sonne fahren, schließlich haben sie zwei bis drei Monate Urlaub. Und leisten können sie sich das eher als die Russen in anderen, ärmeren Städten. Der Arbeit-geber spendiert sogar die Fahrten ans Meer in die schönen Sanatorien, wie es einst in der Sowjetunion der Staat tat. Solange der Nickel und die anderen Metalle ins Ausland verkauft werden, bleiben Firma und Stadt reich. Den Rest nimmt man in Kauf. +"Das Metall in diesen Bergen wird noch für die nächsten hundert Jahre ausreichen", sagt Abteilungsleiter Igor Schtschepilow. Und danach? "Danach? Hundert Jahre sind länger als mein Leben." +Bis er in Rente geht, will er sein Leben in Norilsk genießen. Am Abend, als er mit dem Schneemobil in der Dunkelheit in die Stadt zurückkehrt, sieht er, wie ein Rebhuhn im Licht der Scheinwerfer erstarrt. Er zieht den Karabiner raus. Ein Schuss. Ein zweiter Schuss. Er springt in den Schnee und holt den toten Vogel, der nicht einmal versucht hat wegzufliegen. Weiße Federn fliegen im Wind. diff --git a/fluter/der-schwarze-nazi.txt b/fluter/der-schwarze-nazi.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c8ca38f94ca76218728d7dbe659ee07e6881e4c4 --- /dev/null +++ b/fluter/der-schwarze-nazi.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Durch einen Freund unserer Familie, Kalemba Mukumadi. Nach dem Sturz des Diktators Mobutu floh er aus dem Kongo und fand in Deutschland eine neue Heimat. Leider wurde er extrem oft angegriffen und auch verprügelt. Als ihn dann einmal am Erfurter Bahnhof drei Jugendliche rassistisch beleidigten, wurde es ihm zu viel, er ist zu ihnen hin und hob den Arm zum Hitlergruß. Da waren die völlig baff! So ist er mit ihnen ins Gespräch gekommen. +Das kommt ganz drauf an, wen man fragt. Vor bestimmten Leuten ist es auch unmöglich – weil sie pauschalisierte Feindbilder haben und auch eine gewisse, nun ja, Resistenz gegenüber Argumenten. Und wenn man dich fragen würde? Dann würde ich sagen: die Sprache lernen. Für manche werden aber selbst Menschen, die akzentfrei Deutsch sprechen, nie ganz dazugehören. Da genügt es, ein bisschen so auszusehen, als käme man vielleicht aus dem arabischen Raum. Gegen dieses Bild anzukommen ist wahnsinnig schwierig: Unser Protagonist Sikumoya macht, so viel er kann und noch mehr – und trotzdem kriegt er es nicht hin. +Ja, wenn auch wohl kaum in so extremer Form wie in unserem Film. Die Integrationsdebatte ist auf jeden Fall gerade so aufgeheizt, dass kaum einer noch objektiv diskutiert. Politiker fühlen sich durch die Bevölkerung dazu gezwungen, harte Parolen zu schwingen. Die Gefahr der Überanpassung einerseits und der totalen Abschottung andererseits wächst dadurch. Das wäre anders, wenn wir Integration als etwas sehen würden, bei dem beide Seiten mitmachen.Bei Sikumoya wird Integration zur totalen Selbstaufgabe. Ist das ein reales Problem? +Die meisten Reaktionen gab es auf dem Lindenauer Markt in Leipzig, wo wir für den Dreh einen Wahlkampfstand der fiktiven Partei "NPO – Nationale Patrioten Ost" aufgebaut haben. Wir hatten zwar eine Drehgenehmigung, aber keine Absperrung. Manchen Passanten war wohl nicht ganz klar, dass wir einen Film drehten: Die einen nahmen interessiert unsere Fake-Parteiblätter mit. Die anderen empörten sich. Ein Anwohner stellte sogar riesige Boxen auf und spielte für 20 Minuten bei voller Lautstärke "Deutschland muss sterben" von Slime. Unseren Dreh hat das extrem behindert, aber es war auch cool zu sehen, dass es sehr wohl gesellschaftliches Engagement gibt. +Wir haben uns eher gefragt, ob etwas zu platt wirkt. Zum Beispiel die Szene, in der Sikumoya seine Parteigenossen zwingt, ihre amerikanischen Jeans und koreanischen Handys zu verbrennen. Das wirkt übertrieben, aber zeigt gut, wie irrwitzig Ideologien sind, wenn man sie zu Ende denkt. Hattet ihr nie Angst anzuecken? Wir haben uns viele Gedanken gemacht, uns zum Beispiel bewusst dafür entschieden, die Sprache der Neonazis zu meiden. +… von seinem Text mal abgesehen. Insgesamt haben wir aber versucht, keine Rassismen zu reproduzieren. +Die zwei Verleihe, die daran interessiert waren, hätten für 15 Jahre alle Rechte für den Film besessen. Wir wollen den "Schwarzen Nazi" aber in Schulen, Jugendzentren und andere Einrichtungen bringen und nach den Vorführungen gemeinsam über Rassismus sprechen. +Ich will die Wirkung nicht übertreiben, aber ich glaube schon. "Der schwarze Nazi" bricht Ideologie auf und dekonstruiert sie, zum Beispiel diese alberne Idee des "deutschen Blutes". Sikumoya wird damit konfrontiert, kein deutsches Blut zu haben, worauf er entgegnet, im Krankenhaus eine Bluttransfusion bekommen zu haben. Indem man Bilder humoristisch bricht, kann man sicher etwas erreichen. +Klar, aber nicht nur. Man sollte ihre Gefährlichkeit immer im Kopf behalten und auch darstellen. Gerade weil viele Zuschauer Neonazis nur aus dem Fernsehen kennen und im wahren Leben überhaupt keine Schnittstellen mit ihnen haben. Ich kenne einige Neonazis und weiß: Sie stellen eine reale Gefahr dar.Darf man sich über Nazis lustig machen? +Ja. Meine Heimat Jena war in den 90er-Jahren fast wie eine national befreite Zone, vor allem wenn Rummel war und sich alle rechten Jugendlichen versammelten. Damals sahen die noch mehr wie eine Subkultur aus mit Bomberjacke und Ostschulschnitt: Glatze hinten, vorne Pony. +Als bunter, alternativer Jugendlicher war man ein beliebtes Angriffsziel. +Unser Film ist nicht nur ein politisches Produkt, sondern auch ein Spielfilm. Wenn keine der Hauptpersonen Empathie hervorruft, funktioniert der Film nicht. Tatsächlich hat Sympathie auch viel mit dem Stil der Schauspieler zu tun. Wenn zum Beispiel jemand dieses "Trottelige" gut draufhat, wie der Schauspieler der Nazi-Rolle "Steve", dann kitzelt das besonders viel Sympathie hervor – vor allem im Vergleich zum Protagonisten, der ja total krass und hart wirkt. +Ich mag das sehr, wenn Filme mit Genres spielen. Wir haben uns deshalb bewusst für ein bisschen Sand im Getriebe entschieden, das den Zuseher aus dem Modus der Komödie reißt. Ich will aber auch nicht behaupten, dass das leicht beklemmende Gefühl immer zu 100 Prozent beabsichtigt war. An manchen Stellen hat das womöglich auch mit filmischem Unvermögen zu tun. +"Der schwarze Nazi", Deutschland 2016, Regie und Drehbuch: Tilmann und Karl-Friedrich König. Mit: Aloysius Itoka, Judith Bareiß, Chris Weber +Dafür, dass Sara Geisler erst 2012 nach Deutschland kam, hat sie sich schon recht gut integriert: Genau wie Sikumoya schätzt sie deutsches Bier und hat auch ihren Tiroler Akzent mittlerweile einigermaßen im Griff. Einen Wechsel der Staatsbürgerschaft zieht sie dennoch nicht in Betracht – auch wenn ihr der Gedanke während der österreichischen Bundespräsidentschaftswahl ab und an durch den Kopf blitzte. diff --git a/fluter/der-singende-souveraen.txt b/fluter/der-singende-souveraen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4975356049b043c3bde86bb939e52df627ada043 --- /dev/null +++ b/fluter/der-singende-souveraen.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Früh übt sich: Mehr als 200 Schulchöre nehmen am Laulupidu teil +Doch genau hier, an der sanft abfallenden Sängerwiese, kamen im Sommer 1988 fast 300.000 Esten zusammen, um gemeinsam verbotene Lieder anzustimmen. Sie hätten dafür ins Gefängnis geschickt werden können, in jenen Tagen wagten die Esten mutig den Aufstand. Die friedlichen Proteste, die sich ein Jahr später über das gesamte Baltikum erstreckten, gingen als "Singende Revolution" in die Geschichte ein. 1991 erlangte das Land seine Unabhängigkeit. +Und so ist das dreitägige Laulupidu, bei dem in diesem Juli gut 33.000 Sänger und 10.000 Tänzer auftreten, weit mehr als nur eine gigantische Kulturveranstaltung. Laut einer Studie nimmt jeder zweite Este im Laufe seines Lebens mindestens einmal an diesem Fest teil. Es ist ein identitätsstiftendes Wochenende für das ganze Volk. +Dabei bezeichnen sich die Esten eigentlich als Individualisten, die nur selten ihre Emotionen zeigen. Beim Laulupidu sind sie anders. "Schau in die Gesichter der Menschen", hatten mir einige Freunde vorher gesagt. Schon beim Eröffnungslied "Koit" ("Dämmerung") sehe ich Jugendliche, gestandene Männer und Frauen mit Tränen in den Augen. Im Text heißt es poetisch: +Auf den Bergspitzenschimmert die Dämmerung.Die Fackel unserer Hoffnungensteige in den Himmel. +In einer Art singendem Geschichtsunterricht präsentieren die wechselnden Formationen von Kinder-, Jugend- und Erwachsenenchören an jenem Samstag die Werke früherer Feste. Neben staatstragenden Melodien erklingen auch fröhlichere Songs. Währenddessen schwenken Tausende Esten ihre blau-schwarz-weißen Flaggen. +Massenaufläufe, bei denen Menschen patriotische Lieder singen und Flagge zeigen, sind mir normalerweise suspekt. In meiner Generation, ich bin ein Kind der 70er-Jahre, waren der Zweite Weltkrieg und die Schuld der Deutschen zeitlebens präsent. Auch heute noch würde ich mir nie eine Flagge kaufen, selbst wenn es im Rahmen der Fußball-WM-Euphorie immer mehr Deutsche tun. +Doch weiß ich natürlich, dass Estland eine andere Geschichte hat – und der Patriotismus entspannter ist, als wir ihn kennen. Zusätzlich beruhigen mich die Worte einer anwesenden Estin: "Wir sind so ein kleines Volk, wir könnten sowieso niemanden erobern oder überfallen." Jahrhundertelang war die kleine Nation fremdbestimmt. Auch im Jahr 1869, als das Laulupidu zum ersten Mal stattfand; damals noch in der Universitätsstadt Tartu und als Teil des russischen Zarenreiches. +"Unsere Vorfahren träumten davon, eine unabhängige Nation zu sein und dass der Schulunterricht in ihrer Muttersprache stattfindet", erklärt Dirigent Aarne Saluveer am Sonntagmorgen. "Es war damals ein verrückter Traum." Heute ist er Realität. Sogar die eingeladenen internationalen Chöre aus Russland, der Ukraine, den USA und Deutschland singen auf Estnisch. +Früher war Saluveer in seiner Heimat ein Rockstar, er trat unter anderem mit Michael Jackson auf. Seit vielen Jahren dirigiert der 55-Jährige Kinderchöre. Mitten im Gespräch lächelt er im Getümmel einem Mann zu, der ihm zuwinkt. "Das war unser Premierminister mit seiner Familie", sagt Saluveer. Sein Auftritt naht, er verabschiedet sich für den Moment. +Fast 7.500 Mädchen und Jungen von rund zweihundert verschiedenen Schulchören stehen kurz darauf vor ihm auf der Muschelbühne. Hinter dem Dirigenten sitzt ein Teil der Nation samt Premier und Präsident. Alle Augen sind jetzt auf Saluveer gerichtet. Souverän führt er die Kinder durch die Lieder. +Eines heißt "Minu isamaa" ("Mein Vaterland"), ein Song mit Funk-Elementen. Da ich vorher bei einigen Proben dabei war, kenne ich die Melodie gut und summe unbewusst mit. Damals trugen die Kinder Jeans, T-Shirt, Sneakers und hörten in den Pausen Kate Perry. Jetzt präsentieren sie ihre verzierten Wollkleider oder schicken Anzüge und singen: +Mein Vaterland, mein Vaterland,du bist so schönund so hässlich zugleich … +"Minu isamaa" ist einer von insgesamt 17 neuen Titeln bei diesem Laulupidu. In einer Kampagne konnten die estnischen Bürger vorschlagen, was sie für schön oder hässlich halten. So singen die Kinder nun von Bären im Wald, Elchen im Schatten, aber auch von kaputten Häusern und Wäldern voller Müll. +Aarne Saluveer hat einen fünfjährigen Enkel. Er wird in einer freien Gesellschaft aufwachsen, anders als Saluveer selbst. "Es ist ein bisschen wie bei Star Wars", sagt er. "Was macht man aus seinem Leben? Welchen Weg schlägt man ein? Entscheidet man sich für das Gute oder das Böse?" Jeder müsse seinen eigenen Platz finden. +Blau, Weiß und Schwarz: Der estnische Patriotismus ist entspannter als in vielen anderen Ländern +Die dunkle Macht in der estnischen Galaxie war einst die Sowjetunion. Der Osten liegt nicht nur geografisch nah, bis heute ist ein Viertel der Bevölkerung russischstämmig. Die Angst vor der Unterdrückung durch Russland sitzt tief, besonders seit derKrim-Krise. Das Motto des diesjährigen Sängerfestes klingt daher so doppeldeutig wie einst die Protestsongs: "Touched by time – The time to touch". Manche Esten sagten im Vorfeld scherzhaft, dass sie schon mal für die nächste Singende Revolution üben. Am Ende des Wochenendes aber auch: Wer zusammen singt, der bekriegt sich nicht. +"Die Unabhängigkeit ist uns Esten am wichtigsten", sagt Aarne Saluveer. "Das Laulupidu ist ein rituelles Gefühl und eine emotionale Therapie." +Alva Gehrmann ist freie Journalistin aus Berlin, sie berichtet viel über Nordeuropa und schrieb unter anderem das Buch "Alles ganz Isi – Isländische Lebenskunst für Anfänger und Fortgeschrittene" (dtv). Bei der Arbeit an dieser Reportage hatte sie die ganze Zeit die Melodie von"Minu isamaa"im Kopf. +Fabian Weißlebt als freier Fotograf in Estland und Deutschland und erforscht in seinen fotografischen Arbeiten die kulturellen Veränderungen unserer Zeit. Sein 2013 erschienener Fotoband "Wolfskinder" dokumentiert das Leben von Teenagern im Jugendhilfesystem. Er hat auch das Video zu diesem Beitrag produziert. diff --git a/fluter/der-slacker-unter-den-revolutionaeren.txt b/fluter/der-slacker-unter-den-revolutionaeren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..afd38d50047e3ab5f79b8c19eb4f02d4bba8fe8e --- /dev/null +++ b/fluter/der-slacker-unter-den-revolutionaeren.txt @@ -0,0 +1,19 @@ + +Was zeigt uns das? +Dass Marx' Analyse des Kapitalismus und seine Ideen für eine gerechtere Gesellschaftsordnung ihre Gültigkeit nicht verloren haben. Der auf Haiti geborene, stets politischen Themen verpflichtete Regisseur Raoul Peck stellt auf der Berlinale aber nicht zufällig neben "Der junge Karl Marx" noch den Dokumentarfilm "I Am Not Your Negro" über den Bürgerrechtler James Baldwin vor. In einer Zeit des politischen Rollbacks wollen Pecks Filme agitieren. + +Wie wird's erzählt? +Als klassisches Biopic, das sich aber, wie neuerdings in diesem Genre üblich (siehe etwa auch "Django"), auf eine bestimmte Lebensphase des Porträtierten beschränkt. Um nicht nur den Theoretiker am Schreibtisch zu zeigen, gibt sich der Film in Nebenhandlungen Mühe, die Lebensumstände des Proletariats in der Zeit der Industriellen Revolution zu zeichnen. Interessant, aber durchaus Vorkenntnisse erfordernd, sind die turbulenten Debatten zwischen Marx und anderen progressiven Akteuren der Vormärz-Epoche. Warum ein Film über ein revolutionäres Thema aber in der biederen Form des Hollywood-Historienfilms erzählt wird, bleibt ein Rätsel. + +Beste Nebenrolle +Engels natürlich, im Film gespielt von Stefan Konarske. Gibt Marx mit seinen Studien zum Proletariat wichtige Impulse, füttert ihn jahrelang durch, ist Co-Autor des "Kommunistischen Manifests", von dessen Entstehung der Film handelt. Fair Play: Der Film sollte "Marx & Engels – Angry Young Men" heißen. + +Geht gar nicht +Historienfilm-Klischees. Besonders, wenn Drehbuchautoren ihre historischen Figuren Sachen sagen lassen wie: "Die Geschichte wird uns recht geben, Karl!" Und beim Abspann zeigt der Film zu Dylans "Like a Rolling Stone" eine beliebige Montage aus berühmten Archivaufnahmen des 20. Jahrhunderts: Weltkriege, Befreiungskämpfe, 68er-Demos, DDR-Flucht, Ronald Reagan usw. Soll anscheinend den Bogen in die Gegenwart spannen, den der Film überraschend schuldig bleibt. + +Wieder was gelernt +Der junge Marx war ein ziemlicher Slacker. Unordentlich, verpeilt, knapp bei Kasse. Vermutlich beruft sich der Film dabei auf den legendären Spitzelbericht der preußischen Polizei von 1853: "Im Privatleben ist er ein höchst unordentlicher, zynischer Mensch, ein schlechter Wirt; er führt ein wahres Zigeunerleben, Waschen, Kämmen und Wäschewechsel gehört bei ihm zu den Seltenheiten; er berauscht sich gern […]; sehr oft bleibt er ganze Nächte auf, dann legt er sich wieder mittags ganz angekleidet aufs Kanapee und schläft bis abends, unbekümmert um die ganze Welt, die bei ihm frei aus- und eingeht." + +Ideal für... +...cordhosige Geschichtslehrer, August-Diehl-Fans oder Salonsozialisten, die sich gern über klischeehafte Geschichtsfilme echauffieren. +"Der junge Karl Marx", Regie Raoul Peck, mit August Diehl, Stefan Konarske, Vicky Krieps, Olivier Gourmet, Frankreich, Deutschland, Belgien 2017, 112 Min. diff --git a/fluter/der-sommer-ihres-lebens.txt b/fluter/der-sommer-ihres-lebens.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4fa2bae03fd4bfa5a7effeb6ea1bfd2e0e056fe7 --- /dev/null +++ b/fluter/der-sommer-ihres-lebens.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Es ist wieder eine New-York-Geschichte, die Regisseur Ira Sachs in "Junge Männer" erzählt. Wie schon in "Liebe geht seltsame Wege" (2012), in dem ein alterndes schwules Pärchen nach 40 Jahren Manhattan verlassen muss, da es sich die Miete nicht mehr leisten kann. Oder wie in dem Drama "Keep the Lights On", das 2013 den Goldenen Teddy gewann. Hier geht es um einen jungen Anwalt, der im Drogensumpf des Nachtlebens verschwindet. +Mit diesen Filmen reihte sich Sachs in die lange Liste filmischer Chronisten New Yorks ein. Und auch in "Junge Männer" ist die Stadt mehr als nur die Bühne, auf der sich die Handlung entspinnt. Sie spielt eine Hauptrolle, die sie sich mit Jake (Theo Taplitz) und Tony (Michael Barbieri) teilt. Die beiden 13-Jährigen könnten unterschiedlicher nicht sein: Jake malt viel und redet wenig, Tony redet viel und will unbedingt Schauspieler werden. Sozial trennen sie Welten. Jake kommt aus dem weißen Akademikermilieu, Tony ist Sohn der chilenischen Einwanderin Leonor (Paulina García), die einen kleinen Laden betreibt, in dem viel zu selten jemand Kleider einkauft, als dass er sich rentieren könnte. So flickt sie die Kleidung der Nachbarschaft. +Doch diese verändert sich immer mehr. Und so lernen sich Jake und Tony überhaupt erst kennen. Als Jakes Opa stirbt, zieht seine Familie von Manhattan nach Brooklyn in das Haus mit Lenors Laden, das nun ihnen gehört. Für den introvertierten Jake, der sich in der neuen Umgebung nur schwer einfindet, wird Tony zum Mittelpunkt seines Lebens. Tony wiederum findet in Jake einen Seelenverwandten, mit dem er über seine künstlerischen Pläne sprechen kann. Schließlich ist Jakes Vater Brian Schauspieler. Und beide wollen auf die renommierte LaGuardia High School, die auf Kunst spezialisiert ist. + + +Sachs erzählt die Geschichte der ungleichen Familien so unaufgeregt wie unvoreingenommen. Er lässt Tony und Jake viel Platz für ihre Träume. Sie nehmen Schauspielstunden, Tony versucht Mädchen kennenzulernen, Jake lernt für seine Aufnahmeprüfung und begleitet Tony in eine Disco. Wie sich die beiden die Stadt erschließen und Pläne für ihr Leben schmieden, ist ein großes Kinovergnügen. +Doch es währt nicht lange. Bald stellt Jakes Familie fest, dass Leonor so gut wie keine Miete zahlt. Dem Opa war das egal. Jakes Familie, eingeklemmt in alle möglichen finanziellen Zwänge, ist auf die Einnahmen angewiesen. Der Vater kommt nicht an die gut bezahlten Rollen, die Mutter muss die Familie alleine versorgen, und dann ist da noch die Schwester, die einen Anteil an den Mieteinnahmen haben will. Auch sie hat Familie. Und das heutige New York schenkt keinem was. +Es wäre es nur allzu leicht gewesen, die Protagonisten von "Junge Männer" in gute und böse zu unterteilen. Hier die geldgierigen Vermieter, da die prekäre Migrantin, die verdrängt wird. Aber das vermeidet Sachs elegant, was seinem ruhigen Film eine emotionale Tiefe verleiht. Leonor fügt sich nicht in die Opferrolle ein. Sie ist null kooperativ, als sie eine Mieterhöhung erhält. Statt zu verhandeln, stellt sie auf stur und versetzt Jakes Vater Brian zielsicher einen emotionalen Tiefschlag nach dem anderen. +Und Jake und Tony? Sie wehren sich, so gut sie können. Sie beschließen, aus Protest nicht mehr mit den Eltern zu reden. Und sie halten das auch lange durch. Einzig – es hilft nichts. Am Ende gibt es nur Verlierer. +"Junge Männer", USA 2016; Regie: Ira Sachs, mit Theo Taplitz, Michael Barbieri, Greg Kinnear, Jennifer Ehle, Paulina García, 85 Minuten diff --git a/fluter/der-sparhaushalt.txt b/fluter/der-sparhaushalt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/der-status-krieg.txt b/fluter/der-status-krieg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..89220157a31b6dd1562c54defee556c14a2842dc --- /dev/null +++ b/fluter/der-status-krieg.txt @@ -0,0 +1 @@ +Selbst Steffi Müller, die Dicke mit den Pusteln im Gesicht, die sonst Opfer No. 1 war, konnte sich kaum auf dem Stuhl halten. Es war ein brutales soziologisches Schauspiel, eine Art gesellschaftliche Hinrichtung. Bastian hatte alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte: Er hatte sich vom Druck der Klasse besiegen lassen und seine Identität aufgegeben. Mag sein, dass er nach damaligen Standards die "richtigen", also statusversprechenden Kleider trug – an ihm aber wurden sie zu "falschen", statusvermindernden Kleidern. Weil Status nie verzweifelt daherkommen darf, wenn er funktionieren soll – sondern immer lässig und selbstverständlich und selbstgewählt. Bastian wurde ein anderer, nachdem das passiert war; nachdem er versucht hatte, um jeden Preis dazuzugehören. Ein paarmal zog er die Kleider noch an, wohl seinen Eltern zuliebe, dann aber, als er älter wurde, trug er nur noch Schwarz, wie Johnny Cash. Er fing an zu rauchen, traf sich nur noch mit Außenseitern und trank so viel Bier, dass er einen Wabbelbauch bekam. Er las Enzensberger und schrieb Gedichte, eins davon, ein ganz düsteres, wurde sogar mal auf einem Schulfest verlesen. Das Letzte, was ich von ihm hörte, war, dass er so eine Art Underground-Boheme für sich ausprobierte. Ich weiß nicht, wie's ihm heute geht, ob er Geld hat oder eine Frau und Kinder, aber wenn man ein bisschen romantisch veranlagt ist, kann man's natürlich auch so sehen: Nachdem Bastian den Status-Krieg verloren hatte, wurde er cool.Marc Fischer (36) wohnt mittlerweile in Berlin, wo es nicht ganz so wichtig wie in Hamburg oder München ist, was man trägt. diff --git a/fluter/der-tag-an-dem-ich-mich-einmischte.txt b/fluter/der-tag-an-dem-ich-mich-einmischte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..129c44d159ac40e25db99101ae3715dd0fd7c9d4 --- /dev/null +++ b/fluter/der-tag-an-dem-ich-mich-einmischte.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +In Sachen Verfügbarkeit von öffentlichen Daten ist Großbritannien Deutschland bisher weit voraus. Frei zugängliche Daten von nationalen und lokalen Behörden und Ministerien sind dort auf einer eigenen Website für jeden verfügbar. Aber auch hierzulande tut sich einiges: In Hamburg ist im letzten Oktober ein Transparenzgesetz in Kraft getreten, nach dem bald alle öffentlichen Daten der Behörden und Landesbetriebe eigenständig veröffentlicht werden müssen. Auch das Bundesinnenministerium und die EU arbeiten an Open-Data-Plattformen. Und vor wenigen Wochen ging das Datenportal des Bundes online: www.govdata.de. Ein Riesenfortschritt. +Auf dem Internetportal Fragdenstaat.de können Bürger per Mausklick Daten einfordern, die der Staat nicht von sich aus preisgibt – obwohl er es aufgrund des Informationsfreiheitsgesetzes eigentlich müsste. Dazu muss man nur in einem Formular Antragstext und Adressat angeben. Alle Bundesministerien, aber auch andere staatliche Institutionen und Unternehmen können befragt werden. +Selbst wenn der Staat Statistiken veröffentlicht, sind diese oft nur sehr abstrakt und damit schwer zu verstehen. Um Daten zueinander in Beziehung zu setzen und konkret verständlich zu machen, arbeiten einige Internetplattformen daran, sie unter dem Stichwort "Datenvisualisierung" grafisch darzustellen. Ein schönes Beispiel ist der Bundeshaushalt unter http://openspending.org/de-bund. +Alle Plenardebatten im Deutschen Bundestag, aber auch öffentliche Ausschusssitzungen sowie Parlamentsarbeit auf regionaler und lokaler Ebene werden live im Internet übertragen. So kann man sich auf Bundestag.de und den Seiten der Länderparlamente genau darüber informieren, welche Themen auf der Tagesordnung der nächsten Sitzung stehen und es vielleicht nicht in die Nachrichten schaffen. Zudem sind auf diesen Internetseiten neben Sitzungsprotokollen auch andere Dokumente wie Gesetze online einsehbar und können nach vielen Kriterien durchsucht werden. +Etwa 100 Kommunen in Deutschland nutzen sogenannte Bürgerhaushalte, bei denen Einwohner eigene Vorschläge für die Budgetplanung einbringen und über den Teil der frei verfügbaren Haushaltsmittel mitentscheiden können. Immer häufiger ist dies auch über das Internet möglich. In anderen Ländern gibt es solche Verfahren auch schon für weitere Politikbereiche wie etwa Stadtplanung. +Um Bürger an politischen Entscheidungsprozessen besser zu beteiligen, führen immer mehr Organisationen Internetplattformen mit Adhocracy ein. Die Open-Source- Software ermöglicht einen moderationsfreien Online-Diskurs, der beispielsweise für die Strategiefindung einer Partei oder Debatten zu einem bestimmten Thema genutzt werden kann. Unabhängig vom Standort kann so jeder User an politischen Diskussionen teilhaben. +Die Bundeszentrale für politische Bildung (die auch den fluter herausgibt) bietet seit über zehn Jahren unter wahl-o-mat.de die Möglichkeit, herauszufinden, welches Wahlprogramm mit den eigenen Überzeugungen übereinstimmt. Dafür klickt man sich durch einen Katalog mit Fragen zu aktuellen politischen Themen. Am Ende erhält man eine Rangliste der Parteien, mit denen man am ehesten auf einen Nenner kommt. Unbedingt ausprobieren, auch wenn du noch nicht wählen darfst. diff --git a/fluter/der-totale-muell.txt b/fluter/der-totale-muell.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cb50e02fcfb502fe0957a47e0466d12ff3e20e90 --- /dev/null +++ b/fluter/der-totale-muell.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Kann der Müll mal wieder nicht abgeladen werden, weil die Müllkippen der Umgebung gerichtlich gesperrt wurden – aus Platzmangel und wegen Umweltproblemen –, bleibt er auf der Straße liegen, manchmal wochenlang. Und dann, von einem Tag auf den anderen, ist er plötzlich doch weg. +13.15 Uhr nahe des Bahnhofs: Der Markt von Porta Nolana schließt. Die Gegend wird geprägt von armen Menschen, es gibt hier viele Obdachlose und Menschen, die illegal eingewandert sind. Zwischen Ständen mit Schuhen, Lederwaren und Sommerkleidern fegt Salvatore Frezza – breite Schultern, sonnenverbrannte Haut, Schweiß in den Nackenfalten – in einen Karton, was vom Tag übrig blieb. Die Bierflaschen und Plastiktüten wirft er in die nächstgelegene Mülltonne. "Grazie" steht darauf, "Danke". +Eigentlich ist er lediglich für die Sauberkeit des Platzes zuständig, aber manchmal kehrt er auch durch die Gassen rundherum. Er kann den Dreck einfach nur schwer ertragen, deswegen hat er ihm den Kampf angesagt. Frezza arbeitet sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr – egal ob es hagelt oder regnet; egal ob es 38 Grad sind oder eiskalt ist. Selbst wenn er Fieber hat, schwingt er den Besen. Seinen Lohn zahlen ihm die Marktbetreiber schwarz aus, sie stecken ihm wöchentlich ein paar Münzen und Scheine zu, auf 1.200 bis 1.300 Euro kommt er so im Monat. Macht er eine Pause, schreit schon eine Marktverkäuferin, nicht ohne ihm nachher zuzuzwinkern: "Salvatore, wir bezahlen dich nicht fürs Nichtstun!" +Salvatore Frezza ist in Neapel aufgewachsen, immer hat er hier gelebt. Es tut ihm weh, dass seine Heimatstadt, die früher mitten in einem blühenden Anbaugebiet von Orangen und Zitronen lag, nun als Müllhauptstadt Europas bekannt ist. Selbstironisch verkaufen die Neapolitaner Postkarten mit Müllbergen drauf – und gleichzeitig fühlen sie sich als Bürger zweiter Klasse, vom Staat allein gelassen mit ihren Problemen. +Die illegalen Geschäfte, die in seinem Neapel mit dem Müll gemacht werden, sind für Frezza kaum nachvollziehbar, so dicht ist das Geflecht aus Geben und Nehmen. Dem stolzen Müllmann kommt es heute darauf an, dass zumindest er hart arbeitet, denn das war nicht immer so. Früher betrog auch er die Menschen, verkaufte ihnen Fotokameras, die nicht funktionierten. Dann fand er, wie er bekennt, zu Gott und zu seiner Ehefrau Antonietta, mit der er zwei Kinder hat. Eine Zeit lang war er arbeitslos. Nun ist er seit vier Jahren von Beruf Müllmann. Er sagt, die Verantwortung sei enorm – und dass ihn der Gestank des Mülls schon lange nicht mehr störe. diff --git a/fluter/der-traum-vom-oekologischen-fliegen.txt b/fluter/der-traum-vom-oekologischen-fliegen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8820de3bef8d629f1f6b2d6e2611f4d10d57fe57 --- /dev/null +++ b/fluter/der-traum-vom-oekologischen-fliegen.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Wer das Klima schützen und dennoch dem Fernweh nachgeben will, kann nur hoffen, dass sich auf dem Gebiet des technischen Fortschritts etwas tut. Tatsächlich hat der kanadische Flugzeugbauer Bombardier kürzlich eine Serie von sparsameren Mittelstreckenmaschinen auf den Markt gebracht. Deren Motoren verbrauchen 20 Prozent weniger Treibstoff und pusten entsprechend weniger Schadstoffe in die Atmosphäre. +Last Minute fürs Klima: Wäre ja zu schön, wenn der Bioflieger bald mal käme + +So klimaschonend wie die Bahn ist das zwar nicht – dafür aber schon nah an den CO2-Sparplänen der Europäischen Union. Die hat sich nämlich im Kyoto-Protokoll verpflichtet, bis 2020 ihren Ausstoß an Treibhausgasen um 20 Prozent gegenüber 1990 zu senken. +Bisher sieht es allerdings noch nicht danach aus, dass die fliegenden Kerosinsparer bald flächendeckend auf den Markt kommen. Zwar haben die beiden Marktführer Boeing und Airbus nachgezogen und eigene spritsparende Maschinen herausgebracht. Bis auf weiteres werden aber noch deren alte Modelle den Flugverkehr beherrschen – und die stammen aus einer Zeit, bevor Flugreisende sich ums Klima gesorgt haben. +Aber nicht nur das Ökobewusstsein ihrer Passagiere zwingt Flugzeugbauer und Fluglinien zum Umdenken: Der Treibstoff Kerosin wird aus Erdöl hergestellt – und der Erdölpreis unterliegt starken Schwankungen. Zurzeit ist Erdöl relativ billig, aber langfristig dürfte der Preis wieder steigen – vor allem, wenn die Vorkommen knapper werden. Deswegen ist die Forschung auf der Suche nach neuen Treibstoffen und sparsameren Bauweisen. +Als mögliche Lösungsansätze werden etwa leichtere Werkstoffe für den Flugzeugrumpf und aerodynamischere Tragflächen erforscht, außerdem alternative Treibstoffe – Airbus tüftelt zum Beispiel seit Jahren an Biosprit aus Algen. +Wie schnell der ökologische Fortschritt kommt, hängt davon ab, wieviel die Industrie in die Forschung investiert – und wieviel Druck sie dabei von Politik und Verbraucherinnen und Verbrauchern verspürt. In der Zwischenzeit wächst die Nachfrage nach klimaschädlichen Flugreisen stetig an, im vergangenen Jahr europaweit um etwa fünf Prozent. +Für diese Ferien jedenfalls bleibt's dabei: Fliegen ist extrem umweltschädlich. Wer sein Ökogewissen reinhalten will, kommt nicht drum herum, über Alternativen wie Bahnfahren nachzudenken – und sollte am besten Urlaub auf Rügen statt in Barcelona machen. diff --git a/fluter/der-ueberwachungsstaat.txt b/fluter/der-ueberwachungsstaat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0d9201d7cfbefa44043c938b6176edba7cb7af85 --- /dev/null +++ b/fluter/der-ueberwachungsstaat.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Die Tirade über das untergehende Französisch ist so alt wie Frankreich selbst. Dabei wird nirgends so viel getan, die eigene Sprache zu hegen und zu pflegen. Das Französische ist nicht bloß die Basis der staatlichen Einheit, es übertrifft den Staat an identitätsstiftender Wirkung und Beliebtheit. Franzosen sind notorisch anarchistisch gesinnt. Die Republik und ihre Institutionen werden gerne in Anspruch genommen, aber noch lieber kritisiert und durchaus auch in bürgerlichen Kreisen durch kleine Tricks hintergangen. Mit der Sprache ist das anders, die erst macht den haarlosen Zweibeiner zum Menschen: Für die meisten Franzosen ist kaum eine größere Peinlichkeit vorstellbar, als öffentlich eines Grammatikfehlers überführt zu werden. Und als vor einiger Zeit die linksanarchistischen Theoretiker des "Kommenden Aufstands" ihr Manifest veröffentlichten, galt ihre größte Sorgfalt dem sprachlichen Ausdruck. Es ist in einem radikal modernen, an den Texten Michel Houellebecqs geschulten Französisch verfasst. +Das Französische wird durch eine ganze Reihe von Institutionen überwacht und geschützt, von denen die "Académie française" nur die bekannteste ist. Einflussreicher ist vielleicht die Sprachabteilung im Kulturministerium, in der 28 Experten, die meisten davon Universitätsprofessoren, über aktuelle und strittige Fragen der Orthografie befinden sowie Schulbücher und Prüfungsergebnisse auswerten. Es ist so etwas wie eine permanent tagende Rechtschreibreformkommisssion. Daneben gibt es die Organisation für die Pflege der Frankophonie, ein internationales Gremium, das sich auch gerne mit der Rückübersetzung englischer Begriffe befasst, was der gute Franzose also statt buzz sagen könnte – "ramdam" zum Beispiel, darauf kam eine Gruppe Jugendlicher mit Migrationshintergrund, die für ihre Idee ausgezeichnet wurden: Damit entstand eine lautmalerische Beschreibung des nächtlichen Schwätzens während des Ramadans, wenn alle draußen sitzen und essen. Schon in früheren Jahren wurde aus dem Computer, der in allen möglichen Sprachen seinen Dienst versieht, der "ordinateur" und aus der SMS "le texto", aus der E-Mail "le courriel". +Das Spielen mit der Sprache ist ein zentraler Bestandteil der französischen Jugendkultur, der auch von etablierten Intellektuellen mit Interesse verfolgt wird. Es gehört einfach dazu, als Franzose auch neue Sprachmoden zu kennen. In einem seiner späten Interviews gab sich der ehemalige Staatspräsident François Mitterrand als versierter Kenner aktueller Jugendsprache -– da wusste die staunende Öffentlichkeit freilich noch nicht, dass er zu Hause eine junge, außerhalb der Ehe geborene Tochter hatte, die so sprach. Heute ist diese Tochter, Mazarine Pingeot, natürlich Schriftstellerin von Beruf, denn kaum eine Karriere erfüllt eine französische Familie mit so viel Stolz wie die literarische. +Der zentrale, fast neurotische Stellenwert der Sprache rührt natürlich von einem Minderwertigkeitskomplex her: Zwar ist Frankreich schon eine ganze Weile länger vereint als Deutschland, etwa seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, aber diese Vereinigung ist auch nur oberflächlich. In Wahrheit spielt sich das französische Leben, auch das Gedächtnis der Familien, zum großen Teil in der eigenen Provinz, im "pays" ab, mit seinen lokalen Dialekten, Spezialausdrücken und landwirtschaftlichen Fachbegriffen. Die wesentliche Arbeit eines Lehrers in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bestand darin, den Kindern Französisch beizubringen, wobei er sich einer Klasse von anderssprachigen Schülern gegenübersah, fast wie in einer Banlieue – also einer Vorstadtsiedlung – heute. Die Kleinen sprachen zu Hause alle eine Sprache, die damals als unkultiviert und bäuerisch verächtlich gemacht wurde – zum Beispiel Bretonisch oder Okzitanisch – und von manchen heute durchaus gepflegt wird. +Das Nebeneinander einer regionalen und familiären Identität und einer schulischen und professionellen findet sich, leicht abgeschwächt, heute noch. In Wahrheit sind Sprachtests in Frankreich auch deswegen so angstbesetzt, weil sie die geheime andere Identität zu lüften drohen und aufzeigen, dass der wichtige Mann aus Paris eigentlich auch mal als Provinztrottel angefangen hat. Der Stolz auf die regionale Herkunft und Identität ist für eine nationale Karriere eher hinderlich und bleibt Politikern in der zweiten Reihe oder Außenseitern vorbehalten. +Dabei führen der Sprachwahnsinn und die Neurosen à la Zémmour dazu, dass gerade in den Provinzen der Sinn für lokale Sprachen wächst. Immer wieder gibt es auch zaghafte Versuche, andere Sprachen als das Französische in Frankreich durch staatliche Programme zu pflegen, aber es ist ein politisch heikles Thema. Dabei ist gerade einer der Säulenheiligen aller Liebhaber der französischen Literatur und Gedankenwelt, der Philosoph Michel de Montaigne (1533 bis 1592), ein Beispiel für die Schönheit der sprachlichen Mannigfaltigkeit. In seiner näheren Umgebung wurde nur Okzitanisch gesprochen, von den Landarbeitern und den am väterlichen Hof beschäftigten Frauen. Seine erste Sprache war aber weder Okzitanisch noch Französisch, sondern Latein, das seine Eltern mit ihm sprachen und sein erster Hauslehrer. Selbst die Dorf bewohner, schreibt Montaigne in manchen Texten, konnten mit der Zeit ein wenig Latein und sprachen es mit den Kindern. Montaigne kannte auch noch keine Orthografie, sondern schrieb, wie er sprach. Die Einflüsse fremder Sprachen, insbesondere des Griechischen und des Lateinischen, sind in den "Essais" unverkennbar und tun dem Werk gut. Insofern ist Sprachreinheit unter Berufung auf Montaigne nicht zu haben, die Faszination am Spiel mit der Sprache hingegen schon. Wer beispielsweise als Deutscher in Paris wirklich beeindrucken will, sollte sich daher ruhig zu Fehlern und einem Akzent bekennen. Erstens merkt man es im Französischen immer, noch die kleinste Abweichung, zweitens gibt es den französischen Komplex, keine Fremdsprachen, insbesondere kein Deutsch, zu können. Dabei gilt das auch in Frankreich als die Sprache der wirklichen Denker. Oft reicht es, fehlerfrei die Namen Thomas Bernhard oder Georg Friedrich Wilhelm Hegel aussprechen zu können, um als Gelehrter zu gelten. +Umso beeindruckender ist es, wenn ein Deutscher sich mit dem Französischen abkämpft. Und als publizistisches Symbol für einen souveränen Umgang mit Sprache sei dem Parisbesucher der Erwerb der "Canard Enchainé" (übersetzt: die angekettete Ente) empfohlen, einer wöchentlichen satirischen Zeitung, die selten von Ausländern, aber immer von Insidern gelesen wird. In diesem Enthüllungsblatt, das ohne eine einzige Anzeige auskommt, wird ein respektloser und betont frecher Umgang mit dem Hochfranzösischen gepflegt. Jeder Politiker kriegt einen, möglichst drastischen Spitznamen verpasst, jeder krasse umgangssprachliche Ausdruck findet Verwendung. Es reicht, das Blatt gut sichtbar aus einer Tasche herausragen zu lassen, schon wird man deutlich besser behandelt. Denn das gilt in Paris als die allerhöchste Form der Beherrschung der französischen Sprache: sich um Korrektheit gar nicht mehr zu scheren. +Um Französisch gegenüber den Regionalsprachen durchzusetzen, wurde es um 1880 als einzige Schulsprache festgelegt. Noch 1925 sprach der damalige Bildungsminister Anatole de Monzie davon, dass das Bretonische "für die sprachliche Einheit Frankreichs verschwinden müsse". Anfang der siebziger Jahre erklärte Staatspräsident Pompidou, dass es in einem Frankreich, das Europa prägen wolle, keinen Platz für Regionalsprachen gebe. Seit 1994 verbietet das "Gesetz über den Gebrauch der französischen Sprache" englische Werbesprüche ohne eine französische Übersetzung. Ein anderes Gesetz aus dem Jahr 2000 regelt, dass im Radio mindestens 40 Prozent der Lieder französischsprachig sein müssen. diff --git a/fluter/der-virus-des-misstrauens.txt b/fluter/der-virus-des-misstrauens.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..88cc7420e2b76599e399c6e082da865d6bfb79a2 --- /dev/null +++ b/fluter/der-virus-des-misstrauens.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Mitte der 80er-Jahre, als die Hysterie um AIDS auf dem Höhepunkt war, wetterten Kirchen und Konservative in Amerika, die "Schwulenseuche" sei Gottes Rache. Die US-Regierung unter Ronald Reagan schwieg eisig zu dem Thema, obgleich sich die Krankheit rapide verbreitete und bereits Tausende Menschen daran gestorben waren. In diese aufgeheizte Stimmung platzte ausgerechnet ein Professor aus Ostberlin mit einer spektakulären Erklärung in die Weltöffentlichkeit. Das HI-Virus, so der Biologe, stamme nicht aus Afrika, sondern aus dem US-MilitärlaborFort Detrick in Maryland, wo zu biologischen Waffen geforscht wurde. Gen-Ingenieure hätten das Virus 1979 erschaffen. Durch einen Laborunfall sei der Erreger in Umlauf geraten. +Der Mann, der diese wilde Verschwörungstheorie in die Welt setzte, war in der DDR kein Unbekannter. Er hieß Jakob Segal, war Professor und Leiter des Instituts für Allgemeine Biologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Theorie kam über verschlungene Wege in die Weltöffentlichkeit. Kurz nach dem Gipfel derblockfreien Staatenin Harare erschien in einer Simbabwer Zeitschrift eine Besprechung eines Buches mit dem Titel: "AIDS: U.S.A. – Home-Made Evil; Not Imported From Africa". Das Buch sei von Jakob Segal und seiner Frau Lilli, die Immunologin war. Einzig: Das besprochene Buch gab es gar nicht. Segal hatte lediglich ein paar afrikanische Journalisten mit Material zu seinen Thesen versorgt. +Die Runde durch die Weltpresse machte die Geschichte dennoch. Zu heiß war das Thema. Insgesamt erschienen Segals Thesen in über 80 Ländern und 25 Sprachen. Ein Jahr später kam eine neue sensationelle Geschichte. Diesmal in der Tageszeitung "taz". Am 18. Februar 1987 erschien ein Interview von DDR-Schriftsteller Stefan Heym mit Jakob Segal unter dem Titel "AIDS – man-made in USA". +Zwar erklärten zahlreiche Wissenschaftler – auch aus dem Ostblock – damals schon, dass die These Unsinn sei. Schon deshalb, weil das HI-Virus nachweislich lange vor 1979 zum ersten Mal in einer Blutprobe gefunden worden war. Es kann also nicht erst dann in Umlauf geraten sein, wie Segal behauptete. Dennoch war die Verschwörungstheorie erstaunlich langlebig. Bis heute taucht sie dann und wann auf. Erst im Oktober 2014 wieder, als Louis Farrakahn, der prominente wie umstrittene Anführer derNation of Islam, sagte, AIDS sei wie Ebola eine Bio-Waffe der US-Regierung, um die schwarze Bevölkerung auszurotten. +Über die Hintergründe von Segals Medienkarriere wurde viel spekuliert. Lange hielt sich das Gerücht, dass er im Auftrag der Stasi oder des KGB arbeitete. Beides ließ sich nie erhärten. Mindestens gegen die Stasi spricht einiges. Immerhin wollte die DDR-Regierung nicht, dass Segal seine Thesen in der heimischen Presse veröffentlichte. Und die Stasi bekam von dem Interview von Stefan Heym mit Segal in der "taz" erst viel später etwas mit. +Segals Theorie blieb nicht die einzige Verschwörung rund um AIDS. Eine zweite, die allerdings weit schlimmere Folgen hatte, ist die Leugnung, dass AIDS von dem HI-Virus ausgelöst wird. Diese Theorie, die dem gängigen Forschungskonsens zuwiderläuft, vertritt unter anderem Peter Duesberg von derUniversity of California in Berkeley. Der beriet Thabo Mbeki, südafrikanischer Präsident von 1999 bis 2008. Unter Mbekis Führung empfahl die Gesundheitsministerin, statt der gängigen antiretroviralen Behandlung etwa Rote Bete, Knoblauch und Olivenöl einzunehmen. 2002 musste Mbeki unter öffentlichem Druck einlenken und zumindest Schwangeren und Opfern von Vergewaltigungen geeignete Medikamente zugänglich machen. Laut Modellrechnungen derHarvard School of Public HealthAIDS Initiative und derUniversität von Kapstadt starben durch diese Politik der Leugnung mehr als 330.000 Menschen an den Folgen von AIDS, 171.000 infizierten sich neu mit HIV, und 35.000 Babys wurden mit HIV geboren. +Den ergreifendsten Bericht über den Ausbruch von AIDS, den Felix Denk bislang gelesen hat, ist die Autobiografie des New Yorker Musik- und Nachtleben-Impressarios Mel Cheren ("Keep on Dancing – My Life at the Paradise Garage"). Es endet mit einer 14 Seiten langen Liste an Freunden des Autors, die in den 1980er-Jahren an der heimtückischen Krankheit gestorben sind. diff --git a/fluter/der-will-nur-spielen.txt b/fluter/der-will-nur-spielen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7e9a653d807a029e19d142e62a5f45bb6d0552ce --- /dev/null +++ b/fluter/der-will-nur-spielen.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Du bist ein Gangster und triffst dich mit einem Komplizen zum Koffertausch. Ihr habt vereinbart, dass dein Koffer hundert Euro und der Koffer des anderen Gangsters Diebesgut enthält. Ihr beide könnt euren Koffer erst öffnen, wenn der andere außer Reichweite ist. Der Koffer, den du übergibst, enthält1) hundert Euro. So war es ja auch vereinbart.2) fünfzig Euro. Der andere schummelt bestimmt auch.3) null Euro. Oder soll ich für Diebesgut auch noch zahlen? +Christian Rieck +"Sehr ehrenhaft, wenn du dich für die erste Antwort entscheidest. Nach der Spieltheorie ist aber die dritte die richtige Lösung – oder anders gesagt: die dominante Strategie. So nennt man die Strategie, mit der sich ein einzelner Spieler den größtmöglichen persönlichen Vorteil verschafft. Die dominante ist aber nicht gleichzeitig die fairste Strategie. Im Gegenteil: Wenn beide in diesem Beispiel die dominante Strategie wählen, kommt das Geschäft nie zustande. Ihr befindet euch in einer Zwickmühle: Obwohl ihr zusammenarbeiten wollt, könnt ihr dem anderen nicht trauen, weil es für beide besser ist, die Absprache zu brechen. Solche Situationen gibt es in der Wirtschaft oft. Ein politisch nicht korrektes Beispiel: der Euro. Damit er eine stabile Währung bleibt, müssen die Staatsschulden der Mitgliedsländer klein bleiben. Für ein einzelnes Land ist es zunächst von Vorteil, sich über diese Grenze hinaus zu verschulden, weil es die Lasten einer instabilen Währung nicht allein trägt. Also versucht jedes einzelne Land, sich stärker zu verschulden, als wenn es die Folgen allein tragen müsste. Mit dem Erfolg, dass am Ende alle stärker verschuldet sind." +Verstehe einer die Frauen +Du bist mit deiner Freundin verabredet, hast aber vergessen, wofür. Du würdest gern ins Theater gehen, deine Freundin lieber ins Fußballstadion. Da ihr nicht telefonieren könnt, müsst ihr unabhängig voneinander entscheiden, wohin ihr geht. Du1) gehst ins Theater – du hasst Fußball und weißt, dass deine Freundin das weiß.2) gehst ins Stadion – das mag deine Freundin, und sie ist wohl dorthin gegangen.3) wirfst eine Münze – woher sollst du wissen, wo deine Freundin ist? +Christian Rieck +"Das Spiel hat es in sich. Es hängt von euch beiden ab, ob ihr euch treffen werdet. Alle drei Antworten haben die gleiche Chance auf Erfolg. Das ändert sich, wenn ihr das Spiel mehrmals spielt. Dann machst du Erfahrungen, anhand derer du abschätzen kannst, wie sich deine Freundin in Zukunft verhalten wird – und sie, wie du dich verhalten wirst. Entweder du gehst stur ins Theater, damit deine Freundin weiß, wo sie dich findet – oder umgekehrt. So kommt es zu einem Lock-in. Das bedeutet ,einrasten' und bezeichnet in der Wirtschaft einen Zustand, in dem ein Käufer so abhängig von einem Verkäufer wird, dass er nicht mehr ohne Weiteres zu einem anderen wechseln kann. Vor allem in der New Economy fußen viele Geschäftsmodelle auf einem Lock-in. Wer sich zum Beispiel für ein Betriebssystem entschieden hat, kann es nur mühsam wechseln, ohne Daten zu verlieren. Oder: Kaufen viele Anleger eine Aktie, kauft man selbst auch, der Preis steigt ja. Zumindest, bis die Spekulationsblase platzt." +Denn du weißt nicht,was du tust +Du machst eine Mutprobe und rast mit deinem Auto auf ein anderes Auto zu. Du1) fährst weiter. Nur Schwache geben nach.2) fährst nicht weiter. Du bist ja nicht blöd.3) wirfst eine Münze. Kopf: Fahren. Zahl: Stopp. +Christian Rieck +"Der Einsatz bei diesem Spiel ist sehr hoch. Es heißt chicken game – Feiglingsspiel. Mit Antwort 1 gefährdest du dein Leben. Wählst du die zweite oder die dritte, verlierst du vielleicht das Spiel. Um nicht immer der Dumme zu sein, musst du abschätzen, ob der andere bremst. Die Wahrscheinlichkeit lässt sich mathematisch bestimmen. Ich rechne das oft mit Studenten durch. Erstaunlich viele gehen ein zu hohes Risiko ein, es kommt zum Unfall. Sie vergessen, dass ihr Gegenspieler die gleichen Überlegungen anstellt wie sie selbst. Es gibt hier kulturelle Unterschiede: Skandinavische Studenten riskieren weniger als deutsche. Auch deutsche Manager staunen, wenn ich ihnen erkläre, wie ihr Gegenspieler die Situation sieht. Warum das deutsche Bildungssystem diese Art von Blindheit fördert, weiß ich nicht." +Ein Angebot, das man ausschlagen kann +Du hast hundert Euro und bietest einem Mitspieler einen Teil an. Lehnt er ab, geht ihr beide leer aus. Stimmt er zu, teilt ihr das Geld wie von dir vorgeschlagen. Du gibst1) einen Euro.2) vierzig Euro und behältst sechzig Euro.3) fünfzig Euro – alles andere ist unfair. +Christian Rieck +"Das sogenannte Ultimatumspiel bringt eine Reihe erstaunlicher Ergebnisse. Ein vollständig rationaler Spieler müsste auch einen Euro annehmen. Das ist schließlich besser als nichts. Versuche haben aber gezeigt, dass die meisten Spieler eine solche Aufteilung ablehnen – weil sie unfair ist und sie sich darüber ärgern. Sie sind eher bereit, das Geschäft abzulehnen, als sich unfair behandeln zu lassen. Erst bei einer Aufteilung von sechzig Euro zu vierzig Euro akzeptieren die meisten den Handel. Ich habe das mit vielen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen durchgespielt. Dabei kam heraus, dass vor allem das Alter darüber entscheidet, wie viel man zu geben bereit ist. In der Gruppe der Menschen über 65 Jahre steigt die Bereitschaft stark an, dem anderen mehr zu geben, als man selbst erhält. Viele Spieler bemü-hen sich, fair zu handeln, auch wenn sie keinen direkten Nutzen davon haben. Solche Werte stützen die Wirtschaft und schaffen das Vertrauen, das nötig ist, um Geschäfte zu machen." +Christian Rieck ist Professor für Wirtschaft an der FH Frankfurt/Main und ein Schüler des Nobelpreisträgers Reinhard Selten. Von Rieck stammt eine der ersten deutschen lesbaren Erklärungen der Spieltheorie (Spieltheorie. Eine Einführung, 1992). Rieck bildet auch Manager und Lehrer in der Spieltheorie aus. diff --git a/fluter/deso-dogg-podcast-funk-rezension.txt b/fluter/deso-dogg-podcast-funk-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cb8940a01cb156c578bff05272cddefd1c100466 --- /dev/null +++ b/fluter/deso-dogg-podcast-funk-rezension.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Um die Frage, wie sich ein Mensch radikalisiert. Laut Verfassungsschutz sind seit 2011 mehr als 1.150 Personenaus islamistischen Beweggründen von Deutschland nach Syrien und Irak gereist. "Deso – Der Rapper, der zum IS ging" recherchiert detailliert Cusperts Biografie und zeichnet seinen Radikalisierungsprozess so schrittweise nach: aufgewachsen in Berlin-Kreuzberg, als Jugendlicher gewalttätig, Gefängnisaufenthalte, erfolglose Rap- und Kampfsport-Karriereversuche, die Hinwendung zum Islam und die schleichende Radikalisierung durchislamistische Prediger wie Pierre Vogel. Der Podcast erzählt Cusperts Geschichte dabei auch als die eines Jungen, der immer wieder Rassismus erfuhr (sein Vater stammte aus Ghana) unddem es in Deutschland schwerfiel, sich zugehörig zu fühlen. + +"Deso – Der Rapper, der zum IS ging" besteht hauptsächlich aus Interviews. Es kommen Hip-Hop-Experten, Rapper, eine Extremismusexpertin, Verfassungsschützer, Investigativjournalisten und Imame zu Wort. Aber auch Cusperts ehemals beste Freundin und sein Halbbruder Jermaine. Durch die Vielfalt an Stimmen, ergänzt durch eine Menge archivierter O-Töne von Cuspert selbst, und die kritische Einordnung der gesammelten Informationen durch Podcasthost Azadê Peşmen entsteht ein Flickenteppich, der ein vielschichtiges Bild von Cuspert zeichnet: der brutale Extremist auf der einen Seite, der hilfsbereite Kümmerer für sein enges Umfeld auf der anderen. Damit ist der Podcast auch ein Gegenentwurf zur teilweise reißerischen Berichterstattung über Cuspert (einige Boulevardmedien nannten ihn "Goebbels des IS"): Er emotionalisiert nicht, ist ruhig erzählt und darum trotz des harten Themas erträglich. + +Cusperts Rolle beim IS ist umstritten, wurde aber laut den Recherchen für "Deso – Der Rapper, der zum IS ging" in der medialen Berichterstattung größer gemacht, als sie in Wirklichkeit war. Dafür sprechen die Aussagen der befragten Expert*innen und des Verfassungsschutzes. Cuspert war grausam, er posierte unter anderem mit einem abgetrennten Kopf und rief in Videos zum Mord auf. Aber er war laut den Podcastmacher*innen nicht der "Goebbels des IS", nicht der kluge Stratege im Hintergrund, keine Führungsperson. Er war ein kleines Rädchen im Getriebe der Terrorgruppe, das sich aufgrund seiner Geschichte und seiner vorangegangenen Rap-Laufbahn gut als PR-Maskottchen einspannen ließ, um in Europa für den islamistischen Terror zu werben. Die große Berichterstattung trug erst dazu bei, dass Cusperts menschenverachtendes Gedankengut und seine propagandistischen "Kampflieder" so viele Menschen erreichen konnten. + +So ziemlich alle. Laut funk ist der Podcast "für Rap-Fans (…) ein Muss, für True-Crime-Hörer:innen sowieso". Dadurch degradiert das öffentlich-rechtliche Jugendformat die gute investigative Recherche allerdings zu einem bloßen Unterhaltungsformat. Dabei ist "Deso – Der Rapper, der zum IS ging" eben gerade keine bloße True-Crime-Story für die Hintergrundbeschallung am Vorabend. Es ist vielmehr eine Geschichte des Scheiterns innerhalb der deutschen Gesellschaft, die ein grausames Ende nimmt. + +"Deso – Der Rapper, der zum IS ging" ist unter anderemin der ARD-Audiothekoder auf Spotify zu hören. + +Titelbild: picture alliance / dpa diff --git a/fluter/deutsch-franzoesische-freundschaft-einfach-erklaert.txt b/fluter/deutsch-franzoesische-freundschaft-einfach-erklaert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..78ad7cc8f06a0052263b01912624a365cee3c242 --- /dev/null +++ b/fluter/deutsch-franzoesische-freundschaft-einfach-erklaert.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Zum Ursprung gibt es folgende Theorie: Soldaten der ­Grande Armée mussten in der Lage sein, beim beidhändigen Nachladen ihrer Ge­wehre im Gefecht die Pappschachteln mit Pulver zu öffnen – und zwar mit den Zähnen. Wer wegen einer Zahnlücke ausgemustert wurde, konnte – anders als die Millionen Opfer der napoleonischen Feldzüge – seine Gene weitergeben. +Die Zahnlücke erzählt etwas über die enge Verschränkung von Eros und Thanatos, von Zärtlichkeit und Gewalt. Darüber, dass die Zeit manchmal Wunden heilt – und damit auch etwas Wesentliches über das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich. +Denn das ist kompliziert. Wenn eine Freundschaft immer wieder wortreich beteuert und rituell beschworen werden muss, dann kann von Freundschaft eigentlich keine Rede sein. Und für keine Freundschaft gilt das mehr als fürl'amitié franco-allemande. +Zum gegenwärtigen Zeitpunkt,mit einem temperamentvollen Emmanuel Macronim Élysée-Palast und einer abwartenden Angela Merkel im Kanzleramt, wird gerne von einer "alten Ehe" gesprochen. Also eher eine große, abgekühlte Liebe als eine Freundschaft? +"Staaten haben keine Freunde", soll einst der französische Ministerpräsident Charles de Gaulle gesagt haben, der gemeinsam mit Konrad Adenauer am 22. Januar 1963 den sogenannten Élysée-Vertrag unterschrieb. Das Datum markiert das vorläufige Ende einer Ära der Gewalt, in der über Jahrhunderte beide Partner einander die blutigsten Wunden schlugen, sich gegenseitig niedermetzelten – doch als Nachbarstaaten immer wieder aufeinander angewiesen waren. +Beide Länder "waren einmal eins im Mutterschoße der Zeiten, bevor ihre Lebenswege sich schieden und tödlicher Hass zwischen sie kam", so schrieb Thomas Mann. Der "Mutterschoß" war das Reich von Karl dem Großen, die Trennung erfolgte im August 843. Damals teilten Karls drei Enkelsöhne das Territorium unter sich auf. Karl der Kahle bekam weite Teile dessen, was heute Frankreich ist. An Ludwig den Deutschen fiel ein Gebiet, dessen damalige Umrisse den Grenzen der alten BRD verblüffend ähnlich sehen. Lothar I. erhielt ein langgestrecktes "Mittelreich", das als Puffer zwischen Ost- und Westfranken über Jahrhunderte immer wieder Aufmarschgebiet der verfeindeten Brüder in Ost und West werden sollte. +Eine echte Barriere zwischen den romanisierten Kelten in "Frankreich" und den Germanen und Alemannen in "Deutschland" dürfte die Sprache gewesen sein. Dennoch war die gegenseitige Durchdringung auf geistiger Ebene enorm, von den Klöstern der Zisterzienser bis zur Ausprägung der Gotik auch östlich des Rheins. Überhaupt kam mehr aus Frankreich, als aus Deutschland gekommen wäre. +Aber welches Deutschland überhaupt? Aus gallischer Sicht erstreckte sich jenseits der Mosel ein verwirrender Flickenteppich aus Herzogtümern und Grafschaften, überwölbt von der Idee eines Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. +Bis in die frühe Neuzeit lief es leidlich. Deutsche Studenten eilten an die Universität von Paris, französische Händler schipperten dieMoselle(Mosel) hinunter und dann den Rhein stromaufwärts bis nachMayence(Mainz). Angeblich bewunderten die mittelalterlichen Franzosen den Mut der Deutschen, verabscheuten aber ihre Sitten. Angeblich war es bei den Deutschen umgekehrt. Tatsächlich dürften die Bewohner beider Reiche einander größtenteils gleichgültig gewesen sein. +Erst Ludwig XIV. bereitete dieser guten Nachbarschaft ein Ende. Ab 1688 rückten Truppen des Sonnenkönigs ins rechtsrheinische Gebiet vor und hinterließen Verwüstungen: etwa im Dom zu Speyer, wo sie einen Teil der Kaisergräber aufbrachen, die Grabbeigaben plünderten und ein Großfeuer legten. Was man eben anstellen muss, um sich im kollektiven Gedächtnis der Unterlegenen als Feindbild zu etablieren. Fortan wurden die "Welschen" als Bedrohung wahrgenommen, derer sich "die Deutschen", weil heillos in Fürstentümer zersplittert, nicht erwehren konnten. +Der Hass auf Frankreich aber schweißte die Deutschen zusammen, wie die Liebe zu Frankreich sie spaltete. Ab 1789 flohen deutsche Dissidenten nach Paris. Ihnen entgegen kam kutschenweise der französische Adel, der sich vor der Revolution unter anderem nach Mainz in Sicherheit bringen wollte. Dort wurden die Revolu­tionstruppen 1792 noch als Befreier empfangen. +Womit Preußen ins Spiel kommt, das nach den "Befreiungskriegen" gegen Napoleon ein Feindbild brauchte, um die "deutschen Völker" hinter sich zu scharen. Der "Erbfeind" ist ein Schlagwort des 19. Jahrhunderts. National gesinnte Dichter gaben sich große Mühe, es den Deutschen einzureden. +Als er dann schließlich ausbrach, der Deutsch-Französische Krieg von 1870 bis 1871, entstand nach der Kapitula­tion von Frankreich im Spiegelsaal von Versailles das Deutsche Reich und damit erst die deutsche Nation. Mit Freude und fliegenden Fahnen ging es mit dem Ersten Weltkrieg ab 1914 in den zweiten Waffengang, der das Schlachten auf industrielles Niveau hob. Bei Verdun liegt Fleury, eines der zerstörten Dörfer, dervillages détruits. Es gibt noch Ortsschilder, die dem Besucher das Herz brechen, weil es da sonst nichts mehr gibt – nur noch einen bis heute durch Munition verseuchten Boden. +Zuerst erschienen imfluter Freundschaft +Über diesen Boden rollten im Zweiten Weltkrieg die Panzer der Wehrmacht. Traumatisch war die Unterwerfung für die Franzosen auch, weil die Deutschen in Vichy bis zur Befreiung des Landes ein Regime willfähriger Kollaborateure hatten. +Doch nach dem Zweiten Weltkrieg geschah etwas Merkwürdiges. Charles de Gaulle ergänzte den napoleonischen Begriff derGrande Nationum Großzügigkeit – und reichte Kanzler Adenauer die Hand. Wobei er natürlich auch nationale Interessen verfolgte: Das Monster im Osten, so sein Kalkül, musste durch Einbeziehung in ein europäisches Projekt entwaffnet werden. Mit der "Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl" (Montanunion) war Deutschland nicht nur eingemeindet in die kontinentale Familie, dieser Vertrag wurde auch zum Fundament für die Europäische Union. +Kritisiert wird diese Freundschaft heute aus zwei Richtungen. Von rechts wird hingewiesen auf die heftige Konkurrenz zwischen den beiden mächtigsten Volkswirtschaften in Europa. Von links wird bemängelt, dass Frankreich und Deutschland als "Kerneuropa" im Grunde ein Staatenkartell bilden. +Beides trifft zu, beides geht an der Sache vorbei. Immerhin schlagen sich Frankreich und Deutschland heute nicht mehr die Zähne ein, wenn die Bettdecke für beide zu kurz ist. Sondern rücken näher zusammen. Mit Blick auf die Vergangenheit darf man das durchaus Freundschaft nennen. + +* Französisch für "Verlass mich nicht" + +Das Titelbild zeigt zwei gute Freunde: den ehemaligen französischen Staatspräsidenten François Mitterrand (l.) und Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl. (BRUCELLE Armel/Sygma via Getty Images) diff --git a/fluter/deutsche-auswanderer-in-suedamerika.txt b/fluter/deutsche-auswanderer-in-suedamerika.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b3732a59f4c072852814706d5c1b7d0107259928 --- /dev/null +++ b/fluter/deutsche-auswanderer-in-suedamerika.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Mitte des 19. Jahrhunderts haben die industrielle Revolution und ihre Folgen längst auch Deutschland erfasst. Jene, die nicht davon profitieren, versucht Blumenau zur Auswanderung zu bewegen. Am 2. September 1850 gründet er mit 17 deutschen Siedlern die Kolonie Blumenau. Aber zunächst läuft die Sache nicht nach Plan. +Der Itajaí führt immer wieder Hochwasser. Indios überfallen die weißen Eindringlinge. "Alle meine Hoffnungen sind zerschmettert", schreibt Blumenau, als er einmal besonders verzweifelt ist. Weil er die Siedler nicht im Stich lassen kann, versucht er in den Folgejahren alles, um seinen Plan noch zum Erfolg zu bringen. Und findet in Rio einen wichtigen Helfer: Der brasilianische Kaiser Peter II. unterstützt die deutsche Kolonie ab 1860 auch finanziell, sodass sich die Lage verbessert. Blumenau gilt als eine Art Mustersiedlung, und der brasilianische Staat übernimmt die Verwaltung der Kolonie. +Bis nach dem Ersten Weltkrieg spielen in Blumenau deutsche Sprache, Traditionen und Kultur eine tragende Rolle. Das ändert sich im Laufe der 1930er-Jahre und spätestens, als Brasilien 1942 aufseiten der Alliierten in den Zweiten Weltkrieg eintritt: Die Regierung ersetzt deutsche Ortsbezeichnungen durch portugiesische und lässt deutsche Schulen schließen. Deshalb ist Blumenau mit seinen knapp 300.000 Einwohnern heute fast eine brasilianische Stadt wie viele andere. + + +Der Zweite Weltkrieg hat auch in einem Nachbarland weitreichende Folgen. Als Juan Perón im Jahr 1946 zum Präsidenten Argentiniens gewählt wird, verspricht er eine glorreiche Zukunft. Argentinien soll sich emanzipieren: vom Kapitalismus der USA genauso wie vom Kommunismus der Sowjetunion. Dabei sollen ihm auch jene helfen, die während des Zweiten Weltkriegs Tod, Leid und Zerstörung über die Welt gebracht haben +Einer von ihnen geht am 20. Juni 1949 im Hafen von Buenos Aires von Bord des Schiffes "North King". Helmut Gregor, besser bekannt unter seinem richtigen Namen: Josef Mengele. Der KZ-Arzt von Auschwitz, der Hunderttausende in den Gastod geschickt und unter dem Vorwand der Wissenschaft Tausende andere gequält und getötet hat. Wie andere Nazis war er über die sogenannte "Rattenlinie" entkommen, eine weit verzweigte Fluchtroute mit Klöstern als Zwischenstationen, die insbesondere von Angehörigen der katholischen Kirche, Geheimdienstlern, Spionen und ehemaligen SS-Leuten als Fluchthelfer betrieben wurde. +Bereits während des Zweiten Weltkriegs war das offiziell – bis kurz vor Kriegsende – neutrale Argentinien für die Nazis eine Art Brückenkopf in Südamerika gewesen. Hier besorgten sie sich Devisen und Rohstoffe und schlugen ihr regionales Geheimdienst-Hauptquartier auf. SS-Verbrecher wie Mengele fanden in der Hauptstadt Argentiniens ein etabliertes deutsches Netzwerk vor. +Geldprobleme hatte Mengele keine, seine Familie im bayerischen Günzburg unterstützte ihn weiterhin. 1956 reiste Mengele in die Schweiz und nach Deutschland, beantragte bei der westdeutschen Botschaft in Buenos Aires sogar einen Reisepass auf seinen echten Namen. Die mit Wirtschaftswunder und Wiederaufbau beschäftigte Bundesrepublik machte in den Nachkriegsjahren keine Schwierigkeiten: Ein Haftbefehl gegen ihn lag nicht vor. +Das änderte sich erst Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre, als die juristische Aufarbeitung von Auschwitz begann und die Taten Mengeles in den Fokus deutscher Gerichte gerieten. Als 1960 Adolf Eichmann, einer der Hauptorganisatoren des Holocaust, vom israelischen Geheimdienst Mossad von Argentinien nach Israel entführt, in Jerusalem vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt wurde, bekamen es Mengele und andere Nazis mit der Angst zu tun. +Mengele flüchtete nach Paraguay und weiter nach Brasilien – in der Furcht, doch noch gefunden und gefasst zu werden. Am 7. Februar 1979 starb er im brasilianischen Bertioga im Alter von 67 Jahren beim Baden im Meer, wahrscheinlich an einem Schlaganfall. + + +Achtzehn Jahre früher, im Jahr 1961, entzieht sich ein anderer Deutscher der Strafverfolgung, indem er nach Lateinamerika geht. In Deutschland hat Paul Schäfer eine christliche Sekte gegründet und betreibt ein Kinder- und Jugendheim. Als die Staatsanwaltschaft Bonn wegen des Verdachts der Vergewaltigung zweier Jungen einen Haftbefehl gegen Schäfer erwirkt, flüchtet er mit rund 300 Anhängern in einem Charterflugzeug nach Chile. +Nahe der Stadt Parral, 320 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago, baut er in den kommenden Jahren die Colonia Dignidad auf, die "Kolonie der Würde". Eine Bezeichnung, die zynischer nicht hätte sein können. Auf dem riesigen Gelände der Colonia Dignidad – abgeriegelt von der Außenwelt mit Stacheldraht, Bewegungssensoren und Schäferhunden – besteht unter Schäfers Führung mehr als 30 Jahre lang ein brutales Terrorregime, vom chilenischen Staat als steuerbegünstigte Wohltätigkeits- und Erziehungseinrichtung anerkannt: Schäfer zwingt die Sektenmitglieder bereits von früher Kindheit an zu Sklavenarbeit, lässt Kinder und Erwachsene mit starken Psychopharmaka gefügig machen, vergewaltigt zum Teil mehrmals täglich Jungen und lässt den ab 1973 regierenden chilenischen Diktator Augusto Pinochet in der Kolonie politische Gegner einsperren, foltern und umbringen. +Schäfer und die Führungsriege der Sekte haben gute Kontakte zur Botschaft und zum Auswärtigen Amt. Obwohl unter anderem Amnesty International bereits in den 1970er-Jahren schwere Vorwürfe gegen die Colonia Dignidad erhebt, können der Sektenführer und seine Mittäter bis weit in die 1990er-Jahre weitgehend ungestört agieren. +Auch nach dem Ende der Pinochet-Diktatur 1990 und Ermittlungen der chilenischen Behörden kann sich Schäfer noch bis 1997 in der Colonia aufhalten. Im selben Jahr flüchtet er nach Argentinien. Erst im März 2005 wird er aufgespürt, nach Chile ausgeliefert und zu mehr als 20 Jahren Haft verurteilt. Er stirbt 2010 in einem Gefängniskrankenhaus in Santiago. +Vollständig aufgeklärt sind die Verbrechen bis heute nicht. Chilenische Ermittler suchen immer noch nach Überresten verschwundener Pinochet-Gegner. Eine Entschädigung haben Opfer und Angehörige bis heute nicht vom chilenischen Staat erhalten. Im Jahr 2018 beschloss der Bundestag, im Bundeshaushalt 2019 zunächst eine Million Euro für die Entschädigung der Opfer bereitzustellen. Bis zu 10.000 Euro pro Person soll es geben. +Auf dem Gelände der Colonia Dignidad, die jetzt "Villa Baviera" heißt (wörtlich übersetzt: Dorf Bayern), gibt es heute ebenfalls ein Oktoberfest, bei dem Touristen und Einheimische Weißbier trinken, Würstchen essen und sich an bayerischer Volkstümlichkeit erfreuen – wo einst Menschen gefoltert wurden. diff --git a/fluter/deutsche-eiche-nationalsymbol.txt b/fluter/deutsche-eiche-nationalsymbol.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9932d2ee0e56ea79f0b6cb3e8cc76e300aba7777 --- /dev/null +++ b/fluter/deutsche-eiche-nationalsymbol.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Für die enge Verbindung von Land und Bäumen gab es bereits eine Tradition. Wenige Jahre zuvor hatte der Märchensammler und Philologe Jacob Grimm in seiner "Deutschen Mythologie" die Eichen als Orte eines ursprünglichen "altdeutschen Waldcultus" dargestellt. Und schon 1769 schwärmte der Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock in seinem Bühnenstück über die sogenannte Hermannsschlacht von germanischen Stammeskriegern, die zu antiker Zeit "wie die Eiche eingewurzelt" dem Angriff der Römer trotzten. Nicht nur die germanischen Fußtruppen, sein ganzes "Vaterland" verglich er mit der "höchsten, ältesten, heiligsten Eiche". +Mit solchen Metaphern bezog man sich oft auf die Schilderungen eines antiken römischen Historikers namens Tacitus. Der hatte um das Jahr 100 n. Chr. über dieselbe Schlacht berichtet und das dicht bewaldete Land, in dem die Römer unterlegen waren, dramatisch beschrieben. Das Gebiet östlich des Rheins sei "durch seine Wälder grauenerregend". +Es war also keineswegs nur Romantik und Trauer über eine verpatzte historische Vereinigungschance, was die deutsche Liebe zur Eiche bis in die Neuzeit befeuerte. Diese Vereinnahmung eines Baumes durch eine Nation hatte immer auch düstere Untertöne – etwa als sich Preußen und seine Verbündeten zwischen 1813 und 1815im Krieg mit dem napoleonischen Frankreichbefanden. Ein damals bekannter Publizist wagte den Reim "Eichen" auf "Leichen". +Die Aufladung der Eiche mit kriegerischer Bedeutung fandim Nationalsozialismusihren Höhepunkt. Hitler pflanzte überall im Lande Eichen, und die offizielle Propaganda machte den deutschen Wald zum Symbol eines Nationalcharakters. Die fest verwurzelten Deutschen gegen die rastlosen Nomaden aus den östlichen Steppen und das heimatlose jüdische "Wüstenvolk". Ab dem Jahr 1938 verbot man jüdischen Menschen sogar das Betreten deutscher Wälder. +Nach diesen Auswüchsen kam der Eichenkult in der Nachkriegszeit allmählich zum Erliegen. Sichtbar sind seine Reste nur noch als Eichenblatt auf der Rückseite der deutschen Ein-, Zwei- und Fünfcentmünze, als "Eichenlaub" in zwei Dienstgradabzeichen der Bundeswehr oder auch in dem einen oder anderen in die Jahre gekommenen Gasthof "Zur Deutschen Eiche", der noch überlebt hat. + diff --git a/fluter/deutscher-meister.txt b/fluter/deutscher-meister.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5d9bc70d28a06aa80d01558f3ba58e5ced149d49 --- /dev/null +++ b/fluter/deutscher-meister.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Gleich mehrere Neonazi-WGs haben sich hier angesiedelt, dominiert wird die Szene von den sogenannten Autonomen Nationalisten (AN). Hinter dieser Selbstbezeichnung stecken junge, äußerst rücksichtslose Neonazis, deren besonderes Merkmal es ist, dass sie wenige besondere Merkmale haben. Wer in Dorstfeld Ausschau nach Skinheads mit Springerstiefeln und Bomberjacken hält, wird nicht viele finden. Die Autonomen Nationalisten kleiden sich modern und sportlich. Für Außenstehende sind sie in ihren schwarzen Kapuzenjacken, Turnschuhen und mit Buttons verzierten Baseballcaps kaum von anderen Jugendlichen zu unterscheiden. In ganz Deutschland gibt es solche Gruppen, doch nirgends hat sich diese Strömung so stark etabliert wie in Dortmund. Das vergleichsweise wenig martialische Aussehen bedeutet keineswegs einen Verzicht auf Gewalt: Bei einer Dorstfelder Gedenkfeier zur Pogromnacht im November 2011 tauchten die Rechtsextremisten auf und schrien Parolen. Die jüdische Gemeinde und Vertreter der Stadt waren geschockt. Bereits ein paar Wochen zuvor hatte die Gruppe "ihr" Viertel mit kleinen schwarz-weiß-roten Fahnen an Laternen, Ampeln und Straßenschildern markiert. Die Feuerwehr brauchte Stunden, um die rechte Propaganda zu entfernen. Einen Tag vor Heiligabend klingelte dann ein Neonazi im Weihnachtsmannkostüm an der Tür des Privathauses von Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) und drückte dessen überraschter Frau ein makabres Geschenk in die Hand. Eine Flasche Wein für die Eltern und eine Nazi-CD für die Kinder lagen in dem Paket. Die Botschaft hätte kaum eindeutiger sein können: Wir wissen, wo ihr wohnt. +Das sind noch die harmlosen Machtdemonstrationen der Szene. Kaum jemand, der sich gegen Nazis starkmacht, scheint in der Stadt sicher zu sein. Die Liste von Anschlägen, Drohungen und Gewalttaten der letzten Jahre füllt mehrere Seiten. Engagierte Jugendliche werden ausgespäht und zusammengeschlagen, Fensterscheiben der Büros von SPD, Grünen und der Linken eingeworfen oder mit Stahlkugeln zerschossen. Am häufigsten trifft es die alternative Kneipe "Hirsch-Q" in der Innenstadt. Ganze 18 Mal wurde die Fensterfront zerstört oder beschmiert. Ein vier Minuten langes Video vom bislang heftigsten Angriff im Dezember 2010 kann man im Internet auf YouTube anschauen. Immer wieder zerren die Angreifer Gäste aus der Kneipe und treten auf sie ein. Vier Besucher wurden verletzt, einer davon durch Messerstiche. In diesem Fall waren die Täter nach Informationen des Dortmunder Antifa-Bündnisses Mitglieder der "Skinhead-Front Dorstfeld", eine weitere Dortmunder Nazi-Gruppe, die sich aus klassischen Skinheads zusammensetzt, in ihrer Gewaltbereitschaft den AN aber in nichts nachsteht. Alle Angreifer konnten wenige Straßen entfernt festgenommen werden, doch bis heute hat die Staatsanwaltschaft keine Anklage erhoben. +Ein gefährliches Klima der Angst haben die Neonazi-Gruppen in der 580.000-Einwohner-Stadt geschaffen. Überall finden sich ihre Aufkleber mit der Kampfansage "Dortmund ist unsere Stadt". Sogar T-Shirts mit dem Slogan haben sie drucken lassen. Zudem verfügen die AN über ein eigenes Nazi-Zentrum in Dorstfeld, in dem sie sich wöchentlich treffen oder Schulungsveranstaltungen durchführen. Auch einen eigenen VW-Bus, der als Lautsprecherwagen dient, haben sie sich gekauft. Mit einem jährlichen Aufmarsch im September haben die AN einen festen Termin im Kalender der bundesweiten Szene etabliert. Bis zu 1.000 gewaltbereite Rechtsextremisten reisen dafür jedes Jahr an. Aber warum ausgerechnet Dortmund? Die NPD hat hier kaum Wahlerfolge zu verzeichnen. Bei der Landtagswahl 2010 erhielt sie lediglich 1,4 Prozent der Zweitstimmen. Viele sagen, die AN seien hier so stark, weil die Stadt schon immer einen guten Ruf in der Nazi-Szene hatte. In den 80er-Jahren machte die berüchtigte "Borussenfront", angeführt vom späteren FAPLandesvorsitzenden Siegfried Borchardt, Spitzname "SS-Siggi", die Nordstadt und das Westfalenstadion unsicher. Im Jahr 2000 erschoss der Neonazi Michael Berger aus seinem Auto heraus drei Polizisten. Die "Kameradschaft Dortmund" druckte danach zynische Aufkleber: "3:1 für Deutschland – Berger war ein Freund von uns". Als 2003 die Wehrmachtsausstellung in Dortmund gezeigt wurde, fanden mehrere Großaufmärsche statt. +2005 gab es erneut ein Todesopfer rechter Gewalt. Dieses Mal traf es den Punk Thomas Schulz. Der damals 17-jährige Neonazi Sven Kahlin tötete ihn nach einem Streit im U-Bahnhof mit einem Stich ins Herz. Seit seiner vorzeitigen Entlassung ist Kahlin wieder an der Skinhead-Front Dorstfeld aktiv und trat bereits als Redner bei Aufmärschen auf. Dann prügelte er im Winter 2011 zwei jugendliche Migranten bewusstlos. Jetzt sitzt er wieder in Haft. Auch die Zwickauer Terrorzelle mordete in Dortmund. Am 4. April 2006 wurde der Kioskbesitzer Mehmet Kubasik in seinem Geschäft erschossen. Zu dieser Zeit hatten die AN längst begonnen, ihre Strukturen aufzubauen. Eine "Politik des Ignorierens von Polizei, Stadt und Medien" habe es lange Zeit gegeben, sagt der Sozialwissenschaftler Jan Schedler von der Ruhr-Universität Bochum. Lokalmedien versuchten anfangs gar nicht, über die Neonazis zu berichten, rechtsextreme Gewalttaten wurden von der Polizei häufig als "Auseinandersetzung unter rivalisierenden Jugendgruppen" verharmlost. "Man gewinnt den Eindruck, dass die Neonazis vor Ort offenbar lange das Gefühl hatten, sie könnten in Dortmund quasi alles machen, was sie wollen, ohne mit ernsthaften Konsequenzen rechnen zu müssen", sagt Schedler. Fast so eine Art rechtsextreme Erlebniswelt mit Konzerten, Partys, Aufmärschen und Gewalt, die anziehend auf anpolitisierte Jugendliche wirke, sei so entstanden. Aufgewacht seien die Dortmunder erst, als am 1. Mai 2009 plötzlich 300 bis 400 Neonazis eine Veranstaltung des Deutschen Gewerkschaftsbundes überfielen. Mit Fahnenstangen, Fäusten und Böllern wurden Teilnehmer und Polizisten attackiert. +Hartmut Anders-Hoepgen, ehemaliger Superintendent der Evangelischen Kirche in Dortmund und Lünen, hat den Kampf gegen die Rechtsextremisten aufgenommen. Schon lange vor dem Angriff auf den DGB habe man das Problem im Blick gehabt, betont er. Tatsächlich hat die Stadt schon 2007 eine Koordinierungsstelle gegen Rechtsextremismus eingerichtet, die Anders-Hoepgen jetzt leitet. Doch da war es fast schon zu spät. Nur sehr langsam begannen die Gegenaktivitäten Wirkung zu zeigen. "Wir arbeiten seit Jahren mit allen Akteuren in der Stadt zusammen", sagt der 67-Jährige. Aber es brauche viel Zeit, bis diese Arbeit für alle sichtbar werde. 100.000 Euro stellt die Stadt pro Jahr dafür bereit. Viel Geld in Zeiten von leeren Kassen. 2011 wurde das Budget sogar noch einmal verdoppelt. +Anders-Hoepgen wirkt nicht verbittert, wenn er von Rechtsextremen erzählt, die den Frieden in seiner Stadt bedrohen. Mit seinem grauen Bart und den Lachfalten im Gesicht strahlt er eine Freundlichkeit und Ruhe aus, die vielleicht nur ein Pfarrer haben kann. Und er weiß genau, worauf es ankommt, um den Neonazis nicht das Feld zu überlassen. Anders-Hoepgen war es beispielsweise, der dafür gesorgt hat, dass die Stadt das Gebäude kaufte, in dem die AN ihr Zentrum eingerichtet haben. "Wir haben denen das vor der Nase weggeschnappt", sagt er. Kurz nach dem Kauf erhielten die Neonazis die Kündigung, nun soll dort ein Jugendzentrum entstehen. Es sind diese kleinen Erfolge, die dem Pfarrer Mut machen. Rund 50 Neonazis bilden in Dortmund "den harten Kern", sagt Anders-Hoepgen. Eigentlich eine überschaubare Gruppe, entscheidend sei jedoch das enorme Mobilisierungspotenzial. "Der Giemsch schickt eine SMS, und ein paar Stunden später sind 200 Neonazis aus den umliegenden Städten da", sagt er. Dennis Giemsch. Egal mit wem man über die Dortmunder Szene spricht, jedes Mal fällt sein Name. Der Multifunktionär ist die unangefochtene Führungsfigur im AN-Spektrum Nordrhein-Westfalens. +Schon als Teenager tauchte er bei NPD-Aufmärschen auf. Ab 2002 etablierte er gemeinsam mit Berliner Rechtsextremisten den neuen Stil der AN. Heute fungiert er als Anmelder zahlreicher Aufmärsche und Anführer des "Nationalen Widerstands Dortmund". Giemsch ist nicht dumm wie manch trinkfreudiger Skinhead. Er kann planen, organisieren, reden und die Leute für sich begeistern, erzählen Aussteiger. Gerne zitiert er bei Aufmärschen Adolf Hitler. Nicht viele in der Szene trauen sich, in der Öffentlichkeit so deutlich zu werden wie er. Der Applaus der "Kameraden" ist deshalb umso größer. Aber Giemsch ist auch Geschäftsmann und weiß, wie man mit rechtsextremer Ideologie viel Geld verdient. Sturmhauben, Stahlzwillen, Pfefferspray, Rechtsrock- CDs und Propaganda – in seinem Versand bekommt die braune Kundschaft alles, was sie begehrt. Zudem versorgt er über seinen Server diverse AN-Gruppen mit Speicherplatz für ihre Webseiten. Seinen Versandhandel hat er mit Steuergeldern aufgebaut. Erst als Antifa-Gruppen die Behörde darüber informierten, was hinter der vom Amt geförderten Ich-AG von Giemsch steckt, wurde das Geld zurückgefordert. +Nicht nur beim Kampf gegen Rechtsextremismus, auch bei der Unterstützung der Betroffenen rechtsextremer Übergriffe hat sich in Dortmund etwas getan. Im November richtete die Stadt eine unabhängige Beratungsstelle für Opfer rechtsextremer Gewalt ein. Wer angegriffen oder bedroht wird, kann sich bei Back Up melden und erhält professionelle Hilfe. Das fünfköpfige Team kümmert sich unentgeltlich um Anwälte sowie psychologische Betreuung und begleitet die Betroffenen zu Gerichtsverhandlungen und zur Polizei. "Schon nach zwei Monaten hatten wir 31 Fälle zu betreuen", sagt Bianca Ziborius von Back Up. "Wir kommen mit der Arbeit kaum nach." Viele Opfer, aber auch Zeugen würden nicht zur Polizei gehen, weil sie das Vertrauen in die Beamten verloren hätten, sagt sie. Eine engagierte Schülerin, so die Verantwortlichen von Back Up, sei vor einigen Wochen von Neonazis bedroht worden. Sie habe Anzeige erstattet, aber statt die Täter zu fassen, hätten die Beamten das Mädchen im Verhör ausgefragt, ob es Mitglied einer linken Gruppe sei. So sei aus dem Opfer eine potenzielle Täterin gemacht worden, die den rechtsex-tremen Drohungen weiter ausgeliefert gewesen sei. +Der neu ernannte Polizeipräsident von Dortmund, Norbert Wesseler, will solche Vorwürfe gegen seine Beamten nicht stehen lassen. Ihm ist es wichtig zu zeigen, dass seine Behörde das Thema ernst nimmt. Der Schock über die Aufdeckung der Mordserie des "Nationalsozialistischen Untergrunds" kam etwa zu der Zeit, als Wesseler seine neue Stelle antrat. Eine seiner ersten Amtshandlungen war die Einrichtung der sogenannten Besonderen Aufbau- Organisation. Szenekundige Beamte vom Landeskriminalamt und anderen Stellen sollen darin ihre Kräfte bündeln und die Neonazis stärker ins Visier nehmen. "Wir wollen denen richtig auf den Füßen stehen", sagt Wesseler. Auf Schritt und Tritt sollen die Beamten die Szene begleiten. In Dorstfeld ist zudem eine Task Force vom Ordnungsamt im Einsatz, um jedes kleinste Vergehen zu ahnden. Rechtsextreme Plakate, Aufkleber und Schmierereien sollen immer sofort entfernt werden. Die Zeiten, in denen die AN das Gefühl hatten, unbeobachtet agieren zu können, sollen nun endgültig vorbei sein. "Unattraktiv" will Wesseler seine Stadt für die Szene machen, und er hofft, den Stempel "Nazi-Hochburg" irgendwann loszuwerden. Er weiß, dass die Stadt dafür einen langen Atem braucht. diff --git a/fluter/deutschland-ukraine-zweiter-weltkrieg.txt b/fluter/deutschland-ukraine-zweiter-weltkrieg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2009461f33098ec41f8d0513ef51d5c6dcfca633 --- /dev/null +++ b/fluter/deutschland-ukraine-zweiter-weltkrieg.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Dabei stand das ukrainische Territorium im Mittelpunkt von Deutschlands imperialistischen Plänen vom "Lebensraum im Osten". Die Ukraine sollte den Nazisals Kornkammer dienen, das Dritte Reich mit Rohstoffen versorgen und ihm verlässlich Arbeitssklaven liefern. Laut NS-Rassenlehre sollten die ukrainischen "Untermenschen" vernichtet oder von der "höheren arischen Rasse" beherrscht werden. Wie in kaum einem anderen europäischen Land setzten die Nazis in der Ukraine auf ihren "Generalplan Ost" (das Gesamtkonzept der Germanisierungspolitik), ihren "Hungerplan" (bis zu 30 Millionen Bürger der Sowjetunion sollten ausgehungert werden) und die systematische Vernichtung aller europäischen Juden. +Während die Wehrmacht nur für relativ kurze Zeit weniger als zehn Prozent des sowjetrussischen Gebietes besetzte, hielt die deutsche Armee die Sowjet-Ukraine die meiste Zeit des Krieges komplett unter ihrer Kontrolle. Besonders hart traf es Städte, die zuvor schon im Ersten Weltkrieg sowieim Holodomor gelitten hattenund heute im Zentrum des Putin'schen Angriffskriegs stehen. Charkiw etwa wurde in den 1940er-Jahren zweimal von den Nazis belagert und eingenommen. +Nach ihrem Einmarsch begannen die deutschen Truppen in vielen Städten damit, die jüdische Bevölkerung zu verhaften und systematisch zu ermorden. Die Massenerschießungen werden auch als "Holocaust durch Kugeln" bezeichnet. In der Ukraine ereigneten sich zahlreiche dieser Massenmorde. In Drobyzkyj Jar bei Charkiw erschossen die Nazis ab Dezember 1941 bis zum Frühjahr 1942 etwa 16.000 Menschen, beim Massaker von Kamjanez-Podilskyj im August 1941 wurden rund 23.600 jüdische Kinder, Frauen und Männer ermordet – und in Babyn Jar bei der größten Erschießungsaktion der Shoah rund 33.700 Menschen in zwei Tagen. Neben Polen, Belarus und dem Baltikum war die Ukraine einer der Hauptschauplätze des Zweiten Weltkrieges. Die Gesamtzahl der getöteten Ukrainer und Ukrainerinnen wird auf mehr als acht Millionen geschätzt. +Bereits vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten hatte die Ukraine keine deutsche Unterstützung zu erwarten. Zwischen 1931 und 1934 verhungerten im Holodomor mehr als 3,9 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer. Auch die Deutschen beteiligten sich lange am Schweigen über dieses Verbrechen: "Am schlimmsten war die Lage im Norden des Amtsbezirkes. Aber auch in Odesa konnte man Menschen auf der Straße vor Hunger umfallen sehen", schrieb der deutsche Konsul Paul Roth in einem Bericht für Berlin. Die deutsche Regierung war also trotz Stalins Geheimhaltung gut über die Verbrechen am ukrainischen Volk unterrichtet. Öffentliche Kritik, gar Schritte gegen den massenhaften Hungertod kamen aus Deutschland aber nicht. +Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die deutsch-ukrainischen Beziehungen ebenfalls nicht sehr eng. In der DDR waren zwar mit der sowjetischen Armee Tausende ukrainische Soldaten stationiert, wie alle sowjetischen Soldaten hatten sie aber kaum Kontakt zur Bevölkerung. Die Politik der Bundesrepublik war dadurch gekennzeichnet, dass man vor allem Befindlichkeiten Moskaus wahrnahm. So wurde die Rolle der Ukraine als russischer Vasallenstaat im Westen übernommen. +Als die USA und weitere Nato-Mitglieder 2008 bereit waren, die Ukraine – zum Schutz vor Putins Militär – in die Nato aufzunehmen, verweigerte Deutschland die Zustimmung zu einem schnellen Beitritt, u.a. gemeinsam mit Frankreich und Italien. Man sei zur Überzeugung gelangt, sagte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass es "noch zu früh" sei, die Ukraine in die Nato aufzunehmen. Zur Begründung warnte ihr damaliger Außenminister Frank-Walter Steinmeier vor einer Belastung der Beziehungen zu Russland.* +* Die in der Endredaktion überarbeitete Fassung des Textes wurde auf Bitten des Autors korrigiert. Zunächst stand hier: "Daran änderte sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nur wenig. Ob bei NATO- oder EU-Beitritt, bei Waffenlieferungen oder der sicherheitspolitischen Stärkung der Ukraine – noch heute herrscht zwischen der Ukraine und Deutschland ein ungleiches Verhältnis, bei dem Deutschland trotz aller Unterstützung in der dominanten Position verbleibt." + +Titelbild: Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung diff --git a/fluter/deutschland-wald-klimawandel.txt b/fluter/deutschland-wald-klimawandel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5327f0a0bdb433b759aeafe75a8a95a86a8d4355 --- /dev/null +++ b/fluter/deutschland-wald-klimawandel.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Denn der Wald ist nicht nur schön zum Spazierengehen und Erholen,er ist für die Kommunen auch ein Wirtschaftsfaktor. In dem Gebiet, in dem Stechbarth pro Jahr sechs Auszubildende betreut, werden im Jahr 50.000 Kubikmeter Holz erwirtschaftet. Ein paar Millionen Euro bringt der Holzverkauf pro Jahr. Ein wichtiger Posten im kommunalen Etat. Der Holzverbrauch liegt in Deutschland bei mehr als 100 Millionen Kubikmetern jährlich – der Rohstoff wird nicht nur beim Bau oder für Möbel eingesetzt, sondern auch als Brennmaterial und zur Papierherstellung. Mit langsam wachsenden Mischwäldern ist dieser hohe Bedarf jedoch kaum zu decken, daher setzten Waldbauern und staatliche Forstämter jahrzehntelang auf schnell wachsende Nadelbäume wie Fichten. Doch gerade die leiden besonders unter dem Klimawandel und seinen Folgen wie der Borkenkäferplage. Um den Bedarf zu decken, importiert Deutschland Holz aus Ländern wie Kanada oder Russland. Doch Stechbarth gibt zu bedenken, dass bei importierten Bäumen häufig nicht mehr nachvollziehbar sei, ob sie aus nachhaltiger Forstwirtschaft stammten oder nicht. "Es kann ja nicht sein, dass wir in anderen Ländern den Raubbau an der Natur fördern, um hier genügend Holz zu haben", sagt er. +Fichte gegen Borkenkäfer, Umweltschützer gegen Holzproduzenten:Der deutsche Wald ist wieder zum Kampfplatz geworden – wie zuletztin den 1980er-Jahren. Damals fielen Nadeln und Blätter ab, weil sogenannter saurer Regen die Bäume absterben ließ. Dieser entsteht bei der Verbrennungsprozessen, wenn sich Schwefel, Stickoxide und Kohlendioxid mit Wasser verbinden. Proteste von Umweltaktivisten führten schließlich dazu, dass in Fabriken Filter eingesetzt wurden, um den Schadstoffgehalt in der Luft zu reduzieren, und sich der Wald nach und nach erholte. +Noch vor wenigen Jahren schwärmte das Bundeslandwirtschaftsministerium vom gesunden deutschen Wald, doch dann traten die Folgendes Klimawandelsimmer mehr zutage. Mit den trockenen Sommern kam das Waldsterben zurück. Dem desolaten Wald setzten Stürme, Brände und Schädlinge zu. Pestizide von den angrenzenden Äckern zerstören zudemdie Humusschichtendes Waldes und das lebensnotwendige Netzwerk von Wurzeln und Pilzen. Laut "Waldzustandsbericht" von 2020 sind 79 Prozent der Fichten lichter geworden, 80 Prozent der Eichen und sogar 89 Prozent der Buchen. Das ist der schlechteste Zustand seit Anfang der Erhebung im Jahr 1985. Und der "Dürremonitor" des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung weist den Waldboden in vielen Gegenden bis in tiefere Schichten als extrem trocken aus. +Der Wald habe allerdings schon viele Katastrophen und Krisen erlebt, sagt Marcus Stechbarth, der seinen Job seit fast 30 Jahren macht und eher zur nordischen Gelassenheit als zur Aufregung neigt. "Natürlich ist der Klimawandel ein Problem, aber die Natur hat bisher immer wieder Lösungen gefunden." Was aber, wenn der Mensch die Natur nicht machen lässt? +Einen anderen Umgang mit den für uns lebenswichtigen Waldflächen kann man nicht weit von Stechbarths Revier begutachten. Der Stadtwald Lübeck ist dafür bekannt, dass die natürlichen Prozesse hier seit 26 Jahren nicht gestört werden und der Mensch fast nicht in die Natur eingreift. Das heißt, die Bäume säen sich selbst aus, und Totholz bleibt liegen, um als Biotop für wichtige Organismen zu dienen. Obwohl so ein Wald erst auf lange Sicht Geld einbringt, haben einige Städte – darunter Berlin, München, Hannover und Göttingen – das Konzept der "naturnahen Waldnutzung" in einigen Gebieten übernommen. +Doch nicht jeder Wald ist im öffentlichen Besitz, fast die Hälfte gehört privaten Waldbesitzern, die ihre Flächen zum Teil seit Generationen bewirtschaften. Viele der Waldbäuerinnen und Waldbauern können sich den ökologischen Weg nicht leisten. Sie müssen ihre Familien ernähren und sind daher auf schnelles Holzwachstum angewiesen. Weil der lukrativste Baum, die Fichte, derzeit am stärksten leidet, experimentieren manche bereits mit anderen, nichtheimischen Arten, die dem Klimawandel besser trotzen. Deutschland sucht quasi den Superbaum. Die Amerikanische Edelkastanie käme vielleicht infrage, der spanische Maulbeerbaum oder auch der chinesische Blauglockenbaum, dessen Holz als das Aluminium der Holzindustrie gilt, weil es leicht und stabil zugleich ist. +Fest steht: Überall in Deutschland wird derzeit darüber nachgedacht, auf welche Weise der deutsche Walddem Klimawandel trotzenkann. Beim bayerischen "Kranzberg Forest Roof Experiment" (KROOF) untersuchen Forstwissenschaftler und Biologen seit 2013 beispielsweise die Auswirkungen von Trockenstress auf Fichten und Buchen. Andernorts werden Roteichen und Douglasien, die mit trockenen Standorten besser zurechtkommen, in den Bestand eingestreut. Doch neue Arten bergen die Gefahr, dass mit ihnen Schädlinge in die heimische Fauna gelangen, die den hiesigen Pflanzen zusetzen können. +Auch der Forstbeamte Stechbarth denkt immer wieder über ungewöhnliche Arten nach, die seinem Wald zugutekommen könnten – und auch über Möglichkeiten, das Abholzen zu verringern und dennoch Geld zu erwirtschaften. Bereits vor Jahren haben die Forstämter eine ganz andere Nutzung des Waldes ersonnen – und das Geschäft damit läuft gut. Der sogenannte Ruheforst bietet eine Alternative zum herkömmlichen Friedhof: Die Asche von Verstorbenen wird in biologisch abbaubaren Urnen unterhalb eines Baumes in die Erde eingelassen, an den Stamm kommt auf Wunsch eine Namensplakette. Blumen niederlegen oder ein Beet anlegen darf man nicht, in den Wald sollen schließlich keine fremden Pflanzen gelangen. Dennoch nimmt die Zahl der Begräbnisse im Wald zu, auch weil die Zeremonien hier nicht so sehr reglementiert sind wie auf dem Friedhof. Stechbarth jedenfalls hat schon Gruppen von Motorradfahrern durch den Wald cruisen sehen, das letzte Geleit im Grünen. Eigentlich ein schöner Gedanke: Wenn der Mensch tot ist, trägt er zum Überleben des Waldes bei. + +Titelbild: Diana Pfammatter diff --git a/fluter/deutschrap-tuerkei-mero-erfolg.txt b/fluter/deutschrap-tuerkei-mero-erfolg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..261605ebe4d754d1bad2882f60c8be8f79ff0c24 --- /dev/null +++ b/fluter/deutschrap-tuerkei-mero-erfolg.txt @@ -0,0 +1,34 @@ +Jedem Rap-Fan in Deutschland ist klar, was gemeint ist, wenn Rapper sich damit brüsten, Ot (Türkisch für Gras) zu ticken. Sie feiern den orientalischen Klang der Saz (türkisches Zupfinstrument). Und viele kennen das Gefühl, zwischen zwei Kulturen aufgewachsen zu sein. "Für Deutsche sind wir Türken. Für Türken sind wir Deutsche", rappte Eko Fresh. Eine Ablehnung, die viele Hörer bis heute fühlen,60 Jahre nach der Ankunft der ersten türkischen Gastarbeiter. +"Für Deutsche sind wir Türken. Für Türken sind wir Deutsche": Eko Fresh ist für viele Deutschtürken zweiter Generation eine Ikone + +Deutschrap war ohne türkische Einflüsse ohnehin nie vorstellbar. Aber wie ist es andersherum? Woher kommt die Begeisterung vieler Türken für Deutschrap? +Enes Meral ist 19 Jahre alt, Sohn türkischer Eltern und kommt aus Rüsselsheim. Für die meisten ist Enes Meral einfach nur Mero. Seit im vergangenen Jahr sein Debütalbum "Ya Hero Ya Mero" erschien, hat er geschafft, worauf die meisten Rapper ihre gesamte Karriere warten. Eines seiner Musikvideos wurde an einem Tag mehr als vier Millionen Mal geklickt, fünf seiner Singles landeten auf Platz eins der Charts. Als Mero anfing, auf Türkisch zu singen, erreichte der Hype auch die Türkei: Vier Wochen stand "Olabilir" im Sommer 2019 an der Spitze der türkischenSpotify-Charts.Im Song rappt Mero Doubletime über das Leben im Ghetto. In der Hook besingt er mit wachsweicher Stimme, wie unvorhersehbar das Leben ist. Wahrscheinlich ist er das beste Beispiel dafür. +Für Meros Kritiker sind die Reime zu simpel, der Flow zu holprig. Denerfolgversprechenden Spagat zwischen Schnulze und Straßenrapfinden sie misslungen. Melike sieht das anders. Sie ist wie Mero 19 Jahre alt, kommt aus der westtürkischen Stadt Bursa und führt auf Instagram einen Account für türkische Mero-Fans. Melike sagt, das Beste an ihm sei seine Stimme. "Obwohl Mero nicht bei dir ist, fühlst du dich ihm nah." +Türkisches Song-Vokabelheft +Summer Cem –tamam tamam: Alles klar (wörtlich: okay okay) +Eno –Bana ne?: Was interessiert mich das? +Ezhel und Ufo361 –Wir sindKral: Wir sind König +Mero –Olabilir: Alles ist möglich (wörtlich: Es kann sein) +KC Rebell feat. Summer Cem –Hayvan: Tier +Alpa Gun feat. Sido –Sor bir bana: Frag mich +Killa Hakan ft. Eko Fresh & Ayaz Kapli –Her Şey yolunda: Alles im Lot +Brado feat Mero –Kafa leyla: Der Kopf ist betrunken (oder bekifft) +Fuat –Hassickdir: Fick dich +Deutsch kann Melike nicht. Ab und zu schnappt sie türkischen Slang wie "Kafa leyla" auf. Wenn sie wissen möchte, worüber Mero genau rappt, wie seine Beziehungen zu anderen Rappern sind, fragt sie ihren Cousin aus Hamburg. Der zeigte ihr auch die ersten Songs von Mero. +Melike feiert Mero nicht aus Stolz auf einen türkischstämmigen Rapper, der es in Deutschland geschafft hat. "Deutsche Rapper", sagt Melike, "können auftreten, wie sie wollen." Sie seien freier in ihrer Art zu rappen, erzählen offen von ihrem Lebensstil, von Frauen, Drogen, Alkohol.Von dieser Freiheit können die Rapper in der Türkei nur träumen."Ezhel ist wegen seines Rap im Knast gelandet", erzählt Melike. +Ezhel ist riesig in der Türkei. 2019 zählte ihn die "New York Times" zu den15 wichtigsten Popmusikern Europas. Zeitgleich saß Ezhel in Istanbul in Haft. Die Justiz warf ihm vor, seine Zuhörer zum Kiffen angestiftet zu haben. Das kann in der Türkei mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden, Ezhel kam nach einem Monat raus. Vermutlich auch wegen des öffentlichen Drucks, der Hashtag #FreeEzhel trendete auf Twitter. +Heute pendelt der Rapper zwischen seiner Heimatstadt Ankara und Berlin. Für Ezhel ist Kreuzberg die Wiege des türkischen Rap: In den 1980er-Jahren entstanden dort erste türkischsprachige Rap-Crews wie Cartel und $lamic Force. Berliner Untergrundrap war nicht nur für Ezhel prägend. Er schaffte es von Kreuzberg bis in und durch die Türkei. +Dort, im zentralanatolischen Eskişehir, wuchs Muhsin auf. An seine erste Deutschrap-Erfahrung erinnert er sich genau. Muhsin war elf Jahre alt, als der Neffe seines Nachbarn dasTape "Hassickdir" von Fuatmit in den Türkei-Urlaub brachte. +Auf dem Tape lässt Fuat seinen Gewaltfantasien freien Lauf. Er jagt MCs mit Harpunen und fantasiert, sich aus der Rückenhaut "deiner Mutter" einen Gürtel herauszureißen. Provokationen, die so umstritten sind wie kalkuliert: Die winzige Rap-Szene der 90er-Jahre buhlte um Aufmerksamkeit. +Als Kind ist Muhsin geschockt. Beleidigungen wie die von Fuat hatte er vorher noch nicht gehört. "Bis dahin war Deutschland Helmut Kohl, Mercedes-Benz undNazis in Solingen", sagt er. Nun ist er angefixt vom düsteren Sound und den aggressiven Texten, mit Rap fängt Muhsin an, Deutsch zu lernen. Die Türkei verlässt er das erste Mal, als er ein Stipendium bekommt und nach Deutschland ziehen kann. +Muhsin mit Fuat (rechts), dessen Tapes ihm Rap und Deutsch beibrachten (Foto: privat) +Mittlerweile ist Muhsin 30 und lebt wieder in Istanbul. Er fremdelt mit der aktuellen Entwicklung im Deutschrap. Die Hits von Mero und Summer Cem findet er "zu poppig und austauschbar". Hinter den Songs stecke mehr Marketing als Musik. "Für die Menschen hier in der Türkei ist es einfach interessant, wenn jemand türkischen Slang benutzt und damit im Ausland Erfolg hat." Fuat ist eine Ausnahme geblieben: Im vergangenen Sommer setzten er und andere Rapgrößen die türkische Regierung unter Druck. Der Hashtag #Susamam trendete weltweit. +Fuat Ergin gehört zu den Pionieren der Berliner Rap-Szene. Er war wie Kool Savas Teil der Crew M.O.R., rappte erst auf Englisch, dann auf Türkisch. 2004 zog er nach Istanbul. 2019 legten sich Fuat und viele der erfolgreichsten türkischen Rapper auf Initiative des Rappers Şanışer mit der AKP-Regierung an: Ihr Song #Susamam ("Ich kann nicht schweigen") löste eineDebatte über Meinungsfreiheitund Gewalt gegen Frauen in der Türkei aus. +"Ich habe Angst vor der Polizei in meinem eigenen Land", rappt Şanışer in seinem Vers. Die Aussage könnte auch von deutschen Rappern stammen. Nur geht es Şanışer nicht um illegales Drogengeld, das ihn hinter Gitter bringen könnte. Şanışer hat schon Angst, einen falschen Tweet abzusetzen. Regierungstreue Medien witterten hinter #Susamam eine Kampagne der Gülen-Bewegung und der verbotenen PKK ("Arbeiterpartei Kurdistans"). +Rap klinge mittlerweile eh überall gleich, sagt Muhsin. Auf dem Siegeszug durch den Mainstream habe er alle Ecken und Kanten verloren, und meist auch seine Botschaft. Muhsin sagt das nicht nur als Hörer,er rappt selbst unter dem Künstlernamen Necip Mahfuz. "Durch Rap kann ich mich am besten ausdrücken", sagt er. +Tatsächlich scheint die große Zeit der Geschichtenerzähler vorbei zu sein. Zeitgenössischer Rap lebt vom Vibe, also von der Atmosphäre. Gut funktionieren: seichte Melodien und Assoziationsketten über die Vorzüge des Rapperlebens. Weniger angesagt: Erzählungen, die den Hörern länger Aufmerksamkeit abverlangen. +Wenn es tatsächlich um die Qualität der Musik gehen würde, müsste Kool Savas in der Türkei erfolgreich sein, sagt Muhsin. "Aber Savas betont nicht ständig seinen türkischen Migrationshintergrund." Er baue nicht zwanghaft türkische Redewendungen in seine Songs ein. +Ist Kool Savas damit die Ausnahme im neuen Rap-Game? Das, in dem es am Ende doch nur um Para geht, also um Geld, um Millionen Hörer, doppelt so viele Klicks und Streams, um Absatzmärkte? Zwischen der Türkei und Deutschland gelte das nicht, sagt Muhsin. "Wir haben schon immer eine besondere Verbindung." Er erinnert an dasBündnis von Kaiser und Sultan im Ersten Weltkrieg, an die Integration derGastarbeiter aus Anatolien. Rap aus Rüsselsheim erwähnt Muhsin nicht. Aber irgendwie gehört der ja jetzt auch dazu. + + +Das Titelbild von Gina Wetzler/Redferns zeigt ein Konzert von Mero. diff --git a/fluter/deutschtuerken-ohne-wahlrecht.txt b/fluter/deutschtuerken-ohne-wahlrecht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7f39733e6512ee94eedee9de30a963fb836e89e1 --- /dev/null +++ b/fluter/deutschtuerken-ohne-wahlrecht.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Yaşaroğlu kam 1982 als politscher Flüchtling aus der Türkei nach Kreuzberg und nahm 1987 die deutsche Staatsbürgerschaft an. Seitdem ist er zu jeder Wahl gegangen. Wenn er davon spricht, sagt er, er wolle sein "demokratisches Recht nutzen". In den Achtzigern, als die Regierung Kohl sogenannten Gastarbeiter*innen sogar Geld bot, um sie wieder in ihre Heimatländer zurückzuschicken, erzählt er, habe er schnell gemerkt, "dass ich lauter werden muss, wenn ich hier als Bürger anerkannt werden will". Der Mann mit dem vollen grauen Haar und der schwarzen Brille ist nicht nur Cafébetreiber, sondern auch Sozialarbeiter. Seit Jahren setzt er sich für die Rechte von Menschen mit Migrationsbiografie in seinem Kiez ein, und sein "Café Kotti",das im ersten Stock der 70er-Jahre-Betonburg "Zentrum Kreuzberg" liegt, ist eine Kreuzberger Institution. Hier mischt sich ein (post-)migrantisches Publikum mit Biodeutschen, Expats und Tourist*innen. Ein Begegnungsort – so ist es von Yaşaroğlu ausdrücklich gewollt. Die Vielfalt, von der immer so viel gesprochen wird, sagt er, die passiere hier ja längst. Die Politik komme nur nicht hinterher. + +Ercan Yaşaroğlu ist mit seinem Café Kotti eine Institution am Kottbusser Tor. Seinen Freunden rät er, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen – um endlich wählen zu können und die Gesellschaft, in der sie leben, mitzugestalten + +"Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" – so steht es im Grundgesetz. Wer dieses "Volk" ist und wer nicht, ist in Deutschland klar geregelt. Als nicht zugehörig, zumindest was das Wahlrecht betrifft, gelten Menschen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Um die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen, muss man eine Reihe von Anforderungen erfüllen. Ein paar davon sind gar nicht mal so einfach. Darunter: einen auf Dauer angelegten Aufenthaltstitel besitzen, den eigenen Lebensunterhalt und den der unterhaltsberechtigten Angehörigen selbst sichern können, man darf noch nicht wegen einer Straftat verurteilt worden sein und muss andere Staatsangehörigkeiten in der Regel aufgeben. Und manche Menschen könnten die deutsche Staatsangehörigkeit annehmen, wollen jedoch nicht, weil sie ihre Prioritäten anders setzen. +Ein Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1990 besagt: Wählen dürfen nur deutsche Staatsbürger*innen – und seit einer Änderung des Grundgesetzes 1992 EU-Ausländer*innen bei Kommunalwahlen. In Zahlen bedeutet das: In Berlin dürfen fast 800.000 Bewohner*innen – rund ein Fünftel der Einwohner*innen – bei der Bundestagswahl nicht wählen, weil sie nicht die deutsche Staatsbürgerschaft haben. Bundesweit gibt es mehr als 9,5 Millionen Menschen über 20 Jahre, die mit ausländischem Pass im Land leben. Die meisten von ihnen stammen aus der Türkei, die kein EU-Mitglied ist: über 1,4 Millionen. "Für diese Menschen wird in Deutschland keine Politik gemacht", sagt Ercan Yaşaroğlu. +Das gilt auch für Avnis Sohn Serdar Kazanci. "Der ist sogar noch länger da als ich", wirft Yaşaroğlu ein, wobei er mit seiner brennenden Zigarette gestikuliert. Serdar ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, hat hier studiert, ist politisch interessiert und arbeitet in einem Immobilienunternehmen. Gerade ist er 40 geworden. Er hat nie woanders gelebt als in Berlin. Serdar könnte die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen, müsste dann aber die türkische abgeben. "Ich will mich nicht entscheiden müssen. Ich bin Türke und möchte meine Kultur nicht aufgeben. Natürlich bin ich auch Deutscher. Aber für Politiker werde ich das nie sein. Sobald sie nicht mehr weiterwissen, pochen sie auf Blut und Abstammung", sagt er. +Zwar gilt seit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000 nicht mehr nur das Prinzip der Abstammung, sondern auch das des Geburtsortes: Seitdem können in Deutschland geborene Kinder unter bestimmten Umständen auch einen deutschen Pass erhalten, wenn ihre Eltern eine andere Staatsbürgerschaft haben: Dafür müssen die Eltern seit mindestens acht Jahren in Deutschland leben und ein unbefristetes Aufenthaltsrecht besitzen. Für Serdar und alle anderen vor 2000 Geborenen gilt das aber nicht. Sie müssen bei der Einbürgerung dieselben Anforderungen erfüllen wie alle anderen auch. +Serdar hat inzwischen das Gefühl, dass er selbst mit deutschem Pass nie richtig anerkannt würde. Auch deshalb wolle er die Staatsbürgerschaft nicht annehmen, erklärt er. Vielleicht ist es Trotz, vielleicht ist es die Verletzung, sich nicht willkommen zu fühlen. "Ein Stück Papier macht in der Hinsicht keinen Unterschied. Ich verstehe nicht, warum man das Wahlrecht nicht an die Aufenthaltsdauer binden kann. Oder warum ich nicht wenigstens auf Kommunalebene wählen darf." +In einigen Ländern funktioniert das längst so: Etwa in Chile, Uruguay oder Neuseeland dürfen Ausländer*innen wählen. Bedingung dafür ist eine Mindestaufenthaltszeit, in Neuseeland beträgt sie ein Jahr. Und in 16 von 27 EU-Staaten dürfen bestimmte Gruppen von im Land lebenden Drittstaatsangehörigen immerhin kommunal wählen. + +Serdar ist in Deutschland geboren und lebt hier seit 40 Jahren. Er fühlt sich auch als Deutscher, will sich aber nicht für eine Staatsbürgerschaft entscheiden müssen. Von der Politik fühlt er sich ausgegrenzt + +Alle drei – Ercan, Avni und Serdar – reden viel über Politik. So wie jetzt an dem kleinen Marmortisch, die Arme auf die Metallbrüstung gestützt, über den Lärm von hupenden Autos und rangierenden Getränkelastern hinweg. Sie reden über den Wahlkampf der Grünen, die Politik der AfD und den Berliner Senat, über Drogenhandel und Polizeieinsätze am Kottbusser Tor, über "Willkommenskultur"- und "Leitkultur"-Debatten. Zu fast allem haben sie ihre Meinungen, Forderungen, Ideen. +Nur dass sie dem nicht mit ihrer Wahlentscheidung Ausdruck verleihen können, weil sie keine deutschen Staatsbürger sind. Avni sagt: "Es macht mich wütend. Ich fühle mich von allen Parteien allein gelassen. Ich sehe keine, die sich für uns starkmacht. Ich finde das verlogen. Die von der AfD sagen es einem wenigstens ins Gesicht, dass sie einen nicht hier haben wollen, dass man abhauen soll." Serdar sagt: "Ohne unser Kreuz auf dem Wahlzettel, haben wir keine Stimme. Und ohne unsere Stimme gibt es bei den Politikern auch keinen Handlungsbedarf." +Vielleicht kann man das nirgendwo so gut sehen wie hier am Kotti. Wenn sich hier ein Rapper für ein Musikvideo vor die Wohnblöcke stellt, erzählt sich der Rest von allein. Das "Zentrum Kreuzberg" gilt als Brennpunkt der Kriminalität. Ein Hochhaus mit zwölf Etagen und schlechtem Image – mitten im eigentlich seit Jahren durchgentrifizierten und hippen Kreuzberg. Was stimmt: Der Kotti ist nach wie vor ein großer Drogenmarktplatz, und man fragt sich, warum sich hier eigentlich seit Jahren so gut wie nichts ändert – inmitten einer Stadt, in der sich ständig alles ändert. Ercan Yaşaroğlu, der mehrere Anti-Gewalt-Initiativen am Kotti gestartet hat, sagt: "Die kulturelle Vielfalt hier ist eigentlich ein Reichtum. Die sollte man als Labor für unsere zukünftige Gesellschaft nutzen. Aber weil es hier keine Wählerstimmen zu holen gibt, lohnt sich auch keine politische Handlung." Mindestens 70 Prozent der Anwohner*innen, so schätzt Yaşaroğlu, haben hier keine Wahlberechtigung. "Die paar restlichen Stimmchen sind den meisten Politikern egal." +Ercan Yaşaroğlu würde seinen beiden Freunden raten, die Staatsbürgerschaft anzunehmen, sagt er. Es gehe auch um die Verantwortung, die Gesellschaft mitzugestalten, in der man lebt. "Wenn so viele Millionen Menschen nicht wählen können, dann stimmt etwas nicht mit unseren demokratischen Werten." Avni hat seinen Kaffee ausgetrunken und wippt unruhig mit dem Fuß. Er muss zurück in seinen Laden. Auch Ercan und Serdar müssen weiter. Ihr deutscher Alltag wartet auf sie. diff --git a/fluter/dicht-sargnagel-rezension.txt b/fluter/dicht-sargnagel-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f036a1fa886119714b9d5dc608a04f447f26ef84 --- /dev/null +++ b/fluter/dicht-sargnagel-rezension.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +"Dicht" heißt ihr Buch treffenderweise und ist eigentlich mehr Autobiografie als Roman: Die biografischen Eckdaten der Ich-Erzählerin Stefanie Sargnagel zumindest stimmen mit denen der real existierenden Stefanie Sargnagel, bürgerlich Sprengnagel, überein. +Dabei liest sich "Dicht" stellenweise wie ein blitzschnell runtergeschriebenes Tagebuch, aber eben auch wieeine Hommage an Wienund ihre Außenseiter, die trotz ihres ganz und gar unbürgerlichen Lebensstils ein ziemlich erfülltes Leben zu führen scheinen. Dank des nach wie vor intakten städtischen Gemeindebausystems verbringen sie die Nullerjahre in großen Wohnungen, in die man gerne mal 5 bis 30 Leute zum Abhängen einladen kann, solange sie ein paar Dosenbier und Zigaretten mitbringen, und in denen von den rechtskonservativen Parolen, die damals Österreich durchwehten –die FPÖ war damals noch Regierungspartei–, so gar nichts zu spüren ist. +Sargnagels literarisches Ich, zu Beginn des Buches ist sie etwa 13, am Ende volljährig, bewegt sich durch diese Wohnungen, Parks und "Hittn" (als Kneipen getarnte Drogenumschlagplätze) mit einer Offenheit und Solidarität, die bei den meisten Menschen leider spätestens zum Ende der Jugend verloren geht: Klar trinken Sargnagels Bekanntschaften zu viel, wenn sie den ganzen Tag auf Parkbänken rumhängen. Klar haben manche eine psychische Störung, ein Drogenproblem oder eine im kommerziellen Sinne seit Jahrzehnten gescheiterte Künstlerbiografie. Aber für Sargnagel, die im Buch ständig betont, wie sehr sie die Schule langweilt (ein paarmal zu oft, man hat es eigentlich beim ersten Mal schon verstanden), und die wie jeder nonkonforme Teenager ständig nach irgendeinem Ausbruch sucht, sind diese Bekanntschaften wesentlich spannendere Zeitgenossen als die drögen Mitschülerinnen. +Wenn es im Park zu regnerisch wird, zieht es Sargnagel immer öfter in die Wohnung von Michi, einem wortgewandten Enddreißiger, der wegen seiner Kettenraucher-Durchblutungsstörungen Stützstrümpfe trägt und ein unschlagbares Talent fürs Klauen hat. Bei den dortigen Gelagen, an denen Sargnagel mit ihrer Freundin Sarah nächtelang teilnimmt, wird es manchmal durchaus ungemütlich: Immer wieder hat jemand einen psychotischen Anfall, einen fehlgeschlagenen Drogentrip oder rückt den beiden Teenagern nah auf die Pelle. Sargnagel und ihre größtenteils doch schwer korrekten Kumpaninnen behalten in all dem Chaos aber immer die Kontrolle. Selbst wenn Sargnagel zwei aufeinander einschlagende Nazi-Jungen versöhnt und einer sie danach blutüberströmt anfleht, doch ein bisschen bei ihm zu bleiben, weil ihm allein so "urfad" sei, ist das für Sargnagel eher eine "flashige" als eine verstörende Erfahrung. +Das Leben abseits der Schule scheint ihr immer mehr zu dem zu werden, was man mal "Straßenabitur" nannte – die eigentliche Schule des Lebens, abseits von Autorität, Weckergeklingel und Karriereplänen. "Die Arbeitslosen und Verrückten, die mich in meiner Freizeit umgaben, vermittelten mir das Gefühl, dass ihr Weg auch ein legitimer Lebensentwurf sein könnte", schreibt Sargnagel, die wenig später die Schule kurz vor dem Abschluss abbricht. +Abgesehen von einem lukrativen Rucksackbierverkauf vor der Wiener Clubinstanz Flex hält sich auch ihre Lust zu arbeiten stark in Grenzen. Sie blüht erst auf, als sie nach einem spontanen, romantisch motivierten Einbruch in ein Möbelhaus ein paar Sozialstunden in einer kunsttherapeutischen Einrichtung ableisten muss ("der beste Job, den ich je hatte"). Dort betreut sie einige der Existenzen, die sie eh aus dem Park kennt. Viele von ihnen zerstreuen sich mit den Jahren, Sargnagels Freundin Sarah wird Mutter, andere studieren doch noch ein bisschen, sogar Michi zieht um in ein jüdisches Altersheim, das auch Zimmer "an Menschen vermietet, die nicht unbedingt jüdisch oder alt" sind. Hier weicht in klassischen Coming-of-Age-Romanen normalerweise das jugendliche Aussteigertum irgendeiner Form von pädagogisch wertvoller Einsicht, einer mindestens teilweisen Aussöhnung mit dem, was man als Jugendlicher gerne "das System" nennt. Stefanie Sargnagel macht aber einfach weiter. Gott sei Dank. + +Titelbild: Maša Stanić / Connected Archives diff --git a/fluter/didi-sean-wang-kinofilm.txt b/fluter/didi-sean-wang-kinofilm.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..29b3e69104c48ae475df318e938561d0749ffaca --- /dev/null +++ b/fluter/didi-sean-wang-kinofilm.txt @@ -0,0 +1,10 @@ + + +"Dìdi" (das Wort bedeutet in Mandarin so viel wie "kleiner Bruder", wird aber auch als Kosename von Eltern für ihre Söhne benutzt) istein klassischer Coming-of-Age-Film, der aus der Perspektive von Chris erzählt wird. Gesellschaftskritischen Themen werden meist nicht explizit angesprochen, sondern subtil in die Handlung eingeflochten. Dadurch ist der Ton des Films die meiste Zeit humorvoll. Traurig wird es an einigen Stellen trotzdem. Vor allem dann, wenn die Beziehung zwischen Chris und seiner Mutter gezeigt wird. Sie hat ihren Traum, Künstlerin zu werden, für ihre zwei Kinder aufgegeben und kümmert sich aufopferungsvoll um die beiden. Doch wenn Chris sie nicht gerade ignoriert, schnauzt er sie schlecht gelaunt an. +Zum einen, weil er mitten in der Pubertät steckt. Zum anderen, weil er den Rassismus, den er erfährt, verinnerlicht hat und die Verhaltensweisen seiner Mutter,die er als typisch asiatisch liest, manchmal peinlich findet. Eine zentrale Rolle nimmt auch die Anfangszeit von Social Media ein. Denn 2008 gab es weder Instagram noch TikTok, dafür den AOL Instant Messenger, Facebook – und MySpace. Auf der Plattform erkundet Chris die Filmvorlieben von Madi, nur um später im AOL-Chat mit ihr behaupten zu können, dass die Liebesschnulze "A Walk to Remember" auch sein Lieblingsfilm sei. Außerdem lädt er auch selbst Videos auf YouTube hoch – zum Beispiel von sich und Freunden, die den Briefkasten der Nachbarn in die Luft jagen. Im Vergleich zu den durchchoreografierten TikToks von heute wirken Chris' Videos zwar witzig, aber sehr amateurhaft. +In vielen Teilen Asiens ist es üblich, einen Regenschirm zu nutzen, um sich vor der Sonne zu schützen. Als die Mutter von Chris an einem sonnigen Tag einen Regenschirm aufspannt, zeigt sich, dass ihr Sohnden Alltagsrassismus, den er erlebt, verinnerlicht hat. Er sagt: "Umbrellas are for rain, that's so embarrassing." Zu Deutsch: "Regenschirme braucht man bei Regen, das ist so peinlich." +Unbedingt. Zum einen, weil Sean Wang mit seinem Film all jene Themen aufgreift,die Teenager umtreiben, und seine Protagonist:innen dabei ernst nimmt. Zum anderen überzeugen die jungen Darsteller:innen – viele standen zum ersten Mal vor der Kamera – mit ihrer Leistung. Besonders Izaak Wang als Chris schafft es, das chaotische Gefühlsleben seiner Figur auch durch subtile Veränderungen seiner Mimik auf die Leinwand zu transportieren – zum Beispiel dann, wenn er mit einem rassistischen Kommentar konfrontiert wird. Ohne ein Wort zu sagen, sehen die Zuschauenden, dass die Worte in ihm nachhallen und ihn aufwühlen. + +"Dìdi" läuft ab dem 15. August im Kino. + +Fotos: Universal Pictures International Germany diff --git a/fluter/die-an-die-grenze-gehen.txt b/fluter/die-an-die-grenze-gehen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/die-anti-atom-bewegung-im-wendland.txt b/fluter/die-anti-atom-bewegung-im-wendland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3199d3bfc52303d6836cf7601d34a39c79e1f341 --- /dev/null +++ b/fluter/die-anti-atom-bewegung-im-wendland.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +37 Jahre später gräbt der Hamburger Archäologe Attila Dézsi die Überreste des Dorfes und damit auch seine Geschichte wieder aus. Im Herbst 2017 hat es eine erste Grabung gegeben, im Frühjahr wird eine zweite folgen. In der Zwischenzeit katalogisiert Dézsi Hunderte von Gegenständen, die er gefunden hat – lauter Hinterlassenschaften der Demonstranten und auch solche der Polizisten. Tausende Polizisten und Bundesgrenzschützer – über die genaue Zahl gehen die Schätzungen auseinander – stürmten am 4. Juni 1980 das Dorf, mit dem die Bohrstelle Nummer 1004 besetzt worden war. Die Republik Freies Wendland war fortan Geschichte. +Das Problem, das die Atomkraftgegner umtrieb, ist bis heute ungelöst: Wohin mit dem Atommüll? Dass der Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen ist, ändert ja nichts daran, dass der Müll schon existiert und irgendwo bleiben muss. Dézsi geht es auch darum, dieses Thema wieder in den Fokus zu rücken. Er ist Wissenschaftler, aber durchaus parteiisch und möchte "die Geschichte von Menschen erzählen, die Geschichte selbst in die Hand nehmen". +Was Dézsi und seine Mitarbeiter finden, nennen sie Artefakte, es sind so profane Dinge wie Coladosen und Töpfe; die Dosen werden eher der Polizei zugeordnet, die Töpfe den Demonstranten. So wahnsinnig überraschend ist das nicht, was da zutage gefördert wird. Gegenwartsarchäologie wird eben deshalb auch oft belächelt: Was hat man davon, eine 37 Jahre alte Brausedose zu finden? Doch die noch junge Wissenschaft hat einen Vorteil, den auch Dézsi schätzt und nutzt: Die Akteure leben noch. Dézsi kann ihnen mit seinen Funden Erinnerungsanstöße geben. Die Grabung von heute greift dabei eine Idee von damals auf: den Gemeinschaftsgedanken, "Community Archaeology", nennt es Dézsi. Zeitzeugen und überhaupt Interessierte sind eingeladen, an der Arbeit teilzunehmen, Fragen zu stellen und zu beantworten. +Dézsi versucht beispielsweise, gemeinsam mit Zeitzeugen eine genaue Karte des Dorfes zu erstellen, denn trotz der zahlreichen Bilddokumente, sagt er, sei es schwierig, alle Hütten und Einrichtungen genau zu lokalisieren. Für die zweite Grabungsphase hofft er den exakten Standort des Frauenhauses bestimmen zu können. +Ton, Steine, Scherben – und noch ein Gasmaskenfilter. Bei einem Pressegespräch im November 2017 wurden der Öffentlichkeit erste archäologische Fundstücke präsentiert +Er darf in Gorleben noch buddeln: der Hamburger Gegenwartsarchäologe Attila Dézsi +Man fragt sich ja, wie das ganze Zeug eigentlich unter die Erde gekommen ist. Seit Herbst 2017 wird es jedenfalls wieder hervorgeholt – und damit auch ein Stück bundesrepublikanische Geschichte +Mit einem anderen Teilprojekt stieß er schon auf unerwartete Komplikationen: Dézsi wollte anhand der Hinterlassenschaften zweier Hütten den Alltag der Bewohner vergleichen. Denn die Hütten wurden von regionalen Gruppen erbaut und bewohnt, hier die Hamburger, dort die Münchner und so weiter. Zu seinem Bedauern fand Dézsi jedoch in der Münchner Hütte Müll, den er Polizisten zuordnet, die ihn bei oder nach der Räumung hinterlassen haben müssen. +Dézsis Forschung wird von der Universität Hamburg, der englischen "Society for Post-Medieval Archaeology" und privaten Spendern ermöglicht. Zu ihnen gehört Rebecca Harms, heute Europaabgeordnete der Grünen, 1980 eine der Protagonistinnen der Besetzung. Harms spricht nicht von Republik oder Camp, sondern sagt "1004". Es ist nicht Romantik, sondern das politische Anliegen, der Protest gegen die Atomenergie und ihre Folgen, was für sie zählt. +1980, das ist lange her, eine vordigitale Zeit. Social Media gab es nicht mal als Vision. Was es gab, war die Sehnsucht nach alternativen Lebensformen. Nicht für alle, gerade für die Bauern und Bürger, die bei den Protesten dabei waren und vor allem keinen Atommüll in ihrer Nähe wollten, eher weniger. Aber für viele andere umso mehr. Die Republik Freies Wendland bedeutete neben dem Protest gegen Atomenergie auch die Demonstration für etwas: "Die Idee vom anderen, vom guten Leben; nicht immer höher, immer weiter", umschreibt es Harms. Es gab sogar einen eigenen Pass, in dem vermerkt war, er sei gültig, "solange sein Inhaber noch lachen kann". + + +Das physische Zusammensein samt der Besetzung eines Ortes ist auch in digitalen Zeiten eine symbolträchtige Form der Protestkultur, die in Erinnerung bleibt. Occupy Wall Street 2011 in New York oder das Flüchtlingscamp auf dem Berliner Oranienplatz ab 2012 oder der Euro-Maidan in Kiew ab 2013 zeigen es. So vielfältig die Motive und Ziele dieser Aktionen waren und so verschieden die Akteure selbst – immer geht es darum, eine Gemeinschaft zu bilden, die sich sozusagen als gallisches Dorf gegen Rom stellt. Und in der die Beteiligten sich auch miteinander auseinandersetzen müssen, ganz real. +Heutige Protestformen wie #-Kampagnen im Netz sieht Harms im Vergleich skeptisch, sie empfindet sie als Kampagnen, "denen der Kern fehlt, anders als Ereignisse in der wirklichen Welt". +Rebecca Harms reist seit Ende der 80er-Jahre regelmäßig in die Ukraine, anfangs ging es um die Katastrophe von Tschernobyl, später beschäftigten sie die Freiheitsbewegungen. Sie würde, sagt Harms, die Besetzung im Wendland nie mit den proeuropäischen Protesten auf dem Maidan in Kiew vor vier Jahren vergleichen. Allein schon, weil die Ukrainer viel mehr riskiert hätten. Was sie aber der mangelnden Vergleichbarkeit zum Trotz hier wie da ähnlich bewertet, sind die Nachwirkungen der aufsehenerregenden Besetzungen: In Kiew und im Wendland, sagt Harms, "gab es das Entstehen eines neuen Bürgers, der bereit ist, Verantwortung zu übernehmen." + diff --git a/fluter/die-arbeitsbedingungen-der-teepflueckerinnen.txt b/fluter/die-arbeitsbedingungen-der-teepflueckerinnen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/die-aristokratie-der-bankauszuege.txt b/fluter/die-aristokratie-der-bankauszuege.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..13239e9718df1aedd8bbba3b23f362c9a9ac40f3 --- /dev/null +++ b/fluter/die-aristokratie-der-bankauszuege.txt @@ -0,0 +1 @@ +Alte Schüler/innen wie Frank lächeln über all das, die jungen nicht, sagt Sinnet: "Da wächst schon eine ganz neue Generation heran." Eine, die sich über den strengen Tagesrhythmus nicht beklagt. Frühstück, Morgensilentium, Unterricht, Mittagessen, Arbeitsstunde, Sport, Abendessen, Abendsilentium. Der Stundenplan klopft den Rhythmus, zu dem sich alle bewegen. Auch der Zehntklässer Felix: "Es ist schwieriger geworden, etwas zu erreichen", meint er, "Kontakte allein reichen nicht mehr. Man muss sich auch anstrengen." Vielleicht ist die Angst um den Arbeitsplatz und vor der Globalisierung mittlerweile in gehobeneren Schichten angekommen. Auch in Neubeuern ist die internationale Konkurrenz schon da. Zehn Prozent der Schüler/innen kommen aus dem Ausland. Zum Beispiel Siming, aus China, deren Hände wie zwei flinke Tiere über die Tastatur ihres Laptops huschen, sie schaut nicht auf, sie kann beides gleichzeitig, reden und schreiben. "Mein Vater hat mich nach Deutschland geschickt, weil er glaubt, dass die so ordentlich, fleißig und pünktlich sind."Schweiz, England, USA - Stationen im LebenslaufStollen klickern über Marmorboden. Die Schulmannschaft läuft zum Rugbytraining. Noch eine dieser Reformen von Roger Sinnet. Deshalb steht er jetzt auch am Spielfeldrand. "Run, Guys", schreit Sinnet, "get him down." Jemand reißt Felix um. "Good Tackling, Guys", ruft Sinnet. Er ist jetzt richtig gut drauf, sein Schnurrbart zittert. Felix humpelt vom Platz. Sinnet nickt. "Man kann viel lernen bei diesem Sport", sagt er. "Man braucht Mut. Auch Härte. Aber man bleibt immer Gentleman."Manchmal könnte man denken, die Insel entferne sich weiter vom Festland. Die Klippe werde immer höher. "Die da oben grenzen sich ab, immer mehr", sagt eine Frau im Tante-Emma-Laden, unten im Dorf. Schüler/innen aus Neubeuern, also Kinder, die von acht bis zwei Uhr das Gymnasium im Schloss besuchen – zu Sondertarifen – wird es ab nächstem Schuljahr nicht mehr geben. Der Zugang zum Internat wird exklusiver. "Wir schicken immer weniger Kinder dahin", sagt auch Reinhard Götz vom Jugendamt Rosenheim, "mittlerweile sind es nur noch zwei. Das hat auch damit zu tun, dass im Schloss das Interesse an den begüterten Kindern steigt."Auch wenn es Roger Sinnet nicht sagt, der Zweck eines Internats besteht auch darin, eine Elite zu schaffen, ein Netzwerk, eine Aristokratie. Er hat ein Buch, in dem die Adressen aller Ehemaligen verzeichnet sind. Vorsichtig schiebt er es über den Tisch, wie einen Goldbarren. Soziales Kapital. Das Buch ist gleichzeitig auch ein Werbeprospekt. Sinnet muss um jede/n Schüler/in kämpfen, er steht in einem internationalen Wettbewerb mit allen anderen Internaten. Er sagt: "Schon jetzt gehen mehr Deutsche in England ins Internat als in Deutschland."Felix und sein Freund Fabio haben mit ein paar Kameraden aus der zehnten Klasse einen Grill aufgestellt. Nicht auf der Südterrasse, sondern etwas abseits, sie kennen den Blick auf die Berge ja schon. Eng gedrängt sitzen sie nun auf den Bierbänken, Felix liegt in einem Stuhl, streckt die Beine aus. "Was hält mich schon in Deutschland?", fragt Felix, dessen Vater ein milliardenschweres Unternehmen leitet. "Es gibt Orte, die viel interessanter sind." Die Jungs reden über Internate, Schweiz, England, USA, sie wirken gar nicht mehr wie Schüler, sondern wie Kunden, die ein Produkt testen, bewerten, auswählen. Neubeuern ist ihnen keine Heimat mehr, nur eine Station im Lebenslauf. "Ich denke, dass ich woanders besser gefördert werden könnte", sagt Felix. Und Fabio nickt. Im Sommer werden die beiden nach Toronto gehen und dort in zwei Jahren das Abitur machen. The Upper College of Canada. Wieder eine Insel. Aber die Berge dort sind höher.Tobias Moorstedt und Jakob Schrenk leben als freie Journalisten in München. diff --git a/fluter/die-asche-meines-vaters.txt b/fluter/die-asche-meines-vaters.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4294e38f4520a1e9e1ea027830be567b59522878 --- /dev/null +++ b/fluter/die-asche-meines-vaters.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Neubauer zieht nach Verden an der Aller, wo er viele Freunde in der alternativen Szene hat, und studiert Soziologie und Philosophie. Jobben muss er nicht, er zehrt von dem, was auf dem Konto liegt. Er bekommt ja noch obendrauf eine Vollwaisenrente und teilt sich mit seiner Schwester die Mieteinnahmen aus dem geerbten Haus. Er ist weiter aktiv in der Antiatombewegung und gibt der Bewegung "X-tausendmal quer" einen Risikokredit über 10.000 Mark zur Finanzierung der Mobilisierung gegen Castortransporte. Neubauer merkt, dass sein Geld für ihn Sinn machen kann. Ein Freund erzählt ihm von Stiftungen reicher Erben in den USA, die Proteste fördern. Am Küchentisch der Wohngemeinschaft entsteht die Idee, solch eine Stiftung in Deutschland ins Leben zu rufen. Gerald Neubauer sucht andere Erben, die denken wie er, und wird fündig. Es gibt jede Menge Menschen, die mitmachen. "Ich war erstaunt, wie schnell das ging." +Am 2. März 2002, dreieinhalb Jahre nach dem Tod seines Vaters, wird die "Bewegungsstiftung" mit Sitz in Verden gegründet. Der Kapitalgrundstock beläuft sich auf 250.000 Euro. Neubauer, der zu der Zeit gerade ein Auslandssemester in Paris macht, reist nach Berlin zur feierlichen Unterzeichnung, er gehört zu den neun Stiftungsgründern. Als er seine Unterschrift unter die Urkunde setzt, hält er kurz inne und schluckt. "Oh Gott", fragt er sich, "tue ich das Richtige?" Ein Drittel seines Erbes hat er weggegeben. Den Rest hat er in ökologischen Aktienfonds und in Öko-Sparbüchern angelegt, einen Teil auch in eine Wohnungsgenossenschaft in Verden gesteckt. Seine Entscheidung hat er nie bereut. "Das ist das Beste, was ich überhaupt je mit Geld gemacht habe", sagt er und sieht sehr zufrieden dabei aus. Wichtig und "ganz toll" ist für ihn "die große und inspirierende Gesellschaft" der Stifterinnen und Stifter zwischen 22 und 83 Jahren, die zwischen 5.000 und einer Million Euro gegeben haben. Bisher sind etwa 4,5 Millionen Euro in die Bewegungsstiftung geflossen. Angelegt wird das Kapital nach strengen ökologischen, sozialen und ethisch-nachhaltigen Kriterien. Es wird in Alternativprojekte gesteckt, in Sparbriefe, ökologische und soziale Fonds. Immer geht es darum, soziale Ungleichheiten und Umweltzerstörung zu beseitigen. Aus Gerald, dem Anarchisten, dem sein spießiger Vater suspekt war, ist mit dessen Geld Gerald, der kämpferische Stifter geworden. +Nach Angaben des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen sind derzeit mehr als 18.000 Stiftungen bürgerlichen Rechts eingetragen. Der Verband selbst zählt 3.600 Mitglieder und mehr als 6.000 Stiftungen, die ihm über Stiftungsverwaltungen mitgliedschaftlich verbunden sind und die es zusammen auf ein geschätztes Vermögen von mehr als 100 Milliarden Euro bringen. Unter ihnen rangieren sowohl große und namhafte wie die Robert Bosch Stiftung als auch bescheidenere Bürgerwerke. Interessant ist, dass das Geld nicht mehr wie noch vor einigen Jahren auf viele kleine Projekte aufgeteilt wird. Die Förderer konzentrieren sich zunehmend auf einzelne Themen, denen sie auf lange Zeit treu bleiben. Deshalb unterstützten sie die Arbeit von sozialen Bewegungen für Demokratie, Frieden, Ökologie und Gerechtigkeit. In den vergangenen Jahren hat die Bewegungsstiftung über 80 Protestkampagnen unterstützt. Weil für den Erfolg sozialer Bewegungen Menschen mit Kontakten, Erfahrung und Kompetenz wichtig sind, unterstützt die Stiftung durch ein Patenschaftssystem auch sogenannte Bewegungsarbeiter. Das sind Aktivisten, die "Bewegungsarbeit" zum Beruf gemacht haben und von Paten finanziell unterstützt werden. +Bald wird Neubauer seine Doktorarbeit fertig haben. Das Thema: "Ziviler Ungehorsam von Staaten". Danach will er möglichst schnell wieder als Aktivist tätig werden. Nach dem Kampf gegen Atomenergie hat er sich jetzt der Braunkohle verschrieben. Er spielt mit dem Gedanken, sich bei der von ihm mitgegründeten Stiftung als Bewegungsarbeiter zu bewerben und Paten zu suchen. So könnte er seine Überzeugung zum Beruf machen. Er hält es für möglich, dass sein Vater, den er mittlerweile in einem milderen Licht sieht, stolz darauf wäre, was er mit seinem Geld gemacht hat. Geld gehört für ihn auch nicht mehr abgeschafft. Er sieht es als "notwendiges Zahlungsmittel", das Dinge bewegen und das Leben angenehmer machen kann: ICE statt Wochenendticket, eigener Haushalt statt WG, so was in der Art. +Hat er sich eigentlich auch was geleistet, nachdem er geerbt hatte? Er muss überlegen. Den extremen Konsumverzicht hat er längst hinter sich gelassen. "Ja", sagt er schließlich, "ich habe mir ein Liegerad für 3.000 Mark gekauft." Er klingt jetzt ganz so, als müsste er sich dafür immer noch entschuldigen. + +In Deutschland werden zurzeit pro Jahr Werte in Höhe von etwa 200 Milliarden Euro vererbt. Allerdings sind die Summen sehr ungleich verteilt. 28 Prozent aller Erbschaften liegen unter 25.000 Euro. Die größten zwei Prozent aller Erbschaften machen fast ein Drittel der Gesamtsumme aus. In fünf Prozent aller Fälle hinterlässt der Verstorbene seinen Erben Schulden. Der Staat kassiert im internationalen Vergleich nicht besonders viel Geld von den Erben: Etwa 4 Milliarden Euro werden abgeführt. Die meisten Erbschaften sind steuerfrei. Beim Ehegatten beträgt der Freibetrag 500.000, beim Kind sowie beim Enkel, dessen Eltern bereits verstorben sind, 400.000 und beim Enkel, dessen Eltern noch leben, 200.000 Euro. +Die Tradition der Stiftungen geht aufs Mittelalter zurück. Damals finanzierte manch frommer Mensch einen ganzen Stift, also eine kirchliche Einrichtung samt Gebäude und Personal. Am ehesten noch seines eigenen Seelenfriedens wegen. Heute wird mit dem in ei- ner Stiftung an- gelegten Vermögen ein vom Stifter festgelegter Zweck verfolgt. Die Inhaber der Stiftung sollen keine Gewinne erzielen, das Vermögen soll aber auf Dauer erhalten bleiben. Stiftun- gen können in verschiedenen Formen und zu jedem legalen Zweck errichtet werden. Die meis- ten Stiftungen dienen gemeinnützigen Zwecken. diff --git a/fluter/die-auserwaehlten.txt b/fluter/die-auserwaehlten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4a6969c6259d1e1e180f9a16a20f71f82be347b2 --- /dev/null +++ b/fluter/die-auserwaehlten.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Für diesen Kampf trainiert sie gemeinsam mit zwölf anderen schwarzen Frauen. Sie treffen sich im Zentrum der Stadt, in einer Gegend, in der nur Schwarze auf den Straßen sind. Die Frauen sprechen Zulu, Xhosa und Sotho, die Stammessprachen, sie schnalzen, sie knacken, sprechen wild durcheinander. Sie lachen und klatschen in die Hände, begrüßen sich, als hätten sie sich seit Jahren nicht gesehen. In einem Raum, der an ein muffiges Lehrerzimmer erinnert, kleiden sie sich ein für ihr anderes Leben: ihr Leben als Erkorene. "Chosen Few" steht auf ihrem Rücken, "die wenigen Auserwählten", dann laufen sie durch die Gassen Johannesburgs, vorbei an Obdachlosen, die Pappe sammeln, vorbei an Wänden, auf denen Werbung für Penisvergrößerungen klebt, vorbei an schwelenden Müllhaufen. Drei Straßenzüge weiter beginnen sie mit ihrem Training. Nieselregen, sechs Grad, ein Bolzplatz aus Beton. Drei Eigenschaften muss eine Auserwählte mitbringen, um sich für das erste lesbische Fußballteam Afrikas zu qualifizieren: Sie muss schwarz sein, sie muss lesbisch sein, sie muss Fußball lieben. Wenn man die Auserwählten fragt, was Fußball für sie bedeutet, antworten sie: "Zuhause", "Familie", "Hoffnung". +In vielen Teilen Afrikas werden Schwule und Lesben geschlagen, vergewaltigt, getötet. Auf Sansibar wird Homosexualität mit bis zu 25 Jahren Gefängnis bestraft, dem Parlament in Uganda lag ein Gesetzesentwurf vor, der die Todesstrafe für gleichgeschlechtliche Liebe fordert, in Teilen Nigerias werden Schwule gesteinigt. In einem Gespräch mit dem britischen Ex-Premier Tony Blair und der englischen Tageszeitung "The Guardian" im Frühjahr verteidigte die liberianische Präsidentin und Friedensnobelpreisträgerin Ellen Johnson Sirleaf Liberias schwulenfeindliche Gesetze. Mehr als zwei Drittel der Länder Afrikas haben Gesetze, die Homosexualität kriminalisieren. Auf dem Kontinent gilt Südafrika eigentlich als liberal: Die Verfassung verspricht Gleichberechtigung für alle, Homosexuelle dürfen Kinder adoptieren, es ist sogar eines der wenigen Länder weltweit, in denen sie heiraten dürfen, und Kapstadt ist berühmt für sein Ausgehviertel "Gaybourhood". +Keine halbe Stunde dauert es von der liberalen Welt der Großstädte in die homophobe Welt der Townships, der Wohnsiedlungen am Stadtrand, in die die Weißen die Schwarzen während der Apartheid zwangsumsiedelten. Nirgendwo in der Welt vergewaltigen Männer mehr Frauen als hier, geschätzte 500.000 im Jahr, es ist wahrscheinlicher, dass eine Frau vergewaltigt wird, als dass sie eine weiterführende Schule beendet. Das Training der Chosen Few ist hart, die Frauen sind es von früher gewohnt, mit Männern zu trainieren. In den Fußballteams der Townships spielten sie mit ihren Nachbarn, ihren Kinderfreunden, ihren potenziellen Vergewaltigern. Oft sind es die besten Freunde der Lesben, die sie irgendwann "geradebiegen" wollen, die sie besoffen überfallen. Aus Angst schlossen sich die Frauen 2004 zusammen, sie waren Außenseiter und ernannten sich zu Auserwählten. Ihr erstes Gebot: "Du sollst keine männlichen Freunde haben." +Heute spielen 25 Frauen im Kader. Was sie verbindet, sind ihre Probleme: dass der Mann am Kiosk ihnen keine Zigaretten verkaufen will. Dass sie auf der Straße als "Stabanis" beschimpft werden, als Schwuchteln. Dass ihre Familien nicht mehr mit ihnen sprechen. Nach dem Training treffen sie sich in einer Art Selbsthilfegruppe und sprechen über das Leben als schwarze Lesbe. Fünf haben in der Runde von ihrer Vergewaltigung erzählt. Eine davon ist Thully, Rückennummer 15. Am 15. Mai 1997 geht Thully, damals 17, wie jeden Donnerstag nach der Schule in die Kirche. Sie singt Gospel, sie betet zu Gott, betet, dass sie sein kann wie die anderen Mädchen in ihrer Klasse, fragt ihn, warum er ihr diesen Fluch auferlegt hat, ein Mann zu sein, gefangen im Frauenkörper. Sie trägt ihre Schuluniform, blaue Hose, weißes Hemd, schlendert die Hauptstraße entlang, links von ihr die Autos, rechts meterhohes Gestrüpp. Sie hört Schritte hinter sich. 20 Cent, denkt sie heute, 20 Cent, und sie hätte mit dem Bus fahren können; sie wäre dem Mann mit der schwarzen Sturmmaske nie begegnet. +Er wird sie für immer verändern, sagt er, wird sie zu einem Menschen machen, zu einer echten Frau. Sie ist jetzt bereit, alles zu machen, was er will, alles – sie spürt die Mündung seiner Waffe unter ihrem rechten Schulterblatt, hört, wie der Schlaghammer einrastet. Er zieht sie ins Gebüsch und verwandelt sie. In ungefähr zehn Minuten macht er aus einem unsicheren Mädchen eine Frau, die sich für immer gelähmt fühlen wird. Die Chosen Few machten aus Thully, der gebrochenen Seele, eine wütende Kämpferin. Seit der Gründung spielt sie im Team. Wenn sie sich heute selbst vorstellt, 15 Jahre nach der Vergewaltigung, sagt sie: "Ich bin lesbisch und ich bin stolz." Erst bei den Chosen Few hat sie das Wort gelernt – lesbisch. Ein Wort, das keine Bedeutung hat in den Polizeistatistiken. Dort macht es keinen Unterschied, ob die Frau, die vergewaltigt wurde, homosexuell ist oder nicht. Lesben sollen verschwinden in den Aktenbergen der Bürokratie. Fragt man die Polizisten, wieso sie in der Anzeige nicht registrieren, dass die Vergewaltigte eine Lesbe ist, sagen sie: "A rape is a rape", eine Vergewaltigung ist eine Vergewaltigung. +Schätzungen zufolge erstattet nur eine von neun vergewaltigten Frauen in Südafrika Anzeige, und am Ende kommt es nur bei einem halben Prozent der Fälle zu einer Verurteilung. Hilfsorganisationen sagen, dass corrective rape in den letzten Jahren zu einer Art Trendsport unter jungen südafrikanischen Männern geworden ist. Kaum eine Zeitung schreibt mehr darüber, wenn eine Lesbe zu Tode vergewaltigt wird, für die Medien ist es so unwichtig wie ein Verkehrstoter in Deutschland. Es gibt ein Loch in den Lehrbüchern, den Polizeistatistiken, den Medien. Wenn die Chosen Few nicht als Team auf dem Platz stehen, tragen sie ihren Kampf auf die Straßen der Townships. Ein Donnerstagmorgen, neun Uhr, die Frauen demonstrieren. Sie tragen T-Shirts, die mit "100% lesbian" bedruckt sind, und "102% lesbian". Sie demonstrieren, weil an diesem Tag vor vier Jahren ein lesbisches Paar ermordet wurde. Wenn man die Menschen am Straßenrand fragt, was sie von diesen Frauen halten, sagen sie: "Wo in der Bibel steht geschrieben, dass Frauen Frauen lieben? Die kommen aus Sodom und Gomorrha!" "Diese Frauen muss man ändern, man muss sie korrigieren." "Wäre meine Tochter eine Lesbe, dann würde ich sie umbringen. Umbringen." Eine Familie steht vor ihrem Haus und schmeißt mit Steinen auf die Demonstrantinnen. +In den letzten Jahren konnte Pinky Zulu, die Kapitänin, dabei zusehen, wie ihre Freundinnen ausgelöscht wurden und nichts passierte. Vor sechs Jahren Zoliswa, sie war 19. Vor vier Jahren die südafrikanische Fußball-Nationalspielerin Eudy Simelane, sie war 31. Letztes Jahr weitere Tote. Es werden immer mehr. Pinky träumt davon, eines Tages im Gericht zu arbeiten, sich um die Fälle der ermordeten Lesben zu kümmern. Wenn sie könnte, sagt Pinky, würde sie gerne mal Jacob Zuma treffen, den südafrikanischen Staatspräsidenten. Er sagte, dass er als junger Mann jeden geschlagen hätte, der schwul war, und dass die Homo-Ehe eine Schande für seine Nation und vor Gott sei. Pinky würde Jacob Zuma gern fragen, was er tun würde, wenn seine Tochter lesbisch wäre. +Vor der Polizeiwache bleiben die Chosen Few für die nächsten zwei Stunden stehen, sie singen und brüllen, bis sie keine Stimmen mehr haben, sie tanzen, bis sie sich erschöpft auf den Boden fallen lassen. Zwischendurch fährt ein Streifenwagen vorbei, aus dem ein Polizist ruft: "Protestiert lieber gegen die zu hohen Strompreise!" Nach der Demo geht Pinky Zulu mit ihrer Freundin zu einer Imbissbude, sie bestellen Burger und Cola, reden miteinander, als wären sie nur Kolleginnen. Erst als sie zu Hause sind, die Tür hinter sich schließen, nehmen sie sich an der Hand, umarmen sich, küssen sich. Ein Liebespaar können sie nur dort sein, wo sie niemand sieht. diff --git a/fluter/die-baecker-gehen-die-tuerken-kommen.txt b/fluter/die-baecker-gehen-die-tuerken-kommen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a3a2a5dad5b4f6f26715cedf38a0889fc6dcfc94 --- /dev/null +++ b/fluter/die-baecker-gehen-die-tuerken-kommen.txt @@ -0,0 +1 @@ +Davor stehen zwei Dutzend Männer, die zum Fußballspiel grölende Männergeräusche machen und den Fernseher beschimpfen, als würde das irgendwie helfen. Nach dem Spiel trotten mein neuer Freund Flo und ich nebeneinanderher über den Feldweg, beschienen vom vollen weißen Mond, zurück ins Dorf. Zum Abschied umarmen wir uns kurz. "Weißt du", sagt Flo noch, bevor er in die Hofeinfahrt einbiegt, "das, was du machst, wäre bei uns nicht möglich. Einfach ausbrechen aus der festen Struktur und quer durchs Land ..." Dann dreht er sich um und tritt aus dem Schein der Laterne, die aussieht, als stünde sie am Set von "Singin' in the Rain" diff --git a/fluter/die-band-die-fast-alles-selber-macht.txt b/fluter/die-band-die-fast-alles-selber-macht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c265c79ff0c5fa0e9b3bccf140e74651d6e64365 --- /dev/null +++ b/fluter/die-band-die-fast-alles-selber-macht.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Vor sechs Jahren haben sich Sebastian Szary und Gernot Bronsert, die zusammen das Projekt Modeselektor betreiben, selbstständig gemacht. Zuvor handhabten sie die Dinge so wie die meisten Musiker: Sie waren bei einer Booking-Agentur, die sich um die Vermittlung ihrer Auftritte kümmert. Und ihre Platten veröffentlichten sie bei einem Label, bei BPitch Control aus Berlin, das DJ Ellen Allien betreibt und bei dem unter anderem Paul Kalkbrenner seine Karriere startete. Wie Kalkbrenner und Ellen Allien begannen Szary und Bronsert in den 90er-Jahren mit dem Musikmachen, als die Techno-Szene entstand, die von vielen Beteiligten als Demokratisierung der Musikproduktion verstanden wurde. +Im Grunde ging dieser Prozess Mitte der 1980er-Jahre los, als die sogenannten "bedroom producer" aufkamen, Musiker, die in ihren Jugendzimmern allein an Computern, Synthesizern und Drummachines Stücke programmierten, statt in teure Profistudios zu gehen. Dies markierte den entscheidenden Punkt der elektronischen Musik als Do-it-yourself-Bewegung. Doch so selbstständig viele der House-Produzenten der ersten Generation ihre Tracks produzierten, so abhängig waren sie oft noch von Plattenfirmen. Von Chicago bis London wiederholten viele junge Musiker den gleichen Fehler wie Generationen vor ihnen und unterschrieben zweifelhafte Verträge, die sie zu teils schlechten Konditionen dauerhaft an eine Plattenfirma binden sollten. +Im Fall von Modeselektor half ihr Label BPitch Control, die Gruppe bekannt zu machen, doch mit den Erfahrungen, die sie über die Jahre sammelten, wuchs auch der Wunsch, selbst über die Arbeit zu bestimmen. 2009 versammelten Bronsert und Szary ein kleines Team um sich und gründeten zusammen mit Bronserts Schwager Raymond Merkel die eigene Firma Monkeytown. "Der wichtigste Grund dafür war, eine bessere Kontrolle über alle Elemente ihrer Arbeit zu haben", so Merkel. "Sie wollten nach ihren eigenen Vorstellungen arbeiten können." +Das Label BPitch zu verlassen – und nicht bei einem größeren Label zu unterschreiben – hat auch einen wirtschaftlichen Grund: Erfolgreiche Acts wie Modeselektor können zu besseren finanziellen Konditionen arbeiten, wenn sie die Dinge selbst in die Hand nehmen. Heute beschäftigen Bronsert und Szary zwei Geschäftsführer, zwei Auszubildende, zwei Festangestellte und eine Reihe freie Mitarbeiter, die sich zusammen um die eigene Plattenfirma, die Booking-Agentur, den Verlag und den Webshop kümmern, dazu besitzt Modeselektor auch ein Tonstudio, das gleich neben den Büroräumen in Berlin-Mitte liegt. +Dass das Modell funktioniert, liegt auch daran, dass Modeselektor und Moderat in den letzten Jahren stets erfolgreicher geworden sind. "Das Gute ist, dass es nie einen übertriebenen Hype gab, sondern ein gesundes Wachstum unserer Projekte", so Raymond Merkel, der neben der Arbeit für Monkeytown unter anderem auch noch in seinem Beruf als Saxofonist tätig ist. "Das ermöglicht es uns, auch eine teure Produktion ohne fremdes Geld vorzufinanzieren." Die Inhaber zahlen sich von den Firmeneinnahmen ein monatliches Grundgehalt aus, mit dem Rest werden erst mal neue Ausgaben vorfinanziert. +Die Einnahmen durch Konzerte und DJ-Sets sind bei Moderat und Modeselektor zwar mehr als doppelt so hoch wie durch Plattenverkäufe. Doch trotz der anhaltenden Krise der Musikindustrie sehen auch die Labelgeschäfte bei Monkeytown gut aus. Beim neuen, dritten Moderat-Album stagnieren zwar die CD-Verkäufe im Vergleich zum Vorgänger, und die Downloads gehen zurück. Dafür steigen jedoch die Zahl der Vinylverkäufe und vor allem die Einnahmen von Streaming-Diensten wie zum Beispiel Spotify, die mittlerweile einen großen Teil des Umsatzes ausmachen. +Basteln nicht nur klasse Beats, sondern auch gleich künstlerfreundliche Geschäftsbedingungen: Gernot Bronsert, Sebastian Szary und Sascha Ring (v.l.) + +Die weit verbreitete Kritik von vielen Musikern an Spotify & Co. kann Raymond Merkel nur bedingt teilen: "Für das Label dauert es viel länger, bis ein Album die gleichen Einnahmen durch Streaming wie durch Tonträger-Verkäufe oder Downloads erzielen kann. Aber für erfolgreiche Musiker, deren Musik stetig gehört wird, kann es auf lange Sicht auch attraktiver als der Verkauf eines Albums sein – für eine gekaufte CD oder Schallplatte bekommt man schließlich nur einmal Geld, für Streaming-Erlöse hingegen dauerhaft." +Zum Vergleich: Damit ein Act wie Modeselektor auf ungefähr die gleichen Einnahmen wie bei einer CD oder einem Download kommt, muss das Album bei Spotify 1.000 Plays erreichen, bei zehn Stücken also jeder Track 100-mal abgespielt werden. Eine Million Spotify-Plays spielen etwa 7.000 Euro ein. Zurzeit erreichen Monkeytown bis zu zwei Millionen Plays im Monat – jedoch nicht nur für Moderat oder Modeselektor, sondern auch für die fast 100 Releases anderer Musiker, die auf Monkeytown veröffentlichen und sich mit dem Label den Profit zur Hälfte teilen. Das gilt in der Branche als künstlerfreundlicher Deal. +Fehlt eigentlich nur noch eins: ein eigener Streaming-Dienst. diff --git a/fluter/die-bedrohung-aus-der-tiefe.txt b/fluter/die-bedrohung-aus-der-tiefe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5bd3680a303ced742a6906bf71e9b8b62c38e398 --- /dev/null +++ b/fluter/die-bedrohung-aus-der-tiefe.txt @@ -0,0 +1,2 @@ + +Monika Seynsche ist freie Wissenschaftsjournalistin. Sie arbeitet regelmäßig für die Sendung "Forschung aktuell" im Deutschlandfunk und moderiert Podiumsdiskussionen zu wissenschaftlichen Themen. diff --git a/fluter/die-besten-politischen-playlists-aus-der-fluter-redaktion.txt b/fluter/die-besten-politischen-playlists-aus-der-fluter-redaktion.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e91d97e02c09feffcac9bcd679b2ab1bb1a0c50f --- /dev/null +++ b/fluter/die-besten-politischen-playlists-aus-der-fluter-redaktion.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Einigkeit und Rap und Freiheit: Eine Playlist zur deutschen Einheit +Bye-bye, UK! Großbritannien wird mit großer Wahrscheinlichkeit bald nicht mehr Teil der Europäischen Union sein. Wenigstens seine Musik bleibt: In dieser Playlist hört ihr Alltime-Classics wie "The Specials" oder aktuelle Überflieger wie Slowthai +Gut zum Eingrooven +Legenden wie Gil Scott-Heron, Bob Dylan und Nina Simone aber auch Peter Fox und K.I.Z. liefern Sounds zum Neuanfang. Beginnen, Loslegen, Aufbrechen ins Neue. Mit dieser Playlist wird alles gut +Break-Dance: Der Brexit-Soundtrack +Lange hat es kaum Rap aus dem Osten in den Mainstream geschafft. Dementsprechend unterrepräsentiert waren dessen Perspektiven auf die DDR, den Fall der Mauer oder die Nachwendejahre. Der Journalist Alex Barbian (übrigens ein Thüringer) hat deshalb mal seine Platten nach deutsch-deutschen Identitäten und Ost-West-Rap durchsucht. +Playlist zum Tag der Arbeit +Musike für stolze Proletarierinnen und Proletarier, die nicht nur am Tag der Arbeit den Klassenkampf tanzen wollen +Homo-Hymnen +Eine Playlist mit queeren Hits aus fünf Jahrzehnten. Der Sound ist jedoch alles andere als homogen: Frank Ocean, Diana Ross, Frankie goes Hollywood, Big Freedia's New Orleans Bounce und RuPaul gibt es hier zu hören +Le rap français +'ip-'op 'istory: Frankreich ist den meisten anderen europäischen Ländern in Sachen Hip-Hop voraus. Vom ersten veröffentlichten französischen Rapsong bis zu den neuen Stars von PNL führt diese Playlist durch die verschiedenen Entwicklungsstadien des französischen Raps +Houston, wir haben eine Playlist +Fünfzig Jahre ist es her, dass Neil Armstrong den Mond als erster Mensch betrat. Ein Jahr zuvor sang Bobby Womack schon "Fly me to the moon" und es sollte nicht der letzte dem Mond gewidmete Pophit sein. Hier hört ihr eine Auswahl der schönsten (und skurillsten) Mondlieder +Rappen gegen rechts +Lange Zeit war der deutsche Hip-Hop ziemlich intensiv mit Mikroscharmützeln beschäftigt, die seine Protagonisten untereinander austrugen. Mit dem Aufstieg der Rechtspopulisten hat der Hip-Hop hierzulande wieder ein brisantes Thema gefunden +Vienna Calling +Düstere Wunderkinder, versoffene Helden und ein gescheiterter Boxer – der Wiener Musikkosmos ist reich an schillernden Gestalten. Schriftstellerin Stefanie Sargnagel stellt ihre Top 10 vor diff --git a/fluter/die-biotech-revolution.txt b/fluter/die-biotech-revolution.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/die-coolste-hoelle-auf-erden.txt b/fluter/die-coolste-hoelle-auf-erden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fc6ab6bac91a6be949721b7f27a9aca87e741fe0 --- /dev/null +++ b/fluter/die-coolste-hoelle-auf-erden.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Es war kühn, es war riskant, es war am Ende äußerst knapp, aber es ist gelungen, im französischen Parlament gegen die öffentliche Meinung eine Mehrheit dafür herzustellen, die eigenen ökonomischen Interessen mit denen Deutschlands zu verschränken und die französische Wirtschaftspolitik einer Kontrolle auch durch Deutschland zu unterwerfen. Gerade in Deutschland sollte man sich heute mit größter Dankbarkeit daran erinnern. +Mitte des vergangenen Jahrhunderts lag Europa bekanntlich wieder einmal in Trümmern. Vier Kriege innerhalb einer einzigen Lebenszeit, der Deutsche Krieg (1866), der Deutsch-Französische Krieg (1870/71), beide sogenannte nationale Einigungskriege, und vor allem die beiden europäischen Kriege, die zu Weltkriegen wurden und die im Grunde ein "zweiter Dreißigjähriger Krieg" zur Potenz waren (1914 bis 1945), hatten den Kontinent in nicht gekanntem Ausmaß verwüstet. Die Ideologie der selbstbestimmten, selbstbewussten, selbstherrlichen Nation, die Dynamik des Nationalismus, die "Erbfeindschaft" zwischen den Nationen, der Versuch, "nationale Interessen" gegen andere Nationen mit aller Gewalt durchzusetzen, hatten Abermillionen Menschen das Leben gekostet, unendliches Leid über die Lebenden gebracht und in einer Kulmination des entfesselten Nationalismus zu jenem grauenhaften Menschheitsverbrechen geführt, für das Auschwitz heute als Chiffre steht. +Friedensverträge zwischen den Nationen, das war die Erfahrung, sind das Papier nicht wert, auf dem sie verbrieft und besiegelt sind. Die Nationen – das war nun die Idee der Gründerväter des europäischen Friedensprojekts – müssten institutionell und ökonomisch so verflochten und in wechselseitige Dependenz gebracht werden, dass das Verfolgen jeglichen Eigeninteresses gar nicht mehr anders als in gemeinschaftlichem Handeln möglich ist. Nur so könnten Solidarität statt Nationalitätenhass, nachhaltiger Friede und gemeinsamer Wohlstand hergestellt werden. Der historische Vernunftgrund der späteren EU ist also der blutig erfahrungsgesättigte Anspruch, den Nationalismus in einer nachnationalen Entwicklung zu überwinden, die durch supranationale Institutionen organisiert und vorangetrieben werden muss. +Können Sie mir erklären, was Ihre berechtigten "nationalen Interessen" sind, und zwar so, dass mir unmittelbar einsichtig ist, dass nur Sie als – sagen wir – Angehöriger der deutschen Nation diese Interessen mit gutem Grund haben, während kein Portugiese, kein Holländer, Italiener oder Litauer diese Interessen haben kann? Können Sie mir diese Ihre Interessen nennen, die im Sinne der Menschenrechte legitim sind und zugleich einzigartig in Europa und weltweit? Was sollte das sein? Oder ist es nicht vielmehr so, dass alles, was Sie als Ihr nachvollziehbares Interesse formulieren können, ebenso im Interesse von Portugiesen, Griechen, Holländern und so weiter wäre? +Sie haben ein Problem damit, dass die EU ein Elitenprojekt ist und nicht Ausdruck eines "Volkswillens"? Wie wäre es mit folgender Formulierung: Wenn Sie wählen können zwischen einem Nationalstaat, der, finanziert durch Ihr Steuergeld, wesentlich die Interessen einer kleinen Gruppe von nationalen politischen und wirtschaftlichen Eliten vertritt und bereit ist, diese Interessen unter Umständen auch mit Gewalt durchzusetzen, deren Opfer dann garantiert Sie sind, oder einer freien Assoziation freier Bürger, deren supranationale Institutionen Ihre Freiheitsrechte wahren und den Frieden sichern, wo immer Sie auf diesem Kontinent leben, wohin immer Sie reisen und wo immer Sie sich niederlassen und Ihr Glück suchen? Wie gesagt: Es sind nur Formulierungen. Aber die, zu der eine große Mehrheit so spontan nickt, ist lächerlicher als die etwas schöngefärbte andere. +Das Lächerliche an den Formulierungen, mit denen eine skeptische bis ablehnende Haltung gegenüber der EU in der Regel ausgedrückt wird, ist, dass sie Sachverhalte auf europäischer Ebene als bedrohlich oder skandalös beschreiben, die auf nationaler Ebene als völlig selbstverständlich und vernünftig wahrgenommen oder zumindest hingenommen werden. Was auf nationaler Ebene einfach "Gesetzgebung" heißt, wird im europäischen Einigungsprozess pejorativ zum "Regulierungswahn". Dass Bundesgesetze in einem Nationalstaat für alle Länder und Regionen dieses Staats gelten, ist selbstverständlich, aber europäische Richtlinien und Verordnungen werden als bedrohliche "Gleichschaltung verschiedener Kulturen und Mentalitäten" bezeichnet und als verrückt, sinnlos und autoritär von immer mehr Menschen abgelehnt. Mir ist keine Grundsatzkritik an deutscher Bundesgesetzgebung bekannt, die ins Treffen führte, dass damit die verschiedenen Kulturen und Mentalitäten von Preußen, Bayern, Hessen, Franken oder Sachsen planiert und gleichgeschaltet würden. Objektiv ist es doch umgekehrt nicht einsichtig, warum vernünftige Rahmenbedingungen des Lebens, die für Bayern und Hessen gleichermaßen gelten, nicht auch für Slowenen, Kärntner, Katalanen oder Südtiroler gelten sollen. Die deutsche Erfahrung sollte doch gezeigt haben, dass eine Vielfalt von Kulturen und Mentalitäten mitnichten verschwindet, nur weil man ihnen gemeinsame Rahmenbedingungen zu ihrer je eigenen Entfaltung gibt. +Tatsächlich zeigt sich im Aufbrechen nationaler Ressentiments und der Wut auf Kompromisse auch hier die wahre Herausforderung: den Demokratiebegriff neu zu interpretieren und seine nationalstaatlichen Ausprägungen auf der Sondermülldeponie der Geschichte zu entsorgen. +Man kann jetzt sehr viel phantasieren, man muss sehr viel diskutieren, am Ende wird etwas völlig Neues entstehen, keine Übernation, sondern ein Kontinent ohne Nationen, eine freie Assoziation von Regionen, kein superstaatlicher Zentralismus, sondern gelebte demokratische Subsidiarität, mit einem Zentrum, in dem echte Gemeinschaftsinstitutionen vernünftige Rahmenbedingungen erarbeiten und Rechtssicherheit garantieren. +Nach der Vertreibung aus dem Paradies ist doch noch nirgendwo auf der Welt zumindest sein Hintereingang wiedergefunden worden. Alles ist daher wert, dass man es kritisiert. Aber solange das so ist, sollte man anerkennen: Die EU ist die coolste Hölle auf Erden. + +Aus: Robert Menasse, "Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas oder Warum die geschenkte Demokratie einer erkämpften weichen muss" © Paul Zsolnay Verlag, Wien 2012 diff --git a/fluter/die-cyborgs-sind-da.txt b/fluter/die-cyborgs-sind-da.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/die-deutschen-kommen.txt b/fluter/die-deutschen-kommen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d1ad1581187192f4595c89b8216c280e96963edd --- /dev/null +++ b/fluter/die-deutschen-kommen.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Auch wegen der guten Infrastruktur ist die Stadt, die weniger als zehn Kilometer von der deutschen Grenze entfernt ist, so beliebt bei den deutschen Studenten. Etwa 1.400 sind an der Nijmegener Radboud Universiteit eingeschrieben und haben ihrem Heimatland zumindest für einige Jahre den Rücken gekehrt. Die meisten von ihnen sind hergekommen, weil die Abi-Noten bei der Auswahl des Wunschstudienganges in den Niederlanden keine Rolle spielen oder weil es hier Kombinationsmöglichkeiten und Studiengänge gibt, die in Deutschland keine Uni anbietet: Raumplanung etwa oder Künstliche Intelligenz. +Die Niederlande sind nach Österreich das beliebteste Zielland der Deutschen, wenn es ums Studieren im Ausland geht. Da ist es nicht weiter verwunderlich, dass sie dort die mit Abstand größte Gruppe der ausländischen Studierenden stellen. Tendenz weiter steigend. Im Studienjahr 2010/11 waren knapp 24.000 Deutsche an niederländischen Universitäten eingeschrieben und dieses Wintersemester dürfte ihre Zahl wegen der doppelten Abiturjahrgänge und der Abschaffung der Wehrpflicht noch höher liegen. Und das Interesse beruht zumeist ganz auf Gegenseitigkeit. Denn für jeden eingeschriebenen Studenten werden die Universitäten von der niederländischen Regierung mit etwa 6.000 Euro unterstützt. In einigen Unis hat man sich auch deshalb schon voll und ganz auf die deutschen Nachbarn eingestellt, in Nijmegen wurde sogar eine deutschsprachige Studienberatung eingerichtet. +Anna (22) ist eine der vier Studentinnen, die dort jeden Tag die Anfragen aus Deutschland beantworten. Sie kommt eigentlich aus dem nordrhein-westfälischen Rheinberg, studiert in Nijmegen International Business Communication und ist nicht nur von Berufs wegen von ihrer Studienplatzwahl überzeugt: "Das Studium ist sehr gut organisiert hier. Man ist als Bachelor- oder Masterstudent nicht Versuchskaninchen wie in Deutschland, weil es dieses System hier schon viel länger gibt. Die Professoren sind viel zugänglicher als in Deutschland. Man kann sie einfach ansprechen und viele sogar duzen. Man muss nicht stundenlang vor ihrem Büro sitzen, wenn sie Sprechstunde haben. Es fällt manchmal richtig schwer, sich das Siezen abzugewöhnen." +Larissa (22) aus Sprockhövel in NRW weiß die Organisation des Studiums ebenfalls zu schätzen. Sie studiert in Nijmegen Psychologie im dritten Jahr und steht kurz vor ihrem Bachelor. Wie viele andere hätte sie mit ihrem Abi-Schnitt von 2,4 in Deutschland lange auf einen der etwa 3.000 Studienplätze hoffen können. In Holland dagegen ist die Studienplanung einfacher: "Jeder, der hier studiert, bekommt sogar automatisch einen Masterplatz." Auch deshalb ist das Psychologie-Studium bei den deutschen Bildungsmigranten sehr beliebt: "Fast die Hälfte der Psychologie-Studenten hier sind Deutsche." Das macht es nicht leichter, Kontakte zum Nachbarn zu knüpfen, sehr viele holländische Freunde hat sie nicht: "Es ist nicht so einfach wie mit den Deutschen, Freundschaften aufzubauen." +Auch Anna hat nicht nur gute Erfahrungen in Nijmegen gemacht: "Man wird hier zwar wirklich mit offenen Armen empfangen, aber es kam auch schon mal vor, dass ich von Kommilitonen angemacht wurde, warum ich Geld vom niederländischen Staat nehmen würde." +Ganz aus dem Blauen kommt dieser Vorwurf nicht. Zwar zahlt die niederländische Regierung den Zuschuss zu den Studiengebühren an die Universitäten seit Herbst 2010 nur noch für Studenten, die ihren Erstwohnsitz in den Niederlanden oder in den Bundesländern NRW, Niedersachsen oder Bremen angemeldet haben. Alle anderen müssen das Instellingscollegegeld, das jede Uni selbst festlegt, ganz allein aufbringen. Allerdings fordern einige niederländische Politiker mittlerweile trotzdem, dass die Herkunftsländer der Studenten für die Studienkosten aufkommen. +Noch aber sind die Finanzierungsmöglichkeiten gut: Zwar belaufen sich die Studiengebühren auch mit dem Zuschuss noch auf jährlich etwa 1.700 Euro und die Lebenshaltungskosten sind ähnlich hoch wie in Deutschland. Aber zum einen kann man ganz normal eine Unterstützung beim BAföG-Amt beantragen und zum anderen bieten auch die Niederlande eine Studienförderung für diejenigen an, die nebenher noch arbeiten. +Nils (21) aus Köln hat noch einen Tipp zum Geldsparen: Er fährt zum Einkaufen nach Deutschland. Ursprünglich hatte er sich in Nijmegen für Unternehmenskommunikation eingeschrieben, studiert aber seit diesem Semester Politikwissenschaft: "Dass ich hergekommen bin, war eine Bauchentscheidung", sagt er und lacht. "Das Bier ist zwar nicht besonders, aber die Studienbedingungen sind super und wer hier anfängt, bleibt meistens auch hier." +Das liegt auch daran, dass die meisten Studiengänge auf Niederländisch angeboten werden und die Neuankömmlinge aus Deutschland deshalb zuerst einmal einen mehrwöchigen Sprachkurs absolvieren müssen, bevor sie mit dem Studium beginnen dürfen. "Da muss man ganz schön ran", erzählt Anna, "aber wenn man den absolviert hat, ist es kein Problem, auf Niederländisch zu studieren. Es ist dem Deutschen so ähnlich, dass das wirklich gut geht. Die meisten Deutschen ziehen das Studium hier dann auch ziemlich zielstrebig durch. Sie wollen die Sprache nicht umsonst gelernt haben." +Also auch ein Studienplatz in den Niederlanden ist nicht immer so ohne Weiteres zu haben. Darüber hinaus sollte man sich vorher genau informieren, ob das gewählte Studienfach auch wirklich für den Wunschberuf qualifiziert. Während Auslandserfahrung bei BWL-Absolventen im Lebenslauf gut ankommt, macht ein Jura- oder Lehramtsstudium im Ausland und in einer fremden Sprache weniger Sinn. Fredi Lang vom Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) beispielsweise sieht in einem Psychologiestudium in Holland kein Problem, gibt aber zu bedenken: "Nicht mit jedem Master kann man in Deutschland Psychotherapeut werden. Neben der inhaltlichen Ausrichtung sind manche holländischen Masterprogramme zu kurz und sehen kein Praktikum vor, was bei der Weiterqualifikation in Deutschland zum Problem wird. Da sollte man sich vorher genau informieren." +Und nicht nur da steckt der Teufel im Detail. Neben den Universiteiten gibt es auch die vielen Hogescholen, die gern mit den deutschen Fachhochschulen gleichgesetzt werden. Der Vergleich hinkt allerdings, denn die Studiengänge dort sind viel praxisorientierter und die Dozenten oft nicht promoviert. Außerdem sind die Abschlüsse der Hogescholen, auch wenn diese oft den Titel University of Applied Sciences tragen, denen der Universitäten nicht gleichgesetzt. So erwirbt man dort beispielsweise nicht den international anerkannten Bachelor of Arts, sondern stattdessen einen Bachelor of Applied Arts, der nicht ohne Weiteres zu einem Master an einer Universität berechtigt. Weder in den Niederlanden noch in Deutschland. +Die wenigsten Deutschen gehen für ihr Studium aus Liebe zum Nachbarn in die Niederlande. Und die wenigsten bleiben nach ihrem Studium dort. Auch Larissa schließt ein Leben in Holland zwar nicht vollkommen aus, will aber nach dem Master erst mal ganz woanders hin, um ihren Doktor zu machen. Außerdem vermisst sie das deutsche Brot. Nils will auf jeden Fall noch mal nach Berlin, mal Studieren in Deutschland ausprobieren. Und Anna kann zwar die niederländische Nationalhymne singen und will sich für ihre Zukunft nicht festlegen, aber auch für sie sind breite Fahrradwege nicht alles: "Falls ich in Holland ein Haus bauen sollte, dann auf jeden Fall nicht so eines wie die Niederländer: Die sind einfach zu klein." +Sarah Lotz ist Volontärin der Bundeszentrale für politische Bildung diff --git a/fluter/die-ein-mann-demo.txt b/fluter/die-ein-mann-demo.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/die-eine.txt b/fluter/die-eine.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1756a8757298eb574684ebaa32df3b197803ab65 --- /dev/null +++ b/fluter/die-eine.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Das ist der Anfang. Von hyperbolischer und symplektischer Geometrie. Von der Teichmüllertheorie, Riemannschen Flächen, überhaupt von vielen Begriffen, die als nerdig gelten, also als etwas für Streber und am ehesten für männliche. Mirzakhani wächst in Teheran auf und gehört dort, wie sie sagt, zur "glücklichen Generation": zu denen, die ausgebildet werden, als der Iran-Irak-Krieg vorbei ist. +Sie geht auf eine Schule für besonders begabte Mädchen, studiert in ihrer Heimatstadt, promoviert, wird Assistenzprofessorin und dann Professorin. Harvard University, Princeton University, Stanford University. +2014 gewinnt sie für ihre herausragenden Beiträge zur Dynamik und Geometrie von Riemannschen Flächen und ihrer Modulräume die Fields-Medaille, den Nobelpreis der Mathematik – in etwa. Sie ist der erste Mensch aus dem Iran, der sie gewinnt – in 78 Jahren, seit denen die Medaille verliehen wird. Und: Sie ist die erste Frau der Welt, die sie gewinnt. +Sie selbst beschreibt sich als langsam. Andere würden Aufgabe um Aufgabe lösen, Wurzeln ziehen, Vektoren normalisieren. Während sie, so erklärt Maryam Mirzakhani, oft jahrelang an einer Aufgabe rätselt. +Es ist ein Puzzle, sagt sie. Ihre Arbeit sei wie die eines Detektivs. Oder wie eine Überlebensstrategie, wenn man im Dschungel verloren gegangen ist: "Du kramst alles Wissen zusammen, das du kriegen kannst, für ein paar neue Tricks – und mit etwas Glück findest du einen Weg nach draußen." +Selbst das, was dem Rechnen eher unähnlich zu sein scheint, das Erzählen nämlich, sei ihm im Grunde ähnlich. "Es gibt verschiedene Charaktere, und man lernt sie besser kennen. Die Dinge gehen voran, und wenn man auf einen der Charaktere zurücksieht, ist er ganz anders als beim ersten Eindruck." Als Kind habe sie Schriftstellerin werden wollen und für alle Fälle viel gelesen. Mittlerweile umreißt sie ihre Gedanken auf Plakaten, auch die kann man auf YouTube sehen. Pfeile, Kreise, Körper, manche sehen aus wie Blüten. "Why?" steht unter einer. "Done! If you're lucky!" Entwürfe wie für einen Roman. +Eigentlich erforscht sie Oberflächen. Sie erforscht Strukturen auf einer Oberfläche, und sie ist es gewohnt, das an einem Beispiel zu erklären: Angenommen, jemand stößt eine Kugel auf einem Billardtisch an. Sie trifft auf die Banden und rollt, "sagen wir, endlos weiter". Wenn man jetzt die Wege sichtbar machen könnte, die die Kugel zurücklegt: Wäre der ganze Tisch dann voller Linien? Oder sähe man nur einzelne? +Als "hartnäckige", "unerschütterliche" Wissenschaftlerin beschreiben sie ihre Kollegen, ähnlich einer Jugendlichen, "ganz aufgeregt" sei sie wegen "all der Mathematik um sie herum". Sie selbst hofft, dass die Auszeichnung junge Wissenschaftlerinnen und Mathematikerinnen ermutigt. So könnte die Medaille ein schwieriges Problem der Mathematik lösen: Noch immer haben deutlich weniger Frauen einen Lehrstuhl für Mathematik inne als Männer. Und auch bei Stipendien und Preisen sind sie unterrepräsentiert. Manchmal hat das praktische Gründe. Bei der Fields-Medaille etwa sind Frauen strukturell klar benachteiligt: Das Höchstalter für Preisträger beträgt 40 Jahre. Was besonders für Mathematikerinnen, die auch Mutter sind, ein Problem darstellt. +Aber in anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen sieht es ganz ähnlich aus. Die Nobelpreise für Chemie und Physik gingen in über 100 Jahren nur sechsmal an eine Frau. Zweimal davon allein an Marie Curie Anfang des 20. Jahrhunderts. Mit mangelnder naturwissenschaftlicher Begabung lässt sich das nicht erklären, sondern mit gesellschaftlichen Einflüssen. Lange Zeit war das Bild des Naturwissenschaftlers stark männlich geprägt, obgleich es schon seit der Antike eine Tradition wichtiger Mathematikerinnen gibt. +Sie sei sich sicher, dass auf ihrem Gebiet noch viele Frauen "bis an die Spitze" kämen, sagte Maryam Mirzakhani, als ihr die Fields-Medaille überreicht wurde. Und vergaß dann, vor Aufregung, ihre Urkunde. +Annabelle Seubert, Jahrgang 1985, hat an der Berliner Universität der Künste Kulturjournalismus studiert und arbeitet seit 2011 bei der taz. diff --git a/fluter/die-erfindung-der-schnelligkeit.txt b/fluter/die-erfindung-der-schnelligkeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6077ef1ef9dd8a009011c7b751f4cd3cc947bd44 --- /dev/null +++ b/fluter/die-erfindung-der-schnelligkeit.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Wenn das Kleingeldfach aus allen Nähten platzt, müssen Scheine her. Das dachten sich auch chinesische Kaufleute der Provinz Sichuan vor mehr als 1.000 Jahren, denen ihr eisernes Münzgeld einfach zu schwer wurde. Anstatt es überallhin mitzuschleppen, deponierten sie es kurzerhand in den Geschäften und nahmen dafür Depotscheine mit auf Reisen. Sie konnten von jedem, der sie besaß, wieder gegen Münzgeld eingetauscht werden. Wenig später wurden die Scheine zum Schutz vor Fälschungen bemalt und mit Geheimzeichen versehen. Die Kaiser der Song-Dynastie entdeckten das Papiergeld auch als Mittel zur Kriegsfinanzierung. Sie ließen es so exzessiv nachdrucken, dass die Scheine schnell entwertet waren und im 15. Jahrhundert wieder abgeschafft wurden. +Wer einen Kredit gibt und dafür Zinsen verlangt, hat in der Regel einen mächtigen und wohlwollenden Verbündeten: die Zeit, die dem Gläubiger mit jeder Sekunde mehr Profit einbringt. Unvorstellbar für Geistliche im Mittelalter, denn wenn die Zeit überhaupt für jemanden arbeitet, dann für den lieben Gott, und alles andere ist Wucher. Deshalb verbot die Kirche im 12. Jahrhundert Zinsen auf geliehenes Geld. Weil aber Kredite ohne Gegenleistung nicht wirklich lukrativ waren und Händler immer häufiger einen Vorschuss für ihr wachsendes Geschäft benötigten, ließen sich findige Geschäftsleute etwas einfallen: Sie stellten für ihren Kredit Schuldverschreibungen aus, sogenannte Wechsel. Zum Schluss konnten sie das oftmals dekorative Wertpapier beim Schuldner vorlegen, der den fälligen Betrag zurückzahlen musste – und obendrein eine Gebühr, die nicht unter das Zinsverbot fiel. Der Gläubiger konnte die Wechsel aber auch weiterverkaufen und sich den Wert von einer Bank auszahlen lassen. Deswegen hatten Wechsel im Mittelalter, wie im Übrigen auch schon bei den Römern, den Charakter eines regulären Zahlungsmittels. +Schnelles Geld trotz Miesen? Schwierig für die meisten von uns, einfach aber, wenn man ein Staat ist. Entwickelt hat die Staatsanleihe das von seinen vielen Kriegen finanziell gebeutelte Venedig im 12. Jahrhundert. Kurzerhand übergab der Stadtstaat seinen Gläubigern, vornehmlich reichen Bürgern, im Gegenzug für ihr Geld Urkunden mit einem Nominalwert und einem Rentenanspruch, beispielsweise dem Recht auf zukünftige Steuern oder Pachteinnahmen, die sie weiterverkaufen konnten. Je nach politischer Lage – zum Teil handelte es sich sogar um Zwangsdarlehen – erfreuten sich diese Anleihen mehr oder weniger großer Beliebtheit. Zwar stiegen mit zunehmender Flaute im Stadtsäckel die zusätzlich zum Nominalwert ausgezahlten Beträge für neu ausgegebene Anleihen. Mit ihnen aber auch das Risiko, gar kein Geld mehr wiederzusehen. Wenn zum Beispiel ein Krieg verloren ging, für den sich der Staat Geld geliehen hatte: Nach einem teuren Zweifrontenkrieg brach der venezianische Anleihemarkt völlig ein, der Stadtstaat wurde von einer ernsten Finanzkrise geschüttelt. +Besonders die Italiener mischten bei der Entwicklung des europäischen Bankenwesens mit – allen voran einige Mitglieder der mächtigen und umtriebigen Florentiner Familie Medici: Bereits im 13. Jahrhundert beschrieb man sie als "banchieri", also Bankiers; im 14. Jahrhundert machte sich ihr bis dahin weit verzweigtes Bankhaus einen Namen. Von Italien aus verbreitete sich die Abrechnung von Handelsgeschäften über Konten in Nordeuropa – so gründeten zum Beispiel die Niederländer Anfang des 17. Jahrhunderts ihre Amsterdamer "Wisselbank". Diese Wechselbank ermöglichte es Kaufleuten, Konten in einer einheitlichen Währung einzurichten, schließlich existierten in den Vereinigten Provinzen verschiedene Münzstätten und zahlreiche ausländische Geldstücke, die den Handel erschwerten. Die Wisselbank wurde Vorreiter auf dem Gebiet der Girokonten: Dank der Abbuchungen und Überweisungen konnten immer mehr Transaktionen durchgeführt werden, ohne dass Geldbeträge in materialisierter Form von Käufern zu Verkäufern gelangen mussten – für uns heute ein selbstverständlicher Umgang mit Geld. +Kann es passieren, dass alle Kunden auf einmal ihr Guthaben abheben wollen? Eine Frage, mit der sich bereits Mitte des 17. Jahrhunderts schwedische Banker beschäftigt haben. Sie sind schließlich zu folgendem Schluss gekommen: Ein solches Ereignis ist höchst unwahrscheinlich. Aufgrund dieser Erkenntnis haben die Gründer der Riksbank in Stockholm die Finanzwelt revolutioniert. Denn fortan konnten sie Kredite vergeben und an den Zinsen verdienen, ohne dass sie sämtliche Einlagen als Gold oder Münzen vorhalten mussten. Der Bank reichte ein kleiner Teil der Reserven, um flüssig zu sein. An diesem Punkt begann das Geld sich selbst zu vermehren. Es existierte seitdem immer weniger real und dafür immer mehr nur auf Kontoauszügen und in Bilanzen. +Mit der schwedischen Riksbank bahnte sich die finanzielle Innovationswelle ihren Weg durch das 17. Jahrhundert – die Bank gilt heute als ein Vorläufer der modernen Zentralbanken. Gegen Ende des Jahrhunderts gründeten auch die Engländer ihre "Bank of England", eine Aktiengesellschaft, die den Staat bei der Kriegsfinanzierung unterstützte und die im Gegenzug einige Privilegien erhielt. In den folgenden drei Jahrhunderten entstanden immer mehr Zentralbanken, die meist gesetzlich festgelegte Ziele haben: Sie versorgen Banken mit frischem Geld und sollen den Wert des Geldes und das Preisniveau im Land stabil halten. Die letzte große Innovation in Europa fand 1998 statt: Mit dem Euro kam auch eine gemeinsame Währungsbehörde für die Mitgliedsstaaten der Währungsunion; der Sitz der heutigen Europäischen Zentralbank befindet sich in Frankfurt am Main. +Das Börsenparkett war immer schon ein hartes Pflaster. Bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts stießen, schoben und schrien sich die Händler gegenseitig an und warfen sich so manche Unverschämtheit an den Kopf. Anfangs unter freiem Himmel, später überdacht, ging es laut zu an der Amsterdamer Börse, jeder konnte mitmachen – wie beim Wetten auf Pferderennen. Objekte der Begierde waren die ersten Aktien der Geschichte. Mehrere niederländische Kaufmannskompanien hatten sich zur Vereinigten Ostindienkompanie, einer der größten Handelsgesellschaften des Jahrhunderts, zusammengeschlossen und das Eigentum in "acties" aufgeteilt. Sogar Hausangestellte beeilten sich, Anteile zu erwerben, und schnell entwickelte sich ein florierender Markt für die begehrten Quittungen. Auch die Amsterdamer Bankiers sprangen auf den Zug auf: Sie akzeptierten die Aktien als Sicherheit und vergaben sogar Kredite für den Ankauf der Anteile. Wodurch die Verbindung zwischen dem Aktienmarkt und der Kreditschöpfung entstand. +Für amerikanische Bauern war die Terminbörse ein echter Segen. So konnten sie ab 1848 auf dem Parkett der Chicago Board of Trade Mais, Weizen oder etwa Schweinebäuche verkaufen, lange bevor sie die Ernte einfuhren oder die Ferkel schlachteten. Mit sogenannten Optionen sicherten sie sich gegen eventuellen Preisverfall ab, da sie das Geld für künftige Lieferungen auf der Stelle bekamen. Auf der anderen Seite verließen sich die Käufer darauf, dass die Produkte zum vereinbarten Zeitpunkt geliefert würden – oder sie verkauften die Verträge gewinnbringend weiter, wenn die Waren in der Zwischenzeit im Wert gestiegen waren. Kein Wunder also, dass sich neben Müllern und Fleischern schnell auch Spekulanten für den Handel interessierten, und Rohstoffe seitdem wieder zu einer harten Währung geworden sind. Inzwischen sind internationale Finanzgeschäfte mit Agrarprodukten umstritten, da sie unter Verdacht stehen, die Preise für Lebensmittel in die Höhe zu treiben und so das weltweite Hungerproblem zu verschärfen. +Ein schwaches Steuersystem, ein teurer Krieg und eine hohe Reparationslast als Folge des Versailler Vertrags: So steuerten die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg auf eine beispiellose Hyperinflation zu. Bereits zwischen 1914 und 1918 stieg die Menge der umlaufenden Banknoten um mehrere hundert Prozent an. Nach Kriegsende war das Land zahlungsunfähig, und seine Regierung pumpte immer mehr neu gedrucktes Geld in den Umlauf. Es folgte eine der radikalsten Geldentwertungen in der Geschichte. Immer mehr Geld war immer weniger wert. Wer seinen Lohn nicht gleich wieder ausgab, konnte sich schon Tage später kaum mehr etwas dafür kaufen. Kostete ein Ei im Juni 1923 noch 800 Mark, bezahlte man im Dezember schon 320 Milliarden dafür. Erst die Währungsreform änderte das. Zunächst mit der neuen Rentenmark, das Münzgesetz vom 30. August 1924 führte dann offiziell die Reichsmark ein – zum Kurs von eins zu einer Billion. diff --git a/fluter/die-ewige-kneipe.txt b/fluter/die-ewige-kneipe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f488cb5f6cc28e686e8fe5ac70620720b2b66eeb --- /dev/null +++ b/fluter/die-ewige-kneipe.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +"Im Krieg lernt man zu improvisieren", erklärt Toriz. Islamisten im Viertel? Dann wird der Whiskey eben in ­Kaffeetassen ausgeschenkt. Kämpfe auf offener Straße? Dann wird die Bar halt abgeschlossen und die verbliebenen Gäste feiern die Nacht gemeinsam durch. Und an Alkohol habe es in Beirut glücklicherweise nie gemangelt. +Heute wirkt Beirut relativ friedlich im sonst chaotischen Nahen Osten. Doch bettelnde syrische Flüchtlinge in den Straßen erinnern daran, dass Krieg und Terror keine 150 Kilometer entfernt liegen. Toriz sagt, der nächste Krieg im Libanon komme bestimmt. Deshalb habe er auch nie daran gedacht, die Bar aufzugeben. "In der Region ist so viel Chaos, da brauchen die Leute ein bisschen Konti­nuität. Niemand kann sein Leben im Ausnahmezustand verbringen." diff --git a/fluter/die-folterzellen-von-cherson-queere-menschen-unter-der-besatzung.txt b/fluter/die-folterzellen-von-cherson-queere-menschen-unter-der-besatzung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..60c7c584ca4bb83a30594c7690d6aeebf0376dda --- /dev/null +++ b/fluter/die-folterzellen-von-cherson-queere-menschen-unter-der-besatzung.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Von der großen LGBTIQ-Gemeinschaft in Cherson, die sich früher rund um Insha sammelte, ist heute nur noch wenig spürbar. Doch aufgegeben hat die NGO nicht. Etwa eine Autostunde entfernt, in der Stadt Mykolajiw, führt Anastasiia Bila die Arbeit von Insha fort. Bei einem Tee treffen wir uns mit Bila in ihrem noch spärlich eingerichteten neuen Arbeitszimmer. Dabei sind diese Räume so viel mehr als nur Büros: "Dieser Ort soll auch als Unterkunft für queere Menschen und Frauen dienen, die fliehen müssen", sagt Bila. Viele von ihnen wissen oft nicht, wo sie unterkommen sollen; zu groß sei die Gefahr, auf der Flucht homo- undtransfeindliche Übergriffezu erleben. "Wir denken, dass unser Büro auf ihrer Liste der Ziele stand", sagt die Menschenrechtsaktivistin über das russische Militär (siehe Infokasten unten). Doch nicht nur der Hauptsitz der Organisation stand im Fadenkreuz, auch nach Bila selbst suchten die russischen Soldat:innen: "Als sie zu meinem Haus kamen, war ich schon nicht mehr in der Stadt." +Während der Besatzung halfen zahlreiche Freiwillige, interne Dokumente zu vernichten, um persönliche Daten zu schützen. "So konnten wir verhindern, dass unsere Mitglieder von den russischen Truppen identifiziert werden können", fügt Anastasiia Bila hinzu. Heute steht fest, wie wichtig diese Vorsichtsmaßnahme war. +Das Nash Svit Center für LGBT- und Menschenrechte, das seit mehr als zwei JahrzehntenHassverbrechen in der Ukrainedokumentiert, zeichnet in einem Bericht ein grausames Bild der Gewalt gegen LGBTIQ-Personen während der Besatzung. Um mehr über die Hintergründe zu erfahren, treffen wir uns mit Andrii Kravchuk von Nash Svit an einem überfüllten und dadurch sicheren Ort: einem Café im Zentrum von Kyjiw. Die schlimmsten Gräueltaten, die Nash Svit dokumentierte, ereigneten sich in den besetzten Gebieten – in den Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson. "Wenn die Geschlechtsidentität oder die sexuelle Orientierung von LGBTIQ-Personen bekannt wird, kommt es zu Problemen", so Kravchuk. Nicht allen Menschen gelingt es, unentdeckt zu bleiben. + + +Im September 2023 soll in einem Dorf in der Region Cherson ein Einwohner festgenommen worden sein. Er wurde verdächtigt, homosexuell zu sein und Verbindungen zum ukrainischen Militär zu haben. Seinen Schilderungen nach sei er brutaler Folter und sexuellem Missbrauch ausgesetzt gewesen. So sei er gewaltsam entkleidet und mit Sturmgewehrläufen in verschiedene Körperöffnungen penetriert worden. "Sie sagten, dass ‚es viele Schwuchteln in der Ukraine gibt', dass ich eine von diesen sei, weil ich keine Frau habe", gab der Betroffene bei Nash Svit zu Protokoll. Die Peiniger hätten gedroht, ihn zu vergewaltigen; danach werde er "normal" sein. +Demütigungen und Misshandlungen an den militärischen Checkpoints seien während der Besatzung an der Tagesordnung gewesen. Russische Soldat:innen hätten Zivilist:innen gezwungen, sich zu entkleiden, und sexualisierte Gewalt als "erzieherisches" Mittel gegen die LGBTIQ-Gemeinschaft eingesetzt. Dokumentiert ist im Bericht des Nash Svit Center zum Beispiel das Vorgehen gegen ein lesbisches Paar, das an einem Kontrollpunkt festgehalten wurde. Eine der Frauen sei fälschlicherweise für einen Mann gehalten worden, woraufhin die Soldat:innen sie verprügelt und ihr mit Gruppenvergewaltigung gedroht hätten. +Auch der 22-jährige Oleksii Polukhin (Titelbild links) wurde von den Besatzer:innen aufgrund seiner Sexualität angegriffen. Wir verabreden uns mit ihm in Lwiw, einer Stadt im Westen der Ukraine, wo er aktuell lebt. Alles, was er aus seiner geliebten Heimatstadt Cherson mitnehmen konnte, befindet sich in einer winzigen Einzimmerwohnung. Tagsüber verlässt Polukhin nur selten die Wohnung. Nachts plagen ihn Albträume aus der Zeit der Besatzung. +Über zwei Monate sollen die Besatzer:innen ihn in einem der Foltergefängnisse festgehalten haben, erzählt er der ukrainischen Menschenrechtsorganisation Projector. Die Zustände in den Zellen beschreibt er als menschenunwürdig. "Duschen war untersagt, Anwält:innen verboten und medizinische Versorgung überhaupt nicht verfügbar", so Polukhin. Doch das scheint beinahe nebensächlich, wenn er von der sexualisierten Gewalt durch die Wärter erzählt. +Einige der von Projector dokumentierten Fälle sind bereits lokalen nationalen Gerichten und internationalen Gerichten, wie dem Internationalen Strafgerichtshof, zugewiesen. Ein besonderes Anliegen von Oleksii Polukhin und anderen Betroffenen ist es, dass die Taten auch vor Gericht als geschlechtsspezifische Hassverbrechen gegen dieLGBTIQ-Gemeinschaftanerkannt werden. Bisher hat noch kein internationales Gericht entschieden, dass die Verfolgung von LGBTIQ gegen das Völkerrecht verstößt. Eine entsprechende Verurteilung in der Ukraine wäre somit historisch. In Polukhins Fall sind sieben unbekannte russische Militärs, die mutmaßlich an Polukhins Misshandlung beteiligt waren, angeklagt. Jedoch ist es äußerst schwierig, die Identität der Soldat:innen zu ermitteln, sagt Oleksandr Kleshchenko von der Staatsanwaltschaft in Kyjiw. Doch etwas Hoffnung bleibt: "Die Taten verjähren nach ukrainischem Recht nicht, und im Notfall wird auch in Abwesenheit der Angeklagten verhandelt", sagt Kleshchenko. +In der Russischen Föderation herrscht seit vielen Jahren ein homo- und transfeindliches Klima. LGBTIQ-Personen werden in Russland staatlich verfolgt, die queere Community durch den Obersten Gerichtshof als extremistisch eingestuft. Vor dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine im Februar 2022 gab es Gerüchte über eine sogenannte "Hinrichtungsliste". Auf dieser sollen auch Vertreter:innen der LGBTIQ-Community stehen, berichteten zu Beginn des Krieges die New York Times und die Washington Post – mit Bezugnahme auf einen Brief von Bathsheba Nell Crocker, US-Botschafterin der UN, an die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet. +Auch innerhalb der ukrainischen Gemeinschaft erfahren LGBTIQ-Personen Intoleranz und Hass. Obwohl die Akzeptanz von LGBTIQ-Personen innerhalb der Bevölkerung in den vergangenen Jahren stieg und es einige Fortschritte bei der Anerkennung ihrer Rechte gab, sind Diskriminierung, Gewalt und gesellschaftliche Vorurteile vor allem in konservativen und religiösen Kreisen weiterhin verbreitet. Die LGBTIQ-Community in der Ukraine wird oft angegriffen, und Pride-Veranstaltungen werden regelmäßig von rechtsextremen Gruppen bedroht. Viele Betroffene, die Opfer queerfeindlicher Gewalt durch russische Truppen geworden sind, haben Vorbehalte, sich an die ukrainische Polizei zu wenden – aus Angst, auch dort diskriminiert zu werden. +Im nordöstlichen Charkiw, der zweitgrößten Stadt in der Ukraine, sammelt sich trotz der allgegenwärtigen Unsicherheit vor dem Büro von Charkiw Pride eine große Traube Menschen,um für LGBTIQ-Rechte zu demonstrieren.Eine junge Frau küsst ihre Freundin auf die Stirn. Eine Szene, in der man für einen Moment beinahe vergisst, dass die Front nur 30 Kilometer entfernt liegt. Doch eben nur beinahe. Die Einschläge von Schrapnellen an Hauswänden, ständige Luftangriffe – unter anderem mit besonders zerstörerischen Lenkbomben – und Ruinen in der ganzen Stadt holen einen auf den Boden der Realität zurück. +Anastasiia Popova, Mitorganisatorin von Charkiw Pride, erzählt, dass der Protest für Gleichstellung seit 2019 in Charkiw stattfindet und auch die Pandemie und der Krieg dies nicht geändert hätten. Der drohenden Gefahr, falls Charkiw in russische Hand fällt, ist sich Anastasiia bewusst. Und sie schwebt wie ein Damoklesschwert über den Aktivist:innen: "Wenn Charkiw besetzt würde, stünden meine Freund:innen und ich wahrscheinlich ganz oben auf der Hinrichtungsliste." Der Kampf für die territoriale Integrität der Ukraine bleibt für sie und andere Betroffene also auch einer um den Schutz der LGBTIQ-Community. + +Reise und Recherche wurden gefördert durch "The Europe-Ukraine Desk/N-Ost – Network for Border Crossing Journalism". Diese Veröffentlichung wurde mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union erstellt. diff --git a/fluter/die-freundliche-insel.txt b/fluter/die-freundliche-insel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/die-fruechte-des-zorns.txt b/fluter/die-fruechte-des-zorns.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fafb4c2a19d9602969bc7922d15ec0f79894821e --- /dev/null +++ b/fluter/die-fruechte-des-zorns.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Unterstützung bekamen diese frühen ägyptischen Aktivisten aus dem Ausland. Einige der revoltierenden Jugendlichen wurden 2009 in Belgrad von den Aktivisten der Organisation Otpor geschult, die nicht nur wesentlich am Sturz des serbischen Gewaltherrschers Slobodan Milosevic beteiligt waren, sondern erst in Osteuropa und mittlerweile weltweit Oppositionsgruppen unterstützt. Bei den serbischen Revolutionsprofis mit der geballten Faust als Logo lernten die Ägypter die Prinzipien des gewaltfreien Kampfes, der ein draufknüppelndes Regime oft umso hilfloser aussehen lässt und mehr Sympathien einbringt als randalierende Demonstranten. Weil aber die Reisekosten für die lernwilligen Revolutionäre damals von der USRegierung bezahlt wurden, so Maher, sieht sich die Oppositionsbewegung bis heute Vorwürfen ausgesetzt, dass sie im Auftrag ausländischer Mächte handle – schließlich sind die USA bei vielen Ägyptern genauso verhasst wie in den anderen Staaten der arabischen Welt. "Es gibt eine Kampagne gegen uns; weil wir so einflussreich sind, versuchen sie, uns als Agenten des Auslands zu diskreditieren", sagt Amal Sharaf. Die 36-jährige alleinerziehende Mutter und Englischlehrerin gehört zu den Gründerinnen der Bewegung "6. April" und ist mit für die Betreuung der angeblich inzwischen 20.000 Mitglieder zuständig. +Der Protest der Aktivisten wuchs rasant, und es waren weniger die Aktionen auf der Straße als die im Internet, die zum Erfolg führten: "Facebook hat für uns die entscheidende Rolle gespielt", sagt Samah Farouk. Die 30-Jährige ist Karikaturistin und schickt ihren 1.500 Facebook-Freunden schon seit mehr als zwei Jahren täglich eine bitterböse Zeichnung als politisches Statement zu, das durch das Weiterposten zuweilen mehr Menschen erreicht als so manche Tageszeitung in Ägypten. Für Samah gehören die beiden Protestebenen zusammen: Im Internet werden massenweise Menschen für die Aktionen auf der Straße mobilisiert, hier tauschen die Aktivisten ihre Meinungen und Erfahrungen aus, geben sie Tipps und sprechen Warnungen aus. Hier wird auch debattiert, welche Forderungen gestellt werden. "Unsere eigentliche Macht besteht darin, dass wir die Menschen auf die Straße bringen können", sagt Samah. +Doch genau daran hat es in den vergangenen Monaten schon mal gehapert. Zwar wurde Freitag für Freitag demonstriert, aber es waren selten mehr als ein paar Zehntausend Teilnehmer. Bedeutet das, dass auf Facebook doch nur die Mitglieder eines kleinen elitären, gebildeten Zirkels miteinander sprechen? Immerhin beträgt die Analphabetenrate in Ägypten rund 30 Prozent. "Eine Elite hat darüber diskutiert, ob wir erst die Wahlen machen sollen oder erst die Verfassung schreiben. Dabei haben wir die armen und ungebildeten Massen verloren", merkt Samah selbstkritisch an. +Dabei sei es nun "besonders wichtig, dass wir den Druck aufrecht erhalten, damit wir unser Ziel erreichen. Noch haben wir kaum etwas erreicht", sagt Waled Rashed, ein anderes Mitglied der Bewegung, und verfolgt auf seinem Blackberry die nebenbei einlaufenden Twittermeldungen. Seitdem die Aktivisten den Tahrir- Platz wieder besetzt haben, passiert in Kairo viel und alles gleichzeitig. Immer deutlicher zeichnet sich ab, dass es sich bei der Revolution am Nil um ein Missverständnis handelt. Die Militärführung, die am 11. Februar nach dem Sturz von Langzeitpräsident Hosni Mubarak die Regierung übernommen hat, versteht unter Revolution etwas ganz anderes als Waled und die anderen Revolutionäre. Die Generäle haben offenbar die Macht in der Absicht übernommen, die Regierung auszutauschen und sonst alles weitgehend beim Alten zu belassen. +Allerdings nahmen sie einige Korrekturen vor: So ließen sie besonders korrupte Politiker und Geschäftsleute verhaften. Auch wurde die Verfassung geändert, sodass nun auch parteilose Politiker für das Präsidentenamt antreten können. Doch der Eindruck, dass sie es dabei belassen wollen, verbreitet sich. Sie sprechen von Revolution, so der Vorwurf, meinen aber eigentlich Regierungswechsel. Kein Wunder, dass der Tahrir-Platz wieder besetzt ist: "Das ist noch keine Revolution, wir haben noch viel vor uns", sagt Waled Rashed. "Deswegen sind wir wieder auf dem Platz, und diesmal werden wir erst gehen, wenn wir alles erreicht haben." Doch was ist alles? "Wir wollen einen Mentalitätswandel in der Gesellschaft: Wir wollen, dass sich die Ägypter nicht mehr als Eigentum der Herrschenden fühlen, und dass sie sich trauen, ihre Rechte einzufordern, und wir wollen, dass die Regierenden endlich kapieren, dass sie das Volk respektieren müssen." Aber selbst Waled glaubt nicht daran, dass er so lange auf dem Tahrir-Platz kampieren wird, bis der Wandel bei allen 82 Millionen Ägyptern angekommen ist. +Daher konzentrieren sich die Demonstranten nun auf leichter zu erreichende Ziele. In langen Diskussionen haben sie sich auf folgende Punkte geeinigt: Sie fordern die Verurteilung der Polizisten, die während der Revolution im Januar und Februar Demonstranten getötet haben. Auch sollen Zivilisten nicht mehr vors Militärgericht gestellt werden. Eine weitere Forderung ist die Einführung eines angemessenen Mindestlohnes sowie eines Maximallohns. Auch, dass dem vertriebenen Präsidenten Mubarak der Prozess gemacht wird, war ein zentrales Anliegen. Tatsächlich begann das Gerichtsverfahren am 3. August. Die Staatsanwaltschaft wirft Mubarak Amtsmissbrauch vor und Mittäterschaft am Mord an 800 Demonstranten. Viele der Protestierenden machen keinen Hehl daraus, welches Urteil sie für Mubarak erwarten: Sie tragen in diesen Tagen statt eines Transparents eine Henkerschlinge in der Hand. +Für die Militärs ist der Prozess heikel, weil in einem solchen Verfahren fast zwangsläufig auch Korruptionsvorwürfe gegen das Militär laut würden; die Armee kontrolliert in Ägypten Schätzungen zufolge immerhin rund 20 Prozent der Wirtschaft. Die Demonstranten werfen der Armee denn auch vor, den Prozess zu verschleppen, und immer lauter wird der Ruf, auch die neue Militärregierung zu stürzen. Diese Forderung steht aber nicht offiziell auf der Liste – zu groß ist die Sorge vieler Aktivisten: Wie werden die Generäle reagieren, wenn sie sich bedroht fühlen? "Ich halte es nicht für richtig, die Militärregierung abzusetzen. Sie hat den Job übernommen, die Revolution zu schützen und unsere Forderungen umzusetzen. Wir erinnern sie daran, und machen Druck, dass sie ihre Aufgabe erfüllt", sagt Waled Rashed. +Dass die Menschen das Handeln der Politik nicht mehr einfach hinnehmen, zeigt auch ein anderes Ereignis in diesem aufregenden Sommer. Nachdem mehrere Polizisten vom Vorwurf der vorsätzlichen Tötung von Demonstranten freigesprochen worden waren, trieb die Empörung über das Urteil die Menschen in Suez und Kairo auf die Straße. Die Aktivisten vom "6. April" reagierten auf das Urteil, indem sie ihre Forderungen umformulierten: Statt der Verfassungsdiskussion rückte die strafrechtliche Verfolgung des alten Regimes und seiner Handlanger ganz nach oben auf die Liste, und am 8. Juli war der Tahrir-Platz so voll wie selten. Mit Erfolg: Die Regierung machte angesichts der versammelten Masse Zugeständnisse: 669 ranghohe Polizisten wurden entlassen, das Kabinett umgebildet. Nach und nach versammeln sich auch an diesem Abend rund um die Blumenkübel am Rande des Tahrir-Platzes die Aktivisten des "6. April". Seit fast neun Monaten halten die Proteste nun an, und allen ist klar, dass es um mehr geht als um die Prozesse gegen Mubarak und die korrupten Funktionäre. Es geht darum, dass die Revolution dauerhaft zu mehr Demokratie im Land führt, dass sich nicht wieder eine Clique von Machthabern aufschwingt, das Volk zu betrügen. Es geht darum, die Früchte des Zorns zu ernten. +Tunesien +Der erste einer ganzen Reihe von Protesten in Nordafrika brach im Dezember 2010 in Tunesien aus. Nach der Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers (siehe Seite 44) gingen die Menschen auf die Straße, um gegen steigende Lebensmittelpreise, hohe Energiekosten und korrupte Politiker zu demonstrieren. Die "Jasmin-Revolution" genannte Erhebung führte schließlich zur Absetzung und Flucht des Machthabers Ben Ali. Momentan regiert in Tunesien eine Übergangsregierung unter Einbeziehung der früheren Opposition. +Marokko +In der konstitutionellen Monarchie demonstrierten am 20. Februar 2011, dem "Tag der Würde", Tausende für politische Reformen und mehr Demokratie. König Muhammad VI. kündigte daraufhin Reformen an. Im Oktober finden vorgezogene Parlamentswahlen statt. +Jemen +Der seit über 30 Jahren regierende Ali Abdullah Salih wird von vielen Jemeniten für die Armut im Land verantwortlich gemacht. Auslöser von Protesten war auch Salihs Plan, sich auf Lebenszeit zum Präsidenten zu ernennen. Seit Monaten kommt es vor allem in den Städten Aden und Sanaa immer wieder zu Protesten, die oft gewaltsam niedergeschlagen werden. +Der Hungerstreik ist eine der radikalsten Formen des politischen Widerstands, bei der die Protestierenden das Essen verweigern und in der Folge immer schwächer werden. Die Nahrungsverweigerung kann nach circa einem Monat tödliche Folgen haben. In der Vergangenheit wurden hungerstreikende Häftlinge (zum Beispiel in Guantánamo) daher oft zwangsernährt, wofür eine Sonde durch den Mund in den Magen geführt wird, um Nährstoffe zuzuführen. 1993 traten im Ort Bischofferode mehrere Hundert Bergmänner in den Hungerstreik, weil ihre Kali-Grube geschlossen werden sollte. Auch Mahatma Gandhi verweigerte einst mehrfach wochenlang die Nahrung, um einen Bürgerkrieg abzuwenden. Mit Erfolg. diff --git a/fluter/die-gedanken-sind-frei.txt b/fluter/die-gedanken-sind-frei.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..db5aeefd90a66ce9478f6a6ecf9a07dd14b94264 --- /dev/null +++ b/fluter/die-gedanken-sind-frei.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +So weit, so kühl eigentlich das Menschenbild, nach dem sich die Wirtschaft richtet und sich darin auf Adam Smith berufen kann. Dabei hatte Smith in seinen früheren Schriften das Gegenteil beschrieben; für ihn war die Sympathie der Ursprung menschlichen Handelns, die Anteilnahme am Schicksal des Nächsten das, was den Menschen menschlich macht. In dem Buch, das Smith selbst als sein eigentliches Hauptwerk bezeichnete, Theorie der ethischen Gefühle (1759), fragte er danach, wie denn Nächstenliebe und Mitgefühl, normaler menschlicher Umgang also, überhaupt möglich sein könne. Seine These: Die Menschen sind im Grunde gut. Jeder Mensch hat durch die Beobachtung anderer ein Gefühl dafür, was richtig und was falsch ist. Wenn jemand moralisch und rechtmäßig handelt, wird sein Verhalten von den anderen Menschen akzeptiert. Wenn es aber nur seinem eigenen Nutzen dient, wird es verurteilt. Das hört sich zunächst nach einem Widerspruch zum Egoismus an, den Smith am Markt fordert. In der Wirtschaftsfachliteratur wird dieser Widerspruch auch als "Adam-Smith-Problem" bezeichnet. Aber eigentlich heißt das nur, dass etwas zuerst moralisch einwandfrei sein muss, bevor ein eigener Nutzen verfolgt werden darf. Mit der "unsichtbaren Hand" möchte Adam Smith also nicht persönlichen Egoismus rechtfertigen, sondern die Sympathie für die anderen Menschen erwecken, damit der Egoismus nicht egoistisch bleibt, sondern wirklich allen nützen kann. +Karl Marx(1818–1883) +"Nach uns die Sintflut, ist der Wahlspruch jedes Kapitalisten und jeder Kapitalistennation", schrieb Karl Marx in Das Kapital. In seinem dreibändigen Hauptwerk, dessen erster Band 1867 erschien, macht er den Versuch, die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus zu entschlüsseln und die grundlegenden Abhängigkeiten und Machtverhältnisse in einer kapitalistischen Gesellschaft darzustellen.Ein wichtiger Begriff ist für Marx der des Mehrwerts, der nicht durch Gewinne beim Kauf und Verkauf von Waren entstehe, sondern dadurch, dass Kapitalisten die Arbeitskraft des Proletariats ausbeuten. Ein Arbeiter produziere durch seine Arbeit mehr Wert, als seine Arbeitskraft koste, weil er sie nach den Vorgaben "der herrschenden Klasse" einsetzen müsse. "Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern gezwungen", schrieb Marx im Manifest der Kommunistischen Partei (1848). Die Abschaffung ungleicher Eigentums-
verhältnisse sah Marx als Schlüssel für eine gerechte Gesellschaft. Wird das Privateigentum abgeschafft, verschwinden auch die Klassengegensätze, so Marx. Außerdem werde das kapitalistische System zwangsläufig aus wirtschaftlichen Gründen zusammenbrechen.1989 schien die Berliner Mauer mit der DDR auch das Marx'sche Denken unter sich zu begraben: Der Sozialismus des Ostblocks als Gegenentwurf zum Kapitalismus war gescheitert, die von Marx prophezeite klassenlose Gesellschaft ohne Unterdrückung eine Illusion geblieben. Doch der Kapitalismus neoliberaler Prägung verhilft Marx zu neuer Popularität. Seine These, dass der durch freie Märkte geprägte Kapitalismus die Arbeiter ausbeute ("Das Kapital ist verstorbne Arbeit, die sich nur vampirmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt"), ist angesichts gewaltiger weltweiter Finanzströme und der internationalen Verschiebung von Arbeitsplätzen für viele wieder aktuell. +John Maynard Keynes(1883–1946) +Der britische Ökonom John Maynard Keynes krempelte die Wirtschaftswissenschaft und 
-politik im 20. Jahrhundert nachhaltig um. "Der Kapitalismus basiert auf der merkwürdigen Überzeugung, dass widerwärtige Menschen aus widerwärtigen Motiven irgendwie für das allgemeine Wohl sorgen werden", hat er einmal gesagt. Die von Adam Smith postulierte "unsichtbare Hand" des Marktes, welche Angebot und Nachfrage genau wie Vor- und Nachteile quasi automatisch in ein Gleichgewicht bringe, hielt Keynes schlichtweg für Unsinn: Wenn nötig, beispielsweise bei Nachfragelücken, sollte sich der Staat in die Marktwirtschaft einmischen und Geld investieren – und dafür im Notfall auch Schulden machen. Denn es war die Nachfrage, die Keynes als den bestimmenden Faktor der Wirtschaft definierte. In den wirtschaftlich guten Zeiten des Aufschwungs sollten die vorher gemachten Schulden dann wieder beglichen werden. +Lohnsenkungen, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, lehnte der Ökonom ab. Denn: Wenn die Arbeiter ein geringeres Einkommen haben, können sie weniger konsumieren. Die Konsequenz daraus ist simpel: Die Nachfrage nach Gütern sinkt. "So kann das vermeintliche Heilmittel gegen Arbeitslosigkeit sich als Gift entpuppen", schreibt Keynes in seinem Werk Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes (1936). Auch das Sparen – "einzelwirtschaftlich gesehen eine Tugend" – entfalte gesamtwirtschaftlich einen negativen Effekt, weil so wieder ein Teil des Einkommens nicht für den Konsum zur Verfügung stehe. Keynes' Formel: Sparen gleich Volkseinkommen minus Verbrauch. Übrigens: Das berühmteste Zitat des Ökonomen, mit welchem er das blinde Vertrauen in den Markt und die Hoffnung, dass sich Ungerechtigkeiten auf lange Sicht ausgleichen würden, attackierte, lautet: "Auf lange Sicht sind wir alle tot." +Milton Friedman(1912–2006) +"Die soziale Verantwortung der Wirtschaft ist es, ihre Profite zu vergrößern", hat Milton Friedman gesagt. Und auch: "Es ist unmoralisch, Geld von den Reichen zu nehmen, um es den Armen zu geben." Kein Wunder, dass Friedman nicht nur Freunde hatte. Der in New York geborene Wirtschaftswissenschaftler gilt als einer der einflussreichsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts und als heftiger Keynes-Kritiker. Für Friedman gehörten Kapitalismus und Freiheit zusammen wie Topf und Deckel. Daher setzte er auf das freie Spiel von Angebot und Nachfrage. Seine Auffassung: Um die bestmögliche Versorgung der Bürger mit Geld, Arbeit und Gütern zu gewährleisten, soll sich der Staat vom Markt so fern halten wie irgend möglich. Die individuelle Freiheit sei ein "viel stärkerer Motor als jegliche staatliche Vorgabe", schreibt Friedman in seinem Bestseller Kapitalismus und Freiheit (1962). Der Staat hat für Recht, Ruhe und Ordnung zu sorgen und den Wettbewerb zu fördern. Mehr nicht. Den Wohlfahrtsstaat betrachtete er als Feind der Wirtschaft. Das von Ludwig Erhard 1948 eingeläutete deutsche Wirtschaftswunder wertete Friedman als bestes Beispiel dafür, was die freie Marktwirtschaft zu leisten in der Lage sei. +Für seine "Monetarismus-Theorie", nach der die Finanzpolitik über die Geldmenge kontrolliert werden soll, also über ein langsames, aber stetes Wachstum derselben, erhielt Friedman 1976 den Nobelpreis. Friedman war auch geis-tiger Vater der "Chicago Boys", einer Gruppe neoliberaler Wissenschaftler, die seine Lehren in der Welt verbreiteten. Er beriet Ronald Reagan und Margaret Thatcher. Kritik – etwa, weil er den chilenischen Diktator Augusto Pinochet beriet – prallte an ihm ab. Friedman sah seine Lehren stets bestätigt. Nicht zuletzt durch den Zusammenbruch des Sozialismus. Einer breiteren Öffentlichkeit stellte er seine Theorien mit dem Bestseller Chancen, die ich meine (1980) vor – er diente als Vorlage für eine populäre TV-Serie über die Ideen der freien Marktwirtschaft. diff --git a/fluter/die-geschichte-der-farc-in-kolumbien.txt b/fluter/die-geschichte-der-farc-in-kolumbien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8503619ab2e94f0f87399cd646ef9fd909c65bf0 --- /dev/null +++ b/fluter/die-geschichte-der-farc-in-kolumbien.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Die Folge: Mehr als 220.000 Menschen wurden in dem bewaffneten Konflikt getötet. Dass die beiden Konfliktparteien dennoch im November 2016 einen Friedensvertrag unterzeichnet haben, der den FARC-Kämpfern politische Teilhabe, weitreichende Amnestie und eine Landreform zusichert, grenzt an ein Wunder. Denn ein beträchtlicher Teil der kolumbianischen Bevölkerung lehnt den ausgehandelten Vertrag ab, wie das knappe "No" im Referendum einen Monat zuvor gezeigt hatte. Umgekehrt haben viele in der FARC nicht vergessen, wie der letzte Friedensprozess 1984 endete: Rund 3.000 Mitglieder und Anhänger der damals entstandenen FARC-Partei Unión Patriótica wurden von Paramilitärs ermordet. + + +Kolumbien, benannt nach Christopher Kolumbus, grenzt an den Pazifik und das Karibische Meer, ist von den Anden durchzogen und geht im Südosten ins Amazonasbecken über. Die Bevölkerung ist mit knapp 50 Mio. Einwohnern die zweitgrößte Südamerikas – und sehr divers: Neben Indigenen gibt es Nachfahren spanischer Kolonialisten, europäischer Einwanderer und afrikanischer Sklaven. +Dass die UN dennoch Mitte 2017 die fast vollständige Entwaffnung der FARC bestätigen konnten, liegt nicht zuletzt am damaligen Präsidenten Juan Manuel Santos, der auch ohne Waffenruhe zu Friedensverhandlungen bereit war und der FARC mit dem Ort für die geheimen Friedensgespräche – Havanna – entgegenkam. Kuba ist seit jeher ein treuer Verbündeter linker Guerillagruppen. Zudem schien Santos alle Opfer des Konflikts im Blick zu haben: Die FARC sollte mit ihrem Vermögen Hinterbliebene entschädigen, gleichzeitig sollten sämtliche Kriegsverbrechen der vergangenen 50 Jahre ans Licht gebracht werden, also auch die der Armee. +Dieser Punkt missfällt dem konservativen Lager genauso wie der Umstand, dass selbst FARC-Kommandanten laut Friedensvertrag nur zu maximal acht Jahren Haft verurteilt werden können, sofern sie ihre Taten einräumen. + +Wie umstritten das Verfahren ist, zeigt auch, dass der neue Präsident Iván Duque das bereits verabschiedete Gesetz im März zurück in das Parlament gab, weil er "Einwände" hegte. Mittlerweile hat das Verfassungsgericht Duques Vorgehen jedoch als unrechtmäßig zurückgewiesen. +Doch auch auf der Gegenseite mehren sich die Zweifel am Friedensvertrag. Mittlerweile soll die Zahl der abtrünnigen FARC-Mitglieder auf mehr als 1.700 gestiegen sein. Der Grund: Seit 2016 sind nach Angaben der FARC 139 Ex-Kämpfer ermordet worden. Das bislang letzte Opfer ist Wilson Saavedra, der FARC-Kommandant in der Region Marquetalia war – jenem Ort, an dem vor 55 Jahren die Geschichte der FARC begonnen hat. Viele Kolumbianer hoffen, dass sein Tod dem alten Mythos kein neues Leben einhaucht. + diff --git a/fluter/die-geschichte-des-deutschen-grundgesetzes.txt b/fluter/die-geschichte-des-deutschen-grundgesetzes.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6d0432450480a5561423a86c689029176c11bff1 --- /dev/null +++ b/fluter/die-geschichte-des-deutschen-grundgesetzes.txt @@ -0,0 +1,13 @@ + + +Großbritannien, Frankreich und die USA forderten ihrerseits die Ministerpräsidenten der drei westdeutschen Besatzungszonen auf, eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen, die "eine Regierungsform des föderalistischen Typs" entwerfen sollte. Am 1.9.1948 tagte der Parlamentarische Rat erstmals in Bonn. Die 65 Delegierten waren weit davon entfernt, die Gesellschaft zu repräsentieren, für die sie handelten. Das Durchschnittsalter lag bei 56 Jahren, nur vier Frauen gab es, zwei Drittel waren Akademiker, es überwogen Juristen, und mehr als die Hälfte hatte einen Doktortitel. Elf Abgeordnete hatten bereits in der Weimarer Republik im Reichstag gesessen und drei von ihnen sogar an der Verfassung von 1919 mitgeschrieben. +Die große historische Hypothek – das Scheitern der Weimarer Republik und die Gräuel der Nazidiktatur – lastete schwer auf den Verhandlungen, die nur mühsam vorangingen. Immer wieder kam es zu parteipolitischen Streitereien und Auseinandersetzungen mit den Alliierten. Theodor Heuss, später der erste Bundespräsident, ging davon aus, dass die Arbeit vielleicht zwei Monate dauern würde. Anfang November wollte er wieder an der Universität Freiburg unterrichten. Letztlich musste er fast neun Monate in Bonn bleiben, bis der Entwurf in der dritten Lesung am 8.5.1949 mit 53 zu zwölf Stimmen angenommen wurde und zur Ratifizierung an die Landtage gegeben werden konnte. + + +Um aus dem langen Schatten von Weimar herauszutreten, korrigierte der Parlamentarische Rat konsequent die Schwächen der Verfassung von 1919. So entwarf er das Modell eines föderalistischen Staats mit dezentraler Machtverteilung, in dem die Bundesländer ein starkes Gegengewicht zur Zentralgewalt darstellten. Mit dem Bundesrat wurde ein weiteres Organ eingerichtet, durch das sie ihre Interessen wahren konnten. Gleichzeitig wurde die präsidiale Macht des Staatsoberhaupts stark eingedämmt, die zu Weimarer Zeiten eine Art Ersatzkaiser war, und Volksentscheide auf Bundesebene abgeschafft. Die Schlüsselfigur wurde der Bundeskanzler, dessen Entscheidungsgewalt durch ein konstruktives Misstrauensvotum beschränkt werden konnte. Als juristische Infrastruktur wurde das Bundesverfassungsgericht eingerichtet, das über das Grundgesetz wachte und einen politischen Streit letztinstanzlich und unanfechtbar beenden konnte. +Viel Applaus wurde den Gründungsvätern und -müttern des Grundgesetzes nicht zuteil, von einer Verehrung, wie sie die Founding Fathers in den USA erfuhren, ganz zu schweigen. Erst mal waren alle unzufrieden. Die Kirchen beklagten sich über zu wenige christliche Werte, die Gewerkschaften sahen maßgebliche arbeitsrechtliche Forderungen außen vor, die CSU lehnte den Entwurf im Landtag ab, weil sie die Hoheitsrechte der Länder nicht ausreichend gewürdigt sah, die KPD wiederum weigerte sich, die "Spaltung Deutschlands" zu unterschreiben, und der Literat Kurt Hiller spottete in der "Zeit" über das "Bürosaure und Muffige" des "zusammengeschwitzten Opus". Beispielsweise ärgerte ihn die unsaubere Formulierung des Artikel 4, Abs. 3 ("Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden"): "Mit dem Besen, dem nassen Lappen, der nackten Faust, dem erigierten Zeigefinger oder dem rollenden Auge darf also offenbar jeder zum Kriegsdienst gezwungen werden! Nur mit der Waffe nicht." + + +Vielleicht war es auch der immer wieder vom Parlamentarischen Rat betonte Charakter des Provisoriums, der die Begeisterung für das Grundgesetz zunächst dämpfte. Diese Idee des Provisoriums ist einmalig: Das Grundgesetz ist die weltweit einzige demokratische Verfassung, die unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit stand. Die Präambel erinnerte und mahnte, "die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden". Bis dahin sollte das Grundgesetz eine Ordnung geben, es sollte einer Einigung nicht im Wege stehen. Die Präambel konnte man aber durchaus als Entwertung des Gesetzestextes verstehen. +Das Provisorium erwies sich indes als äußerst langlebig. Es überdauerte die turbulenten Nachkriegsjahre, den Kalten Krieg und die deutsche Teilung. Es sicherte Wohlstand und Frieden und sorgte damit für eine große Akzeptanz Deutschlands in der Völkergemeinschaft. Als die DDR, die ihre Staatsgründung im Oktober 1949 mit Fackelumzügen, Betriebsbesuchen der SED-Spitze und großen Kundgebungen als Zeitenwende inszenierte, schließlich 1989 kraftlos in sich zusammenbrach, wurde das Grundgesetz nach der Wiedervereinigung de facto zum "Grundgesetz für das gesamte deutsche Volk" erhoben. Immerhin erlebte das noch der fränkische Sozialdemokrat Hannsheinz Bauer, als Einziger aus dem Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz 1949 unterzeichnet hatte. +Dieser Text ist imFluter-Heft Demokratieerschienen. diff --git a/fluter/die-geschichte-des-vegetarismus.txt b/fluter/die-geschichte-des-vegetarismus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e47e97f28049a28d1a1b11b3ab12cc6f52acd207 --- /dev/null +++ b/fluter/die-geschichte-des-vegetarismus.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Tatsächlich steigt in einigen westlichen Industrieländern Schätzungen zufolge die Anzahl der Vegetarier und Veganer seit Jahren. Ein Grund dafür ist der Wunsch nach einer gesünderen Ernährung, so der Meinungsforscher Jan Berlin vom Institut für Markt- und Kommunikationsforschung Skopos. Für die meisten Veganer sei derHauptgrund für ihren Lebensstil aber eher ein moralischer. Angesichts des vielfach dokumentierten Leids in der Massentierhaltung und der damit einhergehenden Folgen für das Klima vergehe immer mehr Menschen der Appetit auf Fleisch – und auch auf Milchprodukte. Erst neulich veröffentlichten Zeitungen und das Fernsehen wieder einmalBilder von einem bayerischen Milchviehhof, auf dem sterbende Kühe gequält wurden. Laut einer Umfrage der Verbraucherzentrale finden gut zwei Drittel den deutschen Tierschutz wichtig. Und einer Studie des Forsa-Instituts zufolge spielen Hinweise zur Tierhaltung für das Kaufverhalten bei Milch für 73 Prozent der Käufer eine große Rolle, für nur 35 Prozent der Preis. +Darf der Mensch für sein eigenes Wohlergehen Tieren Leid zufügen? Diese Frage stellt sich nicht erst heutzutage. Wirklich große Bewegungen des Fleischverzichts entstanden bereits um 600 v. Chr. Damals bildeten sich gleich mehrere Strömungen, deren Anhänger sich aus religiösen Gründen fleischfrei ernährten, etwa viele Buddhisten in Indien ebenso wie die Anhänger des Jainismus, die jegliche Form von Gewalt gegen Tiere ablehnen. Zudem glaubten die Anhänger der Orphiker, einer religiös-spirituellen Bewegung im antiken Griechenland, an die Wanderung und Wiedergeburt der tierischen und menschlichen Seele. Deshalb aßen sie weder Fleisch noch Eier und trugen auch keine Wolle. Der Mathematiker Pythagoras war wohl ihr bekanntester Anhänger: "Alles, was der Mensch den Tieren antut, kommt auf den Menschen wieder zurück", sagte er. Noch im 19. Jahrhundert wurden Menschen, die keine tierischen Produkte zu sich nahmen, als "Pythagoräer" bezeichnet. +Durch die sogenannte Lebensreformbewegung, deren Anhänger gegen Ende des 19. Jahrhunderts vor Industrialisierung und Materialismus in die Natur flüchteten, bekam das fleischlose Leben in Deutschland Auftrieb. Bis zur Jahrhundertwende hatten sich zahlreiche vegetarische Vereine gegründet, die auf 1.500 Mitglieder kamen. Keine besonders hohe Zahl, vor allem in der Arbeiterschaft galt das fleischlose Leben als Privileg des Bürgertums. Viele, die hart arbeiten mussten, wollten auf Fleisch als Energiespender nicht verzichten. +In Deutschland stieg der Fleischkonsum in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1980er-Jahre stark an. Erst in den 1990er-Jahren führte der sogenannte BSE-Skandal – damals ging es um Rinder, die aufgrund falscher Fütterung unter anderem Löcher im Hirn hatten und deren Verzehr Menschen krank machen konnte – zu weniger Fleischkonsum. Bis 2011 nahm der Verzehr in Deutschland wieder zu, seitdem sank er von 62,8 Kilogramm auf 60,2 Kilogramm pro Person im Jahr 2018. Generell essen Männer rund doppelt so viel Fleisch wie Frauen. Laut dem Fleischatlas des BUND und der Heinrich-Böll-Stiftung, die den Grünen nahesteht, gibt es sogar eine Gruppe von rund fünf Prozent Vielfleischessern unter ihnen, die fast dreimal so viel Fleisch verzehren wie die Durchschnittsdeutschen. +Dabei war lange umstritten, wie gesund eine Ernährung ohne tierische Produkte ist. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) rät zwar von einer veganen Ernährung bei Schwangeren und Kindern ab und weist darauf hin, dass Veganer ein Vitamin-B12-Präparat als Nahrungsergänzung einnehmen sowie auf die Zufuhr von Proteinen, weiteren Vitaminen und Mineralstoffen achten sollten, aber: "Die Versorgung mit den meisten Nährstoffen lässt sich durch eine gute Kombination und Zusammenstellung von pflanzlichen Lebensmitteln decken." +Wie gesundheitsschädlich Fleisch wirklich ist, bleibt umstritten. Als die WHO verarbeitetes Fleisch wie Wurst oder Schinken als krebserregend einstufte, gab es viel Kritik von Ernährungswissenschaftlern. Schließlich gebe die Einstufung keine Auskunft darüber, wie groß das Krebsrisiko wirklich ist: Weltweit sterben 34.000 Menschen pro Jahr durch verarbeitetes Fleisch, das ist wenigim Vergleich zu einer Million Rauchertoten. Wer auf Nummer sicher gehen will, sollte seinen Fleischkonsum beschränken. Die DGE empfiehlt, nicht mehr als 300 bis 600 Gramm pro Woche zu sich zu nehmen. +Es sind vor allem Städter und junge, gut ausgebildete Frauen, die vegan leben, sagt Marktforscher Berlin. 6,1 Millionen Deutsche bezeichnen sich als Vegetarier, 1,2 Millionen Menschen essen kein Fleisch, aber Fisch, das sind die sogenannten Pescetarier. Und dann gibt es noch die Flexitarier, Menschen, die versuchen, auf Fleisch zu verzichten. +Auch wenn der Anteil im Vergleich zum generellen Umsatz der Lebensmittelbranche noch immer gering ist, wächst die Veggie-Branche stark. In keinem Land gibt es laut einer Marktanalyse des Marktforschungsunternehmens Mintel mehr vegane Produktneuheiten als in Deutschland, der Umsatz mit diesen Produkten hat sich zwischen Mitte 2013 und Mitte 2018 verdreifacht. +Einerseits scheinen die Deutschen also das Zeug zum Vorreiter zu haben. Andererseits: Deutschland gilt mittlerweile wegen des nitratverseuchten Grundwassers als schwarzes Schaf in der EU. Schuld ist die deutsche Fleischproduktion, deren Gülle massenhaft auf den Feldern landet: Auch wenn der Konsum hierzulande zurückgeht, wird viel deutsches Fleisch in Länder exportiert, wo die Nachfrage nach wie vor da ist. +Schaut man sich die Welt an, kann man nicht wirklich von einem Trend zum fleischlosen Essen sprechen: In den reicheren Ländern werden immer mehr Menschen zu Vegetariern und Veganern, während der Fleischkonsum in aufstrebenden Schwellenländern zum neuen Wohlstand gehört. Selbst in Indien, einem Land mit vielen Vegetariern, nimmt der Fleischkonsum stetig zu. Bis zum Jahr 2050 könnte sich die Fleischproduktion weltweit sogar verdoppeln, schätzt die Ernährungsorganisation der Vereinten Nationen FAO –mit katastrophalen Auswirkungen für das Klima. +Ungefähr ein Siebtel der weltweit vom Menschen produzierten Treibhausgasemissionen entstehen durch Nutztierhaltung. Die Unterschiede sind je nach Tierart aber groß: Ein Kilo Rindfleisch verursacht mehr als viermal, ein Kilo Käse dreimal so viele Emissionen wie dieselbe Menge Schweinefleisch. Und nicht nur in Südamerika wird Urwald gerodet, um billiges Soja anzubauen, das als Futter für Tiere dient. +Neu sind die wahren Kosten des Fleischverzehrs freilich nicht. "Dieselbe Strecke Landes, welche als Wiese, d. h. als Viehfutter, zehn Menschen durch das Fleisch der darauf gemästeten Tiere aus zweiter Hand ernährt, vermag, mit Hirse, Erbsen, Linsen und Gerste bebaut, hundert Menschen zu erhalten und zu ernähren." Das schrieb schon der 1769 geborene Naturforscher Alexander von Humboldt. diff --git a/fluter/die-globallisierung.txt b/fluter/die-globallisierung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/die-groessten-madonna-fans.txt b/fluter/die-groessten-madonna-fans.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5439fea6bb1b18af2dd27a6e3e056649ad16b36e --- /dev/null +++ b/fluter/die-groessten-madonna-fans.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Mehr als drei Millionen Menschen, darunter auch viele Katholiken aus aller Welt, wollen die Schwarze Madonna jedes Jahr sehen. Vor allem in den Sommermonaten kommen Pilger, Touristen und Kulturbeflissene in Busladungen nach Tschenstochau. Doch nicht jeder reist so bequem an. Mehrere zehntausend Pilger machen sich zu Fuß auf den Weg zur Muttergottes. Unter den Wallfahrern sind auch viele junge Polen. Sie kommen aus dem ganzen Land. Manche Gruppen laufen singend und betend viele Hundert Kilometer und kommen erst nach Wochen in Tschenstochau an. +Der Fotograf Andreas Krufczik hat die Wallfahrten zur Schwarzen Madonna dokumentiert. Seine Bilder geben einen Eindruck von einem tiefgläubigen Teil der polnischen Gesellschaft. diff --git a/fluter/die-grosse-punk-nostalgiewelle-simon-reynolds.txt b/fluter/die-grosse-punk-nostalgiewelle-simon-reynolds.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c1cbca0d88acca9b907a71f63ca108dabbff5156 --- /dev/null +++ b/fluter/die-grosse-punk-nostalgiewelle-simon-reynolds.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Corré protestiert damit gegen die Vereinnahmung von Punk durch das Festival Punk.London, das unter der Schirmherrschaft von Boris Johnson initiiert wurde. Als der Bürgermeister war, fielen viele Clubs der Gentrifizierung zum Opfer. +Ach, diese drastischen Aktionen zählen doch heute nichts mehr. Alles verweigern, etwas zerstören – das hat 1977 etwas bedeutet. Aber wenn man sich die Welt heute ansieht, dann gibt es so viele, die die Welt effektiver als jede Popband zerstören können. Man kann Trump nicht an Destruktivität überholen. Punk-Gesten zu wiederholen erscheint mir völlig sinnlos. Joe Corré mag der Letzte seiner Art sein, aber vielleicht hat sich seine Art auch einfach überlebt. +Als Autor beschäftigen Sie sich intensiv mit Retrophänomenen, also damit, wie die Popmusik mit ihrer eigenen Vergangenheit umgeht. Waren Sie überrascht, dass in London gleich ein ganzes Themenjahr zu Punk ausgerufen wurde? +Nein, gar nicht. In der heutigen Popkultur wird wirklich jedes Jubiläum mitgenommen. Und 40 Jahre ist eigentlich ein ziemlich geeigneter Anlass. Beim 50. Jahrestag könnten viele von damals schon nicht mehr leben. Und Punk hat sich immer weiter verewigt. Noch stärker als die 1960er-Jahre. Man findet heute wenig junge Leute, die Hippie sind, aber Punk wird immer wieder entdeckt. Es scheint die ultimative Rebellion zu sein. Es passt dazu, wie man sich fühlt mit 15 Jahren, wenn alles, was man sieht, nur widerlich, gescheitert, kompromittiert erscheint. Dieser Purismus und die Absolutheit des Statements haben immer noch eine starke Anziehungskraft. +Davon ist in dem Programm in London wenig zu sehen. Die politische Seite des Punk wird kaum thematisiert. +Es wird heute als Style-Thema gesehen. Die Kreativität der britischen Modeszene wird gefeiert, der politische Teil unter den Tisch gekehrt, auch die schiere Zerstörungswut. Es ging bei Punk darum, wirklich fürchterlich zu sein. Als Teenager mochte ich Sid Vicious, weil er eben so niederträchtig war wie sein Name es vorgab. Er hat sich aufgeschlitzt, bis er blutete, auf der Bühne gekotzt. Es gab auch eine konstruktive, durchaus moralistische Seite des Punk, die dann in Festivals wie Rock against Racism mündete, wo Bands spielten wie die Tom Robinson Band, die ganz konkrete politische Forderungen artikulierte – für Schwulenrechte etwa. +Während in den USA der politische Protest in den 1960er-Jahren in die Popkultur einzog, passierte das in England erst mit Punk. Warum so spät? +In den 1960er-Jahren war eine Labour-Regierung an der Macht, die Perspektiven für junge Leute waren gut, der Militärdienst wurde abgeschafft. Überall wurde gekämpft, aber nicht in London. Gut, es gab Demos vor der amerikanischen Botschaft gegen den Vietnamkrieg, aber die Militanz oder der Idealismus, den die Proteste an den amerikanischen Universitäten, in Frankreich oder in Westdeutschland hatten, gab es nicht. Die 1970er-Jahre waren dann viel politisierter und turbulenter. Studenten gingen mit streikenden Arbeitern auf die Straße, als sich die wirtschaftliche Situation verschlechterte. Mit Punk entstand zum ersten Mal  eine wirklich politische Jugendbewegung in Großbritannien. Vorher waren Jugendbewegungen vielleicht kulturell subversiv, aber es gab keine Songs über Arbeitslosigkeit oder wie man Faschisten attackiert. Auf den Plattencovers sah man plötzlich triste Betonwohnblöcke und urbane Wüsten. Dieser Sozialrealismus war neu im Rock. +Überlebte er den Punk? +Ja. In den 1980er-Jahren hat sich die Musik stark an politischen Themen abgearbeitet. Neben Rock against Racism gab es Red Wedge, da versuchten Musiker die Jungen für die Politik, insbesondere für Labour zu gewinnen, dann gab es die CND – die Abrüstungsbewegung –, die auch in der Musikszene eine Rolle spielte. Bands wie The Jam haben es mit politischen Themen in die Charts geschafft oder The Red Skins, eine weiße Soulgruppe, die für die Socialist Workers Party warb. Elvis Costello hatte ein paar Anti-Thatcher-Songs, The Beat hatte einen Hit namens "Stand down Margaret", The Smiths waren sehr politisch, vor allem in Interviews. Es war damals üblich, dass man als Journalist auch politische Themen ansprach. Erst Ende des Jahrzehnts war die Luft raus. Als Thatcher das dritte Mal gewählt wurde, war das Projekt, mit Musik auch Politik zu machen, erschöpft. Schien ja nichts zu bringen. +Thatcher und die Punks waren große Gegenspieler – aber sie hatten auch einiges gemeinsam. +Schon. Sie brachen den gesellschaftlichen Konsens der Nachkriegsjahre, beide waren brutal, kalt und rücksichtslos. Emotional ist das nicht so unterschiedlich, wie die Punks mit den Hippies umgingen und wie Thatcher die Industrien, die nicht erfolgreich waren, zugrunde gehen ließ. Es gibt da schon Ähnlichkeiten. Und viele im Punk waren ehrgeizige Leute, da gab es viel Working Class-Ambition. Und viele haben es ja auch zu etwas gebracht. In der Musik, in den Medien. +In Ihrem Buch "Rip it up and start again" feiern Sie die Phase nach Punk als Zeit der musikalischen Erneuerung. Begehen wir gerade das falsche Jubiläum? +Postpunk war musikalisch extrem interessant, es wurde viel experimentiert und Neues ausprobiert, aber es gibt dafür kein sinnfälliges Datum, das man feiern könnte, und ohne Punk wäre das auch alles nicht passiert. Punk dagegen war eine Serie von Ereignissen: die Sex Pistols fluchen im Fernsehen, die Fahrt auf der Themse zum Geburtstag der Queen, das erste Album von The Clash. Ein Jahr voller Aufregung lässt sich gut historisieren. Es gibt auch starke Bilder: das Cover von "God Save The Queen", das Gesicht von Johnny Rotten und Siouxsie Sioux, die Sicherheitsnadeln. Punk ist perfekt für eine Mythenbildung. +Zum 30. Jahrestag von "Rappers Delight" hat in New York keiner groß gefeiert, dabei war die erste Hip-Hop-Single gleich ein Millionenerfolg und machte die bis dato nur Insidern bekannte neue Musik weltweit populär. Spiegeln sich in solchen Jubiläen auch gesellschaftliche Machtstrukturen? +Musiktheoretiker und Mythenzerstörer: Der in Los Angeles lebende Engländer Simon Reynolds hat mit "Rip It Up And Start Again" ein Buch geschrieben, das Postpunk als die wahre Phase der musikalischen Erneuerung feiert. In seinem gerade auf Englisch erschienenen "Shock and Awe" rückt er den Glamrock ins rechte Licht - einem oft übersehenen Vorläufer des Punk. / Foto: Ventil Verlag +Die schwarze Musikkultur funktioniert da anders. Die verwenden die Vergangenheit in der Musik selbst – mit Samples etwa. Da wird die Vergangenheit ganz praktisch in die Gegenwart geholt. Es gibt zwar Nostalgie-Hip-Hop-Veranstaltungen, aber viel, viel weniger als im Rock. Da gibt es eine ganze Industrie mit sogenannten Legacy Acts, also Bands aus vergangenen Dekaden. Deshalb musste wohl auch ein Außenseiter kommen wie Baz Luhrmann... +...der bei "The Get Down" Regie geführt hat, einer Netflix-Serie über die Entstehung des Hip-Hop in New York. +Ja, ein Australier, der nicht aus der Szene kommt und die Geschichte wie einen Comic inszeniert hat, was viele Hip-Hop-Granden kritisierten. Aber es stimmt, die Langlebigkeit von Punk hat auch damit zu tun, dass viele frühere Punks jetzt in Entscheiderpositionen sind. Sie kontrollieren Institutionen und entscheiden über Budgets für Kulturförderung. Im englischen Parlament sind auch Abgeordnete, die Raver waren. Tom Watson, der stellvertretende Parteivorsitzende der Labour Party, geht jedes Jahr aufs Reading Festival. Einer, der sich für den Parteivorsitz der Labour Party bewarb, war Public Enemy Fan. Das verändert auch, wie wir mit der Vergangenheit umgehen. + +Titelbild:  Muir Vidler / 13photo +Felix Denk, Kulturredakteur bei fluter.de, hat in dem Interview mit Simon Reynolds gelernt, dass eines der beliebesten Samples im Hip-Hop ausgerechnet vom Punk-Impressario Malcom McLaren stammt: die ersten Zeilen von Buffalo Gals. Laut whosampled.com tauchen sie in 268 anderen Stücken auf diff --git a/fluter/die-gruppe-ja-panik-interview-spechtl.txt b/fluter/die-gruppe-ja-panik-interview-spechtl.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6c8e155511baec825e52a4482b5507fd111a10b1 --- /dev/null +++ b/fluter/die-gruppe-ja-panik-interview-spechtl.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Wie meinst du das genau? +Die Strophe von "Apocalypse or Revolution" ist ganz nah bei einem Menschen, der in einer ausweglosen Lage ist. Man mag es Depression nennen. Ein Mensch, der nicht nach vorne und nicht zurück kann, nicht in den Tag und nicht in die Nacht. Und dann ist da der Refrain, der das Feld viel größer macht und nahelegt: Es gibt kein glückliches Leben im Drama des Kapitalismus. Es geht nicht darum, beim Einzelnen die Lösung zu suchen. +Wo zeigen sich denn aus deiner Sicht gerade Probleme des kapitalistischen Systems, in dem wir leben? +All diese Probleme, die bislang immer einzeln aufgeploppt sind, kommen in der Corona-Pandemie gemeinsam hoch. Und es wird klar, dass man nichts davon in der Vereinzelung betrachten kann, man muss sie zusammen sehen. Du kannst den Kapitalismus nicht vom totgesparten Gesundheitssystem trennen, nicht von den Fragen,wer die Care-Arbeit macht. Wie wird überhaupt Reichtum oderImpfstoff in der Welt verteilt? All diese Dinge wurden bisher meistens als singuläre Probleme betrachtet und so angegangen. Aber sie gehören zusammen. +Im vergangenen Frühjahr gab es ein kurzes Zeitfenster, in dem es aus Sicht vieler Menschen möglich schien, dass wir als Gesellschaft anders abbiegen könnten, dass eine andere Welt möglich wäre: Soziale Hilfsprogramme wurden aufgesetzt,der Staat intervenierte, Teile der Industrie standen still, damit die Pandemie eingedämmt werden konnte. Wie hast du diese Zeit wahrgenommen? +Ja, da war dieser Moment der Überrumpelung. Die Wirtschaft, die Politik waren kurz so an ihre Grenzen geführt, dass plötzlich dieser Riss da war in der Welt. Aber dann hat sich das Ganze wahnsinnig schnell angepasst, die Selbstkittung hat wieder funktioniert, und die Öffnung, die für etwas Gutes und Emanzipatives entstanden war, wurde sofort wieder zugemacht. Durch die Corona-Krise werden die ganzen systematischen Probleme noch mal durchexerziert und gestärkt. Weil das System merkt, was noch alles möglich ist, was man den Leuten noch alles zumuten kann: Homeoffice,Distance Learning. Ein Austesten, was die Menschen alles ertragen können, ohne dass die Gesellschaft zerbricht. +Euer neues Album trägt ja den Titel "Die Gruppe", im dazugehörigen Song wird immer wieder der Satz "Eine Gruppe möcht' ich sein" wiederholt. Kann man das als Statement für mehr Solidarität und Zusammenhalt verstehen? +Es geht darum, dieser Idee etwas entgegenzusetzen, es seien so wahnsinnig egoistische und selbstbezogene Zeiten. Selbst wenn das stimmen sollte: Wenn du dir wirklich selbst der Nächste bist, wenn du für dich das Beste willst im Leben, dann hast du trotzdem mehr davon, wenn du in einer Gruppe agierst. Daran glaube ich einfach. Das ist doch die Idee einer Gruppe: dass dir eine Gemeinschaft von Leuten hilft, in dem zu glänzen, was du besonders gut kannst. Das ist die Form des Zusammenlebens, die mich interessieren würde. +Nun ist die Corona-Pandemie eine schwierige Zeit, um sich in Gruppen zusammenzufinden. Wie wirkt sich das auf dich als Künstler aus? +Ich war wahnsinnig froh, dass alle Stücke und auch grob die Musik für das Album im letzten Frühjahr schon fertig waren. Wofür die Pandemie nämlich vielleicht ganz kurz gut war: In dieser geschenkten Zeit konnte man Dinge fertigstellen, für die man den Input aus der Vor-Corona-Welt schon bekommen hatte. Den ganzen Input für das Album aus dieser toten Corona-Zeit zu ziehen, das hätte für mich nicht funktioniert. + + + +Du hast zu Beginn unseres Gesprächs erklärt, dass es "Ja, Panik" darum geht, das Persönliche mit dem Gesamtgesellschaftlichen zu verbinden. Liegt in dieser Balance zwischen konkret und vage der Modus, in dem man gute politische Songs schreiben kann, ohne peinlich, angreifbar oder in einem bestimmten historischen Moment gefangen zu sein? +Genau in dieser Zwischenwelt findet für mich Poesie statt. Das ist auch der Moment, in dem die Songs für mich selbst Rätsel sind. Beim Schreiben gibt es zunächst ein relativ abgestecktes Feld für mich, eine Überschrift, ein Thema, eine Lage, ein Gefühl. Gleichzeitig lasse ich dann aber auch etwas zu, was mir selbst fremd oder rätselhaft ist. Innerhalb dieses Rahmens kann ich meinen Gedanken vertrauen. + +Und diese Offenheit hilft Menschen mit anderen Erfahrungen und Realitäten dann, an deine Texte anzuknüpfen? +Absolut. Es ist wichtig, sich selber auch immer nur als eine Stimme von vielen zu begreifen. Es ist ein spannendes und schwieriges Spiel, mit offenen Formen umzugehen. Einerseits geht es für mich darum, etwas möglichst Durchlässiges zu schaffen. Gleichzeitig gibt es ganz klar eine politische Abgrenzung zu manchen Seiten hin. Und dafür ist der Autor, die Autorin eines Textes verantwortlich. Ich musste da bei dieser vermaledeiten Scheißaktion #allesdichtmachen[Anm. d. Red.:Eine Videoaktion, mit der einige prominente Filmschaffende die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie kritisieren wollten]dran denken. Wenn die Menschen, die da mitgemacht haben, sich rausreden mit so Sätzen wie: "Wir werden vereinnahmt von rechts, was können wir dafür?", würde ich antworten: Nee, da ist die Künstlerin und der Künstler schon selbst für verantwortlich, dass sich ein Werk gewissen Interpretationen, Meinungen und Haltungen versperrt. Ob das jetzt ein Song, ein Text oder ein Film ist: Man muss es schon so machen, dass die Faschisten damit nichts anfangen können. +Welche politische Rolle sollten Künstler*innen deiner Meinung nach überhaupt spielen? +Man kriegt ja oft die Frage gestellt: "Kann Musik die Welt ändern?" Nee, die Welt ändern, das können nur Menschen. Kunst muss nicht in der realen Welt stattfinden, sie hat per se etwas Utopisches. In dem Moment, wo man sie macht, erfindet man schon eine andere Welt. Das ist ein großes Privileg. Kunst kann auch eine Art von Geschichtsschreibung sein, was die Sehnsüchte einer Zeit anbelangt. Im Rückblick kannst duBiedermeiernicht trennen von deutscher Romantik,Dadanicht vom Ersten Weltkrieg, die Hippies nicht vom Vietnamkrieg. All das korrespondiert die ganze Zeit miteinander. So würde ich das politische Arbeiten als Künstler sehen: als Beobachter und Aufschreiber der Zeit, der aber gleichzeitig sagt: "Hey Leute, ihr könnt die Verantwortung nicht abstellen. Die Kunst ist nicht dafür verantwortlich, eure Welt zu verändern. Das müsst ihr schon selber machen." + +Das Album "Die Gruppe" von  "Ja, Panik" ist am 30. April auf dem Label Bureau B erschienen. + diff --git a/fluter/die-haerte-0.txt b/fluter/die-haerte-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0025e084d2e83ff47164d4a82f3e84e5fb15dd56 --- /dev/null +++ b/fluter/die-haerte-0.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Kairo wurde in der Region bekannt für seine Metal-Szene. Klein, aber sehr weit vorn. Lange ging das nicht gut. Diejungen Menschen mit den langen Haaren, den Tattoos und den martialischenT-Shirts lösten erst Verwirrung und schnell Sorge und Angst aus. Dann kam der Herbst 1997: Nach einem Konzert im Kairoer Baron's Palace, einer verlassenen alten Villa, die der Treffpunkt der Szene war, griff die Polizei hart durch und nahm mehr als 100 Menschen fest. Jugendliche Besucher, die schon zu Hause waren, wurden aus ihren Betten geholt. 13-Jährige wurden verhaftet, manche über einen Monat festgehalten. Wer Pech hatte, landete sogar im berüchtigten Tora-Gefängnis der Stadt. Die Presse verkündete nach der Razzia, die Villa sei voll von Tätowierten gewesen, die den Teufel anbeteten und Orgien feierten. +Nach diesem Schlag verschwand die Szene tief im Untergrund, infiziert mit einer Angst, die sie nach wie vor verfolgt. Der Vorwurf der Teufelsanbetung begleitet die Metalheads in Ägypten bis heute. Auch Anfang dieses Jahres, als Vorbote eines Konzertes, eilte er wieder durch die ägyptische Presse. diff --git a/fluter/die-haerte.txt b/fluter/die-haerte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1fcc632ea1fe0a0bb9495b51da9ab5a5aacf855f --- /dev/null +++ b/fluter/die-haerte.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Die Khateebs kamen 1992 nach Deutschland, als es noch keine Drittstaatenregelung gab. Sie stammen aus dem Westjordanland, so erzählten sie es den Behörden – sie waren also Palästinenser aus den besetzten Gebieten, die nicht abgeschoben werden dürfen. Damit waren sie zunächst geduldet in Deutschland, ein Zustand, der alle paar Wochen verlängert wird. Im Jahr 2006 hat die Ausländerbehörde einen Tipp aus Jordanien bekommen, Asylbewerdass die Geschichte der Khateebs nicht stimme. So begann ein Rechtsstreit, der bis heute anhält: Selbst ein Dokument der Vereinten Nationen, dem zufolge die Familie zuletzt im palästinensischen Flüchtlingslager Jenin gelebt hatte, kann die hessischen Behörden nicht überzeugen. +Nach dem Polizeieinsatz beginnt für die Familie eine Zeit zwischen Bangen und Hoffen – und mit allerlei Einschränkungen: Das Einkommen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz besteht zum Großteil aus Sachleistungen und ist für den Haushaltsvorstand um rund ein Drittel niedriger als der Hartz-IV-Satz, weitere Haushaltsangehörige erhalten nach Alter gestaffelt zwischen 132,93 und 199,40 Euro. Zudem gibt es die sogenannte Residenzpflicht: Sie besagt, dass sich ein Asylsuchender nicht ohne Erlaubnis aus dem Regierungsbezirk, dem Landkreis oder der Stadt, in der er wohnt, entfernen darf. Die Kinder, von denen vier in Deutschland geboren sind, gehen normal zur Schule oder in den Sportverein, sie lernen Deutsch, später machen einige Abitur, beginnen ein Studium. Vater Majed Khateeb, ein gelernter Elektriker, kümmert sich morgens um das Frühstück und bringt die Kinder zur Schule. Kurzum: Sie integrieren sich vorbildlich – aber immer mit dem Wissen, noch abgeschoben werden zu können aus ihrer neuen Heimat. "Wir haben nicht gelebt, nur von Tag zu Tag existiert", sagt Hassan, mit 23 Jahren der älteste Khateeb-Sohn, heute. "Das war, als hinge ein Schwert über unseren Köpfen." +Und dann kommt das Schwert wieder runter: Fast anderthalb Jahre nach dem ersten Einsatz kommt die Polizei zurück – weil das Asylverfahren für die Familie rechtskräftig abgeschlossen wurde, und die Ausländerbehörde eine Ausweisungsverfügung erlassen hat. Drei Einsatzbusse und ein Kripo-Wagen parken am 25. November 2007 im Hof, Sirenen heulen, die Beamten stürmen in die Wohnung, als die Khateebs gerade beim Abendessen sitzen. Alle müssen ihre Sachen packen, die Polizei bringt sie zum Flughafen, wo schon ein Flugzeug bereitsteht, um sie nach Jordanien zu fliegen. Ein Land, das ihnen fremd ist. Oder doch nicht? Aber der Pilot weigert sich kurzerhand, die Familie auszufliegen. Sie kann zurück in die Wohnung, allerdings wird Vater Majed Khateeb in Abschiebehaft genommen und acht Tage später tatsächlich abgeschoben. +Die Khateebs müssen also weiterkämpfen. Sie reichen eine Petition beim hessischen Landtag ein, die ihren Verbleib in Deutschland bewirken soll. Damit kann gegen formal zulässige, aber unverhältnismäßige Behördenentscheidungen protestiert werden. Unverhältnismäßig könnte sein, eine Familie, deren Kinder teilweise in Deutschland geboren sind und die zum Teil keine andere Sprache als Deutsch sprechen, aus dem Land zu werfen. Doch der Petitionsausschuss im hessischen Landtag lehnt die Eingabe ab. Majed Khateeb wartet derweil in Jordanien auf seine Rückkehr – in einem kleinen Zimmer in der Hauptstadt Amman. Die Familie unterstützt ihn jeden Monat mit etwas Geld, per E-Mail halten sie Kontakt. Manchmal schieben die Khateebs eine DVD in den Rekorder. Auf dem Bildschirm erscheint Majed Khateeb dann unter einem RTL-Logo und erzählt, dass er seine Frau und seine Kinder vermisst. +Es ist nicht die einzige Fernsehsendung, die die Khateebs aufgenommen haben, viele Medien haben über den Fall berichtet, es gab Mahnwachen von Dietzenbacher Bürgern vor der Ausländerbehörde, Schulkameraden, Lehrer und Kommilitonen organisierten Kundgebungen und Demonstrationen. Über Jahre bemühen sich die Khateebs, den Paragrafendschungel, in dem sie feststecken, zu durchschauen. Hassan studiert mittlerweile Jura, vielleicht kann ihnen das weiterhelfen. Im Jahr 2009 landet der Fall schließlich vor der Härtefallkommission. Die ist besetzt mit Politikern, Kirchenvertretern und Mitarbeitern von gemeinnützigen Organisationen. Sie alle können in strittigen Situationen eine Empfehlung abgeben, für den Verbleib von Asylbewerbern in Deutschland. Der Landesinnenminister entscheidet dann. Meist ist es so, dass gut integrierte Asylbewerber mit Perspektive ein Bleiberecht erhalten – wenn es gut läuft. +Und es läuft gut: Am 6. Oktober 2010 gibt die hessische Landesregierung bekannt, dass die Khateebs in Deutschland bleiben dürfen. Letztlich ausschlaggebend war für den zuständigen Minister "die erfolgreiche Integration der Kinder". Der Innenminister sagt aber auch, dass das Bleiberecht nicht für den Vater gilt. "Hier muss in einem gesonderten Verfahren neu entschieden werden." Der Kampf geht also weiter. Auch Experten und Wissenschaftler haben sich mit dem Schicksal der Khateebs auseinandergesetzt, wie etwa Rainer Hofmann, Professor für öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Goethe-Universität in Frankfurt. Er glaubt, dass die Khateebs ohnehin einen Anspruch auf ihr Verbleiben in Deutschland haben. So schütze Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention die Menschen, die "keine Beziehung in das Land der Abschiebung" haben. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hätte Familie Khateeb wahrscheinlich recht bekommen, da sie einen hohen "Grad an Verwurzelung" nachweisen könnte. Und Hofmann glaubt auch: "Die Khateebs sind doch von der Sorte Einwanderer, von denen es immer heißt, wir brauchen sie." +Die Wohnung der Khateebs ist spärlich eingerichtet, der Boden ist überall gefliest. Auf einem Holzstuhl gegenüber dem abgewetzten, grauen Kunstledersofa liegen sieben Gebetsteppiche, an der Wand hängen ein einziges Bild mit einem Boot im Schilf drauf und ein Wandkalender, auf dem steht: "Lust auf Deutschland". Um einen Antrag auf Wiedereinreise ihres Vaters stellen zu können, müssen die Khateebs nun erst einmal die Kosten für dessen Abschiebung tragen: die Ausgaben für sein Flugticket, die der vier begleitenden Polizisten und eines Arztes, für die Hotelübernachtungen und Taxifahrten. Alles in allem an die 10.000 Euro. Auch das ist so im Gesetz vorgesehen. diff --git a/fluter/die-heimwerkerkoenige.txt b/fluter/die-heimwerkerkoenige.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8f7647b4bfa6439122f845c684d75a1ce7cb82ed --- /dev/null +++ b/fluter/die-heimwerkerkoenige.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Grund für die Sparsamkeit des Prius ist sein so genannter Hybridantrieb, der einen Benzin- mit einem Elektromotor kombiniert. Beim An- und Rückwärtsfahren sowie bei niedrigen Geschwindigkeiten wird das Auto durch den Elektromotor angetrieben und verbraucht damit keinen Treibstoff, erst bei höheren Geschwindigkeiten kommt Benzin dazu. Der konventionelle Motor lädt dabei auch gleich die internen Batterien auf. "Sie müssen den Wagen niemals per Steckdose aufladen", verspricht Toyota in der Werbung. "Welche Wünsche bleiben da noch offen?" Für Felix Kramer zumindest einer: Er wollte einen Stecker. 2003 gründete er daher den kalifornischen Verein Calcars, um Autohersteller von der Idee eines Hybridautos mit Steckdosenanschluss zu überzeugen. Solche Fahrzeuge könnten viel sauberer sein als die im Handel erhältlichen Hybridmodelle, meint er. "Man hätte damit alle Vorteile eines Elektroautos mit der Reichweite eines Benziners." Doch Toyota und Co. zeigten sich lange uninteressiert. "Sie haben es einfach nicht verstanden", glaubt Kramer. Ihm blieb deshalb nicht anderes übrig, als selbst zum Schraubenschlüssel zu greifen. Im Herbst 2004 begann er gemeinsam mit anderen Calcars-Mitgliedern,einen Prius zum Steckdosenwagen umzurüsten. In zahlreichen Bastelwochenenden bauten sie dort, wo der Ersatzreifen war, 18 zusätzliche Batterien ein. Für einen zweiten Prototyp holten sie sich professionelle Hilfe von Firmen, die sich auf das Umrüsten von Elektroautos spezialisiert haben.Am Ende hatten sie dann ein Auto, das im Stadtverkehr ganz ohne Benzin auskommt und auf längeren Strecken gerade mal zwei Liter pro 100 Kilometer verbraucht.Bisher existieren weltweit nur eine Hand voll derart umgerüsteter Hybridautos. Ein Grund dafür ist der Preis: Zusätzliche Batterien, spezielle Elektronik und eine professionelle Installation können bis zu 12000 Dollar kosten. Bei Calcars geht man jedoch davon aus, dass Autohersteller diese Kosten auf 2000 bis 3000 Dollar reduzieren könnten. "Die Technik existiert", sagt Felix Kramer. Doch bis sie den Massenmarkt erreicht,muss er noch viel Überzeugungsarbeit leisten. Kramer hat seinen umgerüsteten Prius deshalb in eine Art fahrende Litfaßsäule verwandelt. Mit großen Buchstaben an beiden Türen wird erklärt, wie wenig Benzin der Wagen verbraucht, das Nummernschild verkündet: "Plug OK" - "Einstöpseln erlaubt". +Aufmerksamkeit ist ihm damit überall gewiss.Besonders wild geht es zu, wenn Kramer seinen Prius zum Ölwechsel in die Werkstatt bringt. "Beim Toyota-Händler versammeln sich jedes Mal alle um mein Auto", berichtet er belustigt. "Die Leute finden es toll. Sie finden es unglaublich faszinierend." Toyotas offizielle Reaktionen waren anfangs nicht ganz so positiv. Der Konzern bemerkte säuerlich, man könne keine Garantie auf derart umgebaute Wagen geben. Und man glaube auch nicht, hieß es, dass Verbraucher für so etwas mehr Geld ausgeben würden. Doch der Autohersteller brachte auch Argumente vor, die Umweltschützer nachdenklich werden ließen. Wer sein Auto mit Kohlestrom statt Benzin voll tanke, der tausche damit lediglich einen Verschmutzer gegen einen anderen aus, so die Kritik. Eine echte Lösung der Umweltprobleme könne es nur mit Wasserstoffantrieb und ähnlichen Zukunftstechnologien geben. Felix Kramer beeindrucken derartige Argumente nicht. "In den Neunzigern mochten Leute die Idee, dass mit Wasserstoffantrieben nur Wasser aus dem Auspuff kommt", glaubt er. "Doch wenn man den kompletten Energieaufwand von der Quelle bis zum Auspuff nachrechnet, dann sieht die Bilanz von Wasserstoff nicht mehr so gut aus." In Sachen CO2 sei Strom bereits heute unschlagbar. "Ein Elektroauto produziert mit dem derzeitigen Stromnetz in den USA 45 Prozent weniger CO2 als ein herkömmlicher Wagen",erklärt Kramer. "Und das kann nur besser werden, da unsere Stromversorgung insgesamt sauberer wird." +Inzwischen scheint diese Botschaft anzukommen. Zahlreiche Journalisten,Wissenschaftler und Politiker haben sich bereits mit Kramer getroffen, um den Prius zu sehen. Selbst Präsident Bush bekundetet inzwischen Interesse an der Technologie. Und angesichts des wachsenden öffentlichen Drucks gibt es auch von Toyota neue Töne. "Ein interessantes Konzept" sei das, findet Konzernsprecherin Cindy Knight. Bisher gebe es noch technische Probleme mit den Batterien. "Doch das sollte sich innerhalb der nächsten drei Jahre lösen lassen", meint sie zuversichtlich. Lobende Worte hat Toyota neuerdings auch für Menschen wie Felix Kramer, die ihren Prius auf eigene Faust umrüsten. "Wir verstehen das als Ausdruck des amerikanischen Erfindungsreichtums", erklärt Knight. "Das individuelle Umbauen von Autos hat hier zu Lande Tradition." Aus rechtlichen Gründen könne ihre Firma Verbraucher nicht zu derartigen Dingen ermuntern. Doch einige der Toyota-Ingenieure würden sich intensiv mit den Hobbybastlern austauschen. "Sie sind sehr gewitzt und sehr engagiert", sagt Knight. Autohersteller, die sich von Bastlern in Sachen Umweltschutz inspirieren lassen: Das ist neu. Bisher kamen derartige Impulse stets vom Gesetzgeber. So besitzt Kalifornien die strengsten Abgasnormen der Welt. Diesel-Pkws dürfen in dem Bundesstaat überhaupt nicht mehr verkauft werden. Autohersteller wurden zudem zu einer Quote für grüne Autos verpflichtet. Vier Prozent aller neu verkauften Fahrzeuge dürfen fast keine Schadstoffe mehr verursachen. Diese Bestimmungen sind ein wesentlicher Grund dafür, dass mittlerweile zahlreiche Autokonzerne Prius-ähnliche Hybridwagen in den USA auf den Markt bringen. Jetzt scheinen Verbraucher und Bastler den Gesetzgeber zu überholen. So bekommt Toyota vermehrt E-Mails und Anrufe von Konsumenten, die gezielt nach umweltfreundlicheren Technologien fragen, berichtet Cindy Knight. "Sie sagen uns,was sie kaufen wollen und was wir produzieren sollen." Glaubt man Felix Kramer, dann hat die Branche diese Nachhilfe auch dringend nötig. "Die meisten Autohersteller fällen schlechte Entscheidungen", meint er. "Deshalb geht es ihnen auch so miserabel." Cindy Knight indes verspricht Besserung: "Wir freuen uns über jedes Feedback." diff --git a/fluter/die-herrschaft-der-container.txt b/fluter/die-herrschaft-der-container.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d62d6a844de486a7ad4653450602a1545d32bdb8 --- /dev/null +++ b/fluter/die-herrschaft-der-container.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Am 26. April 1956 verlässt das erste Containerschiff, die "Ideal X", Port Newark in New Jersey. Das ist die Containerrevolution. +Knapp 50 Jahre später ist die Revolution Vergangenheit, der Container hat die Weltherrschaft übernommen, zumindest die Weltherrschaft der Logistik. An einem Freitag sitzt Uwe Köhler, Hemd und gute Krawatte, an seinem Schreibtisch in Hamburg, eine Karte der größten Häfen der Welt hängt hinter ihm: Schanghai, Singapur, Shenzhen, Hamburg auf Platz 14. +Auf dieser Karte sieht es aus, als stünden die Häfen dieser Welt in einem Wettbewerb wie Fußballvereine: Die Zahl der Container, die sie jährlich umschlagen, bestimmt den Platz in der Tabelle. Was auch irgendwie stressig klingt: Alles muss immer wachsen, alles muss größer und schneller werden. +"Ohne den Container hätte es keine Globalisierung gegeben", sagt Uwe Köhler. Wenn er sein Büro verlässt, über die Brücke, am Wasser entlang, dann sieht er die Containerstapel im Hamburger Hafen, bunt wie Legosteine, aufgetürmt wie Spielklötze. Köhler arbeitet für die Hamburger Hafen und Logistik AG, die sich HHLA abkürzt, gesprochen: Hala. Die HHLA nimmt Schiffe in Empfang, ent- und belädt sie, fährt Container durch den Hafen, lädt sie auf Lkw und Züge. Die HHLA ist eine Macht im Hamburger Hafen. Aber sie ist abhängig von der Weltwirtschaft, dem internationalen Strom der Waren. +An diesem Freitag, an dem Uwe Köhler in seinem Büro in Hamburg sitzt, nimmt die "Jules Verne", ein Schiff der Reederei CMA CGM, Kurs auf den Ärmelkanal, 18 Knoten schnell, Kurs 60 Grad. Die "Jules Verne" ist 394 Meter lang. Man kann sagen: so lang wie vier Fußballfelder. Wenn das hilft. Eines der größten Containerschiffe der Welt, 16.200 Standardcontainer (TEU). Sie ist in Ningbo in China gestartet, dann Schanghai, Xiamen, Hongkong, Chiwan, Yantian, Port Kelang in Malaysia, Tanger in Marokko. In jedem Hafen kommen ein paar Container runter, ein paar Container rauf. Sie muss noch nach Southampton, dann nach Hamburg. Sie fährt eine Linie ab, sie hat ihren Fahrplan, wie ein Bus, Fahrtzeit: 77 Tage. Doch an diesem Wochenende wird sie Probleme bekommen. +Uwe Köhler hat auf seinem Bildschirm eine Grafik geöffnet. Sie zeigt die Entwicklung der Häfen in Rotterdam, Hamburg und Antwerpen. Kurven, die nach oben gehen. Im Jahr 2009 haben die Kurven eine Delle. Die Grafik zeigt die Chance. Sie zeigt, wie wichtig der Hafen für Hamburg ist: Er wächst und gehört zu den größten drei Containerhäfen Europas. Die Delle zeigt die Gefahr. Wenn es der Weltwirtschaft schlecht geht, geht es dem Hafen schlecht. Und wenn es dem Hafen schlecht geht, geht es Hamburg schlecht. Der Dominoeffekt. Wie 2009. +Es begann damit, dass Banken in den USA zweifelhafte Immobilienkredite vergaben, 2008 stürzte die Bank Lehman Brothers, dann stürzten andere Banken, dann brach weltweit der Konsum ein. Dann kaufte man in Osteuropa zum Beispiel weniger iPads. Und wenn man in Osteuropa weniger iPads kauft, dann müssen weniger Schiffe von Schanghai nach Hamburg fahren und weniger Züge von Hamburg nach Prag. In China hörte man auf, neue Container zu produzieren. In Hamburg hatten die Mitarbeiter der HHLA plötzlich viel Freizeit. Der Hamburger Hafen hat sich bis heute nicht vollständig von der Krise erholt. Und den Reedereien geht es weltweit schlecht. Sie schmieden Bündnisse, unterbieten sich in ihren Preisen. +Es ist Sonntag, 15.49 Uhr, als die "Jules Verne" in einen schweren Sturm gerät. Sie sollte jetzt eigentlich schon in Hamburg sein. Aber sie fährt im Ärmelkanal zickzack. Die britische Behörde hat eine ernste Wetterwarnung herausgegeben. Die "Jules Verne" entscheidet sich, vor dem Hafen von Southampton zu warten, bis das Wetter besser wird. Das sind die Feinde der Container: amerikanische Immobilienkrisen und schwere Stürme. Wobei sich Stürme leichter bewältigen lassen. Der Kapitalismus ist vom Kapitalismus bedroht, weniger vom Wetter. Zwei Tage später zieht ein Schlepper die "Jules Verne" in den Hafen. +Wenn sich Uwe Köhler erinnert, wann er das letzte Mal ein Schiff in Hamburg einlaufen sah mit verbeulten und zerstörten Containern, dann holt er ein Foto von 2006 aus der Schreibtischschublade: Ein Unwetter hatte die Container zerquetscht – als seien sie Schuhkartons. Aber lange her. Kommt nicht mehr oft vor. Die Container haben die Häfen der Welt sicherer gemacht. Sie gehen fast nie verloren, weil sie registriert und nummeriert sind und geortet werden können. Und bei der Arbeit im Hafen verletzen sich heute viel weniger Menschen als damals, vor der Containerrevolution. Was auch daran liegt, dass jetzt Maschinen und Computer die meiste Arbeit machen. +Am Terminal Altenwerder fahren die Container ferngesteuert auf AGV, "Automatic Guided Vehicles", sie sehen aus wie Lkw ohne Führerhäuser. Eine Software gibt die Kommandos. Die AGV helfen mit, dass der Kakao bei Katharina Herzog ankommt. Sie steht in einer Lagerhalle im Hamburger Hafen, sie hat sich eine Signalweste angelegt. Vor ihr ein Berg von Kakaobohnen, graue, schwarze, rote, goldene, die guten Bohnen sind braun. Wenn sie einen Kollegen sieht, dann sagt sie "Moin". +Katharina Herzog hat BWL studiert, seit sieben Jahren arbeitet sie für das Hamburger Unternehmen Cotterell. Cotterell lagert: Kakaopulver, Kakaobohnen, Kakaobutter. Die Container kommen aus der Elfenbeinküste, Indonesien, Ecuador, Ghana. Das Lager, in dem Katharina Herzog steht, ist eine der letzten Stationen eines langen Weges, der damit endet, dass wir in eine Schokoladentafel beißen. Und wir beißen in viele Schokoladentafeln: Durchschnittlich essen Deutsche etwa zehn Kilogramm im Jahr. +Wenn sich ein Journalist für ihre Arbeit interessiert, dann kommt es vor, dass Katharina Herzog wissen will, warum. Warum ausgerechnet Kakao. Kürzlich sei ein Journalist zu Besuch gewesen, der habe nach Kinderarbeit gefragt. +Das gehört auch zur Containerrevolution: Sie globalisiert Probleme. Container bringen die Realität fremder Länder mit. Ferne Probleme gibt es nicht mehr. Sollte es nicht mehr geben. +Es ist jetzt Dienstag, der Sturm im Ärmelkanal hat sich beruhigt, die "Jules Verne" verlässt den Hafen von Southampton, sie hat ihren Fahrplan geändert, erst Bremerhaven, dann Hamburg. Pero Hempel ist schlecht gelaunt, er hat Schnupfen. Im ersten Moment ist er das Klischee eines grimmigen Seebären, doch je länger er von den alten Zeiten erzählt, auf die später zurückzukommen ist, desto mehr muss man ihn mögen. +Pero Hempel ist Kapitän der "Bugsier 5", ein kleines Schiff, ein Schlepper, der Containerschiffe in den Hafen zieht, er liegt am Anleger Neumühlen, gegenüber der großen Terminals, an einer Promenade, an der sich teure Bürowürfel reihen. In diesen Büros gibt es: viel Glas, viel Blick auf den Hafen, viele Konferenztische und Menschen, die gelangweilt über ihre Smartphones wischen. Das ist das neue Hamburg: exklusiv und stylish, aber nicht weit vom Hafendreck. Nicht alle mögen das. Das neue Hamburg können sich nur wenige leisten. +Auf der "Bugsier 5" machen sich bereit: ein Kapitän, ein Ingenieur, ein Matrose und ein Schülerpraktikant. Der Schülerpraktikant wird vor allem lernen, dass die Zukunft der Seemänner schlecht ist. Pero Hempel stellt seinen Kaffee zwischen Steuerknüppeln und Knöpfen ab. Hempel ist 60, fünf Jahre bis zum Ruhestand. Das Schiff "Andromeda" der Reederei CMA CGM nähert sich dem Hafen, 363 Meter lang, 11.356 Container. Sie hat im Hafen von Le Havre gewartet, als der Sturm über den Ärmelkanal fegte. Wenn die "Andromeda" voll beladen ist und man ihre Container auf Lkw lädt, dann können die Lkw einen Stau von Hamburg fast bis nach Hannover verursachen, 138 Kilometer lang. Fremdenführer mögen diesen Vergleich. Touristen schütteln den Kopf, wenn sie das hören: Ist ja verrückt. Das gibt es doch nicht. +Und sie schütteln den Kopf, wenn sie hören, dass es günstiger ist, einen Rotwein auf einem Schiff von Australien nach Hamburg zu fahren als einen Weißwein aus dem Rheingau im Lkw nach Hamburg. Oder wie viel es kostet, ein iPad von Schanghai über die Weltmeere nach Hamburg zu bringen: zehn Cent. Oder wie teuer es ist, ein T-Shirt auf demselben Weg zu transportieren: einen halben Cent. +Das alles, weil ein Mann aus North Carolina 1937 in seinem Lkw saß und sich ärgerte. +Die "Bugsier 5" legt ab. Der Kapitän sieht die "Andromeda", eine Silhouette im Dunst. Er fährt ihr entgegen, wird sie in den Hafen ziehen, ihr dabei helfen, sich mehr als 90 Grad zu drehen und am Terminal rückwärts einzuparken. "Das ist wie Busfahren", sagt Kapitän Hempel. Routine. Was erst wie eine Pointe klingt. Aber wenn er erzählt, was er vorher gemacht hat, 20 Jahre lang, dann versteht man, dass es keine Pointe ist. Er war Bergungstaucher, er zerschnitt und schweißte havarierte Schiffe. Am Meeresgrund, halber Meter Sicht, er musste fühlen und tasten. Dann war ihm das genug, er hat sich in den Hafen versetzen lassen. Im Hafen ist es ruhig. +Auf der "Andromeda" steigt jetzt ein Lotse zu. Er hilft dem Kapitän bei der Einfahrt in den Hafen. Der Lotse nimmt per Funk Kontakt mit der "Bugsier 5" auf. "Vier Strich Backbord", "Fünf halbe Backbord", "Langsam voraus." Die "Bugsier 5" zieht die "Andromeda" an einem Stahlseil zum Terminal, die Besatzung bleibt cool, als sei das eine Hafenrundfahrt, Kapitän, Ingenieur, Matrose. Der Matrose, noch in der Ausbildung, greift zum Fernglas und schaut hoch zur "Andromeda". +Kapitän, Ingenieur, Matrose unterhalten sich über die alten Zeiten. Als die Seefahrt noch romantisch war. Das ist vorbei. Jetzt herrscht Zeitdruck und Lohndumping. Wenn ein Schiff in Hamburg anlegt, dann fahren die Seemänner per Shuttlebus ins "Duckdalben", den Seemannsclub im Hafen. Sie trinken ein Astra und skypen mit ihrer Frau. +Matrose und Kapitän reden über den Schülerpraktikanten: Er muss noch ein paar Knoten lernen. Sie reden über die Containerbrücken an Land, die früher mal aus Deutschland kamen und die heute die Chinesen bauen. Die "Andromeda" liegt jetzt an der Kaimauer. Sie wird betankt. Riesige Greifarme schnappen sich Container für Container, setzen sie an Land, ihre Nummer wird geprüft. Die Weltherrschaft der Container, das ist eine Abfolge sehr schneller und präziser Arbeitsschritte. +Der Lotse funkt an die "Bugsier 5": "Dann sag ich schönen Dank, ihr habt das ganz prima gemacht." +"Jou", sagt Kapitän Hempel, "auch prima gemacht." diff --git a/fluter/die-hungrigen-und-die-satten-rezension.txt b/fluter/die-hungrigen-und-die-satten-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..499ada932bd0b9a42c23050cd83cbc3f97068260 --- /dev/null +++ b/fluter/die-hungrigen-und-die-satten-rezension.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Timur Vermes' Gesellschaftssatire "Die Hungrigen und die Satten" ist 509 beklemmende Seiten lang und bei Eichborn erschienen +"Engel im Elend" heißt eine Fernsehshow, die Nadeche Hackenbusch beim Privatsender MyTV moderiert. Darin sucht sie ein deutsches Flüchtlingsheim heim, um Güte und Mitmenschlichkeit zu verbreiten. Der Quotenerfolg dieses Konzepts führt die Fernsehmacher auf eine Idee: Sie schicken Nadeche in ein riesiges Flüchtlingslager irgendwo in Afrika (die Handlung spielt in einer nicht genau definierten, aber nicht allzu fernen Zukunft), um "Engel im Elend" in größerem Maßstab fortzusetzen. +Hier beginnen die Dinge eine Eigendynamik anzunehmen. Nadeche verliebt sich in einen jungen Mann, der schon lange davon träumt, zu Fuß aus dem Lager in ein besseres Leben aufzubrechen. Auf sich allein gestellt, wäre dies ein hoffnungsloses Unterfangen. Doch wenn man einen großen Flüchtlingszug organisierte? Mit der Unterstützung eines wirkmächtigen Lager-Mafiosos gelingt es, eine Logistik auf die Beine zu stellen, die es schließlich hundertfünfzigtausend Menschen ermöglichen wird, an einem großen Trek nach Deutschland teilzunehmen. Und alles zu Fuß. Ganz vorn mit dabei: Nadeche Hackenbusch, die wild entschlossen ist, das Los der Menschen zu teilen, und der Fernsehsender MyTV, dessen Verantwortliche von den Geschehnissen zwar komplett überrollt werden, aber doch dankbar auf den Zug aufspringen, da die Quote von "Engel im Elend" ins Phantastische steigt. +Timur Vermes kann sein Metier. Als gestandener Boulevardjournalist weiß er genau, wie man auf eine Pointe hinschreibt und welche scheinbar nebensächlichen Details einen Text süffig und lustig machen. In diesem Roman zeigt er aber auch, dass er die große Linie halten kann. Mit der Wanderung der Hundertfünfzigtausend entwirft er ein Szenario, das höchst satirisch ist – und dennoch nicht komplett unrealistisch: Mehrere Tausend Mittelamerikaner sind geradezu Fuß auf dem Weg in Richtung USA. Während sie vor Armut, Hunger und Gewalt fliehen, kündigt US-Präsident Trump an, bis zu 15.000 Soldaten an die Grenze schicken zu wollen, um die Migranten von der Einreise abzuhalten. +Vermes geht es nicht darum, ein Schreckensbild zu zeichnen, sondern diejenigen als gefährliche Hysteriker zu entlarven, denen als einzige Antwort auf die Fluchtbewegungen das Schließen der Grenzen einfällt. Ironische Pointe: Als einziger realistisch argumentierender Politiker, der sich mit der Einwanderung als Tatsache abgefunden hat und schon mal ein Konzept für die dauerhafte, geordnete Eingliederung neuer Menschen in die Gesellschaft entwirft, tritt im Roman der Innenminister auf. +Und Achtung: Bitter ist auch das Ende des Romans. Aber so muss es halt manchmal sein, wenn man ein Szenario konsequent zu Ende denkt. + +Titelbild: Eugenio Grosso/Redux/laif diff --git a/fluter/die-im-dreck-wuehlen.txt b/fluter/die-im-dreck-wuehlen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..79756763eec30f71e4f9ca85f5388b5fb4f4993d --- /dev/null +++ b/fluter/die-im-dreck-wuehlen.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Zwei Jahre später ist Pro Publica eines der interessantesten Projekte in der ansonsten von der Wirtschaftskrise ziemlich verwüsteten amerikanischen Nachrichtenlandschaft. Rund 30 Reporter hat Steiger von renommierten Zeitungen wie der "Washington Post" oder der "New York Times" für das revolutionäre Projekt abgeworben. Finanziert wird Pro Publica durch eine jährlich zehn Millionen Dollar betragende Spende der Sandler Foundation sowie kleineren Beträgen der MacArthur Foundation und der Atlantic Philanthropies. Revolutionär ist jedoch nicht nur die Anwendung des Stiftungsrechts im Medienbetrieb, sondern auch die Verbreitung der Storys: Die Non-Profit- Publizisten haben in ihrem ersten Arbeitsjahr Skandale und Missstände im Gesundheitswesen und bei den staatlichen Arbeitslosenversicherungen aufgedeckt, haben nachgewiesen, dass Ölfirmen bei Probebohrungen das Grundwasser verseuchen – und die Regierung wegschaut. SolcheNachrichten veröffentlichen sie auf der Webseite propublica.org, auf der oben rechts ein ungewöhnlicher Button steht: "Steal our stories", fordert Pro Publica die Seitenbesucher auf. Denn Pro Publica veröffentlicht seine Nachrichten unter einer Creative- Commons-Lizenz, sodass sie jederkostenfrei veröffentlichen und verwenden darf, solange ein Verweis auf nund ein Link zur Quelle erfolgt. Dieses Modell passt nicht nur zur Gratismentalität des Internets, es garantiertauch eine möglichst große Verbreitung der Nachrichten. Manchmal schließt Pro Publica auch exklusive Verträge mit großen Medien, um eine besonders wichtige Story in den Schlagzeilen zu platzieren. Als sie zum Beispiel die teure und zweifelhafte Propaganda der Bush-Regierung in Nahost untersuchten, lief die Pro-Publica- Reportage in der Sendung "60 Minutes" auf CBS, dem heiligsten Sendeplatz des US-Medienbetriebs vor rund 20 Millionen Zuschauern. +Richard Tofel hat als Herausgeber beim "Wall Street Journal" gearbeitet, und neben der Arbeit an Vertriebszahlen und Verträgen noch Zeit gefunden, ein Buch über die "Erfindung des modernen Journalismus" zu schreiben. Später folgte er Steiger zu Pro Publica, um ebendiesen modernen Journalismus zu retten – oder was davon noch übrig ist. Wenn er in der U- Bahn zur Arbeit fährt, erzählt Tofel, sieht er um sich herum nur noch Leute mit iPods und mobilen DVD-Playern anstelle von Zeitungen. +Die amerikanischen Printmedien sind von der Krise noch härter betroffen als andere Branchen. Sie leiden nicht nur unter der konjunkturellen Delle, sondern haben auch strukturelle Probleme. Seit Jahren wandern Leser und Anzeigen ins Internet ab – und hinterlassen rote Zahlen in der Bilanz. Große Zeitungen wie die "Chicago Tribune", die "Los Angeles Times" oder der "Philadelphia Inquirer" mussten in den letzten Monaten Insolvenz anmelden. Die "Rocky Mountain News" in Denver hat vor Kurzem dichtgemacht, und auch der berühmte "San Francisco Chronicle" wird vielleicht bald schließen. Eine amerikanische Großstadt ohne Tageszeitung – das ist im Jahr 2009 längst keine absurde Vorstellung mehr. +Richard Tofel erinnert sich noch gut daran, wie er mit dem Internet Bekannt gemacht wurde. Es war 1993, sagt er, und die Techniker des "Wall Street Journal" zeigten ihm Webseiten und Hyperlinks. Besonders gut erinnert er sich an die Demonstration der Tastenkombinationen Strg C und Strg V – und wie einfach es plötzlich war, einen Artikel zu kopieren. "Das wird unser Geschäft stark verändern. Wir werden weniger Geld verdienen", hat Tofel damals gesagt. Aber lange wollte das niemand hören. Die Printmedien lieferten während des wirtschaftlichen Booms spektakuläre Renditen – und um die hohen Erwartungen von Investoren und Börsenanalysten zu befriedigen, begannen die Medienkonzerne und Eigentümerfamilien bereits in den guten Tagen damit, die Budgets zu kürzen, Auslandsbüros zu schließen und teure Angestellte wie die investigativen Reporter zu entlassen. Die Krise beschleunigt diesen Zerfallsprozess noch weiter. Im vergangenen Jahr verloren in den USA 16.000 Journalisten ihre Arbeit – ein Jobabbau von mehr als 20 Prozent. +Pro Publica bietet den investigativen Reportern eine neue Heimat. Der Newsroom liegt im 23. Stock eines älteren Büroturms in Downtown Manhattan. Reporter arbeiten in ihren Cubicles, das Klappern der Keyboards und aufgeregte Stimmen erfüllen die Luft. Die Pro-Publica-Redaktion sieht mit ollem Teppich, Neonlicht und Paul Steiger in seinem übergrossen Tweed-Jackett, aus wie das Filmset von "All the President's Men", in dem Dustin Hoffman und Robert Redford die Watergate-Aufdecker Woodward und Bernstein spielen, die Präsident Nixon zu Fall bringen und die Demokratie retten. Auch wenn Flachbildschirme und teure Espressomaschinen fehlen, bezeichnen die PP- Reporter ihren Arbeitsplatz als Paradies. "Es geht nicht um Einschaltquoten und Auflagentrends", meint einer, "sondern um das, was in der Geschichte drin steht." Der Job des investigativen Reporters ist nicht besonders glamourös, er analysiert nicht vor der Kamera die Lage der Nation, sondern arbeitet sein Adressbuch durch, hängt am Telefon, spricht mit potentiellen Informanten, liest Tausende Seiten von Dokumenten – und findet manchmal trotz drei Wochen Arbeit nichts raus. Paul Steiger bemisst die Leistung seines Unternehmens gerne in "story impact". Hat die Veröffentlichung einer Skandal- Story auch Folgen? Sprechen die Menschen darüber? Ist jemand zurückgetreten? Wird das Problem behoben?Ähnlich wie Think Tanks und politische Stiftungen, die versuchen, die Debatte in Washington zu beeinflussen, agiert Pro Publica als unabhängiger Akteur auf dem Nachrichten- Markt, ein "Dig Tank". Statuten und ein Redaktionsbeirat sollen sicherstellen, dass die Geldgeber keinen Einfluss auf die Themensetzung und Arbeit der Redaktion haben. Pro Publica soll ja kein Sprachrohr eines liberalen Milliardärs sein, sondern sich laut Tofel um große Themen wie Gesundheit und Menschenrechte kümmern, "Themen mit einer gewissen moralischen Kraft". Anfang 2009 berichteten sie, dass amerikanische Psychologen und Mediziner an der Planung und Durchführung von CIA-Folter- Verhören beteiligt waren. Die Story dominierte die Nachrichten in Washington – und selbst Obama musste vor die Presse treten. Wer soll diese Aufgabe des so genannten Muckraking (etwa: im Dreck wühlen) übernehmen, wenn die großen Zeitungen wie "New York Times" und "Washington Post" ums Überleben kämpfen, und immer mehr Stellen einsparen müssen? Das Non-Profit-Konzept von Pro Publica ist auch ein großes Experiment, das klären könnte, wie man Nachrichtenproduktion und Recherche in Zukunft organisieren und finanzieren könnte. David Swensen und Michael Schmidt, Finanzprofis der Universität Yale und erfahren im Non-Profit-Business, forderten im Januar 2009 in der "New York Times", dass "unsere am meisten geschätzten Nachrichtenquellen mit einem Stiftungsvermögen ausgestattet werden, so dass sie von ihrem überkommenen Geschäftsmodell befreit werden, und einen permanenten Platz in unserer Gesellschaft erhalten, genau wie die amerikanischen Universitäten und Museen". Der "New Yorker " fragte wenig später: "Bill (Gates)? Warren (Buffet)? Ihr könnt die Meinungsfreiheit retten! Wer spendet die erste Milliarde?"Das Modell Pro Publica findet viele Mitkämpfer. Das liberale Magazin "Mother Jones" ist ebenfalls als Stiftung organisiert. Und in Minnesota gibt es seit Kurzem die "MinnPost", eine Nonprofit-Online-Lokalzeitung, die sich durch Beiträge von Stiftungen, wohlhabenden Bürgern und etwa 900 Leser-Mäzenen finanziert. Manche in den USA träumen bereits von öffentlich-rechtlichen Zeitungen und der Non-Profit "New York Times", aber im Heimatland des freien Marktes kommen solche Ideen nicht besonders gut an. Auch Paul Steiger ist skeptisch: "Ich glaube, dass Non-Profit einige Lücken schließen kann", sagt er, aber die Journalisten müssten sich auch neue Dinge für neue Zeiten einfallen lassen, und nicht darauf hoffen, dass der Status Quo in einer Stiftung konserviert werde. Der Mann der alten Schule fühlt sich im neuen Medium Internet deshalb sehr wohl, schätzt die Info-Grafiken und Hyperlinks, und baut gerade ein Bürgerjournalisten-Programm auf, mit dem Leser zu Informanten werden sollen. "Ich glaube nicht, dass Bürgerjournalisten und Blogger allein die traditionellen Aufgaben der Zeitungen übernehmen können", sagt sein Kollege Richard Tofel,"aber manchmal wissen Leser mehr als die Autoren. Wir sollten ihnen zuhören."Tobias Moorstedt (32) ist Journalist und hat vor Kurzem ein Buch über digitale Medien in den USA veröffentlicht (erschienen im Suhrkamp Verlag) diff --git a/fluter/die-initiative-haltung-hamburg-und-der-g20-gipfel.txt b/fluter/die-initiative-haltung-hamburg-und-der-g20-gipfel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a7bb75c385df2f14a1967151c8a6115b3be5cbd3 --- /dev/null +++ b/fluter/die-initiative-haltung-hamburg-und-der-g20-gipfel.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +An den Samstagen bis zum Gipfel sind wir mit einer Roadshow in der Stadt unterwegs. Mit unserem Bus stehen wir in der Haupteinkaufsstraße oder auf den Wochenmärkten in den Stadtteilen und ermuntern die Passanten, ihre Meinung auf ein Schild zu schreiben und sich damit fotografieren zu lassen. Die Bilder sammeln wir auf unserer Website. +"Ich habe Respekt vor diesem Einsatz" +Sebastian, 23, ist Polizist und muss beim Gipfel einen Demonstrationszug absichern. Er macht sich Gedanken: Bleibt es friedlich? -->Zum Artikel +Als Haltung.Hamburg wollen wir keine Richtung vorgeben. Wir verstehen uns als parteiunabhängig. Man darf bei uns für den Gipfel sein oder dagegen, G20-Befürworter oder G20-Kritiker sind gleichermaßen willkommen. Unser Ziel ist es, möglichst viele Menschen mit einem sehr niedrigschwelligen Angebot zu befähigen, eine Haltung einzunehmen. Ich will nicht ausschließen, dass der eine oder andere sich an unserer Fotoaktion nur beteiligt hat, weil wir unter den Teilnehmern Festivaltickets verlosen. Aber das finde ich legitim, wenn wir die Menschen so dazu bewegen, über dieses Ereignis in ihrer Stadt nachzudenken. +Die Meinungen, die wir bekommen, sind vielfältig. Viele sehen den Gipfel tatsächlich eher kritisch, meistens übrigens gar nicht wegen des Treffens an sich, sondern wegen der Auswirkungen: Straßen werden gesperrt, der Verkehr mit Bus und Bahn ist eingeschränkt, das tägliche Leben wird für ein paar Tage für viele Menschen in Hamburg in jedem Fall komplizierter. +Für mich übrigens auch: Meine Digitalagentur befindet sich mitten im Schanzenviertel, unweit des Tagungsortes also. Ich werde meine Mitarbeiter wohl ein paar Tage Homeoffice machen lassen. +Viele Menschen aus meinem privaten Umfeld wollen an dem Wochenende sogar Hamburg verlassen, was fast wie eine Flucht wirkt. Für mich ist das keine Option. Ich finde, wir sollten uns von diesem Gipfel nicht die Stadt wegnehmen lassen und das Feld den Gewalttouristen überlassen, die von überall anreisen werden, um sich Straßenschlachten zu liefern. +Ich weiß, dass die meisten Gipfelgegner friedlich protestieren wollen und die Krawallmacher eine Minderheit sind. Aber für mich persönlich ist eine Demonstration nicht das passende Mittel, um meine Meinung kundzutun. Es ist vielleicht etwas irrational, aber auf mich wirken große Demonstrationen immer etwas bedrohlich, egal wofür oder wogegen sie sich richten: so viele Menschen, so dicht zusammen, die alle in dieselbe Richtung durch die Straße ziehen. Ich habe deswegen einen anderen Plan: Ich gehe zu einem Familienfest in der Stadt und zeige so, dass ich eine Haltung zum G20-Treffen habe. + diff --git a/fluter/die-kleinen-dinge-im-leben.txt b/fluter/die-kleinen-dinge-im-leben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..94fc541158e4c5f11912f30adb2cb69b55990826 --- /dev/null +++ b/fluter/die-kleinen-dinge-im-leben.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Im Bier, im Badewasser, überall kann Mikroplastik sein. Gut dass es Momente gibt, in denen einem das völlig egal ist +Es geht nicht um Wasserflöhe oder Algen. Sie suchen nach Plastik, nach winzigen Kunststoffpartikeln. Schon seit den 1970er-Jahren beobachtet Löffler am Institut das Bodenseewasser. "Aber Mikroplastik", sagt er, "ist für uns ein ganz neues Thema." Er wartet auf die Ergebnisse der Experten. Im Genfer See, das hatten die Schweizer Wissenschaftler erst kurz zuvor herausgefunden, ist das Wasser voller winziger Plastikpartikel. +Dass Einkaufstüten am Wegesrand und Einwegflaschen in Bachläufen ein Umweltproblem sind, ist offensichtlich. Doch erst in jüngster Zeit rücken Kunststoffstückchen in den Blickpunkt, die so winzig sind, dass Forscher sie lange übersehen haben. Dafür entdecken sie sie nun fast überall: in der Donau, im Gardasee, in Wattwürmern, im Kot von Seemöwen, in Muscheln. Kürzlich sorgten Meldungen für Aufsehen, wonach Plastikteilchen sogar in Mineralwasser, Bier und Bienenhonig gelangt sind. +Als Mikroplastik werden Kunststoffpartikel bezeichnet, die für das Auge meist unsichtbar und nur mit komplizierten Verfahren nachzuweisen sind. "Wir haben derzeit eine Vielzahl von Funden", sagt Claus Gerhard Bannick vom Umweltbundesamt, der das Thema dort betreut. "Aber die Forschung steht noch sehr am Anfang." Giftig ist der Großteil des Plastiks in der Regel nicht. Trotzdem kann es gefährlich werden, weil sich an den Kunststoffstücken Umweltgifte wie Pestizide festsetzen. Das passiert grundsätzlich auch bei anderen Partikeln. Doch Plastik unterscheidet sich von dem meisten, was sonst noch im Wasser treibt: Es verrottet nicht. Das Material etwa, aus dem eine Plastikflasche besteht, braucht nach Angaben des Umweltbundesamtes bis zu 450 Jahre, um sich zu zersetzen. "Da Kunststoff so langlebig ist, können sich Schadstoffe dort besonders stark anreichern", sagt Bannick. +Sebastian Pörschke forscht am Fraunhofer-Institut UMSICHT in Oberhausen an Alternativen zu Plastik, das in Produkten vorkommt, in denen man es gar nicht vermuten würde. In Duschgel zum Beispiel. Pörschke hat es selbst getestet, Duschgel mit Wasser verdünnt in ein Sieb gegeben, dessen Poren halb so dünn sind wie ein menschliches Haar. Stunde hat der Ingenieur daher warten müssen, bis das Gel durchgesickert war. Zurück blieb ein weißes Pulver, "wie Salz oder Zucker". +Der Labortest bestätigte: Polyethylen. Der Stoff, aus dem auch die im Meer treibenden Müllsäcke und Verpackungen sind. 500 Tonnen Mikroplastik werden deutschlandweit nach Schätzungen des Hürther Nova-Instituts in Gesichtscreme, Duschgel, Zahnpasta und anderen Kosmetikprodukten verarbeitet. Die kleinen Körnchen scheuern Schuppen von der Haut und Plaque von den Zähnen. Dann fließen sie durch den Abfluss im Waschbecken in die Kanalisation. +Und kommen zum Beispiel bei Birgit Packebusch an. Sie arbeitet als Wasseranalytikerin im Nürnberger Klärwerk. Als sie davon hörte, dass Forscher inzwischen sogar im Bodensee nach unsichtbaren Plastikpartikeln suchen, war sie alarmiert: "Das Abwasser ist natürlich ein sehr relevanter Weg, über den Mikroplastik in die Umwelt gelangen kann", sagt Packebusch. Sie schaute sich das Wasser an, das das Klärwerk am Ende in die Pegnitz gibt, den Fluss, der durch Nürnberg fließt. Das Ergebnis: 6.000 Plastikpartikel pro Liter waren darin. Ist das viel? Ist das wenig? Man weiß es nicht. Packebusch fand keine vergleichbaren Zahlen von anderen Kläranlagen, das Thema spielte bisher kaum eine Rolle. Es gibt zwar Vorgaben, wie sauber Wasser sein muss, wenn es aus den Kläranlagen kommt; für Kleinstplastik existieren bislang aber keine Grenzwerte. +Packebusch schätzt, dass das Klärwerk 90 Prozent der Kunststoffstückchen aus dem Abwasser fischen kann. Das meiste bleibt im Klärschlamm hängen, der anschließend in speziellen Müllverbrennungsanlagen vernichtet wird. Damit ist ein Teil des Plastiks aus der Umwelt. Zumindest in Nürnberg. Denn selbstverständlich ist das keineswegs: Experte Bannick vom Umweltbundesamt schätzt, dass deutschlandweit immer noch etwa die Hälfte des Klärschlammes zum Düngen in der Landwirtschaft verwendet wird – die Plastikstückchen aus Zahnpasta und Duschgel landen so direkt in der Umwelt. Die große Koalition hat in ihrem Regierungsvertrag immerhin angekündigt, Klärschlamm als Düngemittel verbieten zu wollen. +Aber was ist mit den 6.000 Plastikpartikeln pro Liter, die die Nürnberger Kläranlage bislang nicht aus dem Abwasser bekommt? Man könnte das Wasser durch noch feinere Filter laufen lassen, solche, die man auch benutzt, um Trinkwasser aufzubereiten. Aber dann müssten die Gebühren drastisch steigen, sagt Packebusch. Man könnte das Wasser länger in den Klärbecken ruhen lassen, damit sich mehr Partikel absetzen. "Aber das bräuchte ewig. Und bei den Abwassermengen, die Tag für Tag bei uns ankommen, müssten wir riesige zusätzliche Flächen haben." Am besten wäre es daher, wenn gar nicht erst so viel Plastik in den Klärwerken ankäme. +Plastik im Duschgel ist eigentlich unnötig, findet Sebastian Pörschke vom Fraunhofer-Institut in Oberhausen. Er hat Versuche mit dem Wachs des Carnaubabaums gemacht, einer Palme aus Brasilien. Pörschke hat das Wachs schockgefroren, anschließend gemahlen und untersucht, ob es ähnlich auf der Haut wirkt. Dafür hat er das Wachspulver in einen trinkglasgroßen Topf gefüllt und in eine Vorrichtung gestellt, die wie ein Rührmixer aussieht. Einen mit Kunsthaut überzogenen Metallfinger taucht das Gerät in das Pulver. 600 Mal pro Minute dreht die Maschine den Finger, mit 60 Umdrehungen kreist der Topf in die andere Richtung. +Pörschke hat den Versuch mit Sand und Plastik wiederholt und anschließend jedes Mal unter dem Mikroskop geschaut, was mit der Kunsthaut passiert ist. Der Sand hinterließ beim Scheuern tiefe Riefen. Die Plastikkörnchen nicht. "Beim Wachs sah es genauso aus", sagt Pörschke. "Man könnte es also genauso gut in der Kosmetik einsetzen." Nur ein Problem gibt es: Plastik ist unschlagbar billig. Die Wachskörnchen wären für die Industrie doppelt so teuer, schätzt Pörschke. +Und die Kosmetik wäre auch nur ein Anfang. Aus einem Fleecepulli lösen sich in der Waschmaschine Polyester- und Polyacrylfasern; das Umweltbundesamt schätzt, dass nach jedem Waschgang bis zu 2.000 davon in die Meere gelangen, da sie von den Klärwerken nicht zurückgehalten werden. Aber nicht nur beim Waschen gelangt Plastik in die Umwelt: 110.000 Tonnen Reifenabrieb im Jahr verlieren Autos auf Deutschlands Straßen – das ist gut 200-mal mehr Kunststoff, als in Kosmetik verarbeitet wird. Der Regen spült es in die Kanalisation. +Oder Baustellen. Claus Gerhard Bannick hat neulich auf dem Weg zur Arbeit im Umweltbundesamt Bauarbeiter beim Zuschneiden von Styroporplatten beobachtet – und die unzähligen weißen Kügelchen, die der Wind umherwehte. "Ich gehe mit ganz anderen Augen durch die Landschaft, seit ich das Thema betreue", sagt er. Und ständig entdeckt er – Plastik. Da geht es ihm also ganz ähnlich wie Herbert Löffler, dem Biologen am Bodensee. +Bernd Kramer schreibt als freier Autor unter anderem für Die Zeit, Neon und taz. Als studierter Volkswirt und Soziologe beschäftigt er sich in seinen Texten gerne mit den großen Fragen der Gesellschaft. Es wurde Zeit, dass es sich auch mal den ganz kleinen Dingen des Lebens journalistisch zuwendet. Was er bravourös getan hat. diff --git a/fluter/die-kraftprobe.txt b/fluter/die-kraftprobe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..37a6c25b5e8481f65cbdd7dd43c35a187bc21ddd --- /dev/null +++ b/fluter/die-kraftprobe.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Damit wollte sie der KWR diese Strominfrastruktur abkaufen. Eine große Werbeagentur entwickelte kostenlos eine Kampagne, die das Dorf mit einem Schlag berühmt machte: Die Schwarzwälder wurden zum neuen Symbol der seit den Neunzigern nur noch vor sich hin dämmernden Anti-AKW-Bewegung. Der Gemeinderat war beeindruckt, er wollte das Stromnetz an die EWS verkaufen. Die Sladeks und ihre Mitstreiter jubelten. Doch dann kam der Schlag: Die Gegner der Rebellen wollten mit einem zweiten Bürgerentscheid alles rückgängig machen. Zu ihnen gehörte der größte Arbeitgeber im Ort, die Kunststoffwerke Frisetta, der um sein solides Image bangte. Und natürlich der Stromversorger, der verbreiten ließ, dass die Schönauer bald im Dunkeln sitzen würden. Die Bürger zögerten. Wem sollten sie eher glauben? Dem Konzern, der sie jahrelang versorgt hatte, oder einer Hand voll idealistischer Bürger, deren Hauptfiguren eine Hausfrau und ein Arzt waren? "Strom hat etwas Mystisches", sagt Michael Sladek, "das war ein Problem. Wir mussten Gefühle für eine Sache wecken, unter der sich kein Mensch wirklich etwas vorstellen konnte." Andere hätten nun vielleicht aufgegeben. Die Sladeks kochten Marmelade. Auf die Gläser klebten sie Zettel mit einem großen "Nein" – Nein zum Bürgerentscheid gegen die Sladeks. Damit zogen sie von Haustür zu Haustür. Vielleicht haben sie es so geschafft, Gefühle für leblosen Strom zu wecken – und wenn es die Angst vor einem zweiten Tschernobyl war. Vielleicht ging es den Menschen auch gar nicht so sehr um Umweltschutz, sondern darum, einmal im Leben einen mächtigen Gegner zu besiegen. Nach der Abstimmung – 52 Prozent stimmten für die EWS – kam ein Mann strahlend auf Michael Sladek zu: "Herr Doktor, zum ersten Mal im Leben gehöre ich zu den Gewinnern", sagte er.  Heute sitzt Ursula Sladek mit 15 Mitarbeitern im EWS-Gebäude am Ortseingang und handelt mit Strom, zehn Stunden täglich. Der Bund der Energieverbraucher stellte 2004 fest, dass der umweltfreundlichste Strom aus Schönau kommt. Die EWS produzieren den Strom nicht selbst, sie kaufen ihn von Betreibern, die nichts mit der Atomwirtschaft zu tun haben. Außerdem fördern sie "Rebellenkraftwerke" – Privatleute, Kirchen oder Schulen, die mit Solardächern oder Blockheizkraftwerken im Keller Ökostrom produzieren. 820 solcher Kraftwerke gibt es bereits, ihre Betreiber bekommen den "Sonnencent" ausbezahlt, der im Strompreis der EWS enthalten ist. Wer den Strom, den sein Solardach erzeugt, an die EWS verkauft, bekommt laut einer Rechnung des Bundes für Energieverbraucher sechs Cent mehr pro Kilowattstunde, als gesetzlich vorgeschrieben ist. 23000 Kunden beziehen ihren Strom heute bundesweit von EWS, darunter der Schokoladenhersteller Ritter Sport. Jeden Monat kommen ein paar hundert dazu. Werbung braucht es dafür nicht – der Mythos um die Stromrebellen hält an. +Außerhalb des EWS-Büros ist in dem Schönau von heute nicht mehr viel Rebellenstimmung zu spüren. In der Kneipe, in der damals flammende Reden gehalten wurden, sitzen jetzt Männer um den Stammtisch und müssen überlegen, warum sie für die EWS gestimmt haben. "Ich wollte die Macht dieses Monopolisten brechen", sagt einer, sein Nachbar zuckt mit den Schultern: "Ist lange her. Wenn der Strom aus der Steckdose kommt, sieht man eh nicht, was davon der Atomstrom ist und was Öko." Schönau wird einmalig bleiben. Nicht nur, weil es mindestens zwei Sladeks braucht, um ein verschlafenes Dorf so aufzurütteln. "Keine Gemeinde muss ihr Stromnetz kaufen. Das macht überhaupt keinen Sinn", sagt Georg Erdmann, Energieexperte an der Technischen Universität Berlin. "Seit der Strommarkt liberalisiert wurde, kann jeder Bürger den Stromanbieter wechseln, wie es ihm passt. Wenn die in Schönau das nicht verstanden haben, begreifen sie den Strommarkt nicht." Ursula Sladek schüttelt den Kopf. "Wir sagen ja gar nicht: Bürger, kauft eure Netze. Wichtig ist doch vor allem zu sehen, dass man zusammen etwas erreichen kann. Wenn das in diesem Kaff hier geht, geht es überall." diff --git a/fluter/die-kriegerin.txt b/fluter/die-kriegerin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d255e07bccf1f3307a033493973d65f08ab8d82c --- /dev/null +++ b/fluter/die-kriegerin.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Es dauerte nur ein 
paar Wochen, dann war sie Soldatin des bewaffneten Arms der Kurdenpartei PYD. Genauer gesagt: der Volksverteidigungseinheiten, die auch mit Frauengruppen (YPJ) in den syrischen Kurdengebieten kämpfen. In Deutschland sehen manche diese Truppe kritisch, weil sie auch Minderjährige rekrutiert haben soll und ihr (wie so ziemlich allen Parteien in diesem Bürgerkrieg) Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Für andere hingegen stellt sie neben den irakischen Peschmerga, die sogar von Deutschland ausgebildet und bewaffnet werden, eine der verlässlicheren Gruppierungen dar. +Obwohl die kurdische Gesellschaft nach wie vor sehr patriarchalisch ist, 
sind Soldatinnen vollkommen akzeptiert. Schätzungen zufolge kämpfen zwischen 10.000 und 26.000 von ihnen aufseiten der kurdischen Einheiten. Nachprüfen lassen sich solche Zahlen nicht. Die Frauenbrigaden stoßen im Westen auf großes Medieninteresse, in diesem Krieg werden sie natürlich auch zu Propagandazwecken benutzt, um für die kurdische Sache zu werben. +Seit drei Jahren führt Siham nun dieses Leben, das aus einer Mischung aus Todesgefahr und Langeweile besteht. Stundenlange Feuergefechte, dann wieder wochenlanges Abwarten und Wacheschieben. Jeder Tag ist anders, erzählt Siham. "Wenn wir nicht kämpfen, diskutieren wir oft gemeinsam mit den Männern über unser Leben. Es ist nicht alles traurig und ernst. Manchmal feiern wir sogar, wir tanzen und singen." +Als Soldatin weiß Siham, dass jeder Tag ihr letzter sein kann. Erst kürzlich wurde sie in einer Schlacht verwundet. Auf der offiziellen Webseite der Frauenkampfverbände werden Dutzende Porträts gefallener Kämpferinnen ausgestellt. Märtyrerinnen heißen sie 
im offiziellen Sprachgebrauch. Erst nach ihrem Tod werden die Klarnamen und die Herkunft der Frauen offenbart. Auch Ausländerinnen schließen sich den kurdischen Einheiten an. Im März 2015 starb eine 19-jährige deutsche Kommunistin im Gefecht. +Siham beteuert, dass es in den Selbstverteidigungseinheiten keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern gebe. "Mit unserem Kampf beweisen wir, dass wir genauso viel wert sind wie Männer." Sie hofft, dass die Bevölkerung in den Kurdengebieten in Sachen Gleichberechtigung von der YPJ lernt. "Wir wollen eine Zivilgesellschaft, in der Männer und Frauen dieselben Rechte haben. Erst wenn die Frauen frei sind, werden auch die Männer frei sein",  sagt sie. diff --git a/fluter/die-kurden-von-warabistan.txt b/fluter/die-kurden-von-warabistan.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4892013d07557dc05e3d34b79d421261f6e92534 --- /dev/null +++ b/fluter/die-kurden-von-warabistan.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Viele machen die Erfahrung, von nationalistisch geprägten Menschen in der japanischen Gesellschaft nicht akzeptiert zu werden. Zumindest indirekt: Das japanische Wort "Meiwaku" steht für die Störung der Harmonie, Unannehmlichkeiten, die Angst, dem Gesprächspartner etwas abzuschlagen. Eine goldene Regel in vielen Bereichen der japanischen Gesellschaft: Ein "Nein" wird oft mit einer komplizierten Abfolge von Wörtern und Ausdrücken umgangen, die im Endeffekt "nein" bedeuten – direkt ausgesprochen wird es aber nicht. +So etwas Ähnliches widerfährt auch den Bewohnern von Warabistan. Sie bekommen zwar kein politisches Asyl, dafür aber eine "Sondererlaubnis zum Bleiben". Für einige Monate wird sie ihnen immer wieder ausgestellt, Arbeiten ist währenddessen verboten, sie erhalten keine staatlichen Zuwendungen. Es bleiben nur illegale Jobs, die die Kurden völlig rechtlos zurücklassen: Sie können jederzeit entlassen werden. Eine Wohnung zu mieten, eine Handynummer zu beantragen, Gesundheitsversorgung – all das ist schwer möglich. +Warabi liegt im Norden Tokios +Von links: Ayas, zwei Jahre alt, Huseyin, drei, Mazlum, 24, seine Schwester Suzan, 19 und ihr Ehemann. Mazlum kam vor zehn Jahren nach Japan. Er arbeitet in einer Abrissfirma – illegal. Er könnte jederzeit abgeschoben werden +So sieht die sehr provisorische Aufenthaltsgenehmigung aus. Sie ist nur einen Monat gültig. Mazlum darf sein Wohnviertel demnach nicht verlassen und nicht arbeiten + +Die meisten kurdischen Asylsuchenden arbeiten illegal in der Baubranche, einem wichtigen Wirtschaftszweig des Landes. Die Nachfrage nach Arbeitskräften auf Baustellen ist riesig, besonders seit 2011 ein Erdbeben und darauf folgende Tsunamis den Nordosten des Landes verwüstet haben. Dieser Arbeitskräftemangel veranlasste Ministerpräsident Shinzo Abe zu der Erklärung, dass Japan mehr in ältere und weibliche Arbeitskräfte investieren sollte, bevor man die Einwanderer berücksichtige. Um japanische Arbeitskräfte für Baustellen zu gewinnen, rief die Regierung eine Webseite ins Leben, die mit dem Slogan wirbt: "Frauen, die auf dem Bau arbeiten, sind cool!" +Mehmet auf dem Weg zur Arbeit. Er kam vor sechs Jahren nach Japan +Die meisten Kurden arbeiten wie Mehmet und Mazlum illegal für Bau- und Abrissfirmen +Gokhan und Feti Waliking sind echte Exoten auf den Straßen von Tokio + +Auf der anderen Seite wünschen sich immer mehr japanische Unternehmer, dass die Regierung ihre Einwanderungspolitik reformiert. Mit dem Beginn der Arbeiten für die Olympischen Spiele in Tokio 2020 wird die Nachfrage nach Arbeitskräften noch weiter steigen. Spätestens dann hat der Bausektor ein Problem. Unter Unternehmern scheint sich die Einstellung gegenüber Zuwanderern bereits zu verändern: Bei einer Umfrage unter 259 großen japanischen Unternehmen befürworteten 76 Prozent die Öffnung des Landes für Einwanderer. +Japan ist einer der großzügigsten Spender für internationale Entwicklungshilfeprojekte, besonders im Flüchtlingsbereich. Im Jahr 2016 etwa war das Land der viertgrößte Geldgeber des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen. Japan spendet lieber an internationale humanitäre Organisationen, als in die Integration von Flüchtlingen zu investieren, die seit Jahren in Japan leben. Und arbeiten. +Yakup Baran arbeitet bei Happy Kebab als Filialleiter. Er hat eine Japanerin geheiratet – fast der einzige Weg, als Kurde in Japan eine permanente Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen +Kemal (links) ist aus Australien gekommen, um Verwandte zu besuchen +Viele hier lebende Kurden haben noch Familie in der Heimat – so wie Osman seine Söhne im syrischen Kobane +Oma Turkan kam vor zwei Jahren aus Gaziantep nach Tokio +Kanon, sieben Jahre alt und Rojhat, zehn, lernen Zählen auf Japanisch +Kurdische Tradition in Warabi: Yaprak und Cikan Aileleri heiraten +Zur Hochzeit gibt's ein riesiges Fest +Draußen wird geraucht +Kerem Guzel fährt durch Warabi. Er wird Tokio bald verlassen, um nach Australien zu gehen diff --git a/fluter/die-kurven-diskussion.txt b/fluter/die-kurven-diskussion.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/die-libysche-kuestenwache-und-die%20sea-watch.txt b/fluter/die-libysche-kuestenwache-und-die%20sea-watch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3614004ce132e2e1cf90706ac2907b65f216de58 --- /dev/null +++ b/fluter/die-libysche-kuestenwache-und-die%20sea-watch.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +Auch in diesem Sommer legen an manchen Tagen wieder hunderte wackelige Boote mit tausenden Menschen von der libyschen Küste in Richtung Europa ab. Sie geraten schnell in Seenot. Die Crews der italienischen Küstenwache, die Mannschaften von Handels- undMarineschiffen sowie rund ein Dutzend Boote ziviler Seenotrettungsorganisationen sind dann meist rasch vor Ort, um zu helfen. Trotzdem ertrinken viele: In diesem Jahr sind bis Ende Juli schon knapp 2400 Menschen gestorben. + + +Update: Flucht nach Europa +Es ist Sommer und damit die Zeit, in der in den vergangenen Jahren viele Flüchtlinge versucht haben, nach Europa zu gelangen. Wie ist die Lage in diesem Jahr?Hier ein Überblick +Einige EU-Vertreter sind davon überzeugt, dass es erst die Präsenz der Rettungsschiffe von zivilen Seenotrettungsorganisationen ist, die so viele Menschen dazu bringt, die Überfahrt von Libyen aus in Richtung Europa zu wagen. Denn treffen die zivilen Rettungskräfte auf Flüchtlinge in Seenot, bringen sie sie nach Europa. Auch deshalb fordern die EU-Staatschefs, dass in Zukunft die libysche Küstenwache die Seenotrettung im südlichen Mittelmeer übernehmen und die Menschen konsequent zurück nach Afrika bringen soll.Im Februar vereinbarten sie in Malta, mehr als eine Milliarde Euro in die Ausbildung und Ausrüstung der libyschen Küstenwache zu stecken.Im Juli legte die EU noch mal 46 Millionen Euro nach. Auf das Fehlverhalten von libyschen Beamten gegenüber Flüchtenden angesprochen, sagt Federica Mogherini, Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitk der EU, die Menschenrechtskomponente spiele bei der Zusammenarbeit mit Libyen eine große Rolle. + + +Derzeit üben die Männer, die die libysche Einheitsregierung als Küstenwächter einsetzen will, in italienischen Häfen, wie die Schnellboote zu bedienen sind, die sie von Italien bekommen sollen. An Bord von europäischen Kriegsschiffen schulen Beamte der Grenzschutzagentur Frontex die libysche Küstenwache schon seit Herbst, wie die Daten europäischer Satellitenüberwachungssysteme auszuwerten sind, und Mitarbeiter der Vereinten Nationen machen sie mit der Genfer Menschenrechtskonvention vertraut, die Libyen nie unterzeichnet hat. +Am frühen Morgen des 10. Mai ist das bislang einzige hochseetaugliche Schiff der libyschen Küstenwache von Tripolis nach Westen in Richtung Sabrata aufgebrochen, wo zurzeit viele  Flüchtlingsboote ablegen. Mit an Bord ist ein deutscher Reporter von SPIEGEL TV. Er steht auf der Brücke gleich neben dem Kapitän, als der gegen halb acht von der Kommandozentrale in Tripolis den Notruf des Holzboots entgegennimmt. Dieser Moment ist wie alle weiteren der im Folgenden beschriebenen Szenen an Bord des Schiffs der libyschen Küstenwache auf demVideomaterial von SPIEGEL TVfestgehalten. +Nach eigenen Angaben hat die Sea-Watch 2 da schon Kurs auf das Flüchtlingsboot genommen, die Mannschaft sichtet es vor der libyschen Küstenwache. Wenige Minuten später meldet der deutsche Kapitän dem Koordinierungszentrum in Rom, dass seine Mannschaft mit der Rettung beginne, so werden es die Crewmitglieder der Sea-Watch 2 später erzählen. +Demnach machten sie sich zunächst daran, die beiden kleinen Schnellboote, die auf dem Deck vertäut sind, ins Wasser zu lassen. Damit wollten sie sich den Flüchtlingen zuerst nähern, Schwimmwesten verteilen, sie über den Ablauf der Rettung informieren. Die Sea-Watch 2 selbst soll mit einigem Abstand hinterherfahren. Wenn Menschen in Seenot ein großes Schiff sehen, reagieren sie oft unvernünftig: Manchmal springen sie ins Wasser, obwohl sie nicht schwimmen können. Oder alle laufen auf eine Seite, weil sie als Erste gerettet werden wollen, und bringen so ihr Boot zum Kentern. + +Als das erste Schnellboot fast im Wasser ist, klingelt erneut das Bordtelefon. Ein Mitarbeiter des Koordinierungszentrums in Rom meldet, die libysche Küstenwache übernehme die Rettung, so berichten es Mitglieder der Sea-Watch-Crew. +Zurzeit werden alle Seenotfälle im Mittelmeer von Rom aus koordiniert. Das soll sich bald ändern: Bei dem Treffen im Februar beschlossen die europäischen Staats- und Regierungschefs des Weiteren, mit den libyschen Behörden in Tripolis ein eigenes Seenotrettungszentrum aufzubauen. Sobald dies existiert, soll die libysche Küstenwache für alle Seenotfälle, die sich im südlichen Mittelmeer ereignen, selbst verantwortlich sein: Sie sollen die Notrufe entgegennehmen und auch die Rettungen koordinieren. Zivile Organisationen, die ein Boot in Seenot finden, müssen es dann in Tripolis melden und die Hilfe den libyschen Seenotrettern überlassen. Gleichzeitig, so forderte Italien, sollen die zivilen Organisationen einen Verhaltenskodex unterschreiben, um die Rettungsaktionen besser zu regulieren. Dieser Kodex ist umstritten   und sieht unter anderem vor, dass bewaffnete Polizisten auf den Booten mitfahren und Menschen möglichst nicht von einem Rettungsschiff auf ein anderes, etwa größeres oder schnelleres, übergeben werden. Während die wenigsten Hilfsorganisationen zusagten, Italien auf diese Weise zu unterstützen, weigern sich viele zu unterschreiben, weil sie sich in ihrer Arbeit behindert sehen. +Kurz nach dem Anruf aus Rom sehen Crewmitglieder der Sea-Watch 2 das Boot der libyschen Küstenwache am Horizont. Es fährt schnell und mit Kurs auf ihr Schiff. Der Kapitän versucht laut eigenen Angaben, die Libyer über Funk zu erreichen, er will Unterstützung bei der Rettung anbieten. Er erhält, so sagt er, keine Antwort. Stattdessen rast das libysche Schiff weiter auf die langsam fahrende Sea-Watch 2 zu und fährt schließlich nur wenige Meter vor dessen Bug vorbei. +Der deutsche Kapitän erklärt später, dass er nicht ausweichen konnte, weil er gerade mit dem Kran das zweite Schnellboot ins Wasser ließ. Der libysche Kapitän hingegen betont, die Sea-Watch 2 sei nicht von ihrem Kurs abgewichen, um ihn so daran zu hindern, die Flüchtlinge nach Libyen zu bringen. +Es ist nicht das erste Mal, dass es zum Konflikt zwischen der libyschen Küstenwache und den Crews ziviler Rettungsschiffe kommt. In den Berichten der europäischen Seenotretter wirkt die libysche Küstenwache wenig kooperativ. Videos zeigen, dass manche Männer auf Konfrontation aus sind – als sei ihnen deren Leben und Wohlergehen egal. Umgekehrt werfen Sprecher der libyschen Küstenwache den zivilen Rettern vor, sie würden ihre Arbeit behindern – und sie böten einen Taxi-Service für die Flüchtenden. +Mitarbeiter der Organisationen SOS MEDITERRANEE und Jugend Rettet berichten, libysche Küstenwächter hätten am 23. Mai eine Rettungsaktion massiv gestört. Demnach halfen Crewmitglieder gerade einigen Menschen aus einem kaputten Schlauchboot, als die Libyer in die Luft schossen. Mitarbeiter von Sea-Watch wiederum beobachteten im Oktober, wie die libysche Küstenwache ein überladenes Schlauchboot rammte und so schwer beschädigte, dass mehrere Menschen ins Wasser fielen, einige ertranken. Auch von diesem Ereignis gibt es Videoaufnahmen, gefilmt von Bord der Sea-Watch 2. +Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag prüft derzeit, ob er aufgrund dieser Schilderungen ein Ermittlungsverfahren gegen die libysche Küstenwache einleiten soll. Die Libyer haben dazu keine Stellung bezogen, auf ihrer Facebook-Seite stellen sie sich selbst ausschließlich als Retter dar. Auf diese Vorfälle angesprochen, erwidert EU-Sprecherin Federica Mogherini, Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitk der EU, dass ihr keine direkten Informationen über den Fall vorliegen, aber die Menschenrechtskomponente bei der Ausbildung der libyschen Küstenwache eine große Rolle spiele. +Auch am Morgen des 10. Mai, so wird auf dem Videomaterial von SPIEGEL TV deutlich, befiehlt der libysche Kapitän den Flüchtenden, den Motor auszumachen. Als das Boot trotzdem weiterfährt, zieht er eine Pistole und zielt auf die Menschen – diesmal schießt er nicht. + +Die libyschen Küstenwächter gehörten zum Teil gar nicht der Einheitsregierung an, mit der die EU kooperiert, sondern Milizen, von denen manche mit Schleppern gemeinsame Sache machten, sagt die italienische Journalistin Nancy Porsia, die seit Jahren in Libyen recherchiert. Laut einem im Juni veröffentlichten Bericht der Vereinten Nationen hat die libysche Einheitsregierung große Probleme, ihre Autorität durchzusetzen: Milizen, die sich oft mit Menschenschmuggel finanzieren, hätten Mandate für Regierungsaufgaben erhalten, handelten aber eigenmächtig. +Die Lage in Libyen ist schon lange unübersichtlich. Die Einheitsregierung kontrolliert nur einen kleinen Teil des Landes. Es gibt zwei weitere halboffizielle Regierungen und hunderte Milizen, von denen sich einige zum sogenannten Islamischen Staat bekennen. +Klar ist, dass es in dem Land gefährlich ist. Im UN-Bericht heißt es, Entführungen, willkürliche Verhaftungen und Hinrichtungen seien an der Tagesordnung, Migranten würden monatelang in überfüllten Gefängnissen festgehalten, verprügelt, Frauen vergewaltigt. +Als der libysche Kapitän am 10. Mai die Pistole entsichert, schaltet der Mann am Steuer den Motor aus. Zwei Mitarbeiter der libyschen Küstenwache springen auf das Holzboot und schubsen die gut 300 Passagiere auf das libysche Schiff. Als die Flüchtenden erfahren, dass sie zurück nach Libyen in ein Auffanglager gebracht werden, reagieren die Männer fassungslos. Frauen fangen an zu weinen. + +Titelbild: TAHA JAWASHI/AFP/Getty Images diff --git a/fluter/die-machen-das-wahr.txt b/fluter/die-machen-das-wahr.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..09106ebc7e3a44dec016b51d161e699f1a0582a1 --- /dev/null +++ b/fluter/die-machen-das-wahr.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Für die Arbeit "Photojournalism Behind the Scenes" hat Salvadori Pressefotografen bei der Arbeit in Israel und Palästina fotografiert. Ein kleiner Perspektivenwechsel mit großer Wirkung: Zu sehen sind nicht steinewerfende jugendliche Palästinenser, die sich ein Gefecht mit der Polizei liefern. Zu sehen sind Fotoreporter von Zeitungen und Kameramänner von TV-Networks, die von den steinewerfenden Jugendlichen Aufnahmen machen. Oder auch von brennenden Barrikaden – und anderen Ereignissen, die einem so oder so ähnlich fast täglich in den Medien begegnen. Nur dass es bei Salvadori eben ganz anders aussieht. +Auf seinen Fotos wirken die Szenen, die sonst formatfüllend und in Großaufnahme erscheinen, weniger dramatisch –  sie werden zum Rohstoff für massenmediale Bilderproduktion. Deren Bedingungen und Beschränkungen werden sichtbar: Pressefotografen können immer nur einen Ausschnitt der Welt zeigen. Wie überhaupt im Journalismus ist auch hier stets ein subjektiver Beobachter am Werke, der mit seiner Anwesenheit die Situation, von der er objektiv berichten soll, bereits verzerrt. +Diese Bilder vom Bildermachen werfen Fragen auf: Legen sich die steinewerfenden Jugendlichen heute womöglich besonders ins Zeug, weil ihnen die internationale Presse zuschaut? Trifft der Pressefotograf die Wahl seines Bildausschnitts so, dass das Foto möglichst viel über den unsichtbaren Kontext andeutet? Wird etwa durch den grimmigen Gesichtsausdruck eines Polizisten ein Konflikt angedeutet, der in dem Moment und in der Situation gar nicht existiert? Kurzum: Geht es hier gerade eher um die Befriedigung von Medienkonsumenten, die nach sensationellen Bildern gieren, als um objektive Berichterstattung? +Salvadoris Bilder lassen die Tatsache ins Bewusstsein treten, dass reine Neutralität und Objektivität im Journalismus nicht möglich sind. Aber kann seine Fotoarbeit das Vertrauen in den Journalismus und in die dokumentarische Qualität von Pressefotografie deshalb grundsätzlich ins Wanken bringen? Vielleicht geht es eher um einen Appell an Medienschaffende, das eigene Tun immer wieder zu reflektieren. Und auch an die Nutzer und Leser, genau hinzuschauen und journalistische Inhalte kritisch zu hinterfragen. +Ruben Salvadorihat in Jerusalem Anthropologie und internationale Beziehungen studiert. Bei dem Versuch, die Menschen in Israel besser zu verstehen, begab er sich in die Konfliktzonen Israels und Palästinas – und wurde er auf die vielen Pressefotografen aus aller Welt aufmerksam, die dort arbeiten. Inzwischen gibt es über sein Projekt "Photojournalism Behind the Scenes" auch einen kurzen Dokumentarfilm. diff --git a/fluter/die-machen-ja-dicht.txt b/fluter/die-machen-ja-dicht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fe716db668b0556052f22c1ed2dbc422e4282443 --- /dev/null +++ b/fluter/die-machen-ja-dicht.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Ich stellte also fest, dass der Schabbat, als ein biblisch begründeter Tag der Ruhe und der Erholung, nicht nur vom israelischen Staat gesetzlich durchgesetzt wird (wo er übrigens am Samstag zelebriert wird – dem siebten Tag, an dem Gott nach der Erschaffung der Welt einen Tag ruhte). Auch in vielen europäischen Städten gibt es eine Art Schabbat, nur wird er dort an Sonntagen begangen. Geschäfte bleiben – von Ausnahmen abgesehen – auch hier geschlossen. +Wie in Tel Aviv haben dann hauptsächlich Cafés, Restaurants und ein paar Minimärkte geöffnet. Zumindest fahren in Deutschland an Sonntagen noch die öffentlichen Verkehrsmittel. In Israel ist man in vielen Städten von freitagabends bis samstagabends sogar auf seine eigenen Beine angewiesen, weil der öffentliche Nahverkehr zum Erliegen kommt. +Kaufland Deutschland: Orit ist in Los Angeles aufgewachsen, wo man Sonntags gerne in den Supermarkt geht. In Berlin kann sie an dann nur "Spätis" das Nötigste besorgen +Ich muss schon sagen: Ich war ziemlich enttäuscht, feststellen zu müssen, dass mir in Deutschland gar nichts anderes übrig bleibt, als den Sonntag zu einem Tag der Freizeit und des Müßiggangs zu machen – anstatt shoppen zu gehen und Besorgungen zu machen. +Von Berlin war für mich auch deshalb eine Anziehungskraft ausgegangen, weil ich hier eine stärkere Trennung von Staat und Religion erwartet hatte. Wenngleich mir natürlich bewusst war, dass der Schabbat auch in Europa eine kulturelle Tradition ausgebildet hat. +Obwohl es auch in Israel und besonders im säkularen Tel Aviv hitzige Debatten über die Schabbat-Gesetze gibt, wissen nicht wenige Israelis – säkulare und praktizierende Juden gleichermaßen – den erzwungenen Schabbat zu schätzen. Die Straßen sind ruhig, die Menschen reden mal nicht über die Arbeit. Alles, was die Menschen wirklich tun können, ist: in die Synagoge gehen – wenn das ihr Ding ist – , Zeit mit ihrer Familie verbringen, essen, lesen, Fernsehen gucken oder am Strand liegen (und vielleicht etwas Arbeit mit dorthin schmuggeln). +In der Tat ist ein jüdischer Tag der Ruhe eine hervorragende Gelegenheit, um Frieden zu fördern. An Samstagen sind die Restaurants und Läden in den arabischen Städten Israels, etwa Nazareth und Tira, voll mit Juden. Aus der Tradition heraus, dass in jüdischen Haushalten bis Freitagabend alle Hausarbeiten erledigt sein müssen, aber auch aus Respekt vor der muslimisch-arabischen Bevölkerung beginnt Israels zweitägiges Wochenende am Freitag. Für die Moslems ist der Freitag der Schabbat, hier können sie ihren Tag freinehmen. +"Ehrlich gesagt funktioniert das ganz gut", sagte mein arabischer Freund Nabil aus Jerusalem. "Viele Juden, gerade in Israel, halten den Schabbat ein. Die Araber übernehmen solange die notwendigen Tätigkeiten und werden dafür gut bezahlt. Es gibt regelmäßig ein Gerangel der Araber darum, wer die Schabbat-Schichten übernehmen darf." +In Israel kommen am Schabbat sogar die öffentlichen Verkehrsmittel zum Stehen. Immerhin die fahren in Deutschland an Sonntagen weiter – und in Berlin gönnt man sich in Bus und Bahn auch gerne mal ein Bier +Der Schabbat ist zentral für die jüdische Tradition, eine Erinnerung daran, dass wir Juden nicht länger als Sklaven in Ägypten leben. In den modernen Zeiten tut uns allen ein Tag "unplugged" ganz gut, speziell seitdem wir Sklaven unserer Smartphones geworden sind. Egal an welchem Tag es zelebriert wird, erinnert uns dieses erste Wochenende der Welt daran, dass wir arbeiten, um zu leben. Was aber passiert, wenn dieser Tag der Ruhe rechtlich durchgesetzt wird mit Strafzahlungen im Falle von Verstößen? Wird er selbst dann eine Form der Sklaverei? +Manche Leute argumentieren, dass ein nationaler Tag der Erholung gesund ist für die Gesellschaft. Er fördert ein gutes Familienleben, nationalen Zusammenhalt und spirituelle Einkehr und bewahrt uns so davor, zu einem 24/7-Workaholic zu werden. +Und doch ziehe ich immer noch das amerikanische Modell vor, bei dem nur die Büros an Sonntagen geschlossen bleiben. In Los Angeles bestimme ich selbst über meine Zeitgestaltung, und es steht mir an jedem Tag frei, ob ich arbeite, einkaufe oder spiele. Mein Trost ist nur, dass ich kein orthodoxer Jude bin, der in Berlin lebt. Dann könnte ich Schokolade und Zahnpasta gerade mal an fünf Tagen einkaufen: von montags bis freitags. + diff --git a/fluter/die-machen-ja-sachen.txt b/fluter/die-machen-ja-sachen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..302f5f4340a5d8847cb627773d2c84c9ff251a09 --- /dev/null +++ b/fluter/die-machen-ja-sachen.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Doch leider gibt es auch in den Reihen der klugen Köpfe Idioten: Eine wachsende Gemeinde in den USA freut sich schon, dass sie mittels 3-D-Druck die wohl bald verschärften Waffengesetze umgehen kann. Ein Sturmgewehrteil und ein 30 Schuss fassendes Magazin wurden schon erfolgreich gedruckt. In der eigenen Werkstatt ist man jedoch zunächst auf Plastik beschränkt. Waren die ersten Maschinen, die sich der Heimanwender leisten konnte, noch hässliche Klötze, die aus Sperrholz-Sets selbst zusammengebaut werden mussten, hat die zweite und dritte Generation mittlerweile eine gewisse Nutzerfreundlichkeit. Auf Websites wie Thingiverse.com oder Shapeways.com kann man sich durch Tausende 3-D-Modelle klicken, genauso wie man es auch bei Amazon oder Ebay tun würde, nur sind die Vorlagen für viele Produkte umsonst. Hat man einen Entwurf ausgewählt, lädt man ihn auf eine Speicherkarte, wie sie auch in Digitalkameras benutzt wird, steckt sie in den Drucker, und die Maschine legt los. Es gibt Spielzeug, Schmuck, Küchenutensilien und Geschirr, Nützliches und Tand. +Die Druckdauer richtet sich nach der Größe und der Form des Objekts – für eine zigarettenschachtelgroße Vase benötigt das Testgerät eine knappe Stunde. Man kann natürlich – je nach Bedarf – auch eigene Dinge entwerfen. Ist man früher fluchend in den Baumarkt gerannt, lässt sich heutzutage ein Ring für den Duschvorhang oder ein Deckel für die Batterieabdeckung der Fernbedienung mit kostenloser Design-Software selbst entwerfen. Die 3-D-Drucker-Gemeinde hat, so viel wird schnell klar, ein großes Sendungsbewusstsein. Hier geht es nicht nur um ein bisschen buntes Plastik. Sondern um einen Weg zur Selbstermächtigung des Konsumenten. Sicher ist, dass der 3-D-Druck unseren Umgang mit der Produktwelt verändern wird. Zieht man den Vergleich mit der IT-Welt, befindet sich die Technologie gerade mal auf dem Niveau der ersten Heimcomputer, die in den späten 1970er-Jahren entwickelt wurden. Genau wie nach den Umwälzungen durch das Internet werden auch durch die Erschließung der dritten Dimension neue Gesetze und Richtlinien erlassen werden, die die Technologie regulieren; Industrien werden sterben oder sich neu erfinden müssen. Und auch der Streit um Urheberrechte wird uns weiter begleiten. Schmuck kann zum Beispiel jetzt so leicht raubkopiert werden wie eine CD. +Die digitale und analoge Welt – bislang zwei streng voneinander getrennte Sphären – werden schon bald fließend ineinander übergehen. Ein großer Antreiber dieser Entwicklung ist die in der Dienstleistungsgesellschaft vermeintlich so veraltete fertigende Industrie aus Deutschland, die durch die IT-Technologie revolutioniert wird. Diese Veränderungen geschehen nicht in den Garagen und Werkstätten der 3-D-Druck-Gemeinde, sondern in den Fabrikhallen. Das relativ ungelenke Schlagwort Industrie 4.0 oder auch Smart Factory bezeichnet ein Konzept, das das Beste aus beiden Welten zusammenbringen soll. Die Fabrik der Zukunft ist vollständig vernetzt, ja beinahe intelligent. Jedes einzelne Produkt trägt einen Mini-Funkchip in sich und wird so zu einem winzigen Informationsknoten im "Internet der Dinge", in dem nicht mehr nur Personen miteinander kommunizieren, sondern eben Objekte. Die rollen nicht mehr stupide vom Fließband, sondern werden bis zuletzt auf jeden Kundenwunsch zugeschnitten. +Das Industrial Internet macht aus den mächtigen, aber auch schwerfälligen Maschinenparks der analogen Welt eine eigene, dezentral gesteuerte Intelligenz. Die Massenfertigung war bislang die letztgültige Antwort der Großindustrie, um halbwegs kosteneffizient zu produzieren. Schon bald sollen nach dem Wunsch der Industrie-4.0-Vorreiter wie Siemens oder Bosch die unfertigen Werkstücke mit den Maschinen kommunizieren: Plastikwürfel sagen den CNC-Fräsen selbstständig, ob aus ihnen ein Schlüsselanhänger oder eine Handyhülle werden soll, und Karosserieteile weisen die Roboter an, ob sie möglichst schnell oder möglichst energiesparend bearbeitet werden sollen, je nach Kapazität oder Nachfrage. Bauteile werden in Zukunft in kleinen Stückzahlen und in Echtzeit produziert. Das spart Rohstoffe und Energie, die Roboter fertigen nicht für die Halde, sondern werden erst zum Leben erweckt, wenn irgendwo eine Bestellung aufgegeben wird. So sinken die Kosten, die Herstellung billiger Massenware müsste bald nicht mehr in die Weltfabrik China ausgelagert werden, sondern könnte wieder in Europa stattfinden, was wiederum Transportkosten spart. +Experten sind sich sicher, dass man durch die intelligente Industrie Milliardenbeträge einsparen kann. Klar, dass dabei auch so mancher Arbeitsplatz auf der Strecke bleiben wird. Und will man das? Bevor das Netz in die echte Welt vordringen kann, müssen also noch einige Fragen beantwortet werden. Sicher ist nur: Die Wertschöpfungsketten, die unsere Waren von der Fabrik bis ins Supermarktregal durchlaufen, werden neu gestaltet, wenn das intelligente Produkt seine Herkunft ebenso kennt wie seinen Zielort und seinen Zweck. Ob es sich dabei um eine Jeans, Motorenteile oder Tiefkühlkost handelt, ist dann eigentlich egal. diff --git a/fluter/die-macht-der-bilder.txt b/fluter/die-macht-der-bilder.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..386fddb895c1030f7bc9afd878f75c428b975af6 --- /dev/null +++ b/fluter/die-macht-der-bilder.txt @@ -0,0 +1 @@ +Ein PDF mit ausgezeichneten Bildern gibt eshier! diff --git a/fluter/die-masse-machts.txt b/fluter/die-masse-machts.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/die-meisten-machen-mit.txt b/fluter/die-meisten-machen-mit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..da68a209614d7b9a12fed01203bbe9d15ec4ae1c --- /dev/null +++ b/fluter/die-meisten-machen-mit.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Sondern? +Korruption war schon in der Nachkriegszeit an der Tagesordnung. Nur: Heute wissen wir es, die Bestechungssummen und die Fantasie der Täter sind größer geworden. Früher hat man sich die Fliesen im Bad machen lassen, heute muss es schon eine komplette japanische Gartenanlage sein. Die Wahrheit ist: Kaum ein DAX-Unternehmen, so gut wie kein mittelständisches Unternehmen und keine Kommune sind frei von Korruption. +Warum ist das so? +Weil es sich lohnt, zumindest kurzfristig, und weil das Risiko, entdeckt zu werden, immer noch viel zu gering ist. Es ist eben einfacher, jemanden mit Geld oder einem Geschenk zu einem Vertragsabschluss zu bewegen, als mit der Qualität eines Produkts zu überzeugen. Schuld sind vor allem die Strukturen, die die Korruption zulassen, weniger die Tatsache, dass da hoch kriminelle Menschen am Werk sind. Kommt jemand frisch von der Universität voller Idealismus in ein Unternehmen und stellt fest, dass es in seinem Konzern ohne Korruption nicht geht, er allein die Strukturen aber nicht ändern kann, hat er zwei Möglichkeiten: mitzumachen oder das Unternehmen zu verlassen. Die meisten machen mit. +Korruption ist ein schwammiger Begriff. Ab wann muss man ein schlechtes Gewissen haben? +Freiberufler können eine Einladung zum Essen oder ein kleines Werbegeschenk ruhig annehmen. Problematisch wird es bei Geschenken, die individuell zugeschnitten sind. Bekommt man als Journalist von einer Mode-firma eine Jacke für 500 Euro geschickt, sollte man sich schon fragen: Mögen die mich, oder soll ich positiv über sie berichten? Man sollte nur so weit gehen, dass man sich noch frei fühlt, ein neutrales oder kritisches Urteil fällen zu können. Für Angestellte oder Amtsträger einer öffentlichen Einrichtung sind schon kleinere Geschenke problematisch. +Zwingt die Konkurrenzsituation Unternehmen, ein korruptes System mitzutragen? +In der Tat behaupten viele Unternehmen, keine andere Wahl zu haben. Sie sagen: Wenn wir nicht bestechen, kommen wir gar nicht in den Markt, dann bekommen wir, vor allem im Ausland, keine Aufträge. Diese Behauptung ist nicht falsch, aber auch nicht ganz richtig. Viele Geschäfte mit afrikanischen und asiatischen Ländern, in denen Korruption an der Tagesordnung ist, lohnen sich gar nicht, weil die Summen, die an Schmiergeld gezahlt werden müssen, exorbitant sind. Auf diese Geschäfte könnte man verzichten. Leider tut das so gut wie kein Unternehmen. +Warum prangert kaum ein Unternehmen korrupte Praktiken von Mitbewerbern an? +Um weiter Geschäfte in dieser Branche machen zu können. Würden sie Konkurrenten an den Pranger stellen, könnte es passieren, dass die zum Gegenschlag ausholen. Und der könnte verheerende Folgen haben, vor allem wenn die beschuldigten Unternehmen viel Macht am Markt besitzen. +Wer leidet am meisten unter der Korruption? +Der Steuerzahler. Wenn ein Amtsträger bestochen wird, zahlt der Bestechende dieses Geld niemals aus versteuertem Einkommen. Es wird vielmehr auf den Auftrag geschlagen und führt am Ende dazu, dass die Produkte, die wir in den Geschäften kaufen, teurer werden. Das kann nicht Sinn und Zweck einer Marktwirtschaft oder einer Verwaltung sein. Es geht Vertrauen verloren. Das gesamte demokratische System wird geschädigt. +Und das korrupte Unternehmen profitiert? +Kurzfristig. Wird es ertappt, können die Negativ-Berichterstattung und der damit verbundene Imageschaden zu einer Welle der Zurückweisung führen. Beispiel Siemens: Ist der Schaden für einen Konzern so hoch, wie es sich im Moment andeutet, wird man sich zukünftig überlegen, ob man damit nicht doch lieber aufhört. Und obwohl die Strafverfolgungsbehörden immer noch viel zu schlecht ausgestattet sind, ist die Gefahr gestiegen, entdeckt zu werden. Mittlerweile herrscht auch in der Bevölkerung ein Klima der Kontrolle und der Missbilligung. Die Menschen reagieren sensibler auf das Thema Korruption. +Haben alle Länder mit Korruption zu tun? +Die skandinavischen Länder gelten zumindest in Verwaltungsangelegenheiten als weitgehend korruptionsfrei. Dort können die Bürger alle Entscheidungsprozesse einsehen. Diese Transparenz macht Kumpanei, geheime Abmachungen und Absprachen unmöglich. Es gibt noch eine andere sehr interessante Begründung für die Korruptionsresistenz dieser Länder: Dort sind wesentlich mehr Frauen in Schlüsselpositionen. Die sind weniger korruptionsanfällig als Männer. Sie verstoßen seltener gegen Normen und begehen weniger Straftaten. Kommen sie in Führungspositionen, können sie die alteingesessenen Strukturen von Männerbünden aufbrechen. +Beeinflusst die EU-Erweiterung die Korruptionsbereitschaft deutscher Unternehmen? +Es ist gut, wenn in einem erweiterten Europa versucht wird, einheitliche Rechtsstandards durchzusetzen und Korruption zu ächten. Aber die Realität ist weit hinter solchen Ansprüchen zurück: Ich kann mir nicht vorstellen, wie die Kontrolle der hoch korrupten Länder in Osteuropa funktionieren soll. Auf uns werden noch gravierende Formen von Korruption und Wirtschaftskriminalität zukommen. Wenn gerade junge Leute in einer Welt leben wollen, in der sie für die medizinische Versorgung ihrer Kinder oder einen Uni-Abschluss zahlen wollen – das ist in Osteuropa an der Tagesordnung –, dann sollen nur alle so weitermachen. Wenn nicht, wird es Zeit, gemeinsam dagegen anzugehen. +Und was kann der Einzelne tun? +Sich ständig fragen, ob man gerade unzulässig beeinflusst oder gekauft werden soll. Das Wichtigste aber: Man muss sich Verbündete suchen und in einem Verbund der Ehrlichkeit Zeichen setzen. Keiner darf den persönlichen Vorteil über Dinge stellen, die uns am Ende allen schaden.Britta Bannenberg, 42, ist Professorin für Strafrecht und Kriminologie an der Universität 
Bielefeld. Von ihr erschien u.a. Korruption in Deutschland. Portrait einer Wachstums-branche (2004, mit W. Schaupensteiner). diff --git a/fluter/die-migrationsgeschichte-der-kartoffel.txt b/fluter/die-migrationsgeschichte-der-kartoffel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..119606548efc39bcb68dcc7acc6b075d3ecbd433 --- /dev/null +++ b/fluter/die-migrationsgeschichte-der-kartoffel.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Dabei ist die Kartoffel in ihren Ursprüngen ungefähr so deutsch wie ein Alpaka. Sie stammt nämlich aus den südamerikanischen Anden, wo sie schon vor rund 8.000 Jahren angebaut wurde. Wie viele andere amerikanische Gemüsesorten – Tomaten, Paprika, Speisekürbisse, Gartenbohnen, Mais – schaffte sie es erst in den letzten 300 bis 400 Jahren auf den europäischen Speiseplan, der vorher ziemlich öde gewesen sein muss. Und auch in den Rest der Welt. Die Kartoffel ist somit auch ein gutes Beispiel dafür,wie sich Pflanzen auf der ganzen Erde ausbreiten können.Dafür haben sie ganz verschiedene Strategien: Manche Pflanzensamen fliegen viele Kilometer weit, andere legen noch längere Strecken schwimmend auf Treibholz oder im Verdauungstrakt oder an den Füßen von Vögeln zurück. Einige Pflanzen reisen auch als blinde Passagiere auf Schiffen mit – oder als ganz offizielle Gäste. Denn der eifrigste Pflanzenverteiler ist der Mensch, der besonders schöne oder nützliche Exemplare gern mit in seine Heimat nimmt, was speziell während deseuropäischen Kolonialismusab dem 15. Jahrhundert zur Globalisierung des Grüns führte. +Die spanischen Eroberer brachten die Kartoffel Mitte des 16. Jahrhunderts mit nach Europa. Dort wurde sie lange vor allem deshalb geschätzt, weil sie so schön blühte. Es dauerte noch einige Jahrhunderte, bis sich auch ihre innere Schönheit durchsetzte: Kohlenhydrate, Mineralstoffe, Vitamine und pflanzliches Eiweiß. Satt macht die Kartoffel und ist dabei ertragreicher als Getreide, da sie auch auf kargen Böden wächst. Sie lässt sich gut und lange lagern und muss zum Verzehr nicht noch gemahlen werden. All das sorgte im 18. und 19. Jahrhundert für den Siegeszug der Kartoffel in ganz Europa, dessen rasant steigende Bevölkerung versorgt werden musste – und verhalf ihr als Essen der einfachen Leute zum etwas biederen Ruf. +Auf deutschsprachigem Gebiet erkannte vor allem der preußische Herrscher Friedrich II. ihr Potenzial und sorgte mit verschiedenen Maßnahmen, den sogenannten Kartoffelbefehlen, dafür, dass seine Bauern mehr Kartoffeln anbauten. So legte er den Grundstein für die deutsche "Kartoffeligkeit", die sich lange hielt: Über 180 Kilo Kartoffeln aß jeder Deutsche noch im Jahr 1950/51. Heute allerdings sind es weniger als 60 Kilogramm, damit liegt Deutschland sogar unter dem EU-Durchschnitt (die wahren Kartoffelkönige sind die Letten). Die Beilagenauswahl ist einfach vielfältiger geworden, Nudeln, Hirse, Reis, Quinoa (auch aus den Anden übrigens) drängen auf deutsche Teller. +Doch das muss nicht so bleiben, immerhin sind Kartoffeln eine Art Superfood aus regionalem Anbau und passen hervorragend in nachhaltige Ernährungspläne. Auch die sogenannten "alten Sorten" erfreuen sich großer Beliebtheit. Allemal klingt "Du Bamberger Hörnchen", eine fränkische Kartoffelsorte, nicht gerade raptauglich. Der Spott dürfte damit schwieriger werden. + diff --git a/fluter/die-na-nachs-in-israel.txt b/fluter/die-na-nachs-in-israel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2e7937d0cc011968e400e91c3ab4197746dc8d3a --- /dev/null +++ b/fluter/die-na-nachs-in-israel.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Heute findet man den Namen des Rabbis als berühmtes kabbalistisches MantraNa Nach Nachman Meumanüberall im Land als Graffiti auf Hauswänden, Zügen, Autobahnbrücken. Nicht jeder ist über die Graffiti glücklich, auch in der Community sind sie umstritten – dort nicht nur wegen des illegalen Sprayens, sondern auch wegen ihrer Aufdringlichkeit. Noam hat es in großen blauen Lettern auf seine gehäkelte Kippa gestickt. "Man kann es singen, sagen, chanten, immer wieder. Es gibt überall Hoffnung", erklärt er und nimmt die Gitarre zur Hand. Fast jeder Na Nach macht Musik, singt, tanzt und hüpft zumindest im Takt auf und ab. Das gehört dazu. "Das ist unsere große Medizin. Und Trance-Musik – die hat Power. Wenn man die richtigen Texte und Gedanken hinzufügt, kann sie einen an großartige Orte katapultieren. Die Leute lieben diese Musik." +Mit knapp 30 Jahren hat der Biologe und Programmierer gemeinsam mit seiner Frau bereits fünf Kinder. Die Familie lebt nach religiösen Regeln: Die Küche ist koscher, der Schabbat heilig, Geschlechterrollen konservativ. Trotzdem sind viele Na Nachs dafür bekannt, weltgewandter und offener zu sein als die Mehrheit der orthodoxen Juden. Noam arbeitet in einer IT-Firma, ist bereits mehrmals mit dem Rucksack durch die Welt gereist, raucht Marihuana und findet, dass Bob Marley und Pink Floyd es "auch echt verstanden" haben. +Nicht alle, aber viele Mitglieder der Na Nachs mischen Moderne und Tradition auf diese Art und Weise, erklärt Dr. Tomer Persico, Dozent für vergleichende Religionswissenschaften an der Universität Tel Aviv. Seit vielen Jahren befasst er sich mit den Ausprägungen des mystischen Judentums, dem sogenannten Chassidismus, zu dem auch die Na Nachs gehören. Sie seien, so der Akademiker, mittlerweile fester Bestandteil der israelischen Popkultur geworden: "Es ist unfassbar, was in den letzten 20 Jahren mit der Breslow-Gemeinschaft passiert ist. Es gibt sie in der Kunst, sie performen und schreiben Popsongs, Geschichten, Bücher, das ganze Programm. +Und dann sind da natürlich diese Leute, die auf der Straße herumspringen. Es ist unmöglich, sie nicht zu bemerken." Die Offenheit der Bewegung mache sie sehr attraktiv für allerlei Gestrandete und Verwundete, denen die strengen Regeln der religiösen Gemeinde fremd sind: "Ich würde sagen, dass wahrscheinlich 80 Prozent oder mehr von ihnen nicht religiös aufgewachsen sind. Sie kommen aus der säkularen Welt, oft mit all ihren Bürden, Blessuren und Schwierigkeiten." +Bei Na-Nach-Anhängern gebe es auffallend viele Geschichten von Drogenexzessen, Verhaftungen, Traumata. In der Breslow-Gemeinschaft finden viele von ihnen Halt. Darin ähnele sie der zweiten großen kabbalistischen Strömung, dem Chabad, dessen Gemeindemitglieder dafür bekannt sind, gerade in Indien und Südamerika – den beliebtesten Reisezielen junger Israelis nach dem Militär – nach neuen Mitgliedern zu suchen. In sogenannten Chabad-Häusern kümmert man sich um die jungen Backpacker und frisch entlassenen Soldaten, die gerade erlittene Traumata mit Drogen zu betäuben suchen. Auch Noam kann auf eine solche Vergangenheit zurückblicken. Er erinnert sich an Jahre der Depression und des Alkohols. Sein Beruf als Molekularbiologe und die Arbeit im Labor erschienen ihm wie ein Gefängnis, erzählt er. Von den Na Nachs habe er schon als Teenager viel gehört und gelesen, richtig dazugehören wollte er erst nach seiner Krebserkrankung vor drei Jahren. "Im Krankenhaus, zwischen all dem Grau und all den Schläuchen, spürte ich diese Wärme, dieses Licht, das von nirgendwo kam. Manch einer würde es Erleuchtung nennen. Rabbi Nachman hatte mich besucht", erzählt er. + + +Jeden Tag nimmt Noam sich eine Stunde Zeit, um in stiller Meditation zu Gott zu sprechen. Er geht in den Wald hinter dem Haus, sitzt alleine auf der Terrasse, fährt mit dem Auto ans Meer. Es handelt sich dabei um das sogenannteHitbodedut, einen zentralen Aspekt der Lehre des Rabbis Nachman. Mit Gott, so der Kabbala-Rabbi, solle man nicht wie mit einem Gebieter, sondern wie mit einem guten Freund sprechen. Ohne eingeübte und auswendig gelernte Gebete. ‚‚Es gibt viele Breslow-Anhänger, denen sind wir Tanzenden zu laut und nicht ernsthaft genug. Wir sind uns nicht alle einig, wie man die Nachricht des Rabbis am besten verbreitet. Aber dasHitbodedut, das machen wir alle", fügt Noam hinzu. Es ist eine Lehre, die unter einigen Strenggläubigen für fast genauso viel Unmut sorgte wie Rabbi Nachmans Aussage, er sei der letzte wahre Rabbi vor der Wiederkehr des Messias. Natürlich seien die Breslower-Juden vielen Ultraorthodoxen ein Dorn im Auge, betont auch Religionswissenschaftler Persico. +"Kabbala"bezeichnet eigentlich die religiöse Überlieferung im Allgemeinen, wurde aber im Laufe der jüdischen Geschichte zur Überlieferung im Sinne einer geheimen, mystischen Tradition. Das Übersinnliche, wie etwa Engelserscheinungen, Wundererzählungen sowie Ideen über Sinn und Form von Buchstaben oder Zahlen, spielt dabei eine große Rolle. +Denn auch wenn sie wie Noam nach den Regeln der Thora leben, so verbinden sie oft bibelkorrektes Judentum mit östlicher Spiritualität und einem unkonventionellen Lebensstil: "Im derzeitigen globalen New-Age-Trend möchten die Menschen ihre Überzeugung praktisch erfahren. Sie wollen Vipassana, Chanting und Meditation." Diese Schnittfläche gefalle vielen Juden nicht. "Bei den Na Nachs kann man ohne schlechtes Gewissen Yoga machen, Gras rauchen, laut singen und trotzdem die jüdischen Wurzeln bewahren." Ob Marihuana mit einem jüdisch-religiösen Leben vereinbar ist, daran scheiden sich die Geister der Gläubigen bislang noch. Die Na Nachs bewegen sich, was das angeht, in einer Grauzone. +Heute Abend geht Noam mit befreundeten Na Nachs auf ein Konzert. Spirituelle Rock- und Folkmusik, sagt er. Open Stage. Auch er wird etwas spielen. Gitarre und Gesang, sein bester Freund spielt Percussions. Männer und Frauen werden außerdemgemeinsam sitzen. Kinder sind willkommen, Nichtjuden ebenso, sagt er und lacht. "Einfach alle, solange man klatscht." + + diff --git a/fluter/die-natur-ist-komplex.txt b/fluter/die-natur-ist-komplex.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e40caf1de2d559fe0d75ab5b5a5a6a66c1e4fac1 --- /dev/null +++ b/fluter/die-natur-ist-komplex.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Wenn man sieht, wie Google und Co. mit Daten umgehen: Muss man nicht Angst bekommen, wenn es plötzlich um die Grundlagen des Lebens geht? +Man kann nicht allen Unternehmen absprechen, dass sie vom Forschungsinteresse getrieben die Welt verbessern wollen. Aber natürlich geht es auch um Patente und darum, in der Zukunft Lizenzgebühren zu kassieren. Je mehr gentechnologische Verfahren patentiert werden, desto schwerer wird es für andere, weiter zu forschen. Kritik daran gibt es nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Ländern oder bei der UNKonferenz für biologische Vielfalt. +Eine kalifornische Firma hatte angekündigt, Straßenlaternen durch Bäume zu ersetzen, die leuchten. Haben Sie die schon gesehen? +Nein, gesehen habe ich nur eine kleine Testpflanze. Die Verwirklichung der grünen Straßenlaterne mit Hilfe der synthetischen Biologie liegt in ferner Zukunft – falls es sie jemals geben wird. Die Natur erweist sich als viel komplexer, als manche Biohacker und Genforscher es sich ausmalen. Selbst einfache Organismen lassen sich mit den neuen Techniken keineswegs so zielstrebig manipulieren. Das zeigt auch, dass die ganze Euphorie über die synthetische Biologie übertrieben ist. Wir hatten in den 1970ern und 1980ern schon mal so einen Gentechnik- Hype. Damals hieß es auch schon: Jetzt haben wir den Schlüssel zu maßgeschneiderten Pflanzen in der Hand. +In manchen Gegenden der Erde kommen schon seit einigen Jahren genmanipulierte Pflanzen zum Einsatz. Wie sind die Erfahrungen? +Die sind eben nicht nur gut. In den USA gab es auf Feldern mit Mais oder Soja, die genetisch gegen das hochwirksame Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat resistent gemacht wurden, doch wieder sogenannte Beikräuter, die ebenfalls Resistenzen entwickelt hatten. So dass entweder noch stärkere Herbizide angewendet oder wieder konventionelle Pflanzen angepflanzt werden mussten. +Sie haben den US-amerikanischen Saatgutkonzern Monsanto besucht, der für viele Umwelt bewegte als das Böse schlechthin gilt. Können Sie das nachvollziehen? +Es ist immer bedrohlich, wenn ein Konzern so viel Macht hat und sie auch einsetzt. Die gesamte Saatgutindustrie ist ja hoch konzentriert. Aber sich nur entspannt zurückzulehnen und auf den bösen Monsanto-Konzern zu zeigen ist zu wenig. Wir müssen auch unsere eigene Rolle als Konsumenten hinterfragen. Die bisher gängigen Gentechnik-Pflanzen dienen nicht zuletzt dazu, den Bauern Zeit und Arbeit zu ersparen. Denn sie müssen bei Gen-Mais und -Soja hoch wirksame Unkrautvernichtungsmittel seltener spritzen. Die Landwirtschaft ist an der Rationalisierung, also einer kostengünstigeren Produktion interessiert, um der Lebensmittelindustrie günstige Rohstoffe für billige Futtermittel liefern zu können. Man kann also nicht gleichzeitig billiges Fleisch wollen und auf die Konzerne schimpfen, die das technologisch unterstützen. +Ist in einer globalisierten Welt zu erwarten, dass Gesetze wirken? +Am Beispiel der Landwirtschaft sieht man ja, dass regionale Bestimmungen funktionieren. In Europa gibt es Kennzeichnungspflichten und Regeln bei der Einführung von GVO-Produkten. In Europa haben wir das Vorsorgeprinzip, das heißt: Wenn es ein Risiko gibt oder man das nicht ausreichend klären kann, dann sollte ein Produkt eher nicht zugelassen werden. In den USA muss sich ein Produkt erst als schädlich erweisen, ehe sein Einsatz beschränkt wird. Über Regeln für die neuen gentechnischen Verfahren wird gerade in Brüssel beraten. +Manchmal erfährt man von den Folgen erst viel später. Wir haben in diesem He! einen Artikel über Burkina Faso, wo sich die genmanipulierte Baumwolle als minderwertig herausstellte (siehe Heft-pdf S. 34). +Oft kennen sich die Saatgutkonzerne zwar mit ihren Züchtungstechnologien gut aus, aber nicht mit den Bedürfnissen der Textilindustrie, den lokalen Böden und Anbaubedingungen oder der Kultur der Bauern, deren Lebensumstände weltweit extrem unterschiedlich sind. Auch das ist – neben dem schieren Verkaufsinteresse – ein Grund, warum manche Pflanzen in der einen Gegend erfolgreich sind und in der anderen floppen. Leider geht der Flop dann oft auf Kosten der Ärmsten. +Viele Bauern stehen mittlerweile am Ende komplexer Wertschöpfungsketten und verdienen zu wenig zum Leben. +Ein Grund dafür ist die neoliberale Ideologie, die in den 1980er- und 1990er-Jahren weltweit auf dem Vormarsch war und die vor allem auf die Befreiung der Märkte und die Schwächung des Staates zielte. Das hatte brutale Konsequenzen: Auf dem Land gab es jahrzehntelang kaum noch Banken, die staatliche Saatgutzucht wurde ebenso ausgehungert wie die staatliche Agrarberatung. Die Bauern wurden alleingelassen und waren dann erst einmal dankbar, als mit den Vertretern der großen Saatgutkonzerne neue Berater kamen. +Wie kann man es in Zukunft schaffen, dass der Nutzen der Technologie der Allgemeinheit zukommt und nicht vor allem den Konzernen? Wären Genossenschaften denkbar? +Genossenschaften können die Position der Bauern in den Wertschöpfungsketten stärken. Die Frage ist jenseits dessen: Welche Technologien brauchen und wollen wir? Alle reden über Gentechnik, aber es gibt in der Landwirtschaft viele andere, vernachlässigte Möglichkeiten, die Produktion ökologisch verträglicher zu machen. Was wir brauchen, ist eine Forschungsdebatte. Aus dem parlamentarischen Raum kommt da bislang viel zu wenig. Eine Debatte darüber, welche Forschung mit staatlichen Geldern betrieben wird, findet erst allmählich statt. +Welche Mitspieler gibt es neben den Konzernen noch in diesem Spiel? +Für die neuen Forschungsgebiete der Biotechnologie gab und gibt es große staatliche Fördertöpfe, ob in China, den USA, Deuschland oder auf Ebene der EU. +Aber sind staatliche Gelder nicht eh nur Peanuts im Vergleich zu den Milliarden der Konzerne oder privaten Stiftungen? +Es stimmt: Die Forschungsmittel der Konzerne sind viel umfangreicher. Aber oft ziehen Forschung und Industrie auch an einem Strang. Und wo staatliches Geld eine Rolle spielt, wäre es wichtig, dass andere Fragen gestellt werden – auch nach solchen Möglichkeiten, die nicht auf den ersten Blick Rendite versprechen. +Viele Menschen haben Angst davor, dass die Forschung hinter verschlossenen Türen geschieht, bei Unternehmen, aber auch beim Militär. Zu Recht? +Die Technologien eignen sich auch dafür, biologische Waffen herzustellen. Das finde ich bedrohlich. Riskant finde ich aber auch die Experimente mancher Biohacker in Garagenlaboren. Sie loben zwar, dass diese Technologien demokratisch seien, weil jeder sie nutzen kann. Mir wird aber ein bisschen schwummrig, wenn jeder mit den Genen herumexperimentiert. diff --git a/fluter/die-normalitaet-des-boesen.txt b/fluter/die-normalitaet-des-boesen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c5d7bfda3254a8449c3c9f8d0d4e855f608481ee --- /dev/null +++ b/fluter/die-normalitaet-des-boesen.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Breivik ist nicht der einzige, der lacht, wenn er im Blutrausch mordet. Klaus Theweleit, einer der unangepasstesten Intellektuellen hierzulande, hat ein Psychogramm des "soldatischen Mannes" entworfen, für den das Lachen nach dem Töten typisch sei. "Das Lachen der Täter: Breivik u.a." ist ein qualvolles, schmerzhaftes Buch, aber eben auch eines, das dem Leser zu erklären sucht, was häufig als "unerklärlich" erachtet, als "abnormal" abgetan wird oder wofür gern radikale Religionsauslegungen oder extreme Ideologien verantwortlich gemacht werden. Theweleits eigenwilliger Erklärungsversuch ist auch angesichts der Terrorakte von Paris ein Interpretationsangebot, das zur rechten Zeit kommt. +Das Buch beginnt mit der berühmten Szene aus dem Film "Spiel mir das Lied vom Tod", als der Killer, gespielt von Henry Fonda, gleich zu Anfang kaltblütig einen kleinen Jungen erschießt – und dabei lächelt. Es folgen Breivik, die Teile der indonesischen Armee, die in den Sechzigern in Indonesien Hunderttausende Menschen abschlachteten, die Mordmaschine der Nazis, die "Killing Fields" des Pol-Pot-Regimes in Kambodscha, der Völkermord in Ruanda 1994, die Massenmorde von Srebrenica 1995, Terrorakte in Pakistan, bei denen Taliban 2014 auch 130 Kinder ermordeten, und schließlich die jungen Mörder des sogenannten IS, die ihre Bluttaten werbewirksam über die sozialen Medien verbreiten und dabei lachend ihren Herrschaftsanspruch untermauern. Die Lektüre dieser Aneinanderreihung von Monstrositäten, nach Theweleit-Art collagiert aus Zeitungsartikeln, Interviews, Augenzeugenberichten, Zitaten oder Videobeschreibungen, ist knallharter Tobak. +Aber das Vor-Augen-Führen dieses Wahnsinns ist notwendig, um Theweleits Interpretation verstehen zu können. Und da geht es, wie immer bei Theweleit, hoch her. Filme, Songs, Literatur, Philosophie, Kunst oder Psychologie werden herangezogen, um der Lust, die vor allem Männer offensichtlich beim Morden empfinden können, auf die Schliche zu kommen. +Theweleit bedient sich einer etwas esoterisch wirkenden Psychoanalyse, die in anderen Täteranalysen wie beispielsweise bei der von Harald Welzer ("Täter: Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden") keine Beachtung findet. "Das Töten ist kein abstrakter Vorgang; das Erlernen des Tötens schon gar nicht", heißt es in dem Buch. "Jedes Detail der Zerstörung ist körperlich." Theweleit nimmt bei den Tätern eine sexuell konnotierte Mordlust an, die von Körpern ausgehe, die aufgrund von negativen Erfahrungen, von "Beschädigungen, Rissen, Verletzungen, Wunden, Narben" ihre Einheit verloren hätten. "Fragmentierte Körper" nennt er deshalb die Täter, die er aber nicht als Opfer, Patienten, Irre oder als das Böse verstanden wissen will. "Und es geht um die Lust zu töten, nicht gezwungen, nicht befohlen, sondern weil man will." Das Töten sei eine "Begleiteruption zur eigenen Selbstgeburt". Zum Täter könne deswegen eben jeder werden. +Begleiterscheinungen seien: eine körperliche Verunsicherung, die soziale Vereinsamung und der Wille, sich einem "Ganzheits-Überkörper" anzuschließen. Dieser kann der Dschihad sein, die SS-Ideologie, der Glaube an eine "höhere Rasse" oder eine sonstige herrische Ideologie. Die Art der Ideologie sei dabei zweitrangig. Breivik, so schreibt Theweleit, sei ein "strukturell patriarchalischer Muslim wie auch norwegisch-christlicher Antisemit wie auch germanisch-sektiererischer SS-Mann". Woher kommt aber das Lachen? Meistens, so Theweleit, werde das Töten bühnenartig inszeniert. Das Lachen verhelfe dem Täter dazu, einen "Spannungsausgleich" zu seinem kaputten Körper herzustellen. Das Lachen ist dabei so etwas wie die orgiastische Feier dieses vollzogenen Aktes. +Dieser Ansatz ist nicht ganz neu. Er geht auf Theweleit selbst zurück, der 1977 mit seinem Buch "Männerphantasien" schlagartig berühmt wurde und damit vor allem im linken Milieu große Beachtung fand. In seiner Doktorarbeit untersuchte er die faschistischen Männlichkeits- und Gewaltfantasien von Freikorpssoldaten in den 1920er-Jahren. Das aktuelle Buch soll sicher auch diesen mittlerweile in der Wissenschaft vergessenen Ansatz wieder in Erinnerung rufen. Entsprechend schnoddrig und abschätzig geht Theweleit mit anderen Täterforschern um. Vor allem aber plädiert er dafür, die Morde nicht als Extremfälle zu betrachten, sondern als eine Normalität, die überall geboren werden kann. Das Mittel, das Theweleit vorschlägt, um diesen "fragmentierten Körpern" entgegenzuwirken, erscheint da schon banal, erschreckend banal. Nur Beziehungen würden helfen, schreibt er, "Liebschaften, gute, tragfähige Gruppen oder Vereine und natürlich ein guter Arbeitsplatz". +Klaus Theweleit: "Das Lachen der Täter: Breivik u.a. – Psychogramm der Tötungslust". Residenz Verlag, Salzburg 2015, 248 Seiten, 22,90 Euro diff --git a/fluter/die-paketloesung.txt b/fluter/die-paketloesung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/die-palaestinensischen-fu%C3%9Fballerinnen.txt b/fluter/die-palaestinensischen-fu%C3%9Fballerinnen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..41059178c9ddc562eca603ef1568a9389ec68eca --- /dev/null +++ b/fluter/die-palaestinensischen-fu%C3%9Fballerinnen.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Flagge zeigen: vor einem Spiel der palästinensischen Frauen-Nationalmannschaft +Dima zuckt mit den Schultern. Sie betreffe das ja eigentlich nicht, sie sei sowieso Christin. Deswegen auch kein Kopftuch, sagt sie, lacht und zieht an ihrem Zopf. Aber es beeinflusse natürlich ihre Mitspielerinnen und damit die Energie des gesamten Teams, fügt sie etwas mürrisch hinzu. Insgesamt seien es eben keine einfachen Rahmenbedingungen hier, um professionell Sport zu treiben, findet die 23-Jährige. +Dima spielt in der palästinensischen Fußballnationalmannschaft der Frauen. 2006 gegründet, konnte das Team viermal an der Fußball-Westasienmeisterschaft teilnehmen. Größere Wettkämpfe waren bislang nicht drin. Sie seien ein noch junges Team, sagt Dima, und keine von ihnen könne sich ganz dem Fußball widmen. Sie selbst müsse gleich zur Universität, dort studiere sie Journalismus. Fußball als Karriere? "Daran habe ich nie gedacht, das ist hier keine Option. Denn im Gegensatz zu Europa steckt hier kein Geld in den Clubs." +Fragend blickt Dima auf das Mädchen neben sich, Gina Khnouf. Die nickt, seufzt und hebt leicht resigniert die Hände. Seit einem Jahr trainiere sie die Mädchen unter 19 Jahren, erzählt Gina, und das sei eine Aufgabe zwischen Hoffnung und Frustration. "So viele Talente bleiben hier ungenutzt. Selbst viele der Palästinenser wissen gar nicht, dass wir eine Frauenfußballmannschaft haben. Es ist ein Männersport – hier noch extremer als in Europa. Ich versuche, den Sport auch unter Frauen bekannt zu machen." +Das hat ein Nachtspiel: Während des Ramadan wird entweder nachts trainiert, nachdem man gegessen hat, oder kurz vor Sonnenuntergang +Doppelt anstrengend: ohnehin gelten für Palästinenser viele Restriktionen. Aber die Mädchen haben es doppelt schwer, weil es die meisten Familien nicht gerne sehen, wenn ihre Töchter regelmäßig Teamsport treiben +Ein doppelt schwieriges Unterfangen: Sogar die männlichen palästinensischen Sportler haben aufgrund eingeschränkter Bewegungsfreiheit oder Visa-Erfordernissen Probleme, außerhalb der Autonomiegebiete zu spielen oder zu trainieren. Ganz zu schweigen von den Menschen in Gaza und von Mädchen, für die eine Auslandsreise, große Wettkämpfe und Trainingscamps meist ein Ding der Unmöglichkeit bleiben. Gegnerische Mannschaften müssen notgedrungen nach Palästina kommen – und das passiert selten. "2011 haben wir hier in Palästina gegen Japan gespielt, das war ein Highlight." Gina klingt stolz – und das, obwohl sie damals 19 zu 0 verloren haben. +Einerseits ist Fußball tief in der palästinensischen Gesellschaft verankert: Bereits 1928 wurde der erste Fußballverband gegründet, seit 1998 gehört die Männernationalmannschaft zur FIFA, einige Jahre später folgten die Frauen. Andererseits gilt der Sport, der Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Briten und jüdische Einwanderer ins Land gebracht wurde, manchen konservativen Palästinensern auch als "westliches Kulturgut", das gemieden werden muss. Für Mädchen sind die Hürden ungleich höher: "Die meisten Familien sehen es nicht gerne, wenn ihre Töchter regelmäßig Teamsport treiben", erzählt Dima. "Es geht um die Kleidung, um das Reisen in andere Städte oder Dörfer, um den Kontrollverlust der Eltern. Sie halten Fußball außerdem für rabiat und unpassend für uns." +Yousef Zaghloul, einer der Trainer und zugleich Direktor der Abteilung für Frauenfußball in Al-Ram, kann dem nur zustimmen. "Für die meisten Mädchen ist mit 16 Jahren Schluss", sagt er und klingt dabei ehrlich bekümmert. Eigentlich ist Yousef studierter Ingenieur, Fußball sei lediglich seine Leidenschaft von klein auf gewesen. "Ich habe eines Tages eine Gruppe von Kindern auf der Straße vor meinem Haus spielen sehen. Ein Mädchen war dabei – und sie war unglaublich gut! Ich war sehr beeindruckt und gleichzeitig sehr betrübt, denn ich wusste, dass sie höchstwahrscheinlich nie von ihrem Talent profitieren wird." Dieser Moment habe sowohl sein persönliches Leben als auch sein Heimatdorf Dura, unweit von Hebron zwischen jüdischen Siedlungen und Olivenbäumen gelegen, von Grund auf verändert, erklärt der Trainer. "Endlich wusste ich, wie ich wirklich etwas in meiner Gesellschaft bewirken könnte. Es mag ein Klischee sein, aber an Orten wie diesem hier hat Sport noch immer diese Kraft." +Auslandsspiele kommen nicht in Frage. Wenn dann müssen die gegnerischen Mannschaften kommen. So wie 2011 die Japanerinnen. Für die Palästinenserinnen war das Spiel ein Highlight – obwohl sie damals 19 zu 0 verloren haben +Jahrzehntelanger Konflikt +Seit Gründung des Staates Israels im Jahre 1948 kommt es immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und ihren arabischen Nachbarstaaten, den Palästinensern sowie radikalen Gruppierungen wie Fatah, Hamâs und Hisbollah. Bislang gab es mehrere Kriege und zwei große palästinensische Aufstände ("Intifada"; Arabisch für Erhebung, Abschüttelung). Trotz internationaler Bemühungen für eine sogenannte Zwei-Staaten-Lösung, bei der ein autonomer palästinensischer Staat neben Israel angestrebt wird, sind die palästinensischen Gebiete bis heute in eine Vielzahl von Territorien eingeteilt, die teilweise von Israel besetzt und auch international nicht von allen Staaten als eigenständig anerkannt sind. Die Teilung der Stadt Jerusalem, die Hoheitsgewalt über den Tempelberg, das Schicksal der palästinensischen Flüchtlinge und der Bewohner des Gazastreifens, der israelische Siedlungsbau sowie die eingeschränkte Bewegungsfreiheit der Palästinenser sind nach wie vor ungelöste Streitpunkte. Der Nahe Osten ist von einer friedlichen Lösung weiter denn je entfernt. +Yousef gründete einen der ersten Mädchenfußballclubs Palästinas. Vorher habe er bereits zwei Teams von je 30 Jungs trainiert. Man kennt ihn, man vertraut ihm – und das sei unerlässlich, fügt er hinzu. Ohne ein bekanntes Gesicht passiere in diesem Landstrich gar nichts. Seit Yousefs Initiative hat sich der Sport Schritt für Schritt im Land verbreitet, mittlerweile zähle man immerhin 28 Clubs für Frauen. Für Mädchen bietet der organisierte Teamsport eine Möglichkeit, auch neben der Schule das Elternhaus zu verlassen, wovon sie offenbar gerne Gebrauch machen. "Ich habe bemerkt, dass sie – im Gegensatz zu den Jungen – immer mindestens eine halbe Stunde vor Trainingsbeginn da sind und auch nichts dagegen haben, wenn wir länger spielen als geplant. Das ist ihre Ausgehzeit, ihre Gelegenheit, einen Abend mit Freundinnen zu verbringen." +Damit es überhaupt so weit kommen konnte, musste Yousef reichlich Überzeugungsarbeit leisten: Viele Tassen Kaffee und Tee, unzählige Torten und Kekse habe er im Namen des Fußballs mit besorgten Müttern und noch besorgteren Vätern essen und trinken müssen. "Ich habe oft Erfolg, sie von der Sicherheit des Umfelds zu überzeugen", sagt er mit Nachdruck. Besonders gerne erinnere er sich an die beiden Spielerinnen, die vorher noch nie im Ausland gewesen waren und die er 2014 sogar zur Fußballweltmeisterschaft nach Brasilien mitnehmen durfte, um dort bei der Eröffnungsfeier für die palästinensischen Gebiete die Fahne hochzuhalten. Es habe jedoch auch viele Fälle gegeben, in denen die Mädchen ab der Pubertät auf Wunsch der Familie ausscheiden mussten. "Häufig war ich nicht in der Lage, den genauen Grund herauszufinden. Die Kleidung? Das kann man ja anpassen. Die Reisen? Der Sport selbst? Es gehörte sich einfach nicht, Ende der Diskussion." + +Fußball als Karriere ist für die Mädchen keine Option. Nach dem Spiel geht das normale Leben weiter +Solche Restriktionen seien ihr glücklicherweise erspart geblieben, erzählt Dima. Als palästinensische Christin habe sie eine in vielerlei Hinsicht liberalere Erziehung als ihre muslimischen Freundinnen genossen. Für die Studentin waren es eher politische und wirtschaftliche Hinderungsgründe, die sie davon abgehalten haben, den Sport als etwas anderes denn als eine persönliche Leidenschaft zu betrachten: "Ich liebe das Spiel, aber es gibt so wenig Unterstützung: keine Stipendien, keine Sponsoren, keine Investoren." +Auch Yousef arbeitet bis zu diesem Tag ehrenamtlich, ebenso wie Gina. Dafür müsse man wirklich an den Sinn der Sache glauben, betont er. Er tue das für die nächste Generation: nicht mehr und nicht weniger. Sie mache es lediglich zum Spaß, sagt Dima und muss lachen – "nicht mehr und nicht weniger". Ihr Lieblingsclub sei übrigens Borussia Dortmund aus Deutschland. "Die würde ich gerne mal spielen sehen. Was meint ihr, vielleicht kommen sie ja mal nach Al-Ram?" diff --git a/fluter/die-party-geht-weiter.txt b/fluter/die-party-geht-weiter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..81e92b37293be0e7fe0ed15c8a3db3063b9bc1bd --- /dev/null +++ b/fluter/die-party-geht-weiter.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Besucht man Ko Samui heute, dann wird schnell klar, wie umfassend der Tourismus Orte verändern kann. Man kann diese Veränderung nicht nur sehen, man kann sie sogar hören: Denn Dutzende Flugzeuge landen täglich auf dem Flughafen, der Ende der 80er-Jahre fertiggestellt wurde. Die Ringstraße, die um die gesamte Insel führt, verläuft nun an einem beinahe nie endenden Band aus Häusern, Geschäften, Restaurants und Hotels. Viele der schönsten Strände kann man nicht mehr betreten, wenn man nicht Gast der dort residierenden Luxusresorts ist. +Und doch war es für manche der Inselbewohner ein Segen, dass Touristen kamen, schließlich lebten viele von ihnen früher in armen Verhältnissen. Vor allem Fischer, die Land am Wasser besaßen, konnten davon profitieren. Für viele andere allerdings ist das Leben schwerer geworden – allein schon durch den Anstieg der Preise für Land und Lebensmittel in den großen Ferienorten. +Der Ansturm von Touristen auf Thailand ist gewaltig: Im vergangenen Jahr haben beinahe 27 Millionen Gäste das Land besucht, das selbst rund 67 Millionen Einwohner hat. Der Tourismus ist in Thailand mittlerweile eine der wichtigsten Einnahmequellen. Hunderttausende Menschen arbeiten in der Tourismusindustrie, die immer noch Jahr für Jahr wächst. Dabei kommen nicht nur Backpacker und Wellnesssuchende aus Europa oder den USA, seit einiger Zeit führen Touristen aus asiatischen Staaten die Liste der Besucher an. +Die Anfänge des Tourismus in Thailand liegen in den 60er- und 70er-Jahren. Damals intensivierte der Staat den Ausbau des Tourismus über Bangkok hinaus. Außerdem war Thailand das Aufmarschgebiet der USA für den Krieg in Vietnam. Zehntausende US-Soldaten waren am Golf von Thailand stationiert, bevor sie weiter in den Krieg zogen, andere verbrachten ihren Fronturlaub in Thailand. Im Umfeld der US-Kasernen entstanden Unterhaltungsmöglichkeiten und Erholungsgebiete. Neben den Soldaten kamen zunehmend Gäste aus Industrienationen, in denen das Einkommensniveau deutlich gestiegen war – zugleich wurden Langstreckenflüge billiger. +Eine andere Gruppe von Touristen waren die Hippies. Der legendäre "Hippie-Trail" durch die Haschund Opiumparadiese Iran und Afghanistan war damals wegen der politischen Verwerfungen in der Region zum Erliegen gekommen. Viele Hippies, die lange in Indien und Nepal gelebt hatten, zogen weiter nach Südostasien. Gemeinsam mit den Backpackern haben sie die vielleicht bekannteste Partyreihe des Landes ins Leben gerufen: die berühmten Full-Moon-Partys auf Ko Phangan. Damals tanzten ein paar Hundert Menschen rund um die Zelte vor einem Lagerfeuer, für die Musik sorgten die Teilnehmer selbst. +25 Jahre später gibt es die Full-Moon-Partys immer noch. Doch mittlerweile drängeln sich am Strand oft mehr als 30.000 Menschen. Techno-Beats, die aus Dutzenden Bars am Strand wummern, vermischen sich zu einem Lärmteppich. Kampftrinken – oft aus Plastikeimern – gehört zum Programm. Nach jeder Party werden Dutzende Besucher mit Alkoholvergiftung in Krankenhäuser gebracht, zudem haben sich in den vergangenen Jahren Diebstähle, Vergewaltigungen und Überfälle gehäuft. Daher werden Teile des Strandes von Sicherheitsleuten bewacht. Aus dem einstigen Freiheitsgefühl ist ein organisiertes Massengelage geworden. +Mit dem Massentourismus hat nicht nur die Kriminalität in Thailand zugenommen, er hat auch eine gewaltige Sexindustrie entstehen lassen, in der geschätzt mehrere hunderttausend Menschen beiderlei Geschlechts arbeiten. In allen Touristenorten finden sich Rotlichtviertel, eigens für ausländische Touristen. Allein in Bangkok gibt es drei große Rotlichtviertel. +Schon Reisende, die Thailand im 19. Jahrhundert oder noch früher besuchten, berichteten von einer wahren Verführungsindustrie. "Der Vietnamkrieg war natürlich nicht der Anfang der Prostitution in Thailand. Er wird aber zu Recht immer wieder als Startschuss für den internationalen Sextourismus angesehen", sagt Alexander Trupp, Geograf von der Uni Wien, der sich seit Jahren mit dem Tourismus in Thailand beschäftigt. Eine Zeitlang hat die staatliche Tourismusbehörde die Sexindustrie sogar als Attraktion für Besucher aus aller Welt indirekt beworben. +Eine weitere Negativfolge des Massentourismus sind die Umweltprobleme. In vielen Touristenregionen türmt sich der Müll. Auf der Ferieninsel Phuket herrscht massiver Wassermangel, viele der Korallen in den Tauchrevieren sind bereits abgestorben. Mittlerweile gibt es Initiativen, um die Missstände zu beheben. So macht sich das "Community Based Tourism Institute" an der Universität in Chiang Mai für einen verantwortungsbewussten Tourismus stark, bei dem die lokalen Gemeinschaften verstärkt in Tourismusprojekte eingebunden werden. Besucher sollenin den Dörfern mehr über die Herstellung lokaler Produkte erfahren. +Ein Beispiel für nachhaltigen Tourismus ist die ethnische Minderheit der Akha, die in den Bergregionen im Norden des Landes lebt. In vielen Touristengegenden gehören Akha-Souvenirverkäuferinnen zum Straßenbild: Sie tragen traditionelle Kleidung und verkaufen an Ständen oder aus Bauchläden Holzfrösche, Taschen, Armbänder und ähnliche Souvenirs. Akha-Verkäuferinnen hatten schon in den 70er-Jahren auf dem Nachtmarkt in Chiang Mai begonnen, ihre Souvenirs zu verkaufen. Später, als die Konkurrenz vor Ort immer größer geworden war, zogen viele Akha-Souvenirhändlerinnen weiter in die Touristengebiete in Bangkok und im Süden des Landes. +"Der internationale Tourismus kann einen Beitrag dazu leisten, die eigene Kultur aufzuwerten", sagt Tourismusforscher Trupp. Das lasse sich in vielen Touristenregionen Asiens beobachten: Wenn selbst hergestellte Kulturprodukte als Souvenirs verkauft und von ausländischen Besuchern geschätzt würden, steigere es das Selbstwertgefühl vieler lokaler Gemeinschaften. Der Tourismus könne so zum Erhalt traditioneller Handwerkskünste beitragen. +Sascha Zastiral arbeitet seit Anfang 2010 als Korrespondent in Bangkok. Vorher lebte er zweieinhalb Jahre in Neu-Dehli. diff --git a/fluter/die-paten.txt b/fluter/die-paten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/die-poesie-des-logistikzentrums.txt b/fluter/die-poesie-des-logistikzentrums.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5cc12043f70c9bbd918454e88583744eea16f358 --- /dev/null +++ b/fluter/die-poesie-des-logistikzentrums.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Dieser literarische Kniff der direkten Leseransprache trägt die Erzählperspektive. Anfangs erscheint das "Sie" noch wie eine Art Komplizenschaft, eine Freundin, die ebenfalls zu gähnen anfängt, wenn sie einen Karton nach dem anderen zerkleinern muss. Auf der anderen Seite ist das "Sie" oft eine mutigere, ja aufmüpfigere Persönlichkeit als die Ich-Erzählerin, die sich zu vielem viel denkt, aber in unangenehmen Situationen oft schweigt. +Wie etwa, dass man für die Teilnahme an Schulungen doch bezahlt werden sollte. "Wir bei Amazon denken: Jeder Tag ist ein erster Tag", sagt Robert, der die Neulinge in den Amazon-Kosmos einweiht. Dort, wo der Kunde König ist, wo sich jeder duzt, wo Handys nicht erlaubt sind und wo man nach Geißlers Beschreibung gezwungen wird, den Handlauf an den Treppen zu benutzen, da jeder Unfall letztendlich dem Unternehmen schade. Dort, wo mit den Schichtarbeitern wie mit unartigen Kindern gesprochen wird, verdichten sich immergleiche Handgriffe zu immergleichen Tagen: "Sie müssen Flyer zu einer Tanzveranstaltung, die in Stapeln zu 250 Stück gebündelt in Kartons liegen, in Tüten stecken und diese Tüten mit einem Label versehen, auf dem für Maschinen und Menschen lesbar steht, was sich in der Tüte befindet." +Dem entgegengesetzt entzieht sich Heike Geißlers Buch jeglicher Routine, jeglicher Einordnung. Non-Fiktionales verschmilzt mit Fiktionalem, das "Ich" mit dem "Sie", der Weltkonzern Amazon wird austauschbar: "Sie haben auf jeden Fall meinen Saisonarbeitsjob bei Amazon, der vollkommen genügt, um alles zu erfahren, was man über die Arbeitswelt in ihrer geläufigsten Ausprägung erfahren kann." +Die naiv anmutende Verallgemeinerung ist Ausdruck dafür, um was es der Autorin geht: nichts weniger als "um Leben und Tod" – denn schließlich sitzen oder stehen wir tagtäglich Zeit ab bei Arbeiten, die wir oft lediglich zum Geldverdienen, zum "Überleben" verrichten. Doch was ist der "Nutzen des Nutzens", fragt die Ich-Erzählerin und zitiert Lessing, der nur eine der vielen literarischen Referenzen in diesem stellenweise mühsamen und auch sehr poetischen Büchlein ist. Und so ruft die Ich-Erzählerin "Sie" zum Handeln auf. Nicht dazu, nicht mehr bei Amazon zu bestellen – denn das mache ihr Freund ja auch, und selbst Geißlers Buch "Saisonarbeit" ist über Amazon lieferbar –, sondern absichtlich Fehler in der Arbeitsroutine zu machen. Den Mund aufzumachen. Oder schlicht den Job hinzuschmeißen, weil er in seiner "Last der sinnlosen Tätigkeit" "Sie" zu erdrücken droht. +Sinnlos erscheint an manchen Stellen aber auch Geißlers Buch: Wenn beispielsweise die Sie-Figur auf das "Lächerliche eines reflexhaften Konsums" herabschaut und 100 Seiten später sich vom ersten Gehalt eine Weihnachtspyramide bei Ebay bestellt. Auch strukturell ist das Buch nicht vollständig zu Ende gedacht: So verweigert sich die Autorin mit ihrem Wunsch, in keine literarische Kategorie zu fallen, zwar vehement dem Geschäftsmodell Amazons. Sie bedient sich jedoch einer Sprache, die mal monoton, mal poetisch ist und mit Referenzen auf Literaten von Böll bis Jelinek einem Gemischtwarenladen gleicht. Wie der Großkonzern Amazon, der neben Büchern eben auch Sexspielzeug verkauft. +Marion Bacher volontiert bei der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) im Fachbereich Multimedia diff --git a/fluter/die-qual-der-wahl-0.txt b/fluter/die-qual-der-wahl-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/die-qual-der-wahl.txt b/fluter/die-qual-der-wahl.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/die-rechnung-bitte.txt b/fluter/die-rechnung-bitte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f5223c19de3f8c8710eb545f9ff351134dfb8d36 --- /dev/null +++ b/fluter/die-rechnung-bitte.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +3 Minuten duschen2,000 kWh0,30 Euro +1 Tasse Kaffee0,015 kWh0,00225 Euro +5 Stunden Handy0,003 kWh0,00225 Euro +3,5 Stunden Fernseher0,500 kWh0,075 Euro +5 Stunden PC, Drucker, Bildschirm1,000 kWh0,15 Euro +5 Stunden zwei Glühlampen à 60 W1,200 kWh0,18 Euro +Mittag- und Abendessen kochen0,500 kWh0,075 Euro +15 Minuten Aufzüge, Rolltreppen etc. nutzen0,500 kWh0,075 Euro +Standby-Betrieb von PC, TV, HiFi-Anlage0,050 kWh0,0075 Euro +Geschirrspüler 1 Füllung1,000 kWh0,15 Euro +Gesamt6,768 kWh1,017 Euro diff --git a/fluter/die-rechte-internationale-wie%20rechtspopulistische-jugend-in-europa-zusammenarbeiten-will.txt b/fluter/die-rechte-internationale-wie%20rechtspopulistische-jugend-in-europa-zusammenarbeiten-will.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..073f2ca8492fa379c226f01ac5b727cc9fc54900 --- /dev/null +++ b/fluter/die-rechte-internationale-wie%20rechtspopulistische-jugend-in-europa-zusammenarbeiten-will.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +"Unser Europa ist Tausende Jahre alt. Deren Europa gibt es erst seit 60 Jahren", sagt Davide Quadri, Sprecher der Nachwuchsorganisation der Lega Nord, und stellt sich damit gegen das Europabild der Europäischen Union. In seiner Eröffnungsrede spricht er von Identität, Wurzeln und Souveränität. Quadri möchte neu definieren, was es heißt, Europäer zu sein. Dafür brauche es keine Europäische Union und keine "antidemokratische europäische Elite". Quadri plädiert für starke Nationalstaaten, die unabhängig voneinander handeln. +Blau-gelbes Fahnenmeer: Das Lega-Nord-Logo dominiert die "Wiedergeburt der europäischen Jugend" +Ein Song von AC/DC wird gespielt. Gäste der europäischen "Schwesterparteien" betreten die Bühne. Von Rassemblement National (Frankreich), UKIP (Großbritannien), Vlaams Belang (Belgien), Junge Alternative (Deutschland) und FPÖ (Österreich) sind insgesamt etwa 30 Delegierte erschienen. Das Publikum, überwiegend junge Männer in weißem Hemd und blauem Sakko, klatscht höflich. Eigentlich waren auch polnische und russische Gäste angekündigt, doch sie hatten kurzfristig abgesagt. Als Andrea Crippa zum Mikrofon schreitet, tobt die Menge, empfängt ihn mit Standing Ovations. Crippa ist der Hauptdarsteller dieser Veranstaltung. Er war Salvinis Assistent, als dieser noch EU-Abgeordneter war, wurde dann ins italienische Parlament gewählt und hat seit vier Jahren den Vorsitz der Lega Giovani inne. Während seiner Amtszeit sei die Mitgliederzahl von 1.000 auf 20.000 gestiegen, berichtet Crippa. +Da stehen die führenden Köpfe rechtspopulistischer europäischer Parteien vereint auf der Bühne. Ist das kein Widerspruch – dass gerade diejenigen, die sich einer nationalistischen Rhetorik bedienen, sich zusammentun? Welches Ziel verfolgen sie? +Im Rampenlicht: Damian Lohr, Vorsitzender der Jungen Alternative, beantwortet Fragen von Journalisten +In ihren Reden kündigen sie an, gegen den "linken Meinungsmainstream" vorgehen und dem "Europa der Technokraten und Banken" trotzen zu wollen. Damian Lohr, Vorsitzender der Jungen Alternative, beschimpft einzelne Politiker*innen als "Hexe" oder "Vergewaltiger Europas". Das kommt im Saal gut an. Besonders laut wird es, als Lohr von der "dekadenten Elite" spricht, die sich in einem Glaspalast in Brüssel, fernab vom Volk, verbarrikadiert habe.Es ist Populismus in Reinkultur: "wir" gegen "die".Wer zum "Wir" gehören und für das "Wir" sprechen darf, wird eng definiert. Die Reden dominiert ein bleischweres "Dagegensein": gegen Multikulturalismus, gegen LGBT, gegen Sozialismus, gegen Migration. +Die jungen Redner versichern sich mehrmals, darauf hinzuwirken,dass ihre Parteien in Brüssel eine gemeinsame Fraktion bilden werden. Solche realpolitischen Töne werden nur selten angestimmt. Immigration sei die große Herausforderung seiner Generation, sagt der Franzose Bardella, Le Pens EU-Spitzenkandidat für den Rassemblement National. Er spricht vom "Überleben seines Volkes". Diese Angst vereint die rechten Nationalisten. Angeblich sei das eigene Volk – imaginiert als weiß und schon immer im eigenen Land verwurzelt – durch Migration und Zuzug von Nichteuropäern bedroht. Bardellas Statement erinnert an die rassistische Ideologie des "großen Austauschs", die der französische Philosoph und Politiker Renaud Camus aufgestellt hat. Viele europäische Nationalisten beziehen sich auf seine Schriften, die Kennzeichen von Verschwörungstheorien aufweisen. +Einige der Nachwuchspolitiker klingen, als hätten sie die "Gladiatorenschule für kulturelle Kämpfer" bereits besucht. Im Kloster Trisulti nahe Rom, wo sich das "Institut für Menschwürde" (DHI) eingemietet hat, sollen rechtspopulistische Kader ausgebildet werden. Unter anderem mit Steve Bannon, dem ehemaligen Chefstrategen von Donald Trump, als ständigem Dozenten. Mehr als 200 Nachwuchspolitiker können in den alten Mauern zusammen lernen und, eigenen Aussagen nach, die Übernahme Europas vorbereiten. Sie möchten einen "populistischen Nationalismus" fördern. Dazu gehört für sie der Kampf gegen Immigration, gegen "die Eliten" und gegen den Islam – was nicht selten bedeutet: gegen muslimische Menschen. +Mehr als die Ankündigung dieses Ausbildungsprogamms gibt es bisher nicht. Journalisten stehen aber schon jetzt für Interviews aus dem alten Kloster Schlange. Homestorys von dort finden sich in vielen europäischen Zeitungen. Und so wird einmal mehr klar: Den Umgang mit den Medien beherrschen die rechten Populisten sehr gut. + +Ziemlich beste Freunde: Der Italiener Andrea Crippa und der Franzose Jordan Bardella machen ein gemeinsames Selfie. Beide erreichen auf ihren Social-Media-Kanälen eine große Anhängerschaft +Auch die Veranstaltung in Rom ist vor allem ein medienwirksamer Auftakt der heißen Wahlkampfphase, aber weniger eines europäischen Wahlkampfs. Die Lega Nord dominiert das dreistündige Treffen. Die Fahnen der italienischen Rechtspopulisten wehen auf den Fotos dieses Nachmittags. Sie sollen die sozialen Medien fluten. Als Lega-Nord-Star Crippa am Ende zum gemeinsamen Selfie lädt, bildet sich eine lange Schlange; obwohl viele der Wartenden wahrscheinlich auf ein Bild mit Innenminister Salvini gehofft hatten. Doch der ist zur "Wiedergeburt der europäischen Jugend" nicht erschienen. + +Übersetzung: Niklas Prenzel diff --git a/fluter/die-rekruten-neue-bundeswehr-serie-auf-youtube-in-der-kritik.txt b/fluter/die-rekruten-neue-bundeswehr-serie-auf-youtube-in-der-kritik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d35739d9644b46b95ee37e5e3a6b6a514df7987e --- /dev/null +++ b/fluter/die-rekruten-neue-bundeswehr-serie-auf-youtube-in-der-kritik.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +"Das ist alles so neu für mich." Anna-Lena muss erst mal klarkommen. +Die allergrößten Probleme sind das noch nicht, mit denen die drei Jugendlichen da konfrontiert werden. Sie gehören zu den Protagonisten der Youtube-Serie "Die Rekruten", mit der die Bundeswehr seit Dienstag im Netz um Nachwuchs wirbt. Die "Reality-Doku" begleitet zehn junge Männer und zwei junge Frauen bei ihrer dreimonatigen Grundausbildung an einer Marinetechnikschule bei Stralsund. Zwölf Wochen jeden Tag ein neues Video auf Youtube, dazu Bildchen und Clips auf Facebook, Instagram und Snapchat, außerdem Plakate und Radiospots. Kosten: 1,7 Millionen Euro für die Serie, 6,2 Millionen Euro für die Promo drum herum. +Die Bundeswehr steckt in Personalproblemen, vor allem seit der Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 ist die Nachwuchsrekrutierung kein Selbstläufer mehr. Schließlich konkurriert die Freiwilligenarmee seitdem mit der Wirtschaft um gefragtes Personal wie Techniker und Ingenieure. Meist hat die Wirtschaft das bessere Ende für sich – höhere Bezahlung, in der Regel keine Lebensgefahr. Auch deshalb bemüht sich die Bundeswehr unter Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) mit Kampagnen wie "Mach, was wirklich zählt" stärker als zuvor um ein Image als moderner, auch für junge Menschen attraktiver Arbeitgeber. +Dabei ist es zumeist das Wie, das von Kritikern immer wieder einmal bemängelt wird. Kürzlich,als die Bundeswehr auf der Spielemesse Gamescom mit drei bekannten Youtubern warbund nicht preisgab, wie viel Steuergelder dafür ausgegeben wurden. Oder vor zwei Jahren, als eineAnzeige in der Onlineversion des Jugendmagazins "Bravo" als verklärend kritisiertwurde. Und ganz aktuell, da die Rekrutenkampagne der Opposition zu teuer und beschönigend ist. +Das Geld sei besser in modernere Ausrüstung investiert, war in diesen Tagen mehrfach zu lesen – schließlich gilt diese seit dem Debakel um das Sturmgewehr G36 als nicht mehr zeitgemäß. Die Bundeswehr hält die rund acht Millionen Euro für die Serie dennoch für gut angelegt, schließlich sei der Youtube-Kanal laut ihren eigenen Angaben innerhalb von einer Woche mehr als eine Million Mal geklickt worden. +Die Kritik, dass die Videos nicht die "wahre" Bundeswehr zeigten – Abenteuer, Sport, Kameradschaft statt Kampf und Tod –, weist die Bundeswehr zurück: Die Filme zeigten ein authentisches Bild der Grundausbildung, es gebe auch kein Skript. Alle Höhen und Tiefen sollen gezeigt werden. +So oder so ist das Werben um Nachwuchs für die Bundeswehr eine Gratwanderung. Einerseits will sie ganz besonders junge Menschen ansprechen, andererseits sind Kinder und Jugendliche als Zielgruppe eigentlich tabu,worauf selbst der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes schon hingewiesen hat. Kinderrechtlern missfällt außerdem, dass Jugendliche mit dem Einverständnis ihrer Eltern bereits mit 17 Jahren in die Bundeswehr eintreten können. + +Die ersten Videos von "Die Rekruten" sind im selfiehaften Vlog-Style gehalten, die Serie soll die Jugendlichen "in ihrer Welt" abholen. Dort ist es offenbar eine mittlere Tragödie, wenn man seine Piercings im Dienst entfernen muss. "Alter, Digger, fängt schon gut an." Mal sehen, wie die Jugendlichen reagieren, wenn es dann wirklich mal unangenehm wird – und ob die Serie entsprechende Szenen überhaupt zeigt. + diff --git a/fluter/die-revolution-frisst-ihre-kinder.txt b/fluter/die-revolution-frisst-ihre-kinder.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6bb493fc9bd2b4e3db5edbef02511fda8f46936b --- /dev/null +++ b/fluter/die-revolution-frisst-ihre-kinder.txt @@ -0,0 +1,21 @@ + +Und was soll uns das zeigen? +Wie der Titel des Films schon suggeriert: Die Revolution frisst ihre Kinder. Doch das ist nur die eine Seite. Auf der anderen Seite zeichnet der Film von Mathieu Denis und Simon Lavoie das jugendliche Bedürfnis nach, die saturierte westliche Wohlstandsgesellschaft umzustürzen. Und die Verzweiflung darüber, dass im 21. Jahrhundert eine linke Perspektive fehlt, die den Kapitalismus ernsthaft in Frage stellt. + +Wie wird's erzählt? +Als größenwahnsinniges, dreistündiges Diskurs-Epos mit unterschiedlichsten filmischen Mitteln: Denis und Lavoie wechseln immer wieder Bildformat (4:3, 16:9, Breitwand) und Farbgebung, schneiden dokumentarisches Material der Proteste in die fiktionale Handlung, werfen wortreiche Manifeste als Textinserts auf die Leinwand und lassen theaterhafte Szenen auf pure Kino-Momente folgen. Schließlich gibt es noch einen bombastischen Orchester-Soundtrack und der Filmhandlung steht eine minutenlange Ouvertüre voran. Letzteres gibt's eigentlich nur in angestaubten Hollywood-Epen. + +Stärkste Szene +Als Klas beim Dinner ihren Eltern von den Protesten erzählt, bekommt sie eine Standpauke von ihrem Vater, der seine rebellische Vergangenheit längst verdrängt hat: "Erstmal ein nützlicher Teil der Gesellschaft werden!" Die bürgerliche Selbstgerechtigkeit, der jugendliche Protest, ein kaum lösbarer Generationenkonflikt – in dieser Szene ist alles drin. Als der Streit eskaliert, sticht Klas dem Vater mit dem Steakmesser in die Schulter und stürmt aus dem Haus. + +Good Job! +Der Theoriewust, die Formatwechsel mit der Kamera, der bombastische Soundtrack – das alles könnte arg prätentiös sein, fügt sich jedoch zur konsequent-experimentellen Form, die ein revolutionärer Stoff verdient. + +Was soll das denn? +Als die Gruppe nach einer fatalen Aktion zunehmend zweifelt, zündet sich eine Protagonistin aus Schuldgefühlen selbst an – im Vorgarten ihrer Mutter. Die psychopathologischen Tendenzen des Films gegen Ende schwächen eindeutig das politische Profil der Figuren. + +Wieder was gelernt +Ein Großteil der überbordenden Manifeste und Pamphlete, die den Film diskursiv unterfüttern, stammt aus den 60er- und 70er-Jahren. Mit der linksextremistisch-nationalistischen FLQ (Front de libération du Québec), auf die sich der Film indirekt bezieht, gab es damals auch in Kanada eine terroristische Gruppe, die 1970 im Zuge des Ausnahmezustands von Polizei und Armee zerschlagen wurde. + +Ideal für...theorieaffine, queerfeministische, linksradikale Cineasten. +"Those Who Make Revolution Halfway Only Dig Their Own Graves", Regie: Mathieu Denis, Simon Lavoie, mit: Charlotte Aubin, Laurent Bélanger, Emmanuelle Lussier Martinez, Gabrielle Tremblay, Kanada 2016, 183 Min. diff --git a/fluter/die-revolution-sind-wir.txt b/fluter/die-revolution-sind-wir.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4a10f433041935337a2c2873ab16b1536f125181 --- /dev/null +++ b/fluter/die-revolution-sind-wir.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +"Mensch, Patrick, wieso bist du denn nicht an deinem Logbuch?", ruft die Lehrerin dem jungen Kerl zu, der sich gerade aus dem Klassenzimmer davonstehlen will. Patrick zieht professionell unschuldig die Schultern hoch. "Aber ich hab die Sachen doch fast fertig." Carolin Arlt-Gleim, das ist die Lehrerin, guckt ihn an: "Du hattest dir viel vorgenommen. Verlier dein Ziel nicht aus den Augen!" Dann fährt sie herum, weil sich zwei ihrer schweren Jungs in einem Handgemenge verkeilen: "Verdammte Hacke, was soll das denn! Lernbüro heißt lernen und nicht ringen." Das Lernbüro ist das Herzstück des neuen Lernens an der Stephan-Schule. Deutsch, Mathe und Englisch werden nicht mehr unterrichtet wie früher. Frontal, 45 Minuten lang: Lehrer an alle. Lernbüro geht anders. Dort entscheiden Schüler selbst, ob und wann sie Dreisatz, Englisch oder Rechtschreibung machen. Wer grad wo ist, steht im Logbuch. "Frau Arlt ist wie eine zweite Mama", sagt Alida. Vor der Klasse verkörpert sie den Charme einer Pionierleiterin. +Arlt-Gleim ist vielleicht die Lehrerin, die für die pädagogische Bandbreite steht, welche die Stephan-Schule abdecken muss. Sie kam einst von einer freien Schule, die mit viel Kunst und finnischem Wochenplan die Verspieltheit des offenen Lernens zelebrierte. Doch hier, in einer Fünfzig- Prozent-Zuwanderer-Schule, geht individuelles, selbstständiges Lernen auch anders: härter, schroffer, disziplinierter. "Manche muss man sehr eng führen", ergänzt der Rektor. "Sonst bedeutet Freiarbeit schnell frei von Arbeit." In der M-Klasse nebenan eröffnen Werner Hüffer und Kathrin Kammermeier den Tag. Ein festes Ritual. Einer der Schüler ruft "Guten Morgen". Die Klasse antwortet im Chor "Guten Morgen!". Dann sagt einer, welcher Tag heute ist, wie kalt es draußen ist und was heute ansteht. Montag, der 7. Mai 2012. Besuch einer alten Dame. Margot Friedländer, 90, Holocaust-Überlebende, wird von Auschwitz erzählen. In einer Klasse voller Muslime. Zur Lockerung hilft das Morgenkreis-Ritual, an dessen Ende eine Art Kreuztanz steht. "Damit beide Hirnhälften aufwachen", ruft Werner Hüffer schnaufend. +Was anmutet wie die schwache Blaupause eines Bootcamps, ist hier die Wiedererrichtung des Koordinatensystems. Ruhe und Konzentration strahlt der Beginn in der M4 aus. Die Jugendlichen kommen aus dem Wochenende zurück, genauer: von Partys, durchchatteten Nächten oder kleinen Gang-Kriegen draußen auf den Straßen von Charlottenburg- Nord. "Wir haben Schüler, für die ist unsere Schule so etwas wie die Rettung", sagt einer der Lehrer. "Sie hilft ihnen aus Lebens- und Wohnzuständen, die jeder von uns als unerträglich empfinden würde. Diese Schule ist für sie die Chance, in die Gesellschaft einzusteigen." +In jeder der Klassen befinden sich fünf oder sechs Schüler, die sonst wohl eine Förderschule besuchen würden. "Für diese Schüler müssen wir täglich eigene Aufgaben konstruieren", sagt der Klassenlehrer aus der M4. "Die Aufgaben mit den Anforderungsniveaus von Hauptschule bis Gymnasium schaffen die gar nicht. Wir müssen sie erst auf das Niveau der Hauptschule hieven. Aber das ist extrem anstrengend." Der 62-Jährige zieht die Stirn in Falten. Er hat seit 1975 an dieser Schule alles miterlebt. Früher die sterbende Hauptschule. Heute die Lernwerkstätten, in denen sich die Schüler Themen selbst erarbeiten. Und sie dann mit Prezi oder Powerpoint den Eltern präsentieren müssen. Den "Mittwoch im Angebot" mit allen nur denkbaren Wahlkursen. Oder das vom SOS-Kinderdorf für dieses Projekt zur Verfügung gestellte Landbaugelände in Gatow, wo die Pubertierenden alles selber machen dürfen, vom Baumhaus bis zum Gemüsebeet. Oder jeden Tag "die bewegte Pause". 20 Minuten Sportangebote, verpflichtend, bei denen Hüffer die Jungs umdribbelt wie Slalomstangen. +Werner Hüffer sagt, dass das individuelle Lernen eine bessere Methode ist als das herkömmliche Belehren von vorne. "Beim Frontalunterricht haben die mich immer alle fröhlich angelächelt – aber ich wusste ja gar nicht, ob sie es können oder nicht", berichtet er. Heute weiß er ganz genau, wer es nicht kann. Aber er weiß auch: Er kann nicht immer helfen. "Wir bräuchten ausgebildete Sonderpädagogen im Team, die Zeit haben, auf solche Fälle einzugehen." Zum Beispiel Aytun. Wenn er hinausgeht und sich allein vor die Heizung im Treppenhaus setzt, um dort zu arbeiten. Ein sehr gepflegter Junge, offene, wache Augen. Aber auch einer, der ganz schnell nervös und zappelig ist. Mit Aytun im Klassenraum kann das ganz schnell kippen. Er schubst Mitschüler, reißt sie mit. Als die Klasse die Zeitzeugin Margot Friedländer anhört, ist es lange mucksmäuschenstill. Die türkischen Halbstarken schlucken schwer, als sie hören, dass Friedländers Bruder "mit 17 Jahren ins Gas geschickt wurde". Murat, ein muskulöser, sehr ernster Junge, klebt mit seinen Augen 40 Minuten lang förmlich an der älteren Dame, die erzählt, wie sich das industrielle Töten der Nazis aus der Nähe anfühlte. Nur Aytun fesselt das nicht. Nach wenigen Minuten wippt er, knetet und klatscht in die Hände. Erst als ihm eine Lehrerin beruhigend auf die Schulter klopft, wird es besser. +Der Unterschied zu früher ist: Früher waren es die schwierigen Schüler, die das Klima in der Klasse bestimmten, heute sind es die Engagierten, die im Unterricht den Ton angeben und die die Standards setzen. Die Klasse ist beim kollektiven Notenverlesen schon ein wenig weggenickt. "Lea, zwei Punkte", sagt der Lehrer. Es dauert eine Sekunde, da schreckt die ganze Klasse hoch. "Lea – nee, das ist nicht wahr!", ruft einer. Der Lehrer kostet seinen Gag einen Moment aus. "Lea, 15 Punkte natürlich!" Die Kids grienen. Was Turgut als Qual empfindet – alles selber machen zu müssen –, ist für Alida der Ansporn, mehr zu machen. "Ich kann hier selbst entscheiden, wann ich Mathe übe und wann Englisch", sagt sie. "Das Lernbüro ist genau das Richtige. Ich arbeite und gehe nur zum Lehrer, wenn ich etwas nicht verstehe." Als Alida kam, hatte sie eine Realschulempfehlung. Inzwischen sind ihre Noten so weit nach oben geschnellt, dass sie eines der Mädchen sein wird, das zum ersten Abiturjahrgang gehören könnte. "Aber ich muss dranbleiben", sagt Alida. Und setzt den Eintrag in ihrem Französischheft sehr korrekt fort. +Die Stephan-Schule ist weiterhin eine Schule derjenigen, die den Anschluss zu verlieren drohen. Aber sie ist jetzt auch: eine Schule der Aufsteiger. Lea aus der M4 findet Noten wichtig und ist begierig darauf, "dass mir die Lehrer sagen, wie ich besser werden kann". Sie hat ebenfalls eine Realschulempfehlung, aber sie will mehr. Svenja machte der Druck am Gymnasium körperlich krank. In den Projekten der Stephan-Schule ist sie die Chefin: "Ich kann selber sagen, ich will lieber Atombombe oder Inflation präsentieren." Sie alle wollen Schauspielerinnen werden. Und sie haben das große Ziel vor Augen: die ersten Abiturientinnen zu sein. 30 Jahre, nachdem die Lehrer der Heinrich-von-Stephan-Schule beschlossen: Wir wehren uns! Vielleicht ja auch Patrick? Den seine Lehrerin anpfeift, wenn er schludert. "Ich hätte an ´ne Schule gehen können, wo man den Mofa-Führerschein macht", erzählt er. "Mofafahren! Aber ich wollte hierher. Weil der Lernstand besser ist." Patrick redet nicht gerne über sein Zuhause. Krach mit dem Vater. Lieber darüber: "Ich schreibe meine eigenen Texte. Stehen bei Yuppie.de." Er leuchtet, will nicht genau verraten, wo. "Hab Angst vor Raubkopierern." Als jemand was von Gymnasium sagt, macht er: "Boah, Gynasium, das wär auch cool." Sie werden Patrick verraten müssen, dass er das Abi auch hier haben kann. Hier in seiner Schule. diff --git a/fluter/die-rolle-von-social-media-fuer-die-bundestagswahl.txt b/fluter/die-rolle-von-social-media-fuer-die-bundestagswahl.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..841b57e8fb2fb3ebfecb0263c5b7c56a000d26ca --- /dev/null +++ b/fluter/die-rolle-von-social-media-fuer-die-bundestagswahl.txt @@ -0,0 +1,33 @@ +Welche Rolle spielt das Internet? +Es ergänzt nur, besonders bei sowieso schon politikinteressierten Menschen. +Dabei setzen doch alle auf Social Media! +Das ist auch nicht verkehrt, denn soziale Medien sind sehr niedrigschwellig. Sie haben das Potenzial, auch diejenigen 30 bis 40 Prozent zu erreichen, die sich normalerweise nicht politisch beteiligen – aber sie müssen auch angesprochen werden. +Klingt so, als wäre das nicht der Fall. +Leider sind viele politische Akteure nicht in der Lage, soziale Medien ordentlich zu nutzen. Die haben den Sinn nicht verstanden: Kommunikation, in Kontakt treten, sich unterhalten. Stattdessen nutzen Politiker das Internet wie eine digitale Litfaßsäule, an die sie ein Wahlplakat und ihren Lebenslauf kleistern. Und das war's dann auch schon. +Aber es gibt doch Ausnahmen. +Natürlich gibt es die. Die größte ist übrigens die AfD: Die ist unheimlich gut aufgestellt bei Twitter und Co. Sie wird den Bundestagswahlkampf im Netz dominieren, da bin ich mir sehr sicher. +Was hat die AfD den anderen Parteien im Netz voraus? +Sie verzichtet auf Politikersprech und schafft es, ihre Einstellung in 140 Zeichen zu packen und für alle verständlich rüberzubringen. Das kann Donald Trump gut, das können Populisten gut – die meisten deutschen Politiker müssen es noch lernen. +Aber das Prinzip "Form vor Inhalt" kann doch nicht erstrebenswert sein. +Nein. Populisten haben es auf Social Media natürlich leichter, da sie sich nicht mit inhaltlichen Fragen auseinandersetzen, sondern nur Stimmung machen. Dennoch gilt: Inhalte zählen, alles andere funktioniert nur bis zu einem gewissen Grad. Denn die Wahlen werden von der bürgerlichen Mitte entschieden. Die ist ganz gut gebildet, die will auch Inhalte sehen. Da reicht weder ein Lacher noch ein Aufreger allein. +Gibt es Inhalte, auf die wir Jungen besonders anspringen? +Die Generation seit 1980, der auch ich angehöre, beschreibt man am besten als Wechselwählerschaft. Wir identifizieren uns immer nur mit Teilaspekten, selten bis gar nicht mit einer ganzen Partei. Deshalb sind die Partikularinteressen entscheidend, die müssen angesprochen werden. +Viele unserer Leser sind weitaus jünger als Jahrgang 1980, "Digital Natives", wie man so sagt. Was ist mit denen? +Für die gilt das ganz besonders. Es gibt den Mythos, dass junge Menschen nicht politisch interessiert seien. Das ist falsch. Sie sind lediglich der Parteipolitik gegenüber skeptisch und suchen sich Alternativen, um sich zu engagieren. Hier kommen die NGOs ins Spiel, in denen die Partikularinteressen der jungen Menschen vertreten werden. +Je spezifischer, desto besser? +Genau. Das ist nicht nur ein Vorteil für NGOs wie Amnesty International oder Greenpeace, sondern auch für die kleineren Parteien. Die müssen nicht so viele Themen und Menschen unter einen Hut bringen wie die Volksparteien, sie könnten also viel gezielter über Social Media kommunizieren. Aber da ist noch viel Luft nach oben. +Was halten Sie von den Politikern, die kürzlich bei Kommunalwahlen auf Tinder für ihre Politik geworben haben? Ohne großen Erfolg übrigens. +Dr. Götz Harald Frommholz ist Geschäftsführer des gemeinnützigen Thinktanks d|part (dpart.org), der mit seiner Forschung die politische Partizipation fördern will. Frommholz ist Referent an der Humboldt-Universität zu Berlin und lehrt zudem an mehreren Berliner Hochschulen +(lacht) Hätte mich gefreut, wenn das funktioniert hätte. Aber die Logik von Tinder ist eben eine andere. +Was wären sinnvollere Beispiele, "innovativ" zu sein? +Die CDU überlegt, im Wahlkampf Chatbots einzusetzen, die Fragen zum Wahlprogramm beantworten. Das ist auf der kommunikativen Ebene recht interessant. Das entspricht dem Prinzip Social Media, weil sich da jemand mit einem austauscht und sich keiner stillen Litfaßsäule gegenübersieht. +"Echte" Interaktion zwischen Politikern und Wählern – wie von Ihnen gefordert – ist das aber auch nicht. +Nein. Politiker müssen unter die Wählerinnen und Wähler und offline mit den Menschen in Kontakt treten. +Was ist mit Fake News? Die entsprechen auch dem Prinzip Social Media. +Stimmt. Es kommt vor, dass Leute beispielsweise einen Artikel der "Jungen Freiheit" teilen, weil die Überschrift ansprechend ist. Weil sie keine Ahnung haben, ob das qualitativ hochwertige Informationen sind oder nicht. Viele erkennen auch nicht die politische Einstellung dahinter, weil sie den Artikel gar nicht lesen. Es kommt also vor, dass Leute Inhalte von Seiten teilen, deren politische Ansichten sie im Grunde gar nicht teilen. Das ist eine gefährliche Plattform für Fake News. +Sind Social Media damit eine eher schlechte Möglichkeit, um sich ausgewogen zu informieren? +Nein. Es ist allerdings notwendig, dass die Konsumenten eine Nutzer-Kompetenz mitbringen, um die Qualität der Inhalte und die der Quellen zu erkennen. Nur so lassen sich Fake News von richtigen Nachrichten unterscheiden. Dazu benötigt es Aufklärung und politische Bildung. +Zumal die Nutzer offenbar immer gezielter angesprochen werden. Zwischenzeitlich glaubten viele, Donald Trump habe die Wahl nur mithilfe des Unternehmens Cambridge Analytica gewonnen. Welche Rolle werden solche Analyse- und Tracking-Techniken im deutschen Wahlkampf spielen? +Das wird ein wichtiges Thema aus meiner Sicht. Und die Parteien sollten diese Technologie ernst nehmen, um die Informationen für den Offline-Wahlkampf zu nutzen und so die eigene potenzielle Wählerschaft noch besser zu mobilisieren. +Was heißt das alles für die anstehenden Wahlen? +Schwer zu sagen. Wer sich online beteiligt, setzt das nicht unbedingt auch offline um – da sehen wir empirisch noch keinen direkten Zusammenhang. Es gibt nur wenige Beispiele, wo das funktioniert hat: etwa beim Arabischen Frühling oder Pegida. Das heißt aber nicht, dass online erlangte Erkenntnisse nicht für den Offline-Wahlkampf genutzt werden können. diff --git a/fluter/die-saat-des-heiligen-feigenbaums-film-rezension.txt b/fluter/die-saat-des-heiligen-feigenbaums-film-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7c92b53935c8cf01f98452afa3b7c5b1d253dc1c --- /dev/null +++ b/fluter/die-saat-des-heiligen-feigenbaums-film-rezension.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Die "Frau, Leben, Freiheit"-Proteste gelten alsdie größten landesweiten Demonstrationen für Frauenrechte in der Geschichte des Irans. Im Film werden immer wieder reale, teilweise sehr brutale Aufnahmen eingeblendet. Auf Demonstrant:innen wurde unter anderem mit Schrotkugeln geschossen, Protestierende wurden hingerichtet. + + +Der Drehbuchautor und Regisseur Mohammad Rasoulof kritisierte in der Vergangenheit immer wieder das Regime im Iran und hat mit seinen früheren Filmen bereits gegen Zensurvorgaben verstoßen. Von Sommer 2022 bis Frühjahr 2023war er im Teheraner Evin-Gefängnis inhaftiert, das als besonders brutal gilt. Auf die Idee zum Film brachte ihn dort ein leitender Angestellter, der ihm von Gewissensbissen und Suizidgedanken erzählte. Nach seiner Freilassung drehte Rasoulof "Die Saat des heiligen Feigenbaums" heimlich, mit einem kleinen Team und minimaler technischer Ausstattung. Dennoch hatten sie während der Dreharbeiten ständig Angst, verhaftet zu werden, und mussten die Dreharbeiten immer wieder unterbrechen. Aufgrund der Umstände spielt der Film überwiegend in Innenräumen. Es ist ein leiser Film geworden, über größere Strecken hinweg wird kein Wort gesprochen, gleichzeitig ist man immer ganz nah an den beiden Schwestern und ihrem Erleben dran. Auch dadurch entwickelt die Geschichte – trotz der Länge von fast drei Stunden – einen starken Sog, der sich zum Schluss in einer spannenden Verfolgungsjagd auflöst. +Weil Rasoulof erneut verurteilt wurde, dieses Mal zu einer achtjährigen Haftstrafe, floh er im Frühjahr 2024 aus dem Iran. Rasoulofs Reisepass war schon seit 2017 beschlagnahmt worden, die Grenze überquerte er deshalb zu Fuß. Insgesamt war er 28 Tage unterwegs, bis er in Deutschland ankam, wo er Asyl beantragte. Einige Mitwirkende flohen ebenfalls, andere werden im Iran von den Behörden bedroht. Das Filmmaterial von "Die Saat des heiligen Feigenbaums" musste zuvor auch aus dem Land geschmuggelt werden, die Postproduktion fand in Deutschland statt. Der Film ist eine deutsch-französische Koproduktion und wurde größtenteils von Rasoulofs Hamburger Firma Run Way Pictures produziert. Im Sommer wurde bekannt, dass "Die Saat des heiligen Feigenbaums" 2025 Deutschlands Oscarbeitrag in der Kategorie "Bester internationaler Film" sein wird, mittlerweile hat er es bis auf die Shortlist geschafft. Außerdem ist die Produktion in der Kategorie "Bester nicht englischsprachiger Film" bei den Golden Globes nominiert. +Am Anfang des Films wird eingeblendet, was es mit der Feigenbaum-Referenz auf sich hat: Rasoulof ließ sich demnach für den Film von einer Feigenart inspirieren. Deren ungewöhnliche Fortpflanzung könnte man als sinnbildlich für dastheokratische Regimeim Iran, einem selbst ernannten Gottesstaat, interpretieren: Die Samen des Baums sind laut den Filmemacher:innen in Vogelkot enthalten, fallen auf andere Bäume und bilden Luftwurzeln, die bis zum Boden wachsen. Die Äste des Feigenbaums wickeln sich schließlich um den Wirtsbaum und erdrosseln ihn – so wie das iranische Regime seine Macht erhält, indem es sein Volk unterdrückt und lieber tötet, als ihm Freiheit zu gewähren. + +"Die Saat des heiligen Feigenbaums" läuft ab dem 26. Dezember im Kino. + +Fotos: Films Boutique / Alamode Film diff --git a/fluter/die-sache-mit-oma.txt b/fluter/die-sache-mit-oma.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..59b1d3e85a096cf78fab3883c0bbce796f078f75 --- /dev/null +++ b/fluter/die-sache-mit-oma.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Weihnachten in Bayern auf dem Land muss für Außenstehende befremdlich wirken. Mehr Gelage als hohes Fest der Heiligkeit. Da kommt die Familie zusammen, isst Schweinsbraten – und es gibt immer Schweinsbraten! – und betrinkt sich dabei. Wein, Weißbier, Obstler, und weil am Ende sowieso jeder doppelt sieht, weiß keiner mehr genau, wie viele Leute eigentlich da waren. Für meine Oma wiederholt sich dieses Ritual fast ausnahmslos seit 80 Jahren auf gleiche Weise. 1937 geboren, aufgewachsen zwischen Kühen, Schweinen und Fliegerbomben, Schulabgang nach Klasse acht. Mit Ende 20 hat sie geheiratet, mehr aus Pragmatismus denn aus Liebe, den Jungen vom Nachbarhof. Mit ihm hat sie Kinder bekommen, drei Stück, und die haben Kinder bekommen, zehn Stück, und mit ein bisschen Glück werden die bald wieder Kinder kriegen, und die Oma wird Uroma. Einmal ist sie sogar ins Ausland gereist, Bruck an der Leitha, Österreich, davon erzählt sie heute noch. Dieses Leben sollte ihr niemand mehr nehmen, keine -sierung (Globali-, Digitali-, Islami-) und kein -ismus (Terror-, Vegetar-). Und auch kein Flüchtling dieser Welt. +Warum die Oma nicht mal aus ihrer Komfortzone locken und ein bayrisch-syrisch-somalisches Integrationsprojekt starten? So dachte ich es mir. Zwei Freunde wollte ich zum Fest der Familie mitbringen: Ahmed, dessen Familie von der Al-Shabaab in Somalia exekutiert wurde, und Mohammed, dessen Eltern noch immer irgendwo in Syrien stecken. Zwei Jungs, friedfertig wie handzahme Chihuahuas. Der Anruf bei meiner Oma rein prophylaktisch und der Höflichkeit wegen: einmal Gästeliste plus zwei. Ein bisschen Oma-Enkel-Geplänkel. So hatte ich mir das vorgestellt. Doch ich lag falsch: Riesenkrach statt Rumgequatsche. "Asylanten? Die kemman mia ned ins Haus!", brüllte Oma in den Hörer, so etwa, wie ich mir einen Viktor-Orbán-Anruf bei Angela Merkel vorgestellt hatte. "Das sind keine Asylanten. Mohammed und Ahmed sind meine Freunde!", habe ich, noch ruhig, protestiert. "Ha, Muslime sans a no! Die hom gar koa Weihnachten!", hat dann die Oma geschrien, und ich habe irgendwas zurückgeschrien, worauf die Oma "Kein Respekt vorm Alter, du Terroristenfreund!" gebrüllt hat. Und ich dann erwidert habe: "Dein Nazigebrüll interessiert mich einen Scheißdreck!" Ich habe das Telefon in die Ecke geknallt, mich erschöpft in den Sessel fallen lassen und zugeschaut, wie die Restfetzen meiner Geduldsnerven davonsegelten. +Wahrscheinlich hätte ich Weihnachten boykottiert wie die Oma die Modernisierung, wenn mich nicht die spontan einberufene Familien- Krisen-WhatsApp-Gruppe rumgekriegt hätte. "Superschade wäre das", und die Oma hat nur eine von 25 Stimmen, außerdem hat die viel erlebt, da wird sie die beiden Gäste auch noch überleben. Meine Oma ist nie besonders sensibel gewesen. Eine Frau der Imperative (Setz di hi! Geh scheißen!), ein Händedruck wie ein Fleischwolf. Ehrlich, direkt, rustikal. Ich habe nie eine Emotion an ihr entdeckt und kann mich nicht erinnern, dass sie jemals geweint hat. Doch an diesem zweiten Weihnachtsfeiertag, 26. Dezember 2016, unvergessen, kurz vor unserer Ankunft auf dem Hof, hat sie einen Heulkrampf gekriegt. Einfach so. Plötzlich, aus Angst. Angst vor etwas, das sie gar nicht kannte, das es in ihrem Leben so gar nicht gibt. Den Fremden: Ahmed und Mohammed. +Den Rest des Tages saß sie dann schmollend am einen Ende des Tisches und lugte immer mal wieder missmutig rüber zu Ahmed und Mohammed, die ein wenig ratlos vor ihrem Stück Schweinebraten saßen. Und zu mir, der sich fragte: Wovor hat diese Frau Angst? Und: Wo war sie die letzten zwei Jahre, als die Flüchtlinge kamen? Ich beschloss, diese mir so fremde Frau, die meine Oma ist, kennenzulernen. Das war ich ihr schuldig, und deshalb habe ich sie im Frühjahr darauf für eine Woche besucht. Studieren wollte ich diese alte Frau mit ihrem immer noch vollen braunen Haar und hornhautüberzogenen Bäuerinnenhänden. Eine Woche Hotel Oma mit Bergen von Dampfnudeln, goldgelb, hellbraune Kruste, Vanillesoße drüber, so hab ich sie am liebsten. Eine Woche mit Bayern 1 in Schwerhörigenlautstärke und Abba oder "Losing My Religion" von R.E.M. in Dauerschleife. Am siebten Tag in Niederbayern notierte ich drei Erkenntnisse. Erstens: Omas Angst vor Fremden hat mit dem Fernseher zu tun. Während ich 2015 auf der Balkanroute war, 2016 auf Lesbos der türkischen Küstenwache beim Außengrenze-Sichern zugeschaut habe, saß die Oma vorm Fernseher. Terror, Terror, Flüchtlinge, Chaos, hat Jan Hofer erzählt, und so ganz genau hat sie sich da irgendwann nicht mehr ausgekannt und einfach stoßgebetet, dass dieser Tsunami des Wahnsinns Niederbayern niemals erreichen würde. Bloß keine "Münchner Zustände", du liebe Zeit. +Zweitens: Omas Angst vor den Leuten, die vor dem Krieg fliehen, hat mit dem Krieg zu tun. Erzählt hat sie von den Tieffliegern auf dem Weg zur Schule, von den Guten-Morgen-Hitlergrüßen in Klasse eins. Von den Flüchtlingen, die auf die Höfe kamen, als der Krieg vorbei war – die Haslingers, echte deutsche Flüchtlinge aus dem Böhmischen Wald, fleißige Leut, "keine arbeitsscheuen Asylanten". Und: von den Fremden, die kamen, um zu plündern. Amerikaner und Franzosen, Soldaten und Gangster. Vieh schlachten, weiterziehen, das war die Devise. Vor Fremden hat sie seitdem Angst. +Drittens: Das Weltbild von der Oma und meins sind gar nicht so verschieden. Was sie am allermeisten an Deutschland stört, habe ich sie gefragt. Dass die Reichen immer reicher werden und die Armen immer ärmer. Dass die Berufe, die der Mensch wirklich braucht – Bäcker und Krankenpfleger –, einen Dreck bezahlt bekommen und die "Nichtsnutze" – die Banker und die Politiker – Millionen scheffeln. Auf die mickrige Bäuerinnenrente hat sie geschimpft und auf die Massentierhaltung und auf das Überangebot in den Supermärkten und darauf, dass in Afrika die Leute verhungern. "They are here, because we were there!", habe ich gerufen und meiner Oma erklärt, dass sie ja eigentlich eine ganz feine Sozialistin sei. Der Gedanke war so komisch, dass wir beide lachen mussten. +Jetzt, ein halbes Jahr später, sitze ich wieder vor meinem Dampfnudelberg bei Oma, Nebel wabert über den Hof, vom DFB-Poster schielen immer noch Pierre Littbarski mit Vokuhila und Olaf Thon mit El-Chapo-Pornobalken auf der Oberlippe. Letzte Woche war Bundestagswahl. Die Oma hat gewählt, routiniert wie eh und je. Linke Stimmzettel-Seite den Huaba Hans, "a feiner Moan!" – rechte Seite die CSU. Sie hat sich hübsch gemacht heute, mit Perlenkette und dem ganzen Schnickschnack. Für ihren Enkel? Nein, weil sie gleich die "Weiber" trifft vom Frauenbund. Über was sie sich da immer unterhalten, frage ich. "Über dieses und jenes und Politik", sagt die Oma. Politik? "Ja, dass wir reden können, wie wir wollen, und am Ende doch nix besser wird." "Dann wähl halt endlich mal für deine Interessen und nicht 50 Jahre lang dieselbe Partei!", fahre ich sie an. Plötzlich wird meine Oma still. "Weißt du", sagt sie dann ein bisschen traurig, "vielleicht hast du ja recht. Ich war nie auf einer ordentlichen Schule, und die Welt hab ich auch nicht gesehen, ich kenn mich einfach nicht aus. Vielleicht sollte eine alte Frau wie ich das mit dem Wählen einfach den Jungen überlassen." Und da merke ich, wie mir die Schamesröte ins Gesicht steigt. Letzte Weihnachten habe ich sie zur Hölle gewünscht, und jetzt habe ich zum ersten Mal in meinem Leben das Bedürfnis, meine Oma in den Arm zu nehmen. diff --git a/fluter/die-schule-an-der-front.txt b/fluter/die-schule-an-der-front.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..28d11e35aae164bb48536da626297e1aff77028e --- /dev/null +++ b/fluter/die-schule-an-der-front.txt @@ -0,0 +1,20 @@ + +Was zeigt uns das? +Dass sich niemand dem Krieg entziehen kann. In allen Geschichten kommt er in irgendeiner Weise vor, er durchdringt den Alltag. Viele der Jugendlichen haben Freunde oder Liebschaften durch den Konflikt verloren. Entweder weil sie im Krieg gefallen sind oder weil sie sich nicht für die "richtige" Seite entschieden haben. Dabei ist bemerkenswert, wie weit sich die Schüler öffnen und wie reflektiert und lebensweise die meisten von ihnen schon sind – um im nächsten Moment doch noch sehr kindlich zu wirken. + +Wie wird's erzählt? +Formal ist "Shkola nomer 3" ziemlich streng: Die Jugendlichen erzählen ihre Geschichten allein vor der Kamera. Normalerweise passiert dies anhand eines kleinen mitgebrachten Gegenstands, ein Stofflamm, eine Halskette, ein Mini-Eiffelturm sind darunter. Unterbrochen werden diese Protokolle durch kurze Alltagssequenzen in und um Nikolajewka. + +Stärkste Szene +Ist eine, in der ausnahmsweise nicht so viel gesprochen wird. Es ist ein heißer Sommertag, ein Junge springt von einer Brücke in einen kleinen Fluss. Seine Begleiterin ziert sich lange, springt dann aber vollbekleidet auch. Lange sitzen die beiden an einer Art kleinem Wasserfall herum. Dem weiter östlich immer noch wütenden Krieg kann sich zwar niemand entziehen, aber er beherrscht nicht das Leben. Am Ende sind es immer noch Teenager. + +Good Job! +Auch wenn die Protagonisten verbal noch etwas unbeholfen sind, manche Erzählungen ein paar Schleifen zu viel drehen, merkt man, dass sie das alles nicht zum ersten Mal erzählen. Die Regie hat großartige Arbeit mit den Protagonisten geleistet, als es darum ging, auf interessante Geschichten zu stoßen und wie man sie aufbaut. Kein Wunder, denn die Grundlage für den Film war ein dokumentarisches Theaterstück, an dem der deutsche Koregisseur Georg Genoux ebenfalls beteiligt war. + +Geht gar nicht +Es ist ja zeitgemäß, in Dokumentarfilmen nichts zu erklären. Die Bilder und Töne müssen für sich sprechen, allwissende Erzähler wirken altbacken, man kennt das. Aber hier hätte man schon gerne ein wenig mehr über die Hintergründe und Zusammenhänge erfahren. Wie lange liegt der Krieg zurück? Könnte er wiederkommen? Ist die Schule wieder auf? Was hat es mit dem Theaterstück auf sich? Wer sich für weitere Hintergründe interessiert, kannhierschauen. + +Ideal für... +Leute mit Russischkenntnissen (die Kinder sprechen nicht ukrainisch). Alle anderen müssen nämlich permanent die recht kleinen Untertitel lesen, schließlich wird sehr, sehr viel geredet. Und bei 115 Minuten Filmlänge ist das ein wenig anstrengend. + +"Shkola nomer 3", Deutschland/Ukraine 2016;Regie: Yelizaveta Smith, Georg Genoux; 116 Min. diff --git a/fluter/die-situation-ist-schlimmer-als-je-zuvor.txt b/fluter/die-situation-ist-schlimmer-als-je-zuvor.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d5e29abad0c798636658081b5da78c4354708bd2 --- /dev/null +++ b/fluter/die-situation-ist-schlimmer-als-je-zuvor.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Shoba lebt in dem kleinen Dorf Ghyalchowk im Distrikt Gorkha, nordwestlich von Kathmandu in den Bergen. Ganz in der Nähe lag das Epizentrum des Bebens, das am 25. April 2015 mit einer Stärke von 7,8 das Land erschütterte. Knapp ein Dutzend Menschen kamen in Ghyalchowk ums Leben, ein Großteil der Häuser wurde damals zerstört, das Vieh wurde von den Trümmern erschlagen. Landesweit starben bei den beiden Beben am 25. April und 12. Mai 2015 den Vereinten Nationen (UN) zufolge fast 9.000 Menschen. Mehr als 600.000 Häuser wurden laut UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) zerstört, fast 290.000 beschädigt. +Die Situation im Land ist nach wie vor katastrophal. In vielen Dörfern des kleinen Himalaya-Staates sieht es knapp ein Jahr nach den Erdbeben so aus wie in Ghyalchowk: Vor allem in den Distrikten Sindhupalchok und Nuwakot sind viele Dörfer komplett verschwunden – erst durch die Beben, dann durch Erdrutsche, die der Monsun im vergangenen Sommer mit sich brachte. Jetzt kämpfen die Menschen gegen die Widrigkeiten des Winters. Sie hausen unter Planen oder Wellblech, haben keine Heizungen, verfeuern Holz und leiden unter Atemwegsinfektionen. +"Heute geht es den Menschen fast noch schlechter als unmittelbar nach dem Erdbeben", sagt Gereon Wagener, Vorstandsvorsitzender der BONO-Direkthilfe. Er lebte sieben Jahre in Nepal und arbeitet seit über 15 Jahren eng mit mehreren nepalesischen Hilfsorganisationen zusammen. Gerade hat er sich ein Bild von der Lage vor Ort und dem Hilfsbedarf gemacht, besuchte unter anderem Ghyalchowk. "Die staatliche Hilfe existiert noch immer fast ausschließlich auf dem Papier und hat viele Menschen – vor allem in abgelegenen Regionen – bis heute nicht erreicht", berichtet Wagener. Ihn und andere NGO-Leute überrascht das nicht: Zum einen sind viele nepalesische Regionen aufgrund schlechter Straßen und ihrer abgeschiedenen Lage schon vor dem Erdbeben schwer zu erreichen gewesen. Zum anderen ist die Regierung des Landes nach Einschätzung vieler professioneller Helfer mit der Situation schlicht überfordert. "Ohne die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen würden die meisten Menschen vermutlich überhaupt nichts von der internationalen Hilfe mitbekommen." Seine Partner beispielsweise nutzten Spenden für den Kauf von Wellblech, Planen, Schlafsäcken, Ziegen und Hühnern und brachten sie mit Lkw, Privatwagen und der Muskelkraft von Trägern in stundenlangen Märschen in die Dörfer. +Eine monatelange Blockade der Grenze zu Indiendurch Angehörige der ethnischen Minderheiten der Tharu und Madhesi, die damit gegen eine Verfassungsänderung demonstrierten, hat die Situation weiter verschärft: Die gesamte Wareneinfuhr stockte, Gas und Lebensmittel wurden Mangelware. Der Schwarzmarkt blühte auf und trieb die Preise für Güter des täglichen Gebrauchs in astronomische Höhen. "Das führt zu einer Verschärfung der ohnehin bereits gewaltigen sozialen Ungerechtigkeit in Nepal", sagt Wagener. "Während sich korrupte Politiker und Geschäftsleute bereichern, werden die ärmeren Bevölkerungsschichten noch ärmer." +Auch den Hilfsorganisationen hat die Ende September errichtete Blockade große Probleme bereitet. "Wegen des Benzinmangels konnten wir kaum ins Projektgebiet fahren, geschweige denn Material dorthin schaffen", berichtet Steffen Rolke, Leiter der Projektkoordination bei Ingenieure ohne Grenzen (IoG). "Baumaterialien und Produktionsmittel hingen fest, niemand konnte Aussagen über Verfügbarkeit und Preise machen. Experten saßen vor Ort fest und scharrten mit den Füßen." Nun gibt es Hoffnung: Am 6. Februar durften erstmals wieder Lastwagen die Grenze passieren. +Langsam läuft der Wiederaufbau an. "In den meisten Gemeinden haben die Menschen bis Ende 2015 die Trümmer aufgeräumt und die noch nutzbaren Materialien sortiert", berichtet Rolke von seinen Projektreisen. Ingenieure ohne Grenzen hat unmittelbar nach den Beben mit einem nepalesischen Partner Notunterkünfte errichtet und organisiert jetzt den Bau von 87 erdbebensicheren Häusern in einem Dorf im Distrikt Dhading. +Die Menschen dort leben traditionell in zweistöckigen Häusern aus Stein, wollen aber zumeist nicht wieder in solche Gebäude ziehen. "Viele haben Angst vor einem erneuten Beben", sagt Rolke. Zahlreiche Nepalesen seien noch schwer traumatisiert. "Menschen, die beim Beben in Gebäuden waren oder Nachbarn oder Familie verloren haben, müssen das erst noch verarbeiten." Hinzu kämen ökonomische Sorgen: "Die Menschen auf dem Land sind meist Selbstversorger und haben wenig Reserven." +In den meisten nepalesischen Dörfern begegnen die Helfer außerdem einer besonderen sozialen Herausforderung: Da die Arbeitslosigkeit in der Heimat so hoch ist und Bauern oft nur ein kleines Stück Land besitzen, arbeiten viele Nepalesen im Ausland. Zurück bleiben alte Menschen, Kinder und meist die Frauen. "Da wir viele frauengeführte Haushalte haben, ist es wichtig, dass die Gemeinde zusammenarbeitet", sagt Rolke. Außerdem will Ingenieure ohne Grenzen verhindern, dass Kinder auf den Baustellen arbeiten. +Für Touristen ist in Kathmandu weitgehend Normalität eingekehrt. In den Läden sind die Regale wieder gefüllt, Restaurants haben ihre Speisekarten abgedeckt, Hotels stehen für Gäste bereit. Aber auch viel Elend hat Einzug erhalten: Es gibt mehrere Lager, in denen jene hängen geblieben sind, die alles verloren haben. "Das sind überwiegend Menschen aus Dörfern nördlich von Kathmandu, die nicht zurück wollen und können, weil dort nichts mehr ist", sagt Wagener und äußert eine Befürchtung: "Hier könnten weitere Slums entstehen." Allein in einem großen Lager in Boudha leben seinen Schätzungen zufolge 75 Familien mit jeweils fünf bis sechs Kindern – unter katastrophalen sanitären Bedingungen. +Umso beeindruckender ist für Wagener, wie die Nepalesen mit all der Not und sozialen Ungerechtigkeit umgehen: "Sie tragen ihr Leid mit einer Gelassenheit, einer Freundlichkeit und einer Würde, die mich beschämt." Die Menschen in Nepal seien unendlich freundlich, lächelten viel und freuten sich, wenn man komme – ganz so wie vor der Katastrophe. diff --git a/fluter/die-sklaven-vom-campus.txt b/fluter/die-sklaven-vom-campus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4a2f52a5ccae11648643e4c5c66cb2f4830efa6d --- /dev/null +++ b/fluter/die-sklaven-vom-campus.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Die Fernsehrechte für das Basketballturnier der besten Teams vermarktete die NCAA von 2010 bis 2024 für insgesamt knapp elf Milliarden Dollar. Fernsehkonzerne zahlen diese Summen ohne zu zögern, denn die Spitzenspiele der Collegesaison erzielen höhere Einschaltquoten als die Profiligen. Das letzte Final-Four- Turnier der Basketballer, "March Madness" genannt, sahen bis zu 100 Millionen Zuschauer, während bei den Finalspielen der NBA kaum 30 Millionen einschalten. Die Amerikaner lieben es, den jungen, hungrigen Athleten beim Wettkampf zuzuschauen. Geschätzte 1.600 Collegespiele überträgt das Fernsehen live. Eine Bundesligasaison in Deutschland, zum Vergleich, dauert 306 Spiele. Die Universitäten konkurrieren um die besten Sendeplätze, denn nichts steigert den Bekanntheitsgrad so sehr wie ein Liveauftritt etwa im "College GameDay" auf dem Sportkanal ESPN. Barbara Rupp, an der University of Missouri zuständig für die Rekrutierung neuer Studenten, sagt: "Nachdem wir dort einmal gezeigt wurden, kannten die Bewerber unseren Spitznamen sogar in Chicago: Mizzou." Wie viel genau der Collegesport umsetzt, ist kaum nachzuvollziehen, denn die NCAA veröffentlicht nur unvollständige Zahlen. Das System ist so kompliziert, dass Außenstehende nicht erkennen können, wie hoch die Einnahmen sind und an wen die NCAA die Profite ausschüttet. Ihr neuer Zentralpalast in India- Mit ihren Football- oder Basketballteams verdienen die Colleges in den USA Milliarden – nur die Studenten sehen keinen Cent davon Text: Lars Jensen Der Preis ist heiß: Die Studiengebühren für Colleges und Universitäten betragen pro Jahr zwischen einigen Tausend und über 40.000 Dollar 38 fluter Nr. 43 – Thema Bildung napolis inklusive Hubschrauberlandeplatz und Arena mit 50.000 Plätzen deutet darauf hin, dass genug hängen bleibt. Durchschnittlich zwei Millionen Dollar pro Jahr verdient jeder der Football-Coaches der 100 führenden Colleges; manche haben einen Privatjet – nur bei den Sportlern kommt kein Cent an. +Die NCAA erkannte früh, wie sie sich vor den Forderungen der Sportler schützen konnte, indem sie sie zu Amateuren erklärte. Den Begriff "Student-Athlete" erfanden die Anwälte der NCAA in den fünfziger Jahren, als die Witwe eines tödlich verunglückten Footballers auf Schadenersatz klagte. Die NCAA erklärte, der Spieler sei kein Angestellter der Schule, denn er habe nie ein Einkommen versteuert, er sei bei der Ausübung seines Hobbys gestorben, denn er war lediglich ein "Student-Athlete". Colorados Supreme Court gab der NCAA Recht und schuf einen Präzedenzfall, der bis heute gültig ist. Wer sich verletzt, ist selber schuld. In seinem Artikel "The Shame of College Sports" für das Magazin "the Atlantic" beschreibt der Historiker und Bürgerrechtsexperte Taylor Branch die NCAA als mafiöses Kartell, das die Sportler mit Knebelverträgen entrechtet. "Schauen Sie, wie viel Geld wir mit diesen meist schwarzen armen Jugendlichen verdienen", erklärt Louisianas langjähriger Basketballcoach Dale Brown in dem Buch "Wir sind moderne Sklaventreiber". Tatsächlich zwingt die NCAA jeden Spieler, die Rechte an seinen sportlichen Leistungen auf Lebenszeit abzutreten. Wenn zum Beispiel das Computerspiel "NCAA Basketball" millionenfach verkauft wird, benutzt der Produzent Bilder von aktuellen Spielern, ohne dass die ein Anrecht auf Teile der Erlöse haben. Beim kleinsten Vergehen jedoch müssen Athleten büßen. In Columbus, Ohio, sperrte die NCAA einige Basketballer, die bei einem Tätowierer Autogramme gegen Tattoos tauschten; in Miami wurden über 70 Footballer bestraft, weil sie Zuwendungen eines Sponsors angenommen hatten; A. J. Green aus Georgia verkaufte sein Trikot, um einen Frühjahrsurlaub zu bezahlen. Die NCAA zog ihn für vier Spiele aus dem Verkehr – die Universität durfte das Trikot mit seinem Namen aber weiterhin für 40 Dollar verkaufen. "Viele Spieler verlassen ihre Schule vorzeitig, weil ihr Stipendium nach jeder Saison erneuert werden muss", sagt Stuart Paynter, ein Anwalt, der sich auf NCAA-Fälle spezialisiert hat. +Penn State war jahrzehntelang Vorreiter in der Kommerzialisierung des Collegesports und befeuerte die Debatte über die Auswüchse mit einem weiteren Skandal: Es war herausgekommen, dass Assistenztrainer Mike McQueary bereits 2002 seinen Kollegen Jerry Sandusky dabei beobachtet hatte, wie er in der Dusche einen Minderjährigen vergewaltigte. McQueary benachrichtigte den Cheftrainer Joe Paterno, der den Uni-Präsidenten Graham Spanier alarmierte. Doch weder Spanier noch Paterno hielten es für notwendig, die Polizei einzuschalten. Sie verwarnten Sandusky lediglich und nahmen ihm die Schlüssel für die Dusche weg. Schließlich war Sandusky ein begehrter Defense-Coach, Autor mehrerer Footballbücher, persönlich vom ehemaligen USPräsidenten George H. W. Bush belobigt. 2008 gelang es der Mutter eines Opfers endlich, Ermittlungen durch die Polizei auszulösen. Sandusky wurde nach deren Abschluss der Misshandlung in 40 Fällen angeklagt, die zum Teil viele Jahre zurückreichten. Wie war es möglich, dass die Führung von Penn State diesen Mann jahrelang gewähren ließ? Ganz einfach: Niemand wollte das Profitcenter Football in Verruf bringen. +Innerhalb von Tagen war der Name Sandusky im Lande so bekannt wie die Namen bin Laden oder Hussein. Die "New York Times" verglich Penn State mit der katholischen Kirche, in der "eine patriarchalische Hierarchie pädophile Verbrechen deckt, um den Wert ihrer Marke zu schützen". In diesem Klima, das von der Gier der Schulfunktionäre und der Furcht der Sportler geprägt ist, konnte Coach Sandusky in Penn State operieren, ohne fürchten zu müssen, von einem Opfer entlarvt zu werden. Am Eingang des Beaver Stadium errichtete die Schule ein Denkmal für Cheftrainer Joe Paterno. Dort steht er in Bronze gegossen, mit legendär schlecht sitzendem Jackett, Hochwasserhose, Kassengestell-Brille. Auf einer Wand dahinter sein Ausspruch: "Ich hoffe, dass sie nach meinem Tod von mir sagen werden, ich hätte Penn State zu einem besseren Ort gemacht. Nicht, dass ich ein guter Footballtrainer war." Es wird wohl genau so kommen, wie er es nicht wollte. diff --git a/fluter/die-sorgen-der-anderen.txt b/fluter/die-sorgen-der-anderen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..232675093f7794ebfdc8704dcd3c77b86e739844 --- /dev/null +++ b/fluter/die-sorgen-der-anderen.txt @@ -0,0 +1,32 @@ +Ich komme einfach nicht mit dem System klar, vor allem nicht mit der Notengebung. Besonders schwer tue ich mich mit der mündlichen Mitarbeit. Ich kann aber auch nicht nach­vollziehen, warum die mündliche Beteiligung 60 Prozent der Note ausmacht. +Hast du Angst davor, in die Schule zu gehen? +Das würde ich so nicht sagen. Bei mir ist es nur so, dass ich mich erst mit Leuten verstehe, wenn ich sie länger kenne. +Leidest du körperlich unter der Schule? +Nicht direkt, ich bin nur oft müde. Es kommt selten vor, dass ich mich richtig ausgeschlafen fühle. Wenn ich in der Schule sitze, leide ich am meisten darunter, dass die Zeit so langsam vergeht. Der Unterricht kann einem wirklich endlos vorkommen, und die Abläufe gleichen sich Tag für Tag und Woche für Woche. Ein endloser Kreislauf, in dem man nur darauf wartet, dass das nächste Wochenende oder die nächsten Ferien kommen. +In seinem Buch "Wenn Schule krank macht" schreibt der Pädagoge Kurt Singer, dass die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler angibt, zumindest gelegentlich Angst vor der Schule zu haben. Ursachen dafür sind Leistungsanforderungen und Zensuren, aber auch Kränkungen durch Lehrer und Mitschüler. In gravierenden Fällen wird die Schule als bedrohlicher und auswegloser Ort empfunden, dem man ohne Einflussmöglichkeiten ausgeliefert ist. Besonders bei ­jüngeren Schülern schlägt die Angst häufig in körperliche Symptome wie Kopfschmerzen, Übelkeit oder Schlafstörungen um. +Wann haben deine Schwierigkeiten mit der Schule an­gefangen? +In der ersten und zweiten Klasse lief es noch gut, da hatten wir auch eine sehr nette Klassenlehrerin. In der dritten Klasse fing es damit an, dass ich die Hausaufgaben oft nicht gemacht habe, und dann ging es allmählich abwärts. Nach dem Wechsel aufs Gymnasium in der siebten Klasse ging es gar nicht mehr. Ich habe kaum noch was für die Schule getan. Oft habe ich mich morgens mit einem Freund getroffen, und wir sind rumgelaufen oder mit der S-Bahn in die Stadtmitte gefahren. +Ist das nicht aufgefallen? +Nein, irgendwie nicht. Das hat mich auch gewundert. Ich habe aber auch nicht monatelang durchgehend geschwänzt, sondern nur immer mal wieder für ein oder zwei Tage. Den Lehrern war das anscheinend egal. Es war eine komische Schule. Nach dem ersten Kennenlernen fiel es mir schwer, mich auf Dauer mit den neuen Mitschülern gut zu verstehen. Alle haben immer so einen auf cool gemacht. Es war zum Beispiel nicht ungewöhnlich, dass jemand demonstrativ weggeschaut hat, wenn man mit ihm geredet hat. Die meisten kamen nicht gerade aus ärmlichen Verhältnissen, und trotzdem hat jeder irgendeinen Scheiß gebaut. Letztes Jahr gab es sogar eine Messerstecherei auf dem Schulhof. +Kam es dir nicht ziemlich sinnlos vor, auf öffentlichen Plätzen herumzuhängen? +Damals vielleicht. Heute wäre ich auf jeden Fall lieber am Alexanderplatz als in der Schule. Ich habe neun Stunden Unterricht am Tag, und dazu kommt dann noch mindestens eine Stunde Hausaufgaben. Ich sehe nicht ein, warum ich das machen soll. +Die siebte Klasse musstest du dann wiederholen. +Auf meiner damaligen Schule konnte ich aber nicht bleiben, weil ich das Probejahr nicht bestanden hatte. Deshalb bin ich auf ein Internat gewechselt. Das war das einzige Gymnasium, auf dem ich die Siebte wiederholen konnte. +Warum wolltest du unbedingt weiter aufs Gymnasium gehen? +Meine Mutter hat einen Doktortitel, mein Opa ist Professor, meine Oma war Dolmetscherin und hat ebenfalls einen Doktortitel. Mein Vater ist Architekt. Es war irgendwie selbstverständlich, dass ich ein Gymnasium besuche, gute Noten habe und Abitur mache. Nicht nur für meine Familie, sondern auch für mich. +Kurt Singer zeigt auch, dass Eltern sich bei den Erwartungen an die Leistungen ihrer Kinder vor allem an den eigenen Erfahrungen mit der Schule orientieren. Das Kind soll mindestens das erreichen, was man selbst erreicht hat. Die Kinder neigen wiederum dazu, diese Erwartungen zu verinnerlichen, auch wenn sie gar nicht ausgesprochen werden. Vorhandene Lernschwierigkeiten werden dadurch verstärkt. Wenn es in der Schule nicht läuft, lastet auf den Eltern ein ebenso hoher Druck wie auf den Kindern. +Lief es auf dem Internat besser? +Ja, da hatte ich mir dann auch fest vorgenommen, mehr zu machen. Am Ende der Siebten hatte ich einen Schnitt von 1,8. Ich bekam Tabletten. Meine Psychologin sagte, dass ich ADHS habe, also dieses Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Mache ich etwa den Eindruck, als ob ich ADHS hätte? Ich bin weder hibbelig noch hyperaktiv. Ich habe einen Freund, der hat wirklich ADHS, eigentlich ein netter Kerl, aber er dreht völlig auf und wird aggressiv, wenn er seine Tabletten nicht nimmt. Einmal hat er ein Mädchen mit dem Kopf gegen die Heizung gedrückt. So bin ich nicht. Im Gegenteil. Ich merke aber, dass es mir sehr schwer fällt, mich zu konzentrieren. Vielleicht liegt es daran, dass ich immer neue Tabletten und Dosierungen bekommen habe. Auf jeden Fall sind meine Noten nach der Siebten wieder schlechter geworden. Jetzt stehe ich bei 3,5. +Wie kam es dazu, dass du bei einer Psychologin gelandet bist? +Ich hatte nicht nur schlechte Noten, sondern habe mich auch ständig mit meiner Mutter gestritten. Oft bin ich abends länger weggeblieben, als ich durfte. Die Schülerhilfe hat auch nichts gebracht. Die erste Psychologin, bei der ich war, hat viel mit mir geredet, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen. Die Frau, zu der wir dann gegangen sind, hat nach der ersten Stunde ein leichtes Zittern in meinem linken Finger registriert und war sich sofort sicher, dass ich ADHS habe. Seitdem habe ich ADHS. +Wie war es für dich, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen? +Es war schon komisch, zum ersten Mal dort hinzugehen. Ich dachte damals, dass Psychologen nur für Geisteskranke zu­ständig wären, dabei hatte ich gar nicht das Gefühl, geisteskrank zu sein. +Haben deine Eltern darauf bestanden? +Ich dachte irgendwann auch, dass es vielleicht was bringt und es mir dann leichter fällt, mich zum Lernen zu überwinden. 

Hat es was gebracht? 

Nein. Ich weiß nicht, was Psychologen lernen, aber es gab keinerlei Erfolge. Ich bekam erst das Medikament Ritalin, aber davon wurde mir schnell heiß, und es ging mir auch sonst nicht gut. Dann habe ich vier andere Präparate in verschie­denen Dosierungen genommen. Ich kam mir vor wie ein Versuchskaninchen und saß nur noch allein rum. Inzwischen nehme ich keine Tabletten mehr. Alle paar Monate gehe ich noch zu der Psychologin, aber ich verstehe mich überhaupt nicht mit ihr. Meine Mutter will jetzt, dass ich woanders hingehe. Sie kommt auch nicht klar damit, dass ich am Wochenende so viel Zeit vor dem Computer verbringe. +Therapeutische Gespräche können dazu beitragen, dass Jugendliche ihre schulischen Probleme wahrnehmen und anerkennen. Voraussetzung dafür ist allerdings ein offenes und vertrauensvolles Verhältnis zum Therapeuten. Niklas' Eltern haben sich die Entscheidung, eine Psychologin aufzusuchen, nicht leicht gemacht. "Niklas sucht keinerlei Herausforderung", sagt sein Vater. "Ihm fehlt etwas, woran er sich messen kann." +Kannst du die Sorgen deiner Eltern nachvollziehen? +Ja, klar. Ich habe mir auch immer wieder vorgenommen, mehr für die Schule zu tun. Aber es kommt immer der Punkt, an dem ich nicht mehr denke: Ich mach das jetzt, sondern: Ich lasse es einfach. Inzwischen haben meine Eltern es aufgegeben, mich zum Lernen zu bewegen. Sie haben eingesehen, dass es nichts bringt. +Und wie, denkst du, geht's weiter? +Ich werde nicht noch eine Klasse wiederholen. Wenn ich die Neunte nicht schaffe, gehe ich auf eine Sekundarschule und mache nach der Zehnten eine Ausbildung. Ich mache 3-D-Animationen fürs Internet. Etwas in dieser Richtung würde ich gerne beruflich machen, darauf kann ich mich stundenlang konzentrieren. Wenn mir etwas Spaß macht, merke ich gar nicht mehr, wie die Zeit vergeht. Bei Dingen, die mich nicht interessieren, funktioniert das nicht. Ich muss mich immer wieder aufs Neue überwinden, und das bekomme ich einfach nicht hin. Warum sollte ich mich quälen, um dann doch wieder eine schlechte Note zu bekommen? +*Name von der Redaktion geändert +Heiko Zwirner lebt zusammen mit seinem 16-jährigen Sohn und kann die Sorgen von Niklas' Eltern deshalb sehr gut nachvollziehen. Er kann sich aber auch noch genau daran erinnern, wie sinnlos und leer einem Heranwachsenden die Schule vorkommen kann. diff --git a/fluter/die-staatskuenstler.txt b/fluter/die-staatskuenstler.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6250f39976abdf1ab1b6a59362e77c4383899c60 --- /dev/null +++ b/fluter/die-staatskuenstler.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +An der Grenze zum Land des Lächelns +Man hört die Musik schon von weitem: Klassik, ein Walzer, hängt über Užupis. Es ist der 1. April – Nationalfeiertag der kleinen Republik. "Halt! Checkpoint!", ruft eine junge Frau, auf dem Kopf eine rote Schiebermütze, um die Schultern ein übergroßer Mantel. Hinter ihr ist eine Grenzhütte aufgebaut, eigens für diesen Tag. Denn am 1. April kann man sich in Užupis "einbürgern" lassen. Ein Stempel auf die Hand – schon darf ich passieren. Dazu gibt es eine Schachtel Streichhölzer. "Damit es in deinem Leben nie dunkel wird", sagt das Mädchen. So wurde ich Bürgerin von Užupis. +Die Häuser sind aus hellem Sandstein, in vielen befinden sich Cafés oder Galerien. Rauchende Künstler lümmeln sich vor bemalten Mauern. Bunte Gebetsfahnen schmücken einen Platz: Hier empfingen Užupis' Bewohner mehrfach den Dalai-Lama. Bei seinem ersten Besuch 2001 ernannten sie ihn zu ihrem Botschafter – einem von insgesamt 200. Besonders gefiel seiner Heiligkeit die Verfassung des Ministaates. Die 41 Punkte sind an eine Mauer angeschlagen: Darin verankert ist nicht nur das "Recht auf Glück", sondern auch "das Recht, nichts zu verstehen". Und Katzen müssen ihren Besitzer nicht lieben, aber in Notzeiten für ihn sorgen – auch das ist Gesetz. +An alles gedacht: Die Verfassung sichert unter anderem das Recht auf Unglück +Der Regierungssitz ist ein Café nahe dem Fluss. Dort empfängt der Präsident seine Gäste. Zur Feier des Tages trägt er ein rotes Zirkuskostüm und Gamaschen. Er halte sich nur an die Regeln, sagt Romas Lileikis: Auch Einzigartigkeit ist von der Verfassung garantiert. Lileikis, 55 Jahre alt, ist Poet und in Litauen ein bekannter Regisseur. Seit er Užupis gemeinsam mit Künstlerfreunden gründete, ist er aber auch Staatsoberhaupt. Wofür der ganze Quatsch? "Ich wollte einfach gerne am Fluss wohnen", sagt Lileikis und grinst. +Der einzige Stadtteil, der dafür infrage kam, war Užupis. Doch der Ort galt als Problembezirk: Einst ein jüdisch geprägtes Wohnviertel, hatten sich nach dem Krieg Banden in den Hinterhäusern eingenistet. Užupis war ein gefährliches Pflaster: Die Sowjets nannten die Hauptstraße schlicht "Straße des Todes". +In Wahrheit ging es Lileikis natürlich nicht nur um eine schöne Aussicht: Er träumte von einem Ort für Kreative. Sieben Jahre nach dem Ende der Sowjetherrschaft sollte die No-go-Area Užupis ein Ort der Selbstbestimmung werden: frei von Bevormundung und Misstrauen, die der Kommunismus hinterlassen hatte. Hier, so wünschte es sich Lileikis, sollten die Bürger sich entfalten können – nicht nur nebeneinander, sondern miteinander. +Also bat Lileikis die Behörden förmlich um Erlaubnis, in Užupis einen neuen Staat gründen zu dürfen. Einige Zeit später erhielt er tatsächlich eine Antwort: Die Stadt Vilnius gestatte den Künstlern, eine "humoristische Veranstaltung" zu organisieren. Doch auch wenn Užupis bis heute von keinem anderen Staat anerkannt wird, ist es mehr als ein Aprilscherz. Seit Lileikis und seine Künstlerfreunde die Republik ausriefen, hat sich der Ort gewandelt. +Wo Politik die Kunst des Unmöglichen ist: Užupis +Mit kreativen Aktionen lockten sie die Boheme in den Stadtteil: Am "Tag der weißen Tischtücher" gaben sie ein Festmahl für die Nachbarschaft, an Weihnachten baten sie alle Bewohner zu einem Gruppenfoto. Am "Tag des Windes" wurden im Regierungssitz Gedichte gelesen, und beim "Holzmarkt" sammelten sie Geld, um den Armen Brennholz zu stiften. Die meisten Aktionen finanzieren die Künstler aus eigener Tasche – Geld vom Staat bekommen sie nicht. Bei allem Quatsch haben Lileikis und seine Truppe geschafft, was die Politik nicht vermochte: Užupis zu einem lebenswerten Viertel zu machen. +Zur Feier der Gründung ist den Künstlern kein Unfug zu aufwendig. Der Engel – eine Statue und Wahrzeichen der Republik – spuckt am Abend buntes Feuerwerk. Aus dem ehemaligen Dorfbrunnen sprudelt an diesem Tag Weißbier statt Wasser. Und zu essen gibt es Brezeln, die der Präsident vom Balkon eines Wohnhauses verteilt. "Eigentlich wollten wir sie von einem Zeppelin werfen", erzählt Lileikis. +Užupis hat nicht nur Minister und Botschafter, sondern auch eine Nationalhymne und eine Flagge. Sie zeigt eine Hand, in der Mitte ein kreisrundes Loch. Ein Symbol der Freiheit, erklärt Lileikis. "Niemand kann unsere Republik besitzen", sagt er. "Und jeder kann Bürger sein, auch wenn er hier kein Eigentum hat." So wie ich. +Alexandra Rojkov, 26, wurde in St. Petersburg geboren und ist in Schwaben aufgewachsen. Eine Zeitlang hat sie auch im lettischn Riga gelebt, das nur eine Anhalterfahrt von Vilnius entfernt ist. diff --git a/fluter/die-stadt-der-gesenkten-blicke.txt b/fluter/die-stadt-der-gesenkten-blicke.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c1bc8cec5dd049f358d2d41744b177accd020f64 --- /dev/null +++ b/fluter/die-stadt-der-gesenkten-blicke.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Vom Kriegsdienst bleibt Adi weitgehend verschont. Nach nur einem Jahr in der Wehrmacht wird er als unentbehrlich für die heimische Wirtschaft entlassen. Rudolf dagegen wird im Frühjahr 1943 eingezogen und nach Lodz im heutigen Polen versetzt. Er fühlt sich ungerecht behandelt und vermutet eine Intrige seines Bruders, um ihn aus der Firma zu drängen. Kurz vor Kriegsende flüchtet er vor der Roten Armee zurück nach Herzogenaurach. Wegen Fahnenflucht verhaftet ihn die Gestapo, er sitzt in einem Nürnberger Gefängnis ein, bis er auf dem Transport ins KZ Dachau durch US-Truppen befreit wird. Die Freiheit währt jedoch nicht lang. Wegen Spionageverdachts sitzt er ein weiteres Jahr in US-Haft. Wieder vermutet er eine Intrige. Aus Rache zeigt Rudolf seinen Bruder beim Entnazifizierungsausschuss an. Adi muss sich als Profiteur der Nazis verteidigen. Erst Aussagen von Mitarbeitern verhindern den Verlust der Firma und eine Freiheitsstrafe. An eine Versöhnung der Brüder ist längst nicht mehr zu denken. +1948 wird die "Gebrüder Dassler Schuhfabrik" aufgeteilt. Die Mitarbeiter müssen sich für einen der Brüder entscheiden: 47 Mitarbeiter, vor allem die Schuster, bleiben bei Adi. Er behält auch die Fabrik auf der linken Seite der Aurach. Die neue Firma heißt zunächst "Addas", wird aber schon ein Jahr später auf den Namen "Adidas" getauft, eine Kombination aus Vor- und Nachname des Gründers. Rudolf zieht mit einem guten Dutzend Mitarbeitern in ein Fabrikgebäude auf der anderen Seite des Flusses. Seine Firma will er erst "Ruda" taufen – ebenfalls eine Kombination aus Vor- und Nachname. Dann nennt er sie "Puma", wie sein Spitzname in Kindertagen lautete. Beide Unternehmen sind bald erfolgreich. Die leichten und bequemen Schuhe aus Herzogenaurach bleiben beliebt. Adi versieht seine Schuhe mit drei Streifen. Rudolf wählt nach einigem Herumexperimentieren einen geschwungenen Formstreifen. +Die Feindschaft der Brüder spaltet die mittelfränkische Kleinstadt. Auf der Straße grüßen sich Adidasler und Pumaner nicht. In der Kneipe sitzt man nie am selben Tisch. Herzogenaurach wird zur "Stadt der gesenkten Blicke", weil jeder dem anderen auf die Schuhe schaut. Wirtschaftlich hat Adidas die Nase vorn. Die Fußballweltmeisterschaft 1954 in der Schweiz wird zum Schlüsselereignis. Für die DFB-Elf ist es das erste große Turnier nach Kriegsende. Im Vorfeld verhandelt Bundestrainer Sepp Herberger mit Puma über die Ausrüstung der Mannschaft. Er will nicht nur Schuhe, sondern auch eine ordentliche Geldsumme obendrauf. Rudolf hält das für unverschämt und setzt ihn vor die Tür. Herberger überquert die Aurach und wird bei Adidas mit offenen Armen empfangen. Bei der WM trägt kein deutscher Spieler Puma. Adidas ist bis heute DFB-Ausrüster. Besonders übel nimmt Rudolf seinem Bruder aber ein technisches Detail: die Schraubstollen. Die auswechselbaren und damit den Bodenverhältnissen anpassbaren länglichen Stifte unter den Schuhen sollen den Spielern auf nassem Rasen besseren Halt geben. Im Endspiel gegen Ungarn machen sie angeblich den Unterschied aus. Adidas hat damit Anteil am "Wunder von Bern", zumindest hält sich dieser Mythos bis heute hartnäckig. Rudolf wirft seinem Bruder Ideenklau vor. Puma hat ebenfalls mit Schraubstollen experimentiert. Heute weiß man, dass die Idee schon mindestens drei Jahrzehnte früher aufkam. Erfinder oder nicht, die Rivalität wächst. +Längst ist aus dem Bruderstreit ein Familienzwist geworden, an dem sich auch die Söhne der Gründer beteiligen. Zum ersten Highnoon der Nachfolger kommt es bei den Olympischen Spielen 1956 in Melbourne. Adidas-Spross Horst verschenkt im olympischen Dorf Schuhe an die Athleten und macht sich so viele Freunde. 70 Olympiasieger tragen am Ende drei Streifen am Fuß. Klarer Sieg für Adidas. Nach dem Erfolg darf Horst im Elsass eine französische Zweigstelle aufbauen. Trotz der "Niederlage" in Melbourne steigt auch Rudolfs Sohn Armin in die Puma-Führungsriege auf. An eine Versöhnung denken die beiden Cousins nicht. Ihre Rivalität ist so erbittert wie kostspielig. Adidas und Puma wollen nur die besten Athleten ausrüsten und greifen dafür tief in die Tasche. 20.000 Mark bekommt ein 100-Meter-Olympiasieger damals, wenn er sich für eine der Marken entscheidet. Längst tauchen Vertreter von Adidas und Puma bei jeder größeren Sportveranstaltung auf, immer mit neuen Schuhen und Geldbündeln im Kofferraum. Prominente Werbegesichter versprechen mehr Schuhverkäufe. 1966 wird der portugiesische Fußballstar Eusébio für 10.000 Mark das Aushängeschild von Puma. Vier Jahre später buhlen beide um den Weltstar Pelé. Der brasilianische Zauberkicker ist sehr teuer, Rudolf und Adi bekommen Bauchschmerzen und versprechen sich, kein Wettbieten zu veranstalten. Doch an die Abmachung halten sich nicht alle. Ohne Wissen des Vaters schließt am Ende Rudolfs Sohn Armin den Puma-Vertrag mit Pelé ab. Bei Adidas ist man gelinde gesagt verstimmt. +Im Dassler-Clan kämpft man längst nicht mehr nur gegen die andere Seite. Auch der interne Haussegen hängt schief. Kurz vor seinem Tod 1974 streicht Rudolf seinen Sohn Armin aus dem Testament. Nur mit Hilfe eines Anwalts gelingt es diesem, seine Mehrheit bei Puma zu verteidigen und eine Spaltung zu verhindern. Auch bei Adidas ist man sich alles andere als grün. Adi hat sich aus dem Geschäft zurückgezogen. Das Wettbieten um die Sportler missfällt ihm zusehends. Er stirbt vier Jahre nach seinem Bruder. Begraben sind die beiden auf verschiedenen Seiten des Friedhofs von Herzogenaurach. Bei Adidas wird Horst zum Firmenlenker. In Frankreich baut er erfolgreich eine Zweigstelle auf, mit eigener Produktion, Marketing und Vertrieb. Der Sohn ist ziemlich geschäftstüchtig und gründet nebenbei eine Marketingagentur, die Bandenwerbung und Sponsorenrechte verkauft. Zudem steigt er beim französischen Sportmodehersteller Le Coq Sportif ein und entwickelt die Schwimmmarke Arena. Von seinen Nebengeschäften ahnt in Herzogenaurach niemand etwas. Als die Mutter und seine Schwestern davon erfahren, kommt es zum Rechtsstreit. Am Ende bekommen alle fünf Kinder gleiche Anteile an Adidas und den neuen Firmen zugesprochen. Im Gegenzug darf Horst alleine regieren. Die Adidas-Welt erscheint für kurze Zeit heil. Die Marke mit den drei Streifen ist Weltmarktführer und an den wichtigen Entscheidungen der Sportwelt beteiligt. Das Unternehmen besitzt exklusive Verträge mit allen großen Verbänden und unterhält engste Kontakte zu IOC und FIFA. +Während die beiden Unternehmen aus Herzogenaurach mit Familienstreitigkeiten beschäftigt sind, haben sie einen neuen Konkurrenten auf dem Markt völlig verschlafen. 1964 hat Phil Knight in den USA Nike mitgegründet. Der Wirtschaftswissenschaftler produziert billig in Fernost und investiert in ein offensives Marketing. Horst Dassler kann den Angriff auf die Vormachtstellung am Markt nicht mehr abwehren. Mit nur 51 Jahren stirbt er an Krebs, zwei Jahre nach dem Tod seiner Mutter. Seine Kinder und deren Tanten bekommen zwar Firmenanteile, in seine Fußstapfen aber will niemand treten. Erstmals übernehmen Manager von außen die Geschicke bei Adidas. Kluge Firmenlenker wie Adi oder Horst sind sie nicht. 1990 verkaufen die Dassler-Schwestern ihre Anteile weit unter Wert an den französischen Unternehmer Bernard Tapie. Es wird nicht besser: Adidas gerät in finanzielle Schwierigkeiten. Auch bei Puma läuft es nicht gerade rund. Armin will die Geschäfte ankurbeln und setzt dabei auf teure Stars wie Boris Becker. Fünf Millionen US-Dollar pro Jahr soll Puma der Fünf-Jahres-Deal mit dem Tennis-Wunderkind gekostet haben, das dann eher mit Negativschlagzeilen denn mit Siegen aufwartet. Die Werbekampagne floppt. Das Geld fehlt bei der Entwicklung neuer Produkte. Ende der 80er-Jahre finden sich Puma-Schuhe und Trainingsanzüge vor allem auf dem Grabbeltisch wieder. Die Banken und Aktionäre drängen Armin und seine Söhne aus dem Unternehmen. Die Puma-Mehrheit übernimmt am Ende ein französischer Luxusgüterkonzern. +Wirtschaftlich haben sich beide Konzerne inzwischen wieder erholt. Hinter Branchenprimus Nike ist Adidas immer noch die klare Nummer zwei. Der Konzern beschäftigt 2014 weltweit über 53.000 Mitarbeiter und hat einen Umsatz von gut 14,5 Milliarden Euro. Platz drei geht an Puma. Der Konkurrent aus der Nachbarschaft beschäftigt "nur" 10.000 Mitarbeiter und hat einen Umsatz von knapp drei Milliarden Euro. Geblieben ist die Rivalität um die besten Sportler, bis heute trägt die deutsche Fußballnationalmannschaft drei Streifen. Der schnellste Sprinter der Welt, Usain Bolt, setzt dagegen auf Puma. Nur aus der Familie Dassler ist heute niemand mehr an dem Kampf um Sportler beteiligt. +Der Journalist Birk Grüling lebt in Hamburg und schreibt für große Tageszeitungen und Magazine über Wissenschaft und Gesellschaft. Zu Turnschuhen hat er einen besonderen Bezug. Er war mal Redakteur eines Sneaker-Magazins. diff --git a/fluter/die-stellen-sich-queer.txt b/fluter/die-stellen-sich-queer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2f3aa80b7f7933b25c4571817c124ee4b2c9c7fc --- /dev/null +++ b/fluter/die-stellen-sich-queer.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Vanessa Newman hat die Wahrheit nachgeholt. Seit einem Jahr arbeitet die US-Amerikanerin mit einem kleinen Team an der Modelinie "Butchbaby & Co". Ihr Konzept? "Wir wollen Umstandskleidung entwickeln, in der sich auch Genderqueers und maskuline Mütter wohlfühlen", erklärt die 20 Jahre alte Newman. Sie nennt es "Alternity Kleidung", was sich aus den Wörtern "Maternity" (Mutterschaft) und "Alternative" ableitet. +Es scheint, als hätte sich Newman eine Nische gesucht – und das stimmt wohl auch, was ihren Markt angeht. Aber zeitgleich ist Butchbaby als Teil einer größeren Entwicklung zu sehen. In der Modewelt brechen die einst starren Geschlechterzuordnungen immer mehr auf. +Mädchen tragen Rosa, Jungs Blau. Frauen tragen Röcke, Männer Hosen. So war das früher, scheinbar unumstößlich. Es gab natürlich Ausnahmen wie die Schauspielerin Marlene Dietrich, die bereits in den 1920er-Jahren Smokings trug, oder die Designerin Jil Sander, die sich in den 1990er-Jahren an geschlechtsneutraler Kleidung versuchte, oder Kate Moss, die im selben Jahrzehnt einen neuen knabenhaften Modeltyp verkörperte. Diesen Sommer schickten ein paar Designer ihre Male-Models in Spitzenblusen über den Laufsteg. Doch im Mainstream blieb die Mode in traditionellen Mustern hängen. Es wurden Stereotype produziert, die Nachfrage bedient und ein entsprechender Kreislauf geschaffen, der kaum Platz für genderqueere Identitäten bot – also Identitäten, die zu den verbreiteten Vorstellungen davon, was als männlich und was als weiblich gilt, querliegen. +Vanessa Newman identifiziert sich als "masculine presenting queer". Die Afroamerikanerin wuchs in Maryland auf, studierte an der American University in Washington, D.C. "Ich war schon immer an männlicher Mode interessiert, habe erst gern Skateboarder-Klamotten und später Krawatten getragen", sagt Newman. Dann lernte sie Michelle Janayea kennen, eine Modestudentin aus Chicago. "Wir haben oft übers Kinderkriegen gesprochen, konnten uns beide aber nicht vorstellen, was wir während der Schwangerschaft tragen könnten", sagt Newman. "Ich habe während meines Studiums festgestellt, dass die starre Zweigleisigkeit in der Mode für viele Menschen nicht funktioniert", so Newman weiter. Im Sommer 2014 präsentierte sie ihre Idee bei einer LGBT-Konferenz im Weißen Haus. Ende vergangenen Jahres begannen die zwei Frauen dann mit der Arbeit für Butchbaby & Co. "Wir wollen Umstandsmode entwerfen, die nicht zu eng an der Haut klebt. Zum Beispiel T-Shirts, die die Brüste weniger groß erscheinen lassen, als sie sind. Das ist für viele maskuline Frauen wichtig", sagt Newman, die das Start-up mittlerweile alleine führt. Michelle Janayea hat sich anderen Projekten zugewandt. +Es gibt ein Bedürfnis nach geschlechtsneutraler Mode – das verstehen nicht mehr nur vereinzelt Designer. Im März führte die britische Kaufhauskette Selfridges in drei Städten Unisex-Abteilungen ein, wenn auch nur für sechs Wochen. In der Filiale in der Oxford Street in London hieß es auf drei Stockwerken "Agender" – so der Name des Projektes. "Wir haben die Rahmenbedingungen des Shoppings verändert, indem wir Gendercodes beseitigen. Unsere Kunden haben jetzt freie Wahl, die einzig und allein auf dem persönlichen Geschmack basiert", sagte Creative Director Linda Hewson. +Das Projekt sei das größte in der Mode-Geschichte von Selfridges gewesen. "Wir schauen derzeit, wie wir Agender in Filialen und online fortführen können", teilte eine Konzernsprecherin auf Anfrage mit. Auch die Luxus-Online-Boutique "thecorner" will bald einen genderneutralen Verkaufskanal mit dem Namen "No Gender" eröffnen. Und der jordanischstämmige kanadische Designer Rad Hourani wurde überhaupt erst durch seine Unisex-Kollektionen bekannt. Sein Label wird in der Haute-Couture-Welt gefeiert. "Ich versuche, etwas Pures zu entwerfen, das man für sich verändern kann. Das ist für mich Unisex", sagte Hourani mal in einem Interview. +Das Diktat bricht auf. Langsam. Als Teil eines gesellschaftlichen Wandels. In Berlin wurden im vergangenen Jahr in einigen öffentlichen Gebäuden Unisex-Toiletten eingeführt. Bereits die Ankündigung dieses Schrittes hatte eine große Diskussion entfacht. Das US-Magazin "Time"schrieb im Sommer: "2015 wird das Jahr des genderneutralen Babynamens" und berief sich dabei auf einen Report der Plattform BabyCenter.com. Demnach würden neutrale Namen wie Amari, Phoenix und Quinn immer populärer. +Im August dieses Jahres verkündete der US-Einzelhändler Target, dass man in Zukunft auf die Genderkategorisierung von Spielzeug verzichten wolle. In Schweden wurde in diesem Jahr das geschlechtsneutrale Personalpronomen "hen" ins Wörterbuch aufgenommen. Jahrelang war in dem skandinavischen Land darüber diskutiert worden. Nun gibt es dort auch eine offizielle Antwort auf die Frage, wie man einen Menschen beschreibt, der sich weder als Mann noch als Frau versteht. Apropos: Bei Facebook können deutsche Nutzer ihr Geschlecht seit letztem Herbst auch als "Inter" oder "transsexuell" angeben. +Im Jahr 2008 wurde in London die Organisation "Pinkstinks" gegründet; einen deutschen Ableger gibt es seit 2012. Das Ziel: "Pinkstinks ist die Wut der Eltern, deren Sohn Pink als Lieblingsfarbe hat und dafür in der Schule gemobbt wird. Es ist nicht die Farbe, die stinkt, sondern die Tatsache, dass sie nur Mädchen zugeordnet wird" – so steht es auf der Pinkstinks-Homepage. Dabei hatte sich die klassische Farbenzuordnung erst einige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt – vorher trugen kleine Mädchen und Jungen hauptsächlich Weiß. Dass es klare Kleidungsunterschiede zwischen den Geschlechtern gibt, hat sich in Europa überhaupt erst in den vergangenen Jahrhunderten durchgesetzt. Im antiken Rom trugen Frauen und Männer oftmals gleiche Gewänder, im Mittelalter unterschieden sich viele Oberbekleidungsstücke kaum. +Butchbaby-Chefin Newman will ihren Teil dazu beitragen, dass die Binarität der Modewelt aufgelöst wird. "Wir wollen Kleidung entwerfen, die das Geschlecht nicht herausschreit", sagt sie. Und wie sieht genderqueere Umstandsmode aus? "Ich zum Beispiel trage selten eine Handtasche. Deshalb sind in die Pulloverärmel Taschen integriert", erklärt Newman. "Bundfalten werden ein zentrales Element der Kollektion. Die Hemden sind klassische Button-down-Modelle." +Lukas Hermsmeier arbeitet seit Sommer 2014 in New York als Journalist. Sneakers hat er seither nicht gekauft. An Mode interessieren ihn am wenigsten die Klamotten. diff --git a/fluter/die-steppe-wassjakina-roman-rezension.txt b/fluter/die-steppe-wassjakina-roman-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d2c787a1d67b40375e76e3e089efa850cb15dd1e --- /dev/null +++ b/fluter/die-steppe-wassjakina-roman-rezension.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +"Die Steppe" ist keine umfängliche Analyse der russischen Gegenwartsgesellschaft, dafür bildet der Roman einen zu kleinen Ausschnitt ab. Dennoch verrät die Lebenswelt, die hier beschrieben wird, viel: Es herrscht bei den Eltern der Hauptfigur und deren Umfeld ein großes Misstrauen gegenüber allem Staatlichen, seien es Polizei oder Gesundheitssystem. Die Perspektivlosigkeit ist enorm, die Konflikte innerhalb der Familie auch. +"Die Steppe" ist kein handlungsgetriebener Roman. Die lange Lkw-Fahrt durch die Steppe dient der Autorin eher als grobes Gerüst. Von dort aus zweigt sie immer wieder ab: Sie erzählt, wie sie mit dem Vater aufwuchs und er eine andere Frau kennenlernte oder später von dessen Tod. Das verknüpft sie stellenweise mit theoretisch-philosophischen Überlegungen, etwa über die Mythen, die russischen "Ganoven-Songs" zugrunde liegen oder die Bedeutung der Steppe. Oxana Wassjakina nutzt dabei eine metaphorische Sprache voller Vergleiche, die sich mit messerscharfen Sätzen abwechseln, die die Traurigkeit der Geschichte auf den Punkt bringen. +Besonders interessant ist die Ansprache: Nicht oft, aber regelmäßig spricht die Ich-Erzählerin die Lesenden in der Du-Form an, häufig als Feststellung: "Wie du weißt, ist eine Reise keine einfache Zeit." Wer genau dieses Du ist, bleibt unklar – womöglich will die Autorin ihre Landsleute ansprechen, mit denen sie Erfahrungen und Wissen teilt. +Nach "Die Wunde" hat Oxana Wassjakina mit "Die Steppe" einen zweiten autofiktionalen Roman geschrieben, der direkt an ihr Debüt anschließt und Teil einer Trilogie ist. "Die Wunde" ist auch auf Deutsch erschienen und wurde weltweit hoch gelobt. Darin schreibt Wassjakina über den Verlust ihrer Mutter. Autofiktion, also die Vermischung persönlicher Erfahrungen mit erfundenen Teilen, ist seit einigen Jahren ein Trend im Literaturbetrieb. Für ihr autofiktionales Werk wurde diefranzösische Autorin Annie Ernaux sogar mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. +Das russische oppositionelle Exilmedium "Meduza" stellte die These auf, dass autofiktionale Geschichten in der russischen Literatur beliebter wurden,seit das Land die Ukraine angriff. Denn jede Aussage zum Krieg – selbst ihn so zu nennen – kann Autor:innen und Medienschaffende ins Gefängnis bringen. Da konzentriere man sich lieber auf persönliche Erlebnisse. +Der Vater kann ohne die Steppe nicht leben, für ihn ist sie essenziell. Er verbindet mit der scheinbar endlosen Weite Freiheit und Unabhängigkeit. Später, als er wegen einer Krankheit nicht mehr lange fahren kann, fährt er Touren innerhalb von Astrachan, einer Großstadt im Südwesten des Landes in der Nähe des Kaspischen Meeres. Doch schon nach zwei Wochen hält er es nicht mehr aus. Die Steppe war sein Zuhause. +Drogenmissbrauch, eine lesbische Hauptfigur, Gewalt: "Die Steppe" darf in Russland wohl wegen dieser Themen nicht an Menschen unter 18 verkauft werden. Insbesondere queere Inhalte haben es seit mehreren Gesetzesverschärfungen schwer in Russland: Filme und Bücher, in denenqueere Beziehungen positiv dargestellt werden, dürfen nicht vertrieben werden. In "Die Steppe" wird Julia, die Partnerin der Erzählerin, jedoch nur an wenigen Stellen erwähnt. Oxana Wassjakina hat sich womöglich wegen der strengen Gesetze beschränkt und die Beziehung kaum beschrieben. +"Die Steppe" ist sicher kein leichtes Lesevergnügen. Die Geschichte des Vaters ist stellenweise zutiefst traurig, die rohe Gewalt in der Partnerschaft verstörend. Die Gefühle der Erzählerin sind komplex und ambivalent – genau das macht sie so überzeugend. Manche Abschweifungen fühlen sich etwas zäh an. Aber: Der Roman erlaubt einen Einblick in einen Teil der russischen Gesellschaft, der so manche großen politischen Zusammenhänge im Kleinen besser verstehen lässt. + +Titelbild: Eugenio Grosso/Redux/laif diff --git a/fluter/die-stille-nach-dem-schuss.txt b/fluter/die-stille-nach-dem-schuss.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3bcca049b6c11916faa048021044b2fb24254677 --- /dev/null +++ b/fluter/die-stille-nach-dem-schuss.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Vielen gelang tatsächlich die Flucht in den Westen, andere starben durch Schüsse oder sie ertranken erschöpft im deutsch-deutschen Niemandsland. Das Kapitel der Maueropfer ist die traurigste Hinterlassenschaft eines Landes, das sich seit 1961 nicht anders gegen den Wegzug seiner Bewohner zu wehren wusste, als mit dem Bau von Todesstreifen, Zäunen und Mauern. Gab es anfangs in Teilen der Bevölkerung sogar noch Verständnis für diese Maßnahme, die die DDR vor dem frühen Ende bewahren sollte, wurde ihnen und der ganzen Welt das Ausmaß der Menschenrechtsverletzung spätestens mit dem Tod des 18-jährigen Peter Fechter bewusst, der am 17. August 1962 eine Stunde lang angeschossen im Grenzstreifen lag und verblutete, weil weder aus dem Osten noch aus dem Westen Hilfe kam. +Und dennoch ist fü̈r das Gedenken an die Maueropfer nach der Wende wenig Raum. Im allgemeinen Vereinigungsrausch fehlt Platz für die Trauer, die Menschen wollen nicht so gern an das Unrecht erinnert werden, sondern erst einmal die neue Freiheit genießen. Später kommen die ersten Rufe nach einem Schlussstrich unter die Vergangenheit dazu, dann wieder überlagern die wirtschaftlichen Probleme die Erinnerung an die Gewaltherrschaft. Für die Trauer der Angehörigen gibt es keinen Halt, die meisten Holzkreuze zur Erinnerung werden privat errichtet. Erst als Anfang der 90er die ersten Prozesse gegen die Mauerschützen geführt werden, die zu DDR-Zeiten sogar Auszeichnungen für die Morde an der Grenze bekamen, regt sich bei vielen die Hoffnung, dass der Tod ihrer Familienmitglieder oder Freunde doch noch gesühnt werden könnte. Doch die wird schnell enttäuscht.Mit dem Urteil gegen die Beteiligten am Tod des vorletzten Maueropfers Chris Gueffroy, der noch im Februar 1989 mit 20 Jahren erschossen wurde, wird so etwas wie ein Präzedenzfall geschaffen: Das Gericht spricht drei der vier Tatbeteiligten frei, einer bekommt zwei Jahre Haft auf Bewährung. Begründung: Die schießenden Grenzer hätten auf Anordnung von oben gehandelt. Tatsächlich gibt es nach der Wende widersprüchliche Meldungen über die Existenz eines schriftlichen "Schießbefehls", der allerdings nie gefunden wird. Es gab aber in schriftlichen Anordnungen, Befehlen und schließlich im Grenzgesetz eine Schießerlaubnis, die durch die mündliche Befehlserteilung in die Nähe einer Pflicht rückte. Diese Weisung lautete bis in die 80er-Jahre: "Grenzverletzer sind festzunehmen oder zu vernichten". + +Die Grenzsoldaten, die Menschen auf der Flucht erschossen, waren also Befehlsempfänger, so sehen es jedenfalls die Richter. Von diesem Moment an ist klar: Die Morde bleiben ungesü̈hnt. "Es gab Jahre, in denen ein absolutes Desinteresse an den menschlichen Schicksalen bestand", sagt der Historiker Hans-Hermann Hertle. Gemeinsam mit Maria Nooke von der Gedenkstätte Berliner Mauer recherchiert er seit Jahren in einem von der Bundesregierung geförderten Projekt die Geschichte der Mauer und ihrer Opfer. So ist auf dem Onlineportal "Chronik der Mauer" auch eine Seite mit sämtlichen Todesopfern entstanden, deren Lebensläufe von Hertle und seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern aus Akten, aber auch aus Gesprächen mit Familien und Freunden zusammengetragen werden. Auf diese Weise erhalten die Opfer von damals ein Gesicht, ihre Schicksale Kontur. Erstmals werden die Gründe ihrer Flucht deutlich und das ganze Ausmaß ihres Leidenswegs. Wo es außer Privatinitiativen kaum Mahnmale gibt, entsteht so eine Art virtuellen Andenkens.Es gibt sogar Angehörige, die erst durch Hertle erfahren haben, unter welchen Umständen ihre Väter oder Söhne ums Leben kamen. Denn das Verschleiern der wahren Todesumstände der Flüchtlinge war in der DDR gängige Praxis – um Proteste zu vermeiden und dem Klassenfeind im Westen keinen Grund zur Propaganda zu geben. Der Mutter von Herbert Halli, der am 3. April 1975 an der Grenze erschossen wurde, erzählte man, dass ihr Sohn betrunken in eine Baugrube gefallen und den Verletzungen erlegen sei. Die Urne mit seiner Asche bekam sie per Post, beides war damals durchaus üblich. In Wirklichkeit wurde Herbert Halli erschossen – bei seinem Weg zurück in den Osten. Nachdem er die Ausweglosigkeit seines Fluchtversuchs erkannt und bereits Alarm ausgelöst hatte, kehrte er nämlich um, und versuchte über die Hinterlandmauer zurück in die DDR zu kommen. Doch das gelang ihm nicht mehr – ein Schuss aus einer Kalaschnikow traf ihn in den Rücken. Erst Jahre nach der friedlichen Revolution erfuhr Hallis Mutter von den wahren Umständen seines Todes. Manche Angehörige können immer noch nicht ü̈ber den Verlust von damals sprechen – zu tief sitzt der Schmerz, auch im Angesicht des teilweise profanen Umgangs mit den Opfern des Gewaltregimes. +So kann man sich als Tourist am Checkpoint Charlie heutzutage mit kostümierten US- oder Sowjetsoldaten fotografieren lassen – einen ähnlich deutlichen Hinweis auf die Mauertoten sucht man allerdings vergebens. Dass das Interesse an den Menschen, die für ihren Traum von der Freiheit das höchste Risiko eingingen, wieder zunimmt, ist auch Hertles Verdienst. Seine fast schon kriminologische Arbeit am Computer und am Telefon, die er unbeirrt in einem mit Akten zugestopften Arbeitszimmer im Zentrum fü̈r Zeithistorische Forschung in Potsdam versieht, mündet nun auch in einem Buch, das im Jubiläumsjahr der Wende erscheint.Versüsst wird Hertle die Arbeit durch Briefe von Menschen, die dankbar sind, dass sich endlich jemand dem Schicksal ihrer ums Leben gekommenen Angehörigen annimmt. Oder auch durch Berichte von Privatinitiativen, die sich angeregt durch die "Chronik der Mauer"ebenfalls um das Andenken der Maueropfer kümmern – wie zum Beispiel die Deutsche Waldjugend in Bergfelde. Die veranstaltet Fahrradtouren am ehemaligen Grenzstreifens – der von der Stadt "Berliner Mauerweg" getauft wurde. Weit draußen, wo Berlin immer grüner wird, zwischen Hohen Neuendorf und Reinickendorf steht ein Holzpfahl, der rosa angesprüht wurde. Er steht an der Stelle, an der einst Marinetta Jirkowski erschossen wurde. Auf ihrem Weg in ein neues Leben. diff --git a/fluter/die-teilzeit-subkultur.txt b/fluter/die-teilzeit-subkultur.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5b1b377a5dbce74a80c538ebfc40733efd89e786 --- /dev/null +++ b/fluter/die-teilzeit-subkultur.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Die Kostümierten, die meisten von ihnen sind zwischen 15 und 25 Jahre alt, präsentieren auf der Gamescom barocke Brustpanzer und quietschbunte Frisuren, tragen groteske Masken und kunstvolle Kimonos. Richtet man eine Kamera auf sie, schwingen sie mit riesigen Pappmaché-Schwertern und nehmen Kampfhaltungen ein, andere zeigen akrobatische Tricks oder posieren wie Models auf dem Laufsteg. Niemand wird sie hier dafür auslachen. +"Cos" steht für Kostüm und "Play" für Spiel. Vor mehr als 30 Jahren soll der japanische Anime-Produzent Nobuyuki Takahashi den Begriff erfunden haben. Darum geht es: zunächst das Äußere einer Figur aus der Popkultur nachbauen und anschließend darin ihre Rolle so authentisch wie möglich einnehmen. +Viele saßen vor ihrem ersten Kostüm noch nie an einer Nähmaschine und schneidern dann im Laufe der Jahre immer aufwändigere Werke – gerne auch mit Hilfe der Eltern. Nicht wenige investieren Monate oder ein ganzes Jahr in ein Kostüm. InYouTube-Videos bekannter Cosplayerkann man erfahren, wie viel Kunstfertigkeit und Geschick es dazu braucht. Besonders gefragt sind gerade thermoplastische Materialien. Das sind Kunststoffe, die sich mit Heißluft und Kleber in beliebige Formen bringen lassen. Auch Glasfasermatten oder Sprühschaum aus dem Baumarkt eignen sich, um beispielsweise Rüstungen und Waffen aller Art zu gestalten. Für den Entwurf nutzen manche sogar professionelle Computerprogramme, um dem Original so nah wie möglich zu kommen. +Denn es ist äußerst kompliziert, die animierten Vorbilder aus ihren Comic- und Pixel-Dimensionen in die 3-D-Realität zu übertragen.An vielen Stellen müssen die Cosplayer das ursprüngliche Design interpretieren und übersetzen. So wie Jürgen, der in der Nähe von Kaiserslautern wohnt. Seit Monaten ist er dabei, sein "Skull Kid" aus der Videospiel-Reihe "Zelda" zu perfektionieren. Vor allem die bunte Kunststoffmaske hat der 22-Jährige bereits mehrmals überarbeitet. Das Gewand hat er aus traditionellen Textilien wie Leinen zusammengenäht, den Gürtel aus selbst geschnittenen Weidenästen geflochten. +Beim Cosplay kann ich meine Kreativität ausleben. Das Kostüm bringt meine Persönlichkeit zur Geltung. Natürlich hört man schon mal blöde Kommentare, aber da stehe ich drüber. Einige machen Witze und fragen, ob ich eine Vogelscheuche bin, ein Waldkind oder eine Blume. Es macht nix, in dem Moment der Nerd zu sein. Die vielen Bilder, die Cosplayer von mir machen möchten, machen das alles wett. (Jürgen, 22) +Man komme ganz leicht ins Gespräch und würde sich immer wieder auf den inzwischen zahlreichen Szenetreffs begegnen, auch wenn man Hunderte von Kilometern auseinander wohnt. Neben Auftritten im Rahmen größerer Messen wie der Gamescom oder der Leipziger Buchmesse sind das auch spezialisierte Events wie die Mega Manga Convention in Berlin, die DoKomi in Düsseldorf oder die Connichi in Kassel, die wichtigste Veranstaltung für Cosplayer in Deutschland mit etwa 25.000 Besuchern. +Extra aus dem niedersächsischen Verden nach Köln gereist ist Melina. Auf der Gamescom zeigt sie sich zum ersten Mal als böse Königin aus dem Computerspiel "Alice Madness Returns". Rund acht Wochen hat die 22-Jährige für ihr Kostüm gebraucht. Die Reaktionen der anderen Besucher schmeicheln ihr, viele wollen Fotos machen. +Ich spiele sie nicht, ich versuche, sie richtig zu verkörpern. Dabei wähle ich Charaktere aus, mit denen ich mich identifizieren kann. Eigentlich bin ich total schüchtern, aber hier genieße ich die Blicke auf mir. In dem Kostüm entziehe ich mich dem Alltag und mache meinen Kopf frei – es ist ein bisschen wie Urlaub. (Melina, 22) +Cosplay als Alltags- und Realitätsflucht? Auch für Sina Voss liegt ein Kick am Cosplay darin, etwas anzuziehen, das man sonst nicht tragen würde. Sie bezeichnet das Cosplay als eine Art Teilzeit-Subkultur. "Ich würde mein Kostüm niemals zur Arbeit anziehen", sagt Voss, die eigentlich bei der Messe Stuttgart arbeitet. Anders als beispielsweise Punks oder Anhängern der Rockabilly-Bewegung würde man ihr die Leidenschaft im Alltag normalerweise nicht ansehen. +In anderen Ländern ist das Rollenspiel noch wesentlich extremer. In Japan ist Cosplay längst fester Teil der Popkultur, im Fernsehen laufen Wettbewerbe, bei denen Cosplayer aus der ganzen Welt um die besten Kostüme und Performances konkurrieren. Dort, aber auch in China und in den USA hat die Szene Superstars hervorgebracht. "Ich habe schon von Cosplayern in den USA gehört, die Superman tragen und die Rolle so verinnerlicht haben, dass sie dir nur in Zitaten aus Superman-Comics antworten", sagt die 24-jährige Österreicherin Nana Kuronoma. +Auch für sie war Cosplay zunächst nur ein Hobby, als sie vor acht Jahren damit angefangen hat. Heute zahlen Conventions und Messen wie die Gamescom ihr ein Honorar, damit sie vor ihren Fans auftritt. Damit gehört sie zu den wenigen deutschsprachigen Cosplayerinnen, die sich bereits einen Namen gemacht haben – wie etwa auchSvetlana Quindt aka "Kamui", die bereits einige Ratgeberbücher mit Titeln wie "Rüstungen bauen für Cosplayer" herausgegeben hat. +Auch Sponsoring wie im Profisport ist nicht unüblich. "Mittlerweile bekomme ich viel Unterstützung durch Anbieter, die mir ihre Cosplays gratis zuschicken im Austausch für Werbung", sagt Nana Kuronoma. Gerade jüngere Cosplayer kaufen vermehrt fertige Kostüme. Das Angebot ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen, Online-Shops vertreiben eine breite Auswahl unterschiedlicher Genres. Die Szene sieht es überwiegend locker, wenn jemand ein Cosplay vom Händler kauft. Doch wer es oldschool machen will, macht alles selbst. +Nana Kuronoma greift immer noch regelmäßig zu Schere und Heißklebepistole. Dabei erlaubt sie sich, manchmal vom Original abzuweichen. Auf der Gamescom etwa war sie als Super Mario unterwegs. Jedoch erschien sie nicht in Latzhose und mit angeklebtem Schnurrbart, sondern in Minirock und High Heels. Derartige Gender-Bender-Kostüme sind keine Seltenheit, und eine erotische Komponente ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Zahlreiche Kostüme sind eng geschnitten, bauchfrei oder mit üppigem Dekolleté – was aber nicht zuletzt an der oft übersexualisierten Darstellung der Manga- und Videospiel-Figuren liegt. +Hat es am Ende doch etwas mit Porno zu tun? Zumindest scheinen sich einige weibliche Cosplayerinnen ihrer Reize durchaus bewusst zu sein. Am Ende entscheidet eben jeder für sich alleine: "Es gibt auch viele Cosplayer, die Kleider etwas länger nähen, damit sie sich darin wohler fühlen", sagt Nana Kuronoma. Wohlfühlen – trotz der ganzen umständlichen Verkleidungen hört man dieses Wort häufiger, wenn man mit Cosplayern redet. Und wenn der Brustpanzer doch irgendwann zu unbequem wird, dann ziehen sie ihn einfach aus. +Andreas Pankratz ist freier Journalist in Köln. Müsste er sich für ein Cosplay entscheiden, würde er irgendeine Figur aus "Star Trek – Das nächste Jahrhundert" wählen. diff --git a/fluter/die-treibens-bunt.txt b/fluter/die-treibens-bunt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..378882a456407eb168398de9658040cbe242582f --- /dev/null +++ b/fluter/die-treibens-bunt.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Aber ansonsten ist ein Bananenblatt so praktisch wie Plastik: Es hält dicht, ist leicht zu öffnen und dient während des Essens als Speiseunterlage. Eigentlich ist es sogar praktischer als Plastik: Wenn das Bananenblatt anfängt, trocken zu werden, weiß man, dass die darin verpackte Speise schon zu lange liegt. +Als ich Jahre später wieder nach Hanoi komme, gibt es den kleinen Laden mit den traditionellen Snacks immer noch. Aber ich bekomme meine Klebreiskuchen jetzt in Folie, die das Bananenblatt umschließt. Die zusätzliche Plastikhülle hat keinen praktischen Wert, außer dass zwischen Plastikhülle und Bananenblattverpackung nun ein kleines Etikett liegt, das den Inhalt bezeichnet. Wenn ich Vietnamesisch lesen könnte, würde ich die Kuchen nun nicht mehr verwechseln. +Noch einmal vier Jahre darauf bin ich wieder im Land. Dieses Mal muss ich etwas länger nach den Klebreiskuchen suchen. Den kleinen Laden hinter dem Leninpark finde ich nicht mehr. Schließlich gelingt es mir mit etwas Herumfragen, an anderer Stelle die Snacks doch noch ausfindig zu machen. Doch was ist aus ihnen geworden? Ich bekomme sie in einer Plastiktüte, darin die Folienverpackung mit dem Papieretikett, darin ein imitiertes Bananenblatt aus Kunststoff. Es ist grüner, glatter, glitschiger und lässt einen im Ungewissen, wie lange der Inhalt schon angeboten wird. +Natürlich gab es auch vor 18 Jahren in Hanoi schon hier und da Kunststoff. Bereits 1994 hatten die USA ihr knapp zwei Jahrzehnte bestehendes Wirtschaftsembargo gegen Vietnam aufgehoben, und zur Einstimmung auf die neue Zeit ließ der Getränkekonzern Coca-Cola gleich mal zwei riesige Brauseflaschen aus Kunststoff am Portal des von den Franzosen im Renaissancestil erbauten Opernhauses aufstellen. Plastik konnte einem durchaus auch andernorts begegnen. Wenn man in einen der Kunstgewerbeläden für Touristen ging oder sich ein paar Hemden bei Duc machen ließ, dem besten Schneider der Hauptstadt, dann bekam man seine Ware sogar schon in einer Plastiktüte, die aus ungewöhnlich starker, gefärbter Folie gefertigt war, auf der der Name des Geschäfts mit so dicker Farbe aufgedruckt war, dass man die Buchstaben mit dem Finger spüren konnte. Das wahre Kunststoffzeitalter aber begann mit den rosafarbenen, hauchdünnen Tüten, in die in Vietnam alles und jedes gesteckt wird. +Auch war damals die Invasion der "Honda Dream"-Motorroller in Hanoi schon in vollem Gang, jenes rundum kunststoffbeplankten Zweirads, das das Fahrrad als Hauptverkehrsmittel abzulösen begann und ästhetisch und technisch das Gegenmodell zu den bis dahin vereinzelt gebräuchlichen russischen Mopeds war, die fast komplett aus Metall bestanden und fast nur von Männern gefahren wurden. Die Honda Dream hingegen machte die Vietnamesinnen nach der Jahrtausendwende mobil und die mit Schweißen und Schrauben und Ausbeulen vertrauten Zweiradmechaniker der Metropole einigermaßen ratlos. Schließlich mussten sie plötzlich kaputte Kunststoffteile flicken: Sie erhitzten das Plastik und versuchten, es wieder zusammenzukleben.Und eine Ecke weiter saßen die Sattler und nähten aus Kunstleder neue Sitzbänke für die Gefährte zusammen. +Das Viertel, wo das geschah, ist die Altstadt von Hanoi, die vielleicht der Ort im Land ist, an dem der Einzug der Kunststoffkultur am meisten zu spüren ist. Seit Jahrhunderten gibt es hier für jedes Handwerk eine Straße, in Reiseführern ist von einem System der Gilden die Rede. Es ist ein riesiges Open-Air-Warenhaus für Handgemachtes. Hier gibt es die Straße der Tischler, wo sie damals die Holzschemel zusammenzimmerten, die wie Kinderstühle aussehen, aber in Wahrheit vollwertige Sitzgelegenheiten für Erwachsene in den Garküchen des Landes sind. Es gibt die Straße der Bürstenmacher. Die Straße der traditionellen Lackdosen. Die Straße der Grabbeigaben, die kunstvoll aus Papier gefertigt wurden und die Gegenstände repräsentieren, die der Verstorbene am meisten geliebt hat und im Jenseits am dringendsten braucht: ein prunkvolles Hemd. Ein Pferd. Eine Honda Dream. Es gibt die Korbflechterstraße, die Straße der Blechverarbeitung, die Straße der Bambusmöbel. +Hier zog das Plastik am schnellsten ein. Plastikbürsten aus China sind ebenso praktisch, kosten aber nur einen Bruchteil. Die Plastikschemel, die bald in den Garküchen standen, sind fast unzerstörbar, und man kann sie besser stapeln. Kunststoffeimer ersetzten handgeschmiedete Metallschalen, die Bambusflechter fühlten sich durch Fertigware aus Plastik bedroht, plötzlich gab es statt der papiernen Grabbeigaben industriell gefertigte Gegenstände. +Die "Plastifizierung" eines Landes ist auch eine Explosion der Farben +Über die Jahre haben sich auch die Farben der Altstadt geändert. Vietnamesen lieben ausdrucksstarke Töne, schon vor dem Kunststoffzeitalter gab es leuchtendes Rot und Gelb und Gold in der Stadt. Aber plötzlich sah es in der Straße für die Putz- und Haushaltsutensilien aus wie in einem Spielzeugladen, kunterbunt. Vietnam ist in Rekordzeit von einer fast plastikfreien Welt zu einem Plastikparadies geworden. +Dabei sind die Vietnamesen eine sehr traditionsverliebte Nation. Aber gleichzeitig war für viele Menschen die Überlegenheit eines Gegenstands aus Kunststoff gegenüber einem traditionellen Gegenstand unmittelbar zu spüren. Es ist ja nicht mit allem so praktisch wie mit den Bananenblättern. Oft nutzten sich die alten, handgemachten Gegenstände in der täglichen Benutzung schnell ab, sie waren zerbeult, geflickt, schmutzig, eben mangelhaft. Und da war es schon ganz schön, sich neue Sachen anzuschaffen, die lange halten und zudem noch viel weniger kosten. +Es ist aber auch heute noch nicht so, dass Plastik in ganz Vietnam so allgegenwärtig ist wie hierzulande. Wenn man von Hanoi aus gut 100 Kilometer hinaus aufs Land fährt, ist das Kunststoffzeitalter noch kaum in Sicht. Es gibt hier kein Telefon, kein fließend Wasser, der Dorfladen verkauft Schulhefte, Holzbürsten und einfaches Spielzeug (das ist schon aus Plastik). Man schöpft aus einem Ziehbrunnen, schlachtet eine Gans und holt Salat aus dem Garten. Wenn man durch das Dorf geht, zieht man eine Schlange lärmender Kinder auf rostigen Erwachsenenfahrrädern hinter sich her, schon Fünfjährige können die fahren. +Und dann stehen plötzlich auch in den besseren Garküchen und Restaurants der Hauptstadt wieder Holzschemel in den Gasträumen. Die Wirte dekorieren mit Bambus und ersetzen die Plastikschalen durch geflochtene Ware. Wer in Vietnam etwas auf sich hält, vertreibt auch daheim den Kunststoff aus den Wohnräumen. Die Plastikzeit und die Postplastikästhetik sind in Vietnam fast gleichzeitig angekommen. +Lutz Meier ist freier Wirtschaftsreporter in Berlin. Früher hat er bei der Financial Times Deutschland jahrelang die Medienberichterstattung verantwortet und die Zeitung als Korrespondent in Paris vertreten. Daneben fand er genug Zeit, um immer wieder nach Vietnam zu reisen. diff --git a/fluter/die-uns-was-husten.txt b/fluter/die-uns-was-husten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ef0846b88778da14f4763139b0f792c9521f740a --- /dev/null +++ b/fluter/die-uns-was-husten.txt @@ -0,0 +1,83 @@ +Manchmal ist man unsicher, ob es nicht mehrere Politikwissenschaftler mit dem Namen Claus Leggewie gibt. Einen, der an der Justus-Liebig-Universität in Gießen Professor ist, ein anderer, der das kulturwissenschaftliche Institut in Essen leitet, einen weiteren, der Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung zum Thema "Globale Umweltveränderungen" ist, und einen, der seinen Mitmenschen in Büchern und Zeitungsartikeln die Hölle heißmacht, wenn sie sich nicht langsam für den Klimaschutz erwärmen. Es ist aber erstaunlicherweise ein und derselbe – und daher natürlich genau der Richtige, unser Gespräch zu beginnen. +Hallo, Herr Professor Leggewie. Wie viel CO2 erzeugt denn Ihr Auto? +Ich gehöre ja einer total verrotteten, fossilen Generation an, für die ein Auto ein Statussymbol ist, Ölgeruch bringt mich heute noch in Verzückung. Aber ich habe es geschafft, davon loszukommen und meinen Schlitten verkauft. +Sie wollten nicht als uncool gelten ... +Ach, da habe ich keine Sorgen. Aber für eine Rettung des Klimasmuss eben nicht nur der strukturelle Wert des Autos demontiert werden – das ist ja längst geschehen – sondern auch der symbolische geopfert werden. Bei Jüngeren sieht man diesen Wertewandel am ehesten. Da sagt der 14-jährige Schüler zu seiner Mutter: Setz mich an der Ecke ab, ich will nicht, dass die Leute sehen, was wir für einen Geländewagen haben. +Es geht also nicht mehr darum, zu zeigen, wieviel Geld man hat, sondern, wie wenig CO2 man ausstößt. Warum ist CO2 überhaupt die neue Leitwährung? +Weil sich darum eine große Transformation unserer Vorstellungen von Zeit, von Politik, von den Märkten und vom guten Leben dreht, nicht mehr um Euro und Dollar oder das ewige Leben und die Hölle. +Ist das richtig so und unumstritten? +Ja, schon. Aber Reduktionsziele bewegen niemanden. Wir müssen zeigen, wo vermeintliche Verzichte Gewinne sind. Weniger ist mehr! +Und was versteht man unter einer "low carbon society"? +Eine nachhaltige Wirtschafts- und Gesellschaftsform, die mit geringeren Treibhausgasemissionen auskommt. +Können Sie Menschen verstehen, die sagen: Was soll ich aufs Autofahren verzichten, wenn anderswo riesige Kohlekraftwerke ans Netz gehen? +Hannemann, geh du voran … Das sind doch Ausreden. Klar ist es schlecht, wenn ein uraltes Kraftwerk in Betrieb genommen wird. Aber erst einmal sollen sich die Menschen ihre Stromrechnung anschauen und die Möglichkeit ergreifen, den Stromanbieter zu wechseln. Wer das gemacht hat, darf dann auch vor einem Kohlekraftwerk demonstrieren. Der Ansatz, dass ich mich erst mal gar nicht rühren muss, bevor nicht "die Wirtschaft" und "die Politik" etwas gegen den Klimawandel unternehmen – der ist denkfaul und bigott. +Dennoch könnte man ja auch als gut meinender Verbraucher angesichts der Blockadehaltung der USA und Chinas eine gewisse Ohnmacht spüren. +Ach, moralisch sind die Deutschen immer vorbildlich, aber der Einzelne hier hat in den vergangenen Jahren weniger zum Klimaschutz beigetragen als der Durchschnittskalifornier. Die Bewohner der amerikanischen Westküste haben erheblich mehr für die CO2-Reduktion getan als viele andere Erdenbürger. Es gibt in den USA ein Bündnis von mehr als 600 Städten und Gemeinden, die eine Selbstverpflichtung unterschrieben und auch befolgt haben, von der deutsche Gemeinden nur träumen können. Wir nennen das "bottom up" – von unten nach oben passiert da sehr viel. Es soll niemand sagen, dass wir nichts für den Klimaschutz tun können. Dann soll man lieber sagen: Ich will nichts tun – das ist wenigstens ehrlich. +Ist das Scheitern der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen dann gar nicht so schlimm? +Kopenhagen gescheitert – woran messen Sie das? Was glauben wir denn, wie Politik abläuft? Dass da irgendwelche Gradzahlen an die Wand geworfen werden und alle unterschreiben einenweltweit verbindlichen Vertrag? Dass sich die Staatenlenker dort nicht geeinigt haben, liegt an der Architektur unseres globalen Regierens. Die UN schließt das Mehrheitsprinzip regelmäßig aus, weil man den totalen Konsens haben möchte. Aber sie können nicht so schnell einen Konsens herstellen zwischen dem Präsiden- ten der Malediven, den Saudis und den Republikanern im US-Kongress. Wir haben es in der Klimadebatte mit ganz erheblichen Differenzen zu tun ... +... die in die Sackgasse führen? +Mal sehen, aber es geht langsam voran. Nach Kopenhagen ist die Umweltdiplomatie bei dem Treffen der Umweltminister kürzlich auf dem Petersberg wieder auf Touren gekommen. Wir würden ja heute auch sagen, dass die Abrüstungsverhandlungen zu Zeiten des Kalten Kriegs sinnvoll waren – und damals haben sich die Politiker Millimeter für Millimeter auf ein Ziel zubewegt. Was den Klimawandel anbelangt, setzen wir nun auf subglobale Klimaallianzen, Koalitionen der Willigen. Das sind z. B. Deutsch- land, Japan und Brasilien im Bereich von Technologietransfers. +In Kopenhagen wurde über das Ziel gesprochen, die Erderwärmung auf zwei Grad zu begrenzen. Kritiker halten solche Zahlen für stark vereinfacht und unseriös – zumal manche Prognosen wie das dramatische Abschmelzen der Polkappen schon bei 1,5 Grad eintreten könnten. +Die Inselstaaten sagen sehr zu Recht, dass ihr Schicksal schon bei 1,5 Grad besiegelt ist. Die Insel Tuvalu werden wir nicht retten können, mit nichts. Das ist aber nicht die Schuld der heutigen Politiker, sondern ein Resultat der Überentwicklung des Plane- ten während der letzten Jahrzehnte. Wir haben mit der Zwei- Grad-Leitplanke im "Copenhagen Accord" einen globalen Konsens geschaffen, eine handhabbare Größe, und das ist ein großer Schritt nach vorn. Auch bei den Maastricht-Kriterien sagen wir: Drei Prozent Neuverschuldung eines Landes geht noch, 3,5 Prozent geht nicht. Man braucht solche Leitplanken, gerade bei der Physik des Klimas. Politikberatung funktioniert nicht so, dass man das wissenschaftliche Wissen eins zu eins in die Köpfe der Politiker bekommt. Hinter der Zwei-Grad-Leitplanke stecken immense Rechenoperationen, die man natürlich mitliefern kann, aber die verstehen weder Entscheidungseliten noch normale Bürger. Daher müssen sie darauf vertrauen, was die Wissenschaft ihnen rät, aber der demokratische Prozess ist autonom und funktioniert nach eigenen Regeln. +Der Weltklimarat, der die Empfehlungen ausspricht, steht in der Kritik, weil er das Abschmelzen der Himalaya-Gletscher bei bleibendem CO2-Ausstoß für das Jahr 2035 vorhergesagt hat. Richtig soll das Jahr 2350 gewesen sein. Kann man da nicht die Skeptiker verstehen, die an der Erderwärmung zweifeln? +Das war ein schwerwiegender Fehler, aber eben nur einer. Dieser Zahlendreher hätte nicht sein dürfen. Da muss das interne Qualitätsmanagement verbessert werden. +Dieser Fehler hat die Republikaner in den USA dazu gebracht, die Berichte des IPCC – also des Weltklimarats – als Science-Fiction zu bezeichnen, auf deren Grundlage man keine Gesetze erlassen sollte. +Ja, so haben sie es vorher schon jahrzehntelang mit dem Rauchengemacht. Da gab es die überwältigende wissenschaftliche Evidenz, dass Passivrauchen krank macht und dennoch hat die Lobby entsprechende Gesetze verhindert, indem sie systematisch und auf schwacher Basis Zweifel gesät hat. Das war unverantwortlich, und es ist noch unverantwortlicher beim Klimawandel. +Es gibt aber auch Wissenschaftler in Deutschland, die an den Prognosen zweifeln. +Die Klimaskeptiker unterteilen sich in drei Gruppen. Es gibt Menschen, die ihre Marktlücke darin sehen, gegen den Stachel zu löcken – ob das nun Moscheen sind oder regenerative Energien. Das sind die Witzbolde, die sich politische Unkorrektheit zum Lebensprinzip gemacht haben. Dann gibt es die Neidhammel, vor allem randständige Naturwissenschaftler, die nicht zum Zuge gekommen sind und auch gern Fördergelder hätten. Und die dritte Gruppe – und nun wird's kriminell – sind Leute von der Energielobby. Die haben ein klares Interesse und verspielen wider besseres Wissen unsere Zukunft. Die meisten Daten des IPCC sind nicht nur valide, sondern – wo wir vergangene Prognosen schon mit aktuellen Messungen abgleichen können – untertrieben. Das kann kein Klimawandelleugner bestreiten. +Wäre also doch eine Begrenzung auf 1,5 Grad besser als auf zwei? +Natürlich, aber die Zeit scheint verstrichen, die in Kopenhagen freiwillig gemachten Zusagen versetzen uns schon in eine Drei-Grad-plus-Welt oder in extremen Zeitdruck. Zwei Grad ist ja keine Stellschraube, an der irgendwelche Staatslenker drehen, und dann geht die Temperatur herunter. Nicht die Wissenschaft muss sich politisieren, sondern die Gesellschaft. Gerade der Abschluss eines global verbindlichen Vertrages mit klaren Obergrenzen und konkreten Reduktionsetappen verlangt von uns allen, ein hohes Maß an Verantwortung und Verzicht, was sage ich: eine ziemlich radikale Umstellung unseres Lebensstils. Weniger individuelle Mobilität, weniger Verzehr importierter Nahrungsmittel wie z. B. Rindfleisch, mit weniger Wohnraum auskommen, sparsamer heizen – das muss sich jeder klarmachen und damit kann jeder gleich nach der Lektüre anfangen. +Wenn ich mir aber den Lebensstil der letzten Jahre anschaue und die Einstellungen der 14- bis 35-Jährigen, sehe ich dieses Maß an Verantwortungsbewusstsein nicht. +Für 1,5 Grad sein und den Arsch nicht hochkriegen ... klar, dass das den sofortigen totalen Verzicht auf Automobilität in Deutschland heißt. Wenn die Wirtschaftskrise anhält, dann schaffen wir es vielleicht. +Sie meinen: Die Wirtschaftskrise war gut fürs Klima? +Natürlich. Der Rückgang der Emissionen im Jahre 2009 ist bei uns einzig und allein auf die globale Wirtschaftskrise zurückzuführen. Es wird weniger produziert und konsumiert, also werden weniger Treibhausgase emittiert. +Und was schaffen wir ohne eine neue Rezession? +Wir haben ja die Technologien zur Reduzierung des CO2 oder können sie in absehbarer Zukunft mit vertretbaren Investitionen entwickeln. Wir haben auch gute Gesetze – das Einspeisegesetz, das die Abnahme von regenerativen Strom zu einem bestimmten Preis garantiert, ist ein Exportschlager in 30 bis 40 Ländern. Was fehlt, ist die breite Mitwirkung der Bevölkerung, aber die ist absolut notwendig. Deutschland ist eine unheimlich reiche Gesellschaft, in der jeder Einzelne einen großen Handlungsspielraum hat, sich aber hinter Chinesen und Amerikanern versteckt. +Sind Initiativen wie Utopia, wo Zehntausende für verantwortungsvollen Konsum eintreten, nicht ein Zeichen des Umdenkens? +Deswegen bin ich ja optimistisch. Der Wertewandel, den wir im Auge haben, läuft seit 40 Jahren und er läuft weltweit. Utopia ist genau das Richtige, eine Initiative, die das Verhalten des Einzelnen in das Zentrum rückt, die auch den kritischen Konsum als den schlafenden Riesen politischer Mobilisierung erkennt. Es gibt aber keinen sozialen Wandel ohne politische Bewegung. +Dennoch sind Sie eher pessimistisch. Ihr neuestes Buch hat als Titel eine Songzeile der Band R.E.M.: "It's the end of the world as we know it." +Sie kennen den Song nicht. Dessen Refrain heißt: "And I feel fine." Nur wer die heutige für die beste aller Welten hält, kann traurig sein, dass sie ans Ende kommt. Wir können dazu beitragen, dass diese Welt besser wird. Klimaschutzstrategien sind sogenannte "No-regret"-Strategien, das heißt: Wir werden sie auf keinen Fall bereuen, auch wenn es gar keinen Klimawandel gäbe: Der Ausbau der erneuerbaren Energien, Effizienzprogramme, intelligente Mobilität, gesündere Ernährung und urbane Verdichtung – das alles ist nicht nur gut für die Umwelt, es steigert auch die soziale Gerechtigkeit, die subjektive Lebenszufriedenheit und sichert die Zukunft der nächsten Generationen. Und nebenbei schaffen wir auch noch Arbeitsplätze und Exportchancen, vor allem im Süden der Welt. Aber noch mal: Jeder einzelne Leser dieses Interviews muss wissen, dass man nicht warten kann, bis die anderen anfangen. Man kann sofort eine große Volksbewegung starten, indem man seinen eigenen Lebensstil kritisch betrachtet und freudig ändert. Die Lebensfreude in zehn Jahren hängt da- von ab, ob man den alten oder den neuen Weg geht. + + +"Die Wirtschaft ist schon weiter als der Konsument" +So kann man es auch machen: Claudia Langer hat früher eine eigene Werbeagentur gehabt, bei deren Verkauf sie viel Geld verdiente. Anstatt sich damit ein schönes Leben zu machen, gründete sie das Webportal utopia.de, das das Leben vieler besser machen soll. Utopia setzt darauf, dass Verbraucher mit strategischem Konsum für mehr soziale Gerechtigkeit und ein besseres Klima sorgen können. Bisher funktioniert das recht gut: Drei Jahre nach der Gründung hat Utopia mehr als 55.000 Nutzer und berät inzwischen große Unternehmen in Fragen der Nachhaltigkeit. +Hallo, Frau Langer. Herr Leggewie ist ganz angetan von den Möglichkeiten, die sich einem politisch denkenden Bürger bieten, die Welt durch seinen Konsum zu verbessern. Sehen Sie das ähnlich optimistisch? +Ja und nein. Ich sehe vor allem den Unterschied zwischen dem, was möglich ist, und dem, was tatsächlich getan wird. Der Verbraucher ist ein unsicherer Verbündeter und unsicherer Wähler, er schickt widersprüchliche Signale an Unternehmen und Politik. Er könnte die Welt verändern, aber er tut sicher nicht genug. +Meinen Sie all die Menschen, die grün wählen, aber jedes Wochenende mit Billigfliegern irgendwohin fliegen? +Klar gibt es viel Hedonismus, an dem ich verzweifeln könnte. Aber wir leben alle mit unseren Widersprüchen. Viele meiner Freunde z. B. haben "das Projekt", in diesem Jahr "endlich" zu einem Ökostromanbieter zu wechseln, aber keine Zeit für die drei Minuten, die man dafür benötigt. Die Masse der Menschen ist leider träge und so desinteressiert, dass sie die Welt nur noch im Privatfernsehen an sich ranlassen. Mich ärgert das aber jeden Tag. Dass die Bewussteren, die theoretisch alles wissen, auch viel zu wenig tun, ist fast noch schlimmer. +Ist der Klimaschutz nicht auch eine Frage des Geldes? +Null. Die Diskussion stehe ich locker durch. Tiefkühlpizzen und Wurst in der Plastikverpackung sind letztlich nicht viel billiger als vernünftiges Essen. Wir haben auf unserem Portal extrem vie- le Leute, die nicht so viel Geld haben – Hartz-IV-Empfänger, die viel bewusster leben als das Akademikerpaar in Prenzlauer Berg oder Schwabing, das einen viel höheren CO2-Fußabdruck hat. +Sie reden viel mit Managern über die Entwicklung nachhaltiger Produkte. Gibt es in den Unternehmen ein Umdenken? +Absolut. Ich spüre in Teilen der Wirtschaft einen grundlegenden Wandel im Bewusstsein. Viele Manager leben mit einer Ahnung, was da auf uns alle zukommt. Das Internet ist ein zusätzlicher Treiber, weil das Web 2.0 in kürzester Zeit die Reputation eines Unternehmens zerstören kann. Wenn sich früher ein Konsument beschwerte, hat man ihm eine Entschuldigung und eine Kiste Freibier geschickt. Heute ist der Unmut öffentlich. Das führt dazu, dass Unternehmen sich dem Dialog stellen und reagieren müssen. +Betreiben nicht die meisten eher eine Art "Green-Washing" – also bloße Imagepflege – anstatt wirklich etwas für den Klimaschutz zu machen? Wenn beispielsweise zwischen den ganzen Klamotten, die von Westkonzernen konventionell in Dritte-Welt-Ländern hergestellt wurden, ein paar fair gehandelte T-Shirts hängen? +Viele schon, aber eben nicht alle. Es gibt mittlerweile große Textilunternehmen, die aus eigenem Antrieb den gesamten Baumwollmarkt revolutionieren. Weil sie wissen, dass Baumwolle eine der größten Ökosünden der Welt ist. Und nun setzen sie mit ihrem Handeln Maßstäbe und die gesamte Branche unter Druck. Meine Hoffnung ist, dass eine solche Firmenpolitik der Normalfall wird und Unternehmen, denen das völlig egal ist, stigmatisiert werden. Es gab nie so ernsthafte Gespräche mit Unternehmen, wie in diesem Moment, und das gibt mir Auftrieb. +So ein Umdenken kann aber dauern ... +Es gibt schon ein massives Umdenken. Auf vielen Führungsebenen gibt es bereits eine neue Generation, die sehr von diesem Thema berührt und dafür zu begeistern ist. Die sind mit der Umwelt- und Friedensbewegung aufgewachsen und sind elektrisiert von den Möglichkeiten, die sie als Unternehmer haben. Ich habe ja lange in der Werbung gearbeitet, und früher gab es viel verhärtetere Fronten. Auf der einen Seite hieß es "Scheiß Großkonzerne", auf der anderen "Scheiß Ökos". Das ist mittlerweile alles durchlässiger geworden. Darum setze ich auch auf engagierte Kooperationen und nicht auf Konfrontation und Frontenbildung. +Wollen Sie damit sagen, dass die Konzerne weiter sind als die Verbraucher? +In Teilen zumindest ernsthafter bei der Sache. Und man muss feststellen, dass viele Nachhaltigkeitsanstrengungen der Firmen vom Verbraucher nicht honoriert werden. Es gibt ja in der Textilindustrie z. B. Unternehmen, die aus innerem Antrieb organic cotton anbieten, und der Kunde kauft dann doch wieder das Shirt für drei Euro. Und stellen sie sich vor, was passieren würde, wenn wir alle bei McDonald's und Burger King nur noch vegetarische Gerichte bestellen würden. +Es ist ja auch eher unglaubwürdig, wenn eine Burger-Bude plötzlich Tofu anbietet ... +Ich bin auf Wirkung geeicht, die moralische Bewertung überlass ich anderen. Mein Beitrag ist es, möglichst viele Unternehmen davon zu überzeugen, auf Bioprodukte zu setzen. +Reden wir mal über die Utopisten. Ist Ihre Firma das Portal für das kleine gute Gewissen zwischendurch? +Der Mensch funktioniert nicht über Einsicht und nicht sehr lange über Angst. Für mich ist strategischer Konsum ein trojanisches Pferd. Ich muss niedrigschwellige Angebote machen, damit sich die Leute überhaupt mit dem Thema beschäftigen. Manchmal versuche ich auch schon mal, einen Trend herbeizureden. Der neuste Trend ist z. B. Sommerfrische vor den Toren der Stadt. Ich sage dann: Hey Leute, ihr müsst nicht immer in den Flieger steigen – in der Hoffnung auf die Neugier der Menschen. Das ist ein mühsames Geschäft, denn nicht mal die Grünen-Wähler wollen verzichten. Deswegen fangen wir klein an – in der Hoffnung, dass man die Verbraucher damit anfixt, um irgendwann die Dosis zu erhöhen und sagen zu können: Du, wir müssen dir mal ein Geheimnis verraten. So ganz ohne Verzicht geht's doch nicht. + +"Die Wirtschaftsinstitute machen ständig Fehler" +Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) berät vor allem Politiker in Fragen des globalen Wandels, der Klimawirkung und der nachhaltigen Entwicklung. Natur- und Sozialwissenschaftler erarbeiten hier gemeinsam Grundlagen für zukünftiges Handeln von Staaten, Gemeinden und Unternehmen. Fritz Reusswig ist seit 15 Jahren beim PIK und beschäftigt sich u. a. mit der Zukunftsfähigkeit der Städte in Zeiten des Klimawandels. Welche Rolle kann die Wissenschaft jenseits der Politberatung spielen und wie kann sie gesellschaftliches Handeln beeinflussen? +Herr Reusswig. Wir haben Mai, draußen regnet es, die Temperatur liegt bei neun Grad. Können Sie manchmal die Menschen verstehen, die an der Erderwärmung zweifeln? +Wetter ist ein stochastisches Phänomen – unterliegt also auch oft Zufallserscheinungen – das Klima aber können wir relativ gut voraussagen. Auch im Jahr 2050, wenn wir vielleicht zwei Grad Erderwärmung haben werden, wird es noch kalte Winter geben. Für mich waren die Klagen über den kalten Winter eher der Beweis für die Erwärmung. 1980 hätte sich nämlich niemand über einen normalen Winter gewundert, aber in den letzten Jahren haben wir so suppige warme Perioden gehabt, dass uns die Kälte in diesem Jahr ganz ungewöhnlich vorkam. +Auftrieb bekommen die Klimaskeptiker aber auch dadurch, dass der Weltklimarat das Verschwinden der Himalaya-Gletscher um rund 300 Jahre vorverlegt hat. +Ja, das ist ein ärgerlicher Fehler gewesen, aber jeder weiß, dass man Tausende von Seiten wieder und wieder lesen kann, und dennoch kann es am Schluss Fehler geben. Seltsam ist doch, dass Jahr für Jahr die Wirtschaftsinstitute Prognosen veröffentlichen, mit denen sie oft danebenliegen und dennoch werden sie immer wieder aufs Neue zitiert – gerade von den Zeitungen. Niemand kommt auf die Idee, an deren Glaubwürdigkeit zu zweifeln. Wenn aber der Klimarat einen Zahlendreher liefert und auf tausend Seiten statt 2035 einmal 2350 schreibt, schreien alle auf. Die Empörung hört sich ja fast an, als wäre der Himalaya gerettet, wenn wir den Fehler korrigieren. +Wie sehr hat die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft gelitten? +Er wurde natürlich politisch instrumentalisiert. In den USA ist laut neuesten Umfragen die Überzeugung, dass es überhaupt einen Klimawandel gibt, deutlich zurückgegangen. Dabei war der Wert sogar in den letzten Bush-Jahren deutlich gestiegen und 2007 schließlich in die Nähe der Umfrageergebnisse in Europa gerückt – dort hat man immer schon daran geglaubt. Aber nun hat sich der Wind durch die Diskussion um den Weltklimarat gedreht, und zwar dramatischerweise nicht bei denen, die immer skeptisch waren – die haben schon vorher nichts kapiert, sondern bei den politisch Aufgeklärten und gut Informierten. +Muss sich also an der Arbeit der Wissenschaftler etwas ändern? +Man kann sich immer verbessern, die Qualität mehr sichern. Aber ich halte nichts davon, noch wissenschaftlicher zu werden und sich mit dem IPCC von der Politikberatung abzulösen. Da würde ein hohes Gut verspielt, nämlich all die Schnittstellen zur Politik, an denen sich viel Sachverstand bündelt. Ohne das würde der Weltklimarat politisch bedeutungslos und zu einem wissenschaftlichen Gremium, das nicht gehört wird. +Kritik gibt es auch am Zwei-Grad-Ziel, weil schon 1,5 Grad Erwärmung dramatisch sind. Ist diese Zahl wissenschaftlich begründet oder ein politisches Konstrukt? +Sie ist eine Mischung aus wissenschaftlicher Aussage und politischer Bewertung. Die Wissenschaft kann nur die Natur beobachten, ohne zu bewerten. Die Politik kann die Menschen fragen: Wann tut es denn weh bei euch und was ist es euch wert, die Erwärmung zu begrenzen. Diese beiden Sphären müssen zusammenkommen und so ist auch das Zwei-Grad-Ziel entstanden. Es ist also ein Fehler, diese zwei Grad als einen wissenschaftlich ex- akten Wert zu verkaufen. Es ist viel notwendiger zu zeigen, dass es einen Wissenschafts- und einen Bewertungsanteil gibt +Fühlen Sie sich als Wissenschaftler von der Politik vereinnahmt? +Das wirft im Falle der Klimadiskussion die Frage auf, ob es in der Politik einen vernünftigen Diskurs im Sinne des Gemeinwohls gibt oder nur wissenschaftliche Erkenntnisse manipuliert werden. Ich glaube an das Erste. Wir müssen aber aufpassen, dass wir nicht zur Kolonne der Lobbys werden. Es geht ja überall um handfeste ökonomische Interessen. Die einen sagen, wir benötigen Atomenergie, weil die CO2-neutral ist, andere sagen, wir kommen mit den regenerativen Energien hin. Da muss man unabhängig bleiben. +Wissenschaftler haben doch ein besseres Image als Politiker. Wäre es nicht an der Zeit, direkter mit den Menschen zu kommunizieren? +Ja, wir müssen offensiver werden. Wissenschaftler beraten Staaten, sie beraten nicht Unternehmen, nicht die Bürger. Die Berichte des Weltklimarats sind für die Entscheidungsträger in der Politik gedacht. Man müsste eigene Formate bilden, damit auch Kommunen und Bürger den Weltklimabericht durchdringen. Wenn ich fünf Prozent der Bevölkerung erreiche – über das Internet, über Blogs, über Zeitschriften – würde das die Akzeptanz schon deutlich erhöhen. Die Frage ist aber, wer das alles bezahlt. +Gerät der Klimaschutz durch den wirtschaftlichen Abschwung und einen schwachen Euro unter Druck? +Das ist schon so. Wenn der Euro stark ist, bleibt auch der Klimaschutz auf der Agenda, in wirtschaftlich schwachen Zeiten könnte er weggespart werden. Ich kann sogar verstehen, dass der Klimaschutz für einen Arbeitslosen nicht so wichtig ist wie ein neuer Job. Es muss aber eine Instanz geben, die uns immer wieder dar- an erinnert, wie wichtig der Erhalt der Erde und der Kampf gegen die Erderwärmung sind. +Gewarnt wird doch schon genug. Fehlt es nicht eher an verbindlichen Abmachungen, wie sie sich viele Menschen von der Konferenz in Kopenhagen erhofft haben? +Es stimmt mich schon bedenklich, dass trotz der Fünf-vor-Zwölf-Stimmung in Kopenhagen nichts herausgekommen ist. Das könnte schon demotivierend sein für die einzelnen Bürger. Aber umgekehrt kann man auch sagen, dass es klüger ist, über machbare Sachen zu reden, als über den großen globalen Konsens. Dann redet man eben über den Erhalt der Wälder oder über regenerative Energien. Gefragt sind pragmatische Lösungen für Städte, Kommunen und den Bürger. Der Großraum London hat mehr CO2-Emissionen als ganz Griechenland – London sitzt aber bei solchen Konferenzen nicht mit am Tisch. Wir können also unterhalb der globalen Ebene durchaus jede Menge machen und erreichen. + diff --git a/fluter/die-unterirdischsten-von-allen.txt b/fluter/die-unterirdischsten-von-allen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d018b740d40730d8c95b37c5c619c67d145b0b36 --- /dev/null +++ b/fluter/die-unterirdischsten-von-allen.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Die Minen sind im Boden versteckt. Deswegen sind sie zum Beispiel für spielende Kinder nicht zu sehen. So wurden 2012 im Osten Afghanistans zehn Mädchen durch eine explodierende Landmine ermordet. Sie hatten Brennholz sammeln wollen, und eines der Mädchen hatte die Landmine durch ihre Axt ausgelöst. +Und auch in der Diskussion über Landminen sind die Minen selbst, ihre Technizität, meist nicht sichtbar. Dallaporta trägt mit seinen Bildern dazu bei, das zu ändern und der Gesellschaft die Existenz der Minen bewusst zu machen. +Raphaël Dallaporta wurde 1980 in Frankreich geboren. Thema seiner Bilder sind immer wieder die Menschenrechte und wie sie verletzt werden – durch Landminen ebenso wie von den nächsten Mitmenschen. So zeigt seine Serie "Domestic Slaverys" Bilder ganz normaler Wohngebäude zusammen mit Texten von Ondine Millot, die erzählen, was sich hinter diesen Fassaden abgespielt hat. Es handelt sich fast in allen Fällen um Geschichten von Menschenhandel. 2010 hat Raphaël Dallaporta den Young Photographer ICP Infinity Award gewonnen und 2011 den Paul Huf Award. +www.raphaeldallaporta.com diff --git a/fluter/die-verkaufte-freiheit.txt b/fluter/die-verkaufte-freiheit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/die-vielen-gesichter-von-mia.txt b/fluter/die-vielen-gesichter-von-mia.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..13c165dd8832897cbe78c7afd499160df08429f3 --- /dev/null +++ b/fluter/die-vielen-gesichter-von-mia.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Weitere Film- und Buchbesprechungen? Findet ihr imRadar +Die Aufarbeitung der eigenen Geschichte ist das Hauptthema in M.I.A.s künstlerischem Schaffen – eine Geschichte von Flucht, Diskriminierung und Unabhängigkeit. +Sie wird zum Prototyp des aktivistischen Popstars – politisch engagiert, unbequem, aber auch oft widersprüchlich. Aber nicht die Musik, sondern der Film ist ihr erstes Medium. Sie trägt ständig eine Kamera mit sich herum, will ihr Leben zeigen als immigrant in London, als Mitglied einer Familie, die durch den Bürgerkrieg in der Heimat zerrissen ist. + +Steve Loveridge fügt aus den vielen Aufnahmen, die größtenteils von der Künstlerin selbst gedreht wurden, ein vielschichtiges Porträt zusammen. Man sieht eine Frau, die von der Suche nach sich selbst getrieben und durch das, was sie entdeckt, manchmal schockiert ist. Die Reise nach Sri Lanka, die sie nach 16 Jahren wieder an ihren Geburtsort führt, ist ein zentraler Teil des Films sowie auf dem Lebensweg der Künstlerin. +Vom Kriegsflüchtling zum Popstar – klingt wie ein Märchen. Loveridges Film zeigt die Künstlerin als eine Frau, die auf der Suche nach ihrer Identität doch immer eine Idee davon hatte, wer oder was sie sein will. Kontrovers, wenn es sein muss. +Der Film zeigt auch, dass selbst Popstars, die mit Madonna und Nicki Minaj in der Halbzeitshow des Superbowls auftreten, in Amerika schnell wieder aus dem Rampenlicht verschwinden, sobald sie über unbequeme Wahrheiten sprechen – oder den Stinkefinger zeigen (der galt allerdings ihrem Ex-Lover). +Einen Stinkefinger zeigten viele Fans wiederum M.I.A., als sie Werbung für H&M machte. Fast Fashion und politisches Engagement – wie soll denn bitte das zusammengehen? Das erzählt der Film dann nicht. Von diesen Problemen des problematischen Popstars hätte man schon gern einige mehr gesehen, wenn der Film jetzt in den Kinos anläuft. + +Titelbild: Cinereach diff --git a/fluter/die-vollstreckungsgesellschaft.txt b/fluter/die-vollstreckungsgesellschaft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c56deed503e133ea22b594ec99c10443a69abb5c --- /dev/null +++ b/fluter/die-vollstreckungsgesellschaft.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Seit 1989 engagieren sich der in Harvard ausgebildete Stevenson und sein Team für lebenslänglich Verurteilte ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung sowie für als Mörder verurteilte Todeskandidaten. Sie vertreten Menschen, die keinen Rechtsbeistand gestellt bekommen oder nur pro forma: durch schlecht bezahlte und entsprechend kaum vorbereitete Pflichtverteidiger. Die "Equal Justice Initiative" rollt Fälle neu auf, nicht zuletzt, um unschuldig Verurteilte vor der Todesstrafe zu bewahren. In den 26 Jahren ihres Bestehens hat sie allein in Alabama mehr als 100 Hinrichtungen verhindert. +Dass einem sogar die Mindestansprüche auf formale Gerechtigkeit versagt werden können, davon handelt der berühmte, von Stevenson in den 90er-Jahren ausgefochtene Kampf um die Freilassung von Walter McMillian. Dieser für Nicht-US-Amerikaner ziemlich unglaublich klingende Fall um einen jahrelang unschuldig in seiner 1,50 mal 2,50 Meter großen Todeszelle sitzenden Holzhändler aus Alabama bildet den großen erzählerischen Rahmen des Buches. Da Stevenson, der einen Hang zum Melodramatischen hat, seine Leserschaft nicht nur aufzuklären, sondern auch zu fesseln sucht, unterbricht er den McMillian-Strang durch andere Fallgeschichten. Er zieht ihn aber auch mit 200 Seiten unnötig in die Länge. +In der Kleinstadt Monroeville wird eine junge weiße Frau ermordet aufgefunden. Nach einer Affäre mit einer verheirateten weißen Frau erscheint der Afroamerikaner McMillian als nachgerade idealtypischer Täter. Rach- und Straflust der Bewohner des Südstaaten-Städtchens sind enorm, schnell präsentiert die ansässige Polizei ihren Hauptverdächtigen. Staatsanwaltschaft, Richter und Jury unterschlagen, manipulieren oder ignorieren gleich in mehreren Gerichtsverfahren die Beweise für McMillians Unschuld. Es ist Stevensons zähester Kampf, aber am Ende ist McMillian frei. +So viel Glück im Unglück hatten andere nicht. "Wir haben Hunderte Menschen erschossen, erhängt, vergast, vergiftet oder auf dem elektrischen Stuhl getötet, um die von unserem Rechtsstaat gebilligte Todesstrafe zu vollstrecken", schreibt Stevenson. Und: "Einige Bundesstaaten haben kein Jugendstrafrecht und machen vor Gericht keinen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen; wir haben eine Viertelmillion Kinder, einige davon unter zwölf Jahren, in Erwachsenengefängnisse gesperrt, wo sie lange Haftstrafen verbüßen." +Der US-amerikanischen Gesellschaft mangele es an Gnade, befindet Stevenson. Sein Buch geht der Frage nach, "mit welcher Leichtfertigkeit wir in diesem Land Menschen verurteilen und welches Unrecht wir begehen, wenn wir den Schwächsten unserer Gesellschaft mit Angst, Zorn und Distanz begegnen". Die Fakten wiegen schwer: Nach Berechnungen der"Prison Policy Initiative"saßen Ende 2011 2,5 Millionen Amerikaner hinter Gittern; auf einen weißen Insassen entfielen dabei 2,5 Hispanics und 5,8 Afroamerikaner. +In vielen Bundesstaaten wurde die vorzeitige Haftentlassung längst abgeschafft, in 24 von 50 Bundesstaaten landet man nach sogenannnten "Three Strikes"-Gesetzen nach drei Verurteilungen wegen einer Straftat oft lange im Gefängnis – selbst wenn es sich bei der letzten Verfehlung um ein Kleindelikt wie einfachen Ladendiebstahl handelt. Wiedereingliederungsmaßnahmen gibt es kaum noch, derweil der amerikanische Kampf gegen die Drogen dazu geführt hat, dass mehr als eine halbe Million Menschen wegen Drogenvergehen in Gefängnissen sitzen, "während es", so Stevenson, "1980 gerade einmal 41.000 waren". Als Ursachen für all das und vieles mehr nennt Stevenson "Armut, Rassismus, Schuldvermutung und eine ganze Reihe anderer gesellschaftlicher, struktureller und politischer Dynamiken". +Es hätte dem Buch sicher gutgetan, wenn sich sein Autor mit ebendiesen Dynamiken eingehender beschäftigt hätte. Etwa damit, inwiefern eine rigorose Bestrafungspolitik in den USA Wahlerfolge sichert. Oder damit, wie sich eine derartige Null-Toleranz-Politik mit immer engmaschiger geflochtenen Strafverfolgungsgesetzen seit den späten 80er-Jahren überhaupt durchsetzen konnte. Der Anstieg der "klassischen" Kriminalität selbst ist jedenfalls, wie man aus zahlreichen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen weiß, ein Mythos: Tatsächlich ist die Zahl der Verbrechen in den vergangenen drei Jahrzehnten ungefähr konstant geblieben, in den letzten zehn Jahren ging sie sogar etwas zurück. +Wie kam es also zu dieser rigorosen Bestrafungspolitik? Der französische Soziologe Loïc Wacquant hat eine Theorie. Er zeigt in seiner Studie "Bestrafen der Armen" (2009), wie das Strafrecht die Gefängnisse bald zum Platzen brachte und in der Folge eine boomende Gefängnisindustrie entstehen ließ, die ihresgleichen auf der Welt sucht. Wacquant interpretiert die amerikanische Politik als Reaktion auf soziale Unsicherheit und als monströse Konsequenz neoliberalen Regierens: Derselbe Staat, der am Abbau seiner Macht zugunsten der Wirtschaft fleißig mitarbeitet, vermehrt auf der anderen Seite seine Machtfülle, indem er Teile der Bevölkerung mit harten Strafen zu zähmen, zu gängeln und wegzusperren versucht. +Mag sein, dass diese Interpretation einiges unterschlägt. Doch auf dem Weg zu ihr gibt es bei Wacquant jede Menge klug aufbereitete Fakten, Statistiken, unterschiedliche erklärende, mithin theoretische Zugänge zum Material. Bei Stevenson findet man nahezu nichts dergleichen. Die spannend aufbereiteten Fallgeschichten machen einen zwar mitunter sprachlos – sie erklären aber, zumal aus sozialwissenschaftlicher Sicht, eher wenig. +Bryan Stevenson: "Ohne Gnade. Polizeigewalt und Justizwillkür in den USA". Piper, München 2015, 416 Seiten, 20 Euro diff --git a/fluter/die-waldmeister.txt b/fluter/die-waldmeister.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/die-welt-von-morgen-serie-arte-rezension.txt b/fluter/die-welt-von-morgen-serie-arte-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d60e93d697406687bb4933334f8283d76d29b6ac --- /dev/null +++ b/fluter/die-welt-von-morgen-serie-arte-rezension.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Um die Macht des Hip-Hops, derfür viele Jugendliche in den französischen Banlieues ein Ausdrucksmittel und lebenswichtiges Ventil ist. "Die Welt von morgen" ist ein Generationenporträt aus dem Pariser Vorort Saint-Denis. Die Serie behandelt einfühlsam Themen wie Rassismus, häusliche Gewalt und Polizeigewalt, die die Jugendlichen selbst erleben (Didier zum Beispiel wird von seinem Vater geschlagen) oder in ihrem Umfeld beobachten. Immer wieder werden dokumentarische Sequenzen eingebunden, auch vonRechtspopulist*innen wie Jean-Marie Le Pen, die die Probleme in den Vororten nutzten, um Stimmung gegen Migrant*innen zu machen. + + +Authentisch: Neben professionellen Schauspieler*innen wurden Jugendliche aus der Hip-Hop-Szene oder von der Straße gecastet. "Die Welt von morgen" ist kein 80er-Jahre-Nostalgiekitsch, sondern erzählt ungeschönt und mit sanftem Humor. Dabei treibt die Musik (für den Soundtrack hat unter anderem Dee Nasty seine Songs überarbeitet) stets die Handlung voran, wodurch die Serie schnell einen Sog entwickelt. Damit liegt "Die Welt von morgen" im Trend: Serienmacher*innen aus der ganzen Welt legen derzeit Serien vor, die von der Hip-Hop-Kultur erzählen und die Musik als erzählerisches Mittel nutzen. "Almost Fly" (Warner TV) zum Beispiel ist eine humorvolle Coming-of-Age-Serie über die Anfänge des deutschen Hip-Hops, die BBC-Serie "Mood" (demnächst bei ZDFneo) das Porträt einer aufstrebenden Sängerin und Rapperin. + +Absolut, sogar wenn man mit dem Genre nicht so viel anfangen kann. Hip-Hop ist mehr als Musik, auch die Mitglieder von NTM kamen über Tanz und Graffiti zum Rap. Die Serie lässt sich Zeit für die verschiedenen Teilbereiche. Außerdem nimmt "Die Welt von morgen" ihre Figuren und Probleme ernst, auch wenn man sich zwischendurch angesichts der Vielzahl von Protagonist*innen wünscht, es wäre mehr Raum für die Einzelnen geblieben, um sie besser kennenzulernen. Statt eine klassische Heldengeschichte zu erzählen, macht "Die Welt von morgen" die Bedeutung des Hip-Hops für die Figuren spürbar, ihren Drang, sich mitzuteilen, und ihren Mut, für ihre Leidenschaft einzustehen. + +Wie in der Realität sind auch in der Fiktion die Anfänge des Hip-Hops männlich dominiert. "Die Welt von morgen" gibt sich zwar Mühe, auch weibliche Figuren und ihren Einfluss zu zeigen – Daniels Freundin Béatrice (Léo Chalié) motiviert ihn, seine Musik aufzulegen, Vivi (Laïka Blanc-Francard) muss sich als Graffitikünstlerin Lady V erst den Respekt der anderen Sprayer erkämpfen, später den als Choreografin von NTM. Am Ende bleiben die Frauen der Serie aber Sidekicks. + +"Die Welt von morgen" seht ihrin der Arte-Mediathekoder am 20. (22 Uhr) und 27. Oktober im linearen Arte-Programm. + diff --git a/fluter/die-werkstatt-der-welt.txt b/fluter/die-werkstatt-der-welt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e5b50e2b48341d77f68a3aed90c4d775acca043a --- /dev/null +++ b/fluter/die-werkstatt-der-welt.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Und dennoch sehen sich die KP und ihre autoritäre Regierung im Moment gerade im eigenen Land und gerade aus den Reihen der Mittelschicht und der noch immer Armen so viel Kritik ausgesetzt wie schon seit Langem nicht. Es ist nämlich einiges aus dem Ruder gelaufen bei der Entwicklung. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist so gewaltig wie noch nie. China nennt sich noch immer kommunistisch, in Wirklichkeit herrscht ein Kaderkapitalismus, der dem Land grassierende Korruption und eine kleine Schicht von sagenhaft reichen Profiteuren beschert hat. Den 251 Dollarmilliardären stehen noch immer 150 Millionen Chinesen gegenüber, die weniger als einen Dollar am Tag verdienen. Das angeblich sozialistische China ist mittlerweile eines der ungleichsten Länder der Welt. Im September erst empörten Bilder aus dem Landkreis Shunhe in Hubei Chinas Internetnutzer: Man sah, wie dort Tausende von Schülern ihre eigenen Stühle und Tische in die Dorfschulen schleppen mussten, weil die Schule kein Geld dafür hatte. Gleichzeitig hatte sich die zuständige Kreisstadt einen wahren Palast von Regierungsgebäude zugelegt, den die Einheimischen "Weißes Haus" nennen und der soeben erst für 1,5 Millionen Euro renoviert wurde. +Als die Parteipresse jüngst die Bürger nach den Themen befragte, die Chinas Entwicklung ins Stolpern bringen könnten, stand die Kluft zwischen Arm und Reich bei den Antworten ganz oben. Peking weiß um die Brisanz. Auch deshalb hat China im letzten Jahrzehnt versucht, die ersten Stränge eines sozialen Netzes einzuziehen. Gut ein Drittel der Bevölkerung wird nun von der Rentenkasse erfasst, und etwa 96 Prozent sind krankenversichert – vor ein paar Jahren war es gerade mal jeder Fünfte. Auch das ist ein Erfolg, doch stellt er die Kritiker nicht zufrieden: Die Versicherungsleistungen sind meist minimal. Wer im Krankenhaus eine größere Operation braucht, wird oft noch immer mit Eigenbeträgen zur Kasse gebeten, die mehrere Jahreseinkommen übersteigen, sodass viele auf die Behandlung verzichten. Chinas Wirtschaft ist die Nummer zwei hinter den USA? Mag sein, aber wer wissen möchte, wie es dem Volk geht, der schaut besser auf eine andere Zahl: das jährliche Pro-Kopf- Einkommen. Da standen die Chinesen in der Rangliste der Weltbank für´s Jahr 2011 auf Platz 94, hinter Algerien und Ecuador. Chinas Entwicklung ist beeindruckend, nachhaltig aber ist sie noch nicht. +Unser Autor ist China-Korrespondent der "Süddeutschen". Er hat das Buch "Gebrauchsanweisung für China" geschrieben. diff --git a/fluter/die-wichtigsten-filme-1968.txt b/fluter/die-wichtigsten-filme-1968.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..22606cbbd84d486596c593c0629719542e93d4ef --- /dev/null +++ b/fluter/die-wichtigsten-filme-1968.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Doch "Hal", wie ihn die Astronauten kameradschaftlich nennen, wird nervös. Nach und nach eliminiert er die Crewmitglieder, bis er vom einzig überlebenden Raumfahrer Dave Bowman abgeschaltet wird. Unversehens sieht sich der Astronaut auf einer bewusstseinserweiternden Reise durch Raum und Zeit, vielleicht zum Ursprung des Lebens selbst. + +Redaktionell empfohlener externer Inhalt voncdn.knightlab.com.Ich bin damit einverstanden, dass externe Inhalte voncdn.knightlab.comnachgeladen werden. Damit werden personenbezogenen Daten (mindestens die IP-Adresse) an den Drittanbieter übermittelt. Weiteres dazu finden Sie in unsererDatenschutzerklärung. Diese Einstellung wird mit einem Cookie gespeichert.Externen Inhalt einbindenDeaktivierenDieses Element enthält Daten von cdn.knightlab.com. Sie können die Einbettung wieder mit der Checkbox deaktivieren. +Mit überwältigenden Weltraumbildern wurde Stanley Kubricks "Space Opera" zum zeitlosen Klassiker der Science-Fiction-Genres. Ein Jahr vor der tatsächlichen Mondlandung im Jahr 1969 erwies sich Kubricks Vision moderner Raumfahrt als erstaunlich realistisch. Erreicht wurde dieser Eindruck allein mit Modellen und Lichteffekten, digitale Effekte standen noch nicht zur Verfügung. In majestätischer Langsamkeit schweben Raumschiffe und -stationen durchs All, musikalisch begleitet von Johann Strauss' Walzer "An der schönen blauen Donau" oder dem wuchtigen "Also sprach Zarathustra" von Richard Strauss. +Dann jedoch sprengt ein psychedelischer Trip durchs Sternentor alle vertrauten Dimensionen. Die Menschen sind in dieser technisch-formalen Perfektion nur Mittel zum Zweck, taugen kaum zur Identifikation. Stattdessen wird ein neurotischer Bordcomputer mit rotem Auge und warmer Stimme ("Was hast du eigentlich vor, Dave?") zur unheimlichen, zuweilen gar sympathisch wirkenden Persönlichkeit. +Der zusammen mit dem Science-Fiction-Autor Arthur C. Clarke entworfene Film spannt einen weiten Bogen. Im wohl berühmtesten Match-Cut der Filmgeschichte wird ein von einem Urmenschen in die Luft geworfener Knochen zum Raumschiff – ein Sinnbild der menschlichen Evolution von ersten Werkzeugen bis zur Abhängigkeit von Maschinen. Vor allem im letzten Abschnitt rücken philosophische Sinnfragen ins Zentrum, zeigen sich Leben, Geburt und Tod im kosmischen Zusammenhang. Kubrick selbst wollte die Interpretation seines Meisterwerks, das sicher einige Geduld erfordert, stets offen lassen. Als einmaliges Filmerlebnis sollte es nach wie vor begeistern. + +Dieser Beitrag ist eine leicht umgeschnittene Fassung des "1968"-Dossiers, das aufkinofenster.deerschienen ist, dem filmpädagogischen Online-Portal der BpB.Hierfindest Du noch viel mehr über das Kinojahr 1968. Unter anderem einAudio-Interviewmit Regie-Legende und Schwabing-Strizzi Klaus Lemke, einenkritischen Blickauf aktuelle Historienfilme undpassendes Unterrichtsmaterial zum Revolutionsjahr. + diff --git a/fluter/die-wichtigsten-generationen-begriffe.txt b/fluter/die-wichtigsten-generationen-begriffe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8e1acb4564d556161276d786fc329e389497d579 --- /dev/null +++ b/fluter/die-wichtigsten-generationen-begriffe.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Es sind aber nicht nur politische Ereignisse (zum Beispiel Kriege, Revolutionen), die Generationen entstehen lassen, auch kulturelle Entwicklungen (zum Beispiel Digitalisierung, Einführung der Pille, Musikstile) tragen dazu bei. Seit den 1990er- Jahren rufen nicht nur Soziologen und Historiker neue Labels aus, sondern auch Journalisten und Personalberater. Ob ein Bestseller über die aktuelle Jugendgenera tion oder die neuesten Erkenntnisse über die Ziele junger Arbeitnehmer – beides kommt gut an in der Öffentlichkeit und bei Personalvorständen. Ein lukratives Geschäftsmodell. Von den Generationenlabels haben wir ein paar wichtige zusammengefasst: +(*1940 bis *1950) +"Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren." Das war eine der Parolen, die unzufriedene Studenten um 1968 herum auf Demonstrationen riefen. Gemeint war damit die als stockkonservativ und spießbürgerlich empfundene Universitätslandschaft, in der noch viele Professoren lehrten, die schon in der Nazizeit Karriere gemacht hatten (der Talar ist ein knöchellanges Obergewand, das Gelehrte trugen und zum Beispiel Richter immer noch tragen). Auch in anderen Teilen der Gesellschaft entdeckten die 68er dringenden Reformbedarf: Abkehr von der rigiden Sexualmoral, Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern, Aufarbeitung des Nationalsozialismus und Abrüstung – all das waren ihre Anliegen. Viele begeisterten sich für die kommunistischen Experimente in China und kritisierten die USA für deren Krieg in Vietnam. Heute sehen die einen in den 68ern den entscheidenden Impuls für eine starke Demokratie, andere glauben, dass durch diese Protestgeneration viele bürgerliche Werte – wie etwa eine intakte Familie – aufgeweicht wurden und dass die Bewegung ein Nährboden für Radikale war, von denen sich einige der damals gegründeten Baader- Meinhof-Gruppe, später RAF genannt, anschlossen (siehe im Heft zum Thema Generationen auf S.43). +(*1955 bis *1965) +In den sogenannten Wirtschaftswunderjahren steigt die Geburtenrate in Westdeutschland stetig an – von Mitte der 1950er- bis Mitte der 1960er-Jahre von 2,1 Kinder pro Frau auf 2,5 Kinder. Diese geburtenstärksten Jahrgänge der Bundesrepublik finden ein abruptes Ende, als Mitte der 1960er-Jahre die Pille als Verhütungsmittel eingeführt wird. Rund acht Millionen Babyboomer leben noch heute, jeder zehnte Deutsche gehört dazu. In ihren Jugendjahren waren sie weniger radikal als die 68er, aber dennoch politisch. Sie protestierten weniger gegen die USA als vielmehr gegen AKWs und Umweltzerstörung. Der Beginn ihrer Berufslaufbahn fällt mit einer Zeit zusammen, in der es in den Industrieländern stetig aufwärts ging und der Staat viele Sozialleistungen verteilte. Viele Babyboomer bezogen jahrelang BAföG, bekamen später gut bezahlte, langfristige Festanstellungen und verdienten im Durchschnitt wesentlich besser als ihre Eltern und oft auch als ihre Kinder. Von denen werden sie schon mal als machtversessene Karrieristen angesehen, die an ihren Sesseln kleben – und bald die größte Schar von Rentnern stellen, die es je zu versorgen galt. Denn aus den Babyboomern werden ab 2020 Opa- und Omaboomer. +(*1926 bis *1928) +Die traumatisierende Erfahrung, als Schülersoldaten dienen zu müssen, prägte eine eigene Generation. In den letzten beiden Jahren des Zweiten Weltkriegs mussten die 15- bis 17-Jährigen bei der Luftabwehr helfen. Bekannte Flakhelfer waren Joseph Alois Ratzinger (Papst Benedikt XVI.), der Schriftsteller Günter Grass oder der DDRSpion Günter Guillaume. +(*1890 bis *1900) +Sie nahmen als Soldaten am Ersten Weltkrieg teil und waren überzeugt davon, dass diese Erfahrung sie selbst und die Gesellschaft im Allgemeinen zutiefst verändert hatte. Dazu gehörte neben dem SPD-Politiker Kurt Schumacher auch Adolf Hitler. Diejenigen, die diese Erlebnisse in Kunst und Literatur widerhallen ließen, werden auch der Verlorenen Generation (Ernst Jünger, Erich Maria Remarque, Otto Dix, Franz Marc) beziehungsweise in den USA der Lost Generation (Ernest Hemingway, T. S. Eliot) zugerechnet. +Kritiker werfen Karl Mannheim und manch anderem, der Generationen erforscht und betitelt, vor, dabei stets an männliche Jugendliche und gesellschaftliche Leitmilieus zu denken. Jemand mit wenig Bildungs- und Aufstiegschancen finde sich kaum in den herkömmlichen Generationenlabels wieder. Übrigens: Studien zeigen, dass sich Menschen heutzutage in Deutschland weniger als früher nach Alter und Generation unterscheiden. Viel wichtiger ist die soziale Herkunft. Die Gräben verlaufen also nicht nur zwischen Jung und Alt, sondern auch zwischen unterschiedlichen sozialen Milieus und Klassen. +(*1900 bis *1912) +Den Ersten Weltkrieg erlebten sie als Kinder und Jugendliche. Zu jung, um an der Front zu kämpfen, empfanden sie dies als Schmach und verpasste Chance. In den 1920er-Jahren waren diese jungen Männer besonders empfänglich für Radikalisierung. Die "Generation des Unbedingten" schätzte Kühle, Härte und Sachlichkeit. Nach dem politischen Sieg der Nationalsozialisten nutzten sie die Möglichkeit, um in die Führung des Nazistaats aufzusteigen. +Was haben Zapfsäulen und Jugendkultur gemeinsam? Im Falle des Shell-Konzerns sehr viel. Seit 1953 finanziert er die Jugendstudie, die meist alle vier Jahre das Leben der 12- bis 25-Jährigen in Deutschland erforscht. Rund 2.500 Jugendliche geben Auskunft über ihre Ansichten zu Familie, Bildung, Beruf, Zukunft, Freizeit, Politik und Werten. Diese Forschungen haben in den letzten 60 Jahren so manche Unterschiede der Generationen festgestellt und Generationenlabels mit Daten unterfüttert (siehe auch im Heft zum Thema Generationen auf S. 5). +Hätte es damals schon Generationenlabels gegeben, wäre die Sturmund- Drang-Generation Ende des 18. Jahrhunderts sicher in aller Munde gewesen. Man las Goethes "Leiden des jungen Werther", trug langes Haar, modische Kleidung. Eine erste deutsche Jugendrevolte – zumindest auf dem Feld der Dichtung, wo sich ihre Anhänger von den verstaubten und erstarrten Regeln der Literatur lösen wollten. +Fast eine Million junge Menschen zwischen 18 und 34 Jahren aus 35 Ländern Europas haben im Jahr 2016 an der Jugendstudie "Generation What" teilgenommen. Diese junge europäische Generation blickt gespalten in die Zukunft: 54 Prozent sind optimistisch, 43 Prozent eher pessimistisch. 87 Prozent sind der Meinung, dass die soziale Ungleichheit in ihrem Heimatland wächst. Der Politik trauen sie eher nicht zu, drängende Probleme zu lösen. 82 Prozent der jungen Menschen in Europa haben "kein Vertrauen" in die Politik (davon haben 45 Prozent "überhaupt keins" und 37 Prozent haben "eher keins"). Der niedrigste Wert findet sich in Deutschland: Hier haben lediglich 23 Prozent überhaupt kein Vertrauen in die Politik, wohingegen etwa in Italien 60 Prozent der Politik ihr Misstrauen aussprechen. +(*1965 bis *1980) +Als Generation X bezeichnet man die Alterskohorte, die sich erstmals mit weniger Wohlstand und ökonomischer Sicherheit begnügen muss als ihre Elterngeneration. Der gleichnamige Roman von Douglas Coupland von 1991 erzählt die Geschichte von überqualifizierten jungen Menschen in den USA, die sich mit Aushilfsjobs über Wasser halten und Angst haben, für die ökologischen und ökonomischen Sünden ihrer Eltern büßen zu müssen. Coupland kritisiert eine Wohlstandsgesellschaft, die auf Kosten der Jüngeren existiert. Mit dem Begriff Generation X spielt er darauf an, dass diese Generation sich den Labels der Werber und Journalisten entzog. In Deutschland prägte Florian Illies mit seinem Buch "Generation Golf" den Namen dieser Generation. Im Gegensatz zu ihren Altersgenossen der Generation X genießen sie den erarbeiteten Wohlstand ihrer Elterngeneration und ruhen sich darauf aus. Die von den Älteren hinterlassenen ökologischen und ökonomischen Folgen des Wirtschaftsbooms stören sie nicht. Sie strebten nach Konsum, seien unkritisch, unpolitisch und errichteten eine "Ego-Gesellschaft". Ihr Leben sei wie ein Volkswagen Golf: durchrostungssicher, konfliktscheu, gemütlich. +(*1980 bis *2000) +Wird auch MAYBE genannt. Mit dem Buchstaben Y war nicht nur die chronologische Fortführung im Generationenalphabet gefunden. Denn zufällig klingt "Y" wie "Why", ein gern genutztes Wort der "Millennials". In der weltpolitischen Unsicherheit von 9/11 sozialisiert, stellen sie besonders am Arbeitsplatz gern vieles in Frage. Warum nicht mit der Chefetage Mittag essen und zweimal pro Woche Homeoffice machen? Work-Life- Balance ist die Melodie dieser Genera tion, der Sound dabei unpolitisch. Die großen idealistischen politischen Fragen geraten in den Hintergrund. Das Glück im Privaten und der Erfolg im Job sind wichtig. Bedingungslos Überstunden machen bitteschön nur, wenn es dafür auch Selbstverwirklichung und Gestaltungsspielraum gibt. Dann werden zur Not auch flexibel nach Feierabend die Mails gecheckt. Bevor man aber vor lauter Stress nicht mehr schlafen kann, sucht man sich lieber einen anderen Job. Laut dem Soziologen Klaus Hurrelmann prägt "eine suchende, sondierende Haltung, aber auch eine gewisse Wurschtigkeit" das Leben der Generation Y. "Das Richtige gibt es nicht mehr." +(ab *2000) +Schon als Kleinkinder wischten sie auf Touchscreens herum, eine Welt ohne Internet und Smartphone können sie sich nicht mehr vorstellen. Im Hamsterrad der Karriere wollen die Digital Natives nicht stecken. Arbeit und Privates sollen fein säuberlich getrennt sein. Unter dem Eindruck der Finanz- und Wirtschaftskrise sind sie aufgewachsen und geben sich nicht der Illusion hin, dass Renten und Arbeitsplätze überall sicher seien. Dann doch lieber realistisch denken: ein Job im öffentlichen Dienst, der Sicherheit gibt, und eine Familie gründen. Da das nach neuem Biedermeier und Spießbürgertum klingt, dem die großen politischen Visionen fehlen, wirft manch Alter dieser Generation angepasste Langeweile vor. Zu einem anderen Schluss kommt die aktuelle Shell-Studie: Hier wird eine Generation im Aufbruch beschrieben, die wieder zupacken, umkrempeln, neue Horizonte erschließen will und bereit ist, dabei auch ein Risiko einzugehen. diff --git a/fluter/die-wiederkehr-des-verdraengten.txt b/fluter/die-wiederkehr-des-verdraengten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..538f60fe01b98c55015fe9eee0a04b8a525a3633 --- /dev/null +++ b/fluter/die-wiederkehr-des-verdraengten.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Herr Pauser, Plastik entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Motor der Konsumgesellschaft. Später wurde es zum Symbol der Überflussgesellschaft und der Wegwerfkultur. Was macht Plastik bis heute so verführerisch? +Plastik war neu, billig und machte Spaß. In den 1950er-Jahren eroberte es Haushalt und Kleiderschrank und ermöglichte es, einen neuen kleinen Reichtum nach Krieg und Mangeljahren zu empfinden. Andere Materialien waren teurer, kostbarer, schwerer verfügbar. Dinge aus Plastik waren etwas, das sich jeder leisten konnte, so billig, dass man sie auch wegwerfen konnte. Die 1968er-Generation, selbst gesättigt, konnte dann dem Mangel im Überfluss nachspüren – und wertete Konsum und Massenprodukte ab. +Worin genau besteht die Verführungskraft des Kunststoffs? +Plastik hat eine Idee auf den Punkt gebracht, nämlich die einer universalen Machbarkeit und Gestaltbarkeit im Zuge der fortschreitenden industriellen Revolution und der technologischen Weiterentwicklung. Plastik als Universalstoff, aus dem man gleichsam alles machen kann. Die privatisierte Version dieser universalen Herstellbarkeit sind die heutigen 3D-Drucker. Sie erneuern das Versprechen des Plastikzeitalters, nicht in Massenproduktion, sondern dezentral. +Schon das Wort Plastik scheint einen Zauber zu besitzen. Wieso? +Plastik, das ist auch ein Wort aus der Bildhauerei. Es wird unterschieden zwischen der Skulptur, also dem, was aus einem Stein- oder Holzblock herausgehackt wird, und der Plastik. Eine Plastik entsteht, wenn aus einem Stoff eine neue Form aufgebaut wird. Der Begriff Plastizität beschreibt die Eigenschaften einer weichen, formbaren Materie. Das Plastik ist so eine Materie, eine, die für die Formbarkeit geschaffen wurde. Geschaffen für den menschlichen Verwendungszweck, was Naturmaterialien ja nicht sind. Material und Form gingen beim Plastik eine bis dahin unerreichte Synthese ein. +Ein Stoff, aus dem die Träume sind? +Der Traum vom Plastik ist, dass eine Idee, ein Wunsch realisiert werden kann, ohne dass es eine Differenz gibt zwischen Realität und Wunschbild. Plastik als vollkommener, reiner Stoff, der eine Herstellung ohne diesen Rest erlaubt. Das ist die metaphysische Dimension des Plastiks: Plastik bringt den Menschen in eine Art göttliche, magische Position. Die Restlosigkeit spielt auch in einem unmittelbareren Sinne eine Rolle: Bei der Herstellung von Plastik wird nicht gehauen oder geschnitzt, nicht gesägt oder gefräst, sondern gegossen. +Die Welt nach den eigenen Wünschen formen. Plastik bringt den Menschen in eine göttliche Position – sogar im Badezimmer +Plastik – eine saubere Sache? Klingt absurd angesichts der Plastikmüllberge. +Ja, die Restlosigkeit ist eng mit der Schmutzfrage verbunden. Schmutz ist ja die kleinteilige Materie, die wir als negativ bewerten. Und im menschlichen Leben gibt es ja immer einen Rest, es gibt kein spurenfreies Leben. Das Versprechen des Plastiks war es aber, dass man auf Erden quasi ohne Spur, ohne Rest, ohne Schmutz, ohne Abfall leben könnte. Hinzu kommt, dass Plastik leichter zu reinigen ist als andere Materialien – Plastik hat also eine Art Totalisierung der Idee der Reinheit versprochen. Diese Idee ist ja religiösen Ursprungs, älter als die Entdeckung der modernen Hygiene. Heute ist das ins Negative gekippt, weil Plastik für Müll steht. Plastik führt uns die Unmöglichkeit der Utopie des rückstandsfreien Lebens und des mangelfreien Seins vor. Plastik ist in die Position des Schmutzes eingerückt, den zu verdrängen es anfangs versprochen hat. +Verführt Plastik trotzdem noch? +Psychologisch betrachtet ist es doch so, dass Plastikobjekte deshalb zur Identifikation einladen, weil sie an das Phantasma des perfekten, geschlossenen Körpers andocken, des Körpers, dem nichts fehlt. Ohne Lücke, ohne Riss, ohne Überschuss, ohne Schmutz. Deutlicher formuliert: keine Körperöffnungen, keine Scheiße. +Plastik hilft uns bei der Verdrängung? +Ein sehr alltägliches Beispiel sind die in Folie eingeschweißten und designmäßig optimierten Lebensmittel im Supermarkt: unversehrte Objekte, ohne Spuren des Prozesshaften des Lebens, die uns an die eigene Vergänglichkeit erinnern könnten. Auf den Plastikverpackungen der Lebensmittel finden sich übrigens meist Bilder der Natur, und auch auf der Ebene der Schrift wird Natur heraufbeschworen. Plastik als Trägermaterial für Naturversprechen. +Hat das Künstliche, das dem Plastik zu eigen ist, einen besonderen Reiz? +Je genauer man das Begriffspaar "künstlich/natürlich" reflektiert, desto mehr löst es sich auf. Es existiert einerseits auf der Welt nichts, was nicht aus der Natur kommt; andererseits gibt es auf diesem Planeten nichts, was nicht schon vom Menschen verwandelt wurde. Künstlich, natürlich – das sind ideologische, kulturelle Zuweisungen, ja Kampfbegriffe. Interessant aber war das Comeback des Plastiks nach der "Jute statt Plastik"-Phase Ende der 1970er-Jahre ... +Wir verdrängen das echte Leben mit perfekt verpackten Produkten – aber als Schmutz kehrt es zu uns zurück +Plastik als Retroschick? +... es kam zurück in der Zeit des New Wave und dann des Techno, einerseits als nostalgisch-ironische Reminiszenz an die Nachkriegsboomphase, andererseits als demonstrative Abwendung von der 1968er-Generation und den Ökos. Eine dauerhafte Renaissance feiert Kunststoff übrigens beim Outdoor-Sport und beim Trekking: Wenn es in die wilde Natur geht, kann die Kleidung und Ausrüstung gar nicht hightech genug sein. Da ist Kunststoff mit der Naturgesinnung vereinbar und aufgeladen. +Längst ist Plastik allgegenwärtig. Wir sind abhängig geworden, und nach dem Konsumrausch kommt der Kater: wachsende Müllberge an Land, riesige Müllstrudel in den Meeren, Schadstoffe in den Nahrungsketten von Tier und Mensch. Wie gehen wir damit um, dass Plastik nun für Kontrollverlust, Schmutz und Krankheit, letztlich Tod steht? +Man könnte es die Wiederkehr des Verdrängten nennen, nämlich des verdrängten Schmutzes. Diese Entwicklung erzeugt Ambivalenz im Verhältnis zum Plastik. Und sie schafft gesellschaftliche Konflikte. Ein Ausweg soll das Recycling sein. Ironischerweise ist das eine Neuauflage derselben Phantasmatik, die zum Siegeszug des Plastiks geführt hat. Denn um den Traum vom rückstandsfreien Leben geht es auch beim Recycling. Sämtliche menschlichen Rückstände sollen in Form frisch gepresster Waren wiederkehren. Der Mensch soll sein Heil durch die Aufzehrung seines eigenen Abfalls erreichen. +Was früher "Jute statt Plastik" war, das ist heute der Plastic Bag Free Day, der Internationale Tag ohne Tüte. Doch lässt sich mit dem Aufruf zum Verzicht wirklich etwas ausrichten? +Das größte Problem bei der Abschaffung der Tüte ist, dass das Shoppen erfunden wurde. Das ist im Gegensatz zum Einkaufen nicht zielgerichtet – und man würde dafür auch keinen Einkaufsbeutel oder eine große Tasche mitnehmen. Shoppen ist mehr ein Flanieren, eine Freizeitbeschäftigung. Beim Shoppen will man zu einem sogenannten Impulskauf verführt werden, es geht darum, Wünschen zu begegnen, Wünsche zu erwecken und zu verspüren. Für den Impulskauf kann ich mir keine Tasche mitnehmen, die Tüte muss in der Sekunde des unerwarteten Impulses verfügbar sein. +Dr. Wolfgang Pauser wurde 1959 in Wien geboren. Er beschäftigt sich mit Konsum- und Alltagskultur sowie Design, Architektur und Kunst. Er arbeitete als Kurator, Universitätsdozent sowie Journalist und Berater – unter anderem für Unternehmen wie Swarovski, WMF, Rolf Benz, Brionvega. Pauser schrieb Bücher wie "Dr. Pausers Werbebewusstsein – Texte zur Ästhetik des Konsums" und "Schönheit des Körpers – Ein theoretischer Streit um Bodybuilding, Diät und Schönheitschirurgie". diff --git a/fluter/die-wirtschaft-verwechselt-die-zeit-mit-der-uhr.txt b/fluter/die-wirtschaft-verwechselt-die-zeit-mit-der-uhr.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/die-wunderwaffe.txt b/fluter/die-wunderwaffe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..05fc85bd923078964ff8e6b4bb6dcede4b4963a8 --- /dev/null +++ b/fluter/die-wunderwaffe.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Ist das womöglich die Lösung des Klimaproblems? Kann ein Algenteppich das CO2 binden, das die Menschen in die Atmosphäre abgeben? Umweltschützer protestieren weltweit gegen solche Experimente. Die Düngung der Meere könne das Ökosystem aus dem Gleichgewicht bringen, argumentieren sie. In Deutschland stritten sich der Umweltminister und die Forschungsministerin über die Fahrt der Polarstern. Doch nach ein paar Wochen war klar, dass das Experiment keine Naturkatastrophe auslöst und auch wahrscheinlich nicht die Lösung für das Klimaproblem ist. Stattdessen war das bescheidene Ergebnis für alle überraschend: Krebse fressen die Pflanzen auf, bevor sie richtig wachsen können. +Die Krebse haben großen Hunger +Obwohl die Eisendüngung des Meeres damit vorerst gescheitert ist, hatte die Reise ins Südpolarmeer zumindest einen Effekt: Sie verschaffte dem Thema Geo-Engineering zum ersten Mal eine große Öffentlichkeit. Dabei ist die Idee, dass Menschen den Planeten optimieren, um die von ihnen ausgelöste Klimaveränderung rückgängig zu machen, an sich nicht neu, sondern schon rund drei Jahrzehnte alt. "In den 80er-Jahren war das Thema aber politisch nicht salonfähig, weil alle gesagt haben, es ist zu gefährlich, wir können so einen Eingriff nicht wirklich beherrschen", sagt der Umweltethiker Konrad Ott. Heute ist es vor allem der Eindruck, dass die Politik im Kampf gegen die Erderwärmung versagt hat, der den Anhängern des Geo-Engineerings Auftrieb verschafft. +Warum also nicht einfach Millionen kleiner Aluminiumballons in die Stratosphäre entsenden, wo sie die Erde gegen Strahlen abschirmen sollen, wie Edward Teller, der Erfinder der Wasserstoffbombe, vorschlug? Längst sind es nicht mehr nur die Anhänger von Science-Fiction- Fantasien, die Gefallen an einer solchen schnellen Lösung für das Problem finden – selbst wenn diese riskant und teuer ist. "Nach der ergebnislosen Klimakonferenz von Kopenhagen kam die Diskussion über Geo-Engineering zurück, aber diesmal mit Macht. Man kann sie nicht mehr unter den Teppich kehren, sondern muss sich ihr irgendwie stellen", sagt Konrad Ott. +Grundsätzlich lassen sich die Geo-Ingenieure in zwei Lager unterteilen: Die einen wollen die Sonnenstrahlung besser abschirmen und so die Erderwärmung stoppen oder zumindest verlangsamen. Die anderen wollen das CO2 einfangen, in dem sie die Speicherfähigkeit der Erde erhöhen, zum Beispiel durch einen Algenteppich im Meer. Am stärksten ist die Bewegung in den USA. Dort sind es vor allem ehemalige Klimaskeptiker, die sich nun für die abenteuerlichsten Pläne stark machen. Der Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen will die Stratosphäre mit Millionen Tonnen von Schwefeldioxid anreichern, um die Wolkenbildung zu stärken. Das Ziel ist ein sogenannter Pinatubo- Effekt: 1991 hatte der philippinische Vulkan Pinatubo so viel Staub in die Atmosphäre geblasen, dass die globale Temperatur zeitweise um 0,5 Grad absank. Doch das Schwefeldioxid hält sich in der Stratosphäre nur ein bis zwei Jahre – es müsste also kontinuierlich injiziert werden. Außerdem sind Wechselwirkungen mit anderen Substanzen noch nicht erforscht. Andere wollen Tausende Roboterschiffe auf die Meere schicken, von denen aus künstliche Wolken zum Himmel gesendet werden, und wieder andere machen sich für reflektierende Schichten im Weltall oder auf den Ozeanen stark. + +Ist Geo-Engineering eine "schlechte Idee, deren Zeit gekommen ist"? So sieht es zumindest der amerikanische Autor Eli Kintisch, der vor Kurzem sein Buch "Hack the Planet" zum Thema veröffentlichte. "Der Frontverlauf ist jetzt klar erkennbar. Auf der einen Seite sind die modernen Romantiker, die Geo-Engineering als eine Verletzung der Rolle des Menschen als bescheidener Bewohner des Planeten verstehen. Auf der anderen Seite die Rationalisten, die glauben, dass es einfach mehr technologische Lösungen braucht, um das Leiden zu minimieren", sagt er. Meistens argumentieren die Befürworter von Geo-Engineering damit, dass Eingriffe in die Natur das kleinere Übel seien. Schließlich gehe es ja um die Rettung der Welt. "WomöEnergieunternehmen wie der Stromkonzern Vattenfall, der in den Ketziner CO2-Speicher investiert, feiern diese Technologie bereits als ökologische Revolution. Lobbyisten werben sogar schon jetzt damit, dass Energie aus Kohle – die mitlich haben wir gar keine Wahl, ob wir die Rolle von Göttern einnehmen wollen oder tatenlos bleiben werden. Katastrophen könnten uns in Zukunft die Entscheidung abnehmen", warnt Eli Kintisch. Der Umweltethiker Konrad Ott lässt sich auf derartige Argumente nicht ein. "Ich frage lieber: Was könnte ich tun, um zukünftigen Generationen ein solches Dilemma zu ersparen? Für mich ist CO2- Reduktion nach wie vor die Voraussetzung dafür, dass wir uns halbwegs passabel anpassen können." +1991 blies der philippinische Vulkan Pinatubo so viel Staub in die Atmosphäre, dass es prompt weltweit kälter wurde +Auch in Ketzin, in der Nähe von Potsdam, wird an Geo-Engineering gearbeitet. Auf einem Feld haben Forscher drei Schächte in die Tiefe gebohrt, zwei für Messsonden und einen für das CO2, das von Tanklastwagen aus durch Rohre in die Sandsteinschichten im Untergrund gepumpt wird. Hier wollen sie untersuchen, ob sich das Gas langfristig, also für ein paar Tausend Jahre speichern lässt. Eine Tonschicht, die über dem Sandstein liegt, soll verhindern, dass das CO2 zurück an die Erdoberfläche gelangt. Die Speicherstätte, ein ehemaliges Erdgasreservoir in 400 Meter Tiefe, muss absolut dicht sein, denn ausströmendes CO2 ist potenziell tödlich. Schon Konzentrationen von über zehn Prozent in der Atemluft führen zur Bewusstlosigkeit. Im Jahr 1986 starben rund 2.000 Menschen, nachdem eine CO2-Wolke aus dem Kratersee eines erloschenen Vulkanes in Kamerun aufgestiegen war. +Energieunternehmen wie der Stromkonzern Vattenfall, der in den Ketziner CO2-Speicher investiert, feiern diese Technologie bereits als ökologische Revolution. Lobbyisten werben sogar schon jetzt damit, dass Energie aus Kohle – die mit Abstand am meisten CO2 von allen Kraftwerksarten emittiert – bald sauber sei. Umweltverbände wie der BUND oder Greenpeace lehnen CO2-Speicherung hingegen ab. Die Endlagerung des Abgases sei hochriskant und behindere die Umstellung auf erneuerbare Energie. Einen neuen Schub hat die Diskussion um Geo-Engineering im vergangenen Herbst bekommen. Die renommierte Royal Society aus England erklärte, dass, obwohl die Reduktion von Treibhausgasen die Priorität Nummer eins bleiben müsse, Geo-Engineering ein denkbarer Plan B sei. Von allen Vorschlägen sei die Anreicherung der Stratosphäre mit Schwefeldioxid am erfolgversprechendsten. +Im März dieses Jahres versammelten sich im kalifornischen Küstenstädtchen Pacific Grove bereits über 200 Forscher, um die Weichen für die Manipulation des Erdklimas zu stellen. Mit dabei waren auch Vertreter von Firmen, die große Profite mit Geo-Engineering erwarten, wenn diese Methoden erst einmal in den Emissionsrechtehandel einbezogen werden. Wer den Planeten überhaupt "hacken" darf, ob einzelne Staaten im Alleingang oder nur die Weltgemeinschaft, klärten sie nicht. Immerhin rangen sie sich in ihrer gemeinsamen Abschlusserklärung zu der Formulierung durch, die Diskussion über Geo-Engineering müsse "in Demut" geführt werden. Von Aufforstung und Naturschutz war aber nicht die Rede. diff --git a/fluter/die-wut-nach-der-brexit-entscheidung.txt b/fluter/die-wut-nach-der-brexit-entscheidung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f28df4acd58192f2e1767be3c74028c2f2eb3af9 --- /dev/null +++ b/fluter/die-wut-nach-der-brexit-entscheidung.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Ich setze mich gar nicht erst zu Tim. Trinke meinen Tee im Stehen. Bin selbst erst vor gefühlt zehn Minuten von der Arbeit gekommen und muss gleich wieder los. Denn bei uns im Auslandsstudio der ARD ist jetzt sicherlich die Hölle los. Wir hatten zwar alles Mögliche vorbereitet, Pläne für den Fall, dass – aber nein, ernsthaft geglaubt hat an einen Brexit doch niemand. Dünn, aber immerhin mit vier Prozent Vorsprung wähnte eine der letzten Umfragen am Wahlabend die EU-Befürworter vorne. Ich war mir sicher: Spätestens an der Wahlurne würden die meisten Briten vor dem Sprung ins Ungewisse zurückschrecken. + +Als mir Tim am Freitagmorgen erzählt, dass er jetzt Angst um seinen Job habe, lache ich kurz auf. Nun mal langsam, wird schon nicht so schlimm. "Du hast gut reden", entgegnet er gereizt. Ich mit meinem deutschen Pass. Er aber, er werde auf dieser Insel festsitzen. Tatsächlich hat Tims NGO erst vor ein paar Tagen ihre Finanzierungsstrategie für die nächsten fünf Jahre veröffentlicht: Der Großteil des Geldes kommt von der EU. Mein Freund wollte im September seinen Job wechseln. Jetzt muss auch er sich gut überlegen, wohin. Der Brexit betrifft hier jeden Einzelnen. Ganz besonders junge Menschen wie uns. +Als ich an diesem Tagmit meinem Rad durch das verschlafene London fahre, scheint alles wie immer. Die roten Doppeldeckerbusse fahren noch, und die Flugzeuge ziehen ihre üblichen Bahnen. Plötzlich verschwimmt die neue Zukunft zu einem bösen Traum. +Durch das Land geht ein Riss +Als ich bei der ARD ankomme, jagt eine Pressekonferenz die nächste: Farage ruft mit breitem Lächeln den neuen Unabhängigkeitstag aus. David Cameron kündigt seinen Rücktritt an. Jean-Claude Juncker spricht in Brüssel. Merkel in Berlin. Der Chef der britischen Zentralbank tritt vor die Presse und verkündet Notmaßnahmen, um den Markt zu beruhigen. Der Sieger des Referendums, Boris Johnson, positioniert sich als möglicher Premierminister und wirkt auf mich doch irgendwie, als sei er selbst überrascht über das Ergebnis. Und Nicola Sturgeon, die Erste Ministerin Schottlands, warnt: Ein zweites schottisches Unabhängigkeitsreferendum ist "sehr wahrscheinlich". Die Gesetze hierfür bringt sie zur Sicherheit schon mal auf den Weg. Währenddessen fällt das Pfund auf ein 30-Jahres-Tief, und am Ende des Tages sind mehrere Billionen Euro vom weltweiten Aktienmarkt gefegt. + + +Im Ersten sendet man fast ununterbrochen durch zum Thema Brexit. Am Nachmittag fahre ich mit Kameramann und Tonfrau auf der Suche nach kleinen Geschichten ins hippe Dalston im Nordosten Londons. Augen zu und durch. Planen kann man heute nichts, wir funktionieren auf Zuruf und hangeln uns von BeitragzuBeitrag . +Das Referendum hat im Königreich tiefe Wunden gerissen. Es spaltet das Land: Denn sieht man sichdie Ergebnissean, dann stimmte hier nicht nur Reich gegen Arm, Land gegen Stadt und Gebildet gegen Ungebildet, sondern vor allem auch Jung gegen Alt. Während fast drei Viertel der unter 24-Jährigen in der EU bleiben wollten, waren es bei den Alten nur 40 Prozent. +Ich renne in Dalston blind in einen Hinterhof. Früher haben hier mal junge Aktivisten gegärtnert und Mittagessen aus abgelaufenen Zutaten gekocht. Jetzt sind eine Mikrobrauerei und ein kleines Café mit Bäckerei eingezogen. Gebacken wird in einem blau angestrichenen Container. Davor bunte Blumentöpfe. Ich spreche eine junge Frau an, die unablässig Teig knetet. Rebecca. Ihre langen Haare werden von einem bunten Kopftuch zurückgehalten, die Latzhose ist voller Mehl. Rebecca ist eine von den drei Inhabern des "Dusty Knuckle". Vor kurzem ist sie aus dem Spanienurlaub wiedergekommen, erzählt sie mir freudig, und dachte sich nur so: "Oh yeah man, I love Europe." Doch als sie heute Morgen aufwachte, war da nur diese eine Frage: Shit, was passiert jetzt? "Jetzt sitze ich hier fest", sagt mir Rebecca ins blaue Puschelmikrofon, "auf dieser Insel voller Rassisten und komm nie wieder weg." +Rebecca schaut mich besorgt an, ihre Hände bleiben kurz im angerührten Brotteig stecken. "Ich glaube, die extreme Rechte hat mit diesem Referendum eine viel stärkere Stimme in der Politik bekommen." Tatsächlich war Immigration das Thema der EU-Gegner. "Take back control", lasst uns die Kontrolle zurückholen, war das Motto von polternden Politikern wie Boris Johnson. Und der Rechtspopulist Nigel Farage, Vorsitzender der UK Independence Party, kurz Ukip, fährt eine Woche vor dem Referendum stolz mit ausländerfeindlichen Postern durchs Land: "Breaking Point". Das Boot ist voll, lautet seine Message. + + +Genau an diesem Tag wird denn auch die junge europafreundliche Parlamentsabgeordnete Jo Cox niedergestochen. Der Täter: ein 52-jähriger Engländer. Fast scheint es, als hole er sich die Kontrolle zurück – und dreht durch. Als er bei der Vernehmung nach seinem Namen gefragt wird, sagt er nur: "Tod den Verrätern, Freiheit für Großbritannien." +Um die Ecke von Rebeccas Laden spaziert eine ältere Dame vorbei. Ich spreche sie an. Natürlich habe sie "Leave" gewählt, also raus, sagt sie mir. Vor der Kamera erklärt die 72-jährige Beryl dann, dass sie die EU nicht möge, weil sie undemokratisch sei. Als ich nachhake, kommt auch sie auf das Einwanderungsthema zu sprechen: Ihr Sohn sei Arzt, erklärt sie. Das Gesundheitssystem sei überlaufen. Wir leben nun einmal auf einer Insel, wo der Platz begrenzt ist. Solche Dinge sagt Beryl dann. Sie, die selber ein Kind von Einwanderern ist, wie sie mehrfach betont. +Wut im Bauch +Wenn man Menschen wie Beryl so reden hört, ahnt man: Das Problem sitzt noch viel tiefer. Ganze Bevölkerungsschichten sind von der Politik in den letzten Jahren vergessen und rechts liegen gelassen worden. Seit Margaret Thatcher und ihrer neoliberalen Politik in den 80er-Jahren ist nicht nur die Ausländerfeindlichkeit, sondern vor allem auch die Existenzangst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Ganze Industriezweige haben zugemacht. Familien müssen oft mehrere Jahre in Hostels hausen, bevor man Sozialwohnungen für sie findet, und Sparmaßnahmen führen zu überforderten Gesundheitssystemen. +Nachdem sich die Ereignisse am Freitag überschlagen haben, sind viele Politiker für das Wochenende untergetaucht. Die Finanzmärkte machen erst Montag wieder auf. Am Samstag fahre ich deshalb raus zu Albert, meinem jüngst erworbenen Hausboot. Vor dem Referendum witzelte ich noch herum, im schlimmsten Fall benenne ich Albert in Noah um und schippere mit ihm von der Insel. Ernst? + +Erst langsam fange ich an zu begreifen, was das Referendum eigentlich bedeutet. Wut steigt in meinem Bauch auf. Wut auf die alten Menschen, die dem Land eine Entscheidung aufzwingen, mit deren Folgen dann die Jungen leben müssen. Wut auf Politiker, die mit diesem Referendum die Quittung für die letzten zehn Jahre verfehlter Politik bekommen haben und jetzt wieder keine Zeit für die wirklich wichtigen Probleme dieses Landes haben. Eine ganze politische Generation wird allein damit beschäftigt sein, die über 40 Jahre alte EU-Mitgliedschaft abzuwickeln. Und nicht zuletzt Wut auch darüber, dass so viele gegen uns Ausländer – und gefühlt auch gegen mich ganz persönlich ­– gestimmt haben. Meinem Leben auf der Insel scheint plötzlich ein klarer Schlussstrich gesetzt. Auch wenn niemand weiß, ob, wie oder wann. Denn bis jetzt kann niemand wirklich sagen, wie die Zukunft aussieht. diff --git a/fluter/die-zeichen-an-der-wand.txt b/fluter/die-zeichen-an-der-wand.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..896c1f7a77425ccd59fa289127ce335e5ea3c0ff --- /dev/null +++ b/fluter/die-zeichen-an-der-wand.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +Ein politischer Mensch war ich eigentlich schon immer. Aber erst nachdem ich mit der Schule fertig war, begann ich, mir so richtig Gedanken über unser Land zu machen. Jeder will doch ein freier Mensch sein, aber in Syrien waren wir wie eingesperrt. Ständig wurden wir kontrolliert und überwacht. Seit ich denken kann, herrschte die Baath-Partei der Assads. So etwas wie eine Opposition gab es nicht. +Im Jahr 2007 standen wieder Wahlen in Syrien an. Aber es waren keine demokratischen Wahlen, das Ergebnis stand schon vorher fest. Wir sollten unsere Stimme natürlich für Baschar al-Assad und die Baath-Partei abgeben, etwas anderes wurde nicht akzeptiert. Als die Leute von der Regierung kamen und uns zwingen wollten, in Busse zu steigen, die uns in die Wahllokale bringen sollten, beschloss ich, etwas zu unternehmen. Statt in den Bus zu steigen, lief ich einfach nach Hause. Meine Familie drehte durch, als sie erfuhr, dass ich nicht wählen war. Meine Eltern warnten mich: "Wenn du nicht wählst, bekommst du Probleme und darfst dein Studium womöglich nicht fertig machen. Du wirst keinen Job bekommen." +Mein Vater wurde panisch. Er wollte mit meinem Ausweis ins Wahllokal gehen und noch schnell versuchen, dort meine Stimme abzugeben. Aber er fand den Ausweis nicht, denn ich hatte ihn versteckt. Natürlich hatte ich Angst vor den Konsequenzen. Aber ich war auch stolz auf diesen Akt des Ungehorsams. Das war der erste Tag, an dem ich mich frei vom Regime fühlte. Ich fürchtete, jemand würde mich zur Rede stellen. Aber es passierte erst mal nichts. +"Das Volk will den Sturz des Regimes". So stand es schon im Juli 2011 auf einer Wand in der syrischen Stadt Hama +In der Uni, wo ich Bauingenieurwesen studierte, hatte ich einige Freunde, die genauso dachten wie ich. Es tat mir gut zu wissen, dass ich nicht alleine war. Nach einer Weile kamen wir in Kontakt mit Syrern, die im Exil lebten und eine journalistische Webseite betrieben. Dafür begannen wir Beiträge zu verfassen. Natürlich nur unter Pseudonym, denn Pressefreiheit gab es bei uns nicht. Wir schrieben darüber, wie wir uns unser Land vorstellten. Dass wir uns zum Beispiel wünschten, eigene Parteien gründen zu dürfen und unsere Meinung frei zu äußern. Nach einer Weile schaffte es die Regierung, die Seite vom Netz zu nehmen. Meine Zeit als Journalist war damit erst mal vorbei. +Als die Ägypter und Tunesier im Arabischen Frühling auf die Straßen gingen und ihre Regierungen stürzten, verfolgten wir die Ereignisse wie gebannt in den Nachrichten. Anfang 2011 ging es dann endlich auch bei uns los. In Daraa schrieben Jugendliche regierungskritische Parolen auf Häuserwände. Als die Jugendlichen verhaftet wurden, protestierten die Leute. Die Polizei schlug die Demonstrationen mit Waffengewalt nieder. Das waren die Methoden des Regimes. Sie bekämpften jeden, der ihnen gefährlich werden konnte. An die erste Demonstration, an der ich in meinem Leben teilnahm, erinnere ich mich noch genau. Es war am 15. März 2011 in Damaskus. Etwa 100 Leute waren gekommen. Ich hatte total Angst und blieb deswegen auch nicht so lange. +Ein paar Monate später zog ich nach Aleppo, in den Norden unseres Landes, weil ich auf der Suche nach Arbeit war. Dort traf ich Freunde und Bekannte, und mir wurde klar, dass es auch hier eine Art Bewegung gegen das Regime gab. Ich wollte dieser Bewegung helfen. Im Internet und in privaten Diskussionen warb ich für die Revolution. Ich sprach natürlich nur mit Leuten, die ich für vertrauenswürdig hielt. Doch es zeigte sich, dass ich den falschen Menschen vertraut hatte. Mein Mitbewohner verriet mich an den Geheimdienst. Als ich das später herausfand, war es ein großer Schock für mich. Wir waren Freunde gewesen und hatten alles geteilt. Die Wohnung, Essen, hin und wieder hatte ich ihm sogar Geld gegeben. +Ein Gefängniswärter im Untergeschoss des Gerichtsgebäudes von Aleppo +Es passierte Ende 2011. Zwei Männer kamen und verhafteten mich. Sie brachten mich ins Gefängnis und sperrten mich in einen kleinen Raum, in dem ich ganz allein war. In der Zellentür gab es eine Klappe, durch sie mir Essen und Trinken reichten. Dreimal am Tag öffneten sie die Tür und führten mich zu einer Toilette. Ich hatte nur eine Minute Zeit, um mein Geschäft zu verrichten. Wenn ich zu anderen Zeiten aufs Klo musste, ließ man mich nicht. Das war beschämend. Es waren schreckliche Tage in dieser Zelle. Das Schlimmste war aber, dass mir niemand sagte, was man mir eigentlich vorwarf. Keiner redete mit mir. +Nach 45 Tagen legten sie mich in Handschellen und brachten mich nach draußen. Sie steckten mich in eine Gemeinschaftszelle. Die war vielleicht 20 Quadratmeter groß. Darin gab es außer mir noch etwa 60 andere Gefangene. Als ich die Zelle betrat, war sie so voll, dass ich auf jemanden trat, der auf dem Boden lag. Die erste Nacht schlief ich im Stehen. Am nächsten Tag brachten sie einen der Gefangenen weg, und ich schnappte mir seinen Platz, damit ich sitzen konnte. Noch immer hatte mir niemand gesagt, was man mir vorwarf. Ich sprach mit den anderen. Das waren die unterschiedlichsten Leute. Ärzte, Rechtsanwälte, Lehrer, Jugendliche. Auch Kriminelle waren darunter. Aber die Mehrheit waren politische Häftlinge wie ich. +Nach 17 Tagen in dieser Zelle rief man mich an die Tür und verband mir die Augen. Sie brachten mich an einen anderen Ort. Ich spürte, dass da jemand neben mir war. +Plötzlich trafen mich Faustschläge. Ein anderer peitschte mich mit einem Gummischlauch. +Jemand sprach mit mir. Er fragte: "Bist du Bilal?" +Ich sagte: "Ja." +"Warum glaubst du, dass du hier bist?" +"Ich weiß es nicht." +"Ich sage es dir!" +Und dann las er mir einen Bericht vor, in dem alles stand. Sie hatten mich die ganze Zeit abgehört. Ich hätte schlecht über den Präsidenten geredet. Ich wollte die Regierung stürzen. Ich unterstützte Terroristen, die mit Gewalt gegen unser Land kämpften. So ging es immer weiter. Die Liste der Vorwürfe war unglaublich lang. +Ich versuchte zu argumentieren und sagte ihnen, warum ich gegen das Regime war. Ich sagte, dass wir Syrer das Recht hätten, unsere Regierung zu wählen. Ich hatte nichts mehr zu verlieren. Irgendwann schleiften sie mich zu einem kleinen Tisch. Dort gaben sie mir einen Stift und befahlen mir, zu gestehen. Ich schrieb auf, was sie von mir hören wollten, und gestand. Ich war mir sicher, dass das mein Todesurteil war. +Immer wieder schlugen sie mich, aber sie töteten mich nicht. Stattdessen wurde ich immer wieder in neue Gefängnisse verlegt. Von anderen Häftlingen hatte ich gehört, dass es mittlerweile Krieg in Syrien gab. Bald konnten wir Gefechtslärm hören. In der Ferne gab es Detonationen. Die Einschläge und Schüsse kamen näher. Einen ganzen Monat lang wurde um das Gefängnis herum gekämpft. Eines Nachts brach ein Feuer aus. Kämpfer der Freien Syrischen Armee, einer Truppe der Opposition, stürmten herein, öffneten die Zellentüren und befreiten uns. +Häftlinge, die im Keller des Gerichtsgebäudes festgehalten werden +Draußen wurde von allen Seiten geschossen. Die Regierung griff die Rebellen auch aus der Luft an. "Betet zu Gott, dass ihr das hier überlebt", sagte der Anführer der Soldaten. Wir liefen über das Schlachtfeld, überquerten einen Friedhof und kamen irgendwann in Aleppo an. Vier meiner Mithäftlinge starben auf dem Weg, viele weitere wurden verletzt. Die Soldaten fragten uns, ob wir der Freien Syrischen Armee beitreten wollten, aber ich lehnte das ab. Ich möchte niemanden töten, egal aus welchen Gründen. Das entspricht mir einfach nicht. Stattdessen probierte ich, der Revolution auf meine Art zu helfen. Ich trat einer Art Pressestelle bei, die sich darum kümmerte, der Welt Informationen über das zu liefern, was bei uns geschah. Wir waren unabhängig, wir deckten Verbrechen und Fehlverhalten auf allen Seiten des Bürgerkriegs auf. Das führte dazu, dass ich zwischenzeitlich auch zweimal von oppositionellen Kämpfern festgenommen und gefoltert wurde. +Ich begann schließlich, auch für das Ausland zu arbeiten. Ich half Journalisten aus Deutschland und Frankreich, an Informationen zu kommen, und begleitete sie, wenn sie nach Syrien reisten, um von dort zu berichten. Für Ausländer war das enorm gefährlich. Sie wurden oft als Geiseln genommen. Ich holte sie an der türkischen Grenze ab und brachte sie auch dahin wieder zurück. +Die Lage in Aleppo wurde mit der Zeit immer schlimmer. Die islamistischen Milizen des IS rückten immer weiter vor. Sie griffen sowohl die Regierungstruppen als auch die Freie Syrische Armee an. Aus der Luft warfen die Flugzeuge des Regimes Brandbomben ab. Das Haus, in dem wir wohnten, wurde komplett zerstört. In den Gebieten, die der IS kontrollierte, errichteten die Kämpfer Checkpoints. Alle, die als Journalisten arbeiteten, wurden sofort verhaftet. Ein Freund, mit dem ich an einer Reportage für einen Fernsehsender arbeitete, wurde bei dem Versuch, die Stadt zu verlassen, von Islamisten ermordet. +Meine Kollegen aus dem Ausland hatten mich schon lange bedrängt, aus Syrien zu fliehen. Ich hoffte, dass die Situation wieder besser würde. Erst als es wirklich keine andere Möglichkeit mehr gab, beschloss ich, es zu tun. Wenn ich überleben wollte, musste ich raus. +Als die Kämpfe nur noch ein paar Kilometer von mir entfernt waren, schickte ich eine E-Mail mit der Bitte um Asyl an Reporter ohne Grenzen. Ein Freund aus Deutschland und die Zentrale in Paris baten mich, erst mal in die Türkei zu fliehen. Ich lief zu Fuß in Richtung Grenze. Es schneite und war sehr kalt. Das Einzige, was ich bei mir hatte, war meine Kamera. Beim ersten Mal schickten mich türkische Soldaten noch zurück, aber beim zweiten Versuch gelang es mir, die Grenze zu überqueren. In der Türkei verkaufte ich meine Kamera und fuhr mit dem Geld nach Istanbul. Dort kannte ich jemanden, der mich im Keller einer Schuhfabrik schlafen ließ. Es dauerte noch sechs Monate, bis ich schließlich eine E-Mail von der deutschen Botschaft bekam. Sie würden mir Asyl geben. +Ich konnte es kaum glauben: Auf einmal stand ich am Flughafen Istanbul, mit einem Ticket und deutschen Papieren in der Hand. Am 6. Juni 2013 landete ich in Berlin. Ich hätte nie gedacht, dass mich die Reise, die ich 2011 in Damaskus begonnen hatte, einmal hierherbringen würde. Ich bin dankbar. In Deutschland ist es okay, auch wenn mich manchmal die Bürokratie in den Wahnsinn treibt. Aber ich schätze, hier ist es wahrscheinlich immer noch besser als in anderen europäischen Ländern. Ich versuche, die Sprache zu lernen und einen Job zu finden, aber das ist sehr schwer. Eine Wohnung habe ich mit der Hilfe von Reporter ohne Grenzen zumindest gekriegt. +Ich spiele keine aktive Rolle mehr im Widerstand gegen das Regime, aber ich verfolge natürlich, was in Syrien passiert. Ob ich noch Hoffnungen für unser Land habe? Eher nicht. Die Milizen des IS kontrollieren große Gebiete. Die Revolution ist in den Köpfen sicher noch lebendig, aber es wird viele Jahre dauern, bis sie Wirklichkeit wird. Meine Verwandten erreiche ich wegen der vielen Stromausfälle nur sporadisch per Internet und Telefon. Nie weiß ich, ob alles bei ihnen in Ordnung ist oder ob wieder etwas Schreckliches geschehen ist. Zwei meiner Brüder sind bei Bombenangriffen ums Leben gekommen, und auch mein Vater ist mittlerweile tot. Immer wieder erreichen mich diese schlimmen Nachrichten aus der Ferne. Manchmal fühle ich mich innerlich richtig zerrissen. Ich lebe zwar jetzt hier im Exil, aber in Gedanken bin ich noch immer ständig dort. +Als Fabian Dietrich Bilal in dessen Berliner Wohnung besuchte, platzten auf einmal die Nachbarn herein und unterbrachen das Interview. Sie wollten dem Syrer neue Vorhänge bringen und ihm bei der Einrichtung helfen. Schön zu wissen, dass Bilal in seinem Haus so gut aufgenommen wird. diff --git a/fluter/die-zeitmacher.txt b/fluter/die-zeitmacher.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/diego-garcia-kolonialismus.txt b/fluter/diego-garcia-kolonialismus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3dc18ae4de6ccded4d545fe644be7e05afd4a20d --- /dev/null +++ b/fluter/diego-garcia-kolonialismus.txt @@ -0,0 +1 @@ +Chagos-Archipel diff --git a/fluter/diese-demokraten-wollen-trump-schlagen.txt b/fluter/diese-demokraten-wollen-trump-schlagen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ecbfe9f994012129b376fe49a778b504b013353d --- /dev/null +++ b/fluter/diese-demokraten-wollen-trump-schlagen.txt @@ -0,0 +1,19 @@ + + +Obamas alter Kumpel +Auf Joe Biden können sich viele einigen, er kann Kompromiss – und steht damit für den "dritten Weg". Sein größter Trumpf aber: Er war Vizepräsident unter Barack Obama + +Die Pragmatikerin +Vom Einwandererkind zur Senatorin: Kamala Harris verkörpert den amerikanischen Traum. Dabei ist sie noch lange nicht fertig + +Der linke Liebling +Bernie Sanders macht seit 40 Jahren Politik – mit den immergleichen Forderungen. Jetzt bekommt er dafür große Unterstützung + +Die mit dem Plan +Elizabeth Warren gilt als akribische Strategin. Gerade wenn es darum geht, Geld und Macht umzuverteilen + +Das gehypte Pokerface +Der junge Pete Buttigieg ist besonnen, schwul und spricht acht Sprachen – und damit das Gegenteil von Trump, finden seine Fans + +Der äußerste Außenseiter +Bill Weld will, was viele für unmöglich halten: den Präsidenten aus der eigenen Partei entmachten. Seine Botschaft: Nicht alle Republikaner sind wie Trump diff --git a/fluter/diese-leere.txt b/fluter/diese-leere.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4355a14b168b09c7a78efbd666a5b39b204db506 --- /dev/null +++ b/fluter/diese-leere.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Auf dem Boden schlafen muss ich trotzdem nicht, denn Richard hat extra eine neue Matratze gekauft, die er für mich aus der Originalverpackung schält. Auf meine Frage, ob er nicht auch ohne Freundin seine Wohnung neu einrichten müsse, bekomme ich keine Antwort. +Arne Semsrott kennt keine Berührungsängste mit anderen Kulturen. Er hat zeitweise in der Türkei studiert und ist ständig unterwegs. Im vierten Teil von "Abenteuer Couchsurfing" war er bei einem spendablen Ölmanager im Nordirak zu Gast.   / Illustration: Jindrich Novotny diff --git a/fluter/diese-ossis.txt b/fluter/diese-ossis.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9852659d5324df68086b69d6a44005b5cc9a1416 --- /dev/null +++ b/fluter/diese-ossis.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Interessant ist auch, dass bei Kindsmörderinnen wie etwa zuletzt in Bayern eher die individuellen Gründe bei der Mutter gesucht werden. Ihr Westdeutschsein scheint hier keine Rolle zu spielen. Denn das ist nichts Besonderes, es weicht nicht von der Norm ab. Und die Norm ist westdeutsch, weiß, hetereosexuell und bürgerlich. Ostdeutsch ist anders. +Ein wichtiger Aspekt von Identität ist immer Differenz und weniger Gleichheit. "Wir wissen immer sehr genau, wer wir gerade nicht sind", sagt der Soziologe Harald Welzer. Und so weiß man eben am besten, was deutsch ist, wenn man darüber nachdenkt, was es nicht ist. Und deswegen ist es sehr viel leichter zu sagen, was Ostdeutsche nicht sind, als was sie denn tatsächlich sind. Das meiste von dem oben Beschriebenen trifft nämlich auf die Mehrheit der Ostdeutschen nicht zu. Was bedeutet "Identität"? Noch spezifischer: Was bedeutet "ostdeutsche" und "westdeutsche" Identität? Wenn man darüber mit jungen Erwachsenen im Alter zwischen 20 und 25 Jahren aus ost- und westdeutschen Großstädten diskutiert, kommt man der Funktionsweise des "Othering" auf die Spur. Es wäre eigentlich vorstellbar, dass Ostdeutschsein nicht mehr mit der DDR verbunden wird, wenn man nicht selbst in diesem Staat gelebt hat. Aber das Verständnis von Ostdeutschland wird von den Eltern und deren Erfahrungen mit der DDR und der Wiedervereinigung geprägt. Vor allem die Abwertung der DDR-Lebensläufe und das Hinterfragen der politischen Einstellungen der Eltern wirkt auf die Kinder nach. Sie nehmen ihre Eltern als schwach wahr, wo sie sich eigentlich Orientierung erhoffen. +Zudem berichten die jungen Erwachsenen von Abwertungserfahrungen durch die öffentliche Darstellung von "Ostdeutschen": Witze über Ossis, pauschale Verurteilungen als Kindermörderinnen, latent rechts wählend und mit einem Hang zum Hooliganismus. In diesen Momenten der Entwertung ihrer eigenen Herkunft nehmen sich selbst diejenigen, für die Ostdeutschsein sonst nur eine kleine oder gar keine Rolle spielt, als "Ostdeutsche" wahr. Denn so wie die Ossis in einigen Medien dargestellt werden, so sind sie nicht, und sie solidarisieren sich mit der behaupteten sozialen Gruppe, die abgewertet wird. +Wir wissen vor allem viel besser, wer wir sind, wenn wir unsere Erfahrungen mit anderen vergleichen und die Unterschiede erkennen und wertschätzen. Wenn diese Unterschiede dann in der öffentlichen Diskussion Anerkennung finden, dann fällt es leichter zu sagen, wer wir sind, ohne damit gleich als nicht mehr dazugehörig wahrgenommen zu werden. Dazu müssen die Erfahrungen der vermeintlich "Anderen" aber auch gehört werden. Die Kategorie "ostdeutsch" wäre dann nur noch ein Teil eines großen Mosaiks, das wir Identität nennen können. diff --git a/fluter/diese-soli-wg-teilt-sich-alles.txt b/fluter/diese-soli-wg-teilt-sich-alles.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e9f21ee234c877b3cd860ae3a6974daeae09b3e2 --- /dev/null +++ b/fluter/diese-soli-wg-teilt-sich-alles.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Mitten in Sachsen, in der Kreisstadt Wurzen, eine Straße hinter dem Netto, befindet sich das Wohnprojekt.Wer hier lebt, will teilen.In den meisten Wohngemeinschaften bewohnt jeder sein eigenes Zimmer, im Kanthaus teilen sich alle das gesamte Haus und dessen Zimmer. Im "Communal Sleeping Room" schlafen bis zu zehn Menschen, der "Communal Closet" ist ein begehbarer Kleiderschrank, in dem sich jeder mit Kleidung ausstatten kann, selbst die Unterwäsche teilen sich manche. Wem das zu viel ist, der gönnt sich Ruhe in einem "Private Room" oder sucht sich für BHs und Boxershorts ein persönliches Fach. + +Die 15 Bewohner stammen aus ganz verschiedenen Schichten, aber alle sind sich einig, nachhaltig leben zu wollen + +"Wem du's heute kannst besorgen" des Songwriters Faber läuft im Hintergrund, während Silvan, João und Chrisi das Abendessen zubereiten. In der Küche gibt es kein heißes Wasser, dafür ist sie mit einem alphabetisch sortierten Gewürzregal und Oliven- bis Avocadoölen ausgestattet. Lebensmittel, deren Haltbarkeitsdatum überschritten ist, die falsche Etiketten haben oder für den Supermarkt nicht perfekt genug aussehen, bekommen sie als Spende von Lebensmittelherstellern oder Läden.Manchmal geht die Gruppe auch containern, also Lebensmittel aus den Müllcontainern der Supermärkte holen. Geld für Lebensmittel geben sie nur selten aus. An diesem Abend gibt es Kartoffelwedges, einen Gemüsemix aus der Tiefkühltruhe und einen Auflauf, der auf den ersten Blick Tofu zu sein scheint, sich dann aber als Brot-Schimmelkäse-Ei-Auflauf entpuppt. Ein Zweckessen, denn von der Tafel gab es diesmal eine Menge Brot, und der Käse musste auch weg. +Mit dem Versuch, Lebensmittel zu retten, begann auch die Geschichte des Kanthauses. Gemeinsam haben sie Online-Sharing-Plattformen entwickelt, später entstand der Wunsch, die Idee des Teilens in einem analogen Projekt umzusetzen.Seit 2017 gibt es deshalb das Kanthaus, für das sechs Mitglieder ihr Geld zusammengelegt haben, um die beiden Gründerzeitbauten in Wurzen zu kaufen. 15 Menschen aus Deutschland und Europa wohnen nun hier zusammen, die "Kanthausianer", wie sie sich selbst nennen. Vor drei Monaten kam ein sehr junger Mitbewohner dazu: Mika, der Sohn des Ehepaars Tilmann und Janina, zog vier Tage nach seiner Geburt ins Kanthaus. +Geben sich den Rest: Viele Lebensmittel im Kanthaus stammen aus Supermarkt-Containern +Schuhe werden natürlich auch geteilt. Jeder greift sich das Paar, auf das er oder sie gerade Lust hat +Wie fast alle Kanthausianer ist Mika dick angezogen: Strumpfhose, Pullover, Mütze. Denn es ist kalt; nur wenige Räume können in den alten Häusern konstant geheizt werden. Um auf das in Decken gehüllte Baby aufmerksam zu machen, hat sich Silvan etwas ausgedacht und einen orangebraunen Kegel mit leuchtenden LEDs gebaut. Steht der Kegel auf einem Polsterberg, heißt das: "Hier tarnt sich Mika. Bitte nicht draufsetzen!" +Fast alles bauen die Kanthausianer selbst; die meisten Installationen funktionieren automatisch. Ein Knopf an der Badezimmertür springt von "Frei" auf "Besetzt", sobald jemand den Raum betritt und die Tür hinter sich schließt. Der Wasserhahn läuft nur dann, wenn man auf ein Pedal am Boden tritt. Überall im Haus hängen Zettel, die erklären, wie was zu benutzen ist. Ein Zettel im Bad preist das neue Indoor-Kompostklo im Treppenhaus an. +Das Wohnprojekt, das auf den ersten Blick an eine Hippiekommune erinnert, agiert fast wie ein Start-up. In Zimmern, deren Wände mit bunt gemusterten Tüchern dekoriert sind, sitzen Aktivisten, die Sharing-Apps programmieren, Klimakonferenzen planen und Open-Source-Software zur Verfügung stellen. Allen geht es darum, bewusst mit Ressourcen umzugehen. "Wir wollen schon irgendwie die Welt retten", sagt Janina fast ein bisschen schüchtern. + +Weil nur wenige Räume konstant geheizt werden, sind die Bewohner immer dick angezogen. Gut, dass im gemeinsamen Kleiderschrank genug Klamotten sind + +Trotz der liberalen Grundstimmung gibt es klare Strukturen und Hierarchien, die in einer Art Verfassung zusammengefasst sind. Wer im Kanthaus ankommt, ist zunächst Besucher und braucht einen "Host". Nach drei Wochen Aufenthalt wird entschieden, ob der Gast weiter Besucher bleibt, Freiwilliger wird oder abreisen muss. Auch Freiwillige und Mitglieder werden in Abständen von zwei und sechs Monaten geprüft. Alle Hausbewohner haben gemeinsam die Verpflichtung, Verantwortung für den Ort zu übernehmen und einen Beitrag für Wurzen oder die restliche Welt zu leisten. Sich ein nettes Zimmer auszusuchen und auf der faulen Haut zu liegen, ist nicht gestattet. +Für Chandi sind seit seiner Ankunft sechs Monate vergangen, und es ist Zeit für eine erneute Evaluation. Mitglieder und Freiwillige treffen sich dafür im "Cloud Room", der wegen seiner himmelblauen Einrichtung so genannt wird. Die Diskussion und die finale Wahl dauern etwa 60 Minuten. Chandi steht nun in der "Snack Kitchen" – der etwas kleineren Küche –, macht sich ein Brot und wartet auf sein Feedback. Clara kommt mit guten Nachrichten zurück. Er hat es erneut zum Mitglied geschafft. +Im Kanthaus werden außer Essen und Kleidung auch Meinungen offen geteilt. Die meisten Kanthausianer äußern sich positiv über Chandis Offenheit, seine Differenzen mit einem anderen Bewohner konnte er in den letzten Wochen klären. Also muss sich Chandi für die nächsten sechs Monate keine Gedanken machen. Außer vielleicht, in welchem Zimmer er am Abend schlafen möchte. Die Auswahl ist groß. + +Fotos: Ingmar Björn Nolting diff --git a/fluter/dieser-weg-wird-kein-leichter-sein.txt b/fluter/dieser-weg-wird-kein-leichter-sein.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..88d3b10b5a765ff0044308ad352e033fb42b9d49 --- /dev/null +++ b/fluter/dieser-weg-wird-kein-leichter-sein.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Grundsätzlich gilt: Wer Asyl beantragt, darf in den ersten drei Monaten gar nicht arbeiten. Bis zu 15 Monaten Aufenthaltsdauer in Deutschland gilt die sogenannte Vorrangprüfung, bei der die Arbeitsagentur der Arbeitsaufnahme zustimmen muss: Eine Stelle dürfen Asylbewerber unter anderem nur antreten, wenn kein ebenso qualifizierter Arbeitnehmer aus Deutschland oder einem anderen EU-Land in Frage kommt. Gleiches gilt für Ausländer, die geduldet sind – also keinen Aufenthaltstitel haben, aber nicht direkt abgeschoben werden. Anerkannte Flüchtlinge mit einer Aufenthaltserlaubnis dürfen uneingeschränkt arbeiten und sich auch selbstständig machen. +Nein, sagt Herbert Brücker, Migrationsexperte am IAB, dem Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit. Von der Million müsse man viele wieder abziehen: diejenigen, die bereits weitergezogen sind, diejenigen, die direkt einen Job finden (auch wenn das wenige sind), diejenigen, deren Asylverfahren keinen Erfolg haben werden (was einige mehr sein dürften). Und selbst diejenigen, die bleiben werden, tauchen erst mit Verzug in den Statistiken der Arbeitsagenturen auf. Ihre Asylanträge müssen bearbeitet werden, im Schnitt dauert das ein gutes halbes Jahr, manchmal auch länger. Im Oktober 2015 rechnete die Bundesagentur für Arbeit für 2016 durch die Flüchtlingsbewegung mit 130.000 Arbeitslosen zusätzlich – eine Schätzung, die "mit großen Unsicherheiten behaftet" ist, wie die Forscher schreiben. Gleichzeitig finden wegen der guten Wirtschaftslage viele Einheimische eine Stelle. Unterm Strich steigt die Arbeitslosenzahl laut einer Umfrage unter Volkswirten deutscher Großbanken in diesem Jahr um 70.000. +Wo Deutschland besonders dankbar für ausländische Arbeitskräfte ist, steht in der sogenannten Liste der Mangelberufe (www.arbeitsagentur.de/positivliste), die regelmäßig aktualisiert wird. Derzeit führt die Arbeitsagentur darin rund 130 Tätigkeiten auf, darunter Exoten wie Kühlhauswärter, Unterwasserschweißer oder Hörgeräteakustikmeister. Technik- und Pflegeberufe dominieren die Liste; hier ist das Angebot an Arbeitskräften im Inland knapp. Wer nach Deutschland kommt und seine Qualifikation auf der Liste findet, hat Glück – vorausgesetzt, der ausländische Abschluss wird hier anerkannt. In dem Fall kann man schon während des Asylverfahrens direkt in den Beruf einsteigen, ohne dass die Arbeitsagentur prüfen muss, ob es nicht einen deutschen Bewerber für die Stelle gibt. Einen einfachen Weg in den Arbeitsmarkt gibt es auch für hoch qualifizierte Akademiker aus Nicht-EU-Staaten: Sie können eine sogenannte "Blaue Karte EU" bekommen, wenn sie einen Arbeitsvertrag mit einem bestimmten Mindestgehalt vorweisen können. 2014 wurden aber nur knapp 12.000 Blaue Karten verteilt. +So recht weiß das niemand. Die ersten Schätzungen des IAB weisen darauf hin, dass sie im Schnitt eher schlechter qualifiziert sind als deutsche Arbeitnehmer. In den letzten Jahren, also vor der "Flüchtlingskrise", waren die Neuzuwanderer ziemlich hoch qualifiziert, im Schnitt besser als die Deutschen. Allerdings sind die jetzigen Flüchtlinge überdurchschnittlich jung, so dass sie möglicherweise schneller dazu lernen als Ältere. +Nichts geht ohne die Sprache. Deswegen bekommen nun knapp 50 Syrer, Iraker, Iraner, Marokkaner und andere neu Zugewanderte in Berlin Unterricht, jeden Sonntag. Die Sprachen, die Ehrenamtliche ihnen in der frisch gestarteten "ReDI School of Digital Integration" beibringen, heißen: Ruby. Java. HTML. Die Flüchtlinge lernen programmieren. "In der Start-up-Szene kommt es nicht auf Abschlüsse an, sondern auf die Fertigkeiten, die jemand mitbringt", sagt Özlem Buran, die in der Initiative arbeitet. "Vielen Firmen ist es gar nicht wichtig, ob jemand Deutsch kann. Die Arbeitssprache ist oft Englisch." Und die IT-Szene sucht Fachkräfte: Manche Tech-Firmen sind so froh über die Initiative, dass sie direkt Laptops spendeten und sich zu Recruiting-Vorträgen angemeldet haben. Die IT-Branche ist allerdings eine Ausnahme; daneben gibt es auch einige einfache Tätigkeiten etwa bei der Gebäudereinigung oder in Großküchen – Jobs, die keine vertieften Kenntnisse der deutschen Grammatik verlangen, die in der Regel aber auch kaum Perspektiven bieten. "Es gibt immer wieder Bereiche, wo man mit wenig Deutsch gut arbeiten kann", sagt Migrationsforscher Herbert Brücker vom IAB. "Im überwiegenden Teil des Arbeitsmarktes braucht man aber die Sprache." +Lutz Haases Agentur FTWK ist eine dieser Berliner IT-Schmieden – und seit jeher internatio-nal. Rund die Hälfte der 16 Mitarbeiter kommt aus dem Ausland. Vor einigen Monaten stellte Haase ein Inserat in die Flüchtlingsjobbörse workeer.de ein – und fand im Nu einen syrischen IT-Experten. "Die Chemie passt einfach", sagt Haase. Aber ehe Haases Wunschkandidat Bassel mit dem Programmieren anfangen konnte, mussten die Behörden überzeugt werden. Für die Arbeitsagentur setzte Haase ein Empfehlungsschreiben auf, in dem er darlegte, warum nur dieser junge Mann aus Syrien für die Stelle geeignet ist und kein Deutscher – da das Asylverfahren noch lief, galt die Vorrangprüfung. "Es hat relativ unkompliziert geklappt", sagt Haase. Nicht immer ist das so einfach: Mitunter bleiben Stellen unbesetzt, weil lange geprüft wird, ob es nicht doch noch einen gleich qualifizierten einheimischen Erwerbslosen gibt. Wirtschaftsvertreter fordern daher, die Vorrangprüfung ganz auszusetzen – zumindest für Menschen, deren Asylantrag gute Aussichten auf Erfolg hat. Eine Erleichterung hat der Bundestag immerhin im Juli schon beschlossen: Geduldete Jugendliche, die nicht aus den sogenannten sicheren Herkunftsstaaten kommen, können nun häufiger bis zum Ende ihrer Ausbildung in Deutschland bleiben. Rechtssicherheit ist neben der Sprache eines der großen Arbeitsmarkthemmnisse für Flüchtlinge: Unternehmen möchten sichergehen können, dass ihre Arbeitnehmer auch bei ihnen bleiben. +Waschen, schneiden, legen: hatte er alles gelernt. Aber als Haias 2002 nach Deutschland kam, galt das nicht mehr. Die Behörden ließen ihn nicht arbeiten. Das Nichtstun quälte ihn, sagt Haias, heute 35 Jahre alt, "es macht dich verrückt". Also tat er, was er am besten konnte: Er schnitt anderen die Haare, im Flüchtlingsheim in Mannheim, für fünf Euro, schwarz. Irgendwann wollte Haias, der eigentlich anders heißt, seinen eigenen Salon aufmachen. Doch um -einen Friseursalon zu eröffnen, braucht man in den meisten Fällen einen Meisterbrief. Als Haias den Irak verließ, ließ er alles zurück, nicht einmal einen Pass trug er bei sich. In solchen Fällen läuft die Anerkennung in Deutschland über eine Qualifikationsanalyse. Das heißt: Man zeigt ganz praktisch, was man kann. An einem Montag im Januar ist Haias zu einem Friseurmeister nach Schwetzingen gefahren, zusammen mit drei Freiwilligen, die sich ihm als Modelle angeboten hatten. Föhnen, färben, schneiden, rasieren. Alles kein Problem. Nur die Dauerwelle war ungewohnt. "Das lernt man im Irak nicht, keine Frau will so etwas", sagt er. Geklappt hat es natürlich trotzdem: Jetzt ist Haias als Friseurgeselle gemäß der deutschen Handwerksordnung anerkannt. Als Nächstes will er den Meister machen. +Seit dem 1. April 2012 haben Zuwanderer das Recht, ihre Berufsabschlüsse von den Kammern oder anderen zuständigen Stellen auf Gleichwertigkeit mit dem deutschen Referenzberuf bewerten zu lassen, was in vielen – insbesondere reglementierten – Berufen Vo-raussetzung dafür ist, in diesem Beruf arbeiten oder sich selbstständig machen zu dürfen, so etwa im zulassungspflichtigen Handwerk, für Ärzte, Krankenpfleger oder Apotheker. +Es müssen nicht alle zwangsläufig ausländerfeindlich sein, die wegen der Flüchtlinge besorgt sind. Regaleinräumer, Hilfsköche oder Putzkräfte sehen nun viele kommen, die ebenfalls einfache Arbeit machen könnten, auch für weniger Geld. Diese Sorgen sind nicht unplausibel. Der Ökonom Albrecht Glitz hat in einer Studie untersucht, ob die in den 90er-Jahren eingewanderten Spät-aussiedler einheimische Arbeitskräfte verdrängten. Das Ergebnis: Ja, aber nur zum Teil. Für zehn Zuwanderer, die einen Job fanden, verloren drei ansässige Personen ihre Arbeit – oder fanden keine. ImMoment spricht viel dafür, dass in der Debatte die Sorgen um Jobverluste stark überzeichnet werden, meint Arbeitsmarktforscher Herbert Brücker vom IAB. Erstens ist die Zahl der Flüchtlinge, die tatsächlich in den Arbeitsmarkt drängen, immer noch gering – verglichen mit mehr als 40 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland. Und zweitens bemühen sich die Flüchtlinge vor allem um die Jobs, die schon jetzt zu einem großen Teil von Migranten erledigt werden. "Flüchtlinge konkurrieren kaum mit deutschen Arbeitnehmern um Arbeitsplätze", sagt Brücker. "Sie konkurrieren eher mit den Zuwanderern, die schon länger hier sind." +Bild: Patrice Letarnec diff --git a/fluter/dietland-serie-amazon-geschlechterkampf-frauenrollen.txt b/fluter/dietland-serie-amazon-geschlechterkampf-frauenrollen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c6e380c617b60f30c60554c90db0126bb028c8d3 --- /dev/null +++ b/fluter/dietland-serie-amazon-geschlechterkampf-frauenrollen.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Doch bevor es so weit kommen kann – Spoiler: die Serie ist keine Hollywood-Make-over-Comedy-Romanze –, ändert sich so gut wie alles. Nicht nur in Plums Leben: Sie wird von einer jungen Goth-Frau verfolgt, die sie im Verlagshaus einer Frau vorstellt, die das gesamte Make-up des Towers verwaltet. Schnell wird klar, dass diese Frau noch mehr zu kaschieren hat als Chefin Kittys Pickel. Die wiederum kaschiert ein Datenleck und hat zur Aufklärung dessen einen ehemaligen NYPD-Detective beauftragt, der Plum beim Karottenkuchenessen (er isst, sie schaut zu) verdächtig tief in die Augen blickt. Zeitgleich entführt eine feministische Terrorgruppe namens "Jennifer" Männer, die sich an Frauen vergangen haben, zwingt sie vor laufender Kamera, sich zu entschuldigen, ehe sie sie tötet und in Bodybags von Hausdächern und Brücken schmeißt. Darunter ist unter anderem ein Fotograf, der wohl nicht zufällig dem bekannten Modefotografen Terry Richardson ziemlich ähnlich sieht. Ebenfalls durch die Goth-Frau landet Plum bei einer Organisation namens "Calliope". Deren Chefin ist die Tochter der verstorbenen Erfinderin einer bekannten Diät. Sie bietet Plum 20.000 Dollar dafür, ihren Traum vom Schreiben zu verfolgen und die Magenverkleinerung doch bitte sein zu lassen. Ohne noch mehr zu verraten, kann man sagen: Schon zum Ende der dritten Folge ergeben sich da große – und zum Teil wirklich überraschende – Verstrickungen. +Das Drehbuch von "Dietland" basiert auf dem gleichnamigen Roman der Autorin Sarai Walker, die mit der Geschichte eine Art "Fight Club" für Frauen schaffen wollte. Die Terrorgruppe "Jennifer" lässt extremistische Taten gegen Missbrauch sprechen. Der sanfte Feministinnenclub von "Calliope" will Frauen zu ihrer wahren Bestimmung verhelfen. Selbst die Mode-Ikone und höchst manipulative Antagonistin Kitty muss zusehen, wie und wo sie sich in der männerdominierten Verlagswelt positioniert. Alle Splittergruppen des Frauen-Fight-Clubs kämpfen also im Grunde gegen den gleichen Gegner: das Patriarchat. +Das mit den kämpfenden Frauen an verschiedenen Teilen desselben Systems funktioniert ganz gut. Richtig spannend wird es, weil Plum als übergewichtige Antiheldin mittendrin keinerlei feministischen Spirit versprüht und erst einmal lernen muss, an sich selbst zu glauben. Mord mit Action, Intrigen, Selbstfindung – eine unausgelutschte Mischung. Aber – da ist sie dann eben doch: die kleine Verwandlung, die die Protagonistin durchmachen muss, um am Ende Ruhm und Liebe zu erhalten. Angedeutet schon in Folge 1 durch einen pflaumenfarbenen Lippenstift. + +"Dietland", Staffel 1, Episode 1–4 kannst du ab sofort auf Amazon Prime streamen. Immer montags kommt eine weitere Folge heraus. diff --git a/fluter/digitale-geschichtsschreibung-der-zukunft.txt b/fluter/digitale-geschichtsschreibung-der-zukunft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9ccc41b3eabb0ac677c190ba43467d96fe1a0f35 --- /dev/null +++ b/fluter/digitale-geschichtsschreibung-der-zukunft.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Was macht diese digitalen Quellen interessant? +Durch Postings auf Blogs oder in sozialen Netzwerken gibt es eine Vielzahl von "Ego-Dokumenten" – also Quellen, die darüber Aufschluss geben, wie Menschen sich selbst und ihre Umwelt sehen. Früher waren das Tagebucheinträge oder Briefe. Solche Quellen sind besonders wichtig, wenn man sich als Historiker nicht nur mit großen Ereignissen und Staatsmännern beschäftigen will, sondern auch mit der Alltagswelt. Sie geben außerdem einen spannenden Einblick, wie wichtige Ereignisse wie Wahlen oder auch Terroranschläge in unterschiedlichen Teilen der Bevölkerung wahrgenommen wurden. +Fotografiertes Essen, Schminktutorials oder Eistee im Sonnenuntergang – das Internet ist ziemlich voll mit banalen Inhalten. Wie findet man in der Masse wirklich relevante und wichtige Quellen? +Aus vielen vergangenen Epochen gibt es verhältnismäßig wenig Quellen. Nun stehen wir vor einem umgekehrten Problem. Es gibt viel zu viele Inhalte. Deshalb müssen wir "weglassen". Die Unterscheidung zwischen "banal" und "nicht banal" würde ich dabei gar nicht machen. Auch Instagram-Bilder und Youtube-Tutorials sind spannende Zeugnisse unserer Zeit. Ich würde eher dafür plädieren, einen kleinen Anteil des täglichen Contents mithilfe von Algorithmen automatisch zu archivieren, und zwar in ganzer Bandbreite – von Shopping-Webseiten über Blogs bis zu Computerviren. Das wäre eine großartige Fundgrube für künftige Generationen. +Aber wie lassen sich diese gigantischen Datenmengen auswerten? +Digitale Quellen lassen sich im Gegensatz zu historischen Büchern oder Pergamenten problemlos mit Suchmechanismen analysieren – sogar in großen Mengen. Allerdings sind nicht nur Big-Data-Ansätze wichtig. Bei alten Quellen schauen die Historiker gerne auf das individuelle Einmalige, auf kleinste historische Details. Diese Betrachtungsweise sollte auch in der digitalen Welt nicht aussterben. Voraussetzung ist dafür allerdings eine sehr genaue Auswahl der Quellen. +Kann ich auch heute schon irgendwo die Geschichte des World Wide Web erleben? +Ich empfehle jedem Geschichtsinteressierten dieWayback MachinedesInternet Archive. Dort sind über 327 Milliarden Webseiten gespeichert, und zwar seit 1996. Man kann sich wie in einem virtuellen Freilichtmuseum Internetseiten aus längst vergangenen Tagen ansehen. Das ist eine spannende, zuweilen sehr kuriose Zeitreise. Historiker nutzen auch Wikipedia gerne als Quelle. Dort lassen sich nämlich alle Änderungen genau nachvollziehen, und zwar über Jahre hinweg. Auch soziale Netzwerke sind beliebte Quellen, gerade wenn es darum geht, bedeutende Ereignisse besser einzuordnen. Die Kongressbibliothek der USA archiviert zu diesem Zwecke Twitter-Botschaften – aufgrund unzureichender Speicherkapazitäten allerdings nur noch ausgewählte. Völlig unterschätzt sind dagegen beispielsweise Shopping-Plattformen wie Amazon und Ebay. Sie sind für viele Menschen wichtige Anlaufstellen und historisch betrachtet Treiber der Webentwicklung. Trotzdem kümmert sich niemand um die Archivierung ihrer Angebote. Alte Versandhauskataloge gibt es dagegen in vielen Archiven. +Apropos Twitter. Donald Trumps Tweets sind doch bestimmt eine gute Quelle für Digitalhistoriker. +Auf jeden Fall. Allein daraus und insbesondere aus seinen diversen Entgleisungen und Ausfällen auf Twitter ließe sich eine gute Biografie schreiben. Trump steht außerdem für den rasanten Wandel von politischer Aufmerksamkeit: weg von den klassischen, hin zu den digitalen Medien. Aber auch sonst beeinflusst er die Arbeit von Historikern. Kurz nach seinem Wahlsieg kündigte das Internet Archive an, eine vollständige Kopie seines Datenbestands nach Kanada auslagern zu wollen. Projektgründer Brewster Kahle begründete dies mit dem von Trump angekündigten radikalen Politikwandel. Das war sicher kein PR-Gag, immerhin ist das Vorhaben sehr aufwendig und teuer. Hier geht es wohl eher um die Rettung von wichtigen Daten vor dem staatlichen Zugriff und den Erhalt von "Wahrheiten" in postfaktischen Zeiten. +Wie verändert sich unsere Erinnerungskultur in digitalen Zeiten? +Das ist eine spannende Frage. Was sind die Denkmäler und das Kulturerbe im World Wide Web? Wahrscheinlich gibt es darauf ganz viele unterschiedliche Antworten. Zum Beispiel werden Computerspiele zunehmend als Kulturgut wahrgenommen und in der Bedeutung längst mit Büchern oder Filmen verglichen. +Jens Crueger arbeitet freiberuflich als Digital-Historiker +Das Internet steht jedem offen. Steht es damit auch jedem frei, sein eigener Digitalhistoriker zu werden? +Historische Quellen sollten frei zugänglich sein, und zwar für jeden. Das Internet Archive und seine Wayback Machine sind dafür ein gutes Beispiel. Wenn ich dagegen in der Deutschen Nationalbibliothek auf archivierte Webseiten zugreifen will, kann ich das nur an den Rechnern im Frankfurter Lesesaal machen. Rechtlich geht das nicht anders, trotzdem ist es geradezu traurig, hier sollten die rechtlichen Rahmenbedingungen schnell verändert werden. Ähnliches gilt für die technischen Instrumente zur Auswertung der Quellen. Wir brauchen kostenlose Big-Data-Programme, die idiotensicher nutzbar sein müssen. + +GIFs: Anthony Antonellis diff --git a/fluter/digitale-image-korrektur.txt b/fluter/digitale-image-korrektur.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1968a621e22c497688fb66c51a1dfde96eba015a --- /dev/null +++ b/fluter/digitale-image-korrektur.txt @@ -0,0 +1 @@ +Die Werbeagentur Publicis, die Siemens betreut, bestätigt den Verdacht: Die Uhr auf dem Foto sei auf ausdrücklichen Wunsch von Kleinfeld wegretuschiert worden. Er habe keine Zeit für ein zweites Shooting gehabt, lautet die Begründung. Siemens-Sprecher Peter Gottal jedoch widerspricht: Die Rolex-Uhr sei mitnichten wegretuschiert worden. Es habe vielmehr zwei Fotoserien gegeben – eine mit und eine ohne Uhr. Diese Behauptung lässt sich leicht überprüfen. Legt man beide Bilder übereinander, erkennt man sofort: Sie sind absolut identisch – mit Ausnahme der Uhr. In der Stellungnahme von Siemens heißt es: "Wir werden das Foto mit der Uhr nicht mehr verwenden, weil das visuell überbetont ist." diff --git a/fluter/digitalisierung-der-schule.txt b/fluter/digitalisierung-der-schule.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a263867081ec01d7e2dd48644080f5c0703cadef --- /dev/null +++ b/fluter/digitalisierung-der-schule.txt @@ -0,0 +1,32 @@ +Was wäre denn der "allerneueste Stand"? + +Viele Parteien haben vor der Wahl versprochen, die Schulen stärker zu digitalisieren. Angenommen, eure Schule würde also demnächst einen vielleicht sechsstelligen Geldbetrag dafür zur Verfügung bekommen. Würde das helfen? + +Was würdet ihr mit dem Geld anfangen? + +Was war euer schönster Moment im Unterricht mit digitaler Technik? + +Ihr spielt im Unterricht ein Online-Spiel? + +Und was war der schlimmste Unterrichtsmoment mit moderner Technik? + +Außer mehr Geld für neue Technik – was braucht es noch, damit die Digitalisierung ein Erfolg wird? + +Ein Gesamtkonzept für die Digitalisierung an Schulen wird gerade erarbeitet. Wenn es nach den Kultusministern geht, dann soll in fünf Jahren die Technik an allen Schulen funktionieren. Und in zehn Jahren soll die digitale Technik in allen Fächern mit auf dem Lehrplan stehen. Bis dahin werden sich alle Lehrer anpassen müssen ... + +Deshalb gibt es ja auch an manchen Schulen inzwischen Kurse, in denen die Lehrer von den Schülern lernen, wie sie mit der neuen Technik umgehen können ... + +Wie sieht's mit Handys aus? Sind die an eurer Schule erlaubt? + +Und halten sich die Schüler dran? Laura? + +Wie viel Zeit verbringt ihr denn pro Tag online? + +Das klingt ja schon, als wäre Ablenkung eine ziemlich ernste Gefahr, wenn auch in der Schule immer Internet verfügbar wäre. Was lernt man besser ohne Computer? + +Daniel Jurgeleit ist Englischlehrer am Staufer-Gymnasium in Pfullendorf, einer Stadt in der Nähe des Bodensees in Baden-Württemberg. +Laura geht dort in die zehnte Klasse. Sie ist eigentlich selten bei WhatsApp. Sie mag lieber Snapchat und Instagram. + + +Infokasten: Digitalisierung von Schulen +Eigentlich sind sich alle Politiker einig: Der Unterricht an deutschen Schulen muss digitaler werden. Nur wie, das ist die Frage. Das Bundesministerium für Bildung hatte Anfang 2017 angekündigt, fünf Milliarden Euro in die digitale Bildung zu investieren, um damit 40.000 Schulen technisch aufzurüsten. Im Gegenzug sollten die Bundesländer für die Weiterbildung der Lehrer sorgen, damit diese die neue Technik auch wirklich benutzen. Ob und wie die Ankündigungen nach der Wahl umgesetzt werden, ist noch unklar. Auch die SPD wollte Schulen besser ausstatten und versprach dafür zwölf Milliarden Euro. Momentan gilt eine Regierungskoalition aus CDU, FDP und Grünen als wahrscheinlicher ("Jamaika-Koalition"). Die FDP liegt mit den versprochenen Investitionen (8,5 Milliarden Euro) zwischen CDU und SPD. Die Grünen versprechen fast so viel Geld wie die SPD (10 Milliarden Euro), allerdings nicht nur für neue Technik, sondern generell für Schulen in armen Kommunen. diff --git a/fluter/diktaturen-in-suedamerika.txt b/fluter/diktaturen-in-suedamerika.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0f6c9e2dc7920070dc39e669a26fc29dd5ffd245 --- /dev/null +++ b/fluter/diktaturen-in-suedamerika.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Das Titelbild … +…zeigt den chilenischen Präsidenten Salvador Allende am Tag des Militärputschs. In Begleitung seiner persönlichen Schutztruppe, mit Stahlhelm auf dem Kopf und einer Kalaschnikow auf der Schulter läuft Allende durch den Präsidentenpalast, während dieser bombardiert wird. Es ist das wahrscheinlich letzte Foto von Salvador Allende – wenig später nimmt er sich mit zwei Kopfschüssen das Leben. +Das Foto gewann 1973 den wichtigsten Preis für Fotojournalismus:den World Press Photo Award. Aus Angst vor Verfolgung blieb sein Urherber, der Fotograf und Offizier Leopoldo Víctor Vargas, jahrzehntelang anonym. + +Doch die Propaganda konnte im September 1970 am Wahlsieg des Kandidaten eines linken Bündnisses aus kommunistischer, sozialistischer und einigen weiteren kleineren Parteien nichts ändern: Salvador Allende. Mit ihm verbanden viele Chilenen die Hoffnung auf eine Bekämpfung der Armut und eine gerechtere Verteilung von Land und Wohlstand. Für die USA allerdings war Allende ein Wegbereiter des Kommunismus, der die anderen Länder Südamerikas mit seinen Ideen von Gleichheit und Staatseigentum anstecken würde. Diese sogenannte Domino-Theorie gehörte damals zur außenpolitischen Doktrin der USA. +Um Allende schnell zu stürzen, bemühte man sich zunächst darum, eine Wirtschaftskrise in Chile zu verursachen – unter anderem, indem man auf Rohstoffe, die das Land verkaufte, einen Boykott verhängte. "To make the Chilean economy scream" – so beschrieb Nixon den Zweck der Maßnahmen. Tatsächlich kam es in Chile zuEngpässen, gleichzeitig profitierten viele – vor allem die zuvor benachteiligten Menschen – von Sozialprogrammen, die Allende ins Leben rief. +Um ihr Ziel schneller zu erreichen, machte sich die CIA auf die Suche nach chilenischen Militärs, die gegen ihre eigene Regierung revoltieren würden, zunächst allerdings erfolglos. So verkündete der damalige Oberbefehlshaber der Armee, General Réne Schneider, dass er die Verfassung schützen und sich aus der Politik heraushalten werde – eine Loyalität, die ihn letztlich das Leben kostete. Schneider wurde bei einem Attentat in Santiago durch ein von der CIA unterstütztes Killerkommando ermordet. +Schließlich fanden die US-Amerikaner in Augusto Pinochet jenen skrupellosen General, der den Putsch befehligte. Am 11. September 1973 ließ er Kampfjets den Präsidentenpalast bombardieren. Bevor Allende seinen Häschern in die Hände fallen konnte, nahm er sich ausgerechnet im "Saal der Unabhängigkeit" das Leben – und entging so womöglich einem Schicksal in den Folterkellern des neuen Regimes. Denn das machte gnadenlos Jagd auf Andersdenkende. Bis zum Ende der Diktatur 1990 wurden Zehntausende Menschen inhaftiert, gefoltert und ermordet. + +Am 11. September 1973 steht der chilenische Präsidentenpalast La Mondena in Flammen: Kurz nach Allendes letzter Radiorede an die Nation begannen die Putschisten um General Pinochet mit Panzern auf den Palast zu schießen. Bombenangriffe aus der Luft folgten, jeder Widerstand war zwecklos + +Dabei war Chilenicht die einzige rechtsgerichtete Diktatur,die sich in den 1970er- und 1980er-Jahren in Südamerika etablieren konnte und dabei von den USA unterstützt wurde. In Brasilien war bereits 1964 eine Militärregierung mithilfe Washingtons ins Amt gekommen, in Paraguay wurde der Diktator Alfredo Stroessner unterstützt. Der Kampf der Systeme – Kapitalismus gegen Kommunismus – hatte nach Korea und Vietnam auch Südamerika zu einer Sphäre gemacht, in der die Menschenrechte unter Krieg und Repression litten. So arbeiteten unter dem Namen "Operation Condor" die Geheimdienste sechs südamerikanischer Staaten zusammen, um weltweit linke oppositionelle Kräfte zu verfolgen und zu töten – mit Unterstützung der USA. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen wurden im Zuge dieser Aktionen etwa 50.000 Menschen ermordet, darunter Orlando Letelier, der frühere Außenminister Chiles unter Allende, der 1976 in Washington mit einer Autobombe umgebracht wurde. +In einer speziellen Ausbildungsstätte, der sogenannten "School of the Americas" (Escuela de las Américas) in der damaligen Panamakanal-Zone bildeten die USA zudem südamerikanische Militärs für gewaltsame Umstürze aus und brachten ihnen dabei sogar Foltertechniken bei. Absolventen waren neben argentinischen Militärs auch derbolivianischeDiktator Hugo Banzer Suárez und der Leiter des Geheimdienstes in Chile, Manuel Contreras. Letzterer wurde später in 59 rechtskräftigen Gerichtsurteilen zu Haftstrafen von mehr als 500 Jahren verurteilt, unter anderem wegen Entführung und Folter. +Augusto Pinochet hatte mehr Glück. Er regierte bis 1990, und als er acht Jahre später für knapp eineinhalb Jahre in England unter Hausarrest stand, setzte sich sogar der Heilige Stuhl in Rom für seine Freilassung ein – schließlich war Pinochet Katholik. 2000 wurde er wegen seines schlechten Gesundheitszustandes entlassen und kehrte nach Chile zurück. Als er 2006 beerdigt wurde, defilierten 60.000 Anhänger an seinem Sarg vorbei. Seine Gegner wiederum versammelten sich am Denkmal für Salvador Allende vor dem Präsidentenpalast – jenem Ort, an dem sich dieser in den Trümmern des Gebäudes und der Demokratie einst das Leben genommen hatte. Am 11. September 1973, dem 9/11 Chiles. + +Titelbild:  THE NEW YORK TIMES/NYT/Redux/laif diff --git a/fluter/dim-summ.txt b/fluter/dim-summ.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2a81df3f6b4006b7fed0ea5c9f81c152fce380e7 --- /dev/null +++ b/fluter/dim-summ.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +"Ich sehe gar nicht ein, warum man Maikäfer bisher so verachtet hat und noch verachtet", schrieb ein gewisser Dr. Johann Schneider schon 1844 im Magazin für Staatsarzneikunde über ein seines Erachtens vortreffliches Nahrungsmittel. Seine Studenten hätten die Käfer gar "nach abgerissenen Füssen roh, ganz wie sie sind" gegessen. +Heute forscht Marc Schleunitz an der HU Berlin zum Thema und hat sogar seine Masterarbeit der Entomophagie, so das Fachwort für den Verzehr von Insekten durch den Menschen, gewidmet. "Die Menschen lassen sich da in zwei Gruppen einteilen: die Experimentierfreudigen und die, die eher skeptisch sind", sagt er. Doch meist reiche schon ein wenig Aufklärung, um Vorurteile oder Ekel zu überwinden. +Wissenschaftler wie Schleunitz sehen in Insekten eine gute Proteinquelle: Sie weisen ein ähnliches Aminosäureprofil auf wie das Fleisch von Säugetieren, enthalten außerdem Ballaststoffe und Mikronährstoffe wie Eisen und Zink. Trotz weiteren Forschungsbedarfs lässt sich sagen, dass der Ausstoß von Treibhausgasen in der Zucht wesentlich niedriger liegt. Außerdem verbrauchen die kleinen Tiere, die man im Gegensatz zu Vieh oft nahezu vollständig essen kann, viel weniger Ressourcen. Zum einen benötigen sie weniger Raum, zum anderen verwerten sie ihr Futter wahnsinnig effizient: Um ein Kilo essbares Gewicht zu produzieren, müssen bei Grillen nur 2,1 Kilogramm Futtermittel aufgewendet werden – bei Rindern hingegen 25 Kilogramm. Dadurch liegt auch der Wasserverbrauch bei der Insektenzucht deutlich niedriger. +Dass wir in Deutschland trotzdem keine Insekten in den Supermarktregalen vorfinden, liegt neben dem Ekel der meisten Konsumenten auch an der vagen Gesetzgebung. In der EU gelten Insekten als "neuartiges Lebensmittel", da sie in Europa vor dem Stichtag 15. Mai 1997 nirgends auf dem Speiseplan standen. Deshalb unterliegen sie einem recht langwierigen Zulassungsprozess. Die sogenannte Novel-Food-Verordnung wurde in den einzelnen Ländern jedoch unterschiedlich interpretiert. Wer hierzulande verarbeitete Insekten verkauft – die deutsche Firma Yummy Food Shop etwa bietet Insektenmehl an, in anderen Ländern gibt es bereits Burger oder Chips aus Insekten –, befand sich damit überdies in einer rechtlichen Grauzone. Mehr Klarheit soll eine neue, zum Jahreswechsel bereits in Kraft getretene Verordnung bringen. Nach einer Übergangsfrist von zwei Jahren müssen Bewertung und Zulassung von neuartigen Lebensmitteln künftig zentral durch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit erfolgen. +Ein Schlupfloch in der alten Verordnung: ganze Insekten – denn diese unterlagen bisher nicht der Bewertungs- und Zulassungspflicht. Das hat sich auch Folke Dammann mit seiner Firma Snack Insects zunutze gemacht. Sie existiert seit knapp drei Jahren, doch bislang importiert sie ihre Speiseinsekten aus dem europäischen Ausland, wo sie von kleinen bis mittleren Unternehmen gezüchtet werden. "Belgien, die Niederlande und Frankreich sind auf diesem Gebiet schon weiter als wir", sagt er. Doch die größte Hürde ist aus seiner Sicht nicht die Gesetzgebung, sondern der Preis. Die Insekten in seinem Online-Shop haben Kilopreise zwischen 200 und 800 Euro. Trotzdem sagt er: "Ich denke, dass Insekten in einigen Jahren durchaus einen Platz auf unseren Tellern finden werden." Sobald die Nachfrage für Speiseinsekten steige, werde sich auch das Preisniveau anpassen. +Doch möglicherweise erübrigt es sich bald ohnehin, auf eine vermehrte Insektenproduktion in Deutschland zu warten. Auf der Crowdfunding-Plattform Kickstarter kamen kürzlich145.000 US-Dollar für den "Hive"zusammen, ein Gerät, mit dem sich Mehlwürmer ohne großen Aufwand zu Hause züchten lassen sollen. Der Vorteil: Keine Lieferwege, keine Verpackungen. Außerdem lassen sich die Insekten mit Küchenabfällen ernähren, was in der industriellen Produktion gegenwärtig verboten ist. Doch werden Insekten mit Soja oder anderen Nahrungsmitteln gefüttert, die der Mensch auch selbst essen könnte, können sie nicht ihr volles ökologisches Potenzial entfalten. +Bei all der Insekteneuphorie drängt sich ohnehin die Frage auf, ob Vegetarismus nicht die bessere Alternative ist. Sollte man Fleisch nicht einfach besser durch Soja ersetzen? "Insekten decken im Vergleich einen größeren Teil unseres Nährstoffbedarfs ab", gibt Paul Vantomme zu bedenken. "Sie sind ein wesentlich kompletteres Nahrungsmittel als Soja." Als Gründe nennt der FAO-Experte den Gehalt von Amino- und Fettsäuren, der bei Insekten besser sei als bei jeder Pflanze. Außerdem weisen Insekten laut Vantomme den kleineren ökologischen Fußabdruck auf als Soja. +Bleibt das Argument vom Tierleid: Ob Insekten überhaupt ein Schmerzempfinden haben, ist allerdings nicht abschließend geklärt. Und von ihrem Sterben bekommen die wechselwarmen Tiere nichts mit: Indem man die Umgebungstemperatur herunterregelt, werden sie in eine Art Kältestarre versetzt und können dann gefriergetrocknet werden. Auch den Vorwurf der Massentierhaltung kann man den Insektenzüchtern nicht unbedingt machen, denn Insekten neigen auch in der Natur oftmals zum Klumpen. +Für den Biologen Marc Schleunitz sind Insekten dennoch nicht die Lösung für die ökologischen Probleme der Nahrungsmittelproduktion, eher eine Farbe mehr auf der Palette. "Man sollte nicht unkritisch auf den Hype Train aufspringen", mahnt er. Und denkt schon einen Schritt weiter: Wir könnten unseren Speiseplan doch auch mit Algen nachhaltig ergänzen. Aber das ist eine andere Geschichte. +Lukas Wohner ist fluter-Redakteur. Während der Recherche zu diesem Text hat er selbstverständlich allerlei Insekten probiert. Welche ihm am besten gefallen haben? "Heuschrecken. Wenn man die nicht zu Tode frittiert, bleibt der Hinterleib leicht saftig und erinnert geschmacklich an Shrimps." +Außerdem probiert und für – mehr oder weniger – gut befunden: +Mehlwürmer und Buffalowürmer: "Schmecken nussig und sind überhaupt nicht schwabbelig, sondern kross. Frittiert sind sie fast besser als Röstzwiebeln." +Zophobas-Larven: "Im Grunde wie die Mehlwürmer, nur deutlich größer. Was ich beim Essen gemerkt habe: Die Dinger haben kleine Beinchen, die einen auch mal zwicken können." +Grillen: "Angeröstet mit etwas Knoblauch und Rosmarin ganz lecker, aber kein Hit. Erinnern mich irgendwie doch immer an Fischfutter. Mit Schoko geht's." +Seidenspinner-Puppen: "Sehen aus wie winzige Gnocchi und schmecken eigentlich nach nicht viel. Umso wichtiger ist wohl die Marinade. Vom Gefühl her wie kleine Böhnchen: Beim Kauen spürt man die Außenhaut, die beim Draufbeißen aufplatzt, der Inhalt ist ziemlich mehlig. Gefielen mir recht gut." diff --git a/fluter/disco-afrika-razanajaona-film-berlinale-interview.txt b/fluter/disco-afrika-razanajaona-film-berlinale-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/disco-boy-film-abbruzzese-rogowski.txt b/fluter/disco-boy-film-abbruzzese-rogowski.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ff8c3715d159d00c3642703929bea39cb728ca8b --- /dev/null +++ b/fluter/disco-boy-film-abbruzzese-rogowski.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Um Identität. Oder besser: die Suche danach. Aleksei kommt als "sans-papier", also ohne Ausweispapiere nach Frankreich. Ganz ohne Besitztümer wirkt er zunächst buchstäblich identitätslos. Erst durch seine Tattoos erfahren wir ein wenig über seine Vergangenheit – dass er als Waise aufgewachsen ist und später in Belarus im Gefängnis war. Im Zuge seiner Rekrutierung bekommt er vom französischen Staat eine neue Identität verpasst, inklusive eines französisch klingenden Namens. Fortan soll er sich als der Soldat Alex ganz der Armee hingeben, erst nach fünf Jahren winkt mit der EU-Staatsbürgerschaft das Versprechen auf ein neues Leben als unabhängiger Mensch. Doch Aleksei kommt nicht von den Gedanken an Jomo und Udoka los. Als sein Offizier die Truppe auffordert, beim Marschieren Édith Piafs "Non, je ne regrette rien" ("Nein, ich bereue nichts"), zu singen, verweigert er den Befehl. In diesem Moment wendet Aleksei sich gegen die Militärautorität und gegen ein französisches Selbstverständnis, für das Édith Piaf als bekannteste Chanson-Sängerin steht. Aleksei weigert sich, sein Gewissen aufzugeben, er will kein Franzose mehr werden. Er zündet seine vorläufigen Ausweispapiere an, zusammen mit seiner Uniform. + +Die Fremdenlegion oderLégion étrangèreist seit 1831 ein Teil des französischen Heers, der hauptsächlich aus freiwilligen Soldaten ohne französische Nationalität besteht. Die Regelung des sogenannten "Anonymat" sieht tatsächlich vor, dass Fremdenlegionäre zumindest zeitweise eine neue Identität annehmen, inklusive eines neuen Namens, Geburtsorts und -datums. Diese Identität kann mit dem Erlangen der französischen Staatsbürgerschaft nach fünf Jahren unter Umständen beibehalten werden. In der Vergangenheit nutzten die Soldaten das Anonymat auch zum Schutz vor Strafverfolgung. Heute wird eine mögliche kriminelle Vergangenheit der Rekruten aber zuvor geprüft. + +Getragen durch den pulsierenden Soundtrack des französischen Technomusikers Vitalic wabert das Spielfilmdebüt des italienischen Regisseurs Giacomo Abbruzzese atmosphärisch vor sich hin. Es wird gar nicht erst versucht, das teils übersinnliche Geschehen zu erklären. Stattdessen müssen die Zuschauenden sich selbst einen Reim auf die symbolträchtigen Bilder machen. Flüsse nehmen darin einen zentralen Raum ein. Zum Beispiel die Begegnung von Aleksei und Jomo im Gewässer des Nigers: Das Aufeinandertreffen ist mit einer Wärmebildkamera gefilmt, wodurch die beiden kaum voneinander zu unterscheiden sind. Beim Ringen überlagern sich ihre Körper. Und damit auch die Identitäten der beiden Personen, ihre Grenzen werden genauso fließend wie das Gewässer um sie herum. Diese abstrakten bunten Bilder des Kampfgeschehens finden ihr Echo in den späteren Club-Sequenzen: Auch hier lassen pulsierende Lichter körperliche Festschreibungen verschwimmen. + +"Disco Boy" plädiert gegen die blinde Hingabe an einen Militärapparat – und gegen die Festschreibung von Identitäten. Dass Aleksei bei einer militärischen Intervention für eine westliche Macht in Afrika nicht nur einen Menschen ermordet, sondern sich im übertragenen Sinne dessen Identität einverleibt – was für ihn letztlich auch noch befreiend wirkt –, reflektiert der Film allerdings nicht. Mehr als eine vermeintlich progressive Botschaft stehen hier die stimmungsvollen Bilder (Kamera: Hélène Louvart) und die brodelnde Musik an erster Stelle. + +"Disco Boy" wurde im Rahmen des Berlinale-Wettbewerbs uraufgeführt (und soll im Sommer 2023 in die deutschen Kinos kommen). + +Titelbild: Films Grand Huit diff --git a/fluter/diskriminierung-auf-dem-wohnungsmarkt.txt b/fluter/diskriminierung-auf-dem-wohnungsmarkt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..daeef55345a5e7a71902e86838f02fff97e4236a --- /dev/null +++ b/fluter/diskriminierung-auf-dem-wohnungsmarkt.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Seitens der Antidiskriminierungsstelle des Bundes heißt es, dass Rassismus und die Diskriminierung von Minderheiten bei der Wohnungssuche in Deutschland zum Alltag gehören. Die deutliche Erkennbarkeit der religiösen Zugehörigkeit, etwa durch das Tragen eines Kopftuchs, führe ganz klar zu Nachteilen. Eine Anfang des Jahres veröffentlichte Umfrage der Bundesbehörde bestätigt das: Rund 35 Prozent der befragten Menschen mit Migrationshintergrund gaben an, in den vergangenen zehn Jahren bereitsRassismus bei der Wohnungssuche erfahren zu haben. +Emine Yilmaz* suchte eine Wohnung für sich und ihre Mutter. Yilmaz ist Juristin, in Deutschland geboren und aufgewachsen. Im Laufe der Wohnungssuche wurde sie regelmäßig auf ihre türkische Herkunft angesprochen. "Als ich mich am Telefon mit den Vermietern unterhielt, schien alles in Ordnung. Dies änderte sich allerdings schlagartig, als ich vor ihnen stand", sagt sie. Während der Wohnungsbesichtigungen wurde sie immer wieder zum Islam oder ihrer Meinung zum türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan gefragt. "Ich war schockiert über die Tatsache, dass die Menschen ihren Rassismus ganz offen preisgeben. Sie fragten nach meiner Mutter und ob sie ein Kopftuch tragen würde. Sie gaben ganz offen zu, dass sieKopftuch tragenden Frauenkeine Wohnung vermieten würden", so Yilmaz. Ähnlich wie der Juristin und ihrer Mutter geht es vielen Menschen in Deutschland. Andere werden hingegen gar nicht erst zu einem Besichtigungstermin eingeladen. +Dabei ist diese Form von Diskriminierung sogar strafbar – wenn man sie eindeutig nachweisen kann, etwa in Form von rassistischen SMS, E-Mails oder Zeitungsannoncen. Als etwa Hamado Dipama, der aus Burkina Faso stammt, im Laufe der Wohnungssuche eine rassistische Annonce auffiel, zog er vor Gericht. Der 81-jährige Vermieter, der seine Wohnung "nur an Deutsche" vergeben wollte, musste laut Urteil des Augsburger Amtsgerichts, das im vergangenen Dezember verkündet wurde, 1.000 Euro Entschädigung an Dipama zahlen. Während der Verhandlung beschimpfte der Mann Dipama, nannte ihn unter anderem "Herr Obama" und meinte, schlechte Erfahrungen "mit Türken" gehabt zu haben. +Den Rassismus auf dem Wohnungsmarkt kennen auch Omar*, Yassir* und Ali* gut. Die drei Studenten aus Syrien, Ägypten und Palästina hatten die Wohnungssuche bereits aufgegeben, übernachteten bei Freunden und waren frustriert. Dann trafen sie Ayub Akbari*, der seine Ersparnisse in ein älteres dreistöckiges Haus investiert hatte. Akbari suchte Mieter. Irgendwann meldeten sich die arabischen Studenten bei ihm. Er stellte ihnen sofort ein Stockwerk für eine WG zur Verfügung. Auch mit der Miete kam er ihnen entgegen. Im Gegenzug sollten ihm die Nachwuchsingenieure hier und da bei kleinen Bauarbeiten helfen. "Wir sind sehr dankbar und machen das gerne. Ayub hat uns Kopf und Kragen gerettet", sagt Omar. Über ihre Erlebnisse auf dem Stuttgarter Wohnungsmarkt können sie heute lachen. "Wir wurden beschimpft und angeschrien. Warum? Weil wir Araber sind.Weil wir Muslime sind. Es gab keinen anderen Grund", glaubt Ali. +Ayub Akbari kann den Unmut seiner Mieter nachvollziehen. Vor zwei Jahrzehnten kam er als Geflüchteter aus Afghanistan nach Deutschland. Damals fand er selbst nur schwer eine Wohnung. Den Alltagsrassismus spürt er auch heute weiterhin, nun kommt er allerdings von den potenziellen Mietern. "Manche wundern sich, dass ich überhaupt ein Haus besitze. Sie fragen, wie ich mir das leisten könne und ob ich illegale Geschäfte betreibe", sagt Akbari. Mittlerweile leben in allen Stockwerken seines Hauses Menschen mit Migrationshintergrund. Akbari will nicht nur Geld verdienen, wie er betont, sondern in seiner Position als Vermieter auch den Menschen entgegenkommen und helfen. "Ich weiß, wie schwer sie es haben.Egal ob Ingenieur, Student oder arbeitsloser Geflüchteter. Der Rassismus trifft sie alle." +* Namen geändert + diff --git a/fluter/diskriminierung-aufgrund-der-hautfarbe.txt b/fluter/diskriminierung-aufgrund-der-hautfarbe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..788c68f985f22d581ee2ad6df4aacc6746758494 --- /dev/null +++ b/fluter/diskriminierung-aufgrund-der-hautfarbe.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Wenn man in Deutschland blonde Haare hat, weiße Haut, blaue Augen, dann existiert man nicht als Gegenstand im öffentlichen Streit. Ich arbeite seit Jahren als Journalist: Die meiste Zeit davon wurde in Deutschland über Ausländer, Araber, Türken, Muslime, Roma, im Allgemeinen über Nichtweiße diskutiert. In anderen Ländern mit mehrheitlich weißer Bevölkerung sieht es nicht anders aus. Diese Dauerpräsenz in Medien, im Schulunterricht, in ganz alltäglichen Gesprächen überträgt sich auf die Körper der betroffenen nichtweißen Menschen. Das ist ätzend, und es nervt. Ich kann in manchen Geschäften nicht mehr in Ruhe einkaufen, weil mich Sicherheitsbedienstete durch die Regalreihen verfolgen. Sie sehen meinen Körper und denken: Der will was klauen. Wenn ich zufällig einen Kapuzenpulli trage, ist dieses Misstrauen besonders zu spüren. +Oft wird mir entgegnet: Jeder Mensch möchte immer das Gegenteil davon haben, was er gerade besitzt. Diese Formel gelte auch für den eigenen Körper. Deswegen gingen auch so viele Weiße ins Solarium. Ich bin aber der Meinung, dass es einen Unterschied macht, ob man sich zwei Minuten auf die Sonnenbank legt oder ätzende Chemikalien auf die eigene Haut schmiert, sich stundenlang darum kümmert, glatte und helle Haare zu haben, oder blaue Kontaktlinsen trägt. Das eine hat vielleicht etwas mit Mode und Eitelkeit zu tun, das andere mit einer strukturellen, historisch gewachsenen Diskriminierung von Minderheiten und benachteiligten Gruppen. Das Problem heißt hier unter anderem auch Rassismus. Ich bin aber der Überzeugung, dass wir uns alle in unseren Körpern besser fühlten, wenn wir offen und ehrlich über die damit verbundenen Privilegien und Diskriminierungen reden würden.Weil sie die vermeintliche Norm des weißen Körpers in der Öffentlichkeit nicht erfüllen, müssen Nichtweiße immer daran denken, dass sie "anders" sind. Diese, wie ich sie nenne, Hautfarbenskala (weiß = super; schwarz = weniger gut) ist über Jahrhunderte gewachsen und hat sich an unsere Körper angeheftet. Die Sklaverei, der Kolonialismus, die Ausbeutung des globalen Südens und die Arbeitsmigration haben dazu geführt, dass wir Menschen mit bestimmten Körpermerkmalen positive Attribute zusprechen. Als Weißer gilt man als weniger angsteinflößend, zumindest wird man im Supermarkt seltener vom Detektiv verfolgt. Wie unsere Körper gelesen werden, hängt an mehreren Faktoren – zum Beispiel am Geschlecht oder am Habitus, also wie man sich gibt, wie man spricht und welchen "Stallgeruch" man von der Familie mitbekommen hat. Doch die Hautfarbe und die offensichtliche Herkunft sind Faktoren, die sehr starken Einfluss darauf haben, wie unsere Körper und damit wir als Individuen wahrgenommen, ernst genommen und ob wir unvoreingenommen behandelt werden. + diff --git a/fluter/diskussion-um-linken-populismus-chantal-mouffe.txt b/fluter/diskussion-um-linken-populismus-chantal-mouffe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c6acfc8cabd5287dbed9e31ba176cef1c135b16b --- /dev/null +++ b/fluter/diskussion-um-linken-populismus-chantal-mouffe.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Die Schlange vor dem altehrwürdigen Kreuzberger Punk-Club SO36 ist so lang ... + +Die Rechten sind damit erfolgreich. Und die Linken? Sind ratlos. Vielleicht weiß ja die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe Rat, die heute Abend im SO36 zu Gast ist. Sie plädiert "für einen linken Populismus". So heißt auch ihr kürzlich erschienener Essay (Suhrkamp), den sie weniger als Analyse denn als "politische Intervention" verstanden wissen will. Denn für Mouffe hat der Populismus zu Unrecht ein schlechtes Image, und die Linke täte gut daran, sich sein Handwerkszeug stärker zunutze zu machen. + +In schnellem Vortrag erklärt sie ihre Ideen: Wir – Westeuropäer*innen, das ist Mouffes Bezugsrahmen – leben in einer Postdemokratie. Seit vor zwei Jahrzehnten sogar die sozialdemokratischen Parteien neoliberale Ideen übernommen haben, hätten die Menschen keine echte Alternative mehr. Dazu kommt die wachsende Ungleichverteilung des Wohlstands. +... dass sie um die Ecke der Oranienstraße geht .... + +Als schließlich durch dieFinanzkrise von 2008 die neoliberale Wirtschaftspolitik in die Kriserutschte, kam es zum "populistischen Moment", wie Mouffe ihn nennt: Die Menschen verlangen wieder nach Alternativen,was vor allem den Rechten Auftrieb bringt. +Wie nun ein linker Populismus aussehen könnte, das umreißt Mouffe eher vage und bewusst ohne konkrete Inhalte. Populismus ist für sie vor allem eine Methode, eine "diskursive Strategie zur Schaffung von Konfliktlinien". "Wir gegen sie", darauf kommt es an, aber eben nicht gegen "die Ausländer" und auch nicht, wie die Linke das früher gemacht hat, nur ausschließlich entlang von Klassengrenzen und gegen das Kapital. + +Auch sollten Linke bitte nicht immer so rationalistisch sein. Die Wirkmacht von Emotionen und Affekten würde gern unterschätzt und den Rechten überlassen – ein Fehler für Mouffe. Und: Veränderung geht nur in der Regierung. Radikalopposition gegen das System lehnt sie ab, das Ziel müsse es natürlich sein, Wahlen zu gewinnen und dann auch wirklich was zu verändern. Die liberale Demokratie will Chantal Mouffe nämlich nicht angreifen oder abschaffen, sondern radikalisieren. +... und kurz vor der Skalitzer Straße erst aufhört - also irgendwo da bei den Bäumen. + +Als Diskussionspartnerin von Chantal Mouffe sitzt Katja Kipping auf dem Podium, die Co-Vorsitzende der Linkspartei. Doch sie nimmt an diesem Abend nicht die Rolle derjenigen ein, die eine grundsätzliche Vereinbarkeit von Linkssein und Populismus infrage stellt; die noch mal tiefer bei Mouffe nachbohrt, wie sie die Risiken von linkem Populismus umgehen will, etwa dass er die grell geführten Debatten noch weiter aufheizt und damit den Rechten hilft, dass er die gesellschaftliche Spaltung möglicherweise vertieft; die wissen will, wie eine Konstruktion von Feindeslinien mit einem linken pluralistischen Gesellschaftsbild zusammengeht. + +Immerhin: Auf einige Kritikpunkte an ihren Ideen war Mouffe vorab schon selbst eingegangen: Wie kann man populistisch wirken, ohne dass es ins Autoritäre, Undemokratische umschlägt? Auf jeden Fall solle man das "Volk", das im Wort Populismus ja direkt enthalten ist, nicht von der Abstammung her denken, sagt Mouffe, sondern vom "Demos", als politische Konstruktion. +Verschiedene Gruppen, Feministinnen, Arbeiterklasse, die Umweltbewegung usw. sollten sich entlang der geschaffenen Konfliktlinien zusammentun. Dabei bräuchten sie möglichst ein Symbol, um das herum sie sich konstituieren können, und das könne auch eine, Achtung!, Führungspersönlichkeit sein. Das sei nicht per se undemokratisch, denn so eine Führungsperson müsse ja nicht autoritär auftreten, sie könnte genauso gut ein "Primus inter Pares" sein, dafür nannte Mouffe übrigens den Chef der britischen Labour Party, Jeremy Corbyn, als Beispiel. Jegliche Zweifel konnte sie damit sicher nicht zerstreuen – sicher ist jedoch, dass die Diskussion um linken Populismus noch nicht zu Ende ist. + +Chantal Mouffe: Für einen linken Populismus, Suhrkamp 2018, 111 Seiten, 14 Euro +Titelbild: Marcus Hoehn/laif diff --git a/fluter/displaced-film-ryba-kahn-interview.txt b/fluter/displaced-film-ryba-kahn-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..98ca4c432d9e88f0edffba7a6180f2b8557941e2 --- /dev/null +++ b/fluter/displaced-film-ryba-kahn-interview.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +fluter.de: Ihr neuer Dokumentarfilm trägt den Titel "Displaced". Als"Displaced Persons"wurden nach dem Zweiten Weltkrieg Menschen bezeichnet, die etwa aus ihrer Heimat deportiert oder vertrieben worden waren. Meinen Sie mit dem Titel sich selbst? +Sharon Ryba-Kahn: Ich glaube, dass ein guter Titel mehrere Geschichten beinhaltet. Und der Film erzählt ja nicht nur meine Geschichte. Für mich ist "displaced" ein Gefühl, aber es ist auch eine Realität. Was das Gefühl betrifft, meine ich mich selbst auch, aber natürlich bin ich keine "Displaced Person" – anders als die erste Generation(Anm. d. Red.: Mit der ersten Generation sind die Shoah-Überlebenden gemeint, die dritte Generation sind ihre Enkel). "Heimat" ist kein Wort, mit dem ich mich identifizieren kann. Das bedeutet ja unter anderem, dass die Familie an einem Ort geboren ist und dort immer noch lebt. Ein heiler Ort, das entspricht nicht meiner Realität. +Ihr Vater, der Sohn zweier Holocaust-Überlebender, hat mit Ihnen nie über die Shoah gesprochen – auch nicht nach dem Tod seines Vaters. Woran liegt das? +Wenn man meinen Vater im Film sieht, ist das oftmals überraschend. Er wirkt häufig emotional abgeschnitten. Als Zuschauer wünscht man sich wahrscheinlich, dass er mich einfach mal in den Arm nimmt. Ich glaube, dass er diesen Luxus selbst nie hatte. Seine nüchterne, rationale Art und Weise ist ein Überlebensmechanismus. Ob das der richtige Weg ist, muss das Publikum entscheiden. +Sie selbst tragen Ihre Gefühle mehr nach außen. In der "Jüdischen Allgemeinen" haben Sieletztes Jahr gesagt, dass die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft in Deutschland Sie lange wütend gemacht hat. Diese Wut spürt man auch im Film. Woher kommt dieses Gefühl? +Das ist das Gefühl der Ungerechtigkeit, der eigenen geschichtlichen Unsichtbarkeit und das Privileg der anderen, die Geschichte einfach vergessen zu können – diese Mischung erzeugt Wut. Wut ist oftmals auch mit Hilflosigkeit verbunden. Vielen Menschen macht sie Angst, deswegen wird "Displaced" oft als unbequemer Film empfunden. Seitdem ich den Film gemacht habe, ist meine grundlegende Gefühlslage aber nicht mehr so wütend wie vorher. +Wieso? +Ganz einfach, weil ich mit "Displaced" etwas laut gesagt habe, was ich lange nur gefühlt habe. Ich habe eine Sichtbarkeit für Gefühle geschaffen, die vorher nicht sichtbar waren. Das Großartige am Medium Film ist ja, dass es Menschen, Situationen und auch Gefühle ganz genau unter die Lupe nehmen kann. Und wenn Sie als Zuschauerin dasitzen und die Wut fühlen, dann habe ich meinen Job als Filmemacherin richtig gemacht. + + +In einer Szene sagt eine Freundin zu Ihnen, sie hätte Sie während Ihrer Schulzeit nie als Jüdin wahrgenommen. Das hat mich an den Spruch "I don't see color" erinnert, den viele von Rassismus Betroffene als eine Bagatellisierung ihrer Rassismuserfahrungen wahrnehmen. Ging es Ihnen im Gespräch mit Ihrer Freundin ähnlich? +Ja. In diesem Moment passieren mehrere Dinge gleichzeitig. Zum einen weiß man, dass man nicht als das gesehen wird, was man ist. Besonders schmerzhaft ist das bei einer langjährigen Freundin. Gleichzeitig ist man es als jüdischer Mensch in Deutschland gewohnt, solche Sachen zu hören. Die Konsequenz ist, dass man einen inneren Monolog mit sich selbst führt. Darin sagt man sich, dass die Person es nicht böse gemeint hat. Ich würde behaupten, dass das Gegenüber die Tragweite seiner eigenen Worte oft nicht einmal erkennt. Das ist auch das Traurige daran. Es ist ein Privileg, nicht hingucken zu müssen. +Sie sprechen sich dafür aus,dass nichtjüdische Deutsche sich mehr mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinandersetzen, etwa in der Schule. Was läuft denn Ihrer Meinung nach gerade falsch? +In Deutschland wünscht man sich oft eine sehr aufgeräumte Attitüde. Man würde am liebsten auch mit Emotionen aufgeräumt umgehen, nichts fühlen, alles sortieren können, alles schön in Schächtelchen verpacken. Man schickt die Kinder einmal in die Mahn- und Gedenkstätten nach Auschwitz oder nach Sachsenhausen, und manchmal bringt man ihnen – wenn es noch welche gibt – einen Überlebenden vorbei, und voilà, das war's dann. +Was ist das Problem an diesem Ansatz? +Natürlich kann eine Gedenkstätte wie Auschwitz, Ravensbrück oder Sachsenhausen oder auch ein Überlebender mit seinen Erzählungen etwas leisten, was Unterricht nicht leisten kann: die Präzisierung der Geschichte. Die ist wichtig, um das automatisierte, das gezielte Morden der Shoah zu verstehen. Aber wenn man die Konsequenz dessen, was die Shoah bedeutet, nicht innerlich zulassen kann, haben die Schülerinnen und Schüler nur einen noch eingeschränkteren Zugang zur Shoah. Allerdings müssten die Lehrer und Lehrerinnen dieses Gefühl für sich selbst zulassen, denn erst dann können sie es auch vermitteln. Das wiederum wird schwierig, wenn man sich nicht mit der Rolle der eigenen Familie während des Holocaust auseinandergesetzt hat. +Mit "Displaced" wollten Sie Antworten auf viele Fragen suchen, etwa zu Ihrer eigenen Identität und Ihrem Verhältnis zu Deutschland. Haben Sie welche gefunden? Wenn ja, was hat das mit Ihnen gemacht? +Ich glaube, dass sich bei dem Akt, den Film zu machen, ein Knoten gelöst hat. Ich wollte wissen, wer mein Vater im Kontext dieser großen Geschichte ist, wie genau ihn die Shoah beeinflusst hat, und somit, wie sie auch mich beeinflusst hat. Und ich wollte auch wissen, was passiert, wenn ich mich der Geschichte im Kontext meines Lebens in Deutschland stelle. Eines der Ergebnisse dieses Filmes ist, dass er den massiven Unterschied zwischen dem jüdischen Diskurs und dem der Mehrheitsgesellschaft auf die Leinwand bringt. Plötzlich gibt es mehr als "nur" mein Narrativ oder eine Reihe von Geschichten und Erfahrungen, es gibt nun ein bleibendes Dokument, einen Film, und das ist extrem berührend und befreiend. + +"Displaced" startet am 4. November in den deutschen Kinos. +Titelbild: Tondowski Films diff --git a/fluter/do-you-know-this-guy.txt b/fluter/do-you-know-this-guy.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/doch-chkae-wacken-metal-maerchen.txt b/fluter/doch-chkae-wacken-metal-maerchen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f148cdace88e4b452daa547dea4e8fb2f8c004c6 --- /dev/null +++ b/fluter/doch-chkae-wacken-metal-maerchen.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Hier grillt der Chef noch selbst: Für seine Stargäste Hing, Vichey und Theara (v.l.) aus Phnom Penh wendet Wacken-Gründer Thomas Jensen die Thüringer +Auch das Bandgefüge zeigte Risse. Gitarrist Vichey, der kreative Kopf, begann für andere Gruppen zu spielen, deren Musik ihm nichts bedeutete. Theara, der schon im Heim manisch-depressive Phasen hatte, kam immer seltener zu Proben und hing wieder mit alten Freunden ab, die auf der Straße Crystal Meth verkaufen. Dann kam Timon Seibel. Der 39-jährige Sozialarbeiter aus der Schweiz betreute die Jungs in einem NGO-Kinderheim in Phnom Penh und ist seitdem so etwas wie ihr Manager geworden. Zum Krisenmeeting lud er auch Vanntin Hoeurn ein, einen der ersten Metal-Musiker des Landes. Der Veteran machte ihnen klar, dass die Aussicht, vielleicht doch noch eines Tages auf dem Wacken aufzutreten, eine einmalige Chance in ihrem Leben war. "Ihr vertretet nicht nur unsere Szene, ihr vertretet das ganze Land!" +Seine Worte fruchteten: Die Band raufte sich zusammen, spielte sogar ein erstes Auslandskonzert in Vietnam. Theara zog zu einer Gastfamilie in einen Vorort von Phnom Penh, abseits vom kriminellen Milieu, in das ein junger Mann ohne Perspektive hier schnell abrutschen kann. Dann, im Juni 2019, nur knapp einen Monat vor Festivalbeginn, plötzlich die gute Nachricht: Doch Chkae dürfen zum 30-jährigen Wacken-Jubiläum nach Deutschland einreisen. Treibende Kraft hinter der Zusage war Miriam Hensel. Die Hamburgerin arbeitet seit 16 Jahren für das Festival und hat bei Projekten wie den global stattfindenden "Metal-Battles" einige Erfahrung mit vertrackter Visa-Bürokratie gesammelt. +Ende Juli treffen Doch Chkae in Hamburg ein. Alles wirkt neu. Die Parks sind sauber. Die Autos poliert. Statt der räudigen Straßenköter von Phnom Penh, denen die Band ihren Namen "Hundeleben" verdankt, begegnen ihnen hier nur shampooniert wirkende Prachtexemplare. "Die lassen sogar die Tauben am Straßenrand in Ruhe", wundert sich der erst 16-jährige Pich, der bei Doch Chkae Bass spielt. Die Band hat T-Shirts mit ihrem Logo mitgebracht, die Theara in der Handarbeitswerkstatt einer NGO selbst genäht hat. + +Im Stahlbad der Gefühle: Doch Chkae spielen zur Primetime auf der ziemlich postapokalyptischen "Wasteland Stage". 2.000 Metalheads jubeln ihnen zu + +Zwischen den Auftritten ihrer Lieblingskünstler, die sie bislang nur auf YouTube sehen konnten, werden sie selbst immer wieder von Besuchern angesprochen, die durch die Medien auf ihre Geschichte aufmerksam geworden sind. "Mein Herz schlägt die ganze Zeit. Ich weiß gar nicht, was ich auf der Bühne sagen soll. Dieser Auftritt kann unser ganzes Leben verändern", sagt Vichey. +Zur Peaktime um zehn Uhr sollen Doch Chkae auf der "Wasteland Stage" spielen, einer postapokalyptisch dekorierten Rampe, die mit ihren Wellblechwänden und gestapelten Autoreifen manchen Ecken ihrer Heimatstadt ähnelt. In Kambodscha treten Doch Chkae selten vor mehr als 20 Menschen auf. Zu ihrer Wacken-Show kommen gut 2.000. Das erste "Hello Wacken!" geht Theara nur zaghaft über die Lippen. Doch schon als der erste Applaus aufbrandet, löst sich die tagelang angestaute Spannung. Die Wut der von der Gesellschaft Ausgestoßenen, aber auch die Freude, endlich hier spielen zu dürfen, überträgt sich auf die Menge. Theara brüllt sich die Seele aus dem Leib, Bassist Pich tänzelt breitbeinig von einem Bein auf das andere. Drummer Hing wirft seine Sticks in die Menge, obwohl er sich ein zweites Paar nicht leisten kann. "This is our dream, thank you so much!!!", ruft Theara, geblendet von Scheinwerfern und schweißüberströmt. +Nach dem letzten Song lässt sich die Band noch mit der kambodschanischen Flagge fotografieren, die jubelnde Menschenmasse im Hintergrund. Das Bild geht noch in derselben Nacht in ihrer Heimat viral. Immer wieder checken die Jungs ihre Handys: über 700 Shares! Ein Rockstar-Moment. "Wir wussten nicht, ob überhaupt jemand kommt", sagt Theara. "Und dann waren es so viele, und sie haben immer wieder ‚Zugabe, Zugabe' gerufen. Das werde ich nie vergessen!" +Pich, Theara, Vichey und Hing (v. r.) sahen sich das ganze Wacken an. Immer dabei: Timon Seibel (l.), mittlerweile so etwas wie der Manager der Band +Als die Band am Sonntag ihre Zelte abbricht, regnet es. "Ein Teil von uns will hierbleiben. Wenn wir zurückgehen, sind wir wieder ganz normale Leute, die keiner kennt", sagt Vichey. Auch Jobs und Geld haben sie in Kambodscha weiterhin nicht. Dafür einen Plan: Zusammen mit der Wacken Foundation, die seit 2008 Nachwuchskünstler fördert, und der NGOMoms Against Poverty,deren Schule die Bandmitglieder besuchten, wollen sie in Phnom Penh ein Musikzentrum aufziehen. "Es wird die erste Musikschule in Kambodscha sein, bei der auch Metal auf dem Programm steht", sagt Vichey stolz. "Wir werden dort unser erstes Album aufnehmen, aber auch selbst unterrichten." Daneben soll es Buchhaltungs- und Managementworkshops geben. Ein Spendenaufruf an die globale Metal-Familie ist bereits in Arbeit. +"Wir müssen so oder so zurück. Nicht dass wieder jemand denkt, wir wollen uns hier in Deutschland verstecken", sagt Theara, der auf seinem gepackten Koffer sitzt und beobachtet, wie einige Kinder aus der Gegend denFestivalmüll einsammelnund auf schwankende Fahrräder packen. Nach dem Mittagessen, während die anderen Bands auf das Shuttle zum Flughafen warten, machen sich die vier selbst auf den Weg, durchkämmen den Acker, staunen, was für gute Stücke die Leute hier zurücklassen. Einiges sammeln sie ein. Timon Seibel lacht: "Wir sind ohne Zelte und Schlafsäcke angereist. Nun sind wir für das nächste Mal komplett ausgerüstet." + +Fotos: Dominik Probst diff --git a/fluter/doch-das-boese-gibt-es-nicht-rasoulof-todesstrafe-iran.txt b/fluter/doch-das-boese-gibt-es-nicht-rasoulof-todesstrafe-iran.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c34402ea7867a50e80329744a3ac75c7026274a7 --- /dev/null +++ b/fluter/doch-das-boese-gibt-es-nicht-rasoulof-todesstrafe-iran.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +In der Kombination der vier Geschichten deutet sich eine Systemkritik an, die sich nicht nur auf das Thema Todesstrafe zu beschränken scheint. Müssen in einem autoritären System zwangsläufig alle Menschen mitschuldig werden – oder lässt sichmit einem "Nein" im Kleinen schon grundsätzlicher Widerstand leisten? Wenig überraschend wurde "Doch das Böse gibt es nicht" imautoritär regierten Iranverboten. Nachdem der Film auf derBerlinale2020 den Goldenen Bären gewann, kursiert er aber laut Regisseur Mohammad Rasoulof wie seine früheren Werke schon auf dem iranischen Schwarzmarkt. +Der Iran führtelaut Amnesty Internationalim Jahr 2020 mal wieder die meisten dokumentierten Hinrichtungen weltweit durch (noch deutlich höher liegen die Zahlen wohl in China, aber hier hält das Regime sie geheim). Offiziell wurden im Iran im vergangenen Jahr 246 Urteile vollstreckt. Trotz der Pandemie waren es kaum weniger als in den Vorjahren, und es ist von einer höheren Dunkelziffer auszugehen. Todesurteile können für Mord, Vergewaltigung, aber auch für Drogenhandel, Homosexualität oder Gotteslästerung gefällt werden – und das sogar bei Minderjährigen. +Als klassischer Episodenfilm mit vier voneinander unabhängigen Kurzfilmen. Dabei setzt Rasoulof etwas zu sehr auf melodramatische Zuspitzungen und Plot Twists. Die Ausnahme von der Regel: Beim Übergang von der ersten zur zweiten Episode – wenn sich der Film schockartig vom Familiendrama in eine Thriller-Handlung stürzt – funktioniert das ganz hervorragend. + +Die iranischen Filmschaffenden leisten seit vielen Jahren Erstaunliches. Regisseur:innen wieJafar Panahi, Asghar Farhadi, Rakhshan Banietemad oder eben Mohammad Rasoulof gelingt es immer wieder, an der Zensur vorbei kritische Sozialdramen zu drehen. Und das, obwohl einige von ihnen Berufsverbot und Hausarrest haben oder – wie Rasoulof – sogar zu einer Haftstrafe verurteilt worden sind. "Propaganda gegen die iranische Regierung" lautete der Vorwurf bei Rasoulof. "In meinem Fall liegt es wahrscheinlich auch an der internationalen Aufmerksamkeit, dass ich meine Haftstrafe bisher nicht antreten musste",sagte er im Frühjahr 2021 dem "Tagesspiegel". "Es ist sehr undurchsichtig, wie solche Entscheidungen getroffen werden." +Liebhaber:innen des iranischen Kinos, die sich vom düsteren Thema und der Filmlänge von 150 Minuten nicht einschüchtern lassen. +Mit einem Happy End rechnet man hier wirklich nicht. Und doch endet zumindest eine Episode mit einer Autofahrt, bei der ein junges Paardie italienische Partisanenhymne "Bella Ciao"dem Sonnenaufgang entgegenschmettert – und kurz so etwas wie Hoffnung spürbar ist. + +"Doch das Böse gibt es nicht" läuft ab sofort in den deutschen Kinos. + diff --git a/fluter/doch-licht-am-ende-des-tunnels.txt b/fluter/doch-licht-am-ende-des-tunnels.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..61ebb00bf648046b5f2bdb7fdc49786710351074 --- /dev/null +++ b/fluter/doch-licht-am-ende-des-tunnels.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Steven Pinker: Gewalt ist im Laufe der Geschichte immer weiter zurückgegangen. Und zwar alle möglichen Formen der Gewalt: Kriege, Morde, Folter, Hinrichtungen, Vergewaltigungen, häusliche Gewalt. Diese Dinge gibt es natürlich noch immer. Aber wir dürften heute in der friedlichsten Epoche leben, seit unsere Spezies existiert. +Wie kommt man auf so eine Idee? +Es begann damit, dass ich vor ein paar Jahren auf zwei erstaunliche Dinge gestoßen bin. Zum einen erfuhr ich, dass früher in Stammeskriegen deutlich mehr Menschen starben als in den Kriegen der Moderne, selbst als in den beiden Weltkriegen. Natürlich nicht in absoluten Zahlen, aber in Relation zur Gesamtbevölkerung. Das heißt: Früher war es wahrscheinlicher, im Krieg zu sterben. Zum anderen lernte ich, dass Mordraten in Europa enorm gesunken sind. Die Wahrscheinlichkeit, ermordet zu werden, war im Mittelalter und in der frühen Neuzeit um ein Vielfaches höher als im 20. Jahrhundert. Und wir wissen natürlich auch, dass es früher barbarische Praktiken gab, die man über Jahrhunderte als ganz selbstverständlich ansah, aber irgendwann abgeschafft hat. Zum Beispiel Menschenopfer, die Sklaverei, das Verbrennen von Ketzern oder andere sadistische Hinrichtungen vor johlendem Publikum. Im Dezember 2007 veröffentlichte ich darüber einen kurzen Text in einem Internetforum. Die Überschrift lautete: "Was macht Sie optimistisch?" Die Reaktionen waren sehr überraschend. +Wieso? +Historiker, Politikwissenschaftler und Psychologen kontaktierten mich. Und ich erfuhr: Es gibt noch sehr viel mehr Beweise für den Rückgang von Gewalt! Wenn man beispielsweise berechnet, wie viele Menschen in den vergangenen Jahrzehnten durch Krieg und Völkermord umkamen, geht die statistische Kurve steil nach unten. Kriege zwischen Großmächten, Kriege zwischen reichen Ländern, Kriege in Westeuropa - das war über Jahrhunderte die Norm, nun ist es ganz verschwunden. Selbst Gewalt in der Ehe, Missbrauch von Kindern, Prügelstrafen und Hassverbrechen sind zurückgegangen. Mir wurde klar: Ich bin auf eine große Geschichte gestoßen - die eigentlich nie erzählt wird. Ich nahm mir vor, die Menschen auf diese ungewöhnlichen Fakten aufmerksam zu machen. Und da ich Psychologe bin, wollte ich herausfinden, warum wir friedlicher geworden sind, wenn sich unsere Natur nicht geändert hat. +Warum fällt es so schwer, Ihnen zu glauben? +Weil wir alle gewohnt sind, die Welt durch die Brille der Medien zu sehen. Das führt systematisch in die Irre. Wenn Sie die Fernsehnachrichten einschalten, erfahren Sie immer nur von Dingen, die passiert sind. Nie von Dingen, die nicht passiert sind. Sie werden keinen Reporter sagen hören: "Ich berichte live aus einer Großstadt, in der kein Bürgerkrieg herrscht." Oder: "Ich stehe vor einer Schule, in der niemand Amok gelaufen ist." Solange die Gewaltrate nicht auf null gesunken ist, wird es immer genügend Grausamkeiten geben, um die Abendnachrichten zu füllen. Aber es wäre ein Trugschluss, daraus statistische Trends abzuleiten. +Und was ist mit Auschwitz, Stalingrad, Hiroshima? In der Schule lernen wir: Der Zweite Weltkrieg war das bisher ­blutigste Kapitel der Menschheitsgeschichte. +Wie können wir behaupten, er sei das blutigste Kapitel gewesen, ohne ihn mit anderen Kapiteln zu vergleichen? Auch früher haben sich Menschen Unfassbares angetan. Die europäischen Religionskriege, die Invasionen von Dschingis Khan, die Raub­züge von Tamerlan, viele Bürgerkriege und der Untergang ganzer Imperien in China, die Dezimierung der amerikanischen ­Ureinwohner, der Handel mit Sklaven aus Afrika … +Woher wollen Sie so genau wissen, wieviel Mord und Totschlag es damals gab? +Selbst für sehr frühe Phasen der Menschheit besitzen wir forensische Nachweise. Erschreckend viele prähistorische Skelette weisen Verletzungen auf, die auf einen gewaltsamen Tod schließen lassen: eingeschlagene Schädel, Schnittspuren an Gliedmaßen, Pfeilspitzen, die noch in den Knochen stecken. Ich habe mich aber vor allem mit den vergangenen Jahrhunderten beschäftigt. Und hier gibt es schriftliche Dokumente. Schon im Mittelalter begann man in zahlreichen Weltregionen, Morde akribisch zu dokumentieren, Historiker haben die Zahlen später tabellarisch erfasst. Außerdem ließen Herrscher immer wieder Volkszählungen durchführen, um Steuern zu erheben. Sie können sich sicher sein: Es fiel ihnen auf, wenn plötzlich ein paar Hunderttausend Steuerzahler fehlten. +So zuverlässig wie das statistische Bundesamt sind diese ­Quellen nicht … +Aber die Gewaltraten gehen nicht nur ein bisschen zurück, sondern massiv. Selbst wenn wir annehmen würden, dass die historischen Quellen um das Doppelte oder Dreifache danebenliegen - den logarithmischen Kurven würde man das kaum ­ansehen. +Warum sind wir friedlicher geworden? +Es gibt nicht nur eine, sondern eine ganze Reihe von Antworten. So haben zum Beispiel demokratische Regierungen dafür gesorgt, dass sich Menschen nicht mehr wahllos die Köpfe einschlagen. Der Aufstieg des Handels führte dazu, dass Menschen lebendig mehr wert waren als tot, denn mit Leichen macht man keine guten Geschäfte. Sobald Menschen anfangen zu handeln, ist es plötzlich billiger, Dinge zu kaufen als zu stehlen. Auch die Alphabetisierung hat beim Rückgang der Gewalt eine Rolle gespielt. Wenn wir Romane und Zeitungen lesen, lernen wir, uns in andere Menschen hineinzuversetzen und für fremdes Leid empfänglich zu werden. Und der Aufschwung von Bildung und Wissenschaft führte wiederum dazu, dass wir Gewalt - so wie Hunger oder Krankheit - als ein Problem begreifen konnten, das wir lösen wollen. +Sie haben Ihre Gewalt-Studie vor vier Jahren veröffentlicht. Seitdem scheint alles nur noch schlimmer geworden zu sein: Bürgerkrieg in der Ukraine, der Terror des "Islamischen Staats", Millionen Menschen auf der Flucht. Immer noch ­sicher, dass Sie sich nicht verrechnet haben? +Wenn man die Welt in den Nachrichten sieht, erscheint es doch immer so, als würde alles nur noch schlimmer. Aber das ist eine Illusion! Sie haben recht, Putin und die Islamisten haben Fortschritte von ungefähr zwölf Jahren ausradiert: Die Todesrate durch Bürgerkriege ist wieder leicht angestiegen. Aber sie ist nicht in Ansätzen so hoch wie in den 1960ern, 1970ern, 1980ern oder den frühen 1990ern, von den 1940ern ganz zu schweigen. Und alle anderen Gewaltraten - beispielsweise Mord, Vergewaltigung, Kindesmissbrauch, Todesstrafe - fallen weiter. +Der ewige Friede kommt also doch? +Gewalt wird niemals ganz aus der Welt verschwinden. Auf unserem Planeten leben sieben Milliarden Menschen. Es wird immer junge Kerle geben, die in einer Kneipe durchdrehen oder eine "Volksfront zur Befreiung von Was-auch-immer" gründen, um ihrem Lebensfrust Ausdruck zu verleihen. Aber die Gewalt kann auch in Zukunft weiter zurückgehen. +Und wir können uns zurücklehnen, die Weltgeschichte erledigt den Job? +Diese Frage ist albern! Aber ich höre sie nicht zum ersten Mal. Wenn ich Ihnen jetzt sagen würde: "Ich prognostiziere, Ihre Zähne werden heute Nacht geputzt sein, wenn Sie ins Bett gehen." Was würden Sie antworten? "Toll! Das heißt, ich muss meine Zähne heute nicht putzen"? Die Welt ist friedlicher geworden, weil sich Menschen in der Vergangenheit erfolgreich dafür eingesetzt haben. Und wir können die Welt noch friedlicher machen. +Irgendwelche Tipps, wie das gehen könnte? +Aktivisten sollten aufhören, ständig zu jammern, dass die jüngste Krise die allerschlimmste sei, dass es uns so schlecht gehe wie nie und dass die Welt sowieso dem Untergang geweiht sei! Damit vermittelt man anderen Leuten doch nur das Gefühl, dass es nichts bringt, sich einzusetzen - dass Jahrzehnte des Aktivismus reine Zeitverschwendung waren, dass Afrika und der Nahe Osten eben Dreckslöcher sind, dass sich die Menschen dort bis in alle Ewigkeit abschlachten werden, dass es für unseren Planeten keine Hoffnung gibt und wir uns deswegen genauso gut zurücklehnen und unser Leben genießen können, solange das noch möglich ist. Aktivistinnen und Aktivisten sollten ­anfangen, mit Logik und Fakten zu argumentieren - und nicht nur Moral predigen. Man muss nicht sein Gehirn abschalten, um Aktivist zu sein. +Steven Pinker, 61, zählt zu den maßgeblichen Intellektuellen der USA. Seit 2003 ist er Professor für Psychologie an der Universität Harvard, davor lehrte er zwanzig Jahre lang am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge. Seine Forschungen zur Evolution von Sprache und Denken machten ihn Anfang der neunziger Jahre welt­berühmt. Steven Pinker ist Autor mehrerer Bestseller und schreibt regelmäßig für die "New York Times" und "Time". Sein Werk "Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit" ist 2011 im S. Fischer Verlag erschienen. +Das Interview ist zuerst im "Amnesty Journal" Dezember 2015 erschienen diff --git a/fluter/documenta-14-athens-kuenstler-und-kultur-szene.txt b/fluter/documenta-14-athens-kuenstler-und-kultur-szene.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..949eec4926d6f609ceba6814eb60bf72bedcb24e --- /dev/null +++ b/fluter/documenta-14-athens-kuenstler-und-kultur-szene.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Was ist die documenta? +Seit 1955 pilgern Kunstwelt, Kulturinteressierte und gefühlt alle hessischen Schulklassen regelmäßig nach Kassel: zur documenta, die als weltweit bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst gilt. 2017 hat das Kunstevent mit Athen erstmals einen zweiten, gleichberechtigten Standort. Dort startet die documenta 14 am 8. April unter dem Titel "Von Athen lernen". Adam Szymczyk, der künstlerische Leiter der aktuellen documenta, erwartet sich von dem Standort- auch einen Perspektivwechsel: Gerade in Athen prallen seiner Ansicht nach die Widersprüche der westlichen Welt hart aufeinander. In Kassel läuft die documenta 14 vom 10. Juni bis zum 17. September. Im Rahmen der documenta werden inzwischen im Fünf-Jahres-Takt neue Ausstellungsformen erprobt – vom Mohnfeld bis zum "Maus Museum" –, und durch sie gelangen auch vorher eher Insidern geläufige Künstler zu großer Bekanntheit – wie etwa Joseph Beuys und der chinesische Künstler Ai Weiwei. Obwohl oder weil seine turmartige Installation aus alten Türen und Fenstern nach einem Unwetter einstürzte. Ai Weiwei befand: "Besser als vorher." +Snehta ist Athens erste Künstlerresidenz, eine Art Stipendienprogramm für Künstler, die hier für einige Monate leben und arbeiten dürfen. Augustus Veinoglou, selbst bildender Künstler, hat die Residenz vor fünf Jahren ins Leben gerufen. Damals lebte er noch in Edinburgh. Irgendwann wurde es zu kompliziert, Snehta aus der Ferne zu betreuen, außerdem war ihm Edinburgh zu langweilig geworden. Also ging er nach Athen zurück. "In Großbritannien war alles so vorhersehbar", sagt er, "die Städte sind bis zum Letzten durchgeplant und ohne Überraschungen." +Athen ist das Gegenprogramm. Unfertig und voller Brachen. Das Residenz-Programm soll diese Erfahrung auch anderen Künstlern zugänglich machen. "Snehta", das englische Anagramm von "Athen", ist dabei die Aufforderung, einen anderen Blick auf die Stadt zu werfen. Sie gegen den Strich zu lesen. +Im Augenblick bräuchte es das gar nicht, Athen ist auch auf den ersten Blick interessant, die Stadt voller kreativer Freiräume. Es gibt Galerien in Garagen, in Bauruinen, es gibt Pop-up-Events und Projekträume. Innerhalb nur weniger Jahre sind rund drei Dutzend Galerien entstanden, die von Künstlern betrieben werden. Hier wird nicht verkauft, es geht nicht um Profit, sondern um Austausch: der Künstler untereinander, aber auch zwischen den Künstlern und Betrachtern. +"Die Athener Kunstszene hat in den vergangenen Jahren sehr an Fahrt gewonnen", sagt die Künstlerin Irini Bachlitzanaki. Vorbei die Zeiten, da griechische Künstler ins Ausland gehen mussten, um sich zu etablieren. Irini Bachlitzanaki ist 2011 zurückgekehrt. Zunächst einmal, weil in London, wo sie studiert hatte, für sie eine Lebensphase abgeschlossen war. Außerdem, weil Athen damals gerade in Bewegung geriet: "Ich wollte ausprobieren, ob ich hier in Griechenland eine Karriere aufbauen könnte", sagt sie. +Ein gewagter Schritt, denndie Krisewar bereits ausgebrochen. Andererseits wusste 2011 noch niemand, wie lange sie dauern undwie tiefgreifend sie sein würde. "Damals dachten wir noch, das ist eine Phase, die irgendwann überwunden sein wird", sagt Bachlitzanaki. Und dann war es zu spät. In Griechenland ist auch für arrivierte Künstler die Kunst nur Zubrot. Ohne einen Job geht nichts. Und Irini Bachlitzanaki hatte zu viel Kraft in die Wiedereingliederung gesteckt, um ihre Zelte einfach so wieder abzubrechen. Also blieb sie, und sie bereut es nicht: "Teil einer Szene zu sein, die gerade im Werden ist, erfüllt mich mit einer ungeheuren Energie." +Die griechische Künstlerin Irini Bachlitzanaki hat 2011 London verlassen, um nach Athen zurückzukehren – mitten in der Krise +Irini Bachlitzanaki sitzt zwischen ihren jüngsten Arbeiten. Hinter ihr: ein an der Wand montiertes Geländer, daran hängen bunte Kegel. Es könnten Glocken sein, wäre das Material nicht viel zu spröde, um einem Glockenschlag standzuhalten. "Meine Arbeit", sagt die Künstlerin und nimmt einen der farbigen Kegel in die Hand, "ist in den Jahren hier leichtfüßiger geworden, humorvoller, bunter". Ein Effekt der Krise: "Ich habe das Bedürfnis, dieser Düsternis und Resignation etwas entgegenzusetzen." +Griechenland steckt zwar in der Krise, aber die kulturelle Kreativität blüht. Dennoch oder trotzdem. Theater haben ihre Eintrittspreise reduziert und sind erstaunlich gut besucht, Lyrik-Lesungen sind bis zum letzten Platz besetzt, Kunst als Nahrung für die Seele. Und das alles, obwohl der staatliche Kulturetat drastisch zusammengestrichen worden ist. Ausgrabungsstätten mussten aufgegeben werden, Museen haben ihre Öffnungszeiten reduziert, im Archäologischen Nationalmuseum sind ganze Säle geschlossen, weil es an Wachpersonal fehlt. Und wie in vielen anderen Behörden fehlt es auch im Kulturministerium mal am Papier, mal an der Druckertinte. Banalitäten wie etwa Büroklammern oder Toilettenpapier bringen die Angestellten der Einfachheit halber schon längst selber mit, bezahlt von ihrem um rund 40 Prozent gekürzten Gehalt. +Das Athen der Krise ist nicht überall so auf Hochglanz poliert wie die von privaten Stiftungen finanzierten neuen Kulturbauten an der Syggrou-Straße +Die Lücke, die der Staat hinterlässt, füllen zunehmend private Institutionen; meist sind es von Reedern ins Leben gerufene Stiftungen. An der viel befahrenen Athener Syggrou-Straße hat die Onassis Foundation ein 2010 fertiggestelltes Kulturzentrum gebaut, seit 2016 steht hier auch ein Operngebäude der Stavros Niarchos Foundation. Neue Landmarken in Athen, letztere entworfen vom italienischen Stararchitekten Renzo Piano. Ohne festes Gebäude kommt die Kulturorganisation Neon aus, deren Ausstellungen, die an verschiedenen Orten der Stadt stattfinden, eine wichtige Bereicherung des Athener Kulturlebens darstellen. Wichtige Institutionen, die, so unterschiedlich sie sind, eines gemeinsam haben: Sie bieten eine Bühne für Künstler, die sich bereits einen Namen gemacht haben. +"Was hier wirklich fehlt, sind Institutionen mittlerer Größe als Anlaufpunkt für junge Kreative", sagt deshalb Maya Tounta. Ob diese Institutionen nun privat sind oder vom Staat getragen, spielt eine untergeordnete Rolle, findet die Kunstkritikerin und Kuratorin – solange sie nicht gewinnorientiert sind. "Der Non-Profit-Charakter ist wichtig, damit Künstler die Möglichkeit haben zu experimentieren." Haben? Hätten. Denn in Griechenland, bedauert Maya Tounta, gibt es für Künstler, die sich dem Markt nicht beugen wollen, kaum Hilfe. +Maya Tounta hat viele Projekte, unter anderem arbeitet sie bei der documenta mit. Sie ist gerade zurück nach Athen gezogen, nachdem sie zehn Jahre lang im Ausland war +Sie selbst ist ganz frisch wieder in Griechenland. "Als Freelancerin bin ich ortsunabhängig, und ich wollte etwas Zeit mit meiner Familie verbringen." Gut zehn Jahre lang war sie im Ausland, zuletzt hat sie in Vilnius gearbeitet. Womit sie derzeit beschäftigt ist? "Oh, mit so viel!" Maya Tounta legt den Kopf zurück, lacht ihr leises, kehliges Lachen. Ein Projekt für das Contemporary Art Centre in Vilnius, ein Artikel, eine Assistenz im Rahmen der documenta. Gleichzeitig erforscht sie die Stadt und ihre Kunstszene. "Die Athener Kunstproduktion hat ihren ganz eigenen Charakter. Die Künstler setzen sich sehr mit den Materialien auseinander, und sie bringen viel Selbstironie und Humor mit." Maya Tounta spricht leise, aber bestimmt, dann hält sie inne und lacht wieder: "Rede ich zu viel?" Ihre Gedanken sind kaum zu bändigen. Die Gedanken zu Griechenland, zur Krise, zur Bedeutung von Heimat in Zeiten der Globalisierung. +Vieles hat sich verschoben in den Jahren der Abwesenheit, ihr Blick ist differenzierter geworden. "Die Bürokratie oder die Korruption zu kritisieren ist leicht", sagt Maya Tounta. "Interessanter aber ist es, die Zusammenhänge dahinter zu verstehen. Und die Spannungsfelder, in denen eben solche Phänomene entstehen." Kulturelle Unterschiede mit größerer Bescheidenheit anzugehen und das Wissen darum, dass sich Kulturen nicht eins zu eins übersetzen lassen, sind das Rüstzeug, mit dem sie nach Griechenland zurückgekommen sei. "Ich denke, das versucht auch die documenta zu zeigen: dass Orte, die wir als Peripherie empfinden, sei das Kabul oder Athen, gleichwertig sind." +Wenige Tage später: Ausstellungseröffnung in der Snehta. Ein internationales Völkchen, hustle, bustle, billiger Wein. Auch Irini Bachlitzanaki ist da. Die documenta mag ein Grund sein, weshalb Athen für viele Künstler gerade so attraktiv ist. Die Krise mit ihren Brüchen, Gräben und Spannungen ein anderer. Und die Frage an Augustus Veinoglou: Wird er auch bleiben, wenn die Krise vorbei ist? "Das Ende der Krise", wiederholt er und lacht. Als wäre es ein Witz. +Titelbild: Dimitris Michalakis diff --git a/fluter/doku-%C3%BCber-entsch%C3%A4digungszahlungen-playing-got-ken-feinberg.txt b/fluter/doku-%C3%BCber-entsch%C3%A4digungszahlungen-playing-got-ken-feinberg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..db0bcfcc4de29727dc988cd130a27369ec4bf064 --- /dev/null +++ b/fluter/doku-%C3%BCber-entsch%C3%A4digungszahlungen-playing-got-ken-feinberg.txt @@ -0,0 +1,5 @@ + +Es gehört ja heutzutage zum guten Ton, im Dokumentarfilm keinen Off-Kommentar zu verwenden. Gegen dieses Konzept ist aus ästhetischer Sicht nichts einzuwenden, inhaltlich ist es manchmal problematisch. Denn durch das Fehlen einer identifizierbaren Erzählstimme wird eine Objektivität vorgegaukelt, die es in Reinform gar nicht geben kann. Letztlich findet die Manipulation des Zuschauers damit auf einem viel subtileren Level statt als bei einem Film, der seine Perspektive deutlich herausstellt. Es ist nicht leicht zu sagen, inwieweit in "Playing God" eine solche Manipulation stattfindet. Aber was tatsächlich irritiert bei diesem so nüchtern daherkommenden Nacheinander vontalking heads, Interviews und dokumentarischen Filmschnipseln, ist der Eindruck, dass das Bild trotz allem unvollständig bleibt. Von manchen wird Feinberg, wenn es gut läuft, wie ein Heilsbringer betrachtet; aber zweifellos ruft die ethisch prekäre Arbeit, die er macht, auch sehr viel Kritik hervor. Das bleibt nicht unerwähnt, erschöpft sich jedoch in Andeutungen. Nur ein einziger aktiver Feinberg-Kritiker wird vor die Kamera geholt, ein sehr freundlicher Krabbenfischer, der die Entschädigungszahlungen nach der großen BP-Ölpest für unzureichend hält. +Seine stärksten Momente hat der Film, wenn die Schicksale einzelner Personen erlebbar werden. Hochemotional geht es auf einer Versammlung zu, die Feinberg mit Menschen abhält, deren Rentenfonds nach der Finanzkrise vor dem Aus stehen. Im hautnahen Zusammentreffen mit den Arbeitern, die Angst um ihre Alterssicherung haben, zeigt sich zum einen das enorme Spannungsfeld, in dem der Anwalt agieren muss, zum anderen die Lückenhaftigkeit des amerikanischen Sozialsystems. Und zum Dritten auch noch: die riesige soziale Kluft zwischen den armen Rentnern und dem hochbezahlten Anwalt, an den sie geradezu messianische Erwartungen knüpfen. +… alle, die nicht die schnelle, klare Antwort suchen. Je länger man zusieht, desto weniger ist man sich sicher, was man denken soll. Wann ist eine Entschädigungszahlung gut und richtig, und wann ist es absurd und ungerecht, Menschenleben, Gesundheits- und Umweltschäden mit Geld gegenzurechnen? Ist Kenneth Feinberg ein Kämpfer für größtmögliche Gerechtigkeit oder ein gekaufter Knecht der herrschenden Klasse? Und was ist das nur für ein Gesellschaftssystem, in dem Geld als Ersatz für soziale Verantwortung fungiert? Es sind sehr viele offene Fragen, mit denen dieser Film uns sitzen lässt. Das muss man erst einmal aushalten. +"Playing God", Deutschland 2017; Buch und Regie: Karin Jurschick, 90 Minuten diff --git a/fluter/doku-hambacher-forst-interview-muehlhoff.txt b/fluter/doku-hambacher-forst-interview-muehlhoff.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/doku-ueber-greta-thunberg.txt b/fluter/doku-ueber-greta-thunberg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e4a83d8022173902a412d5d26eba7fc70cc88aa2 --- /dev/null +++ b/fluter/doku-ueber-greta-thunberg.txt @@ -0,0 +1,7 @@ + + +Von da an verfolgt man Greta bei ihren Auftritten bei der UN-Klimakonferenz in Katowice, ist dabei, wenn sie Emmanuel Macron trifft, beim Weltwirtschaftsforum in Davos spricht und sich mitanderen Klimaaktivist*innenvernetzt. Man sieht aber auch: eine Jugendliche mit geflochtenen Zöpfen, die am liebsten Zeit mit ihren Hunden verbringt, sich Gedanken darum macht, was sie anziehen soll, und daran erinnert werden muss, etwas zu essen. Zwischenzeitlich wirkt sie erschöpft. Mittendrin: ein Vater, der sie überallhin begleitet und sich zwischendurch von einem Sanitäter erklären lässt, was zu tun ist, sollte ein Anschlag auf Greta verübt werden. Es sind Szenen wie diese, die schlagartig bewusst machen: Gretas Aktivismus bringt für sie persönlich ganz schön viele negative Aspekte mit sich. +Als Greta und ihrem Vater im Zug in Richtung England, von wo die Atlantiküberquerung nach New York starten soll, die Tränen die Wangen hinunterlaufen, hält der Regisseur Grossman minutenlang drauf. Das mit anzusehen fällt schwer. Und es macht wütend, dass viele Politiker*innen sie nicht ernst nehmen, sondern lieber Selfies mit ihr machen. Als Greta ihre "How dare you"-Rede in New York hielt, liegt neben Popcornduft eine große Portion Ehrfurcht in der Kinosaalluft. +Mit "I am Greta" gelingt Nathan Grossman ein heikler Balanceakt: Der Film transportiert Wut und Traurigkeit, will das Publikum aber auch zum Lächeln bringen. Zum Beispiel als Greta in schallendes Gelächter über ein Foto ausbricht, das ihren Vater beim Treffen mit dem Papst zeigt. Oder wenn sie durch einen Raum springt und tanzt, um Druck abzulassen. Oder als sie nach ihrem Auftritt in Katowice zu ihrem Vater sagt: "Das ist ja wie im Film hier! Zum Glück werden mich am Montag alle wieder vergessen haben." Heute hat die junge Schwedin allein auf Twitter über vier Millionen Follower*innen. + +"I am Greta" lief am 16. Oktober in den Kinos an. Seit 16. November ist er auch in derARD- Mediathekzu sehen. diff --git a/fluter/doku-waffengewalt-never-again.txt b/fluter/doku-waffengewalt-never-again.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e944c025ab8083e76e7b8a254e8a9ce483d50680 --- /dev/null +++ b/fluter/doku-waffengewalt-never-again.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Lori Alhadeffs 14-jährige Tochter Alyssa wurde mit einem Sturmgewehr getötet – in ihrer Klasse in Parkland +Die Arte-Doku "Never Again – Amerikas Jugend gegen den Waffenwahn" begleitet einige der "Parkland Kids" bei ihrem Kampf. Dabei sehen wir nicht nur die aus den Nachrichtenbekannten Gesichter wie das von Emma González, Hauptrednerin beim "March for Our Lifes". Auch eine Mutter kommt zu Wort, deren Tochter von dem Amokläufer in Parkland getötet wurde. Wir sehen ein Handyvideo, das während des Amoklaufs aufgenommen wurde, verwackelte Bilder, Schüsse, Schreie. Wir lernen Audrey Wright kennen, die in der Chicagoer Westside aufwächst und jeden Tag auf dem Schulweg die Angst bezwingen muss, erschossen zu werden. Sie hat an ihrer Schule die Selbsthilfegruppe "Peace Warriors" gegründet. +Nach dem Amoklauf von Parkland reagierte die Trump-Regierung mit dem Vorschlag, auch die Lehrer sollten sich ab jetzt bewaffnen. "Wo sollen sie die Waffen tragen? Was, wenn ein Schüler an die Waffen kommt?", fragt Audrey. Eine Antwort bekommt sie nicht. +Tatsächlich haben einige Bundesstaaten nach den Protesten die Waffengesetze verschärft. Auch wenn es nur Teilerfolge sind, ist es den Jugendlichen gelungen, ein Zeichen zu setzen. Sie werden nicht nur der Waffenlobby im Gedächtnis bleiben als eine ernst zu nehmende, politische Stimme, sie sind längst ein Vorbild – ob für schärfere Waffengesetzte,Klimaschutz,Upload-Filteroder das zu schwere Mathe-Abi: In Windeseile haben junge Menschen es geschafft, sich mit ihren Themen Gehör zu verschaffen. +Manch einer scheint sich an der Tatsache, dass viele der Demonstrierenden formal gesehen noch nicht erwachsen sind, zu stören. "Von Kindern und Jugendlichen kann man nicht erwarten, dass sie bereits alle globalen Zusammenhänge, das technisch Sinnvolle und das ökonomisch Machbare sehen", ließ ein führender Parteipolitiker verlauten. Andere sagen: EinSchulstreikist doch genau das, was die Schüler als solche tun können. Wem die Legitimation als politischer Bürgernur aufgrund seines Alters abgesprochen wird, müsse eben erfinderisch werden. +Während in Deutschland mitunter Monate vergehen, bis eine Pistole ausgehändigt wird, kommen Waffenfreunde in manchen US-Bundesstaaten schon in einem Stündchen zum Schuss – zum Beispiel mit diesem schallgedämpften Modell +Auch zahlreiche junge Gegner derUrheberrechtsverordnungmussten sich anhören, sie seien vonYoutubemanipuliert und nicht in der Lage, sich eine eigene Meinung zu bilden. Wenige Tage vor Beschluss der Urheberrechtsverordnung im Parlament brachte die Initiative "Safe the Internet" in Berlin, Hamburg und Brüssel Zehntausende Menschen zum gemeinsamen Protest auf die Straße. +Junge Menschen mobilisieren sich, wollen mitreden bei Themen, die sie mehr betreffen als jene, die die Entscheidungen fällen. Dabei geht es nicht um den Konflikt "Jung gegen Alt", sondern um politische Teilhabe und Anerkennung. Der "March for Our Lifes", "Fridays for Future" und die Initiative "Safe the Internet" sind Jugendbewegungen, die nicht mehr von Politikern hören wollen, dass sie vom Spiel der Mächtigen noch nichts verstehen. Sie wollen gehört werden. Und sie wissen, wie das geht. Das ist vielleicht der größte Erfolg der Parkland Kids: Sie haben eine Vorlage geliefert. + + + +"Never Again – Amerikas Jugend gegen den Waffenwahn", Arte, 11. Juni 20.15 Uhr. +Das Titelbild zeigt eine Andacht vor einer Schule in Chicago: Ein 15-Jähriger war auf dem Basketballplatz von einem 13-jährigen Mitschüler erschossen worden. diff --git a/fluter/dokumentarfilm-ueber-den-schlachtbetrieb-toennies.txt b/fluter/dokumentarfilm-ueber-den-schlachtbetrieb-toennies.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..92c97d9ac0cee0e6afc3664b5bce5f500291aa33 --- /dev/null +++ b/fluter/dokumentarfilm-ueber-den-schlachtbetrieb-toennies.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Ein Werkvertrag wird über eine konkrete zu erbringende Arbeitsleistung geschlossen – zum Beispiel, wenn ein Unternehmen etwa IT-Wartungen an einen Dienstleister abgibt, der sich dann selbstständig darum kümmert. Werkverträge sind erst mal nicht an Mindestlöhne gebunden (es sei denn, der sogenannte "Werkunternehmer" beauftragt noch mal eine andere Person). Auch haben Werkvertragsbeschäftigte keinen Anspruch auf bezahlten Urlaub. Der Gedankte dahinter ist, dass sie nur nebenbei mal einen Auftrag erledigen oder ihre Arbeit komplett selbstständig organisieren, also eben nicht bei einem Arbeitgeber fest angestellt sind, der für sie sorgt. Doch es gab in Deutschland bereits viele Fälle, in denen die Arbeiterinnen und Arbeiter wie normale Angestellte mit Werkverträgen in die Produktion eingebunden waren, ohne die Leistungen zu erhalten, die sie als Angestellte eigentlich verdient hätten. +Lokshina konnte das Vertrauen von Betroffenen gewinnen, die ihr von zehn-, zwölf- oder auch mal siebzehnstündigen Arbeitstagen berichten, von acht Kilometern Fußweg zum Betrieb, weil nachts keine Busse fahren, von Subunternehmen, die weder Überstunden noch Nachtzuschläge zahlen, aber dafür viele Abmahnungen schreiben. DieArbeitsmigrantenwirken auf sie wie eine Parallelgesellschaft. +Der Dokumentarfilm "Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit" ist nicht als Reportage mit erklärendem Voiceover strukturiert, sondern als Essay, bei dem das Publikum die einzelnen Fragmente selbst zu einem Ganzen zusammenbauen muss. Als etwa Michaela C. auftritt, ist zunächst unklar, um wen es sich handelt. Auch die Hintergründe der anderen Mitwirkenden ergeben sich erst nach und nach. + + +Parallel zum Tönnies-Bericht begleitet Lokshina eine Schüler-Theatergruppe aus München, die Bertolt Brechts "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" diskutiert und probt. Das zwischen 1929 und 1930 verfasste Stück prangert die elenden Zustände in den Schlachthäusern von Chicago an. Dass die Arbeitsbedingungen in derFleischindustriebis heute heftig kritisiert werden, regt zum Nachdenken an. Leider bleibt der Exkurs der Schüler insgesamt eher dünn und aussageschwach. +An den Schlachtplätzen konnte das Filmteam nur unter strengen Auflagen drehen. Deshalb sieht mankeine Bilder von zerlegten Tieren. Was man aber sieht: Menschen. Was sie erleben und erleiden, lässt sich aus ihren Gesichtern ablesen. "Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit" ist wie ein Seismograf, der nicht den Hotspot der Erschütterung zeigt, sondern Facetten der Ausläufer. Symptomatisch dafür ist eine lange Kamerafahrt, die den Sicherheitszaun vor der Tönnies-Fabrik vermisst: Obwohl die Kamera draußen bleibt, lässt sich das Ausmaß der Probleme erahnen, die drinnen vor sich gehen. +Yulia Lokshina hat keinen gewöhnlichen Dokumentarfilm gedreht, das ist schon vom Intro an klar: Eine Nachtsichtkamera, das Bild grünschwarz, hält auf eine Schweinebox. Darin stupst ein apathisch wirkendes Tier mit der Schnauze einen Gummiball an, dazu läuft beschwingte Musik, während eine Erzählerin aus dem Off an den Unfalltod eines polnischen Schlachters erinnert: Stanislaw wurde vom Band in die Maschine gezogen, tags darauf trugen die Arbeiter Schwarz. "Erinnerst du dich?", fragt die Frauenstimme. Der vielschichtige Film von Yulia Lokshina leistet jedenfalls einen Beitrag dazu, dass die Lage der Gastarbeiter:innen nicht allzu schnell vergessen wird. + +"Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit" (Deutschland 2020, 96 Minuten) läuft ab dem 22. Oktober in den Kinos. diff --git a/fluter/dokumentation-kriegsverbrechen-ukraine.txt b/fluter/dokumentation-kriegsverbrechen-ukraine.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..df8398b82151e2f371ed6a9d79ed806af1cdf25e --- /dev/null +++ b/fluter/dokumentation-kriegsverbrechen-ukraine.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +"Haben Sie schon mal ein Kind gesehen, das weint und Angstzustände bekommt, wenn es ein Feuerwerk sieht, immer nur auf den Boden schaut, mit fünf Jahren noch in die Hose macht? Solche Kinder haben wir hier im Gebiet Charkiw zuhauf", sagt die Rechtsanwältin. Bespala dokumentiert akribisch die Kriegsverbrechen der russischen Armee und der Militärs der "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk. Die Akten von fast 300 derartigen Verbrechen liegen in dem Schrank neben ihrem Schreibtisch. Sie werden unter anderem weitergeleitet an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag und an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Damit die Täter irgendwann für ihre Taten verurteilt werden können. In Den Haag werden auf Basis von Ermittlungen bereits Anklagen gegen Russland vorbereitet. + +Graben für die Gerechtigkeit: Das Exhumieren von Leichen dient dazu, die Verbrechen genau zu rekonstruieren + +"In den von Russland besetzten Gebieten sind Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung. Personen, die aus russischer Sicht illoyal sind, werden ohne Gerichtsverfahren inhaftiert, misshandelt und gefoltert", sagt Bespala. Noch immer werden in Charkiw Menschendurch russische Raketen getötet. "Mal sind es zwei, mal sind es fünf, mal sind es zehn Tote", so die Anwältin. "Und nun fürchten wir, dass es noch schlimmer wird." +Gegründet wurde die Menschenrechtsgruppe Charkiw bereits vor 30 Jahren, kurz nachdem Ende der Sowjetunion. Bei ihrer Arbeit scheut sie sich bis heute auch nicht vor Kritik an der eigenen Regierung. So hatte sie vor dem Krieg wiederholt die restriktiven ukrainischen Mediengesetze und den Entzug der ukrainischen Staatsbürgerschaft für Gegner von Präsident Selenskyj kritisiert. Mit dem Krieg aber ist die Dokumentation der unzähligen Menschenrechtsverbrechen der russischen Invasoren in den Fokus gerückt. +Jeden Tag berät Bespala im Durchschnitt zwanzig Menschen. Sie kommen zu ihr, weil sie ihr Haus verloren haben, in Kriegsgefangenschaft gefoltert wurden, Verwandte vermissen oder vergewaltigt wurden. So schwer es den Menschen fällt, über das Erlebte zu sprechen, so wichtig sind ihre Informationen – über den Zeitpunkt und den Hergang der Taten, über ihre Zeit in Gefangenschaft. +Immer wieder nennen ehemalige Kriegsgefangene Namen von anderen Kriegsgefangenen, mit denen sie eine Zelle geteilt haben. Diese Daten geben Bespala und andere Juristen der Organisation weiter an das Rote Kreuz, die ukrainischen Behörden und russische Regierungsstellen, um die Vermissten aufzuspüren. Sobald man aus Russland eine Bestätigung zu einem konkreten Gefangenen habe, so Bespala, könne man davon ausgehen, dass dieser Gefangene am Leben bleibe. +Neben der psychologischen Hilfe unterstützt die Menschenrechtsgruppe Kriegsopfer auch materiell: Man verteilt Wärmedecken, warme Unterwäsche, Powerbanks, Taschenlampen, Hygieneartikel, Zelte, kleine Campingkocher und Medikamente. Angehörige von Kriegsgefangenen, von Getöteten und Opfer von Gewalt erhalten Geld. Zwar gibt es vom Staat Hilfen für ehemalige Kriegsgefangene und für Menschen, die ihr Eigentum verloren haben, doch diese Hilfen gibt es laut Bespala nicht automatisch, sie müssen beantragt werden. Auch dabei hilft sie den Betroffenen. +Der Aktenberg in ihrem Büro, der bald die Basis für die Verurteilung von Kriegsverbrechern bilden soll, wird mit jedem Tag größer. Über 9.000 Kriegsverbrechen befinden sich aktuell in den Unterlagen der Juristinnen und Juristen in Charkiw. Während viele Informationen aus Datenschutzgründen nicht öffentlich sind, führen sie mit einem kleineren Kreis von Opfern der Gewalt Interviews über die erlebten Verbrechen, die dann mit deren Einverständnis in mehrere Sprachen übersetzt und auf YouTube veröffentlicht werden. +In den 30 Jahren ihres Bestehens hat sich die Gruppe einen guten Ruf erarbeitet und daher keine Schwierigkeiten, Projektgelder zu erhalten. Die kommen unter anderem von der Europäischen Union, der tschechischen NGO "People in Need", dem Prague Civil Society Centre, USAID oder auch dem Danish Institute Against Torture. +Nach Russlands Überfallam 24. Februar 2022schlossen sich mittlerweile 20 ukrainische Menschenrechtsgruppen unter dem Titel "Tribunal for Putin" zusammen, um die von der Charkiwer Menschenrechtsgruppe gestartete regionale Dokumentierung russischer Kriegsverbrechen landesweit umzusetzen. In einer gemeinsamen Datenbank haben sie rund 33.000 Verbrechen dokumentiert. Davon veröffentlichen sie einen Teilauf einer gemeinsamen Plattformim Internet. Hier finden sich Artikel, kurze Videos und aktuelle Statistiken über dokumentierte Kriegsverbrechen. +Damit diese Sammlung noch umfangreicher wird, es irgendwann Gerechtigkeit gibt und die Welt erfährt, was in der Ukraine geschieht, fährt Bespala mehrmals im Monat in umliegende Dörfer und Städte, die vor noch nicht allzulanger Zeit von der russischen Armee besetzt waren. Und hört sich dort geduldig an, welches Grauen die Menschen erlebt haben. + +Titelbild: Metin Aktas/Anadolu Agency via Getty Images diff --git a/fluter/dolmetscherin-im-eu-parlament.txt b/fluter/dolmetscherin-im-eu-parlament.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e3711cad91ebe57d8621470f7c05e80109e8c1dd --- /dev/null +++ b/fluter/dolmetscherin-im-eu-parlament.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Bevor es mit dem Simultandolmetschen losgeht, zieht man den Kopfhörer über ein Ohr und lässt das andere frei, um noch zu hören, was man selbst sagt. Das ist sehr wichtig, und das üben wir im Studium besonders viel. Konzentriert man sich nur auf Hören und Verarbeiten und nicht mehr auf das, was aus dem eigenen Mund herauskommt, passiert es einem als Anfänger mit auch noch so perfektem Deutsch, dass man Dinge sagt wie "der Auto" und "die Stuhl". +Oft werde ich gefragt, ob Dolmetscher:innen eigentlich verstehen, worüber jemand im Saal gerade spricht. Manche Leute denken, dass wir überhaupt nicht aktiv mitdenken und das Gesagte durch den Kopf geht, als ob wir eine Maschine wären. Aber wir müssen die ganze Zeit erfassen, worum es geht. Das erfordert viel Konzentration. Deshalb dolmetschen wir bei den Plenarsitzungen in Straßburg und Brüssel, wo dieAbgeordnetenintensiv debattieren und es Abstimmungen innerhalb von Sekunden gibt, als Team maximal drei Stunden am Stück. Während dieser Zeit wechseln wir uns untereinander bei den verschiedenen Redner:innen ab. Und wenn ich mal ein Wort oder eine Zahl nicht mitbekommen habe, helfen mir die Kolleg:innen: Im Europäischen Parlament arbeiten etwa 270 festangestellte Dolmetscher:innen. Außerdem gibt es eine Reserve von etwa 1.500 externen Übersetzer:innen. +Bevor eine Sitzung losgeht, bekommen wir manchmal vorab eine Rede von Abgeordneten oder eine PowerPoint-Präsentation von eingeladenen Expert:innen. Dann kann man die schon mal überfliegen. Aber eigentlich ist es wichtiger, gut auf das grundsätzliche Thema einer Sitzung vorbereitet zu sein. +Dieses thematische Vorbereiten und eine allgemeine Vorbereitung sind ein großer Teil meiner Arbeit. Denn ich muss auch immer auf dem neusten Stand sein, was das politische Geschehen in den Ländern meiner Dolmetschsprachen und weltweit angeht. Also lese ich viel Zeitung und höre Radio in allen Sprachen, aus denen ich dolmetsche. Das ist außerdem wichtig, um meine Sprachkenntnisse auf höchstem Niveau zu halten. Auch mein Deutsch muss ich fit halten, weil ich im Ausland in Belgien lebe. Sonst kann eine Sprache, wenn man sie nicht pflegt, auch irgendwann verarmen oder sich nicht mehr richtig anhören. +All diese Teile des Jobs finde ich sehr vielfältig, mir wird nie langweilig. Dazu kommen noch die Dienstreisen, bei denen ich Delegationen von Europaabgeordneten begleite. Es kommt auch mal vor, dass ich bei hohem Wellengang auf einem Schiff dolmetsche oder imSchlachthof, wo es sehr laut ist. Bei diesen Reisen sehen einen die Politiker:innen auch mal in persona. Sie sagen dann häufig, dass sie meine Stimme kennen würden. Darüber freue ich mich. Und ich wiederum sehe bei diesen Reisen noch mal auf andere Art, wie die Abgeordneten arbeiten und was sie leisten. diff --git a/fluter/dominik-eulberg-techno-artenvielfalt.txt b/fluter/dominik-eulberg-techno-artenvielfalt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..879292c315d55232ef7ae5df33313090e7a611d3 --- /dev/null +++ b/fluter/dominik-eulberg-techno-artenvielfalt.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Am Abend vor dem Kamin flocht Eulberg die Kette weiter. Und tatsächlich: Zu jeder Zahl von eins bis zwölf fiel ihm eine heimische Tierart ein – von der Eintagsfliege über den Siebenschläfer bis zum Zwölfgepunkteten Spargelkäfer. Das Konzept für sein neues, fünftes Album war fertig. +Die Sammlung von zwölf sanft pluckernden Technotracks und wellenförmig an- und abschwellenden Chill-out-Stücken taufte Eulberg "Mannigfaltig". Ein Plädoyer für den Erhalt der biologischen Vielfalt und der Schönheit der Natur. Es ist das erste Album Eulbergs seit acht Jahren. "Musik ist für mich nur sinnvoll, wenn sie etwas zu sagen hat", erklärt er. "Und ich habe jetzt etwas zu sagen!" +Mit dem Ökotechno von "Mannigfaltig" will der Produzent seine Hörer dafür sensibilisieren, wie gefährdet die Biodiversität ist, also die Vielfalt der Natur. Und speziell: die der Vögel. Vor zwei Jahren hat die Bundesregierung einen Bericht zum Verlust von Vogelarten veröffentlicht. Darin macht sie darauf aufmerksam, dass allein in den Landwirtschaftsgebieten der EU zwischen 1980 und 2010 über 300 Millionen Brutpaare "verloren gingen", also gestorben sind, vertrieben oder eben gar nicht erst geboren wurden. +Manche Vogelbestände in Deutschland, wie die des Kiebitz, haben einer anderen Studie zufolge zwischen 1990 und 2013 um 80 Prozent abgenommen, Braunkehlchen und Uferschnepfen um die 60 Prozent. Zurückgeführt wird dies vor allem darauf, dass sich der Lebensraum der Vögel ändert – durch denKlimawandelund den Menschen, aber auch ein verringertes Nahrungsangebot, denn dieInsektenbestände gehen ebenso zurück. +Für Eulberg, der manchmal ornithologische Führungen organisiert und seinen Fans einenBestimmungsserviceanbietet, bei dem sie Fotos, Videos oder Audiofiles hochladen können, ist die Natur der größte Künstler von allen. "Die Formen- und Farbenvielfalt, die sie erschaffen hat, ist Sinnbild der Sinfonie des Seins", schwärmt er. "Unser Überleben und das künftiger Generationenhängt von einer blühenden Biodiversität ab. Das ist unsere Lebensversicherung." + diff --git a/fluter/dont-look-up-film-rezension-netflix.txt b/fluter/dont-look-up-film-rezension-netflix.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1fa0a4b163aa37723f771dd08cd5e3a58a53e9fa --- /dev/null +++ b/fluter/dont-look-up-film-rezension-netflix.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Ein tragikomischer Moment, bei dem man auch Parallelen zurCorona-Pandemieziehen könnte, spießt politisches Krisenmanagement auf: Kurz nach der Entdeckung des Kometen sitzen Mindy und Dibiasky im Weißen Haus, um die Präsidentin zu informieren. Die interessiert sich aber erschreckend wenig für den nahenden Weltuntergang. Weil Mindy sich in technischen Details verliert, bringt es ein Kollege der NASA schließlich auf den Punkt: "Frau Präsidentin, dieses Ding ist ein Planetenkiller." Zu 99,78 Prozent werde der Komet auf der Erde einschlagen. Immerhin keine 100 Prozent, entgegnet der Stabschef des Weißen Hauses. "Ich schlage vor, wir halten die Füße still und beurteilen die Lage in aller Ruhe." + + +Als satirischer Rundumschlag über eine Gesellschaft, in der Politik und Medien sich ständig in kurzlebigen Kontroversen verlieren. Leider ist der Plot so überfrachtet und die Schauplätze wechseln so häufig, dass das hochkarätige Ensemble dabei fast untergeht: Leonardo DiCaprio spielt einen sozial verkrampften Biedermann-Akademiker, Jennifer Lawrence landet als Wissenschaftsrebellin zu schnell im Abseits der Handlung. Oscar-Rekordhalterin Meryl Streep (21 Nominierungen) darf sich als Trump-Wiedergängerin indie lange Liste der Leinwand-Präsidentschafteneinreihen. Cate Blanchett und Tyler Perry geben ein irres Morning-Show-Duo im Stile des konservativen Fernsehsenders Fox News ab. Ariana Grande verkörpert selbstironisch einen Popstar ohne Privatsphäre und Timothée Chalamet unironisch einen romantischen Skatepunk. +Für Netflix ist "Don't Look Up" eine Prestigeproduktion, um gegenüber den etablierten Hollywoodstudios weiter aufzuholen. Regisseur Adam McKay hat mit "The Big Short" und"Vice"schließlich schon zwei starke Satiren vorgelegt. So treffsicher komisch wie die Vorgängerinnen ist die Apokalypse-Vision von "Don't Look Up" allerdings nicht. Als epische Erzählung über eine globale Katastrophe ist der Film zu sehr auf die US-amerikanischen Befindlichkeiten der Trump-Ära fixiert. Die Kritik an Entertainment-Politik, Social-Media-Clickbaiting und allmächtigen Internetmogulen fühlt sich an wie ein Late-Night-Sketch, der auf zweieinhalb Stunden gestreckt wurde. +In Wirklichkeit hat das "NASA-Büro zur Koordination der planetaren Verteidigung" (Zwischentitelkommentar im Film: "Ja, das gibt es wirklich!") einen Schlachtplan für den Fall eines Kometen- oder Asteroidenschlags in der Schublade. Der reale Katastrophenfall dürfte also (hoffentlich) weniger dilettantisch aussehen. + +"Don't Look Up" läuft seit dem 9. Dezember in den deutschen Kinos und ist ab dem 24. Dezember auf Netflix verfügbar. diff --git a/fluter/doppelgaenger.txt b/fluter/doppelgaenger.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dcb1e164bee500ae1e7a7971e87f03e3cc7e8909 --- /dev/null +++ b/fluter/doppelgaenger.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Ein Ahornsamen braucht sehr lange, bis er zu Boden fällt. Das verdankt er seiner Rotation um die Hochachse. Die hält ihn lange in der Luft, und wenn es sehr windig ist, dann kann der Ahorn so sein Verbreitungsgebiet erheblich vergrößern. Ein Hub-schrauber funktioniert recht ähnlich, dem Menschen ist es aber dank Motor und leistungsstarken Rotoren gelungen, seine Maschine weitgehend windunabhängig zu machen. Ob es aber tatsächlich allein der Ahornsamen war, der zur Erfindung des Hubschraubers führte? Es ist eher wahrscheinlich, dass er gemeinsam mit der Libelle dazu beigetragen hat. +Die Zehen vieler Froscharten bergen ein wirklich kleines Geheimnis. Erst unter dem Elektronenrastermikroskop wird sichtbar, dass die Zehen auf der Unterseite eine wabenförmige Struktur haben und dadurch eine gute Bodenhaftung besitzen. Manche Frösche produzieren zusätzlich auch Schleim, mit dem sie sich sogar an schrägen Fensterscheiben festhalten können. Autoreifenhersteller fanden vor allem die Wabenstruktur interessant, sie könnte die Grifffestigkeit ihrer Produkte verbessern. +Viele Erfindungen beginnen mit einem Ärgernis. Der Schweizer Georges de Mestral unternahm oft Spaziergänge mit seinem Hund. Danach war er meist lange damit beschäftigt, die Kletten aus dem Fell des Tieres zu entfernen. Schließlich sah er sich – er war ja Wissenschaftler – diese Kletten unter dem Mikroskop an und entdeckte, dass es sich gar nicht um gerade Stacheln handelte, sondern um viele kleine Fasern mit Widerhaken. Er baute diese Fasern im Labor synthetisch nach und meldete 1951 das Patent an. Einer der ersten Großkunden war die NASA, denn mit einem Klettverschluss können zum Beispiel Werkzeuge irgendwo im Raumschiff angebracht werden und sind sofort greifbar. Die gängigen Klettverschlüsse bestehen heute aus vielen kleinen Häkchen auf der einen und vielen kleinen Schlaufen auf der anderen Seite. +Von Leonardo da Vinci bis Otto Lilienthal – Erfinder von Fluggeräten haben schon immer beim Vogel abgeguckt. Zwar fliegen wir heute mit Hightechflugzeugen, die Perfektion des Vogelfluges haben wir aber längst noch nicht erreicht. Doch die Forscher arbeiten daran: Viele Airlines fliegen mit Winglets – das sind hochgestellte Flügelflächen, die wie Adlerflügel funktionieren. Adler spreizen im Flug einige Federn an ihren Flügelenden ab. Dies verhindert, dass bremsende Luftwirbel entstehen, die den Auftrieb verringern und das Flugtempo drosseln. Die Winglets übertragen dieses Prinzip auf Flugzeuge. Dadurch lassen sich pro Flug bis zu fünf Prozent Kerosin sparen. +Theoretisch könnte ein Igel problemlos einen PC auf dem Rücken tragen, ohne dass dieser beschädigt würde. Das Tier ist nur zu klein dafür. Doch seine Stacheln sind ideal für den Transport stoßempfindlicher Geräte. Sie sind nämlich nicht starr, sondern haben unter Druck eine federnde Wirkung, ohne dabei abzuknicken. Daher wird die Struktur der Stacheln nun bei der Konstruktion von Transportpaletten verwendet. Letztere wurden 2007 erstmals vorgestellt und stießen auf das Interesse großer Betriebe. +Wenn Pinguine umherwatscheln, wirken sie tollpatschig – unter Wasser aber werden sie zu einem Geschoss. Ihr geringer Strömungswiderstand konnte bisher noch in keinem Windkanal nachgeahmt werden. Unter ihrem Körper bildet sich beim Schwimmen eine turbulente Strömung, die im Normalfall schnell abreißt und den Widerstand im Wasser schlagartig erhöht. Die Pinguine steuern die Wasserwirbel jedoch so, dass die Strömungsbedingungen optimal bleiben. Dadurch verbrauchen sie weniger Energie: Mit dem Brennwert eines einzigen Liters Benzin schaffen sie es, 1500 Kilometer zu schwimmen. Die Form von U-Booten soll sich deswegen künftig am Körper der Pinguine orientieren. diff --git a/fluter/doppelname.txt b/fluter/doppelname.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7bfd3c71de87c0217ded230f19b694c1ff38c536 --- /dev/null +++ b/fluter/doppelname.txt @@ -0,0 +1 @@ +Ein Beispiel: Vor einigen Jahren wurde in Paris ein Mahnmal zur Erinnerung an den Massenmord an den Armeniern aufgestellt, eine Statue des Geistlichen Komitas. Eine einflussreiche türkische Zeitung druckte ein Foto – und kommentierte es mit einer Illustration. Die zeigte einen Hund, der gegen das Gewand von Komitas pinkelt. So etwas ist demütigend! Mit meinen Freunden diskutiere ich die Armenien-Frage schon. In der Öffentlichkeit tun das wenige Leute. Wie gesagt: Die Menschen haben Angst. Wenn ich zum Beispiel einen Artikel zum Thema veröffentliche, ruft sofort meine Mutter an und fragt, warum ich so etwas mache. Aber wir sind eine neue Generation! In den vergangenen Jahren ist die Demokratisierung des Landes vorangeschritten. Das muss weitergehen, das ist der einzige Weg. Ich will zwar auch, dass die Türkei den Genozid an den Armeniern anerkennt, aber das ist nicht der Hauptpunkt. Wichtiger ist mir, dass wir die Armenien-Frage frei und ohne Angst überall diskutieren können. Ich wünsche mir, dass viele Armenier in die Türkei kommen, um die Orte ihrer Vorfahren zu besuchen. Und dass sie mit den Türken Freundschaften schließen.Rober Koptas, 29, arbeitet als Redakteur beim 1993 gegründeten Buchverlag Aras Publishing in Istanbul.Neben der Verlagsarbeit schreibt er an seiner Dissertation in Geschichtswissenschaften diff --git a/fluter/down-syndrom-alltag-video.txt b/fluter/down-syndrom-alltag-video.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ee9ab18a669454633105259e440a11168ec55c0a --- /dev/null +++ b/fluter/down-syndrom-alltag-video.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Heute werden immer weniger Menschen mit Down-Syndrom geboren, da sich viele Eltern durch die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik für eine Abtreibung entscheiden. In Zeiten immer härterer Anforderungen, sich in Schule, Studium und auf dem Arbeitsmarkt zu bewähren,gibt es oft die Sorge, ein solches Kind würde es zu schwer haben. +Doch warum sollten Menschen wie Lilian keine Daseinsberechtigung haben? diff --git a/fluter/doxa-russland-pressefreiheit-wahlen-interview.txt b/fluter/doxa-russland-pressefreiheit-wahlen-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..94126f5d8e99c804f382bbd9f9ef33be1aa590c8 --- /dev/null +++ b/fluter/doxa-russland-pressefreiheit-wahlen-interview.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Mstislav Grivachev: Das Problem ist, dass die russische Regierung versucht, solche Prozesse in die Länge zu ziehen, so gut es geht. Eigentlich ist das gar nichts, was die Regierung entscheiden sollte, sondern ein Gericht. Dafür müsste es aber Gewaltenteilung in Russland geben. Wir hoffen trotzdem, dass die vier irgendwann freigesprochen werden, auch wenn man zeitlich nicht absehen kann, wann es so weit sein könnte. Wer weiß, vielleicht sind wir auch zu optimistisch, aber die Klage ist für uns einfach Nonsens. Die Akten zu der Ermittlung, die wir einsehen durften, enthalten nicht einmal die Namen der vier oder den Namen des Magazins. Stattdessen stehen dort unter anderem Ergebnisse von schulischen Ruderwettbewerben und Physikwettkämpfen, die nichts mit den vieren zu tun haben. +Wie geht es ihnen im Hausarrest momentan? +Die Situation ist hart für sie, aber sie bemühen sich, mit den Einschränkungen zurechtzukommen. Sie dürfen nicht über das Internet oder per Telefon mit der Außenwelt kommunizieren, aber sie versuchen, diese Maßnahmen zu umgehen. +Wie muss ich mir das vorstellen? +Sie dürfen zum Beispiel keine Nachrichten von ihrem Laptop oder Handy versenden, andere Personen können aber ihre Nachrichten weitergeben. Man merkt, dass diese ganzen Maßnahmen keinen Sinn ergeben, aber belastend sind sie trotzdem. Niemand ist nach Monaten Hausarrest noch dieselbe Person wie zuvor. +Für euch in der Redaktion kann die Situation auch nicht einfach sein. +Es ist hart, weil die Kommunikation mit den Leuten im Hausarrest schwierig ist. Aber wir alle versuchen, unser Bestes zu geben und mit Kampagnen auf die Situation aufmerksam zu machen, um vielleicht so die Entscheidung der Regierung zu beeinflussen. Dabei geht es uns natürlich auch um ihren Freispruch, aber wir hoffen gerade vor allem, dass dadurch der Hausarrest gelockert werden kann. + + +Es wurden auch andere Studierende, die für das Magazin arbeiten, zu dem Vorfall befragt. Habt ihr keine Angst weiterzumachen? +Natürlich ist es ein enormer Druck, wenn auf einmal die Polizei vor der Haustür steht. Im schlimmsten Fall macht die Oma oder die Mutter auf, die werden dann schon panisch. Aber wir halten in der Redaktion alle zusammen, und bisher hat auch noch niemand von uns aufgehört. +Warum ist es euch so wichtig, trotz der Klage weiterzumachen? +Wir beschäftigen uns hauptsächlich mit der Universitätspolitik in Russland, aber berichten auch über Bewegungen innerhalb der Studierendenschaft und politische Proteste. Das sind Themen, die uns ganz persönlich betreffen und über die wir weiter berichten wollen. +Weil ihr häufig über solche kritischen politischen Themen schreibt, stoppte beispielsweise die Higher School of Economics in Moskau ihre finanzielle Unterstützung für euer Magazin. Wie eingeschränkt fühlt ihr euch in eurer Arbeit? +Vier unserer Redakteur*innen befinden sind im Hausarrest, was ja sehr gut zeigt, dass man politisch verfolgt werden kann, wenn man kritisch berichtet. Bei "Doxa" geht es uns aber genau darum, auch die Themen anzusprechen, die der Regierung schaden könnten. Wir wollen einfach berichten, was jungen Leuten gerade wichtig ist. Wir haben zum Beispiel in letzter Zeit viel über Missbrauchsfälle von Frauen an Universitäten berichtet oder über die drastischen Kürzungen von Stipendien für Studierende. +Gibt es ganz allgemein Themen, die von den russischen Medien derzeit vermieden werden? +Niemand von einem anerkannten russischen Medium würde sich weigern, über ein bestimmtes Thema zu berichten, weil man Angst vor einer Strafverfolgung hat. Was aber unter anderem problematisch für unsere Arbeit ist, ist die fehlende Transparenz an den Universitäten und in der Regierung. Viele Dokumente sind an den Unis zum Beispiel nicht einsehbar, sodass es für uns schwierig ist, Veränderungen mitzubekommen und darüber zu berichten. +Am 19. September stehen die Parlamentswahlen an. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE, schicktwegen Behinderungen durch die russische Regierungdieses Jahr keine Wahlbeobachter*innen. Oppositionelle klagen über Repressionen. Wie wirkt sich das alles auf die Medienlandschaft aus? +Nicht nur "Doxa", sondern viele auch sehr große Medien hatten in den letzten sechs Monaten sehr zu kämpfen. Die Repressionen im Land haben definitiv zugenommen und es kritischen Medien schwerer gemacht zu berichten. Gerade geht es vielen einfach nur darum, als Medium zu überleben. +Junge Russ*innen lesen eure Beiträge online und in den sozialen Medien. Kannst du sagen, welche Themen sie dort gerade besonders diskutieren? +Die Klimakrise beschäftigt sehr viele junge Menschen – im Gegensatz zu den Älteren, bei denen noch nicht angekommen ist, wie wichtig das Thema ist. Außerdem wird viel über Lohnungleichheit diskutiert, weil sich die Löhne in Russland je nach Region stark unterscheiden. Auch über die Rechte von Menschen aus der LGBTQI-Community wird immer mehr geredet. Nichtregierungsorganisationen haben außerdem in letzter Zeit sehr stark aufhäusliche Gewalt gegen Frauenaufmerksam gemacht. Ich glaube, dass das für viele junge Menschen ein wichtiges Thema vor der Wahl ist. +Und mit welchen Erwartungen blickst du auf die Wahlen? +Ich selbst habe keine große Hoffnung, dass sich dadurch für uns etwas verändern wird. Besonders wenn man bedenkt, wie viele Oppositionelle aus Russland geflohen sind in der letzten Zeit. Aber man weiß nie, was passiert. Vielleicht ergeben sich, wenn wieder wirklich schwerwiegende Fehler gemacht werden, Proteste wie damals nach den Parlamentswahlen 2011. Damals gingen viele wegen des Verdachts auf Wahlbetrug auf die Straße. Die Proteste könnten dann etwas verändern in Russland. + +Mstislav Grivachev, 21, studiert in Moskau an der Higher School of Economics Politikwissenschaften. Seit 2018 arbeitet er für "Doxa" als Onlineredakteur, Autor und Projektkoordinator. + diff --git a/fluter/drachensteigen-afghanistan-taliban-verbot.txt b/fluter/drachensteigen-afghanistan-taliban-verbot.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..685378d53ac289056e83a76db6c2833fad6be242 --- /dev/null +++ b/fluter/drachensteigen-afghanistan-taliban-verbot.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Für viele Drachenspieler hört dann der Zeitvertreib auf, es geht um Können und Wettbewerb. "In meiner Kindheit fanden zuNawrozWettbewerbe statt, an denen ich auch teilnahm", erinnert sich Nasir Mohammadi, 60. "Viele Menschen können sich gar nicht vorstellen, wie viel Elan und Euphorie im Drachenspiel steckte. Wir haben uns wochenlang darauf vorbereitet und versucht, den perfekten Kampfdrachen zu kreieren." Damals wie heute wurden die errungenen Drachen als Trophäen betrachtet. Es gibt Menschen, meint Mohammadi, die über die Kunst des Drachensteigens Doktorarbeiten schreiben könnten. +Für die meisten Afghanen bleibt das Drachensteigen aber ein Zeitvertreib. Nach dem Feierabend, bevor der Muezzin zum Abendgebet aufruft und es dunkel wird, schwirren Jung und Alt aus, um ihre Drachen aufzuspannen. Oder andere zu "schneiden". Dabei versucht man, andere Drachen vom Himmel zu holen, indem man deren Schnur mit der eigenen kappt. Dafür werden spezielle Fäden gefertigt. Ein Bad in Klebstoff und zerkleinerten Glasscherben macht sie widerstandsfähig und extrem scharf. Solche Drachenfäden werden für viele Afghanen zur Wissenschaft. Wer mit schlechter Schnur startet, verliert seinen Drachen schnell. Egal wie gut er fliegen kann. +Die scharfen Schnüre können auch für den Besitzer selbst gefährlich werden. "Professionelle Drachenspieler nutzen ein Stückchen Leder, damit ihre Finger nicht zerschnitten werden", erzählt Parvez, 40. Jeden Freitag, dem Feiertag der afghanischen Woche, lässt er gemeinsam mit seinen zwei Söhnen Drachen steigen. "Für die Jungs das Highlight der Woche", sagt er. Parvez kennt das noch. Er selbst ist schon als Junge auf die Dächer und Hügel Kabuls gestiegen, um seine aufwendig gebastelten Drachen steigen zu lassen. + + +Dabei war selbst etwas so Harmloses wie Drachensteigen nicht immer selbstverständlich in Afghanistan. Als dieTaliban Mitte der 90er-Jahre an die Regierung kamen, verboten sie mittels ihrer eigenen, sehr extremen Interpretation derScharianeben Fußball, Kino, Dating und anderen Freizeitbeschäftigungen auch das Spiel mit den Drachen. Manche fürchten, dass sich diese Zeiten wiederholen. +Vor gut einem Jahr unterzeichneten die Terroristen, die mittlerweile wieder etwa die Hälfte des Landes besetzen, einen Abzugsdeal mit den USA. Bis September werden ihre Truppen das Land nach fast 20 Jahren verlassen – genau wie knapp 10.000 Nato-Soldaten(siehe Infokasten). Gleichzeitig laufen Friedensgespräche zwischen den Taliban und Vertretern der afghanischen Regierung. Sie suchen Kompromisse, um die Macht im Land aufzuteilen. Eine neuerliche Regierungsbeteiligung derTerroristenwird immer wahrscheinlicher – und damit auch das Ende der Drachen über Kabul? +US-Präsident Joe Biden hat Mitte April erklärt, die US-Truppen bis zum 11. September aus Afghanistan abzuziehen. Am selben Tag verständigten sich auch die Außen- und Verteidigungs­minister der Nato auf den Abzug ihrer Truppen aus dem Land. Der soll im Mai starten, derzeit befinden sich noch knapp 10'000 Nato-Soldaten in Afghanistan. +Schon die Präsidenten Obama und Trump wollten die US-Militär­präsenz in Afghanistan beenden, Biden tut es nun. Dass der Abzug zum 11. September vollzogen sein soll, ist kein Zufall: Die Terroranschläge vor 20 Jahren waren der Auslöser für den Einmarsch. Afghanistan wird damit zum längsten Kriegseinsatz in der Geschichte der USA. +Am Ziel, aus Afghanistan ein demokratisches und stabiles Land zu machen, sind die USA und ihre Alliierten aber gescheitert. Weil nicht klar ist, ob die Regierung die Taliban in Schach halten kann, drohen dem Land neue Kämpfe. +"Ich glaube nicht, dass sie das durchsetzen können. Afghanistan hat sich verändert. Die Menschen werden das nicht akzeptieren", sagt Ajmal. Seit Jahren verkauft der 40-Jährige am Großen Basar von Kabul Drachen, Spulen und Schnüre. Er hat praktisch alles, was das Drachenspielerherz begehrt. "Das ist ein Saisonjob. Nach Neujahr wird der Verkauf zurückgehen, aber gerade kann ich mich nicht beklagen", sagt Ajmal. Die Drachen sind billig. Halbwegs gute Exemplare aus hauchdünnem Seidenpapier und Bambusstäben bekommt man trotz aufwendiger Herstellung meist für wenige Euro. Gutes Geld verdient Ajmal eher mit guten Spulen, deren Schnüre meist mehrere Kilometer lang sind. Ajmal präsentiert ein Stück, das 1.500 Afghani, rund 17 Euro, kostet. "Ein Wettbewerbsstück", sagt er, "nichts für Anfänger." +Warumdie Talibaneinst das Drachenspiel verboten haben, ist für viele Menschen bis heute nicht nachvollziehbar. Manche erzählen, dass das Verbot schon damals nicht aufrechtzuerhalten war. "Als ich im Sommer 1999 nach Kabul kam, war der Himmel voller Drachen", erzählt etwa Thomas Ruttig, Co-Direktor des Thinktanks Afghanistans Analysts Network. "Die Taliban waren einfach nicht mehr fähig, all ihre Verbote zu überwachen und durchzusetzen." +Für Drachenverkäufer Ajmal ist klar, dass es darum gar nicht ging: Das Verbot sei vor allem eine Machtdemonstration gewesen. "Ein Drachen ist so viel mehr als ein Stück Papier an einem Faden. Er ist ein Symbol für Freiheit", sagt er. "Die Taliban waren gegen diese Freiheit. Die Taliban stellten sich damit gegen den Willen der Afghanen – und scheiterten. Sie können die Freiheit nicht verbieten." + diff --git a/fluter/dreams-game-2019.txt b/fluter/dreams-game-2019.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..02f2aed488613e9e4d1a9b30c10bda67f115bb53 --- /dev/null +++ b/fluter/dreams-game-2019.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +"Dreams" kann unglaublich viel. Man kann es nicht nur spielen, sondern damit auch Songs, Bilder, Skulpturen und Filme erstellen und teilen. Es bricht sogar eine relativ komplexe Software zur Musikkomposition so herunter, dass sie am Gamepad der Playstation 4 steuerbar wird. Mit dem Spiel lassen sichkomplexe 3-D-Objektegestalten und animieren. Die Logik lässt sich frei programmieren. Das klingt alles einfach – wer aber ohne konkretes Ziel startet, der bekommt schnell den Eindruck, sich in einer riesigen Legokiste ohne Bauanleitung zu verirren. Schon der Wust an Tutorials ist eine Überforderung. Alles vom ersten 3-D-Würfel bis zu komplexer Programmlogik wird erklärt. Die Einarbeitung kann Tage dauern. + + +Die meisten Spieler dürften sich die Mühe sparen. Das Spiel hat vor dem offiziellen Erscheinungstermin am 14. Februar eine Betaphase durchlaufen und ist mit einergut gefüllten Traum-Mediathekplus einem mehrstündigen Demospiel gestartet. Hier durch die Werke zu surfen fühlt sich im besten Sinne wie ein YouTube-Abend an: Banales und Provisorisches wechselt sich mit Geistesblitzen und weit entwickelten Spielen ab. +Einen Einblick in die Bandbreite ihres "Traumiversums" hat Media Molecule mit einerliebevoll dilettantischen Galashowgewährt: Teammitglieder hampelten dafür vor einem Greenscreen herum und prämierten außerordentliche Werke mit dem sogenannten Impy Award – von dem ausgetüftelten Rätselspiel "Cubric" bis zur Low-Fi-Horrorparodie "Witchy Woods". +Traum des Jahres wurde "Pig Detective: Adventures in Cowboy Town", ein altmodisches Grafikadventure mit absurdem Humor. Das in "Dreams" erstellte Spiel wird von einem deutschen Paar entwickelt und ist Teil einer Reihe von Adventures. Es profitiert von der Stärke der Community: Spieler helfen einander online; viele spezialisieren sich und komponieren etwa Musik für die Träume anderer. Oder sie geben Ratschläge für die Programmierung. Jeder Inhalt aus anderen Träumen darf kopiert, sogar als Baustein oder Blaupause für ein anderes Spiel verwendet werden. + + +Wer selbst Inhalte in "Dreams" erstellt hat, der wird von vielen der Werke beeindruckt sein. Das ist die eine Wahrheit. Die andere ist: "Dreams" zeigt den tiefen Graben zwischen der rudimentären Umsetzung einer Spielidee und dem Niveau, auf dem auch kleineIndie-Studios heute operieren. Die Träume wirken häufig wie ein Do-it-yourself-Abklatsch professioneller Spiele. +Eigenständige Trends sind auf der Plattform auch nach der Betaphase kaum zu erkennen. Am populärsten sind Nachahmungen. Charaktere von Donald Trump bis Sonic the Hedgehog bevölkern die Traumwelt, bisher ohne schnelle Eingriffe bei Rechtsverstößen. Noch schielt das Publikum vor allem auf das handwerkliche Niveau: Am besten bewertet sind detailliert ausgearbeitete Spiele und Welten. Wer etwa politische Inhalte oder Botschaften sucht, der landet bei einigen wenigen Witzen über Bernie Sanders' Aussehen oder Donalds Trumps Ernährungsgewohnheiten. +Politische Themen passen offenbar nicht in das Traumiversum. Werden sie in Träumen wie "Politics Fest '20" oder "The End Result Of All Politics" angesprochen, klingt uninformierte Verdrossenheit durch. Höchstens der Traum "Minimum Wage" findet eine einfache Metapher dafür, wie entwürdigend Lohnarbeit sein kann. Dabei beweist die Indie-Szene seit Jahren, dass abstrakte politische Diskurse in Spielenganz konkret werden können– ob Automatisierung undGig Economyin "Neo Cab" oder Einwanderungspolitik in "Papers, Please". Vielleicht pflegt ein zu großer Teil der Gaming-Industrie die Ansicht, dass Politik ein isoliertes Thema sei, das man weglassen könne, um die gute Laune nicht zu verderben. +Doch die eine oder andere gesellschaftliche Einordnung und politische Bezugnahme könnte die Gaming-Welt noch gut vertragen. Politische Themen können auch Stoff fürgute und unterhaltsame Spieleliefern. Witze und Parodien sind auch deswegen eine tragende Säule des Traumiversums, weil sie auf eine kurze Spieldauer ausgelegt sind. Aber dafür gibt es gefühlt unendlich viele, eine schnell wachsende Auswahl immer besserer Werke. Es ist durchaus möglich, dass hier noch große Träume entstehen. +"Dreams" ist für 40 Euro auf der Playstation 4 erhältlich. +Stills: Sony / Media Molecule diff --git a/fluter/dressed-to-kill.txt b/fluter/dressed-to-kill.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f1c006668b0f7de5242e9f1c7010ca46ebd7826d --- /dev/null +++ b/fluter/dressed-to-kill.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Während der sogenannten Bank-Holiday-Krawalle kam es 1964 in Brighton und anderen Küstenstädten Südenglands zu Schlägereien zwischen Mods und Rockern, was die Presse zu einer Gefahr für die innere Sicherheit stilisierte: Mods in Parkas wurden zum Gegenstand einer moralischen Panik. Gegen Ende der Sechzigerjahre wurde dann die Hippie-Kultur mit ihrem Jeans- und Batik-Look dominierender, und die Mods waren am Ende. Militärjacken trugen zwar auch die rebellierenden 68er, etwa die M-65-Jacke der US-Armee. Doch sie widmeten das Olivgrün subversiv um. +Der Parka der Mods aber kam wieder – spätestens mit dem Spielfilm"Quadrophenia"(1979). Der basiert auf dem gleichnamigen Konzeptalbum von der Rockband The Who, das 1973 erschien und das Heranwachsen eines jungen Mod im London der frühen Sechzigerjahre beschreibt. Mit dem Film erlebte die Mod-Kultur dann Anfang der Achtzigerjahre ein Revival: Der Fishtail war wieder da. Inzwischen kann man in Army Shops kaum noch Originale des Parkas finden, dafür umso mehr originalgetreue Remakes kaufen. +Als der Parka rund 30 Jahre nach "Quadrophenia"erneut aus der Mottenkiste geholtwurde, waren es erst teure Fashion-Labels, dann die billigeren Ketten, die sich vom letzten Revival des Revivals auf den Straßen westlicher Metropolen inspirieren ließen. Am Ende trugen Hunderttausende Jacken, die den Fishtail-Schnitt zitierten, und die Leute hatten, so muss man vermuten, höchstens eine vage Ahnung davon, dass es Militärdesign war. Interessanterweise fand der ursprüngliche Armeeschnitt nun hauptsächlich in der Frauenmode Anwendung – bis dahin orientierte sich vor allem Männermode am Militärdesign. +Das konnte man schon im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit beobachten. Viele Kleiderordnungen mitteleuropäischer Städte beklagten, dass Stadtbürger die bunten Hosen tragen würden, die eigentlich zum Dresscode von Landsknechten gehörten. Schon damals löste soldatische Tracht modisches Begehren aus. Heute orientiert sich männliche Streetwear fast ausschließlich an Militärdesign, Arbeitskleidung und Mannschaftssportbekleidung aus dem 20. Jahrhundert. +Das ist zumindest die zentrale These von William Gibsons satirischem Roman"System Neustart", der 2011 in deutscher Übersetzung erschien: eine kapitalismuskritische Story, die von Modetrends, Warenwelten und Militäruniformen der Zukunft handelt. Gibson geht in seinem Roman der Frage nach, warum Militärklamotten, möglichst im Original, so begehrt sind. Seiner Meinung nach ist der Wunsch nach einer Ausrüstung, die tatsächlich vom Militär genutzt wird, so groß, weil ihre Träger "mit ihrer Kleidung den Eindruck erwecken wollen, sie hätten besondere Fähigkeiten". Das Fachwort für dieses Begehren lautet hier "gear queer", von Gibsons Übersetzern mit "ausrüstungsgeil" ins Deutsche übertragen. Man kann die Realität dieses Bedürfnisses auch daran ablesen, wie stark in den vergangenen Jahren derMarkt der Outdoorbekleidunggewachsen ist. +Trotz braven Mitmachens beim jeweils neuesten Trend wollen die Leute ironischerweise gleichzeitig Dinge besitzen, die weder an den gegenwärtigen noch an einen gewesenen Augenblick gekoppelt sind. Aus diesem Wunsch speist sich auch die wellenförmige Wiederkehr von Militärbekleidung in der Mode, seien es Fishtail-Parkas, Cargo-Hosen, Kampfstiefel, die neuen Flecktarn-Parkas der Bundeswehr oder die gute alte Bomberjacke. Letztere hängt spätestens seit der Wintersaison 2014/15 wieder in den Geschäften. +Allerdings ist das Bestreben, sich dem Zirkus der Trends zu widersetzen und stattdessen in Armeeklamotten eine glückliche Verbindung von Nachhaltigkeit und Funktionalismus zu entdecken, nicht so originell, wie man denken könnte. Otl Aicher, einer der Erfinder des Corporate Designs, hat die Uniform als letztes Refugium des Designs betrachtet: "Nur das Militärdesign hat eine vom Markt so unabhängige Stellung bewahren können, dass ausgemachte Pazifisten und Anarchisten sich aus Armeebeständen ausstatten, um dem launischen Konsumzwang zu entfliehen." Das schrieb Aicher im Jahr 1970. So ist Militärkleidung für den Hipster, was das NobelversandhausManufactum, das die alten "guten Dinge" wieder populär machte, für den Spießer bedeutet: ein Siegel für Qualität. Viele Konsumenten haben einen Überdruss entwickelt gegen "all das Zeug, das sich auslatscht und auseinanderfällt, das einfach nicht echt ist", wie es bei Gibson heißt. +Wie Militärkleidung ein Gefühl von Luxus erzeugt, zeigt die neue Kollektion des israelischen DesignersHed Mayner. Eines der Teile aus seiner Kollektion ist eine Bomberjacke, die so aussieht, als sei sie explodiert. Die Rückenpartie ist völlig zerfetzt. Man kann das als Verweis auf die Herkunft dieses Kleidungsstücks lesen, aber auch als ultimatives modisches Statement: Zeichen und Funktion fallen auseinander. Abgesehen von dieser symbolträchtigen Aneignung der Bomberjacke gibt Mayner ihr in einer anderen Version einen neuen Look, indem er das Futter weglässt und Übergrößen herstellt. Statt kompakte Militanz auszustrahlen, hüllen seine Bomberjacken nun den Körper ein. +"Die Idee des Luxus gibt es nicht, wo ich herkomme", hat Mayner dem Modeblog"The Kinsky"gesagt. "Was uns umgibt, ist der Uniform ähnlicher – das kann tatsächlich militärische Oberbekleidung sein oder jüdisch-orthodoxes Schneiderhandwerk. Das ist nie wirklich perfekt, aber trotzdem raffiniert und erscheint edel. Es gibt keine Idee von Status in diesen Kleidungstücken (oder dieser Kleidung)." Luxus ist bei den Sachen Mayners ein Effekt handwerklicher Präzision. Das Begehren nach Qualität, das sich als Ausrüstungsgeilheit zeigt, zielt hier auf Exklusivität, die an Wissen gekoppelt ist – nicht nur beim Konsumenten, sondern auch beim Schneider. diff --git a/fluter/drifter-film-hannes-hirsch-interview.txt b/fluter/drifter-film-hannes-hirsch-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/dringend-gesucht-lehrer-die-kinder-moegen.txt b/fluter/dringend-gesucht-lehrer-die-kinder-moegen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d5cc004ba1f3bf3e9e4335fbb2846884df69c895 --- /dev/null +++ b/fluter/dringend-gesucht-lehrer-die-kinder-moegen.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Eine rabiate Methode, um für Ruhe zu sorgen: Er warf einfach den Schlüsselbund durch den Raum. "Als wir uns dann beschweren wollten, meinte der Lehrer, wir hätten ja keine Beweise", berichtet ein Schüler aus der zwölften Klasse. "Lehrer sitzen immer am längeren Hebel", klagt eine Elftklässlerin. Der Landesschülerrat Brandenburg hat Erfahrungen wie diese gesammelt. Der Eindruck: Lehrer mögen es nicht, wenn ihre Schüler sie kritisieren. In der Allensbach-Umfrage gaben nur 30 Prozent der Lehrer an, dass sie regelmäßige Beurteilungen durch die Schüler für sinnvoll halten – wobei jüngere Lehrer schon deutlich offener sind als ältere. Damit sich Lehrer öfter das Feedback ihrer Schüler einholen, hat die Politik in Berlin und Brandenburg sogar ein offizielles Internetportal geschaffen. Seit 2008 haben Lehrer ihre Schüler 3.300-mal gebeten, den Unterricht über den Online-Fragebogen zu bewerten – das ist wenig bei 29.000 Lehrern, die in Berlin und Brandenburg unterrichten. "Die Lehrer, die das Portal nutzen, sind aber positiv überrascht, dass die Schüler ehrlich antworten und den Fragebogen nicht zur persönlichen Rache gebrauchen", sagt Holger Gärtner, der am Institut für Schulqualität der Länder Berlin und Brandenburg e. V. für das Projekt verantwortlich ist. Und vieles, was einen guten Unterricht ausmacht, ist für einen Lehrer auf Anhieb gar nicht zu erkennen – etwa, ob wirklich eine angstfreie Atmosphäre in der Klasse herrscht. +Ein und derselbe Schüleraufsatz – einmal heißt der Verfasser Kevin, einmal Maximilian. Bekommen beide dieselbe Note? Schön wär's. Eine Pädagogikstudentin der Uni Oldenburg hat für ihre Abschlussarbeit den Versuch gemacht und den fiktiven Aufsatz mehr als 200 Lehrern vorgelegt. Das Ergebnis: Wer einen angeblichen "Unterschichtsnamen" wie eben Kevin trägt, wird schlechter bewertet. Für Jungen ist der Namensnachteil sogar besonders groß. Das Ergebnis deckt sich mit vielen anderen Studien, die zeigen, dass Lehrer eben nicht nur die Leistung benoten. Sie macht zwar einen großen Teil der Note aus. Aber auch die soziale Herkunft spielt eine Rolle: Professorenkinder bekommen tendenziell bessere Zeugnisse als Kinder aus Hartz-IV-Familien – bei gleichen Leistungen. +Herr Trautwein, wie kommt es, dass Lehrer so ungerecht bewerten? +Ulrich Trautwein: Notengebung ist komplex, und Lehrer werden in ihrer Ausbildung unzureichend darauf vorbereitet. Dazu kommt, dass die Kultusministerien oft nur vage Vorgaben machen, welche Leistung zum Beispiel eine Eins und welche eine Vier verdient. Das sorgt dafür, dass subjektive Eindrücke, Einstellungen und Überzeugungen der Lehrkräfte, die im Bewertungsprozess nichts zu suchen haben, in die Notengebung einfließen. +Ist das nicht fatal? Am Ende der Grundschulzeit bekommen begabte Kinder aus bildungsfernen Schichten wesentlich seltener eine Gymnasialempfehlung. Anscheinend gehen Lehrer ziemlich leichtfertig mit der Zukunft der Schüler um, Chancengleichheit ist ihnen wohl ein Fremdwort … +Trautwein: Viele Lehrkräfte leiden unter der Aufgabe, solche Schulempfehlungen abgeben zu müssen, und entscheiden nach bestem Wissen und Gewissen. Vermutlich berücksichtigen die Lehrkräfte bewusst oder unbewusst, dass Kinder aus bildungsfernen Familien überdurchschnittlich häufig am Gymnasium scheitern, weil es ihnen an Unterstützung durch das Schulsystem fehlt. Eine objektiv ungerechte Empfehlung kann aus dem Blickwinkel der einzelnen Lehrkraft dann durchaus Sinn ergeben. +Ist es nicht gerechter, wenn nach der Grundschule einfach die Eltern entscheiden, auf welche Schule ihr Kind gehen soll? +Trautwein: Nein, eben nicht. Die Elternentscheidungen sind nämlich noch stärker mit der sozialen Herkunft verknüpft als die Lehrerempfehlung. Wenn die Eltern frei entscheiden und es keine zusätzlichen Maßnahmen gibt, wie zum Beispiel verpflichtende Beratungsgespräche mit den Lehrern, dürften die sozialen Unterschiede eher noch größer werden. +Wie könnte man Noten und Schulempfehlungen gerechter machen? +Trautwein: Indem man die zu benotenden Leistungen und Verhaltensweisen klar definiert und standardisiert, für alle Schüler eines Landes gleiche Leistungstests einbezieht. Zudem müssen die Lehrkräfte besser geschult und für das Thema sensibilisiert werden. Und wir müssen dafür sorgen, dass alle Kinder eine faire Chance erhalten, die geforderten Kompetenzen zu erwerben. +Ulrich Trautwein ist Professor für Empirische Bildungsforschung an der Eberhard Karls Universität Tübingen. +Adolf Hitler hat die Mauer gebaut. Sarrazin ist eine Säure. Und wenn sie sich gegenseitig das Wort "Spast" an den Kopf werfen, denken sie, es handle sich dabei um einen kleinen Vogel mit einem ähnlichen Namen. Liest man das Internetblog der Lehrerin "Frau Freitag", richtiger Name unbekannt, bekommt man den Eindruck, die Jugend von heute wäre eine einzige Bildungs- und Benimmkatastrophe. Im vergangenen Jahr kamen Frau Freitags Anekdoten als Buch heraus: "Chill mal, Frau Freitag", das direkt zum Bestseller wurde. Es scheint einer geplagten Pädagogenheerschar aus der Seele zu sprechen: Fast die Hälfte aller Lehrer glaubt der Allensbach-Umfrage zufolge, dass der Unterricht und der Umgang mit Schülern in den letzten Jahren anstrengender geworden sind. Seltsam. Denn der neuseeländische Politikwissenschaftler James Flynn hat festgestellt, dass der durchschnittliche IQ im vergangenen Jahrhundert in jeder Generation gestiegen ist. In Deutschland machen heute mehr Schüler denn je das Abitur, auch die PISA-Ergebnisse sind eher besser als schlechter geworden. Und ob das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom wirklich zugenommen hat, bezweifeln viele Psychologen – vielleicht wird es auch nur besser diagnostiziert. Der Bildungsforscher Ulrich Trautwein hat eine Erklärung dafür, warum Lehrer trotzdem zum Immerschlimmer- Eindruck kommen: Die Hauptschulen leeren sich und lassen die Problemfälle zurück, während die Gymnasien voller werden und kaum noch der Lehranstalt der pflegeleichten Elite von früher entsprechen. So haben alle den Eindruck, dass das Niveau sinkt – auch wenn insgesamt das Gegenteil stimmt. +Herr Hahn, auf dem Schülerportal Spickmich.de wurden Sie zum beliebtesten Lehrer Deutschlands gewählt – mit der Gesamtnote 1,2. Liegt das daran, dass Sie selbst so gute Noten geben? +Jan Hahn: Nein. Ich bin auch definitiv nicht der Kumpeltyp. Das wäre wahrscheinlich auch nicht das, was sich Schüler wünschen. +Sondern? +Guter Unterricht ist einer, der die Schüler ernst nimmt und vor allem dort abholt, wo sie stehen. Ich darf sie weder überfordern noch unterfordern. Und das ist unheimlich schwer. Wenn ich eine Musikklasse übernehme, sind darin Schüler, die kaum musiziert haben, und solche, die schon seit Jahren ein Instrument spielen. Ich muss dann Arrangements schreiben, die jedem gerecht werden. Manchmal ist es den Jungen im Stimmbruch auch peinlich zu singen. Da hilft es, wenn sie die Rhythmen übernehmen: Duum dagdag duum. +Kann man guten Unterricht lernen? +Ich denke, vieles ist tatsächlich reines Handwerk. Ich habe Kollegen, vor denen ich unheimlich Respekt habe und auf deren Rat ich immer wieder angewiesen bin. Ich bin ja selbst noch ein Greenhorn. Die Auszeichnung ist mir ihnen gegenüber unangenehm. +Jan Hahn, 33, unterrichtet Musik und Geschichte an der Theodor-Storm-Schule in Husum. diff --git a/fluter/drinnen-und-draussen.txt b/fluter/drinnen-und-draussen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9e1646abc6f93f346bfe4171c2ccad2c2d4c457a --- /dev/null +++ b/fluter/drinnen-und-draussen.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Mein Taxi holt Dante Escobar zur Eingangspforte, einen freundlichen, mittel­ großen Mann mit Basecap und Brille. Er ist Jurist und gewiefter Millionenbetrüger, die Gefangenen haben ihn zu ihrem Repräsentanten gewählt. "Schön, dich zu sehen", sagt Escobar und lächelt, obwohl er in dieser Woche eigentlich keine Zeit für Besucher hat. Denn die Gefangenen bereiten einen Aufstand vor, um auf die schlechten Bedingungen im Knast aufmerksam zu machen. Sie weigern sich schon seit Tagen, die magere Kost aus der Gefängnisküche zu essen. +Das Gebäude ist über hundert Jahre alt und liegt mitten in La Paz, auf fast 4.000 Meter Höhe, an einem herrlichen Platz mit gepflegten Blumenbeeten und Zeitungskiosken. Gebaut wurde es für 300 Häftlinge, heute sind dort etwa 1.500 untergebracht. Schuld an der Überbelegung ist die bolivianische Gesetzgebung: im Zweifel gegen den Angeklagten. Nur rund ein Viertel der Häftlinge in San Pedro sind verurteilt, die anderen warten auf ihr Verfahren. Bis das beginnt, können Jahre vergehen. +Die Überbelegung hat Folgen. Wenn es regnet, läuft die Kanalisation über, Fäkalien bedecken dann ausgerechnet den Hof, an dem die Gefängnisküche unter­ gebracht ist. "Das ist ein Gesundheitsrisiko für die Häftlinge", sagt Escobar und sieht jetzt sehr ernst aus. Es geht um mehr als neue Abflussrohre. "5,50 Bolivianos, 60 Eurocent, das ist das tägliche Budget für unsere Grundversorgung. Das reicht nicht mal für ein vernünftiges Mittagessen. Deshalb sind wir im Ausnahmezustand." +Die Gefangenen sind sauer. Doch gewaltsame Proteste wie in anderen Männergefängnissen in Lateinamerika gibt es in San Pedro selten. "Allein wegen der Kinder", sagt Escobar und zeigt in Richtung Eingangspforte. Eine Gruppe von Schulkindern mit Rucksäcken kommt gerade in das Gefängnis. Sie rennen in Richtung eines dunklen, engen Gangs, der den Hauptplatz mit den Sektoren im Gefängnisinneren verbindet. Ganze Familien wohnen in San Pedro. Denn viele der Häftlinge sind arm. So arm, dass die Frauen nicht wissen wohin, wenn ihr Mann verhaftet wird. "Sollen sie auf der Straße leben?", fragt Repräsentant Escobar. Er glaubt, dass die Gegenwart von mehreren hundert Frauen und Kindern den Knast befriedet. "Es gibt seit Jahren keine Morde." Damit es ruhig bleibt, haben die Häftlinge Wachmänner aus den eigenen Reihen bestimmt und strenge Verhaltensregeln aufgestellt: keine Wäsche auf der Leine an Besuchstagen. Toilette sauber halten. Nachtruhe. Keine Prügelei­ en, Erpressungen oder Diebstähle. Wer die Regeln bricht, wird bestraft. In schlimmen Fällen mit Schlägen oder Isolationshaft. "Einige halten die Vorschriften nur deshalb ein, weil sie nicht nach Chonchocoro wollen", sagt Escobar. Denn auch Hartgesottene wollen nicht in das berüchtigte Hochsicherheitsgefängnis mit dem Zungenbrechernamen verlegt werden, in dem es Bandenkriege gibt und die Angst regiert. "Wenn schon im Knast, dann lieber in San Pedro." +Das findet auch Ana. Die 28­Jährige sitzt in einem der Innenhöfe und wiegt ihr drei Monate altes Baby auf dem Arm. Vor einem Jahr heiratete sie ihren Freund, einen verurteilten Mörder, und zog zu ihm in den Knast. "Warum nicht? San Pedro ist wie ein Dorf, das von Mauern um­ geben ist", sagt die junge Frau. Sie arbeitete als Sekretärin in einem Ministerium, bevor sie schwanger wurde. Tatsächlich sieht auf den ersten Blick nichts nach Gefängnis aus. Auf dem Hauptplatz stehen Steinbänke und eine Telefonzelle, dahinter eine Kapelle. Ein Hund schnüffelt im Dreck. An den Wänden kleben handgeschriebene Anzeigen: "Vermiete Videorekorder", "Englischkurs bei Muttersprachler". Die Wärter stehen nur am Eingang. Sie passen auf, wer rein­ und rausgeht. Das hyperkapitalistische System, das sich in dem von einer zehn Meter hohen Mauer umgebenen Mikrokosmos entwickelt hat, tasten sie nicht an. "Hier drinnen ist es wie draußen", sagt Ana resigniert und zuckt die Schultern. "Alles geht ums Geld." +Wer in San Pedro arm ist, lebt im Elend. Im Sektor Prefectura teilen sich je vier Häftlinge eine karge, neun Quadratmeter große Zelle. Selbst die Genehmigung, im Gang eines Sektors eine Hütte aus Karton aufzubauen, kostet. Doch wer Geld hat, dem geht es gut. In La Posta wohnen die Reichen in mehrstöckigen Luxuszellen mit Whirlpool. In Los Alamos die Mittelklasse, es ist ein ruhiger Sektor mit einem kleinen Sportplatz in der Mitte. Der Immobilienmarkt in San Pedro könnte in Schulen als Erklärbeispiel für die Funktionsweise der Marktmechanismen dienen: Ist das Gefängnis überbelegt, steigen die Preise der Zellen (Verknappung). Werden viele Häftlinge entlassen, sinken sie (steigendes Angebot). Wenn es Gerüchte gibt, dass San Pedro geschlossen und ein neues Gefängnis gebaut werden soll, fallen sie in den Keller (Systemcrash droht). Wenn ein Gefangener entlassen wird, versucht er Monate vorher, seine Zelle loszuwerden. Denn wenn er kurz vor knapp verkauft, bekommt er weniger Geld (kleinerer Verhandlungsspielraum). Ist die Transaktion abgeschlossen, erhält der Käufer für seine Zelle eine Besitzurkunde. +Ana und ihr Mann leben in Los Pinos, einem ruhigen Viertel mit Billardsalon, Saftbar und improvisiertem Dampfbad in einem kleinen Raum, in dem die Häftlinge Eukalyptusblätter erhitzen. "Wir haben unsere Zelle von einem anderen Gefangenen für 2.000 Dollar gekauft. Ein bisschen tragisch, weil er doch nicht freikam und jetzt eine neue kaufen muss und keine findet", sagt Ana, eine zierliche Frau mit Pferdeschwanz. "Willst du sie sehen?" Weil die Decken hoch genug sind, konnten Ana und ihr Mann ein Zwischengeschoss in dem drei auf vier Meter großen Raum einziehen. Unten betreiben sie ein Restaurant, servieren Hamburger oder Pommes mit Würstchen an vier kleinen Tischen. Eine steile Leiter führt ins Obergeschoss, die prominentesten Möbelstücke im Raum sind zwei eng nebeneinander stehende Betten und ein Flachbildfernseher, in der Ecke stehen zwei Näpfe mit Katzenfutter. "Platz hätten wir, aber ich möchte, dass mein älterer Sohn zu meiner Schwester zieht", sagt Ana. "Alberto ist schon zwölf und lernt hier schlimme Worte. Außerdem werden die Gefängniskinder draußen diskriminiert. In der Schule wurde er nur angenommen, weil ich eine andere Adresse angab." +Vor dem vergitterten Eingangstor stehen die Besucher Schlange. Sie haben große Taschen mit Gemüse, Decken und Geschenken dabei. Immer wieder stellen sich auch Touristen in die Schlange. Sie wollen das Gefängnis besichtigen, das sei möglich, so steht es in ihren Reiseführern. Doch die Wärter schicken sie weg. "No hay tours", sagen die Uniformierten. "¡Ilegal!" Diese Worte werden sie in den nächsten Jahren wohl noch oft wiederholen, denn San Pedro ist bei Touristen berühmt, seit der britische Ex­Häftling Thomas McFadden mit den guided tours begann. Seine Geschichte soll bald verfilmt werden, produziert von Brad Pitt, mit Don Cheadle in der Hauptrolle. Als McFadden zum ersten Mal in dem Gefängnis aufwachte, dachte er, er träume noch: Eine Frau verkaufte auf einem Platz Kartoffeln, Kinder spielten. McFadden schloss die Augen und öffnete sie wieder. Die Frau bot noch immer Kartoffeln an. Der Engländer war wegen Drogenschmuggels verhaftet worden und auf das Schlimmste gefasst. Dunkle Zellen, verwanzte Matratzen, Bandenkriege – so hatte er sich ein Männergefängnis im ärmsten Land Südamerikas vorgestellt. +McFadden hatte Hunger, aber ohne Geld wollte ihm niemand etwas zu essen geben oder einen Schlafplatz. Er war krank und spuckte Blut, doch auch der Arzt – selbst ein Häftling – wollte Geld für die Untersuchung. Nur dank der Hilfe eines Mitgefangenen überlebte er die ersten Wochen. Zuerst bat der Brite Freunde in Europa um Hilfe. Dann begann er, Touristen als seine Besucher auszugeben, und führte sie gegen Geld durch das Gefängnis. Er ließ sie sogar in San Pedro übernachten, gab ihnen Kokain, das damals im Knast hergestellt wurde. Bald war McFadden unter Rucksackreisenden berühmt. Die Wärter am Eingang und einige Mitgefangene verdienten mit. Eine runde Sache. Als der Brite entlassen wurde, übernahmen andere Häftlinge sein Geschäft. +Doch der neue Gefängnisdirektor hat die Touren verboten. "Leider", sagt Juan, 24, zu 30 Jahren Haft verurteilt, weil er in Rage einen Erpresser ermordete. "Die Besucher waren eine gute Einkommensquelle." Juan würde gerne studieren und träumt davon, nach Asien auszuwandern. "Hier leben wir in der Vergangenheit, ich möchte in die Zukunft reisen." +Dante Escobar sorgt sich lieber um die Gegenwart. "Wenn die Gebäude nicht bald saniert werden, fallen sie in sich zusammen. In viele Zellen regnet es schon lange rein", sagt er und gestikuliert wild mit den Armen. Doch nach einer Pause fügt er hinzu: "Ich sitze lieber in San Pedro als in einem modernen Gefängnis in Dänemark, in dem ich eine neue Bettdecke und eine Zahnbürste bekomme, aber isoliert lebe. Hier leiden wir, aber wir finden Freunde und sind nicht alleine." diff --git a/fluter/dritte-generation-junge-tuerken-in-deutschland.txt b/fluter/dritte-generation-junge-tuerken-in-deutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..80f5fc0e61f1f745a1bf31e7cec3eae5047fff6e --- /dev/null +++ b/fluter/dritte-generation-junge-tuerken-in-deutschland.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Ich bin in den 1990er-Jahren aufgewachsen, in einer Zeit, in der Neonazis schon mal von Ausländern bewohnte Mehrfamilienhäuser in Brand steckten. Der NSU hat sich zu dieser Zeit formiert, um jahrelang unbemerkt durch Deutschland zu ziehen und ab 2000 kaltblütig Migranten zu ermorden. Dass meine Eltern nicht anecken wollten, war also eine notwendige Maßnahme zum Selbstschutz. Aber es ging noch um mehr. Sie wollten mir Dinge ermöglichen, die sie selbst nicht hatten: Bildung, deutsche Freunde, die Aussicht auf eine erfolgreiche Karriere. Ich bin die Erste in meiner Familie, die in Deutschland geboren ist. Somit gehöre ich zu der sogenannten "dritten Generation". Meine Großväter waren Anfang der 1970er-Jahre als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, ihre Frauen und Kinder zogen erst zehn Jahre später nach. Meine Eltern waren Teenager, als sie kamen, und haben hier, wenn überhaupt, nur wenige Monate die Schule besucht. Mein Vater begann schon sehr früh, im Schichtbetrieb einer Fabrik zu arbeiten. Irgendwann lernte er meine Mutter kennen, sie heirateten, dann kam ich auf die Welt – und wurde zum persönlichen Integrationsprojekt der beiden. +"Du musst doppelt so viel lernen wie die anderen Kinder!" Dieser Satz wird vielen aus meiner Generation bekannt vorkommen. Er steht für die hohen Erwartungen, die unsere Eltern an uns hatten. Und er steht dafür, dass unsere Eltern sehr wohl wussten, dass es nicht leicht für uns werden würde. Für meine Mutter war es ganz selbstverständlich, dass deutsche Kinder allein für ihre Anwesenheit im Unterricht mit guten Noten belohnt wurden. Ich aber musste glänzen, mit außergewöhnlichem Wissen, den originellsten Aufsätzen und einer zusätzlichen Französisch-AG. +Der Ehrgeiz meiner Eltern ging so weit, dass sie, wann immer es ihnen zeitlich und inhaltlich möglich war, meine Hausaufgaben erledigten (was nicht oft vorkam, weil sie beide Vollzeit berufstätig waren, aber immerhin). Mein erstes Referat drehte sich um die Türkei und wurde komplett von meinem Vater verfasst. Ich verstand die Hälfte nicht, aber meine Lehrerin war so stolz, dass sie der Rektorin davon erzählte, die mich im Anschluss öffentlich dafür lobte. +Zur Enttäuschung meiner Eltern war ich aber von Natur aus kein besonders fleißiges Kind. Ich "vergaß" oft meine Hausaufgaben, täuschte in Mathe Kopfschmerzen vor, damit ich an die frische Luft durfte, und tauchte oft in Tagträume ab, in denen ich mit der Anime-Figur Mila Superstar Volleyball spielte. +Zu den schlimmsten Momenten meines Lebens gehörten die Abendstunden, die auf sogenannte Elternsprechtage folgten. Weil dann die Wahrheit ans Licht kam. "Faul", "frech", "lenkt die anderen Kinder ab" waren die Phrasen, die meine Eltern am häufigsten von Lehrern über mich zu hören bekamen. Gedemütigt kamen sie nach Hause. "Willst du etwa, dass die denken, Türken wären faul und dumm?", fragten sie mich. Alles, was ich tat, war symbolisch für eine gesamte Bevölkerungsgruppe. Als eine der wenigen Türkinnen, die es aufs Gymnasium geschafft hatte, stand ich repräsentativ für alle, die dort nicht waren. Ich bekam Hausarrest und durfte eine Woche lang nichts mehr tun, was irgendwie Spaß machte. +Als ich 15 war, gingen meine Eltern immer noch zu diesen Sprechtagen. Die Kommentare hatten sich inzwischen in "respektlos", "keine Disziplin", "raucht heimlich auf der Toilette" verwandelt. Ich wollte mich nicht mehr unauffällig verhalten oder anpassen. Mein Name und mein Aussehen sorgten sowieso dafür, dass ich in der Schule benachteiligt wurde. Wieso sollte ich also in der Ecke sitzen und schmollen? Ich spielte die gefährliche Ausländerin und beschimpfte meine Mitschüler als Kartoffeln. Als ich einer offenkundig rassistischen Lehrerin ins Gesicht brüllte, dass sie rassistisch sei, bestellte sie meine Eltern ein. Sie erklärte ihnen, dass ich Verhaltensstörungen aufwies und besser auf einer Förderschule aufgehoben sei. Langsam gingen meiner Mutter die Ideen aus, was sie mir noch verbieten konnte. Dann durfte ich nicht mehr im Schultheaterensemble mitspielen. Ich bezweifle, dass diese Maßnahme pädagogisch wertvoll war – aber sie traf mich hart. Noch schlimmer aber: Es waren meine Eltern, die mir erklärt hatten, was institutioneller Rassismus ist. Und ironischerweise waren es meine Eltern, die mich dafür bestraften, dass ich versuchte, mich dagegen zu wehren. +Heute kann ich sie besser verstehen. Weil ich mehr über die Umstände weiß, unter denen sie nach Deutschland kamen. Dass sie und meine Großeltern als temporäre Arbeitskräfte galten, die die deutsche Wirtschaft ankurbeln und sich danach wieder aus dem Staub machen sollten. Sie sahen es als Privileg, langfristig hierbleiben zu dürfen, nicht als ihr Recht. Und wahrscheinlich ist das der große Unterschied zu uns, der dritten Generation: Wir sind in Deutschland geboren und wollen als gleichberechtigte Mitbürger und Mitbürgerinnen behandelt werden. Und wenn uns was nicht passt, dann schreien wir auf. +Fatma Aydemir (31) hat mit "Ellbogen" in diesem Jahr einen viel besprochenen Roman geschrieben. Er handelt von drei Freundinnen mit Migrationshintergrund, deren Frust in einer Gewalttat mündet. +Illustration: Gregory Gilbert-Lodge diff --git a/fluter/droge-ayahuasca-zeremonie-in-peru.txt b/fluter/droge-ayahuasca-zeremonie-in-peru.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..805dbe0a9ff96d3df696263426a076b68acd78e0 --- /dev/null +++ b/fluter/droge-ayahuasca-zeremonie-in-peru.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Ayahuasca, die "Liane der Geister", wie das Gebräu auf Quechua heißt, wird von den Medizinmännern in Peru, Kolumbien und Brasilien schon lange für medizinische und rituelle Zwecke genutzt, im Amazonasbecken ist die Zeremonie mit dem halluzinogenen Getränk Teil einer jahrhundertealten Kultur und Identität. Selbst Kinder nehmen daran teil. Auch sie sollen ihr Bewusstsein erweitern, sich selbst besser kennenlernen. Dass man sich nach der Einnahme des bitter schmeckenden Gebräus meist erbrechen muss, wird als reinigender Effekt betrachtet. +Eine Zeremonie dauert meist eine ganze Nacht, typischerweise findet sie in malocas statt, traditionellen Gemeinschaftshäusern ohne Außenwände. Sie beginnt spätabends, wenn die Teilnehmer es sich in Hängematten oder auf Matratzen gemütlich gemacht haben. Vor dem "Altar" des Schamanen bekommt einer nach dem anderen einen Becher ausgeschenkt, vorsichtshalber haben alle einen Kotzeimer vor sich. Nach ein, zwei Stunden bietet der Schamane einen zweiten Becher an, dann beginnt die Musik – der Schamane und seine Assistenten singen und spielen Gitarre, Maultrommel oder Flöte. Oft singen sie noch früh am Morgen, wenn die Sonne aufgeht und viele Teilnehmer vor sich hin dösen. +Bereits 1963 wurde die Droge über das Amazonasgebiet hinaus bekannt, als der Beat-Poet Allen Ginsberg in dem Buch "The Yage Letters" über seine Erfahrungen damit schrieb. Heute schwören Prominente wie die Schauspielerin Lindsay Lohan oder Sting auf das Gebräu, Netflix zeigte bereits zwei Filme zum Thema. Die Doku "Drink the Jungle" auf der Webseite der Firma Onnit, einem kalifornischen Anbieter von Nahrungsergänzungsmitteln, dürfte mit dafür gesorgt haben, dass Ayahuasca auch im Silicon Valley Beachtung findet: Immer mehr Start-ups schicken ihre Mitarbeiter zur Selbstfindung und Bewusstseinserweiterung in den Dschungel und erhoffen sich dadurch eine Optimierung ihrer Arbeitskraft. +Mittlerweile gibt es in Peru zahlreiche Landstriche voller Ayahuasca-Resorts. Allein in der Region um Iquitos, der größten Stadt im tropischen Regenwald von Peru, sind bereits 60 bis 70 Zentren auf den Dschungelcocktail spezialisiert, schätzt der Wissenschaftler Carlos Suárez Álvarez, der die ökonomischen und kulturellen Entwicklungen im Amazonasgebiet für sein Buch "Ayahuasca, Iquitos and Monster Vorāx" untersuchte. Für eine Woche "Therapie" zahlen die Besucher in der Regel um die 1.000 US-Dollar, inklusive Schlammbädern, Yogastunden und diverser Ausflüge. Allein in Iquitos erwirtschafteten die zehn größten Zentren gut sechs Millionen Dollar pro Jahr, hat Carlos Suárez berechnet. +"Ayahuasca erobert die Welt, und die Welt erobert Ayahuasca", sagt Suárez. So habe sich der Preis der Pflanze zwischen 2010 und 2016 verdreifacht. Auf den Märkten der Einheimischen koste das Gebräu in der Literflasche schon mal 200 Dollar, fast die Hälfte eines durchschnittlichen Monatsgehalts. In zehn Jahren, sagt Suárez, sei die Liane von einer unbekannten zu einer der teuersten Pflanzen der Region geworden. Manche Schamanen fänden kaum noch die notwendigen Zutaten im Dschungel, viele Gegenden seien abgeerntet oder die Pflanzen samt Wurzel ausgerissen worden. Dass die Liane aussterbe, sei dennoch nicht zu erwarten, sagt Suárez – dafür sei sie viel zu lukrativ. Tatsächlich haben peruanische Geschäftsleute bereits begonnen, sie im großen Stil auf Plantagen anzubauen. +… den meisten wird aber erst mal ziemlich schlecht +Der Boom treibt aber nicht nur die Preise hoch und bedroht eine jahrhundertealte Kultur, er ruft auch viele Pfuscher auf den Plan, die wenig Ahnung haben vom komplexen Zusammenhang zwischen menschlichem Geist und tropischer Fauna. Sie klären zu wenig über mögliche Nebenwirkungen auf, manchmal mischen sie auch gefährliche Substanzen in den Trunk. +Während Kritiker vor psychischen Erkrankungen warnen, glauben die Befürworter von Ayahuasca ganz im Gegenteil fest daran, dass die Droge eine Psychotherapie überflüssig machen und sogar Drogensucht kurieren kann. Der französische Arzt Jacques Mabit kam einst über "Ärzte ohne Grenzen" nach Peru und gründete 1992 eine Klinik für traditionelle Ayahuasca-Zeremonien. Das Startgeld bekam er von der EU, dazu kamen Spenden – auch heute noch. Vor allem aber finanziert er das Zentrum über die Therapie von Drogenabhängigen, die teils Tausende Euro für mehrmonatige Aufenthalte zahlen. Dabei stehen den Schamanen auch Ärzte und Psychologen aus der westlichen Welt zur Seite. "Die blinde Liebe zum Geld befördert allerdings die Kommerzialisierung der Medizin und ihren Missbrauch", sagt Mabit. "Viele Weiße setzen sich Federkronen auf und nennen sich Schamanen, um Geld zu machen. Das ist auch ein Mangel an Respekt gegenüber der Kultur." Zudem würden nicht alle Schamanen gleichermaßen vom Boom profitieren: "Aber Yagé hat manchen Indigenen erstmals zu ein wenig Reichtum verholfen", sagt der kolumbianische Schamane Juan Jamioy. +Peruhat über 31 Millionen Einwohner und ist neben Bolivien eins der südamerikanischen Länder, in denen besonders viele Indigene leben – in den Regenwäldern sogar ein paar Tausend, die zu den isolierten Völkern gerechnet werden, also keinen oder kaum Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft haben. +Doch es gibt auch einige Volksgruppen, die sich gern am großen Business beteiligen würden – aber nicht wissen, wie sie Touristen werben, Touren organisieren oder die Zeremonien auf deren Bedürfnisse zuschneiden sollen. So trage ausgerechnet zur sozialen Spaltung bei, was einst das friedliche Miteinander förderte, sagt der Wissenschaftler Suárez. Für die Indigenen seien die Ayahuasca-Zeremonien auch ein Mittel gegen häusliche Gewalt oder Alkoholismus, so Mabit. "Sie sind ein soziales Event, bei dem Freundschaften entstehen und Probleme gelöst werden. Ein Prozess der kollektiven und individuellen Heilung." +Auch bei Familientreffen gehören solche Zeremonien zur Tradition, berichtet der Schamane Juan. "Das ist wichtig, damit sich auch Kinder schon früh mit der Energie und dem Universum verbinden, ihre Talente erkennen und entfalten können." Einer seiner Söhne ist gerade 18 geworden und weiß sehr genau, was er will: Er hat jetzt seine 30 Jahre dauernde Ausbildung zum Schamanen angefangen. +In den sozialen Medien kann man dagegen beobachten, wie weit sich das Ritual von seinem Ursprung entfernt hat: Obwohl die Droge in Deutschland nach dem Betäubungsmittelgesetz verboten ist, werden zahllose Wochenend-Retreats für 300 bis 400 Euro angepriesen. Nicht nur vom Gesetz, auch von der Magie des Dschungels ist man dann auf jeden Fall ziemlich weit entfernt. + diff --git a/fluter/drogen-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-haben.txt b/fluter/drogen-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-haben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..46fe42141b7fde9884d68fd03c31f78f62a77538 --- /dev/null +++ b/fluter/drogen-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-haben.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +"Jetzt wirkt das Koks bei mir, du. Ich fühl mich total wach." Das Youtube-Video, in dem zu sehen ist, wie der ehemalige Richter und Hamburger Innensenator Ronald Barnabas Schill Kokain nimmt, ist zugegebenermaßen ein besonders bizarres Kapitel aus der Saga Politiker-auf-Drogen. Zumal Schill als Richter ja für eine gnadenlose Null-Toleranz-Politik gegenüber Straftätern warb. Auch der ehemalige US-Präsident Bill Clinton hat zugegeben, einen Joint geraucht, aber nicht inhaliert zu haben. Sein Nachfolger George W. Bush war Alkoholiker. Und Obama hat gekifft und gekokst. Warum wir dann nicht einen Text zum Thema beauftragten? Bei deutschen Politikern ist bis auf Herrn Schill recht wenig von Verfehlungen bekannt. +Ende der siebziger Jahre verfassten zwei Reporter des Magazins "Stern" einen dokumentarischen Roman über eine junge Drogensüchtige aus Berlin. Das Schicksal von Christiane F. erschütterte Millionen. F. hatte im Alter von zwölf Jahren begonnen Drogen zu nehmen und ging auf den Kinderstrich. Nach dem Erfolg des Buches "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" versuchte Christiane F. sich als Popmusikerin. "Ich bin so süchtig – dein Lenkrad zu fühlen" singt sie in ihrem Lied "Wunderbar". Immer wieder hieß es, die berühmteste Drogensüchtige Deutschlands habe ihre Sucht besiegt, doch 2008 wurde bekannt, dass das Jugendamt Christiane F.s Sohn in Obhut genommen hatte, weil sie wieder rückfällig geworden war. diff --git a/fluter/drogen-geschichte-barop-der-gro%C3%9Fe-rausch-interview.txt b/fluter/drogen-geschichte-barop-der-gro%C3%9Fe-rausch-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3e598d5b743206002462faeb45fc0b4873a2c7fa --- /dev/null +++ b/fluter/drogen-geschichte-barop-der-gro%C3%9Fe-rausch-interview.txt @@ -0,0 +1,38 @@ +Aber so war es nicht? +Nein, es ging viel mehr um geopolitische Interessen und koloniale Bestrebungen der USA, vermengt mit Rassismus gegenüber Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen, und einem protestantischen Dogma von Nüchternheit, das moralisch aufgeladen war. Mit Gesundheitspolitik hatte das also relativ wenig zu tun. +Das sind harte Vorwürfe. Können Sie das genauer erklären? +Im 19. Jahrhundert waren Drogen zunächst dasselbe wie Medikamente. Man konnte in die Apotheke gehen und sich da alles Mögliche kaufen, Laudanum zum Beispiel, also Opiumtinktur, oder Morphium, ebenfalls ein Opiat, später auch Kokain und Heroin. Und natürlich Hanf. Im Grunde verlief die Entwicklung immer gleich: Die Substanzen, die heute als besonders gefährliche Drogen eingestuft sind, kamen ursprünglich als eine Art Wundermittel auf den Markt, von dem erst mal alle ganz begeistert waren. Erst später stellte man fest, dass der Konsum auch Nebenwirkungen hat. Das war eine Art kollektiver Lernprozess. +Aber der führte trotzdem nicht zu den Verboten? +Nein, zu Verboten kam es immer erst in dem Moment, in dem die Substanzen auf gesellschaftlicher Ebene mit etwas anderem Unerwünschten verknüpft wurden. Beim Opium waren das chinesische Migranten, überwiegend Männer, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die USA immigrierten und die Konsumtechnik des Opiumrauchens mitbrachten. Sie suchten an der Westküste nach Arbeit, entweder in den Goldminen oder im Eisenbahnbau. Aber sie wurden von den bereits einige Generationen zuvor in die USA ausgewanderten Migranten aus Europa abgelehnt und lebten segregiert in den bis heute bestehenden Chinatowns. Man sprach von der "Gelben Gefahr", immer wieder kam es zu Gewalt und Pogromen. Diese Ablehnung übertrug sich auch auf die Substanz, die von dieser Gruppe in einer bis dahin unbekannten Weise konsumiert wurde. +Inwiefern? +Ein Sinnbild dafür ist der Mythos der sogenannten Opiumhöhle. Das ist ein finsterer Ort des Lasters, in dem angeblich verlotterte chinesische Männer im Keller auf der Matratze liegen und sowohl unschuldige weiße Frauen verführen als auch weiße tüchtige Männer ins Unheil stürzen. Dieses Bild ist größtenteils Fiktion. Trotzdem hat es die Opiumhöhle als Ort der Sünde und des Verfalls von Moral und guten Sitten in unsere Kriminalliteratur geschafft, bei Sherlock Holmes zum Beispiel oder auch im Roman "Das Bildnis des Dorian Gray" des irischen Schriftstellers Oscar Wilde. Erst als diese rassistisch motivierten Ängste ins Spiel kamen, wurde das Opiumrauchen in den USA verboten, 1875 in San Francisco und dann 1909 auf nationaler Ebene. +Was führte zum Verbot vonKokain? +Das Verbot war ebenfalls rassistisch motiviert, denn es trat erst in Kraft, als der Konsum mit Gewaltdelikten von afroamerikanischen Männern in Verbindung gebracht wurde. Das gipfelte darin, dass die "New York Times" Anfang des 20. Jahrhunderts einen Artikel veröffentlichte, in dem allen Ernstes zu lesen war, afroamerikanische Männer würden durch den Konsum von Kokain immun gegen Schusswaffen und dass sich die Polizei in den Südstaaten deshalb großkalibrigere Waffen habe zulegen müssen. Die Märchen, die da jeweils in Stellung gebracht wurden, klingen absurd. Wenn man aber auf die aktuellen Zahlen der Gefängnisinsassen in den USA blickt, wo nach wie vor überwiegend Schwarze Männer wegen Drogendelikten inhaftiert sind, dann weiß man: Solche Erzählungen hinterlassen tiefe Spuren. +Wie fanden die Verbote ihren Weg nach Deutschland? +Das hat vor allem mit der US-amerikanischen Außenpolitik zu tun – und mit den Philippinen. Die waren von 1898 bis 1946 US-amerikanische Kolonie. 1902 wurde dort ein Mann namens Charles Henry Brent Missionsbischof der Episkopalkirche. Und der hatte sich vorgenommen, das Opiumproblem zu lösen, das er auf den Philippinen ausgemacht hatte. Wie die allermeisten Religionen sah auch das Christentum im Rausch eine verurteilenswerte Ablenkung vom Glauben. Brent musste jedoch feststellen, dass ein Verbot von Opium auf nationaler Ebene nicht durchsetzbar war, solange alle anderen Länder drum herum weiter munter Opiumhandel betrieben. Also beriefen die USA auf Brents Initiative hin 1909 die erste Internationale Opiumkommission in Schanghai ein. +Wie war damals die deutsche Haltung? +Die deutschen Diplomaten waren nicht sehr begeistert von der Idee, Opiate mit Regeln zu belegen. Deutsche Pharmaunternehmen importierten im großen Stil Opium aus der Türkei, um es in Deutschland zu Morphium und Heroin weiterzuverarbeiten. Deutschland hat die internationalen Drogenkonventionen, die im Verlauf weiterer internationaler Konferenzen zustande kamen, erst unterzeichnet, als das Kaiserreich den Ersten Weltkrieg verlor und im Zuge des Versailler Vertrages dazu gezwungen wurde, auch diese neuen Drogengesetze zu unterschreiben. +Warum wurde Cannabis in die internationalen Drogenkonventionen aufgenommen? +Bei der Internationalen Opiumkonferenz im Jahr 1925 kam mit Ägypten, das erst ein paar Jahre zuvor unabhängig geworden war, ein neuer Akteur ins Spiel. Der ägyptische Delegierte sprach über ein Haschischproblem in seinem Land – und bezeichnete den Haschischkonsum als soziales Übel, das die Menschen in den "Wahnsinn" stürze. In den USA war das Thema Cannabis in den Südstaaten bereits mit mexikanischen Einwanderern verknüpft, die seit der mexikanischen Revolution verstärkt ins Land kamen und wieder eine bis dato relativ unbekannte Konsumtechnik mitbrachten. Die USA unterstützten also Ägypten in dem Vorhaben, Haschisch zu verbieten, und weil sich Deutschland 1919 verpflichtet hatte, die internationalen Drogenkonventionen zu ratifizieren, fand Cannabis Eingang in den Vorgänger des deutschen Betäubungsmittelgesetzes. Bis die Substanzauch in Deutschland verfolgt wurde, vergingen trotzdem noch ein paar Jahrzehnte. + +Wann ist das passiert? +Unter den Naziswurden Menschen mit Abhängigkeiten erstmals in Deutschland stark verfolgt. Sie galten als "Schädlinge des Volkskörpers" und wurden in "Heilanstalten" – die Anführungsstriche sind hier sehr wichtig – zwangseingewiesen. Später wurden sie in Konzentrationslager deportiert und dort umgebracht. Andere fielen den Krankenmorden zum Opfer. Nach meinem Dafürhalten ist das auch für die spätere Sicht auf Drogenkonsum in der frühen Bundesrepublik wichtig. Der Gedanke, dass Drogenkonsum etwas Böses und Bestrafenswertes sei, wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht wirklich reflektiert. Das erste deutsche Prohibitionsgesetz, das eine ernst zu nehmende Strafverfolgung mit sich brachte, kam dann aber erst 1972 – und zwar als Reaktion auf die 68er-Bewegung. In dieser Debatte wurden Drogen zu einem wichtigen Symbol – sowohl in den USA als auch in Deutschland. +Inwiefern? +DieHippieshier wie dort haben ihren Protest oftmals gar nicht so sehr mit Worten formuliert, sondern einfach durch eine Lebensweise, die sich sehr stark von der der Elterngeneration unterschied und die zum Ausdruck brachte: Es ist mir egal, wie ihr das findet, Mama und Papa. Ich mache jetzt, was ich will. Ich trage meine Haare lang, schlafe, mit wem ich will, weigere mich, in den Krieg zu ziehen, und ich rauche Joints und nehme LSD. Der Backlash folgte auf dem Fuße. Erst wurden LSD und Psilocybin, der psychoaktive Wirkstoff von Magic Mushrooms, verboten, dann erklärte US-Präsident Richard Nixon den Drogen den Krieg. Obwohl es damals eine Menge wissenschaftlicher Studien zur positiven Wirkung psychedelischer Substanzen bei psychischen Erkrankungen gab, die erst seit Mitte der 90er-Jahre wieder aufgenommen wurden. Das Verbot war also politisch motiviert und ignorierte relevante Forschungsergebnisse. Diese Verbote wurden wenig später auch in Deutschland umgesetzt. +Warum übernahm Deutschland die Verbote einfach so? +Wenn man sich die Protokolle der 1972 geführten Debatten im Deutschen Bundestag dazu durchliest, dann stellt man fest, dass vor allem konservative Politiker die US-amerikanischen Argumente eins zu eins übernahmen. Das Argument war: So schlimm wie in den USA darf es bei uns nicht werden. Den Moment, in dem sich die deutsche Politik ernsthaft fragte: Haben wir eigentlich dieselbe Ausgangslage wie in den USA, und was sind angemessene Reaktionen auf unsere Situation?, gab es nie. Das erste eigene Drogenproblem bekam Deutschland eigentlich erst Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre. Da gab es auch in Deutschland eine Heroinwelle. Aber auch die war deutlich schwächer als in den USA. +Man denkt sofort an das Buch "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo", das 1978 veröffentlicht wurde. Darin erzählt ein Mädchen namens Christiane F. ihre Geschichte. +Das ist ein Buch, das für ein extrem verzerrtes Bild in den Köpfen der Menschen gesorgt hat,was Drogenkonsum und Abhängigkeitbetrifft, und aus dem Mythen stammen, die bis heute in der Legalisierungsdebatte nicht totzukriegen sind, obwohl sie seit Jahrzehnten widerlegt sind. +Was stimmt denn nicht an der Erzählung? +Da wäre zum einen der Mythos der Einstiegsdroge. Christiane F. konsumiert Cannabis, gerät auf die sogenannte "schiefe Bahn" und kommt da nicht wieder raus. Cannabis wird so als eine Droge dargestellt, deren Konsum in der Heroinabhängigkeit endet. Das ist widerlegt. Ganz generell ist es so, dass laut wissenschaftlichen Untersuchungen etwa 70 bis 90 Prozent aller Menschen, die illegale Drogen konsumieren, kein Problem mit ihrem Konsum haben, also weder eine Abhängigkeit entwickeln noch andere negative Auswirkungen erleben. Nur zwischen 10 und 30 Prozent entwickeln laut diesen Untersuchungen Abhängigkeiten oder erleiden Drogenunfälle. Und um die muss man sich kümmern. Auch stimmt es nicht, dass man mit dem ersten Zug – und im Übrigen auch nicht mit dem ersten Schuss – sofort abhängig wird. Dazu bedarf es bestimmter Voraussetzungen. Die hatte Christiane F. Aber die werden im Buch nicht als entscheidend problematisiert. +Welche Voraussetzungen sind das? +Es gab ganz offensichtlich Probleme im Leben dieses Mädchens, die dazu geführt haben, dass eine solche "Drogenkarriere" für sie eine Option war. Grundsätzlich können das psychische Probleme sein, ebenso wie soziale. Eigentlich müsste man sich also um diese Probleme kümmern, wenn man solche Schicksale verhindern will – also um Themen wie Armut, familiäre Konflikte oder Rassismus, oder um die adäquate Behandlung von Traumata und psychischen Erkrankungen. Aber das würde viel Geld kosten und wäre mit sehr viel Aufwand verbunden, denn solche Probleme sind meist komplex. Also ist es leichter zu sagen: Du bist selbst schuld. Du hättest ja keine Drogen nehmen müssen. Und jetzt, wo du das gemacht hast, bist du sowieso verloren, und wir können leider gar nichts mehr für dich tun. Thema erledigt. +Das klingt so, als seien Drogen harmlos. Aber das stimmt doch nicht. +Nein, Drogen sind nicht harmlos. Und das will ich damit auch nicht sagen. Aber mir fehlt der Punkt in der Geschichte, an dem sich kompetente Menschen faktenbasiert und auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhend zusammensetzen und überlegen: Was bringt unsere aktuelle Drogenpolitik, und erreichen wir damit die von uns gesteckten Ziele? Und wem schadet die aktuelle Drogenpolitik und warum? Dass die aktuelle Bundesregierung darüber nachdenkt, wie sie dieCannabisentkriminalisierung– trotz der geltenden internationalen Drogenkonventionen – auf den Weg bringen kann, ist das erste Mal in der deutschen Geschichte, dass das überhaupt jemand macht. +Was fordern Sie denn? +Die internationalen Drogengesetze, deren Entstehen ich skizziert habe, sind keine Naturgesetze. Solche Verabredungen kann man ändern. Und ich finde, darüber sollten wir nachdenken. Was in dieser Debatte nach meinem Dafürhalten nichts mehr zu suchen hat, sind die moralischen Grundprämissen, unter denen diese Gesetze vor sehr langer Zeit entstanden sind – also die klar rassistischen Bewegründe, die zur Kriminalisierung geführt haben, genauso wie der streng protestantische Gedanke, nur ein nüchterner Mensch sei ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft, und die daraus folgende Stigmatisierung, die mit Rausch und Sucht einhergeht. So könnten wir am Ende zu einer Drogenpolitik gelangen, die sowohl wirkungsvoller ist als auch humaner mit den Menschen umgeht, die tatsächlich unter einer Abhängigkeitserkrankung leiden. + + +Helena Barops "Der große Rausch. Warum Drogen kriminalisiert werden. Eine globale Geschichte vom 19. Jahrhundert bis heute" ist im Siedler Verlag erschienen. + +Helena Barop, geboren 1986, studierte in Freiburg und Rom Geschichte und Philosophie. Ihre Doktorarbeit "Mohnblumenkriege. Die globale Drogenpolitik der USA 1950–1979" wurde mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt in Freiburg und arbeitet seit 2021 als freie Autorin. diff --git a/fluter/drogen-portugal-entkriminalisierung.txt b/fluter/drogen-portugal-entkriminalisierung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7d4ce19eef513698d41405cc38d8d0e0621ba337 --- /dev/null +++ b/fluter/drogen-portugal-entkriminalisierung.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Wer in Portugal Drogen nimmt, soll vor der Sucht geschützt werden. Und wer schon süchtig ist, dem soll schnell geholfen werden. So sieht es der "Nationale Plan" vor, der im September 2023 von der portugiesischen Regierung verabschiedet wurde. Doch schon in den frühen 2000ern einigte man sich in Portugal darauf, dass Suchtkranke nicht bestraft, sondern ihnen geholfen werden soll. Und so sind die sterilen Büros des ICAD Teil einer umfassenden Suchtberatung in einem Land, dessen Drogenpolitik als liberalste der Welt gilt. +Nach einer Drogenkrise in den 1980er- und 1990er-Jahren hat die portugiesische Regierung 2001 den Konsum und den privaten Besitz aller Drogen entkriminalisiert. Beides wird seitdem als Ordnungswidrigkeit geahndet, ähnlich wie Falschparken oder Wildpinkeln in Deutschland. Strafbar nach Strafgesetzbuch macht sich nur, wer eine größere Menge an Drogen mit sich führt, die potenziell nicht mehr für den Eigenbedarf bestimmt sind, denn der Verkauf und Kauf von Drogen sind in Portugal weiterhin illegal. Wer etwa mit mehr als 25 Gramm Cannabis oder mehr als einem Gramm Heroin erwischt wird, kassiert eine Anzeige fürs Dealen. +Alles, was unter diese Grenzwerte fällt, ist eine Ordnungswidrigkeit und führt allenfalls zu einem Bußgeld von einigen Hundert Euro, manchmal zu Sozialstunden oder Führerscheinentzug.  Und immer zu einem Gespräch in einem der Büros des ICAD. +Dort versucht ein dreiköpfiges Komitee, meist bestehend aus je einer Person mit ärztlicher, psychologischer und juristischer Expertise, herauszufinden: Wie problematisch ist der Konsum der Person, die mit Drogen erwischt wurde, wirklich? Ist der Konsument tatsächlich süchtig? Wie sind seine Lebensverhältnisse, ist er arbeitslos, erlebt er Gewalt in der Familie? Ist er einsam?  "Wir konzentrieren uns auf den Menschen und nicht auf die Substanz, die er konsumiert", sagt Nuno Capaz, Direktor und Gründer der Kommission für Drogenbekämpfung, im ICAD-Büro in Lissabon. "Wir reden auf Augenhöhe." +Der Soziologe arbeitet seit mehr als 20 Jahren für das ICAD. Er stuft seine Klienten auf einer Skala von "low risk" bis "high risk" ein. Als "low risk" gilt etwa, wenn jemand auf einer Party Ecstasy ausprobiert, aber gesunde Beziehungen führt, einen Job und eine Wohnung hat. "High risk"-Konsum zeichnet sich durch Regelmäßigkeit aus und geht oft mit Armut, Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit einher. "Die meisten, die zu uns kommen, haben einen unproblematischen Konsum", sagt Capaz. Für die "Low risk"-Konsument:innen ist die Sache nach einem Besuch des ICAD-Büros erledigt. "High risk"-Konsument:innen bekommen Kontakte zu Stellen, die langfristige Hilfe bieten, zum Beispiel Entzugskliniken oder Reha-Einrichtungen. Der Aufenthalt ist freiwillig. Wer sich dagegen entscheidet, darf sechs Monate lang nicht wieder mit Drogen erwischt werden, sonst wird er bestraft. +Offizielle Zahlen bescheinigen dem portugiesischen Modell große Erfolge: Seit der Gesetzesänderung im Jahr 2001 ist die Zahl der Drogentoten deutlich gesunken. 1999 starben in Portugal noch 369 Menschen pro Jahr durch Drogenkonsum, 2021 waren es 81 pro Jahr. Im EU-Vergleich stand 2022 Irland an der Spitze mit 97 Drogentoten pro Million Einwohner:innen, Portugal liegt dagegen im unteren Mittelfeld mit 11 Drogentoten, unter anderem hinter Österreich, den Niederlanden – und Deutschland. Hier gab es 2023 mit 26,5 Drogentoten pro Million Einwohner:innen die höchste Zahl, die in Deutschland jemals registriert wurde. Die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen. +Suchtexperten und Politiker überlegen deshalb immer wieder, ob das portugiesische Modell auch für Deutschland sinnvoll sein könnte. Burkhard Blienert (SPD), Drogenbeauftragter der Bundesregierung, sagte dieses Frühjahr in einem ZDF-Interview: "Bei uns – und auch in vielen anderen Ländern – wird der portugiesische Weg als zukunftsweisend angesehen. Ich kann dem ebenfalls sehr viel abgewinnen." Doch die Entkriminalisierung wäre mit "erheblichen Umbauten" des Justizsystems verbunden, so Blienert in dem Interview. +Viele Wissenschaftler:innen sehen ebenfalls den Erfolg des portugiesischen Modells. Zu ihnen gehört der Psychologe Uwe Verthein vom Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS) der Universität Hamburg. Verthein untersucht mögliche Auswirkungen der Cannabislegalisierung und sagt: "Die Zahlen zeigen, dass das portugiesische Modell erfolgreich ist." Es könnte, findet der Experte, durchaus als Vorbild für die deutsche Drogenpolitik dienen. Denn gerade für Schwerstabhängige sei "harm reduction" (Schadensminderung) wichtig – also Maßnahmen, die negative soziale, gesundheitliche und ökonomische Folgen von Drogenkonsum senken, beispielsweise der niedrigschwellige Kontakt zu Anlaufstellen. Dazu gehören laut Verthein zum BeispielDrogenkonsumräume, Einrichtungen zum Spritzentausch oder Drug-Checking-Angebote, also Labore, in denenKonsument:innen ihre Drogen chemisch analysieren lassen können. +Als Gründer des portugiesischen Drogenmodells gilt João Castel-Branco Goulão. Der Arzt leitete Ende der 1990er-Jahre das Netzwerk der portugiesischen Drogenbehandlungszentren und war Mitglied eines Komitees, das der Regierung eine neue Strategie vorschlug: dieEntkriminalisierung aller Drogen. +"Damals herrschte in Portugal eine Drogenkrise", erinnert sich Goulão. "Drogen waren in allen sozialen Schichten verbreitet." Es sei klar gewesen, dass die Regierung etwas tun musste. Gewalt und Kriminalität seien allgegenwärtig gewesen. "Wir haben ein Netzwerk für die Behandlung von Drogenabhängigen aufgebaut", sagt er. So wurden Ärzt:innen und Sozialarbeiter:innen für die Arbeit mit Suchtkranken geschult. Eine starke Infrastruktur, die sich an der Lebenswirklichkeit und den Bedürfnissen der Betroffenen orientiert, sei der Erfolg des Modells gewesen. +In Deutschland gilt das, was in Portugal für den Konsum aller Drogen gilt, nur für Cannabis. Was hierzulandein den vergangenen Jahren hitzig diskutiert wurde, ist der Besitz und Anbau von Cannabis. Seit Julidürfen in Deutschland Cannabis Social Clubs eröffnet werden– also nichtkommerzielle Vereine, deren volljährige Mitglieder ihr eigenes Cannabis anbauen und konsumieren dürfen. Auch Privatpersonen dürfen bis zu drei Pflanzen anbauen. +In Portugal gibt es keine solchen Clubs, der Verkauf von Drogen ist wie in Deutschland weiterhin nicht legal, obwohl man sie besitzen und konsumieren darf. Wer dort Cannabis kaufen will, muss es sich auf dem illegalen Markt besorgen. Der Handel mit Drogen wurde dort nicht entkriminalisiert. Uwe Verthein, der Wissenschaftler aus Hamburg, sieht genau darin die Schwäche des portugiesischen Modells. Denn auch wenn es in Portugal keine Strafen mehr für den Konsum gibt – die Konsumenten müssen ja irgendwie an den Stoff kommen. + +Titelbild: Daniel Rodrigues/NYT/Redux/laif diff --git a/fluter/drogenhandel-kriminalitaet-paraguay.txt b/fluter/drogenhandel-kriminalitaet-paraguay.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0ff465b666fb844fa1118af5640ea516e6fad361 --- /dev/null +++ b/fluter/drogenhandel-kriminalitaet-paraguay.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Paraguay ist der größte Marihuanaproduzent Südamerikas und inzwischen einer der wichtigsten Umschlagplätze für Kokain. Nach Schätzungen der paraguayischen Anti-Drogen-Behörde SENAD werden jährlich 1,5 Milliarden US-Dollar mit Drogen erwirtschaftet – mit dabei sind Verbrechersyndikate aus aller Welt: Chinesen, Russen, Italiener, Araber, vor allem aber Brasilianer, die um die Kontrolle der wichtigsten Schmuggelrouten im Nachbarland kämpfen. Mal geht es dabei um Drogen, mal um Waffen. 2017 verdreifachten sich plötzlich die legalen Waffenexporte der USA nach Paraguay – viele der Waffen tauchten anschließend in den Favelas von Rio und São Paulo wieder auf. +Den Grundstein für einen korrupten Beutestaat legte bereits der Diktator Alfredo Stroessner. Nachdem er sich 1954 an die Macht geputscht hatte, begünstigte er seine Minister aus der Colorado-Partei und die Generäle der Streitkräfte – und erkaufte sich so deren Loyalität. Damals hatte der Reichtum, der verteilt wurde, zwei Quellen: Landbesitz und Schmuggelrouten, zunächst vor allem für Alkohol und Zigaretten. Obwohl die Regierung in den USA von Stroessners Machenschaften wusste, wurde der Diktator aufgrund seiner antikommunistischen Haltung weiter unterstützt. +Bis heute ist die Grenzregion Ciudad del Este im Dreiländereck zwischen Argentinien, Brasilien und Paraguay ein labyrinthisches Paradies für Produkt­piraten und Schmuggler. Die im Vergleich zu den Nachbarländern niedrigen Steuern ziehen täglich Tausende Käufer und Händler an. Per Boot, Kleinflugzeug oder auf dem Landweg werden die Waren schließlich – oft unter den Augen der Zöllner – abtransportiert. +Paraguay, neben Bolivien der einzige Binnenstaat Südamerikas, ist etwa so groß wie Deutschland und die Schweiz zusammen. Westlich des Río Paraguay liegt die trockene und dünn besiedelte Ebene des Gran Chaco, östlich des Flusses das subtropische Tafel- und Bergland Oriente, in dem über 90 Prozent der Bevölkerung leben. Dazu gehören fast seit Beginn der europäischen Eroberung auch Deutsche, später kamen weitere deutsche Einwanderer hinzu. So spielt die deutsche Sprache bis heute eine Rolle in dem Land, in dem vorrangig das indigene Guaraní und Spanisch gesprochen werden. +Die Drogen kamen erst 1989 ins Spiel, als General Andrés Rodríguez den Diktator Stroessner ablöste, die Demokratisierung einleitete und erste Geschäfte mit einem französischen Heroinschmuggler machte. Es war der Anfang der Narcopolitik. Damals stieß der Richter Adalberto Fox bei seinen Ermittlungen auf Verstrickungen zwischen Politik, Wirtschaft, Sicherheitskräften und Verbrechern. Schon in den 1970er- und 1980er-Jahren schmuggelte Fahd Yamil, Kopf der libanesischen Mafia, Zigaretten, Benzin, Waffen, Alkohol und Drogen unter der schützenden Hand seines Geschäftspartners – keines Geringeren als General Rodríguez. Es wird davon ausgegangen, dass der Drogenboss unbehelligt in der Grenzstadt Pedro Juan Caballero lebt. Einer seiner Schützlinge ist Roberto Acevedo, Politiker und Vorsitzender des Kongressausschusses zur Drogenbekämpfung im Kongress. + +Im Jahr 2013 zog mit Horacio Cartes ein Vorbestrafter in den Präsidentenpalast ein – wegen krummer Devisengeschäfte saß der Multimillionär mehrere Monate im Gefängnis. Im Jahr 2000 beschlagnahmte die Polizei auf einer seiner Haciendas ein brasilianisches Kleinflugzeug mit 20 Kilo Kokain und 343 Kilo Marihuana an Bord. Cartes' Nachfolger wurde sein Parteigenosse Mario Abdo Benítez, er ist der Sohn von Diktator Stroessners ehemaligem Privatsekretär. Seine Firmen florieren dank großzügiger Staatsaufträge, etwas schal wirkt daher sein Versprechen, der Korruption und dem organisierten Verbrechen den Garaus zu machen. Eine klare Strategie sei bislang nicht in Sicht, bemängeln Kritiker. +Vorschläge zur Bereinigung der notorisch korrupten Sicherheitskräfte und Justiz gibt es keine. Medial aber zündet Abdo ein Feuerwerk und führt der Öffentlichkeit reihenweise festgenommene brasilianische Drogenbosse vor. Auch wenn denen die Haft nicht viel auszumachen scheint. Einer veranlasste hinter Gittern, dass seine beschlagnahmten Luxusautos aus dem Depot der paraguayischen Polizei "gestohlen" wurden, ein anderer erstach in der Zelle seine Geliebte, um seine bevorstehende Auslieferung nach Brasilien zu verhindern, weil zunächst der Mord in Paraguay verhandelt werden musste. +Im Gegensatz zu den Politikern scheinen die Drogenbosse eine Strategie zu besitzen: Statt die Ware über den Landweg und mit Kleinflugzeugen zu transportieren, werden immer häufiger Schiffe eingesetzt. Das mehr als 3.400 Kilometer lange Kanalsystem Paraguay-Paraná, das ursprünglich für den Sojaexport ausgebaut wurde, gilt heute als Kokain-Highway. Und die Anrainerstaaten Bolivien, Brasilien, Paraguay, Argentinien und Uruguay tun nichts dagegen. Denn bisher konnte man sich nicht auf gemeinsame Zoll- und Sicherheitskontrollen entlang der Wasserstraße verständigen. + diff --git a/fluter/drohnen-fliegen-was-ist-erlaubt.txt b/fluter/drohnen-fliegen-was-ist-erlaubt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bd3e7c2c9b00cc4df22014706728e9f3d127e897 --- /dev/null +++ b/fluter/drohnen-fliegen-was-ist-erlaubt.txt @@ -0,0 +1,11 @@ + +Spätestens seitdem auch Tchibo und Saturn Quadro-, Hexa- oder Octocopter im Sortiment haben, steigen immer mehr Flugobjekte in den Himmel – und machen neben viel Spaß auch ganz schön Ärger. Deshalb arbeitet das Bundesverkehrsministerium bereits anneuen und strengeren Regeln. Private Drohnen sollen zum Beispiel künftig nur mehr bis zu 100 Meter hoch fliegen dürfen. +Sieben Dinge, auf die Hobbypiloten auch jetzt schon achten sollten, damit es beim Ausflug keinen Stress gibt: +Die deutsche Luftverkehrs-Ordnung unterscheidet zwischen "unbemannten Luftfahrtsystemen" und "Flugmodellen". Erstere dienen gewerblichen Zwecken, zweitere ausschließlich dem Vergnügen. Solange eine Drohne nicht mehr als fünf Kilogramm wiegt und mit ihr kein Geld verdient wird, braucht keine Aufstiegserlaubnis bei der jeweils zuständigen Landesluftfahrtbehörde eingeholt zu werden. Wiegt eine Drohne mehr oder wird gewerblich genutzt, beispielsweise weil man mit ihr aufgenommene Fotos oder Videos verkauft, dagegen schon.Dann gelten auch andere Regelnals die hier beschriebenen. +Hobbypiloten dürfen sich im sogenanntenunkontrollierten Luftraumaustoben. In Deutschland reicht der bis 762 Meter Höhe (2.500 Fuß). Allerdings müssen Drohnen immer mit bloßem Auge im Blick behalten werden – bei etwa 300 Metern ist also Schluss. Fernglas gilt nicht! In der Nähe von Flughäfen gelten noch einmal andere Grenzen: In einem Radius von 1,5 Kilometer um den Flughafenzaun herum dürfen Drohnen gar nicht fliegen. Außerhalb dieses Radius dürfen Hobbydrohnen maximal 30 Meter hoch steigen. Wie weit die sogenannten Kontrollzonen jeweils reichen, erfährt man bei derDeutschen Flugsicherung. +Ja, sogar sehr viele. Fliegen über Menschenansammlungen, Militärstützpunkten und Gefängnissen ist absolut tabu. Dasselbe gilt für Kraftwerke, Krankenhäuser und Katastrophengebiete. Weil es in vielen Regionen zusätzliche Sonderregeln gibt – in Berlin darf man zum Beispiel nicht über das Regierungsviertel fliegen –, informiert man sich am besten vorab bei der Deutschen Flugsicherung sowie dem zuständigen Bezirks- oder Ordnungsamt. AlsFaustregelgilt: Überall dort, wo das Fluggerät jemanden oder etwas gefährden könnte, hat es nichts zu suchen. +Grundsätzlich ja. Wenn es besonders nebelig ist oder die Sicht durch etwas anderes (z.B. Dunkelheit) eingeschränkt ist, muss die Flughöhe jedoch angepasst und/oder für entsprechende Beleuchtung gesorgt werden. Die Wolkendecke dürfen Drohnen auf keinen Fall durchbrechen – Sichtflug wäre so ja gar nicht möglich. Schwer abzuschätzen, wo genau die Wolken aufhören? Apps wie "AeroWeather" helfen. +Auch in der Luft gelten Vorfahrtsregeln: Wenn ein bemanntes Flugobjekt auftaucht, etwa ein Rettungs- oder Polizeihubschrauber, müssen Drohnen Platz machen. Weil es trotzdem immer wieder zu gefährlichen Annäherungen kommt, drängt die Luftverkehrslobby nun auf strengere Regeln für Flugmodelle. +Sollte es einen auch noch so brennend interessieren, was der Nachbar auf seiner Terrasse treibt – andere Menschen mit einer Drohne auszuspionieren ist nicht nur creepy, sondern auch verboten. Zwar ist das Überfliegen fremder Grundstücke nicht grundsätzlich verboten und wird vor Gericht von Fall zu Fall unterschiedlich beurteilt. Sicherheitshalber sollte man aber darauf verzichten, ohne Erlaubnis in geringer Höhe über fremde Grundstücke zu fliegen. Wer Foto- oder Filmmaterial veröffentlichen will, auf dem Menschen zu sehen sind, muss diese außerdem erst um Erlaubnis bitten.Mehr zum Persönlichkeitsrecht gibt es hier. +Haftpflichtversicherungen springen bei durch Drohnen verursachten Schäden oft nicht ein. Bevor man also startet, sollte man unbedingt die Details mit seiner Versicherung abklären und eventuell eine Zusatzversicherung abschließen. Kleiner Tipp:Hochspannungsleitungen meiden. +Ihrem großen Bruder brachte Sara Geisler eine Drohne aus China mit. Sie besaß vier Propeller, viele bunte Lämpchen, wog nur 500 Gramm und war – so der Verkäufer – aus hochwertigem Plastik gefertigt. Das Fliegengewicht flog ausgezeichnet, einen Nachmittag lang. Ob es an der Qualität der Drohne oder aber den laienhaften Flugmanövern des Bruders lag (äußerst wahrscheinlich), lässt sich nicht mehr eruieren. diff --git a/fluter/drohpotenzial.txt b/fluter/drohpotenzial.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..47847c8c691a421d621b273f29cc94e35c3888c9 --- /dev/null +++ b/fluter/drohpotenzial.txt @@ -0,0 +1 @@ +In ihrer ständigen Angst vor der Alltagskriminalität sind die Mittel- und vor allem die Oberschicht längst dazu übergegangen, sich teure Oasen der Ruhe und Sicherheit zu schaffen. Noble Wohnviertel wie Lomas de Chapultepec, Santa Fe oder Pedregal befinden sich in einem ständigen Belagerungszustand, der Kampf gegen das Verbrechen wird mit allen denkbaren Abwehreinrichtungen und einem Heer privater Sicherheitskräfte geführt. Die Mauern des Reichtums sind mit Stacheldrähten und elektrisch überwachten Stahlgitterzäunen geschützt, Videokameras richten sich auf vollautomatische Garagentore, Alarmanlagen, Bewegungsmelder; schusssichere Schiebefenster halten Unbefugte fern. Die Kinder werden im Auto zur Schule gefahren, und auch Erwachsene vermeiden es, wenn immer möglich, mehr als die paar notwendigen Schritte von der Haus- zur Wagentüre zu gehen. Die Zufahrten zu den Reichenvierteln sind durch Straßensperren gesichert, Besucher werden nur hineingelassen, wenn der Sicherheitsmann hinter dem Schlagbaum das telefonische Einverständnis eines Ansässigen erhalten hat. "Ja, wir leben hier unter einer Glasglocke, wir können uns in unserer eigenen Stadt nicht mehr frei bewegen", sagt eine Frau, die gerade in ihrem sechssitzigen Van vor einer Absperrung steht. "Aber anders ist der Krieg gegen das Verbrechen nicht zu gewinnen."Eine Hochburg der Illegalität in Mexico City ist das nördlich der Altstadt gelegene Viertel Tepito, das auch barrio bravo genannt wird – tapferes und zugleich wildes Viertel. Seine Bewohner gehören fast ausschließlich zur Unterschicht, sie sind Arbeiter, Händler oder Kleinkriminelle, der Indio- und Mestizenanteil ist hoch, laut Schätzungen haben rund 60 Prozent der Jugendlichen die Schule vorzeitig abgebrochen. Tepito besteht aus niedrigen Zementhäusern und engen Gassen, heruntergekommenen Kellerkneipen, mit Sperrgut verstellten Hinterhöfen, zwischen Abfallhaufen spielen Kinder und streunen Hunde. Auf den Straßen herrscht ein atemberaubendes Menschengedränge, ein Chaos aus Ständen und Zeltplanen, ein Wirrwarr von Verkaufstischen und auf dem Boden platzierten Auslagen. Tepito ist ein riesiger Markt für Drogen, Diebesgut und Raubkopien, die Ansammlung von Fernsehern, Videokassetten, Uhren, Kleidern und Parfüms ist unüberschaubar. Hin und wieder fällt die Polizei in das Viertel ein, um illegale Waren zu beschlagnahmen und so einen kleinen Sieg in einem Krieg zu feiern, den sie längst verloren hat. Denn schon am folgenden Tag kehrt Tepito jeweils zu seinem anarchischen Alltag zurück. Natürlich verkaufe er Diebesgut, sagt ein junger Händler, und ja, in einem angrenzenden Hinterhof deale er auch mit Kokain und Ecstasy. Ist er sich bewusst, dass er damit illegal handelt? Hat er dabei manchmal ein schlechtes Gewissen? Sein Blick ist ein einziger Ausdruck grenzenloser Verständnis-losigkeit. "Das tun wir hier doch alle, das haben wir schon immer getan. Etwas anderes gibt es gar nicht."Die Stadtbehörden versuchen der Kriminalität Herr zu werden, indem sie immer neue, noch spezialisiertere Polizeieinheiten gründen und auf den von Touristen besuchten Straßen und Plätzen des Zentrums bewaffnete Sicherheitskräfte patrouillieren lassen. Vor drei Jahren ließ eine Gruppe von Unternehmern Rudolph Giuliani als Berater einfliegen. Gilt doch der ehemalige New Yorker Bürgermeister mit seiner Zero Tolerance-Philosophie als Meister der Verbrechensbekämpfung. Genutzt hat es wenig. Laut María Elena Morera, Präsidentin der Opferorganisation "México unido contra la delincuencia" (Mexiko vereint gegen das Verbrechen), bewirken zusätzliche Polizeieinheiten bestenfalls eine kurzfristige Verbesserung. "Mexikanische Polizisten sind schlecht bezahlt und deshalb leicht zu bestechen. Außerdem ist ihre Ausbildung vollkommen ungenügend."Das geringe Vertrauen der Bevölkerung in die Ordnungshüter spiegelt sich in der Statistik wider: Von hundert Verbrechen werden schätzungsweise lediglich 25 angezeigt, und nur in 1,4 Prozent der Fälle kommt es zu einer Verurteilung. "Wer in Mexiko ein Delikt verübt, kann damit rechnen, ungeschoren davonzukommen. Polizei und Justiz müssen nicht härter gegen die Verbrecher vorgehen, sondern effizienter", sagt María Morera – aber solange die Armut nicht besiegt sei, werde man auch das Verbrechen nicht wirklich bezwingen. Dabei hätte gerade María Morera allen Grund, mehr Strenge und höhere Gefängnisstrafen zu fordern – denn vor vier Jahren wurde ihr Mann gekidnappt. Als die Polizei nach einem Monat sein Versteck schließlich aufspürte und ihn befreite, hatten ihm die Entführer bereits vier Finger abgeschnitten, um sie seiner Frau einzeln und im Abstand weniger Tage per Post zuzuschicken. Damit wollten sie eine Lösegeldsumme erpressen, über welche die Fami-lie aber schlicht nicht verfügte.María Morera hat dieses traumatische Erlebnis überwunden, indem sie den Kampf gegen das Verbrechen zu ihrem Lebensinhalt machte. Die ehemalige Zahnärztin arbeitet heute ausschließlich für "México unido contra la delincuencia", sie ist längst eine öffentlich bekannte Figur, die vom Polizeipräsidenten und vom Bürgermeister empfangen und um Rat gefragt wird. "Ich empfinde die Krimina-lität nicht mehr in erster Linie als persönliche Bedrohung, sondern als Bedrohung für alle. Ich bin tagtäglich mit Vorfällen konfrontiert, die noch schlimmer sind als jener, den ich erlebt habe. So ist es mir gelungen, der Entführung meines Mannes eine Art Sinn zu geben und trotz allem in dieser Stadt weiterzuleben."Auch Iván Ortiz hat seine seelische Erschütterung mittlerweile mehr oder weniger verarbeitet, die Albträume werden seltener, er traut sich wieder, allein auf die Straße zu gehen. Dennoch hat sich das Lebensgefühl verändert, eine leise Unsicherheit ist zu seiner ständigen Begleiterin geworden. Im Unterschied zu früher empfindet er die von Mexico City ausgehende Bedrohung nicht mehr als abstrakt, sondern als real. "Ich bin mir bewusst, dass es mich aufs Neue treffen könnte, jederzeit und überall." Taxis benutzt er seit einigen Monaten zwar wieder, aber er betätigt nach dem Einsteigen als Erstes die Türsicherung. diff --git a/fluter/druck-erzeugt-gegendruck.txt b/fluter/druck-erzeugt-gegendruck.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..54e6300d17bb2ea2c6a766a07689f6981b2be316 --- /dev/null +++ b/fluter/druck-erzeugt-gegendruck.txt @@ -0,0 +1 @@ +Wer hart auf die Tasten einer Schreibmaschine hauen konnte, schaffte bis zu neun Durchschläge. Später wurden sogenannte Matrizen hergestellt – die Apparate dafür aus dem Westen eingeschmuggelt. So entstanden über die Jahre verschiedene Flugblätter, Zeitungen und Zeitschriften, die u.a. über inhaftierte Oppositionelle oder die Fälschung der Wahlen berichteten, die Meinungsfreiheit forderten und das unmenschliche Regime anprangerten. Druck erzeugt eben Gegendruck. diff --git a/fluter/dschinns-aydemir-interview.txt b/fluter/dschinns-aydemir-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e824c4f839e2792fefe1951a12d9494bc0a3d80a --- /dev/null +++ b/fluter/dschinns-aydemir-interview.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Fatma Aydemir: Sechs Menschen mit unterschiedlichen Lebensrealitäten und Identitätskonstruktionen können Teil einer Familie sein, aber ihre Herkunft unterschiedlich verorten. Dadurch dass die Eltern im Buch als Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei nach Deutschland kamen, entsteht eine Kluft zwischen der Elterngeneration und den Kindern, jeder hat ganz unterschiedliche Ängste und Traumata. Es gibt zum Beispiel die Tochter Peri, die als Erste in der Familie studiert. Das hat zur Folge, dass sie eine andere Klassenzugehörigkeit haben wird als ihre Eltern. Es entsteht ein anderes kulturelles Kapital, wenn man bilingual in Europa aufwächst und bessere Schulen besucht, als die eigenen Eltern das konnten. +Innerhalb der Familie wird viel verschleiert und verdrängt. Es wird kaum darüber gesprochen, was die einzelnen Personen jeweils mit sich herumtragen. Gleichzeitig wird der Wert der Familie betont. Wie passt das zusammen? +Das hat mit den Klüften zu tun, von denen ich gesprochen habe. Die Familienmitglieder sind zum Beispiel mit unterschiedlichen Sprachen sozialisiert worden. Die Eltern mit Kurdisch, die älteste Tochter, Sevda, ein wenig mit Kurdisch, eher mit Türkisch. Die jüngeren Kinder sprechen nicht mal mehr gut Türkisch, sondern vor allem Deutsch. Das beeinflusst die Kommunikation untereinander. Die Beerdigung des Vaters in Istanbul zwingt dann die Familienmitglieder, miteinander Zeit zu verbringen, egal mit welchen Konflikten sie gerade beschäftigt sind. Ich wollte klarmachen, dass die Herkunftsfamilie eine Art von Performance ist und dass alle Figuren darin ihre jeweilige Rolle spielen, sich mit der aber nicht zwangsläufig wohlfühlen. Da kommt auch der Titel ins Spiel. +"Dschinns" sind übersinnliche Wesen, dielaut der islamischen VorstellungMenschen beeinflussen und von ihnen Besitz ergreifen können. Wofür stehen sie bei dir? +"Dschinns" stehen für mich für all diese Leerstellen, für das Verschleiern und Verdrängen. Es wird einerseits etwas bewusst zurückgenommen und nicht gezeigt, andererseits gibt es Dinge, mit denen sich die Personen selbst nicht konfrontieren wollen. Die Eltern nicht mit ihren Traumata, die Kinder wiederum wissen nicht, ob sie mit ihren Eltern überhaupt über ihre Probleme sprechen können. Die Eltern haben eine Erwartungshaltung gegenüber ihren Kindern, die besagt: "Ihr sollt es besser haben, ihr habt bessere Voraussetzungen in Deutschland." Damit geht aber auch einher, dass sich die Kinder nicht beschweren dürfen. +Hüseyin, der Vater, bleibt diffus. Seine Zeit beim türkischen Militär scheint ihn traumatisiert zu haben. Warum will er nicht darüber sprechen? +Da er als Kurde in den kurdischen Gebieten der Türkei gedient hat, kann man davon ausgehen, dass er Gewalt erfahren hat. Aber da er Soldat war, hat er in irgendeiner Form auch Gewalt ausgeübt. Die Leerstellen seiner Figur im Buch betreffen auch Leerstellen, die ich in der türkischen Geschichtsschreibung wahrnehme. +Was sind das für Leerstellen? +Die Unterdrückung von Minderheiten in der Türkei ist nicht gut dokumentiert. Es gibt die großen Massaker, beispielsweise 1937 und 1938 an den Aleviten in Dersim(Anm. d. Red.: Dabei tötete das türkische Militär in der Region, die heute offiziell Tunceli genannt wird, nach staatlichen Angaben mindestens 13.000 Menschen,andere Schätzungen gehen von weit mehr Opfern aus). Dazu wird zwar von Historiker*innen geforscht. Aber alles, was sich in der Zeit zwischen diesen größeren Massakern ereignet hat, war sehr schwer zu recherchieren während der Arbeit an meinem Buch. Die 60er-Jahre etwa, in denen Hüseyin zur Armee geht, werden in der Türkei sehr verklärt als eine Zeit, in der das Land sich eine besonders demokratische Verfassung gab. Die Frage ist aber, wie die Verfassung umgesetzt wurde. Außerdem war es eine große Herausforderung nachzuvollziehen, wie die Assimilationspolitik im Land funktionierte. +Du hast im Buch vor allem das Verhältnis von Arbeitsmigrant*innen in Deutschland zur Nachfolgegeneration behandelt. Siehst du dort auch Leerstellen in der Aufarbeitung? +Ich würde nicht von Leerstellen in der Aufarbeitung sprechen, aber es gibt definitiv Umstände, die mir selbst gar nicht so sehr bewusst waren. Zum Beispiel, dass viele Arbeitsmigrant*innen, die in den Sechzigern und Siebzigern nach Deutschland kamen, überhaupt nichts vom Holocaust wussten. Deutschland war der weit entfernte Ort mit Arbeit, Geld und besseren Lebensumständen – besetzt mit positiven Dingen. In Interviews, die ich geführt habe, erzählten mir Menschen davon, dass sie einen Schock bekamen, weil sie erst Monate oder Jahre nach ihrer Ankunft mit der deutschen Geschichte konfrontiert wurden. +Warum hast du das Buch eigentlich in den 90er-Jahren verortet und nicht in der Gegenwart oder in den 70er-Jahren, als so viele Arbeitsmigrant*innen nach Deutschland kamen? +Ich bin mit Hip-Hop aufgewachsen, darum waren die Neunziger für mich schon immer eine spannende Zeit. Und wer sich mit Gewalt und Anschlägen von rechts beschäftigt, merkt, dass das alles auch ein Produkt von Strukturen ist, die sich in den Neunzigern verfestigt haben. Außerdem fand ich interessant, dass das Jahrzehnt eine Art vordigitale Zeit war, in der das Internet zwar existierte, aber noch nicht für alle zugänglich war. Ich stelle mir das total schrecklich vor, gerade für Leute, die einsam gewesen sein müssen. Es war damals für queere Personen in irgendeinem Kaff doch viel schwieriger, Leute mit ähnlichen Lebensrealitäten zu finden und sich auszutauschen. Ümit, der jüngste Sohn der Familie in "Dschinns", hat zum Beispiel niemanden, mit dem er auf Augenhöhe darüber sprechen kann, dass er sich in einen Jungen verliebt hat. Diese Form von Einsamkeit hat mich interessiert. + +Titelbild: ullstein bild - Thielker diff --git a/fluter/du-bist-doch-banane.txt b/fluter/du-bist-doch-banane.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/du-bist-doch-eine-null.txt b/fluter/du-bist-doch-eine-null.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1120457af0dd5a7f7688a1bb5bc0cda885993542 --- /dev/null +++ b/fluter/du-bist-doch-eine-null.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Im Quellcode einer neuen Software befand sich die Zahl Null an einer Stelle, wo sie nicht hingehörte. Es dauerte nicht lange, und einer der Bordcomputer versuchte, durch diese Null zu dividieren. Das aber ist nicht möglich. Der Computer bekam einen digitalen Schluckauf – und legte das ganze Schiff lahm. Knapp drei Stunden lang dümpelte die "USS Yorktown" manövrierunfähig im Wasser, bis sie mit Notstrom in den Hafen einfuhr. Zwei Tage dauerte es, die Null aus dem Computer zu entfernen. +Die Null ist vermutlich die einzige Zahl, die es schafft, ein 170-Meter-Kampfschiff außer Gefecht zu setzen. Sie ist nicht nur die verheerendste aller Zahlen, die wir kennen, sie ist auch die wichtigste. Und sie ist die jüngste. Mit den Fingern zählten die Menschen ja schon in der Steinzeit. Die Null aber musste erst erfunden werden. +Die Maya kannten das Konzept der Null in ihrem Zahlenkalender. Eine Null als Ziffer, als eine Art Platzhalter, verwendeten auch die Babylonier. Doch es war wohl ein Mensch im alten Ägypten, dem zum ersten Mal aufging, wie sinnvoll es doch wäre, dem Nichts einen Namen zu geben –  es berechenbar zu machen und damit auch zu bändigen. Auf einer Hieroglyphen-Inschrift wird die Null erstmals als Zahl mit eigenem Wert verwendet. Aber wie es so ist in der menschlichen Geschichte: Das Weltwissen wird nicht immer größer, zuweilen geht auch etwas verloren. +Das Reich am Nil brach in sich zusammen, das Reich am Tiber stieg auf. Die Römer konnten zwar Straßen bauen, Wein keltern und fast einen ganzen Kontinent erobern. Aber Mathe war nicht ihre Stärke. Jahrhundertelang rechnete man in Europa mit römischen Ziffern, mehr schlecht als recht. Denn die Römer kannten keine Null –  weil sie sie nicht brauchten. Sie führten einfach keine komplexen Rechenoperationen aus. Entsprechend kompliziert sah ihr Zahlensystem aus: Um 78 mit 24 zu multiplizieren, schrieben die Römer: LXXVIII mal XXIV. Jeden einzelnen Zahlwert mussten sie addieren –  und mit sieben Zeichen mehr herumhantieren als wir heute. Wer mal versucht hat, mit römischen Zahlen zu multiplizieren, der bekommt eine Ahnung davon, warum das Großreich untergegangen sein könnte. +Die Null hätte ihnen das sogenannte Stellenwertsystem ermöglicht. Je nachdem, wo sich die Ziffer in einer Zahl befindet, ändert sich ihr Wert. 302 ist etwas anderes als 320. In einem Fall steht die 2 für 2, im anderen Fall für 20. Nur mit einem solchen System inklusive der Null lässt sich platzsparend rechnen. +Ohne Null waren in der Antike auch andere Probleme nicht zu lösen. Der Philosoph Zenon von Elea ersann im 5. Jahrhundert vor Christus ein Paradox: Er ließ eine Schildkröte gegen Achilles um die Wette rennen, den schnellsten aller Läufer. Die Schildkröte erhielt ein wenig Vorsprung. Zenon behauptete nun, rechnerisch gesehen könne Achilles die Schildkröte nie erreichen. Denn Achilles läuft zwar schnell wie ein Pfeil, aber in der Zeit, die Achilles für die Strecke bis zur Schildkröte braucht, kann sie ein winziges Stück weiterlaufen. Auch diese Strecke holt Achilles wieder ein, aber so schnell er sie auch aufholt, die Schildkröte rückt währenddessen wieder ein Stück nach vorne. Der Abstand wird zwar immer kleiner, aber erreichen kann Achilles sie nie. Oder doch? +Intuitiv war Zenon und seinen Mitgriechen schon klar, wer den Lauf gewinnt. Doch mathematisch konnten die Griechen das Rätsel nicht lösen. Ihnen fehlte das Verständnis dafür, dass sich der Abstand zwischen den beiden dem Wert null nicht nur nähert, sondern ihn auch erreicht – er wird unendlich klein und damit: null. Wo heute bei uns die Null steht, war in ihrem Kopf: nichts. Erst 2.000 Jahre später ließ sich dieses Paradoxon auflösen. +Null und unendlich sind wie zwei Pole desselben Gedankens. Aber Unendlichkeit und das Nichts waren Begriffe, die man im späteren christlichen Abendland argwöhnisch betrachtete. Nach Auffassung der Kirche herrschte über die Welt der Eine, nämlich Gott. Jenseits dessen gab es nichts. Den Begriff der Unendlichkeit, wie ihn die Null auch verkörpert, empfand man als gotteslästerlich, Gleiches galt für das Nichts. Denn wo das Nichts ist, da ist auch Gott nicht. +Und so muss man, will man die Ursprünge der modernen Null finden, weiter nach Osten blicken, genauer: nach Indien. Für Hindus war die Leere nichts Bedrohliches, im Gegenteil. Die Welt, so glauben sie, ist aus dem Nichts entstanden. Der Gott Shiva gilt sogar als Gott des Nichts. Mathematisch gesprochen glaubt man in Indien eher an die Null als an die Eins.Islamische Gelehrte importierten dann im 9. Jahrhundert die Null in den arabischen Raum. Das indische Wort "sunya" für "nichts" übersetzten sie mit dem arabischen Begriff "sifr". Daraus entstand wiederum das deutsche "Ziffer". +Der italienische Mathematiker Leonardo da Pisa, genannt Fibonacci, führte die Null erst im Jahr 1202 in Italien ein. Von hier aus revolutionierte die Null nicht nur die Mathematik. In vielen modernen Wissenschaften markieren Begriffe mit "Null-" eine Grenze. Der "absolute Nullpunkt" bei –273,15 Kelvin etwa ist eine Temperatur, die nirgendwo im Universum unterschritten wird. Der Nullmeridian bestimmt das Datum und die Uhrzeit. In der digitalen Welt schließlich, in der Binärsprache, steht 0 für "Stromkreis unterbrochen". Für die "USS Yorktown" galt das ziemlich wörtlich. +Wann immer es in seinem Mathe-Leistungskurs Noten gab, stand bei unserem Autor Jan Ludwig die Null oft an der falschen Stelle, nämlich vorne. Leider war die andere Ziffer meist kaum größer. diff --git a/fluter/du-bist-durchschaut.txt b/fluter/du-bist-durchschaut.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e977924aa5ad73ce4a72d7cf85bd216107152fb6 --- /dev/null +++ b/fluter/du-bist-durchschaut.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Keine Sorge: Das ist nur ausgedacht. Der Vorfall stammt aus der Mockumentary "Operation Naked", einem Film also, der eben nur so tut, als ob er gerade die Realität zeigt. +Regisseur und Drehbuchautor Mario Sixtus, der in seinem Videoformat "Elektrischer Reporter" bereits seit rund 10 Jahren das Internet erklärt, spielt in "Operation Naked" ein Szenario durch: Was würde in Deutschland passieren, wenn es eine Datenbrille gäbe? Eine Brille mit vielen harmlosen und praktischen Funktionen aus dem Bereich der "Augmented Reality", also der Anreicherung der realen Welt mit Daten, die dank der Brille direkt ins Blickfeld der Nutzer gelegt werden, etwa: Wie haben andere Gäste dieses Restaurant bewertet? Was erzählt mir Wikipedia über dieses Gebäude? Und wartet in dieser Straße womöglich ein Blitzer? Eine Brille, die ihrem Träger aber auch, dank Gesichtserkennung und einem schnellen Abgleich mit den im Internet hinterlegten Daten, alles Mögliche über die Menschen zeigen kann, denen er auf der Straße begegnet: was sie zuletzt gelesen haben, wie viel Geld sie auf dem Konto haben, womöglich sogar, ob sie in psychischer Behandlung sind.Ein Horrorszenario? In "Operation Naked" sieht das Michelle Spark, die Chefin des fiktiven Start-ups Real-o-Rama, anders. Für sie ist die Brille ein Instrument der Ermächtigung und auf die Vorwürfe von Pablo Rothmann hat sie auch eine Antwort: "Genau die Preisgabe des Privaten ist doch ein politischer Schritt. Geheimnistuerei stärkt immer die Diskriminierer, die Unterdrücker, die, die immer bestimmen wollen, was normal ist und was nicht. Für die menschliche Gemeinschaft müssen wir mit aggressiver Offenheit kämpfen."Sixtus geht es in seiner Fake-Dokumentation aber nicht bloß um eine  Datenbrille. Die Real-o-Rama ist nur eine Blaupause, anhand der er zeigt, wie skeptisch Deutschland gegenüber neuen Technologien ist und wie in den Medien über diese Neuerungen berichtet wird –  man denke an die Aufregung um Google Street View im Jahr 2010, die auch in "Operation Naked" aufgegriffen wird.So treten die üblichen Verdächtigen auf den Plan: Ein Technik-Blogger, der sich freut, den Real-o-Rama-Prototypen testen zu dürfen. Ein Netzaktivist, der wie die Real-o-Rama-Gründerin contra Datenschutz argumentiert und das Konzept Privatsphäre komplett neu denken will. Der Konservative, für den Soziale Medien zur Entwürdigung des Menschen führen und "all die Privatheitströpfchen", die wir dort preisgeben, "sich zu einer stinkenden Flut addieren, die alles Echte, alles Menschliche hinwegspült". Und mit den "Aluköpfen" eine obskure Widerstandsgruppe, die an die Anonymous-Bewegung angelehnt ist.Der Politik wird dabei eine recht trampelige Rolle zugedacht. Erst hofiert der zuständige Staatssekretär das Start-up Real-o-Rama als Hoffnungsträger für den Digitalstandort Deutschland. Als die Datenbrille dann in der öffentlichen Meinung immer kritischer gesehen wird, reagiert er mit einem Verbot der "Datensichtgeräte", wie sie im Amtsdeutsch heißen. Mit dem Ergebnis, dass die Real-o-Rama-Gründerin – inzwischen mit missionarischem Eifer – die Brillen-Baupläne kostenlos ins Netz stellt und so dafür sorgt, dass sich die Technik in der Hacker- und Makerszene weiterentwickeln kann.Verbote können neue Technologien nicht aufhalten, glaubt Regisseur Mario Sixtus: "Ich bin der festen Überzeugung, dass die Digitalisierung keine Pause- oder gar Stopp-Taste besitzt." Was dies bedeutet, überlässt er dem Zuschauer. In seinem Film kommen einerseits Kritiker und Datenschützer zu Wort, andererseits auch Menschen, die fragen: Wäre es nicht weitsichtiger, sich mit dem Ende der Privatsphäre abzufinden und zu überlegen, wie wir damit umgehen wollen? Auch in der Realität gibt es seit einigen Jahren die Post-Privacy-Bewegung, die wenig vom klassischen Weg der Datenschützer hält, möglichst wenig preiszugeben. Ihrer Meinung nach könne man sich sowieso nicht mehr verstecken – die Daten seien alle da. Daher halten sie die Flucht nach vorne für den besseren Weg – bei einer totalen Offenlegung hätten wenigstens alle Menschen Zugriff auf diese Daten und nicht nur einige staatliche Stellen und Konzerne. Die Informationen wären so jedenfalls demokratisiert. +Inszeniert hat Sixtus seinen Film als Aneinanderreihung von Fernsehausschnitten, quasi ein Fast-Forward-Zappen durch die Datenbrillen-Diskussion. Hierfür halfen ihm viele ZDF-Redaktionen und -Fernsehgesichter: Claus Kleber, Markus Lanz, Dunja Hayali, Jan Böhmermann, Oliver Welke und viele mehr haben Cameo-Auftritte in den Kulissen vom "heute journal", von "frontal21", "Aktenzeichen XY ungelöst", "aspekte" und so weiter. Das Ergebnis ist eine lehrreiche und hochrasante, mitunter ein wenig holzschnittartige Mockumentary mit Seitenhieben gegen Techniknerds und Politiker, gegen Kulturpessimisten und sogar gegen das ZDF selbst.Dem Realitätsgehalt des Ganzen geht Mario Sixtus in einer begleitenden Dokumentation nach. Für "Ich weiß, wer du bist" ist er unter anderem ins Silicon Valley gereist, auf eine Biometrie-Messe und zeigt uns Geschichte und den aktuellen Stand der Technik. Sein Fazit: "Datenbrillen kommen. Gesichtserkennung funktioniert prima. Und aus Online-Verhaltensmustern lassen sich wunderschöne Persönlichkeitsprofile stricken", sagt er. "Man müsste diese drei Technologien nur noch zusammenfügen und schon hätten wir unsere allsehende Brille."Was das mit uns macht, darüber sind die von Mario Sixtus für seine Dokumentation befragten Kulturwissenschaftler und Futurologen geteilter Meinung. Nicht alle teilen den Fatalismus der Post-Privacy-Vertreter. Die Sozialpsychologin und emeritierte Professorin der Harvard Business School Shoshana Zuboff sieht die Post-Privacy-Idee als "Kapitulation vor einem Albtraum". Sie widerspricht, dass Technologie unaufhaltsam und quasi vorbestimmt ihren Weg gehe und sieht die Datensammelwut als Ausdruck eines "Überwachungskapitalismus". Für Zuboff geht es in dieser Diskussion ganz grundlegend um unser Selbstverständnis als Menschen, um unser Zusammenleben als soziale Wesen. "Wir müssen uns manchmal einfach einigeln und uns auf uns zurückziehen, ohne dass jemand weiß, was wir machen. Denn nur in solchen Momenten werde ich wirklich zu mir selbst, lerne ich mich überhaupt erst selbst kennen."Die Diskussion um Privatsphäre und Transparenz hat gerade erst begonnen. Erst in einigen Jahren wird sich zeigen, welche Strategie die beste ist. diff --git a/fluter/du-bist-immer-so-abwesend.txt b/fluter/du-bist-immer-so-abwesend.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e6b9cab090d8d807aed9b6b6a8a1c7438e811866 --- /dev/null +++ b/fluter/du-bist-immer-so-abwesend.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Eine Woche vor meinem Friseurbesuch hatte ich mitten im Touristenzentrum der Altstadt von Patan, an einem Stand mit einheimischem Fingerfood, Rabeena* kennengelernt. Sie ist 22, lebt in Lalitpur (so der offizielle Name von Patan), studiert Wirtschaft und arbeitet nebenbei in einem Schmuckladen. Spontan lud sie mich auf eine Portion Pani Puri ein, eine lokale Speise aus Kartoffelpüree und kalter Brühe in einem hauchdünnen Knusperteig, und schließlich zur Hochzeit ihrer Cousine Maya. +Noch im Schönheitssalon werde ich über die besonderen Umstände der Feier in Kenntnis gesetzt: "Die beiden haben sich erst vor fünf Tagen zum ersten Mal persönlich getroffen", sagt Rabeena. Und ergänzt: "Sie leben beide im Ausland. Maya arbeitet in Hongkong, Sonam in Katar. Sie haben sich über Facebook kennengelernt." +Maya und Sonam wirken sehr angespannt, als sie sich später am Ort der Hochzeitsfeier treffen, einem roten Backsteingebäude, das Tempel, Gemeindezentrum und Party-Location in einem ist. "Wir haben 21 Monate lang geschrieben und gechattet", erzählt er mir. "Dann haben wir uns entschieden zu heiraten. Die Familien wurden informiert, die Eltern trafen sich in Nepal zum Kennenlernen und organisierten alles Weitere." +Was mir fremd erscheint, ist in Nepal keine Seltenheit: Zum einen sind Liebesheiraten dort auch heute noch die Ausnahme. Etwa 72 Prozent der Ehen werden nach einer Studie von "World Vision International Nepal", "Save the Children" und "Plan Nepal", die 649 Beispielhaushalte aus ganz Nepal untersucht haben, arrangiert. Zum anderen wird das Internet als Kontakt- und Kommunikationsplattform wichtiger, weil inzwischen etwa sechs Millionen Nepalesen – etwa ein Fünftel der Gesamtbevölkerung – im Ausland arbeiten. Für viele von ihnen gibt es kaum eine andere Möglichkeit, die Familie zu ernähren und den Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen. Nepal ist das ärmste Land Südasiens: Die Arbeitslosenrate liegt bei rund 46 Prozent, das jährliche Bruttoinlandsprodukt pro Kopf beträgt etwa 700 US-Dollar. +Wenn der Bräutigam mitsamt seiner Familie und Freunden eintrifft, ist das Hochzeitsspektakel eröffnet +Auch auf der Hochzeit ist die wirtschaftliche Misere ein Thema und der Emigrationsdruck spürbar: So ist Mayas Mutter gar nicht da. Sie arbeitet als Köchin in Hongkong und hat für die Hochzeit ihrer Tochter keinen Urlaub bekommen. +Die Zeremonie findet im ersten Stock im Tempelraum statt. Der Priester, in Jeans und einen schwarzen Blouson gekleidet, hat alle Utensilien aufgebaut, die für die Feier gebraucht werden: Glocken, Blumen, Wassergläser, rote Farbe und jede Menge Blüten. Mittendrin sitzt das Brautpaar und hat die nächsten Stunden gut zu tun. Es muss beten, Rauch schwenken, Wasser verspritzen, Blumen streuen und sich die Hände bemalen lassen. So will es das traditionelle Hochzeitszeremoniell. +Die Gäste schauen immer mal für eine Weile zu, dann gehen sie wieder in den Hof, essen, trinken ein Glas braunen Schnaps und tanzen zu Hindi-Pop, gern auch mit mir. Als europäischer Gast bin ich eine Attraktion, und vor allem die jüngeren Gäste nutzen die Gelegenheit, Englisch zu üben und mir von ihrem Leben zu berichten. Vom Smog, der Stromknappheit, den gestiegenen Benzinpreisen und von den fehlenden Jobperspektiven. Allein 2012 verließen laut Nepals Ministerium für Auslandsarbeit rund eine halbe Million Männer und Frauen das Land. Katar, Malaysia, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Kuwait, das sind die häufigsten Ziele der Arbeitsmigranten. Die vielen Nepalesen, die in Indien als Fahrer und Hausangestellte arbeiten, sind in diesen offiziellen Zahlen noch gar nicht enthalten. Die Grenzen nach Indien sind offen, die Arbeitsmigration ins Nachbarland wurde bislang nicht genau dokumentiert. +Doch nicht immer bringt der Weg ins Ausland die erhoffte Wendung. Viele Nepalesen sind – wenn überhaupt – nur wenige Jahre zur Schule gegangen, verstehen und sprechen kein Englisch und sind so betrügerischen Vermittlungsagenturen oder Arbeitgebern hilflos ausgeliefert. In der Folge fristen sie im Ausland oft ein Leben wie Sklaven. So sorgt seit einigen Monaten der Bau der Stadien für die Fußball-WM in Katar für Negativschlagzeilen. Fast 400 Nepalesen kamen dort laut einem Bericht des "Guardian" bei den Arbeiten ums Leben, allein in den Jahren 2012 und 2013. +Nach langer Abwesenheit wieder die heimische Tradition aufnehmen: Braut und Bräutigam müssen beten, Rauch schwenken, Wasser verspritzen, Blumen streuen und sich die Hände bemalen lassen +Die große Mehrheit der Arbeitsmigranten leidet eher seelisch: Sie belastet vor allem die Trennung von ihrer Familie. Am traurigsten wirkt auf der Hochzeitsfeier Rabeenas Mutter Sageeta. Sie arbeitet seit drei Jahren in Hongkong und sieht ihre Familie seitdem zum ersten Mal. "Die ersten acht, neun Monate habe ich nur geweint, weil ich meine Kinder so vermisst habe und wir nicht sprechen konnten", erzählt Sageeta. Inzwischen sind sie über Facebook verbunden wie fast alle Menschen, die ich in Nepal kennengelernt habe. +Sageeta arbeitet in Hongkong, weil sie in Nepal keinen Job gefunden hat, aber ihrer Tochter und ihrem Sohn ein Studium ermöglichen will. Und weil ihr Mann ausgefallen ist. Rabeenas Vater Bishnu hatte in Saudi-Arabien gearbeitet, als Schreiner, Elektriker, Klempner, eben Mann für alles. "Doch dann habe ich Rückenprobleme bekommen und konnte nicht mehr arbeiten", sagt Bishnu. Seine Frau übernahm die Rolle der Ernährerin. Zuerst arbeitete sie als Au-pair und verdiente im Monat 2500 Hongkong-Dollar, nach aktuellem Wechselkurs etwa 230 Euro. Jetzt kocht sie in einem Restaurant italienische und nepalesische Speisen und verdient gut das Doppelte. Doch wenn Unterkunft, Transport und Essen in Hongkong gezahlt sind, bleibt nicht viel für die Familie übrig. +Sogar der Bräutigam will über seine Probleme sprechen. Etwa darüber, dass er noch nicht weiß, wie seine nahe Zukunft mit seiner Frau aussehen wird: "Ich habe ein Visum für Katar, aber wir möchten lieber nach Hongkong gehen und versuchen nun, eine Aufenthaltserlaubnis für mich zu bekommen." Warum er nicht mehr nach Katar möchte, sagt Sonam nicht. Seit zehn Jahren arbeitet er dort, zurzeit im Büro einer nach seiner Aussage soliden Baufirma. Er verdiene auch gut. Sein Ziel ist ein eigenes Haus in Nepal. "Ein Grundstück habe ich schon gekauft", sagt er. +Über Mayas Lebensträume kann ich an diesem Tag nichts erfahren. Sie lässt lieber ihren Mann sprechen. Ihre Pflicht des Tages erfüllt Maya jedenfalls sehr gut: Von der Braut verlangt die Tradition, dass sie am Ende der Hochzeitsfeier weint. Viel und laut. Und das tut sie dann auch. +* Aus Rücksicht auf die Familien wurden alle Namen von der Redaktion geändert +Simone Utler ist beruflich und privat in aller Welt unterwegs und lässt sich gern auf spontane Einladungen ein. In Nepal hat ihr das diese Hochzeitsfeier beschert, aber auch eine der schlimmsten Nächte all ihrer Reisen: Das spendierte Fingerfood Pani Puri ist ihrem Magen nämlich überhaupt nicht bekommen. diff --git a/fluter/du-grammatik-hitler.txt b/fluter/du-grammatik-hitler.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1ea942c456853a75107a4f4c14d24f527d4adae1 --- /dev/null +++ b/fluter/du-grammatik-hitler.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Als "Auschwitz-Keule" bezeichnet man das rhetorische Modell, beim politischen Gegner Nazi-Vokabeln aufzuspüren und sodann dessen Denkweise als naziähnlich zu diffamieren. Die Sprachwissenschaftler Thorsten Eitz und Georg Stötzel haben diesem Konflikt ein eigenes Buch gewidmet: das "Wörterbuch der ‚Vergangenheitsbewältigung'". Auf mehr als 700 Seiten sind da alle Wortgefechte rund um tatsächliche und vermeintliche Nazi-Begriffe verzeichnet, die in politischen Debatten der Bundesrepublik dank Parlamentsprotokollen und Presse nachzuweisen waren. Darunter auch Beispiele aus jüngster Zeit, wie etwa der Streit um den Begriff "Selektion" im Zusammenhang mit der Präimplantationsdiagnostik oder die Kontroversen um das Wort "Elite", wenn es um die PISA-Studie und Bildungspolitik geht. Im Nationalsozialismus war die planmäßige Bildung einer gesellschaftlichen Elite die ideologische Kehrseite der "Ausmerze" von als minderwertig betrachteten Bevölkerungsgruppen. +Auch wenn Politiker die Verwendung historisch kontaminierter Vokabeln im Nachhinein bedauern, drängt sich oft der Verdacht auf, dass sie die Wörter ganz bewusst gewählt haben, um Aufmerksamkeit zu bekommen. So wird das Wort "Holocaust", das seit Ende der 70er- Jahre zur Bezeichnung des Genozids an den Juden geläufig ist, immer mal wieder zweckentfremdet: Als "Babycaust" wurden bereits Abtreibungen denunziert, Neonazis setzen mit dem Wort "Bombenholocaust" die Luftangriffe der Alliierten auf Dresden 1945 mit dem Massenmord des Hitler-Regimes an den Juden gleich. Dass sich Neonazis einer derart plumpen Provokation bedienen, wundert einen nicht. Dass aber auch Politiker aus dem gemäßigten Spektrum gelegentlich der Versuchung erliegen, ihre politischen Gegner mit Hitler oder anderen NSGrößen zu vergleichen, bezeichnen Stötzel und Eitz als eine "politisch-strategische Schizophrenie". Eine Art Tick, der einen zwanghaft Wörter sagen lässt, die man eigentlich nicht sagen darf. Gerade weil in Deutschland eine Art Konsens darüber besteht, dass die betreffenden Geschichtsereignisse, Personen und Institutionen einzigartig, einmalig und unvergleichbar waren, dient der Nazi-Begriff hier als Argumentationsersatz und Aufmerksamkeitsbeschleuniger. +Doch was darf man noch sagen? Und wäre es nicht ein später Triumph der Nazis, wenn man Wörter nur deshalb nicht mehr benutzte, weil sie von Nationalsozialisten inflationär gebraucht wurden? Die vielen Superlative oder Kraftworte wie "gigantisch", "total", und "ungeheuer". Modernitätsnachweise durch Bilder aus der Elektrotechnik wie "Anschluss" und "Gleichschaltung". Ausdrücke wie "Endlösung" als Beschönigungen für mörderische Verbrechen. Sakrale Wendungen wie "Heil" und "ewig" oder auch mythologische wie "heldenhaft". "Instinkt" statt "Intellekt". Biologische Metaphern wie "Ratten" und "Parasiten" sowie die entsprechenden Allegorien aus der Schädlingsbekämpfung: "Ausmerze". Was darf man noch sagen, wenn jedes Wort, das einmal von einem Nazi in den Mund genommen wurde, nur noch Würgereiz auslöst? +Es gilt wohl, den Einzelfall zu betrachten und öfter mal innezuhalten bei dem, was man so sagt. So ist das Wort "Reichskristallnacht" für die Schrecken des 9.11.1938, als Synagogen und jüdische Läden zerstört wurden, ein recht durchschaubarer Euphemismus, für den sich mittlerweile der treffendere Begriff "Reichspogromnacht" eingebürgert hat. "Tabuisierungen einzelner Wörter helfen wenig", sagt Stötzel. "Notwendig ist geschärftes Sprachbewusstsein und eine kritische Auseinandersetzung mit den Intentionen der Sprecher, die NS-Vokabular verwenden." Es hilft also nichts, der unbekümmerten Weiterverwendung von Nazismen als eine Art Grammatik-Hitler zu begegnen, der die NS-Sprache fanatisch tilgen will. Der Satiriker Wiglaf Droste nannte dies einst die "Kreuzberger Faustkeilregel: Wer zuerst Fascho sagt, hat gewonnen." diff --git a/fluter/du-sagst-es.txt b/fluter/du-sagst-es.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/du-stehst-auf-blonde-frauen-oder.txt b/fluter/du-stehst-auf-blonde-frauen-oder.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..12db4a9b4b0ec632cc362d015f399fdaed8703a9 --- /dev/null +++ b/fluter/du-stehst-auf-blonde-frauen-oder.txt @@ -0,0 +1 @@ +Michel war nicht der einzige Leser, der im Magazin ein Porträt über sich lesen musste. Die Redakteure von "Le Tigre" haben es sich in der Rubrik "Das Google-Porträt" zur Aufgabe gemacht, ihre Leser für das Thema Datenschutz zu sensibilisieren – auf die brutale Tour. Bei Michel hat die Lektion auf alle Fälle gewirkt, er versuchte anschließend, im Internet so viel wie möglich von sich zu löschen. Nur eines hatten die Magazin- Redakteure nicht von ihm herausgefunden – seine Adresse, um ihm das Porträt per Post zu schicken. "Aber", so schließt der Artikel, "die brauchen wir auch nicht, um dir dein Porträt zu schicken. Du kennst es ja schon, dein Leben." Freiwillig löschte "Le Tigre" auf seinen Wunsch zumindest in der Online-Ausgabe die persönlichsten Dinge und anonymisierte die Handynummer. Für Michel sei es ein "heilsamer Schock" gewesen, sagt ein Redakteur des Magazins. "Die Naivität und der Exhibitionismus vieler Menschen sind grenzenlos." diff --git a/fluter/du-und-ich-und-der-sommer-roman-interview-silwanowa-malisowa.txt b/fluter/du-und-ich-und-der-sommer-roman-interview-silwanowa-malisowa.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2b997221de13d360440db64edfb18aae5f248382 --- /dev/null +++ b/fluter/du-und-ich-und-der-sommer-roman-interview-silwanowa-malisowa.txt @@ -0,0 +1,42 @@ +Euer Roman "Du und ich und der Sommer" handelt von der Liebesgeschichte zweier junger homosexueller Männer in derUkraine. Warum habt ihr gerade darüber geschrieben? +Katerina Silwanowa: Ich habe schon früh festgestellt, dass mir sowohl Jungs als auch Mädchen gefallen. Doch in der Literatur, die gedruckt wurde, fand ich mich nicht wieder. Eines Tages entdeckte ich die Selfpublishing-Plattform Ficbook und fing an, Geschichten zum ThemenbereichLGBTzu lesen und dann auch darüber zu schreiben. +Elena Malisowa: Als Studentin hatte ich einen Nebenjob in einem Unternehmen und dort einen guten Freund. Er war schwul. Eines Tages erzählte er mir, dass er an HIV erkrankt sei. Damals kannte ich den Unterschied zwischen HIV und Aids nicht und bekam große Angst um ihn. Ich hatte dazu viele Fragen und wollte auch gerne mehr darüber erfahren, wie Schwule in Russland leben. Aber aus Angst, ihn mit meinen Fragen zu verletzen, suchte ich im Internet nach Informationen. Später habe ich dann auch mit meinem Freund selbst gesprochen, weil mir klar wurde, dass es ein Fehler gewesen wäre, es nicht zu tun. Seine und andere Geschichten haben einen sehr starken Eindruck auf mich hinterlassen. Ich verstand, dass ich nicht gleichgültig gegenüber ihrer Situation bleiben kann in einem Land, in dem der Schwulenhass immer größer wird. Deswegen schreibe ich darüber. +Der Großteil eurer Geschichte spielt in einem ukrainischen Ferienlager im Sommer 1986. Hier lernen sich die Protagonisten Jura und Wolodja kennen und verlieben sich ineinander. Warum gerade dort? +Katerina Silwanowa: Als ich noch klein war, Anfang der 2000er, gab es bei Charkiw ein verlassenes Ferienlager aus der Sowjetzeit. Meine Eltern und ich bekamen von Bekannten den Schlüssel zu einem der Häuschen und verbrachten dort eine sehr schöne Zeit. Die Erinnerungen an das, was ich dort gesehen habe, habe ich niedergeschrieben und mir vorgestellt, wie es wohl gewesen ist, als es noch nicht verlassen war. +Elena Malisowa: Als das Thema Ferienlager für uns feststand, wurde uns schnell klar, dass es besser wäre, über ein Pionierlager zu schreiben. Wir wollten eine Geschichte über die Erziehung zu Sowjetzeiten schreiben und über diesen inneren Konflikt zwischen den eigenen Gefühlen und dem Menschenbild, das im Ferienlager vorgegeben wurde. Denn darin gab es keinen Platz für Homosexualität. +"Du und ich und der Sommer" ist im Blanvalet Verlag erschienen +War euch klar, dass die Tatsache, dass eine Ukrainerin und eine Russin zusammen ein Buch schreiben, irgendwann mal zum politischen Statement werden könnte? +Katerina Silwanowa: Wir haben mit der Geschichte 2016 angefangen. Zu diesem Zeitpunkt lebte ich schon in Russland. Damals haben wir die Schärfe dieses Konflikts gar nicht wahrgenommen. Für uns war es nichts Ungewöhnliches, dass eine Ukrainerin und eine Russin zusammenarbeiten. Erst jetzt, wegen des Krieges, wird das zu einem politischen Statement. +Elena Malisowa: Ich möchte noch aus meiner Sicht als Russin etwas hinzufügen. Bevor wir das Buch schrieben, war ich schon seit einigen Jahren gegen die Handlungen der russischen Regierung. Als ich nach derAnnexion der Krimsah, wie viele Russen diese Annexion unterstützten, war ich sehr enttäuscht. Mir wurde klar, dass ich nun wahrscheinlich längere Zeit die Ukraine nicht mehr als Touristin besuchen kann, obwohl ich das fest vorhatte und Katerina mich schon mal eingeladen hatte. Deswegen wollte ich wenigstens eine Geschichte über die Ukraine schreiben. +Ihr sprecht in eurem Buch durchaus kritische Themen an: Der 16-jährige Jura und insbesondere der etwas ältere Wolodja haben große Angst, dass ihre Beziehung auffliegt. Für Wolodja hätte das zu Sowjetzeiten womöglich den Ausschluss von der Universität und eine Haftstrafe bedeutet. Habt ihr auch einen Aufklärungsanspruch? +Elena Malisowa: Ja, den haben wir. Wir beide interessieren uns sehr für Geschichte. Uns wurde schnell klar, dass die Wurzeln der heutigen Homophobie zum Teil schon in der Sowjetunion liegen. Wir wollten den jungen Leuten zeigen: Seht, wie das, was damals war, heute wieder anfängt, präsent zu sein. 2016 war das nur eine Vorahnung. Es ist sehr bitter zu sehen, dass unsere Prophezeiung wahr geworden ist. +Als euer Buch 2021 veröffentlicht wurde, schlug es hohe Wellen. Es war lange ein Top-Titel auf einer wichtigen russischen Belletristik-Bestsellerliste und wurde bis Ende 2022 über 300.000-mal verkauft. Hattet ihr damit gerechnet? +Katerina Silwanowa: Wir hatten niemals mit dieser großen Leserschaft und mit dieser Menge an Liebe gerechnet, die uns entgegengebracht wurde. Wir wollten die Geschichte ursprünglich nicht mal als Buch veröffentlichen, wir haben sie ja nur für uns geschrieben und dann auf einer Selfpublishing-Plattform veröffentlicht. Wir konnten uns auch überhaupt nicht vorstellen, dass es in Russland zu der Zeit möglich wäre, ein gedrucktes Buch zu einem LGBT-Thema zu veröffentlichen. Damals waren die Gesetze noch weniger streng als jetzt, aber die Stimmung innerhalb der Gesellschaft war trotzdem schon so, dass es unmöglich schien. Unsere Leser haben uns schließlich dazu überredet, es doch mal bei dem Verlag Popcorn Books zu versuchen. Und die boten uns an, das Buch herauszubringen. +Elena Malisowa: Das Schönste waren für uns die Reaktionen von Menschen aus der Generation unserer Eltern: Manche erzählten, dass sie, nachdem sie unseren Text gelesen hatten, ihre Einstellung gegenüber LGBT-Themen geändert haben und sie jetzt besser verstehen. +Es gab allerdings auch viele negative Stimmen. Nicht nur in Form von inhaltlicher Kritik, ihr wurdet auch massiv bedroht. +Elena Malisowa: Ja, aber nicht sofort. Das Buch erschien im Oktober 2021, doch erst im Mai 2022 ging die Hetze los. Ich denke, das hatte einen direkten Bezug zum Krieg. Wir haben Drohungen von dem Duma-Abgeordneten Vitalij Milonow bekommen, der in einer Fernsehsendung sagte, wir sollten im Fluss Moskwa ertränkt werden. Der bekannte Filmemacher Nikita Michalkow zeigte auf seinem YouTube-Kanal unsere Fotos und nannte uns Verräterinnen. Was mich aber am meisten geschockt hat, war, dass er TikTok-Videos von unseren Leserinnen und Lesern gezeigt hat. Wir hatten dann auf einmal auch Angst um sie. +Was ist dann passiert? +Elena Malisowa: Als wir die vielen negativen Publikationen über uns lasen, auch in großen Telegram-Kanälen mit insgesamt über zwei Millionen Abonnenten, wurde uns klar: Es wird gefährlich für uns. Deshalb sind wir beide Ende Mai 2022 aus Russland ausgereist, zunächst nach Armenien. Mittlerweile bin ich in Rostock gelandet, und Katerina ist zurück in die Ukraine gegangen. +Katerina Silwanowa: Für mich stand nach Ausbruch des Krieges sowieso die Frage nach einer Ausreise aus Russland auf der Agenda. Ich war nur in den ersten Monaten zu geschockt und damit beschäftigt, meinen Freunden und meinen Eltern zu helfen, die in der Ukraine waren. Aber die Drohungen haben mich noch einmal bestärkt auszureisen. +Hattet ihr solch heftige Reaktionen erwartet? +Elena Malisowa: Nein, das haben wir nicht. Ich werde jetzt wieder politisch: Russland ist eine Diktatur. Und jede Diktatur braucht Feinde. Der äußere Feind sind die Ukraine und die Länder, die die Ukraine unterstützen. Zum inneren Feind ist die LGBT-Community geworden. Der Erfolg unseres Buches wurde als Anlass genutzt, um sie als Feindbild zu propagieren. Wir hätten nicht gedacht, dass unser Buch in der Art ausgenutzt wird. Aber wir haben auch nicht mit dem Krieg gerechnet. +Eine weitere Reaktion war die Verschärfung der Gesetzgebung. +Elena Malisowa: Schon seit 2013 gab es ein Verbot von "LGBT-Propaganda" gegenüber Kindern. Niemand wusste, was genau damit gemeint war, der Begriff war sehr verschwommen. Man nimmt an, dass die russische Regierung darunter jede Form von positiver Darstellung von Sexualität versteht, die von der "traditionellen", wie sie es nennen, abweicht. Dieses Anti-Propaganda-Gesetz wurde im Dezember 2022 noch mal verschärft. Jetzt ist "LGBT-Propaganda" nicht nur bei Kindern, sondern in allen Altersgruppen verboten. +Mit diesem Gesetz wurde die Verbreitung von Büchern oder Filmen, die vermeintlich "LGBT-Propaganda" enthalten, unter hohe Geldstrafen gestellt. +Elena Malisowa: Zensur ist in Russland weiterhin offiziell verboten. Aber die Regierung verabschiedet Gesetze, die ihrem Wesen nach Zensurgesetze sind. Unser Verlag stellte den Verkauf unseres Buches Ende 2022 ein, weil er sonst eine hohe Geldstrafe bekommen hätte. Wir sind nun auf einer Art schwarzen Liste. Es kursieren in Russland Listen von Büchern, die aus Buchhandlungen verbannt werden sollen. Ein bekannter Journalist, Alexander Pljuschtschew, hat zum Beispiel solche Listen veröffentlicht, er hat sie von einem großen Online-Buchhändler. Ich selbst habe keine Beweise dafür, dass solche Listen von der Regierung kommen. Aber es gibt einen Konsens in der russischen Gesellschaft, dass sie letzten Endes auf die russische Regierung zurückzuführen sind. +Wie geht es für euch beide jetzt weiter? Werdet ihr weiter über LGBT-Themen schreiben? +Katerina Silwanowa: Es gibt eine Fortsetzung unseres Buches, die auch schon in Russland erschienen war. Der zweite Teil soll demnächst in Deutschland, aber auch in Polen, Italien und Brasilien veröffentlicht werden. Und dann wird es noch einen dritten Teil geben. Wir wünschen uns weiterhin, dass auch russischsprachige Menschen unsere Bücher lesen können. Vielleicht gibt es ja irgendwann die Möglichkeit, unsere Bücher auf Russisch als E-Books zu vertreiben. +Hashtags zu eurem Buch haben mittlerweile Aufrufe im dreistelligen Millionenbereich auf TikTok erreicht. Wie wichtig ist der Einfluss der BookTok-Community in Russland? +Katerina Silwanowa: Durch das Internet und TikTok ist unser Bekanntheitsgrad und der des Buches sehr gewachsen. Die Leute haben sehr viele Videos zum Buch gemacht, Cosplay-Geschichten kreiert, Musik geschrieben oder Gedichte. Das zeigt, dass dieses Buch bei den Menschen immer noch sehr beliebt ist und somit auch einen Einfluss hat. +Elena Malisowa: Ich wünsche mir sehr, dass unser Buch noch bekannter wird und noch mehr Einfluss gewinnt. Es geht in diesem Buch um Liebe, Freundschaft und Standhaftigkeit. Das ist genau das, was wir in diesen dunklen Zeiten brauchen. + +Elena Malisowa wurde 1988 in der russischen Stadt Kirow geboren. Sie studierte Management und arbeitete danach im IT-Support eines Handelsunternehmens. Ende Mai 2022 reiste sie gemeinsam mit Silwanowa aus Russland aus. Seit Anfang 2023 lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Katern in Rostock. +Portrait: Ira Guzova + +Katerina Silwanowa wurde 1992 im ukrainischen Charkiw geboren. Nach ihrem Studium der Forstwirtschaft zog sie in die russische Stadt Nowgorod und arbeitete im Einzelhandel. Heute wohnt sie wieder in Charkiw, wo sie als Autorin arbeitet. +Portrait: Diana Kokhna + + +Titelbild: Kostis Fokas + +Das Interview wurde mithilfe eines Übersetzers aus dem Russischen geführt. diff --git a/fluter/duenen-klimaschutz-kuestenschutz.txt b/fluter/duenen-klimaschutz-kuestenschutz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2b94bcf6cd3f57bcf4607ed379eb02fa7ea344b8 --- /dev/null +++ b/fluter/duenen-klimaschutz-kuestenschutz.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Der steigende Meeresspiegel ist eine schwerwiegende Folge des vom Menschen verursachten Klimawandels. Werden weiterhin ungebremst Treibhausgase ausgestoßen, rechnen Wissenschaftler*innen mit einem globalen Meeresspiegelanstieg von etwa 60 bis 100 Zentimetern bis zum Ende des Jahrhunderts. Selbst bei sehr geringen Treibhausgasemissionen erwartet der Weltklimarat einen Anstieg von knapp 40 bis 90 Zentimetern bis 2150. Die Hauptgründe dafür sind abschmelzende Eismassen in Grönland und der Antarktis sowie die Ausdehnungdes sich erwärmenden Wassersin den Meeren. +Besonders Küstenregionen stehen dadurch in den nächsten Jahrzehnten vor schwerwiegenden Herausforderungen: Sturmfluten, wie zum Beispiel in Hamburg 2013, werden stärker und häufiger. Die Wellen "nagen" an den Küsten und führen zu starken Abtragungsprozessen, Salzwasser mischt sich mit dem Grundwasser. Trinkwasser wird dadurch ungenießbar, eine landwirtschaftliche Nutzung unter Umständen unmöglich. +Schon immer hat die 31-jährige Bauingenieurin gern Zeit an der Küste verbracht. In ihrem Studium beschäftigte sie sich nicht nur mit dem Bauen von Häusern und Tunneln – auch der Küstenschutz spielte hier eine Rolle. "Außerdem bin ich ein totaler Pflanzennerd", sagt sie. +In ihrer Promotion kann sie dieser Begeisterung jetzt Raum geben:Ammophila arenariaoder auf Deutsch: Strandhafer heißt die Pflanze, um die sich ihre Forschung dreht. Wortwörtlich bedeutet der lateinische Name der Pflanze so viel wie "sandiger Sandfreund" Sie will wissen, wie viel Schutz der Strandhafer den Weißdünen zu bieten hat. Das sind jene Dünen mit dem feinen weißen Sand, die dem Ufer besonders nah sind. Sie kommen direkt nach den Vordünen, die von Sandfahnen bewachsen sind und immer wieder vom Meer überspült werden. +Tief in den Sand reichen die Wurzeln der Pflanzen. Sie verflechten sich zu einem unterirdischen Netz, das die Düne zusammenhält und vor Abtragungsprozessen durch Wellen und Wind schützen kann. Um zu untersuchen, ab welcher Belastung die Wurzeln reißen, sammelt Viktoria Kosmalla Wurzelproben, die sie später im Labor untersuchen wird. Aber auch für den sichtbaren Teil der Pflanzen interessiert sich die Forscherin, denn auch dieser kann die Dünen zu schützen. Angewehter Sand bleibt an ihm hängen und setzt sich ab – dadurch dehnen sich die Dünen aus und haben das Potenzial, mit dem Meeresspiegelanstieg mitzuwachsen. Außerdem bremsen die Halme Wellen. Je dichter und höher die Pflanzen wachsen und je steifer sie sind, desto mehr bremsen sie die Wassermassen. "So zumindest die Theorie!", sagt Kosmalla und lacht. +Im Labor baut sie die Düne im Kleinformat nach: Eine Düne, die auf der Insel sieben Meter hoch ist, wird im Labor eine Höhe von einem Meter haben. Wellen werden durch eine Wellenmaschine erzeugt. Alles so realistisch wie möglich. +Im Ernstfall, wenn ein Sturm über das Meer tobt und die Wellen aufs Land aufschlagen, sind Dünen das erste Bollwerk gegen die Naturgewalt. Ähnlich einer Hochwasserschutzwand schützen sie das Landesinnere vor Fluten, die in den nächsten Jahrzehnten durch denklimabedingten Meeresspiegelanstiegwahrscheinlich immer stärker werden. +Im Gegensatz zu festen Bauwerken wie einem Deich oder einer Schutzwand bieten Dünen aber noch mehr als nur Hochwasserschutz: Brutvögel nisten zum Beispiel in ihnen. Außerdem sind sie als natürliches System deutlich widerstandsfähiger gegenüber Dürre oder Stürmen. Bis zu 20 Meter hoch werden sie – dank der Pflanzen, die auf ihnen wachsen und sie vor Abtragungsprozessen schützen. +Oftmals werden Maßnahmen zum Küstenschutz nur auf den Hochwasserschutz ausgerichtet. "Früher hätte man gesagt: ‚Düne weg, Deich oder Mauer hin: Küste ist geschützt.' Aber wir möchten weg vom Bauen hin zu einem Bauen mit der Natur", erklärt Viktoria Kosmallas Kollege Oliver Lojek. Um die Natur mehr in den Küstenschutz zu integrieren, muss sie aber zuerst einmal verstanden werden. Das geht am besten dort, wo es viel von ihr in unberührter Form gibt – wie auf Spiekeroog. Aber auch für andere Regionen können die Ergebnisse der Untersuchung interessant sein. Besonders da, wo sich die Vegetation auf den Dünen ähnelt – also an der deutschen, der holländischen oder der dänischen Küste beispielsweise. +Im Gegensatz zu Stränden, an denen sich ein Hotel ans nächste reiht, hat die Natur auf Spiekeroog Raum, sich zu verändern. Dadurch ist die Insel sehr gut geeignet, um naturbasierten Küstenschutz zu verstehen. Dass Naturschutz auf der Insel großgeschrieben wird, könne für die Forschung aber auch mal zum Verhängnis werden, meint Viktoria Kosmalla. "Ich hätte auch Pech haben können. Hätte die Sumpfohreule angefangen, hier zu nisten, wär's vorbei gewesen mit der Doktorarbeit!" +Diese Halme reisen ins Labor +Bevor das Forschungsteam mit den Arbeiten beginnen konnte, mussten viele Absprachen mit der Nationalparkverwaltung und anderen Behörden getroffen werden. Über ein Jahr hat sich alles hingezogen. Denn Dünen, die eine Küstenschutzfunktion haben, dürfen in der Regel nur auf ausgewiesenen Pfaden betreten werden. Vor allem Tourist*innen wissen das aber oft nicht: "Die sehen halt nur Gemüse und denken: Oh, da hau ich mein Handtuch hin", ärgert sich Oliver Lojek. +Der Bevölkerung auf der Insel scheint das Problem aber bewusst zu sein.Als Oliver Lojek und Viktoria Kosmalla sich am Abend über die Düne bewegen, ermahnt sie ein vorbeilaufender Anwohner: "Sie wissen schon, dass es hier ein Betretungsverbot gibt? Und dass die Dünen darunter leiden, wenn man auf ihnen herumtrampelt?" Dass die beiden Proben für ein Forschungsprojekt sammeln, besänftigt ihn. +Die Hälfte aller Menschen lebt weniger als 100 Kilometer von einer Küste entfernt. Immer mehr Menschen ziehen in Städte, die an Küsten angesiedelt sind. Küstenschutzmaßnahmen wie Deiche, Sperrwerke oder auch natürliche Landschaften wie Dünen oder Salzwiesen können helfen, sie in Zukunft vor dem Wasser zu schützen. Dabei ist es besonders wichtig, "harte" Schutzmaßnahmen wie Ufermauern oder Deiche – die Ökosysteme schädigen und Erosionsprozesse vorantreiben könnten – und "weiche", naturnahe Maßnahmen auszubalancieren. Ein Mittelweg könnten hybride Lösungen sein, bei denen neben klassischen Schutzbauten auch natürliche Ökosysteme miteinbezogen werden. +Fürbesonders gefährdete Regionenwerden diese Maßnahmen aber womöglich irgendwann nicht mehr ausreichend sein – die Umsiedlung von ganzen Orten ist ein immer wahrscheinlicheres Szenario. In Betracht gezogen wird das zum Beispiel in Shishmaref, einem Ort an der Westküste Alaskas. Hier gräbt das Meer sich bereits so stark ins Festland, dass es den Menschen buchstäblich den Boden unter den Füßen entzieht. Einwohner*innen stimmten für eine Umsiedlung aufs Festland – eine sehr kostspielige Angelegenheit und gesellschaftliche Herausforderung, deren Umsetzung bisher scheiterte. +Nach über drei Stunden auf der Düne hat sich der Himmel nachtblau gefärbt. "Irgendwann reicht es auch, oder?", sagt Viktoria Kosmalla und nickt ihrem Kollegen zu. Die beiden verstauen Gartenschere, Zollstock und Notizheft im Rucksack. Auf dem Rückweg durch die Dünen folgen sie den huschenden Lichtkegeln ihrer Kopflampen, lange Halme des Strandhafers ragen aus Oliver Lojeks Rucksack und wippen im Takt seiner Schritte. +Die Exkursion ist eine der letzten, die das Team für die Untersuchung macht. Danach kann sich Viktoria Kosmalla voll und ganz auf die Auswertung der Daten konzentrieren – und mit ihren Ergebnissen einen Teil zu einem Küstenschutz beitragen, bei dem Ökosysteme besser verstanden und genutzt werden. diff --git a/fluter/dunkelziffern-gewalt-plastik-gas-dunkle-materie.txt b/fluter/dunkelziffern-gewalt-plastik-gas-dunkle-materie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9a7a39e1f9be8f102d446aa7e1e68ce881fc4d1d --- /dev/null +++ b/fluter/dunkelziffern-gewalt-plastik-gas-dunkle-materie.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Wie sich Deutschland von russischem Öl und Gas lösen kann, darüber wird seit Beginn des Ukrainekriegs viel diskutiert. Und immer wieder hörte man in den Medien oder aus dem Wirtschaftsministerium Zahlen, die es zu senken galt: 35 Prozent der Ölimporte kamen 2021 aus Russland (Mitte April 2022: 12 Prozent); 55 Prozent waren es beim Gas (Mitte April 2022: 35 Prozent). Nur dass man beim Gas gar nicht genau weiß, ob die Zahlen stimmen. Im Gegensatz zum Erdöl, für dessen Einfuhr es eine amtliche Meldepflicht gibt, stammen die 55 Prozent ausgerechnet aus einem Bericht des britischen Ölkonzerns BP. Messungen der Durchflussmengen in denPipelinesstützen diese Zahlen zwar, aber ganz sicher scheint es niemand zu wissen, denn die Importzahlen beziehen sich vor allem auf die in den Importverträgen festgelegten Mengen. Kurz gesagt: Deutschland arbeitet an einer Umstellung von riesigem Ausmaß, ohne die zugrunde liegenden Daten genau zu kennen. Bei mehr als 100 Milliarden Kubikmeter Erdgas (ohne Flüssiggas), die 2020 über Pipelines nach Deutschland gelangten, stünden selbst hinter kleinen Abweichungen riesige Zahlen: Ein Prozent entspräche einer Milliarde Kubikmeter Erdgas. Damit lassen sich ein ganzes Jahr circa 450.000 Einfamilienhäuser heizen. + +Wie viel ein Produkt im Laden kostet und wie viel es fairerweise kosten müsste, das liegt oft weit auseinander. Besonders beim Plastik bezahlen wir am Ende der Rechnung nämlich sehr viel mehr, wenn man die negativen Effekte auf Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft hinzurechnen würde. Die Kosten für die Müllentsorgung und die Emission von Treibhausgasen kann man vielleicht noch kalkulieren. Schwerer wird es bei Gesundheitsausgaben und denSchäden in den Ökosystemen der Meere.90 Prozent der Kosten seien im Marktpreis gar nicht inbegriffen – zu diesem Ergebnis kommt ein Bericht der Umweltorganisation WWF. Sie hat ausgerechnet, dass allein die Lebenszeitkosten des Plastiks, das 2019 produziert wurde, bei geschätzten 3,7 Billionen US-Dollar liegen. Zur Erinnerung: Eine Billion sind 1.000 Milliarden. Noch unvorstellbarer wird es, wenn man weiter in die Zukunft rechnet: 2040 wären wir bei 7,1 Billionen Dollar,weil sich die Plastikproduktion voraussichtlich verdoppeltund die Meeresverschmutzung durch Plastik verdreifacht haben wird. Das ist dann mehr als das Bruttoinlandsprodukt aus dem Jahr 2020 von Deutschland, Kanada und Australien zusammen. +Der Weltraum, unendliche Weiten, und vom allergrößten Teil haben wir keinen blassen Schimmer. Denn unser kosmologisches Standardmodell hat viele mysteriöse Bestandteile. Neben der uns wohlbekannten Materie – also Atome, Moleküle, Planeten, Asteroidengürtel, Erdschichten – gibt es noch die sogenannte Dunkle Materie. Über sie weiß die Physik erstaunlich wenig, obwohl sie schätzungsweise mehr als 80 Prozent des Universums ausmacht. Kein einziges dieser völlig unbekannten Teilchen konnte bisher direkt nachgewiesen werden. Bemerkbar machen sie sich ausschließlich durch ihre Gravitationskraft. Allein deswegen fiel Physikerinnen und Physikern irgendwann auf: Moment mal, gäbe es nur die sichtbare Materie, müssten Galaxien rein rechnerisch auseinanderfliegen, anstatt sich wie unsere Milchstraße um ein Zentrum zu bewegen. Man kann sich die Dunkle Materie also wie eine Art Klebstoff vorstellen, der alles zusammenhält. Aber was heißt schon alles: eigentlich nur die 15 Prozent, über die wir Bescheid wissen. Im Grunde wissen wir also eigentlich gar nichts. Trotzdem ist die Dunkle Materie immer da: auch hier auf der Erde. Laut einer Theorie rauschen ihre Teilchen ständig durch uns hindurch – etwa in dieser Sekunde 100.000 Stück durch deinen Daumennagel. + diff --git a/fluter/durch-erbschaft-reich.txt b/fluter/durch-erbschaft-reich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5481d8f8e737afa899b25e471735c769f5ed6635 --- /dev/null +++ b/fluter/durch-erbschaft-reich.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +fluter: Wie kam das denn eigentlich, dass du geerbt hast, obwohl dein Vater noch lebt? +Eines Tages kam mein Vater auf mich zu, sagte, wir müssten jetzt mal demnächst gemeinsam zum Notar gehen und ein paar Dinge regeln. Es war ihm wichtig, dass es noch Ende des gleichen Jahres passierte. Ich habe gefragt, warum, und er erzählte, dass es vielleicht bald eine höhere Erbschaftssteuer gibt. Das war schon ein bisschen bizarr. +fluter: Habt ihr den Staat betrogen? +Meines Wissens nicht. Mein Vater ist grundsätzlich ein ehrlicher Geschäftsmann. Es war vielleicht moralisch nicht einwandfrei, aber legal. +fluter: Findest du das eigentlich gerecht? Dein Vater hat dadurch ja Steuern gespart … +Ich sehe das insgesamt kritisch. Ich bin eigentlich für eine höhere Erbschaftssteuer. Ich glaube, dass die soziale Ungleichheit in Deutschland zunimmt und Erbschaften das Problem verschärfen. Mir wäre ein System lieber, in dem es nicht mehr so einfach möglich ist, seinen Reichtum weiterzugeben. Ich weiß, dass das widersprüchlich klingt, aber es wäre mir gleichzeitig schwergefallen, meinem Vater zu sagen: Ich will das nicht, weil ich das nicht richtig finde. Ich habe mich seinem Wunsch einfach gefügt. +fluter: Bist du auf dein Erbe vorbereitet worden? +Nein, wir haben über so was nie in der Familie gesprochen. Mir war natürlich schon bewusst, dass ich Einzelkind bin und mein Vater es mit seiner Firma zu einem gewissen Vermögen gebracht hat. +fluter: Was genau hast du denn da erhalten? +Vor ein paar Jahren habe ich schon mal eine Eigentumswohnung von meinem Vater geschenkt bekommen. Und dann wurden mir seine Anteile an der Firma überschrieben, die er in den 1970er-Jahren gegründet hat. Es ist ein mittelständisches Unternehmen, das im Bereich Corporate Design tätig ist. +fluter: Was ist die Firma denn wert? +Ganz ehrlich: Ich kann es nicht genau sagen. Sie hat um die 100 Mitarbeiter und macht rund 50 Millionen Euro Umsatz im Jahr. Aber mit den genauen Zahlen und dem operativen Geschäft habe ich nichts zu tun. +fluter: Eigentlich könntest du doch jetzt auch für den Rest deines Lebens Urlaub machen. Du müsstest doch nicht mehr arbeiten, oder? +Rein theoretisch müsste ich für meinen Lebensunterhalt nicht mehr arbeiten. Aber das will ich gar nicht. Außerdem würde es mir mein Vater nicht verzeihen. Mein Erbe ist mit allen erdenklichen Klauseln abgesichert. Es gibt zum Beispiel den Fall des "groben Undanks". Das bedeutet, dass mir mein Erbe schlimmstenfalls wieder weggenommen werden kann: Sollte ich meinen Vater beleidigen oder hintergehen, dann ist es potenziell wieder weg. Faul werden, die Firmenanteile verkaufen und das Geld verprassen sollte ich also lieber nicht. +fluter: Hast du dir in deinem Leben noch nie Sorgen um Geld gemacht? +Sorgen im existenziellen Sinne nicht. Aber eins muss ich klarstellen: Ich bin niemand, der mit dem goldenen Löffel im Mund aufgewachsen ist. Es ist immer klar gewesen, dass ich eine Ausbildung mache und danach arbeite. Ich sollte und wollte mir mein Leben selber finanzieren. Aber klar, ich würde wahrscheinlich lügen, wenn ich sagen würde, dass mich das finanzielle Polster meiner Eltern in meinen Entscheidungen nicht beeinflusst hat. +fluter: Was denkst du, wenn du Leute triffst, die schlechtere Startbedingungen hatten als du? +Ich habe immer Respekt vor ihnen gehabt. Ich bin Geisteswissenschaftler und nicht davon ausgegangen, dass mich mein Studium in eine lukrative Position befördert. Wahrscheinlich hat es mich in meiner Studienwahl schon beeinflusst, dass ich wusste, ich lande am Ende nicht auf der Straße. Ich fand es immer mutig, wenn meine Kollegen und Kommilitonen den gleichen Weg ohne so eine Absicherung gegangen sind. +fluter: Hast du denn eine Idee, was du später mit dem ganzen Geld machen willst? +Nicht wirklich. Das fühlt sich eher wie ein Notausgang an. Wenn's mal mit der eigenen Karriere nicht mehr laufen sollte, kann ich mir anschauen, was das für Möglichkeiten eröffnet. Etwas Gemeinnütziges zu machen ist natürlich immer ein schöner Gedanke. Ich könnte ja ein Stiftung gründen, die Geisteswissenschaftler in der Endphase ihrer Doktorarbeit unterstützt. So etwas bräuchte ich nämlich im Moment. +*Name geändert + + +Erbschaft und Steuern +Auch Erbschaften sorgen dafür, dass sich Reichtum innerhalb unserer Gesellschaft fortpflanzt. Laut Schätzungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung könnten zwischen 2012 und 2027 bis zu 400 Milliarden Euro pro Jahr verschenkt und vererbt werden. Der Staat verlangt davon auch einen Anteil. Wie hoch die Erbschaftssteuer ist und ob sie überhaupt erhoben wird, hängt erst mal davon ab, wer etwas in welcher Höhe erbt und was genau geerbt wird. Kinder, Ehepartner, eingetragene Lebenspartner und Enkel eines verstorbenen Menschen zahlen zum Beispiel weniger Steuern als Nichten, Neffen und Geschwister. Oft wird überhaupt keine Steuer erhoben, weil es Freibeträge gibt: Kinder dürfen 400.000 Euro erhalten, ohne etwas abgeben zu müssen, Ehepartner 500.000. Wer zu Lebzeiten etwas an seine Verwandten verschenkt, kann ebenfalls von Freibeträgen profitieren. Liegt der Wert dessen, was ein Kind von seinen Eltern – über den Freibetrag hinausgehend – erbt, bei beispielsweise 70.000 Euro, zahlt es darauf sieben Prozent Steuern. Bei 26 Millionen sind 27 Prozent fällig – theoretisch zumindest. Es gibt nämlich zudem zahlreiche Ausnahmen und Sonderregeln. Umstritten ist etwa das Thema Familienunternehmen: Erben von Firmen, die viele Millionen wert sind, zahlen wenig Steuern, wenn sie das Unternehmen fortführen und somit Arbeitsplätze erhalten. Im Jahr 2016 wurden in Deutschland 43,6 Milliarden Euro vererbt. Die darauf gezahlte Erbschaftssteuer betrug 5,7 Milliarden. + +Titelbild: Martin Parr/Magnum Photos/Agentur Focus diff --git a/fluter/durch-klimawandel-weinanbau-in-brandenburg.txt b/fluter/durch-klimawandel-weinanbau-in-brandenburg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..366c5a0713e693baa9d285a8b0568faf2fa57842 --- /dev/null +++ b/fluter/durch-klimawandel-weinanbau-in-brandenburg.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Deutschland ist zweigeteilt in Regionen, in denen Weinbau möglich ist, und Regionen, wo das nicht geht. Reben brauchen viel Sonne, sie gedeihen in Deutschland nur an den wärmsten Standorten, an geschützten Südhängen, wo die Sonnenstrahlung auch mal zu mediterraner Stärke aufläuft. Als grobe Grenze galt bisher der 50. Breitengrad, der verläuft ungefähr auf der Linie von Wiesbaden bis Frankfurt am Main und dann nördlich von Würzburg weiter in Richtung Tschechien. +Bei einer Wanderung in Südengland stand ich vor einigen Jahren am Rande eines großen Weinbergs. Ich staunte: Reben auf der regnerischen Insel? Aus Neugier kaufte ich eine Flasche Weißwein, und, ja, er war trinkbar. Weißweine eignen sich eher für klimatische Grenzregionen als Rotweine, weil bei ihnen Leichtigkeit und Säure durchaus erwünscht sind. Deshalb schmeckt deutscher Riesling auch um Welten besser als ein alkoholreicher, flacher Weißwein aus Sizilien. Es kommt eben nicht nur auf die Sonne an. Ein Wechsel zwischen kühlen Nächten und heißen Tagen verleiht den Trauben mehr Rasse, mehr Komplexität. +Der nördlichste Weinberg Europas liegt in Norwegen. Früher wurden dort in Kåsingrenda bei Gvarv – am Ende des Norsjø-Fjords, unweit des 60. Breitengrads – Äpfel angebaut. Doch seit 2008 werden auch Reben gepflanzt. Heute sind es schon mehr als 1.000 Rebstöcke. Und wenn stimmt, was Wissenschaftler für die kommenden Jahrzehnte leider prophezeien, dann haben die Winzerpioniere aus Norwegen alles richtig gemacht. +Der Temperaturanstieg in vielen Weinbauregionen der Welt betrug in den letzten 30 Jahren zwischen 1 und 1,4 Grad Celsius. Eine weitere Erwärmung um mindestens 1,5 Grad wird bis zum Ende dieses Jahrhunderts erwartet. Auf einer Landkarte im Auftrag des "Journal of Wine Research", die den Weinbau im Jahr 2100 prognostiziert, haben zwei Wissenschaftler die neue nördliche Grenze der europäischen Weinanbaugebiete in Südschweden eingezeichnet. Auch Teile Finnlands liegen noch innerhalb dieses Gebiets. Sizilien und Süditalien dagegen nicht mehr. Zu heiß, zu trocken, zu ungeeignet für guten Wein. +Trifft diese Prognose zu, wird Brandenburg in 80 Jahren im Kerngebiet des deutschen Weinbaus liegen. Noch ist davon nichts zu sehen. Gerade einmal 30 Winzer gibt es in diesem Bundesland, kleine Betriebe und Leute, die das meist nur als Hobby betreiben. Im Vergleich: In Rheinland-Pfalz sind es 8.500. In Brandenburg bin ich nun also Winzer Nummer 31. Meinen "Antrag auf Genehmigung von Neuanpflanzungen für Weinreben" habe ich bei der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung eingereicht, und er wurde, zu meiner Überraschung, genehmigt. Man darf nicht einfach anbauen, was man möchte, alles ist bis ins Detail geregelt. Die EU schreibt vor, dass Reben nur auf "weinwürdigen" Grundstücken angepflanzt werden dürfen. Und welche Sorten erlaubt sind, regelt jedes Bundesland anders. Fünf Ar, das sind 500 Quadratmeter, also etwa die Fläche eines normalen Bolzplatzes für Jugendliche, stehen mir nun offiziell für die Anpflanzung zur Verfügung. Darauf finden etwa 200 Reben Platz. Teuer ist so eine Neuanlage nicht: Eine Jungrebe kostet nur etwas mehr als einen Euro. +Der Teil meines Gartens, der demnächst Weingarten sein wird, ist platt wie eine Flunder. Mit einem Weinberg hat das nichts zu tun. Der Boden ist sandig, Wein wuchs hier wohl noch nie. Obwohl … Im 12. Jahrhundert erschienen die ersten Mönche des Zisterzienserordens in dem Gebiet nordöstlich der Elbe. Sie waren bekannt dafür, überall, wo sie Kloster gründeten, auch Wein anzubauen. Als Messwein für die Dorfkirchen oder, wie in einer alten Klosterkladde noch zu lesen ist, um "sehr fröhlich" zu sein. Immerhin war der Wein aus Brandenburg offenbar nicht ganz schlecht. So berichtet ein Reisender aus dem 16. Jahrhundert, er sei sogar "dem Rheinischen gleich". Irgendwann war es damit jedoch vorbei, die Winter wurden wohl zu kalt. Erst der Klimawandel machte ein neues Kapitel für Wein in Brandenburg auf. +Bei der Auswahl der Sorten ließ ich mich von einem Experten für neue Züchtungen beraten. Jede Rebsorte hat andere Ansprüche an die Beschaffenheit des Bodens und die Sonnenenergie, es gibt eine neue Vielfalt von Möglichkeiten. Ich werde die Sorten Souvignier gris und Muscaris pflanzen, zwei Züchtungen, die früh reifen und nur wenige Behandlungen mit Pflanzenschutzmitteln benötigen. +Was waren meine Vorfahren am Neckar doch für arme Säcke! Abgerackert haben sie sich an steilen Hängen, um einen möglichst günstigen Neigungswinkel zur Sonne für ihre Reben zu erhalten; sie haben Natursteinmauern aufgeschichtet, um die Wärme zu speichern; und bei jedem strengen Frost schauten sie ängstlich aufs Thermometer. Da werde ich besser dran sein. Ich habe mich dazu entschieden, der Klimaerwärmung bei allem Schrecken über die drohende globale Katastrophe auch etwas Gutes abzugewinnen. Den ersten guten Tropfen kann ich dann in drei Jahren ernten. + +Manchen Ländern wird beim Klimawandel ganz warm ums Herz. Eine Studie der University of California bestimmte 2018 die "Social Costs of Carbon": Welchen wirtschaftlichen Schaden verursacht eine emittierte Tonne CO2? Während Indien (86 US-Dollar Schaden pro Tonne) am schlechtesten abschneidet, machen viele – oft ohnehin schon wohlhabende – Länder der Nordhalbkugel sogar ein leichtes Plus, etwa dank sinkender Heizkosten. Am besten sind die Aussichten für Russland, wo riesige ehemals gefrorene Flächen landwirtschaftlich nutzbar werden könnten. diff --git a/fluter/durststrecke.txt b/fluter/durststrecke.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5858f828d24dc216543316dde11c254fccd18a9f --- /dev/null +++ b/fluter/durststrecke.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Die Politikstudentin Cynthia Randolph hilft Morones zum dritten Mal. "Ich kann mir jetzt vorstellen, was die Immigranten durchmachen. Sie sind mindestens drei Tage unterwegs, verlieren da draußen langsam das Bewusstsein." Letztes Jahr haben laut US-Grenzschutz über 450.000 Immigranten ohne Papiere versucht, die Grenze zu überqueren. Viele schaffen es, aber regelmäßig finden Grenzbeamte in der Wüste auch tote Menschen, die kein Glück hatten. Flüchtlinge, die es zwar geschafft haben, den Grenzzaun mit seinen Signalanlagen zu überwinden, die aber anschlie- ßend beim Marsch durch die Wüste gestorben sind. +Ryan Simon ist Ernährungswissenschaftler, er ist zum ersten Mal mit den Border Angels unterwegs. "Erst heute habe ich erfahren, dass jeden Tag zwei Menschen bei dem Versuch, in die USA zu kommen, sterben. Hoffentlich helfen wir mit dem Wasser, dass ein paar mehr überleben." Wir stehen an der Grenze, einer scheinbar endlosen, über vier Meter hohen Wand aus zusammengeschweißten Metallplatten. Enrique biegt ab auf den holprigen Sandweg, der parallel dazu verläuft, dann hält er an, alle öffnen die Türen. +Heiße Luft wie aus einem Backofen nimmt uns den Atem. Enrique warnt vor Schlangen, Skorpionen und Spinnen, während wir Wasserkanister aus dem Auto heben und sie unter der gnadenlosen Sonne in den mickrigen Schatten von Dornenbüschen und Felsen tragen. Nach fünf Minuten sind wir durchgeschwitzt, nach einer Viertelstunde erschöpft. "Es ist sehr leicht, hier zu sterben", sagt Enrique. +Er hat viele Immigranten gefragt, warum sie trotz der Gefahren den Weg durch die Wüste wählen. "Die meisten haben so große Hoffnungen, es ist ihnen das Risiko wert. Und wenn sie hören, dass jemand gestorben ist, sagen sie: Er war nicht vorsichtig genug." Er steckt einen langen Stab mit einer kleinen roten Fahne neben das Depot – das Zeichen, dass hier Wasser ist. Mehrere Dutzend dieser Stationen werden regelmäßig mit Wasser bestückt. +Doch es gibt auch Aktivistengruppen wie das "Minuteman Project", die an den Stationen auf Einwanderer warten, sie einkreisen, die Polizei verständigen und warten, bis die Unglücklichen festgenommen werden. Enrique hat sie sogar im Verdacht, Wasserkanister zu zerstören. "Wir finden regelmäßig Behälter, die mit Messern aufgeschlitzt wurden. Wenn die Menschen hier durstig ankommen, sind die Kanister leer. Ihre Hoffnung war vergebens, und sie müssen ohne Wasser weitergehen." Er deutet auf ein Stück Stoff hinter dem Felsen – der Ärmel eines Anoraks, daneben ein pinkfarbener Kinderrucksack und ein paar Meter weiter ein löchriger Strumpf. Überreste einer Gruppe auf der Durchreise.Ein Wagen der Grenzpatrouille fährt im Schritttempo auf uns zu und hält an. Der Uniformierte am Steuer winkt Enrique zu sich. Sie sprechen ein paar Minuten miteinander, dann verschwindet das Auto in einer Staubwolke. Die Border Angels haben nach Jahren der Lobbyarbeit ein Abkommen mit den Grenzern. Die erlauben die Depots und lassen sogar Einwanderer, die dort ihre Wasserflaschen füllen, in Ruhe. +Ryan drängelt, die letzten Wasserkanister aus dem Auto zu holen. Er trägt zwei in jeder Hand. Seine Haare kleben an der Stirn. Sein T-Shirt ist völlig durchnässt. "Der Gedanke, dass eine Person dieses Wasser findet und wir dadurch vielleicht ein Leben retten können, ist einfach sehr befriedigend." Wenig später sitzen wir wieder im Auto bei laufender Klimaanlage. Enrique verspricht, an der nächsten Tankstelle zu halten. "Gute Arbeit! Ihr habt ein Eis verdient!" Wir bedanken uns, freuen uns aber vor allem auf eins: frisches, kühles Wasser. diff --git a/fluter/ebow-rapperin-interview.txt b/fluter/ebow-rapperin-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..503dbf97471a98592bc24ff68f72b00373e9f349 --- /dev/null +++ b/fluter/ebow-rapperin-interview.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +In Songs wie "Juicy" und "Do Ya?" machst du auch explizit sexuelle Anspielungen – aber aus einer queeren Perspektive. Wieso ist es wichtig, über lesbischen Sex zu reden und zu rappen? +Einerseits, weil ich meine Sexualität so lange geheim halten musste und damit sehr gekämpft habe. Andererseits, weil mir diese Perspektive einfach fehlt. Ich bin mit R 'n' B und Hip-Hop aufgewachsen. Da ging es viel um Sexualität, aber aus einer heterosexuellen Perspektive. Es gibt wenig Musik, die sexy und queer ist. Mit "FC Chaya" hoffe ich, da ein bisschen die Lücke zu füllen. +Einer deiner Songs heißt "Lesbisch" – ein Wort, dem immer noch viel negatives Stigma anhaftet. Was bedeutet der Begriff für dich? +Mir war es wichtig, lesbisch zu benutzen, weil der Begriff eben entweder negativ konnotiert ist oder mit einer älteren Generation assoziiert wird. In den vergangenen Jahren habe ich oft gesagt, wir sind gay oder queer. Wieso nicht lesbisch? Ich möchte diesen Begriff wieder beanspruchen, in einen positiven Kontext stellen und ihn zurückbringen in die queere Bubble. +Du hast "FC Chaya" dein persönlichstes Album genannt, unter anderem wegen des Songs "Ebru's Story". In dem Lied erzählst du von deinem Coming-out bei deiner Familie. +Das war ein sehr emotionaler Prozess. Im ersten Part von "Ebru's Story" geht es darum, dass ich mich selbst akzeptiere. Im zweiten Part geht es darum, dass meine Friends mich akzeptieren. Und im dritten Part geht es um Familie. Vergangenes Jahr habe ich mich bei meiner Tante und dann meiner restlichen Familie geoutet. Alle diese Schritte haben mich an den Punkt gebracht, an dem ich heute bin. Es war ein sehr emotionaler Prozess. +Was sollen Menschen von diesem Song mitnehmen? +Berlin wirdals queere Metropole dargestellt, aber ich bekomme oft mit, wie sich junge Queers, vor allem trans* Personen, das Leben nehmen, weil sie so viel Gewalt und Hass erfahren. "Ebru's Story" beginnt damit, dass ich als Kind suizidale Gedanken hatte, weil ich dachte, ich könnte niemals glücklich sein oder Liebe erfahren. Mit dem Song möchte ich allen queeren Kids sagen: Hey, auch wenn es gerade schwierig ist, das Leben wird so viel schöner, als ihr euch das jemals vorstellen könnt. Ich glaube, das ist die Hauptmessage. Ich hoffe, dass queere Jugendliche und Kids, aber auch Leute in meinem Alter dadurch Hoffnung bekommen, weiterzumachen. +Glaubst du, der Song hat für queere kurdisch-alevitische Personen noch mal eine besondere Bedeutung? +Ja, definitiv. Das zeigt auch das emotionale Feedback auf den Song. Als Kind von Eltern, die als Gastarbeiterkids nach Deutschland gekommen sind, wie das bei meinen Eltern der Fall war, lastet großer Druck auf dir, alles richtig zu machenund die Eltern nicht zu enttäuschen. Queerness fühlt sich an wie ein extra Ballast, den man den Eltern antut. Das können viele nachempfinden, die aus kurdisch-alevitischen Familien kommen. Wir verstehen diesen Druck und die Gespaltenheit. Ich glaube, der Song ist wichtig für meine Community. +In dem Musikvideo zu "Ebru's Story" erscheinst du als Kind, Teenager und ältere Frau in einer lesbischen Beziehung. Wieso dieser Blick in die Zukunft? +Es gibt so wenig Repräsentation von älteren queeren Personen. Junge queere Paare werden inzwischen öfter gezeigt, aber ich sehe selten queere Personen, die gemeinsam alt werden. Das fehlt einfach. Deswegen war es mir in dem Video wichtig, eine Zukunftsperspektive zu zeigen. Wir müssen das erst mal sehen, um uns das überhaupt vorstellen zu können: happy queere ältere Paare. +Auf dem Song "Free." singst du von wachsender Verzweiflung, Angst und Trauer, die jüdische, palästinensische, kurdische und Schwarze Personen in Deutschland und mit Blick aufden Krieg im Gazastreifenempfinden. Und es geht um Diskriminierung und Polizeigewalt gegenüber marginalisierten Personen. +Ich habe noch nie so krass erlebt, wie Polizisten auf Demonstrationen Leute verprügeln. Ich habe auch noch nie erlebt, dass die Medien so einseitig berichten – und zwar zugunsten der Polizei. Mehreren meiner Freundinnen wurde die Nase gebrochen, oder sie haben ein blaues Auge kassiert. Wir sprechen hier von Frauen, die nicht größer als 1,65 Meter sind und für absolut niemanden eine Gefahr darstellen. Gleichzeitig sehen wir auf Nazidemos, wie die Polizei nebenhermarschiert und die Demos beschützt. Das macht mir Angst, und ich frage mich, was das mit uns als Gesellschaft machen wird. Viele in meinem Umfeld, inklusive mir, fragen sich, wie lange sie in Deutschland noch eine Zukunft haben. +Du thematisierst in "Free." sowohl das Leid palästinensischer als auch jüdischer Menschen. Warum, glaubst du, scheint es vielen heute so schwer zu fallen, sich gegen Antisemitismus und den Krieg in Gaza gleichermaßen einzusetzen? +Ich glaube ehrlicherweise, dass in Deutschland der Diskurs sehr stark über deutsche Meinungen zu den Themen stattfindet. Wir sollten die Menschen in den Fokus rücken, die betroffen sind, und nicht jene, die keinen Bezug zu diesen Themen haben und sich trotzdem als Spezialisten oder Spezialistinnen in den Mittelpunkt drängen. Wir brauchen jetzt mehr denn je offene Gespräche und Sichtbarkeit. Ich denke, viele Menschen fühlen sich nicht gesehen und nicht gehört mit ihrem Schmerz und ihren Ängsten. Mir geht es auch so. Jetzt, wo kurdische Gebiete wieder unter Beschuss stehen, habe ich das Gefühl, niemand schaut hin, niemand solidarisiert sich. Man fühlt sich oft allein mit diesen Gefühlen. +Siehst du Musik auch als Weg, neue Solidaritäten zu schaffen zwischen Menschen? +Auf jeden Fall. Ich biete in "Free." vielleicht keine Lösung an, ich sage nicht, lasst uns das und das machen. Aber ich zeige: Ich bin da und sehe euch und euren Schmerz. Ich glaube, dass gesehen werden etwas ist, was uns allen gerade fehlt. Wenn wir von den Medien und der Politik nicht gesehen werden, sehen wir uns zumindest in der Musik, und das verbindet. + +Fotos: Aristidis Schnelzer diff --git a/fluter/echo-serie-marvel-rezension-disney.txt b/fluter/echo-serie-marvel-rezension-disney.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..36bda2d9f616e085c66ca09d724b98efb943f303 --- /dev/null +++ b/fluter/echo-serie-marvel-rezension-disney.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Im Mittelpunkt der Erzählung steht außerdem Mayas Identität als gehörlose indigene Frau. "Ich hätte gerne jemanden wie mich im Fernsehen gesehen, als ich jünger war",sagte Maya-Darstellerin Alaqua Cox in einem Interview. Die gehörlose indigene Schauspielerin betont in Interviews oft, wie sehr sie sich über die authentische Form der Repräsentation in der Serie freut. "Du repräsentierst dein Volk" ist ein Satz, der in der Serie oft fällt. +Nahaufnahmen von schmerzverzerrten Gesichtern, düstere Musik und eine Menge Blut – schon in den ersten zehn Minuten wird deutlich, dass es sich nicht um eine klassisch humorvolle oder extravagante Superheld*innengeschichte von Marvel handelt. Raumschiffe, tanzende Bäume und sprechende Waschbären lassen sich hier nicht finden. "Echo" ist die erste Serie, die das Filmstudio mit dem neuen "Spotlight"-Logo herausgibt. Das soll zukünftig darauf hinweisen, dass sich die gezeigten Inhalte an ein erwachsenes Publikum richten und weitgehend losgelöst von der Haupthandlung des Marvel-Universums funktionieren. +Zu den vielen Besonderheiten der Serie gehört Mayas Gehörlosigkeit. Immer wieder nehmen die Zuschauer*innen die Welt aus ihrer Perspektive wahr: leise, gedämpfte Stimmen, sich lautlos bewegende Lippen. Es ist ungewohnt, wenn die actionreichen Kampfszenen plötzlich nicht mit dröhnender Musik unterlegt sind. Stattdessen hören Zuschauer*innen oft nur das dumpfe, fast rhythmische Zusammenstoßen von Körpern. Gebärdensprache gehört mit derselben Selbstverständlichkeit zur Serie wie gesprochene Sprache. Zudem spielt Mayas indigene Abstammung sowohl für die Handlung als auch die Ästhetik eine entscheidende Rolle. Mythen, Kultur und die Vertreibungsgeschichte des real existierenden Choctaw-Volkes werden miteinander verknüpft. Die Tatsache, dass Schauspielerin Alaqua Cox eine Beinprothese trägt, ist in die Erzählung eingebunden worden und wichtiger Bestandteil ihrer Figur. Am Ende tragen all diese Aspekte zu einer vielschichtigen Erzählung bei, in deren Mittelpunkt die packende Entwicklung von Maya steht. + + +Auch wenn "Echo" offiziell ein Spin-off der Marvel-Serie "Hawkeye" ist und Mayas ehemaliger Mentor Kingpin seinen ersten Auftritt in der Netflix-Produktion "Daredevil" hatte, muss man beides vorher nicht gesehen haben, um der Handlung folgen zu können. Viele Passagen von "Hawkeye" werden in Rückschauen wiederholt, und die Geschehnisse von "Daredevil" webt die Serie bei Bedarf geschickt ein. +Wer mehr über den Comic-Ursprung von "Echo" wissen möchte, wird bei David Macks Comics "Daredevil" #9-15 und #51-55 aus dem Jahr 1998 fündig. Sie erzählen Mayas Geschichte zum ersten Mal und etablieren sie als gehörlose Gegenspielerin zum blinden Superhelden Daredevil. Ein weiterer Comic, in dem Gebärdensprache eine besonders große Rolle spielt, ist Matt Fractions und David Ajas "Hawkeye" von 2012, auf dem die erwähnte gleichnamige TV-Serie beruht. +Anders als in den Comics gehört Maya nicht zu den Cherokee, sondern ist in der Serie bei der Choctaw Nation aufgewachsen. Executive Producer Sydney Freeland zufolge wurden das Drehbuch sowie die Kostüme mit Mitgliedern der Choctaw in Oklahoma abgesprochen. Eine in Choctaw synchronisierte Version der Serie wurde für eine Vorabvorstellung im örtlichen Cultural Center produziert. Teil des Casts sind neben Alaqua Cox weitere indigene Schauspieler*innen wie Tantoo Cardinal oder Devery Jacobs. +"Ich glaube nicht, dass ich meine Identität jemals auf diese Weise auf der Leinwand dargestellt gesehen habe",schrieb die gehörlose Journalistin Alison Stineüber die Figur der Maya, nachdem sie deren Auftritte in "Hawkeye" gesehen hatte. Die ersten Reaktionen auf "Echo" klingen ähnlich. "Es fühlt sich an, als würde ich träumen. Ich habe noch nie so viele hörende indigene Schauspieler gesehen, die Gebärdensprache sprechen", schreibt eine indigene gehörlose Frauauf dem Kurznachrichtendienst X. "Als Mensch mit einer Amputation ging es mir genauso", kommentiert jemand anders.Die oft genannte Befürchtung, es könnte in der Serie nicht genug Raum geben für die vielen Aspekte, die die Figur der Maya in sich vereint, hat sich als unberechtigt herausgestellt. Im Gegenteil: Ihre Mehrdimensionalität kann dafür sorgen, dass sich ganz unterschiedliche Menschen zum Teil zum ersten Mal in der Protagonistin einer Mainstream-Produktion gespiegelt sehen. + +"Echo" läuft bei Disney+. + +Fotos: ©Marvel Studios 2023 diff --git a/fluter/edelstoff.txt b/fluter/edelstoff.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/editorial-0.txt b/fluter/editorial-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..da6cff69d36766382b2bde340e7b88cb7117847b --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-0.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Bei legalen Drogen ist die Herstellung und Verwertung als Genussmittel-Industrie organisiert, inklusive professionellen Lobbyings. Die Welt der illegalen Drogen ist dagegen ein globalisierter Schwarzmarkt, paramilitärisch durchsetzt – eine Gesellschaftsordnung im permanenten Bürgerkrieg. Kann der Drogenmissbrauch und die Sucht schon die Einzelnen, ihre Familien und Beziehungen zerstören, so löst sich im Multimilliardengeschäft des illegalen Drogenhandels und dessen Infrastruktur, der organisierten Kriminalität, staatliches Handeln immer wieder vor aller Augen auf. Die Kokser in Westeuropa haben mit den Toten des Drogenkriegs in Mexiko sehr viel mehr zu tun, als sie wahrhaben wollen. Und hat das Nation Building in Afghanistan wirklich eine Chance gegen den Korruptions-Sog der Drogenmillionen? +Und es geht noch weiter. Weil unsere Vorstellungen von Rausch, Leistung, Grenzüberschreitung und Sinnessteigerung eine massenhafte Nachfrage anzeigen, wird ein gesellschaftliches Dispositiv erzeugt, das auch den medizinisch-industriellen Komplex auf den Plan ruft. Die Arbeit am vermeintlichen Über- Menschen ist in vollem Gang, und die Versprechungen des Marketings wirken, beispielsweise bei den sogenannten Neuro-Enhancern. Die damit erzielten Resultate sind aber oft genug nur Zerrspiegel unserer Wünsche und die Gefahren sehr real. Die massenmedial verstärkten Idealvorstellungen können allerdings schnell zu einer wirksamen Norm werden, die den Druck auf die Einzelnen erhöht, den die künstlichen Drogen doch lindern oder überwinden helfen sollten. Die alltägliche Verfügbarkeit von Drogen zwingt uns immer wieder zu Entscheidungen und letztlich zum Bewusstsein dessen, was uns im Leben wirklich etwas wert sein soll. Bei Drogen wird Persönliches auch deshalb sehr schnell politisch. Die Orientierung hierfür wird nur begrenzt von oben oder außen kommen können. Stattdessen gilt: Sapere aude – wage es, weise zu sein. diff --git a/fluter/editorial-1.txt b/fluter/editorial-1.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..590bad5cd5b85f38656630b3936d9b34552a9f4f --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-1.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +In China werden in den Protesten der Wanderarbeiter deren brutale Lebensbedingungen zum Thema. Manches trägt Züge der Frühformen des industriellen Kapitalismus in Europa, der auch auf dem Rücken von Millionen Lohnsklaven errichtet wurde. Und es erinnert uns daran, dass die Segnungen der Globalisierung in Form billiger Konsumgüter immer noch ihren bitteren Preis haben. +Ob Protest Erfolg hat? Die Aussichten sind ebenso ungewiss wie seine Formen vielfältig. Am ehesten wenn es gelingt, das Momentum medialen Aufsehens zu verstetigen. Dem kurzen Aufschrei fehlt ja oft ein langer Atem. Wo er aber da ist und sich Protestbewegungen in soziale Bewegungen weiterentwickeln, steigen die Erfolgsaussichten. Dann wird aus Protest Politik. Deutschland hat damit in den letzten Jahrzehnten auch gute Erfahrungen gemacht. Die Pluralität der Protestkulturen trifft sich hier inzwischen mit einer entwickelten Differenzierung in den Antworten der Institutionen. Ob das hält, wenn die nächsten großen Krisen die öffentliche Meinungsbildung aufwühlen, werden wir noch sehen müssen. diff --git a/fluter/editorial-10.txt b/fluter/editorial-10.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b470936566ab41b21b9b0c33821e28dca888f0d4 --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-10.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Rechtsextremismus ist nicht nur eine politische Haltung, er hat auch Züge einer sozialen und kulturellen Bewegung. Er nutzt alle modernen und postmodernen Kulturtechniken, um sich zu organisieren, Menschen für sich zu gewinnen und Gegner zu bekämpfen. Deshalb ist entschiedene polizeiliche Arbeit sehr wichtig, aber allein nicht ausreichend. Gegen den politischen Extremismus hilft am besten die alltägliche Arbeit an demokratischer Kultur. Die Beispiele in Dortmund, Zossen, Anklam zeigen, wie das gehen kann, selbst wenn es schwierig ist. Auch die verschiedenen Aussteigerprogramme haben Erfolge vorzuweisen, sie geben zusätzlich konkretes Wissen um die Binnenperspektive rechtsextremer Kulturen und darüber, wie Ihnen beizukommen ist. +Demokratische Kultur ist kein Automatismus, sie muss im Alltag und in unterschiedlichsten Situationen, Institutionen immer wieder erneuert, erstritten und ausgehandelt werden können. Es geht um die alltäglichen Kämpfe der Vielen für die kulturelle Hegemonie der Demokratie – das sind die wirklichen Mühen der Ebene. diff --git a/fluter/editorial-11.txt b/fluter/editorial-11.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/editorial-12.txt b/fluter/editorial-12.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/editorial-13.txt b/fluter/editorial-13.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/editorial-14.txt b/fluter/editorial-14.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/editorial-15.txt b/fluter/editorial-15.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/editorial-16.txt b/fluter/editorial-16.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/editorial-18.txt b/fluter/editorial-18.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/editorial-19.txt b/fluter/editorial-19.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/editorial-2.txt b/fluter/editorial-2.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9044a31c7cb3449fe27feabc75c34b99e325070e --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-2.txt @@ -0,0 +1 @@ +Aber Sprache und Politik können auch ganz andere Bündnisse eingehen. Im sogenannten Dritten Reich war Sprache ein Propagandamittel, das Massen mobilisierte und den mörderischen Antisemitismus tief im gesellschaftlichen Bewusstsein der Deutschen verankern half. Auch im Europa von heute ist die Unterdrückung von Sprachen noch ein probates Mittel, um diktatorische Machtansprüche durchzusetzen – wie etwa in Weißrussland. In den heutigen Einwanderungsländern und inmitten einer fast schon verordneten Jugendlichkeit ist das kulturelle Dissidententum von Jugendsprachen oder Ethnolekten ein Zeichen der Lebendigkeit unserer Sprachkultur. Die allgegenwärtige Formelhaftigkeit politischen Sprechens bildet dagegen eher ein Symptom für die Krise der Repräsentation. Und wird Europa ohne eine Leitsprache mit seiner Vielfalt an Sprachen und Kulturen politisch zusammenwachsen können? Ist das überhaupt eine produktive Idee? Der Streit darüber wird zumindest in Brüssel und Straßburg in alle beteiligten Sprachen übersetzt. diff --git a/fluter/editorial-20.txt b/fluter/editorial-20.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/editorial-21.txt b/fluter/editorial-21.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/editorial-22.txt b/fluter/editorial-22.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ae71377fd413822a993a131b415598af7e58ebc0 --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-22.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Diese schöne neue Welt hat ihre Kehrseiten. Der Preis für das Fleisch ist niedrig, weil die langfristigen Kosten des Raubbaus an den Tropenwäldern nicht eingerechnet werden und weil mit Steuergeldern subventionierte Waren woanders Absatzmärkte auf Kosten der regionalen Hersteller dominieren. Die raffinierten digitalen Logistikketten bringen uns nahezu alles umstandslos ins Haus, der Preis können aber leere Stadtzentren sein oder der Ausverkauf unserer digitalen Bürgerrechte, noch ehe sie uns richtig bewusst geworden sind. Und dass der größte Hafen Deutsch­lands immer noch im globalen Wettbewerb bestehen kann, ist für die Stadt Hamburg lebenswichtig. Wenn er aber im Verhältnis zu früher nahezu menschenleer betrieben wird, ist das ein Aus­blick auf das Verschwinden der Arbeit, wie wir sie kannten. Der weltweite Freihandel bietet weitere Möglichkeiten, faszinierende wirtschaftliche Dynamiken einer nahtlos vernetzten Welt zu entfesseln. Aber wie steht es mit den mühsam erkämpften sozialen, rechtlichen und umweltpolitischen Standards? Wie soll ein faires Gleichgewicht der Interessen hier aussehen? +Handel ist die bewegliche Seite der Macht. Die fließende Ver­ teilung von Macht und Ohnmacht ist in Handelsströmen immer mit präsent. Der Reichtum der einen, wenigen kam oft aus der Übervorteilung, Ausbeutung und Versklavung der anderen, vie­len. Auch wenn heute die Sklaverei in den meisten Ländern ab­geschafft ist – der Anfang vieler Lieferketten ist oft noch ver­bunden mit sklavenähnlichen Zuständen bei den Herstellern. Schwarzmarkt kann heute auch bedeuten, dass Organhandel ein viel zu harmloses Wort ist für Verhältnisse von organisierter Körperverletzung bis hin zu Mord. +Mit der Welt des Handels kommen auch die Widersprüche, Ungerechtigkeiten und ungelösten Fragen der Welt und der Ge­sellschaft in den Blick. Was ist uns etwas wert? Erste Ansätze für andere Werthaltungen und breitere Perspektiven in der Verfas­sung des Handels gibt es, aber bisher meist nur in Nischen und zu Preisen, die sich längst nicht alle leisten können. Zeit, zu handeln. diff --git a/fluter/editorial-23.txt b/fluter/editorial-23.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d620d43d221080683b6c725217c5793e7002dc8e --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-23.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +In diesem Heft sind wir einigen Geschichten, die das Leben der Familien erzählen, nachgegangen. +Die Politik des Alltags findet sich hier in sehr konkreten Situationen wieder. Entscheidungen, die hier gelebt werden, bilden den alltäglichen Resonanzraum für die Debatten und Entscheidungen der "großen" Politik. Familienpolitik selbst ist ein umfangreicher Politikzweig, es geht um viel Geld und Ressourcen. Dabei ist das Verhältnis von Staat und Familie nicht frei von Spannungen und Widersprüchen. Wenn bestimmt wird, wer sich offiziell als Familie bezeichnen darf und welche Modelle staatlich gefördert, sanktioniert oder ignoriert werden sollen, findet Familienpolitik an den neuralgischen Punkten der Entwicklung der ganzen Gesellscha statt. Nicht umsonst steht im Grundgesetz, dass die Erziehung in der Familie gegenüber dem Staat geschützt ist – bis zu einer gewissen Grenze, die dort endet, wo Kinder gefährdet sind. +Die soziale Fantasie, die sich in den konkreten Wirklichkeiten der Familien zeigt, bildet ein Fundament für den Zukunftsentwurf der Gesellscha . Diese Vielfalt anzuerkennen und für das Ganze produktiv zu machen ist schwierig, aber entscheidend. diff --git a/fluter/editorial-24.txt b/fluter/editorial-24.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5cc0696f79f18654230ce12a28d72415f475fa49 --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-24.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Es ist eine der historischen Tendenzen des Kapitalismus, immer mehr Bereiche des Lebens in Geldkreisläufe einzubeziehen, sie als Warenform zu reorganisieren: Wissenschaft, Bildung, Kultur, soziale Beziehungen. Das hat völlig neue Dynamiken und Möglichkeiten zur Folge, aber auch Einengungen, neue Beschränktheiten. Deshalb gilt das Streiten über Geld immer auch der Frage: Wie wollen wir leben? In Zeiten digitaler Netzwerke ist auch das Geld digital geworden, zirkuliert nahezu in Lichtgeschwindigkeit um die Welt. Aber auch neue Formen des Geldes und gemeinsamen Investierens bedienen sich dieser Möglichkeiten vernetzter Medien. Mit den Regionalwährungen wird der Versuch unternommen, eine Rückbindung des gespenstischen Kreislaufs des Geldes an reale und überschaubare Gemeinschaften zu realisieren. Die Geschichte des Geldes hat vielleicht gerade erst begonnen. +Thorsten Schilling diff --git a/fluter/editorial-25.txt b/fluter/editorial-25.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3dd3fb0327e9a86c3b49b2914abe3866a0f1fb1a --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-25.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Wir fangen dabei aber nicht bei null an. Mehr als 16,4 Millionen Menschen hierzulande haben einen Migrationshintergrund, bei Kindern und Jugendlichen liegt der Anteil derer, die auch nichtdeutsche Wurzeln haben, schon bei rund einem Drittel. Deutschland ist seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland, und es wird sich dessen zunehmend bewusst. Im Alltag vieler Kommunen ist das schon lange angekommen. Das ist ein Reservoir für den selbstbewussten und auf die eigenen Kräfte vertrauenden Umgang mit den aktuellen Krisen. +Integration hat Millionen Gesichter und Geschichten, sie ist ein generationsübergreifender, widersprüchlicher und dynamischer Prozess. Es geht, aber nicht ohne Konflikte. Und es braucht sehr lang. Ein Blick in die Geschichte, zum Beispiel der des Einwanderungslandes USA, aber auch in die verschiedenen Migrationskulturen hierzulande zeigt das. Vielleicht brauchen wir einen erneuerten Realismus – eine selbstbewusste Bestandsaufnahme dessen, was gelungen ist, worauf sich aufbauen lässt, und dessen, was ohne eine Neubestimmung zu einer Gefahr für das Ganze geraten kann. Denn Integration ist komplex, kein Automatismus. Wenn sie gelingt, bereichert das die Vielfalt der Gesellschaft, schafft neue Möglichkeiten für alle. +Integration scheitert aber auch immer wieder. Es bilden sich kriminelle Szenen bis hin zur organisierten Kriminalität. Oder es etablieren sich Milieus, die unseren in der Verfassung verankerten Grundwerten distanziert bis feindlich gegenüberstehen. Die Auseinandersetzung um die Anerkennung von Frauenrechten im Islam zeigt das. Solche Krisen zu ignorieren oder kleinzureden hilft vielleicht zur Beruhigung im Moment, ist aber auf Dauer gefährlich. Desintegration bildet dann eine wechselseitige Dynamik von Segregation, herrschender Ignoranz, Alltagsrassismus und zunehmender Radikalisierung und Gewaltbereitschaft. Das kann dann wie in den Vorstädten Frankreichs Formen eines kalten Bürgerkriegs annehmen, der auf das ganze Land ausstrahlt. +Debatten um Integration sind immer auch ein Spiegel der eigenen Vorstellungen von Gesellschaft. Verhandelt werden dabei Wertefragen – was ist uns wichtig, welche Forderungen sollen verbindlich gelten, welche Möglichkeiten lassen wir zu? Wie stellen wir uns das Zusammenleben vor – als eine homogene, geschlossene Gemeinschaft? Als offene Gesellschaft, die Vielfalt aushält und deren Konflikte auszutragen lernt? Was macht uns eigentlich als Land oder Nation aus? Wer sollen "wir" sein? Das wird mit den jetzt wieder beginnenden Prozessen der Integration auf Jahre hinaus neu bestimmt werden. diff --git a/fluter/editorial-26.txt b/fluter/editorial-26.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3a9237ce91083c394df34d92b98450ecdac6c2b0 --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-26.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Wer flieht, begibt sich in Gefahr. Doch die Angst vor Bürgerkriegen, Gewalt und Elend ist oft größer als die vor einem ungewissen Ausgang der Flucht. Die zunehmend auch Folge des Klimawandels ist, der Überflutung, Dürre und Hunger bringt. Gewalt kann aber schon im eigenen Land zur Flucht drängen, wie in Kolumbien. Oder hier in Deutschland, wenn die Vorstellung des selbstbestimmten Glücks in brutalem Kontrast zu den traditionellen Wertvorstellungen der eigenen Familie gerät. +Flüchtlinge haben Rechte. Das Recht auf Asyl ist ein Menschenrecht und hat in Deutschland Verfassungsrang. Das ist auch eine Konsequenz der eigenen historischen Erfahrung millionenfacher Vertreibung. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Deutschland anteilig vergleichbar viele Flüchtlinge zu integrieren wie gegenwärtig zum Beispiel Syriens Nachbarstaaten. In vielen Familiengeschichten ist so bei uns ein Resonanzraum geborgen für den konkreten Umgang mit den Vertriebenen von heute. Flucht wird auch zum Geschäft. Die Profitraten der Schlepperorganisationen sind extrem hoch. Entsprechend professionell aufgestellt sind sie, vergleichbar mit dem internationalen Drogenhandel in der Hand organisierter Kriminalität. Der polizeiliche und militärische Kampf dagegen ist schwierig, die politische Zielstellung oft widersprüchlich. +Was aber kann die Lösung sein? Wozu sind die europäischen Gesellschaften bereit? Welche Kraft zur Gestaltung von Integration können sie aufbringen? Die prekäre Lage der Flüchtlinge verweist auch auf die eigenen inneren Widersprüche. Wie offen für die Nöte, kulturellen Spannungen und sozialen Probleme der Menschen sind wir wirklich? Was kann und muss getan werden? Die Unterscheidung, wann ein Mensch Flüchtling ist und wann "nur" ein Auswanderer, ist nicht einfach zu ziehen. Der institutionelle Aufwand, um hier Rechtssicherheit zu geben, ist beträchtlich. +Jede Einwanderung ist für die aufnehmenden Gesellschaften eine Herausforderung. Es gibt auch in Deutschland die Angst vor Überforderung, eine instinktive Abweisung, quer durch alle Schichten. Es gibt aber auch eine erneuerte Kultur der Offenheit, sich der Flüchtlinge anzunehmen. Es hat sich einiges getan. Es bleibt mehr als genug zu tun. diff --git a/fluter/editorial-27.txt b/fluter/editorial-27.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0e01b1d85737f3f0541369a4ef3910b213301729 --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-27.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Städte sind so immer auch gebaute Spiegel des Geistes ihrer Zeit und deren Kämpfe, Ideen, Haltungen und Widersprüche. In den Städten wird der Raum politisch. Hier werden die akuten Konflikte öffentlich ausgetragen. Manche Städte sind pulsierende Arbeitsmärkte, andere kämpfen mit einem regelrechten Exodus der Bevölkerung und Leerstand. Mitunter kann die Magie vermeintlich vergessener Orte aber auch zu einer Wiederbelebung führen, wenn eine Stadt erneut kreative Geister anzieht. Denn auch das ist eine Eigenschaft von Städten: Soziale Vielfalt und Leerräume bieten Freiheiten und Orte, sich auszutauschen und Ideen zu entwickeln. +Eine der immer wieder entscheidenden Fragen ist eine ganz einfache: Wem gehört die Stadt? +Es wird darum gestritten, wer ihre Zukunft bestimmt, wessen Interessen zur Geltung kommen sollen. Private Investoren sehen den Lebensraum Stadt, ihre potenziellen Apartments, Geschäfts- und Handelszentren als Profitquelle. Dadurch werden auch Innovationen angestoßen. Aber wie können hier Gegengewichte etabliert werden, und wie kann sozialer Ausgleich gelingen? +In der Stadtplanung gibt es ein Plädoyer für einen erneuerten Humanismus. Es gilt, Entscheidungen für die Gestaltung der Stadt so zu treffen, dass das Entstehende offen für die kollektive Intelligenz der städtischen Bürgerschaft bleibt. Hier gab es in den letzten Jahren viel Bewegung: Initiativen zur Eigenverantwortung, zur Bewahrung, zur Bereitschaft, dauerhaft mitzuwirken. +Was wir in der aktuellen Flüchtlingskrise in Deutschland beobachten, eine Renaissance des zivilgesellschaftlichen Engagements, gibt es auch für die Stadt. Deren Zukunft ist auf die produktive Aneignung der Möglichkeitsräume durch ihre Bürger angewiesen. Es stehen wichtige Fragen auf der Tagesordnung: Wie kann die Stadt umweltverträglicher und nachhaltig organisiert werden, wie können neue Technologien verantwortungsvoll genutzt und kontrolliert werden? Wo Städte wandelbar sind, kann ihre Zukunft gelingen. diff --git a/fluter/editorial-28.txt b/fluter/editorial-28.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5c5a4509e4311a7e32359bc5575f423d48b9d2b3 --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-28.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Wenn man sich den Menschen und ihrem Alltag nähert, wird klar, dass auch hier ein Reichtum zu entdecken ist. Man trifft immer wieder auf starke Persönlichkeiten, die es gewohnt sind, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen – wie beispielsweise die Bewohner von Norilsk; der geniale Mathematiker, der eine Million Dollar Preisgeld ablehnt; der mutige Journalist, der sich mit den Mächtigen anlegt; die nachdenkliche Autorin oder aber auch die Bewohner einer Kommunalka. Autoritäres Herrschaftsstreben trifft auf engagierten oder auch versteckten Widerstand, strenge Lebensentwürfe auf den Ruf nach Vielfalt, verschwenderische Dekadenz auf das Ringen um Nachhaltigkeit. Dieses System ist kompromisslos gierig und fordert Opfer, von ihm geht aber auch immer wieder eine ungeheure Anziehungskraft aus. Wer das Spiel mitspielt, kann viel gewinnen, doch der Preis ist oft die eigene Integrität. +Im Moment ist die herrschende Politik gefangen in der doppelten Versuchung, sich nach außen imperial-aggressiv neu zu bestimmen und nach innen autoritär mit Gewalt und Propaganda abzusichern. Das alles auf Grundlage eines verführerischen, aber kaum nachhaltigen Wirtschaftsmodells, des Extraktionismus. Fast alles hängt ab von der massiven Ausbeutung der Bodenschätze und ihrem globalen Vertrieb. Damit sind in den letzten Jahren gigantische Gewinne gemacht worden und in das Land und in seine Oligarchien geflossen. Aber der Preis ist hoch. Riesige Umweltprobleme, kaum Ausweichmöglichkeiten bei fallenden Rohstoffpreisen, eine unterdrückte und wenig entwickelte Zivilgesellschaft, Unfrieden mit den Nachbarn. So macht die herrschende Kaste Russland arm im Verhältnis zu seinen Potenzialen. +Deutschland, aber auch Europa verbindet mit Russland eine lange und zum Teil furchtbare Geschichte. Für das Projekt der Europäischen Union, das sich gerade selbst in einer Krise befindet, hat das Verhältnis zu Russland strategische Bedeutung. Ohne Russland geht es nicht. Wer eine solche Macht ignoriert oder unterschätzt, ruft sie auf den Plan. Gegen Russland wird es sehr riskant und braucht Kräfte, die woanders fehlen, wenn sie sich denn überhaupt dauerhaft mobilisieren lassen. Mit Russland gemeinsam Perspektiven zu entwickeln wäre besser. Aber ob das in naher Zukunft realistisch ist, liegt auch in der Hand der Russen selbst. diff --git a/fluter/editorial-29.txt b/fluter/editorial-29.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5826375fdd2425f6bca7063b60cb29a97069a3c5 --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-29.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Wer diesen Fragen gegenüber offen ist, erfährt alle, auch Angst erzeugende Verhältnisse als veränderbar. Dieser aktivierende Aspekt der Angst wird häufig vergessen, doch gerade er ist ihre wichtigste Konsequenz: Wer sich seiner Angst stellt, sucht auch nach einem Ausweg. Dann wird die persönliche Sicherheitszone verlassen – sei es, um sich in dynamischen Märkten zu behaupten und neue Geschäftsmodelle auszuprobieren oder um gegen politische Unterdrückung aufzustehen, wie junge Menschen in Ägypten, Hongkong oder der Ukraine. +Aber bei uns gibt es auch Menschen, die fundamentale Ängste haben müssen. Die nicht wissen, ob sie die Nacht auf der Straße überleben. Oder ob sie bald in ihr Heimatland abgeschoben werden, in dem blutige Konflikte den Alltag bestimmen. Ihre Ängste sind nicht nur ein Spiegel, sondern auch die Warnsignale für gesellschaftliche Konflikte. +Wer die Ängste der Menschen im Griff hat, hat in gewissem Maß sie selbst im Griff. Wie überall, wo Macht verteilt wird, gibt es Akteure, die diffuse Ängste im eigenen Interesse gezielt schüren. Das Spiel beherrschen viele – Medien, Unternehmen, Politik. Umgekehrt gilt auch, dass Populisten da leichtes Spiel haben, wo die entscheidenden Eliten allgemeine Ängste ignorieren oder unterschätzen. +Eine wichtige Verbündete der Angstkultur ist die Bequemlichkeit des Konformismus, der vorschnelle Rückzug auf das Vorgegebene. Die Arbeit der Veränderung ist dagegen nicht leicht, aber sie kann befreiend wirken. Die Forderung danach richtet sich immer an beide, das Selbst und die Umwelt. Charakterbildung trägt deshalb Züge einer politischen Ökologie der Affekte. Sie ist politisch, weil sie unser Handeln prägt. Freiheit wird damit ein Maß der Balance zwischen Mut und Gelassenheit, Selbst-Vertrauen und Risikobereitschaft. Souveränität gelingt, wo Ängste unser Handeln mitbestimmen, aber nicht diktieren können. diff --git a/fluter/editorial-3.txt b/fluter/editorial-3.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cc6d8135e718206bbf5688f86fe64c2380b0474e --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-3.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Wenn man wie fluter einen Streifzug durch die Zukünfte unternimmt, fällt dabei zweierlei auf: Wir wissen schon erstaunlich viel, aber der vorherrschende Zukunftshorizont ist extrem kurz. Die Methoden der Erkundung naher Zukunftsmöglichkeiten sind inzwischen sehr ausgefeilt und fast alltagstauglich. Ob demografische Entwicklung, Klima- wandel oder Konsumtrends – die grundlegenden Entwicklungen der nächsten zehn Jahre sind kein Geheimnis. Wenn der risikobewusste Teil des Finanzkapitals bereit ist, in den massiven Ausbau von Solarenergie zu investieren, kann die Energiewende nicht weit sein. Wenn ein konservativer Staatspräsident nach Alternativen zum ökonomischen Wachstumsfetischismus suchen lässt, ist die zugrunde liegende Fragestellung im Mainstream angekommen. Auch demografische Entwicklungen, die in den nächsten Jahren wirksam werden, geben uns heute die Möglichkeit zu reagieren und die politische Debatte darüber zu führen. Und die Fortschritte der Biotechnologie sind jetzt schon eine Herausforderung für unsere ethische Konstitution. +Der Blick in die Schatzkammern unseres kulturellen Gedächtnisses zeigt aber auch die extreme Kurzsichtigkeit unserer Gesellschaft. Die Festplatten, auf denen wir unsere in Echtzeit vernetzte mediale Allgegenwart organisieren, sind nicht wirklich zukunftsfest. Jede Tontafel hält länger als ein USB-Stick. Die Überwindung dieser strukturellen Kurzatmigkeit ist eine der entscheidenden Zukunftsaufgaben. diff --git a/fluter/editorial-30.txt b/fluter/editorial-30.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f3a67717a4397e994753ed7ba27732b472862dbe --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-30.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Die Welt der Arbeit ist heute von einer ungeheuren Vielfalt, ja Disparität gekennzeichnet. Für die Einzelnen ist Orientierung und Selbstfindung hier eine Aufgabe für sich. Was wird und soll als Arbeit anerkannt sein und was nicht? Was kann sie zur Selbst­ verwirklichung beitragen, welchen Stellenwert soll sie im Leben haben? Kann eine Gesellschaft, die sich über die Notwendigkei­ ten der Arbeit definiert, überhaupt frei sein? Wenn alles im Fluss ist, werden solche metaphysischen Fragen alltagstauglich. +Klar ist, im Kosmos der Arbeit ist Bildung zur Schicksals­ frage geworden. Das hat zum einen mit der zunehmenden Wis­ +sensgetriebenheit der Wirtschaft zu tun. Zum anderen werden in den Dienstleistungssektoren sogenannte weiche Faktoren im­ mer wichtiger: Soziale und emotionale Kompetenzen laufen den zweckrationalen den Rang ab. Wer weniger Wissen und Fach­ kenntnisse aktivieren und immer wieder neu entwickeln kann, hat es ungleich schwerer, Arbeit zu finden und zu behalten. Das Bildungswesen in Deutschland ist hier noch nicht auf der Höhe der Zeit. Dass fast ein Viertel der Jungen eines Jahrgangs schon zu Beginn ihres Arbeitslebens fast chancenlos sind, ist nur das dramatischste Anzeichen dafür. +Die Ränder des Arbeitsmarktes werden prekär, und wer lan­ ge ohne Arbeit bleibt, fällt immer noch schnell und dauerhaft aus der sozialen Bahn. Dagegen gibt es Ideen wie bedingungs­ loses Grundeinkommen oder Bürgerarbeit, um die Brüche zu überwinden. +Zur Disparität gehören auch Gewinner: Die Eintrittshürden in eine erfolgreiche unternehmerische Existenzform sind heute viel geringer, schon Schüler können mithilfe des Internets aus ihren Ideen ein erfolgreiches Unternehmen machen. +Deutschland ist im Westen nach dem Zweiten Weltkrieg mit der sozialen Marktwirtschaft sehr gut gefahren. Das Modell des sogenannten rheinischen Kapitalismus mit geregeltem Interes­ sensausgleich zwischen Kapital und Arbeit hat Erfolgsgeschichte geschrieben. Wie sich das fortschreiben lässt, ist eine gute Frage. Sie zu beantworten, wird eine Menge Arbeit kosten, sie aber auch wert sein. diff --git a/fluter/editorial-31.txt b/fluter/editorial-31.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1401973389918531359e80ea41c47b9558e438b7 --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-31.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Wie stets im Kapitalismus hat diese Dynamik ihre Kehrseiten: Plastik hält eine Ewigkeit und wird – etwa als Verpackung – oft nur für Sekunden genutzt. Es verspricht uns Hygiene, aber seine Weichmacher können giftig sein. Es soll kontrollierbar sein, aber wenn es sich zersetzt, werden gefährliche Stoffe frei. Auf den Weltmeeren kommen in manchen Gebieten Hunderttausende Mikroplastikteilchen auf nur einen Quadratkilometer, auf dem Pazifik schwimmen Müllteppiche, die Schätzungen zufolge größer sind als Deutschland. +Plastik entsteht aus Erdöl, und für eine oft minimale Gebrauchszeit nutzen wir Ressourcen, die Millionen Jahre für ihre Entstehung brauchten und die endlich sind. Es wird immer klarer: Die Stoffbilanz des Ganzen geht nicht auf. Plastik kann ja nur deshalb so billig sein, weil in den Marktpreis nicht die gesamten Kosten eingehen. So aber schaffen wir eine Welt der organisierten Achtlosigkeit, in der das beruhigte Gewissen Vorrang hat vor störendem oder fehlendem Wissen. Beim Nachdenken über Plastik kommen die Umrisse einer politischen Stofflehre in den Blick. Die Suche nach Alternativen, nach einem anderen Stoffwechsel rührt an die Grundlagen der Gesellschaft. Warum und wofür brauchen wir Kunststoffe? Was sind sie uns wert, was fließt in die Wertschätzung ein, was bestimmt den Preis, wer entscheidet und setzt die Rahmenbedingungen? Welche anderen Möglichkeiten der Gewinnung, der Nutzung gibt es? Erste Antworten gibt es, Forschungen und Initiativen dazu sind entstanden. +Vieles erinnert an die Debatten und Entscheidungen im Energiesektor, wo fossile Brennstoffe zunehmend durch regenerative Energien ersetzt werden. Eine vergleichbare globale und umfassende Anstrengung wird für Plastik ebenfalls notwendig sein. diff --git a/fluter/editorial-32.txt b/fluter/editorial-32.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..661f753f1ad11a1cb220b87554f1d818feb04bea --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-32.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Die inneren Widersprüche lassen allerdings kaum Zeit für einen geruhsamen Fortschritt. In den gegenwärtigen Krisenzeiten stellen sich die grundlegenden Fragen immer wieder neu. Wie kann das Verhältnis von nationalen Kulturen und Staatlichkeiten zu europaweiten Regelungen bestimmt werden? Wie kann jenseits von Nationalstaaten demokratische Kontrolle funktionieren? Wie wird mit Minderheiten umgegangen? Hört beim Geld Europa auf? Und wer kann diese Fragen wo stellen, wer sie beantworten, wer soll entscheiden? Selbst wenn in Brüssel in den politischen Apparaten exzellente junge Leute ihre Arbeit tun, Europa kann nicht allein den jetzigen Eliten überlassen bleiben. Blicke auf den Alltag und Fragen an unseren Alltag sind deshalb schon der Anfang von Politik. +Oft wird Europa als Idee und Konstruktion bezeichnet, es ist aber auch ein ganz konkreter Ort: Hier leben Menschen, hier werden politische, gesellschaftliche, persönliche Geschichten erlebt. Zum Beispiel reisen Tausende Menschen aus den osteuropäischen Ländern in den Westen, um dort arbeiten zu können – während ihre Familien weit entfernt auf Heimatbesuche samt Einkommen warten. An den südlichen Grenzen Europas kommen täglich Menschen an, die lebensgefährliche Fahrten von Afrika über das Mittelmeer in Kauf nehmen, um nach Europa zu gelangen. Für sie ist die Spannung der Europäischen Union zwischen Offenheit nach innen und Abschottung nach außen oft eine Frage des Überlebens. An anderen Orten Europas kämpfen viele junge, gut ausgebildete Leute mit Arbeits- und Perspektivlosigkeit und fragen sich, was der europäische Gedanke ihnen eigentlich nützt. Die prekären Wirklichkeiten Europas sind widersprüchlich, sie zeigen die Zerrissenheit des Ganzen an. +Ob dieses entstehende Wunder Europa Bestand haben wird und auch für künftige Generationen gut gelebter Alltag sein kann, ist nicht sicher. Europa ist eine offene Frage, an die jetzigen und für kommende Generationen. Letztlich geht es darum, zu klären, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Wer das Wir sein kann. Und was uns Europa dabei wert ist. diff --git a/fluter/editorial-33.txt b/fluter/editorial-33.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cf440e4b7252c464e464bb5894402913b77d033e --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-33.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Bildung ist eine Baustelle. Die konkrete Wirklichkeit sieht vielerorts noch verbesserungswürdig aus. Der aus der Industrialisierung stammende Vorrang repetitiven Wissens und eher autoritärer Methoden der Vermittlung ist ungebrochen. Bildung wird noch zu stark als Funktion ökonomischer Wertschöpfungsketten gesehen. Das Ziel einer möglichst schnellen Ausbildung ersetzt zu oft jenes des allmählichen geistigen Reifeprozesses. Der große bildungspolitische Skandal Deutschlands ist aber, dass ein "Aufstieg durch Bildung" für viele unrealistisch geworden ist. Eine zunehmende Privatisierung der Bildung macht zudem aus einem öffentlichen Gut ein Privileg der Besserverdienenden. +Auf diesem Bildungspfad würde die soziale Spaltung eher größer und damit die kulturelle Verarmung. Es gilt aber den Zusammenhalt durch Bildung zu stärken, den Ehrgeiz und die Talente möglichst aller zu wecken und sie entsprechend ihren Fähigkeiten bestmöglich zu fördern. Wir könnten in einer friedlichen Form der Renaissancekultur leben, einer steten und allgemeinen Intensivierung der kulturellen Fertigkeiten der Vielen. Der Zugriff auf das Wissen und die Ideen verschiedenster Disziplinen steht uns in den digitalen Netzen jederzeit zur Verfügung, der Austausch über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg ist einfacher möglich denn je. Neue Formen der Lehre und des Lernens machen sich das schon heute zunutze. Immerhin, es wird auch in Deutschland vieles getan. In den Schulen hält die digitale Revolution Einzug. Der Bildungshunger ist ungebrochen, und auch das Engagement der Verantwortlichen ist enorm. Aber es braucht noch ehrgeizigere Politik und ein allgemeines Bewusstsein dafür, dass Bildung mehr ist als ein nützlicher Zweck. +Bildung ist die Freiheit, die wir uns nehmen müssen. Ob Bildung gelingt, dafür trägt nicht nur die Allgemeinheit, sondern letztlich jeder selbst Verantwortung. Es lohnt sich so oder so. Wenn Bildung gelingt, bewegen wir uns in einer besseren Form des Lebens. diff --git a/fluter/editorial-34.txt b/fluter/editorial-34.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9a710010b5c47dde9efe0b2e9cbcc15550e98bd1 --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-34.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Afrika ist aber auch im Aufbruch, immer wieder. Wer sucht, findet viele beeindruckende Geschichten von Menschen, die sich organisieren und mit Fantasie und Mut neue Wege gehen. Viele Afrikanerinnen und Afrikaner haben ein großes Selbstbewusstsein und grenzen sich gezielt ab von den ehemaligen Kolonialmächten, von denen sie sich nicht länger bevormunden lassen wollen. Afrika, in all seinen Facetten, steht zunehmend selbst für sich, spricht für sich, entscheidet für sich. +Afrika in einem einzigen Heft darzustellen ist unmöglich. Als Versuch einer Annäherung kann es dennoch Sinn machen, wir haben es in fünf Schritten versucht. Afrika und Europa sind zunehmend aufeinander angewiesen. Gerade in Zeiten der Globalisierung, der immer noch auf Wachstum und extensiven Ressourcenverbrauch getrimmten Volkswirtschaften. Die davon untrennbaren Krisen – Klimaerwärmung und ihre Folgen, weltweite Migrationsbewegungen, Kriege, Terrorismus und extreme soziale Ungleichheit – erfordern dringend neue und gerechtere Formen der Zusammenarbeit. Es wird höchste Zeit, scheinbar ferne und getrennte Herausforderungen zusammen zu sehen, nachhaltige Lösungen und neue Netzwerke in den Blick zu bekommen. Gerade die jungen, sich neu bestimmenden Zivilgesellschaften Afrikas könnten dabei unsere Verbündeten sein. Welche Rolle wird Europa hier spielen? Die Gesellschaften in Afrika bergen ein ungeheures Potenzial, die Zukunft kann ihnen gehören. Ob und wie sie dieses Potenzial abrufen werden, ist noch nicht entschieden. Aber so viel ist klar: Afrika ist unser unverstelltes Interesse wert. diff --git a/fluter/editorial-35.txt b/fluter/editorial-35.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..45260f6d1c7d871b64d91cc942a7e60d4808b002 --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-35.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Inzwischen sind die Möglichkeiten gewachsen, gentechnische Eingriffe auch an anderen Lebewesen zu betreiben. Erfolgversprechende Gentherapien in der Medizin, Forschungen an Stammzellen und Embryonen zeigen, dass nun sogar der Mensch selbst zum Gegenstand gentechnischer Manipulationen wird. Damit geht es inzwischen um nichts weniger als die natürlichen Grundlagen des Menschseins. +Die dem Kapitalismus eigene Tendenz, solche Prozesse großen Konzernen und Quasi-Monopolen zu übereignen, hatte bereits bei der Pflanzengenetik fatale Folgen, die Debatten dazu sind heftig und werden international geführt. Auch die Erfahrungen mit der Big-Data-Industrie und ihrer am Profit orientierten Aneignung persönlicher Daten, mit ihrer Übermacht auch gegenüber Staaten, können ein Menetekel sein. Es wird zunehmend klarer, dass ethische Fragen sich nicht automatisch technisch oder in wissenschaftlichen Expertenzirkeln lösen lassen. Die Frage bleibt im Raum: Wem gehört das Leben? +Die menschliche DNA besteht aus Milliarden Bausteinen, die Kombinatorik der genetischen Effekte ist riesig, und das Zusammenspiel mit anderen Umwelt- und sozialen Einflüssen wird nur in ersten Ansätzen verstanden. Die digitalen Technologien beschleunigen alle Prozesse enorm, gemeinsam mit dem drängenden Kapital verringern sie die Zeit, die den Gesellschaften gegeben ist, sich über Ziele und Tabus der Gentechnik zu verständigen. +Die Naturwissenschaften sind immer auch politisch gewesen, hier werden sie es auf neue, grundlegende Weise. Die Massenmorde im Nationalsozialismus sind eine Mahnung, wie weit die Instrumentalisierung behaupteter wissenschaftlicher Erkenntnisse führen kann. +Wir brauchen den Mut zur Entwicklung, zur Nutzung der faszinierenden Möglichkeiten der Gentechnik. Doch wir brauchen auch den organisierten Willen zur Gestaltung und politischen Verantwortung. Ethikräte, parlamentarische Beratungen und Gesetzgebungen sind erste, vielversprechende Formen. Die Debatte muss aber viel breiter und stetiger werden, nur so kann sie rechtzeitig an die entfesselte Dynamik des wissenschaftlich- technischen Fortschritts aufschließen. diff --git a/fluter/editorial-36.txt b/fluter/editorial-36.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/editorial-37.txt b/fluter/editorial-37.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/editorial-38.txt b/fluter/editorial-38.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c9f281e8d200a53b4e60537ea58ae574e02c9338 --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-38.txt @@ -0,0 +1 @@ +Diese Mikropolitiken des Alltags sind wesentlich für das Ganze der Gesellschaften. Gelingen sie, erleben wir uns als Souveräne unserer selbst und können den Zusammenhalt zulassen und organisieren. Hier ist Identität zuletzt wieder streitbar geworden – was bedeutet eine massenhafte Einwanderung für Deutschland, was sind unsere Werte, was soll gelten, wie soll das Geltende durchgesetzt werden? Wer gehört dazu? Die Versprechungen einfacher, geschlossener nationaler Identitäten sind letztlich Gewaltfantasien. Aber es gibt Gründe für ihren beträchtlichen Erfolg, und die verweisen auf offene Fragen. Die Balance der Identitäten und das Verständnis dafür müssen öffentlich neu verhandelt werden. Wie kann sich eine Neubestimmung gesellschaftlichen Zusammenhaltes, auch symbolisch, gestalten? Sind der Nationalstaat und der Begriff der Nation entwicklungsfähig genug, hier nachhaltige Formen für eine Einheit in der Vielfalt zu organisieren? Welche Rolle spielen regionale, geschichtliche, religiöse und andere kulturelle Identitäten? Das sind sensible und hochnervöse Felder der Auseinandersetzung. Souverän ist, wer mit sich und den anderen einverstanden bleiben kann. diff --git a/fluter/editorial-39.txt b/fluter/editorial-39.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6fb511ec68534b59e014af62c37b1850bd841665 --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-39.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Propaganda arbeitet mit den Ängsten und Hoffnungen der Vielen. Sie verspricht, zu den Starken, Guten, zu den Siegern zu gehören. Aber der Preis der einfachen Wahrheiten ist der Zusammenhalt durch Unterwerfung. Die Kehrseite geschlossener Systeme des Meinens ist die Gewalt gegen Andersdenkende und die oft genug neurotische Ausblendung realer Widersprüche. +Dass das Wort heute einen bösen Ruf hat, ist den geschichtlichen Erfahrungen geschuldet. In Deutschland diente die Propaganda der Nationalsozialisten dazu, den Massenmord von Staats wegen zu rechtfertigen und in ein geschlossenes Glaubenssystem zu integrieren. Dabei spielte der Antisemitismus eine wichtige Rolle. Die so entfesselte maßlose Gewalt nach innen und außen und die massenhafte "Gleichschaltung" von Medien und Meinungen sind deshalb bis heute das Menetekel für allen Erfolg von Propaganda. +Propaganda ist kein Schicksal. Eine freie und kritische Presse, die öffentliche Vielfalt der Meinungen, offener Streit um Einstellungen und Werte sind mächtige Gegenkräfte gegen propagandistische Verkürzungen. Nicht zuletzt deshalb ist die Abschaffung der freien Presse eines der ersten Ziele von Diktatoren und autoritären Regimes. +Wir alle sind den Versuchungen und Zumutungen von Propaganda ausgesetzt. Doch jedes propagandistische System hat seine Risse und ausgeblendeten Zonen. Sie zu beleuchten ist der erste Schritt in die Freiheit und eigene Verantwortung. Und so stehen wir immer wieder vor einfachen Fragen: Wem kann und will ich wie weit vertrauen, wie gehe ich mit den Anderen, den behaupteten Gegnern und wie mit meinen Zweifeln um? Wie weit reicht mein Mut, mich meines eigenen Verstandes zu bedienen?. diff --git a/fluter/editorial-4.txt b/fluter/editorial-4.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bfb0ea780a3e3f18e94dfaf9c65fb745fe619800 --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-4.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Beim Streifzug durch das schillernde Feld der Ernährung kommt die Unwucht des Geschehens in den Blick. Industrielle Produktionsmethoden haben die Ernährung der rasant gewachsenen Weltbevölkerung prinzipiell zu einem lösbaren Problem gemacht. Es könnten fast doppelt so viele Menschen, wie zurzeit auf der Erde leben, ernährt werden. Und doch hungern mehr als eine Milliarde Menschen – heute, morgen und in den nächsten Jahren. Dieser Skandal wird nicht geringer, nur weil er permanent bleibt. Er ist zwar keine Sensation, und außer bei UN-Gipfeln, alljährlichen Katastrophen oder zur besinnlichen Jahresendzeit bleibt er im Jenseits der medialen Aufmerksamkeit. Aber der massenhafte Hunger ist ständig in der Welt. Und er muss eigentlich nicht sein. Spätestens hier wird Ernährung zum politischen Feld. +Wenn die EU-Subventionen für die Landwirtschaft den europäischen Binnenmarkt nach außen abschotten und gleichzeitig mit europäischen Steuergeldern verbilligte Lebensmittel die lokalen Märkte in anderen Weltteilen verzerren, kann etwas nicht stimmen. Auch die Ökobilanz unserer Ernährungsweise ist ein globales Problem und in den Preisen im Supermarkt nicht enthalten. Hier wird sich etwas ändern müssen, damit uns auch in Zukunft nicht der Appetit vergeht. diff --git a/fluter/editorial-5.txt b/fluter/editorial-5.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/editorial-6.txt b/fluter/editorial-6.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c44c8bb4d30f9abf90726fe9bf200022c40d7e93 --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-6.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Die Verständigung über gemeinsame Angelegenheiten ist gleichsam die Grundlage demokratischer Kulturen und ein Garant freiheitlicher Gesellschaften. Die Arbeit am Konkreten ist dabei nicht zu unterschätzen: Demokratie lässt sich im Alltag von Familien erfahren, in Schulen oder Kommunen. Selbst Unternehmen können Orte gelungener Demokratie sein. Das Selbstverständliche wird dann eine Erfahrung des gemeinsamen und öffentlich debattierten Verständnisses darüber, wie wir miteinander leben und umgehen wollen. +Demokratien sind immer auch riskant – fehlende oder schwächer werdende Repräsentation führt zur Abkoppelung mächtiger Eliten und in den Populismus. Die medial verstärkte Bequemlichkeit und zuweilen verächtliche Ignoranz gegenüber politischen Prozessen machen das Ganze fragiler, als wir uns das in Deutschland gegenwärtig vorstellen wollen. Wie wird Demokratie künftig aussehen? Werden Parteien die zentralen Akteure bleiben können, wie werden sie sich ändern müssen? Werden wir mehr oder weniger Beteiligung, direkte Demokratie haben? Wie kann demokratische Kontrolle in globalen Zusammenhängen funktionieren? +Entscheidungen brauchen Haltungen. Die erste Frage über den Zustand der öffentlichen Angelegenheiten geht deshalb immer auch an sich selbst: Wo sind deine roten Linien, wo mischst du dich ein, wofür stehst du? +Thorsten Schilling diff --git a/fluter/editorial-7.txt b/fluter/editorial-7.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0ca8968fa75bd41987d7ff6ee910afbddcf7faf6 --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-7.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Kann die Übersetzung der in der westlichen Welt geltenden Rechtsstandards auf die Bedingungen digital vernetzter Medienwelten gelingen? Wie können wir in einer Welt, in der Grenzen zwischen Realem und Digitalem immer mehr verschwimmen, unsere Mündigkeit als Internetnutzende bewahren? +Im Herrschaftsraum der Datenfürsten gibt es bisher keine unveräußerlichen Rechte der Einzelnen. Unsere digitalen Datenkörper werden in Echtzeit für die Unternehmenszentralen und privilegierte Partner, zum Beispiel staatliche Sicherheitsdienste, transparent und permanent in die Verwertungsketten eingebunden. Erlebt werden soll und kann das als anschmiegsame Dienstleistung, die schöne neue Welt bequemen Konsums. Es ist aber eine falsche Freundlichkeit, die sich hier breitmacht. Weil sie bürgerliche Freiheiten und Persönlichkeitsrechte einschränkt und die Bande des Sozialen umpolen will auf die Idiotien unkritischen Konsums. Dagegen gibt es nicht nur Widerstand, sondern inzwischen auch eine aufstrebende Kultur alternativer Entwürfe und Lösungen. Das Online-Sein beeinflusst auch unsere Kommunikation: wie wir miteinander reden, schreiben, diskutieren. Das Wort "Shitstorm" steht bereits im Duden, und Cybermobbing kann bittere Folgen im realen Leben haben. Andererseits haben wir uns digital vermeintlich so lieb wie noch nie: Teenager schreiben sich ein kryptisches Liebesbekenntnis nach dem anderen auf die Pinnwände, verziert mit digitalen Herzchen und Smileys. +Noch gibt es keine Balance der widerstreitenden Kräfte. Neue belastbare Routinen des Ausgleichs der Interessen und demokratischer Kontrolle müssen erfunden werden. Deshalb brauchen wir im digitalen Raum eine neue Philosophie der Praxis – Machen ist das neue Suchen. Nicht einfach nur anwenden, blind vertrauen, sondern verändern, selber programmieren, gemeinsam Kritiken, Erfahrungen und Ideen darüber teilen. Und mit dem Internet der Dinge steht schon die nächste industrielle Revolution vor der Tür. Das Internet ist auch Jahrzehnte nach seinem Start immer noch am Anfang. Damit es ein Raum der Freiheit und gelungenen Lebens werden kann, bleibt viel zu tun. Viel Spaß bei der Arbeit. diff --git a/fluter/editorial-8.txt b/fluter/editorial-8.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7c7dd222c53d504e279e7fc34ab1825b6ddc1633 --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-8.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Wenn Zigtausende Menschen trotz Arbeit nicht genug Geld zum Leben haben, wenn mehr als eine Million Kinder von Armut betroffen sind, wenn jetzt schon und in Zukunft noch viel mehr Rentner verarmen, wenn Alleinerziehende armutsgefährdet sind und wenn mehr als die Hälfte der deutschen Kommunen von der Zahlungsunfähigkeit bedroht ist – dann ist das auch bei uns den öffentlichen Streit wert. +Der deutsche Sozialstaat wurde von Bismarck vor mehr als 120 Jahren aus der Taufe gehoben. Auch an seinem Beginn stand der öffentliche Streit im Kampf gegen Armut. Die Systeme der gesellschaftlichen Solidarität haben sich seitdem weiterentwickelt, sind durch Krisen und Kriege gegangen. Dieses Gut zu modernisieren und besser zu organisieren wird eine der wesentlichen politischen Fragen der nächsten Jahre sein. Armut ist immer auch ein Hinweis auf die Notwendigkeit, die Verhältnisse ihrer Entstehung zu ändern. diff --git a/fluter/editorial-9.txt b/fluter/editorial-9.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a19ed72a2ea6c62ff32b3fa3fe109872b1fae9b6 --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-9.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Seine eigene Sexualität zu entdecken und zu leben kann in diesem Umfeld immer wieder zu einer politischen Frage der Selbstbestimmung werden. Sich dem impliziten Befehl zu sexuellem Eigenmarketing zu entziehen, sei es durch Gelassenheit oder auch den völligen Entzug, ist dann vielleicht revolutionärer, als es auf den ersten Blick scheint. +Sex ist nicht nur eine Frage der Moral und der Auseinandersetzung darüber, was gutes und richtiges Miteinander-Leben sein soll. Auch Machtfragen werden immer wieder mit Sexualität verbunden. Das reicht von Vergewaltigungen als Teil des Krieges bis hin zur geduldeten Gewalt an Einzelnen oder ganzen Gruppen. Und das Thema sexueller Missbrauch hat auch in Deutschland gezeigt, wie über Jahre die Ohnmacht der Opfer verstärkt wurde durch eine Kultur der Verleugnung. Immerhin ist dieses Thema jetzt viel öffentlicher geworden. Wer über Sex spricht, kann über die Gesellschaft, in der er oder sie lebt, nicht schweigen. diff --git a/fluter/editorial-fluter-71.txt b/fluter/editorial-fluter-71.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5cf72faa8f3353259ba5f115740f614156527916 --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-fluter-71.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Die Demokratien in Südamerika sind noch jung und oft ungefestigt. Die autoritäre Versuchung, Macht zu erobern und Ordnung zu schaffen, ist aktuell gerade wieder am Wirken, mit allen Folgen zum Beispiel in Brasilien oder Venezuela. Die Jahrzehnte des Bürgerkriegs, massenhafte Erfahrungen der Gewalt unter Militärdiktaturen haben sich tief in das Gedächtnis vieler Bevölkerungen eingeschrieben. Diese Verbrechen des letzten Jahrhunderts sind oft noch nicht oder nur mangelhaft aufgearbeitet. Wie können Konflikte gelöst werden, indem sich vorher erbittert bekämpfende Gruppen in den politischen Prozess einbezogen werden? Ein positives Beispiel könnte der Friedensprozess zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC werden. +Die ökonomische Ungleichheit und die Fixierung auf global nachgefragte Rohstoffe sind eine weitere Hypothek. Südamerika ist eine rohstoffreiche Region und hat fruchtbare Böden. Wie sich daraus dauerhaft stabile Wirtschaftssysteme schaffen lassen, ist zentral für die Zukunft des Kontinents und eine offene Frage. +Bei allen Spannungen ist Südamerika auch voller faszinierender Menschen mit ihren Geschichten, ihrem Einfallsreichtum und ihrer fantasievollen Streitbarkeit. Es gibt auch Staaten, die auf einem guten Weg sind – Uruguay bekämpft erfolgreich die Armut und hat schon 2013 die Ehe für alle eingeführt. Bolivien versucht, seine Rohstoffe so abzubauen, dass die eigene Bevölkerung profitiert, und hat das "vivir bien" in die Verfassung geschrieben. +Südamerika ist ein entscheidender Schauplatz im Kampf gegen den Klimawandel: Gelingt es, den Regenwald zu erhalten? Hier kommen auch wir in Europa ins Spiel – wie fair dürfen Preise für Lebensmittel sein, wie ignorant bleiben wir den ökologischen Kosten gegenüber? Wie können gerechte umweltpolitische Regelungen auch über die Kontinente hinweg gestaltet werden? Vielleicht ist Südamerika uns doch näher, als wir dachten. diff --git a/fluter/editorial-fluter-78-pflanzen.txt b/fluter/editorial-fluter-78-pflanzen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3fc9ec5b23f93d98559567b1be06f20bc971708e --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-fluter-78-pflanzen.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Viele von uns wissen nicht einmal, dass wir nichts wissen – was auf das andere botanische Drama verweist: Wie bei der Tierwelt führt unsere Lebens- und Wirtschaftsweise zur Vernichtung pflanzlicher Lebensformen, das ist inzwischen messbar als Artensterben. Die routinierte und politisch abgesicherte Ignoranz kann dramatische Folgen für die Gattung Mensch haben – wir sind auch hier dabei, die natürlichen Grundlagen unseres eigenen Lebens anzugreifen. Die Frage unseres Verhältnisses zur Welt der Pflanzen wird damit hochpolitisch: Wie können wir aus der Anerkennung und Beachtung pflanzlichen Lebens eine Politik der Nachhaltigkeit und gelungenen menschlichen Lebens machen, sie darin integrieren? +Vielleicht braucht es eine Renaissance der solidarischen Wahrnehmung der Pflanzenwelt, eines viel weiter gefassten Zugangs zur pflanzlichen Natur. +Allerdings wird es kaum einfache Lösungen geben. Das Dilemma des Fortschritts zeigt sich, wenn für den Ausbau ressourcenschonender Energiegewinnung Lebensräume angegriffen werden, die für das Klima ebenso wichtig sind. Und die bloße technologische Aufrüstung bisheriger Produktion und Verwertung, zum Beispiel durch Gentechnik, greift eher zu kurz. Aber ohne wissenschaftliche und technologische Entwicklungen wird es auch nicht gehen. +Das zeigt sich schon da, wo wir eine lange Geschichte der Nutzung von Pflanzen haben, in der Land- und Forstwirtschaft. Die hochproduktive industrialisierte Landwirtschaft ist bereits Opfer des Klimawandels und gleichzeitig Teil des Problems. Wie können hier andere Produktionsweisen und kooperativere Verwertungsketten Anregungen für eine Neuorientierung geben? Wie können die Erfolge dabei auch für weniger kaufkräftige Menschen zugänglich werden? +Die drängenden Fragestellungen reichen tiefer: Wie können die ökologischen Kosten effektiver in die globalen Preisbildungen aufgenommen werden? Welche Zwecke sollen im Umgang mit der Natur vorrangig gelten, wo und wie wird das verhandelt, wer entscheidet und kontrolliert das nach welchen Kriterien und Regeln? Wie könnten dabei pflanzenethische Grundsätze für die Abwägung der widersprüchlichen Interessen und Positionen aussehen und gesellschaftlich verankert werden? +Leben ist Zusammenleben, auch mit der Pflanzenwelt. Wir müssten es wacheren Sinnes tun. diff --git a/fluter/editorial-fluter-81-klasse.txt b/fluter/editorial-fluter-81-klasse.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..67d0186e5646cf5430937207c27571f67a1d65a2 --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-fluter-81-klasse.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +In den westlichen Demokratien gilt das Versprechen, dass ein Aufstieg durch Leistung für alle möglich sein soll. Dabei gibt es eine Garantie zur Solidarität, wie sie bei uns als Gleich­wertigkeit der Lebensverhältnisse im Grundgesetz verbrieft ist. +Das öffentliche Selbstbild der Gesellschaft ist in Deutsch­land immer noch eines der Mitte. Immerhin gibt es diese Mitte als zahlenmäßig größte Schicht. Aber sie ist heterogen und in Bewegung. So gehören gut verdienende Akademiker dazu, aber auch große Teile des Pflegepersonals – sie unter­scheidet also einiges, nicht zuletzt ihr Einkommen und die Anerkennung. Gerade der untere Teil der Mittelschicht ist ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft. Ohne diesen läuft wenig, das hat die Pandemie noch deutlicher gemacht. Aber was hat diese Gruppe davon? +Wenn Kinder ein Armutsrisiko sind, Bildungswege von der Herkunft bestimmt werden, die Lebenserwartung vom sozialen Status abhängt, dann kann etwas nicht stimmen. Wenn es nicht gelingt, den Unterschied zwischen Reich und Arm besser auszugleichen, und zudem Millionen in prekären Verhältnissen arbeiten, fällt die Gesellschaft weiter ausein­ander. Dazu trägt auch bei, dass sich Vermögen in immer weniger Händen konzentriert und es viele Menschen nicht schaffen werden, sich vor Altersarmut zu schützen. Was hält die Gesellschaft für viele dann noch zusammen, wenn Angst und Ignoranz zunehmen? +Die soziale Dimension wird in den laufenden Debatten zu­nehmend deutlicher: Kann der Zusammenhalt weiter gelingen und die Gesellschaft gerechter werden? Wie nutzen wir den technischen Fortschritt, die Revolutionen der Digitalisierung und den grundlegenden Wechsel zu mehr Nachhaltigkeit und Klimagerechtigkeit für eine neue Ordnung des Gemeinsamen? +Es kann noch grimmiger werden, wenn es einfach so weiterläuft wie bisher. Hoffnung macht der Protest aus unter­schiedlichsten Schichten und politischen Lagern. Hier wird um Lösungen gerungen, wie unsere Gesellschaft wieder solidarischer werden kann. Sie alle eint der Wille zur Verände­rung und das politische Wissen: Da geht noch was. diff --git a/fluter/editorial-fluter-heft-frankreich.txt b/fluter/editorial-fluter-heft-frankreich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3d24afb0ed6038ceae90d9ac1881ea2a55833183 --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-fluter-heft-frankreich.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Frankreich hat sich früher als andere auch als Einwanderungsland verstanden. Die unvollendete, heute zum Teil gescheiterte Integration, der grassierende Rassismus bis in staatliche Strukturen hinein verschärfen die ohnehin entfalteten Konflikte der französischen Gesellschaft. Diese Entwicklungen bei unserem Nachbarn sind ein Menetekel nicht nur für die deutsche Gesellschaft. +Frankreich hat dennoch alles, um seiner Krisen Herr zu werden. Seine Wirtschaft ist stark und dynamischer, als es scheint, seine Kultur reich und weltweit bewundert. Staatlich vorangetriebene Infrastrukturen sind nach wie vor Ausdruck von Gestaltungswillen und Zukunftsoptimismus. +Frankreich steht in allen seinen Bereichen der Gesellschaft vor schwierigen und wichtigen Entscheidungen. Wird es gelingen, das Land weiter zu modernisieren und den sozialen und kulturellen Ausgleich zu erneuern? Welche Rolle und Position wird es in Europa und in der Welt einnehmen? Die Antworten, die in Frankreich nach der Wahl gefunden und umgesetzt werden, sind entscheidend. Gerade auch für uns in Deutschland und Europa. diff --git a/fluter/editorial-fluter-heft-generationen.txt b/fluter/editorial-fluter-heft-generationen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6b48f6820557be2c0003f3762d421bf3967b2423 --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-fluter-heft-generationen.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Für jede neue Generation stellt sich die Frage, wie sie mit dem Erbe und der Macht der anderen Generationen umgeht – anpassen, übernehmen, aufbegehren, neu erfinden? Letztlich wird so aus den Spannungen innerhalb und zwischen den Generationen der Zusammenhalt der Gesellschaft mitbestimmt. Kann es so etwas wie Generationengerechtigkeit geben? Was soll das sein? Die Frage führt nicht nur zum fairen Umgang mit den Älteren, etwa bei der Rente, sondern auch zu den Chancen, die den Jüngeren gegeben sind; welche Möglichkeiten sie ergreifen können. Und ob die jetzt lebenden Generationen auf der Höhe der Zeit agieren und ihrer Verantwortung gerecht werden. So wie wir heute mit dem Erbe vergangener Generationen leben müssen, so greifen viele jetzt getroffene Entscheidungen weit in die Zukunft aus. Die Hinterlassenschaft der einstigen Zukunftstechnologie Kernkraft hat schon nach nur drei Generationen eine historische Dimension erreicht, die den Begriff der Generationszeit sprengt. Die heutigen Zukunftstechnologien haben vielleicht ähnliche Folgen. +Noch gibt es eine vorherrschende Asymmetrie in der Wahrnehmung von Verantwortung. Wir sind beherrscht von kurzfristigen Differenzen, Gewinnen, Trends. Gerade im Kapitalismus wird mit enormer Dynamik auf kurze Sicht gefahren. Es passiert viel, und es geht immer schneller. Die langfristigen Konsequenzen werden immer wieder ausgeblendet, kleingeredet. Wer heute jung ist, muss aber viel länger mit diesen Konsequenzen leben als die meist Älteren, die heute am Ruder sind. Deshalb ist die entscheidende Frage vielleicht die: Was werden wir den kommenden Generationen auf ihren Weg gegeben haben? diff --git a/fluter/editorial-fluter-heft-nummer-79-risiko.txt b/fluter/editorial-fluter-heft-nummer-79-risiko.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9025dcb9cf611ae44c23484d11dfb19e4506cce8 --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-fluter-heft-nummer-79-risiko.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +In autoritären Staaten wird der Kampf für die eigenen moralischen Werte, für Demokratie und Pressefreiheit lebensgefährlich. Der Mut, den die Menschen dabei beweisen, kann auch uns zu denken geben. Die rechtlichen Bedingungen für demokratische Beteiligung und Meinungsbildung sind bei uns garantiert. Aber auch in Deutschland ist Engagement und die Erfüllung politischer Ämter inzwischen immer wieder von extremistischer Gewalt bedroht. Es ist gut und wichtig, dass das Menschen nicht davon abhält, für die eigenen Interessen, Werte und Würde einzutreten. +Systemische Risiken wie Krankheit und Armut oder auch globale Entwicklungen wie der Klimawandel erfordern aktive Politiken der Regulierung und Entwicklung von Infrastrukturen. Das Gesundheitssystem in Deutschland erwies sich bisher im Ergebnis als bemerkenswert leistungsfähig, aber es verschleißt sein Personal. Die Fragen nach seiner Neujustierung werden drängender, ebenso wie in den anderen sozialen Infrastrukturen. Wenn zum Beispiel Kinder ein Armutsrisiko sind, stimmt etwas ganz entschieden nicht. Bildung heißt auch, Ressourcen für das Wagnis riskanter Entscheidung zu erwerben. Scheitern als Chance zu begreifen muss man sich allerdings auch leisten können. Die Voraussetzungen dafür sind noch sehr ungleich verteilt. +Wie können wir eine neue Kultur des selbstbewussten Umgangs mit Risiken entwickeln, wie die sozialen und persönlichen Netzwerke dafür robuster und gerechter gestalten?Umsichtig, aber entscheidungsfreudig, Pessimismus des Verstandes und Optimismus des Willens – das könnte dafür eine geeignete Haltung sein. Es gibt sicher noch andere, und jede Situation kann die Fragen neu stellen. Darüber zu streiten und immer wieder die Probe auf die Wirklichkeit zu machen ist ein Risiko, das sich einzugehen lohnt. diff --git a/fluter/editorial-fluter-heft-reichtum.txt b/fluter/editorial-fluter-heft-reichtum.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..92746004fcc1e06a21da697b656b2b67741feb64 --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-fluter-heft-reichtum.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Und schließlich steht bei aller Pracht des Reichtums im Kapitalismus immer auch ein Elefant im Raum – die grassierende Ungleichheit seiner Verteilung. Sowohl zwischen den Nationen als auch innerhalb der Gesellschaften. Für die Mehrheit bleibt Reichtum eine Fata Morgana und seine Exklusivität eine unerbittliche Wahrheit. Der Sozialstaat und die Kulturen der Gemeingüter können das mildern und den Zusammenhalt der Gesellschaften sichern helfen. Aber wenn die Abkoppelung der Eliten von demokratischer Kontrolle stark genug ist und wenn die Ungleichheit maßlose Formen annimmt, wird sie zur strukturellen Gewalt, die die ganze Gesellschaft erschüttert. Die USA und Venezuela zeigen, dass das von rechts und links im politischen Spektrum vollzogen werden kann. +Am Horizont der Kämpfe um den Reichtum bleibt auch heutzutage die Frage nach dem guten Leben, nach dem Glück und dem Wozu. Kann es gelingen, nachhaltigere Verhältnisse der Entwicklung und Verteilung der unterschiedlichsten Reichtümer zu etablieren? Gibt es andere Balancen zwischen der Dynamik des Fortschritts und dem Reichtum an Möglichkeiten für die Vielen? Die Antworten darauf werden sich kaum in den auf Pracht, Protz und Absicherung des Besitzes bedachten Kulturen der Reichen und Schönen finden lassen. diff --git a/fluter/editorial-fluter-heft-tiere.txt b/fluter/editorial-fluter-heft-tiere.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..40fb28643f8a0d34d5f967fae72badb633a1ec86 --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-fluter-heft-tiere.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Die Art und Weise, wie wir Tiere als unterlegene Lebewesen behandeln, ist auch ein Menetekel für die Bereitschaft, mit anderen Unterlegenen, mit Schwächeren oder Ausgestoßenen der eigenen Art umzugehen. Vielleicht hat die Angst vor den Fortschritten der künstlichen Intelligenz und der Gentechnik auch mit der Furcht zu tun, dass neue, überlegene Wesen uns so behandeln könnten, wie wir es heute mit den Nutztieren zu tun bereit sind. Unser heutiges Verhältnis zu Tieren ist kaum umweltverträglich, ethisch mindestens fragwürdig und messbar gesundheitsschädlich für viele Menschen. +Wenn Tiere glauben könnten, müsste ihnen der Mensch immer wieder wie ein böser Gott erscheinen: übermächtig, unberechenbar, vernichtungsbereit und gierig bis zur Selbstzerstörung. Wir sollten anderen Lebewesen aber eher so etwas wie Partner sein. Auch dafür gibt es kulturelle und handwerkliche Traditionen und alltägliche Erfahrungen. Für viele Menschen sind ihre Haustiere Gefährten und Mitglieder des familiären Alltags, denen mit Achtung und Zuwendung begegnet wird. Solche emotionale Verbundenheit könnte ein Ausgangspunkt für die Neubestimmung hin zu einer maßvollen Kultur des Zusammenlebens bilden, gekennzeichnet durch genauere Kenntnis und den Ausgleich der widersprüchlichen Interessen. Wissenschaftliche Forschungen zeigen, wie unerforscht noch vieles in der Tierwelt ist und wie vorläufig die Bestimmung von Artengrenzen ist. Fragen der Tierethik werden zunehmend auch in einer breiten Öffentlichkeit debattiert. Selbst in der Architektur gibt es Überlegungen, die Unwirtlichkeit der Städte auch für Tiere wieder zu überwinden. Das gute Leben in der menschlichen Gesellschaft wird ohne tierwürdigere Verhältnisse nicht zu erhalten sein. diff --git a/fluter/editorial-fluter-respekt.txt b/fluter/editorial-fluter-respekt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..400e0bf0a736eee4754e318b11e1f39b841c175c --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-fluter-respekt.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +In den letzten Jahren ist viel geschehen, um neue Kulturen und Sensibilitäten der Anerkennung zu entwickeln, zum Beispiel für Menschen mit Behinderungen oder für die Durchsetzung der Frauenrechte. Die konkreten Ergebnisse dieser in öffentlichen Debatten ausgehandelten Regeln sind ein Gradmesser für die reale Balance zwischen Freiheit und Ordnung, den gelebten Reichtum an sozialen Möglichkeiten in unserer Gesellschaft. +Aber die Spannungen sind in jüngster Zeit unübersehbar geworden. Antisemitismus, Forderungen nach nationalistischer Revision der Geschichte, Islamfeindlichkeit, Gewalt gegen Flüchtlinge beherrschen die Schlagzeilen immer wieder. +Die Versuchungen der autoritären Einschließung werden für viele wieder attraktiv. Darin gibt es Respekt nur für die eigenen Gruppenmitglieder in einer mehr oder weniger strengen hierarchischen Ordnung. Nach außen herrscht Abgrenzung bis hin zu offener gewaltbereiter Feindschaft. Es ist oft einfacher, sich zu befeinden, als die Widersprüche auszuhalten. Die sozialen Medienplattformen machen es leicht, Hass zu säen und dafür Ruhm und Anerkennung einzufahren. +Der Widerstand dagegen ist für die freiheitliche Gesellschaft überlebenswichtig. Die Erfahrungen im Kampf gegen die Unterdrückung der Frauen und zur Überwindung des Patriarchats müssen neu gemacht werden. Feindbilder zu bekämpfen ist keine einfache Sache. Allein schon solche Gewalt im eigenen Alltag, zum Beispiel in der Schule, als Problem zu sehen und offen anzugehen ist schwierig geworden. Deutschland ist seit Jahrzehnten eine Einwanderungsgesellschaft, wird sich dessen aber erst seit einigen Jahren wirklich und öffentlich bewusst. Die damit einhergehenden Konflikte verlangen in der globalisierten Welt einen neuen und sensiblen Realismus. Die Anzahl der Gruppen derer, die hier mitreden und an der Aushandlung von Regeln beteiligt werden wollen, ist größer denn je. Diese Unübersichtlichkeit kann ein Gewinn werden. Dazu müssen wir offen Kritik formulieren können und die eigenen Routinen verlassen, uns auf andere einlassen. Wir müssen so aufs Neue klären, was gelten soll und wo die Toleranz aufhört. +Respekt ist das Gegenteil von Ignoranz. Ich bin auch für das mitverantwortlich, was wie der deutsche Kolonialismus lange zurückliegt. Oder was bei der Herstellung meiner Konsumgüter sehr weit entfernt geschieht. Respekt gibt es nicht als Flatrate, er ist ein Tanz, der immer neu beginnt. diff --git a/fluter/editorial-heft-daten.txt b/fluter/editorial-heft-daten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3fcc1c5c6dd62c75e2b7f119173227d9c46bf778 --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-heft-daten.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Der Glaube an die Verlässlichkeit und Neutralität der Algorithmen ist allerdings noch weit verbreitet, er kann zur Falle werden. Die Kehrseite der Konsumentenseligkeit ist die Abgabe von Verantwortung, die Einschränkung der persönlichen Freiheit und eine kulturelle Verengung, letztlich ein neuer Untertanen- geist als Schicksalsglaube an den von oben kommenden digitalen Fortschritt. Wohin die autoritäre Welt der Daten führen kann, zeigen Versuche der totalen Kontrolle in China. Sie sind viel weniger exotisch, als wir uns vormachen – in den medienkulturellen und populistischen Trends ist das auch im Westen schon angelegt. Dagegen gilt es, die freie gesellschaftliche Souveränität über die Daten neu zu erfinden, zeitgemäße Formen der Anwendungen und der Regulierungen zu erstreiten. Erste Erfahrungen gibt es bereits, zum Beispiel in einigen Städten und bei verschiedenen Initiativen auch zivilgesellschaftlicher Akteure. Es gibt aber nach wie vor weite Bereiche der Wirklichkeit und der kollektiven Intelligenz, die sich in den vorherrschenden Anwendungen nicht wiederfinden. +Das Leben als Ware oder in Dienstleistungsbeziehungen ist für sich armselig im Verhältnis zu den weiteren Möglichkeiten. Wenn wir wirklich mehr wollen, müssen wir das Recht auf informationelle Selbstbestimmung neu erfinden und gestalten. Wird es eine Demokratisierung der Daten geben? Wer können die Datensouveräne sein? Wie sähen die Daten einer Gesell- schaft aus, in der das gute Leben der Vielen mit der gerechten Verteilung, dem nachhaltigen Gebrauch und der demokratischen Kontrolle der Ressourcen einhergeht? diff --git a/fluter/editorial-heft-koerper.txt b/fluter/editorial-heft-koerper.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8d6358ec91b799011225c8e26f31ef02a4fafd2e --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-heft-koerper.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Das Bild, das wir uns von unserem Körper machen, die Ideale, an denen wir uns ausrichten, sind im westlichen Kapitalismus heute unsere eigene Sache. Aber sie sind immer auch mit Macht marktförmig und massenmedial vermittelt: Was ist schön? Normal? Gesund? Wie stehe ich im Verhältnis zu den anderen da? Wer trägt die Verantwortung? In den Arenen des Alltags wird das ständig ausgehandelt. +Die Differenz zwischen den Idealbildern und der eigenen Realität ist für viele Anlass zur Sorge. Ganze Sorgeindustrien versprechen uns hier Hilfe und Erlösung, sei es mit Mode, Kosmetik, körperlichem und geistigem Training und vielem mehr. Diese Formen der Lösung des Problems werfen nicht nur große Gewinne ab, sie halten das Problem auch am Laufen. +Im Verhältnis zum Körper ist deshalb eine Art Biopolitik im Kleinen gefragt. Wie im Feld der großen Politik haben wir auch in unserem Alltag einen Mix aus Informationen, Haltungen und Entscheidungen zur Hand und können ihn bewusst einsetzen. Ein pragmatisches Ziel wäre der Gewinn des Einverständnisses mit unserem Körper, auch in Distanz zu den vorgegebenen Idealbildern. Gelassenheit wird hier politisch, zur Erfahrung einer Freiheit, die aus Selbstsicherheit erwächst. Ein kritischer Realismus kann uns auch helfen, die Vielfalt der Körperbilder und der Wirklichkeiten der anderen anzuerkennen. So wird der Weg zu Respekt und Mitgefühl frei, es öffnen sich Zonen gelungenen Lebens auch jenseits der permanenten Konkurrenz. +Mit unseren Köpern haben wir teil am wissenschaftlichen und technischen Fortschritt. Die Medizin macht aus Schicksal immer öfter ein lösbares Problem – von der Empfängnisverhütung bis hin zum Austausch ganzer Organe. Die Langzeitwirkungen dieser Techniken und die dazugehörigen politischen Debatten geben eine erste Orientierung für die anstehenden bioethischen Fragen. Die heutigen Generationen sind Zeugen der Verschmelzung von Medizin, Gentechnik, digitalen und anderen Technologien. Neue Horizonte der Leistungsfähigkeit und der Überlebensmöglichkeit werden erschlossen. Die Dynamik ist atemberaubend, und sie wird auch unsere Körper erfassen. diff --git a/fluter/editorial-heft-land.txt b/fluter/editorial-heft-land.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..919d4b87cf93867dc3940c79d56b072aca9afb4c --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-heft-land.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Wer aufs Land geht und sich umschaut, kann viel entdecken, die Unterschiede sind enorm. Neben prosperierenden Dörfern und Kleinstädten, in denen Traditionen lebendig sind und die Wirtschaft brummt, gibt es Gegenden, die die Umbrüche der Zeit viel härter getroffen haben. Abwanderung, Höfe- sterben, Alterung, Verfall der Infrastrukturen sind hier die Schlagwörter zur Lage des Dorfes. Die Politik von Bund und Ländern hat dazu über die Jahrzehnte beigetragen und die kommunalpolitische Verödung vieler Orte zugelassen – ein Raubbau an bürgerschaftlicher Verantwortung, der nur mühsam korrigiert werden kann. +Und trotzdem: Das Land lebt. Es gibt Beispiele, wie selbst bei widriger Ausgangslage Dörfer und Regionen sich neu bestimmen können. Es liegt oft an der Initiative Einzelner, die die Gemeinschaft mitreißen, oder wie im Wendland auch an hartnäckigen Bürgerbewegungen, die streitbar bleiben, aber eben auch neue Chancen erobern. +Das Leben in den Dörfern ist etwas anders als in den Großstädten. Es ist näher an der Natur, folgt anderen Zeitläufen, Nachbarschaft und persönliche Begegnungen sind Alltag. Vom Land lässt sich einiges lernen, eine Neubesinnung auf das Gemeinsame, Kommunale zum Beispiel. Die soziale Kontrolle und die Ausgrenzung können hier aber auch härter, unmittelbarer sein. Was nah ist, kann eng werden. Gehen oder bleiben ist deshalb immer wieder eine Frage, gerade für die Jugend. Inmitten unserer gewohnten Routinen nehmen grundlegende Umbrüche an Fahrt auf: Digitalisierung, neue Biotechnologien und der Klimawandel fordern Entscheidungen von enormer Tragweite. Kann es dabei eine Wiederentdeckung, gar eine Renaissance des Landes geben? diff --git a/fluter/editorial-wie-gehen-wir-mit-muell-um.txt b/fluter/editorial-wie-gehen-wir-mit-muell-um.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9e60da5403a69ad57b8f8eb7d74d30a263156abe --- /dev/null +++ b/fluter/editorial-wie-gehen-wir-mit-muell-um.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Dagegen gibt es zunehmend Widerstand – die Fragen danach, wer wofür Verantwortung trägt, werden mit den De­batten um unseren Umgang mit der Natur und zu Wegen aus der Klimakrise neu gestellt. Im Kern geht es darum, unsere Ver­antwortung zu erkennen und verbindlicher anzunehmen. +Wie sollen wir uns als Teil der Natur verstehen? Wie können wir mehr Mut zum Denken in dynamischen Zusam­menhängen und Kreisläufen aufbringen? Können wir einen anderen Zeithorizont in die Konsumkultur bringen und uns die Prozesse des Stoffwechsels als Ganzes dabei bewusst werden lassen? Was brächte eine konsequente Kreislaufwirt­schaft? Was wären geeignete neue Formen unserer alltäglichen Verhaltensweisen, für einen Wohlstand ohne die brutalen Kehrseiten der jetzigen Maßlosigkeit? +Das ist eine Generationenaufgabe, wie die Auseinanderset­zung mit dem Klimawandel. Der bisherige Umgang mit Müll ist ein Desaster, aus dem wir nur herauskommen durch den Einsatz von Wissenschaft und Technik. Die aber müssten konsequent anders aufgestellt und gemanagt werden. Dafür braucht es einen gesellschaftlich umfassenden Unternehmens­geist der Gesamtverantwortung in allen Bereichen. Die An­sätze dazu sind da – und zunehmend auch Forschung und technologische Entwicklungen für Alternativen, neue Produk­tionsmethoden, andere Prozesse der Verarbeitung und Rückgewinnung von Materialien. Diese gesellschaftliche Neugier und den unternehmerischen Mut politisch zu machen und in kluge Regulierungen und Entscheidungen zu gießen bleibt auf der Tagesordnung. Müll ist kein Schicksal. diff --git a/fluter/editorial.txt b/fluter/editorial.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e0a07c1d1f99707768aafcf5e6cbe3eb8cafc74f --- /dev/null +++ b/fluter/editorial.txt @@ -0,0 +1 @@ +Im demokratischen Rechtsstaat hat das Recht neben seiner klassischen Funktion der Herrschaftssicherung auch eine der wirksamen Kontrolle von Macht. Dann wird etwas so Profanes wie ein Verwaltungsgericht zur Instanz, in der die Bürger gegen den vermeintlich übermächtigen Staat ihr Recht einklagen und erhalten können. In der DDR und anderen Diktaturen hatte der Einzelne gegen die Exekutive kein Recht geltend zu machen, war beziehungsweise ist er auf ihre Gnadenakte angewiesen und kann sich meistens auf die Ungnade der Übermacht verlassen. Das heutige rechtsstaatliche System der Checks and Balances, das uns ein historisch kaum dagewesenes Maß an Gerechtigkeit bietet, ist auch in Deutschland nicht vom Himmel gefallen. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben die Wucht der historischen Katastrophe genutzt und uns eine Verfassung geschrieben, deren Kraft auch aus dem klaren Pathos ihres Versprechens kommt, dem eines Lebens in Würde und Freiheit für alle. Dieses Rechtssystem ist ein wertvolles Gut. Es wird im Streit geboren, und sein Bestehen muss immer wieder neu erstritten werden. diff --git a/fluter/edouard-louis-im-herzen-der-gewalt-kritik.txt b/fluter/edouard-louis-im-herzen-der-gewalt-kritik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1446388f2c25ef0c360b419a2219028462c6e61e --- /dev/null +++ b/fluter/edouard-louis-im-herzen-der-gewalt-kritik.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Seine Geschichte erzählt Louis nicht der Reihe nach, sondern in Bruchstücken, im Wechsel verschiedener Zeitebenen und mit unterschiedlichen Erzählerstimmen. So beginnt der Roman nicht auf dem Place de la République, sondern mit dem Morgen danach. Louis beschreibt, wie er akribisch sein Zimmer reinigt, wie er sein Bettzeug mehrfach wäscht und den Boden schrubbt, bis ihm die Finger bluten. Wie er das Gefühl hat, dass alles in seinem Zimmer nach dem Vergewaltiger riecht, sein Körper den Geruch aufgesogen hat. +Erst viel später erfährt man, was sich in der Nacht zuvor ereignet hat. Immer wieder springt Louis in die traumatischen Ereignisse der Nacht zurück, arbeitet das Erlebte in Flashbacks auf. Als die Erzählstimme von der Ich-Perspektive zu seiner Schwester wechselt, die die Geschichte ihrem Mann schildert, wird auch Louis' Kindheit thematisiert und seine eigene Verwicklung in Lügen, Diebstahl und Gewalt als Jugendlicher. +Édouard Louis: Im Herzen der Gewalt. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel, Fischer, Frankfurt/Main 2017, 20 Euro. +Die Geschichte ist beklemmend. Édouard Louis legt in seinem autobiografischen Roman alle seine Gedanken und Gefühle über das Erlebte offen. Sein Versuch, einen Umgang mit der Erniedrigung zu finden, ist noch viel brutaler und schmerzhafter zu lesen als die Vergewaltigung selbst. Wer schon mal körperlicher oder sexueller Gewalt ausgesetzt war, kennt viele der Fragen, die sich Louis stellt: Wann werde ich endlich aufhören, daran zu denken? Was wäre gewesen, wenn ich an diesem Abend etwas später von meinem Abendessen losgegangen wäre? Habe ich falsch gehandelt? +In diesem Kontext analysiert Louis jede Emotion detailliert auf beinahe sozialwissenschaftliche Weise. Er untersucht klassistische, heteronormative und ethnische Machthierarchien und vergleicht Redas Position in der französischen Gesellschaft mit seiner eigenen. Er thematisiert das rassistische Verhalten der Polizisten, die seine Anzeige aufnehmen und immer wieder herausstreichen wollen, dass es sich bei dem Aggressor um einen Mann arabischer Abstammung handelt. Nur die eigene rassistische Verwicklung in diese Strukturen thematisiert Louis erst fast am Ende seines Romans: "Der Rassismus, also das, was ich immer als das meinem Wesen radikal Entgegensetzte empfunden hatte, das absolut Andere meiner selbst, erfüllte mich unvermittelt, ich war die anderen geworden." Er beschreibt, wie er auf der Straße den Kopf senkt, wenn ihm ein Araber oder ein Schwarzer begegnet. Und dass ihn eine nicht gekannte Angst erfüllt, die Männer könnten ihm etwas antun. +Damit erkennt er seine Verwicklung in ein rassistisches Machtgefüge zwar an, er verortet sich selbst aber nicht innerhalb eines strukturellen Rassismus, sondern sieht die Vergewaltigung als Auslöser für seine Denkweise. Auch wenn Louis seine Angst verurteilt, diskutiert er sie nicht als etwas, das schon immer in ihm war, sondern als etwas Neues, dass er durch den Gewaltakt eines arabisch aussehenden Mannes entwickelt hätte. +Das Vorurteil lauert also überall. Nicht nur in der Provinz, aus deren sozialer Enge der Arbeiterjunge einst geflohen ist und darüber den gefeierten und ebenfalls autobiografischen Roman "Das Ende von Eddy" geschrieben hat, sondern auch in der akademischen Blase von Paris, in der sich der heute 25-Jährige vorwiegend in der Gesellschaft weißer Männer bewegt. Das macht Louis' schonungsloses Ringen mit der eigenen Paranoia eindringlich deutlich. + +Titelbild: Frederic Stucin diff --git a/fluter/efterskole-schueler-austausch-daenemark.txt b/fluter/efterskole-schueler-austausch-daenemark.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f46dc19cc8320d43a3e64e195ad7490e844faf08 --- /dev/null +++ b/fluter/efterskole-schueler-austausch-daenemark.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Anders als der Name vermuten lässt, besuchen Schüler*innen die Efterskoler nicht nach dem Schulabschluss, sondern zwischen der achten und zehnten Klasse. Während manche Teenager in Deutschland in diesem Alter für einen Austausch in die USA oder nach Frankreich gehen, treffen in den oft ländlichen Schulen Schüler*innen aus ganz Dänemark aufeinander und wohnen für ein Jahr zusammen im Internat. Quasi ein Austausch im eigenen Land, ohne Eltern und Notenstress. Etwa ein Fünftel der jungen Dän*innen nimmt jedes Jahr daran teil. +Von Mensch zu Mensch, nicht von oben herab: Vertrauen ist für Schulleiter Korsgaard das Grundprinzip der Efterskole +"Für uns zählt die Entwicklung, nicht das Ergebnis", sagt Schulleiter Korsgaard in seinem Büro mit den sonnengelben Sesseln. Die Schüler*innen können sich aussuchen, ob sie ihre Noten erfahren wollen oder nicht. Aber viel von Noten hält Korsgaard nicht. Die Schüler*innen würden auch ohne Fremdeinschätzung wissen, wo sie stehen. Es seiein Jahr zum Ausprobierenund Lernen, wie demokratisches Zusammenleben funktioniert. +Der heutige Schulleiter war vor 20 Jahren selbst auf einer Efterskole. Fernab vom Regelbetrieb hatte er dort Lehrer*innen, die ihm "von Mensch zu Mensch" begegnet seien. Nicht kontrollierend und von oben herab. Das Grundprinzip sei Vertrauen. In Eriksminde gibt es keine Kameras, keine Nachtwache, die aufpasst, ob alle Schüler*innen im Bett liegen. Wer entgegen den Regeln raucht oder beim Alkoholtrinken erwischt wird, fliegt nicht von der Schule. Sondern muss sein Verhalten in großer Runde erklären, bis gemeinsam eine Lösung gefunden wird. +In Eriksminde dreht sich zwar alles um Handwerk und Kreativität, ganz frei von staatlichem Zwang ist der Lehrplan aber nicht. Einige Fächer wie Mathe, Englisch und Dänisch sind morgens Pflicht. Eigentlich. Heute steht Arbeiten am Halbjahresprojekt an, das jede*r Schüler*in frei wählen darf. Im Keramikzimmer rattern Drehscheiben, in der Holz- und Metallwerkstatt zeichnen Schüler*innen ihre Entwürfe. "Ich möchte eine Miniaturstadt in ein Stück Holz schnitzen", sagt Elias. +Nach dem Projektstudium steht gemeinsames Lernen auf dem Stundenplan. Selma, Mathilda und Sara sitzen im Philosophieunterricht in der hinteren Reihe. In Eriksminde besuchen sie die neunte und zehnte Klasse, den Unterricht haben die Klassenstufen zusammen. "Ich brauchte eine Pause vom Leistungsdruck", sagt Sara, 16, aus Kopenhagen. "Auf der normalen Schule habe ich mich wegen der Noten sehr gestresst, vor allem während der Corona-Quarantäne." An die Stille auf dem Land habe sie sich erst gewöhnen müssen. Dafür sei Sara nun selbst entspannter geworden, habe weniger Ängste als zuvor. +Für Selma war es die Kleinstadt und das Zuhause, von denen sie Abstand brauchte: "Meine Klasse war nicht sehr gut. Ich habe einen Ort gebraucht, der kreativ ist und wo man sich umeinander kümmert", sagt die 15-Jährige. Die Leute hätten getuschelt, wenn sie sich so angezogen habe, wie sie wollte. Hier in Eriksminde ist der Style der meisten irgendwo zwischen Secondhand und Öko verortet. +Der Schulleiter hätte es gerne, dass in seiner Schule ganz unterschiedliche Schüler*innen zusammenkommen. Doch noch sind sie sehr homogen, zumindest was den sozialen Hintergrund betrifft. Nur zehn bis zwanzig der 110 Schüler*innen würden aus finanziell schwach gestellten Familien stammen, für die der Staat einen Teil der Schulgebühren, die sich nach dem Einkommen der Eltern richten, übernimmt. Laut dem Dachverband der Efterskoler in Dänemark ist der Durchschnittspreis für ein Schuljahr seit 2008 um 23 Prozent gestiegen. Eltern zahlen aktuell zwischen 5.000 und 9.000 Euro jährlich. Schulleiter Korsgaard versucht nach eigenen Angaben, den Preis möglichst gering zu halten, und verzichtet auf teure Auslandsexkursionen nach Asien, Afrika oder Nordamerika, die manche Efterskoler gleich zweimal im Jahr anbieten würden. Dennoch können sich viele Familien das Internat wohl nicht leisten. +Weniger Notendruck und weniger sozialer Druck: An der Efterskole scheinen die SchülerInnen besser aufeinander Acht zu geben +"Die Frage der Inklusion stellt sich für Efterskoler im Allgemeinen", sagt Schulleiter Korsgaard. "Das Konzept ist so … dänisch."Viele Familien, die noch nicht lange in Dänemark leben, hätten Vorbehalte, wenn sie von den Standards hören – wie den genderneutralen Wasch- und Wohnanlagen, die es in Eriksminde gibt. "Wir könnten unser Konzept ändern, um es für diese Familien attraktiver zu machen", sagt Korsgaard. Aber dann wäre "das gute Leben", so wie es die Schule momentan vermitteln möchte, ein anderes. Vor einigen Jahren wurde ein Stipendienprogramm gestartet, das sich speziell an Familien mit Migrationshintergrund und Geflüchtete richtet, damit die Schulen der demografischen Realität entsprechen. Mittlerweile gibt es für das Stipendienprogramm eine lange Warteliste, so wie für die meisten Efterskoler. +Am Nachmittag knarzen erneut die Stühle in der Aula. Wieder werden die Schüler*innen nach ihrer Meinung gefragt. Dieses Mal geht es um die Entscheidung der Schule, keine Fotos mehr in die sozialen Netzwerke zu stellen, damit die Persönlichkeitsrechte aller gewahrt werden. Die Lehrkräfte geben bekannt, wer von ihnen am Wochenende Dienst schieben wird. Die Schüler*innen entscheiden selbst, ob sie nach Hause fahren oder im Internat bleiben. Das Programm fürs kommende Wochenende: Wandern und Bastelstunde mit Naturmaterialien. diff --git a/fluter/egal-oder-egal.txt b/fluter/egal-oder-egal.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..104bb6ecf45eb6d6ae91ddc6e0192cd81f38978c --- /dev/null +++ b/fluter/egal-oder-egal.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Haben gut lachen: Schüler, die aus der Mittelschicht stammen, haben in Frankreich deutlich bessere Chancen +Demgegenüber stehen Zahlen. Zahlen, die an den dicken Mauern nagen, Worte entwerten und ein anderes Bild von der Realität des französischen Schulsystems zeichnen: geschätzte 150.000 Schulabbrecher pro Jahr, was ungefähr einer Quote von zwölf Prozent entspricht.In Deutschland betrug diese zuletzt 5,2 Prozent. Dazu kommt eineJugendarbeitslosenquote von 25 Prozent, womit Frankreich etwas über dem EU-Durchschnitt liegt. Und einer der hinteren Ränge beim PISA-Test 2012 – im OECD-Vergleich zeigte sich, dass sich in Frankreich die soziale Herkunft am stärksten in den schulischen Leistungen niederschlägt. +Doch wie kommt es, dass die Grande Nation als Verteidigerin der Gleichheit solche Defizite hervorbringt? +Im Lycée, das der deutschen gymnasialen Oberstufe entspricht, treffen wir Annick Guillemot, Lehrerin für Geschichte und Geografie. Sie spricht hastig, hat gleich wieder Unterricht. "Hier haben wir diese Probleme nicht. Die Schüler sind gut situiert und erzogen, sie werden studieren. Sie leben in einer gewissen Dynamik des Erfolgs." Und die tragen sie auch zur Schau in der Pariser Nobelgegend, wie schon die Marken ihrer Jacken verraten. +Aber auch die andere Seite der Medaille ist der Lehrerin nicht fremd. Sie erzählt von Kindern, die von der Grundschule im Alter von elf Jahren auf das Collège übertreten und nicht richtig lesen können. Und von Schülern aus der Banlieue, die noch nie den Eiffelturm gesehen haben. Die Schere zwischen Arm und Reich, die sich hinter dem Ideal auftut, wird größer und größer. Und ein Schulsystem, in dem soziale Unterschiede keine Rolle spielen dürfen, reproduziert ebendiese. "Es ist gewissermaßen ein System in zwei Geschwindigkeiten", sagt Guillemot. +Wer durchs Raster fällt, ist raus +Im multikulturellen Paris kommen Kinder verschiedenster Herkunft und Bildung zusammen. Das französische Schulsystem gedeiht ihnen die gleiche Behandlung an – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Bis zu ihrem 15. Lebensjahr besuchen die Kinder dieselben Schulformen: erst die Vorschule, dann die Grundschule und schließlich das Collège. Danach erfolgt die Teilung zwischen jenen, die ihr Abitur ablegen, und anderen, die eine Ausbildung beginnen. Raum für Spezialisierung oder individuelle Förderung bleibt bis dahin kaum. Wer durchs Raster fällt, ist raus. +In anderen europäischen Ländern ist dieses einspurige System ebenfalls verbreitet. Besonders in Skandinavien hat es sich bewährt, dass die Jugendlichen bis zum Alter von 16 Jahren eine gemeinsame Schule besuchen und danach den Weg ins Berufsleben oder zum Abitur einschlagen. In den PISA-Erhebungen liegen die Leistungen der finnischen Schüler sogar regelmäßig in der Spitzengruppe; das finnische Bildungssystem gilt als vorbildlich. +Bei näherem Hinsehen wird aber deutlich, was Frankreich davon unterscheidet: Es ist aus langer Tradition ein zentralistisches Land, in dem sich alle Vorgänge von Belang in Paris abspielen. Auch wenn diese Struktur in der jüngeren Vergangenheit zu entzerren versucht wurde, schlägt sich dieses Prinzip auch in der Organisation und Verwaltung des Bildungswesens nieder. +Das "Ministère de l'Éducation Nationale" hat seinen Sitz mitten in Paris. Hinter einem eisernen Zaun wacht man über die Vorgänge in französischen Schulen. Bildung ist Sache des französischen Staates und obliegt nicht wie in Deutschland der Kompetenz der Bundesländer oder wie in Finnland den einzelnen Schulen – dort können Regelungen besser mit der Realität abgeglichen werden als in einem Land mit über 60 Millionen Einwohnern. +Die Kehrseite: Die zentralistischen Strukturen machen eine individuelle Förderung unmöglich – zu Lasten der sozial Schwachen +Welche Auswirkungen hat diese Struktur auf die schulische Realität in Frankreich? In einem Park vor dem Lycée sprechen wir eine junge Frau an. Yvelle ist 22, Studentin, und sprudelt sofort los, als wir uns erklären. "Das Problem liegt in den Schulen. Die Lehrer interessiert es nicht, ob ein Schüler kommt oder nicht. Und sie haben auch keine Zeit dafür." Besonders Kindern, die ohnehin schon als lernschwach gelten, würde keine Betreuung oder Hilfe zukommen. "Sie sind überfordert mit der Theorie und dem Stoff. Und sie wissen nicht, was sie damit anfangen können. Es fehlt einfach an einer Berufsorientierung." Für Yvelle ist dies das Kernproblem. Man müsse den Schülern bereits im Unterricht die Möglichkeiten aufzeigen, wie sie ihr Wissen später nutzen können. "Aber dazu bedarf es individueller Förderung." +Und die kann schon mal zu kurz kommen in einem Schulsystem, in dem erklärterweise 80 Prozent der Schüler das Bildungsziel "bac" – die französische Hochschulreife – erreichen sollen. In Frankreich liegt die Abiturquote aktuell bei etwa 71 Prozent, in Deutschland legen knapp 36 Prozent eines Jahrgangs ihre allgemeine oder fachgebundene Hochschulreife ab. +Dieser universelle akademische Anspruch erklärt auch, warum viele Jugendliche dabei auf der Strecke bleiben. Auch Hadrien Lenoir beschäftigt sich mit dieser Problematik. Er arbeitet für SOS Racisme, eine NGO, die sich für Gleichberechtigung in einer bunt gemischten Gesellschaft einsetzt. "Es ist wie ein Wettrennen bei den Olympischen Spielen. Und man sagt: ‚Okay, dieses Land startet 30 Meter vor dem anderen. Mal sehen, wer zuerst ankommt.' Ich weiß, wer zuerst ankommt!" Er spricht fast akzentfreies Englisch, das in seinem unscheinbaren Büro widerhallt. Über seinem Kopf ein Bild von einem schwarzen Mann und einer weißen Frau, "Tous égaux!" – "Alle gleich!". +Soziale oder familiäre Gegebenheiten verfestigen sich in der Schule +Was das für Lenoir bedeutet, führt er aus: "Eigentlich ist es die Aufgabe des Staates, für Gleichheit unter den Bürgern in Frankreich zu sorgen. Aber die Realität ist, dass es in Frankreich immer noch riesige Unterschiede zwischen den Schulen gibt." Aufgrund des Prinzips der Schulzuteilung nach Wohnort setzen sich bestehende soziale Ungleichheiten in den Schulen fort und konzentrieren sich dort, anstatt sich durch Vermischung anzugleichen. Da viele Einwanderer in die eher schlechter situierte Banlieue ziehen, erfahren besonders diese Kinder kaum spezielle Förderung. Soziale oder familiäre Gegebenheiten verfestigen sich in der Schule, wenn wenig Raum zur Differenzierung bleibt. "Man muss gleiche Mittel und Umstände für jeden schaffen, um sich in die Gesellschaft einzubringen. Anders wird es nicht funktionieren", meint Lenoir zur staatlich verordneten Gleichheit. +Und wie kann das gelingen? So lautet die Frage, die am Ende stehen bleibt und die keiner unserer Gesprächspartner beantworten kann. +Es laufen Programme zur Wiedereingliederung von Schulabbrechern, es wird über einen Ausbau der beruflichen Gymnasien nachgedacht, und die Öffentlichkeit beäugt die Entwicklung kritisch. Dennoch kehrt ein Punkt immer wieder:  "Wenn man ein Rennen machen will, müssen alle auf derselben Höhe starten", sagt Hadrien Lenoir. "Sonst ist es nicht fair." +Charlotte Jawurek recherchierte zwei Wochen lang in Paris zum Thema Jugendarbeitslosigkeit. Dabei hat sie festgestellt, dass die Debatte um das deutsche Schulsystem stellenweise mit genau den Argumenten geführt werden, die in Frankreich in der Kritik stehen. diff --git a/fluter/ehrenwortfindungsprobleme.txt b/fluter/ehrenwortfindungsprobleme.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..59b61ce1b486f76b71aea1c191b80afeb6afbf93 --- /dev/null +++ b/fluter/ehrenwortfindungsprobleme.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Andrea Ypsilanti stand knapp vor dem Ziel. Bei der Landtagswahl in Hessen 2008 war ihre SPD der CDU zwar um 0,1 Prozentpunkte unterlegen, aber zusammen mit den Stimmen der Grünen und der Linkspartei hätte sie Ministerpräsidentin werden und Roland Koch ablösen können. Der CDU-Mann, der in linken Kreisen sehr kritisch gesehen wurde, wäre endlich "weg" gewesen. Blöd nur, dass Ypsilanti im Wahlkampf immer wieder betont hatte, es genau so nicht machen zu wollen. "Mit der Linkspartei wird es keine Zusammenarbeit geben", hatte sie immer wieder versprochen. Nach der Wahl bekannte sie sich offen zum Wortbruch. Ihr Kalkül schien aufzugehen, auch wenn es knapp war. Für die Regierungsbildung brauchte sie buchstäblich jede Stimme von SPD, Grünen und Linkspartei. Doch dann meldete sich Dagmar Metzger. Die frisch in den Landtag gewählte SPD-Parteigenossin Ypsilantis sagte, sie könne den Wortbruch "nicht mit meinem Gewissen vereinbaren". Es war der Anfang vom Ende Ypsilantis, auch wenn sich die Versuche der Bildung einer linken Regierungsmehrheit noch über Monate hinzogen. Am Ende verweigerten sogar vier SPD-Fraktionsmitglieder Ypsilantis Plänen die Gefolgschaft. Roland Koch wurde nie abgewählt, er trat als Ministerpräsident zurück. Die CDU blieb an der Macht. +Wie in einem schlechten Agentenfilm: Die Lippenstift-Abhöranlage der Republikaner +Die Mutter aller Politskandale begann mit einem dilettantischen Einbruch. Fünf Männer in Anzügen und OP-Handschuhen wurden in der Nacht des 17. Juni 1972 von einem Wachmann dabei erwischt, wie sie das Hauptquartier der Demokratischen Partei im Washingtoner Watergate-Gebäude mit illegalen Abhörgeräten verwanzten. Die Einbrecher entpuppten sich als Teil einer weitreichenden politischen Spionage- und Sabotage-Aktion, die Spitzenkräfte des republikanischen Präsidenten Richard Nixon gegen die Demokraten initiiert hatten. Eine Aktion, die eine massive Vertuschung auslöste sowie eine Vertuschung der Vertuschung – geleitet vom Präsidenten selbst. Als Journalisten immer mehr Verstrickungen aufdeckten und der Druck zunahm, trat Nixon vor die Presse. Falls ihr Präsident ein Gauner sei, verdienten die Amerikaner das zu wissen, sagte er, aber er sei es nicht: "I'm not a crook." Im August 1974 trat Nixon, der einem Amtsenthebungsverfahren entgegensah, als erster und einziger Präsident der USA zurück. Einem Strafverfahren entging er nur, weil sein Nachfolger Gerald Ford, ebenfalls Republikaner, ihn begnadigte. +Das doppelte Ehrenwort +Die Amerikaner haben ihr Watergate, die Deutschen immerhin "Waterkantgate". So titelte der "Spiegel" am 7. September 1987, eine Woche vor den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein. Die SPD mit ihrem Spitzenkandidaten Björn Engholm drohte die CDU bei der Wahl abzuhängen und Ministerpräsident Uwe Barschel der Machtverlust – nach 37 Jahren CDU-Regierung. Da berichtete der "Spiegel" über Detektive, die das Privatleben von Engholm ausspionierten. Die Titelgeschichte der folgenden Ausgabe, die schon am Vorabend der Wahl bekannt wurde, legte den Verdacht nahe, den Auftrag dazu habe Barschel erteilt. Alles gelogen, sagte Barschel prompt. Dennoch ergab die Wahl ein Patt und führte 1988 zu Neuwahlen, bei denen die SPD deutlich gewann. Barschel blieb trotzig: "… gebe ich … mein Ehrenwort – ich wiederhole: Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort –, dass die … Vorwürfe haltlos sind", sagte er in einer Pressekonferenz. Für den 12. Oktober war auch eine Aussage vor einem Untersuchungsausschuss geplant. Doch am Vorabend fand man Barschel in der Badewanne eines Genfer Hotelzimmers auf: tot. Offiziell war es Selbstmord, doch war es Mord? Bis heute ranken sich darum teils wilde Theorien. Sechs Jahre später stellte ein weiterer Untersuchungsausschuss fest, dass sich Barschels Urheberschaft an der Affäre von 1987 nicht beweisen lasse. Unstrittig blieb allerdings, dass die Sache damals von der CDU-geführten Staatskanzlei ausgegangen war. +Bei dem Thema Steuern werden die Republikaner in den USA schnell ideologisch. Der Staat solle möglichst wenig in ihr Leben eingreifen – und vor allem nicht in ihre Taschen, finden sie. Und 1988 hatten sie einen der Ihren im Verdacht: George H. W. Bush, den Vater von George W. Bush. Als langjähriger Vizepräsident unter Ronald Reagan galt Bush senior als selbstverständlicher Kandidat für dessen Nachfolge. Aber im Gegensatz zu seinen innerparteilichen Konkurrenten hatte er sich beim Thema Steuererhöhungen lange nicht festlegen wollen. Also legten seine Berater ihm nahe, es möglichst deutlich zu tun, indem der Kandidat die Menschen zum kollektiven Lippenlesen aufforderte. "Read my lips. No new taxes" ("Lest es von meinen Lippen: keine neuen Steuern"), sagte er immer wieder während seiner Kampagne. Es wirkte – zunächst. Er wurde zum Präsidenten gewählt, aber die Rezession und der von den Demokraten dominierte Kongress zwangen ihn, sein Versprechen rückgängig zu machen. "Lest es von meinen Lippen: Ich habe gelogen", lautete eine Schlagzeile. Die nächste Wahl verlor Bush gegen den Kandidaten der Demokraten, Bill Clinton. +"Wenn es ernst wird, muss man lügen", hat der Luxemburger Jean-Claude Juncker einmal gesagt. Das war 2011 in der Hochphase der Euro-Krise. Zu dieser Zeit war Juncker der Vorsitzende der Euro-Gruppe und hatte ein geplantes Geheimtreffen einiger EU-Finanzminister zur Lage in Griechenland abgestritten. In Wirklichkeit kamen zum Zeitpunkt seines Dementis die ersten Minister bereits am Treffpunkt in Luxemburg an. Drei Jahre später, Juncker ist inzwischen Präsident der Europäischen Kommission, gibt es die Diskussionen um "Luxemburg-Leaks": Das "International Consortium of Investigative Journalists" hat Dokumente veröffentlicht, denen zufolge das Großherzogtum internationalen Konzernen jahrelang Steuervorteile gewährt hat – ausgerechnet in der Zeit, als Juncker Finanzminister (1989 bis 2009) und Premierminister (1995 bis 2013) des Großherzogtums war. Die Sache könnte für Juncker ernst werden. Vor Journalisten sagte er, nichts in seiner Vergangenheit gebe Anlass zu der Vermutung, er habe in Europa zur Organisation von Steuervermeidungspraktiken beigetragen. diff --git a/fluter/ehrlichkeit-und-holzhammer.txt b/fluter/ehrlichkeit-und-holzhammer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ea32783e7ec93afbf61cffbada7b6c823225437c --- /dev/null +++ b/fluter/ehrlichkeit-und-holzhammer.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Dabei ist Toulmé ehrlich, schonungslos ehrlich sogar, vor allem, was seine zunächst negativen Gefühle angeht. "Hässlich" finde er Kinder mit Down-Syndrom, sein Neugeborenes sehe aus wie "eine Fleischroulade". Er beschreibt, wie er aus Ekel und aus Wut sein eigenes Kind nicht im Arm halten will. Wie er sich dabei erwischt, sich für einen kurzen Moment Julias Tod zu wünschen. Und wie er sich anschließend sofort schuldig fühlt und diese Schuldgefühle wiederum in Wut umschlagen: "Bei dem Gedanken wurde ich noch wütender auf mich selbst. Wie konnte man sich bloß den Tod seines Kindes wünschen?" +Das ist sehr ernst und teils düster, bekommt aber durch Toulmés klaren, freundlichen Zeichenstil eine tröstliche Natürlichkeit. Als würde jemand lächeln und sagen: "Diese Gefühle sind in einer solchen Situation völlig normal, das wird schon." Und der Titel "Dich hatte ich mir anders vorgestellt" bewegt sich eben in genau diesem Spannungsfeld: zwischen den Erwartungen werdender Eltern und der Realität, die sich daran anschließt. Zwischen der Enttäuschung über die Behinderung, dem Hadern und dem Abfinden damit – und dem Sich-Einfinden in die neue Rolle und der Erfahrung, dass man das Kind schließlich doch lieben wird. +So wie auch Fabien Toulmé es tut. Sein heutiger Blick auf Julia wird auch dadurch deutlich, wie er sie zeichnet: Während die Zeichnungen anderer Trisomie-Kinder, die er vor der Geburt seiner Tochter sieht, noch die typischen Merkmale dieser Behinderung zeigen, zum Beispiel die schrägen Lidfalten, ist das bei Julia nicht so. Im Gegenteil: Die Bilder von ihr als Säugling sind beinahe verklärend, erinnern durch den schlanken, erwachsenen Körper, das dichte Haar und den wachen Blick an Darstellungen des neugeborenen Jesus. +Fabien Toulmé nimmt Ängste, indem er sie thematisiert, und das ist gut. Trotzdem hat "Dich hatte ich mir anders vorgestellt" Schwächen. Weil Toulmé das Thema mitunter nicht bloß beherzt anfasst, sondern mit dem Holzhammer behandelt – allerdings weniger inhaltlich als stilistisch. Er neigt dazu, in nicht sonderlich einfallsreichen Metaphern zu erzählen und diese dann auch noch zu zeichnen. +Man sieht also Ärzte, wie sie einander "den Staffelstab übergeben". Man sieht, wie ein Damoklesschwert (auf dem "Trisomie" steht) auf Toulmé fällt. Oder man sieht einen Hammer mit Gesicht, wie er einen Nagel (auf dem wieder "Trisomie" steht) "auf den Kopf trifft". Und für die Darstellung seiner widerstreitenden Gefühle wählt er tatsächlich Engelchen und Teufelchen, die ihm über den Schultern schweben. +Das ist zu einfach, zu platt. Gerade weil es thematisch richtig ist, wenig auf Zwischentöne und mehr auf Klar- und Offenheit zu setzen, hätte dem Comic in der Bildsprache etwas mehr Subtilität gutgetan. +Aufgefangen wird das durch Toulmés Beschreibung von Alltagsszenen, hier hat er entweder ein erstaunlich detailliertes Erinnerungsvermögen oder eine gute Fantasie. Besonders stark wirken solche Momente, wenn sie ganz ohne Dialog auskommen, wie jener, in dem die Toulmés vor Julias Geburt im Wartezimmer eines Arztes sitzen und in der Mitte des Raums zwei Kinder spielen, bis das eine vom anderen geschlagen wird und weinend zu seinen Eltern läuft. Hier sprechen die Bilder und sagen: "Das sind normale Kinder. Mit solchen Szenen rechnen die Eltern. Mit Trisomie rechnen sie nicht." +Von Panels dieser Art hätte Toulmés Geschichte mehr vertragen können. Sie hätten eine zweite Ebene einziehen und aus "Dich hatte ich mir anders vorgestellt" ein Kunstwerk machen können. So bleibt das Buch nur ein sehr ehrlicher Erfahrungsbericht. Aber was heißt schon "nur", wenn ein wichtiges Ziel eindeutig erreicht wird: Aufklärung. +Nadja Schlüter ist Redakteurin bei jetzt.de. +Bilder: Avant-Verlag/Fabien Toulmé diff --git a/fluter/eigentuemlich.txt b/fluter/eigentuemlich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f642d659b02efbbd4a183bc6474807eb87f6f915 --- /dev/null +++ b/fluter/eigentuemlich.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +12Prozent der Deutschen besitzen mehr als zwei Armbanduhren. 3) +24,3Prozent der Bevölkerung von Mecklenburg-Vorpommern gelten als arm, weil sie weniger als 60 Prozent des Bundesdurchschnitts verdienen. In Baden-Württemberg sind es lediglich 10 Prozent. 4) +27Prozent der Männer und 19 Prozent der Frauen antworteten mit Ja auf die Frage "Haben sie schon einmal ein Glas aus der Kneipe mitgenommen?" 5) +50Prozent der Deutschen wohnen zur Miete, 44 Prozent im eigenen Haus und 6 Prozent in einer Eigentumswohnung. 6) +67Prozent der Deutschen sind der Meinung, Unternehmen wie Bahn Telekom und Energieversorger gehören in Staatsbesitz, 27 Prozent möchten, dass sie privatwirtschaftlich geführt werden. 7) +793Dollar-Milliardäre gibt es weltweit. Klingt zwar viel, wegen der Finanzkrise sind das aber ein Drittel weniger als 2008. In Deutschland besitzen 54 Menschen über eine Milliarde Dollar. 8) +3.000Paar Schuhe soll Imelda Marcos, die für ihre Verschwendungssucht berüchtigte Ehefrau des philippinischen Exdiktators Ferdinand Marcos in den 80er-Jahren besessen haben. 9) +37.184Autos und 358.049 Fahrräder wurden im Jahr 2008 in Deutschland geklaut. 10) +250.000Euro kostet eine einsame Insel in den südlichen Boddengewässern von Rügen. 11) +2.500.000.000Euro bekommen alle deutschen Kinder zwischen 6 und 13 Jahren zusammengerechnet im Jahr an Taschengeld und Geldgeschenken. Pro Kopf sind das allerdings nur 36 Euro im Monat. 12) +200.000.000.000Euro werden in Deutschland etwa pro Jahr vererbt. 13) +500.000.000.000Euro betrug 2002 das geschätzte Gesamtvermögen beider Kirchen in Deutschland (Geld, Aktien, Unternehmensbeteiligungen, Grundbesitz und Immobilien). 14) diff --git a/fluter/eigentum-das-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt b/fluter/eigentum-das-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..933c261de7566a9506b2e527a59a936ec40c2b5b --- /dev/null +++ b/fluter/eigentum-das-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt @@ -0,0 +1 @@ +Es gibt ja Leute, die klettern nachts über die Zäune von Supermärkten und angeln sich abgelaufene Lebensmittel aus den Mülleimern. Das Ganze nennen sie dann "Containern" oder, wenn sie ein bisschen international klingen wollen: "Freeganismus". fluter-Redakteur Oliver Gehrs wollte sich den jungen Dieben in Ostberlin anschließen. Doch als wir ihm von den riesigen Schimmelkulturen erzählten, die auf dem Grund der Tonnen wuchern, brach er die Aktion in letzter Sekunde ab. diff --git a/fluter/eilig-waehrt-am-laengsten.txt b/fluter/eilig-waehrt-am-laengsten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/ein-Leben-nach-der-tschernobyl-katastrophe.txt b/fluter/ein-Leben-nach-der-tschernobyl-katastrophe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2bb3ee17cf269c8f2eac852923e7a1ec893a8c56 --- /dev/null +++ b/fluter/ein-Leben-nach-der-tschernobyl-katastrophe.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +"Ich weiß noch, dass ich mich auf dem Heimweg von der Schule über die Sonne gewundert hatte. Sie schien so unglaublich hell." Als sie zu Hause ankam, musste sie sofort ihre Sachen packen. Warum? Das wurde weder ihr noch ihren Eltern erklärt. Wenn Olga heute darüber redet, ist der Schmerz in ihrer Stimme noch immer hörbar. +Erst als Erwachsene konnte sie nachvollziehen, was tatsächlich passiert war. Kinder wurden damals umgehend evakuiert, Erwachsene nach und nach umgesiedelt. Einige Menschen fingen an, leer stehende Häuser direkt an der Grenze zum Sperrgebiet zu besiedeln. Olga sah ihre Eltern mehrere Monate lang nicht. Sie wusste nicht, wo sie waren. Sie wusste nicht, ob es ihnen gut ging oder ob sie noch lebten. Die Kinder harrten in Camps aus, die wie Ferienlager organisiert waren. Spiele, Sport und Essen – die Regierung wollte offensichtlich, dass es den Kindern an nichts fehlte und sie über den Spaß alles andere vergaßen. +Aber Olga hatte keinen Spaß: "Damals wollte ich einfach nach Hause. Ich wollte zurück zu meiner Mutter. Alles andere interessierte mich nicht." Wütend sei sie nicht über das, was ihr damals angetan wurde. Es sei eher ein Gefühl von Hilflosigkeit. +Bis heute verteilt der weißrussische Staat Sanatoriumsaufenthalte für Kinder aus verstrahlten Gebieten und Stipendien für Studenten aus der Region – aber Aufklärung oder gar Eingeständnisse von Fehlern gibt es kaum. Für Olga macht es bis heute den Eindruck, als wolle die Regierung die Bevölkerung ruhigstellen – woran die 42-Jährige aber gar nicht groß Anstoß nimmt. +Denn als Kind wollte Olga nichts anderes hören, außer dass alles wieder gut werden würde. Sie und viele andere ließen sich gerne beruhigen, weil sie sich nichts sehnlicher wünschten, als dass dieser Albtraum ein Ende hat. Und diesen Wunsch hat sie bis heute. Deswegen spielte Olga auch nie mit dem Gedanken, das Gebiet zu verlassen. Heute lebt sie mit ihrer Familie nur 25 Kilometer von ihrem Heimatdorf entfernt. "Vielleicht klingt das lächerlich, aber ich liebe meine Heimat. Ich wäre sogar direkt in Savitchi geblieben, aber es war verboten, dort mit kleinen Kindern zu wohnen", sagt sie. +Eigentlich macht Olga nicht den Eindruck eines Menschen, der die Augen vor der Wahrheit und schweren Schicksalen verschließt. Sie ist Mutter von vier eigenen und acht Pflegekindern und sieht ihre Lebensaufgabe darin, Kindern eben jenes Zuhause zu geben, das ihr selbst als Kind genommen wurde. "Mutter sein, das kann ich einfach am besten, weil ich weiß, wie sehr Kinder eine Mutter brauchen." +Sichtlich schwer fällt es ihr, darüber zu reden, was ihre Pflegekinder durchstehen mussten, bevor sie in ihre Obhut kamen. Alle sind in extrem armen Verhältnissen aufgewachsen. Ihre Eltern sind unfähig, sich um sie zu kümmern, viele der Mütter und Väter sind dem Alkoholismus oder anderen Süchten verfallen. So war es auch bei Juri. Als der noch bei seiner leiblichen Mutter lebte, steckte er sich immer die Zigarettenstummel, die überall auf dem Boden verstreut lagen, in den Mund und kaute darauf herum, weil es nichts zu essen gab. Als er zwei Jahre und vier Monate alt war, holte ihn Olga zu sich. +Im Grunde hatte sie nur Platz für ein Kind. Aber die Vorstellung, den Jungen von seinem Bruder und seiner Schwester zu trennen, war ähnlich schmerzhaft wie die Erinnerung daran, dass Olga nach der Reaktorkatastrophe selbst ihre Brüder zurücklassen musste. Es dauerte, bis die Kinder Olga vertrauten und wirklich glaubten, dass sie bei ihr bleiben durften. Besonders tief aber saß ihre Angst, zu verhungern. Einem der Kinder müsse sie heute noch jeden Tag versichern, dass sie genug Brot zu Hause haben, und geht fast stündlich mit dem Mädchen zum Brotkorb in der Küche. Ihnen Essen zu geben bedeutet viel mehr, als sie nur mit Nahrung zu versorgen. +Durch das Schicksal von Juri und seinen Geschwistern wurde Olga bewusst, wie viele Kinder kein Zuhause haben, in dem sie beschützt und wohlbehütet aufwachsen können. Und aus eigener Erfahrung wusste sie, wie groß in einer Kinderseele die Sehnsucht nach einer Familie sein kann. Also entschloss sich die Familienmutter dazu, ihren Helferwillen zum Beruf zu machen. +Sie zog mit ihrer Familie in ein größeres Haus, nahm weitere fünf Kinder auf. Sie galten damit offiziell als Pflegefamilie, was ihnen Zugang zu staatlicher Unterstützung verschaffte. Doch das Leben in einer 15-köpfigen Familie ist alles andere als leicht. Das Geld ist immer knapp, die Möglichkeiten sind begrenzt, und ohne Hilfe von gemeinnützigen Organisationen undGeschenkaktionenwären zum Beispiel kleine Weihnachtsgeschenke undenkbar. Und auch sonst reicht es nicht für das Lebensnotwendige – etwa für jene Medikamente, welche die Menschen in dieser Region noch immer gegen die Nachwirkungen des Atomunfalls einnehmen müssen. +Olgas Kinder sind ständig krank, leiden unter einem sehr schwachen Immunsystem. Die Pflegemutter macht dafür auch den Atomunfall verantwortlich. Olga selbst ist von der jahrzehntelangen Strahlenbelastung sichtlich gezeichnet. Viele Narben zeugen noch von der Schuppenflechte und den Kratzwunden, die sich nach der Evakuierung an ihrem Kinderkörper entwickelt hatten. Laut den Ärzten auch ein Zeichen des psychischen Stresses, dem Olga damals ausgesetzt war. +Wie schwerwiegend die nicht sichtbaren gesundheitlichen Nachwirkungen der Radioaktivität sind, wisse sie nicht – aber das wolle sie auch gar nicht so genau wissen, sagt Olga. "Ungeachtet dessen, dass ich als Kind das Unglück von Tschernobyl erlebt habe, danke ich Gott, dass ich mich selbst wiedergefunden habe und dass meine Kinder trotz der Strahlung weiterleben dürfen", sagt sie und drückt Juri an sich. + +Mehr Informationen zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl findest du imDossier auf bpb. +Titelbild:David Vogt diff --git a/fluter/ein-berg-voller-probleme.txt b/fluter/ein-berg-voller-probleme.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..07005b9659e65c28dd20a5114490b1eddd1cbdbb --- /dev/null +++ b/fluter/ein-berg-voller-probleme.txt @@ -0,0 +1,32 @@ +Auch in diesem Frühling harren hier mehr als 300 Bergsteiger aus, die noch weiter hinaufwollen. So hoch, wie es auf dieser Erde nicht höher geht. +Der Österreicher Andy Holzer, von Geburt an blind, ist in diesem Jahr einer von ihnen. Schon als Jugendlicher, hatte Holzer in einem Interview vor seiner Abreise nach Nepal gesagt, träumte er vom Mount Everest. "Ich habe mir monatelang Gedanken darüber gemacht, wie ich schwierige Situationen jeweils meistern kann", sagte Holzer vor der Abreise. "Jetzt habe ich den Erfahrungsschatz, habe das logistische Wissen, und auch finanziell passt es. Die Chance, die ich spüre, will ich nutzen." +Er wäre der zweite Blinde, der es hoch zum Mount Everest schafft. Die Route hat er fest im Kopf. Dann passiert die Katastrophe. +Die Tour führt vom Basislager über vier weitere Zeltstädte zum Gipfel, 8.848 Meter über dem Meeresspiegel. Den Weg zwischen den Lagern präparieren Sherpas, sie spannen Seile zwischen den Felsen, in die sich die Bergsteiger später einhaken, sie legen Leitern über Eisschluchten. Die Vorhut für die Touristen aus aller Welt. +Und sie haben einen der gefährlichsten Jobs der Reisebranche überhaupt. +Am 18. April dieses Jahres sterben 16 von ihnen in den Morgenstunden unter einer Lawine, als sie die Strecke zwischen dem Basislager und dem ersten Zwischenstopp weiter oben passierbar machen wollen – es ist eines der bislang schlimmsten Unglücke am Everest. +Am Mittag kommen die Helikopter ins Basiscamp zurück, am Tau baumeln leblose Körper. Aus den Leichensäcken, die sie in der Zeltstadt ablegen, schauen Arme, Beine, Köpfe. "Von Stunde zu Stunde wurde die Katastrophe deutlicher", mailt Andy Holzer später nach Hause. +Wie es weitergeht, ist unklar. Auch unter den Sherpas. Soll die Saison abgeblasen werden? Soll es Aufstiege geben? Einige herpas blockieren den Weg Richtung Gipfel und streiken. "Es ist so unendlich schwierig, jetzt einen richtigen Weg zu erkennen", schreibt Holzer. +Am Donnerstag nach dem Lawinenunglück fliegt Nepals Tourismusminister hinauf ins Basislager. Die Linie der Regierung ist klar: Der Bergtourismus soll weitergehen. Er will die Sherpas umstimmen. Vergebens. +Der Mount Everest ist ein gefährliches Ausflugsziel. Mehrere Hundert Menschen starben seit 1921, die meisten kamen in der sogenannten Todeszone ums Leben, oberhalb von 8.000 Metern, zwischen dem vierten Lager und dem Gipfel. Der Luftdruck ist dort so gering, dass kaum noch Sauerstoff in die Lungen gelangt. +Das Atmen fällt schwer, das Blut wird dick, man bewegt sich langsamer, und wenn es besonders schlimm ist, beginnt man zu halluzinieren. Am 19. Mai 2012, einem Samstag, um 11.05 Uhr erreichte der deutsche Arzt Eberhard Schaaf mit zwei Sherpas den Gipfel, er setzte die Sauerstoffmaske ab, machte Fotos. Eine knappe Stunde blieb er oben in der dünnen Luft. Viel zu lang. Beim Abstieg verlor er das Bewusstsein, die Sherpas blieben bei ihm, wollten ihn retten, dann mussten sie ihn in der Kälte zurücklassen. Neben Schaaf starben allein an diesem Wochenende fünf weitere Touristen am Everest. +Riskant ist der Trip zum Gipfel für jene, die ihre Kräfte überschätzen – vor allem aber für die einheimischen Sherpas. Seit 1922 verloren laut Himalaya-Database am Everest mindestens zehn Amerikaner ihr Leben, 17 Briten, 18 Japaner, aber mehr als 70 Angehörige des Sherpa-Volkes, das in den Höhen Nepals lebt. Schon seit den ersten Versuchen, den Mount Everest zu besteigen, wurden die Sherpas als Helfer eingesetzt. Sie sichern den Weg mit Seilen, sie tragen Ausrüstung, Sauerstoffflaschen, Zelte und Proviant den Berg hinauf. Es gibt Studien, die zeigen, dass die Angehörigen des Sherpa-Volkes genetisch besonders gut an die Höhen angepasst sind. +Aber sie verbringen mehr Zeit oben in der Gefahrenzone als jeder Tourist. An einer Strecke, die Bergsteiger später in ein paar Minuten passieren, arbeiten die Sherpas Wochen. Dadurch ist das Risiko, von einer Lawine getroffen zu werden, für sie größer. Sehr viel größer. +Statistisch gesehen ist ihre Arbeit gefährlicher als die eines amerikanischen Soldaten, der in den Irakkrieg zog. Der Tod ist Routine. "Wir müssen versuchen, das Risiko zu minimieren", meint der 34-jährige Norbu Sherpa, nachdem er zwei Freunde bei dem Lawinenunglück am 18. April verloren hat. +Der Streik, der dieses Jahr im Basislager am Everest ausbrach, ist nicht der erste. Seit es Himalaya-Expeditionen gibt, kämpfen die Sherpas für bessere Arbeitsbedingungen. 1930 zogen sie gegen eine deutsche Expedition vor Gericht, weil sie sich unterbezahlt fühlten. 1933 streikten sie im Basislager wegen des schlechten Essens, das man ihnen gab. 1963 erstritten sie, dass sie genauso gute Schlafsäcke bekommen wie ihre Auftraggeber. +Nur eines stand in all den Jahren nie ernsthaft zur Debatte: den höchsten Gipfel der Welt für Ausflügler zu sperren. Kein Wunder. Der Everest hat sich zu einem der wichtigsten Touristenmagneten Nepals entwickelt. +Dabei hat es lange gedauert, bis es überhaupt ein Mensch hinaufschaffte. Die ersten Expeditionen starteten schon in den 20er-Jahren, aber erst 1953 stand der Neuseeländer Edmund Hillary als Erster oben – an seiner Seite der Sherpa Tenzing Norgay. +Seither gibt es einen regelrechten Ansturm – mit den waghalsigsten Rekordversuchen: Reinhold Messner war der Erste, der den Everest ohne Sauerstoffflasche bestieg, der US-Amerikaner Erik Weihenmayer der erste Blinde, der Neuseeländer Mark Inglis der erste doppelt beinamputierte Bergsteiger auf dem Everest. Ein 13-jähriger Amerikaner war 2010 der jüngste, ein 80-jähriger Japaner 2013 der älteste Mensch auf dem höchsten Gipfel der Erde. Das erste Telefonat in fast 9.000 Metern Höhe führte 2007 ein Brite. +Heute werden die Touristen regelrecht durchgeschleust. Über 4.000 Menschen haben den Everest bestiegen, der weitaus größte Teil von ihnen kam in den vergangenen Jahren. Mitunter bilden sich oben, kurz vor dem Gipfel, gefährliche Staus. Bergsteiger an den Befestigungsseilen kommen nicht voran – und müssen länger als nötig in der dünnen Höhenluft ausharren. Allein im Frühjahr 2013 machen sich 657 Menschen auf den Weg zum Gipfel, 119 von Tibet im Norden aus, 538 starten auf der Südroute in Nepal, Hunderte Bergsteiger aus aller Welt und unzählige Sherpas. +Die Regierung in Nepal verdient gut am gefährlichen Freizeitpark im Himalaya. 10.000 Dollar Besteigungsgebühr werden von jedem Touristen kassiert, der den Mount Everest hinaufwill. Der Everest und die anderen Himalaya-Gipfel spülen jährlich einige Millionen Dollar in die Staatskasse. Und auch die Sherpas sind Topverdiener in dem armen Land: In den zwei Monaten einer Saison verdient ein Sherpa bis zu 6.000 Dollar, es locken Prämien der Reiseveranstalter, wenn sie Touristen bis an den Gipfel führen. Das reicht, um ganze Familien zu ernähren. +Nur passieren darf auf dem Weg nach oben nichts. Und wenn doch? +Dann ist es oft eine ganze Familie, die das Unglück trifft. Und für die niemand mehr etwas tut. +Chhewang Nima war 43 und kurz davor, den Rekord zu brechen: 19 Mal stand er bereits auf dem Mount Everest, noch eine Saison, vielleicht zwei, dann wäre er so oft auf dem Gipfel gewesen wie kein anderer Mensch vor ihm. Ebenso wie das Geld lockte der Wunsch nach Achtung und Anerkennung. +Im Oktober 2010 war Chhewang Nima mit der amerikanischen Bergsteigerin Melissa Arnot, 26 Jahre, am Baruntse unterwegs, einem 7.000er, der als Vorbereitung für den Mount Everest gilt. Als Chhewang Nima in der Nähe des Gipfels die Seile für den Aufstieg anbrachte, löste er eine Lawine aus, die ihn unter sich begrub. +Als die Bergsteigerin Arnot in das Dorf fuhr, aus dem Chhewang Nima stammte, um seiner Witwe ihr Beileid auszudrücken, schickte man sie wieder fort. +Beerdigungen nach buddhistischem Brauch sind teuer. Arnots Sponsor spendete Geld, um der Familie zu helfen. Sie versprach, für den Verdienstausfall aufzukommen, denn Chhewang versorgte nicht nur seine eigene Familie, sondern auch die seiner acht Brüder und Schwestern. "Meine Leidenschaft", sagt Arnot, "hat eine Industrie geschaffen, die Menschen sterben lässt." +Seit 2002 sind die Reiseveranstalter verpflichtet, eine Versicherung für die einheimischen Gebirgsträger abzuschließen. Aber das Geld, das die Versicherungen nach einem Unfall auszahlen, reicht kaum. Die Folge: Im Ernstfall müssen Bergsteiger und Agenturen sogar über eine Rettung verhandeln. +Vor zwei Jahren wurde der Sherpa Lakpa Nuru von einem herabfallenden Fels getroffen. Blutend und halb bewusstlos lag er im Lager 2. Die Versicherung wollte damals 4.000 Dollar zahlen, ein Rettungsflug aber, mit dem Lakpa Nuru aus dem Lager in 6.400 Metern Höhe geholt werden konnte, kostete mehr als das Dreifache. +Wäre die Todesrate amerikanischer Skilehrer so hoch wie die der Sherpas am Mount Everest, schreibt der Journalist Grayson Schaffer, dann wäre der ganze Betrieb schon längst verschwunden. +Nach dem schweren Lawinenunglück in diesem April warteten der blinde Bergsteiger Andy Holzer und sein Team im Basislager lange auf eine Nachricht, wie es weitergeht. Dann war klar: Es finden keine Expeditionen mehr statt. "Ich glaube einfach, der Everest will dieses Jahr an der Südseite seine Ruhe haben, und das ist zu akzeptieren", schrieb Holzer nach Hause. +Mit dem Sherpa, der ihn zum Gipfel begleiten sollte, hat Holzer eine Abmachung getroffen: "Wir haben uns im Falle einer Rückkehr zum Everest schon als Team verabredet." +Die Regierung in Nepal teilt derweil mit, dass die für diese Saison ausgestellten Gipfelgenehmigungen verlängert werden. Wer innerhalb der nächsten fünf Jahre zum Everest zurückkehrt, spart eine erneute Gebühr. diff --git a/fluter/ein-buerokratie-monster.txt b/fluter/ein-buerokratie-monster.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c09c52b0e24121e0f34d1dd976b65be9152dc02a --- /dev/null +++ b/fluter/ein-buerokratie-monster.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Dass die fabelhaften Geschöpfe jetzt eine Institution im Rücken haben, die ihre Rechte vertritt, haben sie Klaus Maresch zu verdanken. Der will die Arbeit des Amtes endlich bekannter machen und hat dafür im Herbst einen Imagefilm drehen lassen. Hier laufen Zauberer durch die Flure eines Tagungshotels, Orks schmeißen Formulare durch die Gegend, buntgesichtige, behornte Dämonendamen schimpfen über Diskriminierung. Klaus Maresch selbst tritt im Video im dunklen Anzug als Gleichstellungsbeauftragter auf.Warum die ohne eine solche Vertretung nicht auskommen, erklärt ein Text auf der Website. Demnach kann "keine Hexe einfach so in einer Mietwohnung ihre Pentagramme ins Eichenparkett ritzen, ohne mit dem Vermieter eine Vereinbarung zu treffen." Und was wäre, "wenn der Hausbesitzer im Godesberger Villenviertel sich einen Drachen zulegt, ohne die Verordnung zum Halten feuerspeiender Klein- und Großdrachen basierend auf der Bonner Bauordnung zu kennen?" Das Amt kümmert sich auch um migrationswillige Dschinnen und erklärt ihnen, wie sie ihre Wunderlampen in Einklang mit dem Baurecht bringen können. +Drehpause: Regisseur und Vampir Thomas Bernecker neben BAfmW-Präsident Edmund F. Dräcker +Am Drehtag fährt er mit einem Dienstwagen des Amtes am Bonner Maritim-Hotel vor. Sein Kombi sieht aus wie ein Polizeiauto, bis auf das Wappen auf den Türen und der Motorhaube: Angelehnt an den Bundesadler spreizt hier ein Drache – der Bundeslurch – seine Flügel. Mit schnellem Schritt durchquert Maresch dann die Hotellobby, wo sich die letzten Akteure für den Dreh anmelden. Auch Ulrich Kelber, parlamentarischer Staatssekretär im Justizministerium, ist vor Ort und spricht einige Begrüßungsworte in die Kamera. Den Politiker kennt Maresch schon länger und hat ihn dafür begeistern können, die Schirmherrschaft für das BAfmW zu übernehmen. +Präsident des Amtes ist aber ein anderer: der DiplomatEdmund Friedemann Dräcker. Der lässt sich beim Dreh durch einen Schauspieler vertreten, auch der parlamentarische KontrolleurJakob Maria Mierscheidist nicht gekommen. Kein Wunder, dass von den beiden nichts zu sehen ist: Dräcker und Mierscheid sind fiktive Figuren, mit denen die Parlamentarier Deutschlands sich selbst und den politischen Betrieb seit Jahrzehnten aufs Korn nehmen – und deshalb für den Fantasy-Buchautor Maresch genau die Richtigen für die Leitung des BAfmW. +Die Behörde hat er sich im vergangenen Jahr ausgedacht und strickt seitdem die Idee mit Hilfe von Gleichgesinnten immer weiter. Eigentlich lebt Maresch als Imker in Bonn, seine Bienenkolonien hat er auf dem Dach der Bundeskunsthalle aufgestellt. Als "Hagen Ulrich" ist er Autor mehrerer Vampirromane aus dem Genre der Gay Fantasy. Und jetzt ist er auch noch Videoproduzent:Per Crowdfundingsammelte er fast 5.500 Euro und engagierte ein professionelles Filmteam. Auf eine Annonce meldeten sich Dutzende Fantasyfans, um als Komparsen in eigenen Kostümen mitzumachen. +Die Cosplayer haben sich in einem Saal mit wandhohen Spiegeln und einem riesigen Kronleuchter versammelt. Einige sind schon verkleidet, andere bekommen in den nächsten zwei bis drei Stunden die Schminke zentimeterdick von den Maskenbildnern aufgetragen. "Wir lieben Fantasy!", ruft Maresch seinem Filmteam zu. "Und wir haben Spaß dabei, rumzuspinnen." Dem wird niemand der Anwesenden widersprechen. Den Komparsen fällt es ohnehin nicht schwer, so zu tun, als gäbe es dieses BAfmW wirklich. Die meisten von ihnen schlüpfen regelmäßig auf Mittelaltermärkten, Fantasy-Conventions oder Computerspiel-Messen in ihre fantastischen Rollen. +Maresch treibt es auf die Spitze. Ausgerechnet jener literarischen Gattung, die vielen Fans bei der Realitätsflucht dient, hat er ein Korsett übergestülpt, das genau das Gegenteil verkörpert: Nüchternheit und Alltäglichkeit. Keine ganz neue Idee. In der Harry-Potter-Serie zum Beispiel gibt es ein Zauberministerium und bei "Men in Black" die gleichnamige Kontrollbehörde für außerirdische Aktivitäten in New York. Legendär ist auch das "Ministry of Silly Walks", mit dem sich Monty Python über die britische Politlandschaft lustig machten. +Das Amt für magische Wesen soll aber mehr sein als bloßer Jux. Hinter der vermeintlichen Spinnerei steckt ein überaus detailverliebter Marketingplan. Es gibt Tassen und Kapuzenshirts mit dem Logo der Behörde zu kaufen. Auf vielen Fantasy-Conventions ist das BAfmW mit einem Stand vertreten. +Das Ziel des Bundesamtes ist, die deutschsprachige fantastische Literatur bekannter zu machen. "Warum muss Fantasy immer in den USA spielen?", fragt Maresch herausfordernd. Er selbst lässt die Handlung seiner Romane wie "Jagd der Vampire" und "Böses Blut der Vampire" an seinem Wohnort ablaufen. Auf der Internetseite stellen Dutzende weitere Autoren und Blogger ihre deutschsprachigen Werke vor. Um im Duktus des BAfmW zu bleiben, werden ihre Werke als "Schriften" tituliert. Für die meisten der "Referenten" ist das Schreiben vermutlich ein Zeitvertreib, einige haben immerhin kleine Verlage gefunden. +Der BAfmW-Schöpfer aber hat Blut geleckt. Innerhalb eines Jahres hat das Bundesamt mehr Publicity bekommen, als es seine Bücher je könnten. Jetzt will er diese Öffentlichkeit nutzen. Im Dezember soll der Clip vor der Premiere des dritten "Hobbit"-Films in deutschen Kinos laufen. Eine Übersetzung ins Englische ist bereits in Planung, vielleicht sogar ins Russische und Arabische – um diesen "Behördenhumor", wie Vampir-Fachmann Maresch das selbst nennt, auch anderen Kulturen nahezubringen. +Andreas Pankratz hat bei der Bundeszentrale für politische Bildung volontiert und arbeitet inzwischen als freier Journalist in Köln. diff --git a/fluter/ein-enthuellungsjournalist-in-simbabwe-im-visier-von-mugabes-geheimdienst.txt b/fluter/ein-enthuellungsjournalist-in-simbabwe-im-visier-von-mugabes-geheimdienst.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..acf1638fa9f82d7928399a20579b9a0b24c1833e --- /dev/null +++ b/fluter/ein-enthuellungsjournalist-in-simbabwe-im-visier-von-mugabes-geheimdienst.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Mushekwe war damals, im Oktober 2007, erst 23 Jahre alt und gehörte schon zu den bekannten Enthüllungsjournalisten des Landes. Zuvor hatte er Kommunikationswissenschaft und Journalismus in Simbabwes Hauptstadt Harare studiert und dann zunächst meist über Kunst und Unterhaltung geschrieben. Erst beim "Zimbabwe Independent", einer der wenigen privaten Zeitungen des Landes, fing er an, die Politik von Präsident Mugabe zu seinem Thema zu machen. Rückblickend könnte man sagen, Mushekwe hätte sich den Platz auf der Geheimdienst-Liste mit seinen Enthüllungsgeschichten regelrecht erarbeitet. So zum Beispiel, als er 2007 berichtete, Mugabe habe mehr als eine Million US-Dollar für eineImagekampagne im Londoner Magazin "New African"ausgegeben – zu einem Zeitpunkt, als das Land offiziell bereits knapp an Devisen war. "Das war Geld, das für Benzin, Lebensmittel und die medizinische Versorgung hätte ausgegeben werden können", sagt Mushekwe. +Simbabwe – heute auf Platz 131 von 180 in der Rangliste der Pressefreiheit von "Reporter ohne Grenzen" – gehörte schon damals zu den am wenigsten freien Ländern der Welt. "Das Umfeld ist für kritische Journalisten tödlich", sagt Mushekwe. Reporter ohne Grenzen berichtet von instrumentalisierten Staatssendern sowiestaatlichen Übergriffen auf Medien und deren Mitarbeiter. +Insofern war die aufgetauchte Liste keine Überraschung. Und doch war sie für Mushekwe ein Schock, zumal es auf der Liste ausdrücklich heißt, die zu ergreifenden "Maßnahmen" würden auch für Journalisten im Exil gelten. "Wir reden hier von erbarmungslosen Menschen, die auch Kriegshelden oder frühere Minister nicht verschonen", sagt er. "Was erwartet dann einen einfachen Journalisten?" +Heute betont er, wie sehr ihm Reporter ohne Grenzen geholfen habe: mit Unterkunft, Visum und Arbeitsplatz. Dank mehrererStipendienkonnte er vorerst in Deutschland bleiben. Mushekwe, der 2008 denJohann-Philipp-Palm-Preisfür Meinungs- und Pressefreiheit erhielt, ist seit 2011 auch als politischer Flüchtling anerkannt. Dabei wollte er zunächst gar kein Asyl beantragen. "Ich war dabei, mit anderen jungen Kollegen die erste News-Website des Landes aufzubauen", erklärt er, "aber wenn es um dein Leben geht, hast du keine Wahl." +Der Journalist betrachtet sich als einen Aufklärer, und am liebsten würde er wieder in seiner Heimat arbeiten. So beklagt er auch den Braindrain, zu viele junge Gebildete verließen das Land. Anfang 2014 gründete Mushekwe die Website "The Telescope News", um damit, wie er sagt, einen Beitrag zur Medienentwicklung des Landes zu leisten. "Die Medien werden eine wichtige Rolle spielen, wenn Mugabe abtritt", sagt er. Und er ist optimistisch, dass sein Volk bald freiere und wirtschaftlich bessere Zeiten erleben wird – immerhin ist Mugabe schon 91 Jahre alt. "Fünf bis zehn Jahre nach Mugabe wird Simbabwe wieder eine der stärksten Wirtschaften Afrikas haben." Bis dahin ist Mushekwe dankbar, in Deutschland bleiben zu dürfen. Außer für "The Telescope News" arbeitet er momentan an einem Buch über sein Leben als Journalist in Simbabwe und Deutschland. +Lukas Wohner arbeitet neben dem Studium als freier Journalist in Berlin – wenn er nicht gerade fluter-Praktikant ist. Auch wenn's pathetisch klingt: Im Gespräch mit den verfolgten Kollegen wurde ihm klar, wie gut es Journalisten in Deutschland haben. diff --git a/fluter/ein-ganz-normaler-teenager.txt b/fluter/ein-ganz-normaler-teenager.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..44567e38f5d22d60a08e7b093550221f2b7891ba --- /dev/null +++ b/fluter/ein-ganz-normaler-teenager.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +"Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertrauen können, wie ich es noch bei niemandem gekonnt habe, und ich hoffe, du wirst mir eine große Stütze sein." Der erste Tagebucheintrag von Anne Frank, datiert vom 12. Juni 1942. An diesem Tag wurde Anne 13 Jahre alt und bekam von ihrem geliebten Vater Otto ein Poesiealbum geschenkt, das sie als Tagebuch nutzte, in Ermangelung einer von ihr schmerzlich vermissten allerbesten Freundin, der man einfach alles erzählen kann. +Was Anne Frank dann bis zum 1. August 1944 – dem Tag des letzten Tagebucheintrags – schrieb, gehört heute weltweit zum literarischen Kanon über den Holocaust. Dabei verfasste Anne nicht nur Tagebucheinträge, denen sie oft eine Briefform gab, sondern schrieb auch Erlebnisse aus ihrem Versteck oder Ausgedachtes nieder, sie führte zudem ein "Schöne-Sätze-Buch" mit Lieblingspassagen aus anderen Werken und beschäftigte sich im "Ägyptenbuch" mit der dortigen alten Mythologie. Eine höchst talentierte Autorin also, deren unbekümmerte Erzählweise auch heute noch überhaupt nicht angestaubt wirkt und die einen grundehrlichen Einblick gibt in das Innenleben eines jungen Mädchens im Angesicht des Nazi-Horrors. Anne Frank: eine einzigartige Zeitzeugin des dunkelsten Kapitels des 20. Jahrhunderts. +Das "Tagebuch der Anne Frank" wurde schon öfter verfilmt, die bekannteste Adaption ist wohl die mit drei Oscars ausgezeichnete US-Version von 1959. Nun also der erste deutsche Kinofilm, und die Produzenten M. Walid Nakschbandi und Michael Souvignier holten sich versierte Mitarbeiter ins Boot: Hans Steinbichler hat als Regisseur von wichtigen Filmen wie "Winterreise" oder "Das Blaue vom Himmel" seine sensible Erzählweise bewiesen. Und als Drehbuchautor fungierte der im Sujet des Widerstands gegen den Nationalsozialismus erfahrene Fred Breinersdorfer ("Sophie Scholl", "Elser"), drei Jahre arbeitete er an der Adaption. Das größte Verdienst der beiden: Sie holen Anne vom Sockel der Verehrung herunter und schildern sie als ganz normalen Teenager mit literarischen Ambitionen. +Und so erleben wir die lebenslustige, mitunter auch skeptische oder bockige Anne (sensationell: die 16-jährige Lea van Acken, bekannt aus "Kreuzweg"), wie sie unter dem gelben Stern leidet, den sie in der Öffentlichkeit im besetzten Amsterdam tragen muss. Wie sie und ihre Freundinnen beim Baden von Jungnazis angepöbelt werden. Wie ihr über alles geliebter Vater Otto (adäquat zurückhaltend: Ulrich Noethen) viel zu lange hofft, es werde alles nicht so schlimm kommen hier in Holland. Und wie Anne, Otto, Annes Mutter Edith (intensiv: Martina Gedeck) und Annes drei Jahre ältere Schwester Margot (Stella Kunkat) schließlich am 6. Juli 1942, als das Leben für Juden auch in Amsterdam lebensgefährlich geworden ist, von mutigen Freunden und Mitarbeitern in einer abgeschotteten Wohnung im Hinterhaus von Franks Firmensitz in der Straße Prinsengracht 263 versteckt werden. + + +Zur Familie stößt noch das Ehepaar van Daan mit dem Sohn Peter und der Zahnarzt Albert Dussel. So viele Personen in einer so engen Wohnung ohne Aussicht auf einen Rückzugsort oder frische Luft, dazu die allgegenwärtige Angst, entdeckt oder verraten zu werden – Regisseur Steinbichler fängt die klaustrophobische Atmosphäre der Hinterhauswohnung gekonnt ein. Und Streitereien bleiben da freilich auch nicht aus, bevorzugt mit der etwas arrogant auftretenden Frau van Daan. Anne vertieft sich regelmäßig ins Schreiben, bekommt aber auch Probleme mit ihrer Mutter, von der sie sich unverstanden fühlt. Und sie fängt zum Entsetzen aller eine Liaison mit dem deutlich älteren Peter an. +Steinbichler und sein Team bemühen sich in Ausstattung, Kostümen und Farbgebung um eine möglichst hohe Authentizität: die zusammengesammelten Möbel, die schlichte Kleidung, die dem Zeitkolorit entsprechenden Haarschnitte. Die Inszenierung ist zurückgenommen, nur selten setzt die Regie auf thrillerhafte Spannungsbögen, etwa wenn Arbeiter merkwürdige Geräusche über sich hören und skeptisch werden. Mit diesen aber wird dem Zuschauer hautnah die Schreckensherrschaft der Nazis vorgeführt, deren Überwachungs- und Ausgrenzungspolitik bis in die letzte Ritze vordringt und unter der Juden zunehmend nicht als Menschen angesehen werden. +Das sich zum größten Teil in der Wohnung abspielende Geschehen ist mit viel Gespür für die einzelnen Figuren erzählt und wunderbar gespielt, aber mit 127 Minuten Filmlänge deutlich zu lang geraten. Dennoch: Gerade für Schulklassen dürfte diese neue Version des Stoffes ein Muss werden. Damit Anne Frank und ihr Schicksal nie in Vergessenheit geraten. +" … wenn keine anderen Menschen auf der Welt leben würden" – so lauten die letzten Worte im Tagebuch der Anne Frank, datiert vom 1. August 1944. Anne Frank starb Ende Februar/Anfang März 1945 im KZ Bergen-Belsen. +"Das Tagebuch der Anne Frank", D 2016; Regie: Hans Steinbichler, Drehbuch: Fred Breinersdorfer, mit Lea van Acken, Ulrich Noethen, Martina Gedeck; 127 Minuten; Kinostart: 3. März 2016 bei Universal diff --git a/fluter/ein-gespaltener-polnischer-patriotismus.txt b/fluter/ein-gespaltener-polnischer-patriotismus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e0e81441456337f5c40a53a2b9f84667b4f34880 --- /dev/null +++ b/fluter/ein-gespaltener-polnischer-patriotismus.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Ja natürlich, es ist seit der Flugzeugkatastrophe von Smolensk 2010 immer rauher geworden. Das Schlimmste ist aber die enorme Auswanderungswelle seit 2004. Seither sind etwa drei Millionen Polen ins Ausland gegangen, darunter viele Bekannte von mir. Zunächst ging man nach Großbritannien, dann verstärkt nach Deutschland. Das ist besorgniserregend, langfristig viel mehr als der Wahlsieg des rechten Lagers. +Polen gehörte in den vergangenen Jahren zu den EU-Staaten mit dem größten Wirtschaftswachstum. Warschau, Krakau und Breslau sind gerade bei jungen Europäern beliebte Metropolen mit einem regen Kultur- und Nachtleben. Warum fliehen die Menschen trotzdem? +Es geht aufwärts, aber in kleinen Schritten. Das reicht vielen nicht. Zudem spiegeln die Statistiken nicht das wahre Leben wider. Eine Freundin von mir hat in Warschau einen gut bezahlten Job bei einer amerikanischen Firma, für den sie 800 Euro netto im Monat bekommt. Sie muss aber allein für ihre Wohnung schon 400 Euro Miete zahlen. Ein Lehrer mit fünfjähriger Berufserfahrung bekommt sogar nur 500 Euro im Monat. Das ist der Grund, warum gerade Akademiker weggehen. +Aber verglichen mit Tschechien oder Ungarn steht Polen doch gut da. +Man vergleicht sich in Polen aber nicht mit Tschechien, sondern eher mit Deutschland. Und dann gibt es da noch einen sehr fatalen Mechanismus, den ich als gespaltenen polnischen Patriotismus bezeichnen würde. Wir Deutschen  würden uns ja nur widerwillig als Patrioten bezeichnen, aber de facto sind wir es. Im Stillen freuen wir uns, dass hier alles so gut läuft. In Polen ist es genau umgekehrt: Man ist sehr patriotisch, besonders, wenn von außen Kritik kommt. Doch untereinander und mit dem eigenen Land sind die Leute sehr kritisch. Wenn beim Fußball die Hymne gesungen wird, singen alle lautstark mit, aber sobald sie aus dem Stadion raus sind, schimpfen sie wieder auf ihr Land. Das geht schon los, wenn die Straßenbahn zu spät kommt. Die Wutspirale dreht sich so lange, bis man am Ende auswandert – obwohl man doch eigentlich ein großer Patriot ist. +Dann müsste jetzt der Unmut umso größer sein – angesichts des Wahlsiegs der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), die in beiden Parlamentskammern die absolute Mehrheit gewann und nun die Macht ihrer Regierung mit rechtstaatlich umstrittenen Mitteln ausbaut. +Das ist ja auch teilweise der Fall. Es gibt seit dem Regierungsantritt im November Massendemonstrationen, allein in Warschau waren es drei oder vier mit jeweils  über 20.000 Teilnehmern. Da waren übrigens jede Menge Ältere aus der alten  Solidarność-Bewegung dabei, die sich Sorgen um die Demokratie machen. Doch es gibt auch Gegendemonstrationen für die neue Regierung, die besonders auf dem Land und in kleineren Städten ihre Unterstützer hat. Aber eben nicht nur. Es gibt auch viele Großstädter, die die PiS gewählt haben. Sie sagen, dass jedes Mittel recht ist, um die Massenauswanderung aufzuhalten. +Lech Wałęsa, früherer polnischer Präsident und Anführer der damaligen Solidarność-Bewegung, hat bereits vor einem Bürgerkrieg gewarnt. Ist das Land wirklich so gespalten? +Die polnische Gesellschaft ist schon seit Jahren polarisiert, doch die Diskussionen in Familien oder Lehrerzimmern werden immer unversöhnlicher. Ich bin vor kurzem mit einem Taxifahrer durch Warschau gefahren. Der war ungefähr 60 und entschieden gegen die PiS, sein 28-Jähriger Sohn aber begeisterter Anhänger, weil er in der alten Regierung Zynismus und Korruption am Werk gesehen hat. Vater und Sohn reden deshalb nicht mehr miteinander. Selbst die Katholiken sind gespalten: Die Hardcorefraktion hört den PiS-affinen Sender Radio Maria, aber es gibt auch Katholiken, die sich distanzieren, etwa den Jesuitenorden in Krakau. +Ein polnisches Magazin hat jetzt Angela Merkel in Hitler-Pose gezeigt. Sind diese plumpen Ressentiments mehrheitsfähig? +Merkel macht in Wahrheit niemandem Angst, sie ist nach wie vor die beliebteste deutsche Politikerin in Polen. Aber diese aggressiven Cover sind ein Beispiel für die jahrelange Demagogie, die von den rechten polnischen Medien betrieben wird. Da wird jeden Tag gegen Deutschland gehetzt, teils mit Erfolg. Ich habe gestern eine Mail von einer Bibliothekarin aus Südostpolen bekommen, die eigentlich europafreundlich ist. Sie äußerte sich wütend über das eingeleitete Prüfverfahren der EU, ihrer Meinung nach angeführt von Deutschland. Zudem habe sie gelesen, dass 80 Prozent der Medien in Polen deutschen Konzernen gehörten. Sie habe keine Lust auf eine neue Okkupation. Ich habe ihr zurückgeschrieben: Eine der Zeitungen, die die PiS am meisten unterstützt und auch ordentlich gegen Deutschland hetzt, ist das Boulevardblatt Fakt, das ausgerechnet dem deutschen Springer-Verlag gehört. Also könne es doch mit der Okkupation nicht so schlimm sein. +Polen wird dafür kritisiert, dass es sich einer EU-Regelung zur Aufnahme von Flüchtlingen verschließt. Haben die Menschen Angst vor Fremden? +Ja, haben sie. Aber man muss das auch ein Stück weit verstehen. Der ehemalige deutsche Botschafter in Warschau Reinhard Schweppe hat es so formuliert: Polen stehe heute dort, wo Westdeutschland 1960 war. Die erste Phase des Wirtschaftsaufschwungs war damals vorbei, und es kamen die ersten Gastarbeiter. Der Unterschied ist allerdings der, dass die Deutschen diese selbst ins Land geholt haben und 50 Jahre Zeit hatten, sich an ihre Anwesenheit zu gewöhnen. Die Polen werden jetzt zu einem Sprung über 50 Jahre hinweg gedrängt. Wenn man die Deutschen 1960 gefragt hätte, ob sie auf einen Schlag 100.000 Muslime  ins Land holen wollen, hätten die meisten sicherlich Nein gesagt. Und genau das passiert derzeit in Polen. Viele glauben: Wenn fünf Moslems einreisen, dann wird gleich die Scharia eingeführt. Es ist wohl eine ähnliche Hysterie wie in den neuen Bundesländern. Gerade weil man weniger Erfahrungen hat, sind die Ängste übertrieben groß. +Wie geht's weiter in Polen? Werden die Demos größer? +Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder sehen wir in vier Jahren den üblichen polnischen Trotz-Mechanismus, dann wird die Regierung abgewählt. Es kann aber auch sein, dass ihre Popularität steigt, weil sie konsequent ihre populistischen Reformen umsetzt: die Absenkung des Rentenalters, eine Schulreform und 125 Euro Kindergeld. Dafür muss sich das Land allerdings enorm verschulden, weswegen auch das Verfassungsgericht neu besetzt werden musste. Die vorherigen Richter hätten dieser Verschuldung garantiert nicht zugestimmt. Jetzt ist dieses Hindernis beseitigt, und prompt sagte mir ein polnischer Freund anerkennend, er habe das Gefühl, dass zum ersten Mal eine Regierung ihre Wahlversprechen halten wird. +In den vergangenen Jahren war das Interesse der Deutschen an Polen nicht sonderlich groß. Wenn man öfter im Grenzgebiet unterwegs ist, staunt man eher, wie wenig Verkehr es dort gibt. +So ist es auch immer noch. Aber das hindert so manchen deutschen Journalisten ja nicht daran, ordentlich draufzuhauen, auch wenn er sich im Grunde kein bisschen für Polen interessiert. Ich habe in seriösen deutschen Medien wütende Kommentare gelesen, die den Polen schon die Europa-Reife absprechen. Das ist arrogant und ungerecht gegenüber mindestens 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung. +Haben Sie noch die Möglichkeit, in den polnischen Medien Ihre Meinung zu sagen? +Ja. Nächste Woche habe ich zwei Interviews bei großen Radiosendern. Mal sehen, was sie fragen,  aber ich werde mich ganz sicher davor hüten, gute Ratschläge zu erteilen. Kritik sollte man den Polen selbst überlassen, das können sie bis zur Selbstzerfleischung. Ich werde mich stattdessen wieder ein wenig in Selbstironie üben. Damit rechnen sie bei einem Deutschen zu allerletzt. +Steffen Möller (46) muss man schon dafür bewundern, dass er die polnische Sprache perfekt beherrscht, die immerhin sieben grammatikalische Fälle und acht Vokale kennt und ziemlich schwer auszusprechen ist. Vor 20 Jahren ging Möller nach Polen und wurde dort mit einem selbstironischen Kabarettprogramm über das deutsch-polnische Verhältnis sehr populär. In der beliebten Fernsehserie "M jak miłość"  (L wie Liebe) spielte er einen deutschen Kartoffelbauern, zudem arbeitete er als Deutschlehrer an einem Warschauer Gymnasium und als Dozent an der dortigen Uni. In seinem Buch "Viva Polonia"  beschreibt er sein Leben als deutscher Gastarbeiter in Polen; "Viva Warszawa" ist eine Art Stadtporträt. Für seine Verdienste um das deutsch-polnische Verhältnis wurde Möller mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. +Oliver Gehrs fährt regelmäßig nach Polen und entdeckt dort immer wieder interessante Orte: Neulich aß er zum Beispiel an einer Raststätte direkt neben einem großen Krokodil, das ihn durch einen alten Maschendrahtzaun anschaute. diff --git a/fluter/ein-hunni-fuer-jeden.txt b/fluter/ein-hunni-fuer-jeden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bf7ffb6c6ff0e7a6feb19b9389e616e70e6b8a4d --- /dev/null +++ b/fluter/ein-hunni-fuer-jeden.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +"In Otjivero leben Leute, die keiner haben will", beschreibt es Pastor Petrus Khariseb, der Koordinator der Initiative. Landarbeiter, die nicht mehr gebraucht wurden, bauten sich hier Behausungen aus alten Metallresten und anderen wertlosen Materialien. Wenige haben Arbeit, viele nicht genug zu essen. Die Befürworter des Grundeinkommens dachten: Wenn es hier klappt, dann kann es überall funktionieren. Ab Januar 2008 wurde das Geld an alle Bewohner des Ortes ausgezahlt. Doch was machten die Menschen mit dem Geld? Skeptiker fühlten sich bestätigt, als der Eigentümer eines Geschäfts den Medien erzählte, dass sich der Alkoholverkauf immer am Zahltag vervielfache. Doch wie die Projektdaten zeigten, wurde nicht nur Bier und Schnaps gekauft: Am Anfang des Projekts waren 42 Prozent der untersuchten Kinder unter fünf Jahren unterernährt. Nach einem Jahr lag die Quote bei 10 Prozent. In der lokalen Schule wurden plötzlich Schulgebühren bezahlt, die Abbrecherraten sanken drastisch. In der Klinik gab es mehr Behandlungen, weil sich die Patienten plötzlich die Gebühr von vier Namibia-Dollar (35 Cent) leisten konnten. +Das Geld wurde nicht nur ausgegeben, es wurde auch investiert. Von Frida Nembwaya zum Beispiel, die einen schwunghaften Handel mit kleinen Broten aufbaute. Oder von Belinda Beukes, die die Kinder im oft sengend heißen Ort mit selbst gemachtem Fruchteis versorgte. Die Kleinstunternehmen funktionierten, weil es plötzlich Kunden gab. "Was wir nicht erwartet haben, ist, dass man mit relativ wenig Geld diesen lokalen Markt aufbauen kann", sagt Claudia Haarmann, die Frau von Projektleiter Dirk Haarmann. Der vielleicht wichtigste Effekt der Auszahlungen findet sich aber nicht in den Statistiken, sondern in den Worten von Jonas Damaseb aus Otjivero: "Mit BIG haben die Leute ihre Würde zurückgewonnen." +Während es in Omitara-Otjivero aufwärts ging, tobte in den Medien eine Debatte über das Projekt. Unterstützer und Zweifler warfen sich gegenseitig Schönfärberei und Zynismus vor. Schließlich äußerte sich auch der namibische Präsident, Hifikepunye Pohamba: "Wir in der Regierung denken nicht, dass das eine gute Idee ist." Das Konzept würde die Menschen zum Nichtstun animieren. Die Ergebnisse aus Omitara-Otjivero wurden nicht kommentiert. Bald darauf legte die Regierung ein traditionelles milliardenschweres Konjunkturprogramm auf, das mit Investitionen in die Infrastruktur Arbeit schaffen soll. Doch ohne die Unterstützung der Regierung ging es nicht weiter. Die Gelder kirchlicher Organisationen aus Deutschland waren aufgebraucht, und das Netz lokaler Spender reicht nicht, um den BIG langfristig auszuzahlen. Allerdings geben sich die Projektmitarbeiter nach wie vor kämpferisch. Die Aufgabe sei jetzt, weiter über die Erfahrungen in Omitara-Otjivero zu sprechen. "Die Einsicht ist, dass die Leute in Armut das Geld zumindest nicht schlechter ausgeben als die Reichen", sagt Dirk Haarmann. "Dieses Misstrauen gegen die Armen, das muss man abbauen." diff --git a/fluter/ein-junger-tunesier-zieht-in-den-dschihad.txt b/fluter/ein-junger-tunesier-zieht-in-den-dschihad.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..59705f6c431519a576ddc9a1cee2d104663668d3 --- /dev/null +++ b/fluter/ein-junger-tunesier-zieht-in-den-dschihad.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Wie wurde aus dem braven Faysal ein Dschihadist? Was ist der Auslöser, dass er schließlich nach Syrien ausreist? Bereut er heute seine Entscheidung? Vieles lässt sich nicht beantworten, und viel weiß nicht mal seine Familie darüber, wie es Faysal heute geht. Alle zwei, drei Monate ruft er seine Mutter in Tunis an. Einsilbig sei er, "denn die Gespräche werden sicherlich überwacht", erzählt sein Onkel Belgacem. Er sei am Leben, habe geheiratet und eine Tochter bekommen, mehr weiß die Familie nicht. "Er ist irgendwo in Syrien, aber wir wissen nicht mal, für welche Gruppe er kämpft." +Klar ist eigentlich nur: Faysals Radikalisierung beginnt in etwa, als andere Tunesier für Freiheit und Demokratie protestieren und im Januar 2011 den Diktator Zine el-Abidine Ben Ali stürzen. Faysal interessiert sich nicht für Politik. Er besteht derweil mit Ach und Krach sein Abi und fängt ein Studium an. Auch das mit mäßigem Erfolg. "Irgendwann ist er dann nicht mehr zum Fußball, sondern in die Moschee gegangen", erzählt sein Onkel Belgacem. +Die Familie ist selbst konservativ und gläubig. Doch laut Belgacem habe sie bald bemerkt, dass bei dem jüngsten der vier Kinder mehr hinter den Moscheebesuchen steckte als reines Interesse an der Religion. Innerhalb von wenigen Monaten werden Faysals Ansichten immer radikaler. "Er hat sich einen Bart wachsen lassen und wollte, dass seine Eltern den Fernseher abschaffen." Nüchtern reiht der Onkel die Ereignisse aneinander, an denen er die Veränderung seines Neffen festmacht, als versuche er, Ordnung in eine Reihe von Fragen zu bringen, auf die er bis heute keine Antwort finden kann. Bald hätte er Frauen nicht mehr die Hand gegeben. "Einmal ist die ganze Familie auf die Hochzeitsfeier von Nachbarn gegangen, da hat er sich geweigert." Musik und Tanz seien "haram", hat er gesagt. "Haram" bedeutet: für Muslime verboten. +Belgacem sucht damals, im Herbst 2012, das Gespräch mit Faysal. Er war in den frühen 1980er-Jahren selbst in die Fänge radikaler Islamisten geraten. "Am Anfang haben wir damals nur den Koran auswendig gelernt. Dann sollten wir den Umgang mit Waffen trainieren." Da sei er ausgestiegen, gerade noch rechtzeitig, wie er im Rückblick sagt. Er dachte, dass sein Neffe auf ihn hören würde, da er wisse, wovon er spreche. Belgacems Augen füllen sich mit Tränen, er beißt sich auf die Unterlippe. "Ich habe versucht, ihn zur Vernunft zu bringen. Aber ich bin gar nicht mehr an ihn rangekommen." +Als Faysal Ende 2012 nach seinem alten Pass fragt, beginnt die Mutter, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Als Kind war er in Europa gewesen, da er wegen eines Herzfehlers operiert werden musste. 2012 war der Pass längst abgelaufen. Doch um in Tunesien einen neuen Pass zu beantragen, muss der alte abgegeben werden, selbst wenn er nicht mehr gültig ist. "Da ahnte meine Schwester, dass er versuchen wollte, ins Ausland zu gehen", erzählt Belgacem. Die Mutter trägt den Pass seitdem Tag und Nacht bei sich – vergebens. + + +Eines Tages rasiert Faysal sich den Bart ab – wahrscheinlich, um Passfotos zu machen und bei der Ausreise nicht auf den ersten Blick als Islamist verdächtigt zu werden. Einige Wochen später, im Februar 2013, kommt er abends nicht nach Hause. "Wir haben alle Krankenhäuser abgeklappert und bei der Polizei gefragt, ob es irgendwo einen Unfall gab. Nichts." Auch in der Moschee gibt man ihnen keine Auskunft. +Als die Eltern feststellen, dass der Sohn einen großen Rucksack mitgenommen hat, geht die Familie direkt zum Innenministerium. Ein Beamter bestätigt ihnen, dass ihr Sohn ein Flugzeug in die Türkei genommen hat – mit einem regulären tunesischen Reisepass, den er eigentlich gar nicht hätte besitzen dürfen. Warum ihm die Polizei trotzdem einen ausgestellt hat, ist bis heute unklar. Mit Faysal zusammen verschwindet am selben Wochenende ein halbes Dutzend anderer Jugendlicher, die ebenfalls die Moschee des Wohnviertels besucht haben. +Faysal ist einer von vielen jungen Tunesiern, die zu dieser Zeit das Land verlassen haben, um in Libyen, Syrien oder dem Irak für radikalislamistische Gruppen zu kämpfen. Dort stellen Tunesier die größte Gruppe ausländischer Kämpfer. Während die tunesischen Behörden von rund 2.000 Personen ausgehen, spricht die UN von rund 5.000 bis 6.000 tunesischen Dschihadisten, die sich im Ausland aufhalten. Die meisten von ihnen haben ein ähnliches Profil wie Faysal: Es sind junge Männer, die nach dem politischen Umbruch 2011 radikalisiert wurden. Damals wurden bei zwei Generalamnestien nicht nur unter Diktator Ben Ali zu Unrecht verurteilte politische Häftlinge freigelassen, sondern auch Mitglieder von Terrororganisationen. Diese konnten zunächst relativ unbehelligt neue Mitglieder anwerben. +Erst nach den Morden an zwei tunesischen Oppositionspolitikern im Jahr 2013 ging der Staat entschlossener gegen die Organisationen vor. Damals wird auch ein Mann aus Faysals Viertel festgenommen, der reihenweise junge Männer rekrutierte. "Das war Gehirnwäsche, was er gemacht hat", sagt Belgacem. "Und sie haben ihn machen lassen, sie haben einfach zugeschaut." Die Wut des Onkels richtet sich auf die damalige Regierung unter Führung der Ennahda-Partei. Komplizen der Extremisten seien sie, auch wenn sie sich in der Öffentlichkeit als moderate Islamisten darstellen würden. Hätten die Verantwortlichen den polizeibekannten Mann früher festgenommen, hätten sie seinem Neffen keinen Pass ausgestellt. Vielleicht wäre Faysal heute noch in Tunesien. +Als sich an den Nebentisch im Café drei junge Männer setzen, beginnt Belgacem zu flüstern. Dann steht er unvermittelt auf, will lieber den Gesprächsort wechseln. Immer wieder schaut er sich auf der Straße um, ob ihm niemand folgt. Seitdem Faysal verschwunden ist, stehe regelmäßig die Polizei vor der Tür. Auch heute noch komme sie zwei, drei Mal die Woche, um zu fragen, ob die Familie etwas vom verlorenen Sohn gehört hat. Familien, die offen mit Journalisten sprechen, berichten davon, dass sie von der Polizei eingeschüchtert werden. + + +"Die Härte im Umgang mit Verdächtigen ist problematisch" +Warum so viele Dschihadisten aus Tunesien kommen, erklärt die Maghreb-Expertin Isabelle Werenfelsin diesem Interview +Im März 2013 trat Faysals Mutter in einer Talkshow im tunesischen Fernsehen auf, um die Geschichte ihres Sohnes zu erzählen. Zehn Frauen hatten damals zugesagt. Doch alle außer ihr haben im letzten Moment einen Rückzieher gemacht, und sie saß am Ende alleine vor dem Moderator. Auch Faysals Mutter wurde im Vorfeld des Auftritts von den Extremisten aus ihrem Viertel bedroht. "Ich habe meinen Sohn verloren, das ist schlimm genug. Sie können mich ruhig umbringen", sagt sie damals. Nach wenigen Minuten bricht sie vor laufender Kamera zusammen. Seitdem spricht sie nicht mehr mit der Presse. +Als die Mutter im Fernsehstudio sitzt, sind Belgacem und Faysals Vater gerade in der Türkei. Drei Wochen vorher war Faysal von Tunis nach Istanbul geflogen. Sie versuchen, den jungen Mann zu finden und nach Tunesien zurückzuholen. "Im tunesischen Konsulat in Ankara hat man uns gesagt, dass sie nichts für uns tun können." Doch sie bekommen einen Tipp und treffen einen Mittelsmann, der den Transfer von Tunesiern an die syrische Grenze organisiert. Gegen 800 Euro erklärt er sich bereit, den 22-Jährigen zu suchen. "Nach ein paar Tagen sagte er, der Junge sei schon in Syrien, da könne er nichts mehr machen." Unverrichteter Dinge fahren Vater und Onkel nach Tunesien zurück. +Seitdem bleiben nur noch die Anrufe. Belgacem klammert sich an diese unregelmäßigen Lebenszeichen seines Neffen. Solange dieser lebt, will er die Hoffnung nicht aufgeben, dass er eines Tages nach Tunesien zurückkehrt. "Besser hier im Gefängnis als dort." + +Auch der junge Mann auf dem Titelbild (Foto: Chris Huby/HAYTHAM-REA/laif) plant seine Ausreise nach Syrien. "Warum sollte ich nicht in Syrien sterben anstatt hier in Tunesien? Hier gibt es nichts zu tun...", sagt er. Sein Gesicht verdeckt er deshalb, weil ihm von radikalen Islamisten verboten wurde, über sein Vorhaben zu sprechen. diff --git a/fluter/ein-kapitaler-bock.txt b/fluter/ein-kapitaler-bock.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..91fc89c82c882c7698c4369cd3df357aeae235ba --- /dev/null +++ b/fluter/ein-kapitaler-bock.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Spätestens als ihr Album "Feinde Deiner Feinde" vor zwei Jahren erstmals die Nummer eins der deutschen Albumcharts war, wurden Frei.Wild zum Politikum. Denn vielen gelten sie als "irgendwie rechts". Dabei geht es um umstrittene Songtexte der Band genauso wie um die Vergangenheit von Sänger und Songschreiber Philipp Burger, der einst Mitglied einer Rechtsrockband ("Kaiserjäger") und einer rechtspopulistischen Partei ("Die Freiheitlichen") war. +Heute singt er mit Frei.Wild unter anderem vom Stolz der Band auf ihre zu Italien gehörige Heimatregion Südtirol oder über "wahre Werte" der "Heimat" wie "Sprache, Brauchtum und Glaube". Oft geht es bei Frei.Wild um Freundschaft, Kameradschaft und Identität – eine Identität, die sich auf die Abstammung, die eigenen "Wurzeln" bezieht. Auch deswegen wird der Gruppe vorgeworfen, Patriotismus, Nationalismus und Chauvinismus wieder salonfähig machen zu wollen. Doch ist das rechts oder gar rechtsextrem? Die Band und ihre Fans weisen derartige Vorwürfe zurück, manch einer fühlt sich dabei an die "Ich bin kein Nazi, aber …"-Rhetorik von vielen Pegida-Anhängern erinnert oder an vergleichbare Diskussionen um die Ausrichtung der Böhsen Onkelz in den 90er-Jahren. +Licht ins Dunkel soll nun die erste umfassende Bandbiografie von Frei.Wild bringen, die Ende April erschienen ist. Der Autor des neuen Buches ist dabei keiner, den man mit rechtskonservativen Kreisen oder übermäßigem Patriotismus in Verbindung bringt, im Gegenteil: Klaus Farin kommt aus der Punkszene und hat das Berliner Archiv der Jugendkulturen aufgebaut und zahlreiche Sachbücher über popkulturelle Phänomene geschrieben, mit meist empirischem Zugang. Wenn so einer eine Biografie mit dem Titel "Frei.Wild – Südtirols konservative Antifaschisten" schreibt, darf man neugierig sein. +"Frei.Wild", so schreibt Klaus Farin einleitend, seien "zum Seismografen einer im Umbruch befindlichen Gesellschaft geworden." Und tatsächlich zeigt Farin, dass man sämtliche Debatten zu Themen wie Migration, Politikverdrossenheit, Gender Mainstreaming und neoliberaler Globalisierung auf der Folie dieser Band erzählen kann. +Farin konnte aus allen Gesprächen mit der Band verwenden, was er wollte, man stellte ihm Foto- und Archivmaterial zur Verfügung. "Offen gestanden war ich erstaunt, dass Frei.Wild sich darauf eingelassen hat. Die Band wusste von vornherein, dass unsere Ansichten in vielen Punkten auseinandergehen", schreibt Farin im Vorwort. Das Buch nun hat Lexikongröße und -schwere. +Sein Buch besteht aus Musikerporträts (inklusive Burgers Vergangenheit bei Kaiserjäger), aus Exkursen zum Heimatbegriff in Deutschland und zur jüngeren Geschichte Südtirols. Farin zeigt auf, wie Südtirol im 20. Jahrhundert hin- und hergerissen war zwischen Mussolini-Italien und Hitler-Deutschland und nach dem Zweiten Weltkrieg erneut Italien zugesprochen wurde, zu dem es heute noch zählt, obwohl es zusammen mit der Provinz Trient die selbstverwaltete Region Trentino-Südtirol bildet. Die Muttersprache der Südtiroler Bevölkerung ist überwiegend Deutsch. +Farin lässt Musikwissenschaftler, Aussteiger aus der rechten Szene und gar einen Neonazi-Musiker von der Band "Stahlgewitter" zu Wort kommen. Die Ergebnisse und Zitate aus einer Befragung von mehr als 4.000 Frei.Wild-Fans finden sich überall im Buch wieder, auch gibt es einen – ziemlich ausführlich geratenen – Statistikteil, der mit der Genauigkeit von Wahlanalysen alles über die Fans der Gruppe verrät. Dazu kommen unzählige Abbildungen der Band, der Fans und der Tätowierungen der Fans. +Warum Frei.Wild so umstritten sind, ist natürlich ebenfalls Thema. Klaus Farin begründet es vor allem damit, dass die Band sich heute in einem gesellschaftlichen Milieu bewegt, in dem man sich politisch nicht verstanden oder repräsentiert fühlt, einem diffusen Raum der Globalisierungsskepsis, Medienkritik und einer gesellschaftlichen Neuauslotung von Wertvorstellungen. Wie sich das konkret anhört, verdeutlicht eine Aussage von Bassist Jochen "Zegga" Gargitter im Interview mit Farin: "Viele Südtiroler sind sich zum Beispiel einig darin, dass eine einheimische Familie mit fünf Kindern nicht am Lebensminimum leben soll, während eine Familie aus weiß Gott woher zugewandert hier ankommt und sofort eine Wohnung sowie Sozialleistungen für mindestens drei Jahre gestellt bekommt, auch in den Krankenhäusern eine kostenlose Behandlung erhält (…). Ist das eine ‚rechte' Haltung? Für mich nicht!" Es ist schwer irritierend, dass Autor Farin bei diesen Äußerungen nicht nachhakt. Hätte es eine bessere Gelegenheit gegeben, das Heimatbild der Bandmitglieder anhand derartiger Behauptungen zu überprüfen? +So aber werden aus den "Interviews" mit den Musikern Plattformen zur Selbstdarstellung. Auf diese Weise lernt man natürlich viel über die Wertehaltung von Frei.Wild, über die der Musikwissenschaftler Thorsten Hindrichs in einem der aufschlussreichsten Interviews des Buches sagt: "Die sind nicht rechtsradikal, die sind nichtGrauzone– die sind rechtspopulistisch." Auch weitere Kritiker kommen zu Wort; so sagt etwa Armin Mutschlechner, der Sozialarbeiter, in dessen Jugendclub die musikalische Karriere von Frei.Wild begann, über "Wahre Werte": "Das, was durch diesen Song vermittelt wird, ist nicht das Südtirol von heute, sondern rückwärtsgewandtes Wunschdenken." +Rückwärtsgewandtheit zeigt sich auch, wenn alle vier Musiker betonen, sie könnten sich keinesfalls eine Frau als Bandmitglied vorstellen. "Den ganzen Stress, den möchte ich nicht wirklich haben", sagt Burger dazu. "Da Regelbeschwerden, da eine Schwangerschaft, hier die Eifersüchtigen, also unsere Partnerinnen zu Hause, und dort ein eifersüchtiger Kerl der Musikerin." Sachverhalte erklärt Burger gerne in Naturanalogien: So stoße man sich etwa in den Jugendjahren "die Hörner" ab, man lerne dann aber, "Rangordnungen zu erkennen". Dass man sich auf seine Heimat und seine Wurzeln besinnt, wird oft als eben natürliches Phänomen dargestellt. +Sicher kann man sich nach der Lektüre ein sehr gutes Bild von der Band machen. Die Geschichte um Burger und Frei.Wild und die zahlreichen Interviews lesen sich größtenteils gut, nur die Exkurse und Fanbefragungen verlieren sich ins Uferlose. Insgesamt ist Farin aber absolut keine kritische Biografie gelungen. Seine Schlussfolgerungen wirken nicht überzeugend, etwa wenn er schreibt, xenophobe Äußerungen seien in Südtirol eben Mainstream und "normaler" als hierzulande. +Vieles im Buch funktioniert über Personalisierungen – es gibt jede Menge Material und O-Töne von Fans und Begleitern der Band, die oft merkwürdig ergebnislos im Raum stehen und wenige Erkenntnisse bringen. Auch geht mitunter die Distanz zum Gegenstand verloren, so spricht Farin von einer "absolut überzogenen, kaum von Faktenwissen getrübten Kampagne gegen die Band", ohne dies ausführlicher zu erläutern. Auch die Bildsprache zeigt, dass sich Farin in einem Spagat zwischen kritischer Biografie und Fan-Buch versucht, der nicht gelingen kann: Großformatige, oft hagiografische Abbildungen sind da zu sehen – die vier "Jungs" in Rockstarpose, nachdenklich, als süße Kinder oder auf Selfies gemeinsam mit anderen Künstlern oder Fans. +Den provokanten Titel der "konservativen Antifaschisten" wählt Farin im Übrigen, weil er in dem Buch ausführlich beschreibt, inwiefern sich Frei.Wild heute von allem Extremistischen abgrenzen. Eine fragwürdige Titelwahl, allein deshalb, weil die Band Aktionen wie "Frei.Wild gegen Rassismus und Extremismus" ja erst als Reaktion auf die Angriffe der Öffentlichkeit initiiert hat. Und wer sich die Geschichte des Begriffs "Antifaschismus" anschaut, der dürfte über diese Wortwahl nur den Kopf schütteln. diff --git a/fluter/ein-kilobyte-gehacktes-bitte.txt b/fluter/ein-kilobyte-gehacktes-bitte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..da7ab297c6bacfaa639893eb3c9d1643d538f9eb --- /dev/null +++ b/fluter/ein-kilobyte-gehacktes-bitte.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Germany says Welcome will möglichst viele Funktionen miteinander verknüpfen, sodass sich die Nutzer nicht länger mehrere Programme zusammensuchen müssen. Integriert ist ein regionaler FAQ-Bereich mit Antworten aus den kommunalen Behörden; je nachdem, in welcher Stadt die App aufgerufen wird, stellt sie unterschiedliche Inhalte bereit. Enthalten ist auch eine Karte, in der unter anderem WLAN-Spots, Ämter und Krankenhäuser markiert sind. Außerdem haben die jungen Entwickler das "Refugee Phrasebook" eingebunden, ein Wörterbuch, das erste Verständigungsbarrieren in mehreren Sprachen überbrücken soll. Die App ist seit Neuestem in zeitliche Etappen unterteilt: Erst hilft sie mit wichtigen Begriffen und Orten bei der Erstaufnahme, später bei der Jobsuche. +Patrice arbeitet mittlerweile mit einem zwanzigköpfigen Team zusammen. Sie suchen sich Unterstützung aus der Politik und binden andere Projekte wie die Jobbörse "Workeer" oder das soziale Netzwerk "WeConnect Berlin" mit ein. Germany says Welcome ist aber nur eines von mehreren Softwareprojekten, die Patrice zu verdanken sind – und das mit 17 Jahren: "Ich habe auch mal Serien geguckt und vor der Konsole meine Zeit vertrödelt", erinnert sich Patrice. "Das hat mich aber geärgert. Also habe ich die Playstation verkauft und das Geld in ein MacBook investiert." Seitdem ist sein Hobby das Coden. +Damit ist Patrice nicht allein. Die "Open Knowledge Foundation" und die Organisation "Mediale Pfade" haben vor drei Jahren mit den "Jugend hackt"-Events begonnen. Zuerst waren 60 Jugendliche dabei, ein Jahr darauf bereits 120. Inzwischen haben solche Hackathons in Dresden, Ulm, Köln, Hamburg und Berlin stattgefunden. Die jungen Technikfreaks mögen den Open-Source-Gedanken, den Hacker weltweit unterstützen. Alle entwickelten Codes können von allen verwendet werden und sollen der Gemeinschaft dienen. "Wir haben nicht das Geld zum Spenden und keine Autos für Fahrdienste", sagt Patrice. "Aber wir sind im Netz aufgewachsen und verfügen über die technischen Kenntnisse, die andere nicht haben." +Bei "Jugend hackt" lernen die Jugendlichen voneinander und werden dabei von Mentoren betreut – allesamt ehrenamtliche Software- und Hardwareentwickler. "Wir planen gemeinsam, welche der Ideen sich auf welche Art realistisch umsetzen lassen", erklärt Daniel Seitz, einer der Mentoren. Und welche Entwicklungen überhaupt nützlich sind. Schließlich sollen die Kids nicht nur Software schreiben, sondern auch ein bisschen die Welt verbessern. Häufig übertreffen sie sogar die Erwartungen ihrer Mentoren: "Wir sind immer wieder überrascht von manchen Projekten", erzählt Seitz. +Gerade entstand "CrowdFlow" – ein Programm, mit dem sich die Bewegungen großer Gruppen mithilfe von Smartphones und ihrer Signale messen lassen, die bei der Suche nach WLAN-Spots gesendet werden. Damit können sich Staus oder Engpässe auf Großveranstaltungen vorhersehen lassen – oder eben, wie viele Menschen gerade an einer Landesgrenze warten. Weil solche Daten aber auch missbraucht werden könnten, mussten die jungen Entwickler dafür sorgen, dass so eine Messung anonym erfolgt. "Da haben die Kids auf Bitebene an Nullen und Einsen getüftelt", sagt Mentor Seitz mit unverholenem Stolz. +Philipp Brandstädter ist freier Journalist in Berlin. Als 17-Jähriger hat er sich lieber der digitalen Film- und Musikpiraterie gewidmet, anstatt mit einem Code die Welt zu verbessern. diff --git a/fluter/ein-kind-das-heute-verhungert-wird-ermordet.txt b/fluter/ein-kind-das-heute-verhungert-wird-ermordet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4713464e39da605e0a59a5c84110438c01f409ec --- /dev/null +++ b/fluter/ein-kind-das-heute-verhungert-wird-ermordet.txt @@ -0,0 +1,37 @@ +Wen trifft der Hunger am schlimmsten? +Die Babys und Kleinkinder. Die kritische Phase ist von minus neun Monaten bis plus 24 Monate. Also die Zeit der prä- und postnatalen Ernährung, in der sich im Gehirn verstärkt die Neuronen bilden. Selbst wenn ein Kind später adoptiert wird oder der Vater Arbeit bekommt und zu einem normalen Leben zurückkehrt, ist es dauerhaft geschädigt. Das sind Gekreuzigte von Geburt an, Krüppel auf Lebenszeit. +Laut World Food Report stirbt alle fünf Sekunden ein Kind unter fünf Jahren an Hunger und damit verbundenen Krankheiten. Alle vier Minuten verliert jemand das Augenlicht wegen Vitamin-A-Mangel. Seit April 2009 sind zum ersten Mal über eine Milliarde Menschen weltweit schwerst unterernährt, obwohl die Welt reich wie nie zuvor ist. Wie kommt es zu diesem Widerspruch? +Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Am 12.10.2008 kamen die Staatschefs der EU in Paris zusammen und verkündeten, dass es zur Bekämpfung der Finanzkrise 1.700 Milliarden Euro neue Bankenkredite und Bürgschaften geben wird. In den zwei Monaten danach wurden die Beträge für die Nahrungssoforthilfe um 41 Prozent gekürzt, weil kein Geld mehr für das World-Food-Programme der UN da war, dessen Budget von sechs Milliarden Dollar Ende 2008 auf unter vier Milliarden fiel. +Wollen Sie damit sagen, dass die Bankenkrise die Situation der Ärmsten verschlimmert hat? +Das kann man durchaus so sehen. In Bangladesch hat es dadurch von einem Tag auf den anderen für eine Million Kinder keine Schulspeisungen mehr gegeben, dabei ist das Essen in der Schule für diese Kinder die einzige anständige Mahlzeit am Tag. +Die UN haben errechnet, dass die Weltlandwirtschaft zwölf Milliarden Menschen ernähren kann, das ist fast doppelt so viel wie es derzeit gibt.Warum hungern dann trotzdem so viele Menschen? +Eigentlich müsste niemand verhungern. Es gibt zum Beginn dieses Jahrtausends keine Fatalität wie früher, als es Hungerflüchtlinge aus Baden- Württemberg gab oder aus dem Tessin. Ein Kind, das heute am Hunger stirbt, wird ermordet. Der Hunger ist menschengemacht. Es gibt den sogenannten "strukturellen Hunger" durch die unterentwickelten Produktionsstrukturen in den armen Ländern. Ein Hektar in der Sahelzone ergibt in normalen Zeiten 600 kg Getreide, in Bayern oder Brandenburg erwirtschaftet man auf derselben Größe Land zehn Tonnen – nicht weil der Bauer in Burkina Faso oder Mali weniger klug oder kompetent ist, sondern weil die Bauern in Deutschland Dünger haben, Traktoren, bessere Samen. Der Bauer in Schwarzafrika hat gar nichts, weil sein Land zu verschuldet ist, um zu investieren. Von den 53 Staaten in Afrika sind 37 reine Agrarländer, die gerade mal vier Prozent ihres Haushalts in die Landwirtschaft stecken. Sie brauchen alle Devisen für den Schuldendienst. +Das heißt, die Schulden der Länder verschlimmern die Lage? +Die Schulden der 122 Entwicklungsländer betragen zusammengenommen 2.100 Milliarden Dollar. Es ist die Politik des Weltwährungsfonds, die Länder zu zwingen, die Gläubigerbanken zu bezahlen. Dafür benötigt man Kolonialgüter, also zum Beispiel Erdnüsse aus dem Senegal für die Speiseölindustrie oder Baumwolle für die Textilbranche. Überall wo der Weltwährungsfonds Strukturmaßnahmen durchführt, steigen die Agrarflächen für den Export. Wo aber Baumwolle wächst, da wächst keine Hirse mehr. Mali hat im vergangenen Jahr 380.000 Tonnen Baumwolle exportiert, aber etwa 70 Prozent seiner Nahrungsmittel importiert, zum Beispiel Reis aus Thailand, der nach der Ernte drei Monate auf dem Meer unterwegs ist. +Welche Gründe spielen Naturkatastrophen und Kriege? +Das nennt man den "konjunkturellen Hunger", der entsteht, wenn eine Ökonomie plötzlich zusammenbricht wie bei einem Krieg oder bei einer Naturkatastrophe. Davon sind derzeit 71 Millionen Menschen betroffen. Die Massaker in Darfur haben dazu geführt, dass mehr als zwei Millionen Menschen auf der Flucht sind – alles Menschen, die vom World-Food-Programme der UN abhängig sind. In Somalia und Darfur verteilen die UN Tagesrationen für Erwachsene mit 1.500 Kalorien. Dieselben UN sagen, dass das absolute Minimum für einen Menschen 2.200 Kalorien sind. Mit anderen Worten: Wegen fehlender Mittel organisiert die UNO die Unterernährung, die zur Agonie führt. +Hat die Entwicklungshilfe versagt? +Es geht darum, den armen Länder weniger wegzunehmen, dann macht auch irgendwann das Geben wieder mehr Sinn. +Welche Rolle spielen die Subventionen für die europäische Landwirtschaft? +Das sogenannte Agrardumping ist mörderisch. Im letzten Jahr haben die Industrienationen 349 Milliarden Dollar an Produktions- und Exportsubventionen für Bauern ausgegeben. Die Überproduktion, die so entsteht, wird nach Afrika exportiert. Sie können auf jedem afrikanischen Markt deutsches oder französisches Obst, Gemüs oder Geflügel kaufen – für die Hälfte des Preises der afrikanischen Produkte. Der Bauer, der unter sengender Sonne mit seiner Frau und den Kindern den Acker bestellt, hat keine Chance gegen die Subventionen. Und dann wundern wir uns, wenn die Überlebenden auf morsche Kähne gehen und über das Mittelmeer oder den Atlantik nach Europa zu flüchten versuchen. +Nach dem Zusammenbruch des Immobiliensektors stürzen sich die Banken nun auf den Agrarsektor. Welche Folgen hat das? +Mit der Finanzkrise sind die Hedgefonds auf die Agrarmärkte ausgewichen und haben dort mit Spekulationen und Termingeschäften astronomische Gewinne erzielt. In fast jeder Schweizer Bank liegen Prospekte für sogenannte "Exchange-Zertifikate " für Reis aus. Das ist eine Art Wette auf den Reispreis. Je mehr mitmachen, desto höher klettern die Reispreise. Große Teile der urbanen Bevölkerung, also die Menschen in den Slums dieser Welt – egal ob in Rio, Karatschi oder Mexico-City –, können sich kaum noch ernähren, weil selbst die Brotpreise explodieren. +Sie kritisieren auch die Herstellung von Biodiesel – dabei ist das einigen Studien zufolge ja eins der wenigen wirksamen Mittel gegen die Erderwärmung. +Im vorletzten Jahr haben die USA 138 Millionen Tonnen Mais verbrannt und Hunderte Millionen Tonnen Getreide, u. a. weil sich die USA von den arabischen Öllieferanten unabhängig machen wollen. 12 Millionen Barrel pro Tag des in den USA verbrauchten Erdöls kommen aus dem Ausland, genauer aus politisch sehr fragilen Weltregionen. +Zumal es noch mehr Flüchtlinge geben wird, wenn wir die Klimakatastrophe nicht aufhalten. +Dennoch: Solange auf diesem Planeten alle fünf Sekunden ein Kind verhungert, ist das Verbrennen von Nahrungsmitteln ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Für 50 Liter Biotreibstoff müssen sie 120 Kilogramm Mais verbrennen, damit kann ein Kind in Sambia oder Mexiko ein Jahr lang leben. Punkt. +Wie kann man den Hunger in der Welt wirksam bekämpfen? +Die Gründe für die Katastrophe sind menschengemacht und können alle vom Menschen revidiert werden. Jean-Paul Sartre hat gesagt, wer die Menschen lieben will, muss sehr stark hassen, was sie unterdrückt – in diesem Fall die kannibalistische Weltordnung, die Diktatur des globalisierten Finanzkapitals, das eine Macht hat, die ein König oder ein Kaiser nie hatte. Man kann alle Kausalitäten des Hungers nehmen und alle können in einem demokratischen Staat umgestoßen werden. Man kann zum Beispiel die Börsenspekulation mit Agrarprodukten per Gesetz verbieten, man kann gegen das Verbrennen von Nahrungsmitteln ein Moratorium verhängen und man sollte das Agrardumping verbieten. Die Bürger der westlichen Länder könnten verlangen, dass sich ihre Finanzminister beim Weltwährungsfonds für eine Totalentschuldung der ärmsten Länder einsetzen, anstatt für die Interessen der Gläubigerbanken. +Aber kann ich als Verbraucher etwas ausrichten? +Ein junger Mensch darf nie die Idee haben, dass er ohnmächtig ist, dass man nichts tun kann. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Vor zwei Jahren war ich beim G8-Gipfel in Heiligendamm und habe Zehntausende demonstrieren sehen. Das ist eine neue Zivilgesellschaft, die nach dem kategorischem Imperativ handelt. Die Unmenschlichkeit, die einem andern angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir. +Ist das nicht arg moralisierend? +Ist es nicht, es geht um knallharte politische Interessen: Wenn Parteien in Zukunft Wahlen gewinnen wollen, müssen sie die Forderungen der Zivilgesellschaft übernehmen. Und auch Konzerne müssen den Druck der Verbraucher spüren. +Warum erscheint die Politik eigentlich so machtlos gegenüber den Konzern- und Bankeninteressen? Es ist doch langfristig so, dass das Elend immer größere Flüchtlingsströme hervorbringt, den Hass auf den Westen schürt und den Terror sät, der einen immensen volkswirtschaftlichen Schaden anrichtet. +Das ist dem unbedingten Glauben an den Markt geschuldet und dass ökonomische Gesetze wie Naturgesetze seien. Diese metasoziale Sichtweise hat die Parteien vergiftet und verhindert eine analytische Weltsicht. An deren Stelle ist die neoliberale Wahnidee getreten. Die Refeudalisierung der Welt durch Konzerne schafft Abhängigkeiten. Bei Politikern, aber auch bei den Bauern, die für ihr genmanipuliertes Saatgut jährlich Lizenzgebühren zahlen. +Aber kann die Gentechnik nicht dazu beitragen, den Welthunger zu lindern? +Das ist die große Lüge der Saatgutkonzerne. Es stimmt zwar, dass die Gentechnik auf der Produktionsseite unglaublich viel leistet. Ich habe in Indien Reissorten mit doppelt so langen Ähren gesehen, wetter- und pestizidbeständig. Die genmanipulierten Auberginen sind zehnmal größer als normale. Aber es gibt zwei Probleme: das Gesundheitsrisiko, das heute noch keiner kennt, und zweitens eine neue Art der Schuldknechtschaft. Die gentechnischen Produkte sind durch Patente abgesichert, da gibt es Lizenzen und Gebühren. Seit Jahrtausenden hat nicht nur in Afrika jeder Bauer einen Teil seiner Ernte als Saat für das nächste Jahr genommen. Wenn sie das in Zukunft tun, kommen die Anwälte der Konzerne und fordern Lizenzgebühren. +Rund 40 Prozent des EU-Haushalts werden als Agrarsubventionen eingesetzt. Muss man die abschaffen? +Die Subventionen sind so lange vertretbar, wie es um die Multifunktionalität geht. Die Unterstützung für den Landschaftsschutz muss bleiben. Die Bergbauern im Engadin etwa müssen die Landschaft pflegen, sonst kommt die nächste Lawine und dann ist Schluss. Aber die Exportsubventionen müssen weg, oder wir müssen zumindest Hungerflüchtlingen Asyl gewähren in Europa. Man stirbt ja nicht nur an einer Polizeikugel, man stirbt viel mehr am Hunger. Das muss ein Grund für Asyl sein. +Kann die Besinnung auf Biolandwirtschaft zu einer gerechteren Verteilung beitragen? +Nein, kann sie nicht. Ich kann als Konsument für mich und die Umwelt viel tun, aber die Gewaltstrukturen lösen sich dadurch nicht auf. Oder nur ein bisschen: Wenn ich keine gentechnisch veränderte Nahrung esse und Gemüse und Obst nur aus der Region, treffe ich zumindest die großen Nahrungsmittelkonzerne. Außerdem ist Bioanbau gesünder und nachhaltiger für den Boden. Es erhält ihn und erlaubt den Fortbestand einer Landwirtschaft, die nicht der Industrialisierung unterworfen ist. +Jean Ziegler ist spätestens seit seinem Auftritt in dem Dokumentarfilm "We feed the world" der bekannteste Experte für das Hungerproblem. Er ist Mitglied des Menschenrechtsrats der UN und war deren Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Zuletzt schrieb er das Buch "Der Hass auf den Westen" (C. Bertelsmann, 2009, 286 S.) diff --git a/fluter/ein-koenigreich-verschwindet.txt b/fluter/ein-koenigreich-verschwindet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2d1f032f6197b0dbe27951e072f1f16ac24aa701 --- /dev/null +++ b/fluter/ein-koenigreich-verschwindet.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Dabei ist Swasiland im Grunde kein armer Staat. Den Zahlen nach gehört es sogar zu den wohlhabenden Ländern Afrikas. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist mehr als doppelt so hoch wie in Indien. Doch der Wohlstand in Swasiland ist extrem ungleich verteilt: Während Mswati III. und sein Umfeld jährlich riesige Summen für Partys, Einkäufe und Luxusautos ausgeben, leben zwei Drittel der Bevölkerung in Armut, etwa ein Fünftel der Gesamtbevölkerung ist auf Lebensmittelhilfe angewiesen. Höhere Schulbildung oder gar ein Studium können sich nur die reichsten Swasis leisten. Das Vermögen des Monarchen schätzt das Wirtschaftsmagazin "Forbes" auf 200 Millionen Dollar, doch die Staatskasse ist leer, angeblich steht das Land sogar kurz vor der Pleite. Kredite will das Nachbarland Südafrika nur noch gewähren, wenn das Königshaus demokratische Reformen zulässt und die Menschenrechte achtet. +Vom 13-mal verheirateten König Mswati III. ist allerdings wenig Einsicht zu erwarten. Obwohl Studien das Gegenteil belegen, hält er an seiner Überzeugung fest, dass Polygamie mit der Ausbreitung von HIV "nichts zu tun hat". Und im Vergleich zu seinem Vater König Sobhuza II. ist die Zahl der Ehefrauen Mswatis ja auch moderat: König Sobhuza hatte im Laufe seines Lebens mindestens 70 Frauen geheiratet. diff --git a/fluter/ein-lebenslanges-dilemma.txt b/fluter/ein-lebenslanges-dilemma.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/ein-lied-fuer-nour.txt b/fluter/ein-lied-fuer-nour.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c08c549a0a440042c6decc4ec4233dc8e4f185a0 --- /dev/null +++ b/fluter/ein-lied-fuer-nour.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Der Regisseur Hany Abu-Assad hat Mohammed Assafs Geschichte jetzt zu einem Spielfilm verarbeitet. Abu-Assad ist Palästinenser mit israelischem Pass ("israelischer Araber", wie die offizielle jüdisch-israelische Bezeichnung lautet). Er war selbst zu Hause im überwiegend von Arabern bewohnten Nazareth dabei, als sich dort zum Finale von "Arab Idol" Tausende zum Public Viewing im Freien versammelten, um das Live Voting mitzuerleben. Erst drei Wochen zuvor hatte Hany Abu-Assad auf dem Filmfestival in Cannes einen Jurypreis für seinen Film "Omar" gewonnen. Doch sein eigener Erfolg verblasste, wie er sagt, vor dem Triumph des jungen Sängers. "Ich hüpfte herum wie ein kleiner Junge, so begeistert war ich schon lange nicht mehr gewesen", zitiert ihn das Presseheft zum Film. Mohammeds Geschichte zu verfilmen, sei ihm eine echte Herzensangelegenheit gewesen. +Trotz aller patriotischen Gefühle hat Hany Abu-Assad jeder Versuchung widerstanden, seinen Film mit politischer Symbolik aufzuladen. Er vermeidet sie sogar, wo es nur geht. Noch nicht einmal zufällig rutscht auch nur eine palästinensische Flagge ins Bild (abgesehen von wenigen dokumentarischen Aufnahmen am Schluss, als Menschen gezeigt werden, die auf der Straße Mohammed Assafs Sieg feiern). Die politische Situation im Gazastreifen thematisiert der Film nicht. +Das ist auch unnötig, denn die Geschichte spricht für sich. Zur Zeit der Dreharbeiten, die 2015 stattfanden, war derGazakrieggerade ein paar Monate vorbei. Überall schieben sich Trümmer ins Bild. Eine wundervolle Szene zu Beginn des Films zeigt eine Gruppe von Kindern, die am Grenzzaun entlang radeln und rennen. Sie sind bestens gelaunt und sprühen vor Energie; den Zaun scheinen sie nur insofern wahrzunehmen, als man auf dem menschenleeren, unbebauten Niemandsland, das sich davor erstreckt, ein besonderes Gefühl von Weite spürt. Grenzen, das zeigt diese Szene, entfalten vor allem dann ihre Wirkung, wenn man sie in den Kopf hineinlässt. +Aber Mohammed, seine Schwester Nour und ihre Freunde haben schon etwas ganz anderes im Kopf: Musik! Sie sind noch Kinder, aber sie brennen für die kleine Band, die sie gegründet haben. Mit teils selbstgebauten Instrumenten und Mohammeds schöner Stimme verdienen sie auf der Straße ab und an ein paar Schekel. Sie sparen auf richtige Instrumente, denn sie wollen auf Hochzeiten auftreten. Mohammeds Schwester Nour ist die treibende Kraft hinter dem Unternehmen und spornt die anderen unermüdlich an. +Da es sich um einen Spielfilm handelt, nimmt Hany Abu-Assad sich im Sinne der Erzählung gewisse Freiheiten, erfindet dramatische Episoden und spannt narrative Bögen, um Zusammenhänge zu schaffen. Es ist eine Gratwanderung, denn gleichzeitig soll sein Film ja die Geschichte des echten Mohammed Assaf wiedergeben. Die ist einerseits märchenhaft genug. Als Einwohner des Gazastreifens hat er nicht mal ein legales Visum für Ägypten erhalten, wo das allererste Casting stattfand. Was dann folgt, ist so unglaublich, dass es sich gar nicht erfinden lässt. Andererseits ist sie auch tragisch, denn Mohammeds Karriere wird von Krankheit und frühem Tod der geliebten Schwester Nour überschattet. +Abu-Assads Film wirkt insgesamt ein bisschen behäbig. Doch das recht gemächliche Erzähltempo spiegelt auch die besondere Sorgfalt im Umgang mit dem Stoff, der politisch und emotional durchaus heikel ist, wenn man ihn als Film erzählt. Hany Abu-Assad aber gelingt eine Geschichte, die berührt, ohne rührselig zu werden. Und dabei erzählt er ganz nebenbei mehr über das Leben der Menschen im Gazastreifen, als wir hierzulande je aus den Nachrichten erfahren könnten. +"Ein Lied für Nour", Regie: Hamy Abu-Assad, mit: Tawfeek Barhom, Nadine Labaki, Hiba Attalah, 95 Min. diff --git a/fluter/ein-nasser-hund-film-rezension.txt b/fluter/ein-nasser-hund-film-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..63138479693ba7d0c44f4981c7c59ccaab0e7ac8 --- /dev/null +++ b/fluter/ein-nasser-hund-film-rezension.txt @@ -0,0 +1,5 @@ + +Soheils Eltern sind auch weitestgehend hilflos. Kida Khodr Ramadans Rolle als Soheils Vater beschränkt sich darauf, immer ein bisschen traurig zu gucken und in etwa hundert Szenen seinen Sohn auszuschimpfen, weil der wieder irgendetwas Kriminelles angestellt hat. Als Soheil seine Eltern fragt, warum sie überhaupt in den Wedding gezogen seien, warum hier alle die Juden hassten, hofft man auf einen etwas tiefschürfenderen Vater-Sohn-Dialog. "Setz dich hin, wir müssen reden!", sagt der Vater, nur um seinem Sohn dann zu antworten, dass der sich nicht unterkriegen lassen soll, einfach wieder aufstehen, wenn er hinfällt. +Auch andere Dialoge wirken leider oft wie die Persiflage eines Coming-of-Age-Konflikts, was wahnsinnig schade ist, weil die jugendlichen Darsteller – für viele ist es der erste Film – eigentlich eine durchgehend solide schauspielerische Leistung abliefern. Man fühlt sich stellenweise an die gut besetzte Serie "Dogs of Berlin" erinnert, die ebenfalls an einem wirren, effekthascherischen Drehbuch krankte. Immerhin gibt es mit Soheils Schwarm Selma (Derya Dilber) und seinem besten Freund Hussein (Mohammad Eliraqui) zwei Figuren, die zumindest ansatzweise hin- und hergerissen sind zwischen ihrer Zuneigung zu Soheil und ihremanerzogenen Hass auf Juden. Hier hätte der Film fokussieren sollen, Wandlungen darstellen, Ursachen und Komplexitäten ausleuchten können. Stattdessen beschränkt er sich auf Plattitüden wie etwa den von Selma gesprochenen Satz "Liebe kennt keine Religion". Wo im Buch nachgedacht wird, fiktionalisiert sich der Film in eine reißerische inhaltliche Leere. +Das Ganze gipfelt in einem Ende, das so unglaubwürdig ist, dass man es hier ruhig spoilern kann: Soheil beschließt, nach Israel zu gehen, dummerweise nur ist Selma von ihm schwanger und hat überhaupt keine Lust mitzugehen. Ein nicht ganz so kleiner Konflikt, abgefrühstückt in einem Zwei-Minuten-Dialog. Die Lösung: Nach einer Art Deal zwischen den beiden Jungs heiratet Hussein einfach Selma – so kann der beste Kumpel das Kind großziehen und Soheil nach Isarel gehen. Was Selma davon hält? Soheils Familie? Wieder keine Antworten, sondern kitschige Bilder – davon etwa, wie Soheil als israelischer Soldat mitten im Einsatz Briefe von Selma liest, die ihm Fotos von seinem Kind geschickt hat. Für Erklärungen bleibt in diesem Film, der eigentlich so vieles erklären müsste, keine Zeit. +"Ein nasser Hund" läuft ab dem 9. September in den deutschen Kinos. diff --git a/fluter/ein-paar-kilo-mensch.txt b/fluter/ein-paar-kilo-mensch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..81344c71c8670497fde51b266dc6d496fe4d6dd3 --- /dev/null +++ b/fluter/ein-paar-kilo-mensch.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Am Ende aß sie ein paar Tage lang gar nichts, immerzu Kaugummi kauend. Hunger empfand sie nicht mehr, sagt sie, und auch sonst nicht viel. Sie hatte aufgehört zu lachen und musste manchmal im Unterricht plötzlich weinen. Als sie bewusstlos auf dem Boden lag, war ihr längst alles egal. Sie war abgetaucht in eine andere Welt, "weit weg in ein Nichts", wo sie eine Idealfigur hatte und ohne Essen leben konnte. "Ich war wie weggebeamt", sagt sie; gefangen von einer Krankheit, die ihr treuester Begleiter geworden war. +Morgens auf der Waage war sie da, als schmeichelnde Zahl, tagsüber, als kämpferische Freundin, mit der Bea über Schwächen siegte und die ihr am Abend Ziele vorgab, die sie erreichen konnte: 55 Kilo, 52, dann blieb die Periode aus. Bei 50 Kilo wünschte sie sich, dass nur ein einziges Mal die 49 auf der Waage erscheint. Bea fielen die Haare aus, ihre Nägel hörten auf zu wachsen. Als sie sich in der Schule schon nicht mehr konzentrieren konnte, setzte sie 47 Kilo als Marke. Auf dem Rücken beginnt ein feiner Flaum zu wachsen. Lanugohaare nennt man die Härchen, die sonst nur Föten bekommen, um sich im Mutterleib vor Schall und Druck zu schützen. Bevor Bea ihr Ziel erreicht, findet ihre Mutter, die bis dahin nichts von "der Schublade Essstörungen" wissen wollte, im Internet eine Liste mit Symptomen und bringt ihre Tochter ins Krankenhaus. +Anna wurde zur selben Zeit von ihrem Freund gebracht. Durch ihren weißen Sackpulli wirken die Konturen der Knochen beinahe weich. Die schwarzen Leggings dagegen verschonen den Blick nicht. Anna hat eines ihrer dürren Beine untergeschlagen, während sie von der Bulimie erzählt, die sie, 18 Jahre alt, auf 44 Kilo abmagern ließ. Sie habe nie gelernt, richtig zu essen, sagt sie. In ihrer Familie hätten alle immer irgendwann irgendwas gegessen und der Vater erst der Mutter und später auch ihr Vorwürfe gemacht, weil die Figur nicht passte. Anna wollte passen. Sie aß weniger und spielte so viel Hockey, dass sie in die Bayernauswahl kam. Mit 14 bekam sie die ersten Komplimente von Jungs und hungerte weiter. Keiner bemerkte die Krankheit, weil sie log, und weil niemand so genau nachfragte. Ihr Hockeytrainer ließ sie schon nicht mehr spielen, wegen des schwachen Körpers, doch der Vater sah sie noch immer nicht gerne an. Als sie sich verliebt und mit ihrem Freund zu Abend isst, geht sie danach auf die Toilette und kotzt. Anna braucht nicht einmal einen Finger. Sie kann das Essen allein mit ihren Gedanken und ein paar Hüpfern hoch holen. "Ich wollte normal essen, aber ich kannte weder das Gefühl für Hunger noch das für Sattsein oder für normale Mengen." Wenn sie abends alleine war oder Stress hatte, ließ sie der aufgestauten Gier freien Lauf, sie "fraß alles, was verboten ist", sagt sie – und zählt dann Lebensmittel auf, die für andere ganz normal sind: Brot, Butter, Käse, Pizza. "Während ich aß, konnte ich über Verletzungen nachdenken, ohne dass sie zu nah an mich herankamen. Als ob das Essen mich schützte." War der Kühlschrank leer, kam die Angst, dass "ich das nicht mehr rausbekomme". Sie trank dann einen Liter Milch, damit es besser flutschte, und am nächsten Tag schmerzte ihr der Hals von den sauren Magensäften. +"Es geht immer um einen innerseelischen Konflikt, der nach außen verlagert und über Essen reguliert wird", sagt Sabine Dornhofer, Oberärztin der Psychosomatischen Abteilung in der Argirov-Klinik. Wenn die Mädchen ihre Gefühle weg- und sich selbst in einen Dämmerzustand hungern, dann ist das ihre Form, mit Problemen umzugehen. "Viele der Mädchen sind Opfer sexuellen Missbrauchs, aber auch andere Verletzungen oder Ängste können Ursachen sein: Der Wunsch, für immer Tochter zu bleiben beispielsweise, Flucht vor Erwartungen oder dem Frauwerden", sagt Dornhofer. Die vermeintliche Kontrolle über den Körper beruhigt, wenn das Leben unberechenbar scheint, die strengen Regeln beim Essen geben Halt, in einer Freiheit, die manche überfordert. +Es sind die pflichtbewussten, leistungsorientierten Mädchen, die in ihrem Körper ein Reservat finden, wo allein sie die Gesetze bestimmen. Diese Macht, diese Droge wieder herzugeben, fällt so schwer, dass selbst heftigste körperliche Warnsignale übergangen werden. Bei manchen Patientinnen sei sogar das Gehirn durch Ernährungsmangel rückgebildet, sagt Dornhofer. Keine andere psychische Krankheit ist so tödlich wie die Anorexia nervosa. Etwa jeder Zehnte überlebt die Magersucht oder deren Folgen nicht. Die Betroffenen sterben, weil ihre Niere die Schadstoffe nicht mehr aus dem Körper filtern kann, wenn alle Energie für Gehirn und Herz gebraucht wird, oder an Infektionen, weil die Abwehr des Körpers geschwächt ist, oder weil ihr Herz zu schwach zum Schlagen ist. Ein Großteil ist schon vorher so verzweifelt, dass er sich umbringt. +Die Patienten, die an den See runter dürfen, haben das erste "Auffüttern", oft mit flüssiger Zusatznahrung aus Tetrapaks, hinter sich. Es ist ein gefährlicher Moment: Mit jedem zusätzlichen Kilo ist der Körper ein Stückchen mehr aus seiner Betäubung aufgewacht und plötzlich kommen Ängste und Verletzungen hoch, die oft monatelang verschüttet waren. Neben dem Essen müssen die Mädchen daher vor allem neue Formen lernen, mit ihren Gefühlen umzugehen. Der Klinikalltag besteht aus Therapien, Pausen und Essen, streng geplant im 15-Minuten-Takt. +Die Patienten malen und bewegen sich gemeinsam, loten Schamgrenzen aus, Ekel und Angst. Alle zwei Stunden gibt es etwas zu essen, ohne Kalorienangabe, in der Hoffnung, dass es irgendwann normal wird, einmal am Tag wird gewogen. Nur etwa die Hälfte der an Magersucht Erkrankten schafft es, vollständig gesund zu werden, meist ist es ein langer Weg. Unter den Bulimikerinnen ist die Heilung noch seltener. Je früher die Symptome behandelt werden, desto besser. Mitarbeiter des Therapie-Centrums für Essstörungen (TCE) in München beispielsweise bieten darum nicht nur Hilfe für Betroffene, sie gehen auch in Schulklassen, um aufzuklären – immer zusammen mit ehemaligen Patientinnen, weil keiner die Grauen der Krankheit so genau kennt und vermitteln kann wie diese. +Sophia und Carolin waren schon mehrmals in der Klinik, seit einem Jahr wohnen sie in einer therapeutischen Wohngruppe, um zu üben, das Gelernte im Alltag umzusetzen. Magersüchtige, Bulimikerinnen und Adipöse leben in der Münchner Einrichtung zusammen, neben Schule oder Arbeit besuchen sie ambulante Therapien. Carolin, 17, sitzt neben Sophia und auch mit mehr räumlichem Abstand zu der Magersüchtigen würde man sie als dick bezeichnen; trotz der 40 Kilo, die sie durch die Therapien der letzten Monate abgenommen hat. Sie habe in ihrem Leben nie ein anderes Glück kennengelernt, als das, was sie fühlte, wenn sie alleine in ihrem Zimmer aß, sagt sie. Sophia, 18, hatte früh angefangen, Fotos von Models aus Zeitungen auszuschneiden und sie sich an die Zimmerwand zu kleben: kleine Quadrate, wie Fenster in ein anderes Leben. Als die beiden zum ersten Mal alleine in den Supermarkt geschickt wurden, um für die Gruppe einzukaufen, fühlten sie sich wie im falschen Film. Doch die Gemeinschaft tue ihnen gut, sagen sie, und manchmal passiere es sogar schon, dass sie ganz normal über Jungs, Musik und Schule reden – ohne die Gedanken ans Essen im Hinterkopf. Sie achten aufeinander, denn keiner durchschaut die Tricks, versteht die Ängste so gut wie sie selbst. +* alle Namen von der Redaktion geändert +Katrin Zeug (29) ist freie Autorin in Berlin. Sie arbeitet neben fluter auch für den Wissenschaftsteil der "Zeit" und für "Spiegel Online". diff --git a/fluter/ein-paar-tage-licht.txt b/fluter/ein-paar-tage-licht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..731bb5a4514f19b96919ce91842e343be4aaf4f6 --- /dev/null +++ b/fluter/ein-paar-tage-licht.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Algerien ist politisch instabil. Trotzdem wird das Land von der deutschen Waffenindustrie beliefert. Bottini hat sich mit dieser Thematik gründlich auseinandergesetzt und sie in seinem Roman verarbeitet. Mit den Augen der fiktiven Figur Katharina Prinz werden die Problematiken des Waffenexports beleuchtet. Bereits als deutsche Botschafterin in Algerien musste Prinz erleben, wie wenig demokratische Grundwerte in der alltäglichen Politik Deutschlands zählen, wenn wirtschaftliche Interessen im Spiel sind. Mit Bitterkeit erinnert sich die Romanfigur an den Staatsbesuch der Kanzlerin, die sich in Algerien als Türöffnerin für deutsche Unternehmen betätigt habe. +"Die hochproblematische Realität des Landes wurde beiseitegewischt" – um wirtschaftlichen Interessen Platz zu machen. Hier haben moralische Bedenken keinen Raum. Prinz ist frustriert: "Unerheblich, wenn afrikanische Kindersoldaten mit dem G3 von Heckler & Koch schossen, wenn G36 in libyschen Depots auftauchten, wo sie nicht hätten auftauchen dürfen. Wenn Transportpanzer deutscher Herkunft in Kairo ein Dutzend Demonstranten zerquetschten wie im Oktober 2011 beim ‚Maspero-Massaker'." Wieder zurück in Deutschland, will Prinz sich für einen Stopp deutscher Rüstungsexporte nach Algerien einsetzen. +Ihr Gegenspieler ist der Waffenlobbyist Wegner. Ihm liegt daran, die Interessen seines Rüstungskonzerns durchzusetzen. Moralische Verantwortung will er nicht übernehmen. Dass Waffen auch mal in falsche Hände geraten, nun ja, so etwas passiere eben. "Waffen wanderten. Auch Stühle, Autos und Küchenmesser wechselten den Besitzer", so Wegners absurde Argumentation. "Auch mit Stühlen, Autos und Küchenmessern konnte man töten." Sein Unwillen, sich ernsthaft mit der moralischen Dimension des Waffenexports auseinanderzusetzen, ist offenkundig. Auch bei anderen Figuren greift dieser Mechanismus. Politische Realitäten werden verharmlost, Fakten verdreht. "Wenn es ums Geld geht, wird man begriffsstutzig", heißt es an einer Stelle. +Bottini entwickelt in seinem Roman eine dichte und packende Geschichte, die über verschiedene Handlungsstränge erzählt und schließlich souverän zusammengeführt wird. Leider sind einige wenige Aspekte der Handlung nicht ganz plausibel – so lassen etwa die Entführer des Waffenmanagers ihrer Geisel erstaunlich viel durchgehen, wirken zu freundlich, fast schon naiv, während der BKA-Mann Eley vielleicht ein wenig zu heldenhaft auftritt. Man kann hier aber ein Auge zudrücken. Denn insgesamt gelingt es Bottini, durchaus komplexe und glaubwürdige Figuren zu zeichnen, die sich in einer diffizilen, oft knallharten Welt zurechtfinden müssen und dabei an ihre Grenzen stoßen. +Geschickt verwebt der Autor die heikle Thematik des Waffenexports in einen spannungsreichen Plot und gibt nebenbei auch noch Einblicke in die jüngere algerische Geschichte und Gegenwart. Ein Buch, das kurzweilig ist und zum Nachdenken und Hinterfragen anregt. diff --git a/fluter/ein-paar-versprengte-touristen.txt b/fluter/ein-paar-versprengte-touristen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..007d7201d6f67311ddbfb5c9f1adb07b6e43d283 --- /dev/null +++ b/fluter/ein-paar-versprengte-touristen.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Der Tourismus ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor für die Krim. Wie sieht es in dieser Saison aus? +Im Juni war ich mit Freunden im Süden der Krim, in Hursuf und in Jalta. Normalerweise ist es zu dieser Jahreszeit sehr schwierig, dort überhaupt noch einen Platz am Strand zu ergattern. Aber wir fanden an jedem Strand ohne Probleme Platz mit unserer Gruppe. Außerdem haben wir ein Ferienhaus direkt am Meer gemietet, was normalerweise auch nicht möglich ist. Und das zu einem relativ guten Preis von rund 35 Euro pro Tag. Der Besitzer des Hauses erzählte uns, dass die Saison sehr schlecht laufe. Andere Leute aus der Tourismusbranche erzählten uns dasselbe. Im vergangenen Jahr waren die Sanatorien und Pensionen zu 80 Prozent ausgelastet. Im Moment sind sie es zu rund 30 Prozent. Diejenigen, die mit dem Tourismus ihr Geld verdienen, werden leiden. Auch sind im Vergleich zu den Vorjahren deutlich weniger Russen anzutreffen. +Dabei hatte der russische Präsident Putin seine Landsleute ja dazu aufgefordert, aus patriotischen Gründen Urlaub auf der Krim zu machen. +Ja. Aber das macht wohl kaum jemand. Kollegen haben mir erzählt, dass die Krimer Regierung Besuch von russischen Journalisten bekam, die sich die Strände anschauen wollten. Die Lokalregierung hat dann Busse mit Lehrern und Schülern organisiert, die sie an die südlichen Strände geschickt haben, wo sie mit Bier und Wasser versorgt wurden, um dort "die Tausenden russischen Touristen" zu mimen, die glücklich und zufrieden auf der Krim Urlaub machen – natürlich wurde die Aktion mit öffentlichen Geldern bezahlt. Den Bericht habe ich später im russischen TV gesehen. +Die lokalen Machthaber sprechen davon, dass Tausende Flüchtlinge aus dem Südosten der Ukraine in Hotels und Sanatorien der Krim untergebracht sein sollen. +Ich habe während meines Aufenthalts im Süden der Krim mit drei Direktoren solcher Sanatorien gesprochen, und die haben mir gesagt, dass sie zusammen rund 100 bis 150 Leute aufgenommen hätten. Man kann also sagen, dass die offizielle Statistik lügt. Tatsächlich gibt es wohl zehnmal weniger Flüchtlinge. Die Direktoren meinten, dass dies vor allem Leute seien, die Geld hätten und nicht mehr arbeiten müssten, sondern ein gutes Leben haben wollen. Deswegen seien sie auf die Krim gekommen, um die russische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Einfacher ausgedrückt: Das sind die nächsten Separatisten. +Gibt es denn Touristen aus dem Westen? +Ausländer, das heißt Leute aus Ländern, die nicht zur Sowjetunion gehören, gibt es nur wenige. Darunter sind solche, die vielleicht in die EU emigriert sind und noch Familie auf der Krim haben. Und ein paar versprengte Touristen, die kommen, um sich "die russische Krim" anzuschauen. +Bekommen die wenigen verbliebenen Touristen denn von der Krise irgendetwas mit? +Russische Soldaten, Militärfahrzeuge oder gepanzerte Transporter sieht man kaum noch auf den Straßen wie zu Beginn der Annexion. Es ist alles relativ ruhig. Aber gerade am Wochenende und an Feiertagen sind sehr viele russische Polizisten unterwegs. Die Gruppen der sogenannten "Selbstverteidigung" laufen auch noch rum. Aber jetzt versuchen die Machthaber* ihnen die Waffen abzunehmen, weil sie häufig betrunken sind. Aber tatsächlich wurden diese Gruppen, die aus Ex-Häftlingen und sonstigen Individuen vom Rande der Gesellschaft bestehen, vom Parlament per Gesetz legalisiert, was bedeutet, dass sie de jure dieselbe Macht haben wie die Polizei. Man erzählt sich, dass sie in Simferopol eine Folterkammer betreiben. Aber ob das wahr ist, kann ich nicht sagen. +Das klingt nach einer insgesamt sehr angespannten Situation. +So ist es. Und nicht nur für mich als Journalist, sondern auch für Bekannte und Freunde. Viele Familien sind gespalten, weil man für oder gegen die Annexion war. Manche haben die Krim auch schon verlassen. Und was interessant ist: Es macht sich bereits eine Enttäuschung von Russland breit. Das hört man in Gesprächen auf der Straße und in Geschäften, von Leuten unterschiedlichen Alters. Man hat sich wohl eine bessere wirtschaftliche Perspektive versprochen. Zudem ist einfach vieles unklar, was Gesetze und bürokratische Abläufe angeht. +Arbeitet die russische Propaganda in den Medien denn noch mit dem Fokus auf die Krim? +Die Propaganda des Kreml arbeitet nach wie vor effektiv. Die Leute werden weiterhin eingeschüchtert mit Geschichten vom "Rechten Sektor", eine ukrainische Organisation mit extrem nationalistischen Ansichten. Vor kurzem hat die ukrainische Regierung die Gründung einer Einheit mit dem Namen "Krim" verkündet, die für Antiterroreinsätze im Südosten des Landes aufgestellt wurde. Auf der Krim hat die Propaganda das für sich genutzt und vermeldet, dass "Hunderte Schlächter vom Rechten Sektor aus der Westukraine in Richtung Krim fahren, um der hiesigen Bevölkerung die Köpfe abzuschneiden". +Wie ist die wirtschaftliche Situation auf der Krim abseits der Tourismusbranche heute? +Jetzt im Sommer hat die Krim genügend eigenes Obst und Gemüse. Die Preise dafür sind im Vergleich zum vergangenen Jahr nicht wirklich gestiegen. Aber Hühner-, Rind- und Schweinefleisch kostet fast doppelt so viel. Das betrifft auch die Preise für Zigaretten, Wodka und "andere Volksprodukte". Ich habe mit vielen Geschäftsleuten und Unternehmern gesprochen, und die sagen, dass sich die Preise für Waren verdoppeln und verdreifachen werden, wenn sie nur noch aus Russland importiert werden können – und nicht mehr aus der Ukraine. +Wie brisant ist die Lage für dich als Journalist? +Viele meiner Kollegen wurden zeitweise verhaftet. Andere Kollegen wurden vom russischen Geheimdienst FSB verhört und haben dann die Krim verlassen. 95 Prozent der Medien auf der Krim werden jetzt schon vom Kreml finanziert. Für mich ist es keine Option, für so ein gesteuertes Medium zu arbeiten. Den russischen Pass habe ich nicht beantragt – und das habe ich auch nicht vor. Ich fühle mich als Ukrainer. Für mich bleibt die Halbinsel weiterhin ukrainisch. Ich werde nach Kiew ziehen. +*Das 2010 gewählte Parlament auf der Halbinsel Krim hat die amtierende Regierung abgesetzt und im Februar 2014 den russischen Nationalisten Sergej Aksjonow als Regierungschef gewählt. Aksjonow und der Parlamentsvorsitzende Wladimir Konstantinow haben die Annexion der Krim entscheidend vorangetrieben. Die Ukraine erkennt das Parlament nicht an. +Ingo Petz arbeitet seit über 15 Jahren als freier Journalist. Er schreibt vor allem über Osteuropa, aber auch über Literatur, Segeln, Design oder Reisethemen. +Kirill Golovchenkoist ein ukrainischer Fotograf. Seine Bilder im Interview zeigen Urlaubsszenen von der Krim, als sie noch ukrainisch war. diff --git a/fluter/ein-planet-unter-glas.txt b/fluter/ein-planet-unter-glas.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e99a29bcd36e2645d8b4f7538c721175cf16cc33 --- /dev/null +++ b/fluter/ein-planet-unter-glas.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +fluter.de: Herr Walter, was war das Ziel des Projekts Biosphäre II?Man wollte sehen, ob es möglich ist, dass acht Menschen autark, also unabhängig von der Außenwelt, überleben können. Man konstruierte den Lebensraum so luftdicht wie möglich und installierte dort die wichtigsten Ökosysteme der Erde: Savanne, Ozean, Regenwald, Mangrovensumpf und Wüste. Landwirtschaftliche Nutzflächen sollten die Bewohner ernähren, außerdem wurde so gewirtschaftet, dass man einen geschlossenen Wasserkreislauf hatte. Die Bewohner sollten zwei Jahre dort bleiben, ohne einen Lagerkoller zu kriegen, daher achtete man darauf, eine angenehme Umgebung zu schaffen. Ein Hintergedanke bei dem Experiment war auch, solche künstlichen Ökosysteme auf fremden Planeten aufzubauen, zum Beispiel auf dem Mars.Welche Verbindungen gab es denn überhaupt noch zur Außenwelt?Die Kommunikationswege waren offen, das heißt die Bewohner hatten Telefon, Fernsehen und Radio und konnten über Funk kommunizieren. Außerdem waren TV- und Videokameras eingebaut, damals hochmodern, so dass man alles, was im Inneren stattfand, überwachen konnte. Die Insassen konnten so jederzeit den Cheftechniker anrufen, der dann von jeder TV-Anstalt weltweit per Videokonferenz Anleitungen für Notreparaturen durchgeben konnte. Das wurde auch ein paar Mal gemacht.Das Experiment wurde in seiner ersten Phase abgebrochen?Der befürchtete Lagerkoller war nicht schuld daran, obwohl es durchaus zu zwischenmenschlichen Spannungen kam. Das Problem war, dass der CO2-Gehalt stieg, der Sauerstoffgehalt aber stark absank: innerhalb eines halben Jahrs von normalen 21 Prozent auf 14 Prozent, wie er in fünf Kilometern Höhe in der Erdatmosphäre vorherrscht. Da das Experiment aber zwei Jahre lang durchgezogen wurde, lebten die Insassen konstant bei 14 Prozent, entsprechend ausgemergelt sahen sie danach auch aus. +Was waren die Gründe für das Scheitern?Der wichtigste Grund für diese Veränderungen in der Atmosphäre war, dass der Boden mit sehr viel organischem Material angereichert worden war, um die landwirtschaftlichen Erträge zu steigern. Man hatte aber den Sauerstoffverbrauch der dort lebenden Mikroorganismen stark unterschätzt. Das Experiment konnte nur deshalb so lange am Leben erhalten werden, da lastwagenweise flüssiger Sauerstoff angefahren wurde - was natürlich dem ursprünglichen Gedanken der absoluten Abgeschlossenheit widersprach.Gab es sonst noch Schwierigkeiten?Es war klar, dass man die ökologische Vielfalt nicht würde erhalten können. Allerdings breitete sich eine Ameisenart besonders dramatisch aus. Diese so genannte "Crazy Ant" griff alle Futterreserven ab und so starben viele Insekten aus. Auch die Bienen gingen schnell zurück, was für das Ökosystem ziemlich schade war und vor allem viel Arbeit für die menschlichen Bewohner bedeutete: Sie mussten jetzt alle Nutzpflanzenarten mit der Hand bestäuben. Am Ende hatten die Insassen eine Wochenarbeitszeit von 66 Stunden.Welche Erkenntnisse gab es für die Forschung aus dem Projekt?Zum einen wurde klar, dass ein Nachbau unseres natürlichen Systems, der für ernsthafte wissenschaftliche Forschungszwecke geeignet wäre, mit einem riesigen finanziellen Aufwand verbunden wäre. Man hätte für die Biosphäre II, um sie realistisch zu gestalten, zum Beispiel tonnenweise Mutterboden aus dem weit entfernten Regenwald hertransportieren müssen. Das hätte das Projekt völlig gesprengt. Daher ist das politische Interesse, noch einmal ein derartiges Experiment in Angriff zu nehmen, zurzeit eher gering, wahrscheinlich weil der Versuch, unser Ökosystem auf einen anderen Planeten zu verfrachten, mindestens 100 Jahre Entwicklungszeit bräuchte und nicht zehn oder zwanzig.Also wird es keine "Ersatz-Erde" geben?Wenn es ein strenges wissenschaftliches Experiment hätte sein sollen, hätte man von Anfang an viel stärker an wissenschaftliche Organisationen herantreten müssen. Das Projekt hatte aber in den USA nie den besten Ruf, sondern immer einen esoterischen Anstrich. Der ursprüngliche Hintergrund war wohl tatsächlich eher spirituell als wissenschaftlich, mit dem Ziel eines "besseren Lebens auf der Erde". Aus dieser ersten Zeit des Projekts ist allerdings keiner mehr da, der harte Kern wurde relativ restriktiv vom Gelände verbannt.Was waren Ihre Gedanken, als Sie die Biosphäre II das erste Mal betraten?Ich war unheimlich beeindruckt, wie gut das Klima in den einzelnen Klimazonen nachmodelliert war. In der Wüste roch man den Duft der gerade aufgeblühten Wüstenblumen, im Regenwald tauchte man in diese schwüle Feuchte ein und am Meer umgab mich salzige Luft. In diesen wunderbaren Landschaften sah man allerdings auf Schritt und Tritt die Technik. Und natürlich Ameisen und Schaben, deren Populationen man nicht mehr in den Griff kriegte. Und es war viel kleiner und viel lauter, als ich gedacht hatte. Das kam von den großen Ventilatoren, die die Luft umwälzten. Wenn also zwei Leute weiter als zehn Meter auseinander standen, brauchte man ein Funkgerät oder Handzeichen, um miteinander zu kommunizieren.Das Projekt ist im letzten Herbst von der Columbia-Universität eingestellt worden. Bedeutet das das endgültige Aus?Im Moment ist es nur eine Touristenattraktion und wird auf sehr kleiner Flamme betrieben. Das Gebäude ist an seinen Erbauer, den Öl-Milliardär Edward Bass, zurückgegangen, der auch für wissenschaftliche Zwecke offen ist. Allerdings sind die großen Wissenschaftsorganisationen in den USA zurzeit nicht für das Projekt zu begeistern. Für die Erforschung von Ökosystemen ist nur ein Bruchteil des Geldes da, das zum Beispiel in Hochenergiephysik gesteckt wird.Sandra Müller ist Absolventin der Berliner Journalistenschule. Sie arbeitet als freie Autorin für Zeitungen und Online-Medien und lebt in der Nähe von Frankfurt.Dr. Achim Walter, Physiker und Biologe, beschäftigt sich im Forschungszentrum Jülich mit Wachstumsprozessen von Pflanzen. Von Januar 2002 bis Juli 2003 forschte er im Rahmen eines Stipendiums der Alexander-von-Humboldt-Stiftung in der Biosphäre II. Unter anderem untersuchte er mit einer selbst entwickelten Messmethode, wie sich das Wachstum von Pflanzen unter einem erhöhten CO2-Gehalt verändert. Dabei kam heraus, dass die Pflanzen zu bestimmten Tageszeiten sehr gut, zu anderen sehr schlecht wachsen, im Durchschnitt dann aber genauso stark wie bei einem normalen CO2-Pegel. Achim Walter schließt daraus, dass Pflanzen sehr anpassungsfähig sind - eine wichtige Erkenntnis, da der CO2-Gehalt in unserer Atmosphäre ständig steigt. diff --git a/fluter/ein-scheisshaufen-auf-der-strasse.txt b/fluter/ein-scheisshaufen-auf-der-strasse.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..52fd5cc80f3df457128720cb85964d6ac088de0b --- /dev/null +++ b/fluter/ein-scheisshaufen-auf-der-strasse.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Mit 18 landete ich schließlich auf der Straße. Als ich zum ersten Mal mehrere Nächte auf dem Alexanderplatz ge­schlafen habe, dachte ich: Schön ist es hier – und sicher, weil ja überall Kameras sind. Aber dann wurde ich überfallen und mein ganzes Hab und Gut geklaut. Meine zwei Hunde haben sie auch abgestochen. Jetzt habe ich wieder eine Dogge und vor Kurzem einen fünf Wochen alten Welpen gefunden: Samy, ein Labradormischling. Der ist jetzt immer bei mir, wir schlafen zu­sammen – ich, der Welpe und meine große Dogge. Direkt unter der Brücke 7 am Hauptbahnhof. +Man kann nur versuchen, den Winter durch­zuhalten. Letztes Jahr bin ich fast erfroren und mit einer schweren Lungenentzündung ins Krankenhaus gekommen. Fünf Leute sind schon vor meinen Augen erfroren. Der eine saß nicht mal drei Meter von mir entfernt. Ich hab ihm noch meine Decken gegeben, weil er so blass aussah, aber er hat es nicht mehr geschafft. Hätte ich meine Hunde nicht, wär' ich auch schon unter der Erde, aber die geben eine unheimliche Wärme ab – und Liebe, das spürt man richtig.Auf der Straße wird dir alles genommen, auch deine Würde. Du hast keine richtige Exi­stenz und dennoch Angst darum. Du musst ein Ziel haben – ­zum Beispiel ein Kind, das du wie­dersehen willst, oder eine Wohnung. Ich will für meine Tiere da sein. Menschen sind für mich auch Tiere, aber böse. Das, was die an den Tag legen, macht mir Angst. Gewalt pur ist das nachts und abends hier. Auch untereinander greift man sich auf der Straße an. Wenn einer zum Beispiel dem anderen den Platz klaut und alkoholisiert ist, dann kann es schon mal sein, dass er dich einfach niedersticht. Du bist nur ein Scheißhaufen auf der Straße. Ich hab nicht das Gefühl, dass ich den Teufelskreis durchbrechen kann.Ich hab mein Selbst verloren, ich hab al­les verloren. Wenn ich nicht irgendwann wieder Unterstützung be­komme, in drei, vier Jahren, hoffe ich, dass Gott mich zu sich holt oder dass mich jemand auf der Straße erschießt. Angst vor dem Tod hab ich gar nicht, umso schneller, desto besser, sag ich immer. Leute, die auf der Straße leben, haben keine Angst vor dem Tod. Wenn die Welt dich nicht mehr will, dann ist das leider so. +Natascha Roshani hat den Obdachlosen, der jeden Tag auf dem Berliner Alexanderplatz vor dem Drogeriemarkt sitzt, einfach mal angesprochen. Sie sagt, dass es ein sehr angenehmes Gespräch war. diff --git a/fluter/ein-schlagstock-macht-schlagzeilen.txt b/fluter/ein-schlagstock-macht-schlagzeilen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2b4b9e6461f803c69617f547e6872cc8449d6fce --- /dev/null +++ b/fluter/ein-schlagstock-macht-schlagzeilen.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Am selben Tag erscheint im Magazin "Focus" das Originalfoto: Es handelt sich um ein Standbild aus einem Fernsehbeitrag des Senders Sat.1, auf dem eindeutig zu erkennen ist: Der vermummte Mann links von Trittin trägt keineswegs, wie von "Bild" suggeriert, einen Bolzenschneider, sondern Handschuhe und hält sich am Dachgepäckträger eines Kleinbusses fest. Der Demonstrant rechts hält keinen Schlagstock, sondern ein Seil in der Hand. Es erhärtet sich der Verdacht, dass "Bild" das Foto manipuliert hat. +Die "Bild"-Zeitung sieht sich gezwungen, eine Richtigstellung zu drucken. Chefredakteur Kai Diekmann räumt ein: "Wir sind am Sonntag im Vorabexemplar von ‚Focus' auf das Foto gestoßen und haben es abgescannt, weil wir das Original nicht besorgen konnten. Die Ausdrucke, mit denen wir dann gearbeitet haben, waren Kopien von Kopien und entsprechend schlecht, so dass die Fortsetzung des Seils nicht erkennbar war." +Das sorgt für einigen Wirbel und Empörung in der Öffentlichkeit. Denn Diekmann hat nur das Kopieren des Bildes und den dadurch verursachten Qualitätsverlust eingeräumt, nicht aber ein Beschneiden des Bildes, in dem Kritiker die eigentliche Verfälschung sehen. In der "Zeit" erscheint im August 2005 ein Dossier mit dem Titel "Großmacht Springer", in dem zu lesen ist: "Ist es Vorsatz, wenn ein Foto so beschnitten wird, dass ein Seil in der Hand von Jürgen Trittin als Schlagstock angesehen werden kann?" +Diekmann fordert daraufhin eine Gegendarstellung: Anstoß nimmt er aber nicht an der Behauptung, die "Bild"-Zeitung habe das Foto so beschnitten, dass es in der Hand Trittins wie ein Schlagstock aussah – was sachlich falsch war, weil Trittin selbst das Seil auf dem Foto gar nicht anfasst. Anstoß nimmt der "Bild"-Chefredakteur an der Behauptung, die "Bild" habe das Seil durch Beschneiden des Fotos wie einen Schlagstock wirken lassen. Der Fehler von "Bild" habe darauf beruht, so insistiert Diekmann, "dass allein aufgrund der schlechten Bildqualität eine verfälschende Bildunterschrift zugeordnet wurde". Kurzum: Diekmann streitet eine Manipulation ab und versteht die Sache mit dem Trittin-Foto als einen Kopierfehler. +Die "Zeit" indessen weigerte sich, diese Gegendarstellung zu drucken. Mit der Begründung, bei dem Trittin-Foto in der "Bild" handele es sich zweifelsfrei um einen Ausschnitt des "Focus"-Fotos, auf dessen Original der "Schlagstock" eindeutig als Seil zu erkennen ist. Und dieses Original hat der "Bild"-Zeitung vorgelegen. Sonst hätte sie davon ja keine Kopie anfertigen können. +Auch gegenüber der Pressekammer des Landgerichts Hamburg gibt Diekmann im August 2005 eine eidesstattliche Versicherung ab, in der er ausdrücklich einräumt, die Abbildung sei unzutreffend betextet worden, aber das Foto "ist in keiner Weise beschnitten worden". Das Gericht verlangte daraufhin von der "Zeit", den strittigen Seil-Satz aus der Online-Version des Dossiers zu tilgen. Doch nachdem die Wochenzeitung Widerspruch angekündigt hatte, nahm Diekmann seinen Antrag wieder zurück. +Tobias Krusereist seit vielen Jahren mit der Kamera durch die Welt und ist Mitglied der Fotoagentur Ostkreuz. Aus eigener Erfahrung kann er sagen, dass es in der Praxis ziemlich schwer ist, die Grenze zwischen Dokumentation und Inszenierung zu ziehen – denn oft verändert allein die Anwesenheit des Fotografen die Wirklichkeit. diff --git a/fluter/ein-schoenes-auslaenderkind-toxische-pommes-rezension.txt b/fluter/ein-schoenes-auslaenderkind-toxische-pommes-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9605bee05975b68bf77da5b5a9c1b92982da373c --- /dev/null +++ b/fluter/ein-schoenes-auslaenderkind-toxische-pommes-rezension.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Die Erzählerin muss schlagartig erwachsen werden. Während Gleichaltrige die erste Zigarette drehen, übersetzt sie Behördenschreiben. Abwechslung versprechen nur die jährlichen Balkanurlaube. Drei Wochen bis in den Mittag ausschlafen, Eurocrem (laut Roman "das Nutella des Balkans") zum Frühstück und Sonnenblumenkernspucken auf dem Platz der Freiheit im serbischen Požega. Doch gerade in diesen Momenten ist das Leben zwischen den Stühlen schmerzlich präsent. Denn während die Österreicher in ihr nur das "Ausländerkind" sehen, wird sie bei den serbischen Tanten wohl auf ewig die Deutsche, die "Švaba", bleiben. +Toxische Pommes erzählt mit reduzierter Sprache und feiner Beobachtungsgabe. Ähnlich wie in ihren TikTok-Videos treffen dabei einprägsame Charaktere auf bissigen Humor. Das ist eine Mischung, die die Härten des Romans an manchen Stellen erträglicher macht. Der Comic Relief als Kompensationsstrategie. Etwa wenn Renate Hell auftritt. Eine frustrierte Lehrerin mit kecker Kurzhaarfrisur und krächzigem Raucherlachen. Die Thujenhecken in ihrem Garten, "so präzise geschnitten, dass man sich an ihren Kanten vermutlich einen Zahn ausschlagen konnte". Renate ist so etwas wie die österreichische Antwort aufdas US-amerikanische Klischee-Meme Karen.Sie nimmt die Familie nach ihrer Ankunft im eigenen Haus auf und bietet Unterstützung an, suhlt sich aber ein bisschen zu sehr in ihrem Helferkomplex. Mit Figuren wie dieser wird derAlltagsrassismusder österreichischen Dominanzgesellschaft entlarvt. +Ja, total. Auf Social Media setzt sich Toxische Pommes seit Beginn der Pandemie mit antislawischem Rassismus auseinander. Mit ihrem ersten Roman beweist sie jetzt, dass sie auch Langformate beherrscht. Eindrücklich gelingt es der Autorin, kollektive Migrationserfahrungen in Alltagsbegegnungen zu verdichten. Damit ergänzt "Ein schönes Ausländerkind" den Kanon um Autor:innen wieFatma AydemiroderSaša Stanišićum eine starke Stimme. + + +Titelbild: Gijs van den Berg  / Connected Archives diff --git a/fluter/ein-sehr-ernsthafter-romantiker.txt b/fluter/ein-sehr-ernsthafter-romantiker.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..611fe1e0d468d9786ac9917de4edaedb8a8b6b0a --- /dev/null +++ b/fluter/ein-sehr-ernsthafter-romantiker.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Umso mitreißender geriet Andrea Hiratas Liebeserklärung an seine Grundschule. Einst hatte der heute 38-Jährige seiner Lehrerin versprochen, er werde ein Buch über sie schreiben, als Geschenk nur für sie und seine ehemaligen Mitschüler war "Die Regenbogentruppe" ursprünglich gedacht. Stattdessen wurde der Roman in Indonesien der größte Bestseller aller Zeiten, es gibt eine Verfilmung, Übersetzungen in zwei Dutzend Sprachen, ja sogar eine Musicalversion. +Das Touristenaufkommen auf der Insel sei um ein Vielfaches gestiegen, "um 1.800 Prozent", erklärt Andrea Hirata, seit er 2005 "Die Regenbogentruppe" veröffentlicht hat. Damals war er noch Angestellter der indonesischen Telekom. Schon sein beruflicher Werdegang bis dahin, das Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Pariser Sorbonne und in Sheffield mit einem Stipendium der EU, war sensationell für den Sohn eines armen, analphabetischen Zinnarbeiters aus Belitung. +Mittlerweile hat Andrea Hirata insgesamt sieben Bücher geschrieben und seinen Job als Telekommunikationswirt aufgegeben. Das zweite Buch ist gerade auf Deutsch erschienen. "Der Träumer" heißt es, und ebenso wie "Die Regenbogentruppe" ist es eine mit frei fantasierten Elementen durchsetzte Aufarbeitung von Hiratas eigener Biografie. +Es ist schwer zu sagen, wie er das macht, aber dieser Mann kann so inspirierend vom Leben erzählen wie sonst niemand. Wobei das wahrscheinlich gar nicht so sehr eine Frage des "Wie" ist, sondern eine Frage der Einstellung. "Der Träumer" beginnt mit einem poetischen Naturbild: dem sogenannten "blauen Augenblick", einem seltenen Naturschauspiel, bei dem die gesamte Welt für Momente wie in blaue Farbe getaucht scheint. In Belitung besteht der Volksglaube, dass man, wenn man während des blauen Augenblicks die Luft anhält, einen guten Ehepartner findet. +Ob der Ich-Erzähler auch selbst diese Atemübung praktiziert, erfahren wir nicht. Doch definitiv handelt es sich auch bei ihm um einen unverbesserlichen und ausdauernden Romantiker. Noch als Student in Europa trauert Ikal, wie er von allen genannt wird, seiner ersten Liebe hinterher, dem chinesischen Mädchen mit den wunderschönen Fingernägeln, das er während seiner Grundschulzeit kennenlernte und das mit seiner Familie von der Insel fortzog. +"Der Träumer" erzählt von den zahlreichen Stationen, die Ikal durchlaufen muss, bis er endlich seinen Studienabschluss in der Tasche hat. Es ist also, ganz wörtlich genommen, ein Bildungsroman. Und zwar einer, in dem ungewöhnlich deutlich wird, welch immensen Wert Bildung einerseits besitzt – aber andererseits auch, wie furchtbar relativ dieser Wert sein kann, wenn die Umwelt nicht die geeigneten Entfaltungsmöglichkeiten bietet. +Ikal und sein Cousin Arai nehmen jahrelang viele Mühen und Entbehrungen auf sich, um zur Oberschule gehen zu können, arbeiten nachts als Hilfsarbeiter im Hafen und lernen tagsüber. Aber auch der glänzende Oberschulabschluss bringt beide zunächst nicht weiter. In Jakarta, wohin sie sich hoffnungsvoll begeben, finden sie keine Jobs, und auch ein Stipendium gibt ihnen niemand. Der Weg nach Europa will sich nicht öffnen. +Es sind echte Härten des Lebens, die da zur Sprache kommen. Der Autor beschönigt nichts. Aber auch die Phasen der Mutlosigkeit werden in seinen Erzählungen mit Beharrungsvermögen und Lebensmut irgendwann überwunden. Und können – das ist wohl eines der Geheimnisse von Hiratas Erfolg – im Rückblick als unerschöpfliche Quelle erzählerischen Humors dienen. +Es ist eine feine, sehr menschenfreundliche Art von Humor, wie man sie aus der europäischen Erzähltradition eher weniger kennt. Hirata ist jede Leichtfertigkeit und ironische Uneigentlichkeit fremd. Gefühle der Liebe sind ihm heilig, sei es die Liebe zu seinem Vater, zur Schule oder eben zu jenem Mädchen, dem Ikal als Junge verfallen war und das er, einfach unverbesserlich, sogar in Paris sucht. +Es ist eine fast naiv anmutende und eben dadurch zu Herzen gehende Ernsthaftigkeit des positiven Gefühls, die sich bei diesem Erzähler so wunderbar paart mit seinem Vermögen, auch unangenehmen Erlebnissen gute Seiten abzugewinnen: Man kann sie als Lebenserfahrung verbuchen – oder eben eine lustige Anekdote daraus machen. Zum Beispiel aus jener Episode, in der Ikal und Arai in einem stinkenden, aber durch die Gärung wärmenden Laubhaufen eine lausig kalte Nacht in einem belgischen Park überstehen, weil ein missgelaunter Verwaltungsangestellter ihnen außerhalb seiner Dienstzeit kein Zimmer zuweisen wollte. Doch, das ist wirklich lustig! Humor ist eben immer, was man draus macht. diff --git a/fluter/ein-stueck-karibik.txt b/fluter/ein-stueck-karibik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/ein-system-mit-luecken.txt b/fluter/ein-system-mit-luecken.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e8326685e3c0cd13193dc8e25dc88fac152afd5e --- /dev/null +++ b/fluter/ein-system-mit-luecken.txt @@ -0,0 +1,13 @@ + +Entscheidungen der FSK zogen und ziehen jedoch immer wieder Kontroversen nach sich. Eine besonders heftige Attacke auf die Organisation fuhr in den Jahren 2010 und 2011 die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung": Sie kritisierte eine viel zu laxe Handhabung der Altersfreigaben. In ihrem ersten Test befanden die selbst ernannten Jugendexperten von 100 ab 12 Jahren freigegebenen Filmen – darunter moderne Action wie "James Bond – Casino Royal" und Klassiker wie "Im Westen nichts Neues" – 46 für die Altersgruppe als nicht geeignet: Zu brutal seien sie, zu offenherzig in Sachen Sex oder beides. Beim zweiten Test traf dies immerhin noch auf jeden dritten der 60 bewerteten Filme zu. +Genauso wird die USK (Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle) kritisiert, die analog zur FSK bei Computerspielen für den Jugendschutz sorgen soll. 72 von der USK überprüfte Spiele analysierte dasKriminologische Forschungsinstitut Niedersachsenvor einigen Jahren. In zwei von drei Fällen wurde die Altersbeschränkung angezweifelt. +0, 6, 12, 16, 18, das sind die fünf Altersklassen, in denen die FSK Filme und die USK Videospiele freigibt. Die Vorgabe, nach der dieses Raster entstand, geht auf Paragraf 14 des Jugendschutzgesetzes zurück. Danach dürfen Filme und Spiele, "die geeignet sind, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu beeinträchtigen", nicht für ihre Altersstufe freigegeben werden. Die heute gebräuchliche Einteilung wird seit dem Jahr 1957 verwendet, nur die Kategorie "freigegeben ohne Altersbeschränkung" kam 1985 dazu. +Dabei lässt sich die FSK aus Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie leiten. Folker Hönge, Vorsitzender eines der Arbeitsausschüsse bei der FSK, sagt dazu: "Die Wirkung eines Films kann nicht an einzelnen Szenen, in denen Gewalt dargestellt wird, festgemacht werden. Wir diskutieren vielmehr die Gesamtwirkung und den Gesamteindruck des Films." Für die Altersfreigabe sei die Frage wichtig, ob die gezeigte Gewalt glaubhaft in eine Handlung eingebunden sei und problematisiert werde. So identifizieren sich etwa Kinder im Alter von bis zu 6 Jahren vollständig mit Handlung und Figuren, spannungssteigernde Erzählmittel können bei ihnen große Ängste verursachen. Bedrohliche Situationen müssen vor allem für diese Altersgruppe also schnell aufgelöst werden. +Das Problem mit der Kategorie "ab 6 freigegeben" ist die große Altersvarianz in der Gruppe. Zwar können 6-Jährige Sinneseindrücke schon besser verarbeiten, sie haben aber noch wenig Distanz zum Filmgeschehen. Erst mit etwa 9 Jahren erkennen Kinder Geschichten als Fiktion. Mit 12 Jahren befinden sie sich dann schon in der Pubertät. Sie können Filme rational zwar besser verarbeiten, sind aber in dieser Phase der Selbstfindung auch unsicher und anfällig für die Identifikation mit "Helden", die sich destruktiv und gewalttätig verhalten. +16-Jährige hält die FSK für grundsätzlich medienkompetent, gibt für sie aber keine Filme frei, die Gewalt verherrlichen oder, wie sie auf ihrer Homepage schreibt, "Sexualität auf ein reines Instrument der Triebbefriedigung reduzieren". Filme mit solchem Inhalt erhalten keine Jugendfreigabe, dürfen also erst ab 18 Jahren gesehen werden. Einige wenige Medien erhalten von der FSK keine Alterskennzeichnung, weil sie von ihr als in hohem Maße jugendgefährdend eingeschätzt werden. Sie werden von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien geprüft und gegebenenfalls indiziert – dann dürfen sie nicht beworben und nur sehr eingeschränkt öffentlich gezeigt werden, sind aber für Kunden über 18 Jahre auf Nachfrage erhältlich. +Die FSK betont, dass es bei den historisch gewachsenen Kategorien nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern allein um den Jugendschutz geht. Die rund 250 ehrenamtlichen Prüfer, unter anderem Journalisten, Lehrer, Psychologen, Medienwissenschaftler, Filmhistoriker, Studenten, Sozialarbeiter, Richter und Staatsanwälte, diskutieren immer wieder mögliche Neuerungen des mittlerweile über 60 Jahre alten Modells. Besonders den Sprung von 6 zu 12 bzw. von 12 zu 16 Jahren halten einige für zu groß. +Wäre es etwa sinnvoll, zusätzlich eine Kategorie "ab 14 Jahren freigegeben" zu etablieren? Die FSK-Geschäftsführerin Christiane von Wahlert hält in einem Interview dagegen, es sei schwer, dies per Gesichtskontrolle an den Kinokassen zu überprüfen. Außerdem seien die Freigabestufen "bekannt und gelernt". Dennoch handele die FSK nicht losgelöst von gesellschaftlichen Entwicklungen. Sie traue heutigen Kindern durchaus eine größere Medienkompetenz zu als in den 50er-Jahren. Eben deshalb erhielten Filme heute auch leichter eine niedrigere Freigabestufe. +Nach dem Ärger um "Harry Potter und der Stein der Weisen" wollte die FSK sich allerdings nicht wieder Vorwürfe machen lassen und gab im folgenden Jahr den Nachfolger "Harry Potter und die Kammer des Schreckens" erst ab 12 Jahren frei. Die Folge: erneute Empörung, weil der Verleih den Film nun in einer gekürzten Version in die Kinos brachte, um doch noch die Freigabe ab 6 zu erhalten. Dieser Fall sorgte für eine der substanziellsten Neuerungen in rund 60 Jahren FSK-Geschichte: Nach amerikanischem Vorbild gilt für Filme ab 12 Jahren seit 2003 eine sogenannte "Parental Guidance"-Regelung. Kinder dürfen sie also schon ab 6 Jahren besuchen, wenn ein Elternteil sie begleitet. +Aller Kritik zum Trotz hat Deutschland eine der weltweit strengsten Regelungen zum Jugendmedienschutz. Die Freigabestufen sind anders und zum Teil feiner gestaffelt als etwa in Schweden, Österreich, den Niederlanden und den USA. Manche Wissenschaftler haben aber ohnehin ganz fundamentale Zweifel am Funktionieren des bisherigen Systems. Ein von der Universität Erfurt erstellter Forschungsbericht (PDF) wertete Studien zu der Frage aus, ob Alterskennzeichen überhaupt dazu beitragen, die Eltern bei der Auswahl von Medien zu sensibilisieren. Ergebnis: Die Forschungslage sei viel zu dünn und liefere bisher widersprüchliche Ergebnisse. +Sicher sei aber der "Forbidden Fruit"-Effekt. Gerade bei Jungen im Alter von 12 und 13 Jahren steigt die Attraktivität von Medien, wenn auf der Verpackung darauf hingewiesen wird, dass diese Inhalte nicht für sie geeignet sind. +Oliver Kaever lebt in Hamburg und arbeitet als freier Filmjournalist. Er schreibt regelmäßig für fluter.de. diff --git a/fluter/ein-traum-die-partei.txt b/fluter/ein-traum-die-partei.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/ein-weites-feld.txt b/fluter/ein-weites-feld.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..77e1ba8c15975da490bad4413bfdfeafde74f96b --- /dev/null +++ b/fluter/ein-weites-feld.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Um den tobt seit fast zwei Jahrzehnten ein Kampf, der meistens in Studien, auf Pressekonferenzen und in Broschüren ausgetragen wird und manchmal eben auf philippinischen Feldern. Darin verwickelt sind Forscher, NGOs, Konzerne, staatliche Stellen, private Geldgeber. Beide, die Anhänger des Gen- Reises und dessen Feinde, sehen sich als Retter der Welt und bezichtigen die anderen als deren Zerstörer. Tatsächlich lassen sich für beide Seiten stichhaltige Argumente finden. +Unbestritten ist nur der Umfang des Problems, um das es geht. Am Ende dieses Jahrhunderts werden auf der Welt vermutlich mehr als elf Milliarden Menschen leben, es kommen sozusagen drei neue Indien dazu. All diese Menschen zu ernähren, ohne dem Planeten weiter zu schaden, ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Die Frage ist, wo und wie. Große Teile der anbaufähigen Landschaft werden bereits bewirtschaftet und schon jetzt wird für die Bewässerung 70 Prozent unseres Frischwassers verbraucht – auch weil so viele Pflanzen für die Tiernahrung angebaut werden. +Viele Wissenschaftler sind daher überzeugt, dass dieser wachsende Bedarf nur mit Hilfe der modernen Gentechnik gedeckt werden kann. Dazu gehören auch Peter Beyer, Professor für Zellbiologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, und Ingo Potrykus, sein Kollege von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH). Die beiden Forscher dachten früh noch über eine weitere Frage nach: Was wäre, wenn wir die Menschen nicht nur vom Hunger befreien, sondern sie gleichzeitig gesünder machen könnten? +Das, so versichern sie, war ihre Motivation, als sie sich 1992 zusammentaten, um den "Goldenen Reis" zu entwickeln. Als sie die Ergebnisse im Jahr 2000 veröffentlichten, sprachen viele von einer Jahrhundertidee der Wissenschaft. Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass weltweit ungefähr 250 Millionen Kinder an Vitamin-A-Mangel leiden, Hunderttausende von ihnen werden dadurch blind, etwa zwei Millionen von ihnen sterben jedes Jahr an den Folgen. Die meisten davon leben in Ländern, in denen Reis ein Grundnahrungsmittel ist und den meisten Menschen nichts anderes zur Verfügung steht. "This Rice Could Save a Million Kids a Year", titelte das Magazin "Time" bereits im Jahr 2000 mit einem Bild von Ingo Potrykus in einem Reisfeld. Höchstens drei Jahre würde es dauern, bis der Reis auf den Markt komme, sagte der Forscher damals der "New York Times". Das "Time"-Titelbild hängt immer noch eingerahmt im Arbeitszimmer des inzwischen 82-jährigen emeritierten Professors. Der Reis aber ist immer noch nicht zugelassen. +"Zum Glück", sagt Paul Johnston. Der britische Meeresbiologe leitet das Greenpeace-Forschungsinstitut an der Universität Exeter. Er hält die vermeintliche Jahrhundert idee für eine "gefährliche Illusion". Den großen Saatgutkonzernen wie Monsanto käme der "Goldene Reis" als PR-Instrument gerade recht, um unter dem Titel des vermeintlichen Kampfes gegen den Hunger den Weg frei zu machen für andere gentechnisch veränderte Pflanzen. Dabei seien die Risiken des Anbaus beim gentechnisch veränderten Reis überhaupt nicht ausreichend erforscht. So könnte es passieren, dass dieser traditionelle Reissorten und wilden Reis bestäube und sich immer mehr mit diesem vermische. Was aber, wenn dieser so verunreinigte Reis auf großer Fläche versage, bei starker Hitze etwa? "Die Sicherheit eines Grundnahrungsmittels für mehr als die Hälfte der Erdbevölkerung steht dann auf dem Spiel", sagt Johnston. "Die Wissenschaftler hatten 20 Jahre Zeit, ihn zu entwickeln, aber bisher sind sie nicht über das Versuchsfeld hinausgekommen." Die Marktreife sei nicht an Gentechnik-Gegnern gescheitert, sondern an den niedrigen Erträgen. "Wir haben also eine Technologie, deren Risiken nicht klar bewertet werden können und die nachweislich nicht funktioniert. Was sollen wir damit?" Wichtiger sei es, die wirklichen Ursachen der Mangelernährung zu bekämpfen – Armut und Einseitigkeit der Nahrung. Dabei käme es auf eine Vielfalt von Lebensmitteln, Aufklärung und den nötigen politischen Willen an. Kurzfristig hülfen Vitamin-A-Tabletten und angereicherte Lebensmittel viel effizienter als der Reis. +Eigentlich möchte Peter Beyer gar nicht mehr über den "Goldenen Reis" sprechen. Zumindest in Deutschland hat sein Erfinder die Auseindersetzung aufgegeben. "Die Diskussionen führen zu nichts mehr. Und wenn man doch teilnimmt, muss man sich mit Leuten auseinandersetzen, die große Reden schwingen, aber vermutlich den Unterschied zwischen Gen und Protein nicht kennen." Wenn er die Argumente von Greenpeace hört, kann er seinen Zorn nur mühsam verbergen. Mit der Saatgutindustrie etwa hätte er nie zusammengearbeitet, bis auf eine kurze Episode mit der Firma Syngenta. "Ich bin verbeamteter Hochschulprofessor." +Mittlerweile hätten er und seine Mitarbeiter dafür gesorgt, dass der Reis nicht mehr patentiert ist. Bauern, deren Umsatz 10.000 Dollar im Jahr nicht überschreitet, soll das Saatgut kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Finanziert wird die Forschung von der milliardenschweren Bill und Melinda Gates Foundation und anderen gemeinnützigen Organisationen. Dass der Reis noch nicht zugelassen sei, liege auch an der hochkomplexen wissenschaftlichen Arbeit, die nötig sei, um die Regularien zu erfüllen, die die Politik als Folge der großen Unsicherheit in der Bevölkerung erlassen habe. "Daran haben Organisationen wie Greenpeace einen großen Anteil. Dazu kommt eine zeitintensive züchterische Arbeit. Wir haben bei der Züchtung auch Fehler gemacht, die uns um Jahre zurückgeworfen haben", gibt er zu. Trotzdem sehe er Licht am Ende des Tunnels. "Derzeit sind keine Gründe zu sehen, die einer Eröffnung des Zulassungsverfahrens in absehbarer Zeit entgegenstehen." diff --git a/fluter/ein-zu-hoher-preis.txt b/fluter/ein-zu-hoher-preis.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9fc4ff05a0e1dedf36dca1a042970ee275932c0a --- /dev/null +++ b/fluter/ein-zu-hoher-preis.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Eine Episode, sicher, aber kein Betriebsunfall. Andrew Morgans Dokumentarfilm "The True Cost", der die Produktionskette der Modeindustrie unter die Lupe nimmt, erzählt viele schmutzige Geschichten aus einer Branche, in der sich alles ums Image dreht. +Spaß macht das keinen. Von dem Rana-Plaza-Unglück, bei dem 2013 über 1.100 Menschen beim Einsturz eines Gebäudekomplexes, in dem sich mehrere Textilfabrik befanden, gestorben sind, hat die ganze Welt gehört. Aber wer wusste schon, dass sich viele Arbeiterinnen an jenem Tag wegen der Risse in der Wand weigerten, das Gebäude zu betreten, dann aber an ihre Nähmaschinen gezwungen wurden? +Bangladesch mit seinen vier Millionen Näherinnen und mehr als 5.000 Textilfabriken ist jedoch nur ein Glied in der Kette. Das Beste an Morgans Film ist, dass er die globale Arbeitsteilung der Mode zeigt. Und die spezifischen regionalen Probleme, die sich daraus ergeben. Da sind die Baumwollbauern in Indien, die in der Hoffnung auf bessere Ernten auf patentiertes Saatgut umgestiegen sind. Dadurch, dass sie das Saatgut daraufhin jedes Jahr neu kaufen mussten, begannen sie sich zu verschulden. Mittlerweile nimmt sich alle 30 Minuten ein Bauer das Leben. Da sind die Gerbereien im Norden Indiens, wo sich ob der vielen Schadstoffe, die zur Bearbeitung von Leder gebraucht werden, häufen sich die Fälle von Gelbsucht, Haut- und Leberkrankheiten dramatisch häufen. Da sind die Müllkippen in Haiti, einstmals ein wichtiger Standort der Textilbranche. Heute landen da die ausgemisteten Klamotten. Jedes Jahr werfen allein die Amerikaner 37 Kilo Textilien pro Person weg. Biologisch sind die meisten davon nicht abbaubar. +Wer fehlt: die Entscheidungsträger der großen Billigmode-Ketten. Die wollten in dem Film nichts sagen. Dabei wären sie es, die die Zustände ändern könnten. +Tun sie aber nicht. Im Gegenteil. In den vergangenen Jahren ist Mode konstant billiger geworden, erklärt ein chinesischer Textilfabrikant. Die Rohstoffkosten seien aber gestiegen. Soll heißen: Der Preiskampf drückt die Löhne der anderen Glieder der Produktionskette, etwa die der Näherinnen. Und der spitzt sich weiter zu, weil immer mehr gekauft wird. Um 400 Prozent hat der Verkauf von Textilien in den letzten 20 Jahren weltweit zugenommen. +Da geht was in die falsche Richtung: 80 Milliarden Kleidungsstücke werden mittlerweile jährlich verkauft, 400 Prozent mehr als noch vor 20 Jahren. Rund elf Millionen Tonnen davon landen allein in den USA jährlich im Müll. Biologisch abbaubar ist das meiste nicht. +Morgans Film erzählt das alles in einem atemlosen Tempo. Bisweilen brummt einem davon der Kopf. "The True Cost" will aufrütteln. Und das gelingt auch. Was indessen etwas kurz kommt, sind Beispiele, wie es besser geht. Nur eine kaum massenmarkt-taugliche Fair-Trade-Marke kommt ausführlich vor und ein etwas pauschales Plädoyer, eben weniger zu kaufen. So richtig das sein mag, besonders konkret ist es nicht. +Wer jetzt meint, das geht mich alles nichts an, ich kaufe nicht bei H&M, Zara, Kik, Primark oder wie sie alle heißen, dem sei gesagt: Selbst im Luxussegment der Textilbranche sind die Arbeitsbedingungen bisweilen kaum besser. +"The True Cost", USA 2015; Regie: Andrew Morgan, Drehbuch: Andrew Morgan, 92 Minuten, Kinostart: 21. Januar 2016 bei Grand Film diff --git a/fluter/eine-ehrliche-haut.txt b/fluter/eine-ehrliche-haut.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..11e8525461c31aa79da9727c421c4251c5d02b58 --- /dev/null +++ b/fluter/eine-ehrliche-haut.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Die erste Unwahrheit steckt schon im deutschen Wort "Lügendetektor". Eine Lüge kann der moderne Detektor nämlich gar nicht erkennen. Er misst vielmehr über eine Manschette den Blutdruck und über Sensoren die Atmung, den Puls und die Leitfähigkeit der Haut. Je feuchter die Haut vom Schweiß, desto besser leitet sie Strom. Das Prinzip: Aus den Messdaten lässt sich die innere Anspannung des Probanden ablesen. Beim Lügner sollen demnach der Puls und die Atemfrequenz steigen. Auch wird angenommen, dass er vor Aufregung schwitzt. Eine "ehrliche Haut" hingegen bleibt trocken. +So jedenfalls dachte es sichJohn Larson, der als Kind mit seinen Eltern von Kanada in die USA gezogen war, als er 1921 – auf der Basis einer Maschine von William Moulton Marston –den ersten modernen Lügendetektor entwickelte. Larson, ein junger, begabter Physiologe, kombinierte ein Blutdruckmessgerät mit einem Atemmesser, um Lügner zu entlarven. Das Prinzip: Dem Probanden werden Sonden an der Brust und am Oberarm befestigt. Dann werden ihm Fragen vorgelesen, und er muss antworten. Ein Diagramm zeigt gleichzeitig die körperliche Reaktion an. Deshalb heißt der Lügendetektor im Fachjargon Polygraf – ein Apparat, der viele Linien schreibt. Larsons erste Versuchsperson, eine junge Studentin namens Margaret Taylor, wurde übrigens später seine Frau. Die Herzensprüfung hatte sie also mindestens bestanden. +John Larson trat nach seinem Studium der amerikanischen Polizei bei, als erster Mensch mit einem Doktortitel. Seine Apparatur, die noch wie eine Riesennähmaschine mit Tentakeln aussah, wurde von seinem einstigen Assistenten Leonarde Keeler erweitert. Nun reagierte der Detektor auch auf Fingerschweiß. Haufenweise Polygrafen schafften die Polizeibehörden in den folgenden Jahrzehnten an, nicht nur, weil man glaubte, dass sich Aussagen von Verdächtigen damit mit wissenschaftlichen Methoden prüfen ließen, sondern auch, weil Keeler für die Maschine im ganzen Land lobbyierte. +Auch in anderen Ländern, darunter Israel und Kanada, ist der Polygraf in Gebrauch – aber nirgendwo so obsessiv wie in den USA. Etwa 1,6 Millionen Lügentests werden schätzungsweise jährlich durchgeführt. Das FBI nutzt sie, die CIA und auch die National Security Agency (NSA). Sie prüfen damit nicht nur die Aussagen von Verdächtigen. Sie nutzen den Apparat auch, um Personal zu rekrutieren. Zwei Hauptfragen soll der Test beim Geheimdienst zu beantworten helfen: Ist der Bewerber ein Spion? Und was könnte ihn später erpressbar machen? Erforscht werden die Lügendetektoren übrigens im National Center for Credibility Assessment, dem"Nationalen Zentrum für Glaubwürdigkeitsbeurteilung", einem Institut des Militärnachrichtendienstes der USA. +Seit einigen Jahren nutzen sogar amerikanische Soldaten in Afghanistan einenmobilen Lügendetektor, der in etwa so aussieht wie das Ticketprüfgerät eines Bahn-Mitarbeiters. Er ist mit Sensoren an der Hand des Probanden verbunden. Im Gegensatz zum großen Lügendetektor misst der mobile nur die Leitfähigkeit der Haut und den Puls. Damit, so heißt es aus dem Pentagon, sollen Bewerber für einen Posten als Wachmann oder Übersetzer überprüft und potenzielle Attentäter der Taliban ausgesiebt werden. +Doch selbst wenn Polygrafen bei der Wahrheitsfindung helfen können, sind sie nicht unfehlbar. Larson selbst nannte seine Erfindung kurz vor seinem Tod im Jahr 1965 ein"Frankenstein'sches Monster", das außer Kontrolle geraten sei. Denn man muss nicht unbedingt lügen, um aufgeregt zu sein. Auf die Frage, ob man jemanden umgebracht habe, reagieren auch Unschuldige nervös. +Außerdem lässt sich der Detektor auch gezielt austricksen. Ausgerechnet bei den gefährlichen Spionen des "Klassenfeinds" aus den kommunistischen Staaten schien der Apparat wirkungslos. "Wir merkten, dass einige Osteuropäer undAsiatenden Lügendetektor jederzeit überlisten konnten", sagte Richard Helms, ehemaliger Leiter der CIA, bei einer Anhörung im US-Kongress 1978. "Wir werden dazu erzogen, die Wahrheit zu sagen, und wenn wir dann lügen, merkt man das leicht." +Allzu effektiv arbeitete der Lügendetektor indes auch bei Helms' Landsleuten nicht. Sieben Jahre und einige Geheimdienstskandale späterordnete US-Präsident Reagan an, alle Beamten, die in sicherheitsrelevanten Positionen arbeiten, grundsätzlich einem Lügendetektortest zu unterziehen. Doch trotz der Paranoia des Kalten Krieges wurdeAldrich Ames– einer der erfolgreichsten Doppelagenten der Geschichte – erst 1994 enttarnt. Ames war Angestellter der CIA, spionierte aber auch jahrelang für den sowjetischen Geheimdienst. Zweimal musste er in dieser Zeit einen Lügendetektortest absolvieren. Sein sowjetischer Führungsoffizier riet ihm vorher, sich einfach "gut auszuschlafen" und nett zum Prüfer zu sein. Und tatsächlich: Ames bestand beide Male den Test. +Im Jahr 2003 untersuchten dann Forscher der amerikanischen National Academy of Sciences, der National Academy of Engineering und des Institute of Medicine in einer Metastudie die Zuverlässigkeit des Polygrafen. Das Ergebnis: Der Detektor sei zwar "besser als der Zufall, aber weit entfernt davon, perfekt zu sein". Bis heute darf der Test daher zwar von der Polizei genutzt werden, um eine Aussage zu verifizieren. Doch für eine Verurteilung reicht der Polygrafentest nicht. +Der deutsche Bundesgerichtshof nannte den Lügendetektor in einemUrteil von 1998sogar ein "völlig ungeeignetes Beweismittel". Ein paar Ausnahmen gibt es allerdings schon: So hat zum Beispiel dasOberlandesgericht in Dresden2013 entschieden, dass Lügendetektoren in Sorge- und Umgangsrechtsfällen eingesetzt werden dürfen. Allerdings laut Urteil nur, "um einen Unschuldigen zu entlasten". +Hirnforscher suchen derweil nach zuverlässigeren Alternativen – bislang mit mäßigem Erfolg. Mit einem Magnetresonanztomografen lassen sich unterschiedliche Erregungsmuster im Gehirn erkennen. Denn neurologisch gesehen muss eine Lüge mühsam im Kopf konstruiert werden. Die Wahrheit aber lässt sich leicht aus dem Gedächtnis abrufen. Doch auch diese Untersuchung kann ein Proband manipulieren, indem er sich die erfundene Geschichte vorher bis ins Detail einprägt. Die damit verbundenen Vorgänge im Gehirn verändern das Bild der Forscher – und lassen die Lüge wie eine Wahrheit aussehen. +In naher Zukunft ist von Hirnforschern also kein Wunder zu erwarten. Aus Mangel an Alternativen klammern sich die US-Behörden noch immer an den Polygrafen. Edward Snowden, der Mann, der die globale Überwachung durch US-Geheimdienste aufzudecken half, arbeitete eine Zeitlang für die CIA. Wie alle CIA-Mitarbeiter musste auch er sich einem Lügendetektortest unterziehen. Snowden hat ihn damals bestanden. Früher wurden die Mitarbeiter der NSA alle fünf Jahre zum Lügendetektor geschickt. Heute, in der Zeit nach Snowden, müssen sie alle drei Monate zur Kontrolle. +Wir haben Abstand genommen davon, Jan Ludwig nach Abgabe seines Textes selbst einem Lügendetektor-Test zu unterziehen. Er ist für äußerst verlässliche Recherche bekannt. Außerdem werden alle Fakten zusätzlich noch von unserer Abteilung Dokumention überprüft. diff --git a/fluter/eine-frage-der-haltung.txt b/fluter/eine-frage-der-haltung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d273a15c31d60e43a9855a30adbe3266f27ce8d7 --- /dev/null +++ b/fluter/eine-frage-der-haltung.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Statt Madonnas Disconummer schallen im Tanzstudio "Motion's" in Berlin-Kreuzberg HipHop- und House-Tracks aus den Boxen. Den Rücken kerzengerade durchgestreckt, schreitet Helen Preis in exakter Linie durch den Probenraum, als stolziere sie auf einem Laufsteg. Mit jedem Schritt schiebt sie das Becken nach vorn. Ihre Hände und Arme vollführen dabei zackige, ineinander gleitende Körperhaltungen, bei denen man als Zuschauer fürchtet, sie könne sich die Schulter auskugeln. Als die in Berlin lebende Estin vor fünf Jahren im Internet auf Voguing-Videos stieß, war sie fasziniert von diesen strengen, fast rechtwinkligen Arm- und Beinbewegungen. So graziös und einfach sie auch erscheinen, sie erfordern äußerste Präzision und einiges an Sportlichkeit. +Die Anfänge des Voguing reichen bis in die 1960er-Jahre zurück. Schwarze und Latinos wurden in weiten Teilen der USA unterdrückt und ausgeschlossen, in der Modebranche hatten sie kaum eine Chance. Die Schwulen, Lesben und Transgender unter ihnen waren nicht selten von ihren Familien verstoßen worden. Im New Yorker Stadtteil Harlem schufen sie sich daher eine ureigene Gegenwelt. Es entstanden Vereinigungen mit extravaganten Namen wie "House of Aviance" und "House of LaBeija". Sie sind einerseits eine Art Wahl- und Ersatzfamilie, die ihren Mitgliedern Heimat und Rückhalt bietet, und haben andererseits auch etwas von Sportmannschaften. Hier finden Wettkämpfe allerdings nicht im Stadion, sondern auf dem Catwalk statt. +Bis heute besteht die Tradition der eigens organisierten Bälle – da präsentiert sich jeder und jede so, wie er oder sie es im realen Leben vielleicht nicht darf oder kann. Endlich einmal Diva, Sexidol oder Femme fatale im extravaganten Designer-Outfit! Oder auch weltläufiger Businessman im maßgeschneiderten Anzug mit Aktentasche unterm Arm! Ganz gleich, mit welchem Geschlecht man geboren ist. Während es bei sogenannten Runway-Battles darum geht, möglichst authentisch in dieser selbstgewählten Rolle zu wirken, entscheidet eine Jury bei Dance-Battles über die kreativsten und besten Voguing-Tänzer. +Helen hat bereits an einigen dieser Ballroom-Events teilgenommen: in Berlin, in ihrem zeitweiligen Lebensmittelpunkt Helsinki, aber auch in New York, dem Zentrum der Voguing-Ballroom-Szene. Dort hat sie sich auf dem Runway so viel Respekt und Anerkennung erarbeitet, dass sie nunmehr sogar ganz offiziell Mitglied von "Ultra Omni" ist, einem der ältesten New Yorker Häuser. +"Für eine weiße, heterosexuelle Europäerin klingt diese Sache mit den Häusern erst einmal ziemlich seltsam und abgefahren. Wenn man aber das Prinzip verstanden hat, weiß man es umso mehr zu schätzen", sagt Helen. Es geht nicht nur allein darum, das Posing und die daraus entwickelten Tanzbewegungen zu perfektionieren, sondern sich auch freundschaftlich zu unterstützen. +Helen lebt mittlerweile in Berlin. Was sie in New York gelernt hat, gibt sie nun in einer Tanzschule weiter. Dass es diese Kurse gibt, dass hierzulande überhaupt eine Voguing- und Ballroom-Szene existiert, ist vor allemGeorgina Philpalias Georgina "Leo" Melody zu verdanken. Auch sie hat sich in New York vom Vogue-Fieber anstecken lassen und mit "House of Melody" die erste Voguing-Crew-Community in Deutschland begründet. +Mic Oala gehört seit Anbeginn zur Crew, organisiert Kurse, aber auch Events wie das Festival"Berlin Voguing Out"im kommenden Dezember. Und sie ist wie alle ihre Mitstreiter darum bemüht, den ursprünglichen "Spirit" des in der queeren Szene wurzelnden Voguing zu bewahren. "Man muss vorsichtig sein, wie man sich der Kultur annimmt, mit ihr umgeht und sie verändert", betont Mic. Vor allem die ältere Generation der US-Voguing-Heroen beobachte mit Argusaugen, was sich in Europa entwickelt. +Daher würden zu den großen europäischen Wettbewerben in London, Paris und Berlin stets auch New Yorker Altstars der Ballroom-Szene als Juroren eingeladen. Was sie insbesondere in Deutschland zu sehen bekämen, erstaune die sogenannten Legends bisweilen. Denn in den USA ist Voguing bis heute vor allem eine Sache der LGBT-Szene und von Schwulen und Transgendern dominiert, hierzulande stoßen hingegen immer mehr – lesbische wie heterosexuelle – Frauen zu dieser Szene. Viele von ihnen sehen Voguing als Gelegenheit, ungezwungen und im geschützten Rahmen aus sich herauszugehen, ganz anders sein zu können als in ihrem Alltag: ihre kerlige Seite auszuleben oder in High Heels die Schlampe zu geben. +"Voguing hat mich darin bestärkt, mich nicht in Kategorien packen zu lassen", sagt die androgyne Solange und fährt sich ein wenig verlegen durch ihre blondierten kurzen Afrolocken. Geht sie bei einem Voguing-Ball über den Laufsteg, dann lebe sie ihre maskuline Seite aus, erzählt sie, "gleichzeitig habe ich dadurch gelernt, auch mehr meine Weiblichkeit anzunehmen". Lange Zeit hat sie sich in der HipHop-Szene heimisch gefühlt. "Aber als ich vor kurzem wieder bei einem Battle war, hab ich's nicht lange ausgehalten." Zu homophob, zu frauenfeindlich, zu rassistisch sei ihr das alles gewesen. Die Voguing-Szene erlebt sie hingegen ganz anders: "Hier kann jeder sein, wie er will, und ich hatte endlich mal das Gefühl, dass es hier nicht um Geschlecht, Sexualität, Rasse und Klasse geht", erklärt Solange. Sondern darum, "wie gut man darin ist, etwas zu präsentieren, das man sich selbst ausgesucht hat". +"Strike a pose" singt Madonna, aber beim Voguing geht es keineswegs nur darum, Posen einzunehmen, sondern eben auch darum: selbstbewusst Haltung zu zeigen. diff --git a/fluter/eine-frage-der-leere.txt b/fluter/eine-frage-der-leere.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..956d4908abdc3206881f4d08d0f5a3a576122194 --- /dev/null +++ b/fluter/eine-frage-der-leere.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Uetersen liegt nicht am Ende der Welt, sondern im Speckgürtel von Hamburg, 30 Kilometer nordwestlich der Metropole. Das ist gut, weil die Nähe zu einer Großstadt eine kleine Stadt attraktiver macht. Das ist schlecht, weil die Nähe zu einer Großstadt einer kleinen Stadt die Luft abdrückt. Jedenfalls wenn's ums Geschäft geht. In der Großstadt gibt es alles und von allem mehr. Allein schon durch die großen Ketten, die Kundschaft anlocken, von denen der kleinere Einzelhandel drumherum profitiert. Uetersen mit seinen gut 18.000 Einwohnern ist für Unternehmen wie Saturn oder H & M, die junge Kundschaft interessieren könnten, zu klein, nur ein weißer Fleck auf der Filialnetzkarte. Supermärkte sind auch Kundenmagneten, essen muss ja jeder. Aber die werden heute auf der grünen Wiese gebaut, auch in Uetersens Umland. Parken ist dort einfacher, alles ist so praktisch. Meike Koschinski aber kämpft weiter für die Innenstadt. Einkaufen, sagt sie, bedeute doch auch, andere Menschen zu treffen, sich auszutauschen. +Uetersens Stadtkern bildet seit 1981 eine Fußgängerzone nahe dem Marktplatz. Seinerzeit waren diese konsumorientierten Flaniermeilen sehr en vogue. 33 Jahre später ist für Leute, die es billig und bequem wollen, und für eine Generation, die übers Internet shoppt und schwatzt, so ein Ort sehr von gestern. Erst recht, wenn er aussieht wie Uetersen. +2008 gab die Stadt ein Einzelhandelsgutachten in Auftrag. Unter anderem kam heraus, dass das Zentrum städtebaulich nicht einladend sei. Das war zwar schon vorher jedem klar, niemand schwärmte vom Charme der Fußgängerzone. Aber nun war es sozusagen offiziell als Aufruf zum Handeln formuliert. Passiert ist seitdem: nichts von Bedeutung. Die Stadt Uetersen ist pleite. Sie kann bestenfalls Workshops zum Ideenaustausch initiieren. Zum Beispiel zu "PACT", einem schleswig-holsteinischen Gesetz von 2006. PACT steht für "Einrichtung von Partnerschaften zur Attraktivierung von City-, Dienstleistungs- und Tourismusbereichen". In manchen Kommunen wird schon paktiert, in Uetersen fühlt man sanft vor, wie belastbar die Zielgruppe ist. PACT bedeutet nicht zuletzt, dass Immobilienbesitzer, und dazu gehören viele alteingesessene Einzelhändler, für kollektiv beschlossene Verschönerungen wie neue Gehwege zur Kasse gebeten werden. +Die Uetersener Fußgängerzone bildet das Mittelstück einer über Jahrzehnte von Handel und Gewerbe geprägten Straßenachse, die über eineinhalb Kilometer von der Altstadt Richtung Osten bis zum Industriegebiet führt. An diesem Ostrand liegt das Haushaltswarenfachgeschäft Heinz Lembke. Seit über 60 Jahren bekommt man hier praktisch alles – vom Vertikutierer bis zur Vase; Beratung sowieso. Weiß auch jeder, jedenfalls, wenn er Haus und Garten hat. +Mit einem zickigen Dampfkochtopf geht man zu Lembke, die ziehen einen neuen Dichtungsring aus einer ihrer Wunderschubladen, und alles ist wieder paletti. +Hat so viel Liebe zu Kram und Kundendienst Zukunft? Wie viele Menschen benutzen noch Dampfkochtöpfe? Wer kauft sein großes Kaffeeservice noch vor Ort? Statt in Hamburg. Oder im Internet. Wer kauft überhaupt noch ein großes Kaffeeservice? Und werden die, die heute jung sind, wenn sie sich eines Tages doch für Geschirr statt für Smartphones interessieren, noch in Haushaltswarenfachgeschäfte gehen? Statt in Shoppingcenter. Oder ins Internet. +Selbstständige stationäre Einzelhändler sind traditionell Familienunternehmen. Sie haben keine vor Kreativität krachenden Namen, sie heißen nach ihren Gründern: In Uetersen kauft man Fotoapparate und Zubehör bei Lavorenz, Spiele bei Wientapper, Betten bei Behrens und so weiter. Manche dieser Geschäftsleute haben ihre Nachfolge geregelt. Bei anderen fehlt es an interessierten Erben und potenziellen Käufern; vor allem wenn die Läden dringend modernisiert und die Immobilien komplett saniert werden müssten. Und dann muss es ja auch noch eine Nachfrage geben. Eine echte Nachfrage. Das Modehaus Behr, gegründet 1834, schaffte vier Generationswechsel, bis es 2007 schließen musste. Es gab keine Nachfolger, aber eben auch keine überwältigende Nachfrage. Trotzdem hinterließ diese Geschäftsaufgabe in der Stadt einen Phantomschmerz. Heute vermissen Leute Behr, die bei Behr nie gekauft haben. +Einzelhandel ist harte Arbeit, man muss wissen, welche Kundschaft man anpeilt, Zeit und Geld investieren, damit sie kommt, und noch mehr, damit sie bleibt. Das weiß auch Nina Reinhold, 37, Chefin von Pittis Jeans. Pittis Jeans hört sich nach Kette an, ist aber ein Familienunternehmen, nur dass hier ein Vorname Pate steht. Pittis hat das Männersegment rausgeschmissen – brachte nicht genug. Auch die Zeiten, in denen der Laden unter Teenagern angesagt war, sind lange vorbei. Heute konzentriert sich das Angebot auf erwachsene Frauen. Man müsse die Kuh melken, die ertragreich sei, sagt Reinhold. So umgarnt Pittis seine Kundinnen mit Mailings und Modenschauen. Persönliche Ansprache ist das Pfund, mit dem Einzelhändler wuchern können. Reinhold sagt, die Geschäfte liefen gut. +Mitte der Nullerjahre machten sich zwei junge Frauen selbstständig, die eine mit einem Feinkostladen, die andere mit einer Weinhandlung. Das erweiterte die Uetersener Angebotspalette. Beide Läden fanden ihr Publikum. Allerdings nicht genug. Natürlich gibt es in Uetersen Leute mit Geld und Geschmack. Aber wenn schon, dann kann man ja auch gleich nach Hamburg fahren, um sich mit Delikatessen einzudecken. Oder Wein im Internet bestellen. Der Feinkostladen gab auf, die Weinhandlung nicht. Doch auch neun Jahre nach der Eröffnung kann die Betreiberin Sabine Handschuh von dem, was der Laden abwirft, nicht leben. Sie hat keine Angestellten, der Job ist Selbstausbeutung. Es hilft ihr über Sinnkrisen hinweg, dass sie ihn so gern macht. Und dass ihre Familie sie unterstützt. Handschuhs Laden hat eine gute Lage am Marktplatz, kostenlose Parkplätze vor der Tür. Die Geschäfte links und rechts jedoch stehen leer, eines seit Herbst 2012. Obwohl die Mieten fallen. +Jenseits dieser besten Lagen sieht es noch prekärer aus. In der unwirtlichsten Ecke der Fußgängerzone gab gerade ein billiger Klamottendiscounter auf, wenig später eröffnete der nächste. Gegenüber existiert seit Ewigkeiten das Kaufhaus Woolworth. Das ist keine exklusive Adresse, aber als der Woolworth-Konzern vor ein paar Jahren ins Trudeln geriet, hatte man in Uetersen furchtbare Sorge. Woolworth ist für Uetersener Verhältnisse ein Frequenzbringer. Wenn der Betonklotz leer stehen würde – nicht auszudenken. Ohnehin frisst sich die Tristesse ins Herz der Stadt: Leerstand am Marktplatz, und auch neben Woolworth ist ein ehemaliger Tabakladen vernagelt, zwei Häuser weiter hat ein Lebensmittelladen aufgegeben, wieder zwei Häuser weiter wurde eine Goldschmiede geschlossen. Daneben: ein Modediscounter, eine Fußpflege, eine Änderungsschneiderei. An diesem östlichen Ende der Fußgängerzone offerierte bis 2006 das elegante Modegeschäft Münster Designerware, es kam erlesene Kundschaft, sogar Prominenz aus Hamburg. Jetzt nutzt ein Nagelstudio die Räume, auf den Scheiben prangt fette Werbung für Acrylauffüllungen. Trading down nennt man das: Es gibt eine Abwärtsspirale mit billigen und noch billigeren Läden. +Ein paar Hundert Meter weiter, in der kleinen, feinen Altstadt am Ortsrand, halten sich ein paar alteingesessene Restaurants und Geschäfte. Eines ist die Buchhandlung Schröder. Karin Kersten hat sie 1982 von ihrer Mutter übernommen. Goldene Zeiten. Heute gibt es Onlinehändler. Weil außerdem das Internet ja alles weiß, kauft auch niemand mehr Lexika, Wörterbücher, Ratgeber, einst Broterwerb einer Buchhandlung. Karin Kersten ist jetzt 66 Jahre alt, sie muss langsam über ihre Nachfolge nachdenken. Strotzend vor Zuversicht ist sie nicht. Auf Stellenausschreibungen bekommt sie Bewerbungen ausgebildeter Buchhändler aus dem ganzen Land. Aber wer will noch ein Geschäft auf eigenes Risiko führen? In dieser Branche! In Uetersen!? Uetersen, das bedeutet übrigens "äußerstes Ende". Aber Uetersen ist überall. diff --git a/fluter/eine-gruschel-geschichte.txt b/fluter/eine-gruschel-geschichte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..74d6432dc350e03433aa860d2a6592bc56e4a6fa --- /dev/null +++ b/fluter/eine-gruschel-geschichte.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Dabei lesen sich die Artikel alle gleich: meist wird kritisiert, dass die privaten Dinge, die die Jugendlichen auf SchülerVZ von sich preisgeben, in die falschen Hände gelangen könnten. Pädophile würden sich freizügige Bilder herunterladen, seelenlose Unternehmen die Vorlieben der Schüler ausforschen, um sie irgendwann mit maßgeschneiderter Werbung zu terrorisieren ("Du magst doch gern Pizza – probier mal die!"), und in Bewerbungsgesprächen könnte dereinst ein potenzieller Arbeitgeber die Bilder von dieser ziemlich exzessiven Party aus der Schublade ziehen, die man dummerweise irgendwann einmal in ein SchülerVZ-Album gestellt hat. Das wäre dann das frühe Ende der Karriere. Der "Spiegel", der ja ebenfalls gern private Dinge ausplaudert, warnte vor Kurzem raumgreifend vor Mobbing und Beschimpfungen im Internet und schrieb: "Es ist, als wären die Jugendlichen plötzlich in den Besitz großkalibriger Distanzwaffen geraten. " Hört sich eher so an, als würden die alten Medien großkalibrig auf die neuen schießen. +Solche Geschichten hat Schmid wahrscheinlich im Kopf, wenn er einem Journalisten gegenübersitzt. Reden wir also erst mal über das Gute: Auf SchülerVZ wie auch in anderen so genannten "sozialen Netzwerken" kann man ziemlich schnell miteinander ins Gespräch kommen und Leute an seiner Schule oder in seiner Stadt kennenlernen, die ähnliche Interessen haben. Wer weiß denn, ob der Tokio- Hotel-Fan mit der Schwäche für Edgar- Allan-Poe und lila Gummibärchen in einem früheren Leben ohne SchülerVZ nicht auf alle Zeiten bindungslos durch seine Kleinstadt gezogen wäre … Man kann recht unkompliziert Fotoalben anlegen, mit anderen über alle möglichen Dinge diskutieren und, warum nicht, sich einfach recht amüsant die Zeit vertreiben, indem man seine eigenen Webseiten erschafft und seien die Inhalte darauf noch so unsinnig. Klar sind die meisten Gruppen nicht so tiefgründig, aber auch auf dem Schulhof wird ja eine Menge Mist geredet – insofern ist SchülerVZ ein ziemlich gutes Abbild des echten Lebens. +SchülerVZ hat im Übrigen eine Menge getan, um die Kritik von Eltern, Lehrern und Datenschützern zu entschärfen. So wird das Netzwerk regelmäßig nach Propaganda von Neonazis oder dummen Anmachsprüchen durchkämmt, laut Verhaltenskodex ist selbst das Hochladen von Katastrophenbildern verboten, um Zartbesaitete zu schonen, Sexdarstellungen sind sowieso tabu. Für besorgte Eltern gibt es ein Infotelefon, an dem Diplompädagogen sitzen. Dennoch kann auch SchülerVZ nicht verhindern, dass sich schon Zwölfjährige (das ist die Untergrenze, aber wenn man sich nicht daran hält, passiert auch nicht viel) in Posen präsentieren, die besser zu "Germanys next top Luder " passen würden – oder allein 30 Gruppen zu irgendwas mit "Fick dich" existieren. Man will sich schließlich nicht wie die Eltern aufspielen. +Ein aufgeklärter Umgang mit dem Medium wird den Jugendlichen von der Presse meist abgesprochen. Die Möglichkeit, dass selbst 14-Jährige ein Gespür dafür haben, was sie preisgeben können und was nicht, wird meist gar nicht erst in Betracht gezogen. Das Seltsame aber ist, dass auf der einen Seite die ungeheure Belanglosigkeitder Einträge kritisiert, und auf der anderen Seite beständig davor gewarnt wird, zu viel von sich zu offenbaren. Kann es denn vielleicht sein, dass genau deswegen so viel Quatsch in SchülerVZ steht – weil die Jugendlichen keine Lust haben, sich wirklich zu entblößen? Weil die wirklich wichtigen Diskussionen nicht in Gruppen wie "hat jemand noch Arschkarten – ich sammel die nämlich " geführt werden, sondern außerhalb des Internets in der Clique oder der Familie. +So weit das Gute. Aber damit sich SchülerVZ-Chef Schmid nicht ganz umsonst gesorgt hat, muss man auch ein paar unangenehme Dinge ansprechen: Und da wäre zuerst einmal das Geld, das sich derzeit mit SchülerVZ nicht so recht verdienen lässt, was die Besitzer des Netzwerks ganz wuschig macht – denn Medien, die mehr kosten als sie einspielen, sind in der Branche in etwa so beliebt wie Werbung auf SchülerVZ –, womit wir ziemlich So weit das Gute. Aber damit sich SchülerVZ-Chef Schmid nicht ganz umsonst gesorgt hat, muss man auch ein paar unangenehme Dinge ansprechen: Und da wäre zuerst einmal das Geld, das sich derzeit mit SchülerVZ nicht so recht verdienen lässt, was die Besitzer des Netzwerks ganz wuschig macht – denn Medien, die mehr kosten als sie einspielen, sind in der Branche in etwa so beliebt wie Werbung auf SchülerVZ –, womit wir ziemlich Internet-Café gegründet worden und hatte innerhalb kürzester Zeit Millionen von Mitgliedern verzeichnet – so viele, dass es den Gründern anderthalb Jahre später für 85 Millionen Euro vom Holtzbrinck-Konzern abgekauft wurde. Ungefähr seit demselben Zeitpunkt denkt man bei Holtzbrinck darüber nach, wie man das Geld wieder reinbekommt und vielleicht noch ein bisschen was obendrauf. +Zunächst mal gründete man ein weiteres VZ für Schüler und dann noch das Portal MeinVZ für alle, die schon aus der Schule raus sind oder studiert haben. Alle zusammen kommen auf fast 13 Millionen Mitglieder – eine Einschaltquote, von der Fernsehsender nur träumen können – und dennoch steht dieser Zahl kaum Wertschöpfung entgegen.Eigentlich verdient Holtzbrinck viel Geld mit Werbung – das heißt mit Anzeigen in seinen Zeitungen und Magazinen. Doch mit der Werbung im Internet ist es ungleich schwerer, denn dort sind die meisten Menschen von ihr genervt – und am meisten nervt es sie, wenn beim Quatschen mit ihren Freunden Pop-ups oder Banner stören. Das aber bedeutet, dass die gewohnte Einnahmequelle der Medienkonzerne im Netz weitestgehend ausfällt. Kein Wunder, dass bei Holtzbrinck eine latente Panik herrscht, wenn es ums Internet geht, und die zuständigen Geschäftsführungen in kurzen Abständen ausgetauscht wurden, weil sich der Erfolg nicht so recht einstellen will. Und ein netter Grill-Fan wie Christoph Schmid vorgeschickt wird, wenn man eigentlich den Geschäftsführer sprechenwill. Den letzten Flop landete man übrigens im vergangenen Herbst, als man die Mitglieder von StudiVZ in den Nutzungsvereinbarungen zwingen wollte, der Weitergabe ihrer Daten zu Werbezwecken zuzustimmen. Nach einem Sturm der Entrüstung von Datenschützern und Mitgliedern wurde dieses Ansinnen schnell zurückgenommen. +Bei SchülerVZ hat es das Unternehmen sogar noch schwerer – schließlich ist Werbung bei Kindern gesellschaftlich verpönt, weil sie immer den Ruch der Verführung Schutzbefohlener hat. Das wissen auch die Agenturen und schalten eher zögerlich. Zumal der rechtliche Status von SchülerVZ nach wie vor fragwürdig ist, denn juristisch betrachtet ist die Zustimmung der Jugendlichen zu den Nutzungsbedingungen des Netzwerks hinfällig. Schließlich sind Personen unter 18 nur beschränkt geschäftsfähig. Zwar steht in den Vereinbarungen, dass die Nutzer erst die Erlaubnis ihrer Eltern einholen sollen, aber geprüft wird das in der Regel nicht. +Momentan noch mag man sich bei Holtzbrinck damit trösten, dass man zumindest eine Menge Daten über potenzielle, zukünftige Leser seiner anderen Medien gewinnt. Denn auch das ist ja viel wert: dass man weiß, was die Menschen mögen und was nicht. Was sie gern lesen und welche Musik sie kaufen. Man kann sich dann mit seinen Produkten darauf einstellen. Allerdings gibt es genügend andere, die sich diese Daten einfach aus den sozialen Netzwerken rauskopieren (das heißt schön grimmig "data-mining"), um sie zu verkaufen oder selbst für das sogenannte "target advertising" zu nutzen – also für Werbung, die genau auf die Wünsche der Konsumenten abzielt. +Die VZ-Gruppe ist mit ihren Sorgen nicht allein. Auch der weltweit unangefochtene Marktführer Facebook tut sich schwer, die gigantische Mitgliederzahl von 175 Millionen (davon zwei Millionen Deutsche) in ein tragfähiges Geschäftsmodell umzusetzen. Studien in den USA zeigen, dass klassische Werbung in Online-Netzwerken die Leute eher vertreibt, als sie zum Kaufen der Produkte zu animieren. Die Lösung sind nun spezielle Werbeformen, wie zum Beispiel Gewinn- und Mitmachspiele, die den Community-Gedanken aufgreifen. So konnte man auf StudiVZ im vergangenen Jahr mit Coca-Cola zwei Tickets für die Europameisterschaft gewinnen, die man mit einem Fremden teilen sollte – oder einem Aktionsbündnis zur Wiederkehr des Langnese- Klassikers "Nogger Choc" beitreten. Genau, klingt alles nicht so wirklich heiß. +So wie es aussieht, werden nicht alle Netzwerke überleben – zumal die Konkurrenz mittlerweile riesig ist. Neben Facebook und den VZs gibt es in Deutschland noch das Netzwerk "lokalisten.de" und "werkenntwen. de", die täglich Hunderte neuer Mitglieder finden. "Der Coolere wird überleben", sagt ein Holtzbrinck-Manager – und er sagt es nicht so, als stünde außer Frage, dass der eigene Laden der coolste ist. Auf SchülerVZ erfährt man von all den Problemen hinter den Kulissen erst mal nichts – nicht mal, wem das StudiVZ-Netzwerk wirklich gehört – nur, dass es einst "in einer kleinen WG gegründet wurde" – was ja wesentlich charmanter klingt als: "gehört zu einem Megakonzern". Und zu dieser graswurzeligen Interpretation passt ja Christoph Schmid wieder ganz gut – mit seinem dunklen Lockenschopf, dem Dreitagebart und dem legeren Shirt. Er muss also gar nichts sagen, er muss einfach nur lässig aussehen – wie ein richtiger Gründer. +Das Profil von fluter-Redakteur Oliver Gehrs (41) wurde kurz nach dem Interview gelöscht, weil er ja eigentlich schon zu alt für SchülerVZ ist. diff --git a/fluter/eine-kleine-faktenschau.txt b/fluter/eine-kleine-faktenschau.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/eine-kreuzfahrt-in-die-hoelle.txt b/fluter/eine-kreuzfahrt-in-die-hoelle.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..19718873a5fa0383265953b59ba02b9462ac86a1 --- /dev/null +++ b/fluter/eine-kreuzfahrt-in-die-hoelle.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Wallace bewegt sich in seinen klugen Beobachtungen zwischen einem augenzwinkernden Wohlwollen, Sarkasmus und bitterer Häme. Über manches kann man sofort lachen – zum Beispiel, wenn er umständlich versucht aufzuklären, warum er seine Kabine magischerweise immer genau nach 30 Minuten Abwesenheit blitzblank gereinigt wieder vorfindet, über Running Gags wie den Cocktail "Slippery Nipple" oder wenn er die Küchenmannschaft fragt, ob sie einen Eimer Bratfett für ihn erübrigen könnten, mit dem er Haie anlocken möchte. Andere Male überschreitet er bewusst Grenzen; so vergleicht er die nervöse Menschenmenge kurz vor dem Einschiffen mit "Ellis Island oder Auschwitz". +Die Kreuzfahrtgesellschaft beschäftigt – auch hier gibt sich Wallace keine große Mühe um Political Correctness – "ein ganzes Bataillon an Drittwelt-Gestalten, die in ihren blauen Overalls tagein, tagaus das Schiff nach etwaigen Zeichen beginnenden Gammels absuchten". Von ihnen wird nicht weniger erwartet als perfekter Service: Auf zwei Passagiere kommen 1,2 Crewmitglieder. Rund um die Uhr lesen sie den Gästen jeden Wunsch von den Lippen ab. Einmal trägt Wallace seinen Koffer selbst, weil er eine Creme daraus braucht; er kann nur mit Mühe verhindern, dass dafür Köpfe rollen. +Eines der Gebote des Serviceterrors: Lassen Sie sich verwöhnen. Wir wissen genau, was Sie brauchen. Nach Wallace' Interpretation: Wir wissen es besser, Sie haben keine andere Wahl. Totale Kontrolle. +Warum dieses autoritäre Tourismuskonzept so gefragt ist? Wallace kommt zu dem Schluss: Im wahren Leben gilt, dass man sich entscheiden und später damit leben muss, dass man seine Entscheidungen bereut. Nicht so auf einer Kreuzfahrt. An Bord des Luxusliners gebe man nicht nur die Verantwortung dafür ab, was man erlebt, sondern bekomme gleich auch noch die Interpretation dafür, was es ist: pures Vergnügen. +Auch die Sinnentleerung und Verzweiflung dieser sauberen Welt des Amüsierzwangs wird von Wallace thematisiert. Diese pessimistische Sicht ist analytisch, aber auch persönlich: Wallace litt unter Depressionen. Sie gelten als Ursache für seinen Suizid im Herbst 2008. Sätze wie die folgenden aus "Schrecklich amüsant" hinterlassen daher einen bitteren Nachgeschmack: "Man möchte sterben, um der Wahrheit nicht ins Auge blicken zu müssen, der Wahrheit nämlich, dass man nichts weiter ist als klein, schwach und egoistisch – und dass man mit absoluter Sicherheit irgendwann sterben wird. In solchen Stunden möchte man am liebsten über Bord springen". +Sabrina Gaisbauer, 26, volontiert bei der Bundeszentrale für politische Bildung diff --git a/fluter/eine-party-viele-einladungen.txt b/fluter/eine-party-viele-einladungen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b69b96bf0a5c2f577fa0846c06ceb0d7bc54643d --- /dev/null +++ b/fluter/eine-party-viele-einladungen.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Optisch am auffälligsten ist dabei "Stand up – Feminismus für Anfänger und Fortgeschrittene". Die zunächst wuchtig wirkenden 400 Seiten Text werden aufgelockert von kleinen Bildern, Kurzporträts, Interviews, Statistiken und anderem hübschen Schnickschnack – wie etwa diesem Zitat von der britischen Journalistin Rebecca West: "People call me a feminist whenever I express sentiments that differentiate me from a doormat." +Feminismus ist für die 1988 geborene Journalistin Julia Korbik nicht einfach bloß eine Meinung. Er ist eine Lebenseinstellung, die einem dabei helfen kann, "die Person zu sein, die man sein möchte" – und zwar unabhängig von den Rollen, die für einen vorgesehen sind. Feminismus heißt für Korbik auch, dass Männer "Grey's Anatomy" sehen können, ohne ausgelacht zu werden. Die Frage, ob FeministInnen Nagellack tragen dürfen, klärt Julia Korbik ohnehin gleich auf dem Cover. +"Die Vorstellung, Feministinnen seien so ziemlich die hässlichsten Wesen dieser Erde (hässlicher als ein Nacktmull!), ist das älteste aller Vorurteile", schreibt Korbik und erklärt auch gleich, woher diese Idee kommt: In einer Gesellschaft, in der Frauen vor allem nach dem Äußeren beurteilt werden, ist "die Hässlichkeitskeule" eben ein sehr wirksames Mittel, um Mädchen oder Frauen abzuwerten. +"Stand up" ist in einer einfachen, zugänglichen Sprache geschrieben. Korbik zeichnet die Geschichte des Feminismus – mit deutsch-amerikanischem Schwerpunkt – nach und erklärt verschiedene Strömungen wie radikalen, Differenz-, marxistischen oder Ökofeminismus. Ihnen allen ist laut Korbik gemeinsam, "dass sie Geschlechterverhältnisse als Macht- und Herrschaftsverhältnisse begreifen". +Weniger bunt, aber noch schneller, noch direkter geschrieben ist "Weil ein #Aufschrei nicht reicht. Für einen Feminismus von heute" von Anne Wizorek. Ebenjenen #Aufschrei in Form eines Twitter-Hashtags, das Anfang 2013eine große Debatte über Alltagssexismus auslöste, hatte Wizorek, Jahrgang 1981 und Beraterin für digitale Medien, mitinitiiert. Ihr Buch ist zweigeteilt: Die erste Hälfte erklärt in sieben Kapiteln, was Feminismus für sie heute bedeutet. Wizorek schreibt über sexuelle Selbstbestimmung, verschiedene Arten von Sexismus, über Hausarbeit, Gewalt und Quoten, über Homo-, Bi- und Transsexualität. Grundton: Nein, es ist längst nicht alles erreicht – konkret heißt das etwa: "Solange ‚Hast du abgenommen?' immer noch als ultimatives Kompliment gilt, ist die Eroberung unserer eigenen Körper nicht gelungen." +Dass feministische Forderungen nicht überall von Beifall und Konfetti begleitet werden, weiß Wizorek sehr gut. "Wir wollen radikalen Wandel, das muss Leute anpissen." Warum und wie dieser Wandel aber auch Spaß machen kann, erklärt sie im zweiten Teil ihres Buches. Hier beschreibt Wizorek sehr persönlich, wie sie zum Feminismus kam – und dass das gar nicht so lange her ist. Lange Zeit hielt sie die Selbstbezeichnung "Feministin", wie sie sagt, "auf Sicherheitsabstand wie ein kleines Stinktier". Wizorek schreibt ein ganzes Kapitel nur für Männer (Fazit: "Wir brauchen dich"), und natürlich erklärt sie auch, wie das Internet helfen kann, feministisch aktiv zu werden. In nicht weniger als 427 Fußnoten finden sich haufenweise Links und Leseempfehlungen zu Studien, Blogs, Artikeln oder auch nur einzelnen Tweets. +Stilistisch und inhaltlich ziemlich anders ist "Pink Für Alle! Der neue feministische Protest gegen Sexismus in Werbung und Spielzeug" von Stevie Meriel Schmiedel. Die Kulturwissenschaftlerin und Genderforscherin, Jahrgang 1971, hat die Kampagne "Pinkstinks" in Deutschland nach englischem Vorbild gegründet und kämpft mit ihr gegen die "Pinkifizierung" von Mädchen und gegen beschränkte Geschlechterrollen. Mädchen sollen mehr sein dürfen als Prinzessin, Model oder Meerjungfrau, gleichzeitig sollen aber auch Jungs sich mit Glitzer hübsch machen dürfen oder Rosa tragen, wenn sie wollen. Parallel zu "Pink Für Alle!" veröffentlichte Pinkstinks auch das Kinderbuch"David und sein rosa Pony"über einen Jungen, der mit "Mädchenspielzeug" spielt. +"Pink Für Alle!" richtet sich nicht nur an (potenzielle) Eltern, sondern auch an alle, die sich für Marketingstrategien, Kapitalismuskritik oder Märchen interessieren – und an diejenigen, die etwas über Feminismus lernen wollen und denen der Stil von Julia Korbik oder Anne Wizorek zu flapsig ist. Stevie Meriel Schmiedel schreibt darüber, warum es "Teil unserer Kultur" ist, Mädchen nichts zuzutrauen, und was daran falsch ist, wenn Müslisorten oder Bobbycar in zwei geschlechterspezifischen Varianten auf den Markt kommen. Wobei "falsch" natürlich nur für die Kinder gilt – die Industrie freut sich, dass sie Produkte doppelt verkaufen kann, einmal in Rosa und einmal in Blau, einmal mit Prinzessin Lillifee und einmal mit Käpt'n Sharky. +Es ist dem im Eigenverlag erschienenen Buch zu verzeihen, dass es, nett ausgedrückt, nicht perfekt Korrektur gelesen wurde. Dafür versammelt es eine Fülle an kaum bekannten Fakten und Argumenten: über Frauenbilder, Essstörungen und Mode, über Studien und Kinderbücher. Besonders schön sind die zwei Märchenkapitel, in denen Schmiedel Stück für Stück Grimm-Klassiker seziert, bis von Schneewittchen ("ein Märchen, das uns lehrt, wie wichtig Schönheit ist"), Dornröschen ("eine Menstruationsgeschichte") und dem Froschkönig ("nein" muss "nein" heißen) nicht mehr viel übrig bleibt. +Vier schöne Gemeinsamkeiten haben die drei Neuerscheinungen: 1.) Sie stehen für einen niedrigschwelligen Feminismus. Sie erklären sehr viel und versuchen, ihre Botschaft leicht verständlich zu machen. Wizoreks und Korbiks Bücher haben ein Glossar. 2.) Die Autorinnen sind kämpferisch und unversöhnlich im positiven Sinne. Sie erklären, aber sie relativieren nicht. 3.) Alle drei versuchen außerdem, Männer mit ins Boot zu holen, und schreiben, warum auch sie davon profitieren, wenn strikte Rollen aufgelöst werden. Und 4.) Alle drei Bücher sind sehr pragmatisch angelegt und geben im jeweils letzten Kapitel Tipps für Leute, die sich engagieren wollen (oder "pinksüchtige" Töchter haben): eine Art feministische Starthilfe. +Im Frühjahr geht die Feminismusdebatte auf dem deutschen Buchmarkt weiter: Schon Ende Februar kommt die deutsche Übersetzung von Laurie Pennys "Unspeakable Things": "Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution" (Edition Nautilus). Anke Domscheit-Berg ruft im März "Ein bisschen gleich ist nicht genug!" (Heyne). Antje Schrupp hat mit der Künstlerin Patu eine "Kleine Geschichte des Feminismus" (Unrast) geschaffen, und Katrin Rönicke macht im Mai eine klare Ansage zum Thema Geschlechterrollen: "Barbie ist ein Ar*?#!, Ken auch – Eine Emanzipation" (Metrolit). +Margarete Stokowski schreibt als freie Autorin hauptsächlich zu – Überraschung! – Feminismus und Literatur. Ihre Kolumne"Luft und Liebe" erscheint alle zwei Wochen in der "taz". diff --git a/fluter/eine-schrecklich-nette-familie-0.txt b/fluter/eine-schrecklich-nette-familie-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/eine-schrecklich-nette-familie.txt b/fluter/eine-schrecklich-nette-familie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1f3bfe60f3933000f5ffd6dcc6738c67d18817d1 --- /dev/null +++ b/fluter/eine-schrecklich-nette-familie.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Als sich die Mütter und Väter der 1b zur Elternbeiratswahl trafen, dürfte kaum jemand in Strehla gewusst haben, warum die Schreibers aus Coburg hierher nach Sachsen gezogen waren. Man sieht es der netten Hausfrau ja auch nicht an. "Viele Leute denken zuerst mal: Die ist sicher eine von den Grünen!" Sie lacht. Eine kuriose Idee! Ines Schreiber würde bei den Grünen wirklich nicht auff allen – äußerlich. Sie trägt ein langes Leinenkleid, dicke Wollstrümpfe in dunklen Halbschuhen, eine eckige schwarze Brille, das Haar hochgesteckt. An ihrer Halskette baumelt ein Anhänger mit drei Blättern in einem Ring. Ein Symbol für die Verbundenheit zur Natur, sagt sie. Man findet das Motiv auch im Internet – zum Beispiel beim Versandhaus des Deutsche-Stimme-Verlags, jenem Verlag, in dem die NPD-Parteizeitung erscheint. +Der rechtsextreme Verlag hat seinen Sitz etwa zehn Kilometer von Strehla entfernt am Stadtrand von Riesa. Und genau deshalb hat es die Schreibers nach Sachsen verschlagen. Denn Ines Schreibers Ehemann hatte seine Stelle in Coburg verloren, und er fand einen Job als Vertriebsleiter des NPD-nahen Verlagshauses. Inzwischen hat der Steuerfahnder a.D. politisch Karriere gemacht: Er arbeitet als parlamentarischer Berater der NPD-Fraktion im Sächsischen Landtag. Ines Schreiber zeigt gerne, wie hübsch sie es in Strehla haben: Das Städtchen liegt idyllisch auf einem Hügel über dem Elbtal, auf halber Strecke zwischen Dresden und Leipzig. Fahrradtouristen machen gerne dort Station. Als Treff punkt schlägt die Hausfrau ein Café am historischen Marktplatz vor. +Die Familie war kaum nach Strehla gezogen, da wurde der Finanzwirt Peter Schreiber in den Kreistag gewählt. Er hatte sich damals schon der NPD angeschlossen. Ines Schreiber machte zunächst nur als parteiloses Mitglied bei der NPD-Frauengruppe mit. Im Sommer 2009 kandidierten die Schreibers auch für den Stadtrat. Peter Schreiber sitzt heute als erster Politiker der NPD im Strehlaer Kommunalparlament. Für seine Frau reichten die Stimmen nicht ganz. Sie klingt nicht geknickt, wenn sie das erzählt. Vielleicht hätte der Posten ihrer politischen Arbeit sogar geschadet. Denn Ines Schreiber wirkt mit Vorliebe da, wo die Leute an alles denken, nur nicht an die NPD. Zum Beispiel im Elternrat der Schule. Oder auch vor Gericht. Im Mai 2009 wurde sie beim Amtsgericht Riesa als Schöffin vereidigt. Als "Stimme des Volkes" wolle sie dazu beitragen, härtere Strafen durchzusetzen, natürlich nur im Rahmen des gesetzlich Möglichen. "In Deutschland gilt ja leider immer noch Täterschutz statt Opferschutz." Ginge es nach ihr, dann würden Gerichte auch wieder die Todesstrafe verhängen, "für Mörder – ganz klar", sagt sie, "aber auch für Kinderschänder". Zwei Gremien hatten Ines Schreiber zu dem Posten verholfen: der Strehlaer Stadtrat und der Schöffenwahlausschuss des Amtsgerichts. Von Journalisten darauf angesprochen, behauptete der Amtsgerichtsdirektor, er habe von der politischen Orientierung der Hausfrau nichts gewusst – und leitete ein Ausschlussverfahren gegen sie ein. +Die NPD hingegen entdeckte die Schöffin als Vorzeigefrau. Holger Apfel, seit ein paar Monaten NPD-Bundesvorsitzender, jubelte: Ines Schreibers Posten am Riesaer Amtsgericht beweise, "wie weit die Nationalen hier auf ihrem Weg in die Mitte des Volkes bereits gekommen" sind. Das Ehrenamt als strategisches Mittel. Dass die NPD versucht, junge Frauen als Sympathieträgerinnen einzuspannen, ist nicht neu. Umfragen belegen seit Jahren: Frauen denken kaum weniger radikal als Männer – sie geben aber seltener rechtsextremen Parteien ihre Stimme. Im Herbst 2006 richtete die NPD den Ring Nationaler Frauen (RNF) als Unterorganisation ein, in der Hoffnung, dass die Damen der Partei zu einem ansehnlicheren Image verhelfen. So wie Ines Schreiber. +Eine Parteikarriere glückt jedoch nur wenigen rechtsextremen Frauen. Wenn sie sich als Mutter um ihre Kinder kümmern wolle, sagt Ines Schreiber, dann habe sie dafür gar keine Zeit. Politisch wirken könne sie aber auch so. Sie gehe zum Faschingsfest, zum Osterfeuer. Sie höre den Leuten zu. Viele Mütter, erzählt sie, hätten ja keine Arbeitsstelle und säßen frustriert zu Hause. Die lade sie ein. "Die Muttis kommen zu mir, wir basteln oder gehen spazieren. So kommt man ins Gespräch. Irgendwann sag ich dann: Komm doch mal mit, hör dir an, was wir machen." Sie grinst: "Von den Kameraden werde ich deshalb scherzhaft auch die Psychosozialtante von Strehla genannt." +Ines Schreiber gestaltet ihr Leben ziemlich genau so, wie es sich die rechtsextreme Gemeinschaft Deutscher Frauen (GDF) von ihren Mitgliedern wünscht. Sie trat der kleinen, öffentlichkeitsscheuen Gruppe vor Jahren bei. Sie trägt aus Überzeugung meist Röcke, sie baut eigenes Gemüse im Garten an und feiert mit ihren Kindern, wie einst die Nationalsozialisten, statt Weihnachten das "Julfest" zur Wintersonnenwende. Die GDF-Aktivistinnen ordnen ihr Leben einem Rollenbild unter, das auf Theorien über die Bedeutung der Frauen für das Überleben der "nordischen Rasse" fußt. "Germanische Frau und Mutter, bekenne dich zum Erhalt und Fortbestand der eigenen Art", hieß es bis vor Kurzem auf der GDF-Homepage. "Denn nur Gleiches zu Gleichem bringt Mehrung und Ungleiches zu Ungleichem Zerstörung!" +Ines Schreiber denkt einen Moment nach, bevor sie dazu etwas sagt. "Sicherlich ist es anzustreben, dass sich unsereins mit unsereins paart. So wie die Afrikaner sich erhalten, die Chinesen sich erhalten – so soll sich auch unsere Rasse erhalten", erklärt sie schließlich. "Für mich ist Rasse übrigens kein schlechtes Wort." Dann erzählt sie eine Anekdote: Ihr Siegfried sammele Fußballbildchen. Unlängst sei ihm aufgefallen, dass in der Nationalmannschaft "nicht nur deutsche, sondern auch dunkle Menschen" spielen. "Wieso spielen die nicht in ihrem Land, das ist doch die deutsche Mannschaft ?", habe ihr Sohn gefragt. Sie guckt jetzt glücklich: "Das ist ein unverfälschtes, ganz natürliches, nicht strafbares Empfinden der Kinder." +Daheim dürften Siegfried und Heinrich auch mal ein Hakenkreuz malen, erzählt Ines Schreiber. Ihre Kinder wüssten, "dass das Hakenkreuz ein über 3.000 Jahre altes Zeichen ist", sagt sie, aber auch, "dass sie es draußen nicht anwenden dürfen". Sie habe Siegfried erklärt, dass es "der Herr Adolf Hitler benutzt hat" und dass der Zweite Weltkrieg "eine schlimme, schwere Zeit für alle Beteiligten" gewesen sei. +Ihr achtjähriger Siegfried, erzählt sie, habe inzwischen natürlich auch mitbekommen, was sein Vater beruflich mache: "Er weiß, dass wir für Deutschland kämpfen – damit Deutschland nicht untergeht." Nur in der Schule solle er darüber nicht reden, solange er die Zusammenhänge nicht verstehe. Der Strehlaer Bürgermeister Harry Güldner versichert, die Schreibers hätten in seiner Gemeinde noch keinen neuen oder sinnvollen politischen Vorschlag gemacht. Bisher habe das Ehepaar offenbar auch nur wenige Mitstreiter. Alarmiert ist der CDU-Politiker trotzdem. Es irritiert ihn, dass es Peter Schreiber als Zugezogener auf Anhieb in den Stadtrat schaffte. Der Rechtsextreme komme stets gut vorbereitet in die Sitzungen, sagt Güldner. Man merke, dass die NPD hier inzwischen ein "durchstrukturierter Laden" sei. Er will verhindern, dass sich die Schreibers auch noch in die Vereine der Stadt drängen. Für den Bürgermeister ist es ärgerlich genug, dass Ines Schreiber unter seinem Amtsvorgänger als Schöffin nominiert wurde. "Was soll denn da rauskommen, wenn mal ein Kerlchen mit anderer Hautfarbe vor Gericht steht?" Güldner wiegt unglücklich den Kopf. Auch die Sache mit Ines Schreibers Elternratsposten gefalle ihm gar nicht. +Immerhin – die öffentliche Debatte muss einige Strehlaer aufgeschreckt haben: Im Herbst 2010 wurde Ines Schreiber nicht wieder in den Elternrat gewählt. Auch das Amtsgericht Riesa entschied inzwischen über das Ausschlussverfahren gegen die Mutter. Tenor des Urteils: Für einen Rauswurf fehle es an einer "konkreten gesetzlichen Vorschrift". Daher bleibe Ines Schreiber weiter Schöffin am Amtsgericht. Sie ist gewählt bis 2013. Berufung ausgeschlossen. Allerdings wurde sie lange nicht mehr eingesetzt. +Wenn man Menschen in Strehla nach Ines Schreiber fragt, erzählen sie nicht von Hakenkreuzen oder Rassismus, sondern von einer Mutter, die "immer nett und freundlich" sei und für alle ein paar verbindliche Worte parat habe. An der Ladentheke, im Elternbeirat oder auf der Spielplatzbank kommt Ines Schreiber den Leuten auch nicht mit der Hitlerzeit. Wenn sie über Politik redet, dann über eine gefährliche Straßenkreuzung unweit der Grundschule. Über Hundedreck in der Stadt. Oder über ihre Idee, ein "Mehrgenerationenhaus" einzurichten. Ein Mehrgenerationenhaus in Strehla! Da lacht der Bürgermeister los, dass das bordeauxrote Hemd über seinem stattlichen Bauch zittert. "Ein Mehrgenerationenhaus", wiederholt Harry Güldner, "klar, da hätte Frau Schreiber gleich drei Generationen unter einem Dach und könnte die alle gleichzeitig bearbeiten." + +Nachtrag: Seit einiger Zeit werben die Schreibers in der Kleinstadt auch mit einem kostenlosen lokalen Infoblatt für ihre Ziele. In einem Grußwort appelliert Ines Schreiber an die Strehlaer: "Lassen Sie uns gemeinsam kämpfen – für unser Land – für unser Volk – für Strehla!" +Den Text haben wir aus dem Buch "Heile Welten – Rechter Alltag in Deutschland" von Astrid Geisler und Christoph Schultheis übernommen, das ihr bei der bpb bestellen könnt. Bestellnummer 1161, 4,50 Euro. diff --git a/fluter/eine-sprache-muss-sich-staendig-aendern.txt b/fluter/eine-sprache-muss-sich-staendig-aendern.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0d98ac8f2681e08eade807066a1b172bc20e3fd1 --- /dev/null +++ b/fluter/eine-sprache-muss-sich-staendig-aendern.txt @@ -0,0 +1,51 @@ +Genau. Vor allem, wenn der Mensch damit beginnt, über andere Dinge als über das Jagen nachzudenken. Etwa darüber, wie seine Stellung in der Welt ist, oder ob es eine höhere Lenkungsmacht gibt. Heute sind es die Kinder, die diese Evolution der Sprache im Kleinen noch mal vorleben. Sie fangen bei Einwortsätzen an, und so ein Wort kann viel bedeuten. Mama kann heißen: "Hier bin ich" oder auch: "Komm doch mal". Oder: "Ich habe die Hosen voll." +Es gibt verschiedene Kriterien, wonach man Sprachen voneinander und diese von Dialekten unterscheidet. Es geht um Unterschiede bei Lautsystem, Wortschatz und Grammatik. Wie etwa beim Deutschen und Chinesischen, die auch nicht historisch miteinander verwandt sind. Das Finnische ist ganz verschieden vom Schwedischen, weil diese Sprachen zu verschiedenen Sprachfamilien gehören. Bayerisch ist keine eigene Sprache, obwohl seine Sprecher dies gern behaupten. Das gemeinsame Band, das sämtliche Dialekte des Deutschen miteinander verbindet, ist die deutsche Schriftsprache, die alle lokalen Dialekte überdacht, und die eine Kommunikation über Dialektgrenzen hinweg gewährleistet. Ein wichtiges Kriterium ist das Fehlen einer gemeinsamen überdachenden Schriftsprache. So definieren sich z.B. die Sprachgrenzen zwischen Deutsch und Englisch oder zwischen Französisch und Italienisch. +Ist der Mensch nicht erst Mensch, wenn er redet? +Der Mensch ist Mensch, wenn er symbolische Tätigkeiten voll- zieht. Das kann auch die Verwendung von Zeichen sein. Man hat Knochen gefunden, auf denen der Homo erectus Ritzungen vorgenommen hat: Erst sieben, dann vierzehn, dann wieder sieben – also zusammengenommen eine Mondphase: eine kalen- darische Notation, die 300.000 Jahre alt ist. Sprache hat der Homo erectus nicht besessen, aber er hat visuell etwas formu- lieren können. +Inwieweit beeinflusst die Sprache die Welt, die wir wahr- nehmen? +Sehr stark. Wenn Sie in eine Kultur hineinwachsen, sind die Be- griffe oft schon in eine Richtung gelenkt. Als junger Mensch hat man gar nicht mehr die Möglichkeit, sich auf einen Stein zu setzen und alles neu zu überdenken. Die Sprache bringt dem Individuum gleichsam eine Bewertung, wie die Gesellschaft die Welt sieht. +"Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt", hat der Philosoph Ludwig Wittgenstein gesagt. +Das kann man so sagen. In jeder Sprache ist das Weltbild der Gesellschaft eingeprägt, in die man hineingeboren wurde und deren Kategorien man annimmt. Wenn ich eine andere Sprache lerne, bleibe ich daher in den meisten Fällen außen vor. Die Gren- zen bestehen aus Traditionen und Gewohnheiten. Wenn man mit Palästinensern und Israelis über grundsätzliche Fragen spricht, merkt man schnell, wie viele Vorurteile und Stereotype in die Sprache eingeflossen sind. Das wird von Generation zu Generati- on weitergegeben. Selbst wenn man miteinander spricht, spricht man über verschiedene Sachen. +Ist es nicht wichtiger denn je, miteinander zu reden, um die großen globalen Probleme zu lösen – wie zum Beispiel die Klimakatastrophe? +Richtig. Der Mensch muss es leisten, dass er über die Grenzen hinweg einen Konsens findet, um die Probleme zu lösen. +Benötigen wir also eine Weltsprache? +Bevor Sie die gesamte Weltbevölkerung auf ein neues Vokabular und die Regeln einstimmen, ist das Klima schon längst umgekippt. +Also müssen es doch Dolmetscher und Übersetzungsprogramme richten? +Leider gibt es keine Alternative. Die Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte Kunstsprache Esperanto hatte ja mal den Anspruch, die Länder einander näher zu bringen. Aber die meisten Men- schen können mit einer Sprache, die nicht auch Träger ihrer kulturellen Identität ist, nichts anfangen. +Aber Übersetzer allein scheinen nicht genug für die Verständigung tun zu können. Im Fall der EU kommt es einem so vor, als wären die vielen Sprachen ein Hemmnis auf dem Weg zu einer gemeinsamen Politik. +Es gibt über 20 Amtssprachen, die mit einem enormen Aufwand hin und her übersetzt werden. Da werden astronomische Sum- men verbraten. Aber wenn wir beginnen, die kleineren Sprachen in Brüssel auszusortieren, werden diese Länder am Einigungsprozess nicht mehr teilnehmen. Es ist wie immer mit der Demokratie. Churchill hat gesagt: Sie ist die schlechteste aller Regierungsfor- men, aber wir kennen keine bessere. +Verbirgt sich im Klang einer Sprache auch die Mentalität einer Gesellschaft? Das Deutsche klingt ja zum Beispiel für französische Ohren wenig romantisch. +Natürlich gibt es Themen, die eine Sprache prägen, aber noch viel mehr bestimmen soziale Schichten und Milieus die Sprache. Die Franzosen hatten über Jahrhunderte eine höfische Kultur gehabt – da ist ein gewisser Subtext vorprogrammiert. Deswegen ist es auch problematisch, Übersetzungsprogramme zu benutzen. Die helfen so viel, wie sie verzerren, weil man die kulturelle Ein- bettung, das Unterschwellige, nicht mitübersetzen kann. +So wie man im Persischen beispielsweise dreimal zum Essen eingeladen wird, bevor es ernst gemeint ist.Genau. +Ich selbst habe drei Jahre lang in Japan gelebt, wo man nie Nein sagt. Die haben sogar einen Ausdruck dafür, wie man Dinge, die man nicht sagen will, umschreibt. Das ist so eine Art Umgehungssprache. +Ist Sprache auch ein Machtinstrument? +Aber sicher. Schon in einer Zeit ohne Staaten, aber mit politischer Macht in den Händen einer Gruppe. Als die Steppennomaden nach Warna kamen, haben sie den dortigen Bauern ihre Sprache aufgedrängt. Die hatten keine Wahl, als diese Sprache zu über- nehmen. Das war der erste Fall, in dem politische Macht Sprache gesteuert hat. Das haben die Römer später mit dem Latein per- fektioniert. Deswegen haben wir in Europa so viele romanische Sprachen. +Und warum spricht man in diesen Ländern nicht einheitlich Latein? +Das Latein war mal einheitlich und hat sich dann im Mittelalter in jedem Land differenziert, in einigen mehr, in anderen weniger. Ein Spanier kann nicht verstehen, was ein Franzose sagt. Aber Spanier und Italiener können sich noch verständigen, weil ihre Sprachen konservativer sind. Sie haben sich viel weniger verändert in den vergangenen Jahrhunderten. In Frankreich haben wir hin- gegen den ersten Fall in der Geschichte Europas, wo Sprache zur Ideologie wurde. Von oben, also vom König verordnet, entstand ein politischer Sprachnationalismus. +In Deutschland hat es so ein Bestreben nie gegeben? +Das Deutsche ist ursprünglich eine westgermanische Sprache, die dem Friesischen, dem Holländischen und Englischen nahe steht. Vor allem, wenn es um die Phonetik und die Grammatik geht. Die Wörter kommen von überall her – aus dem Lateinischen und Griechischen oder aus Arabien und nach dem Mittelalter sehr viele aus dem Französischen. Friedrich der Große sprach lieber Französisch als das ungehobelte Deutsch, und die Wissenschaftler blieben beim Latein. +"Er kann mich im Arsch lecken", heißt es in Goethes "Götz von Berlichingen". Haben die Schriftsteller dem Volk aufs Maul geschaut? +Schriftsteller wie Goethe oder Lessing haben im 18. Jahrhundert etliche deutsche Wörter geschaffen, die Lehnwörter aus anderen Sprachen ersetzten. So haben sie das Deutsche erneuert und ein Vokabular für das ganze Volk über Standesgrenzen hinweg geschaffen. Daran sieht man: Eine Sprache lebt in ihrer Zeit, es gibt keinen Stillstand. Eine Sprache, die sich nicht ändert, wird zum Fossil – wie das Lateinische. Die Römer hatten eine extrem puristische Sprachpolitik. Sie haben ständig Wörter ausgesiebt und keine Vulgarismen erlaubt. +Auch bei uns gibt es manchmal Sprachwärter. Beim Protest gegen die Rechtschreibreform waren sie laut zu vernehmen. +Die Rechtschreibreform war vor allem ein Lehrstück, wie Demo- kratie zu Stagnation werden kann – zur Unfähigkeit, etwas zu- stande zu bringen. Heute lässt jeder Verlag oder jede Zeitung anders schreiben. Wenn man so eine Reform machen will, kann man nicht so kurz springen und lauter Kompromisse machen. +Warum ist das Englische so dominant? +Da gibt es die griffige Formel eines anderen Sprachforschers: Wer hat als Erstes ein gut organisiertes Kolonialreich aufgebaut, und zwar global? Das waren Engländer. Von wo aus hat sich die Industrialisierung über die Welt verbreitet? Das waren die USA und England. Und wer hat den Krieg gewonnen und nach 1945 weltweit Einfluss genommen? Wieder die USA. Man kann sagen: Das Englische war immer zu rechten Zeit am rechten Platz. +Heute kommt es einem oft deplatziert vor: Die Menschen sitzen in "Meetings", sie lassen sich "briefen" und "debriefen" oder reden über den "Mainstream". Machen die vielen englischen Wörter das Deutsch kaputt? +Das ist die globale Marketingsprache. Sprachsoziologen sprechen vom Bloodless English – vom blutlosen Englisch. Man muss sich immer fragen, in welche gesellschaftlichen Bereiche das hinein- ragt. Wenn man sich die deutschen Bücher ansieht, dann sieht man da keinen großen Einbruch des Englischen. In technologischen Biotopen wie dem Internet ist das natürlich anders. +Sollten wir nicht eigene Wörter erfinden, wie die Franzosen das machen? +Die Realität ist doch, dass die Menschen dennoch alle Englisch sprechen, auch in Frankreich. Manchmal sind englische Wörter einfach griffiger, dann ist es auch gut, sie zu benutzen. Da war die deutsche Sprache immer offen. Das Problem ist eher, dass unsere Kommunikation sehr atemlos geworden ist und kaum Platz für die Pflege der Sprache lässt. +Weil ständig falsch geschriebene Kurznachrichten durch die Gegend schwirren ... +Man sollte gerade den jungen Leuten die Augen dafür öffnen, dass es sich lohnt, die eigene Sprache zu pflegen. +Wie sieht die Zukunft aus? Wird das Englisch noch gewinnen? +Ich kann mir vorstellen, dass das Chinesische dominanter wird. China ist die zweitgrößte Wirtschaftsmacht, und die dortigen Politiker werden vielleicht irgendwann kein Englisch mehr sprechen wollen. In Afrika, in dessen Wirtschaft China große Summen steckt, werden bereits viele Chinesischkurse angeboten. Da wächst also eine Generation von Afrikanern heran, die als Zweitsprache Chinesisch statt Englisch spricht. +Wäre es dann nicht sinnvoller, wenn die deutschen Schüler statt Latein Chinesisch lernten? +Heute vielleicht noch nicht, aber in 20 bis 30 Jahren sicherlich. +Sind im Zuge der Globalisierung Sprachen vom Aussterben bedroht? +Einige Forscher befürchten, dass bis zum Jahre 2100 rund 90 Prozent der derzeit über 6000 Sprachen aussterben werden. Ich sehe es nicht so apokalyptisch, gehe aber davon aus, dass fast die Hälfte verschwindet. Auch das ist alarmierend. +Was ist denn so schlimm daran? 3000 Sprachen müssten doch auch reichen. +Die Sprache ist ein Träger der Identität einer Gemeinschaft. In dem Moment, in dem die Menschen ihre Muttersprache aufgeben, werden sie passiv und nehmen nicht mehr engagiert am gesellschaftlichen Leben teil. Das können wir uns nicht leisten. +Die Jugend verhunzt die Sprache. Das ist auch so ein gängiges Vorurteil. +Die Klagen beziehen sich meistens auf dieses neue Pidgin- Deutsch – arg verkürzte Sätze, gespickt mit türkischen Lehnwörtern. Das Spannende ist, dass viele deutsche Jugendliche auf den Geschmack kommen und mit der Übernahme solcher Ausdrücke die Identität von Pidginsprechern annehmen, also von Zugewanderten. Man kann das aber auch positiv sehen und darin eine vitale Beschäftigung mit Sprache erkennen. +Benutzen nicht gerade junge Menschen die Sprache dazu, sich von den Eltern abzugrenzen? +Die sprachliche Abkapselung der jungen Leute ist eine Strategie ihrer altersbedingten Identitätsfindung. Sie wählen sich einen Sprachgebrauch, der ihnen das Gefühl der Solidarität und Gruppenzugehörigkeit vermittelt, gleichzeitig aber Grenzsignale nach außen setzt.Zu diesen Strategien gehört eben auch die Verwendung von Denglisch. Sie sprechen lieber schlechtes Englisch als gutes Deutsch. Es wird ja auch immer schwerer, sich von den Eltern zu distanzieren, wenn die herumlaufen, als wären sie selbst noch 20. Da ist doch Sprache ein großartiges Mittel, unter sich zu bleiben. +Von Harald Haarmann ist im Verlag C.H. Beck unter anderem das Buch "Weltgeschichte der Sprache" erschienen. Lesenswert zum Thema ist auch das Buch "Der Sprachverführer" von Thomas Steinfeld, das in der bpb Schriftenreihe (Bd. 112) erschienen ist und für 4,50 Euro bestellt werden kann. diff --git a/fluter/eine-suchmaschine-ist-doch-das-langweiligste-der-welt.txt b/fluter/eine-suchmaschine-ist-doch-das-langweiligste-der-welt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..971a08b30363d588ce4b5831512160db92b9c04a --- /dev/null +++ b/fluter/eine-suchmaschine-ist-doch-das-langweiligste-der-welt.txt @@ -0,0 +1,46 @@ +fluter: Facebook bezeichnet sich als "soziales Netzwerk". Was ist denn das Soziale daran? +Geert Lovink: "Soziale Medien" ist ein Schlagwort der auslaufenden Web-2.0-Ära, hinter dem letztlich eine Geschäftsstrategie steht. Die ideelle Überhöhung nutzt den Unternehmen. Der Bürger ist ein User, eingekapselt in Flickr, Facebook und Twitter. All diese Netzwerke sind Zeitfresser, die uns immer tiefer in die Höhle des Sozialen ziehen, ohne dass wir wissen, wonach wir eigentlich suchen. Die Architektur solcher Netzwerke ist sehr konformistisch. Es geht immer nur um Zustimmung, nie um Konflikte. Die negative Dimension des Sozialen wird ausgeblendet. +Jeder Facebook-Nutzer würde sagen, dass man Freunde sucht. Dass man sich austauscht, miteinander redet, Socializing betreibt ... +Aber das ist eine beschränkte Art und Weise, sozial zu sein, denn man unterhält sich ja nur mit seinen Freunden oder mit denen, die man dazuzählt. Es fehlen die Möglichkeit und der Wille, sich gegenüber Fremden zu öffnen, neugierig auf das Unbekannte zu sein. In dieser Hinsicht sind die Netzwerke bewusst sehr eingeschränkt. Soziale Netze sollten auch dazu dienen, etwas gemeinsam zu machen. Das wird nicht gefördert. Man bewegt sich in einer Art gated community – einem abgeschlossenen Zirkel. +Es gibt aber doch immer wieder Verabredungen über das Netz. Menschen treffen sich zu Partys, helfen gemeinsam, sammeln Geld. Auch demokratische Bewegungen wie der Arabische Frühling haben durch Dienste wie Twitter oder Facebook Auftrieb bekommen. +Es gibt solche positiven Wirkungen, aber auch negative oder nur neutrale. Es gibt auch rassistische Auseinandersetzungen, die über diese Netzwerke befeuert werden. Da ist Facebook ja auch nicht anders als das Telefon. Darüber können Sie sich zu einer guten Tat verabreden, Sie können aber auch beschließen, jemandem zu schaden. +Der ursprüngliche Gedanke des Internets war es, für einen freien Austausch zu sorgen – von Software, Ideen, Gedanken. Was ist davon denn übrig geblieben? +Nicht viel, denn momentan ist das Modell eher so, dass unser Datenaustausch von wenigen großen Unternehmen abhängig ist, die alles mitlesen. Gleichzeitig ist die informelle Atmosphäre gewachsen. Das ist ein sehr langer Trend im Internet und hat damit zu tun, dass die öffentliche Sphäre verschmutzt wurde durch Spam und anderen Sprachmüll. Als Reaktion darauf haben viele gesagt: Ich möchte mich mit all diesen Dummköpfen nicht mehr unterhalten. Ich spreche nur noch mit Leuten, denen ich vertraue. Das hat zu diesen geschlossenen Zirkeln von Informalität geführt, die aber gleichzeitig keinerlei Intimität bieten, weil Facebook viel zu transparent ist, um dort ohne Gefahr Gespräche führen zu können. +Dennoch vertrauen viele Menschen diesen Plattformen blind. +Anfangs ja, inzwischen nicht mehr. Vor allem jungen Leuten ist ja schon tausend Mal gesagt worden, dass sie vorsichtig sein sollen, was sie von sich ins Netz stellen. Und diese Message ist angekommen. Viele haben auch durch Beispiele in ihrer Umgebung gesehen, was passieren kann, wenn man nicht aufpasst. Das ist ein kollektives Lernmoment. +Lässt sich denn der ursprüngliche Geist des Internets, der freie und unkontrollierte Austausch, noch einmal zurückbringen? +Momentan wird darüber diskutiert, ob die notwendige Dezentralität von den Einzelnen geschaffen werden kann oder das doch wieder von oben dirigiert werden muss. Sind wir also in der Lage, von Punkt zu Punkt, von Computer zu Computer zu kommunizieren, ohne dass es Knotenpunkte gibt oder sogar wieder einen Kraken in der Mitte, auf den alles zuläuft? Das ist ja auch der Gedanke der Peer-to-Peer-Netzwerke. +Und? Sind wir in der Lage? +Das ist technisch sehr aufwändig, vor allem für den normalen Benutzer, und ist eher was für Computerexperten. Es gibt das Ideal, direkt zu kommunizieren, ohne dass jemand alles speichert für seine Zwecke, gleichzeitig weiß man, dass die telekommunikative Infrastruktur dafür nicht da ist. Deshalb sagen viele: Scheiß drauf, ich mache das über Facebook, oder wir reden über Skype, obwohl wir wissen, dass mitgehört werden kann. +Wie holen wir uns unsere digitale Mündigkeit zurück? Indem wir bei Facebook kündigen, das Twittern einstellen, Google meiden, uns Pseudonyme zulegen? +Ich plädiere für das Vergessen. Langeweile ist der größte Feind von Facebook. +Was heißt das? +Wir werden andere Sachen anfangen. Man zieht um, verliebt sich in eine neue Freundin oder einen neuen Freund, sucht sich ein anderes Hobby. Wie das Leben so spielt. Alles andere ist viel zu mühselig. Das hat die Vergangenheit gezeigt. Das Vergessen ist das Beste. Das Passwort vergessen, die Dienste vergessen. Das ist ja die größte Angst dieser Firmen, dass man sie vergisst. +Haben wir nicht auf der anderen Seite schon viel zu viel vergessen? Wie man sich richtig unterhält, ganze Sätze schreibt, echte Menschen trifft? +Das ist eine bestimmte Gruppe, die einem vielleicht leidtun kann. Es gibt aber keine Befunde, dass das eine große Bewegung ist. Früher haben die Menschen viele Stunden vor dem Fernseher gehockt, in der Generation unserer Großeltern sind viele ständig ins Kino gerannt. +Ist Google das neue Orakel von Delphi? +Mit Suchen macht Google sein Geld. Das Problem ist, wir kapieren nicht, was hinter dem Orakel steckt. Wir werden aufgefordert, Bücherlisten anzufertigen, Rankings zu erstellen und Produkte zu empfehlen. Wir sind Nutzer-Bienen, die für die Königin Google arbeiten. Der französische Ökonom Yann Moulier-Boutang hat das Online-"Bestäubung" genannt. +Ist Google nicht eher ein fast staatliches Gebilde, das die Information der Welt organisiert? +Das stimmt, aber niemand hat uns gezwungen, dabei mitzumachen. Diese Macht ist unsichtbar, sie verführt, aber nicht auf eine klassische Art – also durch Bilder oder Ikonen. Sie verführt durch ihre unsichtbare Funktionalität. Das ist die neue Qualität von Machtausübung. In der nach-totalitären Gesellschaft kommt die Macht nicht mehr von oben, sie ist ein Dienstleister, der es sich zwischen uns bequem gemacht hat. +Und der es uns bequem macht. +Er ist der große Bruder, an den man sich ankuscheln kann. +"Don't be evil" lautet Googles Motto. Klingt so, als hätten sie schon vorher geahnt, dass man auf die Idee kommen könnte, dass sie es doch sind. +Sie versuchen alles Mögliche, damit die Leute nicht auf die Idee kommen, sie als böse einzustufen. +Wie kann denn die Macht einiger weniger Konzerne gebrochen werden? +Ich denke, dass diese Formen der Machtausübung nur beiseitegeschoben werden können durch neue Erfindungen, die auf anderen Ideen basieren. +Ohne dass wir an Bequemlichkeit verlieren. +Es muss etwas sein, das das Suchen ablöst. Suchmaschinen sind ja grundsätzlich enorm langweilig. Wenn man früher gesagt hätte, dass die Welt mal von Suchmaschinen beherrscht wird, wäre man ausgelacht worden. Das war doch immer das Langweiligste der Welt: Leute, die in Archiven auf kleinen Kärtchen nach etwas suchen. +Das passt doch aber ganz gut in die Zeit, in der viele suchen: sich selbst oder einen Lebensentwurf. +Vieles deutet auf eine Stagnation hin, die Gesellschaften kommen nicht richtig voran. Wir in Nordeuropa leben in so einer Art Pseudokrise. Wenn es diese Art der Stagnation weiterhin gibt, können Facebook oder Google ewig leben. Wenn es aber einen politischen Aufbruch gibt und die Technologie fortschreitet, werden sie ganz schnell langweilig. +Es gibt doch schon eine Politisierung. Die Menschen denken nachhaltiger, es gibt Kritik am Finanzwesen, Antiglobalisierungsbewegungen. +Die Frage ist, ob sich das umsetzt in eine kritische Masse. Und sich die Menschen fragen, ob sie nichts Spannenderes machen können. Momentan sind wir Arbeiter bei Google, ohne dass es uns bewusst ist. Wir müssen aber ein Netz haben, das der Welt nutzt und nicht den kurzfristigen Zielen eines Unternehmens. Durch das Machen erfinden wir neue Dinge. Googles Imperativ lautet: Durch das Suchen finden wir Neues. Aber nein. Durch das Suchen findet man nur das Bestehende. Machen ist das neue Suchen! +Die Politiker hinken dem Monopolstreben der Konzerne hinterher. Wäre es nicht an der Zeit, dass der Staat für neue Gesetze sorgt? Man denke nur an die Verletzung des Datenschutzes bei Cloud-Betreibern. +Ich habe den Eindruck, dass in den letzten 20 Jahren viel von den Erfahrungen mit totalitärer Macht vergessen wurde. In Westdeutschland, aber auch in den Niederlanden gab es große Proteste gegen die Volkszählung. Man wollte nicht zu viel von sich preisgeben, weil man um den Missbrauch wusste. Heute ist das vielen gleichgültig. Ich glaube, dass das stark mit dem Wechsel der Generationen zu tun hat. Die Menschen, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt und versucht haben, daraus zu lernen, sind ausgestorben. Wir haben zwar manches übernommen, aber beim Computer waren wir von Anfang an unschlüssig, ob es ein Werkzeug der Unfreiheit ist oder eins der Befreiung. Wir waren unsicher, ob wir uns dem Computer generell verweigern oder mal schauen sollen, was man damit anfangen kann, um die Welt zu verbessern. Wir haben jahrzehntelang experimentiert, ob man innerhalb des Systems, das auch immer schon von großen Softwarefirmen besetzt war, etwas bewirken kann oder nicht. Es ist noch zu früh zu sagen, aber bald wird es eine Entscheidung geben, was letztlich gewinnen wird: die Versklavung durch Unternehmen oder die Freiheit. +Wurden nicht schon viel zu viele Daten gesammelt, um noch jemals frei zu sein? +Man muss Obacht geben. Alle sammeln Daten, der Staat, die Konzerne. Eine Kommission der EU hat ja neulich davor gewarnt, dass alles, was in der Cloud ist, überwacht wird. Viele europäische Unternehmen sind da völlig ahnungslos. Da geht es nicht nur um die Rechte Einzelner, es geht auch um wirtschaftliche Interessen. +Auf der einen Seite lesen also FBI und CIA unsere Dokumente, auf der anderen Seite unterstützen deutsche Unternehmen diktatorische Regime mit Software zur Überwachung von Regimegegnern. Scheint so, als habe die Unfreiheit gewonnen. +Der heutige, protestierende User ist weder der perfekte E-Bürger noch ein pathologischer, hirngeschädigter und multitaskender Einzelgänger. Wenn die Kids den machthungrigen Monopolen weglaufen, wäre das wahrscheinlich die wirkungsvollste Form politischer Aktion. Was wir verteidigen müssen, ist das grundsätzliche Prinzip dezentralisierter Netzwerke. Und dies wird von Staaten oder Firmen, die unsere Kommunikation kontrollieren wollen, angegriffen. Die Revolution dagegen kann nur eine technologische sein. +Herkömmliche Rechner verlieren rasant an Bedeutung. Die Onlinenutzung verlagert sich zunehmend auf das Smartphone. Was bedeutet das? +Es gibt diesen globalen Trend zur Miniaturisierung, und das bedeutet zunächst mal, dass sich unser Blickfeld weiter einengt. Wir müssen gegen die zunehmende Unsichtbarkeit der Technologie ankämpfen. +Bedeutet das, dass von der einstmaligen Vielfalt und Unbeschränktheit des Internets noch weniger bleibt? Schon heute bewegt sich ja der Großteil der User nur noch auf wenigen Seiten. +Die Begrenzung von Möglichkeiten ist sehr real, das ist leider so. Technisch gibt es keine Beschränkung, aber in der Organisation von Aufmerksamkeit. Das ist wie an einem Kiosk, der zehn Zeitungen haben könnte, aber nur zwei anbietet. Das Smartphone ist im Grunde der Einstieg in den Ausstieg aus der Vielfalt des Internets. diff --git a/fluter/eine-tolle-frau-dieser-mann.txt b/fluter/eine-tolle-frau-dieser-mann.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1df9c2b636d48f8c13670e10ff0bc7bdb835cf19 --- /dev/null +++ b/fluter/eine-tolle-frau-dieser-mann.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Über den Beginn seiner Karriere hat Pejic im Lauf der Zeit mindestens drei verschiedene Versionen erzählt: Einmal wurde er auf dem Flughafen Melbourne angesprochen, dann, als er bei McDonald's an der Kasse arbeitete, dann wiederum, als er an einem Obststand Erdbeeren verkaufte. Allesamt schöne Geschichten – und irgendeine oder keine von ihnen wird stimmen. Ein wenig Mysterium hat noch keiner Legende geschadet, das hat Pejic früh verstanden. Andrej Pejic wurde in Bosnien geboren. Er war gerade ein paar Monate alt, als der Krieg ausbrach. Die Mutter floh mit ihm und seinem wenig älteren Bruder nach Serbien. Acht Jahre später zogen die drei ans Ende der Welt nach Australien, in ein Arbeiterviertel von Melbourne. Pejic war ein Außenseiter in jeder Hinsicht: Er kleidete sich wie ein Mädchen und sprach kein Wort Englisch. +Etwa zu jener Zeit, so erzählt er, habe er erstmals gemerkt, dass es ein Problem für ihn gebe. "Dass es eine feine Linie gibt zwischen Jungen und Mädchen." Plötzlich sei es nicht mehr akzeptiert gewesen, dass er Röcke anzog und mit Puppen spielte. Ein paar Jahre lang, etwa bis er zwölf war, hat er dann versucht, ein "richtiger" Junge zu werden, mit allem, was dazugehört: Die Haare kamen ab, er stellte sich auf den Fußballplatz – aber es funktionierte nicht. Und so färbte er sich irgendwann die Haare platinblond und trug Frauenkleider, wenn ihm danach war. Der große Bruder beschützte ihn. Auch die Mutter, die in Bosnien als Anwältin gearbeitet hatte, stand immer hinter ihm. Den Mann in ihm erkennt nur, wer genau hinschaut – Pejics Gesicht ist völlig unbehaart, nur ein winziger Adamsapfel verrät etwas Testosteron. Eine Geschlechtsumwandlung kommt für ihn nicht infrage, auch wenn er als Kind wohl darüber nachgedacht habe. "Aber jetzt bin ich mit der Situation zufrieden, wie sie ist", sagt er. +Pejic ist nicht transsexuell, er ist eine androgyne Klasse für sich, ein bisschen Mann, ein bisschen Frau, mal tendiert er mehr in die eine, mal in die andere Richtung. Er spielt mit der Ambivalenz, mit dem Zwischenraum jenseits aller Schubladen. Make-up trägt er eher nicht, er will sich nicht verwandeln – anders etwa als Dragqueens, Männer, die mit ihrem Outfit Frauen fast schon parodieren. Jeder Festlegung verweigert Pejic sich konsequent. Die Zuordnung zu einem Geschlecht, das betont er immer wieder, ist ihm nicht wichtig. "Ich bin, wer ich bin." Entsprechend sagt er auch nicht, ob er sich von Männern oder von Frauen angezogen fühlt. Das Einzige, was er sich zu dem Thema entlocken lässt, ist die Feststellung, dass er nicht besonders sexuell sei. Entschieden hingegen ist er bei der Wahl öffentlicher WCs, da geht er zu den Damen. "Weil ich dort meine Haare machen kann. Gehe ich mal ins Männer-WC, gibt's Probleme, weil sie finden, ich gehöre nicht hierher." +Längst ist Andrej Pejic eines der gefragtesten Models der Welt, Marc Jacobs, Paul Smith und Thom Browne schmücken sich mit ihm, Starfotografen wie Steven Meisel und Juergen Teller holten ihn vor die Kamera. Im vergangenen Herbst empfing ihn gar die Queen, Pejic war Teil einer Gruppe berühmter Australier, die von Ihrer Majestät in den Buckingham Palace geladen wurden. Andrej Pejic erschien im engen Versace- Rock, dazu ein maskuliner Blazer, die Haare lang und glatt geföhnt. Man muss sich aber nur einmal die Kommentare anschauen, die im Netz zirkulieren, dann weiß man, dass er nicht überall hofiert wird. Das Männermagazin "FHM" hat sich offiziell entschuldigt, nachdem einer seiner Autoren Pejic 2011 in einem Text als "Ding" bezeichnet hatte. Die Leser hatten ihn zuvor bei der Wahl zu den "100 sexiest women in the world" auf Platz 98 gewählt – offenbar sehr zum Missfallen des Autors. Er schrieb, Pejic mache sich Hoffnungen, für Victoria's Secret modeln zu können. "Reicht mir die Kotztüte." +In Deutschland wirbt Pejic seit diesem Frühsommer für Schuhe – und ist damit ganz im biederen Mainstream angekommen: Er spielt die Hauptrolle in TV-Spots für eine Tochterfirma des Versandhändlers Zalando. Da hält er wechselnde High Heels in die Kamera und haucht auf Deutsch: "Für die Diva in mir. Für die Rebellin in mir. Für die Träumerin in mir." Und dann, plötzlich in Jeans und festen Stiefeln: "Für den Mann in mir." Weibliche Models reagierten mit Neid auf ihn, sagt er. "Jede hat Angst, ersetzt zu werden. Einige von ihnen lassen mich spüren: Du bist keine Frau, du solltest uns die Jobs nicht wegnehmen." Männer hingegen, sagt er, sähen ihn nicht als Konkurrenz. "Für sie bin ich eher der Exot." +Das Geheimnis seines Erfolgs? In wirtschaftlich harten Zeiten hätten die Labels kein Geld, um Models beider Geschlechter zu buchen, witzelte er mal. "Deshalb bin ich ein guter Deal." Die Wahrheit ist natürlich etwas weniger flapsig: "Ich muss doppelt so hart arbeiten wie die weiblichen Topmodels, um ernst genommen zu werden", sagt er. "Es wird seine Zeit dauern, damit ich beweisen kann, ein gutes Model zu sein, ganz unabhängig vom Medienhype und meinem sehr speziellen Aussehen." Im Juli 2011 lief Pejic auf der Berliner Fashion Week für Michael Michalsky. Das Kollektionsthema, so der Designer, sei Toleranz. Und dabei ginge es "nicht nur um Toleranz zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen. Sondern auch um die zwischen unterschiedlichen Geschlechtern – und allem, was dazwischen liegt." +Das Spiel mit den Geschlechtern beherrscht die Mode seit jeher, die Grenzen lösen sich seit Jahren auf, es gibt eine ganze Reihe transsexueller Models. Doch keiner beherrscht das Spiel so mühelos wie Pejic, der sich für ein Magazin in Marilyn Monroe verwandelt und sich überhaupt gar keine Mühe macht, die Beule in seiner Unterhose zu verbergen. Sein vielleicht größter Coup bisher: Das niederländische Kaufhaus Hema, nicht besonders bekannt für Extravaganzen, wählte ihn aus, um für einen neuen Mega-Push-up-BH zu werben. Mindestens zwei Körbchengrößen, so verspricht die Werbung, könne dieser BH hinzaubern. Im Fall von Pejic wirkte das ausnahmsweise sehr glaubhaft. diff --git a/fluter/eine-welt-aus-nichts-als-text.txt b/fluter/eine-welt-aus-nichts-als-text.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bb568a9a42ab8b8edcfa4e46b147c27aad2ff0e8 --- /dev/null +++ b/fluter/eine-welt-aus-nichts-als-text.txt @@ -0,0 +1,38 @@ +fluter.de: Herr Felsch, Sie haben ein Buch geschrieben, das auf zugängliche Weise von einer komplizierten Geschichte erzählt: Wie und warum die Generation der 68er anfing, sich mit Theorie zu befassen. +Philipp Felsch: Genau das hat mich gereizt. Theorie ist eigentlich etwas Unerzählbares, Abstraktes. Sie ist aber auch ein historisches Ereignis, und davon will mein Buch erzählen. +Der Untertitel lautet: "Geschichte einer Revolte". Wogegen revoltieren die Theoretiker und ihre Leser? +Im Grunde erzählt das Buch die Geschichte von 1968 und der linken Studentenbewegung aus einer ganz bestimmten Perspektive: als Geschichte im Innenraum der Texte. Damit entspricht es der Erkenntnis, die diese Generation selbst irgendwann gewonnen hat, nämlich dass die Welt aus nichts als Text besteht. Der Geist der Revolte befeuert ihre Lektüren – es geht immer um Gesellschaftskritik, um Gesellschaftsveränderung, um Utopien und die Unzufriedenheit mit dem, was ist. Anhand der Erfahrung eines Kollektivs, des Merve-Verlags, und einiger Leser versuche ich nachzuvollziehen, wie sich dieser Geist der Revolte später in ein Textuniversum zurückzieht. +Erst wurde gelesen, um besser Revolution machen zu können. Dann wurde nur noch gelesen? +Die französischen Theoretiker, deren deutsche Übersetzungen unter anderem bei Merve erscheinen, stellen die Legitimation dafür aus, dass man schon als Leser subversiv sein kann. Subversion ist ja eine Idee von Revolte im Stillen, im Geheimen. Man könnte also sagen, dass aus dem Geist der Revolution von 1968 der Geist des subversiven Lesens, der Revolte im Text entsteht. +Heidi Paris und Peter Gente und ihr Merve-Verlag stehen in Ihrem Buch beispielhaft für eine linke Auseinandersetzung mit Theorie. Warum wählten Sie gerade die Merve-Verleger? +Am Beispiel von Peter Gente kann man den Bildungsroman der 68er wunderbar erzählen. Er hat alle generationstypischen Lektüreerlebnisse mitgemacht. Er war weder Autor noch Aktivist, obwohl er von der Kommune 1 bis zu Rudi Dutschke und Andreas Baader alle kannte. +Peter Gente war ein Leser. +Er war ein Leser, der brillant darin war, Literatur ausfindig zu machen. Er hat sich schnell einen Namen erworben als jemand, der Texte kennt, an die man nicht so leicht herankommt. Henning Ritter hat geschrieben, dass die 68er ihren wegen des Nationalsozialismus kompromittierten Vätern das Wort entzogen haben. Aber nicht, um es selbst zu ergreifen, sondern um es den Großvätern zurückzugeben, also der Generation der aus Deutschland Exilierten. Dafür ist Gente sehr typisch, der nicht selber spricht, aber die große Fähigkeit zur Lektüre besitzt. +Ein Schlüsselerlebnis war für Peter Gente die Entdeckung von Theodor W. Adornos "Minima Moralia". Sie schreiben, dass mit diesem Buch der Siegeszug der Theorie begann. +Für manche hat diese Leseerfahrung mit Walter Benjamins "Illuminationen" angefangen. Für manche, etwa Peter Gente, und das ist schon sehr typisch, sind die "Minima Moralia" die Einstiegsdroge gewesen. Gente stürzt sich in dieses Buch, das zur Blaupause für das ganze Theoriegenre wird. Es ist ein Buch, das einem existenziellen Gefühl persönlicher Betroffenheit sehr entgegenkommt. Es schmuggelt aber auch knallharte Gesellschaftstheorie, die vom Marxismus herkommt, etwa Fragen von Gebrauchswert und Tauschwert, in den Diskurs. Die Adorno'sche Theorie versteht sich als Kritik. Und Theorie betreiben heißt immer auch zu fragen: Wer spricht? Was ist ein Professor? Was ist die Universität für eine Institution? Das intensivieren die Franzosen dann noch einmal. +Die "Minima Moralia" sind als Taschenbuch erschienen. Philosophische Werke wurden damals aber noch in schwergewichtigen Hardcover-Ausgaben präsentiert. Und es gab die große Angst, dass Paperbacks Kultur zur schnöden Ware degradieren würden. +"Minima Moralia" war ein Paperback-Bestseller. Theorie hieß eben auch, dass ein schwieriger Text wie der von Adorno innerhalb von zwei Jahren von hunderttausend Lesern gekauft wurde. +Auch die späteren Bücher von Merve waren klein und billig, sie kosteten um die acht Mark. +Der Merve-Verlag wollte das Medium Buch revolutionieren. Indem man dem Buch seinen Tauschwert nimmt, wollte man ihm seinen Gebrauchswert zurückgeben. Deswegen sind die Merve-Bücher so hässlich, deswegen fallen sie schnell auseinander. Die Leser hatten auch nicht so viel Geld, aber das deckte sich wunderbar mit den politischen Ideen. +Diese Bücher sind nicht fürs Bücherregal, sondern für die Jackentasche gemacht. Wo heute das Smartphone sitzt, transportierte man in den späten 60er-Jahren ein Taschenbuch. +Peter Gente erzählt, wie er die "Minima Moralia" fünf Jahre lang mit sich herumgetragen hat. Sie waren das erste ambulatorische Buch. Man kann immer wieder hineinlesen. Man muss es nicht linear von vorn nach hinten lesen. All das sind Merkmale von Theorierezeption. Als sich Gente später in den Ruhestand nach Thailand zurückzog, hat er nicht viele Bücher mitgenommen, aber die "Minima Moralia" waren dabei. +Eines der zentralen Bücher, die bei Merve erschienen sind, ist Jean-François Lyotards "Das Patchwork der Minderheiten". Der Blick auf Minderheiten ist heute selbstverständlich, war damals aber etwas ganz Neues. +"Patchwork der Minderheiten" ist einer der Texte, an dem der Übergang von einer marxistischen Politik der Theorie-Avantgarde zu einem neuen politischen Selbstverständnis deutlich wird. Das drückt sich bei Lyotard im Begriff der Minoritäten, der Minderheiten aus. Die Theorieleser verstehen sich seit den 60er-Jahren immer als Avantgarde. Es sind kleine, elitäre Zirkel, die diese schwierigen Texte lesen. Aber sie tun das im Selbstverständnis, einer gesellschaftlichen Bewegung voraus zu sein. Sie haben die utopische Idee, dass irgendwann alle diese Texte verstehen können oder sie gar nicht mehr nötig sein werden, weil sich die Gesellschaft zum Besseren hin verändert haben wird. Avantgarde setzt aber die Idee der Repräsentation voraus. +Mit Repräsentation wollten die Linken aber nun nichts mehr zu tun haben? +Repräsentation heißt, im Namen von jemand anders zu sprechen. Das aber ist das rote Tuch für alle französischen Theoretiker in den 70er-Jahren. Die Franzosen sind nach dem Zweiten Weltkrieg die besten Marxisten gewesen. Fast alle Intellektuellen waren in der Kommunistischen Partei. Nach den großen Schockerlebnissen, als Solschenizyn über den sowjetischen Gulag, das Lagersystem, berichtete und Chruschtschow die Verbrechen Stalins öffentlich machte, traten sie aus. +Die Intellektuellen mussten sich jetzt selbst in Frage stellen, weil im Namen des Fortschritts und der Befreiung so große Verbrechen begangen wurden. +Das war das Symptom einer enttäuschten Liebe. Einer der Begriffe, auf den die Kritiker den Marxismus in den Siebzigern herunterbrechen, ist der Begriff der Repräsentation. Sie verstehen es jetzt als Anmaßung, im Namen der Arbeiterklasse oder der Menschheit zu sprechen. Vorher waren sich alle einig gewesen: Die Intellektuellen sind die Avantgarde der Kommunistischen Partei. Die Partei ist die Avantgarde des Proletariats. Das Proletariat ist die Avantgarde der Menschheit. + +Und das entspricht den Stufen der Repräsentation, der Stellvertretung? +Vielleicht ist Pyramide ein besseres Wort dafür. Diese Pyramide wird auf einmal als Kern des Problems von politischer Macht, von Totalitarismus verstanden: Diese Pyramide wird als hierarchische, als Macht-Pyramide entlarvt. Die Kritik der Repräsentation, ein furchtbar sperriger Begriff, wird zum Zentrum der Theoriebildung. Die Minderheiten, auf die sich nun etwa Lyotard beruft, repräsentieren nichts. Minderheiten sprechen allenfalls für sich selber. Bei Gilles Deleuze sind es nicht nur die Schizophrenen, die als Minderheit erscheinen, sondern auch die Junkies. Der Junkie will nichts, außer seinen nächsten Schuss zu organisieren. Darüber hinaus verfolgt er keine Ziele. Zu den Minderheiten gehören auch Arbeitslose oder Nichtwähler. +Man könnte also sagen, das Entscheidende an den Minderheiten ist, dass sie am Rand stehen, sich der Gesellschaft, der Macht, dem Diskurs entziehen. +Diedrich Diederichsen hat diese Idee der 70er-Jahre einmal schön auf den Begriff gebracht. Wir ziehen uns aus dem Feld der Politik zurück, weil das "denen ihr Spiel" ist. Und solange wir es mitspielen, sind wir gezwungen, nach einem Reglement zu spielen, das wir nicht festgelegt haben. Deswegen verweigern wir das komplett. Man entzog sich dem Modell des Klassenkampfes. Das ist die große Geschichte der Linken in den 70er-Jahren, mit allen Kosten, Folgen und Nebenwirkungen, die das mit sich bringt. Etwa der Entpolitisierung. +Warum führt deren Abkehr vom Klassenkampf und die Beschäftigung mit den Minderheiten zur Entpolitisierung? +Der Tunix-Kongress, auf dem sich 1978 in Westberlin die Minderheiten der Alternativkultur versammelten, war ein Marktplatz von bunten Aussteigerfantasien – von der Landkommune über die Pilz-Trip-Therapie bis zum selbst gefangenen Fisch an den Stränden der Algarve. Sich aus der Arena der offiziellen Politik zurückzuziehen, um eine fundamentalere Form von Verweigerung zu praktizieren, bedeutet eben auch Spinnertum, Privatismus und Nabelschau. +Ihr Buch läuft am Ende auf eine Theorie des Kneipengesprächs zu. +Es wäre übertrieben zu sagen, dass das Buch darauf hinausläuft. +Aber es endet mit einer schönen Pointe: Sie erklären den Unterschied der Kommunikationstheorien von Niklas Luhmann und Jürgen Habermas damit, was die beiden über das Kneipengespräch denken. +Beide stellen die Kommunikation, das Miteinanderreden ins Zentrum ihrer großen Theorien. Dabei kommt das Kneipengespräch aber völlig unterschiedlich weg: Für Habermas ist das Kneipengespräch eine Verfallsform der Kommunikation, weil es nicht darauf abzielt, einen Konsens über ein Problem herzustellen. Sondern es geht nur darum, dass immer weitergeredet wird. Mit Luhmann kann man wunderbar begründen, warum das Kneipengespräch eine geradezu paradigmatische Form von Kommunikation ist: Die Kneipe ist ein Labor, weil die Einstiegsschwelle so niedrig ist, überhaupt miteinander ins Gespräch zu kommen. +Waren die Theorie und das Nachtleben nicht immer schon eng miteinander verknüpft? +In den späten 70er-Jahren ist die Linke ernüchtert. Keiner glaubt mehr an das große Projekt der Revolution. Eine Folge ist, dass manche den Gestus der Theorie generell verabschieden: etwa die Grünen und die Friedensbewegung. Es gibt aber auch diejenigen, die weitermachen, so wie die Helden des Buches, die Verleger von Merve, Heidi Paris und Peter Gente. Sie interessieren sich nun auch für reaktionäre Denker und die Kunst – aber auch für die Kneipe und den Hedonismus. Die Kneipe wird zum Gegenstand der Theorie. An dieser Stelle gerate ich immer wieder mit Zeitzeugen aneinander, die sagen: Ich war 1968 ständig in der Kneipe, wir haben gesoffen und Drogen genommen. Die Kneipe hatte für die 68er aber kein theoretisches Gewicht, man redete nicht über sie. Das Nachtleben ist kein Ort der Produktion. Das ändert sich erst später. +Philipp Felsch wurde 1972 in Göttingen geboren. Er studierte Geschichte und Philosophie in Freiburg, Köln, Bologna und Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Geschichte der Kartografie im 19. Jahrhundert und die Geschichte der Theorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seit 2011 ist er Juniorprofessor für Geschichte der Humanwissenschaften am Institut für Kulturwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Mit "Der lange Sommer der Theorie" war er im Bereich Sachbuch/Essayistik für den diesjährigenPreis der Leipziger Buchmessenominiert. diff --git a/fluter/einfach-draufhalten.txt b/fluter/einfach-draufhalten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7fe04b8cf1c45a38b840376bd544159890b235a7 --- /dev/null +++ b/fluter/einfach-draufhalten.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Straßen dienen beispielsweise der Fortbewegung und Parks dienen der Erholung. Alle anderen Nutzungen, auch das Filmen, müssen grundsätzlich genehmigt werden. Doch keine Regel ohne Ausnahme: "Von einer Erlaubnis kann abgesehen werden, wenn die Film- und Dreharbeiten lediglich mit einer Handkamera oder Kamera auf einem Stativ durchgeführt werden und keinerlei Behinderungen oder Störungen (Absperrungen, Aufbauten, Aufstellen von Requisiten, Durchgangsverboten oder Sondereffekten) verursachen", heißt es in einer Internetinformation für die Filmregion Stuttgart:Hinweise zu Film- und Drehgenehmigungen.pdf. Wer ohne Genehmigung dreht, riskiert eine Konfrontation mit der Polizei, welche Platzverweis aussprechen und Bußgelder verhängen kann. +Sind auf Bildern Menschen erkennbar, sollte das Recht am eigenen Bild unbedingt geklärt sein. In§ 22 KUG (Kunst- und Urhebergesetz)heißt es unmissverständlich: "Bildnisse dürfen nur mit Einwilligung des Abgebildeten verbreitet oder öffentlich zur Schau gestellt werden." Es kommt also darauf an, ob die gefilmten Personen zugestimmt haben. Das kann beispielsweise in einem Schriftstück geschehen oder dadurch, dass die Person bereitwillig in die Kamera schaut und Interviewfragen beantwortet. In letzterem Fall sollte jedoch geklärt sein, wie diese Bilder genutzt werden dürfen. Denn wer die Erlaubnis hat, einen Film für Bildungszwecke zu erstellen, darf mit diesen Bildern noch lange kein Vampirvideo schneiden. +Ein anderer Weg ist, eine Vergütung für die Filmaufnahmen zu zahlen, in besagtem § 22 heißt es weiter: "Die Einwilligung gilt im Zweifel als erteilt, wenn der Abgebildete dafür, dass er sich abbilden ließ, eine Entlohnung erhielt." In dem Gesetz sind noch weitere Ausnahmen normiert, so genannte absolute Personen der Zeitgeschichte, also bekannte Personen aus Politik und Kulturleben, können beispielsweise eher gezeigt werden als Privatleute. +Doch nicht nur das Recht am eigenen Bild kann verhindern, dass Filmbilder genutzt werden können, auch das Urheberrecht gibt klare Grenzen vor. Sind beispielsweise Skulpturen, andere Bilder oder Texte zu sehen oder ist Musik zu hören, kann die Nutzung aufgrund einer Urheberrechtsverletzung verboten werden. In solchen Fällen muss von dem Rechteinhaber, sei es der Künstler oder sein Auftraggeber, vorher eine Genehmigung für die Nutzung in Filmen und im Internet eingeholt werden. +Für das Filmen und Fotografieren von urheberrechtlich geschützten Werken gilt aber eine Ausnahme, die so genannte Panoramafreiheit, geregelt in§ 59 UrhG. Wer von einer öffentlich zugänglichen Straße filmt, darf diese Aufnahmen ohne Verstoß gegen das Urheberrecht verwerten. Doch Achtung, hier gibt es zahlreiche Fallstricke, wie der Fall des verhüllten Reichstags zeigt. In seinem Urteil dazu hat der Bundesgerichtshof entschieden (Az. I ZR 102/99), dass dieses Kunstwerk kein "bleibendes" Werk sei und damit nicht unter die Panoramafreiheit falle. Obwohl also Postkarten vom verhüllten Reichstag vom öffentlichen Straßenland aus gefertigt wurden, durften sie nicht kommerziell verwertet werden. +Im Klartext: Eine private Nutzung ist erlaubt, eine gewerbliche Nutzung jedoch nicht. Finanziert sich eine Internetseite durch Werbeeinnahmen, und seien es auch nur ein paar Euro im Monat durch wenig angeklickte Werbebanner, kann die Nutzung demnach untersagt werden, wenn keine Ausnahme wie die Panoramafreiheit gilt. Auch die aktuelle Berichterstattung, also Nachrichten oder der Schulgebrauch, sind beispielsweise privilegiert. Im Zweifel sollte also besser einmal mehr nachgefragt werden als einmal zu wenig, denn viele Rechteinhaber betreiben inzwischen eine gut geölte Abmahnindustrie, die Urheberrechtsverstöße anwaltlich und mit hohen Kosten für den Verletzer verfolgt. +Unter das Urheberrecht fallen auch Bilder, die bereits im Internet veröffentlicht sind. Auch hier müssen die Rechte geklärt sein, bevor sie in eigenen Filmen verwendet werden können. Abfilmen hilft da genauso wenig wie die stille Hoffnung, dass es schon gut gehen wird. Das Internetgedächtnis ist gnadenlos. Genauso wie Informationen, die einmal ins Netz gestellt wurden, noch Jahre später abrufbar sind, können Urheberrechtsverletzungen oft lange Zeit später immer noch zurückverfolgt werden. Zudem wird die Software immer besser. Für Bilder im Internet, auch wenn Sie "öffentlich" sind, gilt die Panoramafreiheit nicht. Zu klären ist also immer: Wer hat das Material gedreht und veröffentlicht und was ist darauf zu sehen? Nur weil ein Ort öffentlich aussieht, heißt das noch lange nicht, dass er auch gefilmt werden kann. +Wer filmt, muss darüber hinaus immer auch überlegen, ob er schon für das Filmen eine Genehmigung benötigt und vom wem. Das können so unterschiedliche Orte sein wie Friedhöfe, das öffentliche Straßenland oder militärische Anlagen. Eine gute Übersicht zu den verschiedensten Orten hat dieMitteldeutsche Medienförderungzusammengestellt. +Für öffentliche Straßen ist beispielsweise die Polizei beziehungsweise das Ordnungsamt zuständig, für alle anderen Orte und für Drehs in Innenräumen der jeweilige Besitzer. Ihnen steht das so genannte Hausrecht zu, sie können Filmaufnahmen verbieten, entsprechende Schilder, wie sie beispielsweise bei Fußballspielen oder auf Eintrittskarten abgedruckt sind, sollten ernst genommen werden. Ein Beispiel: Das höchste deutsche Zivilgericht, derBundesgerichtshofhat entschieden (Urteile vom 17. Dezember 2010 – V ZR 44/10, 45/10 und 46/10 V ZR 44/10), dass die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten die ungenehmigte Herstellung und Verwertung von Foto- und Filmaufnahmen der von ihr verwalteten Gebäude und Gartenanlagen zu gewerblichen Zwecken untersagen darf, wenn sie Eigentümerin ist und die Aufnahmen von ihren Grundstücken aus hergestellt worden sind. Doch nicht immer liegt der Fall so eindeutig: Nur zwei Monate vorher haben die BGH-Richter im Fall der Internetseite www.hartplatzhelden.de entschieden (Urteil vom 28.10.2010, Az. I ZR 60/09), dass Amateuraufnahmen von Fußballspielen, die nicht gegen das Hausrecht eines Stadionbetreibers verstoßen, online gestellt werden dürfen. +Das Oberlandesgericht München hatte Anfang der 1990er-Jahre einen Fall auf dem Tisch, wo ein Filmteam ohne Drehgenehmigung in den Räumen einer Anwaltskanzlei filmen wollte. Die Richter haben entschieden (Az: 21 U 4699/91), dass die Verletzung des grundrechtlich geschützten Hausrechts zugleich eine Verletzung der Individualsphäre und damit des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Betroffenen darstellen könne. Die Folge: ein Unterlassungsanspruch. Denn dem so genannten Hausrecht komme in dem Fall gegenüber dem öffentlichen Informationsinteresse ein größeres Gewicht zu. Der Medienvertreter kann also nicht gegen den Willen des Hausrechtsinhabers in dessen Räumlichkeiten eindringen. +Doch wie bereite ich den Dreh am besten vor? Beispiel Bahn: "Für Dreharbeiten ist eine Drehgenehmigung erforderlich. Dafür werden Kontaktdaten, Beschreibung des Vorhabens, Drehort und Zeitraum benötigt", heißt es auf derInternetseite. Auch die Ansprechpartner sind dort genannt. Im besten Fall unterstützen sie das Filmteam noch bei ihrem Vorhaben und haben Ideen für gute Drehorte. Drehorte sollten also am besten vor dem Dreh besichtigt werden, der jeweilige Rechtsrahmen sollte geklärt sein, auch im Hinblick auf die geplante Auswertung. Wird mit einem erheblichen Aufwand gedreht, ist mit Behinderungen zu rechnen oder soll an bestimmten Orten gefilmt werden, sollte vorher unbedingt eine Drehgenehmigung eingeholt werden. +Solche Genehmigungen können die Arbeit an einem Film auch unheimlich erleichtern: Wer eine Drehgenehmigung hat, hat auch das Recht, andere von der Nutzung des jeweiligen Geländes auszuschließen. Das hilft, wenn Leute ins Bild rennen, die dort nicht hingehören. Wer will schon einen Gaffer oder störende Geräusche im Bild? +Tobias Sommer LL.M. ist Fachanwalt für Urheberrecht & Medienrecht und Fachanwalt für gewerblichen Rechtsschutz diff --git a/fluter/einfluss-ndrangheta-deutschland.txt b/fluter/einfluss-ndrangheta-deutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d202497b91ac373f1aba0fc10d414cc530a6adb8 --- /dev/null +++ b/fluter/einfluss-ndrangheta-deutschland.txt @@ -0,0 +1,43 @@ +Haben Sie eine Erklärung, warum das so ist? +Um in Deutschland zur 'Ndrangheta zu forschen, muss man Italienisch und Deutsch sprechen. Und sich Zugang zu Ermittlungsakten und Daten verschaffen. Das ist in Deutschland nicht einfach. Ich habe das Bundeskriminalamt und Landeskriminalämter kontaktiert und um Unterlagen gebeten, meist erfolglos. Die deutsche Gesetzgebung macht es schwierig, Dokumente wie Haftbefehle oder Abhörprotokolle für die Öffentlichkeit bereitzustellen. Wenn man die 'Ndrangheta besser verstehen will, müsste man solche Daten aber für die Forschung zugänglich machen. +Kann man nachvollziehen, seit wann 'Ndrangheta-Mitglieder in Deutschland leben? +Die ersten Mafiosi sind schon in den 1960er-Jahren nach Deutschland gekommen, in den 1970er-Jahren wurden die ersten 'Ndrangheta-Zellen aufgebaut. Die meisten sind bis heute aktiv. +Im Jahr 2021 lebten laut Bundeskriminalamt 505 'Ndrangheta-Mitglieder in Deutschland. +Es gibt da allerdings hohe Dunkelziffern. Die Bundesregierung hat die Zahl in Deutschlandzuletzt auf rund 1.000 'Ndranghetisti geschätzt. +Es wird oft behauptet, die 'Ndrangheta sei gemeinsam mit den Arbeitsmigrantinnen und -migranten gekommen, diein den 1950er- und 1960er-Jahren gezielt von Deutschland angeworben wurden, um den Arbeitskräftemangel in der Nachkriegszeit auszugleichen. +Es gibt dazu zwei Thesen, die immer wieder geäußert werden, sich aber widersprechen. Die eine: Die 'Ndrangheta ist eine unvermeidliche und direkte Konsequenz italienischer Migration. Die andere ist, dass ihre Mitglieder den Weg ins Ausland strategisch geplant haben. +Und welche These stimmt? +Keine von beiden. Es gibt keinerlei Hinweis, dass die 'Ndrangheta systematisch gewisse Regionen unterwandern wollte. In erster Linie haben die Mafiosi Kalabrien wohl aus ganz individuellen Gründen verlassen. Weil die Polizei nach ihnen fahndete und sie für eine Weile untertauchen wollten, zum Beispiel. Ich habe mich mit einem Mafiaclan beschäftigt, dessen Chef in den 70er-Jahren nach Hessen kam. Er hatte seinen eigenen Boss in Kalabrien umgebracht und Angst, dessen Familie würde sich rächen. +Wissen Sie, wieso er ausgerechnet nach Deutschland gegangen ist? +Weil er dort Verwandte hatte. Hätte er Familie in der Schweiz gehabt, wäre er wahrscheinlich dorthin gegangen. In diesem Zusammenhang spielt die gezielte Arbeitsmigration also schon eine Rolle. +Hat der Mann seine Geschäfte aus Italien mitgenommen? +Er hat die kriminellen Aktivitäten seiner Gruppierung über Jahre ausgelagert und in Deutschland eine Mafiazelle aufgebaut. Heute sitzt er in Italien in Haft, aber seine Gruppierung ist nach wie vor in Deutschland aktiv. +Sie haben viel vor Ort geforscht, in Regionen wie Thüringen und Nordhessen, wo die kalabrische Mafia stark vertreten ist. Wie reagieren die Leute, wenn Sie sie zur 'Ndrangheta befragen? +Italiener sagen, über die Mafia spricht man nicht. Eine ähnliche Hemmung herrschte auch in den deutschen Dörfern und Kleinstädten, in denen ich nachgefragt habe. Ich wollte wissen, wie es für sie war, als die Polizei mehrere Nachbarn wegen Mafiamitgliedschaft festgenommen hat. +Aber? +Entweder haben die Leute behauptet, sie würden die Verhafteten nicht kennen, was unwahrscheinlich ist in einem kleinen Dorf. Oder sie haben mir gesagt: "Das ist doch der liebe Gastwirt um die Ecke, der ist sicher kein Mafioso." +Sie haben auch den Kontakt zu den Ämtern gesucht und mit Bürgermeistern gesprochen. +Aus Polizeiakten wusste ich, dass Bürgermeister sowohl in Hessen als auch in Thüringen mit mutmaßlichen Mafiosi zu tun gehabt hatten. Auch da wurde ich überrascht: Die Bürgermeister schienen jedes Anzeichen zu ignorieren, das auf unsaubere Geschäfte hindeutete. +Haben Sie dafür ein Beispiel? +Da war ein Kellner aus Kalabrien, der in einem Städtchen ein Restaurant pachtet – und kurz darauf für teures Geld renoviert. Da würde ich mich als Bürgermeister schon fragen: Woher hat ein einfacher Kellner plötzlich so viel Kapital? Und vor allem: Warum investiert er massiv in ein Restaurant, das ihm nicht gehört? +Man kann annehmen, dass er über die Renovierung Geld aus anderen Geschäften gewaschen hat. +Das Investment macht zumindest wirtschaftlich wenig Sinn. +Haben Sie eine Erklärung, warum sich die 'Ndrangheta oft in kleineren Städten niederlässt? +In einer Großstadt ist die kriminelle Konkurrenz viel größer. Dazu ist es in kleinen Städten leichter, Kontakt zur lokalen Politik aufzubauen. Man hat schneller einen Draht zum Bürgermeister eines Städtchens in Nordhessen als zur Bürgermeisterin von Berlin. Und unauffällig zu bleiben funktioniert auch ganz gut in einem Dorf, in dem man gut integriert ist. Aber die kriminellen Aktivitäten finden auch in Großstädten statt. +Was macht die 'Ndrangheta überhaupt in Deutschland? +Die 'Ndrangheta hat viele Zellen, die sich zum Teil auf verschiedene kriminelle Aktivitäten konzentrieren. Im Prinzip machen sie alles, was Profit bringt. Manche Zellen importieren über die Häfen in Hamburg, Rotterdam und Antwerpengroße Mengen Kokain aus Südamerika. Sie erpressen andere Gastwirte. Sie waschen das Geld, das aus diesen illegalen Aktivitäten stammt, oder zweigen Gelder aus der legalen Wirtschaft ab. +In Italien kann sich die 'Ndrangheta vor allem auf ihre engen Beziehungen zur Politik verlassen. Sehen Sie die Gefahr, dass die 'Ndrangheta auch in Deutschland Teile der Politik unterwandern könnte? +Ich würde das nicht ausschließen. Auf der einen Seite ist die 'Ndrangheta in Deutschland nicht dieselbe wie in Kalabrien. Zu behaupten, sie wäre in Deutschland genauso mächtig, wäre weder richtig noch fair gegenüber den Italienern, die in Kalabrien unter der 'Ndrangheta leiden. +Gleichzeitig sehen Sie ähnliche Dynamiken in der Unterwanderung der legalen Wirtschaft. +Allerdings. Nehmen wir noch mal das klassische Beispiel: Ein Mafioso eröffnet ein Restaurant und sucht den Kontakt zur lokalen Politik. Dass er diese Verbindungen aufbaut, kann niemand verneinen. Aber dafür, dass er vielleicht Politiker besticht, damit sie wegschauen, fehlen dann die Belege. Das ist übrigens eine Besonderheit der 'Ndrangheta: Sie ist zwar gewaltbereit, 'Ndranghetisti sind beileibe nicht nur Leute, die still und friedlich ihr Geld waschen. Aber sie unterwandern in der Regel schleichend, sehr dezent. Ich glaube, das ist einer der Gründe, warum in Deutschland immer noch unterschätzt wird, welche Gefahr von ihr ausgeht. Es ist ja auch die Frage, wie sich das entwickelt. Wir sollten nicht vergessen, dass die 'Ndrangheta in Italien seit 150 Jahren aktiv ist, in Deutschland erst seit 50. +Unternehmen die Politik und deutsche Sicherheitsbehörden genug dagegen? +Politisch passiert nicht viel, die 'Ndrangheta ist da ganz klar keine Priorität. Aber aufseiten der Polizei ist das Interesse gewachsen. Das bedeutet, dass die Personen, die sich direkt mit dem Phänomen auseinandersetzen, die Notwendigkeit sehen, es zu verstehen und mehr dagegen anzugehen als bisher. In der Politik sehe ich das nicht – mit Ausnahmedes Mafia-Untersuchungsausschusses im Thüringer Landtagvielleicht. +Sie sind dort 2021 als Expertin aufgetreten. Der Ausschuss soll klären, ob die operativen Maßnahmen eines langwierigen Ermittlungsverfahrens gegen eine 'Ndrangheta-Zelle in Thüringen in den 2000er-Jahren voreilig eingestellt wurden. Dabei geht es auch um die Frage, welche Kontakte die mutmaßlichen Mafiosi in die Politik pflegten. +Es ist der erste Ausschuss dieser Art in Deutschland, in Thüringen sehe ich zumindest den Keim eines politischen Interesses. Auf Bundesebene passiert aber leider nicht viel. Dabei werden dort die Gesetze gemacht, die es nicht nur 'Ndrangheta-Mitgliedern, sondern allen kriminellen Gruppierungen schwerer machen, in Deutschland zu agieren. +Was muss passieren? +Man sollteGeldwäschesystematischer, langfristiger und effektiver bekämpfen. Zum Beispiel miteiner Bargeldobergrenze, wie es die EU gerade plant. Oder mehr Transparenz in den Grundbüchern. Außerdem sollte man der Polizei die Mittel für strukturelle Ermittlungen geben, die sehr aufwendig sind. Ohne das Interesse der Politik kann sie kriminelle Netzwerke kaum systematisch verfolgen. Und nicht zuletzt muss ich als Wissenschaftlerin natürlich sagen, dass man das Phänomen 'Ndrangheta genauer untersuchen sollte, um zu verstehen, wie die Zellen in Deutschland agieren. Man muss sie gut kennen, um sie zu sehen. Und noch besser, um sie zu bekämpfen. + + +Zora Hauser forscht an der Universität Oxford zur Ausbreitung der kalabrischen Mafia 'Ndrangheta in Deutschland.(Foto: privat) + + diff --git a/fluter/eingefrorener-konflikt.txt b/fluter/eingefrorener-konflikt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..018f07b58f2c94da934f646c6999f1633a741e19 --- /dev/null +++ b/fluter/eingefrorener-konflikt.txt @@ -0,0 +1 @@ +Auf der anderen Seite wird Aserbaidschan von den USA und Israel unterstützt, die den Staat zu einem Bollwerk gegen den Iran aufbauen wollen. Die Bodenschätze Aserbaidschans wecken außerdem Begehrlichkeiten bei den Nachbarn, nicht zuletzt in Russland, das sich mit dem Staatskonzern Gazprom den Zugang zu den Gasreserven des Landes gesichert hat. Die Menschenrechtsverletzungen, die das aserbaidschanische Regime begeht, spielen dabei keine Rolle. diff --git a/fluter/einkommensunterschiede-und-gerechtigkeit.txt b/fluter/einkommensunterschiede-und-gerechtigkeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c46b95aac03ce0fbb4ccb25ad6d36b7d919efce8 --- /dev/null +++ b/fluter/einkommensunterschiede-und-gerechtigkeit.txt @@ -0,0 +1,31 @@ +Heißt das auch: Die Grenze regelt sich automatisch? +Gesellschaften müssen Vereinbarungen darüber erzielen. Gefährlich ist, wenn die Frage zum öffentlichen Tabu wird und Gruppen ihre Teilhabeansprüche nicht artikulieren können. Das ist derzeit leider oft so. Allerdings heißt das nicht, dass es immer einen Konsens oder ein einheitliches Meinungsbild gibt. Die Leute, das zeigen entsprechende Studien, reagieren allerdings allergisch, wenn sie die Leistung hinter dem Wohlstand nicht erkennen können. Gleichzeitig sind sie recht tolerant gegenüber dem meritokratischen Ideal, also wenn sich jemand sein Vermögen wirklich selbst erarbeitet. Wenn wir ein leistungsloses Belohnungssystem ahnen, sind wir hingegen recht kritisch. Der klassische Fall: Ein Unternehmen geht den Bach runter, und die Vorstände beziehen trotzdem sehr viel Geld. +Und dann? Es gibt ja nicht immer gleich Aufstände. +Dass aus Ungleichheitskritik gleich Widerstand hervorgeht, kann man nicht sagen. Es sind eher andere Folgen, die in den Vordergrund treten. Wir wissen aus vielen Untersuchungen, dass sehr große oder exzessive Einkommens- und Vermögensunterschiede mit sozialen Nachteilen einhergehen. Man kann beobachten, dass die Qualität der Gesellschaft abnimmt, wenn es zu viel Ungleichheit gibt. Die Kriminalitätsrate ist dann besonders hoch, es gibt viele psychische Krankheiten. Auch gibt es einen Zusammenhang zwischen niedriger Lebenserwartung und großer Ungleichheit. + +Ist Gleichheit auch ein Wirtschaftsfaktor? +Neuerdings gibt es in der Tat diese Debatte. Eine These lautet, dass große Ungleichheit das Wachstum hemmt. Das geschieht zum Beispiel dadurch, dass sich die Bezieher recht niedriger Einkommen zu stark abgehängt fühlen und nicht mehr an Bildungserfolge herangeführt werden können. +Wird die Lage besser? +Im Gegenteil, es gibt etwa einen messbaren Trend zu mehr Ungleichheit in der westlichen Welt. Die Menschen nehmen die größere Ungleichheit wahr, beklagen sie aber nicht in gleichem Maße. Es gibt hier eine Gewöhnung an größere Ungleichheit. +Man spricht seit der Wahl Donald Trumps in den USA oft von den "Abgehängten". Kann man sagen, dass Ungleichheit Populisten stärkt? +Es gibt in den westlichen Gesellschaften Unterschichten und untere Mittelschichten, die sich vollständig von der ökonomischen Entwicklung abgehängt fühlen. Das sind Gruppen, die stagnierende oder fallende Realeinkommen haben, die weniger Lebenschancen haben. +Auch in Deutschland? +Hier zeigt eine Studie des DIW die ungleiche Entwicklung der Einkommen und auch des Vermögens. Sie dokumentiert, dass seit den 1990er-Jahren die unteren 30 bis 40 Prozent der Einkommensbezieher kaum reale Zuwächse erlebt haben. Gleichzeitig verzeichnen die oberen Einkommen seit Beginn der 1990er-Jahre Reallohngewinne von über 27 Prozent. Bei den Vermögen ist der Unterschied noch stärker. Eine Gesellschaft kann nur dann integrierend wirken, wenn alle das Gefühl haben, dass sie am gesellschaftlichen Wohlstand teilhaben und dass es Aufstiegschancen gibt. Ist das nicht der Fall, sinkt das Vertrauen in die Gesellschaft und ihre Institutionen. +Forscher wie Sie messen die Ungleichheit in dem sogenannten Gini-Koeffizienten. Was sagt dieser Wert über die Unterschiede in verschiedenen Gesellschaften? +Das ist eine Zahl zwischen null und eins. Bei null haben alle dasselbe Einkommen, bei eins konzentriert sich das Einkommen bei einer oder einigen wenigen Personen. In den westlichen Ländern schwankt der Wert etwa zwischen 0,25 und 0,45. In Deutschland ist er seit Beginn der 1990er-Jahre bis 2005 relativ stark gestiegen. Seitdem verharrt er auf einem Niveau von etwa 0,28. Es gibt Länder, die eine deutlich geringere Ungleichheit aufweisen, etwa in Schweden, wo der Wert bei 0,25 liegt. Aber wir haben auch Länder wie die USA (0,46) und Mexiko (0,48) oder Südafrika (0,62), die extreme Ungleichheiten haben. +Führt mehr Reichtum dazu, dass der Wohlstand breiter verteilt wird? +In den westlichen Ländern gab es eine Kehrtwende. In den goldenen 30 Nachkriegsjahren hatten wir eine recht ausgeglichene Verteilungssituation. Seit Ende der 1980er-Jahre steigt in fast allen OECD-Ländern die Ungleichheit. +Muss es uns überhaupt kümmern, ob die Reichen zu viel Geld bekommen? Würde es auch reichen, dafür zu sorgen, dass es den Armen besser geht? +Es gibt eine Theorie, die fragt: Kann es uns egal sein, wie viel Geld Bill Gates hat? Auf den ersten Blick schon. Andererseits beobachtet man, dass es in der Umgebung von Gates Leute gibt, die ihn als Modell nehmen und ihr Einkommen entsprechend steigern wollen. In der Umgebung dieser Leute gibt es welche, die sich daran anlehnen. Verfolgt man das weiter, zieht sich die gesamte Ungleichheitsstruktur wie eine Ziehharmonika auseinander. +Man könnte aber sagen: Ungleichheit ist nicht so schlimm, solange Aufstieg möglich ist. +Leider gibt es einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Ungleichheit in einer Gesellschaft und den Mobilitätschancen. Je ungleicher eine Gesellschaft ist, desto geringer sind die Chancen, sich von Generation zu Generation zwischen den verschiedenen Gruppen zu bewegen. Dann bleiben Kinder aus armen Familien arm und haben keine Möglichkeit, weiterzukommen. Wo die Ungleichheit sehr groß ist, verfestigt sich somit die Armut. +Wenn die Reichen reicher werden, werden automatisch die Armen ärmer? +Nicht automatisch. Es kommt vor, dass die Verschiebung zwischen der Mittelschicht und den Einkommensspitzen stattfindet. Selbst dann hat man eine Verfestigung der oberen Einkommenskaste mit allen problematischen Folgen. +Warum werden hohe Managergehälter stärker kritisiert als exorbitante Gagen von Fußballern oder Showstars? +Früher lag das Verhältnis zwischen einfachem Arbeiter und Manager bei ungefähr 1:50, heute ist es eher 1:100 oder mehr. Konzernchefs verdienen heute mitunter mehr als 300-mal so viel wie die Arbeiter ihres Betriebes. Dass sich jemand oder eine Berufsgruppe so in ihrer Leistung steigert im Verhältnis zu Arbeitnehmern, ist schwer vorstellbar. Zudem haben Manager die Neigung, die Leistung des gesamten Unternehmens sich selbst zuzurechnen und nicht den Marktgelegenheiten, der gesamten Belegschaft oder der technologischen Innovation, von der sie besonders profitiert haben. Bei Sportlern ist es anders. Usain Bolt muss halt seine Strecke laufen, daher ist die Leistung stärker individuell attribuierbar. +Wie kann der Staat Ungleichheit verringern? +Der Glaube an eine Umverteilung durch Steuern und Transfersysteme hat eindeutig abgenommen. Wenn man das seit den 1980er-Jahren beobachtet, gibt es relativ weniger Unterstützung für Ausgabenerhöhungen für Arbeitslose, eine Stagnation bei den Renten, aber mehr Unterstützung für Investitionen in Bildung oder auch in mehr Kitaplätze. +Ist das besser als Umverteilung? +Das klingt gerecht, weil es die Chancen in der Gesellschaft verbessern soll. Aber wir wissen noch überhaupt nicht, wie sich das auf die gesamte Ungleichheitssituation auswirkt. Sie können wahrscheinlich in Bildung viel investieren – und die Ungleichheit bleibt trotzdem. +Steffen Mau ist Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität Berlin. Sein Spezialgebiet ist seit Jahren die Ungleichheitsforschung. +Titelbild: Rene Zieger/OSTKREUZ diff --git a/fluter/einmal-deutschland-und-zurueck.txt b/fluter/einmal-deutschland-und-zurueck.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..850efdca2d12f70fae9ca8423ca0ebea136d7ef4 --- /dev/null +++ b/fluter/einmal-deutschland-und-zurueck.txt @@ -0,0 +1,35 @@ +Ich habe an einem Schüleraustausch teilgenommen, als ich 14 Jahre alt war. Das war mein erster Besuch in Deutschland. Deutschland ist bekannt als ein Land, das sehr entwickelt und erfolgreich ist – und natürlich für Bier, Fußball und Autos. Das lockt, glaube ich, viele russische Touristen an. +Was hast du vor deiner ersten Reise über Deutschland gedacht? +Ehrlich gesagt, habe ich das schon vergessen. Damals hatte ich in Schulbüchern über Deutschland gelesen und gedacht, dass es anderen deutschsprachigen Ländern sehr ähnlich ist. +Wie hat sich dieses Bild während oder nach deinem Trip verändert? +Da gab es eine komische Situation, als ich in Deutschland bei einer Familie wohnte. Einmal habe ich mit dem Vater der Familie zu Mittag gegessen und seine Frau hat uns zwei Stück Brot gegeben. Eins für ihn und eins für mich. Das fand ich sehr erstaunlich! In Russland ist das nicht üblich, da gibt man immer mehr. Daher war ich sicher, dass die Deutschen geizig sind. Aber mit der Zeit habe ich verstanden, dass sie einfach sparsam sind und dass das gar nicht so schlecht ist. Wir können nicht alles verstehen, aber sicher einiges übernehmen. Nach diesem Schüleraustausch habe ich Deutschland mehrmals besucht und wollte immer wieder zurückkommen. +Welche ungewöhnlichen oder seltsamen Seiten hast du an Deutschland entdeckt? +Man kann schon am Morgen Bier trinken und es ist absolut normal. Und mir gefällt der Karneval in Köln sehr. Es ist fantastisch, dass sich die ganze Stadt verkleidet und fast die ganze Woche feiert. +Hast du etwas Neues oder Unerwartetes über Deutschland oder in Deutschland über dich gelernt? +Die Straßen sind sauber, und die Menschen sind sehr ordentlich und organisiert. +Hast du dir etwas aus Deutschland mitgebracht? +Ich kaufe immer Schlüsselanhänger. Und natürlich Klamotten, weil sie nicht so viel kosten wie in Moskau. +Warum bist du als Touristin nach Deutschland gereist – und warum kommen deiner Einschätzung nach Touristen nach Deutschland? +Wegen Berlin bin ich als Touristin nach Deutschland gekommen. Einige meiner Freunde waren vorher dort und ganz begeistert von der Stadt. Berlin klang für mich wie die "It-City" der Gegenwart. Es klang nach einem angesagten Ort für junge Menschen, besonders was Kunst und Musik anbelangt, wofür ich mich sehr interessiere. Meiner Meinung nach gibt es viele Gründe, warum Menschen nach Berlin fahren – und viele dieser Gründe sind auf Klischees und Stereotype zurückzuführen. Viele sind ganz begeistert von deutschem Bier. Außerdem kommen viele sicherlich wegen Deutschlands interessanter Geschichte und um zu sehen, was davon noch übrig ist. Ich denke, Deutschland ist verlockend für viele Leute, weil Teile des Landes nicht immer dem Rest der Welt zugänglich waren. +Was hast du vor deiner ersten Reise über Deutschland gedacht? +Ein Freund sagte mir vorher mal: "Berlin ist wie ein Spielplatz für Erwachsene." Ich konnte mir allerdings nicht wirklich vorstellen, wie das wohl sein würde. Natürlich sind viele Orte verbunden mit bestimmten Stereotypen. Über Deutschland hatte ich gehört, dass die Menschen hart arbeiten und zurückhaltend sind, dass Berlin in jeder Hinsicht anders ist als Süddeutschland, dass es schwierig sein kann, neue Freunde kennenzulernen und so weiter. Ich persönlich mag allerdings kein stereotypes Denken. +Wie hat sich dieses Bild während oder nach deinem Trip verändert? +Ich habe gelernt, dass man über ein Land nichts verallgemeinern kann. Die Menschen sind alle unterschiedlich. In Berlin habe ich viele nette Menschen getroffen. +Welche ungewöhnlichen oder seltsamen Seiten hast du an Deutschland entdeckt? +Ich habe gesehen, wie frei und liberal manche Menschen in Berlin sind, besonders im Nachtleben. Es ist so schön zu sehen, wie weit Menschen gehen können und sich dabei so wohl fühlen, dass sie das machen, was sie wollen. Ich denke, dass die Stadt etwas von dieser Energie hat und es daher dort wahrscheinlicher ist, etwas Unerwartetes zu erleben als anderswo. Das fühlt sich alles sehr ehrlich an. +Hast du etwas Neues oder Unerwartetes über Deutschland oder in Deutschland über dich gelernt? +Ich habe zwar nur fünf Monate in Berlin gelebt, aber es fühlte sich ganz unerwartet gleich wie zu Hause an. Ich bin als US-Amerikanerin in Seoul aufgewachsen und mit 16 Jahren nach Kalifornien gezogen. Berlin gab mir in mehrfacher Hinsicht, was mir Seoul gegeben hatte, als ich jünger war – mit dem Unterschied, dass Berlin das war, was ich zu der Zeit brauchte: Die Energie, die ich in Berlin gefühlt habe, war einzigartig. Ich denke, das liegt daran, dass die Jugend in der Stadt sehr sichtbar ist und eine wichtige Rolle spielt. Es fühlte sich für mich an, als wäre ich Teil von etwas Wichtigem. Das war ein schönes Gefühl: zu fühlen, dass die eigenen Handlungen eine Bedeutung haben. +Hast du dir etwas aus Deutschland mitgebracht? +Ja, ich habe all diese Erfahrungen mitgenommen – weshalb ich jetzt auch wieder nach Deutschland zurückkehre. Derzeit ist Berlin das, was ich mir unter einem Zuhause vorstelle. +Warum bist du als Tourist nach Deutschland gereist – und warum kommen deiner Einschätzung nach Touristen nach Deutschland? +Weil Deutschland für sein Essen und sein Bier berühmt ist. Ich bin immer sehr neugierig darauf, leckeres Essen auszuprobieren – in Deutschland vor allem die Schweinshaxe. Meiner Meinung nach fahren die meisten Touristen wegen der guten Küche und der Architektur nach Deutschland. +Was hast du vor deiner ersten Reise über Deutschland gedacht? +Ich dachte, die Deutschen haben ein großes Selbstbewusstsein und gutes Essen. +Wie hat sich dieses Bild während oder nach deinem Trip verändert? +Die Deutschen sind sehr nett, und ihr Essen ist nicht schlecht, aber die Service-Qualität in den meisten Restaurants war nicht wirklich gut. +Welche ungewöhnlichen oder seltsamen Seiten hast du an Deutschland entdeckt? +Wenn ich ehrlich sein soll, sehen die Deutschen für mich anders und seltsam aus und haben keine herausstechenden Merkmale. Briten sehen britisch aus, Chinesen chinesisch, aber in einer Gruppe Europäer würde ich die Deutschen wahrscheinlich nicht erkennen. +Hast du etwas Neues oder Unerwartetes über Deutschland oder in Deutschland über dich gelernt? +Ich habe viel über die Geschichte des Zweiten Weltkrieges gelernt, dass Deutschland nach dem Krieg in vier Zonen aufgeteilt wurde und Bayern ganz anders ist als der Rest des Landes. +Hast du dir etwas aus Deutschland mitgebracht? +Ich habe eine kleine, niedliche Deutschland-Figur mitgebracht, die bei mir zu Hause in Hongkong steht. diff --git a/fluter/einmal-erkaeltung-loeschen-10-euro.txt b/fluter/einmal-erkaeltung-loeschen-10-euro.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2c1555964fd19b90cc957472a16c9045586d5ed6 --- /dev/null +++ b/fluter/einmal-erkaeltung-loeschen-10-euro.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +An der Frischtheke: Was ist das? "Magen." Spitzknochen. Schwanzknochen. Hintereisbein. "Und das?" "Darm." Schweineblut. Schweineschlund. Und das? "Auch." Darm? "Ja." Oder Magen? "Ja." In Regalreihe 3 lagert der Fisch – getrocknet und abgepackt. Nicht weit von den Papiergoldbarren und Spielgeldbündeln, die Vietnamesen vor ihre Minischreine legen, 200-Euro-Scheine, 100.000-Dong-Scheine. Daneben Palmöl und Ingweröl und schließlich Hot Chili. Sweet Chili. Sweetened Chili. Seafood Chili. Garlic Chili. Banana Chili. Pickled Green Chili. Pickled Red Chili. Weiter. Abstecher in den Beauty Nails Supply, wo man den Eindruck bekommen könnte, auf unserer Erde existieren mehr Glitzersteindöschen als Menschen. +Singh ist 24 und aus Pakistan. Jede Woche kommt bei ihm neue Ware an, Kleider aus Frankreich, Italien, Vietnam und China. Bist du gern hier? "Ja, ich arbeite hier." Verkaufst du viel? "Das ist ein Geheimnis." Sinan ist Student und aus der Türkei. Er verkauft Wolle, Gardinen, Tischdecken und Badewannenvorleger. Ein Familienunternehmen, sagt er, mit Festpreisen. 40 Prozent ihrer Kunden seien Vietnamesen und etwas sympathischer als die 30 Prozent Deutschen. Und der Rest? "Orientalisch, sag ich mal." Verkaufst du viel? Sinan schürzt die Lippen. "Geht." Es gibt auch jetzt noch Weihnachtsbäume, es gibt eine Rikscha und Porzellantauben, Keramikkatzen, Klodeckel mit Welpen-Aufdruck, Sweatshirts mit Justin-Bieber-Aufdruck und Dinge, die sich nur schwer beschreiben lassen. Reizwäsche hängt an Schaufensterpuppen und Smartphone-Hülle neben Smartphone-Hülle. Die schiere Fülle macht lethargisch und vertreibt die Wünsche. Selbst wenn du Kopfhörer brauchst, willst du sie spätestens dann nicht mehr, wenn dir 100 davon angeboten werden. +15,50 Euro kosten die Reiskugeln, in der Mungbohnen sind. Oder der Eierreis, in dem auch Eierschale ist. Der Verkäufer lässt nicht mit sich reden. 3 für 10? – "Naaain!" – Darf ich fragen, woher Sie kommen? – "Naaa-in!" Ich nehme die Massage "Erkältung löschen" für zehn Euro, im Hinterzimmer eines Tattoo-Studios, die Masseurin macht sich zwischendurch eine Suppe in der Mikrowelle warm. "Gut oder aua?", fragt sie. Beides. diff --git a/fluter/einmal-wurde-ich-mit-dem-messer-bedroht.txt b/fluter/einmal-wurde-ich-mit-dem-messer-bedroht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..816f56b05e70488bfc99b9b053b5d49839f38f71 --- /dev/null +++ b/fluter/einmal-wurde-ich-mit-dem-messer-bedroht.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Da kann man schlecht allgemeine Aussagen machen, das geht durch alle Schichten und Altersstufen. Bei alten Leuten ist es allerdings so, dass sie ihre Schulden meist schon ihr ganzes Leben mit sich schleppen. Und auffällig ist schon, dass heute verstärkt Menschen ohne Ausbildung herkommen, da sie meistens auch keine Arbeit haben und von Hartz IV leben. Da ist es manchmal kaum möglich, keine Schulden zu machen. +Eher weniger. Die haben ja in der Regel nur das Allernotwendigste zum Leben. Hier in Neukölln sind oft auch Alkoholiker betroffen, die haben dann vielleicht ein Bett und in der Küche eine Spüle, wenn es hoch kommt noch einen Kühlschrank – das war es dann. Früher hatten die Leute häufiger auch noch wertvolle Möbel aus Holz, heute sind das oft sehr günstige Sachen – wenn jemand einen Schrank für 200 Euro kauft, lohnt es sich nicht, den zu pfänden, denn ich müsste ihn ja auch noch abbauen, abtransportieren und lagern lassen. Falls er dann für 30 Euro versteigert werden kann, sind die Kosten für den Aufwand vorher viel zu hoch. +Meine Ansicht dazu spielt bei der Arbeit eigentlich kaum eine Rolle: Wenn ein Gläubiger sagt, er will den Computer eines Schuldners gepfändet haben, muss ich das in der Regel durchsetzen. +Wenn ich den Eindruck habe, dass es sich dabei nur um eine Schikane des Gläubigers handelt, versuche ich schon, zwischen Gläubiger und Schuldner zu vermitteln. Es gab zum Beispiel ein Mal den Fall einer Familie mit einem sehr alten Auto, das ich pfänden sollte. Der Vater war stark gehbehindert und die Mutter brauchte das Auto zum Einkaufen, sie war ziemlich auf sich allein gestellt. Da konnte ich dann beim Gläubiger erreichen, dass die Familie das Auto behalten darf. +Nein, dafür mache ich das jetzt einfach schon zu lange. +Körperlich ist das nur einmal passiert, da wurde ich von einem psychisch nicht ganz gesundem Mann mit einem Messer bedroht. Verbale Bedrohungen kommen öfter vor – es prallen ja auch ziemlich unterschiedliche Meinungen aufeinander. Wenn die Schuldner allerdings einmal erlebt haben, was alles möglich ist, und Zwangsmaßnahmen wie das Aufbrechen der Wohnung zur Pfändung am eigenen Leib miterlebt haben, sind sie in der Regel dann schon bereit, mitzuarbeiten. diff --git a/fluter/einreisestopp-usa-was-eine-iranerin-erlebt-hat.txt b/fluter/einreisestopp-usa-was-eine-iranerin-erlebt-hat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..27ff6e4796ef78d04f21638b4c3f1c59cf18d3a8 --- /dev/null +++ b/fluter/einreisestopp-usa-was-eine-iranerin-erlebt-hat.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Der Einreisestopp gilt für Menschen aus sieben Ländern, in denen überwiegend Muslime leben: 90 Tage lang gibt es für Bürger aus dem Irak, Iran, Libyen, Somalia, Syrien, Jemen und dem Sudan keine Visa für die USA. Das Regierungsprogramm zur Aufnahme von Flüchtlingen ist für 120 Tage gestoppt. DieTagesschauerklärt die Details der Regelung +Als ich von dem Dekret hörte, das US-Präsident Donald Trump zu verabschieden plante, dachte ich mir erst: Das ist nur heiße Luft. Sowas kann man doch nicht machen. Kurz darauf bekam ich eine Mail von meiner Gastuniversität, dem Massachusetts Institute of Technology (MIT). Betreff: "some concerns". Die Uni wollte meine genauen Flugdaten wissen und ob ich nicht eine Woche früher kommen könnte. Ich wurde unruhig. Als mich mein Cousin anrief, der selbst in den Staaten wohnt, und mich zur Eile drängte ("Hurry up!"), war mir schließlich klar: Jetzt oder nie. +Ich war verunsichert: Will ich dort überhaupt noch hin? Ist ein Staat, der von sich behauptet, modern zu sein, aber plötzlich Menschen diskriminiert, weil sie "das Falsche" glauben oder weil eine bestimmte Staatsangehörigkeit in ihrem Pass steht, der richtige Platz für mich? +Andererseits fieberte ich seit langem darauf hin, in die USA zu gehen. Die Einladung, acht Monate lang am MIT für meine Doktorarbeit zu forschen, war ein Jackpot: Sie bedeutet Zugang zu genau jenen Instrumenten, die ich für meine Untersuchung brauche. Seitdem die USA und der Iran keine diplomatischen Beziehungen mehr pflegen, ist es für Iraner sehr schwierig, ein Visum zu bekommen – es gibt ja noch nicht mal eine US-Botschaft in Teheran. Es dauerte ein ganzes Jahr, bis ich ein Visum in Händen hielt. +Also buchte ich Hals über Kopf den nächstbesten Flug: Freitag 4.10 Uhr über Abu Dhabi. Wenn ich aus den Vereinigten Arabischen Emiraten einreise, so rechnete ich mir aus, stünden meine Chancen vielleicht besser. Meine Familie wohnt mehrere Autostunden von Teheran entfernt. Sie beeilte sich, um mir meinen Koffer zum Flughafen zu bringen und mich zumindest noch ein paar Minuten zu sehen. +Während der 14 Flugstunden, die zwischen Abu Dhabi und New York liegen, machte ich mir viele Gedanken: Werden sie mich reinlassen? Wird es Befragungen geben? Wäre es besser, wenn ich meinen Hijab ablege? +Elahe (rechts) ist 30 und hat Computertechnik studiert. Unsere Autorin Sara Geisler (links) lernte sie vergangenen Herbst bei einer Reise durch den Iran in einem Bus kennen. Elahes Familie bestand darauf, sie zu beherbergen, drei Tage durchzufüttern und ihr kiloweise Datteln als Proviant mit auf den Weg zu geben +Um 15.30 Uhr kam ich in New York an. Es gab keine Fragen, keine Probleme. Wie sich später herausstellte, war ich eine der Letzten, die aus den sieben "gebannten" Ländern einreisen durfte. +An der Uni wurde ich herzlichst empfangen. Die ganze Belegschaft des Fachbereichs war gekommen, um mich und einen anderen Forscher aus dem Irak zu begrüßen. Viele andere Studenten und Mitarbeiter hatten es nicht geschafft, steckten auf irgendwelchen Flughäfen fest oder traten die Reise erst gar nicht an. Wenn ich Hilfe bräuchte, versicherte man mir, egal bei was, die Uni wäre für mich da. +Vielleicht liegt es auch an Boston –die Stadt ist liberal und von Demokraten geprägt– jedenfalls fühle ich mich sehr willkommen. Ich habe mich sogar dafür entschieden, meinen Hijab weiterhin zu tragen. Nur ein einziges Mal wurde ich bisher schief angeschaut (zumindest kam es mir so vor), das war in einer Bahn. Die meisten Menschen lächeln mir aufmunternd zu. +Mein Visum gilt jetzt erstmal für acht Monate. Ursprünglich hieß es, ich hätte Aussicht auf eine Verlängerung auf bis zu fünf Jahre. Mein Plan war so lange wie möglich zu bleiben und für meine Doktorarbeit zu forschen. Keine Ahnung, wie lange das nun sein wird. Dass das Einreiseverbot und diese Diskriminierung gegenüber Muslimen lange anhalten wird, kann ich mir aber nicht vorstellen: Man muss sich nur mal anschauen, wie viele Menschen dagegen protestieren! +Weil ich mit meinem Single-Entry-Visum nicht aus- und wieder einreisen darf, hatten meine Eltern vor, mich in den USA zu besuchen. Ich habe mich sehr darauf gefreut, wollte ihnen zeigen, wie frei man hier ist – ganz unabhängig davon, wer man ist oder was man glaubt – und dass es mir gut geht. Das wird jetzt erst mal nichts. Über Skype beschwichtige ich sie: "Macht euch keine Gedanken, es geht mir gut." Aber natürlich sehen sie sich die Nachrichten an und sind besorgt. +Titelbild: age fotostock / Alamy Stock Foto diff --git a/fluter/einsame-entscheidung.txt b/fluter/einsame-entscheidung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/einsamkeit-als-neue-volkskrankheit.txt b/fluter/einsamkeit-als-neue-volkskrankheit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f1d3483c86bffb61224808ec667d57d1f7f2339a --- /dev/null +++ b/fluter/einsamkeit-als-neue-volkskrankheit.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Und ich war allein. Vielmehr: Ich fühlte mich einsam wie überhaupt noch nie. Aber was ist das überhaupt für ein Gefühl – Einsamkeit? +Im Bauch des Internets, das stellte sich bei meiner Recherche alsbald heraus, wuchern Einsamkeits-Selbsthilfe-Seiten wie Geschwüre, Ratgeber mittelseriöser Pop-Psychologen auf der "Spiegel"-Bestsellerliste ebenso. Kaum ein Medium, das sich in den letzten zwölf Monaten nicht an der Einsamkeit abgearbeitet hätte: "Volksproblem Einsamkeit" (SRF), "Neue Volkskrankheit" (ORF), "Die tödliche Epidemie der Moderne" (Cicero Online). +Zwei Dinge haben fast all diese Publikationen (an die 50 habe ich durchforstet) gemeinsam: Sie sind randvoll mit vermeintlich objektiver Statistik und allesamt alarmierend. Sie haben diesen wachrüttelnden Tonfall, der uns auch vorUndercover-Islamistenoder Taschendieben in U-Bahnen warnt. Ihnen zufolge breitet sich die Einsamkeit seuchengleich aus, ist gar ansteckend. +Nichts verpassen? Mit unseremNewsletterbekommst du alle zwei Wochen fünf fluter-Highlights +Einsame hatten häufiger Schlafstörungen. Sie litten öfter an Entzündungen und Kopfschmerzen, an Diabetes, Krebs und Herzinfarkten, an Schlaganfällen, an Alzheimer, Depressionen und Alkoholsucht. +Einsamkeit sei schlimmer als Übergewicht, las ich, so schlimm wie das Rauchen von 15 Zigaretten am Tag. Einsamkeit, so mein Eindruck, ist gleich Tod. Oder genauer: ein elendiges Krepieren. +All diese Artikel liefern die Einsamkeitsursachen gleich mit: der demografische Wandel, das Verschwinden der traditionellen Familie, die steigende Zahl der Single-Haushalte (41 Prozent aller Deutschen!). Und auch die fortschreitende Urbanisierung, die die auf dem Land Gebliebenen irgendwo im Nirgendwo und die Auszügler in der gesichtslosen Masse der fremden Metropole vereinsamen lässt. +Beim Ulmer Bestseller-Psychiater Manfred Spitzer ("Einsamkeit, die unerkannte Krankheit", "Cyberkrank!" und "Digitale Demenz") ist es das Internet, das abwechselnd verblödet und einsam macht. +Inzwischen hat sich selbst die Politik aufgerafft, etwas gegen die vermeintlich neue Volkskrankheit zu unternehmen. In Großbritannien hat Theresa May einMinisterium für Einsamkeitins Leben gerufen, nachdem das Rote Kreuz in der Einsamkeit eine "Epidemie im Verborgenen" ausgemacht hatte. + +Der familienpolitische Sprecher der Union, Marcus Weinberg, forderte im Januar in der "Bild"-Zeitung eine "Enttabuisierung" des Themas und SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach im selben Artikel, es müsse auch in Deutschland künftig einen Verantwortlichen geben, "der den Kampf gegen Einsamkeit koordiniert". +Während ich das lese, stauen sich in meinem Hirn Fragen: 15 Zigaretten – was zur Hölle? Filterkippen oder Selbstgedrehte? Und welche Marke? Waren da nicht Tinder und das Internet, und konnte man da nicht Partner für dieses und jenes finden, wenn man nur wollte? Und: Was kommt zuerst, die Depression oder die Krankheit? Macht die Krankheit einsam oder die Einsamkeit krank? +Vor allem aber stellte ich mir zwei Fragen: Erstens: Wo liegen die Statistiken begraben, die den seuchenartigen Anstieg von Einsamkeit bezeugen? Und zweitens: Was ist Einsamkeit überhaupt? +Die erste Frage ist schnell beantwortet: nirgends. Wissenschaftlich wurde ein internationaler dramatischer Einsamkeitsanstieg bisher nicht eindeutig belegt, weil aussagekräftige Studien über die letzten Jahrzehnte schlicht fehlen. Ich bin überzeugt: Die Einsamkeitsepidemien und neuen sozialen Massenphänomene sind entweder schludrig berechnet oder falsch abgeschrieben. +Die zweite Frage ist schwieriger. "Einsam ist, wer unglücklich alleine ist", sagt die Gesundheitspsychologin Sonia Lippke. Wer einsam ist, dem würden nicht die Menschen fehlen – sondern das Gefühl, von ihnen beachtet, anerkannt, gebraucht zu werden, sagte der 2018 verstorbene Chicagoer Psychologe John Cacioppo. +Er versuchte, Einsamkeit zu messen, indem er seine Probanden fragte, wie oft ihnen Gemeinschaft fehlt, wie oft sie sich ausgeschlossen fühlen und wie oft sozial isoliert. Laut Bundesregierung ist Einsamkeit das "subjektive Gefühl des Alleinseins". Ein Gefühl also erst mal, keine Krankheit. +Alterseinsame sind also womöglich anders einsam als die letzten Singles unter den Vergebenen. Das Gefühl eines einsamen Depressiven unterscheidet sich von dem des Teilzeit-Einsamen am Heiligen Abend. Der ehrgeizige Versuch, sie alle über einen Kamm zu scheren, ist zum Scheitern verurteilt. Denen, die es trotzdem tun – und davon gibt es genug –, begann ich zu misstrauen. +Stattdessen fing ich an zu recherchieren, was mein Bekanntenkreis für Einsamkeit hält: +"Einsamkeit ist Bestrafung durch Ausschluss. Wenn du arbeitsuchend bist wie ich und dir dann die Sozialhilfe gekürzt wird, dann schränkt das deinen sozialen Spielraum ein, weil du es dir kaum mehr leisten kannst, auf ein Bier zu gehen. Also bleibe ich daheim, werde einsam", sagte mir eine Frau Anfang 30 in meinem Wiener Stammcafé. +"Einsam bist du, wenn dir alle sagen: Du bist super integriert, aber dein Herz dir sagt: In dieser Welt wirst du niemals dazugehören – und die einzige Welt, in der du je dazugehört hast, die gibt es nicht mehr", sagte mir ein Freund aus Syrien, der in Berlin lebt. +Ich selbst schrieb am 24.12.2017 in mein Tagebuch: "Ich fühle mich, als wäre ich falsch abgebogen und dann verloren gegangen in einem dunklen Tunnel, in dem mich niemand mehr findet. So wie Axel, als er auf seiner Reise zum Mittelpunkt der Erde die Weggefährten verliert." +Es waren zwei Dinge, auf die ich mich mit meinen Gesprächspartnern einigen konnte: Einsamkeit ist ein beschissenes Gefühl. Und an Weihnachten ist dieses Gefühl noch beschissener. +Was Einsamkeit angeht, ist Weihnachten totalitär. Ein 24-tägiges Crescendo der Emotionen, getrieben von strahlenden Kinderaugen, Geborgenheitsschwüren und Lobgesängen auf das Familiäre, das am Heiligen Abend seinen Höhepunkt findet. Wo unter dem Jahr Grautöne sind, gibt es nur noch Schwarz oder Weiß. Gemeinsam oder einsam. Ein bisschen fühlt es sich an wie der Tag des Jüngsten Gerichts. Und auf die Einsamen wartet das Fegefeuer. +So kam es, dass ich am 24. Dezember 2017, dem einsamen Trinker in Edward Hoppers "Nighthawks" gleich, nieselnass und mit drei verstummten Alkoholikern in der einzig geöffneten Kneipe in São Pedro da Aldeia saß, zwei gekochte Eier aß, zwei Flaschen Bier trank, eine halbe Packung Zigaretten rauchte und, während aus den Boxen Reggaeton sudelte, den Höllenschmerz spürte. +Mochten die Wissenschaftler mit ihren Zahlen die Einsamkeit nicht greifen – das Gefühl in der einsamsten Nacht meines Lebens war unverkennbar und echt. + diff --git a/fluter/einsamkeit-fuehrt-zu-ressentiments-interview-claudia-neu.txt b/fluter/einsamkeit-fuehrt-zu-ressentiments-interview-claudia-neu.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..125cb08f6ce6d9614c701bac90183128d54d7f0b --- /dev/null +++ b/fluter/einsamkeit-fuehrt-zu-ressentiments-interview-claudia-neu.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Im Mai ist Ihr Buch "Einsamkeit und Ressentiment" erschienen. Wie hängen die beiden Gefühlswelten zusammen? +Nach einer längeren Phase der Einsamkeit kann sich unsere Welt verdüstern, wir nehmen dann unsere Umwelt als unsicherer wahr. Das ist durch Studien belegt, und es ist ein zutiefst menschlicher Mechanismus. Wir fürchten uns, wenn wir alleine sind, und haben ein dauerhaftes Gefühl von "Wo ist meine Gruppe?". Entweder jemand sieht das als Weckruf und tut etwas gegen seine Einsamkeit – Freund:innen oder Familie anrufen, sich mal wieder verabreden. Oder wir empfinden das als schmerzhaft, und wir können negative Gefühle gegenüber unserer Umwelt entwickeln – also Ressentiments. Wenn ich meinem Nachbarn schon nicht mehr traue, warum dann der Polizei oder der Politik? Das Vertrauen in den Staat und die Institutionen kann so verloren gehen. +Wie verhält sich so eine Person? +Einsame Menschen ziehen sich oft zurück, gleichzeitig bleibt der Wunsch nach sozialen Kontakten. Und wenn Ressentiment dazukommt, sind diese Menschen oft auf Krawall aus. Sie wollen sich ärgern, finden alles schlimm. Sie haben meist eine persönliche Kränkung erfahren und kanalisieren das nicht in Traurigkeit und Tränen, sondern in Wut und Schuldzuweisung. Oft wendet sich die Umwelt dann erst recht ab. So können sich Einsamkeit und Ressentiment gegenseitig verstärken – der einsame Mensch wird verbittert, und der verbitterte Mensch wird einsam. +Einsamkeit unter jungen Erwachsenen ist noch größer als bei älteren Menschen, besagen manche Studien. Wie kommt das? +Zum einen wirkt die Coronapandemie noch nach. Zum anderen war die Zahl einsamer junger Menschen schon immer hoch, das liegt sicher an der Lebensphase: Jugendliche suchen nach Identität, suchen im Außen nach einer Antwort auf die Frage: Wer bin ich, wer soll ich sein? Oft erfährt man bei dieser Suche auch Ablehnung oder Verlorenheit. Vielleicht zerbricht die erste Liebe, oder man fühlt sich von der besten Freundin hintergangen. In der Diskussion ist noch, inwieweit die sozialen Medien Einfluss auf das Entstehen von Einsamkeit haben. Einerseits entstehen so viele Kontakte, andererseits ersetzen sie keine "echte" Begegnung. Ich kann den anderen auf TikTok nicht riechen oder spüren. Außerdem werden über die sozialen Medien vielerechtsextreme Ideologienund Verschwörungserzählungen verbreitet. Das kann wie ein Verstärker wirken: Negative Ereignisse werden auf den Plattformen besonders hochgespült, das motiviert zusätzlich und unterstützt möglicherweise eine abgeneigte Haltung gegenüber der Demokratie. Generell lag bisher der Fokus bei der gesellschaftlichen Bekämpfung von Einsamkeit eher auf Älteren. Sie lobbyieren besser für sich als Jüngere. Die Jugend hat in unserer Gesellschaft fast keine Lobby, und Studien zeigen, dass das Jugendliche auch so wahrnehmen. +Trotzdem schreiben Sie in Ihrem Buch, dass die Gleichung Einsamkeit + Ressentiment = undemokratische Gefühle nicht aufgeht. +Die Zusammenhänge sind nicht kausal. Nicht jeder einsame Mensch ist ein Rassist. Nicht jeder Extremist ist auch einsam. Wir wissen noch nicht, ab welcher "Einsamkeitsdauer" sich die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass jemand antidemokratisch wählt. Aber es kann in diese Richtung gehen, wenn das Gefühl eine Echokammer findet. +Also von Populist:innen aufgegriffen wird? +Genau, denn Leute, die von Einsamkeit betroffen sind, leiden ja unter ihrer Situation. Sie sind immer noch auf der Suche nach Gemeinschaft, nach Anerkennung, nach Freundschaft. Populismus bietet an, wieder Teil einer Gruppe zu sein. Und das ist ja etwas, was Menschen fehlt, die sich einsam fühlen: das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein. Populist:innen betonen dann auch noch, dass ihre Gemeinschaft höherwertig ist als "die anderen", zum Beispiel Geflüchtete oder Menschen mit Migrationsgeschichte, von denen sie sich absetzen wollen. +In Ihrem Buch schreiben Sie, die Politik dürfe die Entwicklung von Einsamkeit in Verbindung mit Ressentiment nicht ignorieren. Was kann die Politik gegen Einsamkeit machen? +Die Bundesregierung hat bereits eine "Strategie gegen Einsamkeit" verabschiedet. Als Wissenschaftlerin bedaure ich es, dass viel zu wenig Geld für Forschung vorhanden ist. Denn wir wissen ja noch sehr wenig über das komplexe Thema Einsamkeit. Mir kommt es so vor, als wolle das Familienministerium demonstrieren: Seht her, wir machen was! Aber es geht in die richtige Richtung. Zum Beispiel hat das Familienministerium 2021 das Kompetenznetzwerk Einsamkeit ins Leben gerufen, das auf das Thema aufmerksam macht und dafür sensibilisiert. Faktoren für Einsamkeit sind aber auch strukturell bedingt: lang anhaltende Arbeitslosigkeit, Armut, Behinderung. Da kann der Staat ansetzen. Am besten ist immer Prävention – denn ist jemand erst mal in Einsamkeit gerutscht, ist es unwahrscheinlich, dass diese Menschen Angebote wie öffentliche Begegnungsstätten oder Projekte zur Vernetzung überhaupt nutzen, weil man sich schon von der Gesellschaft distanziert hat. Aber das bedeutet nicht, dass man gar nichts tun kann. Die Politik sollte Projekte und Angebote für einsame Menschen fördern, vor allem in der Jugendarbeit. Denn Jugendliche haben noch ihr ganzes Leben vor sich. Da sollten wir alles tun, um zu verhindern, dass sich ihre Einsamkeit chronifiziert. +Wie erreicht man einsame Jugendliche am besten? +Auf den Angeboten sollte nicht groß "gegen Einsamkeit" draufstehen. Jugendliche müssen erst mal zusammenkommen und Spaß haben. Dann kann man an sozialen Kompetenzen arbeiten und Vertrauen aufbauen. So nimmt man Populist:innen die Chance, das Einsamkeitsgefühl gerade der jungen Leute für ihre Zwecke zu nutzen. Ich glaube, besonders nach derEuropawahlist das Interesse der Politik groß, diesen Zusammenhang zu verstehen. +Können wir als Gesellschaft auch etwas dafür tun, dass Menschen nicht Zuflucht in einem demokratiefeindlichen Umfeld finden? +Ich habe oft das Gefühl, wir haben wenig Geduld mit "seltsamen" Menschen, sind nicht so offen und verurteilen sie schnell. Es würde helfen, wenn wir als Nachbar, Arbeitskollegin und Vereinsmitglieder nicht sofort ablehnend reagieren würden. Ich wünsche mir mehr Freundlichkeit und Großmut. Das heißt, der erste Schritt wäre, hinter Ressentiments keine Boshaftigkeit zu sehen, sondern Leid. +Gleichzeitig verursachen diese Menschen auch oft viel Leid, wie wir im Interview auch schon erfahren haben. Wie findet man da die richtige Balance in der Haltung gegenüber diesen Menschen? +Ich würde sagen: Man sollte sich nicht sofort abwenden und gleichzeitig ganz radikal bei sich bleiben. Wenn jemand zum Beispiel verletzende Dinge sagt, könnte man entgegnen: "Wir können uns gerne unterhalten, aber ich möchte nicht, dass du mich beschimpfst. Vielleicht finden wir ja einen positiven Umgang miteinander." Natürlich hilft das nicht immer, aber damit gibt man dem Gegenüber wenigstens eine Chance. +In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich auch mit der Gestaltung von sozialen Räumen. Inwiefern helfen öffentliche Orte gegen Einsamkeit und Ressentiment? +Populisten und Extremisten wollen den Menschen einreden: Wir müssten gar nichts aushandeln, wenn wir nur wieder "unter uns" sind, in "unserer Volksgruppe", ohne Vielfalt. Dann würden sich alle Konflikte wie von Geisterhand lösen. Dabei ist es wichtig, sich gegenseitig furchtbar finden zu dürfen und sich trotzdem als Teil derselben Gemeinschaft anzuerkennen. Wir müssen Konflikte aushalten, wenn wir aufeinandertreffen. Wir brauchen dafür aber auch öffentliche Räume und Begegnungsstätten. Das können öffentliche Parks, Kneipen oder ein Bäcker mit Tischen sein – Orte, an denen man sich milieuübergreifend begegnet. So etwas gibt es zwar in den Städten, aber auf dem Land kaum noch. Man muss nicht unbedingt miteinanderins Gespräch kommen, aber die anderen in der Gesellschaft zu sehen ist auch schon viel wert. + +Claudia Neu ist Professorin und Inhaberin des Lehrstuhls Soziologie ländlicher Räume an den Universitäten Göttingen und Kassel. Das Buch "Einsamkeit und Ressentiment" hat sie gemeinsam mit ihren Kollegen Jens Kersten und Berthold Vogel geschrieben. Es erschien im Mai 2024. +Portrait: Anna Tiessen diff --git a/fluter/einsatz-beim-g20-gipfel-in-hamburg-polizist-erzaehlt.txt b/fluter/einsatz-beim-g20-gipfel-in-hamburg-polizist-erzaehlt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5c39f1e2a778e244efd66a6a1ddc568cf3bde9bc --- /dev/null +++ b/fluter/einsatz-beim-g20-gipfel-in-hamburg-polizist-erzaehlt.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Die Gebäude sollen beim Gipfel intakt sein. Wir passen also auf, dass niemand Scheiben entglast oder Wände beschmiert. Und wir schauen, ob sich rund um diese kritischen Orte irgendetwas Auffälliges tut. Natürlich ist nicht jeder Tourist, der Bilder macht, verdächtig. Man muss schon genauer hinsehen. +"Unsere Kritik richtet sich gegen den Gipfel selbst" +G20 geht an den Interessen der Menschen vorbei, findet Marvin. Deshalb engagiert er sich bei "Jugend gegen G20" -->Zum Artikel +Einmal haben wir an der Elbphilharmonie zwei Personen beobachtet, die das Gebäude zu inspizieren schienen und dann schnellen Schrittes in die Tiefgarage verschwunden sind. Ein Auto hatten sie nicht, und als wir sie angesprochen haben, meinten sie, sie wollten nicht hinauf zur Aussichtsplattform der Elbphilharmonie, weil ihnen das zu teuer sei. Dabei ist der Eintritt kostenlos! Das wirkte alles wenig glaubhaft, wir haben daher die Ausweise kontrolliert. Die Personen kamen aus dem linksautonomen Spektrum, eine war der Polizei bereits bekannt, wie wir später feststellten. +Man merkt, dass es in der Stadt eine gewisse Grundaggressivität wegen des Gipfels gibt. Die autonome Szene ist sehr aktiv und organisiert Trainings, in denen das Durchbrechen von Polizeiketten geübt wird. Im Netz kursieren zur Motivation bereits Videos, wie man aus der Anonymität einer Demonstration heraus am besten Straftaten begehen kann. +Mich hat die Einsatzleitung zum Gipfel für die Absicherung eines Demonstrationszuges eingeteilt. Klar, man macht sich Gedanken: Bleibt es friedlich? Wird es zu Ausschreitungen kommen? Ich stelle mich auf jeden Fall darauf ein, dass es Krawalle geben kann. Wie stark, in welchem Ausmaß? Das ist sehr schwierig einzuschätzen. +Bisher hatte ich erst einen Einsatz, der wirklich brenzlig war. Im vergangenen Jahr demonstrierten Anhänger der rechten Szene in einer Stadt hier in der Nähe von Hamburg. Wir standen auf dem Bahnhofsvorplatz, sodass die Rechten nach dem Aufmarsch zu ihrem Zug gehen konnten. Dann plötzlich warfen linksautonome Gegendemonstranten Steine und Flaschen. Ein Kollege hat einen Stein, vielleicht halb so groß wie eine Faust, gegen den Helm bekommen. Er hatte gerade noch das Visier rechtzeitig heruntergezogen. +Einen Einsatz wie zum G20-Gipfel hatte in dieser Form noch kein Kollege von mir. Wir alle hoffen, dass es möglichst gewaltfrei bleiben wird. Wir üben regelmäßig, wie wir vorgehen, wenn aus einer Demonstration heraus Straftaten begangen werden sollten. Wie genau die Vorbereitungen aussehen, kann ich aus polizeitaktischen Gründen nicht sagen. Angst vor dem Gipfel habe ich bisher keine. Vielleicht ändert sich das kurz vorher noch. Auf jeden Fall habe ich Respekt vor diesem Einsatz. Das geht uns allen so. Man merkt eine gewisse Anspannung in der Belegschaft. + + diff --git a/fluter/einsatzkraefte.txt b/fluter/einsatzkraefte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/einstellungssache.txt b/fluter/einstellungssache.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e5a7aa391351f781b339ff31fe8fa4974b1bb8d9 --- /dev/null +++ b/fluter/einstellungssache.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +DER PARAGRAF 153a +In etwa 90 Prozent aller Wirtschaftsund Steuerstrafverfahren kommt es nach Darstellung des Frankfurter Strafverteidigers Eckhard Hild zu einem Deal. Wenn ein von der Staatsanwaltschaft verfolgter Mandant zu ihm komme,frage er ihn routinemäßig,ob er "eine juristische oder kaufmännische Lösung für seinen Fall" wünsche.Das Zauberwort heißt unter Juristen "Paragraf 153a". Dieser Paragraf der Strafprozessordnung sieht vor, dass die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren bei einer Geldauflage für den Beschuldigten einstellen kann, wenn dem weder "die Schwere der Schuld" noch "das öffentliche Interesse" entgegensteht. Kritiker sehen darin eine moderne Form des Ablasshandels. In der Praxis laufe dies so, berichtet Anwalt Hild: "Staatsanwälte, Richter und Verteidiger treffen sich zu einem Moment X, sei es vor oder nach Beginn eines Prozesses. Dann schnüre man ein Paket: Welche Vorwürfe gesteht der Angeklagte, welche Anklagepunkte lässt die Staatsanwaltschaft fallen,wie viel kostet der Deal,wer stellt den Antrag auf Einstellung?" Der eigentliche Strafprozess ist dann, laut Hild, "nur noch eine Schauveranstaltung".Konzipiert wurde die Verfahrenseinstellung gegen eine Geldauflage ursprünglich für Massendelikte von geringer Schuld. Bei den meisten der jährlich etwa 300 000 Einstellungen handelt es sich tatsächlich um Kleinkriminalität wie Ladendiebstahl oder Verkehrsdelikte. Immer häufiger aber suchen Staatsanwälte und Verteidiger bei komplexen,heiklen Großverfahren den Ausweg nach 153a – wie jüngst im Mannesmann-Prozess.Für den Frankfurter Strafrechtler Wolfgang Naucke hat das "mit Juristerei gar nichts mehr zu tun". Er hält die im Gesetz für die Einstellung nach Paragraf 153a formulierten Voraussetzungen für so vage, dass diese Strafrechtsvorschrift "verfassungswidrig" sei.Hinzu kommt ein Ungleichgewicht bei den Ermittlungsergebnissen.Bei den insgesamt 11 705 Wirtschaftsstrafverfahren in Nordrhein-Westfalen im Jahre 2005 wurde lediglich in 844 Fällen Anklage erhoben – das sind etwa 7,5 Prozent. In 721 Fällen wurden die Verfahren nach Paragraf 153a gegen Geldauflagen wieder eingestellt. In mehr als 80 Prozent aller Wirtschaftsstrafverfahren kam es weder zu einer Anklage noch zu einer Einstellung gegen Auflagen. Bei allen übrigen Strafdelikten wurde dagegen in einem Viertel (24,7 Prozent) Anklage erhoben, 4,8 Prozent der Verfahren wurden nach 153a eingestellt. Johannes Nitschmann diff --git a/fluter/eintauchen-ins-gefangenenparadies.txt b/fluter/eintauchen-ins-gefangenenparadies.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fbb222c09cf69d4a073186238c05ae67614a90d6 --- /dev/null +++ b/fluter/eintauchen-ins-gefangenenparadies.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Vom Pier 914 fahren jeden Tag Tauch- und Schnorcheltouristen zu den vorgelagerten Korallenriffen. Woher der Name des Piers kommt, weiß allerdings kaum einer von ihnen. 914 Häftlinge waren es, die beim Bau der Anlegestelle ums Leben kamen und die von der dunklen Vergangenheit von Côn Sơn zeugen. Denn noch vor 40 Jahren war die Insel alles andere als ein Urlaubertraum. Für die politischen Gefangenen war das abgelegene und gut kontrollierbare Eiland als Sträflingskolonie ein Albtraum. Mehr als ein Jahrhundert lang. Zunächst unter den französischen Kolonialherren, anschließend unter den südvietnamesischen Diktatoren, die von den USA unterstützt wurden. +Der ehemalige Palast des französischen Gouverneurs in Côn Sơn ist heute Museum. Die einstige Pracht des heruntergekommenen Kolonialbaus lässt sich nur noch erahnen. Die vier kahlen Zimmer im Erdgeschoss dokumentieren den Schrecken der sogenannten "Teufelsinsel". Folterwerkzeuge an den Wänden, Schwarz-Weiß-Fotografien von nackten, ausgemergelten Körpern auf kahlem Stein, massenhaft eingeschlossen in engen Zellen oder isoliert in dunklen Verliesen. Namenlose Unbekannte. +Auf den Fotos sind die Namen und Dienstbezeichnungen der verantwortlichen Beamten und Offiziere vermerkt. Bis 1955 sind es französische Namen, dann geht es nahtlos weiter mit südvietnamesischen Lagerkommandanten, die die Sträflingskolonie der Kolonialmacht übernahmen und ähnlich brutal weiterführten, mit Unterstützung und Know-how der USA. Hier wurden dann vor allem die Gefangenen der Guerilla-Organisation "Nationale Front für die Befreiung Südvietnams", besser bekannt als Vietcong, gequält. +Die Schreckensgeschichte von Côn Sơn reicht über 150 Jahre zurück: 1858 beginnt die französische Kolonialherrschaft über Vietnam. Die Kolonialherren errichten eine effiziente Verwaltung und Verkehrsinfrastruktur, um Rohstoffe wie Reis, Kautschuk und Kohle besser auszubeuten. Drei Jahre später werden für den Bau des ersten Gefängnisses für politische Gefangene die auf Côn Sơn ansässigen Bauern vertrieben oder gezwungen, sich in den Dienst des kolonialen Strafvollzuges zu stellen. +Um ihre Macht zu festigen, bauen die Franzosen ein brutales Unterdrückungs- und Strafsystem auf. Nach 1940 sitzen auf Côn Sơn Kaisertreue, Kommunisten und Bürgerliche ein, auch missliebige Buddhisten, Studenten, Journalisten und Gewerkschaftsführer – das gesamte Spektrum des antikolonialen Widerstands. +Dieser hatte sich schon um die Jahrhundertwende formiert, blieb anfangs aber unkoordiniert. Erst Ho Chi Minh, der Gründer und Führer der Kommunistischen Partei Indochinas, schafft mit der 1941 gegründeten Bewegung "Vietminh" eine Basis für den organisierten Kampf gegen die Besatzer. Am 2. September 1945 proklamiert er in Hanoi die Unabhängigkeit der Demokratischen Republik Vietnam. +Doch die Franzosen versuchen, Vietnam erneut zu kolonialisieren: 1946 bricht der Indochina-Krieg aus. China unterstützt die militärisch schlecht ausgestatteten Vietnamesen, während die Franzosen von den USA Hilfe erhalten. 1954 gelingen den Vietminh schließlich die entscheidenden militärischen Erfolge. Vietnam wird entlang des 17. Breitengrades geteilt: Im Norden, in Hanoi, bleiben die Kommunisten Ho Chi Minhs an der Macht. In Saigon regiert nun der von den USA protegierte militante Katholik Ngo Dinh Diem die Republik Südvietnam. +Hier beginnt ein Bürgerkrieg, in dem der Vietcong vom kommunistischen Norden unterstützt wird. Vor allem Vietcong-Anhänger landen nun auf Côn Sơn und werden hier inhaftiert und gefoltert: etwa in den sogenannten "Tiger Cages", gerade einmal 2,70 mal 1,50 Meter großen Verschlägen, in denen bis zu fünf Gefangene gemeinsam ausharren mussten. Von oben wurden sie mit heißem Muschelkalk verbrüht oder von den patrouillierenden Wärtern mit langen, spitzen Stangen gequält. Bis zu 10.000 Menschen sollen gleichzeitig im Lager gefangen gewesen sein, ergeben spätere Untersuchungen. +1964 treten die USA direkt in den Konflikt ein. Im Kalten Krieg wollten sie eine Ausbreitung des Kommunismus unbedingt verhindern und sahen Vietnam als wichtigen "Dominostein": Sollten hier die Vietcong siegen, könnten auch die übrigen Staaten Südostasiens kommunistisch werden. Der mit besonderer Brutalität geführte Vietnamkrieg beginnt. Aber trotz ihrer technologischen Übermacht können die US-Militärs den hartnäckigen Widerstand der Vietcong nicht brechen – die daraus resultierende Anti-Kriegsstimmung im eigenen Land sowie der Druck einer internationalen Protestbewegung führen 1973 zum Abzug aller US-Truppen. +Nach der Eroberung Saigons durch nordvietnamesische Einheiten kapituliert das auf sich allein gestellte Südvietnam 1975 und wird im Jahr darauf mit dem Norden zur "Sozialistischen Republik Vietnam" vereint. Erst jetzt endet der Horror von Côn Sơn.
 Die Überreste der berüchtigten Gefängnisse finden sich heute verlassen und verfallen um den Hauptort von Côn Sơn. Sie können ausschließlich im Rahmen von Führungen besucht werden. Die kommunistische Einheitspartei Vietnams hat die Insel zum Ort der Erinnerung erklärt. Hinter verwitterten und geschwärzten Mauern sitzen oder liegen angekettete mannshohe Gipspuppen, um das Elend der Gefangenen zu verdeutlichen. Viele der Insassen überlebten die unmenschlichen Bedingungen nicht, mehr als 20.000 sollen hier begraben sein. +Auf dem Friedhof Hang Duong werden die Opfer von einst als Helden gefeiert: Ihr Sterben fürs Vaterland und Ho Chi Minh wird mit Fahnen, Blumen und Inschriften geehrt. "Vor allem Nordvietnamesen pilgern hierher", sagt Pham Van Du, der in Leipzig studierte und heute eine eigene Reiseagentur in Saigon betreibt. "Aber auch südvietnamesische Familien, die Angehörige hier verloren haben." Nur 700 Gräber tragen Namen. Für die vielen namenlos verscharrten Toten der Teufelsinsel wurde ein Denkmal gebaut, das drei riesige Räucherstäbchen darstellt. +Von der tropischen Hölle zum luxuriösen Schnorchelparadies – der vietnamesische Entwicklungsplan geht in Côn Sơn pragmatisch und völlig unideologisch mit der Geschichte um. "Wir sind zufrieden, solange es vorwärtsgeht", sagt Pham Van Du. "Die vietnamesische Tourismusindustrie soll zu einem wichtigen Wirtschaftszweig ausgebaut werden." +Edith Kresta schreibt in der taz über Reise und Interkulturelles. Diese Reise nach Südvietnam 2011 war für sie ein gruseliger Einblick in die brutalen Schrecken des Vietnamkrieges, der in den 70er-Jahren auch hierzulande die linke Protestbeweung politisiert hatte. diff --git a/fluter/einzelschicksal.txt b/fluter/einzelschicksal.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/eisbaer-klimawandel-auswirkungen.txt b/fluter/eisbaer-klimawandel-auswirkungen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/eisenerz-mine-nordschweden-sami.txt b/fluter/eisenerz-mine-nordschweden-sami.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6ea2e12fea71e2bb770a3ec1c6f6b905b0c9c0c2 --- /dev/null +++ b/fluter/eisenerz-mine-nordschweden-sami.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Schon seit 2006 plant Beowulf, ein britisches Unternehmen für sogenannte Geo-Explorationen, Gálloks Erz abzubauen. Dafür hat Beowulf die schwedische Tochter Jokkmokk Iron Mines gegründet. Sie plant eine offene Mine auf 13,6 Quadratkilometern. Die Bergbaubehörde hat dem Antrag zugestimmt, die Regionalverwaltung hat ihn abgelehnt. Also entschied die Regierung. Die sogenannte Bearbeitungskonzession, die sie ausstellte und von Wirtschaftsminister Thorwaldsson im März verkünden ließ, ist kein Freifahrtschein zum Abbaggern. Jokkmokk Iron Mines muss weitere Genehmigungen einholen, was noch ein paar Jahre dauern kann, und Bedingungen erfüllen, die die Regierung aufgestellt hat. Die meisten beziehen sich auf die lokale Rentierhaltung. Die Mine solle etwa "so wenig Land wie möglich beanspruchen", der Betreiber für die Kosten aufkommen, wenn die Rentiere per Lkw transportiert werden müssen, weil ihre Routen gestört sind. +Sara-Elviras Familie hat schon immer Rentiere gehalten. "Die Rentierhaltung ist, was unsere Vorfahren getan haben und was wir unseren Kindern weitergeben", sagt sie. "Wir wissen nicht, was mit uns Sámi geschieht, wenn wir dieses Erbe verlieren." Sara-Elviras Vater ist Vorsitzender von "Sirges", einem der Sámi-Dörfer, die durch die Mine beeinträchtigt wären. Ein sogenanntes Sámi-Dorf ist eine Art Wirtschaftsverband der Rentierhalter*innen in einer Region. + + +Auf der Karte erstreckt sich "Sirges" als schmaler Streifen von der Mitte Schwedens bis nach Norwegen. Im Frühjahr ziehen die Rentierherden quer durch die Region in die Berge, eine ihrer traditionellen Routen führt durch Gállok. Entsteht dort eine offene Grube, wäre die Route unterbrochen, ein Stück Weideland verloren. Vor allem aber wäre Gállok der nächste Flecken Land, den die Sámi an Industrieprojekte verlieren. Und das macht den Konflikt so komplex. +"Es wird erwartet, dass wir mit der Mine koexistieren. Aber niemand sieht, dass wir uns seit hundert Jahren an Industrieprojekte in unserer Landschaft anpassen müssen", sagt Henrik Blind. Der 43-Jährige ist Lokalpolitiker der Grünen in Jokkmokk, selbst Sámi und führt den Widerstand gegen die Mine mit an. "Es ist immer dasselbe", sagt Blind. "Unternehmen kommen von außen, nehmen sich das Beste und lassen die Bevölkerung mit den Konsequenzen allein." +Das Auto biegt auf die Straße Richtung Gállok ein, Blind deutet aus dem Fenster. Auf Stauseen, Umspannwerke, abgetragene Berge und junge Wälder, die so dicht bepflanzt seien, dass die Rentiere nicht hindurchlaufen. +Blind könnte den Weg nach Gállok im Schlaf fahren, er war oft hier in den vergangenen zehn Jahren. Jetzt im Frühjahr schmilzt der Schnee, Blind sackt auf dem Waldweg immer wieder ein. Er weist auf eine Lichtung, auf der über die Jahre Proteste und 2013 ein großes Konzert stattgefunden haben. Ein paar Schritte weiter und man sieht am Horizont die Gipfel des Sarek-Nationalparks. Er gehört zur Kulturlandschaft Laponia, einem UNESCO-Weltnaturerbe, das 35 Kilometer nördlich der geplanten Mine beginnt. Noch vor der Entscheidung warnten UN-Menschenrechtsexpert*innen, die Mine könne Luft und Wasser verschmutzen – und ermahnten die schwedische Regierung, die lokalen Sámi ausreichend zu konsultieren. Alle zentralen Sámi-Organisationen in Schweden sprachen sich gegen das Projekt aus. "Wir Sámi brauchen dieses Land, um zu verstehen, woher wir kommen, und um in Zukunft überleben zu können", sagt Henrik Blind. + + +Als Indigenes Volk haben die Sámi in Schweden besondere Rechte. Das Land hat mehrere internationale Konventionen ratifiziert und Gesetze verabschiedet, die den Sámi weitreichende Mitbestimmung über ihre Lebensräume einräumen. Damit reagiert Schweden auch auf die Geschichte der Minderheit. Über Jahrhunderte wurden Sámi gezwungen, sich in schwedischen Schulen zu assimilieren oder ihre Siedlungsgebiete zu verlassen, wenn etwa Rohstoffe gefunden wurden. Diese Geschichte schwingt mit, als Sara-Elvira Kuhmunen auf Schwedens Wirtschaftsminister Thorwaldsson trifft. +Stockholm, ein Freitagmittag im Februar, Wochen vor der Verkündung, dass Gállok zur Mine werden soll. Auf dem Platz vor dem Parlament, auf dem Greta Thunberg seit mehr als 200 Wochen streikt, haben sich heute mehr Menschen versammelt als sonst. Der Himmel ist blau, von der Ostsee zieht ein eisiger Wind herüber. Sara-Elvira steht mit anderen Aktivist*innen im Kreis, sie fällt durch ihre samische Tracht, glitzernde Haarspangen, Ohrringe und Fingernägel auf. 70.000 Menschen aus mehreren Ländern haben eine Petition gegen die Mine unterschrieben. Sara-Elvira ist aus Jokkmokk angereist, um sie dem Wirtschaftsminister zu überreichen. Später wird sie erzählen, sie habe bereits bei der Übergabe ein schlechtes Gefühl gehabt. "Thorwaldsson hat versucht, mir zu erklären, dass die Mine unverzichtbar für die grüne Transformation in Schweden ist." Da sei ihr im Grunde klar gewesen, wie der Minister zur Mine steht. +Die "grüne Transformation" ist das Zauberwort in Schweden. Bis 2045 möchte das Land klimaneutral sein. Die Industrieprojekte in Nordschweden – Windkraftanlagen, Rodungen für Biotreibstoff, Bergbau – sollen zu diesem Ziel beitragen. Für den Übergang zu einer grünen Wirtschaft müssten auch kritische Rohstoffe wie Eisenerz nachhaltig gewonnen werden, heißt es auf der Beowulf-Webseite. Denn: "Das Ziel unseres Unternehmens ist es, den Klimanotstand anzugehen." +Eisenerz ist ein wichtiger Rohstoff für die Stahlindustrie, die sieben Prozent der globalen Treibhausgasemissionen verantwortet. Etwa 90 Prozent des europäischen Eisenerzes fördert das schwedische Bergbauunternehmen LKAB, das auch nach Deutschland exportiert. In Nordschweden betreibt LKAB die zwei größten Untertage-Eisenerzminen der Welt. Um den gefragten Rohstoff weiter abbauen zu können, lässt LKAB sogar das Städtchen Kiruna versetzen – mitsamt einer mehr als 100 Jahre alten Kirche. Das Unternehmen arbeitet an Methoden, klimaneutralen Stahl herzustellen. Dabei hilft ein hoher Eisenanteil im Erz – den Jokkmokk Iron Mines nach eigenen Angaben in Gállok gefunden hat. + + +Die Bohrkerne von den Probebohrungen liegen in Holzkisten in einer Garage in Jokkmokk. Morgan Snell hat den Schlüssel. Er ist 28, Vater dreier Kinder und derzeit der einzige Mitarbeiter von Jokkmokk Iron Mines. Wenn es mit der Mine klappt, soll er 250 Kolleg*innen bekommen. Beowulf behauptet, sie für 25 Jahre beschäftigen zu können, wenn man die Mine um einen Abschnitt erweitern würde. Arbeitsplätze sind ein gewichtiges Argument für viele in Jokkmokk. "Viele meiner Freunde pendeln zur Arbeit in andere Bergwerke und Städte. Sie sind nur am Wochenende hier. Das ist hart für sie und ihre Familien", sagt Snell. Für ihn wäre die Mine der Aufschwung, den Jokkmokk braucht, und die einzige Möglichkeit, die Gesundheitsversorgung und die Bildungseinrichtungen vor Ort zu sanieren. Er glaubt daran, mit der Kommune und den Sámi-Communitys eine Lösung zu finden, die für alle aufgeht. +Henrik Blind glaubt nicht an so eine Lösung. "Koexistenz hat in der Vergangenheit immer bedeutet, dass Sámi zurückstehen mussten. So ist das bei Kompromissen: Die Minderheit verliert." Ihm ist wichtig, dass es dabei nicht nur um Gállok geht, sondern um globale Zusammenhänge. "Wir können nicht so weitermachen, als wären wir die letzte Generation." Blind spricht vonWegen, in Harmonie mit dem Land zu leben, und viel von der Klimakrise. Tatsächlich verzeichnet ausgerechnet Jokkmokk den größten Temperaturanstieg in ganz Schweden: Im Jahresdurchschnitt ist es hier (im Vergleich zum Ende des 19. Jahrhunderts) 2,1 Grad heißer geworden. +Die Rentiere und ihre Halter*innen bekommen das zu spüren. Der Schnee fällt nicht mehr zuverlässig, die Herden passen sich nur langsam an. "Als hätten Rentierhalter*innen eine tickende Uhr gegen sich", sagt Blind. Ob eine Mine in Gállok ihre Situation zusätzlich erschwert, wird sich erst in Jahren zeigen. Sara-Elvira hat sich vorerst gegen die Rentiertradition ihrer Familie entschieden. Sie möchte die samische Kultur anders aufrechterhalten, in der Jugendorganisation und mit ihrer Musik. Im April wurde siemit einem eigenen Joik, dem traditionell samischen Gesang, Zweite beim Grand Prix der Sámi.Das Lied heißt übersetzt "Fröhlicher sein". + +* Wir schreiben "Indigen" groß, um zu verdeutlichen, dass der Begriff eine politische Selbstbezeichnung von Menschen ist, die rassistische Diskriminierung erfahren. + diff --git a/fluter/eiskalt.txt b/fluter/eiskalt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..34bf14378fcd764922ea9f4f04afd6cd8bc0d7c5 --- /dev/null +++ b/fluter/eiskalt.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Alles blieb ruhig. Bis zur eigentlichen Grenze waren es noch zwei Kilometer, ein Minenfeld, begrenzt von zwei Metallzäunen. Sie hofften, dass der alte Schnee den Druck ihrer Schritte auf dem Minenfeld dämpfen würde und sie unversehrt auf die andere Seite kämen. Kurz nach 21 Uhr waren sie im Westen. Tettau hieß der bayerische Grenzort, in dem sie erschöpft an eine Haustür klopften. Es folgten Bahnhofsmission, Notaufnahme- und Durchgangslager, Befragungen durch die Polizei und die Amerikaner in Nürnberg. Irgendwann ging es nach Mainz, dahin, wo die Mutter von Jürgen und Roberto geboren war und ihre Verwandtschaft lebte. +Am 4. März 1984 steht Helga Resch in ihrer Küche und macht Klöße und Hirschbraten für ihre Söhne, die zu diesem Zeitpunkt längst im Westen sind. Wenig später steht die Volkspolizei vor der Tür. Helga Resch und ihr Mann werden bis spätabends verhört, gedemütigt, mit Lügen konfrontiert, eingeschüchtert. Sie sollen in den Westen fahren und ihre Söhne zurückholen. Auch die Frauen der Flüchtlinge werden in Sonneberg verhört: Kerstin und Susanne Resch hatten selbst die Polizei informiert, denn das war der Plan: so zu tun, als sei man nicht eingeweiht gewesen, um dann die Ausreise zu beantragen und den Männern hinterherzureisen. Aber die Staatssicherheit glaubt ihnen nicht, die Verhöre dauern die ganze Nacht. Immer wieder die gleichen Fragen. Als die Stasi droht, ihr ihren Sohn David wegzunehmen, kann Kerstin Resch dem Druck nicht mehr standhalten. Sie gesteht, dass die Frauen von der Flucht der Männer wussten. Schließlich werden sie zu jeweils 15 Monaten Gefängnis verurteilt. Da liegen bereits sechs Wochen Untersuchungshaft in Suhl hinter ihnen – unter schlimmsten Bedingungen. Nur Kerstin Resch wird auf Bewährung entlassen und darf zurück nach Hause zu ihrem Sohn. Die Informationen aus dem Osten kommen kaum im Westen an. An den Männern, die eben noch glücklich über ihre gelungene Flucht waren, nagt die Ungewissheit: Wann können ihre Frauen nachkommen? Ist der Plan aufgegangen? Jürgen Resch fragt sich zudem, ob seine Frau überhaupt noch zu ihm will. Ihre Beziehung war in der letzten Zeit nicht die beste, außerdem hat er Gerüchte gehört, dass Kerstin einen neuen Mann hat. Ist es wahr, dass sie sich scheiden lassen will und ihren Ausreiseantrag zurückgezogen hat? Irgendwann hält Jürgen Resch die Unsicherheit nicht mehr aus: Er muss zurück, um sich mit Kerstin auszusprechen, er muss wieder über die tödliche Grenze – dieses Mal vom Westen in den Osten. +Mittlerweile ist es Sommer, kein Schnee schützt ihn vor den Minen. Stattdessen wirft Jürgen Resch vor jedem Schritt einen Stein auf den Boden und springt dann genau dorthin, wo er gelandet ist. Dann läuft er durch den Wald bis zum Grenzsignalzaun; zweieinhalb Meter hoch, Betonsäulen in regelmäßigen Abständen, dazwischen die Alarmdrähte. Keine Holzleiter, kein Bruder, kein Freund. Er greift zwischen die Drähte, krallt sich an einer der Säulen fest, arbeitet sich Stück für Stück nach oben. Dann erreicht er den sogenannten Abweiser – einen in Richtung Osten geneigten Stacheldraht, der nicht unter Spannung steht –, klettert drüber und springt auf die andere Seite, hinein in die DDR. Hinein in sein altes Leben. +Tatsächlich informierte Kerstin Resch die Behörden über die Rückkehr ihres Mannes – zumindest geht das nach der Wende aus den Akten der Stasi hervor. Längst hatte sie ihren Ausreiseantrag zurückgezogen und der Scheidung zugestimmt. Seit ihrer Entlassung aus der Untersuchungshaft hatte sie zudem regelmäßig mit der Stasi sprechen müssen. Aber auch die Grenztruppen der DDR hatten die illegale Einreise von Jürgen Resch anhand der Fußspuren bereits entdeckt, bevor er sein Haus erreichte. "Jürgen ist den Weg, den er damals abgehauen ist, auch wieder zurück. Genau das war sein Fehler, dadurch sind die ihm wohl auf die Spur gekommen", sagte Kerstin Resch später der Journalistin Heike Otto, die für ein Buch über den Fall recherchierte.Gegen Mitternacht erreicht er das Haus in Steinach. Eigentlich will er sofort weiter – mit seiner Frau und seinem Sohn zur Botschaft der BRD in Ostberlin, damit sie alle in Sicherheit sind. Aber Kerstin will erst mal reden. Zwei Nächte und einen Tag versteckt er sich bei ihr, sie sprechen über ihre Ehe, über die Fehler, die er gemacht hat, über den anderen Mann, über ihre Zukunft hier oder im Westen. Dann steht plötzlich die Stasi vor der Tür. Jürgen Resch wird mitgenommen und später zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, von der er eineinhalb Jahre absitzt. Er ist sich sicher, von seiner Frau verraten worden zu sein. "Die Typen waren sich so sicher, dass ich hier irgendwo stecke", sagt er später. +"Für sie war es wohl die sauberste Lösung. Wenn Jürgen nicht zurückgekommen und die Grenze nicht aufgegangen wäre, dann hätte sie den nie wiedergesehen. Einfach tschüss und weg." Das sagt Susanne, Kerstins ehemalige Schwägerin und damals beste Freundin. "Eine Trennung ohne Zoff und Zirkus. Ohne Gewalt, ohne Jähzorn, ohne Szenen." Für ihre Inhaftierung macht Susanne Kerstin Resch nicht verantwortlich. Bewältigt hat sie ihre Erlebnisse bis heute nicht, sie leidet unter Albträumen und Platzangst. Das Frauengefängnis Hoheneck war bekannt für seine unmenschlichen Haftbedingungen. Die Häftlinge bekamen Hormone, die den weiblichen Zyklus und die Psyche beeinflussten. +Jürgen und Kerstin Resch haben sich nach seiner Verhaftung nur noch einmal gesehen. Am Tag seiner Gerichtsverhandlung im September 1984. Keiner in der Familie Resch hat in all den Jahren über die Erlebnisse gesprochen – auch nicht nach dem Fall der Mauer 1989. Sie konnten nicht miteinander reden und auch nicht mit anderen, Therapieversuche wurden abgebrochen. +Erst 2009 sprechen sie zum ersten Mal. Mit der Journalistin Heike Otto, die die Geschichte der Familie Resch aufschreiben, sie vor dem Vergessen bewahren will. Stundenlang redet sie mit vielen Beteiligten und merkt: Die Flucht ist auch 25 Jahre später noch nicht vorbei. diff --git a/fluter/el-bloqueo.txt b/fluter/el-bloqueo.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e205c1b2b17ab24a6ebc11185d0e1c000fdf99f0 --- /dev/null +++ b/fluter/el-bloqueo.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Der "Helms-Burton Act" regelt auch die Frage der Entschädigungen für Enteignungen. Um das Embargo aufzuheben, müssten nicht nur Unternehmen, die zu Zeiten der Revolution in US-Besitz waren, entschädigt werden, sondern auch Kubaner, die erst im Exil US-Amerikaner geworden sind und zu Zeiten der Enteignung noch Kubaner waren. Dabei handelt es sich um Zehntausende Fälle, in erster Linie geht es um Immobilien. Eine massenhafte Rückübereignung von Wohneigentum wäre aber ein Preis, den die kubanische Regierung wohl nicht bezahlen kann. +"Die USA liegen nur 90 Meilen entfernt und wären der natürliche Markt für die große Mehrheit kubanischer Produkte und Dienstleistungen", sagt der Politologe Bert Hoffmann vom Hamburger GIGA-Institut (German Institute of Global and Area Studies). Dass diese naheliegende Option für Handelsbeziehungen wegfalle, sei "dramatisch" für Kubas Wirtschaft. +Auch Geschäfte mit anderen Ländern werden erschwert, weil Kuba den US-Dollar nicht als internationales Zahlungsmittel verwenden kann. Das macht jede Transaktion mit dem Ausland ziemlich kompliziert. +Mittlerweile mehren sich selbst in den USA die Stimmen, die das Embargo abschaffen wollen. Denn recht unbestritten ist, dass es keinen Erfolg gebracht hat, und der David Kuba immer noch dem Goliath USA trotzt. Der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter nannte das Embargo 2010 "kontraproduktiv" – es stärke nur die Diktatur, da es ein willkommener Vorwand für die kubanische Regierung sei, von der eigenen desaströsen Wirtschaftspolitik abzulenken. +Dennoch sieht es danach aus, dass das Embargo noch einige Zeit bestehen bleibt. Für seine Aufhebung bräuchte US-Präsident Barack Obama eine Mehrheit im Kongress – und die würde er wohl nicht bekommen. "Der politische Preis wäre sehr hoch", meint auch Politologe Bert Hoffmann. "Ein einseitiges Aufheben des Embargos wäre das Eingeständnis, dass die USA das Armdrücken mit Kuba verloren haben." +Arrangieren muss sich der US-Präsident auch mit den Exilkubanern in Florida, die sich aus politischen Gründen im Exil befinden – wenngleich der Einfluss der Hardliner unter ihnen schwindet. Das sah man auch daran, dass Obama bereits bei zwei Präsidentschaftswahlen die Mehrheit im eher konservativen "Swing State" Florida gewinnen konnte. +Wie groß der wirtschaftliche Schaden der US-Blockade für Kuba genau ist, sei kaum zu ermitteln, meint Hoffmann. Kubanische Ökonomen beziffern ihn auf inzwischen 1,15 Billionen Dollar. Wie diese astronomische Summe errechnet wurde, ist allerdings schwer nachzuvollziehen. Viele Waren des täglichen Bedarfs sind extrem teuer, und die Kubaner müssen einen Großteil ihrer dürftigen Löhne für Speiseöl, Zahnpasta und Waschmittel ausgeben. Und trotzdem gibt es in Havannas Touristenhotels sogar Coca-Cola, die auf Umwegen auf die Insel kommt. Notgedrungen hat sich Kuba mit der Situation arrangiert, wofür der "Tauschhandel" mit dem sozialistischen Venezuela überlebensnotwendig ist: Täglich erhält Kuba von dort 115.000 Barrel Öl – stets unter dem Marktpreis. Im Gegenzug hat Havanna rund 45.000 Ärzte, Lehrer, Sporttrainer, Militärs und Nachrichtendienst-Fachkräfte ins "Bruderland" entsandt. Auch nach dem Tod von Präsident Chávez scheint Venezuela an dem Austauschgeschäft nichts ändern zu wollen. +Seit einer US-Ausnahmeregelung aus dem Jahr 2000 dürfen neben Medikamenten auch Landwirtschaftsprodukte wie Mais, Weizen und Geflügel aus humanitären Gründen nach Kuba ausgeführt werden. "Touristen, die in ihrem Hotel in Havanna Hühnchen essen, dürften es mit solcher Importware zu tun haben", sagt Jorge Domínguez, Professor mit Schwerpunkt internationale Beziehungen in Harvard. "Drei von vier Hühnern sind aus den Vereinigten Staaten." Die Kubaner müssen die US-Importe allerdings in bar bezahlen, und der Transport wird über Schiffe aus Drittstaaten abgewickelt, weil kubanische Frachter keine US-Häfen anlaufen dürfen. +Mit Venezuela tauscht Kuba Öl gegen Lehrer und Ärzte. Jorge Domínguez betont, dass es in den letzten Jahren "bedeutsame Verbesserungen im Verhältnis zwischen beiden Ländern" gegeben habe. "Sie sind allerdings oft nicht richtig zur Kenntnis genommen worden." Dazu zählt Domínguez die Reiseerleichterungen für US-Bürger seit 2011. Heute kommen neben mehreren Hunderttausend Exilkubanern jährlich bereits rund 100.000 Amerikaner zum kulturellen und wissenschaftlichen "Austausch" nach Kuba. Auch die Militärs beider Länder arbeiten laut Domínguez inzwischen zum Teil eng zusammen – sowohl bei der Küstenwacht als auch auf beiden Seiten der Grenze am US-Marinestützpunkt in Guantánamo auf Kuba. Zudem wurden von den Amerikanern Überweisungen der Exilkubaner an Verwandte auf Kuba erleichtert. Die geschätzten zwei bis drei Milliarden USDollar pro Jahr an Geldsendungen aus dem Ausland sind heute eine der wichtigsten Devisenquellen Kubas. +An den rechtlichen Grundfesten des Embargos wird trotz aller Zugeständnisse aber kaum gerüttelt. Kuba wird auch weiter auf der US-Liste jener "Schurkenstaaten" geführt, die Terroristen helfen, und findet sich dort in illustrer Gesellschaft mit Iran, Syrien und Sudan, obwohl nicht bekannt ist, dass es derzeit Terroristen im Ausland unterstützt, Nachbarn bedroht oder an einer Atombombe baut. Im Gegenteil: Seit November 2012 finden in Havanna Gespräche zwischen der kolumbianischen FARC-Guerilla und der Regierung aus Bogotá statt, die den Friedensprozess in Kolumbien vorangebracht haben. +Auch Kuba wandelt sich, nachdem Raúl Castro, der Bruder und Nachfolger des kranken Ewig-Präsidenten Fidel Castro, wirtschaftliche Reformen eingeleitet hat. Der kubanische Staat mag weiterhin unter der autoritären Kontrolle von Partei und Militär stehen und "keine Demokratie nach westlicher Vorstellung sein", so Bert Hoffmann. "Aber zurzeit werden keine Dissidenten mehr zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wie unter Fidel, und auch die Ideologisierung im Alltag hat deutlich abgenommen." +Hoffmann führt das darauf zurück, dass die Menschen auf Kuba inzwischen mehr Freiräume besitzen und dank der Globalisierung "viel weltoffener und besser informiert sind als früher". Selbst Raúl Castro hat bereits 2009 eingeräumt, dass allein die Kubaner für Engpässe bei der landwirtschaftlichen Produktion verantwortlich seien und nicht alles am US-Handelsembargo liege. +Währenddessen setzt die Obama-Administration ihren Annäherungskurs unterhalb der Embargo-Schwelle fort. Im November hat Barack Obama erneut ein "Update" der US-Kuba-Politik angemahnt, die "kreativ" sein müsse, um zeitgemäß zu bleiben. Und US-Außenminister John Kerry nannte die Amerikaner, die Kuba zum "humanitären Austausch" besuchen, "die besten Botschafter unserer Ideale, Werte und unseres Glaubens". +Dass das Embargo weiter "durchlöchert" werde, glaubt auch Günther Maihold von der Stiftung Wissenschaft und Politik, einem Berliner Think Tank. Und Bert Hoffmann vom GIGA-Institut spricht von einer Politik des "Wandels durch Annäherung". Laut Hoffmann könnte als Nächstes das Reiseverbot für US-amerikanische Touristen fallen. Und sollten in kubanischen Gewässern doch noch größere Ölmengen gefunden werden, könnte der Druck der US-Öllobby auch für diese Branche Ausnahmen möglich machen. +Floridas Ex-Gouverneur Bob Graham verlangte nach einem Besuch in Havanna im Januar eine Zusammenarbeit bei der Ölförderung – schon aus Umweltschutzgründen. Denn die Förderung der tief im Meeresboden vermuteten Ölreserven Kubas ist gefährlich. Um einer Umweltkatastrophe vorzubeugen, forderte Graham, dass auch erfahrene US-Unternehmen an der Exploration beteiligt werden sollten. +Und die Oldtimer? Die könnten irgendwann verschwinden. Zum ersten Mal erlaubt das Castro-Regime den Verkauf neuer Wagen. In einem Autohaus in Havanna steht zum Beispiel ein nagelneuer Peugeot – für das Zehnfache von dem, was er in Deutschland kostet: rund 190.000 Euro. Die Regierung hofft, dass ein spendabler Exilkubaner seinen armen Verwandten in der Heimat den Wunsch erfüllt und so eine Menge Devisen ins Land kommen. diff --git a/fluter/el-salvador-banden-ausnahmezustand.txt b/fluter/el-salvador-banden-ausnahmezustand.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..365a3aedf8ad81cf01eb9dfca8485fbf812ddaec --- /dev/null +++ b/fluter/el-salvador-banden-ausnahmezustand.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Bis vor etwa einem Jahr hatten hier die Mara Salvatrucha 13, oder kurz MS-13, das Sagen. Die Bandenmitglieder hatten ihre eigenen Regeln aufgestellt, Gewalt, Erpressung, Vergewaltigung und Tod in das bescheidene Arbeiterviertel gebracht. Nur wenige Kilometer weiter kontrollierte die verfeindete Bande Barrio 18 ganze Ortschaften. Entstanden sind diese Jugendbanden in den 1980er-Jahren in den USA, in den migrantisch geprägten Armen- und Arbeitervierteln von Los Angeles. Die mehrheitlich zentralamerikanischen Bandenmitglieder wurden irgendwann abgeschoben oder kehrten im Rahmen von Rückführungsprogrammen zurück. So brachten sie die MS-13 oder die Barrio 18 in ihre Herkunftsländer. El Salvador wurdezu einem der gefährlichsten Länderweltweit. +Luis fährt weiter, vorbei an einem Kreisverkehr mit Sitzbänken und einer Bushaltestelle. Menschenleer. "Früher war hier alles voll mit diesen Typen", erzählt Luis. "Sie haben auf der Straße rumgelungert,hatten auffällige Tattoos, vor allem im Gesicht. Sie haben Gras geraucht und hatten genau im Blick, wer was macht." +Bei einem Fußballfeld hält Luis an. Direkt daneben wurden vor kurzem Häuser abgerissen, erzählt er. Ihre Eigentümer hätten sie aus Angst vor den Bandenmitgliedern verlassen, die MS-13 feierten dann dort ihre Partys. Kinder und Jugendliche kicken einen Ball durch die Dämmerung. Haben hier auch Kinder gespielt, solange die MS-13 unterwegs war? "Klar", sagt Luis, "man hat die Typen gegrüßt. Ich bin ihnen ansonsten aber aus dem Weg gegangen. Manchmal haben sie uns vom Fußballfeld weggeschickt, um ungestört ihre Gewalttaten durchzuführen." Dann zeigt er auf eine abgesperrte Fläche am anderen Ende des Platzes. "Dort hinten haben sie die Leichen hingebracht." +Laut lokalen Medien wurden auf diesem illegalen Friedhof mehrere Leichen gefunden, darunter vier junge Soldaten, die mit einem Minibus aus Versehen in das Einflussgebiet der MS-13 gefahren waren. Nur wenige Minuten entfernt liegt das ehemalige lokale Hauptquartier der MS-13. Heute hängt Militärkleidung auf der Wäscheleine des weißen Häuschens. +Am 27. März 2022 rief El Salvadors Präsident Nayib Bukele den Ausnahmezustand aus. Zuvor hatten die Banden MS-13 und Barrio 18 an einem Wochenende 87 Menschen getötet. Bis dahin war das Verhältnis zwischen Politik und Banden, das hört und liest man in El Salvador immer wieder, vermeintlich weniger klar: Regierungen hätten mit den Banden kooperiert, so die Vorwürfe. Für eine Wahlempfehlung hätte die Politik den Banden mehr Freiheiten gegeben. +Der Ausnahmezustand wurde seitdem immer wieder verlängert und gilt bis heute – mit weitreichenden Folgen für Bevölkerung und Demokratie in El Salvador. Grundrechte wie die Versammlungs- oder die Pressefreiheit wurden eingeschränkt, Journalist*innen, die mit Berichten über kriminelle Banden "Angst" oder "Panik" erzeugen, drohen lange Haftstrafen. Der lokale Journalist*innenbund meldet elf Reporter*innen, die 2022 wegen Drohungen im Netz und von Regierungsmitgliedern das Land verlassen mussten. Anfang Mai dieses Jahres twitterte El Salvadors Sicherheitsministerium, dass seit März 2022 über 68.000 Personen festgenommen worden seien. Wie viele es wirklich sind, ist schwer zu sagen. +Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International erheben wegen der Massenverhaftungenschwere Vorwürfe: Tausende der Inhaftierten seien unschuldig und würden trotzdem Monate ohne das Recht auf einen fairen Prozess oder Kontakt zur Außenwelt festgehalten. Es reiche mitunter schon eine anonyme Denunzierung übers Telefon, damit jemand verhaftet werde. Die Regierung hat extra eine Hotline eingerichtet, über die mögliche Bandenmitglieder gemeldet werden können. + + +Lucrecia Landaverde ist Anwältin und setzt sich für die ein, die ohne klare Beweislage in El Salvador im Gefängnis sitzen. "Es gibt keine Achtung der Menschenrechte, kein rechtsstaatliches Verfahren und auch keine Unschuldsvermutung mehr", sagt sie. Die Polizei und das Militär seien angewiesen, täglich eine gewisse Anzahl von Menschen zu verhaften. Das berichten auch internationale Medien. "Einige meiner Klient*innen haben mir erzählt, dass sie im Gefängnis gefoltert werden oder gesehen haben, wie Mithäftlinge zu Tode geprügelt wurden", sagt Landaverde. Dazu kommen die prekären Haftbedingungen. Die Gefängnisse sind maßlos überfüllt. Aktuell wirbt die Regierung unter Bukele mit dem neu gebauten "Mega-Gefängnis". Mehr als 40.000 Bandenmitglieder sollen dort untergebracht werden. "Das Justizsystem steht auf dem Kopf: Jede Person, die gefangen genommen wird, wird eher als schuldig statt als unschuldig angesehen und durchaus auch ohne Beweise verurteilt." +Ein Fall hat die Anwältin besonders berührt: Die Eltern von drei Kindern zwischen zwei und elf Jahren wurden nach einem anonymen Anruf bei den Behörden beschuldigt, Teil der kriminellen Banden zu sein. "Die Mutter der Kinder ist im Gefängnis gestorben, der Vater wartet seit über einem Jahr auf seinen Prozess. Es gibt keine Beweise gegen ihn", sagt Landaverde. +In Ilopango führt Luis zu einem Kiosk mit Sitzmöglichkeit. Er hat ein Treffen mit seinem Freund Edgar* arrangiert. Edgar ist Anfang 20 und arbeitet in einer nahe gelegenen Fabrik. Er lächelt breit bei der Begrüßung, wirkt aufgeschlossen. Sein Name wurde wie der von Luis geändert, beiden erscheint es zu gefährlich, öffentlich kritisch über die Regierung und die Banden zu sprechen. Edgar setzt sich, und als er anfängt zu erzählen, wird sein Gesichtsausdruck ernst. "Bevor die Regierung hart gegen die MS-13 vorgegangen ist, haben hier die Gesetze der Banden gegolten." Man durfte, sagt er, nur bis zu einer bestimmten Uhrzeit aus dem Haus, musste Besuch aus anderen Vierteln anmelden, und Rennen war auch verboten: Es hätte "unnötige Panik" ausgelöst. +Edgar erzählt von Schutzgeld, das Kleinunternehmer*innen aus dem Viertel bezahlen mussten. "Eine Frau, die hier um die Ecke ihren Laden hatte, haben sie umgebracht. Sie wollte der MS-13 kein Geld geben", erinnert er sich. "Aber das war nicht der einzige Grund, warum sie einen umbrachten." Er kommt in einen Redefluss: Seine Tante, ein Schulfreund, verschiedene Bekannte … Alle wurden von den Bandenmitgliedern getötet. Er erinnere sich gut an einen Samstagnachmittag, an dem mehrere bewaffnete Typen der MS-13 seine Nachbarin aus ihrem Haus zerrten und ihr vorwarfen, "zu viel erzählt" zu haben. "Sie hat nach Hilfe gerufen, aber ich konnte ihr nicht helfen", sagt Edgar. "Sie haben ihr erst in Hände und Füße geschossen, dann fiel ein tödlicher Schuss." +Luis und Edgar sind froh, dass die Regierung hart gegen die Bandenkriminalität vorgeht. Sie sind froh, dass Militär in ihrem Viertel stationiert ist, dass die gefährlichen Typen mit den volltätowierten Gesichtern weg sind. "Aber", schränkt Edgar ein, "die Polizei hat auch meinen Cousin mitgenommen." Jemand habe behauptet, er sei Mitglied in einer der Banden. Daraufhin hat ihn die Polizei zu Hause verhaftet. Ein Jahr sei er ohne Prozess im Gefängnis gewesen. "Früher war er wohlgenährt, jetzt ist er mager", erzählt Edgar. "Während er im Gefängnis war, durften wir ihn weder besuchen noch Kontakt zu ihm haben." +Solche Geschichten von Menschen, die wahrscheinlich unschuldig im Gefängnis sitzen, hört man in El Salvador gerade überall. Einigen Mitgliedern der MS-13 und Barrio 18 dagegen sei es gelungen, vor der staatlichen Großoffensive zu fliehen, sagt die Anwältin Landaverde. "Sie könnten irgendwann organisierter zurückkehren und eine Sicherheitskrise auslösen, der wir alle ausgesetzt sind", sagt sie. Luis und Edgar sind optimistischer. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass in unserem Viertel die MS-13 zurückkommen", sagt Edgar – vielleicht auch, weil er sich das von ganzem Herzen wünscht. + +* Name geändert diff --git a/fluter/el-salvador-bitcoin.txt b/fluter/el-salvador-bitcoin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2687f3a3da68e9083c3af41752ee8c633d2f6dea --- /dev/null +++ b/fluter/el-salvador-bitcoin.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +"Ist das nicht fantastisch?", fragt Malcolm und grinst. +El Salvador, ein kleines Land in Zentralamerika, startete im Juni 2021 ein Experiment. Präsident Nayib Bukele wandte sich per Video an die 12.000 Besucher:innen einer Bitcoin-Konferenz in Miami und verkündete: El Salvador werde das erste Land der Welt, dasden Bitcoinals offizielles Zahlungsmittel einführt. Steuern oder Löhne, aber auch private Einkäufe oder Restaurantbesuche – alles solle fortan mit der Kryptowährung bezahlt werden können. Bukele behauptete, damit die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben, ausländische Investitionen zu sichern und den im Ausland lebenden Salvadorianer:innen zu ermöglichen, ihren Verwandten Geld zu überweisen, ohne dafür horrende Gebühren zahlen zu müssen. +Bitcoin ist die erste und bekannteste Kryptowährung, also ein digitales Zahlungsmittel. Bitcoins werden in einer dezentralen Datenbank, der Blockchain, auf mehreren Computern gespeichert und von den Teilnehmenden gemeinsam verwaltet. Eingeführt wurde Bitcoin im Jahr 2009 von einer unbekannten Person oder Gruppe mit dem Pseudonym Satoshi Nakamoto. +Einfach ausgedrückt sind alle, die Bitcoin benutzen, in einem weltweiten Netzwerk verbunden, in dem alle Transaktionen stattfinden. Im Gegensatz zu herkömmlichen Währungen kontrolliert keine zentrale Behörde oder Regierung Bitcoin. Das heißt auch, dass der Wert eines Bitcoins immer stark schwankt. Er hat keinen eigenen materiellen oder immateriellen Wert, sondern orientiert sich immer daran, wie viel die Besitzer:innen dafür bereit sind zu bezahlen. Bitcoins können auch nicht in unbegrenzter Menge erzeugt werden, wie US-Dollar oder Euro. Die Gesamtmenge ist auf 21 Millionen begrenzt und wird erst nach und nach verfügbar, auch um eine Inflation zu verhindern. +Im Mai 2024 lancierte die salvadorianische Regierung eine Website, auf der die aktuellen Bitcoin-Bestände live verfolgt werden können. Demnach besitzt El Salvador derzeit rund 5.900 Bitcoins. Das entspricht mehr als 480 Millionen US-Dollar (Stand Mitte November 2024). +Es wurde vom Staat ein digitales "Wallet" – eine App namens "Chivo" – eingerichtet, in der Bitcoins gespeichert werden können. Jede:r Bürger:in erhielt ein Bitcoin-Startguthaben in Höhe von umgerechnet 30 Dollar. Im ganzen Land wurden Bitcoin-Bankomaten installiert, die funktionieren wie normale Bankomaten: Wallet aufrufen, Bargeld einzahlen, Bitcoin erhalten oder vom Bitcoin-Wallet Dollar abheben. +Bukele, dessen autoritärer Führungsstil sehr umstritten ist und der sich selbst auch schon als den "coolsten Diktator der Welt" bezeichnete, gelang damit ein Coup. Zuvor war sein Land höchstens für seine Armut und Gang-Kriminalität bekannt. Expats, die ihr Heimatland länger verlassen, um im Ausland zu arbeiten, und Tourist:innen machten einen großen Bogen um das Land. Doch plötzlich verwandelte sich El Salvador in ein Paradies für Krypto-Bros aus aller Welt. Bukele änderte sein Profilbild auf X, aus seinen Augen schossen fortan für einige Zeit Laserstrahlen. Ein Zeichen in der Kryptoszene: Bukele war von nun an ein Bitcoiner. + +Chivo Bankomat in San Salvador + +Das war vor drei Jahren. 2024 ist Bukele für eine zweite Amtszeit wiedergewählt worden, seine Popularität ist ungebrochen. Hat sich das Bitcoin-Experiment gelohnt? +Fragt man James Malcolm, ist die Antwort eindeutig: Ja. Im Dezember 2021 haben er und seine Frau beschlossen, Neuseeland zu verlassen und nach El Salvador zu ziehen. Als IT-Berater kann er von überall auf der Welt arbeiten. Im Internet lasen die Malcolms, dass El Salvador gerade Bitcoin als offizielle Währung eingeführt hatte. Sie entschieden sich zunächst, dort Urlaub zu machen. Nach einigen Monaten am Strand blieben sie, zogen Ende 2023 zusammen mit anderen Expats nach Berlín und gründeten das "Bitcoin Centre Berlín". Ein orange gestrichenes Haus im Stadtzentrum mit einem großen Bitcoin-Logo an der Wand. Im Bitcoin Centre kann man kostenlos Bitcoin-Workshops besuchen oder Englischkurse belegen. +Anfangs sei es schwierig gewesen, die lokale Bevölkerung von Bitcoins zu überzeugen, erzählt Malcolm, während er an seinem Fruchtsaft nippt. Eine Weile kamen dann immer mehr Leute ins Bitcoin-Zentrum und fragten, ob sie nicht die Bitcoin-App installieren können. Doch mittlerweile zeigen Studien, dass die lokale Bevölkerung die App kaum nutzt. 77 Prozent halten die Einführung des Bitcoins gar für einen Fehlschlag. Spricht man mit den Besitzer:innen der Geschäfte, die Bitcoin akzeptieren, heißt es meist: Dass man hier mit Bitcoin bezahlen könne, würde die Kund:innen freuen. Also die Tourist:innen. +Wenn in einem lokalen Wirtschaftssystem wie Berlín die lokale Währung zunehmend durch die zusätzliche Bitcoin-Währung ergänzt oder verdrängt wird, heißt das "Bitcoin Circular Economy". Über 30 davon gibt es bereits weltweit. Etwa auf den Philippinen oder in Südafrika. In El Salvador, eigentlich kein klassisches Urlaubsland, sollen so zum Beispiel Tourist:innen angelockt werden, die wiederum mehr Bitcoins in den Kreislauf einspeisen. Berlín als ein kleines Krypto-Disneyland. +Lorena Valle Cuéllar seufzt, wenn man sie nach Bitcoins fragt. Die Ökonomin arbeitete bis zum Sommer 2024 an der Universität UCA in der Hauptstadt San Salvador. "Bitcoin ist nur eine Fassade. Sie soll davon ablenken, dass Bukeles Wirtschaftspolitik krachend gescheitert ist." Von Projekten wie in Berlín hält sie nicht viel: "Sie führen dazu, dass die Immobilienpreise in der Region rasant steigen und sich die Einheimischen das Leben dort nicht mehr leisten können." Alles werde teurer, weil US-Amerikaner:innen oder Europäer:innen bereit seien, viel höhere Preise für Wohnen oder Essen zu bezahlen. +Tatsächlich hat El Salvador die geringsten ausländischen Investitionen und das geringste Wirtschaftswachstum aller zentralamerikanischen Länder. Der Staat ist so verschuldet wie lange nicht mehr. Laut einer Studie von Ende 2022 stehen 14 Prozent der Bevölkerung, rund 900.000 Menschen, am Rande einer Hungersnot. Und der Internationale Währungsfonds (IWF) verweigert dem Land Milliarden Dollar, weil er El Salvadors Bitcoin-Pläne für bedenklich hält. Allerdings finden mittlerweile wieder Gespräche zwischen Bukele und dem IWF statt. "Expats oder Tourist:innen halten El Salvador dank des Bitcoin trotzdem für das neue Technologie-Mekka", sagt Ökonomin Valle Cuéllar. Wieder seufzt sie: "Marketing ist alles." +Bukeles Wirtschaftspolitik bestehe darin, Bitcoin eingeführt zu haben, sagt Valle Cuéllar. Aber viele andere Salvadorianer:innen haben davon nichts, im Gegenteil: Vielen Menschen im Land gehe es schlechter. +Wer wissen will, wovon Lorena Valle Cuéllar spricht, muss nur in das 50 Kilometer von Berlín entfernte Dorf Rancho Grande am Rio Lempa fahren. Die Straßen hier sind nicht geteert, im Dorf gibt es außer Kindern auf alten Fahrrädern kaum Verkehr und bloß einen winzigen Laden, in dem vor allem Chips und Cola verkauft werden. Rund 200 Menschen leben in Rancho Grande, die meisten haben sich als landwirtschaftliche Kooperative zusammengeschlossen, um Bananen und Zuckerrohr anzubauen. +Umberto Gomez, 31 Jahre alt, ist einer von ihnen. Auf einem BMX-Fahrrad fährt er vor, über die staubige Straße und hinein in ein Dickicht aus Tausenden von Bananenstauden, um seine Felder zu zeigen. "Seit Bukele an der Macht ist, geht es uns immer schlechter", sagt Gomez, als er im Schatten einer Staude anhält. Sie finden keine Arbeiter mehr. Der Betrieb könne kaum aufrechterhalten werden, weil fast ein Viertel der Männer verhaftet wurde. Er und die Verbliebenen müssen deshalb oft Doppelschichten schieben. +In den vergangenen zwei Jahren wurden in El Salvador über 75.000 Menschenals Bandenmitglieder verhaftet. Zu Bukeles propagierten Zielen gehört, die Bandenkriminalität zu bekämpfen, die schon zu zahlreichen Toten geführt hat und auch ein großes Problem in El Salvador ist. Laut Berichten von Menschenrechtsorganisationen sind dabei aber auch Tausende Unschuldige inhaftiert worden. Das hat dazu geführt, dass in vielen Familien der Alleinverdiener weggefallen ist. Die Zurückgebliebenen müssten mit 100 Dollar im Monat für die Verhafteten im Gefängnis aufkommen, erklärten die Familienangehörigen der Inhaftieren im Gespräch. Die meisten Familien verdienen laut Lorena Valle Cuéllar monatlich nur rund 150 Dollar. +Hinzu komme eine Preissteigerung bei Nahrungsmitteln: Für Zwiebeln und Tomaten auf dem Markt müsse man doppelt so viel bezahlen wie noch vor ein paar Jahren, sagt Umberto Gomez. "Meine Familie und viele andere, die ich kenne, essen nur noch einmal am Tag." Meist Tortillas und Bohnen. Für mehr reicht das Geld nicht. +Gomez sagt, er und alle, die er kennt, haben die App heruntergeladen, sich die 30 Dollar Startguthaben in Dollar auszahlen lassen und die App wieder gelöscht oder nicht mehr benutzt. "Wir haben andere Probleme", sagt er. Tourist:innen, die mit der Bitcoin-App bezahlen wollen, kommen sowieso nicht nach Rancho Grande. + diff --git a/fluter/elektroschrott-altgeraete-illegal-entsorgt-in-afrika-china.txt b/fluter/elektroschrott-altgeraete-illegal-entsorgt-in-afrika-china.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9966becd49732382f97977d50055c47159a8a5a7 --- /dev/null +++ b/fluter/elektroschrott-altgeraete-illegal-entsorgt-in-afrika-china.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Wie kommt es dazu? +Eigentlich darf Elektroschrott aus Deutschland nicht in Länder gelangen, die schlechtere Wiederverwertungsmethoden haben, als sie in Europa gelten. Das ist im sogenannten Basler Übereinkommen zur grenzüberschreitenden Abfallverbringung und einer entsprechenden EU-Richtlinie geregelt. Für "gebrauchte Altgeräte" gilt das aber nicht. Es kommt streng genommen darauf an, ob die Geräte noch funktionieren. Der Zoll macht aber lediglich Stichproben. Wird ein Container mit Röhrenfernsehern geöffnet, schauen sich die Zollbeamten beispielsweise nur die ersten drei Reihen an. Die werden an den Stromkreis angeschlossen. Ist ein Bild zu sehen, gilt der Monitor als funktionstüchtig. Der Rest des Containers wird nicht kontrolliert. Oft werden die kaputten Elektrogeräte auch in Gebrauchtwagen gepackt, die nach Afrika verschifft werden. Die Kontrollen sind da offenbar sehr lax. +Was passiert mit dem Elektroschrott, wenn er Deutschland verlassen hat? +Der allermeiste Elektroschrott aus Deutschland und England landet in Westafrika. Ich habe in Accra, der Hauptstadt Ghanas, einen Platz mitten in der Stadt besucht, dort wurden unter anderem alte Röhrenmonitore unter rudimentärsten Bedingungen zerlegt. Ich habe gesehen, wie die Arbeiter dort mit Steinen auf die Geräte einschlugen, um so an die darin enthaltenen Metalle zu kommen. Die verkauften sie gleich vor Ort an Händler. Das ist auch eine Form des Recyclings, nur dass der Prozess des Auseinandernehmens sowohl für die Menschen als auch für die Umwelt unglaublich schädlich ist. Auf diesem Platz gibt es auch die "Burner", Kinder und Jugendliche, die Kabel verbrennen, um an die darin enthaltenen Schwermetalle wie Kupfer oder Cadmium zu kommen. Die Dämpfe, die so freigesetzt werden, sind sehr giftig. +Der Flimmer-Test – gebrauchte Monitore dürfen ganz legal exportiert werden. Oft finden sich in den Containern mit gebrauchten aber viele defekte Geräte +Sieht nicht nur ungesund aus, sondern stinkt auch bis zum Himmel – ein "Burner" bei der Arbeit +Arbeitsteilung: Die Männer verbrennen die Kabelummantelung, um an das Metall zu kommen; die Frauen bringen Wasser, um das heiße Metall herunterzukühlen +Hat bestimmt viel Schrott aus Europa im Angebot: ein Händler bei der Pause +Haben Sie die Jungs auf dem Platz in Accra gefragt, ob sie wissen, wie schädlich die Arbeit ist, die sie da tun? +Ja, viele wissen das sehr genau und haben mir berichtet, dass sie morgens oft mit verquollenen Augen und geschwollenem Hals aufwachen. Das Problem ist aber: Wenn sie nicht nah genug an die brennenden Kabel herangehen, dann klaut ihnen jemand das Material. +Sie waren auch in China. Wie läuft es da? +Richtig entsorgen +In Deutschland werden jährlich ca. 1,7 Millionen Elektrogeräte weggeschmissen. Der größte Teil davon wird illegal entsorgt – zum Beispiel im Hausmüll. Nur 40 Prozent der Geräte werden ordnungsgemäß erfasst und recycelt. Kommunale Sammelstellen nehmen Altgeräte kostenlos an. Aber auch Verkaufsstellen mit einer Ladengröße ab 400 Quadratmeter sind verpflichtet, Altgeräte kostenlos anzunehmen und fachgerecht zu entsorgen. +Ich habe Guiyu in Südchina besucht. Die Stadt bestand damals aus Tausenden kleinen Hinterhofwerkstätten und großen Fabrikhallen, und überall auf der Straße türmten sich meterhohe Berge von Elektroschrott. Gebrauchte Platinen zum Beispiel und alte Lüfter, die mal in Computern verbaut waren. Digitale Friedhöfe, wenn man so will. Die Arbeit in China erschien mir viel industrieller als in Ghana. Auch wurde sie dort mehrheitlich von Frauen erledigt, die Werkzeug zur Hand hatten – auch wenn ihre Arbeit nicht weniger giftig war. Ich habe beobachtet, wie sie die alten Platinen mithilfe eines kleinen Heizöfchens erhitzten, um den Kleber zu lösen, und die Teile dann in Chemie einlegten, um so die einzelnen Bestandteile herauszuschmelzen. Es stank bestialisch nach Metall und Plastik. +Was können wir hier dagegen tun? +Man kann es sich einfach machen und sagen, das alles sei ein Problem mangelnder Kontrollen bei der Ausfuhr. Und ja: Es müsste auf jeden Fall strengere Ausfuhrkontrollen geben. Auch das stimmt: Länder wie Ghana, China und Indien müssten strengere Umweltauflagen einführen oder Gesetze erlassen, die die Einfuhr von Elektroschrott verbieten. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Es geht bei alldem ja auch um uns hier im Westen, die wir kaum Elektrogeräte zum Reparieren bringen, sondern sie einfach wegwerfen und neue kaufen, wenn sie nicht mehr funktionieren. Ich finde, die Fehlersuche muss bei uns anfangen. Denn wir sind die Verursacher dieser Masse an Müll. Und wir sollten definitiv mehr über Verzicht nachdenken. +Tausende kleine Hinterhofwerkstätte gibt es im südchinesischen Guiyu – es ist eines der größten Elektronikschrott-Recyclinggebiet in China +In Guiyu schmelzen vor allem Arbeiterinnen die Bestandteile aus den Platinen +Nur 40 Prozent der aussortierten Elektrogeräte werden in Deutschland ordnungsgerecht entsorgt – wie viele davon in chinesischen Häfen ankommen, kann man nur schätzen +Sieben-Tage-Woche mit täglich 12 Stunden Arbeitszeit sind keine Seltenheit – da muss man zwischendurch auch mal ein bisschen auf den Kabelhaufen abhängen + + +Kai Löffelbein hat Fotografie und Politikwissenschaften studiert. Beide Bereiche versucht er in seinen Arbeiten zusammenzubringen. Er hat zahlreiche nationale und internationale Preise gewonnen. Im STEIDL Verlag ist kürzlich sein BuchCtrl-X. A topography of e-wasteerschienen. + diff --git a/fluter/elements-of-crime.txt b/fluter/elements-of-crime.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4c5521ba5b1160f74e35cfeafa6e567f97fe3470 --- /dev/null +++ b/fluter/elements-of-crime.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +(Quelle: "Versteckspiel – Lifestyle, Symbole und Codes von neonazistischen und extrem rechten Gruppen"; Hg.: agentur für soziale persepektiven e.V. (asp)) +Infografik: Ole Häntzschel +Hinweis zum Symbol "Antifa-Fahne": Die Antifa verwendet das Symbol selbst mit unterschiedlichen Farben, so dass auch Kombinationen mit der schwarzen Flagge möglich sind. Von den Neonazis wird das Symbol in weiteren abgewandelten Formen verwendet. diff --git a/fluter/elias-hirschl-content-rezension.txt b/fluter/elias-hirschl-content-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ac8572a7d1182fa81920c48018f17a099a3122e9 --- /dev/null +++ b/fluter/elias-hirschl-content-rezension.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +"Content" von Elias Hirschl erscheint im Hanser Verlag. +Elias Hirschl schreibt wahnsinnig lustig, auf fast jeder Seite muss man laut auflachen. Es macht großen Spaß, wie der Wiener Autor die Content-Welt, die wir kennen, mit der Welt dahinter, die wir uns nicht einmal hätten vorstellen können, verbindet. Irgendwann kann man gar nicht glauben, dass sich das alles noch steigern lässt: Die Identitätsdiebin der Erzählerin lädt zu einer "Destination Wedding" auf eine Karibikinsel ein; die Sätze, die in den Smile-Smile-Videos auftauchen sollen, werden immer kryptischer ("Die skeptische Ziege nickt im Takt"). Und zugleich brechen immer neue Katastrophen wie die zehn biblischen Plagen über die Stadt herein. +Für all das findet Hirschl eine unverbrauchte, klischeefreie Sprache fernab von allem, was man bislang zu dem Thema lesen oder hören konnte. Seine Sätze sind kurz, der Humor trocken, mit viel Gefühl für absurde Details. Weil wir alle kennen und nutzen, was Elias Hirschl thematisiert, gelingt ihm so eine geniale, übersteigerte Vermischung von Realität und Fiktion – die an vielen Stellen erschreckenderweise gar nicht so unrealistisch wirkt: Spotify etwa hat die Musikwelt ja bereits verändert, wieso sollten dann nicht "One-Second-Alben" mit 3.000 einsekündigen Liedern populär werden können, wenn Künstler*innen nach Anzahl und nicht Länge der Songs bezahlt werden? "Content" ist klug und Quatsch zugleich. +Wie sollte man es bei einem Romanüber künstliche Intelligenzauch anders erwarten: In "Content" gibt es Passagen, die sich so lesen, als seien sievon einem Bot geschrieben, es aber laut Hirschl nicht sind. Womöglich meint er damit die über sieben Seiten gegen Ende des Romans, die nur aus Listicle-Titeln bestehen. "Manchmal wirken Bots eben gar nicht Bot-artig genug für einen Roman", sagt der Autor dazu. Andere Stellen soll ein Programm geschrieben haben, anschließend habe Hirschl sie nachbearbeitet. Als Leser*in merkt man davon nichts. Für diesen Roman ist der spielerisch-ironische Umgang mit KI konsequent. Gleichzeitig stellt er damit die große Frage, auf die es bislang keine richtige Antwort gibt: Wie kreativ kann künstliche Intelligenz sein – und was bedeutet das für Kunstschaffende? +Auf jeden Fall. Weil "Content" nicht nur unfassbar unterhaltsam ist und vor aberwitzigen Ideen sprüht, sondern perfekt in unsere Zeit passt (und bei der aktuellen Entwicklungsgeschwindigkeit von KI und Social Media in einem Jahr wahrscheinlich schon wieder überholt ist). Elias Hirschl gelingt eineSatire auf unser Arbeitslebenund unsere Technologieabhängigkeit, bei der das Lachen manchmal im Hals stecken bleibt. +Alle, die gerne in immer grotesker werdende Welten abtauchen. Der Roman ist eine fröhliche Dystopie, und seine Protagonist*innen verlieren trotz herannahender Apokalypse ihre Hoffnung nicht – oder sie sind schon zu resigniert, als dass ihnen ein Weltuntergang noch Angst machen könnte. diff --git a/fluter/eliteinternat-privatschule-erfahrungsbericht.txt b/fluter/eliteinternat-privatschule-erfahrungsbericht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..20ecbc0ad75e950ca551fd33e2c631e947f89622 --- /dev/null +++ b/fluter/eliteinternat-privatschule-erfahrungsbericht.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Mein Golf war mit Abstand das kleinste Auto. Und trotzdem waren die meisten meiner Mitschülerin­nen und Mitschüler auch ziemlich uneitel. Abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen spielten Äu­ßerlichkeiten bei uns kaum eine Rolle. Meistens sind wir nur in Jogginghosen rumgelaufen, auch wenn wir das eigentlich im Unter­richt nicht durften. +Viele aus meiner Familie waren auf demselben Internat. Es hat also eine gewisse Tradition in meiner Fami­lie. Das ist bei vielen Schüler­innen und Schülern so. Man kennt sich häufig schon vorher über die Familien. Es herrscht eine Art Klüngel. Vie­le kamen auch aus Adelsfamilien. Sie wurden die "Adelsgang" genannt. Den meisten von uns war schon bewusst, dass es ein großes Privileg ist, auf dieses Inter­nat zu gehen. Das wurde uns auch von der Schule vermittelt. Aber natürlich gab es auch die, die über Pfingsten mit ihren fetten Autos nach Sylt fuhren und da im Club mit Champagner rumgespritzt haben. Das entspricht voll den Vorurteilen, die viele haben. Aber nicht allen meinen Mitschülerinnen und Mitschülern wurde das Geld in den Hintern gesteckt. Viele Eltern mussten viel dafür arbeiten, um ihren Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen. An­ dere wiederum hatten das Gefühl, dass sie den Lebensstandard ihrer Eltern unbedingt halten und dafür besonders hart arbeiten müssen. Das bedeutet auch Druck. Da­bei hilft es selbstverständlich, dass man sich eine Art Netzwerk im Internat aufbaut. Alle unter­stützen sich, auch die ehemaligen Schülerinnen und Schüler. +Eine lange Tradition haben am Internat die sogenannten Gilden – das sind soziale Ver­pflichtungen, die jeder Schüler und jede Schülerin übernehmen muss. Wir konnten uns zum Bei­spiel im Seniorenheim um ältere Menschen kümmern oder sozial benachteiligten Jugendlichen Nachhilfeunterricht geben. Auch in Ruanda gab es ein Pro­jekt auf einer Kaffeeplantage. Mein Bewusstsein für soziale Un­gerechtigkeiten hat sich dadurch schon in der Schulzeit entwi­ckelt, auch wenn mir die Gegen­sätze zwischen Arm und Reich erst nach der Schule stärker aufgefallen sind, weil wir auf dem Internat unter uns waren. Heute studiere ich Psychologie und merke, dass ich auch an der Uni privilegiert bin, weil meine Eltern mich während des Studiums finanziell unterstützen.Andere müssen nebenbei viel ar­beiten.Es ist mir zudem bewusst geworden, welche Unterschiede es beispielsweise bei den Leistun­gen der gesetzlichen und pri­vaten Krankenkassen gibt. Das macht die Schere zwischen Reich und Arm besonders deutlich. + +Titelbild: Martin Parr/Magnum Photos/Agentur Focus diff --git a/fluter/ellbogen-film-rezension-aydemir-oezarslan.txt b/fluter/ellbogen-film-rezension-aydemir-oezarslan.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7488d3797c23d0b35a0781a6ce155ca702279e32 --- /dev/null +++ b/fluter/ellbogen-film-rezension-aydemir-oezarslan.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Rastlos und leicht gestresst, so wie Hazals Grundstimmung. Die Handkamera agiert in permanenter Unruhe und ist oft sehr nah dran an ihr. Mit 86 Minuten Länge ist der Film kompakt, so wird nicht jede Szene bis ins Letzte auserzählt, mitunter gibt es harte, schnelle Handlungssprünge – Mitdenken ist angesagt. Das gilt auch für die oft subtile Erzählweise von Regisseurin Aslı Özarslan: etwa als Hazals Vor- und Nachname von der deutschen Autokorrektur in einem Word-Dokument verändert werden.Das Gefühl, einfach nicht dazuzugehören, ist hier in einem Augenblick verdichtet. +Die größte Stärke von Fatma Aydemirs Romans ist seine Sprache, die gleichzeitig Hazals Sprache ist, denn er ist in Ichform erzählt. Und was Hazal da von der ersten Seite an in die Welt haut, ist so kraftvoll, so kompromisslos, so derbe, aber auch pointiert und voller kluger kleiner Beobachtungen, dass es einem die Beine wegzieht. Diese Ebene lässt sich nur schwer in einen Film übertragen, und die Verfilmung hat auch konsequent auf eine Zwischenlösung in Form von eingestreuten inneren Monologen verzichtet. So sehen wir Hazals Kopf zwar sehr oft von nahem, aber was in seinem Inneren vorgeht, erfahren wir nie wirklich. Auch wenn Melia Kara mit ihrem Spiel viel von der unterdrückten Wut ihrer Figur vermittelt – insgesamt wirkt die Film-Hazal passiver als die Buch-Hazal, erscheint mitunter eher dickköpfig und realitätsverweigernd als kompromisslos und smart. + + +Auch wenn der Film einen nicht so umhaut wie das Buch: ja. "Ellbogen" ist solider deutscher Arthousekino-Stoff: gut gespielt, kurzweilig inszeniert, dazu konsequent aus junger, weiblicher, migrantischer Perspektive erzählt. Aber als Kinofilm im Jahr 2024 nun auch nicht herausragend, erst recht nicht im Umfeld der Berlinale, wo wie gewohnt sehr viele Filme die Perspektiven von marginalisierten Gruppen und Personen einnehmen. +In keinem deutschenComing-of-Age-Film darf eine Szene fehlen, in der die Hauptperson in einem Nachtclub zu elektronischer Musik tanzt. Und fast immer wirkt das ziemlich gezwungen, selten wird das Gefühl, sich in der Musik zu verlieren, überzeugend transportiert – es ist fast so schwer und undankbar zu inszenieren wie eine gute Sexszene. Özarslan aber gelingt es. So wie sich die Musik langsam steigert, verbindet sich in einer Istanbuler Nacht auch Hazal immer mehr mit den Menschen um sich herum, Menschen, die sie danach nie mehr wiedersieht. Ein seltener Moment der Leichtigkeit. +"Weißt du noch, was du werden wolltest, als du noch klein warst? Du wolltest Ärztin werden. Mama wollte immer, dass du Arzthelferin wirst. Aber du wolltest Ärztin werden", sagt Semra einmal zu Hazal, um sie aufzumuntern. Die antwortet ihrer großen Schwester nur kühl: "Ich wollte keine Ärztin werden. Als ich klein war, wollte ich Popstar werden." +Schon Alfred Hitchcock war dafür bekannt, dass er in jedem seiner Filme irgendwann als Statist durchs Bild läuft – Cameo wird das genannt. Fatma Aydemir tritt nun in ihrer ersten Buchverfilmung ebenfalls kurz auf. Viel Spaß beim Suchen! + +"Ellbogen" hat auf der diesjährigen Berlinale Premiere gefeiert und ist ab dem 5. September in den Kinos zu sehen. +Fotos: ACHTUNG PANDA! diff --git a/fluter/ellenbogen-und-strafen.txt b/fluter/ellenbogen-und-strafen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/eltern-streiten-umgang.txt b/fluter/eltern-streiten-umgang.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2fd38a1b8ac3ef1ba86d6f577ebbaf6f7b288a58 --- /dev/null +++ b/fluter/eltern-streiten-umgang.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Ihre Auseinandersetzungen folgten der immer gleichen Dramaturgie. Am Anfang redete mein Vater, zunehmend lauter werdend. Dann setzte meine Mutter ein, die leiser sprach, dafür aber entschiedener. Ich kann ihren Sound noch immer in meinem Kopf abrufen. Es ist wie bei einem alten Lied, von dessen Text man nur noch Fragmente erinnert: "Es kann. Nicht. Sein. Dass wir ... seit so langer Zeit und ... DEINE MUTTER!" – "Für mich war es nie ... nur DU MUSST IMMER WIEDER und immer wieder ... so GEHT das NICHT!" +Handgreiflich wurden sie nicht, nur einmal flog ein Stuhl durch unsere Küche (in meiner Erinnerung fliegt er in Zeitlupe). Und wenn sie sich mal nicht stritten, schwiegen sie vor lauter Groll, was mir fast bedrohlicher vorkam, ein bisschen wie die Regenerationsphase zweier Boxer kurz vor der nächsten Runde. +Da es meinen Eltern anscheinend nicht gelang, sich zu versöhnen, wollte ich mit gutem Beispiel vorangehen. Ich, so schwor ich mir, würde mich nie streiten. Mit niemandem. Never ever. Wie um meinen streitenden Hausgöttern zu zeigen, wie schön das Leben sein kann, wenn man nicht ständig zankt. +Mein Wirken als Harmoniebeauftragter führte zu bizarren Situationen. Unten in der Küche gingen zwei Vulkane los, oben im Kinderzimmer spielte ich auf der Gitarre fröhliche Indierocksongs. Ich lenkte mich vom elterlichen Getöse ab und hoffte insgeheim, die da unten würden die Musik hören und endlich verstehen, wie schön und einfach alles sein könnte. Einfach Frieden – wie wär's, ihr Lieben? Wie schwer kann's bitte sein, wenn es euch euer 15-Jähriger hier oben vorjammt? Es half leider nichts. +Ich sah meine Mutter weiter weinend in der Küche sitzen, hörte meinen Vater tagelang kein Wort sprechen. Es fühlte sich an, als würde er auch mich mit seinem Schweigen bestrafen. +In meiner Erinnerung ging ihr Streit noch Jahre weiter, bis ich andere Möglichkeiten hatte, mich ihm zu entziehen. Ich zog aus und trug mein versöhnliches Mindset in die Welt hinaus. Ich lernte an der Uni Freunde und Freundinnen kennen, mit denen ich mich nicht stritt, führte ultraharmonische Liebesbeziehungen und verließ umgehend die WG-Küche, wenn jemand laut wurde. Menschen, die mir zu kompliziert wurden, wechselte ich regelrecht aus. Alle zwei bis drei Jahre hatte ich eine neue Beziehung.Freundschaften konnte ich nie genug haben, aber wenn jemandvon seinem besten Freundsprach, fiel mir auf, dass ich nicht wirklich wusste, wer das für mich sein sollte. +Als konfliktscheuer Menschlernt man wunderbar Leute kennen. Die Leute fühlen sich aufgehoben bei einem, weil niemand auf Streit aus ist und sich Unverbindlichkeit gut anfühlt, das Leben ist ohnehin voller Pflicht und Nerv. Ich wurde über die Jahre gut darin, Leichtigkeit zu versprühen. Locker bleiben, lächeln, keine Probleme machen: Ich war ein Friedensdienstleister. + +Dieser Text istim fluter Nr. 91 "Streiten"erschienen +Bis ich vor einigen Jahren Ada traf. Sie ließ mir meine Vermeidungsstrategie nicht durchgehen. Wenn ich sie mied, weil sich ein Streit anbahnte, rief sie mich immer wieder an. Stand plötzlich vor der Tür. Tauchte bei meiner Arbeit auf. "Du bist unmöglich", sagte sie. +Und dann diskutierten wir die Dinge aus. Führten Gespräche, die nur ernst, ernst, ernst waren. Es dauerte, bis ich verstand, dass Ada mein großes Glück war. Durch sie machte ich eine Erfahrung, die ich in meiner Kindheit verpasst hatte: dass man durch einen Streit gewinnen kann. Dass man sich hinterher oft näher ist als vorher. Weil man gesagt hat: Du bist es mir wert, mich mit dir zu streiten. Ada schwieg mich nach dem Streiten nicht an. Eher sagte sie wieder, diesmal lächelnd: "Du bist unmöglich." +Wenn ich heute nach Hause fahre, streitet dort niemand mehr. Meine Eltern wirken abgekämpft, wie zwei erloschene Vulkane. Ein wenig tun sie mir leid: War das nicht unglaublich hart, sich andauernd zu streiten? Zu fragen habe ich mich bislang nicht getraut. Noch bin ich zu harmoniebedürftig. Aber ich glaube, es wird nicht mehr lange dauern. + +Illustration: Sebastian Haslauer diff --git a/fluter/emmie-arbel-die-farbe-der-erinnerung-comic-yelin-interview.txt b/fluter/emmie-arbel-die-farbe-der-erinnerung-comic-yelin-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ed96c7abe4edbfdd7c2fe6044bd31b91ebbe1d96 --- /dev/null +++ b/fluter/emmie-arbel-die-farbe-der-erinnerung-comic-yelin-interview.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +Arbel wurde 1937 in Den Haag geboren und mit ihrer jüdischen Familie 1942 von den Nazis deportiert. Sie überlebte als Kind unter anderem dieKonzentrationslagerRavensbrück und Bergen-Belsen. Ihre Eltern und Großeltern wurden im Holocaust ermordet. Ihre Graphic Novel ist ein Zeitdokument, das von Verlust und Trauma erzählt. +Emmie selbst hat das Wort "traumatisch" nicht verwendet. Doch die schweren Gewalterfahrungen und die Erinnerungen daran wirken bis heute in ihr nach. Sie sind Teil ihres Lebens. Aber Emmie möchte kein Mitleid. Sie will einfach als ganze Person wahrgenommen werden. +Im Jahr 1949 geht Emmie Arbel mit ihrer Pflegefamilie nach Israel. Was ihr im Holocaust widerfahren ist, will dort jahrelang niemand wissen. Auch mit ihrem Mann hat sie später kaum darüber gesprochen. Das hat mich überrascht. +Man weiß aus Deutschland, dem Land der Täter, dass die Menschen nach dem Holocaust sehr lange geschwiegen haben – aus kollektivem Schulderleben und Verdrängung. Das konnte ich auch durch meine anderen Buchprojekte über die NS-Zeit nachvollziehen. Allen voran "Irmina", eine Geschichte über Mitläufertum im Nationalsozialismus. Aber eben nicht nur in Deutschland, sondern auch in Israel herrschte nach dem Holocaust eine große Sprachlosigkeit. Aus anderen Gründen. Es gab diese Schwere von dem, was passiert war. Viele Überlebende haben ein Sprechen über die traumatischen Erlebnisse nicht ertragen. Die Gesellschaft wollte nicht in der Vergangenheit bleiben, sondern nach vorne schauen, in eine bessere Zukunft. So auch Emmie. Die Erinnerungen an die Gewalterfahrungen, denen sie ausgesetzt war, sind aufs Engste mit einem Gefühl der Demütigung, der Entmenschlichung verbunden. "Humiliation" nannte es Emmie. Das Sprechen darüber war fast unmöglich. Erst in der Mitte ihres Lebens entstand eine Dringlichkeit zu erinnern. Sie sagte: "Ich musste sprechen, sonst wäre ich explodiert." +Es gab noch eine andere Gewalterfahrung, über die Arbel lange schwieg: Ihr Pflegevater Leo, der sie nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager in seine Obhut genommen hatte, vergewaltigte sie. +Von diesem Missbrauch konnte sie sehr lange niemandem erzählen, sonst hätte sie womöglich ihre neue Familie verloren. Für die anderen war Leo der große Held. Schließlich hatte er 15 Pflegekinder aufgenommen und selbst den Holocaust überlebt. Diese Verworrenheit von "Gut" und "Böse" zu erzählen, das war sehr schwierig für mich. Emmie hat über den Missbrauch erst geredet, als Leo schon tot war. Zu verstehen, wie die verschiedenen Gewalterfahrungen miteinander verknüpft sind und wie sie die Sprachlosigkeit verstärkt haben, war ein Lernprozess für mich. + +Wie lief Ihre Zusammenarbeit für das Buch ab? +Es ging darum, zusammen herauszufinden, wann wir worüber sprechen können, wie tief und wie oft. Aber ich bin ja nicht ihre Therapeutin. Emmie hatte die Dinge für sich geregelt, bevor sie mit mir gesprochen hat. +Wie sind Sie genau vorgegangen, um Arbels Erinnerungen einzufangen? +Ich habe einfach Fragen gestellt. Als ich an den Szenen zu den Lagern arbeitete, fragte ich sie: War dir kalt? Wie viele Ebenen hatten die Stockbetten? Wo hast du geschlafen? Wie hat es gerochen? Über solche Fragen und die Zeichnungen konnten wir uns den Erinnerungen annähern und manche Szenen sehr präzise besprechen. Daneben waren die Berichte anderer Zeitzeug*innen wichtige Dokumente für mich. Dafür aber Bilder zu finden war keine leichte Aufgabe. Ich habe Skizzen angefertigt und sie relativ früh mit Emmie geteilt. Die Zeichnungen wurden zu einer gemeinsamen Sprache, zu einem Forschungswerkzeug. Das Buch hat sich dann schrittweise erweitert. Ich wollte ihre Erinnerungen zeigen – ohne irgendwas zu beschönigen, rauszulassen oder auszustellen. Daneben war mir aber auch sehr wichtig, Szenen aus Emmies Alltag zu finden. Leichte Momente. +Auch Sie kommen im Buch vor, oft in Gesprächssituationen mit Arbel. Inwiefern war das wichtig? +Es macht die Erzählperspektive transparent. Und es hat mir auch die Möglichkeit gegeben, Emmie zwischendrin ein bisschen Luft zu lassen. Was wir uns übrigens oft nicht klarmachen, ist, dass die meisten Bilder, die wir aus dem Holocaust kennen, aus der Täter*innen-Perspektive stammen. Fotografien aus der Perspektive der KZ-Häftlinge gibt es sehr wenige. Es gibtin der Gedenkstätte Ravensbrück aber ein Archiv von Zeichnungen, die von inhaftierten Frauen während und nach der Haft angefertigt wurden. Sie waren eine wichtige Quelle für mich. +Um sich dieser Perspektive anzunähern, setzen Sie sich im Buch auch mitdem Erinnernselbst auseinander. Was haben Sie darüber gelernt? +Beim Erinnern ist es ja so, dass die Vergangenheit immer in die Gegenwart hineinspielt. Das bildet auch mein Erzählweg ab. Erinnerungen kann man einfach nicht in einer Chronologie oder in einem Sachbericht einfangen. Paradoxerweise wurden Zeitzeug*innen jedoch lange nur ernst genommen, wenn sie lückenlos Zeugnis über das Erlebte ablegen konnten. Die Auseinandersetzung mit den Erinnerungen war da sehr sachlich. Kinder, die den Holocaust erlebt hatten, wurden in der Zuverlässigkeit ihrer Aussagen lange nicht ernst genommen + + +Auch der Buchtitel thematisiert das Erinnern. Wie ist er entstanden? +Es gab ein Gespräch zwischen uns über den Holocaust, da fragte ich: "Was ist die Farbe der Erinnerung?" Und sie antwortete: "Schwarz." Emmie hatte einen Blackout, sobald sie früher vor Schulklassen über das Erlebte sprechen sollte. Die Erfahrung der Entmenschlichung wirkt wirklich wie eine Art schwarzes Loch. +Kann das Medium Comic ein neues Verständnis für traumatische Erinnerungen schaffen? +Zeichnungen erlauben ein ganz anderes Begreifen als reiner Text. In Emmies Erinnerungen sind gerade die Leerstellen prägnant. Sie würden in einem schriftlichen Protokoll verloren gehen. Ich habe sie bewusst in das Buch aufgenommen, denn ich finde, sie zeigen, dass es der Geschichte noch so viel Unsagbares, so viel Ungesagtes hinzuzufügen gibt. +Was hat es für Sie und für Arbel bedeutet, dieses Buch zu machen – auch mit Blick auf die rechtspopulistischen Tendenzen in Europa und der Welt? +Es ist Emmies größtes Anliegen, zu verhindern, dass so etwas Schreckliches wie der Holocaust noch einmal passiert. Sie ist stets besorgt über die aktuellen politischen Entwicklungen. Es ging darum, ihre Geschichte weiterzuerzählen für die Zeit, wenn die letzten Zeitzeug*innen nicht mehr da sind. Unser Buch ist für sie auch ein Akt der Rebellion und Selbstermächtigung. Wie Emmie es geschafft hat, trotz der Gewalterfahrungen nicht zu verhärten, sondern mit unglaublicher Kraft ihr Leben zu gestalten, ist bemerkenswert. Deshalb macht mir ihre Geschichte Hoffnung. +"Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung" ist bei Reprodukt erschienen. Das Buch entstand im Rahmen des Projekts "Visual Storytelling and Graphic Art in Genocide & Human Rights Education" der Universität Victoria, Kanada. + + +Barbara Yelin, Jahrgang 1977, lebt in München und hat für ihre Comics und Illustrationen schon zahlreiche Preise gewonnen. +Portrait: Martin Friedrich diff --git a/fluter/ende-einer-hoffnung.txt b/fluter/ende-einer-hoffnung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/endzeit-buch-christian-jakob-interview.txt b/fluter/endzeit-buch-christian-jakob-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..36f812968edcc8e55e044ddee69f931f10a24b76 --- /dev/null +++ b/fluter/endzeit-buch-christian-jakob-interview.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Wie ließe sich die Angst vermeiden? +Die klassischen Medien können den Menschen die Wahrheit zumuten, sollten sie aber nicht anspitzen. Und gleichzeitig sollten sie immer Lösungsmöglichkeiten kommunizieren. Ein Problem ist, dass heute sehr viele Informationen auch über Social Media transportiert werden. Dabei gibt esdie starke Tendenz, dass die eigene Timeline das, was man denkt, immer stärker bestätigt. Und wenn da erst mal apokalyptische Stimmung herrscht, dann verstärkt sich die immer weiter, und man kommt gar nicht wieder raus. +Dabei ist, wie Sie in Ihrem Buch erklären, gar nicht alles schlecht. Wie kommt es, dass so viele die positiven Entwicklungen nicht wahrnehmen? +Kindersterblichkeit, Zugang zu Bildung, Lebenserwartung, Einstellungsrate, Alphabetisierung, Jahresarbeitszeit, gesetzlich garantierte Urlaubstage – die Kombination aus sozialen Kämpfen und technischem Fortschritt hat viele Indikatoren, an denen man Lebensqualität und menschliche Entwicklung festmachen kann, weltweit immer weiter nach oben getrieben. Die Ballung an Krisen, die es parallel dazu gibt, ist trotzdem bedrohlich und dramatisch. Ich glaube aber, dass es ein Missverhältnis gibt in der Wahrnehmung. Menschen haben die starke Neigung, das Negative überproportional wahrzunehmen, und merken sich das auch anders als positive Nachrichten, die so durchs Raster fallen oder gar nicht erst kommuniziert werden. +"Endzeit" von Christian Jakob ist im Ch. Links Verlag erschienen. +Sie schreiben: "Je absoluter die Katastrophe, desto größer die Heldenhaftigkeit desjenigen, der ihr entgegentritt" – der Weltuntergang werde von manchen geradezu heraufbeschworen. +Manche Psychoanalytiker vertreten die These, dass Menschen angesichts starker Ängste das Bedürfnis entwickeln, diese im Kollektiv auszuleben. Und in diesem Kollektiv braucht es ein Außen, dem man – ja oft nicht zu Unrecht – Schuld geben kann. Je größer die Katastrophe ist, desto größer ist auch die Schuld der anderen – des Kapitalismus, der fossilen Lobby, der anderen Teile der Gesellschaft, die nichts ändern wollen –, und desto stärker ist dann auch die Entlastung, wenn man die Schuld der anderen benennt. Immer wenn man etwas Apokalyptisches sagt oder postet, dann erzeugt man so paradoxerweise ein kollektiv entlastendes Gefühl. Diejenigen, die diese Entlastung schaffen, bekommen zusätzlich soziale Anerkennung. +Gleichzeitig machen manche ordentlich Geld mit der Apokalypse. +Es gibt Menschen, die davon leben, den Leuten einzureden, dass ihnen der Absturz droht: Wirtschafts- und Währungscrash, Enteignung, Abschaffung des Bargelds – das wird alles herbeigeredet und -geschrieben. Die Bereitschaft, das zu glauben, ist so groß, dass es den Crash-Autoren nicht schadet, dass ihre Vorhersagen nicht eintreffen. Aber auch Parteien oder andere politische Akteure profitieren von der Angst. Die AfD etwa redet wie andere rechtspopulistische Parteien auch sehr ausgiebig vom Zusammenbruch. +Wie bewerten SieBewegungen wie Extinction Rebellion, die Letzte Generation oder Fridays for Future, die stark vom Willen getrieben sind, die Zukunft zu verbessern? +Die Klimabewegung ist nicht apokalyptisch, sonst täte sie nicht, was sie tut. Denn das erfordert Hoffnung. Doch wer über die Gefahren spricht, sollte Menschen nicht mit apokalyptischen Szenarien kommen. Die eine Frage ist, inwieweit es lähmt, und die andere, inwieweit das naturwissenschaftlich berechtigt ist. Mir scheint das vor allem dann übersteigert zu sein, wenn es in sozialen Medien teils heißt, das Leben in der Zukunft sei nicht mehr lebenswert. In der Klimawissenschaft sagen nicht alle dasselbe, aber es hat sich ein Mainstream herauskristallisiert, der ein relativ klares Bild zeichnet, was Ende des Jahrhunderts wahrscheinlich passieren wird. Es gab beispielsweise 2017/2018 eine Reihe von Studien, die von vier bis zu fünf Gradbis zum Ende des Jahrhunderts ausgingen und dass dann das Weiterleben der Menschheit fraglich sei. Manche aus der Klimabewegung halten an diesen Szenarien fest, obwohl führende Klimaforscher, etwa vom Potsdam-Institut, von zwei bis drei Grad ausgehen. Das ist immer noch wahnsinnig schlimm, aber es ist etwas anderes als plus vier oder fünf Grad. +Manche Parteien und Akteure werben für technischen Fortschritt und werden dafür kritisiert. Inwiefern ist dieser Technikskeptizismus typisch für unsere Zeit? +Es gibt da unterschiedliche politische Kulturen: Teile der Klimabewegung betonen die Notwendigkeit, den Lebensstil zu ändern, sehr viel stärker und stehen den technischen Lösungen skeptisch gegenüber. Das sei alles nur ein Versuch, am jetzigen Lebensstil festzuhalten, obwohl klar sei, dass wir den ändern müssen. Umgekehrt wird aus dem Lager der Technikgläubigkeit gesagt, es gehe gar nicht um den Klimawandel, sondern um Umerziehung, und das müsse nicht sein, weil wir mit Technik sehr weit kommen werden. Es gibt gute Gründe für die Wachstumskritik, die sagt, solange alles der Rendite unterworfen ist, wird jeder Effizienzfortschritt nicht in die Reduktion von CO2 fließen, sondern nur in mehr Profit. Das ist nicht aus der Luft gegriffen, aber man kann dem entgegenstellen, dass sich in vielen Ländern das Verhältnis von Bruttosozialprodukt zu CO2-Ausstoß stark verbessert hat. Das steht alles nebeneinander. Denn es wird nicht ohne eine Veränderung des Lebensstils gehen, vielleicht auch erzwungenermaßen, und es wird natürlich auch nicht gehen ohne Innovationen, bei denen schon wahnsinnig viel passiert ist. +Wie bekommen wir den positiven Glauben an die Zukunft zurück? +Der vielversprechendste Weg ist, sich die Dynamiken der apokalyptischen Ängste klarzumachen. Dann kriegt man einen anderen Blick auf die Welt, und es hilft, eine andere Sicht auf die Realität und die Zukunft zu ermöglichen. +Das klingt einfacher, als man denkt. +Ich weiß nicht, ob das einfach ist: Die objektive Krisenhaftigkeit unserer Zeit ist sehr stark, und da kann man wenig mit positivem Denken wegdiskutieren. Aber es ist nicht unmöglich, auch auf das Gute zu schauen oder das Schlechte realistisch einzuschätzen. Man darf nicht vergessen: Die Menschheit hat die Erderhitzung, auf die sie voraussichtlich zusteuert, in nur wenigen Jahren spürbar gedrückt. Wo steht, dass es dabei bleiben muss? + +Christian Jakob, Jahrgang 1979, ist Redakteur im Ressort"Reportage und Recherche"der Tageszeitung "taz" und berichtet dort vor allem über das Thema Migration. +Portrait: Koszki Photography +Titelbild:Benjamin Von Wong diff --git a/fluter/enteignung-von-farmern-in-suedafrika.txt b/fluter/enteignung-von-farmern-in-suedafrika.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f2f43dca3e3c0cd50e0cf877a53800f9cdafa606 --- /dev/null +++ b/fluter/enteignung-von-farmern-in-suedafrika.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Wer Julian Murray besucht, der Bloemhof heute in der vierten Generation leitet, könnte sich in die Kolonialzeit zurückversetzt fühlen: ein Weißer in einer feudalen Villa, ringsum endlose Weiden, auf denen dunkelhäutige Arbeiter für ihren Boss schuften. Und tatsächlich kamen viele Europäer wie die Murrays vor mehreren Hundert Jahren als Kolonialherren an die Südspitze Afrikas. Sie vertrieben die Schwarzen, die hier ursprünglich gewohnt hatten, und rissen sich Grund und Boden unter den Nagel. Heute sind die Nachfahren der ersten Murrays immer noch Großgrundbesitzer – ihre Arbeiter und Angestellten dagegen haben meist nicht mehr als ein paar Beete, auf denen sie zum Eigenbedarf Mais oder Kartoffeln anbauen. +Sind die südafrikanischen Farmer also Ausbeuter, die Schwarzen die Ausgebeuteten? Ganz so eindeutig ist die Lage nicht. Denn Julian Murray ist auch ein wichtiger Arbeitgeber in der ansonsten öden Gegend, wo viele Einwohner ohne Job sind. Der Farmer behandelt seine Arbeiter fair und lässt deren Kinder in einer eigenen Schule unterrichten. Kaum einer der Schwarzen würde die Murrays loswerden wollen. +Trotzdem muss sich die Farmerfamilie möglicherweise bald ein neues Zuhause suchen. Denn das südafrikanische Parlament hat gerade den Weg dafür geebnet, um den Landraub der Kolonialzeit rückgängig zu machen: Der Staat soll künftig Landbesitzer ohne Entschädigung enteignen können. Gerade wird geprüft, ob sich die Verfassung dementsprechend ändern lässt. In dem Beschluss steht zwar kein Wort über Hautfarben – doch es ist klar, dass er vor allem weiße Farmer im Visier hat. Schließlich sind nach Angaben der Regierung 72 Prozent der privaten Felder und Wälder in der Hand von weißen Südafrikanern. Und das, obwohl die Weißen weniger als zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen. Die schwarze Mehrheit besitzt dagegen gerade mal acht Prozent des Landes. +Die krasse Ungleichheit ist eine Folge derjahrzehntelangen Apartheidspolitik Südafrikas. So betrachteten sich die Weißen als die überlegenen Herren des Landes. Um die Rassen voneinander zu trennen, teilten sie 1913 per Gesetz das gesamte Staatsgebiet auf. Schwarze bekamen dabei nur 7,3 Prozent der Fläche zugeschrieben. +Als schließlich 1994 Nelson Mandela als erster schwarzer Präsident Südafrikas sein Amt antrat, kündigte er an, eine "demokratische und freie Gesellschaft" zu schaffen, in der alle Menschen die gleichen Chancen haben sollten. Mandela und seine Partei, der Afrikanische Nationalkongress (ANC), wollten das Unrecht aus der Kolonialzeit und der Zeit der Rassentrennung wiedergutmachen. Und dazu gehörte vor allem, dass die vertriebene schwarze Bevölkerungsmehrheit ihr Land zurückerhält. Doch allen Ankündigungen zum Trotz: Viel hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht getan. Zwar erwarb die ANC-Regierung Farmen von verkaufswilligen Besitzern und übergab diese an Schwarze, deren Familien einst vertrieben worden waren. Doch weil die Bürokratie mit der Rückgabeprozedur überfordert ist, wurden bislang gerade mal zehn Prozent des Landes neu verteilt. +Schüleraufstand in Soweto: Der Anfang vom Ende der Apartheid in Südfrika +Viele Schwarze sind frustriert vom schleppenden Wandel, zumal die Wirtschaft vor sich hin dümpelt. Vor allem dunkelhäutige Südafrikaner leiden unter der sehr hohen Arbeitslosigkeit. Die allgemeine Unzufriedenheit hilft der linksradikalen, populistischen Partei Economic Freedom Fighters (EFF). Deren Anführer Julius Malema, der 2012 aus dem ANC ausgeschlossen wurde, hat den Antrag auf Enteignungen ohne Entschädigungen durchs Parlament gebracht. "Die Zeit der Versöhnung ist vorbei, wir wollen Gerechtigkeit", tönte Malema hinterher triumphierend. "Die Weißen sollen froh sein, dass wir nicht zum Völkermord aufrufen." +"Enteignungen ohne Ausgleichszahlungen sind nicht mehr als staatlich organisierter Raub", kritisiert Mmusi Maimane, Anführer der Oppositionspartei Democratic Alliance, "und der ist schädlich für Wirtschaftswachstum und Entwicklung." Der Präsident des Landwirtschaftsverbands Agri SA, Dan Kriek, gab zu bedenken, dass der "Landraub" auch südafrikanische Banken in den Abgrund reißen könnte. Schließlich hätten viele von ihnen Kredite an Bauern vergeben – die diese aber ohne die Einkommen aus ihren Farmen nie zurückzahlen werden. Die Folge wäre eine Abwärtsspirale für die gesamte Wirtschaft. +Manche Kritiker warnen auch vor einem Schreckensszenario wie im nördlichen Nachbarland Simbabwe. Dort hatten während der Kolonialzeit Weiße ebenfalls einen Großteil des Farmlands an sich gerissen. Allerdings galt das Land mit seinen fruchtbaren Böden bald auch als "Kornkammer Afrikas" und exportierte Lebensmittel, die Wirtschaft boomte. Doch zur Jahrtausendwende ließ Diktator Robert Mugabe Tausende weiße Farmer vertreiben und manche sogar lynchen, um seine Beliebtheit bei der schwarzen Bevölkerungsmehrheit zu steigern. Daraufhin brach in einer Kettenreaktion fast die gesamte simbabwische Wirtschaft zusammen. +Viele der Farmen, die die südafrikanische ANC-Regierung weißen Bauern bereits vor einigen Jahren gegen eine Entschädigung abgekauft und an Schwarze vergeben hatte, verfallen heute. Deren neue Besitzer verkauften die Maschinen, zogen in die Stadt und überließen das Land sich selbst. Andere waren mit der Bewirtschaftung überfordert, schließlich hat die Apartheid auch dafür gesorgt, dass vor allem eine urbane schwarze Arbeiterschaft entstand. Viele Menschen wollen lieber einen Job in der Stadt, als mühsam auf den teils kargen Böden des Landes Obst und Gemüse zu ziehen. Nach Schätzungen liegen mehrere Millionen Hektar südafrikanisches Ackerland brach. Trotzdem will der neue südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa die Landreform nun ernsthaft angehen. "Wir sollten das Ganze nicht so verstehen, dass wir Leuten Land wegnehmen", erklärte er. "Wir geben es lediglich an seine ursprünglichen Eigentümer zurück." +Allerdings sollen bei Enteignungen keine intakten Farmen zerstört, die Ernährungssicherheit nicht gefährdet und insgesamt das Wirtschaftswachstum nicht gestört werden. Eine hohe Hürde – und vielleicht die Rettung für viele weiße Farmer. Aber Ramaphosa weiß auch, dass er das Unrecht endlich ausgleichen muss. "Wenn wir das nicht angehen", warnte er, "wird dieses Problem, das unsere Nation schon seit Jahrhunderten belastet, in unseren Händen explodieren." + +Titelbild: WIKUS DE WET/AFP/Getty Images diff --git a/fluter/entsalzungsanlagen-wasserknappheit.txt b/fluter/entsalzungsanlagen-wasserknappheit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3e2e6cd32858327eb87471ce3d0c9d0d3f5a014c --- /dev/null +++ b/fluter/entsalzungsanlagen-wasserknappheit.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +In Spanien waren im Herbst 2023 die Wasserreserven teils auf nur noch 37 Prozent gesunken. Im vorangegangenen Jahr hatte es durchschnittlich 17,1 Prozent weniger geregnet. Besonders die Mittelmeerküste leidet unter Wassermangel, ganz vornan Katalonien. Mitte April dieses Jahres waren die Stauseen dort nur noch zu rund 18 Prozent gefüllt. +Fast 80 Prozent von Spaniens Wasser verbraucht der Agrarsektor für den wasserintensiven Anbau von Obst und Gemüse wie Tomaten oder Melonen. Mehr als drei Viertel des Ertrags werden ins Ausland exportiert. Spaniens Landwirtschaft ist ein Stützpfeiler der Wirtschaft. Die spanische Politik versprach Abhilfe für den Wassermangel. Eine der Hauptstrategien: Meerwasser entsalzen. + +Spanien gilt mittlerweile als Vorreiter in der Entsalzung von Meerwasser. Mit 770 Anlagen und rund fünf Millionen Kubikmetern Wasser pro Tag liegt das Land weltweit an vierter Stelle, Spitzenreiter ist Saudi-Arabien. Und es sollen mehr werden: 500 Millionen Euro versprach Teresa Ribera, Ministerin für ökologischen Wandel, unlängst für den Bau zweier zusätzlicher Entsalzungsanlagen in Katalonien, weitere 813 Millionen sollen in den Ausbau und die Sanierung von Anlagen im Süden des Landes fließen. Die älteste Anlage Europas auf Lanzarote stammt aus dem Jahr 1964. Trotzdem hat erst in den letzten Jahren ein wahrer Boom begonnen. "Die traditionellen Methoden der Wassergewinnung reichen nicht mehr aus", sagt Joaquim Farguell, Hydrologe an der Universität Barcelona. "Wir können uns nicht mehr nur auf Flüsse und das Grundwasser verlassen." +Entsalzungsprozesse sind energieintensiver als die Gewinnung von Trink- und Gießwasser aus Süßwasserquellen. Das wirkt sich auf den Preis aus. Zwischen 60 Cent und einem Euro kostet der Kubikmeter Wasser aus dem Entsalzer laut AEDyR, dem spanischen Verband der Entsalzung und Wiederverwertung von Wasser. Zum Vergleich: Süßwasser aus Flüssen in Trinkwasser zu verwandeln kostet nur etwa fünf Cent. Und das begründet einen großen Widerspruch in der spanischen Wasserversorgung. Denn in vielen Regionen des Landes liefen die Entsalzer in den letzten 20 Jahren im Durchschnitt nur mit 16 Prozent ihrer maximalen Kapazität. Das lag vor allem am Preis. +Dabei hat sich dieser bereits deutlich verringert. Funktionierten die Anlagen zuvor mit einem thermischen Verfahren, hat sich seit den 1980ern zusehends die Umkehrosmose durchgesetzt, die weniger Energie benötigt. Wurden früher 20 Kilowattstunden pro Kubikmeter Süßwasser benötigt, sind es heute nur noch etwa 3,5. Statt Verdunstung und Kondensation zu nutzen, arbeitet die Umkehrosmose vor allem mit Hochdruck, der das Wasser durch Membranen presst, die das Salz zurückhalten. + + +In der Desalinizadora del Llobregat in Barcelona lässt sich das beobachten. Das Wasser wird rund fünf Kilometer von der Anlage entfernt in 30 Meter Tiefe aus dem Mittelmeer gepumpt. Doch bevor es auch nur in die Nähe der Membranen kommt, durchläuft es mehrere Reinigungsprozesse. Zunächst passiert es einen drei Millimeter dicken Filter, der die gröbsten Algen und Mikroorganismen abfängt. In der ersten Halle – hier kann man das Meer noch riechen – rauscht das Wasser in zehn offene Becken. Luft und eine chemische Komponente werden zugeführt, um Mikroorganismen an die Oberfläche zu schwemmen. Das so gefilterte Wasser fließt über Rohre in die nächste Halle. Dort läuft es durch einen Sandfilter. Der Meergeruch ist verschwunden. +Zuletzt kommt es in geschlossene rote Tanks. Im Hintergrund brummt eine Elektroanlage. "Hier bauen wir das erste Mal Druck auf", sagt Pressesprecherin Hernandez. In den Tanks wird das Wasser durch eine Anthrazit- und eine weitere Sandschicht gepumpt. Hernandez winkt weiter. Jetzt geht es zum Herzstück der Anlage. +Ein verglaster Balkon überschaut die riesige Halle, in der sich grüne, graue, lila und blaue Rohre zwischen Containern verflechten. Hernandez drückt sich Ohrenstöpsel in die Ohrmuscheln. Dann öffnet sie die Glastür und erklärt brüllend: "Eine Hochdruckpumpe kreiert einen Wasserdruck, mit dem das vorgefilterte Salzwasser durch die Osmose-Röhren gepresst wird. Innerhalb der Röhren gibt es sieben Membranen. Das Süßwasser, rund 45 Prozent, sammelt sich in einem Rohr in der Mitte, die salzige Sole, rund 55 Prozent, wird abgeführt. Das Süßwasser wird mit Mineralien versetzt. Mit dem Ergebnis wird rund ein Vierteldes Trinkwasserbedarfsvon Barcelona gedeckt, rund 180 Millionen Liter am Tag." + +Carlos Miguel ist Direktor der Anlage, sein Büro liegt nur zwei kurze graue Gänge von der Halle entfernt. Die gestiegene Nachfrage hat auch das Augenmerk auf die kritischen Elemente des Entsalzungsverfahrens gelenkt, wie den hohen Energieverbrauch. Die verfügbaren Dächer und Oberflächen der Anlage seien mittlerweile beinahe vollständig mit Fotovoltaik ausgestattet, sagt Miguel. Damit habe man bereits 2010 begonnen. Heute fangen die Solarpaneele zwischen fünf und sechs Prozent des Energiebedarfs der Anlage auf, wenn sie voll im Einsatz ist. Anders als in anderen Ländern wie Australien oder Saudi-Arabien gebe es in Barcelona allerdings nicht den Platz, große Windparks in der Nähe der Anlage zu bauen, um den Energiebedarf vollständig zu decken. Trotzdem: In Zukunft müsse mehr auf die erneuerbaren Energien bei der Entsalzung gesetzt werden. Das sei allerdings eine politische Entscheidung. +Und dann ist da noch die Salzlauge, die nach dem Filtern übrig bleibt. Die hohe Konzentration von Salzen, Chemikalien und Metallen wie Magnesium, Natrium oder Lithium, die ins Meer zurückgeleitet wird, kann das lokale Ökosystem im Meer beschädigen. Die Desalinizadora del Llobregat ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme: Die Lauge wird mit dem Wasser einer benachbarten Kläranlage vermischt, bevor es zurück ins Meerwasser geleitet wird. So wird die Konzentration der Salze und Metalle immerhin abgemindert. "Es gibt derzeit einen rechtsfreien Raum, was die Ableitung von Salzlauge ins Meer angeht", sagt Joaquim Farguell, der Hydrologe. Bisher habe das in Spanien noch keinen absehbaren Schaden angerichtet, doch weil in Zukunft immer neue Entsalzungsanlagen gebaut würden, sollte diese Lücke dringend geschlossen werden. +Eine Möglichkeit, die Salzlauge weniger konzentriert ins Meer zu leiten, wäre, wertvolle Metalle und Mineralien aus der Lauge herauszufiltern und für die Industrie zu verwenden.Zum Beispiel Lithium, das bei Batterien für Elektroautos unverzichtbar ist. Auch in Europa gibt es bereits Projekte, die daran arbeiten. Das größte Hindernis: Solange diese Stoffe aus Minen in Südamerika und Asien billig importiert werden können, lohnt sich das wirtschaftlich nicht. diff --git a/fluter/entschwoert-beratung-verschwoerungsmythen.txt b/fluter/entschwoert-beratung-verschwoerungsmythen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..06492ef54f938b1d91b1b956b13c6d549f119062 --- /dev/null +++ b/fluter/entschwoert-beratung-verschwoerungsmythen.txt @@ -0,0 +1,46 @@ +Können Sie unter den Anfragen Bevölkerungsgruppen ausmachen, die besonders anfällig für Verschwörungsmythen zu sein scheinen? +Wir beraten häufig Kinder von Eltern, die in Rente sind und viel Zeit haben. Oft leben sie noch in den Heimatstädten oder -dörfern, während die Kinder in Städte gezogen sind. Aber Verschwörungsglaube geht durch alle Altersgruppen und Milieus. Sicher spielt der Bildungsgrad eine Rolle, aber nicht nur. Viele erzählen, dass die jeweiligen Angehörigen im Grunde intelligente und gebildete Menschen sind, die eigentlich rational handeln und denken können. Die Pandemie hat viele verunsichert, manche bis zum Kontrollverlust. +Und für die können Verschwörungserzählungen eine Krücke sein, die hilft, die Kontrolle über das eigene Leben zurückzuerlangen? +Genau. Während der Pandemie hat sich der Alltag für uns alle verändert. Alltägliche Strukturen sind weggebrochen. Viele saßen den ganzen Tag vor dem Handy, sind auf Telegram oder YouTube unterwegs und können so tief in ihre Echokammern abdriften. +Weiterlesen +"Mein Vater denkt, wir sterben an der Booster-Impfung":Hier erzählen fünf Menschen von Freunden, Geschwistern oder Eltern, die Verschwörungsmythen anhängen +Wie läuft eine Beratung bei Ihnen ab? +Mit drei, vier schnellen Tipps gegen Verschwörungsglaube ist es nicht getan. Wir sprechen meist 60 bis 90 Minuten mit den Angehörigen. Viele haben einiges versucht, bevor sie sich an "entschwört" wenden, haben Verwandte mit Faktenchecks konfrontiert und es mit emotionalen Appellen versucht. Manchmal stellen die Menschen in der Beratung fest, dass sich die verschwörungsgläubige Person durchaus um Gemeinsamkeiten bemüht hat – sie das aber nicht wahrgenommen haben. Viele haben sich schon zurückgezogen, weil sie enttäuscht sind von der fehlenden Einsicht ihrer Verwandten. Manchmal hat sogar schon eine Art Trauerprozess eingesetzt, weil ihnen klar ist, dass sie jemanden an diese andere Realität verloren haben. +Und dann? +Geht es vor allem um die Frage, wie man damit zurechtkommen kann. Wir gucken gemeinsam, wie weit die Person, um die es geht, schon abgedriftet ist, inwiefern sie noch erreichbar sein könnte. Wir arbeiten positive Aspekte in der Beziehung heraus. Es gibt für diese Situationen keine allgemeingültigen Lösungen, das ist immer sehr individuell. Aber am Ende sollte eine Strategie stehen, wie man ein Gespräch mit dem oder der Verschwörungsgläubigen führen kann, wie man sich selbst positionieren oder abgrenzen kann. + + +Es scheint vor allem um die Angehörigen selbst zu gehen. +Allerdings. Verschwörungsgläubige haben oft ein starkes Mitteilungsbedürfnis, das zu einer Art Missionierungseifer anwachsen kann. Es ist belastend, sich das permanent anhören zu müssen oder dauernd Links geschickt zu bekommen. Dazu schmerzt es natürlich, wenn man mit einer nahestehenden Person nicht mehr dieselben Überzeugungen teilt oder die Person plötzlich nicht mehr zugänglich ist. Ich will entlasten, indem ich Raum schaffe und auch erkläre, was eigentlich hinter dem Verschwörungsglauben stecken kann. Der ist oft identitätsstiftend. +Wie das? +Man findet eine Gruppe,eine Echokammer, die eigene Ansichten spiegelt. Wenn alle derselben Meinung sind, erlangt man Kontrolle. Die Anforderungen an uns Individuen sind in der globalisierten Welt hoch, wir sind für fast alles selbst verantwortlich. Dem werden viele nicht gerecht. Wenn dann noch eine Krisensituation dazukommt – die Pandemie oder ein persönlicher Rückschlag –, versuchen manche, Verantwortung abzugeben. Etwa indem sie sich glauben machen lassen, es sei sowieso alles "von oben" gesteuert. Verschwörungsmythen sind eine Bewältigungsstrategie. Nur eben leider eine sehr unsolidarische. +Fällt es Angehörigen schwer, sich Außenstehenden anzuvertrauen? +Den meisten. Viele schämen sich für ein verschwörungsgläubiges Familienmitglied. Ich muss dazu auch immer wieder sagen, dass ich keine ausgebildete Psychotherapeutin bin. Meine Beratung ersetzt keine Psychotherapie oder Familienberatung. Ich kann aber zuhören. Und Grenzen aufzeigen. Denn bei aller Wertschätzung: Man muss nicht alles aushalten und nicht alles unwidersprochen stehen lassen. Besonders wenn es um antisemitische oder rassistische Erzählungen geht. +Vertieft man den Streit damit nicht weiter? +Es geht nicht zwingend darum, inhaltlich zu diskutieren, sondern vor allem darum, den eigenen Standpunkt klar zu vertreten. Nach meiner Erfahrung bringt es wenig, immer weiter Fakten auszutauschen und die verschwörungsgläubige Person inhaltlich überzeugen zu wollen. Das gelingt nicht, weil man sich in unterschiedlichen Realitäten bewegt. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass man immer nur den eigenen Anteil in der Beziehung verändern kann. Verschwörungsgläubige lassen sich erst mal nicht verändern. +Was kann man stattdessen versuchen? +Alte Muster durchbrechen, Gespräche anders führen, also zum Beispiel weg von einer inhaltlichen hin zu einer eher emotionalen Ebene. Man kann nach Gemeinsamkeiten suchen: Wir waren doch mal auf derselben Seite, sind früher auf Anti-Nazi-Demos gegangen. Wie kann es sein, dass du jetzt auf einer Querdenker-Demo stehst, gemeinsam mit bekannten Neonazis? Es geht darum, vom Problem wegzukommen, die Sache lösungsorientiert anzugehen. Vielleicht gelingt es, wieder einen gemeinsamen Alltag herzustellen oder gemeinsame Erlebnisse zu teilen, die nichts mit dem belastenden Thema zu tun haben. +1) Dialog auf Augenhöhe: "Du spinnst" möchte niemand gesagt bekommen. +2) Personen, die an Verschwörungsmythen glauben, nicht pathologisieren. +3) Angehörige in ihren Ambivalenzen abholen: "Ja, Pharmaunternehmen sind mächtig und verdienen eine Menge Geld. Aber niemand hat das Coronavirus im Labor gezüchtet, um sich an Impfstoffen bereichern zu können." +4) Im Zweifel lieber auf die Beziehungsebene gehen als Fakten-Pingpong spielen, das die Fronten oft verhärtet. +5) Überlegen, welche Bedürfnisse hinter den Verschwörungsmythen liegen könnten. Zum Beispiel Einsamkeit oder das Bedürfnis, wahrgenommen zu werden – und versuchen, dieses anders zu stillen. +6) Gemeinsamkeiten hervorheben und nach verbindenden Überzeugungen suchen. +7) Gemeinsame Erlebnisse schaffen, um Normalität herzustellen. +8) Aus Mustern ausbrechen, also zum Beispiel persönlich sprechen, statt zu chatten. +9) Kontakt halten, wenn gewollt. Möglicherweise lassen sich mit der Zeit Ambivalenzen ausmachen. +10) Eigene Grenzen achten. Wenn kein Respekt mehr gegeben ist, darf man sich (auch zeitweise) zurückziehen. Demokratiefeindliche und menschenfeindliche Aussagen sollten nicht unwidersprochen bleiben. +Und wenn das nicht gelingt? Gibt es einen Punkt, an dem es in Ordnung ist, aufzugeben? +Selbstverständlich. Es geht immer auch darum, auf sich selbst zu gucken: Wie geht es mir mit der Beziehung? Kann ich mich abgrenzen? Oder steht permanent das Thema im Raum? Dann kann man sich auch zurückziehen. Das muss ja nicht für immer sein. + + +Auch wenn es zum Beispiel um die eigenen Eltern geht? +Ja. Die Belastung ist ja für Familienangehörige auch deshalb so enorm, weil es um enge und wichtige Beziehungen geht. +Was berichten Ihnen Angehörige? +Dass sie von ihnen nahen Menschen beschimpft, beleidigt und verspottet werden. Das ist gerade in Partnerschaften sehr schmerzhaft oder auch bei Getrenntlebenden, wenn es gemeinsame Kinder gibt. Da geht es teilweise bis hinein in Fragen des Sorgerechts, etwa wenn ein Elternteil keine Impfung will oder sich das Kind nicht testen lassen darf und dadurch von vielem ausgeschlossen ist. +Reicht eine Sitzung für all das? +Wir führen manche Beratungen nach dem ersten Treffen weiter. Außerdem haben wir mittlerweile eine Gruppe aufgebaut, in der sich Betroffene austauschen. +Frau Marzock, würden Sie sagen, dass Verschwörungsmythen eine Gefahr für die Demokratie sind? +Zunächst mal ist belegt, dass antisemitische und rassistische Verschwörungserzählungen dazu führen, dass antisemitische und rassistische Angriffe zunehmen. Ich persönlich beobachte auch, dass Demokratiefeindlichkeit und Verschwörungsglaube oft zusammen auftreten. Das ist ein Stück weit logisch: Viele Verschwörungsgläubige suchen einfache Antworten auf die komplexen Zusammenhänge des Weltgeschehens – und machen dabei Verbindungen aus, wo keine sind. Das kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass sie nichts und niemandem mehr vertrauen, auch nicht dem Staat oder der Demokratie als solcher. Das macht empfänglich für Umsturzfantasien. + +Sonja Marzock, 34, ist systemische Beraterin. Sie hat Politikwissenschaft, Genderstudies und Sozialwissenschaften studiert und leitet seit Juli 2021 "entschwört". Die Beratungsstelle ist ein Projekt von pad – präventive, altersübergreifende Dienste im sozialen Bereich – gGmbH und der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus in Berlin (MBR). diff --git a/fluter/erbengemeinschaft.txt b/fluter/erbengemeinschaft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..23fb5ddb4cd05534e466d24a636c8e57bbbc9443 --- /dev/null +++ b/fluter/erbengemeinschaft.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Atatürk, was "Vater aller Türken" bedeutet, legte mit seinen Reformen und dem Willen zum kompromisslosen Wandel weg vom Erbe des Osmanischen Reichs hin zu einem modernen Staat das Fundament der heutigen Türkei. Für Klaus Kreiser stellt sich die Frage daher nicht, wo man Atatürk im Alltag antreffen könne. "Die Frage ist doch eher: Wo ist Atatürk nicht?" Er steckt in jedem Wort, denn er hat die lateinischen statt der arabischen Buchstaben und neue Wörter eingeführt. "Ein Volksschullehrer würde Atatürk im Original gar nicht mehr verstehen, so viel hat sich verändert", sagt Kreiser. Dabei starb Mustafa Kemal Atatürk vor 68 Jahren. +An seinem Todestag, dem 10. November, gedenkt das ganze Land des Staatsgründers mit einer Schweigeminute um 9.05 Uhr. Wer in die Türkei reist, erlebt Atatürk aber nicht nur als Bild, Statue oder Namensgeber für Bauwerke. Im ganzen Land findet man außerdem seine Zitate. Am Eingang der Universität in Ankara steht zum Beispiel geschrieben: "Der wahre Lehrmeister ist die Wissenschaft." Atatürk sagte das 1924, zu einer Zeit also, als in vielen anderen Ländern gerade Religion von Ideologie abgelöst wurde. Die meisten seiner Zitate werden auch im politischen Kontext verwendet. Eines seiner berühmtesten ist "Friede zu Hause, Friede in der Welt", mit dem er deutlich machen wollte, dass die Türkei ein reiches Land mit vielen unterschiedlichen Wirtschaftsbeziehungen sein wird, das Krieg nicht mehr nötig hat. Auch eine Hochzeits- oder Bankettrede ist selten ohne einen Spruch Atatürks komplett, so die allgemeine Annahme. Den wenigsten ist dabei präsent, dass Atatürk im heute griechischen Saloniki geboren wurde. +Auf Westeuropäer kann dieser politische Personenkult befremdlich wirken, erinnert er doch auf den ersten Blick an die Art, wie Diktatoren des 20. Jahrhunderts sich im öffentlichen Bewusstsein zu verankern versuchten. Für Türken mag Atatürk zwar vielleicht quasidiktatorische Machtbefugnisse gehabt haben, doch sie finden: zu Recht. Seine Reformen seien notwendig und gut gewesen. Atatürk selbst empfand die Behauptung, er regiere wie ein Diktator, als eine der schlimmsten Beleidigungen überhaupt. +Er stärkte die Frauenrechte, indem er etwa das Frauenwahlrecht einführte. In Vorträgen vor Lehrern betonte er die Bedeutung der Bildung. Seine Landwirtschaftsreform machte die Bauern unabhängiger. Er trennte Staat und Kirche,doch selbst die von ihm verhöhnten religiösen Führer hatten kaum etwas zu befürchten – was auf einer Fehleinschätzung Atatürks beruhte: Er dachte, der Einfluss des Islam werde mit der Generation seiner Eltern verschwinden. Klaus Kreiser sieht einen der Gründe für Atatürks Verehrung in der Türkei in dessen Kampf für die nationale Einheit."Ein Russe weiß: Russland würde es auch ohne Peter den Großen geben,wenn auch ein bisschen anders. Doch Atatürks Wirken wird als Einsatz um alles oder nichts angesehen." Dazu gehörte auch, dass er die Streitkräfte neu gründete, die sich seither als Wächter der kemalistischen Staatsordnung begreifen. Vor Verunglimpfungen schützt Atatürk ein Gesetz, das konsequent angewandt wird. Als ein türkischer Journalist zum Beispiel vor zwei Jahren schrieb, Atatürk sei ohne religiöses Gebet beerdigt worden, wurde er zu 15 Monaten Haft verurteilt – obwohl er sich berichtigt und öffentlich entschuldigte hatte. +Die Privatperson Atatürk wird in der Türkei bisher sehr wenig thematisiert. Der Biograf Andrew Mango (Ataturk: The Biography of the Founder of Modern Turkey) schreibt, sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein sei sein wichtigstes Merkmal gewesen. Man könnte aber auch sagen, dass Atatürk kaum Kritik an seiner Person duldete. Und dass er von anderen Menschen Dinge forderte, die er selbst nicht einhielt. So wurden unter seiner Führung 1926 zwar die Rechte für Frauen erheblich ausgeweitet, er selbst aber kam in seinem Privatleben damit wenig zurecht. Er heiratete einmal, die Ehe hielt nur zwei Jahre, und auch in dieser Zeit verzichtete er nicht auf andere Frauen. Er war bekannt für seine Vorliebe für Raki und ausgiebige Feiern, auf denen er oft in Frack und Zylinder erschien. Der Briefwechsel zwischen ihm und seiner Frau Latife wird noch heute unter Verschluss gehalten. Außer den Entwicklungen, die die Religion betreffen, wäre Atatürk mit der heutigen Türkei wohl zufrieden, glaubt Kreiser. Die Türkei, schrieb einmal der britische Economist, müsse man sich vorstellen wie einen Baum, mit Wurzeln und Ästen in viele Richtungen. Atatürk sei der Mann, der diesen Baum gepflanzt, aufgezogen und gestutzt hat. diff --git a/fluter/erdbeben-tuerkei-wie-ist-die-lage.txt b/fluter/erdbeben-tuerkei-wie-ist-die-lage.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dd3410475f5621b42cdbf4355b54a93f8841f35e --- /dev/null +++ b/fluter/erdbeben-tuerkei-wie-ist-die-lage.txt @@ -0,0 +1,36 @@ +Cansel Aslan ist 36. In den ersten Tagen nach dem Beben ist sie in ihren Heimatort Samandağ zurückgekehrt. Sie arbeitet bei der selbstorganisierten GruppeHatay Deprem Dayanışmasında(Hatay Erdbeben-Solidarität). Ihren Job als Elektroingenieurin in Ankara hat sie dafür gekündigt. +fluter.de: Cansel, wie ist die Lage gerade? +Es kommen leider viel weniger gespendete Hilfsgüter an als noch in den ersten Tagen. Außerdem fehlt Trinkwasser, das ist ein großes Problem. Nach einem Aufruf über Social Media letzte Woche haben unsere Freunde zwar fleißig Wasser geschickt. Aber wir sehen immer noch, dass die Behörden keinen Schritt unternehmen, um das Problem dauerhaft zu lösen. +Immer wieder hört man, dass es im Erdbebengebiet auch an Zelten fehlen soll. +Schon seit dem ersten Tag gibt es mehr Bedarf an Zelten als Zelte. Allein bei uns in Samandağ haben wir über 400 Anfragen für Zelte registriert, zum Beispiel von Familien mit Kindern, Familien mit Menschen mit Behinderungen oder älteren Menschen. Der Staat war bei den Such- und Rettungsmaßnahmen im Verzug, konnte keine Hilfe organisieren, und ist dazu immer noch nicht in der Lage. Das ist der Hauptgrund, warum die Not immer noch so groß ist. +Viele Menschen sind bereits aus dem Erdbebengebiet evakuiert worden oder haben es selbst verlassen. Wer ist noch da? +Menschen, die nicht wissen, wohin sie gehen könnten; Menschen, die nicht die finanziellen Mittel haben, um zu gehen. Meistens Ältere und Familien mit Menschen mit Behinderungen. Jeden Tag erhalten wir Dutzende von Anfragen von Personen, die besondere Pflege, Medikamente und Hilfsmittel benötigen. +Was wird am meisten benötigt? +Der Bedarf an hygienischen Toiletten und Duschen wird von Tag zu Tag größer. Experten warnen,dass fehlende Hygiene ernsthafte Gesundheitsprobleme zur Folge haben wird, wenn es wärmer wird. Wir brauchen auch saubere Kleidung für die, die alles verloren haben. Und das Problem der Unterbringung für viele Menschen ist nach wie vor nicht gelöst. + + +Seçkin Barbaros, 36, lebt eigentlich in Istanbul. Seit dem 7. Februar, dem Tag nach den Beben, hilft er als Freiwilliger in Antakya. Die alte Stadt ist stark zerstört, hier lebten Angehörige vieler ethnischer und kultureller Minderheiten miteinander. +Seçkin, wie geht es den Menschen in Antakya? +Die Menschen sind in großer Trauer, alle haben Angehörige verloren. Es fühlt sich an, als würde gerade die Beerdigung dieser Stadt stattfinden. Das veranlasst die Menschen, gemeinsam zu trauern und ihren Schmerz miteinander zu teilen. + + + +Wie helfen? +Wer die Menschen in der Erdbebenregion unterstützen möchte, kann das mit Spenden tun. Die meisten Organisationen bitten um Geldspenden, da diese effizienter und flexibler eingesetzt werden können. Sachspenden sind nur dann sinnvoll, wenn Organisationen konkret dazu aufrufen. Expert:innen empfehlen, an Organisationen zu spenden, von denen bekannt ist, dass sie vor Ort aktiv sind. Einen guten Überblick über verschiedene Aktionen und Organisationen im Erdbebengebiet bietetdas Deutsche Zentralinstitut für Soziale Fragen.Dort gibt es auch weitere Hinweise, worauf man beim Spenden achten sollte. +Was bedeutet die Zerstörung für die kulturellen und religiösen Minderheiten dort? +In Antakya leben viele Alawiten(auch "Nusairier": arabischsprachige religiöse Minderheit, gehört zum schiitischen Spektrum des Islam; nicht zu verwechseln mit Aleviten, Anm. d. Aut.), sie bilden teilweise die Mehrheit hier. Auch ich selbst bin Mitglied der alawitischen Kultur. Die Zerstörung ist auch eine ernsthafte kulturelle Zerstörung. Die Menschen versuchen, ihre Viertel wenn möglich nicht zu verlassen. Sie wollen nicht in die Container- oder Zeltstädte, die der Staat ihnen anbietet. +Warum nicht? +Sie haben die Sorge, dass sie von hier vertrieben werden und dass sie ihre kulturelle Struktur dann verlieren, also das Gleichgewicht des Zusammenlebens, das seit Tausenden von Jahren hier bestand. Sie haben Angst, dass der Staat sie ethnisch und konfessionell diskriminiert. Andere betreiben hier Ackerbau und Viehzucht und wollen deswegen so schnell wie möglich wieder in Antakya leben. +Was wird am dringendsten benötigt? +Die Spenden sind stark zurückgegangen. Mit am wichtigsten zurzeit: alle Hygieneartikel, Grundnahrungsmittel und Wasser, auch Kleidung. Eine der größten Befürchtungen ist, dass Antakya wie Şanlıurfa überschwemmt werden könnte. + + +Anita Starosta, 38, arbeitet bei der Hilfsorganisation medico international als Öffentlichkeitsreferentin für Syrien, Irak und die Türkei. Anita war nach dem Erdbeben in der Südosttürkei, hat dort Projektpartner besucht und sich ein Bild von der Lage gemacht. +Anita, was macht ihr als Hilfsorganisation mit den Spenden? +Wir arbeiten nicht mit den großen Hilfsorganisationen zusammen, sondern mit zivilgesellschaftlichen Initiativen, die wir mit Geld unterstützen. Wir gehen davon aus, dass die lokalen Strukturen wissen, wie sie die benötigten Sachen auf den lokalen Märkten besorgen können. Gerade in diesen Nothilfesituationen zahlt sich das aus, weil es auf jeden Tag, jede Stunde ankommt. Das war jetzt eben auch so, dass die Partnerorganisationen Grundbedarfe relativ schnell einkaufen konnten: in der Türkei vor allem Lebensmittel und Hygieneartikel, in Syrien Decken und Zelte, aber auch Medikamente. In der Türkei haben wir das inzwischen ausgeweitet und helfen zum Beispiel bei Mietzahlungen. +Gibt es Fallstricke bei eurer Arbeit? +Es ist zum Beispiel schwierig, darüber zu sprechen, mit wem wir in der Türkei zusammenarbeiten. Oft sind es kurdische Initiativen, die aber mit staatlichen Repressionen rechnen müssen, wenn klar ist, dass sie auch von Deutschland aus unterstützt werden. Ich war in Pazarcık in einem selbstorganisierten Hilfszentrum. Das wurde einen Tag später vom Stadtverordneten gemeinsam mit Polizei und Militär übernommen, die auch die Hilfsgüter beschlagnahmten. Den Freiwilligen wurde gesagt: Ihr könnt unter unserer Führung arbeiten, oder ihr werdet inhaftiert. Es ist klar, dass die umliegenden Dörfer über dieses Zentrum versorgt werden müssen. Selbst in so einer Notlage ist es den staatlichen Strukturen ein Dorn im Auge, wenn sich dort kurdische zivilgesellschaftliche Initiativen bilden. +In der Türkei gibt es längst Debatten über den Wiederaufbau. Präsident Erdoğan hat den Menschen versprochen, innerhalb eines Jahres alles wiederaufzubauen. Wie schätzt ihr das ein? +Wir haben uns in Diyarbakir mit verschiedenen Expert:innen getroffen, die alle gesagt haben, es sei absolut unrealistisch, dass in einem Jahr alle obdachlos gewordenen Familien wieder ein Dach über dem Kopf haben. Sie haben eher von fünf Jahren gesprochen. Uns ist klar, dass unser Engagement mit der Nothilfe nicht aufhört. Wir sind seit Jahren in der Region aktiv und werden wir auch in den nächsten Jahren  dort weiterarbeiten. + +Fotos: Murat Türemiş / laif - Portraits: privat diff --git a/fluter/erdkunde-mal-anders.txt b/fluter/erdkunde-mal-anders.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0c87a9aaff31a064d2a1717ee924333615cfeb9f --- /dev/null +++ b/fluter/erdkunde-mal-anders.txt @@ -0,0 +1,19 @@ + +Der englische Journalist und Außenpolitikexperte Tim Marshall fügt den kursierenden Deutungsansätzen ein paar Fakten hinzu, die nüchtern und erhellend zugleich sind. Indem er die Leser einlädt, mit ihm gemeinsam auf die Landkarten zu schauen, die geografischen Gegebenheiten zu studieren, die Flüsse, die Meere und die Berge, macht er den Blick frei für politische Kontinuitäten und deren unverrückbare Parameter. +Im Fall von Russland kommt Marshall, der unter anderem für die BBC aus mehr als 30 Ländern berichtete, zu der Diagnose, dass es sich zwar um das größte Land der Erde handelt, allerdings ohne einen einzigen Hafen, der das ganze Jahr über eisfrei wäre. Was natürlich für den Handel als auch für die Marine ein riesiger Nachteil ist, der durch die Annexion der Krim und der dortigen großen Hafenstadt Sewastopol am Schwarzen Meer abgemildert wurde. +Zwar ist Russland groß, zwischen seiner Hauptstadt Moskau und dem Atlantik liegt allerdings keine natürliche Barriere, die sie vor Invasoren schützen könnte. Und tatsächlich kamen über die nordeuropäische Tiefebene in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder kriegerische Horden – von den Schweden über die Franzosen bis zu den Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Zwar scheint diese Gefahr heute nicht mehr zu bestehen, aber die Geografie und deren Nachteile sind fest im russischen Denken verankert. +Tim Marshall zeigt, wie die Topografie in der Geschichte der Menschheit mal geschickt genutzt, dann wieder schicksalhaft ignoriert wurde. Etwa wenn Kolonialbeamte in ihren Kartenzimmern mit dem Lineal neue Grenzen zogen, ohne Rücksicht auf Gebirge, Flussverläufe oder ethnische Zugehörigkeiten Länder und Einflusssphären schufen und so die Saat für spätere Konflikte legten. + + +Russland, China, USA, Westeuropa, Afrika, Naher Osten, Indien und Pakistan, Korea und Japan, Lateinamerika, die Arktis: Zehn Kapitel hat das Buch "Die Macht der Geographie", jedem ist eine Karte vorangestellt, und im Ganzen ergibt das eine sehr lehrreiche Vermessung der Welt: +Warum hat es nie einen größeren Krieg zwischen Indien und China gegeben, obwohl die Länder seit ewigen Zeiten verfeindet sind? Weil zwischen ihnen der unüberwindbare Himalaya liegt. +Warum wird sich an der Besetzung Tibets wenig ändern, auch wenn noch so viele Hollywood-Schauspieler an der Seite des Dalai-Lama dagegen protestieren? Weil in Tibet gleich drei der wichtigsten Flüsse Chinas entspringen. +Warum bekommt Chile kein Gas von Bolivien? Weil Bolivien von Chile ein kleines Stück Küste möchte, ohne das es das limitierte Land bleibt, das es ist. +Warum war der Aufstieg der USA in so kurzer Zeit möglich? Weil der nordamerikanische Subkontinent mit fruchtbaren Flächen, gut schiffbaren Flüssen und zwei Ozeanen gesegnet ist. +Warum lebt Südkorea in ständiger Angst vor einem Angriff? Weil die Hauptstadt Seoul quasi in Schussweite der nordkoreanischen Grenze liegt. +Warum hat England um die vor Argentinien gelegenen Falklandinseln so kompromisslos Krieg geführt? Weil die Inseln auf einem Festlandsockel ruhen, in dem große Ölvorkommen vermutet werden. +Warum schlagen die sieben größten brasilianischen Häfen zusammen weniger Waren um als der Hafen von New Orleans? Weil die malerischen Dschungelfelsen in Rio zwar toll aussehen, aber Teil eines sogenannten Steinabbruchs sind, der entlang der brasilianischen Küste den Weitertransport der Waren ins Landesinnere erschwert. +So könnte man nach der Lektüre des Buches stundenlang weiterschlaumeiern. Also: Buch lesen, dann entweder bei Günther Jauch bewerben oder den Erdkundelehrer nerven. + + +Tim Marshall: "Die Macht der Geographie. Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt". Aus dem Englischen von Birgit Brandau. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2016, 22,90 Euro diff --git a/fluter/erfahrungen-jugendwohnheim.txt b/fluter/erfahrungen-jugendwohnheim.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ad3e39b52f9198aee44a734d529c141c5b18f109 --- /dev/null +++ b/fluter/erfahrungen-jugendwohnheim.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Mein Glück war ein Studienfreund meiner Tante. Er arbeitete für die SOS-Kinderdörfer im Saarland. Mit 13 zog ich nach Saarbrücken, in eine Jugendwohngemeinschaft. +Ich war keine fünf Minuten da, als mich Marco ansprach, ein 17-jähriger Muskelberg: "Ey, du machst doch Sport, oder? Dann kannst du auch Football spielen." Er nahm mich mit in den Garten, gab mir seinen Mofahelm und verpasste mir den ersten Hit meines Lebens. Mein Aufnahmeritual hatte ich bestanden. +Wir lebten mit bis zu acht Jugendlichen, alle zwischen 13 und 18, in einem großen Haus in Rotenbühl. Ein schicker Stadtteil, nebenan wohnte Oskar Lafontaine. Mein Zimmer war 20 Quadratmeter groß. An die Wände hängte ich Poster von Che Guevara und Bob Marley. +Im Erdgeschoss befanden sich die Gemeinschaftsräume, im zweiten Stock wohnten die Jungs, im ersten die Mädchen. Auch zwei Schwestern aus Eritrea. Ein paar Wochen vor meinem Einzug hatte sich ihre älteste Schwester in ihrem Zimmer erhängt. An den Wochenenden bekamen die Mädels oft Besuch von Freundinnen, sie kochten stundenlang und machten sich die Haare. Ich hing viel mit ihnen ab. +Stress gab es selten. Drogen waren ein Thema,gekifft haben wir alle. Und einmal mussten wir dazwischengehen, als ein Junge namens Francis einen der Betreuer schlagen wollte. Dabei waren die eigentlich cool. Sie ließen uns genügend Freiraum und im KellerPunkrockspielen, sie nahmen sich viel Zeit und rauchten auch mal eine mit uns, wenn es nicht gut lief. +Für dieUnterbringung in einer Jugendwohneinrichtungist in Deutschland das Jugendamt zuständig. Im Normalfall stimmen die Eltern der Unterbringung zu, weil sie dasPersonensorgerecht und das Aufenthaltsbestimmungsrechthaben. Verhalten sie sich nicht kooperativ, kann das Familiengericht ihnen die Rechte entziehen – und einen Vormund bestimmen. Entscheidend dafür, ob ein/-e Jugendliche/-r in eine Wohngemeinschaft (oder ähnliche Einrichtung) einzieht, ist das sogenannte Kindeswohl. Der Job unseres Protagonisten Marc ist es heute, gemeinsam mit dem Jugendamt Perspektiven für Jugendliche in einer Krise zu erarbeiten. +Ich habe uns als verschworene Gruppe in Erinnerung. Vielleicht hat uns zusammengehalten, dass es bei jedem Einzelnen nicht so gut lief. In der WG habe ich verstanden, dass nicht ich das Problem war, sondern das Umfeld, in dem ich aufgewachsen war. Ich ging mit einem der Mädels und bekam in der Schule die Kurve, schaffte später sogar mein Abi. Ehrlich gesagt waren die Jahre in der Jugend-WG die schönsten meines Lebens. +Meine Eltern habe ich natürlich trotzdem vermisst. Kontakt hatten wir nur ganz selten. Mein Vater ist trockenerAlkoholiker, meine Mutter war offensichtlich nicht an mir interessiert. Ich habe sie das letzte Mal gesehen, als ich ihreUnterschrift für meinen BAföG-Antragbenötigte. Ich habe zu beiden keinen Kontakt mehr und kann das heute akzeptieren. +Mit 17 bin ich aus der WG in eine eigene Wohnung gezogen, mit Anfang 20 dann nach Berlin, um Soziale Arbeit zu studieren. Nach derAnkunft der vielen Einwanderer 2015habe ich selbst eine WG für unbegleitete minderjährige Asylsuchende in Berlin-Nikolassee betreut. Heute, mit 38, arbeite ich in einer sogenannten Krisen- und Clearingeinrichtung. Sie hilft Teenagern, die keine stabile Lebenssituation haben, so wie ich damals. + diff --git a/fluter/erloese-uns.txt b/fluter/erloese-uns.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bf79cfd863c9a23a3fac9442a20d6082aaf5245b --- /dev/null +++ b/fluter/erloese-uns.txt @@ -0,0 +1,30 @@ +Ist man immer nur Opfer von Propaganda, oder trägt man selbst dazu bei? +Zum System gehört, dass mehrere Akteure im Spiel sind. Der Absender und die Adressaten sind beide Akteure. Wenn wir heute über Populisten sprechen, sind wir geneigt, nur auf die Produzenten einfacher Botschaften zu schauen, und vergessen das Publikum, das Volk, lateinisch eben populus. Das muss mitspielen. +Aber es empfängt doch nur. +Oft wird unterteilt in den aktiven Führer und die passiv Geführten oder Verführten. Das ist eine verkürzte Sichtweise, die in der Nachkriegszeit auch der Entlastung diente. Man schob alles auf den Führer und nahm sich selbst als Akteur aus der Schusslinie. So musste man seinen eigenen Anteil an den Verbrechen nicht hinterfragen. Aber bei Propaganda gilt: Es kommt darauf an, dass wir mitmachen. Wenn wir es nicht tun, ist sie machtlos. +Im 19. Jahrhundert wurde der Begriff der "Propaganda der Tat" geprägt. Es geht also nicht nur ums Reden. +Vor allem die radikale Tat gehört zur Propaganda. Aktionen, die aufhorchen lassen, bringen Achtung. Hitler hat gesagt, dass Gewalt und Grausamkeit imponieren. Und das gilt selbst für die Angegriffenen. Zu Beginn des Nationalsozialismus haben sich nach Saalschlachten, bei denen sich politische Gegner mit den Nazis prügelten, besonders viele dieser Verprügelten bei der SA gemeldet. +Heute gehört es in manchen Ländern immer noch zum Mittel der Politik, Andersdenkende zu verprügeln oder ins Gefängnis zu stecken. Ist das nicht ein Zeichen, dass die Propaganda versagt hat? +Beides gehört dazu. Der türkische Präsident Erdoğan etwa zählt die öffentliche Ausübung von Gewalt zu den politischen Mitteln. Er lässt Demonstrationen für die Pressefreiheit brutal auflösen und Journalisten verhaften. Es ist ein Zeichen an seine Anhänger. So wie wir es auch als Zeichen verstehen müssen, wenn Anhänger der Pegida auf ihren Demos Journalisten angreifen. +Imponiert das der lethargischen Masse? +Es gibt diesen Reflex, sich mit dem Aggressor zu identifizieren, um sich selbst stärker zu fühlen. Donald Trump hat im Wahlkampf gesagt, er könne durch New York laufen und jemanden auf offener Straße erschießen, ohne Wähler zu verlieren. Damit bringt er überspitzt eine historische Erfahrung auf den Punkt: Die Rede plus die Tat, das überzeugt. +Welche Menschen sind dafür besonders empfänglich? +Menschen aus problematischen Umfeldern, die in ihrer persönlichen Situation herausgefordert sind. Für sie ist das ein Angebot, mit einer gefühlten Hoffnungslosigkeit umzugehen oder, wie im Falle von Pegida, mit gefühlten Abstiegsängsten. Jemand vermeintlich Starkem zuzujubeln erscheint so als Rückgewinnung eigener Macht und Stärke. +Postfaktisch, Fake News, alternative Fakten: Ist es bei Propaganda zunehmend egal, ob die Botschaften der Wahrheit entsprechen? +Bei der Abwägung, was wahr und was effizient ist, entscheidet sich die Propaganda immer für die Effizienz. Das ist auch der Unterschied zur Werbung. Die darf von der Wahrheit nicht zu weit entfernt sein, sonst kaufen die Konsumenten ein Produkt nur einmal. Dagegen muss sich die politische Werbung um die Wahrheit ihrer Botschaft nicht so sehr kümmern, weil das Einlösen der Versprechen in weiter Zukunft liegen kann oder womöglich gar nicht stattfindet. Und dennoch bleiben die Menschen bei der Stange. +Wenden sich die Menschen nicht von Politikern ab, die ihre Versprechen brechen? +Nicht unbedingt. Man kann das mit der Enttäuschung beim Kauf eines mangelhaften Produkts vergleichen. Wenn Sie ein Auto gekauft haben, das schon nach kurzer Zeit Macken hat, werden Sie Ihren Freunden trotzdem erzählen, dass der Wagen gar nicht so schlecht ist. Niemand will, dass seine Entscheidung durch eine Enttäuschung im Nachhinein delegitimiert wird. Wenn Sie sich eingestehen, falsch entschieden zu haben, geht der erlösende Moment der Aktion verloren. In den sozialen Medien werden ohne Unterlass Botschaften versendet, die Abstiegsängste oder Fremdenhass befeuern. +Ist das Internet das Propagandamedium der Stunde? +Es ist tatsächlich ein Problem, wenn die öffentliche Diskussion über das, was wahr ist oder erwünscht, zunehmend in den Echokammern, den filter bubbles der sozialen Medien stattfindet und man nicht mehr mit Andersdenkenden in Kontakt kommt. Dennoch muss man berücksichtigen, dass zur "klassischen" Propaganda auch Elemente von Macht und Gewalt gehören. Da bin ich trotz der verbalen Gewalt nicht so pessimistisch. +Wie wichtig sind für erfolgreiche Propaganda Feinde? +Es braucht nicht unbedingt Feinde, aber üble Bilder von den Anderen. Sie dienen der Überhöhung des Eigenen und der Denunziation des Gegners. Man zieht harte, radikale und unüberwindliche Grenzen gegenüber den Anderen. Sie werden mit negativen Attributen versehen, verunglimpft und dämonisiert – bis hin zum Imperativ, dass sie vernichtet werden dürfen. +Hilft gegen Propaganda Bildung? +Absolut, denn dadurch kann man die Botschaften besser einordnen. Ich kann mich fragen, warum die ein oder andere Aussage gemacht wird, wie wahr sie ist, ob es nicht doch Alternativen gibt. Das muss ich aber jedes Mal wieder machen, es gibt keinen Schutzschild, der automatisch wirkt. Gegen Propaganda ist niemand gefeit. Ob Reklame oder politische Botschaften: Die um uns werbende Kommunikation ist allgegenwärtig. +Und oft vermittelt sie den Eindruck, man hätte keine Wahl. +Das Absolute ist ein Popanz der Propaganda. Sie lebt davon, eine Alternativlosigkeit vorzugaukeln. Deswegen ist es immer gut, wenn in der politischen Kommunikation Wege offen bleiben, man nicht das Miteinander abbricht und Mittelwege sucht. Papst Franziskus hat gerade zum Thema Trump gesagt, dass es immer irgendwo Türen gibt, die nicht geschlossen sind. Das ist die absolute Nichtpropaganda. +Wie kann man noch Gegenwehr organisieren? +Indem man sich klarmacht, wie das System funktioniert. Sich also vor Augen hält, was wir bis hierhin gesagt haben, und daraus Schlüsse zieht, wie man mit den Angeboten, die täglich auf uns einprasseln, verantwortungsvoll umgeht. Wir können uns all diesen Botschaften nicht entziehen. Erdoğan nicht, Trump nicht, Putin schon gar nicht. Aber ob wir Inhalte der Propaganda annehmen oder nicht, hängt letztlich von uns selbst ab. Wir sind keine Objekte, sondern Subjekte. +Aber doch nur, wenn man genügend Selbstbewusstsein hat und Bildung. Was ist mit den anderen? +Die müssen auch durch politische Maßnahmen geschützt werden. Für die Menschen mit Abstiegsängsten, persönlichen Nöten oder Traumata, vor allem für junge Menschen, muss die Politik Sorge tragen. Es gilt, Geld in Bildungs- und Beschäftigungsangebote zu stecken und vor allem in die Jugend zu investieren. Damit entzieht man einfachen Botschaften und ihren Propagandisten den Nährboden. +Rainer Gries forscht zu "überredenden" Kommunikationen im 20. Jahrhundert. Er hat Bücher über sozialistische Helden und zur Geschichte der politischen Massenbeeinflussung im 20. Jahrhundert geschrieben beziehungsweise herausgegeben. + diff --git a/fluter/ersin-karabulut-tagebuch-der-Unruhe-interview-tuerkei.txt b/fluter/ersin-karabulut-tagebuch-der-Unruhe-interview-tuerkei.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f04d71311d084515ac68d5b695fe1d6cca447c31 --- /dev/null +++ b/fluter/ersin-karabulut-tagebuch-der-Unruhe-interview-tuerkei.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +Wann haben Sie Comics für sich entdeckt? +Als ich noch ein kleiner Junge war, gab es im türkischen Fernsehen nur ein oder zwei Kanäle – und natürlich kein Internet. Niemand wusste, wie viel Staatsideologie in den Programmen steckte, also wie objektiv die Nachrichten wirklich waren. Meine Perspektive änderte sich, als mein Vater ab und zu eine Ausgabe des Satiremagazins "Gırgır" (Spaß,Anm. d. Redaktion) nach Hause brachte. Die Seiten waren eine bunte Mischung, es gab Aktuelles, Witze und Kritisches zu lesen. Das faszinierte mich total, weil ich plötzlich von Dingen erfuhr, über die niemand um mich herum sprach. Das Magazin war wie ein Türöffner in den echten Alltag der Türkei. Ab den 1990er-Jahren erschien dann "LeMan", auch dieses Magazin hatte großen Einfluss auf meine Generation. + + +Als Jugendlicher wollten Sie Figuren wie Superman, Popeye und Lucky Luke zeichnen. Aber mit Mitte 20 gehörten Sie bereits zu den wichtigsten politischen Karikaturisten der Türkei. Ihre Arbeiten erschienen lange in Humor- und Satiremagazinen wie ""Penguen" (Pinguin) und "Uykusuz" (Schlaflos). Erdoğan statt Superman, wie kam es dazu? +Ehrlich gesagt bin ich bis heute nicht besonders politisch interessiert. Fakt ist aber, dass die türkische Lebensrealität mich eingeholt hat. Ich weiß so viel, wie ich heute über Politik weiß, weil Entscheidungen von Politikern mein Leben sehr stark beeinflusst haben. Man kann in der Türkei nicht unpolitisch sein, selbst wenn man will. Das führt dazu, dass wir Türken bei jeder Wahl fast einen Herzinfarkt kriegen. Schauen Sie sich die enorm hohe Wahlbeteiligung in den vergangenen Jahren an, die liegt bei fast 90 Prozent. +Mit Ihren Zeichnungen schafften Sie es auf die Titelseiten von Satiremagazinen. Der Erfolg hatte aber einen Preis. Sie berichten in Ihrem Buch von Panik und schlaflosen Nächten. Sie hatten Angst davor, dass rechte Nationalisten und religiöse Fanatiker Ihnen etwas antun könnten. +Ja, leider. Meine Kollegen und ich wurden oft mit dem Leben bedroht. Einmal zeigte ein regierungsnaher Sender unsere Magazincover sogar im Fernsehen und erklärte uns zu "Feinden der Nation". Die Angst, im Gefängnis zu landen, ist das eine. Das andere sind gewaltbereite Fanatiker, die sich durch Aussagen von Politikern ermutigt fühlen, gegen Andersdenkende vorzugehen. Diese Menschen bilden sich dann ein, Gewalt sei legitim. Vor solchen Leuten muss man sich wirklich fürchten. +Seit dem Aufstieg Erdoğans und seiner islamisch-nationalistischen AKP vor 20 Jahren hat sich die bestehende Kluft zwischen säkularen und religiösen Gruppen im Land weiter verschärft. Die Pressefreiheit wurde enorm beschnitten, viele Journalisten, Künstler und Akademiker landeten im Gefängnis – unddie Oppositionhat dieWahlen erst im Frühjahrwieder verloren. +Das stimmt. Wobei wir nicht vergessen dürfen, dass auch Erdoğans Aufstiegaus der Politik resultierte, die vor ihm gemacht wurde. Das Ausmaß der Erdoğan-Ära hingegen, in der viele Schüler eine unzureichende Bildung bekommen, werden wir erst in den nächsten Jahren spüren. Ich bin ehrlich gesagt nicht besonders zuversichtlich, was die nahe Zukunft angeht. Andererseits versuche ich, hoffnungsvoll zu bleiben, die Türkei ist immerhin ein sehr dynamisches Land. + + +Für "Penguen" zeichneten Sie Mitte der 2000er-Jahre ein Cover, das Erdoğan, der damals noch Ministerpräsident war, in verschiedenen Tiergestalten abbildete. Er verklagte das Magazin, doch das Verfahren verlor er. Inzwischen hat er den Staatsapparat viel fester im Griff. War der Freispruch rückblickend schlicht Glück? +Sagen wir so: Ich habe Zweifel daran, dass das Verfahren heute genauso ausgehen würde. Ich will aber auch betonen, dass ich mit Erdoğan persönlich gar kein Problem habe. Denn mir ist klar: Würde er nicht sagen, was er sagt, würde dies schlicht jemand anderes tun, und die Menschen würden dann diese Person wählen. Ich denke, dass das türkische Volk erst einmal auf sich selbst schauen muss. Zu sagen, ich bin ein Demokrat, ist leicht. Aber wie demokratisch eingestellt bist du wirklich? Zu sagen, ich bin kein Rassist, ist auch leicht. Aber was tust du konkret gegen Rassismus im Alltag? Solche Fragen müssen wir uns stellen, andernfalls ist eine tiefgründige Veränderung nicht möglich. +Ein wichtiger Charakter in Ihrer Graphic Novel ist Ihr Vater. Er warnt Sie davor, als politischer Zeichner zu arbeiten. Auch Sie spüren die Gefahr, gleichzeitig halten Sie aber an Ihrer Arbeit fest. Diese emotionale Achterbahnfahrt löst beim Lesen teilweise ein beklemmendes Gefühl aus. +Ja, das war mir auch wichtig, schließlich hat dieses Dilemma, zwischen zwei Stühlen zu sitzen, mich fast meine gesamte Karriere begleitet. Übrigens hieß der Arbeitstitel für die Graphic Novel deshalb anfangs auch "Between". Auf der einen Seite warnten mich meine Familie und Freunde vor den Konsequenzen, auf der anderen plagte mich mein Gewissen. Meine Kollegen und ich fühlten uns aber immer verpflichtet, unsere Arbeit fortzuführen. Dieses Gefühl, zwischen beiden Welten zu leben, begleitet letztendlich die gesamte Türkei. Bis heute fühlen sich doch Millionen von Türken weder in Europa noch im Orient zugehörig. Wir sind ein Volk, das sehr aufgewühlt ist. + + +"Das Tagebuch der Unruhe" erscheint in Deutschland und in weiteren Ländern. Warum ausgerechnet in der Türkei nicht? +Es besteht die Möglichkeit, dass das Buch wegen des Titels und des Covers schnell Aufsehen erregen und letztendlich ein Verkaufsverbot angeordnet würde. Das wäre natürlich auch ein wirtschaftlicher Schaden für den Verlag. Wir wollen aber vor allem verhindern, dass ich persönlich Probleme kriege. Gerade jetzt, so kurz nach den Wahlen in der Türkei, können wir die Stimmung im Land noch nicht gut genug einschätzen. +Könnten Sie den Titel und das Cover nicht ändern? +Bevor es so weit kommt, ist es mir lieber, das Buch erscheint gar nicht. Natürlich ist das traurig, vor allem für die Türken, die sich fragen, warum es in Deutschland, Polen, Spanien, Frankreich erscheint, aber nicht in der Türkei. Das ist traurig, aber bevor ich rechtliche Probleme kriege oder sich Tausende Internettrolle auf mich stürzen, verzichten wir aktuell lieber auf eine Publikation in der Türkei. +Sie leben inzwischen in Paris, können Sie problemlos in Ihre Heimat reisen? +Ja, ich habe zum Glück bisher keine Probleme, ein- und auszureisen. Und auch wenn ich nicht mehr in der Türkei lebe, halte ich weiterhin Onlinevorlesungen für grafisches Erzählen an der Mimar-Sinan-Universität der Schönen Künste. Ich versuche, damit einen Beitrag zum Stellenwert des Comics in der Türkei zu leisten. + + +Ersin Karabulut, Jahrgang 1981, gehört zu den einflussreichsten Comicautoren der Türkei. Er war 2007 Mitbegründer von "Uykusuz" (Schlaflos). Das mittlerweile aus wirtschaftlichen Gründen eingestellte Magazin erschien 15 Jahre lang und gehörte zu den bekanntesten Humorzeitschriften der Türkei. Karabuluts Graphic Novel "Das Tagebuch der Unruhe" (Carlsen Verlag) ist der erste Teil einer auf drei Bände ausgelegten Reihe. +Portrait: Rita Scaglia diff --git a/fluter/erst-kauen.txt b/fluter/erst-kauen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cc47074d08210ec0b5dfdd2c1d267c5bdde8ba87 --- /dev/null +++ b/fluter/erst-kauen.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Kat ist eine durstige Pflanze. Damit die Sträucher nach dem Schnitt schnell austreiben, brauchen sie viel Wasser. Also fluten die Bauern die Felder, um das ganze Jahr über junge Blätter zu ernten. Der Jemen aber besitzt keine ganzjährig wasserführenden Flüsse, er gehört zu den trockensten Ländern der Erde. Das Wasser kommt aus Aquiferen, natürlichen unterirdischen Grundwasserleitern, in denen es Tausende Jahre lag. Doch die Vorräte sind nahezu erschöpft. Das Wasser muss aus immer größeren Tiefen hochgepumpt werden, aus 500, 600 Metern. Viele alte Brunnen sind ausgetrocknet, immer mehr Dörfer in den Bergen ohne Wasser. Mädchen und Frauen laufen Stunden zu entfernten Wasserstellen. "Es gibt Streit um Wasser, Schießereien, Tote", sagt Sahooly. +Das Beste wäre es, den Anbau von Kat einfach zu verbieten und die Droge aus Ländern einzuführen, in denen es viel regnet. Aber auch Beamte, Politiker, Minister kauen Kat und kassieren lieber hohe Kat- Steuern. Zwar hat Präsident Saleh, der seit Jahrzehnten im Jemen an der Macht ist, im Fernsehen verkündet, er habe dem Kat abgeschworen. Andererseits ist es für seine Regierung nicht schlecht, wenn sich die Menschen nachmittags friedlich berauschen und nicht mehr an ihre Lage denken. Proteste gegen die Regierung lösen sich meist auf, sobald nach dem Mittagsgebet das gemeinsame Kauen beginnt. Dabei ist der Jemen das ärmste arabische Land. Fast die Hälfte der 23 Millionen Einwohner lebt von weniger als zwei Dollar am Tag. Viele Jemeniten versuchen, in die reichen Nachbarländer Saudi-Arabien und Oman auszuwandern. Die, die bleiben, haben oft keinen Job, auch deshalb ist es schwierig, den Anbau von Kat zu beenden, denn er schafft Arbeitsplätze. Außerdem existiert eine Kat-Mafia im Jemen, gibt Wasserminister Abdul-Rahman Al- Eryani zu und nimmt ihre Drohungen Menernst: "Sie wollen Flugzeuge mit Kat abschießen, die in Sanaa zu landen versuchen." Daher will Minister Al-Eryani wenigstens verhindern, dass noch mehr Kat angebaut wird. Das wird schwierig genug. +Wir machen einen Ausflug in die Berge. Sanaa, die Hauptstadt Jemens, liegt mitten in einer auf 2000 Metern Höhe gelegenen Wüste und ist doch umgeben von grünen Gärten. Kat gedeiht am besten in der Höhe. Wir fahren weiter in enge Täler, an den Hängen überall Terrassenfelder mit buschigen Sträuchern, von niedrigen Mauern umgeben: Kat-Plantagen. Früher haben die Bauern hier Weizen, Gemüse, Obst angebaut, und für den Kaffee seiner Arabica-Sträucher war der Jemen einst berühmt, erzählt Sahooly. Aber Kat ist viel lukrativer. "Ein Bauer verdient mit einem Kat-Feld zehn bis fünfzehn Mal so viel wie mit Getreide." Die Blätter werden morgens geerntet, mittags verkauft und nachmittags frisch gekaut. Die Nachfrage ist groß, die Blätter sind teuer, es gibt Jemeniten, die bis zur Hälfte ihres täglichen Lohns auf den Kat-Märkten ausgeben oder sich für das tägliche Plastiktütchen mit frisch gepflücktem Grün sogar verschulden. +Viele Bauern pflanzen Getreide nur noch für den eigenen Bedarf an. Der Jemen muss mittlerweile drei Viertel seiner Nahrungsmittel im Ausland einkaufen. Wenn auf dem Weltmarkt die Preise steigen, werden Weizen, Reis, Bohnen auch auf den Märkten im Jemen teuer, und viele Familien können sich kein Essen mehr kaufen. Nach Berechnungen des UN-Welternährungsprogramms ist mehr als jedes zweite jemenitische Kind chronisch unterernährt oder für sein Alter zu klein. Die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit hat Vorschläge gemacht, wie man das Austrocknen des Landes aufhalten könnte: Die Subventionen für Dünger und Diesel sollen gestrichen werden, sodass sich der Kat-Anbau nicht mehr lohnt, Regenwasser soll mittels moderner Staudämme und Speicher gesammelt werden, Tröpfchenbewässerung das Fluten der Felder ersetzen. Einige Politiker halten die Ideen für interessant, aber alles geht nur ganz langsam voran, sagt Sahooly. "Auch in den Ministerien wird nur noch drei Stunden am Vormittag gearbeitet, von neun bis zwölf Uhr. Danach wird gebetet und dann Kat gekaut." diff --git a/fluter/erst-rechnen-dann-planen.txt b/fluter/erst-rechnen-dann-planen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b0fd7a75239ed1a1382c2931bd339615d222acd2 --- /dev/null +++ b/fluter/erst-rechnen-dann-planen.txt @@ -0,0 +1,32 @@ + +fluter.de: Die Macht von Zahlen liegt ja eigentlich darin, dass sie für kühles, rationales Denken und Argumentieren stehen. Wie oft werden Zahlen für den politischen Betrieb gepimpt? +Harald Simons: Das kommt durchaus vor. Aber jetzt bitte Vorsicht: Wer das macht, schadet sich damit selbst. Ich sage immer: Der 64-jährige Professor, der in der Provence noch sein Haus abbezahlen muss, der kann das vielleicht bringen, für ein gutes Honorar genau die Zahlen zu produzieren, die der Auftraggeber sehen möchte. Der hat ja nicht mehr viel zu verlieren. +Wer vertrauenswürdige Zahlen haben will, sollte also lieber junge Wissenschaftler und Berater fragen? +(Lacht) Letztlich schon. Andererseits braucht es auch viel Erfahrung, wenn man diesen Job gut machen will. Das ist nichts, was man nach zwei Jahren beherrscht. +Und Sie als politische Beratungsfirma? Wie groß ist die Versuchung, es den Auftraggebern recht machen zu wollen? +Solche Anfragen kommen vor. Ein Ministerium oder ein Verband ist unzufrieden mit den Ergebnissen einer Studie und will eine "Lobbyzahl" haben. So nennen wir das, wenn eine Zahl in die politisch gewünschte Richtung frisiert werden soll. Aber die Versuchung ist für uns sehr gering. Andere – also konkurrierende Beratungsfirmen und Wissenschaftler –  würden sofort über einen herfallen, und man blamiert sich. Da schreibt man besser gleich eine saubere, ergebnisoffene Studie, bei der man erst im Laufe der Arbeit eine Hypothese bildet. Wenn man sie hat, weiß man auch schon in etwa, wer politisch dagegen sein wird, schließlich gibt es bei jeder Entscheidung immer Befürworter und Gegner, auch wenn die "Frontlinien" bei Sachfragen munter durcheinandergehen. Den Gegner sollte man beim weiteren Schreiben immer vor Augen haben, denn den muss man überzeugen. Kurz und gut: Es gibt eine gegenseitige Kontrolle, die einen zu ordentlichem Zitieren und einer guten Beschreibung der Methodik zwingt. Außerdem müsste man nur zwei-, dreimal so ein dünnes Brett bohren, dann hätte man seinen Ruf in der Branche auch schon versaut. +Und was ist mit der Gefahr, dass Ihre redlich erarbeiteten Ergebnisse im Nachhinein missbraucht und fehlinterpretiert werden? +Auch das kommt vor, aber in so einem Fall schreiten wir ein, so gut es geht. Die typische Situation ist: Du schreibst eine Studie, die nicht zu dem vom Auftraggeber gewünschten Ergebnis kommt. Und dann passiert es, dass die Studie in der Schublade verschwindet und nicht veröffentlicht wird. Dabei muss die Öffentlichkeit ein Interesse haben, dass das alles publik wird. Diese Zahlen wären die Grundlage, um vernünftige politische Entscheidungen fällen zu können. +Und wenn die Ergebnisse nicht in der Schublade verschwinden: Was sind gängige Strategien der Verfälschung? +In den seltensten Fällen wird heute noch so brutal gelogen, wie es zum Beispiel in der DDR vorkam, als die staatliche Zentralverwaltung für Statistik im Jahr 1987 in der Außenhandelsbilanz ein Exportdefizit festgestellt hatte. Auf einem internen Papier dazu hat Erich Mielke, der ja eigentlich für die Stasi zuständig war, persönlich handschriftlich vermerkt: "Damit auch ein Exportüberschuss gemeldet werden kann, wird vorgeschlagen, Veränderungen wie folgt vorzunehmen". Daneben hat er die tatsächliche Zahl mit Kugelschreiber rotzfrech durchgestrichen und die Wunschzahl drübergeschrieben. Wobei ihm noch das Allerpeinlichste passiert ist: Er hat sich verrechnet. Daneben steht: "gezeichnet Mielke". Damit würde man heute nicht mehr durchkommen. +Besonders umstritten sind oft Umgehungsstraßen. Da braucht man dann schon sehr gute Zahlen, um sie zu rechtfertigen + +Womit denn? +Ein häufig versuchter Trick ist: Irgendeine Entwicklung passt einem nicht in den Kram, und dann werden die entsprechenden Zahlen zwecks Vertuschung zusammengemischt mit anderen, weniger eindeutigen und positiveren Zahlen. Beispiel: Mietspiegel. Normalerweise sind die Mieten im Stadtzentrum höher als an der Peripherie. Damit die Mieten in zentralen Lagen aber nicht zu hoch ausgewiesen werden, bildet man Wohnlagenklassen – und in denen finden sich dann sehr zentrale und Stadtrandlagen gemeinsam mit dem Ergebnis, dass die scheinbare Durchschnittsmiete im Zentrum geringer ist. Mit einfachem Weglassen oder einfachem Lügen kommt man heute praktisch nicht mehr durch. Wir haben heute eine solche Dichte an frei zugänglichen Daten, dass praktisch immer die betreffenden Sachzusammenhänge auch indirekt durch andere Zahlen erschlossen werden können. Mein aktuelles Lieblingsbeispiel aus unserer Arbeit ist das Thema "energetische Sanierung". Viele argumentieren, dass die energetische Sanierung praktisch immer wirtschaftlich sei, und haben viele Daten erhoben und Studien mit entsprechendem Ergebnis geschrieben. Meine Hypothese war, dass das nicht stimmt. Aber wie bekam ich eine aussagekräftige Zahl dagegen? Ich habe sie im Nebenkostenspiegel des Mieterbundes gefunden: Demnach klafften bei der Einsparung von Heizenergie durch Sanierung Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. +Findet die erste Beeinflussung der Ergebnisse nicht schon in dem Moment statt, wo gerade Sie ausgewählt werden? +Was stimmt, ist: Man hat als Anbieter von Studien eine Art Branding – etwas, wofür man steht. Wenn es zum Beispiel einen Zielkonflikt gibt zwischen Wohnraumversorgung der Bevölkerung speziell für Familien einerseits und Naturschutz andererseits, würden wir als Empirica uns in der Regel für die Wohnraumversorgung aussprechen. Das heißt, im Zweifel empfehlen wir, die Streuobstwiese für neue Wohnungen zu opfern. Und dass wir in der Regel so argumentieren, ist in der Branche und in der Politik bekannt. Von anderen ist hingegen bekannt, dass sie bei einem solchen Zielkonflikt eher auf der Umweltseite stehen. Aber das ist in Ordnung. Am Ende geht es bei der Interpretation von Zahlen immer um Werturteile. Wichtig ist nur, dass alle relevanten Daten berücksichtigt und offengelegt werden. Aber das Entscheidende ist am Ende nie eine Zahl, sondern ein Fazit. Eins, das man aber mit Zahlen gut begründen muss. +Wenn die Sicherheit für Fußgänger über alles gestellt wird, kann der Verkehr irgendwann nicht mehr fließen + +An Ihrer Berechnung der Kosten einer Nichtbebauung des Tempelhofer Flugfeldes in Berlingab es viel Kritik. Sie haben zur Erfassung des Erholungswertes des alten Flugfeldes als Parkanlage unter anderem die Kosten für ein Hin- und Rückfahrt-Ticket im Nahverkehr angesetzt. Ist das nicht Augenwischerei, wenn so eine willkürliche Festsetzung schließlich in eine amtliche Kostenschätzung einfließt? +Das war alles andere als willkürlich. Mit dem Wert eines Nahverkehrstickets wird so etwas schon seit vielen Jahrzehnten berechnet. Das Problem ist doch, dass bessere Zahlen oft nicht existieren. Woher soll der Erholungswert einer Freifläche bekannt sein? Frage ich die Besucher, werden sie mir "sehr, sehr hoch" antworten – aber nur, solange sie nicht wirklich zahlen müssen. Müssten sie wirklich zahlen, wäre die Antwort meist: "Och nö, so viel ist mir das nicht wert." Wichtig ist, dass solch ein Berechnungsverfahren, so behelfsmäßig es auch sein mag, dann immer gleich angewandt wird und nicht jeder etwas anderes zugrunde legt und damit beliebige Ergebnisse produziert werden. In der Verkehrswegeplanung des Bundes gibt es viele Diskussionen dieser Art. Eine der besonders kontroversen Fragen ist ja zum Beispiel, mit wie viel Euro der Wert eines Menschenlebens einzustufen ist. +Wie bitte, Menschenleben werden da mit einem Geldwert beziffert? +Wenn es um die Entscheidung über – zum Beispiel – den Bau einer Umgehungsstraße geht oder nicht, bleibt einem gar nichts anderes übrig. Einfach weil eine Umgehungsstraße immer viele Vor- und Nachteile hat, es viele Güter und Werte gegeneinander abzuwägen gilt. Es ist doch so: So eine Straße kostet einige Millionen Euro. Und der CO2-Ausstoß steigt eventuell, weil die Autos zum Beispiel einen größeren Bogen um die Stadt fahren müssen. Dafür hat man in der Innenstadt eine geringere Lärmbelästigung und – Achtung, jetzt wird es heikel – vielleicht zwei Verkehrstote weniger. Wie rechnet man so etwas gegeneinander auf? Würde man Menschenleben nicht mit einem Wert versehen, gäbe man ihnen damit de facto den Wert null – weil sie dann rechnerisch nicht berücksichtigt würden. Und rechnen muss man, denn am Ende muss jemand entscheiden, ob sich der Bau lohnt. ImBundesverkehrswegeplansind gerade wiederrund 2.000 Projekte beantragt worden, von denen man aber nur eine bestimmte Auswahl finanzieren und umsetzen können wird. +Wie wär's damit, so etwas gar nicht gegeneinander aufzurechnen und bei solchen Fragen doch besser aus dem Bauch heraus zu entscheiden? +Als Student habe ich auch noch gesagt: So etwas kann und darf man nicht rechnen! Inzwischen bin ich überzeugt: Es ist schlichtweg demokratischer, wenn es eine Zahl gibt –  und sei sie noch so behelfsmäßig. Denn eine Bauchentscheidung fällt immer einer alleine –  und hat dabei vielleicht nur seine eigenen Interessen im Auge und nicht das Allgemeinwohl. Wenn es hingegen einen objektivierten Zahlenwert in einer standardisierten Kosten-Nutzen-Abwägung gibt, kann man eine geordnete Debatte führen –  sich darüber streiten und verständigen. Darum kommt man nicht umhin zu benennen, wie hoch ein Menschenleben hier gewertet werden soll. +Wie hoch ist es denn? +In der standardisierten Bewertung von Verkehrswegeinvestitionen wird ein Toter mit 1,21 Millionen Euro angesetzt. Man könnte natürlich, um moralisch aus dem Schneider zu sein, ein Menschenleben über alles stellen und ihm damit den Wert "unendlich" beimessen. Aber dann müsste man zwangsläufig alle paar Meter eine Fußgängerampel bauen oder den Straßenverkehr gleich verbieten – der kostet ja wirklich viele Menschenleben. +Finden viele pietätlos: Sogar der Wert eines Menschenlebens wird in der Bundesverkehrswegeplanung beziffert + +Zum Schluss bitte noch einen Tipp. Welchen von den Zahlen, die in den Medien so kursieren, kann man aus Ihrer Sicht denn überhaupt vertrauen? +Am besten hält man sich an die amtlichen Zahlen, die durch diestatistischen Ämtererhoben worden sind und die dadurch bestimmten Qualitätskriterien genügen. Wichtig ist der Grundsatz, dass Zahlen, Rechnungen, Ergebnisse und Interpretationen veröffentlicht werden. Aber auch bei amtlichen Zahlen gibt es Qualitätsunterschiede. Die höchste Qualität haben Zahlen, die doppelt oder sogar dreimal quergerechnet sind. Die höchste Gattung an Vertrauenswürdigkeit hat sicherlich die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung des Statistischen Bundesamtes beziehungsweise der Statistischen Landesämter, da diese auf drei verschiedenen Wegen berechnet wird. Das sind auch für uns beim Verfassen von Studien und Gutachten die besten Rohstofflieferanten. +Harald Simons ist einer der Vorstände des wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen BeratungsunternehmensEmpirica AG, das im Auftrag von Ministerien, Kommunen, Stiftungen, Verbänden und privaten Investoren Studien erarbeitet. An der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig lehrt er Volkswirtschaftslehre mit einem Schwerpunkt auf den Themen Wohnungsmarkt und Wohnungspolitik, Demographie, Regionalwirtschaft und soziale Sicherungssysteme. diff --git a/fluter/erster-weltkrieg-computerspiel-11-11-memories-retold.txt b/fluter/erster-weltkrieg-computerspiel-11-11-memories-retold.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cfc8f65450198148d7d5100d6ed014637d3f61d9 --- /dev/null +++ b/fluter/erster-weltkrieg-computerspiel-11-11-memories-retold.txt @@ -0,0 +1,11 @@ + +Schlachtengemälde mal ganz anders: Mit seiner ungewöhnlichen Optik und seiner langsamen Erzählweise gelingt "11-11: Memories Retold" ein ganz eigener Zugriff auf den Ersten Weltkrieg + + +Einen ganz anderen Ansatz wählt "11-11: Memories Retold". Das Spiel sieht aus wie ein animiertes Gemälde, es erzählt die Geschichte der Begegnung zweier Menschen und rückt den Kampf in den Hintergrund. Die Gewalt taucht nur als Gefahr auf, wenn etwa ein Charakter geduckt zum Ziel schleichen muss, um nicht erschossen zu werden. Alle Herausforderungen fühlen sich nur symbolisch an, die Interaktionen sind simpel, die Rätsel selbsterklärend. "11-11" ist kein Spiel, in dem jemand gut werden und gewinnen könnte – es ist eine interaktive Erzählung. +Ein junger kanadischer Fotograf und ein deutscher Ingenieur treffen an der Front aufeinander, und ihre Schicksale verbinden sich auf eine fast magische Weise miteinander. Das Spiel behält einen kleinen Sicherheitsabstand zur Wirklichkeit, auch optisch. Über der Grafik liegt ein Filter, mit dem die Welt wie ein impressionistisches Gemälde aussieht. Nur gelegentlich erinnert der Effekt etwas zu sehr an Instagram, die meiste Zeit wirkt er. Gemacht wurde "11-11" unter anderem von Aardman – der Firma, die sonst vor allem für heitere Stop-Motion wie "Shaun das Schaf" oder "Wallace & Gromit" bekannt ist. Ihr gelingt auf Anhieb ein Konsolenspiel mit einem wirklich originellen Look. +Die dicken Pinselstriche legen sich wie eine Unschärfe über das Grauen. Wenn es golden über dem Schützengraben dämmert, wirkt das sogar versöhnlich. Das mag in einem Spiel über Angst, Verlust und Tod guttun, führt aber dazu, dass die Wahrheit nicht nur abgebildet, sondern auch abgefedert wird. +Im Vordergrund des Spiels steht die Bedeutung des Krieges für den Menschen. Sie wird aus verschiedenen Perspektiven von der Front bis in das Hinterland demonstriert. Nur wollen die Entwickler ihr Publikum offenbar nicht überfordern. Auf jeden Rückschlag folgt ein Hoffnungsschimmer. Dazu passen die banal einfachen Rätsel und Schleichpassagen. Höchstens die Sammelobjekte in der Welt stellen eine Herausforderung dar, aber eine nervige. Nur wer in den Levels nach den kompletten Sets rotierender Briefumschläge stöbert, erfährt zur Belohnung historische Hintergründe. +Wahlmöglichkeiten gibt es wenige, die aber sind wichtig: Was fotografiert der Kanadier? Was schreibt der deutsche Ingenieur seiner daheim wartenden Tochter? Die Rollen sind gut geschrieben und gesprochen. Elijah Wood ist ein überzeugender junger Fotograf, der sich verliebt und leichtsinnig in das Kriegsabenteuer begibt, aus dem er der Angebeteten immer wieder Fotos schickt. Sebastian Koch raunt sich mit glaubwürdigem Schmerz durch die Suche nach seinem an der Front verlorenen Sohn. +Die Erzählung verliert gelegentlich den Spannungsbogen, sie hat Längen und kippt immer weiter ins Unwahrscheinliche. Dass sie trotzdem nachhallt, liegt an den starken Charakteren. Sie machen etwas Unvorstellbares begreifbar. Und das ist eine große Leistung, größer noch als die hübsche Optik. +"11-11: Memories Retold" ist für PC, PS4 und Xbox One erhältlich. diff --git a/fluter/erstes-eigenes-auto-protokolle.txt b/fluter/erstes-eigenes-auto-protokolle.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7925b1563b2f3ff654557901c4e86105728492e7 --- /dev/null +++ b/fluter/erstes-eigenes-auto-protokolle.txt @@ -0,0 +1,20 @@ + + + + +"Hierhält der Bus zweimal am Tag, selber Auto fahren ist ein Riesending für mich. Ich könnte spontan zu Freunden fahren, mitten in der Nacht zu McDonald's oder vom Feiern wieder nach Hause. DenFührerschein ab 16, so wie in vielen Bundesstaaten in den USA, finde ich sinnvoll, damit weniger junge Menschen darauf angewiesen sind, dass ihre Eltern sie rumfahren. Ich mache gerade Fahrschule und glaube, das kann auch mit 16 funktionieren: Die Fahrstunden sind sehr intensiv, die Anforderungen an Fahrschüler hoch. Auf lange Sicht will ich in die Stadt ziehen, mit öffentlichen Verkehrsmitteln und Fahrrad fahren, vielleicht später mal ein Elektroauto kaufen. Ich schätze die Freiheiten, aber sehe natürlich die Nachteile, was die Umwelt betrifft. Mein Auto ist alt und fährt mit Benzin. Und mit dem eigenen Auto kommt Verantwortung: Ich muss mich um das Fahrzeug kümmern, auch finanziell. Für meinen VW Golf habe ich mein Erspartes zusammengekratzt, für den Führerschein arbeite ich nebenbei." +Nele, 17, aus Wegeleben in Sachsen-Anhalt + + +"Meinen Führerschein hab ich seit November und das Auto, seit ich 14 bin. Das hat früher meinem Vater gehört, ich fand es schon immer toll und habe es ihm über drei Jahre abbezahlt. Besonders stolz bin ich auf den Innenraum, die Felgen und das Fahrwerk. In Zukunft werden wohl vor allem autonome Autos unterwegs sein. Das sind keine schönen Aussichten: Autofahren ist doch Spaß, eine Leidenschaft, auf jeden Fall mehr als ein Transportmittel. Mit dem Auto finde ich es viel entspannter als mit der Bahnoder zu Fuß." +Jeremy, 18, aus Fredersdorf in Brandenburg + + + + +"Mein Freund und ich leben in einem Wohnmobil. Das ist eher Lifestyle als Verkehrsmittel, wir fahren spontan an schöne Orte und Seen oder in den Urlaub. Ich sehe es als Privileg, als Frau einen Führerschein machen zu können. Das ist ja nicht überall selbstverständlich. Mir gibt es ein Gefühl von Selbstbestimmung und Freiheit. Trotzdem würde ich gern öfter aufs Auto verzichten. Ich hoffe, dass das öffentliche Verkehrsnetz ausgebaut wird und wir mehr Carsharing nutzen, damit sich die Zahl der Autos insgesamt reduziert. In Städten nehme ich eh oft die Öffentlichen. Beim Führerschein mit 16 bin ich skeptisch: Jüngere Menschen sind oft risikobereiter. Die aktuelle Regelung, mit 17 unter Aufsicht fahren und erst mit 18 alleine, finde ich sinnvoller." +Clara, 26, aus Michendorf in Brandenburg + + +"Ich wollte schon als Junge Auto fahren, jetzt kann ich es endlich. Das Auto ist schneller und angenehmer als jede Bahn. Ich kann laut Musik hören und meine Kumpels mitnehmen. Auf der Autobahn halte ich die Spur und fahre, fahre, fahre. Das befreit die Gedanken. Aufs Auto würde ich nur verzichten, wenn ich getrunken habe oder andere Drogen im Spiel sind. Sonst nicht. Es heißt ja, Jüngere wollen Elektroautos und Ältere an ihren Verbrennern festhalten. Aber E-Autos sind gar nicht mein Ding, ich liebe den Sound und das Fahrerlebnis von Benzinern. Zum Tuning bin ich durch Kumpels und Autotreffen gekommen. Und durch meinen Vater. Der hatte früher einen Mercedes 190, aber der ist mir zu teuer. Also habe ich mir einen W202 zugelegt, Baujahr 1996 und ein paar Macken, aber die habe ich mit meinem Vater repariert. Er hat mir beigebracht, wie man an Autos schraubt. Ich wollte immer ein Auto, das cool aussieht und das ich selbst aufmotzen kann." +John, 17, aus Berlin diff --git a/fluter/erstmal-fragen.txt b/fluter/erstmal-fragen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..980dc62e9f23acf3086248e6f35e264d63b01e60 --- /dev/null +++ b/fluter/erstmal-fragen.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Weil in Saudi-Arabien kein Strafgesetzbuch existiert, liegt es vor allem im Ermessen der Richter zu entscheiden, wie bestraft wird und was überhaupt als Verbrechen gilt. So wird die "Aufforderung zu atheistischem Denken" oder eine "Kontaktaufnahme zu Personen, die gegen das Königreich sind" auch schon mal als Terrorismus eingestuft. +Trotz der drakonischen Strafen schrecken viele Frauen- und Menschenrechtler nicht davor zurück, für ihre Rechte zu kämpfen – und protestieren, bloggen und twittern. Mit Initiativen wie der Women2Drive-Bewegung kämpfen zum Beispiel Frauen für das Recht, Auto fahren zu dürfen. Dafür filmen sich Aktivistinnen wie die 36-jährige Manal al-Sharif dabei, wie sie hinter dem Steuer sitzend durch Städte fahren. Anschließend teilen sie die Bilder im Internet, wo sie ein riesiges Publikum erreichen: Die absolutistische Monarchie hat prozentual zur Anzahl der Internet-User die meisten aktiven Twitter-Nutzer sowie die höchste Anzahl von YouTube-Views pro Internetnutzer der Welt, 70 von 100 Saudis sind jünger als 30 Jahre. +Doch je öffentlicher ein Protest, umso wahrscheinlicher, dass man von der Sittenpolizei erwischt wird. Diese kontrolliert etwa, ob Frauen das schwarze Ganzkörpergewand tragen oder eben Auto fahren. Der Rechtsberater Scheich Saleh bin Saad al-Lohaidan warnte Frauen in einem Interview vor dem Autofahren, da es eine schädliche Wirkung auf die Eierstöcke habe, das Becken verforme und dies zu Missbildungen bei Babys führen würde. Obwohl es schwerfällt, sich auf eine derart absurde Argumentation einzulassen, verweisen Frauenrechtler in Saudi-Arabien darauf, dass schon die Frauen und Töchter des Propheten ambitioniert auf Pferden und Kamelen ritten, ohne Schaden zu nehmen. +Die islamische Rechtsordnung Scharia, auf welche sich die Regierung stützt, wird in Saudi-Arabien von männlichen Gelehrten interpretiert, die sich wiederum an den Wahhabiten orientieren. Diese vertreten eine puristisch-traditionalistische Richtung des sunnitischen Islam und verurteilen eine zeitgenössische und plurale Auslegung. Indem es radikale und sogar terroristische Islamistengruppen förderte, hat das Land seine intolerante und frauenfeindliche Ideologie in die islamische Welt exportiert und damit den Fundamentalismus gefördert. Die Anschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center wurden zum Großteil von saudischen Staatsbürgern verübt, auch die Terrororganisation "Islamischer Staat" bekam in den vergangenen Jahren viel Geld aus dem Land. +Mittlerweile hat man in Saudi-Arabien gemerkt, dass das Land selbst Opfer des Terrorismus werden könnte und ist Teil der Koalition gegen den IS geworden. Neuerdings versucht sich das Regime auch liberaler zu geben – unter anderem durch die Reform des Wahlrechts, auch wenn die eher Kosmetik als wahrer Fortschritt ist. Denn im Grunde benötigt eine Frau immer noch zwei Männer, um zu wählen: Einen, der ihr einen Personalausweis ausstellt und einen, der sie zum Wahllokal fährt. diff --git a/fluter/erstmal-fuer-immer.txt b/fluter/erstmal-fuer-immer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/erz-der-finsternis.txt b/fluter/erz-der-finsternis.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0dd44927e2e5c4eff5f5ff355e1321daa1274e09 --- /dev/null +++ b/fluter/erz-der-finsternis.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Wie in vielen Kriegen in Afrika sorgten die Rohstoffe des Landes mit dafür, dass der Konflikt eskalierte – weil die Kriegsparteien ihre Waffen mit den Erlösen aus dem Handel finanzierten. So kämpften die Rebellenarmeen im Ostkongo nicht nur um politische Macht, sondern auch um den Zugang zu den Diamanten- und Goldminen. Besondere Bedeutung hatte auch das Mischerz Coltan, aus dem Tantal gewonnen wird – unter anderem für Kondensatoren in Handys, Spielkonsolen und Laptops. Weil wertvolle Rohstoffe in Afrika oft nicht zum Reichtum eines Landes beitragen, sondern, im Gegenteil, zu Kriegen, Korruption und einer einseitigen Ausrichtung der Wirtschaft führen, spricht man auch vom Rohstofffluch und im Fall von Coltan von einem Konfliktmineral. +In der Geschichte der Demokratischen Republik Kongo spielten Rohstoffe schon früh eine verhängnisvolle Rolle. Ab 1885 war das Land quasi eine Privatkolonie des belgischen Königs Leopold II., der von dort erst Elfenbein, später vor allem Kautschuk exportierte. Die Gräueltaten in dieser Zeit – selbst Kindern wurden Hände abgehackt, wenn sie nicht genügend Kautschuk aus dem Urwald holten – inspirierten den Schriftsteller Joseph Conrad zu seinem Roman "Herz der Finsternis". +1960 wurde der Kongo unabhängig, doch die Geschichte wiederholte sich: Von 1965 bis 1997 regierte der Diktator Mobuto, der das Land in Zaire umbenannte und sich selbst in Sese Seko Kuku Ngbendu wa za Banga, übersetzt in etwa: "der pfeffrige, siegreiche Krieger, der Hahn, der keine Henne in Ruhe lässt". Trotz aller Menschenrechtsverletzungen unterstützten die USA und andere westliche Nationen Mobutu, damit er die Rohstoffe seines Landes nicht an die Sowjetunion lieferte. Der Kalte Krieg fand also auch in Afrika statt. +Mobutus Nachfolger Laurent Kabila wurde 2001 in der Hauptstadt Kinshasa erschossen, sein Sohn Joseph ohne demokratische Legitimation zum neuen Präsidenten ernannt – ein Amt, das er auch nach dem Friedensschluss 2003 weiter bekleidete. Wobei Frieden im Kongo ein relativer Begriff ist. In der im Osten des Landes gelegenen Provinz Nord-Kivu fand von 2006 bis 2009 ein weiterer Krieg statt, im Grunde schwelt der Konflikt bis heute. Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass das Coltan in unseren Handys weiterhin dazu beiträgt, ihn am Leben zu erhalten. +Als die Coltan-Preise 2000/2001 anstiegen, kam es zu einer Art Coltankrieg, bei dem Militäroffensiven geografisch nahezu immer mit den jüngsten Coltanfunden übereinstimmten. In den vergangenen Jahren traten Firmen auf den Markt, die in ihren Handys weitestgehend auf Coltan aus Konfliktregionen verzichten +Bei der bpb gibt es ein sehr lesenswertes Buch, nach dessen Lektüre man nicht nur das Entstehen von Konflikten im Kongo sehr gut versteht. "Kongo" von David Van Reybrouck (4,50 Euro). Bestellen kann man es unter www.bpb.de/shop diff --git a/fluter/erzieher-werden-vorteile-nachteile.txt b/fluter/erzieher-werden-vorteile-nachteile.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2b648eb28f5f843d48125e0d7da4ae2afa0e6df3 --- /dev/null +++ b/fluter/erzieher-werden-vorteile-nachteile.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Als Erzieher machen wir mehr als aufpassen und erziehen. Wir tragen dazu bei, dass sich Kinder, die unterschiedliche Sprachen sprechen und verschiedene Hintergründe haben, verstehen und miteinander reden. Damit übernehmen wir gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Deswegen würde ich mir wünschen, dass wir in der Gesellschaft als Bildungseinrichtung wahrgenommen werden. Diese Wertschätzung kommt bisher meiner Meinung nach nicht an. Das zeigt sich schon daran, dass Erzieher zu wenig verdienen – nicht nur in der Ausbildung, auch danach. +Dazu kommt der fehlende Arbeitsschutz. In den meisten Kitas ist es zum Beispiel viel zu laut, die Dezibelhöhe ist gesundheitsschädlich. Ein anderer Mangel ist, dass wir oft keine richtigen Stühle haben, um uns hinzusetzen, sondern nur Kinderstühle. Auch können wir die Pausenzeiten vielerorts nicht einhalten. Wenn Kitas einen chronischen Personalmangel haben, kann es passieren, dass man mehrere Stunden lang nicht dazu kommt, aufs Klo zu gehen oder etwas zu trinken. +Bis zu 230.000 fehlende Fachkräfte in Kitas bis 2030 – davon gehteine Studieder Bertelsmann-Stiftung aus. Dabei zeigt sich ein eindeutiges Ost-West-Gefälle: Während es in den westlichen Bundesländern tendenziell zu wenig Kita-Plätze gibt, fehlen in den ostdeutschen Ländern die Erzieher/-innen, um die Kinder zu betreuen. Derzeit hat bundesweit jede zweite Kita so wenig Personal, dass nicht alle Plätze an Kinder vergeben werden können. Um die rund 635.000 Erzieher/-innen (Stand 2020) zu entlasten, haben einige Bundesländer bereits Fachkräfte aus dem Ausland angeworben. +40 Stunden in der Woche packt das kaum jemand länger als ein paar Jahre. DieArbeitsbedingungenmüssen sich dringend verbessern – gerade werden dort zu viele Leute für zu wenig Kohle verheizt. Das ist frustrierend, das hat kein Kind, aber auch kein Arbeitnehmer verdient. Der Anteil an Kita-Personal, der wegen gesundheitlicher Probleme in Frührente geht, ist mit rund einem Viertel recht hoch. +Manche geben den Beruf auch auf, um noch zu studieren. Ich studiere jetzt Heilpädagogik, ein anderes beliebtes Fach ist zum Beispiel Soziale Arbeit. Was nach dem Studium kommt, weiß ich noch nicht. Ich studiere, weil ich was Neues lernen will, nicht weil ich den Beruf nicht mehr mag. Für mich ist Erziehersein eine Berufung – diese Haltung braucht man, wenn man in diesen Beruf geht, sonst hält man die Belastungen nicht aus. Deswegen ist es wichtig, dass nur Menschen Erzieher werden, die wirklich Bock drauf haben. + +Weitere Texte aus der Reihe "So ist es, ich zu sein"findest du hier. diff --git a/fluter/es-fehlt-ein-langfristiges-konzept.txt b/fluter/es-fehlt-ein-langfristiges-konzept.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/es-gibt-hier-nichts-zu-sehen-gehen-sie-weiter.txt b/fluter/es-gibt-hier-nichts-zu-sehen-gehen-sie-weiter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dd67e9ddf7bed7532d3464a2adcc06b138fbef86 --- /dev/null +++ b/fluter/es-gibt-hier-nichts-zu-sehen-gehen-sie-weiter.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Und auch in deutschen Massenmedien ist die griechische Krise nicht mehr groß Thema. Bis Ende des Sommers berichteten die auflagenstärksten Blätter noch über alle Details der griechischen Politik: Griechenland wählte ein neues Parlament und stimmte über die Annahme eines Kredits ab, der von der EU angeboten und mit Reformauflagen versehen war. Die Medien verliefen sich dabei teils in Spekulationen darüber, ob Griechenland den Forderungen der EU und weiterer Institutionen nachkommen oder womöglich aus der Eurozone ausscheiden würde – inzwischen taucht die griechische Politik nur noch sehr sporadisch auf den Titelseiten auf. Wenn über die jüngste Verschiebung der Auszahlung von Hilfsgeldern durch die Finanzminister der Eurogruppe berichtet wird, dann drucken selbst überregionale Zeitungen nur eine Agenturmeldung auf den hinteren Seiten. Die Korrespondenten sind längst schon wieder mit anderen Krisen beschäftigt. +Betrachtet man den Zustand der griechischen Wirtschaft, zeigt sich jedoch, dass die Situation im Land weiterhin katastrophal ist: Griechenland ist nach Japan weltweit das Land mit der größten Staatsschuldenquote. Nach Angaben von "Eurostat" liegt die Arbeitslosenquote von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 15 und 24 Jahren bei rund 50 Prozent, in der Gesamtbevölkerung ist sie von 7,8 Prozent (Stand: 2008) auf aktuell gut 25 Prozent gestiegen. Das kann für die Betroffenen lebenslange Folgen haben: Wer früh arbeitslos ist, hat ein größeres Risiko, später im Job weniger zu verdienen und vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu werden. Außerdem kann bei längerer Arbeitslosigkeit auch Obdachlosigkeit drohen, denn eine Grundsicherung wie das deutsche Hartz IV bzw. Arbeitslosengeld II gibt es in Griechenland nicht. +Und trotzdem sind die Auswirkungen der Wirtschaftskrise an den touristischen Orten Athens praktisch nicht zu sehen. Dass die Krise für Außenstehende oft kaum wahrnehmbar ist, hängt mit dem Wesen der Armut zusammen: Wer nicht genug Geld hat, um auszugehen und sich in der Innenstadt ins Café zu setzen, bleibt vermutlich zuhause. Wer nach dem Schulabschluss oder Studium keinen Job findet, lebt eben entweder (wieder) bei den Eltern oder geht gleich ins Ausland und sucht dort eine Chance. Das Gegenteil von Erfolg ist die Unsichtbarkeit. +Wenn über die angespannte Lage in Griechenland berichtet wird, dann meist im Zusammenhang mit den Flüchtlingen, die zu Zehntausenden griechischen Boden betreten – jedoch selten in der Hauptstadt, sondern auf Inseln wie Kos, Lesbos und Rhodos. Diese Zuwanderung versucht der von der Eurokrise schwer getroffene griechische Staat politisch zu steuern und stößt dabei schnell an die Grenzen des Machbaren. Und so erschien die Wirtschaftskrise Griechenlands in den deutschen Massenmedien oft nur noch als ein untergeordneter Aspekt der Flüchtlingskrise. +Bleiben die öffentlichen Proteste. Viel wurde in den letzten Monaten über Protestbewegungen gegen den Sparkurs verschiedener griechischer Regierungen geschrieben, viele Menschen richteten sich gegen die Auflagen der EU, gegen Korruption, gegen Polizeigewalt. Inzwischen ist es aber ruhiger geworden vor dem Parlament auf dem Athener Syntagma-Platz. Allerdings sieht es so aus, als könnte sich das bald wieder ändern: Es gab Anschläge auf die Lokalbüros der Syriza-Partei. Der jüngste Generalstreik, der erste unter der Regierung von Premierminister Tsipras, legte das Land für einen Tag lahm. Deutsche Medien berichteten, die Tagessschau etwa in der Mittagsausgabe. Aber größeren Nachrichtenwert haben gerade andere Geschichten. +Dafür gibt es Initiativen, die versuchen, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Der Verein "Shedia" etwa veröffentlicht nicht nur ein monatliches Straßenmagazin in Athen, das von Obdachlosen verkauft wird. Er bietet zudem Stadtführungen an, bei denen aktuelle und ehemalige Wohnungslose bestimmte Orte in der Athener Innenstadt zeigen, die Einheimische zwar kennen, die sie aber bisher nicht beachtet haben: Essensausgaben, die seit Beginn der Krise ihre Kapazitäten vervielfachen mussten, nächtliche Schlafplätze für Wohnungslose, die überfüllt sind, Orte des Drogenkonsums. Mit den Führungen will man die Verarmten aus der Unsichtbarkeit herausholen und sie ihre Geschichte erzählen lassen. Ähnlich wie das Hamburger Straßenmagazin Hinz & Kunzt, das dem Verein als Vorbild diente, zwingt Shedia damit die Beobachter, Stellung zu beziehen zu den Auswirkungen der Krise um sie herum. Denn eigentlich ist die Krise gerade in Griechenland überall – sie wird eben nur nicht immer wahrgenommen. +Wenn Arne Semsrott nicht für fluter.de schreibt, arbeitet er unter anderem für das Informationsportal Frag den Staat diff --git a/fluter/es-gibt-kein-zurueck.txt b/fluter/es-gibt-kein-zurueck.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1554446f9b60c6b64f443502fefc8cdcc2096a8f --- /dev/null +++ b/fluter/es-gibt-kein-zurueck.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Dass Millionen Bauernkinder überhaupt bereit sind, trotz schlechter Arbeitsbedingungen in den Fabriken Chinas zu arbeiten, liegt auch an ihrem Wunsch, der dörflichen Enge zu entfliehen und der Tradition: In ländlichen Regionen suchen immer noch viele Eltern die zukünftigen Ehepartner für ihre Kinder aus. Besonders für junge Frauen bietet sich durch die Arbeit in der Stadt die Möglichkeit, eigenes Geld zu verdienen, anstatt in der Familie des Ehemannes nur Hausfrau und Bäuerin zu sein. Viele Wanderarbeiter träumen davon, in der Stadt einen zukünftigen Ehepartner kennenzulernen, den sie wirklich lieben. Es ist auch leichter als zu Hause, mit einem Mann oder einer Frau zusammen zu sein, ohne gleich heiraten zu müssen. Allerdings sind die Löhne trotz leichter Steigerung immer noch viel zu niedrig, um sich eine eigene Wohnung zu mieten. 90 Prozent der Wanderarbeiter wollen nicht mehr in die Dörfer zurückgehen, aber nur die wenigsten können sich eine eigene Wohnung in der Stadt leisten. Die große Mehrheit lebt in Wohnheimen auf dem Firmengelände, in denen das soziale Leben 24 Stunden am Tag überwacht wird. +Dass ihnen ein sozialer Aufstieg verwehrt bleibt, hat in China quasi System. Denn eins werden die Millionen Jugendlichen bei ihrer Flucht in die Stadt nicht los: den Makel, Bürger zweiter Klasse zu sein. Das sogenannte Hukou-System teilt die gesamte Bevölkerung in die Kategorien "Agrar"- und "Nicht-Agrar"-Haushalte ein. Wer den ländlichen Hukou-Status hat, besitzt zwar ein Anrecht auf ein Stück Land in seinem Heimatdorf, dafür aber darf er sich als Bauer nicht langfristig in den Städten niederlassen, er bekommt keine Sozialleistungen, und seine Kinder dürfen keine öffentliche Schule kostenlos besuchen. Doch gegen das Schicksal, als Arbeitssklaven zum Aufschwung Chinas zur Wirtschaftsweltmacht beizutragen, erheben sich immer mehr. Nach Angaben eines Soziologen der Tsinghua-Universität soll es allein im vorigen Jahr in China über Hunderttausend sogenannte Massenzwischenfälle gegeben haben – das sind Demonstrationen, Streiks, kollektive Petitionen, Blockaden von Regierungsgebäuden, Straßen oder öffentlichen Plätzen sowie andere "Störungen der öffentlichen Sicherheit". Im Sommer letzten Jahres legten die Arbeiter die Produktion in Honda- und Toyotawerken durch Streiks lahm, obwohl streiken in China nicht ungefährlich ist. Immer noch reagiert die Kommunistische Partei mit aller Härte darauf, unabhängige Gewerkschaften gibt es nicht. Streiks in einzelnen Betrieben werden zwar in der Regel toleriert, versuchen die Arbeiter allerdings auf die Straße zu gehen und sich zu solidarisieren, ist mit Verhaftungen zu rechnen. +Wenn die Wut zu groß wird, kommt es trotzdem zu Aufständen. Wie Anfang Juni 2011 in der südchinesischen Stadt Zengcheng. Die Stadt ist ein Symbol der globalen Arbeitsteilung und der sozialen Hierarchien in China. Etwa ein Drittel aller weltweit produzierten Jeans werden in den 3.000 Fabriken der Stadt von über 140.000 Wanderarbeitern genäht. Die protestierten tagelang gegen staatliche Willkür; Polizeiwagen und Regierungsgebäude brannten. Erst nach der Entsendung von 2.700 sogenannten Anti-Riot-Polizisten konnten die Demonstranten auseinandergetrieben werden. Die Unruhen in Zengcheng sind kein Einzelfall. Einige Tage zuvor entstand in der Stadt Chaozhou aus einer Demonstration von 200 Wanderarbeitern ein regelrechter Aufstand. Die Proteste entbrannten, weil ein Firmenchef einen Wanderarbeiter und dessen Sohn zusammenschlagen ließ, als die beiden die Auszahlung ihres ausstehenden Lohns verlangten. Der Chef und seine beiden Helfer wurden mittlerweile verhaftet, um weitere Unruhen zu verhindern. In der Stadt Lichuan protestierten rund 1.500 Demonstranten vor einem Regierungsgebäude, nachdem ein Beamter, der Korruptionsfälle untersuchte, am 4. Juni in Polizeigewahrsam gestorben war. Am 10. Juni zündete ein frustrierter Bürger Bomben in einem Regierungsgebäude der Hafenstadt Tianjin. Bereits Anfang des Jahres hat die Regierung ein "Sicherheitspaket" beschlossen, um die Anti-Riot-Polizei weiter aufzurüsten. Der Kommunistischen Partei Chinas kommen die Unruhen derzeit besonders ungelegen, da sie in diesem Jahr ihr 90-jähriges Bestehen feiert. +Dabei hat es die Regierung mit einer neuen Generation von Wanderarbeitern zu tun, die selbstbewusster ist als ihre Eltern. Viele wollen auf keinen Fall in die Dörfer zurückkehren, die meisten haben nicht mal mehr gelernt, wie man ein Feld bestellt. Sie sind gebildeter als ihre Eltern und haben in der Regel die Mittelschule abgeschlossen. Diese junge bäuerliche Arbeiterklasse fordert Lohnerhöhungen um 30 Prozent und viel mehr Freizeit. Ihr Antrieb ist der Wunsch nach Teilhabe am städti- schen Wohlstand. Der Partei ist klar, dass sie allein mit Repressionen das Land nicht befrieden kann. Ein Think-Tank des Staatsrats warnte jüngst in einer Studie, dass die unzufriedenen Wanderarbeiter zu einer Gefahr für die soziale Stabilität des Landes werden könnten, falls sie in den Städten nicht besser behandelt würden. Bisher konnte die chinesische Regierung verhindern, dass aus lokalen Protesten eine landesweite Bewegung entsteht. Die Regierung um Präsident Hu Jintao und Ministerpräsident Wen Jiabao ist relativ geschickt, lokale Funktionäre als Sündenböcke für Probleme hinzustellen und sich selbst als Anwalt der kleinen Leute zu inszenieren. Die Abschaffung des Hukou-Systems, das Stadt- und Landbewohner in zwei Klassen teilt, ist allerdings in absehbarer Zukunft wohl nicht geplant. So bleibt den jungen Wanderarbeitern nichts anderes übrig, als weiter für ihre Rechte zu kämpfen. Ein Zurück gibt es nicht. diff --git a/fluter/es-gibt-keine-wahrheit-aber-wir-brauchen-sie-0.txt b/fluter/es-gibt-keine-wahrheit-aber-wir-brauchen-sie-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3dd9ab8d5a1a07d2e0bb631f5e0766071461c957 --- /dev/null +++ b/fluter/es-gibt-keine-wahrheit-aber-wir-brauchen-sie-0.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Wer sich im Besitz der Wahrheit wähnt, ist sehr schnell bei der Ideologie. Dann ist es nicht mehr weit bis zum Fundamentalismus und Terrorismus. Die Geschehnisse um den Islamischen Staat (IS) zeigen derzeit sehr deutlich, dass es nichts Tödlicheres gibt als Wahrheitsüberzeugungen, insbesondere religiöse Wahrheitsüberzeugungen. Bei wissenschaftlichen Wahrheitsüberzeugungen hingegen muss man immer mitbedenken, dass mir jemand meine eigenen Wahrheitshypothesen widerlegen und meine Sicherheiten erschüttern könnte. Aber einen religiösen Fundamentalisten, den kann nichts erschüttern. Als Konstruktivist halte ich dagegen: Es gibt "die Wahrheit" nicht. +Können wir denn ohne Wahrheit überhaupt leben? +Ich habe das mal so formuliert: Es gibt keine Wahrheit, aber wir brauchen sie. Wir brauchen zumindest den Begriff "wahr" als ein soziales Regulativ. Die Wahrheit als Begriff reguliert offenbar die Handlungen und auch die Kommunikationen auf eine Weise, dass man sich darauf verlassen kann – auch wenn man nicht in den Kopf des anderen hineinschauen kann. Ich halte es aber für dringend geboten, dass wir von der substantivierenden Diskussionsweise wegkommen, die von "der Wahrheit" ausgeht, die nur endlich jeder erkennen müsse. Das schlägt schnell in Wahrheitsterrorismus und Terrorismus um. +Was ist die Alternative? +Wir sollten hinkommen zu einer prozessorientierten Diskussionsweise: zu fragen, was wir machen, wenn wir mit dem Ausdruck "wahr" umgehen. In welchen Situationen verwenden wir ihn, welche Konsequenzen hat das? In den meisten Lebensbereichen aber herrscht immer noch eine substantivierende Metaphorik vor: "Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit", heißt es zum Beispiel vor Gericht. Ich betone immer: Die Wahrheit ist nicht etwa das Ziel unseres Handelns. Sondern Wahrheit ist die Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt handeln können. Wir müssen immer schon eine unglaubliche Menge von Dingen für wahr halten, um überhaupt miteinander reden zu können, um gemeinsam handeln zu können, um Probleme zu lösen und dergleichen. +Klingt nicht gerade so, als würde die Sache durch Ihre Sicht der Dinge einfacher. +Der Standpunkt des radikalen Konstruktivismus ist im Prinzip einfach. Er folgt zwei grundlegenden Annahmen. Die erste ist, dass man Existenzaussagen der Art "es gibt die Wahrheit", "es gibt das Sein", "es gibt das Gute" so schlicht nicht treffen kann. Die zweite Grundannahme ist, dass alles, was wir tun, auf einen Beobachter bezogen ist. Das heißt: So etwas wie eine beobachterunabhängige Wahrheit zu postulieren wäre theoretisch naiv. Die Wahrheit kommt immer durch uns zustande: durch das, was wir tun, durch das, was wir reden, wie wir miteinander umgehen und dergleichen. Darum geht es: sich diese Prozesse anzuschauen und nicht irgendwelche Dinge, denen man eine substanzielle Existenz unterstellt. +Wenn ich einen Beweis für eine substanzielle Existenz möchte, muss ich doch nur mal mit dem Auto vor einen Baum fahren. +Natürlich gibt es den Baum. Konstruktion von Wirklichkeit heißt ja nicht, dass wir Wirklichkeit erfinden. Mir geht es darum, dass man sich klarmacht: Wenn ich einen Baum wahrnehme, wirken drei Dinge zusammen: ich als Wahrnehmender, dann das Ergebnis der Wahrnehmung und die Voraussetzung der Wahrnehmung, also meine bisherigen Erfahrungen und mein Wissen in Bezug auf Bäume. Als Resultat erscheint mir dann das, was ich sehe, als Baum. Wenn ich aber den Baum benutze, um mich vor wilden Tieren zu schützen, habe ich einen anderen Handlungsbezug, als wenn ich diesen Baum als Obstbaum oder als Holzlieferanten sehe. Er ist immer verbunden mit einer bestimmten soziokulturellen Setzung, die ihrerseits Voraussetzungen in Anspruch nimmt. +Die Medien erwecken aber den Eindruck, Fakten und Wirklichkeit zu vermitteln. +Das ist die notwendige journalistische Ideologie. Würde man die einstampfen, bräche das Mediensystem zusammen. Jeder Journalist weiß: Was er mitteilt, ist eine höchst selektive Beobachtung unter artifiziellen Bedingungen. Ein einfaches Beispiel: In den Abendnachrichten wird ein so komplexes Geschehen wie ein Parteitag auf zweieinhalb Minuten eingedampft. Welchen Politiker bringe ich ins Bild, welche Stellungnahmen zeige ich, welchen Blick auf das Publikum? Zu diesen medienbedingten Selektionen kommen meine Einstellungen und Bewertungen als Journalist. Was dabei herauskommt, ist eine spezifische Medienwirklichkeit, die nicht verwechselt werden darf mit irgendeiner wirklichen Wirklichkeit. +Werden wir als Zuschauer permanent getäuscht? +Ich bin dagegen, hier von Irreführung zu reden. Mir geht es vielmehr um eine Medienerziehung, die unser Bewusstsein dafür schärft, dass wir als Zuschauer, Leser und User nur Beobachter zweiter Ordnung sind. +Setzt ein gedeihlicher Meinungsstreit in der Demokratie nicht voraus, dass sich erst mal jeder der Wahrheit etwas näher wähnt? +Mein Eindruck ist zunächst mal: Die Politik tut sich auch deshalb immer schwerer, sich den Bürgern zu vermitteln, weil ihr niemand mehr abnimmt, dass sie die ungefilterte Wahrheit besitzt. Und deshalb werden auch die Auseinandersetzungen entweder krasser oder beliebiger – und verkommen zu einer Rhetorik, die kaum noch Inhalte transportiert. Das ist der Preis, den wir dafür bezahlen, dass wir es mit Wirklichkeitsproduktionen zu tun haben. Aber eigentlich müsste uns das gar nicht lähmen. Würde man mit der Prozesshaftigkeit des Wahren offener umgehen, würde auch seine Diskursivität deutlicher zutage treten. Da muss permanent etwas verhandelt werden. Insofern gibt es einen ständigen Ansporn, in Debatten einzusteigen und alternative Möglichkeiten aufzugreifen, sie zu kritisieren oder sie zu ersetzen. +Dagegen spricht aber, dass es in der Politik immer auch um Macht geht. +Der Machtaspekt, der verbunden ist mit einer substantivierenden Wahrheitsdebatte, würde in der Tat reduziert. Man macht dann aus politischen Gegnern keine Feinde mehr, die es zu bekämpfen gilt. Stattdessen brauchen wir die Fähigkeit zum spielerischen Umgang: angesichts der vielen Möglichkeiten nicht zu verzweifeln, sondern sich die Lust am eigenen Standpunkt zu bewahren, aber dennoch zu schauen, was ich aus all den Alternativen für meine eigene Wirklichkeitsproduktion gebrauchen kann. Eine Gesellschaft, die auf breiter Basis diese Einstellung übernähme, würde die Überheblichkeit des eigenen Wahrheitsanspruchs verlieren. Den kann man heute ja im Grunde sowieso nicht mehr aufrechterhalten: Von den sozialen Netzwerken bis hin zu den traditionellen Massenmedien bekommen wir 24 Stunden am Tag Wahrheitsalternativen aus aller Welt geliefert. Das ist die heutige sogenannte Kontingenz: Man kann es so sehen, man kann es aber auch ganz anders sehen. +Führt die denn am Ende nicht zu einer Gleichgültigkeit der Zuschauer? +Ich versuche, dem Ganzen eine positive Seite abzugewinnen: Wenn wir uns bewusst machen, dass wir oft Beobachter zweiter Ordnung sind, werden wir selbstkritisch. Und Selbstkritik hat nichts mit Relativismus zu tun. Vielmehr ist sie ein Impulsgeber. Die Voraussetzung, von der wir ausgehen, wird heute ständig gebrochen im Lichte der Wirklichkeiten, die rund um uns herum in den Medien und im Austausch mit anderen Personen auftauchen. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann sagen "Rutsch mir den Buckel runter, mir reicht meine Wirklichkeit". Dann werde ich Ideologe. Das andere Extrem wäre ein Relativismus, wenn man sagt: "Was soll's, auf dieser Welt ist inzwischen wohl alles möglich." Dem sollten wir heute einen differenzierten Relativismus entgegensetzen. Einen, der sagt: Ich muss mit Alternativen rechnen. Denn das macht kreativ. Das ist für mich die überzeugendere Antwort auf die moderne Kontingenzerfahrung. +Kleines Problem: Da sich alles so relativiert hat, können die Mächtigen auch mehr oder weniger ungestört ihre Version der Wahrheit mittels Public Relations und Werbung mit großer Wucht unters Volk bringen. +Sicher, es gibt verschiedene Formen der Beanspruchung von Wahrheitsbehauptungen. Und PR ist eine der elegantesten. Aber ich denke, dass trotzdem nur noch Narren an die Behauptungen von PR und Werbung glauben. Da hat man sich doch längst daran gewöhnt, dass es sich hier um eine bestimmte Konstruktion von erwünschter Wirklichkeit und erwünschter Handlungsvollzüge handelt – und nicht um irgendeine Realitätsabbildung. +Aber wie verhindern wir bei der von Ihnen vorgeschlagenen Verflüssigung des "Wahren", dass Debatten beliebig werden? +In der Wissenschaft hat man gelernt, mit Einspruch, Kritik und Widerspruch umzugehen. Damit Debatten nicht ins Unendliche abgleiten, wurden akzeptable Stoppsignale entwickelt, an denen sich die Mehrheit orientieren kann: Okay, das erscheint uns nach den verfügbaren Wissensbeständen jetzt akzeptabel, dazu haben wir vorläufig kein weiteres sinnvolles Argument. Es gibt keine Wahrheit, aber wir brauchen sie. Wir brauchen sie auch als ein solches vorläufiges Stoppsignal. +Siegfried J. Schmidt gilt als Begründer der konstruktivistischen Literatur- und Medientheorie in Deutschland. Diese Denkschule geht von der philosophischen Annahme aus, dass wir als Menschen keinen direkten Zugang zu der Welt und den Dingen um uns herum haben. Wir erkennen sie nur indirekt über die Sinneseindrücke, die unser Gehirn in ein Bild der Realität umsetzt. Diese Realitätsbilder der Einzelnen werden interpretiert und geprägt im Umgang mit anderen Menschen – und durch die Wirklichkeiten, die uns durch Medien vermittelt werden. In diesem Sinne handelt es sich also nur um Konstruktionen. + diff --git a/fluter/es-hat-klick-gemacht.txt b/fluter/es-hat-klick-gemacht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0ba9c150588aaa1d2b0c3713f79f388ccfccee0e --- /dev/null +++ b/fluter/es-hat-klick-gemacht.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Knapp zehn Millionen Aktive hat Avaaz nach eigenen Angaben weltweit – etwa 700.000 in Deutschland. "Die meisten haben wir in Frankreich, Brasilien, Indien und in Deutschland, wo wir durch erfolgreiche Kampagnen bekannt geworden sind", sagt Kampagnenmacher Pascal Vollenweider. Mitglied wird, wer sich für den Newsletter registriert oder Petitionen unterstützt hat und weiterleitet. Menschen wie Albertus, der schon an zig Kampagnen mit seiner Unterschrift mitgewirkt hat. Beim ersten Mal spendete er fünf Euro für die weltweite Aktion "Rettet Sakineh". Es ging darum, die Iranerin Sakineh Mohammadi Ashtiani vor dem Tod durch Steinigung zu bewahren. Tatsächlich wurde das Urteil Anfang des Jahres in eine mehrjährige Gefängnisstrafe umgewandelt. +"Die Macht des Volkes zeigt ihre Wirkung und wird überall auf der Welt immer deutlicher bemerkbar", heißt es in einer Mail von Avaaz an die Mitglieder im Juni 2011. Und: dass ihr Erfolg nur möglich sei, weil so viele Mitglieder bei den Kampagnen mit Hoffnung, Energie und Visionen mitmachten und die Nachricht verbreiteten. Ein Blick zurück: Bereits in den Anfängen des Mitmach-Internets Web 2.0 Anfang des neuen Jahrtausends stieg die Zahl politisch aktiver Plattformen, die das Ziel hatten, Beteiligung einfach und spannend zu machen und mehr auf die Kommunikation zwischen Bürgern und politischen Akteuren zu setzen. +Auch US-Präsident Barack Obama verdankt seinen Wahlsieg von 2008 zu einem wesentlichen Teil der Internetgemeinde und dem 1998 gegründeten Kampagnennetzwerk MoveOn.org, das später auch Avaaz und Campact in ihrer Arbeit inspirierte. Campact konzentriert sich auf deutsche Themen. Die feste Basis des aus mittlerweile knapp 500.000 Aktivisten bestehenden, Ende 2004 entstandenen Netzwerks bilden gut 7.700 zahlende Voll- und 12 stimmberechtigte Vereinsmitglieder. Viele der Mitstreiter stammen aus dem Umfeld des globalisierungskritischen Netzwerks Attac. "Campact ist in der deutschen sozialen Bewegung verwurzelt und linksliberal orientiert", sagt Blogger Beckedahl. +Bei der inhaltlichen Arbeit von Online-Kampagnennetzwerken geht es um Agenda-Setting – also darum, wie ein Thema auf die Tagesordnung gebracht werden kann. Einfach nur gegen etwas zu sein, reicht nicht, um Aufmerksamkeit zu erlangen und geklickt zu werden. Wichtig ist die Botschaft einer Kampagne. Wer zeigt, wie das Handeln des Einzelnen den Status quo verändern kann, animiert Nutzer, sich zu engagieren. "Wir identifizieren den richtigen Moment und müssen eine sinnvolle und attraktive Aktion anbieten, bei der Menschen mitmachen wollen", sagt Vollenweider von Avaaz. Ein Blogger von Campact, Yves Venedey, ergänzt, dass eine Kampagne Aussicht auf Erfolg versprechen und das Thema skandalisierbar sein müsse. "Außerdem muss in absehbarer Zukunft eine politische Entscheidung anstehen, bei der wir mit unserem Protest einschreiten wollen." Dabei sei auch das Layout einer Nachricht wichtig. So brauche es einen kurzen Teaser-Text, und der Link zur Petition dürfe nicht zu weit unten sitzen, weil viele Leser erst gar nicht so weit herunterscrollten. "Außerdem dürfen nicht zu viele Kampagnen auf einmal laufen, weil bei zu vielen Mails der Newsletter auch gerne wieder abbestellt wird", sagt Venedey. +Im Gegensatz zu etablierten Organisationen wie Amnesty International, die das Netz ebenfalls für ihre Aktionen nutzen, bieten Online-Kampagnennetzwerke wie Avaaz oder Campact ein flexibles Rundum-Paket. Sie haben mehr Themen und ein breiteres Spektrum an Aktionen im Angebot. Hinzu kommt, dass man nicht erst schriftlich beitreten muss, sondern von Fall zu Fall aktiv werden kann. Es stellt sich nur die Frage, ob das Engagement der Mitglieder nicht unverbindlich und sprunghaft bleibt, wenn es kein Oberthema gibt – wie die Umweltpolitik bei Greenpeace oder die Menschenrechte bei Amnesty. Und: Sind Protestler, die sich online beteiligen, zwangsläufig auch Aktive, die auch auf die Straße gehen? +Kritiker sagen, dass die sogenannten Sofa-Demokraten zwar Petitionen unterschreiben, ihre Energie danach aber verpuffe. Doch wie hoch die Bindung einzelner wirklich ist, ist unklar. "Klickaktivisten gab es in anderer Form auch schon früher. Das waren diejenigen, die in der Fußgängerzone Petitionen gegen Tierversuche unterschrieben und zu Hause auch nicht mehr unbedingt daran gedacht haben", meint Blogger Beckedahl. Der Online-Protest böte jedoch bessere Möglichkeiten, kurzfristig Aktive zu Langzeitaktivisten zu machen und nachhaltig zu wirken. "Und wer früher in seinem Dorf kaum Möglichkeiten hatte, große Aktionen zu organisieren, kann jetzt mit Leuten aus Rostock oder München Aktionen im Netz planen." +Mit ein paar Klicks die Welt zu verändern ist nicht einfach. Auch, weil eine elektronische Unterschriftenliste allein nicht ausreicht, um Hunger oder undemokratische Regierungen zu bekämpfen. Der Appell muss raus aus dem Netz auf die Straße. Das wissen auch die Macher von Avaaz und Campact. "Das Wichtigste ist die Übergabe einer Petition, um deutlich zu machen, dass die Unterschriften nicht im schwarzen Loch des Internets verschwunden sind", sagt Venedey. So wurde die Campact-Petition zum Atomausstieg im Juni 2011 an SPD und Grüne übergeben. Auf diese Art würde Campact Online- und Offline-Kampagnen miteinander verknüpfen und gleichzeitig auf die Kooperation mit anderen Organisationen setzen. "Es geht darum, Bilder für die Medien zu schaffen. Doch müssen wir aufpassen, dass wir dabei nicht zu Statisten auf einem Pressefoto werden", sagt Venedey. Ihre erfolgreichste Kampagne sei bisher der "Abschalten"- Appell an Bundeskanzlerin Angela Merkel gewesen, bei dem direkt nach dem Unglück von Fukushima zig Demonstrationen und Menschenketten gestartet wurden und die größte Petition von 318.402 Menschen unterschrieben worden sei. +Ob der Online-Protest gegen die wachsende Politikverdrossenheit hilft? "Das Erstarken der Anti-Atom-Bewegung hier in Deutschland wäre ohne Campact nicht denkbar gewesen, weil es über Instrumente zur Massenmobilisierung verfügt", sagt Blogger Beckedahl, der keine Politik-, sondern eine Parteienverdrossenheit in Deutschland erkennen kann. Avaaz- und Campact-Mitglied Albertus glaubt, dass durch Online-Kampagnen auch die Menschen aktiv werden könnten, die schon immer den Wunsch gehegt, aber nicht gewusst hätten, wie sie es anstellen sollen. "Und selbst wenn ein Aktivist dabei zu Hause auf seiner Couch sitzen bleibt, denkt er trotzdem darüber nach, für welches Thema er mit seiner Stimme klickt." +Sit-ins: Der Begriff "Sit-in" hat nichts mit einem gemütlichen Beisammensein bei Cola und Chips zu tun. Seit den 1960er Jahren bezeichnet er eine Protestform, die Gegner mit viel Sitzfleisch statt mit Gewalt überzeugen soll – damals vor allem im Kampf gegen die Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten. Anstoß war der Protest von vier farbigen Studenten im US-Staat North Carolina, die in einem Fastfood-Restaurant Platz nahmen, das nur Weiße bediente. Dem Beispiel folgten danach immer mehr Schwarze und begründeten damit eine mächtige Bürgerrechtsbewegung. diff --git a/fluter/es-ist-die-aufgabe-von-kuenstlern-ueber-menschenrechte-zu-sprechen.txt b/fluter/es-ist-die-aufgabe-von-kuenstlern-ueber-menschenrechte-zu-sprechen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f7edb57ad0883ec57260ac0488b6d7513559a761 --- /dev/null +++ b/fluter/es-ist-die-aufgabe-von-kuenstlern-ueber-menschenrechte-zu-sprechen.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Die schlechte wirtschaftliche Situation hat besonders junge Menschen auf die Straße gebracht. Worum geht's noch in den Protesten? +Es sind Proteste der Arbeiterklasse gegen alles: gegen ihre Einkommenssituation, aber auch gegen das Regime; und gegen die, die schweigen. Die Mittelschicht und die iranischen Intellektuellen haben sich den Protesten größtenteils nicht angeschlossen. Die Kluft zwischen ihnen und den Bürgern, die trotz Arbeit arm sind, vergrößert sich. Das ist bedauernswert. Aber es gab Demonstrationen in mehreren Dutzend Städten, und es war zumindest ein Wille zur Revolution spürbar. Nun sind die iranische Revolutionsgarde und der iranische Geheimdienst sehr aktiv. Es gab mehrere hundert Gefangene und mehr als 20 Tote. Da kann man nicht mehr ständig auf der Straße bleiben. + + + +Sie kamen 2005 nach Deutschland, wo Sie Asyl beantragten. Wie sehen Sie Ihre Rolle als Musiker im Exil? +Was die Menschen im Iran wollen, ist Freiheit. Solange der Iran keine Regierung hat, die sich mit Bildung beschäftigt, ist es die Aufgabe von Künstlern und Intellektuellen, über Menschenrechte zu sprechen. Das mache ich mit meiner Musik, mit meinen Texten. Mit meinen Liedern sage ich: Ich bin Teil einer Bewegung des Aufbruchs. +Im Iran ist Ihre Musik verboten. +Das stimmt. Auch Youtube-Videos werden zensiert, aber es gibt andere Wege, meine Lieder zu hören: Mit Proxy-Servern oder Telegram, ein im Iran sehr beliebter Messenger-Dienst, lassen sich die Sperrungen umgehen. Mein letztes Album wurde mehr als vier Millionen Mal heruntergeladen. Aber es ist gefährlich, meine Musik zu hören. Zwei Brüder, selbst Künstler, die auf einer Website auf mich verlinkt haben, wurden 2013 vom iranischen Geheimdienst festgenommen. Sie wurden zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Und die iranischen Politiker reden im Ausland über Freiheit – wie dreist ist das! +Wie arbeiten denn Künstler im Iran? +Es gibt viele, die sich mit der Regierung arrangiert haben. Die können auftreten und verdienen gut. Du kannst arbeiten und hast deine Ruhe, solange du drei Themen nicht ansprichst: Politik, Religion und Sexualität. Aber sobald du diese Tabus thematisierst, wird es gefährlich. Dann arbeiten Künstler im Untergrund und verdienen kaum Geld. Und wenn du Probleme mit dem Regime bekommst, war es das. Auch Künstler im Exil berühren diese Tabuthemen oft nicht, aus Angst um ihre Familien im Iran. +Haben Sie diese Angst nicht? +Shahin Najafi, geboren 1980, ist ein iranischer Musiker und Aktivist. Er singt über Armut, Sexismus, Zensur und die Rechte von Homosexuellen. 2005 floh er nach Deutschland, wo er Asyl beantragte +Ich versuche, nicht darüber nachzudenken. Mich mit anderem zu beschäftigen. Ganz klar: Was ich mache, ist gefährlich. Aber meine Musik ist mein Werk, mein Leben. Ich kann nicht darauf verzichten und zurückkehren. Die Sorge um meine Familie, um meine Freunde im Iran und im Ausland begleitet mich. Da ist ein andauernder Druck, der sich durch die Fatwa verstärkt hat. +Im Jahr 2012 wurde gegen Sie wegen Gotteslästerung und Abfall vom Glauben eine Todes-Fatwa erlassen. Auf Sie wurde ein Kopfgeld ausgesetzt. Ihr Leben in Deutschland danach wurde in dem Dokumentarfilm"Wenn Gott schläft"nachgezeichnet. Wie hat es sich verändert? +Um das zu erklären, braucht es ein Buch. Ich versuche selbst noch zu verstehen, was das mit mir gemacht hat. Nach der Fatwa habe ich versucht, mich anonym zu bewegen. Aber es gab auch Drohungen gegen meine Fans, Bombendrohungen gegen meine Konzerte, um sie zu verhindern. Ich frage mich oft: Wie bleibe ich psychisch stabil? Und wie kann ich mental stärker werden? Die Fatwa hat aber tatsächlich auch etwas Positives gebracht: Ich hatte Aufmerksamkeit und erstmals deutsche Freunde, Künstler und Intellektuelle. Nach sieben Jahren in Deutschland hatte ich also die Chance, die Gesellschaft kennenzulernen. Ich habe mich erstmals wie ein echter Bürger Deutschlands gefühlt. Davor hatte ich nicht viele Möglichkeiten, aus der iranischen Exil-Community auszubrechen. +Als Sie 2005 aus dem Iran flohen, kam dort Mahmud Ahmadinedschad an die Macht. Was hat sich für Künstler im Iran seit damals verändert? +Politisch gab es unter Präsident Mohammed Khatami bis 2005 kleine Freiheiten, die es in den acht Jahren danach unter Mahmud Ahmadinedschad nicht mehr gab. Das war eine schlimme Zeit. Seit 2013 gibt es unter Hassan Rohani wieder Wege, Politik, Religion oder Sex zu thematisieren. Ich spreche von nichts Radikalem, aber von kleinen Freiheiten. Einige Rapper – ich nenne jetzt keine Namen – äußern sich über Gesellschaftsthemen. +Was sind das für Themen? +Sie rappen über Frauenrechte oder gegen Aggressivität. Sie kritisieren eine soziale Situation, ohne explizit die Politik anzusprechen. In der iranischen Gesellschaft gibt es viele Tabus, und auch wenn viele Menschen nicht so religiös sind, sind diese verankert in den Traditionen und Moralvorstellungen. Indem ich aus dem Exil über die Rechte von Frauen oder von Homosexuellen singe, überschreite ich Grenzen. Ich breche bewusst Tabus. Und nach mehr als zehn Jahren kann ich sagen: Es funktioniert. Die neue Generation im Iran versucht, selbst für ihre Freiheit zu kämpfen. +Titelbild: Stringer/Anadolu Agency/Getty Images +Mehr zu den Protesten im Iran findest duhier. diff --git a/fluter/es-ist-doch-nicht-so-schwer.txt b/fluter/es-ist-doch-nicht-so-schwer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..995bba87917b817c0e6194cd153c84bbb8168c92 --- /dev/null +++ b/fluter/es-ist-doch-nicht-so-schwer.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Ich habe zuletzt oft mit Leuten gesprochen, die ihre Meinung über Politiker nur aus den Medien haben. Man sollte sich doch zumindest die Mühe machen, genauer hinzuschauen, die Parteiprogramme lesen. Aber vielen fällt erst kurz vor knapp ein, dass Wahlen anstehen. Sie erkennen auch nicht das Ausmaß, in dem Politik über ihr Leben bestimmt. +Mir ist klar geworden: Die Partei oder die Koalition, der ich meine Stimme gebe, wird nicht alles umsetzen, was sie jetzt ankündigt. Deswegen kann ich die Menschen verstehen, die sich über Politiker beklagen und sagen, dass die Politik ihre Versprechen nicht einhält. Man sollte damit rechnen, dass man in dem einen oder anderen Punkt enttäuscht wird. Trotzdem will ich mitentscheiden. Wir haben doch kürzlich bei den Landtagswahlen in Niedersachsen gesehen: Nur ein paar Hundert Stimmen können den Unterschied ausmachen. +Okan Bellikli, 21, studiert in Freiburg Politikwissenschaft und schreibt für das Blog Junge-Wahlbeobachter.de + +Eine alte Frau sagte einmal zu mir, was sie an den Wahlen merkwürdig finde, sei, dass man seine Stimme abgeben müsse. Sie würde ihre Stimme lieber behalten. Das geht mir genauso: Ich möchte nicht nur jemanden wählen, der für meine Anliegen eintritt, sondern lieber direkt mitbestimmen. Jemandem nur ein Mandat zu erteilen ist für mich eine Art Kontrollverlust. Ich gehe auch deshalb nicht wählen, weil ich keinen Politiker abwählen kann, wenn er seine Versprechen bricht. +Zum ersten Mal habe ich bei der Europawahl 1999 gewählt, da war ich 18. Bei der darauffolgenden Bundestagswahl war ich schon nicht mehr dabei. Seitdem habe ich mich viel mit dem demokratischen System und Alternativen dazu beschäftigt. Denn ich bin sehr an politischen Prozessen und Entscheidungen interessiert. Die Politik in meiner Stadt beobachte ich kritisch und versuche hin und wieder, öffentlich zu machen, was mir gegen den Strich geht, und Diskussionen anzuregen. Zum Beispiel mithilfe der Lokalpresse. Ich bin nicht frustriert oder verdrossen, ich glaube nur, dass Parlamente und Parteien die Menschen nicht richtig vertreten können. +Unabhängig davon, wie gut oder schlecht die Politik ist: Die Vorgänge in den Parlamenten und anderen Organen sind oft abstrakt, autoritär und leblos. Eine Auseinandersetzung mit der Realität findet in der hiesigen Politik nicht statt. Was in irgendwelchen abgehobenen Gremien passiert, macht mein Leben und die Gesellschaft nicht besser. In meinen Grundsätzen sehe ich mich als Anarchisten. Das hat nichts damit zu tun, dass ich Unordnung stiften will. Es bedeutet, dass ich für eine Politik der Selbstbestimmung eintrete. Demokratie funktioniert aus meiner Sicht nur als Basisdemokratie, in der Menschen über alle gesellschaftlichen Angelegenheiten abstimmen können. Statt die Macht einem Parlament zu geben, treffen sie selbst Entscheidungen, mit denen alle leben können. Es wäre schön, die Verantwortung auf viele Menschen in der Gesellschaft zu verteilen und dadurch die Kontrolle zu behalten. +Ich weiß, dass vieles davon Utopie ist und ich durch meinen akademischen Hintergrund eher an Theorien gewöhnt bin. Aber zumindest im Lokalen kann das funktionieren. Und ich bin sicher, dass sehr viele Menschen Lust hätten, sich stärker einzubringen. Viele Wähler glauben, dass es damit getan ist, bei der Wahl ihre Stimme abzugeben. Sie glauben, dass die Politik alles regelt – wie ein Dienstleister. Und viele geben ihre Stimme bewusst dem kleineren Übel. Diesen Kompromiss einzugehen, darauf habe ich keine Lust. +Benjamin Frank, 32, aus Meerbusch hat kürzlich sein Studium als Diplom-Pädagoge beendet diff --git a/fluter/es-ist-ein-machtspiel.txt b/fluter/es-ist-ein-machtspiel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/es-ist-nie-zu-spaet-nicht-zu-sterben.txt b/fluter/es-ist-nie-zu-spaet-nicht-zu-sterben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d9483b9cb5cdad871f837cbd2338cac349ae5b86 --- /dev/null +++ b/fluter/es-ist-nie-zu-spaet-nicht-zu-sterben.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Sie erweckt all die Erloschenen zum Leben, bringt ihre Säfte wieder zum Fließen und macht so einen dicken Strich durch Stumps Kalkül. Die Rentner machen Party, tanzen, plantschen im Sumpf, und manche schlafen sogar wieder miteinander. Um dieses anachronistische Schauspiel zu beenden, erhöht Stump jeden Tag die Whiskeydosis, doch es nutzt nichts. Am Ende sind nicht die Alten, sondern er selbst dem Untergang geweiht. +Der 2012 verstorbene US-Autor Harry Crews hat schon zu Lebzeiten viele Etiketten bekommen: Einen "Hieronymus Bosch der Literatur" hat man ihn genannt, weil er so apokalyptische Szenarien erschuf. Einen Vertreter des sogenannten "Southern Gothic" – ein Cluster für düstere Romane aus dem Süden der USA. Und, klar: Weil er selbst aus White-Trash-Verhältnissen stammt, gilt er als megaauthentischer Chronist des amerikanischen Verfalls. +Kann alles sein, sagt aber über ein Buch wie dieses wenig aus. Denn neben aller sinistren Verschrobenheit ist "Florida Forever", das im englischen Original bereits 1988 erschienen ist, ein ziemlich lustiges Werk. Was sich die überspannte Too Much so an Grenzerfahrungen für ihre Umwelt einfallen lässt, ist bei allem Horror stets komödiantisch. Und dann hat das Buch noch eine verdammt tröstliche Botschaft: Es ist nie zu spät, nicht zu sterben. diff --git a/fluter/es-kommt-was-ins-rollen.txt b/fluter/es-kommt-was-ins-rollen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..81e2e8967c216c85f3698ef3168ab8f5ed56200f --- /dev/null +++ b/fluter/es-kommt-was-ins-rollen.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +In Deutschland löst allein schon das Wort Ängste aus. Die meisten Menschen denken an drakonische Strafen wie Steinigung und Handabhacken, an Brüder, die ihre Schwestern ermorden, weil die sich gegen eine Zwangsheirat wehren. Doch all das ist nur ein Bruchteil dessen, was die Scharia darstellt und was in ihr geregelt ist. Die Scharia besteht nicht nur aus Verboten, sie ist eher eine Art Richtschnur des islamischen Lebens, die von den täglichen Gebeten über die rituelle Waschung und Bekleidungsordnung bis hin zu den Regelungen im Straf- und Familienrecht reicht, die in westlichen Ländern am umstrittensten sind: So bevorzugt das Erbrecht die männliche Verwandtschaft. Die Regelungen für Ehe, Scheidung und Vormundschaft der Kinder fallen ebenfalls zugunsten des Mannes aus. Entstanden im 9. Jahrhundert n. Chr. galt die Scharia bis ins 19. Jahrhundert in der gesamten islamischen Welt. Erst dann begannen Reformen, die Scharia wurde ersetzt, ergänzt und überlagert. In der Mehrzahl der islamischen Staaten gilt die Scharia heute nur noch in einzelnen Bereichen. In der Türkei ist sie seit 1926 ganz abgeschafft. In Ländern wie Saudi-Arabien und Iran gibt es auch die radikale Auslegung der Scharia und Verurteilungen zum Tod durch Steinigung. +Und in Deutschland, wo Millionen Muslime leben und der Islam, wie Bundespräsident Christian Wulff gesagt hat, dazugehört? Da "gilt das Grundgesetz und nicht die Scharia", sagt Angela Merkel. Der Rechtswissenschaftler und Islam- Experte Mathias Rohe, der an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen- Nürnberg Professor für bürgerliches Recht, internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung ist, korrigiert die Kanzlerin. Er sagt: "Auch in Deutschland können Normen der Scharia angewendet werden." Denn unser Gesetz lasse die Umsetzung mancher Normen in bestimmten Umfang zu. Steinigung und Grundgesetz, das passt natürlich nicht zusammen: "Beim Strafrecht gelten ausschließlich die deutschen Regeln", sagt Rohe. +Also sind Peitschenhiebe bei Ehebruch oder gar die Todesstrafe beim Kirchenaustritt nicht erlaubt. Aber es gibt anderes, worüber man reden kann – und worüber geredet wird, zum Beispiel die rechtlichen Vorschriften im Bereich Vertrags- und Familienrecht. Diese Fälle werden schon länger nach dem deutschen "internationalen Privatrecht" (IPR) verhandelt. Es bestimmt, welches Recht bei Fällen, in denen die Betroffenen aus dem Ausland kommen, angewendet werden muss. So kommt es, dass ein aus dem Iran stammendes Paar auch in Deutschland nach iranischem Recht verheiratet oder geschieden wird. Oder die Zweitfrau eines Mannes bestimmte Ansprüche auch hier geltend machen kann. Justizirrtümer sind da nicht ausgeschlossen. Für Aufsehen sorgte ein Fall, der 2007 in Frankfurt verhandelt wurde. Damals war eine 26-jährige Deutschmarokkanerin vor das Amtsgericht getreten, um sich von ihrem gewalttätigen Ehemann scheiden zu lassen. Doch die Richterin lehnte es ab, weil das im islamischen Recht vorgesehene Trennungsjahr noch nicht vorüber war und die "Ausübung des Züchtigungsrechts" im "marokkanischen Kulturkreis" nicht unüblich sei. Eine unzumutbare Härte, die die sofortige Scheidung begründet hätte, sei deshalb nicht vorhanden. +Ein Ausreißer? Oder schleicht sich die Scharia allmählich in Deutschland ein? Für Prof. Rohe war das Urteil ein einmaliger Fall, der zudem sofort korrigiert wurde. "Der Koran gilt weder hier noch in Marokko als Recht. Auch dort kann sich eine Ehefrau scheiden lassen, wenn sie Schaden nimmt in der Ehe." Die Herleitung der Richterin sei "absoluter Käse". Tatsächlich hat das deutsche IPR für solche Fälle vorgesorgt – durch den Ordre- Public-Vorbehalt. Demnach darf eine ausländische Rechtsnorm nicht angewendet werden, wenn sie im Ergebnis mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts unvereinbar ist. Rohe betont: "In Deutschland gilt grundsätzlich deutsches Recht. Der Gesetzgeber erlaubt aber, die Türe ein Stück weit aufzumachen, sodass auch islamisches Recht zur Anwendung kommen kann. Das Grundgesetz darf aber nicht verletzt werden." +Die Türe lieber ganz schließen will die Frauenrechtlerin Seyran Ates. "In Deutschland darf es keine Rechtspluralität geben", fordert sie. Gerade im Bereich Familienrecht dürfe man keinen Schritt nachgeben. Die 47-Jährige arbeitete selbst jahrelang als Anwältin und vertrat – ebenfalls nach dem IPR – schon Mandantinnen, deren Männer polygam lebten, also gleich mehrere Ehefrauen hatten. "So eine Ehe ist hier zwar nicht legal akzeptiert, aber sie wird anerkannt. Ansonsten hätten die Frauen keinerlei Rechte auf Unterhaltszahlungen oder bei den Sozialversicherungsansprüchen." Ates befürchtet dennoch, dass eine Parallelgesellschaft in Deutschland entstehen könne. "In bestimmten Fragen vertrauen manche Muslime mehr dem Imam, der in der Moschee die Rolle des Richters übernimmt." Für viele Muslime sei der Vorbeter einer Moschee eine objektive Instanz, die über Familienstreitigkeiten oder Konflikte mit dem Nachbarn urteilen kann. Die Sitzungen beim Imam endeten meist so, dass den Frauen der Vorwurf gemacht werde, sie verhielten sich nicht so, wie sie sollten. +Befürworter einer begrenzten Anwendung von islamischem Recht glauben hingegen, dass sich die Entstehung zweier Rechtswelten gerade durch Entgegenkommen verhindern lasse, und führen als Beispiel das sogenannte Schächten an: So hat es das Bundesverfassungsgericht 2002 als religiöses Gebot anerkannt, Tiere ohne Betäubung ausbluten zu lassen. Ein Zugeständnis an die Religionsfreiheit – das allerdings nur per Ausnahmegenehmigung in Abwägung des Tierschutzes möglich ist. "Es ist wichtig, das Signal auszustrahlen: ‚Wir verstehen euch.' Sonst verprellen wir Teile der Gesellschaft", sagt Islamexperte Rohe. +Eine wichtige Rolle für den Rechtsfrieden könnten in Zukunft die Imame spielen, die religiös Gelehrten. Sie schlichten bei Streitigkeiten, legen Leitlinien in Glaubensfragen fest, sind Seelsorger und Vorbilder. Ihr Wort hat in den meisten Familien Gewicht: Darf man eine Freundin vor der Ehe haben? Ist täglich fünfmal beten Pflicht? Muss eine Frau Kopftuch tragen? Allerdings ist die große Mehrheit der geschätzt 2000 Imame in Deutschland aus dem Ausland gekommen, der Türkei, Marokko oder Ägypten, ohne viel von Deutschland zu wissen oder die Sprache zu sprechen. Ein großes Manko, findet Bülent Ucar. Der 34-Jährige ist Professor für islamische Religionspädagogik in Osnabrück, wo im Oktober 2010 eine zweisemestrige Fortbildung für Imame startete – eine Schulung in Landeskunde, Kultur und Politik. Ende 2012 soll ein eigener Studiengang für Imame beginnen. "Wir brauchen gut ausgebildete Leute, für die Scharia kein monolithischer Block von Vorschriften ist", sagt Ucar. "Imame, die neben der traditionellen Auffassung im Islam auch andere kennen." +Wo diese Vorbilder fehlen, sei zu viel Platz für Prediger, die ihre Gemeinde mit einfachen Botschaften verführen und dann Urteile treffen, die mit dem deutschen Recht nicht vereinbar sind. Oder gar ein quasi paralleles Justizsystem, wie es sich in Großbritannien entwickelt hat – ganz offiziell. Scharia-Räte überall im Land sprechen Fatwas – Rechtsgutachten – darüber aus, wie sich Muslime zu verhalten haben. Die Entscheidungen über Ehen oder Erbschaften sind rechtlich bindend, wenn sie nicht mit dem englischen Gesetz in Konflikt geraten und die Beteiligten mit der Wahl einverstanden sind. In Deutschland ist ein vergleichbares System nicht zu erwarten. Die Mehrheit der Muslime mit deutscher Staatsangehörigkeit ist mit dem deutschen Rechtssystem zufrieden: 73 Prozent von ihnen vertrauen deutschen Richtern, Staatsanwälten und Instanzen. Von der Gesamtbevölkerung tut das gerade mal knapp die Hälfte. diff --git a/fluter/es-war-einmal.txt b/fluter/es-war-einmal.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7cb1c1d148e13bee1485afcb8776a0c7e6e9f18e --- /dev/null +++ b/fluter/es-war-einmal.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Was tun, wenn man an seinem Arbeitsplatz nicht mehr gebraucht wird? Die Hauptfiguren der "Bremer Stadtmusikanten", Esel, Hund, Katze und Hahn sind alt, schwach und können keine Leistung mehr bringen. Ihre Besitzer wollen die treuen Tiere deshalb "schlachten", "totschlagen" und "ersäufen". Die Tiere fliehen gemeinsam nach Bremen um dort Musikanten zu werden. Auf der Reise dorthin entdecken sie ein Haus, das von einer Räuberbande bewohnt wird. Mit einer List verjagen sie die Gangster und besetzen das Haus: Indem sich die Tiere aufeinander stellen, bilden sie einen Furcht erregenden Super-Körper. Die Räuber haben Angst vor dem Zusammenhalt der Tiere und denken, sie hätten es mit Monstern zu tun. Die Lehre lautet also: Solidarität macht stark, allein ist man nicht klein. Die Tiere haben sich nicht mit ihrem Schicksal abgefunden. Und weil sie ihre unterschiedlichen Fähigkeiten für das gemeinsame Wohl einsetzen, erkämpfen sich die Tier-Rentner den Traum aller Arbeitnehmer: ein Häuschen im Grünen. +Erst sterben die Eltern, dann wird das kleine Mädchen obdachlos und steht mitten im Winter allein auf der Straße. Dort trifft es arme Leute, denen es sein letztes Stück Brot, die Mütze und auch sein letztes Hemd schenkt. "Und wie es so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel und waren lauter blanke Taler." Gesetzt den Fall, die Gebrüder Grimm schildern nicht die Halluzinationen eines erfrierenden Mädchens, ist die Geschichte wunderschön: Wer möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der Armut und Kälte von warmen Herzen weggeschmolzen werden – und das noch belohnt wird? Natürlich können sich auch im echten Leben gute Taten lohnen: Man schlägt sich Abende um die Ohren, um einem Freund bei der Abschlussarbeit zu helfen, später verschafft er einem einen guten Job. Wer aber garantiert, dass das so läuft? Dass man nicht an diesen Abenden seine Traumfrau kennen gelernt hätte, wäre man nicht am Schreibtisch gesessen? Und wenn es so wäre: Gleichen das dann auch die Sterne aus? +Ein eitler König bekommt eines Tages Besuch von zwei freischaffenden Stilberatern, die ihm ein Wunderwams versprechen. Das Kleidungsstück soll eine magische Fähigkeit besitzen: Für inkompetente Mitarbeiter ist es unsichtbar. Die Modeschöpfer weben gar keinen Stoff, weil aber keine der Hofschranzen als Idiot dastehen will, traut sich niemand, die Wahrheit zu sagen. Nur ein kleines Kind, das die Regeln des Spiels noch nicht kennt, sagt, was alle sehen:"Er hat ja gar nichts an." Der König ist blamiert, tut aber so, als habe er nichts gehört, und bleibt so an der Macht. Einen jeden plagen manchmal Zweifel an der gesellschaftlichen Ordnung: Ist Michael Ballack wirklich nicht zu ersetzen? Leben wir in der besten aller Welten? Dann sagt man sich:"Wird schon was dran sein, wenn alle das sagen." Aber man sollte solche Zweifel ernst nehmen .Es haben schon ganze Länder an die absurdesten Dinge geglaubt. Ob sich aber etwas ändert, wenn man es an- und ausspricht – das ist eine andere Geschichte. +Im Märchen "Von dem Fischer und syner Fru" fängt ein armer Fischer eines Tages einen großen Fisch, der ihm als Gegenleistung für seine Freiheit verspricht, alle Wünsche zu erfüllen. Auf Druck seiner Frau wünscht sich der Fischer vom "Buttje in der See" ein schönes Haus, später ein Schloss. Die Frau aber ist immer noch nicht zufrieden, sie möchte Königin, am Ende gar Gott werden. Im nächsten Moment sitzen die beiden wieder in ihrer alten schäbigen Hütte. Das Märchen kritisiert nicht den Reichtum an sich, sondern die Habgier, die durch diesen erzeugt wird. Wer immer mehr will, verliert irgendwann alles. Die Geschichte vom "Fischer und syner Frau " ist aber auch die ideale Erzählung für die unterprivilegierte Klasse, um sich ihrer moralischen Überlegenheit zu versichern: Wer reich ist, ist unzufrieden und damit im Grunde genommen arm. diff --git a/fluter/es-werde-gruen.txt b/fluter/es-werde-gruen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1f92a1e74cfadd8cd73861d2891550bf51f241be --- /dev/null +++ b/fluter/es-werde-gruen.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Die Geschichte beginnt in den späten 1950er-Jahren, als Yacouba Sawadogo, Kind armer Bauern, auf einer Koranschule trotz aller Anstrengungen nicht lesen und nicht schreiben lernte. Nur eines wusste der Junge besser als alle anderen: wo und wie die Bäume am besten wachsen und wie man aus ihrer Rinde, ihren Blättern Medizin macht. Als junger Mann, noch immer schreibunkundig, kehrte er in sein Dorf zurück. Er verkaufte Waren auf dem Markt einer nahe gelegenen Stadt, doch er war nicht zufrieden. "Ich führte das Leben eines Mannes, der vergessen hatte, dass ein Mann niemals für seinen eigenen Zweck leben sollte." +Anfang der 1980er-Jahre dann kam eine große Dürre wie ein Schreckgespenst über die Sahelzone auf Yatenga zugekrochen. Sie kam zu einer Zeit, als die Getreidespeicher ohnehin schon leer waren und die Menschen geschwächt. Kein neuer Halm wuchs, kein Tropfen befeuchtete den Boden. Rund 50 Millionen Menschen in den Ländern der Sahelzone hungerten. Wie viele genau starben, weiß niemand, manchen Schätzungen zufolge waren es eine Million. Und niemand hatte mehr Kraft, die Toten zu begraben. In Scharen flohen die Menschen aus ihren Dörfern, nach Ouahigouya und in andere Städte. Sie hofften, dem Hungertod zu entkommen, doch in den Städten gab es oft nur überfüllte Lager und Krankheiten. +Entsetzt von all diesem Leid, gab Yacouba seine sichere Existenz auf, um anderen zu helfen. Er besaß kein eigenes Land, das er hätte fruchtbar machen können. Er hatte nur eine Hacke. Die nahm er und ging dahin, wo nichts war. Nur leere Wüste. Ging mit dem Willen, die Wüste fruchtbar zu machen. "Ein Verrückter" haben ihn die anderen damals genannt. +Burkina Faso ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es ist unter anderem bewohnt von den nomadisierenden Fulbe und den sesshaften Mossi, die vom Ackerbau und der Viehzucht leben. Der größte Teil des Landes sind Savanne und wüster, trockener Boden. Je weiter man nach Norden kommt, desto karger werden Erde und Himmel. Schließlich öffnet sich die Landschaft wie ein Delta, und nur vereinzelte Bäume unterbrechen die Linie des Horizonts. +Yacouba besann sich auf Zaï, eine uralte Art des Ackerbaus, die praktiziert wird, wo der Boden verkrustet ist und das Regenwasser nicht aufnimmt, sondern abfließen lässt, wo Bäume keinen Schatten geben, wo heiße Sonne und Wasserarmut eine menschenfeindliche Allianz bilden. Es ist die Abkürzung des Wortes Zaïégré, das übersetzt bedeutet: früh aufstehen und den Boden bearbeiten. 60 Tage lang muss ein Mann fünf Stunden täglich die Erde aufhacken und Löcher graben, 20 Zentimeter breit, 20 Zentimeter tief, will er einen Hektar mit Zaï haben. +Jahrhundertelang hatten die Menschen in Burkina Faso Zaï betrieben, doch Zaï war langen Dürrezeiten nicht gewachsen. Die Erträge reichten nicht mehr aus, als die Bevölkerung wuchs, die Dürren länger wurden. Zu erkennen, dass man die alten Methoden verbessern muss, war vielleicht Yacoubas wichtigste Tat. Er vergrößerte die Zaï-Löcher, ummantelte den Samen mit einer Mischung aus Blättern, Dung und Asche, legte Reihen von Steinen, um den Abfluss des Regenwassers aufzuhalten. Er begann mit dem Hacken der Löcher im späten Frühling, nicht, wie es Tradition war, erst zur Regenzeit. Schon die erste Ernte war ein Erfolg, sie füllte Yacoubas Hirsespeicher, und die Nachricht von seinem Tun drang bis nach Ouahigouya. Jetzt kamen die Hungernden zu ihm, und er gab, solange er zu geben hatte. +Unterwegs in seinem Wunderwald: 42 Fußballfelder misst Yacoubos Werk inzwischen +Mehr als drei Jahrzehnte ist es nun her, dass Yacouba zum ersten Mal seine Hacke schwang. Seither sind die Menschen nach Yatenga zurückgekehrt, beseelt von einer Hoffnung, die keine der großen Hilfsorganisationen brachte, sondern einer der Ihren. In diesen Jahren hat sich der Grundwasserspiegel rund um Yacoubas Wald gehoben, und Hunderte Hektar Wüste sind Ackerland geworden. Nie wieder musste Yacoubas Familie – drei Frauen und inzwischen 60 Kinder und Enkelkinder – hungern. Yacouba veränderte die Düngerzusammensetzung, so dass Termiten angezogen werden, die den Boden aufwühlen. Das Regenwasser dringt nun leichter ein. Er stellt aus Rinde und Blättern, aus Früchten und Blüten Medizin her. Und sein Wald wuchs: Heute ist er 42 Fußballfelder groß, und darin stehen 60 verschiedene Bäume und Sträucher, die größte Artenvielfalt in diesem Teil der Sahelzone. +Mitte der 1980er-Jahre hörten die Menschen auf, in Yacouba einen Verrückten zu sehen, und fingen an, mit Respekt von ihm zu sprechen. Damals reiste der Wissenschaftler Chris Reij durch den Norden von Burkina Faso. Reij hörte von diesem Mann, der ödes Land begrünt, und war elektrisiert. "Ich hatte so viele schlechte, sinnlose Projekte gesehen, dass ich schon glaubte, wir würden das Problem des Hungers nie in den Griff bekommen. Dann traf ich Yacouba, und es war wie ein Lichtstrahl. Dieser Mann ist ein Visionär." +In den 1990er-Jahren holte Reij Bauern aus dem Niger und aus Mali nach Gourga, damit ihnen Yacouba sein Wissen vermittle. "Im Niger ist Yacoubas Zaï inzwischen noch viel erfolgreicher als hier. Abertausende Farmer praktizieren es dort mit großen Erfolgen." Und immer noch kommen jede Woche Bauern zu Yacouba. Viele von Yacoubas Schülern sind Frauen, die von ihren Männern verlassen wurden oder verwitwet sind. Ödes Land zu beackern, das ihnen keiner streitig macht, ist für die Frauen die einzige Möglichkeit, sich zu ernähren. "Wenn ihr bereit seid, hart zu arbeiten, dann wird Zaï euch und euren Kindern Essen und Frieden bringen", sagt Yacouba zu den Frauen, und sie nicken und schwingen die Hacken in den Himmel. +So wird's gemacht: Bei Yacoubo lernen andere Landwirte, wie man Zaï praktiziert +Wer Reij fragt, warum Yacouba das gelang, woran die Entwicklungshilfe und teuer bezahlte Spezialisten scheiterten, vernimmt vorsichtige Sätze über das Überlegenheitsgefühl der Weißen. Konzepte seien erfunden worden, die den Bedingungen, der Kultur und den Traditionen nicht angepasst waren und schon nach kurzer Zeit fehlschlugen. +2007 traf der Kameramann Mark Dodd auf Yacouba. "Ich sah Yacouba, wie er allein vor dem Horizont stand und Loch um Loch hackte. Es war, als sei ich einem Titanen begegnet." Dodd drehte einen Dokumentarfilm über Yacouba. Dieser trägt den Titel: "Der Mann, der die Wüste aufhielt". +Yacouba Sawadogo ist heute ein geachteter Mann in Burkina Faso. Er hat an internationalen Konferenzen teilgenommen und von Zaï erzählt. Nun aber ist er 73 Jahre alt und müde. Vor einiger Zeit war sein Wald in Gefahr. Das Land, das er beackert, gehört ihm nicht. Eines Tages kamen Landvermesser und schlugen Grundsteine in Yacoubas Boden. Einen setzten sie in Yacoubas Wald und sagten, die Hälfte des Waldes müsse abgeholzt werden. Yacouba ging zur Provinzregierung. Man sagte ihm, er könne das Land für umgerechnet 50 000 Euro kaufen. Yacouba sagte, so viel Geld werde er niemals besitzen. Seither sind einige Jahre vergangen, und Yacouba hat seinen Wald einfach weiter vergrößert. Rundherum sind Häuser entstanden, doch noch hat niemand es gewagt, einen einzigen von Yacoubas Bäumen zu fällen. Vielleicht wird es so bleiben. Yacouba wird sterben, doch der Wald wird ein ewiges Zeugnis seiner Kraft sein. +Die Journalistin Andrea Jeska ist nicht umsonst viel in Afrika unterwegs: Sie schreibt lieber über Hütten als über Paläste. diff --git a/fluter/eskildsen-roma-journeys.txt b/fluter/eskildsen-roma-journeys.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fd0271a28f765f6859208203d640b47cadf9ba39 --- /dev/null +++ b/fluter/eskildsen-roma-journeys.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Die Idee wuchs beträchtlich. Zwischen 2000 und 2006 besuchten Eskildsen und Rinne Communitys in sieben Ländern, dafür reisten sie quer durch Europa und sogar bis nach Indien. Dabei lebten sie oft längere Zeit bei einzelnen Familien, um sich das Leben, die Kultur und die konkrete Situation im Land genauer ansehen zu können. Rinne schrieb, Eskildsen fotografierte, so entstand mit denRoma Journeysein Blick auf Sinti*ze und Rom*nja, der mehr weckt als Mitleid und die bis dahin üblichen Assoziationen. +Eskildsens und Rinnes Reisen folgten keiner Route, sondern einer Reihe von Zufällen: Mal halfen persönliche Kontakte, mal Menschenrechtsorganisationen zur nächsten Community. "Wir sind oft gefragt worden, was unser Interesse an den Roma ausgelöst hat, eine endgültige Antwort konnten wir bis zum Schluss nicht geben", schreiben Rinne und Eskildsen später. "Sicher ist nur, dass es uns, einmal begonnen, unmöglich erschien, die ‚Roma Journeys' nicht fortzusetzen." diff --git a/fluter/esra-karakaya-talk-youtube-show.txt b/fluter/esra-karakaya-talk-youtube-show.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9b61dce27e6a110f7d94da895ea4b37d13b12bf6 --- /dev/null +++ b/fluter/esra-karakaya-talk-youtube-show.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Das Thema heute: Wie kann ich am wirksamsten politisch aktiv werden? Über Parteien oder durch Proteste auf der Straße? Für beide Positionen sind jeweils zwei Gäste eingeladen: Auf der einen Seite derAntirassismus-AktivistKofi Shakur, der sich beispielsweise für dieAufklärung des Todes von Oury Jalloheinsetzt und Ed Greve, der sich als Vorstand der NGO LesMigraS für Barrierefreiheit undLGBT-Akzeptanzengagiert, auf der anderen Roham Soleimani von der Kleinpartei "Die Urbane. Eine HipHop Partei" und Aminata Touré von den Grünen. + +Vor der Aufzeichnung werden Einspieler für Social Media gedreht. Jetzt ist Ed Greve von der NGO LesMigraS dran + +Zwei Stunden vor der Aufzeichnung sitzt Esra Karakaya an dem Holztisch, an dem später die Gäste diskutieren werden, und geht noch einmal den Ablauf durch. Sie trägt ein Kopftuch, auf dem das Louis-Vuitton-Karomuster schimmert. An der unverputzten Ziegelwand hinter ihr hängt das aus Neonröhren geformte Logo der Sendung, das die neue Grafikerin designt hat. "Die liefert dir Sachen, da denkst du dir, es ist einfach nur ein Segen, in einem Team zu arbeiten", schwärmt Karakaya. So war das nämlich nicht immer. "Karakaya Talk" hieß vorher "Black Rock Talk", und eine Grafikerin, eine Redaktion oder ein Social-Media-Team gab es nicht. "Die ‚Grafiken' hab ich am Anfang selbst gemacht", sagt Karakaya, die zwar schnell redet, sich aber Zeit nimmt, bevor sie antwortet. +Lange wurmte es die 27-Jährige, die in Berlin aufgewachsen ist, dass ihre eigene Lebensrealität medial kaum abgebildet wird.Rassismus gehörte schon immer zu ihrem Alltag.Die Idee für die Talkshow kam ihr jedoch erst, als sie an einen persönlichen Tiefpunkt gelangte. Ihr Masterstudium in Medienwissenschaften fand sie wenig erfüllend, und auch sonst wusste sie nicht so recht, wohin mit sich. Ein Lifecoach empfahl ihr, ihre Wünsche ans Leben einfach mal aufzuschreiben. Heraus kam ein Talkshowkonzept, dass sie "Black Rock Talk" nannte – nach ihrem türkischen Nachnamen Karakaya ("schwarzer Fels"). Erste Moderationserfahrungen sammelte sie bei dem Berliner Sender ALEX TV, bei dem sie einige Zeit als Videojournalistin arbeitete. Ansonsten holte sie sich viel Inspiration von anderen YouTube-Formaten und -Moderatoren. + +Der heutige Talkgast Kofi Shakur engagiert sich sonst unter anderem bei "Black Lives Matter Berlin" + +Im Frühjahr 2018 schmiss sie ihr Studium, trommelte Freunde und Bekannte zusammen, lieh sich das notwendige Equipment und drehte die erste Folge, die im Juni 2019 auf YouTube veröffentlicht wurde. Keiner verdiente daran einen Cent: "Als alles anfing, habe ich gesagt: ‚Ich kann euch nicht bezahlen. Aber ich gebe euch mein Versprechen, dass ich an einer Finanzierung arbeite.'" Und die kam dann auch – knapp ein Jahr später. Der öffentlich-rechtliche Jugendkanal funk wurde auf das Projekt aufmerksam und ermöglichte die Pilotfolge von "Karakaya Talk", die im November vergangenen Jahres erschien und die über die Fortsetzung entscheiden sollte. Seither wird das Format offiziell von funk produziert und finanziert. Mit Erfolg: Der Talk istfür den Grimme-Preis nominiert. +"RUHE BITTE", raunt der Herstellungsleiter durch das Studio. Im Nebenzimmer werden nun Vorstellungsvideos der Gäste gedreht. Karakaya hat ihren Arm schwesterlich um eine Kollegin gelegt. In der erzwungenen Stille müssen sich einige aus dem Team das Lachen verkneifen. + +So eine Showproduktion ist Stress – auch wenn man ihn Bildmischerin Nilgün Akinci und Social-Media-Redakteurin Ilayda Kaplan nicht direkt ansieht + +Am Konzept der Sendung hat sich durch die Namensänderung prinzipiell nichts verändert. Menschen "aus den hinteren Reihen der Gesellschaft", wie Karakaya es nennt, sollen hier eine Plattform bekommen. Schaut man sich die bisherigen Folgen an, fällt schnell auf, dass es selten um ökonomische Probleme geht. Dabei könnte man meinen, diese würden sozial benachteiligte Menschen am meisten umtreiben. Der rote Faden ist am ehesten Rassismus: Begriffe wie "white/weiß" und BIPOC (Black, indigenous, People of Color) fallen routiniert in den Gesprächsrunden,eine identitätspolitische Färbung nach US-amerikanischem Vorbild ist unverkennbar. +Trotzdem versteht sich "Karakaya Talk" nicht als "Antirassismus-Format". Gäste jeglicher politischen Position seien willkommen, betont Karakaya. Ausschlaggebend sei die Bereitschaft zuzuhören. "Keiner hat was davon, wenn Leute hier sitzen, um sich selber darzustellen – und solche Leute gibt es überall. Es geht viel mehr darum, wie wir diskutieren. Ich glaube, Kommunikation funktioniert gerade dann besonders gut, wenn wir Respekt und Empathie als Basis haben." + +Alles Bühne: Das Publikum darf sich beim Karakaya Talk auch unaufgefordert zu Wort melden + +Kontrovers soll es aber schon sein. Nachdem die Anmoderation in mehreren Takes aufgenommen und das Publikum jedes Mal zum euphorischen Klatschen angewiesen wurde, kommt die Diskussion ins Rollen. Mit politischen Parteien wird hart ins Gericht gegangen, ihnen werden undurchlässige Strukturen und wenig Handlungsmöglichkeiten vorgeworfen. Die Gäste beziehen klar Position. Am auffälligsten ist das bei Aminata Touré. Die 27-Jährige ist die jüngste und erste afrodeutsche Vizepräsidentin des schleswig-holsteinischen Landtags. Sie verdeutlicht, wie ignorant die Frage ist, ob sie nicht bloß Maskottchen ihrer Partei sei. Sie selbst habe sich ihre Position erarbeitet. +Immer wieder melden sich auch die Publikumsgäste zu Wort, mit und ohne explizite Aufforderung. Beim Thema Sozialpolitik verzieht eine junge Deutschtürkin das Gesicht und macht ihrem Unmut über die politische Situation Luft. Eine Muslima mit Kopftuch, die nicht über den Islam referiert, sondern über parteipolitische Positionen diskutiert – so was ist in deutschen Talkshows bislang kaum zu sehen. + diff --git a/fluter/essen-auf-raedern-diese-frauen-liefern-spenden-in-kairo-aus.txt b/fluter/essen-auf-raedern-diese-frauen-liefern-spenden-in-kairo-aus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3d668e7e579996a94a97618f9f985a5a1e084d9f --- /dev/null +++ b/fluter/essen-auf-raedern-diese-frauen-liefern-spenden-in-kairo-aus.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Heute, zur letzten Ramadan-Fahrt des Jahres, ist es ein wenig anders. Die meisten Spenden stammen von der Fast-Food-Kette Dega's. Die Pakete sind vollgepackt mit Burgern, Pommes, Hühnchen, Säften und Donuts. Als die Cycling Geckos die Tüten zum Eingang des Slums Ramlet Bulaq tragen, stehen dort neben einigen Familien auch die Securitymänner des angrenzenden Luxushotels Fairmont Nile City Hotel. Seit Jahren versuchen die Hotelbesitzer das Land, auf dem der Slum liegt, aufzukaufen – bisher vergebens. Denn viele der Familien leben hier schon seit mehreren Generationen und möchten ihr Land nicht hergeben. Zwischen ihnen und dem Hotel kam es bereits vermehrt zu Auseinandersetzungen. Die Securitymänner sollen ein Auge auf die Bewohner haben und verbieten den Cycling Geckos, Fotos zu machen. Wenn man im Ramlet Bulaq steht und zu den goldfarbenen Türmen des Hotels hochsieht, zeigt sich klar der Spalt zwischen extrememReichtumund totalerArmutin der Stadt. Während die Hotelgäste sich im Swimmingpool auf der Dachterrasse abkühlen, fehlt es ihren Nachbarn an fließend Wasser. + +Die Idee zu Cycling Geckos hatte die 31-jährige Nouran. 2016 startete sie die ersten Touren in Kairo. Zum einem, um hilfsbedürftige Familien zu unterstützen, zum anderen, um Frauen zu fördern. Auf ihren Reisen in Europa entdeckte sie das Fahrradfahren – in Ägypten ist es für eine Frau absolut unüblich, Fahrrad zu fahren. Lange galt es sogar als Tabu. Das wollte Nouran ändern. Sie fand einen Sponsor, der ihr kostenlos Fahrräder auslieh, an die Treffpunkte brachte und sogar für Reparaturen sorgte. +Anfangs war es Nouran wichtig, dass die Cycling Geckos eine reine Frauengruppe sind, um ein klares Zeichen zu setzen. Heute, nach vielen Nachfragen, sind auch einige Männer in der Gruppe. Mit Tüten in beiden Händen und Masken über Mund und Nase gehen die Cycling Geckos durch die schmalen Gassen von Ramlet Bulaq, in denen sich eine Ruine an die nächste reiht. Hinter Holzplatten verstecken sich abgerissene Backsteinwände, und auf leeren Flächen erinnern nur noch ein paar Ziegelsteine daran, dass dort einmal jemand gewohnt hat. Hühner, Hunde und Ziegen laufen zwischen weggeworfenen Einwegtellern, Schokoriegelverpackungen, Chipstüten, Eisenstangen und Nägeln umher. Immer wieder trifft die Gruppe in den Trümmern auf Menschen, denen sie Pakete schenkt. Eine ältere Dame im Rollstuhl, die eine Portion entgegennimmt, sagt: "Ihr seid willkommen!" und bedankt sich herzlich. An der nächsten Ecke wartet schon die nächste Familie. + +Das Gebäude hinten hat Swimmingpools auf der Terrasse, das vorne kein fließend Wasser +Als die Gruppe den Slum verlassen will, entsteht um sie herum eine Traube und eine heftige Diskussion. Einige Familien hätten Pakete in ihren Häusern gebunkert und wären dann zurückgekommen, um noch mehr zu bekommen. Andere Slumbewohner hätten noch gar nichts erhalten. Zum Glück finden die Cycling Geckos im Auto noch ein paar Pakete, die sie Familien, die leer ausgegangen waren, überreichen. +Wegen der Pandemie sind 2020 alle Touren ausgefallen. Dieses Jahr konnten sie bisher nur selten stattfinden. Statt der 30 Fahrten während des Ramadans waren es diesmal circa zehn, und die 14-tägigen Fahrten im restlichen Jahr mussten komplett ausfallen. Der Fahrradsponsor ist ebenfalls abgesprungen. Er hielt es für keine gute Idee, während der Pandemie in die Slums zu fahren. Seitdem können nur noch die mit dem Fahrrad fahren, die selbst eines besitzen – oder es wie die Französin Malou machen. +Zwei Stunden vor der Auslieferungstour steht Malou in einer Straße voller Autowerkstätten und Ersatzteillagern. Sie ist zu früh und wartet unter einer Markise auf das Cycling-Geckos-Mitglied Fatima, die ihr den Weg zum Fahrradverleih zeigt. Es geht auf die unterste Ebene einer Tiefgarage. Neben Autos lehnen zwei Reihen Fahrräder an der Wand. Malou sucht sich eines aus, bezahlt die Leihgebühr und gibt ihren Ausweis als Pfand ab. Nun geht es 6,4 Kilometer auf die andere Seite des Nils, zum Rest der Gruppe. Einen näher gelegenen Fahrradverleih haben die Cycling Geckos noch nicht gefunden. +Beim Treffpunkt an der "Urban Station" gibt es eine schnelle Begrüßung, und schon geht es für Malou, Noha und Mohammed auf dem Fahrrad und für einen großen Teil der Gruppe im Auto weiter zum Slum. Mohammed fährt auf dem Rad voraus, die anderen beiden hinterher. Ohne Fahrradhelm radeln sie im mehrspurigen Straßenverkehr Kairos, wo Fahrbahnstreifen bloße Dekoration sind und die ganze Straße eine Überholspur ist. Aus den vorbeifahrenden Autos schauen Männer amüsiert auf die Radlerinnen, und am Straßenrand zeigt eine Gruppe Jungs mit den Fingern auf sie. Was sie sagen, ist nicht zu verstehen, dafür ist der Verkehr zu laut. Doch ihr Gesichtsausdruck wirkt weniger empört als amüsiert. "Fahrradfahrende Frauen sind zwar immer noch ungewohnt, aber nicht mehr schockierend. Ich glaube, Nouran hat in den letzten Jahren wirklich für eine Veränderung gesorgt", sagt die Französin Noémie, die in Kairo Arabisch studiert und seit diesem Jahr aktives Mitglied bei den Cycling Geckos ist. Dieses Jahr ist sie sieben Touren mitgefahren. +Die Sonne geht gerade unter, als die Cycling Geckos den Slum verlassen. Malou fährt zurück zum Verleih, um das Rad abzugeben und ihren Ausweis wiederzubekommen. Die anderen kämpfen sich durch das Gewusel auf den Straßen nach Hause. Jetzt endlich: das Fastenbrechen. Die Fahrten zehren an den Kräften, und ihre Organisation ist umständlich – ein Grund dafür, warum immer weniger bei der Spendenverteilung mit dem Fahrrad unterwegs sind. +Doch aufgeben will Nouran auf keinen Fall. Dieser kleine Erfolg, dass fahrradfahrende Frauen in Kairo immer normaler werden, beflügelt sie. Als Nächstes plant Nouran zwei längere Fahrradtouren ins Umland, in Gebiete, die meist konservativer sind. Da wird sie wahrscheinlich erst mal schief angeschaut und angequatscht werden. Aber das ist ja nicht verkehrt. diff --git a/fluter/essen-das-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt b/fluter/essen-das-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1037cac8016e0e1f896b36aad5328aec27e513a5 --- /dev/null +++ b/fluter/essen-das-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Oh weh. Hatten wir das nicht schon mal? Wieder haben wir viele Anregungen bekommen, einen Artikel über "Freeganismus" oder "Containern" zu machen. Diesen angeblichen urbanen Trend, der darin besteht, das junge Menschen über Zäune klettern und sich nachts Essen aus Müllcontainern von Supermärkten klauen. Vielleicht funktioniert das bei inszenierten Fernsehreportagen ganz gut, aber für unser Heft war uns das dann doch zu unappetitlich und banal. +Das musste ja so kommen. Dutzende Autoren wollten irgendwas über den Starkoch Jamie Oliver machen, der wahlweise die britischen Schulen rettet oder die Kochshows im Fernsehen oder den Beruf des Kochs im Allgemeinen. Der mieseste Vorschlag kam aber von unserem USA-Korrespondenten: Er schlug vor, einen Text über Jamie Oliver zu schreiben, der eine von Fast Food verseuchte amerikanische Kleinstadt vor dem ernährungstechnischen Super-GAU rettet. Das Blöde war nur: Die Geschichte hatten wir in der Woche zuvor selber schon in der New York Times gelesen. diff --git a/fluter/essen-wie-ein-gi.txt b/fluter/essen-wie-ein-gi.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3e4d6c466e432edea45fdf576ff26d4a1e426bba --- /dev/null +++ b/fluter/essen-wie-ein-gi.txt @@ -0,0 +1,40 @@ +Anastacia Marx de Salcedo: Ich kann das leider nicht genau für deutsche Supermärkte sagen. Aber ein normaler Supermarkt in den USA wäre schätzungsweise halb leer, wenn wir alle Produkte entfernen würden, die ursprünglich fürs Militär entwickelt wurden oder die von militärischer Forschung beeinflusst sind. Und das ist noch sehr vorsichtig geschätzt. Das Militär ist auch da, wo man es nicht vermutet! +Na Mahlzeit: Die Tütenkost des US-Militärs dürfte bei Foodies nicht gerade spontane Begeisterungsstürme auslösen. Dafür ist sie ewig haltbar. + + +Wo denn? +Sogar in der Obst- und Gemüseabteilung. Sie kennen doch diese plastikverpackten Salatmischungen. Die Navy war stark involviert in die Entwicklung dieser sogenannten"Verpackung mit modifizierter Atmosphäre". Darin bleibt der Salat länger frisch. Ursprünglich wurde diese Verpackung in den 70er-Jahren entwickelt, um darin Salat und Sellerie nach Vietnam verschiffen zu können. + +Mit Salat allein bekommt man keinen Soldaten satt. Welche Truppenverpflegung hat es noch in den Supermarkt geschafft? +Es sind wirklich sehr, sehr viele Produkte. Denken Sie zum Beispiel an die heute so beliebten Energieriegel und Müsliriegel. Ursprünglich sind das Notfallrationen fürs Militär. Schon Ende des 19. Jahrhunderts hatten Soldaten Schokolade für Notfälle dabei. Aus Sorge, dass die Soldaten die Schokolade zwischendurch naschen, wollte das US-Militär später eine Ration entwickeln, die weniger gut schmeckt. So entstand 1937 der Ration-D-Riegel, der Vorläufer der modernen Energy Bars. Und es kommen immer weiter neue Produkte, neue Technologien in die Supermärkte, die eigentlich militärische Wurzeln haben oder vom Militär weiterentwickelt wurden. So wie die Hochdruckpasteurisierung. + +Was genau ist das? +Bei der Hochdruckpasteurisierung kommen Lebensmittel in mit Wasser gefüllte spezielle Behälter und werden einem hohen Druck ausgesetzt. So können sie haltbar gemacht werden, ohne dass man sie erhitzen muss, was sich negativ auf den Geschmack auswirkt. Auch Soldaten wollen ja, dass ihr Essen schmeckt. Die Technik wurde früher schon in Europa für Säfte verwendet, aber das US-Militär hat sie in den späten 90er- und frühen Nullerjahren weiterentwickelt, um damit auch andere Lebensmittel behandeln zu können. Inzwischen werden so zum Beispiel Guacamole und Hummus haltbar gemacht, aber auch verarbeitetes Fleisch wie Wurst und Schinken. +Zum Vergleich: die Truppenverpflegung der Bundeswehr + + +Wie finden Militärentwicklungen wie Müsliriegel und hochdruckpasteurisierte Guacamole ihren Weg in den Supermarkt? +Auch da müssen wir ein paar Jahre zurückschauen: Das US-Militär ist im Zweiten Weltkrieg groß in die Lebensmittelforschung eingestiegen. Ziel war es, die eigenen Soldaten – wenn möglich – komplett mit Rationen versorgen zu können, die in den USA produziert werden. Zu Anfang des Krieges gab es aber gerade mal eine entsprechende Forschungseinrichtung mit drei Mitarbeitern. Es musste also massiv aufgestockt werden, und das Militär begann, mit den Forschungsabteilungen von Industrie und Hochschulen zusammenzuarbeiten. + +Und die beteiligten Firmen brachten und bringen das Soldatenessen dann später in den Handel? +Genau. Das System ist schnell riesengroß geworden: Schon 1945 gab es über 500 gemeinsame Projekte des amerikanischen Militärs mit Firmen und Hochschulen. Und die US-Regierung beschloss, an diesem System festzuhalten. Für den Fall eines dritten Weltkriegs wollte man vorbereitet sein. Die Verbraucher werden per Gesetz mit auf den Ernstfall vorbereitet: Die Abteilung des amerikanischen Militärs, die für die Truppenverpflegung zuständig ist, hat den gesetzlichen Auftrag, die selbst entwickelten und finanzierten Lebensmittelneuerungen auf den Verbrauchermarkt zu bringen. Es ist also ein explizites Ziel, dass das alles auch in unserem Essen landet. + +Ist das für die Verbraucher gut oder schlecht? +Es gibt gute und schlechte Seiten. Eine Verpflegungsration für Soldaten muss drei Jahre bei 80 Grad Fahrenheit (27 Grad Celsius) haltbar sein. Die Ration muss dafür mikrobiologisch sauber sein, und das ist eine sehr gute Sache: Auch wenn die Nahrungsmittel ziemlich alt sind, kann man sie noch gefahrlos essen. Aber um eine so lange Haltbarkeit hinzubekommen, ohne Verschlechterung von Geschmack, Konsistenz und Nährwert, müssen oft chemische Zusätze und Stabilisatoren, Emulgatoren, Verdickungsmittel zugesetzt werden. + +Viele Menschen stehen solchen Chemiebomben kritisch gegenüber. +Ja, aber die Lebensmittelindustrie hat solche ewig haltbaren Produkte natürlich begrüßt: Denn die kann man problemlos transportieren und lagern, nichts wird schlecht, das minimiert mögliche Verluste. +Das Essen der französischen Soldaten ist zumindest etwas abwechslungsreicher verpackt. Aber ob es auch besser schmeckt? + + +Gibt es noch andere Nachteile? +Man muss sich klar darüber sein, dass Nahrungsmittel für Soldaten anderen Ansprüchen genügen müssen als Nahrungsmittel für Zivilisten: Die Truppenverpflegung muss nicht nur lange haltbar sein, sondern zum Beispiel auch extreme Witterung überstehen und möglichst leicht sein. Ein amerikanischer Soldat muss eh schon etwa 100 Pfund Ausrüstung schleppen. Wie sich die Rationen aber auf die langfristige Gesundheit auswirken, spielt keine Rolle. Sie sind ja als Notfallversorgung in einer Extremsituation gedacht und nicht dafür, dass sie jahrelang tagtäglich gegessen werden. Auch ökologische Nachhaltigkeit ist nicht gerade das oberste Ziel bei der Entwicklung der Rationen. + +Wenn Zivilisten die Rationen am Ende aber im Supermarkt kaufen, sollten dann ihre Bedürfnisse nicht auch eine Rolle spielen? +Ich würde mir wünschen, dass alle, die von der militärischen Lebensmittelentwicklung betroffen sind, auch die Ausrichtung dieser Forschung mitbeeinflussen können: Lebensmittelindustrie, Bauern, Gesundheitsexperten und Konsumenten sollten gemeinsam die Forschung kontrollieren können. +Auch die Italiener mussten bisher auf Pizza verzichten. Das könnte sich bald ändern, denn das amerikanische Militär hat eine einsatzkompatible Pizza entwickelt. Innerhalb der NATO werden immer wieder Entwicklungen der militärischen Lebensmittelforschung geteilt. + + +Welche Lebensmittel werden vom Militär derzeit erforscht oder schon in der Verpflegung der Truppen eingesetzt, die man dann möglicherweise bald auch hier im Supermarkt kaufen kann? +Eine Entwicklung, die zumindest in den USA sicher sehr gut ankommen wird, ist Fertigpizza, die nicht ins Gefrierfach muss, sondern bei Raumtemperatur gelagert werden kann. Die Army hat lange daran geforscht, ab 2017 bekommen die Soldaten die ersehnte Pizza. Das US-Militär forscht außerdem viel zur Frage, wie man durch die Nahrung die kognitive und physische Leistung optimieren kann. Ich bin mir sicher, dass es von solchen mit speziellen Nährstoffen angereicherten Lebensmitteln zur Leistungssteigerung, auch Varianten für normale Konsumenten geben wird. +Anastacia Marx de Salcedo: "Combat-Ready Kitchen. How the U.S. Military Shapes the Way You Eat", bisher nur auf Englisch erschienen bei Penguin Random House (2015). diff --git a/fluter/ethischer-konsum-pro-und-contra.txt b/fluter/ethischer-konsum-pro-und-contra.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..51b06f90b70c7f49da1a78ea6196601898a08b5a --- /dev/null +++ b/fluter/ethischer-konsum-pro-und-contra.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Im Bio-Supermarkt können wir die Welt retten – so lautet das Märchen vom ethischen Einkaufen. Es basiert auf einer simplen ökonomischen Tatsache: Die Nachfrage beeinflusst das Angebot. Darin besteht angeblich die Macht der Konsumenten, also die Macht von uns allen. Es braucht nur genügend wirtschaftlichen Druck, aufgebaut durch unsere kollektiven Einkaufsentscheidungen gegen billig produzierte Lebensmittel und Klamotten aus Sweatshops und für ethisch korrekte Alternativen – und schon liegen nur noch Bio-Eier und fair produzierte Pullis im Regal. Alles nur eine Frage der Zeit, bis Discounter und Fast-Fashion-Ketten einknicken. +Das Märchen vom ethischen Einkaufen klingt so schön, weil es suggeriert: Ich persönlich habe mit jeder Konsumentscheidung ganz konkret Einfluss darauf, dass die Welt ein besserer Ort wird. Im Umkehrschluss bedeutet das allerdings auch: Das Wohl der Näherinnen in Bangladesch und der Kaffeebauern in Guatemala ist von unseren Shopping-Entscheidungen abhängig. Davon, ob uns gerade wichtiger ist, dass niemand bei der Produktion unserer Hose ausgebeutet wird – oder dass uns die Waschung genau dieser Fast-Fashion-Jeans einfach besser gefällt und wie gut sie am Po sitzt. Man muss schon sehr prinzipienfest sein, um sich stets für die moralisch wertvollere Variante zu entscheiden. +Ausbeutung oder faire Produktion – das sind keine Alternativen, zwischen denen wir abwägen wie zwischen Skinny Fit und Mom Jeans. Warum sollten wir überhaupt diese Auswahl treffen müssen? Ich persönlich kenne niemanden, der sich explizit eine Hose aus dem Sweatshop wünscht. Oder der es okay findet, Menschen für einen Hungerlohn schuften zu lassen, 14 Stunden an 6 Tagen die Woche. Trotzdem nehmen viele Menschen das still in Kauf, wenn sie Klamotten kaufen, weil ihnen andere Kriterien wichtiger sind. Deshalb sollte die Verantwortung darüber auch nicht der unsichtbaren Hand des Marktes überlassen und den Konsumenten zugeschoben werden. Welche Arbeitsbedingungen okay sind, ob und wie man Tiere hält, das sind politische Fragen. Deshalb gehören sie auch in der politischen Sphäre geklärt. +Arbeiter in Textilfabriken brauchen Gewerkschaften. Sie würden viel schneller von unseren ethischen Überzeugungen profitieren, wenn wir, statt faire T-Shirts zu kaufen, politischen Druck aufbauen: demonstrieren gehen, in einer NGO mitarbeiten, Petitionen aufsetzen, verbreiten und unterzeichnen (ja, manchmal bringt das was). Öffentlicher Druck wirkt stärker als die unsichtbare Hand. Und: Das können auch Menschen, die sich keine Bio-Produkte leisten können. Regierungen könnten faire Minimalstandards für Importe von Kleidung, Elektronik und Lebensmittel festlegen. Ein Gesetz, dass das Schreddern männlicher Küken verbietet, ist effektiver, als darauf zu bauen, dass sich genügend Konsumenten für das Bruderhahn-Ei entscheiden. +Ethischer Konsum entpolitisiert aber nicht nur genuin Politisches. Er ist außerdem keine Option für alle, sondern nur für diejenigen, die ihn sich leisten können. Man kann es falsch finden, unter welchen Bedingungen Fünf-Euro-T-Shirts hergestellt werden (und wohlgemerkt auch viele, die 50 Euro kosten) – aber einfach nicht genug Budget für die faire Alternative haben. Alleinerziehenden oder Hartz-IV-Empfängern zu predigen, sie müssten nur die eigenen Prioritäten als Konsument neu justieren, dann könnten auch sie die Welt retten, ist bizarr. +Ich will niemanden davon abbringen, Bio-Paprika zu kaufen oder als regenwaldfreundlich zertifiziertes Briefpapier. Sondern nur darauf hinweisen, dass man besser nicht darauf vertrauen sollte, dass diese Art nachhaltigen Konsums auch nachhaltig Wirkung zeigt. Sozialwissenschaftler kennen ein Muster, das sie den "Patchwork-Charakter" des Umweltverhaltens nennen. Damit ist gemeint, dass auch Menschen, die starke ökologische Überzeugungen haben, sich oft nur in bestimmten Bereichen umweltfreundlich verhalten. Ihre Öko-Bilanz hat – eben wie eine Patchwork-Decke – dunkle und helle Flecken. Ein Patchwork-Öko kauft womöglich konsequent im Biomarkt ein, fliegt aber jeden Winter guten Gewissens auf die Südhalbkugel. Der nachhaltige Bio-Einkauf hat dann in der ethischen Bilanz auf allen Ebenen nicht viel bewirkt – außer dass sich der Konsument besser fühlt. +Juliane Frisse arbeitet als Journalistin vor allem für ZEIT ONLINE und den Bayerischen Rundfunk. Seit sie nicht mehr in der Nähe eines Bio-Supermarkts wohnt, sondern schräg gegenüber von Lidl, hat sich die Bio-Quote in ihrem Einkaufswagen deutlich reduziert. Immerhin bezieht sie inzwischen Öko-Strom. +Ethischer Konsument zu werden ist anstrengend. Immer alles "richtig" zu machen geht kaum, das ist aber auch gar so nicht schlimm, findet Lisa Neal. +Als ich von zu Hause ausgezogen war, führte mich mein erster Einkauf in einen Bioladen. Wie vom elterlichen Kühlschrank gewohnt, kaufte ich Produkte von Demeter und Zwergenwiese ein. Mein Korb war mit Sachen für die nächsten drei Tage befüllt. Beim Bezahlen war dann das Geld für den halben Monat weg. + +Ein paar Tage später ging ich das erste Mal zu Aldi, ein bisschen beschämt und verbarrikadiert unter meinen Kopfhörern. Ich wollte doch Bio-Lebensmittel, weil ich richtig und gerecht einkaufen wollte. Aber etwas anderes als Discounter, die sich erst später dem Druck der Nachfrage beugen und Bio-Produkte in ihr Sortiment aufnehmen sollten, konnte ich mir nicht leisten. Gewohnheiten und Geldbeutel passten nicht zusammen, ich musste mich neu sortieren. +Ethischer Konsument zu werden ist anstrengend. Denn es bedeutet: Genügsamkeit lernen. Klar ist ein neues Kleid schön, es macht Spaß, beim Abendbrot zwischen verschiedenen Brotaufstrichen wählen zu können und im Urlaub durch die halbe Welt zu jetten. Sich umgewöhnen ist unbequem. Aber es lohnt sich, denn die Macht als einzelner Konsument mag sich zwar klein anfühlen, aber verbündet mit anderen kann sie einiges bewirken. Jede Kaufentscheidung hat einen politischen Wert, und damit haben wir alle ziemlich viel Verantwortung im Alltag. Ich kann mit meinen Bio-Möhren zwar nicht sofort die Welt retten, aber ich kann dazu beitragen, dass sich längerfristig Druck auf Unternehmen und Politik aufbaut. Jeder Einkauf trägt ein kleines bisschen zu einer Nachfrage nach fairen Herstellungsbedingungen und verbindlichen Richtlinien für Produkte bei. +Noch vor rund 15 Jahren  waren Bioläden abgelegen und eher etwas für Birkenstock-Träger (die waren mal so unfassbar uncool) mit selbst gestrickten Pullundern. Heute gibt es in den Innenstädten viele Bioläden, faire Bekleidungsläden und regionale Essensretter-Restaurants. Genauso müssen sich Textilhändler H&M und andere Unternehmen den Erwartungen beugen und nachhaltige Produkte anbieten, Flohmärkte und Secondhand sind wieder hip. Auto oder Bohrmaschinen muss man nicht mehr besitzen, sondern können geteilt werden. Der ethische Konsum ist raus aus der Nische. Aber damit ist die Arbeit noch nicht getan, denn oft reichen die Veränderungen nicht. Die Bedingungen, unter denen massentaugliche Produkte hergestellt werden, sind allzu oft immer noch mies oder schmecken nach Reinwaschung. Das heißt: Unternehmen geben sich in der Öffentlichkeit verantwortungsbewusst, ohne es wirklich zu sein. +Um sich dadurch nicht entmutigen zu lassen, muss jetzt mal mit den drei nervigsten Irrtümern aufgeräumt werden: +Erstens:Du bist ein besserer Mensch, weil du alles biologisch, unverpackt, fair gewebt und CO2-frei konsumierst. Bist du nicht! Denn das ist oft eine Frage des Geldbeutels, und damit diskriminiert es Studenten und Auszubildende, Großfamilien, Rentner. Die Überheblichkeit, die manchen zu Kopf steigt, weil sie es sich leisten können, gegenüber denen, die es nicht tun – oder auch einfach nicht wollen –, führt zu immer mehr sozialer Ausgrenzung und Arroganz. Es kommt nicht darauf an, sich das alles leisten zu können. Sondern vielmehr darauf, einfach bewusst zu konsumieren. Zu überlegen, was man braucht, und sich darin zu üben, auf den einen oder anderen Wunsch zu verzichten – das kann jeder. Nicht kopflos konsumieren, sondern abwägen lernen und ein Gespür für die Arbeit bekommen, die in Produkten und Dienstleistungen steckt. +Zweitens: Wenn du Vegetarier bist, kannst du auch gleich Veganer sein. Wenn du vegan lebst, dann musst du auch aufs Fliegen verzichten. Und wenn du nicht fliegst, darfst du sowieso nur noch das Fahrrad benutzen und Gemüse aus dem eigenen Garten essen. Nein! Ethisch zu konsumieren ist ein Prozess und kein starres Korsett, in das man sich, wenn man es versucht, sofort und ausnahmslos und für immer pressen muss. Ich muss dazu stehen, wenn ich Kleidung nur gebraucht kaufe, aber zu Weihnachten nach Italien fliege. Integrität heißt nicht, komplett frei von Widersprüchen zu sein. Wichtiger ist es, den Mut zu haben, sich auch kritisch mit den eigenen Entscheidungen auseinanderzusetzen. Empör dich auch mal über dich selbst! Und dann kann man sich immer weiter sortieren, mal verzeihen und Diskussionen führen, wie bewusstes Verhalten und Gewohnheiten zusammenpassen. +Drittens: Ethisches Konsumieren ist nur meine Sache. Bei sich selbst anfangen ist gut, aber sich moralisch oder praktisch darauf auszuruhen, das geht leider nicht. Denn ethisches Konsumieren muss noch viel politischer und sozialer werden. Zum Beispiel kann der Druck von Konsumentenseite größer sein. Mit großer Kraft kommt große Verantwortung, sagt Peter Parkers Onkel Ben (Spider Man). Boykottiert Nestlé (Kaufvon umfangreichen Wasserrechten), Zara (Plagiatsvorwürfe), Fast Fashion und was weiß ich noch alles. Wenn der Kunde König ist, ist der Konsument ein verdammt mächtiger Diktator. Glaubt ein bisschen mehr an David und hört auf, Angst vor Goliath zu haben! Meckern über die Bioladen-Einkäufer bringt nichts. Es erleichtert vielleicht kurz euer eigenes schlechtes Gewissen. Meckert lieber darüber, dass die Sozialleistungen zu niedrig sind, um zumindest die Wahl zu haben, wo eingekauft werden soll. Das geht! Dafür müssen wir uns zusammentun. +Wenn es am Ende des Tages nicht mehr für den Protest reicht, dann kann man immer noch eine Extraportion mitkochen und dem Rentner-Nachbarn geben oder Klamotten, die man nicht mehr trägt, verschenken. Das sind keine Gutmenschen-Almosen, sondern gehört zu einem wesentlichen Prinzip von ethischem Konsum: dem Teilen. +Lisa Neal ist seit sie fünf ist Vegetarierin, hat aufgehört zu rauchen und macht viel Sport. Ansonsten ist sie auch ziemlich langweilig. Immerhin bringt sie die Bio-Kekse von ihrer Oma mit in die fluter-Redaktion. +Collagen: Renke Brandt diff --git a/fluter/etikettenschwindel.txt b/fluter/etikettenschwindel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/etwas-sehr-blauaeugig.txt b/fluter/etwas-sehr-blauaeugig.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e6c41c2f7e8932e9e931cfeba7c8528cb9fa809c --- /dev/null +++ b/fluter/etwas-sehr-blauaeugig.txt @@ -0,0 +1 @@ +Positiv kann man vermerken, dass die Finnen trotz der wachsenden Einwanderung in den letzten zehn Jahren das hohe PISA-Niveau fast gehalten haben, weil aufgrund einer peinlich genauen Sprachförderung im Kindergarten jedes Schulkind perfektes Finnisch spricht. Man kann es aber auch kritisch betrachten: In den letzten beiden PISA-Erhebungen hat Finnland, zwar nur minimal, aber immerhin, schlechter abgeschnitten als bisher. Offiziell stellt PISA-Koordinator Jouni Välijärvi keinen Zusammenhang her, aber es ist ein offenes Geheimnis, dass Familien in der Hauptstadtregion verzweifelt versuchen, ihre Kinder aus den ethnisch durchmischten Grundschulen in die "besseren", weil homogeneren Stadtteile zu verfrachten. Vereinzelt hört man die Forderung nach einer Begrenzung für nichtfinnische Schüler an Schulen. Und letztes Jahr erzielten die einwanderungsfeindlichen "Wahren Finnen" 19 Prozent. Kein Wunder, dass sich immer mehr Finnen fragen, ob man den Bildungserfolg womöglich zum Teil einer restriktiven Einwanderungspolitik verdankt. diff --git a/fluter/eu-beitritt-bewerber-laender-stand.txt b/fluter/eu-beitritt-bewerber-laender-stand.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..24c570c873082fd5b13114e0a59ce5fdeef7e00b --- /dev/null +++ b/fluter/eu-beitritt-bewerber-laender-stand.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Imfluter-Podcasterzählt Nini Tsiklauri, wie sie der Georgienkrieg zur Europa-Aktivistin machte. Und wir fragen: Hat die EU ein Image-Problem? +2006 wurde das Land von der EU anerkannt, 2008 reichte es seinen Beitrittsantrag ein, die Verhandlungen begannen 2012. Mittlerweile wurden alle 35 Verhandlungskapitel eröffnet und drei vorläufig abgeschlossen. Die EU-Kommission bescheinigt Montenegro eine grundsätzlich gute Entwicklung, mahnt aber das langsame Tempo der Reformen an – vor allem im Bereich der Rechtsstaatlichkeit, der Verwaltung und der Presse- und Meinungsfreiheit. Die Stimmung in der Bevölkerung scheint dabei zweigeteilt: Laut dem letzten Eurobarometer vom Sommer 2022 fühlten sich 36 Prozent der Menschen in Montenegro der EU sehr oder ziemlich verbunden, 64 Prozent nicht sehr oder überhaupt nicht verbunden. + +Gilt als Problemfall unter den Westbalkanstaaten: Erst nachdem das Land die von der EU geforderte Auslieferung mutmaßlicher Kriegsverbrecher an das internationale Tribunal in Den Haagvollzog, war der Weg 2009 frei für eine offizielle Bewerbung. Seit 2012 ist Serbien Beitrittskandidat, die Verhandlungen laufen seit 2014. Schlüsselkriterium sind dabeidie Beziehungen zum Kosovo, einer ehemaligen serbischen Provinz, die seit 2008 ein unabhängiger Staat ist, was Serbien jedoch bis heute nicht anerkennt. Beide Länder wollen in die EU, die bilateralen Spannungen verhindern aber beiderseitig das Vorankommen. Seit 2011 laufen (mit Unterbrechungen) von der EU moderierte Gespräche zur Normalisierung der Beziehungen. Die EU fordert von Serbien Reformen der Justiz und der Verwaltung, die Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität sowie den Minderheitenschutz, zudem gilt die prorussische Haltung der serbischen Regierung als Herausforderung in den Verhandlungen. Denn es gehört zu den Pflichten der Beitrittskandidaten, die EU-Außenpolitik zu übernehmen. Serbien hatte zwar zuletzt den Angriff auf die Ukraine verurteilt, beteiligt sich aber nicht an den EU-Sanktionen gegen Russland. Und auch in der Bevölkerung wächst die EU-Skepsis: Bei einer Umfrage im April 2022 gaben zum ersten Mal seit 20 Jahren mehr Menschen an, gegen einen EU-Beitritt zu sein, als dafür. + +Wie für alle Westbalkanstaaten hat auch für Kosovo seit 2003 die Beitrittsperspektive zur EU. Das Land hat bis jetzt keinen Beitrittsantrag gestellt, arbeitet aber seit vielen Jahren an der Annäherung an die EU. Seit 2008 unterstützt die Union die kosovarischen Behörden beim Aufbau eines Justiz-, Polizei- und Zollwesens, seit 2011 führen Kosovo und Serbien einen von der EU moderierten Dialog zur Normalisierung der Nachbarschaftsbeziehungen. Seit 2015 gibt es ein Assoziierungsabkommen zwischen Kosovo und der EU. Darin verpflichtet sich die EU, Kosovo bei seinen Reformbestrebungen und der Übertragung des EU-Rechts zu unterstützen. Zentrale Ziele sind die Unabhängigkeit von Medien und Justiz, die Bekämpfung von Korruption und Kriminalität wie auch eine Reformierung des Arbeitsmarktes.Die Kommission warnte 2021 in ihrem Fortschrittsbericht vor der politischen Instabilität und verwies auf diegeringen Fortschritte auf dem Weg zu einer funktionierenden Marktwirtschaft. In der kosovarischen Bevölkerung wächst derweil der Frust darüber, dass das Land das einzige auf dem Westbalkan ist,dessen Bürger noch Visa für eine Einreise in die EU brauchen. Denn die Bedingungen für die Visaliberalisierung liegen laut Kommissions-Länderberichtbereits seit 2018 vor. Dennoch kündigte Außenministerin Donika Gërvalla-Schwarz an, noch in diesem Jahr den EU-Beitritt beantragen zu wollen. + +Das Land hatte sich bereits seit 1997 auf die EU zubewegt und stieß dennoch seit seiner Bewerbung 2004 auf zahlreiche Widerstände: Zuerst blockierte Griechenland die Verhandlungen,weil der Name "Mazedonien" auch eine griechische Provinz bezeichnet(2019 änderte das Land seinen Staatsnamen schließlich von Mazedonien zu Nordmazedonien). Dann lehnte Bulgarien die Bewerbung ab, weil es die bulgarische Minderheit in Nordmazedonien nicht ausreichend geschützt sah und die mazedonische Sprache nicht als eigenständig anerkennen wollte. Beide Punkte wurden nach zähen Verhandlungen ausgeräumt. Im Juli 2022 eröffnete der EU-Rat die Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien. Die Kommission prüft derzeit gemeinsam mit Nordmazedonien, inwieweit der Bewerberstaat das EU-Recht bereits erfüllt. Auf Grundlage dieses Berichts werden anschließend die einzelnen Verhandlungskapitel geöffnet. Die Bürger*innen unterstützen den EU-Beitritt ihres Landes zu 63 Prozent, gehen jedoch nicht davon aus, dass dies in Kürze geschieht. + +Albanien hat sich 2009 um eine Mitgliedschaft in der Union beworben und wurde 2014 offiziell Beitrittskandidat – ohne jedoch direkt mit Verhandlungen zu beginnen. Voraussetzung dafür waren sichtbare Fortschritte bei der Reform der Justiz und der Verwaltung, der Sicherung der Menschenrechte, der Bekämpfung von Korruption und der organisierten Kriminalität. Da aber die Bewerbungen von Nordmazedonien und Albanien von der EU als "Beitrittsbündel" parallel behandelt wurden, bremste das bulgarische Veto gegen Nordmazedonien auch den albanischen Annäherungsprozess zwischenzeitlich aus. Als das bulgarische Veto fiel, wurden im Juli 2022 die Beitrittsverhandlungen aufgenommen. Das Ansehen der EU leidet zwar unter diesen Verzögerungen, ist aber bisher weiterhin noch sehr hoch: In einer jährlich durchgeführten nationalen Umfrage lag das öffentliche Vertrauen in die EU 2018 noch bei 80 Prozent, 2020 waren es 75 Prozent. + + + + +Die Republik Moldau hat sich erst am 3. März 2022, kurz nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, um eine Mitgliedschaft beworben und wurde im Juni 2022 als Beitrittskandidat anerkannt.Die EU-Kommission erklärte, dass das Land eine solide Grundlage für die Verhandlungen mitbringe, aber noch zentrale Wirtschaftsreformen durchführen müsse. Langfristig muss außerdem geklärt werden, wie künftig mit demvon prorussischen Separatisten kontrollierten Landesteil Transnistrienverfahren wird. Die Annäherung an die EU hatte Präsidentin Maia Sandu vor der Wahl 2021 in Aussicht gestellt. Ihre Partei wurde mit 53 Prozent deutlich stärkste Kraft. + +Der EU beizutreten ist seit den 1990er-Jahren Wunsch der Ukraine und war ein grundlegendes Motiv für die demokratischen Reformen der vergangenen Jahrzehnte. Als der ehemalige Präsident Janukowitsch Ende 2013 beschloss, das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine nicht zu unterzeichnen, kam es im sogenannten Euromaidan zu massiven Protesten – in der Folge annektierte Russland 2014 die Krim und unterstützteillegale bewaffnete Gruppen in der Ostukraine. Trotzdem blieb im Großteil des Landes die proeuropäische Einstellung der Bevölkerung bestehen, und so passte sich das Land schrittweise an die Kriterien der EU an. Die neue ukrainische Regierung unterzeichnete das Assoziierungsabkommen, das 2017 vollständig in Kraft trat. Darin sagt die Ukraine unter anderem wesentliche Angleichungen an das EU-Recht zu.Auch wenn die Umsetzung der Reformen (besonders in der Korruptionsbekämpfung) manchen Akteuren in der EU seither nicht entschieden genug vorangetrieben wurde, war der strategische Kurs des Landes klar: 2019 wurde das Ziel der "Vollmitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union" in der Verfassung festgeschrieben. Nach demEinmarsch Russlands im Februar 2022musste sich schließlich auch die EU klar positionieren: Knapp vier Monate nach der offiziellen Bewerbung des Landes erklärte der Europäische Rat die Ukraine im Juni 2022 offiziell zum Beitrittskandidaten. Wann die Ukraine letztendlich in die EU eintreten kann, ist auch abhängig davon, wie lange der Krieg noch andauern und in welchem Zustand das Land dann sein wird. + +Das Land ist seit 2003ein potenzieller Beitrittskandidat, der in verschiedenen Partnerschaftsprogrammen an die Union herangeführt werden soll. Bosnien und Herzegowina hat 2016 offiziell einen Beitrittsantrag gestellt. Die EU-Kommission definierte daraufhin 14 Reformbereiche (vor allem Justiz und Verwaltung), in denen es Veränderungen geben soll, bevor Verhandlungen aufgenommen werden. 2021 stellte die Kommission allerdings nur einen geringen Fortschritt bei der Umsetzung der Reformen fest. Die EU unterstützt Bosnien und Herzegowina bei den Reformen durch einen Sonderbeauftragten und durch Finanzmittel. Im Oktober 2022 hat die Kommission den Mitgliedstaaten vorgeschlagen, Bosnien und Herzegowina zum Beitrittskandidaten zu erklären. + +Das südkaukasische Land, das keine Ländergrenzen zu aktuellen EU-Mitgliedern hat, ist bereits seit seiner Unabhängigkeit 1991nach Europa ausgerichtet. Ursprünglich wollte das Land erst 2024 einen EU-Beitritt beantragen, bewarb sich aber im Zuge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine schon im März 2022. Im Gegensatz zu den beiden Mitbewerbern Ukraine und Republik Moldau wurde der Antrag von Georgien allerdings zurückgestellt: Das Land soll zunächst zwölf EU-Forderungen (darunter der Ausbau der Antikorruptionsstrategie und eine umfassende "De-Oligarchisierung") umsetzen. Teil der zukünftigen Verhandlungen müsste außerdem eine Lösungdes Konflikts um die Regionen Abchasien und Südossetiensein. Diese gehören zwar völkerrechtlich zu Georgien, es haben sich aber vor Jahrzehnten unter prorussischer Führung staatenähnliche Strukturen gebildet, die Unabhängigkeit für Abchasien und Südossetien beanspruchen. Die Zustimmungswerte für einen EU-Beitritt liegen in Georgien seit Jahren bei etwa 80 Prozent.Von den Menschen in Georgien wurde die "Zurückstufung" deshalb enttäuscht aufgenommen: In den sozialen Medien wurde laut ARD-Berichten viel Frust darüber geäußert, dass Georgien wie Bosnien-Herzegowina und Kosovo auf die lange Bank verwiesen würden, während andere Länder an ihnen vorbei als Beitrittskandidaten in die Union einzögen. + diff --git a/fluter/eu-beitritt-prozess-einfach-erklaert-faq.txt b/fluter/eu-beitritt-prozess-einfach-erklaert-faq.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1ece93803d6f5ce6f41bb1a9f76413ba4e1dd001 --- /dev/null +++ b/fluter/eu-beitritt-prozess-einfach-erklaert-faq.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +"Es gibt keine konkreten Kennzahlen, an denen die Beitrittskriterien festgemacht sind", sagt Nicolai von Ondarza, EU-Experte von der Stiftung Wissenschaft und Politik. "Einfach messbar ist die Umsetzung der EU-Gesetzgebung, ob etwa die Zollregeln der EU schon im Bewerberland umgesetzt werden. Über die politischen Kriterien wird dagegen eher abwägend entschieden." Und auch der Verlauf der Verhandlungen selbst sei stark politisiert, sagt von Ondarza – die Eröffnung und die Schließung jedes Verhandlungskapitels muss einstimmig von allen Mitgliedstaaten beschlossen werden. Ihre Vetomöglichkeit nutzen einzelne Länder immer wieder, um eigenen Forderungen Gehör zu verschaffen. Nordmazedonien etwa musste seit seinem offiziellen Status als Beitrittskandidat 17 Jahre warten,weil erst Griechenland und dann Bulgarien die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen blockierten. +Offiziell sind das keine Beitrittskriterien für die EU. Aber die Frage danach, was ein "europäischer Staat" genau ist, wird seit über 30 Jahren diskutiert. Marokkos Bewerbung wurde 1987 abgelehnt, weil das Land kein europäischer Staat sei. Die Türkei, die geografisch fast vollständig zu Asien gehört, wurde 2004 Beitrittskandidat –und löste Diskussionen darüber aus, inwiefern dem Projekt der EU gemeinsame religiöse und philosophische Traditionen zugrunde liegen sollen. Und die nächste Richtungsentscheidung steht bald an: Georgien ist der erste potenzielle Beitrittskandidat, der keine Außengrenze mit anderen EU-Staaten teilt und geografisch im Kaukasus liegt. +In der EU ist für die Bewerbungsverhandlungen die "Generaldirektion Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen" zuständig. Der derzeitige Erweiterungskommissar Olivér Várhelyi ist Ungar und bekannt dafür, dass er die EU-Integration der Länder des Westbalkans vorantreibt – dafür und für seine Nähe zum ungarischen Premier Viktor Orbán steht er bei manchen innerhalb der EU in der Kritik. Die Verhandlungen selbst finden zwischen den Minister:innen und Botschafter:innen der EU-Regierungen und dem Beitrittsland in einer Regierungskonferenz statt. "Der Spielraum für echte Verhandlungen ist für die Beitrittsländer dabei sehr klein", sagt Politikwissenschaftler Nicolai von Ondarza, "die EU stellt die Bedingungen, und die Länder müssen sie erfüllen. Das ist eher eine Prüfungssituation." +Normalerweise einige Jahre. Besonders schnell ging es im Fall von Finnland, das – weil es schon bei der Bewerbung praktisch alle Anforderungen erfüllte – bereits drei Jahre nach Antragstellung aufgenommen wurde. Die längsten Verhandlungen führt seit 17 Jahren die Türkei.Derzeit sind sie "eingefroren"– unter anderem, weil seit dem Putschversuch 2016Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in dem Land eingeschränkt wurden. Ein Vertragsabschluss scheint mittlerweile in weite Ferne gerückt. +Nachden Osterweiterungen 2004 und 2007reduzierte die EU zunächst das Erweiterungstempo. Mit dem Angriffskrieg Russlands habe sich die geostrategische Situation in der EU verändert, so Nicolai von Ondarza. "Die Ukraine kämpft derzeit auch für ihr Recht, zur EU zu gehören. Und dafür musste die Union dem Land ein entsprechendes Angebot machen."Die Ukraine und die Republik Moldau wurden im Juni 2022 als Kandidaten anerkannt. Damit einher gingen auch Beitrittssignale an die (schon länger wartenden) Länder des Westbalkans (Montenegro, Serbien, Albanien und Nordmazedonien). Auch wenn die Osterweiterung der EU weithin als erfolgreiche und stabilisierende Außenpolitik-Strategie gilt, wird darüber derzeit diskutiert. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob die Union mit 30 bis 35 Mitgliedern noch handlungsfähig wäre, wenn ihre Entscheidungsprozesse so wie jetzt noch Einstimmigkeit voraussetzten. Besonders Deutschland, Frankreich und Italien fordern Reformen der EU-Entscheidungsprozesse. +DerKrieg in der Ukrainehat dazu geführt, dass die meisten EU-Bürger:innen (58 Prozent) einer schnelleren Aufnahme neuer Mitglieder zustimmen. In vielen westeuropäischen Ländern liegt der Wert darunter, etwa in Deutschland (53 Prozent), Frankreich (47 Prozent), den Niederlanden (46 Prozent) und Österreich (45 Prozent). In Bezug auf einen Beitritt der Ukraine sind die Werte noch höher: 66 Prozent der EU-Bürger:innen stimmen zu, dass die Ukraine der EU beitreten sollte, wenn sie dazu bereit ist. +Das hängt davon ab, wie lange der Krieg noch dauert und in welchem Zustand das Land danach sein wird. Vor dem Angriff durch Russland gab es bereits jahrzehntelang Annäherungen an die EU, doch die Ukraine hatte noch Probleme, unter anderem mit der Rechtsstaatlichkeit. Lautdem Korruptionswahrnehmungs-Index von Transparency Internationallag die Ukraine 2021 weltweit auf Platz 122 von 180 Ländern. "Es wird für die Ukraine kein Schnellverfahren geben", sagt Nicolai von Ondarza. "Aber der Beitritt ist politisch gewollt, und wenn der Krieg vorbei ist, könnte der Wiederaufbau parallel zur EU-Integration laufen. Wenn das gut geht, könnte die Ukraine in sieben bis zehn Jahren Mitglied sein." Weil die EU Beitrittskandidaten mit ähnlichen Bedingungen oft in "Länder-Paketen" behandelt, könnte diese Prognose auch für die Republik Moldau gelten. "Beide Länder haben eine klare europäische Perspektive und ähnliche institutionelle Voraussetzungen und Schwierigkeiten", sagt von Ondarza. Darum sei es sehr wahrscheinlich, dass ihr Beitritt parallel laufe. +Grundsätzlich ja. Allerdings: Weil sich die Mitgliedstaaten im Artikel 42 des Vertrags über die Europäische Union verpflichtet haben, einander im Fall eines Angriffes zu helfen, ist es im Interesse der EU, offene Konflikte vor dem Beitritt beizulegen. Nicht immer ist das gelungen – etwa imZypern-Türkei-Konflikt. + +Titelbild: Joris van Gennip/laif diff --git a/fluter/eu-haushalt-einfach-erklaert.txt b/fluter/eu-haushalt-einfach-erklaert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b984b785c6daa78e9e502d7e029b89e59d2d6056 --- /dev/null +++ b/fluter/eu-haushalt-einfach-erklaert.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Ausgeben wird das Geld dann vor allem für Wachstum, die Schaffung von Arbeitsplätzen, Infrastruktur, regionale Entwicklung und Landwirtschaft in den EU Staaten, aber auch Innovation und Umweltschutz 135 Billionen Euro: Auf ein Jahr heruntergerechnet sind das rund 160 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Der deutsche Bundeshaushalt für 2017 betrug rund 329 Milliarden Euro, also knapp das Doppelte. Europa sollte einem schon einen Cappuccino Wert sein, sagte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und spielte damit auf folgende Berechnung an: Mit der gewaltigen Summe lässt sich entweder der EU-Haushalt schmeißen, oder aber jedem der rund 446 Millionen EU-Bürger (ohne Großbritannien) eine Tasse Kaffee am Tag ausgeben. Klingt fast schon nach Peanuts. + +beträgt die Laufdauer des EU-Etats. Der Vorteil von mehrjährigen Finanzplänen: Die Finanzierung von geförderten Projekte ist über Jahre gesichert und EU-Staaten, Regionen oder Städte müssen nicht jedes Jahr erneut um Gelder bitten. Die EU lebt übrigens fast ausschließlich von den Beiträgen der Mitgliedstaaten, die sich nach deren Größe und Wirtschaftskraft berechnen. Schulden darf die EU keine machen. + +so viel Geld fehlt nach dem Brexit in den Kassen der EU. Großbritannien war einer der größten Nettozahler – zahlte also mehr Geld in die EU-Kassen ein, als es von Brüssel bekam. Am 29. März 2019 verlässt Großbritannien die EU. Für eine Übergangsfrist von knapp zwei Jahren wird sich das Land noch an gemeinsame Regeln halten und sich auch am Etat beteiligen. Oettingers Plan: Die Hälfte der fehlenden 12 Milliarden soll durch Einsparungen hereinkommen, die andere Hälfte über Mehreinnahmen, etwa durch eine neue Plastiksteuer und natürlich höhere Abgaben von Mitgliedsländern. + +wird es in der EU noch geben, wenn die Briten weg sind: Frankreich, Österreich, Niederlande, Finnland, Schweden, Dänemark, Belgien, Italien und – Platz 1 – Deutschland. Indirekte Einnahmen, etwa über Steuern durch leichtere Exporte im Binnenmarkt, werden in der Rechnung nicht berücksichtigt. +Eine kleinere EU, aber höhere Ausgaben? Das gefällt nicht allen. Allein auf Deutschland kämen europäische Mehrkosten von 12 Milliarden Euro zu. Vor allem Österreich und die Niederlande machen sich gegen höhere EU-Ausgaben laut. Schon zu Jahresbeginn hatten sich Österreichs Kanzler Sebastian Kurz und Niederlandes Premier Mark Rutte gegen Brüssel verbündet. Beide hätten das "klare Interesse, dass die EU nach dem Brexit auch schlanker wird", so Kurz. Die Botschaft: Weniger Geld bedeutet weniger Macht für Brüssel. +sollen 2027 für die EU-Grenzagentur Frontex arbeiten. Das sind mehr als fast achtmal so viel wie momentan. Die Ausgaben für Frontex würden demnach bis 2027 von derzeit 13 Milliarden Euro auf 33 Milliarden Euro steigen. Der gemeinsame Schutz der Außengrenze ist eine von vielen neuen Aufgaben, welche die EU-Staaten künftig als Kollektiv organisieren und schultern will, anstatt einzelne Länder alleine werken zu lassen. Auch im Bereich der Verteidigung und im Aufbau von Investitionsfonds für ökonomische Krisenzeiten soll künftig mehr gemeinsam gemacht werden. + +so viel möchte die EU zwischen 2021 und 2027 in Erasmus investieren – ein Plus von gut 50 Prozent. Tatsächlich ist das Austauschprogramm Erasmus einer der wenigen Förderposten, für die die EU mehr Geld ausgeben will. Auch der Forschungsetat soll erhöht werden. + +lässt sich die EU bis 2027 ein neues Gratis-Interrail-Programm kosten. Jeder EU-Bürger soll nach seinem 18. Geburtstag künftig vier Wochen kostenlos mit dem Zug durch die EU reisen können. "Die Jugend soll eingeladen werden, Europa, die Sprachen und die Menschen kennenzulernen", sagte Oettinger. Getestet wird die Idee diesen Sommer: Unteryoudiscover.eukönnen sich vom 12. bis 26. Juni Jugendliche für die ersten 15.000 kostenlosen Interrail-Tickets bewerben. Ein zweiter Testlauf könnte im Herbst folgen. Gestartet haben die Initiative übrigens die deutschen Blogger Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer. +des EU-Haushalts fließen bisher in die Landwirtschaft. Zu viel, findet Oettinger und strebt an, die Agrarhilfen um 5% zu senken. Stattdessen soll in Forschung und Digitalisierung investiert werden. 281 Euro pro Hektar bewirtschaftetes Land – man spricht von sogenannten Direkthilfen – erhalten deutsche Landwirte derzeit von der EU. Der Präsident des Deutschen Bauernverband (DBV) Joachim Rukwied warnte: "Die Kürzung im Agrarhaushalt wird die Landwirte hart treffen und zu einer Schwächung der ländlichen Räume führen." + +der EU-Ausgaben gingen bisher in sogenannte Strukturhilfen, also Unterstützung für abgehängte Regionen. Von Süd-Italien über Ost-Brandenburg bis nach Litauen soll so die Lebensqualität fernab prosperierender Metropolen verbessert werden. Mal wird der Bau von Radwegen finanziert, mal die Gründung von Firmen. Künftig soll für Strukturhilfe 7 Prozent weniger ausgegeben werden. +Zum einen sollen sich die EU-Staaten stärker als bisher an der Finanzierung der Projekte im eigenen Land beteiligen. Zum anderen möchte Oettinger EU-Staaten, die sich nicht an Rechtsstandards halten, Strukturgelder kürzen. Die Regelung würde in erster Linie Polen und Ungarn treffen: Dort rütteln nationalkonservativen Regierungen mit einer Justizreform an der Unabhängigkeit der Gerichte. Ungarns Regierungschef Viktor Orban kritisierte den Plan prompt. "Dieser Haushalt muss einstimmig beschlossen werden", erinnerte er und warf der EU Erpressung vor. Tatsächlich müssen sich alle Mitgliedsstaaten (einstimmig) und das EU-Parlament (mit der Mehrheit der Abgeordnete) über den Haushalt einig sein, bevor er in Kraft treten kann. 29 Monate und zwei Sondergipfel lang dauerten die Verhandlungen über den letzten Etat. Diesmal soll es schneller gehen: Bis zur Europawahl im Mai 2019 sollen die Verhandlungen abgeschlossen sein. + + diff --git a/fluter/eu-interrail-ticket-gewinnen-und-europa-entdecken.txt b/fluter/eu-interrail-ticket-gewinnen-und-europa-entdecken.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0d08f783248ea99f4501e8ac92bf70934d39a54d --- /dev/null +++ b/fluter/eu-interrail-ticket-gewinnen-und-europa-entdecken.txt @@ -0,0 +1,21 @@ + +Immer mitten im Zentrum +Interrail: Was muss ich da eigentlich beachten? +Grundsätzlich kann jeder Interrail machen. Für junge Leute ist Interrail aber deutlich günstiger. 27 ist die magische Zahl. Wer also schon immer mal Interrail machen wollte und auf die 28 zugeht, sollte sich beeilen. Mit dem "Interrail Jugendliche Pass" erhält man eine Ermäßigung von bis zu 25 Prozent auf den regulären Erwachsenentarif. +Die wichtigsten Fragen muss man gleich zu Beginn beantworten: Wie viele Länder will ich sehen? Und wie lange will ich unterwegs sein? Wer nur ein Land bereisen möchte, der fährt mit dem "One Country Pass" gut. Wer kreuz und quer durch Europa fahren will, braucht den "Global Pass". Mit dem kann man zwischen 15 Tagen und einem Monat unterwegs sein. Für junge Leute können Tickets zwischen 51 und 510 Euro kosten. Außerdem lassen sich noch diverse Extras dazubuchen. +Mit dem Zug durch Europa zu fahren gibt einem ein Gefühl für die Fläche eines Landes, für Distanzen. Es schärft auch den Blick für die wirtschaftliche Situation einer Region. Denn zuallererst nimmt man immer die Landschaft wahr. Ob touristisch erschlossene Küstenabschnitte, Hänge voller Weinreben, karge, vertrocknete und kaum bewohnte Landstriche oder bewirtschaftete Ackerflächen – all das verrät schon ein bisschen was darüber, wie es so einer Region geht. Und bevor man langsam in eine Stadt einfährt, sieht man zuerst die Vororte: Sind sie verwahrlost oder luxuriös? Schotten sich die Reichen ab? Fängt das Ackerland unmittelbar hinter dem Stadtrand an? In der Stadt geht es dann so weiter. Denn Bahnhöfe sind immer im Zentrum des Geschehens. Wir haben uns meistens ein Hostel gesucht, das fußläufig vom Bahnhof zu erreichen war. Soll heißen: Wir wohnten dort, wo die Einheimischen leben. Wir gingen in ihre Bäckereien, auf ihre Märkte und in ihre Restaurants. Und immer wieder erlebten wir Wunderbares: So wurden wir in Marseille auf einem Markt von einem Händler mit Aprikosen und Weintrauben beschenkt – aus purer Freundlichkeit. So haben uns Einheimische dort auch den lebenswichtigen Rat gegeben, vor einer Wanderung zu überprüfen, ob gerade ein Mistral-Tag ist oder nicht. Soll heißen: ob der Wind so heftig bläst, dass wir uns in den Calanques kaum an der Felskante halten können, oder ob entspanntes Wandern möglich ist. Und so brachte mir zum Beispiel ein Kellner in Lissabon den Fisch, von dem ich qua Beschreibung auf der Speisekarte einfach nicht verstand, was es für eine Sorte sein soll, zur Erklärung direkt an den Tisch: in seiner schimmernd glänzenden, 50 Zentimeter langen Pracht. +Apropos: Essen, Essen, Essen! +Überall gibt es regionale Spezialitäten zu genießen. So sah unsere Reiseroute in Gerichten aus: Es fing mit Eintöpfen, gegrillten Würsten und Puddingtörtchen in Portugal an, ging mit Paella und Tapas in Barcelona weiter, danach kamen Couscous-Gerichte und guter Käse in Marseille, und den krönenden Abschluss bildete handgemachte Pasta in Genua. Sich durch regionale Gerichte zu futtern, Unterschiede und Gemeinsamkeiten festzustellen, das ist die wohl genussvollste Art, Europa zu entdecken. In Portugal haben wir zum Beispiel Francesinha, ein unfassbar fleischlastiges und fettiges Sandwich, gegessen. Das haben die Franzosen zur Zeit Napoleons nach Porto gebracht, wurde uns erklärt. Mag ja sein, dass das stimmt. Ein bisschen kam es uns aber auch so vor, als suchten die Portugiesen einen Sündenbock für dieses Hunderttausend-Kalorien-Gericht. Denn zwei Wochen später aßen wir in Frankreich das Original, den deutlich fettärmeren Croque Monsieur, der nur noch mit viel Fantasie an die Kalorienbombe aus Porto erinnert. + + + +Von der EU gesponserte Travel-Tickets +Im Sommer sollen 15.000 junge Erwachsene auf EU-Kosten reisen dürfen. Vom 12. bis 26. Juni können sich 18-jährige EuropäerInnen dafür bewerben: alleine oder als Gruppe mit bis zu fünf Leuten. Dafür muss man ein Online-Bewerbungsformular ausfüllen und an einem Quiz teilnehmen. Am Ende wählt eine Jury die Teilnehmer aus, deren Ticket von der EU übernommen wird. Die Reise muss zwischen Juli und September 2018 angetreten werden. Bis zu vier Länder können in einem Monat bereist werden. Für alle anderen Kosten muss man natürlich selbst aufkommen. +Die Menge der verfügbaren Tickets pro Land soll sich nach der Bevölkerungszahl richten. Die EU lässt sich das Programm "DiscoverEU" zwölf Millionen Euro kosten. +Hier kann man sich ab dem 12. Juni bewerben +Ach, Europa +Interrail, das ist die Vorstellung vom spontanen Entdecken Europas, vom beliebigen Ein- und Aussteigen. So schön unsere Reise auch war, in den von uns bereisten Ländern war uns schnell klar, dass es vor allem eins bedeutet: frühzeitige Planung. Für viele Züge braucht man in Südeuropa eine Sitzplatzreservierung. Stehen oder auf dem Gang zu sitzen ist für viele Menschen dort unvorstellbar. Schon witzig, dass gerade wir angeblich so durchorganisierten Deutschen in diesem Punkt so locker sind. Auf beliebten Strecken muss man sich am besten an dem Tag, an dem man in einer Stadt ankommt, schon um das Ticket für die Weiterreise kümmern. Und auch bei der Sitzplatzreservierung kann einem Kurioses widerfahren. Auf unserer Fahrt von Barcelona nach Marseille mussten wir allen Ernstes am Grenzbahnhof aussteigen und eine neue französische Reservierung tätigen. "Die Franzosen haben ja ein ganz anderes Buchungssystem", erklärte uns in Spanien der Mann am Schalter. +Ach. Es gibt diese wunderbare Idee von einem Europa, in dem die Länder an einem Strang ziehen. Im echten Leben kochen sie oft doch ihr eigenes Süppchen. Und manchmal stellen sie sich gegenseitig ein Bein. Das Interrail-Ticket ist in dem Punkt wohl ein Spiegel der großen Politik. +Katharina Häringer ist 2014 mit ihrem Freund in vier Wochen mit dem Interrail-Ticket durch fünf Länder gefahren. Sie waren in Portugal, Spanien, Frankreich, Italien und sind über Österreich wieder nach Hause gefahren. + +Titelbild: Oleh Slobodeniuk diff --git a/fluter/eu-politik-in-der-corona-wirtschaftskrise-einfach-erklaert.txt b/fluter/eu-politik-in-der-corona-wirtschaftskrise-einfach-erklaert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b539fe2eb30a9b6d6dac8431fe5ba33b0511c518 --- /dev/null +++ b/fluter/eu-politik-in-der-corona-wirtschaftskrise-einfach-erklaert.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Die EU-Kommission hat ein 500 Milliarden Euro schweres Rettungspaket beschlossen, mit dem notleidende Staaten und Unternehmen Kredite von derEuropäischen Investitionsbankund demEuropäischen Rettungsschirmerhalten können. Zudem hat man sich auf ein europäisches Kurzarbeiterprogramm geeinigt, um Arbeitnehmer und Selbstständige finanziell zu unterstützen. Die ersten Hilfspakete könnten bereits zum 1. Juni zur Verfügung stehen. +Ein Vorwurf lautet: Die Mitgliedstaaten hätten es verschlafen, Italien sofort zur Hilfe zu eilen, als die Krise dort eskaliert ist. Einige in Italien nehmen das den anderen EU-Staaten übel: Wenn es ernst wird, ist jedes Land trotz EU-Gemeinschaft auf sich allein gestellt, so der Eindruck dort. +Außerdem geht das, was bisher beschlossen wurde, einigen Mitgliedern noch nicht weit genug. Sie fordern daher neue Kriseninstrumente. Aber die hitzigen Streitereien der Regierungschefs haben bei manchen das Gefühl weiter verstärkt,dass die gegenseitige Hilfe ihre, im wahrsten Sinne des Wortes, Grenzen hat. +Inzwischen gibt es aber zumindest den ersten Ansatz einer Lösung. Ein Kernpunkt ist, dass die gemeinsamen Hilfsmaßnahmen zu einem großen Teil über das EU-Budget abgewickelt werden sollen statt über die einzelnen Haushalte der Mitgliedstaaten. +Das Budget der EU besteht vor allem aus Zahlungen der Mitgliedstaaten – anteilig auf der Grundlage des Bruttonationaleinkommens (BNP) – und hat eine Laufzeit von sieben Jahren. Das aktuelle, für 2014 bis 2020, beträgt knapp 960 Milliarden Euro. Das klingt viel, ist aber nur rund ein Prozent des BNP der EU-Mitgliedstaaten. Jetzt überlegt man, den Haushalt für einige Jahre zu verdoppeln: Jeder Staat würde dann zwei Prozent seines BNP in den Brüsseler Topf einzahlen. +Denn die EU will mehr Geld aufwenden, um die Krise zu stemmen – und zum Beispiel einen Fonds auflegen, der den Wiederaufbau Europas nach der Krise finanziert. Das solleine Art Marshallplan gegen die wirtschaftlichen Folgen des Shutdowns sein. +Alle Details für den Wiederaufbaufonds sind noch offen. Weil sich die EU-Regierungschefs nicht einigen können, haben sie den Ball an die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gespielt. Die sagte, es ginge dabei "nicht um Milliarden, sondern um Billionen Euro". Also um eine Zahl mit zwölf Nullen. In der kommenden Woche wird sie einen Vorschlag vorlegen. Dann wird die Diskussion zwischen den Regierungschefs noch mal richtig losgehen. +Der große Streitpunkt dabei ist, wie mit den Schulden umgegangen werden soll, die während der Krise entstehen. Die EU-Mitgliedstaaten sind sich uneins, ob Geld aus dem Wiederaufbaufonds als Darlehen oder Zuschuss verteilt wird – also ob die Staaten das Geld wieder zurückzahlen müssen oder nicht. +Die Diskussion schließt direkt an das Thema Corona-Bonds an, das in den vergangenen Wochen für Zündstoff gesorgt hat. +So wie Einzelpersonen können auch Staaten einen Kredit aufnehmen. Dafür gehen sie aber nicht zu einer Bank, sondern geben Anleihen heraus. Das sind Wertpapiere, die theoretisch von jedem gekauft werden können. Der Käufer einer Anleihe hat nach einer festgelegten Zeit Anspruch auf Rückzahlung – und bekommt Zinsen, so wie das bei normalen Krediten funktioniert. Wie hoch diese Zinsen sind, hängt davon ab, wie glaubwürdig der Staat ist, der die Anleihe herausgibt. Wenn er in finanziellen Schwierigkeiten steckt, muss er höhere Zinsen zahlen, weil das Risiko dann größer ist, dass der Käufer sein Geld nicht zurückbekommt. +Zum Beispiel muss Italien sehr viel mehr Zinsen zahlen als etwa Deutschland, das als zahlungskräftiger gilt. In einer Krise wie jetzt wird es für Italien deshalb eng. Also will es gemeinsam mit den anderen EU-Staaten Bonds ("Corona-Bonds") ausgeben, sprich: Anleihen mit einem für alle EU-Länder gleichen festen Zinssatz. Denn wenn Länder wie Deutschland mithaften, können die anderen EU-Mitglieder ebenfalls Geld zu niedrigen Zinsen bekommen. Auch Spanien, Frankreich und einige weitere fordern so ein Modell. Aber Deutschland, die Niederlande, Finnland und Österreich lehnen es ab, sodass es momentan so aussieht, als ob es keine Corona-Bonds geben wird. +Gemeinsame Schulden heißt: Die Zahlungskräftigen müssten auch für Zahlungsausfälle anderer Mitgliedstaaten haften. Einige, allen voran die Niederlande und Deutschland, wollen das nicht und begründen das damit, dass sie keine Kontrolle über die Ausgaben der anderen haben. +Dahinter steckt ein altes Problem der EU: Die Staaten wollen über ihre Haushalte jeweils selbst entscheiden und haben deshalb auch keine Mitsprache bei den anderen. Daher tun sie sich schwer damit, gemeinsame Schulden aufzunehmen und gegenseitig für sich zu haften. +Außerdem seien für die Aufnahme von gemeinsamen Bonds Änderungen der EU-Verträge nötig. Das würde zu lange dauern, um jetzt akut zu helfen, meint Bundeskanzlerin Merkel und verweist darauf, dass Geld aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) sofort verfügbar wäre. +Das ist ein Instrument, das 2012 in der Euro-Krise erfunden wurde, um überschuldeten Euro-Staaten Kredite zu geben und so ihre Zahlungsfähigkeit zu sichern. Dieser Rettungsschirm verfügt noch über 410 Milliarden, auf die sofort zugegriffen werden kann. +Während der Euro-Krise waren ESM-Kredite an strikte Reformauflagen und Sparmaßnahmen geknüpft, wie sie damals etwa Griechenland akzeptieren musste. Deshalb hat der ESM weiterhin ein sehr schlechtes Image in Südeuropa. Dieses Mal würde das Geld ohne solche Bedingungen verliehen – darauf haben sich die Staaten bereits geeinigt. +Auch mit dem EU-Budget könnten gemeinsame Bonds abgesichert werden und krisengebeutelte Staaten von günstigeren Konditionen profitieren. So würden zwar trotzdem die Mitgliedstaaten geradestehen müssen. Aber im Unterschied zu den Corona-Bonds haften die Staaten nicht unbegrenzt, sondern nur gemäß ihrem eigenen Anteil am EU-Budget. +Wo das Geld für den Wiederaufbau aber genau herkommen soll und ob die Staaten es später zurückzahlen müssen, ist noch nicht geklärt. Jedenfalls hat die Debatte ordentliche Sprengkraft. Einige, unter anderem der französische Präsident Emmanuel Macron und der italienische Premierminister Giuseppe Conte, sprechen von einer Zerreißprobe für die EU. +In diesem Kontext vom Ende der EU zu sprechen ist erst einmal vor allem ein politischer Kniff, der Druck und viel Aufmerksamkeit erzeugt. Was für viele hängen bleiben könnte: EU-Staaten unterstützen sich nicht bedingungslos.Das könnte euroskeptischen Parteien bei den nächsten Wahlen in die Hände spielen. Denn viele Menschen, unter anderem in Italien, Spanien und Frankreich, sind sehr enttäuscht von ihren europäischen Nachbarn. Die von der Krise hart getroffenen Staaten prangern den knauserigen Umgang an, während weniger gebeutelte Staaten um ihre politische Unabhängigkeit fürchten. Die EU-Institutionen versuchen einstweilen, zwischen den streitenden Mitgliedstaaten zu vermitteln. Es gehe jetzt darum, die richtige Balance zu finden, sagt dieKommissionspräsidentinvon der Leyen. Einfach wird das bestimmt nicht. +GIF: Renke Brandt diff --git a/fluter/eu-und-ihre-spitzenpositionen-leicht-erklaert.txt b/fluter/eu-und-ihre-spitzenpositionen-leicht-erklaert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2811b42eb0e4b5eeed52f7924e439b06c493ded7 --- /dev/null +++ b/fluter/eu-und-ihre-spitzenpositionen-leicht-erklaert.txt @@ -0,0 +1,42 @@ +Wer macht's? +2014–2019: Jean-Claude Juncker (Luxemburg). Als seine Nachfolgerin wurde Ursula von der Leyen (Deutschland) nominiert. Am 16. Juli wurde sie vom Europäischen Parlament zur künftigen Präsidentin gewählt. +Was ist zu tun? +Die Kommissionspräsidentin ist so etwas wie die EU-Regierungschefin, da die Kommission in der Europäischen Union die Aufgaben der Exekutive übernimmt. Die Kommissionsmitglieder sind ihre Minister, die die Präsidentin allerdings nur prüfen kann: Sie werden von den Mitgliedstaaten nominiert und vom Europäischen Parlament bestätigt. Aufgabe der Kommissionspräsidentin ist dann die Verteilung und der Zuschnitt der Ressorts, die sie jederzeit ändern kann – mit Ausnahme der Außenbeauftragten. Während ihrer Amtszeit hat die Kommissionspräsidentin die Richtlinienkompetenz inne, das heißt, sie bestimmt, was auf der politischen Agenda der EU steht. Sie leitet die wöchentliche Sitzung der Kommission und legt die Tagesordnung fest. Bei den EU-Gipfeln, wenn also der Europäische Rat tagt, vertritt die Kommissionspräsidentin die Kommission, ebenso bei Debatten im Parlament, G7- undG20-Gipfelnund bilateralen Konferenzen der EU mit anderen Ländern. + + + +Wie kommt er/sie ins Amt? +Wird vom Europäischen Rat, also dem Gremium der Staats- und Regierungschefs der EU, für zweieinhalb Jahre gewählt und kann einmal wiedergewählt werden. Im Gegensatz zur Kommissionspräsidentin muss das Amt nicht vom Europäischen Parlament bestätigt werden. +Wer macht's? +2014–2019: Donald Tusk (Polen); ab 1. Dezember 2019: Charles Michel (Belgien). +Was ist zu tun? +Der Ratspräsident vertritt die EU zusammen mit dem Außenbeauftragten, wenn es um Außen- und Sicherheitspolitik geht und bei internationalen Gipfeln wieG7 oder G20zusammen mit der Kommissionspräsidentin. Die wichtigste Aufgabe ist die Leitung der EU-Gipfel, die mindestens vier Mal im Jahr in Brüssel stattfinden und bei denen der Europäische Rat tagt. Der Ratspräsident fungiert hier als Vermittler zwischen den Mitgliedstaaten, damit Kompromisse gefunden werden, etwa zu umwelt- oder wirtschaftspolitischen Themen oder demBeitritt neuer Staaten zur EU. Die Ergebnisse der EU-Gipfel legen die Leitlinien der EU fest und sind somit eine wichtige Grundlage für die Arbeit der Kommission. + + + +Wie kommt er/sie ins Amt? +Wird für zweieinhalb Jahre von den Mitgliedern des Europäischen Parlaments gewählt und kann wiedergewählt werden. Dabei wird darauf geachtet, dass sich die Herkunftsländer der Person und ihre Zugehörigkeitzu einer Parteifamiliemöglichst regelmäßig abwechseln. +Wer macht's? +2017–2019: Antonio Tajani (Italien); seit 3. Juli 2019: David-Maria Sassoli (Italien). +Was ist zu tun? +Der Parlamentspräsident leitet die Plenardebatten, legt die Tagesordnung fest und sorgt dafür, dass die Geschäftsordnung eingehalten wird. Außerdem beaufsichtigt er die Arbeit der verschiedenen Ausschüsse. Er vertritt das Parlament auf internationaler Ebene und innerhalb der EU vor den anderen europäischen Institutionen. Zum Beispiel erstattet er bei EU-Gipfeln den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten Bericht über die Standpunkte des Parlaments. Ein von der Kommission vorgeschlagenes und vom Parlament und dem Rat bestätigtesEU-Gesetzwird erst rechtskräftig, wenn der Parlamentspräsident und der aktuelle Vorsitzende des Rates der EU (Achtung: nicht verwechseln mit dem Ratspräsidenten!) es unterzeichnet haben. Ebenso muss der Parlamentspräsident den EU-Haushalt unterzeichnen und damit endgültig genehmigen. + + + +Wie kommt er/sie ins Amt? +Wird vom Europäischen Rat ernannt, der Kommissionspräsident muss zustimmen. Die Amtszeit beträgt fünf Jahre. +Wer macht's? +2014–2019: Federica Mogherini (Italien); als ihr Nachfolger wurde der spanische Außenminister Josep Borrell bestätigt.* +Was ist zu tun? +Der offizielle Titel lautet "Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik". Die Person ist Chefdiplomat der EU und eine Art Außenminister, vertritt also international die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Mitgliedstaaten. Innerhalb der EU-Institutionen hat der Außenbeauftragte gleich mehrere Funktionen: Er ist Mitglied und Vizepräsident der EU-Kommission, Außenbeauftragter des Europäischen Rats – mit demVertrag von Lissabon 2009wurden die beiden Posten zusammengelegt – und Vorsitzender des Rates für Auswärtige Angelegenheiten, also dem Gremium der Außenminister und -ministerinnen aller Mitgliedstaaten. Das ist deswegen besonders, weil in allen anderen Ministerräten immer das Mitglied den Vorsitz hat, dessen Land gerade die Ratspräsidentschaft innehat, die halbjährlich rotiert. Der Außenbeauftragte steht außerdem dem Europäischen Auswärtigen Dienst vor, dem "EU-Außenministerium", das den Außenbeauftragten unterstützt. Was machtvoll klingt, ist in der Praxis sehr eingeschränkt: Der Außenbeauftragte kann keine eigene Politik machen, sondern nur versuchen, die Mitgliedstaatenzu einer gemeinsamen Position zu bewegen. + + + +Wie kommt er/sie ins Amt? +Der Rat der Wirtschafts- und Finanzminister schlägt eine Person vor, der Europäische Rat wählt sie – allerdings dürfen bei dieser Wahl nur die Mitgliedsländer abstimmen, die den Euro haben. Die Amtszeit beträgt acht Jahre, eine Wiederwahl ist nicht möglich. +Wer macht's? +2011–2019: Mario Draghi (Italien); seit 1. November 2019: Christine Lagarde (Frankreich) – als erste Frau im Amt* +Was ist zu tun? +Als Leitung derEuropäischen Zentralbank mit Sitz in Frankfurtist die EZB-Präsidentin für den Euro und die Geldpolitik in der Eurozone verantwortlich, also zum Beispiel für ein stabiles Preisniveau, die Festlegung des Leitzinses und die Verwaltung der Währungsreserven der Mitgliedstaaten. Ein weiteres Ziel der EZB ist die Unterstützung der Wirtschaftspolitik in der EU, um ein hohes Beschäftigungsniveau und dauerhaftes Wachstum zu gewährleisten. Die EZB-Präsidentin handelt nach den Leitlinien, die der EZB-Rat beschließt. Der Rat besteht aus der EZB-Präsidentin, der Vizepräsidentin, ihrem vierköpfigen Direktorium und allen Präsidenten und Präsidentinnen der Nationalbanken der Eurostaaten. Er tagt alle zwei Wochen. + +* Wir haben den Artikel am 01. November nachträglich aktualisiert. diff --git a/fluter/eu-urheberrecht-uploadfilter-einfach-erklaert.txt b/fluter/eu-urheberrecht-uploadfilter-einfach-erklaert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..90457bddf24372dd7153bafa32db4a92ab4919a3 --- /dev/null +++ b/fluter/eu-urheberrecht-uploadfilter-einfach-erklaert.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Artikel 13 ist einer der umstrittensten Punkte der Reform. Darin geht es um die Haftbarkeit von Plattformbetreibern, also darum, wasDienste wie Youtube, Facebook, aber auch kommerzielle Onlineforen tun müssen, wenn ihre Nutzerinnen und Nutzer Urheberrechtsverletzungen begehen, wenn sie etwa Videos, Fotos oder Dokumente unrechtmäßig hochladen. Bislang mussten die Plattformen erst dann reagieren, wenn sie auf eine Urheberrechtsverletzung hingewiesen wurden.Dann wurde der Inhalt gelöscht, vielleicht noch ein Account gesperrt, und die Sache war in der Regel erledigt. +Die Reform möchte die Betreiber dazu verpflichten, "bestmögliche Anstrengungen" zu unternehmen, um Urheberrechtsverletzungen zu verhindern. Das heißt zum Beispiel: möglichst im Vorfeld die Erlaubnis, also eine Lizenz, von den Rechteinhaber*innen einzuholen, die besagt, dass die Nutzer*innen Inhalte von Dritten hochladen und verwenden dürfen – und gegebenenfalls dafür bezahlen. Eine Fotoplattform müsste deine Bilder schon beim Hochladen dahin gehend prüfen, ob du sie nicht geklaut oder von irgendwo kopiert hast. In der Debatte gehen viele davon aus, dass das in der Praxis nur durch eine entsprechende Software geht, sogenannte "Uploadfilter". Im Text der Reform werden die aber nicht explizit erwähnt. +Onlinedienste müssten womöglich eine riesige Anzahl an Lizenzen kaufen. Also für "alle Inhalte der Welt, die unter das Urheberrecht fallen. Eine unmögliche Aufgabe", schreiben Kritiker*innen wie dieEU-Abgeordnete Julia Reda. Uploadfilter gelten als fehleranfällig und könnten eine Kontroll- und Zensur-Infrastruktur schaffen. Im Zweifelsfall, so die Befürchtung, würden Plattformen eher Inhalte blockieren, als hohe Geldstrafen zu riskieren. +Stell dir einen großen Club vor, in den alle reinwollen. Der Club würde für alles, was in ihm geschieht, verantwortlich gemacht – auch für Streit, Konflikte und Illegales. Die Betreiber würden wohl sicherheitshalber für die strengste Türpolitik sorgen und viele Gäste an der Tür abweisen. +Befürworter der Reform, wie einige Verbände, betonen hingegen, die Rechteinhaber könnten so besser das Geld bekommen, das ihnen zusteht. +Unter den Produzenten in der deutschen Youtube-Szene ist die Aufregung besonders groß. "Ich fürchte, das nutzergenerierte Internet, wie wir es jetzt kennen, ist nach dieser Reform nicht mehr möglich", sagte derYoutuber HerrNewstime in einem Interview. Die Auflagen der Reform könnten so restriktiv sein, dass Remixe, Mash-ups, Satire und Memes, die ja häufig auf urheberrechtlich geschütztem Material basieren, von den Plattformen herausgefiltert werden und somit aus dem Internet verschwinden. +Kritik kommt auch aus Teilen der Wirtschaft: "Eine Zensur aller Aktivitäten im Internet durch Algorithmen, die gegebenenfalls nicht zwischen Urheberrechtsverstößen und legaler Nutzung unterscheiden können, kann nicht die Antwort sein", sagte Oliver Grün vom Bundesverband IT-Mittelstand e.V. Zudem könnte die Reform Innovationen bremsen. Denn auch wenn Dienste ausgenommen sind, die jünger als drei Jahre sind und weniger als zehn Millionen Euro Jahresumsatz erzielen, werden es kleine und neue Angebote schwerer haben, die Regeln zu befolgen, als etwa Firmen wie Google oder Facebook. Anders gesagt: Wer sich die besten Türsteher der Stadt nicht leisten kann, hat ein Problem. +Im Umkehrschluss heißt das aber: Wenn nur die großen Anbieter wie Facebook, Google & Co. das Geld für die Technik haben, um in Zukunft vor dem Gesetz abgesichert zu sein, kommt es durch die Uploadfilter zu einer weiteren Konzentration des Internets durch die großen Anbieter, und das wird nicht nur mit Blick auf den Datenschutz kritisiert. +Befürworter wie der EU-Abgeordnete Axel Voss (CDU), der die Reform maßgeblich mitgestaltet hat, verweisen auf die Vorteile für Musiker, Filmemacher, Fotografen und Medien. Alle Urheber würden durch die Reform besser vor einer nicht autorisierten Nutzung ihrer Werke geschützt. Außerdem profitierten Verwertungsgesellschaften wie die GEMA, weil sie die Werke ihrer Mitglieder weiter lizenzieren können. +Die Kritik sei übertrieben, "ein irreführender Kampfbegriff". Die grüne EuropaabgeordneteHelga Trüpel, stellvertretende Vorsitzende des Kultur- und Bildungsausschusses, argumentiert, dass im Kompromiss genug Ausnahmen für kleinere Foren, neue Dienste und gemeinnützige Plattformen wie Wikipedia verankert seien. Gegen den Vorwurf der Zensur spreche, dass es gar keine Pflicht für Uploadfilter im Gesetz gebe. Und sollten doch einmal Inhalte wie Parodien zu Unrecht blockiert werden, so könnten nach Ansicht des Verbands unabhängiger Musikfirmen (VUT) die Uploader immer noch Einspruch einlegen. Überhaupt bedrohe Artikel 13 nicht die Meinungs- und Kunstfreiheit: Denn die Verbreitung einer urheberrechtlich geschützten Datei sei ohnehin keine Meinungsäußerung. Und Frank Überall vom Deutschen Journalisten-Verband moniert, dass die Kritiker sich so in die Uploadfilter verbeißen und die Alternativen außer Betracht lassen. "Dabei ist die Lösung ganz einfach: Verwertungsgesellschaften wie GEMA, VG Wort oder VG Bild-Kunst vergeben entsprechende Lizenzen." +Viel Kritik gibt es auch an Artikel 11. Auch er soll verhindern, dass Inhalte ohne Zustimmung der Urheber verbreitet werden. Das aktuelle Leistungsschutzrecht für Presseverlage gilt in Deutschland seit 2013. Die Verlage haben dadurch das ausschließliche Recht an der Veröffentlichung von journalistischen Beiträgen – mit Ausnahme von einzelnen Wörtern oder kleinsten Textausschnitten. +Durch die Reform sollen Suchmaschinen darin eingeschränkt werden, ausführlich aus Presseartikeln in ihrer News-Aufbereitung zu zitieren. Das kann sie zukünftig viel Geld kosten, das sie dann den Verlagen zahlen müssen. Aber auch eine Linkvorschau von Artikeln, die du teilst, könnte ganz schnell im rechtlichen Graubereich landen. +Das aktuelle Leistungsschutzgesetz hat sich laut Kritiker*innen bislang als nahezu wirkungslos erwiesen. Denn viele Verlage erlaubten den Suchmaschinen trotzdem die kostenlose Nutzung von Textausschnitten – aus Sorge um ihre Reichweite, wenn ihre Artikel nicht mehr bei Google & Co. auftauchen. Daran werde auch das neue EU-Leistungsschutzgesetz wenig ändern. + +Du willst es genauer wissen?Hier geht's weiter zu bpb.de +GIF: Raúl Soria diff --git a/fluter/eure-wahrheit-unsere-wahrheit.txt b/fluter/eure-wahrheit-unsere-wahrheit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d32386c2b4ee12b1160a0f3e61327ab231eef14e --- /dev/null +++ b/fluter/eure-wahrheit-unsere-wahrheit.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Der israelische Sozialpsychologe Dan Bar-On und der Palästinenser Sami Adwan, Professor für Erziehungswissenschaften an derUniversität Bethlehem, haben Anfang der 2000er ein Projekt ins Leben gerufen, das an genau diesem Punkt ansetzt. Die beiden Wissenschaftler hatten bei der Durchsicht palästinensischer und israelischer Schulbücher festgestellt, dass die Erfahrungen und das Leid der jeweils anderen Seite darin gar nicht vorkamen. Die Landkarten in den Büchern bildeten die Städte und Dörfer der anderen Nation nicht einmal ab. Kultur und Sichtweisen der Gegenpartei fanden keine Erwähnung. +"In Zeiten von Krieg und Konflikt neigen Gesellschaften dazu, ihre Erzählungen als die einzig richtigen und moralisch überlegenen anzusehen", resümierte der 2008 verstorbene Bar-On in seinem letzten Buch. Anhand der israelischen und palästinensischen Schulbücher war ihm und seinem Koautor Sami Adwan dies besonders deutlich geworden. Durch die Art der Geschichtserzählung wurden darin immer auch Werte, Ziele und Mythen vermittelt –"Narrative", wie diese historischen Erzählungen auch bezeichnet werden. Und es zeigte sich, dass diese Narrative die Eigenschaft hatten, das Narrativ der anderen Seite  abzuwerten, es zu entmenschlichen, ja ihr sogar das Recht auf eine eigene Erzählung abzusprechen. +Bar-Ons und Adwans Grundannahme war, dass solche Narrative immer auch als Legitimation des Handelns einer Regierung dienen können. Auch deshalb wollten sie einen Gegenpol schaffen – ein Projekt, das die andere Seite gleichermaßen zu Wort kommen lässt und beide Seiten der Medaille sichtbar macht. Und sie wollten dabei im Bildungskontext ansetzen, wo Jugendliche bis heute oft ein Bild der "Anderen" vermittelt bekommen, das die Züge eines Feindbildes trägt. +Die Entstehung des Schulbuches ist eng an die Freundschaft zwischen Dan Bar-On und Sami Adwan und ihre eigenen Lebensgeschichten gekoppelt. Bar-Ons jüdische Familie emigrierte 1933 aus Hamburg nach Israel. Er lebte viele Jahre in einem Kibbuz, bevor er sein Psychologiestudium begann. Sami Adwan hingegen wuchs im Westjordanland unter der israelischen Besatzung auf, studierte Erziehungswissenschaften in Jordanien und den USA und kam schließlich nach Palästina zurück, wo er Mitglied der palästinensischen Partei Fatah wurde. Die beiden begegneten einander erstmals 1995 im Rahmen eines europäischen Forschungsprojekts. Aus der Bekanntschaft entwickelte sich bald eine produktive Zusammenarbeit, die mit einer Studie zur Bedeutung der nationalen Geschichte für Jugendliche begann. +Später gründeten sie gemeinsamPRIME, das "Peace Research Institute in the Middle East". Das Schulbuchprojekt, das den Titel "Das historische Narrativ des Anderen kennenlernen" bekam, sorgte für Aufsehen. Von seiner Idee und Struktur her ist es im Grunde simpel: Auf der linken Seite steht das israelische Narrativ, auf der rechten das palästinensische – dazwischen gibt es Platz für eigene Gedanken. Dieselben Zeitperioden werden nicht nur inhaltlich unterschiedlich dargestellt, sondern auch mit verschiedenen Formaten und Schwerpunktsetzungen innerhalb der Kapitel –  mal sind es Gedichte, mal Fotos, mal präzise aufgestellte Daten. +In dem Schulbuch "Das historische Narrativ des Anderen kennenlernen" werden die israelische und die palästinensische Lesart der Geschichte gleichberechtigt nebeneinander dargeboten +Das wohl markanteste Beispiel dafür, dass Palästinenser und Israelis in Bezug auf ein historisches Ereignis zu völlig verschiedenen Wahrheiten kommen, ist der 14. Mai 1948, der Gründungstag des Staates Israel. Für die Israelis ist er ein Nationalfeiertag, der "Unabhängigkeitstag". In Palästina hingegen gleicht er eher einem Volkstrauertag, an dem der vielen Flüchtlinge gedacht wird. Dort wird er als "Nakba-Day" bezeichnet, was so viel bedeutet wie "die Katastrophe". Die ersten jüdischen Einwanderer nach Palästina werden in israelischen Texten zumeist als "Pioniere" bezeichnet, während in den palästinensischen Texten oft von "Gangs" und "Terroristen" die Rede ist. Dagegen kommt der Holocaust in palästinensischen Geschichtsbüchern überhaupt nicht vor. Die Liste könnte endlos fortgeführt werden. +Bar-On schrieb im Jahr 2004, es sei nicht möglich, aus den beiden konfliktreichen Erzählungen eine überbückende Version zu konstruieren. Doch bei dieser Unmöglichkeit wollten es Bar-On und Adwan nicht einfach belassen. Sie empfanden das Schulbuchprojekt als eine der wenigen "Inseln der Vernunft". In Israel und Palästina gibt es zahllose Friedens- und Dialogprojekte, die sich auch gegenseitig häufig kritisieren. Das Schulbuch von Bar-On und Adwan war eine der wenigen Ausnahmen. Es stieß in Israel und Palästina auf breite Anerkennung in der Friedensbewegung. Dem Minenfeld der Wahrheiten, das der Nahostkonflikt ist, waren sie durch die  Gleichberechtigung der Perspektiven entkommen. Sie versuchten nicht, die "richtigere" Version der Wahrheit herauszufinden und sie fragten auch nicht danach, wer Schuld hat. +Was in der Friedensbewegung im Nahen Osten und in Unterstützerkreisen im Ausland große Anerkennung fand, wurde von den zuständigen Regierungen Israels und Palästinas indessen nicht gern gesehen. "Die akademische Karriere der beiden hat großen Schaden genommen", sagt Sakino Sternberg, die lange mit beiden befreundet war und in Berlin dasDan Bar-On International Dialogue Center(IDC) leitet, das sich für Friedens- und Dialogprojekte engagiert. Die Regierung Israels und auch die Palästinensische Autonomiebehörde hielten wenig von den Schulbüchern. Sie wurden von den jeweiligen Bildungsministerien für den Unterricht verboten. Einige Lehrer arbeiten entweder heimlich oder außerhalb des offiziellen Unterrichts damit. +Das Geschichtsbuch wurde von den Bildungsministerien beider Seiten verboten. Einige Lehrer arbeiten jedoch heimlich oder außerhalb des offiziellen Unterrichts damit +Eine Klasse derSha'ar Hanegev High Schoolwar besonders wütend über die Entscheidung. Die Klasse hatte bereits mit dem Buch gearbeitet, als dieses verboten wurde. Die Schüler verlangten laut einem Bericht der israelischen Zeitung "Ha'aretz" eine Erklärung des Bildungsministeriums, das sich in seiner Anwort jedoch hinter bürokratischen Formulierungen versteckte. Die Schüler nannten die Entscheidung laut "Ha'aretz" "feige". +Das komplette, ungefähr 300 Seiten umfassende Geschichtsbuch "Das historische Narrativ des Anderen kennenlernen" wird momentan unter der Federführung von Sakino Sternberg im IDC ins Deutsche übersetzt und soll hierzulande voraussichtlich im März 2015 erscheinen. +Marlene Roiser ist Praktikantin bei fluter.de und war selbst für einige Monate in Israel und Palästina unterwegs. Sie studiert Friedens- und Konfliktforschung und hat eine schräge Faszination für verfeindete Gruppen und die Subjektivität von Wahrheit. +Das gegenseitige Erzählen der Lebensgeschichte unter Feinden hilft, Traumata und Narben der Vergangenheit aufzuarbeiten. Das ist die Grundannahme, die Bar-Ons Methode des Storytellings als Instrument der Konfliktbearbeitung zugrunde liegt. In Israel hat er damit immer wieder Kritik geerntet. In den 80er-Jahren sorgte er für Diskussionen, weil er in Deutschland Kinder von Nazi-Tätern interviewt und Anfang der Neunzigerjahre mehrere Treffen von Opfer- und Täter-Nachfahren organisiert hatte, die sich gegenseitig ihre Familiengeschichten erzählten. Auch wenn das Schulbuchprojekt in Israel und Palästina gescheitert ist, im Ausland hatte Bar-On mit seiner Storytelling-Methode einigen Erfolg. Die Methode findet inzwischen auch in anderen Konfliktgebieten wie dem Kosovo oder Nordirland Anwendung. diff --git a/fluter/europa-das-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt b/fluter/europa-das-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..539bd2a2e0e004e752f31ad587a32d0087130c3e --- /dev/null +++ b/fluter/europa-das-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt @@ -0,0 +1 @@ +Am Ende war es ein weiterer Beleg dafür, dass dem Internet oft nicht zu trauen ist. Auf der Webseite der Agentur "Slow Travel Tours" lasen wir von einem unglaublichen Angebot. Eine Turbo-Europa-Busrundreise durch sieben Länder und zwölf Städte in zehn Tagen. Die Fotos von Amsterdam, London, Barcelona und München sahen ein bisschen unscharf und verwischt aus, aber gut, ein tolles Thema für eine Reisereportage war es allemal. Zumal die Ankündigung der einzelnen Orte so eigenartig schnodderig klang (München: "Wir fahren zu ein paar Gärten und Kirchen und halten womöglich auch noch für ein paar Bier an"), dass wir die gehetzten Asiaten und Amerikaner schon vor uns sahen. Als wir auf das Feld "Buchen" klickten, erwartete uns allerdings bloß ein tanzendes Würstchen und der Slogan "Aprilscherz". Schade eigentlich. diff --git a/fluter/europa-demokratie-solidaritaet-rebel-cities.txt b/fluter/europa-demokratie-solidaritaet-rebel-cities.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e4cc51405177077d6e423e18827ea662f963630a --- /dev/null +++ b/fluter/europa-demokratie-solidaritaet-rebel-cities.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Fluter.de: Wie kam es zu eurem Buch "Shifting Baselines of Europe"? +Lukas Stolz: Alle sprechen und schreiben über die Krise der EU. Es läuft ja auch einiges falsch. Uns interessierte, was es im Schatten der Krisendiskussion bereits an innovativen Antworten und Projekten gibt: Viele südeuropäische Städte versuchen sich in solidarischer Politik trotz der Sparauflagen der Troika, in Polen organisieren Aktivist*innen erfolgreiche Massenproteste gegen Gesetze der rechtskonservativen Regierung, die Commons-Bewegung entwickelt Strategien für eine solidarische Wirtschaft, "Stop-TTIP" hat länderübergreifend Millionen von Menschen gegen intransparente Handelsverträge mobilisiert … +Daphne Büllesbach:Die europäische Zivilgesellschaft ist schon sehr viel weiter, als es die Krisengespräche über Europa suggerieren. Es gibt bereits ein solidarisches Europa, das jenseits von nationalstaatlichen Grenzen funktioniert. Dieses Europa wollten wir in einem Buch vorstellen, weil es unserer Meinung nach im aktuellen Diskurs noch zu wenig beachtet wird. +Lukas Stolz:Gerahmt werden die Projekt-Porträts und Interviews durch theoretische Beiträge, zum Beispiel von der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot. Sie schlägt vor, Europa als Republik der Bürger*innen zu betrachten, und sie zeigt auch, welche institutionellen Änderungen für einen demokratischen Umbau der EU nötig wären. + +Ein thematischer Schwerpunkt eures Buches sind die sogenannten Rebel Cities. Was macht eine rebellische Stadt aus? +Daphne Büllesbach:Die Bezeichnung "Rebel Cities" beschreibt einen Zusammenschluss von Städten, dem etliche der großen Städte Spaniens angehören, aber auch italienische Städte wie Neapel oder Messina. Am besten lässt sich das, was dort passiert, wahrscheinlich am Beispiel Barcelonas erklären: Dort wurde 2015 Ada Colau zur Bürgermeisterin gewählt. Eine Aktivistin, die sich gegen Zwangsräumungen eingesetzt, Banken besetzt und Straßenproteste organisiert hat, regiert also jetzt zusammen mit vielen anderen Aktivist*innen die zweitgrößte Stadt Spaniens. Das ist eine kleine Revolution. + +Und was machen diese Stadtregierungen anders? +Daphne Büllesbach:Ein Grundelement der Bewegungen Occupy, ¡Democracia Real Ya! und Nuit Debout wurde konkret auf Stadtpolitik übertragen: offene Versammlungen, die von allen Bewohner*innen besucht werden können. Dort wurde sehr grundsätzlich diskutiert: Welche Stadt wollen wir? Wie wollen wir leben? Wie wollen wir unser Programm einer anderen Art des Regierens wählbar machen? Es geht also nicht nur um eine Veränderung der politischen Programme, sondern um ein Update der politischen Verfahrensweisen. Heute, nachdem einige Städte von Plattformen der Zivilgesellschaft regiert werden, schließt sich nun die Frage an: Wie ändern wir die Institutionen von innen – und wie stehen wir jetzt zu denen, die weiterhin außerhalb von ihnen agieren? + +European Alternatives, Daphne Büllesbach, Marta Cillero, Lukas Stolz (Hg.): "Shifting Baselines of Europe – New Perspectives beyond Neoliberalism and Nationalism", Transcript-Verlag, Bielefeld 2017, 212 Seiten, 19,90 Euro. +"Pulse of Europe", eine 2016 gegründete pro-europäische, parteienübergreifende Bürgerinitiative, wird in eurem Buch nicht erwähnt. Warum nicht? +Lukas Stolz:Als wir das Buch geplant haben, gab es "Pulse of Europe" noch gar nicht. Ich finde auch interessant, dass "Pulse of Europe" gerade alsdiepro-europäische Bewegung wahrgenommen wird, obwohl es sich vor allem um ein deutsches Phänomen handelt. Unabhängig davon glauben wir, sie sollten noch wesentlich mutiger sein, was die Forderungen angeht … +Daphne Büllesbach:Die haben überhaupt keine konkreten Forderungen. +Und das kritisiert ihr? +Daphne Büllesbach: Als Gegenentwurf zu Pegida finde ich das gut. Dass Menschen für etwas auf die Straße gehen, ist schön, hat aber über die Symbolwirkung hinaus wenig politische Kraft. Von "Pulse of Europe" unterscheidet uns eine explizite Regierungskritik. Wenn es um die EU geht, ist für uns klar: Die in über 60 Jahren gewachsenen Institutionen sind nicht mehr in der Lage, den Herausforderungen zu begegnen, denen wir heute gegenüberstehen: Europa wird von den Staats- und Regierungschefs, ausgehend von jeweiligen nationalen Interessen, quasi nebenbei regiert. Das funktioniert nicht – siehe Einwanderungspolitik, Steuerpolitik oder Umweltpolitik. Auch Merkel ist irgendwie für Europa, aber das ist ja nicht der Punkt. Wir müssen uns wirklich mit der Frage auseinandersetzen: Welches Europa wollen wir? +Was ist denn für euch das beste Europa, das ihr euch jetzt schon vorstellen könnt? +Daphne Büllesbach: Auf jeden Fall ein Europa "below and beyond the nation state", also ein politischer Raum jenseits nationaler Identitäten. Ein Rahmen, der es erlaubt, neue Formen demokratischer und solidarischer Politik zu entwickeln, in denen die Menschen an den Entscheidungen beteiligt sind, die sie selber betreffen. Ein Europa, das sich die Erfahrungen der Rebel Cities zum Vorbild nimmt. +Lukas Stolz: Und ein Europa, das sich nicht zunehmend abschottet, wie es momentan der Fall ist, sondern ein Europa der offenen Grenzen, der offenen Gesellschaften und letztlich auch der offenen Identitäten. Ein Europa, das sich seiner selbst nicht zu sicher ist und es auch aushält, die Frage nach dem, was es sein könnte, immer wieder neu zu stellen. + +Daphne Büllesbach ist Direktorin des Netzwerks "European Alternatives". Außerdem kuratiert sie das Transeuropa Festival, das alle zwei Jahre um Kunst, Kultur und Politik zusammenbringt. +Lukas Stolz ist bei European Alternatives für Sonderprojekte zuständig. Seine Forschunginteressen liegen an der Schnittstelle von Politik, Kulturtheorie und Kunst. diff --git a/fluter/europaeische-union-image-tsiklauri-podcast.txt b/fluter/europaeische-union-image-tsiklauri-podcast.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..af6d52383311b50956009ab42cea8617201064de --- /dev/null +++ b/fluter/europaeische-union-image-tsiklauri-podcast.txt @@ -0,0 +1 @@ +Moderation: Paul HofmannRedaktion: Luise Checchin und Paul HofmannSound: Niklas PrenzelMusik: Max LangeCover: Jan Q. Maschinski diff --git a/fluter/european-youth-event-in-strassburg.txt b/fluter/european-youth-event-in-strassburg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..085f0ef8ad1e961ae0a69e036745c2b94f4e47c1 --- /dev/null +++ b/fluter/european-youth-event-in-strassburg.txt @@ -0,0 +1,14 @@ + +Die ersten drei Stunden verbringen wir in der Schlange zum Eingang – alle 8.000 Besucherinnen und Besucher müssen manuell registriert und durch zwei kleine Eingänge zum Sicherheitscheck geschleust werden. Von oben sehen wir aus wie ein verstopftes Abflussrohr. Ist es hier okay, jemanden nach seiner Herkunft zu fragen? "Keine Ahnung, was politisch korrekt ist. Ich bin nur hier, um mein Englisch zu verbessern", lacht die 16-jährige Malou aus Frankreich. Ich wundere mich, wie jung viele der Teilnehmenden sind. In dem Alter habe ich mich weniger mit dem Schengenraum, Umweltschutz oder Fremdsprachen als mit mir selbst beschäftigt. +Die Architektur des Parlamentsgebäudes lässt unsere Schwätzchen schnell abebben und uns ehrfürchtig in die einzelnen Workshops verschwinden. Auf dem Panel zu "Sicherheit oder Freiheit?" treffe ich Janet, 15. Sie ist aus Großbritannien und hat einen estnischen Pass. "Der Brexit war das Schlimmste, was uns passieren konnte!", sagt Janet. Sie hat ein paar britische Freunde überredet mitzukommen – zum EYE können sich nur Gruppen anmelden. "Meine Freunde sind traurigerweise allesamt Brexit-Verfechter. Sie besuchen auch nur Panels, bei denen es um den Brexit geht. Der Rest gehe sie ja nichts mehr an." Janet hofft, dass ihre Freunde in Straßburg merken, was ihnen in Zukunft entgehen wird. +Das Panel geht los. Wir simulieren eine Sitzung des Parlaments und argumentieren wahlweise für Sicherheit, größtmögliche Freiheit oder einen Kompromiss aus beidem. Alle lassen einander ausreden, jeder greift die Punkte der Gegenpartei höflich auf, Meinungsabweichungen werden akzeptiert, toleriert, zur Not auch mal weggelächelt. Erst als ich vorgebe, eine Sicherheitspolitik nach chinesischem Vorbild zu fordern, kommt ein bisschen Bewegung ins Spiel. Hände schnellen nach oben, aufgeregt werden Argumente vorgebracht, aber rasch wird klar, dass ohnehin alle einer Meinung und gegen restriktive Eingriffe sind. Zum Schluss bedanken wir uns beieinander für das tolle, offene Gespräch. Ergebnis gibt es keines. Das EYE für mich bisher: ein großes europäisches Kuscheln. Offizielle Eventsprache neben Englisch und Französisch: enthusiastisches Pathos. + + + +Ein Blick in die interne Facebook-Gruppe aber zeigt: Unsere Generation hat durchaus starke Standpunkte – sie kommuniziert sie nur lieber online. Im Forum wird zum Beispiel hitzig darüber diskutiert, wieso im Goody Bag ein Plastikbecher steckt, obwohl doch so viele Nachhaltigkeitsworkshops angeboten werden. Unter Fragen wie "Warum sollten ausgerechnet junge Leute eine bessere EU-Politik machen können?" reihen sich laute Protestaufrufe wie "FREE THE INTERNET!!! STOP ARTICLE 13!!" – gemeint ist der "Uploadfilter" als Teil der nun letzte Woche vom EU-Parlament ausgebremsten Urheberrechtsreform, der Inhalte vor dem Hochladen auf Urheberrechtsverletzungen prüfen sollte. Auf Facebook zeigen viele klare Kante. Warum nicht auch beim Real-Life-Event? +Auf dem Panel zu Urban Ecology fällt mir dann Sofia,18, auf, die mit ihrer eindringlichen Stimme den ganzen Raum erfüllt: "Viel zu selten scheren sich Politiker um junge Wählerstimmen – dabei geht es in der Zukunft vor allem um unsere Generation." Als ich sie um ein kurzes Interview bitte, fällt sie mir um den Hals. "Wenn sich Politiker die Zeit nehmen würden, allen Beteiligten und deren Geschichte hier auch nur eine Minute zuzuhören, dann würde das schon viel verändern. Ich bin vielleicht erst achtzehn, aber als Griechin weiß ich, was eine Krise ist." Die Jugend in ihrem Land sei vor allem frustriert, weil ihre Ideen nicht gefördert würden. Doch auch wenn es alarmierende finanzielle Probleme in Griechenland gebe, ist Sofias größtes Anliegen der Umweltschutz: "Wenn wir uns nicht der Verschmutzung bewusst werden, zum Beispiel durch den hohen Plastikverbrauch, haben wir irgendwann keinen lebensfähigen Planeten mehr. Dann nützt uns auch all das Geld nichts mehr." +Irgendwann erschlägt mich die Fülle der möglichen Workshops, und ich beschließe, mich einfach der erstbesten Person an die Fersen zu heften. Zusammen mit Claudia, 23, besuche ich die Diskussion "Help, a robot stole my job". Wie könnte Arbeit in Zukunft aussehen? Wie können wir uns darauf vorbereiten? Das Europäische Jugendforum hat eine Studie zum Thema digitale Revolution in Planung, und wir liefern mit unserem Austausch Denkanstöße. +"Ich hätte mir spezifischere Themen gewünscht, damit auch gezielt mit Vorwissen diskutiert werden kann. Komplexe Themen konnten so nur kurz angerissen werden", sagt Claudia nach der Diskussion. Sie studiert International Development in Barcelona, ist hierhergekommen, um sich von den Ideen anderer inspirieren zu lassen, und spricht schließlich aus, was mit großer Wahrscheinlichkeit auch viele andere denken: "Fachwissen nehme ich hier leider nicht so viel mit, dafür aber die Hoffnung vieler Jugendlicher auf ein gemeinsames Europa." Und vom Enthusiasmus angesteckt, stoßen wir abends in einer Bar auf ein junges und starkes Europa an, eines, auf das die Briten neidisch sein können. + +Anna Melamed, 22, lebt als freie Journalistin und (eigener Einschätzung zufolge) miese BWL-Studentin zwischen Berlin, Göttingen und dem WWW. +Titelbild: European Union 2018 diff --git a/fluter/eurovision-song-contest-esc-politik-geschichte.txt b/fluter/eurovision-song-contest-esc-politik-geschichte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..859524481593e3fe2a2a3432f3acf1302fb1f26f --- /dev/null +++ b/fluter/eurovision-song-contest-esc-politik-geschichte.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Der Grand Prix Eurovision de la Chanson – seit 2004 offiziell Eurovision Song Contest genannt – wird in der Nachkriegszeit erdacht, um die Zusammenarbeit westeuropäischer Rundfunkorganisationen zu fördern. Die ersten Jahre fallen in eine Zeit politischer Unruhe: In Berlin wirdeine Mauer hochgezogen, die Beziehungen zwischen den westlichen und östlichen Staaten Europas sindinfolge des Kalten Kriegsangespannt. In Sachen Musik aber gibt es immer wieder Berührungspunkte: Ab 1965 wird der ESC auch in den Ostblockstaaten übertragen, die Songs aus den Shows werden mitunter von heimischen Künstler*innen gecovert und zu Hits. Das Äquivalent zum ESC im Osten ist ab den 1960er-Jahren das Internationale Musikfestival im polnischen Sopot, später "Intervision Song Contest" genannt. Hier können auch Musiker*innen aus nichteuropäischen (z.B. Kuba oder Marokko) oder westlichen Ländern (z.B. Spanien oder Belgien) antreten – und auch gewinnen. So wie die finnische Sängerin Marion Rung im Jahr 1974 und 1980 (bei ihren beiden ESC-Auftritten bringt sie es auf Platz sieben und sechs). + +1968 darf dann ausnahmsweise auch mal ein Künstler aus einem Ostblockstaat beim ESC auftreten: Österreich schickt den Tschechen Karel Gott ins Rennen – mit einem Song, der beklagt, dass Nachbar*innen sich voneinander entfremden ("Wie auf kleinen Inseln leben wir / Du weißt nicht mal, wer wohnt neben dir"): Für viele eine subtile Art, die Reformbewegungdes Prager Frühlingszu unterstützen. + +Während die Deutschen mit derWiedervereinigungbeschäftigt sind, herrscht zur selben Zeit woanders in Europa Krieg. Nachdem sich Slowenien und Kroatien im Juni 1991 vom Vielvölkerstaat Jugoslawien unabhängig erklären, beginnen die sogenannten Jugoslawienkriege. Auch die damalige jugoslawische Teilrepublik Bosnien und Herzegowina verkündet ihre Unabhängigkeit im Frühjahr 1992. Daraufhinbricht ein Krieg aus, der bis 1995 dauern und rund 100.000 Menschen das Leben kosten soll. Zum Grand Prix 1993 schickt Bosnien und Herzegowina den Sänger Muhamed Fazlagić, genannt Fazla, ins Rennen. Der muss gemeinsam mit seiner Band mitten in der Nacht zu Fuß – und einen Teil der Strecke ohne Schuhe – aus dem umkämpften Sarajevo fliehen, um beim Wettbewerb in Irland dabei sein zu können. In seinem Song "Sva bol svijeta" – übersetzt: "Alle Schmerzen der Welt" – besingt er offen das Leid des Krieges. Zwar landet er nur auf Platz 16, der Sinn seines Auftritts liegt für Fazlagić aber woanders, wie er Jahre später in einem Interview erzählt: "Für uns war das keine bloße Unterhaltung (…). Wir waren die Ersten, die Bosnien auf internationaler Ebene vertraten. Wir bestätigten damit, dass unser Land existierte." + +Auch 2022 spielt der Krieg wieder eine Rolle beim ESC: Nach demAngriff auf die Ukrainewird Russland vom Grand Prix ausgeschlossen. Ähnlich erging es bereits Belarus, das schon 2021 ausgeladen wurde, weil es Oppositionelle verfolgt und die Medien- und Meinungsfreiheit unterdrückt. + +Konsequent gegenüber autokratischen Regimen ist der ESC nicht immer gewesen. Bisweilen wird er sogar von Machthabern für die eigenen Interessen instrumentalisiert. Das zeigt ein Beispiel aus dem Jahr 1968. Damalsregiert in Spanien der faschistische Diktator Franco; für sein Land soll der junge Sänger Manuel Serratden Song "La La La" beim ESC präsentieren. Doch dieser besteht darauf, in seiner Muttersprache Katalanisch zu singen – damals eine Sprache, die mit Widerstand und Demokratie assoziiert wird. Also tauscht man Serrat durch die Sängerin Massiel aus, die den Song auf Spanisch singt – und den Grand Prix mit einem Punkt Vorsprung vor Großbritannien gewinnt. + +Aber die politische Einflussnahme durch Eurovision-Songs funktioniert auch in Richtung Demokratie: Sechs Jahre später, im Jahr 1974, markiert ein ESC-Beitrag den Anfang vom Ende der langen Diktatur in Portugal. Im selben Jahr, in dem Abba beim ESC mit "Waterloo" Musikgeschichte schreiben, geht der portugiesische Sänger Paulo de Carvalho mit dem Song "E Depois do Adeus" ("Und nach dem Abschied") an den Start: Ein gänzlich unpolitisches Lied, das einen letzten Platz belegt. Trotzdem wird der Song für immer mit der politischen Geschichte Portugals verknüpft sein: Als er am 24. April – 18 Tage nach dem Grand Prix – nachts im portugiesischen Radio gespielt wird, ist er das erste von den aufständischen Truppen zuvor verabredete Geheimsignal für den Beginn der Nelkenrevolution. Der lange geplante Militärputsch beginnt – und am nächsten Tag dankt Machthaber Marcelo Caetano ab. + +Spätestens seit Israel als erstes nichteuropäisches Land 1973 am ESC teilnimmt, herrscht Verwirrung: Wer darf denn jetzt mitmachen? Die Antwort ist eigentlich simpel: Qualifizieren kann sich, wer Vollmitglied bei der EBU ist, der European Broadcasting Union. Für die Mitgliedschaft muss man einen nationalen Rundfunkdienst betreiben, der entweder innerhalb der sogenannten Europäischen Rundfunkzone liegt oder in einem Land, das Mitglied im Europarat ist. Deshalb gehören auch Israel, Aserbaidschan, Armenien und Georgien dazu. Eine einzigartige Sonderwurst bekommt außerdem Australien: Die EBU hat das Land im Jahr 2015 zum 60-jährigen Jubiläum des Contests trotz fehlender EBU-Vollmitgliedschaft eingeladen mitzumachen. Einfach weil der ESC dort so beliebt ist. +Ausgerichtet wird der ESC nicht von Staaten, sondern von einem Bündnis öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten namens European Broadcasting Union (EBU). Teil der EBU sind derzeit 112 Anstalten aus 56 Ländern, die entweder in der "Europäischen Rundfunkzone" liegen oder Mitglied des Europarats sind – deswegen sind auch Sender aus Israel oder Armenien dabei. Außerdem gibt es "assoziierte Mitglieder" (zum Beispiel aus den USA, Australien oder dem Oman), die mit der EBU kooperieren. Aufgabe der EBU ist es, den Austausch von Programminhalten zwischen den Mitgliedern zu organisieren. 1953 übertrug die EBU mit der Krönung von Elisabeth II. ihre erste internationale Livesendung, der weltweit 300 Millionen Menschen zuschauten. Die EBU stellt außerdem Übertragungsnetze bereit, verhandelt und verwaltet Übertragungsrechte für Großveranstaltungen wie die Olympischen Spiele und will erklärtermaßen technische Entwicklungen vorantreiben und standardisieren – etwa was Bereiche wie das Digitalfernsehen oder -radio angeht. +Dass Australien seither immer wieder recht erfolgreich am ESC teilnimmt, ist übrigens eines der Argumente gegen den Vorwurf des "Block-Votings". Der besagt, dass benachbarte oder kulturell eng verbundene Länder sich gegenseitig Punkte zuschöben und die Abstimmung daher nicht ganz fair ablaufe. Erwiesen ist die Theorie nicht: Auch wenn nationale Sympathien sicher eine Rolle spielen, hängt der Sieg ebenfalls von anderen Faktoren ab. + +Der ESC wird seit seinen Anfangstagen auch in der arabischen Welt ausgestrahlt, was seit der Teilnahme von Israel immer mal wieder zu Konflikten führt. Weil einige arabische Länder Israel nicht als Staat anerkennen, schalten dort die Sender schon mal auf Werbung, wenn der israelische Beitrag an der Reihe ist. Als sich 1978 abzeichnet, dass die israelische Gruppe Alphabeta drauf und dran ist, den ESC zu gewinnen, wird die Übertragung in einigen Ländern abgebrochen – "technische Schwierigkeiten", heißt es etwa in Jordanien. Offiziell wird dort Belgien zum Sieger erklärt – tatsächlich das zweitplatzierte Land nach Israel. + +Wenn man heute vom Eurovision Song Contest spricht, dann sind die ersten Assoziationen wohl Kitsch, ein bisschen Klamauk – und Queerness. Das war aber nicht immer so, denn obwohl der ESC manche queere Communitys vermutlich schon seit Gründungstagen anspricht, erlebt er erst im Jahr 1998 sein eindeutiges Coming-out. Damals tritt mit Dana International (die auch oben auf dem Titelbild zu sehen ist) die erste trans* Personan. Mit ihrem Song "Diva" gewinnt sie für Israel den Grand Prix – zur Freude vieler liberaler Israelis und zum großen Ärger einiger jüdisch-orthodoxer und konservativer Communitys, die den ESC nicht in Israel haben wollen. + +Seitdem gehört die offene Queerness zum Grand Prix dazu. Das ist aber nicht überall gerne gesehen, wie sich knapp ein Jahrzehnt später, im Jahr 2009, deutlich in Russland zeigt: Vor der ESC-Austragung zerschlägt die Polizei eine queere Demonstration brutal. Und auch die Reaktionen auf den vermutlich bisher ikonischsten queeren Moment der ESC-Geschichte sind gemischt: Als die bärtige Dragqueen Conchita Wurst im Jahr 2014 wie ein Phönix aus der Asche steigt und für Österreich gewinnt, reicht das Auftreten der Kunstfigur allein, um europaweit politische Debatten zu entzünden. "Das ist das Ende Europas", sagt etwa ein russischer rechtsnationalistischer Abgeordneter; die Türkei schließt eine weitere Teilnahme am ESC unter anderem aufgrund des Auftritts der Dragqueen aus: Man könne solche Bilder nicht zu einer Uhrzeit zeigen, zu der Kinder noch vor den Fernsehern sitzen. +Der ESC scheint, wenn man sich die diesjährige Liedauswahl anschaut, nicht viel auf solche Kritik zu geben: Im israelischen Beitrag singt der schwule Musiker Michael Ben David über Selbstakzeptanz, ähnlich wie Sheldon Riley im Beitrag für Australien. Und der italienische Song ist ein Liebesduett – vorgetragen von zwei Männern. + diff --git a/fluter/evangelikale-feiern-jerusalem-als-hauptstadt-israels.txt b/fluter/evangelikale-feiern-jerusalem-als-hauptstadt-israels.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2e73954da52a065b7e6e43fc4aa6016953b26f92 --- /dev/null +++ b/fluter/evangelikale-feiern-jerusalem-als-hauptstadt-israels.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Mit dieser Überzeugung ist das Paar aus Jerusalem nicht allein: Allein 55 Millionen Evangelikale leben in den USA, nur rund 10 Millionen weniger im bevölkerungsärmeren Brasilien. Für viele von ihnen ist die letzten Dezember von Trump verkündete Entscheidung, die US-amerikanische Botschaft nach Jerusalem zu verlegen unddieses als Hauptstadt Israels anzuerkennen, ein erster Schritt in Richtung Erlösung. Denn nur wenn alle Juden nach Israel zurückkehren und das Land bevölkern, so ihre Überzeugung, wird auch ihr "Heiland" wieder erscheinen. Am 14. Mai – und damit am 70. Jahrestag der Gründung des Staates Israel – sollen die Mitarbeiter der US-Botschaft offiziell in ihre neuen Räumlichkeiten in Jerusalem einziehen. +Laut einer Analyse des Pew Research Center haben rund 80 Prozent der selbsterklärten weißen Evangelikalen ausgesagt, dass sie für Trump gestimmt haben. Eine andere Umfrage des Thinktanks Brookings Institution ergab, dass 53 Prozent dieser Wählergruppe Trumps Jerusalem-Entscheidung für eine gute Idee hielten. Von der jüdischen Wählerschaft in den USA glauben dagegen nur 16 Prozent, dass der sofortige Umzug der Botschaft sinnvoll ist, weitere 36 Prozent halten die Entscheidung grundsätzlich für richtig, den Zeitpunkt aber angesichts des Nahost-Konflikts für problematisch. +Joseph Mireles und Zeporah Rodriguez führen zusammen das Messiah Guest House in Jerusalem und sind nach eigenen Angaben erst seit der Sache mit der Botschaft "richtige Trumper" +Zahlreiche Evangelikale verweisen auf einen Bibelvers, dem zufolge Gott dem israelitischen Volk versprochen haben soll: "Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen". Wer davon überzeugt ist, kommt kaum umhin, sich mit Israel zu solidarisieren – und Trump mit Spenden und politischer Unterstützung zu einer proisraelischen Politik zu bewegen. Seit dem Wahlkampf 2016 hat Präsident Trump auch einen eigenen evangelikalen Beraterstab. +Auch er sei seit der Sache mit der Botschaft "ein richtiger Trumper", sagt Joseph Mireles und setzt seine Baseballcap auf. Der hebräische Schriftzug "Er ist das Leben" prangt in blauen Lettern auf seiner Stirn. In Jerusalem leitet Joseph mit seiner Lebensgefährtin das sogenannte Messias-Gästehaus. Für Pilger und Sinnsuchende hält es vier Zimmer bereit, Instantkaffee, selbst gebackene Frühstückskekse und ein Esszimmer mit Blick auf den Ölberg. "Dort, wo der Heiland auf einem weißen Pferd hinunterreiten wird", sagt Zeporah. Die US-Amerikanerin erzählt von ihrer Ankunft in Israel, von Fotografie und Tourismus und dann wieder von den zwölf Heeren der zwölf Stämme Israels, von 144.000 Kämpfern, die laut Bibel für den großen Krieg aufmarschieren werden. Angst habe sie keine. "All das bedeutet ja bloß, dass der Heiland endlich zurückkehren wird", schließt sie. +Mitarbeiter der sogenannten Internationalen Christlichen Botschaft heißen jüdische Einwanderer am Rollfeld willkommen +Zehn Minuten Fahrtzeit von Joseph und Zeporah entfernt befindet sich das Zentrum der sogenannten "Deutschen Kolonie" in Jerusalem, die Ende des 19. Jahrhunderts von protestantischen Templern aus Württemberg mitgegründet wurde und heute eine Wohn- und Wirtschaftsgegend ist. Hier lenkt der promovierte Chemiker Jürgen Bühler die Geschicke der mit Israel sympathisierenden Evangelikalen, der sogenannten christlichen Zionisten. "Unsere Gemeinschaft ist auf weltweit 750 Millionen Mitglieder angewachsen. Evangelikalismus ist das derzeit am schnellsten wachsende Bekenntnis." Bühler ist Präsident der Internationalen Christlichen Botschaft Jerusalem, die in über 90 Ländern vertreten ist. Dass ein Deutscher in Jerusalem auf dem Chefsessel sitzt, ist erstaunlich – in der deutschen Bevölkerung machen Evangelikale gerade mal ein Prozent aus. Bühler, selbst gebürtiger Schwabe, wählt seine Worte mit Bedacht; sein Job bedeutet einen täglichen Spaziergang durch ein politisches Minenfeld. Die Israelis, sagt Bühler, würden ihn als Unterstützer schätzen und als Missionar fürchten. Die arabischen Christen als Glaubensbruder achten und als Zionisten verabscheuen. + +Nicht zu verwechseln mit dem Pamphlet aus der Einkaufsstraße: eine Publikation zum jüdischen Laubhüttenfest in der Internationalen Christlichen Botschaft Jerusalem +Weiß, wo's lang geht: Der gebürtige Schwabe Jürgen Bühler ist Präsident der Institution und lenkt von der "Botschaft" aus die Geschicke der mit Israel sympathisierenden Evangelikalen +In christlich-zionistischen Kreisen wie jenem von Bühler war nach Trumps Entscheidung die Freude groß. In Ost-Jerusalem, wo überwiegend Palästinenser leben, kam es zu gewalttätigen Protesten und Streiks, in Kairo, Beirut, Jakarta und auch Deutschland zu wütenden Aufmärschen. Arabische Christen in Betlehem und Ramallah löschten die Lichter ihrer Weihnachtsbäume. Die militante palästinensisch-islamistische Hamas rief zu einer dritten Intifada auf. Gleichzeitig wurden Raketen aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert – die israelische Armee antwortete mit Angriffen auf militärische Einrichtungen der Hamas. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan berief einen Sondergipfel der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) ein. Mindestens 20 islamische Länder beschlossen, Ost-Jerusalem fortan als Hauptstadt Palästinas anzuerkennen. +Neben Angela Merkel kritisierte auch Theresa May Trumps Entscheidung. Die britische Premierministerin verkündete, dass Großbritannien nicht mit der Entscheidung der USA übereinstimme, Jerusalem als israelische Hauptstadt anzuerkennen, bevor es zu ein endgültiges Statusabkommen gebe: "Wir glauben, dass es in Bezug auf die Aussichten für Frieden in der Region nicht hilfreich ist. Die britische Botschaft in Israel hat ihren Sitz in Tel Aviv, und wir haben nicht vor, sie zu verlegen", fügte sie hinzu. Auch vier Monate nach der Ankündigung Trumps hat sich die Situation im Gazastreifen noch nicht wieder beruhigt. +Satellitenfernsehen sei Dank, lassen sich im Messias-Hostel auch US-amerikanische Sender empfangen +Josh Reinstein stört das alles nicht. "Die Änderung des Status von Jerusalem ist unser bisher größter Triumph", sagt der Präsident der NGO und Lobbyorganisation Israel Allies Foundation in einem Café mit Blick auf den Strand Tel Avivs. Ein Triumph, der auch überzeugten Christen zu verdanken sei, und zwar nicht nur den evangelikalen: "Sie sind ohne Zweifel die treuesten Helfer Israels." 2012 wurde Reinstein von der "Jerusalem Post" zu einem der 50 einflussreichsten Juden der Welt gekürt. Für ihn spielt es keine Rolle, ob seine Unterstützer katholisch oder orthodox, calvinistisch oder evangelikal sind. Reinstein, selbst gläubiger Jude, ist Gründer der sogenannten "glaubensbasierten Diplomatie": "Als uns viele Nationen während der Zweiten Intifada den Rücken zukehrten, standen die Christen weiter hinter uns." Gemeinsam mit dem Politiker und Journalisten Yuri Stern gründete Reinstein 2004 den Knesset Christian Allies Caucus, ein parlamentarisches Gremium, das ein Netzwerk zu Parlamentariern und anderen Ausschüssen in fast 40 Ländern pflegt. In der Knesset, dem Parlament Israels, hat Reinstein den Vorsitz des Christian-Allies-Ausschusses und sieht nichts Verwerfliches darin, Religion als politisches Machtmittel zu nutzen. Im letzten halben Jahr haben US-amerikanische Evangelikale – mitunter ohne geopolitische Gegebenheiten zu thematisieren – in puncto Nahost-Politik versucht, Druck auszuüben: Mitglieder des Vereins Vereinigte Christen für Israel (CUFI) forderten das Weiße Haus in über 137.000 E-Mails auf, die amerikanische Botschaft nach Jerusalem zu verlegen. Die Richtung, merkt Reinstein an, stimme: In den USA werde die biblische Prophezeiung derzeit von 50 Republikanern und 36 Demokraten in echte politische Aktion umgesetzt. diff --git a/fluter/evangelikale-missionare-indigene-brasilien.txt b/fluter/evangelikale-missionare-indigene-brasilien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dd8fd5416052c39422ef20f58cc2b0279f7e4121 --- /dev/null +++ b/fluter/evangelikale-missionare-indigene-brasilien.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Das Titelbild zeigt die Taufe eines indigenen Teenagers durch den evangelikalen Pastor Ricardo Piquiviqui. Ian Cheibubfotografiertseit Jahren Missionen im Amazonas. Die Fotos auf dieser Seite hat er aber nicht im Javarital gemacht, sondern bei den Krikati im Bundesstaat Maranhão. +MNTB steht für Missão Novas Tribos do Brasil. Die Gruppe gehört zum internationalen Missionswerk Ethnos360, das das Evangelium anunkontaktierte Stämmeherantragen will. 115 solcher Stämme gibt es in Brasilien, 113 davon in Amazonien, ein Großteil lebt im Javarital. Hier, in einem abgelegenen Teil im Westen Brasiliens, sollen auf einer Fläche von der Größe Österreichs so viele unkontaktierte indigene Gruppen leben wie nirgendwo sonst auf der Welt. Oder in den Worten von MNTB-Pilot Diedrich: "Javari ist der dunkelste, am schwierigsten zu erreichende Ort in ganz Südamerika." Mit dem neuen Hubschrauber gelangen die Missionare künftig leichter in indigene Gebiete. +Indigene Gruppen genießen besonderen Schutz in Brasilien. Seit 1988 ist jegliche Kontaktaufnahme, explizit auch Missionaren, verboten. MNTB-Präsident Luz hält das Verbot für verfassungsfeindlich: "Wer das Evangelium verbietet, verbietet die Religionsfreiheit, verbietet den Verkünder des Evangeliums, Jesus Christus, verbietet die Bibel, verbietet unseren Schöpfer, Gott. Dagegen wehren wir uns." + +Das heutige Missionswerk Ethnos360 wurde 1942 als New Tribes Mission gegründet. Die Gruppe war seit Beginn in Amazonien aktiv. 1982 überflogen ihre Missionare mit einem Propellerflugzeug das Territorium der indigenen Gruppe der Zo'é, sahen eine Ansammlung von Hütten und machten es sich zur Aufgabe, ihren Gott an diesen Ort zu bringen. Es sollte laufen wie immer: Die Missionare lernen die Sprache der Indigenen, bringen ihnen das Lesen bei und übersetzen die Bibel. Sie begannen "Geschenke" vom Himmel abzuwerfen – Gegenstände des täglichen Gebrauchs wie Kämme oder Töpfe, aber auch Bibeln und Schmuck – und errichteten 1987 ein Missionscamp am Rande des Territoriums der Zo'é, die erstmals in ständigen Kontakt mit Außenstehenden kamen. +Immer wieder drangen Missionare in das Gebiet ein. Die Zo'é verweigerten jede Kontaktaufnahme. Im November 1987 erschienen rund 100 Indigene im Basecamp der Missionare. Keiner sprach des anderen Sprache. Trotzdem wurde klar, was die Zo'é wollten: Sie legten den Missionaren gebrochene Pfeile zu Füßen. Ein Zeichen, dass sie sich wehren würden, sollten die Missionare erneut vordringen. +Dazu kam es nicht: Unter den Zo'é verbreiteten sich Malaria und Influenza; Krankheiten, die sie nicht kannten und gegen die sie keine Antikörper hatten. In den folgenden zwei Jahren starb ein Viertel bis ein Drittel des Stammes. Das Vorgehen der New Tribes Mission war einer der Gründe, warum die Kontaktaufnahme zu indigenen Stämmen 1988 in Brasilien verboten wurde. +Anfang 2020, als Luz und Diedrich den neuen Helikopter vorstellten, wurden in Asien die ersten Corona-Fälle bekannt. Kurz darauf erreichte das Virus Brasilien, dann Amazonien und schließlich die indigenen Dörfer, die über die Flussverbindungen, Handel oder Familienbesuche zumindest sporadisch Kontakt zu anderen Menschen haben. Das Virus hatte –wie so oft bei Indigenen– verheerende Folgen. In keinem anderen Bundesstaat starben mehr Indigene an Covid-19, obwohl viele von ihnen als Angehörige unkontaktierter Stämme besonders geschützt schienen. Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt plante MNTB neue Missionen. + + +Univaja, die Indigenenorganisation des Tals, suchte daraufhin Hilfe bei FUNAI. Sie ist die brasilianische Behörde, die alle Angelegenheiten von Indigenen beaufsichtigt, darunter die Einhaltung des Gesetzes von 1988. Die FUNAI kann selbst der Polizei oder der Staatsanwaltschaft verbieten, indigenes Territorium zu betreten. Das Hilfsgesuch von Univaja blieb unbeantwortet. +Wenige Tage später ernannte Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro einen neuen Leiter der FUNAI-Abteilung für unkontaktierte Stämme: Ricardo Lopes Dias. Dias war vielen praktisch unbekannt, er hatte mehr als zehn Jahre als Missionar bei der New Tribes Mission gearbeitet. Waki, ein Stammesführer der Matsé, einem Stamm, der ebenfalls von Dias kontaktiert wurde, sagte zu seiner Nominierung: "Ich will Ricardo nicht in der FUNAI. Wir kennen ihn gut." Das Evangelium, das Lopes Dias vertritt, untersage den Indigenen ihre Bräuche. "Wir wollen Ricardo hier nicht, denn dann können wir unsere Gesichter nicht bemalen, nicht Rapé schnupfen, kein Froschgift benutzen." +Es ist nicht das erste Mal, dass sich Bolsonaro gegen die Interessen Indigener positioniert. Einmal nannte er ihre Lebensweise "prähistorisch", ein anderes Mal wollte er "keinen Quadratzentimeter Boden" an indigenes Territorium verschwendet wissen: Bolsonaro will Amazonien für Bergbau und Landwirtschaft öffnen. Es ist auch nicht das erste Mal,dass Bolsonaro im Sinne des Evangeliums handelt. Er sagt: "Hier in Brasilien gibt es dieses Märchen deslaizistischen Staatesnicht. Wir sind ein christlicher Staat. Und hier muss die Minderheit sich der Mehrheit beugen." +Sarah Shenker von der NGO Survival International sagt: "Einen evangelikalen Missionar für die FUNAI zu nominieren ist, als würde man einen Fuchs zum Chef des Hühnerstalls machen. Es ist ein offener Akt der Aggression, eine Erklärung, dass sie diese verletzlichsten Völker des Planeten gewaltsam kontaktieren wollen." Im November 2021 wurde Dias abgesetzt, plötzlich, ohne Angabe von Gründen und ohne große Bühne: Seine Versetzung war nicht mehr als eine Notiz im Amtsblatt. Laut der arbeitet Dias weiter für die FUNAI, seine neue Abteilung wurde nicht genannt. + + +Die Indigenenorganisation Univaja hatte sich in der Zwischenzeit an die Justiz gewandt. Sie reichte Klage gegen drei Missionare ein, darunter einen von MNTB. Die Staatsanwaltschaft gab Univaja recht. Noch Monate später sollen Missionare in der Univaja-Zentrale aufgetaucht sein, berichtet die brasilianische NGO Socioambiental. Sie sollen gedroht haben, Feuer zu legen, falls sie keine schriftliche Genehmigung bekommen, das Territorium betreten zu dürfen. +Die MNTB soll immer wieder versuchen, Indigene und ihre Interessenvertretungen einzuschüchtern. Gerade wurde der Missionar Luiz Carlos Ferreira angeklagt, weil er rund 100 Zo'é zur Arbeit gezwungen haben soll. Die Staatsanwaltschaft verglich Ferreiras Methoden in ihrer Anklage mit Sklaverei, das Gericht sprach ihn aus Mangel an Beweisen frei. MNTB-Kollegen von Ferreira sollen den Stamm der Ayoreo in Paraguay gezwungen haben, ihre Haare zu schneiden und westliche Kleidung zu tragen. Jene, die sich weigerten, sollen aus ihrem Wald vertrieben worden sein. Chagabi, einer der Stammesführer der Ayoreo, sagt in einemanthropologischen Film von Survival International: "Die Weißen wollten, dass wir so leben wie sie. Sie wollten, dass die Gesellschaft eine einzige wird. Sie denken, man kann hier im Wald nicht gut leben ohne das Wort Gottes, ohne die Bibel." +Auf fluter-Anfragen antwortete eine MNBT-Sprecherin zwar, auf die Vorwürfe ging sie allerdings nicht weiter ein. Laut ihrer Website haben MNTB-Missionare bislang sieben Bibeln neu übersetzt und 102 Kirchen mit 5.350 Gläubigen gegründet. Bei diesen "Erfolgen" soll es nicht bleiben: Die MNTB nennt sich "eine reife Kirche für jedes Volk". diff --git a/fluter/exklusive-gesellschaft-behinderung.txt b/fluter/exklusive-gesellschaft-behinderung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..52001fe0c38f0b971af9c01e63e1f45024c60515 --- /dev/null +++ b/fluter/exklusive-gesellschaft-behinderung.txt @@ -0,0 +1,68 @@ +fluter:Eine kurze Vorstellungsrunde: Welche drei Begriffe beschreiben euch? +Kübra:Nicht alle in der Runde sind sehend. Wollen wir uns also vielleicht auch kurz selbst beschreiben? +fluter:Gerne. Meine Haare sind hellbraun und schulterlang, ich trage heute pinken Lippenstift und eine Brille. +Kübra:Ich habe schwarze, kinnlange, lockige Haare, die ich mit zwei goldenen Spangen hochgesteckt habe. Ich trage einen beigefarbenen Pullover, und ich nutze heutemeinen manuellen Rollstuhl. Drei Begriffe, die für mich stehen: Bühne, Gleichberechtigung und Lasagne. + +Auf die Idee, ein Gespräch über Inklusion als Party zu zeigen, wären nicht viele gekommen. Tina Herchenröther (26) schon. Die Künstlerin beschäftigen Themen wie Popkultur, Körper und Identität, oft verfremdet sie die Personen auf ihren Bildern. (Foto: Holger Priedemuth) +Natalie:Mich beschreibt mein Aktivismus, mein Einsatz fürMenschen mit Downsyndromund dass ich mich sichtbar mache. Ich trage heute ein Shirt von Kasalla, einer Kölner Band. Ich habe eine Kette an und eine Brille und braune Haare. +Jürgen:Jazz, Demokratie und Wandern. Was ihr seht, aber ich nicht sehen kann: Ich habe dunkelbraune Haare, trage ein weißes Hemd und, weil ichein Beauftragter der Bundesregierung bin, ein Jackett. +Amie:Kunst ist ein großer Teil meines Lebens, meine Identität und Harmonie. Ich liebe es, wenn Menschen harmonisch miteinander umgehen. Meine Haare sind stark gelockt und kurz, und ich trage einen lila-grünen, sehr warmen Pullover. +René:Meine drei Begriffe beginnen mit M. Miteinander, Medien, Musicals. Ich trage meine blonden Haare kurz, eine runde Brille, schwarze Klamotten, wie eigentlich immer, und ich habe einen kurzen rechten Arm. +fluter:Wir sprechen über Barrieren. Ein Thema, das euch alle beschäftigt. Worüber würdet ihr denn sprechen wollen, wenn es weniger Barrieren geben würde? +René:Wennwir alle die gleichen Rechte hättenund alle repräsentiert wären, würde ich mir ein kleines Atelier einrichten und kreativer arbeiten, malen, zeichnen. Ich wollte mich nie auf meine Behinderung reduzieren lassen. Aber irgendwann hatte ich das Gefühl, dass es verschenktes Potenzial wäre, wenn ich nicht laut mitrede. Ich arbeite als Diversity Manager, und da geht es nicht nur um Behinderung, sondern um so viele Facetten von Verschiedensein. Das finde ich super. +Amie:Es ist schwierig, Abstand zu nehmen und zu überlegen: Womit würde ich mich sonst beschäftigen? Ich würde definitiv auch mehr malen und mich einfach mal zurückziehen und Pause machen. Es sollte nicht so sein, aber leider gehören die Barrieren dazu. Ich denke ständig daran, ob ich will oder nicht, ob ich Kraft habe oder nicht. +Jürgen:Ich finde wichtig, wie unterschiedlich Barrieren sein können. Oftgeht es um Mobilitätseinschränkungen, die berühmte Stufe, die man mit dem Rollstuhl nicht hochkommt. Aber die Verwendung von zu schwerer Sprache kann ein echtes Problem sein für Menschen mit Lernbeeinträchtigungen. Oder zu kleine Schilder für Sehbehinderte. Die Barrieren sind so unterschiedlich, wie die Menschen unterschiedlich sind. Deshalb ist es auch nicht leicht, sie zu beseitigen. Barrierefreiheit hat eine soziale Dimension: zusammen arbeiten, zusammen feiern, zusammen zur Schule gehen. +fluter:Zusammen feiern, das ist dir ja wichtig, Natalie. +Natalie:Ja, es ist so wichtig, dass alle zusammen feiern. Dass wir auch da sind. +Kübra:Sich die Räume nehmen und besetzen, das finde ich wichtig. Zu vielen Räumen haben wir wegen der fehlenden Barrierefreiheit noch immer keinen Zugang. +fluter:Nur wenige Gebäude werden komplett barrierefrei gebaut. Bisher gibt es kein Gesetz, das dazu verpflichtet. Dabei ist Inklusion ein Menschenrecht, im Grunde müsste doch jeder Club, jede Schule, jede Internetseite barrierefrei sein. +Jürgen:Ich kämpfe sehr dafür. Es soll eine Neuerung am Behindertengleichstellungsgesetz geben. Sozialminister Hubertus Heil sagte im Januar, das Gesetz wird geändert. Er hat vor, dass private Anbieter zur Barrierefreiheit verpflichtet werden. Inklusion ist, Menschen mit Behinderungen in alle Bereiche der Gesellschaft selbstverständlich einzubeziehen. Und die gehen ja nicht nur ins Bürgeramt oder auf die Website vom Rathaus, sondern auch in ein Restaurant oder Kino. Das alles muss barrierefrei sein! +Internalisierter Ableismus +"Er ist an den Rollstuhl gefesselt." Oder: "Toll, wie du deiner Behinderung die Stirn bietest!" Wenn sich Menschen mit Behinderung ständig solche Stereotype anhören müssen "internalisieren" sie die womöglich: Sie übernehmen die Vorurteile und Diskriminierungen unbewusst. Und schämen sich, wenn Nichtbehinderte ihnen im Alltag mal helfen müssen. Oder sie stimmen den Vorurteilen sogar bewusst zu – und machen selbst abfällige Witze über behinderte Menschen. +fluter:Welche Barriere ist die erste, an die ihr euch erinnert? +Kübra:Als Kind hatte ich erst keinen Rollstuhl. Meine Eltern wussten nicht, wo und wie sie das Geld dafür beantragen können. Ich konnte mich nicht selbstständig bewegen, hab am Leben draußen so gut wie nicht teilgenommen. +Natalie:Ich war auf einer inklusiven Schule. Da konnten wir miteinander und voneinander lernen. Das war gut, das hat geklappt. Und ich fand gut, dass ich dort nicht die einzige Person mit Downsyndrom war. +fluter:Da ist Inklusion mal nicht nur eine Vision, sondern Realität. +René:Dass es möglich ist, habe ich gerade in London gesehen. Im Musical "The Little Big Things" spielen behinderte und nichtbehinderte Menschen zusammen. Das ist jeden Abend proppenvoll und kommerziell erfolgreich. Der Raum ist leicht zugänglich, für Epileptiker gibt es Hinweise auf Blitze und laute Geräusche. Ich habe mich da aufgehoben gefühlt, irgendwie gesehen. Eine der Schauspielerinnen hat so einen kurzen Arm wie ich. Das war für mich emotionaler, als ich vorher gedacht hätte: Jemand wie ich auf einer Bühne, das hätte ich mir früher als Kind oder Jugendlicher gewünscht. Die Behinderung macht was mit deinem Selbstwert: Wo sehe ich mich? Wohin träume ich mich? Wenn du kein Umfeld hast, das dich stützt, und keine Medien, die dir Vorbilder zeigen, die so sind wie du, fühlst du dich allein. An meinem Selbstwertgefühl zu arbeiten ist bis heute eine Aufgabe für mich. Bin ich es wert, geliebt zu werden? Eine riesige Baustelle. +Kübra:Ja, nennt sich internalisierter Ableismus. Den muss man aktiv verlernen. +fluter:Wie geht das? +Jürgen:Indem man sich erst mal bewusst wird, dass es ihn gibt. Jeder von uns hat die Erfahrung gemacht, dass es Menschen gab, die gesagt haben: Das schaffst du sowieso nicht. Meine erste Barriere war die Kontaktaufnahme. Ich bin mit einer starken Sehbehinderung geboren. Als Kind und Jugendlicher war es unheimlich schwierig, mit Gleichaltrigen in Kontakt zu kommen, weil bei mir kein Augenkontakt möglich war. Oder in den öffentlichen Verkehrsmitteln: Ich musste immer fragen: "Fahren Sie nach XY?" und bekam die Antwort: "Kannst du nicht lesen?!" Das sind Erlebnisse, die einen kleinmachen. +Amie:Oft steht die Behinderung im Vordergrund, und alles andere geht unter. Wichtig finde ich aber auchdie intersektionale Ebene, es gibt ja auch Queers, Schwarze und People of Color mit Behinderung. Diese Merkmale prägen mich auch, die verschiedenen Diskriminierungen überlagern sich. Ich beschäftige mich schon länger mit meiner Identität und Inklusion und Vielfalt. Ich studiere Soziale Arbeit und spüre einen Druck, mich selbst zu optimieren: weil ich denke, ich bin nicht gut genug. Ich muss besser sein, ich muss schneller sein. Um das negative Bild der anderen von Behinderung zu verändern, gehe ich viel zu oft über meine Grenzen. Zum Beispiel im Studium: Weil ich anders leiste als die "Norm", nehme ich mir manchmal zu wenig Pausen und arbeite mehrere Stunden durch, obwohl mein Körper das gar nicht bewerkstelligen kann. Einfach aus Angst, dass ich dem Tempo und den Leistungen der anderen nicht hinterherkomme. +Jürgen:Viele nutzen das Wort "behindert" als Schimpfwort. Das ist gefährlich, weil Sprache unser Denken bestimmt. Aktuell sehen wir, dass es politische Kräfte gibt, die sich offen gegen Inklusion aussprechen. Die greifen zentrale Werte unserer Demokratie an. Deshalb freue ich mich auch, dass in ganz Deutschland so viele demonstrieren gehen. Die gehen alle auch für Inklusion auf die Straße, weil Demokratie Inklusion ist. +Natalie:Genau so ist das! +Inspiration Porn +Eine Ballerina ohne Arme wirbelt über eine Castingshowbühne, die Jury ist ergriffen. Ein blinder Musiker spielt Violine. Stehende Ovationen. "Inspiration Porn" nannte die 2014 verstorbene Aktivistin Stella Young Darstellungen, die behinderte Menschen instrumentalisieren, um das Publikum zu begeistern und zu rühren. Denn oft steckt hinter der "inspirierenden Höchstleistung" eine gewöhnliche Eigenschaft oder Fähigkeit. Frag dich bei der nächsten behinderten TV- oder Serienfigur mal: Sehe ich das umfängliche Bild eines Menschen oder einen "Inspiration Porn"? +René:Noch mal zur Sprache: Ich muss immer lachen, wenn jemand von uns als "Menschen mit besonderen Bedürfnissen" spricht. Auf Toilette und ins Theater gehen oder Party machen, das sind ja keine besonderen Bedürfnisse. Solche Formulierungen helfen niemandem, am wenigsten uns. +Kübra:Ja, das sind Euphemismen: Wörter, die beschönigen, aber unsere Lebensrealität gar nicht widerspiegeln. Bezeichnungen wie "besondere Bedürfnisse" werden oft von nichtbehinderten Menschen erdacht, von Lehrerinnen, Pädagogen oder Eltern. +René:Mir hilft ein Umfeld, das sagt: Komm, wir probieren es mal aus. Wir brauchen nicht immer die perfekte Lösung. Aber Leute mit Respekt und Bock, aufeinander zuzugehen. Dieser Wille fehlt mir manchmal. Die Leute sind zu ängstlich. +fluter:Warum sind sie das? +René:Wir alle lernen, dass Behinderung etwas Böses ist. Schaut doch mal in Kinderbücher, Filme oder Serien, auf die Bösewichte bei "Star Wars", "James Bond" oder in "Grimms Märchen", die sind alle behindert, entstellt, verrückt. Das sind die Geschichten, mit denen wir aufwachsen, die erzählen wir uns teils seit Jahrhunderten. Das haben wir nie richtig aufgearbeitet. Wir fangen jetzt erst an,neue Geschichten zu erzählen. +Kübra:Die Angst von Nichtbehinderten im Umgang mit uns ist sicher ein Thema. Ständig ist von "Berührungsängsten" die Rede: Nichtbehinderte sind unbeholfen im Umgang mit Behinderten, weil sie befürchten, Fehler zu machen. Das darf keine Ausrede mehr sein. Die Leute sind persönlich dafür verantwortlich, sich mit behinderten Lebensrealitäten auseinanderzusetzen. Wir haben viele tolle Menschen, die seit Jahren wichtige aktivistische Arbeit leisten. Aber es liegt auch an unserer kapitalistischen Gesellschaft. Für die sind wir nicht profitabel genug. Beziehungsweise wird unser Mehrwert noch nicht anerkannt. Es gab schon Fortschritte, hybride Veranstaltungen zum Beispiel ... +fluter:... an denen man physisch teilnehmen kann, aber eben auch virtuell. In der Pandemie wurden vermehrt Livestreams und Chats angeboten. +Kübra:Viele haben da mitgemacht und erkannt: Das ist eine Form, die mehr Teilhabe ermöglichen kann. Nur werden viele solcher Formate wieder zurückgezogen, weil sie zu viel kosten oder nicht genug Onlinetickets verkauft werden. Menschen, die vorher ausnahmsweise mal eingeladen wurden, werden wieder ausgeladen. +Jürgen:Es gehtum Menschenrechte. Inklusion ist ein Menschenrecht. Darin sehe ich meinen Job: die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. In Fragen der Schule, der Arbeit, des Wohnens und der Gesundheit. Wenn wir auf Freiwilligkeit setzen, kommen wir nicht weit. Da müssen wir in Deutschland echt noch viel machen. Zum Beispiel gibt es viel zu wenige barrierefreie Arztpraxen. Dadurch haben Menschen mit Behinderungen nicht die freie Arztwahl, die ihnen zusteht. +fluter:Aber ist es nicht bitter, dass man sich nicht auf Solidarität verlassen kann? Dass immer wieder an Grund- und Menschenrechte von Millionen Menschen erinnert und darum gekämpft werden muss? +Amie:Ich sehe da auch das kapitalistische Leistungssystem als Problem. Das beutet Menschen aus, zum Beispiel in den Werkstätten,wo Leute weit weniger als den Mindestlohn verdienen. Dieses System schafft Hierarchien: Die, die mehr leisten, stehen über denen, die weniger leisten. Das ist gefährlich für Menschen mit Behinderung. Wir leisten nicht weniger, wir leisten anders als die Norm. +René:Ich frage mich immer: Können wir es uns als Gesellschaft überhaupt leisten, zwei Arbeitsmärkte, zwei Wohnungsmärkte, zwei Bildungssysteme parallel am Laufen zu halten? Ist doch unlogisch, was wir da machen, gerade mit kapitalistischer Brille. +Was ist eine Behinderung? +Als Behinderung gilt nicht nur, wenn jemand mit Rollstuhl oder Trisomie lebt, sondern auch mit einem Herzfehler, Asthma oder Demenz. Im Sozialgesetzbuch (SGB) steht: "Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist." Mit Behinderung stehen einem Rechte zu, die unter anderem das SGB regelt, zum Beispiel mehr Urlaubstage, Kündigungsschutz, Steuervergünstigungen oder gesonderte Parkplätze. +fluter:Ihr alle seid auf Social Media unterwegs, wie auch viele Aktivisten für Inklusion. Sind euch Vorbilder wichtig? +Natalie:Social Media sind wichtig, damit ich gesehen werde. Damit Menschen mit Behinderung gehört werden. Wir gehören dazu. Wir sind wichtig. Wenn ich was poste, bekomme ich positive Nachrichten. Das tut mir auch gut. +Kübra:Meine ersten Vorbilder waren Laura Gehlhaar und Ninia LaGrande. Das waren die ersten behinderten Frauen, die ich auf Social Media entdeckt habe. Dass sie ihre Perspektiven geteilt haben, war wichtig für mich, das Gefühl: Hey, ich bin ja gar nicht alleine. Ich bin nicht die Einzige, die so was erlebt, das ist strukturell. Durch die beiden habe ich angefangen, mich damit zu beschäftigen. +fluter:Sind Social Media ein barrierefreierer Raum? +René:Ja, weil man sich zeitlich und räumlich freier vernetzen kann. Meine Mutter war alleinerziehend, wir hatten wenig Geld. Wir waren in einem Selbsthilfeverein, konnten es uns aber nie leisten, zu den Treffen zu fahren. Sich zu vernetzen ist heute einfacher, sogar international. Ich sehe Menschen in meinem Feed, die Ukulele oder Gitarre spielen mit kurzen Armen oder wenigen Fingern, die sich was gebastelt haben mit Gaffa-Tape. Ohne Internet würde ich die alle nicht kennen. +Amie:Es gab eine Zeit, in der ich sehr isoliert war. Ich war eigentlich nur in der Schule und dann wieder zu Hause. Ich hatte zwar Freunde, bin aber selten ausgegangen, weil ich mit meinem Elektrorollstuhl nicht in Clubs gekommen bin. Das tat weh. Ich war zu Hause und hatte echt Angst, von der Gesellschaft vergessen zu werden. Zufällig habe ich ein Netzwerk gefunden, "Mission Inklusion". Dort fing meine Bildung an, was meine eigene Identität angeht. Ich habe gelernt, dass ich mich selbst diskriminiert habe und auch andere Menschen mit Behinderung. Social Media waren für mich befreiend. +Jürgen:Andererseits müssen Social-Media-Angebote natürlich auch barrierefrei sein. Dafür brauchen wir Gesetze. In den USA beispielsweise sind die Gesetze fortschrittlicher – und die Telekommunikationsangebote dadurch barrierefreier. Überall da, wo der Markt das ohne den Staat regeln soll, sind die Bedingungen nicht so gut. +Kübra:Wir alle sind verantwortlich, das Internet barrierefrei zu machen. Es ist aufwendig, für jeden Post eine Bildbeschreibung zu machen. Aber Barrierefreiheit ist eine Haltung. Wenn ich als behinderte Aktivistin etwas poste, möchte ich, dass es für die Community zugänglich ist. Vielen Menschen fehlt diese Haltung. Wobei das natürlich auch eine Frage von Kapazitäten ist, auch für Menschen mit Behinderung: Nicht alle von uns können das immer, und das muss auch okay sein. +Dieser Text istim fluter Nr. 90 "Barrieren"erschienen +fluter:Neben dieser Haltung – habt ihr Forderungen oder Wünsche an die Menschen, die dieses Gespräch lesen? +Natalie:Die Leute müssen sich informieren. Dann sehen sie: Ah, eine Behinderung ist doch eigentlich ganz cool. Dafür muss die Politik mal Inklusion machen, damit wir mitreden können. Und Parteien wie die AfD, die gegen die Demokratie und Inklusion sind, sollen verboten werden. +Kübra:Macht Platz für uns. Zum Beispiel in Redaktionen: Wie viele behinderte Menschen arbeiten da, welche Arbeitsbedingungen gelten? Was können Redaktionen verändern, damit behinderte Menschen dort arbeiten? Zahlen sie fair? Lasst uns teilhaben und teilnehmen: Ladet uns ein. +René:Behinderung ist Teil der Diversity, über die wir so viel reden. Weg mit den Schubladen. +Amie:Behinderung wird oft als das andere betrachtet. Dabei sind die Grenzen zwischen Behinderung und Nichtbehinderung viel fließender, als viele meinen. Wenn eine Person schwanger wird, sollte sie einkalkulieren, ein behindertes Kind zu bekommen. Oder die eigene Fragilität: Eine Behinderung kann jederzeit entstehen. Das ist kein Defekt, nichts Schlechtes, Behinderung gehört dazu. + +Jürgen Dusel (59)ist Jurist und seit 2018 der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Er empfiehlt zum Beispiel den Bundesministerien, was sie tun können, damit Menschen mit Behinderungen gleichberechtigter leben. +Kübra Sekin (33)arbeitet als Schauspielerin, Moderatorin und Performerin. Social Media nutzt sie als Sprachrohr für Antidiskriminierungsthemen. +René Schaar (32)ist stellvertretender Leiter des Bereichs "Gleichstellung und Diversity" beim NDR. Und der Initiator von Elin, der ersten Puppe mit sichtbarer Behinderung in der "Sesamstraße". +Amie Savage (23)studiert Soziale Arbeit, arbeitet als Künstlerin und setzt sich als Aktivistin für Inklusion ein, auch in der Kunst. +Natalie Dedreux (25)engagiert sich für Inklusion. Sie schreibt unter anderem für den "Ohrenkuss", ein Magazin von Menschen mit Downsyndrom. diff --git a/fluter/expertenrunde.txt b/fluter/expertenrunde.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c453edbddf44e5201a5b07e69d894f3b3df55ac7 --- /dev/null +++ b/fluter/expertenrunde.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +"Ich bin dank meines Berufes viel im Freien, drei bis vier Monate im Jahr. Zuerst hatte ich ein Schiffbaustudium begonnen, aber dabei kommt man ja während des Studiums nicht vom Zeichenbrett weg. Als Geologe verbringe ich jedes Jahr drei bis vier Monate im Gelände. Wir stellen uns immer wieder die Frage: Wie ist die Welt entstanden? Deshalb achten wir auch nicht so sehr auf aktuelle Dinge, sondern auf Entwicklungen über Millionen und Milliarden Jahre. Deshalb finde ich persönlich vieles auch nicht bedrohlich: Gletscher hat es zu neunzig Prozent der Erdgeschichte nicht gegeben, der Meeresspiegel war wesentlich höher, und der CO2-Gehalt war die meiste Zeit um ein Vielfaches höher. Aber ich sehe auch Dinge, die ich für bedrohlich halte. Wir betreiben einen Raubbau an Rohstoffen. Wenn Eisenerz abgebaut wird, dann muss dieses Erz 65 Prozent Eisen enthalten, sonst wird es links liegen gelassen. Dabei wäre es viel besser, das Eisenerz mit minderwertigem zu mischen und so dafür zu sorgen, dass wir später auch noch etwas davon haben. Dasselbe gilt für unsere Energiequellen, Baustoffreserven und andere Rohstoffe. Die Versorgung mit Wasser gehört ganz sicher zu den größten Problemen der Zukunft. Wenn wir die nächsten Jahrzehnte überstehen, dann bitte nicht in Kälte und Dunkelheit, sondern mit dem Komfort, den wir uns erarbeitet haben. Doch ich glaube, die Menschheit gehört zu den Dinosauriern, und die Natur kann sehr gut ohne uns auskommen." +"Ich bin sozusagen vorbelastet, denn mein Großvater war Waldarbeiter. Außerdem komme ich selbst vom Land und war immer viel im Wald unterwegs. Eines der schönsten Dinge ist für mich, dass man dort die Jahreszeiten verfolgen kann. Es riecht erst nach Waldboden, dann nach Holunderblüten, später nach reifen Waldhimbeeren. Und man kann die Temperatur spüren.Ich verbinde mit dem Wald auch viel Emotionales, aber es ist bei mir nicht diese typisch romantische Vorstellung. Durch meinen Opa habe ich nämlich noch etwas anderes gelernt: Der Wald ist das, woher mein Schrank und mein Regal kommen. Er ist auch ein Wirtschaftsfaktor und ein Arbeitsplatz. Oft spreche ich mit Menschen, die sich sehr große Sorgen machen, wenn Holz geerntet wird, weil sie um den Wald fürchten, in dem sie spazieren gehen. Dabei ist doch das Wichtigste die Nachhaltigkeit: Ich will den Wald nicht nur bestaunen, ich darf ihn auch nutzen und muss gleichzeitig dafür sorgen, dass er erhalten bleibt. All dies möchte ich auch vermitteln, wenn ich eine Schulklasse durch den Wald führe. Das kommt recht häufig vor. Im September mache ich das bis zu viermal in der Woche.Ungefähr sechzig Prozent meiner Arbeit verbringe ich im Freien. Gerade hatten wir mal wieder einen Sturm, da bin ich durch den Wald gefahren und habe die Schäden besichtigt. Waldbesitzer können nach so einem Sturm finanzielle Hilfe bei der Bayerischen Forstverwaltung anfordern, ich berate sie dann und helfe bei der Antragstellung. Viele wissen auch nicht, dass man Fichten mit Borkenkäferbefall so schnell wie möglich beseitigen muss, damit nicht noch mehr Bäume befallen werden. Ich weise die Besitzer, wenn nötig, darauf hin, denn der Borkenkäfer ist ein sehr großes Problem. Alles, was man über ihn wusste, wird jetzt überdacht, weil dieser Schädling sehr von Wärme, Trockenheit und Sturmereignissen profitiert. Seit 2003 ist er eigentlich die ganze Zeit präsent, das war vorher nicht so. Ich sehe das als einen Vorboten des Klimawandels.Er ist im Wald bereits sichtbar, allerdings nicht als Momentaufnahme, sondern als schleichender Prozess. Ich merke, dass die durchschnittliche Temperatur zu hoch ist und die Menge der Niederschläge zu gering. In vielen Gegenden Bayerns werden zum Beispiel die Bedingungen für die Fichten immer schlechter, wenn die Böden dort wenig Wasser speichern können und es zu trocken ist. Es gibt viele andere Baum-arten, die mit den zukünftigen Klimaverhältnissen viel besser zurechtkommen werden. Eine Fichte braucht aber etwa achtzig Jahre, bis sie ausgewachsen ist. Deshalb lohnt es sich dann womöglich auch nicht mehr, eine neue zu pflanzen, wenn sie nach vierzig Jahren abgeholzt werden muss. So verändert der Wald ganz allmählich sein Aussehen. Ich merke eben, dass es immer häufiger Trockenzeiten gibt und sich die Zahl der Stürme häuft. Und ich finde auch, es ist meine Aufgabe, das den Menschen mitzuteilen." diff --git a/fluter/extinction-rebellion-shutdown.txt b/fluter/extinction-rebellion-shutdown.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5346a966c324ca1b348eb6b7f8658b167d3c9dde --- /dev/null +++ b/fluter/extinction-rebellion-shutdown.txt @@ -0,0 +1,23 @@ + +Das Logo der Bewegung, hier am Potsdamer Platz in Berlin, soll das Artensterben symbolisieren: Der Kreis steht für die Erde, die stilisierte Sanduhr für die Zeit, die dem Mensch und vielen Arten davonläuft +Extinction Rebellion ist ein neuer Akteur der Klimaschutzbewegung. Seitdem am 31. Oktober 2018 auf dem Londoner Parliament Square die Rebellion verkündet wurde, wächst die Bewegung weltweit schnell. In Deutschland gibt es derzeit über 50 Regionalgruppen, Dutzende weitere befinden sich im Aufbau. Im April blockierten Aktivistinnen und Aktivisten die Oberbaumbrücke in Berlin, im Juli die Deutzer Brücke in Köln, im September kippten sie literweise Kunstblut die Hamburger Elbpromenade hinunter. +Muss man jede Versammlung anmelden? Darf man Straßen blockieren? Und ist es eigentlich erlaubt, bei Demos Masken zu tragen?Dieses Schaubild zeigt, was geht und was nicht +Ihre drastischen Aktionen spalten die Gemüter: Während Befürworter der Meinung sind, dass gesellschaftlicher Wandel Radikalität braucht, monieren Kritiker, dass manche Aktionen und Blockaden gegengeltendes Rechtverstoßen könnten. Außerdem wird Extinction Rebellion ein Abgrenzungsproblem vorgeworfen. Systematische Verbindungen zu linksextremen Organisationen können der Bewegung aber nicht nachgewiesen werden. +Maximale Aufmerksamkeit erzeugen gehört zur Strategie. "Wir sind bereit, persönliche Opfer zu bringen. Wir sind bereit, uns verhaften zu lassen und ins Gefängnis zu gehen", heißt es auf ihrer Homepage; die hohe Zahl von Festnahmen schürt das Medieninteresse. Außerdem inszenieren die Anhänger der Protestbewegung Trauermärsche und sogenannte Die-ins, bei denen sie sich auf Kommando in der Öffentlichkeit wie tot auf den Boden legen. Bei Demonstrationen treten manche als Red Rebel Brigade auf: Auch an diesem Freitag schieben sich die rot gekleideten Gestalten langsam durch die Reihen der Demonstrantinnen und Demonstranten. Die Farbe soll das Blut symbolisieren, das nicht nur durch den Menschen, sondern auch durch andere Spezies fließt und uns miteinander vereine. + +Pierrot in rot: Auch der "Red Rebel Brigade" ist nicht zum Lachen zumute. Das Rot ihrer Gewänder soll an das Blut erinnern, das gleichermaßen durch die Adern vieler Spezies fließt – noch + +Bereits vor Beginn des Klimastreiks steht Johannes Alber vor der französischen Botschaft und hält ein pinkfarbenes Fähnchen an einem langen Stock in die Höhe. Auf der Fahne ist ein Kreis mit einer Sanduhr. Das Logo der Bewegung. Johannes Alber kümmert sich an diesem Tag um die Presse. Ein Grüppchen Reporter der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", des RBB und des Deutschlandfunks trotten ihm und dem Fähnchen hinterher wie Touristen. Der 22-Jährige strahlt, er hat die Aufmerksamkeit der Presse. +Dabei berichten nicht alle Journalistinnen und Journalisten nur Positives. Viele greifen auch schwierige Fragen auf, Fragen danach, ob eine Radikalisierung der Klimaproteste durch Extinction Rebellion droht – und was das für ihr gesellschaftliches Anliegen bedeutet. "Sind das friedliche Schüler, die sich nach ein, zwei Stunden wegtragen lassen? Oder lassen sie sich auf Formen der Aggression ein? Das Aufkommen radikalerer Gruppen wie ‚Extinction Rebellion' oder ‚Ende Gelände' jedenfalls kann zu einer Aufspaltung von Fridays for Future führen", meint etwa Jugendforscher Klaus Hurrelmann vor wenigen Tagenin einem Interview mit dem "Tagesspiegel". "Wenn jetzt die Verhältnismäßigkeit der Mittel radikal überdehnt wird, schwindet die breite öffentliche Akzeptanz für die Klimaproteste." +Extinction Rebellion erhebt drei Forderungen: Die Bundesregierung soll den Klimanotstand ausrufen und die Treibhausgas-Emissionen bis 2025 auf netto null senken. Also dafür sorgen, dass nur so viel CO2 ausgestoßen wird, wie durch Gegenmaßnahmen aus der Atmosphäre entfernt wird. Zudem sollen zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger in von der Regierung einberufenen Versammlungen darüber entscheiden, wie diese Ziele erreicht werden können. Zufällig, weil dadurch alle gesellschaftlichen Gruppen eingebunden würden. Unterstützt werden sollen sie dabei von Expertinnen und Experten. +Diese Offenheit führt dazu, dass es innerhalb der Bewegung unterschiedliche Ideen gibt, wie sie sich weiterentwickeln soll – und auch Konflikte. Als wichtiges und einendes Prinzip gilt aber die Gewaltfreiheit. Extinction Rebellion strengt sich an, das öffentliche Leben zu stören, will dabei jedoch friedlich bleiben. "Wenn wir eine Straße blockieren, gehen wir zwischen den wartenden Autos hindurch und reden mit den Menschen", sagt Alber. "Wir versuchen zu erklären, warum wir das machen, und entschuldigen uns auch." Mit Beschuldigungen um sich werfen bringe jedenfalls nichts, sind diese Aktivistinnen und Aktivisten überzeugt, weil alle Teil des Problems seien und es entsprechend viele braucht, die an einer Lösung arbeiten. + +Nach dem Motto "Gewaltfrei statt Waldfrei" tragen Aktivisten in Berlin symbolisch den deutschen Wald zu Grabe. Tatsächlich hat dieser unter den zunehmenden Klimaextremen bereits stark zu leiden + +Das findet auch Hans-Joachim. Seit wenigen Wochen ist der Rentner dabei. "Wir brauchen nur 3,5 Prozent", sagt er. Um diese Zahl dreht sich bei Extinction Rebellion alles. 3,5 Prozent einer Bevölkerung müssen mobilisiert werden, um ein System zu verändern. Das zumindest ergibt eine Studie der Wissenschaftlerin Erica Chenoweth. Für Deutschland bedeutet das: 2,9 Millionen Menschen müssten mobilisiert werden. + + +Adieu, Nashorn; mach's gut, Goldkröte: Wissenschaftler schlagen Alarm, dass unser Lebenswandelzum massiven Aussterben von Tierenführt +"Ich erinnere mich noch an die Demonstrationen 1989. Da hat auch niemand geglaubt, dass es eine Wiedervereinigung geben wird. Aber wir haben es geschafft", sagt Hans-Joachim. Vor fünf Monaten wurde er Großvater. Für seine Enkelin will er zumindest versucht haben, das System zu ändern, das er für toxisch hält: Für die Anhänger der Extinction Rebellion ist die Klimakrise nämlich nur ein Symptom eines kaputten Systems. Am liebsten würden sie eine neue Gesellschaft schaffen. Eine, in der die Menschen achtsam miteinander umgehen. +Auf dem Potsdamer Platz ist es mittlerweile kalt geworden. Der Wind trägt riesige Seifenblasen über die Köpfe der Protestierenden hinweg. Sie sitzen um eine mobile solarstrombetriebene Anlage und diskutieren. Sagen darf jeder was. Da ist der Typ aus Israel, der die Menge in wirrem Denglisch motiviert, weiter auszuharren. "Because of the Umwelt, jaaaa!" +Dann tritt eine Frau ans Mikrofon. "Ich will mal etwas loswerden", beginnt sie und erzählt von ihrer Schwangerschaft. Ich könnte die glücklichste Schwangere der Welt sein, wenn nicht die Klimapolitik wäre!" Extinction Rebellion scheint für sie und die anderen hier auch eine Art Gruppentherapie zu sein. Ihnen macht der Klimawandel Angst – weil er dem Menschen und vielen anderen Spezies an die Substanz geht. Doch bei dieser Therapie wird nicht nur geredet, sondern auf die Straße gegangen. Und zwar möglichst radikal. diff --git a/fluter/extremwetter-als-folge-des-klimawandels.txt b/fluter/extremwetter-als-folge-des-klimawandels.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..11920d053b9201f98de7ba6c9e3b229ad23b0b85 --- /dev/null +++ b/fluter/extremwetter-als-folge-des-klimawandels.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Wie wirkt sich der Klimawandel denn auf das Wetter aus? +Es gibt im Prinzip zwei Arten, wie der Klimawandel unser Wetter verändert. Erstens mit dem sogenannten thermodynamischen Effekt: Durch höhere Temperaturen in der Atmosphäre steigt zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit für Hitzewellen. Außerdem nimmt die Atmosphäre mehr Wasserdampf auf. Das führt im globalen Mittel zu mehr Starkregen. Der zweite Effekt ist der dynamische: Die veränderte Konzentration von Treibhausgasen und Wasserdampf verändert auch die Zirkulation in der Atmosphäre – das heißt, wann Wettersysteme wohin ziehen. Diese Veränderungen können wir beobachten und durch Wahrscheinlichkeiten belegen. +Wie funktioniert Ihre Methode der Attribution Science? +Im ersten Schritt berechnen wir die Wahrscheinlichkeit für ein vergangenes Wettereignis, zum Beispiel eine Hitzewelle oder Starkregen. Dafür simulieren wir einige Tausend Mal mögliche Wetterszenarien für eine bestimmte Region und einen bestimmten Zeitraum. Dadurch können wir berechnen, wie häufig dort Extremwetterereignisse wie Starkregen oder Wirbelstürme vorkommen können. Anschließend wiederholen wir das Experiment mit einer Treibhausgas-Konzentration in der Atmosphäre, wie sie ohne den menschengemachten Klimawandel wäre. So kann man berechnen, wie wahrscheinlich das Extremwetterereignis in einer simulierten Welt ohne Klimawandel wäre und indem man beide Ergebnisse vergleicht weiß man wie stark sich die Wahrscheinlichkeit durch menschliche Einflüsse verändert. +Wie stark ist die Wahrscheinlichkeit denn gestiegen? +Wir können zum Beispiel sagen, dass der von Menschen gemachte Klimawandel einen Wirbelsturm oder eine Überschwemmung mancherorts um 50 oder sogar 500 Prozent wahrscheinlicher gemacht hat. Manchmal bleibt aber auch die Erkenntnis, dass der menschliche Einfluss kaum messbar war. Manche Ereignisse werden auch weniger wahrscheinlich. Geradlinige Kausalität können wir mit diesen Aussagen nicht bieten, aber eine statistisch sehr gut gesicherte Wahrscheinlichkeit. Natürlich sind solche Ergebnisse für die Öffentlichkeit ziemlich abstrakt. Deshalb müssen wir unsere Erkenntnisse verständlich einordnen und genau erklären, welchen Anteil der Klimawandel an bestimmten Extremwetterereignissen hat. +Das klingt alles sehr datenintensiv. Wie aufwendig sind Ihre Untersuchungen? +In Oxford arbeiten wir erst seit 10 bis 15 Jahren daran, größere Studien gibt es seit 2011. Das liegt auch an ihrer Komplexität. Erst die heutige Rechenpower ermöglicht es, so viele Daten verlässlich auszuwerten. In Oxford nutzen wir ein besonderes Modell. Wir haben keinen Supercomputer, sondern arbeiten mit den PCs von Privatleuten. Sie stellen uns für die Studien ihre Rechenpower zur Verfügung. Wir verschicken einzelne Klimamodellsimulationen über das Internet und sammeln sie nach getaner Arbeit wieder ein. So können wir noch mehr Daten einfließen lassen und noch mehr Klimamodelle durchspielen. Dadurch steigt die Verlässlichkeit der Aussagen. Außerdem ist dieser Ansatz deutlich günstiger als die Nutzung eines Supercomputers. +Lassen sich auch die für den Klimawandel verantwortlichen Staaten ausmachen? +Ja, das war der Ansatz unserer neuesten Studie. Am Beispiel einer Hitzewelle in Argentinien haben wir die Verantwortlichkeit einzelner Staaten berechnet. Diese Hitzewelle ist durch den allgemeinen Klimawandel fünfmal wahrscheinlicher geworden. Durch die Emissionen der USA wurde sie um 30 Prozent, durch die von ganz Europa sogar um 35 Prozent wahrscheinlicher. Diese Aussagen ließen sich sogar auf einzelne Länder herunterbrechen. Für Debatten um eine mögliche Entschädigung von klimawandelbedingten Schäden könnten solche Erkenntnisse eine gute Grundlage bieten. +Die National Academy of Sciences, das wichtigste Wissenschaftlergremium der USA, hat die Methode für wissenschaftlich relevant erklärt. Was bedeutet das für Ihre Arbeit? +Das ist eine tolle Bestätigung für unsere Arbeit und ermutigt hoffentlich mehr Forscher, die Methode zu nutzen. Unser Ansatz ist noch jung und es gibt noch nicht viele Studien. Deshalb hat die National Academy of Sciences unabhängige Klimaexperten gebeten, die Methode einmal genauer zu überprüfen. Das Ergebnis des Reports fiel positiv aus. Die Aussagen aus der Attribution Science sind für die Klimaforschung sinnvoll und wissenschaftlich belastbar – jedenfalls wenn man viele verschiedene meteorologische Daten und Klimamodelle für seine Untersuchung nutzt. +Friederike Otto, 35, berechnet am Environmental Change Institut an der Universität von Oxford, welche Rolle die globale Erwärmung bei extremen Wetterereignissen spielt. Die Disziplin heißt "Attribution Science", zu Deutsch: "Zuordnungswissenschaft". +In der Wissenschaftscommunity stößt Ihre Methode also auf viel Anerkennung. Welche Rückmeldungen bekommen Sie aus Politik und Gesellschaft? +Zur Politik kann ich wenig sagen. Bisher hatte ich hauptsächlich mit Vertretern der kenianischen und äthiopischen Regierung zu tun. Die waren sehr interessiert an Aussagen darüber, welche Regionen Afrikas besonders vom Klimawandel betroffen sind und welche Rolle der Mensch dabei spielt. Großes Interesse gibt es auch von Juristen. Sie suchen schon länger nach Möglichkeiten, globale Klimasünder in die Pflicht zu nehmen. +Lassen sich mit ihren Ergebnissen Klimaskeptiker überzeugen? +Menschen, die den Klimawandel aus wirtschaftlichen oder ideologischen Gründen leugnen, kann man auch mit wissenschaftlichen Fakten nur schwer überzeugen. Donald Trump oder die AfD sind dafür gute Beispiele. Vielleicht können wir aber mit unseren Ergebnissen die Wähler selbst erreichen. Immerhin zeigen wir, dass Klimawandel nichts ist, was weit weg oder irgendwann später passiert. Wir können nachweisen, dass auch die Flutkatastrophe oder die Dürre in der eigenen Umgebung durch den Klimawandel beeinflusst wurde. Diese Erkenntnis könnte Menschen von der Wichtigkeit des Themas überzeugen und zum Nachdenken anregen. + + + +Titelbild: Johannes Arlt/laif diff --git a/fluter/fabian-sixtus-koerner-journeyman.txt b/fluter/fabian-sixtus-koerner-journeyman.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2d7f8f04a206af13f6358399955f80ece98eba21 --- /dev/null +++ b/fluter/fabian-sixtus-koerner-journeyman.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Körner hat über seine Weltreise einen Blog geführt, "Stories of a Journeyman", Geschichten eines Gesellen hieß er. Aus den Einträgen wurde jetzt im Nachhinein ein sympathisch unprätentiöses, erfreulich lebendiges Reisebuch, reich an persönlichen Einsichten. Gespickt mit interessanten, lustigen, melancholischen Anekdoten sollte es vielleicht Pflichtlektüre für all jene werden, die sich mit dem Gedanken rumschlagen, eine längere Reise zu machen, sich aber bislang nicht getraut haben. Zum Beispiel, weil sie nicht wissen, wie so etwas finanziell klappen könnte. Körners Buch macht Mut: Als der damals 28-jährige Wiesbadener in die weite Welt zieht, hat er nach seiner ersten Flugbuchung nur noch 255 Euro auf dem Konto. +Beängstigend wenig, aber genau darum geht's: Wie manche Schreiner, Schlosser oder Dachdecker es auch heute noch tun, begibt sich der junge Innenarchitekt auf die Walz. Seine Arbeitskraft wird er für Kost und Logis anbieten. Geld verdienen will er keines, weil das gegen die Walzregeln verstößt. Flüge und andere Verkehrsmittel bezahlt er aus eigener Tasche. +Auf einer Walz geht es darum, möglichst viele Erfahrungen zu sammeln, die Welt zu sehen und die arbeitstechnischen Fertigkeiten zu verbessern, so will es die Tradition. Der Handwerksgeselle soll reifen – für den Beruf, fürs Leben. Danach darf er seinen Meister machen. Körner interpretiert die Tradition neu. Als Innenarchitekt mit guten Kenntnissen in Fotografie und Kommunikationsdesign führt er eine "Design-Walz" und statt eines klassischen Walztagebuchs einen Walz-Blog. Bestückt mit einem 60-Liter-Reiserucksack, seinem Laptop und zwei Kameras fliegt Körner zunächst nach Schanghai. +"Kommen Sie vorbei, wir schauen dann mal" – die Einladung in die Schanghai-Filiale des berühmten Architekturbüros David Chipperfield hat Körner sich großartiger vorgestellt. Im Flugzeug vergisst er Pass, Bankkarte und Bargeld. Ihm bricht der Angstschweiß aus. Zum Glück findet eine Angestellte des Bodenpersonals seinen lebenswichtigen Hüftbeutel. Es sind gerade solche Stellen, die "Journeyman" zu einem ungemein sympathischen Buch machen. Mit dem selbsternannten Design-Gesellen, der sich nie als Checker geriert, fiebert man gerne mit. +In Schanghai darf er bei Chipperfields großangelegtem "Rockbund-Project" mithelfen, bei dem ehemalige Kolonialbauten restauriert werden. Verwundert sieht er eine nahe gelegene Arbeiterzeltstadt in einer großen Lagerhalle. Ganze Familien sind dort untergebracht. Die Arbeitgeber sparen so viel Geld. Nach drei Monaten läuft Körners Visum aus. Zum Abschied haben sich die Kollegen etwas Besonderes ausgedacht: "Als erster Deutscher werde ich in den erlesenen Kreis des Samstags-Karaoke aufgenommen." Das gilt als große Ehre. +In Malaysias Hauptstadt Kuala Lumpur, seiner nächsten Station, fühlt er sich pudelwohl. Seinen Job als "internationaler Botschafter" bei der dortigen "Design Week" findet er vielseitig und spannend, obwohl ihn mitunter das Gefühl beschleicht, nicht wirklich gebraucht zu werden. Im ägyptischen Alexandria verflucht er todesmutige Taxifahrer und arbeitet als "Head of Design" für eine große Bootsmesse. Als die Hafenstadt sich zu Ramadan leert, fast zur Geisterstadt wird, erfährt er, was es heißt, richtig einsam zu sein. Er beginnt, mit Katzen zu sprechen. Überhaupt keinen Freund zu haben, das weiß Körner danach, ist das Allerschlimmste. Noch schlimmer als zu viele Menschen um sich zu haben. Rückzugsräume sind im übrigen Mangelware auf seiner Weltreise. +In San Francisco erlebt Körner ein Erdbeben. Und er lernt recht schnell, dass "Couchsurfing" in Kalifornien gerne etwas anderes interpretiert wird: als ein Date mit der Option auf Sex. Im australischen Brisbane arbeitet er als Layouter für ein junges Plattenlabel, zusammen mit einer Horde trink- und kiff-freudiger Australier. An den permanenten Uringestank in Bangalore kann er sich nicht gewöhnen, und die indischen Sitten und Gebräuche bleiben ihm rätselhaft. Aber er ergattert in der indischen IT-Metropole einen spannenden Job mit viel Eigenverantwortung: Körner entwirft einen vertikalen Garten für eine Gebäudefassade. Fertig wird der Garten aber nicht, denn irgendwas fehlt immer. +Es ist, wie es immer schon war: Der Geselle wächst mit seinen Aufgaben. Eine Fotoausstellung organisieren oder Videos drehen – so was hat Körner nie zuvor gemacht. Auf seiner Reise tut er es und findet großen Gefallen daran. Dass Deutsche fast überall auf der Welt als besonders gut strukturierte Arbeiter gelten, hilft ihm übrigens bei der Arbeitssuche. +Die zweijährige Reise hat ihn verändert, schreibt Körner in seinem Buch. Vorurteile relativiere er heute stärker als früher, offener sei er insgesamt geworden – und viel entspannter in Geldfragen. "Als Journeyman habe ich bewusst und unbewusst Grenzen überschritten – und auch in Zukunft muss ich in Bewegung bleiben, will ich auf der Suche nach einem glücklichen Leben nicht in eine Sackgasse geraten […] Was bedeutet schon Karriere, was bedeutet Besitz? Auch ein Hamsterrad sieht von innen aus wie eine Karriereleiter." +Mitte 2012 zog Körner nach Berlin. In einem Interview mit dem Schweizer Tagesanzeiger rät er wankelmütigen Weltreisekandidaten, ein Flugticket zu lösen, das einen Termin in einem halben Jahr festlegt und nicht retournierbar ist. "In einem halben Jahr kann man sich seelisch und organisatorisch gut vorbereiten – und dann gibt es kein Zurück mehr." +Fabian Sixtus Körner: Journeyman. 1 Mann, 5 Kontinente und jede Menge Jobs (Ullstein 2013, 288 S., 14.99 €) +Fabian Sixtus KörnersReiseblog "Stories of a Journeyman" diff --git a/fluter/facebook-bilder-vom-alltag-in-syrien.txt b/fluter/facebook-bilder-vom-alltag-in-syrien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a4602d6d0f38e4ea1564fb671630d38fdc63eeda --- /dev/null +++ b/fluter/facebook-bilder-vom-alltag-in-syrien.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Einfach wild drauf los? +Ja. Die Idee, aus der Sammlung ein Buch zu machen, kam erst später. + +Wer durch Ihr Buch "Out of Syria, inside Facebook" blättert, scrollt sich quasi analog durch die Pinnwände von elf Syrerinnen und Syrern. Wie haben Sie die Personen ausgewählt? +Ich habe versucht, möglichst unterschiedlichen Leuten zu folgen. Frauen wie Männern, Jungen wie Alten, Usern mit geringem und mit großem politischen Interesse, welchen, die mit den Rebellen kämpfen und solchen, die Assad unterstützen. Das Buch soll keine politische Sichtweise transportieren, sondern aufzeigen, welche Wahrheiten es neben dem Krieg gibt: Was beschäftigt die Syrer? Was machen sie? Was essen sie? +Es überrascht, dass Menschen inmitten eines Krieges Fotos von ihrem Essen posten. Überhaupt ist das Buch eine wilde Mischung: Neben Bildern von verletzten Kindern, zerstörten Häusern und schwer Bewaffneten gibt es Fotos von Partys, von Hundewelpen und manikürten Fingernägeln. +Richtig. Weil das Menschen sind, die da in Syrien leben. Egal, was sie denken, was sie glauben, oder welche politischen Interessen sie haben – die meisten kämpfen einfach dafür, einen möglichst normalen Alltag zu haben. + +Bis auf eine Person haben Sie alle User auch offline kennengelernt. Wie sehr spiegeln die Fotos die Realität wider, in der sie leben – wie sehr ihren Wunsch nach Normalität? +Ich kannte die meisten schon vor dem Krieg, weiß, wie sie gelebt und was sie gepostet haben. Trotzdem ist diese Frage schwer zu beantworten. Der Kämpfer, der sich mit seinen Waffen fotografiert und zeigen will, wie männlich und stark er ist – er zeigt Realität. Die 22-Jährige, die ihre Maniküre fotografiert – auch sie zeigt Realität. Auffällig ist: Viele von den Usern hatten vor 2011 kaum was gepostet, vielleicht mal einen Spruch oder ihren Spielstand bei einem Onlinegame oder so. Auf einmal aber posteten sie massenweise Fotos. +Weil Fotos in Kriegszeiten besonders wichtig sind? +Ja. Sie dokumentieren: "So sehe ich aus, so sah mein Leben aus und so sieht es jetzt aus." +Manche der Bilder wurden direkt nach Luftbombardements gepostet. Wie unterscheiden sich die Reaktionen von Usern auf schlimme Nachrichten? +Da reagieren Menschen sehr, sehr ähnlich. Sehr oft posten sie Fotos aus ihrer Kindheit. Als zum Beispiel Palmyra vom IS zerstört wurde, teilten viele ihre persönlichen Erinnerungen an die Stadt: Fotos von Ausflügen etc. Ich kenne das auch von mir selbst: Als das Haus meiner Familie in Damaskus zerstört wurde, bat ich meine Verwandten, mir Fotos zu schicken, auf denen ich als Kind in dem Haus zu sehen bin. Die habe ich dann gepostet. Ich glaube, es ist einfach wichtig, sich an Zeiten zu erinnern, die gut waren. +Sie selbst leben seit 2008 in Deutschland, waren aber diesen Winter für vierzig Tage in Damaskus. Wie haben Sie den Alltag dort wahrgenommen? +Es war absurd. Als ich in Damaskus war, wurde die Hauptwasserquelle erst vergiftet und dann bombardiert. Schließlich bekamen wir Wasser von umliegenden Orten – für zwei Stunden alle vier Tage. In Damaskus leben zwischen acht und zehn Millionen Menschen. Wie geht Alltag, wenn es kaum sauberes Wasser gibt? Wenn man stunden- oder tagelang keinen Strom hat, wenn die Preise für Lebensmittel ständig steigen? Doch die Syrer gehen arbeiten. Wo möglich, besuchen sie Schulen und Unis. Ich selbst hab an einer Hochschule einen Grafikdesign-Workshop geleitet. +Wie geht man damit um, wenn man morgens nicht weiß, ob man abends wieder zurück nach Hause kommt? Schließlich wurden seit Beginn des Krieges Hundertausende Menschen getötet, die Lebenserwartung sank um 20 Jahre. +Die meisten Syrer haben keine Angst mehr um sich selbst, nur noch um ihre Angehörigen. Sie sind sehr mutig geworden und viel unterwegs. + +Wie verbringen die jungen Leute in Damaskus ihre Freizeit? +Sie gehen ständig – wirklich jeden Abend – in Bars. Und nicht nur frühabends, sondern bis zwei oder drei Uhr morgens. Wenn sie unterwegs sind, wenn sie tanzen, wenn sie trinken und essen, dann denken sie nicht mehr an den Krieg. In Damaskus gibt es auch immer noch Theater und Kinos. Ich habe mir gleich zwei Filme angeschaut, als ich zu Besuch war. + +Alle Fotos aus dem Buch "Out of Syria, inside Facebook". + +Dona Abboud, 34, ist Typografin und lebt in Leipzig. Von 2011 bis 2016 studierte sie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst. Der Fotoband "Out of Syria, inside Facebook" war ihre Abschlussarbeit. Nächstes Jahr plant sie, ihr Studium als Meisterschülerin zu beginnen. diff --git a/fluter/facebook-daten-haugen.txt b/fluter/facebook-daten-haugen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a03edcd6147f47a5fba23acf375a67938eb88ac7 --- /dev/null +++ b/fluter/facebook-daten-haugen.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Sie verließ den Konzern im Mai 2021. Im Gepäck Tausende von abfotografierten internen Dokumenten, die sie dem "Wall Street Journal" sowie den US-Behörden übermittelte und die als "Facebook Papers" und "The Facebook Files" bekannt werden sollten. +Um die Erkenntnisse aus den Facebook Papers zu begreifen, muss man verstehen, wie Meta zu seinen 118 Milliarden US-Dollar Umsatz in 2021 kommt. Die Plattformen Facebook und Instagram verdienen Geld mit Anzeigen. Je mehr Zeit User auf einer Plattform verbringen, desto mehr Werbung kann ihnen angezeigt werdenund desto mehr Datenkönnen über sie gesammelt werden, um die Werbung noch zielgerichteter zu schalten. Also tut Meta alles dafür, Userinnen und User so lange wie möglich auf seinen Plattformen zu halten. +Der zentrale Zuarbeiter dafür ist der Algorithmus, der merkt, welche Inhalte die meiste Aufmerksamkeit bekommen, und diese dann vermehrt ausspielt. So finden extreme und polarisierende Posts und Videos auf Facebook eine deutlich schnellere Verbreitung und bringen weitere hervor. Lange ­hat Facebook zum Beispiel Posts, auf die mit Wut-Emojis reagiert wurde, fünfmal so hoch gerankt wie andere Reaktionen. Am Ende kann sich durch die stetige Polarisierung sogar die politische Landschaft verändern, wie eine in den "Facebook Papers" enthaltene interne Studie zeigte: Politikerinnen und Politiker setzen vermehrt auf extreme Positionen, weil diese mehr Menschen erreichen. +Die wichtigste Erkenntnis aus den "Facebook Papers": Meta weiß sehr genau, wie seine Plattformen der Öffentlichkeit schaden. Und: Meta kennt durchaus Strategien zur Erhöhung der Sicherheit, setzt sie jedoch nicht ein, um den Gewinn nicht zu schmälern. +Die Papers liefern unzählige Beispiele dafür: Meta wusste um die Existenz von Facebook-Seiten, auf denen Menschen wie Sklaven gehandelt wurden, ging aber zunächst nicht gegen sie vor. Meta kennt laut eigener Studien auch die psychischen Folgen, die Instagram insbesondere bei Teenagern anrichten kann – hat diese Ergebnisse dennoch nie geteilt und die Risiken in der Öffentlichkeit heruntergespielt. Meta änderte den Facebook-Algorithmus während der US-Wahlen 2020, um politischen Missbrauch zu verhindern – machte die Änderungen danach aber wieder rückgängig. +Der Konzern erreicht mit 2,8 Milliarden Menschen täglich rund 60 Prozent aller Internetnutzer weltweit. Was Frances Haugen große Sorgen bereitet, sind die fehlenden Sicherheitsstrategien in vielen nicht englischsprachigen Ländern. Für die Menschen dort stellen die Meta-Plattformen das gesamte Internet und die einzigen Kommunikationskanäle dar. Dies alles, so Haugen, sei erst der Anfang, wenn man jetzt nicht eingreife. Dabei hat sie die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sich Facebook selbst zum Besseren ändern könnte. Mark Zuckerberg habe die Macht, es zu tun. Und es würde nicht nur das Leben von Milliarden Menschen glücklicher machen, sondern ihn vielleicht auch. diff --git a/fluter/facebook-datenschutz-alternativen-europa.txt b/fluter/facebook-datenschutz-alternativen-europa.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a498964d63fbf0a82ac96d0ac8dc2c7009b18fbb --- /dev/null +++ b/fluter/facebook-datenschutz-alternativen-europa.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Doch allen Skandalen zum Trotz bleibt Facebook in Deutschland bislang von Austrittswellen verschont. Allerdings ist es bei den Unter-30-Jährigen zuletzt immer unbeliebter geworden, während Nutzende bei den Über-30-Jährigen dazukommen. Dass es zu keiner Massenflucht kommt, ist auch mit dem sogenannten Netzwerkeffekt zu erklären: Je mehr Menschen eine Plattform nutzen, desto mehr Menschen zieht sie an. Und hat man erst mit all seinen Leuten auf Facebook oder WhatsApp Kontakt, ist es schwer, sich zu verabschieden. Man könnte plötzlich bei einem anderen Anbieter allein sein. +Schon deswegen müsste eine europäische Alternative, die nicht dem Gewinnstreben eines Konzerns dient und Wert auf Datenschutz legt, sehr schnell sehr groß werden. Und die Konkurrenz, die quasi ein Monopol besitzt, entsprechend kleiner und unattraktiver. Tatsächlich fordern immer mehr Politiker und Politikerinnen in den USA – aber auch in Europa –, den Konzern Meta aufzuteilen. Facebook, Instagram und WhatsApp sollen getrennt werden – so wie es ursprünglich war, bevor Facebook die Unternehmen aufkaufte. +Um eineFacebook-Alternativeaufzubauen, braucht es zunächst mal Geld. Eine Idee ist eine Art Gebührenfinanzierung wie bei ARD und ZDF. Jeder zahlt also monatlich einen gewissen Betrag für die Nutzung. Bereits vor drei Jahren hat der Politikberater Johannes Hillje ein Buch mit dem Titel "Plattform Europa" veröffentlicht. Hillje glaubt an eine europäische Plattform, die den großen US-Konzernen einen öffentlichen und gemeinnützigen Kommunikationsraum entgegensetzt. Die Vision: ein Kanal mit Nachrichten, einer fürs Streamen von Serien, einer fürs Interagieren, Debattieren und Kennenlernen sowie einer, der praktische Apps für eine europaweite Jobsuche anbietet. Finanzieren könnte man dieses Euro-Facebook auch durch eine EU-Digitalsteuer. + +Ein kleines Büro neben einem Supermarkt in der irischen Provinzstadt Portarlington: So sieht der Hauptsitz der irischen Datenschutzbehörde (DPC) aus, eine der wichtigsten europäischen Institutionen, wenn es um Datenschutz geht. Weil Konzerne wie Facebook oder Google ihren Europasitz in Dublin, der Hauptstadt des Niedrigsteuerlandes Irland, haben, ist die DPC für die Beschwerden von knapp 450 Millionen Europäern zuständig. Kritiker werfen ihr allerdings vor, dass sie eher die Interessen von Facebook vertritt. Beschwerden würden gar nicht oder sehr langsam bearbeitet, sagt etwa der Jurist Max Schrems, der schon als Student Facebook klagte. Die NGO "noyb" veröffentlichte Dokumente, denen zufolge sich die DPC sogar dafür einsetzte, dass Unternehmen wie Facebook in Europa auch ohne Einwilligung Daten für Werbe-zwecke sammeln dürfen. + +Gebühren oder Steuer – bei beiden hätten staatliche Institutionen das Sagen. Dabei war das Internet mal als Raum gedacht, der weder von Regierungen noch von Konzernen dominiert wird. Deswegen würde Matthias Kettemann vom Leibniz-Institut für Medienforschung in Hamburg eine neue Plattform lieber ohne den Staat aufbauen, ähnlich wie Wikipedia. Das Onlinelexikon finanziert sich aus Spenden und lebt davon, dass Millionen Menschen kostenlos Inhalte liefern – einfach aus dem Glauben heraus, dass das Internet allen gehören solle und nicht nur einer Handvoll Milliardäre aus dem Silicon Valley. +Bleibt die Frage: Wie gewinnt man viele Menschen für eine neue Plattform? "Ich stelle mir das schwierig vor, vor allem, wenn es nicht organisch gewachsen ist. Selbst Facebook hat Zeit gebraucht", sagt Kettemann. Der SPD-Digitalexperte Jens Zimmermann fürchtet, dass zu wenige bereit wären, für das Angebot zu bezahlen. "Wenn es darum geht, 100 Euro einzuzahlen, heißt es: Ich warte erst mal, so schlecht ist Facebook ja auch nicht." +Dass es Meta in Zukunft auch ohne Konkurrenz nicht mehr so leicht haben wird, könnte an zwei EU-Verordnungen liegen, die gerade auf den Weg gebracht wurden. Der "Digital Markets Act" (DMA) soll Quasi-Monopolstellungen wie bei Meta, Google oder Amazon verhindern. Die marktbeherrschenden Konzerne dürfen künftig eigene Angebote nicht mehr gegenüber Konkurrenten begünstigen und müssen klar definierte Verbote und Verpflichtungen einhalten. In bestimmten Situationen müssen sie kleineren Unternehmen die Zusammenarbeit mit ihren eigenen Diensten erlauben und Schnittstellen zur Verfügung stellen. Start-ups sollen so leichter Marktzugang erhalten und vor Aufkäufen geschützt werden. Der "Digital Services Act" (DSA) wiederum soll Verbraucherinnen und Verbraucher schützen – vor der Verletzung ihrer digitalen Rechte, aber auch vor dem sogenannten Targeting. So heißt gezielte Werbung, die einem aufgrund der Analyse persönlicher Posts und Angaben zur Person gezeigt wird. +Mit der Verordnung will die EU noch ein weiteres Problem angehen: Hetze und Populismus sollen eingedämmt werden. Dafür sollen die dominierenden Plattformen in regelmäßigen Abständen Risikobewertungen in eigener Sache abgeben – zum Beispiel zu Menschenwürde, Geschlechtergerechtigkeit und Jugendschutz. Schließlich sollen Forscher und Forscherinnen anonymisierte Nutzerdaten analysieren können, um Desinformationen und Fake News zu unterbinden. Bei Verstößen sind empfindliche Bußgelder geplant. Der "Digital Markets Act" sieht Geldstrafen von bis zu zehn Prozent des weltweiten Jahresumsatzes oder Zwangsgelder in Höhe von bis zu fünf Prozent des durchschnittlichen Tagesumsatzes vor, der "Digital Services Act" Geldbußen von bis zu sechs Prozent des Jahresumsatzes. +Auf diese Gesetze, die frühestens 2023 in Kraft treten dürften, schaut man auch in den USA. Längst gilt Europa weltweit als Vorreiter in Sachen Daten- und Verbraucherschutz. Bereits das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz hat weltweit Aufsehen erregt, weil dadurch Plattformen für strafbare Inhalte zur Verantwortung gezogen werden. +Was Gesetze allerdings nicht können: die Angst lindern, dass man den Kontakt zu seinen Freunden und Freundinnen verliert, wenn man Facebook oder Insta kündigt. Eine Lösung dafür könnte im sogenannten Fediverse liegen – so bezeichnet man ein Netz von verschiedenen Diensten, die über Schnittstellen miteinander verbunden sind und so deren User und Userinnen untereinander verbinden. Kurz gesagt: Viele kleine Soziale Medien könnten dann ein großes, aber dezen­trales ergeben. Und kleine Alternativen zu den großen Plattformen gibt es schon etliche. Zum Beispiel Diaspora, ein Soziales Netzwerk ohne Werbung, das über verschiedene Server (Pods) verteilt ist und nicht unter der Kontrolle eines Unternehmens steht. Oder die Twitter-Alternative Mastodon, deren Software für alle einsehbar ist und die mehr Wert auf einen vernünftigen Umgangston legt – und konstruktive Beiträge. Was angesichts der Daueraufregung auf den üblichen Kanälen fast schon nach einer Marktlücke klingt. diff --git a/fluter/fahrradkuriere-new-york-arbeitskampf-video.txt b/fluter/fahrradkuriere-new-york-arbeitskampf-video.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..caf7f192d8a656f96fd3d5d1b90dde1c1ced1725 --- /dev/null +++ b/fluter/fahrradkuriere-new-york-arbeitskampf-video.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Recherche und Übersetzung: Katharina Wojczenko +Co-Produktion: Kai Jandial diff --git a/fluter/fake-accounts-rezension.txt b/fluter/fake-accounts-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..016ade5f892d2fad5cc84a957fe7ca0e27a43e15 --- /dev/null +++ b/fluter/fake-accounts-rezension.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Die Erzählerin ist sich ihres Status als Erzählerin sehr bewusst: Ab und an durchbricht sie die "vierte Wand" und spricht ihre Leser*innen direkt an – ein Kniff, der den Text merklich auflockert und gerne öfter hätte passieren können. Außerdem gibt es eine Art Chor von (unsympathischen) Ex-Freunden, die Einspruch erheben, wenn ihnen die Entscheidungen der Erzählerin nicht gefallen. Abgesehen davon findet Oyler in "Fake Accounts" einen sehr lakonischen Ton, der mit seinen schellen Pointen dem Stil von Tweets ähnelt, etwa wenn sie schreibt: "Ein Orgasmus kann durchaus etwas Ironisches haben, vor allem, wenn er dramatisch ist." +Ja, eigentlich schon. "Fake Accounts" ist endlich mal ein Roman über das Internet, bei dem man als Leser*in nicht das Gefühl bekommt, der oder die Autor*in sei für das Buch zum ersten Mal im Leben auf TikTok gewesen. Und das Buch ist witzig, denn die Erzählerin drückt sich nicht davor, über ihr eigenes Leben oder das von anderen zu urteilen. Etwa wenn sie ihre Dates in schlechten Berliner Bars beschreibt, zum Beispiel mit einem französischen Projektmanager: "Geschäftsmäßig, in einem knackig frischen Hemd, für das ich mir extra Friedas Bügeleisen ausgeliehen hatte, fragte ich ihn über das Projektmanagement aus, als wüsste ich nicht, dass es kompletter Bullshit war." Oyler identifiziert außerdem Mechanismen des Digitalen, die problematisch sind, wie zum Beispiel die Verkürzung von Standpunkten auf ihr Erregungspotenzial – so weit, so kulturkritisch. Allerdings denkt man sich irgendwann: Es wäre auch interessant, mal eine Kulturkritik zu lesen, in der es den Figuren gelingt, einen Weg aus dem Spiegelkabinett der sozialen Medien heraus zu finden – sollte es denn einen geben. +Um zu den wirklich interessanten Beobachtungen vorzudringen, muss man schon einen langen Atem beweisen und sich durch viele Seiten apathischer Selbstbetrachtungen der Erzählerin quälen. Die polemische Kulturkritik ist Oyler definitiv besser gelungen als die literarische Handlung. Das ist nicht überraschend, denn Oyler wurde in US-amerikanischen Medien als (vernichtende) Literaturkritikerin bekannt. +… ist einer, den Lauren Oyler über Berlin schreibt: "Das Licht tauchte alles in einen unheimlichen Schieferton, egal zu welcher Tageszeit, als hätte es immer gerade geregnet oder als hätte man immer gerade geweint." +… alle Menschen, die es noch nicht geschafft haben, ihre Bildschirmzeit einzuschränken. Nach der Lektüre vergeht einem die Lust, sein Leben auf nie enden wollenden Newsfeeds zu verschwenden. + +Titelbild: David Avazzadeh diff --git a/fluter/fakenews-erkennen-tipps.txt b/fluter/fakenews-erkennen-tipps.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..590101049e15ceb20bd30ad782a13c66f60eafb4 --- /dev/null +++ b/fluter/fakenews-erkennen-tipps.txt @@ -0,0 +1,41 @@ +Eine Sprachnachricht in einer Chatgruppe: Laut einer Studie der Uni Wien ist das Schmerzmittel Ibuprofen gefährlich beiCovid-19. Oder eine Info bei Instagram: Gegen das Coronavirus hilft ein Schluck Wasser alle 15 Minuten. Stimmt das? + + +Der Tipp mag billig erscheinen, reicht aber oft schon: Googeln, ob es bereits Infos zu dieser Sache gibt. Vielleicht findet man ja eine Seite, die die Hintergründe erklärt und womöglich schon einen Fake enttarnt. Dann kann man sich eigene Mühen sparen. Also einfach die Überschrift oder ein, zwei relevante Stichworte plus ggf. "Fake", "Faktencheck" oder "Fact-Checking" in die Suchmaschine eintippen. Doch auch hier ist Vorsicht geboten: Nicht jede Seite vermittelt seriöse Fakten, die beste Informationsgrundlage bieten immer noch die gängigen Nachrichtenseiten. Oder man schaut direkt bei Portalen nach, die Online-Infos überprüfen, zum BeispielCorrectiv,Mimikamaoder derTagesschau-Faktenfinder. Beide Nachrichten stimmen übrigens nicht. + +In den vergangenen Monaten machte eine brisante Meldung die Runde: Es würden Medikamente ins Trinkwasser gemischt, um die Bevölkerung ruhig zu halten. So stand es angeblich in der Zeitung "Die Welt". +Ob die Meldung inhaltlich plausibel ist, sei mal zweitrangig. Aktuell kann sie jedenfalls nicht sein: Eine "große Konferenz", wie darin erwähnt, hat es seit Beginn der Corona-Beschränkungen mit Sicherheit nicht gegeben. +Und: Egal, ob wir auf der Seite welt.de suchen, bei Google (site:welt.de in den Suchschlitz eingeben) und zur Sicherheit auch noch in einem Pressearchiv wie Genios: Es gibt überhaupt keinen solchen Artikel im "Welt"-Archiv. Aber was, wenn die Meldung dort nachträglich entfernt wurde? + + +Es hilft ein genauerer Blick. Dass dieser Beispielartikel eine Fälschung ist, lässt sich schon aus rein formalen Gründen belegen: +– Die Überschrift "Sicheres Vermögen" passt gar nicht zum Inhalt der Meldung. Die Fake-Meldung wurde offenbar nachträglich eingefügt. +– Das Wort "groß" ist fälschlicherweise mehrfach mit Doppel-s geschrieben. Das kann passieren, ist aber vergleichsweise unwahrscheinlich. +– Auch der Schreibstil entspricht nicht dem nüchternen Nachrichtenton einer Tageszeitung. Besonders die Wendung "… berichtete bei einer vertraulichen Plauscherei … unvorsichtigerweise hinter vorgehaltener Hand" würde bei diesem Medium vermutlich nicht erscheinen. Also: Kurz überlegen, ob die Nachricht zum sonstigen Publikationsstil passt. + +Wenn du per Link auf eine Webseite geleitet wirst, ist es ratsam, die genau anzuschauen. Was für Informationen verbreitet sie sonst? Ist es vielleicht eine Satireseite? Wenn es kein richtiges Impressum mit Ansprechpartner und Postadresse gibt, handelt es sich in der Regel um keine seriöse Quelle. Auch hier der erste Schritt: den Namen der Seite googeln, vielleicht hat sich schon mal jemand mit ihr auseinandergesetzt. + +Diese "Nachrichten"-Seite gibt keine verantwortliche Person an und lediglich eine Briefkastenadresse in Kanada + +Oft hilft es auch, die URL anzuschauen, also die genaue Adresse der Seite. Fake-News-Seiten ähneln oft denen seriöser Medien, haben aber kleine Unterschiede im Namen. MitArchive.orglassen sich ältere Versionen einer Webseite betrachten: Hat die Seite schon länger Nachrichten verbreitet oder doch eher Quatsch und Lügen? + +Screenshots sind sehr leicht zu fälschen. Deshalb ist es wichtig, immer zu überprüfen, ob ein Post auch wirklich vom genannten Social-Media-Profil stammt. +Schwieriger ist es natürlich, wenn der Post inzwischen wieder gelöscht wurde. Dann genau hinschauen, wer den Screenshot verbreitet. Wenn ein*e seriöse*r Journalist*in sagt, den Screenshot selbst gemacht zu haben, spricht erst mal wenig dafür, dass das nicht stimmt.Schau also, dass du bei Screenshots aus Social Media den Originalpost im entsprechenden Account findest. Im folgenden Fall würde man also auf Trumps echten Twitteraccount gehen (mit dem blauen Haken-Symbol verifiziert) – und den Tweet nicht finden. + +Ist ein Profil mit einem blauen Häkchen dekoriert? Dann handelt es sich mit großer Sicherheit um einen verifizierten Channel – wie zum Beispiel fluter.de + +Auch wenn der Account nicht verifiziert ist, gibt es Wege, seine Echtheit zu überprüfen. So zum Beispiel beim Telegram-Account des KochbuchautorsAttila Hildmann, der zuletzt vor allem mit Verschwörungsnarrativen aufgefallen ist. Sein Telegram-Kanal ist nicht verifiziert, aber auf seiner Facebook-Seite verlinkt, und diese ist mit dem blauen Hakensymbol verifiziert. Es ist also wirklich seiner. +Aber aufpassen: Selbst Accounts mit dem blauen Hakensymbol können Fake sein. Bei Twitter ist es zum Beispiel so, dass der Haken aberkannt wird, wenn der Benutzername ("Twitter handle") geändert wird. Wird lediglich der angezeigte Name geändert, bleibt der Verifizierungshaken erhalten. +Ein Redakteur des Satiremagazins "Titanic" nutzte diesen Trick, um die Medienwelt vorzuführen. So verbreitete etwa ein vermeintlicher Account des Hessischen Rundfunkseine erfundene Nachricht. In diesem Fall hätte man das leicht merken können: Man musste nur bei den Tweets ein bisschen zurückscrollen, um welche mit ganz anderem Inhalt zu finden. Auch eine simple Google-Suche nach dem Accountnamen hätte geholfen, den Fake zu enttarnen: Da tauchte nämlich gleich der Name des "Titanic"-Redakteurs auf. + + + +Nur: Sind das überhaupt Särge mit Corona-Toten? +Das lässt sich schnell herausfinden: Mit einer sogenannten Rückwärts-Bildersuche. Die funktioniert bei allen großen Suchmaschinen, beispielsweise Google, Bing oder Yandex (da die Suchmaschinen unterschiedlich funktionieren, sollte man im Zweifel alle durchprobieren). Einfach bei der Bildersuche auf das Kamerasymbol klicken, das Bild als Datei hochladen oder den Link zum Bild eingeben. (Es gibt auch Add-ons für den Browser, mit denen die Rückwärtssuche noch einfacher funktioniert.) +Verdammt wahr: unserNewsletter +Schon werden andere Veröffentlichungen des Bildes angezeigt: Die Särge hier wurden beispielsweise schon 2013 fotografiert, nach einem Schiffsunglück vor der italienischen Insel Lampedusa. +Auch gefälschten Social-Media-Profilen kommt man mit diesem Trick schnell auf die Schliche, weil die Profilfotos oft von einer realen Person geklaut wurden. Es kann auch helfen, nach einer gespiegelten Version des Fotos zu suchen, weil manchmal auf diese Weise verschleiert werden soll, wo das Foto herkommt. +Profitipp: Ähnlich wie Fotos lassen sich auch YouTube-Videos verifizieren. DerYouTube Dataviewervon Amnesty International untersucht Videoplattformen nach identischen Inhalten und liefert alle wichtigen Metadaten. + +Kurz nachdenken, das ist schon der halbe Faktencheck. Wie wahrscheinlich ist es, dass eine anonyme Person per Sprachnachricht oder Post brisante Infos verbreitet, die sonst nirgends stehen? Es könnte eine spektakuläre Nachricht sein – ist meist aber schlicht erfunden. Wenn ein neuer Social-Media-Account überraschende Breaking News verkündet, wurde der Account in den meisten Fällen nur angelegt, um diese falsche Nachricht zu verbreiten. Immer wieder fallen auf solche Posts auch seriöse Medien herein – aber du jetzt hoffentlich nicht mehr. + diff --git a/fluter/faktenwissen-menstruation-periode.txt b/fluter/faktenwissen-menstruation-periode.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..802fe91a7ad5ded32f9621725def3c085e5e190d --- /dev/null +++ b/fluter/faktenwissen-menstruation-periode.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Schottland hat im August den"Period Products Act"verabschiedet. Das Gesetz schreibt fest, dass in städtischen Einrichtungen, in Schulen und Universitäten kostenlos Menstruationsartikel zur Verfügung gestellt werden müssen. +Sonnenscheinhat einen Einfluss auf die Periode. Das besagt eine Studie aus dem Jahr 2011. So könne die Periode im Winter länger andauern und auch stärker ausfallen als in den sonnenreichen Sommermonaten. +UtopieMenstruationsurlaub? Vergangenheit. In immer mehr Ländern, wie etwa Indonesien oder Taiwan, sindzusätzliche Urlaubs­tage für Menstruierendedie Realität. Diese sollen verhindern, dass Frauen mit Schmerzen und Krämpfen auf der Arbeit erscheinen oder sich krankmelden müssen. +Vom Tabuthema zurSuperpower– zwar ist die Periode für jede anders, aber so richtig freuen kann frau sich in der Regel nicht, wenn sie sich wieder einmal mit Unterleibskrämpfen, PMS und Abgeschlagenheit plagt. Dennoch kommt in der Self-Care-Blase aktuell ein Trend auf, der die Periode als Superpower neu besetzen will. Achtsamkeit, Austausch und Umdeutung sind die Schlagworte, um sich selbstbewusst und konstruktiv mit der eigenen Menstruation auseinanderzusetzen. +Durch den niedrigen Progesteronspiegel im Blut kann derSchlaf vor der Menstruationbesonders unruhig sein. Frauen wachen dann häufiger in der REM-Schlafphase auf – und erinnern sich daher eher an ihre Träume. +Der Zyklus hat Einfluss auf diesportliche Leistungsfähigkeit. Eine gute Zeit für intensives Training ist direkt nach der Periode. Direkt vor und während der Periode sollten es Menstruierende eher locker angehen lassen. +Während der Periodeverändern sich derEigengeruchund sogar dieStimme. Das wiederum hat Auswirkungen auf den männlichen Testosteronspiegel. + +Titelbild: TikTok @mr_oguz / TikTok @getsomedays / TikTok @thepasinis diff --git a/fluter/falsche-verehrung.txt b/fluter/falsche-verehrung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..11b8bc917c48d641f884e9c2deb43315b68bb493 --- /dev/null +++ b/fluter/falsche-verehrung.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Ende August landete ich hier, in einem Land, über das ich kaum etwas wusste: Entsprechend verwirrt war ich zu Beginn. Nicht von den quirligen, bunten Märkten und der fremden Sprache – das alles habe ich erwartet, doch da waren andere Dinge, die ich nicht verstand: Warum stehen in vielen Modegeschäften weiße Schaufensterpuppen? Warum wird mir im öffentlichen Minibus der komfortabelste Platz vorne angeboten? Mich verstörte diese scheinbare Ehrfurcht gegenüber allem Europäischen, Amerikanischen, Westlichen. Ich verstand diese Haltung nicht, aus der oft große Bewunderung zu sprechen schien: Warum werden in Ghana – einem Land, in dem sich nur eine absolute Minderheit als weiß betrachtet – Produkte von Menschen mit heller Haut beworben? Sollte helle Haut, wenn man an die lange, grausame Kolonialgeschichte denkt, nicht eher negative Gefühle auslösen? +"Madam, when you go back to Germany – can you take me there?" +Ich brauchte einige Zeit, bis sich meine anfänglich extreme Wahrnehmung relativiert hatte, bis ich verstand, dass manche Dinge auch ganz einfache Gründe haben. Die Schaufensterpuppen stammen aus Europa und werden günstig importiert, wenn sie für die dortigen Boutiquen wegen ihrer Gebrauchsspuren nicht mehr hübsch genug sind. Und der vordere Platz im Bus war eben gerade frei. Dennoch ist das, was ich zu Beginn verstärkt wahrgenommen habe, im Kern wahr: Viele Menschen in Ghana verbinden Europa mit einem scheinbar unbekümmerten Leben, mit Wohlstand und Sorglosigkeit. +Auch die Schüler in meiner Schule scharen sich in der Pause gern um europäische Zeitschriften, die ihnen Verwandte aus dem Ausland zukommen lassen. Und oft kommt dann die Frage an mich: "Madam, when you go back to Germany – can you take me there?" Von Dingen wie Asylbewerberheimen, der Residenzpflicht, zähen Anerkennungsverfahren, rechtsextremen Parteien und Gewalt gegen die Menschen, die in Asylbewerberheimen leben, wissen sie nichts. Wie auch: Die Alltagsmedien, vor allem das Fernsehen mit seinen billig produzierten mexikanischen TV-Serien, berichten unkritisch und geben der Sehnsucht nach einem Leben in der Ferne nur mehr Nahrung – oder erwecken sie erst. +Um die Schüler besser zu informieren, habe ich nach einer Weile begonnen, Workshops in den höheren Klassen durchzuführen. In etwa zehn Unterrichtseinheiten sprechen wir über Fluchtgründe und -wege, Europas Asylpolitik, das deutsche Asylverfahren, über Lampedusa, Frontex und Dublin II. Ich zeige auf meinem Laptop Bilder von überladenen Schlauchbooten und elektrischen Grenzzäunen. Wir lesen gemeinsam die erschütternde Geschichte des Flüchtlings Farid von der Elfenbeinküste. Ich lasse die Vorlauten der Klasse die Worte "Duldung" und "Residenzpflicht" aussprechen und schaue in manchmal etwas verwirrte, meist aber interessierte Gesichter. +Mit diesen Workshops möchte ich die Leute ein bisschen über meine Heimat aufklären und ihr oft eindimensionales Bild von Europa durch ein wenig mehr Realismus anreichern. Und ich hoffe, durch das differenziertere Bild von Europa ihr Selbstwertgefühl und ihren Stolz stärken zu können – den Stolz auf ihr Heimatland, in dem es sich doch gar nicht so schlecht leben lässt. "Bei all euren Vorstellungen von Europa, bitte vergesst nie, was ihr in Ghana habt", pflege ich in der letzten Einheit zu sagen. "Hier habt ihr eure Familie und Freunde, euer Wetter, eure Kultur, euer Essen. Bitte glaubt mir: Europa kann auch sehr grau, kalt und fremd sein. Ich möchte euch nicht entmutigen – wenn ihr die Möglichkeit habt, zu reisen, andere Länder und Kulturen kennenzulernen, tut das, es ist wunderbar! Aber bitte, versucht es nicht auf dem illegalen Weg, nicht um jeden Preis." +Entwicklungshilfe – ein arrogantes Wort, in dem so viel Belehrung mitschwingt +Dabei wäre es doch so einfach, den Menschen zu einem differenzierteren Bild von Europa zu verhelfen: Sie müssten es bloß mit eigenen Augen sehen. Und an diesem Punkt hadere ich manchmal mit meiner privilegierten Position, wenn ich vor einer Klasse stehe und von Deutschland erzähle: Ich beantworte neugierige Fragen, ich blicke in überraschte Gesichter, die kaum glauben können, dass es bei uns so kalt werden kann, dass Wasser gefriert, oder dass wir neben Weißbrot auch dunkles Brot essen – diese wissbegierige Neugier der Schüler ist herzerwärmend und wohl derjenigen sehr ähnlich, die ich selbst für Ghana verspürt habe, bevor ich hierherkam. Doch im Gegensatz zu meinen Schülern war es mir möglich, sie zu befriedigen, eine fremde Kultur kennenzulernen und zu verstehen, was den meisten Ghanaern wohl verwehrt bleiben wird. +Ich denke, die Idee des interkulturellen Austauschs und Dialogs ist eine schöne Sache. Jedes Jahr kommen viele deutsche Freiwillige nach Ghana. Doch wie viele Ghanaer haben ihrerseits die Gelegenheit, irgendwann Deutschland zu besuchen? Wie viele Touristenvisa lehnt die Botschaft jeden Tag ab, mit Gründen, die ich persönlich nicht nachvollziehen kann? Wie können wir so stolz von Internationalität und multikulturellem Austausch sprechen, wenn sich all das in einer starren Einbahnstraße abspielt? +Dennoch halte ich meinen Aufenthalt hier nicht für komplett eigennützig, denn er ist immer noch besser als gar kein kultureller Austausch. Und Austausch ist besser als die alte Form von "Entwicklungshilfe": dieses gefährlich arrogante Wort, in dem so viel Mitleid und Belehrung mitschwingt. Zu Unrecht, denn Ghana braucht mich nicht – mich, eine 19-Jährige, die gerade mal ihr Abitur gemacht hat. Was Ghana meines Erachtens braucht, sind engagierte Ghanaer: Menschen, die Wissen über das eigene Land, die Kultur und Mentalität in sich tragen und wissen, welche Maßnahmen wirklich fruchten. Menschen, die mehr auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit bauen statt auf Abhängigkeit von und Angleichung an Europa. +Und genau denen begegne ich hier jeden Tag. Wir tauschen uns aus, lernen voneinander, lernen einander kennen. Einige von ihnen sind Weggefährten, einige gute Freunde geworden. Und sowohl für mich als auch für sie wird es immer leichter, müheloser und selbstverständlicher, sich zu verstehen. diff --git a/fluter/familie-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt b/fluter/familie-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/faq-enteignung.txt b/fluter/faq-enteignung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3ed4fbbe891e4775bd6de054b71a6ddd664bb76f --- /dev/null +++ b/fluter/faq-enteignung.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Ist zum Beispiel eine Stadtverwaltung der Ansicht, sie brauche ein Grundstück für ein wichtiges Projekt, muss sie dem Grundstücksbesitzer erst mal ein vernünftiges Angebot machen. Der Bauherr bespricht das Vorhaben mit dem Eigentümer und schlägt einen Kaufpreis vor, der sich am marktüblichen Preis orientiert. Dem muss der Grundbesitzer aber nicht direkt zustimmen und kann versuchen zu verhandeln. Sind sich beide Parteien einig, geht es wie bei einem normalen Grundstücksverkauf weiter. Der Besitzer zieht zum vereinbarten Zeitpunkt aus, und der Bauherr, also zum Beispiel die Stadt, beginnt mit den Abrissarbeiten. +Werden sich die beiden Parteien nicht einig oder die Eigentümer wollen schlicht nicht verkaufen, bleibt nur der Weg über eine Klage. Für große Vorhaben, bei denen eine Enteignung droht, gibt es aber sowieso immer erst einmal ein sogenanntes Planfeststellungsverfahren. In diesem Verfahren haben Betroffene die Möglichkeit, die Baupläne vorab einzusehen und sich dazu zu äußern. Im Verfahren wird unter anderem festgestellt, ob der Bauplan umsetzbar und das Vorhaben den Anwohnern zumutbar ist. Deswegen können Bürger, die für das Bauvorhaben ihr Grundstück abtreten sollen, genauso wie andere Anwohner dann alles auf den Tisch bringen: von der bedrohten Fledermausart, die dort vielleicht lebt, bis zum entstehenden Lärm für Anwohner oder mögliche Emissionen. Das Planfeststellungsverfahren kann von einigen Monaten bis zu einigen Jahren dauern. Am Ende steht, wenn die Verwaltung das Vorhaben für zulässig befindet, ein Planfeststellungsbeschluss. Der kann wiederum mit einer Klage angefochten werden. Weist das Gericht die Klage ab, weil alle Faktoren bereits berücksichtigt wurden und es keine Alternativen gibt, steht es schlecht für die Eigentümer. Aber egal wie das Gericht entscheidet – eine Entschädigung erhalten sie immer. +Weil das Allgemeinwohl über dem Recht auf Eigentum steht. Im Fall einer neuen Bahnverbindung müssten zum Beispiel viele Menschen auf eine deutlich schnellere Verbindung verzichten, wenn ein einziger Grundbesitzer sein Haus nicht verkaufen will und es wirklich keine andere Möglichkeit gibt, die Schienen zu verlegen. Das wäre verfassungswidrig. + + +Das Grundgesetz hat dazu beigetragen, dass zumindest in der Bundesrepublik Deutschland Enteignungen eher selten vorkamen. In der ehemaligen DDR hingegen fanden im Jahr 1953 Massenenteignungen statt. Unter dem Namen "Aktion Rose" enteignete die SED zahlreiche Hoteliers und Gastwirte an der Ostseeküste – laut SED-Unterlagen, um "Brutstätten des Imperialismus" zu zerschlagen. In den alten Bundesländern liegt die letzte Enteignungswelle länger zurück, nämlich in der Zeit des Deutschen Reiches unter NS-Herrschaft: Schon vor dem Novemberpogrom 1938 enteigneten die Nationalsozialisten viele jüdische Bürger, Händler, Grundstücks- und Immobilienbesitzer. Einige Großunternehmer wurden sogar per Haft zum Verkauf ihrer Firma gezwungen. Wanderten Juden zu dieser Zeit aus oder flüchteten in ein anderes Land, mussten sie ebenfalls ihr Vermögen abgeben. Aber Enteignungen im kleineren Stil sind immer noch üblich.Laut dem Berliner "Tagesspiegel" gab es zwischen 2009 und Mitte 2020 1.647 Enteignungsverfahren,um Autobahnen und Bundesstraßen zu bauen. 448 seien in dem Zeitraum abgeschlossen worden. +Obwohl der Name es anders vermuten lässt, geht es bei der Berliner Initiative, über die die Berlinerinnen und Berliner am 26. September abstimmen können, nicht um eine Enteignung, sondern juristisch gesehen um eine sogenannte Vergesellschaftung. Anders als beim Enteignen muss bei einer Vergesellschaftung ein komplettes Unternehmen neu ausgerichtet werden und fortan gemeinwohlorientiert, also nicht gewinnmaximierend, arbeiten. Die Initiative fordert den Berliner Senat per Volksentscheid dazu auf, "alle Maßnahmen einzuleiten, die zur Überführung von Immobilien in Gemeineigentum erforderlich sind".Darunter fallen unter anderem die Vergesellschaftung der Bestände aller privaten Wohnungsunternehmenmit über 3.000 Wohnungen im Land, eine nicht profitorientierte Verwaltung der Wohnungen und ein Verbot der Reprivatisierung dieser Wohnungen. Die Hoffnung der Unterstützenden ist, dass es so weniger Mietspekulationen auf dem Berliner Wohnungsmarkt gibt und dadurch dauerhaft bezahlbare Mieten. +Damit es überhaupt zu einemVolksentscheidkommt, muss vorher einVolksbegehrenerfolgreich sein, was der Initiative "Deutsche Wohnen & Co enteignen" Ende Juni gelungen ist. Für den Erfolg des Volksentscheids genügt nun eine Mehrheit an "Ja"-Stimmen, wobei mindestens 25 Prozent der Stimmberechtigten zugestimmt haben müssen (in diesem Fall etwa 613.000 Personen). +Die Initiative hat laut Rechtsexperten keine große Aussicht auf Erfolg. Zum einen müsste das Land voraussichtlich Milliarden Euro als Entschädigung zahlen. Zum anderen verbietet die Berliner Landesverfassung Vergesellschaftung – und über diesen Passus haben die Berliner Bürger sogar selbst im Jahr 1995 per Volksabstimmung abgestimmt. Zu groß war damals die Sorge, Ähnliches wie in der DDR zu erleben. Und: Selbst wenn die Berliner für die Vergesellschaftung stimmen, ist der Senat nicht an die Entscheidung gebunden, sondern hat lediglich den Auftrag erhalten, sich damit zu befassen. Wie es wirklich ausgeht, zeigt sich vielleicht schon Ende dieses Jahres. + diff --git a/fluter/faq-politik-in-schweden-vor-der-wahl.txt b/fluter/faq-politik-in-schweden-vor-der-wahl.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1d1ba3f5597deed19fc4bce5a21e71fc9abe3b8e --- /dev/null +++ b/fluter/faq-politik-in-schweden-vor-der-wahl.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Wenn man den Umfragen im Vorfeld glaubt – und Ungenauigkeiten gibt es immer, denn entscheidend ist, was am Wahltag wirklich passiert –, werden die großen Verlierer dieser Wahl die zwei ehemals größten Parteien sein: die Sozialdemokraten und die konservativen Moderaten. In den vergangenen Jahrzehnten haben sie fast immer den Regierungschef gestellt. Das Vertrauen der Bürger in ihre Fähigkeiten scheint zurückgegangen zu sein. Kehrtwenden wie bei der Flüchtlingspolitik untergraben die Glaubwürdigkeit, so der Politologe Tobias Etzold von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Das gilt besonders, wenn nicht klar diskutiert und kommuniziert wird, warum denn nun plötzlich eine vermeintlich ganz andere Politik die richtige sein soll. +Dunkle Wolken über Schweden – mit bunten Fahnen protestieren Demonstranten gegen eine Veranstaltung der Schwedendemokraten +Im Verhältnis zur Einwohnerzahl (10 Millionen) hat Schweden in der Hochphase der Flüchtlingsbewegung 2015 und 2016 europaweit die meisten Flüchtlinge aufgenommen. In den letzten Jahren ist die Migrationspolitik deutlich restriktiver geworden: Es gibt z.B. wieder Grenzkontrollen, der Familiennachzug für bestimmte Geflüchtete ist erschwert. +Die rechten Schwedendemokraten dürften der größte Gewinner von diesem Umschwung sein. Wahlkampf machen sie vor allem mit dem Thema "Integration", versprechen aber auch, viel für Rentner zu tun, und sprechen sich beispielsweise trotz steigender Lebenserwartung gegen ein höheres Renteneintrittsalter aus. Die kleineren liberalen und linken Parteien können ebenfalls mit einem höheren Stimmenanteil als bei der Wahl 2014 rechnen – auch weil sie sich klarer als die großen Parteien gegen die SD positionieren. Wer in Schweden an die Macht kommt, lassen auch die Umfragen noch nicht erkennen – und wird ohnehin erst am Wahltag entschieden. Aber die neue Regierung wird vermutlich eine Minderheitsregierung sein und die Unterstützung der Schwedendemokraten brauchen. +Anders als in Deutschland, wo der/die Kanzler/-in mit einer Mehrheit im Bundestag gewählt werden muss, gibt es in Schweden die sogenannte "Kanzlermehrheit" nicht. Der Regierungschef oder die Regierungschefin muss lediglich sicherstellen, dass es keine Mehrheit gegen ihn oder sie gibt. Nur eine geeinte Opposition kann eine Regierung stürzen. Denn bei derartigen Vertrauensabstimmungen zählen Enthaltungen nicht. Das System nennt sich "negativer Parlamentarismus". + + +Fotos: Espen Rasmussen/Panos diff --git a/fluter/fascho-fashion.txt b/fluter/fascho-fashion.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bccb2264c8c020ec585e19116958c8907e86ec8e --- /dev/null +++ b/fluter/fascho-fashion.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Die alten Bilder von Glatzköpfen mit Springerstiefeln und Baseballschlägern, die viele Medien noch immer heranziehen, wenn sie über Neonazis berichten, haben heute kaum noch etwas mit der Realität zu tun. Der martialische Skinhead-Kult mit seinen strengen Dogmen oder die uniformierten Braunhemden der Wiking- Jugend sprechen heute kaum noch Jugendliche an. Richtige Nazi-Skinheads sucht man bei rechtsextremen Aufmärschen inzwischen meist vergeblich. Modisch hat sich die rechtsextreme Szene in den vergangenen Jahren komplett gewandelt. Viele Neonazis sind an ihrem Äußeren kaum noch zu erkennen. Nur Eingeweihte können die Codes und Symbole auf ihren Buttons und T-Shirts entschlüsseln. An der rechtsextremen Ideologie, dem Hass auf Flüchtlinge, Juden und die Demokratie, hat sich jedoch nichts geändert, das alles wird jetzt nur anders verpackt. "Die jungen Neonazis suchen nach kulturellen Abgrenzungsmöglichkeiten gegen ihre als altbacken und klischeebeladen empfundenen Vorgänger", sagt der Politikwissenschaftler Christoph Schulze, der die Entwicklung der Szene seit Jahren beobachtet. "Sie wollen Zugang zu den Jugendszenen haben – das geht nur in einer frischen, unverbrauchten Verpackung." +Maßgeblich verantwortlich für das neue Auftreten sind die sogenannten Autonomen Nationalisten (siehe auch Seite 10). Dabei handelt es sich um eine Strömung von jungen, erlebnisorientierten und äußerst gewaltbereiten Nachwuchsnazis. Sie tauchten 2003 erstmals in Berlin und Dortmund auf. Als schwarzen Block mit Sonnenbrillen, Kapuzenjacken und Handschuhen inszenieren sie sich seither bei Nazi-Aufmärschen. Sie nutzen bewusst den Kleidungsstil, der bislang nur bei linken Autonomen zu sehen war. Es geht darum, zu provozieren und gleichzeitig ein popkulturelles Element zu etablieren, das auch bei nicht rechtsextremen Jugendlichen attraktiv ist. Bald tauchten Rechtsextremisten mit Che-Guevara-T-Shirts auf; die alten Transparente mit Frakturschrift wurden durch moderne Streetart-Motive und englischsprachige Parolen ersetzt. Über die Lautsprecherwagen liefen jetzt Lieder von Wir sind Helden und den Ärzten anstelle des dumpfen Rechtsrocks. Dass Che Guevara Kommunist war und Wir sind Helden genau wie die Ärzte erklärte Nazi-Gegner sind, wird einfach ausgeblendet. +Bei älteren Rechtsextremisten stieß das Auftreten der Autonomen Nationalisten anfangs auf harte Kritik. Als "undeutsch" und "entartet" empfanden einige die Abkehr von arischem Scheitel und völkischem Kitsch. Doch der offen ausgetragene Generationskonflikt innerhalb der Szene verschaffte den Autonomen Nationalisten weiteren Zulauf. Es dauerte nicht lange, bis sich auch der Rest der Szene mit dem Konzept anfreundete oder es zumindest duldete. Was vor neun Jahren als urbanes Phänomen einer kleinen Gruppe begann, hat sich heute als wichtiger und am schnellsten wachsender Teil des Spektrums etabliert. Der Verfassungsschutz geht derzeit davon aus, dass rund 20 Prozent der gesamten gewaltbereiten Szene den Autonomen Nationalisten zuzurechnen sind, Tendenz steigend. +Am stärksten profitiert hat von der Moderevolution des rechtsextremen Spektrums vermutlich die Marke Thor Steinar aus Brandenburg. Schon 2002 wurde Thor Steinar beim Markenamt eingetragen. Im Unterschied zu Marken wie Lonsdale oder Fred Perry, die aus normalen Sportgeschäften stammen und in den 90er-Jahren von Rechtsextremen vereinnahmt wurden, gab es Thor Steinar anfangs fast ausschließlich bei einschlägigen Nazi-Läden und Versandhäusern zu kaufen. Mit germanischen Runen, völkischer Symbolik und zweideutigen Motiven, wie "Weidmanns Heil" oder "Hausbesuche" mit einem Maschinengewehr darunter, machte sich die Marke schnell in der rechtsextremen Szene beliebt. Zwischenzeitlich war das Runenlogo aufgrund der Ähnlichkeit mit Symbolen aus dem Nationalsozialismus verboten. Die Polizei stellte Tausende T-Shirts und Pullover von Thor Steinar sicher, bis ein Gericht das Verbot wieder aufhob. Inzwischen ist Thor Steinar im Mainstream angekommen. Der Käuferkreis erstreckt sich weit über die rechtsextreme Szene hinaus. Allein 2006 machte die Marke einen Jahresumsatz von zwei Millionen Euro. Selbst als kurzzeitig ein arabischer Investor bei der Firma einstieg, änderte das nichts am Kultstatus der Runenklamotten. +Die Geschäftsleute aus dem rechtsextremen Milieu haben schnell erkannt, dass mit der neuen Kundschaft viel Geld zu machen ist. Während Thor Steinar offiziell stets betont, das Unternehmen sei völlig unpolitisch, gibt es mittlerweile mehrere Konkurrenzmarken, die sich offen an Neonazis ranschmeißen. "Die neue Nazi-Mode hat einen Markt hervorgebracht, der etliche szenenahe kleine und mittelständische Unternehmen über Wasser hält", sagt Schulze. "Wer will, bekommt brachiale Bekenntnisse zum Nationalsozialismus, für Zögernde gibt es zweideutige Marken." +Ansgar Aryan aus Thüringen verbindet beispielsweise moderne Surfer-Designs mit offensiven Bezügen zum historischen Nationalsozialismus. Eine ganze Kollektion "Weapons" ist mit Schusswaffen der SS bedruckt. Ein anderes Motiv zeigt einen Wehrmachtspanzer mit dem Spruch "Nach Frankreich fahren wir nur auf Ketten" als zynische Verherrlichung des Zweiten Weltkrieges. Brainwash-Sänger Weiße hingegen setzt lieber auf das Spiel mit uneindeutigen Motiven. 2009 gründete er die Nazi-Marke Dryve By Suizhyde. Anfangs begann er, dilettantisch Motive bekannter Rockbands zu kopieren und mit eigenen Schriftzügen zu versehen. Selbst die Modelfotos für den ersten Katalog übernahm er wohl einfach von der Webseite eines linken Hardcore-Versands. Inzwischen tritt die Marke aber immer professioneller auf. Die Motive sind kaum von denen bekannter Skatemarken oder Band- T-Shirts zu unterscheiden. Offene Bekenntnisse zum Nationalsozialismus sucht man in den verschnörkelten Designs mit den grellen Farben vergeblich. diff --git a/fluter/fast-fashion.txt b/fluter/fast-fashion.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..93767f46e9f5fa2a181f5bdb3a150a8a344fe991 --- /dev/null +++ b/fluter/fast-fashion.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +In der Hamburger Ausstellung "Fast Fashion" sichtbar: Die Schattenseiten der immer schnelleren, immer billigeren Mode +Bemerkenswert ist dabei, dass die Hose trotzdem ziemlich billig von den großen Modeketten angeboten wird. Wie kann das sein? "Der Irrsinn ist", sagt die Kunsthistorikerin und Kuratorin Dr. Claudia Banz, "dass der Transport als Kostenfaktor fast keine Rolle spielt und es so für die Konzerne günstiger ist, die Jeans in vielen verschiedenen Ländern herzustellen." Die Idee zur Ausstellung "Fast Fashion" hatte sie nach dem schweren Unglück in dem Industrie- und Geschäftsgebäude Rana Plaza in Bangladesch. Bei dessen Einsturz im Jahr 2013 wurden mehr als 1.000 Menschen getötet und Hunderte weitere verletzt, die meisten von ihnen arbeiteten in Textilfabriken, die im Gebäude untergebracht waren.Im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg läuft die Ausstellung seit März. Sie ist ein großer Erfolg, nicht nur bei Schulklassen. In zwei Räumen wird den Besuchern mittels Grafiken, Fotos, Filmen und Schaukästen klargemacht, welche immensen Auswirkungen der zunehmende unbedachte Kauf von Kleidung auf die Weltwirtschaft und die sozialen und ökologischen Zustände in den Produktionsländern hat. +Die Crux ist nur, dass die Käufer sich ständig selbst betrügen. "Das Unterbewusstsein spielt eine entscheidende Rolle", betont Claudia Banz. Auf der einen Seite ahnt fast jeder, unter welchen unmenschlichen Bedingungen Klamotten hergestellt werden, auf der anderen Seite fällt das Stammhirn immer wieder auf die subtilen Tricks der Werbung herein: Willst du toll sein, brauchst du unbedingt die neuesten Must-haves der Saison. Auch im Netz spinnt sich diese Denkweise weiter: Sogenannte "Shopping Hauls" werden millionenfach auf YouTube geklickt. Junge Mädchen präsentieren vor laufender Kamera frisch aus der Tüte, welche Kleidungsstücke sie gerade ergattert haben. "Damit sich jeder Besucher ein Bild davon machen kann, haben wir extra für die Ausstellung ein Beispielvideo nachgedreht", erklärt Claudia Banz. +Anziehsachen werden eben nicht mehr gekauft, weil sie dringend gebraucht werden – wie früher beispielsweise ein Wintermantel. Inzwischen hängen im Kleiderschrank bis zu 40 Prozent ungetragene Hosen oder T-Shirts. Wobei der Konsum der Deutschen in Europa an der Spitze steht, wie eine Grafik in der Ausstellung deutlich macht: Sie kaufen im Durchschnitt pro Jahr 27 Kilo Textilien und werfen gleichzeitig fast 15 Kilo in die Sammelboxen von Altkleiderhändlern.Was dabei die wenigsten wissen: Umsonst wird die Spende meist nicht weitergegeben – das gilt auch für die großen Organisationen. Ein kleiner Teil der Kleider wird in Deutschland an Bedürftige abgegeben, der große Rest aber in Afrika, Osteuropa sowie Asien auf die Märkte gebracht. Der Handel mit Secondhandklamotten ist ein riesiges weltumspannendes Geschäft – wie der Dokumentarfilm "Mitumba" des Regisseurs Raffaele Brunetti deutlich macht. +Er hat ein altes gelbes Fußballtrikot mit der Kamera von dem Wurf in den Sammelcontainer in Deutschland bis nach Tansania begleitet. Dort trägt es jetzt ein kleiner Junge. 1500 Schilling (rund 60 Cent) hat seine Mutter noch dafür bezahlt. Für sie viel Geld. "Mitumba" ist Swahili und bedeutet "Bündel", denn als große Ballen kommen die Altkleider in Afrika an. Im Film wird Mitumba zum Synonym für "Kleidung von toten Weißen". Denn viele Menschen in Afrika  finden es schwer vorstellbar, dass die Ware von lebenden Menschen weggeworfen wurde. Für sie ist daher die einzige plausible Erklärung: Sie stammt von Toten.Wie rasant sich der Wert von Kleidung im Laufe der Generationen verändert hat, ist ein weiteres Thema der Ausstellung. Daran erinnert in einer Glasvitrine ein kleiner bunter Stofflappen. "Das habe ich früher im Handarbeitsunterricht gelernt", erzählt eine Großmutter ihrer staunenden Enkelin. "Ich weiß noch, wie man Knopflöcher umrandet und Socken stopft." Heute dagegen sind Strümpfe ein Wegwerfprodukt – sehr zum Schaden der Umwelt. Speziell Sportsocken werden intensiv mit Chemikalien behandelt, damit sie nicht so müffeln. "Weil es in vielen Ländern nicht so strenge Gesetze gibt wie in Deutschland, kommen die Gifte eben durch die Hintertür wieder ins Land", sagt Claudia Banz. +Dass es aber auch anders geht, beweist der zweite Raum der Ausstellung, der unter dem Motto "Slow Fashion" steht. "Wir wollen zeigen, dass es auch Alternativen gibt", erklärt Claudia Banz. "Und das Lustigste ist, dass sich ausgerechnet hier viele Besucher am Geruch stören." Stimmt, es riecht streng. Aber das ist reine Natur – ein großer Ballen Bioangorawolle. Zum Fühlen sind hier auch Stoffe aus Algen, gewaltfreie Seide, für die keine Raupen gestorben sind, Garn aus Milchfasern oder mit Rhabarber gegerbtes Leder. Zudem wird auf Tausch- und Leihbörsen für Klamotten im Internet hingewiesen, so aufKleiderkreisel und die Kleiderei. Gleichzeitig läuft an die Wand projiziert eine Fashionshow: ziemlich schicke Mode, hergestellt von Studenten des ersten internationalen Studienganges für nachhaltige Mode der ESMOD Berlin. Museumsbesuch statt Stadtbummel? Für "Fast Fashion" lohnt sich das. +Die Ausstellung in Hamburg läuft noch bis zum 25. Oktober 2015. Danach wandert sie weiter ins Deutsche Hygiene-Museum Dresden. Mehr Informationen gibt es auch auf der Webseite des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg: www.mkg-hamburg.de diff --git a/fluter/fatih-akin-verfilmt-wolfgang-herrndorfs-roman-tschick.txt b/fluter/fatih-akin-verfilmt-wolfgang-herrndorfs-roman-tschick.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..caef447f214e73b45b98de8269ad9cef57c94fed --- /dev/null +++ b/fluter/fatih-akin-verfilmt-wolfgang-herrndorfs-roman-tschick.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Auf dem Pausenhof ist Tschick ein Außenseiter ... +Tschick heißt eigentlich Andrej Tschichatschow, aber das kann sowieso keiner aussprechen. Seine Eltern sind als russische Spätaussiedler nach Deutschland gekommen, weswegen Tschick manchmal komische Formulierungen benutzt. "Übertrieben geile Jacke" ist das Erste, was er zu Maik sagt, als er auf dem Schulhof dessen Bomberjacke mit dem gestickten Drachenkopf bewundert, die Maik eigentlich angezogen hat, um Tatjana zu imponieren. +Die Sommerferien stehen bevor und Tatjana hat die gesamte Klasse zu einer Party im Haus ihrer Eltern eingeladen. Alle außer dem Asi und dem Psycho. Die Ferien drohen also zu einer Katastrophe zu werden, bevor sie überhaupt begonnen haben – bis Tschick mit einem geklauten Auto vor der Tür steht. +Der Roman "Tschick" des vor drei Jahren verstorbenen Wolfgang Herrndorf entwickelte sich innerhalb weniger Jahre zu einem Jugendbuchklassiker, der auch auf den Leselisten vieler Erwachsener landete. Die Erwartungen an die Verfilmung waren entsprechend hoch. Schon die schnodderige Sprache des Romans war sehr filmisch, richtiges Kopfkino. Herrndorf verstand es, mit knappen Sätzen lebendige Bilder entstehen zu lassen. "Tschick"-Fans haben also eine genaue Vorstellung von den Charakteren und Handlungsorten – Maiks Schule in Berlin-Marzahn etwa oder dem blauen Lada Niva. +... in der Disko wiederum ist Maik nicht unbedingt Mr. Party Guy ... +Keine leichte Aufgabe für Regisseur Fatih Akin (Gegen die Wand, The Cut), dessen Stärken bislang eher im dramatischen Fach lagen. Am Anfang spürt man Akins Respekt vor der Vorlage. Sein Film greift die scharfen Beobachtungen Maiks immer wieder als Voiceover auf, was einerseits zwar Herrndorfs Sprachwitz bewahrt, aber als erzählerisches Mittel etwas naheliegend ist – und zudem wenig originell. Andere Ideen Herrndorfs funktionieren im Film dafür besser als im Roman. Das Klavierstück "Ballade pour Adeline" des Schnulzenkomponisten Richard Clayderman zum Beispiel, von dem die Jungen eine Kassette (!) im Auto finden, und das fortan als imaginärer Soundtrack für ihr Abenteuer dient. Uncooler geht's kaum. +Und so nimmt die Reise langsam Fahrt auf – richtig allerdings erst, als sie die Ausreißerin Isa auflesen, die sich auf dem Weg nach Prag befindet. Das burschikose Mädchen ist ganz anders als Tatjana und für einen Moment scheint für Maik sogar der erste Sex möglich. +... mit ihrem gestohlenen Lada stellen sie die Welt jedoch ganz schön auf den Kopf. +Spätestens hier hat Akin die Vorlage souverän im Griff, auch wenn er der Geschichte keine neuen Ideen abgewinnen kann. Auch der Osten Deutschlands wirkt als Handlungsort etwas austauschbar. Dafür sind die Hauptdarsteller ein Volltreffer, vor allem Anand Batbileg ist mit seiner eigenwilligen Körpersprache die perfekte Besetzung für Tschick. Die Chemie zwischen den beiden Jungs erweist sich als große Stärke des Films. Fans des Buches werden nicht enttäuscht sein. +Ob der Film als Jugendporträt ähnlich einflussreich wird wie Herrndorfs Roman, muss sich allerdings noch zeigen. An den unverbrauchten Charme von Akins erklärtem Vorbild, dem Jugendfilm-Klassiker "Nordsee ist Mordsee" (1976) von Hark Bohm, der auch beim Drehbuch geholfen hat, reicht "Tschick" jedenfalls nicht heran. Mit seinem "Sound" hebt sich Akins Film aber allemal wohltuend von dem bemühten Jugendslang der meisten deutschen Produktionen ab. + +"Tschick"; D 2016, Regie: Fatih Akin, Drehbuch: Fatih Akin, Hark Bohm, Lars Hubrich, mit Anand Batbileg, Tristan Göbel, Nicole Mercedes Müller diff --git a/fluter/favela-muell-surfen-in-rio.txt b/fluter/favela-muell-surfen-in-rio.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8994c5cb4313a54773f03aa8395acfc380f6d546 --- /dev/null +++ b/fluter/favela-muell-surfen-in-rio.txt @@ -0,0 +1,17 @@ + +Machen keine Welle: Jugendliche Surfer auf dem Weg zum Strand von São Conrado + +Anderswo wollen Jugendliche Fußballspieler werden, hier in der Favela Rocinha, im Süden Rio de Janeiros, träumen alle vom Surfen. Hunderte haben mit dem Sport ihr Leben verbessert. Finanziell und sozial. Der Sport ist ein Ausweg. Eine Flucht vor den Drogen und den Gangs, die für Jugendliche in der Rocinha Alltag sind. "Das Surfen hat mich gerettet", sagt Márcio, "und das gebe ich heute weiter." +Seit sieben Jahren betreibt er die Associação de Surf da Rocinha, die sich über eine Reparaturwerkstatt für Surfbretter finanziert. "Wenn die Regierung nicht hilft, müssen wir es selbst tun." In den letzten Jahren aber kam ein neues Problem hinzu. Immer wieder mussten die Jugendlichen durch dicke Müllschichten im Wasser paddeln. Manchmal ist das Surfen für Wochen unmöglich, weil heftige Regenfälle große Mengen des Abfalls, der in den Straßen der Favela mit ihren nach inoffiziellen Schätzungen 250.000 Bewohnern nicht entsorgt wird, an den Strand spülen. +Die Rocinha ist ein gigantischer Slum auf wertvollem Boden, denn sie grenzt an drei der reichsten Stadtteile Rios. Das Leben hier ist prekär. Immer wieder brechen Tuberkuloseepidemien aus, regelmäßig sterben Menschen bei Schusswechseln rivalisierender Gangs. Perspektiven für Jugendliche sind rar. Der Drogenhandel verspricht eine zu sein. "Eine bessere Alternative", sagt Márcio, "ist das Meer." +"Surfen war immer schon ein wichtiger Teil der Rocinha." Márcio zeigt ein Fotoalbum, darin Fotos von Jungs, vielleicht drei, vier Jahre alt. Ganz hinten klebt ein Bild von Carlos Belo, einem der besten Surfer der Rocinha, auf dem Siegertreppchen, nach einem Wettkampf. "Wir haben keine Autos, kein Geld und kaum Möglichkeiten", sagt Márcio, "aber wir haben den Strand São Conrado mit Wellen von zweieinhalb Metern Höhe." +Morgens um sieben sitzen die ersten jungen Surfer am Strand. +Die "Associação de Surf da Rocinha" wird durch Reparaturaufträge finanziert. +2012 hat Márcio die ASR gegründet, er knüpfte damit an Rocinhas Surfpioniere an, Jungs mit Namen wie Suruba – Orgie – und Lula – Tintenfisch. Márcio ging als Kind täglich an den Strand, um sie zu beobachten. Er selbst surfte ohne Brett, indem er Hände und Arme streckte, den Körper versteifte und sich so über der Welle hielt. Als Jugendlicher schnitt er dann Holzbretter zurecht, später klaute er Styropor von Baustellen und umwickelte es mit Klebeband. "Die Welle in São Conrado gehört zu den besten der Welt", sagt Márcio. Sie breche abrupt ab, man müsse schnell paddeln und schnell aufstehen. "Die Welle ist brutal und nichts für Anfänger." Deshalb, das ist Márcios Theorie, surfen die Kids aus der Rocinha besser als die anderen. Entweder gut oder gar nicht. +Fábio schnallt ein Surfbrett auf die Werkbank, eine Bruchstelle verläuft quer über das Brett. Er zieht Kreppband über die Ränder, verteilt eine weiße Masse über dem Riss. Etwas später zieht er einen Mundschutz über und schleift die eingetrocknete Masse ab. Selbst die Surfer aus den reichen Vierteln Rios bringen ihre Bretter zu Fábio, er gilt als der beste Reparateur der Stadt. Mit diesen Aufträgen finanziert die ASR Kurse und Wettbewerbe und vor allem das provisorische Vereinshaus auf dem Dach von Márcios Vater. "Du hast keine Vorstellung, wie viele Jungs wir jedes Jahr an den Drogenhandel verlieren." Je länger die Jungs unbeschäftigt sind, desto wahrscheinlicher werde es, dass eine der Gangs sie erwischt. "Morgens um sieben sitzen die ersten Kids hier", sagt Márcio, täglich gehen sie gemeinsam surfen. Die Erfahrung sei beim Surfen ebenso wichtig wie die Physis. Vom "Lesen des Meeres" spricht Márcio. Doch das, was er heute sieht, mache ihm Sorgen. "Das Meer hat sich geändert." + +First come, first surfed: Der Strand befindet sich direkt unterhalb der Favela. + +Eine Woche nach der Begegnung mit Márcio treffen Rio die stärksten Regenfälle seit über 20 Jahren. Zehn Menschen sterben, viele verlieren ihre Häuser, ganze Viertel stehen unter Wasser. Auch in der Rocinha haben die Wassermassen Menschen mitgerissen, den Hügel hinunter, Autos und Häuser zerstört. Das Abwassersystem funktioniert kaum mehr, der Müll wird an den Strand geschwemmt, das Wasser mischt sich mit Schlick aus der Kanalisation. Da die Stadtreinigung nichts tut, helfen sich die Surfer selbst. Sie bauen Klärfilter an die offenen Kanäle und organisieren Clean-ups, bei denen sie gemeinsam Müll sammeln. +"Wir klauben das Zeug vom Strand", erzählt Márcio auf der Terrasse, "und dann kommt der Regen und vermüllt den Strand erneut." In der Favela gebe es Projekte, die Lösungen zur Müllvermeidung anböten. Doch der Staat habe die Unterstützung eingestellt. Die Kläranlage ist seit Monaten kaputt, der Müll sammelt sich meterhoch, und die Strömung treibt auch den Abfall aus anderen Vierteln an den Fuß der Rocinha. +Während Márcio über die Regierung schimpft, beginnt es zu dämmern. Die Jungs schauen Surfvideos, lachen. Einer sitzt abseits, in sein Telefon versunken. Er habe sich für die Regionalmeisterschaft qualifiziert, sagt der 16-jährige Rafael Silva, in Búzios, einem reichen Ort rund 200 Kilometer östlich von Rio. "Ich versuche, Geld für das Busticket zusammenzubekommen", sagt er und zuckt mit den Schultern. "Ah, und einen Schlafplatz." diff --git a/fluter/fear-gewinnt.txt b/fluter/fear-gewinnt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..13f36e73fdaa04b7c62b3de89363c2bf28874c9e --- /dev/null +++ b/fluter/fear-gewinnt.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Beide Beispiele umkreisen – wie fröhliche Fliegen die Schüssel – ein seltsames Phänomen, das als "German Angst" in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen ist. Damit wird im Ausland eine offenbar typisch teutonische Furcht oder auch Zögerlichkeit bezeichnet – zu der eben auch gehört, die eigenen Fäkalien nicht direkt zu entsorgen, sondern zum begrübelnswerten Gegenstand sorgenvoller Betrachtungen zu machen. Die Angst hat als Germanismus längst Eingang ins Englische gefunden, wie "Waldsterben" oder "Weltschmerz". Alles Begriffe, die nicht eben für ausgelassene Lebensfreude stehen. +Sind solche völkischen Zuschreibungen überhaupt gültig? Sind Schotten überwiegend geizig, Polen diebisch, Iren betrunken, Franzosen paarungsbereit, Finnen trübsinnig und Griechen faul? Eben. Und dennoch neigen wir zur Annahme, an der "German Angst" könnte etwas dran sein. Zumal es wissenschaftliche Studien gibt, die uns in dieser Ahnung bestärken. Der "Security Index" des IT-Dienstleisters Unisys beispielsweise misst halbjährlich das subjektive Sicherheitsempfinden der Konsumenten verschiedener Länder. Abgefragt werden mögliche Furchtfelder wie Gesundheit, Beruf, Politik oder Kriminalität. Ein Wert von 300 würde absolute Panik bedeuten, Deutschland liegt mit aktuell 146 Punkten nicht etwa im Mittelfeld, sondern nur knapp hinter anderen extrem furchtsamen Nationen wie Mexiko, Malaysia, Kolumbien oder Frankreich. +Weitere Indizien liefert das Versicherungswesen, weil die Deutschen von der Geburt bis zum Tod einfach alles versichern, was sich nur irgendwie versichern lässt. Darüber hinaus fürchten sich die Deutschen wie kein zweites Volk vor Datenkraken, Geheimdiensten, Seuchen und Naturkatastrophen. +Wenn es so ist, warum ist es so? Wieso sollte die Mutlosigkeit gerade in einer der reichsten Gesellschaften der Erde so hoch sein? Eine Erklärung lieferte die Journalistin Silke Bode in ihrem Buch "Die deutsche Krankheit". Demnach sollen "unverarbeitete Kriegserlebnisse" dafür verantwortlich sein. Eine ganze Generation habe Leid und Schuld "nicht ausreichend betrauert" und deshalb Existenzängste an ihre Kinder und Kindeskinder weitergegeben. Diese Ängste seien nur vorübergehend von der sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik und der sozialistischen Staatsfürsorge in der DDR abgefedert worden. +Flankiert werden solche psychoanalytischen Vermutungen von den neuesten Erkenntnissen der Epigenetik. Studien belegen offenbar, dass traumatische Erfahrungen zu genetischen Veränderungen führen und diese auch vererbt werden können. Dazu wurden unter anderem Augenzeugen von 9/11 und dem Völkermord in Ruanda befragt. Irritierend bleibt aber die Annahme, ausgerechnet die Deutschen müssten vom Zweiten Weltkrieg bis in den Genpool hinein verstört sein. Was wäre denn dann mit den Polen? Und was mit der jüdischen Bevölkerung? Und warum nur der Zweite Weltkrieg? Haben unsere Gene den Dreißigjährigen Krieg vergessen? Triftig sind solche Erklärungen aus dem Reagenzglas also nicht. +Es könnte auch einfach Ideologie am Werk sein. Denn die "German Angst" kommt nicht allein, es gibt noch ein anderes Klischee über uns, das sich ständig erneuert – mit jedem deutschen Auto, das vom Band läuft, und jedem Spiel, das die DFB-Elf gewinnt. Die Rede ist von der "deutschen" Gründlichkeit, Ordnungs­liebe und Disziplin. Vielleicht sind diese Sekundärtugenden nur die Kehrseite unserer Angst. Der Blick in die Toilette immerhin lehrt uns: Wir zweifeln nicht mehr so viel wie früher – der Flachspüler ist eine Seltenheit geworden. +Bilder: Heinrich Holtgreve diff --git a/fluter/fee-brauwers-wald-jagd.txt b/fluter/fee-brauwers-wald-jagd.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8c0494b375e0803ce45c36677b5b4903510943eb --- /dev/null +++ b/fluter/fee-brauwers-wald-jagd.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Was genau ist mit Waldumbau überhaupt gemeint? +Nun, es ist so, dass wir in Deutschland viele Wälder mit einer Fichtenmonokultur haben. Da steht nichts anderes. Das ist unter anderem den Weltkriegen geschuldet: Rohstoffe waren dringend benötigte Mangelware, und Fichten liefern verhältnismäßig schnell gutes Holz. Sie können außerdem einfach auf Freiflächen wachsen. Aber Monokulturen sind unausgewogen und anfällig.Mischwälder sind widerstandsfähiger– gegen Schädlinge und den Klimawandel. Also muss Monokulturwald umgebaut werden hin zu mehr Vielfalt. Leider passiert dieser Umbau in Deutschland viel zu langsam. Und ob der Klimawandel uns genug Zeit lässt, ist fraglich. Insofern kann ich den Bränden auch etwas Gutes abgewinnen. +Der Klimawandel, der die Wälder bedroht, ist menschengemacht. Andererseits streben auch junge Menschen wieder in den Wald, sehnen sich nach Entschleunigung und unbeschwerter Zeit in der Natur. Wie sieht ein schonender, rücksichtsvoller Waldtourismus aus? +Ich bin grundsätzlich fest davon überzeugt, dass es uns allen besser gehen würde, wenn wir jede Woche mindestens zwanzig Minuten im Wald wären. Für das eigene Walderlebnis empfehle ich, das Handy zu Hause zu lassen, nicht zu schnell zu laufen, sich umzuschauen oder sogar eine Führung vom örtlichen Forstamt mitzumachen. Auch abseits der Wege zu gehen ist reizvoll – solange wir dabei nicht vergessen, dass wir uns im Wohnzimmer unzähliger Tiere und Pflanzen befinden. Es ist wichtig, wach dafür zu sein, ob an der Stelle, wo ich meinen Fuß hinsetzen möchte, vielleicht gerade eine junge Pflanze steht. Denn da wächst unsere Zukunft! +Beim Zuhören spürt man, wie stark du mit dem Wald verbunden bist – wie sehr du ihn schätzt, wie sehr du um ihn fürchtest. Woher kommen deine Begeisterung und dein Engagement für den Wald? +Ich bin auf dem Land groß geworden, am Niederrhein, und habe schon als Kind viel Zeit im Freien verbracht. Drinnen hatte ich immer das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Wir hatten Schafe. Mit denen bin ich zur Eisdiele gelaufen und habe uns was gekauft. Mir ein Eis, denen eine Waffel. Garten, Wiese und Wald waren einfach mein Kinderzimmer. +War es da die einzig logische Folge, zunächst Forst- und dann Holzwirtschaft zu studieren? +Absolut nicht. Ich bin zufällig durch einen Berufsberatungstest im Internet darauf gestoßen und habe mich auf das Studium eingelassen. Ehrlich gesagt kam ich aus einer richtigen Zauberblase: Ich träumte von einem unbeschwerten Leben als Försterin mit Hund, Pferd, Tiny House und endlosen Spaziergängen – und dann fand ich mich in Vorlesungen zu Bodenkunde, Physik und Chemie wieder und merkte, das ist echt hartes Brot. Nach fünf Jahren Studium weiß ich nun vor allem, dass ich vom Wald so gut wie gar nichts gecheckt habe, da er ein riesiges Ökosystem mit vielen stetigen Veränderungen ist. Zudem hat man als Försterin generell wenig Einfluss, weil man das Wetter, das Klima und die Gesetze nicht beherrschen kann. +Den Einfluss hast du dafür buchstäblich als Influencerin, vor allem auf Instagram bist du aktiv. Wofür möchtest du ihn nutzen? +Es geht mir darum, den Wald ins Bewusstsein der Menschen zu holen, Aufmerksamkeit für ihn zu generieren, Diskussionen anzuregen. Mein Ziel ist nicht, Menschen von meiner Meinung zu überzeugen. +Gibt es trotzdem böse Kommentare oder Gegenwind? +Den habe ich eher beim Einstieg ins Studium gespürt – als Quereinsteigerin in der Forstszene. Die meisten Mitstudierenden kamen aus Familien mit großem Waldbesitz. Bei mir war das anders, und dann war ich auch noch eine Frau. Es brauchte ein bisschen, bis ich ernst genommen wurde. Aber Gegenwind macht ja auch stark. +Für Gesprächsstoff sorgt immer wieder auch deine Ernährungsweise. Du hast dafür das Wort "wilgan" erfunden. Wofür steht es? +Wilgan ist die Kombination aus Wild und vegan. Ich ernähre mich eben überwiegend rein pflanzlich, da diese Ernährungsform sehr klimafreundlich ist. Das ergänze ich mit Wildfleisch wie Reh oder Wildschwein. Aber ich esse nur Fleisch, das von mir selbst geschossen wurde oder von Jägern, mit denen ich eng befreundet bin. Und ich jage "von der Kugel bis zur Gabel", wie ich es nenne. Das heißt, ichübernehme alle Schritte, vom Entfernen der verderblichen Organeüber das Auskochen der Brühe bis zum fertigen Gericht. Nur wenn ich mal keine Zeit habe, übernimmt mein Vater das. Wir helfen da einander aus. +Duhast also auch einen Jagdschein? +Genau. Für mich gehört die Jagd zur Pflege unserer kultivierten Landwirtschaft und Waldbewirtschaftung. Wildschweine fressen den Mais von den Feldern. Rehe wiederum gefährden den Waldumbau, weil sie junge Baumtriebe auffressen. Allerdings wäge ich jeden Schuss sehr genau ab. Wenn ich sehr emotional bin, ziehe ich gar nicht erst los – weder wenn es mir auffallend gut, noch wenn es mir besonders schlecht geht. Dazu schaue ich mir die Verfassung des Tieres natürlich genau an, Alter, Gesundheitszustand, Geschlecht, Nachkommen. Und im Endeffekt habe ich schon weit häufiger nicht geschossen als den Abzug gedrückt. +Das klingt wie eine Verteidigung ohne Anklage … +Vielleicht. Die wilgane Ernährung bringt mich oft in die Situation, mich erklären zu müssen. Doch im Grunde ist sie nicht mehr als meine private Entscheidung, und ich verurteile keine anderen Essgewohnheiten. Fakt ist dennoch, dass wir in einer Kulturlandschaft leben und auf einen gesunden,CO2-speichernden Waldangewiesen sind. Durch die Jagd kann ich beides schützen. Wir alle müssen uns darüber im Klaren sein, dass unser Konsum Folgen hat. Sei es der Lebensmitteleinkauf, die neue Handtasche oder ein Notizbuch. Bei der wilganen Ernährung kann ich diese Folgen gut überblicken. Die Tiere haben in der freien Wildbahn gelebt, sind stressfrei gestorben, und das Fleisch hat kurze Transportwege. Das schützt die Land- und Forstwirtschaft, ist klimafreundlich, gesund und – ja – es schmeckt. + diff --git a/fluter/feel-good-numbers.txt b/fluter/feel-good-numbers.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..db1cdc2dc97b238b75fad3ad78e15567f88c64d8 --- /dev/null +++ b/fluter/feel-good-numbers.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Und dass das die meisten nicht merken, ärgert kaum jemanden so sehr wie Hans Rosling. Der Schwede zieht seit zehn Jahren als Ein-Mann-Armee gegen den Pessimismus und das Halbwissen ins Feld und hat es dabei unter anderem zu einem beachtlichen Internet-Ruhm gebracht. Dem Bild einer Mediencelebrity entspricht er dabei so gar nicht. Schmal, blass, eingefallene Wangen, große Brille: Er ist eher der Phänotyp sonderbarer Naturwissenschaftler. Was er ja auch ist. Bevor er ein Big-Data-Star wurde, war Rosling Arzt für innere Medizin und später Professor für internationale Gesundheit am Stockholmer Karolinska-Institut, das auch den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin vergibt. +Rosling ist immer am Ball, wenn um die neusten Zahlen geht, die Hoffnung auf eine bessere Welt machen +Dort hat er sich eines Tages über seine Studenten geärgert. Es ging um das Thema der globalen Kindersterblichkeit. Rosling nannte zehn Länder, die er zu fünf Paaren zusammenfasste. Die Studenten sollten nun schätzen, ob die Rate in Sri Lanka oder der Türkei höher ist –  beziehungsweise in Malaysia oder Russland. Sie versagten kläglich. Sie brachten es auf einen Schnitt von 1,8 richtigen Antworten. Rosling war schockiert. Sogar Schimpansen würden besser abschneiden. Würde man die möglichen Antworten auf Bananen schreiben und einer genügend großen Zahl Affen vorlegen, kämen sie auf einen Schnitt von 2,5 richtigen Antworten. Sie wüssten gewissermaßen mehr von der Welt als schwedische Studenten. +Mit diesem mittlerweile berühmten Schimpansen-Test begann die zweite Karriere von Hans Rosling, die des Big-Data-Stars. Die Einschätzungen der Studenten basieren auf einer für die westliche Welt typischen Mischung aus Ignoranz und Vorurteilen, fand Rosling und wollte etwas dagegen tun. Und zwar, indem er einigermaßen trockene Daten und Fakten so spannend und bisweilen lustig darstellt, dass ihm alle wie gebannt zuhören. Mit den TED Talks, bei denen man in kurzer Zeit wichtige Themen möglichst anschaulich präsentieren muss, fand er die perfekte Bühne. Bei seinen Auftritten greift er schon mal zu überraschenden Mitteln – einmal schluckte er auf der Bühne ein Schwert –, vor allem aber hat er etwas Überraschendes zu erzählen: Der Welt, so Rosling, geht es viel besser, als wir alle denken. +Kindersterblichkeit, Armut, Gesundheit, Bildung, Lebenserwartung – in all diesen elementaren Bereichen hat die Menschheit Rosling zufolge in den letzten 30, 40 Jahren große Fortschritte gemacht. Längst hätten sich die sogenannten Entwicklungsländer den Industriestaaten angenähert. Noch 1990 hätten 50 Prozent der Menschheit in bitterer Armut gelebt, heute seien es nur noch 22 Prozent. Nur nehme das keiner so wahr – weil wir uns immer auf die schlechten Neuigkeiten stürzen. +Viele seiner TED Talks wurden millionenfach angeklickt. Längst hat Roslingseine eigene Stiftungins Leben gerufen, die auf die Auswertung von Daten, etwa von der WHO, UNICEF oder auch der Weltbank, und deren Visualisierung spezialisiert ist. Mit einer Grafiksoftware, die er mit seinem Sohn Ola entwickelt hat, lässt er Kreise durch die Luft fliegen, Blasen anschwellen, Vektoren leuchten. Daten über globale Trends und komplizierte Zusammenhänge werden zu einer Daten-Show, die imstande ist, unser Bild der Welt zu verändern. + +So ist der Schwede eine Art Lobbyist der guten Nachricht geworden: In den nächsten 15 Jahren, so Rosling, könnte die Menschheit den Anteil der extrem Armen an der Weltbevölkerung auf null reduzieren. Zu den extrem Armen gehören laut UN all jene, die von weniger als 1,25 Dollar täglich leben müssen. Und daraus ergibt sich für Rosling gleich die nächste gute Neuigkeit: Das globale Bevölkerungswachstum könnte 2050 seinen Zenit erreicht haben. Denn wenn die weltweite Armut schwindet, sinkt auch die Geburtenrate. Das wiederum würde auch für das Problem des Klimawandels Linderung bedeuten. Und tatsächlich ist etwa in Bangladesch, Roslings Lieblingsbeispielland, die Geburtenrate schon auf zwei Kinder pro Frau gesunken. Übrigens hat er diesen Vortrag ganz analog veranschaulicht – mit ein paar Plastikkisten von Ikea. + +Aber was ist dann mit all den Toten in Syrien, all dem Leid der Flüchtlinge, mit denjenigen, die hungern? 795 Millionen sind es nach neuesten Schätzungen. Zählt ihr Schicksal denn nicht hinter all den Zahlen und Statistiken? Man könnte argumentieren, Rosling sei ein kühler Technokrat, vielleicht sogar ein Zyniker, der die westliche Welt aus der Pflicht nimmt, den Ärmsten zu helfen. +Doch Rosling sagt, ihm gehe es um etwas anderes: Er wolle die Welt nicht schönreden, sondern mit all den verfügbaren Informationen die vielen Vorurteile aus der Welt schaffen. Er möchte die Wahrnehmung verändern. Und da gibt es ja manche Schräglage. diff --git a/fluter/fehlalarm.txt b/fluter/fehlalarm.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b0369d85855a939ecbb83ff2bfbd12bcfeae60a4 --- /dev/null +++ b/fluter/fehlalarm.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Lange ging man von 1,4 Kindern pro Frau im Durchschnitt aus, doch diese Zahl wird inzwischen bezweifelt. Stephan Sievert vomBerlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklungsagt: "Die Zahl ist tricky, denn Frauen bekommen im Durchschnitt immer später ihre Kinder." Deshalb dürfte die tatsächliche durchschnittliche Kinderzahl je Frau etwas höher liegen, als längere Zeit vermutet wurde. Sievert sagt: "Wenn wir uns anschauen, wie viele Kinder Frauen bis zum 45. Lebensjahr bekommen, sehen wir, dass dieser Wert bislang bei ungefähr 1,6 liegt. Die 1,4 ist also vielleicht etwas alarmistisch." +Die Gesamtbevölkerung bleibe ungefähr stabil, wenn Frauen im Schnitt gut zwei Kinder bekämen. Und zu dem Wert von 1,6 sind noch die Zuwanderer zu zählen, um zu erheben, ob Deutschland nun die Menschen ausgehen. "Es ist schwierig, das exakt zu berechnen", sagt Sievert, "aber die 1,6 Geburten und die Migranten zusammen kommen auf der Grundlage der Erfahrung der vergangenen zehn Jahre der 2,0 schon relativ nahe." +Trotzdem sei zu erwarten, dass die Einwohnerzahl in Deutschland im Laufe der kommenden Jahrzehnte sinke. Aufgrund des sogenannten Pillenknicks der 1960er-Jahre – wegen der Verbreitung der Antibabypille war die Geburtenrate plötzlich rapide gesunken – gibt es in Deutschland vergleichsweise viele alte und wenig junge Menschen. Die nachwachsenden Generationen sind also schlichtweg zahlenmäßig zu klein, um das Schrumpfen komplett verhindern zu können. Von "Aussterben" kann aber keine Rede sein. +Doch die Probleme sind nicht zu leugnen: Immer mehr ältere Menschen benötigen Pflege, immer mehr ländliche Kommunen müssen sich überlegen, wie sie den Wegzug vor allem von Jüngeren verkraften können. Diese Entwicklungen haben allerdings eher etwas mit der vergangenen als mit der aktuellen Geburtenrate zu tun. +Felix Ehring arbeitet als freier Journalist. Bei der Recherche wurde ihm von Zahl zu Zahl klarer: Ob es nun um Armut, Geburten, Arbeitslosigkeit oder Klimaschutz geht – Interessengruppen führen eine teilweise erbitterte Debatte um die Deutungshoheit dieser Zahlen. Und: Einige Journalisten vermelden amtliche Zahlen einfach, ohne sie zu hinterfragen und einzuordnen. Dabei gilt für jede Zahl: Sie sagt nicht nur etwas aus, sie verschweigt auch etwas. diff --git a/fluter/fehler-kuti-interview-professional-people.txt b/fluter/fehler-kuti-interview-professional-people.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6fd717123b444c50939d6759413b40aa85a7558b --- /dev/null +++ b/fluter/fehler-kuti-interview-professional-people.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +fluter.de:Im Ankündigungstext zu deinem neuen Album stellst du die These auf, dass es in der deutschen Öffentlichkeit verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit für dasAttentat von Hanaugab, wenn man das zum Beispiel mit den Reaktionen auf den Mord an George Floyd vergleicht. Woran machst du das fest? +Fehler Kuti: Auf dem Album ziehe ich ja den Vergleich zwischen Hanau und George Floyd und zwischen derSay-their-names-InitiativeundBlack Lives Matterals zwei "Bewegungen". Mir geht es da nicht um einen Wettbewerb des Leidens, so etwas finde ich unproduktiv. Aber ich denke, dass man zur Kenntnis nehmen darf, dass ein rassistischer Anschlag in Deutschland nicht die Form von gesamtgesellschaftlicher Solidarisierung hervorruft wie ein rassistischer Mord in den USA. Ich glaube, das hat auch mit der Frage zu tun: Welche Körper werden im deutschen Diskurs als empathiefähig angesehen? Ich denke, in der gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung hat ein kanakischer Körper(Anm. d. Red.: "Kanake" ist ein Schimpfwort, wird aber von Menschen mit Einwanderungsgeschichte auch als positiv umgedeutete Selbstbezeichnung verwendet)in einer Shishabar eine ganz andere Bedeutung als ein Schwarzer Körper in den USA. +Was folgt für dich aus dieser Erkenntnis? +Ich finde, man kann auf jeden Fall festhalten, dass die Black-Lives-Matter-Proteste eine große popkulturelle Dimension hatten. Das hatten die Proteste nach Hanau nicht. Als Künstler interessiert mich die Frage: Wie kann man diesen Afroamerika-Zentrismus einerseits und diese kanakische Empathielücke andererseits besingen? Und müssen sich Lieder der Solidarisierung immer um Personen drehen, oder kann man auch Strukturen besingen? +Manche deiner Lieder haben zwar sehr aussagekräftige Titel, aber keinen Text. Zum Beispiel: "In Every City, In Every Aldi The Blood Of My Brothers And Sisters Taints Your Spargel" oder "Proposal for a Workers Anthem at DMU2 Daglfing". Wie politisch kann ein rein instrumentelles Stück überhaupt sein? +Ich würde sagen, Musik spricht oder kommuniziert auch ohne Text. "Proposal for a Workers Anthem at DMU2 Daglfing" zum Beispiel spielt an auf ein Amazon-Lager im Osten Münchens. Dieses Logistikzentrum funktioniert nach bestimmten Algorithmen, es hat einen Rhythmus, eine Taktung. Die FahrerInnen, die oft nur als SubunternehmerInnen angestellt sind, arbeiten intim mit diesen Maschinen zusammen und unterstehen ihnen in gewisser Weise. Arbeitskämpfe an solchen Orten werden medial oft als Konflikt zwischen ArbeiterInnen auf der einen Seite und ArbeitgeberInnen undAlgorithmenauf der anderen Seite inszeniert. Aber was, wenn es eine Koalition geben könnte zwischen dem Algorithmus und den ArbeiterInnen? Für so eine Koalition, dachte ich mir, bräuchte es ja eineHymne. + + +Wie hast du das in Musik übersetzt? +Ich habe mit zwei Synthesizern gearbeitet, der eine spielt durchgehend gehaltene Töne, die ich nachsinge, der andere ein Arpeggio(Anm. d. Red.: Darunter versteht man, dass die Töne eines Akkords nicht gleichzeitig, sondern schnell hintereinander angeschlagen werden). Meine Stimme trifft die Töne dabei nicht ganz genau, aber in dem Moment, in dem das Arpeggio einsetzt, in dem diese Rhythmik kommt, ist das nicht mehr schlimm. Das fand ich ein schönes Bild dafür, wie eine Annäherung zwischen Menschen und Maschine funktionieren könnte. Und das ist ja ein altes Thema der Moderne: der Rhythmus der Maschine, der uns den Fortschritt bringt. +Auf dem Album machst du auch klar, dass für dich gerade gesellschaftlich sehr viel überIdentitätsfragendiskutiert wird und verhältnismäßig wenig über das kapitalistische Gesellschaftssystem und Klassenzugehörigkeiten. Was genau stört dich daran? +Ich halte es wie dermarxistische Kulturtheoretiker Stuart Hall.Er wollte in den 1980er-Jahren klarmachen, dass nicht alles auf Klasse reduzierbar sei, die Kategorien Race und Gender seien auch wichtig. So wie Hall damals die MarxistInnen brüskiert hat, müssen wir, finde ich, heute diejenigen herausfordern, die meinen, alle Ausbeutung sei auf Race- und Gender-Identitäten zu reduzieren. Klasse spielt auch eine Rolle. +Und was folgt daraus für dich? +Ich bin Teil einer Generation, die durch die Diversifizierung – also die gezielte Förderung marginalisierter Gruppen durch Kunst- und Kulturinstitutionen – erst Zugang zum Kulturbetrieb bekommen hat. Und gerade weil ich anerkenne, dass ich nur durch die identitätspolitischen Kämpfe in diese Position gekommen bin, finde ich es unglaublich wichtig, genau das zu kritisieren. Nicht weil ich nicht möchte, dass andere nicht auch diesen Weg gehen können, sondern weil ich sehe: Es ändert nichts an den grundsätzlichen Verhältnissen in diesen Institutionen. Diversität ist die Übersetzung verschiedener emanzipatorischer Kämpfe in eine institutionelle Logik, sie stellt diese Logik nicht infrage. Sie reformiert die Institutionen im besten Fall, aber sie stellt nicht die Frage nach den Verhältnissen. Ein Teil des Problems ist, dass wir zu leicht irgendwelche Diskurse blind übernehmen, anstatt uns die Arbeit zu machen, aus den Kämpfen vor unserer Haustüre Theorie zu produzieren. Stattdessen produzieren wir Identitäten. Das waren mal strategische Identitäten, die man benutzt hat, um etwas zu erreichen. Aber jetzt erfüllen diese Identitäten einen Selbstzweck. +Das klingt sehr fatalistisch. Wieso bist du dir so sicher, dass der Zugang von bisher diskriminierten Gruppen zu bestimmten Institutionen nicht doch etwas verändern könnte? +Mit Sicherheit ist meine Kritik überzogen. Ich wettere auch nur deswegen so sehr, weil es schwierig ist, mit so einer Kritik überhaupt durchzudringen. Da sind wir auch wieder beim Thema Diversität: 90 Prozent der Zeit spreche ich mit weißen JournalistInnen. Die haben dann ein, zwei postkoloniale Bücher gelesen, wahrscheinlich einen Antirassismusworkshop durchgemacht, und jetzt kommt so einer wie ich und sagt: "Na ja, ob das alles so der Weisheit letzter Schluss ist, sei mal dahingestellt." Das passt oft nicht zu dem, was sie erwarten, und führt dazu, dass sie meine Message überhören. Deswegen möchte ich noch mal betonen: Ja, es war wichtig, dass wir People of Color durch die Diversifizierung in einflussreichere Positionen gekommen sind. +Aber? +Die Frage ist doch jetzt: Was ist das Ziel unserer Bemühungen? Ich denke, wir müssen schauen, dass wir nicht defensiv werden, dass wir nicht zu einer Bande werden, die ausschließlich ihre Privilegien und ihre Deutungshoheit verteidigt. Aber solange wir in Bewegung bleiben, immer wieder in eine Selbstkritik gehen und Schwung bewahren, so lange, glaube ich, hat unser Anliegen, nämlich Teilhabe zu organisieren, auch eine Anziehungskraft über unsere gruppenbezogene Identität hinaus. + diff --git a/fluter/feiertag-zum-kriegsende-online-petition.txt b/fluter/feiertag-zum-kriegsende-online-petition.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..08c5308b1a114128d69c4e4dfe902ee475df19c0 --- /dev/null +++ b/fluter/feiertag-zum-kriegsende-online-petition.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Es gibt noch andere Vorschläge für einen solchen Feiertag: zum Beispiel den Tag der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar. Warum plädieren Sie gerade für den 8. Mai? +Auschwitz wurde zwar am 27. Januar befreit, aber wir nicht.Die Gefangenen mussten schon vorher auf die Todesmärsche und in andere Konzentrationslager gehen. Da waren wir genauso Gefangene wie immer. Wenn jemand auf dem Todesmarsch nicht mehr weitergehen konnte, weil er zu schwach war, um zu laufen, wurde er gnadenlos von diesen Verbrechern, den deutschen Faschisten, ermordet. Die wurden alle erschossen und blieben auf der Straße liegen. + +Sie waren selbst auf einem der Todesmärsche dabei – aus dem KZ Ravensbrück. +Ich hatte das Glück, während des Todesmarsches vor den Nazis fliehen zu können. Wir wussten ja nicht, was die mit uns machen wollten. Wir dachten: Vielleicht bringen die uns an die Ostsee und ertränken uns dort. Auf dem Todesmarsch haben wir gehört, dass ein SS-Mann zu einem anderen SS-Mann sagte: "Es darf nicht mehr geschossen werden." Da haben wir uns überlegt, dass wir nicht mehr weitergehen wollen. Wir waren sieben Mädchen – und wir sind davongekommen. +Das muss kurz vor dem 8. Mai gewesen sein. Können Sie sich an diesen Tag vor 75 Jahren noch konkret erinnern? +Ich kann das nicht auf den Tag genau sagen. Wir sind geflohen und dann irgendwann auf amerikanische Soldaten getroffen. Denen haben wir die eintätowierte Nummer von Auschwitz auf dem linken Unterarm gezeigt. Und die haben sich so gefreut, dass sie uns helfen konnten. Wir haben gesagt: "Wir wollen weg, nur raus aus Deutschland." Dann sind wir weitergegangen und zusammen in das kleine Städtchen Lübz gekommen, das ist in Mecklenburg-Vorpommern. Da kam auf einmal die Rote Armee an. Die amerikanischen Soldaten und die russischen Soldaten haben sich umarmt und geküsst und waren so glücklich, dass der Krieg endlich zu Ende war. Ich habe den Amerikanern damals erzählt, dass ich in Auschwitz im Orchester Akkordeon spielen musste. Später kam ein amerikanischer Soldat mit einem Akkordeon an und hat mir das geschenkt. Er hat gesagt: "Der Krieg ist zu Ende, wir müssen das feiern." Ein russischer Soldat hat ein riesengroßes Bild von Adolf Hitler auf den Marktplatz gestellt, und ein amerikanischer und ein russischer Soldat haben es gemeinsam angezündet. Das Hitlerbild hat lichterloh gebrannt. Die amerikanischen und russischen Soldaten und die Mädchen aus dem KZ haben um das Bild herum getanzt. Und ich stand da mit dem Akkordeon und habe Musik gemacht. Das war meine Befreiung vom Hitlerfaschismus. +Wenn Sie es sich wünschen könnten: In welcher Form sollte das Gedenken am 8. Mai als Feiertag stattfinden? +Das bleibt jedem selbst überlassen, wie er oder sie das feiern will. Da muss nicht getanzt oder Musik gemacht werden. Es muss einfach klar sein: Der Tag der Befreiung ist ein Freudentag für uns. +Ob es nun einen Feiertag geben wird oder nicht – wie sollten wir Ihrer Meinung nachan die Verbrechen des NS-Regimes erinnern? +Leider wird meine Generation bald nicht mehr da sein. Ich bin 95 Jahre alt. Noch gibt es viele, die in diesem Alter sind, aber wir werden nicht ewig leben. Es ist zu hoffen, dass viele Institutionen – zum Beispiel das Auschwitz-Komitee – dafür sorgen, dass man mit Dokumentationen und Büchern an das Geschehene erinnert. Ganz wichtig ist, dass die Menschen das auch wollen. Wenn jemand will, dass der Faschismus nicht wieder aufkommt, dann kann er mit allen möglichen Mitteln dagegen angehen. Ich setze auf die Jugend. Ich glaube, die Jugend hat begriffen, dass wir eine Demokratie brauchen. Die ganzen rechtslastigen Parteien, die wir hier haben, sind gegen die Demokratie. Wir müssen dafür kämpfen, die Demokratie zu erhalten. + + +Esther Bejarano, 1924 in Saarlouis geboren, war eines der letzten überlebenden Mitglieder des "Mädchenorchesters" des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz. Das Orchester wurde auf Befehl der SS zusammengestellt. Die Mädchen mussten spielen, wenn die Gefangenen am Tor ein- und ausmarschierten und wenn neue Züge ankamen, um Gefangene in das Lager zu bringen. Hinter ihnen standen Soldaten der SS mit Gewehren,erzählte sie. Esther Bejarano war Vorsitzende des Auschwitz-Komitees für die Bundesrepublik Deutschland e.V., Ehrenvorsitzende der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA e.V.) und sang in der antifaschistischen Rap-Gruppe Microphone Mafia. Esther Bejarano starb am 10. Juli 2021. + +Titelbild: Axel Heimken/picture alliance/dpa diff --git a/fluter/feminismus-frauen-graffiti.txt b/fluter/feminismus-frauen-graffiti.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..257f2f85b6769f71b1806a1ecefdc067a9efc1cc --- /dev/null +++ b/fluter/feminismus-frauen-graffiti.txt @@ -0,0 +1,8 @@ + +Für ein Motiv, das an prominenter Stelle ein paar Tage stehen bleibt, riskieren Sprayer viel: Geldbußen und hohe Anwaltskosten, Jugendstrafen, manchmal, wenn sie auf U-Bahnen surfen oder über Starkstromleitungen klettern, ihr Leben. "Rennen, klettern, sich was trauen: Sprühen verlangt viele Attribute, die unsere Gesellschaft Männern zuschreibt", sagt Max. Lange schien die Graffitiszene one big boys' club zu sein. Junge Männer, die oberkörperfrei vor ihren Pieces posieren, die ihre Skizzen ausstellen, deren Aktionen zigtausendfach auf YouTube angeschaut werden. Dabei waren Frauen schon immer dabei, oft stilprägend – wie Lady Pink oder die Frankfurterin Hera von Herakut. "Der weibliche Einfluss wird sichtbarer", sagt Max. "Aber wir leben im Patriarchat. Und Graffiti ist wie jede Subkultur irgendwie auch nur die Gesellschaft im Kleinen." + +Das Sprühen kam in den 1980er-Jahren aus den USA. Wie so oft waren Unternehmen schnell dabei, sich die Gegenkultur einzuverleiben. Heute wird Graffiti als Form moderner Malerei besprochen, Banksy ist einer der bekanntesten Künstler, Street-Artists gestalten Seidenschals für Louis Vuitton. Diese Kommerzialisierung reicht bis Neukölln: Viele Sprayer machen Auftragsarbeiten und geben Workshops. Max ist das egal. Sprühen sei nun mal ein teures Hobby. "Und ich kenne niemanden, der nur legal malt." + +Dieser Text ist im fluter Nr. 88 "Neukölln" erschienen.Das ganze Heftfindet ihr hier. + +Anmerkung, September 2024: Wir haben aus der Leserschaft den Hinweis bekommen, dass das Graffiti im Titelbild von einer anderen Crew stammt – und bitten um Entschuldigung. diff --git a/fluter/feminismus-kino-ula-stoekl-berlinale-retrospektive.txt b/fluter/feminismus-kino-ula-stoekl-berlinale-retrospektive.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..30e0e5f65e6dce95011621cc40366b1a47fe121c --- /dev/null +++ b/fluter/feminismus-kino-ula-stoekl-berlinale-retrospektive.txt @@ -0,0 +1,42 @@ +1968 taten sich Frauen zusammen– vor allem in Frankfurt am Main und Westberlin –, um patriarchale Strukturen zu bekämpfen. Wie haben Sie diese Zeit erlebt? +Ich war in Ulm damals weit weg von den Zentren der Bewegung. Aber ich bin eine geborene Feministin. Man kann nämlich auch eine sein, ohne es zu wissen. Mir war klar, dass Frauen viel mehr machen können, was sie wollen. Jetzt mussten sie herausfinden, was es denn sein kann, was sie wollen. +Wie haben Sie das für sich herausgefunden? +Damals warst du ab 21 Jahren volljährig, davor warst du als Frau unter absoluter Observanz von Eltern und Schule. Und auf einmal sollst du gehen und leben. Gelernt hat frau aber nur, dass ihr jetzt das Heiraten offensteht. Ich wusste, dass ich das nicht wollte. Autonomie war immer das wichtigste Wort für mich. Ich bin erst mal als Sekretärin ins Büro. Dann habe ich irgendwann begriffen, wenn ich nicht für immer Zuarbeiterin für einen Mann sein will, muss ich das anders lösen, zum Beispiel über ein Studium. Ich hab mich in Ulm an der Hochschule für Gestaltung beworben. +Sie waren 1962 die erste Frau, die dort Regie studierte. Wie war das Umfeld? +Die Dozenten waren sehr liberale Männer. Mein Vorteil war damals aber, dass ich schon 24 Jahre alt war, als ich mit dem Studium begann. Die Dozenten waren erst 31. Das waren keine alten Herren, und die haben auch nicht die Alte-Herren-Philosophie gelehrt. +Ihr Abschlussfilm war 1968 "Neun Leben hat die Katze", der als Deutschlands erster feministischer Film gilt. Es geht um fünf Frauen und ihr Berufsleben, ihre Beziehungen, Familie und körperliche Selbstbestimmung. Warum diese Themen? +Nehmen wir zum Beispiel das Thema Berufsleben. Ich wollte zeigen, dass Frauen auch einen Beruf ausüben und selbstständig sein wollen. Damals stand das im großen Widerspruch zur Gründung einer Familie. Das war ein wichtiges Thema. Auch heute ist das Berufsleben noch ein feministisches Thema: Der Unterschied in der Bezahlung besteht ja immer noch. +Der Film wurde 1968 nicht gezeigt, weil der Verleiher pleite ging. Es hat dann einige Jahre gedauert, bis der Film im Kino lief. Wieso war es schwierig, einen neuen Verleiher zu finden? +Weil 1969 das Jahr war, in dem Produktionsfirmen zum ersten Mal auch Pornoproduzenten sein konnten. Also kam die Forderung an mich: "Können Sie nicht eine Pornoszene drehen?" Damals war das für mich das absolut Letzte, was mir eingefallen wäre. Ich habe abgelehnt. Damit war "Neun Leben hat die Katze" erst mal weg vom Fenster. +Sie haben dann Ihr Studium in Ulm abgeschlossen. Welche Erfahrungen haben Sie in der Filmbranche gemacht? +Es war sehr deutlich, dass Männer einen Vorteil hatten. Man darf nicht vergessen, dass damals kein Neuer Deutscher Film – so nannte man damals unsere Autorenfilme – ohne Fernsehbeteiligung entstanden ist. Warum auch immer hatten die jungen männlichen Kollegen eher Zugang zu den größeren Redaktionen. Das hat auch damit zu tun, dass die männlichen Kollegen auf bessere Netzwerke zurückgreifen konnten und andere Themen als Frauen anboten. In den Redaktionen gab es nur sehr wenige Frauen. Wenn ich ein Drehbuch schreibe, dann muss ich die für mich wichtigen Themen behandeln. Das wurde von männlichen Redakteuren oft schon als radikal feministisch aufgefasst und abgelehnt. Mir waren meine Themen und dass sich etwas für die Frauen verändert aber sehr wichtig. Deshalb galt ich als schwierig. +Ende der 1970er-Jahre waren Sie Mitbegründerin des "Verbandes der Filmarbeiterinnen". Welche Ziele verfolgte der Verband? +Wir wollten ein eigenes Netzwerk für weibliche Filmschaffende aufbauen, auch um uns gegenseitig moralisch zu unterstützen. Damals dachten viele Frauen, sie seien auf dieser Welt mit ihren Problemen allein. Es war uns wichtig, dass Frauen mit in die Produktionen kommen oder Kamerafrauen nicht abgelehnt werden, weil sie angeblich keine schwere Kamera tragen können. Was absurd ist, Frauen tragen doch ein dreijähriges Kind und die Einkäufe in den vierten Stock. Man traute uns auch keine großen Budgets zu. Obwohl Frauen im Alltag, wenn auch in Absprache mit ihrem Ehemann, das Geld im Haushalt verwalteten. +Ula Stöckl wurde 1938 in Ulm geboren. Sie gilt als eine der wichtigsten Vertreterinnen des Neuen Deutschen Films der 70er-Jahre. Viele ihrer über 30 Filme thematisieren die weibliche Emanzipation in einer von Männern dominierten Gesellschaft. Meist schrieb sie auch das Drehbuch und produzierte die Filme. +In "Neun Leben hat die Katze" zeigen Sie, wie schwierig es sein kann, Strukturen zu ändern. Ihre Protagonistinnen sind selbstbestimmt und doch unsicher. Einige brauchen weiterhin die Bestätigung durch Männer. +Jeder Mensch ist widersprüchlich. Das interessiert mich am meisten. Außerdem greife ich damit die Zeit auf. Für einige Frauen war es damals wichtig, männliche Bestätigung zu bekommen – auch in der Filmbranche. Sie waren so erzogen. Es gab auch noch kaum Frauen in wichtigen Positionen, von denen frau sich Bestätigung holen konnte. Und wir mussten erst ein Bewusstsein dafür schaffen, dass auch Frauen den männlichen Blick hatten, den sie verlieren mussten, um eine andere Perspektive zu gewinnen und ihren eigenen Weg zu finden. Heute kann frau sich Bestätigung und Kritik von Frauen holen. Darüber bin ich sehr froh. +Noch immer arbeiten wenige Frauen in der Filmbranche. 2014 wurde der Verein "Pro Quote Regie" gegründet, der heute "Pro Quote Film" heißt. Auch Sie haben mitunterzeichnet. +Ja. Weil alles andere noch 200 Jahre dauern könnte. Frauen haben im Film immer schon eine Rolle gespielt. Wir haben uns damals mit dem "Verband der Filmarbeiterinnen" in den 70ern schon für eine Quote eingesetzt. Deshalb fand ich toll, dass jetzt die Forderung nach der Quote wiederkam. Wir wollen weiterhin die 50 Prozent! Es müssen mehr Frauen in die Branche! Und sie müssen die gleichen Gelder kriegen und nicht nur die kleinen Budgets. +Im Zuge der #MeToo-Debatte gehen viele Frauen gemeinsam gegen sexualisierte Gewalt und männliche Machtstrukturen in der Filmbranche vor. Wäre das 1968 auch möglich gewesen? +Unter gar keinen Umständen. Weil Frauen damals als Eindringlinge in eine absolut männliche Domäne verstanden wurden. Die #MeToo-Debatte ist heute durch Social Media so möglich. Sie ist aber auch möglich, weil es mehr Frauen im Filmbetrieb gibt. Und weil es Stars gibt, die sich nach vorne stellen und sich absolut mit Feministinnen identifizieren. 1968 war "Feminismus" ja noch ein Schimpfwort – auch unter vielen Filmemacherinnen. Es hat sich viel geändert, vieles musste sich entwickeln. Ich finde es großartig, dass sich Frauen heute öffentlich äußern und die Täter an den Pranger stellen. Das ist eine neue Generation. Ich hoffe aber auch, dass die Männer dieser Generation mittlerweile anders denken. +Heute gibt es mit"Themis"eine Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt. Bei der Berlinale im Wettbewerb sind fast doppelt so viele Regisseurinnen wie im letzten Jahr. Es geht voran. Woran muss weiter gearbeitet werden? +Da kann ich nur sagen: An allem! +(chs) + + + + +Dann lass Dir von diesen Profis helfen. Die wissen, wie man da hinkommt, was man da macht und wie es da abgeht. +"Ich war zuhause, aber" von Angela Schanelec ist der vielleicht artsy-este Film des Wettbewerbs. In lose verbundenen Szenen aus dem fragilen Leben von Astrid, einer alleinerziehenden, weil verwitweten Mutter (gespielt von Maren Eggert) geht es, nun ja, um Authentizität in den darstellenden Künsten wie Film und Theater. Ein Esel tritt auf, Schulkinder spielen Hamlet und auch sonst ist die Sprache wie im Theater inszeniert, mit seltsam altmodisch klingenden, ausartikulierten Sätzen. Mittendrin aber, Astrid liegt mit ihrem jüngeren Lover im Bett, gibt es diesen wunderbaren "Berliner Kreativmilieu in den 2010er-Jahren"-Dialog: +Sie: Wann sehen wir uns wieder? +Er: Ich weiß nicht? Morgen? +Sie: Was machst du heute Abend? +Er: Ich geh mit meinem Vater essen. +Sie: Nur ihr zwei? +Er: Ja … ich will Geld von ihm. +Sie: Für deine App? +(mbr) + + + +Titelbild: Deutsche Kinemathek / Ula Stöckl diff --git a/fluter/feministische-revolution-iran.txt b/fluter/feministische-revolution-iran.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..19453cbb18a1987bf86e4590cd5648bbdf7a41f3 --- /dev/null +++ b/fluter/feministische-revolution-iran.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Ich komme aus einer sehr konservativ-religiösen Stadt, wo die Gesetze besonders eifrig befolgt werden. Doch auch hier gibt es Familien, die für ihre Töchter einen freieren Weg suchen, Familien wie meine. Ich habe als Mädchen Karate gemacht und Tennis gespielt, während vielen anderen jungen Frauen um mich herum verboten wurde, Sport zu treiben – weil Sportihre Jungfräulichkeit beschädigen könnte. +Mit 18 hatte ich einen Freund.Bei jedem Treffen hatten wir Angst, von der Sittenpolizei aufgegriffen zu werden. Denn tagtäglich drangsalieren die Sittenwächter iranische Frauen und Mädchen und verhören iranische Männer, während die Kinder von Regierungsbeamten in den sozialen Netzwerken ihr luxuriöses Leben außerhalb von Iran zur Schau stellen – finanziert durch Geld aus den Taschen der iranischen Bevölkerung. +Mein Mann ist im selben patriarchalen System aufgewachsen wie ich. Ein System, das Männern beibringt,Frauen ihre Rechte zu verwehren. Frauen dürfen nicht öffentlich singen, sie dürfen ohne die Erlaubnis ihres Mannes nicht verreisen, vor Gericht ist ihre Stimme nur halb so viel wert wie die eines Mannes. Als ich mich an der Universität bewarb, war mein Mann dagegen. Er hatte Angst, dass ich meine Verpflichtungen als Mutter und Ehefrau vernachlässige. Ich studierte dennoch und war plötzlich nicht mehr die isolierte Ehefrau und Mutter. +Die Ermordung von Oppositionellen, Korruption und Bestechlichkeit der politischen Klasse, die Plünderung der Ressourcen, die Förderung terroristischer Aktivitäten im Ausland: Die Bilanz des iranischen Regimesseit der islamischen Revolution von 1979ist düster. Heute sehen sich viele Menschen in Iran mehr denn je an den Rand gedrängt, auch daher sind die Proteste so groß. +Sieentbrannten im September 2022, als die junge Kurdin Mahsa Amini von der Sittenpolizei verhaftet wurde, weil sie ihr Kopftuch nicht richtig getragen hatte, und in Polizeigewahrsam starb. Die staatlichen Medien behaupteten, sie habe einen Herzinfarkt gehabt, was niemand glaubt. Die Menschen informieren sich im Internet. Der schleichende Zerfall der Islamischen Republikhat auch mit dem Aufkommen der sozialen Medien zu tun. +Getragen vom Mut und Eifer der jungen Generation, die die aktuellen Proteste maßgeblich vorantreibt und über die sozialen Netzwerke organisiert, legen immer mehr Frauen ihre Kopftücher ab, um ihr Haar nicht länger zum politischen Werkzeug in den Händen des Regimes zu machen. Die Menschen verteilen Flugblätter, bieten Umarmungen auf der Straße an, um Liebe zu verbreiten und Solidarität zu erzeugen. +Die Polizei antwortet darauf mit zunehmender Gewalt. Doch jedes Mal, wenn Kinder und junge Menschen verschleppt oder getötet werden, wächst die öffentliche Wut, und mehr Menschen gehen auf die Straße. Sieschubsen den Mullahs ihre Turbane vom Kopfund verbrennen Porträts vom obersten geistlichen Führer des Landes, Ali Khamenei. Die Regierung hat Angst vor den Menschen. Ich kann es an den nervösen Blicken der Polizisten sehen. Bei den Demos trugen viele von ihnen Masken, um nicht erkannt zu werden, als hätten sie Sorge, eines Tages vor den Leuten, die sie durch die Straßen treiben, Rechenschaft ablegen zu müssen. Dieser Aufstand ist kein Protest mehr, es ist der Beginn einer wahren Revolution. +Es ist eine Flut, die von jugendlichem Mut inspiriert ist – und die nicht abebben wird, bis dieses System untergeht. Vor meinen Augen sehe ich die helle Zukunft Irans in der Zeit nach der Islamischen Republik. Ich sehe den Tag, an dem die Menschen ihr Schicksal in einer liberalen Demokratie und durch faire und freie Wahlen selbst bestimmen. Ich sehe ein Land, in dem Frauen und Kinder wie Menschen behandelt werden. Durch das Blut, das vergossen wird, durch die Aktivistinnen, die in den Gefängnissen für die Freiheit kämpfen, wird diese Revolution siegreich sein. + +Titelbild: SalamPix/ABACA | abaca/picture alliance diff --git a/fluter/feministischer-funk-von-frauen-aus-brasilien.txt b/fluter/feministischer-funk-von-frauen-aus-brasilien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0834eb4a9497132adc9dfa77d304bd4478bbb126 --- /dev/null +++ b/fluter/feministischer-funk-von-frauen-aus-brasilien.txt @@ -0,0 +1,26 @@ + +2018wählten die Brasilianer*innen einen Präsidenten, der gegen Frauen, Schwarze und Queere hetzte, gegen Menschen wie Doralyce. Brasilianischer Funk wurde dadurch noch wichtiger – als ein Sprachrohr der Marginalisierten. Doch seine Anfänge gehen zurück bis in die 1980er-Jahre, als Funk aus den USAdie Favelas von Rio de Janeiroerreichte. Erst mischten die Bewohner*innen Soul und lateinamerikanische Beats in die Musik, dann begannen sich die Texte um das harte Leben in den Favelas zu drehen, um Armut, Drogen und Gewalt. Brasilianischer Funk ist aus einer Spielart des US-amerikanischen Hip-Hops entstanden. +Und wie  im Hip-Hop nennen sich die meisten Künstler*innen MC, Master of Ceremonies. Nach wie vor sind es in der Regel Männer. Frauen stoßen oft auf massive Widerstände. Inzwischen aber mischen immer mehr Frauen die Funk-Szene auf – wie Doralyce. Hinter ihr auf der Bühne beginnt ihre Band, die ersten Noten von "Miss Beleza Universal" zu spielen. Doralyce hebt ihr Mikrofon zum Mund. +Magra, clara e alta (Dünn, weiß und groß)Miss beleza universal (Miss Universal Beauty)É ditadura ia! (Das ist schon Diktatur)Quanta opressão (Eine solche Unterdrückung) +Langsam geht sie in die Hocke. Dann bewegt sie ihre Hüften zu den schnellen Beats. "Twerken" heißt der Tanzstil im Hip-Hop, die Variation im brasilianischen Funk wird "Rebolar" genannt. Die Menschen im Publikum jubeln. Wenige Tage später sagt Doralyce: "Funk ist eine Form von Empowerment der Frau." +Ein dunkler Raum, ein Sofa, ein Computer mit riesigem Bildschirm, hüfthohe Lautsprecher und seit neuestem: ein ordentliches Mikrofon. Iasmin Turbininha, 25, empfängt in ihrem Favela-Studio. So nennt sie es. Sie sagt: "Ich hatte nie weibliche Vorbilder." Iasmin Turbininha ist die erste weibliche Funk-DJ aus den Favelas. +Sie, die mit bürgerlichem Namen Iasmin Soares do Santos heißt, ist in der Favela Mangueira aufgewachsen. Ihre erste Musik mixte sie mit einem Handymikrofon im Internetcafé. Mehr war nicht drin. Ihr kleines Favela-Studio ist für sie der Inbegriff von Erfolg. +"Funk hat mein Leben verändert", sagt Iasmin Turbininha. Schon als Kind hatte ihre Mutter sie zu Funk-Partys mitgenommen. Früher konnte sie sich nicht mal einen eigenen Computer leisten, der Tag, an dem ihre Tante ihr das erste Notebook schenkte, sei "der glücklichste Tag" in ihrem Leben gewesen. Inzwischen wird sie auf der Straße erkannt. +Es habe aber immer wieder Männer gegeben, die ihr klarmachen wollten, dass es im Funk keinen Platz für lesbische dicke Frauen wie sie gebe. Doch sie machte einfach immer weiter. Iasmin Turbininha sagt: "Funk gehört nicht einem Geschlecht, Funk ist für alle da." +Die Partys, bei denen sie auflegt, heißen Baile Funks. Man kann sie sich wie Straßenfeste vorstellen, mitten in der Stadt oder auf Fußballplätzen. Um die Tanzfläche herum stehen Verkaufsstände mit Getränken und Essen. Von deren Umsatz werden die Auftritte der Künstler*innen bezahlt. Es gibt eine Bühne mit Musikboxen größer als ein Mensch. Brasilianischer Funk muss laut sein, so laut, sagen manche, dass man den Beat mit jeder Faser des Körpers spürt. +Baile Funks sind in Rio de Janeiro gerade weitab von den schicken Bars und Clubs voller Tourist*innen beliebt. Fragt man die Kinder in den Favelas, was sie einmal werden wollen, dann sind die Antworten sehr, sehr oft: Fußballer*in oder Funk-Künstler*in. +Iasmin Turbininha will den Frauen und Mädchen aus den Favelas Mut machen, Funk aufzulegen. Sie will ein Vorbild sein und ihr Wissen und ihre Ressourcen teilen. So drückt sie ihren Feminismus aus. "Der Platz von Frauen im Funk ist, wo immer sie sein wollen." +Wenn Iasmin Turbininha eins ihrer Sets beginnt, ruft sie: "JETZT GIBT'S NUR NOCH PUTARIA." Im Funk sind das sexuell explizite Texte. Iasmin Turbininha sagt: "Die Leute hier lieben das." Aber nicht alle: Kritiker*innen behaupten zum einen, die Baile Funks seien gewalttätig und Umschlagplatz von Drogen. Zum anderen seien die Texte frauenfeindlich und die sinnlichen Tanzbewegungen führten zur Sexualisierung und Verwahrlosung der Gesellschaft. +Die Sängerin Doralyce kann bei solchen Argumenten nur müde lächeln. Sie sagt: "Wenn ich Frauen so tanzen sehe, dann freue ich mich, befreite Frauen zu sehen. Tanzen ist politisch. Nicht die tanzenden Frauen machen sich zu Sexobjekten, sondern diejenigen, die die Bewegungen so sexuell interpretieren." +Wie tanzen die Menschen zu Funk? Über 400 Kilometer von Rio de Janeiro entfernt ruft Renata Prado durch den Raum: "Lasst das Becken kreisen! Ohne dabei den Rücken zu bewegen!" Im Hintergrund läuft Funk, während die Schüler*innen vor einem großen Spiegel den perfekten Hüftschwung üben. +Prado gibt regelmäßig Funk-Tanzstunden im Kulturzentrum Casa Preta Hub im Zentrum von São Paulo. Besonders die Twerk-Variante Rebolar ist eine Herausforderung. "Knick in die linke Hüfte, Hüfte nach hinten, Knick in die rechte Hüfte, Becken nach vorne", leitet Prado ihre Schüler*innen an. Das ist gar nicht so einfach. Nach der Stunde sagt sie: "Viele sind erst mal schüchtern. Funk als Kultur wurde ja immer als vulgär betrachtet." +Allein dass es solche Kurse wie den von Prado gibt, zeigt, dass Funk – und alles, was kulturell dazugehört – nicht mehr aus der brasilianischen Gesellschaft wegzudenken ist. Trotzdem versuchen Konservative immer wieder, Funk verbieten zu lassen. +In der Geschichte Brasiliens war das schon einmal so, dass Kunst von Schwarzen Menschen herabgesetzt wurde – vor rund 100 Jahren. Da wurde in den Favelas Rio de Janeiros Samba gespielt – die Musik ehemaliger Sklav*innen und ihrer Nachfahr*innen. In den 1930er-Jahren landeten "Sambistas" reihenweise im Gefängnis. Wie damals gilt noch heute:Kriminalisiert man die Kultur einer Bevölkerungsgruppe, kriminalisiert man indirekt auch immer die Menschen.Doch sehr schnell war Samba nicht mehr wegzudenken aus Brasilien +Ähnlich wie beim Samba erfordert das Funk-Tanzen Muskelkraft in den Oberschenkeln, den Gesäßmuskeln und rund um das Becken. "Viele Frauen lernen nie, ihr Becken zu bewegen", sagt Prado. Das sei nicht nur fürs Tanzen wichtig, sondern auch Training für ein gutes Sexleben. Natürlich sei es problematisch, wenn Frauen in einer unterordnenden Rolle dargestellt würden, sagt sie. "Es ist anders, wenn die Frau selbst darüber bestimmt, wo und wie und in welcher Position sie ihren Körper bewegt." +Doralyce hat ihren Nachnamen abgelegt. Nicht einmal mehr auf ihrem Führerschein steht er. Er sei "Teil des Patriarchats", sagt sie ein paar Tage nach dem Konzert beim Interview in ihrer Wohnung. +Geboren wurde Doralyce in Pernambuco, einem eher armen Bundesstaat im Nordosten Brasiliens. Als sie nach Rio kam, faszinierten sie die Stadt und, besonders, Funk. "Frauen und Marginalisierte erkämpfen sich darin einen Platz, gleichzeitig ist die Musik ein Werkzeug im Kampf gegen das Patriarchat", sagt sie. Deshalb sei es nur logisch gewesen, ein so feministisches Lied wie "Miss Beleza Universal" auf Funk-Beats zu texten. +Doralyce erzählt, wie die Regierung Bolsonaros die Mittel für Musik von schwarzen oder armen Menschen extrem kürzte. Als eine seiner ersten Amtshandlungen löste Bolsonaro Anfang 2019 sogar das Kulturministerium auf. "Stattdessen gab es Geld für Gospel", sagt Doralyce. Schon vor zwei Jahren hat sie Bolsonaro einen Song gewidmet:"Vamos derrubar o governo" heißt er. Auf Deutsch: "Wir werden die Regierung zerstören". Darin prangert sie auch die Polizei an, die so viele unschuldige Menschen bei ihren Einsätzen töte. Der Song ist auch ein Aufruf zum Widerstand. +Zur Freude von Doralyce, aber auch von Iasmin Turbininha und Renata Prado ist die Präsidentschaft von Bolsonaro vorbei. Ende Oktober unterlag er in der Stichwahlseinem sozialdemokratischen Herausforderer "Lula" da Silva. Seit Beginn des Jahres regiert er nun in Brasilien. +"Wir werden die Regierung zerstören." Bei dem Konzert Anfang November spielte Doralyce auch diesen Song, allerdings mit einem abgeänderten Ende. Sie sang: "Wir haben die Regierung zerstört." + +Fotos: Ian Cheibub diff --git a/fluter/feministischer-science-fiction-fantasy-roman-naomi-alderman-die-gabe.txt b/fluter/feministischer-science-fiction-fantasy-roman-naomi-alderman-die-gabe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..48142215b8592348bb2da129f805c4e0fbfac340 --- /dev/null +++ b/fluter/feministischer-science-fiction-fantasy-roman-naomi-alderman-die-gabe.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Tja, was wäre, wenn es dieses sehr spezielle weibliche Organ wirklich gäbe? Dann wären Frauen das stärkere Geschlecht. Und was würde das für die gesellschaftlichen Machtverhältnisse bedeuten? "Die Gabe" entwickelt aus dieser Frage das spannende Szenario eines Romans mit Fantasy- und Science-Fiction-Elementen. +Vier Hauptfiguren, drei davon weiblich und eine männlich, stehen im Zentrum des Geschehens – oder der Geschehen; denn wenn allen jungen Frauen auf einmal ein neues Strom-Organ wächst, müssen die Auswirkungen natürlich weltweit zu spüren sein. Für diese globale Perspektive ist Tunde zuständig, ein junger Journalist aus Nigeria, der als sehr junger Mann bei einem Annäherungsversuch an ein Mädchen im wahrsten Wortsinne abblitzt. Als er kurz darauf eine Kampfszene zwischen zwei jungen Frauen im Supermarkt beobachtet, weiß er, dass etwas Außergewöhnliches im Gange ist, und geht mit der Kamera auf Bilderjagd. Es gelingt ihm, ein erstes Video an CNN zu verkaufen. In den folgenden Jahren wird er zu einem international bekannten Reporter, der überall auf der Welt die gesellschaftlichen Veränderungen dokumentiert, die durch den weiblichen "Strang" auf einmal stattfinden. +In parallelen Erzählsträngen werden derweil die Geschichten der drei weiblichen Hauptpersonen entwickelt: zum einen die Geschichte der jungen Amerikanerin Allie, die ihren Pflegevater umbringt, als der sie vergewaltigen will. Auf der Flucht entdeckt Allie bei sich die Fähigkeit, mit gezielt eingesetzten Stromdosen andere Lebewesen unmerklich zu beeinflussen. Als "Mother Eve" wird sie zur Begründerin einer neuen Kirche. Zum anderen verfolgen wir die märchenhafte Karriere der jungen Engländerin Roxy, die mit einem enorm starken Strang gesegnet ist und mit einem Gangsterboss als Vater. Dessen Geschäfte übernimmt sie als Erwachsene und zieht dabei fatalerweise den Neid ihres Bruders auf sich. Die dritte weibliche Hauptfigur ist eine amerikanische Politikerin, die von ihrer Tochter die "Gabe" übernommen hat und damit einen unerwartet großen Karrieresprung machen kann. +Im Laufe des Romans wird die Handlung rasanter, aber auch abstruser – die Erzählstränge laufen aufeinander zu und enden verknäult in einem Bürgerkriegsland im Kaukasus, wo eine Armee von Männerrechtlern gegen ein Feminazi-Regime kämpft. Blutige Merkwürdigkeiten geschehen. Allmählich beginnt man sich zu fragen, ob das Aldermans Ernst sein kann… und findet die Erklärung in der nachgereichten Rahmenhandlung, die in einem fiktiven Mailwechsel zwischen der Autorin und dem eigentlichen, ebenso fiktiven Autor des Romans besteht. Das ist Naomi Aldermans eigentlicher Geniestreich: Diese ganze verrückte Story, so offenbart der Dialog, ist der Phantasie eines gewissen Neil entsprungen, der damit ein Szenario entwirft, wie die Geschichte vor dreitausend Jahren abgelaufen sein könnte, als die Frauen die Macht auf der Erde übernahmen. Die Naomi in diesem Mailwechsel sieht allerdings Neils Überzeugung, dass zuvor die Männer das herrschende Geschlecht gewesen seien, mit großer Skepsis… +Mit diesem doppelten Boden entzieht die Autorin sich einerseits der Verantwortung für ihre Geschichte. Andererseits wirft sie aber dadurch – auch weil das Machtgefälle zwischen Naomi und Neil nur angedeutet ist, wir also nur erahnen, wie das Leben in einer weiblich bestimmten Welt aussieht – um ein paar grundlegende Fragen auf: Wäre die Welt wirklich besser, wenn Frauen das starke Geschlecht wären? Muss es für die Menschen der fernen Zukunft wirklich noch von Bedeutung sein, welches Geschlecht die größere physische Power hat? Wäre nicht vielleicht auch eine Welt denkbar, in der, ungeachtet aller körperlichen Unterschiede, Frauen und Männer überall als sozial gleichberechtigt betrachtet und behandelt werden? Diese Option scheint Aldermans Roman nämlich nicht zu eröffnen. Menschen tun anderen Menschen darin das an, was sie können. Alle Menschen. Und deshalb wird immer das stärkere Geschlecht über das schwächere herrschen. Ein frustrierend pessimistischer Ausblick. Aber, Ms. Alderman, das meinen Sie doch nicht wirklich ernst, sondern nur polemisch. Oder? diff --git a/fluter/fernweh.txt b/fluter/fernweh.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/festival-nur-fuer-frauen.txt b/fluter/festival-nur-fuer-frauen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..05ba927d8582d78b6442146ade900ba8ea1162c1 --- /dev/null +++ b/fluter/festival-nur-fuer-frauen.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Ein paar Monate nach deinem Tweet hast du eine Crowdfunding-Kampagne gestartet. Innerhalb von 30 Tagen haben über 3.000 Leute rund 56.000 Euro gespendet. Wie erklärst du dir diesen riesigen Zuspruch? +Wie ist die Situation auf deutschen Festivals? +Beim Hurricane Festival wurden dieses Jahr vier Anzeigen wegen sexueller Belästigung erstattet und eine wegen Vergewaltigung. Bei Rock am Ring kommt es jedes Jahr zu ein bis zwei Anzeigen wegen Belästigung. Die Dunkelziffer dürfte aber groß sein, da die Hürde hoch ist, während des Festivals tatsächlich zur Polizei zu gehen. Viele Veranstalter richten mittlerweile safe spaces ein, zu denen nur Frauen Zugang haben. Beim Southside und Hurricane Festival gelangte man zu diesen Orten über ein Codewort. Um in den safe space gebracht zu werden, mussten Betroffene sich mit der Frage "Wo geht's nach Panama?" an die Mitarbeiter wenden. Denn auch das laute Rufen um Hilfe kann eine Hürde darstellen. +Als ich den Tweet absetzte, erwartete ich nicht eine einzige Reaktion. Kurze Zeit später standen da plötzlich mehrere tausend Kommentare und Likes. Mir war klar: Dieses Festival muss stattfinden. Die Leute scheinen es leid zu sein, mit all den sexuellen Übergriffen und der Angst vor Vergewaltigung leben zu müssen. Sie sehnen sich nach sicheren Orten. +Gab es auch Gegenwind? Kritiker entgegnen doch bestimmt, dass eine solche Separierung nicht die Lösung sein kann, oder gar männerfeindlich ist. +Wir haben in Schweden nur positive Rückmeldungen bekommen – auch von Männern. Aber ja, ein solches Festival ist natürlich nicht die einzige Lösung. Ein männerfreies Festival ist eine Reaktion auf Gewalt, die Frauen angetan wird. Wir wollen damit ein Statement abgeben. Das bezweckt zum Beispiel auch, dass mehr Leute über das Thema reden und mehr Frauen sich trauen, sexuelle Gewalt bei der Polizei anzuzeigen. +Und was wären weitere wichtige Maßnahmen? +Bildungsprogramme sind gut. Aber es fängt ganz einfach an: Männer müssen anfangen, miteinander zu reden. Der Vater, der seinem Sohn beibringt, sich respektvoll und anständig zu benehmen, die zwei Freunde, die sich gegenseitig von Situationen berichten, die sie nicht okay fanden. Um sexuelle Übergriffe auf Dauer zu bekämpfen, müssen sich die Männer ändern, nicht die Frauen. +Emma Knyckare ist Fernsehmoderatorin und Komikerin. Mit dem männerfreien Festival ist es ihr aber sehr ernst +Wie sorgt ihr dafür, dass wirklich kein Mann auf dem Festival mitfeiert? +Wir gucken jedem am Eingang in die Unterhose (lacht). Nein, dann wären wir ja selber Vergewaltiger. Tatsächlich wollen wir nur auf Cis-Männer verzichten: Männer, die bei der Geburt als solche identifiziert wurden und heute auch als Männer leben. Für Transpersonen und Queers sind wir offen. Wer ein Ticket kauft, muss ein Formular mit vielen Fragen ausfüllen – welche genau, müssen wir noch überlegen. Auf alle Fälle vertrauen wir darauf, dass die Gäste dadurch verstehen, für wen wir das Festival machen, und das respektieren. Und zusätzlich werden wir besonders viel und professionelles Security-Personal einstellen. +Auf einem männerfreien Festival wird es – hoffentlich – keine sexuellen Übergriffe geben. Was ändert sich dadurch noch? +Auf dem Gelände stehen sehr viele Toiletten (lacht). Es wird nicht in jede zweite Ecke jemand hinpinkeln. Außerdem wird es keine Männer geben, die ungefragt am Strand lauthals Gitarrensongs schrammeln. Nein, im Ernst: Ich weiß es nicht, denn auf einer Party ohne Männer war ich noch nie. Es ist ein Experiment. Oft wurde mir übrigens vorgeschlagen, nicht Männer, sondern Alkohol zu verbieten. Aber das ist nicht das Problem. Das Problem sind diejenigen, die sich vollkommen danebenbenehmen, wenn sie Alkohol getrunken haben. Und das sind leider fast immer Männer. +Wie weit seid ihr schon mit der Vorbereitung fürs Statement Festival 2018? +Über 20 erfahrene Leute kümmern sich bereits um die Organisation. Am 19. November, dem internationalen Männertag, geben wir Ort und Datum bekannt. Das Booking läuft auch schon an. Es gibt eine Comedy- und eine Musikbühne, auf denen möglichst keine Cis-Männer performen sollen. Aber das wollen wir nicht starr vorschreiben. Das Wichtigste ist, dass das Festival einsafe spaceist. +Wird es das Festival jedes Jahr geben? +Na klar. Und irgendwann, wenn sie aufgehört haben, zu belästigen und zu vergewaltigen, dürfen bestimmt auch wieder alle Männer mitfeiern. + + diff --git a/fluter/fett-und-fett-serie-zdf-neo-rezension.txt b/fluter/fett-und-fett-serie-zdf-neo-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e44fdd98cbcc4392a2d3e561e6b4e29b0c5cb97a --- /dev/null +++ b/fluter/fett-und-fett-serie-zdf-neo-rezension.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Um Freundschaft, Liebe undSelbstverwirklichung im Job– beziehungsweise die Frage, wie sehr man sich im Job verwirklichen soll, wenn der so viel Raum einnimmt, dass man anfängt, Freund:innen auf den nächsten Monat zu vertrösten, "wenn es wieder ruhiger wird". Jaksch steht seinem Freund Bulli nicht bei, als der mit Liebeskummer und Bier vor der Tür steht, weil Jaksch wegen der Arbeit früh aufstehen muss. Beim Junggesellenabschied eines anderen Freundes sitzt er im Hotelzimmer am Laptop. Wie schon in den ersten Staffeln ist Jaksch permanent lost. Er tut sich schwer, Entscheidungen zu treffen, in den Bus, der ihn zu einer Verabredung bringen soll, steigt er viermal ein und wieder aus. Jaksch hinterfragt, was er wirklich will und ob er nicht Zielen hinterherläuft, von denen er nur denkt, dass er sie haben sollte. Scheinbar unendliche Wahlmöglichkeiten und die Frage, ob das wohl bis ans Lebensende so weitergehtmit der Work-Life-Imbalance:"Fett und Fett" erzähltvon Problemen, mit denen sich viele Menschen zwischen 20 und 30 rumschlagenund die nur von außen betrachtet wie Luxusprobleme aussehen. + +Der Serientitel erklärt sich aus einer Anekdote, die Jaksch in jeder Staffel zum Besten gibt: Im Leben, so Jaksch, kommt man irgendwann an einen Punkt, an dem man merkt, dass es nur wenige Dinge im Leben gibt, die einem Spaß machen: Essen, Trinken, Sex und Geld. Geld und Sex seien schwierig zu haben, also ende man "fett und besoffen": fett und fett ("fett" heißt im Österreichischen so viel wie betrunken). + + +In einem Moment melancholisch, dann wieder komisch, mit tollen Dialogen und skurrilen Momenten. Als Jaksch beispielsweise mit einer Freundin um die Häuser zieht und die Sonne aufgeht, spielt wie aus dem Nichts ein Orchester auf einer Brücke den Schlager "Schreib es mir in den Sand". In einer anderen Szene erscheinen Jaksch plötzlich ganz unterschiedliche Versionen seiner selbst – vom Business-Mann bis zum Kiffer. Ohnehin steht in jeder Folge eine andere Figur im Mittelpunkt, eine Episode ist sogar größtenteils aus Bullis Perspektive erzählt. + +… kommt von Jaksch: "Die ganze Zeit will ich Sachen, auf die ich eigentlich keinen Bock habe." Schließlich möchte er im Grunde gar keinen Sport machen oder unbedingt ein eigenes Stück produzieren. Aberdie Erwartungen – sowohl seine als auch die seines Umfelds – sind schwer abzuschütteln. + +Absolut und auch ein zweites und drittes Mal. "Fett und Fett" steckt voller liebevoller Details, die man zum Teil erst beim wiederholten Schauen entdeckt. Wenn man einmal anfängt, sich mit Jaksch durch München und seine Begegnungen mit Menschen treiben zu lassen, kann man nur schwer wieder aufhören. + +Die neue Staffel "Fett und Fett" läuftin der ZDF-Mediathekund ab dem 26. Juli auf ZDFneo. Die alten Folgen gibt es gerade auch wieder in der ZDF-Mediathek zu sehen. + diff --git a/fluter/feuchte-sache.txt b/fluter/feuchte-sache.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..af81cad535e64a53b4d600e1ce54a2deff9a8fb7 --- /dev/null +++ b/fluter/feuchte-sache.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Die Geschichte des finnischen Saufens beginnt irgendwann im späten 16. Jahrhundert mit dem ersten Schnapsbrennen. Die Finnen, damals ein Teil des schwedischen Königreiches, hielten Schnaps lange für ein Wunderheilmittel, mit dem man allerlei Beschwerden lindern könnte. Schnapsbrennen im eigenen Kessel fand auf praktisch jedem Bauernhof statt. Mit der Folge, dass der Konsum fröhlich stieg, bis der Klerus im Jahr 1686 eingriff und das Trinken in der Kirche verbot. Schon knapp 50 Jahre zuvor hatte bereits das unter Druck geratene schwedische Königshaus begonnen, den Alkoholkonsum in den Städten zu besteuern. Die Schnapsidee wurde zur Gelddruckmaschine: Sobald mehr Geld gebraucht wurde, schränkte man einfach die Erlaubnis für Schnapsbrennerei ein, was die Bauern in die Läden trieb. Berauscht von den Erfolgen versuchte man 1776 ein staatliches Alkoholmonopol durchzusetzen und die Privatbrennerei zu verbieten. Die Idee stieß auf heftigen Widerstand; erst 1866 gelang es dem Staat, das Brennen zum Eigenbedarf zu verbieten. In der Folgezeit wurde nicht nur die Herstellung, sondern auch Verkauf und Ausschank in den Städten eingeschränkt. Die Verbote betrafen allerdings nicht die Restaurants des Großbürgertums, da man lediglich die Trinkgewohnheiten des Proletariats für problematisch hielt. +Zeitgleich entwickelte sich in Finnland eine zutiefst puritanische Vorstellung von Nüchternheit als Grundlage erfolgreichen Lebens. Der Verein "Freunde der Abstinenz" lancierte 1883 eine ebenso aggressive wie erfolgreiche PR-Kampagne, um ein Alkoholverbot durchzusetzen. Abstinenzler und für Prohibition kämpfende Politiker kreierten den Mythos vom finnischen "Trinker-Gen": eine haarsträubende biologistische Erklärung, nach der sich Finnen unter der Einwirkung von Alkohol unzivilisierter und gewalttätiger verhalten als andere Völker. Die inzwischen widerlegte These ist noch immer in weiten Teilen des Landes verbreitet. Das Alkoholverbot trat 1919 in Kraft – und ging in die finnische Geschichte ein als das am häufigsten verletzte Gesetz. Das heimliche Selbstbrennen nahm rapide zu, die Schmuggelwege florierten, und mit codierten Bestellungen konnte man in Restaurants illegalen Alkohol erstehen, populär waren "ein starker Tee" oder "ein verstärkter Kaffee". Als der wirtschaftliche Zusammenbruch zu Beginn der 1930er Jahre den Staat fast ausblutete, besann man sich auf ein altes Modell: staatliche Alkoholabgabe. Eine Volksabstimmung ergab, dass über 70 Prozent eine derartige Sache für sinnvoll erachteten. Als Folge wurde 1932 die Monopolgesellschaft Oy Alkoholiliike Ab, später kurz: Alko, gegründet. +Wie fast alle traditionellen finnischen Firmen hat auch Alko eine starke Verbindung zum einschneidendsten Ereignis in der jüngeren finnischen Geschichte: dem "Winterkrieg". 1939 überfiel die Sowjetunion das souveräne Finnland. Die Finnen, unvorbereitet und schlecht ausgerüstet, stellten sich dem Erzfeind auf Skiern entgegen. Weil ihnen Panzerfäuste fehlten, bastelten sie Wurfbrandsätze aus Flaschen, gefüllt mit leicht entzündlichen Flüssigkeiten, und nannten sie nach dem damaligen sowjetischen Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten "Molotow-Cocktails". Alko übernahm die Produktion und lieferte im Laufe des Winterkrieges über 450.000 Stück an die Front. An ein Alkoholverbot war während und nach den Wirren des Krieges nicht mehr zu denken. Aber mit wachsender Sorge beobachtete man die Auswüchse des Alkoholmissbrauchs. Um den Konsum zu kontrollieren, wurde ein einzigartiges Überwachungssystem eingeführt: Jeder Alko-Einkauf wurde auf einem persönlichen "Schnaps-Schein" registriert. Kaufte ein Kunde zu viel, wurde er zum Beratungsgespräch vorgeladen. Auch wenn die Kontrolle nach und nach bis zur Aufgabe im Jahr 1958 abgeschwächt wurde, blieb die "Schnaps-Karte" bis 1971 bestehen. +Früh identifizierte man ein Hauptproblem im Trinkverhalten der Finnen: Sie tranken eher Spirituosen als Bier oder Wein. Zur Olympiade in Helsinki 1952 veröffentlichte Alko deshalb einen Leitfaden für gutes Benehmen, der die Finnen im Vorfeld der Olympiade mit "europäischen Sitten" bekannt machen sollte. Um der Kampagne Nachdruck zu verleihen, wurden die Preise für Bier und Wein gesenkt, die für Spirituosen erhöht. Ziel war es, die Trinkgewohnheiten der Finnen weg von Hochprozentigem und hin zu milderen Getränken zu lenken. +Mit dem Beitritt Finnlands zur EU veränderte sich alles: Die EU hatte Finnland zwar noch das Recht zugestanden, während einer Übergangszeit den Alkoholimport strikter als andere Mitgliedsstaaten zu beschränken. Im Jahr 2004 endete aber diese Vorsichtsmaßnahme, und die Finnen durften 110 Liter Bier, 90 Liter Wein, 10 Liter Spirituosen und 20 Liter andere alkoholische Getränke zollfrei einführen. Als Estland im selben Jahr der EU beitrat, befürchtete man – nicht ganz zu Unrecht –, dass der Privatimport von dort astronomische Ausmaße annehmen würde. Die finnische Regierung reagierte schnell, indem sie die Steuer auf alkoholische Getränke im Durchschnitt um die inzwischen legendären 33 Prozent senkte, um den Binnenmarkt zu stützen. In der Folge stieg der Alkoholkonsum bedrohlich an – schon innerhalb des Jahres 2004 um mehr als neun Prozent. 2005 wurde Alkohol bereits die häufigste Todesursache bei männlichen Finnen im arbeitsfähigen Alter. Ismo Tuominen, Regierungsrat im Sozialund Gesundheitsministerium, bezeichnete die Steuersenkung als "größte sozialpolitische Katastrophe". 2008 und 2009 hob man die Alkoholsteuern in insgesamt drei Schritten erneut an, der Jo-Jo-Effekt trat unmittelbar ein: 25 Prozent mehr Alkohol wurde von den Finnen 2009 aus Estland eingeführt, was die einheimischen Brauereien in Sinnkrisen stürzte. +Finnland ist eine Art Quartalssäufer-Land – bloß, dass die Quartalsabschnitte wöchentlich sind. Weil man beim Militär mittwoch-, freitag- und samstagabends frei hat und weil praktisch alle Männer beim Militär waren, ist dies auch der prägende Trinkrhythmus. Natürlich hat sich in den urbaneren Gebieten auch eine Connaisseur-Kultur durchgesetzt. Es kommt vor, dass man gesittet zum Abendessen ein, zwei Gläser Wein trinkt, ohne gleich die Schnapsflasche unter der Spüle hervorzuholen. Auch haben die Alko-Läden ein hervorragendes Weinsortiment und gut ausgebildetes Personal, das sich vor mitteleuropäischen Sommeliers nicht verstecken muss. Aber das Phänomen ist, vor allem auf dem Land und unter Jugendlichen, seit Jahrzehnten unverändert: In Finnland wird seltener, aber heftiger getrunken. Sinn oder Unsinn des Alkoholmonopols ist das Gesprächsthema, auf das sich Finnen aller sozialer Schichten einigen können. Ganz so, wie ältere Menschen über Gesundheitsthemen zueinanderfinden oder sich wildfremde Männer über Sport verständigen, nutzen Finnen die Debatte über Alkoholsteuer, neue Weine bei Alko oder die Preise für eine Gin-Tonic-Dose auf der Fähre nach Tallinn, um miteinander warm zu werden. Eine Mehrheit im Land befürwortet das Staatsmonopol. Vielleicht, weil sich die Finnen vor sich selbst fürchten, vielleicht aber auch, weil sie froh sind, vom Staat mit "sauberem Stoff" versorgt zu werden. Denn fast jeder Finne kennt eine Geschichte von einem entfernten Verwandten, der sich beim Versuch, selber Schnaps herzustellen, vergiftete oder dabei gar erblindete. diff --git a/fluter/fidschi-ist-ein-schoenes-land.txt b/fluter/fidschi-ist-ein-schoenes-land.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c5ebcb76811ea20f341264917c13f386f3817d5c --- /dev/null +++ b/fluter/fidschi-ist-ein-schoenes-land.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Herr Duc arbeitete fleißig: Erst zeigten sie ihm, wie man schwere Dieselmotoren zusammenbaut, dann wie man dieses Wissen an Lehrlinge weitergibt. Vom sozialistischen Bewusstsein der Deutschen aber war er enttäuscht. Wenn der Meister weg war, begannen die deutschen Kollegen zu trinken oder sie stahlen Sachen aus dem Betrieb. Einmal half er einem Kollegen, der kein Deutsch sprach, eine Jacke zu kaufen, die in einem Schaufensterausgestellt war. "Ham wa nich", schnauzte die Frau die beiden Vietnamesen an. Da erinnerte sich Herr Duc an einen Satz, den er in einem Buch gelesen hatte, das "Rechte der Käufer" hieß. "Sie sind verpflichtet uns alle Waren im Laden zu verkaufen. Wenn die Jacke momentan zu Dekorationszwecken gebraucht wird, holen wir sie in zwei Wochen ab", sagte Herr Duc. Er sagte es leise und bestimmt – sie bekamen die Jacke sofort. Da merkte Herr Duc: Wer in diesem Land etwas erreichen will, muss erstens selber denken und zweitens wissen, nach welchen Regeln man hier spielt. In der Vorwendezeit hielten die Deutschen und ihre Gastarbeiter noch einigermaßen zusammen. Wenn die Magdeburger demonstrieren gingen, passte Herr Duc auf ihre Kinder auf. Doch je mehr sich der Staat auflöste, desto ungemütlicher wurde es für ihn. Als er das erste Mal mitbekam, dass die Deutschen sie Fidschis nannten, verwirrte ihn das ungemein. "Fidschi ist ein schönes Land", sagt Herr Duc. "Die Menschen dort sind sehr kultiviert." Es dauerte nicht lange, dann merkten sie, dass dieses Wort, von dem niemand wusste, woher es eigentlich kam, im Grunde nur ein Synonym für Abschaum war. Es gab ein paar Facharbeiter in seinem Betrieb, die ahnten sehr früh, was nach der Wiedervereinigung mit der Industrie der DDR passieren würde. Sie sammelten Unterschriften bei den Kollegen und forderten: Erst die Vietnamesen entlassen und dann uns. Doch es nützte nicht viel. Anfang der Neunzigerjahre verloren sie praktisch alle ihren Job. In dieser Zeit sprach es sich bei den Vietnamesen herum, dass Herr Duc ein Mensch war, der gut mit den Deutschen umgehen konnte. Sie brauchten seine Beratung dringend: Die Jahre nach der Wende waren nicht gut für sie. +Der Aufenthaltsstatus der vietnamesischen Gastarbeiter war unsicher im vereinigten Deutschland. Anders als die Migranten in Westdeutschland wurden sie bis 1997 nicht als reguläre Arbeitnehmer mit unbeschränktem Bleiberecht anerkannt. Gastarbeiter mussten ihre Heime verlassen und manche wurden obdachlos. Wenn sie bereit waren zurückzukehren, erhielten die Vietnamesen einen Freiflug und 3000 DM. Zwischen 45.000 und 50.000 von ihnen nutzten diese Möglichkeit. Aber es gab auch andere, die bleiben wollten, aber nicht wussten wie man mit einer deutschen Behörde verhandelt. Herr Duc war arbeitslos und hatte viel Zeit. Er half seinen vietnamesischen Landsleuten gern. Die Politiker diskutierten in diesen Jahren nicht besonders viel über Integration, sondern mehr darüber, wie man Gastarbeiter und Asylbewerber am schnellsten loswerden kann. In Rostock-Lichtenhagen griffen Rechtsradikale über mehrere Tage hinweg ein von Vietnamesen bewohntes Haus an und wurden dafür von den Nachbarn beklatscht. In Magdeburg, einer Stadt, in der im Schnitt nur jeder Dreißigste ein Ausländer ist, rasierten sich Jugendliche Glatzen und pöbelten auf der Straße herum. Einmal sagte ein Junge "du Fidschi raus" zu Herrn Duc. Da erwiderte er: "Ich habe mehr für dieses Land getan als du." +Heute lebt Herr Duc noch immer in Magdeburg. Hinter seinem Haus züchten er und seine Frau vietnamesisches Gemüse, das es hier nicht so gut zu kaufen gibt. Herr Duc hat einen deutschen Pass, er hat ein zweites Studium mit besten Noten abgeschlossen, seit über zehn Jahren berät er in Magdeburg Ausländer für die Caritas. Für ein Integrationsprojekt trat er vergangenen Herbst mit einem traditionellen, E-Gitarren-artigen Instrument namens Dan Bao in einem Zelt auf. Er machte ein bisschen Musik und erzählte deutschen Kindern ein Märchen aus Vietnam. +Nach allem, was er erlebt hatte, verstand Herr Duc irgendwann, warum Vietnamesen es so schwer haben in diesem Land. Vor Kurzem hat er ein Buch geschrieben, in dem er erklärt, warum das so ist. Es ist ein Buch voller Missverständnisse und Sonderbarkeiten. Darin steht zum Beispiel, dass Vietnamesen an Feen glauben, dass es Unglück bringt, eine Mutter mit ihrem Neugeborenen zu besuchen, dass Kinder blaue Flecken auf dem Po haben und dass diese Flecken nichts mit Misshandlung zu tun haben. Herr Duc erzählt, dass Vietnam eine konfuzianische Kultur hat, die schon Jahrtausende zurückreicht. Es gibt einen fein gesponnenen Katalog von Regeln, damit jeder weiß, was zu tun ist und was besser nicht. Es ist zum Beispiel äußerst unhöflich, sich in die Augen zu schauen oder den anderen direkt beim Namen anzusprechen. Wenn man etwas ablehnt, sagt man seltsamerweise nicht "Nein", sondern "Ja Ja Ja". Herr Duc kennt eine Vietnamesin, die deswegen mal in eine peinliche Situation geriet. Sie wollte zur Schwangerschaftsberatung, doch sie verirrte sich in die Drogenberatung, wo sie die ganze Zeit nickte, wenn man sie etwas fragte. Es erschien ihr unhöflich zu erklären, dass sie überhaupt nicht süchtig war. "Die Bescheidenheit ist ein großes Problem der Vietnamesen in Deutschland", sagt Herr Duc. Kinderärzte und promovierte Chemiker verkaufen auf Wochenmärkten Obst und Stoffe, ein Kinetiker betreibt ein Lebensmittelgeschäft in Ostberlin. +Im Büro von Herrn Duc hängt versöhnlich wirkender Wandschmuck aus Deutschland und Vietnam. Er sagt, es sei nicht immer einfach gewesen hierzubleiben. Er habe sich oft einsam gefühlt und Heimweh gehabt, doch er sei in Deutschland sehr froh. An einer Pinnwand ist eine Zeichnung von einem kleinen, grünen Frosch im Schnabel eines großen Vogels befestigt. Noch aus dem Schnabel heraus greift der Frosch nach dem Hals des Vogels, um ihn mit letzter Anstrengung zu würgen. "Niemals aufgeben" steht darüber. Herr Duc ist jetzt 54 Jahre alt. Er hat gegen die Amerikaner gekämpft, gegen die Kapitalisten, gegen die Rechtsradikalen in Deutschland. Ein bisschen kann er vielleicht sogar verstehen, wieso sie Jagd machten auf Menschen wie ihn. "Ich habe immer Feinde gehabt", sagt Herr Duc. "Das macht eine Gruppe stark." Aber irgendwie müsse das doch aufhören, sagt er. "Ist es nicht möglich, dass man ohne äußere Feinde zusammenhalten kann?" diff --git a/fluter/fight-for-your-right.txt b/fluter/fight-for-your-right.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..83bd1635e6e04565d7c4b2221dd577fe12514ac6 --- /dev/null +++ b/fluter/fight-for-your-right.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Die Ölpreise steigen, die verfügbaren Ölreserven sinken. Es dauert nicht mehr lang, dann bricht die Gesellschaft zusammen. Ein gewalttätiger Verteilungskampf beginnt, jeder will den letzten Tropfen Öl fürsich gewinnen. Die "Beyond Peak"Gruppe ist für dieses Horrorszenario gewappnet. Sie haben ein Handbuch zur Selbstversorgung erstellt und zeigen auf Spaziergängen durch den Central Parc Pflanzen, die man essen kann. +www.beyondpeak.com +Die Rächer der Entrechteten: Das "Center for Constitutional Rights" wurde 1966 von liberalen Anwälten gegründet, die der Auffassung waren, dass in den USA tagtäglich die Verfassung gebrochen wird. Die Vereinigung setzte sich anfangs vor allem für Afroamerikaner und sozial Benachteiligte ein und lieferte kostenlosen Rechtsbeistand für Bürgerrechtsaktivisten. Heute kämpft das "Center for Constitutional Rights" an vielen Fronten – zum Beispiel dafür, dass die Gefangenen in Guantanamo dieselben Rechte wie alle anderen bekommen.http://ccrjustice.org +Ihre Anhänger kritisieren Überbevölkerung, provozieren Abtreibungsgegner und propagieren Vegetarismus und zeugungsfreien Sex. Sie fordern ein Gleichgewicht zwischen Menschen und den restlichen Lebewesen unseres Planeten. "Save the planet, kill yourself" – lautet eine ihrer Parolen. Neben Selbstmord sind sie auch für Kannibalismus, allerdings netterweise "limitiert auf den Verzehr von Toten". +"Discordianisten" sagen, dass Chaos genauso wichtig ist wie Ordnung, und streben nach Chaos und Meinungsverschiedenheit.www.discordian.com +Für diese gewaltbereiten Ökoaktivisten sind die fetten Jahre vorbei. Sie kämpfen für mehr Naturschutz und nehmen dafür Haftstrafen von bis zu 30 Jahren in Kauf. Neben angezündeten Luxusvillen hat die Gruppe auch einen WalMart auf dem Gewissen, den sie mit einem Lastwagen ramponierte.http://earth-liberation-front.org +Big Brother is watching you – gegen dieses Szenario wehrt sich diese Bürgerrechtsorganisation, die sich für mehr Datenschutz im Cyberspace einsetzt (siehe Seite 38). Sie will die Privatsphäre der US-Bürger wahren, die durch abgehörte Telefonate und gespeicherten E-Mail-Verkehr ausgehöhlt wird. Die "EFF" organisiert Schulungen und verteilt Informationsmaterial. Bei juristischen Problemen, wie beispielsweise Gerichtsverfahren gegen Hacker und Mailboxbetreiber, leistet die "EFF" Rechtsbeistand.www.eff.org +Alle fragen immer, wer diese Emily sei. Dabei bedeutet das einfach: "Early money is like yeast." Also: Frühes Geld ist wie Hefe, weil es aufquillt und zu mehr wird. Bei "Emily's List" geht es darum, Geld für weibliche Politiker der Demokraten zu spenden, die für das Recht auf Abtreibung kämpfen. Und darin sind die Mitglieder von "Emily's List" gut, um nicht zu sagen: phänomenal. Im Wahljahr 2004 lagen sie mit ihren Spenden an der Spitze aller Vereinigungen, sogar weit vor der "NRA".www.emilyslist.org +Die Mission kommt von ganz oben: Die evangelikale Organisation "Focus on the Family" behauptet, ein Sprachrohr Gottes zu sein und Politik nach biblischen Grundsätzen zu machen. Homosexualität ist für sie eine Krankheit und Darwins Evolutionslehre ein dummer Scherz. "Focus on the Family" setzt sich für körperliche Züchtigung von Kindern ein und kämpft vehement gegen Abtreibung und Sex vor der Ehe. Natürlich wehren sich Schwulenverbände, Pädagogen und Wissenschaftler gegen solche Ideen. Doch "Focus on the Family" ist mächtig. Das Herzstück der Vereinigung ist eine tägliche Radiosendung mit dem Gründer James Dobson, die nach eigenen Angaben 220 Millionen Menschen in 160 Ländern hören können.www.focusonthefamily.com +GinkgoBäume in Hiroshima überlebten die Atombombe. Aber der Baum ist nicht allein für seine Lebensausdauer bekannt, sondern auch dafür, dass er zum Himmel stinkt. Weil jeder zehnte Baum in Manhattan ein Ginkgo ist, der vor sich hinmieft, gibt es die "AntiGinkgo Tolerance Group" (AGTG): "Dieser Baum ist es, der dir deinen erholsamen Spaziergang durch den Gestank nach vergammeltem Käse und Erbrochenem unerträglich macht." +Don't do it: Die Mitglieder der Organisation "Celibrate" kämpfen für sexuelle Enthaltsamkeit und Jungfräulichkeit – also für mehr Spaß durch weniger Sex. Man könnte in ihrem Sinne auch reimen: "Say it loud – I'm keusch and I'm proud".www.celibrate.org +Vor allem in den Südstaaten gibt es sie noch: Rassisten, die sich unter weißen Kapuzen verstecken und Hass verbreiten. In den 1920erJahren war der KKK eine einflussreiche Terrororganisation, die mit brennenden Kreuzen demonstrierte und Mordanschläge auf Afroamerikaner verübte. Zwischen drei und fünf Millionen Amerikaner waren Mitglieder dieses Geheimbundes. Der heutige Klan hat damit nicht mehr viel zu tun: Er besteht aus ein paar Tausend Anhängern, die in Kleinstgruppen zersplittert sind und keinen Rückhalt mehr in der Bevölkerung haben. +Dies sind schwule und lesbische Republikaner. Auf ihrer Website erklären sie: "Wir sind loyale Republikaner" und "wir glauben an niedrige Steuern, einen schlanken Staat, eine starke Verteidigung, freie Märkte, persönliche Verantwortung und individuelle Freiheit." Dumm nur, dass die Republikaner den Homosexuellen viele Rechte absprechen.http://online.logcabin.org +Auweia: Die "National Rifle Association" hat mehr als vier Millionen Mitglieder – und alle können schießen. Seit über 100 Jahren verteidigen sie das Recht auf Waffenbesitz, das in den USA sogar in der Verfassung verankert ist. Sie ist eine der mächtigsten konservativen Vereinigungen des Landes und nimmt regelmäßig starken Einfluss auf die Politik. Außerdem veranstaltet die "NRA" Schießwettbewerbe und Demonstrationen, auf denen man Sprüche lesen kann wie: Guns don't kill people, people do. Präsident der NRA war lange Zeit der Filmschauspieler Charlton Heston, den der Filmemacher Michael Moore für seinen Film "Bowling for Columbine" über das Massaker an der Columbine Highschool besucht und mit kritischen Fragen bombardiert hatte.www.nra.org +Bis in die 80erJahre hinein wurden betrunkene Unfallverursacher in den USA nicht in geschlossene Gefängnisse, sondern in den offenen Strafvollzug ("halfwayhouses") geschickt. Nachdem Candy Lightners 13jährige Tochter Cari von einem Betrunkenen überfahren wurde, gründete die Mutter diese Organisation. Sie konnte nicht zuschauen, wie der Mann, der ihre Tochter überfahren hatte, zwar in einem "halfwayhouse" übernachtete, aber dennoch jeden Tag mit seinem Auto zur Arbeit fuhr.www.madd.org +Wäre ExPräsident Bill Clinton 1998 nicht in einen Sexskandal verwickelt gewesen, in dem eine Praktikantin und eine Zigarre die Hauptrollen spielten, würde es die NonGovernmentOrganisation"MoveOn" nicht geben. Das Forum gründete sich aus Protest gegen die mediale Aufmerksamkeit für Clintons Bettgeschichten und hat sich nichts Geringerem als der "Rückeroberung der Demokratie" verschrieben. Heute zählt "MoveOn" knapp 3½ Millionen Mitglieder. Als Gebrauchsanleitung für politischem Aktivismus hat "MoveOn" das Handbuch "50 Ways to Love Your Country" verfasst. Die Organisation rief auch zur Erstellung von AntiBushSpots auf (www.bushin30seconds.org) und sammelt Unterschriften für politische Petitionen – beispielsweise gegen einen Zusatzartikel zur Verfassung, der das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehen bannen soll.www.moveon.org +Wenn über den Broadway ein Lieferwagen mit blutverschmierten Frauen in Pelzen auf der Ladefläche vorbeifährt, sind das garantiert PETAAktivisten. Die "People for the Ethical Treatment of Animals" (dt.:Menschen für den ethischen Umgang mit Tieren) sind mit mehr als zwei Millionen Mitgliedern weltweit die größte Tierrechtsorganisation. Sie wurde 1980 in Norfolk, USA gegründet. Die Organisation kämpft gegen Massentierhaltung, Pelztierhaltung und Tierversuche.www.peta.org +"Green Anarchy" (auf Deutsch "Grüne Anarchie") ist eine anarchoprimitivistische Zeitschrift, die halbjährlich von einer Gruppe aus der Öko-Hochburg Eugene, Oregon, herausgegeben wird. Die Zeitschrift bezeichnet sich selbst als "eine antizivilisationistische Zeitschrift für Theorie und Praxis". +Für alle, denen Greenpeace zu durchgeknallt ist: Der "Sierra Club" ist die älteste Umweltorganisation der USA – und einer der Gründe dafür, dass es so viele Naturschutzparks gibt. Die Mitglieder des "Sierra Clubs" wandern und klettern gerne. Außerdem wollen sie Staudämme abbauen, Atomkraftwerke schließen und Wind- und Solarkraftwerke bauen.www.sierraclub.org +("Studenten für das verdeckte Tragen von Waffen auf dem Campus") Um sich vor potenziellen Amokläufern zu schützen, wollen amerikanische Studenten künftig bewaffnet auf den Campus kommen. "Der einzige Weg eine Person mit einer Knarre zu stoppen, ist eine andere Person mit einer Knarre", lautet das Credo der Bewegung. Sie rührt fleißig die Werbetrommel im Internet. 11000 Unterstützer haben die Waffenfans bereits.www.concealedcampus.org +"The Church of the SubGenius" ist eine Gruppe, die Religionen, Verschwörungstheorien und UFOs verspottet. Bekannt wurde die Kirche in der Subkultur der 1980er und 1990er Jahre. Heute gibt es nur noch versprengte Reste.www.subgenius.com +Im Ersten Weltkrieg wurden Kriegsdienstverweigerer eingesperrt, zur Zeit des Zweiten Weltkriegs wurden sie mit dem Tode bestraft. Deshalb gründeten Kriegsdienstverweigerer die "War Resisters", ein Netzwerk von aktiven Pazifisten. Sie sind für die Abschaffung von Militarismus in allen Formen: sie protestieren gegen Anwerber der USArmy in Schulen und wollen Kriegsspielzeug verbieten lassen. Weltweit unterstützen sie Männer und Frauen, die sich gegen Kriegsdienst wehren.www.warresisters.org diff --git a/fluter/film-120bpm-kampf-gegen-aids.txt b/fluter/film-120bpm-kampf-gegen-aids.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c48779ec07973ef432d7f6f86b1345a46fbe92f7 --- /dev/null +++ b/fluter/film-120bpm-kampf-gegen-aids.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Die Aktivisten wollen das ändern und machen sich für einen anderen Umgang mit der Krankheit und die Rechte von HIV-Positiven stark. Friedlich, mit Bannern auf Demos – "Versteht ihr nicht, dass wir verrecken?" rufend. Oder weniger friedlich mit Kunstblut-Attacken in den Zentralen von Pharmakonzernen, die wichtige Forschungsergebnisse zu HIV und Aids unter Verschluss halten. Massenmedien sollten die Aktionen der Aktivisten aufgreifen und so die Meinungsbildung vorantreiben. +Was soll uns das sagen? +Wie schwer es dieser ersten Generation schwuler Männer, die von Aids betroffen war, fiel, weder an der Krankheit noch an derIgnoranz von Gesellschaft und Politikzu verzweifeln. +Wie wird erzählt? +Mithilfe von Nathan. Als der Mittzwanziger der Gruppe beitritt, wird ihm beigebracht, wie das Aktivist-Sein funktioniert. Immer wieder kehrt die Kamera mit ihm in einen hellen Hörsaal zurück. Die Sitzreihen sind voller junger Männer und Frauen, die meisten haben Aids. Hier findet ein reger Schlagabtausch statt – zehn Minuten lang wird über den richtigen Slogan für die nächste Gay Pride diskutiert. Womit erreichen wir am meisten Aufmerksamkeit? Wie sehr wollen wir schockieren? Der Film nimmt sich viel Zeit dafür. Passend dazu folgt die Kamera intuitiv, wackelt, ohne zu irritieren. +Manchmal versprühen die Aktivisten eine gewollte, inszenierte Coolness – rauchend, in Lederjacke. Was dem Film etwas Selbstironisches gibt, ohne aber den Ernst des Themas aus den Augen zu verlieren. Denn schon bald rückt die Krankheit selbst in den Vordergrund. Nathan ist verliebt. Sein Freund Sean hat Aids, und es geht ihm zunehmend schlechter. Alle paar Stunden muss Sean AZT-Tabletten schlucken. Er bekommt schmerzhafte Beulen an den Füßen, liegt im Krankenhaus und kann den Sinn der Aktivistengruppe, kurz vorm Tod, nicht mehr nachvollziehen. Auch optisch macht Regisseur Robin Campillo die Veränderung für den Zuschauer spürbar – die Bilder werden langsamer, alles Licht wird nach und nach aus den Bildern gesogen. +Beste Szene +Als die beiden Männer im Bett liegen und sich von ihren ersten Beziehungen mit Männern erzählen: Wie sie in den 1980er-Jahren noch kaum etwas über die Krankheit wussten, wie sie diese zunächst nicht einschätzen konnten. Wie Nathan für fünf Jahre aufgehört hat, Sex zu haben. Und wie Sean ihn deshalb für "verrückt" erklärt. +Bester Dialog +Nathan: "Was machst du eigentlich beruflich?" +Sean: "Beruflich? Ich bin HIV-positiv, mehr nicht." +Hingucker +Wie die Treffen der Aktivisten ablaufen. Wer sehen möchte, wie eine linke, inklusive und geschlechtergerechte Diskussion aussehen kann – "120 BPM" zeigt's. Ein Aktivist choreografiert die Diskussionen mit strengem Blick. Jeder bekommt die gleiche Redezeit. Keiner darf applaudieren. Es wird nur geschnipst, um den Redefluss beizubehalten. Außerdem gibt es Gebärdendolmetscher. Klingt streng, funktioniert aber (meistens). +Good to know +Die Aktivistengruppe ACT UP Paris, deren Vorbild 1987 in New York gegründet wurde, gibt es immer noch. Aids ist nach wie vor eine der tödlichsten Krankheiten weltweit. Im Jahr 2016 waren weltweit insgesamt rund 36,7 Millionen Menschen mit HIV infiziert. Der Aktivismus selbst hat sich inzwischen aber verändert. Soziale Medien und die Verbreitung von Infos über das Netz spielen eine immer größere Rolle. So findet ein intensiver, weltweiter Informationsaustausch über Aids statt.Auch in Ländern, in denen die Bekämpfung von Aids und Homophobie kaum vorankommt. +Ideal für … +… alle, die am Welt-Aids-Tag am 1.12. einen aufwühlenden, spannend inszenierten, fast dokumentarischen Spielfilm zum Thema sehen wollen. + +"120 BPM, Frankreich 2017; Buch und Regie: Robin Campillo; mit: Nahuel Perez Biscayart, Arnaud Valois, Adèle Haenel, 143 Minuten diff --git a/fluter/film-303-hans-weingartner.txt b/fluter/film-303-hans-weingartner.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dea4ae38482b83968f952b3523d5c25f0607e82b --- /dev/null +++ b/fluter/film-303-hans-weingartner.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Jule und Jan sind zwei Mittzwanziger. Die Figuren in Ihren Filmen "Die fetten Jahre sind vorbei" (2004) oder "Das weiße Rauschen" (2001) waren es auch. Warum immer dieses Alter? +Die Antwort ist in diesem Fall einfach. Ich habe mit dem Drehbuch angefangen, da war ich selbst noch 27 und hab mich dann mit dem Buch an der Filmhochschule beworben. Dann war ich 15, vielleicht sogar 20 Jahre nicht in der Lage, das Drehbuch zu Ende zu schreiben. Es ist brutal schwer, so lange Dialoge wie in "303" zu verfassen, die natürlich klingen. +"303" ist ein Dialogfilm, ähnlich wie die "Before Sunset"-Filme von Richard Linklater. Die Protagonisten lernen durchs Reden viel über sich und den anderen. +Damit das funktioniert, habe ich zwei Jahre lang gecastet. Ich habe mir 100 bis 200 Schauspieler in verschiedenen Kombinationen angesehen. Mala Emde und Anton Spieker – die beiden sind es am Ende geworden – verstanden als wenige die Figuren und die Dialoge. Das war mir wichtig. In Liebesfilmen gibt es oft dramatische Ein-Satz-Sätze wie "Ich liebe dich einfach nicht mehr!". In meinem Film ist das anders, hier führen Jule und Jan längere Debatten über die Vereinzelungsstrategie im Kapitalismus und zwischenmenschliche Biochemie. Um das authentisch mit den Themen Partnerschaft und Liebe zu verbinden, müssen die Schauspieler verstehen, was sie sagen. Und viel proben. +Schön hier, oder? Die ganze Route von Jule und Jan könnt ihrhieransehen - falls ihr noch nichts vorhabt diesen Sommer. + +Jule und Jan sind eher skeptisch der Liebe gegenüber, wie kommt das? +Zumindest der ewigen. Wir haben vor dem Film viele Mittzwanziger befragt. Wir haben gefragt, ob sie eine Beziehung haben, wann sie das letzte Mal verliebt waren, woran sie merken, dass sie verliebt sind, ob sie an die ewige Liebe glauben – übrigens zu 80 Prozent "Nein". Die glauben noch an die Liebe, aber nicht mehr an die ewige, und vor allem, dass man sich trennen sollte, wenn es nicht mehr passt, wenn man sich nur noch hasst. Das ist doch ein riesiger Fortschritt! +Was meinen Sie damit? +Wir müssen uns mit dem Thema Liebe neu auseinandersetzen. Und mit den alten Beziehungsmodellen. Paare reden in Filmen oft so poetisch oder käuen die immer gleichen Liebesklischees wieder: Man sieht sich, man streitet sich, man bleibt für immer zusammen, Hochzeit, für immer glücklich. Das ist ja das, wovon 99 Prozent der Menschen träumen. Und woher haben die Leute diesen Schwachsinn – aus Hollywoodfilmen! Aber in der Realität funktioniert's so ja nicht. +"303" ist Ihr erster Liebesfilm. +Ja, komplett. +Wie funktioniert Liebe in Ihrem Film? +Es wird viel über Beziehungen gesprochen, über den Unterschied zwischen sexueller Attraktion und Seelenverwandtschaft. Auch in diesem Film gibt es Streit, aber er bestimmt nicht die Dramaturgie der Geschichte. Er sorgt für Nähe, dafür, dass sich die Charaktere einschätzen können. Entsteht daraus Liebe? Der Film lässt das weitgehend offen. Er gibt keine Antworten, er stellt vielmehr Fragen: Wie ist mein Verhältnis zur Monogamie? Suche ich einen Partner, mit dem ich ewig zusammen bin? +Ihr Film lief auf der Berlinale in der Sektion "Generation". Was macht die Generation in "303" aus? +Ich habe letztens mal gegoogelt. Es gibt jetzt schon die Generation Z – das sind die totalen Instagram-Fanatiker. Und es gibt die Generation Y, das wären wohl meine Protagonisten. Bei jetzigen Mittzwanzigern geht es anscheinend viel darum, sich selbst finden zu müssen. Es gibt keine eindeutigen Vorgaben mehr von Großeltern oder Eltern. So im Sinne von: Meine Eltern waren Nazis, ich lehne mich gegen sie auf. Ich bin Punk oder Anti-Establishment. Mit dieser Unsicherheit umzugehen, sich selbst zu definieren, das überlasse ich ganz den Figuren, ich definiere die Generation nicht. + diff --git a/fluter/film-aggregat-interview-marie-willke.txt b/fluter/film-aggregat-interview-marie-willke.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..01de7fe09aa8a084678d8ced2fef6231a6483c69 --- /dev/null +++ b/fluter/film-aggregat-interview-marie-willke.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Waren die politischen Entwicklungen der letzten Jahre der Anlass, einen Film über Demokratie zu machen? +Zur Zeit der Recherche für "Aggregat" spielten Pegida und die AfD noch keine große Rolle. Als wir zu drehen anfingen, hatte sich die politische Lage verändert. Das hat den Film dann thematisch geprägt. Der Umgang von Politik und Medien mit dem Rechtspopulismus ist deshalb ein reichhaltiges Thema, weil sich dabei alle Beteiligten auch mit sich selbst beschäftigen. Genau diese Situationen, in denen Leute über ihre eigene Rolle nachdenken, wollte ich aufnehmen. + +In einem Teil des Films sieht man auch eine Pegida-Demonstration. Was war Ihr Ansatz beim Drehen an diesem Tag? +Dazu muss ich sagen, dass die allererste Szene des Films am selben Tag gedreht wurde: Am 3. Oktober 2016 fanden in Dresden die Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit statt. Mein Fokus an diesem Tag war das Zelt des Deutschen Bundestags, wo den ganzen Tag ein Parlament simuliert wurde und die Bürger/-innen mitmachen konnten. Die Demonstration wurde dann spontan veranstaltet, nur 100 Meter davon entfernt. Was ich an dieser Szene auffällig fand, war die entfesselte Wut der Menschen – im Kontrast zu den Abgeordneten, die auf Workshops einen möglichst rationalen Umgang mit Rechtspopulisten üben. +Diese Wut richtet sich auf der Demo vor allem gegen die Medien. Wie konnten Sie denn in dieser Situation aufnehmen? +Wir haben am Anfang mitten in der Menschenmenge gedreht, während andere Medienvertreter/-innen hinter einem Zaun standen und von dort sozusagen die "Masse" filmten. Dass wir mitten in der Demo waren, hat die Leute ein wenig irritiert, aber man hat uns größtenteils gelassen. Ich wollte in der Situation unbedingt, dass man die Interaktion zwischen Presse und Demonstrierenden sieht. +In mehreren Szenen gibt der Film Einblicke in die journalistische Arbeit. +Auch für Medienschaffende waren die vergangenen Jahre eine Zeit des Umbruchs. Ich hatte den Eindruck, dass eine gewisse Unsicherheit darüber, wie etwa über die "neue Rechte" zu berichten sei, in den Redaktionen zur Folge hatte, über die eigene Arbeit neu nachzudenken. Man sieht das etwa in der Taz-Szene. Ein bestimmtes Maß an Transparenz kann nur gut sein, also zu zeigen, dass etwas in der Berichterstattung schiefgeht oder Politiker/-innen an ihrer Arbeit zweifeln. Viele Menschen wissen vielleicht auch nicht genug darüber, wie Nachrichten und TV-Berichte entstehen. +Sie sagen selbst: "‚Aggregat' ist keine Erzählung." Warum war es Ihnen wichtig, einen narrativen Zusammenhang zu vermeiden – selbst zwischen Szenen vom selben Tag und Ort? +Marie Wilke ist Regisseurin, Autorin und Editorin. +Im Schnitt hingen die Szenen zunächst noch zusammen. Dann entstand aber etwas, das ich dem Gegenstand nicht angemessen fand: Die Schnitte wirkten oftmals wie eine Art Kommentar auf die vorherige Szene. Wenn Demokratie der rote Faden des Films ist, wüsste ich auch gar nicht, was die große Erzählung darüber sein sollte. Mich hat eher interessiert, wie bestimmte Narrative über Demokratie gemacht werden. Ich fand es deshalb besser, die Szenen auch zeitlich nicht hierarchisch anzuordnen, sondern nebeneinanderzustellen: Der Film ist eher eine Art Sammlung als eine Erzählung. +Sie haben etwa 80 Stunden Material gedreht. Die Auswahl für 90 Minuten Film ist sicher nicht leichtgefallen. Können Sie drei Szenen nennen, die es am Ende nicht in den Film geschafft haben? +Wir haben noch mit einer Abgeordneten der Grünen und bei einem Arbeitskreis der grünen Bundestagsfraktion gedreht. Ich hatte anfangs die Idee, auch die anderen Parteien im Film zu begleiten. Dann gab es noch zwei Szenen mit jüngeren Menschen: eine große Gegendemonstration beim AfD-Parteitag in Köln und ein Demokratieplanspiel mit 16-jährigen Schüler/-innen im Bundestag. Bei dem Planspiel agieren die Jugendlichen als Parlamentarier verschiedener Parteien und müssen einen Gesetzentwurf durchbringen. Alle drei Szenen waren spannend, haben aber letztlich keinen Platz in der Dramaturgie des Films gehabt. + +Marie Wilke ist Regisseurin, Autorin und Editorin. Seit 1999 realisiert sie eigene Dokumentarfilme. "Aggregat" ist nach "Staatsdiener" (2015) ihr zweiter Kinofilm. + +Dieses Interview ist eine leicht gekürzte Fassung aus demKinofenster, dem filmpädagogischen Onlineportal der BpB. Hier findest du noch viel mehr über "Aggregat":eine Rezension,eine Analyse des Schnittsund einen Hintergrundtext, der der Frage nachgeht,wie Politik, Kommunikation und Medien zusammenhängen. + + diff --git a/fluter/film-als-wir-tanzten-georgien-kino.txt b/fluter/film-als-wir-tanzten-georgien-kino.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e6cbf660b141e44d9fda5c096fd52d73d0206f46 --- /dev/null +++ b/fluter/film-als-wir-tanzten-georgien-kino.txt @@ -0,0 +1,9 @@ + + + +Der Film war deshalb nicht nur kreativ eine Herausforderung: Akin wurden mehrere Drehgenehmigungen verweigert, den Dreh in Tiflis mussten Bodyguards begleiten, weil das Filmteam Morddrohungen erhielt. Homosexualität ist in Georgien zwar seit 20 Jahren entkriminalisiert und durch Antidiskriminierungsgesetze geschützt – die gesellschaftliche Stimmung gegen sexuelle Minderheiten hat das aber kaum geändert. Immer wieder gibt es Angriffe, undlaut einer Studiedes National Democratic Institute glaubt nicht mal ein Viertel der Bevölkerung, dassdie Rechte queerer Minderheitengeschützt werden sollten. +"Als wir tanzten" feierte bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes Premiere, konnte in Georgien aber nur unter Auflagen gezeigt werden: Der Film lief für wenige Tage, unter Polizeischutz und nur in fünf ausgewählten Kinos. Die 5.000 Tickets waren nach Angaben der Organisator*innen nach wenigen Minuten ausverkauft. Vor dem Kinostart machten die orthodoxe Kirche und homofeindliche Nationalist*innen Stimmung gegen den Film. Kinobesucher*innen sei der Eintritt zu verwehren, schrieb die Kirche in einer offiziellen Stellungnahme, weil der Film "Sodomiten-Beziehungen" popularisiere. [Anm. d. Red.: Unter Sodomiten versteht die Kirche in diesem Fall Männer, die Analverkehr mit anderen Männern haben.] Während der Premiere kam es zu 27 Festnahmen, zwei Polizisten wurden verletzt. +Angesichts dieser Umstände ist verblüffend, mit welcher Leichtigkeit Levan Akin die schwule Liebesgeschichte erzählt und dass "Als wir tanzten" die homofeindliche Stimmung im Land nicht zum Mittelpunkt des Films macht. Er bleibt ganz bei den Hauptdarstellern Levan Gelbakhiani und Bachi Valishvili, die ihrevermeintlich deplatzierten Gefühleso glaubwürdig verkörpern, dass man sich als Zuschauer*in der Geschichte nicht entziehen kann. In Merab, gespielt von Gelbakhiani, spiegelt sich dabei auch die Zerrissenheit der georgischen Gesellschaft: Im Kampf zwischen Tradition und Fortschritt glauben sie bis zur letzten Szene, beides sei nicht miteinander zu verbinden. + +"Als wir tanzten" läuft ab sofort auch in deutschen Kinos. + diff --git a/fluter/film-der-himmel-wird-warten-kritik-und-trailer.txt b/fluter/film-der-himmel-wird-warten-kritik-und-trailer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1c7f538b9fd06bebacc34097b491e5b2bc446a88 --- /dev/null +++ b/fluter/film-der-himmel-wird-warten-kritik-und-trailer.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Mit dieser Actionszene beginnt Marie-Castille Mention-Schaars Film "Der Himmel wird warten", in dessen Mittelpunkt zwei Mädchen und ihre Familien stehen. Während Sonia nach ihrer Festnahme unter Hausarrest steht, weil die Familie ihr ein sicheres Umfeld bietet, gerät in einer Parallelhandlung auch die gleichaltrige Mélanie in die Fänge radikaler Islamisten: Im Chatroom gibt sich ein Rekrutierer als ihr Verehrer aus, er scheint Mélanie besser zu verstehen als jeder andere. Gleichzeitig bringt er ihr seine Weltsicht nahe, erwartet von ihr immer mehr persönliche Zugeständnisse, stellt Forderungen und Ansprüche. Mélanie lässt sich einwickeln und wird zunehmend abhängig von seiner Anerkennung. +Der Film erzählt so parallel die Geschichte einer Entradikalisierung und einer Radikalisierung mit fein ineinander verwobenen Übergängen – und trotz zweier fiktiver Schicksale extrem nah an der Realität. Die Schnittstelle zwischen Fiktion und Dokumentarfilm ist die Pädagogin Dounia Bouzar. In Frankreich ist sie bekannt, sie hat unter anderem ein Präventionszentrum für Jugendliche gegründet, die in die radikalislamistische Szene abzurutschen drohen. Regisseurin Mention-Schaar hat sie vor den Dreharbeiten drei Monate lang begleitet. In "Der Himmel wird warten" spielt Bouzar sich selbst. +Der Film ist immer bedacht (stellenweise auch übertrieben pädagogisch), voreilige Schlüsse über junge Menschen, die der Ideologie des radikalen Islam anheimfallen, zu entkräften – beziehungsweise Klischees auszudifferenzieren. "Ihr seid Opfer", erklärt Bouzar den Mädchen in ihrer Gruppe, die offen über ihre Erfahrungen und ihre Abhängigkeit sprechen. +Opfer sind aber auch die Eltern, deren Kinder vor ihren Augen in den Radikalismus driften. "Wir dürfen nicht denken, das sei alles bloß die Pubertät", sagt Bouzar zweimal im Film. Sie betreut auch Mütter und Väter in Betroffenensitzungen. Das Unverständnis der Eltern darüber, wie sich Sohn oder Tochter – oft aus sogenannten guten Verhältnissen – einer radikalen Gruppe anschließen konnte, paart sich mit massiven Schuldvorwürfen, dass sie die Veränderungen ihrer Kinder nicht bemerkt haben. So beschreibt "Der Himmel wird warten" ein breites Spektrum an Erfahrungen, die vielen Gesprächssituationen geben dem Film selbst die Form einer Therapiesitzung – in Verbindung mit einer ordentlichen Portionteenage angst. +Mention-Schaar geht es jedoch weniger darum, die Psychologie der jugendlichen Abgrenzung zu analysieren oderdie Identitätsangebote der Islamistenzu erklären. Diese bleiben im Film vage, auch weil das Kino keine letztgültigen Antworten bereithält. "Der Himmel wird warten" zeigt vielmehr die Beschädigungen und Traumatisierungen bei Jugendlichen und Eltern auf – und die Verführbarkeit in unserer offenen, widersprüchlichen westlichen Gesellschaft. Oft kommt dabei das filmische Mittel der Nahaufnahme zum Einsatz, die Regisseurin sucht immer wieder einen emotionalen Zugang. Umso überzeugender, dass ihr Film trotz dieses aufgeladenen Themas seinen sachlichen Tonfall beibehält. + +"Der Himmel wird warten"; Regie: Marie-Castille Mention-Schaar; mit: Noémie Merlant, Naomi Amarger, Sandrine Bonnaire; 105 Min. + diff --git a/fluter/film-detroit-kathryn-bigelow-rassismus-moral.txt b/fluter/film-detroit-kathryn-bigelow-rassismus-moral.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9e00b72c52678eafb26ff5c6b623eb1430434082 --- /dev/null +++ b/fluter/film-detroit-kathryn-bigelow-rassismus-moral.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +"Detroit", der neue Film der (einzigen) oscarprämierten Regisseurin Kathryn Bigelow, rekonstruiert Ereignisse, die sich vor ziemlich genau 50 Jahren zugetragen haben: 1967 kam es in etlichen US-Großstädten zu gewaltsamen Ausschreitungen zwischen Afroamerikanern und der Polizei. In Detroit bringt im Film eine Razzia in einer illegalen Bar das Fass zum Überlaufen: Anwohner bewerfen die Polizei mit Steinen und plündern anschließend Geschäfte. Die hektische Kamera von Barry Ackroyd folgt drei verschiedenen Personengruppen: den Polizisten Krauss (Will Poulter) und Flynn (Ben O'Toole) auf Streife, dem Soulsänger Larry (Algee Smith) und seiner aufstrebenden Gruppe The Dramatics sowie dem Wachmann Melvin Dismukes (John Boyega). Als Afroamerikaner in einer "Autoritätsposition", so bezeichnet es Dismukes selbst, ist er ein Grenzgänger: geduldet, aber nicht respektiert auf der einen Seite; als "Onkel Tom" verspottet auf der anderen. Anfangs erfasst die Kamera noch die kollektive Situation auf den Straßen, immer wieder verknüpft mit Aufnahmen aus den TV-Archiven, die sich von den inszenierten Bildern nicht immer unterscheiden lassen. "Realitätseffekt" hat Roland Barthes das mal treffend genannt: Kunstgriffe, die für nichts anderes als die "Authentizität" der Erzählung stehen – als wäre man live dabei, 1967, auf den Straßen von Detroit. +Es ist dennoch unmöglich, den Film nicht vor dem Hintergrund der jüngeren Vorkommnisse zu sehen, zumal sich die sozialen Spannungen in den USA unter Trump noch verschärfen. So hat Bigelow einen Historienfilm unter dem Einfluss von"Black Lives Matter"gedreht: Mit "Detroit" nutzt sie die Aufmerksamkeit, die ein großer Hollywoodfilm bekommt, um anhand einer prototypischen Situation der Vergangenheit die unverändert akuten Konflikte um Rassismus, soziale Ungleichheit und (institutionelle) Gewalt in den Blick zu rücken. +Mit ihrem Drehbuchautor Mark Boal verortet Bigelow den Ursprung dieser Aufstände jedoch nicht bloß in der damaligen Situation, sondern in der Sklaverei und dem daraus folgenden, über 100 Jahre fortgesetzten Unrecht. Schwarze Intellektuelle wieCoates, der in einem viel beachteten Essay Reparationszahlungen an die afroamerikanische Bevölkerung forderte, sehen das ähnlich. Während in der Eröffnungssequenz eine Erzählerstimme solche historischen Einordnungen referiert, huscht die Kamera über Motive der "Migration Series" von Jacob Lawrence, einem Maler von Alltagsgeschichte(n) des schwarzen Amerikas. Deutlich ist zu erkennen, dass Bigelow und Boal das Geschehen von Anfang an aus der Sicht der Afroamerikaner erzählen wollen. Sie selbst stammen – das sollte bei einem Film, dem es um die Repräsentation von Minderheiten geht, schon erwähnt werden – aus dem linksliberalen weißen Milieu der Küstenstädte. +In den USA ist "Detroit" aufgrund seiner zentralen, mindestens einstündigen Sequenz im "Algiers Motel" umstritten: Basierend auf realen Ereignissen, führen die fiktiven Polizisten Krauss und Flynn dort mit Unterstützung der Nationalgarde eine brutale Razzia durch. Unter den mehrheitlich afroamerikanischen Gästen des Motels, darunter Larry und sein Freund Fred, vermuten sie fälschlich einen Heckenschützen. Systematisch werden die Verdächtigten bedroht, geschlagen und gefoltert; schließlich werden drei von ihnen aus rassistischen Motiven ermordet. Die Kamera rückt auch hier so dicht wie nur möglich an die gepeinigten Körper heran, zeigt unzählige Nahaufnahmen von Wunden und zitternden Händen. Sie will den Schmerz und die Angst der Opfer, so scheint es, unmittelbar erfahrbar machen. "Wie konnten sie das bloß filmen?", fragt Richard Brody im "New Yorker" ungläubig. Und weiter:"Die minutiöse Dramatisierung dieser Vorfälle mit der Absicht, das Publikum zu schockieren, scheint mir das moralische Äquivalent zur Pornografie zu sein." +Diesem harschen Urteil muss man nicht folgen; doch es erscheint zumindest diskutabel, ob sich der Film in seiner distanzlosen, höchst drastischen Gewaltdarstellung nicht eher der Täter- als der Opferperspektive nähert. + +"Detroit" gibt es jetzt u.a. bei Amazon, iTunes, Maxdome, Google Play und Sky im Bezahlstream. diff --git a/fluter/film-die-welt-sehen-soldaten-afghanistan-krieg-dekompression.txt b/fluter/film-die-welt-sehen-soldaten-afghanistan-krieg-dekompression.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..354e80286037e04fe257a05bbf70939323defd03 --- /dev/null +++ b/fluter/film-die-welt-sehen-soldaten-afghanistan-krieg-dekompression.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Klar, auch, aber das steht nicht im Vordergrund. Die Regisseurinnen Delphine und Muriel Coulin zeigen die psychischen Deformationen, die Menschen davontragen, die im Kriegseinsatz traumatische Erfahrungen gemacht haben. Sie zeigen auch, wie militärische Disziplin die Truppe dennoch als Einheit weiterhin nach außen zusammenhält. Als Kriegsmaschinen funktionieren Menschen aber nur so lange einigermaßen gut, wie sie Teil eines großen Ganzen sind. Sobald individuelle Sichtweisen zugelassen werden, implodiert das System. +Als Aurore und Marine gerade in ihrem Hotelzimmer angekommen sind, sieht man sie vor einem fantastisch schönen Hintergrund aus Meer und blauem Himmel sitzen. Sie lehnen an der Scheibe ihres vollverglasten Balkons und wenden der grandiosen Aussicht den Rücken zu. Paradoxerweise ist "Die Welt sehen" ein unfassbar schöner Film, dessen überlegene Ästhetik nie zum Selbstzweck wird, sondern sich ganz in den Dienst der Sache stellt. Wir sehen Menschen zu, die wie in einem Edward-Hopper-Gemälde von einer Aura existenzieller Einsamkeit umgeben zu sein scheinen. Die Umgebung verstärkt noch den Eindruck der Hoffnungslosigkeit, in der all diese Menschen gefangen sind wie in einer Blase, aus der kein Entkommen ist. +… alle, die von "Problemfilmen" die Nase voll haben, in denen vordergründig mit irgendwelchen Zaunpfählen gewedelt wird. Das hat "Die Welt sehen" nicht nötig. Wer sehen kann und will, wird hier reich belohnt, aber auch mit mehr Fragen nach Hause geschickt, als es Antworten gibt. Großartig geschrieben, großartig gefilmt, großartig gespielt. Nichts zu beanstanden. Wegtreten! +"Die Welt sehen", Frankreich 2016; Buch und Regie:Muri­el und Del­phi­ne Cou­lin, mitSoko, Aria­ne Labed, Gin­ger Romàn, Karim Leklou, AndreasKon­stan­tin­ou; 102 Minuten + diff --git a/fluter/film-ein-leben-stephane-brize.txt b/fluter/film-ein-leben-stephane-brize.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..77113630ba89ed9de3e8ac24c3fdfc4690e3bf0c --- /dev/null +++ b/fluter/film-ein-leben-stephane-brize.txt @@ -0,0 +1,10 @@ + + +Es gelingt Regisseur Stéphane Brizé, die Jugendlichkeit Jeannes in einen sensiblen Blick auf die Welt und auf die Menschen zu übersetzen. Ein Blick, der nie stillzustehen scheint, der die Grenzen zwischen gestern, morgen und heute, zwischen Traum, Realität, Erinnerung und Vorahnung wie selbstverständlich verwischt. Manchmal ist das ganz einfach, etwa wenn gesprochen wird. Regelmäßig setzen sich die Bilder und die Musik über laufende Unterhaltungen hinweg, schweifen ab und schaffen anstatt einer geradlinigen Geschichte ein Gespür für die zeitlosen Fragen des Lebens. +Und dazu zählt natürlich auch, dass Jeanne ganz offensichtlich in einer männerdominierten Welt lebt. Noch dazu in einer Zeit, in der die gesellschaftlichen Verhältnisse immer wieder drastisch in die individuelle Freiheit eingreifen. Das ist kein Zufall. Brizé erzählte zuvor in seinem Cannes-Erfolgsfilm "Der Wert des Menschen" (wörtlich übersetzt: "Das Gesetz des Marktes") von einem armen Ex-Fabrikarbeiter, der als Kaufhausdetektiv Menschen an die Polizei ausliefern muss und darüber in einen Konflikt mit sich selbst gerät. +Nun, im neuen Film von Brizé, sieht sich eine junge Adlige mit dem Zusammenbruch ihrer Familie konfrontiert, mit dem Verfall von Besitz und Status, mit Zweifeln an der Möglichkeit des individuellen Glücks als Frau. Die Kämpfe, die sie ausficht, trägt sie in der überdeutlichen Gegenwart von Männern aus, die sich auf ihre Kosten ausleben, lügen, herumschreien und töten. Männer, die auf den Verlust ihres Gesichts fast ausnahmslos mit Gewalt und Autorität reagieren. Männer, zu deren Komplizin sie wird. Und doch verweigert der Film einfache Schlüsse. +Kürzlich inszenierte Feng Xiaogang, der als chinesischer Steven Spielberg gilt, einen sehr gegenwärtigen Klassenkampf-Film, unter dem von Gustave Flaubert inspirierten Titel "I Am Not Madame Bovary". Ein Kommentar auf die Aktualität Flauberts und dessen gründliches Beobachten der Welt und gleichzeitig eine Absage an die Unverrückbarkeit von Machtverhältnissen. Die chinesische Heldin ist nicht wie Jeanne eine Gefangene des Systems, sondern eine Aufständische. Doch beide eint die jugendliche Bewegtheit ihres Blicks. +"Ein Leben" basiert auf dem gleichnamigen Buch von Guy de Maupassant, einem Schüler Flauberts, der sich im späten 19. Jahrhundert dem Naturalismus verschrieb – angetrieben von dem Versuch, durch einfache erzählerische Mittel auf den Grund der Welt vorzudringen. Und nun adaptiert das Buch ein Mann, der sich eine Frau ganz genau ansehen will. Doch wendet sie sich immer wieder ab. Die Kamera betrachtet Jeanne oft von der Seite, manchmal beinahe von hinten, als verberge sie in ihrem Gesicht unerreichbare Geheimnisse. Brizé gibt Judith Chemla allen Raum, Jeannes Gefühle stets ein Stück im Verborgenen zu halten. Selten bricht etwas heraus, manchmal kaum erkennbar im Dunkeln, fast albtraumhaft, einmal ganz hart und wie erstarrt zum Stillleben. Die Bewegung bleibt unter der Oberfläche. Dort aber brodelt es. +"Ein Leben". Frankreich/Belgien 2016, Buch und Regie: Stéphane Brizé, mit: Judith Chemla, Swann Arlaud, 119 Min. + + diff --git a/fluter/film-how-to-blow-up-a-pipeline.txt b/fluter/film-how-to-blow-up-a-pipeline.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1e363623b3756042d535fa2de80d83dab054b21f --- /dev/null +++ b/fluter/film-how-to-blow-up-a-pipeline.txt @@ -0,0 +1,11 @@ + + +Malm erinnert zum Beispiel andie Suffragetten, die vor über 100 Jahren beim Kampf für das Frauenwahlrecht Fensterscheiben von Geschäften kaputt schlugen und Briefkästen sprengten. Er argumentiert, dass Protestbewegungen zum Sand im Getriebe werden sollten, weil es trotz der erhöhten medialen Aufmerksamkeit, trotz der erdrückenden wissenschaftlichen Erkenntnisse und trotz der mittlerweile auch global sichtbaren Verschärfung der Klimakrise in den vergangenen beiden Jahren weltweit die höchsten CO2-Emissionen der Geschichte gab. In der aktivistischen Praxis beziehen sich die "Tyre Extinguishers", die geparkte SUV mit platten Reifen zurücklassen, schon direkt auf Malm. Kritiker*innen werfen dem Wissenschaftler von der Universität Lund gar vor, er könne mit seinen Ideen einen neuen Linksterrorismus inspirieren. +Der US-amerikanische Regisseur Daniel Goldhaber, der Drehbuchautor Jordan Sjol und die Schauspielerin und Drehbuchautorin Ariela Barer jedoch finden Malms Argumente überzeugend. Sie hätten sein Sachbuch als Dokumentarfilm adaptieren können: mit Interviews, Fakten zur Klimakrise und einem Exkurs zur Geschichte sozialer Bewegungen. Stattdessen ist ihre fiktionale Vision von "How to Blow Up a Pipeline" einer der spannendsten Kinothriller seit Jahren geworden; die Art von Film, bei dem sich Zuschauende den Gang zur Toilette versagen und in dessen leisen Szenen man eine Stecknadel im Saal fallen hören könnte. In körnig-rauen 16-mm-Bildern und nach der Dramaturgieeines klassischen Heist-Moviezeigt der Film eine Gruppe von Menschen, die an einem komplizierten illegalen Plan arbeiten. Man könnte "How to Blow Up a Pipeline" auch als linksradikale Version von "Ocean's Eleven" bezeichnen. Nur dass es hier nicht um einen Raubüberfall von kriminellen Masterminds auf ein Casino geht, sondern um die ökologisch motivierte Sabotage einer Ölpipeline in Texas. + +Malms Überzeugung, dass die fossile Infrastruktur zum Ziel eines wirkungsvolleren Klimaprotests werden muss, ist also dercommon senseder Gruppe. Während die Beteiligten sich in einer Hütte in der texanischen Wüste zusammenfinden, um Sprengsätze herzustellen und das Gelände zu erkunden, erzählen elegant verschachtelte Rückblenden von ihrer individuellen Radikalisierung. Da ist die Studentin Xochitl (gespielt von Co-Autorin Barer), deren Mutter während einer Hitzewelle in Kalifornien verstarb. Der indigene Bombenbastler Michael aus North Dakota und der texanische Arbeiter Dwayne, deren Land jeweilszugunsten von Ölfirmen enteignetwurde. Oder der Filmstudent Shawn, dem aktivistische Umweltfilme einfach nicht mehr genug sind. +Im Gegensatzzu anderen Spielfilmen über linke Bewegungen, die oft dieGewaltfrage ins Zentrumstellen und dann eine gemäßigte Position einnehmen, macht sich "How to Blow Up a Pipeline" die radikale Haltung seiner Figuren zu eigen. Das Warum stellt der Film nie infrage. Eine solche Botschaft wie ein trojanisches Pferd in einen handwerklich und schauspielerisch hervorragenden Thriller hineinzuschmuggeln wird sicherlich kontroverse Reaktionen hervorrufen: Hat Daniel Goldhaber einen Propagandafilm gemacht – oder streitbare politische Kunst? Die Strategie dürfte klimabewusste Menschen jedenfalls auf einer viel direkteren emotionalen Ebene ansprechen als ein Sachbuch mit rationalen Argumenten. Undifferenziert ist der Film trotzdem nicht.Was Sabotage von Terrorismus unterscheidet, wie die Gefährdung von Menschenleben vermieden werden kann und welche Folgen solche Aktionen haben – für die Aktivist*innen, die Unternehmen und die unbeteiligte Bevölkerung: Das alles diskutiert "How to Blow Up a Pipeline" in Wort und Bild. Das Versprechen des explosiven Titels löst der Film allerdings deutlicher ein als die Buchvorlage. + +"How to Blow Up a Pipeline" ist ab dem 8.Juni in den deutschen Kinos zu sehen. + +Bilder: Fugu Filmverleih diff --git a/fluter/film-im-feuer-kino.txt b/fluter/film-im-feuer-kino.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0fed9f10bfa531b282ef3933a524cf6252726cde --- /dev/null +++ b/fluter/film-im-feuer-kino.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Doch Rojda hat noch eine zweite, heiklere Mission. Irgendwo hier in den Bergen rund um Erbil vermutet sie ihre ältere Schwester Dilan, die sich den Peschmerga-Kämpferinnen angeschlossen hat. Rojda will sie überzeugen, mit nach Deutschland zu kommen. +Mit "Im Feuer" bietet Regisseurin Daphne Charizani Einblicke in zwei für viele Deutsche unbekannte Lebenswelten: die der Bundeswehr und die der in Deutschland lebendenKurden und Kurdinnen. Rojda verlangen beide Parallelgesellschaften Loyalität ab – und in keiner ist sie völlig zu Hause: Mit ihrer Mutter streitet sie, weil sie zu Hause lieber Deutsch als Kurdisch sprechen möchte, während sie für die Bundeswehrsoldaten in Erbil "die Kurdin" ist, die keine Lust auf das obligatorischeTeambuilding auf dem Fußballplatzhat. +Viele Kurden fliehen aus Nordsyrien –manche bis nach Tokio +"Im Feuer" erzählt von dem Grundbedürfnis nach Gemeinschaft und Identität, das sich vor dem Hintergrund gebrochener migrantischer Biografien besonders schwierig erfüllen lässt. Beide Schwestern suchen Zugehörigkeit schließlich in der Armee: Rojda, indem sie sich als topintegrierte Vorzeigemigrantin bei der Bundeswehr verpflichtet, Dilan bei ihren neuen "Schwestern" in den Bergen von Erbil. +Almila Bagriacik spielt Rojda als selbstbestimmte junge Frau, die sich einen emotionalen Panzer aus Abgeklärtheit und Schroffheit zugelegt hat. Und die doch verletzlich ist, zerrissen, zunehmend bitter und sprachlos angesichts der Dinge, die sie im Einsatz im Iraksieht und erlebt. + +"Im Feuer" (Perspektive Deutsches Kino, Deutschland / Griechenland 2020) feierte am 23.2.2020 auf der Berlinale seine Premiere und ist noch an drei weiteren Terminen zu sehen.Mehr Infos gibt es hier. + diff --git a/fluter/film-innen-leben-syrien-krieg.txt b/fluter/film-innen-leben-syrien-krieg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dd3526c2f7e4113ca57279169cc6ec6d9f5d0ef5 --- /dev/null +++ b/fluter/film-innen-leben-syrien-krieg.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Die Fiktion kann manchmal schneller sein als die Wirklichkeit. Man denke an Science-Fiction-Klassiker, die technische und soziale Entwicklungen teils Jahrzehnte vor ihrer realen Umsetzung beschrieben haben. Umgekehrt können Fiktionen aber auch von der Realität überholt werden. Gerade Spielfilme zu politischen Themen sind oft so aktuell wie die Zeitung von gestern, wenn sie nach jahrelanger Produktionsdauer endlich im Kino anlaufen. +Auch "Innen Leben", eine belgisch-französisch-libanesische Koproduktion, war mehr als drei Jahre in Arbeit – eine halbe Ewigkeit bei einem unübersichtlichen Konflikt wie dem Syrienkrieg, in dem viele Parteien gegeneinander kämpfen und sich die Frontverläufe dauernd ändern. Zudem sind die realen Bilder aus Syrien so unmittelbar und erschütternd, dass es eine Farce wäre, wenn man etwa zeitgleich in Studiokulissen das zerstörte Aleppo nachbauen würde. Etliche Dokumentarfilme wie "Die letzten Männer von Aleppo" (Dänemark/Syrien 2017) wollen deshalb mit drastischen Trümmerbildern aufrütteln und zeigen reale Personen beim Kampf ums nackte Überleben. Was könnte ein Spielfilm dem schon hinzufügen? +Regisseur und Drehbuchautor Philippe Van Leeuw löst diese Schwierigkeiten souverän. Vieles deutet er deshalb bloß an. Dass etwa rund um die Wohnung in Damaskus gekämpft wird, erfährt man nur über die Tonspur: aus den Gesprächen, Radioansagen oder gedämpft erklingenden Detonationen. Die Bilder dazu assoziiert dann ein jeder aus dem eigenen Nachrichtengedächtnis. Und statt von den großen Zusammenhängen zu erzählen – von Kriegsursachen, Konfliktparteien und politischen Zielen –, bleibt "Innen Leben" ganz bei seinen Figuren, elf Menschen aus zwei Familien, die eine Art Zweckgemeinschaft gebildet haben. Um sich zu schützen, haben sie sich in einer Wohnung verbarrikadiert. + + + +Auch Samir, der von einem Scharfschützen getroffene Mann im Hof, gehört mit Frau und Kind zur Hausgemeinschaft. Ihre Wohnung wurde zerstört, und die Nachbarin Oum Yazan (Hiam Abbass) hat die junge Familie aufgenommen. Für die eigenen Angehörigen, die drei Kinder und den Schwiegervater, versucht Oum einen Rest von Normalität zu wahren. Deshalb verbietet sie dem Hausmädchen Delhani, von dem Ereignis am Morgen zu berichten. Vor allem Samirs Frau Halima (Diamand Abou Abboud) soll vorerst nichts erfahren, um sich und andere nicht auch in Gefahr zu bringen. Doch Oum verkennt, dass die Gewalt schon bald auch über sie hereinbrechen wird. +Mit den reduzierten Mitteln des Kammerspiels und einem hervorragenden Schauspielerensemble verdichtet der Film eine universelle Kriegserfahrung, die im konkreten Bezug auf Syrien leider immer noch aktuell ist: dass im Krieg stets Unbeteiligte sterben und dass auch unschuldige Menschen Schuld auf sich laden. Alltag hätte das nicht werden dürfen. +"Innen Leben", Belgien/Frankreich/Libanon 2017; Regie: Philippe Van Leeuw, mit Hiam Abbass, Diamand Abou Abboud, Juliette Navis, Mohsen Abbas, Moustapha Al Kar, Alissar Kaghadou, Ninar Halabi; 85 Minuten diff --git a/fluter/film-jahrhundertfrauen-mike-mills.txt b/fluter/film-jahrhundertfrauen-mike-mills.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..51920c3e922b4db2fa40e047337abe7206d89464 --- /dev/null +++ b/fluter/film-jahrhundertfrauen-mike-mills.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Was soll uns das sagen? +Frau-Sein ist oft schwierig, noch öfter das Beste auf der Welt und immer ein Sich-und-Andere-Definieren. Für Letzteres stellt der Film Dorotheas Sohn Jamie in den Mittelpunkt. Für seine Mutter ist er ein feministisches Projekt. Immer wieder macht sie ihm Schuldgefühle, bis dieser ruft: "Mum, ich bin nicht alle Männer!" – "Ja und nein", antwortet Dorothea darauf. Abbie gibt Jamie wiederum das Buch "Sisterhood of Empowerment" zu lesen und analysiert sein Verhalten als Mann. Und für Julie ist Jamie nur ein Freund – ein Freund, der ihr jedoch ihren ersten Schwangerschaftstest besorgt. So bilden die drei Frauen einen Orbit aus Lebenserfahrung, feministischer Theorie und, nun ja, Praxis. +Nachdem Jamie dann dank Abbies Buchtipp das Abc der weiblichen Bedürfnisse auswendig gelernt hat, erklärt der Teenager: "Vielleicht bin ich doch ein Feminist!" Bei allem Richtigen, was Mike Mills' Film über die weibliche Emanzipation und Sexualität erzählt, sind viele Momente einfach over the top. Obwohl "Jahrhundertfrauen" drei Protagonistinnen in zahlreichen Dialogen zeigt, wird am Ende nur über Männer und Beziehungen gesprochen. BeimBechdel-Testgibt's dafür leider eine Vier minus. +Wie wird's erzählt? +In alle Richtungen. Denn abgesehen von der feministischen Erziehung Jamies stehen die Frauen oft für sich – das sind die besten Momente des Films. Aus dem Off erzählen sie dann, wie ihre Umwelt sie zu dem machte, was sie sind: glücklich, traurig, einsam, laut, leise und stark. Vor allem Annette Bening als Dorothea haut einen dabei um, wie sie es eigentlich immer tut. Gegen Mitte des Films liegt sie alleine auf dem Bett, schaut an die Decke und ihre Off-Stimme erzählt, wie sie in 20 Jahren an Krebs sterben wird, noch bevor dieses Jahrhundert zu Ende geht. Die Message: Vertrödel nicht deine Zeit – gerade als Frau musst du doppelt so viel arbeiten, um glücklich zu sein. Einfach nur die Geschichten dieser Frauen zu erzählen, ganz ohne männliche Projektionsfläche, ist toll und hätte vollkommen genügt. +Too much +Als Abbie beim Abendessen ruft: "Ich menstruiere! Menstruation! Genau! Sag es!" +Hingucker +Die Farben des Films sehen so wunderbar aus, wie sie in Filmen über die 70er meist aussehen: knallig, mit bunten Tapeten und bunten Autos. Wie ein großer, schöner Vintage-Antiquitätenladen. Manchmal legt Mills sogar Effekte über die Bilder, ein Regenbogenstreifen schlängelt sich unvermittelt über die Szene. Auch wenn das Wort doof klingt, das ist tatsächlich "groovy". +Beste Szene +Wenn Musik läuft und mal kurz alle schweigen. Die späten 1970er-Jahre sind auch die Zeit des Post-Punk – der Talking Heads, David Bowie, Suicide, The Buzzcocks, The Clash, The Germs und Black Flag. Einmal erklärt Dorothea dabei besonders eindrücklich, warum sie einfach nicht verstehen kann, wie diese ungepflegten Kerle als Vorbilder für eine ganze Generation dienen können. Es erklärt ihr dann zum Glück jemand. +Bester Dialog +"Worum ging es in eurem Streit?", fragt Jamies Mutter, als sie ihn nach einer Schlägerei mit einem Gleichaltrigen verarztet. "Klitorale Stimulation", sagt Jamie. +Ideal für … +… alle, die Judith-Butler-Bücher unterm Kopfkissen liegen haben. Und noch mehr für alle, die das nicht haben. + diff --git a/fluter/film-kindergangs-kriminalitaet-panama.txt b/fluter/film-kindergangs-kriminalitaet-panama.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/film-klimabilanz-nachhaltigkeit.txt b/fluter/film-klimabilanz-nachhaltigkeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..672ec9ce926da3d204ef66bc205f040aa20ade07 --- /dev/null +++ b/fluter/film-klimabilanz-nachhaltigkeit.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Filme sollen grüner werden. Das steht sogarim Filmförderungsgesetz, das vorsieht, ab Januar 2022 Filmprojekte nur dann mit Geld vom Staat zu unterstützen, wenn sie "wirksame Maßnahmen zur Förderung der ökologischen Nachhaltigkeit" ergreifen. Wie genau das gehen soll, darüber diskutieren Initiativen wie der Arbeitskreis Green Shooting oder die Green Film Initiative sowie Filmverbände und Förderanstalten schon seit einigen Jahren. Grüne Siegel, Selbstverpflichtungen, CO2-Rechner, Preisverleihungen und Nachhaltigkeitsexpert*innen sollen dabei helfen, Emissionen einzusparen. +Die Filmförderung der Region Hamburg und Schleswig-Holstein hat das Thema schon seit zehn Jahren auf der Agenda und gibtin einem "Best-Practice-Guide"zahlreiche Tipps. "Versuchen Sie, auf Wohnmobile zu verzichten und lokale Unterkünfte zu nutzen", heißt es da oder dass kein Tropenholz verwendet werden soll, "auch nicht bei Sperrholzplatten". Seit 2012 vergibt die Förderanstalt den "Grünen Drehpass" (seit 2020 "Grüner Filmpass"), einen Nachhaltigkeitsnachweis für deutsche Film- und Fernsehproduktionen. Bekommen haben ihn unter anderem die Literaturverfilmung "Der Goldene Handschuh", die Kriminalkomödie "Sauerkrautkoma" und die Serie "Der Tatortreiniger". +Seitdem es dieses Angebot gibt, beschäftigt sich auch die Produzentin Frauke Kolbmüller mit dem Thema. Das grüne Siegel hat sie unter anderemfür den Film "Systemsprenger", der 2019 in die Kinos kam, erhalten. Außerdem hat ihre Firma Oma Inge Film die"Freiwillige Selbstverpflichtung zur nachhaltigen Filmproduktion"unterzeichnet, die sich der Dachverband der deutschen Filmproduktionsfirmen 2019 auferlegt hat. Ein Punkt darin: Fliegen sollten Teammitglieder und Schauspieler*innen möglichst nur dann, wenn die Reisezeit mit dem Zug mehr als sechs Stunden beträgt. Ben von Dobeneck, Executive Producer bei derProduktionsfirma Komplizen Film,hat das Papier damals mitentwickelt und gerade auf diesen Aspekt seitdem viel Wert gelegt, auch bei dem aktuellen Film "A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe", der 2022 im Wettbewerb der Berlinale Premiere hat. Von Dobeneck und Kolbmüller sind sich einig: Die existierenden Konzepte weisen in die richtige Richtung, ihre Umsetzung stößt aber noch an Grenzen. +Die Liste der noch ungelösten Probleme ist lang. Viele technische Dienstleister haben etwa noch gar keine nachhaltigen Produkte im Angebot. E-Lkws, batteriebetriebene Stromgeneratoren, energiesparende Scheinwerfer – einige Hersteller entwickeln aktuell nachhaltige Lösungen, richtig verbreitet sind sie jedoch noch nicht. Im Bereich von LED-Technik für Filmbeleuchtung hat sich laut von Dobeneck schon einiges getan, noch seien die Lampen im Technikverleih aber teurer als die konventionellen Alternativen. Dabei geht es neben dem Budget eines Films auch um die Ressource Zeit. Oft haben die einzelnen Filmgewerke nur ein paar Wochen zur Vorbereitung. "Alle Departements, die ja wirklich viel in einem kurzen Zeitraum stemmen, müssen sich jetzt zusätzlich noch intensiv mit diesem Thema auseinandersetzen, zum Beispiel, wo man nachhaltige Mode herbekommen kann", meint auch Kolbmüller. "Da spielt natürlich auch wieder das Budget eine Rolle." Gerade kleine Filmprojekte mit wenig Geld müssten dann priorisieren, welche Aspekte der nachhaltigen Checkliste realisierbar seien. +Um nachhaltig zu drehen, ist es gut, möglichst viel zu leihen, secondhand zu kaufen und das Gekaufte danach weiterzugeben. "Für den Film ‚A E I O U' haben wir fast alles auf dem Flohmarkt erstanden und danach weiterverkauft oder verschenkt", erzählt von Dobeneck, "wenn man aber zum Beispiel ein ganzes Pariser Appartement aus Holz und Styropor nachbauen muss, kommt die Wiederverwertung an ihre Grenzen. Was will man mit einer riesigen Holzkonstruktion, in die schon überall gebohrt wurde?" Gerade beim Kulissenbau ist es schwierig, nachhaltig zu produzieren, denn eine anschließende Aufbewahrung ist schlicht zu teuer. Die Pariser Wohnung hat tatsächlich überlebt, das ist allerdings eine ziemliche Ausnahme. +Auch Kolbmüller ist es gewohnt, Kompromisse zu machen: "Wenn man zum Beispiel keinen Ökostrom nutzen kann, dann muss man einfach schauen, an welcher Stelle man sonst arbeiten kann. Zum Beispiel bei Leihrequisiten. Es muss sich irgendwie ausgleichen, dann ist es machbar." Vordergründig geht es sowohl bei der Selbstverpflichtung des Produzentenverbandes wie auch bei den grünen Siegeln der Filmförderungen darum, eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit nachhaltigen Alternativen anzustoßen. Während die freiwillige Maßnahme der Brancheninitiative rechtlich nicht bindend ist und auf Evaluation statt Sanktion setzt, sind Förderentscheidungen an feste Kriterien gebunden. Die abschließenden Kontrollen durch die Filmförderanstalten sind laut Heidsiek und Kolbmüller jedoch bisher noch nicht besonders streng. +Als öffentliche Geldgeber können die Förderanstalten also eine Hilfe sein, sie sind aber auch Teil des Problems. Ob eine Filmidee im Harz oder am Bodensee entsteht – für nahezu jede Region in Deutschland gibt es eine eigene Filmförderung. Gedacht sind diese regionalen Anlaufstellen als Standortförderungen. Der Deal ist: Das Geld, das in Bayern genehmigt wurde, muss auch in Bayern ausgegeben werden. Dabei ist auch eine gewisse Anzahl an Drehtagen vorgesehen. Da meist eine Fördersumme allein nicht ausreicht, um einen Film zu realisieren, reist ein Filmteam quer durch Deutschland, oft nur für wenige Tage. Das verursacht wiederum erhebliche Emissionen. +Bis Filme also nicht nur grüne Siegel tragen, sondern wirklich grün hergestellt werden, ist es noch ein weiter Weg. Für Birgit Heidsiek fehlt vor allem ein Bewusstsein für die Lieferketten eines Produktes. Ein vegetarisches Catering etwa reiche nicht, wenn die Zutaten dafür vom anderen Ende der Welt kommen. Daher sei es wichtig, Fördergelder an feste Auflagen zu knüpfen und diese dann auch wirklich zu überprüfen. Möglicherweise schafft das geänderte Filmförderungsgesetz, dessen Umsetzung ja gerade erst losgeht, hier mehr Verbindlichkeit. Trotzdem bildet die Auseinandersetzung mit der Thematik aus Heidsieks Sicht die Basis, um ein Umdenken anzustoßen und neue kreative Wege zu eröffnen, wie Filme in Zukunft produziert werden. Und das könne auch vor der Kamera weitergehen, schlägt Kolbmüller vor: "Wichtig ist doch auch, wie erzählen wir Nachhaltigkeit im Film? Kann die Figur in meiner Geschichte nicht auch Fahrrad fahren? Auch so können wir ein Bild schaffen, das nachhaltiger ist." diff --git a/fluter/film-kokon-berlin-coming-age.txt b/fluter/film-kokon-berlin-coming-age.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..167c016226a55ad9539928c52c1f365ba197b8fb --- /dev/null +++ b/fluter/film-kokon-berlin-coming-age.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Wie wird's erzählt? +Flirrend wie ein heißer Sommertag und von der ersten Sekunde an intensiv. Die Kamera ist so unruhig wie die Gefühle der Figuren, das Filmformat ungewohnt unbreitwandig, fast retrohaft wirken die Bilder, die Regisseurin Leonie Krippendorff in ein warmweich-gelbstichiges Licht taucht. In kurzen Episoden schiebt sich der Film voran: ein nächtlicher Einbruch ins Freibad; ein kurzer Mutter-Tochter-Talk am Küchentisch darüber, wie sexy sich Frauen kleiden sollten; Masturbation in der Umkleidekabine;Schulunterricht, Party, Quatschen, diesdas. Erzählt wird dabei konsequent aus weiblicher Perspektive, die halb erwachsenen Jungs sind nur lustig-pubertäre Stichwortgeber und Staffage. + +Während der Berlinale 2020 haben wirSchauspielerinnen und Regisseure für Kurzinterviews getroffen– unter anderem Lena Urzendowsky und "Kokon"-Regisseurin Leonie Krippendorf + +Und was soll uns das sagen? +Sei du selbst! Finde deinen eigenen Weg! Jeder Mensch ist eine einzigartig tolle Persönlichkeit! Und aus jeder Raupe wird ein wunderschöner Schmetterling! Die Moral von Coming-of-Age-Filmen ist meistens nicht die alleroriginellste. Aber wen kümmert das, wenn es so schön, so federleicht entrückt und doch schwer berührend erzählt ist wie in "Kokon"? +Good Job! +Die Unverstelltheit, mit der Noras erste Regelblutung behandelt wird.Ein Tabu sollte das schließlich wirklich nicht sein.Und natürlich sehen wir Blut, und natürlich schaut sich Nora Influencer-YouTube-Tutorials an, um alles über Tampons und Binden zu lernen. +Schwierig: +Wenn man unbedingt etwas kritisieren möchte, dann ist es das etwas abgegriffene namengebende "Verpuppung/Metarmorphose"-Motiv. Das im Film extra noch mal visualisiert wird, damit es auch der und die Letzte kapiert. + + +Taschentuchmoment: +ImSexualkundeunterrichtsollen einige Schüler*innen für ein paar Tage eine "lebende" Baby-Simulationspuppe übernehmen. Auch Jule macht mit, kümmert sich sogar nachts ums Baby. Als sie eines Nachmittags mit Nora aus dem Freibad kommt, schreit die Puppe – die Mutter wollte aufpassen, ist aber in ihre Stammkneipe gegangen. Jule bricht in Tränen aus. Sie hatte gehofft, die Babypuppe könnte den Kreislauf durchbrechen. Nora tröstet sie und sagt ganz erwachsen: "Ich schieb uns jetzt erst mal eine Pizza in den Ofen." +Gut zu wissen +Regisseurin Leonie Krippendorff, 34, ist in Berlin aufgewachsen. Ihre Kindheit und Jugend dort beschreibt sie als "eine Zeit der absoluten Freiheit". Sie ist froh, dass es damals noch keine sozialen Netzwerke gab, denn die "Identitätsfindung in der Pubertät ist schon ohne die permanente mediale Sichtbarkeit schwierig genug". +Ideal für … +… alle, die (noch) wissen, wie sich die Pubertät anfühlt. Und all jene, die eine kleine Auffrischung brauchen. + +"Kokon" feierte auf der Berlinale Premiere – weshalb wir den Film auch schon im Februar besprochen haben – und läuft ab sofort in den Kinos. + diff --git a/fluter/film-lomo-jonas-dassler.txt b/fluter/film-lomo-jonas-dassler.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f99af26939c54a0c53912144254e0414072d1abf --- /dev/null +++ b/fluter/film-lomo-jonas-dassler.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Wie wird's erzählt? +Der Debutfilm von Julia Langhof wechselt zwischen vorhersehbaren und überraschenden Momenten. So sind die Charaktere klischeehaft angelegt: der Vater ein überheblicher, zynischer und bisweilen jähzorniger Architekt; die Zwillings(!)schwester hübsch, blond, intelligent, mit Ambitionen für ihre Zukunft; die verführerische Mitschülerin, die sich bei Karl die Bestätigung holt, die ihr von der Mutter, einer angesehenen, reichen Geschäftsfrau, verwehrt bleibt. Allein Karl lässt den Zuschauer rätseln, denn er sagt so gut wie nie, was er denkt. Der Zuschauer guckt ihm zu, wie Karl wiederum seinem eigenen Leben zuguckt. Erst als er sich verliebt, glaubt man einigermaßen zu wissen, was in ihm vorgeht. Doch die Liebe hält nicht lange, und die Wortlosigkeit, in die er sich zurückzieht, macht ihn umso unberechenbarer. So hat man einerseits das Gefühl, die Charaktere recht schnell zu durchschauen, während der Protagonist ein Rätsel bleibt, und das, obwohl die ganze Geschichte um ihn kreist. +Was zeigt uns das? +Dass die Filmemacher eine wirklich gute Idee hatten, die aber im Film irgendwie zur Nebenhandlung verkommt: Auf der Suche nach sich selbst überschreitet Karl eine Grenze, indem er Privates mit Fremden teilt, ihnen bereitwillig die Kontrolle über sein Leben gibt. Er lässt sich von ihnen per Livestream mit geschlossenen Augen durch die Stadt führen – anfangs nur ein Spiel. Doch je mehr die Unbekannten von ihm wissen, umso weniger kann Karl sein eigenes Leben kontrollieren und bringt damit nicht nur sich, sondern auch die Menschen in Gefahr, die ihm nahestehen. Bloß: Das kommt im Film viel zu kurz. Der nimmt sich stattdessen viel Zeit für Karls sich immer mehr entzweiende Familie, die Abschottung von Schwester und Freunden, die ebenso kaputte Familie von Doro. So ist "Lomo" letztlich nur die allzu konfliktbeladene Geschichte eines Abiturienten mit Liebeskummer und nicht das interessante Gedankenspiel über die Macht von Daten, das der Film hätte werden können. + + + + +Good Job! +Gut gemacht ist die Kulisse – das verwinkelte Haus der Familie, wo Karl in seinem Zimmer auf dem Bett liegend durch ein großes schräges Dachfenster den Regen beobachtet, der auf die Scheibe prasselt. Ob in der Sauna im Keller oder im Auto in der Waschanlage, der Film findet passende Räume für die besonderen Momente zwischen Karl und Doro und fängt die Stimmung in perfekt ausgeleuchteten Bildern ein. Ausdrucksstark ist Karls Gesicht, in der Dunkelheit nur beleuchtet vom Licht seines Laptops, als er das intime Video von sich und Doro hochlädt. +Stärkster Satz +"Mach's dir doch nicht immer so schwer!", sagt Karls Schwester zu ihm und er antwortet: "Dann zeig du mir doch, wie's leicht geht." +Ideal für … +… alle, die gerne (deutsche!) Indie-/Coming-of-age-Filme gucken, in denen es sich die Heranwachsenden nicht leicht machen. Und alle, die sich irgendwie für soziale Medien interessieren. + +"Lomo – The Language of Many Others", Deutschland 2017; Regie: Julia Langhof; 101 Minuten. diff --git a/fluter/film-mogul-mowgli-von-riz-mc.txt b/fluter/film-mogul-mowgli-von-riz-mc.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c607359d8abb8f64af8896f23d3163c0f10259eb --- /dev/null +++ b/fluter/film-mogul-mowgli-von-riz-mc.txt @@ -0,0 +1,24 @@ + +Wie wird's erzählt? +Verworren. Zed, gespielt von Riz Ahmed, wird wie ein britischer Eminem dargestellt: Bei Tag und Nacht, in jeder Lebenslage rappt er über seine Gefühle, selbst wenn gerade seine Freundin neben ihm schläft. In seinem Kopf ist so viel los, dass man als Zuschauer*in nicht immer mitkommt. Ein Mann mit Blumenschleier vor dem Gesicht verfolgt ihn in seinen Träumen und Gedanken, seine Familie ist süß bis übergriffig, und unter Narkose träumt Zed davon, wie er vor Koranschülern mit einem Ringer kämpft. Warum, weiß man als Zuschauer*in nicht. Irgendwie berührt es einen auch nicht so richtig. Trotzdem ist der Kampf zwischen den verschiedenen Zugehörigkeiten spürbar, und Zed's Frage "Wer bin ich und wie viele?" hämmert irgendwann nicht nur auf ihn, sondern auch auf die Zuschauer*innen ein. + +Regisseur Bassam Tariq hat bisher ausschließlich Dokumentarfilme gedreht, "Mogul Mowgli" ist sein erster Spielfilm. Dafür hat der Filmemacher richtig auf die Tube gedrückt: ästhetische Bilder, leuchtende Farben, Zeitlupen und beängstigend eindrucksvolle Nahaufnahmen. Es wirkt so, als orientiere sich der Film sehr an Riz Ahmeds echtem Leben, teilweise werden auch private Videos von Ahmeds Kindheit eingeblendet. Einige Charaktere werden dagegen überzeichnet, so wie Zeds Rapkonkurrent RPG, der als Bling-Bling-Persiflage eines dümmlichen Otto-Normal-Cloud-Rappers daherkommt. + +Was zeigt uns das? +Zed hat es nicht einfach. Vielen Kindern,die mehrere Identitäten in sich vereinen, geht es ähnlich: Die soziale Herkunft kann sehr bestimmend und Familienstrukturen können schwer zu durchbrechen sein. Dazu kommt, dass traumatische Erinnerungen – zum Beispiel an einen Krieg oder eineFlucht– von einer Generation an die nächste weitergegeben werden können. Manchmal, das zeigt "Mogul Mowgli", machen sie einen sogar verrückt. + +Gut zu wissen +Hauptdarsteller Riz Ahmed hat das Drehbuch geschrieben und ist auch im echten Leben als Rapper unterwegs – unter dem Künstlernamen Riz MC. Gemeinsam mit dem Rapper Heems und dem Produzenten Redinho gründete er vor einigen Jahren die Musikgruppe "Swet Shop Boys", die 2016 den Song "Half Moghul Half Mowgli" veröffentlichte. Im Film kommt immer wieder die Phrase "Toba Tek Singh" vor. Dabei handelt es sich um eine Kurzgeschichte des pakistanischen Autors Saadat Hasan Manto aus dem Jahr 1955, der die Beziehung zwischen Indien und Pakistan satirisch behandelt. + +Good Job! +Die Musik ist gut eingesetzt und kraftvoll – genauso wie die Reime von Rapper Zed. + +Taschentuchmomente? +Nicht viele. Als Zed in der Dusche zwischen seinen streitenden Eltern zusammenbricht, fühlt man aber schon sehr mit. + +Ideal für … +Fans von Riz Ahmed und seiner Musik. + +"Mogul Mowgli" (Panorama, 2020) von Bassam Tariq läuft ab dem 21.2. an vier Terminen auf der Berlinale. Alle Infos gibt eshier. + +Titelbild: Mogul Mowgli / BBC Films diff --git a/fluter/film-mr-gay-syria.txt b/fluter/film-mr-gay-syria.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3fa26068106f23ba93d4b6f6fa71b6269eb8dd9b --- /dev/null +++ b/fluter/film-mr-gay-syria.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Die Geschichte hinter der Geschichte: Um den Film zu drehen, brauchte es eine Crowdfunding-Kampagne + +In einer ausweglosen Situation braucht man Freunde: Husein verbringt viel Zeit mit Mahmoud Hassino, der einst ebenfalls in die Türkei floh und mittlerweile in Berlin lebt. Der Journalist und Autor gilt als Wegbereiter für die Rechte von schwulen Männern in Syrien, gründete dort etwa das erste Blog für die Szene namens "Mawaleh" (arabisch für Nüsse). "Mr Gay Syria" von Ayşe Toprak erzählt nicht nur von Huseins Schicksal, sondern auch von Mahmouds Kampf für dessen Rechte. Und von Mahmouds neuester Idee, die tatsächlich filmreif ist: Es soll endlich einen syrischen Kandidaten für den internationalen Schönheitswettbewerb Mr. Gay World geben. +Begleitet von der Kamera diskutieren die beiden mit Freunden über die Möglichkeit, die syrische Perspektive auf das Schwulsein sichtbar zu machen. Und wenn die Wahl eines Schönheitskönigs schon nicht in Syrien möglich ist, dann findet sie eben in Istanbul statt. Als sie einen Ort gefunden haben und neben Husein vier Jungs kandidieren wollen, wagt Husein wieder zu hoffen. Gewinnt er hier, könnte er als syrischer Kandidat offiziell über die EU-Grenze nach Malta reisen, wo das große Finale stattfindet: Der Sieger wird Mr. Gay World. Für Husein wäre das ein lang ersehnter Schritt in die Freiheit. +Husein kämpft wie letztlich auch der Film selbst um seine Rechte, seine Freiheit und die Akzeptanz innerhalb der Gesellschaft. So wurde "Mr Gay Syria" zum Schutz von Huseins Identität in der Türkei bisher nicht veröffentlicht. Und schon im Vorfeld war nichts einfach: Die Produktion war schwierig zu finanzieren, meint Mahmoud Hassino, weil der Film mit einer türkischen Regisseurin und syrischen Protagonisten durch das Raster der europäischen Filmfinanzierung fiel und sich niemand dafür interessierte. Nur per Crowdfunding war es möglich, über Jahre zu drehen und die Geschichte zu erzählen. +Die Initiative kam von Hassino selbst, der durch das Kino Aufmerksamkeit für die Sache schaffen wollte. Das Ergebnis schenkt den jungen Männern zumindest im Kino einen neuen Bewegungsraum und die Freiheit, zu atmen. + diff --git a/fluter/film-my-salinger-year-kino.txt b/fluter/film-my-salinger-year-kino.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..87e44081704ef771ec2ca637d2df8ebbd47e9f74 --- /dev/null +++ b/fluter/film-my-salinger-year-kino.txt @@ -0,0 +1,23 @@ + +Auch in "The Assistant" geht es um die junge Assistentin eines großen Mannes –nur bleibt einem dabei die Spucke weg +Was zeigt uns das? +Was durch den Titel vor allem nach literarischem Gossip klingt, ist im Kern die Emanzipationsgeschichte einer jungen Frau. Joanna hat neben ihren Träumen eine große Unsicherheit darüber, welche Rolle in der Gesellschaft ihr als Frau eigentlich zusteht. In der Agentur lässt sie sich herumkommandieren und bedankt sich selbst für unterfordernde Aufträge. Joannas neuer Freund ist derweil ein Musterbeispiel fürmale entitlement: ein Möchtegern-Literat, der ständig an ihrer Stelle spricht, mit seiner Weltanschauung hausieren geht und sich finanziell aushalten lässt. Schließlich erinnert sie ausgerechnetgood oldJerry Salinger an ihre Ambitionen: "If you're a poet, keep writing every day!" +Wie wird's erzählt? +Wie ein lauwarmer Arthousefilm mit genau einem Regie-Einfall: Wenn Joanna Salingers Leserbriefe liest, stellt sie sich in Tagträumen die rührenden, schrägen oder zutiefst melancholischen Menschen hinter den Briefen vor. Wer einen klügeren und witzigen Film über künstlerisch ambitionierte Twenty-Somethings in New York sehen will: besser"Frances Ha"anschauen! + +She said it +"Ich will nicht als weitere Person gesehen werden, die aus seinem Leben Kapital schlägt, aber ich habe nicht das Gefühl, dass es überhaupt eine Geschichte über Salinger ist." +Joanna Rakoff hat die gleichnamige Buchvorlage über ihre Zeit in der Salinger-Agentur geliefert. Schon davor schrieb sie darüber Artikel, ein Radiofeature und sogar eine BBC-Doku. Und nun gibt es diesen Hollywoodfilm. Welche Rolle der Ruhm von Salinger wohl in ihrer Karriere gespielt hat? + +Good Job +Es ist klar, dass ein Film wie "My Salinger Year" vor allem wegen Sigourney Weaver auf der Berlinale läuft. Ihr Auftritt als mondäne Grande Dame der New Yorker Kulturschickeria ist das einzige Highlight des Films. + +FYI +Der Film erzählt nicht, dass die Buchveröffentlichung von "Hapworth 16, 1924", Salingers 1965 im "New Yorker" publizierter Novelle,noch in letzter Minute platzte: Da die Info gegen den Willen des Autors in die Presse gelangt war (und der Text vorab in der "New York Times" verrissen wurde), zog Salinger das Buch zurück. Seit seinem Tod im Jahr 2010 arbeitet sein Sohn Matt Salinger daran, den umfangreichen Nachlass, darunter etliche fertiggestellte Romane, posthum zu veröffentlichen. Das dürfte zu einer Neubetrachtung Salingers führen, dessen Hauptwerk noch immer die Blaupause vieler Coming-of-Age-Bücher ist und zu den erfolgreichsten Romanen aller Zeiten zählt. + +Ideal für … +Salinger-Fans – könnte man meinen. Wer J.D. aus der pubertären Lektüre aber in guter Erinnerung hat (wie der Autor dieser Zeilen), sei vorgewarnt. + +"My Salinger Year" (Berlinale Special Gala, Kanada/Irland 2020) feierte am 20.2. auf der Berlinale Weltpremiere. Mehr Infosgibt es hier. + +Titelbild:micro_scope diff --git a/fluter/film-oder-fake-quiz-zur-berlinale.txt b/fluter/film-oder-fake-quiz-zur-berlinale.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e6e7a07aa59301f2aa8e1b9eb2412ae4787bf0cc --- /dev/null +++ b/fluter/film-oder-fake-quiz-zur-berlinale.txt @@ -0,0 +1,9 @@ + +Elena (von Angélica Osorio, Chile/Argentinien 2020) +Jeden Tag setzt sich Bernardo in die Wartehalle des Bahnhofs von Antofagasta und wartet auf die Rückkehr von Elena. Doch seit derPinochet-Diktaturist sie verschollen. Als sich eines Tages ein Junge zu Bernardo setzt, erzählt er die Geschichte seiner großen Liebe. + +Lamborghini (von Diarra Sosseh, Senegal/Frankreich 2020) +Halblegale Deals, Gelegenheitsjobs, weicheDrogen: Die Teenager JJ und Lamine schlagen sich auf den Straßen von Dakar durchs Leben. Abends am Strand erzählen sie sich von ihren Träumen. Doch dann wird ihre Freundschaft auf eine harte Probe gestellt. + +Ob ihr wirklich richtig steht, seht ihr wenn der Link aufgeht:Hier geht's zur Auflösung. +Titelbild: Sebastian Wells/OSTKREUZ diff --git a/fluter/film-oder-fake-quiz.txt b/fluter/film-oder-fake-quiz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7664c469a1655598b7afc711a10975b0b1c21302 --- /dev/null +++ b/fluter/film-oder-fake-quiz.txt @@ -0,0 +1,8 @@ + +Mogul Mowgli (von Bassam Tariq, Großbritannien 2020) +Zed, ein junger britischer Rapper, muss seine erste Welttournee wegen schwerer Krankheit absagen und zieht zurück zu seinen Eltern. Er versucht, sich zwischen internationaler Musikkarriere und pakistanischen Traditionen neu zu verorten. + +Tutte le lemone (von Dario Romano, Italien 2020) +Der erste abendfüllende Spielfilm des italienisch-armenischen Regisseurs ist ein bildstarkes Labyrinth einer sizilianischen Familiengeschichte. Die junge Luca findet im Schreibladen ihrer verstorbenen Großmutter eine Dose voller vergilbter Fotos. Wer ist der Mann auf dem Hochzeitfoto ihrer Nonna? + +Ob ihr wirklich richtig steht, seht ihr wenn der Link aufgeht:Hier geht's zur Auflösung. diff --git a/fluter/film-oder-fake-was-laeuft-auf-der-berlinale-wirklich.txt b/fluter/film-oder-fake-was-laeuft-auf-der-berlinale-wirklich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0f32cfefe2c2e4e5621a9d4ede2bb0ce2e342b3c --- /dev/null +++ b/fluter/film-oder-fake-was-laeuft-auf-der-berlinale-wirklich.txt @@ -0,0 +1,8 @@ + +Ice on Fire (von Viktor Sorokvasin, Russland 2020) +Metal-Bandsspielen mit brennenden Gitarren die Nationalhymne, betrunkene Soldaten retten ein Eichhörnchen, und ein Öl-Oligarch gibt Tipps zur Steuerhinterziehung: Viktor Sorokvasin reist als investigativer Schelm durch ein Land, das aus den Fugen geraten ist. + +No me digas (von Fernando Alvaro Gutiérrez, Argentinien/Spanien 2019) +Ein hypochondrischer Schriftsteller lebt mit seiner Mutter, seiner Geliebten und seiner Tochter in einer explosiven Hausgemeinschaft. Als die Frauen eines Tages ausziehen, fällt er in eineDepression. Selbstironisches Spätwerk des argentinischen Meisterregisseurs. + +Ob ihr wirklich richtig steht, seht ihr wenn der Link aufgeht:Hier geht's zur Auflösung! diff --git a/fluter/film-peanut-butter-falcon-down-syndrom.txt b/fluter/film-peanut-butter-falcon-down-syndrom.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0b4c31bb689fe8d3071b4f00b68a5788e312c535 --- /dev/null +++ b/fluter/film-peanut-butter-falcon-down-syndrom.txt @@ -0,0 +1,9 @@ + + + +Gerade die Unbefangenheit zwischen Gottsagen und dem Hollywoodstar Shia LaBeouf macht es möglich, dass der Film sowohl ernste als auch lustige Momente erzählen kann. Damit sie eine enge Bindung bekommen, verbrachten Gottsagen, LaBeouf und Dakota Johnson schon vor Drehbeginn einen Monat lang Zeit miteinander. +Auf den ersten Blick führen die beiden Hauptfiguren völlig verschiedene Leben. Während Zak unbedingt Wrestler werden will, aber kaum Freiheiten hat, scheint Tyler keine festen Ziele zu haben und sich treiben zu lassen. Im Laufe ihrer Reise wird aber klar, dass es mindestens eine starke Gemeinsamkeit gibt: Zak wurde von seiner Familie verlassen und Tyler hat durch einen Unfall seinen Bruder verloren. Während die Verbindung zwischen Zak und Tyler zunehmend der Beziehung zwischen Brüdern ähnelt, vervollständigt sich das Familienbild durch Eleanor, die sich wenig überraschend im Laufe des Filmes in Tyler verliebt. Am Ende bleibt sie der stereotypen Rolle der umsorgenden Frau verhaftet, die die Familie zusammenhält. +Neben der Dynamik der Figuren steht der Umgang mit Vorurteilen gegenüber Menschen mit Behinderung im Zentrum des Films. Zu Beginn etwa mimt Zak das Stereotyp des braven, immer gut gelaunten Menschen mit Down-Syndrom – während er heimlich die Flucht aus dem Heim plant. Gerade seine Selbstbestimmtheit macht Zak zu einer modernen Figur mit Down-Syndrom, die nicht davor zurückscheut, ihre Wünsche zu äußern. Diese Wünsche nimmt aber vor allem das Pflegepersonal des Altenheims nicht ernst. Immer wieder entscheidet auch die Pflegerin Eleanor über Zaks Kopf hinweg, ohne ihre Übergriffigkeit dabei böse zu meinen. Sie glaubt anfangs fest daran, dass die Strukturen im Heim Zak zu seinem Besten beschützen. +Tyler begegnet Zak hingegen auf Augenhöhe. Ihm ist die Behinderung von Zak egal und genauso verhält er sich auch. Die beiden bauen zusammen ein Floß oder betrinken sich am Feuer und diskutieren über die Definition von Gut und Böse. Am Ende schließt sich Eleanor den beiden an. Die Selbstbestimmtheit siegt so zumindest in der Welt des Films über das fremdbestimmte Leben in einem nicht-inklusiven System. + +Dieser Text ist eine gekürzte Fassung der Filmkritik desKinofensters. Auf dem filmpädagogischen Portal der BpB gibt es noch viel mehr zu The Peanut Butter Falcon. Etwa einInterview mit Jonas Sippel, der beim inklusiven TheaterRamba Zambaspielt und Zak synchronisiert hat, sowie mitDenny Wehrhold, der an einer Berliner Schule mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung unterrichtet. diff --git a/fluter/film-push-grundrecht-auf-wohnen.txt b/fluter/film-push-grundrecht-auf-wohnen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..999c667cfc71f012582a58200154a04158391646 --- /dev/null +++ b/fluter/film-push-grundrecht-auf-wohnen.txt @@ -0,0 +1,12 @@ + + + + +Das "Warum" erklären im Film verschiedene ExpertInnen. Joseph Stiglitz, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, sieht die Versäumnisse klar bei den Politikern, die die Deregulierung der Finanzmärkte zugelassen haben. Dramatisch verschärft habe sich die Lage durchdie große Finanzkrise im Jahr 2008. Und die Soziologieprofessorin Saskia Sassen erklärt, nicht die Gentrifizierung sei das Hauptproblem; es liege viel tiefer. Der zunehmende Bevölkerungsdruck werde dadurch mitverursacht, dass in vielen Ländern massenweise Agrarflächen aufgekauft und ehemalige Kleinbauern in die Städte getrieben werden. Je umkämpfter der begrenzte Raum in der Stadt ist, desto kostbarer wird er. +Schließlich tritt auch nochder Journalist Roberto Savianoauf (bekannt geworden durch seine Anti-Mafia-Bücher) und erklärt uns, wie Geldwäsche funktioniert. Der Zusammenhang wird an dieser Stelle etwas schwammig. Aber klar wird insgesamt eines: Das Problem rührt daher, dass Immobilien heutzutage als Wert- und Anlageobjekte Nummer eins begriffen werden. Um dem Menschenrecht auf angemessene Behausung – so festgeschrieben in Artikel 11 des UN-Sozialpakts – zur Geltung zu verhelfen, ist daher dringend die Politik gefragt. + +Im Sommer 2017 brannte der Grenfell Tower in London. Rund 80 Menschen starben. Die Überlebenden bekamen eine Entschädigung, doch die reichte vielfach nicht, eine neue Wohnung zu finden + +Gegen Ende des Films holt Dokumentarfilmer Fredrik Gertten deswegen auch PolitikerInnen vor die Kamera, die sich bemühen gegenzusteuern: Florian Schmidt zum Beispiel, Baustadtrat im Berliner Stadtteil Friedrichshain-Kreuzberg. Der erklärt, durch Ausübungseines Vorkaufsrechts habe der Bezirk in den vergangenen zwei Jahren etwa 1.000 Wohnungen vor dem Zugriff von Investoren bewahren können. Oder Ada Colau, Bürgermeisterin von Barcelona, deren Kommune verstärkt Immobilien kauft, bevor Investoren sie zu Spekulationsobjekten machen können. +Aber ist das nicht alles nur "ein Tropfen auf den heißen Stein", wie ein Kreuzberger Bäcker sagt, dem gerade die Ladenmiete um 600 Euro erhöht wurde? Die "Was kann man dagegen tun?"-Frage jedenfalls ist zum Ende des Films längst nicht zufriedenstellend beantwortet. Von Enteignungen hat übrigens niemand gesprochen – da ist die aktuelle Debatte in Deutschland sogar schon ein Stück weiter. Viele warten darauf, dass die Politik echte Antworten liefert. Niemand kann ja wollen, dass in den großen Städten irgendwann wirklich nur die ganz Reichen leben können. + diff --git a/fluter/film-quiz-berlinale.txt b/fluter/film-quiz-berlinale.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2beba88c15ea6059655a09496603a42451453fa2 --- /dev/null +++ b/fluter/film-quiz-berlinale.txt @@ -0,0 +1,9 @@ + +Automotive (von Jonas Heldt, Deutschland 2020) +Während Sedanur in Ingolstadt die ganze Nacht damit verbringt, Autoteile zu sortieren, sucht Headhunterin Eva nach Fachkräften zur Automatisierung in der Logistik. Zwei ungleiche Vertreterinnen einer Generation, in der jede*r früher oder später ersetzbar wird. + +God's Leaf (von Jayden Togler, USA 2020) +Die amphetaminhaltigen Blätter desKathstrauchs sind eine Volksdrogein Jemen, in Oman und in Äthiopien. Doch der Konsum macht viele Menschen krebskrank, und die Kath-Monokulturen verbrauchen viel Trinkwasser. Auf den Spuren einer Droge, die im Westen fast niemand kennt. + +Ob ihr wirklich richtig steht, seht ihr wenn der Link aufgeht:Hier geht's zur Auflösung. + diff --git a/fluter/film-reise-nach-jerusalem-eva-loebau.txt b/fluter/film-reise-nach-jerusalem-eva-loebau.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..264bc404782d49d5d4055705daf6f8eefb2327da --- /dev/null +++ b/fluter/film-reise-nach-jerusalem-eva-loebau.txt @@ -0,0 +1,10 @@ + + + + +Das Spiel "Reise nach Jerusalem" wird inLucia Chiarlas Film zur Metapher der Arbeitssuche in einer Gesellschaft, die sich immer stärker über den Beruf definiert. Wer keine Arbeit hat, glaubt irgendwann, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Davor hat auch Alice Angst. Mit ihrem Porträt einer Frau, die durchs Raster fällt, gibt die Regisseurin dem Menschen hinter der Statistik ein Gesicht. Und sie offenbart, dass Arbeitslose nicht nur ihre Arbeitslosigkeit überwinden müssen, sondern auch in ihrem Umfeld dem Druck ausgesetzt sind, den Schein zu wahren und der Abwärtsspirale zu entkommen, die in unserer Gesellschaft eine beeindruckende Dynamik entwickeln kann. Alice hat nicht einfach nur Pech – sie kämpft gegen Windmühlen. +Hauptdarstellerin Eva Löbau spielt die Alice so gut, dass man ihr die Kekspackung, die sie sich nicht mehr leisten kann, am liebsten schenken würde. Und sie schafft es, ihrer Figur auch dann noch Würde zu verleihen, wenn sie mit abgebrochenem Eckzahn im Bewerbungsgespräch sitzt und am liebsten im Erdboden versinken möchte. +Der Film tänzelt keineswegs um Klischees herum, sondern rennt mit allen existierenden Klischees durch Berlin (die Airbnb-Gäste aus Frankreich inklusive, die von Alice' heruntergekommener Einzimmerwohnung begeistert sind: "Typiquement Berlin – arm aber sexy!"). Dabei bleiben die Überraschungsmomente auf der Strecke. Dass Alice schließlich ihren Nachbarn, einen Callboy, mit Tankgutscheinen, die sie bei dubiosen Jobs von Marktforschungsinstituten bekommt, für Sex bezahlt, ist dann doch etwas dick aufgetragen. +Der Film wurde ohne Produktionsförderung oder Beteiligung eines Senders mit einem geringen Budget gedreht. Das Bundesamt für Kultur und Medien (BKM) unterstützte das Projekt mit einer Verleihförderung. +Leute, die sich auch mal einen Film ansehen, der nicht nur oberflächlich dahinplätschert. Man fühlt sich schlecht bei diesem Film – aber genau darum geht es. Und das schafft der Film in jedem Fall, während wir Alice auf ihrer "Reise nach Jerusalem" ein Stück begleiten. + diff --git a/fluter/film-rezept-was-hat-essen-mit-identitaet-zu-tun.txt b/fluter/film-rezept-was-hat-essen-mit-identitaet-zu-tun.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a7528b2b6825df0eac8dee79b3d100fe6c9c096c --- /dev/null +++ b/fluter/film-rezept-was-hat-essen-mit-identitaet-zu-tun.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Für die Füllung: 1 Teelöffel Salz, 7 Kartoffeln, 2 Löffel Mangopulver, 1 Teelöffel Chilli, 1 Teelöffel Korianderpulver, 1 Zwiebel, 1 Tomate, 1/2 Gurke, Koriander, 1/2 Granatapfel +Außerdem: Joghurt und zerbröselte Kartoffelchips (oder Sev aus dem Asia-Markt) als Topping +Fangen wir mit der Füllung an (die natürlich je nach Geschmack variiert werden kann): Die Kartoffeln schälen und in Salzwasser kochen. +Anschließend Zwiebeln, Tomaten und Gurken in kleine Stückchen schneiden, Koriander klein hacken und einen Granatapfel zerstückeln. +Joghurt und Wasser im gleichen Verhältnis miteinander vermengen, sodass die Menge nicht zu flüßig wird. +Wenn die Kartoffeln gar sind, werden sie zerstampft und mit Salz, Mangopulver, Chilli und Korianderpulver gewürzt. +Wenn alles fertig ist: Ein Loch in die Puris drücken und diese dann jeweils mit dem Kartoffelbrei, Joghurt, Tomatenstücken, Gurke, Zwiebel, Koriander und Granatapfel füllen. Oben drauf kommt Sev bzw. eben zerbröselte Kartoffelchips. +Tipp: Für den richtigen Geschmack sollte eine selbstgemachte Koriander- und Tamarindensauce nicht fehlen! +Guten Appetit! diff --git a/fluter/film-schlaf-rezension.txt b/fluter/film-schlaf-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ad8f7a3bc24cebb97dce1c212f04a9ea75654e38 --- /dev/null +++ b/fluter/film-schlaf-rezension.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Hip Hop ist in New York geboren, heute aber auch im Hinterland zuhause.Was man von deutschem Provinzrap lernen kann +Seit Jahren hatte Marlene unter wiederkehrenden Albträumen gelitten, die jedes erträgliche Maß weit überschreiten. Inständig hatte Mona sie gebeten, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Als Marlene dann in einer Zeitungsanzeige ein Hotel entdeckte, das genauso aussieht wie einer der Orte, die sie nur aus ihren Träumen kennt, war sie heimlich dorthin gereist. Nach Stainbach. In den Wald. +In genau dieses Hotel checkt nun auch Mona ein. Das "Hotel Sonnenhügel" ist ein 70er-Jahre-Komplex, der seine besten Zeiten hinter sich hat, dessen Besitzer aber große Träume hegt: Zu einem Kongresszentrum soll der Sonnenhügel ausgebaut werden, mitCoworking, Yoga und allem, was dazugehört. +Doch dass sich im deutschen Wald Düsteres verbirgt, weiß jedes Kind, das seine Grimm'schen Märchen gelesen hat. Und dass in derdeutschen Provinzeine Art Horror warten kann – natürlich nicht in jeder und natürlich nicht für alle –, das wissen alle, die von dort entkommen sind. Es dauert nicht lange, da wird Mona von den gleichen Albträumen wie ihre Mutter heimgesucht. Schnell ist nicht mehr klar, was Wirklichkeit ist und was Einbildung, wer gut ist und wer böse. Immer tiefer wird Mona in die dunkle Geschichte rund ums Hotel Sonnenhügel gezogen, wo sich vor über 20 Jahren gleich drei honorige Vertreter der Kleinstadtgemeinde das Leben nahmen. +Ruhig und dräuend entfaltet Regisseur Michael Venus in "Schlaf" einen leisen Horror, der vor allem von Andeutungen, von kurzen Verschiebungen und Rissen in der Wahrnehmung lebt. Hier gibt es keine Zombies oder Monster, hier reichen Wildschweine und eine blasse blonde Frau für Gänsehautmomente. Ausstattung, Kamera, Kostüm, Szenenbild schaffen ein wunderbar stimmiges Setting, das nur vereinzelt unnötig aufgebrochen wird durch wild inszenierte Szenen mit Schwarzlichtfarben und Stroboskopgewitter. +In Träumen kommt mitunter Verdrängtes zum Vorschein. Und wenn esin Deutschland um Verdrängtes geht, ist die Zeit des Nationalsozialismus nicht fern. Auch in Stainbach verbirgt sich hinter dem Fachwerkidyll eine düstere Vergangenheit und kommen die Geister von einst in neuer Form wieder zum Vorschein. Je tiefer man sich darin verstrickt, desto gruseliger wird es. Und wenn man nach 102 Kinominuten schließlich wieder hinaustritt aus diesem dunklen Wald, dann findet man es etwas rätselhaft, warum das Horror- und Mysterypotenzial der deutschen Provinz bisher so wenig ausgeschöpft wurde. + +"Schlaf" (Perspektive Deutsches Kino, Deutschland 2020) feierte am 25.2. auf der Berlinale Weltpremiere, im Sommer kommt er in die Kinos.Mehr Infos gibt es hier. +Titelbild: Marius von Felbert/Junafilm diff --git a/fluter/film-schwarze-milch-uisenma-borchu-kino.txt b/fluter/film-schwarze-milch-uisenma-borchu-kino.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..109f0d29b4626202dcbc601d5b9b3b20535eb8e9 --- /dev/null +++ b/fluter/film-schwarze-milch-uisenma-borchu-kino.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Folkloreklänge kommen aus dem Lautsprecher in einer Altbauwohnung. Eine junge Frau stimmt sich auf eine Reise ein. "Muss das Gedudel sein?", schnauzt ihr Freund sie an. Kurz daraufroutiniert wirkender Sex, danach einStreit: Wessi, so heißt die junge Frau, will in die Mongolei fliegen, um nach Jahren ihre Schwester wiederzusehen; er will, dass sie bleibt. Sein "Du gehörst zu mir" klingt wie eine Drohung. In der nächsten Szene läuft Wessi am Flughafen zum Gate. Von ihrem Freund,gespielt vom deutschen Shootingstar Franz Rogowski, ist fortan keine Rede mehr. +Tausende Nomaden flüchten jedes Jahr aus mongolischen Steppe –vor Kohleminen und den Folgen des Klimawandels +Den Rest des Films, der in der Mongolei spielt, sehen wir vor diesem Hintergrund: Wessi hatte zwar ein selbstbestimmtes Leben in Deutschland, aber wohl auch gute Gründe, es hinter sich zu lassen. Von hier an bewegt sich der Film immer weiter weg, erst in die Hauptstadt Ulan-Bator und dann auf einem Roadtrip in die mongolische Steppe. Diese Bewegung hinein in die offene Landschaft inszeniert der Film als Befreiung. Die Mongolei ist eines der am dünnsten besiedelten Länder der Welt. Wenn Wessis Schwester, die am Rande der Wüste Gobi mit ihrem Mann unter Nomaden lebt, von Nachbarschaft spricht, meint sie eine kilometerweit entfernte Jurte. Das Leben in dieser Gemeinschaft bestimmen die Männer, während die Frauen sich um Haushalt, Kinder und Viehherde kümmern. Nach dem Filmanfang ist klar: Wessi will auch diesesPatriarchat aufrütteln. +"Schwarze Milch" ist am stärksten, wenn sich Wessis Rückkehr in eine Heimat, deren Regeln sie längst abgeschüttelt hat, in feinen Details ausdrückt. Einmal etwa greift sie gierig mit den Fingern in eine Milchspeise und sagt: "Da könnte ich mich reinlegen." +Dabei übersetzt sie die deutsche Redensart wörtlich ins Mongolische. So was Idiotisches, meint ihre Schwester, die Milch sei hier das Wertvollste, darin könne man doch nicht baden. Man merkt, dass solche Szenen realen Erfahrungen abgerungen sind oder zumindest einer genauen Kenntnis beider Kulturen. +"Schwarze Milch" soll allerdings nicht bloß Culture Clash, sondern immer auch Grenzüberschreitung sein: Später gibt es eine Vergewaltigungsszene und eine Tiertötung. Letztere wurde "dokumentarisch gefilmt", heißt es im Abspann. Wenn solche drastischen Szenen nur als Kontext einer Selbstfindungsgeschichte dienen, wird Provokation zum Selbstzweck. Spätestens hier hätte sich Borchu lieber ein bisschen weniger zutrauen sollen. + +"Schwarze Milch" (Panorama, Deutschland/Mongolei 2020) feierte auf der Berlinale Premiere – weshalb wir den Film auch schon im Februar besprochen haben – und läuft ab sofort in den Kinos. + diff --git a/fluter/film-siebzehn-monja-art.txt b/fluter/film-siebzehn-monja-art.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..48193c715bc671669b2a20f27dd1fd6b7d1bc3b2 --- /dev/null +++ b/fluter/film-siebzehn-monja-art.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Paula hat ein Auge auf ihre Mitschülerin Charlotte (Anaelle Dézsy) geworfen, die allerdings einen festen Freund hat. Zwischen den Mädchen entwickelt sich eine fragile Freundschaft. Sie wird jedoch von weit größeren Gefühlen überschattet, die beide noch nicht artikulieren können. Die forsche Lilli (Alexandra Schmidt), eine Art soziale Kontrollinstanz im Klassenverbund, beobachtet die beiden Mädchen eifersüchtig. Sie testet ihre Macht über die Jungs, gleichzeitig provoziert sie Paula mit eindeutigen Avancen. Für sie ist es ein Machtspiel, Paula dagegen fühlt sich hin und her gerissen. +Im Kino gehören Coming-of-Age-Geschichten zu den beständigsten Erzählungen: Das Wechselspiel aus alltäglichen Banalitäten und tiefschürfenden Erkenntnissen über das sich wandelnde Verhältnis zur Welt braucht eine Bühne, auf der die impulsiven, irrationalen Gefühle nachhallen können. Sprache allein stößt da schnell an ihre Grenzen, wenn man für die widersprüchlichen Erfahrungen noch nicht über die passenden Begriffswerkzeuge verfügt. +"Siebzehn" entwickelt eine seltene Sensibilität für die Irritationen seiner Figuren. Der mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichnete Film findet so auch einen Resonanzraum für die rohe, unfertige Sprache der Teenager in ihrer existenziellen Unsicherheit zwischen jugendlichem Stolz und dem peinigenden Wissen um die eigene Unzulänglichkeit. +Das Schöne an "Siebzehn" ist, dass es nie vordergründig um die große Dramen des Coming of Age geht. Man hat das schon unzählige Male gesehen: Teen-Schwangerschaft, Scheidung der Eltern, Homosexualität, Schule, Mobbing. Die Konflikte in "Siebzehn" spielen sich eher in den beiläufigen Dramaturgien des Alltags ab, in denen weniger das, was gesagt wird, Verbindlichkeit besitzt (oder ob man mit einer Klassenkameradin gerade in den Gängen der Schule rummacht), als vielmehr schüchterne Berührungen oder die Blicke, die man sich verstohlen im Unterricht zuwirft – und die sich dann als verräterische Erregung leuchtend rot auf den Wangen abzeichnen. +Natürlich geht es in "Siebzehn" auch zur Sache: Ficken, Alkohol, Party. So lehnt sich die Landjugend gegen die Monotonie der Provinz auf. Aber die Regisseurin leistet sich keinen voyeuristischen Blick, das Provinzleben hat fast etwas Idyllisches in seinen unschuldigen Routinen. Tagsüber Schule, nachmittags Rumhängen am See, am Wochenende in den einzigen Club im Ort. Wenn Popstar Clara Luzia für ein Konzert vorbeikommt, ist das schon der Höhepunkt des Jahres, den der Film dennoch nie gegen den eintönigen Alltag aufrechnet. +Ob Paula nun auf Mädchen steht oder sich die beiden Freundinnen am Ende bekommen, ist am Ende auch zweitrangig. Das Coming of Age und das Coming-out entspringen am Ende demselben diffusen Wunsch, etwas mehr über sich selbst zu erfahren. Man kann Jugendliche mit ihren Problemen schließlich auch im Kino mal ernstnehmen. "Siebzehn" ist so ein Glücksfall. + + +"Siebzehn", Regie Monja Art, mitElisabeth Wabitsch, Anaelle Dézsy, Alexandra Schmidt, Österreicht 2017, 105 Minuten. diff --git a/fluter/film-teigtaschen-laus-aller-welt-luqaimat.txt b/fluter/film-teigtaschen-laus-aller-welt-luqaimat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5dde0f6bbedae945672107ce446d1919a5dc5d6c --- /dev/null +++ b/fluter/film-teigtaschen-laus-aller-welt-luqaimat.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Außerdem: 500 ml Öl, Zuckersirup und Sesam +Fangen wir mit dem Teig an: Mehl und Wasser miteinander verrühren, bis der Teig nicht mehr klumpig ist. Anschließend Zucker, Backpulver, die Hefe, ein bisschen Öl und eine Prise Salz dazugeben. Den Teig dann mit einem Tuch abdecken und für ungefähr eine Stunde an einem warmen Ort gehen lassen. +Währenddessen könnt ihr den Frischkäse (Sultan benutzt am liebsten Kiri-Käse) in kleine Stücke zerschneiden und ca. 500 ml Öl in einer Pfanne aufkochen. +Anschließend formt ihr mithilfe eines kleinen Löffels kleine Kugeln aus dem Teig, in die ihr jeweils einen Würfel Frischkäse steckt. Frittiert die Kugeln dann, bis sie goldbraun sind. +Servieren könnt ihr Luqaimat anschließend mit Zuckersirup und Sesam obendrauf. Guten Appetit! diff --git a/fluter/film-the-cleaners-content-moderators.txt b/fluter/film-the-cleaners-content-moderators.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ed3c22ab5ba379d05e7f1b69a088b8914592b3b8 --- /dev/null +++ b/fluter/film-the-cleaners-content-moderators.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Die Multimedia-Künstler Hans Block und Moritz Riesewieck, beide Absolventen der Theaterhochschule Ernst Busch, interessieren sich für verborgene Wahrheiten und politische Inszenierungen der Gegenwart. In ihrem ersten Dokumentarfilm zeigen sie die Welt der sozialen Netzwerke als Bühne einer Aufmerksamkeitsindustrie, die für ihr Wachstum Empörung und Extreme in Kauf nimmt  – seien es rassistische Äußerungen von US-Präsident Donald Trump, die autoritäre Gewaltpolitik des philippinischen Präsidenten Rodrigo Duterte oder die Völkermorde in Myanmar. "The Cleaners" untersucht, wie diese Aufmerksamkeitsindustrie die soziale und politische Realität, letztlich das kritische Denken unterwandert. + +"The Cleaners" fühlt sich mitunter wie ein Thriller an, weniger wie eine Dokumentation. Block und Riesewieck kennen die Aufmerksamkeitsökonomie, von der sie erzählen. Sie kennen auch Laura Poitras' "Citizenfour", den oscarprämierten Dokumentarfilm zu Edward Snowdens Enthüllungen. Wie in Poitras' Film vergeht kaum ein Moment ohne spannungstreibende Musik. Immer wieder verwenden sie das Bild des dunklen Büroraums, das intransparente Machenschaften symbolisieren soll. Und ständig wird gesprochen: Meinung trifft auf Meinung, Archivaufnahme auf Gegenwartskommentar, offizielle Informationspolitik auf aufklärerische Gegenthese. + +Manchmal wird es todtraurig, wenn die Content-Moderatoren reden dürfen. Eine junge Frau sagt: "Ich wollte sofort hinschmeißen. Ich hatte Angst, als Müllsammlerin zu enden. Deshalb hab ich mich in der Schule sehr angestrengt." + +Die Konzerne kommen schlecht weg, taugen bei "The Cleaners" aber auch als dankbares moralisches Feindbild. Ebenso wie nach politischem Sprengstoff sucht der Film nach den reißerischen Bildern, die die sozialen Netzwerke nicht erreichen oder gelöscht werden. So filmen Block und Riesewieck noch schnell einen Obdachlosen im Vorbeigehe und halten besonders lange auf die Wasserleiche eines Kindes oder den enthaupteten Körper eines IS-Gefangenen. Dabei braucht man diese Schockmomente gar nicht, um die Geschichte zu verstehen. + +… Leute, die sich weder von Verschwörungstheorien noch von filmischen Weltformeln einlullen lassen wollen. Und für Streitwillige, denn über den Film, seine Gewichtungen und seinen Stil lässt sich ganz prima diskutieren. + +"The Cleaners", Deutschland/Brasilien 2018; Regie: Hans Block und Moritz Riesewieck; 88 Minuten. Der Film läuft ab heute in den Kinos. diff --git a/fluter/film-the-florida-project.txt b/fluter/film-the-florida-project.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b4f09b69df7b41775e030fe16f334d1266e8490e --- /dev/null +++ b/fluter/film-the-florida-project.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Dieser Text erschien zuerst aufkinofenster.de, dem Onlineportal für Filmbildung der bpb. Dort erfährst Du noch viel mehr zu The Florida Project. Etwa, welche RolleMotelsin der sozialen Geografie Amerikas spielen, wie Regisseur Sean BakerFarbeneinsetzt und warum in den letzten Jahren in vielen bemerkenswerten FilmenKindereine Hauptrolle spielen. +Während Halley versucht, sich mit dem illegalen Verkauf von Parfum an Urlauber/-innen über Wasser zu halten, verbringen die Kinder ihre Tage mit ausgedehnten Streifzügen durch die Nachbarschaft. Routiniert schnorren sie dabei Geld für Eiscreme, bespucken auf dem Motel-Parkplatz Autos und verursachen obendrein einen Brand in einem leerstehenden Gebäude. +Für Schadensbegrenzung sorgt lediglich der Motel-Manager Bobby, gespielt von Willem Dafoe, neben Laiendarstellerinnen und -darstellern der einzige Star im Ensemble des Films. Unermüdlich weist er nicht nur die Kinder zurecht, sondern versucht auch, Halley vor den Konsequenzen ihrer Fahrlässigkeit zu schützen. Aller nötigen Strenge zum Trotz ist Bobbys Verhalten von einem liebevollen Wohlwollen gegenüber seinen Mietern und Mieterinnen geprägt. Seine Einflussnahme hat jedoch Grenzen. Als die Mutter von Scooty, Moonees bestem Freund, realisiert, welchen bedenklichen Einfluss das Mädchen auf ihren Sohn hat, schaltet sie das Jugendamt ein. + +Als Independent-Film kam The Florida Project mit einem vergleichsweise geringen Budget von drei Millionen Dollar aus. Die unabhängige Produktionsweise garantiert Regisseur Sean Baker größtmögliche inhaltliche wie formale Freiheit. Mit den sogenannten "hidden homeless" – offiziell nicht als obdachlos registrierte Menschen ohne festen Wohnsitz – nimmt er eine gesellschaftlich marginalisierte Gruppe in den Fokus, die im US-Kino wenig sichtbar ist. + +In den heruntergekommenen Motelanlagen rund um Disney World, wo der Film auch gedreht wurde, hatte Baker zuvor ausgiebig recherchiert. The Florida Project erzählt von der existenziellen Notlage seiner Figuren jedoch nicht in Form eines sozialrealistischen Dramas. Er zeichnet weder ein um Mitleid heischendes Elendsbild noch bedient er die Klischeevorstellungen eines problembehafteten "White Trash"-Milieus. +Vielmehr macht sich der Film in seiner Inszenierung eines anderen Amerikas die Perspektive seiner sechsjährigen Protagonistin zu Nutze. Der tägliche Überlebenskampf ihrer Mutter erscheint aus Moonees unbekümmerter Kinderperspektive als Spiel; ihre unwirsche Umgebung am gesellschaftlichen Rand, zwischen Outlet-Centern und Souvenirshops, als sonnendurchfluteter, bunter Abenteuerspielplatz, der Disneys "Magic Kingdom" kaum nachzustehen scheint. Baker und sein Kameramann Alexis Zabé platzieren die Kamera meist auf Augenhöhe der Kinder. Den fantastischen Charakter der häufig skurrilen Schauplätze unterstreichen sie durch eine betont künstliche Farbgestaltung aus aufeinander abgestimmten Lila- und Türkistönen. +Zahlreiche Szenen im Film sind Momentaufnahmen, die vornehmlich dazu dienen, die Magie der so ins Bild gesetzten Kinderwelt auszugestalten. Spannung entsteht aus deren bitterer Diskrepanz zur Realität. So deutet sich im Subtext des Films zunehmend an, dass die harte Wirklichkeit die Protagonistinnen einholen wird. Als das Jugendamt schließlich einschreitet und Halley und Moonee voneinander zu trennen droht, holt The Florida Project zu einem ebenso fulminanten wie vieldeutigen Finale aus. Bei ihrer gemeinsamen Flucht dringen Moonee und ihre Freundin Jancey bis ins Zentrum der vermeintlich unerreichbaren Disney World, bis zum tatsächlichen "Magic Castle" vor. +Baker setzt die Schlusssequenz durch einen radikalen ästhetischen Bruch vom Rest des Films ab. Dabei wechselt er sogar das Medium: Das farbensatte analoge 35mm-Bild weicht der schroffen Digitalästhetik eines Smartphones. Diese Entscheidung hatte zunächst einen ganz pragmatischen Grund: Da das Team ohne Drehgenehmigung in Disney World filmte, musste es möglichst unauffällig agieren. Es lässt sich darin aber auch eine filmische Strategie sehen, nach dem Status des Gezeigten zu fragen. Ist es reine Wunschvorstellung? Welche Chancen hätte Moonee in der Wirklichkeit? Ein Happy End zu dieser Geschichte, so scheint es, gibt es nur in der Kinderfantasie. diff --git a/fluter/film-the-rider-maennlichkeit-usa.txt b/fluter/film-the-rider-maennlichkeit-usa.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0b3fe86494640f236e843f0a4ac5668227d9db81 --- /dev/null +++ b/fluter/film-the-rider-maennlichkeit-usa.txt @@ -0,0 +1,12 @@ + + +Nicht nur bei Brady stehen im Hintergrund Familien und geliebte Menschen, die unter dem permanenten Risiko des Reitens leiden. Seinen Kindheitsfreund Lane traf es am schlimmsten, er kann nach einem schweren Unfall nicht mehr sprechen und sich kaum noch bewegen. Die beiden tauschen über Zeichensprache Sprüche aus, als wäre der nächste Ritt noch immer in Sichtweite. Bradys Handicap stellt ihn vor die Frage, ob er noch einmal sein Leben riskieren wird. Wird er für den Kitzel seinen Vater und seine Schwester vielleicht für immer im Stich lassen? +Das Reiten ist Teil seiner Identität. Besonders wenn er Pferde zähmt, wird das klar: Da ist eine tiefe Verbundenheit mit ihrem Wesen, eine seltene Zärtlichkeit. Einmal begegnet ihm Apollo, ein Hengst, der noch nie geritten wurde. Und er kann sich der Nähe zu dem Ross nicht entziehen. Regisseurin Chloé Zhao, die in Peking geboren ist und zu den wichtigsten Stimmen des US-Independent-Kinos zählt, zeigt in diesen Momenten, wie Brady zum Vater wird und zur Mutter, zum Freund und zum Tanzpartner. + +Das besondere Charisma des Helden kommt nicht von ungefähr: Der ehemalige Rodeoreiter Brady Landreau spielt als Brady Blackburn im Grunde sich selbst, erzählt hier seine eigene Geschichte. Bradys Kopfwunde vom Anfang des Films ist weder erfunden noch inszeniert. Ebenso wie das große Rückentattoo, das er sich vor der Kamera als Andenken an seinen gelähmten Freund Lane stechen lässt. Zhaos Film ist halbdokumentarisch und liefert damit nicht bloß einen erzählerischen Gegenentwurf zu den angejahrten Männlichkeitsgeschichten des Western, sondern positioniert sich auch in der Wahl der filmischen Methode gegen die stilisierten Helden und Klischees des Genres. Ihr Film ist kompliziert, weil er halb wahr ist, und formuliert am Rande der amerikanischen Gesellschaft ein berührendes, realitätsnahes Gegenwartsbild. Die Männer, die sie zeigt, leben wirklich in dieser Naturkulisse, die selbst die amerikanische Bevölkerung vor allem aus Filmen über die Vergangenheit kennt. + + +Zhao trifft mit "The Rider" den Nerv der Zeit, in der selbst im Mainstreamkino die harten Burschen seit langem von einer großen Palette feinfühliger Männer flankiert werden. Auch das Western-Genre hat sich mit Filmen wie "Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford" immer wieder erfunden. Schon seit dem Vietnamkrieg reicht es nicht mehr aus, von der Eroberung der Wildnis durch starke, gesunde Männerkörper zu erzählen, von der Unterwerfung des Fremden, vom Freiheitsmythos der USA. +Trotzdem war es für Cloé Zhao als kritische, asiatischstämmige Regisseurin schwierig, ihren Film zu finanzieren. Und das, obwohl schon ihr Regiedebüt bei den wichtigen Filmfestspielen in Cannes lief. Mit "The Rider" gelang es ihr gegen alle Widerstände erneut, dort Premiere zu feiern. Und einen Preis zu gewinnen. + +"The Rider", USA 2017; Regie: Chloé Zhao; 104 Min. diff --git a/fluter/film-tigermilch.txt b/fluter/film-tigermilch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0243f10ac424e847c4afd7c51b6267bb0cfdddbd --- /dev/null +++ b/fluter/film-tigermilch.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Gleich in der Eingangssequenz, in der die BFFs Nini und Jameelah Hand in Hand strahlend über die Tauentzienstraße hüpfen (im Hintergrund das adrette U-Bahnhof-Häuschen), fühlt man sich eher wie im neuesten BVG-Werbespot als in einer "lebhaften und gut beobachteten Milieustudie". Mit diesen Worten wurde nämlich der Roman "Tigermilch" von Stefanie Velasco, der dem Film zugrunde liegt, von einer Kritikerin in der TageszeitungDie Weltbei seinem Erscheinen vor vier Jahren gelobt. Andere waren hingerissen vom "schnellen und toughen" Tonfall; ein Kritiker bekannte, er habe sich in die Erzählstimme verliebt. +Nun erzählt allerdings ein Film nicht mit Worten, sondern mit Bildern. Und eines ist "Tigermilch" auf jeden Fall: in schönen Bildern gefilmt. An schönen Locations, mit schönen Menschen, alles sieht supergut aus und ist meistens ganz doll bunt. Nur nicht in der Wohnung von Ninis Proll-Mutter, die hat nämlich noch die Eichenschrankwand der Urgroßeltern im Wohnzimmer stehen und trägt einen sackartigen braunen Kittel, in dem sie aussieht wie eine Hexe aus Grimms Märchen. +Milieustudie? Deine Mutter! Die visuellen Klischees, die in diesem Film angehäuft werden, sind teilweise haarsträubend. Die Story wiederum hat den Nachteil, dass sie sich kaum nacherzählen lässt – und zwar deshalb, weil einfach monströs viel darin vorkommt: große Mädchenfreundschaft, Angst vor Abschiebung, ethnische Spannungen, unglückliche Liebe, Kinderprostitution, Teenagerkriminalität, Alkoholismus, erster Sex, emotionale Vernachlässigung, Ehrenmord. +Da muss man einfach fragen: Hallo, geht's noch? Wie groß muss die Angst vor dem jungen Publikum sein, dass man so sehr darum bemüht ist, es bloß nicht zu langweilen? Bei all den Themen bleibt gar keine Zeit, irgendetwas zu Ende zu erzählen. Möglichst schrill, möglichst krass soll alles sein. Und weil das Bemühen darum so sehr zu spüren ist, beginnt man sich bald krass zu langweilen. +Allein das Ensemble sorgt dafür, dass man trotz allem sogar ein gewisses Interesse für manche Charaktere entwickelt. Flora Li Thiemann als Nini zum Beispiel ist eine sehr authentisch orientierungslose Fünfzehnjährige, der man ihre Filmrolle gern abnimmt. Auch etliche der Nebendarsteller, etwa Emil Belton als Ninis Freund Nico oder Narges Rashidi als Jameelahs Mutter Noura, füllen ihre Parts mit Leben. Warum die patente Noura allerdings den doch so wichtigen Brief von der Ausländerbehörde einfach hat vergessen können, das vergisst das Drehbuch irgendwie plausibel zu machen. Es gibt ja auch einfach zu viel anderes zu bedenken. +Und so sieht man dieser "Tigermilch" trotz aller Milieu-Ambitionen allzu deutlich an, wo sie zusammengerührt wurde: im großen, biederen Mustopf deutschen Filmschaffens. +"Tigermilch", Regie und Buch: Ute Wieland, mit: Flora Li Thiemann, Emily Kusche, David Ali Rashed, D 2017, 106 Min. diff --git a/fluter/film-treasure-rezension.txt b/fluter/film-treasure-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7f2e4ae0ab598e42adb2cc31a9f850a655c60e11 --- /dev/null +++ b/fluter/film-treasure-rezension.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Um vererbte Traumata und dieSprachlosigkeit zwischen Holocaustüberlebenden und ihren Nachkommen. Ruth gehört zur zweiten Generation, sie sehnt sich nach einer Aufarbeitung und schleppt einen Koffer voller Bücher aus dem Nationalsozialismus mit sich herum. Ruths Trauma äußert sich durch eine Essstörung und dadurch, dass sie sich immer wieder eine Häftlingsnummer in die Haut ritzt. Ihrem Vater wirft sie vor, dass er, genau wie Ruths Mutter, nie über denHolocaustgesprochen hat. Erst nach und nach lässt Edek es zu, dass Erinnerungen hochkommen und er Worte für das findet, was er erlebt hat. "Treasure – Familie ist ein fremdes Land" handelt vonErinnerungskulturund von einem "Vater-Tochter-Trip", wie Edek die Reise nennt. Mit der Zeit nähern sich die beiden an. Sie entwickeln Verständnis füreinander – und vor allem Ruth auch für sich selbst. +Die Regisseurin und Produzentin Julia von Heinz hat das Drehbuch gemeinsam mit ihrem Mann John Quester geschrieben. Nach dem Kinofilm "Und morgen die ganze Welt" über eine junge Frau in der Antifa ist "Treasure" ihr erstes internationales Filmprojekt. Es basiert auf dem autofiktionalen Roman "Zu viele Männer" der australisch-amerikanischen Autorin Lily Brett, der 2002 auf Deutsch erschien. + + +Dass man humorvoll vom Holocaust erzählen kann, hat schon Roberto Benignis Tragikomödie "Das Leben ist schön" gezeigt, die zum Teil in einem Konzentrationslager spielt. Von Heinz erzählt nun mit sanftem Humor, vor allem über Edek. Wie er im Hotel mit älteren Frauen flirtet und beim Karaoke "Life is life" singt, sorgt für heitere Momente, ebenso seine trockenen Kommentare. Zum Beispiel, wenn er und Ruth in Auschwitz in einer Art Golfcart sitzen und vom Guide erfahren, dass Überlebende das Privileg haben, gefahren zu werden. Edeks Antwort: "Das ist doch schon mal was." +"Treasure" kommt ganz ohne Rückblenden aus. Dadurch bleibt der Film nah an der Beziehung zwischen Ruth und Edek. Die Annäherung der beiden im Laufe des Films ist zwar erwartbar, dennoch verfolgt man sie gebannt. Besonders berührende Szenen: als Edek in seinem Elternhaus die Couch und das Teeservice seiner Eltern entdeckt. Und als die beiden am Ende ihrer Reise die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau besichtigen, wo sie fast alle Familienmitglieder verloren haben und schließlich den titelgebenden Schatz finden. + +"Das ist kein Museum, das ist ein Todeslager", sagt Ruth immer wieder, unter anderem zum Guide in der Gedenkstätte. +Die Drohnenaufnahmen des Lagers machen die gigantischen Ausmaße der Vernichtungsmaschinerie deutlich und wirken lange nach. +Mitte der 2000er-Jahre reiste Stephen Fry – wie Ruth in "Treasure" – für die BBC-Reportage "Who Do You Think You Are?" auf den Spuren seiner jüdischen Vorfahren durch Osteuropa. Für "Treasure" war er zum ersten Mal in Auschwitz, wo Mitglieder seiner Familie ermordet worden sind. Im Presseheft zum Film erzählt der Produzent Fabian Gasmia, dass Zbigniew Zamachowski, der den Fahrer Stefan spielt, am Tag der Dreharbeiten erfuhr, dass sein Vater als Kind in Auschwitz gewesen sei. "Die Menschen, die die Gedenkstätte leiten, hatten das in ihrer Datenbank recherchiert. Das gab unserem Dreh unvermittelt eine zusätzliche Schwere", so Gasmia. + +"Treasure – Familie ist ein fremdes Land" läuft ab dem 12. September im Kino. + +Fotos: Alamode Film diff --git a/fluter/film-ueber-schwule-fussballprofis-mario.txt b/fluter/film-ueber-schwule-fussballprofis-mario.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2e98cd84b85a4826eddbcf024fa5fbfaa408da46 --- /dev/null +++ b/fluter/film-ueber-schwule-fussballprofis-mario.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Mutig, aber fest steht auch: Nicht ohne Grund hat sich bisher kein aktiver Profifußballer geoutet. "Profisportler gelten als perfekt ‚diszipliniert', ‚hart' und ‚hypermännlich'. Homosexuelle dagegen gelten als ‚zickig', ‚weich', ‚sensibel'. Das passt natürlich nicht zusammen", sagte der Ex-Nationalspieler damals in einem Interview mit der "Zeit". Vier Jahre ist sein Outing jetzt her. Profifußball ist immer noch ein Geschäft, bei dem eine Menge Beteiligte weit mehr zu verlieren haben als ein Spiel. Da will keiner was riskieren. So ist es auch in Gislers Film. +Ist doch gar nicht sooo kompliziert, Jungs. Die Fußballerinnen Lucie Vonkova und Claudia van den Heiligenberg heiraten, der FC Bayern gratuliert und die Kolleginnen schicken Glückwünsche + +Die Mannschaftskollegen merken bald, dass da was läuft zwischen Mario und Leon. Dann wird es hässlich. Auf die Gerüchte folgen Mobbing und Erpressung. Für Mario steht alles auf dem Spiel: seine Karriere als Profifußballer und seine Liebe zu Leon. Er steht vor einer Entscheidung, die er eigentlich unmöglich treffen kann. +Für seine Rolle als Mario wurde Max Hubacher mit dem Schweizer Filmpreis als "Bester Darsteller" ausgezeichnet – zu Recht. Ihm und Aaron Altaras als Leon nimmt man die Liebesgeschichte und die Zerrissenheit vollkommen ab. Der Film nimmt sich Zeit für die vielen Dimensionen ihres Konfliktes. Nicht ohne Klischees, anders ginge es aber auch nicht. Denn die unwiderlegten Klischees sind untrennbar mit diesem Tabu verbunden. Filmfigur Mario ist nicht der Einzige, der eine "Alibi-Freundin" zur Party mitbringt. Man rät ihm dazu, zur ultimativen Demonstration von Heterosexualität. Einige Klischees versucht der Film zu widerlegen: So sensibel Mario in der Beziehung mit Leon ist, so hart kämpft er auf dem Platz. Die Handlung kommt ohne große Überraschungen aus, was den Darstellern die Möglichkeit lässt, ihren Figuren viel Tiefe zu verleihen. +Welchen Ausweg gibt es für Mario im Film und wahrscheinlich viele Profisportler im echten Leben? Für homosexuelle Profifußballer, die sich nicht outen, aus Angst, das könnte das Ende ihrer Karriere bedeuten, scheint es ihn noch nicht zu geben. Dabei ist die Enttabuisierung der Homosexualität nicht nur eine Frage der gesellschaftspolitischen Verantwortung, sondern auch eine sportliche Chance für Vereine und Verbände – denn wer sich selbst verleugnen muss, kann nicht die Leistung bringen, die er zeigen könnte, wenn keine Rolle spielt, wen er liebt. + diff --git a/fluter/film-wanderarbeiter-china-leben.txt b/fluter/film-wanderarbeiter-china-leben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/film-warum-jagd-in-deutschland-trend-ist.txt b/fluter/film-warum-jagd-in-deutschland-trend-ist.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cc7347601c673b4ba50924b8586b069523156ccc --- /dev/null +++ b/fluter/film-warum-jagd-in-deutschland-trend-ist.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Das Wild soll von Jägern aber nicht nur geschossen werden. Das Jagdrecht verpflichtet sie zur sogenannten Hege: Die Jäger sollen für "artenreichen und gesunden Wildbestand" sorgen und die Lebensgrundlage der Tiere sichern. Im Winter kann das auch bedeuten, sie zu füttern. Was Jagdgegner wiederum kritisieren, weil durch die Hege der Bestand künstlich hoch gehalten werde. Sie fordern, dass Tieretöten kein Hobby sein, sondern nur von Berufsjägern ausgeübt werden darf, die das Handwerk gut und treffsicher beherrschen. +Derzeit darf Jagen, wer einen Jagdschein besitzt. Für den "vollen" Jagdschein muss man volljährig sein, eine ausreichende Haftpflichtversicherung vorweisen und vor allem die Jägerprüfung bestanden haben, die in den Bundesländern unterschiedlich geregelt ist und meist einen Lehrgang erfordert. Außerdem muss man nach dem Waffengesetz als "zuverlässig" gelten, darf also beispielsweise nicht wegen eines Verbrechens verurteilt worden sein. +Selbst wenn man den Jagdschein hat, darf man nicht einfach losziehen, um besonders schöne, große oder seltene Tiere zu erlegen. An der "Trophäenjagd" wird heftige Kritik geübt, gesetzlich ist diese Art der Jagd nicht abgedeckt. Laut Tierschutzgesetz dürfen Wirbeltiere nur aus einem "vernünftigen Grund" getötet werden. Die pure Lust am Schießen oder an besonderen Trophäen darf es nicht sein,die Lust auf den Verzehr von selbst erlegtem Fleisch hingegen schon. Das ist einer der Gründe, weshalb die 22-jährige Lilli Schulte jagen geht. Im Sommer hat sie das "Grüne Abitur", die staatliche Jagdprüfung, abgelegt und kann nun selbst auf die Jagd gehen. Wir waren bei einer ihrer ersten dabei. +Text: Niklas Prenzel +Wir danken der Jagdschule Jagwina und der Bar "Herr Lindemann" für die Dreherlaubnis und Zusammenarbeit. diff --git a/fluter/film-was-tun-gegen-queerfeindlichkeit-sport.txt b/fluter/film-was-tun-gegen-queerfeindlichkeit-sport.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/film-wie-geht-es-iranerinnen-in-den-usa.txt b/fluter/film-wie-geht-es-iranerinnen-in-den-usa.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/filmbranche-fachkraeftemangel-gruende.txt b/fluter/filmbranche-fachkraeftemangel-gruende.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..76f3dad2f9e052837b7ba2e1b4fc66bffe6d57da --- /dev/null +++ b/fluter/filmbranche-fachkraeftemangel-gruende.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Dass die Filmindustrie inzwischen in so gut wie jedem Gewerk hinter der Kamera nach Fachkräften sucht, ist längst kein Geheimnis mehr. Die Produzentenallianz, einer der beiden großen deutschen Produzentenverbände, hat dazu im Sommer 2022 bei über 100 Produktionsunternehmen eine Umfrage durchgeführt. Das Ergebnis: Im Produktionsbereich, der für alle organisatorischen und finanziellen Fragen bei einem Filmprojekt zuständig ist, sind die Nachwuchssorgen besonders groß. Hier haben in den Gewerken der Aufnahmeleitung und der Produktionsleitung gut 50 Prozent der Produktionsunternehmen einen großen bis sehr großen Mangel angegeben, in der Filmgeschäftsführung sind es sogar 60 Prozent. Aber auch in technischen Bereichen wie Editing oder Ton fehlt es an Personal. +Einer der Gründe für den akuten Mangel ist dabei einfach die gestiegene Nachfrage nach audiovisuellen Inhalten, besonders seitdem Streamingdienste wie Netflix oder Amazon zunehmend in Deutschland produzieren. +FürBerufseinsteiger*innenist das erst einmal eine attraktive Ausgangsposition. Gerade weil an vielen Stellen das Personal fehlt, bekommen auch junge Menschen mit verhältnismäßig geringer Erfahrung schnell Jobs angeboten, die relativ verantwortungsvoll und gut bezahlt sind. Gleichzeitig bedeutet die hohe Verantwortung auch großen Druck. Den verspürt auch Joscha Stracke. Er ist 29 und befindet sich gerade in den letzten Zügen seines Studiums in Film- und Fernsehproduktion an der Filmuniversität Babelsberg. Parallel dazu hat er bisher vor allem als Aufnahmeleiter gearbeitet, also auf einem der Posten, die auf der Mangelliste der Produzentenallianz ganz oben stehen: "Ganz ehrlich, das ist ein Knochenjob. Als Set-Aufnahmeleiter bist du als Erster und Letzter am Set, den ganzen Tag auf Abruf, musst für alle aufkommenden Probleme Lösungen finden und trägst die Verantwortung, auch für die Sicherheit." +Er erinnert sich an einen Drehtag mit 70 Kompars*innen, als er einem Hauptdarsteller hinterherlaufen musste, der plötzlich das Set verlassen hatte, weil ihm das Catering nicht schmeckte. "Du hast den ganzen Tag mit Menschen zu tun, die überarbeitet, übermüdet und deshalb manchmal auch unfreundlich sind. Das musst du alles abfedern, das landet ja nicht bei der Regie." Langfristig hätte Joscha Lust, als Producer Projekte länger und inhaltlich zu begleiten. In der Position seien zudem Festanstellungen üblicher und deshalb der Druck nicht so hoch, sich während eines laufenden Projekts schon nach dem nächsten umzusehen. +Spätestensseit der Corona-Pandemie, während der viele Filmschaffende erwerbslos waren, weil die Branche in Zeiten von Drehstopps keine dauerhafte Beschäftigung gewährleisten konnte, ist die Kritik an den prekären Strukturen und den schwierigen Arbeitsbedingungen gestiegen. Wie für Joscha sind für viele in seinem Arbeitsfeld Überstunden, Wochenend- und Nachtdrehs die Regel, und sehr intensive Drehperioden wechseln sich ab mit Leerlauf bis zum nächsten Projekt. "Das schreckt auch junge Kollegen ab", so Hikmat El-Hammouri, Gewerkschaftssekretär der FilmUnion Berlin-Brandenburg von ver.di. "Das wissen wir von Infoveranstaltungen, die wir für Studienanfänger an den Filmunis geben. Ein ganz großer Punkt sind da Ängste in Bezug auf die Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf." +Was die Arbeitsbelastung angeht, sind laut El-Hammouri in den vergangenen Jahren zumindest einige Verbesserungen zu verzeichnen: "So extreme Arbeitszeiten wie noch vor 15 Jahren sind nicht mehr üblich, sicher sind sie aber noch immer zu lang." Inzwischen sind Zuschläge für Wochenendarbeit vorgesehen und zwei aufeinanderfolgende Ruhetage mindestens dreimal im Monat. Bei den nächsten Tarifverhandlungen sollen auch die Arbeitszeiten wieder auf der Tagesordnung stehen, "denn die sind auch bei jungen Menschen Thema", so El-Hammouri. +Roxana Richters berichtet ebenfalls von einem wachsenden Bewusstsein bei diesen Fragen: "Wir bemühen uns wirklich um normale Arbeitszeiten. Alles andere macht langfristig keinen Sinn, weil die Leute einfach irgendwann ausgebrannt sind." Allerdings sei das auch eine finanzielle Herausforderung, denn kürzere Drehtage bedeuten insgesamt längere Dreharbeiten, und jeder Drehtag kostet eine Menge Geld. Unter dem Strich werden Produktionen dadurch teurer – und das bei einem eng kalkulierten Budget. Letztlich kommt es laut Richters auf die Verteilung der Finanzierungsmittel und Fördergelder an und ist somit auch eine politische Frage. +Ähnlich wird das auch bei ver.di gesehen: "Die Produktionsfirmen", so El-Hammouri, "stehen unter extrem viel Druck, hier sind genauso die Förderanstalten, öffentlich-rechtlichen Sender und Streamingdienste in der Verantwortung. Es muss ein Umdenken in der gesamten Filmindustrie stattfinden." Sprich: Wenn sich alle einig sind, dass Filmschaffende besser behandelt werden müssten, sollten sich auch alle Branchenakteure an den Mehrkosten beteiligen. +Dass die Arbeit beim Film bald zum Nine-to-five-Job wird, glaubt aber keiner, auch nicht Roxana Richters: "Egal wie du es drehst und wendest, ist es immer noch ein anstrengender Job. Wenn du eine Szene hast, die nachts spielt, dann musst du halt in der Nacht drehen." Gleichzeitig haben die anstrengenden Hochphasen für Richters auch etwas Positives: Man arbeitet eng im Team, lernt neue Orte und Menschen kennen: "Das öffnet schon den Horizont, und das in jedem Department. Wir hatten zum Beispiel einen Dreh in Ghana, da arbeitest du mit den Leuten vor Ort zusammen und sitzt nicht zu Hause vor deinem Computer." +Inzwischen bemüht sich auch die Filmindustrie selbst immer stärker, das Nachwuchsproblem zu lösen. Die PAIQ, eine Initiative der Produzentenallianz zur Nachwuchsförderung, Aus- und Weiterbildung, hat beispielsweise den"Career Guide Film"veröffentlicht, der verschiedene Filmberufe vorstellt und Wege in den Job skizziert. +Roxana Richters hat die Initiative "Film macht Schule" mitgegründet, die Workshops von Nachwuchsfilmschaffenden für Schulkinder organisiert. "Das bietet natürlich auch eine Gelegenheit, den Kindern und Jugendlichen Berufe zu zeigen, denen man nachgehen könnte. Aber in erster Linie soll die Faszination für filmisches Erzählen geweckt werden." Während mehrere kleine Produktionsfirmen einen Beitrag zu der Finanzierung leisteten, war es mit der Förderung schwieriger: "Da gab es begrenzt Interesse an solchen Projekten, weil das Fördersystem sich nicht so richtig zuständig fühlte. Das war schon eine Herausforderung, und es wäre natürlich schön, wenn es in dem Bereich mehr Nachwuchsförderung gäbe." Richters meint damit nicht nur den eigenen Filmnachwuchs, sondern auch die Zuschauer*innen. Denn wer sich als junger Mensch nicht dafür begeistert, Filme zu schauen, wird als Erwachsener wohl kaum auf die Idee kommen, welche zu machen. + + diff --git a/fluter/filmbranche-queer-actout-interview-jost-leinenbach.txt b/fluter/filmbranche-queer-actout-interview-jost-leinenbach.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..75eead4b7955b3d7cc6d47dc0ba519aa7e00d7d4 --- /dev/null +++ b/fluter/filmbranche-queer-actout-interview-jost-leinenbach.txt @@ -0,0 +1,32 @@ +Philipp Leinenbach: Mir fällt schon auf, dass mehr queere Inhalte und Figuren gezeigt werden, und einerseits freue ich mich über die Sichtbarkeit, andererseits werden dabei immer noch viele Klischees bedient. Schwule Figuren werden zum Beispiel oft außergewöhnlich "bunt" dargestellt. Das ist oberflächlich, es gibt es so viele Facetten von queeren Menschen zu erzählen, die nichts damit zu tun haben, wie sie auftreten oder sich kleiden. +Eva Maria Jost: Queersein wird auch oft als Problem dargestellt. Ein Beispiel: Zwei Frauen sind zusammen, aber niemand darf es wissen, sonst kriegt die eine Schwierigkeiten. Und nicht nur Queersein wird im Fernsehen problematisiert, sondern alle marginalisierten Gruppen, egal ob es um Herkunft, Hautfarbe, Alter oder Behinderung geht, und das finde ich falsch. Die Serie "Wir" hat da in der Tat etwas anders gemacht und einfach eine Liebesgeschichte erzählt. +Vergangenes Jahr zeigteeine Studie der MaLisa-Stiftung, dass 2020 knapp zwei Prozent der fiktionalen Figuren im deutschen Fernsehen als homo- oder bisexuell lesbar waren. Gleichzeitigbesagt eine andere Studie, dass sich elf Prozent der Deutschen als "nicht heterosexuell" bezeichnen. Woran liegt es, dass queere Perspektiven es offenbar schwer ins Fernsehen oder ins Kino schaffen? +Philipp: Eine große Aufgabe liegt da bei der Filmförderung, die am Ende oft entscheidet, welche Geschichten überhaupt die Chance bekommen, erzählt zu werden. +Eva: Und da wünsche ich mir, nein, ich erwarte, dass sich Menschen in Entscheidungspositionen ihrer gesellschaftlichen Verantwortung für Gruppen bewusst sind, die nicht der weißen Hetero-Cis-Mehrheitsgesellschaft angehören, und dass auch queere und andere marginalisierte Sichtweisen erzählt werden. +Philipp: Die Geschichten gibt es ja, es gibt queere Autor*innen, die diese Drehbücher schreiben. +Sollten nur Queers queere Inhalte erzählen? +Eva: Ich finde ja. Queere Regisseur*innen und Drehbuchautor*innen leben diese Realität und haben lange nicht die Chance bekommen, ihre Welt zu erzählen. Es ist wichtig anzuerkennen, dass da eine Lücke klafft, die geschlossen werden muss. Wenn jemand nicht queer ist, erwarte ich, dass der- oder diejenige tief in das Thema einsteigt und mit Betroffenen spricht, anstatt in die Klischeeschublade von vorgestern zu greifen und Geschichten zu erzählen wie: Zwei Frauen wollen ein Kind bekommen, die ältere hat schon einen erwachsenen Sohn, dann könnte doch die jüngere mit dem vögeln, dann haben sie ein Kind, das mit beiden verwandt ist. So gesehen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. +Philipp: Nicht dein Ernst! +Eva: Doch. Das ist anmaßend und sehr verletzend und hat nichts mit queerer Erzähl- oder Sichtweise zu tun. Um so etwas zu vermeiden, gibt es aber beispielsweiseSensitivity Readings, bei denen Expert*innen Autor*innen helfen, Stereotype zu vermeiden. +Vor einem Jahr habt ihr beide bei #ActOut mitgemacht, einer Aktion, bei der sich 185 Schauspieler*innen als lesbisch, schwul, bi, trans*, queer, inter und non-binär geoutet haben. War das euer öffentliches Coming-out? +Philipp: Für mich ja. Privat habe ich mich vor acht Jahren geoutet, da wissen es alle, und ich fühle mich superwohl als schwuler Mann. Im professionellen Kontext und in der beruflichen Öffentlichkeit habe ich es zwar nie versteckt oder darüber gelogen, es aber auch nie gezeigt. +Am 5. Februar 2021 veröffentlichten 185 lesbische, schwule, bisexuelle, queere, nicht-binäre und trans* Schauspieler*innenein Manifest im Magazin der Süddeutschen Zeitung. "Bisher", hieß es darin, "konnten wir in unserem Beruf mit unserem Privatleben nicht offen umgehen, ohne dabei berufliche Konsequenzen zu fürchten". Die Unterzeichner*innen, unter anderem Maren Kroymann, Ulrich Matthes, Maximilian Mundt und Emma Bading, forderten mehr Anerkennung – innerhalb ihrer Branche, aber auch in der Art, wie Diversität im Film und auf der Bühne dargestellt wird. +Manche Agent*innen raten queeren Schauspieler*innen davon ab, sich mit Partner*in auf dem roten Teppich zu zeigen, aus Angst, für Hetero-Rollen nicht mehr besetzt zu werden. +Philipp: Mir persönlich hat niemand davon abgeraten, aber unterbewusst hatte ich sicher Angst, dass ich mir damit eine Chance verbauen könnte, weil es in der Branche strukturell diese Vorbehalte gibt. +Eva: Mein öffentliches Coming-out war tatsächlich schon viel früher. 2016 habe ich dem "STRAIGHT Magazine" ein Interview gegeben. Ich wollte der Angst von Anfang an nicht so viel Raum geben. Es ist Teil meiner Identität. Ich habe schon sehr früh gedacht: Wenn die Branche, in der ich arbeite, das nicht akzeptiert und wertschätzt, dann ist das nicht meine Branche. +Philipp: Respekt, Eva, da warst du mir einen großen Schritt voraus. +Als Schauspieler*in schlüpft man ja in Rollen, ist Polizistin oder Mörder, Hausmann oder Ärztin. Woher kommt eurer Meinung nach überhaupt die Auffassung, dass man heterosexuell sein sollte, um Hetero-Rollen spielen zu können? +Eva: Im Film werden oft immer noch Geschlechterextreme gesucht. Du musst die supersexy weibliche Frau sein, musst immer "fuckable" sein. Und Männer sollen starke Versorger sein. Diese klischeehaften Bilder werden immer noch reproduziert. Als Queer fällst du raus aus diesem Schema, weil die Gesellschaft uns diese Attribute abspricht. Viele denken: Der ist schwul, der kann keinen richtigen Kerl spielen. Dieses Klischeedenken ist extrem verankert in der Vorstellung von Menschen, die im echten Leben keine Schnittstelle mit queeren Menschen haben, sonst wüssten sie es ja besser. Und deshalb haben queere Menschen Angst, sich zu outen: weil sie Angst haben, in Schubladen gesteckt zu werden. +Was hat sich durch euer öffentliches Coming-out für euch verändert? +Eva: Ich werde nicht mehr gefragt, ob ich einen Freund habe. Das wird man oft gefragt, wenn man jemanden neu kennenlernt oder man nicht geoutet ist. Es ist ja nicht so, dass man sich einmal outet und dann weiß es die ganze Welt. Als queerer Mensch outest du dich ständig. Jedes Mal wenn du jemand Neues kennenlernst, bist du wieder damit konfrontiert. Ob es beruflich Konsequenzen hatte, ist schwer zu beurteilen. Die Caster*innen sagen ja nicht: Die ist lesbisch, die besetzen wir nicht. +Philipp: Für mich persönlich war es eine große Erleichterung. Wenn ich früher ein Foto in den Sozialen Medien gepostet habe, hatte ich immer den Gedanken im Hinterkopf, ob mich etwas verraten könnte. +ActOut ist jetzt ziemlich genau ein Jahr her. Wenn ihr zurückblickt auf die öffentlichen Reaktionen – habt ihr das Gefühl, eure Aktion hat etwas bewirkt? +Philipp: Ich habe damals überwiegend positive Rückmeldungen bekommen. In unserer Branche gibt es einen großen Wettbewerb, man unterstützt sich eher nicht so. Aber bei #ActOut habe ich einen großen Zusammenhalt und Unterstützung auch von nichtqueeren Kolleg*innen erfahren. +Eva: Die Rückmeldungen aus dem privaten und direkten beruflichen Umfeld waren bei mir auch sehr positiv. Unter Facebook- und Instagram-Posts gab es aber auch Kommentare wie: Ihr wollt doch nur Aufmerksamkeit, weil ihr keine Rollen kriegt. Das finde ich sehr verletzend und respektlos. +Philipp: Solche Kommentare gab es auch von Personen in der Öffentlichkeit und Journalist*innen. Was mich aber immer noch glücklich macht, ist, dass im vergangenen Jahr genau 100 weitere Kolleg*innen #ActOut beigetreten sind und dass es auch in anderen Berufsgruppen Aktionen gab, wie #TeachOut, #OutInChurch, #kickout und PilotsOut. +Eva: Für mich war ein Beweggrund, bei Actout mitzumachen, Vorbild zu sein. Es hatte so eine Schlagkraft, dass wir uns mit einer riesengroßen Gruppe hingestellt und gesagt haben: Wir sind alle queer. Heute ist zwar nicht alles gut, aber wir sind einen Schritt weiter gekommen. +Hattet ihr früher Vorbilder? +Philipp: Ich bin auf dem Land aufgewachsen, da gab es niemanden, an den ich mich hätte wenden können. Ein Vorbild oder eine Aktion wie #ActOut hätte unglaublich geholfen, weil sie zeigen, dass man nicht allein ist als queerer junger Mensch. +Eva: Ich hätte als Teenager auch dringend Vorbilder gebraucht. Ich wusste nicht, mit wem ich darüber hätte sprechen können, weil es so wenig Thema war. Deswegen finde ich es so wichtig, dass man darüber spricht und es Teil des Schulalltags und des Unterrichts ist. Kindern und Jugendlichen wird dadurch gezeigt, dass es okay ist, so zu sein, dass nicht das eine normal und das andere sonderbar ist. Vorbilder sind lebensrettend. + +Titelbild: Oliver Look / Kerem Bakir diff --git a/fluter/filme-ueber-klimawandel-und-nachhaltigkeit.txt b/fluter/filme-ueber-klimawandel-und-nachhaltigkeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..064fa95d936d6385f6b90633de4f20c1839a7969 --- /dev/null +++ b/fluter/filme-ueber-klimawandel-und-nachhaltigkeit.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +In Bangladesch besucht er ein Dorf, in dem Wellblechhütten mit Solarpaneelen bestückt sind, die intelligent miteinander kommunizieren. Er trifft einen australischen Ökobauern, fährt mit einem Seetangzüchter aufs Meer und in einem selbstfahrenden Auto durch Singapur. Die vorgestellten Lösungen sind dabei nicht allzu ungewöhnlich: erneuerbare Energien, weniger Fleischverzehr, nachhaltige Landwirtschaft, Carsharing zur Autoreduktion, solche Dinge. Es geht in "2040" eher um die Stimmung, dieses John-Lennon-hafte "Imagine …"-Gefühl, das Gameau entfachen will. +Immer wieder blendet er in eine mögliche bessere Zukunft, wo die Änderungen "kaskadierende Effekte" zeigen sollen: Mehr Carsharing gleich weniger Autos und somit weniger Parkflächen, dafür mehr Platz in den Städten, etwa für Urban Farming, was zusätzlich dem Klima hilft. Wenn dann in musikuntermalten Animationssequenzen Hochhausdächer ergrünen und Autobahnen verschwinden, kippt das Ganze allerdings beinahe in Imagefilm-Kitsch um. +Als er mit seinem Film begonnen hatte, erzählt Damon Gameau im Haus der Kulturen der Welt, sei er nicht besonders zuversichtlich gewesen, was die Zukunft angeht. Jetzt schon. + +"2040" ist nicht die einzige Doku auf der Berlinale, die sich mit diesem Thema auseinandersetzt. In "Anthropocene: The Human Epoch", der am Mittwoch Premiere feiert, sieht man in epischen, mit Geigen untermalten Bildern gigantische Marmorsteinbrüche in Italien, bergeweise brennende Elefanten-Stoßzähne in Kenia, endlose Lithium-Becken in der chilenischen Atacama Wüste. Sie zeigen das Ausmaß, wie stark die Menschheit auf die biologischen, geologischen und athmosphärischen Prozesse der Erde einwirkt. +Nikolaus Geyrhalters Film "Erde" beginnt mit einer krassen Gegenüberstellung: 60 Millionen Tonnen der Erdoberfläche bewegen Wind, Flüsse und andere Naturkräfte jeden Tag. Der Mensch bringt es auf 156 Millionen Tonnen Erdmasse. Wie, das zeigt Geyrhalter unter anderem im kalifornischen San Fernando Valley, Ein Arbeiter der Baggerbrigade erklärt seinen Job so: "I move mountains for a living." +Es sind beeindruckende Aufnahmen von Riesenmaschinen in Mondlandschaften, aber die wirklich spannende Ebene des Films sind die Interviews mit den Berg-, Bau- und Räumarbeitern (ein paar wenige Frauen kommen auch zu Wort). Sie alle lieben ihren Job, doch gleichzeitig ringen sie um Rechtfertigungen für ihr Tun. "Wenn uns die Bäume leidtun, produzieren wir keine Energie." "Wenn ich es nicht tue, macht es ein anderer." "Wir wollen die Berge nicht zerstören, aber es ist genau das, was wir tun." "Wir Menschen sind Egoisten, weil wir nicht wieder in Höhlen leben wollen." Ein ungarischer Braunkohlebaggerführer zeigt beim Interview Urlaubsfotos auf seinem Handy: Er war Rad fahren im Gebirge und ist schockiert über den Rückgang der Gletscher dort. +Irgendwann kapiert man: Die Arbeiter sind nur die Stellvertreter für die Ambivalenzen, die wir alle mit uns herumtragen. "Wir profitieren ja davon, was da passiert. Es ist nicht alles schwarz-weiß", sagt Nikolaus Geyrhalter im Gespräch nach der Filmpremiere. Sein Blick auf die Dinge ist ziemlich lakonisch. Dass die Menschheit in 200 Jahren auf eine Ausbeutung der Natur komplett verzichtet, kann er sich nicht vorstellen. "Es ist nur eine Frage der Dosierung." Was dazu Damon Gameau wohl sagen würde? +(mbr) + +Eine ziemlich berühmte Szene der Filmgeschichte geht so: Zwei Häftlinge sind auf der Flucht. Der eine springt auf einen fahrenden Zug. Der andere schafft es nicht. Was tut der auf dem Zug? Er fährt nicht etwa in die Freiheit. Nein. Er springt wieder ab – aus Solidarität. Der das tut, ist Sidney Poitier. Sein Kompagnon Tony Curtis. Ein Schwarzer, ein Weißer. In den Film "I am not your Negro" (kann man hier schauen) beschreibt James Baldwin, wie unterschiedlich weiße und schwarze Kinobesucher diese Szene aus "Flucht in Ketten" damals in den 1960er-Jahren empfanden – erstere als Versöhnung, letztere als Verhöhnung: Wie blöd kann man eigentlich sein! Das Hollywood-Kino ist voller solcher einseitiger Versöhnungsszenarien. Und tatsächlich kommt auch eine in dem brutalen Neonazi-Drama "Skin" vor. Hier rettet ausgerechnet ein schwarzer Aktivist dem gewalttätigen Rassisten Bryon die Haut.Hier geht's zur Filmbesprechung. (fx) + + + + + +Berlinale, wir müssen reden! Über deine Tasche. Genau, das IT-Bag des Berliner Februars, jedes Jahr neu designt, umsonst für Akkreditierte, weswegen es für zehn Tage gefühlt alle auf dem Festivalgelände tragen – danach dann nur noch Liebhaber und Filmnerds. +Wir hatten in der Redaktion ja schon gewettet, welchen Berliner Taschentrend du, liebe Berlinale, in diesem Jahr mit ein paar Jahren Verspätung entdeckst und verwurstest. Das Bauchtäschchen? Die Babytrage? Den Hackenporsche? Es wurde dann, wir hätten es wissen müssen: der Turnbeutel! Summer of 2014 und so. Nur leider ein Beutel mit viel zu langen und auch nicht verstellbaren Bändseln – passend vielleicht für den Rücken von Florian Henckel von Donnersmarck (2,05 Meter ohne Haare), aber bei jedem normalen Besucher eher ein Posack als ein Rucksack. Nur mit gehobener Knotenkunst ließ sich das regulieren. +Dann die Farben: Taubengrau und Zahnweiß, okay – findige Besucherinnen verschönerten sich das einfach mit Textilfarben. Die helfen aber auch nicht dagegen, dass zumindest die weiße Variante nach zwei Tagen passiv abfärbte, also meine Kleidung (dunkle, wir sind ja in Berlin) färbte auf die dann nicht mehr so weiße Tasche ab. Ich hätte das gern weiter getestet, nur leider, leider riss am dritten Tag das Bändsel aus der Tasche. Das war es dann. Worst Berlinale-Bag EVER! SHAME ON YOU, Berlinale! +Aber immerhin einen Fan hat die Tasche: meine Katze Mono. Der feste Leinenstoff ist ideal zum Krallenkratzen, die Bändsel kann man jagen und in den Beutel reinkriechen. Wenn das so gedacht war, dann Respekt, Berlinale, Respekt. (mbr) + + +Titelbild: Dane Scotcher diff --git a/fluter/filme-ueber-liebe-berlinale-valentinstag.txt b/fluter/filme-ueber-liebe-berlinale-valentinstag.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7c2e64e87798d2c836ba98496b8230b9d57b73c7 --- /dev/null +++ b/fluter/filme-ueber-liebe-berlinale-valentinstag.txt @@ -0,0 +1,39 @@ +Liebe hat eben nicht immer einen idealen Spannungsbogen mit Happy End. Gefühle sind nie einfach. Und viele Freiheiten bedeuten nicht selten auch viel Druck, Unsicherheit und ganz unterschiedliche Erwartungen in Bezug auf Liebe. Zum Valentinstag haben wir uns deshalb einige Paare und Konstellationen mal genauer angeschaut. + + + + + +Der Titel ist schon mal ironisch gemeint. Denn easy ist die Liebe in dem Debüt vom Tamer Jandali sicher nicht. Der Film begleitet sechs junge Leute aus Köln: Lenny und Pia sind frisch verliebt und gerade zusammengezogen, doch schon bald fängt es an zu kriseln. Sönke hangelt sich von einem zum nächsten One-Night-Stand, bis er sich unglücklich verliebt. Sophia glaubt nicht, dass sie ihre Liebe findet. Um die Miete zahlen zu können und weil sie dadurch so etwas wie Selbstbestimmung erlebt, hat sie Sex gegen Geld. Stella und Nic sind schon länger ein Paar. Nic will eine offene Beziehung, während das bei Stella große Verlustängste auslöst. Der Film zeigt nach und nach, wie die Großstadt-Lieben an ihre Grenzen stoßen: Alle möchten ihre Freiheit, aber irgendwann sitzen da doch zwei Leute am Küchentisch, die irgendwas definieren wollen. (chs) + + +Claire ist 50, erfolgreiche Autorin, Mutter, geschieden und oft einsam. Noch etwas unerfahren im Umgang mit sozialen Medien legt sie sich ein Fake-Facebook-Profil zu und gibt sich als die 24-jährige Clara aus. Was als Flirt mit dem 29-jährigen Alex beginnt, wird bald zur Obsession mit weitreichenden Folgen. Claire fühlt sich mehr und mehr wie Mitte 20. Bei Alex entstehen Erwartungen. Die Chats und dann auch die Telefongespräche sind aufregend. Die Realität gerät dabei immer mehr in den Hintergrund. Das Ganze steigert sich, und ohne zu spoilern sei gesagt: Der Film ist indirekt auch ein erhobener Zeigefinger darauf, wie schrecklich anonym das Internetdating ist. Es geht in erster Linie aber um den sehnlichen Wunsch, sich begehrt und geliebt zu fühlen – und zwar in jedem Alter. (chs) + + + + +Ein flüchtiges Streicheln im Meetingraum, eine beiläufige Berührung beim Business-Dinner: Diese Beziehung wird geheim gehalten, denn Lola und Elise arbeiten für dieselbe Unternehmensberatung, genauer: Die rund zehn Jahre ältere Elise ist Lolas Vorgesetzte. So teilen sie ihre seltenen Nächte im Luxushotelbett in Rostock, wo sie gerade eine Messtechnikfirma kleinsparen, und wissen sonst fast nichts übereinander. Lola nicht, dass Elise tablettenabhängig ist. Und Elise nicht, dass Lola eine ältere Schwester hat, die unter paranoider Schizophrenie leidet (die Beziehung der Schwestern ist die Haupthandlung des Films). Schwächen kommen in der High-End-Businesswelt mit ihren 48-Stunden-Nonstop-Schichten halt nicht gut an, und nach dem ersten Streit wird Lola auch erst mal von der Abschlusspräsentation abgezogen. Ist das Liebe? Oder nur eine karrierebedingte Zweckbeziehung? Es bleibt unklar bis zum Schluss. (mbr) + + +Frisch verliebt sind Maria und Niels nach fast zwei Jahren Beziehung nicht mehr, eher ein eingespieltes Team. Vor allem Niels ist das Sexleben sehr wichtig. Mehrmals überredet er Maria, Fremde anzusprechen und aus dem Nichts zu einem Dreier einzuladen. Als sie dabei Chloe kennenlernen, verändert sich für Maria alles – sie verknallt sich in die Engländerin, die für ihre Doktorarbeit in Berlin ist. Niels, der Chloe ebenfalls "megaheiß" findet, begreift zuerst nicht, welche Konsequenzen das für seine Beziehung haben wird. Was als Abenteuer zu dritt beginnt, fördert bald Eifersucht, verletzte Gefühle und Ansprüche zutage. So schlicht die Story sein mag, wie die drei Figuren miteinander und umeinander ringen, verleiht dem Film Tiefe. "Heute oder morgen" ist ein typischer "Ein Sommer in Berlin"-Film, in dem es viel um Sex und Sehnsüchte geht, aber eben auch um die vielen Arten von Liebe, die sich mal in einem Blick, einem Kuss, aber auch in einem Glas Cola mit Eis oder einer geklauten Torte zeigen. (sa) + + + +Außergewöhnliche Kinostoffe auf die große Leinwand bringen, das verspricht die Berlinale, und diese hier ist besonders riesig: + + +Satte 500 Quadratmeter Projektionsfläche hängen im IMAX-Kino am Potsdamer Platz (eine der kleinsten Leinwände des Festivals ist gleich gegenüber im Arsenal, die ist gerade mal zehn Quadratmeter groß). Die winzig erscheinenden Menschen unten sind Regisseur*innen aus Neuseeland, Australien, Samoa und Indonesien, sie alle sind mit Kurzfilmen bei der Berlinale vertreten, die im Rahmen der Sonderreihe "NATIVe – A Journey into Indigenous Cinema" laufen. Die widmet sich dieses Jahr der Pazifikregion, setzt sich dort unter anderem mit Themen wie Umweltzerstörung und postkolonialem Erbe auseinander, mit einem Fokus auf die weibliche Perspektive. Dafür ist die allergrößte Leinwand des Festivals doch ein guter Platz. (mbr) + + + + + + +Getränke darf man nicht mitnehmen in den Berlinale-Palast, in dieses temporär zum Kino umgebaute Musicaltheater, das die Weltpremieren des Wettbewerbs zeigt. Nicht mal Leitungswasser, darauf muss die Einlasserin bestehen. Ich trinke also schnell noch meinen Becher aus, bevor ich mir "La Paranza dei Bambini" anschaue, den italienischen Wettbewerbsbeitrag über Jungs aus Neapel, die zu einer Mafiabande werden. + + + + +Die Romanvorlage des Films stammt von Roberto Saviano, der berühmt wurde durch Enthüllungsreportagen über die Machenschaften der Camorra in Neapel. Seitdem muss er mit Morddrohungen leben und steht seit vielen Jahren unter Personenschutz. Auch in Berlin hatte er Bodyguards dabei – war aber durchaus volksnah. Nach dem Film gab er mehreren Zuschauern Autogramme, machte Selfies mit ihnen, und weil ich ziemlich weit vorne saß, stand er auf einmal direkt vor mir. Also wirklich direkt, einen Meter entfernt vielleicht. Keine Ahnung, wie die Bodyguards mich noch hätten aufhalten wollen, hätte ich eine Waffe im Rucksack gehabt. Der wurde nämlich nicht kontrolliert beim Einlass. Aber nass spritzen hätte ich Roberto Saviano nicht können, dafür war gesorgt. (mbr) + + diff --git a/fluter/filmkritik-leto-kirill-serebrennikow.txt b/fluter/filmkritik-leto-kirill-serebrennikow.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a65f23c2eaca6060abbf617bb6a46a41df2807af --- /dev/null +++ b/fluter/filmkritik-leto-kirill-serebrennikow.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +An "Leto" allerdings ist nichts politisch verdächtig. Die Hauptfigur Viktor Zoi war ja nicht einmal schwul, sondern als Sänger und Songwriter der Gruppe Kino der wohl größte sowjetische Rockstar. Sein Unfalltod im Jahr 1990 – er wurde nur 28 Jahre alt – machte ihn endgültig zum Mythos. + +Mike Naumenko ist eine große Nummer im Underground von Leningrad, wie St. Petersburg zu Postpunk-Zeiten noch hieß + +Wie Kino zu der sowjetischen Supergroup wurde, erfährt man in "Leto" (zu Deutsch: Sommer) allerdings nicht. Der Film zeigt nur einen kleinen Zeitausschnitt aus der Frühphase der Band. Es sind die frühen 1980er-Jahre, Endstadium der grauen Vor-Perestroika-Zeit, oft auch "Zeit der Stagnation" genannt. +Dieses Label stimmt damals nur noch bedingt. Nach außen mag die sowjetische Gesellschaft in phlegmatischem Schweigen erstarrt sein, im Untergrund aber brodelt es. Leningrad (wie St. Petersburg von 1924 bis 1991 hieß) ist das Zentrum der Szene. Musiker treten bei privaten Wohnzimmerkonzerten auf, manchmal schaffen es Bands in einen offiziellen Kulturclub. Der junge Viktor Zoi und seine Freunde suchen die Gesellschaft von Mike Naumenko, der Songs im Stil von Velvet Underground, Blondie oder T. Rex spielt. Man freundet sich an, Mike verhilft den jüngeren Musikern zu Auftritten und irgendwann sogar zum ersten Album. Natalja, Mikes Frau, mit der er auch ein kleines Kind hat, verliebt sich in Viktor, bleibt aber bei ihrem Mann. Doch bei aller Freundschaft und Großzügigkeit kann dieses fragile Beziehungsdreieck nicht für die Ewigkeit sein. + +Mikes Frau Natalia aber hat ein Auge auf Viktor Zoi geworfen + +Serebrennikow hat seinen Film in Schwarz-Weiß gedreht, weil, wie er vor Drehbeginn schrieb (seit seiner Verhaftung darf er nichts mehr veröffentlichen), "das der einzige Weg [ist], die Geschichte dieser Generation zu erzählen. Die Vorstellung von Farbe tauchte erst später im kollektiven Bewusstsein Russlands auf." Das klingt einerseits nachvollziehbar, kann aber angesichts der kunstvoll stilisierten Schwarz-Weiß-Optik dieses Films höchstens die halbe Wahrheit sein. Um ein authentisches Bild der 1980er-Jahre zu liefern, ist Serebrennikow nämlich viel zu sehr Ästhet. Meilenweit entfernt vom sowjetischen Einheitsgrau, leuchten die Bilder in geheimnisvollen Hell-Dunkel-Kontrasten, die an den expressiven Erzählgestus der französischen Nouvelle Vague erinnern, an Jean-Luc Godard oder den jungen François Truffaut. Auch das Erzählmuster passt in diese Assoziation; eine Dreiecksbeziehung wie diese hat man zuletzt in Truffauts "Jules et Jim" von 1962 so zart gefilmt gesehen. + +Viktor wiederum bekommt dank Mike erste Auftritte. Es ist also auch privat kompliziert im sowjetischen Untergrund + +Von der Umgebung sieht man allerdings ziemlich wenig. In einer Szene wird der Drummer von Viktors Band zum Militär eingezogen ("Bloß nicht nach Afghanistan!", hört man ihn schreien). Eine andere Szene zeigt die bürokratischen Hürden, die überwunden werden müssen, damit die Bands in einem Kulturclub auftreten dürfen. Bei den Konzerten dort sitzen alle sehr ordentlich im festen Gestühl. Das war's aber auch schon mit dem Wirklichkeitsbezug, Alltag ist anderswo. +Was Serebrennikow zeigt, spielt nicht wirklich in dieser Welt – oder im realen Leningrad der 1980er-Jahre. Er zitiert es nur. Dies hier ist ein poetisches Destillat, eine Parallelwelt, die sich zum Teil aus den romantischen Erinnerungen der Natalja Naumenko an ein vergangenes Lebensgefühl speist. Zum größten Teil aber aus der kreativen Energie des Regisseurs Serebrennikow. Die geht eben eigene Wege. Und hoffentlich bald wieder außerhalb seiner Wohnung. Gerade hatder Prozess begonnen. + + diff --git a/fluter/filmkritik-parasite-bong-joon-ho-cannes.txt b/fluter/filmkritik-parasite-bong-joon-ho-cannes.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..997a33da2f41580af53f89a69c48d28acebbca6f --- /dev/null +++ b/fluter/filmkritik-parasite-bong-joon-ho-cannes.txt @@ -0,0 +1,9 @@ + + + +Regisseur Bong Joon-ho benutzt die beiden konträren Lebensrealitäten als Modelle für das heutige Korea, ein Land, das heute – nach einem rapiden wirtschaftlichen Aufschwung in den letzten 50 Jahren – auch mit den negativen Effekten des Kapitalismus zu kämpfen hat: Die Arbeitslosigkeit steigt. Stellen für junge Arbeitsuchende sind besonders knapp. Fast alle Leitungspositionen im Land werden mit Absolvent*innen der Eliteuniversitäten besetzt. Zwischen 1980 und 2000 haben sich die Uniabschlüsse entsprechend vervielfacht. Die Jugend studiert heute unter enormem Konkurrenzdruck. Auch von den Familien geht Leistungsdruck aus:Die berufliche Perspektive der Kinder ist für viele Eltern eines der wichtigsten Themen. +"Parasite" wählt mit der Familie das treffendste Bild für die koreanische Situation. Und gemessen an koreanischen Klischees sind die Kims vergleichsweise anarchisch. Zwischen Eltern und Kindern besteht keinerlei Machtgefälle. Beim gemeinsamen Essen stoßen sie auf das an, was alle am meisten freut – selbst wenn es nur das unverschlüsselte WLAN der Nachbarn ist. Das Talent der Familienbande besteht in ihrer Lernfähigkeit: In kürzester Zeit bringen sich die Kims die Verhaltensweisen bei, die für die Arbeit in einer Luxusvilla vonnöten sind. +Was bleibt, ist der Geruch. Wenn Bong zeigt, dass Armut sich nicht einfach überspielen lässt,sondern als intimes Detail einem Menschen dauerhaft anhaften kann, wird klar: Sein Film will nicht einfach politische und moralische Fragen aufwerfen, sondern auch eine sinnliche Verhandlung führen. +Der Regisseur kommt vom Genrekino. Er wurde durch den feinsinnigen Mystery-Thriller "Memories of Murder" (2003) bekannt, dann international durch seinen Öko-Monsterfilm "The Host" (2006). Mit "Snowpiercer" (2013) erzählte er von einem futuristischen Zug, der durch eine erfrorene Welt rast: Vorne beim Motor regiert die Elite, hinten vegetiert das Fußvolk. Ebenso zeigt "Parasite", der für den Oscar nominiert ist, keine naturgetreue Welt, sondern ein vertikales Zeichenspiel: Das Villenviertel der Parks liegt auf dem Hügel über Seoul. Ihr Anwesen jedoch, das lernt man später im Film, könnte direkt aus einem Horrorfilm stammen. Im Keller, da brodelt es – so lange, bis das Unterdrückte nach oben dringt. + + diff --git a/fluter/filmkritik-roma-alfonso-cuaron.txt b/fluter/filmkritik-roma-alfonso-cuaron.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1db63fdd456b963c5bb809c6afb76dd04b72eb92 --- /dev/null +++ b/fluter/filmkritik-roma-alfonso-cuaron.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Die Geschichte von Cleo ist ein Teil von Alfonso Cuaróns Kindheit. Der Regisseur, der auch das Buch geschrieben hat, wuchs als eines von vier Kindern in Roma auf. Wie sehr das Leben von der sozialen Herkunft bestimmt ist, wie sehr sich Klassenunterschiede auf alle Aspekte des Alltags auswirken, davon erzählt sein fulminanter Film. +Im Zentrum steht der lange Schatten des Kolonialismus. Cleo spricht nur mit der Familie Spanisch, mit der Köchin Adela, dunkelhäutig wie sie, meist Mixtekisch. Gleichzeitig ist Cleo Teil der Familie. Abends vorm Fernseher kuschelt sie sich kurz an Paco, das jüngste der vier Kinder – jedenfalls bis sein Vater Antonio einen Tee haben möchte. Dann ist sie wieder Dienstmädchen. Cleo begehrt nicht auf. Sie kennt ihren Platz, sieht keine Perspektive für ein anderes, ein besseres Leben. + +Produziert hat den im 65-Millimeter-Format gedrehten und damit für die große Leinwand geschaffenen Film ausgerechnet der Streaming-Gigant Netflix, wo er jetzt zu sehen ist. Also der große Gegenspieler des Kinos. Nur ein paar Tage lief "Roma" in den Filmtheatern. Den Goldenen Löwen in Venedig hat er schon gewonnen, 2019 folgten drei Oscars: für die beste Kamera, den besten nicht-englischsprachigen Film sowie für Alfonso Cuaróns Regiearbeit.* +Für Yalitza Aparicio, die eigentlich Vorschullehrerin werden möchte, war es übrigens die erste Filmrolle. Zum Casting nahm sie ihre Mutter mit, weil sie fürchtete verschleppt zu werden. Noch eine Premiere: Sie ist auf dem aktuellen Cover der mexikanischen "Vogue" zu sehen – als erste Frau mit indigenen Wurzeln. diff --git a/fluter/filmkritik-schloss-aus-glas.txt b/fluter/filmkritik-schloss-aus-glas.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..808ced6e51ab3197ecd26df332d8af74197b929b --- /dev/null +++ b/fluter/filmkritik-schloss-aus-glas.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Diese Episode enthält bereits alles, wovon auch Jeannettes restliche Kindheit geprägt sein wird: den Egoismus der Eltern, die gedankenlose Vernachlässigung, der Jeannette und ihre Geschwister ausgesetzt sind, aber auch die leinwandsprengend anarchische Energie, mit der vor allem der Vater (großartig: Woody Harrelson) sich durchs Leben pflügt und damit die Geschicke der gesamten Familie bestimmt. Ständig müssen sie umziehen; meist ist nicht klar, warum. Rex Walls verliert seine Jobs, jemand ist angeblich hinter ihm her, irgendwas ist immer. Aber all das, so vermittelt er seinen Kindern mit offenbar nie nachlassendem Enthusiasmus, ist ein einziges großes Abenteuer, und das Leben ist das, was man daraus macht. Wenn kein Geld für Geburtstagsgeschenke da ist, schenkt er seinen Kindern eben einen Stern am Himmel. In solchen Szenen zeigt sich Rex als toller Vater, der den Kindern Mut und Selbstvertrauen vermittelt. Doch ebenso oft lässt er sie im Stich und versäuft auch noch den letzten Cent. Die vier Geschwister haben schlicht keine Eltern, die auf sie aufpassen oder dafür sorgen, dass genug zu essen im Haus ist. +Wie das Buch fokussiert sich der Film auf die enge Beziehung zwischen Jeannette und ihrem Vater, die Mutter bleibt eher eine Nebenfigur. Die Kindheitsepisoden werden in der Rückschau erzählt. Die Rahmenhandlung zeigt die erwachsene Jeannette in New York. Sie hat als Klatschkolumnistin Karriere gemacht, ist stets in perfekt sitzenden Businessklamotten gekleidet und verlobt mit einem Finanzanalysten. Doch da die Eltern den Kindern, die alle so früh wie möglich von zu Hause geflüchtet sind, nach New York gefolgt sind, wird Jeannette ihre Vergangenheit nicht los. +Der Kontrast zwischen der einen und der anderen Welt ist so stark, dass man ihn für eine erzählerische Übertreibung halten könnte, wenn man nicht wüsste, dass dieser filmisch so attraktiven Story eine wahre Lebensgeschichte zugrunde liegt. Es gelingt Destin Daniel Cretton hervorragend, die Zuschauer immer wieder zu den Kindern zu machen, die Jeannette und die anderen einst waren – zu Kindern, die zwar oft verzweifeln müssen, weil die äußeren Lebensbedingungen allzu elend sind, die sich aber immer wieder mit großer Begeisterung verführen lassen zu glauben, dass alles noch gut wird. Und die ihre Eltern trotz allem lieben – andere haben sie ja auch nicht. +Wenn diese Tour de Force der widerstreitenden Gefühle irgendwann vorbei ist und man wieder in der eigenen Wirklichkeit ankommt, stellt sich ein merkwürdiges Gefühl der Erleichterung ein. Jeannette Walls mag mit ihrer Kindheitsgeschichte sehr viel Geld verdient haben. Aber mit ihr tauschen wollen möchte man ganz sicher nicht. + + diff --git a/fluter/filterblase-internet-entkommen.txt b/fluter/filterblase-internet-entkommen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..36fef0fc2c84efc70a0da35571f603ad55121999 --- /dev/null +++ b/fluter/filterblase-internet-entkommen.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Der Begriff "Filterblase" stammt von dem US-amerikanischen Aktivisten Eli Pariser. In einem Buch von 2011 beschreibt er, wie uns im Internet vermehrt Beiträge angezeigt werden, die unserem persönlichen Interesse entsprechen. Grund dafür sind Algorithmen, die mithilfe von persönlichen Daten, die die Plattformen über uns sammeln, entscheiden, welche Beiträge in unserem Newsfeed oben landen, welche Videos YouTube vorschlägt oder welche Suchergebnisse wir bei Google sehen. Ziel ist es, uns möglichst lange am Bildschirm zu halten, damit noch mehr Daten gesammelt und die Werbeanzeigen noch stärker personalisiert werden. So gerate man schnell in eine Filterblase, nur noch umringt von gleichgesinnten Menschen und Weltsichten. Wer beispielsweiseZweifel am Klimawandelhat, dem werden vermehrt Beiträge zuVerschwörungsideologienvorgeschlagen. "Demokratie erfordert ein Vertrauen auf gemeinsame Tatsachen, stattdessen werden uns parallele, aber getrennte Universen angeboten", so Parisers Fazit. Weil alle nur noch ihre eigene Wirklichkeit sehen, werde unsere Gesellschaft zunehmend polarisiert und radikalisiert. +Bis heute liest man von dem massiven Einfluss der Blasen etwa auf den US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 oder auch auf den Brexit. Doch es gibt Kritik an der Theorie. So hat das Europäische Parlament 2019 einen Bericht veröffentlicht, der zu dem Schluss kommt, dass die Verbreitung von ähnlichen Nachrichten höchstens die Meinung von kleinen Gruppen verstärken könne, die ohnehin schon sehr gefestigte Ansichten haben. Davon abgesehen hätten die meisten Studien in Europa keine Hinweise auf Filterblasen ergeben. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen bezeichnete die Filterblasen-Theorie bei der Digitalkonferenz re:publica 2018 als "mächtiges Denkbild", das unsere Vorstellung von der Netzwelt und unserem gesellschaftlichen Miteinander dominiert. Für ihn ist genau das Gegenteil der Fall: Durch das Internet würden wir nicht weniger sehen, sondern deutlich mehr und vor allem viel unterschiedlichere Meinungen. +Dennoch warnen in der kürzlich erschienenen Netflix-Doku "Das Dilemma mit den sozialen Medien" ehemalige Angestellte von Google, YouTube, Facebook oder Twitter eindringlich davor, dass uns die milliardenschweren Techfirmen manipulieren, um uns geradezu süchtig nach ihren Inhalten zu machen. Und davor, wie schnell sich Verschwörungsideologien im Netz verbreiten und wie Nutzerdaten als Ware gehandelt werden. Ex-Google-Mitarbeiter Tristan Harris spricht von "Überwachungskapitalismus", bemängelt fehlende moralische Verantwortung und zu wenig Regulierungen. +Medienwissenschaftler Pörksen geht hingegen davon aus, dass im Internet "Wirklichkeitsperspektiven" aufeinanderprallen, die sich vorher nicht begegnet wären – er nennt das einen "Filter Clash". Wenn wir erkennen, dass es viele verschiedene Meinungen gleichzeitig und nicht die eine, eindeutige Wahrheit gibt, führe das häufig zu einer "Stimmung der Gereiztheit", die unser gesellschaftliches Kommunikationsklima verändern kann. Das beobachten auch die Journalistinnen von "Pop the Bubble". Im Podcast sagt Marina Schweizer: "Uns ist aufgefallen, dass entspannte Diskussionen weniger werden heutzutage." Genau deswegen ist ihr Ansatz, möglichst offen zu diskutieren und Unstimmigkeiten auszuhalten, statt gleich dagegen zu argumentieren. Einige überfordert das: "Es gelingt mir nicht, SUV-Axel zuzuhören, ohne ihn ohrfeigen oder schütteln zu wollen", kommentiert ein Hörer. +Einen Ansatz, die eigene Ambiguitätstoleranz zu trainieren, bietet die Onlineplattform "Diskutier mit mir". Sie verbindet Menschen mit unterschiedlichen politischen Einstellungen, damit sie sich in digitalen Chats über verschiedene Themen austauschen können. Anonym, geschützt und garantiert ohne Filterblase. + diff --git a/fluter/finanz-und-bankenkrise-einfach-erkl%C3%A4rt.txt b/fluter/finanz-und-bankenkrise-einfach-erkl%C3%A4rt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2eb762fae57376fb6148f1945633a6dacddbc0da --- /dev/null +++ b/fluter/finanz-und-bankenkrise-einfach-erkl%C3%A4rt.txt @@ -0,0 +1,33 @@ +Dadurch konnten auch Menschen mit kleinem Einkommen Kredite aufnehmen und Häuser kaufen, obwohl viele keine Sicherheiten vorweisen konnten, die die Banken bei Zahlungsausfall bekommen würden. Der "American Dream" vom Eigenheim sollte für möglichst viele wahr werden. Die Banken fanden das gut, weil sie an jedem vergebenen Kredit Geld verdienten. Dass dieses Geschäft riskant war – in den USA sind die Zinsen nur für kurze Zeit festgeschrieben –, störte sie zunächst wenig, denn sie konnten die Kredite mit anderen, besseren Produkten in Wertpapiere bündeln und weltweit weiterverkaufen. Das Risiko, dass ein Kredit nicht abgezahlt wurde, lag damit beim Käufer, also meistens bei der nächsten Bank. +Solche riskanten Geschäfte sollen eigentlich durch Bewertungsagenturen eingeschränkt werden, die schlechte Noten für unsichere Finanzprodukte verteilen. Vor der Finanzkrise bewerteten die großen Agenturen die Pakete mit Immobilienkrediten deshalb als "mit geringem Risiko behaftet" – auch wenn sie nicht gedeckt waren. So gerieten viele "faule" Kredite in Umlauf, und es entstand eine sogenannte Immobilienblase. Später verklagte die US-Regierung sogar Standard & Poor's, eine der großen Bewertungsagenturen, wegen falscher Ratings, die zur Krise beigetragen haben sollen. +Nach einiger Zeit hob die US-Notenbank den Leitzins an, wodurch auch die Hypothekenzinsen stiegen und viele Kreditnehmer ihre Hypotheken nicht mehr zurückzahlen konnten. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als das neue Eigenheim wieder zu verkaufen,eine andere Sicherheit hatten viele nämlich nicht. Zunächst war das leicht, weil die Immobilienpreise noch boomten. Mit dem verkauften Haus konnte der Kredit abbezahlt werden, ohne große Verluste zu machen. Je mehr Schuldner jedoch ihre Häuser wieder verkaufen mussten, desto mehr sanken die Immobilienpreise im ganzen Land. Der Verkauf der Immobilie brachte somit nicht mehr genug Geld, um die Kredite abzubezahlen. Die Banken bekamen ihr verliehenes Geld nicht mehr zurück – ein Banken-Crash folgte auf den anderen. +Am 15. September 2008 meldete die Investmentbank Lehman Brothers, die sich am Geschäft mit den Immobilienkrediten stark beteiligt hatte, Insolvenz an – mit weitreichenden Folgen. Die Finanzkrise hatte ihren Höhepunkt erreicht. + +In den USA verloren in direkter Konsequenz viele Menschen ihr Haus und große Teile ihrer Ersparnisse. Der weltweite Handel brach extrem ein, weil Unternehmen nicht mehr sicher sein konnten, ob die Bank eines Handelspartners noch zahlungsfähig sein würde, bis der Handel abgeschlossen war. Und auch die Banken untereinander konnten sich nicht mehr vertrauen. Normalerweise leihen sie sich ständig gegenseitig Geld, um Überschüsse auszugleichen und ihr Geld immer im Fluss zu halten. Aber das war kaum mehr möglich, weil nicht klar war, ob die eine Bank das Geld von der anderen Bank am nächsten Tag noch zurückbekommen würde. Deswegen gingen die Banken dazu über, ihr Geld zu horten, statt es den Unternehmen zur Verfügung zu stellen. +Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg schrumpfte die deutsche Wirtschaft im Jahr 2009 um rund fünf Prozent. Seit 1946 hatte es in Deutschland bis dato nur fünf Jahre mit negativem Wirtschaftswachstum gegeben. +Durch den wirtschaftlichen Einbruch verloren viele ihre Jobs, besonders in Südeuropa stieg die Jugendarbeitslosigkeit, und auch wer seine Arbeit behielt, hatte Grund zur Sorge. Der Unmut über die riskanten Geschäfte und die Macht der Banken führte beispielsweise zu der BewegungOccupy Wall Street, die zuerst den Zuccotti Park im Finanzdistrikt von Manhattan und später weitere öffentliche Plätze aus Protest besetzte. +Auch im globalen Süden hatte die Krise Folgen. In afrikanischen Ländern südlich der Sahara beispielsweise waren die Banken zwar kaum in den globalen Finanzmarkt eingebunden, doch neben Immobilien war auch auf Lebensmittel und Öl spekuliert worden, was die Preise für Grundnahrungsmittel und Benzin bis 2008 dramatisch beeinflusste. Da die Möglichkeiten, die Produktion vor Ort zu erhöhen, begrenzt waren und die Regierungen Lebensmittel kaum subventionierten, waren Konsumenten in vielen afrikanischen Ländern den steigenden Marktpreisen ausgeliefert. Der World Food Price Index der Weltbank erreichte im Juni 2008 seinen Höchststand. Nahrungsmittel wurden für viele Menschen unbezahlbar. Die Folge: Die Anzahl der Hungernden weltweit stieg um 75 Millionen. + +Eine akute Gefahr für Banken bestand darin, dass viele Kunden ihre Ersparnisse plötzlich aus Sorge vor der Insolvenz ihrer Bank abheben würden – ein sogenannter "Bank Run". Viele Regierungen gaben daher Garantien, dass die Gelder auf privaten Konten sicher seien, um die Situation zu beruhigen. Auch für das Geschäft von Banken untereinander wurden Garantien vergeben. Ein Staat sagte den Banken im Land zu, im Zweifelsfall an ihrer Stelle Schulden zu begleichen. Mit dieser Gewissheit konnten Banken sich wieder gegenseitig Kredite geben. +Die staatlichen Hilfen bewahrten die Banken vor der Insolvenz, einige wurden sogar direkt mit Staatshilfe gerettet. In Deutschland beispielsweise die Hypo Real Estate oder die Commerzbank. Viele kritisierten das Verfahren als ungerecht, da die Verluste des Bankengeschäfts sozialisiert (also von der Gesellschaft getragen), die Gewinne riskanter Geschäfte hingegen privatisiert wurden (also den Banken und ihren Managern zugutekamen). Andererseits hat die ungeordnete Insolvenz von Lehman Brothers 2008 einen Schneeballeffekt ausgelöst. Die US-Regierung hatte die Bank nicht als systemrelevant eingestuft und sie deswegen nicht mit Staatsgeldern unterstützt. +Die Bundesregierung beschloss zwei Konjunkturpakete, die rund 80 Milliarden Euro beispielsweise für Unternehmen, Bildung und Infrastruktur bereitstellten, um dem Wirtschaftswachstum nachzuhelfen. + +Das Geld, das für die Rettung von Banken zur Verfügung gestellt wurde, belastete die Haushalte aller Euroländer. Ihre Schulden stiegen. Dort, wo die Staatsverschuldung schon zuvor hoch gewesen war, war dies besonders problematisch. +In Griechenland kam erschwerend hinzu, dass die im Oktober 2009 neu gewählte Regierung aufdeckte, dass die Staatsverschuldung deutlich höher war als bis dahin angegeben. Damit begann ein Teufelskreis aus hohen Staatsschulden und hohen Zinsen für neue Kredite, weil Banken dem so verschuldeten Athen natürlich kein Geld oder nur zu sehr hohen Zinsen leihen wollten. Schließlich war es höchst unsicher, ob sie das Geld auch zurückbekommen würden. Im April 2010 galt Griechenland deswegen als so gut wiebankrott. Es hatte keine Möglichkeit mehr, an Geld zu kommen. Ein griechischer Staatsbankrott hätte bedeutet, dass Investoren auch das Vertrauen in Staatsanleihen anderer Eurostaaten verloren hätten und die Zinsen dafür stark gestiegen wären. Weitere hoch verschuldete Staaten wie Portugal, Spanien, Irland und Italien drohte ein ähnliches Schicksal wie Griechenland. Diese Staatsschuldenkrise wird auch alsEurokrisebezeichnet. +Die wichtigsten Stationen der Finanzkrise von 2008 bis 2018 + +Es ist eine Besonderheit des Euroraumes, dass verschiedene unabhängige Staaten dieselbe Währung benutzen. Die unabhängige Europäische Zentralbank (EZB) übernimmt die Geldpolitik für alle Eurostaaten. In der Krise offenbarte sich diese Konstruktion als Problem, weil dies den Ländern mit hohen Staatsschulden die Möglichkeit verwehrte, selber Geld in Umlauf zu bringen, um Schulden zu begleichen – auch wenn sie dafür möglicherweise später eine Inflation hätten in Kauf nehmen müssen. +Da Griechenland keine eigene Währung hatte, die es abwerten konnte, wurde der Staatsbankrott im Jahr 2010 durch finanzielle Hilfen in Höhe von 110 Milliarden Euro durch andere Euroländer, die Europäische Zentralbank und denInternationalen Währungsfonds(IWF) verhindert. +Das Geld wurde zunächst über einen kurzfristig eingerichteten Rettungsschirm (EFSF für Europäische Finanzstabilisierungsfazilität) und später über den langfristig eingerichteten Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) für Euroländer in kritischen Situationen bereitgestellt. Griechenland wurde so seit 2010 von den Euroländern und dem Internationalen Währungsfonds mit Darlehen in einer Höhe von rund 289 Milliarden Euro unterstützt, von denen jedoch nicht alle abgerufen wurden. +Die Gelder gibt es aber nicht umsonst, sie werden nur als Darlehen gewährt. Wenn sich die griechische Wirtschaft über die nächsten Jahrzehnte stabilisiert, könnten die Geldgeber also an den Zinsen verdienen. Deutschland hat bis jetzt 2,9 Milliarden Euro Gewinn mit den Hilfsgeldern für Griechenland gemacht. Ob das so bleibt, ist aber unsicher. Denn Griechenland könnte immer noch pleitegehen oder einen Teil der Schulden erlassen bekommen. Außerdem gibt es das Geld nur gegen die Bedingung, dass die betroffenen Länder tiefgreifende Sparmaßnahmen umsetzen, um in Zukunft für Wirtschaftswachstum zu sorgen. Ob Sparen wirklich der beste Weg ist, ist umstritten. Es ist ein Konflikt zwischen zwei finanzpolitischen Annahmen: die Staatsausgaben durch Einsparungen zu senken oder die Wirtschaft durch Investitionen anzukurbeln, so wie es die Bundesregierung mit den beiden Konjunkturpaketen getan hat. +Auch die Europäische Zentralbank hat viel Geld zur Verfügung gestellt. Mit seinem Versprechen, notfalls unbegrenzt Staatsanleihen von überschuldeten Euroländern aufkaufen zu wollen, hat der Vorsitzende der EZB, Mario Draghi, im Sommer 2012 dafür gesorgt, dass bis dahin riskante Staatsanleihen für Investoren wieder infrage kamen. Seine bloße Ankündigung gilt als Wendepunkt in der Eurokrise. +Im August endete übrigens das letzte Rettungsprogramm für Griechenland, das nun wieder an die Finanzmärkte zurückgekehrt ist. + +Es gibt viele Ideen, wie zukünftigeEurokrisen verhindertwerden könnten. Und die meisten erfordern, dass europäische Länder in Finanzfragen enger zusammenarbeiten. +Manche halten es für sinnvoll, eineneuropäischen Finanzministerzu ernennen, der sich um die Finanzpolitik aller Länder in der Eurozone kümmert. Es bleibt fraglich, ob die Regierungen der Euroländer diese Kompetenz abgeben wollen. +Anstelle der nationalen Staatsanleihen könntenEurobondseingeführt werden. Investoren würden somit in alle Euroländer gleichzeitig investieren, und die Probleme eines Staates hätten weniger Auswirkungen auf die Zinsen für solche Papiere. Kritiker sagen, die ökonomisch schwächeren Staaten hätten so allerdings wenig Anreize, solide zu wirtschaften. Schließlich könnten sich alle beteiligten Staaten gleich günstig Geld leihen. +Den Vorschlag, dass Banken in Europa einheitlich kontrolliert und eine Insolvenz gemeinschaftlich aufgefangen werden soll, nennt man "Bankenunion". Die wurde zu großen Teilen bereits umgesetzt.Kritiker bemängelnjedoch, dass die Aufsichtsbehörde unter dem Dach der EZB angesiedelt ist, obwohl sie eigentlich unabhängig sein müsste. Schließlich seien Situationen denkbar, in denen beide Institutionen verschiedene Interessen haben könnten. Ebenso seien die Ausnahmeregeln zu weitreichend. So konnte der italienische Staat 2017 zwei kleine Banken mit 17 Milliarden Euro Steuergeld retten. Und das sollte es ja eigentlich nicht mehr geben, wenn die Insolvenz einer Bank nicht gefährlich für das gesamte Finanzsystem ist. +Gemeinsam könnten die EU-Länder erneut potenzielle Krisenländer retten. Doch mitgehangen, mitgefangen: Kritiker dieser Maßnahmen warnen, dass eine Schuldenkrise einzelner Euroländer die anderen Staaten dann auch stärker betreffen würde. + + +Titelbild: Sebastien Micke/Paris Match via Getty Images diff --git a/fluter/finanzierung-islamischer-staat.txt b/fluter/finanzierung-islamischer-staat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6a03aa144f2284f571ec0423771395686f0f1891 --- /dev/null +++ b/fluter/finanzierung-islamischer-staat.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Der ISKP jagt vor allem Minderheiten. Dies betrifft nicht nur Nichtmuslime, sondern etwa auch schiitische Muslime wie die Angehörigen der Hazara-Minderheit. Der ISKP imitiert dabei strikt seinen "großen Bruder", den "Islamischen Staat", der hauptsächlich im Irak und in Syrien aktiv ist. "Ich würde die beiden Akteure getrennt betrachten", sagt Thomas Ruttig, Co-Direktor des Afghanistan Analysts Network (AAN). Ruttig beschäftigt sich seit Jahren mit militanten Gruppierungen in der Region und meint, dass die Aktionen des ISKP gut in das "Terror-Franchise" des IS hineinpassen. Franchise – das kennt man von Restaurantketten wie McDonald's oder Subway. Ein Unternehmer übernimmt gegen eine Gebühr das erfolgreiche Geschäftsmodell des Franchisegebers. Zahlungen des ISKP und anderer Subgruppen an den IS sind zwar nicht bekannt. Doch um diese geht es auch gar nicht: Die Terroristenwollen ihre Ideologie verbreitenund der Welt beweisen, dass sie unter einer gemeinsamen Flagge kämpfen können – und damit sind sie erfolgreich. +Das Franchisesystem, das Ruttig anspricht, ist einer der Hauptgründe, warum der IS und all seine Subgruppen zu den größten Terrorgruppen des 21. Jahrhunderts gehören. Die Suche nach Franchisenehmern läuft allerdings, wenn überhaupt, eher passiv ab. Für viele terroristische Gruppierungen ist der IS attraktiv: Mit seinem Staatenprojekt wird er als erfolgreich betrachtet, während Gruppierungen wie al-Qaida eine Stagnation erleben und mittlerweile als "alter Hut" gelten. Nicht zuletzt lohnt sich ein Anschluss an den IS für die Gruppen, weil sie dadurch einen Boost erleben – vor allem medial. + + +Einer von vielen: Terroranschläge wie der vom 25. März sind trauriger Alltag. Spezialeinheiten der afghanischen Armee stürmten den Sikh-Tempel – aber konnten nicht verhindern, dass der "Islamische Staat in der Provinz Khorasan" 25 afghanische Sikhs tötete + +Mittlerweile lassen sich IS-Zellen in vielen Staaten finden, darunter in Ländern wie Libyen, Jemen, Ägypten, Somalia, Algerien und Indonesien. In all diesen Fällen wurden lokale extremistische Gruppierungen zu einem Teil desIS-Kalifats, indem sie ihm die Treue schworen. Ein besonders prominentes Beispiel auf dem afrikanischen Kontinent ist etwa die Terrorgruppe Boko Haram in Nigeria, die sich im März 2015 dem IS anschloss und seitdem als "Islamischer Staat in Westafrika" bekannt ist. Der Gruppierung, die schon Jahre zuvor existierte und für brutale Verbrechen wie die Entführung von 276 mehrheitlich christlichen Schulmädchen im April 2014 international bekannt wurde, gelang es, einige Landstriche einzunehmen, um dort einen kleinen Terrorstaat zu errichten. +Vor allem in Sachen Finanzierung unterscheidet sich der IS aber von kleineren Ablegern wie dem ISKP in Afghanistan. Dem IS gelang es, einen Quasistaat mit entsprechenden Strukturen zu errichten. In Syrien und Irak bauten die Extremisten ein lukratives Geschäft auf: Man erhob hohe Steuern, handelte und schmuggelte Erdöl und Antiquitäten und sammelte private Spenden ein.Ein Bericht des EU-Parlaments kam bereits 2017zu dem Schluss, dass der IS jegliche wirtschaftliche Aktivitäten in seinem Gebiet, das von rund acht Millionen Menschen bevölkert wurde, versteuern ließ.Laut UNbeliefen sich diese Steuereinnahmen pro Jahr auf rund 900 Millionen Dollar.Für Experten und Beobachter war klar: Der IS ist die am besten finanzierte Terrororganisation der Geschichte. +Von derartigen Superlativen ist der ISKP weit entfernt. Es gibt so gut wie kein Gebiet in Afghanistan, das die Terroristen komplett kontrollieren. Die Aktivitäten der afghanischen IS-Zelle sind vor allem auf Kabul und wenige Provinzen begrenzt. Umso mehr stellt sich die Frage, wie sich der ISKP finanziert. "Die Ressourcen und Strukturen des ISKP sind schwer nachzuvollziehen. Wie viele andere extremistische Gruppierungen versucht auch der ISKP alles, was in seiner Macht liegt, um vom Radar der Regierung zu verschwinden", sagt Andrew Watkins, Afghanistan-Experte der NGO International Crisis Group (ICG). Die genauen Finanzierungsquellen und Erfolgsmodelle von Terrororganisationen wie dem ISKP nachzuvollziehen – damit beschäftigen sich Geheimdienste und Experten jahrelang und tappen oft im Dunkeln. +Für den kleinen Distrikt Achin, ein Schlupfloch des ISKP in der Provinz Nangarhar, konnte man aber herausfinden, wie der ISKP dort effektiv an Finanzmittel gelangt: Er erhob in den wenigen Dörfern, die von ihm kontrolliert wurden, eine Zwangssteuer, kidnappte lokale Stammesführer und Geschäftsmänner und ließ diese zu hohen Summen freikaufen. Auch hat Afghanistan viele Bodenschätze – und das IS-Gebiet Achin ist für seinen Reichtum bekannt. Dass die Terroristen sich ausgerechnet diesen Fleck ausgesucht hatten, dürfte kein Zufall gewesen sein. +All diese Strategien sind vom "großen Bruder" in Syrien und Irak bekannt. Dort wurden weite Teile des IS von der von den USA angeführten Anti-IS-Koalition mittlerweile besiegt. Doch abgesehen davon, dass einige Beobachter auch in dieser Region ein baldiges IS-Comeback befürchten, besteht die Idee des globalen Terrorstaats weiterhin, nicht zuletzt dank Subgruppen wie dem ISKP in Afghanistan, die das Terror-Franchise fortführen. + + diff --git a/fluter/finanzkrise-eurokrise-2008-was-sich-geandert-hat.txt b/fluter/finanzkrise-eurokrise-2008-was-sich-geandert-hat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..982306562e63189c53b56947350d4df076119070 --- /dev/null +++ b/fluter/finanzkrise-eurokrise-2008-was-sich-geandert-hat.txt @@ -0,0 +1,33 @@ +Dann versuchen wir mal, uns in dieser Welt besser zurechtzufinden: Können Sie in wenigen Sätzen erklären, was da am 15. September 2008 passiert ist, als die große Investmentbank Lehman Brothers pleiteging? +Dass die Pleite so einen weltweiten Schock ausgelöst hat, liegt daran, dass alle erwartet hatten, dass die US-Regierung alle relevanten Finanzinstitutionen irgendwie retten würde. Als Lehman Brothers nicht gerettet wurde, war der Schreck groß. Forderungen gegenüber Lehman Brothers waren von einem Tag auf den anderen nichts mehr wert. Damit stieg die Sorge, dass dasselbe mit anderen Finanzinstituten passieren könnte. Zudem hatten weltweit viele andere Banken mit Lehman Brothers Vereinbarungen getroffen, dass Lehman Brothers zahlt, wenn bei ihnen Kredite ausfallen. Viele hatten sich darauf verlassen, aber plötzlich existierte dieser ganz wichtige Vertragspartner nicht mehr, sodass die anderen Banken nicht mehr wussten: Bin ich jetzt vielleicht schon selber pleite, ohne es zu wissen? +Ist in den zehn Jahren seither genug passiert, um weitere große Finanz- und Eurokrisen zu verhindern? +Weltweit hat man sich auf eine bessereBankenregulierunggeeinigt, sodass Banken nicht mehr so leicht hochriskante Geschäfte mit eigens dafür im Ausland gegründeten Gesellschaften tätigen können. Die EU hat außerdem eine Bankenunion beschlossen. Die soll Bank Runs verhindern, schnelle Abwicklungen und Stabilisierungen ermöglichen, wenn es Bankenprobleme gibt, und durch eine einheitliche Bankenaufsicht dafür sorgen, dass es gar nicht so weit kommt. Das geht in die richtige Richtung, weil es die Wahrscheinlichkeit und das Ausmaß von ähnlichen Krisen verhindert. Aber ob das reicht? Ich würde sagen: nein. + + +Wo müsste man denn ansetzen, um wirklich etwas zu verändern? +Das Problem ist: Wir leben in einer Zeit mit neuen und immer komplexeren Finanzprodukten. Da insbesondere seit den 1990er-Jahren weltweit Kapitalverkehrsfreiheit besteht, können Sie jederzeit Aktien, Anleihen und Devisen anderer Länder kaufen und verkaufen und auch Bankkonten im Ausland nutzen. Aufgrund moderner Computer dauern Kauf und Verkauf nur noch Millisekunden. Gleichzeitig leben wir in einer Welt, die durch sehr hohe Vermögensungleichheiten gekennzeichnet ist, sodass es sehr viele sehr vermögende Personen und Institutionen gibt, die Anlagemöglichkeiten suchen. +Aufgrund fehlender Beschränkungen und geringer Kosten für solche Geschäfte haben wir unglaublich hohe Kapitalbewegungen, jeden Tag ein Vielfaches der jährlichen Weltproduktion, die sehr schnell auf kleinste Zinsänderungen reagieren. Das passiert auch im großen Stil durch Computerprogramme. Das Herdenverhalten bei Investoren führt dann dazu, dass sehr schnell sehr große Massen Geld in bestimmte Länder gesteckt werden. Gerade in kleinen Ländern können die Finanzmärkte das gar nicht verdauen, und das führt leicht zu Preisblasen. +Würde da nicht eine Finanztransaktionssteuer, also eine Steuer auf internationale Finanzgeschäfte, helfen? +Das finde ich eine gute Möglichkeit. Es gibt da ganz verschiedene Ausgestaltungen, aber grundsätzlich finde ich Maßnahmen, die versuchen, die kurzfristigen, spekulativen Kapitalflüsse zu verringern, sehr sinnvoll. Aber das ist leider sehr unrealistisch. +Wieso? +Momentan ist die vorherrschende Meinung immer noch, dass Märkte es zumindest besser richten als staatliche Eingriffe. Insofern halte ich es leider für nicht sehr wahrscheinlich. +Im Euroraum gelten heute strengere Regeln, um eine Überschuldung von Staaten zu verhindern. Reicht das? +Meiner Ansicht nach überhaupt nicht. Überschuldung des Staates war nur in Griechenland das Hauptproblem, aber für Spanien, Irland und in geringerem Maße auch für Italien und Portugal war die Verschuldung privater Haushalte und Unternehmen das Hauptproblem. Dass die Verschuldung so stark gestiegen ist, lag daran, dass es Rahmenbedingungen gab, unter denen es sehr attraktiv war, Kredite aufzunehmen, sich zu verschulden, zu investieren und Güter aus dem Ausland zu kaufen – auch wegen der guten Wachstumsaussichten. + + +Vor der Krise gab es eine Phase, in der dieEZBeinen höheren Leitzins festgelegt hatte. Für Deutschland, "den kranken Mann Europas", war das damals schlecht, weil die Wirtschaft kaum wuchs oder sogar schrumpfte. Für die wirtschaftlich stärker wachsenden Regionen im Euroraum war der Zinssatz damals sogar eher zu gering. +Stimmt, denn der Zinssatz muss zum Wirtschaftswachstum passen. Entwickeln sich die Länder unterschiedlich – stehen also boomenden Ländern solche mit schleppender Wirtschaftsentwicklung gegenüber –, kann der Zinssatz der EZB nicht für alle Euroländer passen. Wir brauchen daher einen Mechanismus, der wirtschaftliche Auseinanderentwicklung verhindert. Das haben wir bisher nicht. Insofern glaube ich, dass Eurokrisen weiterhin sehr wahrscheinlich sind. +Wie lässt sich das ändern? +Es ist ganz viel diskutiert worden, und eineuropäischer Finanzministersteht auch durchaus weiterhin zur Debatte – der alleine würde aber auch nicht reichen. Es wäre sinnvoll, wenn man die Wirtschaftspolitik der Länder stärker koordinieren würde. Das würde nicht nur eine bessere Abstimmung staatlicher Ausgaben für Investitionen, Gehälter und Löhne von Staatsbediensteten und soziale Transfers an Arbeitslose und Familien umfassen, sondern auch eine einheitliche Besteuerung von Einkommen. Aber da möchte sich ja auch Deutschland nicht hineinreden lassen. +Ist die Sorge vor mehr europäischer Kooperation nicht verständlich, weil dann auch Risiken gemeinsam getragen werden? +Ja, obwohl ich finde, dass man für eine gemeinsame Währung auch bereit sein muss, zusammen die Risiken zu tragen. Ich verstehe überhaupt nicht, warum man Griechenland nicht stärker unterstützt hat. Wir können kein Interesse daran haben, dass eines unserer Nachbarländer wirtschaftlich so schwer getroffen wird, dass ein Verfall der Gesellschaft und eine Destabilisierung der Demokratie drohen. Zudem sind wir die Exportnation und wollen daher, dass diese Länder weiterhin unsere Produkte kaufen können. Ich finde, gemeinsame Risikoübernahme gehört dazu. Wenn man das gut gestaltet, heißt das auch nicht, dass wir dann immer die sind, die zahlen. In der Phase vor der Finanzkrise ist unsere Wirtschaft kaum gewachsen, da hätten wir von solchen Transfers profitiert. Jetzt stehen wir vermeintlich gut da, aber langfristig brauchen wir Maßnahmen, die das Wachstum in allen Mitgliedsländern stabilisieren. +Heike Joebges ist Professorin für International Economics an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin + +In deutschen Großstädtensteigen die Mietenund die Immobilienpreise sehr stark. Kann das ein Hinweis darauf sein, dass wir schon auf die nächste Blase zusteuern? +Ökonomen haben immer ein Problem, gute Gründe für steigende Preise von einer Blase zu unterscheiden: Wir wissen erst mit Sicherheit, dass es eine Blase gab, wenn sie platzt. Weltweit interessieren sich Investoren für den Berliner Wohnungsmarkt – gemessen an ihrer Zahlungsbereitschaft haben wir keine Blase. Aber das heißt natürlich auch, dass, wenn die Investoren plötzlich lieber woanders investieren, sie wahrscheinlich ihr Geld abziehen werden. Aber selbst wenn die Preise am Wohnungsmarkt dann stark sinken, müssten wir keine große Krise fürchten. Der Verschuldungsgrad in Deutschland ist nicht so hoch, wie er in den USA war. Hier werden nicht so leichtfertig Kredite vergeben. +Wo sind Krisen in Zukunft eher zu erwarten? +In dem Moment, wo in den Industrieländern wieder die Zinsen steigen, wird das Kapital aus Ländern, die vorher attraktiv schienen, schnell und unerwartet abgezogen. Das führt dann zu großen Problemen in den Ländern, wie die aktuelle Berichterstattung über Argentinien und die Türkei zeigt. Krisen sind momentan eher in den Schwellenländern sehr wahrscheinlich. + +Du willst es genauer wissen? Hier geht's zum FAQ"Crashkurs Finanzkrise" + +Fotos: TendanceFloue / Agentur Focus diff --git a/fluter/finderlohn.txt b/fluter/finderlohn.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a483fd8dfc2765eab4e854756ebed165b9b60fc4 --- /dev/null +++ b/fluter/finderlohn.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Ein Prototyp meines Systems ist am Mittleren Ring in München eingebaut. Diese Stelle wird jeden Tag von 57 000 Fahrzeugen befahren. Bisher wird das Regenwasser mit seinen belastenden Inhalten kaum oder gar nicht gefiltert. Dabei muss man daran denken, dass Wasser sich immer in einem Kreislauf bewegt. Was in die Kanalisation kommt, gelangt zum Beispiel in einen Fluss, verdunstet, regnet dann wieder ab und so weiter. Dadurch könnten auch die Schadstoffe, wenn wir sie nicht aus dem Wasser filtern, in einen ewigen Kreislauf eintreten. +Das ist sowohl für Menschen als auch für Tiere schädlich. Zum Beispiel ist Kupfer giftig für Fische. Andere Stoffe sind für den Menschen krebserregend. Deshalb müssen Grenzwerte eingehalten werden. In einem Liter Wasser dürfen beispielsweise nicht mehr als 50 Mikrogramm Kupfer sein. In Autobahnnähe wurde aber schon deutlich mehr als das Zehnfache gemessen. Für mein System interessieren sich vor allem Gemeinden, weil sie Geld sparen können, wenn weniger Wasser in die Kanalisation kommt und damit auch weniger Geld in das Kanalsystem investiert werden muss. Ich habe an der Entwicklung dieses Systems vier Jahre gearbeitet – es ist meine Doktorarbeit."Rita Hilliges, 29, ist Ingenieurin am Lehrstuhl für Siedlungswasserwirtschaft der TU München. + www.wga.bv.tum.de +Herr Braun, was ist das Neue an Ihrer Abwassersystem-Erfindung?Wir recyceln das Toiletten- und das Trinkwasser eines Hauses in zwei separaten Kreisläufen. Spülwasser, sogenanntes Schwarzwasser, wird nur in der Toilette wiederverwendet. Das Grauwasser aus dem Hahn, der Dusche und der Waschmaschine kann nach einer Grundwasserpassage wieder als Trinkwasser aufbereitet werden.Bisher wird beides vermischt?Ja. In jedem zweiten deutschen Haushalt kommt aus dem Wasserhahn verdünntes Spülwasser. In Düsseldorf zum Beispiel ist von jedem Liter Trinkwasser ein Schnapsglas voll vorher durch die Toilette gelaufen.Welche Folgen hat das?Wir pumpen Grundwasser ab und leiten es danach über die Haushalte, Kläranlagen und Kanäle in die Flüsse, wo es in den Meeren verschwindet und ungenießbares Salzwasser wird. Das zweite Problem ist qualitativ. Im Toilettenabwasser schwimmt der extrem schwer abbaubare Hormon- und Medikamentencocktail, den wir zu uns nehmen. Er passiert die Kläranlagen unverändert, gelangt in Oberflächengewässer und so in das Trinkwasser. Auch Trinkwasser-Aufbereitungsanlagen können diese Stoffe nicht abbauen.Was bedeutet das für die Menschen?Es scheint einen Zusammenhang zu geben. Seit Einführung der Pille ist die Fruchtbarkeit deutscher Männer um 80 Prozent gesunken. Ich glaube nicht, dass das Zufall ist. Hormone wirken schon in einer Dosierung von einem billionstel Gramm pro Liter Wasser.Wie funktioniert Ihr Abwassersystem?Unsere Anlage ist etwa so groß wie eine Ölheizung. In Hotels oder Krankenhäusern, deren Abwässer besonders problematisch sind, kann man das im Keller unterbringen. Recycling-Nebenprodukte sind schwarzer Humus, ein Mineraldünger, und in größerenAnlagen werden wir Biogas produzieren.Kann ich Ihre Anlage in die Wohnung stellen?Die kritische Grenze liegt bisher bei 500 Einwohnern, da müssen wir noch forschen. Aber ich glaube, dass es die Wasserwaschmaschine auch für einzelne Familien geben wird. Für Megastädte sehe ich kaum andere Chancen, als sich über dezentral-autarke Einheiten mit Wasser zu ver- und entsorgen.Sie wollen häusliches Abwasser abschaffen?Das hängt vom Standort ab. In dicht bebauten Städten, wo einzelne Häuser keinen Bewässerungsbedarf haben, kann die Einsparung bei mehr als 90 Prozent liegen.Ulrich Braun ist Mikrobiologe an der TU Harburg und Inhaber des Start-ups Intaqua. +www.intaqua.com +"Mein Geschäftspartner und Freund Robert Niederer ist zur See gefahren und kannte die Geräte zur Entsalzung von Meerwasser auf Schiffen. Er wollte etwas Ähnliches als kleine, bewegliche Einheit. Heraus kam der Mobile Cube: einen Kubikmeter groß, rund 800 Kilogramm schwer. Strom generiert er über ausklappbare Solarsegel und ein Windrad. Hält man den angeschlossenen Schlauch in verschmutztes Wasser, saugt eine Pumpe Wasser an, das durch spezielle Filter zu Trinkwasser aufbereitet wird. Pro Tag kann man so 4000 Liter Meerwasser entsalzen und 20 000 Liter Abwasser reinigen – ideal für nicht erschlossene Regionen oder Schwellenländer. Man könnte ihn auch in Katastrophengebieten einsetzen. Die Resonanz ist durchweg positiv. Die Regierungen Kenias und der Elfenbeinküste haben uns sogar Empfehlungsschreiben ausgestellt. Nur Geld wollte bisher keiner investieren. Ein Mobile Cube kostet zwischen 30 000 und 50 000 Euro. Um ihn zu vermarkten und weitere Umwelt- und Energietechniken zu entwickeln, haben wir die Ardeo AG gegründet. Leider fehlt uns das Geld. Wir haben bereits einige hunderttausend Euro in die Erfindung gesteckt, allein die weltweit angemeldeten Patente kosten 60 000 Euro pro Jahr. Bisher stammte das Geld aus unserem Privatvermögen oder von Verwandten und Freunden. Jetzt brauchen wir jemanden, der sagt: Ich glaube daran, ich stecke da Geld rein. Wir wissen, dass sich die Technik vermarkten lässt. Vor ein paar Jahren hat Robert die Erfindung einer anderen Firma vorgestellt. Die war nicht interessiert, sagte sie – und baut seitdem den Cube mit leichten Änderungen und verkauft ihn erfolgreich." +Roger Longhi ist Geschäftsführer der Ardeo AG. + www.mobilecube.ch +Die Idee kam Mario Fallast in Helsinki. Dort erlebte der 28-Jährige während seines Auslandsstudiums, was entstehen kann, wenn Studenten verschiedener Fachbereiche gemeinsam an einem Projekt arbeiten und ein Partner aus der Wirtschaft sie unterstützt. Das gefiel ihm. Zurück an seiner Uni in Graz schrieb er ein Konzept, schickte es an Philips – und bekam gleich eine Zusage. Viele Bedingungen stellte das Unternehmen nicht. Ein funktionierendes Gerät zur Wassergewinnung sollte es sein, robust, für den Einsatz in Wüsten gebaut, weitgehend wartungsfrei, und unabhängig von einer Stromquelle musste es auch laufen. Der Rest war dem Team überlassen. Also machten sie sich an die Arbeit: elf Studenten aus Graz und Helsinki, die Architektur, Maschinenbau oder Telematik studieren, eine Mischform aus Telekommunikation und Informatik. Fallast, der Wirtschaftsingenieur, und Gabriele Schmied, die 23-jährige Betriebswirtin, koordinierten die Arbeit und verwalteten das Budget. 10 000 Euro hatte der Sponsor zur Verfügung gestellt. "Für Konzerne wie Philips ist das eine relativ kleine Summe, mit der sie beispielsweise eine Praktikantenstelle einen Sommer lang finanzieren können. Oder eben die Material- und Reise-kosten und die Arbeit eines Teams von elf Studenten über acht Monate", sagt Fallast. Sie forschten und recherchierten und dokumentierten ihre Ergebnisse in einem eigens eingerichteten Projekt-Wikipedia im Internet. Den Prototyp ihrer neuen Technologie präsentierten sie Anfang Mai. Es ist ein von Solarzellen angetriebenes Gerät, das Wasser aus der Luft gewinnt. Das Prinzip: Ein Ventilator saugt warme, feuchte Luft an und führt sie an Kühlrippen vorbei, die das Wasser herauskondensieren. Ein Behälter auf der Unterseite fängt es anschließend auf. "Je heißer und schwüler es ist, desto mehr Wasser kann das Gerät produzieren", sagt Gabriele Schmied. "Aber schon bei 30 Grad Celsius und 30 Prozent Luftfeuchtigkeit kommt man auf etwa einen halben Liter pro Stunde." Für ein, zwei Familien reiche das aus, und bei Katastrophen ließe es sich auch einsetzen. Trotzdem ist noch unklar, was mit der Erfindung passiert. Der Sponsor, der die Rechte besitzt, hat noch nicht entschieden, ob die Arbeit daran fortgesetzt wird. www.tugraz.at +Etwas gewöhnungsbedürftig ist der "LifeStraw", man muss ein paar Mal kräftig ziehen, ehe Flüssigkeit durch den Strohhalm fließt. Dann aber hat das Filter- und Kammersystem des 25 Zentimeter langen Strohhalms Erreger, Bakterien und Viren entfernt – und aus brackigem Abwasser sauberes Trinkwasser gemacht. Desinfizierendes Harz tötet dabei Bakterien ab, Aktivkohle hilft gegen Parasiten. Ein Halm kann etwa 700 Liter Wasser reinigen. Nur gegen Arsen, Eisen und andere Schwermetalle ist der "LifeStraw", machtlos. Wenn es nach der dänischen Vestergaard Frandsen Group geht, werden bald schon Menschen, die nur Zugang zu verunreinigtem Wasser haben, ihren Halm nutzen. 250 000 "LifeStraws", hat der Hersteller bereits ausgeliefert. "Hilfsorganisationen und kirchliche Institutionen setzen ihn in Pakistan, Indien und Kenia ein", sagt Business Director Allan Mortensen. Derzeit lässt Mortensen den Strohhalm im Sudan und in einem äthiopischen Dorf testen. An 700 Haushalte haben die Helfer jeweils vier Strohhalme verteilt, in ein paar Monaten werden sie wissen, ob die Krankheits- und Sterblichkeitssrate zurückgeht. Der "LifeStraw", schützt beispielsweise vor Typhus, Cholera und Ruhr. Und sie werden erfahren, wie gut die Bewohner mit der ungewohnten Trinkröhre zurechtkommen. "Für die Menschen dort ist es ein ganz neues Konzept, wir wissen noch nicht, ob sie es annehmen", sagt Mortensen. Zwar seien die bisherigen Reaktionen positiv. Aber er rechnet damit, dass Aufklärungsarbeit nötig sein wird. "Das ist wie bei der Einführung des Kondoms. Bis heute muss man Menschen beibringen, warum und wie sie es benutzen sollten." Ein anderes Problem ist der Preis. Drei Dollar kostet der "LifeStraw", pro Stück, er hält etwa ein Jahr lang. Das klingt günstig. Tatsächlich aber können sich viele Bedürftige den Strohhalm nicht leisten. Sie sind auf die Unterstützung von Sponsoren angewiesen. Diese versucht Allan Mortensen zu gewinnen. "Wir wollen Regierungen, Nicht-Regierungs-Organisationen und andere Institutionen von unserem Produkt überzeugen – das gelingt nur, wenn wir ihnen fundiertes Datenmaterial liefern." Seit zwölf Jahren laufen die Labor- und Praxistests. Das ist mühsam. Einfacher wäre es, den Strohhalm in Outdoor-Shops zu platzieren. Abenteurer, die ihn im Urlaub einsetzen, gäbe es sicher. Dieser Markt interessiere ihn aber nicht, sagt Mortensen. "Wir konzentrieren uns auf die Ärmsten der Armen." diff --git a/fluter/finnlands-verhaeltnis-zu-russland.txt b/fluter/finnlands-verhaeltnis-zu-russland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..61095d11cf2dae8c5f51e36b8ed9a725707755aa --- /dev/null +++ b/fluter/finnlands-verhaeltnis-zu-russland.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Das hat auch mit der Vorgeschichte zu tun: Die Gebiete des heutigen Finnlands standen vom 13. Jahrhundert bis 1809 größtenteils unter schwedischer und anschließend 108 Jahre lang unter russischer Herrschaft. Als Teil des Russischen Reiches war es dabei weitgehend autonom. 1917 wurde dann der russische Zar bei der Februarrevolution gestürzt, und die kommunistischen Bolschewiki haben bei der Oktoberrevolution die Macht in Russland übernommen. Auch in Finnland, das sich seit Beginn des Ersten Weltkriegs in einer Krise befand, ordneten sich damit die Machtverhältnisse neu: Das finnische Parlament erklärte am 6. Dezember 1917 die Unabhängigkeit. Stabil war das Land damit noch lange nicht. Wenige Wochen später begann ein Bürgerkrieg zwischen den "Roten" aus der Arbeiterschaft und den bürgerlichen "Weißen", den letztere nach gut drei Monaten für sich entschieden. Heute bejubeln die Finnen ihre Freiheit und Identität als etwas sehr Wertvolles, wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven. + +An einer 1.300 Kilometer langen Grenze schmiegen sich Russland und Finnland aneinander. Aber nach Kuscheln ist ihnen nicht immer zumute: In Helsinki wird derzeit ein Tunnelsystem, das im Kalten Krieg für den Verteidigungsfall errichtet worden war, aufgerüstet und ausgebaut. Derweil wird in Moskau der Ton schärfer: Wehe, Finnland tritt der Nato bei. Das würde die wichtigen Handelsbeziehungen erschweren und womöglich westliches Militär zu nahe an die russische Grenze lassen. +Seit der Annexion der Krim durch Russland hat sich dieAngstvor einem ähnlichen Schicksal in Finnland breitgemacht. 2016 schlossen die Finnen daher einen Vertrag zur militärischen Zusammenarbeit mit den USA im Falle eines Angriffs von russischer Seite. Je offener die Annäherung Finnlands an den Westen und an die Nato wird, desto drastischer werden die Warnungen aus Russland, man werde dem nicht tatenlos zusehen. +Dabei schien die komplexe Beziehung zu Russland lange Zeit recht stabil zu sein, vor allem wirtschaftlich sind Finnland und Russland seit Jahrzehnten eng miteinander verbunden. Daran änderte sich auch nichts, als Finnland 1995 der EU beitrat. Nun aber wurden in Finnland zusätzlich zu den bisherigen Streitkräften 50.000 Menschen in militärischen Bereitschaftsstatus versetzt. Russland präsentierte seine Macht im September beim Militärmanöver Sapad nahe der Grenze. +In Finnland setzt man auf diesisu, die Ausdauer und leidenschaftliche Zähigkeit, die man sich selbst und der nationalen Mentalität zugutehält. Man ist erprobt im Umgang mit dem mächtigen Nachbarn. Das Verhältnis basierte auf den diplomatischen Erfahrungen, die man im gemeinsamen Bemühen, den Frieden zu wahren, gemacht hatte. Russland hat nach Einschätzungen politischer Beobachter kein Interesse daran, dass sich Finnlands Sonderstatus zwischen Ost und West verändert. Das wäre bei einem Nato-Beitritt Finnlands jedoch der Fall. + +Nach der Sauna wird sich in Finnland gerne im Schnee gewälzt. Vielleicht hilft das den Finnen, ihre "Sisu"-Mentalität zu entwickeln + +Die Unabhängigkeit von Russland ist für die meisten Finnen zum Teil ihrer Identität geworden. Einen Nato-Beitritt befürwortet aktuell aber nur22 Prozent.Die beiden Länder trennt kulturell mehr, als sie verbindet. Die Finnen haben sich in der Nachkriegszeit und vor allem nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zunehmend nach Europa orientiert. Auch ihr ausgeprägter Stolz auf ihre Sprache hat schon vor 100 Jahren dazu beigetragen, dass die Finnen ihre Unabhängigkeit einforderten. Grundlegend für das damals erwachte nationale Selbstbewusstsein war unter anderem das Volksepos "Kalevala", eine Mythologie mit vielen tragischen Heldensagen. Dadurch, dass die "Kalevala" 1835 gedruckt und weit verbreitet wurde, bekam die finnische Schrift und Sprache eine erste große literarische Wiege – und die Finnen das Gefühl, zu den europäischen Kulturnationen zu gehören. +In Finnland geht es um Fortschritt: So experimentiert das Land mit einembedingungslosen Grundeinkommen, und immer mehr finnische Tech-Start-upsgewinnen an Bedeutung. Internationale Beachtung findet auch das erfolgreiche Bildungssystem, auch wenn zusehendskritisiertwird. Die Tatsache, dass sich russische Trollfabriken gerade an Finnland die Zähne ausbeißen, interessiert die europäischen Nachbarn. Aufgrund ihres hohen Bildungsstandards und der technischen Aufgeklärtheit gelten die Finnen alsvergleichsweise immun gegenüber russischer Propaganda und Fake News. Wie sehr sich das bewährt, bleibt abzuwarten. +Es geht auch gefühlig und kreativ zu. Ein bisschen Luft bei all dem gefühlten Druck aus dem Osten machen sich die Finnen durch Musik: Hinterhof-Jazz und nostalgische Populärmusik sind in Helsinki gerade das große Ding und kommen mittlerweile auch andernorts gut an. In der Musik ist nicht unbedingt Perfektion gefragt, sondern vielmehr echteHaltung,Freudeund Mut zu bunten Klang-Experimenten. + +Auch finnischesDesignundArchitekturtragen zur Selbstbehauptung der eigenständigen Identität bei. Leider ist jedoch auch der Alkohol ein beliebtes Ventil für ländliche Einsamkeit und Wärmebedarf in der dunklen Jahreszeit. Die Vorliebe für Klares wiederum teilt man mit dem russischen Nachbarn. +Lange schien Finnland anderen europäischen Staaten vorzumachen, wie man geduldig mit dem muskelspielenden Russland umgehen kann. Doch wie sich das politische Verhältnis der beiden Länder entwickeln wird, ist ungewiss. Am 28. Januar 2018 sollen die Präsidentschaftswahlen in Finnland stattfinden. Im Juni erst trat "Fixit"-BefürworterJussi Halla-ahoan die Spitze der populistischen Partei Perussuomalaiset (Die Finnen) und führt diese immer weiter nach rechts. Doch Präsident Sauli Niinistö tritt zur Wiederwahl an und gilt als sehr bemüht, die Lage zu beruhigen. Und viele Finnen hoffen, dass sich ihre sisu-Mentalität auch in der Diplomatie bewähren wird. + +Ein bisschen mehr Finnland:Film: "Die andere Seite der Hoffnung" Geschichte eines syrischen Flüchtlings in Helsinki.Oder:  "Tom of Finland" über den gleichnamigen Künstler und Illustrator, dessenexplizite schwule Bilder auch Briefmarken zieren.Buch: "Jung entschlafen" Frans Eemil Sillanpää, erschienen imGuggolz-Verlag.Musik: Mehr bei dem LabelWe Jazzund den Links im Text. + diff --git a/fluter/fischfang.txt b/fluter/fischfang.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/flexen-deutschrap-kritik.txt b/fluter/flexen-deutschrap-kritik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5f16fab097ba63cc145609817724dd4744cc3c08 --- /dev/null +++ b/fluter/flexen-deutschrap-kritik.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Weiterlesen: +Sind halbnackte Rapperinnen empowernd?Wir haben das am Song "WAP" von Cardi B und Megan Thee Stallion diskutiert +Ihre Geschichte vom Aufstieg aus der Armut in den Reichtum steht exemplarisch für die Biografien vieler erfolgreicher Rapper: So ist zum BeispielCapital Bra als Kind mit seiner Familie vor der Armut aus der Ukraine nach Berlin geflohenund wuchs im Stadtteil Hohenschönhausen auf, weit weg von Glanz und Glamour. +RIN, der sich mit der Zeile "Es ist Donnerstag, ich kauf mir Supreme" in das Gedächtnis vieler Jugendlicher gerappt hat, bezeichnete seine oft protzigen Texte mal als "Komplexbewältigung". Der Offenbacher Rapper Haftbefehl brach die Schule ab und war im Jugendarrest, heute steht er auf den großen Bühnen deutscher Hip-Hop-Festivals. Auch in seinen Texten geht es oft um Geld und Status wie im Song "Leuchtreklame": "Ah, statt Zufriedenheit zu zeigen / pack ich lieber lila Scheine in die Tasche von Hermès / Kann mich wieder nicht entscheiden / Hol ich lieber einen weißen oder schwarzen Turbo S?" Allerdings tauchen auch bei ihm mittlerweile kapitalismuskritische Zeilen auf: "Während Kinder verhungern, sind wir Pelz am Tragen, Ge-Ge-Geld am Sparen, Be-Be-Benz am Fahren." +Haftbefehl, RIN, Shirin: Sie alle haben es mit ihrer Musik geschafft, sich aus der Armut zu befreien. Auch wenn sie sich in ihren Texten gern als Mitglieder einer "gehobenen Klasse" inszenieren – was es bedeutet, ausgegrenzt zu werden, wissen sie oft nur zu gut. Schließlich hätten sie selbst oft Klassismus – also Abwertung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozial benachteiligten Klasse – gepaart mit Rassismus erfahren, meint Falk Schacht. Der Journalist gilt als Experte für deutschen Rap und Jugendkultur und sagt: "Die Texte dieser Rapper und Rapperinnen sind eine Art der Kompensation. Viele von ihnen haben schmerzhafte Armutserfahrungen gemacht – also Erfahrungen mit Mangel, die sie heute ausgleichen wollen." +Andere Rapper bemühen sich hingegen, das "Flexen" – wie das Angeben und Prahlen genannt wird – ironisch zu brechen. Bei LGoony heißt es: "Brauch keine Rakete, brauch kein Shuttle, denn ich fahr einfach in meinem Bugatti bis zum Mars" oder "Ich schmeiße lila Scheine durch die Lobby, Birdman, Big Ballin' is my hobby". Inspiriert vom US- amerikanischen Hip-Hop, aber auch vom Wiener Rapper Money Boy, fing LGoony an, das Thema Geld und Reichtum in seinen Texten zu überzeichnen. "Wenn ich zum Beispiel sage, dass ich mit einem Bugatti bis zum Mars fahre, ist ja jedem klar, dass das überspitzt ist", sagt er im Gespräch. Im Jahr 2014 hatte LGoony seinen Texten zufolge auch schon die Playstation 5 und das iPhone S6, die es damals beide noch gar nicht gab. +LGoony ist sich sicher, dass seinen Hörerinnen und Hörern die Ironie und der Witz seiner Texte bewusst sind. Aber er weiß auch: "Natürlich besteht trotzdem die Gefahr, dass man solche Texte hört und denkt, dass es wichtig ist, die teuersten Schuhe zu haben." Aus seiner Sicht ist das mit der Vorbildfunktion in der Musik aber eine komplizierte Angelegenheit: "Es ist auch wichtig, in seiner Kunst frei zu sein und das zu machen, was man will. Wer sich mit mir als Person beschäftigt und zum Beispiel Interviews anschaut, weiß ja, dass ich in meiner Musik als Kunstfigur auftrete." Trotzdem widmet er sich jetzt auch etwas anderen Themen, ohne dabei zu vergessen, wofür seine Fans ihn feiern: Auf seiner jüngsten EP, die den Namen "Go Green" trägt und pünktlich zur Bundestagswahl erschienen ist, betreibt LGoony die Geldzählmaschine mit Windkraft und cruist mit dem Tesla durch die Stadt. + diff --git a/fluter/flieg-ich-durch-die-welt-robert-gold.txt b/fluter/flieg-ich-durch-die-welt-robert-gold.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..81ae019c011c9fed0f79374ab8d116a8689c9ac8 --- /dev/null +++ b/fluter/flieg-ich-durch-die-welt-robert-gold.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Robert Gold, Flieg ich durch die Welt, Eulenspiegel Verlag, 368 Seiten, 19,99 € +Gold, Jahrgang 1970 und Creative Producer für Film und Fernsehen, beschränkt sich in seinem Roman nicht auf die Zeit kurz vor und nach dem Mauerfall, die Geschichte reicht bis zur Jahrtausendwende. Wolle hat es nach seiner Flucht nach New York verschlagen, wo er allerdings feststellen muss, "dass da drüben gerade etwas viel Größeres abging". Mit "da drüben" ist Berlin gemeint. Die Stadt, in der die Mauer fällt, neue Clubs und vor allem neue Möglichkeiten entstehen. Wolle will mitmischen, selbst sagen können, "was hier gerade los ist". Er kehrt in seine Heimatstadt zurück. +Pascal macht in der Zwischenzeit Karriere in einer Werbeagentur, feiert sich durch Berlin und in die Arme diverser Frauen. Heiratet, lässt sich scheiden. Über Angelo erfährt man nichts, dafür über Kathi, Angelos Ex-Freundin. Die zieht es erst mal nach Kassel zu einem Westler, "der beim Anblick eines Mercedes oder einer Stereoanlage nicht gleich diesen glasigen Blick kriegt, sondern für den das alles normal ist." +Man kann das alles vor dem Hintergrund der Wendezeit lesen und sich ganz den historischen Veränderungen, die der Mauerfall in Berlin und generell in Deutschland brachte, widmen. Man kann sich aber genauso gut auf die Veränderungen im Leben von Wolle, Pascal und Kathi konzentrieren. Und das bietet sich an. +Gerade zu Beginn sind nicht nur die Jungs irgendwie orientierungslos auf ihrer Reise, sondern auch der Roman selbst. Ob es um die gesellschaftspolitische Situation um 1989 oder doch lieber um die Erlebnisse der Jungs gehen soll, scheint der Roman nicht recht zu wissen. Er schwankt zwischen beidem Hin und Her, ohne dabei in die Tiefe zu gehen. +Doch das ändert sich, zum Glück. Und zwar in dem Moment, in dem Gold die Wendezeit eher am Rand mitschwingen lässt und sich stattdessen immer mehr an die persönlichen Umbrüche seiner Protagonisten herantastet und daran, wie sie sich in der Welt zurechtfinden – grundsätzlich, losgelöst vom Mauerfall. Was macht man aus den Möglichkeiten? Welche Chancen hat man liegen gelassen? Und schließlich: Was ist aus einem geworden? Das sind doch die wahren Fragen. Die, die wirklich jeden umtreiben. Nicht nur Romanfiguren. +Als Pascal eines Abends bei Wolle abhängt und die Veränderungen in der Stadt bedauert, antwortet ihm sein Freund: "Es ist vorbei, Mann. Lös dich mal davon. Das bringt dir alles nichts mehr. Ist eine neue Zeit, und der Job ist, sich darin einzurichten." Diese Sätze haben Gültigkeit. Und zwar immer dann, wenn sich etwas verändert. Immer dann, wenn das Neue einen, mag es auch schön sein, erschrecken lässt und einen diese Sehnsucht nach dem Vergangenen packt. diff --git a/fluter/flip-flops-reichen-nicht.txt b/fluter/flip-flops-reichen-nicht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7a8541f7766f2c3477f4871f24f373bd33091244 --- /dev/null +++ b/fluter/flip-flops-reichen-nicht.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Sie geben den Gründern Geld und erhalten dafür Anteile am Unternehmen, die Sie später, wenn es ein Erfolg wird, für ein Vielfaches verkaufen. Funktioniert so Ihr Geschäftsmodell? +Ganz vereinfacht stimmt das so. Nur dass wir uns sehr lange an den Unternehmen beteiligen und nicht auf schnelle Gewinne zielen. Und dass man das Geld vervielfacht, kann man den Anlegern, die bei uns einzahlen, auch nicht versprechen. Deswegen heißt es ja Wagniskapital. +Und wie viel kommt da zusammen? +Unser neuer Fonds hat ein Volumen von rund 150 Millionen Dollar. Damit investieren wir in vielversprechende Start-ups. Natürlich nicht alles in einen. Unsere Investments liegen am Anfang so bei 750.000 Euro bis zu einer Million. +In welchem Bereich sind denn gerade Ideen gefragt? +Der Online-Zahlungsverkehr bewegt sich enorm. Auch einfache Lösungen für Office-Management und Buchhaltung sind gefragt, und bei mobilen Apps gibt es natürlich auch Potenzial. +Sie haben Ihr Büro in Hamburg zugemacht und eins in Berlin eröffnet. Ist Berlin das deutsche Silicon Valley? +Hier gibt es jedenfalls ein ungeheures Momentum. Das kreative Umfeld, das kulturelle Angebot, die Internationalität und die günstigen Mieten ziehen unheimlich viele junge, interessierte, gut ausgebildete Leute an. Die kommen aus Osteuropa, aus Skandinavien, aus den USA. Nur in einem der sieben oder acht Unternehmen, die wir unterstützen, wird Deutsch gesprochen. +Wo ist denn der Unterschied zu Kalifornien? +Wir sind in Europa fast 40 Jahre hinterher. In den USA gibt es in der IT-Branche eine Art unternehmerisches Ökosystem, wie wir das nennen. Gefördert durch die Unis in Stanford und Berkeley und von Unternehmen wie HP oder Microsoft, die schon seit den 70er-Jahren Innovationen massiv unterstützt haben. Bei uns entwickelt sich so ein Umfeld erst allmählich. +Bekommen die Gründer in den USA nicht viel mehr Geld? +Das stimmt. Hier muss man lernen, mit weniger zurechtzukommen und dennoch ein Top-Produkt zu entwickeln. Aber deutsche Firmen wie Soundcloud oder 6Wunderkinder, die international erfolgreich sind, bekommen dann auch von US-Investoren schnell viel Geld. Da geht es dann oft um zweistellige Millionenbeträge. +Wie viele Ideen setzen sich denn durch? +Wir sind jetzt seit 15 Jahren dabei, und rückblickend kann man ungefähr sagen: Von zehn Investments klappen vier gar nicht, drei machen Gewinne, wachsen aber nicht so stark, und die anderen zwei bis drei sind richtig erfolgreich und in der Lage, den Fonds ganz zurückzuzahlen. +Gibt es angesichts des Gründerfiebers in Ihrer Branche eine große Konkurrenz? +Ich fände es sogar gut, wenn es mehr Venture Capital gäbe. Aber nachdem im Jahr 2000 die Internetblase geplatzt ist, also viele völlig überbewertete Unternehmen pleitegingen, ist die Zurückhaltung der Investoren groß. In Deutschland gibt es nur vier bis fünf Fonds. Wenn man das in Relation zur Größe der Volkswirtschaft sieht und mit den USA vergleicht, ist das sehr mager. +Kann ich Ihnen 1.000 Euro hierlassen und Sie geben mir in einem Jahr 2.000 zurück? +Wir haben eher wenig private Investoren. Der größte Teil des Geldes kommt von institutionellen Anlegern, etwa von einem japanischen Pensionsfonds. +Im Ernst? Japanische Rentner unterstützen deutsche Nerds mit ihren Spargroschen? +Ja, kann man so sehen. diff --git a/fluter/flucht-syrien-bericht.txt b/fluter/flucht-syrien-bericht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..06d0ef4b84f34ed6a3f81439f2ebf0ff50a33c09 --- /dev/null +++ b/fluter/flucht-syrien-bericht.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Um seine Flucht zu finanzieren, versucht er, seine Habseligkeiten zu verkaufen. "Meine Nachbarn wurden misstrauisch, haben gefragt, ob ich etwa abhauen will." Das Damaskus des Jahres 2015 beschreibt Khaled als eine Stadt, die "überall Augen hat". Assads Regime überwacht die Menschen, vor allem Männer im kampffähigen Alter. Offiziell hätte Khaled niemals ausreisen dürfen. "Ich habe dann allen erzählt, dass mein Mietvertrag plötzlich gekündigt wurde und ich gezwungen bin, zu den Eltern meiner Freundin zu ziehen." Erst diese Geschichte verhindert weitere Fragen. Heimlich reist Khaled ab. +Sein Plan ist klar: Über den Libanon will er nach Europa. Weniger klar ist, wie er in den Nachbarstaat gelangen soll. "Die Grenzposten haben mich verdächtigt, aus Syrien fliehen zu wollen." Khaled hat von Menschen gehört, die eine falsche Antwort bei so einer Grenzkontrolle mit Jahren hinter Gittern oder gar ihrem Leben bezahlt haben. Er muss sich etwas einfallen lassen – und zwar schnell. "Da habe ich gesagt, dass ich eine patriotische Dokumentation für das syrische Fernsehen drehen will und in den Libanon reise, um Kostüme zu besorgen." Der Grenzposten glaubt Khaled nicht sofort, er will Beweise. Khaled präsentiert Unterlagen, die ihn als Mitarbeiter des syrischen Fernsehens ausweisen – Belege für die patriotische Doku hat er keine. Er redet drauflos. "Ich habe ein immer größeres Lügengebäude errichtet." Seine angebliche Dokumentation solle von historischen Heldentaten syrischer Soldaten handeln. Irgendwann hellt sich die Miene des Grenzers auf. Khaled ist erleichtert – um gleich im nächsten Augenblick zu merken, "dass ich es übertrieben habe". +Der Grenzsoldat glaubt offenbar, einen bekannten, patriotisch gesinnten Fernsehmacher aus der Hauptstadt vor sich zu haben. Er ruft seinen Vorgesetzten, der mehr über die Dokumentation wissen will. Khaled lügt und lügt. Als er sich von den Soldaten verabschiedet, rufen sie ihm freundlich ein "Bis morgen!" hinterher. Sie glauben, dass er schon am folgenden Tag mit historischen Kostümen im Gepäck wieder vor ihnen stehen wird. Khaled hat es geschafft. Nur um zu merken, dass er sich zu früh gefreut hat. +Über den Libanon gelangt er zwarin die Türkei,der weitere Weg nach Norden will aber lange nicht gelingen. Khaled findet keinen Schleuser, der ihn für das wenige Geld, das er noch hat, nach Griechenland schmuggelt. Er schläft in einer dreckigen Unterkunft mit zehn anderen Männern, die sich im Gespräch als radikale Islamisten zu erkennen geben. "Die haben mich bedrängt, wollten meine politische Einstellung erfahren." Und so lügt Khaled weiter und erzählt den Männern, er sei ein besonders frommer Muslim, der wegen seiner freundlichen Haltung zum Islamischen Staat in Syrien Probleme hatte und ausreisen musste. Die Männer glauben ihm. Erst als Khaled endlich in Griechenland landet und später nach Deutschland kommt, ist für ihn das Lügen vorbei. Am Ende ist es seine wahre Geschichte, die dafür sorgt, dass er als Flüchtling erst mal hierbleiben darf und nicht abgeschoben wird. +Titelbild: Robert Schlossnickel/plainpicture diff --git a/fluter/flucht-vor-taliban-journalistin.txt b/fluter/flucht-vor-taliban-journalistin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5bf4c8415e840f6b4ac9271c593319b71cfde8d7 --- /dev/null +++ b/fluter/flucht-vor-taliban-journalistin.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Auch Davod Aldi musste vor den Taliban flüchten –seine Odyssee führt ihn über Gebirgsketten und das Mittelmeer +Wir flüchteten nach Iran. Ich kann mich nicht an viel erinnern, denn ich war noch klein. Aber als meine ältere Schwester und ich in die Schule gehen sollten, ging das nicht. Wir wurden in einem Zentrum für iranische Frauen unterrichtet. Meine Schwester und ich waren die einzigen Kinder. Mein Vater bezahlte die Lehrerin dafür. Illegal natürlich. Einmal kamen die iranischen Behörden ohne Vorankündigung, und unsere Lehrerin musste uns verstecken. Damals verstand ich nicht, warum. Es war, weil wir aus Afghanistan kamen. Obwohl wir dieselbe Sprache sprachen – Persisch, genannt Dari in Afghanistan und Farsi in Iran. +Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 beschlossen die USA, die Taliban anzugreifen. Zwei Jahre später bereiteten wir uns auf unsere Rückkehr vor. Als ich 2003 in mein Heimatland zurückkehrte, war ich immer noch jung, voller Träume und Energie. Afghanistan war gerade aus der Asche des Krieges auferstanden. Viele Familien hatten mit Armut zu kämpfen. Tagsüber ging ich zur Schule, nachts webte und häkelte ich, um mit handgefertigten Kissen meine Ausbildung bezahlen zu können. + + +Je mehr Zeit verging, desto mehr Hoffnung bekamen die Menschen zurück. Auch ich hoffte langsam wieder auf eine bessere Zukunft. Täglich wurden mehr Gassen gepflastert, und der städtische Wohlstand nahm langsam zu. Ich ging nach Kabul zum Studieren und machte meinen Abschluss. Ich bekam einen Job als Journalistin. Ich hatte Pläne für die Zukunft. Ich schrieb über Krieg, Politik, Gesellschaft und Frauenrechte. +2014 gab die NATO das Ende ihres Kampfeinsatzes in Afghanistan bekannt. In der anschließenden Mission "Resolute Support" sollten afghanische Streitkräfte ausgebildet und beraten werden.Die Nachrichten berichteten über mehr Präsenz der Terrorgruppe "Provinz Khorasan", ein lokaler Ableger des sogenannten Islamischen Staats.Sie steht in feindlicher Konkurrenz zu den Taliban, beide Organisationen sind islamistisch, gewaltbereit und kämpfen um die Vorherrschaft in Afghanistan. Täglich wurden wieder mehr Menschen entführt und ermordet. 2015 wurden sieben Hazaras, darunter ein neunjähriges Mädchen, entführt und dann enthauptet. Das Schlimmste daran, Journalistin in Afghanistan zu sein, war für mich, dass ich Opfer und Hinterbliebene von Selbstmordattentaten interviewen musste und nichts tun konnte, um ihnen zu helfen. Über Jahre hinweg. +Bis ich über Nacht alles verlor, was ich mir aufgebaut hatte. Mir wurden Freiheit, Beruf und Existenz geraubt. Im Frühsommer 2021 schlossen die Botschaften einiger Länder in Kabul – aus Angst, die Taliban könnten nach Kabul zurückkehren, nachdem die NATO-Mission unter chaotischen Umständen beendet worden war. Ich beantragte Visa bei denen, die noch offen waren, erhielt aber nie eine Antwort. Ich konnte mir die Zerstörung nicht mehr länger anschauen. Und außerdem war ich nun selbst wieder in Gefahr. +Die Taliban haben ein Problem mit den Stimmen und Gesichtern von Frauen. Ihrer Meinung nach sollte eine Frau völlig gehorsam sein. Ihrer Meinung nach ist eine Frau, die alleine auf die Straße geht, eine Prostituierte. Ihrer Meinung nach sollte eine Frau immer von einem Mann begleitet werden, wenn sie auf Reisen ist.Dass eine Frau kein Recht mehr haben sollte, sich in den Medien zu zeigen oder dort zu publizieren,machte mir Angst. Das wirkte sich auf meine Psyche und meinen Körper aus: Ich hatte keinen Appetit mehr und konnte nicht schlafen. In Kabul zu überleben war jetzt Glückssache. Ich wusste nicht mehr, ob ich abends zurückkehren würde, wenn ich morgens aus dem Haus ging. + + +Der Tag, an dem ich mein Heimatland zum zweiten Mal zurückließ, war ein Sonntag. Meine Schwester und ich gingen zu Fuß nach Hause, weil kein Auto mehr in den Westen von Kabul fuhr. Ich hatte Angst, erkannt zu werden. Mein Vater kam uns entgegen. Da rief mich ein Kollege aus Berlin an und riet mir, sofort zum Flughafen zu fahren. Die Taliban waren in Kabul. Keiner wusste, was als Nächstes passieren würde. Ich ging mit meinem Vater und meiner Schwester nach Hause, um meinen Pass zu holen. Ich konnte mich noch nicht einmal richtig von meiner Familie verabschieden. Ich packte nur schnell ein paar Sachen und meine Dokumente. Unterwegs griffen mich bewaffnete Männer an. Ich stand unter Schock, aber ich hatte keine Zeit zum Nachdenken. Irgendwie schaffte ich es zum Flughafen. Dort angekommen, schien erst mal alles normal – bis ein Flug nach dem anderen storniert wurde. +Die Taliban hatten den Flughafen erreicht. Ich wusste nicht, ob ich überleben würde. Doch am 15. August 2021, mitten in der Nacht, saß ich in einem Flugzeug, das abhob. +Wir landeten bei Sonnenaufgang. Keiner meiner Mitreisenden wusste, wo wir waren. Beim Aussteigen sagten uns Soldaten, wir seien in Doha. Wir hatten zwei Tage lang keinen Zugang zum Internet, und ich erfuhr nichts über die Situation in Kabul. Drei oder vier Tage später, als ich endlich Zugang zum Internet hatte, erfuhr ich, die Talibanhatten Kabul ganz eingenommen,andere Frauen kehrten nicht zu ihren Jobs zurück. Viele Menschen wurden am Flughafen getötet, von dem ich noch Tage zuvor abgeflogen war. +Ein Jahr nach dem Regimewechsel hat sich die Situation für die Menschen nicht verbessert. Ich verfolge weiterhin die Nachrichten über Afghanistan im Internet und im Fernsehen. Genau wie mein Vater sich vor 20 Jahren täglich die Nachrichten über Afghanistan im Radio anhörte und im Fernsehen anschaute. Ich mag Afghanistan verlassen haben, aber ich bin im Geiste noch da. Immerhin ist meine Familie inzwischen in Deutschland und damit in Sicherheit. Trotzdem wache ich jede Nacht aus Albträumen auf. Ich hoffe, dass ich hier zu einem normalen Leben zurückkehren kann. Die Taliban beraubten viele Frauen ihrer Rechte. Menschen, insbesondere Frauen, werden ihre Jobs, ihr Zuhause und ihre elementarsten Rechte vorenthalten. Die Welt darf diese Terrorgruppe nicht anerkennen. + +Übersetzung: Peggy Strachan diff --git a/fluter/fluechtlinge-frieren-am-balkan.txt b/fluter/fluechtlinge-frieren-am-balkan.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3d01417c7311e4ffb96a9bd92f4c6d94b986a7d3 --- /dev/null +++ b/fluter/fluechtlinge-frieren-am-balkan.txt @@ -0,0 +1,34 @@ +Wie viele Flüchtlinge halten sich denn derzeit in Serbien auf? +Laut UNHCR sind momentan offiziell 7.300 Asylbewerber und Migranten in Serbien. Schätzungen zufolge sind es aber über 8.500. +Und wie viele winterfeste Unterkünfte gibt es? +Um ehrlich zu sein: Ich habe diese Frage den serbischen Behörden, dem UNHCR und anderen Organisationen selbst schon mehrere Male gestellt. Aber es scheint sehr schwierig, eine Zahl zu nennen. Was wir wissen, ist, dass es 3.600 Plätze gibt, die für den Winter adäquat sind und längerfristig benutzt werden können. Wir sprechen hier von "longterm capacities", damit sind Wohnräume in Betongebäuden gemeint. Und dann gibt es noch "shelters", provisorische Notunterkünfte, die zumindest theoretisch geheizt werden können. +In heruntergekommenen Lagerhallen im Zentrum Belgrads versuchen sich Flüchtlinge mit alten Decken und Lagerfeuern vor dem Schlimmsten zu schützen. Durch die Rauchentwicklung kommt es aber immer wieder zu Vergiftungen, berichten Mitarbeiter von NGOs +Und wie viele finden nicht einmal dort Platz? Wo essen, leben, schlafen die, wenn nicht in offiziellen Unterkünften? +Wir glauben, dass es etwa 1.200 Menschen sind. Die meisten leben in Belgrad, etwa in verfallenen Lagerhallen in der Nähe des Hauptbahnhofes. +Im Jahr 2015 nahmen Hunderttausende Flüchtlinge die sogenannteBalkanroute, um nach Mitteleuropa zu kommen: Über die Türkei und Griechenland gelangten sie nach Mazedonien und Serbien und schließlich über Ungarn oder Kroatien und Slowenien nach Österreich, Deutschland und in andere EU-Länder. +Gibt es dort Betten, Sanitäranlagen, Möglichkeiten, sich aufzuwärmen? +Nein, es gibt überhaupt nichts. Die Flüchtlinge leben dort seit Monaten ohne irgendwelche Mittel. Sie schlafen im Freien und unter menschenunwürdigen Bedingungen. Niemand sollte bei solchen Temperaturen draußen schlafen, vor allem nicht für eine so lange Zeit. +Arbeiten die serbischen Behörden mit den Hilfsorganisationen vor Ort zusammen? +Im Spätherbst versuchten die Behörden, jegliche Hilfsaktionen außerhalb der offiziellen Camps zu verhindern. Seit ein paar Tagen ändern sich die Dinge aber wieder. Manche der Hilfsleistungen von freiwilligen Kräften, dabei geht es meist um kurzfristige Hilfe wie Essensausgabe, werden wieder toleriert. Eine Gruppe zum Beispiel stellt jedem Flüchtling eine Mahlzeit pro Tag zur Verfügung – zeitweise war selbst das verboten. Wir müssen aber abwarten, welchen Effekt die Lockerungen längerfristig haben werden. +Endlich was Warmes: Freiwillige Helfer der Gruppe "Hot Food Idomeni" teilen in Belgrad Essen aus. Im inzwischen geräumten Lager von Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze hat die Gruppe erstmals Flüchtlinge mit warmen Mahlzeiten versorgt +Wie sieht die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen in Serbien momentan aus? +Wir haben eine mobile Klinik, in der Ärzte und Psychologen arbeiten. Diese bieten speziell jenen Menschen medizinische und psychologische Hilfe an, die keinen Zugang zu den Flüchtlingscamps haben. Was das Einsatzgebiet betrifft, haben wir uns in den letzten drei Monaten auf Belgrad konzentriert, weil hier die meisten Menschen sind. +Von der Anzahl an Durchreisenden überfordert, versuchten die Transitländer, die Flüchtlingsbewegungen durch Grenzkontrollen und den Bau von Zäunen zu stoppen. Nach einemEU-Türkei-Gipfel im März 2016beschlossen sie schließlich, dieGrenzen für Flüchtlinge ohne Visum komplett zu schließenund Menschen, die es über das Meer nach Griechenland geschafft haben,wieder in die Türkei zurückzuschicken– eine Entscheidung, die stark umstritten war. +Mit welchen Problemen kommen die Flüchtlinge zu Ihnen? +Durch die Kälte bedingt leiden sehr viele an Atemwegserkrankungen, ein paar an Erfrierungen. Ein Arzt in der mobilen Klinik musste unter anderem ein zweijähriges Mädchen mit schweren Frostbeulen behandeln – einer Krankheit, die viel gefährlicher ist, als sie klingt: Das Blut kann nicht mehr in die Extremitäten fließen, im schlimmsten Fall müssen diese dann amputiert werden müssen. Und wegen der unsicheren und unhygienischen Bedingungen, denen viele Flüchtlinge schon lange ausgesetzt sind, treten auch Hautkrankheiten und Pilzinfektionen sehr häufig auf. +Das klingt furchtbar und vermeidbar. +Ja, man muss sich einfach mal vorstellen, seit Monaten kein fließendes Wasser, keine Toiletten und keine Dusche zu haben. Komplett zurückgelassen worden zu sein, mitten in einer Stadt, ja am Hauptbahnhof einer Hauptstadt, wo der Rest der Gesellschaft täglich vorübergeht. +Weil es in den Lagerhallen weder Toiletten, Duschen, noch sonst irgendein fließendes Wasser gibt, leiden viele Flüchtlinge an Haut- und Pilzerkrankungen. Der junge Mann rechts versucht dagegen zu halten und wäscht sich trotz eisiger Kälte im Freien +Wie alt sind die Menschen, die dort leben, und woher kommen sie? +Ich würde schätzen, dass die Hälfte unserer Patienten unter achtzehn ist. Aber das sind keine geprüften Zahlen. Das UNHCR, das Zahlen über jene hat, die in den Camps leben, spricht von einem Anteil Minderjähriger von 46 Prozent. Die meisten der Menschen kommen aus Afghanistan, dem Irak und Pakistan. Es sind aber auch viele Kurden unter ihnen, syrische sowie irakische. +Viele Flüchtlingesitzen seitdem in den Transitländern festund warten darauf, weiterreisen zu dürfen. Auch wenn die Balkanroute seit nunmehr fast einem Jahr als geschlossen gilt, ist sie noch immer eine wichtige Einreiseroute nach Zentraleuropa. +Es wird berichtet, manche Flüchtlinge würden sich nicht registrieren lassen – aus Angst, nach Bulgarien oder Mazedonien abgeschoben zu werden. Stimmt das? +Ja, das ist wahr. Es herrscht sehr große Angst, was das angeht. Auch weil es in der Vergangenheit tatsächlich Fälle gab, in denen Menschen auf eine sehr intransparente oder gar illegale Weise abgeschoben wurden. +Was würde in der jetzigen Situation helfen? +In erster Linie braucht es ganz einfach einen Ort, an dem die Menschen den Winter überleben können. Was zudem fehlt, ist ein klarer Plan. Einer, der die verschiedenen Situationen und Kapazitäten im gesamten Balkan berücksichtigt. +Wer sollte Ihrer Meinung nach diesen Plan gestalten? +Die Situation ist nicht einzig ein Problem Serbiens oder des Balkans. Es ist auch nicht einzig ein Problem der Europäischen Union. Verschiedene Akteure sollten an einem Tisch zusammenkommen. Auf keinen Fall werden wir das Problem lösen, indem wir weiter so tun, als wäre die Balkanroute tatsächlich geschlossen und als gäbe es die Menschen hier nicht. + +Andrea Contenta arbeitet seit August 2016 für Ärzte ohne Grenzen in Serbien. Dort ist er Beauftragter für humanitäre Angelegenheiten. Er ist 37 Jahre alt und kommt aus Italien. +Wir haben das Interview am Telefon geführt und aus dem Englischen übersetzt. +Titelbild: dpa/picture-alliance diff --git a/fluter/fluechtlingslager-moria-corona-pandemie.txt b/fluter/fluechtlingslager-moria-corona-pandemie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3d3fd155e48aea2881a6dac88b7f2fd646b1f342 --- /dev/null +++ b/fluter/fluechtlingslager-moria-corona-pandemie.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Wegen derPandemieundrechtsextremer Protestehaben viele NGO-Mitarbeiter*innen die Insel Lesbos verlassen. Insgesamt 18 Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen versorgen derzeit noch die knapp 22.000 Geflüchteten im Camp. Haben Sie auch darüber nachgedacht, nach Deutschland auszureisen? +Im Gegenteil. Dass Faschisten hier Leute angreifen, war nur ein weiterer Grund für mich hierzubleiben. Im April wäre ich eigentlich zurück nach Deutschland geflogen, meine Ablöse ist schon hier. Aber jetzt werde ich so lange bleiben, wie es die Corona-Situation verlangt. + + +Das Virus ist noch nicht im Camp angekommen. +Nein, aber das ist wohl nur eine Frage der Zeit. Es gab bisher sechs Covid-19-Fälle auf Lesbos, allesamt Griech*innen. Zum Glück wird es dem Virus gerade schwer gemacht, auf die Insel zu gelangen. Jeder, der hier landet, muss in 14-tägige Quarantäne.Schwierig ist es für Geflüchtete, die mit dem Boot an der Küste von Lesbos ankommen.Sie müssen ohne Schutz, Unterkunft und Versorgung am Strand mindestens zwei Wochen warten. Die Polizei überprüft das und untersagt jegliche Hilfe. +Wie bereitet sich das Camp auf einen möglichen Corona-Ausbruch vor? +Die Campbewohner haben ein Moria-Corona-Awareness-Team gegründet: Es hat viele Infoplakate aufgehängt, Seifen verteilt und Masken genäht. In der Klinik bereiten wir uns bestmöglich vor: Ältere Personen und Schwerkranke wurden verlegt, manche aufs Festland, manche in Hotels auf der Insel. Es sollen Stationen gebaut werden, wo Corona-Patienten isoliert werden könnten – aber wir wissen nicht, wann. Unser größtes Problem ist die mangelnde Schutzausrüstung, hier kommt keine Lieferung an. Käme es zum Ausbruch, wären wir als medizinisches Personal die schnellsten und besten Verbreiter des Virus. +Könnte Social Distancing im Camp umgesetzt werden? +Wie soll das funktionieren, wenn eine Organisation das Essen für 20.000 Personen liefert –und dafür täglich durch das enge Zeltlager muss?Wie soll es funktionieren, wenn sich knapp 200 Personen eine Toilette teilen und die Wasserleitungen schon vorher total überlastet waren. Hier benutzen etwa 1.300 Personen einen Wasserhahn! Außerdem kann man Menschen nicht 24/7 in einem Zelt einsperren, das wenige Quadratmeter groß ist und in dem zwölf Menschen schlafen. Die psychische Belastung hätte Auswirkungen, die wir noch gar nicht absehen können. + + +In den Nachrichten wird viel von minderjährigen Geflüchteten berichtet. Leben im Moria-Camp vor allem junge Menschen, die eher nicht zur Risikogruppe gehören? +Ich weiß, man sieht in den Medien meist junge Menschen. Die Personen, die das Virus gefährlich treffen wird, sitzen aber in den Zelten und zeigen sich nicht den Kameras. Viele Bewohner haben chronische Erkrankungen: Diabetes, Bluthochdruck, Leberinsuffizienz oder Nierenversagen, Krebs und auch HIV. +Die Bundesrepublik will jetzt50 unbegleitete Minderjährige aus griechischen Flüchtlingslagern ausfliegen. Ein erster Schritt? +Eher ein Tropfen auf den heißen Stein. Was ich mich frage: Wie sollen die 50 eigentlich ausgewählt werden? Auf den griechischen Inseln leben insgesamt 4.400 unbegleitete Kinder in Flüchtlingslagern. +Die sogenannte Koalition der Willigen, zu der auch Deutschland gehört, kündigte schon vor etwa einem Monat an, über 1.000 minderjährige Geflüchtete evakuieren zu wollen. +Es wurden von Europa in den letzten Jahren so viele Versprechungen gemacht, dass das keiner mehr wirklich glaubt. Die Hoffnung gab es nicht wirklich. Ich würde der EU gerne sagen: Evakuiert! Nicht heute, nicht morgen, das hätte schon gestern passiert sein sollen. Aber damit das geschieht, müsste sich der Druck der Zivilgesellschaft auf die Politik noch erhöhen. Ganz Moria ist eine Menschenrechtsverletzung. + +Maria Fix, 29, arbeitet seit Oktober 2018 für Medicals Volunteers International e.V. als Field-und Medical-Koordinatorin auf Lesbos. Zuvor war sie Intensivkrankenpflegerin an der Uniklinik Köln. (Foto: Till Gläser) +Fotos: Refugee Media Team / Murat Türemiş / laif diff --git a/fluter/flugzeug-statt-schlepperkahn.txt b/fluter/flugzeug-statt-schlepperkahn.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..606e8208ebc75d2e8a65c94456b96337e9e881fd --- /dev/null +++ b/fluter/flugzeug-statt-schlepperkahn.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Die Hürde, solch eine Erklärung zu unterschreiben, sagt Martin Keune, sei sehr hoch. Laut Rechtsauffassung des Bundesinnenministeriums gilt die Verpflichtungserklärung unbefristet. Das bedeutet, dass man als Verpflichtungsunterzeichnender im Bedarfsfall unbefristet für die Miete und die Lebenshaltungskosten, in einigen Bundesländern außerdem – immer noch – für die Krankheitskosten aufkommen muss. Allerdings interpretieren die Bundesländer diese Verordnung recht unterschiedlich: Während zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen oder Thüringen die Verpflichtungsgeber bei Anerkennung des Asylstatus des Flüchtlings aus der Haftung entlassen werden, gelten die Verpflichtungserklärungen in Brandenburg und Berlin ein Leben lang.Seit zwei Jahren ermöglichen befristete Aufnahmeprogramme vieler Bundesländer den Nachzug von Familienangehörigen syrischer Flüchtlinge. Bedingung ist jedoch, dass diese für alle Kosten aufkommen und daher beispielsweise in Berlin ein Nettogehalt von 2.150 Euro vorweisen können – die Höhe ist in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich. Da die meisten Syrer nicht über solche finanziellen Mittel verfügen, suchen sie einen Bürgen, der für sie mit einer Verpflichtungserklärung einspringt. +Obgleich ihm sein Anwalt davon abriet, hat Martin Keune Anfang Mai eine Verpflichtungserklärung für Cheredins Eltern Baderkhan (86) und Khaji (71) bei der Berliner Ausländerbehörde abgegeben. Keune sagt, dass Cheredin das Geld nicht hatte und er ihm helfen wollte. Außerdem hätte er den zwei alten Leuten die unsichere Flucht über das Mittelmeer ersparen wollen. Natürlich habe ihm die unbefristete Haftung auch ein wenig Angst gemacht. Aber er habe sich gesagt: "Es muss geholfen werden, und ich habe die Mittel. Also mach es doch einfach." +Um das finanzielle Risiko einer solchen Verpflichtungserklärung zu minimieren, haben Martin Keune und sein Mitstreiter, der Berliner Rechtsanwalt Ulrich Karpenstein, im März dieses Jahres den Verein "Flüchtlingspaten Syrien" gegründet.Auf ihrer Internetplattformkann man ab zehn Euro pro Monat Pate oder Patin werden. Der Verein sucht Menschen, die Verpflichtungserklärungen übernehmen oder mit Spenden zum Lebensunterhalt der Familien beitragen. +Die Resonanz, sagt Martin Keune, sei überwältigend gewesen – inzwischen bekomme der Verein 20.000 Euro pro Monat von seinen Paten. Darüber hinaus habe man Einzelspenden in Höhe eines sechsstelligen Betrages erhalten, mit denen Rücklagen für schlechtere Zeiten gebildet worden seien. Mit diesen Beträgen könne man, so Keune, bis Ende des Jahres 40 Personen legal aus Syrien herausholen. Die ehrenamtlich engagierten "Flüchtlingspaten" kümmern sich um Anträge, buchen Flüge, organisieren Sprachkurse, suchen Kita-Plätze, zahlen die Miete und sorgen für die Lebenshaltungskosten der Flüchtlinge. +Durch die finanzielle Absicherung des Vereins, erläutert Martin Keune, sei es ihnen gelungen, auch immer mehr Verpflichtungsgeber zu finden. Dennoch sei dieser Zustand der unbefristeten Haftung natürlich sehr unbefriedigend. Deswegen versuche der Verein, durch politische Aufklärungsarbeit die Ministerien davon zu überzeugen, die Verpflichtungserklärungen in allen Bundesländern auf den Zeitraum bis zur Anerkennung des Asylstatus zu begrenzen. Martin Keune sagt: "Es ist schwer zu verstehen, dass man einer Initiative von Bürgerinnen und Bürgern, die die Flüchtlinge selbst aufnimmt und auf eigene Kosten unterbringt, solche Steine in den Weg legt." +Nach viel Bürokratie am Ende doch auch eine ganze Menge Gefühl: Martin Keune holt zusammen mit Cheredin dessen Eltern am Flughafen ab +Cheredins Eltern Baderkhan und Khaji sind Anfang August in Berlin-Tegel gelandet. Monatelang hätten sie, sagt Martin Keune, um die beiden Alten gebangt, ihnen das Visum besorgt, die Wohnung mit gespendeten Möbeln eingerichtet und schließlich das Flugticket gekauft. Und obwohl er sie nicht gekannt habe, sei dadurch eine emotionale Bindung entstanden. "Und als wir sie dann am Flughafen begrüßen durften, hatte ich Tränen in den Augen." +Alem Grabovac lebt als freier Autor und Journalist in Berlin. Als er das Bild eines dreijährigen ertrunkenen syrischen Flüchtlingskindes an der türkischen Küste sah, hatte auch er Tränen in den Augen. diff --git a/fluter/flugzeugabfertiger-karriere-lohn.txt b/fluter/flugzeugabfertiger-karriere-lohn.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9e4ee4a0505d62b5d84767107d870888f05224a8 --- /dev/null +++ b/fluter/flugzeugabfertiger-karriere-lohn.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Hinter der Schleuse melde ich mich bei meinem Teamleiter, er übergibt mir meinen Auftrag für den Tag. Auf einem Zettel steht, zu welcher Maschine ich muss, wann und in welcher Position sie ankommt, meist steht auch dabei, was sie geladen hat. Ich arbeite seit mehr als 15 Jahren am Flughafen und habe die Qualifikation zum sogenannten Headloader. Das ist der Vorarbeiter des Ladeteams. Ich kontrolliere die Truppe, mit der ich den Auftrag ausführe. Wir bremsen das Flugzeug aus, be- und entladen die Maschine. +Am Flughafen unterscheiden wir zwischen losen Fliegern und Containerfliegern. Die losen Flieger sind für uns die schrecklichsten. Da kriecht man hinein und stapelt die einzelnen Koffer übereinander. Das machen meistens die neuen Mitarbeiter, aktuell alles Männer. +Wenn ich nicht Headloader bin, gebe ich sozusagen den Großgeräteführer und belade Containerflieger mit Containern, Frachten, Post, Autos, Tieren und Toten.Während Coronawar das manchmal ein wenig komisch. Durch die geringere Fluganzahl haben sich die Ladungen nicht auf mehrere Flieger verteilt, und dann saßen oben im Flugzeug die Passagiere in ihren Stühlen, und unten lagen bis zu acht Tote in Zinksärgen. +Manchmal funktioniert die elektronische Anlage, mit der ich die Container im Innenraum verschiebe, nicht richtig. Dann muss ich selbst schieben, drücken und zerren. Eine Katastrophe für den Rücken und die Knie. +Im Sommer hatte ich eine schlimme Sehnenentzündung und konnte nicht einmal eine Kaffeetasse halten. Ich glaube, diese körperliche Anstrengung ist ein Grund, warum sich, soweit ich weiß, keine Frau unter meinen Kollegen befindet. +Solche Verletzungen entstehen auch dadurch, dass manche Fluggesellschaften ihren Passagieren erlauben, mehr Handgepäck mitzunehmen, als über die Sitze im Flieger passen. Bei 70 Passagieren bleiben schon mal 40 Koffer in der Fahrgastbrücke liegen. Wir tragen sie dann über eine schmale Treppe hinunter in den Gepäckraum. Es wäre eine Erleichterung, würden Reisende ihr Extragepäck am Schalter abgeben. +Durchschnittlich arbeiten wir zwischen achteinhalb und zehn Stunden am Tag. Unsere Schichten sind an die Flugpläne angepasst, damit niemand bezahlt wird, der gerade keine Arbeit abliefert – eine Sparmaßnahme. Verschiebt sich der Plan, kommen wir mit dem Personal nicht mehr hinterher. Wie heute Mittag, da habe ich einen Auftrag für eine Maschine bekommen. Gelandet war sie bereits eine Stunde zuvor. Zur Zeit der Ankunft war nicht genug Personal da. In solchen Situationen schaffen es Koffer nicht in den Anschlussflieger. Gerade haben wir um die 15.000 Koffer, die noch nicht zugeordnet sind. +Aktuell bewirbt sich durch dieInflationund die miese Bezahlung fast keiner mehr bei uns. Die meisten, die den Job anfangen, haben keine Ausbildung oder Schwierigkeiten, einen Beruf zu finden. Viele Mitarbeiter haben während der Corona-Krise aufgehört, weil es attraktive Angebote wie Altersteilzeit oder Abfindungen gab. Daher haben wir einen absoluten Personalmangel. Seit einem Jahr sind wir manchmal sogar allein am Flugzeug, obwohl das gar nicht erlaubt ist, weil im Notfall niemand Hilfe holen kann. +Unser Gehalt steht in keinem Verhältnis zu unserer Arbeit. Als Teilzeitangestellter verdiene ich nach all den Jahren 2.800 Euro brutto. Das Anfangsgehalt liegt bei uns durch den Tarifvertrag bei 13,11 Euro brutto die Stunde.Davon lässt es sich in München kaum leben. Mit Schichtzulagen ist das Geld zwar mehr, dafür muss man aber seine Freizeit opfern. Deswegen bin ich gespannt auf dieTarifverhandlungen, die im Januar starten. Ich kann mir vorstellen, dass wir – wie die Kollegen der Konkurrenzgesellschaft dieses Jahr – bald streiken. Wir fordern eine deutliche Lohnerhöhung. Hoffentlich kommen dann auch wieder neue Bewerber. + +*Name von der Redaktion geändert + diff --git a/fluter/flugzeugtraeger-us-navy-wettruesten.txt b/fluter/flugzeugtraeger-us-navy-wettruesten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/fluter-86-ukraine-editorial.txt b/fluter/fluter-86-ukraine-editorial.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..80cce53916abc55968ba001a5136525dbbec4fc7 --- /dev/null +++ b/fluter/fluter-86-ukraine-editorial.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Und es gibt sie doch – die ukrainische Nation, ihre vielfältige Gesellschaft und ihren demokratischen Staat. Nicht nur die Angreifer waren überrascht von der anhaltenden Wehrhaftigkeit der ukrainischen Gesellschaft und ihrer Armeen. Sie ist verwurzelt in einer kritischen und lebendigen Zivilgesellschaft. Bestes Zeugnis geben die Menschen, die sich wehren, sich immer wieder neu organisieren. Direkt nach Kriegsbeginn zeigte sich ihre Solidarität miteinander: Sie gründeten Nachbarschaftshilfen und Bürgerwehren, organisierten Hilfstransporte, Lebensmittel und medizinische Versorgung. Und auch jetzt, nach mehr als einem Jahr Krieg im ganzen Land, übernimmt die Zivilgesellschaft weiter wichtige Aufgaben, von der Dokumentation und Aufarbeitung der Kriegsverbrechen bis hin zur Schaffung eines Gedenkens für die Opfer. +Dieses Heft ist eine Momentaufnahme, eine Annäherung an die Gesellschaft und die Menschen der Ukraine. Ihr Kampf um die Selbstbehauptung ist bewundernswert. Sie verbinden das Ringen um ein lebenswertes und demokratisches Land mit einem europäischen Traum, der anders aussieht als das, was ihnen unter Putins Herrschaft droht. Jeder von uns kann sich dazu auch selbst einfache Fragen stellen: Was wärst du bereit zu tun? Was tust du, wenn deine Nachbarin angegriffen wird? +Der Krieg gegen die Ukraine und ihre Menschen hält mit unverminderter Brutalität an. Wie auch immer diese Katastrophe ausgeht, ihre Folgen werden uns auf lange Zeit beschäftigen. Wer jetzt von Freiheit und Solidarität in Europa spricht, wird von der Ukraine und ihren Menschen nicht schweigen können. diff --git a/fluter/fluter-feminismus-editorial.txt b/fluter/fluter-feminismus-editorial.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4ca661bd88fdefa5eb6643ee8cab082634338e4d --- /dev/null +++ b/fluter/fluter-feminismus-editorial.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Deshalb braucht es dieses Heft. Feminismus ist kein Wohlfühlthema, sondern es geht um die Grundpfeiler unseres Denkens und Zusammenlebens. Natürlich hat sich eine Menge getan, und viele Frauen können heute freier leben und mehr entscheiden als noch ihre Mütter und Großmütter. Doch es gibt in manchen Ländern sogar wieder Rückschritte. Zum Beispiel beim Abtreibungsrecht, das in den USAoder Polen gerade wieder eingeschränkt wurde. +Wir hoffen, dass unser Heft euch einen Einblick gibt, wie es sich anfühlt, als Frau* in dieser Welt zu sein. Es soll Schlaglichter auf feministische Kämpfe werfen – hier in Deutschland, aber auch anderswo. +Feminismus gibt es nicht ohne Diskussionen. Und die gab es auch bei der Erstellung dieses Heftes. Beim Titel ging es schon los. Wir hatten überlegt, das Heft Feminismen zu nennen, denn schließlich geht es uns darum, zu zeigen, wie unterschiedlich feministische Kämpfe sind, je nachdem von wem und wo sie gefochten werden. Am Ende einigten wir uns aber darauf, dass das Wort Feminismus lebensnaher ist, denn um solche Geschichten, die einen in das Unrecht des Alltags hineinfühlen lassen, geht es uns ja. +Die nächste Baustelle war die Sprache. Wie können wir möglichst alle Menschen in unseren Worten unterbringen? Denn Sprache schafft Realität und zeigt politische Einstellungen. Deshalb sollten unsere Autor*innen selbst darüber entscheiden, wie sie gendern. Und wir? Wir haben uns für den Genderstern entschieden. Ein bisschen zähneknirschend zwar, weil noch barrierefreier besser wäre, aber zumindest bezieht er alle Geschlechter ein. +Die Suffragetten haben ihr Wahlrecht in den USA übrigens im Jahr 1920 bekommen. Während sie wählen gingen, wurden jedoch viele Schwarze Frauen gewaltsam davon abgehalten. Darauf, dass weiße, wohlhabende Heterofrauen es oft einfacher haben, und ihre Forderungen nicht für alle gelten, machen heute immer mehr Aktivist*innen aufmerksam. Unser Heft könnte ein Startpunkt dafür sein, die eigene Position auszuloten – oder aber zu spüren, was fehlt. Hier im Heft. Oder da draußen in der Welt. + +Marion Bacher und Sabrina Gaisbauer +(Wir sind Referentinnen bei der bpb und haben die Chefredaktion für diese Ausgabe von Thorsten Schilling übernommen.) diff --git a/fluter/fluter-heft-feminismus.txt b/fluter/fluter-heft-feminismus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/fluter-heft-geschlechter.txt b/fluter/fluter-heft-geschlechter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..58c687b49aae01f078a8ff1cab358929b54529d0 --- /dev/null +++ b/fluter/fluter-heft-geschlechter.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Unser Alltag ist geprägt von Geschlechterrollen in Mode und Werbung, im Beruf oder auch in der hingenommenen unbezahlten Arbeit bei der Pflege und Erziehung von Angehörigen. Es zeigt sich: Die vermeintlich natürliche Ordnung der Geschlechter ist oft von Menschen gemacht und mit Macht verbunden. Denn was aus den bestehenden biologischen Unterschieden folgen soll, ergibt sich nicht von selbst. Dazu sind die historischen und aktuellen Gesellschaftsentwürfe auch in dieser Beziehung zu verschieden. Über Jahrhunderte hinweg wurde Geschlecht benutzt, um Frauen in ihren Rechten einzuschränken. Zudem wurde Geschlecht immer wieder heteronormativ gedacht: Homosexuelle und Transgender waren von der Gesellschaft ignoriert oder ausgeschlossen. Neben den Resten matriarchaler Gesellschaften und den in den westlichen Demokratien heute gültigen liberalen Formen der Gleichberechtigung gibt es nach wie vor hart patriarchalische Gesellschaften, wie die in Saudi-Arabien. +Wie gleichberechtigt sind wir und wollen wir sein? Es gehört Mut dazu, sich hier zu positionieren, aber es lohnt sich. Soziale Bewegungen und auch der Feminismus haben viel geleistet, Kämpfe gefochten und Veränderungen bewirkt. Inzwischen ist in Deutschland die Gleichberechtigung Verfassungsgut, weltweit ist sie in zahlreichen nationalen und internationalen Gesetzen festgeschrieben. +Geschlechtergerechtigkeit ist kein Selbstläufer. Die Gewinner der überkommenen patriarchalischen Ordnungen, vor allem die Netzwerke der mächtigen alten Männer, verzichten nicht freiwillig auf ihre Privilegien. In vielen Unternehmen, aber auch im akademischen Betrieb, herrscht immer noch das ungute Phänomen der gläsernen Decke, durch die es Frauen schwer haben, sich im Kampf um Spitzenpositionen durchzusetzen. +Wir leben in einer Übergangszeit. Neue Sprachmuster müssen probiert werden, neue Kulturen des beruflichen und privaten Alltags bilden sich von Debatten begleitet heraus. Es gibt in vielem bereits ein unaufgeregtes, alltägliches Experimentieren. Wo es gelingt, zeigt sich, wie attraktiv die gelebte Vielfalt und Gleichberechtigung liberaler Gesellschaften sein können. Dass es Spaß macht, gelassen miteinander die Unterschiede auszuhalten oder auszuleben. Freiheit ist immer auch die Freiheit der Anderen, auch der anderen Geschlechter. diff --git a/fluter/fluter-meer-editorial.txt b/fluter/fluter-meer-editorial.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a000c9fd5adc45e48ec8b6213d897101b9ea5737 --- /dev/null +++ b/fluter/fluter-meer-editorial.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Ein Streifzug über die Meere zeigt uns, was real existierender Transhumanismus bedeutet – also die Absicht des Menschen, durch Technik über sich hinauszuwachsen, ohne die Konsequenzen zu überschauen. Was menschliche Gesellschaften in und mit den Meeren praktizieren, sprengt oft genug den Rahmen dessen, was wir mit unserem Wissensstand verantworten können. Wir beschädigen und vernichten, was wir nutzen, ohne das Ganze wirklich verstehen zu wollen. Diese halb blinde Maßlosigkeit ist ein Muster des vorherr-schenden Umgangs mit der sogenannten Umwelt, also der Natur, deren Teil wir als Menschen doch sind. In den romantischen Bildern von Fischern oder anderen handwerklichen Formen des Umgangs mit dem Meer beruhigt sich unser Gewissen. Sie geben vielleicht aber auch Hinweise für Alternativen und Wege aus den Krisen. +Die aktuellen Debatten darüber werden bei uns zu oft mit dem Rücken zum Meer geführt. Es gilt deshalb, unseren Blick umzukehren, andere, ganzheitlichere Perspektiven zu entwickeln. Der Einsatz für die Meere ist deshalb auch ein Feld der Auseinandersetzung über ein angemesseneres Verhältnis unserer Gesellschaften zur Natur und letztlich eine Überlebensfrage. Die Meere werden uns so oder so überleben. Wenn wir sie tiefer verstünden, mit ihnen wie mit anderen Naturformen achtsamer umgingen, könnte auch unser Leben besser bestehen. diff --git a/fluter/fluter-schaubild-fluchen.txt b/fluter/fluter-schaubild-fluchen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b375a0b10c40c6decd2a28cff669aadf4223f4b1 --- /dev/null +++ b/fluter/fluter-schaubild-fluchen.txt @@ -0,0 +1,2 @@ + +Und hier geht eszum kompletten fluter-Heftzum Thema Streiten. diff --git a/fluter/fluter-zahlen-editorial.txt b/fluter/fluter-zahlen-editorial.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..560816a669df86b8249994652bbfaf3a1e9c4118 --- /dev/null +++ b/fluter/fluter-zahlen-editorial.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Mathematik ist eine Leitwissenschaft, aber nur wenige haben wirklich fundierte Kenntnisse, die meisten eher Ehrfurcht oder gar unterschwellige Angst. Es gibt eine latente Zahlengläubigkeit und ein wenig entwickeltes Wissen, was Zahlen beziehungsweise Berechnungen aussagen und wie sie zustande kommen. Mathe gehört an vielen Schulen zu den unbeliebtesten Fächern, und die Methoden ihrer Vermittlung könnten oft ermutigender sein. +In öffentlichen Debatten ist die autoritäre Versuchung groß, das Ansehen der Mathematik auf sich zu übertragen und die jeweils passenden Zahlen als scheinbar alternativlose Logik ins Spiel zu bringen. +Oft wird dann mit Zahlen und deren Objektivität argumentiert, anstatt Konflikte offen auszutragen. Ein scheinbarer Sachzwang macht es Politikerinnen und Politikern einfacher, Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen. Doch oft werden die Konflikte damit nur verlagert. +Wir haben in der Pandemie selbst einiges gelernt über Zahlen, ihren Nutzen und die Grenzen ihrer Geltung, die Beweglichkeit dieser Grenzen. Wir sind dabei bewusst abwägender geworden und mussten erfahren, dass es jederzeit anders kommen kann. Es liegt durchaus auch eine politische Tugend darin, wenn diese Erfahrungen bei der Verständigung über Werte, Interessen und Prioritäten in Konfliktsituationen genutzt werden können. +Klimakrise, soziale Ungleichheiten, ökonomische Krisen, technologische Revolutionen– auch in den drängendsten Fragen der Gegenwart geben Zahlen Hinweise auf die Dimensionen der anstehenden Probleme und Entscheidungen. Welche Daten, welche mathematischen Modelle, Methoden und Disziplinen werden relevant für diese Zukunftsfragen? +Wir brauchen einen neuen Mut zur Mathematik und ein selbstbewusstes Verhältnis zu ihrem Gebrauch in komplexen Situationen. Eine reichere Kenntnis der mathematischen Disziplinen würde die Gesellschaft kritikfähiger und ihren Zusammenhalt nachhaltiger machen. Zahlen sind unverzichtbar, aber nicht das Entscheidende. diff --git a/fluter/fluter_klimawandel_editorial.txt b/fluter/fluter_klimawandel_editorial.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ce66cd38505e9b52af11f8f7083725dd4480c44f --- /dev/null +++ b/fluter/fluter_klimawandel_editorial.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Es geht immer wieder um Machtfragen – Macht über Ressourcen, Quellen des Profits, seine Verteilung und Absicherung. Auch deshalb sind nicht nur die Prognosen zum Klima umstritten, sondern bereits die Messungen und Befunde zum Status quo. Die grundlegende Dialektik politischen Handelns zeigt sich auch beim Klimaschutz: Jede Entscheidung, jede Lösung eines Problems führt aus einem Dilemma bald in das nächste – es gibt ungewollte Konsequenzen, neue Krisen, die nächsten notwendigen Entscheidungen. Die energiepolitische Wende Deutschlands bietet hier schon jetzt guten Anschauungsunterricht. +Wir streiten ums Klima oft so, wie wir übers Wetter reden, mit kurzem Blick, rascher Aufregung und schnellem Vergessen. Mit der Klimadebatte kommen aber in vielen Arenen des Streits langfristige Überlegungen ins Spiel, mit Zeitrahmen weit jenseits der Verwertungshorizonte unserer Märkte und ihrer Konsumkultur. +Die Formel "Pessimismus des Verstands, Optimismus des Willens" passt auch zu diesem Thema, sei es angesichts laufender Forschungen und technischer Entwicklungen, sei es bei neuen politischen Bewegungen, intelligenten Regulierungen und sich wandelnden kulturellen Trends. Der Streit um den Klimawandel schafft selbst einen Klimawandel in unseren Gesellschaften. diff --git a/fluter/fluterplanet.txt b/fluter/fluterplanet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/folgen-brexit-europa-grossbritannien.txt b/fluter/folgen-brexit-europa-grossbritannien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a7401eff57732a02c13b540ef568eb4f749f45ac --- /dev/null +++ b/fluter/folgen-brexit-europa-grossbritannien.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Abgespeckt, da nur 198 Seiten lang (die erste Version des Austrittsvertrags hatte noch fast 600 Seiten) – aber okay, die sind sehr klein gedruckt. +Johnson hat den umstrittenen "Backstop", den Aspekt, über den sich Großbritannien und die EU in den Verhandlungen zuvor nicht hatten einigen können, in seiner bisherigen Form verhindert. Was das noch mal war? Der "Backstop" sollte verhindern, dass es an der neuen EU-Außengrenze zwischen Nordirland und Irland zu Kontrollen kommt.Denn eine "harte Grenze", so die Befürchtung, könnte den Nordirlandkonflikt wieder aufflammen lassen.Darum sollte entweder das Vereinigte Königreich oder zumindest Nordirland in der Zollunion bleiben, solange es noch kein Handelsabkommen mit der EU gibt. Die Brexit-Hardliner wollten das nicht, weil das Vereinigte Königreich dann weiterhin an EU-Regeln gebunden wäre. Die EU hatte derweil stets auf einer Lösung beharrt, die eine offene Grenze gewährleisten würde. +Der neue Deal sieht Folgendes vor: + +Damit haben beide Seiten Teilsiege erstritten: die EU eine offene Grenze auf der irischen Insel und Johnson einen Deal ohne Backstop. Zusätzlich gibt es eine Extrawurst für Nordirland: Vier Jahre nach Ende der Übergangsphase soll das nordirische Regionalparlament darüber abstimmen können, ob es diese Regelung weiter beibehalten will oder nicht. +Geld, natürlich. Das Abkommen schreibt vor, dass das Vereinigte Königreich alle finanziellen Verpflichtungen, die es während seiner EU-Mitgliedschaft eingegangen ist, noch wahrnehmen muss – auch dann, wenn es dabei zum Beispiel um Maßnahmen oder Projekte geht, die erst nach dem 31. Januar 2020 oder nach der Übergangsphase realisiert werden. Die genaue Summe muss noch berechnet werden, am Ende könnten es aber bis zu 45 Milliarden Euro sein. Außerdem wurden noch andere, kleinere Unterpunkte geregelt. Drei Beispiele gefällig? + +Nein. Alle Brit*innen, die in einem EU-Staat, und alle EU-Bürger*innen, die in Großbritannien leben, dürfen nach dem Brexit weiterhin dort bleiben, arbeiten oder studieren. Das gilt auch für alle, die bis zum 31. Dezember 2020 noch nach Großbritannien oder umgekehrt in ein EU-Land ziehen – dann endet die Übergangsphase. +Junge Londoner*innen erzählen, wie der Brexit ihr Leben verändern könnte +Die meisten Europäer*innen werden vom Brexit erst einmal kaum etwas merken – zumindest bis zum 31. Dezember 2020. Bis dahin gilt die Übergangsphase. Für EU-Bürger*innen bedeutet das: Zur Einreise nach Großbritannien benötigen sie weiterhin nur ein gültiges Ausweisdokument. EU-Studierende können an britischen Unis auch nach dem Brexit vergünstigt studieren, und das Erasmus-Programm wird zunächst verlängert. Die drei größten deutschen Netzbetreiber versicherten derweil, dass das EU-Roaming – also das Prinzip, dass SMS, Internet und Telefonie innerhalb der EU nicht mehr kosten dürfen als im Heimatland – zumindest für die Übergangsphase weiter gelten soll. +An anderer Stelle sind die Folgen des Brexit schon konkreter zu sehen und zu spüren: Nach Zahlen des Deutschen Industrie- und Handelskammertages sind die Exporte von Deutschland nach Großbritannien bereits während der Brexit-Verhandlungen deutlich zurückgegangen. Unternehmen halten sich bei Investitionen und Neuanstellungen zurück, weil sie noch nicht wissen, wie die Handelsbeziehungen nach der Übergangsphase aussehen werden. Die Wirtschaft bereitet sich darauf vor, dass sich ab 2021 einiges ändert. +Das ist die große Frage.Es könnte immer noch zu einem No-Deal-Szenario kommen.Bis Ende 2020 will das Vereinigte Königreich mit der EU alles aushandeln, was im Austrittsabkommen noch nicht geklärt ist. Die Zeit ist sehr knapp. Das Abkommen sieht zwar vor, dass die Übergangsphase um bis zu zwei Jahre verlängert werden kann, wenn London das bis zum 1. Juli 2020 beantragt. Johnson hat diese Möglichkeit aber bisher ausgeschlossen. Darum müssen nun Prioritäten gesetzt werden: Für EU-Chefunterhändler Michel Barnier sind das: die Zusammenarbeit im Kampf gegen Verbrechen und Terrorismus und ein Handelsabkommen für Güter. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat betont, dass für sie die Personenfreizügigkeit an oberster Stelle steht: "Wenn Großbritannien keine Freizügigkeit für Personen gewährt, kann es auch keine Freizügigkeit für Waren, Kapital und Dienstleistungen geben", sagte sie in einer Rede an der London School of Economics. +Klar ist, dass die EU am längeren Hebel sitzt: Sie vertritt rund 450 Millionen Bürger*innen, die als zahlungskräftige Konsument*innen für britische Firmen enorm wichtig sind. Allerdings müssen die verbleibenden 27 EU-Staaten in den kommenden Verhandlungen geeint auftreten. Wenn das gelingt, wird Johnson sich wohl auf ihre Bedingungen einlassen (oder die Übergangsphase doch noch einmal verlängern) müssen. Sonst droht seinem Land, dass es am 1. Januar 2021 ohne Handelsabkommen dasteht und dadurch ein nachträgliches No-Deal-Szenario mit hohen Zöllen und wirtschaftlichen Schäden eintritt. +In absehbarer Zeit ist das eher unwahrscheinlich. Aber weil es im Vereinigten Königreich immer noch EU-Anhänger*innen gibt, die nicht aufgeben wollen, wurde bereits eine Kampagne für den Wiederanschluss gestartet: Die "Remainer" heißen jetzt "Rejoiner". + diff --git a/fluter/folgen-erdbeben-tuerkei-junge-menschen.txt b/fluter/folgen-erdbeben-tuerkei-junge-menschen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..297c05509673d3e1c29cac041cf398cda71fa461 --- /dev/null +++ b/fluter/folgen-erdbeben-tuerkei-junge-menschen.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Zwei Jahre nach der Katastrophe klagen Betroffene im Gespräch noch immer über die teilweise mangelnde Versorgung mit sauberem Wasser, sanitären Anlagen und medizinischer Hilfe. +"Für junge Menschen gibt es kaum Grund zur Hoffnung", sagt Eren Nerguz. Der 23-Jährige sitzt auf einer Terrasse im Zentrum Antakyas, einer Stadt in der Provinz Hatay. Kurz vor dem Erdbeben hatte er sein Studium begonnen, war von zu Hause ausgezogen und wollte Journalist werden. Dieser Traum – dahin, wie viele Pläne junger Menschen. Nach dem Erdbeben waren Eren und seine Familie monatelang obdachlos, sein Vater verlor seinen Job, sie schliefen im Auto und mussten schließlich zurück ins beschädigte Familienhaus ziehen. "Auch wenn uns die Risse in den Wänden Angst machen", sagt er. +Erens Fakultätsgebäude wurde bei dem Erdbeben stark beschädigt und der Unterricht noch nicht wieder aufgenommen.13 Prozent der 15- bis 29-Jährigen in der Provinz sind arbeitslos. "Viele Jugendliche vertreiben sich den ganzen Tag in Teehäusern mit Kartenspielen", sagt Eren. Immer mehr vertickten auch Drogen oder tränken viel Alkohol. Deswegen möchte er das unversehrte Gebäude hinter sich mit Freunden in ein Kulturzentrum verwandeln. +35 Kilometer von Antakya entfernt, in Samandağ, gibt es so etwas schon. Deniz Toprak, ein Ingenieur aus Istanbul, kam 2023 in die Region und gründete im Sommer nach dem Erdbeben das Hatay Surfcamp. "Die meisten Hilfsangebote richteten sich an Kinder oder Erwachsene, Jugendliche wurden oft übersehen", erklärt Cemal Akar, einer der Mitgründer des Surfcamps. +Ein Shuttle holte die 15 Jugendlichen von zu Hause ab. An jenem Samstag im November bleiben die Neoprenanzüge jedoch an den Haken, die Wellen sind zu niedrig. In einer Jurte reden sie stattdessen über das Surfen, machen Yoga, schreiben Kurzgeschichten. Das Erdbeben klammern sie hier bewusst aus. +"Surfen ließ mich den Schmerz des Erdbebens vergessen", sagt Haydar Esmer. Er ist 18 Jahre alt, drei Monate nach dem Erbeben stand er zum ersten Mal in seinem Leben auf einem Surfbrett. Weil sein Zuhause unversehrt blieb, beherbergte seine Familie zwischenzeitlich an die 100 obdachlos gewordene Menschen. "Da war so viel Leid um mich herum", sagt er. + + +Nur seinen Körper und die Wellen zu spüren, sei eine Zuflucht gewesen – und inzwischen sein Lebensinhalt. Nach sechs Monaten intensivem Training belegte er den ersten Platz bei der türkischen U18-Surfmeisterschaft und unterrichtet in Samandağ inzwischen selbst die jüngeren Surfcamp-Mitglieder. Später sollen die jungen Erwachsenen entlang der Küste im Surf-Tourismus arbeiten können und damit sich selbst eine Zukunft aufbauen. +Wie viele Menschen und welche Bevölkerungsgruppen die Region dauerhaft verlassen haben, ist nicht bekannt. Zahlreiche Menschen zogen in die Großstädte innerhalb der Türkei. Deutschland vereinfachte kurzzeitig den Visumsprozess, um Betroffenen die Möglichkeit zu geben, bei Verwandten hierzulande Zuflucht zu finden. Diese Initiative wurde nach einem halben Jahr jedoch aufgrund der rückläufigen Nachfrage wieder eingestellt. +Neben der Trauer wuchs bei vielen Menschen nach dem Erdbeben vor allem die Wut. Die Türkei und ihre Nachbarländer wie Syrien sind immer wieder von Erdbeben betroffen, in der Region treffen mehrere Kontinentalplatten aufeinander. Ein Großteil der türkischen Bevölkerung lebt mit einem permanenten Erdbebenrisiko. "Mörder", skandierten Demonstrierende am Jahrestag 2024 in Antakya. Sie forderten den Rücktritt von Lütfü Savaş, dem damaligen Provinzbürgermeister der Oppositionspartei CHP. Ebenso richtete sich ihre Wut gegen die Zentralregierung, die nach dem Erdbeben aus ihrer Sicht zu spät Hilfe nach Hatay geschickt hatte. Darüber hinaus legalisiertePräsident Recep Tayyip Erdoğannachträglich illegal errichtete Schwarzbauten. +Doch sowohl die Prozesse gegen die Bauunternehmer als auch der Wiederaufbau verlaufen viel langsamer als erhofft. Als Erdoğan ein Jahr nach der Katastrophe das Erdbebengebiet besuchte, ließ er sich vor Neubauten fotografieren. Dabei war erst ein Bruchteil der unbewohnbaren Häuser wiederaufgebaut. Bei den Kommunalwahlen 2024 feierte die CHP einen überraschenden Sieg. In der Provinz Hatay hingegen, die traditionell von der CHP regiert wurde, gewann Mehmet Öntürk von der Regierungspartei AKP die Bürgermeisterwahl. Aus der Opposition wurde zunehmend Kritik an den hohen Zustimmungswerten für die AKP in Teilen des Erdbebengebietes laut – jener Partei, deren schlechtes Krisenmanagement die Menschen in der Region beklagten. +Ein paar Kilometer vom Surfcamp entfernt liegt eines der provisorischen Dörfer: 120 weiße Container, vom türkischen Katastrophenschutz AFAD bereitgestellt. Einzelne Bewohnerinnen und Bewohner recken die Köpfe aus den Türen. Eine 20-jährige Frau winkt bei der Frage nach den politischen Einstellungen der Jugend ab: "Wir haben kein Dach über dem Kopf, fast jeder hat jemanden verloren", erklärt sie und möchte dabei anonym bleiben. "Parteipolitik ist unser geringstes Problem." Viele wollten nach jahrelanger Amtszeit von Lütfü Savaş als Bürgermeister einfach eine Veränderung, unabhängig davon, wer sie bringt. +Diese lässt allerdings auf sich warten. Eren Nerguz' Familie ist mittlerweile wieder in ihr Zuhause zurückgezogen, obwohl sich Risse durch die Wände ziehen. Die Angst sitzt nach wie vor tief. "Viele rennen immer noch panisch aus ihren Häusern, wenn es donnert oder ein lautes Fahrzeug vorbeifährt", erzählt Eren. Auch im Surfcamp beschreibt der Mitgründer Cemal Akar, dass die Sorgen der Kinder in ihren Gesichtern und ihrer Haltung erkennbar sind. Doch das Surfprojekt ist auch ein Hoffnungsschimmer für junge Menschen, nach vorne zu blicken und Chancen zu ergreifen – und sei es auch nur ein Surfbrett. + +Titelbild: Burak Kara/Getty Images diff --git a/fluter/folgen-klimawandel-in-vietnam.txt b/fluter/folgen-klimawandel-in-vietnam.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c9d6185f2ee1b0a468ed3752f5ea9667947db675 --- /dev/null +++ b/fluter/folgen-klimawandel-in-vietnam.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +Huynh Thi Lanh und Ong Le Van-Tuan schauen erschöpft aus ihrem Bretterverschlag. Ein blaues Tuch schützt sie vor der Sonne. Vor der Hütte steht ein Reiskocher auf einem Metalltisch, daneben ein Ventilator, der etwas kühle Luft in die Unterkunft wirbelt. Huynh und Ong haben ihr Leben auf knapp vier Quadratmetern eingerichtet. Hier kochen, essen und schlafen sie. Das dünne Wellblech und die Holzbretter schützen kaum vor Regen. Für den nächsten Taifun sind sie nicht gewappnet. +Die beiden hofften auf Geld der Regierung, um ihr Haus wieder aufzubauen. "Die Regierung hat uns ein paar Kilogramm Reis zum Essen gegeben", sagt Ong. Die Regierung in Hanoi hat viele Pläne für den Fall von Klimakatastrophen entwickelt. Doch im über tausend Kilometer entfernten Dorf Van Ninh kommt davon wenig an. Ein hoher Ministeriumsmitarbeiter begründet das mit der schlechten Kooperation der Verantwortlichen vor Ort. +Die Region im südlichen Teil der vietnamesischen Ostküste ist Stürme gewohnt. Doch der Taifun Damrey hatte eine außergewöhnliche Stärke und Zerstörungskraft. Laut einem Bericht der Provinz Khanh Hoa sind landesweit 107 Menschen beim Taifun gestorben. Huynh Thi Lanh und viele andere Dorfbewohner sprechen von über 140 Toten. + + +Im Mekongdelta könnte der Meeresspiegel bis zu 75 Zentimeter ansteigen. Eine Folge der Extremwetter sieht Thanh Ha heute schon: Ihre Mangostane gedeihen schlecht, sie muss mittlerweile den doppelten Preis nehmen (Foto: Franziska Broich) +"Am Tag danach haben wir nicht nur die Überreste unserer Häuser gefunden, sondern auch die leblosen Körper der Fischer", erzählt eine Dorfbewohnerin. Viele der Toten hätten zu den Minderheiten der E-de und der Ra-glai gehört. "Die Mitglieder dieser Minderheiten sind in unser Dorf gekommen, um etwas Geld zu verdienen", sagt sie. "Oft haben sie sich um die Fischfarmen im Meer gekümmert." Diese Arbeit sei bei den Dorfbewohnern nicht beliebt, da man oft tagelang auf dem offenen Meer auf den Fischfarmen verbringe. Fast ein Sechstel der vietnamesischen Bevölkerung gehört einer der 53 ethnischen Minderheiten an, die oft extrem arm sind. +Der Generaldirektor des Vietnam Instituts für Klimawandel (IMHEN), Nguyen Van Thang, geht davon aus, dass die Anzahl und die Intensität der Taifune in Vietnam in den kommenden Jahren weiter zunehmen werden. Ihm zufolge könnte die Temperatur in Teilen Vietnams durchschnittlich bis zu vier Grad Celsius bis zum Ende des 21. Jahrhunderts ansteigen. +Zudem werde der Niederschlag in Vietnam durch den Klimawandel um 20 Prozent zunehmen. Im schlimmsten Fall werde der Meeresspiegel im Mekongdelta bis zu 75 Zentimeter ansteigen, so Nguyen. +Dort, im Süden Vietnams, ist das Wasser für die Menschen Fluch und Segen zugleich. Die Arme des Mekongs machen die Region zu einer der fruchtbarsten der Welt und tragen dazu bei, dass Vietnam der weltweit fünftgrößte Reisexporteur ist. Gleichzeitig gehört das Mekongdelta, das etwas größer als Baden-Württemberg ist, zu den drei Deltas, die weltweit am stärksten vom Meeresspiegelanstieg bedroht sind. +In der Marktstraße von Can Tho, der größten Stadt des Mündungsgebiets, arbeitet die 50-jährige Thanh Ha. Sie verkauft Mangostane, eine purpurfarbene Frucht, groß wie eine Mandarine, deren weißes Fruchtfleisch ein bisschen nach Litschi schmeckt. Auf einmal packt sie eilig ihre Ware in die Bambuskörbe und läuft unter das Dach der Markthalle einige Meter entfernt. Nur Minuten später beginnt es zu regnen. Die Tropfen werden immer größer, starker Wind kommt auf. Es dauert nicht lange, bis das Wasser etwa fünf bis zehn Zentimeter hoch auf der Straße steht. Das Kanalsystem istdurch den herbeigespülten Müll verstopft. + +Am härtesten trifft der Klimawandel die, die ohnehin arm sind. Und unter ihnen wiederum die ohnehin Unterprivilegierten, etwa Frauen oder ethnische Minderheiten (Foto: Franziska Broich) + +"Der Regen wird immer heftiger", sagt Thanh. Zwar seien die Menschen im Mekongdelta Starkregen gewöhnt, aber in den vergangenen Jahren sei das Wetter extremer geworden. Ihre Mangostane verkauft sie für zwei Euro pro Kilo, fast doppelt so teuer wie sonst. Grund sei der Klimawandel, sagt sie: In diesem Jahr sei es viel wärmer. "Das ist nicht gut für die Frucht, und deshalb gibt es weniger davon." +Die Wetteränderungen bedrohen viele in ihrer Existenzgrundlage: Von den 17,5 Millionen Bewohnern im Mekongdelta arbeiten etwa 70 Prozent in der Landwirtschaft oder Fischerei. Während es in der Trockenzeit weniger Niederschlag als bisher gibt, fällt in der Regenzeit in kürzerer Zeit noch mehr Regen als früher. Durch die lange Trockenzeit steigt der Salzgehalt in den Flussarmen des Mekongs und im Grundwasser an und zerstört die Reisernten. Ende 2016 verlor bereits ein Großteil der Bauern im Mekongdelta seine Reisernte durch eine Dürre. Immer mehr Landwirte funktionieren ihre Reisfelder deswegen in Fischfarmen um. +Für Thanh Ha ist der Mangostaneverkauf das einzige Einkommen. Da die Frucht teurer ist, kaufen sie auch weniger Menschen. "Deshalb habe ich dieses Jahr nur die Hälfte von dem verdient, was ich normalerweise einnehme", sagt sie. Dabei hat Thanh noch Glück, denn ihre beiden Söhne haben eine Arbeit in der Stadt und können sie unterstützen. Die vietnamesischen Städte boomen, so wie die gesamte Wirtschaft boomt. Laut Weltbank hat Vietnam in den vergangenen 30 Jahren weltweit mit den größten Wachstumserfolg erzielt. Dennoch leben fast 10 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. +Besonders Frauen leiden unter dem Klimawandel, so lautet die These von Ly Quoc Dang. Der 34-Jährige stammt aus dem Mekongdelta, ist heute Doktorand in Thailand und für einige Monate Feldforschung zurückgekehrt. Oft geht er morgens um sechs Uhr in ein Café am Hafen von Can Tho, dort treffen sich viele Frauen nach ihrer ersten Schicht auf dem schwimmenden Markt, trinken einen typisch vietnamesischen Kaffee mit süßer Kondensmilch und tauschen sich aus. Die 64-jährige Ly Thi Xuan Yen ist Hochwasser gewohnt. "Ich brauche nur eine halbe Stunde, um alle unsere Gegenstände und Möbel im Erdgeschoss vor der Flut in Sicherheit zu bringen", sagt sie und lacht. In der Regenzeit müsse sie das etwa sechsmal im Monat machen. +Lass das mal sacken: Durch Erdrutsche hat Liong Hol-K Mang 2018 ihre gesamte Ernte verloren (Foto: Franziska Broich) +"Es sind oft die Frauen, die mit dem Wasser kämpfen", sagt Ly Quoc Dang. "Sie haben mir erzählt, dass nach einer Überflutung meistens sie das Haus sauber machen müssen", sagt er. So kämen die Frauen eher mit dem Wasser in Berührung, das durch den Müll oft verschmutzt sei. Zudem bildeten sich nach Überflutungen oft stehende Gewässer, die das Risiko erhöhten, an Denguefieber zu erkranken. "Am allerhärtesten trifft der Klimawandel aber Frauen, die zu einer Minderheit gehören", sagt Ly Quoc. Das gelte nicht nur für das Mekongdelta, sondern auch für andere Regionen. +Die 35-jährige Liong Hol-K Mang gehört zur Minderheit der Cil. Mit ihrer sechsköpfigen Familie wohnt sie im zentralen Bergland von Vietnam, ihr Dorf Dung K'No liegt inmitten eines Nationalparks. Grüne Wälder reihen sich an Kaffeeplantagen und reißende Flüsse. Der viele Regen hat an einigen Stellen die rote Erde auf die Straße gespült. +Es ist kalt, regnet, und Nebel verdeckt die Sicht zum Nachbarhügel. Etwa 20 Dorfbewohner drängen sich unter das Dach an der zentralen Kreuzung. Ein Lkw mit Hunderten kleinen Kaffeepflanzen ist gerade angekommen. "Die Regierung hat ihn geschickt", sagt einer der Männer. Viele Bewohner haben im vergangenen Jahr ihre gesamte Ernte durch Erdrutsche verloren. +Durch den vielen Regen kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu Erdrutschen in Vietnam. Mehrere Menschen starben in den Schlammlawinen. Eine Erklärung für den vielen Regen haben die meisten Bewohner nicht. Das Wort Klimawandel haben sie noch nie gehört. +Für Liong Hol-K bedeutete der Erdrutsch den finanziellen Ruin. "1.000 Quadratmeter meiner Kaffeeplantage sind abgerutscht", sagt sie traurig. Die Kaffeeplantage war das Fami­lieneinkommen. "Die Regierung hat mich mit 800.000 vietnamesischen Dong für die Kaffeebäume entschädigt", sagt sie. Das sind etwa 30 Euro. Doch es fehle an allen Ecken. "Wir können uns noch nicht mal Medikamente leisten, wenn die Kinder krank sind", sagt sie. Und das sei immer öfter der Fall, seitdem es so viel regne. +Auf dem Nachbarhügel sei im vergangenen Jahr auch ein Haus abgerutscht, erzählt Liong Hol-K. "Ich habe Angst, dass auch unser Haus eines Tages abrutschen könnte", sagt sie leise. Nur ein Schritt trennt ihre Hauswand vom Abhang. + +Seit 2012 ist "Gender und Klima" fester Tagesordnungspunkt der Weltklimakonferenzen. Denn der Klimawandel ist nicht geschlechtsneutral: Einerseits verursachen Frauen weniger CO2als Männer, etwa weil sie seltener Fleisch essen oder mit dem eigenen Auto unterwegs sind. Zum anderen leiden sie stärker unter Naturkata­­s­trophen. Da Frauen noch immer hauptsächlich für die Betreuung von Familienangehörigen zuständig sind, halten sie sich häufiger zu Hause auf und sind weniger mobil. Auch leiden sie stärker unter Hitzewellen oder lernen, global gesehen, seltener schwimmen. So waren beim Zyklon Sidr im Jahr 2007 in Bangladesch 80 Prozent der Opfer Frauen oder Mädchen. + diff --git a/fluter/follow-zi.txt b/fluter/follow-zi.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d7d395545b410daeb442d3632e7853d0b625e8ff --- /dev/null +++ b/fluter/follow-zi.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Wu Heng gehört einer chinesischen Generation an, die im Internet zum ersten Mal Zivilcourage und Meinungsfreiheit entdeckt. Er ist kein Dissident, wie man sich ihn in Europa vorstellt, er schreibt keine politischen Manifeste, fordert nicht offen den Umsturz der Kommunistischen Partei Chinas. Aber er ist ein kritischer Kopf, der das, was in seinem Land falsch läuft, nicht mehr schweigend hinnehmen will. Einer von mittlerweile sehr vielen. Sie heißen "Post-80er", die Generation der Chinesen, die nach 1980 geboren sind, nach Maos Tod und nach der Kulturrevolution. Sie sind im Wirtschaftsboom aufgewachsen, die Häuser wurden immer höher, die Autos immer größer. Politische Gehirnwäsche prägte die Schulzeit der Post-80er genauso wie westliche Popkultur. Bis vor Kurzem galten sie als verwöhnt und unpolitisch. +"Weibo hat uns aufgerüttelt", sagt Jiang Fangzhou. Die 24-Jährige, lange schwarze Haare, dicke Kastenbrille, ist Autorin von mehreren erfolgreichen Büchern und hat auf Weibo fast sechseinhalb Millionen Follower. Auch sie sei eine von denen gewesen, die sich kaum für Politik und Gesellschaftsprobleme interessierten. "Das war weit weg, und was in den Zeitungen stand, war sowieso gelogen." Dann ging im Herbst 2009 Sina Weibo an den Start. Twitter war zu der Zeit in China bereits gesperrt, genauso wie Facebook und YouTube. Der einheimische Internetkonzern Sina, der bis dahin hauptsächlich Nachrichtenportale betrieb, witterte eine Nische und brachte einen eigenen Social-Messaging-Dienst auf den Markt. Schon bald war Weibo mehr als nur eine Twitter-Kopie: Informationen, die bislang im autoritär regierten China vertuscht und zensiert wurden, kamen mit einem Mal ans Tageslicht und verbreiteten sich im Netz in Sekundenschnelle. +Eine Reihe von Korruptionsfällen erschütterte das Land. Da war der Sohn eines Parteibonzen, der zwei Mädchen überfuhr, von denen eines starb, und in dem Glauben, niemand könne ihm etwas anhaben, Zeugen drohte: "Mein Vater ist Li Gang!". Da war das schwere Zugunglück, bei dem 40 Menschen ums Leben kamen und die Behörden versuchten, die Unfallursache und ihr eigenes Versagen zu vertuschen. Jeder dieser Vorfälle wurde erst durch Weibo zum Skandal: Als der Zug verunglückte, ermittelten Hunderte Weibo-User am Unfallort und stellten Beweisfotos ins Netz. Als im vergangenen Jahr der Fall eines gefeierten Provinzpolitikers die Kommunistische Partei in eine Machtkrise stürzte, wurden alle Details erst auf Weibo bekannt. Der zurzeit größte Aufreger: "Prinzlinge", reiche Kaderkinder, die Dutzende Häuser im ganzen Land besitzen, während normale junge Chinesen von eigenen Wohnungen nur träumen können. +"Weibo ist eine Revolution in unserer Gesellschaft", sagt Online-Aktivist Wu Heng. Für eine Generation, die in der Schule immer nur auswendig lernte, statt zu diskutieren, ist Weibo zu einer Art Übungsplatz für Debattenkultur geworden. "Wir lernen, zu differenzieren und Argumente zu schärfen", sagt Buchautorin Fangzhou. Auch wenn die meisten das bislang vor allem online tun: Auf dem Campus und in Cafés hört man laute Wortgefechte über Politik nach wie vor selten. "Viele trauen sich nicht, im Alltag über heikle Themen zu diskutieren, da ist das Gespräch schnell beendet. Im Internet trifft man einfacher auf Gleichgesinnte, hier sprechen viele freier", sagt Fangzhou. +Für die 300 Millionen Chinesen, die mittlerweile als User registriert sind, ist Weibo relevanter als Twitter es jemals in einem anderen Land war: Gemessen an den Seitenaufrufen wird Weibo bis zu 15-mal so oft von seinen Nutzern besucht wie Twitter in den Vergleichsländern. 70 Prozent der Weibo-User geben an, dass Weibo ihre primäre Nachrichtenquelle ist, dasselbe gilt beispielsweise für nur 9 Prozent der amerikanischen Social-Network-Gemeinschaft. Vieles, was in den traditionellen Staatsmedien in China nicht berichtet werden darf, wird auf Weibo inzwischen offen diskutiert. Junge Chinesen arbeiten online dunkle Kapitel der chinesischen Geschichte auf, die Hungersnot unter Mao etwa und die Kulturrevolution. Die Propagandamärchen glaubt heute keiner mehr. +Stattdessen hat die Weibo-Sphäre neue Helden hervorgebracht: zum Beispiel Yao Chen, eine früher nur mittelmäßig erfolgreiche Schauspielerin, die heute "Chinas Zivilbürgerin Nr. 1" genannt wird, da sie die Erste aus dem Showbusiness ist, die online kontroverse Themen wie Zwangsenteignung und Machtmissbrauch anspricht. Mehr als 38 Millionen User folgen ihr auf Weibo, das ist Weltrekord: Justin Bieber und Lady Gaga haben jeweils "nur" gut 34 Millionen Fans auf Twitter. Oder der Umweltaktivist Ma Jun, der seine Follower dazu auffordert, ihm Namen und Fotos von Unternehmen zu schicken, die die Umwelt verpesten. Oder Zhang Haite, eine 15-jährige Wanderarbeitertochter, die ihr Abitur nicht an einer Großstadtschule machen darf und eine Weibo-Kampagne für ihr Recht auf Bildung startete. +Oder der 21-jährige Aktivist Zi Le, der noch als Oberstufenschüler die erste schwullesbische Weibo-Community gründete und seitdem homosexuelle Jugendliche aus dem ganzen Land berät und online gegen Vorurteile ankämpft. Heute sagt er: "Die chinesische Gesellschaft ist toleranter geworden." Die neue Freiheit hat natürlich ihre Grenzen. Kein Land der Welt hat eine ausgefeiltere Internetzensur als China. Geschätzte 20.000 Internetpolizisten tun den ganzen Tag nichts anderes, als das Netz von vermeintlich gefährlichen Inhalten zu säubern. Hinzu kommen unzählige "50 Cents", so werden vom Staat bezahlte Online-Jubler genannt, die für jeden Propaganda-Eintrag angeblich 50 chinesische Cent, umgerechnet 6 Eurocent, bekommen. +Einige Themen bleiben auf Weibo tabu: Die "drei T" – Tiananmen (auf dem Pekinger Platz fanden 1989 Studentenproteste statt, die in einem Massaker an Demonstranten endeten), Tibet und Taiwan – sowie Kritik an jetzigen Führungspolitikern. Mitarbeiter des chinesischen Informationsministeriums haben direkten Zugriff auf die Server des Internetkonzerns Sina und können jederzeit eingreifen. Das ist aber meistens gar nicht mal nötig: "Die Drecksarbeit muss Sina selbst machen", sagt der Pekinger Blogger und Netzexperte Michael Anti. Das Unternehmen filtert über automatisierte Stichwortsuche Begriffe wie "Dalai-Lama" oder "Demonstration" aus, zudem beschäftigt Sina schätzungsweise 2.000 hausinterne Zensoren; sie durchforsten Beiträge auch per Hand. Zensur ist nicht gleich Zensur: Manchmal werden nur einzelne Posts gelöscht, manchmal werden User mundtot gemacht, indem ihre Accounts vorübergehend stillgelegt werden. Berühmte Staatsfeinde wie der Künstler Ai Weiwei sind auf unbegrenzte Zeit gesperrt. Andere Prominente werden persönlich von den Sina-Zensoren betreut, so auch die Autorin Jiang Fangzhou. Als die Regierung 2011 eine chinesische "Jasminrevolution" fürchtete, rief sie jemand aus der Sina-Zentrale an. Sie solle aufpassen, was sie sage, gleichzeitig entschuldigte sich der Anrufer: "Wir können auch nichts dafür." Der Internetkonzern muss bei der Zensur mitspielen, das ist die Bedingung dafür, dass Weibo überhaupt existieren darf. +Dennoch, meistens gewinnen bislang die User das Katz-und-Maus-Spiel. Sie haben clevere Wege gefunden, die Zensur auszutricksen: Für den 4. Juni, das Datum des Tiananmen-Massakers 1989, verwenden sie den Code "35. Mai". Statt "Ai Weiwei" schreiben sie "Ai Weilai" (Liebe deine Zukunft), wenn der Künstler gemeint ist, das klingt so ähnlich. Und wenn ein bestimmter Text verboten ist, posten sie ihn als Bilddatei. Die Internetpolizei kommt gar nicht hinterher mit dem Löschen. +Bei Sina sabotiert sich die Zensurabteilung sogar selbst. Vor einigen Wochen kritisierte Wu Heng auf Weibo, dass Behörden einem Reporter einer renommierten Zeitung einen Maulkorb verpasst hatten. Der Eintrag landete an diesem Tag unter den Top Ten der meistgelesenen Posts, 20.000-mal wurde er weitergeleitet. Dann entfernten ihn die Zensoren. Zwei Tage später fand Heng seine Worte wieder: Ein Sina-Mitarbeiter hatte den gelöschten Eintrag in seinem persönlichen Profil wiederveröffentlicht. diff --git a/fluter/fotografin-flucht-mittelmeer.txt b/fluter/fotografin-flucht-mittelmeer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..871b17f51f77e7a70a489fc13b6f4073d4c41d47 --- /dev/null +++ b/fluter/fotografin-flucht-mittelmeer.txt @@ -0,0 +1,16 @@ + +fluter: Wie kam es dazu, dass Sie sich vor allem dem Thema Flucht widmen? +Anna Surinyach: Heutzutage gibt es weltweit 89,3 Millionen Menschen, die aufgrund von Verfolgung, Konflikten, Gewalt oder dem Klimawandel vertrieben wurden. Die meisten erleiden auf ihrer Flucht erneut Gewalt und andere Menschenrechtsverletzungen. Ich möchte mit meinen Bildern die Geschichten dieser Menschen erzählen, aber auch diejenigen zeigen, die für diese Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind. Für mich sind die guten Bilder nicht die, die mehr als tausend Worte sagen, sondern die, die tausend Fragen aufwerfen. Zum Beispiel die Frage, warum Menschen, die vor Konflikten im Irak, in Somalia oder der Demokratischen Republik Kongo fliehen, nicht genauso empathisch behandelt werden wie die Ukrainer. +Auf welche Schwierigkeiten stoßen Sie als Fotografin bei Ihrer Arbeit auf See? +Die Arbeit auf dem Meer ist logistisch nicht einfach. Aber es gibt NGOs wie Open Arms, Ärzte ohne Grenzen oderSea-Watch, die trotz aller bürokratischen Hindernisse und ihrer Kriminalisierung durch die meisten europäischen Regierungen weiterhin Flüchtende vor dem Ertrinken oder dem Verdursten retten. Sie ermöglichen es auch Journalistinnen und Journalisten, über die Geschehnisse im Mittelmeer zu berichten. +Sehen Sie sich eher als Journalistin oder als Aktivistin? +Ich bin Journalistin. Ich glaube aber, dass Fotojournalismus nie objektiv ist, weil man die Geschichte immer aus einem bestimmten Blickwinkel macht – schon in dem Moment, in dem man entscheidet, was man zeigt und was nicht. Das bedeutet aber nicht, dass man ein Aktivist oder eine Aktivistin ist. +Sie sehen sehr viel Leid. Wie motivieren Sie sich immer wieder aufs Neue? +Es gibt nach wie vor so vieleMenschenrechtsverletzungen an unseren Grenzen. Meine Motivation besteht darin, sie den Menschen zu zeigen und zu fragen, warum sie geschehen. Damit später niemand sagen kann, er oder sie hätte es nicht gewusst. Durch meine Bilder kann jeder sehen, was geschieht. + +Die Route von Libyen oder Tunesien zur italienischen Insel Lampedusa ist der am häufigsten genutzte Fluchtweg über das Meer +Diese Familie hat es an Bord eines Schiffes geschafft +Unter den Flüchtenden sind auch viele Kinder. Sie sind besonders vom Ertrinken oder Verdursten bedroht +Ankunft an Land: Anna Surinyach begleitet viele Flüchtende eine ganze Weile. Von der Rettung bis in die Flüchtlingslager an Land wie jenes in Moria auf Lesbos + +Anna Surinyach arbeitet für Tageszeitungen und das spanische Onlinemagazin "revista5w", das über Fluchtbewegungen weltweit berichtet. diff --git a/fluter/fotos-aus-dem-alltag-in-nordkorea.txt b/fluter/fotos-aus-dem-alltag-in-nordkorea.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..032a57024f86beabf14b87ee7b144bb349667bbd --- /dev/null +++ b/fluter/fotos-aus-dem-alltag-in-nordkorea.txt @@ -0,0 +1,30 @@ +Ganz ohne Militärparaden und Monumente kommt der Bildband "The North Koreans: Glimpses of Daily Life in the DPRK" aus, der in dem niederländischen Verlag Primavera Pers erschienen ist. Nur einer der Beteiligten ist ein professioneller Fotograf, die anderen sind Touristen, Diplomaten und Wirtschaftsreisende, die teils länger in Nordkorea lebten und somit seltene Einblicke in das Alltagsleben der Nordkoreaner gewinnen konnten. Wie es ist, als westliche Besucherin in Nordkorea zu reisen und zu fotografieren und wie der Band zustande kam, erzählt die Herausgeberin Evelyn de Regt. +Die Idee zu Ihrem Bildband kam Ihnen, nachdem Sie selbst nach Nordkorea gereist waren. Wie einfach oder schwierig war es, dort als Touristin Fotos vom Alltagsleben zu machen? +Mit Beschallung aus mobilen Lautsprechern sollen Feldarbeiter motiviert werden +Es ist schon ziemlich schwierig. Als das Regime vor ein paar Jahren anfing, Touristen ins Land zu lassen, war es noch ein bisschen leichter. Heute gibt es eine sehr professionelle Tour ohne Überraschungen. Unserer Reisegruppe passierte nur eine ungewöhnliche Situation: Der Busfahrer hatte sich verfahren. Und da ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass die Propaganda nicht nur in Pjöngjang allgegenwärtig ist, sondern auch auf dem Land. Aber das war nachts, wir konnten es nicht fotografieren. +Was passiert denn, wenn man Fotos vom Alltagsleben macht? Ist das überhaupt erlaubt? Man wird als Tourist ja ständig von Kontrollpersonen begleitet. +Die lassen einen schon mal nicht in die Gegenden, wo man Sachen fotografieren könnte, die unangenehm für das Regime wären. Wenn man ein Foto macht, das man nicht machen darf, dann löschen sie das. Man ist ja immer von einem Guide begleitet, der aufpasst. Aber mit einer Software kriegt man sie wieder zurück. Das passiert manchmal. Wenn man im Zug über die Grenze fährt, gibt es einen Beamten, der die Kameras kontrolliert. Das ist ein bisschen albern: Jeder kann eine SD-Karte verschwinden lassen. Bei meiner Reise hat der Beamte interessanterweise nur die Männer kontrolliert. Vielleicht dachte er, Frauen könnten keine Fotos machen. +Im Vorwort schreiben Sie, es sei unter den Nordkorea-Reisenden ein regelrechter Sport, verbotene Aufnahmen zu machen. +Das stimmt. Man soll etwa keine Ochsenkarren fotografieren – weil das nicht dem Bild des reichen Landes entspricht, das man vorgaukeln will. Wir hatten deshalb einen Wettbewerb, wer das beste Foto eines Ochsenkarrens schießt. Das ist gar nicht so einfach, weil die Busse sehr schnell fahren; aus dem Zug geht es besser. Das ist natürlich ein bisschen kindisch. Es fühlt sich wie ein Spiel an. +Diese Frau verkauft am Straßenrand Eiscreme +Straßenarbeiter in der Region Unjon. Solche Arbeiten werden in Nordkorea oft von Zwangsarbeitern ausgeführt, die müde und demotiviert auf der Baustelle herumhängen +Rush-Hour in der Hauptstadt Pjöngjang +Die Bilder für Ihr Buch haben Sie über die Bilddatenbank Flickr gefunden. Wie lange haben Sie recherchiert? +So ein halbes Jahr. Wenn man ein Bild findet, muss man die Leute ja anschreiben und das Konzept erklären. Ich wollte kein Buch machen, das die Nordkoreaner bloßstellt, sondern etwas aus ihrem Leben zeigen, das uns das Regime nicht sehen lassen will. +Wenn man die Gesichter der Fotografierten schaut, sieht man meist einen abweisenden Blick. Zufall? +Nein. Das sieht man tatsächlich auf fast allen Fotos aus Nordkorea. Man weiß nicht, was die Menschen denken. Aber vielleicht denken sie, der Tourist wird Ärger bekommen. Oder vielleicht: Die verachten uns dafür, dass wir einfache Arbeiten ausüben. Da kann man sich viele Theorien ausdenken, aber dieser skeptische Blick ist immer da. Als sich China in den 1970er-Jahren dem Tourismus öffnete, schauten die Leute auf den Fotos nicht so aggressiv: Die hatten einen anderen Blick, eher entspannt, erstaunt. +Schlafende Leute scheinen ein relativ alltäglicher Anblick. Warum? +Oft sind sie schlecht ernährt und haben lange, lange Arbeitstage. Es gibt ja immer wieder Kampagnen, dass man 150 Tage lang zwei Stunden mehr arbeiten muss. Angeblich spielen auch Alkoholprobleme eine Rolle. +Zwei müde Krieger am Bahnhof Wonsan: Dass die Menschen am hellichten Tage irgendwo in der Öffentlichkeit schlafen, ist in Nordkorea nicht ungewöhnlich. Mangelernährung und stupide Arbeiten tragen ihren Teil dazu bei +Bei Straßenarbeiten in der Provinz +Auf den Straßen ist zwar überall Propaganda zu sehen, aber kaum eine Bank oder ein Stuhl. +Das stimmt. Oft sieht man die Leute auf dem Boden sitzen. Es gibt da eine Erklärung, ich weiß nicht, ob sie stimmt. Aber sie klingt plausibel. Wenn man Orte schaffen würde, an denen die Menschen gemeinsam Zeit verbringen, dann könnten sie sich über die nicht so angenehmen Dinge in ihrem Leben austauschen. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Was ich aber gehört habe, ist, dass die Nordkoreaner gerne mit dem Zug fahren, weil man da gut miteinander sprechen kann. +Es gibt in diesem Buch keine einzige Parade zu sehen. Eine programmatische Entscheidung? +Ja. Ich finde Paraden auch ein bisschen langweilig. Die sehen immer gleich aus. Monumente haben wir auch nicht drin. +Ein Fischerboot nahe der Ostküste bei Rason +Weil das die Bühne ist, die das Regime uns sehen lassen will? +Ja, natürlich, aber auch, weil ich sie sehr hässlich finde. Allerdings sind viele Fotografen davon fasziniert. +Welche Fotos aus Ihrem Bildband hätten die Zensur überstanden? +Wahrscheinlich nicht viele. Dabei zeigen die Bilder ja nicht nur die negativen Seiten – die mit lachenden Kindern etwa. Verboten sind Bilder, auf denen man Menschen arbeiten sieht. Weil die Umstände hart und oft gefährlich sind. Diese Bilder wären sicher verboten, andere würden sie einfach nicht mögen. + +The North Koreans. Glimpses of Daily Life in the DPRK. Fotos von Martin Tutsch, Eric Lafforgue, Raymond K. Cunningham Jr. und anderen. Leiden 2017, 350 Farbfotos, 39,50 Euro diff --git a/fluter/fotos-aus-dem-gazastreifen.txt b/fluter/fotos-aus-dem-gazastreifen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cab8f068d170d9c1ca36606296634d9ac14bd222 --- /dev/null +++ b/fluter/fotos-aus-dem-gazastreifen.txt @@ -0,0 +1,27 @@ + +Rawand Nassar: "Als ich damals die Kamera bekam, hieß es nur, wir sollten losziehen und Bilder machen, die die Situation, in der wir aufwachsen, reflektieren. Es ist sehr schwierig, in Gaza aufzuwachsen. Der ständige Druck nagt an der Psyche. Ich konnte ja nie unbedarft durch die Straßen ziehen und spielen, Vögeln nachjagen, so wie das Kinder in anderen, freieren Ländern tun. Auch Reisen war für mich natürlich nie eine Option, dabei hätte ich sehr gerne einmal Gaza verlassen. Es ist hier wie in einem Gefängnis, in das man hineingeboren wird. Urteil: lebenslänglich. + +Der Alltag hier ist beschwerlich. Dauernd fällt der Strom aus, manchmal dauert es Tage, bis er wiederkommt. Fließendes Wasser gibt es oft stundenlang nicht. Eines der größten Probleme sind die Preise. Durch die israelische Blockade sind die eklatant gestiegen. Und es gibt keine staatliche Unterstützung für Studenten in Gaza, und so ist auch ein Studium für die meisten hier zu teuer. Gäbe es nicht das Hilfswerk der Vereinten Nationen (UNRWA), könnten viele Familien es sich nicht mal leisten, ihre Kinder zur Schule zu schicken. +Heute studiere ich Pharmazie. Medizin wäre mir lieber gewesen. Der menschliche Körper, sein Aufbau, die Chemie und auch seine Krankheiten sind meine Leidenschaft. Aber das Studium konnte sich meine Familie nicht leisten. Nach meinem Abschluss möchte ich in einer Apotheke arbeiten. Mein größter Wunsch wäre ein Austauschsemester im Ausland. + + +Wenn ich heute zurückblicke, finde ich, dass das Projekt mich verändert hat. Ich bin verantwortlicher und hilfsbereiter im Alltag geworden. Und es hat meinen Blick auf meine Situation geschärft. Für meine Zukunft hoffe ich, in Frieden und in Ruhe leben zu können. So wie die Menschen in Europa." + +Fawzi Talal Abu Kwaik: "Als ich vor vier Jahren an dem Fotoprojekt teilgenommen habe, ging ich noch zur Schule. Es war eine sorgenfreiere Zeit, in der mir die hoffnungslose Lage, in der ich herangewachsen bin, noch nicht so bewusst war. Es war Normalität. War ja nie anders gewesen. + +Mittlerweile studiere ich Multimedia an der University of Palestine. Meinen Alltag dominiert der Mangel. Es fehlt hier überall am Nötigsten: Essen, Medikamente, Sicherheit. Die durch die verheerende politische Lage hervorgerufene wirtschaftliche Instabilität belastet mich sehr. Die meisten Menschen in meinem Bekanntenkreis sind arbeitslos. Und ich fürchte, nach meinem Abschluss auch nicht so schnell Arbeit zu finden. + + +An das Fotoprojekt denke ich gerne zurück. Mir ist das Leiden der Menschen im Gazastreifen seitdem bewusster geworden, ich sehe aber auch das Glück deutlicher, das sich in den kleinen Dingen versteckt, und welche wichtige Bedeutung die Medien für Gaza haben könnten. Das hat meine Studienfachwahl stark beeinflusst. + + + +Auf meinen Fotos spielt das Meer eine wichtige Rolle: Ich liebe es, über das Meer zum Horizont zu blicken. Gleichzeitig macht es mich traurig – so viel Ferne, die für mich unerreichbar ist. Ein anderes wichtiges Motiv ist meine Familie. Viele Fotos zeigen die Töchter meiner Schwester. Familie bedeutet mir alles – wie so vielen anderen hier. Sie steht für Liebe, Zuneigung und Stabilität. Sie ist mein Halt in einem Land, in dem nichts stabil ist. +Ich selbst möchte mich in meinem Studium nun auf Fotografie spezialisieren. Ich sehe darin die große Chance, das Leiden meines Landes über die verbarrikadierten Grenzen Gazas zu tragen. Ich hoffe, dass die Bilder – der Blick mit der Kamera – die Sichtweise anderer Menschen auf den Konflikt so beeinflussen und verändern können, wie sie das für mich getan haben." + + + + +Du willst mehr über den Gazastreifen erfahren? Dann schau dir unsere Zusammenstellung wichtiger Informationen hier an. +Die jungen Fotografen 2014 … +… und so sehen Rawand (19) und Fawzi (20) heute aus. diff --git a/fluter/fotostrecke-banlieue-seine-saint-denis.txt b/fluter/fotostrecke-banlieue-seine-saint-denis.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/fotostrecke-bei-der-letzten-guerilla-in-kolumbien.txt b/fluter/fotostrecke-bei-der-letzten-guerilla-in-kolumbien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..edeed990c07442066486f623e0d151d2ae71ad28 --- /dev/null +++ b/fluter/fotostrecke-bei-der-letzten-guerilla-in-kolumbien.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Die Sicherheitslage im Land verschlechtert sich. Die NGO Human Rights Watch macht dafür Abtrünnige der FARC, neo-paramilitärische rechte Gruppen und die Guerilla ELN (Ejército de Liberación Nacional / Nationales Befreiungsheer) verantwortlich. Die ELN ist die letzte große bewaffnete Guerilla-Gruppe Kolumbiens – und sie sorgt dafür, dass von einem Ende der Gewalt noch lange nicht die Rede sein kann. + +Altgedient: Giovanni ist 21 Jahre alt, seit sieben Jahren bereits kämpft er für die ELN … +… die Behörden werfen der Guerilla vor, Minderjährige dazu zu zwingen, sich ihr anzuschließen. Milena ist 16 Jahre alt +Erst Mitte Juli warnte das Auswärtige Amt davor, in den Südwesten des Landes zu reisen, weil die ELN in der Gegend bewaffnete Streiks durchführe. Die 1964 gegründete marxistische Gruppe soll heute um die 1.500 bis 2.000 Mitglieder haben. Ihre Gründer waren radikale Katholiken und linke Studenten und sahen sich als Sprecher einer ihrer Meinung nach ökonomisch und politisch benachteiligten Mehrheit. Die linksradikale Gruppe finanziert sich durch Lösegelder und über den Drogenhandel. +Nach Ermittlungen der kolumbianischen Staatsanwaltschaft ist die Guerilla für Tausende Morde, Entführungen und Zwangsrekrutierungen verantwortlich. Die Europäische Union stuft sie alsTerrorgruppeein, ins Kreuzfeuer der Guerilla geraten laut Amnesty International auch Zivilisten. Ex-Präsident Santos hatte zwar Friedensverhandlungen mit der ELN aufgenommen, Anfang des Jahres wurden diese jedoch abgebrochen. Auslöser war ein Sprengstoffanschlag im Januar auf eine Polizeischule in Bogotá, zu dem sich die ELN bekannte. 21 Menschen wurden durch die Bombe getötet. +Ein baldiger Frieden mit der ELN ist also nicht abzusehen, die Guerilla bildet weiter neue Mitglieder aus. Die Fotografin Lena Mucha hat ein Trainingscamp der ELN in einer abgelegenen Region Kolumbiens besucht. Mehrere Tage verbrachte Mucha mit den Kämpfern, die oft noch Teenager sind. Weil sie keine andere Alternative sehen, schließen sich die Jugendlichen der Guerilla an. Normalität bedeutet für sie, von nun an im Untergrund zu leben und ihr Sturmgewehr überallhin mitzunehmen, sogar ins Bett. +Jeden Morgen versammeln sich die ELN-Kämpfer*innen zum Appell … +… danach treten die neuen Mitglieder zum täglichen Kampftraining an. Je nachdem, wie fit die Neuankömmlinge sind, dauert die Grundausbildung sechs Wochen oder länger +Sorgt für Sprengstoff: Zu den Habseligkeiten einer der Kämpferinnen gehört neben Shampoo und Zahnpasta auch ein Sprengsatz, der als Landmine verwendet werden kann. Die Zahl der Opfer von Landminen ist im vergangenen Jahr in Kolumbien deutlich gestiegen: 2017 wurden 56 Menschen getötet, im vergangenen Jahr waren es 180 +Ihr Gewehr müssen die Mitglieder der ELN immer bei sich tragen +Anna und ihr Mann Bochia haben zusammen ein Kind bekommen. Bochia wird das Dorf zusammen mit der ELN bald verlassen. Dann will Anna zur Familie ihres Mannes ziehen. Die beiden wissen nicht, wann und ob sie sich wiedersehen werden +Die ELN hat Natalia (16) in Medellín, der zweitgrößten Stadt Kolumbiens, rekrutiert. Während sie sich im Fluss wäscht, erzählt sie ihre Geschichte: "Ich habe mit der ELN zusammengearbeitet. Auf einmal sagten sie mir, dass die Polizei mich suchen würde." Weil sie keinen anderen Ausweg sah, folgte sie der Gruppe in die Berge. "Ich weiß nicht, ob es die richtige Entscheidung war. Aber ich hatte Angst, also bin ich hierher gekommen" +"Kein Schritt zurück: Befreiung oder Tod". Den Kampfspruch der ELN trägt jedes Mitglied an einer Kette um den Hals. Seitdem die Guerilla im Januar einen Anschlag auf eine Polizeiakademie verübt hat, bei dem 21 Menschen getötet wurden, sind die Friedensverhandlungen zwischen Regierung und ELN ausgesetzt. Ein Ende der Kämpfe ist nicht in Sicht diff --git a/fluter/fotostrecke-medikamente-weltweit.txt b/fluter/fotostrecke-medikamente-weltweit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f1f8d89855958ba132e9f560a3046f77dbf3887c --- /dev/null +++ b/fluter/fotostrecke-medikamente-weltweit.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Der Zugang zu Arzneimitteln verbessert sich aber in vielen Ländern. Weil die Märkte in China, Indien, Indonesien oder Brasilien so rasant wachsen, werden sie "Pharmerging Countries" genannt. Sie ließen die weltweiten Ausgaben für Medikamente auf 1,4 Billionen US-Dollar wachsen, ein Anstieg um ca. 30 Prozent seit 2015. Und auch Initiativen wie "Access to Medicine Index" helfen dabei, die Medikamentenversorgung weltweit zu verbessern. Das viel beachtete Ranking analysiert,wie Pharmaunternehmen ihre Medikamente in Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen vertreiben– und übt so Druck auf die Konzerne aus. +Der Fotograf Gabriele Galimberti dokumentiert die weltweiten Unterschiede in der Nutzung von Medikamenten. Das Projekt führt ihn in eine Favela Rio de Janeiros, ein Luxusapartment in Miami oder Landhaus in Litauen. Während Menschen in Industrieländern zwischen kommerziellen Medikamenten und natürlichen Heilmitteln navigieren, stellt sich mancherorts gar nicht erst die Frage, ob man industriellen Medikamenten vertraut oder der Heilkraft der Natur: Zu rar und zu teuer sind Pharmazeutika. + + +Text und Übersetzung: Nikita Vaillant diff --git a/fluter/fotostrecke-schmuggel-exotischer-tiere.txt b/fluter/fotostrecke-schmuggel-exotischer-tiere.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5b09f208fd601c558c0fa17612fa90b954f3b0c1 --- /dev/null +++ b/fluter/fotostrecke-schmuggel-exotischer-tiere.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +Wie kommen Sie zu den Tieren? +Für das Projekt kooperiere ich mit der Polizei und den Rehabilitationszentren. Zuerst bekommt die Polizei von Informanten Bescheid, wenn Wilderer oder Händler versuchen, Tiere zu verkaufen. Ich bin dann mit der Kamera dabei, wenn sie intervenieren. Die nächste Station sind die Rehabilitationszentren, dort entstehen die meisten Bilder. Ich fotografiere die Tiere mit derselben Herangehensweise wie bei menschlichen Porträts. So kann ichihr Leidam besten einfangen. Ich "vermenschliche" die Tiere in gewisser Weise. Das hilft, um auf das Problem aufmerksam zu machen. + +Konnte den Schnabel nicht behalten: Diesem Papagei wurde von Wilderern das wichtigste Werkzeug amputiert. Mit dem Schnabel lässt sich klettern, knabbern, knacken, schneiden und natürlich: nachplappern + + +Allein 2017 beschlagnahmten kolumbianische Behörden und NGOs über 23.000 Tiere. Was passiert nach der Rettung mit ihnen? +Wenn möglich, werden die Tiere wieder in der Natur ausgesetzt. Manche Tiere müssen aber ihr restliches Leben im Zentrum verbringen. Viele würden mit den Verletzungen, die ihnen zum Beispiel beim Einfangen oder Transport zugefügt wurden, in der Natur nicht mehr überleben. + +Unterwegs mit Kobra 11: Um jede Station des Tierschmuggels zu dokumentieren, kommt Iván Valencia auch auf Nachteinsätze mit +Wo werden die Tiere denn gefangen? +Die meisten Tiere werden im Amazonas-Regenwald gefangen, dort gibt es die größte Artenvielfalt weltweit. Besonders günstig für die Wilderer ist, dass dort drei Länder aneinandergrenzen: Peru, Brasilien und Kolumbien. Aufgrund unterschiedlicher Gesetzeslagen kann die Verfolgung der Jäger kompliziert werden. In Peru zum Beispiel ist die Jagd auf Wildtiere in manchen Fällen legal [Indigene aus dem Amazonas-Gebiet dürfen Wildtiere für den Eigenverbrauch jagen, Anm. der Redaktion], und so kann es dann schwierig sein nachzuweisen, dass das Tier nicht dort gefangen wurde. + +Kapuzineräffchen landen besonders häufig auf den Behandlungstischen: Sie sind begehrtes Accessoire von Youtuber*Innen +Der Handel mit Wildtieren ist nach Drogen und Waffenhandel das drittgrößte illegale Geschäft in Kolumbien, das viertgrößte weltweit, Tendenz steigend. Was treibt das Geschäft an? +Da kann man nur mutmaßen. Ein Faktor könnte aber sein, dass immer mehr Menschen exotische Tiere als Haustier besitzen wollen. Gerade in Europa und den USA zahlen Käufer viel Geld dafür. Es ist eine Art modischer Trend: Auf YouTube gibt es massenhaft Videos von Streamern, die Kapuzineräffchen, Lemuren oder andere exotische Tiere halten. Aber auch das Fleisch, die Haut oder das Fell der Tiere ist begehrt. Aus manchen werden Stoffe gewonnen, die zum Beispiel als Aphrodisiaka gelten. Andere werden ausgestopft und als Deko verwendet. +Was kann man tun, um den Handel zu bekämpfen? +Die Lösung in einem Wort: Bildung. Viele Menschen verstehen einfach nicht, dass wilde Tiere nicht als Haustiere geeignet sind. Klar gibt es manche Tiere, die auf den ersten Blick problemlosin einem Haus gehalten werden können. Aber es kann äußerst gefährlich für ihre Psyche sein – sie wollen und sollten nur in der Wildnis leben. Der Schaden, den viele Wildtierpopulationen und Biotope durch den Handel erlitten haben, ist schwer zu reparieren. Wir können aber verhindern, dass der illegale Handel sich ausweitet. Ich persönlich plane, meine Bilder in Zukunft auszustellen, um noch mehr Menschen für dieses Problem zu sensibilisieren. Da das Problem keineswegs nur Kolumbien betrifft, möchte ich, wenn es gut läuft, mein Projekt auf andere Regionen Lateinamerikas ausweiten. + +Sperber sind ultrawendige Greifvögel, nach denen auch gern Jagdflugzeuge benannt werden (vgl. Curtiss F9C Sparrowhawk). Nicht aber nach diesem hier. Wilderer haben ihm in den Flügel geschossen +Der Schwanz eines Nachtaffen ist normalerweise länger als sein Körper. Bei diesem hier nicht mehr +Wächst nicht nach: Durch unsachgemäßen Transport hat diese Köhlerschildkröte Teile ihres Panzers verloren +Ein Fashionvictim weniger: Diese Phyton ist ihrem Schicksal gerade noch entkommen +Für manche Tiere kommt jede Hilfe zu spät. Ihre potentiellen Käufer wollen mit ihnen nämlich nicht kuscheln, sondern Wände dekorieren … +… das Schlafzimmer pimpen … +… oder an vermeintliche Wundermittelchen kommen +Nestbau: Hier baut eine Tierärztin ein neues Zuhause für einen Tingua-Vogel +Brillenbär Billy wurde aus dem Haus eines Tierhändlers gerettet, allerdings ohne seine Klauen +Time-out: Bevor gerettete Kapuzineräffchen zurück in die Freiheit können, müssen sie erstmal in Quarantäne – auch, um den Stress des Transports in einer halbwegs geschützten Atmosphäre abzubauen diff --git a/fluter/fotostrecke-so-veraendert-der-brexit-das-leben-der-briten.txt b/fluter/fotostrecke-so-veraendert-der-brexit-das-leben-der-briten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fdfa6b5b2c9cf189a75eaeb200cefeac138cb131 --- /dev/null +++ b/fluter/fotostrecke-so-veraendert-der-brexit-das-leben-der-briten.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Timothy Houle (22), Fotograf:"Ich habe großes Glück, denn ich besitze zwei Pässe! Einen für die Schweiz, weil ich dort geboren wurde, und einen britischen, weil meine Mutter von hier kommt. Ich werde bestimmt wenig Probleme bekommen." +Maruin (38), arbeitslos, lebt auf der Straße:"Eigentlich haben Immigranten in diesem Land das Sagen. Sie nehmen uns Jobs weg; es herrscht totales Chaos. Ich glaube, der Brexit bringt uns eine neue Unabhängigkeit." +Raphaela Gilla (36), israelische Künstlerin und Sängerin:"Ich bin vor langer Zeit eingewandert. Der Brexit wird uns Immigranten viele Türen öffnen, denn wir werden enger zusammenwachsen und zusammenarbeiten müssen." +Aline Maio (29), brasilianisch-portugiesische Architektin:"Ich lebe seit fünf Jahren hier. Keine Ahnung, was passieren wird: Vielleicht müssen wir umziehen, mehr Steuern zahlen oder gleich unseren Lebensstandard ändern?" +Emily (23), studiert Bildende Kunst:"So viele Fragen sind noch unbeantwortet. Es ist schrecklich und verunsichernd, die ganze Zeit nicht richtig zu verstehen, was eigentlich passiert." +Amy Besate (34), Forscherin:"Was hier gerade politisch passiert, beeinflusst mein Leben als freier Mensch. Der Brexit nimmt mir einen Teil meiner Identität – und zwar den Teil, der mich kulturell zur Europäerin macht." +Alex Hopkins (32), arbeitet in der Logistikbranche:"Der Brexit betrifft mich nicht persönlich, aber viele meiner Freunde. Sie kommen aus anderen europäischen Ländern und müssen vielleicht zurückgehen. Dabei sind die Menschen hierher gezogen, um ein anderes Leben zu führen. Das sollte auch weiterhin möglich sein." +Sharon Hadley (54), arbeitslos:"Ich habe dafür gestimmt, dass Großbritannien in der EU bleibt. Das habe ich vor allem für meine Enkelkinder getan. Ich wollte, dass sie die Möglichkeit haben, sich frei zu bewegen. Wir brauchen mehr Reisefreiheit, nicht weniger." +Jewell (23), aus den USA:"Nie davon gehört. Ich habe keine Ahnung, was der Brexit ist. Ich komme aus den Staaten und habe davon nichts mitbekommen." +Hugo Heier (27), arbeitet in einer Bar:"Ich bin mir nicht sicher, was passieren wird. Ob wir wirklich bald ein Visum brauchen, um andere europäische Länder zu besuchen? Eins ist sicher: Meinen Job in der Bar wird es nicht beeinflussen. In Großbritannien liebt man das Trinken – daran wird sich nichts ändern." diff --git a/fluter/fotostrecke-ueber-haeusliche-gewalt-in-russland.txt b/fluter/fotostrecke-ueber-haeusliche-gewalt-in-russland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bae7289bbe079a3e424a5b13134815d8c826244e --- /dev/null +++ b/fluter/fotostrecke-ueber-haeusliche-gewalt-in-russland.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Dutzende Versuche von Menschenrechtler*innen, häusliche Gewalt wieder als Straftat zu definieren sind seitdem gescheitert, zuletzt im Herbst 2019. Beobachter gehen davon aus, dass der Staat den Stimmen konservativer und christlich-orthodoxer Gruppen nachgibt: Sie engagieren sich gegen ein solches Gesetz, da es für sie einen ungewollten Eingriff in die Intimität der Familie darstellt. +Die 26-jährige Fotografin Mary Gelman hat russische Frauen vor die Kamera gebeten, die von ihren Partnern geschlagen wurden – und bereit sind, ihr Schweigen darüber zu brechen. Die erlebte Grausamkeit, Ohnmacht und Gewalt, die in dem preisgekrönten Projekt "You are Mine" thematisiert werden, sind allerdings kein russisches Problem: Weltweit hat eine von drei Frauen sexuelle oder physische Gewalt durch ihren Partner oder Ex-Partner erlebt; 38 Prozent allerMorde an Frauenwerden von einem männlichen Partner oder Ex begangen. +Lisa, 25: "Er hatte sich immer gut um mich gekümmert und nach drei Wochen angeboten, zusammenzuziehen. Ich habe eingewilligt, und die Beziehung wurde unerträglich. Er wollte detaillierte Berichte darüber, wo ich mit wem hinging, genaue Ankunfts- und Abfahrtszeiten – selbst wenn ich nur in den Laden gegangen bin, um Milch zu kaufen. Er hat Briefe an meine Mutter gelesen und mir den Kontakt zu Freunden verboten – Gespräche mit neuen Bekannten hat er nur in seiner Anwesenheit erlaubt. Einverständnis beim Sex brauchte er nicht: mich ihm zu verweigern stand nicht zur Debatte. Ohne meine Freunde hätte ich es nicht geschafft, aus dieser Beziehung rauszukommen." +Sasha, 20: "Ich habe einen Transgender gedatet, eine biologische Frau, die ein Mann werden wollte. Er hat immerzu versucht zu zeigen, dass er ein echter Mann ist – zumindest was er darunter verstanden hat. Oft hat er bezahlt, zum Beispiel für Getränke, und dann gesagt: ‚Ich drücke meine Liebe in Geld aus, und du sei so lieb und bezahl mit Sex.' Er wollte eine gemeinsame Wohnung mieten, damit ich den ganzen Tag zu Hause auf ihn warten könnte. Natürlich habe ich abgelehnt. Also hat er mich ‚bestraft' und mich sechs Tage lang in ein Zimmer gesperrt, ohne Essen und Wasser, damit ich ‚noch mal drüber nachdenke'. Ich habe gedacht, ich werde verrückt. Er hat mir gesagt, dass mich außer ihm niemand beschütze und niemand mich jemals lieben werde. Ich habe mir selbst die Schuld gegeben und dachte, dass etwas mit mir nicht stimmt." +Tatyana, 26: "Ich weiß noch, wie er mich das erste Mal geschlagen hat: Ich habe in der Küche das Abendessen vorbereitet und seine Anrufe überhört. Als er abends nach Hause gekommen ist, hat er seine Schlüssel nach meinem Gesicht geschmissen und geschrien: ‚Warum bist du nicht rangegangen? Ich hab mir Sorgen gemacht!' Danach hat er mich immer wieder geschlagen. Für alles hatte er eine Rechtfertigung, und am Ende war ich diejenige, die sich entschuldigen musste: für meine schlechte Laune, mein schlechtes Aussehen und dafür, dass ich ihn provoziert hätte. Mir war gar nicht klar, dass man auch anders leben kann. Jetzt bin ich verheiratet und habe realisiert, dass Liebe nicht gleich Leidenschaft ist und es nicht romantisch ist zu sagen: ‚Ich kann nicht ohne dich leben' oder ‚Du gehörst zu mir'." +Nastya, 20: "Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob das eigentlich Gewalt war: Ich wurde ja weder geschlagen noch direkt beleidigt. Mit dem Mann, um den es geht, hatte ich mein erstes Mal. Ich habe ihm gesagt, dass ich keinen Sex haben will, aber er hat einfach weitergemacht. Wie eine Tote habe ich unter ihm gelegen. Er hat mich gefragt: ‚Warum machst du so ein Gesicht? Jeder weiß, dass es Frauen beim ersten Mal wehtut, du musst mich nicht daran erinnern!' Er hat sich geweigert, ein Kondom zu benutzen. Erst habe ich mir selbst gesagt, dass das alles nicht so schlimm sei. Aber als er morgens meinte: ‚Alle Frauen haben so schrecklich dumme Gesichter', hat mich das sehr verletzt. Es hat wehgetan, weil ich in ihn verliebt war." +Zhanna, 28: "Sie hat mich so unterdrückt und manipuliert, dass ich aufgehört habe, meine Freunde zu treffen. Wenn ich zum Beispiel zu einem Treffen gehen wollte, hat sie plötzlich einen willkürlichen Streit angezettelt, sodass meine Laune so schlecht geworden ist, dass ich nirgends mehr hin bin. Wenn ich über unsere Beziehung reden wollte, hat sie aggressiv reagiert und erwidert: ‚Du bildest dir das ein' oder ‚So bin ich halt, da kann man nichts machen.' Mittlerweile habe ich gelernt, Manipulation zu erkennen und eigene Grenzen klarer zu setzen." +Anna, 18: "Er hat mich verprügelt und seine Zigaretten an mir ausgedrückt – ich habe zwölf Narben und Verbrennungen. Er hat blaue Flecken auf meinem Hals und meinen Handgelenken hinterlassen, damit ich keine freizügige Kleidung mehr anziehen konnte. Er hat alles kontrolliert und nannte es ‚sich um mich kümmern'. Ich wollte ihn verlassen, aber er hat mich erpresst: Er hat gedroht, eine Freundin zu verpfeifen, die im Konflikt mit dem Gesetz stand. Jeden Samstagabend bin ich in seine Wohnung gegangen, dann hat er mich geschlagen und auf sadistische Weise vergewaltigt. Seine Begründung für diesen Albtraum war, dass er mich liebt. Einmal hat er mich so hart geschlagen, dass ich mit einem Schädel-Hirn-Trauma ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Jetzt fürchte ich mich vor jeglicher ernsthaften Beziehung." diff --git a/fluter/fotostrecke-ukraine-zivilisten-krieg.txt b/fluter/fotostrecke-ukraine-zivilisten-krieg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b1de7afbd84cdb677962320eaccd7a506c559ec8 --- /dev/null +++ b/fluter/fotostrecke-ukraine-zivilisten-krieg.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Die ersten Einheiten gründeten sich 2014 als Russland die Halbinsel Krim besetzte. Davor hätte sich wohl kaum jemand freiwillig für eine Militärsportgruppe gemeldet. Aber dieBesetzung der Krim,die Kämpfe um die "Volksrepubliken" Luhansk und Donezkund russische Truppen im Grenzgebiet schürten bei vielen über Jahre die Angst vor einemAngriff Russlands – der jetzt erfolgt ist. +Immer mehr Bürger:innen wollten lernen, wie sie ihre Heimat im Ernstfall verteidigen oder das Heer hinter der Front entlasten können, indem sie zentrale Infrastruktur bewachen, etwa Wasserwerke, Funkmasten, Archive oder Brücken. +Der Fotograf Sasha Maslov hat eine solche Wehrübung Ende Januar (also vor der russischen Invasion) in einem Vorort von Kiew fotografiert. Noch zu Beginn des Jahres trafen sich die Einheiten regelmäßig für Schießübungen, Drills und Trainingslager, meist geleitet von Veteranen, die in der Ostukraine gegen Separatisten gekämpft haben. +Keinen Monat später muss die Territoriale Verteidigung von Kiew russische Truppen abwehren. Die ukrainische Hauptstadt steht unter schwerem Beschuss. Auf Satellitenaufnahmen sind kilometerlange Konvois von russischen Panzern und anderen Militärfahrzeugen zu erkennen, die sich auf Kiew zubewegen. +Die Ukraine wehrt sich. Aber insgesamt scheint das Land den russischen Invasoren deutlich unterlegen. Die größte Streitmacht Europas (900.000 Soldat:innen und zwei Millionen Reservist:innen) trifft auf 200.000 ukrainische Soldat:innen – und 900.000 Reservist:innen.(Anm. d. Red.: Solche Zahlen sind allenfalls Schätzungen – und unterscheiden sich teils sehr. Wir zitieren hier einenBerichtdes International Institute for Strategic Studies.) +Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verkündete deshalb nach Kriegsausbruch die Generalmobilmachung. Männer im wehrfähigen Alter, also zwischen 18 und 60 Jahren, dürfen das Land nicht verlassen, neben Freiwilligen, Strafgefangenen und anderen Reservist:innen sollen auch die Territorialen Verteidigungen für die Ukraine kämpfen. +Seit der Gründung der ersten Verteidigungseinheiten wird diskutiert, ob sie es Gewalttäter:innen oder Extremist:innen nicht zu leicht machen, sich auszubilden und zu bewaffnen. Neue Mitglieder mussten deshalb körperliche und psychologische Untersuchungen bestehen, nachweisen, dass sie nie für schwere Verbrechen verurteilt wurden, und sich offiziell registrieren. +Solche Eignungsprüfungen sind im Chaos des Krieges kaum aufrechtzuerhalten: Mehrere ukrainische Regionenmeldenbereits einen Andrang auf ihre Territorialen Verteidigungen, der kaum zu bewältigen sei. + +Viele Ukrainer:innen ziehen spätestens seit Selenskyjs Aufforderung auf eigene Faust ins Gefecht. Für nicht ausgebildete und schlecht ausgerüstete Zivilist:innen besteht im Krieg nicht nur das Risiko, zu sterben, verwundet oder traumatisiert zu werden. Sie verletzen auch dashumanitäre Völkerrecht. +Das gibt dem Krieg Regeln, die international verbindlich sind. Zum Beispiel müssen Soldat:innen klar erkennbar sein, damit sie von der Zivilbevölkerung zu unterscheiden sind. Wer gezielt Zivilpersonen beschießt, begeht ein Kriegsverbrechen. +Mitglieder der Territorialen Verteidigung tragen deshalb im Einsatz Uniformen (oder zumindest ein gelbes Band am Oberarm), zeigen Kampfausrüstung und Waffen offen. Sie sind rechtmäßig am Kampf gegen die russische Armee beteiligt. Sollten sie sich ergeben müssen, erhalten sie damitals Kriegsgefangene besondere Rechte. Ihre Ehre muss geachtet, sie dürfen nicht gegen ihr Heimatland eingesetzt und nur unter bestimmten Bedingungen zur Arbeit gezwungen werden. diff --git a/fluter/fotostrecke-voguing-in-europa.txt b/fluter/fotostrecke-voguing-in-europa.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f71e7d106ea5a28e9433bda6efb8446cc075277a --- /dev/null +++ b/fluter/fotostrecke-voguing-in-europa.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Dustin Thierry: Auf der Kunsthochschule habe ich "Paris is Burning" gesehen und mich für die Szene interessiert. 2013 war ich dann Resident-Fotograf in dem Jazzclub Bird in Rotterdam. Da habe ich Amber kennengelernt, die Mutter vom House of Vineyard, als sie ihre erste Party veranstaltet hat. Ich habe für sie die ersten Flyer und Poster gemacht und war dann mit ihnen viel auf Festivals unterwegs. +Hattest du als Hetero auch mal das Gefühl, vielleicht nicht der Richtige für den Job zu sein? +Eigentlich nicht. Klar, viele waren erst mal misstrauisch, haben Fragen gestellt, was ich über die Sache weiß und warum ich das mache. Ich spiele mit offenen Karten, ich zeige die Bilder, ich sage, warum es mir wichtig ist, das zu dokumentieren, und da sind wir dann schnell bei einem Austausch. Da entsteht Wärme, ich fühle mich sehr willkommen, würde mich auch mehr willkommen fühlen in der Ballroom-Community als bei einer Hip-Hop-Party. +Ein paar Jahre hast du nicht mehr fotografiert. +Ja, weil meine Kamera in Paris gestohlen wurde. Das war schlimm. Ich hab meine Jobs verloren, mein Einkommen, mein Zuhause. Die Ballroom-Events verfolgte ich dann eine Weile nicht mehr. Bis 2016. Da hat sich mein Bruder umgebracht – nach seinem Coming-out. Dann habe ich wieder angefangen. Das Projekt ist ihm gewidmet. +War dein Bruder in der Ballroom-Szene? +Nein, war er nicht. Aber ich denke immer, das hätte ein Zuhause für ihn sein können. Und ich hätte es ihm so gerne gezeigt. Er ist wie ich auf Curaçao in der Karibik geboren und hat dann in den Niederlanden studiert. Er warein sehr guter Skater, er war auch ein sehr guter Bassist in einer Band. Er ist nach dem Studium zurück nach Curaçao, wollte aber wieder nach Europa. Und er wollte auch fotografieren, sagte er mir am Telefon. Ich dachte, ich könnte ihn mit der Queer-Community zusammenbringen. Fünf Tage später hörte ich dann, dass er von einer Brücke gesprungen ist. Ich wollte diesen Verlust mit meiner Fotografie verarbeiten. Immerhin hatte ich meine ersten Fotos mit seiner kleinen Kamera gemacht. Ich habe einen Kodak-Gold-Film mit 36 Aufnahmen in den Sarg gelegt. Ich werde für ihn Fotos machen, eines Tages können wir uns die dann zusammen anschauen. Die Szene hat mich sehr herzlich wieder aufgenommen. Als Teil der Familie. +Ist die Ballroom-Szene ein sicherer Hafen für viele afrokaribische Kids? +Auf jeden Fall. Die afrokaribische Community ist sehr macho. Und überhaupt recht rigide, was Abweichungen angeht. Ich weiß noch, als Kind stand ich auf Marilyn Manson. Und alle fragten sich, warum ich nicht zu Salsa tanze. In der Geschichte des Selbstmords meines Bruders steckt schon diese Verengung des Blicks drin.Es gibt eine sehr genaue Vorstellung, wie wir uns als männliche Körper präsentierten sollten. Und dann existiert ja immer noch viel Gewalt gegen queere Menschen. Nur 200 Meter von meiner Wohnung entfernt wurden im Januar vier Kids angegriffen, einer starb, zwei davon waren schwarz. Auf der ganzen Welt kommt das vor. Außerdem wird man ja auch systematisch benachteiligt – auf dem Jobmarkt etwa. +Auf deinen Fotos sind sehr viele afrokaribische Menschen zu sehen. Ist das repräsentativ für die Szene? +Nicht unbedingt. Bei dem Projekt geht es um dieblack queer bodys. Die wurden in der Foto-Landschaft bislang nicht ausreichend abgebildet. Ich habe mit einem Anthropologen zusammengearbeitet von der Uni Amsterdam. Deshalb der Fokus auf die Schwarzen. Die anderen haben mich auch irgendwann gefragt, ob ich sie fotografieren wollte. Ich fühlte mich dann verpflichtet, sie auch zu fotografieren. Das wäre ja auch eine Auslassung. Die Szene ist sehr gemischt. Und es macht mir wirklich Hoffnung, wie die miteinander umgehen. Wieblack gay kidssich durch diese Kultur ausdrücken, wie sie gemeinsam nach Paris fahren, da neue Leute kennenlernen, und da auf eine Reise gehen, ihre Persönlichkeit entwickeln. +Bei den Bällen dreht sich alles um den ganz großen Auftritt – um Luxus. +Klar, deshalb habe ich das Projekt ja auch "Opulence" genannt. Diese Luxus-Nummer, ich sehe das immer so, die steht für das, was man haben hätte können. Auch in einem postkolonialen Kontext: Wir Schwarze könnten dieselben Annehmlichkeiten haben, wenn der Wohlstand und die Chancen fair verteilt wären. Wenn ich auf Ballroom-Events Kategorien wie "Executive Realness" sehe, wo man als Geschäftsmann auf die Bühne kommt, oder "School Boy Realness", wo Kids aus gutem Hause nachgespielt werden, dann sind das Fantasien, wer man gerne wäre. Und tatsächlich wirken diese Auftritte ja auf die Mode und Beauty-Industrie zurück: Wenn man sich den Instagram-Feed von Prada anschaut, dann kann den Einfluss von Ballroom total genau sehen. Die Szene könnte da durchaus mehr davon profitieren – und wenn meine Fotos dazu einen Beitrag leisten: umso besser. + +Als 1990 die Doku "Paris is Burning" über die New Yorker Szene rauskam und für Furore sorgte, fühlten sich einige der Protagonisten anschließend ausgenutzt. +Ich finde die Ansicht überholt, dass Heterosexuelle in diesen Räumen verboten sein sollten. Viele sagen, dass sie jemanden bräuchten, der für sie spricht. Ich selbst brauche auch weiße Menschen, die in öffentlichen Räumen für mich sprechen – manchmal jedenfalls. Man kann sich da schon unterstützen. Und es ist wichtig, dass Stimmen gehört werden, die sonst nicht repräsentiert werden. +Die Fotos entstanden in Amsterdam, Rotterdam, Berlin, Mailand und Paris. +Aus dem Englischen übersetzt. diff --git a/fluter/fotostrecke-wohnungsnot-in-hongkong.txt b/fluter/fotostrecke-wohnungsnot-in-hongkong.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..53991ad08aab5069422b76f0aac765745d5ca945 --- /dev/null +++ b/fluter/fotostrecke-wohnungsnot-in-hongkong.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Wohnungsnot herrscht bekanntlich in vielen Megastädten. In der asiatischen Metropole Hongkong ist sie jedoch so dramatisch, dass dort viele Menschen mit wenig mehr als zwei Quadratmetern Wohnfläche auskommen müssen. Ihr einziger privater Rückzugsort ist eine Holz-oder Metallkonstruktion, in die gerade mal eine Matratze und wenige Habseligkeiten hineinpassen und die meist weder Tageslicht noch Frischluft bietet. +Weil diese Unterschlüpfe wie Käfige aussehen, in die normale Wohnungen unterteilt werden, nennt man ihre Bewohner auch "Cage People". So stapeln sich in einem Raum, der ursprünglich als Wohnzimmer einer Familie vorgesehen war, viele winzige Behausungen über-und nebeneinander. Alle Bewohner teilen sich eine Küche und ein Badezimmer –nicht selten sind das mehr als ein Dutzend Menschen. +So beengt die Käfigwohnungen auch sind, bedeuten sie für viele Menschen die Rettung vor der Obdachlosigkeit. Die Miete für einen solchen Verschlag liegt derzeit bei rund 200 Euro pro Monat. Schon seit vielen Jahren gilt Hongkong als einer der unerschwinglichsten Wohnungsmärkte der Welt. Bis auf wenige Ausnahmen ist das gesamte Land in Hongkong Eigentum der Regierung, die die Grundstücke an meistbietende Immobilienentwickler verpachtet. Dadurch steigen die Preise ins Astronomische. Die Regierung benötigt die Einnahmen, um den niedrigen Steuersatz zu garantieren, der viele Unternehmen in die Stadt zieht. diff --git a/fluter/frankreich-im-ausnahmezustand.txt b/fluter/frankreich-im-ausnahmezustand.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..eb53ff9a9d1f95baec2b24f404a34413a5c73e1a --- /dev/null +++ b/fluter/frankreich-im-ausnahmezustand.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Im Parlament regt sich denn auch wenig Kritik gegen die derzeitige Politik. Im Gegenteil: Der einzige wahrzunehmende Protest kommt von der republikanischen Opposition und richtet sich gegen ein vermeintlich zu lasches Vorgehen des Präsidenten François Hollande. Ihr geht der Ausnahmezustand nicht weit genug. Der ehemalige Präsident Nicolas Sarkozy etwa sprach im vergangenen Jahr von einem "totalen Krieg" gegen den Terror. Es gehe darum, endgültig zu entscheiden, wer gewinne: "sie oder wir". +So bleibt die Sicherheit Staatsziel Nummer eins. Dafür werden auch Einschränkungen der Freiheit hingenommen. Im ersten halben Jahr des Ausnahmezustands etwa führten die Sicherheitsbehörden 3.549 Hausdurchsuchungen durch, auf die hin es 592 Anklagen gab. In zehn Prozent der Fälle kam es zu Haftstrafen – nicht allzu viele, kritisieren Bürgerrechtler. Amnesty International berichtet zudem von zahlreichen Polizeimaßnahmen, bei denen Hausbewohner geschlagen und gedemütigt worden seien. Vor allem Muslime seien von Attacken der Polizei betroffen. Eine Studie der Pariser Hochschule Sciences Po zeigt, dass mehr als die Hälfte der Polizisten und Berufsmilitärs in Frankreich dem fremdenfeindlichen Front National zugeneigt sind. +"Seit Inkrafttreten des Ausnahmezustands am 14. November 2015 in Kontinentalfrankreich und am 19. November in den Übersee-Départements haben die Maßnahmen Wirksamkeit gezeigt; so konnten einige Personen, die in direkter Verbindung zur Dschihad-Bewegung stehen, sowie kriminelle Netzwerke, die den Terrorismus unterstützen, destabilisiert werden", erklärte die Regierung im Dezember vergangenen Jahres, als der Ausnahmezustand erneut verlängert wurde. Gleichwohl konnten auch die Notgesetze einen Anschlag wie im Juli 2016 in Nizza nicht verhindern. Dort raste ein Attentäter mit einem Lkw in eine Menge und tötete 86 Menschen. +Zuweilen werden die Befugnisse, die der Ausnahmezustand ermöglicht, auch für Maßnahmen genutzt, die sich nicht direkt gegen den Terror richten. Anlässlich des Weltklimagipfels in Paris Ende 2015 verbot die französische Regierung – aus Sicherheitsgründen – sämtliche Großdemonstrationen, zu denen bis zu 300.000 Menschen in der Hauptstadt des Landes erwartet wurden. +Viele der Notstandsbefugnisse sind mittlerweile Teil der Antiterrorgesetze von 2016 geworden und damit in normales Recht übergegangen. So ist nach einer der neuen Regelungen bereits das wiederholte Besuchen von dschihadistischen Webseiten strafbar. Ein Gericht im französischen Département Ardèche verurteilte Ende 2016 einen 32-Jährigen zu zwei Jahren Gefängnis und 30.000 Euro Strafe, weil er Webseiten besucht hatte, die sich für einen Glaubenskrieg aussprachen. Bürgerrechtler kritisierten das zugrunde liegende Gesetz als "ausufernd", da es die Meinungs- und Informationsfreiheit behindere. Im Februar kassierte das französische Verfassungsgericht das Gesetz, weil es unverhältnismäßig sei. diff --git a/fluter/frankreich-lebensmittelverschwendung.txt b/fluter/frankreich-lebensmittelverschwendung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6895a0d19f5023267ccaef025bdce72af94474c5 --- /dev/null +++ b/fluter/frankreich-lebensmittelverschwendung.txt @@ -0,0 +1,5 @@ + +Anders in Frankreich. Hier gilt seit fast vier Jahren ein Gesetz, das Supermärkte mit einer Ladenfläche von mehr als 400 Quadratmetern dazu verpflichtet, genießbare Lebensmittel entweder selbst weiterzuverwenden oder sie zu spenden: am besten an gemeinnützige Organisationen, die sie dann kostenlos an bedürftige Personen abgeben. Andernfalls sind Supermärkte aufgefordert, die Reste für die Produktion von Tierfutter, als Kompost für die Landwirtschaft oder zur Energiegewinnung zur Verfügung zu stellen. Tun sie es nicht, winken hohe Geldstrafen. +Insgesamt werden in Frankreich pro Kopf jährlich zwischen 20 und 30 Kilogramm Lebensmittel weggeworfen. In Deutschlandsind es sogar rund 82 Kilo. Etwas mehr als die Hälfte davon wirdlaut einer Studiedes Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft zu Hause weggeworfen – der Rest während der Produktion, im Handel oder in Cafés und Restaurants. +Mithilfe des neuen Gesetzes will man in Frankreich die Lebensmittelabfälle bis 2025 halbieren. Auch die Supermärkte selbst profitieren davon – sie können nämlich 60 Prozent des Einkaufspreises der gespendeten Lebensmittel von der Steuer absetzen. Leider könnte das Gesetz laut Kritikern aber auch dazu führen, dass Unternehmen strategisch mehr kaufen, weil sie es später wieder von der Steuer absetzen können. Und natürlich kann längst nicht alles, was entsorgt wird, auch gegessen werden: Obst, Fleisch oder Fisch zum Beispiel verderben rasch, wennsie nicht rechtzeitig abgeholt werden. +Unser Filmteam war vor Ort und hat geschaut, wie das neue französische Gesetz funktioniert und von den Menschen angenommen wird. Nur eines hat es trotz vieler Versuche nicht geschafft: einen Supermarkt für ein Statement zu gewinnen. diff --git a/fluter/frankreich-parlamentswahl-protokolle.txt b/fluter/frankreich-parlamentswahl-protokolle.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..82b36756559320ce87796cf7ebe3d56113290dbe --- /dev/null +++ b/fluter/frankreich-parlamentswahl-protokolle.txt @@ -0,0 +1,34 @@ + +"Ich habe das linke Wahlbündnis NFP gewählt und war sehr froh über die Ergebnisse der zweiten Wahlrunde. Da aber keine Partei eine absolute Mehrheit erreicht hat, wird wohl erst mal ziemlich viel politisches Drama auf uns zukommen. Wie für viele Menschen aus Frankreich ist die Partei von Macron für mich unwählbar geworden. +Ich persönlich denke zum Beispiel daran, wie die Regierung eine EU-weite Definition von Vergewaltigung abgelehnt hat. Sie basiert auf Konsens, und hätte es Frauen in Frankreich erleichtert, Vergewaltigungen zur Anzeige zu bringen. In Frankreich muss man nämlich quasi beweisen, dass man genötigt wurde – deswegen kommt es seltener zu Verurteilungen. Ich halte auch das Wirtschaftsprogramm der NFP für weitaus besser als das anderer Parteien, zum Beispiel als das des rechten Rassemblement National (RN). Dessen Politik würde eher zumehr Ungleichheiten in der Gesellschaftführen. Genau das brauchen wir nicht in Frankreich. +Mich sorgen jetzt schon erhöhte Militärausgaben, während Bereiche wie Bildung und Gesundheit chronisch unterfinanziert sind. Ebenso die Sicherheitvon Frauen und marginalisierten Gruppen: Die Zahl der sexuellen Übergriffe ist relativ hoch. Ich hoffe, diese Themen werden nicht unter den Teppich gekehrt. Ich kann nicht sagen, dass ich optimistisch in die Zukunft blicke. Dieses Bündnis der NFP war ja nur zweckmäßig, in vielen Punkten sind die Parteien sich überhaupt nicht einig. Bis ein Premierminister feststeht, bin ich vorsichtig dabei, die politische Lage im Land zu beurteilen." +Emma, 24, aus der Nähe von Straßburg, arbeitet in einem französischen Kindergarten in Berlin + +Eigentlich stünden erst in drei Jahren wieder Parlamentswahlen an. Am 9. Juni, am Abendder Europawahl, bei der das Parteienbündnis von Präsident Emmanuel Macron weit abgeschlagen hinter dem rechtsextremen Rassemblement National landete, verkündete dieser jedoch kurzfristig die Auflösung der Nationalversammlung. Nach Artikel 12 der französischen Verfassung darf er das. +Die Nationalversammlung (Assemblée nationale) ist neben dem Senat eine der zwei Kammern des französischen Parlaments und kontrolliert die Regierungsarbeit. Sie verabschiedet beispielsweise Gesetze oder genehmigt Ausgaben. Sie besteht aus 577 Abgeordneten, jeweils einer Person pro Wahlkreis. Das französische Staatsoberhaupt, der oder die PräsidentIn, wird in einer separaten Wahl direkt gewählt und verfügt über mehr Macht als in Deutschland. Er oder sie kann die Nationalversammlung auflösen, Gesetze an das Parlament zurückverweisen, internationale Verträge verhandeln und ist außerdem OberbefehlshaberIn der Streitkräfte. +In jedem Wahlkreis treten KandidatInnen verschiedener Parteien an. Da jedoch eine absolute Mehrheit benötigt wird, also mehr als die Hälfte der Stimmen, schließen sich viele Parteien zu Bündnissen zusammen. Wer eine absolute Mehrheit erreicht, bekommt direkt einen Platz in der Nationalversammlung, sofern er oder sie die Stimmen von 25 Prozent der Wahlberechtigten in einem Wahlkreis hinter sich versammelt. Ansonsten treten an einem zweiten Termin noch mal alle an, die von mindestens 12,5 Prozent der Wahlberechtigten gewählt wurden. Die Person mit den meisten Stimmen gewinnt – nach dem Prinzip "The winner takes it all". Nach der Wahl ernennt der oder die PräsidentIn einen oder eine PremierministerIn. Diese Person bestimmt wiederum die Mitglieder der Regierung. Normalerweise kommen PräsidentIn und PremierministerIn aus demselben politischen Lager. Ist das nicht so, spricht man von "cohabitation" – der gemeinsamen Ausübung der Regierungsverantwortung durch zwei konträre politische Lager. + +"Nach sieben Jahren Macron ist seine Bilanz denkbar schlecht: Die Staatsschulden sind explodiert, diplomatische Beziehungen haben sich verschlechtert, und ich habe das Gefühl, dass Frankreich immer unsicherer wird. Damit meine ich alltägliche Gewalt, Übergriffe auf der Straße und Vergewaltigungen. Der Rassemblement National war für mich die einzige Partei, die dieses Thema ernst genommen hat, deswegen habe ich für sie gestimmt. +Der RN ist nicht perfekt – die Kandidaten kommen manchmal etwas amateurhaft daher, und auch sein Wirtschaftsprogramm ist nicht optimal: Nirgends ist beispielsweise die Rede davon, die Staatsschulden zu tilgen. Aber zumindest tun sie nicht so, als ob alles in Ordnung wäre, und sie versuchen, Lösungen für Probleme zu finden. Zum Beispiel setzen sie sich für bessere Grenzkontrollen ein oder die Möglichkeit, Familien die Sozialhilfe zu kürzen, wenn die Kinder wiederholt straffällig werden. Die NFP macht genau das Gegenteil: Sie setzt sich unter anderem für einen regulären Status für Personen ohne Aufenthaltspapiere ein. Wenn die kriminell werden, könnte das einer Abschiebung im Weg stehen. +Ich finde, mit dem Ausgang des zweiten Wahlgangs sind die meisten Wählerinnen und Wähler nicht wirklich repräsentiert. Ich befürchte, mit den drei Blöcken, die sich jetzt ergeben haben, wird es schwierig werden, einen neuen Weg einzuschlagen." +Charles, 26, aus Rouen, arbeitet als Ingenieur in Doubs an der Grenze zur Schweiz + + +"Prinzipiell finde ich, dass es bei den Wahlen nicht immer um Parteipolitik gehen sollte: Viel wichtiger ist, dass der Abgeordnete die Bedürfnisse des Wahlkreises repräsentiert. Deswegen habe ich meine Stimme dem Kandidaten der Liste ‚Divers centre' gegeben (Kandidaten, die politisch zum Zentrum gehören, aber nicht von einer zentristischen Partei aufgestellt wurden, also auch Parteilose, Anm. d. R.). Der müsste sich an keine Anordnungen der regierenden Parteien halten. +Ich finde, die Dinge stehen gar nicht so schlecht, wie alle meinen, nur leider sehen die Leute immer eher das Negative. Dass Jean-Luc Mélenchon von der linkspopulistischen LFI an die Regierung kommen könnte, ist für mich keine schöne Vorstellung. Für mich ist er ein Populist, der nur nach mehr Macht strebt. Ähnlich wie Präsident Macron, aber dessen Positionen kann ich zumindest vertreten: Zum zum Beispiel seine geplanteAnhebung des Rentenaltersauf 64 Jahre. Dass linke Parteien weiterhin den Eintritt ab 62 Jahren oder sogar eine Senkung fordern, halte ich im Hinblick auf wirtschaftliche Realitäten für unverantwortlich. Wer weiß schon, wie unsere Lage in 30 Jahren sein wird, wenn unsere Generation in Rente geht? +Den RN finde ich extrem gefährlich, insbesondere weil die Partei immer mehr verharmlost wird. Rechte Medien schüren Ängste in der Bevölkerung, die der RN ausschlachten kann. Das besorgt mich sehr. Außerdem ist es doch klar, dass wir Migration für eine funktionierende Wirtschaft brauchen. Ich hoffe auf eine Kohabitation (Bezeichnung in Frankreich für die gemeinsame Ausübung der Regierungsverantwortung durch zwei konträre politische Lager, Anm. d. Red.), die offen für Kompromisse ist. Dass wir als Nation gespalten sind, muss nicht bedeuten, dass unser Dialog erstarrt und wir alle stur auf den Ideologien der Parteien beharren. Wir sollten an die Einheit Frankreichs denken und eine Regierung bilden, die aus linken Parteien, meinetwegen sogar LFI, und aus Parteien des Zentrums besteht." +Raphael, 26, aus Toulouse, arbeitet als Kellner in Paris + + +"Normalerweise wähle ich La France Insoumise (LFI), aber in meinem Wahlkreis habe ich für einen Kandidaten der sozialdemokratischen Parti Socialiste (PS) gestimmt. Der gefällt mir eigentlich überhaupt nicht, ist aber für das Wahlbündnis der Nouveau Front Populaire angetreten – und hat auch gewonnen. +Den Rassemblement National lehne ich allein schon deswegen ab, weil ich jüdisch bin. Nicht nur das, ich versuche, die Ideologie des RN zu bekämpfen, wo ich kann. Macrons Partei ist für mich allerdings auch nicht wählbar. Ich bin für eine gerechtere Umverteilung in der Gesellschaft, und seine Partei ist für mich so etwas wie die Inkarnation des Neoliberalismus, der aus meiner Sicht gefährlich ist. Aber auch Jean-Luc Mélenchon von LFI finde ich nicht ideal. Ich bin gegen Nationalismus, und Politiker wie er hängen mir zu sehr an der französischen Flagge und anderen Symbolen. Außerdem fällt es ihm schwer anzuerkennen, dass Frankreichimmer noch eine Kolonialmacht ist. +Nach den Wahlergebnissen haben meine Freunde und ich gefeiert: Der RN hat nicht nur verloren, sondern ist sogar letzter der drei Blöcke geworden. Zwar sind wir erleichtert, aber wie ein Sieg fühlt es sich nicht an. Macron hat verkündet, dass er niemanden als Gewinner der Wahl sieht, und pocht immer wieder auf eine große Allianz ohne die LFI. Auch die Medien machen gegen die LFI Stimmung. Für die NFP wird es auf jeden Fall schwierig werden, sich an einer Regierung zu beteiligen." +Jean, 26, arbeitet als Schulhelfer in Paris + + +"Seit Emmanuel Macron 2017das erste Mal die Präsidentschaftswahlen gewonnen hat, habe ich immer für seine Partei gestimmt. In Frankreich wählen die Menschen immer mehr die Extreme, für mich ist aber das politische Zentrum die stabilere Option. +Die Wirtschaftspolitik ist für mich entscheidend. Der Staat muss die Wettbewerbsfähigkeit der französischen Unternehmen aufrechterhalten, um so Arbeitsplätze zu schaffen und zu sichern. Das bedeutet zum einen, dass die Belastungen für die Unternehmen nicht erhöht werden dürfen, zum Beispiel durch eine Erhöhung des Mindestlohns. So etwas würde die kleinsten und schwächsten Unternehmen in Schwierigkeiten bringen. Es bedeutet auch, dass der Staat Innovationen und Produkte, die in Frankreich produziert werden, fördern sollte. Dazu muss in Bereiche wie die Zukunftsindustrie investiert werden, um nicht hinter andere Länder zurückzufallen. +In anderen Punkten stimme ich jedoch mit den linken Parteien überein. Frankreich hat durch wichtige Reformen im Bereich der Arbeit und des Sozialschutzes einen starken Wohlfahrtsstaat. Ich bin der Meinung, dass diese Maßnahmen erhalten und geschützt werden müssen. Den Rassemblement National halte ich für inkompetent. Der Vorsitzende, Jordan Bardella, hatte mal die Idee, dass unter 30-Jährige von der Einkommensteuer befreit werden sollen. Dann müsste ein 31-jähriger Arbeiter Abgaben machen, während der Starfußballer Kylian Mbappé keine Steuern zahlt. Ich kann verstehen, dass viele Menschen sich zunehmend unsicher fühlen – auch ich habe das Gefühl, dass die Gewalt zunimmt. Aber diese Partei reitet einzig und allein auf den Ängsten der Franzosen herum. Sie bietet keinerlei wirtschaftliche oder soziale Antwort auf die Probleme in Frankreich. Insgesamt blicke ich eher pessimistisch in die Zukunft. Wir sind im Land extrem geteilt, und ich sehe nicht, wie irgendeine Partei uns wieder vereinen könnte." +Thibault, 28, arbeitet im Finanzwesen in Paris + +Portraits: privat; Titelbild: Laurence Geai/MYOP/laif diff --git a/fluter/frankreichs-verkehrssystem.txt b/fluter/frankreichs-verkehrssystem.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4bfe289b4b6dfc0e50734efbfd20776e306f3296 --- /dev/null +++ b/fluter/frankreichs-verkehrssystem.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Frankreich hat zwei Gesichter: das traditionelle und das moderne wie das gigantische Stachelschwein in Lyon. Lange bevor die ersten deutschen Städte sich getraut haben, richtige Fahrradverleihsysteme einzuführen, radelten die Bewohner von Rennes und Orléans schon mit Leihrädern durch die Straßen. Heute gibt es in Dutzenden französischen Städten solche Systeme. Auch bei der Wiederbelebung von Straßenbahnen preschte Frankreich vor – und heute gleiten die Trams hier teils ohne sichtbare Stromleitungen durch die Stadt. +Die Umwelt ist im Land des Atomstroms (siehe Artikel "Strahlkraft" im Heft Seite 46) sowieso zum großen Thema geworden. So gilt seit 2015 ein Gesetz zum "Energiewandel und für ein grünes Wachstum", das den Ausbau von erneuerbaren Energien ankurbeln und den Energieverbrauch bis 2050 trotz wachsender Bevölkerung gegenüber 2012 um die Hälfte senken soll. Im wahrsten Sinne des Wortes erfahrbar werden Frankreichs Ambitionen auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien auf einer Straße in der Normandie: Auf einem Kilometer Länge wurde dort letztes Jahr die erste Solarstraße der Welt in Betrieb genommen. Statt auf Asphalt fahren die Autos auf besonders stabilen, 15 x 15 cm großen Fotovoltaik-Modulen. 20 Quadratmeter sollen ausreichen, um einen Haushalt mit Strom zu versorgen. +Und seit Kurzem gilt Frankreich auch als Vorreiter im Kampf gegen Plastikmüll; nach dem Verbot von dünnen Plastiktüten im Jahr 2016 soll es ab 2020 auch kein Einwegplastikgeschirr mehr geben, schreiben französische Medien. Wirtschaftlich könnte sich Frankreichs Kurs auszahlen. Zwar sind es dort wie auch hier vor allem Autos und Maschinen, die exportiert werden – und Flugzeuge. Doch stehen gerade in den ehemaligen Kolonien auch Frankreichs Züge und Straßenbahnen hoch im Kurs. So werden in Algerien derzeit überall Tramnetze nach französischem Vorbild gebaut. Und in Marokko ist SNCF am Bau eines Netzes für Hochgeschwindigkeitszüge beteiligt. TGV-Züge sollen ab 2018 mit bis zu 320 km/h von Tanger in Richtung Casablanca brausen. +Während Deutschland berühmt ist für sein Autobahnnetz, auf dem man richtig rasen kann, setzen die Franzosen vermehrt auf die Schiene. Oder um bei Saint-Exupéry zu bleiben: Zukunft bauen beide – nur eben eine andere. diff --git a/fluter/franz-kafka-der-prozess.txt b/fluter/franz-kafka-der-prozess.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..12aa6d53045ed7fec1c05eca6aea9a5bf487ea2a --- /dev/null +++ b/fluter/franz-kafka-der-prozess.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Viel zu lange nämlich vertraut dieser K. auf das Gesetz als ein Recht, das ihm zusteht. Den Schilderungen Kafkas zufolge hat sich K. nichts zu Schulden kommen lassen. Deshalb bleibt er nach der ersten Aufregung gelassen. K. wird zunächst ohne konkrete Beschuldigung in seiner Mietwohnung verhaftet. Seine Häscher dürfen ihm nicht sagen, wofür sie ihn verhaften, und sie beteuern, den Grund auch gar nicht zu kennen. Sie seien einfach nur damit beauftragt, ihn zu verhaften. +Das verärgert K. anfangs. Doch da er seinem Beruf weiterhin nachgehen darf – K. ist Prokurist einer Bank in einer nicht näher benannten Stadt –, lässt er die Dinge geschehen. Er besucht die erste Anhörung und muss dabei feststellen, dass das Gericht in einer heruntergekommenen Mietskaserne am Rande der Stadt tagt. Das Gesetz, das die Verhaftung K.s ermöglicht, so zeigt Kafka mit dieser Verortung, entstammt nicht der Mitte der Gesellschaft. Es wird K. aufgezwungen. Da K. nicht die Gründe seiner Verhaftung erfährt, macht das Gesetz sich unangreifbar. +Da er sich aber aufgrund seiner beruflichen Stellung in einer sicheren Situation wähnt, reagiert K. nicht auf die Situation. Wenn er handelt, so wählt er sich die falschen Verbündeten. Als er sich schließlich einen Advokaten zur Hilfe nimmt, muss er bald feststellen, dass dieser seiner Aufgabe nicht gerecht wird. Nicht einmal die grundlegende Aufgabe, nämlich K. als seinen Klienten über den Fall und die Umstände seiner Verhaftung zu befragen, absolviert dieser Anwalt. Zu spät stellt K. deshalb fest, dass ihm all seine Macht in diesem Fall nichts nützt. Selbst seine Bestechungsversuche scheitern. +Wie der Protagonist seines Romans lebte auch Kafka selbst in privilegierten Verhältnissen. Er wurde 1883 in Prag als Sohn einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie geboren. Mit nur 23 Jahren promovierte er in Jura. Bevor Kafka 1924 in einem Wiener Sanatorium starb, arbeitete er als Angestellter von Versicherungsgesellschaften. Seine erste öffentliche literarische Lesung hält er erst 1913 in Prag ab. Schon da macht seine Gesundheit ihm zu schaffen, und auch seine Liebesgeschichten verlaufen nicht glücklich. +Auch diese privaten Motive gilt es beim Lesen von "Der Prozess" in Erinnerung zu halten. Dennoch ist es vor allem die Geschichte eines undurchsichtigen Rechtssystems, das den Protagonisten K. hier unterdrückt. Am Ende wird gar das Urteil vollstreckt, K. in einem Steinbruch "rechtskräftig" erstochen. +Franz Kafka erzählt mit "Der Prozess", 1925 erstmals veröffentlicht, demnach einen surrealen Albtraum. Aus seiner Zeit heraus liest sich das Buch wie eine Allegorie auf die Bürokratisierung der europäischen Gesellschaften. Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Sozial- und Rentenversicherungen eingeführt, beginnend mit dem vom deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck verantworteten "Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter", das 1884 in Kraft trat. So sehr eine derartige Versicherung die Planbarkeit eines individuellen Lebens erhöhte, so vermehrte sie auch die Verwaltungsprozesse seitens des Staates. Gerade dieser Effekt der Bürokratie, die immer wieder undurchschaubar und damit zum Problem für den Staatsbürger werden kann, gehört zu den Grundmotiven in Kafkas Werk überhaupt. Es zieht sich durch den Roman "Das Schloss" ebenso wie durch "Die Strafkolonie", eine der bekanntesten Erzählungen des Autoren. +Vor diesem Hintergrund zeigt "Der Prozess" in schmerzhafter Deutlichkeit, welche Gefahren in einem blinden, technokratischen Vertrauen in das Recht lauern. Kein Recht ist vor den Menschen da. Das Recht wird immer von Menschen gemacht, ja, sie müssen es machen: Überlassen sie dieses Handeln nämlich den anderen, dann sind die Menschen auch gezwungen, sich dem Recht der anderen zu unterwerfen. +Franz Kafka: Der Prozess (Hamburger Lesehefte Verlag, 248 S., 3.10 €) +Christoph Braun (40) ist Soziologe und schreibt für Online- und Print-Medien über Pop-Kultur. diff --git a/fluter/franziska-boehler-buch-krankenschwester.txt b/fluter/franziska-boehler-buch-krankenschwester.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6461ad5864c07304b1441b11cb06a0a2a1cb8f2d --- /dev/null +++ b/fluter/franziska-boehler-buch-krankenschwester.txt @@ -0,0 +1,19 @@ + +fluter.de: Viele verbinden Pflegeberufe mitNachtschichten, Überstunden und schlechter Bezahlung. Warum bist du Krankenschwester geworden? +Franziska Böhler: Schon als Kind habe ich mich auf jede blutende Wunde gestürzt, die es in unserer Familie zu versorgen gab. Mit vier wünschte ich mir einen Arztkoffer zu Weihnachten. Mit zehn habe ich meinen Opa im Krankenhaus besucht. Sein Bettnachbar war schwer krank und hing an gefühlt tausend Kabeln. Da kam eine Krankenschwester ins Zimmer, sortierte mit geübten Handgriffen alle Schläuche und drückte nebenbei das Piepsen weg. Das hat mich so fasziniert, dass ich das auch können wollte. +Wann hast du gemerkt, dass deine Erwartungen nicht der Realität entsprechen? +Als ich 2004 mit der Ausbildung anfing, hatte mein Jahrgang eine super Anleitung und konnte es kaum erwarten, endlich loszulegen. Aber mit der Zeit fühlten sich viele frustriert und überfordert. Oft blieb keine Zeit, uns so um die Patienten zu kümmern, wie es uns beigebracht worden war. Als eine Kollegin, die schon seit 40 Jahren im Dienst war, eines Tages mitten auf dem Stationsflur heulend zusammenbrach, wusste ich, dass etwas schiefläuft. +Du schreibst, dass die Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern aus motiviertem Pflegepersonal "abgestumpfte Pflegemaschinen" machen. +Wenn du morgens auf Station kommst, wo ein Haufen Patienten auf dich wartet, für die du aber nur begrenzt Zeit hast, du dann vielleicht noch in Unterbesetzung arbeitest oder ein Notfall reinkommt, dann wirst du zur Maschine. Du funktionierst nur noch, hast bloß Zeit für das Nötigste, während das Menschliche auf der Strecke bleibt. Das frustriert innerlich so sehr, dass du irgendwann abstumpfst oder zynisch wirst. +Wie äußert sich das? +Ich sehe mich noch nicht als "abgestumpfte Pflegemaschine", aber auch ich werde mal ungeduldig oder etwas lauter, wenn ein dementer Patient ständig über sein Bettgitter klettert, während der Patient im Nachbarzimmer dringend für seine OP vorbereitet werden muss und ein anderer seit Stunden darauf wartet, gelagert zu werden, damit er sich nicht wund liegt. Wenn man immer unter Druck steht, hat man sich nervlich nicht mehr gut im Griff. Im schlimmsten Fall macht man Fehler. +Welche strukturellen Probleme stecken dahinter? +Ein großes Problem ist der Personalmangel. Bei uns fing es schleichend an: Kollegen sind in Rente gegangen, deren Stellen wurden nicht nachbesetzt. Andere sind krank geworden, haben ihre Schichten reduziert oder den Beruf gewechselt, weil ihnen die Arbeit zu viel wurde. Für die übrigen wurde die Arbeitsbelastung immer größer. Wir arbeiten oft unterbesetzt. Gleichzeitig fehlt der Nachwuchs, weil kaum noch jemand in der Pflege arbeiten will. +Denkst du, dass die Aufmerksamkeit, die Pflegeberufe durch dieCorona-Pandemiebekommen haben, politisch einen Effekt haben wird? +Die deutschen Krankenhäuser befinden sich seit Jahren in einer Ausnahmesituation, nicht erst durch Corona. Die Pandemie hat nur unseren Beruf und die sogenannte Systemrelevanz in den Fokus gerückt. Für ein paar Wochen haben alle auf die Krankenhäuser geguckt. Ich hatte gehofft, dass die gesellschaftliche Wertschätzung politische Entscheidungen bewirkt, doch leider ist das nicht passiert. +Wie erklärst du dir das fehlende Interesse? +Erst hatten alle Angst vor Corona, jetzt haben viele den Eindruck, dass die Situation doch nicht so schlimm ist. Niemand beschäftigt sich gerne mit Krankheiten oder dem eigenen Tod, dabei betrifft das Gesundheitswesen alle: 98 Prozent der Kinder werden im Krankenhaus geboren, jeder zweite Mensch stirbt in einer Klinik. Dazwischen können jederzeit Unfälle oder schwere Krankheiten passieren. +Was muss sich ändern, um den Beruf für junge Menschen wieder attraktiv zu machen? +Wir brauchen mehr Geld. Der Verdienst sollte natürlich nicht der Grund sein, in die Pflege zu gehen – aber er sollte auch keinen davon abhalten. Außerdem brauchen wir Öffentlichkeitsarbeit, beispielsweise Menschen, die an Schulen über unseren Beruf aufklären. Viele glauben, wir machen nichts anderes als Popos abwischen und Händchen halten. Dabei dosieren wir auch Medikamente, überwachen körperliche Beschwerden und sorgen dafür, dass sich unsere Patienten aufgehoben und würdevoll behandelt fühlen. Das kann nicht jeder, dafür braucht man eine qualifizierte Ausbildung und ein gewisses Einfühlungsvermögen. Man muss auf Zack sein, Zusammenhänge erkennen und empathisch sein. Ich bin stolz darauf, Krankenschwester zu sein, und wünsche mir, dass diese Verantwortung künftig mehr anerkannt wird. + +Franziska Böhler arbeitet seit 2007 als Krankenschwester auf einer anästhesiologischen Intensivstation in der Nähe von Frankfurt am Main und seit 2018 zusätzlich in der Anästhesie. Als@thefabulousfranzinimmt sie ihre 150.000 Instagram-Follower regelmäßig mit auf Station. (Foto: Michael Eichelsbacher) diff --git a/fluter/franzoesische-luxusmode.txt b/fluter/franzoesische-luxusmode.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..16f2e1a3c65e6a08475b287171dee17085b58ca3 --- /dev/null +++ b/fluter/franzoesische-luxusmode.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Man könnte das Nobelmarken-Namedropping noch eine Weile fortsetzen (all die Champagnersorten!), denn: Französische Unternehmen sind weltweit Marktführer im Luxussegment. Entsprechend wichtig ist die Luxusindustrie für die französische Wirtschaft. Allein in Frankreich beschäftigt sie etwa 200.000 Menschen. Noch dazu wird die Branche immer lukrativer, denn mehr und mehr Kunden können und wollen sich Luxus leisten. Die Unternehmensberatung Bain & Company prognostiziert bis 2020 weltweit rund 400 Millionen Luxuskonsumenten. +Warum sind gerade französische Unternehmen in diesem Geschäft so erfolgreich? Ein Teil der Antwort besteht darin, dass die Liebe zum Luxus zur französischen Kultur gehört – und die Konzerne dieses kulturelle Erbe und Lebensgefühl gut vermarkten können. "Natürlich gibt es nicht den Franzosen", sagt der Kulturwirt und Frankreichforscher Christoph Barmeyer von der Universität Passau. "Aber ab einem gewissen Einkommen leisten sich Franzosen eher mal eine ‚petite folie', eine kleine Verrücktheit." + +Der Juwelier und Schmuckdesigner René Talmon L'Armée hat den gleichen Eindruck. Er beobachtet in seinen Läden in Berlin und Paris, dass sich französische Kunden besonders genussvoll für eine Kette oder ein Paar Ohrringe entscheiden. "Franzosen kaufen auch mal ganz schnell ein Schmuckstück, etwa für ein besonderes Abendessen", erzählt Talmon L'Armée. "Da soll dann zum Outfit noch der passende Schmuck her." +Um diese Freude am Luxuriösen zu verstehen, hilft ein Blick in die Vergangenheit, auf das prunkvolle Leben am Hof von Versailles. Dort nahmen die Höflinge auf Kloschüsseln aus Mahagoni Platz, und weil Waschen mit Wasser damals verpönt war, überdeckten die feinen Damen unangenehme Gerüche mit besonders viel Puder und Parfum. Königin Marie Antoinette war zudem ein ausgemachtes "Fashion Victim". Sogar ihr mit 3,6 Millionen Francs ohnehin schon recht üppiges Jahresbudget für Kleidung reichte nicht ganz für ihren exquisiten Geschmack. Ihre Majestät gönnte sich einfach zu gern mit Saphiren und Diamanten verzierte Roben. +Luxus war aber auch damals nicht nur ein dekadentes Vergnügen der Adligen, sondern genauso ein profitorientiertes Geschäft. Eines, das die Staatskassen mit ausländischem Geld füllen sollte. Der Finanzminister von Louis XIV. – dem "Sonnenkönig" –, Jean-Baptiste Colbert, förderte Manufakturen, die nicht nur den Hof mit hochwertigen Waren wie Porzellan und feinen Stoffen beliefern, sondern auch für den Export produzieren sollten. +So entstand nicht nur eine positive Handelsbilanz, sondern auch eine handwerkliche Tradition: Viele der heute führenden Luxusmarken wurden im 18. und 19. Jahrhundert von kunstfertigen Handwerkern begründet, die den Hof mit den schönsten und edelsten Dingen versorgten. Louis Vuitton beispielsweise fertigte das Reisegepäck für Kaiserin Eugénie, Einpackservice inklusive. Diese Tradition und Handwerkskunst beschwören die französischen Nobelmarken noch heute, um das Gefühl der Exklusivität zu vermitteln und ihre hohen Preise zu rechtfertigen. +So richtig exklusiv sind all die beseelten Handtaschen und Schmuckstücke allerdings nicht mehr – vom Preis mal abgesehen. Schon allein, weil Exklusives für die Massen ein Widerspruch in sich ist. Die Firmen haben seit Langem eine zweite Zielgruppe neben den wirklich gut Betuchten im Blick: die Mittelschicht, die sie mit logoübersätem Bling-Bling und massenhaft produzierten Accessoires und Kosmetik locken. Wer sich noch nicht die Armbanduhr leisten möchte oder kann, bekommt als Einstiegsdroge eben eine Sonnenbrille oder einen Lippenstift. Von einer "Demokratisierung des Luxus" ist da gern die Rede. Das klingt schön. In erster Linie handelt es sich aber um eine knallharte kapitalistische Strategie zur Gewinnmaximierung. +Denn längst werden die Luxuskonzerne nicht mehr von Handwerkern, sondern von betriebswirtschaftlich denkenden Geschäftsmännern wie LVMH-Chef Bernard Arnault geführt. Von dem stammt übrigens auch das bezeichnende Zitat, dass die Luxusgüterindustrie der einzige Bereich sei, in dem man Luxusmargen erzielen könne. Der Gewinn, den die Marken beispielsweise mit Handtaschen erzielen, ist in der Regel zehn bis zwölf Mal so hoch wie die Produktionskosten. Bei Arnaults Zugpferd Louis Vuitton beträgt er sogar das Dreizehnfache. +Möglich werden solche Profite, weil die Manager vieler Häuser massiv Kosten reduzieren. Die Marken steigen auf günstigere Materialien um, schneidern Ärmel grundsätzlich einen guten Zentimeter kürzer, um Stoff zu sparen – und verlegen Teile der Produktion aus dem teuren Westeuropa in Länder wie China. Damit man trotzdem ein Etikett mit "Made in France" oder "Made in Italy" einnähen kann, wird dort zumindest ein "wesentlicher" Produktionsschritt vorgenommen. Ausnahmen wie Hermès – das Unternehmen setzt im Gegensatz zu vielen Konkurrenten auf traditionelle Produktionsweisen und Handarbeit wie anno 1837 – bestätigen die Regel. +Apropos China. Die Chinesen sind, aller Luxusliebe der Franzosen zum Trotz, längst die wichtigsten Kunden: Rund 100 Milliarden Euro haben sie 2015 für Luxusprodukte ausgegeben, was 46 Prozent des weltweiten Umsatzes in diesem Segment entspricht. Zum Shoppen französischer Nobelmarken pilgern sie gern nach Paris. Dort reihen sich die chinesischen Touristen dann an den Champs-Élysées geduldig vor der Louis- Vuitton-Filiale ein und stehen Schlange wie beim Textildiscounter. + diff --git a/fluter/franzoesischer-hiphop.txt b/fluter/franzoesischer-hiphop.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0f77d9b3695c936d9363af403123851527260c79 --- /dev/null +++ b/fluter/franzoesischer-hiphop.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Der Film "La Haine", auf Deutsch: Hass, von Mathieu Kassovitz hat das französische Kino 1995 ganz schön aufgemischt. Und nicht nur das Kino. Die Polizei protestierte, der damalige Front- National-Vorsitzende Jean-Marie Le Pen wollte die Macher gar ins Gefängnis stecken, und Alain Juppé, damals Premierminister, ließ das Werk in einer Sondervorführung seinen Kabinettsmitgliedern zeigen. "La Haine" ist nicht nur der erste Film, mit dem die französische Öffentlichkeit das trostlose Leben in den Banlieues auf der großen Leinwand sah, es ist auch der erste Film, der die soziale Bedeutung des HipHop für die Jugendlichen der Vorstadt realistisch darstellt. +HipHop war immer schon eine Form der Selbstbehauptung. Das war bereits so, als in den 1970er-Jahren in der New Yorker Bronx die ersten improvisierten Partys stattfanden. Im HipHop melden sich die zu Wort, die sonst nicht gehört werden. Reimten die ersten Rapper noch "school" auf "fool" und "cool", entwickelte sich der Sound in den 1980er-Jahren zu einem schwarzen Nachrichtenkanal, zu einer Art CNN, wie Public Enemy es formulierten. In Frankreich müsste man sagen: zum CNN der Banlieue. +Denn hier schlägt das Herz des französischen HipHop. Und das pocht laut und deutlich. Frankreich gilt als der zweitgrößte Markt für Hip- Hop nach den USA. Auch wegen der vielen Einwanderer aus Afrika und der Karibik fasste der Sound schnell Fuß. Mit seinen amerikanischen Vorbildern blieb der französische HipHop musikalisch immer im Dialog. Würde man die ersten erfolgreichen Rapper wie MC Solaar oder IAM eher der Ostküste mit ihrem sozialkritischen Rap zuordnen, sind Crews wie Suprême NTM von den grellen Gangsterballaden der Westcoast beeinflusst. In den letzten Jahren lehnen sich viele an den synthielastigen Dirty-South-Stil an. +Inhaltlich hat der französische HipHop die typischen Themen schnell erweitert. Zwar dominiert auch hier Lebensweltliches: Die Lyrics erzählen Geschichten von Arbeitslosigkeit und Gewalt, Zurückweisung und Chancenlosigkeit. Probleme wie Rassismus, Drogen und Kriminalität tauchen oft auf. Aber viele Rapper wagen auch den größeren Aufschlag. Sie erzählen die Geschichte ihrer (Groß-)Elterngeneration noch einmal neu. Da geht es um Kolonialismus, den Algerienkrieg, die wirtschaftliche Benachteiligung. War die Elterngeneration noch betont angepasst, um bloß nicht aufzufallen, wie der Rapper Médine erzählt, erhebt die zweite Generation des multikulturellen Frankreichs seine Stimme gegen die soziale Ungerechtigkeit. +Und die klingt zunehmend zornig. Nach den Unruhen von 1995 gab es sogar eine Verhaftung. Bruno Lopes und Didier Morville von Suprême NTM aus dem Pariser Vorort Saint-Denis wurden zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt. Der Vorwurf: Mit ihren Lyrics würden sie zur Gewalt aufrufen. Auch als 2005 wieder die Banlieues brannten, kam es zu Forderungen nach Zensur. Der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy machte sich dafür besonders stark und profilierte sich als Law-and-Order-Politiker. Zwei Jahre später wurde er Präsident. +Vieles von dem, was in "La Haine" gezeigt wird, ist heute auch noch gültig. Das Gefühl des Abgehängtseins etwa. Doch manches hat sich auch verändert – dadurch, dass HipHop ein wichtiges Sprachrohr für Einwanderer geworden ist. Hubert, Vinz und Saïd, die Hauptfiguren im Film, sind ein Afrikaner, ein Weißer und ein Araber. Also genau die Black-Blanc-Beur-Mischung, mit der die französische Fußballnationalmannschaft 1998 im eigenen Land Weltmeister wurde. +Heute ist die Islamnähe mancher Hip- Hopper ein kontroverses Thema. "Immer wenn wir einen Terroristen sehen, sehen wir Bilder von ihm, wie er früher war, und natürlich ist er da beim Rappen", beschwerte sich Akhenaton, der Rapper von IAM, einer seit zweieinhalb Jahrzehnten erfolgreichen HipHop-Band aus Marseille. Immerhin versuchte sich auch Chérif Kouachi als Rapper, bevor er mit seinem Bruder bis an die Zähne bewaffnet die Redaktion des Satireblatts "Charlie Hebdo" stürmte und dort Menschen erschoss. Und sowieso wurde "Charlie Hebdo" immer wieder von Rappern mit rüden Punchlines bedacht. Besonders die Entscheidung, die Mohammed- Karikaturen der dänischen Zeitung "Jyllands- Posten" nachzudrucken und mit neuen – eigenen – nachzulegen, empfanden einige Rapper als unnötige Provokation. +Das CNN der Banlieues sendet nicht immer schöne Geschichten. Aber wichtig sind sie allemal. Wahrscheinlich mehr denn je. Das findet auch Mathieu Kassovitz. Der Regisseur von "La Haine" arbeitet gerade an einem zweiten Teil des Films. diff --git a/fluter/franzosen-und-ihr-essen.txt b/fluter/franzosen-und-ihr-essen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..95280965ef39f742d89faaacbc0ace328f9f456a --- /dev/null +++ b/fluter/franzosen-und-ihr-essen.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Eindruck hinterließ die militante Aktion aber allemal. Der unbeugsame Gallier Bové, der bestimmt nicht zufällig seinen Bart wie Asterix trägt, wurde in Frankreich zum Volkshelden, nahm er doch in den Augen vieler Franzosen den Kampf gegen Genfood, Globalisierung und die Ernährungsmultis auf. Zu seiner Gerichtsverhandlung im Jahr 2000 sollen viele Tausende Menschen gekommen sein. Heute sitzt Bové als Abgeordneter im Europäischen Parlament. +Die Franzosen und das Essen. Das ist die lange Geschichte einer großen Leidenschaft. Und immer wieder eine Frage von nationaler Wichtigkeit. Ja, mehr noch. Im Genuss verbindet sich die bewegte politische Geschichte des Landes mit dem privaten Leben so innig wie Essig und Öl in einer Vinaigrette. +Natürlich: So ziemlich alle Länder der Welt beziehen aus ihrer Küchentradition ein Stück nationaler Identität. Nur bei den Franzosen ist es eben ein besonders großes Stück. Nicht ohne Grund sehen sie ihr Land als die Wiege der Kochkunst: Das Restaurant ist eine französische Erfindung, ebenso die klassische Menüfolge, die Arbeitsteilung einer Küchenbrigade, der Restaurantführer, praktisch alle Fachbegriffe der Gastronomie und so viele Rezepte und Küchentechniken, dass man sie hier gar nicht aufzählen kann. Und diese Geschichte beginnt in der Frühen Neuzeit. +Mit dem Aufkommen des Absolutismus im 17. Jahrhundert war Frankreich kulturell führend in Europa. Das zeigte sich nicht nur im Aufstieg des Französischen als Sprache der Diplomatie. Es zeigte sich auch darin, dass in Frankreich die findigsten Köche des Kontinents arbeiteten und mit ihren raffinierten kulinarischen Ideen den Hofstaat bei Laune hielten. +Bis ins 18. Jahrhundert waren die Freuden der gehobenen Küche nur dem Adel vorbehalten. Und der kämpfte darum, wer den König der Köche bei sich im Château beschäftigte. Auf die große Revolution, die die Macht des Adels brechen sollte, folgte dann auch eine kulinarische. Als große Teile der Aristokratie nach den politischen Umbrüchen von 1789 fliehen mussten, wurden ihre Köche nicht selten zu Unternehmern. Sie gründeten Restaurants, eröffneten Cafés, Patisserien und Delikatessengeschäfte. Deren Kundschaft waren nicht zuletzt die Abgeordneten der revolutionären Versammlungen, die jetzt zahlreich nach Paris kamen. Nicht nur die Gastronomie erblühte, sondern auch die Gastrokritik. Zahlreiche Bücher beschäftigten sich mit allen erdenklichen Fragen rund um das gute Essen. Wenn heute die Sterne des "Guide Michelin" als globales Eichmaß für kulinarische Exzellenz gelten, dann hat diese Entwicklung hier ihren Ursprung. +Die Französische Revolution sorgte also auch für eine Demokratisierung des Geschmacks. Ludwig XVI. hingegen kostete sie den Kopf. Auf dem Weg zum Schafott trank der König übrigens noch ein Glas Champagner. Falsch hingegen ist, dass seine Gattin Marie Antoinette der nach Brot hungernden Bevölkerung empfahl, sie solle halt Kuchen essen. Es ist sogar doppelt falsch. Einerseits ist in dem Originalzitat von Brioche die Rede, ein dem Brot nicht unähnliches Hefeteiggebäck. Und außerdem sagte Marie Antoinette das nie. Weil der Hochmut und die Dekadenz aber so schön in den vorrevolutionären Furor passten, wurde der verhassten Königin das Zitat zugeschrieben. +Dass Essen nicht nur als Symbol für die Abgehobenheit der Aristokratie, sondern auch als Mittel der Diplomatie in Frankreich Karriere machen kann, bewies Charles Maurice de Talleyrand- Périgord einige Jahre später. Da hatte sich der Wind politisch schon wieder gedreht. Napoleon und seine Truppen unterlagen in den Koalitionskriegen. Der Kontinent lag in Trümmern. +Auf dem Wiener Kongress sollte ab September 1814 die Neuordnung Europas beschlossen werden. Frankreich fürchtete seine territoriale Zerschlagung. Dafür traten etwa Preußen und Österreich ein. Das zaristische Russland hingegen wollte mit einem starken Frankreich die aufstrebenden mitteleuropäischen Mächte in Schach halten. +Was machte Talleyrand? Er brachte den damaligen Pariser Starkoch Marie-Antoine Carême mit nach Wien und – wohl wissend um den ausgeprägten Champagnerdurst des russischen Zaren Alexander I. – auch gleich die passende Getränkebegleitung für die vielen, vielen Feste, die während des Wiener Kongresses abgehalten wurden. Allein auf dem kaiserlichen Hofball, bei dem praktisch der gesamte europäische Hochadel tanzte, ließ die französische Delegation 1.500 Magnumflaschen Moët springen. +Frankreich blieb die Zerschlagung schließlich erspart. Und ein exzellentes Marketing war die Maßnahme obendrein: Champagner galt fortan endgültig als der Inbegriff des Luxus und der Eleganz. Bis zur Oktoberrevolution 1917 zählte der russische Hof zu den besten Kunden. Auch heute noch ist Champagner ein wichtiger Aktivposten in der nationalen Handelsbilanz. Zusammen mit Wein und Spirituosen beläuft sich der Umsatz auf über zwölf Milliarden Euro pro Jahr. +Bis heute zeigen sich die politischen Verhältnisse immer wieder in Fragen des Essens. Etwa wenn es um die Einheit der Nation geht. Unter Charles de Gaulle erlebte Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg bewegte Zeiten. Algerienkrieg, Verfassungskrise, der schwierige Weg zur europäischen Einigung. Zu diskutieren gab es viel. Und Einigkeit herrschte unter den Franzosen nur selten. Was sagte der Général dazu: "Wie soll man ein Volk regieren, das über 246 Käsesorten kennt?" +Zu den großen Themen der letzten Jahre zählt das angespannte Verhältnis zwischen der französischen Mehrheitsgesellschaft und der muslimischen Minderheit. Das zeigt sich auch an dem immer wieder aufkochenden Streit um das Schulessen. Seit 30 Jahren servieren die Schulkantinen Ersatzgerichte, wenn Schweinefleisch auf dem Speiseplan steht, damit jüdische und muslimische Kinder mit ihren Mitschülern die Mittagspause verbringen können. Das schmeckte ein paar Bürgermeistern plötzlich nicht mehr. Sie hielten es für nicht vereinbar mit dem in der französischen Verfassung verankerten Prinzip des Laizismus, das die strikte Trennung von Kirche und Staat garantiert. Wenn Kippa und Kopftuch in der Schule als religiöse Symbole verboten seien, so ihr Argument, dann dürfe der Speiseplan auch nicht nach religiösen Vorschriften gestaltet sein. Das löste einen landesweiten Streit aus, der bis heute nicht geklärt ist. +Die große Küchentradition verstehen die Franzosen aber auch als Wachstumsmotor. Das hat sich jedenfalls das französische Außenministerium überlegt. Sie soll den Tourismus ankurbeln und der seit der Bankenkrise 2008 schwächelnden Wirtschaft einen Schub verpassen. Um mit dem kulturellen Kapital der Küche das Außenhandelsdefizit zu verkleinern, lud der damalige Außenminister Laurent Fabius 2015 die Spitzenköche des Landes zu einer Veranstaltung in seinen Amtssitz am Seineufer ein – sie seien ja Botschafter des Landes. "Gastrodiplomatie" nannte Fabius seine PR-Maßnahme. Seither wird einmal pro Jahr auf der ganzen Welt die französische Küche mit der kulinarischen Offensive "Goût de France/Good France" gefeiert. Tatsächlich steht "das französische Gastmahl" seit 2010 auf der Liste des immateriellen Kulturerbes der UNESCO. Es teilt diesen Status etwa mit dem Tango aus Argentinien und Uruguay oder einer traditionellen mongolischen Musik. Ganz nach dem Geschmack der Franzosen dürfte sein, dass ihre die erste Landesküche ist, der diese Ehre zuteilwurde. + diff --git a/fluter/frauen-an-die-macht.txt b/fluter/frauen-an-die-macht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..81c8a74d21fbaa45f8aa3e1840457e7eaa081408 --- /dev/null +++ b/fluter/frauen-an-die-macht.txt @@ -0,0 +1,18 @@ + + +Während Charlotte Perkins Gilman in "Herland" (1915) und Joanna Russ in "Der Planet der Frauen" Gesellschaften entwerfen, die gänzlich ohne Männer auskommen, drehte die norwegische Autorin Gerd Brantenberg in ihrem 1977 (1980 auf Deutsch) erschienenen Buch "Die Töchter Egalias" die herrschenden Verhältnisse einfach um: Hier werden die Männer nicht für voll genommen, dürfen ihren Beruf nicht frei wählen und müssen einen "PH" tragen. Frauen besetzen alle wichtigen Positionen, Kinder kommen bei öffentlichen Gebärzeremonien im Gebärpalast zur Welt, und im Sommer laufen die Frauen stolz oben ohne rum. Was folgt, ist eine Männerbewegung, die sich gegen das gnadenlose Matriarchat zu wehren versucht. +Zum Aufstand der Männer (und zur Tyrannei eines Psychopathen) kommt es auch in Karen Duves erst kürzlich erschienener Gender-Dystopie "Macht". Im Jahr 2031 ist der Staatsfeminismus realisiert und mit ihm die "kontrollierte Demokratie", in der nur derjenige/diejenige ein politisches Amt bekleiden darf, der/die sich in einem Testverfahren als sozialverträglich erwiesen hat. So sollen die Frauen versuchen zu retten, was die Männer jahrzehntelang durch politische Ignoranz sowie ökonomisches und ökologisches Missmanagement verbrochen haben. Doch die Klimakatastrophe ist kaum noch aufzuhalten. +Obwohl um die sogenannte Frauenquote, also eine genderbezogene Quotenregelung bei der Besetzung von Gremien oder Stellen, und die angestrebte Gleichstellung von Frauen und Männern in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft gerungen wird, geht deren Umsetzung sowohl in der EU als auch in Deutschland eher schleppend voran. Im Jahr 2013 hat das Europäische Parlament zwar eine EU-weit einheitliche 40-Prozent-Quote für Frauen in Aufsichtsräten börsennotierter Unternehmen beschlossen. Die notwendige Zustimmung der Staats- und Regierungschefs steht jedoch bislang noch aus. + + +In Deutschland vereinbarte die Große Koalition (Union und SPD) 2013 in ihren Koalitionsverhandlungen die Einführung einer Frauenquote für Aufsichtsräte. Seit dem 6. März 2015 sind große Unternehmen in Deutschland nun verpflichtet, Aufsichtsräte ab dem 1.1.2016 bei Neuwahlen mit mindestens 30 Prozent Frauen zu besetzen. Effektiv gilt die vorgegebene 30-Prozent-Quote für 108 börsennotierte und voll mitbestimmungspflichtige Unternehmen (mit mehr als 2.000 Mitarbeitern), für weitere etwa 3.500 Unternehmen gilt die Pflicht, sich eine verbindliche Zielvorgabe zu setzen. Eine Quotenregelung für die untere und mittlere Führungsebene in Unternehmen gibt es nicht. + + +Das bisherige Urteil des "Managerinnen-Barometers 2016", herausgegeben vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), fällt nicht sehr gut aus: "Die Entwicklung gleicht einem Ritt auf der Schnecke", sagt Elke Holst, Forschungsdirektorin für Gender Studies im DIW Berlin. "Wenn das Tempo, mit dem die Frauenanteile steigen, weiterhin derart gering bleibt, wird es noch sehr lange dauern, bis eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern erreicht ist." +"Eine ausgewogene Repräsentation von Frauen und Männern in den Spitzengremien der deutschen Wirtschaft bleibt in weiter Ferne", heißt esin einer Pressemitteilung des DIW. Und weiter: "In den Vorständen der 200 umsatzstärksten Unternehmen lag der Frauenanteil Ende des Jahres 2015 bei gut sechs Prozent – ein Anstieg von weniger als einem Prozentpunkt gegenüber dem Vorjahr. Die Aufsichtsräte waren zwar zu immerhin fast 20 Prozent mit Frauen besetzt, allerdings hat sich die Dynamik gegenüber den Vorjahren sogar abgeschwächt." +Das Ungleichgewicht in Bezug auf Positionen wirkt sich auch auf die Bezahlung von berufstätigen Frauen aus. Überall in Europa verdienen Frauen weniger als Männer. In Deutschland verdienten Frauen im Jahr 2015 durchschnittlich 21 Prozent weniger. Im Osten Deutschlands lag der Unterschied bei acht Prozent, im Westen bei 23 Prozent. Das liegt vor allem daran, dass Frauen nach wie vor eher schlechter bezahlte Berufe ergreifen, zum Beispiel in der Pflege, mehr in Teilzeit und in Minijobs arbeiten, um sich neben dem Job um die Kinder kümmern zu können (siehe künstliche Gebärmutter), und schließlich auch daran,dass nach wie vor die meisten Spitzenpositionen mit Männern besetzt sind. +Bemerkenswert ist übrigens, dass die oben genannten feministischen Utopien – obwohl sie den klassischen Kriterien für Utopien entsprechen – an vielen politikwissenschaftlichen Lehrstühlen in Deutschland nicht zum Kanon der wichtigen Werke gehören. Während andere – von Männer verfasste – Utopien wie zum Beispiel "Utopia" (1516) von Thomas Morus, "Der Sonnenstaat" (1602) von Tommaso Campanella, "Schöne neue Welt" (1932) von Aldous Huxley, "1984" (1948) von George Orwell oder "Ökotopia" (1975) von Ernest Callenbach – als Klassiker der politischen Theorie gelten. Für die feministische Science-Fiction ist das noch Zukunftsmusik. Aber wer weiß, wie lange noch. + + +Laurie Penny: "Babys machen und andere Storys". Aus dem Englischen von Anne Emmert. Edition Nautilus, Hamburg 2016, 19,90 Euro +Marlene Halser, 38, leitet das Ressort taz2 Medien und hat gerade ihre Liebe zu feministischen Utopien entdeckt. Sie findet, diese sollten endlich als das gesehen werden, was sie sind: ernstzunehmende Staats- und Gesellschaftstheorie. diff --git a/fluter/frauen-gegen-sexuelle-gewalt-in-marokko.txt b/fluter/frauen-gegen-sexuelle-gewalt-in-marokko.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f9f15e32f31397d37240eff93e59f000b289f670 --- /dev/null +++ b/fluter/frauen-gegen-sexuelle-gewalt-in-marokko.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Diese Geschichte beginnt mit ihrer Lesereise durch Marokko. In der Stadt Rabat trifft Slimani auf eine Frau namens Nour, die kaum älter als sie ist. Ihre Leben könnten hingegen kaum unterschiedlicher sein. Nour war mit Männern zusammen, die sie nicht gut behandelten und ihr einredeten, sie sei als Frau weniger wert. +Was Slimani hört, erschüttert sie. Weil Nour auch von den Geschichten ihrer Freundinnen berichtet und sich damit ein grundlegendes Problem andeutet, beginnt Slimani, mehr Frauen und auch Männer zu ihrer Sexualität zu befragen. + +In "Hand aufs Herz" erzählen alle, mit denen Slimani spricht, ihre eigene Geschichte. Mit jeder offenbart sich ein bisschen mehr, wie sehr es an sexueller Aufklärung und weiblicher Selbstbestimmung mangelt. Männer teilen die Frauen in zwei Kategorien: die, mit denen sie schlafen, und die, die sie heiraten. Jungfräulichkeit und die Ehre der Frau (arab.: Haschuma) dürfen nicht befleckt werden, sonst sinkt die ganze Familie in ihrem Ansehen. Wenn es Probleme in der Ehe gibt, dann ist es immer die Schuld der Frau.Prostitution und Porno sind "harām", also verboten, und trotzdem gehört Marokko zum fünftgrößten Online-Pornokonsumenten der Welt. +Das alles zeichnet die Graphic Novel in weichen Pastelltönen, untermalt von Stränden, prächtigen Kleidern und sandfarbenen Häusern. Slimani wollte auch diese Facetten des Landes zeigen und eben kein einseitiges Bild entwerfen. Die Szenen der Gewalt sind durch die Farben keineswegs verharmlost, die Grausamkeiten wirken deutlich. +Tatsächlich bewegt sich gerade in Marokko etwas, das in dem Buch noch nicht zur Sprache gekommen ist. Saad Lamjarred, ein beliebter marokkanischer Sänger, wird der Vergewaltigung mehrerer Frauen beschuldigt und saß deshalb in Südfrankreich im Gefängnis. Nachdem auch die Gruppenvergewaltigung und Zwangs-Tätowierung der 17-jährigen Khadija bekannt wurde, entstand eine Art marokkanisches #MeToo. Über dieTwitter-Kampagne #masaktach(Ich schweige nicht) berichten viele Frauen von Übergriffen. Die Gründerinnen von #masaktach, die Anwältin Laila Slassi und die Künstlerin Maria Karim, hoffen:Wenn sich viele marokkanische Bürger zusammentun, mehr Frauenrechte fordern und damit Erfolg haben, könnten sie ja auch auf die Idee kommen, mehr Demokratie zu fordern.Für dieses Umdenken ist das Buch ein wichtiger Beitrag, auch wenn es Slimani noch viel Ärger in Marokko einbringen kann. + +Leïla Slimani: "Hand aufs Herz", Illustrationen: Laetitia Coryn. Avant-Verlag, 108 Seiten, 25 Euro diff --git a/fluter/frauen-im-rechtsextremismus.txt b/fluter/frauen-im-rechtsextremismus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..144225343ed1c31192ce0ac0af0e362b92d5a2d3 --- /dev/null +++ b/fluter/frauen-im-rechtsextremismus.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Im Rechtsextremismus wird dieses Narrativ noch verstärkt; man spricht von einer "doppelten Unsichtbarkeit": Eine vermeintlich politisch nicht interessierte nette Frau, engagierte Mutter oder sympathische Nachbarin wird nicht mit menschenfeindlichen Meinungen und potenziell gewalttätigen Handlungen in Zusammenhang gebracht. Und wenn eine solche Frau bei einem Neonazi-Aufmarsch mitläuft oder Politik für die NPD macht, kann das Ganze ja nicht so schlimm sein – oder? +Diese Verbindung zu ziehen ist gefährlich, findet die Rechtsextremismus-Expertin Esther Lehnert: "Indem im rechtsextremen Narrativ das Bild einer unpolitischen Frau reproduziert und bewusst gestärkt wird, wird die rechtsextreme Ideologie normalisiert." Das käme rechtsextremen Frauen zugute, weil sie als harmlos wahrgenommen würden. Doch das sind sie nicht. Diese Erfahrung hat auch Heidi Benneckenstein gemacht. Die heute 28-Jährige wuchs unter Neonazis auf, war jahrelang fester Teil der Szene. Bis sie mit 19 den Ausstieg schaffte. "Es sind die Unsichtbaren, die gefährlich sind", schreibt sie in ihrem Buch "Ein deutsches Mädchen – Mein Leben in einer Neonazi-Familie". + + + + +Die Positionen, die Frauen innerhalb der Szene einnehmen, sind vielfältig. Das war nicht immer so: Während sie früherhauptsächlich in der Rolle als Mutter und Hausfrau Legitimation erfuhren,treten sie heute auch als politische Aktivistinnen auf. Sie sind fest in die Szene integriert, formieren sich in Frauenorganisationen wie dem "Ring Nationaler Frauen" oder der "Gemeinschaft deutscher Frauen". Geschätzt zehn Prozent der Gewalttaten im rechten Spektrum gehen von Frauen aus. Auch rechtsextreme Frauen seien fasziniert von Gewalt – ob sie sie nun selbst ausüben oder nur zuschauen, sagt Sozialpädagogin Petra Franetzki, die seit vielen Jahren auch Frauen berät, die aus der Szene aussteigen wollen. So gab es in der Vergangenheit schon mehrfach Frauen in den Reihen militanter Neonazi-Gruppen, wie zum Beispiel bei der "Wehrsportgruppe Hoffmann". Bei der "Kameradschaft Süd", die einen Sprengstoffanschlag auf ein jüdisches Zentrum in München geplant hatte, wurden gegen drei beteiligte junge Frauen Bewährungsstrafen verhängt. Das Gericht stellte fest, dass sie nur Mitläuferinnen gewesen seien. Esther Lehnert glaubt hingegen, dass hinter solchen Urteilen sexistische Motive stecken: "Frauen werden oft als sexuelles Anhängsel des Mannes abgetan. Dabei machen sie bei solchen Aktionen gerne und freiwillig mit." +Einige dieser Frauen nehmen bedeutende politische Machtpositionen ein: Da ist zum Beispiel Ricarda Riefling, die sich als familienpolitische Sprecherin im Bundesvorstand der NPD für eine völkisch-nationalistische Familienpolitik einsetzt. Oder Gitta Schüßler, die von 2004 bis 2014 für die NPD im sächsischen Landtag saß.Unter anderen die sogenannte "Neue Rechte", wie die "Identitäre Bewegung" (IB),die vom Verfassungsschutz beobachtet wird, setzt auf Frauen an vorderster Front. Die IB inszeniert sich als hippe Jugendbewegung, bei Demos stehen Frauen in erster Reihe. Eine von ihnen ist Paula Winterfeldt, die auf Twitter und Instagram einige Tausend Follower*innen hat. Dieser Eventcharakter könne laut Franetzki ein Grund dafür sein, dass manche Frauen – und Männer – mit der rechtsextremen Szene in Kontakt kommen. Aber auch Liebesbeziehungen könnten die Szene schon im Teenager-Alter attraktiv machen, sagt Petra Franetzki. + + + + +In der Szene würden viele junge Frauen als Sexobjekte angesehen und wie Trophäen herumgereicht, beschreibt Heidi Benneckenstein. Dass sich Frauen trotzdem rechtsextremen Gruppierungen anschließen, erklärt sich Esther Lehnert so: "Frauen engagieren sich nicht wegen des Frauenbildes, sondern trotz: Der Rassismus ist wichtiger als alles andere". Die vermeintliche Höherwertigkeit gegenüber anderen Menschen, beispielsweise migrantischen Frauen oder Männern, ist für die Frauen bedeutender als der Sexismus. Für Esther Lehnert ist der seit 1990 steigende Frauenanteil in der rechtsextremen Szene ein Zeichen dafür, dass diese erstarkt. Denn eine rechtsextreme Frau, die in der Politik präsent ist, zieht wiederum weitere Frauen an. Das spiegelt sich auch bei Wahlen wider: Rund ein Drittel der Stimmen für rechtsextreme Parteien kommt von Frauen. Was rechte Einstellungen angeht, liegt die Quote sogar bei 50 Prozent – in der menschenfeindlichen, rassistischen und antisemitischen Gesinnung stehen Frauen Männern also um nichts nach. +Zwar können Frauen innerhalb der rechtsextremen Szene heute Lokalpolitikerinnen, Liedermacherinnen oder Straßenkämpferinnen sein. Vorwiegend erwartet wird von ihnen aber weiterhin: als "völkische Mutter" das "weiße Volk" zu erhalten. "Sie übernehmen Rollen, die sie auch sonst häufig im sozialen Leben übernehmen: netzwerken, das soziale Miteinander stärken, Care-Arbeit", sagt Esther Lehnert. Dazu gehört, dass sich viele gezielt im sozialen Bereich einbringen: Sie arbeiten als Erzieherinnen, Sozialarbeiterinnen oder engagieren sich in Elternbeiräten in Kitas oder Schulen. Damit nehmen sie auch Einfluss auf die Erziehung von Kindern, die nicht ihre eigenen sind. "Das kann eine bewusste Strategie sein, die nette Erzieherin oder die nette Sozialarbeiterin zu etablieren, um so rechtsextremes Gedankengut zu normalisieren", gibt Lehnert zu bedenken. Heidi Benneckenstein bestätigt das: "Sie geben sich bürgernah, unterwandern die demokratische Alltagskultur und punkten mit weichen Themen wie der Zukunft unserer Kinder oder einem besseren Schulsystem, hinter denen sich oft ein nationalsozialistisches Weltbild versteckt." Solche Frauen dienten der Szene als Bindeglied zur "bürgerlichen" Welt. +Auch Beate Zschäpe, Mitglied im"Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU),der zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen ermordete,wurde lange als "die nette Frau von nebenan" wahrgenommen. Im Verlauf der Ermittlungen wurde sie auch von ihrer Verteidigung oft als "Opfer" patriarchaler Verhältnisse ihrer beiden Mittäter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt dargestellt. In ihrer Rolle als vermeintlich unpolitische Frau hielt sie lange Zeit die Tarnung des NSU aufrecht – und trug maßgeblich dazu bei,dass die Gefahr von rechts so lange unterschätzt wurde. + +Titelbild: Arnold Morascher/laif - Stefan Boness/VISUM diff --git a/fluter/frauen-notruf-muenster-aktion-ist-luisa-hier.txt b/fluter/frauen-notruf-muenster-aktion-ist-luisa-hier.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a905d8f05920afc1b721ee87666a562ddbe0e64d --- /dev/null +++ b/fluter/frauen-notruf-muenster-aktion-ist-luisa-hier.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +So reagieren Barkeeper in rund 30 Clubs und Kneipen in Münster neuerdings auf die Frage nach einer vermeintlichen Kollegin. Ohne weitere Fragen werden junge Frauen dann in einen sicheren Bereich der Lokalität gebracht. Die Kampagne des Frauen-Notrufs Münster soll es Frauen erleichtern, sich beim Ausgehen unangenehmen Situationen zu entziehen. Das können Situationen sein, in denen man sich bedrängt fühlt, angegrapscht wird oder auch feststellt, dass der Typ von Tinder, mit dem man davor so nett gechattet hat, aufdringlich wird. +Auch in der "Cavete", Münsters ältester Studentenkneipe, hängen seit Kurzem die hellblauen Plakate auf den Damentoiletten, auf denen groß "Luisa ist hier" geschrieben steht. So soll das Projekt bekannt gemacht werden. Geschäftsführer Tobias Reiter hat das Konzept sofort überzeugt: "Zack, wir bringen dich raus – und keiner fragt, wieso, weshalb, warum". Er und seine Mitarbeiter haben vom Frauen-Notruf dafür eine Schulung bekommen. +Wenn jemand nach Luisa fragt, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Das Barpersonal kann erst einmal die Jacke an der Garderobe holen, ein Taxi rufen, das Mädchen durch den Hinterausgang hinausbegleiten oder im Ernstfall die Polizei verständigen. Immer gilt aber: keine Fragen zur Tat oder zum Täter stellen, keinen großen Aufriss machen. +Der Code – statt nach Hilfe –, einfach nach Luisa zu fragen, soll die Hemmschwelle besonders für junge Frauen heruntersetzen und vermeiden, dass Opfer sich für irgendetwas rechtfertigen müssen. Frauen, die den Barkeeper andernorts auf aufdringliche Typen aufmerksam machen, müssen nicht selten erst einmal erklären, was genau vorgefallen ist. +Das Projekt läuft in Münster gerade erst an, deshalb gibt es noch keine Erfahrungen, wie Luisas Unterstützung angenommen wird. In der "Cavete" hat bisher noch niemand nach ihr gefragt. Tobias Reiter wünscht sich, dass das auch so bleibt. "Der kluge Mensch baut vor. Wir hoffen, dass es dank Luisa nicht mehr Fälle, sondern eher weniger werden." +Die Idee stammt aus England, genauer gesagt aus Lincolnshire, einer Grafschaft im Osten des Landes mit etwa einer Million Einwohner. Dort hat Hayley Child, die städtische Beauftragte im Kampf gegen sexualisierte Gewalt, "Angela" erfunden. Der Name, ein Wortspiel mit dem englischen Wort "Angel", steht für einen Schutzengel, nach dem Barbesucher genau wie in Münster an der Theke fragen können. Über soziale Netzwerke verbreitete sich die Kampagne rasant, die meisten Beiträge forderten: Das muss es überall geben. Tatsächlich soll Angela bald in Bars im gesamten Vereinigten Königreich auf ihren Einsatz warten. +Evaluiert wurde das Programm bislang nicht. Ob und wie viele Frauen tatsächlich schon nach Angela gefragt haben, kann Hayley Child nicht sagen. Sie bekommt immerhin positives Feedback vom Barpersonal. Die meisten seien froh zu wissen, wie sie sich im Fall der Fälle zu verhalten haben, sagt sie. Ellen Kelman ist Eventsmanagerin der Lincolner Revolution Bars-Gruppe. Sie glaubt, Angela gibt auch den Gästen ein gutes Gefühl: "Hier musste den Code noch niemand nutzen, aber es ist gut zu wissen, dass man sicher ist." +Doch so viel Zuspruch die Kampagne in den sozialen Netzwerken auch findet – spätestens seit den Übergriffen in Köln in der Silvesternacht 2015/2016 und dem daraufhin von Oberbürgermeisterin Henriette Reker etwas unglücklich geäußerten Ratschlag an junge Frauen, "eine Armlänge Abstand" zu halten, gibt es große Kontroversen um Präventionsmaßnahmen gegen sexualisierte Gewalt.Müssen Frauen einen bestimmten Nagellack auftragen, der K.-o.-Tropfen im Getränk signalisiert?Müssen sie Pfefferspray und Trillerpfeife bei sich tragen? Oder Selbstverteidigungskurse belegen? Nein, sagen Kritiker: Frauen müssen auch splitterfasernackt durch den Kölner Hauptbahnhof laufen oder im rappelvollen Club tanzen können, ohne Angst vor sexualisierten Übergriffen und Vergewaltigung haben zu müssen. Die Verantwortung, so die Logik dieser Argumente, liegt niemals beim Opfer, sondern immer beim Täter. Im Umkehrschluss machen Präventionsmaßnahmen Frauen mitverantwortlich. +Präventionsmaßnahmen also nur für potenzielle Täter? In der Theorie klingt das plausibel. "Aus der Praxis wissen wir leider, dass das nicht so einfach umzusetzen ist", sagt Gerlinde Gröger vom Frauen-Notruf Münster. Frauen kämen immer wieder in Situationen, in denen sie schlicht Hilfe benötigen. +So wie Kristin zum Beispiel. Die 21-Jährige studiert in Münster und ist froh, dass sie sich jetzt auf Luisa verlassen kann. Ihr fällt spontan mindestens eine Situation ein, in der sie das Angebot genutzt hätte: Sie tanzt mit ihren Freunden in einem Club. Ein junger Mann kommt auf sie zu, spricht sie an. Sie macht ihm klar, dass sie kein Interesse hat. "Er ist dann weggegangen, hat mich aber immer weiter aus der Ferne beobachtet und Blickkontakt gesucht. Als wäre das nur ein Spiel, dass ich ihm gesagt habe, ich will nicht", sagt sie. Kurz bevor sie nach Hause gehen will, vergewissert sie sich, dass er nicht in der Nähe ist und sie beobachtet oder ihr gar folgt. "Mir wäre schon wohler gewesen, wenn mich jemand ins Taxi gesetzt hätte", sagt Kristin. +Und da liegt der Unterschied zu anderen Präventionsmaßnahmen: Luisa bedeutet, Hilfe zu bekommen, und bezieht andere mit ein. Wenigstens ein Teil der Verantwortung wird abgegeben, wenn auch nicht an den potenziellen Täter. Katharina Göpner vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe findet die Kampagne deshalb besonders gelungen. Sie glaubt: "Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Sensibilisierung für sexuelle Gewalt und eine Verantwortungsübernahme von ganz vielen." +Übrigens: Natürlich dürfen auch Männer, die Hilfe brauchen, nach Luisa fragen. diff --git a/fluter/frauen-ueber-sexismus-im-deutschrap.txt b/fluter/frauen-ueber-sexismus-im-deutschrap.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..19f96b48fcb13e2a17aef7625e8bb66f028ccdd6 --- /dev/null +++ b/fluter/frauen-ueber-sexismus-im-deutschrap.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Wenn Yung Hurn rappt, wie er einer Frau ins Gesicht wichst, nehme ich an, dass das ein Ausschnitt aus seinem Leben ist. Da muss jeder für sich entscheiden, ob er das hören möchte oder nicht. Ich persönlich habe mit Sexismus im Hip-Hop wenig Erfahrungen gemacht. Producerinnen nehmen Rapper anders wahr, da sie im Vergleich zu Rapperinnen keine direkten Rivalen sind. Gegenüber denen sind die schon ein bisschen gemeiner und selektiver. +Heute gibt es mehr Mädels im Hip-Hop, obwohl es immer noch nur wenige probieren. Frauen, die es nicht schaffen, haben es meist gar nicht erst probiert, glaube ich. Dadurch, dass es mehr Männer gibt, wird eine härtere Tonart angeschlagen. Da musst du gucken, wie stark du bist. Nach Interviews sagen andere Frauen über mich, dass sie es krass finden, dass ich nicht pro Frauen bin. Aber ich bin pro Mensch und finde das feministischer, als Feministin zu sein. Anscheinend ecke ich damit an. +Melbeatz ist wohl diebekannteste Produzentinim deutschen Hip-Hop. Sie produzierte u.a. für Eko Fresh und Kool Savas, auf ihrem Debütalbum rappte Kanye West. + + +Bei Texten schaue ich, welche Lebensrealität der Rapper hat, und wäge dann von Fall zu Fall ab. Als ich "Ponny" gehört habe, dachte ich, dass der Song einfach super platt ist. Da fehlt jede Doppeldeutigkeit. So was unterstütze ich nicht. Normalerweise mag ich Yung Hurns minimalistisches, dadaistisches Kunstbild – sowohl musikalisch als auch textlich. Aber das ist Sexismus. Die Art und Weise, wie er es dargestellt hat, kommt aus einer sehr dominanten Position heraus. +Ich würde schon sagen, dass ich oft Opfer von Sexismus in der Branche war. Da sind viele kleine Geschichten, von Bookern, die einen anmachen oder im Preis drücken wollen, oder Clubbesitzern, die mich in den Arm nehmen, obwohl sie mich nicht kennen. Das klingt kleinlich, aber für mich hat sich das angefühlt, als würde mir derjenige zeigen, dass er gerade die Macht hat. Ich versuche, weibliche Künstler zu unterstützen,ohne dabei auf Krampf eine Quote zu erfüllen. Ich buche sie, weil ich toll finde, wie sie auflegen. Wenn ein Typ denselben Stil hätte, würde ich wahrscheinlich auch ihn engagieren. Ich finde es gut, dass über Sexismus im Hip-Hop gesprochen wird. Durch die Aufmerksamkeit wird für das Thema sensibilisiert. +Wenn Josi Miller nicht gerade auflegt, moderiert sie mit Helen Fares denPodcast "Deine Homegirls". + +Achtung: Der Song ist nicht nur ziemlich deppert – wenn du ihn abspielst,kann Youtube dich auch tracken + + +In meiner Musik versuche ich ohne Schimpfwörter auszukommen. Die finde ich inzwischen langweilig, weil jeder Rapper sie benutzt.Man kann sich auch anders artikulieren. +Bei einem Auftritt in Leipzig vor drei Jahren waren meine Crew und ich die einzigen Frauen bei einer Veranstaltung. Die war bereits komplett nach hinten geschoben, alles war im Verzug. Wir sind als dritter Act aufgetreten und haben, weil wir später angefangen haben, auch später aufgehört. Die Gruppe nach uns hat sich darüber aufgeregt, ist zu meinem DJ gegangen und hat sie aufgefordert, die Musik auszumachen. Schlussendlich haben die uns sogar den Stecker gezogen. Ich gehe davon aus, dass die sich das nur getraut haben, weil wir Frauen sind. Den Künstlern davor ist das nicht passiert. +Aber ich glaube, es wird besser, wenn wir Frauen weitermachen und für uns einstehen.Es sollten einfach mehr Frauen in die Musikindustrie einsteigen.Das heißt im Management und in der Produktion, dann kann man auch mehr Frauen unterstützen. Vielleicht sollte es ein reines Frauenlabel geben. +"Wer hat Angst vor der schwarzen Frau?" In ihrem ersten Song"Afro Spartana"rappte Leila Akinyi 2016 selbstbewusst darüber, schwarz zu sein und löste damitDiskussionenaus. + + +Ich unterscheide mittlerweile stark zwischen Sexismus und sexualisierten Texten. Viele sexualisierte Texte werden meiner Meinung nach zu schnell in die Sexismus-Schublade gesteckt. Da werden Textzeilen aus dem Kontext gerissen und als schlecht dargestellt. Jeder Mensch hat doch die Entscheidungsmacht, sich angesprochen zu fühlen oder nicht. Ich vergleiche das gerne mit der Zeit, als ich als junger Fuchs auf Kool Savas' Konzerte gegangen bin und dort "Lutsch meinen Schwanz" mitgeschrien habe. Ich habe mich als Frau in dem Moment nicht angegriffen gefühlt, sondern empowert, habe links und rechts zu den Typen geguckt und gesagt: "Lutsch meinen Schwanz, Digga". Auch als Frau kann ich das sagen. Das ist für mich Kunstfreiheit, die ich für mich interpretiere. +Als ich angefangen habe Musik zu machen, kamen viele Männer, aber auch Frauen, auf mich zu und fingen an mit: "Mach doch mal nettere Musik. Das steht dir doch als Mädchen gar nicht." Das finde ich sexistisch: mir als Frau zu sagen, wie ich zu sein habe. Wollen diese Leute mir absprechen, dass ich eine Frau bin, nur weil ich auf der Bühne rappe wie ein Typ? Hätten wir vor 15 Jahren schon darüber gesprochen, dann hätten wir jetzt mehr Frauen im Deutschrap. Aber die Diskussion kommt jetzt ins Rollen. Wenn wir nicht mehr darüber reden müssen, sondern einfach da sind und machen, dann haben wir es geschafft. +Antifuchsist seit 15 Jahren hip-hop-bekannt: für derbe Texte und ihre Fuchsmaske. diff --git a/fluter/frauen-wunder-land.txt b/fluter/frauen-wunder-land.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..631dcfbfa075c7bf91c70db31a8279ea45f86681 --- /dev/null +++ b/fluter/frauen-wunder-land.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Sie klettert einen rutschigen Pfad hinauf und bleibt auf einem Feld stehen. Von hier oben hat man einen Postkartenausblick auf das "Land der tausend Hügel", wie Ruanda von Reiseveranstaltern genannt wird. "Gorillas im Nebel" ist noch so ein Slogan, denn die Touristen kommen hauptsächlich wegen der Menschenaffen. Ruanda ist winzig und liegt wie ein Bauchnabel inmitten des afrikanischen Kontinents, nur gut halb so groß wie die Schweiz, aber mit einem Drittel mehr Einwohnern. Die Kaffeeunternehmerin poliert die beschlagenen Gläser ihrer Schmetterlingsbrille. Sie bewundert nicht die Aussicht, sondern die Qualität der Kaffeepflanzen, untersucht die Früchte und lobt dann den Bauern, der ihr keuchend folgt: "Es hat sich ausgezahlt, dass du den Boden mit Kompost und Zweigen bedeckt hast." Während sie spricht, reißt sie Unkraut aus. Es ist ihre Art, den Mann auch auf Versäumnisse hinzuweisen. Die meisten Frauen in Ruanda kritisieren nicht direkt, sondern diskret, selbst wenn sie in der stärkeren Position sind. +Man wagt es kaum auszusprechen, aber der Genozid löste auch eine positive Entwicklung aus: die Emanzipation der Frauen. "Wir lernten, selbstständig zu handeln", sagt die Kaffeeunternehmerin. Sie war dazu erzogen worden, zu dienen, durfte nur sechs Jahre in die Schule gehen, heiratete mit 17, gebar acht Kinder und hatte keinerlei Rechte. "Als mein Mann noch lebte, durfte ich das Haus nicht ohne seine Erlaubnis verlassen. Wenn wir eine Straße überquerten, hielt ich mich an seiner Hose fest." Mit seinem Tod 1994 änderte sich alles, sie war jetzt Witwe. Weil Frauen damals weder erben noch Land besitzen durften, war sie auf einen Schlag vollkommen verarmt. "Ich dachte, wir würden alle verhungern." Doch dann tat sie sich mit anderen Witwen zusammen und baute sich Schritt für Schritt ihr eigenes Unternehmen auf. +Die sogenannten Trümmerfrauen wurden im Nachkriegsdeutschland zum Symbol für die Gleichberechtigung von Mann und Frau gemacht. Auch in Ruanda bestellten die Frauen nach Kriegsende die Felder, reparierten Häuser, teilten die rund 100.000 Waisenkinder unter sich auf und machten politisch Karriere. Viele Männer waren tot, eingesperrt oder außer Landes geflohen. Schätzungen gehen davon aus, dass unmittelbar nach dem Konflikt 70 Prozent der Bevölkerung weiblich waren. Deshalb war Emanzipation für viele Frauen geradezu überlebenswichtig. 2003, neun Jahre nach dem Völkermord, gab sich das Land eine neue Verfassung. Von nun an waren Frauen vor dem Gesetz vollkommen gleichberechtigt, was zu einem außergewöhnlichen Wirtschaftswachstum beigetragen hat, von dem bis heute eine breite Bevölkerungsschicht profitiert. Zahlen der Weltbank belegen, dass Ruanda weltweit zu denjenigen Ländern gehört, die sich in den vergangenen 15 Jahren am schnellsten entwickelt haben. +"Die Frauen sind der Motor von Ruandas Wirtschaft", sagt Alice Nkulikiyinka in perfektem Deutsch, während sie auf Zahnstocherabsätzen durch die Hauptstadt Kigali eilt. Die 49-jährige Ökonomin hat in der Schweizer IT-Branche Karriere gemacht, bevor sie zurück in ihre Heimat zog. Heute arbeitet sie in Kigali für die Schweizer Stiftung BPN, die Unternehmerinnen und Unternehmer mit Schulungen und Krediten unterstützt. In Ruanda könne man in nur einem Tag seine eigene Firma registrieren lassen. Das sei kinderleicht und gratis und nicht zu vergleichen mit dem bürokratischen Aufwand, den man in der Schweiz betreiben müsse. +Sie hatte ein Treffen in der Fußgängerzone vorgeschlagen. Kigali ist eine der wenigen afrikanischen Metropolen mit einem verkehrsberuhigten Zentrum. Hier gibt es Straßenlaternen (die funktionieren), Lichtsignale (an die sich alle Verkehrsteilnehmer halten) und eine Helmpflicht für Motorradfahrer. Was es nicht gibt: Plastiktüten. Die wurden vor ein paar Jahren von der Chefin der Umweltbehörde verboten. + +Alice Nkulikiyinka erklärt, dass sich die Menschen in Ruanda gemeinsam um den öffentlichen Raum kümmern. "Am letzten Samstag im Monat wischt man zusammen mit den Nachbarn den Bürgersteig, pflanzt ein Blumenbeet oder saniert eine Straße." Nach der Arbeit bespricht man die Probleme im Quartier. "Bei diesen Treffen fällt mir auf, wie sensibel die Leute auf die Unterdrückung von Frauen reagieren. Wenn einer seine Tochter nicht in die Schule schickt oder seine Frau schlägt, wird er öffentlich zur Rede gestellt." +Wenige hundert Meter von der Fußgängerzone entfernt steht der Kigali City Tower. Im Schatten des verspiegelten Hochhauses liegt das Bourbon Coffee, eine Art ruandischer Starbucks, wo die Mittelschicht Cappuccino trinkt und Schwarzwälder Kirschtorte isst. Dort treffen wir Teta Diana, 23 Jahre alt, eine der erfolgreichsten Musikerinnen des Landes und schlagfertig wie eine Woody-Allen-Figur. Wie geht es den jungen Frauen in Ruanda? "Exzellent! So gut, dass die Jungs nachts nicht mehr schlafen. Sie haben Angst, dass sie auf der Strecke bleiben." Ihr Smartphone klingelt, eine Anfrage für eine Hochzeit. "Das macht 600 Dollar für mich und die Band", sagt sie selbstbewusst. Teta Diana gehört zur Post-Genozid-Generation, sie möchte die Vergangenheit zwar nicht vergessen, aber sich davon auch nicht lähmen lassen. "Es gibt hier Tonnen von Möglichkeiten. Wenn du was im Kopf hast, wirst du Erfolg haben." +Eine Aussage, die auch von Clarisse Iribagiza stammen könnte. Sie ist erst 27 Jahre alt, aber bereits eine von Ruandas Vorzeigefrauen: CEO einer aufstrebenden Softwarefirma namens HeHe Labs mit acht Festangestellten. In einer Neubauvilla am Stadtrand präsentiert sie ihren Businessplan. "Uns inte-ressiert es nicht, den Westen zu kopieren. Wir entwickeln Apps für Afrika." Wie kriege ich möglichst schnell ein Motorradtaxi und wo eine volle Kochgaskartusche? Das sind Alltagsfragen in Ruanda, für die das junge Start-up Antworten entwickelt hat. Und weil man ihre Apps im Google- und iTunes-Store nur schwer finden konnte, haben sie Nuntu entwickelt, einen App-Store für Afrika, den bereits über eine Million Leute nutzen. +Der Frauenanteil im ruandischen Parlament ist weltweit am höchsten und beträgt 64 Prozent, auch das Amt des Parlamentspräsidenten hat eine Frau inne. Die Parlamentarierinnen haben einiges bewirken können, doch man darf ihren Einfluss nicht überschätzen. Die Leitplanken setzt ein Mann, Präsident Paul Kagame, bei ihm konzentriert sich die Macht. Der sehnige Machthaber mit dem schmalen Gesicht duldet kaum Kritik. Eben erst wurde Kagame von den USA und der EU gerügt, weil er die Verfassung ändern ließ, damit er für eine dritte Amtszeit antreten kann. Amnesty Interna-tional und Human Rights Watch berichten, die Menschen in Ruanda seien in ihrer Meinungsfreiheit stark eingeschränkt, politische Gegner würden verfolgt und nicht selten ohne angemessene Gerichtsverfahren inhaftiert. Beide Organisationen dokumentieren ungelös-2.500 Kilometer Glasfaserkabel wurden in Ruanda verlegt. Zwar wollten die internationalen Geldgeber lieber die Ärmsten unterstützen, aber die Regierung beharrte auf ihrem Anliegen – und Clarisse Iribagiza hat profitiert. Ohne das schnelle Netz gäbe es ihre Firma nicht, und auch zahlreiche andere Unternehmen wären nie entstanden. Die Technologiebranche wächst rasant, bereits rund zwei Drittel der Ruander haben ein Handy. +te Mordfälle von politischen Gegnern und regierungskritischen Journalisten. +Im Volk ist der Rückhalt für Kagame dennoch groß: Ohne seine klare Linie und seine feste Hand, so sagen viele, hätte sich das Land niemals so rasch entwickelt. Es ist ein Handel, den viele bewusst eingehen: wirtschaftliche Entwicklung gegen politische Freiheit. Eine Ruanderin erzählt uns aber, sie habe auch schon erwogen, das Land zu verlassen – und sich dann doch entschieden, zu bleiben. "Noch überwiegt für mich das Positive", so ihr Fazit. Ruandas Korruptions-index ist niedriger als in zahlreichen europäischen Ländern, so gut wie alle Einwohner haben eine Krankenversicherung, die meisten Arbeitnehmer eine Pensionskasse, es gibt einen staatlich geregelten Mutterschaftsurlaub, und der Schulbesuch ist obligatorisch. In Ruanda gehen die Menschen heute doppelt so lange in die Schule wie noch vor zwei Jahrzehnten und leben beinahe doppelt so lange. Im "Global Gender Gap Report 2015", der den Unterschied zwischen den Geschlechtern misst, liegt Ruanda auf Platz 6 und schneidet besser ab als Deutschland, das auf Platz 11 steht. Doch vor allem auf dem Land gibt es auch in Ruanda noch alte Rollenbilder. +Der wirtschaftliche Boom in Ruanda ist der sichtbare Fortschritt der vergangenen zwei Jahrzehnte. Die unsichtbare, aber mindestens ebenso wichtige Entwicklung ist die Versöhnung zwischen Hutu und Tutsi. Sowohl in Ruanda selbst als auch unter internationalen Wissenschaftlern ist man der Meinung, dass die Frauen das Land befriedeten. Eine UNO-Studie stellt fest: "Sie konnten besser vergeben." Kaffee-Exporteurin Epiphanie Mukashyaka formuliert es eine Nuance anders: "Wir mussten verzeihen." Nachdem sie die Kaffeepflanzen des Bauern untersucht hat, klettert sie den Hang wieder hinunter, ihre Assistentin stützt sie an den steilen Stellen, Hand in Hand, eine Tutsi und eine Hutu. Unten angekommen, blickt die Unternehmerin ihre Mitarbeiterin an und sagt: "Wir hatten keine Wahl. Entweder du entscheidest dich, zu vergeben, oder du wirst wahnsinnig. Heute haben wir tatsächlich verziehen." diff --git a/fluter/frauenfussball-breitensport-generationen.txt b/fluter/frauenfussball-breitensport-generationen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1d6486a85e97d0f412029d3404a40b2f5b0fe396 --- /dev/null +++ b/fluter/frauenfussball-breitensport-generationen.txt @@ -0,0 +1,31 @@ + +fluter.de: Wie sind Sie zum Fußball gekommen, Paula? +Paula Hatzel: Es gab kein Schlüsselerlebnis, aber ich weiß, dass ich es als Kind immer super fand. Mein Vater hat die Bundesliga verfolgt, ich habe einen großen Bruder – und in den Pausen in der Schule habe ich immer mit den Jungs Fußball gespielt. +So wie auch Sie vor fünf Jahrzehnten, Martina. Das beschreiben Sie in Ihrem Buch. Die anderen Kinder waren da vorurteilsfrei? +Martina Keller: Wenn es Jungs gab, die sagten: "Die Keller soll nicht mitspielen", dann habe ich das offenbar ignoriert. Was mir auch andere Fußballerinnen meiner Generation erzählt haben: Waren die Mädchen gleich gut, gab es kein Problem. Wenn ich jetzt viel langsamer, technisch schlechter, unbeweglicher gewesen wäre oder superempfindlich bei irgendwelchen Remplern – dann wäre es vielleicht anders gewesen. + + +Wie war das bei Ihnen, Paula? +Paula Hatzel: Ich habe auch nicht in Erinnerung, dass ich zurückgewiesen wurde. Aber: Ich war auf jeden Fall immer das einzige Mädchen, das mitgespielt hat. +Martina Keller: Das finde ich interessant. Da hätte ich mir damals gedacht: Mensch, in 40 Jahren könnte es doch sein, dass halbe-halbe auf dem Schulhof gekickt wird. +Paula Hatzel: Wahrscheinlich hat es sich seit meiner Schulzeit noch etwas gewandelt, aber ich weiß noch, dass ich im Grundschulalter bei einem Verein zum Probetraining war – da gab es außer mir nur ein Mädchen und Mädchenteams sowieso nicht. Ich bin dann nicht noch mal dort hin. Erst während des Studiums fing ich über den Hochschulsport an, in einem Verein zu spielen. +Frustriert es, dass sich die Dinge offenbar so langsam verändern? +Martina Keller: Ich finde es schade. Fußball ist so ein toller Sport, dass viel mehr Mädchen kicken sollten. Er hat so viel integrative Kraft – das sieht man sogar bei unseren kleinen, bescheidenen Teams: Man kann auf jedem Niveau irgendwie zusammenspielen. Es ist ein Mannschaftssport, die Fehler der einen müssen die anderen mittragen, das ist eine gute soziale Erfahrung. Und man lernt eine gute Körperlichkeit:den Körpereinsetzen, nicht immer zurückziehen – das ist nicht unbedingt das, was Mädchen als Bewegungssozialisation sonst so mitbekommen. Aber man muss auch sagen: Es hat sich schon viel verändert. +Was zum Beispiel? +Martina Keller: Bei meinen Recherchen für das Buch bei der Nachwuchsabteilung des SC Freiburg und einer Jugendauswahl in Niedersachsen dachte ich mir: Wow! Wie technisch gut die spielen. Wie viel Verständnis die haben für Pässe und Positionen. Aber auch die Härte der Schüsse, die Energie, die sie auf den Platz bringen. Da habe ich mir fast gewünscht: Hätte es so eine Förderung doch gegeben, als ich in dem Alter war. + +Als Sie in dem Alter waren, begleitete Moderator Wim Thoelke im ZDF-Sportstudio einen Beitrag über den Frauenfußball mit Kommentaren wie: "Decken, decken, nicht Tisch decken – Mann decken". Sie bringen in dem Buch allerdings auch Beispiele von 2011, als zur WM in Deutschland für Sammelbilder geworben wurde: "Frauentausch mal anders". +Martina Keller: Oder es hieß in den Medien: "Scharfe Frauen schießen auch scharf". Eklige, sexistische Bemerkungen. "Unsere Hübscheste": Dass da immer noch solche Bewertungen abgegeben und gleichzeitig damit die anderen abgewertet werden. Wurde das jemals bei einem Männerspiel gesagt: "Oh, der ist aber süß"? "Der bestaussehende Stürmer auf dem Platz"? Vielleicht hat sich aber in den letzten Jahren etwas geändert, auch im Zuge von #MeToo. +Paula Hatzel: Ich denke schon, dass sich das Bewusstsein verbessert hat. Aber es ist erschreckend, wie neu das ist und wie lange der Weg noch. Die Reduktion von Frauen auf ihr Aussehen und ihre Körper ist total unangemessen. Ob die Frau jetzt ausreichend weiblich ist und welche Sexualität sie hat – da sollte es Toleranz geben. Das hat beim Fußballschauen nichts verloren. +Was erleben Sie noch an Diskriminierung im Fußballalltag? +Paula Hatzel: Das sind oft gar nicht so offensichtliche Dinge. Wenn wir trainieren, habe ich zum Beispiel das Gefühl, dass die Leute – egal ob Jugendliche oder Erwachsene – viel rücksichtsloser quer über das Spielfeld laufen, als wenn da eine Männermannschaft trainieren würde. +Martina Keller: +Ja, stimmt, beim Training schießen kleine Jungs, vielleicht 12 oder 13 Jahre alt, ihre Bälle auf unseren Platz, die halten keinen Abstand, stören uns oder besetzen die Bank am Spielfeldrand, obwohl ihre Zeit längst vorbei ist. Ich empfinde das auch als extrem respektlos. Und klar, das hat schon damit zu tun, dass wir Frauen sind. +Ist der Umgang im Frauenfußball miteinander respektvoller? +Martina Keller: Bei uns kommt jede Spielerin auf ihre Spielzeit. Ein Altherrenspieler hat mir mal erzählt, dass das bei den Männern auch anders laufen kann – da sind die auf dem Platz so egoistisch, dass sie sich nicht auswechseln lassen. Es wird dort wohl auch mehr gepöbelt. Dagegen ist negative Kritik bei uns echt tabu. Ich muss mich manchmal zügeln, denn rein inhaltlich habe ich schon Kritik. Aber wir haben eben einen ganz anderen Umgangston als sonst üblich im Fußball. +Paula Hatzel: Bei uns kommt aus der Mannschaft selbst der Wunsch, dass alle ähnliche Anteile spielen sollen. Es ist vielleicht nicht so leistungsorientiert. Jede soll drankommen. +Wenn der Frauenfußball sich weiter professionalisieren soll – müssten dann vielleicht auch auf Amateurebene mehr Ellbogen zum Einsatz kommen? +Paula Hatzel: Wo es Hochleistungssport auf hohem Niveau gibt, kann es ja nebenher trotzdem noch den Breitensport geben. Da geht es für uns mehr darum, dass wir uns weiter für unsere Räume einsetzen – gerade im Jugendsport. +Martina Keller: Gegen mehr Leistung und besseren Fußball habe ich überhaupt nichts einzuwenden – es macht endlich Spaß, die Spiele der Frauen anzugucken.Mehr als 90.000 Fans in Barcelona, das ist grandios.In Deutschland wurde zuletzt von Klubs und dem DFB bei Strukturen und Förderung viel verpennt. Das wird sich hoffentlich ändern. + +* Das Interview wurde eigentlich zur EM 2022 geführt und jetzt aktualisiert. diff --git a/fluter/frauenhaus-schwangere-gefluechtete.txt b/fluter/frauenhaus-schwangere-gefluechtete.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..45a1bf4b849dac220a4a7aeded32d1bcbbe75a52 --- /dev/null +++ b/fluter/frauenhaus-schwangere-gefluechtete.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Unter Rahabs dunkelbraunem Kaftan, Chloés Sweatshirt, den Kleidern und Pullis der anderen jungen Frauen wölben sich Bäuche. Im Haus der Organisation "Tom Pouce" leben zwölf Schwangere. Neun Mütter mit Neugeborenen wohnen in einem anderen Haus, eine Viertelstunde von hier. Zum Schutz der Frauen heißen alle Bewohnerinnen in diesem Text anders als in Wirklichkeit. +So unterschiedlich ihre Geschichten sind: Keine der Frauen hat einen Ort, an dem sie und ihr Kind in den Monaten vor und nach der Geburt in Sicherheit wären. Fast alle haben eineFluchtgeschichte. Sie kamen allein oder mit ihren Familien von den Antillen, der Elfenbeinküste oderaus dem Sudannach Frankreich. Viele von ihnen sind minderjährig, manche haben keine Krankenversicherung, über die die Vorsorgeuntersuchungen während der Schwangerschaft abgedeckt wären. Das Unterstützungsnetz des französischen Staates fängt sie noch nicht auf, weil die Hilfen nur über komplizierte Anträge zu bekommen sind. +Die meisten von ihnen haben keine Arbeit und gehören zu den mehr als 2.300 Frauen, die die Organisation "Samusocial" in Paris innerhalb eines Jahres registriert hat – und denen eine Wohnung, ein Unterschlupf bei der Familie oder ein anderer sicherer Ort während der Schwangerschaft fehlt. Für jede Frau bedeutet eine Schwangerschaft ein Risiko für ihre Gesundheit,für jede alleinerziehende Mutter ein gesellschaftliches Risiko der Verarmung, der Isolierung. Die Frauen von Tom Pouce treffen all diese Risiken noch einmal härter, weil sie nach Frankreich geflüchtet sind. +Im Aufenthaltsraum stapeln sich neben einer Sofaecke aus beigefarbenem Kunstleder Gesellschaftsspiele, es gibt Gymnastikbälle, auf dem langen Tisch in der Küche liegt eine abwischbare Tischdecke. Im Türrahmen hängen Putz-, Koch- und Wäschepläne. Für viele der jungen Frauen ist es das erste streng geregelte Zusammenleben. WG-Erfahrung hat hier niemand. +Während der Bauch wächst, soll die banale Alltagsroutine Ruhe geben. Workshops helfen, Vertrauen zu gewinnen – in sich selbst und andere. Außerdem haben die jungen Frauen Schwangerschafts-Check-ups und Arzttermine. Die Sozialarbeiterinnen helfen bei den komplizierten Anträgen für die vom französischen Staat bezahlte Krankenversicherung für Menschen ohne Papiere oder schreiben mit den Frauen gemeinsam Fragen für die Ultraschalluntersuchung auf. Die Frauen lernen, sich um sich selbst zu kümmern – um irgendwann, in einigen Wochen, Monaten, für eine weitere Person sorgen zu können. +Eine der jungen Frauen, hochschwanger, kommt im kurzen blau-weiß gestreiften Kleid angerauscht, trotz der durch die alten Fenster hereinziehenden Kälte. "Läufst du im Treppenhaus?", ruft Rahab, die gerade das Wasser aus ihrer Wärmflasche zurück in den Wasserkocher kippt. "Ja, kann es kaum noch erwarten!", brüllt die Frau zurück, schon draußen auf der Terrasse. "So kann man die Wehen einleiten", sagt Rahab mit wissendem Blick. Chloé zappt an ihrem Handy durch Hip-Hop-Videos, sie lässt ihre schwarz-weißen Adiletten im Takt auf den Boden schlappen, zieht den Pullover über ihren Bauch. Über das Kind, das sich darin bewegt, sagt sie: "Natürlich wollte ich es behalten, ich bin ja schon seit drei Jahren mit meinem Freund zusammen." +Chloé, die von den Antillen kommt, ist selbst noch fast ein Kind – wie ihr Freund. Das Smartphone, ein Geschenk von ihm, legt sie nie aus der Hand, selbst beim Essen nicht. "Ich bin hier, weil ich Angst habe, dass man mir das Kind wegnimmt, wenn ich nicht zurechtkomme", sagt sie. +Neben Chloé stochert Zahra lustlos im Essen. "Mein Kind wird in so eine furchtbare Welt geboren", sagt sie. "Ich werde es beschützen. Es wird nicht in die Schule gehen, ich werde es zu Hause erziehen." Natalie, eine von zwei Psychologinnen im Maison Tom Pouce, schaut sie aufmerksam an. In Frankreich gilt für Kinder von Geflüchteten die Schulpflicht zwischen sechs und 16 Jahren. Später wird die Psychologin erzählen, dass die Frauen wegen ihres Alters oft Schwierigkeiten hätten, ihre neuen Lebensumstände zu begreifen. "Sie leben in einer Traumwelt. Sie sagen: Ich kann mit einem Baby umgehen, ich hatte eine kleine Schwester!" Dazu kommen Traumata von der Flucht, von Vergewaltigungen und Familienstreits. Erfahrungen, die es schwer machen, sich die Zukunft vorzustellen und zu planen. Viele der jungen Mütter leiden unter Konzentrationsproblemen, Albträumen, wachen frühmorgens auf und können nicht mehr einschlafen. +Im zweiten Haus – da, wo die Mütter mit den Neugeborenen leben – kommt Marguerite aus ihrem Zimmer. Die 25-Jährige dürfte gar nicht in Frankreich sein, sie hat keine Aufenthaltsgenehmigung – und auch keine Familie, die sie auffängt. Ihre Mutter starb kurz nach der Geburt, mit ihrem Vater floh sie von Guinea nach Portugal. Dort wurden sie getrennt, und sie kam mit sieben Jahren in ein Kinderheim. Als Jugendliche holte ihre Schwester sie nach Paris, später landete sie bei einer Cousine in Metz. +Die Sorge um die Papiere bestimmt ihren Alltag. Dennoch wirkt sie im Vergleich zu den anderen Bewohnerinnen ruhig und aufgeräumt. In ihrer durchsichtigen Handyhülle steckt ein Zettel mit Notfallnummern, ganz oben die Telefonnummer vom Maison Tom Pouce. Keine Aufenthaltsgenehmigung, kein Schulabschluss, für viele bedeutet das unweigerlich: keine Zukunft. Vor einigen Jahren lernte Marguerite einen Mann kennen, von dem sie nun schwanger wurde. Die Cousine setzte sie auf die Straße, drei Tage lang schlief Marguerite in einem verlassenen Gebäude. Dann rief sie die Hotline 115 an, die Notunterkünfte vermittelt, doch niemand konnte ihr helfen. Im Internet fand sie das Maison Tom Pouce. +Als sie dort ankam, lag auf ihrem Bett schon ein gehäkelter Strampler, den jede Frau zur Ankunft bekommt. Marguerite weinte vor Erleichterung. "Ich wollte immer ein Kind", sagt sie heute. Aber da war auch die Frage: "Wie werde ich das bewältigen?" +"Wir wollen, dass eine Frau selbst entscheiden kann, ob sie ein Kind behalten möchte oder nicht – und nicht Armut, Ausgrenzung oder Gewalt", sagt Marie-Noëlle Couderc, Direktorin des Maison Tom Pouce. Was den Müttern fehle – "ein Dach über dem Kopf, ein sicherer Ort zum Schlafen, Stabilität" –, das könne ihnen das Haus während der Schwangerschaft und nach der Geburt geben. Anderes nicht: Das Gefühl, vom Vater des Kindes oder von der Familie hängen gelassen worden zu sein, können die Sozialarbeiterinnen nicht ausgleichen. Das Maison Tom Pouce verschafft den Frauen eine Atempause, mehr nicht. Und dennoch ist das in der Welt, in der sie leben, sehr viel. +"Zum Glück ist Marguerite da", sagt Jeannot über ihre Mitbewohnerin. Manchmal, wenn die Babys schlafen, hören sie zusammen Rihanna, ihre Lieblingsmusik – in einem der Zimmer unter dem Dachgeschoss voller Babysachen und Klamotten. Langeweile haben sie nie. "Das geht mit Baby gar nicht", sagt Jeannot. +Im Zimmer nebenan fängt ein Baby an zu weinen. Jeannots Tochter stimmt ein, strampelt, ein Schuh fällt ab, sie krampft sich mit der Hand in Jeannots weißer Bluse fest. Jeannot seufzt, öffnet zwei Knöpfe, legt die Kleine an ihre Brust. Marguerite, die auf dem Stuhl neben ihr sitzt, streicht ihrem anderthalb Monate alten Sohn über die Wange. So, dass ihre langen Fingernägel seine zarte Haut nicht berühren. +Während die Frauen also in einem Haus auf die Geburt ihrer Kinder warten, warten sie im anderen darauf, dass das echte Leben mit Kind losgehen kann. Jeannot und Marguerite haben schon den Sozialarbeitersprech übernommen: Sie wollen nach ihrem Auszug aus dem Maison in "Semiautonomie" leben, in Halbselbstständigkeit. Also eine Art betreutes Wohnen in einer eigenen Wohnung. Jeannot möchte eine Ausbildung zur Hausmeisterin machen, Marguerite will ihr Fachabitur machen, Immobilienmaklerin werden – "und Poledance lernen". diff --git a/fluter/frei-wie-der-wind.txt b/fluter/frei-wie-der-wind.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/freight-hopping-subkultur-eisenbahn.txt b/fluter/freight-hopping-subkultur-eisenbahn.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..aa6e464e7f740e328212107e204e82292c56826c --- /dev/null +++ b/fluter/freight-hopping-subkultur-eisenbahn.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +"Loki", das ist ein Lokführer, der "Grainer" ein Getreidewaggon, und "Taschen" heißen die Wagen, auf denen Container geladen werden. + + +Auf so einen warten sie: Zwischen Container und Wagen ist ein Spalt, in den sich die drei quetschen und quer durch Deutschland fahren wollen. +JJ tarnt sich mit einer Warnweste und verschwindet in den Reihen stehender Güterzüge, um die Lage zu checken. Aki hievt seinen Rucksack mit Hängematte, Schlafsack, zwei Unterhosen und viel Wasser hinter sich und beginnt zu erzählen. Eigentlich habe er als U-Bahn-Surfer angefangen. Ein irres Risiko für einen so kurzen Adrenalinrausch, sagt Aki. "Irgendwann habe ich mich dabei nur noch dumm gefühlt." Ein Bekannter aus Tschechien nahm ihn vor drei Jahren mal mit auf einen Güterzug, seitdem fährt Aki so durch die Welt, mehrere Monate im Jahr. +Mit Mitte 20 hat er große Teile Europas gesehen und ist auf einem Kohlewaggon durch die marokkanische Wüste gefahren. Schon schön, aber ginge doch auch komfortabler, mit der Bahn oder per Anhalter? Aki guckt, zieht an seinem Joint und überlegt. "Kostenlos reisen", sagt er. Man sieht ihm an, dass das nicht der ganze Grund ist. Dann holt Aki aus. "Die industriellen Gegenden ziehen mich an", sagt er. "Etwas abseits der Zivilisation sein, die Landschaft genießen: Für mich ist das eine Art Meditation." +Meditativ war die Fortbewegung mit Güterzügen nicht immer. Die Große Depression in den USA der 1930er-Jahre zwang Millionen Menschen, der Saisonarbeit hinterherzuziehen. Sie hätten sich die langen Wege zwischen den Bundesstaaten gar nicht anders leisten können. Später wurden die "Hobos" populär, obdachlose Reisende, die das Aufspringen zum Lifestyle machten. Wie viele aktive Freight-Hopper es gibt, wissen Aki und seine Freunde nicht. Aber die Szene scheint größer geworden zu sein, seit einige Train-Hopper ihre Trips posten. + +Das ist selbst innerhalb der Szene nicht unumstritten: Das Aufspringen ist illegal und vor allem lebensgefährlich. Der Starkstrom in den Oberleitungen, glitschige Steine in den Gleisbetten, das Timing beim Auf- und Abspringen. Das, sagt Aki, sei der gefährlichste Moment: Beim Anrollen können sich die Züge unerwartet bewegen, da gerate man leicht unter die Räder. Klar: Was er und seine Leute hier vollziehen, ist keine Panoramafahrt mit Sonnenuntergang im Nacken und einem Zahnstocher zwischen den Zähnen, sondern kann in Deutschland Anlass sein für eine Haftstrafe. Aki aber behauptet, die Risiken abschätzen zu können. Er sei noch nie erwischt worden und habe keine Angst vor Konsequenzen. Als Weißer mit europäischem Pass drohe ihm ohnehin maximal eine Geldstrafe, sagt er, wenn überhaupt. Es ist eher ein moralisches Dilemma, das ihn beschäftigt: Auch Flüchtende versuchen, auf Güterzügen Grenzen zu überwinden. +Wieder schlurft ein "Loki" vorbei, die Bundespolizei kreuzt die nahe gelegene Straße, ohne Notiz von uns zu nehmen, und Aki erinnert sich an Marokko. Einer seiner Trips durch die Wüste seiin Melilla gestartet. Die spanische Exklave hat eine Landgrenze zu Marokko, an der seit Jahren Flüchtende sterben. "Ich stand an dieser Grenzanlage", erzählt Aki, "vor diesen riesigen Zäunen, überall waren Wachen mit Maschinengewehren." Er traf Menschen auf der Flucht, die auf Güterzügen in die Europäische Union kommen wollen. Sie machen das für ein besseres Leben. Er macht das fürs Vergnügen. "Irgendwie scheiße", sagt Aki, "nur hilft mein schlechtes Gewissen den Menschen dort auch nicht." +Seine Freunde sind von ihren Erkundungstouren zurück, einer observiert das Gelände mit einem Fernglas. Keine "Tasche". Freight-Hopping, scheint es, heißt warten. Einmal, sagt Aki, habe es vier Tage gedauert, bis der richtige Zug einfuhr. Die Zeit vertreiben sich die drei mit Geschichten und Gesprächen über neue Projekte. Keks spricht über Brombeeren, die er unterwegs einsammelt und zu Marmelade einkocht. Aki plant ein Fotozine von ihrem Trip nach Norwegen. Freight-Hopping isteine Subkultur wie Graffitioder Urbexing, das Erkunden verlassener Orte. Es geht umeine Art von DIY-Kulturund um die Aneignung von Raum, am besten über die Grenzen des Legalen hinaus. Um Abenteuer also und natürlich um die Geschichten, die man sich während der langen Wartezeiten in Gebüschen erzählen kann. + +Als es dämmert, erzählt JJ, wie er mal in Warnweste in einem Zugdepot stand und ein Fahrer ihn ertappte. Er gab sich als Fahrer aus, punktete durch sein Fachwissen, und schließlich nahm der richtige Lokführer den falschen in der Lok mit. Die beiden folgen sich bei Instagram. Gelächter, die Stimmung ist gut im Gebüsch, gerade jetzt, wo es um die Toilettensituation auf den Reisen geht. + +Aki: "Manche Züge haben Löcher im Boden. Da steckt man halt einfach rein und lässt laufen. Lustiges Gefühl. Für Frauen aber schwieriger." +JJ: "Mir fällt es schwer unterwegs." +Aki: "Stuhlgang ist ein Thema. Während der Fahrt würde ich nicht empfehlen, sonst scheißt man sich an. Manchmal muss man einfach einen Waggon weiter gehen." + + +Dieser Text istim fluter Nr. 92 "Verkehr"erschienen +Und dann wird es hektisch. Im Hintergrund hört man einen Zug einfahren. "Jetzt könnte was gehen", sagt Aki. Die drei rennen aus dem Gebüsch, klettern zwischen den Reihen aus Güterzügen hindurch, die "Tasche" ist in Blicknähe. "Pscht", sagt Aki plötzlich, und wir stehen gequetscht auf der Kupplung eines Waggons, halten die Luft an, hören Stimmen, sehen Füße unter dem nächsten Waggon. +Dann geht es weiter zur "Tasche". Der Spalt zwischen Container und Wagen ist winzig. Sie quetschen sich hindurch, liegen auf schmalen Plattformen, direkt darunter die Schiene. Drei Minuten später fährt der Zug ab. "Es regnet, und wir sind durch Regensburg", schreibt Aki eine Stunde später bei Signal. Nachts werden sie die Reise unterbrechen, durchnässt, aber schon in Stuttgart. diff --git a/fluter/freiheit-die-ich-meine.txt b/fluter/freiheit-die-ich-meine.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cd35b7ff39c2e9ab526991f1f50a66a0f0eded86 --- /dev/null +++ b/fluter/freiheit-die-ich-meine.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Kern dieser Grundordnung sind die Menschen- oder Grundrechte, im Wesentlichen niedergeschrieben in den Art. 1-19 GG, aber auch sonst über die Verfassung verstreut. Sie nennen einzelne Lebens- oder Rechtsbereiche, in denen wir "frei", das heißt vor staatlicher Einmischung sicher sein sollen. Beispiele: Religion, Gewissen, Weltanschauung, Meinungen, Presse und Rundfunk, Kunst und Wissenschaft, Familie, Schule, Versammlungen, Vereinigungen, Telekommunikation, Freizügigkeit, Arbeit und Beruf, Wohnung, Eigentum und Erbrecht, Wahlen zum Bundestag. Was nicht von diesen Freiheiten erfasst wird, wird in Gestalt der "freien Entfaltung der Persönlichkeit" garantiert. Manche dieser Freiheiten dienen unserer ganz individuellen und eigennützigen Entfaltung, viele von ihnen schützen unsere "Geselligkeit". +In allem, was wir tun und lassen, sind wir, so sagen die Grundrechte, zunächst einmal und grundsätzlich frei. Unsere Freiheit ist die Regel, die keiner besonderen Rechtfertigung bedarf, weil sie als Regel vom Grundgesetz garantiert ist. Besonderer Rechtfertigung - durch eine Ermächtigung im Grundgesetz - bedarf umgekehrt der Staat, wenn er diese Freiheit beschränken will. +Diese Ermächtigungen spricht das Grundgesetz - in Gestalt von so genannten Gesetzesvorbehalten - in großem Umfange aus. Das ist verständlich und notwendig: Die Freiheiten so vieler Einzelner auf so engem Raum unter so beschränkten Lebensumständen müssen sich miteinander vertragen, das heißt vor allem aufeinander und auf das Ganze Rücksicht nehmen. Beispiel: Zur freien Entfaltung der Persönlichkeit gehört auch das Verkehren auf der öffentlichen Straße. Aber ohne Verkehrsregeln würde von dieser Freiheit wenig übrig bleiben, und diese Regeln kann nur der Staat bereitstellen. Sie beschränken unsere Verkehrsfreiheit, aber sie ordnen und ermöglichen sie auch. Dafür, dass diese notwendigen Regeln nicht zu Fesseln werden, die von der Freiheit nichts übrig lassen, sorgt das ungeschriebene Prinzip der Verhältnismäßigkeit: Nur soweit unumgänglich, darf unsere Freiheit eingeschränkt werden. +Obwohl das Grundgesetz weiß und klarstellt, dass es Freiheit ohne Einschränkungen nicht gibt, und deswegen den Gesetzgeber ermächtigt, sie vorzusehen, hält es sich selbst mit der Anordnung von Pflichten auffällig zurück. Art. 5 III 2 GG spricht immerhin von der Treue zur Verfassung, die den Lehrenden obliegt, Art. 6 II 1 GG von der Pflicht der Eltern, ihre Kinder zu pflegen und zu erziehen, und Art. 14 II 1 GG davon, dass "Eigentum verpflichtet". Von Weiterem, zum Beispiel einer Pflicht, in Schule und Beruf das Beste aus sich zu machen oder ganz allgemein seine Persönlichkeit zum Besten des Gemeinwohls maximal zu entfalten, von einer Wahlpflicht, von einer Einstandspflicht in Notlagen etcetera ist nicht die Rede. +Die in den Grundrechten beschriebenen Freiheiten kommen allen Menschen, gelegentlich - so zum Beispiel die Berufs-, die Versammlungs-, die Vereinigungsfreiheit - nur den deutschen Menschen zu. Darin liegt eine von der Verfassung gewollte - und nicht von allen geliebte - Ungleichheit der Menschen, die auch vom Gleichheitssatz nicht beseitigt wird. Der hilft nur - aber auch immerhin - dazu, dass zum Beispiel allen Deutschen die ihnen garantierte Berufsfreiheit nicht in willkürlich ungleichem Maße gewährt oder vorenthalten wird. +Wenig bewirkt das Grundgesetz, wenn es darum geht, von der Freiheit überhaupt Gebrauch machen zu können. Die Eigentumsfreiheit nutzt wenig, wenn ich kein Eigentum habe; es zu erwerben, hilft mir das Grundgesetz kaum. Die Berufsfreiheit ist für den Arbeitslosen eine vage Verheißung, der Schutz der Wohnung wenig interessant für den Obdachlosen. Für die Grundversorgung (und nur für sie) ist insofern das Sozialstaatsprinzip zuständig (Art. 20 I GG). Die Freiheit der Grundrechte baut auf ihr auf; wo jene fehlt, nützt diese kaum. +Als Grund und Ziel unserer Freiheiten und der staatlichen Verpflichtung auf sie nennt das Grundgesetz die Menschenwürde (Art. 1 I, II GG), nichts anderes (wie zum Beispiel Reichtum) und nichts Höheres (wie zum Beispiel Gott). Jedem Menschen - und nur ihm - kommt eine Würde zu, die sich - wie das Grundgesetz aus der Vergangenheit gelernt hat - ohne Freiheit nicht verwirklichen oder erhalten lässt. +Christian Pestalozza ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Freien Universität Berlin. diff --git a/fluter/freiheit-oder-sicherheit.txt b/fluter/freiheit-oder-sicherheit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5199fd161bcae7827ccaba8eb092d12ce29a16c8 --- /dev/null +++ b/fluter/freiheit-oder-sicherheit.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +SICHERHEITMarkus Beyer, Sprecher des Bundesinnenministeriums: "Das Grundgesetz fordert die Gewährleistung der Sicherheit durch den Staat. Ohne Sicherheit keine Freiheit – das wusste schon Humboldt. Sicherheit ist die Grundlage, auf der Freiheit sich erst vollends entfalten kann. Freiheit und Sicherheit sind untrennbare zwei Seiten einer Medaille. Deshalb sind alle die Sicherheit gewährleistenden Maßnahmen gleichzeitig auch als Maßnahmen zu begreifen, die Freiheitsentfaltung gewährleisten und fördern. Ein Gewinn an Sicherheit stärkt im demokratischen Rechtsstaat die Freiheit. Die Bekämpfung des Terrorismus ist dabei ein entscheidender Beitrag zur Wahrung des inneren Friedens und der Sicherheit unseres Landes. Die Bevölkerung hat einen Anspruch darauf, dass unsere Sicherheitsbehörden auch zukünftig jederzeit in der Lage sind, solchen Entwicklungen im Frühstadium Einhalt zu gebieten. Dazu gehören ausreichend Personal, der neueste Stand der Technik sowie die erforderlichen Befugnisse."FREIHEITBeate Rösseler, Philosophin: "Der Respekt für die Privatheit einer Person ist der Respekt für sie als einem autonomen Subjekt, das ist die entscheidende Einsicht. Wir müssen generell, um uns selbstbestimmt verhalten zu können, daran glauben und davon ausgehen können, dass wir nicht beobachtet werden, belauscht, getäuscht über die Weitergabe und die Erfassung von Daten, über die Anwesenheit von Personen und darüber, was anwesende Personen von uns wissen und "wer" sie deshalb "für uns" sind. Aus dem gleichen Grunde nützt es nichts, wenn Personen wissen, dass sie beobachtet werden oder dass Informationen über sie gespeichert werden, wenn sie nicht beobachtet oder auf diese Weise erfasst werden wollen – denn es ist genau die Tatsache, dass sie sich auf die Beobachtung und Kontrolle einstellen müssen, die sie daran hindert, selbstbestimmt, authentisch zu agieren." + +SICHERHEITJörg Ziercke, Präsident des Bundeskriminalamts: "spielen bei der Aufklärung von schweren Straftaten eine bedeutende Rolle. So ist dieIP-Adresse eines Internetnutzers oftmals die einzige Spur zu den Tätern. Deshalb ist es wichtig, dass die Internetprovider – nicht die Sicherheitsbehörden – jetzt gesetzlich berechtigt sind und ab 01. Januar 09 verpflichtet werden, Verbindungsdaten ihrer Kunden für sechs Monate zu speichern. Ohne diese Daten wäre das Internet ein verfolgungsfreier Raum und die Polizei stünde im Kampf gegen zahlreiche Formen der Kriminalität – wie etwa der Kinderpornografie – völlig im Dunkeln."FREIHEITRalf Bendrath, Netzbürgerrechtler vom AK Vorratsdatenspeicherung: "Vorratsdatenspeicherung heißt, dass die gesamte Bevölkerung ohne Anfangsverdacht überwacht wird. Wen ich wann und von wo aus anrufe, wann ich ins Internet gehe oder wem ich wann eine Mail schreibe, geht aberniemanden etwas an, schon gar nicht den Staat. Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass die Menschen ihre Kommunikation reduzieren, weil sie sich nicht mehr unbeobachtet fühlen. Das kann nicht das Ziel eine Informations- und Kommunikationsgesellschaft sein. Sicherheit heißt immer auch Sicherheit vor dem Staat und vor Überwachung. Wie die Telekom-Datenskandale gezeigt haben, werden gespeicherte Datenhalden immer wieder missbraucht." + +SICHERHEITRolfTophoven, Essener Terrorismusforscher: "Terroristen nutzen moderne Kommunikationsmittel. Darum muss die Polizei das Instrumentarium der Onlinedurchsuchung in die Hand gegeben bekommen, damit sie auf einer Augenhöhe mit den Terroristen operiert.Bei Onlinedurchsuchung geht es auch um psychologische Abschreckung: Terroristen, die wissen, dass sie schon auf dem Schirm der Behörden sein könnten, würden im besten Falle ihr Planungsverhalten im Netz ändern. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht enge Grenzen für die Onlinedurchsuchung gesetzt: Das Ausspähen ist nur dann verfassungsgemäß, wenn es konkrete Anhaltspunkte für konkrete Gefahr für Menschenleben und den Staat gibt – und sie darf nur auf richterliche Anordnung erfolgen. Darum ist die ganze Hysterie rund um die Onlinedurchsuchung übertrieben."FREIHEITAndreas Popp, Vorsitzender der Netzaktivisten-Organisation Piratenpartei Bayern: "Online-Durchsuchungen stellen einen massiven Eingriff in die Privatsphäre des Einzelnen dar. Der Computer ist ein privater Lebensraum, genauso wie die eigene Wohnung, das hat das Bundesverfassungsgericht bestätigt. Die Daten auf privaten Rechnern gehen von E-Mails mit privatem Inhalt über Privatfotos bis hin zu Bankdaten. Onlinedurchsuchungen umgehen dabei die Grundrechte. Sie finden heimlich, ohne das Wissen des Durchsuchten statt. Das ist eine massive Verletzung der Rechtsstaatlichkeit. Erst recht, weil dabei ein Polizist heimlich in die Wohnung einbrechen müsste, um die Schnüffelsoftware zu installieren.Gleichzeitig ist der Beitrag zur inneren Sicherheit mehr als bescheiden. Terroristen und organisierte Kriminalität sind ja nicht blöd, die wissen, wie sie sich gegen solche Maßnahmen zur Wehr setzen können. Treffen würde es schließlich den einfachen Bürger. Wenn wir uns jetzt nicht alle gemeinsam dagegen stemmen, dann werden alle irgendwann auf unseren Rechnern herumwühlen wollen." + +SICHERHEITMarkus Beyer, Sprecher des Bundesinnenministeriums: "Mitgliedstaaten der EU haben sich nach den Anschlägen des 11. September 2001 auf die Einführung der Biometrie bei Pässen, Visa und Aufenthaltstiteln verständigt. Für den Fingerabdruck als zweites biometrisches Merkmal entschieden sich die EU-Mitgliedstaaten aufgrund der hohen Praxistauglichkeit. Zwei verschiedene biometrische Merkmale erhöhen die Flexibilität bei Kontrollen.Seit der ersten Generation sind die elektronischen Pässe gegen unbemerktes und unberechtigtes Auslesen durch einen wirkungsvollen Mechanismus geschützt. So kann nur derjenige mit einem speziellen Lesegerät die elektronischen Daten vom Chip des Passes lesen, der die identischen aufgedruckten Daten im Passdokument sehen und einscannen kann. Seit dem ePass der zweiten Generation kommt ein zusätzlicher Zugriffschutz zum Tragen: Nur Staaten, die von Deutschland spezielle Zugriffsberechtigungen erhalten, können auf die Fingerabdrücke im Chip zugreifen."FREIHEITAndreas Popp, Vorsitzender der Netzaktivisten-Organisation Piratenpartei Bayern: "Der Nutzen des ePasses erschließt sich uns gar nicht. Viel fälschungssicherer als der herkömmliche Reisepass ist er nämlich auch nicht. Wir sehen diese Entwicklung mit großer Sorge, sie ist ein weiterer Schritt hin zur totalen Überwachung. Auf diesen Chips werden Daten zur Identität einer Person gespeichert, die dank RFID-Technologie pausenlos von überall ausgelesen werden können.Wenn diese Daten in falsche Hände geraten, könnte sich jemand ganz bequem für einen anderen ausgeben. Natürlich werden diese Daten dann auch noch mit anderen Staaten ausgetauscht und das mittels einer total unausgereiften Technologie, die nach Missbrauch nur so schreit. Im Prinzip ist die Erhebung dieser Daten nichts anderes als die so genannten 'Erkennungsdienstlichen Maßnahmen' der Polizei. Wir werden also von einem Volk von Bürgern zu einem Volk von Verdächtigen." +Meike Laaff ist Journalistin in Berlin. Einer ihrer Themen-Schwerpunkte: Datenschutz und Sicherheit. diff --git a/fluter/freitagnacht-jews-wdr-donskoy-interview.txt b/fluter/freitagnacht-jews-wdr-donskoy-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fd5cdcbb300acacbebadc71c0a229cacf99499dd --- /dev/null +++ b/fluter/freitagnacht-jews-wdr-donskoy-interview.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +fluter.de: Du hast mal gesagt: "In Deutschland macht es am wenigsten Spaß, Jude zu sein." Warum? +Daniel Donskoy: Deutschland ist in einem neurotischen Verhältnis zu Jüd:innen und dem Judentum gefangen: irgendwo zwischen Antisemitismus auf der einen Seite und Philosemitismus(Anm. d. Red.:eine sehr wohlwollende Haltung gegenüber Jüd:innen und dem Judentum)auf der anderen. Eine Balance oder noch eher Normalität ist nicht in Sicht. Mir begegnen oft Menschen, die sich damit brüsten, dass sie viele jüdische Freund:innen haben. Oder solche, die direkt, wenn sie hören, dass ich jüdisch bin, mit mir über israelische Politik diskutieren wollen. Man wird leider schnell aufs Jüdischsein reduziert. +Und trotzdem hast du eine Show gemacht, in der du deine jüdische Identität sehr in den Vordergrund stellst. +Vor allem stehen die jüdischen Identitäten meiner Gäst:innen im Vordergrund. Aber ja, die Show war für mich eine Möglichkeit, der Community, aus der ich komme, etwas zurückzugeben: Repräsentation. Aber es war und ist auch eine Möglichkeit, selbstbestimmt zu zeigen, wie jüdisches Leben in Deutschland aussehen kann, wie lebendig es ist – und dass mehr dazugehört als Antisemitismus, Holocaust und Israel. Ich habe das Glück, durch meine weiteren künstlerischen Tätigkeiten Menschen zum Zuhören zu bringen, die bei Themen wie Juden und Antisemitismus sonst nicht direkt einschalten würden. Vor allem aber hatte ich eine große Abneigung gegenüber den schon vorhandenen Formaten über das jüdische Leben in Deutschland. +Das musst du genauer erklären. +Wenn Menschen etwas in Deutschland über Jüd:innen vermittelt bekommen, dann ist es etwas über tote Menschen in Auschwitz – denn so werden sie in Film und Fernsehen meistens abgebildet. Vergangenes Jahr zum Jubiläum "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" gab es eine Sondersendung nach der nächsten. In jeder Doku ging es direkt im zweiten Satz darum, wer in welchem Konzentrationslager gestorben ist. Andere Formate haben mit bedrückter Stimme davon erzählt, wie Menschen in jüdischen Gemeinden heute leben. Und wieder andere haben darüber diskutiert, ob man nicht endlich mal einen Schlussstrich beim Holocaustgedenken ziehen sollte. Über alldem liegt etwas Belastendes – für die Macher:innen und die Zuschauenden, ob sie nun nichtjüdisch sind oder jüdisch. Sie prägen das Bild, das nichtjüdische Menschen von jüdischem Leben haben. Ich habe da aber ein ganz anderes Bild im Kopf. +Wie sieht das aus? +Für mich persönlich hat Jüdischsein in erster Linie nichts mit Religion zu tun, ich bin nicht gläubig. Man sieht mir auch nicht an, dass ich jüdisch bin, ich trage keinen Davidstern. Und ich bewege mich nicht in exklusiv jüdischen Kreisen. Ich verbinde Jüdischsein eher mit meiner Familie in Israel, mit einer warmherzigen "Schicksalsgemeinschaft", wie ich sie gern nenne, die am Schabbat gut isst und viel trinkt. So wie wir das auch in der Show machen. Uns ging es darum, die Perspektive junger jüdischer Menschen in Deutschland in ihrer ganzen Vielfalt abzubilden – von einer angehenden Rabbinerin, die sich der LGBTQI*-Community zugehörig fühlt, bis hin zu einem Publizisten, der Essays über Desintegration schreibt. Ich wollte eine Show machen, die unterhaltend ist und in der es weniger zentral darum gehen sollte, dass die Gäst:innen jüdisch sind. +Trotzdem geht es in der Show ja dann auch um den Holocaust und Antisemitismus. +Natürlich waren wir uns der Verantwortung bewusst: Wenn wir eine Show über jüdisches Leben in Deutschland machen, dann muss das Thema sein, denn wir wollen auch bilden. Es hat aber nicht die Konzeption der Show bestimmt. Die Gäst:innen konnten und sollten ihre Perspektive zum Jüdischsein einbringen. Da spielt Antisemitismus – leider – zwangsweise eine Rolle. +Für die zweite Staffel warst du jetzt im Ausland unterwegs – unter anderem in Istanbul, Buenos Aires und London. +Wir wollten herausfinden, ob und wie viel lockerer Menschen in anderen Ländern mit ihrem Jüdischsein umgehen. Die meisten der in Deutschland lebenden Jüd:innen sind Migrant:innen aus der ehemaligen Sowjetunion, so wie ich. Viele fühlen sich doppelt nicht zugehörig: als Jüd:innen und als Migrant:innen. In Großbritannien hingegen, wo die weltweit fünftgrößte jüdische Community lebt, sind Jüd:innen schon seit Generationen in der Gesellschaft verwurzelt, denn sie waren nicht dem Holocaust ausgesetzt. Was nicht heißt, dass es dort keinen Antisemitismus gibt. Aber Jüd:innen sind präsenter in der Öffentlichkeit: Sie bekleiden Führungspositionen in der Politik und prägen die Kunstszene. Wir haben zu Beginn jeder Folge einen kleinen Dokumentationsteil, um solche Hintergründe zu erklären. Dadurch ist die Staffel politischer als die erste. Und: Wir sind noch frecher unterwegs – gerade weil wir nicht mehr in Deutschland sind. +Dabei war ja die erste Staffel schon an vielen Stellen sehr satirisch, mitunter erschien sie auch zynisch. Manche fanden das unangemessen und haben es kritisiert. Warum hast du dich für diese Form entschieden? +Humor ist eine der Sachen, die mich durchs Leben bringen. In der Show habe ich Humor gebraucht, um an die Emotionen meiner Gäst:innen zu kommen. Außerdem glaube ich, dass man bestimmte Themen in Deutschland eher mit Humor vermittelt bekommt, weil Menschen es nicht gewohnt sind, dass sie humoristisch behandelt werden. Ich würde Humor aber nie benutzen, um jemanden zu degradieren, und ich glaube nicht, dass wir geschmacklos waren. Unsere Gäst:innen sollten sich sicher fühlen und konnten daher mitreden, was im Beitrag bleibt und was nicht. Ein Safe Space für jüdische Menschen ist wichtig – auch im Fernsehen. +Sollte man diese Räume auch für nichtjüdische Menschen öffnen? +Na klar, aber ich glaube, für meine Sendung war es genau richtig, die Themen vorwiegend mit jüdischen Menschen zu besprechen, denn nichtjüdische Menschen haben schon genug Räume. Und es ging ja eben um das Gefühl des Jüdischseins. Ich wüsste nicht, wie ein Nichtjude das erklären soll, wenn er es nicht fühlt. Da die Sendung im öffentlichen Raum zugänglich ist, werden nichtjüdische Menschen ohnehin in den Diskurs miteinbezogen. Wir sollten aber grundsätzlich weg von allgemeinen Zuschreibungen wie jüdisch oder nicht-jüdisch und Menschen vor allem als Individuen sehen. +Braucht es denn aktuell eher mehrSafe Spacesfür jüdische Menschen? +Ich würde das nicht nur auf jüdische Menschen beschränken. Es sollte insgesamt mehr "Minderheitenfernsehen" geben. Und diese Sendungen sollten dann auch von Angehörigen der jeweiligen Minderheit gemacht werden. Ich sehe es viel zu oft, dass zum Beispiel jemand, der nicht derSinti- und Roma-Communityangehört, einen Beitrag über sie macht, ohne mit jemandem aus dieser Minderheit selbst zu sprechen. Deswegen war unsere Show so wichtig – für das jüdische Leben, für Deutschland. Wenn mich jetzt jüdische Jugendliche auf der Straße ansprechen und mir sagen: "Hey Digga, voll gut mit deiner Show, richtig nice!", dann bin ich sehr froh, dass ich das gemacht habe. + +Die zweite Staffel von "Freitagnacht Jews" läuft ab dem 21. Oktober in der ARDund derzeit schon in der ARD-Mediathek. + diff --git a/fluter/freiwilligen-dienste-im-vergleich.txt b/fluter/freiwilligen-dienste-im-vergleich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..416041da1c868420c1c9650d33e0b174bb50d1e0 --- /dev/null +++ b/fluter/freiwilligen-dienste-im-vergleich.txt @@ -0,0 +1,43 @@ +Lektion 1: Geht es um Beziehungsarbeit, ist Kontinuität gefragt – Kurzzeitaufenthalte bringen nur selten was (Arbeit mit Bäumen und Schildkröten sind eine Ausnahme) +Wer ins Ausland gehen will, um dort wirklich etwas zu bewegen, für den gibt es eine ganze Reihe von Möglichkeiten – allen voran die gesetzlich geregelten Dienste wie "weltwärts",Europäischer Freiwilligendienst(EFD) undInternationaler Jugendfreiwilligendienst(IJFD). Ihr Vorteil: Sie werden mit öffentlichen Geldern gefördert. Ein Freiwilligendienst mit einer Dauer von einem Jahr verursacht laut dem Informationsnetzwerk "Eurodesk" nämlich Kosten von rund 10.000 Euro – wer hat die nach dem Abi schon? Außerdem wird das Kindergeld unter bestimmten Voraussetzungen weitergezahlt. Ausschlaggebend ist aber vor allem eines: Die Organisationen bereiten ihre Freiwilligen gründlich vor und betreuen sie auch während und nach dem Dienst. + +Lektion 2: Sich mit verschiedenen Programmen vertraut machen – und zwar rechtzeitig +Die Entscheidung für das geeignete Programm hängt einerseits von der Länderwahl, andererseits von der verbleibenden Zeit bis zum gewünschten Ausreisetermin ab: Wer unbedingt nach Japan will, braucht nicht in der "weltwärts"-Datenbank zu gucken; das Programm fördert Freiwilligendienste in "Entwicklungs- und Schwellenländern", wie es seitens des Programms heißt. Und wer übernächsten Monat schon loslegen will, hat bei "kulturweit" keine Chance; allein der Auswahlprozess dauert um die 16 Wochen. +"Wir raten Jugendlichen, sich ein Jahr vor dem gewünschten Reiseantritt zu kümmern", sagt Robert Helm-Pleuger, Projektkoordinator von "Eurodesk". Kümmern, das heißt, sich mit den einzelnen Programmen (siehe unten) vertraut zu machen, Datenbanken zu durchstöbern und sich bei Anbietern wie "weltweiser" und "rausvonzuhaus" zu informieren. Wer sich eine Entsendeorganisation aussucht, die in der eigenen Region liegt, kann sich auch noch mal persönlich beraten lassen. +Wer ganz spät dran ist, kann mit der Last-Minute-Datenbank von "rausvonzuhaus" sein Glück versuchen. + +Lektion 3: Recherche ist besser als blindes Vertrauen – auch in sich selbst +Was einem die Berater nicht abnehmen können: Kontakt zu Ehemaligen aufzubauen, um mehr über das Projekt und mögliche Probleme zu erfahren. Wenn das nicht möglich ist, sollte man hellhörig werden – gab es in der Vergangenheit womöglich viele unzufriedene Projektteilnehmer? Eine weitere Informationsquelle sind Blogs und Erfahrungsberichte, zum Beispiel aufhttps://www.youthreporter.eu/de/. +Bevor man sich entscheidet, rät Hanna Grohmann vom unabhängigen Bildungsberatungsdienst "weltweiser" aber auch, die eigene Eignung und Motivation kritisch zu hinterfragen. "Man sollte ehrliches Interesse an der Kultur der Menschen im Gastland sowie an den Arbeitsbereichen im Projekt mitbringen", sagt sie. Wer den Auslandsaufenthalt als Ausweg vor Problemen wie Beziehungsstress oder als Füllstoff für den Lebenslauf sieht, überlegt es sich besser noch einmal. Wer zudem nicht offen, anpassungsfähig und lernwillig sei, so Grohmann, solle lieber nach Alternativen zum Freiwilligendienst im Ausland suchen. Das gelte auch für diejenigen, die nicht auf ihren gewohnten Lebensstandard verzichten können oder sich nicht auf ungewohnte, häufig belastende Lebensbedingungen einlassen wollen. + +Lektion 4: Die eigenen Erwartungen reflektieren – und einem Realitätscheck unterziehen +Der Vertrag ist unterschrieben, das Ticket gebucht – als Freiwilliger könnte man jetzt Bäume ausreißen. Das ist gut so, trotzdem sollte man "mit einem realistischen Selbstverständnis an die Freiwilligenarbeit herangehen", sagt Hanna Grohmann. Letztlich gehe es um einen kleinen Beitrag zur täglichen Arbeit im Projekt und um die interkulturelle Begegnung mit den Menschen vor Ort. Damit rettet man zunächst mal nicht die Welt, lernt aber viel – auch über sich selbst. + +weltwärts: für die Weltverbesserer +Die von dem populären Dienst organisierten Einsätze wurden in der "Süddeutschen Zeitung" mal als "Egotrips ins Elend" beschrieben. Der Autor hat den Dienst falsch verstanden, meint Robert Helm-Pleuger: "Es geht nicht darum, augenblicklich vor Ort Hilfe zu leisten. Es geht um Erfahrungen, die nach Ende des Dienstes in entwicklungspolitische Bildungsarbeit in Deutschland münden." +Voraussetzungen:18 bis 28 Jahre alt (Menschen mit Behinderung bis 30 Jahre), dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Deutschland, Grundkenntnisse der Sprache des GastlandesRegionen: Entwicklungs- und Schwellenländer weltweitDauer: 6 bis 24 MonatePlätze pro Jahr: mehr als 5.000Website:weltwaerts.de + +kulturweit: für die Diplomaten von morgen +Dass es sich hierbei um eine Art Eliteprogramm handelt, zeigt schon der Vorlauf von fast einem Jahr. Dafür können die Ausgewählten in kulturellen Einrichtungen rund um den Globus arbeiten (z.B. Goethe-Institut, Deutsche Welle Akademie, DAAD), Kontakte knüpfen und etwas für die Völkerverständigung tun. Macht sich natürlich auch gut im Lebenslauf. +Voraussetzungen: 18 bis 26 Jahre, Abitur oder Haupt- oder Realschulabschluss plus abgeschlossene Berufsausbildung, Lebensmittelpunkt in Deutschland, muttersprachliche oder sehr gute Deutschkenntnisse, gute Grundkenntnisse der englischen SpracheRegionen: Länder des sogenannten "globalen Südens", Osteuropa und GUSDauer: 6 oder 12 MonatePlätze pro Jahr: rund 400Website:kulturweit.de + +EFD: für das europäische Projekt +Der Europäische Freiwilligendienst ist ein Individualdienst, der Freiwillige arbeitet also alleine in einer Organisation mit Einheimischen zusammen. Dadurch entsteht ein intensiver Kontakt zur lokalen Bevölkerung. Das Projekt, das Teil des Förderprogramms Erasmus+ ist, will mithelfen, ein europäisches Bewusstsein zu bilden. +Voraussetzungen: 17 bis 30 JahreRegionen: ganz Europa plus benachbarte Partnerländer wie Aserbaidschan, Marokko und IsraelDauer: 2 bis 12 MonatePlätze pro Jahr: 400 bis 800Website:go4europe.de + +IJFD: für alle anderen +Der klassische Sozialdienst ist wie ein Freiwilliges Soziales Jahr gepaart mit internationalen Beziehungen. Übrigens der einzige Dienst, der weltweit möglich ist. +Voraussetzungen: Erfüllung der Vollzeitschulpflicht, maximal 26 Jahre alt, Lebensmittelpunkt und Aufenthaltsrecht in DeutschlandRegionen: weltweit, sofern keine Reisewarnung des Auswärtigen Amts vorliegtDauer: 6 bis 18 MonatePlätze pro Jahr: 3.000 bis 3.500Website:ijfd-info.de + + +War das nicht noch was? +Für Frankophile gibt es denDeutsch-Französischen Freiwilligendienst. Der sogenannteAndere Dienst im Ausland(ADiA) und das Freiwillige Soziale/Ökologische Jahr im Ausland werden mittlerweile kaum noch angeboten, zählen aber auch zu den geregelten Diensten. Zudem entsteht gerade ein neuer Dienst:das Europäische Solidaritätskorps. + +Was ist mit nicht geregelten Diensten? +Mit geregelten Diensten ist man auf der sicheren Seite: Sie bieten finanzielle und pädagogische Unterstützung, sind inhaltlich durchdacht und weitläufig anerkannt. Wer trotzdem lieber einen nicht geregelten Dienst machen möchte – beispielsweise weil es dort mehr Angebote für Minderjährige gibt oder auch kürzere Aufenthalte möglich sind –, sollte in puncto Betreuung durch die Entsendeorganisation dieselben Maßstäbe ansetzen wie bei geregelten Diensten. Außerdem lohnt es sich, nach gemeinnützigen Trägern Ausschau zu halten – bei denen fließt wirklich alles Geld in das Projekt. +Eine Option sind "Workcamps", Kurzzeitfreiwilligeneinsätze von zwei bis vier Wochen Dauer. Dabei engagieren sich die Teilnehmer mit Menschen vor Ort für ein soziales, handwerkliches oder ökologisches Projekt. Workcamps werden oft auch staatlich gefördert. + +Und wenn das alles nichts ist? +Manchmal ist die Ferne gar nicht das Richtige. "Muss es denn direkt Afrika sein?", fragt Robert Helm-Pleuger von Eurodesk und meint damit: Wer noch nie der große Abenteurer, vielleicht noch nicht mal allein im Urlaub war, sollte möglicherweise besser eine Nummer kleiner anfangen und innerhalb Deutschlands oder in einem EU-Land helfen. Es gibt auch vor der eigenen Haustür viel zu tun. + +Titelbild: Vilhelm Stokstad/Kontinent/laif diff --git a/fluter/freiwilligenarbeit-ausland-kambodscha.txt b/fluter/freiwilligenarbeit-ausland-kambodscha.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4fff97435d23e65498e41f144d1e7729ce6e3980 --- /dev/null +++ b/fluter/freiwilligenarbeit-ausland-kambodscha.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +"Bald werden wir Platz für 100 Freiwillige haben!", sagt der Kambodschaner Sean Samnang, der Betreiber des ASPIRE, eine von unzähligen Organisationen in Kambodscha, die Freiwilligenarbeit mit Kindern anbieten. Weil Journalisten hier nur selten Zutritt bekommen, geben wir uns als interessierte Freiwillige aus, die ihre Backpack-Tour mit sinnvoller Arbeit unterbrechen wollen. Samnang ist ein zierlicher 39-jähriger Mann mit großer silberner Uhr. Er zeigt uns die Unterkunft der Freiwilligen, die View Garden Villa. Bisher vermietet Samnang nur Räume im Erdgeschoss, doch er hat große Pläne. Wir gehen nach oben, wo er sich ans Geländer lehnt und erklärt: "Es gibt drei Terrassen, damit die Freiwilligen eine gute Aussicht auf den Sonnenaufgang und -untergang haben." An seiner beigen Hose baumelt der Schlüssel seines weißen Lexus, einer Geländelimousine. Das Geld dafür, sagt er, habe er durch Landverkäufe verdient. + +Rotschopf mit Rotstift: Daniel möchte später Lehrer im Ausland werden. Im Waisenhaus in Kambodscha übt der 18-Jährige schon mal für später + +Ab wie vielen Tagen Freiwilligenarbeit möglich sei, wollen wir wissen. "We don't care." Brauchen wir besondere Fähigkeiten? Samnang lacht. "We don't care." Es gebe Lehrerinnen, die uns assistierten. Dann erklärt er: 90 Kinder würden täglich für den Englischunterricht kommen, sie wohnten in den umliegenden Dörfern. 15 bis 20 Kinder würden im Waisenhaus leben, sie seien aus der Provinz Kandal, 350 Kilometer entfernt, und so arm, weil sie keine Eltern haben. +Laut Brot für die Welt und dem Netzwerk ECPAT, das Kinder vor kommerzieller und sexueller Ausbeutung schützen möchte, werden im Bereich der internationalen Freiwilligenarbeit jährlich mehrere Milliarden Euro umgesetzt. Ihre Studie aus dem Jahr 2018 kommt zu dem Schluss: "Freiwilligenarbeit in Waisenhäusern birgt erhebliche Risiken für die dort lebenden Kinder und sollte nicht Teil von Kurzzeiteinsätzen sein." Die Kinder könnten psychische Erkrankungen und Bindungsstörungen entwickeln und seien der Gefahr von Kinderhandel und Korruption ausgesetzt. +Bevor Corona das weltweite Reisen vorerst unmöglich machte, setzten sich Schätzungen zufolge bis zu 25.000 Deutsche Jahr für Jahr ins Flugzeug, um in einem fernen Land freiwillig zu helfen. Viele nutzen zertifizierte Programme wie zum Beispielweltwärts. Im Gegensatz zu den kurzweiligen Voluntourismus-Angeboten dauert bei weltwärts der Einsatz zwischen 6 und 24 Monate.Die meisten weltwärts-Freiwilligen leisten einen Dienst von 12 Monaten. Das Programm wird zu 75 Prozent vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bezuschusst. Die Teilnehmenden erhalten Flug, Unterkunft und Verpflegung. Es wird erwünscht, Spendenmittel einzubringen, ist "jedoch ausdrücklich keine Voraussetzung für eine Teilnahme am weltwärts-Programm." + +"Auf TripAdvisor steht, das hier sei eine arme Schule. Wenn die Leute ankommen, müssen sie enttäuscht sein", sagt Daniel. In der View Garden Villa kommen die Freiwilligen unter + +Daniels Unterricht ist mittlerweile zu Ende, und er geht mit den anderen Freiwilligen ins hauseigene Restaurant. Hähnchen und Gemüse mit Reis, das Essen ist inklusive. Manche bestellen Burger mit Pommes, das kostet extra. Die Kinder tragen vor dem Restaurant Teller mit Reis vorbei. Daniel erzählt, dass er später als Lehrer im Ausland unterrichten und bei ASPIRE ein paar Einblicke in diese Arbeit bekommen will. "Es ist seltsam", sagt er und blickt zur Villa: "Auf TripAdvisor steht, das hier sei eine arme Schule. Wenn die Leute ankommen, müssen sie enttäuscht sein." Jeanine, Engländerin, 18 Jahre alt, langes Haar, starker Lidstrich, schwärmt von ihrer Reise mit ihrer Freundin Clotilde. "Wir kamen nach Kambodscha, weil es so anders ist, wegen der Erfahrung, wegen der Kultur." Jeanine studiert Jura in Großbritannien, ihre Freundin Wirtschaftswissenschaften. Beide mögen Kinder, sagen sie. Aber das Unterrichten gefällt ihnen nicht. +Vielen Freiwilligen sei egal, in welches Land sie reisen: "Afrika oder Asien – Hauptsache, es gibt arme Kinder", sagt der deutsche Kulturanthropologe Benjamin Haas, der an der Universität zu Köln zu Freiwilligendiensten forscht. Ihr Engagement habe oft mit der eigenen Sinnsuche zu tun. "Sie gehen davon aus: Wenn ich helfe, muss es gut sein." Im globalen Süden übernehmen Touristen oft Rollen, die sie in ihrem Heimatland nicht einnehmen würden. Grund dafür ist auch der sogenannte "White-Savior-Komplex", der ein Stereotyp beschreibt und koloniale Denkmuster sowie Machtstrukturen stärkt: Weiße retten Nichtweiße aus einer Notlage, die sich selbst scheinbar nicht zu helfen wissen. +In einem kleinen Bungalow leben die "Waisenkinder" – nicht alle haben ihre Eltern verloren. Das gibt Samnang auf Nachfrage zu + + +Er fordert Mindeststandards beim Kinderschutz in privaten Einrichtungen und hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bei seinem Freiwilligenprogramm "weltwärts" beraten. Im Jahr 2018 haben knapp 4.000 Freiwillige das Programm genutzt. Der Partner vor Ort muss sich dafür einer Zertifizierung unterziehen, und die Freiwilligen nehmen an mehrtägigen Vorbereitungskursen teil, in denen sie ein realistisches Bild von den Lebens- und Arbeitsbedingungen vor Ort vermittelt bekommen sollen. Dort würden sie lernen, wie wichtig es sei, sich anderen Menschen behutsam und respektvoll zu öffnen. +"Freiwilligenarbeit kann auch nützlich sein", sagt Michael Horton in seinem Büro in Siem Reap. Er ist Gründer der NGO ConCert, die er mit seiner kambodschanischen Frau Rin Salin führt. Sie vermitteln seit 2008 Freiwillige und geben Workshops zu Kinderschutz. "Alle wollen eine Antwort auf die Frage, was gute Freiwilligenarbeit ausmacht, doch die Kriterien dafür sind komplex." Freiwilligenarbeit solle nie einen Job ersetzen, und Kosten sollten transparent gemacht werden. "Bei einem guten Schulprojekt sind Lehrer verantwortlich für die Klasse – und nur manchmal werden sie von Freiwilligen unterstützt." Horton erinnert sich an 2008: Damals galt "Freiwilligenarbeit als universell gut". Jetzt seien sich die Menschen unsicher, würden Freiwilligenarbeit als schlecht betrachten. Horton sagt: "Die Antwort liegt in der Mitte." + +Erst die Arbeit, dann das Vergnügen: Daniel und die anderen Freiwilligen feiern am Wochenende in der Pubstreet, die im touristischen Zentrum in Siem Reap liegt + +Zurück im ASPIRE-Waisenhaus, sitzt David, ein ruhiger kambodschanischer Junge, auf der Bank vor dem Schulgebäude. Zwölf Jahre alt sei er, lebe im Waisenhaus und möge Bananen, sagt er leise auf Englisch. Was gefällt ihm noch? Er sagt nichts. Hat er Eltern? David nickt. Sind sie manchmal hier? "Nein", sagt David und schaut auf den Boden. Bei den meisten Kindern scheint unklar, wo sie leben. Kommen sie nur für den Englischunterricht zu ASPIRE, oder wohnen sie auch im Waisenhaus? Haben sie wirklich ihre Eltern verloren? +Während der Herrschaft der Roten Khmerstieg die Zahl der Waisenkinder in Kambodschastark. Heute ist das Land friedlich, und die Anzahl der elternlosen Kinder geht zurück. Drei von vier Kindern in kambodschanischen Waisenhäusern haben nach Angaben von UNICEF mindestens ein lebendes Elternteil. Auch Samnangs vermeintliche Waisen haben Eltern. Das gibt er nach erneuter Nachfrage zu. +Im Frühling 1975 nahm die maoistisch-nationalistische Guerillabewegung "Rote Khmer" die kambodschanische Hauptstadt Phnom Penh ein und stürzte die Militärregierung. Damit begann eine fast vier Jahre währende Schreckensherrschaft, der rund 1,7 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Der Plan der Roten Khmer war es, ein radikal-kommunistisches System zu etablieren. Sie wollten eine in ihren Augen "ursprüngliche", landwirtschaftlich geprägte Gesellschaft schaffen. Dafür teilten sie die Bevölkerung in ein "altes" und "neues" Volk ein: Die städtische Bevölkerung, das "neue Volk", war der Klassenfeind, der sich an den Erträgen der ländlichen Bevölkerung bereichere. Die Roten Khmer schafften jegliche religiösen Praktiken, Geld und Privatbesitz ab. Im Dezember 1978 entschieden die Machthaber der Roten Khmer, in Vietnam einzumarschieren, um das einst von Kambodschanern bewohnte Mekong-Delta zu erobern. Dem sofortigen Gegenangriff der Vietnamesen konnten die Truppen der Roten Khmer kaum Widerstand leisten. Innerhalb kürzester Zeit eroberten die vietnamesischen Truppen Phnom Penh. Am 7. Januar 1979 war die Herrschaft der Roten Khmer beendet. Am 17. Februar 2009, 30 Jahre nach dem Ende des Rote-Khmer-Regimes, begann der erste Prozess gegen einen der Hauptverantwortlichen. +Die kambodschanische Regierung hat 2017 zusammen mit UNICEF einen Aktionsplan aufgesetzt: Jedes dritte Kind sollte aus den Waisenhäusern wieder zu seiner Familie gebracht werden. Außerdem verschärfte man die Vorgaben, um ein Waisenhaus zu eröffnen. Seither brauche man die Erlaubnis, eine NGO zu führen, erklärt Suman Khadka in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh. Sie arbeitete mehrere Jahre im UNICEF-Kinderschutz-Team. "Alle Waisenhäuser werden kontrolliert, auch die, die schon existieren." Wir berichten von unseren Erlebnissen im ASPIRE-Waisenhaus. Es sei ein Problem, dass viele die neuen Vorlagen der Regierung nicht umsetzten, sagt sie. "Einige Waisenhäuser ändern ihren Status in Internat, Schule oder etwas Religiöses, um die Inspektion zu umgehen." Nach Berichten der Regierung gab es 2015 noch 406 Waisenhäuser, 2018 waren es nur noch 265. In den letzten drei Jahren habe offiziell kein neues Waisenhaus aufgemacht, sagt Suman Khadka. +Wir waren kaum in Siem Reap gelandet, da kam auf der Straße ein Mann, Tep nannte er sich, auf uns zu. Er erzählte von "seiner Schule" und reichte uns eingeschweißte Flyer, Dreck sammelte sich unter der Folie. "Wir brauchen ein Schulhaus", erklärte Tep und zeigte uns eine Liste mit Materialkosten. Wir könnten aber auch in der Schule unterrichten. Die Kinder würden dort leben. "Spenden kommen von Herzen", sagte er. Dann zog Tep mit seinen Flyern weiter, zu den nächsten Touristen. diff --git a/fluter/fremde-heimat-lagos.txt b/fluter/fremde-heimat-lagos.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d6808c0e01faf141bdd2ad091f47058c7587a932 --- /dev/null +++ b/fluter/fremde-heimat-lagos.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Der zeitliche Abstand von fast zehn Jahren ist wichtig: Er macht "Jeder Tag gehört dem Dieb" zu einem großartigen, persönlichen, aus der räumlich-zeitlichen Distanz heraus umso schärfer gezeichneten Porträt einer Stadtgesellschaft. Glasklar und präzise ist die in knappe, elegante Sätze gefasste Sprache, lakonisch kommentierend der Erzählton; er pendelt zwischen Verständnis und Unverständnis, erneut aufflammenden Heimatgefühlen und anhaltender Befremdung. +Coles Protagonist mag die Menschen in Lagos, er schätzt ihren Galgenhumor, die improvisierte Kreativität. Dem wuseligen Chaos in der Riesenmetropole kann er einiges abgewinnen. Doch aus der Anfangseuphorie des Wiedersehens erwächst schon sehr bald eine desillusionierte Distanz, in der sich das Gefühl von Fremdheit weiter verstärkt, derweil die Sorge um Lagos und Nigeria wächst. Die Sorge um das Land mit dem maroden Staatswesen und dem krassen Wohlstandsgefälle treibt ihn regelrecht um. Spürbar hilflos und resigniert kommen ihm die Bewohner von Lagos vor. Es "bricht mir das Herz", notiert er einmal. +Wie ein roter Faden aus unzerreißbarem Garn durchzieht das Thema Korruption das gesamte Buch. Man könnte fast meinen, der namenlose Erzähler und Protagonist, den man ruhig mit seinem Autor verwechseln darf, fühle sich leibhaftig verfolgt von ihr. Ein Hauch Rechtsstaatlichkeit wäre ihm sehr lieb. Aber er weiß natürlich auch: "Das Geben und Nehmen von Schmiergeld" wirft für viele Nigerianer, deren Löhne meist sehr niedrig sind, keine moralischen Fragen auf. Es sorgt dafür, dass überhaupt "etwas erledigt wird", bisweilen mit einer Kalaschnikow vor der Nase. +Kaum weniger präsent als die Schmiergeldzahlungen ist die Gewalt in Lagos. Sie ist das zweite große Thema in Coles episodisch angelegtem Rundgang. Auf der Straße werden aus harmlosen Wortgefechten rasch blutige Auseinandersetzungen, die Reichen verschanzen sich und ihr Eigentum aus Angst vor Einbrüchen und Überfällen hinter hohen Mauern. Arbeitslose Jugendliche aus den Randbezirken, "area boys" genannt, kapern Gütertransporte und treiben Bußgelder ein. Bei einem Familienausflug kommt es zu einer dramatischen Begegnung mit ihnen. Sie geht glimpflich aus. +Keine Frage, der Erzähler ist weniger souverän und objektiv, als er es mitunter gern wäre. Er hat eine klar wertende Haltung, seine Sicht auf die Dinge ist emotional gefärbt. Man muss das nicht alles teilen, aber darum geht es auch nicht. Schließlich ist "Jeder Tag gehört dem Dieb" kein Sachbuch. +Enttäuscht reagiert der in kultureller Hinsicht rundum verwöhnte Wahl-New-Yorker auf die eher trostlose Landschaft institutionalisierter Kultur, die er in Lagos vorfindet, regelrecht wütend machen ihn gesellschaftstypische Verdrängungsleistungen: "Die Menschenladungen, die in New Orleans ankamen", damit man sie dort Mitte des 19. Jahrhunderts als Sklaven verkaufen konnte, "stammten aus vielen Häfen, die meisten an der westafrikanischen Küste." Der geschäftigste Hafen von allen, schreibt Cole, "war Lagos". Ein Geheimnis? Ja, schon. Aber eben nur deshalb, weil in Nigeria niemand etwas davon wissen will. +Vorstellungen ändern sich, Wünsche auch. Zu Beginn der Reise überlegte Cole, dauerhaft nach Lagos zurückzukehren. Am Ende kann davon keine Rede mehr sein. Der kulturelle Graben zwischen alter und neuer Heimat ist längst zu tief. +Michael Saager schreibt für verschiedene Zeitungen und Magazine, lebt in Berlin und wartet schon ziemlich gespannt auf Teju Coles angekündigtes großes Sachbuch über Lagos diff --git a/fluter/fremdenfeindlichkeit-ist-die-einstiegsdroge.txt b/fluter/fremdenfeindlichkeit-ist-die-einstiegsdroge.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d11213ffd4a10aa0b62c8c728e213f370c3b0540 --- /dev/null +++ b/fluter/fremdenfeindlichkeit-ist-die-einstiegsdroge.txt @@ -0,0 +1,41 @@ +Oliver Decker: Absolut. Es gibt leider seit Jahrzehnten einen manifesten Antisemitismus in der Gesellschaft. Dass Juden aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute Vorteile ziehen oder nicht dazu beitragen, die Gesellschaft zu bereichern: Bei solchen Vorurteilen gibt es relativ große Zustimmung. +Dabei haben doch die meisten Menschen gar keinen Kontakt zu Juden. +Man darf nicht denken, dass ein Antisemit Kontakt zu Juden braucht, um Antisemit zu sein. Es ist sogar günstiger, wenn er den nicht hat. Kontakt zu Menschen steht dem Vorurteil im Weg, das ist bei den Islamhassern genauso. +Es gibt in der Studie auch positive Erkenntnisse – etwa dass heute viel weniger Menschen der Auffassung sind, Juden hätten zu viel Einfluss. Warum wird das nicht herausgestellt? +Die Medien betreiben ja oft eine starke Zuspitzung von dem, was die Wissenschaft sagt. Allerdings existieren gute Gründe, das nicht zu bagatellisieren, sondern den Finger in die Wunde zu legen. In unseren Untersuchungen gibt es die Aussage: Die Juden haben etwas Eigentümliches an sich und passen nicht zu uns. Da sagen ganz viele: Das stimmt doch, die Juden haben etwas Eigentümliches, aber das ist ja wunderbar. Das ist Antisemitismus im Gewand des Philosemitismus. Der antisemitische Reflex, das Anderssein der Juden herauszustellen, ist weit verbreitet. +Wird aber nicht oft die berechtigte Kritik an Israels Politik gegenüber den Palästinensern mit Antisemitismus verwechselt? +Ich sehe nicht, dass Kritik an Israel nicht geäußert werden darf. Sie werden in der gesamten Presse von links nach rechts jede Menge Kritik an Israel finden bis hin zu antisemitischen Stereotypen. Adorno hat das in den 50er-Jahren "Krypto-Antisemitismus" genannt – dass also der Antisemit in der Rolle des Verfechters demokratischer Werte auftritt, um sein Ressentiment zu verbreiten, das er dann mit den Worten "Das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen!" anmoderiert. +Wie die Fans von Thilo Sarrazins Thesen über die bildungsunwilligen Migranten … +Sarrazin ist der Lautsprecher einer Mehrheit, die angeblich nichts sagen darf. Der Erfolg seines Buchs zeigt, dass es ein ungeheures Reservoir für einen ressentimentgeladenen Politiker gibt. Momentan haben wir bei den rechtspopulistischen Parteien niemanden, der das Potenzial nutzt. +Antisemitismus ist ja nur eine Dimension von Rechtsextremismus. Welche sind denn die anderen? +Fremdenfeindlichkeit ist natürlich das zentrale Element, sozusagen die Einstiegsdroge. Dann gibt es die Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur, den Wunsch nach einem Führer. Weitere Merkmale sind der Chauvinismus – also ein ausgeprägter Nationalismus, dem das Schicksal anderer Länder egal ist –, der Sozialdarwinismus – die Idee, dass es wertes und unwertes Leben gibt –, und schließlich die Verharmlosung des Nationalsozialismus. Jemanden, der auf allen Dimensionen zustimmt, bezeichnen wir als einen manifesten Rechtsextremen mit geschlossenem Weltbild. +Und wie viele gibt es davon? +Wir müssen von Wellen bei einem hohen Niveau sprechen, das bei acht bis zehn Prozent liegt – und das sind nicht die Schläger. Jeder dritte Deutsche ist zudem ausländerfeindlich, und immerhin fünf Prozent befürworten eine Diktatur. Das sind recht klare Befunde. +Welche Rolle spielen denn die Eltern? +Eine große. Jemand, der in seiner Kindheit Gewalt und geringe emotionale Wärme vermittelt bekommt, neigt eher zu solchen Weltbildern. Das demokratische Klima im Elternhaus entscheidet. Da geht es nicht nur um Schläge, sondern auch darum, dass der kindliche Fantasieraum und die kindlichen Bedürfnisse als gleichberechtigt anerkannt werden. Nicht, dass Erwachsene keinen relevanten Wissensvorsprung hätten, aber die Frage ist: Wie viel Akzeptanz und Wärme gibt es und welches Gespür für kindliche Bedürfnisse? Da müssen wir feststellen, dass es bei Kindern, die autoritär erzogen werden, eine Identifikation mit Macht und Stärke gibt. Irgendwann muss sich das Kind eben unterwerfen, und dann bejaht es diese Unterwerfung, neigt dadurch auch als Erwachsener einem Macht- und Führertum zu und lehnt demokratische Aushandelsprozesse ab. +Als Laie denkt man, dass vor allem Arbeitslose einen Hass auf alles Fremde haben. Stimmt das? +Es ist tatsächlich so, dass man bei Menschen mit Arbeitslosigkeitserfahrung eher auf rechtsextreme Einstellungen trifft. Zudem gibt es ein deutliches Stadt-Land-Gefälle. In Städten herrscht eher ein liberaleres Klima, es gibt weniger Akzeptanz für rechtsextreme Ideologien. +Gibt es Unterschiede beim Alter? +Mit dem Alter nehmen die rechtsextremen Einstellungen zu. Da greift die sogenannte Kontakthypothese, die besagt: Je weniger Kontakt jemand mit Fremden hat, desto fremdenfeindlicher wird er. Und Kontakt heißt nicht, dass man mal gemeinsam mit der Straßenbahn fährt, sondern zusammenarbeitet und auch ins Gespräch kommt. In solchen Fällen nimmt die Akzeptanz von Ausländern deutlich zu. +Der Kontakt mit Fremden wird oft schon in der Schule vermieden. Auf den Gymnasien gibt es ja signifikant weniger Schüler mit Migrationshintergrund. +Es ist tatsächlich ein Riesenproblem, wie stark soziale Konfliktlagen ethnisiert werden. Heute sind die Bildungsverlierer junge Männer mit Migrationshintergrund in Städten. Da wird so getan, als wäre das ein Problem der Migration oder der Kultur, aus der die Leute kommen. Es ist aber ein soziales Problem, bei dem der Staat gefordert ist, mit Programmen zu intervenieren, um allen die gleichen Chancen zu geben und die Heterogenität an den Schulen zu befördern. Stattdessen wird akzeptiert, dass Eltern in Berlin oder Hamburg händeringend versuchen, ihre Kinder in Schulen ohne Ausländer unterzubringen, sodass es zu einer Zementierung der Exklusion kommt. +Man bleibt also lieber unter sich, um in einem homogenen Milieu den wirtschaftlichen Aufstieg nicht zu gefährden? +Absolut. Die Chancenungleichheit ist ein Demokratiedefizit. Man kann sogar auf nationaler Ebene sehen, wie der Fetisch des Wirtschaftswachstums über eine Entsolidarisierung zu weniger demokratischem Denken führt. In der Rede vom Standort schimmert kaum verdeckt eine Nationalstaatslogik durch, die alle unter ein gemeinsames Interesse sammelt, nämlich das der wirtschaftlichen Prosperität. Das ist Nationalismus und eigentlich antidemokratisch. Denn es gibt ja gar kein gemeinsames Interesse, weil vom Wohlstand längst nicht alle profitieren. Das ist ein undemokratischer Diskurs. Wir müssen uns mit Blick auf die anstehenden Probleme wie Klimaerwärmung und Wanderungsbewegungen die Frage stellen, ob unsere Demokratie stärkeren Belastungen überhaupt standhält oder ob es nur eine Schönwetterdemokratie ist. Nach dem Motto: Wenn es eng wird, lassen wir keinen mehr rein und keine anderen Meinungen zu. +Befeuert der globale Wettkampf eine Art nationalen Behauptungswillen? +Es gibt ja eine enge Verbindung zwischen dem eigenen Wohlstand und abwärtsdriftenden Regionen in der Welt. Aber die wird nicht thematisiert. Wir haben eine derartige Entpolitisierung in der Bevölkerung, dass zum Beispiel ein Zusammenhang zwischen unserem Exportüberschuss und der Krise anderer europäischer Länder gar nicht gesehen wird. Stattdessen gibt es mittlerweile sogar Stimmen, die sagen, das Beste, was Griechenland passieren kann, ist eine Diktatur. Die Frage demokratischer Verfahren hat eine geringe Akzeptanz unter der Zuspitzung von ökonomischen Problemlagen. +Es gibt ja auch das Bild vom Boot, das voll ist. Sobald es eng wird, fange ich an, andere auszuschließen. +Dieser Automatismus ist Gott sei Dank nicht ganz so zwingend, sonst gäbe es ja unter schlechten Bedingungen nur Nazis. Das ist nicht der Fall. Es gibt eine Menge Menschen, die arm, aber dennoch nicht rechtsextrem sind, sondern sich engagieren. Sogar öfter als wohlhabende Menschen. Man muss sich in solchen Fällen immer fragen: Wem nützt die Rede vom "vollen Boot"? Mit den Vorbehalten gegen Ausländer kann man wunderbar von der Frage ablenken, warum denn das Boot voll ist. Wir sind doch eine reiche Gesellschaft. Die Frage ist nur, wie der Reichtum verteilt wird. +Aber es gibt doch ein Bewusstsein dafür, dass die bloße Wachstumsideologie nicht vernünftig ist und wir mehr Verteilungsgerechtigkeit benötigen. Man muss sich nur die Occupy-Bewegung ansehen. +Das ist sehr positiv, aber wie die sich entwickelt, muss man abwarten. Es ist aber schon so, dass sich über die zivilgesellschaftlichen Initiativen wellenförmig immer wieder Menschen politisieren lassen: Das war mit Attac so, mit Stuttgart 21, mit der Occupy-Bewegung. Es gibt also den Ruf nach mehr demokratischer Partizipation, der aber leider allzu oft stigmatisiert wird, etwa als Linksextremismus. Gewalt kann nicht Mittel der Politik sein, aber es ist skandalös, dass als linksextremistische Straftaten nicht zuletzt auch zivilgesellschaftliche Aktionen gegen Rechtsextreme gelten, wie etwa Sitzblockaden. Zumal auf der anderen Seite, wie durch die Morde des NSU erkennbar wurde, die Gewaltdelikte von Rechtsextremen deutlich unterschätzt werden. +Hat das vielleicht damit zu tun, dass manche Ziele einer extremen Rechten von vielen in der Bevölkerung stillschweigend bejaht werden, etwa der Ruf nach Zucht und Ordnung? +Es gibt nicht nur die inhaltliche Nähe des Denkens von Rechtsextremen zur Mitte, sondern auch den Wunsch nach Ruhe und Unsichtbarkeit. Nach dem Motto: Was man nicht wahrnimmt, gibt es nicht. In unseren Untersuchungen wird deutlich, dass es immer ein Verschweigen von rechtsextremer Gewalt gab, darunter fällt auch eine mangelnde Berichterstattung. Es gibt mancherorts Abmachungen zwischen Polizei und Presse, über rechtsextreme Gewalt nicht zu berichten. +Konnten deshalb auch die Terroristen des NSU so viele Jahre morden? +Die lange Zeit als sogenannte "Dönermorde" behandelten Taten des NSU sind eben nicht nur von der Polizei, sondern auch medial als Feme- und Mafiamorde behandelt worden. Wir haben es offensichtlich mit einer rassistisch eingefärbten Beobachtung zu tun; mit einem Beobachtungsfehler, der nicht nur vonseiten der Polizei oder der Regierung, sondern von uns allen gemacht wurde. Dass man die wahre Tätergruppe nicht in Betracht zog, ist ein heftiger Befund. Es gibt einen blinden Fleck in der Gesellschaft. +Aber doch nicht nur in Deutschland. Rechtsextremismus gibt es in vielen Ländern. +Die größten Konfliktfelder gibt es in Osteuropa – etwa in Ungarn. Wir haben aber keinen Grund, auf andere zu zeigen: Der Sockel der rechtsextremen Einstellungen ist hoch und kann sogar leicht höher werden. Ich halte es da mit Karl Kraus, der gesagt hat, am Nationalismus finde er nicht die Abwertung anderer Nationen am unsympathischsten, sondern die Aufwertung der eigenen. +Schüler stöhnen oft darüber, dass sie die Geschichte des Nationalsozialismus nicht mehr hören können. Haben wir die Geschichte wirklich ausreichend aufgearbeitet? +Bei mir ging es in der Schule mehr um die Ottonen als um das Dritte Reich. Es mag ja heute in allen Lehrplänen stehen, aber mein Eindruck ist: Eine grundlegende Auseinandersetzung findet in der Schule auch heute noch nicht statt, im Rest der Gesellschaft allerdings auch nicht. Es gab irgendwann in den 70er-Jahren eine Wende dahin, dass es plötzlich thematisiert wurde. Dann hat das wieder nachgelassen. Es ist doch kein Wunder, dass jetzt erst im BKA und in manchen Ministerien die eigene Rolle im Dritten Reich aufgearbeitet wird. Da hat nicht überall schon 50, 60 Jahre lang Aufarbeitung stattgefunden. Das stimmt doch nicht, genauso wenig wie in der Schule. +Was erhoffen Sie sich für die Zukunft? Wie kann man rechtsextreme Einstellungen zurückdrängen? +Um es mit Willy Brandt zu sagen: Mehr Demokratie wagen. Ich plädiere für eine radikale Demokratisierung: die Anerkennung der Positionen des Anderen, den Anderen als Anderen wahrnehmen und gelten lassen. Wenn wir das als pädagogischen und politischen Maßstab nehmen, ließe sich rechtsextremen Einstellungen vorbeugen. Wenn das außerdem auch die Maxime der Berichterstattung wäre, wenn also die "Bild"-Zeitung auf ihren Pranger verzichtet, noch besser. +Aber den Pranger gibt es doch auch im Fernsehen, in Talentshows wie "Deutschland sucht den Superstar". +Das ist praktizierter Sozialdarwinismus. Wenn wir etwas bewirken wollen, dann muss Demokratie erfahrbar werden – von der Krippe bis zum Altenheim. diff --git a/fluter/freunde-fernfreundschaft-tipps.txt b/fluter/freunde-fernfreundschaft-tipps.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..deda367bcda1685fb7efc22c9ad5157356145a1f --- /dev/null +++ b/fluter/freunde-fernfreundschaft-tipps.txt @@ -0,0 +1,41 @@ +Simona: Maria und ich sind befreundet, seit wir 14 waren. Wir waren in Bulgarien auf derselben Schule. Danach zogen wir gemeinsam nach London und haben dort auch zusammengewohnt. +Maria: 2020 bin ich wegen derPandemiezurück nach Sofia. Seitdem sehen wir uns ein- oder zweimal im Jahr. Bisher konnte ich Simona noch nicht in Glasgow besuchen. Das hole ich so schnell wie möglich nach. +Simona: Der Übergang vom gemeinsamen Leben zur Freundschaft übers Smartphone kam für uns ganz natürlich. Was sicher damit zu tun hat, dass unsere räumliche Trennung mit dem Beginn der Pandemie zusammengefallen ist. Meine Mutter und Maria sind die einzigen Menschen, mit denen ich jeden Tag kommuniziere. Ich habe andere Fernfreundschaften, vor allem mit Freunden aus London. Aber da ist der Kontakt nicht so intensiv. +Maria: Bei mir ist das ähnlich. Mit einigen meiner Freunde telefoniere ich einmal im Monat, aber mit Simona würde mir das nicht reichen. Ich habe das Bedürfnis, meinen Tag mit ihr zu teilen. +Weiterhören +Dieser fluter-Podcast erklärt,worin sich Freunde und Familie unterscheiden und warum das heimelige Thema Familie so politisch ist +Simona: Normalerweise schicken wir uns gegenseitig Sprachnachrichten. Manchmal sind sie ganz kurz, aber wenn etwas Besonderes passiert ist, wird daraus schon mal ein kleiner Podcast. Ich finde es schön, Marias Stimme zu hören und nicht nur einen Text zu lesen. Ich kann mich nicht daran erinnern, seit 2020 länger als ein paar Tage nichts von ihr gehört zu haben. +Maria: Für mich war der Kontakt zu Simona besonders wichtig, als ich nach Bulgarien zurückgezogen bin. Ich war eigentlich nur zu Besuch dort und konnte wegen der Pandemie nicht zurück nach England. Ich war sehr allein und habe mich gefühlt, als würde die Welt zu Ende gehen. Ein Leben ohne Simona kann ich mir nicht vorstellen. +Simona: In meiner Anfangszeit in Glasgow habe ich Maria am meisten vermisst. Ich lebe hier mit meinem Freund zusammen, sonst kannte ich kaum Leute in der Stadt. Ich würde nicht ausschließen, dass wir irgendwann noch mal am selben Ort wohnen. Kann sein, dass ich irgendwann auch nach Bulgarien zurückgehe. + + +Ulrike: Gunda und ich kennen uns seit unserer frühen Kindheit. Wir haben in derselben Straße gewohnt und sind 1951 gemeinsam in die Schule gekommen. Wir haben uns aus den Augen verloren, als Gunda nach der Grundschule in Bayern auf ein Internat ging. Als ich 14 oder 15 war, kam sie zurück. Wir freundeten uns wieder an. +1994, wir waren um die 50, habe ich für ein Klassentreffen nach Schulkameradinnen gesucht. Ich fand heraus, dass Gunda jetzt in London lebt. Wir haben uns so gefreut, uns auf der Feier zu sehen. Wir waren lange nicht in Kontakt, aber gern hatten wir uns unser Leben lang. +Gunda: Selbstverständlich habe ich immer wieder an meine Kindheit in Deutschland gedacht, aber nicht speziell an Ulrike. Als wir uns wiedersahen, freundeten wir uns ganz natürlich wieder an. Seitdem telefonieren wir regelmäßig alle paar Wochen. +Ulrike: Sie freut sich, jemanden zu haben, mit dem sie Deutsch sprechen kann. +Gunda: Meine Jugendfreunde und meine beiden Kinder, die zurückgezogen sind, sind meine letzten Verbindungen nach Deutschland. Die genieße ich sehr. +Ulrike: Wir unterhalten uns über alles Mögliche: unseren Alltag, meinen Mann, was wir in letzter Zeit gelesen haben. Wir mögen beide Katzen, das ist ein Thema. Über Politik sprechen wir auch, zuletzt viel über den Brexit. Wenn sie hier ist, sehen wir uns, etwa zweimal im Jahr. +Gunda: Auf den ersten Blick haben Ulrike und ich nicht viel gemeinsam. Sie ist zum Beispiel noch verheiratet, ich bin geschieden. Ich habe auch andere Freunde, die ganz anders sind als ich. Aber mit Menschen, die ich später in meinem Leben kennengelernt habe, funktionieren Freundschaften nie so gut wie mit Kindheitsfreunden. Wir sprechen nicht wirklich aus, dass wir uns gernhaben, aber wir spüren es. + + +Andres: Ihr müsst wissen, wir sind nicht die typischen aufgedrehten, extrovertierten Kolumbianer. Wir sind beide eher still und ein bisschen distanziert, aber wir mögen uns sehr. +Astrid: Wir sind beide aus Kolumbien. Andres hat seinen Bachelor in Cali gemacht und ich in Medellín. Getroffen haben wir uns erst bei einem zweimonatigen Sprachkurs in Frankfurt, das war 2008. Danach studierten wir zwei Semester in der Nähe voneinander, er in Erlangen, ich in Nürnberg. Wir haben in Kolumbien unsere Abschlüsse gemacht, aber ich bin später zurück nach Deutschland und geblieben. +Weiterschauen +Überleben Freundschaften, wenn eine/-r politisch anders tickt oder viel mehr Geld hat?In unserer Umfrage erzählen Menschen, wann sie mit Freund/-innen Schluss machen würden +Andres: Astrid war die Klügere von uns!(lacht)Ich lebe mit meiner Freundin, die auch eine von Astrids besten Freundinnen ist, in Medellín. Hier in der Umgebung wohnen auch Astrids Eltern. +Astrid: Wir bleiben über WhatsApp in Kontakt. So etwa einmal die Woche bis einmal im Monat hören wir voneinander. +Andres: Videochats oder so etwas machen wir eigentlich nie. Ich kommuniziere nicht gerne online. +Astrid: Wenn wir uns treffen, können wir uns auf jeden Fall besser unterhalten. Wir sehen uns eigentlich immer, wenn ich in Kolumbien bin. Ich versuche, einmal im Jahr hinzureisen, aber wegen der Pandemie war das zuletzt schwierig. Ich war Ende 2022 dort, davor fast drei Jahre lang nicht. +Andres: Ich würde gerne nach Deutschland, aber meine Freundin und ich haben gute Jobs hier. Und wir Kolumbianer haben enge Beziehungen zu unseren Familien. Ich habe hier ein gutes, komfortables Leben. +Astrid: Mein Freund und ich machen ab Dezember ein Sabbatical in Kolumbien. Wir sind auch in der Nähe von Medellín. Vielleicht reisen Andres und ich zusammen. + + +Lara: Niklas und ich waren in derselben Grundschulklasse, damals aber eher nur Mitschüler. Zuerst waren wir auf verschiedenen weiterführenden Schulen, in der achten Klasse bin ich aber wieder in seine Klasse gewechselt. Seitdem sind wir befreundet. 2017, nach unserem Abitur, ging er ins Ausland und dann nach Hessen zum Studium, und ich bin von Düsseldorf nach Hamburg gezogen. Wenn es gut läuft, sehen wir uns jetzt einmal im Jahr. +Niklas: Heute telefonieren wir nicht mehr so regelmäßig wie am Anfang. Aber wenn wir uns sehen, sprechen wir sehr offen. Es geht sofort los, als hätten wir uns erst vergangene Woche gesehen. Natürlich müssen wir uns dann erst mal updaten: Wir sprechen so selten, dass wir eher nicht klären, was wir tags zuvor gegessen haben. Es geht um wichtige Themen. +Lara: Wir haben nicht viel und nicht stetig Kontakt. Das ist aber keine Barriere, Quantität spielt in dieser Freundschaft keine Rolle. Wir müssen nicht erst wieder warm werden, wenn wir uns sehen, weil wir uns seit 20 Jahren kennen. Ich finde es schön, wenn er mich in Hamburg besucht und wir mit meinen Freunden hier etwas unternehmen. Aber weil wir uns selten sehen, ist mir Zweisamkeit wichtig. Wenn er zwei Tage hier ist, verbringen wir einen Tag zu zweit und einen mit meinen Freunden. +Niklas: Ich habe Lara ein paar Mal in Hamburg besucht. Meist sehen wir uns aber in der Heimat. Das Problem sind weniger die Distanzen, sondern eher, dass wir wegen der Anreise genaue Termine planen müssen. +Lara: Das stimmt. Heute planen wir mehr im Voraus. Jedes Mal wenn ich Niklas sehe, versuche ich ihn zu überreden, dass er nach seinem Studium in den Norden zieht. +Niklas: In Hessen möchte ich nicht bleiben, aber dann zieht es mich eher wieder zurück in die Heimat nach Düsseldorf. +Lara: Das wiederum kann ich mir nicht vorstellen. Also bleibt es wohl eine Long-Distance-Freundschaft. + + diff --git a/fluter/freunde-in-sozialen-netzwerken.txt b/fluter/freunde-in-sozialen-netzwerken.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..699cc77ba82c04acdff74ee940b65a647f667082 --- /dev/null +++ b/fluter/freunde-in-sozialen-netzwerken.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Bei einem war Martha dabei. Zehn Jahre später ist sie meine beste Freundin, und soziale Netzwerke machen einen großen Teil unserer Beziehung aus. In dieser Zeit haben wir auf Lokalisten unsere Fotos kommentiert, sie später auf Facebook gelikt und dann da­rüber gestritten, wer von uns das Bild auf Instagram posten darf. Heute schicken wir uns auf WhatsApp unzählige Screenshots von Chats mit Männern der Begierde. Was dazu führt, dass unser WhatsApp-Archiv visuell einem Lexikon gleicht, nur selten findet sich in der Screenshot-Wüste ein Foto. +Auch Jule war ein Mädchen mit beeindruckenden Internetfotos. Ich liebte ihre, sie die meinen. Also wurde nach dem gleichen Prinzip kommentiert und Nachrichten ausgetauscht. Lokalisten, Facebook, Instagram: Unsere Internetfreundschaft überdauerte auch ohne ein echtes Treffen den Wechsel der bevorzugten Netzwerke. Das Verfallsdatum unserer Freundschaft war der September 2012. Da saß Jule plötzlich in einer Infoveranstaltung der Schule – und wenig später hinter mir im Klassenzimmer und gegenüber in Bars. Doch wie das mit dem Mindesthaltbarkeitsdatum so ist, hält das meiste nur verschlossen länger, geöffnet wird es früher oder später schlecht. +Heute geben mir soziale Netzwerke vor allem das Gefühl, am Leben meiner Freunde teilzuhaben – Marie ist in einer sehenswerten Ausstellung, Nele und Wilma hatten einen Spitzenurlaub, und das Trio Jana–Dora–Rosa ist nach dem gestrigen Abendessen wohl ohne mich in eine Bar weitergezogen. +Doch eins zeigt sich: Je älter ich werde, desto weniger Onlinebekanntschaften mache ich. Stattdessen helfen mir soziale Netzwerke dabei, bestehende aufrechtzuerhalten – wie im Fall von Xenia, die für eine Zeit nach Tel Aviv zog. Fernfreundschaften sind wie Fernbeziehungen, man braucht einen starken Willen, damit sie funktionieren. Das dachte sich Xenia wohl auch und schickte mir vermehrt tagebucheintragähnliche Sprachnachrichten. Dabei hasse ich Sprachnachrichten. Aber guten Willlens, die Freundschaft aufrechtzuerhalten, hörte ich sie mir brav an und antwortete schriftlich. Bis ich eines Abends auf dem Heimweg von der Uni ihre Sprachnachricht startete und 30 Minuten später mit dröhnenden Ohren das Ende erreichte. Ich rief sie sofort an, bat sie darum, mir keine Sprachnachrichten mehr zu schicken, und wir redeten über ihr Leben in Israel und meins in Berlin. Fortan schickten wir uns ausschließlich Fotos, auditive Beiträge gab es nur noch per Anruf. +Ich habe übrigens nachgefragt: Neles und Wilmas Urlaub endete in einem Streit, und Janas, Doras und Rosas Abend in der Bar war nur kurz. Freundschaften auf Social Media können für die Ewigkeit sein, manchmal sind sie jedoch wie eine Fata Morgana: nur heiße Luft. diff --git a/fluter/freunde-unterschiedliche-meinung.txt b/fluter/freunde-unterschiedliche-meinung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ebe9067312e3081fb316d03b1403f6bad0be96b3 --- /dev/null +++ b/fluter/freunde-unterschiedliche-meinung.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Kann das wirklich sein? Haben Crystal und Christoph die oft beschworene Spaltung der Gesellschaft überwunden? Oder sind sie einfach nur zwei, die Wahrheiten aussparen, damit sie weniger allein sind? +Crystal ist ein Hippie und kommt aus Südkorea. Er ist Anfang 50, trägt selbst bei Regen Sonnenbrille. Die langen schwarz-grauen Haare fallen ihm ständig ins Gesicht. Er raucht Pueblo-Tabak, und wenn er redet, sagt er "fuck" und "bastard". +Christoph ist ein deutscher Unternehmer. Er ist Anfang 60, trägt selbst bei Zoom-Meetings ein Sakko und sieht mit den gescheitelten braunen Haaren und der runden Hornbrille ziemlich brav aus. Sein Hochdeutsch ist gestochen, das Fluchen überlässt er anderen. +Christoph postet seine politischen Ansichten auf Facebook. Er teilt Petitionen, die ein Verbot von Abtreibungen fordern, er wettert gegen die "Plünderung der Sozialkassen durch Illegale", gegen "Antifa-Terror". Zu Silvester 2019 postet er Fotos von Feuerwerkskörpern, auf die Fotos von Angela Merkel und George Soros geklebt wurden, und schreibt dazu: "Ich habe mit Rücksicht auf unseren amerikanischen Bündnispartner in diesem Jahr meine Verteidigungsausgaben um 1000 % erhöht." Crystal postet selten etwas auf Facebook. Und wenn, dann Sonnenuntergangsfotos von Freunden. +Es ist der Sommer 2016, als sich die beiden das erste Mal in einem Meditationszentrum auf der griechischen Insel Lesbos begegnen. Beide haben sich zu einem einwöchigen Kurs angemeldet: "The Path of Love" – der Pfad der Liebe. +"Wer in dieses Center kommt, der ist bereit, einen neuen Weg zu gehen und Altes hinter sich zu lassen", sagt Christoph. +"Alle Leute, die dorthin kommen, wollen etwas über sich selbst lernen. Das ist das gemeinsame Ziel. Egal woher, egal welche Religion, welche Hautfarbe und welche politische Einstellung, das spielt alles keine Rolle", sagt Crystal. +"Als ich Crystal das erste Mal gesehen habe, da habe ich unsere Verbundenheit sofort gespürt. Wir sind beide politikübergreifend Opfer unserer Eltern, die Opfer des 20. Jahrhunderts waren. Deshalb habe ich mich schnell zu ihm hingezogen gefühlt", sagt Christoph. +"Ich war überrascht von diesem älteren Gentleman aus Deutschland, der es wagt, sich in diesem Alter noch einmal neu zu orientieren, und sich unter all die Hippies begibt", sagt Crystal. +Crystal erinnert sich genau daran, wann er das erste Mal mit Christoph gesprochen hat. Es sei auf einer Taxifahrt gewesen. Zwei Stunden hätte die Fahrt über die Insel gedauert. Es sei um die Geflüchteten gegangen. Christoph hätte ihm gesagt, dass Merkel die deutsche Verfassung breche, indem sie die ganzen Flüchtlinge nach Deutschland locke, und dafür bestraft werden solle. Er, Crystal, habe daraufhin entgegnet: Und wenn schon, dann ist sie vermutlich die erste Politikerin in der Weltgeschichte, die nicht aus Gier und Eigennutz diese Grenzen überschreitet, sondern aufgrund von Menschlichkeit. "Und da hat Christoph gesagt: Stimmt, du hast recht." +Crystal und Christoph, da sind sie sich einig, sind keine Freunde geworden, weil sie so viel gemeinsam haben. Aber eine Gemeinsamkeit ist besonders wichtig: der Wille, sich für Neues zu öffnen. Und die Bereitschaft, andere Wahrheiten anzuerkennen. +Christoph wächst in Norddeutschland auf. Als er vier Jahre alt ist, trennen sich seine Eltern. Er verlässt den Vater, wie er sagt. Sein Großvater väterlicherseits war ein bekannter deutscher Offizier, der an Kriegsverbrechen beteiligt war und dessen Geschichte die Familie noch sieben Jahrzehnte später entzweien sollte. Auch der Vater diente in der Wehrmacht. "Da ich meinen Vater sehr geliebt habe, hatte ich anfangs eine große Affinität für den nationalistischen Ansatz", sagt Christoph. Mit 18 sucht er nach Helden in der deutschen Geschichte und findet sie in Bismarck und Friedrich dem Großen. Später schwenkt er um auf Rudolf Virchow, den Arzt und Sozialhygieniker. Christoph wird erfolgreicher Unternehmer – und doch nicht glücklich, weil ihn seine Familiengeschichte belastet. +Crystal wird in Südkorea, in Seoul geboren. Sein Vater kämpft im Koreakrieg, der die Familie zerreißt. Als Crystal sieben ist, wandern die Eltern mit ihm nach New York City aus. Auf dem Weg zur Schule gerät er immer wieder in Schlägereien. "Erst später habe ich verstanden, dass das nicht normal, sondern Rassismus war." +Das Ziel der Eltern wird auch zu seinem Ziel: Er will den amerikanischen Traum leben. Karriere machen. Crystal wird Banker. Mit 25 arbeitet er bei Morgan Stanley und verdient 120.000 Dollar im Jahr. Später leitet er eine Filiale der Lehman Brothers in Hongkong. In seiner Blüte verdient er 1,4 Millionen Dollar im Jahr und die Firmenanleihen noch obendrauf."Ich war so ein richtiger ekelhafter Banker,der seinen menschlichen Wert am Umfang seiner Brieftasche bemessen hat." Mit Anfang 30 kündigt er seinen Job, beginnt zu reisen – für ihn der Anfang eines neuen Lebens. +Der Banker, der zum Hippie wurde. Der Nationalist, der die Liebe sucht. Aber wann wurden sie Freunde? +Wenn man die beiden heute nach einem genauen Datum fragt, dann nennen sie den Sommer 2017. Wie jedes Jahr plant Crystal auch damals, eine Gruppe Abenteuerlustiger auf einer Motorradtour durch Indien zu führen. Plötzlich ruft Christoph an und fragt, ob er mitkommen könne. Am Ende sind sie zwei Monate zusammen unterwegs. Er habe damals so ein Urvertrauen in Crystal gespürt, sagt Christoph. Ihn habe Christoph zum zweiten Mal überrascht, sagt Crystal. "Dieser konservative Mann hat es geschafft, meine Vorurteile infrage zu stellen." +Aber was ist mit den Widersprüchen, den politischen? Wie kann einer, der Abtreibungen verbieten will, mit jemandem befreundet sein, der sie erleichtern möchte? Wie kann man als Unterstützer der AfD jemanden als Freund haben, der gegen die Partei kämpft? +Christoph sagt: "Ich glaube, dass diese politische Spaltung des Landes uns nicht guttut. Weil wir letztlich von unserer psychischen Konstitution her als Menschen eine Einheit sind. Auch wenn wir das nicht wahrhaben wollen, aber letztlich sind wir seelisch miteinander verbunden." +Crystal sagt: "Ich glaube, wir haben alle verlernt, miteinander zu reden.Stattdessen verdammen wir uns die ganze Zeit gegenseitig.Und dann schaust du in die USA und weißt, was dabei rauskommt: ein gespaltenes Land, das sich aufrüstet. Ich glaube, wir sollten versuchen, Verständnis füreinander zu schaffen." +Wie aber kann einer wie Crystal damit umgehen, dass Christoph neben Leuten marschiert, die Ausländer wie ihn nicht in ihrem Land haben wollen? +"Weißt du, ich glaube, Christoph meint das nicht rassistisch, er hat da seine wirtschaftlichen Argumente. Ich finde: Solange du niemandem Schaden zufügst, sollst du dein Leben so leben, wie du das für richtig hältst. Und Christoph, da bin ich mir sicher, ist kein Hater." +Ende Oktober hat Christoph einen Artikel von "Spiegel Online" auf Twitter kommentiert. In dem Text geht es um die neuenCorona-Maßnahmenin Deutschland. Christoph schreibt:"Ich fordere einen nationalen Wahrheitsplan und Automatic Arrest für alle Regierungspolitiker in Bund und Ländern. #Nürnberg2".Darunter hat er das berühmte Bild vom Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher kopiert. Es ist eine Fotomontage: Anstelle der Naziverbrecher sitzen nun Angela Merkel, Markus Söder, Frank-Walter Steinmeier und Claudia Roth auf der Anklagebank. +Wenn Crystal so etwas sieht, dann grinst er ungläubig und schüttelt den Kopf. "Ich packe das alles in einen Korb mit dem Label ,What the fuck'." Und dann könne er mit Christoph in Ruhe Kaffee trinken und reden. Über alles. Nur nicht über Politik. diff --git a/fluter/freundschaft-liebe-beziehungen.txt b/fluter/freundschaft-liebe-beziehungen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3ca88ee17eddf6717c26d9a953368721a999b1be --- /dev/null +++ b/fluter/freundschaft-liebe-beziehungen.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Dieser Text istim fluter Nr. 89 "Liebe"erschienen +Ich stehe in meinem gold-beigefarbenen Jumpsuit auf einer Bühne, schaue in ein Meer aus bunten Kleidern und Anzügen und Hüten. Mir gegenüber: Sophie, hochgesteckte Haare, rosa Einteiler, wunderschön. Hinter uns ragt ein Traubogen in den Himmel, an dessen Spitze ein Schild hängt: Barti & Sophie. Ich muss aufpassen, dass meine Stimme nicht bricht, als ich Sophie verspreche: "Es ist bedingungslos, und es ist für immer. Und deshalb werden wir, no matter what, uns in diesem Leben noch eine Million Mal streiten, immer mit der Gewissheit, dass wir uns eine Million Mal wieder zusammenraffen – und so scheißunromantisch das klingt: Das ist der Kern des Ganzen, die Essenz." Wir küssen uns. Die Band spielt "Primadonna Girl" von Marina and the Diamonds. Bengalos werden gezündet, blaurosa Nebel. Dann heule auch ich. +Ich habe geheiratet. Mit Zeremonie, Hochzeitstorte und Brautstrauß und gezapftem Bier und Gästen, angereist aus Paris und London, Italien und Australien. Dabei sind Sophie und ich kein Paar, zumindest nicht im klassischen Sinn. Es muss 2010 gewesen sein, wir waren 15 und saßen in Französisch nebeneinander, als wir beschlossen, dass wir beste Freunde sind und bleiben – ohne wirklich zu wissen, was das eigentlich bedeutet (außer gemeinsam Schule zu schwänzen und sich auf Punkfestivals zu betrinken). Als wir mit 18 immer noch dicke waren, haben wir einander gesagt: Wenn wir 40 sind und Single, heiraten wir. Als Notnagel sozusagen, damit wir nicht allein sterben. +Irgendwann mit Mitte 20, als wir längst zusammen von zu Hause ausgezogen waren, als unsere Liebe andere Crushes und Partnerinnen überdauert hatte und wir noch immer beste Freunde waren, da haben wir uns gesagt: Wir wollen kein Notnagel sein, und es ist völlig wurst, ob wir Single sind oder nicht. Und dass wir schon gar nicht bis 40 warten wollen, um das zu feiern, was wir aneinander haben. Wir haben uns auf das Jahr 2023 fest gelegt und Karten entworfen: Sophie & Bartholomäus – Einladung zur Hochzeit. +Und klar, jetzt fragt man sich: Da ist kein Staat, kein Standesamt involviert, die beiden schlafen ja nicht mal miteinander, also why call it Hochzeit? Warum nennen sie's nicht Freundschaftsparty oder Liebesfest? Um es kurz zu machen: genau deshalb. Die Ehe ist ein Trick. Das sagt auch Emilia Roig, die sich als Politologin und Autorin mit der Ehe befasst – oder besser: mit der Abschaffung der Ehe. Denn während uns Popkultur mit Songs, Filmen und Insta-Storys einbläut, dass die Ehe der höchste Ausdruck von Liebe ist, erfülle sie in Wahrheit einen ganz anderen Zweck. "Die Ehe", sagt Roig, "ist eine der wichtigenSäulen des Patriarchats. Sie ist nicht nur ein Stück Papier beim Standesamt, sondern ein gesamtes politisches, wirtschaftliches System." +Ehe und Kleinfamilie hätten die Haus- und Sorgearbeit wie selbstverständlich ins Private ausgelagert, wo siemeist gratis von Frauen erledigt wird. Nur so kann das kapitalistische Wirtschaftssystem am Laufen gehalten werden. Der Staat habe also ein Interesse daran, dass die Ehe die "hauptsoziale Einheit in der Gesellschaft bleibt", sagt Roig. "Ehen oder Kernfamilien aus zwei Erwachsenen mit zwei bis vier Kindern sind viel einfacher kontrollierbar als größere Gemeinschaften." Sozialer Fortschritt gehe von Bewegungen aus, nicht von Kernfamilien. +Manchmal verlieren Sophie und ich uns in Träumereien von einer Gesellschaft, die auf Freundschaften bautstatt auf Ehen und Kleinfamilien. Einer, in derenGrundgesetz Artikel 6 steht: "Freundschaft steht unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung." Wir machen Listen mit Städten, in die wir ziehen wollen, wenn wir einmal Kinder haben. Dass wir sie gemeinsam großziehen, steht außer Frage. Wir überlegen, wie wir unser Geld teilen; nicht zu zweit,sondern zu dritt, viert oder fünft, damit alle unsere Freunde und Freundinnen so viel haben, wie sie brauchen, egal ob sie als Ärztin, in der Pflege oder als freie Journalisten arbeiten. Neulich hat mich Sophie gefragt, ob ich mir zutrauen würde, zu entscheiden, was das Beste für sie wäre, wenn sie das nach einem Unfall nicht mehr kann. +All das sind Fragen, die wir womöglich nicht stellen müssten, wären wir eine traditionelle Zweierromanze. Aber die Gegenerzählungen, die eine freundschaftszentrierte Lebensweise vorlegen, sind immer noch rar. Wenn überhaupt, höre ich sie von queeren Friends, die im herkömmlichen Liebesskript nicht vorgesehen und dadurch gezwungen sind, eigene Erzählungen und Abmachungen zu finden. +Und, ganz ehrlich: Wer wäre gekommen, hätten wir unsere Hochzeit Freundschaftsfest genannt? Wie viele hätten uns abgesagt, weil sie zeitgleich auf einer "richtigen" Hochzeit eingeladen gewesen wären? Ich glaube, wir mussten die Hochzeit hopsnehmen, um ernst genommen zu werden. Uns die Institution aneignen, um sie ins Gegenteil zu verkehren. Wir wollten ein Fest feiern wider die Exklusivität und für die Freundschaft. +"Ich werde dich immer daran erinnern, warum wir heute heiraten", schließt Sophie ihr Eheversprechen. "Weil wir unsere eigenen Regeln machen, weil wir Menschen mitreißen. Weil wir nicht vergessen, groß zu träumen …" +Während ich mir wieder und wieder die wackeligen Handyaufnahmen davon ansehe, muss ich daran denken, was die Autorin Lisa Krusche in ihrem berührenden Freundschaftsessay "Hab von dir geträumt, du hast meinen Kaktus abgebrochen" schreibt: "Die Liebe bringt nicht Individuen miteinander in Verbindung, sondern vollzieht einen Schnitt in jedem von ihnen. Als wären sie plötzlich von einer neuen Ebene durchzogen, in der sie nun gemeinsam durch die Welt ziehen. Liebe ist nie miteinander sein – sondern miteinander werden." +Durch Sophie bin ich die Person geworden, die ich heute bin. Aber auch durch Maxi, Loui, Nils. Und Sophie ist Sophie nicht nur wegen mir, sondern auch wegen Sonami, Emma und Khaled. So ziehen wir, ob wir uns kennen oder nicht, gemeinsam durch die Welt, verbunden durch ein unsichtbares Band, das sich Liebe nennt. Und am Ende ist unsere Hochzeit auch das: ein Feiern des Gemeinsam-durch-die-Welt-Ziehens. Nicht mehr und nicht weniger als ein Fest der wahren Liebe. diff --git a/fluter/freundschaft-zwischen-ddr-und-sowjetunion.txt b/fluter/freundschaft-zwischen-ddr-und-sowjetunion.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..73bce24b0ed01dda39e4772a732a84cc92ebf72a --- /dev/null +++ b/fluter/freundschaft-zwischen-ddr-und-sowjetunion.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Das Heftchen ist voller kleiner 10-Pfennig-Marken, das war Monat für Monat der Mitgliedsbeitrag. Ich habe sie wahrscheinlich in der Hoffnung eingeklebt, dass mich jede einzelne von ihnen den Freunden – so sagte man in der DDR zu den Menschen in der Sowjetunion – ein Stück näherbringen würde. Ein Kinderglaube. Denn in Wirklichkeit geschah nichts dergleichen. Das Land und die Menschen, mit denen ich offiziell befreundet war, blieben mir fern. +Als meine Freundschaft mit der Sowjetunion Mitte der 1980er-Jahre offiziell begann, kühlte die Freundschaft zwischen den beiden Staaten ab. Mit der beginnenden Entspannungspolitik von Perestroika und Glasnost unterdem neuen Generalsekretär Michail Gorbatschowwollte die DDR-Führung nichts zu tun haben. Reisen in die Sowjetunion waren für die meisten DDR-Bürger nur als organisierte Gruppenreisen möglich. Dazu kamdie Katastrophe von Tschernobyl 1986, über die in den DDR-Medien kaum berichtet wurde, an der die Bevölkerung aber großen Anteil nahm. Und als im Jahr 1988 die sowjetische Zeitschrift "Sputnik" in der DDR verboten wurde, war das für viele ein Zeichen, dass die offizielle Freundschaft mit der Sowjetunion einen deutlichen Riss bekommen hatte. Nun traten selbst Leute in die DSF ein, die früher unter keinen Umständen Mitglieder geworden wären. Sie wollten ein Zeichen setzen, dass sie den von Gorbatschow eingeschlagenen Reformkurs für richtig hielten. +Im Alltag war das Bild "unserer Freunde" auch vorher schon von Rissen durchzogen. Zu sehr widersprach die durchweg positive Erzählung vom Sieg der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg den persönlichen Erlebnissen unserer Eltern- und Großelterngeneration. Die fröhlichen Gesichter von Irina und Boris in meinem Russischlehrbuch hatten nichts gemein mit den traurigen Augen der jungen Soldaten hinter den Gittern der russischen Kaserne, an der ich als Kind oft vorbeilief. Kaum älter als ich, steckten sie in viel zu großen, starren Uniformen. Dennoch gehörten sie einer Armee an, die einst, im Januar 1945, Auschwitz befreit hatte. Wir lasen Bücher wie "Ein Menschenschicksal" von Michail Scholochow und "Djamila" von Tschingis Aitmatow und konnten uns doch kein rechtes Bild machen, wie die Menschen in Russland wirklich lebten. +Niemand in meiner Familie oder im näheren Bekanntenkreis in der DDR hatte Kontakt zu Russen. Und auch ich begegnete ihnen erst, nachdem ich schon lange keine Marken mehr ins Mitgliedsheft einklebte. In den 1990er-Jahren sprach mich auf der Straße plötzlich jemand in der Sprache an, die ich seit der fünften Klasse in der Schule gelernt hatte. Aber meine russischen Vokabeln passten nicht in die neue Wirklichkeit in dem Land, das es inzwischen nicht mehr gab. So wie sie vielleicht nie ins echte Leben gepasst hatten. Mir fehlten die Worte, um die verordnete Freundschaft in eine echte Freundschaft zu verwandeln. +Wenn ich heute auf der Straße die russische Sprache höre oder Nachrichten aus Russland verfolge, eröffnet sich für mich, wie für viele andere Ostdeutsche auch, ein Erinnerungsraum widersprüchlicher Erfahrungen. Darüber zu sprechen fällt manchmal schwer. Denn allzu oft wird aus jener alten, vielschichtigen Freundschaft eine neue abgeleitet: eine Putin-Freundschaft. Wie unzulässig diese Vereinfachung ist, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass niemandem, der in Westdeutschland sozialisiert wurde und von Amerika schwärmt, Sympathien für Donald Trump unterstellt werden. Ostdeutsche haben ein anderes Verhältnis zu Russland als Westdeutsche. +Ein bisschen lässt sich meine Freundschaft zu Russland mit den russischen Matrjoschkas vergleichen, die in fast jeder DDR-Schrankwand standen: Öffnet man eine Puppe, kommt die nächste zum Vorschein. + +Titelbild: akg-images/picture-alliance/ZB/Wilfried Glienke diff --git a/fluter/fridays-for-future-sommerkongress.txt b/fluter/fridays-for-future-sommerkongress.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..469404cd08123f46bf427dc446ba2df982ba9acb --- /dev/null +++ b/fluter/fridays-for-future-sommerkongress.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Lea (22) +Mein oberstes Ziel ist, dass Fridays for Future eine viel größere Student*innen-Bewegung wird und dass es nicht ausschließlich eine Schüler*innen-Bewegung bleibt. Das ist doch die Aufforderung der Jüngsten: dass sich alle beteiligen! Es gibt viele Komplimente und Zuspruch der Älteren, aber kaum jemand macht wirklich mit und steht auf. Deswegen dauert es auch ewig, bis die Studenten wirklich mitmachen. Ich wünsche mir, dass es einen Effekt hat, dass junge Leute vorurteilsfrei Fragen stellen und nerven. Ich habe das Gefühl, dass jetzt eine neue Ebene angestrebt wird: dass wir befähigt werden, mit Politikern und Experten ins Gespräch zu kommen. Wir sehen uns mittlerweile als Teil dieser Debatten und reden einfach mit. + + +Luis (16) +Bei mir an der Schule gehöre ich zum Schulsprecher-Team. Wir versuchen, viele Mitschüler zu den Demonstrationen mitzubringen und das an der Schule so groß wie möglich zu machen. Ehrlich gesagt weiß ich aber nicht, ob zurzeit noch viele Leute zur Bewegung dazustoßen. Bei mir in der Stadt merke ich das zumindest nicht. Der Hype bricht langsam ab. Nur noch diejenigen, die wirklich an die Sache glauben, laufen mit. Natürlich hoffe ich, dass die Ziele erreicht werden können. Ich glaube aber nicht, dass wir Fridays for Future in fünf Jahren noch sehen werden und das die Bewegung der Zukunft ist. Vielleicht wird es dann eine neue Bewegung geben, die sich für ähnliche Ziele einsetzt. + + +Maya (20) +Der wichtigste Punkt dieser Bewegung ist, dass totale Aufmerksamkeit auf den Klimawandel gelenkt wurde. Der Klimawandel ist deutschlandweit das wichtigste Thema, auf Platz eins, noch vor der Flüchtlingskrise. Ich bin mir sicher, dass Fridays for Future weiter demonstrieren wird – bis etwas passiert. Die Teilnehmenden wissen heute sehr viel besser Bescheid über das Thema als vorher. Ich könnte mir vorstellen, dass es dadurch ein viel breiteres Berufsspektrum geben wird und der Klimawandel besser aufgehalten werden kann. Wir sind hier in Deutschland privilegiert und können uns mit den Themen gut auseinandersetzen. Es braucht in unterschiedlichen Ländern eine unterschiedliche Zeit, bis das passiert. Auf dem Kongress liegt der Fokus auf deutschlandweitem Austausch, aber gleichzeitig passiert auch internationale Vernetzung. Am 20. September soll weltweit gestreikt werden. + + +Ella (15) +Eigentlich dachte ich, der Protest wird erst steigen und dann wieder abebben. Aber mittlerweile demonstrieren nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene, Omas, Opas – sogar Fünfjährige. Deshalb schätze ich, dass er sich weiterentwickeln und stark bleiben wird. Es geht ja jeden was an! Von der Politik kommt zu wenig. Die Politiker können 20 Jahre abwarten und sagen: "Wir machen einfach so weiter!" Der Wandel in der Klimapolitik geht nicht von denen, sondern von der Gesellschaft aus. + + +Auf bpb.de findest dumehr Informationen zur Fridays-for-Future-Bewegungundeinen Film darüber, wie die Klimaproteste den EU-Wahlkampf 2019 beeinflussen. diff --git a/fluter/fridays-for-future-wie-gross-die-bewegung-weltweit-ist.txt b/fluter/fridays-for-future-wie-gross-die-bewegung-weltweit-ist.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ea0b669db12c2fe2a5b0215a78f4444e7242b293 --- /dev/null +++ b/fluter/fridays-for-future-wie-gross-die-bewegung-weltweit-ist.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Miriam und ihre Freunde besuchen eine teure, abgeschirmte Privatschule in der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Die Schulleitung habe sie sehr unterstützt, sagt sie, und bezweifelt doch, dass sie jede Woche für einen Marsch freibekämen. Öffentliche Schulen hätten wegen Prüfungen schließlich nicht am Marsch teilgenommen. So standen nach Miriams Zählung etwa 100 Schüler am Eingang des Karura-Waldes in Nairobi. Statt weiterer Freitagsmärsche wollen die Schüler nun lieber in ihrer Umgebung Müllsammlungen veranstalten.(Anja Bengelstorff) +In den USA wurde in ca. 160 Städten gestreikt. Aber mit weitaus weniger Furor als in Europa. Das ist einerseits überraschend, schließlich waren die Schulstreiks für schärfere Waffengesetze nach dem Attentat an der Highschool in Parkland, Florida, eine der Inspirationsquellen für Greta Thunberg. Andererseits verwundert es nicht: Viel kontroverser als Fridays for Future diskutieren die USA momentan ein anderes Klima-Thema: den sogenanntenGreen New Deal. Ein Infrastrukturpaket, das zum Beispiel in Jobs rund um erneuerbare Energien investiert, um den Klimawandel einzudämmen.Alexandria Ocasio-Cortez, die im Januar mit 29 Jahren als jüngste Abgeordnete ins Repräsentantenhaus einzog, ist eine der bekanntesten Unterstützerinnen desGreen New Deal. An der Beteiligung der linken Politikerin entzündet sich der Streit, ob und welche Maßnahmen im Kampf gegen den Klimawandel nützlich sind. (Daniel C. Schmidt) +Protestieren ist in China eine komplizierte Sache, der Klimaschutz ist da keine Ausnahme. Daher ist Fridays for Future allenfalls in den sozialen Netzwerken ein Thema, nicht auf der Straße. Hongkong aber ist ein etwas anderes China, dort haben am 15. März tatsächlich einige Hundert Schülerinnen und Schüler öffentlich protestiert. "Es waren fast ausschließlich Schüler der internationalen Schulen", berichtet Paul Harris von der Universität Hongkong. Zwar waren die Proteste nicht offiziell verboten, doch vor allem staatliche Schulen hätten ihren Schülerinnen nachdrücklich von einer Teilnahme abgeraten, sagt Harris. "Die Staatsregierung in Peking wie auch die lokale Politik in Hongkong versuchen, Schüler und Studenten von politischen Themen fernzuhalten. Daher war es sehr mutig, was die Schüler getan haben." +Sie blieben an jenem Freitag unerlaubt dem Unterricht fern und marschierten vor das Gebäude der Stadtregierung. Dass aber einigen chinesischen Schüler*innen der Umweltschutz auch wichtig ist, zeigte sich anschließend online: Dort wurden jede Menge Likes für die Protestbilder aus Hongkong verteilt. (Michael Radunski) + + + + + +Fridays for Future ist in Japan eine sehr überschaubare Bewegung. Beim vergangenen Streik liefen rund 125 Demonstranten durch Tokio; protestiert wird einmal pro Monat. Die Protestkultur ist in Japan wenig ausgeprägt, das Umweltbewusstsein junger Menschen gering, das japanische Ganztagsschulsystem fordernd. Das könnten die Gründe für die geringe Beteiligung sein. "Wir müssen hier eine ganz eigene Protestkultur entwickeln", erklärt die 17-jährige Oberstufenschülerin Tomoka. "Der Protest soll freundlich und wohlwollend sein, darf keine Reibung erzeugen und nicht abschrecken, damit sich die Menschen freiwillig und leicht für den Umweltschutz begeistern." Obwohl die Medien über die Proteste berichten, gab es von Politikern bisher noch keine Statements. Die Demonstrant*innen sehen das gelassen: Keine Kritik ist schließlich auch eine Art der Zustimmung. (Nicolas Rose) +"Es geht um etwas, das größer ist als unsere politischen Verschiedenheiten. Das eint!", sagt Demonstrant Shoshke. Hinter ihm schallt laute Musik aus solarbetriebenen Lautsprechern. Eine Gruppe – verkleidet als Schildkröte, Hai, Wal oder Eisbär – ruft Slogans: "I want a hot date, not a hot planet." Arabische und hebräische Sprechchöre hört man selten gemeinsam auf den Straßen Tel Avivs, heute ist das anders. Es ist der 29. März; zum ersten Mal demonstriert die Fridays-for-Future-Bewegung in Israel. "Im Gegensatz zu anderen Ländern hinken wir ein bisschen hinterher", meint Studentin Dana. "Aber es ist überfällig." In der Tat hat der Nahost-Staat trotz hochmoderner Entsalzungsanlagen und Solarkraftwerken in der Wüste ein gewaltiges Umweltproblem. Die Hitzewellen mehren sich, Mülltrennung und Recycling sind eine Seltenheit, der Jordan und das Tote Meer trocknen aus, weil die Menschen zu viel Trinkwasser entnehmen. (Franziska Knupper) +"Respektiere deine Pachamama" (Mutter Erde) steht auf einigen Plakaten. In Bolivien ist der Schutz der Pachamama in der Verfassung verankert +Ein alter Volvo-Laster schiebt sich gemächlich an der Plaza Murillo vorbei, aus seinen zwei Auspuffrohren kommen dicke Rauchschwaden. Auf dem Plateau gegenüber vom Präsidentenpalast protestieren einige Dutzend Schüler*innen und Studierende. Auf ihren Schildern steht "Fridays for Future" oder "Respektiert Mutter Erde". Die 15-jährige Nina geht auf ein privates Gymnasium und hat die Aktionen organisiert. Von Greta Thunberg hat sie über die sozialen Medien erfahren. Auch Nina will nicht länger hinnehmen, "dass die Erwachsenen uns die Zukunft vor unseren Augen stehlen". In Bolivien ist "Pachamama" ("Mutter Erde") als Rechtssubjekt in der Verfassung verankert. Klima- und Umweltschutz haben theoretisch einen hohen Stellenwert, die CO2-Emissionen des Andenstaats sind ein Vielfaches geringer als die Deutschlands. Luft- und Umweltverschmutzung sind trotzdem ein großes Problem, vor allem in den Ballungsgebieten. Fridays for Future ist hier mehr als "nur" ein Schulstreik: Die Gruppe beteiligt sich nach eigenen Angaben an Müllsammelaktionen und setzt sich für den Erhalt der indigenen Naturschutzgebiete ein. Um diese Gebiete gibt es immer wieder handfeste Auseinandersetzungen. Die Regierung möchte dort Staudämme oder Straßen bauen, die indigene Bevölkerung sieht das als Zerstörung von Mutter Erde. (Thomas Guthmann) +Der Himmel über Gurugram ist die tägliche Warnung. Hier, vor den Toren von Neu-Delhi, hat er nur eine Farbe: grau. Gurugram führt die Ranglisteder Städte mit der stärksten Luftverschmutzung weltweitan. Einige der Schüler*innen tragen Atemmasken um den Hals. "Ich kann nicht atmen. Soll ich aufhören, zur Schule zu gehen?", steht auf ihren Plakaten. Oder: "Kinder brauchen saubere Luft". Rund 500 Schüler*innen gingen auch hier am 15. März auf die Straße, in Städten im ganzen Land taten es ihnen viele gleich. Mehr als ein paar Hundert Demonstrant*innen wurden es aber nirgends. Die Schulen gaben ihnen zum Teil frei. In Zukunft sollen sie einen Tag im Monat für Proteste schwänzen dürfen. Die Bewegung erreicht vor allem gebildete Schichten in den Städten. Laut Weltklimarat (IPCC) gehört Indien zu den am meisten durch den Klimawandel bedrohten Regionen der Welt. Schon bald werden hier mehr Menschen leben als in China, rund ein Drittel arbeitet in der Landwirtschaft. Hitzewellen, extreme Regenfälle und Dürren führen immer wieder zu Ernteausfällen und Toten, die Küstenregionen kämpfen mit dem steigenden Meeresspiegel. (Julia Wadhawan) +"Ja, ich sitze auf dem Boden – wie die meisten von uns. Sie haben einfach die Hälfte der Zugwagen gestrichen." Greta Thunberg ist auf dem Weg zur Berliner Demo, natürlich per Bahn. Von ihrer Reise durch Dänemark postet sie ein Foto auf Instagram. Der Post samt handfester Kritik an der dänischen Verkehrs- und Klimapolitik sorgte in Dänemark für Schlagzeilen. Die dänische Bahngesellschaft entschuldigte sich öffentlich: Es standen "akute Reparaturarbeiten" an. +Kurz zuvor hatten sich allein in Kopenhagen 10.000 Schüler bei Fridays for Future vor dem Parlament versammelt. Dass die Schüler*innen schwänzen, stört hier kaum jemanden. Von vielen werden die Proteste positiv aufgenommen, andere bezweifeln, dass sie zielgerichtet genug und wirksam sind. Ministerpräsident Lars Løkke Rasmussen kam an einem Freitag dazu und lud sich selbst für eine Rede ein. Er stimmte ein Loblied auf die eigene Klimapolitik an. Dänemark gilt als sehr weit mit dem Ausbau erneuerbarer Energien. Dafür ist die industrielle Landwirtschaft ein akutes Umweltproblem. Wohl auch deswegen unterbrachen ihn die Demonstrant*innen und riefen: "Nicht genug, nicht genug!"(Thomas Borchert) + + +Das Titelbild von Laurene Becquart (AFP/Getty Images) zeigt eine Fridays for Future-Demo in Indien. diff --git a/fluter/friede-freude-sojakuchen.txt b/fluter/friede-freude-sojakuchen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..230a22c8b69c4c0615b0919811677be4f848deac --- /dev/null +++ b/fluter/friede-freude-sojakuchen.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +In ihren Erfahrungsberichten für fluter.de setzen sie sich damit auseinander, wie die vegane Lebensweise in der Praxis funktioniert und wo man Probleme mit Gesellschaft, Familie und mit Freunden bekommen kann. +Chris, 24, studiert Umweltschutztechnik +Als Veganer sollte man sich selbst nicht zu ernst nehmen. Zwar ändert sich das Verhältnis zu seinen Mitmenschen als Veganer nicht wesentlich, aber Menschen, mit denen man sich ohnehin nicht versteht, bietet man als Veganer mehr Angriffsfläche. Während meines veganen Monats bekam ich, außer einer Menge lustiger Kommentare, auch den einen oder anderen herablassenden Spruch um die Ohren gehauen. Ich wurde auch immer wieder gewarnt, wie ungesund diese Ernährung doch sei. Als ich aber genauer nachfragte, welche Stoffe einem denn fehlten, stellte sich heraus, dass die meisten Menschen mit dem Thema so vertraut waren wie Lukas Podolski mit molekularer Thermodynamik. +Während man von großen Teilen der Gesellschaft bemitleidet oder belächelt wird, erfährt man mitunter, vor allem von Anhängern der "Öko-Szene", die entgegengesetzte Resonanz. Diese Menschen schafften es, dass ich mich zeitweise fühlte wie ein Profi-Fußballer. Nur, dass die Gegner die Massentierhaltung, der Klimawandel und der Hunger in der "Dritten Welt" waren. +Wie funktioniert vegane Ernährung in der Praxis? Meine ersten Kochversuche endeten mit Bauchschmerzen. Aber man kann das lernen. Mittlerweile weiß ich, wie man sich schnell ein schmackhaftes veganes Essen herbeizaubern kann. Fleisch und andere tierische Produkte vermisse ich, der immer viel Fleisch gegessen hat, kaum mehr. Schwierig sind aber Situationen, in denen man bei jemandem zum Essen eingeladen wird. Der Gastgeber gibt sich unglaublich Mühe, mir ein zauberhaftes Essen zu bereiten, und ich bediene mich am Ende nur von dem Salat, weil überall sonst tierische Produkte drin sind. Kein schönes Gefühl. +Juliane, 20, macht ein FÖJ** auf einer Jugendfarm +Ich bin vor sechs Jahren aus Trotz Vegetarierin geworden. Weil ich meinen Eltern beweisen wollte, dass ich es durchziehen kann. Inzwischen ist es für mich zu einer Lebenseinstellung geworden, auf Fleisch zu verzichten, und ich mache es bewusst aus Tierrechts- und Umweltschutzgründen. Bei "1 Monat vegan" habe ich mitgemacht, weil ich wissen wollte, wie gut sich eine vegane Lebensweise im Alltag umsetzen lässt, worauf man achten muss und wo sich Schwierigkeiten auftun.Nach einem Monat kann ich ein Fazit ziehen: Sich vegan zu ernähren ist die einfachste Sache der Welt. Zumindest, wenn man alleine wohnt, keine Freunde hat und einen Job, der nichts mit Menschen zu tun hat. Oder wenn man ausschließlich mit Veganern/innen befreundet ist. Dann ist es wirklich kein Problem. Die geringste Abweichung von diesen Grundregeln bringt allerdings Schwierigkeiten mit sich. Auch wird man ständig von anderen aufgezogen. Und es wird einem noch viel öfter mit Fleisch und Wurst vor der Nase rumgewedelt, als wenn man nur Vegetarier/in ist: "Guck mal! Mmhh, das schmeckt lecker! Willst du mal probieren?" +Meine Mutter hat sich viel Mühe gegeben, ist aber fast daran verzweifelt, alles richtig zu machen. Wenn man sich nicht wirklich eingehend damit beschäftigt, ist es erst mal schwierig, rein vegan zu kochen. Klar, alle Veganer/innen würden jetzt sagen: "Das stimmt doch gar nicht! Man kann ganz toll vegan essen!" Aber für Neulinge ist es eine große Herausforderung. Meistens gibt es dann Spaghetti (ohne Ei) mit Tomatensoße (ohne Sahne) und Salat (mit Essig und Öl). +Simon, 26, Kaufmann im Einzelhandel +Vor diesem Monat bestand meine Ernährung hauptsächlich aus Fertigpizza mit extra Käse oder chinesischer Instantsuppe – alle diese feinen Dinge, die in einem Junggesellenhaushalt gerne gegessen werden. Doch Junk Food ist selten vegan. Also war der vegane Monat eine ziemliche Herausforderung für eine so gechillte Person wie mich.Jetzt, nach dem Experiment, ernähre ich mich weiterhin vegetarisch. Vielleicht werde ich mal wieder eine vegane Zeit einlegen. Bis dahin will ich vor allem die Rohprodukte, wie beispielsweise Milch oder Butter, durch vegane Alternativen ersetzen. Ich weiß, dass das nicht ideal ist und dass alle Veganer/innen das höchst inkonsequent finden. Aber ich denke: Wenn jeder nur einen kleinen Schritt in die richtige Richtung macht, dann ist schon viel erreicht. +Mich hat es sehr motiviert, dass wir den Monat zusammen in einer Gruppe gemacht haben. Wir haben gemeinsam gekocht, Rezepte ausgetauscht und uns schlechte Witze über Veganer erzählt. Es gab dank der vielfältigen neuen Erfahrungen auch ziemlichen Redebedarf. +Nach ein wenig Übung machte – zu meiner eigenen Überraschung – das Kochen zu Hause kaum noch Probleme. Doch wie ist es, wenn man unterwegs ist? BUNDjugend-Veranstaltungen waren kein Problem. Auch der "Aufstand", das Jugendumweltfestival der NAJU, war easy, weil veganes Essen dort ganz selbstverständlich angeboten wurde. Auch meine Eltern unterstützten mich und kochten für die ganze Familie Spargel mit veganer Sauce Hollandaise. +Unterwegs ist es aber leider schwieriger. Brot und Aufstrich wurden meine treuen Begleiter. Ich finde, vegan leben ist ein wenig wie Punk sein. Beim Punk gucken alle auf die Haare, beim Veganer auf den Teller. Man redet gezwungenermaßen sehr viel über Ernährung. Leider. Aber: Die Rückmeldungen auf meine Ernährungsumstellung waren meist positiv, interessiert und tolerant. Wirklich negative Erfahrungen habe ich kaum gemacht. +Da ich mich so frisch, lecker und abwechslungsreich wie selten in meinem Leben ernährt habe, werde ich versuchen, erst mal weiter vegan zu leben. Ach ja: Bier ist auch vegan. Prost! +*Jugendorganisation des Bundes für Umwelt- und Naturschutz**Freiwilliges Ökologisches Jahr diff --git a/fluter/friedensverhandlungen-beispiele-podcast.txt b/fluter/friedensverhandlungen-beispiele-podcast.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..20f8da382cc8701cc2c49baf2a378e371b896292 --- /dev/null +++ b/fluter/friedensverhandlungen-beispiele-podcast.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Ihr habt Lob, Kritik oder eigene große Fragen, die wir in einer Pause beantworten sollen? Schreibt uns beiInstagram,Facebookoder perMail. + +Moderation & Schnitt: Paul HofmannRedaktion: Luise Checchin und Paul HofmannSound: Max LangeCover: Jan Q. Maschinski diff --git a/fluter/friendopoly-spiel-markt-freundschaft.txt b/fluter/friendopoly-spiel-markt-freundschaft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9184d59fb4004685bed2c8f9ed09c94178f51c69 --- /dev/null +++ b/fluter/friendopoly-spiel-markt-freundschaft.txt @@ -0,0 +1,4 @@ + + +Und hier könnt ihr die Heftmitte ausfluter Freundschaftherunterladen: + diff --git a/fluter/frueher-gab-es-austern.txt b/fluter/frueher-gab-es-austern.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4731d082be02c3fcc53be6a305f76b705a561ffe --- /dev/null +++ b/fluter/frueher-gab-es-austern.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Endlich wollte Brigitte Beyer auch das Kind, das ihr Freund sich schon seit Langem wünschte. Studium und Baby, glaubte sie, das passe schon zusammen, auch wenn es ab und zu schwierig gewesen sei, mit einem Künstler als Mann. "Wenn ich das Baby erst mal habe, dachte ich", sie zieht die Beine an, hoch auf den Stuhl und vor den Oberkörper, "wird auch er verstehen, wie man richtig liebt." Und dann war Luca gerade auf der Welt, als sie von der Affäre ihres Freundes erfuhr. Sie zog nach Berlin – und blieb. "Eigentlich wegen Luca", sagt sie, außerdem habe sie gut sechs Jahre gebraucht, um nach dem Betrug wieder Mensch zu werden. +Wenn Brigitte Beyer so redet, die Augen hell, die Stimme auch, man würde sie sich lieber auf einem Barhocker vorstellen, Rotwein vor sich, den Kopf in den Nacken gelegt, als in Neukölln, Ecke Maybachufer, der Schimmelpilz an der Wand, der Kühlschrank neben dem Klavier. Aber so ist das eben, seit sie "irgendwie rumkrebst", wie sie sagt. Seit sie getrennt ist, längst schon, keinen Job findet, Lucas Vater nur noch Luca Unterhalt zahlt und nicht mehr ihr, sie sich von ihren Ersparnissen finanziert, von 1000 Euro Arbeitslosengeld und 184 Euro Kindergeld im Monat. Brigitte Beyer ist niemand, den die Armut auffrisst. Sie ist jemand, der die Armut nicht gewohnt war und nun zum Alltag hat. +"Luxuriös wären 2000 Euro", sagt sie, damit wären die 700 Euro Miete ein kleineres Problem, sogar die 900 Euro erträglich, auf die der Vermieter erhöhen will. So aber gehe alles für Fixkosten drauf, die Wohnung, Versicherungen. Der Rest sei bescheiden. Kein Babysitter, kein Kino, bestimmt keine Austern. Und klar habe sie erhöhte Ansprüche, ihr Sohn sei hier aufgewachsen, sie wolle ihm nicht das Zimmer nehmen. Sie wolle sich auch kein Zimmer mit ihm teilen, er sei immerhin schon zehn. Sie wolle ihm auch nicht mehr sagen müssen, dass sie ihm kein Eis kaufen kann. Vor allem wolle sie nicht "so dastehen". Wie dastehen? "Als kriegte ich nichts auf die Reihe." +Dass Brigitte Beyer manchmal so denkt, sie lässt die Beine auf den Boden sinken, habe mit ihrem Selbstbewusstsein zu tun. Nach ihrem Uniabschluss habe sie gedacht: "Jetzt hab ich ein Diplom und kann nichts." Mit ihrem Diplom fing sie in einem Berliner Landschaftsarchitekturbüro an, sie war morgens vor den anderen da, um nachmittags pünktlich gehen zu können, Luca von der Kita holen. Drei Jahre habe sie fast für ein Praktikantengehalt gearbeitet. Dann wurde sie entlassen, weil man sich ihre Stelle nicht mehr leisten konnte. Frau Beyer, glauben Sie, Sie sind überqualifiziert? Beyer zögert. "Ich glaub, ich bin zu alt." Ihre Antwort klingt matt. "Und ich hab ein Kind." Wenn sie früher im Büro gesagt hat: "Dieses Wochenende ist Luca bei mir" – jedes zweite ist er beim Vater –, hörte sie oft den Satz: "Wir erwarten, dass du trotzdem kommst." Sie hat meistens versucht, Luca bei Freunden unterzubringen. Funktioniert hat es selten. +Irgendwann, sie hatte noch eine Absage auf noch eine Bewerbung bekommen, ist sie trotzig geworden, Putzfrauen verdienen hier besser als Akademikerinnen!, sagte sie da oft. Ob sie putzen gehen solle? Besser, glaubte sie dann, ich leg noch mal los, als Selbstständige diesmal, doch wieder Werbung, doch wieder Grafik. Es gab einen Gründungszuschuss, "es geht ja alles", dachte sie, und wurde krank. Jetzt gab es zwei Operationen in kurzen Abständen und natürlich die Frage: Warum jetzt? Brigitte Beyer lacht ihr Pech weg, die Fältchen um den Mund, die Jogginghose an, die Kordeln des Kapuzenpullis vor dem Hals zur Schleife gebunden. +"Es gibt Parameter", sagt sie, "die um dich herumgebaut sind, innerhalb derer du versuchst zurechtzukommen. Die Mieten werden teurer, die Löhne passen sich nicht an. Kinder sollen in Institutionen, Kindergärten, Schulen. Ich war 38, als Luca geboren wurde. Ich wollte ganz viel richtig machen und hab ganz viel falsch gemacht. Ihm zu viel abgenommen. Ihn nicht zur Selbstständigkeit erzogen. Aber ich denke, Väter und Mütter sind eine Investition in die Zukunft, es gibt nur keine gesellschaftliche Wertschätzung für sie und für Familienstrukturen, die aus der Norm fallen: für Eltern, die ihr Kind nicht zu zweit und zusammen erziehen und beide Vollzeit arbeiten." +Heute ging ihr Wecker um halb sieben, Luca ist zu ihr ins Bett gekrochen, ein paar Minuten wenigstens, sie sind aufgestanden, Frühstück, Pausenbrot, hast du dein Russischbuch?, nehmen wir das Rad?, schnell zurück nach Hause, das CD-Cover, das sie entwerfen muss, die Fortbildung nächste Woche, die Mails an den Vermieter, ob das ein Rechtsstreit wird, der Schulgong am Mittag, Essen kochen, Hausaufgaben, die Comichefte auf der Couch, die Bücher auf dem Teppich, wieder das CD-Cover, was, wenn mein ALG I ausläuft, reicht es, um uns zu ernähren? "Mama, lies mir vor: ,Der Drache mit den veilchenblauen Augen'." Manchmal steht sie abends in der Küche und beschließt, sich ihre Entwürfe nicht noch mal anzusehen und stattdessen einfach den Wasserhahn aufzudrehen und zu spülen. Das macht Brischitt dann glücklich. diff --git a/fluter/fucking-germans.txt b/fluter/fucking-germans.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1241baea4413ff4db53f5a6d36fcaff9d9bb9ca2 --- /dev/null +++ b/fluter/fucking-germans.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Es ist Benjamin Franklin, der so polemisiert. Der Erfinder des Blitzableiters, für manche ein Inbegriff der Aufklärung und einer der Gründungsväter der USA. Er war am Entwurf der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten beteiligt. Aber Franklin, urteilt der Historiker Simon Schama, sei eben auch der "Gründungsvater der amerikanischen Paranoia". +Die Fremden, die eine der ersten großen Einwanderungsdebatten der amerikanischen Geschichte auslösten, das waren: Pennsilfaani Deitsche. Deutsche, die nach Pennsylvania kamen. "Pfälzer Tölpel", wie Franklin sie bezeichnete. Hartnäckige Integrationsverweigerer. +Dabei waren die Pfälzer Tölpel anfangs sehr willkommen in der Neuen Welt. Ende des 17. Jahrhunderts wurde um Siedler für eine Kolonie im Nordosten regelrecht geworben. Auch in Deutschland ging man auf Überzeugungstour, es gab sogar einen übersetzten Werbeprospekt, der die Vorzüge Pennsylvanias pries. Und nicht nur die Pfälzer folgten dem Ruf: 13 Krefelder Familien, von der Aussicht auf Religionsfreiheit und einem  Entkommen aus der Armut gelockt, gründeten 1683 ihr eigenes Städtchen, Deitscheschteddel, Germantown. Um 1750 erreichte die Einwanderung aus Deutschland einen ersten Höhepunkt, fast jeder dritte Bewohner Pennsylvanias soll zu jener Zeit Deutscher gewesen sein. +Der gelernte Drucker Benjamin Franklin witterte zunächst ein gutes Geschäft. 1732 brachte er eine Zeitung für die Einwanderer heraus. Doch nur 50 Leser wollten ein Abonnement. Umso ärgerlicher, dass ein deutscher Mitbewerber wenig später mehr Erfolg hatte: Der junge idealistische Christopher Sauer soll mit seinem Blatt eine Auflage zwischen 8.000 und 10.000 verkauften Exemplaren erreicht haben – und stieg schnell zum Wortführer der Pennsylvania-Deutschen auf. Sie dürften ihre Herkunft nicht vergessen, mahnte Sauer. +Franklin grollte. Die Deutschen waren für ihn bald nicht nur ein undankbares Publikum. Der aufstrebende Politiker sah in ihnen zunehmend auch ein Sicherheitsrisiko. Denn auf dem neuen Kontinent lieferten sich Briten und Franzosen Kämpfe um die Vorherrschaft. Die Franzosen fielen im Verbund mit Indianern immer wieder in Pennsylvania ein und überfielen dort Siedler. Die Deutschen, dumm und verführbar, fürchtete Franklin, würden sich leicht von den Franzosen auf deren Seite ziehen lassen. Zudem seien die Schönheitsideale unvereinbar. "Die deutschen Frauen sind für ein englisches Auge im Allgemeinen so widerwärtig, dass es großer Anstrengungen bedürfte, einen Engländer dazu zu veranlassen, sie zu heiraten", schrieb Franklin. +Um die Deutschen in ihre Schranken zu weisen, erwogen Politiker drastische Maßnahmen. Importverbote für deutsche Bücher etwa. Oder Ehearrangements zwischen deutschen und englischen Siedlern – eine Art Zwangsheirat also. Doch Franklin ging das zu weit. Aussichtsreicher erschien ihm die Idee, kostenlose Schulen zu gründen. Wenn es etwas umsonst gäbe, ließen sich die Tölpel nicht lange bitten, glaubte er. Ein wohltätiger Verein nahm sich alsbald der "Bildung der armen Deutschen" an – mit Franklin als Treuhänder. +Doch die Siedler verweigerten sich. Manche wollten nicht von Almosen leben, beschrieb Christopher Sauer die Stimmung 1755 in einem Brief. Andere fürchteten, dass ihre Kinder zu Engländern würden, wenn sie erst deren Sprache lernten. Erst als klar wurde, dass Franklins Befürchtungen überzogen waren, und die Deutschen im Krieg gegen die Franzosen an der Seite der Amerikaner kämpften, löste sich die Stimmung. Inzwischen sind die Nachkommen der deutschen Siedler bestens integriert. Einer der Ihren bemüht sich derzeit um die Präsidentschaftskandidatur: Donald Trump, dessen Großvater 1885 die Pfalz verließ, wettert heftig gegen Einwanderer. Wie damals Franklin. diff --git a/fluter/fuehrer-fuer-suedeuropa.txt b/fluter/fuehrer-fuer-suedeuropa.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5b5edbb1436b5c2b5a1310793710632c88418cd3 --- /dev/null +++ b/fluter/fuehrer-fuer-suedeuropa.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Griechenland, Portugal, Spanien – diese jungen Demokratien leiden immer noch an den Folgen der Diktaturen, denn eine Auseinandersetzung mit der problematischen Vergangenheit fand kaum oder erst sehr spät statt. Nach der Demokratisierung, die innerhalb eines Jahres, von 1974 – 75, in diesen Ländern erfolgte, strebten sie in das vereinte Europa, in die damalige Europäische Gemeinschaft. So schnell wie möglich. Debatten über Schuld und Aussöhnung waren da eher lästig. Noch heute sind die Gräben, die die Diktatoren in die Gesellschaften hineingepflügt haben, sichtbar. +In Portugal sollte António Salazar eigentlich das Land heilen. Bis 1928 hatten 22 Staatsstreiche und 40 Regierungen in 16 Jahren sowie 134 Millionen Dollar Auslandsschulden den Staat an den Rand des Ruins gebracht. Deswegen holten die Militärs den Ökonomieprofessor erst ins Finanzministerium und machten ihn vier Jahre später zum Präsidenten. Salazar wollte einen neuen Staat, den Estado Novo, installieren. Das tat er mithilfe eines komplexen und auf totale Überwachung ausgerichteten Repressionsapparats. Portugal war jahrzehntelang ein "Königreich der Stille", wie es der Regimekritiker Mário Soares beschrieb. +Massengräber hinterließ Salazar nicht, als er 1968 über einen Liegestuhl stolperte und starb. Aber ein wirtschaftlich daniederliegendes Land. Das Regime zuckte noch ein wenig, bis die sogenannte Nelkenrevolution 1974 die Demokratie nach Portugal brachte. Salazars wirtschaftlicher Protektionismus, sein Widerstand gegen eine Politik der Industrialisierung und kostspielige Kolonialkriege hätten zur Verarmung des Landes und damit zu einem der niedrigsten Lebensstandards in Europa geführt, schreibt die Historikerin Ursula Prutsch. Tatsächlich waren 40 Prozent der Portugiesen damals Analphabeten. +Zwar erzielte Portugal enorme gesellschaftliche Fortschritte nach 1974, doch das Wirtschaftssystem blieb fragil, die industrielle Basis dünn. Das hinderte 41 Prozent der Einwohner nicht, in einer Fernsehsendung 2007 António Salazar zum größten Portugiesen der Geschichte zu wählen. +Das wäre in Spanien mit Francisco Franco undenkbar. Der selbst ernannte Führer war ungleich brutaler. Franco ging als Alleinherrscher aus dem Bürgerkrieg gegen die Republikaner von 1936 bis 1939 hervor. Der Krieg verwüstete das Land, im Anschluss erfolgte das große Töten: Zwischen 1939 und 1949 wurden 50.000 Menschen exekutiert. Der kleine Generalísimo sicherte seine Macht mit 194 Konzentrationslagern und 200 Gefängnissen. Die Gesellschaft wurde gespalten in Sieger und Besiegte. +Danach ging es Franco, ähnlich wie Salazar, vor allem darum, Ruhe herzustellen. Auch die Methoden waren fast identisch. Ein patriarchalisches und protektionistisches Wirtschaftssystem sollte, zusammen mit unnachgiebiger Zensur und Überwachung, jeden politischen Protest im Keim ersticken. Als Franco 1975 mit 82 Jahren einem Herzinfarkt erlag, brach auch das Regime zusammen. Zwar hatte Spanien in den 60er Jahren sein eigenes kleines Wirtschaftswunder erlebt (Franco öffnete das Land, und Tausende Touristen, vor allem Deutsche, strömten jedes Jahr an die Costa del Sol oder nach Mallorca – mit viel Geld in den Taschen). Im Landesinneren aber hatte immer noch nur ein Drittel der ländlichen Haushalte fließendes Wasser. Mit der Ölkrise 1973 endete das Wirtschaftswunder, und der Zerfall begann. +Der Tod Francos katapultierte Spanien in die Moderne. Politisch reformierte sich das Land von Grund auf. Es entwickelte eines der sozial dynamischsten Gemeinwesen Europas, führend bei Reformen wie Homo-Ehe oder Geschlechtergerechtigkeit. Auch wirtschaftlich tat sich viel. Die Inflation bekam man in den Griff, und mit einer neuen Steuerpolitik wurden Einkommen gerechter verteilt. Über das Franco-Regime und seine Gräueltaten wurde mehr oder weniger einvernehmlich geschwiegen. Als die Immobilienblase 2008 platzte, zeigte sich, dass das Land für eine globalisierte Wirtschaft nicht gerüstet war. Erst drei Jahre zuvor hatten Arbeiter die sieben Meter hohe Franco-Statue auf der Plaza de San Juan de la Cruz in Madrid abgebaut. +Statuen der Obristen sind in Griechenland nicht zu finden. Sie prägten ihr Land nicht so stark wie Franco und Salazar, sie herrschten nicht für Jahrzehnte. Und als ihr Regime fast so plötzlich verschwand, wie es gekommen war, nachdem die Türkei einen Teil der Insel Zypern besetzt hatte, schrieb "Der Spiegel" einen Nachruf auf "eine Diktatur, die weder eine Ideologie hatte noch dem Volk politische Perspektiven weisen konnte; ein hohles, auf schiere Machtausübung und sonst nichts ausgerichtetes Staatswesen." +Doch leider passt diese Einschätzung auch auf die folgenden, demokratisch legitimierten Regierungen, wie es Vassiliki Georgiadou, Politikwissenschaftlerin in Athen, beschreibt. Mit der (korrekten) Behauptung, sie sei jahrzehntelang von der Machtausübung ausgeschlossen worden, besetzte die sozialistische PASOK-Partei den Staat und erklärte die Parteimitgliedschaft zur Voraussetzung für Posten im öffentlichen Dienst. Dasselbe verkündete die konservative Nea Dimokratia, als sie nach den ersten freien Wahlen an die Macht kam. Sparmaßnahmen und Wirtschaftsreformen wurden lange kaum angegangen. Die Parteien fürchteten den Widerstand ihrer Wähler. Man wollte nicht durch Streichungen alte Wunden aufreißen und Unruhen provozieren. Die Produktivität blieb genauso auf der Strecke wie die Vergangenheitsbewältigung. "Griechenland hat weder die Militärdiktatur noch den Bürgerkrieg nach dem Zweiten Weltkrieg aufgearbeitet. Wir beschäftigen uns viel zu viel mit der Antike und der Gründung des griechischen Staates, alles andere wird ausgeblendet", sagt die Politikwissenschaftlerin Georgiadou. +Die Folgen treten in der Wirtschaftskrise deutlicher zutage als zuvor: Laut einer Umfrage Anfang 2013 sehnt sich mittlerweile knapp ein Drittel der Griechen nach der Stabilität des Obristen-Regimes zurück. Vor allem ältere Menschen verstehen nicht, dass es ihren Nachkommen schlechter geht als ihnen früher in der Diktatur. Dass die an den Problemen von heute eine Mitschuld trägt – das wird vielen Griechen erst allmählich bewusst. diff --git a/fluter/fuer-alle-felle.txt b/fluter/fuer-alle-felle.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..40e900c1205ef74c1bbb682a5d87049f07b14d0d --- /dev/null +++ b/fluter/fuer-alle-felle.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Mastbullen trinken bis zu 80 Liter Wasser am Tag. Sie bekommen Grundfutter (Maissilage, Gräser, Pflanzen) und Kraftfutter (Getreide, Soja, Ackerbohnen, Erbsen, Zuckerrübenschnitzel, Mineralien). Die Zusammensetzung des Futters entscheidet, wie viel Muskelfleisch das Tier zulegt. Ein Mastrind nimmt je nach Ernährung und Haltung bis zu 1.500g am Tag zu. Von einem kg aufgenommenem Protein im Futter bleiben nur 50 bis 120g essbares Protein im Fleisch übrig. Hormone als Wachstumsförderer sind seit Ende der 80er-Jahre in der EU verboten, Antibiotika erst seit 2006. +Rinder scheiden bis zu 90% des aufgenommenen Stickstoffs wieder aus. Etwa 200g Methan gehen pro Tag durch Pupsen und Rülpsen in die Luft. Der Dung kann auch als hofeigene Biogasanlage genutzt werden. Die Klimabilanz schwankt und liegt etwa zwischen acht und 17kg  CO2 pro kg Rindfleisch. So oder so liegen Mastrinder und Milchkühe aufgrund des hohen Futtermittelaufwands und anderer Faktoren recht weit oben in der CO2-Bilanz. Bei intensiver Haltung wird das Rind mit einem Mastendgewicht von ungefähr 600kg geschlachtet, bei extensiver Haltung mit ca. 350kg. Nur etwa 50% des Lebendgewichts bleibt nach der Schlachtung übrig. Nach der Tötung wird das Rind hängend entblutet, enthäutet und zugerichtet. Sofort entfernt werden Schädel, Vorderfüße, Fett und Innereien (Herz, Lunge, Leber, Nieren, Pansen etc.). Was bleibt ist das Schlachtgewicht. Der Torso wird in Hälften geteilt und besteht i.d.R. aus 13 Teilstücken. Schlachtnebenprodukte wie Haar, Häute, Hufe, aber auch Knochen und Innereien, werden ganz unterschiedlich weiterverarbeitet: +Haut: wird gegerbt und zu Leder verarbeitet. Pro Rind sind das ca. fünf qm. Das bessere Leder ist das der Kälber, da es feinere Poren hat. +Blut: wird streng kontrolliert in der Pharmazie verwendet, früher wurde Ochsenblut auch als Basis für ein Anstrichmittel verwendet. Heute gibt es nur mehr Farben mit diesem Namen. +Fett: wird für Kerzen, Salben, Schmieröl gebraucht. +Darm: wird zu Naturdarm für die Wurstproduktion weiterverarbeitet (importiert aus BSE-freien Ländern wie Uruguay). +Knochen & Haut: dienen zur Gelatineherstellung, weniger zum Verzehr als für Arzneimittel (z.b. für Kapselhüllen). +Hörner: viele Tiere sind heute enthornt, aber Hornkämme und Hornspäne als Dünger gibt es weiterhin. +Die Tierverwertungsanlage macht aus den Nebenprodukten Tiermehl, das z.B. als Brennstoff benutzt wird. Das Verfüttern von Tiermehl an Wiederkäuer ist in der EU nicht mehr erlaubt. Risikomaterial wie Hirn, Rückenmark und Mandeln wird getrennt vernichtet. diff --git a/fluter/fuer-die-urne.txt b/fluter/fuer-die-urne.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..36f122591bfb2b44b3864fedb00b99e63b30f321 --- /dev/null +++ b/fluter/fuer-die-urne.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Bei der Kommunalwahl in der DDR im Mai 1989 erhielt die Staatspartei SED ihr bis dato schlechtestes Ergebnis von 98,7 Prozent. Der Unterschied zu früheren Wahlen: Dieses Mal hatten Bürgerrechtler im ganzen Land die Auszählung der Stimmen beobachtet und ihre unabhängigen Zahlen zusammengetragen. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass sieben Prozent der Wähler gegen die SED gestimmt hatten. Damit hatten die Bürger erstmals den Beweis, dass der Staat die Wahlergebnisse systematisch fälschte. Von dem Ereignis ging eine starke Signalwirkung für die Bürgerrechtsbewegung aus, die schließlich mit dem Fall der Mauer endete. +2010 waren die Bürger der Elfenbeinküste zum ersten Mal nach einer Dekade wieder dazu aufgerufen, einen Präsidenten zu bestimmen. Die Wahl geriet zum Desaster: Der bisherige Präsident Laurent Gbagbo erklärte sich zum Gewinner, während die internationale Gemeinschaft den Kandidaten der Opposition Alassane Ouattara als Sieger sah. Als Gbagbo nicht abtrat, eroberte Ouattara mithilfe loyaler Militärs und UN-Streitkräften die größten Städte des Landes und schließlich auch den Präsidentenpalast. Bei den Kämpfen begingen sowohl Militärs von Ouattara als auch von Gbagbo Kriegsverbrechen. Der ehemalige Präsident wurde schließlich festgenommen. Derzeit findet in Den Haag vor dem Internationalen Strafgerichtshof der Prozess gegen ihn statt. +Nachdem der chilenische General und Putschist Augusto Pinochet 1978 ein vermutlich manipuliertes Referendum für sich entscheiden konnte, stand zehn Jahre später eine weitere Wahl an, die seine Macht legitimieren sollte. Allerdings baute das Oppositionslager mithilfe von Marketingexperten eine kreative Werbekampagne auf, die die Mehrheit der Chilenen überzeugte, gegen den General zu stimmen. Der Versuch, das Wahlergebnis im Nachhinein noch zu manipulieren, schlug fehl, weil Teile der Machtelite Pinochet und seine Pläne nicht mehr unterstützten. So gewann die Opposition, und Pinochet übergab anderthalb Jahre später die Macht an eine demokratische Regierung. +Der demokratische Präsidentschaftskandidat Al Gore bekam im Jahr 2000 USA-weit mehr Stimmen als sein republikanischer Kontrahent George W. Bush – die Wahl verlor er trotzdem. Denn in Florida erreichte Gore bei mehr als 6 Millionen abgegebenen Stimmen angeblich 537 Stimmen weniger als Bush. Der Bundesstaat ging damit komplett an Bush. Pikant war dieses Ergebnis, weil es Berichte über Benachteiligungen einzelner demokratischer Wählergruppen gab sowie über Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung. Der oberste Gerichtshof – mehrheitlich von Richtern besetzt, die zuvor von republikanischen Präsidenten nominiert worden waren – verbot nach einigen Wochen Wahlchaos eine Neuauszählung. Der Gouverneur von Florida war übrigens Bushs Bruder Jeb. +Mit dem Irakkrieg wollte George W. Bush die "Herzen und den Verstand der Menschen" im Irak gewinnen. Woran er scheiterte, das gelang Russlands Premier Wladimir Putin in Tschetschenien – zumindest, wenn man sich die Wahlergebnisse in der kaukasischen Provinz ansieht. 99,76 Prozent der Wähler stimmten dort bei den Präsidentschaftswahlen 2012 angeblich für Putin, der ein Jahrzehnt zuvor die russische Armee nach Tschetschenien geschickt hatte. Tausende starben in dem Krieg, in dem Soldaten und Rebellen auch Zivilisten folterten und ermordeten. Seither wird die Region von Putins Kumpanen Ramsan Kadyrow regiert, dessen Regime die Macht fest in der Hand hält – und offensichtlich auch die Wahlurnen. +"Der letzte Diktator Europas" wird der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko genannt. Dass er Wahlen in seinem Land manipuliert, gab er in einem Interview bereits zu: 2006 habe er bei seiner Wiederwahl nach der Auszählung 93 Prozent der Stimmen erhalten, dann aber ein niedrigeres Ergebnis angeordnet, um seinen Sieg nicht zu übermächtig erscheinen zu lassen, sagte Lukaschenko einer russischen Zeitung. So kam er am Schluss offiziell auf 82,6 Prozent. Letztlich ist das aber auch egal: Inter nationale Wahlbeobachter bewerteten den Urnengang weder als fair noch als frei. diff --git a/fluter/fuer-eine-handvoll-kryptomuenzen.txt b/fluter/fuer-eine-handvoll-kryptomuenzen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e9deece9b2a3f595de501a3c59962a698b5f00aa --- /dev/null +++ b/fluter/fuer-eine-handvoll-kryptomuenzen.txt @@ -0,0 +1 @@ +Allerdings regt sich auch Kritik: Tatsächlich sind Bitcoins aufgrund der komplexen Technologie so gut wie fälschungssicher, es besteht aber wie bei allem, was der Computer speichert, die Gefahr des Verlustes – durch Abstürze, Dateischäden oder Hacker. Zudem stellt sich die Frage, wie die Idee der Verschlüsselung und Steuer- oder Geldwäscheparagrafen zusammenpassen. Aber es gibt noch ein anderes Problem: Paradoxerweise leidet die Währung gerade we- gen des Open-Source-Gedankens an den Krankheiten des Systems, dem die Nutzer abgeschworen hatten – die Bitcoins locken Spekulanten an. So wurden Mitte Juni an einem einzigen Tag über die größte Handelsplattform Kryptomünzen im Wert von rund zwei Millionen Dollar gehandelt. So viel, wie zuvor in zweieinhalb Wochen. Kurssprünge von mehreren hundert Prozent waren keine Seltenheit. Am einen Tag war ein Bitcoin knapp 30 Dollar wert, am nächsten – ausgelöst durch Hacker-Attacken – nur noch wenige Cent. Die Geschichte, die sich schon auf den herkömmlichen Finanzmärkten zugetragen hatte, schien sich zu wiederholen. Im Herbst 2011 ist die Goldgräberstimmung denn auch merklich abgekühlt. Der Kurs einer Elektromünze hat sich bei etwa 2,50 Dollar eingependelt. Zusammen überlegen sich die Aktivisten nun, wie sie ihr Projekt am Leben erhalten. Wer so lange dabei bleibt, ist nicht auf schnelles Geld aus. Eher darauf, die Dominanz der Banken zu brechen. diff --git a/fluter/fuer-geld-machen-menschen-alles.txt b/fluter/fuer-geld-machen-menschen-alles.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..86af7faa9d8204c1dec4e4266049d1697f145227 --- /dev/null +++ b/fluter/fuer-geld-machen-menschen-alles.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +Robert Menasse: Sie meinen, ein Interview zu führen? Das kommt ganz darauf an. Ich habe schon Interviews erlebt, die Schwerstarbeit waren und bei denen ich mich am Ende nicht mehr wiedererkannt habe. Es gab aber auch sehr anregende Gespräche, bei denen ich am Ende ein glücklicher Mensch war. +Wenn es schwer ist, ist es also Arbeit? +Das scheint die logische Antwort zu sein. Man muss zwischen arbeiten und tätig sein unterscheiden. Wenn die Arbeit dazu führt, dass man sich dabei selbst erfährt und seinem Leben einen Ausdruck gibt, dann ist sie nicht entfremdet und eine vernünftige Tätigkeit. Wenn die Tätigkeit dagegen trostlos und entfremdet ist, ist es auf jeden Fall Arbeit. +Soll das heißen, dass Arbeit nicht der Selbstverwirklichung dienen oder Spaß machen kann? +Ich habe nie verstanden, warum sich Menschen so süchtig über Arbeit definieren wollen und ihr Dasein als sinnhaftes Mitglied der Gesellschaft nur über ihre Arbeit definieren. +Vielleicht, weil es in der Arbeitswelt am einfachsten ist, sich in vorgegebene Muster zu fügen und klar abgemachte Ansprüche zu erfüllen. +Aber es ist doch allzu deutlich, dass der gesamte Arbeitsmarkt von Menschen wimmelt, die entweder eine nicht sinnvolle, nicht befriedigende oder gar eine selbstzerstörerische Arbeit machen. Menschen, die ihre Arbeit mit Angst und nicht mit Befreiung verbinden: Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, Angst vor Sanktionen, Angst, die Arbeit nicht zu schaffen. Ich habe die Wollust nie verstanden, die von der Arbeit ausgehen soll. +Ihre Arbeit sieht aber ganz wollüstig aus. Den halben Tag sitzen Sie hier im Kaffeehaus und lesen Zeitungen. +Schon Walter Benjamin hat gesagt, dass der Künstler die Möglichkeit hat, seinen Müßiggang als Teil seiner Arbeit auszustellen. Und da ist was dran. Was da im Café an Weltvernetzung stattfindet im Gegensatz zu denen, die von neun bis fünf in ein und demselben Büro sitzen. Ich hingegen kann fünf internationale Zeitungen lesen, auch wenn es darüber elf wird. Anschließend treffe ich Menschen, die ebenfalls an den Weltläufen interessiert sind, und dann diskutiert man. Das ist ja alles die notwendige Unterfütterung, um sich dann wieder als Solipsist an den Schreibtisch zu setzen und sich etwas Vernünftiges abzuringen. +Wir können aber nicht alle Philosophen werden. +Es geht darum, Dinge zu tun, die man gern tut, und nicht aufzuhören dazuzulernen und nicht immer dieselben Handgriffe zu machen. Die Menschen sollen keine schlechte Maschine innerhalb einer gut geölten Maschinerie sein. Das bedeutet nicht, dass man von einem weltabgewandten Leben träumt. Denn in der Regel wird sich das, was einem Freude bereitet, mit sozialer Verantwortung und Bedeutung aufladen. +Es ist viel von der Zunahme entfremdeter Arbeit die Rede. Was bedeutet Entfremdung in Hinsicht auf Arbeit? +Der Entfremdungsbegriff ist vielschichtig. Für mich ist der Philosoph Baruch de Spinoza zentral, der zu Beginn der Aufklärung das Postulat aufstellte, nie eine Arbeit zu tun, die direkt oder vermittelt anderen Schaden zufügt. Zu Zeiten der Leibeigenschaft und Sklaverei war so eine Forderung vollkommen logisch. Es war klar, dass die Arbeit mit dem Anbruch einer neuen Zeit eine soziale Dimension erhalten muss und der Knecht seine Fertigkeiten so ausführt, dass er letztlich frei wird. Ist dieser Anspruch heute in Vergessenheit geraten? Heute haben viele Menschen im Konkurrenzkampf um die Arbeitsplätze eine fast hundertprozentige Ignoranz gegenüber diesem Anspruch. Jeder ist bereit, jede Arbeit zu machen – und sei sie noch so schädlich für andere, für die eigene Seele, für den gesellschaftlichen Zusammenhalt oder den eigenen Körper. In schöner kapitalistischer Selbstverständlichkeit sagt man in Amerika gern dazu: "It's my job." Das hat für mich einen ähnlichen Klang wie das "Ich habe nur meine Arbeit gemacht" der Vollstrecker in Diktaturen. +Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Arbeit ein Verhängnis sei. Sieht denn aber nicht die Mehrheit der Menschen die Arbeit als Mittel zum Zweck, um danach die Freiheit zu haben, sich Dinge leisten zu können, beispielsweise einen Urlaub oder ein Auto? +Das ist doch lange vorbei – der Glaube, dass man durch Arbeit die Möglichkeit erhält, in einem gewissen Luxus zu leben. Heute geht es doch bei den meisten darum, mit dem Gehalt einigermaßen die Wohnung und die Ernährung zu bezahlen. Oder das Bier in der Stammkneipe, in die man sich ohne einen Arbeitsplatz nicht mehr hineintraut. Es ist doch billiges Blendwerk, zu glauben, dass man sich durch Arbeit Wünsche erfüllen kann und sich statt mit der Freiheit mit einer Art Freizeit-Freiheit als Ersatz zu begnügen. +Was schlagen Sie vor, um die Menschen zu befreien? +Es muss strukturelle Änderungen geben. Schauen wir uns mal die Kohle-Kumpel an. Jeder weiß, dass deren Arbeit mörderisch und sinnlos ist. Sie zerstört die Gesundheit der Arbeiter, die Umwelt, den Planeten. Gleichzeitig ist sie nicht mal profitabel, sondern wird massiv staatlich gefördert. Mit anderen Worten: Die Steuerzahler fördern Arbeitsplätze, die zu Zerstörungen führen, deren Beseitigung wiederum der Steuerzahler zahlen muss. Billiger und verantwortungsvoller wäre es, all diesen Menschen mit den Subventionen ihre Gehälter weiter zu bezahlen – unter der Bedingung, dass sie nicht mehr in die Grube fahren. Das wäre wesentlich billiger, nicht nur unmittelbar, sondern vor allem langfristig hinsichtlich der Verwüstungen, die fossile Brennstoffe anrichten. Es heißt ja nicht, dass diese ehemaligen Kohle-Kumpel nicht tätig werden können. Sie könnten studieren, sich fortbilden, irgendwelche Bürgerinitiativen gründen und sich für soziale Anliegen einsetzen. +Sollte es ein Grundeinkommen für alle Menschen geben? Also auch für die, die nicht arbeiten und keine Arbeit suchen? +Das ist unvermeidlich, denn das Wunder, unendliches Wachstum bei endlichen Ressourcen zu erreichen, wird es nicht geben. Es wird immer offensichtlicher, dass aller technologischer Fortschritt, der mit dem ideologischen Getöse der Arbeitserleichterung daherkommt, letztlich zu Mehrarbeit führt, anstatt uns von der Arbeit zu befreien. Schon früh wurden Maschinen erfunden, um die Handarbeit zu ersetzen. Das hat aber schon damals weniger zur Verringerung der Arbeit geführt, sondern vor allem zur Steigerung der Produktivität. Heute versucht man, auf der Basis technologischer Innovationen und völliger Überproduktion immer wieder Tricks zu finden, um das Wachstum zu steigern. Anstatt zu sagen: Wir nutzen die Technologie, die Maschinen, Computer und Roboter, um uns die Arbeit abnehmen zu lassen und uns sinnvolleren Tätigkeiten zu widmen. Wir lernen auf den Gymnasien viel über die Schönheit der Demokratie und die Freiheit in der griechischen Antike, die aber nur auf der Basis einer Sklavenhaltergesellschaft möglich war. Heute benötigen wir keine Sklaven mehr, um dieses Ideal zu erreichen, sondern nur die Maschinen, die wir eh haben. +Mit einem Laptop kann ich mich ins Café setzen und viele Jobs erledigen. Man kann eine Produktidee realisieren, ohne eine Fabrik zu besitzen. Man kann ein Blog betreiben, ohne Verleger zu sein. Ist durch das Internet nicht ein bisschen mehr Freiheit im Arbeitsprozess erreicht worden? +Im Moment schaut es danach aus. Es gibt ja durchaus Entwicklungen und Möglichkeiten, sein Auskommen zu finden, die lange nicht denkbar waren. Andererseits ist das doch nur ein ideologischer Baldachin über einer realen Zwangssituation. Es gibt immer weniger klassische Arbeitsplätze und immer mehr Konkurrenz darum, und es gibt den enormen Druck, seine eigenen Jobs zu erfinden, ein Selbstständiger oder Kreativer zu sein. Das bedeutet aber nicht, dass das sinnvollere oder nachhaltigere Dinge sind. Der Druck bedeutet vielmehr, dass man sich auf dem Arbeitsmarkt Nischen neuer entfremdeter Arbeit sucht, in denen man kaum Unterstützung erfährt. Ein Manager eines Großkonzerns ist formal ein Angestellter und mithin im Schutz der Gewerkschaften, aber ein neuer Selbstständiger, eine Ich-AG, die von Projekt zu Projekt am Existenzminimum entlangschrammt, gilt formal als Unternehmer und ist nicht durch eine Gewerkschaft geschützt. Das ist grotesk und ein soziales Desaster. +Sie sagen, dass die Arbeit letztlich das zerstört, was sie verspricht: Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit. +Es ist schon sehr destruktiv, dass viele Menschen für Geld jederzeit bereit sind, Jobs mit verheerenden Auswirkungen auf die Umwelt und die Freiheit anderer Menschen auszuüben. Für mich sind das Mittäter an den sozialen Verwüstungen. +Die meisten benötigen das Geld zum Leben, und manche ziehen vielleicht eine Befriedigung daraus, Anerkennung für ihre Arbeit zu bekommen oder dafür, dass sie ihre Familie ernähren. +Ich bestreite ja nicht, dass man durch Lohnarbeit die Substitute von Freiheit erlangen kann. Dass man etwa im sozialen Umfeld anerkannter ist als ein Arbeitsloser. Und natürlich gibt es den Alleinverdiener, der stolz darauf ist, vom Skikurs der Kinder bis hin zur Kleidung der Frau alles zu bezahlen. Aber das ist ein ideologischer, geliehener Stolz. Denn letztlich sieht sich der Alleinverdiener von Menschen umgeben, die von ihm abhängig sind. +Ist es nicht auch ideologisch, so jemandem seine Selbstverwirklichung abzusprechen? +Ich möchte es ihm ja nicht absprechen, ich bin sogar bereit, das in manchen Fällen zu bewundern. Aber es entspricht dennoch nicht den Freiheitsmöglichkeiten, die in der heutigen Zeit gegeben sind. Man könnte jedem Menschen garantieren, sinnhaft tätig zu werden. Und beim jetzigen Stand der Produktion und der technischen Möglichkeiten das Fortkommen aller Menschen garantieren – ohne Ausbeutung und Zerstörung. Diesen Job müssen wir erledigen. +Robert Menasse, 56, lebt in Wien und studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft. Zuletzt veröffentlichte er im Suhrkamp-Verlag das Buch "Permanente Revolution der Begriffe – Vorträge zur Kritik der Abklärung". diff --git a/fluter/fukushima-unfall-atompolitik-weltweit.txt b/fluter/fukushima-unfall-atompolitik-weltweit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3de261b742b2086ee6d74584c7ea42aa17a3e5ef --- /dev/null +++ b/fluter/fukushima-unfall-atompolitik-weltweit.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Welche direkten und indirekten Folgen hatte der Reaktorunfall, und wie beeinflusste er die Debatte um Kernkraftwerke und Atomenergie weltweit? Wir haben uns die Entwicklung in fünf Ländern genauer angeschaut. + +Redaktionell empfohlener externer Inhalt vonuploads.knightlab.com.Ich bin damit einverstanden, dass externe Inhalte vonuploads.knightlab.comnachgeladen werden. Damit werden personenbezogenen Daten (mindestens die IP-Adresse) an den Drittanbieter übermittelt. Weiteres dazu finden Sie in unsererDatenschutzerklärung. Diese Einstellung wird mit einem Cookie gespeichert.Externen Inhalt einbindenDeaktivierenDieses Element enthält Daten von uploads.knightlab.com. Sie können die Einbettung wieder mit der Checkbox deaktivieren. + +Titelbild: DigitalGlobe via Getty Images / TOMAS MUNITA/NYT/Redux/laif diff --git a/fluter/funktion-humor-interview-willibald-ruch.txt b/fluter/funktion-humor-interview-willibald-ruch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..df415295d37b3b95e13ac0957cef52991a2f1f8a --- /dev/null +++ b/fluter/funktion-humor-interview-willibald-ruch.txt @@ -0,0 +1,32 @@ +Donald Trump und Boris Johnson waren mit ihren Schenkelklopfern und Chauvisprüchen aber auch erfolgreich. +Bei manchen Menschen. Humor ist ein Mittel, um zu verführen. Boris Johnson zum Beispiel ist sehr gut darin, an der richtigen Stelle einen Scherz zu machen und damit zu verwirren – und plötzlich hat man etwas zugestimmt, das man mit etwas mehr Nachdenken vielleicht abgelehnt hätte. Wenn man Leute zum Lachen bringt, sind sie nicht mehr so aufmerksam und kaufen einem Sachen leichter ab. Gute Demagogen wissen das zu nutzen. +Machen Menschen, die politisch links stehen, andere Witze als Menschen, die sich politisch rechts einordnen? +Dazu habe ich zehn Jahre lang geforscht und kann eindeutig sagen: ja. Ich habe es zwar nicht an politisch rechts oder links festgemacht, sondern an psychologischen Merkmalen wie Konservativismus, Toleranz von Ambiguität, Lust an neuen Reizen beziehungsweise Verschlossenheit versus und Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen. Aber da gibt es Parallelen. Bin ich ein Mensch, der Veränderungen möchte oder das Stabile schätzt? Das ist die wichtigste Dimension, die bestimmt, welche Art von Witzen man mag. +Und worüber lachen Konservative? +Eine Theorie besagt, dass "psychologisch Konservative" Reize vermeiden, die neu und komplex sind, und Redundanz, also das Vertraute und Einfache, bevorzugen. Diese Personen mögen Witze, die nach einer einfachen Schablone funktionieren. Wir nennen sie Inkongruenz-Lösungs-Witze(Anm. d. Red.: Inkongruenz bedeutet Unstimmigkeit), weil es immer eine Auflösung gibt. +Eine Schwiegermutter macht etwas, weil sie böse ist … +… eine Blondine, weil sie dumm ist. Ein Schotte, weil er geizig ist. Menschen, die diese Witze mögen,das haben wir in einer Studie untersucht, plädieren als Laienrichter für mehr und auch für höhere Strafen. Sie zeigen häufiger eine Law-and-Order-Mentalität: Wenn jemand etwas anstellt, dann muss das sanktioniert werden. Dinge dürfen schwarz oder weiß sein, aber bitte nicht grau. Menschen, die über stereotype Witze lachen, mögen übrigens oft auch gerne leicht verständliche Kunst, Gegenständliches mit wenig Elementen, Popmusik … +…Hollywoodfilme nach Schema F? +Genau. Das zieht sich durch die ganze Ästhetik. Ich kann mich noch an den ersten "Tatort" erinnern, bei dem am Ende der Gangster davongekommen ist. Da gab es massenweise Leserbriefe, weil ein Teil der Zuschauer unbedingt wollte, dass am Ende alles harmonisch ist. Die Bösen müssen bestraft werden und die Guten heiraten. Das ist ein Schema, das für die einen ein Bedürfnis ist und die anderen langweilt. +Worüber lachen "die anderen"? +Wer offen ist gegenüber neuen Erfahrungen, mag eher Witze, die grotesk sind – Gary Larson, Monty Python, so etwas. Gags, bei denen Dinge passieren, die so verrückt sind, dass sie nicht in das eigene Weltbild passen. +Laut Humorforschung finden wir Witze erst interessant, wenn das Thema für uns eine besondere persönliche Bedeutung hat. Macht deshalb kaum wer Witze über die EU? +Moment, es gibt keine Witze über die EU? +Also ich kenne viele Witze – aber keine über die EU. +Das ist sehr interessant! Normalerweise ist es so: Wenn etwas völlig belanglos ist, dann macht man keine Witze darüber. Und wenn etwas zu ernst ist, auch nicht. Wir lachen über Dinge, die unstimmig sind. Aus der Perspektive eines Mitgliedstaats heraus könnte man eigentlich gut die Bürokratie der EU aufs Korn nehmen. Keine Ahnung, warum man es nicht macht. Vielleicht fehlt es den Bürgern an Anknüpfungspunkten oder Betroffenheit. +Apropos Betroffenheit: Wenn etwas Schlimmes passiert, reagieren manche Menschen augenblicklich mit Humor. Nach demTerroranschlagin Wien zum Beispiel ist gleich eine skurrile Anekdote durchs Netz gefegt. Ein Augenzeuge hat dem Attentäter hinterhergeschrien: "Schleich di, du Oaschloch!" Warum ging das so steil? +Ja, das habe ich auch gesehen. Am Anfang fand ich es merkwürdig, aber im Grunde ist es eine gesunde Haltung. Humor hat ja verschiedene Funktionen, zum einen reguliert er Beziehungen: Teilen wir etwas miteinander oder sind uns sogar ähnlich? Zum anderen reguliert er die Emotionen: Ich kann positive fördern und schmerzhafte lindern. Wenn eine Emotion in mir steckt, blockiert das ein effektives Problemlösen. Lache ich, ist mein System kurzfristig entspannt und hat Ressourcen frei, um damit umzugehen. Wer mit unendlich großem Leid zu tun hat, tendiert dazu, über diese Dinge zu lachen. Nicht aus Pietätlosigkeit, sondern um zu überleben. +Die Häufigkeit von Humor steigt also, je schlechter Situationen sind. Sehen Sie das auch jetzt während derPandemie? +Ja. Die vielen Witze darüber haben eine wichtige Funktion, sie vermitteln: Wir sind nicht allein. Es gibt da Leute, die sehen das ähnlich. Man denke an Memes über das Horten von Klopapier. Es ist ein Korrigieren, ein Lachen über Leute, die sich falsch verhalten. Satire hat die Funktion, etwas, das nicht passt, anzusprechen. +Die klassische Latenightshow. +Ja, Late-Night-Shows haben ganz klar eine Hofnarrenfunktion. Hofnarren durften dem Herrscher Dinge sagen, für die andere geköpft worden wären. Sie hatten die Erlaubnis, Sachen auszusprechen und damit eine Menge Wahrheit zu transportieren. Nach dem Motto: Ich könnte revoltieren, einen Aufstand machen, oder ich kann das Schlechte mit Humor aufzeigen. +Wird die Pandemie zur spaßbefreiten Zone? Zumindest kann Humor in Sachen Corona nicht das vorrangige Mittel sein, sagt Willibald Ruch +Aber besteht das nicht auch die Gefahr, etwas wegzulachen, ohne die tatsächliche Situation zu verändern? +Eine spannende Frage, die ein leider inzwischen verstorbener Kollege von mir untersucht hat, Christie Davies. Manche Wissenschaftler sind der Meinung, dass Humor in der Geschichte immer Teil des Widerstands war und Leute zu Fall gebracht hat. Davies war da anderer Meinung. Er hat Archive von Diktaturen angeschaut und bemerkt, dass die Herrschenden, über die Witze gemacht wurden, stolz darauf waren. Sie haben die Witze regelrecht gesammelt! Davies kam zu dem Schluss, dass man mit Humor kein Regime stürzen kann. +Na ja, vielleicht nicht gleich stürzen, aber dazu beitragen? +Klar beantworten lässt sich das natürlich nicht. Humor hat schon etwas Subversives. Passiert während der flammenden Rede eines Demagogen etwas, das die Zusehenden zum Lachen bringt, dann kann es ihn schon ein Stück weit entzaubern. Außerdem erlaubt Humor, Einstellungen zu kommunizieren und sich dabei gleichzeitig die Option zu lassen, sie zurückzuziehen. So von wegen: War ja nicht ernst gemeint! Fragt ein Widerstandskämpfer einen anderen Menschen direkt "Bist du auch gegen unseren Diktator?", kann das gefährlich werden. +Hat die lindernde Funktion von Humor eigentlich einen Abnutzungseffekt? Am Anfang der Pandemie war das Internet gefühlt so lustig wie nie, langsam scheint den Memes aber irgendwie der Witz auszugehen. +Ich kenne keine Daten mit wissenschaftlichem Anspruch dazu. Aber es gibt eine Gewöhnung an fast alle Dinge. Wenn sich der Gegenstand selber nicht ändert, ist es schwierig, noch neue Seiten zu finden. Anders gesagt: Irgendwann gehen die Pointen aus. Humor kann eine Situation erträglicher machen, aber in Sachen Covid ist er nicht die eigentliche Lösung. Die Pandemie muss man anders überstehen und bearbeiten. Allerdings ist die Frage: Was ist die Alternative? Man muss schauen, ob das, was im Rahmen des Möglichen ist, nicht sowieso schon getan wurde und ob es dann nicht besser ist, über den Rest zu lachen. Zu lachen, anstelle zu handeln, ist sicher schlecht. Aber nicht zu lachen und sich das Leben zu nehmen ist auch nicht gut. + +Willibald Ruch ist Professor für Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik an der Universität Zürich. Ruch forscht seit über 40 Jahren zu Humor, war zweimal Präsident der International Society for Humor Studies (ISHS) und hat – kein Scherz – mindestens 200 wissenschaftliche Arbeiten zum Thema veröffentlicht. + diff --git a/fluter/furrys-fandom.txt b/fluter/furrys-fandom.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..db7c267e8afe363cc61a16bd8f17844b9797eb09 --- /dev/null +++ b/fluter/furrys-fandom.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Eine Stunde später: Um mich herum steht ein Dutzend junger Männer. Spotter sagt man offiziell, Tierpfleger nennen sie sich im Spaß. Sie haben uns fünf Wildtiere während des Streifzugs durch den Rosengarten begleitet. Haben uns durch Sangria-Strohhalme Apfelsaftschorle eingeflößt, damit wir in der Skianzughitze unter den Fellkostümen nicht umkippen, und uns um Hindernisse wie Sträucher oder Parkbesucher herumgelotst, die wir mit unserem eingeschränkten Sichtfeld nicht direkt wahrgenommen haben. Unmittelbar neben mir stehen Khaleta, Kairan, Fuchsi und Luke. Als Menschen haben sie andere Namen. Als Menschen sind sie Programmierer, Elektriker, Landwirt, angehender Förster. Heute sind sie: Wolf, Otter, Hund, Fuchs. Sie halten ihre Köpfe unter dem Arm. Manche werden sie gleich in großen silbernen Boxen verstauen, wie Rockmusiker ihre Gitarren nach einem Konzert. + +Sie alle sind Furrys (was man auf Deutsch vielleicht mit "Pelzis" übersetzen kann). Zu manchen Stunden, an manchen Tagen schlüpfen die vier in ihre Tier-Alter-Egos; meistens im Internet und in selbst gezeichneten Comics, seltener im Real Life. Fursonas sagen sie dazu (in Anlehnung an Persona). Sie werden dann neue Ichs. Bessere Ichs. Vieles ist besser, wenn man ein sprechendes Tier auf zwei Beinen sei, sagen sie. Wenn man ein Fell hat, an das man sich schmiegen kann. Und Zähne, die einen beschützen. "Was gibt es Faszinierenderes, als eine Parallelwelt zu schaffen, in der Tierwesen und Menschen in einer Gesellschaft zusammenleben?", fragt Khaleta, der Wolf, Vorstandder Münchner Furs. +Faszination für alles tierisch Anthropomorphe – das heißt: die Vermenschlichung von Tieren – gibt es schon recht lange, zum Beispiel im alten Ägypten. Den Anfang der Geschichte der Furrys datiert man heute auf den Beginn der 1980er-Jahre in den USA. Auf Comic- und Sci-Fi-Conventions fanden sich Leute zusammen, die ein besonderes Interesse an menschlichen Tierkörpern hatten. An Mickymäusen, Donald Ducks und Figuren aus anderen Disney-Filmen. Sie zeichneten Comics. Entwarfen Avatare. Und irgendwann fragten sich manche: Warum werden wir die Charaktere nicht selbst? Sie fingen an, Kostüme zu basteln, die oft Tausende Euros kosten. Und so entstand ein Fandom, eine Subkultur mit Zehntausenden Anhängern weltweit. +Nach unserem Umzug durch den Westpark sitzen wir an einem langen Holztisch in einem Burgerladen. Die Köpfe sind verstaut. Die jungen Männer um mich sind andersals die jungen Männer, mit denen ich aufwuchs. Die droschen sich zur Begrüßung so fest auf den Rücken, dass einem schwindelig wurde, und prahlten damit, wie viele Liter Bier sie in sich hineinkippen konnten. Diese jungen Männer hier wirken schüchtern. Sie reden leise, wenn sie sprechen. Sie lassen einander ausreden. Sie zeigen sich ihre selbst entworfenen Tierfiguren auf den Smartphones, kichern dabei. Legen den Kopf auf die Schulter des Nebenmannes. "Wir müssen da keinen Hehl draus machen", sagt Khaleta, während er mir den Entwurf seines Avatars, eines rostrot-grauen Löwen zeigt. "Das Fandom ist weird. Und es ist nicht verwunderlich, dass viele von uns erst in einer so offenen, toleranten Community wie den Furrys Anschluss gefunden haben." +Aber wo sind die Frauen? "Ich glaube, Frauen suchen das nicht so, vielleicht weil sie anders sozialisiert sind." Noch immer gebe es Rollenbilder in dieser Gesellschaft, die besagten, wie ein Mann zu sein habe: männlich, starkund ohne Emotionen. Und vielen falle es leichter, daraus auszubrechen, wenn sie ein Fuchs sind oder ein Paradiesvogel oder ein plüschiger Drache. Das Verspielte, der Körperkontakt. Jemanden umarmen, ohne verurteilt zu werden. "Viele haben hier zum ersten Mal so was wie Gemeinschaft gefunden", sagt Khaleta. +Da ist Fuchsi, der Hund, 25. Er ist Landwirt, kommt aus dem tiefsten Oberbayern. Eigentlich ist er die ganze Woche damit beschäftigt, sich um seine Schafe, Schweine, Kühe zu kümmern. "Da ist keine Zeit für Abschalten oder für Spielen. Wenn ich den Fursuit überziehe, dann fällt das alles von mir ab", sagt Fuchsi, und: "Ich war schon in der Schulzeit großer Fan von Werwölfen und habe mir vorgestellt, wie es wäre, selbst einer zu sein." +Da ist Ren, 21, ein Sci-Fi-Drache, der darauf spart, sich einen Fursuit zu basteln, der viele Tausend Euro kosten soll. Er sagt: "Für mich ist Furrysein persönliche Entfaltung. Ichhabe viel Mobbing erfahren. Und ich hatte immer das Gefühl: Du bist nicht genug! Ich habe vorher nie gedacht, dass ich überhaupt wer bin und überhaupt irgendwie auftreten kann – sondern nur, dass ich eigentlich gar nicht existieren sollte. Seit ich Furry bin, mache ich mir zum ersten Mal Gedanken darüber, wer ich sein will und wie." +Und dann ist da noch Kairan, der Otter, 42, das älteste Tier. Kairan kommt aus einer Zeit, in der die Furrys noch über Chatforen und ICQ und nicht über Telegram kommunizierten. Er arbeitet als Elektrotechniker, hat leicht ausrasierte graue Schläfen, einen bayerischen Akzent und mag Züge. Kairan war ein Kind, das nicht viele Freunde hatte, aber viel Fantasie. Das fünfmal im Kino den Film "König der Löwen" sah und sich vorstellte, wie es wäre, selbst mit all den Tieren sprechen zu können. Und dann entdeckte Kairan im Internet, dass es in den USA ein Furry Fandom gab, und sogar Messen in Europa. Und weil Kairan den Film "Tarka, der Otter" so gern mochte, entschied er sich 2003, ein Otter zu werden. "Der Eurasische Otter hat viel von dem, was ich habe. Eher etwas einzelgängerisch, ein bisschen moppelig, verspielt und nicht ganz so grazil wie die anderen Tiere". +Und Spaß macht ihm auch, dass er als Kairan kein eindeutig zuordenbares Geschlecht hat. Kairan, der Otter, kann sich je nach Stimmung überlegen, ob er weiblich oder männlich auftritt. "Ich weiß nicht, ob das ein Zufall ist", sagt Kairan. "Aber einige Otter, die ich kenne, wechseln ihr Geschlecht." Und so ist Kairan, der Otter, auch ein Weg, sich auszuprobieren. +Kairan ist damit nicht allein. Laut einer Studie ordnen sich 80 Prozent der Furrys in den USA dem LGBTQ+-Spektrum zu. Mehr als zwölf Prozent geben an, trans zu sein (gegenüber etwa 0,6 Prozent in der Gesamtgesellschaft). Viele Transfurrys berichten, dass sie sich in ihrer Tiergestalt im anderen Geschlecht ausprobieren konnten, bevor sie das als Mensch taten. +Kairan bezeichnet sich nicht als trans. Aber neulich hat er mal ausprobiert, wie es ist, mit Nagellack zur Arbeit zu gehen. "Und die Damen am Empfang haben gleich gesagt, dass ein paar Töne heller mir auch gut stehen würden ... Ich bin da erst ganz am Anfang meiner Entwicklung." Im letzten Jahr hat Kairan einen ersten Schritt gemacht und sich als Furry geoutet. Lange Zeit war da die Angst, dass die Kollegen urteilen oder Kairan und Furry im Internet eingeben und Kairan für einen Verrückten halten oder ihn feuern könnten. "Aber als der eine Kollege offen erzählt hat, dass er in der Münchner SM-Szene unterwegs ist, und ein anderer, dass er gern Latex mag, da wollte ich mich nicht länger verstecken." +Dieser Text ist imfluter Nr. 87 "Spiele"erschienen +Als ich nach meinem Fuchs-Tag am Abend im Zug sitze, kommt mir eine Szene aus Wes Andersons Spielfilm "Fantastischem Mr. Fox" in den Sinn: Ganz am Ende sitzen Mr. Fox und drei seiner Freunde auf einem Motorrad, am Horizont entdecken sie den Umriss eines geisterhaften schwarzen Wolfs. "Woher kommst du? Was machst du hier?", ruft Mr. Fox. Der Wolf bleibt stumm. Schließlich hebt Mr. Fox die Pfote, ballt sie zur Faust. Der Wolf hebt die seine und ballt sie auch. "Was für ein wunderschönes Wesen", raunt Mr. Fox. Dann verschwindet der Wolf am Horizont. +Und vielleicht, denke ich mir, ist es genau das, was das Furry Fandom ausmacht: Hier findest du mit Sicherheit jemanden, der dich irgendwie versteht. diff --git a/fluter/futur-drei-film-interview-mit-faraz-shariat.txt b/fluter/futur-drei-film-interview-mit-faraz-shariat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3debf68ced8500545b13c583ca16a174de900b25 --- /dev/null +++ b/fluter/futur-drei-film-interview-mit-faraz-shariat.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +fluter.de: Die Geschichte von "Futur Drei" hat einen persönlichen Hintergrund. Auf welchen realen Erlebnissen beruht der Film? +Faraz Shariat: Im Sommer 2015 ist mir das Gleiche wie dem Protagonisten passiert: Ich wurde beim Klauen erwischt und musste Sozialstunden ableisten in einer Unterkunft für unbegleitete minderjährige Geflüchtete. Die Geschichte meiner Eltern, die 1979 aus dem Iran geflohen sind, und meine Position als zweite Generation in Deutschland waren mir da schon bewusst. Trotzdem hat es mich verändert, als ich plötzlich vor Leuten stand, die in einem hegemonialen deutschen Blick ähnlich aussehen wie ich, aber de facto in einer ganz anderen Situation sind. Einige dieser Erfahrungen haben wir dann für den Film fiktionalisiert. +Die Eltern von Parvis werden von deinen tatsächlichen Eltern gespielt. +Meine Eltern haben schon in einigen meiner Kurzfilme mitgespielt. Mittlerweile habe ich mich ein bisschen verliebt in das Spiel meiner Mutter. Sie ist vor der Kamera einfach genauso wie sonst. +Die Szenen mit der Mutter zeigen einen Konflikt zwischen erster und zweiter Generation in einer eingewanderten Familie. Ist das für dich ein repräsentativer Konflikt? +Ich glaube, dass die zweite Generation manchmal das Gefühl hat, Verantwortung für das Leben der Eltern zu tragen. Wir sollen die bestmögliche Version von uns selbst sein, damit sich die Mühen der ersten Generation gelohnt haben. Darüber spricht Parvis im Film, wenn er zu seiner Schwester sagt, dass er nur eine Erinnerung an den Schmerz seiner Eltern sei. Dieses Schuldgefühl prägt das Leben von vielen Menschen, die in zweiter Generation in Deutschland aufwachsen. Es ist aber ein innerer Konflikt, kein Generationskonflikt. +Parvis freundet sich im Film mit zwei geflüchteten Geschwistern an: Amon hat als schwuler Mann eine Bleibeperspektive, seiner Schwester Banafshe droht die Abschiebung. Kann man diese Figuren als intersektionales Trio verstehen? +Intersektionale Ansätze, also die Faktoren race, class und gender zusammenzudenken, haben uns definitiv beeinflusst. Bewusst haben wir die Figuren aber nicht so angelegt."Futur Drei" soll vor allem Empowerment sein.Der geflüchtete Körper wird oft stigmatisiert, medial und in Filmerzählungen. Uns war wichtig, dass der Film die katastrophalen Umstände der Figuren reflektiert, ihnen aber zugleich auch Momente der Schönheit und Hoffnung schenkt. + +"Futur Drei" spielt in Hildesheim, ein ungewöhnlicher Schauplatz für einen queeren Film aus Deutschland. Man sieht von der Stadt vor allem Reihenhäuser, Supermarkt-Parkplätze, Ü30-Partys … +Genau. Hildesheim ist eine ziemlich durchschnittliche Stadt, und so wollten wir sie auch darstellen. Wir zeigen aber, dass sich junge Menschen heute übers Internet auch in der Provinz ihre eigene Welt einrichten können. Nur wenn Parvis zu seinem Online-Date geht, fährt er halt in die Großstadt, nach Hannover. +Faraz Shariat, 26, hat Szenische Künste an der Universität Hildesheim studiert. Sein Spielfilmdebüt "Futur Drei" feierte auf der Berlinale Premiere +Welche Rolle spielt die Musik für den Film? +Es gibt im Film einen musikalischen Dialog zwischen drei Ebenen: die iranische Musik steht für die Eltern, dann die Songs von Säye Skye, und Parvis ist 100 Prozent Pop. Wenn wir die Lizenzrechte hätten bezahlen können, wären sicher Songs von Rihanna, Coldplay oder Frank Ocean im Film gelandet. Jetzt sind Nena und der Titelsong von "Sailor Moon" drin, auch gut. Besonders "Sailor Moon" war mir wichtig, weil er das Ende des Films gewissermaßen umdeutet und ihm ein positives, fast utopisches Gefühl verleiht. +Hinter dem Film steht das Kollektiv "Jünglinge", das du mit Paulina Lorenz und Raquel Molt in Hildesheim gegründet hast. Ihr beschreibt euch mit dem Slogan: "We create Juice". Was hat es damit auf sich? +Das ist Slang aus dem Englischen, wir benutzen das Wort, wenn wir etwas fresh oder geschmackvoll finden. Wir haben unser Kollektiv gegründet, als wir 19 oder 20 waren. Einerseits haben wir eine politische Agenda, die antirassistisch, feministisch und queer ist; andererseits wollen wir aber auch juicy sein. Wenn man Spielfilme mit einer Haltung macht, sollten sie gleichzeitig auch cool und unterhaltsam sein. +"Juice" steht hier also für die Ästhetik des Films? Für die genau komponierten Bilder, die bunte Farbgebung, die Popsongs … +Ja, aber ein guter Saft schmeckt nicht nur, sondern besteht auch aus gesunden Zutaten. Ehrlich gesagt, ein bisschen klingt das nach Werbeagentur … Aber das ist okay. Pop war wichtig für den Film. Gute Popsongs haben die Qualität, Menschen mit unterschiedlichen Identitäten und Lebenserfahrungen zu verbinden. Das ist genau das Gefühl, das wir mit dem Film herstellen wollten. + +Titelbild: Edition Salzgeber / Jünglinge Film diff --git a/fluter/g20-gegner-erklaert-gruende-fuer-seine-kritik.txt b/fluter/g20-gegner-erklaert-gruende-fuer-seine-kritik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a147f40b37d8d97499990f1b63b84b2c447aa724 --- /dev/null +++ b/fluter/g20-gegner-erklaert-gruende-fuer-seine-kritik.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +"Ich bin nicht einfach für oder gegen G20" +Kritik ist okay, Haltung ist besser - findet Stefanie, 31, die nicht einfach für oder gegen G20 sein will -->Zum Artikel +Der G20-Gipfel wird in letzter Zeit immer wie ein Showdown zwischen Gut und Böse dargestellt, bei dem die autoritären Kräfte auf die liberalen stoßen. Donald Trump, Recep Tayyip Erdoğan oder Wladimir Putin auf der einen Seite – Angela Merkel, Emmanuel Macron oder Justin Trudeau auf der anderen. Aber diese Gegenüberstellung verkürzt das Problem. Die Politik, für die die G20 stehen, hat die autoritären Monster mit hervorgebracht. Der Rechtsruck in vielen Ländern hat schließlich etwas mit der sozialen Situation zu tun. Damit, dass der weltweite Wettbewerb zunimmt und sich die Lage vieler Menschen verschlechtert hat. +Unsere Kritik richtet sich daher nicht nur gegen einzelne autoritäre Staatschefs auf dem Gipfel, sondern gegen den Gipfel selbst. Dieser Gipfel trägt zur Verwaltung eines Wirtschaftssystems bei, das zulasten von Mensch und Natur geht. Hier trifft sich ein Club alter Männer, die Dinge aushandeln, die der Wirtschaft nutzen, aber an den Interessen der meisten Menschen vorbeigehen. Vor allem an den Interessen der jungen Menschen. +Was gerade in der Welt los ist, nimmt krasse Züge an. Im vergangenen Jahr war ich zu einem Austausch in Südamerika, wo ich mich mit anderen Gewerkschaftsjugendlichen getroffen habe. Die Jugendarbeitslosigkeit ist nicht nur in Griechenland oder Spanien hoch, sondern auch dort. Kürzlich gab es in Brasilien einen Generalstreik gegen die Sparpolitik und die Arbeitsmarktreformen der Regierung. Kurz vor dem G20-Gipfel sind die Jugendlichen zum Gegenbesuch in Deutschland. Ich werde ihnen bei der Gelegenheit unsere Protestaktionen vorstellen. Es macht ihnen Mut, dass auch hier in Hamburg Menschen gegen eine neoliberale Politik auf die Straße gehen. +Bastelworkshop beim Aktionstag: Die Transparente für die Großdemo entstehen ja nicht von allein +Ich rechne damit, dass die Versammlungsrechte während des Gipfels massiv eingeschränkt werden. Die Behörden lehnen es zum Beispiel ab, dass die Abschlusskundgebung auf dem Heiligengeistfeld stattfindet – mit sehr fadenscheinigen Argumenten, wie ich finde. Für mich setzen die Behörden auch auf einen Konfrontationskurs, wenn sie Protestcamps in den Parks verbieten wollen. Es werden viele Menschen nach Hamburg kommen, die können unmöglich alle in Wohnungen oder Hotels unterkommen. Ich sehe daher keine Alternative zu den Zeltcamps. Im Zweifel werden die Leute einfach wild campen. +Wenn ich träumen dürfte, liefe der Gipfel so ab: Die Stadt ist voller Gegendemonstranten, sodass die Staats- und Regierungschefs zusammenpacken und auf ihre Konferenz verzichten. Weltweit wird stattdessen über den Alternativgipfel berichtet, auf dem NGOs und soziale Bewegungen sich Gedanken machen, wie man Armut und Ungleichheit weltweit bekämpfen kann. + + diff --git a/fluter/g20-gipfel-aus-sicht-der-beteiligten.txt b/fluter/g20-gipfel-aus-sicht-der-beteiligten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8c1cae158bc2ba7a18102183eee7ef34adeebc9c --- /dev/null +++ b/fluter/g20-gipfel-aus-sicht-der-beteiligten.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +"Die G20 sind Teil der Lösung und nicht Teil des Problems" +Vor dem Gipfel erzählte uns Reinhard Hönighaus, wie er sich auf die Konferenz vorbereitet --> seine To-do-Liste gibt'shier nachzulesen +Bei G7-Gipfeln können die Staats- und Regierungschefs ihre Themen richtig ausdiskutieren. Bei einem G20-Gipfel mit 36 Delegationen sowie Chefs internationaler Organisationen geht es formalisierter zu. Das Plenum ist dann eher ein Austausch von Positionen. Die Kanzlerin hat das Wort erteilt, die Teilnehmer aufgerufen, das Gesagte manchmal auch kommentiert. +Manche Staats- und Regierungschefs haben vorgefertigte Statements abgelesen, während andere frei gesprochen und leidenschaftlich ihre Position dargelegt haben. Manchmal wurde auch gescherzt und gelacht. Über die Details darf ich nichts sagen – aber an vielen kleinen zwischenmenschlichen Begebenheiten merkt man, wie wichtig es ist, dass sich die mächtigsten Politiker dieser Welt persönlich treffen und in die Augen schauen. +Richtig zur Sache geht es in den vielen bilateralen Treffen in den Sitzungspausen. Präsident Juncker hatte einige davon, zum Beispiel ein Vieraugengespräch mit Russlands Präsident Putin. +Drinnen beim Gipfel bekommt man über die Medien mit, was in der Stadt los ist. Abends sind viele Delegierte in der Stadt unterwegs, um essen zu gehen. Am Donnerstagabend war ich mit Kollegen nahe den Landungsbrücken unterwegs. Dabei sind wir direkt an der "Welcome to hell"-Demo vorbeigekommen. Dass viele Restaurants über die Gipfeltage geschlossen hatten, hat uns da nicht mehr groß verwundert. +Am Freitag nach den Verhandlungen sind wir durchs Schanzenviertel zurück zum Hotel gefahren, im Schritttempo, weil die Straße voller Menschen war. Ein paar "erlebnisorientierte Jugendliche", wie die Polizei sie nennt, haben gegen unser Auto getreten. Die Fahrzeuge der Delegationen waren ja leicht zu erkennen: Vans mit Diplomatenkennzeichen, in denen Männer mit Schlips und Frauen im Hosenanzug saßen. Polizeikolonnen gab es nur für die Wegstrecken der Staats- und Regierungschefs selbst. +Dennoch habe ich mich sicher gefühlt. Wir sind durch viele Polizeikontrollen gekommen und haben oft mit den Polizisten geredet. Die hatten wirklich harte Bedingungen mit gefährlichen Einsätzen, kurzen Ruhezeiten und schlichter Verpflegung. +In der Nacht zum Samstag haben die Sherpas, die Unterhändler der Staaten und Organisationen, die Schlusserklärung weitgehend ausverhandelt. Nur eine Frage zum Klimaschutz blieb offen. +Die Ausschreitungen in der Nacht waren am nächsten Morgen ein Gesprächsthema in den Fluren, hatten aber keinen Einfluss auf die Gipfelergebnisse. Das waren für mich keine G20-Gegner, sondern einfach Randalierer, die sich an Gewalt und Krawall berauschen. +Der legitime friedliche Protest ist dagegen etwas, was die Verhandler beflügeln kann. Ich glaube, dass es Jean-Claude Juncker durchaus motiviert hat, dass zum Beispiel viele Menschen für den Klimaschutz und gegen den Kinderhunger in Afrika demonstriert haben. Es wird drinnen wahrgenommen, welche Themen draußen auf die Straße getragen werden. +Das Gipfelergebnis ist aus meiner Sicht mehr als ein Minimalkonsens und durchaus ein Erfolg. Trotz des Ausstiegs der USA aus dem Weltklimavertrag und strittiger Handelsfragen gab es eine Erklärung, die alle unterschrieben haben. Das ist keine Kleinigkeit. Es zeigt: Die G20 sind nicht das Forum, auf dem einzelne Staaten ihre eigene Agenda durchdrücken. Wir brauchen Formen der internationalen Zusammenarbeit wie die G20, wo mächtige Männer und Frauen den Konsens suchen. + diff --git a/fluter/g20-gipfel-hamburg-einblick-in-die-vorbereitungen.txt b/fluter/g20-gipfel-hamburg-einblick-in-die-vorbereitungen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..004264250249ce8ba1538080d3d55f79a95126a3 --- /dev/null +++ b/fluter/g20-gipfel-hamburg-einblick-in-die-vorbereitungen.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Vertreter aller 36 Delegationen werden vorab von den deutschen Gastgebern zu Ortsbegehungen eingeladen. Nicht alle gleichzeitig, sondern nacheinander in kleinen Gruppen. +Erklärt: der G20-Gipfel +Die Staats- und Regierungschefs von 20 Ländern treffen sich in Hamburg – das ist G20. Warum, wieso, weshalb?--> Hier gibt es das Wichtigste in Kürze +Im Frühjahr war ich zu einem ersten Besuch in Hamburg, damals waren die Messehallen leer, der Umbau hatte noch nicht begonnen. Beim zweiten Besuch im Juni waren die Zwischenwände für die Delegiertenräume eingezogen. Juncker und Tusk werden beim Gipfel nicht nur in der großen Runde der Staats- und Regierungschefs mitreden, sondern auch bilaterale Gespräche führen. Es wichtig zu wissen, wo wann welche Gespräche stattfinden – und wie man vor dort zum nächsten Termin kommt oder ins Medienzentrum, wo ich mit meinen Brüsseler Kollegen die Journalisten informieren werde. +Für mich ist es der erste G20-Gipfel. Vor zwei Jahren habe ich bereits den G7-Gipfel auf Schloss Elmau begleitet, das Treffen der sieben wichtigsten Industrieländer. Es war natürlich spannend für mich, die Staats- und Regierungschefs aus nächster Nähe zu erleben. Zu viel Schlaf kommt man nicht, das Adrenalin trägt einen durch diese 36 Stunden. +Im Vergleich zur G20 heute war der G7-Gipfel damals eine harmonische Veranstaltung: Der Kreis war kleiner und homogener, die Schnittmenge der Interessen größer, man kam leichter zu einem Ergebnis. Deswegen wird es sehr spannend, wie offen bei den G20 Kontroversen zum Beispiel mit den Präsidenten Trump, Putin und Erdogan zutage treten werden. +Viele Punkte klären die Unterhändler schon vor dem eigentlichen Treffen, sodass sich die Staats- und Regierungschefs auf die großen Themen konzentrieren können. Aus Elmau weiß ich: Unter den G7 wird sehr offen über echte Zukunftsfragen diskutiert. Diese Zeit für das persönliche Gespräch der wichtigsten Staats- und Regierungschefs der Welt erscheint mir enorm wichtig und auch für die G20 kaum zu unterschätzen. Das rechtfertigt den Aufwand, der mit einem solchen Ereignis verbunden ist. +Es gibt drei offene Fragen, die der EU besonders wichtig sind: Können sich alle G20 zu einem klaren Bekenntnis zum Klimaschutz durchringen? Bleiben die G20 zusammen bei der Regulierung der Finanzmärkte? Und: Stehen die G20 weiter zu einem regelbasierten, offenen Handel oder werden einige der Versuchung nachgeben, ihre Märkte abzuschotten? Durch das Abkommen mit Japan will die EU ein klares Signal für Offenheit geben. +Die G20 dienen als Projektionsfläche für alle Formen der Globalisierungs- und Kapitalismuskritik – so wie ja oft auch die EU. Nicht jede Kritik halte ich für berechtigt. Es gibt Verlierer des weltweiten Handels, für die kann und muss die Politik mehr tun. Aber die Globalisierung hat hunderte Millionen Menschen aus der Armut gehoben. In Europa bringt uns jede Milliarde Euro mehr Handel mit der Welt etwa 14.000 neue Jobs. Daher hoffe ich, dass vom Gipfel ein Signal gegen Protektionismus ausgeht. +Nach der Finanzkrise 2008 haben die G20 gemeinsam das Finanzsystem stabilisiert und der Weltwirtschaft wieder auf die Beine geholfen. Das ist keine Kleinigkeit und hat – mal pathetisch ausgedrückt – für das Leben von Milliarden Menschen Schlimmeres verhindert. Globale Herausforderungen müssen die wichtigsten Staaten gemeinsam angehen, nicht gegeneinander, das sieht man auch im Kampf gegen den Klimawandel. Für mich ist klar: Die globale Zusammenarbeit wie unter den G20 ist Teil der Lösung – und nicht Teil des Problems. + diff --git a/fluter/g20-gipfel-in-Hamburg.txt b/fluter/g20-gipfel-in-Hamburg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7253db554e4452012ceb98043eb532350d590375 --- /dev/null +++ b/fluter/g20-gipfel-in-Hamburg.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Die G20 wurden 1999 als ein Forum für Finanzminister und Notenbankchefs aus den führenden Industrie- und Schwellenländern gegründet – als Reaktion auf die sogenannte Asienkrise. Damals brach aufgrund einer Kreditblase die Wirtschaft in Ländern wie Indonesien und Thailand zusammen. Das Ziel der G20 ist, Entwicklungen im globalen Finanzsystem zu beobachten und solchen Krisen besser zu begegnen oder sie gar zu verhindern. Deshalb nehmen an den Treffen zum Beispiel auch die Chefs des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank teil, aber auch Vertreter der Vereinten Nationen und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Als dann 2007 die globale Finanzkrise (vor allem in den USA und Europa) ausbrach wurde entschieden, künftige Gipfel auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs zu veranstalten, und damit die Treffen noch prominenter zu verankern. Der erste Gipfel dieser Art fand 2008 in Washington statt. Hier wurde zum Beispiel über eine strengere Regulierung der Finanzmärkte diskutiert. +Das Ziel der G20 ist, Entwicklungen im globalen Finanzsystem zu beobachten und Krisen besser zu begegnen. Kritiker bezeichnen die G20 als einen exklusiven Staaten-Club und betonen, dass die allermeisten der insgesamt 193 Staaten der Welt außen vor bleiben +Die G20 sind eine erweiterte Runde zu den besser bekannten G7 (früher G8, bevor Russland 2014 aufgrund der Krim-Annexion ausgeschlossen wurde), die von vielen Kritikern als zu exklusiver Staaten-Club gescholten werden. Die Gruppen haben ähnliche Programme, wobei im Kreis der G7/G8 häufiger über Sicherheitspolitik gesprochen wird, während die G20 sich mehr auf die globale Wirtschafts- und Finanzpolitik konzentrieren. Trotzdem wird auch dieser größere Kreis als zu klein kritisiert, weil beispielsweise über die Interessen Afrikas gesprochen und entschieden wird – und mit Südafrika sitzt lediglich ein einziges afrikanisches Land mit am Tisch. Gegner betonen, dass auch bei einer Erweiterung auf 19 Staaten plus EU immer noch der allergrößte Teil der ingsgesamt 193 Staaten der Welt außen vor bleiben. Außerdem nutzen viele Gipfelgegner die Treffen auch zum Protest gegen beispielsweise die Politik des US-Präsidenten Donald Trump oder zur generelleren Globalisierungskritik. Bei den Protestmärschen sind auch Organisationen wie Greenpeace, der BUND, Oxfam oder die NaturFreunde Deutschland dabei. + +Die G20-Treffen waren bisher vor allem dafür gedacht, der nächsten globalen Finanzkrise besser vorzubeugen. Beim ersten Gipfel in Washington wurde ein sogenannter 47-Punkte-Plan verabschiedet, der helfen sollte, die Finanzmärkte besser zu kontrollieren. Ein Jahr später in London wurden als Absicherung gegen Krisen beschlossen, dass Banken mehr Eigenkapital vorhalten müssen und dass Bankergehälter begrenzt werden sollen. Ein weiteres G20-Thema ist die weltweite Steuerhinterziehung. Hier haben die Staaten einen automatischen Austausch von Daten vereinbart. Nicht alle Beschlüssen folgen allerdings auch Taten. Denn globale Vereinbarungen sind häufig schon deshalb nicht besonders streng, weil Kompromisse zwischen so vielen verschiedenen Staaten und Interessen sehr schwierig zu finden sind. + +Wenn so viele Staatschefs nach Hamburg kommen, dann ist das ein echter Albtraum für diejenigen, die den Gipfel schützen müssen. Um (terroristische) Anschläge und das Aufeinandertreffen mit Gegendemonstranten zu verhindern, werden solche Treffen meist radikal abgeschirmt. Diesmal aber findet das Treffen in den Hamburger Messehallen mitten in der Großstadt statt, mit Einwohnern, Berufsverkehr und Alltagsleben. Und in direkter Nachbarschaft zum Schanzenviertel, das für seine linksradikale Szene und Krawalle geradezu berühmt ist. Die Stadt wird wohl einige Tage lang ziemlich lahmgelegt sein. Schon bei einer Kundgebung am 2. Juli, also dem Sonntag vor dem Gipfel, wollen Zehntausende demonstrieren. Ein Bündnis aus Organisationen wie Greenpeace und Campact organisiert eine Demo auf der Binnenalster mit hunderten Flößen, Kanus und Booten, einen Protestmarsch Richtung Messe und eine Kundgebung in St. Pauli. Die Forderungen des Bündnisses: mehr soziale Gerechtigkeit und mehr Anstrengungen zur Klimarettung. Am 8. Juli soll es eine Großdemo geben, bei der bis zu 150.000 Menschen erwartet werden. Die Polizei hat Karten mit Sicherheitszonen, Kontroll- und Informationsstellen rund um die Messe veröffentlicht. Nicht alle Demonstranten wollen sich während der Proteste an die Regeln halten, die Veranstalter und Polizei aufstellen: Das Bündnis "BlockG20" ruft zum Beispiel dazu auf, in die Rote Zone einzudringen und Zufahrtstraßen zur Messe zu blockieren. Andere wollen nach Medienberichten massenhaft heliumgefüllte Ballons steigen lassen, um den Flugverkehr zu stören. Streit gibt es derzeit noch um einen bis vor Kurzem "blaue Zone" genannten Bereich, in dem sich zwar Menschen aufhalten, aber nicht demonstrieren dürfen sollen. + +Bei vielen Treffen in der Vergangenheit kam es zu Gewalt zwischen Demonstranten und Polizisten. Besonders schlimm war es 2001 beim Treffen der G8 in Genua, damals wurde der Demonstrant Carlo Giuliani von einem Polizisten erschossen, Hunderte wurden verletzt, Inhaftierte gefoltert. Die Politiker tagten damals, es war noch vor den Anschlägen des 11. September, sehr zentral in der Stadt. Seither werden sie viel stärker abgeriegelt. Straßenschlachten wie in Genua mit Toten und sehr vielen Verletzten gab es nicht mehr, aber auch der Protest beim deutschen G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 lief nicht nur friedlich ab: Demonstranten warfen Steine, griffen ein Polizeifahrzeug an, die Polizei setzte Wasserwerfer ein. Beim G7-Treffen 2015 auf Schloss Elmau in Bayern dagegen blieben gewalttätige Proteste aus. In Hamburg rechnet die Polizei nach Medienangaben mit etwa 4000 gewaltbereiten Demonstranten aus Deutschland und vor allem auch aus dem Ausland. + diff --git a/fluter/game-brukel-bob-de-schutter-oral-history.txt b/fluter/game-brukel-bob-de-schutter-oral-history.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c7fbda22370d4f4b53bfb995d7545e88737aa3db --- /dev/null +++ b/fluter/game-brukel-bob-de-schutter-oral-history.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +fluter.de: Herr De Shutter, in "Brukel" erkunde ich ein belgisches Bauernhaus und höre dazu Kriegsgeschichten Ihrer Oma. Warum macht man so ein Spiel? +Bob De Schutter: Ich wollte immer Spiele machen, seit ich acht Jahre alt war. Die Geschichten in dem Spiel habe ich schon erzählt bekommen, als ich ein kleiner Junge war. Und durch mein Studium, meine Professur bin ich inzwischen eine Art Experte für Senioren und Spiele. Hier an der Uni wird auch meine kreative Arbeit geschätzt. Ich bekam ein Semester für das Projekt zugeteilt und legte los. Die Idee zu "Brukel" lag da schon seit Jahren in meiner Schublade. +Aber in einem Semester ist das Spiel nicht fertig geworden, oder? +Nein. Es hat insgesamt fünf Jahre gedauert. +Und Sie haben das Spiel gemeinsam mit Ihrer Oma entwickelt? +Sozusagen. Sie ist quasi die narrative Designerin. +Das heißt, sie hat nicht nur erzählt? +Sie war die wichtigste Quelle. Zuerst hab ich gedacht, ich würde ein 2-D-Spiel machen, das wie die Geschichte meiner Oma in den Dreißiger- und Vierzigerjahren spielt. Aber als ich mich hingesetzt habe, um sie zu interviewen, hat sie sofort angefangen, vom Leben im Haus zu erzählen. Ich hatte noch nicht mal das Mikrofon aufgebaut, da hatte sie schon zehn Minuten geredet. Sie hat einfach loserzählt: "Sie nannten uns die Leute von Brukel" – das sind jetzt auch die ersten Passagen im Spiel. Aber sie hat nicht nur erzählt. Ich hab ihr auch laufend Bilder gezeigt, und sie hat viel kritisiert! +Ein Kriegsspiel mal ganz anders. Bob De Schutter hat das belgische Bauernhaus nachgebaut, in dem seine Oma lebte +Als Vorlage dienten ihm die Erzählungen, alte Fotos … +… und Skizzen, die sie gemeinsam anfertigten +In Ego-Shooter-Perspektive betritt der Spieler das Haus. Statt einer Waffe hat er ein Smartphone dabei +Fotografiert er die richtigen Gegenstände, beginnt seine Oma zu erzählen +In das Originalhaus konnten Sie nicht rein? +Nein. Der Kontakt mit den Eigentümern kam nicht zustande, und es wurde vor zehn Jahren renoviert. Ich hab Bilder nach Beschreibungen meiner Oma gezeichnet und sie immer gefragt, ob es so richtig aussieht. Und dann hat sie zum Beispiel gesagt, nein, die Stühle sahen bei uns ganz anders aus. Also haben wir zusammen auf Google nach "old chairs" gesucht. Die Bildersuche mit meiner Oma war schon fast wieder ein eigenes Spiel. +Dann ist das Spiel keine Dokumentation, sondern baut wirklich nur auf die Erinnerung Ihrer Oma? +Es ist eine ArtOral History. Das Spiel blickt komplett durch die Augen einer Person, die wie jede andere auch ihre Vorurteile und Perspektive mitbringt. Das machen wir transparent, und das ist auch ethisch geboten. +Jetzt ist es fertig. Wer soll es spielen? +Ursprünglich dachte ich an Menschen zwischen 30 und 60. Mein Vater hat sich sehr für Geschichte interessiert und er hat einmal auf einer Familienfeier sein enzyklopädisches Wissen über den Krieg ausgepackt, als plötzlich meine Oma zu erzählen anfing, wie ein britischer Offizier meinen Opa mit einer Schusswaffe bedrohte. Und sie beendet die Geschichte mit: "Und wenn er geschossen hätte, wärt ihr jetzt alle nicht hier." Da hättest du eine Stecknadel fallen hören können. Auch mein Vater hat in dem Augenblick verstanden, dass er auf eine grundlegende Art gar nichts über den Krieg weiß. Das hat mir die Idee gegeben, ein Spiel für Menschen wie ihn zu machen. Als die Spukelemente dazukamen, dachte ich, das gefällt vielleicht auch Spielern ab 16. In der Ausstellung im Smithsonian sah ich dann zwölfjährige Kinder, die mir nach dem Anspielen erzählten, sie würden sich das jetzt zu Weihnachten wünschen. Ich glaube, es liegt an Bies Stimme; wenn eine Oma erzählt, das weckt etwas bei Kindern. +Ein Pferdemädchen: Bobs Oma vor ca. 70 Jahren … +… und heute als Narrative Designer von Computerspielen, zusammen mit ihrem Enkel Bob +Der Zweite Weltkrieg ist ohnehin ein Dauerthema. Warum noch ein Spiel dazu? +Für mich fühlt sich "Brukel" sehr aktuell an. Es ist jetzt genau 75 Jahre nach der Befreiung Belgiens von den Nazis erschienen. Das Problem an 75 Jahren ist das kurze Gedächtnis der Menschen heutzutage. Wir leben von Hype Cycle zu Hype Cycle. Und die Zeitzeugen sterben langsam aus. "Brukel" ist für mich nicht nur eine belgische, sondern eine europäische Geschichte. Deswegen war es mir auch wichtig, dass das Spiel in möglichst viele europäischen Sprachen übersetzt wird. Und es handelt davon, dass niemand in einem strengen Regime ohne Freiheiten leben will. Wir müssen alle zusammenleben und einander respektieren. Wir können Mauern um Länder, um Gebiete, irgendwann um die eigenen Häuser ziehen. Aber hinter den Mauern leiden wir. +Denken Sie da auch an das Klima in den USA? +Wenn ich über "Brukel" plaudere, dann lande ich innerhalb von fünf Minuten bei Trump. Vielleicht ist das ein Zeichen, dass dieses Spiel gut in unsere Zeit passt. + +Bilder: Lifelong Games diff --git a/fluter/game-rezension-we-the-revolution.txt b/fluter/game-rezension-we-the-revolution.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2de1a46882206daf15147847ff2e123cfe9752b6 --- /dev/null +++ b/fluter/game-rezension-we-the-revolution.txt @@ -0,0 +1,11 @@ + + +Das ist die Startaufstellung eines Abenteuer- und Strategiespiels, das gänzlich aus starken Illustrationen, trockenen Texten und schweren Entscheidungen besteht. Vom Richterpult herab blickt man als Spieler auf Angeklagte, Jury, Publikum und einen öffentlichen Ankläger und muss Urteile fällen. Die sollen sachlich halbwegs tragbar sein, ohne es sich mit den Anwesenden, dem gemeinen Volk, mit Revolutionären und Adligen zu verscherzen. Die Aufgabe ist schwierig. Wer hier stur versucht, sich als unparteiische Instanz aufzuspielen, der lebt nicht lange. +Da landet beispielsweise ein selbst erklärter Revolutionär im Gerichtssaal, der bei einem Adligen eingebrochen ist, ihn verprügelt und bestohlen hat. Dass er sich persönlich bereichert, findet er gerechtfertigt, er sei ja auch ausgebeutet worden. Das Publikum rechnet mit einem Freispruch – schließlich hat sich der Angeklagte beim heldenhaften Sturm auf die Bastille einen Namen gemacht. Werden Einbrecher einbuchtet, wird von Revolutionären und dem Volk gehasst. Wer ihn freispricht, gilt als schlechter Richter und verscherzt es sich mit der Jury. So wird aus der Rechtsprechung ein elendes Lavieren, bei dem Fakten und Fraktionen irgendwie unter einen Hut gebracht werden müssen. Wen man heute verprellt, dem tut man morgen besser einen Gefallen. +Gleicher Kontinent, Hundert Jahre später:Das Game "11-11: Memories Retold"erzählt den 1. Weltkrieg +Der Gerichtssaal ist nur ein Teil des Spiels. Immer wieder steht der Richter auch abseits des Gerichtssaals vor unglücklichen Multiple-Choice-Entscheidungen. Alles ist politisch, auch die abendliche Freizeitgestaltung: auf den nächsten Fall vorbereiten, Intrigen schmieden oder Zeit mit den Lieben verbringen? Und mit welchen genau? Nach der ersten überlebten Woche wird die Lage noch brenzliger, und Fidèle muss in einer Art Brettspiel seinen Einfluss als Richter über Paris ausbauen. +Das alles passiert ohne Zeitdruck. Minispiele und Multiple-Choice-Entscheidungen verdichten sich zu einer bewegten Erzählung. Spaß macht das Ganze nur soweit, wie ein verfahrener Politthriller eben Spaß machen kann: Es ist guter, purer Stress. Am schönsten ist das Gefühl, ein paar Spieltage zu überleben und befreit vom Rechner aufzuschauen: noch mal davongekommen. + +"We. The Revolution" ist für rund 20 Euro auf PC, PS4, Switch und Xbox One erhältlich. +Titelbild: Polyslash/ Klabater +Cooles Spiel, aber keinen Plan, was genau während der Französischen Revolution passiert ist?Hierundhiergibt's die wichtigsten Infos dazu. diff --git a/fluter/game-telling-lies-sam-barlow.txt b/fluter/game-telling-lies-sam-barlow.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..eec0a82fba11d172e5399568172ccace9554c73b --- /dev/null +++ b/fluter/game-telling-lies-sam-barlow.txt @@ -0,0 +1,11 @@ + + + + +"Telling Lies" ist eine Ensemble-Geschichte wie schon "Her Story" mit einem schwarzen Loch in der Mitte. Logan Marshall-Green spielt die zerrissene Hauptrolle. Innerhalb der ersten Videos enttarnen Spieler ihn als Undercoveragenten, der verschiedenen Menschenverschiedene Lügengeschichten erzählt. Zentral treten auch Alexandra Shipp und Kerry Bishé auf. Die Gesichter sind aus diversen Serien und Filmen bekannt. In verwackelten Handyvideos und unzähligen Skype-Gesprächen wirken sie sehr real. +Über eine Schlagwortsuche können Spieler die Videos durchforsten. Aber das Ergebnis fühlt sich nie wie ein verkappter Kinofilm an. Es bleibt Recherchearbeit: mal aufregend und erhellend, dann wieder ermüdend und unübersichtlich. Wer den zeitlichen Ablauf, den Salat der widersprüchlichen Fakten im Blick behalten will, sollte sich Notizen machen. Die mehrminütigen Videos müssen angeschaut und eingeordnet werden, und sie sind nicht immer unterhaltsam. Videotelefonate liegen zum Beispiel immer in zwei Dateien vor, eine pro Gesprächspartner. Wer den Dialog nachvollziehen will, muss beide Hälften finden. +Das Stöbern ist manchmal frustrierend, und nicht immer aus gutem Grund. Dass nur fünf Suchergebnisse angezeigt werden, wirkt willkürlich, und die Steuerung der Videos ist haarsträubend schlecht umgesetzt. Das geheime Datenbankprogramm des Justizministeriums kann in den digitalen Videos nicht springen und nur sehr langsam spulen. +Der Frust flaut aber schnell wieder ab. Ein ganz anderes, ungutes Gefühl setzt sich beim Spielen dagegen fest: Es ist das Unbehagen, andere Menschen in intimen Situationen zu begaffen. Die Erzählung gibt Spielern die Rolle einer ganz bestimmten Person mit einem guten Grund, in die Privatsphären einzudringen. Doch es bleibt verstörend, die sehr persönlichen Liebesbotschaften, Streitgespräche und Gutenachtgeschichten derart geschäftsmäßig und auf der Suche nach Indizien zu sichten. +Ähnliche Videos hinterlassen alle, die normal online leben. Was das für unser Zusammenleben undunsere Privatsphärebedeutet, kann ein einzelnes Spiel nicht erklären. Aber "Telling Lies" zeigt ein plausibles Szenario, eine Schauergeschichte, die sich vielleicht so ähnlich gerade irgendwo abspielt. + +"Telling Lies" ist für 8 Euro auf iOS und für 17 Euro als PC-Game erhältlich. diff --git a/fluter/game-the-darkest-files-der-kern-ist-wahr.txt b/fluter/game-the-darkest-files-der-kern-ist-wahr.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..35b555b4513454dc2daf103152490464b07da174 --- /dev/null +++ b/fluter/game-the-darkest-files-der-kern-ist-wahr.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +fluter.de: Hanna, ihr macht ein Spiel, in dem ich als Staatsanwältin in den 1950er-Jahrendie Verbrechen der Nazizeitvor Gericht bringen soll. Wie kann ich mir das vorstellen? +Hanna Scheck: Als ein Investigations- und Gerichtsspiel, das auf wahren historischen Gegebenheiten basiert. Man ermittelt in der Rolle der jungen Staatsanwältin Esther Katz zu Verbrechen aus dem Nationalsozialismus, befragt Zeuginnen und Zeugen, wandert auch durch deren Erinnerungen und bringt das Ganze dann vor Gericht. +Von der Perspektive her sieht es streckenweise aus wie ein Ego-Shooter. +Es ist ein Spiel aus der Ego-Perspektive, aber natürlich vollkommen gewaltfrei. Die Spielenden befragen Menschen oder schauen Dokumente durch – tun eben all das, was eine Staatsanwältin auch wirklich tun würde. + + +Eure Heldin ist fiktiv, die Fälle nicht – wie stellt ihr sicher, dass ihr das Thema ernst nehmt und ohne Verfälschungen wiedergebt? +Unser Team hat den größten Teil der Fälle selbst recherchiert. Wir stehen auch im Kontakt mit dem Fritz-Bauer-Institut (das zur Geschichte und Wirkung des Holocaust forscht, Anm. d. Redaktion),sie kennen unser Spiel. Außerdem arbeiten wir mit Historikerinnen und Historikern zusammen, die uns Feedback geben. Der Austausch ist uns sehr wichtig, weil wir sensibel mit dem Thema umgehen wollen. Seit Beginn der Entwicklung stehen wir zum Beispiel mit Dr. Gregor Holzinger von der KZ-Gedenkstätte Mauthausen in Kontakt, der uns unter anderem Tipps gibt, wo wir sonst noch schauen können, wenn wir mit einer Recherche nicht weiterkommen. +Eure Fälle sind historisch belegt? +Auf jeden Fall. Sie sind etwas verdichtet, Namen und Schauplätze wurden geändert, aber der Kern ist wahr. Im Spiel kann man die Fälle gewinnen, verlieren oder eine leichte Strafe aushandeln. Und danach zeigen wir immer, wie der Fall in echt ausgegangen ist. +Und wer ist Esther Katz? +Die ist fiktiv. Fritz Bauer (ein deutscher Jurist, der als Jude im Nationalsozialismus verfolgt wurde und ab 1956 als hessischer Generalstaatsanwalt entscheidend dazu beitrug, nationalsozialistische Verbrechen aufzuarbeiten,Anm. d. Redaktion) ist der einzige nichtfiktive Charakter. Esther ist eine Frau in einer sehr männerdominierten Welt und Zeit. Wir wollen auch zeigen, wie es für eine Frau damals war, an so einem Ort zu arbeiten. +Ihr Name klingt jüdisch, ist das ein Element der Geschichte? +Esther Katz ist keine Jüdin, aber andere Charaktere im Spiel glauben das auch. Wir verwenden das Missverständnis bewusst und gehen im Spiel auf dieses Thema ein. Mehr möchte ich dazu noch nicht verraten, wir wollen nicht spoilern. + + +Kriminalstoffe sind zurzeit ja beliebt. Macht ihr am Ende einfach ein spannendes Krimispiel, oder sucht ihr einen ernsten Zugang zu einem historischen Stoff? +Meiner persönlichen Meinung nach geht beides gleichzeitig. Natürlich sind wir ein Serious Game in dem Sinne, dass man sich hinsetzen und mit dem Thema befassen und vielleicht auch in dem richtigen mentalen Zustand dafür sein muss. Das Spiel kann auchbeim Lernen helfenund Menschen, die vielleicht Lernschwierigkeiten bei Vorträgen oder beim Lesen haben, das Thema noch einmal anders vermitteln. Aber natürlich sollen die Mechaniken, die wir im Spiel haben, auch Spaß machen und Interesse wecken, sich weiter mit dem Thema zu beschäftigen. +Was meinst du mit "Mechaniken"? Es gibt ja auch Krimi-Adventures, in denen ich plötzlich Minispiele serviert bekomme, die mit echter Kriminalarbeit wenig zu tun haben. +Wir haben versucht, beim Alltag einer Staatsanwältin zu bleiben. Die Spielmechaniken sind nichts, was irgendwie aus der Welt fällt. Esther muss Interviews führen, Schlussfolgerungen ziehen, vor dem Gericht verhandeln. Im schlimmsten Fall gehen auch Täter ohne Strafe aus. +Mal ganz konkret: Was passiert in der Demo-Version, die ihr für die Gamescom angefertigt habt? +Wir zeigen Esthers ersten Fall. Es geht um einen Mord kurz vor Kriegsende, wie er ganz häufig passiert ist, ein sogenanntes Endphaseverbrechen. Das war eine Zeit, in der Täter oft verzweifelt waren und besonders aggressiv. Wir haben das Problem, dass unsere Fälle für so eine Gamescom-Demo zu lang sind. Deswegen ist der Fall für diese Demo ein bisschen gekürzt, damit möglichst viele Leute auch die Chance haben, ihn durchzuspielen. Wir wollten einen kompletten Prozess zeigen, den investigativen Aspekt, die Befragung von Zeuginnen und Zeugen und auch eine Courtroom-Sequenz. Eine ähnliche Demo ist auch über Steam verfügbar. +Spiele mit einer so klaren politischen Haltung sehe ich eher selten. Begegnen euch andere Studios da reserviert? +Nein. Wir haben guten Kontakt, auch zu allen unseren Partnerstudios in dem Indie-Spiele-Kollektiv "Saftladen", von dem wir ein Teil sind. Ich habe nicht das Gefühl, das uns jemand mit Skepsis begegnet. +Wie wichtig ist es euch, in genau diesem Themengebiet – der Aufarbeitung des Nationalsozialismus – unterwegs zu sein? +Sehr wichtig. Wir haben uns was dieses Thema angeht einen guten Ruf aufgebaut. Unser erstes Spiel "Through the Darkest of Times" hat einen Meilenstein gesetzt, was Erinnerung in Games angeht. Wir sind eines der ersten Studios gewesen,denen die Prüfstelle USK 2018 erlaubt hat, das Hakenkreuz in einem Computerspiel zu zeigen. Damals ging es um den Widerstand während des Nationalsozialismus. Jetzt geht es darum, die Verbrecher vor Gericht zu bringen. + +The Darkest Files soll 2024 für den PC erscheinen. Eine Demo-Version des Spiels ist derzeit auf Steam erhältlich. + diff --git a/fluter/games-klima-erderhitzung.txt b/fluter/games-klima-erderhitzung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9ecb25cbf32ae278245ef2c2a4e29b4f5638e0e3 --- /dev/null +++ b/fluter/games-klima-erderhitzung.txt @@ -0,0 +1,26 @@ + +Dieser nautische Tauchsimulator bringt nicht nur deinen Puls nach unten. Durch die Augen der Tiefseeforscherin Mirai kannst du in "Beyond Blue" den Ozean erkunden und Ausschau nach Pottwalen und Schwellhaien halten. Das Spiel ist inspiriert von der BBC-Dokumentation "Blue Planet" und wurde in Zusammenarbeit mit Dokumentarfilmer:innen und Wissenschaftler:innen produziert. Als Tiefseeforscherin kannst du mit futuristischer Technik ausgestattet scheinbar endlos durch den Ozean schwimmen. Wie bei einem klassischen Walking-Simulator steht dabei das Erkunden der Umgebung im Vordergrund. Du sammelst Proben und scannst bedrohte Arten, um den Bestand im Blick zu halten. Angesichts der beeindruckenden Begegnungen mit Walen und Delfinen steht die Geschichte des Spiels, die vor allem anhand von Dialogen mit den Kolleg:innen und Verwandten über dein Headset erzählt wird, im Hintergrund. Vielmehr bringt "Beyond Blue" dirden Ozean als Lebensraumnäher und vermittelt anhand kurzer Einspielfilme Wissen darüber, wie stark dieses Ökosystemvon Überfischungund Erderhitzung bedroht ist. +"Beyond Blue" von E-Line Media(2020, für PC, Mac, Linux, Nintendo Switch, Xbox One, PlayStation 4, iOS, 16,79 € bis 19,99 €) + + + + +"Never Alone" führt dich in den verschneiten Norden Alaskas, das Land der Iñupiat, einerIndigenen Gemeinschaft, die besonders vom Schmelzen des Meereises betroffen ist. Es geht um die Folgen der Klimakrise und darum, wie wichtig Indigene Expertise ist, um mit ihnen umzugehen. "Never Alone", das in Zusammenarbeit mit den Gemeinschaften vor Ort kreiert wurde, erzählt die über Generationen hinweg mündlich überlieferte Geschichte "Kunuuksaayuka": Nuna zieht darin los, um herauszufinden, wo der Schneesturm entsteht, der ihr Dorf bedroht. Als sie auf ihrer Reise von einem Eisbären angegriffen wird, kommt ihr ein arktischer Fuchs zu Hilfe und weicht nicht mehr von ihrer Seite. In diesem stürmischen Puzzle-Plattformer schlüpfst du abwechselnd in die Rolle des Fuchses und des Mädchens. Diese Freund:innenschaft ist nicht nur ein schönes Spielmotiv, sondern dient als Metapher für den Umgang Indigener Gemeinschaften mit der Natur. Natur und Klima werden jedoch nicht romantisiert: Eisbären und Schneestürme bieten genug Gefahren. Stattdessen zeigt das Spiel, was es bedeutet, mit Natur und Land in einer Beziehung zu stehen, die nicht auf Ausbeutung basiert. Das wird nicht nur durch das Spiel selbst, sondern auch durch dokumentarisches Bonusmaterial vermittelt: Jedes Mal wenn eine Eule ins Bild fliegt, erscheint ein Videoclip, in dem Mitglieder der Iñupiat über ihre Gemeinschaft, ihre Beziehung zur Natur und Klimagerechtigkeit sprechen. +"Never Alone" von Upper One Games/E-Line Media(2014, für PC, Mac, Linux, Nintendo Switch, PlayStation 3/4, Xbox One, Android, iOS, 14,99 €) + +* "Indigen" wird hier groß geschrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich dabei um die Selbstbezeichnung von Gemeinschaften handelt, die durch Kolonialismus von ihrem Land verdrängt wurden + + + +Viele Aufbaustrategiespiele bedienen sich eines kolonialistischen Narrativs, indem sie Spieler:innen dazu ermutigen, Land und Leute auszubeuten: Als allmächtige Herrscher:in findest dann du "neues" Land, baust dessen Ressourcen ab und führst Territorialkriege. "Terra Nil" denkt dieses Genre nachhaltiger. Dein Ziel ist es, ein von Verschmutzung und Unwettern gezeichnetes Ödland zu renaturieren. Aus der Vogelperspektive schaust du hier auf einen grauen Landstrich. Mithilfe futuristischer Technologien kannst du in verschiedenen Levels die Erde wieder fruchtbar machen und Gewässer reinigen, während du endliche Ressourcen nachhaltig managst. Belohnt wirst du dadurch, dass Rehe oder Bienenschwärme zurückkehren. Dabei geht es nicht darum, die Landstriche wieder "nutzbar" zu machen, sondern darum, Biodiversität herzustellen; ein Ökosystem, das in der Lage ist, sich ohne Fremdeinwirkung selbst zu erhalten. Wichtig: Alle Gerätschaften, die dafür benötigt wurden, müssen am Ende wieder recycelt werden, sonst gilt das Spiel als verloren. So denkt "Terra Nil" ein altbekanntes Genre neu und verändert die Parameter, die für einen Spielsieg nötig sind. +"Terra Nil" von Free Lives/Devolver(2022, bisher nur Demo erhältlich, für PC) + + + +In "Norco" tauchst du in die Sci-Fi-Version des real existierenden gleichnamigen Orts außerhalb von New Orleans, Louisiana, ein. In diesem Pixel-Point-and-Click-Abenteuer bewegst du dich durch die dystopische Welt von Kay. Die 23-Jährige ist zurück in Norco, weil ihre Mutter, die illegalen Bauprojekten in der Gegend auf der Spur war, an Krebs gestorben und ihr Bruder verschwunden ist. Neben Rückblenden zu den letzten Tagen von Kays Mutter stolpern Kay und der Android Million detektivisch von einem skurrilen Gespräch zum nächsten. Das Spiel lässt wenig Zweifel daran, dass der Tod der Mutter und der düstere Zustand der Stadt auf die Ölraffinerie des Konzerns "Shield" (angelehnt an die Raffinerie von Shell im realen Norco) zurückzuführen sind. Zwischen mystischen Sumpflandschaften, verrauchten Nachthimmeln und kurzen Momenten von Gemeinschaft macht "Norco" auf die verheerenden Folgen aufmerksam, die die Ausbeutung durch Ölkonzerne für Städte, Menschen und Umwelt hat. Dabei geht es um Klimafolgen (laut einer Studiesind die 20 größten Unternehmen, die fossile Brennstoffe herstellen, für mehr als ein Drittel aller energiebedingten Treibhausgasemissionen seit 1965 verantwortlich), gesundheitliche Auswirkungen der Ölförderung und um ökonomische und soziale Verhältnisse: Die Bewohner:innen von "Norco" sind in vieler Hinsicht von dem Konzern abhängig. Die meisten versuchen nur, irgendwie zu überleben. +"Norco" von Geography of Robots/Raw Fury(2022, für PC und Mac, 14,99 €) + + + +In diesem textbasierten Browsergame entscheidest du nicht über das Schicksal eine:r einzelnen Held:in, sondern über die globale Aufmerksamkeitsökonomie im Verlauf des 21. Jahrhunderts. Dabei spielst du als Chefredakteur:in Jahrzehnt für Jahrzehnt durch: Zu verschiedenen tagesaktuellen Themen (zum Beispiel Pandemiemanagement, klimabedingte Fluchtbewegungen und reproduktiven Rechten) musst du dich für eine Headline entscheiden, immer mit dem Wissen im Hinterkopf, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt, um die Klimakatastrophe in den Griff zu bekommen. Diese ist jedoch keine singuläre Krise, sondern eine von vielen, die das kapitalistische Wirtschaftssystem verursacht hat und die weltweit miteinander im Zusammenhang stehen. Es geht darum, für wen Politik gemacht wird und wie viel Zeit noch bleibt. Schaffst du es, die Superreichen durch hohe Steuern so sehr zu verärgern, dass sie kollektiv auf den Mars auswandern, anstatt weiterhin den Planeten auszubeuten? Oder prokrastinierst du, bis ehemalige Metropolen als Unterwasserstädte Katastrophentourist:innen anziehen? Das schnell gespielte Textadventure vermittelt trotz simpler Optik, dass diese Zusammenhänge komplex sind, und stellt sie gleichzeitig humorvoll und nachvollziehbar dar. Der Zusammenhang zwischen Medien und tatsächlicher politischer Entscheidungsgewalt ist dabei vielleicht ein bisschen vereinfacht, dafür wird hier gut dargestellt, wie Kapitalismus und Krisen zusammenhängen. Die Frage ist nicht nur, ob, sondern auch wie wir das Jahrhundert überleben und wem am Ende des Jahrhunderts noch ein gutes Leben möglich ist. +"Survive The century" von Sam Beckbessinger, Christopher Trisos und Simon Nicholson(2021, Browsergame, kostenlos) diff --git a/fluter/games-psychische-erkrankungen.txt b/fluter/games-psychische-erkrankungen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cd3002f4feb9b7d42f950491ba6c484ac384cb85 --- /dev/null +++ b/fluter/games-psychische-erkrankungen.txt @@ -0,0 +1,27 @@ + + +Mit psychischen Erkrankungen zu leben kann sich für die Betroffenen wie Dauerbergsteigen anfühlen. So ähnlich ist das auch in "Celeste". In diesem "Plattformer" (also einem Spiel, in dem man sich von einer Plattform zur nächsten bewegt) springst du als die queere Protagonistin Madeline von einem Gebirgsplateau zum nächsten und erklimmst dabei den kanadischen Berg Mount Celeste. Madeline leidet an Depressionen und Panikattacken, und besonders letztere werden in diesem Spiel sehr gut dargestellt: Während einer Gondelfahrt erlebt Madeline eine Panikattacke – in ihrem Fall eine intensive körperliche Stressreaktion, die zu Atemschwierigkeiten führt. Ihr neu gewonnener Freund Theo schlägt gemeinsame Atemübungen vor, um die Situation zu überstehen: Madeline soll sich eine Feder vorstellen, die sie durch Ein- und Ausatmen in der Luft halten muss. Damit startet ein Mini-Game, bei dem du als Spieler*in eine Feder in der Mitte des Bildschirms balancieren sollst. Besonders schön ist dabei zu sehen, wie schnell Theo den Ernst der Lage erkennt und wie es ihm gleichzeitig gelingt, ruhig zu bleiben. In "Celeste" versetzt man sich also nicht nur in Madelines Lage – ihre Wut, ihre Angst und ihre hohen Selbstansprüche –, sondern sieht auch, wie wichtig ein unterstützendes Umfeld für Menschen mit psychischen Erkrankungen sein kann. +CELESTEvon Maddy Thorson/Matt Makes Games (2018, für PC, Mac, Linux, Nintendo Switch, PlayStation 4, Xbox One, 19,99 Euro) + + + +Um erhöhte Ängstlichkeit geht es auch in "Just, Bearly", nur dass hier der Fokus auf sozialen Ängsten liegt. In dem Spiel begleitest du einen Bären durch eigentlich alltägliche Situationen, die für ihn allerdings ziemlich furchteinflößend sind. Dabei musst du zum Beispiel Kaffee holen gehen, vor Menschen sprechen, flirten und den Blicken der anderen Bahnpassagier*innen standhalten. All diese Tätigkeiten werden bei "Just, Bearly" zu kleinen Spielen, deren innere Logik du jeweils in so kurzer Zeit verstehen musst, dass es kaum möglich scheint, die Kontrolle über die Situation zu erlangen. So generieren diese Mini-Games Stresssituationen und illustrieren, wie anstrengend sich das Leben für Menschen anfühlen kann, die mit erhöhter Ängstlichkeit und Nervosität zu kämpfen haben. +Just, Bearlyvon Daniel J. Roberts (2017, für PC, kostenlos) + + + +"Sea of Solitude" spielt sich wie ein "Walking-Simulator", also ein Game, in dem es vor allem darum geht, sich durch eine Gegend zu bewegen und sie so zu erkunden. Die "Gegend" ist in diesem Fall die Psyche der Protagonistin Kay. Du steuerst sie und ihr Boot durch eine überflutete verlassene Stadt. Es regnet, es ist dunkel, düster und unangenehm. Im Wasser begegnen ihr immer wieder Monster, die sie beleidigen, an negative Erlebnisse erinnern und, wenn sie bei ihren gelegentlichen Schwimmausflügen nicht aufpasst, auffressen. Im Laufe des Spiels wird klar, dass die Monster einsame oder verletzende Momente darstellen, die Kay und ihr Umfeld geprägt haben: Erlebnisse aus Kays toxischer Beziehung, die Trennung ihrer Eltern, die Mobbingerfahrungen ihres kleinen Bruders. "Sea of Solitude" ist nicht immer ganz stimmig: Die Steuerung hakt, die Monster-Metaphern wechseln zu schnell, und die Gegensätze hell/dunkel und gut/böse kommen oft etwas platt daher. Aber das Spiel zeigt eine ästhetisch beeindruckende und düstere Reise durch die Welt der Einsamkeit. Dabei ist es sehr wohltuend, Kay zuzusehen, wie sie letztendlich lernt, ihre dunkleren Seiten zu akzeptieren, Fehler einzugestehen, anderen zuzuhören und vor allem die verletzten Anteile in ihr loszulassen. +Sea of Solitudevon Cornelia Geppert/Jo-Mei Games (2019, PC, PlayStation 4, Xbox One, ab März Director's Cut für Nintendo Switch, 19,99 Euro) + + + +"Depression Quest" ist ein sogenanntes "Textadventure" über – wie der Name schon sagt – Depressionen. In kleinen Texteinheiten, in denen du dich durch den Alltag einer erkrankten Person bewegst, stellt das Spiel wichtige Aspekte eines Lebens mit Depressionen dar: Antriebslosigkeit, soziale Ängste, zwanghaftes Grübeln, die oft nur mit therapeutischer Hilfe und Medikation in den Griff zu bekommen sind. Am Ende dieser Texteinheiten stehen unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten. Allerdings sind nicht alle davon tatsächlich auswählbar. Wenn du beispielsweise entscheiden musst, wie du deinen Abend verbringen willst, erscheint neben den Möglichkeiten, dich im Bett zu verkriechen oder fernzusehen, auch die Option, etwas zu essen zu bestellen und etwas Kreatives zu machen. Das Problem: Die letzte Option wird dir in einer roten, durchgestrichenen Schrift präsentiert. So wird deutlich, dass der Hauptfigur zwar bewusst ist, was "gesundes" oder hilfreiches Verhalten wäre, dass die Umsetzung dessen aber viel schwieriger ist als bei einer gesunden Person, vielleicht sogar unmöglich – weil man die Energie dazu schlicht nicht aufbringen kann. So vermittelt "Depression Quest" mit sehr einfachen visuellen Mitteln, wie auslaugend ein Leben mit Depressionen sein kann. Dabei wird klar, dass die depressive Person keine Schuld an ihrer Krankheit trägt, auch wenn es sich für sie manchmal so anfühlen mag. +Depressionquestvon Zoë Quinn (2013, für Browser, PC, Mac und Linux, kostenlos) + + + +Das Erwachsenwerden hat so seine Aufs und Abs. Auch für Mae, die aufgrund psychischer Probleme ihr Studium abbricht und zu ihren Eltern nach Possum Springs zurückkehrt, einer wirtschaftlich gebeutelten amerikanischen Kleinstadt. Die meiste Zeit des Spiels geht es darum, die ehemalige Kohlestadt, die ökonomischen Verhältnisse und die nicht immer einfache Beziehung zwischen Mae und ihren alten Freund*innen Gregg, Angus und Bea zu erkunden. Jede*r von ihnen trägt psychische Belastungen mit sich herum: eine verstorbene Mutter, eine bipolare Störung oder missbräuchliche Beziehungen. Mae selbst hat mit Aggressionen und Stimmungsschwankungen zu kämpfen und erlebt oft das Gefühl, sich selbst und anderen fremd zu sein. Ihre Eindrücke hält sie in ihrem Tagebuch fest, wie es ihr eine*r der wenigen Ärztinnen und Ärzte der Stadt empfohlen hat. Neben gemeinsamen Pizza-Abenden und Bandproben werden schwierige Gespräche geführt und mysteriöse Abenteuer erlebt. Erst nach und nach öffnen sich die Freund*innen und bauen wieder Vertrauen auf. So zeigt "Night in the Woods", wie schwierig, aber auch wie wichtig und schön gegenseitiges Anvertrauen sein kann. +Night In The Woodsvon Infinite Fall (2017, für PC, Mac, Linux, Nintendo Switch, PlayStation 4, Xbox One, 18,99 Euro) + + +Anmerkung der Redaktion: Wenn es dir über Wochen hinweg psychisch schlecht geht, wende dich an Profis.Die Telefonseelsorgeist eine erste Anlaufstelle (0800 111 01 11). Bei derKassenärztlichen Bundesvereinigungkannst du Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in deiner Nähe finden oderper Telefon(116 117) einen Termin vereinbaren lassen. diff --git a/fluter/games-schulunterricht-didaktik.txt b/fluter/games-schulunterricht-didaktik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d8394fcb20d722f1aa8360300b18186fae51d8db --- /dev/null +++ b/fluter/games-schulunterricht-didaktik.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Die realistische Darstellung begeistert auch den Jenaer Lehrer Christoph Kehl. "Das Spiel schafft es, den Eindruck zu erwecken, dass daran alles echt ist. Das steigert die Motivation bei den Schülern, wirft viele Fragen auf und bietet jede Menge Anknüpfungsmöglichkeiten für Diskussionen." Der 33-jährige Geschichtslehrer hat sich schon im Studium für Erinnerungskultur und digitales Gedenken interessiert. Heute setzt er regelmäßig Computerspiele im Unterricht ein. Die "Discovery Tour" zuletzt im Herbst, als bei den Fünft- und Sechstklässlern das antike Griechenland auf dem Lehrplan stand. Seine älteren Schüler sind dank "Through the Darkest of Times" einer Widerstandsgruppe in der NS-Zeit nähergekommen oder haben das Bild Napoleons in "Total War" hinterfragt. Demnächst will Kehl versuchen, mit seinen Schülerinnen und Schülern in "Mission 1929" die Weimarer Republik vor dem Untergang zu retten. +"Für Geschichte gibt es viele tolle Spiele", fasst Kehl seine Erfahrungen zusammen. Es gehe ihm aber nicht nur darum den Unterricht aufzulockern oder reines Faktenwissen zu vermitteln. Die Schüler sollen zum Beispiel darauf achten, warum manche Games so glaubwürdig rüberkommen. "Spiele, die realistisch aussehen, können besonders gut manipulieren", so Kehl. Viele Games verleiteten Jugendliche dazu,Geld für Gegenstände wie neue Waffen im Spiel auszugeben. Für solche Gefahren wolle er seine Schüler sensibilisieren. "Zu durchschauen, was das Spiel von mir möchte, ist eine wichtige Orientierungskompetenz." +Über die kritische Reflexion im Unterricht seien schon spannende Kontroversen entstanden. Etwa obHakenkreuze in einem Spiel über die NS-Zeit vorkommen sollten. Oder ob ein Videospiel das geeignete Medium ist, um sich mit den systematischen Ermordungen der Nazis zu befassen. Auch deshalb ist Kehl vom Einsatz von Games im Unterricht überzeugt: "So ein Reflexionsniveau mit einem Text im Buch zu erreichen ist schwer." +Bei den Schülern kommt Kehls Unterricht gut an. "Ich fand das sehr, sehr cool", sagt Sechstklässler Luka zur virtuellen Erkundung des antiken Griechenlands. Vor allem das Selberspielen hat ihm Spaß gemacht: "Man konnte so viel entdecken, mit Menschen sprechen oder auf alte Vasen klicken, und dann wurden Informationen eingeblendet." In seiner Freizeit zockt Luka wie viele seiner Klassenkamera- den "FIFA" oder "Minecraft". Mit Games Schulstoff zu lernen ist neu für den Zwölfjährigen. Bei ihm funktioniere es aber gut: "Das ist wie beim Aufschreiben von Vokabeln", sagt Luka. "Wenn ich etwas selber mache, kann ich es mir besser merken." +Eine Beobachtung, die Jan Boelmann gut kennt. Der 42-Jährige ist Direktor des Freiburger Zentrums für didaktische Computerspielforschung. Seit 15 Jahren erforscht der Literatur- und Mediendidaktiker, unter welchen Umständen der Einsatz von Games im Unterricht sinnvoll ist. "Was Computerspiele von Büchern oder unterscheidet, ist die Interaktion", so Boelmann. Die Schüler müssten sich viel aktiver mit dem Lerngegenstand auseinandersetzen. "Bei einem Buch kann man ein Kapitel lesen und es nicht verstehen. Bei einem Computerspiel hingegen geht es nicht weiter, wenn man die Spielhandlung nicht versteht." +Mittlerweile belegen erste Studien, dass sich Games durchaus eignen, um Lehrplanziele zu erreichen. Und das nicht nur im Fach Geschichte. Bei einem Modellprojekt an Berliner Schulen, für das Boelmann und seine Freiburger Kollegin Lisa König Unterrichtskonzepte erstellt haben, kamen PC-Games auch in Englisch, Deutsch und Mathe zum Einsatz. Mehr als 400 Achtklässler machten mit. +Ein Großteil der beteiligten Lehrkräfte erlebte sie dabei als engagiert und motiviert. Vor allem der Einfall, Statistik mithilfe von "Mario Kart" zu vermitteln, kam gut an. In dem Spiel erhalten die Fahrer während des Rennens Bananen, Turbopilze oder andere mehr oder weniger nützliche Gegenstände. Wer vorne liegt, erhält jedoch schlechtere Items als die weiter hinten im Feld. Diesen Zusammenhang sollten die Schüler – nach dem Spielen – anhand der erreichten Platzierungen ausrechnen. +"‚Mario Kart' hat voll eingeschlagen", erzählt Çiğdem Uzunoğlu, Geschäftsführerin der Stiftung Digitale Spielekultur, die das Modellprojekt geplant und durchgeführt hat. Besonders bei Schülern, die sich sonst eher nicht so für das Fach interessierten. Das Beispiel zeige, welches Potenzial Games gerade für Jugendliche bieten, die sich sonst eher zurückhaltend am Unterricht beteiligen. Gleichzeitig sehe man bei "Mario Kart", wie wichtig die Aufgabenstellung der Lehrkraft sei. Erst dadurch lernten die Kinder etwas über Wahrscheinlichkeitsrechnung, so Uzunoğlu: "Bloß zu zocken bringt den Kids im Unterricht nichts, außer Spaß natürlich." +Ähnlich formuliert es Didaktikexperte Boelmann: "Games sind kein Allheilmittel. Es braucht eine klare Idee, welche Kompetenzen daran erworben werden sollen." Dazu gehöre, ein geeignetes Spiel auszuwählen. Wer unsicher ist, wird am Zentrum für didaktische Computerspielforschung fündig. +Mehr als 130 empfehlenswerte Gamesstellen Boelmann und sein Team dort vor – inklusive Hinweisen, in welchen Fächern und Jahrgangsstufen sie eingesetzt werden können. Zu Boelmanns aktuellen Highlights gehört "Papers, Please", das die Zwänge von Grenzbeamten in totalitären Regimen aufzeigt. Oder "Rabbids Coding", das auch Neueinsteigern Grundlagen des Programmierens beibringt. Die Datenbank soll Lehrkräften den Zugang erleichtern. +"Das Interesse an Schulen ist da", beobachtet Boelmann. Allerdings gebe es zum Teil große Hürden. Und die fangen bei der Hardware an. Bei Spielen, die grafisch ansprechend sind, sind Schulrechner schnell überfordert. Und selbst in Städten ist schnelles WLAN noch keine Selbstverständlichkeit. Die Erfahrung hat auch Çiğdem Uzunoğlu gemacht: "Bevor unser Modellprojekt starten konnte, mussten wir für mehrere Schulen erst mal Tablets oder WLAN-Router leihen." Ein weiteres Hindernis seien fehlende IT-Kräfte. Für das Aufspielen der Games auf die Tablets mussten sich die Schulen an die jeweiligen Schulträger wenden. +Dieser Text ist in fluter Nr. 87 "Spiele" erschienen. Das ganze Heftfindet ihr hier. +Geschichtslehrer Kehl aus Jena hat da mehr Glück. Dank eines Kooperationspartners für E-Sports gibt es an seiner Gemeinschaftsschule fünf leistungsstarke Rechner. Zudem stehen auch iPads für zwei ganze Klassen bereit. Ein ungelöstes Problem seien die Spielelizenzen, so Kehl. Weil Computerspiele offiziell nicht als Unterrichtsmaterialien anerkannt sind, müssen im Zweifel die Schule oder die Lehrer selbst in die Tasche greifen, wenn Spielehersteller den Schulen keinen kostenlosen Zugang gewähren. Günstiger wäre es, wenn Land oder Kommune die Lizenzen kaufte – und dann allen Schulen zur Verfügung stellte. Dann würden vielleicht auch Kehls Kollegen öfter Games im Unterricht einsetzen. Das wünscht sich auch Schüler Luka: "Ich fände das richtig cool." + diff --git a/fluter/games-sterben-tod-trauer.txt b/fluter/games-sterben-tod-trauer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d5fdbb618686f4739d175f13f12b8ba383ed0914 --- /dev/null +++ b/fluter/games-sterben-tod-trauer.txt @@ -0,0 +1,30 @@ + +"Spiritfarer" wird als "gemütliches Managementspiel über das Sterben" beschrieben. Du spielst hier Stella, deren Aufgabe es ist, mit ihrem Schiff – aktuell 14 – Gefährt:innen von unterschiedlichen Inseln abzuholen und sie auf ihren Tod vorzubereiten. Du umsorgst sie, baust ihnen Kabinen auf deinem Schiff, besorgst ihre Lieblingsspeisen und lernst sie kennen, bis ihre Reise zu Ende ist. Die komplexen Charaktere kommen dir dabei sehr nah: Sei es Summer, die ihren Garten liebt und sich nach ihrer Partnerin sehnt, oder Alice, die es bedauert, nicht mehr Abenteuer erlebt zu haben, zeitweise Unterstützung beim Gehen benötigt und erste Zeichen von Demenz zeigt. Durch die bunte Gemeinschaft an Passagieren zeigt "Spiritfarer", wie Fürsorge und Sterbebegleitung abseits der Kernfamilie aussehen können. Dabei wird deutlich, dass Pflegetätigkeiten zugleich bereichernd und anstrengend sein können und wie schwierig, schön und schmerzhaft Abschiede sind. + +Spiritfarervon Thunder Lotus Game (2020, für PC, Mac, Linux, Nintendo Switch, PlayStation 4, Xbox One, 24,99 €) + + +In "Hades" schlüpfst du in die Rolle des griechischen Gottes Zagreus, der hier als Sohn des Unterweltgottes Hades daherkommt (die antiken Erzählungen sind sich da nicht ganz einig, oft wird er auch als Zeus' Sohn dargestellt). Dein Ziel: aus genau dieser Unterwelt an die Erdoberfläche zu fliehen. Dabei ist "Hades" ein sogenanntes Roguelike-Spiel, das heißt, nach jedem Durchlauf ändert sich der Weg durch die Unterwelt, und jeder Tod – denn selbst wenn du die Erdoberfläche erreichst, stirbt Zagreus nach kurzer Zeit – bedeutet, dass du zurück in die Eingangshalle zur Unterwelt kommst. Hier triffst du auf unterschiedlichste Figuren der griechischen Mythologie, mit denen du freundschaftliche und romantische Beziehungen eingehen kannst. Das Besondere an "Hades" ist, dass Zagreus' Tod im Spiel nicht bestraft wird, sondern im Gegenteil notwendig ist, um in der Geschichte und im Spiel voranzukommen. Klar, sterben heißt für den rastlosen Zagreus etwas anderes als für uns Nichtgött:innen. Aber dadurch, dass die Spielmechanik die Unausweichlichkeit des Todes permanent thematisiert, regt sie – in Kombination mit den oftmals philosophischen Gesprächen am Eingang zur Unterwelt – dazu an, genauer darüber nachzudenken,was Sterblichkeit für uns Menschen eigentlich bedeutet. + +Hadesvon Supergiant Games (2018/2020, für PC, Mac, Linux, Nintendo Switch, PlayStation 4/5, Xbox One/X/S, 24,99 €) + + +In "Felix The Reaper" begleitest du Felix, der als personifizierter Tod an das spätmittelalterliche Motiv des Totentanzes angelehnt ist. Zusammen mit diesem fröhlich groovenden Sensenmann musst du in verschiedenen Puzzles den Tod von Menschen herbeiführen, ohne sie eigenhändig zu töten. Felix arrangiert mit deiner Hilfe fallende Gegenstände und bringt schützende Fässer aus der Schusslinie, um dafür zu sorgen, dass dieser "Unfall" auch wirklich stattfindet. Du schaltest also nicht einfach Gegner:innen aus, sondern musst Puzzles lösen, die zum Tod einer Figur führen. Je mehr Rätsel du löst, desto voller wird die Sammlung an historischen Informationen zu Todesdarstellungen, die du im Menü aufrufen kannst. Es mag zuerst irritieren, wie gut gelaunt Felix mit seinen Kopfhörern auf den Ohren durch die Level tänzelt. Aber genau darum ging es den Macher:innen des Spiels, die sich einen humorvolleren Umgang mit dem Thema wünschen. So wollen sie gegen die Sprachlosigkeit angehen, die Erfahrungen mit dem Tod oft mit sich bringen. Und das gelingt ihnen: Auch wenn das Thema schmerzhaft bleibt, eröffnet "Felix The Reaper" einen spielerischen Raum, in dem der Tod für ein paar Takte tanzen kann. + +Felix The Reapervon Kong Orange (2019, für PC, Mac, Linux, Nintendo Switch, PlayStation 4, Xbox One, 14,99 €) + + +In dem Indie-Game "Last Day of June" geht es um Schuldgefühle, Erinnerungen und die Frage, wie die sich mit der Zeit verändern. Als Carl verbringst du einen romantischen Sommerabend am See mit June, deiner großen Liebe. Dann steigt ihr ins Auto, es passiert ein Unfall, den nur Carl überlebt, und nichts ist wie zuvor. Zusammen mit Carl gehst du seine schmerzhaften Erinnerungen immer wieder durch und versuchst, die Geschehnisse so zu verändern, dass June überlebt. Doch so verzweifelt Carl auch nach einer "Lösung" in seinem Was-wäre-wenn-Gedankenkarussell sucht, er findet keine, egal aus wie vielen Perspektiven er den letzten Tag Junes noch mal durchspielt. Auch wenn in den cartoonartigen 3-D-Animationen, die an impressionistische Gemälde erinnern, immer etwas Hoffnung mitschwingt: Ein Happy End im klassischen Sinne ist in "Last Day of June" nicht in Sicht. Dafür aber ein Lernprozess, an dessen Ende so etwas wie Akzeptanz steht. +Last Day of Junevon Ovosonico (2017, für PC, Nintendo Switch, PlayStation 4, 19,99 €) + + +Auch "Rime" setzt sich mit dem Verlust einer nahestehenden Person auseinander. In diesem "Adventure Game" findest du dich auf einer steinigen Insel wieder, die voll von Rätseln ist. Deine Erkundungstour kommt ohne Dialoge aus, aber du findest früh einen kleinen Fuchs, der dir den Weg weist und auf der verwirrenden Insel eine Orientierung bietet. Mit der Zeit realisierst du als Spieler:in, dass deine Figur auf der Suche nach einem Angehörigen ist, den sie nicht wiederfinden wird. Die Kapitel des Spiels heißen Verleugnung, Wut, Verhandlung, Depression und Akzeptanz ­– genau wie die fünf Phasen der Trauer, wie SterbeforscherinElisabeth Kübler-Rosssie beschrieben hat. Der Fuchs leistet dabei eine Art Begleitung durch die sich verändernden Landschaften: Zu Beginn noch hell und offen, wird es bald immer dunkler, und geisterhafte Wesen versperren dir den Weg. Und so wie der Fuchs dich daran vorbeiführt und nicht von deiner Seite weicht, wird klar: Wer trauert, braucht Zeit und Unterstützung – sei es von Freund:innen, Verwandten oder Therapeut:innen. + +Rimevon Tequila Works (2017, für PC, Nintendo Switch, PlayStation 4, Xbox One, 19,99 €) + + +"What Remains of Edith Finch" stellt die Frage, was von uns bleibt, wenn wir nicht mehr am Leben sind. In diesem Walking-Simulator, also einem Spiel, bei dem du deine Umgebung durch Spazieren entdeckst, lernst du mehrere Generationen der verstorbenen Familie Finch kennen. Die zuletzt gestorbene Edith Finch hat dir ein Buch hinterlassen. Mit seiner Hilfe erkundest du das alte Familienanwesen, das voller Geheimnisse und verdrängter Erinnerungen steckt. Das ist nicht immer einfach, denn Ediths Mutter hatte einst alle Zimmer der verstorbenen Familienmitglieder verschlossen, um Edith und ihre Brüder vor dem vermeintlichen "Familien-Fluch" zu beschützen, der alle Finchs irgendwann sterben lässt. Während du dich durch diese komplizierten Familiendynamiken bewegst, ist oft nicht ganz klar, was wirklich passiert ist, und die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen. "What Remains of Edith Finch" zeigt dabei, dass das Erinnern ganz und gar nicht einfach ist, dass es oft mehr als einen richtigen Blickwinkel gibt und dass alles, was am Ende sicher bleibt, diese mal traurigen, mal schönen, mal kuriosen Geschichten sind. + +What Remains of Edith Finchvon Giant Sparrow (2017, für PC, Nintendo Switch, PlayStation 4, Xbox One, 19,99 €) + +Titelbild: Ovosonico / 505 Games diff --git a/fluter/gamestop-saga-faq.txt b/fluter/gamestop-saga-faq.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b591eb53c227800c7ade47c3580e3e02ab9e2792 --- /dev/null +++ b/fluter/gamestop-saga-faq.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Beim Short Selling, auch Leerverkauf genannt, leiht sich ein Anleger Wertpapiere für eine Leihgebühr über die Börse und verkauft diese zu einem höheren Preis weiter. Um die zu Beginn geliehenen Wertpapiere wieder zurückgeben zu können, kauft der Anleger sie nach einer gewissen Zeit wieder zurück. Der Clou ist, so lange zu warten, bis der Wert der Aktie gefallen ist und die Differenz zwischen Verkauf- und Kaufpreis die Leihgebühr übersteigt. Wer die Aktie also im richtigen Moment zurückkauft und sie dem Eigentümer übergibt, hat einen Gewinn erzielt. Das "Shorten" birgt aber auch hohe Risiken. Wenn die Wette nicht aufgeht und die Aktie steigt, muss der Anleger in den sauren Apfel beißen und die Aktien notfalls viel teurer zurückkaufen. Das kann, wenn viele Shortseller gleichzeitig Aktien zurückkaufen müssen, zu einer Kursexplosion führen, in der Börsensprache "Short Squeeze" genannt. Genau das ist auch bei der Gamestop-Aktie passiert. +Mitnichten. Zum einen, weil auch viele Kleinanleger mit den Gamestop-Aktien viel Geld verloren haben dürften. Denn so schnell, wie der Kurs nach oben schoss, fiel er auch wieder. Eine Woche nach seinem Höchststand war die Gamestop-Aktie nur mehr 91 US-Dollar wert. Zum anderen haben nicht nur Kleinanleger auf steigende Kurse gewettet, sondern zum Beispiel auch Hedgefonds. Die Fronten sind also nicht so klar, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Dafür spricht auch Folgendes: Viele der Kleinanleger nutzen für ihre Aktienkäufe eine App namens Robinhood, die es in Deutschland übrigens noch nicht gibt. Sie ist wie andere Börsenapps kostenlos und seit Beginn der Pandemie sehr beliebt, um Aktien bequem vom Smartphone aus zu kaufen. An jedem Kauf oder Verkauf, den jemand über die Robinhood-App tätigt, verdienen aber klassische Finanzunternehmen mit. Zum Beispiel Citadel, einer der Großinvestoren an der Wall Street, der selbst Hedgefonds betreibt. Robinhood gibt die Börsenaufträge seiner Kunden weiter und kassiert dafür eine Provision. Von einer Umverteilung, wie der Name Robinhood suggeriert, kann also nicht wirklich die Rede sein. + + +Irre Kursschwankungen und Milliardenverlustesind an sich nicht neu. Doch dieses Mal stehen Manipulationsvorwürfe im Raum, die in den USA mittlerweile das Justizministerium, die Börsenaufsicht SEC und sogar den Kongress beschäftigen. Der erste Verdacht richtet sich gegen die App Robinhood, die dem Höhenflug der Gamestop-Aktie Ende Januar ein jähes Ende bereitete, indem sie plötzlich nur noch den Verkauf erlaubte, aber nicht mehr den Kauf. Hobbyanleger und auch Politiker wittern dahinter Geheimabsprachen zwischen Robinhood und den Wall-Street-Großinvestoren. Vor dem US-Kongress hat das Unternehmen diesen Vorwurf zurückgewiesen und die Beschränkung mit der Pflicht begründet, für die Aufträge der Kunden ausreichendes Kapital zu hinterlegen. +Der zweite Manipulationsvorwurf betrifft die Absprachen auf Reddit. Sie sollen marktverzerrend sein, schließlich hätten mehrere Personen in dem Forum "WallStreetBets" zum Kauf der Gamestop-Aktie aufgerufen, Hedgefonds wissentlich geschadet und dann möglicherweise persönlich von der Entwicklung profitiert. Einer der maßgeblichen Akteure – ein als "Roaring Kitty" bekannter Youtuber – wurde bereits von einem betroffenen Hedgefonds verklagt. Die Großinvestoren fürchten, dass ihnen die Kleinanleger künftig öfter in die Suppe spucken könnten. Zumal sich ihr Marktanteil in den USA von 2019 auf 2020 bereits verdoppelt hat. +… ist erst mal weiter unklar, wie der Gamestop-Fall juristisch und politisch bewertet wird. Fakt ist: Wenn sich Kleinanleger organisieren, können sie die Wall Street gehörig durcheinanderwirbeln. Nach der Gamestop-Rallye haben Kunden von Robinhood bereits versucht, die Wetten der Shortseller auch bei anderen Aktien zu durchkreuzen. Es ist davon auszugehen, dass diese Strategie künftig noch populärer wird. Experten sprechen von einer neuen Art des Protests gegen die Finanzwelt,einer "Re-Occupy Wall Street"-Bewegung, die sich in sozialen Netzwerken gegen Großinvestoren organisiert. Sowohl Hollywood als auch Netflix wollen das Börsenspektakel rund um Reddit und Gamestop verfilmen. Vermutlich als Robin-Hood-Saga – mit Robinhood in der Nebenrolle. + diff --git a/fluter/gamification-beispiele.txt b/fluter/gamification-beispiele.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..980c228d3d29e661e182b345c7442cd5f833f308 --- /dev/null +++ b/fluter/gamification-beispiele.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Gamification ist nicht die Erfindung eines Tech-Riesen aus dem Silicon Valley. Anreizsysteme als Motivation für (oft monotone oder unangenehme) Aufgaben gibt es seit Langem. In der DDR beispielsweise stellten die volkseigenen Betriebe Porträts der "Bestarbeiter" aus. Auf der sogenannten "Straße der Besten" winkten Arbeitern Sach- und Geldprämien. Heute heißen solche Listen "Leaderboard", die innere Logik bleibt dieselbe: Wer es auf die Bestenliste schafft, arbeitet noch härter, um seinen Platz zu halten. Das nimmt mitunter befremdliche Züge an. Zum Beispiel bei Uber. Eine App des Unternehmens animiert Fahrer mit fiktiven Umsatzzielen, Auszeichnungen und neuen Fahrdeals vor dem Ende der laufenden Fahrt zum "Binge Driving". Auch wenn sie das am freien Tag oder am Ende einer langen Schicht nicht wollen – und übernächtigt zu fahren gefährlich ist. +Amazon lässt seine Mitarbeiter gar gegeneinander antreten: In manchen Logistikzentren kriegen sie Punkte fürs schnelle Sortieren und Verpacken. Spiele in Retrooptik wie "Mission Racer" oder "PicksInSpace" sollen die (Lager-)Arbeit abwechslungsreicher machen, vor allem aber effizienter. Die US-Behörde für Arbeitssicherheit warnte bereits, dass mit dem verschärften Wettbewerb unter den Arbeitern das Verletzungsrisiko steige. Auch Assessment-Center oder Fortbildungen sind heute vielfach gamifiziert. Zum Beispiel in Cybersecurity-Schulungen: Im kostenlosen Onlinerollenspiel "Cyber Crime Time" spielt man einen Hacker, der Sicherheitslücken in einem Unternehmen finden muss, und lernt dabei, Bedrohungen zu erkennen und sich vor den häufigsten Angriffstechniken zu schützen. +Spieltrieb trifft Sammelleidenschaft: Wer erinnert sich nicht an die "Fleißsternchen" und Sticker für gute Mitarbeit in der Grundschule? Heute wandern diese "Incentives" oft nicht mehr ins Hausaufgabenheft, sondern aufs Smartphone. Mit der App "ClassDojo" können Lehrer ihre Schüler positiv oder negativ bewerten, Eltern und Mitschüler können die "Dojo-Punkte" der anderen einsehen. Mit "Kahoot!" oder "QuizAcademy" erstellen Lehrer ein Quiz zum jeweiligen Lehrplan. +Zwar wurden Noten schon immer untereinander verglichen. Apps machen aber jede Schularbeit zum potenziellen Wettbewerb, weil sie alle Schüler direkt vergleichen und oft ranken. Solche Belohnungssysteme können das Lernen erst mal attraktiver machen, sagen Experten: Jeder Punkt motiviert zum Weiterlernen. Für nachhaltiges Lernen brauche es aber keinen Druck, sondern intrinsische Motivation, einen inneren Antrieb zum Lernen. Die Kompetenz der Lehrkraft ist gefragt: Keine App kann guten Unterricht ersetzen. +Bewegung, Schlaf, ausgewogene Kost: Man kann die Leitsätze für Gesundheit herbeten, nur fehlt im Alltag oft die Motivation. Krankenkassen arbeiten dagegen mit Prämien- und Rabattprogrammen an, in denen Versicherte etwa ein wöchentliches Schrittziel, Vorsorgeuntersuchungen oder Impfungen nachweisen müssen. Überhaupt überschwemmen Gesundheits-Apps den Markt: Mit "Pokémon Smile" retten Kinder Pokémon, wenn sie sich mindestens eine Minute täglich die Zähne putzen. Die Wasserflasche "HidrateSpark" leuchtet, um an das tägliche Trinkziel zu erinnern, und listet in der dazugehörigen App die Trinkwasserstände der Freunde. "Strava" hat mit seinen Bestenlisten für Fahrrad- und Laufstrecken in der Pandemie Nutzerrekorde erzielt. +Kritiker warnen, dass gamifizierte Fitnessanwendungen zu exzessivem Training und allzu kurzen Regenerationsphasen führen können. Und dass sensible Gesundheitsdaten auch mit privaten Unternehmen geteilt werden, die nicht nach europäischen Datenschutzstandards arbeiten. +"Sammeln Sie Treueherzen?" Wer immer in denselben Supermarkt geht, bekommt dank Rabattprogramm irgendwann ein Topfset geschenkt. Auf Reisen sammelt man Flugmeilen, und ist die Stempelkarte der Dönerbude voll, geht der zehnte Kebab aufs Haus. Gamification! Mit solchen Aktionen belohnen Unternehmen die Treue ihrer Kunden. Was nichts anderes heißt als: Sie geben dort regelmäßig Geld aus. +Gesammelt wird längst digital. Eines der bekanntesten Beispiele ist die App "Ant Forest", die ihre User für "klimafreundliches" Verhalten belohnt. Kaufen Kunden ihre Bahntickets beispielsweise digital statt auf Papier, lassen sie in der App virtuelle Bäume wachsen. Für die werden ab einem bestimmten Wachstumsstand in trockenen Regionen des Landesechte Bäume gepflanzt. Die App will Anreize für klimabewusstes Verhalten schaffen – und Treue zum Mutterunternehmen, dem chinesischen Onlineriesen Alibaba. Kunden zahlen bei all diesen Programmen nicht nur mit ihrem Geld: Vielfach werden in Treueprogrammen Kundendaten erhoben, die für Unternehmen mehr wert sind als das verschenkte Topfset. +Laut diversen Umfragen verbringen Nutzer mehr als eine Stunde täglichin Dating-Apps, bei Tinder oft mit Hunderten Swipes pro Sitzung. Beim Swipen und Matchen werden Dopamin und Adrenalin ausgeschüttet, die im Gehirn Hochstimmung auslösen. Jedes Match kickt,Nutzer wollen schnell zurück in die App. Verschiedene Bezahlmodelle locken damit, länger und flexibler matchen zu können. Sozialpsychologen sehen längst ein ähnlich hohes Suchtpotenzial wie bei klassischen Videospielen. Das gilt nicht nur für die Marktführer. Kleinere, inklusive Dating-Apps setzen auf Gamification, mit Avataren, Gruppenchats, Abzeichen oder einem Onboarding-Quiz, mit denen Nutzer ihre Profile ausfüllen können. + +Dieser Text ist im fluter Nr. 87 "Spiele" erschienen.Das ganze Heftfindet ihr hier. diff --git a/fluter/gaming-industrie-gewerkschaft-streik.txt b/fluter/gaming-industrie-gewerkschaft-streik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..17dde3c8a90002a2a5bfd04d40e33dba42a302a2 --- /dev/null +++ b/fluter/gaming-industrie-gewerkschaft-streik.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Die Crunches seien seit jeher eines der größten Probleme in der Branche, sagt Johanna Weststar von der Western University in Ontario. Sie lehrt zu Arbeitsbeziehungen und Personalmanagement und forscht seit Jahren zur Gaming-Industrie. "Die Studios stecken in einem eisernen Dreieck aus engen Deadlines, versprochenen Game-Features und begrenztem Budget", sagt Weststar. In diesem Dreieck mache der fehlende Arbeitsschutz die Entwickler zu dem Teil, dem die Chefs am ehesten noch etwas abpressen können, um sich von der Konkurrenz abzuheben. "Crunch", sagt Weststar, "heißt nichts anderes als unbegrenzte unbezahlte Überstunden." In den USA ist das normal. Vielen IT-Angestellten, auch Game-Designern, müssen Überstunden nicht bezahlt werden. +Die Idee,sich gewerkschaftlich zu organisierenoder gar in den Arbeitskampf zu treten, ist in den USA weniger ausgeprägt als etwa in Deutschland. Weil das persönliche Streben nach Glück Verfassungsrang hat, hingen die USA schon immer stark am Ideal des Individualismus. In der Industrialisierung gab es durchaus starke Arbeiterbewegungen, die ihre Macht mit dem Kalten Krieg zunehmend einbüßten. Nicht zuletzt, weil Gewerkschaftler schnell als kommunistisch gebrandmarkt wurden. Heute haben etliche Firmendas "Union Busting", also die systematische Blockade von Arbeitnehmervertretungen, zu ihrem Geschäftsmodell gemacht, und in vielen US-Bundesstaaten gelten sogenannte Right-to-work-Gesetze, die die finanziellen und politischen Möglichkeiten der Gewerkschaften einschränken. 2022 gehörten nur sechs Prozent der Beschäftigten einer Gewerkschaft an. +In der Gaming-Industrie wurde die Idee, Ungerechtigkeiten mit Arbeitskämpfen zu begegnen, regelrecht geschmäht. Die "Crunch Culture" galt schlicht als Teil des Jobs, die Arbeit in den Studios als Sache von Enthusiasten, die ihrer Berufung nachgehen, nicht einem pünktlichen Feierabend. In einer Umfrage der International Game Developers Association sagten 28 Prozent der Entwickler, dass Crunchtimes für sie Joballtag seien (und weitere 25 Prozent gaben an, dass sie Überstunden machen müssen, die aber nicht "Crunch" genannt werden). +Dabei ist die Arbeit in den Studios nicht nur hart, sondern auch unsicher. Auf Crunches folgen häufig ruhigere Phasen, die Spiele sind ein Erfolg oder floppen, und die Studios reagieren auf dieses ständige Auf und Ab. Als 2023 viele Releases erschienen, die wegen der Pandemie verschoben worden waren, endeten mit den Projekten auch Tausende Jobs. Mindestens 10.500 Stellen wurden 2023 in der Gaming-Industrie gestrichen. +Undnoch ein Problem hat die Gaming-Industrie: 2018 berichteten erstmals Mitarbeiterinnen öffentlich von Mobbing, beruflicher Benachteiligung und sexualisierter Belästigung in den Studios. Daraufhin traten hochrangige Manager zurück, und in großen Studios wie Activision Blizzard ("World of Warcraft") und Riot Games ("League of Legends") protestierten und streikten Mitarbeitende. "Das war ein Funke", sagt Johanna Weststar. "Die Proteste haben gezeigt, dass die Energie für einen Kulturwandel studioübergreifend da ist." +Game Workers Unite (GWU) versucht, diese Energie zu nutzen. Das Logo der Gruppe zeigt eine Faust, die sich um einen Controller ballt. Eine Kampfansage? "Viele denken, wir rufen primär coole Slogans, bewerfen die Arbeiter mit Ausgabenvon Marx' ‚Kapital'oder hissen Banner, während sie das Studio stürmen", sagte GWU-Mitgründerin Emma Kinema mal lachend auf einem Vortrag. Dabei sei Arbeitskampf weniger der Sturm auf die Bastille als ein Zuhören und ein Austausch über die Möglichkeiten, wie man Probleme am Arbeitsplatz gemeinsam lösen kann. +GWU setzte sich für stabile und faire Löhne ein und dafür, dass Crunches verboten werden. Coole Slogans gab es trotz Kinemas Anmerkung: GWU-Sticker mit "Press X to form union" oder "Fight bosses not devs" (Anm. d. Red.: "developers") zierten Games-Messen und Studiozentralen. Und vor allem auf Discord war GWU aktiv, um die Chatplattform für Gamer zum Ort des Arbeitskampfes der Entwickler zu machen. Heute tauscht man dort Tipps zur Gewerkschaftsbildung und Streiks aus, die in einigen Studios verfangen haben. Bei Sega of America, dem kalifornischen Ableger der Entwickler von "Sonic", verhandelte die Gewerkschaft Lohnerhöhungen und Kündigungsschutz, und Activision Blizzard übernahm Mitarbeitende mit Zeitverträgen in Vollzeitstellen, um eine Gewerkschaft zu verhindern. + +Dieser Text istim fluter Nr. 91 "Streiten"erschienen +Und nicht nur in den USA rührt sich was. In Großbritannien ist der GWU-Ableger mittlerweile gesetzlich als Gewerkschaft anerkannt. In Schweden sind Entwickler einer Gewerkschaft beigetreten, in Frankreich finanziert eine Videospielgewerkschaft Entwicklern den Streik. Und in Deutschland? Rührt sich noch wenig. +Hierzulande ist die Gaming-Industrie eher klein. Spricht man mit Menschen in der Branche, zeichnen alle dasselbe Bild: Die großen Releases werden woanders entwickelt, für Crunches gibt es Ausgleichstage, und Entwickler sind auf dem Arbeitsmarkt zu begehrt, um sich von einem Studio schlecht behandeln zu lassen. Entsprechend wenig Einfluss konnte der deutsche Ableger von Game Workers Unite bislang erlangen. Und auch die Anstrengungen von ver.di, Spieleentwickler für sich zu gewinnen, sind bislang vergebens. +Doch auch in Deutschland gab es zuletzt Kündigungen, einige Studios mussten schließen, und gleichzeitig werden künstliche Intelligenzen immer besser im Entwickeln von Spielen. Und vor einigen Monaten gründete sichder Verein GAME:IN, um auf den Sexismus in der deutschen Branche aufmerksam zu machen. Vielleicht wiederholt sich hier Geschichte: Mit einer ähnlichen Initiative hatten die Arbeitskämpfe in den USA begonnen. + diff --git a/fluter/gaming-server-rollenspiele.txt b/fluter/gaming-server-rollenspiele.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..60e0ffb627d21a924cc09710f045c8e663892cf4 --- /dev/null +++ b/fluter/gaming-server-rollenspiele.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Die Rollenspiele folgen Regeln, die von einem Skript vorgeschrieben werden: Bei Verhalten X kommt es zu Ereignis Y. Mit einem solchen Skript greifen die Entwickler in die ursprünglichen Codes der Spiele ein. Diese Eingriffe werden von den meisten Studios geduldet, da sich mit der gesteigerten Aufmerksamkeit für die Rollenspiele auch die Originalspiele besser verkaufen. Dennoch bewegen sich die Rollenspielserver in einem rechtlichen Graubereich. +Während es in GTA noch darum geht, als Verbrecher Missionen zu erfüllen, konzentriert sich das Leben auf ­"StateV" mehr auf die Wirtschaft. "Wir haben ein sehr komplexes Skript geschrieben, das einen detailreichen Wirtschaftskreislauf ermöglicht", sagt Eike Klindworth. Der 28-Jährige ist freiberuflicher Softwareentwickler und Projektleiter. +Die wöchentlich etwa 2.000 aktiven User von "StateV" stecken im Spiel viel Zeit in den Aufbau von digitalem Kapital: Nach der Aufnahme in die Community beginnen die meisten damit, in einer Mine Rohstoffe abzubauen, um sich ein Grundvermögen zu verdienen. Einige bauen sich damit eine Firma mit Lagern, kaufen Rohstoffe an, verarbeiten sie weiter. Andere werden Ärzte oder Steuerprüfer. Um an solche Jobs zu kommen, braucht es allerdings Ausdauer. "Wer auf den Server kommt, kann nicht gleich einen dicken Sportwagen kaufen. Dafür muss man schuften", sagt Klindworth. Wie im echten Leben gibt es auch auf "StateV" soziale Aufsteiger und jene, die unten bleiben. "Man hat unglaublich viele Möglichkeiten, sich zu entwickeln", sagt Diana, die im Game eine Polizistin ist. Sie liebe das Schauspielen, sagt sie, und wolle eine Geschichte erzählen. Deswegen streamt sie ihr Spiel auf der Gaming-Streamingplattform Twitch. "Die Leute schalten immer wieder ein, um zu wissen, wie es weitergeht." +Die Pandemiebrachte Rollenspielservern großen Zulauf, vielleicht auch, weil die Nutzer im Spiel eine Gemeinschaft und Zusammenhalt verspüren, die während des Lockdowns fehlten. "StateV" hat inzwischen 80.000 Mitglieder, von denen einige leidenschaftlich ein Geschäft aufbauen, das nur virtuell existiert. Trotzdem sind die Rollenspielserver innerhalb des Gaming-Universums immer noch ein Randphänomen. +Bei "Minecraft", dem meistverkauften Computerspiel aller Zeiten, hat sich Alex Kisiel eine eigene Gesellschaft erschaffen. Normalerweise geht es im Spiel um den Abbau von Rohstoffen und den Bau prächtiger Häuser. Der 20-Jährige dachte sich eigene Regeln für das Zusammenleben aus und setzte kurzerhand 200 Spielende auf einer Insel aus. Ihre Aufgabe: überleben. "Ich habe etwa drei Wochen dafür gebraucht, mir den Ablauf zu überlegen, das Admin-Team aufzubauen, den Server zu testen", sagt er. Die Experimente zeichnete er auf und lud sie auf YouTube hoch. Dort wurden sie millionenfach abgerufen. "Wenn man die Spielerinnen und Spieler sich selbst überlässt, werden sie äußerst kreativ", sagt Kisiel. So macht sich eine Gruppe im Spiel daran, ein Kollektiv zu gründen, in dem die Menschen friedlich zusammenleben, Ackerbau betreiben und einen Rat wählen, der der Gemeinde vorsteht. Andere Spieler bilden eine Jagdgemeinschaft, andere errichten Tempel, gründen eine Religion. Sie alle kommunizieren über den Chat im Spiel oder über "Discord". +Es gibt allerdings auch Rollenspielserver, auf denen offen Gewalt und Hass ausgelebt werden. Das Strategiespiel "Company of Heroes" wird zum Beispiel von Nazis genutzt, um Schlachten des Zweiten Weltkriegs nachzustellen – und die Nationalsozialisten gewinnen zu lassen. Oft werden Symbole wie das Hakenkreuz per Modifikation ins Spiel eingefügt. Die Studios, aus denen die Spiele stammen, setzen dem wenig entgegen, obwohl es möglich wäre. Sie berufen sich unter anderem auf die Meinungsfreiheit in den USA, wo die meisten der Spiele entwickelt werden. Dort sind die Symbole nicht verboten. +Andere Communitys dagegen stellen sich offen gegen Rassismus und Diskriminierung. Zum Beispiel "Tyria Pride", eine Community im Spiel "Guild Wars 2". Regelmäßig gibt es auf mehreren Servern Pride-Paraden, an denen Hunderte Menschen teilnehmen. Dann sieht man die Völker in Rüstungen in Regenbogenfarben durch die Spielwelt ziehen – und offen zeigen und feiern, dass sie queer sind."Online-­Communitys können gerade queeren Menschen, die oft jung und allein sind, Unterstützung bieten", sagt Rok Zupan, der 28-jährige Gründer von "Tyria Pride". Das ganze Jahr über stehen die etwa 800 Mitglieder in Kontakt über das Chatprogramm "Discord". So entstehen digital wichtige Beziehungen unter den Spielenden: "Ich habe so einige meiner engsten Freunde getroffen", sagt Zupan. +Die erste virtuelle Pride-Parade fand im Sommer 2016 statt. Wenige Wochen nachdem im queeren Nachtclub ­"Pulse" in Orlando 49 Menschen bei einem Attentat getötet wurden. Die Community organisierte damals Spenden, die den Angehörigen der Opfer und den Überlebenden zugutekamen. Und mitunter verlagert sich der Protest auch auf die Straßen in der realen Welt. "Letztes Jahr habe ich dann zum ersten Mal an der echten Pride teilgenommen", sagt Julia. Die 27-Jährige ist trans und hatte zuvor Angst, an einer queeren Demo teilzunehmen. "Guild Wars 2" sei wie ein zweites Zuhause für sie gewesen – ein Ort, an dem sie Mut schöpfte und Rückhalt bekam. +"Hier bin ich, wer ich bin, und ich werde mich nicht mehr verstecken." +Titelbild: Wu Jingli diff --git a/fluter/ganz-cool-hier.txt b/fluter/ganz-cool-hier.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..93e25f5b0966421c1e0b34f93e3a94acf293d04b --- /dev/null +++ b/fluter/ganz-cool-hier.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Die meisten Fenster des sechsgeschossigen Fabrikgebäudes sind ­herausgebrochen, von den Wänden blättert die Farbe, das Gelände ist gesäumt von kaputten Zäunen. Dimitri Hegemann ist dennoch total geflasht: "Das ist eine magische Ruine. Da bin ich ganz sicher." Wenn sich einer mit Ruinen auskennt, dann er. Kurz nachdem vor über 25 Jahren die Mauer gefallen war und Berlin an manchen Ecken nicht viel anders aussah als Detroit heute, eröffnete er einen Club gleich neben dem staubigen Niemandsland des ehemaligen Todesstreifens. Mit dem "Tresor" explodierte in Berlin nach dem Mauerfall die Techno-Szene. Das wäre nicht möglich gewesen, hätte es nicht Räume gegeben wie den unterirdischen Tresorraum des ehemaligen Wertheim-Kaufhauses mit seinen niedrigen Decken, rostigen Schließfächern und meterdicken Betonmauern. Es wäre aber auch nicht möglich gewesen ohne den krassen Sound, zu dem im Tresor getanzt wurde. Und den lieferten Detroiter Musiker und DJs. +Hegemann, heute 61 Jahre alt, ist seither in engem Kontakt mit ihnen und möchte mit ihnen etwas in ihrer maroden, von der Wirtschaftskrise gebeutelten Heimatstadt aufbauen. Von den wilden Nachwendejahren profitiert Berlin ja noch heute. Der Ruf, dass die Stadt aufregender ist als andere, lockt nicht nur Touristen an, er ist auch ein Motor für die Wirtschaft, weil gerade junge IT-Fachkräfte gern nach Berlin ziehen, um dort zu arbeiten. "Für Berlin war Techno ein Türöffner", sagt Hegemann. Warum sollte das in Detroit nicht möglich sein? +Es wäre ein beeindruckendes Comeback. Bevor Detroit einer der öden Orte des Spätkapitalismus wurde, war es eine Schlüsselstadt der Moderne. Hier führte Henry Ford 1913 das Fließband ein. Alle drei Minuten ging ein Ford Model T vom Band, ein Auto für jedermann. Mit ihm begann der steile Aufstieg der Stadt. Bald zahlte Ford seinen Arbeitern fünf Dollar Lohn pro Tag, etwa doppelt so viel wie damals üblich. Die "Ford families" konnten sich ein Haus mit einer Garage und einem Auto darin leisten. Ein Fabrikarbeiter verdiente mehr als mancher Ingenieur in Deutschland. Bis in die 1960er-Jahre gingen neun von zehn US-amerikanischen Autos in Detroit vom Band. Die Stadt war die Werkbank der Nation, hier wurde fleißig am amerikanischen Traum geschraubt. +Doch dem rauschhaft schnellen Aufstieg folgte ein langsamer, qualvoller Fall. Die Probleme begannen in den 1950er-Jahren, als die Automatisierung der Autoproduktion zahlreiche Fließbandjobs überflüssig machte. Zur gleichen Zeit über­siedelten ganze Industriezweige in den Süden der USA, um die mächtigen Gewerkschaften im Norden zu meiden. Neue Highways wurden gebaut, sodass viele Detroiter in die Vor­städte zogen und zu Pendlern wurden: eine Entwicklung, die sich 1967 rasant beschleunigte, nachdem es nach einer Razzia in einer Bar ohne Ausschankgenehmigung zu schweren Unruhen gekommen war, bei denen in fünf Tagen 43 Menschen getötet wurden.Und der war nicht nur Weißen vorbehalten. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Detroit auch eine Stadt der Hoffnung für die Schwarzen. Sie war die letzte Station der Underground Railroad, so nannte man die Fluchtroute entflohener Sklaven aus den Südstaaten, die auf dem Weg in die Freiheit in Kanada waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg sorgte dann die boomende Autoindustrie dafür, dass auch Schwarze, die bei der Arbeitssuche oft benachteiligt wurden, Jobs fanden. Es entstand eine schwarze Mittelschicht. Der Soundtrack für diese Jahre waren die Hits des Soullabels Motown. Diana Ross, Stevie Wonder und Marvin Gaye veröffentlichten in Detroit ihre Hits. Und der gerade mal elfjährige Michael Jackson feierte hier sein Debüt. +Neues Leben in der Geisterstadt: Über den Lärm des Basketballs beschwert sich hier sicher niemand +In den 1970er-Jahren geriet dann die Autoindustrie ins Stottern, als deutsche und japanische Hersteller begannen, den amerikanischen Markt zu erobern. Hinzu kam die Ölkrise, die den großen drei – Ford, General Motors und Chrysler – besonders zusetzte. Schließlich schluckten amerikanische Straßenkreuzer weit mehr Benzin als europäische und asiatische Wagen. Die Folge: Entlassungen, Werksschließungen und eine massenhafte Auswanderung. Die Mittelschicht floh nun förmlich aus der Innenstadt, in den letzten Jahren alle 20 Minuten eine Familie. Schrumpfende Städte gibt es auf der ganzen Welt, doch kaum eine hat es so heftig erwischt wie Detroit. Wer es sich leisten konnte, zog in die Gegend nördlich der 8 Mile Road, der berüchtigten, von Eminem besungenen Stadtautobahn, die die prosperierenden Vororte vom maroden Stadtkern trennt. Wo Anfang der 1950er-Jahre noch 1,8 Millionen Menschen gelebt hatten, sank die Zahl auf derzeit unter 700.000 Einwohner. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. Die Arbeitslosigkeit liegt so hoch wie nirgends sonst in den USA. Auf 100.000 Einwohner kommen 43 Morde pro Jahr. Auch das ein Rekord: In New York sind es elfmal weniger. +Natürlich gab es Rettungsversuche. Einige sogar: in den 1970er-Jahren, als ein Enkel von Henry Ford das Renaissance Center baute, einen riesigen Gebäudekomplex am Ufer des Detroit River; er brachte keine Belebung. 1987, als der People Mover das Problem des Nahverkehrs lösen sollte – aber kaum einer mit der automatischen Hochbahn fuhr. Um die Jahrtausendwende, als drei Casinos eröffneten und die Touristen anlocken sollten, oder 2006, als der Super Bowl im Stadion der Lions stattfand. Gebracht hat all das wenig. Der Bedeutungsverlust der Kernindustrie und der Bevölkerungsschwund ließen sich nicht kompensieren. Im Juli 2013 hat die Stadt, die mal zu den reichsten der Welt gehörte, Insolvenz angemeldet. +Doch genau der könnte jetzt eine große Chance bieten. Denn Detroit ist klammheimlich cool geworden. Wohl nirgends in den USA kann man mit so ­wenig Geld so viel auf die Beine stellen wie hier. Auf dem Höhepunkt der Immobilienkrise 2008 konnte man Häuser für gerade mal 100 Dollar kaufen. Das lockte ein paar Pioniere an. Erst kamen Künstler und Kreative, viele aus Brooklyn und San Francisco, weil es hier noch günstigen Wohnraum gab, große Ateliers und Gestaltungsspielraum. Dann kamen Galeristen, und Detroit wurde hip. Schließlich folgten Investoren wie der Mil­liardär Dan Gilbert, ein gebürtiger Detroiter, der zahlreiche leerstehende Hochhäuser und historische Gebäude in Downtown gekauft und seine Firma Quicken Loans angesiedelt hat, die Hypotheken finanziert.Geht man heute durch Downtown, wundert man sich: kein Starbucks, kein McDonald's, kein Supermarkt. Wozu auch, ist ja kaum einer da. An vielen Wolkenkratzern wächst Moos, im einst opulenten Michigan Theatre parken ein paar Autos, in den Schaufenstern sind schon lange keine Waren mehr, sondern Installationen von Street-Art-Künstlern. Sie sollen etwas kaschieren, das unübersehbar ist: den Leerstand. +Längst macht das Schlagwort vom neuen Berlin die Runde. Im August 2015 war eine Delegation aus Detroit zu Besuch in Berlin, darunter ein paar hochrangige Stadtvertreter und die Techno-Musiker von Underground Resistance, einem Detroiter Label. Eingeladen wurden sie von der Detroit-Berlin Connection, einem Kulturaustauschprojekt, das Dimitri Hegemann mitgegründet hat. Zwei Konferenzen gab es schon in Detroit. Diskutiert wurde, wie Subkulturen die Stadtentwicklung fördern können. Jetzt will der Verein den Stadtoberen zeigen, was aus dem ehemals von Brachen durchsetzten Berlin geworden ist. +Die Hoffnung: Aus der dynamischen Nischenkultur, die in den letzten Jahren in Detroit entstanden ist, könnte sich etwas Größeres entwickeln. Die Rahmenbedingungen scheinen zu stimmen. Die Stadt erholt sich langsam. Zigtausend kaputte Straßenlaternen wurden bereits durch LED-Lampen ersetzt – 65.000 sollen es bis Ende 2016 werden. Etwa 200 verlassene und baufällige Häuser werden jede Woche abgerissen – Ziel: mindestens 40.000. Teilweise sind dort nun Grünflächen. Und nach wie vor werden leerstehende Häuser im Internet versteigert, die billigsten für gerade mal 1.000 Dollar, aber mit einer Auflage: Der Käufer muss dort selbst einziehen. +Ob das reicht? Noch nicht, findet Dimi­tri Hegemann. "Was fehlt, ist ein kreativer Leuchtturm, der auch international Strahlkraft hat." So einer soll das ehemalige Industriegebäude Fisher Body 21 werden: Wo früher die Karosserien für die Cadillacs gefertigt wurden, könnte bald getanzt werden. Ein Treffpunkt soll entstehen, der die Stadt vernetzt – und der eine Attraktion ist, um neue Leute in die Stadt zu bringen. Platz ist noch genug. diff --git a/fluter/ganz-der-vater.txt b/fluter/ganz-der-vater.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..87d11085aac3e996fa2c2587071937770bb6da74 --- /dev/null +++ b/fluter/ganz-der-vater.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Was habe ich von meinen Eltern, meinen Großeltern? Was wird überhaupt vererbt? Die blauen Augen von der Mutter, klar, und die Muskeln vom Vater, wahrscheinlich. Dass Merkmale wie Augenfarbe, Statur oder die Beschaffenheit der Haare vererbt werden, erfahren junge Eltern oft schon in den ersten Wochen nach einer Entbindung: "Wie süß! Ganz die Mutter!" +Dabei wurde die Ahnung, dass körperliche oder seelische Merkmale durchaus vorbestimmt sein könnten, erst ab 1865 zur Gewissheit. Damals machte der Pater Johann Gregor Mendel die Ergebnisse seiner Kreuzungsexperimente mit rund 28.000 Erbsenpflanzen publik. Sechs Jahre nach der Veröffentlichung von Darwins Evolutionstheorie wies Mendel nach, dass unsichtbare "stoffliche Einheiten" von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. +Bis heute gewinnt man immer präzisere Erkenntnisse darüber, welchen Einfluss die Gene und ihre Vererbung auf einen Organismus haben. Und bis heute gibt es im öffentlichen Diskurs eine große Bereitschaft, diese Ergebnisse frei zu interpretieren – bis hin zu dem Glauben, dass der Schlüssel zu ganzen Biografien in der Desoxyribonukleinsäure zu finden sein muss. +Schließlich ist eine ganze Reihe von Erbkrankheiten oder vererbten Dispositionen für bestimmte Leiden zweifelsfrei nachgewiesen und bestens erforscht – von der Bluterkrankheit über die Mukoviszidose bis zu Chorea Huntington (siehe im Heft S. 12). Auch Verhaltensweisen lassen sich möglicherweise auf ein einziges Gen zurückführen. DRD4 beispielsweise enthält die "Bauanleitung" für jene Rezeptoren im Gehirn, die den motivierenden Botenstoff Dopamin aufnehmen. Menschen mit einer mutierten Variante dieses Gens neigen zu erhöhter Risikofreude – weil sie nicht mehr so stark auf Dopamin reagieren und entsprechend stärkere Reize brauchen. +Elterliche Gene als Programm, das unvermeidlich ablaufen muss? Als erschreckendes Beispiel dafür gilt der Fall des 2010 hingerichteten Doppelmörders Jeffrey Landrigan. Er erfuhr erst in der Todeszelle, dass sein leiblicher Vater ebenfalls ein Mörder und sein Großvater ein Schwerverbrecher war, sogar sein Urgroßvater war ein notorischer Schwarzhändler – er selbst aber wurde noch als Kleinkind von in jeder Hinsicht vorbildlichen und sorgenden Eltern adoptiert. Vor seiner eigenen Hinrichtung erklärte Landrigans Vater: "Ich glaube, mein Sohn wurde zu dem, was ich war, als ich ihn zeugte." +Groß ist der Eifer ehrgeiziger Forscher bei der Suche nach dem Gen, das Menschen zu "natural born killers" macht. So ist beispielsweise seit 1991 ein Gen namens FMR1 isoliert und beschrieben, dessen Mutation zu geistigen Beeinträchtigungen vor allem bei männlichen Betroffenen führen kann. Das entsprechende Krankheitsbild wird von Fachleuten als "Fragiles X-Syndrom" bezeichnet – die Medien machten daraus kurzerhand das "Verbrecher-" oder "Kriminalitäts-Gen". Gerade so, als wäre die biochemische Wurzel allen Übels entdeckt worden. +Forscher der Hebrew University in Jerusalem wollen das Gen gefunden haben, das für Großzügigkeit zuständig ist. Nachdem sie die Freigiebigkeit von Probanden ermittelt hatten, wurde bei anschließenden Gentests eine bestimmte Variante von AVPR1a entdeckt – das eine Rolle dabei spielt, ob ein Stoff namens Vasopressin im Gehirn aktiv wird. In Experimenten mit Mäusen wurde dieses Hormon mit der auch für die Evolution einer Spezies wichtigen Fähigkeit, soziale Bindungen einzugehen, in Verbindung gebracht. +Solche Überlegungen setzen allerdings voraus, dass es so etwas wie das "Böse" und das "Gute" gibt – und dass beide, der Verbrecher wie der Heilige, unmöglich für ein Handeln verantwortlich sein können, das in ihren Genen und damit außerhalb ihrer persönlichen Verantwortung liegt. +Ein spezielles Rätsel ist die Homosexualität – schon deshalb, weil schwule Männer oder lesbische Frauen mit ihren Partnern keine Kinder zeugen, ein entsprechendes Schwulenoder Lesben-Gen also seine eigene Verbreitung zumindest bremsen würde. Dennoch gibt es in allen Kulturen der Welt eine stabile "homosexuelle Population". +Nach aktuellem Stand der Forschung hängt die sexuelle Orientierung eines Menschen unter anderem von mehreren Genen auf einem als Xq28 bezeichneten Abschnitt der DNA ab. Gewisse Marker im Erbgut sollen dafür sorgen, dass männliche Föten genug Testosteron produzieren, um sich zu männlichen Körpern zu entwickeln. Diese Marker sind im Normalfall nicht mehr vorhanden, sobald der Körper seine Geschlechtsreife erlangt hat. Sind sie es aber entgegen der Regel doch, haben Eltern ihre Marker an ihre Kinder übertragen. Angeblich werden diese Kinder häufiger homosexuell. +Zwar wird allgemein angenommen, dass Homosexualität auch genetische Wurzeln hat. Ein einzelnes Gen konnte dafür aber noch nicht lokalisiert werden. Zumal etwas so Komplexes wie die Sexualität auch von einem ganzen Bündel anderer Faktoren bestimmt wird – von hormonellen Einflüssen während der Schwangerschaft über kulturelle Prägungen bis zu biografischen Ereignissen. Die Vertreter der Queer-Theorie verorten die sexuelle Prägung ausschließlich im sozialen und kulturellen Umfeld und lehnen jede biologische Erklärung ab. +Es mag erwiesen sein, was jede Selbstbetrachtung nahelegt – dass wir dieses oder jenes Merkmal, gut oder schlecht, "vom Vater" oder "von der Mutter" übernommen haben und weitertragen. Trotzdem können wir uns nicht selbst von der Verantwortung entbinden, welche Veranlagung wir zur Ausprägung kommen lassen. Arrangement mit dem Gegebenen und der freie Wille tanzen umeinander wie die Doppelhelix unserer DNA. diff --git a/fluter/ganz-miese-nummer.txt b/fluter/ganz-miese-nummer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dbb3810cd3a209212a76c25f3ceb05e95889c36c --- /dev/null +++ b/fluter/ganz-miese-nummer.txt @@ -0,0 +1,45 @@ +fluter.de: Du hast dich ausführlich mit Zahlen beschäftigt. Wie viele Fragen empfiehlst du für unser Interview? +Holm Friebe: Auf jeden Fall eine ungerade Zahl. Das gilt auch für Blumen in einer Vase oder Stichpunkte auf einem Präsentations-Chart. Die gerade Anzahl zerfällt unschön in zwei Hälften. Es geht um die gefüllte Mitte. Bei Interviews sollte man eine ungerade Zahl von Fragen stellen. Der Mittelpunkt, das Zentrum genießt dann besondere Aufmerksamkeit. So wie man auch auf einem Präsentations-Chart das Wichtigste in der Mitte platzieren sollte. +Wusstest du vor dem Buch schon viel über Zahlen, oder wolltest du dich selbst mit Angeberfacts ausrüsten? +Ich habe es als Wissenslücke empfunden, dass man in sehr grundlegenden Gestaltungsfragen keine Handhabe hatte. Es gibt viel Literatur über Farbpsychologie, etwa dass man in Krankenhäusern viel Grün nutzen sollte, weil das angeblich beruhigend wirkt. Für die Verwendung von Anzahlen in der Gestaltung gab es so etwas nicht. Aber ich hatte immer den Verdacht, dass solche Gestimmtheiten da auch wirken. Das wollten wir systematisieren. +In meinem Bekanntenkreis galt es eine Zeitlang als lässig, wenig Ahnung von Mathe zu haben. Was hat uns da geritten? +Wir alle haben die Mathematik als Kulturtechnik guten Mutes an die Maschinen delegiert und dabei das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Denn wir haben auch im Alltag weiterhin dauernd mit Zahlen, Mengen und Größenverhältnissen zu tun. Das holt einen immer wieder ein. +Die Drei ist immer mit dabei: Jedenfalls wenn es nach wohlgeordneten Verhältnissen aussehen soll +Gibt es heute viel Überforderung mit Zahlen? +Es fängt an mit der Gestaltung. Jeder, der Bilder an der Wand anbringt, wird feststellen: Wenn er drei Bilder nebeneinanderhängt, bekommt das gleich etwas Altarmäßiges. Die klassische Symmetrie läuft oft unfreiwillig auf die kleinbürgerliche Erhabenheit des Gelsenkirchener Barocks hinaus. Aber es geht auch um Gestaltung in einem abstrakteren Sinne: Preisgestaltung. Sicher ist es nützlich, als Konsument im Supermarkt die Wirkung der vielen Neuner-Preise zu verstehen. Und noch ein wichtiges Thema sind Gruppenzusammensetzungen, bei denen elementare Fehler gemacht werden. Angefangen von Tischgesellschaften. Wann kann man sich noch gut unterhalten? Das hört bei sechs Leuten auf, die an einem runden Tisch mit kleinem Durchmesser sitzen, wo sie sich alle noch in die Augen schauen können. Bei allem darüber hinaus zerfallen Gespräche in Zweier- und Dreiergruppen. enden allerspätestens bei 10 Leuten. Da wird aus Naivität viel falsch gemacht und – etwa in der Businesswelt – Kreativität durch schiere Anzahl abgetötet. +Scheint ganz so, als kämen wir besser mit kleinen Anzahlen zurecht. Ist das ein Problem in Zeiten, in denen viele Menschen im Netz Hunderte Freunde haben? +Es gibt einen britischen Anthropologen, Robin Dunbar, der sagt, dass wir aufgrund unserer Gehirnkapazität maximal 150 Menschen im aktiven Arbeitsspeicher halten können –  so dass wir noch wissen, wer sie sind und was sie machen. Was darüber hinausgeht, erscheint uns als amorphe Masse. Dunbar führt das zurück auf steinzeitliche Dörfer. Aber so richtig wissenschaftlich erhärtet ist das nicht. Andererseits gibt es auch anderswo Hinweise, dass wir mit großen Anzahlen überfordert sind, etwa in der Konsumpsychologie. Menschen kaufen weniger, wenn sie sich einem Überangebot ausgesetzt fühlen. Man spricht auch von der Tyrannei der Auswahl. +Ist die moderne Gesellschaft für uns generell eine Nummer zu groß? +Das ist eine philosophische Frage. Die kann man zurückverfolgen bis zu den Anfängen der Soziologie und der Gegenüberstellung der Konzepte "Gemeinschaft" und "Gesellschaft". Ferdinand Tönnies sagte, wir müssen zurück zur Gemeinschaft, zum Dorf, wo wir uns alle kennen und wo wir uns intuitiver Heuristiken bedienen können. Während Max Weber – später Niklas Luhmann – für funktionale Ausdifferenzierungen und Expertensysteme plädierte, weil ein Zurück zur zahlenmäßig überschaubaren Gemeinschaft, in der der Einzelne alles erfassen und beherrschen kann, wohl nicht möglich ist. +Gibt es deshalb heute so viele Infografiken in den Medien, die uns das Unüberschaubare und "Zahllose" anschaulich machen sollen? +Komplexitätsreduktion, die uns handlungsfähig macht, gibt es in vielen Formen. Etwa auch in Form des Natural-User-Interface unserer Computer, wo wir einen Schieberegler intuitiv bewegen, als sei es ein mechanischer Regler. Aber diese scheinbar einfachen Dinge sind mit Vorsicht zu genießen, weil es sich um simulierte Einfachheit handelt: Ein mechanischer Schieberegler, der abstürzen kann. Wir müssen mit Komplexität leben und sie immer im Hinterkopf behalten. +Sind wir also dazu verdammt, den Mathematikern in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft zu vertrauen, dass sie schon richtig rechnen werden? +Ja, denn so ist unsere funktional ausdifferenzierte Gesellschaft nun einmal. Es gibt für alles Experten, auf die sich die Nichtexperten ab einem gewissen Punkt verlassen müssen. Keiner kann mehr alles können. Kürzlich hab ich ein Interview mit einem Mathematiker gelesen, der meinte, um heute State-of-the-art-Mathematik zu betreiben, braucht man einen leichten Asperger-Autismus. Und das können wir anderen uns wohl nicht aneignen. Aber wir brauchen eine Metakompetenz: dass wir ungefähr wissen, was die da machen, wenn die diese supersmarten Algorithmen basteln, die zunehmend die Welt beherrschen. +Welchen Teil davon können wir denn verstehen? +Wir können uns bestimmte Mechanismen ansehen, die uns manipulieren sollen. Etwa die Entscheidungsarchitekturen in der Werbung und im Marketing, die aus Zahlen gebaut werden. Ein Beispiel, wie wir mit Lockvögel-Angeboten (genannt "Decoys"), manipuliert werden: Sobald wir die Fernsehabteilung eines Elektronikmarkts betreten, wird unsere Vorstellung, was ein angemessener Preis für einen Fernseher ist, durch den riesigen 20.000-Euro-Flachbildschirm zertrümmert, der gleich im Eingangsbereich steht. Danach wirken alle anderen Geräte günstig. +Nicht nur bei 6 Richtigen: Zahlen wecken Emotionen +Haben Zahlen etwas mit "Erzählen" zu tun? Könnte man aufgrund der Wortgleichheit ja annehmen. +Haben sie in dem Sinne, dass sie eben auch affektiv wirken und uns verführen können. Zum Beispiel mit solchen Angeboten, die nur dazu da sind, unsere Preiswahrnehmung zu verzerren. Gerne werden von einem Produkt auch drei Preiskategorien angeboten, weil wir uns dann mit einem guten Gefühl für das mittlere Angebot entscheiden. Wir humpeln an Krücken durch eine Welt solcher Entscheidungsarchitekturen, in der wir uns rein rational nicht zurechtfinden können. Aber auch beim Erzählen und in der Dramaturgie, etwa in der Struktur des griechischen Dramas, spielen Zahlen eine große Rolle. Und im Journalismus gilt der rhetorische Dreiklang: Eins ist keins, zwei Beispiele können Zufall sein, drei sind viele – drei Belege sind ein Beweis. +Wie kommt diese Durchsetzungsmacht der Zahlen in der Politik zum Tragen? +Ob da viel manipuliert wird, kann ich nur mutmaßen. Generell gibt es für die Wahrnehmbarkeit von Zahlen kritische Schwellen. Wenn es zum Beispiel 13-stellig wird beim Schuldenstand, dann hat das eine neue Qualität. Das Problem ist, dass es in der Volkswirtschaft oft um Größenordnungen geht, die unsere Vorstellungskraft sprengen. So richtig auskennen tun sich in diesen Regionen dann nur noch Mathematiker, Banker und Finanzpolitiker. Auch Journalisten finden sich nicht mehr zurecht. Das merkt man daran, dass die englische Billion häufig als Billion übersetzt wird, nicht als Milliarde – selten fällt das auf. In diesen Dimensionen versagt die intuitive Anschauung. +Die Zahlen, von denen in öffentlichen Debatten die Rede ist, sind oft eher niedrig und erscheinen handhabbar. Zum Beispiel das Zwei-Grad-Ziel bei der Erderwärmung und die Defizitgrenze von drei Prozent in der EU. +Solche symbolisch aufgeladenen Schwellenwerte haben in der Politik eine große Bedeutung. Mittlerweile muss man nur noch "zwei Grad" sagen, und alle wissen, dass das etwas mit Klima zu tun hat. So lassen sich Zahlen auch zu politischen Marketing- und Lobbyinstrumenten machen. +Hat der Zahlenname "Agenda 2010" geholfen, das dahinterstehende politische Programm der SPD unter Schröder durchzusetzen? +Nun gut, wenn es in der Politik zu sehr nach Marketing riecht, kann das auch zurückschlagen. In dem Fall hat man schön beobachten können, dass solche Begriffe schnell mit Gegenbegriffen gekontert werden. Was hängen geblieben ist, war nicht "Agenda 2010", sondern "Hartz IV". +Wo wir schon bei der Schröder-Ära sind: Gerhard Schröder ist im Wahlkampf 1994 ja zusammen mit Oskar Lafontaine und Rudolf Scharping als Dreierteam angetreten. Wie wichtig war dabei die Drei? +Da kommen wir ins Zentrum der Gruppenpsychologie und der kulturellen und symbolischen Aufladung von Zahlen. Die Drei verweist zunächst mal auf die göttliche Ordnung im Christentum – die Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Dreierkonstellationen werden schon deshalb weniger angezweifelt. Sie wirken wie vom Himmel gefallen. Aber wie man bei Schröder, Lafontaine und Scharping sehen konnte, ist die Drei als Gruppe auch eine instabile Konstruktion. Da entsteht schnell die Konfliktlinie zwei gegen einen. +Sind also in Wirklichkeit aller guten Dinge vier? +Tatsächlich ist die Vier eine stabilere Gruppenkonstruktion, weil sie ausgeglichener ist. Da bilden sich meist zwei Zweierteams. Das ist die klassische Band-Konstellation aus Gitarrist, Sänger, Schlagzeuger und Bassist. Wie schon bei den Beatles und den Rolling Stones. Auch ist die Vier eine geeignete Größe, um bereits ein hinreichendes Meinungsspektrum zu repräsentieren und ein gutes Gespräch zu führen. Das kann man gut am Beispiel von TV-Sendungen wie dem "Literarischen Quartett" sehen. Das Problem der Viererkonstellation wiederum ist, dass es leicht Pattsituationen von zwei gegen zwei gibt. Man kann mit vier Personen gut diskutieren, aber zum Entscheiden ist eine ungerade Zahl dann doch besser. +So wie in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, als es mit CDU/CSU, SPD und FDP fast immer im Wesentlichen eine Dreierkonstellation im Parlament gab? +Ja, da kann man gut sehen, wie die Dreierkonstellation funktioniert und wie darin taktiert wird. Es gibt darin immer den, wie man sagt, "lachenden Dritten" beziehungsweise das "Zünglein an der Waage". Und das war lange Jahre die FDP. +In der Politik wird viel quantifiziert. Kann man nur noch auf der Grundlage von Zahlen gute Entscheidungen fällen? +Unsere Gesellschaft ist eben so komplex, dass sie sich im Ganzen nur noch numerisch beschreiben lässt. Der Soziologe Niklas Luhmann hat das sehr schön mit einem Bild beschrieben: Wir sitzen in einem U-Boot und haben nur noch irgendwelche Hebel und Anzeigeinstrumente zur Verfügung. Wir wissen eigentlich nicht, was da draußen wirklich los ist. Und so wird Gesellschaft gesteuert anhand von Schlüsselgrößen wie etwa der Inflationsrate. Das ist eine vollkommen willkürliche Größe, die davon abhängt, wie der typische Warenkorb gebaut wird. Oder das Bruttoinlandsprodukt (BIP), das gern als Wohlstandsindikator herangezogen wird. Solche Zahlen, die bis auf viele Nachkommastellen erhoben werden, kreieren die Illusion von Kontrollierbarkeit. Aber wenn man mal den Deckel aufmacht, sieht man, was für schwammige Konzepte das sind. Jeder Autounfall vergrößert das BIP, weil dadurch die Werkstatt, die Ärzte oder gar Bestattungsunternehmer zu tun bekommen. Umgekehrt: Wenn Nachbarschaftshilfe geleistet wird, fällt das durchs Raster und reduziert das BIP. Kurzum: Was das Leben beeinträchtigt und was es lebenswert macht, wird durch diese Zahl nicht unbedingt abgebildet. +Gibt es dafür geeignetere Zahlen, oder müssen die erst noch erfunden werden? +Es gibt Versuche, Aspekte wie Gesundheit und persönliche Zufriedenheit auf einen universellen Glücksperformance-Indikator zu bringen, der dann an die Stelle des BIP treten soll. Ich bin da aber misstrauisch, weil das genau diese Kontrollillusion der verwalteten Welt überträgt auf etwas, das sich eben nicht zahlenmäßig steuern lässt. +Sollten Politiker dann besser doch mit dem Bauch als mit Kopf und Zahlen entscheiden? +Jedenfalls gibt es bestimmte Wahrheiten wie Lebenszufriedenheit, die für Politiker nur im Gespräch mit Bürgern erfassbar sind. Man muss aus dem U-Boot der Zahlensteuerung aussteigen, um tatsächlich zu ermitteln, wie es den Leuten geht. Soweit das für Spitzenpolitiker möglich ist. Aber das erscheint mir immer noch tragfähiger als alle nebulösen Versuche, solche Aspekte des Lebens mathematisch zu aggregieren zu einem Glücksindex. +Misstrauisch kann man aber auch werden, wenn es bei Bauchentscheidungen bleiben soll. Die trifft immer einer. Ist es am Ende nicht doch demokratischer, wenn es eine Zahl gibt? +Ich denke, nein. Demokratischer ist, wenn einer die Entscheidung trifft und dann alle anderen hinterher darüber abstimmen, ob sie das gut und richtig fanden und ob sie den Entscheidern noch mal eine Amtszeit gewähren wollen oder nicht. Besser geht es nicht. +Aber rein zahlenmäßig steht man als Wähler in modernen Demokratien ja oft auf verlorenem Posten. In Deutschland ist man gerade mal einer von gut 64 Millionen, die ihre Stimme abgeben können. +Da kommen wir wieder zu der Tönnies-Weber-Frage: Gibt es optimale Größen für Gemeinwesen? Aber wir fühlen uns ja eben nicht nur als Bürger des nationalen Gemeinwesens. Parallel zur Entwicklung superstaatlicher Gebilde wie der EU und der UNO gibt es heute als Gegenbewegung den Bedeutungsrückgewinn des Lokalen und Kommunalen. Ich rate dazu, dass man sich auf der politischen Handlungsebene besser als Berliner, Hamburger oder Heidelberger sieht und sich auf der Ebene politisch engagiert. Denn dort kann man eine unmittelbare Resonanz des eigenen Tuns erleben. +Der Journalist und studierte Volkswirt Holm Friebe ist Geschäftsführer der virtuellen Firma"Zentrale Intelligenz Agentur (ZIA)"und Gründer des Weblogs"Riesenmaschine". Mit Sascha Lobo schrieb er das Buch "Wir nennen es Arbeit" und brachte darin das Phänomen der digitalen Bohème auf den Begriff. Nebenbei arbeitet er als Dozent für Designtheorie an Kunsthochschulen. diff --git a/fluter/ganz-neue-toene.txt b/fluter/ganz-neue-toene.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0cc858c2beab8d336eeb062a882b83aa0b5e77c9 --- /dev/null +++ b/fluter/ganz-neue-toene.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Die deutsche Band Seeed war noch radikaler: Sie ließ die Konzertveranstalter wissen, dass sie nur noch in Hallen auftrete, die mit Strom aus regenerativen Energiequellen betrieben werden. Die Ärzte wiederum glichen die Emissionen ihrer "Jazzfäst"-Tour durch Spenden für Aufforstungen aus, und die Popgruppe Black Eyed Peas wirbt lautstark für das Umweltprojekt "Green for all". + + +Es scheint so, als habe die grüne Welle die Musikbranche voll erwischt. Zwar gefallen sich noch genügend Rapper darin, in benzinsaufenden Luxusautos durch ihre Videos zu fahren, aber die Musiker, die ihren Heldenstatus dazu benutzen, den Fans in Sachen Umweltbewusstsein ein Vorbild zu sein, nehmen eindeutig zu. Die Wochenzeitung "Die Zeit" träumt bereits davon, dass unter dem Einfluss der singenden Idole aus gleichgültigen Teenagern nun "Greenager" werden. +Die Musikindustrie ist im Vergleich zu anderen Industrien nicht unbedingt eine Öko-Horror-Show, aber auch sie produziert erkleckliche Mengen von CO2. Eine Studie der Oxford-Universität kam 2007 zu dem Ergebnis, dass Tonträgerproduktion und Konzerte in Großbritannien für 540.000 Tonnen Kohlendioxid im Jahr verantwortlich sind, so viel wie eine Stadt mit 54.000 Einwohnern im Jahr erzeugt.In Deutschland hat sich mittlerweile die "Green Music Initiative" gegründet, die gemeinsam mit Bands und Konzertveranstaltern etwas gegen die Erderwärmung unternehmen will und zum Downloaden von Musik rät – schließlich emittiert man für die Produktion einer einzigen CD etwa ein Kilo CO2. Schlechte Zeiten für die eh schon darbenden Plattenriesen – aber gute Zeiten für neue Töne. + diff --git a/fluter/ganz-ploetzlich.txt b/fluter/ganz-ploetzlich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2cbcd3cd799da3a8798e1005e2ba1fe4e1644afc --- /dev/null +++ b/fluter/ganz-ploetzlich.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +"Meerane ist ein braunes Nest", beschreibt Angelo Opitz seine Geburtsstadt. Der 25-Jährige ist, bevor er seine Tochter von der Kita abholt, in das Büro auf dem Wertstoffhof seines Vaters gekommen. Er macht bei ihm im Rahmen seiner Ausbildung zur Fachkraft für Lagerlogistik ein Praktikum. In der Halle unter dem Büro befand sich zu DDR-Zeiten ein Heizhaus, das zum IFA-Karosseriewerk gehörte, wo Karosserien für den Trabant hergestellt wurden. Jetzt schreddert sein Vater hier Plastikmüll zu Granulat. Angelo Opitz sitzt in dem mühsam mit einem Gasstrahler erwärmten Raum auf einer ausrangierten Couchgarnitur und macht nicht viele Worte. Die Piercings in der Lippe, der Nase und den Augenbrauen, die schwarze Hose mit den hellgelben Batikflecken, die Kappe auf dem Kopf mit den zerschlissenen Aufnähern – ganz oben steht "Terror" –, das alles zeigt, wofür er steht. "Ich bin weder rechts noch links", sagt er, "ich bin Punker." Was das für ihn bedeutet, drückt er mit zwei Worten aus: "Freiheit eben." +Angelo erzählt von Hakenkreuzen und SS-Runen, die immer wieder an Häuser geschmiert werden, von "Sieg Heil"-Rufen, Angriffen mit Baseballschlägern. Abends ist er in Meerane schon lange nicht mehr unterwegs. "Irgendwann geht es einem auf den Sack, eins auf die Omme zu kriegen." Eine kleine Narbe an der Unterlippe erinnert an den Angriff vor anderthalb Jahren, bei dem er seinen Vater in einer Blutlache liegen sah und mitbekam, wie sie seine Mutter "in eine Ecke schmissen". Nachdem er selbst zu Boden geschlagen wurde, blieb er liegen, ohne sich zu wehren. "Die Angreifer waren in der Überzahl." Nach dem Überfall wurde Angelo Opitz von Bekannten gefragt, ob er eine Demo gegen die Rechtsextremen organisieren wolle, doch er wollte nicht. "Wenn man was dagegen macht, kommt es doppelt zurück." Angst, sagt er, habe er nicht, zumindest nicht um sich selbst – allenfalls um seine Freundin und die gemeinsame Tochter. "Klar denke ich manchmal, das kann doch alles nicht wahr sein. Aber ich habe mich damit abgefunden." +Sein Vater sitzt in Arbeitsklamotten nah am Heizlüfter und redet nicht viel – wie sein Sohn. Für Politik interessiert sich der 47-jährige René Opitz nicht. "Mein Sohn wird angefeindet, weil er Punker ist", sagt er, Meerane sei eben eine Hochburg der Neonazis. Nüchtern erzählt er von dem Abend im Sommer 2010: "Die wollten ein Bier, ich habe nee gesagt und mich umgedreht. Dann bekam ich einen Schlag auf den Nischel, alles war dunkel, und als ich aufgewacht bin, war alles vorbei." Er schüttelt den Kopf. "Ich bin fast über die Klinge gesprungen." Tatsächlich waren an der Holzpalette, die man ihm auf den Kopf schlug, auch Nägel, die ihn um wenige Zentimeter verfehlten. Die Angreifer hätten "Scheiße gebaut", sagt René Opitz, und müssten zur Verantwortung gezogen werden. Hätten sie nur gepöbelt, wäre ihm das egal gewesen. René Opitz will weder Ärger noch irgendeine Ideologie. "Ich lasse die in Ruhe und die mich." Zu DDR-Zeiten war er gegen den Kommunismus und den Staat. Und auch jetzt solle ihm niemand seine Weltanschauung aufdrängen. Er wohnt im nahe gelegenen Waldenburg. Nach Meerane kommt er nur zum Arbeiten. Und deshalb könne er auch eigentlich gar nicht "mitreden". +Einen Tag nach dem Angriff besuchte ihn der Bürgermeister und entschuldigte sich für den Überfall. Das Stadtoberhaupt war einst selbst Opfer eines rechtsextremen Anschlags geworden: 2006 wurden die Windschutzscheibe seines Autos und das Fenster seines Arbeitszimmers, in dem er noch spät in der Nacht saß, mit einem Stein eingeschlagen, auf dem die Aufschrift "JSS" stand. JSS steht für "Jung Sturm Sachsen". Ein Jahr zuvor hatte er gegen die Verteilung der "Schulhof-CD" der NPD, mit der Jugendliche für die rechtsextreme Szene interessiert werden sollen, mobil gemacht und die Partei angezeigt. Ein Aussteiger aus der Szene, durch den drei Tatverdächtige ermittelt werden konnten, sagte als Kronzeuge vor Gericht aus, dass dem Bürgermeister "Angst eingejagt werden sollte, weil er gegen die NPD tätig geworden ist". Die Täter wurden wegen Sachbeschädigung zu hohen Geldstrafen verurteilt. +Einen anderen Politiker haben Rechtsextreme gar aus Meerane vertrieben. Vor sechs Jahren hat ein ehemaliger Landtagsabgeordneter der PDS, der im Rollstuhl sitzt und sich im Stadtrat gegen Rechtsradikale starkmachte, nach einer Reihe von Anschlägen seine Ämter niedergelegt und die Stadt verlassen. Er hatte Angst um sein Leben. Angelo Opitz ist noch da. Und ab dem 19. April müssen sich fünf junge Männer vor dem Amtsgericht Hohenstein-Ernstthal wegen des Überfalls auf seine Feier verantworten. Ihnen wird gefährliche Körperverletzung in neun Fällen vorgeworfen. Drei Verhandlungstage sind angesetzt, 18 Zeugen sollen gehört werden. Angelo Opitz ist überzeugt, dass "es auch danach weitergehen wird". Trotzdem will er in Sachsen bleiben. "Das ist meine Heimat." diff --git a/fluter/ganz-schoen-dickkoepfig.txt b/fluter/ganz-schoen-dickkoepfig.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b1a2c682cb83b61a1249eb02954441f18be692a5 --- /dev/null +++ b/fluter/ganz-schoen-dickkoepfig.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Mein Problem waren die Süßigkeiten. Die Schublade war immer voll. In meiner Familie wurde insgesamt sehr viel gegessen. Es ging auch in den Gesprächen immer viel ums Essen. Erstes Frühstück, zweites Frühstück, Mittagessen, Nachtisch, Kuchen, dann Abendbrotbuffet mit warmen Gimmicks, später Nüsse und Cracker zum Fernsehen. Meine kleine Schwester war früh riesengroß geworden und außerdem dick, sie besuchte dann eine Ernährungstherapie. +Warum wolltest du abnehmen? +Eigentlich neige ich gar nicht zum Dicksein, aber ich habe einfach zu viel gegessen. Beim Essen und Verdauen hat sich bei mir so ein Entspannungszustand eingestellt und den wollte ich immer wieder und viel zu oft erreichen. Bis sie mich in der Schule "Schwarte" nannten und die Mädchen nie zurückschauten. +Wieviel hast du abgespeckt? +In vier Monaten ziemlich exakt 16 Kilo. Ich wollte jeden Sonntag ein Kilo weniger wiegen. Da habe ich mir eine Gewichtstabelle und einen Essensplan gemacht. +Du meinst, du hast eine eigene Diät erfunden? +Ich dachte, dass Diäten gar nicht funktionieren können, weil sich die Diätindustrie ja sonst selbst zerstören würde… ich hatte meine eigenen Regeln. Und die waren streng und durften nicht gebrochen werden. +Welche Regeln hattest du denn? +Erstens: Wenn du ein Hungergefühl bekommst, das nicht in deinen Rahmen hineinpasst, dann trink einfach so viel, bis es weggeht. Zweitens: Ich hatte gehört, dass Leistungssportler, um nicht abzunehmen, Unmengen von Kohlenhydraten in sich hineinfuttern müssen. Ich musste also weitgehend auf alle Kohlenhydrate verzichten! Drittens: "Du sollst morgens essen wie ein Kaiser, mittags wie ein König, abends wie ein Bettler." +Wie ging es dir denn während dieser Zeit? +Oft ziemlich schlecht. Ich hab gemerkt, dass mir schneller kalt wurde. Ich musste mich immer dicker anziehen und hab in meinem Kellerzimmer oft mit Decken dagesessen. Konzentrieren war auch schwieriger als sonst. Ich bin leichter abgedriftet, zum Beispiel in Klassenarbeiten, weil schon so eine Art Mangelzustand geherrscht hat. Den Mangel habe ich ja versucht auszugleichen, durch viel Gemüse, viel Obst, viele Säfte, um einfach irgendwie Vitamine reinzubekommen. Aber es ging nicht immer. Ich lief auf Sparflamme in der Zeit. +Du hast deine Radikaldiät gemacht, als du gerade 16 warst. Jetzt ist bald 2010 und du wirst 24. Wie sehr achtest du jetzt auf deine Ernährung? +Heute Morgen hatte ich ein Müsli, danach Schokolade und Kaffee. Zum Mittagessen ein Steak und Kartoffeln. Nachmittags beim Lesen für die Uni hab ich mir noch einen Schokosnack aus der Schublade geholt. Ich passe derzeit nicht so gut auf. Das liegt auch an der Jahreszeit. Es ist grau und kalt geworden. Richtige Gewichtsprobleme hatte ich aber eigentlich nie wieder. diff --git a/fluter/ganz-schoen-kaputt.txt b/fluter/ganz-schoen-kaputt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/ganz-schoen-maechtig.txt b/fluter/ganz-schoen-maechtig.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a8ef66bbe3b1e3221a5f145eb928b3b3fd68ff61 --- /dev/null +++ b/fluter/ganz-schoen-maechtig.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Die Greiwings wohnen etwa 1.300 Meter Luftlinie von der Kraftwerksbaustelle entfernt. Die roten Lichter des Kühlturms sind durch das Wohnzimmerfenster zu sehen. Marieluise und Heinrich Greiwing sitzen an einem langen Holztisch und wirken genauso aufgeräumt wie ihr geräumiges Wohnzimmer mit dem weißen Porzellan mit Goldrand in dem hellen Holzschrank. Sie erzählen, wie es zu der David-und-Goliath-Geschichte Bauern gegen Energieriese kam. "Wir hatten Angst um unsere Existenz", sagt er. "Wir wollten uns später von unseren Kindern nicht vorwerfen lassen, nichts unternommen zu haben", sagt sie. Sie besuchten öffentliche Informationsveranstaltungen, gründeten einen nachbarschaftlichen Zusammenschluss, trafen sich mit Umweltingenieuren und Anwälten, sprachen mit Parteienvertretern, schrieben Ratsmitglieder an, fuhren zu Ministerien nach Düsseldorf, zum Europaparlament nach Brüssel, recherchierten, verteilten Flugblätter, verkauften in der Fußgängerzone Kaffee, Glühwein und Krapfen, bekamen ideelle und finanzielle Unterstützung von Privatpersonen und Initiativen aus der Umgebung. Die Stadtverwaltung in Datteln, auf deren Gebiet sich das mehr als 75 Hektar große Kraftwerksgelände befindet, hatte ihnen weismachen wollen, dass das Kraftwerk keinerlei negative Folgen hätte, auch wenn der Mindestabstand von 1.500 Metern unterschritten würde. Luftschadstoffe, Schallimmissionen, Staubniederschläge, die klimatischen Auswirkungen des Kühlturmes – das alles würde die Wohn- und Arbeitsverhältnisse nicht beeinträchtigen, so der Tenor des Bebauungsplanes, den das örtliche Planungsamt und die Bezirksregierung in Absprache mit dem E.on-Management in nicht einmal zwei Jahren aufgestellt hatten. +Greiwings Einwände wurden also vom Tisch gewischt, sie selbst fühlten sich nicht ernst genommen, für dumm verkauft und belächelt. "Die Arroganz der Macht" nennen sie das. "Die Verarschung war, auf Deutsch gesagt, gang und gäbe", sagt Heinrich Greiwing, ohne seine verschränkten Arme vom Tisch zu lösen. Als sie eine Kohleeinhausung, eine Art Abschirmung gegen den Kohlenstaub, forderten, sei ihnen gesagt worden, dass der Staub im Zaun hängen bleibe. Weil eine Bürgerinitiative nicht klagen kann, sondern nur Privatpersonen, klagten die Greiwings gegen den Bebauungsplan. "Wir wollten probieren, ob es in Deutschland Gerechtigkeit gibt", sagt Bauer Greiwing. Rund zwei Jahre später entschied das Oberverwaltungsgericht Münster über das Aktenzeichen 10 D 121/07.NE. Und es geschah ein kleines Wunder. Das Gericht erklärte den Bebauungsplan für unwirksam. Es nahm ihn derart auseinander, dass selbst den Greiwings ganz schwindelig wurde. Er stimme nicht mit den Zielen der geltenden Landesplanung überein, verstoße gegen emissionsrechtliche Bestimmungen, der notwendige Abstand von 1.500 Metern sei nicht eingehalten worden, die Auswirkungen des Kühlturms seien nicht angemessen beurteilt worden und, und, und. Das Gericht wies aber auch darauf hin, dass es nicht grundsätzlich verwehrt sei, ein Steinkohlekraftwerk in Datteln zu planen, und wies auf die Möglichkeit eines sogenannten Zielabweichungsverfahrens hin. Das bedeutet, dass im Einzelfall von der Landesplanung abgewichen werden kann. Eine Revision ließ das Gericht nicht zu. Dagegen klagte E.on – und verlor erneut. Das Bundesverwaltungsgericht Leipzig, das höchste deutsche Verwaltungsgericht, wies die Beschwerde zurück, und die Greiwings bekamen abermals recht. +Sie brauchten damals einige Tage, um ihren Erfolg zu verdauen. "Wir wussten immer, dass wir recht haben", sagt Marieluise Greiwing. "Aber vor Gericht und auf hoher See sind wir alle in Gottes Hand." "Man muss hieb- und stichfeste Argumente haben", fügt ihr Mann hinzu. Als vor vielen Jahren eine Ortsumgehungsstraße für Datteln und Waltrop gebaut werden sollte, die direkt an seinem Hof vorbeiführen sollte, klagten er und andere Anwohner gegen das Land Nordrhein-Westfalen – und gewannen. "Bis heute ist die Straße nicht gebaut", sagt Heinrich Greiwing zufrieden. Rechtsanwalt Philipp Heinz aus Berlin, der die Greiwings vertritt, hat sich als Schüler dafür eingesetzt, dass die Schulmilch in Pfandflaschen geliefert wird, später kämpfte er für dosenfreie Zonen. Die erzielten Erfolge haben ihn so motiviert, dass für ihn früh feststand, sein Hobby zum Beruf zu machen. Seit mehreren Jahren ist er auf Umwelt-, Immissions- und Planungsrecht spezialisiert. Es sei einem Anwalt nicht oft vergönnt, in so einem Verfahren so klar recht zu bekommen. "Das passiert nur alle Jubeljahre." Dabei hätten E.on und die Genehmigungsbehörden "hohe Hürden" aufgebaut. Um trotzdem Erfolg zu haben, müssten die Kläger "unheimlichen Einsatz" zeigen. Ohne die Vernetzung mit Fachleuten und Umweltverbänden gehe zudem gar nichts. "Sonst ziehen die einen über den Tisch." Zuweilen gehe es den Politikern darum, Verfahren möglichst einzuschränken, Ausschlussfristen einzuführen, den Klageweg zu verkürzen, Widersprüche wegfallen zu lassen. "Aber Datteln zeigt, dass es sich lohnen kann." Im Moment, freut sich der Anwalt, stünden die Zeichen auf Abriss. +Greiwings Engagement gefällt natürlich nicht allen, erst recht nicht den Stadtverordneten in Datteln, die dem später vom Gericht kassierten Bebauungsplan zugestimmt haben – darunter auch der Bürgermeister. Der 58-Jährige mit weißem Schnauzer, randloser Brille, schwarzer Strickjacke über hellgrünem Hemd und dunkelrot gestreifter Krawatte sitzt in seinem Büro zwischen der heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute, und einem Fußballtrikot an der Wand mit dem Aufdruck "1. Aushilfskraft" und "79 Prozent". Mit diesem Ergebnis wurde er bei der vorletzten Bürgermeisterwahl gewählt. "Datteln braucht das Kraftwerk", sagt Wolfgang Werner. "Es hört sich vielleicht etwas übertrieben an, aber Deutschland braucht das Kraftwerk". Er referiert über Fernwärmeversorgung, "weniger CO2 bei gleicher Leistung", Arbeitsplätze, die "nicht unwesentliche Gewerbesteuer." Die Kritik vom Oberverwaltungsgericht, die Sicherheit der Bürger sei im Bebauungsplan nicht hinreichend beachtet worden, nennt er "den größten Schlag ins Gesicht". Ein Kohlekraftwerk könne nie so sauber sein wie ein Wasserkraftwerk, "aber für eine gewisse Zeit brauchen wir noch Kohlekraftwerke". Er wolle nicht abstreiten, "dass sicher einiges nicht richtig gemacht wurde" beim Bebauungsplan, aber die Stadtverwaltung werde alle monierten Punkte abarbeiten. "Und irgendwann", meint er und lacht, "werden wir wieder vor Gericht stehen." "Im Moment ist alles offen", sagt Marieluise Greiwing. "Man muss es auf sich zukommen lassen", sagt ihr Mann. Die beiden haben viel gelernt in den vergangenen Jahren und sind selbstbewusster geworden. Kein Wunder: Ganz allein haben sie einen großen Konzern und den Staat in die Schranken gewiesen. Vielleicht ist die Macht in Zukunft ein bisschen weniger arrogant. diff --git a/fluter/ganz-schoene-sechsbomben.txt b/fluter/ganz-schoene-sechsbomben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2c4f671af48e11b1ebc424c7ba7d6aa94f79eccb --- /dev/null +++ b/fluter/ganz-schoene-sechsbomben.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Es ist nicht das erste Mal, dass der Künstler politische Diagramme dreidimensional umsetzt und dann in einen ungewöhnlichen Kontext einbettet. So stellte er schon Szenen aus Hamlet wie auf einem Bühnenbild mit Statistic Dolls des Nahost-Konflikts nach. +www.lukassuender.de +Immer weitere Verbreitung: prognostizierter Absatz von E-Books in Deutschland. Von 1,5 Mio. zwischen 2009 und 2010 auf rund 61 Mio. 2014/2015. +Die kennt man noch aus dem Schulunterricht: die deutsche Alterspyramide. Was mal einem Tannenbaum ähnelte, wird künftig zu einem Dönerspieß. +Da werden sich die US-Anbieter von Cloud-Dienstleistungen bedanken: Ihre Einbußen wegen des NSA-Skandals werden für 2016 auf bis zu 22,8 Mrd. US-Dollar geschätzt. +Seit der Causa Hoeneß sichtbar angestiegen: die Zahl der Selbstanzeigen in Sachen Steuerhinterziehung. +Eine alte Bekannte: die Arbeitslosenstatistik. Alle Zahlen zeigen den Jahresdurchschnitt. Aktuell (und natürlich nur vorläufig) 2,96 Mio. Menschen. +Rechtsruck: Zugegeben, nicht ganz einfach zu erkennen, aber diese Statistik soll die Erfolge rechtspopulistischer Parteien bei der letzten EU-Wahl veranschaulichen. +In den vergangenen Jahren immer weiter gesunken: der Anteil abgelehnter Asylanträge (hier bis 2014, als rund ein Drittel aller Anträge abgelehnt wurde). +Kein Wunder: Die Anzahl mobiler Breitbandanschlüsse steigt und steigt und steigt. Wenn sie nicht – wie hier – verkehrt herum auf dem Boden liegt. +Der gesetzliche Mindestlohn im Vergleich: von 2,31 Euro in Polen bis 9,11 Euro in den Niederlanden. +Staatsverschuldung in ausgewählten EU-Staaten im Vergleich 2014–2015. Wie war das noch gleich mit dem Fiskalpakt? +Die Mietpreisprognosen für verschiedene deutsche Städte. Es zeigt sich: Ob München oder Bremerhaven, macht einen großen Unterschied. diff --git a/fluter/ganz-toll.txt b/fluter/ganz-toll.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b4e6f3e3534389783ca3d950663376dfb8fb4677 --- /dev/null +++ b/fluter/ganz-toll.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +An meinem zweiten Arbeitstag ändere ich meine Strategie: Ich stelle Fragen. Ab ins nächste Filmforum: Film XY ist wirklich total klasse, schreibt Karl-Heinz Fischer dort, er habe ihn schon im Urlaub gesehen und frage sich, ob er wohl auch in Deutschland bald anläuft. Weiß das vielleicht jemand? Anscheinend nicht. Oder die Frage ist zu platt. Jedenfalls kommt wieder keine Reaktion. Etwas genervt beschließe ich, mir einfach selbst zu antworten. Neues Pseudonym, diesmal ein Fernsehkommissar. Stefan Derrick schreibt Karl-Heinz Fischer, dass der Film dann und dann starte, dass er auch nur Gutes gehört habe und sich schon freue, weil er alles von Regisseur Soundso gesehen habe. Von dem Gratis-Buzz, den sich mein Chef erträumt, bin ich also auch am dritten Arbeitstag noch weit entfernt. Zwar wächst inzwischen ein zarter Thread über Film XY, doch leider nur im Schneckentempo. Hinzu kommt, dass jeder einzelne Beitrag von mir selbst stammt. Mittlerweile habe ich mich nämlich in ein multiples Wesen verwandelt. Sven Hell lobt den Soundtrack, Buster Chaplin Situationskomik und Slapstick-Elemente, und der Sensenmann weiß den makabren Humor zu schätzen. Ich diskutiere also ausschließlich mit mir selbst, und – als ob das nicht schon bizarr genug wäre – wirklich niemand bekommt es mit. +Tag vier, Selbstzweifel: Vielleicht hört mir ja keiner zu, weil ich nichts zu sagen habe. Zu Kinoforen muss man wissen, dass sie fein stratifizierte soziale Gebilde sind. Alle Mitglieder sind mit einem Rang dekoriert, der sich an der Anzahl der geposteten Beiträge bemisst. Ich laufe unter "Neuling" im Forum-Ranking, und nach wie vor steigt niemand in die Diskussion ein, die ich eigentlich führen soll. Irgendwie sind die Kids nicht so spitz auf den Film. Vielleicht ist es ihnen aber auch schlicht zu blöd, meinen hirnrissigen Fährten zu folgen. Was ich gut verstehen kann. Als der Film schließlich ins Kino kommt, läuft er am ersten Wochenende eher mittelmäßig an, steigert sich aber in den folgenden Wochen um ein gutes Stück. Der Filmverleih ist recht zufrieden mit dem Einspielergebnis. Dass aber auch nur eine einzige Karte durch mein Guerilla-Marketing im Kinoforum verkauft wurde, bezweifle ich stark. diff --git a/fluter/gastarbeiterinnen-tuerkei-deutschland.txt b/fluter/gastarbeiterinnen-tuerkei-deutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e226b2ab68e29b270e4029b5a5f663833e29adeb --- /dev/null +++ b/fluter/gastarbeiterinnen-tuerkei-deutschland.txt @@ -0,0 +1,30 @@ +Yeter Kılıç' Vorname heißt auf Türkisch "Es reicht". Den habe sie bekommen, weil sie das zehnte Kind war – und es ihren Eltern nun eben reichte. Kılıç' Familie stammt aus Anatolien. Sie waren arme Bauern, ihr Vater musste zusätz­lich ab und zu in den Nachbardörfern als Friseur arbeiten und bekam dafür am Jahresende einen Eimer Getreide. +Trotz guter Noten verließ Yeter Kılıç nach der fünften Klasse die Schule, als Frau war für sie eine Rolle im Haushalt vorgesehen. "So wurde mir meine Zukunft genommen", sagt Yeter Kılıç heute. Die Zukunft,die suchte sie dann in Al­manya, in Deutschland.1972, kurz nach der Geburt ihrer ersten Tochter, warben deutsche Unternehmen in der Türkei um weibliche Arbeitskräfte. Um endlich der Armut zu ent­kommen, bewarb sich Yeter Kılıç. +So kam sie als sogenannte Gastarbeiterin nach Deutsch­land – einer von etwa 870.000 Menschen,die in den Jahren 1961 bis 1973 im Rahmen des Anwerbeabkommens aus der Türkei nach Deutschland zogen. Die Bauerntochter aus Ana­tolien war plötzlich eine Arbeiterin in einer Fischfabrik in Bremerhaven. Um ihre kleine Tochter kümmerte sich die Großmutter in der Türkei, auch ihr Mann blieb zunächst dort. +"Mein Kind zu verlassen fiel mir so schwer, dass ich mich wie eine lebende Leiche fühlte", erinnert sich Yeter Kılıç, die heute 71 Jahre alt ist. "Ich hatte aber keine andere Wahl. Ich musste arbeiten gehen, um Essen zu haben und um nicht ab­hängig von anderen zu sein." +Als Frau hoffte Yeter Kılıç sowohl der Armut als auch einem streng patriarchalischen System zu entkommen. Doch das Leben in Almanya gestaltete sich auch nicht so rosig: Bereits der erste Arbeitstag in der Fischkonservenfabrik war schrecklich, erzählt sie. Die junge Mutter vermisste ihre Tochter, und neben dem Trennungsschmerz tat ihr auch die Brust weh, da immer wieder Milch einschoss – ohne dass sie ein Baby hätte stillen können. Erst drei Jahre später konnte sie ihre Tochter endlich nach Deutschland holen. Bald kam auch ihr Mann nach, der aber schon nach einigen Jahren in Deutschland chronisch erkrankte und der Familie nicht helfen konnte, sondern im Gegenteil selbst Hilfe brauchte. +Dabei verdiente Kılıç als Fraunoch schlechter als die männlichen "Gastarbeiter".Wie viele andere Türkinnen stockte sie den niedrigen Stundenlohn durch Überstunden und Akkordarbeit auf. Manchmal kam sie so auf bis zu 70 Arbeitsstunden in der Woche. Trotz dieser harten Arbeit blieb die Familie Kılıç arm. Bis in die 1990er­Jahre lebte sie in Wohnungen, die nie mehr als 40 Quadratmeter groß waren, ohne warmes Wasser und Badezimmer, eingerichtet mit Möbeln vom Sperrmüll. +Ülkü Kılıç-Walter: +Der Geruch der Armut +"Armut war für mich auch der Geruch in den Kleiderkammern des Deutschen Roten Kreuzes, wo wir regelmäßig Schlange standen und am Eingang Anweisungen erhielten, wie viele Kleidungsstücke wir pro Person aussuchen durften", sagt Yeter Kılıç' Tochter Ülkü. Dazu kam der Fischgestank vom Krabbenpulen – ein Nebenerwerb, dem fast alle Kinder in der Nachbarschaft zusammen mit ihren Müttern nachgingen. Dabei wurden die Krabben in großen Säcken angeliefert, anschließend auf einer Folie auf dem Boden im Wohnzimmer ausgebreitet und dort geschält. +Für Yeter Kılıç war immer klar,dass ihre Kinder stu­dieren sollten."Meine Mutter sah dazu keine Alternative. Es hieß immer: Entweder studierst du, oder du wirst so wie ich im Fischereihafen landen", erzählt Ülkü. "Abitur zu machen und außerhalb von Bremerhaven zu studieren war mein Schlüssel zur Freiheit." +Anders als vielen anderen Arbeiterkindern fiel Ülkü das Lernen relativ leicht, aber auch sie hatte mit Schwierigkeiten zu kämpfen, die den deutschen Schülerinnen fremd waren: So hatte sie niemanden, der ihr den Unterrichtsstoff erklärte, wenn sie mal etwas nicht verstand. Sie hatte kein eigenes Zimmer, in dem sie ungestört lernen konnte.Und sie kannte keine einzige Per­son, die studiert hatte – also keine Vorbilder und Ansprechpersonen."Ich kannte weder den Begriff Stipendium, noch wusste ich im Alltag, wie ich es kompensieren sollte, wenn ich mal wieder meine ganze Energie dafür aufbrauchte, meine Unsicherheit zu verbergen." +Trotz der vielen Hemmnisse schaffte Ülkü das Abitur und studierte anschließend. Heute ist sie Juristin und arbei­tet für eine Behörde in Bremen. Ihre Mutter, die einst in der Fischfabrik stand, ist nach einer schweren Erkrankung in die Frührente gegangen. Für viele Menschen aus der Türkei ist allerdings auch das Alter schwer: 44,5 Prozent der türkischen Rentnerinnen und Rentner sind armutsgefährdet. Auch Yeter Kılıç hat weiterhin wenig Geld, aber sie lebt bescheiden und ist zufrieden. Sie hat viele Freundinnen und ist in einem alevitischen Verein in Bremerhaven aktiv. Jedes Jahr fährt sie für mehrere Monate in ihr Heimatdorf. Sie liebt es, dort mit Freunden und Bekannten Zeit zu verbringen und bei der Obsternte zu helfen. + +Der Fotograf Henning Christoph hat das Leben türkischer Familien in "Almanya" porträtiert. Auf dem Titelbild sieht man die Abfahrt in den Heimaturlaub + +Nuray Özer: +"Duzen Sie hier jeden?" +Bis heute lebt ein Drittel der unter 18­-Jährigen mit Migrationshintergrund in Familien, die von Armut bedroht sind – unter Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund sind es 13,1 Prozent. Die Eltern der Diplompädagogin Nuray Özer wohnten in Istanbul, bevor ihre Mutter 1968, und kurze Zeit später auch ihr Vater, nach Goslar im Harz zogen – um ein finanziell abgesichertes und damit auch freieres Leben zu führen. +Auch Özers Familie wurde auseinandergerissen. Nuray und ihre Schwester blieben bei der Großmutter in der Tür­kei. Die Familie sah das als vorübergehendes Opfer an, um allen ein besseres Leben zu ermöglichen. Vier Jahre lebten die Kinder ohne ihre Eltern, viel länger als geplant. In dieser Zeit litten sie unter der Trennung und unter der au­toritären Großmutter. +Nuray Özers Vater war relativ gut ausgebildet und hatte in Istanbul als Maschinentechniker in einer Textilfabrik ge­arbeitet.Aber in Deutschland wurden seine Abschlüsse nicht anerkannt.In den folgenden Jahren bemühte er sich im­mer wieder erfolglos umdie Anerkennung seiner Qualifikation und später auch um eine Weiterbil­dung. Doch der deutsche Staat unterstützte damals weder Sprachkurse noch andere Formen der Weiterbildung. Man ging ja schließlich davon aus, dass die "Gastarbeiter" nach erledigter Arbeit wieder in die Türkei zurückkehren würden. +Sowohl als Arbeiter als auch als Türke habe sich ihr Vater immerzu wegducken müssen, erzählt Nuray Özer. Er habe schlechter verdient als seine deutschen Arbeitskollegen, der Schutz bei der Arbeit sei schlecht gewesen. Irgendwann verlor ihr Vater bei einem Arbeitsunfall einen Daumen, ohne dass er dafür entschädigt wurde. +Harte Arbeit, schlechter Verdienst unddazu die Aus­grenzung als Ausländerin:So zerschlugen sich die Hoffnungen ihrer Mutter auf ein selbstbestimmtes Leben. Nuray Özer erinnert sich, dass ihre Mutter in Läden immer wieder geduzt wurde, während man deutsche Kunden höflich mit Sie an­ sprach. Einmal wurde sie darüber so wütend, dass sie sich in einem Supermarkt mit einer Kassiererin stritt. "Mich hat das so aufgeregt. ‚Kennen Sie meine Mutter?', fragte ich die Ver­käuferin. ‚Nein? Warum duzen Sie sie dann? Duzen Sie hier jeden?'", erzählt sie und schüttelt noch heute empört den Kopf. +Wie viele "Gastarbeiter"­-Kinder hatten Nuray Özer und ihre Schwester Probleme in der Schule. Das lag aber nicht daran, dass sie nicht intelligent genug waren oder Bildung in ihrer Familie nicht wertgeschätzt wurde. Im Gegenteil: Ihre Schwester übersprang später sogar eine Schulklasse, nachdem sie noch in der ersten Klasse auf eine Sonderschule geschickt worden war, weil sie kaum Deutsch sprach. Bis heute ist es so, dass Kinder mit Migrationshintergrund selbst bei guten Noten oft schlechtere Schulempfehlungen bekommen und Einwan­derern unterstellt wird, dass sie sich nicht genügend um die Bildung ihrer Kinder kümmern würden. Im Rahmen eines Forschungsprojekts kam das Gegenteil heraus: Über 70 Pro­zent der Eltern mit Migrationshintergrund gaben an, ihre Kinder "immer" oder "häufig" bei den Hausauf­gaben zu unterstützen. Und 96 Prozent der Eltern stimmten der Aussage "Bildung ist der wichtigste Schlüssel für ein gelungenes Leben" zu. +Oft ist es eher das schulische Umfeld, das einen Aufstieg verhindert. Nuray Özerwurde als Kind ge­mobbt– auf dem Weg zur Schule und während des Unterrichts. Andere Kinder verspotteten ihre ärmliche Kleidung, ihre Hautfarbe, ihre Art zu sprechen. Die Lehrer griffen nicht ein. Einmal war es so schlimm, dass sie mitten im Unterricht aufsprang und ihre Mitschüler anbrüllte und sie als Schweine bezeichne­te. Mit der Zeit lernte sie, sich zu behaupten, und wurde sogar Schulsprecherin. Parallel zu ihrem Deutsch wurden auch die Noten besser, sodass sie es zur Freu­de ihrer Eltern an die Uni schaffte. Sie kann sich in­ zwischen gut ausdrücken und tritt selbstbewusst auf. +Rassismus im Alltag erlebt sie allerdings immer noch.So hat sie bis heute Schwierigkeiten, Jobs und Wohnungen zu finden.Einmal sei ihr bei einer Woh­nungsbesichtigung mit ihrem Mann die Tür vor der Nase zugeschlagen worden – mit den Worten: "Wir nehmen hier keine Ausländer!" Tatsächlich zeigen Studien, dass Menschen, die beispielsweise Ayşe oder Hakan heißen,bei Wohnungsbewerbungen deutlich seltener Erfolg haben. Aus Daten des Statistischen Bundesamtes geht hervor, dass selbst ein guter Schulabschluss Menschen mit Migrationserfahrung nicht unbedingt vor Armut schützt: Die Armutsgefährdungsquote bleibt selbst dann hoch (20,4 Prozent), wenn sie Abitur haben. Damit liegt sie sogar deutlich höher als bei Hauptschulabsolventen ohne Migrationshintergrund (16,2 Prozent). +Efsun Kızılay: +Die dritte Generation +Im Fall der türkischen Migrantinnen und Migranten sind die Probleme bis in die dritte Generation spürbar: wenig Anerkennung und wenige Aufstiegschancen. Efsun Kızılay ist die En­kelin eines kurdischen "Gastarbeiters", der 1970 nach Deutschland kam. Auch ihre Familiengeschichte ist von langen Trennungen, nicht anerkannten Schulabschlüssen und harter Arbeit für wenig Geld bestimmt. Kızılay ist in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen. Andere Kinder belei­digten sie rassistisch, auch bei ihr griffen die Lehrkräfte nicht ein. Einige gaben ihr sogar ungerechtfertigt schlechte Noten. Auf dem Schulgelände wurde ihr verboten, Türkisch zu spre­chen. "Wenn mir jemand eine Million Euro geben würde, ich würde nicht in diese Schule zurückgehen", sagt sie heute. +In ihrer Familie wurde viel gelesen. Neben ihrem Wunsch, die Welt gerechter zu machen, half ihr das dabei, einen Mas­terabschluss und einen guten Job als Politikwissenschaftlerin zu erreichen. Damit ist sie selbst in der dritten Generation noch eine Ausnahme. Ihre Eltern haben die Diplome ihrer beiden Kinder aufgehängt und ihnen gesagt: "Egal wie schwie­rig es war, ihr seid diejenigen, für die wir es gemacht haben. Für euch hat es sich gelohnt." +Fotos: Henning Christoph/ullstein bild diff --git a/fluter/gastfreundschaft-in-deutschland-und-italien.txt b/fluter/gastfreundschaft-in-deutschland-und-italien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..11f8cf108658bb9fd1cec9bca8dd094fb33f419e --- /dev/null +++ b/fluter/gastfreundschaft-in-deutschland-und-italien.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Ich bin in Italien mit diesem Lied groß geworden, bei meiner Oma, die in einer Schublade immer eine Packung Pralinen bereithielt, um unerwarteten Gästen zum Espresso eine Kleinigkeit anbieten zu können. +Eine Etage über der Wohnung meiner Oma lebten wir. Hier kochte meine Mutter für alle, die zu Besuch kamen. Auch für die Bands, deren Konzerte mein Vater manchmal in seiner Freizeit organisierte. Natürlich aßen und schliefen die Musiker bei uns. +Wenn eine Freundin bei mir übernachtete, legte meine Mutter eine Matratze auf den Boden – für mich. Die Freundin übernahm mein Bett. Den Tisch bedeckten wir für uns nur mit einer Plastikdecke, für Gäste gab es die "tovaglia buona", die "gute Decke", aus Stoff und immer frisch gewaschen. Es gab auch die "guten Tassen", die "guten Teller" und die "gute Bettwäsche". +Als ich 2015 nach Hamburg zog, war für mich selbstverständlich, dass ich mich bei den Nachbarn im Haus vorstellte. Ich backtean Osternein Osterlamm, färbte Eier und klingelte bei Herrn und Frau S., beide um die 70. Die Tür ging auf, frohe Ostern, ich sei die neue Nachbarin, hier ein kleines Geschenk für Sie. Frau S. sah mich skeptisch an, bedankte sich, nahm Lamm und Eier und machte die Tür zu. Ich weiß noch, wie ich ratlos im Treppenhaus stand. Was hatte ich falsch gemacht? +Ich blieb hartnäckig. An Weihnachten brachte ich den Nachbarn Plätzchen, im nächsten Jahr wieder ein Osterlamm. Ihre Wohnung habe ich bis heute nicht betreten. Doch fast vier Jahre nach unserer ersten Begegnung fand ich kurz vor Weihnachten eine neue Fußmatte vor meiner Tür. Ich dachte, wie nett, ein Geschenk der Hausverwaltung. Am Tag darauf traf ich meine lächelnde Nachbarin im Treppenhaus:"Haben Sie unser Weihnachtsgeschenk gefunden?", fragte sie. Mein Herz sprang vor Freude. +Mit der Zeit habe ich gelernt, dass es in Deutschland unhöflich ist, spontan bei Menschen vorbeizuschauen. Die Regel lautet: sich verabreden. Am besten nach einem Blick in den Kalender. Mittlerweile habe ich mich so stark angepasst, dass ich neulich einen sizilianischen Freund, der in Deutschland lebt, per Nachricht fragte, ob wir telefonieren wollten. "Klar", schrieb er zurück. Und dann: "Du bist so deutsch geworden." +Doch deutsche Zurückhaltung gegenüber Gästen kann auch befreiend sein. Ich weiß noch, wie ich anfangs jede Absage begründet habe. Um Gästen zu erklären, dass ihr Besuch gerade nicht passt, braucht man in Italien nämlich faule Ausreden: einen toten Hund, eine tote Oma. Neulich habe ich sogar eine Internetseite mit Ausreden für Gäste gefunden, die einen mehrtägigen Aufenthalt planen. Eine davon – kein Scherz – lautet: "Wir werden ab morgen im Wohnzimmer einen Schlagzeugkurs für Pubertierende geben." +Erst mit der Zeit habe ich von deutschen Freunden gelernt, dass ein einfaches "Ich kann nicht" oft ausreicht. + diff --git a/fluter/gazastreifen-geschichte.txt b/fluter/gazastreifen-geschichte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6beb613f6c1cce78f8837d5dc74dcedb3be52340 --- /dev/null +++ b/fluter/gazastreifen-geschichte.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Als indirekte Folge des Friedensabkommens radikalisierte sich die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) als nationalistische Bewegung weiter. Gegründet 1964 in Jerusalem, initiiert vom damaligen ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser, sollte die PLO für die Rechte der Palästinenser kämpfen. Gleichzeitig hielt sie in ihrer Gründungscharta aus dem Jahr 1968 als ultimatives Ziel die Zerstörung der "zionistischen und imperialistischen Präsenz" fest − also die Zerstörung Israels. +Die Fatah ist eine Fraktion der PLO. Sie entwickelte sich zur politisch stärksten Kraft und regiert heute das besetzte Westjordanland. Nachdem die Fatah von der Hamas gewaltsam vertrieben wurde, wird Gaza seit 2007 offiziell von der islamistischen Hamas kontrolliert. Diese übernahm nach den Wahlen 2006 die Macht − nachdem sich Israel 2005 aus Gaza zurückgezogen und alle israelischen Siedlungen dort geräumt hatte. +Offizieller Auslöser des Abzugs war die zweite Intifada, eine über mehrere Jahre anhaltende Welle an Terroranschlägen radikaler Palästinenser in Israel und in den besetzten Gebieten. Die erste Intifada dauerte von 1987 bis 1993, die zweite Intifada von 2000 bis 2005. +Sehr junge Bevölkerung +Im Gazastreifen lebten laut Statista im Jahr 2023 Schätzungen zufolge rund 2,06 Millionen Menschen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist unter 20 Jahre alt. Geschätzt rund 278.500 der Einwohner:innen im Gazastreifen waren zu diesem Zeitpunkt zwischen 0 und 4 Jahre alt. Die größte Bevölkerungsgruppe im Gazastreifen war demnach mit 279.000 Menschen zwischen 5 und 9 Jahre alt. +Mit der Machtübernahme der Hamas begann Israel, den Gazastreifen wirtschaftlich zu blockieren − also die Grenzen auf dem Land, in der Luft und auf dem Wasser zu kontrollieren. Damit sollte der Waffenschmuggel der Hamas unterbunden werden. Durch die Blockade gilt Gaza international weiterhin als von Israel besetztes Gebiet. Die Menschen in Gaza waren eingeklemmt zwischen der im Inneren kontrollierenden Hamas und dem von außen kontrollierenden Israel. Dies führte zu massiver wirtschaftlicher Not der Zivilisten. Vor Beginn des Gazakrieges lebten nach Angaben der Weltbank mehr als die Hälfte der Menschen in Gaza unterhalb der Armutsgrenze. +1949 wurde das UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA als eigene Hilfsorganisation für die aus Israel vertriebenen Palästinenser und deren Nachfahren gegründet. Allein für den Gazastreifen stellten die UN in den vergangenen Jahren finanzielle Hilfen von rund 4,5 Milliarden Dollar bereit. Rund 80 Prozent des Geldes gehen an UNRWA, das Schulen betreibt, die medizinische Versorgung übernimmt und Nahrungsmittel verteilt. Damit übernimmt UNRWA wesentliche staatliche Aufgaben, für die eigentlich Hamas als regierende Kraft zuständig wäre. +Nachdem Hamas-Angriff am 7. Oktoberbeschuldigte Israel die UNRWA, dass mehrere Mitarbeitende der Hilfsorganisation an dem Überfall beteiligt gewesen seien. Infolge der Vorwürfe gegen UNRWA stellten mehrere Länder zeitweilig ihre Finanzierung ein. + +Nach einem israelischen Bombenangriff auf ein Haus in Khan Younis, werden verletzte Kinder im Nasser Medical Hospital behandelt + +Der Angriff der Hamas löste den schwersten Krieg in Gaza seit dessen Bestehen in den Grenzen von 1948 aus. Opfer ist die Zivilbevölkerung, vor dem Krieg rund zwei Millionen Menschen. Etwa 35.000 Menschen wurden seit dem Angriff vom 7. Oktober nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde in Gaza getötet. Unabhängig überprüfen lassen sich die Zahlen nicht. Nach israelischen Angaben befinden sich darunter rund 12.000 getötete Kämpfer der Hamas und anderer Terrororganisationen, die in Gaza operieren. +Die Hamas verfügte vor dem 7. Oktober über ein jährliches Budget von rund 2,5 Milliarden US-Dollar und hat Gaza in den vergangenen Jahren mit einem technisch aufwendigen Tunnelsystem unterhöhlt. Das macht den Krieg Israels gegen die Terroristen zu einem der komplexesten der modernen Geschichte. Die Hamas nutzte auch das Hauptquartier des UN-Palästinenserhilfswerks und Krankenhäuser für terroristische Zwecke. Inzwischen liegen in Gaza ganze Wohnviertel in Schutt und Asche, nahezu 70 Prozent der Häuser und Wohnungen in Gaza sind zerstört oder beschädigt. Laut einem aktuellen Bericht des UN-Welternährungsprogramms haben insgesamt 1,1 Millionen Menschen im Gazastreifen, also die Hälfte der Bevölkerung, ihre Nahrungsmittelvorräte aufgebraucht und sind nun von katastrophalem Hunger betroffen (Stand 18. März 2024). +Aktuell ist die Zukunft des Gazastreifens ungewiss. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen werden in diesem Jahr noch mindestens 2,5 Milliarden US-Dollar für die Versorgung der Bevölkerung notwendig sein. + +Titelbild: Sergey Ponomarev/NYT/Redux/laif diff --git a/fluter/gebaerden.txt b/fluter/gebaerden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..df35285add6219ed701a7f02b624fd25d0ffcb16 --- /dev/null +++ b/fluter/gebaerden.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Dass Gebärdensprache immer im Wandel ist, bestätigt auch Isabella Buckenmaier. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche Gebärdensprache an der Universität Hamburg. Sie erzählt, dass sich Jugendwörter nach und nach in den normalen Sprachgebrauch von Gebärdenden eingliedern: "Kneipe ist jetzt ein normaler Begriff, war aber mal Jugendsprache." +Elouu +Seit 2009 führt die Universität Hamburgdas sogenannte "DGS-Korpus-Projekt" durch. Das Ziel ist dabei, den aktuellen Stand der Deutschen Gebärdensprache widerzuspiegeln. Gebärdensprechende werden dabei gefilmt, wie sie sich über bestimmte Themen unterhalten, diskutieren oder etwas nacherzählen. So wurden über drei Millionen Verwendungen von Gebärden festgehalten. Das Videomaterial ist öffentlich zugänglich, erzählt Isabella Buckenmaier, denn: "Gebärdensprachlernende, zum Beispiel angehende Dolmetscher:innen, können Material aus verschiedenen Altersstufen anschauen, verstehen und üben." +Adelina aus Hamburg ist mit der DGS als Muttersprache aufgewachsen. In der Uni oder im Handballteam spricht sie Lautsprache, die sie in der Kindheit mithilfe von Logopädie gelernt hat. Mit ihren Freund:innen gebärdet sie meist. "Klar kenne ich die Jugendwörter wie smash oder cringe, die benutze ich meistens beim Chatten." +Eine Übersetzung für die Jugendwörter in die DGS gibt es nicht – dafür aber eigene Jugendwörter. "Saa" ist eine Gebärde, mit der Jugendliche Unbehagen ausdrücken. Dabei schwenkt man seine zwei geballten Fäuste vor seiner Brust. "Mittlerweile schreibe ich ‚Saa' auch beim Chatten mit meinen Freunden", erzählt die 22-Jährige. "Elouu" gebärden Jugendliche, wenn sie zeigen wollen, dass jemand keine Chance hat. "Sios" kann man mit einem Abwinken gleichsetzen – diese Gebärde benutzt man, wenn man etwas für sinnlos hält. "Tut weh" wird gebärdet, wenn man Schadenfreude ausdrücken möchte. Auch für den Kommentar "Das finde ich zum Einschlafen" gibt es eine passende Gebärde. +Von coolen Gebärden erfährt Adelina meist über soziale Medien. Wenn ihr eine Gebärde gefällt, erstellt sie GIFs oder Sticker, die sie dann auf WhatsApp verschickt. Adelina nutzt oft auch Gebärden aus anderen Sprachen. So verwendet sie statt der deutschen Gebärde für "wichtig" meist die englische für "important" und für das deutsche "warum" das englische "why". Darüber hinaus ist die arabische Gebärde "Habibi", was Freund oder Liebling bedeutet, auch unter deutschen Gebärdensprechenden populär. Ebenso wie die arabische Gebärde "Mashallah", mit der Wertschätzung oder Hoffnung ausgedrückt wird. "Auch in der Jugendsprache werden besonders häufig Wörter aus anderen Sprachen genutzt, denn damit grenzen sich Jugendliche ab", erklärt Linguist Fabian Bross. +Wenn Jonathan mit seinen Freunden zockt, nutzt er Videocalls, um sich zu unterhalten. "Wenn ich gewinnen will, zeige ich die Gebärde, die ‚Ich mach dich fertig' bedeutet", erzählt der 20-Jährige. Falls er mal verliert, gibt es eine passende Gebärde, die so viel bedeutet wie "Fick alles". Übrigens: Auch für "Zocken" gibt es eine Gebärde. Wer in Gebärdensprache von einem Joint spricht, formt dabei die Gebärde für den Buchstaben L in der Nähe des Mundes. "Erwachsene kennen die Gebärde meist nicht, deshalb verstehen sie dann auch nicht, wovon ich und meine Freunde sprechen", sagt Jonathan. +Sios + +Auch für Jonathan ist die DGS die Muttersprache. Aktuell wohnt er in einem Internat. Für taube Jugendliche aus ländlichen Regionen ist das oft die einzige Möglichkeit, einen Schulabschluss zu machen. Wenn er zu Hause mit seinen Eltern und Großeltern, die ebenfalls taub sind, gebärdet, fallen ihm dabei Unterschiede auf: "Meine Großeltern buchstabieren in der DGS ganz anders, als meine Freunde und ich das machen. Bei ihnen werden die geschriebenen Buchstaben viel mehr mit den Händen imitiert." +Dass die DGS sich von Generation zu Generation verändert, bemerkt auch Adelina: "Früher war Gebärdensprache mit viel mehr Scham verbunden, deshalb wurde dabei weniger Mimik verwendet. Heute ist das anders." Dafür sei die Gestik in der gebärdeten Jugendsprache weniger ausgeprägt. Während die DGS eigentlich Gestik auf Kopf-, Schulter- und Brusthöhe beinhaltet, gebärden Jugendliche meist unterhalb der Schultern. Hebt man die Hände höher, bedeutet das, man möchte etwas besonders betonen. +Forschung, die sich allein mit der Jugendgebärdensprache beschäftigt, gibt es bislang in Deutschland kaum. Im kommenden Jahr erfasst das DGS-Korpus-Projekt in Hamburg allerdings gezielt Gespräche zwischen Jugendlichen. Ziel dabei ist es, die Sprache der Generation zu dokumentieren. "Dabei wird auch Jugendsprache auftauchen", hofft Forscherin Isabella Buckenmaier. + +GIFs: Renke Brandt (mit freundlicher Unterstützung von Isabella Buckenmaier) diff --git a/fluter/gebrauchsanweisung.txt b/fluter/gebrauchsanweisung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/geduldsspiel.txt b/fluter/geduldsspiel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/gefluechtete-ohne-ukrainischen-pass.txt b/fluter/gefluechtete-ohne-ukrainischen-pass.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/gefuehltes-wissen.txt b/fluter/gefuehltes-wissen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d603bb977174be28323dbed7acfce792bbf4a806 --- /dev/null +++ b/fluter/gefuehltes-wissen.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Die Bewertung nehmen nur die Unternehmer vor. Wenn sie also von guten Aussichten sprechen, muss das für die Beschäftigten nicht unbedingt heißen, dass sie mit Lohnsteigerungen oder wenigstens einem sicheren Arbeitsplatz rechnen können. Auch das Entlassen von Angestellten oder das Auslagern von Aufgaben (zu schlechteren Löhnen für jene, die dann die Arbeit machen) kann das Geschäftsergebnis eines Unternehmens verbessern und somit zu Optimismus führen – bei den Chefs. Der Index zeigt nur die Sicht der Unternehmensleitung. +Für sie ist er offenbar nützlich. Die Deutsche Bank hält den Ifo-Index in einer aktuellen Bewertung trotz einzelner Einschränkungen für besser als "andere umfragebasierte Stimmungsindikatoren". Klaus Wohlrabe vom ifo-Institut sagt, der Index sei wichtig für bestimmte Gruppen, etwa Händler an den Aktienmärkten und Unternehmer. Sie könnten mit Hilfe des Index, dessen Vorhersagen zur Entwicklung der Wirtschaft selten korrigiert werden müssten, strategische Entscheidungen treffen. Die Politik wiederum könne mit Maßnahmen reagieren, wenn sich eine Konjunktur abzeichne. "Der Index ist deshalb so wichtig, weil die offiziellen Statistiken, etwa das Bruttoinlandsprodukt, erst mit erheblicher Verzögerung veröffentlicht werden", sagt Wohlrabe. Der Ifo-Index liefere schnellere Anhaltspunkte zur Konjunktur. +Das monatliche Vermelden des Indexes scheint ihn in den Augen von Journalisten zu einer Persönlichkeit zu erheben. Das Handelsblatt titelte einmal "Ifo-Geschäftsklimaindex enttäuscht Erwartungen". Die Seite finanzen.net kritisiert ihn gar: "Ifo-Index kann Talfahrt im Oktober nicht bremsen". Bei mehreren guten Prognosen jubelt dann etwa der Bayerische Rundfunk: "Er steigt und steigt und steigt" – bis er wieder fällt. +Im Jahr 2014 sank der Ifo-Index von Februar bis Oktober und berappelte sich danach nur etwas bis zum Jahresende. Im gselben Jahr wuchs die deutsche Wirtschaft um 1,5 Prozent. Kritiker schmähen den Ifo-Index als wenig aussagekräftig. Klaus Wohlrabe hält dagegen: "Der Index sollte nicht auf die Jahreswachstumsrate, sondern auf die Quartalswachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts bezogen werden." +Felix Ehring arbeitet als freier Journalist. Bei der Recherche wurde ihm von Zahl zu Zahl klarer: Ob es nun um Armut, Geburten, Arbeitslosigkeit oder Klimaschutz geht – Interessengruppen führen eine teilweise erbitterte Debatte um die Deutungshoheit dieser Zahlen. Und: Einige Journalisten vermelden amtliche Zahlen einfach, ohne sie zu hinterfragen und einzuordnen. Dabei gilt für jede Zahl: Sie sagt nicht nur etwas aus, sie verschweigt auch etwas. diff --git a/fluter/gegen-das-abstumpfen.txt b/fluter/gegen-das-abstumpfen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b99f9a4225d105a75d642c5ac323114352aa1c1b --- /dev/null +++ b/fluter/gegen-das-abstumpfen.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Hayder ist kurz vor dem Ertrinken. Das Schlepperboot, von dem er sprang, ist längst weg. Es ist Nacht. Es ist bitterkalt. Er treibt auf dem offenen Ozean – und kann nicht schwimmen. "Ich habe mit meinem Geld meinen Tod gekauft", denkt Hayder, da taucht das grellgelbe Scheinwerferlicht eines Rettungshelikopters auf – seine Flucht ist hier noch nicht zu Ende. +Seit etwa einem Jahr sind Fluchtbilder überall in den Medien und sozialen Netzwerken zu sehen: Menschen, die vor Zäunen ausharren. Und Menschen, die in Schlauchbooten stranden. So schrecklich diese Bilder sind und so dringend sie gezeigt werden müssen, auf Dauer bewirkt die ständige Wiederholung doch eines: ein Abstumpfen – aus Überforderung. Die amerikanische Autorin Susan Sontag beschrieb diesen Vorgang 1977 sehr treffend in ihrem Essayband "Über Fotografie". + + + +Hier beginnt die Aufgabe der Kunst. Und damit auch des Comics. Immer öfter werden Comic-Reportagen eingesetzt, wenn klassische Medien in der Darstellung an ihre Grenzen stoßen. Der JournalistJoe Saccokultivierte das Format in den 90er- und Nullerjahren mit seinen Graphic Novels über den Gaza- und den Balkan-Konflikt. In Deutschland spielt die mutige Comic-Collage"Im Land der Frühaufsteher"von Paula Bulling über die Flüchtlingspolitik in Sachsen-Anhalt. +Nun widmet sich die seit 2006 existierendeComicwerkstattder Uni Augsburg dem Genre. In den acht kurzen Comics der Reportage "Geschichten aus dem Grandhotel" werden Flucht und Asyl in Panels, Sprech- und Gedankenblasen neu erzählt. +Im Frühjahr 2015 – bevor der Begriff "Flüchtlingskrise" überhaupt aufkam – besuchten die Studenten unter der Leitung von Professor Mike Loos das Augsburger Kulturzentrum "Grandhotel Cosmopolis". Seit 2013 kommen dort Asylbewerber unter, das ehemalige Altersheim ist aber auch Atelier, Café und auch ein Hotel, dessen Zimmer von Künstlern gestaltet wurden. "Hier bot sich direkt ein Raum, um mit Flüchtlingen Kontakt aufzunehmen, was damals noch gar nicht so leicht war", erklärt Loos. + + +"Ich hatte erst Hemmungen", berichtet Wolfgang Speer, Jahrgang 1990 und einer der Illustrationsstudenten. Die hätten sich aber schnell aufgelöst, als er seinen Protagonisten Hayder im Grandhotel traf. Auf Französisch erzählte der Flüchtling, der sich lieber Vagabund nennt, seine Geschichte von der Helikopterrettung auf dem offenen Meer. Das Bild einer zittrigen Hand, die gerade noch aus der mattgrauen See ragt – so minimalistisch und exakt fängt Speer das Gefühl kurz vor dem Ertrinken im Comic "Hayder" ein. +Wie unterscheidet sich die Comic-Reportage nun von den klassischen Medien? Tagesaktualität etwa spielt kaum eine Rolle, die Comics leben vielmehr von ihrer Langsamkeit. Zahlen, Fakten und journalistische Authentizität sind wichtig, im Vordergrund steht jedoch der subjektive Blick. "Weil wir Zeit für unsere Recherche hatten und das Flüchtlingsthema erst im Laufe unseres Projekts medial hochkochte, haben die Comics eine sehr unabhängige, vielfältige und persönliche Sprache", erklärt der Student Dennis Ego. +Das stimmt. Nach dem offenen Meer führen die Geschichten an Orte, an die wohl kaum eine Kamera gelangt – erzählt in der dem Genre Comic eigenen Bildsprache: In "Pouya" beschreibt Samuel Boeck den Entschluss einer jungen Afghanin zur Selbstverbrennung in drei eindringlichen Panels. In "Hüter der Heimat" drückt Dennis Ego seinem Protagonisten den Bleistift in die Hand und lässt ihn in wenigen groben Linien den syrischen Bürgerkrieg zeichnen. +Und in "Wie alles begann" genügen Julian Wienand vier dicke Damenbart-Striche, um diesen Dialog zweier Frauen auf der Augsburger Straße zu karikieren: "Gertrud! Die wollen da tatsächlich ein Asylantenheim unterbringen!", sagt die eine. "Ach Gottchen!", ruft die andere. +So ermöglicht die Comic-Reportage einen anderen Zugang zu Flucht und Asyl. Einen, bei dem sich Ruhe, Humor, Leichtigkeit, Glück, Angst und Nähe ständig abwechseln. Vom Abstumpfen deshalb: keine Spur. + + +Mike Loos (Hg.): "Geschichten aus dem Grandhotel. Comic-Reportagen von Augsburger Design- Studierenden". Augsburg 2016, Wißner-Verlag, 96 Seiten, 12,80 Euro + +Christine Stöckel ist freie Journalistin in Berlin. Am liebsten schreibt sie über Filme, TV und Comics. diff --git a/fluter/gegen-den-strich.txt b/fluter/gegen-den-strich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cc5fdca1ffa4a8a017d0c888883fc4558a83f468 --- /dev/null +++ b/fluter/gegen-den-strich.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Das Problem ist nur: Solange die Prostitution noch nicht offiziell erlaubt war, konnte die Polizei jederzeit in ein Bordell marschieren, um es zu schließen. Heute benötigen die Fahnder einen ordentlichen Durchsuchungsbefehl, wenn sie zum Beispiel eine Wohnung kontrollieren wollen, in der sie Zwangsprostitution vermuten – doch für diesen Befehl braucht man Zeugen, und die sind im Milieu kaum zu kriegen. So moniert denn auch mancher Polizist, dass die Schutzbefohlenen noch schutzloser als zuvor seien. Rund 400.000 Menschen arbeiten laut Schätzungen bundesweit als "Sex-Arbeiterinnen", mehr als 90 Prozent davon sind Frauen. Wie viele von ihnen unter Zwang stehen, weiß niemand – nicht mal annähernd –, zumal die Grenzen schwer zu ziehen sind. Keine Prostituierte sei frei, sagt etwa die Berliner Streetworkerin Angelika Müller. "Keine Frau kommt reich und ungebrochen aus dieser Zeit heraus", pflichtet ihr die Stuttgarter Sozialarbeiterin Sabine Constabel bei. Soll heißen: Wer fremde Männer in Serie in sich eindringen lässt, trägt immer auch seelische Verletzungen davon. +Nun ist Prostitution fast so alt wie die Menschheit, schon in babylonischen Tempeln boten Frauen sich feil, und Gesetzeshüter sind seit jeher relativ machtlos. Es ist ein Milieu, das nach eigenen Spielregeln funktioniert. Und in dem man anscheinend nicht so einfach Gesetze implementieren kann. Hat eine Prostituierte Probleme mit einem Freier, regelt das der Zuhälter und nicht das Amt. Hat sie wiederum Probleme mit dem Zuhälter, geht sie oft nicht zur Polizei. Hat sie ihren Tageslohn beisammen, kriegt der Zuhälter seinen Anteil, aber meistens nicht das Finanzamt. Das sei die Norm, sagt der Polizist Dirk B. Das ProstG könne gebildeten, unerschrockenen, unabhängigen Frauen helfen. Sex-Unternehmerinnen sozusagen. Doch deren Zahl nehme ab – und sie sei eh schon verschwindend gering. +Der Anteil ausländischer Prostituierter dagegen steigt seit Langem stetig. Sabine Constabel schätzt ihn heute auf 80 Prozent. Für Zuhälter und Freier ein Segen, denn die Ausländerinnen drücken die Preise und bieten Sex auch ungeschützt, was wiederum den Druck auf die Etablierten erhöht, ebenfalls "alles ohne" anzubieten. Die "Flatrate-Puffs" – durch die Verurteilung zweier Zuhälter aus dem Raum Stuttgart jüngst in die Schlagzeilen geraten – wären mit ihren Tagestickets für 70 Euro und Slogans wie "Komm, so oft du willst" ohne Frauen-Importe undenkbar. +Die meisten Neuankömmlinge sind inzwischen Roma-Mädchen aus Bulgarien, Rumänien und Ungarn. Ohne Bildung, ohne Geld, oft mit Kindern daheim. "Viele kennen nicht mal die Wochentage auswendig", sagt Dirk B. Irgendwer lotst sie nach Deutschland – mal eine "hochseriöse" Model- Agentur, mal ein Bekannter der Familie. Und das alles seit der EU-Osterweiterung mit legalen Papieren. Einige Mädchen wissen, was sie erwartet, aber sie haben keine andere Hoffnung. In Deutschland beginnt ein Teufelskreislauf aus Drohung und Täuschung. Die Mittelsmänner wissen, was die Mädchen gefügig macht: Hohe Scheinschulden für Visa und Wohnung zum Beispiel, oder Drohungen, dass der Familie etwas zustößt. "Der rechtsfreie Raum ist seit 2002 größer geworden", resümiert die Herforder Streetworkerin Mira von Mach. +Zwar hat die Polizei in den meisten Rotlichtvierteln inoffizielle Agreements mit Bordellbetreibern geschlossen, um den Zugang zu garantieren. Dennoch sei es für kriminelle Zuhälter leichter geworden, ihre Opfer zu verstecken, sagt Dirk B. In einer grundsätzlich legalisierten Branche ist es eben für die Polizei weit schwieriger, solche Verbrecher aufzuspüren – erst recht, wenn Gewerbekontrollen wegfallen. Eine aktuelle Studie im EU-Auftrag gelangt gar zu dem Ergebnis, dass Legalisierung generell zu mehr Menschenhandel führt. In Ländern, die Prostitution erlauben, sei der Markt ungleich größer als in Verbotsländern, die Zahl der Missbrauchsfälle dagegen konstant. In Dänemark etwa, wo Prostitution seit 1999 erlaubt ist, sei die Zahl der Huren heute drei- bis viermal so hoch wie in Schweden, wo im selben Jahr die Prostitution verboten wurde, argumentiert der Heidelberger Ökonomieprofessor Axel Dreher, einer der Autoren der Studie – und das, obwohl Schweden 40 Prozent mehr Einwohner hat. +Manche Feministinnen fordern daher seit Langem, dem schwedischen Beispiel zu folgen und Prostitution als Mittel der Frauenunterdrückung zu verbieten. Sie lehnen es ab, über Arbeitsbedingungen zu diskutieren, da Prostitution per se unerträglich sei. Das Gros der Branchenkenner sieht es differenzierter. Netzwerke wie "Hydra" oder "Amnesty for Women" treten dafür ein, dem ProstG endlich Richtlinien folgen zu lassen. Hauptziel ist eine sogenannte Erlaubnispflicht mit speziellen Auflagen, wie sie bereits für Waffenhändler, Spielhallen oder Pfandleiher gilt. Auch Experten wie der Berliner Oberstaatsanwalt Sjors Kamstra, die Soziologin Barbara Kavemann oder der Strafrechts-Professor Joachim Renzikowski sehen darin das effektivste Instrument. Arbeitsrechtliche und hygienische Standards könnten so kontrolliert werden, es gäbe klare Ansprechpartner und enge Kontakte zwischen Milieu und Behörden. Kurz: mehr Transparenz. Das "Dortmunder Modell", bei dem sich Behörden und Streetworker im Konsens auf solche Regeln verständigt haben, gilt als vorbildlich. +Auch die Polizei ist dafür und bemüht sich seit Jahren darum, die Überwachung der Gewerbestandards zu übernehmen – für das BKA eine seltene Präventions-Chance gegen Menschenhandel unter erschwerten Bedingungen. Hurenverbände sind dagegen. Aber auf die Erlaubnispflicht können sich alle einigen – auch Politiker. Seit Mai 2011 plant das Bundesfamilienministerium, sie gesetzlich zu verankern. Derweil überlegen sich Schlepperbanden längst neue Handelswege – ungleich besser getarnt und auch mit Erlaubnispflicht kaum kontrollierbar. Der Branchentrend geht zum "Haus- und Hotelservice". Auf Webseiten wie kaufmich.com oder modelle-hamburg.com verabreden sich Hure und Freier direkt per E-Mail. Die Profile klingen verlockend. Zum Beispiel "Petite Cherie, 21, sozial kompetente Abiturientin aus Frankreich, humorvoll, vielseitig interessiert, unvoreingenommen". Sie trifft sich "nur im Hotel", für 500 Euro pro Nacht. Ob es sich bei ihr in Wahrheit um Elena aus Bukarest handelt, 17, Analphabetin, sozial ausgebeutet und vielseitig missbraucht, wird die Polizei nie erfahren. diff --git a/fluter/gegen-den-strom.txt b/fluter/gegen-den-strom.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7e27dec3e45bc1e363b879bb6dac7611e5fd1d41 --- /dev/null +++ b/fluter/gegen-den-strom.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Auf diesem Weg sind die vier WG-Bewohner sogar schon ziemlich weit: Sie trennen Müll, fahren kein Auto, Florian ist sogar Vegetarier. Und Clara sagt, dass sie ein schlechtes Gewissen bekomme, "wenn ich mit dem Flugzeug nach Spanien fliege". Zwei der vier wissen auch, dass jeder Deutsche im Durchschnitt zehn Tonnen CO2 im Jahr ausstößt – zu viel, um das Klima effektiv zu schützen. Soll die Erdtemperatur bis 2050 nur um maximal zwei Grad steigen, damit die Folgen der Erderwärmung nicht existenzbedrohend werden, muss sich der Ausstoß auf etwa zwei Tonnen im Jahr verringern. "Aktuell erzeugen nur die Einwohner Bangladeschs und Äthiopiens so wenig ", erklärt Jacob. Bedeutet das etwa, dass sich unser Lebensstandard dem der Entwicklungsländer anpassen muss? Werden wir in Zukunft WGs in Lehmhütten gründen müssen, in denen wir bei Kerzenlicht Abend essen? Eben nicht, meint Jacob: "Aber 40 Prozent der durchschnittlichen CO2-Emissionen sind bedingt durch Essen und Konsum. An diesem Punkt müssen wir ansetzen." +Also machen wir das: Wie sieht es z.B. im Kühlschrank der WG aus? In der Wohnung kaufen alle getrennt ein, gegessen wird dann oft gemeinsam. Viele Bio-Produkte, kaum Fleisch, Gemüse und Bananen sind in dem Gerät, das die WG geschenkt bekommen hat. "Gutes Essen!", freut sich Jacob und die WG-Bewohner grinsen stolz. Fleisch ist der mit Abstand größte CO2-Verursacher unter den Lebensmitteln. Dabei hat Rind die schlechteste CO2-Bilanz der Fleischsorten, Schweinefleisch ist deutlich klimaverträglicher, Hühner können die beste Ökobilanz vorweisen. Interessiert hört die WG zu. Manche Aspekte von Jacobs Vortrag sind den vieren bekannt, sie fragen sich aber auch, ob die Vorschläge überhaupt umzusetzen sind. Kann ein leidenschaftlicher Fleischesser von einem auf den anderen Tag seine Ernährung umstellen? "Es kommt nicht darauf an, komplett auf Fleisch zu verzichten", antwortet Jacob. Ein bewusster Umgang mit Fleisch sei wichtig. Nicht der Sonntagsbraten allein schlage schwer auf die CO2-Bilanz, sondern vor allem der alltägliche Fleischverzehr in Dönerform oder auch die Frühstückswurst. Hanna nickt, nimmt sich Milch für ihren Kaffee und bekommt prompt von Jacob ihr Fett ab. "Milchprodukte haben eine schlechte Klimabilanz. Die sind nicht wirklich nötig", sagt Jacob. "Sie sind weder gesundheitsfördernd noch alternativlos." Ins Frühstücksmüsli könne auch die klimafreundliche Sojamilch gekippt werden. + +Dass die vier Bewohner oft Leitungswasser trinken, lobt der CO2-Experte. "Wasser in Flaschen zu trinken ist absoluter Blödsinn." Das Leitungswasser in Deutschland ist nämlich nicht ungesünder als das Wasser, das im Supermarkt mit französischem Namen angeboten wird. Um Rückstände aus alten Rohren zu vermeiden, sollte man sich aber ein Filtergerät kaufen, das man an den Hahn anschließen kann. "Das Schlimmste für die Klimabilanz", meint Jacob, "ist aber das Wegschmeißen von Essen." Wenn ein Produkt nicht benutzt wird, sind die durch die Herstellung entstandenen CO2-Emissionen sinnlos gewesen. So gesehen leben Studenten, bei denen das Geld oft viel zu knapp ist, als dass sie Essen wegschmeißen würden, eh schon ganz klimaverträglich. +Dennoch steht seit Jacobs Auftauchen in der WG eine große Frage im Raum: Bringen diese Tipps denn überhaupt etwas? Schließlich sind manche großen CO2-Quellen, wie sie in der Produktion von Kohle, Beton, Aluminium und Stahl anfallen, nicht einfach vom einzelnen Konsumenten beeinflussbar. "Ich denke, dass jeder Einzelne eine Verantwortung für seine Umwelt hat", sagt Hanna. "Es wäre zu einfach, sich nur auf andere zu verlassen." "Wenn sich etwas ändern soll, muss jeder Einzelne etwas dazu beitragen", fügt Clara hinzu. "Trotzdem muss natürlich auch die Politik dafür sorgen, dass sich etwas ändert." +"Am liebsten würde ich gar kein elektrisches Gerät mehr benutzen." +Nun ist Jacob richtig in seinem Element und spricht die großen Dinge an: "Ihr solltet unbedingt euren Stromanbieter wechseln", rät er der WG. "Der Wechsel zu einem Ökostromanbieter ist der wichtigste Hebel, an dem der private Verbraucher ansetzen kann!" Der grüne Strom ist verglichen mit einem normalen Vertrag nicht mal unbedingt teurer. Wer zu einem dieser Anbieter wechselt, unterstützt damit auch gleichzeitig Investitionen in erneuerbare Energien. "Der zweite Hebel ist die Stromeffizienz", sagt Jacob. "Was benutze ich wann wie viel? Der nächste Schritt ist dann die Frage: Brauche ich das?" +Dabei soll Jacobs Assistent "Wattson" helfen, den er zum Abschied für ein paar Tage dalässt, damit er den Stromverbrauch der vier misst. "Es ist Wahnsinn, zu merken, wie viel man verbraucht", meint Clara. "Vor allem der Herd und der Wasserboiler, aber auch der Föhn und der Wasserkocher verbrauchen sehr viel Strom." Nur Hanna fühlt sich durch die Anwesenheit des Energie-Detektivs zu streng kontrolliert: "Wenn man allein leben würde, würde man sicher nicht so stark darauf achten wie in der WG." Am PC können die Studenten die Daten des "Wattson" auswerten – punktgenau lässt sich feststellen, wann im Haus viel Licht brennt und wann gekocht wird. Die höchsten Verbrauchswerte lassen sich beim Duschen und anschließenden Föhnen am Morgen sowie beim gemeinsamen Abendessen feststellen. +Um nicht in jeder Woche zum Waschsalon laufen zu müssen, plant die WG nun noch die Anschaffung einer Waschmaschine. "Lohnt es sich, wenn wir ein neues Gerät kaufen?", fragt Clara, oder solle man nicht das alte so lange benutzen, bis es kaputt sei. "Auf jeden Fall", meint Jacob. Mit einer effizienten Waschmaschine der Energieeffizienzklasse "A+" oder "A++" spare man innerhalb eines Jahres locker 70 Euro Strom – und bei einem Umzug kann man sie im Gegensatz zu einer alten Waschmaschine vom Trödel wieder verkaufen. +Der Kühlschrank darf hingegen bleiben, wenn er sich ein wenig beschränkt. Denn er ist zu kalt eingestellt und verbraucht dadurch vermutlich zu viel Strom. "Eine Innentemperatur von acht Grad reicht in der Regel, um alle Lebensmittel frisch zu halten", meint Jacob – die beiden WG-Männer gucken, als sollten sie in Zukunft warmes Bier trinken. Eine einfache Rechnung überzeugt aber auch sie: Ist das Gerät vier Grad kälter eingestellt, verbraucht es schon rund 35 Prozent mehr Strom. Das Gefrierfach sollte alle zwei Monate abgetaut werden, denn ein vereistes Gerät verbraucht deutlich mehr Energie. "Ich weiß, dass ich mich jetzt wie eure Eltern anhöre", entschuldigt sich Jacob. "Aber es spart wirklich Energie." +Die WG vertieft sich mit Jacob noch in lange Diskussionen über die Klimapolitik der EU und mögliche Kennzeichnung des CO2-Fußabdrucks auf Lebensmitteln. Am Ende steht die Frage, ob ihnen Jacobs Tipps helfen werden? "Ich nehme einige interessante Ideen mit", sagt Tobi. "Und bin gespannt, wie viele wir davon konsequent umsetzen werden." "Am liebsten würde ich gar kein elektrisches Gerät mehr benutzen", sagt Clara. "Aber auf einige ist man natürlich angewiesen." Da sie sich aber nun durch "Wattson" bewusst sei, welche Geräte wie viel Strom benötigen, könne sie gezielt sparen. Fazit: Jacob darf gehen, der "Wattson" zieht als fünfter Mitbewohner ein. Genügend Platz ist ja da. +Unser CO2-Berater Jacob Bilabel hat mit seiner Firma "Thema1" das Projekt "Product Carbon Footprint" (www.pcf-project.de) angestoßen, für das sich Unternehmen bereit erklärten, Produkte auf ihren CO2-Ausstoß hin zu untersuchen und Schritte für eine Schadstoffreduzierung zu unternehmen. + diff --git a/fluter/gegen-die-schoepfungslehre.txt b/fluter/gegen-die-schoepfungslehre.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..96c9155b27c07fab6dce7d523f0c1aca382f0c45 --- /dev/null +++ b/fluter/gegen-die-schoepfungslehre.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Ein hohes Risiko, findet Huber. "Die Geldmenge, die die Banken neu geschöpft haben, ist in den vergangenen Jahrzehnten sehr viel stärker gewachsen als die Wirtschaft." Ein Großteil der Kredite sei also offenbar gar nicht in Unternehmen oder neue Produkte geflossen, die den Wohlstand mehren. Sondern in Spekulationen, in Aktien und Wertpapiere, deren Kurs nur deswegen stieg, weil sie mit immer neu geschöpftem Geld nachgefragt wurden. Wenn so eine Blase platzt, müssen die Sparer mit ihren Einlagen für die Ausfälle geradestehen – wenn nicht der Staat die Bank mit Steuergeldern rettet. "Der Staat muss die volle Kontrolle über die Geldmenge zurückbekommen", fordert Huber daher. Die Zentralbank will er zur "Monetative" ausbauen, zu einer vierten Macht im Staat, neben Legislative, Exekutive und Judikative. Die Banken müssten sich das Geld für Kredite, die sie ausgeben wollen, dann vorher bei ihren Sparern oder bei der Zentralbank besorgen, nicht erst hinterher. "Die Banken wären dann keine Geldschöpfer, sondern nur noch Geldvermittler", sagt Huber. "So, wie man es sich eigentlich vorstellt." +Huber vertritt eine Minderheitenmeinung, viele Ökonomen halten die Geldschöpfung der Banken grundsätzlich für richtig, weil so flexibler auf den Kreditbedarf der Unternehmen reagiert werden kann. Andererseits war schon einem Vordenker der Wirtschaftswissenschaften, dem US-Ökonomen Irving Fisher, die unkontrollierte Geldproduktion der Banken suspekt, in den 1930er Jahren versuchte er die Ökonomen-Zunft mit ähnlichen Ideen zu begeistern. Auch Hans Christoph Binswanger, Wachstumskritiker und Doktorvater von Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann, äußert Sympathie für einen Stopp der Bankengeldschöpfung. Huber und seine Mitstreiter können sich sogar auf die Geschichte berufen – denn schon einmal pochte der Staat darauf, dass niemand anderes Geld herstellt: Das Papiergeld wurde zunächst von privaten Geldhäusern geschaffen, als Gutschein für Münzen, ehe es die Regierung durch eigene Banknoten ersetzte. +www.monetative.de diff --git a/fluter/gegen-mein-gewissen-graphic-novel-wehrdienst.txt b/fluter/gegen-mein-gewissen-graphic-novel-wehrdienst.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..300901c54eefdbcfb15a388d5e055bebbae72970 --- /dev/null +++ b/fluter/gegen-mein-gewissen-graphic-novel-wehrdienst.txt @@ -0,0 +1,22 @@ + +fluter.de: Die Wehrpflicht in Deutschland wurde 2011 ausgesetzt – auch wenn sie nie ganz abgeschafft wurde. Als du 2010 Abitur gemacht hast, gab es sie also noch. Kannst du dich daran erinnern, wie darüber gesprochen wurde? +Hannah Brinkmann: Viele Jungs in meinem Jahrgang haben diskutiert, wie sie es schaffen könnten, ausgemustert zu werden. Sie haben vor der Musterung gekifft und Witze darüber gemacht. Aber meine beiden Brüder haben mir erzählt, dass die Musterung schlimm und demütigend gewesen sei, weil sie sich zum Beispiel nackt ausziehen mussten. +Dein Onkel Hermann musste in den Siebzigerjahren zum Wehrdienst, obwohl er überzeugter Pazifist war. Seine Kriegsdienstverweigerung wurde nicht anerkannt, er nahm sich noch vor Ende der Grundausbildung das Leben. Wann hast du davon erfahren? +Ich wusste relativ früh, dass Hermann sich umgebracht hat, aber ich kannte keine Details. Als ich 14 Jahre alt war, starb meine Oma. In ihrem Nachlass habe ich die Todesanzeige gefunden, die sie und mein Großvater damals in der Zeitung veröffentlicht haben und in der deutlich wurde, dass sie der Bundeswehr die Schuld an Hermanns Tod gegeben haben. Ich habe aber erst viel später angefangen, mit meiner Familie darüber zu sprechen. +Als du beschlossen hast, daraus eine Graphic Novel zu machen? +Ja. Ich dachte anfangs, dass ich Hermanns persönliche Geschichte erzählen will, die politischen Dimensionen waren mir gar nicht so bewusst. Aber je tiefer die Recherche ging, desto empörter wurde ich, und desto mehr habe ich verstanden, dass Hermann für etwas steht. +Kriegsdienstverweigerer mussten damals eine sogenannte "Gewissensprüfung" ablegen. Wie lief die ab? +Man wurde vor einen Prüfungsausschuss der Bundeswehr geladen und dort mehrere Stunden lang ausgefragt. Das Fiese war, dass die Beweislast beim Antragsteller lag, er musste also nachweisen, dass er wegen seines Gewissens den Wehrdienst nicht ableisten konnte. Aber wie soll jemandseine Gedanken beweisen? Die Vorsitzenden in den Ausschüssen haben häufig Konfliktfragen gestellt, zum Beispiel: "Männer im Park wollen Ihre Freundin angreifen, was tun Sie?" Darauf konnte man keine richtige Antwort geben. Wenn man sagte: "Ich würde meine Freundin verteidigen", hieß es: "Dann können Sie ja auch den Wehrdienst leisten." Wenn man sagte: "Ich würde nichts tun", galt das als unglaubwürdig. +Der Ausschuss war nur die erste Instanz. Wenn die Verweigerung dort nicht anerkannt wurde, ging der Antrag weiter vor eine Prüfungskammer der Bundeswehr … +… die durch den Beschluss des Ausschusses voreingenommen war und darum meist abgelehnt hat. Erst die dritte Instanz, die Verwaltungsgerichte, haben die Verweigerer zum großen Teil anerkannt. Aber diese Verfahren wurden oft so weit nach hinten geschoben, dass die Männer vorher den damals 15 Monate langen Grundwehrdienst ableisten mussten. Zivildienst (Anm. d. Red.: Ersatzdienst in Krankenhäusern, Altenheimen oder anderen Sozialeinrichtungen) durfte nur leisten, wer als Verweigerer anerkannt worden war. + +Wann wurde dieses Verfahren abgeschafft? +Ab 1984 wurde das Prüfverfahren für "ungediente Wehrpflichtige" durch ein vereinfachtes Anerkennungsverfahren ersetzt. Mündliche Anhörungen gab es nur noch bei begründeten Zweifelsfällen. +Dein Onkel hätte andere Möglichkeiten gehabt, dem Wehrdienst zu entgehen. Er hatte zum Beispiel ein Attest vom Arzt, mit dem er vermutlich ausgemustert worden wäre. Aber er wollte aus Gewissensgründen verweigern, obwohl er damit kaum Erfolgschancen hatte. +Er war auf der einen Seite sehr standhaft, auf der anderen auch ein bisschen stur. Hermann war überzeugter Pazifist, hatte sehr starke Ideale und wollte sie vor dem Prüfungsausschuss beweisen, vielleicht auch vor sich selbst. Er war damit nicht der Einzige: 1972 haben mehr als 33.700 Wehrpflichtige verweigert, 1976 schon gut 40.600. Die Hälfte davon wurde nicht anerkannt. Es gab Beratungsstellen für Kriegsdienstverweigerer, die rieten: Ihr könnt eure Ideale verraten und zum Beispiel aus christlicher Überzeugung verweigern – oder ihr könnt dafür einstehen und dadurch vielleicht etwas verändern. +Dein Vater sagt in deinem Buch: "Hermann war kein Opfer irgendeines Systems. Hermann war mein Bruder." Aber die Todesanzeige war doch ein Zeichen dafür, dass seine Familie die Bundeswehr für seine Depression und damit auch seinen Suizid verantwortlich gemacht hat, oder? +Ja, und das war etwas Besonderes, denn vor allem mein Großvater – den ich nie kennengelernt habe – war eigentlich eher konservativ. Trotzdem waren meine Großeltern nach Hermans Tod absolut überzeugt davon, diese Anzeige zu veröffentlichen und die Schuldigen klar zu benennen. Viele Familienmitglieder sind bis heute stolz darauf, dass meine Großeltern damals an die Öffentlichkeit gegangen sind. Mein Vater hat lange versucht, die Geschichte zu verdrängen, weil Hermanns Tod ein sehr traumatisches Erlebnis für ihn war. Im Laufe meiner Arbeit, in die ich ihn auch involviert habe, hat sich das geändert, und er hat verstanden, dass das Problem damals viele betroffen hat. +Der Wehrdienst in Deutschland ist seit 2011 ausgesetzt. Warum glaubst du, dass Hermanns Geschichte auch für junge Menschen heute noch wichtig ist? +Gerade weil wir die Wehrpflicht nicht mehr haben. Es gibt ja immer wieder dieDebatte, dass man sie erneut einführen könnte, und wir sollten uns bewusst sein, welche Opfer dafür gebracht wurden, dass es sie aktuell nicht gibt. Außerdem wird die Gewissensprüfung immer noch angewandt: Soldat*innen, die den Kriegsdienst verweigern und die Armee vorzeitig verlassen wollen, müssen sich nach wie vor auf Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes berufen und haben immer noch relativ geringe Anerkennungsquoten.In vielen anderen Ländernbesteht das Problem auch weiterhin, in Israel oder Eritrea zum Beispiel, wo Kriegsdienstverweigerer ins Gefängnis müssen oder politisch verfolgt werden. Kriegsdienstverweigerung gilt in Deutschland bis heute nicht als Asylgrund – obwohl die UN sie 1987 als Menschenrecht anerkannten. + +Hannah Brinkmann ist 30, kommt aus Hamburg und hat an der dortigen Hochschule für angewandte Wissenschaften grafische Erzählung studiert. "Gegen mein Gewissen" ist ihre erste Graphic Novel. (Foto: privat) diff --git a/fluter/gegen-stammtischparolen-argumentieren.txt b/fluter/gegen-stammtischparolen-argumentieren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5a01cd9462f9e26fc4e1192c36d567e4898af121 --- /dev/null +++ b/fluter/gegen-stammtischparolen-argumentieren.txt @@ -0,0 +1,38 @@ + + +Politische Ein/Bildung: Wir untersuchenfünf Parolen über die EU +Haben Sie ein Beispiel? +Über Jahre hinweg war der gängigste Spruch: "Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg." Mittlerweile sind auch solche Sprüche hoch im Kurs: "Die Flüchtlinge sind gar nicht wirklich in Gefahr in ihrer Heimat, sie plündern unseren Sozialstaat. Wieso haben die alle ein Smartphone?" Im Allgemeinen geht es immer um Gruppen, gegen die da gehetzt wird. Das sind "die Ausländer", "die Muslime", "die Obdachlosen", "die Homosexuellen", "die Juden", aber auch "die Politikerinnen und Politiker". Und diesen Gruppen wird unterstellt, es ginge eine Bedrohung von ihnen aus. + +Woher nehmen Sie diese Beispiele? +Das sind Parolen, die ich aus etwa 300 Trainings und Vorträgen seit 2001 kenne, sie werden mir von den Seminarteilnehmern und -teilnehmerinnen mitgeteilt. Die sind – wenn Sie wollen und wir den Begriff großzügig auslegen – empirisch gesichert. Und es gibt Literatur, die die Validität der Stimmungen hinter den Sprüchen belegt, beispielsweise die zehn Bände "Deutsche Zustände" von Wilhelm Heitmeyer. Dort werden rechtspopulistische Einstellungen detailliert belegt. + +Man kann solche Sprüche ja auch in der Familie hören. Wie geht man am besten damit um – klassisches Beispiel: beim Mittagessen mit Oma und Opa? +Das Problem besteht darin, dass man die Oma ja mag. Da will man jetzt keine aggressive Kontrastellung einnehmen. Am besten fragt man einfach konsequent nach: Woher weißt du das denn? Hast du so was schon erlebt? Betrifft das wirklich alle Ausländer? Was ist denn mit dem türkischen Gemüsehändler, zu dem du immer gehst? Man muss diese allgemeine Gültigkeit, die diese Aussagen vorgaukeln, auflösen und konkret werden. + +Das klingt nach einem harten Verhör. +Man kann auch durchaus mal eine Brücke bauen, indem man sagt: Ja, die Welt verändert sich, auch ich bin nicht immer mit allem einverstanden. Dann kann man die Frage stellen, was die Alternative wäre. Oder man stellt sich einfach dumm: Oh, ich habe so was noch nicht erlebt, erzähl mal, woher du das weißt. Ich finde aber, wenn jemand wirklich einfach nur aggressiven Rassismus von sich gibt, muss man auch entsprechend hart kontern. Das wird die Oma jetzt vielleicht nicht machen. + + +Wie verhalte ich mich denn Fremden gegenüber, die Stammtischparolen von sich geben? +Da gibt es ein tolles Beispiel, von dem ich immer in Seminaren erzähle: In der Straßenbahn saß ein in Deutschland sehr renommierter Professor, der zum Thema Rechtsextremismus forscht. In der Straßenbahn saßen auch zwei ältere Frauen und noch weitere Menschen. Der Professor wurde Zeuge eines Gesprächs, in dem die beiden sehr lautstark und provokativ fremdenfeindliche Sprüche von sich gaben. Alle saßen da und schwiegen, und er saß da auch und sagte im Nachhinein: "Mir ist dazu nichts eingefallen." Und der hatte ja alle Rechtsextremismus-Theorien im Kopf. Aber er wusste einfach nicht, was er sagen sollte. Beim Aussteigen ist er dann zu den beiden hin und hat gesagt: "Herzlichen Glückwunsch, Sie haben einen Preis gewonnen." "Was für einen Preis?", haben die Frauen gefragt. "Den Preis dafür, dass man zwischen zwei Haltestellen so viel Blödsinn erzählen kann." Ich will damit jetzt nicht sagen, dass das eine geeignete intellektuelle Konfrontation ist. Ich will nur deutlich machen, dass diese Blockade normal und nicht einfach zu überwinden ist. Und die Pointe der Geschichte ist: Die Menschen in der Bahn fingen an zu klatschen. Jede Reaktion ist besser als keine Reaktion. + +Das klingt aber nicht besonders entschieden und lösungsorientiert. +Man darf in so einer kurzen Begegnung keine Wunderdinge erwarten. Aber das Nachdenken ist ja mit dem Ende des Gesprächs nicht zu Ende – so eine Auseinandersetzung wirkt noch nach. Wichtig ist ein authentischer Auftritt. Man muss standhaft nachfragen. Es gibt da einen schönen Satz: "Belehrung kommt gegen Erfahrung nicht an." Und die Erfahrung zu machen, dass jemand, der sich mit meiner "Feindgruppe" solidarisiert, trotzdem sympathisch und souverän auftritt, das schafft Irritation. Damit kann man schon einiges erreichen. + +Die beiden Damen in der Straßenbahn wurden durch den Auftritt aber sicher nicht von ihrer Meinung abgebracht. Wäre das nicht das eigentliche Ziel? +Das erste Ziel ist es, für einen selbst was zu tun. Es ist ein dämliches Gefühl, sich so etwas anzuhören und nichts dagegen zu unternehmen. Das zweite Ziel ist, dass man sagt: Nein, stopp, dies ist eine demokratische Gesellschaft, und die verteidige ich. Der dritte Punkt ist, diejenigen zu motivieren, die noch zugegen sind. Außerdem gibt es von der verbalen zur physischen Aggressivität einen fließenden Übergang. Der muss gestoppt werden – das wäre Punkt vier. Erst der letzte Punkt ist es, diejenigen, die sich so äußern, von einer anderen Sicht der Dinge zu überzeugen. + + +Klaus-Peter Hufer hat ein Training gegen Stammtischparolen entwickelt. Er ist außerplanmäßiger Professor an der Universität Duisburg-Essen + +Gibt es Situationen, in denen es auch besser ist, nichts zu sagen? +Ganz klar: wenn es gefährlich wird. Wären diese beiden alten Damen vier bedrohlich aussehende junge Männer gewesen, wäre es definitiv besser, die Klappe zu halten. Da kann man höchstens flüsternd dem Nachbarn sagen, dass man das nicht gutheißt. Es gibt übrigens auch Gespräche, die man nicht führen darf: Wenn jemand sagt, Auschwitz sei eine Lüge. Da ist rigorose Abgrenzung erforderlich. So ein Gespräch muss ich sofort abbrechen und mich gar nicht erst auf eine Diskussion einlassen. + + +Welche Möglichkeiten habe ich zum Beispiel auf Facebook, wo das Ganze schriftlich in Kommentarfeldern und öffentlich stattfindet? +Unbedingt kommentieren. Der nächste Schritt wäre: Ich setze mich jeden Abend eine Stunde hin und antworte auf solche Parolen. Das reichen drei Worte, wie zum Beispiel: "Das ist Quatsch." Ich kenne junge Leute, die das machen. Das imponiert mir sehr. Das Internet ist ein öffentlicher Platz geworden, wenn man da den Falschen das Feld überlässt, dann entsteht eine ewige Schleife der Selbstbestätigung. + +Wie überprüfen Sie den Erfolg Ihrer Trainings? Ist das überhaupt möglich? +Da kann ich mich nur auf die Plausibilität meiner Begründung und die positiven Reaktionen der zahlreichen Teilnehmer und Teilnehmerinnen bei den Veranstaltungen verlassen. Ich habe nach den Veranstaltungen immer wieder Rückmeldungen bekommen, dass "es so klappt", mit Stammtischparolen umzugehen. + diff --git a/fluter/gegrilltes-wasser.txt b/fluter/gegrilltes-wasser.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3460fee1c6af6ded793e2512a8c762f532f81a65 --- /dev/null +++ b/fluter/gegrilltes-wasser.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Und an diesem vielleicht letzten Monopol des menschlichen Erfindergeists soll jetzt Watson kratzen? Ein Computer, der natürlich weder schmecken, noch riechen und noch nicht mal sehen kann. Um von seiner künstlichen zu einer kulinarischen Intelligenz zu kommen, haben Wissenschaftler Watson mit über zehntausenden Rezepten gefüttert. Drei Jahre lang verleibten sie ihm Geschmackstheorie ein. Er weiß quasi alles über die chemische Zusammensetzung von Zutaten. Letztes Jahr hat Watson sogar ein Kochbuch veröffentlicht. Das sollte selbst auf dem unüberschaubaren Kochbuchmarkt mit rund 1.700 Neuveröffentlichungen pro Jahr alleine in Deutschland ein Novum sein. +Eine abgespeckte Version von Watsons Buch ist auchonline für den Hobbykoch einsehbar.Taugt sie was? +Samstagabend, kurz nach Ladenschluss. Ich möchte einen Caesar's Salad machen, habe aber beim Einkaufen wieder mal die Hälfte vergessen. Zum Beispiel die Anchovis. Die sind ziemlich wichtig, weil sie der Sauce ihre Salzigkeit geben. Mal sehen, was mir Watson vorschlägt. +Die Suchmaske besteht aus vier Feldern. In jedes kann man einzelne Zutaten eingeben. Zusätzlich gibt es die Möglichkeit, die kulinarische Richtung anzugeben (von "Afrikanisch" bis "Yard to Table" – vom Feld auf den Tisch) oder direkt ein bestimmtes Gericht. +Ich tippe ein: "Römersalat, Parmesan, Sauerteigbrot". Das letzte freie Feld ergänzt Watson mit "Räucherlachs". So habe ich das noch nie gegessen. Das Ergebnis funktioniert überraschend gut. Ein bisschen fettig ist die Sauce, aber die Variante von Jamie Oliver, die ich sonst mache, ist mit Crème Fraîche statt Eigelb. Auch nicht übertrieben diätetisch. +Jetzt bin ich neugierig. Kann Watson wirklich was? Ich gebe ein: "Mehl", "Wasser", "San-Marzano-Tomaten" (das sind die, die am Vesuv wachsen), "Käse". Man muss kein bloggender Foodie mit tausenden Followern auf Instagram sein, um bei diesen vier Zutaten auf das wohl meistgegessene Gericht der Welt zu kommen: die Pizza. +Für den Teig einer original Pizza Neapoletana braucht man nur Mehl, Salz und Wasser. Okay – wenn man nicht gerade ein Bäcker ist, der die komplexen Prozesse einer langen Teigführung beherrscht, die übrigens noch nicht mal die Wissenschaft vollständig entschlüsselt hat, dann ist ein bisschen Hefe nützlich. Fragt man Superchef Watson nun nach Mehl, Wasser, San-Marzano-Tomaten und Käse – dann spuckt der aus: +Zutaten: Wasser, Tomaten, Butter, Mehl, Paneerkäse, Salz +Diese in Butter ausgebackenen Küchlein sind eine recht freie Variation der Arepas, eines südamerikanischen Street-Food-Snacks aus Maismehl. Als zweites Ergebnis listet Watson dann allen Ernstes folgendes auf: +Zutaten: Wasser, Zwiebeln, Tomaten, Olivenöl, Pfeffer, Mehl, Paneerkäse, Salz. +Das Gericht ist nicht ganz so skurril, wie Watson es betitelt. Es ist eine Art gegrillte Polenta, erfährt man. Ob Watson weniger ein Koch sondern ein Komiker sein könnte, denke ich mir endgültig bei Vorschlag Nummer fünf, der auf Wassersuppe und Wasserkuchen folgt: +Zutaten: Wasser, Mehl, Hühnerbrust, Ei, kandierter Ingwer, Zimt, Petersilie und vieles mehr. +Watson erklärt: Hier variiert er das Rezept für gefüllte Oliven, für die ein Restaurant in San Francisco berühmt ist. Aber Pizza, so ein simples weltbekanntes Gericht, da kommt der Big-Data-Chefkoch einfach nicht drauf. +Erstaunlich ist das schon. In seiner frei zugänglichen Variante hat Watson 10.000 Rezepte intus. Er hat Daten über die Zusammensetzung von Lebensmitteln, die bis in die molekularen Strukturen gehen. Er weiß, welche Zutaten gut zusammenpassen. Tatsächlich kann man so etwas Sinnliches und Subjektives wie Geschmack ja sehr gut systematisieren. Das weiß jeder Koch und jeder "Sommelier", wie man den Weinkellner heute nennt. Aber das reicht offenbar nicht. +Ich gebe weiter wild Begriffe in die Suchmaske ein und stoße auf eine Variation der gefüllten Zucchini – nur in Erbsenschoten. Ernsthaft: Das mag ja ganz originell sein und nachhaltig auch. Die Schoten schmeißt man ja sonst weg, wenn man die Erbsen rausgepult hat. Aber wer bitteschön mutet sich diese unendliche Fummelei zu? +Schnell merke ich: Watson weiß eine Menge über Geschmack – von Konsistenzen hat er wenig Plan. Ein übler Mantsch wird etwa die Schafskäse-Panna Cotta, die er mir vorschlägt, als ich nach einem originellen Dessert suche. Eigentlich eine spannende Idee, die Watson da ausgetüftelt hat, aber den bröckeligen Käse bekommt man einfach nicht zu einer glatten Masse, geschweige denn zu einem servierbaren Ergebnis verarbeitet. +Gut, Watson kocht jetzt erst seit vier Jahren. Vielleicht muss man da nachsichtig sein. Er soll noch lernen – unter anderem anhand des Feedbacks seiner Nutzer. Schwer zu sagen, wie viel das hilft. Denn auch seinenSignature-Gerichtenaus dem Kochbuch fehlt etwas Elementares. Der vietnamesische Apfel-Kebab mag ein raffiniertes Spiel mit der Säure haben (so man den richtigen Apfel nimmt – davon steht nichts im Rezept). Es fehlt in diesen Fusion-Ideen jedoch eine Geschichte, eine Identität. Und sei sie nur eine Verortbarkeit in unserer digitalisierten Welt. Eben wie die Pizza, die, auch wenn sie auf der ganzen Welt gegessen wird, auf ewig der Stolz von Neapel sein wird. +Felix Denk, Redakteur bei fluter.de, kocht nicht sehr gut, aber sehr gern. Noch lieber geht er Essen. Für einen Besuch im berühmten Noma in Kopenhagen ließ er mal einen ganzen Urlaub sausen. +Watson ist ein Großrechner von IBM. Sein Vorgänger, Deep Blue, erlangte Berühmtheit, weil er den Weltmeister Garry Kasparov im Schach besiegte. Der Computer konnte 200 Millionen mögliche Schachzüge pro Sekunde berechnen. Das war 1997. Watson kann mehr. Er ist darauf ausgelegt, die menschliche Sprache zu verstehen und soll auch Antworten formulieren können. Dazu lernt er, Nuancen und Kontexte zu deuten. IBM verfolgt damit das Ziel, lernende Computersysteme zu entwickeln, die sich den menschlichen kognitiven Fähigkeiten annähern. Diese könnten in ganz unterschiedlichen Einsatzbereichen eingesetzt werden, etwa in der Medizin, aber auch im kommerziellen Bereich. Letztes Jahr Weihnachten prognostizierte Watson, welche Geschenke am beliebtesten und damit amam schnellsten ausverkauft sein würden. Mit "Chef Watson", dem Kochprogramm, will IBM zeigen, dass Computer kreativ sein können – und das auf einem Feld, das bislang als Domäne des Menschen galt: dem Geschmack. Seit April 2016 bietet "Bear Naked", eine Tochtergesellschaft von Kellogg's, als erste kommerzielle Marke ein Knuspermüsli an, dessen Zutaten der Kunde mit Watsons Hilfe zusammenstellen kann. diff --git a/fluter/geh-zum-schwanz.txt b/fluter/geh-zum-schwanz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f85dc16d2271841a38d545a5e185ac6b7bf61d58 --- /dev/null +++ b/fluter/geh-zum-schwanz.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Und Mat ist tatsächlich laut. Laut, derb und oft unter der Gürtellinie. Es ist eine Art Parallelsprache neben dem gesellschaftsfähigen Russisch, die besonders hingebungsvoll von Männern gebraucht wird, um zu fluchen, zu beleidigen oder seinen Emotionen mit obszönen Kraftausdrücken Ausdruck zu verleihen. Und das unabhängig vom sozialen Status – wenngleich Mat öfter von Arbeitern zu hören ist. "Was haben Mat und Diamat (dialektischer Materialismus) gemeinsam?", hieß es zur Zeit der Sowjetunion. Antwort: "Beides sind mächtige Waffen des Proletariats." +Zur Entstehung von Mat gibt es die Theorie, dass die Vulgärsprache als Gegenmittel zur rigiden Sexualmoral der orthodoxen Kirche gedient habe. Daher tauchten besonders viele sexuell konnotierte Wörter im Mat auf: Chuj (Хуй) meint Schwanz, also das männliche Geschlechtsorgan. Pizda (Пизда) ist ein vulgäres Wort für das weibliche Geschlechtsorgan, Ebat' (Ебать) ist das lautmalerische Verb für Geschlechtsverkehr (in etwa wie ficken oder bumsen), und bljad' (Блядь) bedeutet "Schlampe". Letzteres wird auch gern als Füllwort benutzt, was dann so klingt: "Der, Schlampe, hat mir, Schlampe, aber wieder ordentlich eins, Schlampe, auf die Fresse gegeben, Schlampe."Es stimmt, die Sprache ist sehr sexistisch, aber bei aller Derbheit auch wunderbar kreativ. Wenn jemand verschwinden soll, sagt man: "Poshel ty na chuj!" Wörtlich: Geh zum Schwanz! Im Zuge der Ukraine-Russland-Krise kam die Redewendung "Putin chyjlo!" auf, mit der man feststellt, dass der russische Präsident zum Schwanz geworden ist. Und wenn man eine Tatsache mit besonderem Nachdruck betonen will, sagt man: "Gefickte Kraft (jebicheskaja sila)!" "Bez tebja pisdez" heißt ein Song der Sankt Petersburger Punk-Band Leningrad. "Ohne dich ist alles Fotzendreck" – politisch korrekt: "Ohne dich macht alles keinen Sinn!" Die Band um den 
Sänger Sergej Schnurow hat Mat zum Kult erhoben. "Das ist eine Volkskultur", sagt Schnurow.Die aber hat den Obrigkeiten nie gepasst. Bereits das Zarenreich hatte das Mat tabuisiert. Und erst im vergangenen Jahr hat die Duma ein Gesetz erlassen, nach dem der Gebrauch der Vulgärsprache in Medien und öffentlichen Aufführungen strafbar ist. Von solchen Verboten haben sich die russischen Kulturschaffenden aber noch nie beeindrucken lassen. Der russische Nationaldichter Alexander Puschkin fluchte bereits Anfang des 19. Jahrhunderts ausführlich in seinen Gedichten, so in "Der Wagen des Lebens": "Am Morgen steigen wir in den Wagen/Freudig unseren Kopf zu zerschlagen/Und Glückseligkeit und Faulheit verachtend/Schreien wir: Verpiss dich! Verfickte Mutter!" +Und auch heute gehört es für prominente Autoren wie Wladimir Sorokin zum guten Ton, die Helden ihrer Bücher mit dem Sound der Straße auszustatten. "Ohne Mat kommen sie nicht aus", sagt Punksänger Schnurow. Ansonsten wäre das wohl "polnyj pizdec". Der Abgrund, das Ende, der Tod. diff --git a/fluter/geheimoperation-bnd-politische-ddr-witze.txt b/fluter/geheimoperation-bnd-politische-ddr-witze.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d91afa1046226e4d8cf184b764f062ac357135ca --- /dev/null +++ b/fluter/geheimoperation-bnd-politische-ddr-witze.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +"Die DDR. Sie hat 16 Millionen Kohlendampfer, zwei Millionen Abdampfer und drei Zerstörer." +Dieser Witz über die zunehmendeRepublikflucht, erzählt am Rande eines Schweinemarktes, wurde einem Landwirt im Dezember 1955 zum Verhängnis. Zwei Tage vor Weihnachten nahm die Polizei den Bauern aus dem sachsen-anhaltinischen Erxleben fest, ein Gericht verurteilte ihn für seinen Gag zu 15 Monaten Zuchthaus. +Klingt wie ein schlechter Scherz, soll sich aber wirklich zugetragen haben. Jedenfalls wenn man Hans-Hermann Hertles Buch "Ausgelacht – DDR-Witze aus den Geheimakten des BND" glaubt. +Tatsächlich sammelte der westdeutsche Bundesnachrichtendienst (BND) von 1977 bis 1989 politische Witze aus dem Nachbarland, um mehr über die Situation desKlassenfeindesin Erfahrung zu bringen. Da jeder Witz auch ein Stück Wahrheit beinhalte, "konnte das Sammeln von Witzen zumindest einen ergänzenden Eindruck von der Lage vor Ort vermitteln", heißt es in Hertles Buch. Die "Operation DDR-Witz" war geboren. +Die Witze selbst waren zumeist Nebenprodukt der üblichen Befragungen oder sogenannter Stellvertreterbefragungen, also Gesprächen mitBRD-Bürgern, die regelmäßig in die DDR reisten. Am 11. November 1977, pünktlich zum Karnevalsauftakt, übergab der BND dem Kanzleramt die ersten politischen Gags. Ein Datum mit Tradition: Fortan bekam das Kanzleramt zum Karnevalsauftakt und zum Rosenmontag die geheime Witzesammlung geliefert. +Heiterlesen +Je ernster die Lage, desto lustiger die Witze? Worüber lachen Rechte?Der Experte Willibald Ruch hat ein paar Pointen zur politischen Dimension von Humor +War sie tatsächlich ein wichtiges Werkzeug des BND bei der Jagd nach Informationen – "konspirativ gesammelt (…), auf verschlungenen Wegen aus der DDR direkt in dieZentrale nach Pullachübermittelt", wie es Buchautor Hertle reißerisch umschreibt? "Im BND wurde sehr seriös gearbeitet", sagt Bodo Hechelhammer, Leiter des Historischen Büros beim BND, "aber in diesem Fall schien jemand einen besonderen Sinn für Humor gehabt zu haben." Hechelhammer ordnet die Witzsammlung eher als "Randgeschichte" ein, die mit wichtigen nachrichtendienstlichen Projekten "nicht zu vergleichen" sei. Auch sein Kollege Ilko-Sascha Kowalczuk, Autor und Projektleiter bei der Stasiunterlagenbehörde, misst der Geheimoperation wenig Bedeutung bei: "Dahinter steckte sehr wahrscheinlich keine größere konzeptionelle Strategie. Gut möglich sogar, dass diese Akte einfach von einem Mitarbeiter angelegt wurde, der in seiner Freizeit gerne DDR-Witze erzählte." +Die Verhaftung des Landwirts hält Kowalczuk für eine Legende. Wegen politischer Witze seien nur wenige DDR-Bürger verhaftet worden. Allerdings hätten sich Witzeleien durch densogenannten "Boykotthetze"-Artikel der DDR-Verfassungstrafverschärfend auswirken können. Tatsächlich aber, sagt Kowalczuk, "haben die, die von den Witzen am meisten betroffen waren, am lautesten darüber gelacht." Staatschef Erich Honecker(zu sehen auf dem Titelbild, Anm. d. Red.)soll sich selbst über die derbsten Honecker-Witze amüsiert haben. (Was ist der Unterschied zwischen einer defekten Telefonverbindung und Erich Honecker? Es gibt keinen – aufhängen und neu wählen!) Wobei "neu" relativ ist: Der typische DDR-Witz stand in einer Tradition politischer Scherze im Osten. +"Die Verhöhnung der Privilegierten erfüllte im Ostblockwitz eine Trostfunktion", schreibt der Historiker György Dalos in "Proletarier aller Länder entschuldigt mich – Das Ende des Ostblockwitzes". Witze seien für viele wichtig gewesen, weil sie ihr Dasein als Bürger einer Diktatur legitimierten. "In diesem Sinne war der Ostblockwitz für die meistenVölker des Warschauer-Pakt-Bereichsder Ersatz für fehlende Rebellion oder vielmehr das grinsende Alibi für jahrzehntelange Anpassung." Die Witze kannten im Grunde nur eine Regel: "Je unerreichbarer (…) die Diktatoren waren, desto schonungsloser wurden sie (…) verspottet." +Das zeigt auch ein DDR-Klassiker über denMinister für Staatssicherheit,Erich Mielke: "Mielke ist mit seinem Fahrer unterwegs. Plötzlich läuft ein Huhn vor das Auto und wird überfahren. Mielke steigt aus und geht zum nahen Bauernhof. Er kommt mit einem blauen Auge und zerrissenem Anzug zurück, setzt sich still in den Wagen und sagt dem Fahrer, er solle weiterfahren. Kurze Zeit später überfahren sie ein Schwein. Mielke hat vom ersten Mal genug und schickt seinen Fahrer los. Der kehrt kurz darauf mit Geschenken überhäuft zurück. ‚Wie hast du das gemacht?', fragt Mielke. Antwort des Fahrers: ‚Ich bin rein und habe gesagt: Ich bin der Fahrer vom Mielke und habe das Schwein überfahren.'" +Der Spott, sagt Kowalczuk, sei das Ventil der einfachen Leute gewesen. "Die Witze zeigen, dass die Menschen in der DDR ganz genau wussten, in was für einem System sie lebten." Ein Informationsvorsprung, den der BND offenbar selbst mit seiner "Operation DDR-Witz" nicht wettmachen konnte. 2009 gab der Nachrichtendienst die Geheimakte frei, Tausende Seiten befinden sich unter der Signatur "BA, B 206/532 und 576" bis heute im Bundesarchiv. Der BND habe bis zur Wiedervereinigung keine Ahnung gehabt, wie kaputt das Land wirklich war, sagt Kowalczuk. Dabei waren es auch seine Berichte und Einschätzungen, die die Wiedervereinigung vorbereiteten. +Aus dem Archiv +Warum bekommen die älteren DDR-Bewohner demnächst neue und größere Personalausweise?Weil sonst die langen Gesichter nicht mehr reinpassen. + +Stalin, Lenin und Honecker fahren in der Transsibirischen Eisenbahn. Plötzlich hält der Zug, weil die Schienen fehlen. Was machen die drei?Stalin lässt alle Passagiere aussteigen und erschießen. Lenin holt Leute heran und lässt die Strecke reparieren. Honecker weist alle Parteigenossen an, die Fenster zu verdunkeln und die Wagen hin und her zu schütteln, damit alle denken, es geht weiter vorwärts. + +Ein polnischer Hund, ein DDR-Hund und ein Hund aus der BRD treffen sich und erzählen aus ihrem Leben. Der polnische Hund sagt: "Uns geht es ganz schlecht, wir haben nichts zu fressen." Der DDR-Hund sagt: "Das mit dem Fressen funktioniert einigermaßen, aber viel zu melden habe ich nicht." Der westdeutsche Hund sagt: "Wenn ich belle, kriege ich Fleisch."Darauf der polnische Hund: "Was, Fleisch?" Und der DDR-Hund erschrocken: "Was, bellen?" +Als hätte er das bis heutemühsame Zusammenwachsen von Ost und Westgeahnt, gab György Dalos schon 1993 einen geradezu prophetischen Rat. "Hoffentlich", schrieb der Historiker, "gelingt es den osteuropäischen Gesellschaften, im schmerzhaften Prozess der Entstehung eines neuen Oben und Unten den einen oder anderen Scherz zu machen. Sie brauchen einen der veränderten Situation angemessenen Humor, bevor ihnen angesichts der enormen Schwierigkeiten bei der gesellschaftlichen Umwandlung das Lachen im Halse stecken bleibt." +Wirklich witzig ist vieles, was in den Regionen der ehemaligen DDR passiert, nicht. Hans-Hermann Hertle, der Autor von "Ausgelacht",beobachtetgar, dass der politische Witz im Osten mit der SED-Diktatur 1989/1990 untergegangen ist. "Bei Pegida gehen (…) Besorgnisse vor sozialem Abstieg, irrationale Ängste vor Fremden und Fremdem sowie harter Rechtsextremismus eine Verbindung ein. Da muss jeder Humor auf der Strecke bleiben." Und auch die "Corona-Demonstranten" in Sachsen oder Thüringen scherzen weniger über Angela Merkel oder Jens Spahn, als dass sie ihnen schlicht die Pest an den Hals wünschen. +Im Deutschland der Gegenwart sind Meinungs- und Pressefreiheit an die Stelle des "grinsenden Alibis für Anpassung" getreten. Fast alles, was man sagen will, darf man auch sagen. Nie war es einfacher, öffentlich zu meinen, als im Zeitalter von Social Media. Ein wenig mehr Humor würde dieser Öffentlichkeit guttun. Das von Kowalczuk beschriebene Ventil und die von Dalos erwähnte Trostfunktion scheinen so wichtig wie seit dem Untergang der DDR nicht mehr. + diff --git a/fluter/gehen-sie-nie-muede-einkaufen.txt b/fluter/gehen-sie-nie-muede-einkaufen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3da382c0186f75b37de83449851b12f1cce01e61 --- /dev/null +++ b/fluter/gehen-sie-nie-muede-einkaufen.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Physische Voraussetzungen? +Ein simples Beispiel sind Einkaufskörbe. Nehmen wir an, es regnet. Der Kunde betritt also mit einem Schirm in der Hand den Markt. Dann hat er nur noch eine Hand für den Einkauf zur Verfügung. Wenn jetzt kei-ne Einkaufskörbe bereitstehen, kann er nur noch ein, zwei Artikel kaufen. Mit einem Korb wären es mehr. +Kaufen alle Kunden mehr als geplant? +Wenn wir lediglich das einkaufen würden, was wir wirklich brauchen, ginge morgen weltweit die Wirtschaft zugrunde. Ich bin 55. Hemden, Hosen, Schuhe – davon habe ich genügend für den Rest meines Lebens. Alles, was ich brauche, sind Obst, Pasta, Gemüse, Wasser, Wein und einmal im Jahr ein Dut-zend Socken und Unterwäsche. Aber sind das die einzigen Dinge, die ich kaufe? Natürlich nicht. Wir sind Impulskäufer – und man muss uns die Artikel einfach nur entsprechend präsentieren. +Wie sieht der ideale Supermarkt aus? +Direkt hinter dem Eingang sollte eine Art Landezone sein. Diese dient dazu, dass der Kunde, der von draußen eintritt, sich orientiert und an die Atmosphäre gewöhnt. Danach sollte man an einer Bäckerei, der Obst-und- Gemüse-Abteilung oder Blumenständen vorbeikommen, damit man gleich einen frischen, anregenden Duft in der Nase hat. Dann ist es wichtig, dass die Fleisch-und-Wurst-Theke hinten rechts und die Milch- und Käseprodukte hinten links platziert sind. Der Kunde soll bei seinem Einkauf durch das gesamte Geschäft laufen und an möglichst vielen Produkten vorbeikommen. Übrigens hat sich die Gestaltung von Supermärkten seit den 1930er-Jahren kaum verändert. +Diese Tricks der Supermärkte ... +... es geht nicht um Tricks, sondern um Werbung. Jeder Betreiber eines Supermarktes platziert seine Waren so, dass möglichst viele Kunden zugreifen. Und einzig der Kunde ist dafür verantwortlich, dass seine Einkäufe im Rahmen seines Budgets und seiner Bedürfnisse liegen. +... führen auch dazu, dass zu viele Produkte angeboten werden. Wenn fünfzig Sorten Honig im Regal stehen, kann ich mich nicht entscheiden – und kaufe letztlich gar keinen Honig. +Das ist die Kehrseite und eine schmerzliche Erfahrung für jeden Händler. Seine Aufgabe ist es, seine Kunden zu kennen und zu entscheiden, wie viele Sorten Honig er anbietet. Wir haben festgestellt, dass Kunden mitunter schon mit ein oder zwei zufrieden sind. +Welche anderen Regeln gelten für Regale? +Grundsätzlich steht kein Produkt zufällig an seinem Platz. In Sichthöhe der Kunden zum Beispiel sind die höherpreisigen Marken-
artikel platziert. Unten, in der sogenannten Bückzone, werden die günstigeren Produkte aufgestellt. Außerdem hat jeder Gang eine dominante Laufrichtung, in der sich die Kunden bewegen: Sie haben einen Rechtsdrall. Gute Supermärkte bedenken das und führen die Kunden gegen den Uhrzeigersinn durch den Markt. Die Regale bremsen den Rechtsdrall, die Kunden müssen ihren Weg korrigieren, das erhöht die Aufmerksamkeit. Und: Artikel, die zusammen kon-sumiert werden, werden auch gemeinsam präsentiert – Bier und Chips, Fleisch und Grillsaucen, Eier und Speck. +Was verstört Kunden in einem Supermarkt? +Ein Problem ist, dass die meisten Supermärkte von Männern geführt und von Männern entworfen werden – sie aber natürlich auch die Frauen ansprechen wollen, deren Einkaufsverhalten anders ist. Frauen legen mehr Wert darauf, sich wohlzufühlen. Sie wollen durch die Gänge schlendern, schauen, was angeboten wird. Andererseits übernehmen sehr viele Männer inzwischen den Familien-einkauf. Das muss auch bedacht werden. +Wie wirkt es sich auf das Shoppingverhalten aus, wenn ein Mann und eine Frau gemeinsam einkaufen? +Frauen geben mehr Geld aus, sie sind die dominanten Shopper. Männer hingegen wirken bremsend. In Zukunft werden Supermärkte Stühle und Sessel am Eingang anbieten, wo die Frau ihren Freund oder Mann für die Dauer des Einkaufs abgeben kann, damit sie mehr Geld ausgeben kann. +In welchen Zonen des Supermarkts geben Kunden am meisten Geld aus? +Als Erstes in der Obst-und-Gemüse-Abteilung. Ironischerweise kaufen wir dort so viel, dass zu Hause mehr als ein Drittel davon weggeschmissen wird, weil wir es nicht essen oder weil die Waren schlecht geworden sind. Wichtig ist natürlich die Kassenzone, wo die Schokoriegel und Zeitschriften platziert sind. +Ist es also Absicht, dass ich an der Kasse immer in einer Schlange warten muss? +Nein. Das würde dazu führen, dass Sie sich einen anderen Supermarkt suchen. Aber es stimmt: Die Kassenzone erzeugt am meisten Frustration beim Kunden. Für den Ladenbetreiber ist es ein Balanceakt. Einerseits will er seine Waren präsentieren, andererseits muss er einen reibungslosen Service anbieten. Wichtig ist, dass an der Kasse Produkte platziert sind, für die sich Kunden innerhalb von Nanosekunden entscheiden können. +Wie hätte ich mich bei meinem Einkauf gestern verhalten sollen, um nur das zu kaufen, was tatsächlich auf meiner Liste stand? +Wer diszipliniert einkaufen will, sollte sich an drei Regeln halten. Erstens: Gehen Sie nie müde einkaufen. Zweitens: Gehen Sie nie hungrig einkaufen. Drittens: Am besten ist es, früh in der Woche und zwischen 10 und 12 Uhr morgens in den Supermarkt zu gehen. Und: Wenn Sie sich etwas nicht leisten können, dann sollten Sie es auch nicht kaufen.Paco Underhill, 55, ist Gründer und Vorstandsvorsitzender der Beratungsfirma Envirosell, die für Unternehmen das Kaufverhalten von Kunden analysiert, und Autor des Buches Warum kaufen wir? Die Psychologie des Konsums. Zuletzt erschien von ihm Call of the Mall: The Geography of Shopping. diff --git a/fluter/gehirn-einfrieren.txt b/fluter/gehirn-einfrieren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/gehirnwaesche-fuer-doofe.txt b/fluter/gehirnwaesche-fuer-doofe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9aef8efeb4f3ed3a09c1dbe616e4ecaf8bbd515a --- /dev/null +++ b/fluter/gehirnwaesche-fuer-doofe.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Aber es geht ihm nicht nur um staatlichen Terror, sondern zunehmend um die Zumutungen der Globalisierung und die Allmacht großer Konzerne – zum Beispiel von Google. In seinem neuesten Buch heißt dieses Google "Circle", die Parallelen sind offensichtlich: Das Unternehmen beherrscht den Suchmaschinenmarkt und strebt nach mehr. Mit TruYou hat es eine App erfunden, mit der die User nur noch ein Login und ein Passwort für alles brauchen – zum Preis der völligen Preisgabe ihrer Identität. +Niemand soll sich mehr im Internet verstecken können, stattdessen soll die Welt an der völligen Transparenz gesunden. Livebilder und Ratings im Sekundentakt sollen Verbrechen vorbeugen, jeder Mensch sein Handeln offenbaren. Es wird getrackt, gelinkt und gefilmt, dass es kracht. Denn was bitte kann an der Wahrheit Schlechtes sein? Und was haben die Menschen, die sich nicht filmen lassen oder sich nicht ständig zu ihren Vorlieben äußern, zu verbergen? Na also. +Das Buch ist eine Art Big Brother im Fanmeilen-Format. George Orwell mit dem Holzhammer, bar jeder Subtilität. Besonders die Protagonistin agiert so geistlos, dass die beschworene Gehirnwäsche gar nicht nötig erscheint, weil kein Gehirn vorhanden ist. Schon an ihrem ersten Arbeitstag kann Mae Holland ihr Glück kaum fassen, bei diesem coolen, weltberühmten Konzern zu arbeiten. Der lässt seine Mitarbeiter von Spitzenköchen bekochen, von berühmten Musikern bespaßen, veranstaltet Partys und macht auch sonst alles, so dass ein Leben jenseits des Firmensitzes überflüssig wird. Wer bei alldem nicht mitmacht, wird schnell als antisozialer Außenseiter gebrandmarkt. Einmal wird Mae von den Kollegen gefragt, warum sie ihren letzten Kanutrip nicht gefilmt hat, um das Erlebnis mit den anderen zu sharen. Statt ihre Privatsphäre gegen die Anmaßungen eines Späh-Monsters zu verteidigen, bekommt sie ein schlechtes Gewissen und legt sich noch mehr ins Zeug. +Irgendwann stellt sie ihr ganzes Leben online, mit einer Kamera um den Hals filmt sie jede Minute für Millionen Viewer und ist froh um die Disziplin, die ihr das abverlangt. Auf rund 550 Seiten schafft es Mae nicht einmal, das totalitäre Gehabe ihres Arbeitgebers länger als fünf Minuten zu reflektieren. Stattdessen hat Eggers um sie herum eine kleine Gruppe von Bedenkenträgern arrangiert, von denen einer auf der Flucht vor Drohnen und einem technologiesüchtigen Mob sterben muss. Da hat dann auch der Letzte kapiert, dass die Überwachungssaat des Circle böse Früchte treibt. Dieses Buch sollte man nicht nur nicht bei Amazon bestellen, sondern einfach gar nicht. diff --git a/fluter/gehoer-verschaffen.txt b/fluter/gehoer-verschaffen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1c2a3227bb177b5528a9eeb56bfd3cfd6227ade1 --- /dev/null +++ b/fluter/gehoer-verschaffen.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Das Weißrussische ist kein russischer Dialekt, sondern wie das Ukrainische eine eigene ostslawische Sprache, die aber schon im 14. Jahrhundert unterdrückt wurde. Damals wurde Weissrussland Teil des Doppelstaates Polen-Litauen und blieb es bis Ende des 18. Jahrhunderts. Dann gelangte das Land unter russische Herrschaft und somit unter eine neue sprachliche Dominanz. In der Sowjetrepublik Belarus schließlich konnte man es nur noch in alten Büchern lesen und bei den Alten in den Dörfern hören. In der Hauptstadt Minsk sprach man nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem Russisch. "Es war regelrecht verpönt, Weißrussisch zu sprechen", sagt Barschtscheuski. "Es galt als Sprache der Dummen und der Bauern." Und es war politisch gefährlich, weil man als Nationalist galt, der es an Treue zur Sowjetunion mangeln lässt. Doch dann kam die Perestroika – gerade noch rechtzeitig, bevor das Weißrussische mit den letzten Sprechern aussterben konnte. +Aus dieser Zeit gibt es Schwarzweißfotos, auf denen man einen jungen, wütend agitierenden Barschtscheuski sieht – umringt von Hunderten Zuhörern. Hier in Kurapaty, diesem schrecklich-symbolischen Ort, an dem man 1988 Massengräber entdeckt hatte und darin Knochen von Frauen und Männern, Schädel mit Einschusslöchern am Hinterkopf, dazu Gürtel, Galoschen, Kämme – von Tausenden Menschen. Sie waren in dem Wäldchen 1938 von der sowjetischen Geheimpolizei NKWD erschossen worden. Wie viele genau – das weiß bis heute niemand. Schätzungen gehen von bis zu 250.000 Menschen aus. "Das war unsere Elite, unsere Erinnerung, unsere Zukunft", sagt Barschtscheuski. Stalin habe die weißrussische Elite ermorden lassen, weil er das Erstarken von Nationalbewegungen befürchtete. "Man hat ihnen die geistigen Führer genommen." +So verschwanden die Intellektuellen des Landes und mit ihnen die Sprache unter der Erde von Kurapaty. Andere, die etwas mehr Glück hatten, wurden nach Sibirien deportiert. Die Überlebenden aber hatten Angst und schwiegen über die tragischen Ereignisse der Stalinschen Säuberungen – und bekamen nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue sowjetisch-russische Identität verordnet. +Die Mehrheit der Weißrussen ist bis heute ein Produkt dieser sowjetischen Russifizierungspolitik, und ihr aktueller Staatspräsident Lukaschenka ist es umso mehr, was sich auch bei der Sprache zeigt. Der weißrussische Diktator spricht vorwiegend russisch und – so seine Kritiker – denke immer noch sowjetisch. Ihm und seiner Regierung ist das Weißrussische suspekt, weil in ihm die Geschichte des Landes anklingt, die vor der Stalinisierung von Humanismus, Freiheit und Aufklärung geprägt war. Deswegen wird diese Sprache vom Staat nur wenig gefördert, auch wenn sie (wie das Russische) offizielle Staatssprache ist. Und deswegen sagt Lukaschenka, dass es auf der Welt nur zwei große Sprachen gebe: "Das Englische und das Russische." Das Weißrussische ist für Lukaschenka die Sprache der Opposition, der Nationalisten und nicht zuletzt der Faschisten. Weil weißrussische Patrioten im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis kollaborierten, in der naiven Hoffnung, ihren eigenen Staat aufbauen zu können. +Heute sind es nicht mehr die alten, sondern die jungen Menschen, die dem Weißrussischen zu einer Art Wiedergeburt verholfen haben. Weniger die Politiker, sondern die Kulturschaffenden. Die Magazinmacher, die Schriftsteller, die Theaterleute und Musiker. "Heute ist die weißrussische Sprache nicht mehr so politisiert wie in den Neunzigern", sagt Ljavon Volski, einer der bekanntesten Rockstars des Landes, dessen Lieder Hymnen der weißrussischen Kulturbewegung geworden sind. "Natürlich kommt es immer noch vor, dass man pauschal als Oppositioneller abgestempelt wird, wenn man Weißrussisch spricht. Wir als Musiker haben ja mit unseren Liedern viel dazu beigetragen, dass die Sprache auch von denen akzeptiert wird, die sie eigentlich nicht sprechen." So werde sein Lied ,Try Carapachi' (Drei Schildkröten), das von einer langsamen, aber stetigen Veränderung der Gesellschaft handelt, sogar von jungen Soldaten in der Ausbildung gesungen. +Dieses Lied spielt Volski auf seinen Konzerten gern als Zugabe. Die weißrussische Jugend steht dann vor der Bühne, reckt die Fäuste und singt jede Zeile mit. Und dazwischen rufen sie "Zhyvje Belarus": Es lebe Belarus. Es ist der Ruf nach mehr Demokratie und Freiheit und nach dem Ende der Unterdrückung der weißrussischen Sprache. +Und tatsächlich sind die jungen Weißrussen auf ihrer Suche nach einer eigenen, nichtrussischen Identität und einer Sprache als deren Medium schon recht weit gekommen. "Die Situation ist zwar alles andere als optimal für das Weißrussische, aber sie verbessert sich ständig", sagt Aleh Trusau von der Gesellschaft für weißrussische Sprache in Minsk. An den Universitäten werde Weißrussisch gesprochen, an vielen Schulen gelehrt. "Wir haben Filme auf Weißrussisch und Bücher sowieso." +Fast scheint es so, als sei das Weißrussische, das stark vom Baltischen, Polnischen, Jiddischen und auch Deutschen geprägt ist, zum ersten Mal an der Schwelle zu größerer Popularität. Nach langen Jahren, in denen die Sprache nur ein Verständigungsmittel der Bauern gewesen war. Denn wer aufsteigen wollte, musste Polnisch oder später Russisch lernen. "Viele meiner Landsleute assoziieren das Weißrussische nicht mit Glück, eher mit dem Leiden, das unser Volk in vielen Kriegen ertragen musste", sagt der junge Schriftsteller Alhierd Bacharevytsch, der das Weißrussische heute zusammen mit anderen Autoren wieder attraktiver macht. +Wer heute durch Minsk mit seinen sowjetischen Prachtbauten spaziert, hört immer noch vor allem Russisch auf der Straße. Bei der letzten Volkszählung gaben aber immerhin mehr als 30 Prozent der Befragten an, im Alltag weißrussisch zu sprechen. Es ist die junge, urbane Elite, die sich der Sprache verschrieben hat und sie von den Dörfern zurück in die Städte holt. Zu ihr gehört auch Sjarhej Sacharau, der Anfang des Jahrtausends die Zeitschrift "Studumka" entwickelt hat und heute die Website "34 Multimedia Magazine" betreibt. "Gerade das Internet ist sehr stark von denen geprägt, die weißrussisch sprechen und schreiben", sagt Sacharau, immer mehr Menschen wechselten mittlerweile zwischen Russisch und Weißrussisch. +So ist durch die Wiederkehr der Sprache ein Gefühl für die eigene Herkunft entstanden, das die jungen Weißrussen antreibt, sich über die Grenzen ihres einengenden Staates Gehör zu verschaffen. Oder, wie es Sacharau ausdrückt: "Wir Weißrussen sind heute etwas weniger unsichtbar." +Sorbisch +Wo: Deutschland (Sachsen und Brandenburg) +Wer: ca. 20.000 aktive +Sprecher Bis Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die sorbische Sprache immer wieder stark unterdrückt. Auch heute hat es das Sorbische unter dem Druck der Mehrheitssprache Deutsch schwer. Als Muttersprache wird es nur noch in wenigen Regionen gepflegt. Die Sorben sind mit politischer Unterstützung um eine Revitalisierung der Sprache bemüht. + +Baskisch +Wo: Nordost-Spanien und Südwest-Frankreich +Wer:  600.000 bis 800.000 +aktive Sprecher Die baskische Sprache ist eng mit den Autonomiebestrebungen der ethnischen Basken verbunden. Die Anerkennung als regionale Amtssprache und die starke Verankerung der baskischen Kultur in der Bevölkerung tragen zur Stärkung bei. + +Katalanisch +Wo: Nordost-Spanien +Wer: ca. 8 bis 9 Mio. +Vor allem im 18. Jahrhundert und während der Franco-Diktatur 1939 bis 1975 wurde die katalanische Sprache vom spanischen Staat stark unterdrückt. Seit 2006 verstehen sich die Katalanen als eigenständige Kulturnation, ihre Sprache wird mit Unterstützung der spanischen Zentralregierung stark gefördert. diff --git a/fluter/geht-doch.txt b/fluter/geht-doch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/geht-ja-gut-los.txt b/fluter/geht-ja-gut-los.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..540d96b8ae698f978dea31dcc33d79800d0e2a34 --- /dev/null +++ b/fluter/geht-ja-gut-los.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Artikel zensiert, Wörter gestrichen, Verkauf verboten: Schülerzeitungsmacher in Deutschland müssen immer wieder um die Pressefreiheit kämpfen – und zwar an ihrer eigenen Schule. Nach einer Studie der Jungen Presse Bayern greifen nach wie vor Schulleitungen in die Entscheidungen von Schülerzeitungsmachern ein. Ein Drittel der befragten bayerischen Schülerzeitungsredakteure berichtete, dass ihre Schulleitung schon einmal Artikel zensiert oder gestrichen habe. +Das passierte auch Felix Bosdorf in Magdeburg. Der Schüler wollte 2012 kritisch über die Raumzuweisung an seiner und einer anliegenden Schule berichten. Die Schulleiterin strich vor der Veröffentlichung allerdings ganze Sätze und Absätze des Artikels. Bosdorf berichtete trotzdem über die Raumproblematik an seiner Schule. Auch die Lokalpresse nahm sich der Thematik an, aber der Konflikt wurde nicht gelöst. Am Ende verließ Bosdorf die Schule. Von der Lokalpolitik erfuhr er nur wenig Unterstützung. Immerhin bekam er 2012 in der Kategorie "Bester Nachwuchsjournalist" den Jugendpressepreis für Sachsen-Anhalt, die "Goldene Feder". In deren Jury sitzt er heute als Vorstandsmitglied von fjp>media, dem Verband junger Medienmacher Sachsen-Anhalt, selber. Für seine Arbeit wurde er im selben Jahr auch vom Landesministerium für Arbeit und Soziales mit dem Ehrenpreis "Wir sind stark" ausgezeichnet. +Als Schülerzeitungsredakteur standhaft zu bleiben, erfordert einigen Mut. Denn Schulleitungen sehen sich beim Streit um Artikel oft am längeren Hebel, wie es in einer Veröffentlichung der Jugendpresse Baden-Württemberg heißt. Manchmal drohen sie Schülern sogar mit Sanktionen. Und aus Angst vor schlechten Noten greift dann oft auch die Schere im Kopf, weiß man bei der Jugendpresse Deutschland. Manche jungen Redakteure ließen kritische Artikel lieber von vornherein weg, als ihre Schulkarriere aufs Spiel zu setzen – auch wenn ihnen noch gar nicht konkret gedroht wurde. +Nur wenn die Öffentlichkeit von Zensurfällen und Einflussnahmen erfährt, kann sich etwas ändern. "Viele Schulleiter haben erkannt, dass sich Presseberichte à la ,David gegen Goliath' in der Außendarstellung der Schule nicht gut machen", sagt Bernd Fiedler von der Jugendpresse Deutschland. Der Verein vermittelt Schülerzeitungsmachern Rechtsberatung und zieht, wenn es nötig wird, auch mal vors Gericht. Eine Übersicht von Zensurfällen in ganz Deutschland hat die Jugendpresse aber bisher nicht. +Die Rechtslage ist indes klar: Eine Vorzensur von Schülerzeitungen ist in allen Bundesländern, seit einigen Jahren auch in Bayern, nicht erlaubt. In manchen Bundesländern, darunter Baden-Württemberg, können Schulleiter bei "triftigen Gründen" jedoch den Verkauf des Blattes auf dem Schulgelände untersagen. Eine Ausnahme bilden Privatschulen, denen der Staat besondere Rechte einräumt. Theoretisch ist hier sogar Zensur möglich. +Doch das Internet bietet Möglichkeiten, die Zensur zu umgehen. "Wenn ein Artikel in einer Schülerzeitung nicht erscheinen darf, kann er halt in tausend anderen Online-Medien erscheinen", sagt Bernd Fiedler von der Jugendpresse. Doch solche Möglichkeiten werden seines Wissens eher selten genutzt. +Auch in der schönen neuen Online-Welt gibt es weiterhin Schülerzeitungszensur. An Felix Bosdorfs ehemaliger Schule in Magdeburg etwa erscheint die Schülerzeitung zwar inzwischen im Netz. Die Artikel müsse die Redaktion aber trotzdem weiterhin von der Schulleiterin absegnen lassen, sagt Bosdorf. +Arne Semsrott ist selbst ehemaliger Schülerzeitungsmacher. An der Hamburger Sophie-Barat-Schule gab er die verbotene Schülerzeitung "Sophies Unterwelt" mit heraus. Der damalige Kampf gegen die Zensur machte bundesweit Schlagzeilen. Bei einer Protestaktion verkauften die Redakteure das Blatt aus einem Dixi-Klo heraus, das sie vor der Schule aufgestellt hatten. diff --git a/fluter/gelbwesten-frankreich-vier-demonstranten-berichten.txt b/fluter/gelbwesten-frankreich-vier-demonstranten-berichten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..34590a91311b3ffd1921e97f341e6a3453dde54c --- /dev/null +++ b/fluter/gelbwesten-frankreich-vier-demonstranten-berichten.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Benjamin B. lebt mit seinen Eltern im Großraum von Paris. Vor kurzem hat er sein Studium der Umweltökonomie beendet. Ihn macht wütend, dass die Regierung ihre ursprünglich geplante Steuererhöhung auf Treibstoff mit dem Klimaschutz rechtfertigt. "Macron macht kaum Geld für Umweltschutz locker und schiebt dann dieses Argument vor, um die Ärmsten im Land, die auf ihr Auto angewiesen sind, noch stärker zur Kasse zu bitten." Er selbst sieht keinen Widerspruch zwischen dem Protest der Gelbwesten und einer verantwortungsvollen Klimapolitik. "Die Frage ist ganz einfach, wo man ansetzt. Wenn die Menschen am Ende des Monats genug zu essen haben, können sie auch daran denken, umweltfreundlicher zu leben", sagt er. +Laetitia Desrozier, 44 +Laetitia Desrozier kommt aus Franconville, einer Kleinstadt nördlich von Paris. Die 44-Jährige demonstriert seit Wochen mit den Gelbwesten. Eine der wichtigsten Forderungen ist für sie die Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns (SMIC), der derzeit bei knapp 1.500 Euro brutto liegt. Desrozier hat zwei Töchter und ist alleinerziehend. Vor zwei Monaten hat sie ihre Arbeit als Reinigungskraft verloren: "Seitdem leben wir zu dritt von 900 Euro im Monat. Ich frage mich jeden Tag, wie wir den Kopf über Wasser halten sollen." +Was bisher über die heterogene Bewegung bekannt ist,liest du hier +Von der Regierung fühlt sich Desrozier im Stich gelassen. "Macron bittet uns, Abstriche zu machen, und beschließt zugleich Steuererleichterungen für die Reichen", entrüstet sie sich. Die Vermögenssteuer, die Macrons Regierung Anfang des Jahres weitgehend abgeschafft hat, müsse wieder eingeführt werden, fordert Desrozier. Enttäuscht hat sie auch, dass sich Frankreichs Präsident sehr lange nicht persönlich zu den Protesten der Gelbwesten geäußert hat. "Das zeigt, dass er nur im Sinne der Reichen handelt", meint sie. Bei den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2017 hatte Desrozierfür Marine Le Pen gestimmt: "Nicht aus Überzeugung. Aber ich habe den Eindruck, sie setzt sich doch stärker für die Franzosen ein." +Xavier Sabater, 33 +Mit ernster Miene steht Xavier Sabater am Place de la Bastille. 600 Kilometer hat der 33-Jährige für seine Anreise zurückgelegt. "Um mir Gehör zu verschaffen", sagt er. Sabater kommt aus dem Département Isère, nahe Lyon. Er ist Eisenbahner bei der Staatsbahn SNCF und eine Gelbweste der ersten Stunde. Seit dem 17. November geht er jede Woche auf die Straße. Wie viele andere demonstrierte er anfangs vor allem gegen die von der Regierung geplante Steuererhöhung für Benzin und Diesel. "Ich fahre jeden Tag eine Stunde zur Arbeit und bin auf mein Auto angewiesen", sagt er. Schon heute koste ihn der Sprit 300 Euro pro Monat. "Wenn er noch teurer wird, kann ich mir das nicht mehr leisten." +Dass die Regierung Anfang Dezember angekündigt hat, dieSteuererhöhung für 2019 auszusetzen, geht Sabater nicht weit genug. "Die Treibstoffsteuer hat das Fass zum Überlaufen gebracht." Aber eigentlich geht es ihm um viel mehr: zu hohe Lebenshaltungskosten, zu niedrige Löhne und die "Arroganz" von Emmanuel Macron und seiner Regierung, die keine Ahnung hätten von seiner Realität: "Die sollen mal versuchen, einen Monat lang mit dem Mindestlohn zu leben." +Jean-Charles Blaison, 57 +"Zu Beginn konnte ich mit den Gelbwesten wenig anfangen", sagt Jean-Charles Blaison. Der 57-jährige Ingenieur nahm am 8. Dezember zum ersten Mal am Protest der Bewegung teil. Blaison lebt und arbeitet seit 30 Jahren in Paris. Das Auto gehört für ihn nicht zum Alltag. "Mit einem Protest gegen höhere Steuern auf Treibstoff konnte ich mich daher nicht identifizieren", sagt er. Doch mittlerweile hat der Pariser seine Meinung geändert: "Die Forderungen der Bewegung sind breiter geworden. Es geht um soziale Gerechtigkeit und eine faire Verteilung der Steuerlast – Themen, die mir wichtig sind." +Auch politisch müsse sich für Blaison einiges ändern. "Die Fünfte Republik ist nicht mehr zeitgemäß. Unser System gibt dem Präsidenten viel zu viel Macht." Für Blaison ist es absurd, dass Emmanuel Macron, der im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl 2017 gerade mal 24 Prozent der Stimmen bekam, heute "wie ein Monarch" herrsche. "Die Franzosen können kaum mitreden, und ihre Wut darüber entlädt sich nun auf der Straße." + +Die Interviews wurden am Rande der Demonstration in Paris am 8. Dezember geführt. diff --git a/fluter/geld-verdienen-oder-selbstverwirklichung.txt b/fluter/geld-verdienen-oder-selbstverwirklichung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..230ebc9877715688e4199c196cdd4477087cabb7 --- /dev/null +++ b/fluter/geld-verdienen-oder-selbstverwirklichung.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Aber schon nach kurzer Zeit machte sich bei mir das Gefühl breit, in einem Hamsterrad zu leben. Ich arbeitete den ganzen Tag, und wenn ich abends noch zum Yoga gehen wollte, wurde alles schon sehr viel. Am Wochenende musste ich erst mal mein Leben verwalten: einkaufen, putzen, Wäsche waschen. Und wenn dann noch eine Party anstand – bumm-tschak –, war schon wieder Montagmorgen. Kurz: Ein wahnsinnig großer Teil meiner Zeit war vorbestimmt. Und zwar nicht von mir, sondern von jemand anders. +Nach zwei Jahren überkam mich dann das klischeehafte, aber tatsächlich dringende Bedürfnis, noch einmal eine große Reise zu machen. Ich kündigte meinen Job und haute alle meine Ersparnisse in Südostasien und Australien auf den Kopf. Als ich zurückkam, machte ich mich selbstständig. Der Plan war, freiberuflich PR zu machen und mit meiner damaligen Geschäftspartnerin einen professionellen Yoga-Blog zu gründen. Später machte ich dann noch eine Ausbildung zur Yogalehrerin und begann zu unterrichten. +Der Wunsch, mich selbstständig zu machen, war so groß, dass ich einfach darauf vertraute, dass es klappen würde. Geholfen hat mir die Frage: Was ist das Schlimmste, das passieren kann? Die Antwort beruhigte mich: Dann muss ich mir halt wieder einen Job suchen. Es hat dann aber ganz gut geklappt. +Rebecca Randak, 34, ist Yogalehrerin und betreibt den Blog fuckluckygohappy.de +Es geht mir nicht darum, möglichst wenig, sondern so frei und selbstständig wie möglich zu arbeiten. Natürlich mach ich auch Dinge, auf die ich keinen Bock hab, meine Steuererklärung zum Beispiel. Aber ich kann auch an einem Dienstagnachmittag schwimmen gehen, wenn ich das unbedingt möchte. +So kitschig das auch klingen mag, ich will der Welt mit meiner Arbeit etwas zurückgeben. Ich will nicht irgendein Produkt, das niemand braucht, in irgendeinem Magazin platzieren, das auch niemand braucht. Lieber arbeite ich für meine Leserinnen. Ich bekomme viele Rückmeldungen wie "Das hat mir so geholfen!" oder "So habe ich das noch nie gesehen!". Und von Yogaschülern nach jeder Unterrichtseinheit ein Lächeln. Ich darf Menschen dabei begleiten, sich selbst kennenzulernen und zu wachsen, das ist toll. +Worin ich noch nicht so gut bin: Arbeit von Freizeit zu trennen. Wo fängt die Rebecca an, die ich auf meinem Blog bin, und wo hört sie auf? Ich könnte auch den Avocadotoast und den Cappuccino hier instagrammen. Aber es muss eine Grenze geben zwischen der Selbstverwirklichung durch den Job und meinem Leben als Privatperson. +Würde mir heute jemand ein Monatsgehalt von 10.000 Euro netto bieten dafür, dass ich für irgendeinen Kunden PR mache – ich würde das Angebot ausschlagen. Ohne mit der Wimper zu zucken. + + +Ist ein ordentliches Gehalt wichtig? Klar, sagt Michael Pfötsch. So viel Spaß ihm der Job als Designer auch machen mag, aufs Geld will er nicht schauen müssen: +Viele würden mich wahrscheinlich als Workaholic bezeichnen. Für mich ist der Begriff negativ konnotiert, weil er ein bisschen soziophob klingt: Leute, die außer Arbeiten nichts auf die Reihe kriegen. Auf mich trifft das nicht zu. Wenn ich etwas mache, das mich erfüllt und worin ich gut bin, dann gucke ich halt einfach nicht auf die Uhr. Offiziell arbeite ich 40 Stunden die Woche, aber das haut natürlich nicht hin: In Konzeptionsphasen habe ich Zehn- oder Elf-Stunden-Tage. Und freie Wochenenden sind eher die Ausnahme.Ich habe mir lange nicht eingestanden, dass ich Sicherheiten brauche, Stichwort: festes Gehalt. Als ich noch Freelancer war, arbeitete ich mal zweieinhalb Jahre am Stück. Erst da ist mir aufgefallen: Hey, ich habe Schiss, keine Aufträge zu bekommen. Angst, nicht zu wissen, wovon ich mein Leben bezahlen soll. Also suchte ich mir einen festen Job bei einer großen Berliner Content-Marketing-Agentur. +Michael Pfötsch, 37, ist Senior Art Director in einer Berliner Content-Marketing-Agentur +Als Wendekind, das im Osten aufgewachsen ist, hab ich oft gehört: "Gib alles, was du kannst, und dann reicht's vielleicht." Meine Eltern lebten mir vor, dass Arbeit einfach dazugehört und einen Großteil des Lebens bestimmt. Wenn das schon so ist, dachte ich mir als Jugendlicher, dann muss es wenigstens Spaß machen. So entschied ich mich, Design zu studieren. +Als ich frisch aus der Uni gepurzelt bin und noch keine Ahnung hatte, wie der Hase läuft, arbeitete ich bis zum Umfallen. Ich musste und wollte mich beweisen. Aber irgendwann hatte ich es geschafft, Leute von mir zu überzeugen und auf Augenhöhe mit ihnen zu kommunizieren. Als ich dann noch ein paar Awards gewonnen und große Kundenbudgets geholt hatte, konnte ich in Ruhe mein Ding machen. Das war mein Ziel, weiter muss es nicht gehen. +Kurz nach dem Studium kamen mir 2.000 Euro netto pro Monat schon viel vor. Hätte mir damals jemand gesagt, dass es für mich in ein paar Jahren total normal sein wird, am Wochenende für eine Ausstellung nach Barcelona zu fliegen oder mal eben Freunde in Kanada zu besuchen, hätte ich ihm wahrscheinlich einen Vogel gezeigt. +Aber dummerweise steigen ja mit der Zeit die Ansprüche. Zwar muss ich auch heute noch kein Auto oder Haus besitzen. Aber ich will nicht mehr aufs Geld achten müssen, will mich mit Freunden zum Essen treffen können, sooft ich eben Bock habe. Wie viel Geld ich genau mache, will ich lieber für mich behalten. Ich fühle mich aber auf keinen Fall ausgebeutet und kann mich nicht beschweren. Wenn mein Gehalt in zehn Jahren noch ein bisschen höher ist, wäre das aber natürlich auch schön. +Nach einem anderen Job umschauen würde ich mich nur, wenn ich das Gefühl hätte, auf der Stelle zu treten. Eine Arbeit ohne Herausforderung und persönliche Weiterentwicklung? Das wäre mir kein Geld der Welt wert. Gleichzeitig würde ich aber wahrscheinlich auch keinen Job machen, bei dem die Bezahlung hinter dem zurückbleibt, was ich jetzt verdiene. Die Freiheit, die mir mein Gehalt bietet, möchte ich nicht mehr missen. + diff --git a/fluter/geldanlage.txt b/fluter/geldanlage.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1c66b3747e4f530ea3df55c3dc7d5abbf56e0b5d --- /dev/null +++ b/fluter/geldanlage.txt @@ -0,0 +1 @@ +Wenn sie ihre Werkstatt verlieren, stehen sie vor dem Nichts. "Schauen Sie sich das an", sagt Wadel und zeigt auf den stinkenden offenen Abwasserkanal direkt vor dem Haus. "Die Regierung schafft es nicht einmal, so etwas zu beheben. Unsere Kinder haben ständig Durchfall und andere Krankheiten. Jetzt behaupten sie, es werde uns allen besser gehen, wenn die Häuser abgerissen werden. Ich glaube kein Wort."Der Mann, der so viele verärgert, sitzt in einem Büro mit Blick aufs Meer in Mumbais Nobelviertel Bandra. Mukesh Mehta, Architekt und offizieller Regierungsberater, ist genervt, wenn er auf den Widerstand gegen seine Pläne angesprochen wird. "Es gibt einige Nicht-Regierungsorganisationen, die viel Geld im Ausland damit machen, dass sie die Armut vermarkten und diese Leute aufhetzen", schimpft er. "Doch 80 Prozent der Bewohner von Dharavi befürworten meinen Plan." In einer Animation zeigt er, wie Dharavi nach der Sanierung aussehen soll: breite Straßen, Hochhäuser, Schulen, Krankenhäuser, Parkanlagen.In der Tat unterstützen viele Bewohner Dharavis die Modernisierungspläne – vor allem die, deren Hütte kleiner als 20 Quadratmeter ist, sie erwarten sich eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse. Vaishali Ashok, 32, etwa wohnt seit zwei Monaten in einem der bereits fertigen Hochhäuser. "Ich bin glücklich hier, die Wohnung ist wirklich besser als vorher", sagt die Hausfrau. Sie hat nun ein gekacheltes Bad und eine gekachelte Küche. Im Wohnzimmer stehen ein Fernseher und sogar ein Computer.Allerdings ist Vaishali tagsüber allein. Erst abends, wenn alle Familienmitglieder von der Arbeit zurückkommen, stellt sich heraus, dass Dharavi auch nach der Sanierung kein "Weltklasse-Vorort" sein wird – wie Mukesh Mehta es gern formuliert. Denn wenn zwölf Menschen auf 20 Quadratmetern schlafen müssen, ist die Wohnung voll. "Die Familie meines Schwagers schläft auf dem Boden in der Küche", erklärt Vaishali. Dort stehen aber schon zehn volle Wassereimer, die die Familie braucht, um sich morgens zu waschen. Fließendes Wasser oder gar eine Dusche gibt es auch in der neuen Wohnung nicht. "Wir unterstützen den Entwicklungsplan, weil er besser ist als alles, was die Regierung vorher vorgelegt hatte", meint Prashad Anthony von der christlichen NGO "Proud", die seit 1979 in dem Slum arbeitet. Allerdings fordert auch er, dass Gewerbetreibende wie die Töpfer und Lederverarbeiter separat behandelt werden. "Die wirtschaftlichen Aktivitäten dürfen auf keinen Fall gestoppt werden", sagt Anthony. Laut Mukesh Mehta ist das auch gar nicht vorgesehen. Er zeigt seine Pläne, in denen Industriegebiete ausgewiesen sind, in die die Gewerbetreibenden umziehen sollen. Sogar eine Fortbildungs-akademie für die Handwerker ist eingeplant. Nach Mehtas Schätzungen wird Dharavis lokale Wirtschaft nach der Modernisierung 2,14 Milliarden Euro im Jahr umsetzen gegenüber bisher 300 bis 400 Millionen. Dennoch sitzt das Misstrauen der Slumbewohner gegen die Regierung tief."Ich habe mit Mukesh Mehta gesprochen", sagt Raj Khandari. "Er hat vorgeschlagen, dass wir unser Land verkaufen und wegziehen. Aber das ist doch absurd, wo sollen wir denn sonst unsere Lederwerkstatt aufbauen? Wir können uns doch ein anderes Grundstück in Mumbai gar nicht leisten." Auch sein Vater sagt: "Warum können wir unser Land nicht selbst modernisieren?"Die Antwort ist offensichtlich. Es geht um zu viel Geld in Dharavi. Mehr als hundert private Entwicklungsgesellschaften haben sich laut Mukesh Mehta auf die Ausschreibung zur Sanierung des Slums beworben. "Wir brauchen enorme Summen, das können wir nicht aus der Stadtkasse bezahlen", sagt Iqbal Chahal, Geschäftsführer der Slum Rehabilitation Authority. Insgesamt zwei Milliarden Euro soll das Projekt kosten. Er sieht in dem Entwicklungsplan eine "Win-win-Situation für alle". Die Entwickler verdienen Geld, die Stadt muss nicht zahlen, die Slumbewohner erhalten bessere Wohnungen.Sozialaktivisten wie Simpreet Singh von der National Alliance of People's Movements halten dennoch das Misstrauen der Slumbewohner für berechtigt. "Die indische Regierung hat in den vergangenen Jahren permanent die Armen enteignet, um die Reichen profitieren zu lassen", sagt er. Er weist darauf hin, dass nach of-fiziellen Regierungsangaben 57000 Familien in die Sanierungsmaßnahmen einbezogen werden sollen. Dabei geht man davon aus, dass eine durchschnittliche Familie fünf Mitglieder hat. Bei 600000 Einwohnern würde damit gerade mal die Hälfte der Bewohner von Dharavi eine neue Wohnung erhalten. "Der Rest wird obdachlos", sagt Singh. Oder wohnt mit zehn und mehr Personen in den kleinen Wohnungen wie Vaishali Ashok und ihre Familie. Welche Auswirkungen dies auf die geplante moderne Infrastruktur wie Strom- und Wasserversorgung sowie Plätze in Schulen und Krankenhäusern hat, vermag derzeit niemand zu sagen.Und klar ist auch: Eine Lederwerkstatt mit zwanzig Mitarbeitern und Maschinen wie die Raj Khandaris und seines Vaters kann man in einem der neuen Hochhäuser auf keinen Fall betreiben. "Ich weiß einfach nicht, wie es weitergehen soll", sagt Khandari. "Wenn ich an die Zukunft denke, blicke ich in ein schwarzes Loch." diff --git a/fluter/geldquelle.txt b/fluter/geldquelle.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..570d514daa6139d9d869e018a6450c248d79b344 --- /dev/null +++ b/fluter/geldquelle.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Verglichen mit Coca-Cola oder auch Nestlé stand Danone bislang verhältnismäßig wenig in der Kritik. Für den Wasserexperten Loewe gibt es allerdings nur kleine Unterschied zwischen den Großen im Wassergeschäft: "Die Verfahrensweise ist ähnlich: Ein Konzern kauft das Grundstück, bohrt nach Wasser, verkauft das Wasser oft zu einem tausendmal höheren Preis." Für Loewe ist das eindeutig Raubbau. +Dass sich dabei Staat und Privatwirtschaft gelegentlich die Karten zuspielen, hält Loewe nicht nur für denkbar, sondern sogar für wahrscheinlich: "Es wäre recht naiv, nicht davon auszugehen", sagt er. Denn: "Die Flaschenwasserkonzerne haben natürlich ein gesteigertes Interesse daran, dass die öffentlichen Wasserleitungen heruntergekommen sind. Und der jeweilige Staat ist froh, wenn er eine Ausrede hat – nämlich das Flaschenwasser –, um so wenig wie möglich sanieren zu müssen."Flaschenwasser ist eine Industrie mit einem weltweiten Umsatz von insgesamt 63 Milliarden Euro. Die Gründe für den Flaschenwasserboom liegen auf der Hand: Zum einen erweckt die Werbeindustrie den Eindruck, abgepacktes Wasser verheiße Ge-sundheit, Glück und langes Leben. Zum anderen aber sind die Flaschen praktisch in einer Welt, die immer mobiler wird.Auch im Supermarkt von Evian-les-Bains verkauft sich das Flaschenwasser gut, allen voran natürlich das Wasser der Marke Evian. Ein Angestellter, der die rosa-blauen Evian-Flaschen in die Regalwand räumt, macht allerdings einen Unterschied: "Das Mineralwasser kaufen bei uns vor allem die Touristen", sagt er. Denn wer in Evian-les-Bains wohnt, habe es gar nicht nötig, die Flaschen für rund 50 Cent pro Liter zu kaufen: "Wir sitzen schließlich an der Quelle."Und tatsächlich bildet sich am Nachmittag an dem kleinen Brunnen im Ortszentrum von Evian-les-Bains eine Schlange. Einige Bewohner sind gleich mit einem ganzen Kasten leerer "Evian"-Flaschen gekommen. In ihnen transportieren sie das Wasser literweise nach Hause. diff --git a/fluter/geldspritze.txt b/fluter/geldspritze.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/gelernt-ist-gelernt.txt b/fluter/gelernt-ist-gelernt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7806fdc5db83d46b9163488f2fd7926214f5aeb4 --- /dev/null +++ b/fluter/gelernt-ist-gelernt.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Die Förderung zahlt sich aus. "Hallyu", die koreanische Welle, schwappt um die Welt und wächst durch soziale Medien und vor allem YouTube. Südkorea steht nicht mehr nur für Hightech und Autos, immer mehr Menschen interessieren sich für Sprache, Küche, Fernsehserien, Filme und eben auch: K-Pop. Hinter den Popstars, den sogenannten "Idols", stehen Entertainment-Firmen, die die westliche Vorstellung von einem Plattenlabel sprengen. Sie sind Castingagentur, Konzertveranstalter, Ausbildungszentrum und haben sogar eigene Modelinien unter ihrem Dach. +Die Firmen selbst sind private Unternehmen. Allerdings hat die südkoreanische Regierung großes Interesse, dass diese Unternehmen ihre "Produkte" in aller Welt vermarkten. Ein Beispiel: 2011 fand in Paris das erste große K-Pop Konzert in Europa statt, die "S.M. Town World Tour". Die Entertainment-Firma dahinter heißt "S.M. Entertainment" und ist eine der größten ihrer Art in Südkorea. Die Firma selbst hatte kein großes Interesse an diesem Konzert, aufgrund hoher Kosten und nicht einschätzbarem Risikos. Euny Hong berichtet, dass es die Regierung war, die das Konzert forciert und die Firma bei Finanzierung und Marketing unterstützt hat. Mit Erfolg: 14.000 Fans wollten fünf Idol-Bands an zwei aufeinanderfolgenden Tagen sehen. +Koreanische Jugendliche in Seoul vor einem Denkmal für den Song Gang Nam Style +Der Slogan von S.M. Entertainment, einem der größten Unterhaltungsunternehmen in Südkorea, lautet: "Die Zukunft der Kulturtechnologie". Doch die Zukunft ist bereits Gegenwart. Südkorea sucht keine Superstars, sie werden produziert. Weltweit gibt es Castings für Kinder und junge Teenager. Die Auswahl ist unerschöpflich, jedes fünfte Kind in Südkorea will Idol werden. +Wer die Scouts überzeugt, unterschreibt einen Ausbildungsvertrag. Ein Vollzeitleben als "Trainee" im Wohnheim der Unterhaltungsunternehmen beginnt. Coaches und andere Trainees werden zur Ersatzfamilie. Neben normalen Schulpflichten beinhaltet das Training täglich stundenlanges Tanzen, Singen und Rappen sowie Fremdsprachenunterricht und erzkonservative Benimmkurse. Dort wird zum Beispiel erklärt, wie man Fragen von Journalisten beantwortet, sich gegenüber älteren Idols verhält oder Zuneigung öffentlich zur Schau stellen darf. Außerdem wird erwartet, dass Trainees auf ihre äußere Erscheinung achten. Schönheitsoperationen sind nicht verpönt, sondern beweisen Professionalität. Auf dem täglichen Stundenplan stehen außerdem Kosmetik, Fitnesstraining und Dauerdiät. Die Frage nach Freizeit oder Jugend von Trainees und Idols beantwortet sich bei diesem Pensum von selbst. +Drei bis sieben Jahre laufen Trainee-Verträge im Durchschnitt. Eine Garantie auf einen Platz in einer Band gibt es nicht. Wer doch einen ergattert, muss seiner Entertainment-Firma deren Investitionen im Laufe der Karriere zurückzahlen. In Interviews erzählen Idols ganz selbstverständlich, wie hart die Ausbildung sei, betonen aber, dass sie ihre Jugend gerne für ihre Karriere opferten. Das sei Teil der südkoreanischen Mentalität, erklärt Autorin Euny Hong. +Während der Trainee seine Ausbildung absolviert, konzipieren die Unterhaltungsfirmen ein Bandprofil. Sound, Image, Marketing – alles von langer Hand geplant. Erst am Ende werden passende Mitglieder aus den Trainees rekrutiert. Das Ergebnis: Idol-Bands, die fast schon wie ein übermenschlicher Organismus wirken. Jeder Ton on point, die komplizierteste Choreografie synchron und das Aussehen makellos. Verglichen damit wirken die Backstreet Boys und die Spice Girls wie Teilnehmer eines Mittelstufentanzkurses. +Von wegen "Jump around". In einem koreanischen Popinternat ist jeder Schritt sorgfältig choreografiert und wird von den jugendlichen Trainees so präzise wie möglich ausgeführt +Die Idol-Industrie kommt aus Japan. Allerdings unterscheiden sich J-Pop und K-Pop gravierend in einem Faktor: dem Markt. Während in Japan primär für das Inland produziert wird, zielen koreanische Idols von Anfang an auch auf weltweiten Erfolg im zahlungskräftigen Ausland ab. Viele Songs werden bei europäischen und amerikanischen Produzenten bestellt, um den Sound mit Eurobeat, Rap oder R&B anzureichern. K-Pop klingt insgesamt wesentlich internationaler – und ist darum so erfolgreich. Konzerte in China, Taiwan und Japan verbuchen Besucherzahlen im fünfstelligen Bereich. Die wenigen Konzerte in Europa und Nordamerika sind ruck, zuck ausverkauft. +S.M. Entertainment startet jetzt das nächste Level: Neo Culture Technology, kurz NCT. Dahinter verbirgt sich eine neue Boyband-Marke mit geplanten Splittergruppen auf der ganzen Welt. Ein Song kann so problemlos für die jeweiligen Zielmärkte reproduziert werden, es können mehr Konzerte veranstaltet werden und die Mitglieder sind beliebig austauschbar. Südkorea kommt dem Ziel der perfektionierten Popstar-Produktion näher. Eins spielt dabei aber eine merkwürdig kleine Rolle: der Faktor Mensch. diff --git a/fluter/gemeinsame-sache.txt b/fluter/gemeinsame-sache.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..80e279bebab7a8854c59b11f4bb5d193f629d3f1 --- /dev/null +++ b/fluter/gemeinsame-sache.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +3 Die Frauen dürfen nicht mit abstimmen. Sie hoffen, dass ihre Ansichten durch die Verwandten in der Versammlung genau wiedergegeben werden +4 Zu den Entscheidungen, die getroffen werden, gehört auch die Bestimmung der Wege für das Vieh +5 Bei den Borana ist es verpönt, laut zu sprechen und andere zu unterbrechen. Wenn jemand doch seine Stimme erhebt, beginnt der Stammesälteste mit lautem Klagen +6 Die Milch der Kühe wird mit ihnen geteilt. Ganz brüderund schwesterlich diff --git a/fluter/gemeinsamkeit-verschwoerungstheorien-klima-corona.txt b/fluter/gemeinsamkeit-verschwoerungstheorien-klima-corona.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c40429575eb1b24f53186d622e340851e394bbe0 --- /dev/null +++ b/fluter/gemeinsamkeit-verschwoerungstheorien-klima-corona.txt @@ -0,0 +1,41 @@ +Warum? +Wenn Menschen nervös sind, besorgt oder sich bedroht fühlen, werden sie anfälliger für Verschwörungstheorien. Ganz einfach weil uns die Vorstellung der Zufälligkeit unangenehm ist: Menschen haben ein psychologisches Bedürfnis nach Sinn und Ordnung. Verschwörungen beruhigen.Hinter einem plötzlichen Virus wie Covid-19 ein Komplott zu vermutenwürde bedeuten, dass irgendjemand einen Plan hat. Das beruhigt viele, selbst wenn dieser Plan böse ist. +Gleichzeitig gibt es echte Verschwörungen – oder zumindest Bündnisse und Komplotte wie die Täuschung von VW im Abgasskandal. Was raten Sie jemandem, der kritisch denken will, aber nicht konspirativ? +Das Instrument ist Skepsis. Wir sollten alleein gesundes Maß an Skepsis ausprägen und pflegen. Verschwörungstheoretiker hingegen haben ein unermessliches Maß an Skepsis: Sie glauben nichts, was der vermeintliche Mainstream sagt, und bezweifeln alle Informationen, Beweise oder Daten, die die Darstellung des Mainstreams stützen. Das ist keine Skepsis, sondern Leugnung. +Dr. John Cook ist Assistenzprofessor am Center for Climate Change Communication der George Mason University in Washington, DC. Cook und sein Team wurden 2013 mit einerStudiebekannt, laut der 97 Prozent der wissenschaftlichen Literatur bestätigen, dass der Mensch zum Klimawandel beiträgt. Das Paper wurde 1,2 Mio. Mal heruntergeladen und wird immer noch oft zitiert. +Wie erforschen Sie, wann jemand zum Leugner wird? +Indem wir testen, ob es einen negativen Effekt gibt, wenn wir Menschen Fehlinformationen aussetzen. Wir fragen unsere Probanden zum Beispiel, wie bestimmt sie einer Falschaussage zustimmen, nachdem wir ihnen Fehlinformationen zu dieser Aussage gezeigt haben. So können wir den Effekt dieser Fehlinformation messen. Anschließend testen wir auch, ob man diesen negativen Effekt durch Klarstellung oder Sensibilisierung entfernen kann. +Mit welchem Ziel? +Wir wollen die öffentliche Widerstandsfähigkeit gegenüber Falschinformationen stärken. Indem wir die Fähigkeiten zum kritischen Denken verbessern. Unseren Ansatz nenne ich "logikbasierte Impfung": Wir zeigen die rhetorischen Techniken und logischen Irrtümer der Fehlinformationen im F-L-I-C-C-Modell. +Fake Experts – Eigene Aussagen werden mit Personen und Quellen gestützt, die Expertise suggerieren, aber eigentlich keine haben. +Logical Fallacies – Für die Argumentation werden Fakten benutzt, aber in einen falschen Zusammenhang gebracht. +Impossible Expectations – An die Wissenschaft werden Erwartungen gestellt, die sie gar nicht erfüllen kann. (Was ihre Ergebnisse generell infrage stellt.) +Cherry Picking – Informationen, die die eigene These stützen, werden groß gemacht, andere verschwiegen. +Conspiracy Theories – Fakten werden angezweifelt, indem man sie als Ergebnis geheimer Absprachen und Machenschaften darstellt. + +Bisher haben Sie vor allemArgumentationen von Klimaleugnernanalysiert. Mit der Verbreitung des Coronavirus sahen Sie, dass sich deren Strategien im Lager der "Corona-Skeptiker" wiederfinden. +Ja. Ganz so, als hätte einfach jemand die Worte Klimawandel und Corona ausgetauscht.Und auchim Lager der Impfgegnerwird ganz ähnlich argumentiert. +Bei Demonstrationen sieht man, dass diese Gruppen auffallend heterogen zusammengesetzt sind. Lässt Ihre Forschung Rückschlüsse darauf zu, welche Gemeinsamkeiten zu Verschwörungsnarrativen führen? Teilen diese Gruppen einen bestimmten sozialen oder ökonomischen Hintergrund? +Unsere Daten zeigen beispielsweise, dass die Neigung zu konspirativem Denken mit dem Grad des politischen Konservativismus zu steigen scheint. Das heißt nicht, dass jeder Konservative konspirativ denkt und kein Liberaler je den menschengemachten Klimawandel leugnet. Wir ermitteln nur Tendenzen in einem begrenzten Kreis von Personen. +Verraten Sie uns eine weitere Tendenz? +Zuletzt haben wir einen Zusammenhang zwischen Verschwörungsglauben und Individualismus beobachtet: Menschen, die allgemein befürchten, dass die Regierung ihre persönlichen Rechte und Freiheiten verletzt, fühlen sich natürlich nicht nur von den Maßnahmen gegen das Coronavirus bedroht, sondern auch von vermeintlichen Impfpflichten oder Auflagen zum Klimaschutz. +Liegt es daran, dass Arbeitsweise und Ergebnisse von Wissenschaft manchmal schwer verständlich sind? +Wissenschaftsleugnung nutzt die Anfälligkeit komplexer Wissenschaft aus. DerKlimawandel und der Einfluss des Menschen auf das Klimasind sehr komplex zu erklären. Klimawandel-Leugner nutzen diese Lage mit einfachen Antworten und Verweigerungen aus. Beim Coronavirus ist die Macht der selbst ernannten Skeptiker noch mal größer,weil sich die Corona-Forschung gerade erst aufstellt. Diese Komplexität ist einer der Gründe, warum Verschwörungstheorien attraktiv sind: Sie geben einfache Erklärungen. +Was ist daran gefährlich? +Sie untergraben das Vertrauen der Menschen in Institutionen, wissenschaftliche Daten und Fachwissen. Das kann unterschiedliche Auswirkungen haben: Wer Virologen und der Politik nicht traut, wird wahrscheinlich auch die Verhaltensempfehlungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie missachten. Und das bringt alle in Gefahr: Gegenseitige Rücksicht ist im Moment unser größter Schutz gegen das Coronavirus. + + +Studien zeigen, dass die meisten Menschen hierzulande nicht an Verschwörungsmythen glauben. Nehmen wir Verschwörungstheoretiker wichtiger, als sie wirklich sind? +Das glaube ich nicht. Selbst wenn jemand nicht an eine Verschwörungstheorie glaubt, kann sie enormen Einfluss auf Einstellungen und Unterbewusstsein desjenigen haben. Es gibt auch Untersuchungen, die zeigen, dass Verschwörungstheorien das Vertrauen der Menschen in wissenschaftliche Institutionen verringern – ganz egal wie sie die Verschwörungstheorie persönlich einschätzen. +Übrigens:Theoriensind wissenschaftlich begründet,Mythenerfunden. Deshalb sprechen viele Expert*innen mittlerweile eher von Verschwörungsmythen als von Verschwörungstheorien. +Die Konjunktur von Verschwörungen und Fake News wird seit Jahren vor allem Social-Media-Plattformen angelastet. Erschweren oder erleichtern sie den Umgang mit Falschinformationen? +Beides, würde ich sagen. Social Media ermöglicht jedem,sich einfach und radikal schnell zu desinformieren. Genauso einfach und schnell können wir aber auch unsere sensibilisierenden Botschaften verbreiten. Es ist aber ganz sicher die Pflicht der Plattformen, Fake News zu stoppen. +Werden die Plattformen dieser Verantwortung gerecht? +Die könnten das sicherviel besser machen. Man darf aber nicht vergessen, dass ihre Geschäftsmodelle auch auf Fehlinformationen aufbauen – sei es durch Werbeeinnahmen oder weil Fehlinformationen öfter viral gehen als korrekte Informationen. Eine großangelegte Offensive gegen Fehlinformationen kollidiert also mit dem Geschäftsmodell. +Sie haben an einemGame mitgearbeitet, in dem man den spielerischen Umgang mit Falschinformationen üben kann.Sollte man jede Fehlinformation richtigstellen? +Einen Verschwörungstheoretiker umzustimmen ist äußerst schwierig. Unsere begrenzten Ressourcen sind deshalb besser eingesetzt, wenn wir die große Mehrheit der Öffentlichkeit für Verschwörungstheorien und ihre Motivationen sensibilisieren. +Und wenn einem doch mal ein Verschwörungstheoretiker gegenübersitzt,am Küchentisch oder in der Kneipe? +Du überzeugst niemanden von deiner Meinung, indem du ihm sagst, wie dumm er ist. Mein Tipp wäre: zuhören und den gemeinsamen Nenner suchen. Verschwörungstheoretiker sehen sich zum Beispiel oft als besonders kritische Denker, die im Gegensatz zur Mehrheit die "wahre Wahrheit" erkennen. Aber können sie das auf ihre eigenen Theorien anwenden? Dann kann der Verschwörungstheoretiker vielleicht erklären, warum Regierungen ein Virus erfinden, das ihre Staaten in die Krise schlittern lässt. Oder warum sich das Coronavirus auch dort verbreitet, wo es das angeblich ursächliche 5G-Netz gar nicht gibt. + + +Für die Fotos auf dieser Seite waren Hahn&Hartung auf den Hygienedemos in Berlin unterwegs. diff --git a/fluter/gemeinschaften-deutschland-junge-menschen-video.txt b/fluter/gemeinschaften-deutschland-junge-menschen-video.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/gender-gaps-ueberblick.txt b/fluter/gender-gaps-ueberblick.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/gender-pay-gap-im-sport.txt b/fluter/gender-pay-gap-im-sport.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c2faf52dc8d5a90fb00384eb88247d1a394f616e --- /dev/null +++ b/fluter/gender-pay-gap-im-sport.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Diese Diskrepanzen gibt es in allen nationalen Fußballverbänden, nur in einem künftig nicht mehr: Im norwegischen Verband NFF werden die Frauen zukünftig in gleicher Höhe entlohnt, da das Männerteam den Kolleginnen entgegenkommt und ein paar hunderttausend Kronen an sie abtritt, die dem Nationalteam durch Werbeaktivitäten zur Verfügung stehen. Ein Akt, der den Verband zwar ein paar hunderttausend Euro kostet, imagetechnisch aber ein Gewinn ist. Zumal Norwegens Frauenfußball, wenngleich gerade in der Krise, traditionell zur Weltelite gehört. Die Männer sind eher erfolglos. Aber sie sind Männer, und das reichte offensichtlich bisher, um sie zu bevorzugen. +Auch in den USA wird der viel erfolgreichere Frauenfußball viel schlechter entlohnt. Nachdem sie 2015 zum dritten Mal seit 1991 Weltmeisterinnen geworden waren, beschwerten sich einige Nationalspielerinnen. Torhüterin Hope Solo, eine der Wortführerinnen, sagte: "Wir sind das beste Team der Welt. Und doch bekommen die Männer allein für das Auflaufen bei einem Spiel mehr Geld als wir, wenn wir eine Meisterschaft gewinnen." +Jeder nationale Verband kann an dieser Stelle die Verantwortung bequem auf den Weltverband abwälzen, der die WM-Prämien ausschüttet. Die FIFA überwies dem amerikanischen Verband USSF 2014 für die Männer neun Millionen Dollar, ein Jahr später für die Frauen zwei Millionen. Die Männer waren im WM-Achtelfinale ausgeschieden, die Frauen hatten ihr Turnier gewonnen. Und noch ein Vergleich: Der DFB bekam für den Titelgewinn der Männer 2014 mit 35 Millionen Dollar das 17,5-Fache der Frauenprämie. +Hope Solo, inzwischen 36 Jahre alt, will die Sache nun wenigstens im nationalen Verband von oben angehen, sie hat ihre Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen der USSF im Februar angekündigt. + +Frauen, heißt es oft, bieten nicht so attraktiven Sport. Männerfußball sei technisch, taktisch und athletisch anspruchsvoller, also auch populärer. Letzteres stimmt. Und hat Gründe jenseits der unterschiedlichen Physis. Männer spielen seit rund 100 Jahren überall auf der Welt Fußball zum Vergnügen der Massen; Frauenfußball war in den meisten Ländern dagegen nur eine kurze Episode im öffentlichen Bewusstsein. Während des Ersten Weltkriegs füllten englische Frauenmannschaften die Stadien, 1921 wurde ihnen dann das Fußballspiel verboten – offiziell galt es als zu rau. Das Gründen von Frauenmannschaften oder die Benutzung der Stadien von diesen war in einigen Ländern zeitweise sogar offiziell verboten, in Westdeutschland von 1955 bis 1970. +Den Vorsprung "der" Männer an wirkmächtiger Tradition, Mythen und Macht haben die Frauen bis jetzt nicht aufgeholt. Entweder galt das Spiel lange als "harter Sport für Männer" wie beispielsweise in Westeuropa oder als "weich" und "für Frauen" geeignet, aber damit auch für die – häufig männerdominierte – Öffentlichkeit uninteressant, wie in den USA. Dort fristet Männerfußball bis heute ein Schattendasein hinter Eishockey oder Basketball. +Wenn aber die wichtigen Entscheidungen auch im Fußball nur von Männern getroffen werden, hat das der Sache der Frauen noch selten gutgetan. Aufsehen erregte in diesem Herbst der Streik der dänischen Vize-Europameisterinnen, die mehr Geld forderten und dafür sogar die WM-Qualifikation riskierten. Verband und Spielerinnen einigten sich im November, unter anderem auf die Erhöhung der Prämien um 60 Prozent. +Oft wird argumentiert, dass beim Männerfußball mehr Menschen zusehen und es mehr Sponsorengeld gibt – was sich gegenseitig befruchte. Laut "Wall Street Journal" beliefen sich die Sponsoring-Einnahmen der Frauen-WM 2015 auf 17 Millionen Dollar, die des Männerturniers ein Jahr zuvor auf 529 Millionen Dollar. Gleichwohl ist das Monetäre ein verkürztes Argument, zumal wenn man konkrete Zuschauerzahlen betrachtet. Ein markantes Beispiel ist die WM 2011 in Deutschland. Mehr als 16 Millionen Fernsehzuschauer verfolgten, wie die DFB-Elf der Frauen im Viertelfinale ausschied. Zum Vergleich: Bei der Männer-WM 2014 sahen 26 Millionen das Viertelfinale Deutschland gegen Frankreich. Das WM-Finale 2011 zwischen den Frauen der USA und Japan hatte in Deutschland immer noch mehr als 15 Millionen Fernsehzuschauer. Das muss etwas mit Interesse am Sport selbst zu tun gehabt haben, Patriotismus konnte ja kaum mehr im Spiel sein. +Anders als im Fußball hat sich der Gender Pay Gap im Tennis bei den Eliteveranstaltungen in den vergangenen Jahren fast geschlossen. Tennis ist ein individueller Sport, der weniger zur kollektiven, gar nationalen Identifikation taugt als der Mannschaftssport Fußball. In Wimbledon gibt es das Männerturnier seit 1877, schon sieben Jahre später kam das Frauenturnier hinzu. Und: Die Tennisspielerinnen sind seit 1973 in einem eigenen Verband, der Women's Tennis Association (WTA), organisiert. Sie sind nicht Anhängsel eines Männerbundes, der sich angelegentlich herablässt, ihnen die Prämien zu erhöhen. Durch den Druck der WTA wurden bei den US Open die Siegprämien der Frauen 1973 denen der Männer gleichgestellt, Anfang dieses Jahrhunderts zogen French und Australien Open nach, als letztes Grand-Slam-Turnier folgte 2007 Wimbledon. Dennoch: Abseits der Grand-Slam-Turniere liegen die Siegprämien im Tennis bei den Frauen immer noch unter denen der Männer. +Es ist mit Serena Williams eine Tennisspielerin, die auf der jährlich vom Magazin "Forbes" erstellten Liste der bestverdienenden Sportler die am höchsten positionierte Frau ist. Allerdings: auf Rang 51. +Und als einzige Frau in den Top 100. + +Titelbild: picture alliance/Perenyi diff --git a/fluter/gendermedizin-erklaert.txt b/fluter/gendermedizin-erklaert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cdc95a67ab67a0dd3656757dc7f50587d9f40f6b --- /dev/null +++ b/fluter/gendermedizin-erklaert.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Die Ärztin Laura Wortmann arbeitet in Bielefeld am ersten Lehrstuhl für geschlechtersensible Medizin in Deutschland. Ihr ist es wichtig, zu betonen: "Wir arbeiten nicht spezifisch zu Frauengesundheit." Es gehe darum, Medizin für alle zu verbessern und mehr Wissen zu entwickeln, welchen Einfluss das Geschlecht auf den Erfolg der Behandlung habe. +Welches Leiden aus der mangelnden Erforschung von Krankheitssymptomen entstehen kann, zeigt das Beispiel Endometriose – eine Krankheit, bei der Gewebewucherungen außerhalb der Gebärmutter wachsen und die mit starken Schmerzen einhergeht. Zwischen 8 und 15 Prozent aller Frauen leiden, solange sie ihre Periode bekommen, unter der Krankheit, und doch bleibt sie oft unerkannt – auch weil sie so wenig erforscht ist. +Ein anderes Beispiel, das ein Ungleichgewicht zwischen Frauen und Männern in der Medizin zeigt, ist die Verhütung. Hier übernehmen häufig Frauen die Verantwortung und greifen dabei zu einem großen Teil auf Hormonpräparate zurück, trotz möglicher Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Stimmungsschwankungen oder einem erhöhten Thromboserisiko. Dass die Pille für den Mann noch keine Rolle spielt, liegt auch daran, dass man Männern ähnlicheNebenwirkungen, wie sie für Frauen Alltag sind, nicht zumuten möchte. +Außerdem stellten Männer in der Medizinforschung über lange Zeit auch den größten Teil der Testpersonen bei Studien. Sogar bei Tierversuchen sind die Tiere eher männlich. Bis in die 1990er-Jahre wurden Studien größtenteils an Männern durchgeführt und die Ergebnisse auf Frauen übertragen. Dass das Geschlecht wie auch Fitness oder Gewicht Einfluss darauf haben kann, wie der Körper auf Medikamente reagiert, wurde erst später berücksichtigt. +Mit Folgen: Wie eine nachträgliche geschlechtsspezifische Analyse des Medikaments Digoxin zeigte, wiesen Männer mit Herzschwäche unter dem Medikament ein verringertes Risiko auf, zu sterben, während es bei Frauen stieg. Aspirin wiederum hilft nicht nur gegen Kopfschmerzen, sondern Männern bei regelmäßiger Einnahme auch präventiv gegen einen Herzinfarkt. Bei Frauen hingegen senkt Aspirin das Risiko für einen Herzinfarkt nicht, dafür aber das eines Schlaganfalls. +Ein sehr aktuelles Beispiel für Geschlechtsunterschiede in der Forschung und der Krankheit selbst ist Corona. So haben mehr Frauen als Männer einen milderen Krankheitsverlauf, leiden jedoch häufiger an Long Covid. +Eine neue Studie legt nahe, dass Long Covid eine Überreaktion des Immunsystems darstellt, das plötzlich den eigenen Körper angreift. Für diese sogenannten Autoimmunerkrankungen sind Frauen anfälliger, sie stellen insgesamt fast 80 Prozent aller Betroffenen dar. Die Forschung geht davon aus, dass das Hormon Östrogen gerade in den physiologischen Übergangsphasen, wie der Pubertät, Schwangerschaft oder den Wechseljahren, Autoimmunerkrankungen beeinflusst. Auch die Einnahme der Pille kann mitunter das Risiko von Autoimmunerkrankungen steigern. +Dass regelmäßige Bewegung und Sport gut für die Gesundheit sind, ist bekannt – aber auch hier spielt das Geschlecht wieder eine Rolle. So werden Jungs viel öfter zum Sporttreiben ermuntert als Mädchen. Doch auch Männer haben höhere Risiken für bestimmte Krankheiten. "Studien zeigen, dass es als Männer sozialisierten Menschenoft schwerer fällt, über ihre Gefühle zu sprechen, und sie deswegen seltener zur Psychotherapie gehen", sagt Ärztin Laura Wortmann. +Geschlechtssensible Medizin soll auch zeigen, wie sich Geschlechterrollen und -identitäten auf Krankheiten auswirken. "Momentan können wir den konkreten Einfluss von Gender auf Krankheiten nur schlecht erheben", sagt Wortmann. Denn Gender sei vielfältig, und die Vorstellungen von Rollenbildern auch. Es geht nicht nur um Unterschiede zwischen der Biologie von Männern und Frauen – sondern auch um mehr Repräsentation nichtbinärer Menschen. Damit beschäftigen sich Vereine wie "Feministische Medizin e. V". Hier setzt sich Ärztin Lucia Mair für eine Gleichberechtigung aller Geschlechter in der Medizin ein. Wo nicht geforscht werde, so Mair, stiegen die gesundheitlichen Risiken, "nicht nur für cis-Frauen, sondern insbesondere auch bei nichtbinären, inter und Transpersonen." +Es scheint fast so, als würde die Medizin selbst derzeit geheilt – nämlich von ihrem sturen Blick auf den männlichen Körper. + diff --git a/fluter/geografie-suedamerikas.txt b/fluter/geografie-suedamerikas.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..30d7c76a2b8b256927f515a7984136cdde5b0175 --- /dev/null +++ b/fluter/geografie-suedamerikas.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Im Zentrum des Subkontinents galt es seit jeher, Dschungel, verschneite Bergpässe, trockene Wüsten und tiefe Täler zu überwinden. Immerhin hielten diese natürlichen Barrieren – die oft als Staatsgrenzen fungieren – das Risiko von Auseinandersetzungen zwischen den Ländern gering. Einer der wenigen Konflikte fand von 1879 bis 1884 zwischen Chile auf der einen und Peru und Bolivien auf der anderen Seite statt. Der sogenannte Salpeterkrieg, bei dem es um eine rohstoffreiche Region im heutigen Norden Chiles ging, endete damit, dass Bolivien seinen Zugang zum Pazifik verlor – bis heute eine schwere Hypothek für das Land. + +Von jedem etwas: Die Landschaft zwischen Tropen und Antarktis ist für die Bewohner eine echte Herausforderung + +Die riesigen Rohstoffvorkommen sind neben den landschaftlichen Extremen ein weiterer Faktor, der das wirtschaftliche und politische Leben vieler Länder in Südamerika bestimmt, mal zum Guten, mal zum Schlechten. Aber ähnlich wie in Afrika führen große Vorkommen an Bodenschätzen oft dazu, dass sich Regierungen auf die Einnahmen aus den Verkäufen konzentrieren und den Aufbau einer produzierenden Industrie vernachlässigen.Venezuela etwa ist das Land mit den größten Erdölreserven der Welt – und dennoch eines der ärmsten. +Brasilien wiederum, das größte Land des Kontinents, birgt zwar viele Bodenschätze, doch rund die Hälfte des Landes ist vom Amazonasdschungel bedeckt: DerGütertransport ist schwierig, der Bau von Siedlungen oft unmöglich. Für den Anbau von Soja, das weltweit als billiges Futter in derMassentierhaltungfungiert, wird der Regenwald immer weiter abgeholzt. Das Land hat zwar eine lange Küste mit Hafenstädten, doch die wird häufig von riesigen Steilhängen durchbrochen, was den Austausch zwischen den Orten erschwert. Brasiliens ewiger Rivale Argentinien wiederum verfügt mit der Pampa zwar über fruchtbare Anbaugebiete, wird aber oft von starken Überschwemmungen und Dürren heimgesucht. Und die Zukunft bringt noch mehr Herausforderungen: Denn derKlimawandelhinterlässt auch auf dem südamerikanischen Kontinent seine Spuren. +Zu hohe Temperaturen lassen Anbauflächen für Kaffee und Orangen vertrocknen, Bananen verfaulen durch Starkregen, die Abholzung des Regenwaldes in Brasilien, der "grünen Lunge" des Erdballs, bringt das gesamte Ökosystem des Amazonas ins Wanken. So bleibt Südamerika auch aufgrund der natürlichen Begebenheiten ein Kontinent der Hoffnung; einer Hoffnung jedoch "wie ein Versprechen des Himmels, ein Schuldschein, dessen Einlösung immer wieder verschoben wird", wie der chilenische Dichter Pablo Neruda schrieb. + diff --git a/fluter/georgien-bassiani-rave-riot-und-die-folgen.txt b/fluter/georgien-bassiani-rave-riot-und-die-folgen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7828ec255ad81f8c9c7f4a88f6bb15412a905456 --- /dev/null +++ b/fluter/georgien-bassiani-rave-riot-und-die-folgen.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Die Bilder dieser "Rave-o-lution", die nach den Razzien in der georgischen Hauptstadt tobte, waren Reißer in westlichen Medien. Jugendkultur als Keim für Emanzipation in einer konservativen Gesellschaft: Das war mindestens so aufregend wie subversive Rapper in Tunesien oder systemkritische Bloggerinnen in Ägypten während der Blüte des Arabischen Frühlings im Jahr 2011. +Was ist aus der Revolte geworden, deren Teilnehmer einen liberalen Umgang mit Rauschmitteln erstreiten wollten, sich aber auch LGBTQ-Rechten und feministischen Anliegen widmeten? +Vor allem haben die Aktivisten erlebt, dass sie das politische Klima durcheinander wirbeln können. Giorgi Kwirikaschwili, der georgische Premierminister, trat einen Monat nach den Protesten von seinem Amt zurück; ein Abgang, der allerdings auch von einem Streit mit Kabinettsmitgliedern mitverursacht gewesen sein soll. Im August dann die Legalisierung des Konsums von Marihuana. Zuvor hatten zwei Bürger vor dem Verfassungsgericht gegen das Verbot geklagt; die Richter gaben den beiden Männern recht. +Die Proteste selbst haben keine Fortsetzung gefunden. "Es ist schwer vorstellbar, dass die Bewegung ihr Engagement mit derselben Energie fortsetzen kann, wie sie in den Straßenprotesten zum Ausdruck kam", sagt Sopho Verdzeuli, Beobachterin der georgischen NGO Human Rights Education and Monitoring Centre. Um relevant zu bleiben, müsste die Bewegung vor allem ihre Strategie überdenken. "Sie sollte weitere Anliegen thematisieren, die sich auf Interessen unterdrückter Gruppen beziehen." +Die Aufstände vom Mai erscheinen wie eine Projektion westeuropäischer Sehnsüchte: Gerade dank seiner Clubszene ist Tbilisi längst ein Sehnsuchtsort von Hipster-Touristen und Kultur-Schickeria geworden. Georgien gilt als Schauplatz einer politischen Erweckung, die sich in einer postsowjetischen Ruinenlandschaft entfaltet. Das Klischee vom wilden Osten findet man auch auf der Frankfurter Buchmesse, wo Georgien in diesem Jahr als Gastland eingeladen ist. "Ein weichgespültes Georgien-Bild" werde dort jedoch vermittelt, schreibt etwa Martin Gerner auf seinem Blog, ein Konfliktforscher und preisgekrönter Fernsehjournalist, der Umbrüche in Kaukasusstaaten analysiert. Ein Panorama der heutigen Gesellschaft sucht man da vergebens. Dabei würde eine weniger hedonistische Perspektive den Blick freilegen für das soziale Gesamtbild. +Es sollte "intensiver über politische und wirtschaftliche Fragen gesprochen werden, über wirkliche Herausforderungen, von denen die Breite der Gesellschaft betroffen ist", sagt Sopho Verdzeuli. +Denn für viele Georgier ist der Alltag ein Kampf, ob in Tbilisi oder tuschetischen Bergdörfern. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt mehr als 30 Prozent, das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt bei kümmerlichen 4.100 US-Dollar. Umweltprobleme belasten Land und Leute ebenso – in keinem anderen Winkel der Welt sterben, gemessen an der Bevölkerung, so viele Menschen an den Folgen der Luftverschmutzung, hat eine WHO-Studie festgestellt. Fabriken und Autos, oft ausrangierte Wagen ohne Katalysator, pusten zu viele krebserregende Abgase in die Luft. +Den Anarcho-Liberalismus verantwortet eine Regierung, die vor allem die Partei "Georgischer Traum" stellt. Deren Chef ist der Oligarch Bidsina Iwanischwilli, ein Mehrfach-Milliardär mit guten Beziehungen zu Wladimir Putin. Seine Parteikollegen verschonen Reiche mit hohen Steuern und Abgaben. Alle anderen überlassen sie den Risiken des freien Markts. Ein System, das die Gesellschaft spaltet. Und zudem keinen Aufschwung herbeiführt. +Georgiens Twenty- und Thirtysomethings kämpfen darum, nicht die Puste zu verlieren. Zum Beispiel Mano Svanidze: Die Mittzwanzigerin, die Betriebswirtschaft studiert hat, verkauft Bilder in einer Fotogalerie in einem Jugendstilviertel von Tbilisi – viele davon könnten auch in einem Laden an der Torstraße in Berlin-Mitte hängen. Nebenher arbeitet sie an der Rezeption eines Hostels und als freie Fotografin. Typisch sei das für ihre Generation. Sie spielt mit dem Gedanken, ins weniger ungemütliche Westeuropa zu ziehen. Damit ist sie nicht allein: 18 Prozent der Georgier im Alter zwischen 18 und 35 können sich vorstellen, für immer im Ausland zu leben. +Eine Brüchigkeit, vor deren Hintergrund der Rave-Protest im Frühjahr wie das Wunschkonzert einer hedonistischen Avantgarde wirkt. Dabei ist die Hetze gegen Schwule und Lesben ein reales Problem in einem Land, in dem die orthodoxe Kirche mit ihren Ansichten noch immer das Denken prägt, vor allem in der Provinz. Dort üben homophobe Priester häufig keinen geringeren Einfluss auf Dorfjugendliche aus als Lady Gaga und Miley Cyrus. Queere Youngster finden in der Clubszene so etwas wie einen Schutzraum. +Falls die Rave-Bewegung ihren Kampf um Georgiens Aufbruch in ein dauerhaftes Projekt verwandeln möchte, erscheint es dennoch naheliegend, ihre Agenda mit der sozialen Frage zu verknüpfen: "Die Frage nach sozialer Gerechtigkeit zählt laut Umfragen für die meisten Menschen seit Jahren zu den drängendsten politischen Themen", sagt Sopho Verdzeuli. "Trotzdem sind Diskurse über soziale Sicherheit, Daseinsvorsorge und die Verantwortung des Staats in der Politik dramatisch unterrepräsentiert." Sollte das Reizthema auf die Straße getragen werden, würden sich womöglich erneut Zehntausende vor dem Parlamentsgebäude in Tbilisi versammeln. + +Fotos: David Klammer/laif diff --git a/fluter/georgien-wahlbeobachterinnen-film.txt b/fluter/georgien-wahlbeobachterinnen-film.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/geschichte-der-datenvernetzung.txt b/fluter/geschichte-der-datenvernetzung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d67ab2b4ea1aced343d4c5a241afb3d8119915dc --- /dev/null +++ b/fluter/geschichte-der-datenvernetzung.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +In prähistorischen Zeiten erfanden Ureinwohner des afrikanischen Dschungels die Nachrichtentrommel. Sie diente zur Übermittlung von Botschaften, z.B. Warnungen. Diese konnten bis zu acht Kilomter weit gesendet werden. Dabei galten Dörfer als "Knotenpunkte" mit eigenen "IP-Adressen" in Form spezieller rhythmischer Figuren. +Als erster "Rechner" im Sinne einer Maschine, die in kontinuierlicher Verschiebung unterschiedliche Größen zueinander in Verhältnis setzt, gilt der rätselhafte Mechanismus von Antikythera. Das Gerät wurde 1901 vor einer griechischen Insel aus dem Wrack eines antiken Frachters geborgen, es ist mindestens 2.000 Jahre alt und gibt, betrieben mit einer Handkurbel, über zahlreiche Zahnräder und ein hochkomplexes Federwerk kalendarische und astronomische Zusammenhänge an. +Im Römischen Kaiserreich sorgte auf einem Territorium von mehreren Millionen Quadratkilometern ein dichtes Netz aus "Poststationen" für die Übermittlung von Nachrichten. Der Clou dieses "cursus publicus" war, dass an den Stationen nicht die Kuriere wechselten, sondern nur die Pferde – sodass der Empfänger in Rom jenen Boten persönlich befragen konnte, der in Trier oder Antiochia losgeritten war. Wissen und Infrastruktur gingen im Mittelalter verloren, die Bedürfnisse blieben bestehen. Kreuzritter brachten die uralte Tradition der Brieftauben nach Europa zurück, mit deren Hilfe Nachrichten in kürzester Zeit an entfernte Orte gelangten. Eine sehr frühe und sehr primitive Form der SMS. +Mit dem Buchdruck wurde ab 1450 die mönchische Abschrift bestehender Schriften mechanisiert – und das schnelle und einfache "copy and paste" war in der Welt. Gefolgt von den ersten periodischen Publikationen von Neuigkeiten, die oft durch viele Hände gingen. Der britische Verleger Ichabod Dawks ließ 1669 erstmals Zeitungen zusätzlich mit weißen Bereichen drucken, auf denen "jeder Gentleman seine eigenen Angelegenheiten" verbreiten konnte. Die lesen sich noch heute wie prototypische Kommentarspalten. +Ein Netz zum Austausch komplexer Nachrichten wie bei den alten Römern kehrte 1791 zurück, als ein französischer Geistlicher den "Schnellschreiber" (Tachygraf) entwickelte, der bald zum "Fernschreiber" (Telegraf) umbenannt wurde. Mithilfe schwenkbarer Balken konnten so, von Turm zu Turm mit Fernrohr ablesbar, codierte Meldungen aus 196 verschiedenen Zeichenkombinationen übermittelt werden. Die erste Telegrafenfernlinie reichte bereits 1794 von Paris bis Lille, später überzog ein Netz optischer Telegrafenstationen das ganze französische Kaiserreich. +Militärische Bewegungen oder wirtschaftliche Informationen konnten so in Minutenschnelle übermittelt werden. Weil jeder in der Nähe des Turms die Signale mitschreiben konnte, war diese Leitung nicht "abhörsicher", und so kam es ab 1834 zum ersten "Hack" der Weltgeschichte. Wenn die Börsenkurse in Paris stiegen oder fielen, reagierten die Märkte in den Provinzen erst darauf, wenn diese Schwankungen mit entsprechender Verspätung in den Tageszeitungen veröffentlicht worden waren. Das kriminelle Brüderpaar François und Louis Blanc bestach die Beamten, in ihre optischen Codes spezielle Zeichen aufzunehmen, aus denen sie ein Steigen oder Fallen der Kurse ablesen und mit diesem Wissen Insidergeschäfte machen konnten. Die Brüder wurden überführt, konnten aber nicht verurteilt werden. Für diese Art von Kriminalität gab es schlicht noch kein Gesetz. Eine schöne Pointe ist, dass die Brüder mit dem erschummelten Geld im Ausland lukrative Spielbanken gründeten, von Bad Homburg bis Monte Carlo. +Zu diesem Zeitpunkt hatte die Technik bereits einen weiteren Sprung getan, die elektrische Telegrafie war erfunden worden. Ende des Jahrhunderts war der komplette Planet "verkabelt", verbunden durch das erste weltumspannende Netz für Telekommunikation, verlegt von der Eastern Telegraph Company und heute – nur halb im Scherz – "Internet des viktorianischen Zeitalters" genannt. Diesmal war es das britische Imperium, das seine weltweiten Kolonien sowie diverse andere Länder durch Kupferkabel miteinander verband. Etwa dort, wo die Kabel damals verliefen, liegen heute viele Glasfaserkabel für das Internet. +Als Guglielmo Marconi 1903 in England die Abhörsicherheit der von ihm erfundenen drahtlosen Telegrafie vorführen wollte, mischten sich seltsame Botschaften unter seine Morsezeichen: "Rats!", also "Ratten!", gefolgt von Schmähgedichten auf den Erfinder. Sein Konkurrent Nevil Maskelyne hatte, mutmaßlich im Auftrag der Eastern Telegraph Company, Marconis Signale abgefangen und um eigene "Botschaften" ergänzt – die ersten Spams der Weltgeschichte, wenn man so will. +Die Entschlüsselung der deutschen Chiffriermaschine Enigma durch den englischen Mathematiker Alan Turing gehört, ebenso wie der erste funktionsfähige Rechner von Konrad Zuse, bereits zu den Gründungsmythen der elektronischen Datenverarbeitung in den 1940er-Jahren. Hier ist Computergeschichte bereits Kriegsgeschichte. So nutzten deutsche Panzerflotten beim Überfall auf Frankreich 1940 bereits eine Vorstufe des "automatisierten Fahrens". Die Panzerfahrer manövrierten ihre Vehikel in unübersichtlichem Terrain nach Anweisungen des Generalstabs, der über Kurzwelle das Fahrzeug lenkte. +Weniger gewürdigt wurden bisher stille Helden wie René Carmille, der im besetzten Frankreich für das Statistische Amt zuständig war – und der Résistance, dem Widerstand gegen die Nazis, zuarbeitete. Über zwei Jahre programmierte Carmille Computer um, mit denen auf modernen Lochkarten biografische Daten erfasst werden sollten – sodass die Spalte, in der "Religionszugehörigkeit" vermerkt war, frei blieb. Damit rettete er als ethisch motivierter Hacker unzählige französische Juden vor der Deportation in deutsche Vernichtungslager; er selbst starb 1945 in Dachau. diff --git a/fluter/geschichte-der-landwirtschaft.txt b/fluter/geschichte-der-landwirtschaft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ce5a42c092f8c3e21af9f5d3ca17ffa9d309c46f --- /dev/null +++ b/fluter/geschichte-der-landwirtschaft.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Schon früher kreuzten die Bauern Pflanzen, um Erträge zu steigern und sie gegen Schädlinge immun zu machen. Die Gentechnologie war der nächste Schritt. Mit ihr gelang es, Pflanzen auch unter eher unwirtlichen Bedingungen anzubauen oder sie mit speziellen Nährstoffen zu versehen, die der Mensch benötigt. Gerade in Ländern mit extremem Klima und großer Armut könnte das das Ernährungsproblem lösen. Allerdings gibt es viel Kritik an der Gentechnologie, auch weil die langfristigen Folgen für Mensch und Tier noch unerforscht sind. Daher hat die EU sehr strenge Richtlinien für deren Einsatz. +Auch die Digitalisierung nimmt zunehmend Einfluss auf die Landwirtschaft. Melkroboter, die mit Laserstrahlen Kuheuter abtasten, autonome Traktoren, auf denen niemand mehr sitzt, satellitengestützte Bewässerung: Das alles hat nur noch wenig mit Landromantik zu tun. Weil quasi weltweit Landwirtschaftsbetriebe miteinander konkurrieren und oft nur überleben können, wenn sie große Mengen produzieren, hat sich auch hierzulande die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe erheblich reduziert: von 900.000 im Jahr 1975 auf 267.000. Der Ertrag, den jeder einzelne Landwirt erbringt, ist dafür umso höher. Vor 100 Jahren hat jeder Bauer in Deutschland vier Menschen ernährt, heute füttert er rund 150 durch: Der Ertrag aus einem Hektar Weizen ist heute viermal so hoch wie vor 100 Jahren. +Zum Ende des Jahrhunderts wird die Zahl der Men- schen von aktuell 7,6 auf bis zu 11,2 Milliarden steigen. Ob sich all diese Menschen ernähren lassen, ist nicht nur eine Frage der Mengen, sondern auch der Verteilung. Laut Schätzungen gibt es weltweit 815 Millionen Menschen, die hungern, und 2,2 Milliarden, die übergewichtig sind. +Wie global die Ernährungsfrage mittlerweile ist, sieht man am Soja – dem beliebtesten Futtermittel in der Tiermast. Obwohl der Fleischkonsum in Deutschland etwa so hoch ist wie 2005, ist die Fleischproduktion in diesem Zeitraum von 2,3 Millionen Tonnen auf vier Millionen Tonnen gestiegen. Besonders in der Massentierhaltung wird viel Soja verfüttert, das zu einem großen Teil aus Südamerika kommt, wo der Sojaanbau eine der Hauptursachen für die Abholzung des Regenwalds ist. Während Deutschland beim Fleisch zu den größten Exporteuren weltweit gehört, ist es bei Gemüse und Obst wiederum auf Importe angewiesen. Die Tomaten im Supermarkt kommen oft aus Treibhäusern in den Niederlanden, die Bananen und anderes aus Mittelamerika. Weil die Produktionsbedingungen oft schädlich für die Umwelt, das Klima und die Menschen sind, wächst seit Jahren die ökologische Landwirtschaft, und die Anzahl der Bioprodukte in Supermärkten nimmt zu. +Unter dem Druck, Lebensmittel billig zu produzieren, trägt die Landwirtschaft zur Naturzerstörung bei. Die Gülle aus der Massentierhaltung verunreinigt das Grundwasser, Monokulturen auf den Feldern laugen die Böden aus und zerstören die Lebensgrundlage von Insekten. Dass es nicht einfach ist, zwischen all den unterschiedlichen Akteuren und Ansichten einen Weg zu finden, kann man auch aus dem Koalitionsvertrag der Bundesregierung herauslesen. Dort ist von einer "nachhaltigen flächendeckenden Landwirtschaft" die Rede, "sowohl ökologisch als auch konventionell". Im Rahmen einer europäischen Agrarpolitik sollen "Tier-, Natur- und Klimaschutz" gestärkt werden. Das könnte aber seinen Preis für die Verbraucher haben, denn zurzeit sind Lebensmittel in Deutschland verglichen mit anderen Industrieländern recht günstig. Gerade mal 10,3 Prozent des Einkommens geben die Deutschen für Lebensmittel aus. diff --git a/fluter/geschichte-des-csd-interview-mit-zeitzeuge.txt b/fluter/geschichte-des-csd-interview-mit-zeitzeuge.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1871148a2a18a0d4bb657bca1ae125c6f7441330 --- /dev/null +++ b/fluter/geschichte-des-csd-interview-mit-zeitzeuge.txt @@ -0,0 +1,37 @@ + +fluter.de: Du hast an den Stonewall-Aufständen im Juni 1969 teilgenommen. Wie kam es dazu? +Martin Boyce: Ich war im Greenwich Village auf dem Weg zum Stonewall Inn, gemeinsam mit meinem Freund Bertie. Wir trafen einen Bekannten und unterhielten uns, als jemand hinter miretwas von einer Razzia sagte. Das Stonewall war nur einen Block entfernt, also gingen wir hin. Das machte man immer so: War man nicht selbst von einer Razzia betroffen, ging man hin, um sie sich anzugucken. An diesem Abend wurden erst die stolzen Queens aus dem Stonewall geführt, dann auch Leute, die sich sichtlich schämten. +Was war dieses Mal anders? +Ein Polizist kam auf uns zu, schaute uns an, sagte: "Okay, das war's, ihr habt die Show gesehen. Jetzt verschwindet hier!" Dann drehte er sich um. Wir folgten sonst immer den Anweisungen der Polizei. Dieses Mal nicht. +Was habt ihr stattdessen getan? +Die Leute haben begonnen, mit allem auf die Polizei zu werfen, was sie in die Finger bekommen konnten, Flaschen, Steine, Müll. Bertie war immer streitlustig, und ich sagte normalerweise: "Tu das nicht, halt dich zurück!" Aber diese Nacht war Berties Nacht. Er sagte zu mir: "Heute Nacht wirst du kämpfen, Bitch!" Ich hatte fast mehr Angst vor Bertie als vor der Polizei! +Die Polizei war von dem starken Widerstand völlig überrascht und zog sich in die gerade geräumte Bar zurück. +Plötzlich entstand diese Stille, man konnte beinahe die berühmte Stecknadel fallen hören. Man fühlte etwas aufkommen, wie einen Sturm. Und dann(Martin Boyce schlägt mit der Faust rhythmisch auf den Tisch)kam polizeiliche Verstärkung. Bewaffnet bis an die Zähne. +Mit der Bereitschaftspolizei habt ihr euch stundenlang Kämpfe und ein Katz-und-Maus-Spiel in den Straßen des Village geliefert. +Ich war voller Adrenalin. Später in der Nacht saß ich erschöpft auf den Treppenstufen eines Hauseingangs. In einem anderen Hauseingang saß eine weitere Queen. Und nicht weit entfernt lehnte ein Polizist erschöpft an einem Zaun. Keiner hat dem anderen mehr was getan. + +Vor 50 Jahren war in 49 von 50 US-Bundesstaatengleichgeschlechtlicher Sex verboten. Die Polizei setzte Spitzel und Undercoveragenten ein, um Homosexuelle zu überführen: Wer mit ihnen flirtete,riskierte, festgenommen zu werden. Gegen Transgender und Transvestiten gerichtet war ein Gesetz, das vorschrieb, mindestens drei Kleidungsstücke zu tragen,die dem zugeschriebenen Geschlecht entsprechen. +Das soziale Leben in Bars und Kneipen wurde durch die staatliche Alkoholbehörde SLA eingeschränkt. Um eine Ausschanklizenz zu bekommen, mussten Bars nachweisen, dass sie "ordentlich" geführt waren. Für die SLA war eine Bar, die Homosexuelle zu ihren Gästen zählte, automatisch nicht "ordentlich". +Ein Grund für den Widerstand waren die häufigen Polizeischikanen und Razzien in den Bars. Hast du das auch erlebt? +Ja. Ein Beispiel: Im "Tenth of Always" wurde kein Alkohol ausgeschenkt, aber es gab eine gute Jukebox, deshalb konnten wir tanzen. Obwohl es folglich gar keinen Grund gab, wegen eines Verstoßes gegen die Schanklizenz eine Razzia durchzuführen, war das Lokal auf so eine Situation vorbereitet. Sobald das Licht flackerte, ging die Musik aus, alle hörten sofort auf zu tanzen und setzten sich irgendwo hin. +Was passierte dann? +Die Polizisten kamen rein. Der Detective sah aus wie Orson Welles und rauchte eine Zigarre. Er war furchteinflößend, wie eine Bulldogge. Er schaute jeden von uns an mit diesem durchdringenden Blick. Eigentlich wussten wir, dass er sich unmöglich an alle von uns erinnern konnte. Aber vielleicht wollte er, dass wir uns an ihn erinnern? Mehr passierte nicht, sie gingen wieder, die Musik spielte wieder. Das war ein vergleichsweise harmloser Fall, es wurden keine Ausweise oder Ähnliches kontrolliert. Man wollte uns aber Angst machen. +Was konnten die Konsequenzen einer Razzia sein? +Wer keinen Ausweis dabeihatte, musste damit rechnen, abgeführt zu werden. Dann wurde eventuell der Arbeitgeber benachrichtigt oder die Eltern, wenn man jung war. Wir fanden das irgendwie aufregend und fühlten uns ein bisschen wie in der Résistance, wie im Widerstand. Gegen uns standen all diese Gesetze, und wir waren stolz darauf, wie wir der Polizei entkamen. +Eine wesentliche Rolle bei dem Aufstand spielten Jugendliche, deren Lebensmittelpunkt die Straße war. Wie kamst du mit ihnen in Kontakt? +Als ich 16 war, traf ich mich mit Freunden oft im Central Park. Dort lernte ich andere kennen, die mich mit ins "Village" nahmen. Rund zwei Jahre vor Stonewall hatte ich auch dort einen Freundeskreis. +Wie oft warst du im Village? +Im Sommer so oft wie möglich. Jede Nacht. Denn wenn man eine Nacht aussetzte, hatte man schon viel verpasst. Und wenn man zwei oder drei Nächte fehlte, dachten alle, man wäre tot. Alle hatten so viel zu erzählen: "Hast du schon gehört? Der oder der wurde verhaftet! Und der oder der hat sich mit seinem Freund auf offener Straße geprügelt!" So ging es die ganze Zeit. +Wann wurde dir klar, dass Stonewall eine so große Bedeutung bekommen würde? +Ein Jahr nach den Aufständen, als aus diesem Anlass in New York eine große Demonstration organisiert wurde. +Hast du daran teilgenommen? +Ja. Bertie und ich hatten gehört, dass es einen Protestzug geben würde. Also sind wir zum Washington Square Park gegangen – doch fanden wir dort nur ganz wenige Demonstranten vor. Ich war sehr nervös und habe sogar eine Valium genommen, um mich zu beruhigen. Doch dann kamen immer mehr Leute. Als wir an der 23. Straße vorbeiliefen, sah ich diesen sehr gut aussehenden blonden Typen. Er schaute sich den Protestzug erst nur an, gab sich dann aber einen Ruck und lief mit uns mit. Alle haben ihn umarmt. Frauen winkten uns aufmunternd aus den Fenstern zu. Wir bekamen genug Unterstützung, um uns wohlzufühlen. + +50 Jahre später: Der heute 71-jährige Martin Boyce vor dem Stonewall Inn, wo der Kampf um Gleichberechtigung einst dutzende Dezibel lauter wurde. Die Bar hat täglich geöffnet, Donnerstag ist Karaoke-Night +Vor ein paar Jahren wurde ein Buch veröffentlicht, das die Erfolge der queeren Bürgerrechtsbewegung im Titel als "Victory" bezeichnet, als "Triumph". Kommt das hin? +Es gab ja eigentlich gar keinen Raum für einen Fehlschlag. Wie schlecht hätten die Dinge noch werden sollen? Man kann aber in meinen Augen dennoch von einem Triumph sprechen, weil all die Veränderungen seither gegen so viel Widerstand erfochten wurden. Trotz konservativer Gegner, trotz der Aids-Epidemie. Die Vorzeichen sahen gar nicht gut aus. +Was bedeutet Stonewall für dich persönlich? +Ich bin stolz, dass ich mit Bertie gekämpft habe und – anders, als ich dachte – kein Feigling war. Heute ist Stonewall für mich ein Verb, eine Aufforderung zur Tat. Wir werden mit Rückschlägen umgehen können, denn wir sind darin trainiert. Wir sollten wachsam sein, aber nicht verängstigt. Wir sollten uns auf den Kampf konzentrieren, nicht auf die Angst. + +Aus dem Englischen übersetzt +Titelbild: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Anonymous diff --git a/fluter/geschichte-des-haustieres.txt b/fluter/geschichte-des-haustieres.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..231be9756accd7178ecc4f7dd2ba53fd038df626 --- /dev/null +++ b/fluter/geschichte-des-haustieres.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Die Menschen fingen an, Wildziegen, -schweine und -schafe als Hof- und Haustiere zu halten. Es ist nicht klar, wie dieser Prozess begann, aber er hängt eng mit der Entstehung der ersten Siedlungen zusammen, welche die Wildtiere an diesen Orten vertrieben. Die Jäger mussten dadurch immer weiterziehen, um noch Beute zu finden. Jungtiere zu sich zu holen und anzufüttern oder aufzuziehen ist eine denkbare Reaktion darauf. Möglich wäre auch, dass die Menschen der Jungsteinzeit ihre Beutetiere in große, durch Zäune abgesicherte Gehege getrieben haben, um sie dort bequem erlegen zu können – oder um sie von den Äckern fernzuhalten. Archäologische Spuren lassen auf solche Zäune schließen. Vielleicht haben die Menschen festgestellt, dass sich ihre Beute in Gefangenschaft vermehrte – und gingen dann dazu über, die Tiere nicht nur zu jagen, sondern zu pflegen und dafür zu sorgen, dass ihnen andere Raubtiere fernblieben. Und schließlich konnte man die Produkte der Tiere so auch einfacher verarbeiten: Fell und Leder mussten nicht vom Jagdplatz weggeschleppt werden, später kamen Milch und Wolle als Rohstoffe dazu. Alles in allem machte die Domestizierung das Leben sicherer, wenn auch nicht weniger mühsam. Vor allem änderte sie aber das Selbstbild des Menschen: Er war fortan nicht nur Teil der Natur, sondern Herrscher über Pflanzen und Tiere, die er sich untertan machte. +Der viele Tausend Jahre dauernde Prozess der Domestizierung hat sich an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten unabhängig voneinander vollzogen. Für Europa ist der Nahe Osten entscheidend, aber auch in Asien, Afrika und auf den amerikanischen Kontinenten domestizierten die dort lebenden Menschen Tiere: Aus Asien stammen beispielsweise das Huhn und der Wasserbüffel, in Südamerika wurden Lamas und Alpakas gezähmt, Esel kommen ursprünglich aus Afrika, Pferde wurden erstmals in den zentralasiatischen Steppen gezähmt. +Als erstes domestiziertes Tier gilt aufgrund von Knochenfunden und Genanalysen der Hund, der sich dem Menschen bereits vor 20.000 bis 40.000 Jahren angeschlossen haben soll. Hunde dienten damals schon als Jagdgefährten und, in schweren Zeiten, als Fleischlieferanten. Darüber, wie die Domestizierung des Hundes genau begann, lässt sich aber nur spekulieren: Wahrscheinlich haben Wölfe in der Nähe von menschlichen Lagern die dort angefallenen Abfälle gefressen oder sind Jagdtrupps gefolgt, um Aas zu erbeuten. Menschen und Hunde waren sich jedenfalls sehr nahe, vielleicht wurden schließlich ein paar weniger scheue Tiere angefüttert, oder ein Jäger brachte Welpen als Mitbringsel in das Lager. +Neben dem Hund hat der Mensch auch früh eine besondere Beziehung zu einem weiteren Tier entwickelt: Die Katze ist ein Beispiel für eine sogenannte Selbstdomestizierung. So passte anscheinend die libysche Falbkatze als Unterart der Wildkatze ihr Verhalten so an, dass Menschen sie bei sich behalten wollten. Wildkatzen könnte es in menschliche Siedlungen gezogen haben, weil sie dort relativ einfach von den Abfällen und Essensresten der Bewohner leben konnten. Zudem jagten sie Ungeziefer wie Ratten und Mäuse, was sie für den Menschen nützlich machte. Schließlich entwickelten Katzen Verhaltensweisen, die ihre wilden Artgenossen nicht aufweisen: So miauen normalerweise nur Jungkatzen in Gegenwart ihrer Mütter. Hauskatzen aber zeigen dieses Verhalten auch noch im Erwachsenenalter, wohl weil es der Kommunikation mit dem Menschen hilft. +Als Auswirkung der Domestizierung verhalten sich Tiere auch als Erwachsene wie Jungtiere und haben beispielsweise größere Augen und Schlappohren – Merkmale des sogenannten Kindchenschemas. Das empfinden Menschen oft als niedlich, zudem ruft es den Beschützerinstinkt wach, was diesen Tieren einen evolutionären Vorteil verschafft. Außerdem sind domestizierte Tiere meist kleiner als ihre wilden Verwandten und haben eine geringere Hirnmasse. Man könnte also sagen: Die Nähe zu den Menschen hat die Tiere jung gehalten, aber nicht gerade schlauer gemacht. + diff --git a/fluter/geschichte-des-politischen-hiphops.txt b/fluter/geschichte-des-politischen-hiphops.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/geschichte-des-samplings.txt b/fluter/geschichte-des-samplings.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1700e604be7bedaa00e9383c8b0b9e82255609b2 --- /dev/null +++ b/fluter/geschichte-des-samplings.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Ein Jahr nach der Wiederveröffentlichung von "Amen, Brother" kamen erstmals preiswertere Sampler wie der E-Mu SP-1200 auf den Markt. Diese Geräte waren in der Lage, fremde Klänge digital aufzunehmen und wiederzugeben – und auch die damals noch weitgehend im Untergrund operierenden HipHop-Produzenten konnten sie sich nun leisten. +Bald mixte niemand mehr live seine Breaks von Schallplatten oder ließ sich gar einen Basistrack von einer Band einspielen wie noch die Rap-Pioniere Sugarhill Gang. Stattdessen bastelten die Hip-Hop-Produzenten nun fast alle ihre Stücke aus Samples zusammen. Als eines der beliebtesten Bauteile entpuppte sich dabei das kurze Schlagzeugsolo aus "Amen, Brother" von The Winstons, das die Hip-Hopper Ende der 1980er-Jahre über die Compilation der beiden New Yorker Plattenauskenner kennengelernt hatten. Die vier Takte aus "Amen, Brother" wurden schnell als "Amen Break" bekannt. Die Produzenten extrahierten das Drumsolo, drehten dessen Tempo herunter, spielten die Datei endlos hintereinander ab und ließen Rapper darauf los: Fertig war ein neuer HipHop-Track! +Die Technik dafür war nicht neu. Die ersten Geräte, die fremde Klänge aufnehmen und dann als Instrument oder Klangschleife wiedergeben konnten, gab es schon in den 1950er-Jahren. Doch HipHop war die erste Popmusik, die vor allem auf dieses Konzept setzte. Schon bald nutzten Produzenten wie Marley Marl oder Rick Rubin die neuen Geräte, um aus Collagen alter Musikstücke gänzlich neue zu erschaffen: Sie bastelten sich Traum-Duos von Musikern, die in der Realität nie miteinander gespielt hatten, kontrastierten die gesampelten Stücke mit inhaltlich anders gelagerten Raps oder nutzten die Samples als zusätzliche Kommentarspur. So eigneten sie sich alte Funk-, Soul- oder Jazz-Stücke an. +Bald begannen die Produzenten, als Ausgangsmaterial möglichst obskure Platten zu suchen – um zu beweisen, wie gut sie sich in der Musikgeschichte auskennen. So nannte sich ein Produzententeam angeberisch "Diggin' In The Crates", also "Graben in den (Platten-) Kisten", und zwar nach abseitigem Sample-Futter. Einige Sampleausgräber trieben es auf die Spitze: Der Produzent Dr. Dre etwa soll in seiner Karriere bislang mehr als 800 Stücke gesampelt haben, sein Kollege DJ Premier kommt angeblich auf fast 1500. +Die Klangcollagen stießen schnell weltweit auf Resonanz. Damit kamen nicht nur Diskussionen auf, ob Sampling überhaupt kreativ ist – natürlich sei es das, entgegnen HipHop-Fans: gut auswählen und geschickt rekombinieren kann schließlich nicht jeder. Als Rapper und Produzenten anfingen, mit ihren Samplestücken Geld zu verdienten, rief dies auch Schwärme von Rechtsanwälten auf den Plan, denn sie wollten im Auftrag der gesampelten Musiker ein Stück vom Kuchen abhaben. Fortan mussten die HipHop-Produzenten Samples "klären", also Lizenzgebühren zahlen. +Nicht immer hielten sich die Hip-Hopper daran. Ein besonders prominenter Fall: Der Rapper Biz Markie wurde 1991 von dem Songwriter Gilbert O'Sullivan vor Gericht gezerrt, weil er ihn gesampelt hatte, ohne dafür zu zahlen. "Du sollst nicht stehlen", donnerte der Richter Biz Markie entgehen. Der Rapper musste sein Album wieder einstampfen, seine folgende Platte nannte er trotzig "All Samples Cleared". Der Prozess beendete das goldene Zeitalter des Samplings im Hip-Hop. Heute kosten Samples astronomische Summen, für ein prominentes Fitzelchen werden schnell 100.000 US-Dollar fällig. +Die Rapper von Public Enemy, die Anfang der 1990er-Jahre gern mal zehn oder zwanzig Samples in einem einzigen Stück übereinandergeschichtet haben, schätzen, dass sie ihre Alben unter heutigen Bedingungen für 159 US-Dollar das Stück verkaufen müssten, nur um die Samplegebühren zu decken. Leisten können sich Sampling heute nur noch erfolgreiche Superstars wie Jay-Z, der der Kunstform gerade auf seinem aktuellen Album "4:44" huldigte. Alle anderen wurschteln sich so durch, indem sie ihre wieder komplett selbst eingespielten Stücke nach Samples klingen lassen – oder einfach illegal sampeln. +Viele der klassischen Break-Samples erfreuen sich dabei bis heute ungebrochener Beliebtheit. Dazu gehört "Funky Drummer", eine kurze Schleife aus dem gleichnamigen Stück von James Brown, eingespielt vom damals gerade 18-jährigen Schlagzeuger Clyde Stubblefield, oder "Apache" von der Incredible Bongo Band. Sogar bei den Rock-Dinosauriern Led Zeppelin wurden die Sample-Sammler fündig. + +Aber kein Break ist so oft gesampelt worden wie das "Amen Break". Schon Ende der 1980er-Jahre reimte jeder Rapper, der etwas auf sich hielt, über die vier Takte der Winstons. Ganze Generationen bastelten daraus ihre Stücke, vom New Yorker Produzenten Mantronix, der es als einer der Ersten in seinem passend betitelten Track "King of the Beats" einsetzte, bis zu Tyler, The Creator. Später entdeckten auch Produzenten von Elektronikmusik-Stilen wie Drum'n'Bass oder Breakbeat-Techno das "Amen Break". In der Folge gründeten sich komplette Mikro-Genres auf den vier Takten von Schlagzeuger Coleman. Insgesamt taucht das Mini-Drumsolo den Statistiken der WebseiteWhosampled.comzufolge bis heute in mehr als 2400 Musikstücken auf. +Von all dem hatten die Winstons nichts. Zur Hochphase des Amen-Samplings scherte sich kein Mensch um Nutzungsgebühren. Später hat die Band nicht mal mehr versucht, Geld aus der Sache zu schlagen. Immerhin: Im Jahr 2015 sammelten zwei Briten per Crowdfunding rund 27.000 Euro für den Winstons-Bandleader – eine kleine Wiedergutmachung. G.C. Coleman, der eigentliche Erschaffer des "Amen Break", konnte das Geld nicht mehr entgegennehmen. Er starb 2006 obdachlos, drogenabhängig und verarmt auf den Straßen von Atlanta. Seine vier Takte aber haben die Musikgeschichte verändert. + + +Titelbild: DAMON WINTER/NYT/Redux/laif diff --git a/fluter/geschlechtergerechtigkeit-auf-festivals-keychange.txt b/fluter/geschlechtergerechtigkeit-auf-festivals-keychange.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7674158577cac1e69e73cf2e8c770639d886cc8a --- /dev/null +++ b/fluter/geschlechtergerechtigkeit-auf-festivals-keychange.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Fluter.de: Frau Schäfers, würden Sie zu "Rock am Ring" gehen? +Christina Schäfers: Ich formuliere es diplomatisch: Mir sind Clubfestivals lieber. Wenn Freunde hinfahren würden, käme ich vermutlich mit – aber ich weiß, worauf die Frage abzielt … +Als das "Rock am Ring"-Line-up bekannt gegeben wurde, gab es massive Kritik: Von 250 Künstlern waren gerade mal zehn Frauen. Dagegen kämpftKeychange. Die Kampagne will bis 2022 ein 50:50-Verhältnis auf Festivalbühnen erreichen. Was ist bislang erreicht? +Als die Kampagne 2017 gestartet ist, haben wir noch viele fragende Blicke bekommen. Aber mittlerweile ist die Sensibilität für das Thema größer.Der Aufschrei um das "Rock am Ring"-Line-uphat ja gezeigt: Langsam sickert die Erkenntnis durch, dass wahnsinnig viele gut ausgebildete und fantastisch vernetzte Frauen unterwegs sind. Und man kommt nicht mehr umhin, sie in verantwortungsvolle Positionen zu lassen. Außerdem habe ich das Gefühl, man darf auch den Fans gar nicht mehr so unausgewogene Line-ups anbieten, weil man sich sonst sofort einen Shitstorm einhandelt. + + +Das Standardargument vieler Veranstalter ist ja: Es ist einfach schwer, genug gute weibliche Acts zu finden. Was entgegnen Sie darauf? +Wenn "gut" gleichzusetzen ist mit kommerziell ertragreich, muss man sagen: Ja, diese Kategorie dominieren zurzeit noch männliche Künstler. Genau das wollen wir ja verändern. Ein großer Teil der Unterstützer der Kampagne sind Festivals wie das "Reeperbahn Festival", die gleichzeitig Marktplätze für die Headliner von morgen sind. Wir haben die Kraft, das Angebot zu verändern. Und genau das tun wir, indem wir unsere Marktplätze gender-balanced gestalten. Wir raten den großen Festivals, sukzessive umzuschwenken. +Sie haben 2018 ein "Manifest" veröffentlicht, in dem Sie konkrete Maßnahmen vorgeschlagen haben – für die Musikindustrie, für die Regierungen der teilnehmenden Länder und das Europaparlament. Setzen Ihre Partner diese Ideen um? +Wir haben unser Manifest damals im Europaparlament vorgestellt, und einzelne Maßnahmen haben tatsächlich Einzug in die Regelwerke der EU gefunden. Wenn man sich für ein EU-Finanzierungsprogramm bewirbt, muss man nachweisen, dass genauso viele Frauen wie Männer an dem Projekt beteiligt sind. Das ist neu, und das ist wichtig und richtig. +Wie kürzlich bekannt wurde, fördert die Europäische Kommission Keychange mit 1,4 Millionen Euro. Was haben Sie mit dem Geld vor? +Die nächsten Jahre sind schon durchgeplant. Das bedeutet, Künstlerinnen und Innovatorinnen können sich bei uns bewerben, und wenn sie ausgewählt werden, bekommen sie bei den teilnehmenden Festivals Auftritts- und Vernetzungsmöglichkeiten. Das ist der Kern von Keychange: Ein EU-gefördertes Austauschprojekt vernetzt die weibliche Musik-Community, um dem ewigen Argument vieler Entscheider entgegenzuwirken, sie würden einfach nicht genug Künstlerinnen kennen, die man buchen kann. + + +Christina Schäfers verantwortet das Kunst-, Wort- und Film-Programm des Reeperbahn Festivals +Festivals sind heute ein Millionengeschäft, ihr Einfluss auf die Popkultur ist größer denn je. Kann Geschlechtergerechtigkeit auf Festivals die Musikbranche als Ganzes beeinflussen? +Definitiv, denn die 50:50-Verpflichtung sorgt für ausgeglichene Förderung. Wenn ein Festival ankündigt, ein ausgeglichenes Line-up präsentieren zu wollen, müssen Booker und Promoter ihre weiblichen Acts stärker bewerben. Außerdem sind Festivals ja ein besonderes kulturelles Ereignis, bei dem Menschen zusammenkommen und sich austauschen. Im Theater gibt es den Begriff der "autopoietischen Feedbackschleife". Der beschreibt, dass das, was auf der Bühne passiert, auf das Publikum wirkt und dass die Reaktion des Publikums schließlich wieder das Bühnengeschehen beeinflusst. Immer mehr wichtige Künstlerinnen und Künstler entdecken das Potenzial, auf diesem Weg Debatten mitzutransportieren. +Der Begriff "key change" bezeichnet in der wörtlichen Übersetzung den Übergang von einer Tonart in die andere. Wie klingt diese Zukunft, in die wir steuern? +Unser Gesellschaftssystem ist patriarchalisch geprägt, und wir wissen nur bedingt, was passiert und wirklich besser wird, wenn mehr Frauen in Machtpositionen sitzen. Die Grundaussage ist also: Wenn sich etwas ändern soll, kann das System nicht das gleiche bleiben. Wie klingt nun die Zukunftsmusik? Wie eine komplexe und erfüllende Melodie, eine sehr vielfältige. Und eine, die alle mögen werden. + +Gegründet wurde die Initiative Keychange von der britischen PRS Foundation ursprünglich als Talentförderung für Künstler*innen und Musikmanager*innen. Sie wird mit EU-Geldern gefördert und ist mittlerweile zur Bewegung gewachsen, in der sich aktuell 180 Festivals für Geschlechtergerechtigkeit einsetzen. Das erklärte Ziel von Keychange ist es, eine globale Debatte anzustoßen, die die Musiklandschaft nachhaltig verändert. Festivals, die sich der Kampagne anschließen, verpflichten sich, bis 2022 eine Geschlechterquote von 50:50 zu erreichen: Bei 50 Prozent der Acts soll mindestens ein Mensch weiblichen, trans- oder non-binären Geschlechts vertreten sein. + + diff --git a/fluter/geschlechtsneutrale-sprachassistenz-statt-weibliche-stimme-von-siri-alexa-cortada.txt b/fluter/geschlechtsneutrale-sprachassistenz-statt-weibliche-stimme-von-siri-alexa-cortada.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5a19882bb95aaae334d4a2cad3f24349b99bb325 --- /dev/null +++ b/fluter/geschlechtsneutrale-sprachassistenz-statt-weibliche-stimme-von-siri-alexa-cortada.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Dass die moderne Sprachassistenz vor allem in den oberen Tonlagen spricht, bemängeln Kritiker schon länger. Sie seien die "digitalen Dienstmägde der Gegenwart"; durch sie würden sich Rollenklischees und Geschlechterzuschreibungen verfestigen. Weibliche Stimmen erinnern uns säuselnd ans Einkaufen oder den Geburtstag des Onkels. Die großen Tech-Konzerne nahmen die Kritik an ihrem Faible für weibliche Stimmen auf und stellten ihnen nach und nach männliche Sprecherkollegen an die Seite. Wer sich durch die Einstellungen seines Smartphones klickt, wird heute irgendwann vor der Entscheidung stehen: Soll mir eine Frauen- oder eine Männerstimme assistieren? +Einer Gruppe von Wissenschaftler*innen, Sounddesigner*innen und Aktivist*innen aus Dänemark ist die Einteilung in zwei Geschlechter nicht genug. Daher haben sie "Q – The World's First Genderless Voice" programmiert. Zwischen "männlich" und "weiblich" tut sich eine weitere Option auf. Die Gruppe aus Dänemark hat Stimmen von fünf Menschen aufgenommen, die sich selbst irgendwo zwischen Mann und Frau einordnen. Anschließend bearbeiteten sie die Frequenzen so, dass sich die Schallwellen genau zwischen den üblichen Schwingungen der männlichen und weiblichen Stimme bewegen. Das verbesserten sie so lange, bis die 4.600 Testhörer*innen nicht mehr sagen konnten, ob sie von einer Frau oder einem Mann angesprochen wurden. + + + + +Die geschlechtlose Stimme ist eine Rückbesinnung auf die Anfänge einesCyberfeminismus, der seit den 80er-Jahren davon ausging, dass neue Technik auch Geschlechterrollen neu definieren kann. Allein in Deutschland nutzen heute schon 35 Millionen Menschen digitale Sprachsteuerung. Es gilt als so gut wie sicher, dass wir in Zukunft kaum noch auf Tastaturen tippen, sondern durch unsere Stimme die digitalen Geräte steuern werden. +Wieso gibt es dafür noch keine "stimmliche Darstellung eines sächlichen oder apparatischen Geschlechts?", fragte derSoundforscher Holger Schulzekürzlich. "Q" will daran erinnern, dass neue Technik auch Spielraum für Emanzipation geben kann. +Mit der Erfindung des Telefons wurden um 1900 plötzlich Zehntausende Menschen gebraucht, um die Verbindungen herzustellen. Schnell übernahmen die "Fräulein vom Amt" den Job, weil ihre höheren Stimmlagen am Telefon besser verständlich waren. Das bedeutete zwar einfältige Arbeit, die – na klar – von Frauen erledigt werden sollte. Für die Telefonistinnen war es aber auch die Möglichkeit, finanzielle Unabhängigkeit zu erlangen. In vorher unbekanntem Ausmaß entstand bezahlte Arbeit für Frauen. Und damit eine neue Wirklichkeit. + + +Übrigens: +Cyberfeministische Ansätze gibt es seit den frühen Neunzigern: Donna Haraway schrieb in ihrem Essay"A Cyborg Manifesto"(1983) als Erste über "Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980's", ihr folgten dieVideokünstlerin Lynn Hershman Leeson, das Künsterinnen-KollektivVNS Matrixund andere Denkerinnen, Programmiererinnen und Medienkünstlerinnen aus Nordamerika, Australien, Deutschland und Großbritannien, die sich im World Wide Web zu etablieren begannen und untereinander vernetzten. + +GIF: Raúl Soria diff --git a/fluter/geschmack-der-unabhaengigkeit.txt b/fluter/geschmack-der-unabhaengigkeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9c67ca1b06202aacf771ec1196895cdaca738d2b --- /dev/null +++ b/fluter/geschmack-der-unabhaengigkeit.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Aktuell 13 Lehrlinge zwischen 18 und 26 Jahren werden hier ein Jahr lang zum Koch oder zur Servicekraft ausgebildet. Sie tragen schwarze T-Shirts; auf der Vorderseite steht "Haven" (engl. "Zufluchtsort"), auf der Rückseite "Family". Das ist keine Floskel, denn hier haben die jungen Erwachsenen nicht nur ihre Ausbildung begonnen, sie haben mit dem "Haven", einem Trainingsrestaurant für ehemalige Heimkinder und gefährdete junge Erwachsene aus geschützten Unterkünften, auch eine Ersatzfamilie gefunden. Ihre neuen "Eltern" sind Schweizer: Sara und Paul Wallimann, schwarze Hornbrillen, kurze Haare, Tattoos auf den Armen. +Das Ehepaar Wallimann erzählt, wie es zu dem Projekt "Haven Training Restaurant" kam. April 2008: Auf ihrer zweijährigen Weltreise erreichen sie Kambodscha. In einem Waisenhaus in der Nähe von Siem Reap, dem Tor zu den berühmten Tempelanlagen von Angkor Wat, arbeiten die beiden für ein paar Monate als Freiwillige. Damals fragen sich die Wallimanns, was eigentlich mit den Kindern passiert, wenn sie zu alt sind fürs Heim. +Eine Berufsausbildung beginnen und auf eigenen Beinen stehen? So einfach ist das in Kambodscha nicht. "Berufsschulen wie bei uns kennt man hier nicht, die Kinder lernen oftmals den Beruf der Eltern von klein auf mit", sagt Sara. Ein Problem, wenn man keine Eltern hat oder diese nicht für einen da sein können. Also fassen die Schweizer einen Plan: eine Trainingseinrichtung mit angeschlossenem Wohnhaus für die Lehrlinge. +"Wir wollten etwas Selbsttragendes entwickeln, das ohne permanente Spenden auskommt", sagen die beiden. Ein Ort, an dem die ehemaligen Heimkinder – sowohl Waisen als auch ausgesetzte Kinder – lernen, auf eigenen Beinen zu stehen, statt Hilfe von außen zu erwarten. Selbstständigkeit ist ihnen als Konzept oft fremd. Es habe sich in den letzten Jahren ein regelrechter Waisenheimtourismus etabliert, der den Kindern mehr schade als nutze, erzählen die Wallimanns. Fakehäuser würden bewusst in schlechten Verhältnissen gelassen, damit Touristen Geld für sie sammeln. +Die Wallimanns meinen es ernst und wollen den Lehrlingen eine Zukunft geben. Deshalb wird etwas im Bereich Tourismus ins Auge gefasst, am besten in der Gastronomie. Dafür bringen sie gute Voraussetzungen mit: Paul ist Lebensmittelingenieur, hat als Berater für Lebensmittelhygiene zehn Jahre lang für große Hotels und Restaurants gearbeitet und an einer Hotelfachschule unterrichtet. Sara war in Zürich Marketingleiterin für eine vegetarische Restaurantkette. +2010 kehrt das Paar in die Schweiz zurück, gründet den Verein "Dragonfly" und sammelt Spenden. Eigene Kinder haben die Wallimanns nicht, aber bald viele Auszubildende, für die sie sich verantwortlich fühlen. Im April 2011 ziehen sie nach Kambodscha, bauen das Restaurant und Unterrichtszimmer und eröffnen gemeinsam mit einer Schweizer Freundin und einem einheimischen Küchenchef bereits im Dezember das "Haven". Heute führen sie es gemeinsam mit 16 Angestellten. +Von Anfang an dabei ist Chao, 24 Jahre, Lehrling aus dem ersten Jahrgang. Heute arbeitet er als Barmann im "Haven". Die Drinks mixt er mit Routine. Früher als Kind, sagt er, war er ständig in Aufregung. Weil seine Familie zu arm war, um für ihn zu sorgen, kam er mit neun Jahren ins Waisenheim. Bis zu seinem 20. Lebensjahr blieb er dort, dann sah er die Ausschreibung für das "Haven" und bewarb sich. Er erhielt, wie alle Lehrlinge nach ihm, eine zwölfmonatige Ausbildung, nahm am Englisch- und Computerunterricht teil, lernte viel über Nahrungsmittel und Hygiene. +Während der Ausbildung wohnen die Teilnehmer im Trainee-Haus und erhalten ihren Lehrlingslohn, ein Taschengeld von umgerechnet 20 US-Dollar im Monat, Essen, Kleidung, Schulmaterial sowie medizinische Versorgung. Zum Vergleich: Der Durchschnittslohn eines fair bezahlten Kellners beträgt laut Sara Wallimann rund 80 bis 100 US-Dollar im Monat. Am Ende des Lehrjahres werden die Ausgebildeten mit einem Sparkonto, auf dem rund 1.000 US-Dollar liegen, in ihr neues Leben entlassen. "Bis heute haben wir 25 Lehrlinge ausgebildet und danach sichere und gut bezahlte Arbeitsstellen für sie gefunden", sagt Sara Wallimann. +Vom guten Geschmack der Unabhängigkeit kann sich im "Haven" jeder selbst überzeugen. In der Menükarte steht, es werden ausschließlich frische und hochwertige Produkte verarbeitet, wie sauberes Trinkwasser oder Eier von artgerecht gehaltenen Hühnern. "Züri Gschnätzlets" ist dort genauso zu finden wie kambodschanische Fischsuppe. diff --git a/fluter/gesetz-des-dschungels.txt b/fluter/gesetz-des-dschungels.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2905b19bad834cdfa075034bc313d9d65b927806 --- /dev/null +++ b/fluter/gesetz-des-dschungels.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +War die DDR-Wirtschaft nach 40 Jahren "real existierendem Sozialismus" tatsächlich keinen Pfifferling mehr wert, wie die Treuhändler behaupteten, oder ist das ostdeutsche Produktivvermögen im Schlussverkauf DDR auf verantwortungslose Weise verramscht worden, wie Treuhand-Kritiker meinen? Die Frage, wie man eine zentralistische Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft transformiert, war bis zum Zusammenbruch des Ostblocks niemals ernsthaft erörtert worden. Es gab weder Lehrbücher noch Präzedenzfälle. Dieses Argument führen die Treuhänder gern ins Feld, wenn man ihnen den Ausverkauf der DDR-Wirtschaft und das Plattmachen ganzer Industrien vorwirft. Zudem sei die Mehrzahl der Treuhandunternehmen mit etwa vier Millionen Beschäftigten, die sich 1990 im Besitz der Treuhand befanden, unter marktwirtschaftlichen Bedingungen nicht überlebensfaÅNhig gewesen. Umso verwunderlicher ist es, dass man sich angesichts dieser Diagnose dennoch dazu entschloss, den Markt zum Richter über Tod und Leben der ehemaligen VEBs zu machen. Privatisierung nach Treuhand-Rezept, das bedeutete die Betriebe schleunigst an private Investoren zu verkaufen. Birgit Breuel, Nachfolgerin des 1991 von der Rote Armee Fraktion (RAF) erschossenen Treuhandpräsidenten Rohwedder, stellte die einfache Formel auf: "Schnelle Privatisierung bedeutet schnelle Sanierung." +Die Treuhand erbte nicht nur eine nach westlichen Maßstäben vielfach veraltete und unproduktive Ökonomie, sondern auch eine Volkswirtschaft, die durch die deutsch-deutsche Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 1. Juli 1990 mit einem Schlag ihrer Märkte beraubt worden war. Die Übernahme der D-Mark durch die DDR machte ostdeutsche Produkte in den Ostblockstaaten, wohin zwei Drittel der Exporte gingen, über Nacht unbezahlbar. Im Westen hatte die DDR ihre Produkte oft nur aufgrund des für den Außenhandel geltenden, inoffiziellen Umrechnungskurses von 4,40 DDR-Mark zu einer D-Mark verkaufen können. Auch dieser war nach der Währungsunion hinfällig. Zugleich wurde der ostdeutsche Binnenmarkt über Nacht mit Westprodukten überschwemmt. Es entbehrt nicht einer gewissen bitteren Ironie, dass die DDR-Bürger, deren Sparguthaben bis zu einer bestimmten Höhe (je nach Alter 2.000, 4.000 oder 6.000 Mark) im Kurs 1:1 in D-Mark umgetauscht worden waren, den Niedergang der DDR-Industrie nach Kräften beschleunigten, indem sie mit dem neuen, "echten" Geld all die Dinge kauften, die es in der DDR gar nicht oder nur in minderer Qualität gegeben hatte. Die politischen Visionäre, die im Osten die Wende gemanagt hatten, Bürgerrechtler, Künstler und Intellektuelle, konnten angesichts dieser Blitzmetamorphose des befreiten Volkes zu Bilderbuchkonsumenten nur die Köpfe schütteln. +Die Währungsunion, die Bundeskanzler Helmut Kohl trotz der Bedenken der Bundesbank und anderer Kritiker hinsichtlich des Zeitpunktes und des Umtauschkurses durchsetzte, war zweifellos eine Katastrophe für die ostdeutsche Industrie. Für den Machterhalt des Kanzlers erwies sie sich jedoch als wesentlich. Das Versprechen, die D-Mark einzuführen und auf eine baldige Wiedervereinigung hinzuarbeiten, sicherte den DDR-Christdemokraten den Sieg in den ersten und letzten freien Wahlen in der Geschichte der DDR im März 1990 und bereitete Kohls eigene Wiederwahl bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen im Dezember 1990 vor. Nebenbei stoppte die Währungsunion vorerst auch die Massenflucht von DDR-Bürgern in den Westen. Sicher ist, dass die Währungsunion vor allem eine gigantische Staatssubvention für die westdeutsche Wirtschaft war, die ungestüm auf den neuen Markt drängte. Von Mitte 1990 bis 1997 wurden Waren und Dienstleistungen im Wert von 1,4 Billionen DM von West nach Ost transferiert. Das westdeutsche Bruttoinlandsprodukt stieg vor allem aufgrund der Nachfrage im Osten bis 1991 um fünf bis sechs Prozent, während es in der Noch- bzw. Ex-DDR im selben Zeitraum um fünfzehn bis zwanzig Prozent schrumpfte. +Eine nach außen abgeschottete, technologisch veraltete und über weite Strecken unproduktive sozialistische Planwirtschaft war von einem Moment zum nächsten dem freien Markt und einem Zusammenprall mit der leistungsfähigsten Volkswirtschaft Europas ausgesetzt worden. Als die Treuhand sich anschickte, die ostdeutsche Wirtschaft zu "privatisieren" blieb ihr in vielen Bereichen oft wenig mehr, als die Trümmer der Kollision aufzusammeln, die postsozialistische Konkursmasse schnellstmöglich abzustoßen. Die große Schnelligkeit, mit der die Treuhand sich ihrer Aufgabe entledigte und der Zeitdruck, unter den sie sich dabei selbst setzte, ist vielleicht das bemerkenswerteste Merkmal ihres Wirkens. Wo es an Zeit fehlte, stand der Anstalt immerhin eine andere Ressource in ausreichender Menge zur Verfügung: Geld. Womit denn auch nicht gespart wurde. Beträchtliche Summen wurden an im Osten tätige westdeutsche Liquidatoren, Unternehmensberater, Wirtschaftsprüfer und Notare gezahlt. Juristische Berater kassierten Stundensätze von bis zu 600 DM, Unternehmensberatungen wie Roland Berger, BCG, Kienbaum und Price Waterhouse erhielten für jede Außenstelle im "wilden" Osten bis zu 250.000 DM monatlich. Findige "Consultants" stellten für ihre Dienste 2.000 bis 4.000 DM pro Tag in Rechnung, bis die Treuhand nach Protesten des Bundesrechungshofes und interner Prüfung den Höchstsatz auf 2.000 DM begrenzte. Auch Politprominenz engagierte sich im Osten. Klaus von Dohnanyi (SPD), Exbürgermeister von Hamburg, beriet die Treuhand für einen hohen Tagessatz. Für Liquidatoren erwies sich das Betriebssterben im Osten als wahrer Segen, Millionenbeträge als Honorare waren keine Seltenheit. +Die mit Abstand größten volkswirtschaftlichen Kosten ergaben sich jedoch aus den sozialen Folgen der marktwirtschaftlichen Rosskur und aus den ökologischen und sonstigen "Altlasten" der DDR-Betriebe, die plötzlich nach westdeutschen Maßstäben gemessen wurden. So wurden potenziell lukrative Privatisierungen zum Verlustgeschäft für die Treuhand. Beim Verkauf der ostdeutschen Braunkohlewirtschaft übernahm die Treuhand die Kosten für 95.000 Entlassungen ebenso wie für die Beseitigung sämtlicher ökologischer Altlasten – Rekultivierung durchwühlter Mondlandschaften, Müll- und Abraumbeseitigung und vieles mehr. Bei der Veräußerung der ostdeutschen Vereinigten Energiewerke (VEAG) (Jahresumsatz 1991: 6 Milliarden Mark) an Preussen- Elektra, RWE, die Bayernwerk AG und die EBH zahlte die Treuhand trotz des Kaufpreises von mehreren Milliarden Mark am Ende noch drauf. Die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS), die 1995 die noch verbliebenen Treuhand-Firmen übernahm, stellte bei 2.700 Verträgen aus der Frühphase der Privatisierung zum Teil grobe Unregelmäßigkeiten fest. Schlagzeilen machten dabei nur die wirklich großen Skandale, wie zum Beispiel der Verkauf der Geräte- und Regler- Werke Teltow an die westdeutschen Investoren Claus Wisser und Roland Ernst für eine Mark. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass allein der Substanzwert des Betriebes um die 170 Millionen Mark wert gewesen war. Ebenfalls eine Mark zahlten indische Investoren für die Textilbetriebe Thüringische Faser und Sächsische Kunstseiden GmbH. Nachdem die versprochenen Investitionen ausblieben, mussten die Firmen 1993 Konkurs anmelden. Bei derartigen "Geschäften" nimmt es nicht Wunder, dass ein Mitglied des Treuhand-Vorstandes bitter bemerkte, man habe oftmals nicht Betriebe ver-, sondern Investoren gekauft. Eine Privatisierung, bei der der Verkäufer den Markt zunächst durch ein riesiges Überangebot verzerrt und sich zudem noch selbst unter immensen Zeitdruck setzt, hat tatsächlich mit Marktwirtschaft nicht viel zu tun. Leitende Treuhand-Mitarbeiter erhielten gar Prämien für schnelle Privatisierungen. Potentielle "Investoren" hätten in keiner besseren Verhandlungsposition sein können. +Eine Studie ermittelte, dass sich Ende 1994 von 1.247 Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten im Osten 62,7 Prozent in Westbesitz befanden. Der Anteil stieg mit der Größe der Betriebe. Die meisten dieser Betriebe wurden als "verlängerte Werkbänke" westdeutscher Konzerne klassifiziert. Forschungsund Entwicklungsabteilungen gab es in ihnen nicht mehr, sie dienten im Wesentlichen der kurzfristigen Kapazitätsausweitung und der Fertigung von Einzelkomponenten für den Mutterkonzern. In nur 280 Privatunternehmen in den neuen Bundesländern gab es noch mehr als 500 Beschäftigte. Zwischen 1989 und 1997 ging die Zahl der Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe von 4,3 Millionen auf 1,9 Millionen zurück. Bis heute hat der Osten diese Strukturimplosion nicht verwunden. Hohe Arbeitslosigkeit, Massenabwanderung junger und qualifizierter Arbeitskräfte und Überalterung der zurückbleibenden Bevölkerung prägen bis heute das Bild in weiten Teilen der neuen Bundesländer. Dennoch hat es seit dem Ende des Wirkens der Treuhandanstalt auch positive Entwicklungen gegeben – nicht zuletzt aufgrund milliardenschwerer Transferleistungen von West nach Ost im Rahmen des Solidarpaktes. Neben den immer wieder gern als Indikatoren eines Aufschwungs bemühten Erfolgen beim Ausbau der Infrastruktur und der Erneuerung von Städten und Gemeinden, haben sich besonders in Sachsen und Thüringen leistungsfähige Industrie- und Wachstumskerne herausgebildet. Die Arbeitslosenquote im Osten lag zwar im November 2008 mit 11,8 Prozent noch immer doppelt so hoch wie im Westen, stand aber auf dem niedrigsten Niveau seit 1991. Abgesehen von den Auswirkungen der aktuellen Krise, die niemand vorhersehen kann, ist eine generelle Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West jedoch noch lange nicht in Sicht. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf im Osten lag im Jahr 2007 bei etwa 70 Prozent des Westniveaus, und auch die negative Bevölkerungsentwicklung stimmt noch immer nachdenklich. Eine Prognose geht davon aus, dass einige der neuen Länder bis 2030 mehr als ein Viertel ihrer ohnehin seit Wendezeiten merklich geschrumpften Bevölkerung verlieren könnten. Ob ein wirklicher Aufschwung Ost bis dahin zu einer Kehrtwende geführt haben wird, bleibt fraglich. diff --git a/fluter/gesetze-zur-gleichstellung.txt b/fluter/gesetze-zur-gleichstellung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a130ba241640bc60c55825571e34558fd3863035 --- /dev/null +++ b/fluter/gesetze-zur-gleichstellung.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Wo es eine 2. Gender-Richtlinie gibt, muss es auch eine 1. geben. Das Euro-päische Parlament hat den nationalen Regierungen im September 2002 aufgetragen, für die Gleichbehandlung von Frauen und Männern in der Berufswelt zu sorgen. Die Bundesregierung hat die EU-Gleichstellungsrichtlinien 2006 im sogenannten Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) umgesetzt – auch als Antidiskriminierungsgesetz bekannt. Es ist ein um-fangreiches Konvolut unterschiedlicher Vorgaben, die Menschen vor Benachteiligungen und Belästigungen aufgrund persönlicher Merkmale schützen sollen. Allerdings war es Arbeitgebern bereits vor dem AGG verboten, beispielsweise Jobbewerber aufgrund des Geschlechts zu benachteiligen. Schließlich sagt schon das Grundgesetz in Artikel 3: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin." +Klingt so ähnlich wie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, ist aber noch mal etwas anderes: das Bundesgleichstellungsgesetz. In Verwaltungen, Unternehmen und Gerichten des Bundes soll es den Rahmen dafür schaffen, dass Frauen und Männer bei ihrer beruflichen Laufbahn identische Chancen haben. In Verwaltungen auf Länderebene gelten ähnliche Gesetze. Ein wichtiger Bestandteil ist die sogenannte Gleichstellungsbeauftragte, die in jeder Dienststelle mit mindestens 100 Mitarbeitern kontrolliert, dass das Gesetz in der Praxis auch wirklich eingehalten wird. Auch bei Diskriminierung und sexueller Belästigung sind sie Ansprechpartnerinnen für die betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. +Das Geschlecht wechselt, der Vorname bleibt. Dieses Problem hatten Deutsche bis in die 80er-Jahre, wenn sie ihre geschlechtliche Identität veränderten. Mit Inkrafttreten des Transsexuellengesetzes  – heute würde man wohl Transgendergesetz sagen – haben Menschen hierzulande die Möglichkeit, einmalig ihren Vornamen zu ändern. Das Geschlecht im Geburtenregister lässt sich nun auch anpassen – seit 2011 aufgrund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts selbst ohne vorangegangene operative Geschlechtsumwandlung. Es zählt, welchem Geschlecht sich die Person zugehörig fühlt. Derzeit müssen die Transpersonen ihren Wunsch vor Gericht begründen, das in jedem Fall Sachverständige hinzuzieht. Kritiker dieser Regel fordern die Abschaffung der umständlichen und für die Betroffenen mitunter unangenehmen Prozedur. In Dänemark, Malta und Irland gibt es keine psychologische Begutachtung. +Sieht ein Bahnhofsvorplatz anders aus, wenn die Stadtplaner bei der Gestaltung an Frauen und Männer gleichermaßen denken? Viele Beteiligte bei der 3. UN-Weltfrauenkonferenz aus dem Jahr 1985, die als ein wichtiger Baustein auf dem Weg zum Gender Main-streaming gesehen wird, waren davon überzeugt. Mit dem Amsterdamer Vertrag von 1999 wurde der Gender-Mainstreaming-Ansatz erstmals auf EU-Ebene verbindlich festgeschrieben. Jedes Land macht es ein bisschen anders, doch grundsätzlich sollen überall in der Europäischen Union bei öffentlichen Maßnahmen von Anfang an die -Interessen von Frauen und Männern gleichberechtigt behandelt werden. Im Fall des Bahnhofsvorplatzes könnte das bedeuten: dunkle Unterführungen und große Hecken weglassen, um gerade für Frauen keine Angst-Räume entstehen zu lassen. +Tanja Kreil wollte Soldatin, genauer Waffenelektronikerin werden. Sie bewarb sich Mitte der 90er-Jahre bei der Bundeswehr, wurde jedoch abgelehnt. Denn laut Grundgesetz durften Frauen damals noch keinen Dienst an der Waffe leisten. Ihren eigentlichen Kampf führte sie vor Gericht und war mit dafür verantwortlich, dass der Europäische Gerichtshof eine Änderung des entsprechenden Artikels 12a Absatz 4 veranlasste. Deshalb dürfen seit dem Jahr 2000 auch Frauen bei der Bundeswehr schießen. Tanja Kreil wollte dann aber nicht mehr kämpfen und soll sich doch für einen zivilen Job entschieden haben. diff --git a/fluter/gesichtserkennung-im-alltag.txt b/fluter/gesichtserkennung-im-alltag.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..faa16817173a06e54e86ca44ac019684416a7352 --- /dev/null +++ b/fluter/gesichtserkennung-im-alltag.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +Nur bedeutet "aktenkundig" meist: auf der Flucht vor Krieg oder Verfolgung. Im Schengener Informationssystem, der größten der sechs Datenbanken, sind überwiegend Asylsuchende registriert. Offiziell wird die Zusammenlegung mit dem Hashtag #SecurityEU angepriesen – als "Sicherheitsdatenbank" gegen Terror und Kriminalität. Mit ihr rücken Kriminalität und Flucht allerdings nicht nur in der Wahrnehmung mancher EU-Bürger*innen, sondern auch statistisch dicht zusammen. +Das zeigt,dass Datenbanken und Algorithmen nicht objektiv sind: Die Menschen, die an den Technologien basteln, sind überwiegend weiß und männlich, ihre Vorannahmen spiegeln sich in der Technologie. So wird künstliche Intelligenz manchmal zurkünstlichen Dummheitoder gibt gar altbekannten Feindseligkeiten einen neuen Ausdruck. +Kürzlichwarbbeispielsweise ein Hersteller damit, dass seine Kamera Uiguren erkenne,eine verfolgte muslimische Minderheit, die die chinesische Regierung gerade zu Hunderttausenden in Lagern gefangen hält. Andere Softwares verwechseln People of Colour mit Gorillas, lassen "smarte" Seifenspendernur auf weiße Hände reagierenoder sollen diesexuelle Orientierung am Gesicht ablesen. Dieser "Gaydar" wäre nichts anderes als eine maschinelle Wiederbelebung der Phrenologie, an der schon die Nazis Gefallen fanden. Diese Pseudowissenschaft fußte auf der Vorstellung, dass man Persönlichkeit oder Intelligenz anatomisch, etwa an der Größe oder Form des Schädels, abmessen könne. +Die Klassifizierungen, die Maschinen bereits heute für uns treffen, sind für diejenigen, die sie nicht programmiert haben, oft schwerer zu erkennen. Algorithmen entscheiden über Kreditwürdigkeit und Jobchancen, prognostizieren Wahlverhalten, Sterbe- und Kriminalitätsraten. Nun wurde jemand aus der falschen Familie oder einem windigen Viertel immer schon schneller verdächtigt. Die Technologie entzieht bekannte (menschengemachte) Diskriminierungen aber dem Urteil: Ob ich einen Kredit bekomme oder von der Polizei aus dem Verkehr gezogen werde, hat schließlich ein vermeintlich unparteiischer Algorithmus entschieden.Einem Grenzbeamten kann ich Racial Profiling vorwerfen, bei solchen "Selbstbedienungsgrenzen" wie hier in Tegel ist das schwer. + +Kommen Sie, schauen Sie: Eine Vorführung auf dem Europäischen Polizeikongress zeigt, wie eine Software verdächtiges Verhalten erkennt + + +Hinter der Schranke: Ich zwänge mich zwischen zwei Plexiglastüren in die Schleuse des Automaten. Auf dem hellweißen Bildschirm erscheint ein Livefoto meines Gesichts. Vor meinen Augen: eine Emoji-Sonnenbrille. +Gamifizierung pur. Von den Operationen im Hintergrund – dem Abgleich der Livedaten mit meinem Pass und einer tendenziell problematischen Datenbank – bekomme ich nichts mit. Mein Gesicht wird zum Reisepass. Und eine Grenze nicht mehr durch Zäune oder Polizisten markiert, sondern durchDatenund Algorithmen automatisiert. +Die europäische Sicherheitsforschung arbeitet längst nicht mehr nur an der Identifizierung von Individuen, sondern auch daran, unsere Emotionen zu tracken:Eine Art Lügendetektorkönnte bald erkennen helfen, ob man ein Land mit falschen Absichten betritt. Der Prozess dahinter heißt Affective Computing, das als verheißungsvolle Zukunftsindustrie gehandelt wird. Das Start-up Affectiva verkauft bereits Software, die aus Video- und Sprachmitschnitten Emotionen lesen und vorhersehen können soll. +Nach einigen Sekunden: ein grüner Pfeil, die Schleuse öffnet sich, ich habe die Grenze passiert. Ich setze mich vor mein Gate und versuche, die Gesichtserkennungauf meinem neuen iPhonezu aktivieren. Erfolglos. +Damit mich das Gerät als Besitzerin anerkennt, muss Face ID durch verschiedene Posen und Gesichtsausdrücke erst "angelernt" werden. Das trainiert das Gesichtserkennungsverfahren, das Apple genauso nutzt wie Instagram, Facebook oderdie umstrittene FaceApp. Um Software zur Gesichtserkennung zu entwickeln, brauchen Hersteller massenhaft Gesichter. Die Ergebnisse werden besser, je größer und vielseitiger das Trainingsset ist.Mein Kollege Adam Harvey hat aufgedeckt, wie Menschen deshalb auch ohne iPhone und Zustimmung in Gesichtsdatenbanken geraten können: Weil ungestellte Bilder, sogenannte data in the wild, besonders nützlich sind, wurden Kameraaufnahmen aus einem Café in San Francisco öffentlich als Testdaten angeboten. +Aus reiner Benutzerfreundlichkeit scheint Apple die Face ID also nicht anzubieten: Die erhobenen Daten werden zu Werbe- und Entwicklungszwecken genutzt, auch den Verkauf der erhobenen Gesichtsdatenzog Apple schon in Erwägung. Mit meinem Gesicht kann ich mein iPhone entsperren oder eine App kaufen, wenn ich das möchte. Tauchen diese biometrischen Daten aber andernorts und ohne mein Wissen auf, um mich auf anderem Videomaterial oder im öffentlichen Raum zu erkennen, kann ich mich nicht mehr entziehen. +Wie problematisch das werden kann, zeigten unter anderem die Ermittlungen zu den G20-Protesten 2017: Zur Identifizierung mutmaßlicher linksradikaler Straftäter*innen speiste die Hamburger Polizei ihre Gesichtserkennungssoftware auch mit knapp zehn Terabyte "polizeifremden" Aufnahmen. Also Bild- und Videomaterial, dasaus der Bevölkerung zur Verfügung gestelltworden war. + +Versteckte Kamera: Der Bahnhof Berlin-Südkreuz ist bekannt als Labor für neue Überwachungstechnologien + + +Am Flughafen London-Heathrow: Ich nehme den Bus in Richtung Innenstadt. +London gilt als die Videoüberwachungshauptstadt Europas: Wer hier lebt, weiß, dass an fast jeder Ecke Kameras hängen.Wie die New York Times-Journalistin Kashmir Hill gerade enthüllte,können sichan Autokratien erinnernde Gesichtserkennungssystemeauch in Demokratien durchsetzen: Das Programm "Clearview" kennt die Gesichter von Millionen Menschen. Die US-Polizei setzt sie bereits ein, das Unternehmen arbeitet den Recherchen zufolge auch mit privaten Unternehmen. +In Deutschland scheint diese Gefahr nicht zu bestehen: Dieöffentliche Videoüberwachungwird vergleichsweise strengdurch das Bundesdatenschutzgesetz reguliert, auch automatische Gesichtserkennung ist nicht erlaubt. Aber auch bei uns hängen Kameras an Bahnhöfen oder anderen öffentlichen Orten. Am Bahnhof Berlin-Südkreuz gab es mittlerweile schon zwei Pilotstudien, mit denen die Polizei das Erkennen von verdächtigen Situationen per intelligenter Videoüberwachung testet. +Die Serienmäßigkeit solcher Tests scheitert derzeit noch am Gesetz, heftigem Widerstand der Gesellschaft und der hohen Fehleranfälligkeit. Trotzdem können sie die Kameraüberwachung mit der Zeit normalisieren, entpolitisieren und indirekt unser Verhalten lenken. Denn allein der Gedanke, dass das eigene Verhalten verdächtig wirken könnte, kann einen nervös machen. Ob ich womöglich auffällig bin, weil ich Angst habe, auffällig zu sein? Das können Kameras und Software nicht sehen. + + +Ariana Dongusist Dozentin für Medientheorie an der HfG Karlsruhe. Für ihre Promotion untersucht sie, wie sich biometrische Anwendungen auf die Gesellschaft auswirken. Für fluter.de stand sie bislang aber nurhinter der Kamera. + +Die Fotos auf dieser Seite sind von Nils Stelte. Das Titelbild zeigt eine Sicherheitsmesse in Essen (links) und den Protest gegen das erste Pilotprojekt am Bahnhof Südkreuz (rechts). diff --git a/fluter/gestempelt.txt b/fluter/gestempelt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/gestoertes-selbstbild-durch-GNTM.txt b/fluter/gestoertes-selbstbild-durch-GNTM.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e25d60955d8989c51119d4bed148d58df20a4bc1 --- /dev/null +++ b/fluter/gestoertes-selbstbild-durch-GNTM.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Meine Oberschenkel hatten im Sommer nach der ersten Staffel nur noch den Durchmesser einer Ein-Liter-Cola- Flasche. Als ich mittags beim Radfahren von der Schule nach Hause meine Beine in kurzer Hose inspizierte, war ich selbst leicht schockiert. Mein Wecker hatte wie jeden Tag um 6.45 Uhr geklingelt. Knapp sieben Stunden war ich wach. Gegessen hatte ich bis dahin: einen Apfel. Wie jeden Tag, seit ein paar Monaten. +13 Jahre später läuft die Sendung immer noch. Jedes Jahr eine Staffel. Laut einer Studie der AOK Nordost ist unter ihren Versicherten der Anteil der Frauen mit Essstörungen in der Altersgruppe 13 bis 17 Jahre von 2010 bis 2016 um 44 Prozent gestiegen, bei den 18- bis 24-Jährigen sogar um 55 Prozent. Sie waren etwa im Grundschulalter, als die erste Staffel lief. +Ich war immerhin schon in der achten Klasse und mein täglicher Apfel in der Pause Thema. "Wie lang willst du den noch abkauen?", fragte mich mein bester Freund einmal, weil ich seit 15 Minuten am Kerngehäuse nagte. Er war genervt, weil wir uns früher in der Pause zusammen Leberkässemmeln beim Metzger geholt hatten. Nun freute ich mich sogar, dass er gemerkt hatte, wie ich mich beim Essen zusammenriss. Damals war ich mir sicher, dass er mich zu dick fand. +Dass es mehr Essgestörte gibt als noch vor zehn Jahren (und es betrifft vor allem Frauen), liegt natürlich nicht nur an "GNTM". In allen Altersgruppen zeigt die Studie der AOK-Nordost eine erhebliche Zunahme von Essstörungen seit 2010, beispielsweise 50 Prozent mehr bei den 50- bis 54-Jährigen. Es ist aber äußerst wahrscheinlich, dass sehr wohl ein Zusammenhang besteht. In einer Studie des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) gaben 2015 zwei Drittel der befragten Essgestörten an, dass die Sendung sie zumindest beeinflusst habe. +Ich war nicht magersüchtig, hatte aber sicher Untergewicht und lag auf meinem Zimmerboden vor dem Fernseher, um Sit-ups zu machen, während "Heidis Mädchen" über den Laufsteg schwebten. In den ersten Staffeln, bevor sich Kritik regte, wurden sie noch richtig fertiggemacht, Körper vermessen und auf falschen Angaben zur Pogröße in den Bewerbungen herumgeritten. In der Sprache der Sendung hieß das: COM-PE-TI-TION. Es geht ja bei "GNTM" nie darum, sein Bestes zu geben, es geht immer darum, besser (und schöner und dünner) als die anderen zu sein. "Es kommt (bei den Zuschauerinnen) zu Vergleichsprozessen, bei denen völlig übersehen wird, dass es sich hier um absolute Ausnahmeerscheinungen in Körperstatur und Gesichtszügen handelt", so die IZI-Studie. +Die Kommission für Jugendmedienschutz prüfte die Sendung, nachdem die Studie veröffentlicht wurde, und befand, dass Heidi Klums Schönheitswettbewerb "nicht entwicklungsbeeinträchtigend" sei. Problematische Szenen würden ausreichend relativiert, und kritische Kommentare bezüglich des Körpergewichts beschränkten sich auf die beruflichen Anforderungen an ein Laufstegmodel. Klum würde außerdem verdeutlichen, dass Hungern kein Weg sei. +In Frankreich ist die Kennzeichnung von Fotos, bei denen die Figur retuschiert wurde, mit dem Hinweis "Photographie retouchée" inzwischen gesetzlich vorgeschrieben. Außerdem müssen Models eine Bescheinigung vom Arzt vorweisen, dass sie bezüglich ihres Gewichts nicht gesundheitlich gefährdet sind. Wer Models ohne diese Bescheinigung engagiert, kann mit bis zu 75.000 Euro Strafe belangt werden. Ähnliche Regelungen gibt es in Spanien und Israel. Auch deutsche Politiker und der Berufsverband Freie Fotografen und Filmgestalter e. V. haben sich zuletzt für solche Gesetze ausgesprochen. +Dazu fällt mir eine konkrete Szene ein: In einer der späteren Staffeln hatte Heidi Klum unglaubliche Lust auf Döner. Zumindest tat sie so. "Den ganzen Tag hab ich da drauf gewartet", sagte sie am Ende der Folge zu einem Dönerverkäufer in Berlin. Als sie das vermeintliche Objekt der Begierde in den Händen hielt, holte sie mit spitzen roten Fingernägeln ein kleines Stück Fleisch aus dem Fladenbrot. Nächste Einstellung: Klum klammert sich mit zwei Händen an den Döner und kaut mit leeren Wangen offenbar auf Luft herum. Schnitt. Döner weg, Klum im Auto: "Also, ich hätte auch noch einen essen können." Diese Szene war aus mehreren Gründen ein Witz. Erstens: Niemand glaubt, dass sie den Döner gegessen hat. Zweitens: Allein dass der Döner ein Thema war, das mehrere Minuten der Sendung einnahm, zeigt den gestörten Umgang mit Essen. Es! Ist! Ein! Döner! Vielleicht nicht die gesündeste Mahlzeit ever, aber die Art, wie Klum den Döner im Vorfeld zelebrierte, sagte eigentlich nur eines: Döner essen ist verdammt noch mal verboten. +Irgendwann habe ich mir wieder erlaubt, auch ohne rennen zu essen. Dann immer öfter. Ich wurde älter, Heidi Klum peinlicher, die Sendung etwas, das man nur noch ironisch mit Take-away-Pizza gucken konnte, ohne vor seinen Freunden das Gesicht zu verlieren. Auch 13 Jahre später kann ich nicht verstehen, warum Klum immer noch mit absurd retuschierten Fotos über die Zukunft "ihrer Mädchen" entscheiden darf. + + +Titelbild: Peter Wafzig/Getty Images diff --git a/fluter/gesundheit.txt b/fluter/gesundheit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..425954a1f07dc62d3f28f3eef4aad643fc63d814 --- /dev/null +++ b/fluter/gesundheit.txt @@ -0,0 +1 @@ +Die "Zweiklassenmedizin" steht oft in der Kritik, weil privat versicherte Patienten Vorzugsbehandlungen genießen, etwa bei der Terminvergabe. Weil es zudem immer mehr ältere Menschen gibt, die im zunehmenden Alter medizinisch versorgt werden müssen, diskutiert man darüber, wie man die Organisation des Gesundheitssystems verändern kann. In der Diskussion steht auch immer wieder die sogenannte Bürgerversicherung, bei der alle in eine gesetzliche Krankenkasse einzahlen und daraus Leistungen erhalten. Auf den nächsten Seiten dieses Heftes geht es um einige medizinische und biologische Aspekte unseres Themas. Noch mehr zur Gesundheitspolitik erfahrt ihr unter:www.bpb.de/gesundheitspolitik diff --git a/fluter/get-out-film.txt b/fluter/get-out-film.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3a3334e4895a1d7c0d4c8693c74455c4141a5286 --- /dev/null +++ b/fluter/get-out-film.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Bis hierhin könnte "Get Out", der Debütfilm des Komikers Jordan Peele, eine Romantic Comedy sein. Doch dann mehren sich Anzeichen des Unheimlichen. Die Hausangestellten wirken leblos hinter ihrem unterwürfigen Service-Lächeln: Wie ein Gespenst taucht Georgina immer dann auf, wenn sich Chris unbeobachtet wähnt, und Walter sprintet mitten in der Nacht – in einer auf YouTube bereits tausendfach nachgeahmten Szene – wie eine Zombie-Version von Forrest Gump auf die Kamera zu, nur um im letzten Moment die Richtung zu wechseln. Das Hypnose-Talent der Mutter (Catherine Keener) und das Faible des Vaters für Afroamerikaner erscheinen auf einmal verdächtig. +Nicht direkt untot, aber auch nicht besonders lebendig: Im Horrorfilm "Get Out" geht es nicht mit rechten Dingen zu, wie man an Georgina merkt, der Hausangestellten der weißen Ärztefamilie +Ein schwarzer Held unter Untoten, wie im Horrorklassiker "Night Of The Living Dead". Doch während sich in George Romeros' Film die weiße Mehrheitsgesellschaft in Zombies verwandelt, sind die Afroamerikaner in "Get Out" keine wirklichen Untoten. Sie erscheinen nur ähnlich leblos, ihrer Identität beraubt, inmitten einer Vorstadthölle inklusive des ganzen Schreckens der weißen Mittelschichtskultur: Cordhosen, Rollkragen, Golf, Bingo, ausgestopfte Tiere und 80er-Jahre-Hits wie "Time Of My Life". +Peeles brillante Gesellschaftssatire bezieht aus der verstörten Perspektive von Chris auf ein uniformes, pseudoliberales Milieu gleichermaßen Horror und Komik. Nervöse Subjektiven in der Kameraführung, geschicktes Timing in der Montage und ein experimenteller Soundtrack erzeugen Unbehagen im Alltäglichen. +Er hätte Obama auch ein drittes Mal gewählt, wenn das möglich gewesen wäre, sagt Roses Vater zu Chris. Als Comedian (und Co-Host der Show "Key & Peele") und nun als Filmemacher beschäftigt Peele der Rassismus in einer angeblich "postrassistischen" Gesellschaft, die einige mit der Wahl Obamas 2008 ausgerufen hatten. Da ist er nicht der Einzige. In seiner gefeierten Hip-Hop-Serie "Atlanta" erzählt Donald Glover von ähnlichen Irritationen. Dass Peele in seinem Film nun den Song "Redbone" von Childish Gambino (Glovers Musikerpseudonym) einsetzt, passt ins Bild: "Stay woke" – bleibt wachsam, heißt es da, ein zentraler Slogan von "Black Lives Matter". Im erstarkten weißen Nationalismus der Trump-Ära gilt der umso mehr. Und nicht nur als Horrorfantasie. +Trigger warning/Spoiler alert: Der Trailer von Get Out ist nicht nur gruselig, sondern verrät schon ziemlich viel von der Handlung + +"Get Out", USA 2017; Regie: Jordan Peele, mit Daniel Kaluuya, Allison Williams, Catherine Keener, Bradley Whitford, Caleb Landry Jones, Keith Standfield, Lil Rel Howery, 104 Minuten diff --git a/fluter/get-up-stand-up.txt b/fluter/get-up-stand-up.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7840a810542fe5b2e361a2e61c6e614af511eab9 --- /dev/null +++ b/fluter/get-up-stand-up.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Der Glaube der Rastafaris ist die vielleicht bekannteste und unbekannteste Religion zugleich. Bob Marley, Dreadlocks und Hanfblätter kennt jeder, aber ihre Geschichte – und die von Haile Selassie – kaum. Um zu verstehen, warum Bewohner eines karibischen Inselstaats sich einen Menschen zum Messias küren, der 12.500 Kilometer entfernt auf dem Thron sitzt, muss man eine Zeitreise unternehmen. +Es ist ein stolzes Reich, über das Kaiser Haile Selassie damals herrscht, gegründet – der Legende nach – vor fast drei Jahrtausenden von Menelik, den Salomon, der biblische König, mit der Königin von Saba gezeugt haben soll. Die Kaiser auf dem äthiopischen Thron sehen sich als Nachfolger der Herrscher aus Jerusalem. Tatsächlich ist Amharisch, das viele Äthio-pier sprechen, mit Hebräisch verwandt. Schon im vierten Jahrhundert breitet sich in Äthiopien das Christentum aus. +In späteren Jahrhunderten wird das Land, damals "Abessinien" genannt, zwar immer wieder mal erobert. Doch den Eroberern aus Europa widersetzt es sich standhaft. Als einziger Staat in Afrika wird es nie zu einer Kolonie. +Auch Haile Selassies Vater kämpft Ende des 19. Jahrhunderts gegen Kolonialarmeen. Unter seinem Kommando werden die italie-nischen Invasionstruppen geschlagen. Äthiopien bleibt frei. In diese Zeit hinein wird 1892 Haile Selassie, der spätere Kaiser, unter dem Namen Tafari Makonnen geboren, ein Sohn äthiopischen Adels. Von Beginn an scheint er ein Auserwählter zu sein: Keines seiner zehn Geschwister wird älter als ein Jahr. Der Junge ist schmächtig, aber schlau und charismatisch. +Joint Venture: Schon im 4. Jahrhundert verbreitete sich das Christentum in Äthiopien. Die Herrscher sahen sich als Nachfolger vom biblischen König Salomon. Musik und Marihuana sollen dabei helfen, mit Gott ins Gespräch zu kommen. Geradezu verehrt wird natürlich auch Bob Marley, der ein überzeugter Rastafari war +1916 übernimmt Tafari, mittlerweile Kronprinz, die Amtsgeschäfte. Sein Ehrenname lautet "Ras" Tafari, eine Art Fürstentitel. Er regiert ein Volk von 15 Millionen Menschen, die meisten sind Kaffeebauern, von 20 Äthiopiern kann ein einziger schreiben. Tafari träumt von Flugzeugen und Autos wie in Europa. Dorthin reist er 1924 – und wird empfangen wie ein Regierungschef. Der Respekt der Europäer ist nicht uneigennützig: Die Briten wollen in Äthiopien einen Staudamm bauen, die Italiener sich das Land am liebsten als Kolonie einverleiben. +Während Ras Tafari den Buckingham-Palast und Versailles besucht, liest ein junger schwarzer Jamaikaner namens Marcus Garvey voller Staunen die Nachrichten aus Europa. Ein schwarzes Regierungsoberhaupt wird dort von den Herrschern empfangen wie ihresgleichen! Garvey, ein schillernder, radikaler Journalist, ist verzückt. Schon als Kind in Jamaika erlebte er Rassismus wegen seiner Hautfarbe. Als Erwachsener fordert er nun die Rückbesinnung aller Schwarzen, gerade der ehemaligen Sklaven, auf ihre Herkunft: Afrika. Nicht jenes Afrika, das ausgebeutet, versklavt und geplündert in den Händen der Europäer liegt. Nein: Schwarze – Garvey nennt sie im Sinne der Zeit noch "Negroes" – brauchen endlich eine eigene Nation, ein Land, wo sie ihre Fähigkeiten zeigen und zum menschlichen Fortschritt beitragen können. "Schaut auf Afrika!", verkündet Garvey in den 1920ern. "Wenn in Afrika ein schwarzer König gekrönt wird, ist der Tag der Befreiung nah." +Die Christen unter Garveys Lesern wissen den Hinweis zu verstehen. "Tag der Befreiung" ist ein Bild aus der Bibel. Der Prophet Jeremia verkündet an dieser Stelle, Gott werde kommen und alle Stricke zerreißen, alle Ketten lösen, die Geknechteten zurückführen in ihr Land. Zurück nach Afrika. +Im Jahr 1930 wird Ras Tafari schließlich zum neuen Kaiser gekrönt. Von nun an nennt er sich "Haile Selassie", was übersetzt "Macht der Dreifaltigkeit" bedeutet, außerdem"König der Könige" und "siegreicher Löwe von Juda". Der 225. Nachfolger Salomons feiert die Thronbesteigung, wie es sich für einen Kaiser geziemt. Deutschland schickt 800 Flaschen Wein. +Ist Haile Selassie also der schwarze König, den Garvey ankündigte? Der Messias, von dem der Prophet Jeremia spricht? Die religiös gefärbte Sprache von Männern wie Garvey verfehlt ihre Wirkung nicht – vor allem in Jamaika sind die Menschen empfänglich. Das Land hat selbst eine Leidenszeit als Kolonie hinter sich (erst kamen die Spanier, dann die Briten), zudem wurden sehr viele Sklaven aus Afrika dorthin verschleppt. Die Völker, die bis dahin einige hundert Jahre auf Jamaika gelebt hatten, starben schließlich aus. +Schon kurz nach der Krönungsfeier in Äthiopien gründen sich im fernen Jamaika erste Gemeinden von Menschen, die sich nun "Rastafaris" nennen. Sie glauben an Gott, Christus und Haile Selassie. Um mit Gott besser sprechen zu können, rauchen sie Cannabis. Äthiopien halten sie nicht nur für die Wiege der Menschheit, sondern auch für das Zentrum eines göttlichen Königreiches. Ein "neues Jerusalem". Selassie, so glauben sie, wird eine schwarze Nation gründen, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Als ersten Schwarzen wählt das "TIME"-Magazin Selassie 1935 zum Mann des Jahres, ein Jahr nach US-Präsident Franklin D. Roosevelt. Noch Jahrzehnte später wird er einem ganzen Kontinent Hoffnung geben auf Selbstbestimmung und Würde. +Kaum etwas verdeutlicht das weit verbreitete Gefühl einer schwarzen Unterlegenheit so sehr wie eine Anekdote, die Nelson Mandela in seinen Memoiren erzählt. 1962 reist Mandela nach Äthiopien, um Unterstützer für den Befreiungskampf in Südafrika zu finden. Als er an Bord der Maschine der Ethiopian Airlines steigt, sieht er, dass der Pilot schwarz ist. Mandela wird panisch: Wie soll ein Schwarzer ein Flugzeug fliegen können? Einen Moment später, schreibt er, habe er sich wieder beruhigt. Apartheid und Kolonialismus hatten selbst bei Nelson Mandela ihre Spuren hinterlassen. Er nennt Selassie einen "afrikanischen Giganten". Ihn zu treffen sei, als würde man der Geschichte die Hand schütteln. +Fast ein halbes Jahrhundert hält sich Haile Selassie an der Macht. Er lässt Stromleitungen und Krankenhäuser bauen, gibt dem Land eine Verfassung und eine Nationalhymne. Doch wie bei so vielen afrikanischen Herrschern wird Macht für ihn zur Droge, die seinen Verstand vernebelt. Die Landarbeiter in Äthiopien müssen immer noch Abgaben zahlen, ihre Bildung hat sich seit Jahrzehnten kaum verbessert. 1973 gehen Bilder einer Hungerkatastrophe in Nordäthiopien um die Welt. Zehntausende sterben. +So glorreich die Anfänge des jungen Ras Tafari, so profan endet sein Leben. 1974 stürzt ihn das eigene Militär. Die Putschisten lassen ihn, den entthronten "König der Könige", zur Schmach in einem VW Käfer fortschaffen. Selassie wird zu einem Exilanten im eigenen Palast. Ein Jahr später ist er tot, von seinen Häschern erstickt mit einem Kissen. Seine Gebeine verscharrt man unter einer Toilette des Palastes. Unter der sozialistischen Diktatur, die folgt, wird Äthiopien noch bevölkerungsreicher, ärmer, hungriger. Bald steht das Land nicht mehr für die Zukunft Afrikas, sondern für die Vergangenheit. +Erst ein Vierteljahrhundert später, im November 2000, wird Haile Selassie, der Unsterbliche, anständig begraben. + +Äthiopien ist das einzige afrikanische Land, das nie vollständig kolonisiert wurde. Es wurde sechs Jahre lang von Italien besetzt, Hunderttausende starben – auch durch den Einsatz von Senfgas. Nach dem Sturz Selassies wurde es mit sowjetischer Hilfe zur sozialistischen Diktatur umgebaut. Seit 1991 ist es eine föderale Republik. Mittlerweile gehört es zu den aufstrebenden Volkswirtschaften Afrikas, seine Hauptstadt Addis Abeba gilt als Boomtown. Dort ist auch der Sitz der Afrikanischen Union (AU), ein Verbund, der sich unter anderem um Sicherheitsbelange kümmert. + +Bilder: Luc Gnago/Reuters diff --git a/fluter/gewerkschaften-brauchen-junge-mitglieder.txt b/fluter/gewerkschaften-brauchen-junge-mitglieder.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2d99c7bf1693f55b26b2660675bfc75b9a24fd6b --- /dev/null +++ b/fluter/gewerkschaften-brauchen-junge-mitglieder.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Als junge Gewerkschafterin ist Lisa Gillwald eine statistische Ausnahme. Das durchschnittliche Gewerkschaftsmitglied ist männlich, lebt im Westen, arbeitet in einem großen Industriebetrieb. Und hat mit hoher Wahrscheinlichkeit ergrauendes Haupthaar. Nur 12 Prozent der 18- bis 30-jährigen abhängig Beschäftigten sind gewerkschaftlich organisiert. Das hatte das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft mit den Daten einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage berechnet.  Unter den Arbeitnehmern über 51 Jahre waren es dagegen im Jahr 2015 knapp 26 Prozent. Warum bleiben die meisten Jungen fern? +Früher kamen junge Menschen oft so wie der 25-jährige Sebastian Burdack zur Gewerkschaft. Vor fünf Jahren hat Burdack eine Ausbildung als Chemielaborant bei Evonik in Marl angefangen. Zeitgleich trat er der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie, kurz IG BCE, bei. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit in seinem Betrieb, sagt Burdack. Evonik ist ein großes Industrieunternehmen, ein Betriebsrat gehört dazu, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite respektieren einander – so ist seine Wahrnehmung. "Ich persönlich sehe deswegen keinerlei Nachteil darin, Gewerkschaftsmitglied zu sein", sagt er. +Für viele von Burdacks Altersgenossen ist das heute anders, vor allem wenn sie in kleinen Betrieben arbeiten. Lehramtsanwärterin Lisa Gillwald hat bei ihren Touren durch die Berufsschulen von vielen Azubis gehört, dass sie sich schlicht nicht trauen, allzu laut auf ihre Rechte zu pochen bei den Friseursalons und Handwerksmeistern, die keinen Betriebsrat haben, bei denen auch bislang kaum ein Mitarbeiter in der Gewerkschaft war – geschweige denn so etwas wie einen Streik gewagt hätte. + +Sebastian Burdack hingegen erlebt noch das gängige Prozedere mit, nach dem Gewerkschaften in Deutschland jahrzehntelang die Arbeitsbedingungen mitbestimmt haben: Ein halbes Jahr nach seinem Ausbildungsstart wurde er in die Jugendvertretung des Marler Werks gewählt, von dort rückte er als Vertreter des Nachwuchses auf in die Tarifkommission, die mit dem Arbeitgeberverband über die Löhne der 550.000 Beschäftigten der Chemieindustrie verhandelt. +Das läuft dann so ab: Zweieinhalb Tage lang sitzen beide Delegationen in einem schmucklosen Tagungshotel zusammen, 60 Gewerkschaftsdelegierte, 60 Arbeitgebervertreter. Eine kleine Gruppe der Verhandlungsführer setzt sich mit den Spitzenvertretern der Arbeitgeberseite zusammen, um nach einer Weile mit den neuen Angeboten zu ihrer Delegation zurückzukommen: Das schlagen die Arbeitgeber vor, was kann man akzeptieren, was geht zu weit? +Im Juni 2016 etwa wollten Burdack und viele andere Vertreter der Jüngeren durchsetzen, dass die Chemieunternehmen weiterhin eine feste Zahl an Ausbildungsplätzen zusagen. Doch am ersten Verhandlungstag schlugen die Arbeitgebervertreter eine weichere Formulierung vor. Im Besprechungsraum der Gewerkschaftsseite wurden Textvorschläge im Änderungsmodus an die Wand projiziert."Da muss man schon mal auf den demografischen Wandel und die anstehenden Altersabgänge der Babyboomer-Generation aufmerksam machen", sagt Sebastian Burdack. Die Delegierten bestanden zwar auf der Zahl von 9.200 Ausbildungsplätzen, am Ende fand sich aber eine weichere Formulierung im Tarifvertrag. Ein Kompromiss. +Doch selbst bei Erfolgen haben die Gewerkschaften heute ein grundsätzliches Problem: Was sie aushandeln, kommt oft auch Beschäftigten zugute, die gar keine Mitglieder sind und daher auch nicht in die Gewerkschaftskasse einzahlen. Viele Gewerkschaften versuchen daher, mit Zusatzleistungen Mitglieder zu gewinnen, etwa mit einem Rechtsschutz. +Dass Gewerkschaften schwächer geworden sind, hat aber auch mit dem Strukturwandel in der Wirtschaft zu tun. Früher waren wesentlich mehr Beschäftigte so wie Sebastian Burdack in großen Industrieunternehmen tätig, in denen die Gewerkschaften fest verankert waren.Heute arbeiten viel mehr Menschen in Dienstleistungsberufen und häufiger als früher in Teilzeit oder befristet. Die Jobs werden spezieller, die Erwerbsbiografien brüchig, der eine Beruf trägt einen nicht mehr unbedingt durch ein ganzes Leben. Doch gerade in den flexibelsten, hyperindividuellsten und ultrakurzfristigsten Bereichen der neuen Arbeitswelt beginnen Arbeitnehmer, sich neu zu organisieren. +Georgia Palmer hat schon viele Nebenjobs gemacht, gekellnert, Nachhilfe gegeben, Telefonbefragungen durchgeführt. Seit 2015 fährt sie neben dem Philosophiestudium bei Foodora Essen aus, zwölf Stunden in der Woche radelt sie mit dem magentafarbenen Würfel auf dem Rücken durch die Straßen Berlins. "Den Job selber finde ich super", sagt die 24-Jährige. "Im Studium sitzt man viel am Schreibtisch. Radfahren ist der perfekte Ausgleich." +Nicht so gut sind die Bedingungen. Das Lieferdienst-Start-up Foodora ist ein typisches Beispiel für die sogenannte Gig-Economy, die Avantgarde der neuen digitalen Wirtschaft: Der eigentliche Auftraggeber der Fahrer ist eine App, die die Mitarbeiter zu den Restaurants führt und von dort zu den Kunden, die das Essen bestellt haben. Die Fluktuation unter den Mitarbeitern ist hoch, für viele ist der Job eher ein Zuverdienst auf Zeit. Es ist eine Einzelkämpfertätigkeit: Gemeinsame Schichten, ein fester Arbeitsplatz, ein Kollegium – all das gibt es nicht. Eher sucht man sich den nächsten Job, als dass man sich zum Streik zusammenfindet. Oder? +Der Kragen geplatzt ist Georgia, als ein Kunde sie plötzlich mit Namen ansprach. Danke für die Lieferung, Georgia. Sie war perplex: Woher weiß der, wie ich heiße? Die Erklärung schickte Foodora ein paar Tage später per Rundmail: Man übermittle den Kunden nun die Vornamen der Fahrer, um den Dienst persönlicher zu machen. Schnell erfuhr Georgia: Ich bin nicht die Einzige, die darüber ziemlich sauer ist.Denn ganz so abgekapselt voneinander sind die Fahrer nicht. Sie laufen einander über den Weg, wenn sie im selben Restaurant Essenslieferungen abholen müssen. In Berlin-Friedrichshain, Georgias Lieferbezirk, hatten sie eine WhatsApp-Gruppe gegründet, durch eine der Zufallsbegegnungen fand Georgia hinein. Die Organisation folgt dem Schneeballprinzip, und sie ist so digital wie die Auftragsapp auf dem Handy der Fahrer. +Über die Namensweitergabe wurde viel diskutiert in der Gruppe, aber nicht nur darüber. Einige fragten bei der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, Unterstützung suchten die Fahrer aber schließlich bei der Freien Arbeiterinnen und Arbeiter-Union, einer anarchistischen Graswurzel-Gewerkschaft, sie erschien ihnen wendiger als der Arbeitnehmervertretungsriese mit den zwei Millionen Mitgliedern aus tausend Berufen. Ein linker Splitterverband stemmt sich nun also gegen die hippe Gig-Economy. +Georgia half, eine Demonstration zu organisieren, sie studierte die Geschäftszahlen von Foodora, kam schließlich mit zwei anderen Fahrern im August zu einem ersten Gespräch mit Firmenvertretern in die Foodora-Zentrale. Das Lieferunternehmen selbst äußert sich zu den Verhandlungen allgemein. Da man sich ständig für das Wohl der Fahrer einsetze, verschließe man sich dem Gespräch nicht, teilt ein Unternehmenssprecher mit – egal ob mit neuer oder klassischer Arbeitnehmervertretung. Georgia sagt: "Dass sie überhaupt mit uns reden, ist schon ein Riesenerfolg." +Man könnte auch sagen: Es ist ziemlich viel Aufwand für einen 450-Euro-Job, den Georgia wie die meisten anderen ohnehin nicht für alle Ewigkeit machen möchte. Aber sie sieht es anders, als eine Art Vorsorge für die Zukunft. "Die Gig-Economy untergräbt viele arbeitsrechtliche Standards, und es kann gut sein, dass wir alle bald häufiger nach dem Modell arbeiten", sagt sie. "Da ist es gut, wenn man von Anfang an dagegenhält." + + +Titelbild: Thomas Meyer/OSTKREUZ diff --git a/fluter/gewinnt-wilders-die-niederlande-wahlen.txt b/fluter/gewinnt-wilders-die-niederlande-wahlen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..284886aaa04741f8ee3928abde4122c2b55d1fe0 --- /dev/null +++ b/fluter/gewinnt-wilders-die-niederlande-wahlen.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Laut Umfragen hat die PVV des Rechtspopulisten Geert Wilders – neben der VVD – gute Chancen, stärkste Fraktion zu werden. Die beiden derzeit regierenden Parteien, die rechtsliberale VVD und die sozialdemokratische PvdA, sind in den Umfragen seit der vergangenen Wahl stark abgestürzt – vor allem die Sozialdemokraten. Sie liegen in den Umfragen derzeit auf Platz 7. Zurzeit sieht es daher nicht so aus, als könnte die rechtsliberal-sozialdemokratische Koalition ihre Arbeit fortsetzen. "Die Niederländer zappen generell gerne von Partei zu Partei", sagt Friso Wielenga, Leiter des Zentrums für Niederlande-Studien an der Uni Münster und selbst Niederländer. "Sie strafen nun vor allem die Sozialdemokraten ab, weil sie nach Ansicht der Wähler in dieser Koalition zu viele Kompromisse gemacht haben." + + +Geert Wilders und seine PVV vertreten teils rechtspopulistische, teils rechtsextreme Positionen. Sie haben vor allem drei große Themen: Anti-Islam, Anti-Europa und eine Sozialpolitik, mit der sie viele traditionell linke Themen besetzen. Wilders ist zum Beispiel gegen die Rente mit 67 und Sparen im sozialen Bereich – aber nur, wenn Niederländer davon betroffen sind. Falls er wirklich an die Regierung kommen sollte, dann will er ein Referendum über den "Nexit" organisieren – den Austritt der Niederlande aus der EU. In einem Interview bezeichnete Wilders den Islam als "womöglich gefährlicher als der Nationalsozialismus". Er will den Koran verbieten und Moscheen schließen lassen. Genau wie US-Präsident Donald Trump, dessen Wahlsieg er sehr begrüßt hat, will er außerdem einen Einreisebann für Menschen aus überwiegend muslimischen Ländern durchsetzen. +Von vielen wird Wilders als "Kontrollfreak" beschrieben, seine Partei besteht auch nur aus einem einzigen registrierten Mitglied – ihm selbst. Für die Wahl stellt er eine Liste mit Kandidaten auf, die offiziell aber parteiunabhängig sind. Wilders lebt seit Jahren mit Polizeischutz, er erhält nach eigenen Angaben Morddrohungen wegen seiner Haltung zum Islam. Ähnlich wie Trump hat auch Wilders ein schwieriges Verhältnis zu den Medien. Er boykottiert zum Beispiel derzeit die großen Wahlkampfdebatten und kommentiert lieber das, was die anderen dort sagen, via Twitter. Ob ihm das Fernbleiben eher nützt oder schadet, darüber sind niederländische Wahlkampfbeobachter unterschiedlicher Meinung. + +Mit seiner Europa-Kritik trifft Wilders bei vielen Wählern einen Nerv. Seine Anhänger fühlen sich von Brüssel bevormundet. "Als die EU noch aus weniger Staaten bestand, hatten die Niederländer im Verbund mit den anderen Beneluxstaaten Belgien und Luxemburg das Gefühl, eine starke Stimme zu sein", sagt Historikprofessor Wielenga. "Inzwischen sind es 28 Staaten, und die Niederlande empfinden sich als das, was sie sind: ein kleines Land." Im Wahlkampf werde behauptet, dass Europa viel Geld koste und außerdem den Niederlanden eine bestimmte Flüchtlingspolitik aufzwingen wolle. Ob die Fakten stimmen, sei den Menschen dann fast egal. "Sie haben ein Gefühl der Ohnmacht, und das macht sie empfänglich für antieuropäische Stimmungsmache." In den Debatten ginge es deshalb auch immer wieder um die "niederländische Identität" – häufig in Abgrenzung von anderen, von Europa oder dem Islam. +Außerdem herrscht in den Niederlanden zurzeit, wie in vielen anderen Ländern auch, eine "Anti-Eliten"-Stimmung, die sich unter anderem gegen Parteien und Medien richtet. "Viele Menschen glauben, dass Politiker in den großen Parteien nur an ihre eigene Karriere denken", sagt Dick van den Bos, der als Journalist beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen in den Niederlanden arbeitet. Seiner Meinung nach sind die angekratzte Glaubwürdigkeit der Politik und das Misstrauen vieler Menschen gegenüber den Medien wichtige Gründe für das gute Abschneiden von Geert Wilders. + +Das ist nach Einschätzung der meisten Experten unwahrscheinlich. "Selbst wenn Geert Wilders' PVV die stärkste Partei wird, müsste er mindestens zwei andere große oder viele kleine Parteien finden, die mit ihm zusammen die Regierung bilden", sagt Wielenga. Das aber hätten die anderen Parteien ausgeschlossen. "Das heißt, es ist zu 99 Prozent sicher, dass Wilders nicht regieren oder mitregieren wird." Allerdings war die PVV bereits einmal zumindest indirekt an einer Regierung beteiligt, sie unterstützte 2010 eine Minderheitsregierung im Parlament, indem sie grundsätzlich mit deren Abgeordneten stimmte. + + +Die Partei, die mit Geert Wilders um den Wahlsieg streitet und momentan knapp vorn liegt, ist die rechtsliberale VVD. Wirtschaftlich gesehen plädiert sie für klassisch liberale Positionen – weniger Sozialstaat, stärkere Verantwortung des Einzelnen –, die Einwanderung will sie stark beschränken. Sie konkurriert mit diesem Programm bewusst auch mit Wilders um Wähler von rechts. Auf den folgenden Plätzen in den Umfragen liegen momentan drei Parteien mit jeweils elf bis zwölf Prozent fast gleichauf: die CDA (Christen Democratisch Appèl), die vor allem versucht, sich als konservative Alternative zur liberalen VVD zu positionieren. Die linksliberale D66 ist stark proeuropäisch und will besonders in Bildung investieren. GroenLinks tritt – wie der Name schon vermuten lässt – mit einem grün-linken Programm an und plädiert in bewusster Abgrenzung von den Rechtspopulisten für eine offene Gesellschaft, die Flüchtlinge integriert und bereitwillig aufnimmt. Ihre anderen Schwerpunkte sind unter anderem eine stärkere Besteuerung von Kapitalerträgen (eine Art "Reichensteuer") und Investitionen in erneuerbare Energie. Die Sozialdemokraten, derzeit Partner in der Regierungskoalition mit der VVD, sind in den Umfragen inzwischen auf Platz 7 abgerutscht. Ihnen werden besonders die Sparmaßnahmen der Regierung in den vergangenen Jahren angelastet, auch wenn sie in ihrem Wahlprogramm mit einem sozialeren Kurs wie zum Beispiel einer Erhöhung von Löhnen werben. Alle diese Parteien sind Kandidaten für eine Regierungskoalition ohne die Rechtspopulisten. + +Das Schwierigste nach dieser Wahl könnte die Regierungsbildung werden. Wenn keine der eigentlich großen Parteien mehr wirklich viele Stimmen erhält, dann könnte es bis zu fünf Parteien für die Regierung brauchen. Das wiederum könnte das Gefühl "Wen man wählt, ist doch auch schon egal" weiter verstärken. "Die Gefahr ist, dass dies den Extremisten an den Rändern weiter hilft", sagt Niederlande-Forscher Wielenga. Dass die Parteien aber deshalb umschwenken und versuchen könnten, Wilders mit einer Regierungsbeteiligung "zu zähmen", glaubt er trotzdem nicht. Das Trump-Beispiel in den USA zeige ja gerade, dass das Amt alleine nicht zu einer Mäßigung führen müsse. + +Hält sich raus. Allerdings betont er in öffentlichen Ansprachen immer wieder, dass Menschen friedlich und ohne Rassismus zusammenleben sollten – was zumindest als subtile Kritik an Wilders verstanden werden kann. + diff --git a/fluter/gewissensfragen.txt b/fluter/gewissensfragen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..318f892ac2015cd367cd3fffeb38f37414716015 --- /dev/null +++ b/fluter/gewissensfragen.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Dies führt zu massiven Problemen im Leitungsnetz, das großteils in den Siebzigern und Achtzigern konzipiert wurde, als man von steigendem Verbrauch ausging: Leitungen, in denen das Wasser zu lange steht, korrodieren; je länger das Wasser unterwegs ist, desto höher die Zahl der enthaltenen Keime. Im Abwasserbereich führt eine geringe Fließgeschwindigkeit zur Geruchsbelästigung bis hin zur Bildung von giftigen und explosiven Gasen; durch entstehende Schwefelsäure werden sowohl Abwasserleitungen als auch Pump- und Klärwerke starker Korrosion ausgesetzt. +Um die Wasserqualität und das Leitungsnetz zu erhalten, müssen die Versorger eingreifen: In Kiel beispielsweise werden jährlich zwei Millionen Kubikmeter Frischwasser durch die Leitungen gepumpt. Um Verkeimung zu stoppen, setzt die Stadt Rostock jährlich Chemikalien im Wert von 115 000 Euro ein. Und in Hannover wurden Gullydeckel mit Gummimatten abgedichtet, um den Gestank zu stoppen, der aufsteigt, weil in der Kanalisa-tion Stillstand herrscht. +Eine Lösung für die Probleme könnte der Rückbau auf einen verringerten Rohrdurchmesser sein. "Innerhalb der nächsten Jahre müssen die Leitungen angepasst werden. Ein intelligentes System zu entwickeln, das dem generell rückläufigen Verbrauch ebenso gerecht wird wie den punktuellen Verbrauchsspitzen, das ist die Aufgabe der Stadtplanung", sagt Michael Bender, Leiter der Bundeskontaktstelle Wasser der Grünen Liga e.V. Doch das ist teuer: Die Stadt Magdeburg hat ausgerechnet, dass allein der Rückbau der Abwasserleitungen 40 bis 50 Millionen Euro kosten würde. +Ist Wasser zu sparen also sinnlos? Kommt darauf an: Wer Warmwasser verschwendet, verschwendet immer auch Energie – was viel schlimmer ist, in Deutschland aber ausgiebig getan wird. Im Kaltwasserbereich hingegen sind sich inzwischen fast alle Experten einig, dass ein verbissenes Sparen unnötig ist. Hans-Jürgen Leist von der Forschungsstelle Recht, Ökonomie und Umwelt der Uni Hannover forscht schon lange zu diesem Thema und hat erkannt, dass der Rohstoff Wasser stark emotional besetzt ist. "Auf unserem Institutsflur gibt es eine Teeküche. Ich habe an einem hellen Sommertag das Licht angeschaltet und den Wasserhahn tröpfeln lassen. Jeder Student, der vorbeikam, drehte den Wasserhahn zu – das Licht löschte keiner." +1. Jeden Tag spülen wir 34 Liter die Toilette runter. Wasserexperte Jörg Rechenberg vom Umweltbundesamt in Dessau rät: "Bis zu 50 Prozent des Spülwassers lassen sich einsparen, wenn der Spülkasten mit einer Stoppvorrichtung ausgerüstet wird, die den Spülvorgang bei Bedarf unterbricht." Nachrüstsätze gibt es schon für sechs Euro in jedem Baumarkt.2. Zum Baden, Duschen und für die Körperpflege brauchen wir 48 Liter. Einmal Baden verbraucht 150 bis 200 Liter Wasser, einmal Duschen dagegen nur 30 bis 80 Liter. Das spart zudem viel Geld: "Weniger Warmwasserverbrauch bedeutet auch weniger Stromverbrauch, was wiederum einen Beitrag zum Klimaschutz darstellt", so Rechenberg.3. Bei einem sogenannten Sparduschkopf wird dem Wasserstrahl Luft beigemischt, so können 40 Prozent eingespart werden. Der Sparduschkopf verbraucht acht bis zehn Liter pro Minute, herkömmliche Duschköpfe bis zu 25. Sparduschköpfe kosten zwischen 15 und 35 Euro.4. Der Klassiker: Beim Zähneputzen oder Rasieren nicht das Wasser laufen lassen, ein Zahnputzbecher oder ein halb gefülltes Waschbecken tun es auch. Ebenso simpel wie effektiv: Während des Einseifens beim Duschen den Wasserhahn abdrehen.5. Fürs Wäschewaschen verbraucht jeder Deutsche im Schnitt 15 Liter. Rechenberg rät: "Die Waschmaschine sollte nur mit gut gefüllter Trommel gestartet werden. Das spart Wasser, Strom und letztlich Geld." Zudem ist es wichtig, das Waschmittel richtig zu dosieren, damit dem Wasserkreislauf nicht zu viel Chemie zugeführt wird. Beim Kauf einer Maschine auf Strom- und Wasserverbrauch achten.6. Wer mit einem Griff die richtige Wassertemperatur einstellen kann, spart Zeit und damit Wasser – mit dem sogenannten Einhebelmischer geht das stufenlos und schnell. "Die gewünschte Wassertemperatur lässt sich schneller einstellen, so dass 15 bis 30 Prozent weniger Wasser und Strom verbraucht werden", sagt Jörg Rechenberg. Einhebelmischer gibt es ab 30 Euro.7. Moderne Spülmaschinen verbrauchen immer weniger Wasser und sind daher nicht nur bequemer, sondern auch ökologisch sinnvoller. Für die Verfechter des Aufwaschlappens gilt: Geschirr nicht unter fließendem Wasser reinigen.8. Ein permanent tropfender Wasserhahn kann mehrere Liter Wasser am Tag kosten. Das Tropfen wird meist durch eine defekte Dichtung oder durch Verkalkung des Ventils verursacht. Die Kosten für eine möglichst schnelle Reparatur sind im Vergleich zu den Wasserkosten gering.9. Das Autowaschen per Hand ist in vielen Kommunen verboten, aus gutem Grund: Die Autowäsche in der Waschanlage spült nicht nur weniger Schadstoffe in die Gewässer, sie spart gegenüber einer Reinigung mit dem Gartenschlauch bis zu 150 Liter.10. Ganz wichtig: Für eine gute Öko-Bilanz reicht ein sparsamer Umgang mit der Ressource Wasser allein nicht aus. "Das benutzte Wasser ist ja nicht verloren, sondern fließt in den Wasserkreislauf zurück und wird wieder verwendet", sagt Jörg Rechenberg. Aus diesem Grund ist es nur sinnvoll, Wasser zu sparen, wenn es gleichzeitig möglichst wenig verschmutzt und verunreinigt wird. Küchenabfälle, Arzneimittel und Zigarettenstummel gehören keinesfalls in die Toilette, Wasch- und Geschirrspülmittel, Duschbad und Shampoo sollten also möglichst sparsam verwendet werden. diff --git a/fluter/ghana-drohnen-medikamente-zipline.txt b/fluter/ghana-drohnen-medikamente-zipline.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ab41b92eba43704157b36feb8ae1a8bca5c3aec0 --- /dev/null +++ b/fluter/ghana-drohnen-medikamente-zipline.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Seit fünf Jahren macht in Ghana aber ein anderes Transportmittel Schlagzeilen, eins, das sich weder von schlechten Straßen aufhalten lässt noch von den häufigen Überschwemmungen oder dem undurchdringlichen Regenwald:Drohnen. +Mit ihnen werden in dem westafrikanischen Land dringend benötigte Medikamente transportiert – und zwar fast überallhin. Gerade in den schwer zugänglichen Gebieten haben sich die Menschen an den Anblick und die Geräusche gewöhnt. Erst liegt ein Summen in der Luft, dann ein lauter werdendes Brummen, schließlich taucht der unbemannte Flieger aus den Wolken und wirft ein Paket mit Fallschirm ab. Wie eine Apotheke am Himmel. +Mittlerweile fliegt über Ghanadie größte Drohnenlieferflotteder Welt. Betrieben wird die von einem kalifornischen Unternehmen: Zipline. Der Staat stellt die Medikamente, Zipline lagert, liefert aus und stellt die Rechnung. 2024 wird die staatliche Gesundheitsagentur GHS für die Lieferungen mindestens 70 Millionen Cedi aus Krankenversicherungsbeiträgen ausgeben, umgerechnet rund vier Millionen Euro. Wie viel Zipline insgesamt verdient? Darüber schweigt das Unternehmen. Fakt ist: Es dürfte in Zukunft noch mehr werden, Zipline will weitere Drohnenflughäfen in Ghana bauen. +Derzeit gibt es sechs. Der in Vobsi, im dünn besiedelten Norden des Landes, sieht aus wie ein kleiner Provinzflughafen. Ein Bildschirm zeigt die Drohnen, die in der Luft sind: Was haben sie geladen, haben sie schon geliefert, wie hoch ist der Ladestand der Akkus? Nebenan inspizieren Mitarbeiter Drohnen, die von Touren zurückgekehrt sind, beladen andere mit Medikamenten aus dem Lager und schieben sie auf eine Art Abschussrampe. Ein bisschen wie beim Start einer Rakete, nur ohne Turbinen, die Drohnen fliegen an die 120 Stundenkilometer schnell und bis zu 160 Kilometer weit. +Derzeit liefert Zipline rund 160 Produkte aus, darunter Blut- und Plasmakonserven, Impfstoffe, Antiseren gegen Schlangengift oder Glukosepulver gegen Durchfallerkrankungen. Die Bestellungen gehen über Anrufe, SMS oder WhatsApp in einer Zentrale ein, die sie an den nächstgelegenen Drohnenflughafen weiterleitet. Nach dem Abschuss weist ihnen die zivile Luftfahrtbehörde eine Route zu. Wenige Minuten vor dem Ziel sendet die Drohne eine Nachricht an die Ärzte, sich in der "Drop-Zone" einzufinden. Dort wirft sie das Päckchen mit einem Papierfallschirm ab und fliegt zurück zur Packstation. Durchschnittlich 600 Lieferungen fliegen so täglich über Ghana. + + +Was bestellt wird, variiert. In der Covid-Pandemie versorgte Zipline weite Teile des Landes mit Schnelltests und Impfstoffen. In den Erntezeiten sind eher Antiseren gefragt, weil sich auf den Feldern die Schlangenbisse häufen. Und bald ist wieder Regenzeit, ideale Brutbedingung für Mücken, dann gehenmassenhaft Malariamedikamentein die Luft. +Gerade in Notfällen sind die Drohnen effizient. Sie erreichen rund 2.500 Gesundheitseinrichtungen in weniger als einer Stunde. Das spart Zeit in einem Land, in dem viele Straßen nicht befestigt und regelmäßig überschwemmt sind. Zeit, die Leben retten kann, wenn es gerade keinen Krankenwagen gibt, der Patienten in eine Klinik bringt. Oder wenn sie dringend eine Bluttransfusion brauchen. Früher mussten in den ländlichen Gegenden meist Verwandte Blut spenden. +Doch es gibt auch Kritik. Derzeit ist der Betrieb auf Notfalllieferungen beschränkt: Mehrere Kliniken sollen mit den Drohnenlieferungen ihre Lager aufgefüllt haben, statt Patienten zu versorgen. 2023 ordnete der damalige Gesundheitsminister Kwaku Agyeman-Manu an, die Drohnenaktivitäten genauer zu erfassen. +Für die Bevölkerung sind die Drohnen eine große Hilfe. Für Zipline sind sie ein Exportgut, das Gewinne machen soll. Das Unternehmen will künftig auch Privatpersonen und Kleinbauern beliefern und arbeitet mit Ghanas Marine zusammen, die eine eigene Drohnenflotte für Such- und Rettungseinsätze aufstellen will. Manche fürchten, Ghana könnte sich von Zipline abhängig machen und wegen dessen bequemer "on demand"-Medizin seine staatliche Vorsorge vernachlässigen. Das Land versucht seit geraumer Zeit, ein stabiles staatliches Gesundheitssystem aufzubauen. Heute sind knapp 70 Prozent der Bevölkerung krankenversichert, der Schutz umfasst aber nur eine Grundversorgung in bestimmten Gesundheitseinrichtungen. Es fehlt an Ärzten, Blutkonserven und Krankenhausbetten, gerade in ländlichen Gebieten. Probleme, die selbst die größte Drohnenlieferflotte nicht lösen kann, die aber unter ihr leicht übersehen werden. + +Titelbild: Ruth McDowall/AFP via Getty Images – flyzipline.com diff --git a/fluter/ghana-protest-jugendliche-fix-the-country.txt b/fluter/ghana-protest-jugendliche-fix-the-country.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f552e9656c8f4eaebbb307f80af606afd801f2a4 --- /dev/null +++ b/fluter/ghana-protest-jugendliche-fix-the-country.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Mehr als 70 Prozent der Bevölkerung Ghanas sind jünger als 35 Jahre. Obwohl viele junge Menschen einen Hochschulabschluss machen, fällt es ihnen schwer, Arbeit zu finden. Gerade mal zehn Prozent der Absolventen bekommen innerhalb eines Jahres einen Job, bei vielen dauert es sogar viel länger. Bis dahin leben sie oft bei ihren Eltern, denn die Lebenshaltungskosten in Ghana, vor allem in den Städten, sind hoch. +Kein Wunder, dass aus dem Hashtag #FixTheCountry eine landesweite Protestbewegung wurde. Drei Monate nach Joshua Boye-Does Tweet erreicht der Protest die Straße. Tausende Jugendliche versammeln sich und ziehen durch die Straßen von Accra. Dabei schwenken sie Plakate mit Botschaften wie "Corruption breeds poverty" und "Fix our education system now". Die Regierung reagiert mit Unverständnis. Ein Parlamentarier fordert von den Jugendlichen, bei sich selbst anzufangen, und verwendet dazu den Hashtag #fixyourself. Dafür wird er heftig kritisiert und muss seine Aussagen schließlich zurücknehmen. Ein Regierungssprecher schiebt die Schuld an der Situation auf die allgemeine schlechte wirtschaftliche Lagedurch Corona. Die Regierung habe bereits ein Programm eingeführt, um die Situation Jugendlicher zu verbessern – wovon allerdings nur wenige profitieren. +Mittlerweile hat #FixTheCountry einen eigenen Twitter-Account und eine Website, auf der sie auch Fan-Artikel verkaufen. Martin Acheampong vom Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien sagt allerdings: "Die Bewegung konnte bisher noch nicht viel verändern. Die Regierung hat zwar einige der Forderungen aufgenommen, die Umsetzung bleibt aber abzuwarten. Gerade deswegen ist das Anliegen der Bewegung immer noch aktuell." Vor einigen Wochen forderten die Aktivisten die Absetzung des Vorsitzenden der Wahlkommission und seiner beiden Vertreter – da die Wahlkommission einige Bevölkerungsgruppen von den Parlamentswahlen 2020 ausgeschlossen haben soll. +Eigentlich wird das politische System Ghanas als demokratisch eingestuft. Den Analysen der NGO Freedom House zufolge wird das Land als "frei" bewertet, womit es im Verhältnis zu anderen afrikanischen Staaten gut abschneidet. Seit 2017 regiert Präsident Akufo-Addo von der liberalkonservativen New Patriotic Party (NPP). Die NPP steht in der Opposition aktuell dem NDC (National Democratic Congress) gegenüber. Seit Mitte der 1990er-Jahre wechselte die Macht häufig zwischen beiden Parteien. Umfragen zeigen aber, dass das Vertrauen in die Demokratie in den letzten Jahren gesunken ist. Schuld daran sind vor allem die Korruption sowie Einschränkungen für Frauen undMitglieder der LGBTIQ+-Community. Homosexuelle Handlungen unter Männern werden in Ghana sogar mit Gefängnis bestraft. +Acheampong ist sich sicher, dass Social Media auch in Zukunft eine große Bedeutung für die politischen Anliegen der Menschen in Ghana haben werden. Auch in anderen afrikanischen Staaten würden Debatten durch Hashtags in den Sozialen Medien gestartet, wie beispielsweise die #ThisFlag-Kampagne in Simbabwe, der #FeesMustFall-Protest in Südafrika oder#EndSars in Nigeria. 2024 wird es Wahlen in Ghana geben. Eine ehemalige Gruppe der #FixTheCountry-Bewegung wird auch antreten. Dann entscheidet sich die Zukunft von Ghanas Jugend nicht mehr nur im Netz und auf der Straße, sondern auch in der Wahlkabine. diff --git a/fluter/ghostwriter-rap-laas-interview.txt b/fluter/ghostwriter-rap-laas-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8ceb380bb8e33a08884bf7eff04c399b4e2cd477 --- /dev/null +++ b/fluter/ghostwriter-rap-laas-interview.txt @@ -0,0 +1,46 @@ + +fluter: Waren es schon immer die Texte, die dich am Rap fasziniert haben? +Laas: Am Anfang hat mich eher das Performen motiviert, das Freestylen. Die Herausforderung ist, im Flow des Erzählens immer wieder neue Reime zu finden. Das Texteschreiben braucht Zeit. Man muss das lernen wie ein Handwerk und Geduld mitbringen. +Hast du von Anfang an für andere Künstler geschrieben? +Nein. Das warAnfang der Nullerjahre in der Szeneein absolutes No-Go. Jeder hat von sich behauptet, der Beste zu sein – das setzt voraus, dass man seine Texte selbst schreibt. Mittlerweile gibt es einige, die so arbeiten, wie es im Pop üblich ist: Sie haben die Vision im Kopf und holen Leute dazu, die helfen, sie zu einem Bild zusammenzusetzen. Damals musste Rap nur in der Szene real sein und abliefern. Heute muss er ein großes Publikum erreichen. +Wurden damals wirklich alle Texte selbst geschrieben oder wurde nicht übers Ghostwriting gesprochen? +In unserer Vorstellung hat jeder selbst geschrieben. Aber es wird Zusammenarbeiten gegeben haben. Das passiert automatisch: Im Studio sind viele Leute, auch der Kameramann wirft mal eine Idee rein. Das ist eines der vielen Geheimnisse, die Rap immer hatte. Dabei haben die neue Rap-Generation und ihre Ghostwriter dafür gesorgt, dass Rap heute kommerziell funktioniert. +Wie das? +Würden wir alles so machen wie damals, als ich angefangen habe, wäre Rap heute ein Kreis aus 500 Leuten. Junge Künstlerhaben Rap in den Mainstream geholt, indem sie die Regeln des Genres aufgebrochen haben. Shirin kombiniert Rap mit Einflüssen aus der Popmusik, und auch ihre Ghostwriter bringen unterschiedliche Einschläge mit. Sie vergisst dabei trotzdem nicht, was die Leute am puren Rap lieben. Die größere Hörerschaft und das Geld dahinter kommen Rap insgesamt zugute. +Viele in der Branche haben aber immer noch Probleme, anzuerkennen, dass mit Writern gearbeitet wird. +Wer heute darüber klagt, hat eher was gegen einzelne Künstler und will denen einen Strick daraus drehen. Co-Writer sind heute viel akzeptierter als noch vor zwei, drei Jahren. +2020 hast du begonnen, mit Shirin David zu arbeiten. +Dass sie sich Hilfe beim Schreiben gesucht hat, hat damals einen Shitstorm ausgelöst. Wenn wir Musiker danach bewerten, ob sie ihre Texte komplett allein schreiben, müsste ich in Deutschland ein Superstar sein. Ich schreibe seit 25 Jahren jede Zeile selbst. Aber darum geht es nicht. Erfolg hat, wer als Gesamtprodukt performt. +Würdest du dich selbst als Ghostwriter bezeichnen? +Ich nutze das Wort selbst in Rap-Texten, weil es geläufiger ist und der größere Aufreger. Für mich wäre aber der Begriff Co-Writer passender: Shirin hat es normal gemacht, Writer zu respektieren und zu promoten. Wer sich etwas mit ihr beschäftigt, kennt mittlerweile auch meinen Namen. Ich bin kein Geist. + +Seit der Zusammenarbeit mit Shirin David und dem kommerziellen Erfolg ihres Albums "Bitches brauchen Rap" kann Laas es sich leisten, nur noch für sie zu schreiben. Ghostwriterinnen und Ghostwriter arbeiten selbstständig: Sie beziehen kein Gehalt, sondern verhandeln Honorare oder ihren Anteil an den GEMA-Einnahmen – oder beides. Die GEMA ist die Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte. Sie erhält Nutzungsrechte für Musik, vergibt die an Radio- und Fernsehsender, Filmproduktionen oder Streamingdienste und verteilt die Einnahmen wiederum an ihre Mitglieder. Wer als Writerin oder Writer den GEMA-Anteil für einen Song haben will, muss angemeldet werden. +Wie viel ein Song über die GEMA verdient, ist kaum auszurechnen. Aber mal als Beispiel: Läuft Shirin Davids "Bauch Beine Po" 100-mal bei einem der reichweitenstarken Radiosender, beläuft sich die Vergütung auf rund 900 Euro. 100 Wiedergaben bei einem mittelgroßen Sender bringen nur knapp 200 Euro: Die Sender haben unterschiedliche Reichweiten, Lizenzeinnahmen und Programme. Wird das Lied 65 Millionen Malbei Spotify gestreamt, werden 65.000 Euro ausgeschüttet. Die Vergütungen teilen sich der Musikverlag, die Acts, Ghostwriterinnen und Ghostwriter und andere Gewerke. Wer beteiligt wird und zu wie viel Prozent, ist Verhandlungssache. + +Wie authentisch kann ein Text sein, der mit einem Ghostwriter entsteht? +Authentizität ist wichtig. Was authentisch ist, ist aber eine Frage der Perspektive. Wenn ein Künstler mit Einfluss eines Co-Writers ausdrückt, was er fühlt, oder das dann sogar besser ausdrücken kann, ist der Text für mich authentisch. Shirins Texte sind nicht komplett von mir. Wir fangen mit der Arbeit an, indem wir über eine Song-Idee von ihr reden oder darüber, was gerade in ihrem Leben passiert. Vielleicht fällt mir zu einem Gedanken ein Satz ein, vielleicht hat sie eine Antwort darauf. So spielen wir Tennis, hin und her, bis ein Text steht. Ich bin dafür da, ihre Gedanken technisch in eine Form zu gießen. +Du musst dich gut in sie hineinversetzen können. +Den Ausdruck mag ich nicht. +Warum? +Die wirkliche Stärke ist, den Leuten genau zuzuhören. Was beschäftigt sie? Was ist daran spannend? Künstler, die auf Shirins Level auftreten und veröffentlichen, sind permanent Extremsituationen ausgesetzt. Sie stehen vor Tausenden auf Bühnen, ununterbrochen in der Öffentlichkeit und werden von allen bewertet. Das kommt denen normal vor, dabei ist es total verrückt. Ich sage dann: Das ist spannend, und ich würde es gerne aus deinem Mund hören. +Dass ein Mann hinter Shirin Davids feministischen Texten steht, hat viele Kontroversen ausgelöst. +Noch mal: Es ist eine Zusammenarbeit, die auf ihren Ideen und Erlebnissen basiert. Ich lege ihr nichts in den Mund. Um ihr zu helfen, muss ich gut zuhören und rauszoomen können. InShirins Song "Bauch Beine Po"geht's um ein bestimmtes Lebensgefühl von Frauen, das ich nicht nachvollziehen kann. Ich trage keine hohen Schuhe und bin nicht pretty im Bikini. Aber ich weiß, wie es ist, neue Klamotten zu kaufen und sich darin toll zu fühlen. Bei dem Gefühl kann ich ansetzen. +Gab es schon mal Streit oder Missverständnisse beim Schreiben? +Klar, es gibt auch Diskussionen. Das ist doch immer so, wenn alle ihren Job möglichst gut machen wollen: Jeder kämpft für seine Idee. Ich halte es für eine Frage des Egos, ob man eine Lösung findet. Shirin und ich schaffen es, unsere Egos zurückzustellen. +Wobei du für sie arbeitest. +Ja, ich stecke daher eher zurück. Es geht in dem Moment nicht um mich. +Wie fühlt es sich an, in der zweiten Reihe zu stehen? +Es ist gemütlicher. Man hält nicht das Gesicht hin, bekommt nicht so sehr den Hass ab, wenn ein Song floppt. Das macht es einfacher, sich Dinge zu trauen. Früher wollte ich nur Hip-Hop sein und stand gerne in der ersten Reihe. Heute ist mir bewusster, wie wichtig die zweite Reihe ist. +Kriegt man in der zweiten Reihe Ruhm ab? +Seit ich mit Shirin arbeite, ist mein Name einem viel größeren Publikum bekannt. Und wer sich auskennt, kannte mich durch meine Solokarriere schon vorher. Ich muss niemandem mehr beweisen, dass ich gut bin. +2021 hast du öffentlich gesagt, dass deine Solokarriere immer von Angst begleitet war: vor dem Scheitern, davor, sich Feinde zu machen, kein Geld zu verdienen. Hast du die Angst immer noch? +Den Druck, den man als Solokünstler hat, kann einem keiner nehmen. Es ist eine starke Existenzangst. Das Schreiben, die Credits, das Geld, die Anerkennung haben mir Sicherheit gegeben und einen Großteil dieser Angst genommen. +Dieser Text istim fluter Nr. 93 "Rap"erschienen +Wer sind die Menschen, die für und mit anderen Musikerinnen und Musikern schreiben? +Ich will nicht pauschalisieren, aber auffällig viele sind wie ich selber Künstler: schon lange mit ihren eigenen Karrieren beschäftigt, fähige Schreiber und Musiker. Das geben sie weiter und profitieren dadurch vom kommerziellen Erfolg anderer. +Gibt es große Writerinnen? +Kitty Kat und Cora E. sind zwei, die mir da einfallen. Die haben viele Rapperinnen ermutigt und inspiriert. Es kommen mehr und mehr Writerinnen: Die Branche wandelt sich nur langsam, weil sie lange so männerdominiert war. +Manchmal stehen Dutzende Namen in den Credits. Können zu viele Writerinnen und Writer an einem Song beteiligt sein? +In den Credits stehen nicht nur die Writer, sondern auch die Produzenten, Studio Engineers oder alle, die an den benutzten Samples gearbeitet haben. Aber zu viele Menschen tun einem Song auch nicht gut. Ein fester Kern, drei bis fünf Leute, die harmonieren, kann funktionieren. Dann geht es am Ende nicht darum, wer welches Wort, welchen Part, welche Idee eingebracht hat, es geht um das Ergebnis. + +Illustration: Sebastian Haslauer diff --git a/fluter/gib-mir-den-rest.txt b/fluter/gib-mir-den-rest.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..40d4e2265f1956b9ddffe01e711aea536bb5e79c --- /dev/null +++ b/fluter/gib-mir-den-rest.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Nicht ohne Grund sähen die deutschen Verbraucherzentralen solche Vorstöße gern auch hierzulande: DerWWF-Studie "Das große Wegschmeißen"zufolge werden in Deutschland jährlich mehr als 18 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen – und fast 10 Millionen davon sollen vermeidbar sein. +Für knapp die Hälfte der vermeidbaren Lebensmittelabfälle sind laut WWF die Endverbraucher verantwortlich, weil sie ihre Einkäufe nicht vernünftig planen, Lebensmittel falsch lagern, das Mindesthaltbarkeitsdatum fehlinterpretieren und zu selten Reste-Essen machen. Das entspricht jährlich 61 Kilogramm pro Person in deutschen Haushalten. +Was viele nicht wissen: Das für viele Lebensmittel gesetzlich vorgeschriebene Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) wird von den Herstellern nach eigenem Ermessen festgelegt. Auf der einen Seite wirkt es verkaufsfördernd: Vermeintlich ungenießbare Lebensmittel landen im Müll und es werden neue gekauft. Auf der anderen Seite sichern sie sich damit auch gegen Schadenersatzansprüche ab, die Verbraucher gegen das Unternehmen richten können, wenn ein Produkt nicht mehr ihren Erwartungen in puncto Geschmack, Konsistenz, Farbe oder Geruch entspricht. Wie lange ein Lebensmittel tatsächlich genießbar ist, sagt das MHD jedoch nicht aus. Ernährungsminister Christian Schmidt möchte deshalb das MHD von lange haltbaren Lebensmitteln wie Nudeln und Reis entfernen und lediglich ein Herstellungsdatum nennen, für besonders empfindliche Nahrungsmittel wie Fisch- und Fleischprodukte stattdessen ein Verfallsdatum vorschreiben. +Doch nicht wenige Lebensmittel schaffen es gar nicht bis zum Verbraucher, weil sie auf dem Weg in den Handel verderben, dort weggeworfen werden oder nicht den Normen entsprechen. Letztere kommen nicht etwa alle von der EU, sondern zum Teil von den Handelsketten selbst – wohl aus Angst, nicht der Norm entsprechende Ware verkaufe sich schlechter. +Das geht mittlerweile auch vielen Jungunternehmern und Aktivisten gegen den Strich. Sie wollen die Wertschätzung für Lebensmittel wieder steigern und Menschen für das Thema sensibilisieren. Hier verraten sie uns, welche Gedanken sie sich zur Lösung des Problems gemacht haben. + +Die beiden Berlinerinnen Tanja Krakowski und Lea Brumsack widmen sich seit 2012 unter dem Motto "Esst die ganze Ernte!" krummem Gemüse, das es gar nicht erst ins Supermarktregal schafft: +Wir zeigen auf ästhetische Art, dass Misfits, die nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechen, nicht nur lecker sind, sondern dass es auch sehr viel Spaß macht, mit charakteristischen Wurzeln und unbekannten Sorten zu experimentieren. In unseren Workshops lehren wir traditionelles Küchenhandwerk, verraten Tricks wie die ganzheitliche Gemüseverarbeitung, erzählen Anekdoten zwischen Acker und Teller und leben als Designerinnen unsere gestalterische Seite aus. +Wir alle müssen wieder zu Akteuren werden. Konkret heißt das: vielfältige Lebensmittel direkt beim Produzenten einkaufen, zu unbekannten Gemüsesorten greifen, saisonal kochen – und das gemeinsame Kochen und Essen zelebrieren. Wie wäre es außerdem mit einem Gesetz, dass auch unförmige Kartoffeln oder zweibeinige Möhren im Handel angeboten werden müssen? + +Die Wurzeln dieses Vereins liegen im Jahr 2012, er entstand um den "Taste the Waste"-Regisseur Valentin Thurn und den Aktivisten Raphael Fellmer mit seiner konsumkritischen "Initiative Lebensmittelretten": +Wir sollten nicht dem Konsumdiktat des Handels auf den Leim gehen – nicht immer sofort alles wegschmeißen, wenn das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten ist, und uns nicht zu schade sein, eine braune Stelle am Apfel wegzuschneiden oder aus einer schrumpeligen Paprika noch etwas Leckeres zu kochen. +Was trotzdem zu viel ist, kann prima weitergegeben werden. Auf foodsharing.de wollen wir eine Plattform gegen die Verschwendung etablieren, auf der Privatpersonen, HändlerInnen, Vereine und Produzent/-innen überschüssige Lebensmittel kostenlos anbieten können. Außerdem gibt es mittlerweile mehr als 300 "Fair-Teiler" – öffentlich zugängliche Kühlschränke und Regale, in denen überschüssige Lebensmittel zur Verfügung gestellt beziehungsweise für den eigenen Bedarf entnommen werden können – und in vielen großen Städten im deutschsprachigen Raum auch sogenannte "Foodsaver". Sie holen abgeschriebene oder aussortierte Lebensmittel in kooperierenden Betrieben ab und verteilen sie weiter. + +Der Verein, den es seit 2014 gibt, will ein Bildungsrestaurant nach dem Vorbild des Kopenhagener "Rub&Stub" eröffnen, in dem nur mit Lebensmitteln gekocht wird, die anderswo aussortiert worden sind. Derzeit kochen die Berliner im Probebetrieb, als sogenannte "Pop-up-Kitchen": +Das größte Problem ist die fehlende Wertschätzung von Lebensmitteln. Verbraucher und der Handel wissen durch das Überangebot nicht mehr, wie viele Ressourcen in ein Nahrungsmittel fließen, bis dieses auf dem Teller landet, und tendieren dazu, Lebensmittel unhinterfragt wegzuschmeißen. +Die aktuelle Entwicklung – beispielsweise das Wegwerfverbot in französischen Supermärkten und eine Diskussion über das Mindesthaltbarkeitsdatum – sind erste Schritte, die wir stark befürworten! Wir setzen jedoch beim Verbraucher an, der durch sein Verhalten einen großen Einfluss besitzt. Warum nicht mal kreativ in der Küche sein, zum Beispiel aus alten Brotresten einen Kirschmichel machen, im Restaurant kleine Portionen bestellen und das eigene Kaufverhalten hinterfragen? + +Das junge Start-up will einen Supermarkt eröffnen, in dem vor dem Müll gerettete Lebensmittel zu günstigen Preisen verkauft werden. Momentan testen die Kölnerinnen auf Märkten, was bei den Kunden ankommt: +Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist in den meisten Fällen Quatsch. 1000 Jahre altes Salz trägt ein MHD – das ist doch verrückt! Wir klären deshalb über das MHD auf, indem wir Menschen abgelaufene Lebensmittel und nicht der Norm entsprechendes Obst und Gemüse probieren lassen und verkaufen. Auch die Politik müsste genauer informieren, was MHD und Verfallsdatum unterscheidet. Sie sollte zudem das MHD von vielen Produkten entfernen und die Verpackungsgrößen anpassen: Beispielsweise bei Orangennetzen landet immer das ganze Netz im Müll, dabei ist meist nur EINE Orange schimmlig. +Problematisch ist übrigens, dass es bisher keine Verpflichtung für den Handel gibt, die aussortierten Lebensmittel zu dokumentieren. An welchen Zahlen soll man das Ziel der Bundesregierung, die Lebensmittelverschwendung bis 2030 zu halbieren, dann messen? +Auch eine Lösung: Einfrieren, was nicht bald verbraucht wird + +Das Berliner Unternehmen rettet seit 2015 Obst, das aufgrund kleiner Mängel wie Druckstellen nicht mehr in den normalen Handel kommt, und macht daraus "Fruchtpapier" – Esspapier aus Obst: +Auf der Seite von Unternehmen und Industrie zählt vor allem profitables Wirtschaften, so dass oft Verluste von Lebensmitteln in Kauf genommen werden, wenn sie wirtschaftlich sinnvoll sind. Es gibt aber auch Gesetze, Normen und Richtlinien, die den Verkauf oder das Spenden beschädigter und abgelaufener Lebensmittel verhindern. Dass es anders geht, hat Frankreich vorgemacht. +Auf der Seite der Verbraucher gibt es in unserer Gesellschaft einfach zu wenig Bezug zu den Lebensmitteln, zur Arbeit und zu den Ressourcen, die in ihnen stecken. Daher vergessen wir oft, wie wertvoll sie sind und gehen manchmal achtlos mit ihnen um. Dabei könnte jeder Einzelne das Mindesthaltbarkeitsdatum richtig interpretieren und ruhig auch mal den Apfel mit Druckstelle oder die Banane mit den braunen Pünktchen kaufen. diff --git a/fluter/gibt-es-eine-ostdeutsche-identitaet.txt b/fluter/gibt-es-eine-ostdeutsche-identitaet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1e2a508e4af36dccdd525b14392cf3d1218c38aa --- /dev/null +++ b/fluter/gibt-es-eine-ostdeutsche-identitaet.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Wenn aber im Osten irgendetwas passiert, besonders wenn rassistische Parolen oder rechtsradikale Übergriffe Deutschland erschüttern, kommt die Debatte um "die" Ostdeutschen auf. Die TV-Bilder zeigen dann oft hasserfüllte Demonstranten statt bunter Menschen. Und obwohl es wütende Proteste und Gewalt gegen Flüchtlinge ebenso im Westen Deutschlands gibt – wenn pro Kopf gesehen auch seltener –, wird manchmal der Eindruck erweckt, dies sei Ausdruck einer ostdeutschen Identität. Aber gibt es die wirklich, oder ist das auch nur Illusionsmalerei? Mehr als ein Vierteljahrhundert nach der Wende ist diese Frage hochaktuell. +Experten machen schon länger darauf aufmerksam, wie schief die Debatte um eine ostdeutsche Identität verläuft, so diese Identität überhaupt existiert. Denn ein Gegenstück, also eine westdeutsche Identität, wird nicht verhandelt. Vielmehr erscheint "westdeutsch" dann einfach als "deutsch" – und jegliche Abweichung davon als eine Abweichung von einer zu erfüllenden Norm. Sprachwissenschaftler Kersten Sven Roth beispielsweise bezeichnet den Westen in diesem Sinne als "Normal-null." +Was es zweifelsohne gibt, sind markante Ereignisse, die eine Region und die Menschen prägen – und das keinesfalls nur in ferner Vergangenheit. Wer reinfährt nach Schwedt, sieht schon auf den Stadtschildern zusätzlich zum Namen die Bezeichnung "Nationalparkstadt". Seit 2013 ist das so. Aber entsteht durch so was eine neue Erzählung, die identitätsstiftend sein kann? +In Schwedt steht an einem windigen Tag Willi Magnus an der Berliner Straße, die schon zu Zeiten der Römer ein wichtiger Handelsweg war. Er schaut zu einer Seite auf die Innenstadt, zur anderen auf die Brücke zum Nationalpark Unteres Odertal. "Wir waren als Erste in ganz Deutschland Nationalparkstadt!", sagt Magnus, ohne seinen Stolz zu verbergen. Magnus ist 72, er trägt eine blaue Regenjacke, seine weißen Haare sind akkurat nach hinten gekämmt. Er führt Touristen, sowohl durch die Stadt als auch durch die Natur. "Andere haben einen Kleingarten", sagt er, "ich habe den Nationalpark!" +Der Osten in unseren Köpfen: da ist es nie weit bis zum nächsten Plattenbau und zum ebenso platten Klischee +Früher reparierte Willi Magnus Panzer, heute führt er Touristen durch Schwedt +Den Park, der Schwedt zum Tor ins Grüne macht, gibt es seit 1995. Zunächst habe es Streit gegeben mit Landwirten und der Schwerindustrie, erklärt Magnus, während er durch die an diesem zugigen Tag fast leere Fußgängerstraße geht. "Aber heute sind Touristen immer ganz überrascht, wie schön es hier ist!" +In der DDR reparierte Magnus Militärtechnik. Ihm gefiel die "Aufbruchstimmung" der Nachkriegszeit. Die Stadt bekam als aufblühende Hochburg der Schwerindustrie Sonderkontingente, "es gab auch im Winter grüne Gurken!". Schwedt hatte vor dem Zweiten Weltkrieg eine vierstellige Einwohnerzahl, war dann fast vollständig zerstört und wurde als Industriestadt rund um eine Raffinerie und eine Papierfabrik von der DDR quasi neu erfunden. "Wir hatten dann über 52.000 Einwohner", sagt Magnus, "heute sind es nur noch 30000." Ganze Häuserzeilen wurden nach der Wende demontiert. "Und wir hatten 14 Kinderkombinationen, Kita und Krippe. Heute sind das vielfach Seniorenstützpunkte." Auch Magnus' beiden Kinder sind fortgegangen, nach Berlin. "Die sieht Schwedt nur zu Besuch. So ist das." +"Wir waren eine der jüngsten sozialistischen Städte. Deshalb gab es hier auch lange keine Proteste, erst kurz vor der Wende einige wenige. Es ging den Menschen gut", erklärt Magnus. Als am Reißbrett geplante Musterstadt ist Schwedt deshalb einerseits gut geeignet, um nach ostdeutscher Identität zu suchen, andererseits macht ihre Geschichte die Stadt auch zu einem besonderen Fall. +Am Rande von Schwedt liegt die PCK-Raffinerie, die mit ihren vielen Rohren, Türmen und Leitungen wie eine eigene Stadt wirkt. Früher arbeiteten bis zu 9000 Menschen in der Raffinerie, heute sind es noch rund 1.100. Doch trotz des starken Rückgangs der Mitarbeiterzahl betont Unternehmenssprecherin Vica Fajnor: "Es gibt kaum eine Familie in Schwedt ohne Bezug zu PCK." Ebenso gibt es kaum einen Verein in der Stadt, der nicht von PCK gesponsert wird. Fajnor selbst kam vor acht Jahren in den Betrieb – aus Bayern. Sie stellt schon einige Unterschiede zwischen Ost und West fest: "Es gibt hier deutlich mehr konfessionslose Menschen. Und es gibt eine bessere Akzeptanz von Frauen. Bei PCK sind 30 Prozent der Führungspositionen mit Frauen besetzt. Das ist sehr viel für diese Branche." +Eine große Rolle spielte früher der sozialistische Bruder Sowjetunion. Die in Westsibirien beginnende und zu den weltweit längsten gehörende Erdölpipeline "Druschba" (Freundschaft) setzte Schwedt wieder auf die Landkarte und wird oft als weltweit längste Leitung dieser Art bezeichnet. Heute ist der russische Erdöl-Multi Rosneft Mehrheitseigner. Es sei aber keine Rückkehr Russlands, betont Fajnor, denn: "Die Russen waren nie weg." Trotz aller politischer Transformationsprozesse floss das Erdöl stets weiter, der Einstieg von Rosneft sei daher "nur konsequent". +Das Zentrum des kulturellen Lebens von Schwedt sind die Uckermärkschen Bühnen, gelegen zwischen der Innenstadt und dem Nationalpark. An derselben Stelle stand früher das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Markgrafenschloss. Die DDR errichtete das aktuelle Gebäude 1978 als ein heute etwas überdimensioniert wirkendes Kulturhaus. Der große Saal bietet 832 Menschen Platz. +Nicht Zirkusdirektorin sondern Theaterpädagogin: Waltraut Bartsch von den Uckermärkischen Bühnen Schwedt +Bei der Entwicklung eines neuen Selbstverständnis der Stadt spiele das Theater eine Rolle, sagt Frau Bartsch +Waltraud Bartsch arbeitet dort als Theaterpädagogin. Sie führt durch die verschachtelten Katakomben und erklärt: "Theater funktioniert bei uns niedrigschwellig. Wir arbeiten viel mit Laiendarstellern zusammen. Hier wurde auch schon Fußball gezeigt. Es ist ein Gemischtwarenladen." Bartsch bleibt vor einem riesigen grünen Elefanten mit samtener Haut stehen, wischt sich ihre Locken aus dem Gesicht und sagt: "Es ist schon ein Unterschied zum Westen. Hier hockt keiner, weil schon der Urgroßvater in der Loge saß. Die Leute kommen aus lebendigem Interesse, es ist ehrlich und fordernd." +"Die Stadt", sagt Bartsch, sei immer noch dabei, "ein neues Selbstverständnis zu entwickeln." Dabei spiele das Theater eine entscheidende Rolle. +Das gilt auch für das interkulturelle Miteinander. Seit Jahren schon gibt deutsch-polnische Theaterkooperationen mit etwa 25 Prozent Gästen aus dem Nachbarland – und mit polnischen Darstellern. "Es ist schon gelebte Zusammengehörigkeit", erklärt Bartsch, "wenn eine polnische Lehrerin mit einer großen Gruppe Schüler die Fahrt zu uns auf sich nimmt." +In den 90er-Jahren hatte Schwedt ein größeres Problem mit Rechtsextremen, das sei heute besser geworden, erklärt Bartsch. Im Theater wirken zwei Flüchtlinge auf der Bühne mit. Für Bartsch ist die kulturelle Einbeziehung einer der Bausteine der Integration der Neuen, einen ganz anderen wichtigen Aspekt betont sie aber auch: "Bei uns ist das Flüchtlingsheim glücklicherweise nicht abgelegen, sondern in einem Wohngebiet. Das schafft Begegnungen. Es gibt in der Stadt keine kritische Protestmasse gegen das Heim." +Zum Abschluss erklärt Bartsch: "Natürlich kriegen wir mit, was über den Osten gesagt wird. Wenn manche Ostdeutsche sich über den Umgang mit Fremden definieren oder von außen so definiert werden, wird darüber aber leider vergessen, dass die soziale Frage die wirklich wichtige für die Region ist." +Extremismusforscher machen oft darauf aufmerksam, dass es rechte Parolen und Gewalt nun einmal häufiger im ländlichen Raum gebe. Die Trennlinie einfach zwischen Ost und West zu ziehen sei daher ein Irrweg. Damit meinen die Wissenschaftler zumeist, dass eine solche Trennlinie als allgemeingültiger Erklärungsansatz schlichtweg nicht ausreicht – und nicht etwa, dass es keine Unterschiede zwischen Ost und West gibt, sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht als auch in Bezug auf die im Osten im Bevölkerungsdurchschnitt eben doch weiterhin stärker ausgeprägte Fremdenfeindlichkeit. +Inwiefern wirtschaftliche Unterschiede zwischen den westlichen und den östlichen Bundesländern für unterschiedliche Einstellungen und Ansichten sorgen, darüber wird unter Politikern und Wissenschaftlern schon lange gestritten. Fest steht jedenfalls, dass es diese wirtschaftlichen Unterschiede gibt. Das zeigt beispielsweise eine Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung aus dem Jahr 2015. "Das Ergebnis hat uns selbst erstaunt", sagt Direktor Reiner Klingholz. "Ob bei der Bevölkerungsentwicklung, der Wirtschaftskraft, den Vermögen, den Erbschaften oder der Größe der landwirtschaftlichen Betriebe – überall zeichnet sich ziemlich exakt die alte Grenze ab." +Allerdings zeigt auch diese Studie, dass in manchen Bereichen "anstelle der alten Ost-West-Unterschiede auch Differenzen entlang anderer Dimensionen entstehen". So hat der Osten seit der Wende massiv an Bevölkerung verloren, allerdings prosperieren die wirtschaftsstarken größeren Städte, die entlegenen ländlichen Gebiete hingegen verloren über einen langen Zeitraum landesweit überall Bevölkerung. Dies immerhin ist eine Entwicklung, die in einigen ländlichen Gegenden Deutschlands in den vergangenen Jahren gestoppt werden konnte. +Die Identität der ehemaligen ostdeutschen Musterstadt Schwedt ist ein Mosaik – so wie dieses Beispiel schon ahnen lässt, dass es eine ostdeutsche Identität aus einem Guss wohl nicht gibt. Die alte Erzählung von einer rund um die PCK-Raffinerie gegründeten Stadt der Schwerindustrie gilt unter veränderten, abgeschwächten Vorzeichen nach wie vor. Gleichzeitig entwickelt sich mit der Nationalparkstadt ein neues Narrativ. Und mit den Uckermärkischen Bühnen existiert eine Institution, die die Menschen mit ihren alten polnischen Nachbarn ebenso wie mit Neuankömmlingen versöhnen kann. All diese positiven Ansätze können zwar nicht verhindern, dass Schwedt ein kleiner Ort am Rande des Landes bleibt, dem die Jugend wegläuft. Aber hier gibt es mitnichten nur dunkle Wolken. Im Osten geht schließlich die Sonne auf. +Titelbild: William Veder diff --git a/fluter/gibt-es-in-deutschland-zu-wenig-wohnungen.txt b/fluter/gibt-es-in-deutschland-zu-wenig-wohnungen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..284dbc59de24d71ccbf05428c4a1bb8333e6f9b7 --- /dev/null +++ b/fluter/gibt-es-in-deutschland-zu-wenig-wohnungen.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Und warum gibt es so wenig städtische Wohnungen? +Nach dem Zweiten Weltkrieg oder auch nach derWiedervereinigung–immer, wenn die Wohnungen knapp wurden, sorgte der Staat für Abhilfe, u. a. mit dem sozialen Wohnungsbau. Mitte der 1970er-Jahre sah man in Westdeutschland die Wohnungsfrage als gelöst an und zog sich zunehmend zurück. Ähnliches passierte um 2006 herum. Damals wurden große Teile der öffentlichen Wohnungsbestände an private Investoren verkauft – in Dresden etwa an einen US-amerikanischen Investmentfonds. Außerdem war bereits 1990 die staatliche Förderung gemeinnütziger Wohnungsunternehmen abgeschafft worden. Anlass waren damals Korruption und Millionenschulden bei der gewerkschaftseigenen Wohnungsgesellschaft Neue Heimat.Heute gibt es Forderungen, die Gemeinnützigkeit im Wohnungssektor wieder gesetzlich zu verankern. +Gehört freies Bauland nicht eigentlich allen – wie Luft und Wasser? +Auch unbebautes Land hat Besitzer – und die haben ordentliche Gewinne: Bundesweit sind die Preise für einen Quadratmeter Bauland seit Anfang der 1960er-Jahre bis 2015 um 1.600 Prozent gestiegen. Ein Landbesitzer kann auch verdienen, wenn er nicht baut: indem er das Land einfach liegen lässt und abwartet, dass es immer teurer wird. Diese Spekulationen haben mit dazu geführt, dass oft nicht genug gebaut wird. Um das zukünftig zu verhindern, schlagen einige vor, Gewinne aus solchen Bodenspekulationen höher zu besteuern. +Wie schafft man denn bezahlbaren Wohnraum in Städten? +Um das Bauen zu fördern, fordern manche weniger Bürokratie: unter anderem eine Vereinfachung des Baurechts oder auch die beschleunigte Ausweisung von Bauflächen. In einigen Städten werden Wohnungsbauunternehmen, die in guten Lagen bauen dürfen, verpflichtet, einen Teil der Wohnungen für einkommensschwache Mieter anzubieten. Ein weiterer Vorschlag ist, dass eine Stadt Flächen billiger an Investoren verkauft, die es nicht auf maximale Gewinne abgesehen haben – wie zum Beispiel gemeinwohlorientierte Wohnungsbaugenossenschaften, die ihre Mitglieder mit bezahlbarem Wohnraum versorgen. Auch der Ruf nach mehr kommunalem Wohnungsbau wird stärker. +HIER STREITEN WIR ZU GENAU DIESER FRAGE. +Kann man Mietsteigerungen nicht gesetzlich begrenzen? +2015 hat der Bundestag das Gesetz zur Mietpreisbremse verabschiedet, das es den Bundesländern ermöglicht, die Mietsteigerung in Gebieten mit "angespanntem Wohnungsmarkt" bei Neuvermietung zu begrenzen. Liegt die übliche Vergleichsmiete beispielsweise bei acht Euro pro Quadratmeter, darf der Vermieter höchstens 8,80 Euro verlangen. Das Problem ist, dass es viele Ausnahmen gibt: Bei Neubauten, also Wohnungen, die nach dem 1. Oktober 2014 erstmals genutzt und vermietet worden sind, oder nach einer "umfassenden Modernisierung" gilt die Bremse nicht. In Berlin hat der Senat den umstrittenen "Mietendeckel" beschlossen, der unter anderem vorsieht, dass die Mieten für fünf Jahre eingefroren werden und eine Mieterhöhung nur in Ausnahmefällen möglich ist. Zudem können bestehende Mietverträge rückwirkend geändert werden, wenn darin die im Gesetz vorgegebene maximale Miethöhe überschritten wird. Kritiker befürchten, dass diese staatlichen Eingriffe verfassungswidrig sind und die strengen Mietregulierungen Investoren verschrecken – und so letztlich weniger Wohnungen entstehen könnten. Eins steht fest: Die Debatte geht gerade erst richtig los. diff --git a/fluter/giff-muei-mueine-sproke-truijje.txt b/fluter/giff-muei-mueine-sproke-truijje.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..52ca863c06f63277362cd9dc7ad18161a0642fcb --- /dev/null +++ b/fluter/giff-muei-mueine-sproke-truijje.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Werner Zahn: Utstärwet* es et nau nich, öwer kürt wärt es büi us auk nich mahr. +Sprechen es nur noch die Alten, oder hat es auch unter Jüngeren Freunde? +Et sin auk keum nau aule Luie, de platt kürn, öwer et gifft nau velle Vereune in Lippsken, de kümmert sick ümme de aule Sproke, sitt't teohaupe* un kürt und schrüibet. Doteo hort auk junge Minsken, awer de wärt jümmer knapper. Männigmol kürt hür in'n Lippsken auk de Pasteor innne Kärken plattduitsk, öwer blauß an besonneren Dagen eoder Fästen, un dat auk nich in ollen Kärken. +Warum sprechen Sie es denn? Gehören Sie noch zu der Generation? +Eck bin niu tweuunsesstig Johr, kür awer kium Platt, auk blauß seon bettken, wenn eck mol öllere Luie drepe. Muine Grautöllern, de hät Platt blauß unnernanner kürt, awer auk nich, wenn annere Luie dabüi wörn, dann wart auk oll Hauchduitsk kürt. +Warum heißt das überhaupt platt? +Dat Weort "platt" beduit wall "flach oder niedrig". Valichte meunt dat, dat die höchteren Luie Hochdeutsch kürn un dat niedere Volk juste Plattdeutsch. +Ist das ein Dialekt oder eine eigene Sprache? +Platt was eujentlick iümmer eun Dialekt in eunen Dialektkontinuum wesen un eck meune, dat es auk vandage nau seo, auk wenn eunige plüitske Minsken doöber strüien. +Wo wurde Platt überall gesprochen? +Platt was de Sproke van'n Volke, vörneweg was Platt hür in Lippe up'n Lanne kürt. +In unseren Ohren klingt es ein bisschen wie Niederländisch. Woher kommt denn das Platt? +Unner Plattdiusk verstoat man de Sproken, wekke de tweute Lüttverschiubunge nich metmaket hadde. Doteo hort auk Holland. Awer Niederländisch es eune eugene Sproke, wecke nich teo de niederduitsken Sproke hort. Minsken, wekke Platt kürn, verstaot de niederlandske Sproke bätter os de Minsken, wecke blauß Hochduitsk kürn. +Wie viele Menschen, die Platt reden, gibt es noch in Deutschland? +Ganß genau weut eck dat nich, eck leos mol, dat in Duitskland eun bet vöre Million Minske Platt os Moddersproke kürt, ungefohr achte Million spreken Platt, un dertig Million vastoht Platt. +Gibt es Bestrebungen, das Platt wieder mehr zu fördern? +Jo, dat gifft et. Im Johr 1992 wort de "Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen" beschlotten, dösse Sproken föddert wärt, in'n Scheolen, in'ne Kultur, in'n Medien un seo foider. Schimpfen Sie mal auf Platt! Dunneralittchen neo mol, verdammt un teonaijjet, giff müi müine Sproke truijje*! +*Lutstärwet = ausgestorben +*teohaupe = zusammen +* truijje = zurück diff --git a/fluter/gig-economy-selbstbestimmtes-arbeiten-oder-ausbeutung.txt b/fluter/gig-economy-selbstbestimmtes-arbeiten-oder-ausbeutung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fda672d9dfbc2df4e5c4d86e73f0f9c0cdf73cc4 --- /dev/null +++ b/fluter/gig-economy-selbstbestimmtes-arbeiten-oder-ausbeutung.txt @@ -0,0 +1,74 @@ +Ich habe mich bei CrowdGuru registriert, einer der vielen Internetbörsen, die neuerdings Kleinstjobs für jedermann vermitteln. Es ist nur ein Beispiel für die sogenannte Gig-Economy: Arbeitskräfte sind nicht mehr bei einem Unternehmen fest angestellt, sondern haben bei wechselnden Auftraggebern ihre "Gigs", so wie Stars für Auftritte gebucht werden. Nur eben ohne Ruhm und für eine Gage, die oft nicht mal einen abgehalfterten Castingshow-Teilnehmer auf die Bühne locken würde. Manche sprechen stattdessen auch von der On-Demand-Economy – weil Arbeitskräfte keine langfristigen Verträge haben, sondern auf Abruf einbestellt werden. Oder von der Plattform-Ökonomie, weil das Abrufen so bequem und einfach geworden ist. Auf Internetplattformen stehen Tausende, Abertausende, Millionen Arbeitswillige jederzeit und für fast jede Tätigkeit bereit. +Das US-amerikanische Unternehmen Uber etwa vermittelt nach dem Gig-Prinzip Autofahrten, Airbnb Zimmer für Touristen. Eine aktuelle Studie des bekannten Thinktanks "The Brookings Institution" in Washington deutet an, wie stark allein diese beiden besonders prominenten Plattformen die Wirtschaft bereits umwälzen: Seit ihrem Start ist die Zahl der nach Auftrag bezahlten Arbeitskräfte in den jeweiligen Branchen stark gewachsen. In der Zimmervermietung stieg sie seit 2010 um 17 Prozent, während die Zahl der klassischen Hotel- oder Hostel-Angestellten nur um 7 Prozent stieg. Im Transportbereich wuchs die Zahl der freien Fahrer um 69 Prozent, die der Angestellten dagegen nur um 17 Prozent. +Für Deutschland hat eine Gewerkschaftsuntersuchung kürzlich ermittelt, dass 1,2 Millionen Menschen mindestens die Hälfte – aber weniger als 100 Prozent – ihres Einkommens in der Plattform-Wirtschaft erzielen, 150.000 Menschen bestreiten ihren kompletten Verdienst mit Gig-Arbeit. Es könnten schnell mehr werden, vor allem in Krisenzeiten, meint Nadine Müller, die das Thema bei der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi betreut. "Und dann hätten wir das Problem der Zunahme prekärer Arbeitsbedingungen", sorgt sie sich. +Ist das so? Steht die Gig-Wirtschaft für Ausbeutung, schlechte Bezahlung und neue Unsicherheiten? Oder wie die Plattformbetreiber behaupten: für Chancen und mehr Selbstbestimmung darüber, wann, wie und für wen wir arbeiten? Ich will es ausprobieren. Also jobbe ich von unterwegs per App, bewerbe mich als Fahrer bei einem Lieferservice – und erledige Aufträge im Heer anonymer Internettexter. +Für seinen ersten "Gig" brauchte unser Autor seine Wohnung nicht zu verlassen, sollte dafür aber kräftig in die Tasten hauen. Das Foto lässt erahnen: Es klappte nur mäßig +Für den Luxusshop soll ich über Fliegeruhren schreiben. Ich trage keine Armbanduhr mehr, seit die letzte, die es als Geschenk zu einem Zeitungsabo dazugab, stehengeblieben ist und in der Schublade verschwand. Was genau sind Fliegeruhren? Wikipedia hilft mir. Kurz gesagt: Es handelt sich um Armbanduhren, die ein wenig wie die Armaturen in einem Flugzeugcockpit aussehen. Ich tippe in die Textmaske von CrowdGuru: "Fliegeruhren sind Luxusuhren der besonderen Klasse." Ein guter Anfang, finde ich, und schwurble munter weiter, bis mir die Puste ausgeht. Aber da habe ich gerade einmal 41 Wörter zusammen. Laut Auftrag fehlen mir noch 259 Wörter. Ich wechsle in meinem Browser hin und her, von Wikipedia zu CrowdGuru und wieder zurück, und schleppe mich so ins Ziel. Letzter Klick, abgeben. +Aber sofort ploppt eine Meldung auf: Ich hätte die Schlagwörter nicht wie gewünscht eingebaut. "Fliegeruhr" dürfe im Text nur dreimal vorkommen. Aktuell steht der Zähler bei acht. Ich formuliere mühselig um: edler Zeitanzeiger im Technik-Chic, der exklusive Schmuck am Handgelenk des mondänen Herrn. Das Gefrickel am Lob auf die Fliegeruhr hat mich eine Stunde gekostet. Auf meinem Konto steht: "Verdienst: 5 Euro." +Mechanical Turk +Gegründet 2005, USA +Amazons Dienst "Mechanical Turk" ist so etwas wie die Mutter aller Crowdworking-Dienste – also jener Plattformen, die Kleinstjobs vermitteln, die man am heimischen Rechner erledigen kann: Bilder verschlagworten, Produkttexte schreiben, Telefonnummern recherchieren, Übersetzungen. Vergleichbare Plattformen in Deutschland sind CrowdGuru, Clickworker oder das sich speziell an Studenten richtende Portal Mylittlejob. Der Computerwissenschaftler Jaron Lanier kritisiert, die Optik und Technik von Crowd-Diensten wie "Mechanical Turk" wiege Auftraggeber in der Illusion, sie ließen die Arbeit vollautomatisch von Algorithmen erledigen – die Menschen dahinter wirkten wie Softwarekomponenten, nicht wie Arbeiter, die man ordentlich bezahlen müsse. Tatsächlich lehnt sich der Unternehmensname genau an dieses Bild an: "Mechanical Turk" bezeichnet einen vermeintlichen Schachroboter aus dem 18. Jahrhundert: In Wirklichkeit steckte aber ein menschlicher Spieler in der Konstruktion des "Schachtürken" und steuerte die Figuren über einen Mechanismus. Amazon hat seinen Dienst gestartet, um Dienste erledigen zu lassen, für die Software heute noch zu schwach ist – so wie einst fürs Schachspielen. +Immerhin: An den Job bin ich ziemlich leicht herangekommen. Ich musste nicht umziehen. Ich musste nicht einmal meine Wohnung verlassen. Keine Akquise betreiben, mich nicht in stressigen Bewerbungsverfahren grillen lassen. Es reichte, sich in einem Multiple-Choice-Test mit Fragen zur Rechtschreibung zu "gurufizieren", wie es hier so lässig heißt. Für Experten wie den Wirtschaftsinformatik-Professor Jan Marco Leimeister von der Uni Kassel liegt in der schnellen Verfügbarkeit die große Chance der neuen Arbeit: Sie fügt sich ideal in die Lücken, die sich in modernen Erwerbsbiografien auftun. Arbeitsverträge sind immer häufiger befristet, vor allem für junge Berufseinsteiger – mit unkomplizierten Crowd-Aufträgen lässt sich die Zeit zwischen den Anstellungen überbrücken. Immer mehr  Menschen arbeiten in Teilzeit – mit kleinen Digitaljobs können sie ihr Gehalt aufstocken. Aber könnte man wirklich davon leben? +Meinen nächsten Arbeitgeber lade ich mir aufs Handy. Er heißt "AppJobber" und will mich zu Mikroaufgaben lotsen, die ich wie nebenbei in meiner Nachbarschaft erledigen kann. Oder wo auch immer ich gerade unterwegs bin. Zum Beispiel Preise im nächsten Supermarkt kontrollieren, während man sowieso gerade einkauft. Oder eben schnell überprüfen, ob ein Werbeplakat hängt, während man mit vollgepackten Taschen nach Hause trottet. "Jobben war noch nie so einfach", verspricht die App. Es war aber auch selten so wunderlich. +In den Nutzungsbedingungen, die sich beim ersten Start öffnen, stehen Sätze, die mich stutzig machen. "Bringe dich zur Erledigung eines Jobs niemals in Gefahr", warnt "AppJobber" mich. Oder: "Führe niemals illegale Tätigkeiten aus, auch wenn die Jobbeschreibung das verlangen sollte." Sollte nicht mein neuer Arbeitgeber dafür garantieren, dass alles halbwegs sicher und mit rechten Dingen zugeht? +Der Gig in der Nachbarschaft fühlt sich ein bisschen nach digitaler Schnitzeljagd à la Pokèmon an. Wäre da nicht die Warnung vor illegalen Geschäften +Ich tippe auf einen der grünen Marker in der Umgebungskarte. Ein sogenannter Baustellen-Check wird verlangt, in 642 Meter Entfernung, die Straße ist aufgeführt, Hausnummer 200. +Doch an der angegebenen Adresse finde ich nichts, was nur ansatzweise wie eine Baustelle aussieht. Keinen Betonmischer, kein Baugerüst. Nur ein allem Anschein nach unsaniertes Gebäude mit einem italienischen Restaurant im Erdgeschoss. Bin ich schon wieder arbeitslos, ehe ich meinen Dienst richtig angetreten habe? "Baustelle befindet sich nicht immer genau bei dem Marker", klärt mich die App auf. "Im Zweifel die Straße komplett ablaufen." +Ich finde dann tatsächlich eine Baustelle, 50 Meter weiter, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, eine weite Fläche hinter einem hohen Zaun, ein Bagger, ein Erdaushub, ein grauer Bürocontainer, ein paar verstreute Arbeiter in leuchtend gelben Westen. "Neubau eines Wohn- und Geschäftshauses (53 WE) mit Tiefgarage" steht in der Aufgabenbeschreibung der App. Auf dem Schild steht dagegen: "Raum für Familien, 31 Wohnungen". Von einer Tiefgarage ist nirgends die Rede. Ist das die Baustelle, die ich suche? +Ich tue einfach mal so und fotografiere. Die App will, dass ich den Punkt in der Satellitenaufnahme so verschiebe, dass sie metergenau meinem Standort entspricht. Ich soll den Pfeil antippen, der die Blickrichtung angibt, aus der heraus ich mein Foto gemacht habe. Ich soll zwei weitere Bilder aus anderen Perspektiven aufnehmen. Die App bittet mich um die Angabe der korrigierten Adresse. Woher weiß ich, welche Hausnummer ein Haus trägt, das es noch nicht gibt? Am Gebäude rechts steht 185, neben der Tür am Haus links die Nummer 169. Ich tippe: 172. Die App fragt mich, wie der Architekt heißt. Und außerdem fragt sie mich: "Wie lautet der Name/Firma des Bauherrn/Investors?" +Und ich frage mich: Wer will diese Dinge eigentlich so genau wissen? Lässt hier ein dubioser Konkurrent anonym spionieren? Will ein Spekulant mit den Informationen die Wohnungspreise in die Höhe treiben? Plant irgendwer eine nächtliche Sabotageaktion und braucht dafür ein paar frische Angaben vom Ort? Was mache ich hier eigentlich? +Als digitaler Tagelöhner kommt man mitunter ganz schön rum: Hier fotografiert unser Autor eine Baustelle. Warum und für wen – weiß er nicht so genau +Und vor allem frage ich mich: Ist das, was ich hier mache, wirklich Arbeit? Was sind die Kriterien, nach denen sich entscheidet, für welche Tätigkeit die Regeln der Arbeitswelt  wie Kündigungsschutz, Krankenversicherung oder Lohnuntergrenzen gelten sollten – und was vielleicht einfach nur eine Art Freizeitgestaltung mit Aufwandsentschädigung ist? +Die Frage stellt sich an vielen Stellen der Gig-Wirtschaft, vor allem da, wo das Teilen ökonomisiert wird. Wenn Privatleute über Airbnb ihr Zimmer Touristen überlassen, sind sie dann einfach nur eine etwas formellere Weiterentwicklung der Couchsurfer, die den Backpackern ihr Sofa gegen eine Flasche Wein überließen? Oder schon kleine Hoteliers mit allen Rechten und Pflichten? Ist Uber bloß so etwas wie eine neue Mitfahrbörse oder schon ein internationales Taxiunternehmen? +Das Baustellenfotografieren fühlt sich für mich jedenfalls eher an wie eine Schnitzeljagd, bei der es etwas zu gewinnen gibt. Wie "Pokémon Go" mit Taschengeld, weil zufällig irgendjemand von meinem Hobby profitieren kann. Später fällt mir auf: AppJobber spricht nicht von Honorar, sondern nur von einer "Belohnung". Für diese Baustelle: ein Euro. +Für Angestellte gibt es in Deutschland seit 2015 einen gesetzlichen Mindestlohn, aktuell liegt er bei 8,84 Euro in der Stunde. Niemand sollte weniger bekommen. Aber für Gig-Arbeiter ohne festen Arbeitsvertrag gilt die Regelung nicht. Eine Sprecherin von AppJobber erklärt mir, die Bezahlung sei "immer angemessen im Verhältnis zum Aufwand". Und rechnet vor: Die Ein-Euro-Jobs würden ja nur maximal fünf Minuten dauern, was auf die Stunde hochgerechnet immerhin einem Honorar von 12 Euro entspreche. Mag hinkommen. Wenn man nicht gerade lange nach der Baustelle suchen muss. +Auf der Internetseite von CrowdGuru heißt es, die Mitarbeiter würden bei jedem Job zunächst intern testen, wie lange die Bearbeitung dauert. Danach richte sich das festgesetzte Honorar. Aber mit welchem Stundenlohn kalkuliert das Unternehmen? Als ich CrowdGuru-Geschäftsführer Hans Speidel später von meinen mickrigen 5 Euro Verdienst fürs Anpreisen der Fliegeruhr berichte, schiebt er es auf mangelnde Übung. "Wie bei jeder Arbeit benötigt es eine gewisse Einarbeitungszeit, nicht immer geht es auf Anhieb leicht von der Hand", sagt er. Bei "durchschnittlicher Arbeitsgeschwindigkeit" könne das Honorar allerdings "deutlich über Mindestlohn liegen". Konkreter wird er nicht. +Laptop auf, bevor der Morgen graut: "Wenn man die guten Jobs will, muss man schnell sein", sagt Diana Rönisch, die von den Kleinstjobs lebt +Gewerkschaften sind skeptisch: "Bei den Mini-Aufträgen – auch Clickworking genannt – sind die Stundenlöhne auf keinen Fall ausreichend", meint Expertin Nadine Müller von Verdi. "Es ist schwierig, auf ein Einkommen zu kommen, das über dem Mindestlohn liegt." +Der Forscher Jan Marco Leimeister hat vor einigen Monaten eine der ersten Untersuchungen in Deutschland über die Menschen gemacht, die auf Kleinjob-Portalen wie CrowdGuru arbeiten. Wirklich repräsentativ ist sie wohl nicht, aber dennoch aufschlussreich: Von 248 befragten Crowdworkern kommt die Hälfte mit ihrer Tätigkeit auf einen Nettoverdienst von 200 Euro im Monat. 78,8 Prozent der Befragten gaben an, dass der Job für sie nur eine Nebentätigkeit ist; ihr Haupteinkommen erwirtschaften sie anderswo. Damit können auch die Gig-Firmen argumentieren: Ihre Jobs seien nicht dafür gedacht, von ihnen zu leben. Wer es trotzdem versucht, ist eben selbst schuld. +Diana Rönisch, 38 Jahre, versucht, aus der Not heraus, genau das. +Ursprünglich hat sie als Fleischereifachverkäuferin gearbeitet, sie habe den Beruf gerne gemacht, sagt sie, die Lehre damals sogar als Bezirksbeste abgeschlossen. Aber dann wurde sie schwanger, und als sie anschließend an ihren Arbeitsplatz zurückkehren wollte, ging es dem Betrieb wirtschaftlich schlecht. Sie verlor ihren Job. +Rönisch lebt in Waldheim, eine Stadt in Mittelsachsen mit gerade einmal 9.000 Einwohnern. Mit zwei kleinen Kindern hätte sie nur eine Halbtagsstelle machen können, aber die war schwer zu finden in dem kleinen Ort. Ein Auto, um in einer anderen Gemeinde zu arbeiten, hätte sie sich erst kaufen müssen, was wiederum zu teuer bei einem Teilzeitgehalt gewesen wäre. Das Arbeitsamt war ratlos. Schwer vermittelbar, attestierte ihr Sachbearbeiter. +Airbnb +Gegründet 2008, USA +Airbnb vermittelt gegen Provision Privatunterkünfte – so die Idee. Inzwischen aber müssen die Reisenden längst nicht mehr auf Luftmatratzen nächtigen, wie es der Firmenname nahelegt. In beliebten Vierteln sollen im großen Stil Wohnungen zu Touristenherbergen verwandelt worden sein – so sehr, dass manch eine Stadt rabiat eingriff. In Berlin etwa ist es seit Mai 2014 untersagt, ganze Wohnungen ohne behördliche Genehmigung an Feriengäste zu vermieten. Nutzer müssen sich bei Airbnb verifizieren, zum Beispiel mit ihrer E-Mail-Adresse oder ihrem Facebook-Profil. Hat man bei dem sozialen Netzwerk zu wenig Freunde, kann es Berichten zufolge schon mal vorkommen, dass Airbnb um ein Video bittet, mit dem es die Identität eines Nutzers prüft. +"Da habe ich angefangen, im Internet nach Jobs zu suchen, die man von zu Hause aus erledigen kann", sagt sie. Erst sah sie sich Werbeclips an, für ein paar Cent, dann begann sie auf Crowdworking-Plattformen Texte zu verfassen, so wie ich nun. Geschrieben hat sie schon immer gern. Warum also nicht? +Diana Rönischs' Arbeitstag beginnt um sechs Uhr morgens, dann schaltet sie ihren Computer ein und schaut, welche neuen Jobs auf den Portalen angeboten werden. Ausschlafen würde kosten: "Wenn man die guten Jobs will, muss man schnell sein", sagt sie. Sonst haben andere sie. +Wenn es gut läuft, kommt Diana Rönisch so auf 800 Euro im Monat. Wenn es nicht so gut läuft, sind es auch mal nur 300 Euro. "Immerhin liege ich niemandem auf der Tasche", sagt sie. +Dafür hängt sie umso mehr von den Kleinjobportalen ab. Das zeigt der Blick auf einen Auszug ihres Benutzerkontos: "0,00 EUR" steht da hinter einer ganzen Reihe von Aufgaben. "Es kommt immer wieder vor, dass die Plattformen Aufträge ablehnen, manchmal ziemlich willkürlich", sagt Rönisch. "Dann hat man umsonst gearbeitet und muss das hinnehmen." +Die Macht der Portale lerne auch ich ziemlich schnell kennen. +Ich habe mich entschieden, dass mir meine Arbeit endlich etwas mehr einbringen soll als ein Honorar unter dem Mindestlohn. In der Liste bei CrowdGuru finde ich den folgenden Auftrag: "Unternehmenstexte, ca. 1200 Wörter, 19 Euro". Klingt gut. +Städte beschreiben, vom heimischen Sofa aus – gut, dass Fremdenverkehrsämter Websites haben +Die Autovermietung Sixt wünscht kleine Artikel über Städte: Sehenswürdigkeiten, Verkehrsinfo, der Service in den Sixt-Filialen. "Sixt hat sich die Mühe gemacht und ein sehr ausführliches Briefing verfasst", schreibt CrowdGuru. +Ausführlich ist eine Untertreibung. Die Wunschliste hat eine epische Länge. Man dürfe keine Konkurrenzfirmen nennen, steht darin. Es dürften aus technischen Gründen keine Ausrufezeichen, Doppelpunkte, Anführungszeichen vorkommen. Der Zusatzservice soll nicht so benannt werden, wie es jeder normale Mensch im Alltag täte, sondern so, dass kein potenzieller Kunde abgeschreckt wird: "NIEMALS von  ‚Versicherung' sprechen, NUR von Schutz, also zum Beispiel: bei Sixt können Sie einen Vollkaskoschutz in Anspruch nehmen." Ich brauche allein eine knappe Viertelstunde, um die Anforderungen zu studieren und so gut wie möglich zu verinnerlichen. +Die Stadt, über die ich schreiben soll, heißt Rostock. Bestimmt ist es schön dort, aber ich verbinde mit Rostock so viel persönliche Erfahrung wie mit Fliegeruhren. Zum Glück helfen die Internetseiten des Fremdenverkehrsamtes. Ich versuche mit so großer Begeisterung zu schreiben, als wäre ich ein pensionierter Heimatkundelehrer, der jeden Sonntag mit hochgehaltenem Regenschirm Reisegruppen zu den Sehenswürdigkeiten lotst. Aber ich merke sehr bald: So schnell sind die versprochenen 19 Euro bei einer Bezahlung von 1,5 Cent pro Wort keineswegs beisammen. Nach 101 Wörtern steht die Anzeige bei 1,52 Euro. Nach einer Stunde bei 5,83 Euro. Nach zwei Stunden bei 12,81 Euro. Mein Stundenlohn liegt jetzt also 2,44 Euro unter dem Mindestlohn. Diese Arbeit fühlt sich so mühselig an, als wollte man es zur Million bringen, indem man kleine Münzen in ein Sparschwein wirft. Wenig später schickt CrowdGuru mir eine Mail: "Der Text war zu fehlerhaft, ich muss ihn daher leider ablehnen. Bitte orientiere dich am Briefing." Was ich ja versucht habe, aber bei all den verbotenen Satzzeichen und verlangten Beschönigungsformeln ist es eben schwer, den Überblick zu behalten. Ich ärgere mich – und logge mich schnell ein. Die 12,81 Euro sind zwar noch auf meinem Konto. Immerhin. Im Hilfebereich ist aber zu lesen, dass Mails wie diese mir auf Dauer gefährlich werden können: Wenn ich mich nicht verbessere oder wiederholt das Briefing missachten sollte, kann ich gesperrt werden. +Im Forum von CrowdGuru finde ich einen Beitrag von "Emm", gepostet am 31.01.2014, 11.15 Uhr. "Ich bin hier seit wahrscheinlich 1 ½ Jahren angemeldet und arbeite seit einem guten halben Jahr wirklich intensiv an Jobs", berichtet "Emm". Dann sei er (oder sie) "ohne Verwarnung für alle Textjobs gesperrt" worden. "Ich bin Freiberufler und verdiente hier quasi meine wirklich wenigen Brötchen. Nach so langer Zeit und reichlich geschriebenen Texten hofft man ja auch, dass man nicht einfach mal fristlos vor die Tür gesetzt wird." Die Sache gehe "Emm" sehr nahe: "Guru hat doch eine gewisse Verantwortung als Arbeitgeber." +Hat es? +Viele der Unternehmen in der Plattform-Ökonomie schreiben in ihren Geschäftsbedingungen, dass sie sich nur als eine Art moderner Arbeitsvermittler verstehen, als Technologiefirma mit einem mehr oder weniger ausgefeilten Zuteilungsmechanismus, der Angebot und Nachfrage zusammenbringt – aber darüber hinaus nichts garantiert und für nichts haftet. Das Unternehmen AppJobber, für das ich die Baustelle fotografiert habe, stellt in seinen Geschäftsbedingungen klar, dass es die Job-Inserate selbst nicht prüft. "Das Verhältnis zwischen Auftragsnehmer und Plattformbetreiber begründet keine Partnerschaft, keine Organisation, kein Gemeinschaftsunternehmen oder kein Angestelltenverhältnis", ist dort außerdem zu lesen. "Die Leistungen des Auftragnehmers erfolgen ausschließlich zur Erbringung der definierten Aufgabe in alleiniger Verantwortung." Bei CrowdGuru heißt es gleich in der Begrüßungsnachricht: "Alle Gurus arbeiten auf selbständiger Basis, es gibt keine Anstellung bei CrowdGuru." +Helpling +Gegründet 2014, Deutschland +Das Berliner Start-up Helpling vermittelt selbstständige Putzkräfte. Pro Stunde verdienen sie nach Angaben des Unternehmens ab 12,90 Euro, müssen davon aber noch eine Betriebshaftpflichtversicherung, Steuern und Kranken- sowie Pflegeversicherung zahlen. Damit landen sie mitunter bei einem Lohn, der unter dem von festangestellten Gebäudereinigern liegt. Kunden beschwerten sich, dass sie immer wieder versetzt wurden. Mitbewerber Book A Tiger (BAT Household Services GmbH), ebenfalls aus Berlin, änderte daher seine Strategie und stellt die Reinigungskräfte seit kurzem fest an. Bei Helpling sollen Ratings das Problem lösen: Wer nie zum Putzen kommt, riskiert eine schlechte Kundenbewertung und damit sein Geschäft. Auch Helpling-Mitgründer Benedikt Franke lässt seine Wohnung von einer Helpling-Putzkraft reinigen. +Wenn von Selbstständigen die Rede ist, denkt man als Erstes an Menschen, die Unternehmen führen und selbst Mitarbeiter beschäftigen. Sie galten lange als die Starken in der Wirtschaft, von denen andere abhängig sind und die deswegen selbst nicht so sehr geschützt werden müssen. Aber inzwischen sind die Selbstständigen längst nicht mehr nur gutverdienende Firmenpatriarchen mit Zigarre im Mund.3,7 Millionen Menschen waren 2015 selbstständig, rund zehn Prozent aller Beschäftigten in Deutschland. Darunter fallen fast zwei Millionen Solo-Selbstständige, also Unternehmer, die ihr einziger Angestellter bleiben und nicht unbedingt viel verdienen. +Bei Festangestellten muss der Arbeitgeber die Kranken-, Pflege-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung mitfinanzieren. Lässt eine Firma Aufträge von Selbstständigen erledigen, statt dafür Mitarbeiter einzustellen, spart sie sich die Sozialversicherungskosten. Und die schlecht verdienenden Ein-Mann-Unternehmer sparen sie sich mitunter, wo es möglich ist auch, notgedrungen. Bei der Rente (für die es anders als bei der Kranken- und Pflegeversicherung für Selbstständige vieler Berufsgruppen keine Versicherungspflicht gibt) zahlt laut der Untersuchung von Jan Marco Leimeister rund die Hälfte der Solo-Selbstständigen Crowdworker nicht in eine staatliche oder private Versicherung ein. +Die Gig-Wirtschaft verwandelt auch Leute zu Quasi-Unternehmern, die man bisher nie dort verorten würde. Zum Beispiel Reinigungskräfte, die als Selbstständige über Plattformen wie Helpling gebucht werden. Oder Essenskuriere, die nicht mehr bei einer Pizzeria angestellt sind, sondern mit Gewerbeschein für verschiedene Restaurants Lieferungen ausfahren, koordiniert über eine Bestell-App. +Je mehr Deliveroo-Bestellungen ein Fahrer ausliefert, desto höher sein Stundenlohn. Die beliebtesten Schichten bei den Radlern: Freitag- und Samstagabend +Für so einen Job habe ich mich ebenfalls beworben, und zwar beim britischen Lieferdienst-Start-up Deliveroo, das gerade auf den deutschen Markt drängt. Mein vierter Versuch als Gig-Jobber. "Wir freuen uns, dass du Teil unserer Rider Community werden möchtest", steht in der Einladung zur Probefahrt, die ich in meinem Posteingang finde. "Beweise unseren besten Kurieren, wie motiviert und geeignet du bist." Dann dürfe ich mich auf "flexible Arbeitszeiten" freuen, "viel Solidarität" und vor allem: "bezahlten Sport". +Ein Bürogebäude in der Hamburger Innenstadt, alles wirkt noch sehr unfertig und vorläufig. Deliveroo selbst steht nicht auf dem Klingelschild, ein Zettel an der Tür sagt: vierter Stock. Die Mitarbeiterin setzt mich in die Sofa-Ecke eines Großraumbüros, wo ich auf Lukas, den Fahrer, warten soll. Lukas ist ein großer, dünner Mann in meinem Alter, mit Radler-Leggings und einer kurzen Hose darüber, etwas luftig für die Temperaturen draußen. Er zeigt auf mich, ich nicke. Keine Befragung, keine stressige Motivationsprüfung, Lukas setzt sich und legt sein iPhone auf das Tischchen. "Also erst mal zur App." +Hier sei zum Beispiel die Chatfunktion, um die Zentrale zu erreichen. "Falls mal ein Kunde unhappy ist." Die Kunden können übrigens, während sie auf ihr Essen warten, in Echtzeit verfolgen, wo die Fahrer gerade entlangradeln – Deliveroo natürlich auch. "Totale Überwachung", sagt Lukas. Und lächelt abgeklärt. Alles Ironie. Oder auch nicht. +Wir warten. Dann vibriert sein Handy. Die nächste Bestellung. Die Karte zeigt den Weg zum Restaurant. "Wollen wir?" +Ich habe Mühe, auf meinem ungeölten Damenrad mit der im dritten Gang eingerosteten Schaltung hinterherzuwackeln, verwinkelte Innenstadt, enge Straßen, Fußgänger überall, wieder eine rote Ampel. Lukas fährt drüber. Mir fällt ein, dass er eben auf dem Sofa etwas über rote Ampeln gesagt hat. Dass man sie ignorieren sollte. Oder dass man gerade das nicht tun dürfe. Ich weiß es nicht mehr. +Als Lukas die Lieferung in der Styroporkiste vorn auf seinem Sportfahrrad verstaut hat, wischt er einen türkisfarbenen Knopf in der App. Auf der Karte erscheint der Weg zum Kunden. Ein idiotensicherer Job sei das, sagt er. Aber – ehrlich – auch ein ziemlich öder. +Man ist bei Deliveroo nicht unbedingt gezwungen, als Selbstständiger zu arbeiten. Man kann auch einen Vertrag als Midijobber unterschreiben mit festem Stundenlohn. Die Entscheidung hängt davon ab, wie man persönlich kalkuliert. Als Selbstständiger, hatte mir die Frau von Deliveroo am Telefon erklärt, bekomme man 5 Euro pro Lieferung, plus Trinkgeld. Pro Stunde könne man zwei bis drei Lieferungen schaffen und auf die Art natürlich mehr verdienen als mit Vertrag, vor allem am Wochenende, freitagabends, samstagabends. Es sind die Schichten, um die sich die selbstständigen Fahrer allerdings auch alle reißen. +Nach der Probefahrt bin ich skeptisch. Drei Lieferungen pro Stunde? Machbar, vielleicht. Wenn wirklich so viele Aufträge über die App reinkommen, was niemand garantiert. Wenn man strampelt wie ein Hamster bei der Laufradolympiade. Wenn man rote Ampeln eher als unverbindliche Empfehlung begreift. +Uber +Gegründet 2009, USA +Uber bringt Fahrgäste und Fahrer über eine Smartphone-App zusammen – und bewegt sich irgendwo zwischen Mitfahrzentrale und Taxiunternehmen. Genau darin liegt zumindest in Deutschland das Problem: Privatfahrer dürfen hierzulande bezahlende Mitfahrer nur gegen eine Spritumlage mitnehmen, woran die Vermittlungsplattform wiederum nicht verdienen kann. Wer Fahrgäste für Geld kutschiert, braucht einen Personenbeförderungsschein. Das Landgericht Frankfurt am Main hat Uber die Privatfahrervermittlung zunächst in einem Urteil im März 2015 und das OLG Frankfurt dann in einem Berufungsurteil im Juni 2016 untersagt – zumindest für jene, die nicht über eine Erlaubnis nach dem Personenbeförderungsgesetz verfügen. Der Entscheidung vorangegangen waren Proteste von Taxiunternehmen, die sich durch die neue Konkurrenz bedroht sahen. In Großbritannien hat ein Arbeitsgericht im Oktober entschieden, dass Uber seine Fahrer nicht wie selbstständige Unternehmer behandeln darf. +Uber vermittelt aber nicht nur Autofahrten, sondern sammelt auch fleißig Daten. So hat das Unternehmen zum Beispiel ausgewertet, wie häufig Kunden nachts Hin- und bei Tagesanbruch Rückfahrten buchten – und daraus geschlossen, in welchen US-Städten es besonders viele One-Night-Stands gibt. An der Spitze steht angeblich Boston. +In London ist im vergangenen August etwas Unerwartetes geschehen, als Deliveroo Hunderten Fahrern per Mail ein neues Bezahlmodell ankündigte, bei dem sie statt nach einem fixen Stundenlohn stärker pro Lieferung entlohnt werden sollten: Die Fahrer begannen zu streiken. +Sie organisierten einen Korso durch die Stadt, Roller hinter Roller, Fahrrad hinter Fahrrad, bis an die Firmenzentrale, wo sie einen Manager heraushupten. Man wolle mit jedem Einzelnen reden, der unzufrieden sei, versuchte der zu beschwichtigen. Die Menge brüllte ihn nieder. "No, no, no." +Wir wollen alle das gleiche, sagte einer der Fahrer. Einen Stundenlohn von 8 Pfund. +Am Ende verzichtete Deliveroo auf das neue Bezahlmodell. Obwohl es doch so sehr im Sinne der Fahrer sei, wie das Tech-Start-up behauptete: In anderen Bezirken, in denen das Unternehmen pro Auftrag bezahle, seien die Durchschnittsverdienste sogar gestiegen. +Es war einer der ersten großen Arbeitskämpfe der Gig-Economy, und viele Beobachter staunten, wie sehr die Fahrer zusammenhielten. Wie war ein Streik möglich in einer Wirtschaft, die das Einzelkämpfertum kultiviert? +Ihren Protestzug organisierten die Essenskuriere mit demselben Gerät, über das auch ihre Aufträge kommen: Sie trommelten ihre Kollegen per Kettennachricht über WhatsApp zusammen. Im Internet ließen sie Sympathisanten per Crowdfunding in die Streikkasse einzahlen; eine große Gewerkschaft, die ihnen den Ausfall bezahlte, gab es ja nicht. +Nach meinem Abstecher in die Gig-Wirtschaft macht mir der Erfolg der Fahrer Hoffnung. Man muss den Algorithmen der Plattform-Giganten nicht hilflos ausgeliefert sein. Man kann dafür sorgen, dass Selbstbestimmung mehr ist als nur ein Tarnbegriff für Ausbeutung, wenn man die Technik nutzt und sich zusammenschließt. Vielleicht zeigt das Londoner Beispiel auch, wie man die Gig-Economy im Kampf um faire Arbeitsbedingungen im Moment am besten schlagen kann: mit ihren eigenen Mitteln. + diff --git a/fluter/gipfel-statt-hakenkreuz.txt b/fluter/gipfel-statt-hakenkreuz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8396bebd5558ca40b5f54a70ae1dca5e603beaeb --- /dev/null +++ b/fluter/gipfel-statt-hakenkreuz.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Sein einstiges Sommerhäuschen am Hang, später Berghof genannt, wurde zu einem zweiten Regierungssitz mit gewaltiger Panoramaterrasse ausgebaut. Auch Hermann Göring, Albert Speer und Martin Bormann bezogen Häuser auf dem Obersalzberg. +All diese Gebäude gibt es heute nicht mehr. Die Amerikaner ließen sie nach Kriegsende schleifen und erklärten den Berg zum Sperrgebiet. Die Ruinen des Berghofs, den britische Bomber erst wenige Tage vor Kriegsende angriffen, wurden gesprengt. Nichts sollte mehr an die Nazis erinnern. +Ein versteckter Waldweg abseits einer Nebenstraße führt heute dahin, wo der Berghof stand. Das Grundstück ist inzwischen mit hohen Bäumen zugewachsen. Im Wald findet man nur Treppenreste und ein paar Ziegelsteine aus dem alten Mauerwerk. Auf einer silbernen Metalltafel wird auf Deutsch und Englisch die Geschichte des Berghofs erzählt. "Hier wurden Entscheidungen getroffen, die in die Katastrophe von Weltkrieg und Holocaust führten", lautet das lakonische Ende des Textes. Das Wort Holocaust, das ist an den Kratzspuren zu erkennen, musste auf der Tafel bereits erneuert werden. +Einen "Unort" hat die "New York Times" Berchtesgaden einmal in einer Reportage genannt. Wegen des Obersalzbergs, der zu der Marktgemeinde gehört. Bürgermeister Franz Rasp, ein sportlicher, freundlich dreinblickender Mann von 41 Jahren, ärgert sich darüber. "Ist Nürnberg wegen des Zeppelinfeldes auch ein Unort – oder Berlin mit seinem Olympiastadion?", fragt er. Die Begeisterung der Berchtesgadener für die Nationalsozialisten habe sich in der NS-Zeit sehr in Grenzen gehalten, schon wegen der Enteignungen auf dem Berg. "Und auch heute werden sie hier kein rechtes Gedankengut entdecken, hier gibt es keine Skinheads, Neonazis oder NPD-Wähler", sagt Rasp. +Zwar brenne oben am Berghof ab und zu einmal eine Kerze, die irgendein Spinner von außerhalb angezündet habe. Aber das seien Einzelfälle, beteuert Rasp. "Wir wissen, unsere Gemeinde muss mit der dunklen Vergangenheit dieses Ortes leben", sagt er. "Aber es ist eben eine Vergangenheit." +Mit der Vergangenheit leben muss auch das "InterContinental Berchtesgaden Resort", ein Luxushotel der Kategorie "Fünf Sterne Superior". Der hufeisenförmige, aus viel Stein und noch mehr Glas bestehende Vier-Etagen-Bau schmiegt sich elegant an der höchsten Stelle des Bergs, dem Eckerbichl, in die Landschaft. Hier kann man für knapp 300 Euro pro Nacht aufwärts eines der 138 großzügigen Zimmer oder eine der Suiten bewohnen und sich im luxuriösen Mountain Spa verwöhnen lassen. +Glamour statt Grauen auf der einstigen Hitler-Höhe? Michael Caspar, Geschäftsführer des Berchtesgaden Resort, schüttelt ein wenig genervt den Kopf. "Natürlich hat der Berg seine Geschichte", sagt er etwas barsch, "aber die hätte er ja auch, wenn dieses Hotel nicht hier stehen würde." Aber ist ein Hotel an einem geschichtlich so belasteten Ort wie dem Obersalzberg nicht doch etwas Besonderes? Wieder runzelt Caspar die Stirn, es ist zu spüren, dass er dieses Thema nicht mag. "Für die Geschichte", sagt er schließlich, "ist das Dokumentationszentrum zuständig. Eine Viertelstunde Fußweg von hier durch den Wald." +Vor 15 Jahren ist die Dokumentation Obersalzberg unweit des alten Berghofs eröffnet worden. Die vom Münchner Institut für Zeitgeschichte konzipierte Ausstellung hat bisher weit über zwei Millionen Besucher angelockt. Fast 20 Jahre ist es inzwischen her, dass die USA nach ihrem Abzug das volle Verfügungs- und Nutzungsrecht am Obersalzberg an den Freistaat übertrugen. Seitdem ist fast der gesamte Berg im bayerischen Staatsbesitz, und das soll er auch bleiben. Denn München will vor allem verhindern, dass das einstige Hitler-Refugium doch noch zur braunen Wallfahrtsstätte verkommt. Erreichen will man dies mit dem sogenannten Zwei-Säulen-Konzept – historische Aufarbeitung plus touristische Erschließung. +Ganz bewusst hatte sich die Staatsregierung dagegen entschieden, den Berg für den Massentourismus zu erschließen, um Hitler-Verehrer fernzuhalten. Also setzte der Freistaat für 50 Millionen Euro das luxuriöse Berchtesgaden Resort auf den Berg. "Es war von Anfang an ein politisches Projekt", sagt Geschäftsführer Caspar. "Und das ist es auch noch heute, denn betriebswirtschaftlich gesehen bleibt das Hotel ein Zuschussgeschäft." Für den Betreiber InterContinental kein Problem, denn alle Kosten zahlt das Land Bayern. +Bürgermeister Rasp räumt ein, dass es in der Gemeinde am Anfang Vorbehalte gegen das Luxushotel auf dem Berg gegeben habe. Viele Einwohner hätten darin einen Fremdkörper gesehen, der in das Tourismuskonzept der Wanderregion Berchtesgadener Land nicht hineinpasst. Auch gab es Befürchtungen, dass der Obersalzberg künftig wieder nur einem elitären Zirkel vorbehalten bleiben soll. Aber die Hotelbetreiber hätten in den vergangenen Jahren alle diese Sorgen zerstreut, sagt Rasp. "Das Hotel hat sich sehr stark der Gemeinde geöffnet, es gibt in den Sommermonaten eine ganze Reihe von Veranstaltungen dort, die sich vor allem an die regionale Bevölkerung richten", sagt er. +Hinzu komme, dass das Hotel dem "sehr sensiblen Gebiet Obersalzberg" gutgetan habe. "Ohne das Hotel und das Dokumentationszentrum hätte die Gefahr bestanden, dass Leute auf den Berg kommen, die wir hier nicht haben wollen", sagt der Bürgermeister. "Denn was wir nicht wollen, das sind Hoteliers, die mit dem Flair des Bösen Gäste anlocken." +Ein wenig spielt Rasp damit auf das Hotel "Zum Türken" an, das nur ein paar Hundert Meter unterhalb des Berchtesgaden Resorts und in unmittelbarer Nachbarschaft zum einstigen Berghof liegt. Das gut 100 Jahre alte Hotel, das mittlerweile in vierter Familiengeneration betrieben wird, ist das einzige private Grundstück auf dem staatseigenen Obersalzberg. Die Eigentümer hatten es nach dem Krieg zurückkaufen dürfen, weil es in der NS-Zeit enteignet worden war, um dort die Fernsprechzentrale der SS unterzubringen. Unter dem Gebäude befindet sich ein weit verzweigtes Bunkersystem, das jeder für 2,60 Euro Eintritt durchstreifen kann. Informationstafeln oder Audiokommentare, die den historischen Hintergrund der unterirdischen Anlage einordnen, gibt es hier – anders als im Dokumentationszentrum – nicht. +Ein Anziehungspunkt für alte oder neue Nazis aber sei der NS-Bunker dennoch nicht, auch wenn dieser Verdacht in der Stadtverwaltung immer mal wieder geäußert wird. Monika Scharfenberg, die die Leitung des Hotels nach dem Tod ihrer Mutter 2013 übernommen hat, kennt diese Diskussionen. Jahrelang hat sie in der Tourismusinformation von Berchtesgaden gearbeitet. "Was wurde da im Rathaus nicht immer alles gemunkelt, was sich hier oben so abspielt", sagt sie und lacht: "Ein Schmarrn." +Sechs Monate im Jahr, von April bis Oktober, hält sie das Haus geöffnet. So hat es auch ihre Mutter schon getan. Ihre Gäste sind überwiegend Ausländer, Amerikaner zumeist, die den "Türken" noch aus der Besatzungszeit kennen oder von ehemali-gen US-Soldaten empfohlen bekommen haben. "Die kommen nicht wegen des Bunkers unterm Haus, die wollen mein Hotel erleben, das eine ganz besondere Zeitreise bietet", sagt die 58-Jährige. +Tatsächlich ist das Hotel "Zum Türken" das ganze Gegenteil des Luxus-Neubaus auf dem Eckerbichl. Ein Museum fast, in dem die Zeit in den 60er-Jahren stehen geblieben ist. Es gibt ein Gemeinschaftsbad auf der Etage, eine – inzwischen allerdings zur Besenkammer umfunktionierte – Telefonzelle auf dem Flur, eine Hotelbar mit Stehlampen und durchgesessenen Plüschsesseln, in der sich die Gäste selbst aus dem Kühlschrank bedienen können. Wer fernsehen will, muss in den Clubraum und hoffen, dass die Zimmerantenne auf dem kleinen Gerät ein passables Bild zustande bringt. Internet gibt es nicht, ebenso wenig wie Telefon oder Fernseher auf den mit Möbeln aus der Wirtschaftswunderzeit ausgestatteten Zimmern. +Es gibt sie also doch, die Reise in die Vergangenheit. Aber womöglich nicht so, wie es sich einige Ewiggestrige erhoffen. diff --git a/fluter/girlboss-nachruf.txt b/fluter/girlboss-nachruf.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..65f6eb4f2ca2c45cdf7eb8eec2c0b49c93a86739 --- /dev/null +++ b/fluter/girlboss-nachruf.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Doch ab 2015 bekommt die feministische Fassade Risse: Ehemalige Angestellte von Nasty Gal berichten, ihnen sei widerrechtlich gekündigt worden, als sie schwanger wurden, Elternzeit nehmen wollten oder gesundheitliche Probleme hatten. Das Arbeitsklima wird als "toxisch" beschrieben: Es ist von Ungleichbehandlung, Ellbogenmentalität oder unfairer Bezahlung die Rede. +2016 meldet Nasty Gal dann Insolvenz an – und das Ende nährt die Zweifel am Girlboss-Versprechen: Wie feministisch ist es, wenn eine Frau an ihrem persönlichen Erfolg arbeitet und dabeiausbeuterische Methodengenauso wenig hinterfragt wie die Männer, die vor ihr in der Position waren? Profitieren automatisch alle Frauen davon, wenn es eine von ihnen an die Spitze schafft? Diese Fragen werden drängender, als immer mehr Enthüllungen über selbst ernannte feministische Unternehmen die Runde machen, in denen Angestellte schlecht behandelt werden. Sie scheinen sich zu beantworten, als auch im Feminismus mehr darüber diskutiert wird, welche Rollen Rassismus oder Klassismus bei Ungleichbehandlung spielen. +Denn es wird klar: Der Girlboss-Feminismus vertuscht strukturelle Probleme. Seine Message: Wer sich anstrengt, kann es auch als Frau schaffen. Wer es nicht schafft, strengt sich wohl einfach nicht genug an. Dass auch Privilegien wie weiße Hautfarbe oder ein wohlhabendes und/oder bildungsnahes Elternhaus zum Erfolg der Girlbosse beigetragen haben könnten, wurde in der Girlboss-Ära übersehen. Ebenso, dass auch der Erfolg einzelner Frauen meist auf der Ausbeutung anderer aufbaut, die mit weniger Privilegien ausgestattet sind: Sei esdie Näherin in Bangladesch, die das "Girlboss"-Shirt zusammennäht, oder die Praktikantin, die 50 Stunden in der Woche unbezahlt schuftet. +Auf Social Media wird der Girlboss-Begriff heute, nach seiner Entzauberung, zunehmend zur Beschreibung der Methode genutzt, kapitalistische Interessen mit dem hohlen Versprechen von feministischem Empowerment zu schmücken. In Bezug auf den vielleicht beliebtesten und plattesten Wandtattoo-Spruch der Geschichte – "live, laugh, love" – entsteht dann 2021der Ausdruck "gaslight, gatekeep, girlboss". Ein Meme, das das Girlbossing in eine Reihe mit anderen ausbeuterischen und manipulativen Methoden stellt und endgültig klarmacht: Die Girlboss-Ära ist vorbei. Bye-bye, Boss Bitch. +Aber weil man über Verflossene nicht nur schlecht reden soll: Ihren Zweck hatte sie trotzdem. Dank ihr rücktder Kapitalismusmehr in den Fokus feministischer Kämpfe, denn es ist nun klar: Einzelne Frauen in Machtpositionen bieten keine Lösung für systemische Probleme. Feminismus scheint sich nun mehr und mehr von Karrierefantasien abzuwenden und sich stattdessen dem großen Ganzen zu widmen: Es geht nunmehr darum, das System grundlegend zu verändern, statt es nur hier und da für Einzelpersonen nutzbar zu machen. Also: Danke für den Impuls, lieber(!) Girlboss. + diff --git a/fluter/girls-state-film-apple-tv-rezension.txt b/fluter/girls-state-film-apple-tv-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fa29ddf2c1e5c49cce79413eb7c32fe27883e47c --- /dev/null +++ b/fluter/girls-state-film-apple-tv-rezension.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Während des einwöchigen Programms in den Sommerferien werden die Teilnehmerinnen auf zwei fiktive Parteien aufgeteilt. Anschließend simulieren sie, wie es ist, für eines der höchsten politischen Ämter im Bundesstaat Missouri zu kandidieren: als Gouverneurin, Generalstaatsanwältin, als Richterin am Obersten Gerichtshof oder als Abgeordnete im Kongress. Das Filmteam um Amanda McBaine und Jesse Moss begleitete die Mädchen im Sommer 2022 bei diesem Experiment. 2020 hatten die beiden schon einen Dokumentarfilm über das ProgrammBoys Stateveröffentlicht – die gleiche Simulation, nur mit Jungen. +In Missouri fand 2022 das erste MalBoysundGirls Stateauf demselben Gelände statt, in der Vorstadt von St. Louis auf dem Campus der Lindenwood University. In den ersten Tagen fädeln die rund 500 Mädchen Armbänder und dekorieren Cupcakes. Sie basteln Wahlplakate. Doch um politische Themen wie dasRecht auf Schwangerschaftsabbruch,WaffengesetzeoderKlimaschutzgeht es weniger. Derweil bekommen die Mädchen von befreundeten Jungs beiBoys Statemit, wie diese bereits Unterschriften sammeln, um sich als Gouverneur wählen zu lassen. +Auch Emily will imGirls State-Programm Gouverneurin werden. Als überzeugte konservative Christin fühlt sie sich auf dem Campus etwas verloren: Die meisten Teilnehmerinnen scheinen eher links zu sein. Emily sucht trotzdem das Gespräch, diskutiert über restriktivere Waffengesetze und das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Mit Maddie, deren politische Ansichten nicht gegensätzlicher sein könnten, freundet sie sich sogar an. Neben Emily und Maddie stehen noch fünf andere Mädchen im Fokus der Doku: Nisha, Tochi, Faith, Brooke und Cecilia. Ihre Biografien sind ganz unterschiedlich: Während Tochi nigerianische Wurzeln hat, kommt Faith aus einem rechten Elternhaus, von dem sie sich emanzipiert hat. Manche sind in der Großstadt aufgewachsen, andere auf dem Land. Die Filmemacher:innen zeigen die sieben in Interaktion mit anderen und in Einzelinterviews. Im Verlauf des Films lernt man nicht nur ihre politischen Ambitionen kennen, sondern versteht zudem, warum Frauen in der US-Politik unterrepräsentiert sind –derzeit machen sie 28 Prozent im Kongress aus,Kamala Harriswurde 2021 als erste Frau Vizepräsidentin. +Während in McBaines und Moss' Dokumentarfilm "Boys State" Jungs gezeigt werden, die – nach dem "Vorbild" derzeitiger Politiker – kompetitiv, verbissen und schmutzig um ihre Posten kämpfen, erklären die Betreuerinnen den Mädchen beiGirls State: "Ihr müsst andere Mädchen empowern! Ihr dürft sie nicht auf Fehler hinweisen!" So funktioniert aber politischer Wettbewerb nicht. Denn da gehört es dazu, dass man sich über unterschiedliche politische Positionen streitet und auch mal die Fehltritte politischer Gegner:innen thematisiert. Als wäre das nicht schlimm genug, wird den Mädchen eingeschärft, nirgendwo alleine hinzugehen und auf keinen Fall bauchfrei zu tragen. Die Mädchen werfen sich verständnislose Blicke zu oder rollen mit den Augen, während die Betreuerinnen ihnen die Regeln einbläuen. Im Nachbargebäude laufen die Jungs oberkörperfrei rum. +DassBoys StateundGirls Stategetrennt voneinander sind, liegt in der Tradition der Programme:Boys Statewird von der American Legion organisiert, einer Interessenvertretung für Veteran:innen. HinterGirls Statesteht die American Legion Auxiliary. Dort engagieren sich vor allem Ehefrauen, Mütter und Schwestern von Soldaten.Boys Stateentstand 1935,Girls Statefolgte drei Jahre später – als Antwort auf den Faschismus in Europa und um die Demokratie in den USA zu stärken. Mittlerweile gibt esGirls Statein 50 Staaten der USA –Boys Statein 49. Kalifornien hatBoysundGirls Stateals einziger Bundesstaat 2023 zusammengeführt. +Der Film macht eindrucksvoll deutlich, dass Mädchen mit politischen Ambitionen in den USA kleingehalten werden. "Mit 17 sind wir so sozialisiert, dass wir nicht über Politik reden sollen", sagt Cecilia. Gleichzeitig spürt man den Druck, der auf denen lastet, die Karriere machen wollen. Statt Mädchen politisch weiterzubilden, werden sie beiGirls Statevon ehrlicher politischer Debatte ferngehalten. Was bei den Jungs wie ein politisches Bootcamp scheint, wirkt bei den Mädchen wie eine Klassenfahrt, bei der Politik gespielt wird. +Diese Ungerechtigkeiten ziehen sich wie ein roter Faden durch den Film. McBaine und Moss scheinen diese Erzählung bewusst gewählt zu haben, um die Diskrepanz zwischen beiden Programmen deutlich zu machen. Das funktioniert auch deswegen gut, weil sich die Protagonistinnen dieser Ungerechtigkeiten früh bewusst werden und es zum täglichen Gesprächsthema untereinander machen. Ihren Frust darüber tragen sie nach außen: sei es Emily, die darüber einen Artikel für dieGirls- undBoys-State-Zeitung schreibt, oder Cecilia, die bei ihrer Wahlrede das scheinheilige System vonGirls Stateanprangert. +Und so scheint ab und zu im Film doch durch, wie junge Frauen politische Debatten führen können: sachlich, engagiert, ruhig und respektvoll. So berät der simulierte Oberste Gerichtshof darüber, ob die verpflichtende Beratung vor einem Schwangerschaftsabbruch gegen die Privatsphäre verstößt. Dass die Mädchen gerade über dieses Thema diskutieren, ist kein Zufall: Kurz zuvor war öffentlich geworden, dass das echte Oberste Gericht in den USA plant, "Roe vs. Wade" aufzuheben – das Gesetz, das seit 1973 das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in der US-Verfassung verankert. Sechs Tage nach Ende vonGirls Statekippte das Gericht im Juni 2022 das Gesetz. Seither haben 21 Staaten Schwangerschaftsabbrüche eingeschränkt. +Und Emily? Die hat beiGirls Stateneben ihren politischen Ambitionen auch ihre journalistische Leidenschaft vertiefen können. Inzwischen studiert sie Journalismus an der Lindenwood University. 2040 will sie Präsidentin werden. + +"Girls State" läuft auf Apple TV+, wo auch "Boys State" abrufbar ist. + +Fotos:  Apple TV+ diff --git a/fluter/girokonto.txt b/fluter/girokonto.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d8e6b5b02cff7b862f11cb7ddd7183a48cb424bc --- /dev/null +++ b/fluter/girokonto.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Sollte man sich dazu entscheiden, ein neues Konto anzulegen oder mal zu prüfen, wie es um das alte bestellt ist, muss man sich vorher überlegen, was einem beim Thema Bank besonders wichtig ist. Es lohnt sich zum Beispiel zu überlegen, in welche Bereiche man sein Geld auf keinen Fall stecken möchte, und dann zu schauen, wie die Bank mit diesen Bereichen umgeht. Außerdem gibt es Nachhaltigkeit nicht für umsonst: Im Gegensatz zu den konventionellen Banken sind die Gebühren bei Banken, die sich als nachhaltig labeln, oft höher, während konventionelle Banken sogar oft kostenlose Girokonten anbieten. Ist man also bereit, für Nachhaltigkeit mehr zu zahlen? +Wo die Banken unser Geld genau investieren, ist nicht so einfach herauszufinden, denn sie müssen diese Informationen nicht veröffentlichen. Der Verein "Facing Finance" versucht, das für einige der größten Banken in Deutschland aber trotzdem herauszufinden, und veröffentlichtdie Ergebnisse im "Fair Finance Guide". +Weiterlesen +Nicht nur beim Einkaufen kann man auf Nachhaltigkeit achten, sondern auch beim Investieren in ETFs.Aber wie "grün" kann das eigene Portfolio werden? +Darin steht dann zum Beispiel, ob die Banken bei der Kreditvergabe auf eine ressourcenschonende Betriebsführung der Unternehmen achten oder ob Geschlechtergerechtigkeit im Betrieb eine Rolle spielt. Manchmal steht auch drin, ob die Banken mit umstrittenen Unternehmen oder Branchen wie der Waffenindustrie Geschäfte machen. +Dabei ist es bei einigen Banken einfacher als bei anderen, an diese Informationen zu gelangen. "Gerade die Banken, die sich als Alternativen zu den konventionellen großen Bankhäusern sehen, gehen mit ihren Kriterien transparenter um", sagt Thomas Küchenmeister, geschäftsführender Vorstand von "Facing Finance". Gemeint sind damit Anbieter, die sich als "grüne", "nachhaltige" oder "ethische" Banken bezeichnen. Bei vielen davon sind die Kriterien auf der Webseite zu finden. Unter anderem Investitionen in Kinderarbeit, die Waffen- und Rüstungsindustrie, in Konzerne, die Arbeits- oder Menschenrechte verletzen, in Atomkraft und fossile Brennstoffe, industrielle Tierhaltung oder Glücksspiel werden von vielen dieser Banken ausgeschlossen. +Einige Banken veröffentlichen sogar, welchen Unternehmen sie ganz konkret Kredite geben. Diese Transparenz gehört oft zum Geschäftsmodell der selbst erklärten "grünen" oder "ethischen" Banken. Sie wollen sich damit von der Konkurrenz abgrenzen, die häufig nicht so offen mit ihren Kreditlinien umgeht. Aber Vorsicht: Auch Geldinstitute, die bisher nicht unbedingt für Nachhaltigkeit bekannt sind, wollen seit einiger Zeit "grüner" werden – oder zumindest so tun. Das können sie relativ leicht, denn die Begriffe "nachhaltig", "ethisch" oder "umweltfreundlich" sind nicht geschützt, und es gibt auch keine Standards dafür, was eine Bank erfüllen muss, um sich "grün" nennen zu dürfen. +Kritisiert wird an vermeintlich echten "grünen" Alternativen außerdem, dass sie durch ihre strengen Kriterien den ausgeschlossenen Branchen und Unternehmen die Möglichkeit zum nachhaltigen Wandel nehmen, weil sie diese dabei nicht finanziell unterstützen. Und um genau diesen Wandel geht es am Ende. "Man kann mit der Wahl der Bank nicht die Welt verändern, aber man kann damit zum Wandel in eine nachhaltige und soziale Wirtschaft beitragen", sagt Thomas Küchenmeister. Welche Rolle das eigene Girokonto dabei spielen soll, muss am Ende jeder selbst entscheiden. + diff --git a/fluter/gleichberechtigung-frauen-deutschland-geschichte.txt b/fluter/gleichberechtigung-frauen-deutschland-geschichte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6f82805c9b43d4d3f58892bd32c629760739a417 --- /dev/null +++ b/fluter/gleichberechtigung-frauen-deutschland-geschichte.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Dass sich Frauen in den Wochen vor und nach der Geburt eines Kindes schonen sollten, also auch nicht arbeiten, ist heute in Deutschland selbstverständlich. Dass sie deswegen nicht auf Gehalt verzichten sollten, ebenfalls. Aber auch dieses Recht musste erst durchgesetzt werden. Einen allerersten Paragrafen dazu gab es bereits 1878, damals ohne Lohnausgleich. Der erste halbwegs brauchbare Mutterschutz, das "Gesetz über die Beschäftigung vor und nach der Niederkunft", wurde 1927 verabschiedet. Nach den Jahren der Naziherrschaft, in denen die Idealisierung der "arischen" Mutter Teil der Propaganda war, mussten die Gesetze neu geschrieben werden – und hier war die DDR schneller: schon 1950 gab es eine Regelung, im Westen erst 1952. Fünf beziehungsweise sechs Wochen vor und nach der Geburt mussten Frauen in der Regel nun nicht arbeiten, bei vollem Lohnausgleich. +In Deutschland machte die Leipzigerin Amalie Hoeppner bereits 1909 ihren Führerschein. Doch war dies Frauen viele Jahrzehnte lang nur mit Einwilligung ihres Ehemanns oder Vaters möglich. In Westdeutschland änderte sich das erst mit dem Gleichberechtigungsgesetz von 1958, in der DDR konnten Frauen seit der Staatsgründung 1949 den Führerschein machen. Inzwischen haben bei den unter 44-Jährigen in Deutschland sogar etwas mehr Frauen einen Pkw-Führerschein als Männer. +Das Gleichberechtigungsgesetz in der Bundesrepublik umfasste noch weitere Punkte. Vorher galt bei Ehepaaren das "Letztentscheidungsrecht des Ehemanns", er konnte also über Wohnort, Beruf der Frau, Kindererziehung und vieles mehr bestimmen. Das wurde nun abgeschafft, ebenso die Regelung, dass der Mann über das von der Frau in die Ehe eingebrachte Geld verfügt. In der Folge durften Frauen auch selbst ein Konto eröffnen – kaum vorstellbar, aber auch das ging vorher nicht. In der DDR hatte es das "Letztentscheidungsrecht des Ehemanns" bei der Staatsgründung 1949 gar nicht erst in die Gesetzgebung geschafft. + + +Ihr erster Einsatzort war Sofia: Aenne Kundermann trat dort 1950 als "Chef der diplomatischen Mission" für die DDR an, wurde also die erste deutsche Botschafterin. In der BRD dauerte es deutlich länger: Ellinor von Puttkamer leitete ab 1969 die deutsche Vertretung beim Europarat in Straßburg. Heute sind mehr als die Hälfte der Neueinstellungen im diplomatischen Dienst Frauen. Der Anteil der Botschafterinnen lag Mitte 2022 jedoch bei stark ausbaufähigen 28 Prozent. +"Im Kampf um den Ball verschwindet die weibliche Anmut, Körper und Seele erleiden unweigerlich Schaden ..." Mit dieser Begründung verbot der Deutsche Fußball-Bund (DFB) 1955 seinen Sport für Frauen. Gespielt wurde trotzdem, zu inoffiziellen Länderspielen kamen Tausende Fans. Erst 1970 durften Frauen auch im DFB mitmachen. 1982 gab es dann das erste offizielle Länderspiel – und sieben Jahre später waren die DFB-Frauen schon Europameisterinnen. Als Siegesprämie gab es geblümtes Kaffeegeschirr. Die DDR hatte die Frauen 1968 in ihren Fußballverband DFV integriert. Da Frauenfußball damals nicht olympisch war, wurde er allerdings nicht als Leistungssport gefördert. +Nicht viele der 358 Paragrafen des Strafgesetzbuchs sind so bekannt wie der Paragraf 218, der die Abtreibung unter Strafe stellt. Eingeführt wurde er 1871, aber schon in der Weimarer Republik wurde über seine Abschaffung diskutiert. In den 1970ern nahm der Kampf dann richtig Fahrt auf: "Wir haben abgetrieben!", bekannten 374 Frauen 1971 in der Zeitschrift "Stern". 1974 beschloss der Bundestag, dass der Paragraf zwar weiter besteht, eine Abtreibung für Frauen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche aber straffrei möglich ist. In der DDR war die Abtreibung schon ab 1950 in seltenen Ausnahmen erlaubt, ab 1972 dann bis zur zwölften Woche ohne Angabe von Gründen. Seit 1995 gilt: Bis zur zwölften Woche bleibt eine Abtreibung nach verpflichtendem Beratungsgespräch straffrei. +Das Recht der Frauen, ihr eigenes berufliches Leben zu gestalten, wurde schon mit dem Gleichberechtigungsgesetz von 1958 verbessert – vorher konnten Männer zum Beispiel die Arbeitsverträge ihrer Ehefrauen einfach kündigen. Damals stand dann zunächst im Gesetzbuch: Die Frau sei "berechtigt, erwerbstätig zu sein", doch mit einem Zusatz: "soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist". Und darüber entschied – der Mann. Erst 1977 wurde das geändert. In der DDR gab es das Recht auf die freie Berufswahl schon seit ihrer Gründungszeit. +Drei Jahre später folgte das "Gesetz über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen am Arbeitsplatz" – bei dem es u. a. darum ging, dass Frauen und Männer das Gleiche verdienen und Frauen bei der Einstellung, bei Beförderungen oder Kündigungen nicht diskriminiert werden. Doch wirklich durchgesetzt wurde das alles nicht. In der DDR stand sogar in der Verfassung, dass Frauen und Männer gleich bezahlt werden sollten – de facto haben aber auch hier Männer mehr verdient. Undbis heute gibt es deutliche Gehaltsunterschiede. Der durchschnittliche Bruttostundenlohn von Frauen liegt bundesweit 18 Prozent unter dem der Männer. In den neuen Bundesländern beträgt dieser Unterschied nur sechs Prozent. +Das muss man sich mal klarmachen: Erst vor 25 Jahren beschloss der Deutsche Bundestag, dass Vergewaltigungen in der Ehe strafbar sind. Vorher wurde das mit Scheinargumenten wie "Das ist doch Privatsache" und "Das sind nun mal die ehelichen Pflichten" abgeschmettert. 1966 formulierte gar der Bundesgerichtshof noch: "Die Frau genügt ihren ehelichen Pflichten nicht schon damit, daß sie die Beiwohnung teilnahmslos geschehen läßt (...), so fordert die Ehe von ihr (...) eine Gewährung in ehelicher Zuneigung und Opferbereitschaft und verbietet es, Gleichgültigkeit oder Widerwillen zur Schau zu tragen." +Frauen "dürfen auf keinen Fall Dienst mit der Waffe leisten", so stand es lange sogar im Grundgesetz der BRD. 1975 durften dann aber doch Frauen zum Bund, in den Sanitätsdienst, und dafür zur Selbstverteidigung auch eine Grundausbildung machen. Zur gleichen Zeit stand die Nationale Volksarmee der DDR für Frauen offen, auch wenn sie dort deutlich in der Minderheit waren. Die Bundeswehr wurde erst durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zu echter Gleichberechtigung gezwungen: Seit 2001 dürfen Frauen in allen Bereichen dienen. Der Anteil der Soldatinnen hat sich seitdem fast verzehnfacht, auf aktuell 13 Prozent. Zur Generalin haben es aber erst eine Handvoll Frauen geschafft. +Wenn es um Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Nötigung geht, sind die gesetzlichen Grauzonen ein Problem. In Paragraf 177 StGB war von Gewalt und Drohung die Rede. Hatte sich eine Frau dagegen nicht körperlich gewehrt, konnte es für sie vor Gericht schwierig werden. 2016 wurde das Sexualstrafrecht überarbeitet. "Wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt", mache sich strafbar, heißt es nun. Es istdie Verankerung des "Nein heißt Nein"-Prinzips im Strafgesetzbuch. Gesetzliche Grauzonen und uneindeutige Beweislagen gibt es aber auch weiterhin noch zuhauf. diff --git a/fluter/globaler-sueden-nachrichten-sham-jaff-interview.txt b/fluter/globaler-sueden-nachrichten-sham-jaff-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..57f0d545d69e2bbaeeeb07d2140fbfdd6cee46f8 --- /dev/null +++ b/fluter/globaler-sueden-nachrichten-sham-jaff-interview.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Sham Jaff: Ich wollte etwas Neues machen und Nachrichten aus Ländern des sogenannten Globalen Südens zusammenfassen, weil mir das während meines Politikwissenschaftsstudiums selbst total gefehlt hat. 2012 begann ich deshalb mit einem Blog auf Tumblr, zwei Jahre später wurde daraus der Newsletter. Ich muss sagen, dass ich den Begriff "Globaler Süden" selbst etwas schwierig finde. +Warum? +Er ist praktisch, vereinfacht aber auch ein unglaublich großes Gebiet. Dazu wird er oft nur im Kontrast zum "Globalen Norden" gebraucht. +Sollten Menschen mehr über diese Regionen lesen? +Nachrichten prägen unsere Meinung von der Welt. Jede:r hat Vorurteile, das ist erst mal völlig normal. Doch einseitige Berichterstattung kann sie verstärken. Beiimmer gleichen Perspektiven auf den Globalen Süden– Armut, Konflikt, Migration – schalten die Leute ab. Stattdessen sollten wir versuchen, andere Länder und Menschen nuanciert darzustellen. Ich glaube, wenn man mehr über den kulturellen und politischen Kontext dieser Regionen weiß, wird man automatisch neugieriger und auch empathischer. +In Deutschland wird zum Beispiel von China ein einseitiges Bild vermittelt: versmogte Städte, gedrillte Kinder, aggressive Wirtschaft. Hatten Sie einen Moment, in dem Sie die Berichterstattungen der "Mainstream-Medien" zum ersten Mal hinterfragt haben? +Ganz viele! Ich bin zum Beispiel oft unzufrieden darüber, wie einseitig die Leitmedien über kurdisches Leben in Deutschland berichten(Anm. d. R.: Sham Jaff ist im kurdischen Teil des Iraks geboren). Es leben schätzungsweise eine Million Kurd:innen hier, trotzdem wissen die meisten gar nicht, dass Kurd:innen verschiedene Sprachen wie Sorani und Kurmanci sprechen, verschiedene Religionen haben oder Newroz, das kurdische Neujahrsfest, feiern. Stattdessen geht es nur darum, ob das Verbot der kurdischen Arbeiterpartei PKK, die in Deutschland verboten und als Terrororganisation eingestuft ist, aufgehoben werden soll oder nicht. Einen Aha-Moment hatte ich, als die "New York Times" ein großes Dossier zu Haiti veröffentlichte – dort aber kaum Quellen aus dem Land selbst zur Sprache kamen. +Sie zitieren selbst oft die "New York Times" oder die BBC – auch "westliche" Medien des Globalen Nordens. +Es ist definitiv mein Ziel, diverse Quellen zu nutzen. Trotzdem informiere ich mich auch über westliche Nachrichtenportale. Mir geht es vor allem darum, Medien zu lesen, von denen ich weiß, dass sie Journalist:innen vor Ort haben, die dort schon jahrelang leben. +Wie finden Sie die Themen, über die sonst niemand spricht? +Erst mal schaue ich, worüber die etablierten Medien gerade schreiben, um mir dann die Frage zu stellen: Worüber wurde nicht geschrieben? Ich schaue mir an, womit sich NGOs, die in den Ländern des Globalen Südens arbeiten, gerade beschäftigen und ob selbstständige Journalist:innen aus der jeweiligen Region schon etwas dazu geschrieben haben. +Tatsächlich zeigt eineStudie, dass 2017 nur elf von 3.160 "Tagesschau"-Beiträgen von einer Hungersnot in Ostafrika berichteten, die 37 Millionen Menschen betraf und vom UN-Nothilfekoordinator Stephen O'Brien als "größte drohende humanitäre Katastrophe seit Gründung der Vereinten Nationen" bezeichnet wurde. Ist uns dieser Teil der Welt einfach egal? +Ich glaube, das ist ein Henne-Ei-Problem. In den Redaktionen heißt es: "Wir nehmen nicht noch mal Burkina Faso, das interessiert die Leute nicht." Kann sein, aber warum interessiert das niemanden? Weil die Menschen in Deutschland nichts über dieses Land wissen, weil sie in der Schule nichts über diese Region gelernt haben oder weil es nur negative Berichterstattung gibt und man dann keinen Bock mehr auf diese Nachrichten von dort hat. Hätten wir mehr Vorwissen, würden uns auch Nachrichten aus Burkina Faso interessieren. Die Welt ist so schön und vielfältig, ich kann mir vorstellen, dass Menschen viel neugieriger wären, gäbe es differenziertere Nachrichten. Wenn es immer nur darum geht, wie arm der Globale Süden ist, schürt das bloß Gefühle von Machtlosigkeit und Desinteresse. +Für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk der ARD sind drei deutsche Korrespondent:innen in Nairobi, Kenia. Sie berichten über fast 40 afrikanische Staaten und ca. 870 Millionen Einwohner. Für ganz Südostasien inklusive Australien sind drei in Singapur. Gleichzeitig gibt es in den USA drei Studios und 15 Korrespondent:innen. +Dass Korrespondent:innen für mehrere Länder verantwortlich sind, ist definitiv ein Problem. Manche sprechen nicht mal die Sprache der Länder, aus denen sie berichten, und haben aufgrund ihrer eigenen Herkunft kaum Berührungspunkte mit den dortigen Menschen, vor allem nicht mit marginalisierten Gruppen. Sie haben zwar vor Ort häufig Unterstützung von einem Netz aus Stringern(eine Person, die von Auslandskorrespondent:innen engagiert wird, um eine Story zu arrangieren, Anm. d. Redaktion), die mitrecherchieren, Kontakte herstellen, übersetzen. Aber selbst diese Hilfe reicht nicht aus, wenn man über zehn afrikanische Staaten gleichzeitig berichten soll. So bleibt Berichterstattung aus dem globalen Süden unvollständig. +Wie könnte man dieses Problem lösen? +Stringer sind selbst lokale Journalist:innen. Ich denke, sie wissen über die Länder, in denen sie leben, aus denen sie seit Generationen kommen, besser Bescheid als Korrespondent:innen, sie können anders und vielfältiger berichten. Redaktionen sollten ihre Arbeit ernst nehmen. Statt deutsche Kolleg:innen hinzuschicken, sollten sie in Übersetzung und Vernetzung investieren, um die lokale Bevölkerung selbst erzählen zu lassen. +Das mediale Gefälle zwischen dem Globalen Norden und Süden wurde schon seit dem Ende der 70er-Jahre kritisiert. Damals trieb die UNESCO die Debatte um eine "New World Information and Communication Order" voran, also eine weltweite Neuordnung von Informationen und Kommunikation. +Zumindest was Unterhaltung und Kultur angeht, hat sich seit den 70er-Jahren wirklich etwas gebessert. Auf den bekannten Streamingkanälen laufen viele Serien aus dem Globalen Süden mit großem Erfolg, und die afrikanische AutorinChimamanda Ngozi Adichieist weltweit bekannt. Das kommt nicht von ungefähr, dafür setzen sich viele Menschen aktiv ein. +Was müsste sich ändern? +Ich würde mir wünschen, dass etablierte Medien alte Strukturen aufbrechen und flexibler gestalten. Die öffentlich-rechtlichen Medien finanzieren zum Beispiel nur Filme, die einen Bezug zu Deutschland haben. Dabei muss man nur einmal auf Netflix schauen, und man sieht, dass es da Produktionen wie "Squid Game" gibt, die uns andere Kulturen näherbringen und in Deutschland extrem populär sind. Das Interesse ist also bereits da. + +Titelbild: Francisco Arias/ ZUMAPRESS/ picture alliance, Varuth Pongsapipatt / ZUMAPRESS / picture alliance; Ahmed Jallanzo /EPA/ picture alliance diff --git a/fluter/globalisierung-am-beispiel-eines-plastikspielzeugs.txt b/fluter/globalisierung-am-beispiel-eines-plastikspielzeugs.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a7b2009b94f04650b11b3f473d26b8ed7ccc7b08 --- /dev/null +++ b/fluter/globalisierung-am-beispiel-eines-plastikspielzeugs.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +China, USA, Australien – das ist aber noch nicht alles an Globalisierung. Im Comicladen sagen sie, dass die Figur vonUnited Labelssei. Nun kommt Deutschland ins Spiel, genauer gesagt Münster in Westfalen. Dort sitzt die Zentrale von United Labels. Das Geschäft der Firma: Comic-Lizenzprodukte – neben den Simpsons unter anderem auch Snoopy, die Schlümpfe und Hello Kitty. +United Labels bringt rund 4.500 Artikel in Umlauf – auch aus den Bereichen Textilien, Schreibwaren, Taschen und Accessoires. Jahresumsatz 2013: 33 Millionen Euro; Angestellte (inklusive Tochtergesellschaften in Europa und Hongkong): 123. Von Münster aus wird die Produktion der Simpsons-Kunststofffiguren gesteuert, ein Prozess, der sich zwischen Kalifornien, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Südchina und Australien abspielt. United Labels hat in den vergangenen zehn Jahren rund 1,5 Millionen dieser Simpsons-Figuren produziert. +Und das funktioniert so: Zunächst erwirbt man eine Lizenz bei einem Ableger des Filmstudios Twentieth Century Fox in Los Angeles. Die Lizenz erlaubt in diesem Fall den Verkauf der Figuren in allen EU-Mitgliedsstaaten. Die Lizenzgebühr beträgt laut United Labels rund zwölf Prozent vom Abgabepreis an den Handelspartner. +Fast meint man, Homer die Strapazen anzusehen: Vom Fließband bis zum Regal war es eine halbe Weltreise +Entworfen werden die Simpsons-Figuren in Münster, wo 15 Designer und Grafiker arbeiten. Die Entwürfe und auch die Produktmuster müssen dann mit dem Büro von Simpsons-Erfinder Matt Groening in Santa Monica abgestimmt werden. Alles richtig mit Homers Dreihaar-Glatze, dem Bierbauch und dem kurvigen Hintern? Im Laufe des Verfahrens können die Entwürfe und Muster bis zu zehn Mal zwischen Deutschland und den USA hin- und hergehen. Um den Prozess zu beschleunigen, werden manchmal mit Lizenznehmern aus anderen Weltregionen bereits von Groening genehmigte Plastikformen ausgetauscht. Deshalb prangt auf dem Rücken von Homer Simpson der Aufdruck "tpf.com.au". Er weist auf die australische Firma The Promotions Factory – TPF hin, die ebenfalls schon die Simpsons im Programm hatte.Und das funktioniert so: Zunächst erwirbt man eine Lizenz bei einem Ableger des Filmstudios Twentieth Century Fox in Los Angeles. Die Lizenz erlaubt in diesem Fall den Verkauf der Figuren in allen EU-Mitgliedsstaaten. Die Lizenzgebühr beträgt laut United Labels rund zwölf Prozent vom Abgabepreis an den Handelspartner. +Bei United Labels schätzt man, dass weltweit sieben Firmen mit den Simpsons-Figuren handeln. Das in China hergestellte Originalmuster der Figur lässt United Labels mechanisch und chemisch bei Testinstituten wie denHohenstein Institutenin Baden-Württemberg oder demTÜV Rheinlandin Köln testen. Hier wird kontrolliert, ob Grenzwerte überschritten werden, unter anderem bei Weichmachern – Phthalate, polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK) –, bei Schwermetallen wie Cadmium und beim Leichtmetall Aluminium. Nach dem Test der Muster gibt es später noch Stichprobentests der einzelnen Lieferchargen.Produziert werden die Plastikfiguren in fünf Fabriken rund um die südchinesische Metropole Shenzhen, die an Hongkong grenzt.Die Stadt hatte 1979 noch 30.000 Einwohner und entwickelte sich in rasendem Tempo zu einer Megacity mit heute rund 12 Millionen Menschen. Das Gebiet war die erste der Sonderwirtschaftszonen in China, kapitalistische Versuchslabore, die mit Steuererleichterungen und Subventionen Investoren locken. Diese Zonen haben als Wachstumsmotoren für eine schnelle Entwicklung Chinas gesorgt – mit den bekannten Kehrseiten: hohe Umweltbelastung, extremes Sozialgefälle, Millionen Wanderarbeiter. In den dortigen Fabriken werden die Kunststofffiguren gegossen und dann von Hand bemalt. Sie kommen in Verpackungen, die nach Entwürfen aus Münster ebenfalls in China hergestellt werden. +Seit diesem Jahr gibt es die Simpsons übrigens noch in einer anderen Plastikwelt. Der Spielwarenhersteller Lego ist ins Merchandising eingestiegen. Sogar eineSerienfolge ganz in Legolief über den Sender. Darin bringt Homer Simpson einen seiner typischen Sprüche in abgewandelter Form: "Kiss my flat plastic butt!" – Küsse meinen platten Plastikhintern. Denn als Legofigur hat Homer eben kein kurviges Hinterteil wie sonst.In Onlineshops gibt es eine Fünferpackung mit den Plastikfiguren bereits ab rund zehn Euro, das macht zwei Euro pro Figur. Laut United Labels liegt der reine Herstellungspreis für die Figur deutlich darunter, da neben der Fertigung noch zahlreiche weitere Kosten anfallen: Fracht, Zoll, Testkosten und Lizenzgebühren. Genaueres will die Firma dazu aber nicht verraten. United Labels vertreibt seine Simpsons-Figuren in 25 Ländern in Europa. Die stärksten Simpsons-Märkte sind Deutschland, Frankreich und Spanien, denn in diesen Ländern ist die TV-Präsenz sehr hoch.Danach sind die Figuren um den halben Globus unterwegs. Über den Hafen in Shenzhen kommen sie auf einem Containerschiff nach Europa. Dabei geht es durch das Südchinesische Meer, den Indischen Ozean, das Rote Meer, den Suezkanal, das Mittelmeer und den Ärmelkanal. Im Hamburger Hafen werden die Container entladen und per Lkw nach Münster zum Lager von United Labels transportiert. Der Wasserweg ist etwa 11.500 Seemeilen – 21.300 Kilometer – lang. Dieser Transport dauert rund fünf Wochen. diff --git a/fluter/globalisierungskritik-von-links-und-rechts.txt b/fluter/globalisierungskritik-von-links-und-rechts.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cd2ceda7087da85b19724cf62081d4a825c70987 --- /dev/null +++ b/fluter/globalisierungskritik-von-links-und-rechts.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +Initiatoren der Proteste waren größtenteils linke, christliche, linksliberale Globalisierungskritiker. Auch damals schon hängten sich Rechtspopulisten und rechte Verschwörungsideologen an den Protest. Gibt es Schnittmengen zwischen der rechten und der linken Freihandelskritik? +Ja, die gibt es. Auch wenn die Begründungen sich natürlich unterscheiden. Was beide befürworten, ist eine Rückkehr zum Nationalen. Von der linken Seite ist es die Forderung nach lokalen und regionalen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Motto: Warum nehmen wir nicht die Produkte der Biobauern aus der Umgebung, anstatt solche Waren zu importieren? Dazu kommt der Vorwurf, dass wir die Öffnung der Märkte nicht bräuchten, sie diene vor allem den großen Unternehmen. Und die machten Gewinne zulasten der Bevölkerung. Das trifft sich mit der Position der Rechten, die sagen: Die Antwort auf "America First" ist "Deutschland zuerst". Solche Töne gibt es in ganz Europa: Marine Le Pen hat sie im Wahlkampf um die französische Präsidentschaft angeschlagen, und in Osteuropa kämpft etwa Ungarns Regierungschef Viktor Orbán gegen die "Globalisten". + + +Müssen sich manche Globalisierungskritiker vorwerfen lassen, dass sie die Trennlinie nicht scharf genug gezogen und den nationalistischen Reflex bedient haben? +Trotz der Übereinstimmungen, die es zweifellos gibt, müssen sie sich das nicht vorwerfen lassen. Natürlich haben auch die Globalisierungskritiker mit stark verkürzten Slogans und einfachen Wahrheiten gearbeitet. Aber sie haben – anders als die Kritiker von rechts – sehr konkrete Vorstellungen geäußert, wie sie sich einen besseren Welthandel vorstellen. Zum Beispiel haben sie sich immer klar für globale Handelsabkommen ausgesprochen. Sie verlangen allerdings andere Abkommen, in denen sie zum Beispiel die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen in den Mittelpunkt gestellt sehen wollen. Aber anders als die Freihandelsgegner von rechts will der Großteil der Globalisierungskritiker eine konstruktive Rolle spielen, anstatt den Freihandel rundweg abzulehnen. +Wie groß schätzen Sie generell das Unbehagen gegenüber freiem Handel und globalisiertem Warenaustausch in Deutschland ein? Und woher kommt es? +Man sollte den Protest gegen TTIP und das mit Kanada geschlossene CETA-Abkommen nicht mit einer generellen Anti-Freihandelsstimmung verwechseln. In diesen Fällen haben sich die Vorbehalte doch sehr stark gegen Amerika gerichtet. Wir verhandeln in Europa solche Abkommen derzeit mit diversen anderen Staaten, und ich habe niemanden gesehen, der – zum Beispiel – gegen das EU-Japan-Abkommen auf die Barrikaden geht. Es gab eine große Angst, dass die amerikanische Wirtschaftsordnung und die amerikanischen Werte durch TTIP zu uns herüberschwappen. Wenn es jenseits dessen Vorbehalte gegen Freihandel generell gibt, hängen sie meistens mit den Themen der Globalisierungskritiker zusammen. Bei den Protesten gegen TTIP wurde gegen alles Mögliche protestiert: gegen die Amerikaner, gegen Globalisierung, gegen Unternehmen, gegen Kapitalismus, gegen Unsicherheit, gegen Veränderung. Den Reflex der Nationalisten nach dem Motto "Wir müssen uns schützen" sehe ich in Deutschland kaum. Hingegen spielen Arbeitsbedingungen, Umweltschutz, Verbraucherschutz eine gewisse Rolle. + + +Im Zusammenhang mit dem Aufstieg der Rechtspopulisten in Amerika und Europa wird viel von den "Abgehängten" gesprochen. Menschen, die Globalisierungsverlierer sind, weil – zum Beispiel – die Jobs, die sie ausüben könnten, inzwischen in Mexiko und China erledigt werden. Haben die Fürsprecher des freien Handels diese Folgen unterschätzt? +Absolut. In der Wirtschaftswissenschaft gab es immer viele Theorien, die sich widersprechen – nur in einem waren sich fast alle einig: dass Freihandel gut ist. Man hat viel zu wenig auf den Aspekt geschaut, dass der globale Warenaustausch eben nicht allen nutzt. Erst der Harvard-Ökonom Dani Rodrik hat vor einigen Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht reicht, auf die selig machende Kraft des freien Handels zu vertrauen. Man müsse auch die Verteilung des Reichtums untersuchen. Diese Frage haben alle verschlafen, und so sind überhaupt erst die Protestwelle und viele Vorbehalte bei den Leuten entstanden. Auch die Europäische Kommission und die deutsche Bundesregierung haben viel zu spät reagiert und eingesehen, dass es auch berechtigte Bedenken gibt. Sicher, vieles, was gegen TTIP vorgebracht worden ist, war schlicht falsch. Aber es gibt eben auch vieles, das man ernst nehmen muss. Und man muss sich viel mehr um all jene kümmern, die nicht mehr mitkommen in einer globalisierten Wirtschaft. Da sind vor allem die sozialen Sicherungssysteme wichtig. + + +Die Versprechungen der Freihandelsbefürworter waren immer riesig: Ärmere Länder könnten wirtschaftlich mitmischen und aufsteigen, Korruption und Willkür würden schwinden, Verbraucher bekämen Transparenz, innovative Firmen Chancen. Haben sich diese Versprechen erfüllt? +Ganz klar: Ja. Schauen Sie sich nur an, wie viele Leute in den vergangenen zwei Jahrzehnten aus der Armut herausgekommen sind. In den großen Schwellenländern wird der Freihandel überhaupt gar nicht infrage gestellt, weil er diesen Ländern genutzt hat. Die Schattenseite ist nur, dass wir als Land mit relativ hohen Arbeitskosten mit Niedriglohnländern konkurrieren. Wir können daher in unserem Land nicht mehr auf die Produktion einfacher Produkte setzen. Das ist einfach nicht mehr wettbewerbsfähig. +Linke wie Rechte sagen: Vom Freihandel profitieren überwiegend die Reichen. Viele Untersuchungen, etwa vom IWF, belegen die wachsende Ungleichheit auf der Welt. Treffen also die Kritiker von rechts und links einen wunden Punkt, wenn sie sagen: Das nützt nur einigen wenigen? +Claudia Schmucker hat bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik die Programmleitung "Globalisierung und Weltwirtschaft" inne +Dem würde ich nicht zustimmen. Am Ende profitieren die Arbeiter in der exportorientierten Industrie. Das ist in Deutschland ein Großteil der Arbeitnehmer. Wer nicht profitiert, sind die nicht Ausgebildeten, die gar keinen Job haben und auch keinen neuen finden, weil ihre Art der Ausbildung nicht mehr ausreicht. Aber alle, die jetzt schon etwa bei VW arbeiten oder in der Chemieindustrie, profitieren natürlich von Globalisierung. +Sollen wir also die wachsende Ungleichheit, die auch in Deutschland immer wieder konstatiert wird, einfach akzeptieren? +Wir haben ja immer noch den Staat, der umverteilen kann. Man darf nicht immer den Freihandel für alles verantwortlich machen. Wenn wir die wachsende Ungleichheit beklagen, dann müssen wir unser Bildungssystem verbessern, im Steuersystem mehr Gerechtigkeit schaffen, dann müssen wir fragen, ob Hartz IV das Richtige ist. +Was Rechte fordern, aber auch mancher Linke predigt, ist eine Renationalisierung der Wirtschaft: die Idee, dass wir das Rad wieder zurückdrehen können zu Wirtschaftskreisläufen, die regionaler oder nationaler sind und von Schutzmaßnahmen profitieren. Wie realistisch ist das in einer Welt, in der zum Beispiel jedes Auto aus Teilen besteht, die aus mehr als 100 Ländern kommen? +Mir erscheint es völlig unrealistisch. Es gibt eben nicht mehr das deutsche Produkt, das exportiert wird. Es gibt Wertschöpfungsketten. Wenn wir die unterbrechen, schaden wir uns selbst. Auch Trump schadet sich selbst, wenn er Strafzölle auf Stahl und Aluminium erhebt, er schadet der verarbeitenden Industrie in den USA, die viel größer ist als die Stahlindustrie. Die Amerikaner sind diejenigen, die möglicherweise am längsten mit solch einer nationalen Politik durchhalten können, weil der eigene Markt so groß ist. Bei uns ginge das nicht lange gut. Wenn wir uns auf Deutschland konzentrieren oder auf den europäischen Markt, da können wir sofort zumachen. +Nun geben Sie dennoch den Kritikern in vielen Punkten recht. Wie kann man das berücksichtigen und Freihandel besser machen? +Bei allen Handelsabkommen ist inzwischen bei den Europäern das Bedürfnis zu spüren, sehr viele von jenen Standards, die etwa auch die Grünen aufgegriffen haben, mit aufzunehmen. Da geht es um Arbeitsbedingungen, Umweltstandards und Verbraucherschutz. Es wird auch über Sanktionen nachgedacht für den Fall, dass jemand dagegen verstößt. Die EU hat sich eine neue Handelsstrategie gegeben, die heißt "Trade for all". Ziel ist, dass der Handel nicht nur den Unternehmen zugutekommen soll, sondern auch den Verbrauchern, den Konsumenten und auch noch den Entwicklungsländern. Ich glaube, dass es wirklich sehr gute Reformen gab, die durch die Debatte um TTIP ausgelöst wurden. Gerade im Bereich Umwelt und Entwicklung wird da sehr viel mehr passieren. Allerdings ist auch schon zu beobachten, dass nicht alle Verhandlungspartner unbedingt bereit sind, sich auf solche Ideen einzulassen. +Trotzdem, das klingt ja so, als sollten sich die Kritiker von links, die Kirchenleute und Gewerkschafter mit den Freihandelsbefürwortern verbünden – und gemeinsam den Nationalisten gegenübertreten? +Idealerweise sollte es so sein. Allerdings wissen wir natürlich noch nicht, wie weit wir mit diesen Ansprüchen kommen. Die Grünen etwa wollen eigentlich die Handelsabkommen als Klimaabkommen haben, und da stellt sich die Frage, ob man alle derartigen Anliegen in Handelsverträge integrieren kann. Aber natürlich sollten die Linken weiter konstruktiv mit den Freihandelsbefürwortern reden. Es gibt ja bereits Reformen, die daraus entstanden sind. Damit können sie sich glaubwürdig vom nationalistisch geprägten Reflex der Rechten distanzieren. + +Titelbild: Melina Mara/The Washington Post via Getty Images diff --git a/fluter/glossar-zum-thema-daten.txt b/fluter/glossar-zum-thema-daten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d1dd4bdf3459aceabf1b7d5651b94d0c32b731ee --- /dev/null +++ b/fluter/glossar-zum-thema-daten.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Darin werden inhaltlich zusammenhängende Informationen als Kategorien gebündelt. Das sind beispielsweise Angaben zu einer Person wie Augenfarbe, Haarfarbe, Alter und Geschlecht. Dieser und weitere zusammenhängende Datensätze können dann in einer Datenbank hinterlegt werden. +Ein System, auf dem Informationen als große Datenmengen gesammelt und geordnet hinterlegt sind. Sie sind so gekennzeichnet, dass ein schneller und gezielter Zugriff auf Daten möglich ist. +Darunter versteht man riesige Datenmengen. Sie entstehen mit jeder technischen Handlung, sei sie auch noch so klein wie das Anklicken eines Links. Unter den Begriff "Smart Data" fällt das Endergebnis, nachdem große Datenmengen gesammelt, geordnet und analysiert worden sind. +Das sind die übergeordneten Informationen zu Daten. Über einen Menschen wäre das zum Beispiel die Info, wo sich sein Handy gerade befindet oder wo er wohnt. Ohne ihn persönlich zu kennen, kann man mithilfe von Metadaten viel über die Lebensgewohnheiten eines Menschen wissen. +So nennt man es, wenn Datensätze öffentlich zugänglich gemacht werden. Dabei handelt es sich in technischer wie rechtlicher Hinsicht um offene, nicht personenbezogene und, wenn doch, anonymisierte Daten. Ein Open-Data-Angebot erkennt man daran, dass man die Rohdaten weiterverarbeiten und -leiten, sie also in offenen, maschinenlesbaren Formaten herunterladen oder per Schnittstelle/API abfragen kann. +Dabei werden Informationen in Blöcken gespeichert, die eine Kette ergeben. Damit lässt sich z.B. die Lieferkette eines T-Shirts nachverfolgen. Der Weg beginnt bei der Baumwollfarm, die als erster Block in die Kette geschrieben wird. In den nächsten Schritten folgen die Produktion in einer Fabrik, der Transport und schließlich der Verkauf im Laden. Verwaltet wird diese Verbindung von sehr vielen Rechnern gleichzeitig, aber ohne eine kontrollierende Zwischeninstanz. Bevor ein neuer Block in die Kette geschrieben wird, muss die Verbindung von jedem Rechner aus bestätigt werden. Dadurch ist die Blockchain zugleich transparent und fälschungssicher, weil ein Betrüger die Information auf allen beteiligten Rechnern austauschen müsste. Mit einer Blockchain lassen sich Kryptowährungen wie Bitcoin realisieren, digitale Verträge oder auch ein Wahlsystem. +Das sind Computerprogramme, die bestimmte, sich wiederholende Aufgaben weitgehend automatisiert abarbeiten, ohne dabei auf eine menschliche Interaktion angewiesen zu sein. Dabei sind Bots weder gut noch böse, sie machen einfach das, was ihre Programmierer wollen. Man spricht dennoch von "guten" Bots, die sich an die Vorschriften halten und zum Beispiel vorhandenen Links folgen und den Inhalt der Seite auswerten. Und den "bösen" Bots, die genutzt werden, um E-Mail-Adressen zu sammeln, Sicherheitslücken zu finden, Webinhalte unautorisiert zu kopieren oder systematisch auszuspionieren. Außerdem gibt es sogenannte Social Bots, die in sozialen Netzwerken menschliche Verhaltensmuster simulieren und eigenständig Kommentare absetzen. Dadurch können sie auch für die politische Meinungsmanipulation genutzt werden – wie beispielsweise bei der Präsidentenwahl in den USA oder dem EU-Referendum in Großbritannien. diff --git a/fluter/glossar-zum-thema-gene.txt b/fluter/glossar-zum-thema-gene.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a6a5c5652bf86cb99eb392f4be206b6c5459ac81 --- /dev/null +++ b/fluter/glossar-zum-thema-gene.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Englisch: deoxyribonucleic acid, deutsch: Desoxyribonukleinsäure. Sie ist der Baustein, der unsere komplette genetische Information enthält. Als doppelsträngiges Molekül befindet sich die DNA im Chromosom. Sie ähnelt einer schraubenförmig um die eigene Achse gedrehten Strickleiter und wird durch Basenpaare zusammengehalten. Das Rückgrat der Leiter besteht aus Zuckermolekülen (Desoxyribose) verbunden mit Phosphat. +Berühmtestes Schaf der Erde, da das erste geklonte Säugetier. 1996 wurde Dolly in einem schottischen Labor aus einer einfachen Körperzelle eines erwachsenen Schafes gezeugt. Ausgestopft ist Dolly heute im Royal Museum in Edinburgh zu bewundern. +Ist ein unabhängiger Sachverständigenrat, der aus 26 Mitgliedern besteht, die je zur Hälfte von der Bundesregierung und dem Bundestag vorgeschlagen werden und die der Bundespräsident beruft. In seinen monatlichen, in der Regel öffentlichen Sitzungen beschäftigt sich der Rat mit den ethischen, gesellschaftlichen, naturwissenschaftlichen, medizinischen und rechtlichen Fragen der Forschung und deren Auswirkungen auf Individuum und Gesellschaft. Dabei besteht die Aufgabe des Rates darin, die gesellschaftliche Diskussion zu fördern und als Beratungsgremium Stellungnahmen und Empfehlungen für politisches oder gesetzgeberisches Handeln zu erarbeiten. (www.ethikrat.org) +Träger von Erbinforma tionen in der menschlichen Zelle. Es beschreibt einen Abschnitt auf dem Erbgutmolekül DNA. Dieses liegt auf den Chromosomen, die sich im Zellkern befinden. Jeder Mensch hat zwei Kopien eines jeden Gens – eines vom Vater und eines von der Mutter, mit Ausnahme des X- und des Y-Chromosoms. +Gesamtheit aller Erbinformationen einer Zelle. Im Jahr 2000 entschlüsselte der US-amerikanische Biochemiker Craig Venter mit seinem Team als Erster große Teile des menschlichen Genoms. +Steht für gentechnisch veränderte Pflanzen. Meistens sind sie mit einem Insektengift oder einer Herbizidtoleranz ausgestattet (oft auch mit beidem) – das heißt, sie überleben das weiträumige Spritzen eines Unkrautvernichtungsmittels. Die weltweite Anbaufläche 2015 (inklusive Versuchsanbau) von GVP beträgt 179,7 Millionen Hektar, das sind 3,6 Prozent der weltweiten landwirtschaftlichen Nutzfläche. Die größten Flächen liegen in den USA und Brasilien. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Soja (51 Prozent), Mais (30 Prozent), Baumwolle (13 Prozent) und Raps (5 Prozent). +Bezeichnet die Erzeugung genetisch identischer Individuen durch Zellteilung oder durch den Transfer von Erbgut, bei dem ein Zellkern in eine Eihülle transplantiert wird. +Darunter versteht man die Veränderung des Erbgutes. Dies kann durch den Austausch, Verlust oder das Einfügen von Gen-Buchstaben geschehen. Ursachen können zufällige Fehler bei der Zellteilung sein, aber auch Umwelteinflüsse zum Beispiel durch UV- oder radioaktive Strahlung. Vererbt werden allerdings nur solche Mutationen, die in den Keimzellen – also den Spermien oder Eizellen – entstehen. Die meisten Mutationen sind schädlich für ein Lebewesen, andererseits sind sie notwendig, da sie die Variationen von Erbsubstanz erhöhen. Sie gelten daher als Triebkraft der Evolution. +PID ist die Abkürzung für Präimplantationsdiagnostik. Dafür werden die Zellen eines wenige Tage alten Embryos, der durch künstliche Befruchtung gezeugt wurde, auf Gendefekte untersucht. Dies geschieht, bevor der Embryo in die Gebärmutter der Frau eingesetzt wird. Im Gegensatz zu anderen Ländern ist die Präimplantations diagnostik in Deutschland nur erlaubt, wenn eine schwerwiegende Erbkrankheit beim Kind oder eine Tot- oder Fehlgeburt wahrscheinlich ist. +Das ist eine Art Ursprungszelle, die sich unbegrenzt vermehren und alle Zelltypen des Körpers bilden kann, etwa die Muskel-, Nerven- oder Blutzellen. Stammzellen finden sich in Embryonen und wurden bislang auch in 20 Organen des menschlichen Körpers nachgewiesen (zum Beispiel im Knochenmark). In Deutschland dürfen Wissenschaftler keine embryonalen Stammzellen für Forschungszwecke gewinnen. Im Jahr 2002 erließ der Bundestag das Stammzellgesetz, das Forschern erlaubt, humane embryonale Stammzellen aus dem Ausland zu beziehen. Allerdings müssen die Embryonen ursprünglich für eine künstliche Befruchtung erzeugt worden sein. +Die kleinste vermehrungsfähige lebende Einheit aller Organismen. Man unterscheidet Ein- und Mehrzeller. diff --git a/fluter/glueck-als-schulfach.txt b/fluter/glueck-als-schulfach.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2977908b4aa265ede63fe6685bee795308c0f858 --- /dev/null +++ b/fluter/glueck-als-schulfach.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Der Schulleiter und Lehrer des Unterrichtsfaches "Glück", Ernst Fritz- Schubert, spricht über das Schulfach "Glück" in der Willy-Hellpach-Schule in Heidelberg + +Die Inhalte sind an allen Schulen ähnlich und geprägt von Erkenntnissen aus Psychologie und Soziologie, aber auch durchzogen von viel Praktischem: Auf dem Stundenplan stehen das Zusammenspiel in der Gemeinschaft, sich das Glück im Alltag bewusst zu machen, die eigenen Stärken und Schwächen zu entdecken und sich selbst Ziele zu setzen, sich im eigenen Körper wohlzufühlen, Gesundheit und Ernährung, Sport – aber ohne Leistungsdruck, Theaterspielen. +Ernst Gehmacher, Soziologe und Glücksforscher in Wien, fasst das prägnant zusammen: "Ich spreche immer von den drei großen F: Fitness, Freunde und Freude an dem, was man tut." Auch in den USA und Großbritannien wird das Glückslernen in der Schule und in Universitäten schon länger ausprobiert. "Social and Emotional Learning" heißt es dort. +Werner Sander unterrichtet Glück als Wahlfach in der 11. Klasse des Anna-Essinger-Gymnasiums in Ulm. Besonders hat ihm imponiert, wie eine Schülerin gleich in der ersten Stunde für sich das Glück definiert hat: "Glück ist für mich, wenn ich jeden Abend zufrieden einschlafe." "Das ist es", sagt Sander, der ursprünglich gegen Mobbing und gegen die Härten des Notendrucks angehen wollte und sich so Schritt für Schritt zum Glückslehrer entwickelte. "Es geht nicht um das große, einmalige Glück, sondern darum, innerlich stabil zu sein, seine eigenen Stärken zu kennen und die Schwächen als Ressourcen zu nutzen. Das ist wichtig im Leben, aber in der Schule kommt es zu kurz." +Jede Stunde beginnt Sander mit einem Warm-Up: rhythmische Körperbewegungen, Body-Drumming genannt, die locker machen und Hemmungen nehmen sollen. Im Unterricht stehen spielerische Übungen an erster Stelle, um ganz praktisch zu erfahren, was Glück und Zufriedenheit schafft. Ein Beispiel: Alleine oder mit anderen zusammen ist "der Rubikon zu überschreiten", um auszuprobieren, wie man spielerisch Hindernisse überwinden kann. Zwei Klebebänder auf dem Fußboden des Klassenraums symbolisieren den historischen Grenzfluss, den Caesar einst überschritt und damit einen Bürgerkrieg auslöste. Drei Kartons kommen dazu, auf die jeweils nur ein Fuß passt, um "trocken" über die Wasserscheide zu kommen. "Das geht nur, wenn alle miteinander sprechen, sich helfen und gemeinsam eine Lösung finden", sagt Sander. +Lisa Käufer, die sich zu Beginn dieses Schuljahrs für den Glückskurs bei Werner Sander entschieden hat, erhofft sich davon einiges. "Mich selbst zu finden, im Alltag ruhiger zu sein und im Schulstress besser zu bestehen", sagt sie. Anfangs hat sie vor allem gereizt, dass das Fach im Abitur anerkannt wird und die mündliche Prüfung ersetzen kann. Inzwischen sieht Lisa darin eine echte Bereicherung und vor allem die Möglichkeit, die eigenen Stärken besser auszuschöpfen. Glück, das bedeutet für sie "mit Freunden zusammen zu sein; nicht alleine zu sein, sondern Menschen um mich zu haben, die ich mag, und die Dinge zu tun, die ich gern tue". +Etwa ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland schätzt sein eigenes Wohlbefinden als unterdurchschnittlich ein. Je nach Bundesland sagen 11 bis 17 Prozent der unter 18-Jährigen, dass sie in der Schule nicht gut zurechtkommen, heißt es im "UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland" von 2011/2012. Ein Hobby mit den Eltern zu teilen, stärkt das Wohlbefinden deutlich. Sich zu dick zu fühlen oder Angst davor zu haben, in der Schule geärgert zu werden, trübt es spürbar ein. +Hier setzt der Glücksunterricht an, möglichst früh. Katja Richter hat am Gymnasium Ochsenhausen in Baden-Württemberg im vergangenen Schuljahr erstmals eine "AG Glück" für die Fünftklässler angeboten. Statt Glück zu lehren, sagt sie lieber, sie vermittle Lebenskunst. Fragt man die Fünftklässler, was sie in der AG lernen, sagen sie: "Ich bin nicht immer gleich so frustriert und wütend wie früher" und "Ich fühle mich geborgen in der AG". Alle haben inzwischen einen "Stärkenausweis" in der Hosentasche und bunte, kleine Steine. In dem Mini-Ausweis stehen ihre persönlichen Stärken drin, die sie selbst definiert haben: "Ich bin fleißig. Ich bin kreativ. Ich bin mir etwas wert", hat ein Schüler geschrieben. "Ich bin phantasievoll. Ich bin zuverlässig. Ich bin mir selbst treu", hat sich ein anderer in den Persönlichkeitspass geschrieben. +Das hilft auch, mit den Schwächen umzugehen – zum Beispiel damit, dass man sich leicht ablenken lässt oder nicht so mutig ist wie andere Schüler. Für jeden Glücksmoment am Tag schieben sie einen bunten Stein von der linken in die rechte Hosentasche. Und abends, wenn sie die Taschen leeren, erinnern sie sich an die glücklichen Momente des Tages. "Mir ist es wichtig, die Kinder auch für kleine Dinge zu sensibilisieren. Es gibt vieles im Alltag, das glücklich macht", sagt Katja Richter. +Für die Kinder zählt dazu "auf dem Rücken eines Pferdes zu reiten" – vor allem Mädchen träumen davon –, "ein schöner Nachmittag mit Oma und Opa" oder "ein Freund, der hilft, wenn es mir schlecht geht". In jedem stecke die Fähigkeit, sich glücklich zu fühlen, das sei genetisch so programmiert, sagt Katja Richter. "Aber man muss immer wieder üben, dieses Programm auch für Zufriedenheit und ein gelingendes Leben zu nutzen." +Zurück zum Glücksforscher Ernst Gehmacher. "Bei mir fühlen sich die Glücksschüler wie in einer Weight-Watchers-Gruppe", sagt er schmunzelnd über sich. Denn Gehmacher misst nach, wie zufrieden sie sich vor und nach dem Glücksunterricht fühlen. An Schulen in Heidelberg, Graz und Neusiedel am See sowie an einigen anderen war er bereits mit seiner "Waage für das Glück" unterwegs. "Wunder sind selten, die Veränderungen sind nicht überragend groß", fasst er zusammen. Rasch wirkende Geheimrezepte werden im Glücksunterricht nicht vermittelt, aber viele Ansätze, um eigenständig und nachhaltig zufriedener zu leben. "Und einige Verbesserungen im Wohlbefinden sind im Unterricht leicht zu erreichen", sagt Gehmacher. +Er hat Glücksschüler mit Methoden der Psychologie befragt, um herauszufinden, was sich für sie verändert hat, seit sie zum Glücks-Unterricht gehen; zur Kontrolle hat er Nicht-Glücksschülern die gleichen Fragen gestellt. Im Vergleich zeige sich, so Gehmacher, dass Glücksschüler ihr Leben als sinnvoller empfänden, dass sie selbstbewusster seien und stärker das Gefühl hätten, Probleme aus eigener Kraft bewältigen zu können als Schüler, die das Fach nicht haben. +Auch Wolfgang Knörzer, Professor an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg und Mitwirkender an den ersten Glücksunterricht-Konzepten, sieht positive Effekte: Die Glücksschüler sind mehr in der Lage, sich Ziele zu setzen, und sie erkennen ihre eigenen Stärken besser. Knörzer wünscht sich statt eines Schulfachs Glück, dass ganze Schulen zu "Glücksschulen" werden: "Wir brauchen keine Inseln der Glücklichen, ein Fach allein reicht nicht aus", findet er. Die Interessen der Schüler stärker berücksichtigen, Raum für eigene Initiativen geben und einen Bezug zum wirklichen Leben herstellen – das sind Elemente, die für ihn eine Schule zu einer "Glücksschule" machen können. +Nicole Walter lebt als freie Journalistin in Berlin. diff --git a/fluter/gordon-gekkos-erben-filme-ueber-die-boerse-und-finanzkapitalismus.txt b/fluter/gordon-gekkos-erben-filme-ueber-die-boerse-und-finanzkapitalismus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b6962a9d6b5e825d602c8e6c3a9409a0dee33f20 --- /dev/null +++ b/fluter/gordon-gekkos-erben-filme-ueber-die-boerse-und-finanzkapitalismus.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Dass der Finanzkapitalismus seit den 1980er-Jahren nicht weniger heiß dreht, betont auch Stones Fortsetzung "Wall Street: Geld schläft nicht" (2010), die zur Zeit der weltweiten Finanzkrise von 2008 spielt. Wirkt Gekko nach einem längeren Gefängnisaufenthalt zunächst halbwegs geläutert, müssen seine entfremdete Tochter Winnie (Carey Mulligan) und sein Schwiegersohn in spe, der Investmentbanker Jake (Shia LaBeouf), feststellen, dass der Börsenhai nach wie vor keine Skrupel kennt. Leider heftet Stone der Geschichte eine sentimentale Wandlung an, die den Film stark verwässert. +In "American Psycho" geraten nicht nur die Aktienkurse außer Kontrolle +Auf verstörende Weise nähert sich dagegen die Verfilmung des Skandalromans "American Psycho" (2000) der Figur des nimmersatten Börsianers. Christian Bale verkörpert in Mary Harrons düsterer Adaption den jungen Wall-Street-Banker Patrick Bateman, der sich in seinem blinden Streben nach Ansehen und Statussymbolen in einen grausamen Mordrausch hineinsteigert. Wobei – spoiler alert – am Ende angedeutet wird, dass die Gewaltszenen lediglich in seiner Fantasie stattgefunden haben könnten. +Während Gekko und Bateman fiktive Charaktere sind, beschreibt Martin Scorsese in seinem Biopic "The Wolf of Wall Street" (2013) den Werdegang eines echten Börsenzampanos. Hollywoodstar Leonardo DiCaprio schlüpfte für den Regiealtmeister in die Rolle von Jordan Belfort, der als junger Mann Ende der 1980er-Jahre sein Glück am New Yorker Finanzmarkt suchte und dort nach ersten Rückschlägen die Firma Stratton Oakmont gründete. Ein Unternehmen, das seinen Erfolg auf Schrottpapieren aufbaute. +Scorsese taucht den extravaganten Lebensstil seiner drogensüchtigen Hauptfigur und das wilde, obszöne Treiben der Börsianer in grelle Farben. Die rasante, ausufernde Testosteron-Satire zeigt den Protagonisten als eloquenten, von Mitarbeitern wie ein Guru verehrten Playboy, der keinerlei Grenzen akzeptiert. Eine Verherrlichung Belforts und seines kriminellen Handelns unterläuft der Film durch Absturzszenen aus dem Privatleben, die den sexistischen Multimillionär auf das Maß eines erbärmlichen, verantwortungslosen Würstchens herunterstutzen. +Große Geste, breite Krawatte: In "The Wolf of Wall Street" nimmt Leonardo DiCaprio eine Abkürzung zum American Dream +Den Zynismus der Branche fängt "The Wolf of Wall Street" schon zu einem frühen Zeitpunkt treffend ein, als ein noch unerfahrener Belfort auf einen älteren Kollegen (Matthew McConaughey) trifft. Niemand an der Börse, so der erfahrene Trader, könne die Entwicklung einer Aktie voraussagen. Wichtig sei bloß, die Anleger mit immer neuen Investitionsideen zu ködern und ihnen so kontinuierlich das Geld aus der Tasche zu ziehen. +In seiner dynamischen Aufmachung ähnlich, aber inhaltlich komplexer präsentiert sich Adam McKays auf wahren Begebenheiten beruhende Chronik "The Big Short" (2015) nach einem Buch des Finanzjournalisten Michael Lewis. Erzählt wird darin von einigen Börsenexperten, die den Zusammenbruch des amerikanischen Immobilienmarktes und damit den Beginn eines weltweiten Erdrutsches kommen sahen und schließlich darauf wetteten. Der Film, der mehrere unterschiedliche Stränge kombiniert, mit Börsianer-Vokabular nur so um sich wirft und schwierige Zusammenhänge gewitzt illustriert, zeigt einen vollkommen außer Kontrolle geratenen Markt, in dem Dummheit als treibende Kraft fungiert und profitverliebte Banker ungeprüft Kredite vergeben. Selbst an Kunden ohne Job und Einkommen. +Eine Immobilienblase - nicht doch. Die Hedgefonds-Manager streiten in "The Big Short" über die Vorahnung eines Kollegen +Einen deutlich kühleren Blick bietet J.C. Chandors Regiedebüt "Der große Crash – Margin Call" (2011), das in einem Kammerspielszenario die Überlebensstrategie einer fiktiven Investmentbank kurz vor Ausbruch der Krise von 2007/2008 beleuchtet. Spannend wie ein Thriller umkreist der Film moralische Fragen und stellt dabei sogar Finanzakteure vor, die sich mit handfesten Gewissensbissen herumschlagen und den beschlossenen Rettungskurs auf Kosten von System und Anlegern nur widerwillig stützen. Unter den Tisch kehrt Chandor bei aller Kritik am unersättlichen Finanzwesen nicht, dass auch den Kunden Verantwortung zukommt. Einfachen Menschen, die vom schnellen Geld träumen. Vom Eigenheim mit Garten. Von tollen Autos. Auch sie tragen dazu bei, dass sich das Rad unkontrolliert weiterdreht. Und immer neue Filme darüber entstehen. + +Titelbild: dpa - Bildarchiv diff --git a/fluter/gorillas-arbeitsbedingungen-streik.txt b/fluter/gorillas-arbeitsbedingungen-streik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..909a1f41d9b43710913dcd05667e0f72f87ad36c --- /dev/null +++ b/fluter/gorillas-arbeitsbedingungen-streik.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Doch zuletzt sorgte Gorillas vor allem wegen der anhaltenden Proteste von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für Schlagzeilen. Die Liste ihrer Beschwerden ist lang: unregelmäßige Bezahlung, schlechte Regenkleidung und kaput­te Fahrräder, die manche Fahrtzum Gesundheitsrisiko machen.Am größten aber ist mittlerweile die Wut darüber, dass viele Rider fristlos entlassen wurden, weil sie an sogenannten wilden Streiks teilgenommen hatten. +Zeynep Karlıdağ arbeitet seit Februar für das Unternehmen. Sie kam aus der Türkei zum Studieren nach Deutschland und suchte eine Arbeit. "Die ersten Wochen war ich sehr zufrieden mit dem Job", erzählt sie. Zum ersten Mal seit Langem sei sie wieder krankenversichert gewesen, zudem habe sie in Teilzeit mehr verdient als eine Lehrerin in der Türkei mit einem Vollzeitjob. Doch schon nach ein paar Wochen bekam sie chronische Schmerzen im Rücken. Tatsächlich wogen die Rucksäcke der Rider schon mal über zehn Kilo. Zeynep glaubt, dass das Unternehmen extra die Gepäckkörbe an den Fahrrädern abgebaut habe, damit das Bier nicht durchgeschüttelt wird. "Sie nutzen unsere Rücken als billige Stoßdämpfer." Gorillas widerspricht nicht nur dieser Darstellung. Bereits im Juni hätte man sichergestellt, dass Lieferungen über zehn Kilo auf zwei Rider verteilt würden. +"Die Ausstattung mit Schutzkleidung wie Regenmänteln, Handschuhen und Jacken hat sich nach den Streiks wirklich verbessert", räumt Zeynep ein. Unsichere Fahrräder seien aber weiterhin ein Problem, bisweilen käme es zu Unfällen. Und nach wie vor würde Gorillas Löhne nicht pünktlich und fehlerfrei zahlen. Davon erzählen auch andere Rider. Gorillas gibt lediglich "einen kleinen Prozentsatz an Fehlern in der Gehaltsabrechnung" zu. +Viel Ärger gibt es auch immer wieder wegen der Schichtpläne. Für Zeyneps Freundin Duygu war das ein Grund, sich an den Streiks zu beteiligen. Sie zeigt Schichtpläne mit manchmal nur sieben Stunden Pause zwischen zwei Schichten, im deutschen Arbeitsrecht sind mindestens zehn vorgesehen. Laut Darstellung von Gorillas würde es nur zu Verstößen gegen die gesetzliche Ruhezeit kommen, wenn Beschäftigte selbstständig Schichten tauschten. +So wie sich früher Essenslieferdienste einen harten Wettbewerb boten, bei dem letztlich nur wenige übrig blieben, befindet sich Gorillas ebenfalls in Konkurrenz zu anderen Anbietern wie Flink, Getir oder Wolt. Wer irgendwann wirklich die Gewinne einfahren will, die das Milliardeninvestment rechtfertigen, wird wohl die anderen verdrängen oder schlu­cken müssen. Da ist es nicht förderlich, wenn das Image durch die Diskussion um schlechte Arbeitsbedingungen leidet. Bei einer Meinungsumfrage im Juli gaben 62 Prozent der Befragten an, dass sich ihre Meinung zu Gorillas durch die Arbeitskämpfe verschlechtert habe. Und eine Zeitung schrieb: Gorillas sei auf dem besten Weg, zum Symboleiner neuen Form von Arbeitnehmerausbeutungzu werden. +Um die Gemüter zu besänftigen, setzte Gorillas kleinere Rucksäcke und ein neues Schichtplanungstool ein – Firmengründer Kağan Sümer mischte sich sogar unter die unzufriedenen Rider, erzählte ihnen von seiner Leidenschaft fürs Fahrradfahren und versprach im Juli: "Ich würde niemals jemanden wegen eines Streiks feuern." Ein Versprechen, das er nur wenige Monate später brach. +Denn im Oktober schickte Gorillas zahlreiche außerordentliche Kündigungen an Beschäftigte in Berlin und Leipzig, die im Verdacht standen, gestreikt zu haben. Die Gewerkschaft Verdi spricht von 350 Betroffenen. Vor der Firmen­zentrale in Berlin kam es daraufhin wieder zu Protesten. "We fire in 10 minutes", hieß es auf einem Transparent, "Wir feuern in zehn Minuten." Ob die Kündigungen rechtens waren, müssen wohl bald Gerichte klären. Fakt ist: Arbeitsniederlegungen, zu denen keine Gewerkschaft aufruft, gelten in Deutschland als unzulässig. Das Verbot dieser sogenannten wilden Streiks leitet sich aus einer Reihe von Urteilen aus den 1950er- und 1960er-Jahren ab. Viele Juristen glauben jedoch, dass diese Urteile im Widerspruch zu völkerrechtlichen Verträgen stehen. Mit dem Streikaufruf einer Gewerkschaft hätten die Kündi­gungen vermieden werden können, glauben viele Rider. Doch den Gewerkschaften fällt es schwer, sich im E-Commerce zu organisieren. Wo die Beschäftigten schlecht verdienen, sind kaum Mitgliedsbeiträge zu holen, die befristeten Arbeitsverhältnisse machen eine Bindung schwierig. Zudem sind die per Smartphone organi­sierten Flashmobs oder Boykottaufrufe auf WhatsApp in herkömmlichen Arbeitskämpfen eher unüblich. +Probleme bei den Schichtplänen, unregelmäßige Lohnzahlungen, mangelnder Arbeitsschutz: Vieles davon ließe sich mit einem Betriebsrat verbessern. Deswegen wollen Gorillas-Arbeiterinnen und Arbeiter auch einen solchen gründen, doch auch hier blockte die Unternehmensführung. Zwar verkündete man auf der Homepage, dass man die Gründung eines Betriebsrates unterstützen würde, doch versuchte man, die geplanten Betriebsratswahlen gerichtlich verbieten zu lassen. Ende November urteilte das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, dass die Mitarbeiter ihre Betriebsratswahl fortsetzen dürfen – und schließlich wurde ein 19-köpfiges Gremium gewählt. +Eine der gewählten Betriebsrätinnen ist Zeynep. "Mit dem Betriebsrat können wir Einfluss auf Entscheidungen der Unternehmensführung nehmen", sagt sie. Doch wie lange dieses Gremium bestehen wird, ist unklar. Sie geht davon aus, dass Gorillas weitere Versuche unternehmen wird, den Betriebsrat zu verbieten. Aber eins ist für Zeynep klar: "Wir kämpfen weiter für unsere Rechte." + diff --git a/fluter/gott-ist-nicht-schuechtern-olga-grjasnowa.txt b/fluter/gott-ist-nicht-schuechtern-olga-grjasnowa.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ffb3f1b94bebf5df030e8fede6567d1b31021ec3 --- /dev/null +++ b/fluter/gott-ist-nicht-schuechtern-olga-grjasnowa.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Olga Grjasnowa: "Gott ist nicht schüchtern" Aufbau-Verlag, Berlin 2017, 307 Seiten, 22 Euro +Die 1984 in Baku, Aserbaidschan, geborene und mit ihrer Familie in Berlin lebende Autorin betrachtet "Gott ist nicht schüchtern" als Plädoyer für mehr Mitgefühl gegenüber Geflüchteten. Als routinierte Autorin weiß sie natürlich um die Bedeutung der handlungtragenden Figuren. Man soll sie verstehen und gern haben können, was gut hinhaut bei Hammoudi, Amal und Youssef. Mitte bis Ende zwanzig sind die drei, weltoffen, gebildet – und bald schon politisch engagiert gegen das Regime Baschar al-Assads zu einer Zeit, als man nicht bloß in Damaskus meinte, mit Demonstrationen gegen Korruption und für mehr demokratische Mitsprache könnte man den syrischen Staatspräsidenten zu Reformen bewegen. +Wie wir wissen, kam es anders. Die Schauspielerin Amal steht rasch auf der Abschussliste des Geheimdienstes. Nur die Beziehungen ihres Vaters retten sie vorm Folterkeller. Als die Lage immer aussichtsloser wird, flieht sie in den Libanon. Amals Freund Youssef wird auf einer Demonstration von Soldaten verprügelt, später verschwindet er. Als Amal Youssef in Beirut wiederbegegnet, ist er nicht mehr derselbe. Die Folter hat ihn gebrochen. +Die schillerndste Figur ist Hammoudi, der in Paris ein Prädikatsexamen in Medizin abgelegt und sich dort ein Leben mit glücklicher Liebesbeziehung aufgebaut hat, nach einem kurzfristig gedachten Syrienbesuch jedoch nicht mehr aus dem Land gelassen wird. Zuerst spuckt er Feuer und Galle, dann resigniert er – bis der Bürgerkrieg beginnt. In seinem Heimatort Deir az-Zour richtet Hammoudi ein provisorisches Lazarett ein. Seine Angstreflexe sind bald abgestumpft, das Schicksal der vielen unter seinen Händen Verblutenden aber geht ihm weiterhin nahe. Bis der Islamische Staat in Deir az-Zour einmarschiert und auch Hammoudi fliehen muss. +Alle drei hatten ein schönes, privilegiertes Leben, hatten Träume, die erreichbar schienen. Zerbombt und fortgespült. Stattdessen erleben sie die zunehmende Brutalisierung, Verrohung und Zerstörung ihres Landes. Die Anteilnahme des Lesers ist groß. Die schnelle, schmucklose Prosa drängt sich niemals unangenehm auf. Und doch übertreibt es Grjasnowa im letzten Drittel des Romans mit ihrer Fluchtgeschichte. +Wenn es auf Youssefs, Amals und Hammoudis Fluchtrouten in die Türkei und nach Griechenland von fiesen Schleppern wimmelt und heillos überfüllte, seeuntüchtige Boote unbedingt kentern müssen, wenn Youssef auf den letzten Seiten in einem Berliner Flüchtlingsheim von Nazis mit einem Sprengsatz ermordet wird, dann ist das für einen einzelnen Roman viel zu viel. Ein sehr gutes Buch wäre leicht möglich gewesen. Die Autorin war nahe dran. Sie hätte bloß weniger machen müssen. + +Titelbild: Michel FOLCO/GAMMA-RAPHO/laif diff --git a/fluter/gr%C3%BCne-gentechnik-vorteile-nachteile.txt b/fluter/gr%C3%BCne-gentechnik-vorteile-nachteile.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..81e9c22c462b0c6ba4e740ecbb8f9354673de096 --- /dev/null +++ b/fluter/gr%C3%BCne-gentechnik-vorteile-nachteile.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Befürworter sehen die grüne Gentechnik als ultimative Lösung gegen Hunger oder Naturzerstörung. Gegner fürchten hingegen um die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt und dass große Saatgutunternehmen kleine Bauern mit patentiertem Saatgut abhängig machen könnten. Dazwischen scheint es in öffentlichen Diskussionen wenig Raum zu geben. +"Mich hat überrascht, wie viel Frust und Emotionen ich auf beiden Seiten erlebt habe", erzählt Waldhof. Statt einer Diskussion finde eher ein Glaubenskrieg statt: Egal ob Wissenschaftler oder interessierte Bürgerinnen, Gentechnikbefürworter oder -kritikerinnen, alle wollten immer nur darüber reden, ob Gentechnik an sich gut oder schlecht sei, berichtet Gabi Waldhof. Manche Veranstaltungen zur grünen Gentechnik endeten in lautem Streit. +Alsgrüne Gentechnikbezeichnet man gentechnische Verfahren an Pflanzen. Mit verschiedenen Methoden kann direkt in das Erbgut von (Nutz-)Pflanzen eingegriffen werden, um etwa einzelne Gene auszuschalten oder ganz neue Gene in das Erbgut einzuschleusen. So können gezielt bestimmte Eigenschaften der Pflanze verändert werden. Ziel ist etwa eine höhere Widerstandsfähigkeit gegen Schädlinge, Spritzmittel oder Trockenheit. Andere Anwendungsbereiche der Gentechnik gibt es u.a.in der Medizinoder Industrie ("rote" und "weiße" Gentechnik). +Kritikerinnen und Befürworter reden aneinander vorbei – das hat Waldhof in ihren Analysen gesehen. Sie sprechen noch nicht einmal über Gentechnik, sondern über die Werte und die Moral, die für sie damit verknüpft sind. Und sobald sich eine Diskussion um die Moral dreht, sind die anderen nicht nur anderer Meinung – sondern schlechte Menschen. Waldhof hat Aussagen von beiden Seiten in über 4.000 Textstellen ausgewertet. Die darin angeführten Argumente hat sie auf sechs "moralische Werte" geprüft. "So spielt aufseiten der Kritiker eine große Rolle, dass der Mensch nicht mit Agrogentechnik in die Natur eingreifen soll: Gentechnik gefährde die Reinheit und Unversehrtheit der Natur. Befürworter halten dagegen: Gentechnik stelle kein Risiko für die Natur dar, sondern könne ihr sogar nutzen. Besonders häufig appellieren beide Seiten an den Wert "Schutz". Auf der Kritikerseite etwa Eltern, die ihre Kinder vor gentechnisch veränderten Nahrungsmitteln schützen möchten. Die Befürworter behaupten oft genau gegenteilig, dass sich aus gentechnisch optimierten Pflanzen gesündere Nahrungsmittel machen lassen. "Eigentlich wollen beide Seiten gesunde, umweltschonende Lebensmittel, von denen auch ärmere Menschen in Entwicklungsländern profitieren", sagt Waldhof. Sie könnten sich nur nicht einigen, ob Gentechnik dafür das Mittel ist. +Ein Problem mit moralischen Überzeugungen ist, dass sie oft eng verknüpft sind mit einerGruppenidentität– die um jeden Preis verteidigt wird, auch gegen Fakten und vernünftige Argumente. Gabi Waldhof sagt, sie habe auf beiden Seiten "moralischen Absolutismus" nachgewiesen. "Damit ist eine Einstellung gemeint, die für sich selbst einen so hohen Wert hat, dass die Konsequenzen egal sind." Es werden dann alle Argumente gesammelt, die irgendwie die eigene Position stärken. "Um in der Diskussion weiterzukommen, müssen beide Seiten diesen Absolutismus aufgeben. Beide müssten sich auf ihre eigentlichen Ziele fokussieren – und anerkennen: Gentechnik ist kein Ziel an sich, sondern ein mögliches Mittel für bestimmte Zwecke." +Auch der Agrarwissenschaftler Urs Niggli weiß, wie hart um die Gentechnik gekämpft wird. Jahrelang war er als Direktor des schweizerischen Forschungsinstituts für biologischen Landbau (FiBL) einer ihrer lautesten Kritiker. "Viele Argumente, die noch heute gebracht werden, habe ich damals entwickelt." Aber je mehr wissenschaftliche Erkenntnisse gesammelt wurden, desto mehr Zweifel hatte Niggli am Schwarz-Weiß-Denken über Gentechnik. Nach außen aber war seine Haltung klar: dagegen. +Für viele Menschen ist Gentechnik untrennbar verknüpft mit großen Agrarkonzernen und riesigen Monokulturen. Doch das muss nicht sein, findet Niggli heute. "Monokulturen sind nienachhaltig.Auf die Vielfalt kommt es an!Wir brauchen Vielfalt in der Fruchtfolge, in den Sorten, in den Anbaumethoden. Und ein Teil dieser Vielfalt kann auch die Gentechnik sein." Denn noch immer bringt etwa der Biolandbau weniger Ertrag auf gleicher Fläche, erklärt Niggli "Deshalb bleibt er leider eine Nische, so gut er für die Umwelt auch sein mag." Darum träumt Urs Niggli von einem ganz neuen ökologischen Weg mit den besten Methoden aus beiden Welten. +Mehr zu Genen und den moralischen Fragen, die ihre Erforschung aufwerfen, lest ihr imfluter-Heft zum Thema Gene +Im direkten Gespräch zeigten sich zwar viele auf der Bioseite offen, berichtet Niggli, doch öffentlich dazu stehen würden sie nicht – zu viele Interessen hängen an der scharfen Kritik der Gentechnik. Biobauern nutzen sie als Verkaufsargument, NGOs sammeln damit Spenden. Als Niggli im Jahr 2016 mit seiner Meinung an die Öffentlichkeit ging, wendete sich die Bioszene gegen ihn. Letztlich musste er seinen Posten als FiBL-Direktor räumen. +Nun hofft er auf den Weg in der Mitte, bei dem gentechnisch veränderte und nicht veränderte Pflanzen koexistieren und alle Beteiligten zusammenarbeiten. Nicht für die beste Ideologie, sondern für die besten Ergebnisse für Umwelt, Bauern und Verbraucher. Auch Gabi Waldhof sieht Chancen, dass beide Seiten zusammenkommen. "Dafür gibt es aber eine Grundvoraussetzung: der Wille, miteinander Lösungen zu finden." Vielleicht lässt sich so die Welt retten – gemeinsam eben. diff --git a/fluter/grand-beauty-salon-leipzig.txt b/fluter/grand-beauty-salon-leipzig.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7ff07483fde1d440637eedb6eba980186dca18aa --- /dev/null +++ b/fluter/grand-beauty-salon-leipzig.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +"Damals gehörte Augsburg zu den Städten, deren Einwohner etwa zur Hälfte einen Migrationshintergrund hatten beziehungsweise Ausländer waren, und ich hatte bereits Haareschneiden als skulpturale künstlerische Praxis in meinem eigenen Repertoire", erzählt sie. Interkulturalität sieht sie als großen Zugewinn in der Beautybranche. "Es gibt lokaltypische Praktiken, die es anderswo nicht gibt, und es gibt Praktiken, die gibt es überall." Ein typisches Augen-Make-up im arabischen Raum könne sich von dem gängigen Make-up hierzulande unterscheiden. Die Vielfalt liefere Inspiration, außerdem suchten fast alle Menschen Schönheitssalons auf, unabhängig von Geschlecht oder Alter, wenn auch in unterschiedlicher Häufigkeit. Anders als in anderen Salons geht es beim Grand Beauty Salon also nicht in erster Linie um eine bezahlte Dienstleistung, sondern um eine schöne Begegnung – und das zwischen Personen und Communitys, die sich im Alltag vielleicht eher nicht über den Weg laufen. +Fast jeden Freitagnachmittag öffnen die Salontüren, und alle, die Lust auf Gespräche und Make-up, eine Massage oder eine neue Frisur haben, sind eingeladen vorbeizukommen. Ohne Termin, ohne Anmeldung, gratis oder, wer mag, gegen eine Spende. +Finanziert wird das Ganze durch Förderer und Sponsoren. Einige der Beauty Experts – so nennen sich die, die hier schminken, schneiden, frisieren, massieren – sind auf Minijob-Basis angestellt. Viele haben noch keine Arbeitserlaubnis und können im Grand Beauty ehrenamtlichihrem Beruf nachgehen. Falls gewünscht, können die Erfahrungen hier auch als Praktikum angerechnet werden. +Kaum bin ich als Reporterin vor Ort, werde auch ich auf einen der Stühle vor einem großen Spiegel gesetzt, neben einen jungen Mann, der gerade von einem anderen jungen Mann die Haare geschnitten bekommt. Jessica Lopez kommt aus Mexiko, ist erst seit kurzem Teil des Teams und fragt mich, wie sie mich schminken darf. "Ich bin für alles bereit", erwidere ich. "Dann kriegst du jetzt einen dramatischen Look", sagt sie lachend und greift zu den Pinseln. "Ich finde, hier in Deutschland ist ein Friseurbesuch sehr teuer, und danach sieht es oft nicht mal gut aus", sagt Lopez mit humorvoller Empörung. Von Bekannten habe sie vom Grand Beauty Salon gehört, wo man für wenig oder kein Geld, aber trotzdem mit einem großartigen Ergebnis rausgehe. +Eigentlich hat Jessica Lopez Kommunikationswissenschaften studiert, doch bereits in Mexiko belegte sie Make-up-Kurse. Davor habe sie schon gerne gemalt, und Make-up sei für sie eine ganz ähnliche Kunstform, erzählt sie. Während sie mir mit faszinierend ruhiger Hand verschiedene Blautöne rund um meine Augen aufträgt, wird unser Gespräch immer privater. Ich war zwar noch nicht in Mexiko, habe aber viel Zeit in anderen lateinamerikanischen Ländern verbracht. Was mögen wir an der jeweils anderen Kultur? Und wie läuft Dating hier und dort ab? Immer wieder setzt sie den Pinsel ab, und wir lachen herzlich. Es fühlt sich natürlich an, und trotzdem bin ich danach überrascht, wie sehr ich mich einer mir unbekannten Person geöffnet habe. +Als ich fertig bin, komme ich ins Gespräch mit Frida, die vor mir geschminkt wurde. Sie verbringt noch etwas Zeit im Eingangsbereich mit anderen Besucher:innen und den Beauty Experts. Frida heißt eigentlich anders, aber ihren echten Namen möchte sie nicht nennen. +"Ich fühle mich geschminkt wie ein komplett anderer Mensch", sagt sie. Normalerweise schminke sie sich gar nicht. Nicht mal mit einem Lidstrich, beteuert sie. Das habe mit ihrem Trauma zu tun: "Ich habe in meiner Kindheit ganz furchtbare Gewalt erlebt und bin für die Männer geschminkt worden", sagt sie mit wackeliger Stimme. "Und deshalb war Schminken für mich immer untrennbar mit diesen Erinnerungen verbunden." Doch im Grand Beauty Salon versuche sie, parallel zu ihrer Therapie, einen neuen Zugang zu Make-up und ihrer eigenen femininen Seite zu finden. Die Begegnungsstätte tue ihr gut. "Einige aus dem Team hier haben in der Vergangenheit zwar auch Gewalt erlebt, aber hier steht weder die Gewalt noch die Gewaltverbergung im Vordergrund", sagt Frida. +2021 hat der Grand Beauty Salonden "Power of the Arts"-Award gewonnen, ein Preis, der an Kunst- und Kulturprojekte vergeben wird, die sich für eine offene Gesellschaft einsetzen. Das Konzept des Salons soll nun auch in andere Städte gebracht werden. Frauke Frech und ihr Team schreiben bereits an einem Methodenhandbuch. Es gäbe schon ein Team in Großbritannien, mit dem sie in Kontakt stünden. Man könne die Idee auch noch weiterdenken: "Wenn sowieso die Zugänge zum Arbeitsmarkt erleichtert werden sollen, wäre es ein toller Ansatz, wenn man lokale Friseurmeisterinnen mit zugewanderten Schönheitsexpertinnen in einem leer stehenden Friseursalon zusammenbringen würde." +Zu Ibtissam Zaher wollen heute viele. Trotzdem nimmt auch sie sich zwischendurch Zeit für mich und meine Haare. Sie erzählt mir, dass sie 2015 ihre Heimat Libyen verlassen musste. Dort hatte sie zuvor viele Jahre ihren eigenen Beauty-Salon. Vor über eineinhalb Jahren ist Zaher zum Grand-Beauty-Team gestoßen. "Ich bin darüber sehr froh. Das Team ist nett, und ich kann wieder meinem Beruf nachgehen", sagt sie. Ihre Kolleg:innen kommen aus Venezuela, Palästina, Äthiopien, Mexiko, Deutschland oder Afghanistan. Die einzige gemeinsame Sprache unter allen Beauty Experts ist Deutsch. Zaher sieht den Grand Beauty Salon deshalb auch als Gelegenheit, sich sprachlich zu verbessern. +Den Austausch und die Begegnungen mit den Kolleg:innen genieße sie sehr, erzählt sie, aber ein Moment bleibe für sie der schönste: "Alle Frauen, denen ich die Haare schneide, sagen nachher: ‚Danke schön, das ist schön geworden.' Es ist großartig, ihre glücklichen Gesichter zu sehen." Dann hat sie auch mein Haar fertig geschnitten und voluminös nach hinten geföhnt. Wir strahlen uns an. diff --git a/fluter/graphic-novel-autismus-trubel-mit-ted.txt b/fluter/graphic-novel-autismus-trubel-mit-ted.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..07b365e3f8d5f9bb7bfdf187bb3bdf093c80f3e5 --- /dev/null +++ b/fluter/graphic-novel-autismus-trubel-mit-ted.txt @@ -0,0 +1,10 @@ + +Drei Stunden steht Ted an diesem Morgen zitternd am Gleis, hört das Ticken seiner Armbanduhr und ist innerlich in Aufruhr. Dieser Zustand wird als "sensory overload" bezeichnet. Eine totale Überforderung, die Autist*innen manchmal tagelang aus der Bahn wirft. Ted kommt erst zu sich, als ihm eine betagte Dame auf die Schulter tippt. Doch er ist orientierungslos und kann nicht zu seinem Tagesablauf zurückkehren. Stattdessen lässt er sich durch die Stadt treiben, lauscht einem Seniorenchor, beobachtet einen Autounfall und landet in einem Sexshop. + +Damit rechnet niemand: Manche Autisten haben Inselbegabungen und können komplexe Rechenaufgaben lösen – oder sich alle Buchsignaturen in einer Bibliothek merken + +Gefühle, Mimik, Gestik, Ironie, Liebe, Sex – das alles ist für ihn ein Rätsel. Lächeln oder Mitgefühl zeigen muss er sich mühsam antrainieren. Ted nimmt die Dinge wörtlich und sagt fast immer die Wahrheit. "Und, hat es Ihnen gefallen?", fragt eine Frau aus dem Seniorenchor. "Nein! Es war schrecklich", sagt Ted. Gleason gelingt es nicht nur an dieser Stelle, lustig zu sein, ohne sich lustig zu machen. +Autismus beschreibt ein breites Spektrum leichter bis tiefgreifender "Entwicklungsstörungen". Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterscheidet unter anderem zwischen frühkindlichem Autismus, auch Kanner-Syndrom genannt, atypischem Autismus und dem Asperger-Syndrom. Das Kanner-Syndrom tritt meist in den ersten drei Lebensjahren auf. Eines von 160 Kindern ist betroffen, Jungen häufiger als Mädchen. Die Diagnose erfolgt anhand einer Kombination typischer Merkmale: Dazu gehört eine verzögerte Sprachentwicklung, stereotype Verhaltensweisen oder Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion, zum Beispiel das Vermeiden von Blickkontakt. Beim atypischen Autismus werden nicht alle diese Kriterien erfüllt. Das Asperger-Syndrom gilt als mildere Form des Autismus. Die Merkmale der unterschiedlichen Autismus-Formen sind nicht immer klar abgrenzbar, die Übergänge zwischen den Diagnosen fließend. Deshalb sprechen Wissenschaftler heute eher vomautistischen Spektrum. +Emilie Gleason: "Trubel mit Ted". Aus dem Französischen von Christoph Schuler. Edition moderne, 128 Seiten, 24 Euro +Emilie Gleason muss nicht mit Worten erklären, was Ted wahrnimmt und empfindet: Sie zeigt es mit ihren Bildern. Teds Welt ist bunt, grell und laut: zu viel Lärm, Lichter und Gerüche. Nur die Gesichter der anderen sind schemenhaft, weil es Autist*innen oft schwerfällt, sich Gesichter zu merken. Wenn Ted alles entgleitet, dann entgleiten auch die gezeichneten Linien. Dann werden seine schlaksigen Beine zu wabernden Serpentinen, und die Dinge um ihn herum zerspringen zu unkontrolliertem Gekritzel. +Am Ende von Teds Odyssee wird er zur Gefahr für sich selbst und seine Umgebung. Seine Eltern entscheiden sich daher für eine Therapie in einer Klinik. Ted bekommt Medikamente, die helfen sollen, seine Ausbrüche zu unterdrücken. Er verändert sich, und die Geschichte nimmt noch einmal Fahrt auf. Gleasons Graphic Novel – in roughem Stil wie ein Tagebuch gezeichnet – schafft es nicht nur meisterhaft, die Perspektive eines Menschen mit Autismus zu zeigen. Sie thematisiert die schwierigen Fragen, wie mit Menschen wie Ted umgegangen werden soll,wie selbstbestimmt er leben kann und wann Fürsorge übergriffig wird. diff --git a/fluter/graphic-novel-queer-pirouetten-tillie-walden.txt b/fluter/graphic-novel-queer-pirouetten-tillie-walden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8a51421963e1d21e134935ecf9e038e53e03a1a0 --- /dev/null +++ b/fluter/graphic-novel-queer-pirouetten-tillie-walden.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +"Alle musterten mich. Wie ich hieß, spielte keine Rolle. Aber sie mussten wissen, dass ich eine Bedrohung für sie war", beschreibt sie ihr erstes Training in Texas. Die junge Tillie ist ehrgeizig, perfektionistisch, hart zu sich selbst. Sie will gewinnen. Und sie gewinnt. Sie erreicht vordere Plätze bei Wettbewerben, besteht immer alle Leistungsprüfungen. +Doch auch hier gilt: Leicht sieht es bloß aus. Jeder weiß, dass das Dauerlächeln der Eistänzerinnen nicht echt ist. "Die Prüfungen waren ein einziger Krampf. Genau das bedeutete Eislaufen für mich: nicht etwa elegante Sprünge oder schwungvolle Gleitpassagen. Sondern komplizierte Muster und penible Geschwindigkeit – alles unter einer dicken Schicht Make-up und in Eiseskälte." Auch das soziale Drumherum mit den anderen Mädchen aus dem Team ist für Tillie, die eher spröde, introvertiert, nerdy ist, kein leichtes Vergnügen. Aber sie findet Freundinnen. +Bei der Arbeit an ihrem Buch hat Tillie Walden die Orte ihrer Vergangenheit nicht besucht, sie hat keine alten Fotos angeschaut und auch die alten Chats mit ihren Freundinnen und Teamkolleginnen nicht noch mal gelesen. Nicht ihre Erinnerungen wolle sie teilen, sondern ihre Empfindungen, schreibt sie im Nachwort. + +Tillie Walden: "Pirouetten", Reprodukt, Berlin 2018, 400 Seiten, 29 Euro +Das tut sie auf satten 400 Seiten. Eine Menge Stoff, und so um die Mitte herum hat "Pirouetten" gewisse Längen – um anschließend so richtig Fahrt aufzunehmen. Denn Tillie verändert sich. Die Kunst wird immer wichtiger, sie hat ihrComing-outund ihre erste Beziehung, erlebtsexuelle Belästigung,Mobbing, Leere im Kopf. Wie in allen Coming-of-Age-Geschichten geht es in "Pirouetten" um Anpassung, um Normen und um die Suche nach dem eigenen Platz in der Welt und es wird immer klarer, dass dieser Platz für Tillie Walden nicht mehr die Eislaufhalle ist. Doch es ist ein langer zäher Prozess der Entfremdung, bis sie endlich loslassen kann. +400 Seiten bergen auch die Gefahr, dass man beim Blättern zu schnell wird. Das wäre schade, denn wie Tillie Walden Szenen, Situationen, Ereignisse in Bildfolgen auflöst, verdient mehr als einen flüchtigen Blick. Sie ist hier offensichtlich vom japanischen Manga inspiriert, zieht einzelne Momente auch mal über ein halbes Dutzend Bilder in die Länge, variiert die Panelgrößen von seitenfüllend zu winzig klein, arbeitet exzessiv mit Licht und Schatten. Farbe braucht Walden kaum, alles ist in dunkel- und hellvioletten Schattierungen gehalten. Nur manchmal setzt ein goldgelb gleißender Farbton die Ereignisse in ein anderes Licht. +Wenn man gut genug ist beim Eislaufen, dann ist es keine Frage der Technik mehr, ob man einen schweren Sprung besteht, schreibt Tillie Walden im Nachwort. Es ist eine Frage des Mutes. Das gilt auch fürs Leben. diff --git a/fluter/graphic-novel-transmann-pubertaet.txt b/fluter/graphic-novel-transmann-pubertaet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0473905163eb17e4f604fd6f6fda074cf7eec46d --- /dev/null +++ b/fluter/graphic-novel-transmann-pubertaet.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Zeichner Zuttion findet starke Bilder für Nathans Zerrissenheit, für die Diskrepanz zwischen seinem Innenleben und dem Aussehen seines Körpers. Die Pastellfarben und die Strichführung sind weich, teils skizzenhaft. Wenn hingegen harte Linien und dunkle Farben verwendet werden, wirkt der Kontrast umso stärker – wenn sich Nathan in seiner Verzweiflung auf dem Bett zusammenrollt und das Zimmer um ihn herum im Schwarz verschwindet, wenn Blut leuchtend rot an seinen Armen hinabläuft. +Zwischendurch tauchen wir auch in die Gedanken seiner Eltern und seines Bruders ein. Doch der Comic bleibt hier oberflächlich, da es nur kurze Momente sind, in denen die Erzählperspektive wechselt. Das kann schon mal für Verwirrung sorgen, weil man selbst herausfinden muss, wer gerade spricht. +"Nennt mich Nathan" ist bei Splitter erschienen. 141 S./ 22€ +Was schwerer wiegt: VieleKonflikte, mit denen Trans*Menschen zu kämpfen haben, tauchen gar nicht auf. Noch im Körper einer Frau sammelt Nathan, wie es scheint, durchweg positive erste sexuelle Erfahrungen, was für Heranwachsende allein schon eine große Belastung sein kann. Seine Freunde unterstützen ihn vom ersten Tag an; auch, dass er noch im Körper einer Frau mit einer Frau zusammen ist, scheint gar kein Problem zu sein. Und auch seine Familie steht hinter ihm, trotz der Kosten und Risiken der Geschlechtsanpassung. Man kann wohl nicht davon ausgehen, dass dieser schwierige Prozess normalerweise auf so wenig Widerstand trifft. Dass "Nennt mich Nathan" diese Aspekte nicht problematisiert, birgt die Gefahr, dass LeserInnen, die Ähnliches durchlebt haben, sich nicht in der Geschichte wiederfinden, oder sogar denken könnten, die Konflikte in ihrem Umfeld seien ihre eigene Schuld. +Andererseits: Am Verhalten von Nathans Umfeld kann man sehen, wie Eltern und Freunde von Trans*Menschen reagieren können, um sie bestmöglich zu unterstützen. Letztlich macht Nathans Geschichte vor allem Mut – den Mut, zu sich zu stehen und für das eigene Glück zu kämpfen. diff --git a/fluter/graswurzeln.txt b/fluter/graswurzeln.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2594ad6ffe4f8648fe599e97978ed061f5fee849 --- /dev/null +++ b/fluter/graswurzeln.txt @@ -0,0 +1 @@ +"Eine schleichende Entfremdung zwischen den großen Vereinen und ihren Anhängern", stellt Matthias Mink auch in Deutschland fest. Der 40-jährige ehemalige Profi trainiert seit einem Jahr Fortuna Köln. Dort proben die Anhänger seit April den Aufstand, und der Verein unterstützt sie sogar dabei. Die Idee der Aktion: Der Fußball kehrt zu den Fans zurück. Die sollen per Internet den ehemaligen Zweitligisten managen, der mittlerweile in den Niederungen der fünften Liga zu Hause ist. Die Initiatoren des Projekts deinfussballclub.de (dfc) versuchen, eine virtuelle Gemeinschaft von 30 000 Freizeit-Managern aufzubauen. Wenn dieses Ziel erreicht ist, zahlen die Fans einen Jahresbeitrag von 40 Euro und haben dafür das Sagen.Das Vorbild für dieses Projekt stammt aus England. Beim Fünftligisten Ebbsfleet United geben seit Februar mehr als 28 000 Fans den Ton an. Sie entscheiden online über Aufstellung, Taktik und Management des Clubs. In Köln sollen die User darüber abstimmen, wie sich die Vereinshymne anhört, wo das nächste Freundschaftsspiel stattfindet und welcher Sponsor das Trikot ziert. Anders als bei der englischen Vorlage soll Fortuna-Coach Mink aber weiter das letzte Wort bei der Aufstellung haben, erklärt dfc-Initiator Dirk Daniel Stoeveken. "Alles andere wäre unseriös. Schließlich ist der Trainer am nächsten an der Mannschaft dran." Die User fungieren als Co-Trainer. Vor jedem Spiel bekommt der Coach die Wunschelf der Community mitgeteilt und muss sich für seine Entscheidungen im Chat rechtfertigen. Trainer Mink sieht's gelassen: "Ich verstehe mich gut mit meinem jetzigen Co-Trainer. Warum sollte das bei 30 000 anders sein?"Bislang haben sich 6200 Mitglieder als potenzielle Teilhaber des Vereins angemeldet. Auch die Zuschauerzahlen gehen nach oben: In der Hinrunde kamen 400 bis 500 Fans ins Kölner Südstadion, zum Saisonfinale waren es 7000. "Wir überlegen, schon zur kommenden Saison zu starten und nicht auf das 30 000. Mitglied zu warten", sagt Dirk Daniel Stoeveken. Fest stehe das aber noch nicht. Schließlich müssen vorher die Mitglieder gefragt werden. diff --git a/fluter/graue-woelfe-kurz-erklaert.txt b/fluter/graue-woelfe-kurz-erklaert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6291348139e8c5719ec2504e0b8831bd31438733 --- /dev/null +++ b/fluter/graue-woelfe-kurz-erklaert.txt @@ -0,0 +1,32 @@ +Was soll das Türkentum sein? +Türkische Rechtsextreme definieren es als eine Kette verschiedener türkischer Stämme, die sich unter anderem auch in Zentralasien oder Russland niedergelassen haben. Sie alle sollen im großtürkischen Reich "Turan" wiedervereint werden, das sich von der Chinesischen Mauer bis nach Zentralanatolien erstreckt. Diese Ideologie nennt sich Turanismus. +Dabei leben in diesem Gebiet ja lange nicht nur türkische Menschen. +Daher die Abwertung aller, die sich nicht dem Türkentum verpflichtet sehen. In erster Linie richtet sich dieser Rassismus gegen die in der Türkei lebenden Minderheiten: Kurden, Aleviten,Judenundganz besonders Armenier. +Folgt der Abwertung auch eine Erhöhung des "eigenen Volkes"? +Definitiv. Die Erhöhung der türkischen Rasse und der türkischen Nation ist ein Kernelement in der Ideologie der Grauen Wölfe. + + +Ein Anführer, ein imaginiertes Großreich, die Erhöhung der eigenen gegenüber der Abwertung anderer "Rassen" –klingt allzu bekannt.Aus heutiger Sicht scheint es bizarr, aber in den 70er-Jahren gab es sogar Kontakt zur NPD. +Alparslan Türkeş war mehrmals in Deutschland und hat auf der Suche nach Verbündetenmit verschiedenen extremistischen Netzwerken gesprochen,darunter die NPD und auch die damalige FAP (Anm. der Redaktion: Die Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei galt damals als größte militant-neonazistische Organisation Deutschlands. Sie wurde 1995 verboten).Aber heute sind Türken und Muslime ja zentrale Feindbilder für deutsche Rechtsextreme,deswegen gibt es trotz ideologischer Nähe keine Basis mehr für eine Beziehung. +Eine Gruppierung türkischer Rechtsextremer, die auch "Ülkücü-Bewegung" genannt wird. Über die wird gerade viel gesprochen, dabei sind die Grauen Wölfe gar kein neues Phänomen: Sie formierten sich aus faschistischen Bewegungen der Türkei in den 1930er- und 1940er-Jahren. Mit der Arbeitsmigration seit 1960 wanderten – unter vielen anderen politischen Ansichten – auch Rechtsextreme aus der Türkei nach Deutschland ein. +Eine Ursprungslegende der türkischen Geschichte besagt, dass die Wölfin Asena das Türkentum vor der Unterjochung durch einen ausländischen Feind gerettet hat. Außerdem ist der heulende Wolf ein Symbol: Er ruft sein Rudel zur Jagd zusammen – was die Militanz und den Aktionismus der Bewegung verdeutlicht. Der Wolf wird beim "Wolfsgruß" der Anhängerbis heute mit der Hand geformt. +Ein weiteres Symbol der Grauen Wölfe sind die drei Sichelmonde. Den Sichelmond kennt man von der türkischen Flagge. Taucht er im Dreierpack auf, Vorsicht: Das ist ein Code der Ultranationalisten. +Das Bundesamt für Verfassungsschutz sieht in der "rechtsextremistischen" Ülkücü-Bewegung "wegen ihrer militanten Ablehnung des Gleichheitsgrundsatzes" schon länger eine Gefährdung für die innere Sicherheit in Deutschland. Verboten sind die Grauen Wölfe aktuell aber nicht. Im November hatten mehrere Bundestagsfraktionen ein Verbot beantragt, das jedoch als unwahrscheinlich gilt: Die rechtlichen Hürden scheinen derzeit hoch zu sein. Dabei kommt der Gruppierung ihre Struktur entgegen. Die "Grauen Wölfe" sind kein Verein mit einer Mitgliederdatei und klarer Hierarchie, sondern eine Bewegung. Ihre Anhänger sind in Deutschland in drei Dachverbänden und rund 200 Vereinen organisiert, die unterschiedliche Ausrichtungen haben. Laut Verfassungsschutz ist die "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e.V." (ADÜTDF) der größte Dachverband dieser Bewegung in Deutschland. Sie ist die Auslandsvertretung der extrem nationalistischen türkischen "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP), die im türkischen Parlament vertreten ist und im Wahlbündnis mit der regierenden AKP antrat. +Die Grauen Wölfe werden heute als größte rechtsradikale Organisation Deutschlands eingeschätzt. Die rund 18.000 Mitglieder sind aber in Vereinen organisiert … +Offiziell nennen sie sich deutsch-türkische Kulturvereine, im Türkischen werden sie Ülkücü genannt. Ab 1977 war es türkischen Parteien untersagt, im Ausland Zweigstellen zu gründen. Deshalb musste sich die von Alparslan Türkeş gegründete Partei MHP hier in Ülkücü-Vereinen organisieren. 1978 wurde mit der ADÜTDF der erste Dachverband gegründet, der die lokalen Vereine vernetzt. In den 80er-Jahren spaltete sich die ATIB (Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa) ab, die sich mehr als islamischer Flügel versteht. Ihre Mitglieder identifizieren sich jedoch ebenso mit der Tradition des Grauen Wolfs. +Wie sehen diese Vereine aus? +Sie sind Treffpunkte, in denen es um gemeinsames Beten, Kultur- und Sportveranstaltungen oder Hilfsangebote für die Gemeinschaften geht – aber auch um Bildungsarbeit und Kampagnen, die antidemokratische Einstellungen vermitteln. Sie werden in allen diesen Lokalen Porträts des Führers Alparslan Türkeş finden. Der übrigens ein Verehrer Hitlers war. + + + + +Was genau ist antidemokratisch an den Grauen Wölfen? +Genau dieses Prinzip eines großen Führers an der Spitze. Und eine enorme Feindseligkeit gegenüber Minderheiten und politischen Gegnern, die sich auch in offener Gewalt äußert. Die MHP hat schon in den 60er-Jahren mehrere türkische Journalisten und Intellektuelle ermorden lassen. Später richteten die Grauen Wölfe Massaker in Maraş, Çorum und Sivas an: Pogrome, die sich vornehmlich gegen Aleviten sowie linke Gewerkschafter, Journalisten, Politiker und Wissenschaftler richteten. +Auch in Deutschland gab es Mordopfer. 1980 wurde in Berlin der Kommunist Celalettin Kesim erstochen. Wie gewaltbereit sind die Grauen Wölfe heute? +Die Gewalt hat nie aufgehört. 1995 wurde der junge Kurde Seyfettin Kalan ermordet. Ende der 90er Erol Ispir … +Moment, die wurden alle in Deutschland ermordet? +In Neumünster. In Köln. Celalettin Kesim in Berlin. Die Gewalt der Wölfe hat ja nicht einfach an der deutschen Grenze haltgemacht. Momentan ist die MHP als Koalitionspartnerin der AKP in Deutschland sichtbarer geworden. Als der Bundestag 2016 die Armenien-Resolution veröffentlichte – also anerkannte, dass die durch das Osmanische Reich begangenen Massaker an den Armeniern ein Völkermord waren –, starteten MHP-nahe Netzwerke eine Hetzkampagne gegen deutsche Politiker, und türkischstämmige Politiker erhielten Morddrohungen. Die antidemokratische Gefahr, die von dieser Bewegung ausgeht, ist deutlich zu erkennen. +Jetzt wird ein Verbot der Grauen Wölfe geprüft. Wäre das wirksam? +Das wäre ein Schritt in die richtige Richtung, insbesondere symbolisch. Es ist wichtig zu zeigen, dass der Rechtsextremismus in der postmigrantischen Gesellschaft nicht nur ein deutsches Phänomen ist, sondern in migrantischen Gemeinschaften genauso existiert. Wenn rechtsextreme Gesinnungen verboten werden, muss das für deutschen Rechtsextremismus ebenso gelten wie für serbischen, kroatischen oder eben türkischen. + +Dr. Kemal Bozay ist Professor für Soziale Arbeit und Sozialwissenschaften an der IUBH Internationale Hochschule in Köln. Bozay arbeitet seit Jahren zum türkischen Rechtsextremismus und anderen postmigrantischen Formen von "Ungleichwertigkeitsideologien". (Foto: privat) diff --git a/fluter/greifvogel-faellt-runter.txt b/fluter/greifvogel-faellt-runter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b7e5e7dede635b0154751415f0ad5a857dcaca28 --- /dev/null +++ b/fluter/greifvogel-faellt-runter.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +fluter.de: Herr Hirschfeld, wenn man als Tourist im Frühjahr oder Herbst nach Malta reist, sieht man immer wieder Einheimische, die mit Flinten wild in die Luft ballern. Was ist da los? +Es ist praktisch unmöglich, das nicht zu beobachten, wenn man zur richtigen Zeit da ist. Im Frühling und im Herbst fliegen unsere Zugvögel nach Afrika, beziehungsweise sie kommen von dort aus ihren Winterquartieren zurück ins Brutgebiet. Die Vögel schaffen es gerade bei schlechten Wetterbedingungen nicht in einem Rutsch übers Mittelmeer und brauchen auf der Mitte der Strecke einen sicheren Ort für einen Zwischenstopp. Und hier kommt Malta ins Spiel. +Ja, aber warum schießen die Malteser denn gleich auf die Vögel, die bei ihnen landen? +Die meisten wollen einfach nur eine seltene Trophäe haben. Andere verkaufen die Vögel auch an Sammler, denen eine bestimmte Farbvariante vielleicht noch fehlt. Wir hatten jetzt im Herbst zusammen mit der Polizei eine große Beschlagnahmung bei einem Jäger, den wir erwischt haben. Der war erst 24 Jahre alt und hatte schon über 100 Greifvögel gesammelt und geschossen. Allein in einer seiner Vitrinen waren mehr Baumfalken als im gesamten Rhein-Sieg-Kreis brüten, wo ich herkomme. Wenn man sieht, was ein einzelner Jäger schon für einen Schaden anrichtet, möchte man sich gar nicht ausmalen, wie viel das auf Malta in der Summe ist. Schrecklich. +Die Vogeljagd ist also illegal? +Nein. Turteltauben und Wachteln dürfen auf Malta legal geschossen werden. Das dient den Jägern als Alibi, um das ganze Jahr mit der Flinte draußen zu sein. Die Vogelarten, deretwegen wir aktiv sind, sind seltene Falken, Adler, Greifvögel, Pirole, Bienenfresser. Arten, die bei uns auf den Roten Listen stehen und mit viel Steuergeldern und persönlichem Engagement von Vogelfreunden geschützt werden. Dieser ganze Aufwand wird durch die Wilderei im Mittelmeer zunichtegemacht. Die schönsten Vogelschutzgebiete nützen nichts, wenn sie leer bleiben, weil die Vögel auf Malta im Kochtopf oder in der Trophäensammlung landen. +Wenn es in einem Land Tradition ist, Vögel zu schießen, kann man doch schwer dagegen argumentieren, oder? Die Inuit dürfen doch auch Wale jagen. +Tradition muss man natürlich zu einem gewissen Grad akzeptieren. Aber wenn eine Tradition gesellschafts- und umweltschädlich ist, ist es an der Zeit, darüber nachzudenken, ob man die Tradition nicht einfach beendet. Man könnte die Vogeljagd ja auch durch Tontaubenschießen oder Ähnliches ersetzen. Aber die maltesischen Jäger werden natürlich sofort bestreiten, dass das eine vernünftige Idee ist. +Dieser Storch hat seinen Zwischenstopp nicht überlebt +Ist es nicht ein bisschen seltsam, wenn Sie als Deutscher in ein fremdes Land reisen und den Einheimischen sagen, was sie tun und lassen sollen? +Wir sind eine Organisation mit Sitz in Deutschland, aber unsere Freiwilligen kommen aus vielen verschiedenen Ländern. Zum Beispiel aus England, Schweden, Frankreich oder Holland. Es sind genauso die Vögel der Malteser, wie es die Vögel der Deutschen und der Franzosen sind. Als Malta 2004 Mitglied der EU wurde, hat das Land die Europäische Vogelschutzrichtlinie übernommen. Das war ein großer Fortschritt. Ich denke, die Mehrheit der Einwohner Maltas ist auf unserer Seite und gegen die Wilderei. Die haben schon verstanden, dass es um die Haltung zu einem gemeinsamen europäischen Naturerbe geht. +Woher nehmen Sie die Zuversicht, dass die Mehrheit der Malteser hinter Ihnen steht? +Das wird sich jetzt zeigen. Wir werden im kommenden Jahr zum ersten Mal ein Referendum auf Malta haben. Es wird darüber abgestimmt werden, ob im Frühling weiterhin Vögel gejagt werden dürfen oder nicht. Das ist in keinem anderen Land der EU erlaubt. Vögel, die im Frühling in die Brutgebiete zurückkehren, sind besonders wertvoll für die Population, weil sie später wieder Nachwuchs erzeugen. +Sie organisieren zweimal im Jahr sogenannte Vogelschutzcamps auf Malta und in anderen Ländern. Wie dürfen wir uns das vorstellen, ist das so etwas wie Work and Travel, Urlaub mit ein bisschen Arbeit? +Nein, mit Urlaub hat das überhaupt nichts zu tun. Das ist harte Arbeit. Jede Saison kommen 30 bis 40 Leute zu uns, die wir in Teams aufteilen. Die postieren wir strategisch an den Einflugkorridoren und Schlafplätzen der Vögel. Natürlich nehmen wir nicht jeden, da gibt es ein Auswahlverfahren. Die Leute müssen zum Beispiel Englisch sprechen, teamfähig sein und Vögel bestimmen können. Unsere Leute filmen mit Videokameras die abfliegenden und ankommenden Vögel. Greifvogel fällt runter? Alles klar! In dem Moment versuchen wir, den Wilderer zu kriegen, und rufen sofort die Polizei. +Es soll angeblich rund 15.000 Vogeljäger und -fänger auf Malta geben. Die können Sie doch mit 40 Freiwilligen niemals kontrollieren ... +Natürlich gehen uns viele Wilderer durch die Lappen. Aber wir schnappen genug, um den anderen Angst zu machen. Bestimmte Gebiete haben wir dadurch beruhigen können. +Die Voraussetzungen zur Teilnahme an einem Ihrer Vogelschutzcamps lesen sich ziemlich abenteuerlich. Da steht zum Beispiel: "Auch will der Umgang mit bewaffneten Wilderern gelernt sein." +Unsere Leute müssen vorsichtig sein. Sie sollen deeskalieren und niemanden provozieren. Man hat sich als Vogelschützer schon schnell mal eine Ohrfeige gefangen. Es wurden auch schon Autos abgefackelt oder Windschutzscheiben zertrümmert. +Zweimal im Jahr überwachen Freiwillige die Jagdgebiete auf Malta +Der Schriftsteller Jonathan Franzen, der an mehreren Ihrer Vogelschutzcamps teilgenommen hat, wurde auf Zypern ebenfalls von Wilderern angegriffen. Das ist also normal? +In bestimmten Situationen wird es sehr, sehr gefährlich. Wir raten unseren Freiwilligen: In dem Moment, in dem ein schimpfender, wilder Jägermob auf euch zurennt, haut ab. Manche Wilderer fühlen sich aber trotzdem von uns provoziert und drehen durch. Dieses Jahr haben wir schon einen Fußgelenksbruch und einen Trommelfellriss zu beklagen. Wirklich schwer verletzt wurde aber zum Glück noch nie jemand. Auf Malta haben wir teilweise auch eine professionelle Security-Firma, die unsere Teams begleitet. +Wer tut sich so einen Ärger denn an, anstatt in den Strandurlaub zu fahren? +Unsere Camps sind sehr gemischt. Da sind Rentner dabei, junge Leute, Tierschützer, Vogelgucker. Nach vielen Jahren wissen wir, wie wir eine gute Gruppe zusammenbekommen. +Sie betonen immer wieder, wie hart die Arbeit im Vogelschutzcamp ist. Wird einem denn auch mal gedankt? +Wenn man morgens auf Malta im Gelände mit unseren T-Shirts unterwegs ist, kriegt man nur Stinkefinger gezeigt und wird von den Jägern beleidigt. Wenn man mit demselben T-Shirt in der Fußgängerzone unterwegs ist, kommen auf einmal Leute auf einen zu, die einem die Hand schütteln wollen und uns Tipps geben, wo wir Wilderer finden können. Wir bekommen auf Malta also auch Anerkennung für das, was wir tun. +Seien Sie ehrlich: Auch wenn man früh auf den Beinen sein muss und ständig beleidigt wird – es macht doch sicher auch ein klein wenig Spaß, Teilnehmer bei einem Vogelschutzcamp zu sein, oder? +Na ja, die Leute kommen jedes Jahr wieder. Es muss ihnen also auch Spaß machen. +Axel Hirschfeld ist Mitglied des Komitees gegen den Vogelmord e.V. Mehr zu Arbeit des Vereins findet ihrhier. Wer sich für die Sicht der maltesischen Jäger auf das Thema interessiert, sollte mal auf der Seite desJagdverbandes FKNKvorbeischauen. diff --git a/fluter/grenze-zwischen-den-usa-und-mexiko.txt b/fluter/grenze-zwischen-den-usa-und-mexiko.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/grenzerfahrung.txt b/fluter/grenzerfahrung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fbb5de756a6e4dc0f24ba9c5aff95262eba3087d --- /dev/null +++ b/fluter/grenzerfahrung.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +1826 12,95 Meter1873 14,96 Meter1935 15,78 Meter1995 18,29 Meter +1908 2:55:19 Stunden1925 2:29:02 Stunden1960 2:15:16 Stunden1981 2:08:18 Stunden2007 2:04:26 Stunden diff --git a/fluter/grenzerfahrungen-chronische-fatigue.txt b/fluter/grenzerfahrungen-chronische-fatigue.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..587c4a698db8cc735ccdf5673053d0a6c2c15437 --- /dev/null +++ b/fluter/grenzerfahrungen-chronische-fatigue.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Lasse ich mich in guten Phasen auf einen Abend mit Freunden ein oder gehe in die Boulderhalle, zahle ich danach die Rechnung. Dann fühle ich mich tagelang wie verkatert, ohne einen Tropfen Alkohol getrunken zu haben. Um die Symptome zu mildern, meditiere ich und gehe so früh schlafen wie ein Kleinkind. Es fühlt sich an, als hätte man mich in einen Kokon gezwängt: Ich sehe, was das Leben bereithält, lebe aber selbst in einem viel zu engen Korsett aus Vorsicht und Verzicht. +Nicht nur die unmittelbaren Symptome schränken mich ein. Nichtbetroffene nehmen meine Erkrankung oft nicht ernst, sogar manche Mediziner. Nach dem ersten Jahr mit starken Beschwerden meinte ein Arzt zu mir, ich solle mich einfach zwei Wochen vegan ernähren und mir eine Freundin suchen, dann ginge es bestimmt ratzfatz besser. Wegen solcher Vorurteile möchte ich hier nicht meinen echten Namen lesen. Ich will nicht der chronisch Kranke sein, wenn mich jemand googelt. +Das hätte auch Nachteile bei der Jobsuche – mit Fatigue eine harte Angelegenheit. Nach anderthalb Jahren wollte ich wieder vorsichtig anfangen zu arbeiten. Ich bewarb mich für einen Minijob: Meine Aufgabe wäre nichts weiter gewesen, als eine Handvoll Mitarbeitende morgens mit dem Van zur Arbeit zu fahren und am Nachmittag wieder abzuholen. Zwei kurze Fahrten in einer Kleinstadt. Dazwischen Pause. +Im Bewerbungsgespräch erwähnte ich, dass ich eine gesundheitlich herausfordernde Zeit hinter mir hatte. Fast schockiert fragte der Personaler: "Wollen Sie damit sagen, dass Sie nicht belastbar sind?" Alles in mir wollte antworten: "Genau das will ich sagen. Ich bin nicht stark belastbar. Warum sollte ich mich mit einem abgeschlossenen Studium sonst auf einen Minijob wie diesen bewerben?" Ich beließ es bei einem "Vermutlich bin ich im Moment nicht so belastbar, wie ich es mal war". Von der Firma habe ich nie wieder gehört. +Was für viele schwer vorstellbar ist: Es gibt kaum Momente, die losgelöst sind von meinem erschöpften Körper. Neulich war ich in einem Museum in Wien. Und hätte nichts lieber getan, als mir die Ausstellung anzuschauen. Obwohl es gesundheitlich einer der besseren Tage war, schossen ständig Erschöpfungssymptome zwischen die Kunst und mich. Es ging einfach nicht. +Seitdem habe ich diesen bescheidenen Wunsch: einen Kurzurlaub von meiner Erkrankung. Zwei Tage mit dem Körpergefühl von früher. An einem besonders schlimmen Tag habe ich zu einem guten Freund gesagt, was ich schon seit einer Weile dachte: "Ich möchte so nicht weiterleben." +Ausgesprochen klang es erschreckend, wir haben beide geweint, und das hat gutgetan. Darum möchte ich darüber sprechen. Allein ein Grundwissen zu chronischer Fatigue macht es Betroffenen leichter. Zynisch, aber die Pandemie hat geholfen: Vieleleiden unter Long Covid. Die Leute sprechen über Fatigue,das Verständnis wächst, dass ein Erschöpfungssyndrom nicht verschwindet, indem man an die frische Luft geht und "sich zusammenreißt". Ich hoffe, dass weiter Geld in die Forschung fließt und Therapien entwickelt werden. Allein in Deutschland haben eine Viertelmillion Menschen ME/CFS. Für uns muss doch mehr zu machen sein? +Dieser Text istim fluter Nr. 90 "Barrieren"erschienen +Auch andere gesellschaftliche Vorstellungen erschweren chronisch Erschöpften das Leben, zum Beispiel klassische Rollenbilder. Ich stinke in vielem ab,was vermeintlich "echte" Männer ausmacht. Wenn etwas Schweres getragen werden muss, ruft es wie ein Naturgesetz von irgendwoher: "Ah, starker Mann, pack mal mit an!" Leuten, die ich nicht gut kenne, sagen zu müssen, dass ich das leider nicht kann, fällt mir irre schwer. Das bremst mich auch beim Daten, eigentlich suche ich gar nicht erst nach einer Partnerin. Selbst wenn ich mal einen guten Tag habe, also die Kraft, eine Frau kennenzulernen, kickt sofort die Sorge, dass sie mich eh nie als Partner wollen könnte, wüsste sie um meine Fatigue. diff --git a/fluter/grenzerfahrungen-legasthenie.txt b/fluter/grenzerfahrungen-legasthenie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a22280b9f13123f4835cf666ac3ed35d6ec4ab63 --- /dev/null +++ b/fluter/grenzerfahrungen-legasthenie.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Meine Freundinnen waren in der Zeit eine große Unterstützung. Ich erinnere mich an eine Chemiestunde, in der wir ein dickes Arbeitsbuch ausgeteilt bekamen. Meine damalige beste Freundin ist mit mir aus dem Klassenzimmer gegangen und hat mir die Aufgabenstellungen in Ruhe vorgelesen. Ich hatte Glück mit meinem Umfeld. Aber als pubertierendes Mädchen fragt man sich natürlich trotzdem: Warum kann ich nicht einfach normal sein? +Meine Legasthenie zeigt sich bis heute in alltäglichen Situationen, zum Beispiel beim Arzt. Den Anmeldebogen auszufüllen ist für mich purer Stress. Ich sitze dann Ewigkeiten im Wartezimmer, weil ich auf dem Handy die Schreibweise vieler Wörter nachschlagen muss. Und bete einfach nur, dass dem Praxispersonal nicht auffällt, wie überfordert ich bin. Auch die Kommunikation mit Freundinnen und Freunden bereitet mir oft Kopfzerbrechen. Andere schicken selbstverständlich WhatsApp-Nachrichten hin und her, da kämpfe ich noch mit der Diktierfunktion. Ich muss gefühlt immer drei Schritte mehr gehen als die anderen. +Dieser Text istim fluter Nr. 90 "Barrieren"erschienen +Richtig bewusst wurde mir das wieder im Abi. Das war in der Hochphase der Pandemie. In der mündlichen Mitarbeit war ich immer stark, aber darauf konnte ich nicht mehr setzen:Im Homeschoolinghaben wir viel mehr Texte bekommen. Für mich ein Horror. Dazu kam, dass die Lehrer viel gestresster und mit der ganzen Situation überfordert waren. Das fing schon bei der Technik an. Einem Lehrer mussten wir ein Mikrofon kaufen, weil er es nicht hinbekommen hat, dass man ihn hört. Ein anderer hat uns ein komplettes Buch eingescannt und als Bilddatei geschickt. Die Sprachsoftware, mit der ich lerne, kann aber nur Textformate verarbeiten. Während Corona habe ich mich oft nicht gesehen gefühlt. Da ist man schnell untergegangen, wenn man anders war. +Trotzdem hatte ich riesiges Glück. Ich konnte mich immer auf meine Familie verlassen und durfte alternative Lernkonzepte kennenlernen. Dass das nicht selbstverständlich ist, merke ich im Austauschmit anderen Legasthenie-Betroffenen.Mobbing und Schulstresssind für viele Alltag. Dabei sind gerade Erfolgserlebnisse wichtig, um sich bei allen Hürden nicht unterkriegen zu lassen. +Mittlerweile organisiere ich Workshops für andere Betroffene und studiere in den Niederlanden Global Sustainability Science, meinen Traumstudiengang. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass wir gesehen und mitgedacht werden – sei es bei Lehrmaterialien, in der Gestaltung öffentlicher Räume oder im gesellschaftlichen Miteinander. diff --git a/fluter/grenzerfahrungen-schoenheit.txt b/fluter/grenzerfahrungen-schoenheit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..79bb73644d418c7718012ad52ba4940eed51824f --- /dev/null +++ b/fluter/grenzerfahrungen-schoenheit.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Ich spreche über mein Äußeres, weil unser Aussehen politisch ist. Weil Schönheit nicht natürlich gegeben, sondern gesellschaftlich gemacht ist. Dein Aussehen zeichnet deinen Lebensweg vor. In einer Gesellschaft, die die Symmetrischen, Glatten, Jungen, die Weißen und Fitten anschmachtet, gehen Schöne leichter durchs Leben. Siebekommen bessere Noten und kriegen eher einen Job, in dem sie dann mehr Geld verdienen. "Pretty Privilege" heißt das, googelt mal. Über attraktiv oder nicht entscheiden wir in Millisekunden – unbewusst. Deshalb sind die Vorurteile so hartnäckig. +Mir wurde nicht nur die Schönheit abgesprochen, sondern meiner Person als Ganzes die Daseinsberechtigung. Nach einem Umzug wurde ich an der neuen Schulein einem Ausmaß gemobbt, dass ich das Gymnasium erneut verlassen musste. Manche Lehrerinnen und Lehrer haben mich weniger gefördert. Viele halten Nicht-Normschöne für weniger intelligent. +Noch schlimmer ist, dass ich oft links liegen gelassen wurde. In der Schule war ich das Mädchen, mit dem man grundsätzlich nicht spricht. Ich trug die Klamotten, die zu Hause eben da waren. Manchmal fragten mich die anderen, ob sie mich mal einkleiden dürften. Einmal war ich verzweifelt genug, um Ja zu sagen. Sie wollten mich schminken und steckten mich im Herbst in ein kurzes Sommerkleid. Das Outfit war eher seltsam, fand ich zumindest. Ich fühlte mich wie eine Schaufensterpuppe. Als ich vor ihnen saß, starrte mir eine Mitschülerin auf die Beine: "Oh. Mein. Gott. Bist du gar nicht rasiert?" Was soll man darauf antworten? Es war Herbst, ich trug lange Hosen. Und unabhängig davon: Wozu rasieren? Ich verstehe das bis heute nicht. +Frauen mit unrasierten Körperpartien gelten in unserer Gesellschaft oft als ungepflegt und undiszipliniert. Ähnlichwie mehrgewichtige Frauen. Sie leiden unter der Erzählung, dass wir alle schön werden, wenn wir uns nur genug anstrengen – und zahlen können. Die Creme, der Sportkurs,die Schönheitsoperationversprechen Lebensfreude und Erfolg. Das funktioniert nur, solange Schönheit für die meisten unerreichbar bleibt, damit wir ihr weiter hinterherrennen können. + +Dieser Text istim fluter Nr. 90 "Barrieren"erschienen +Diese Idealewerden spätestens dann absurd, wenn man sich vergegenwärtigt, wie austauschbar sie sind. In anderen Teilen der Welt, zum Beispiel dort, wo Nahrung knapp ist, gelten Menschen mit fülligem Körper als schön, erfolgreich und begehrenswert. Welchen Sinn soll Schönheit haben, wenn sie übermorgen ganz anders definiert sein könnte? Wenn ich sie durch einen Unfall oder eine Krankheit jederzeit verlieren kann? Wenn das "schön" von hier und heute woanders auf dem Planeten möglicherweise nie als schön gegolten hat? +Schönheit ist subjektiv. Und doch fügen wir uns einem vermeintlich objektiven Regelwerk. Um ihm zu entsprechen, verwehren wir uns Essen, das uns schmeckt, Kleidung, die wir bequem finden, und unterziehen unsere Körper gefährlichen Operationen. Diese Regeln sind nicht naturgegeben. Menschen haben sie eingeführt und erlernt. Also können Menschen diese Regeln auch wieder verlernen. +Seit Kurzem stehe ich in der Modelkartei einer Agentur, die Menschen mit Bierbäuchen, Tränensäcken, Hautkrankheiten oder sichtbaren Behinderungen vertritt. Menschen, die man in der Werbung selten sieht. diff --git a/fluter/grenzerfahrungen-stottern.txt b/fluter/grenzerfahrungen-stottern.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6401384fa1ed39552e2f645d0d2d3cb95b69718b --- /dev/null +++ b/fluter/grenzerfahrungen-stottern.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Dieser Text istim fluter Nr. 90 "Barrieren"erschienen +Das Ding ist: Ich weiß immer, was ich sagen möchte. Es stört mich, dass ich es oft nicht sagen kann, wie ich möchte. +Wann und bei welchen Lauten ich stottere, hat sich über die Jahre verändert. Grundsätzlich sind es öfter Konsonanten als Vokale, manchmal blockiere ich ganz und komme gar nicht in den Satz hinein. Dann traue ich mich kaum in Bars oder auf den Markt, wo ich angesprochen werden könnte. Und dann gibt es wieder Wochen, da macht Sprechen richtig Spaß. +Ein Prozent der Menschen in Deutschland soll stottern. Ich bin in einem Dorf in Oberbayern aufgewachsen, da gab es niemanden wie mich. Vielleicht habe ich deshalb als Kind kaum gesprochen. +Richtig zum Problem wurde mein Stottern erst als Jugendliche, so mit 13. Wenn ich mich wohlfühle, spreche ich flüssiger. Deshalb haben meine Eltern und Freunde das nie so mitbekommen. Dann kam eine neue Schule und mit ihr die Referate. Wenn ich Stottergefühle hatte, so eine Art Vorahnung, dass es gleich wieder l-l-l-l-losgeht, habe ich mich nicht gemeldet. Damals bin ich das erste Mal zur Stottertherapie. Die hat nichts gebracht: Ich wollte meinen Sprachfehler verdrängen. Ich war noch nicht so weit. +Ich habe versucht, das Stottern zu umgehen, Telefonate vermieden, Füllwörter verwendet, drum herumgeredet, bis ich das Gefühl hatte, ich kann das Wort oder den Buchstaben endlich rauspressen. Oft bin ich durch die Sätze gerast, um schnell fertig zu werden. Viele Stotternde machen es ähnlich. Andere merken das oft gar nicht. Gespräche mit mehreren sind trotzdem schwierig für mich. Wenn man in einer Runde zusammensitzt, jeder redet, und dann kommt einer dieser lustigen Einwürfe. Diese Spontaneität habe ich nicht. Und dann ist da dieser Augenblick, in dem jemand realisiert, dass ich stottere. Man sieht in den Augen, wie überrascht die Leute sind. Die meinen es nicht böse, man sieht's mir ja nicht an. Aber das ist wie ein Stich. +Lange hat mich das psychisch fertiggemacht. Da war die Angst vor dem Scheitern. Die Angst, anderen die Zeit zu stehlen. Und Stottern ist körperlich schnell anstrengend. Nach der Schule habe ich eine Ausbildungzur Krankenpflegeringemacht. Damals bin ich über jedes zweite Wort gestolpert. Der ganze Körper spannt sich dann an, in dieser Phase habe ich drei Kilo abgenommen. +Am meisten stört mich die Unterstellung, dass stotternde Menschen weniger intelligent sind. Das ist Blödsinn. Die Klinik, in der ich arbeite, ist sehr hellhörig. Einmal hatte ich gerade einer Dame den Verband gewechselt, da habe ich sie durch die Tür sagen hören, dass ich das doch ganz gut gemacht hätte, obwohl ich stottere. +Als ich zum Berufseinstieg so stark gestottert habe, bin ich in die zweite Therapie. Die hat geholfen, weil ich es diesmal von mir aus gemacht habe. Dort hat mir jemand von einer Selbsthilfegruppe erzählt. Ich bin hin und hab mich zum ersten Mal richtig mit anderen Stotternden ausgetauscht. Wir sitzen da nicht nur im Stuhlkreis, wir unternehmen viel zusammen, ich fühle mich verstanden. Über die Jahre hat mir die Gruppe viel Selbstvertrauen gegeben, die ist ein richtiger Safe Space geworden. +Ich gehe heute offener mit meinem Stottern um. Das gehört halt zu mir. Beim ersten Date mit meinem Freund – wir haben uns auf Tinder gematcht, da schreibt man ja erst mal nur – habe ich sofort gesagt, dass ich stottere. Er hat nicht groß nachgefragt. Wenn ich zu Patienten ins Zimmer gehe und ein Stottergefühl kriege, informiere ich sie darüber. Und seit ein paar Monaten mache ich wieder eine Stottertherapie. In der lernen wir, wie wir die "Unflüssigkeiten" reduzieren. Wir sprechen fremde Leute an oder stottern absichtlich am Telefon,stellen uns also unseren Ängsten. +Heute weiß ich: Viele dieser Ängste sind unbegründet – mich stört mein Stottern meist mehr als andere. Damit geht es mir gerade sehr gut. + diff --git a/fluter/grenzerfahrungen-waschzwang.txt b/fluter/grenzerfahrungen-waschzwang.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..aa8200fca80f6cae055f2e930fc49bbb5bb20214 --- /dev/null +++ b/fluter/grenzerfahrungen-waschzwang.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Meine Lehrerin hat mir damals deutlich gesagt, dass ich mir Hilfe suchen soll. Auch mit meiner ersten Freundin war das Waschen Thema. Ich wollte sie nicht küssen, wenn sie sich ohne Händewaschen ins Gesicht gefasst hatte. Hilfsangebote habe ich damals abgetan. Ich hatte keine Angst, zum totalen Außenseiter zu werden. Vermutlich, weil ich gar nicht wusste, wie krass solche Zwangsstörungen werden können. +Woher mein Waschzwang kommt, weiß ich nicht. Da war immer so eine Art Ekel,Keime zu bekommen. Bis heute drücke ich Türklinken zum Beispiel nur mit dem Ärmel runter. Die Stelle am Pullover kann ich danach nicht mehr anfassen. Extrem ist alles, was mit dem Gesicht zu tun hat. Ich habe Angst, krank zu werden, Pickel und Herpes zu bekommen, eklig gefunden zu werden. Das ist fast paranoid. +Dass ich mich so oft wasche, bedeutet aber nicht, dass ich besonders auf meine Gesundheit achte. Ich bin Veganer, esse aber viel Ungesundes. Wenn ich mir unterwegs Pommes hole und die Hände nicht waschen kann, esse ich sie mit dem Mund direkt vom Teller. Meine Kippen drehe ich mit der linken Hand. Die wird vorher gewaschen und darf währenddessen nichts anderes machen, Filter und Blättchen berühre ich ja mit dem Mund. Da bin ich besonders sensibel: Ich habe früher in Bands gesungen, und wenn ich mit dem Mund das Mikrofon berührt hatte, musste ich abbrechen. Dann habe ich mir Desinfektionsgel in den Mund gesprüht. Keine Ahnung, ob das hilft. Aber das hat gereicht, um nicht mehr darüber nachzudenken. +Ich weiß mittlerweile, dass mein Verhalten irrational ist. Darauf weisen einen die Leute sehr gern hin: dass ich mich ja gar nicht so viel waschen müsste. Solche Hinweise helfen null, durch die habe ich mich oft eher noch hilfloser gefühlt. + +Dieser Text istim fluter Nr. 90 "Barrieren"erschienen +Mit 18 habe ich doch Hilfe angenommen und eine Therapie gemacht, meinen Eltern zuliebe. Ich habe mich mit dem Therapeuten nicht verstanden, das hat gefühlt nichts gebracht. Geholfen hat mir die Zeit: Ich habe gesehen, dass ich krank werde und Pickel kriege, immer und immer wieder, da kann ich schrubben, wie ich will. +Waschzwang ist eine der häufigsten Zwangsstörungen. Im Gegensatz zu anderen kriege ich meinen Alltag glücklicherweise hin. Gerade wasche ich mir etwa 25-mal am Tag die Hände, das ist vergleichsweise wenig. Mein Alltag ist vergleichbar mit dem der meistenin der Coronapandemie. Da hat sich plötzlich auch jeder ausgiebig die Hände gewaschen, keiner hat in der U-Bahn mehr die Griffe angefasst oder die Hand gegeben. Ich trage immer noch Maske und vermisse den Faustcheck zur Begrüßung. Die Pandemie war für mich ein kleiner "Ich hab's euch doch gesagt"-Moment. +Eine Sache, die immer befreit war von meinem Zwang, ist mein Sexleben. Da kann ich abschalten. Ich bin in einer längeren Beziehung und sehr zufrieden. Würde der Zwang die Beziehung und meine Sexualität belasten, würde ich intensiver versuchen, ihn loszuwerden. Gerade ist es echt in Ordnung. Nur eines stört mich: Ich weiß, dass manche meiner Geschichten witzig sind. Humor ist ein Weg, die Sache zu bewältigen. Aber ich würde mich freuen, wenn die Gespräche dann auch tiefer gehen, wenn mich jemand ernsthaft fragt, wie es mir damit geht. + diff --git a/fluter/grenzwertig-miniserie-grenzen.txt b/fluter/grenzwertig-miniserie-grenzen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..22c022f95cc68a4ee82f615e484829946d1efdfa --- /dev/null +++ b/fluter/grenzwertig-miniserie-grenzen.txt @@ -0,0 +1,14 @@ + +Im November wählen die US-Amerikaner ihren Präsidenten und ihr Parlament, das Repräsentantenhaus.Wer wie viele Sitze bekommt, entscheidet nicht – wie in Deutschland – der landesweite prozentuale Stimmenanteil einer Partei, sondern wer die meisten Siege in den 435 Wahlbezirken des Landes erzielt. In diesen Bezirken sollen möglichst gleich viele Menschen leben. Und die Bezirksgrenzen können in der Regel alle zehn Jahre nach einer Volkszählung neu gezogen werden. Das überlassen die meisten Bundesstaaten der Partei, die die Mehrheit im Repräsentantenhaus hat. +Wenn man also weiß, wo die Stammwähler welcher Partei leben, kann man ordentlich manipulieren. Zum Beispiel einen Wahlbezirk so abstecken, dass die Demokraten dort auf 90 Prozent kommen – während in den vier umliegenden die Republikaner jeweils 60 Prozent erreichen. Über alle fünf Wahlbezirke gerechnet hätten so beide Parteien ungefähr gleich viele Stimmen, die Republikaner würden aber vier von fünf Mandaten gewinnen. In manchen Staaten wie North Carolina haben die Gerichte das Vorgehen als verfassungswidrig erklärt, unter anderem wegen rassistischer Diskriminierung. Angewandt wird der Trick seit 1812: Weil die Partei von Elbridge Gerry, dem damaligen Gouverneur von Massachusetts, einen Wahlkreis so zuschnitt, dass er wie ein Salamander aussah, heißt die Strategie "Gerrymandering". + +15 Kilometer breit und fast 8.000 Kilometer lang soll sie werden: Afrikas "Great Green Wall" aus Abermillionen Bäumen, die am südlichen Rand der Sahara einmal quer durch die Sahelzone verläuft. Durch Abholzung, intensive Landwirtschaft und Dürren ging hier in den vergangenen Jahrzehnten jede Menge fruchtbarer Boden verloren. Die Wüste breitet sich aus ("Desertifikation"nennen das Ökologen). Gestartet wurde das Megaprojekt 2007 von der Afrikanischen Union. Die "grüne Mauer" soll länderübergreifend die Wirtschaft stärken, die Lebensmittelversorgung für mehr als 100 Millionen Menschen verbessern und so auch Ursachen für Migration bekämpfen. +Bei der Umsetzung gab es aber Rückschläge: Durch Finanzierungslücken und militärische Konflikte, etwa in Burkina Faso und Niger, stockte die Bepflanzung in manchen Ländern. Und viele Bäume überlebten nicht lange, unter anderem, weil die lokale Bevölkerung nicht in das Projekt eingebunden wurde. Punktuell gedeiht der Baumwall aber. Im Senegal sind schon zwölf Millionen dürreresistente Bäume gepflanzt, in Äthiopien wurden 15 Millionen Hektar ausgelaugte Böden wieder fruchtbar gemacht. + +Der Nam Ou ist nur 450 Kilometer lang, wird aber auf seinem Weg durch das südostasiatische Laos von gleich sieben Dämmen aufgestaut. Sie gewinnen dabei Energie. Es sind bei Weitem nicht die einzigen Staudämme im Land, bis 2030 sollen es 100 sein, mehrere davon auch im größten Fluss des Landes, dem Mekong. Laos will zur "Batterie Südostasiens" werden und seine relativ schwache Wirtschaft ankurbeln. Naturschützer regt das auf: Die Dämme unterbrechen die Wanderrouten von Tieren, darunter bedrohte Arten, und gefährden Küstenregionen: Weil sich in den Stauseen des Mekong Sedimente absetzen und nicht den Fluss hinuntergelangen, wird das Mekongdelta destabilisiert. +Möglich macht die vielen Dämme der große Nachbar China. Zu dessengeopolitischer Strategie der "Neuen Seidenstraße"gehört es, andere Länder beim Bau von Bahnstrecken, Autobahnen, Kraftwerken oder Häfen zu unterstützen. Das sichert China Einfluss und führt zu Abhängigkeiten, weil das Geld nur geliehen ist. Und tatsächlich: Gemessen am Bruttoinlandsprodukt ist Laos der größte Schuldner Chinas. + +Auf dem Wasser lassen sich keine Gräben oder Stacheldrahtzäune errichten. Und so nehmen viele Flüchtende den gefährlichen Seeweg, um ihr Ziel zu erreichen. Anfang 2020 kündigte Griechenland an, kilometerlange schwimmende Grenzbarrikaden vor Lesbos testen zu wollen.Die Insel liegt nur zehn Kilometer vor der türkischen Küste, von dort setzen fast täglich Geflüchtete in überfüllten Schlauchbooten über. Menschenrechtsorganisationen reagierten entsetzt auf Griechenlands Plan – umgesetzt wurde der bis heute nicht. +Dafür gibt es seit Juli 2023 eine schwimmende Barriere im Rio Grande, dem Grenzfluss zwischen den USA und Mexiko. Die ist 300 Meter lang und sieht aus wie die Ketten, die im Schwimmbad die Bahnen abtrennen, nur dass die Bojen einen Durchmesser von mehr als einem Meter haben. Installieren ließ sie der texanische Gouverneur Greg Abbott. Seitdem wird vor verschiedenen US-Gerichten gestritten, ob das in humanitärer und staatsrechtlicher Hinsicht zulässig war. Ein Teil der Bojen musste bereits wieder entfernt werden. + +Dieser Beitrag ist im fluter Nr. 90 "Barrieren" erschienen. Das ganze Heftfindet ihr hier. diff --git a/fluter/grinder-und-cyborgs.txt b/fluter/grinder-und-cyborgs.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cc4e6890dfab38d0c55c51dd243afb671adfd472 --- /dev/null +++ b/fluter/grinder-und-cyborgs.txt @@ -0,0 +1 @@ +Der Gedanke, dass nur wenige von der Entwicklung profitieren, treibt auch die Grinders an. Der Name stammt aus dem Comic "Doktor Sleepless" von Warren Ellis, der eine Zukunft abbildet, in der sich Menschen durch Implantate neue Kräfte verleihen. Abseits der sterilen Forschungslabore gehen diese Graswurzel-Cyborgs in schrammeligen Garagen die Verschmelzung von Mensch und Technik an. "Sie machen sich selbst zu Versuchskaninchen einer transhumanen Zukunft", sagt der deutsche Fotograf Hannes Wiedemann, der sie im kalifornischen Hinterland besuchte. Nur wenige der Grinder verfügen über eine medizinische Ausbildung, die meisten sind Laien, die sich für offenen Wissensaustausch einsetzen. Manche ihrer Implantate sind praktisch, sie messen zum Beispiel den Glukoseanteil im Blut. Andere wiederum erzeugen einfach nur Lichteffekte unter der Haut – und eine Menge Schmerzen. diff --git a/fluter/groenland-kinder-experiment-daenemark.txt b/fluter/groenland-kinder-experiment-daenemark.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a4c50dc4a92db2e335c618bbbc067be7c940742a --- /dev/null +++ b/fluter/groenland-kinder-experiment-daenemark.txt @@ -0,0 +1,31 @@ + +fluter.de: Frau Thiesen, wie haben Sie den Moment als Kind erlebt, als Sie von Ihrer Familie getrennt und nach Dänemark gebracht wurden? +Helene Thiesen:Ich war sieben. Wir lebten in Nuuk, der Hauptstadt Grönlands, wo mein damals schon verstorbener Vater Telegrafist gewesen war. Es kamen mehrfach fremde Männer zu uns. Meine Mutter sagte mir, ich solle nach Dänemark fahren, mit dem Schiff 14 Tage übers Meer, und dort Dänisch lernen. Ich verstand nicht, warum meine Mutter mich wegschicken wollte. Warum ich? Wohin? Wie lange? Keiner wusste das. Meine Mutter sagte nur: Du bist die Lebhafte, du bist clever, du gehst. Ich wusste damals gar nicht, dass es hinter dem Meer überhaupt eine Welt gab. Nuuk war meine Welt, meine Schwester, mein kleiner Bruder, meine Mutter waren meine Welt. +Man brachte Sie und die 21 anderen in ein Ferienheim an der dänischen Küste, später zu Pflegefamilien. +Dänemark, was für ein Land. Da gab es Bäume und Blumen und Katzen, alles Dinge, die wir in Grönland nicht kannten. Einmal sagten sie uns: Die Königin wird euch besuchen. Wir wussten gar nicht, was das ist: eine Königin. Da konnten wir dann schon die ersten Lieder singen auf Dänisch. +Wie ging es Ihnen bei der Pflegefamilie? +Nicht gut. Ich hörte auf zu sprechen, bekam Ausschläge an Armen und Beinen. Man suchte dann eine neue Familie für mich, die sehr gut zu mir war. Ich würde fast sagen, dass sie mich liebte. Meine Pflegeschwester Tove treffe ich heute noch. Trotzdem sehnte ich mich nach Hause. +Die Rückkehr nach mehr als einem Jahr war ein Schock. +Wir Kinder fielen uns in die Arme, als wir uns auf dem Schiff wiedersahen. Irgendwann sagte einer: "Merkt ihr eigentlich, dass wir Dänisch miteinander sprechen?" Wir kratzten all das Grönländisch zusammen, das uns geblieben war – und kamen auf gerade noch drei Wörter: Anaana, das heißt Mama. Ataata, Papa. Und: Qivittorssuaq, das ist ein Bergtroll. Am Kai in Nuuk rannte ich auf meine Mutter zu, umarmte sie, und es sprudelte aus mir heraus: "Mutter, du hättest Dänemark sehen sollen, so ein schönes Land. Bäume und Blumen überall, wie du gesagt hast, aber wie habe ich euch vermisst!" Dann begann Mama zu reden, ich schaute zu ihr hoch, und mein Herz setzte aus: Ich verstand kein Wort. Mein Grönländisch war komplett weg. Ich konnte mit meiner eigenen Mutter nicht mehr sprechen. +Und das blieb so? +Ja, wir waren zwar wieder in Grönland – durften aber nicht zu unseren Familien zurück. Sie hatten ein neues Kinderheim für uns gebaut, am Rande von Nuuk. Im Bus auf dem Weg dorthin konnte ich vor Tränen kaum sehen. Vom Fenster des Heimes aus sah ich in der Ferne das Haus meiner Familie. Besuche waren aber nur selten erlaubt, nach drei Monaten durfte meine Mutter das erste Mal kommen. "Das hier ist eure neue Familie", sagten sie. Sie hatten wohl Angst, wir könnten zurückfallen ins Grönländische, wir sollten doch perfekt Dänisch sprechen. Die anderen Kinder in Nuuk verspotteten uns: Seid ihr nicht Grönländer? Und sprecht die Sprache nicht? +Sie blieben acht Jahre im Heim, bis Sie 16 waren. Und lebten am Ende doch in Dänemark. +Obwohl ich geschworen hatte, nie wieder dorthin zurückzukehren! Aber ich ging nach Dänemark, um dort eine Ausbildung zu machen, und lernte meinen Mann kennen. Die Liebe meines Lebens, ein Däne. Ich gehöre zu denen aus der Gruppe, die doch ein gutes Leben hatten, trotz all der Bitterkeit. Unsere Töchter gingen in Dänemark zur Schule, also blieben wir. Ich habe viele Jahre als Erzieherin in einem Kindergarten gearbeitet. + + +Als Sie erfahren haben, dass ein Experiment des dänischen Staates Ihr Leben auf den Kopf gestellt hat, waren sie schon 46. +Die Autorin Tine Bryld hatte die Akten gefunden im Nationalarchiv in Kopenhagen. Sie rief mich an: "Ihr wart ein Experiment! Man wollte euch zu einer grönländischen Elite machen." Mir fiel der Telefonhörer aus der Hand. Ich weinte und weinte und weinte. Das war der größte Schock in meinem Leben. Wir waren ein Experiment! +Zur "Elite Grönlands" wurde Ihre Gruppe jedenfalls nicht. +Ha! Wissen Sie, es leben ja nur noch sechs von uns. Die anderen sind tot, viele von ihnen traurige Schicksale, sie verfielen dem Alkohol, Depressionen, nahmen Drogen, brachten sich um. Die dänische Regierung hatte uns die Familie, die Sprache und unsere Heimat genommen – und uns dann einfach irgendwann vergessen. +Sie haben fast Ihr ganzes Leben in Dänemark verbracht. Wo ist Ihre Heimat? +Grönland, natürlich! Nuuk ist meine Heimat. Da komme ich her, da lebt meine Familie. Meiner Mutter habe ich aber nie verziehen. Bis heute frage ich mich immer wieder, wie sie mich nur weggeben konnte. Als sie starb, lud mich meine Schwester zur Beerdigung ein. Ich bin nicht hingegangen. +Weder Sie noch Ihre Familien wussten damals, was wirklich mit Ihnen geschehen würde, als das Schiff Sie abholte. +Unglaublich, nicht? Einmal hat eine Buchautorin den Schwager meiner Mutter gefragt, warum sie damals nicht gefragt hätten, was mit mir geschehen wird? Er hat sie angeschaut und gesagt: "‚Fragst du Gott, was er vorhat?" So war das. Die Dänen waren die Könige in Grönland, sie waren wie Götter. +Sie haben gemeinsam viele Jahre für eine Entschuldigung vom dänischen Staat gekämpft. +Natürlich wollten wir eine Entschuldigung, natürlich wollten wir eine Entschädigung. Nach so vielen Jahren des Unglücks. Sie haben uns gestohlen!Wir wollten, dass sie das Unrecht anerkennen und dass sich so etwas nicht wiederholt. +Anfang März hat die dänische Regierung nach Jahren eingelenkt: Premierministerin Mette Frederiksen hat Sie empfangen. Und sich für das "falsche, unmenschliche und herzlose" Vorgehen Dänemarks entschuldigt. +Ein großartiger Tag. Ich war so glücklich. Ich konnte es nicht glauben. Mette Frederiksen stand da vorne und sagte tatsächlich dieses Wort: "Entschuldigung". Ich hielt meine Freundin Kristine, die damals auch entführt wurde, an der Hand, und wir weinten. 70 Jahre hat es gedauert, bis wir dieses Wort zu hören bekamen. +Und jetzt? +Ich schreibe ein Buch über mein Leben. Und gerade packe ich: Mette Frederiksen wird noch einmal in Nuuk sprechen, vor unseren Familien. Ich will dabei sein. In Nuuk hat die Geschichte begonnen, in Nuuk soll sie enden. + +Portraits: Kai Strittmatter / Historische Fotos: Helene Thiesen diff --git a/fluter/groessenordnung.txt b/fluter/groessenordnung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/groesste-historische-fakenews-schaubild.txt b/fluter/groesste-historische-fakenews-schaubild.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/grosse-firewall.txt b/fluter/grosse-firewall.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b77f13d628a5076756d4e224f3e6614009c3862c --- /dev/null +++ b/fluter/grosse-firewall.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Kein Durchblick: Chinas Internet-Zensurmaßnahmen schotten das Land vom Rest der Welt ab +Doch kein Land weltweit betreibt die Internetzensur so aufwändig und ausgefeilt wie das Land, das Bill Clinton bereits vor 15 Jahren ins Auge gefasst hatte. "Ich würde sagen, dass aufgrund der Art und Weise, wie die chinesische Regierung sich mit Technologie auseinandersetzt, der Zensuranspruch sicherlich im internationalen Vergleich ein besonderer ist", sagt Silke Ballweg, Pressereferentin von "Reporter ohne Grenzen" (ROG). Und deshalb befassen sich längst auch die Experten der Nichtregierungsorganisation eingehend mit der Technik. +China steuert die Informationen, die in das Land hineinfließen. So blockieren die Zensurbehörden immer wieder ganze Nachrichtenseiten – etwa die der Nachrichtenagentur Reuters oder der "New York Times". Auch die Seiten von Facebook, Twitter und anderen US-Diensten wurden bereits gesperrt. Zeitweise war selbst Wikipedia nicht aufrufbar. Bestimmte Suchbegriffe, etwa der Name des Friedensnobelpreisträgers und Menschenrechtsaktivisten Liu Xiaobo oder solche zum Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, sind blockiert. Im Westen ist dieses Bündel an Maßnahmen auch als "Great Firewall" bekannt – der Begriff ist eine ironische Anspielung auf die Chinesische Mauer. +Nach Einschätzung der Techniker von Reporter ohne Grenzen stecken dahinter oft keine technischen Meisterwerke. Teils wird sozusagen das Telefonbuch des Internets kaputt gemacht: Gemeint ist das Domain Name System, das die Namen von Internetseiten wie etwa fluter.de in eine numerische IP-Adresse übersetzt. Das funktioniert dann nicht mehr, wird gefiltert oder leitet Anfragen auf andere Seiten um – etwa auf eine Seite, auf der "Webseite nicht verfügbar" steht. Um Traffic mit unerwünschten Schlüsselwörtern herauszufiltern, setzt China Beobachtern zufolge die in der westlichen Fachöffentlichkeit spätestens seit dem NSA-Skandal umstrittene Deep Packet Inspection ein – das detaillierte Inspizieren von ausgesendeten Datenpaketen. +Soll unterbunden werden, dass ein Austausch übers Netz stattfindet, werden unter anderem die TCP-Verbindungen zwischen den Kommunikationspartnern unterbrochen. Häufig zum Einsatz kommen auch sogenannte Man-in-the-Middle-Attacken, bei denen man sich unbemerkt zwischen zwei Kommunizierende schaltet und ihre Unterhaltung kontrolliert. Viele dieser Maßnahmen sind keine originär chinesische Erfindung und werden auch in anderen Ländern zur Zensur des Internets genutzt. Bekannteste Beispiele dafür sind die Türkei mit ihrer temporären Blockade von YouTube und Twitter oder Ägypten während des Arabischen Frühlings. +Einige dieser Zensurverfahren lassen sich einfach austricksen – manche schon, indem man einfach einen Proxyserver nutzt, der der aufgerufenen Website vorgaukelt, dass man von einem anderen Land aus zuzugreifen versucht. Mit dem Anonymisierungstool TOR, das die Anfragen über verschiedene Knotenpunkte umleitet und so Zensur abzuwehren versucht, liefern sich chinesische Zensurbehörden nach Aussagen des TOR-ProgrammierersRoger Dingledineein technisches Wettrüsten. Derzeit funktioniert TOR in China nur in einer speziellen Variante. Vor allem aber behalfen sich viele chinesische Internetnutzer mit VPN-Diensten (Virtual Private Network) gegen die Zensur. Über sogenannte VPN-Tunnel können Nutzer verschlüsselte Verbindungen zu einem Server im Ausland herstellen – und dieser greift dann über eine anonyme IP-Adresse auf die gewünschte Seite zu. +Doch auch dieses Schlupfloch stopfen chinesische Internetzensoren nun. Seit Anfang 2015, nachdem Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping das Thema Cybersecurity zum Schwerpunkt der Regierungsarbeit gemacht hat, blockiert China nun auch diese VPN-Verbindungen: Die Server diverser größerer Anbieter, etwa Astrill oder Golden Frog, sind von China aus nicht mehr erreichbar. Ein Schritt, der Charlie Smith, wie sich einer der Aktivisten hinter dem Antizensur-Projekt GreatFire.org nennt, sehr besorgt. "Wenn sie mehr Nutzer überzeugen, chinesische Dienste zu nutzen – die sie zensieren und einfacher ausspähen können – ,dann haben sie einen weiteren Schritt in Richtung Cybersouveränität getan." +Was der Mann mit dem Pseudonym Smith hier anspricht: Schon seit Jahren fördert China massiv den Aufbau einer Art Chinanet. "Längerfristig ist das Ziel, sich technisch von westlichen Firmen unabhängig zu machen", sagt Silke Ballweg von Reporter ohne Grenzen. "Es geht darum, ein eigenes Ökosystem aufzubauen." Produzenten für landeseigene Hard- und Software würden gefördert. Ausländischen Firmen werde es zunehmend schwer gemacht, in China zu operieren – bis hin zu der Forderung, ihren Quellcode offenzulegen und chinesische Verschlüsselungsalgorithmen zu nutzen. Und dass Dienste wie Facebook und Twitter komplett zensiert sind, könne auch als eine Art Förderprogramm für die chinesischen Klone Renren und Sina Weibo gesehen werden. +Der Gedanke dahinter liegt auf der Hand: Inländische Firmen sind leichter den eigenen Regeln zu unterwerfen – Auskunftspflichten etwa. Oder der Anforderung, pro 50.000 Nutzer zwei bis drei firmeninterne Zensoren zu beschäftigen, die die Inhalte der eigenen Seite sichten – zusätzliches Personal für Internetkontrolle, neben schätzungsweise 50.000 "Cybercops" und 300.000 ebenfalls mit derartigen Aufgaben betrauten Parteifunktionären. Preist man diesen und andere Wettbewerbsnachteile mit ein, offenbart sich, was es für ein Kunststück ist, an dem sich die chinesische Regierung versucht: eine IT-Industrie aufzubauen, die sowohl ihren politischen Zielen dientals auch kommerziell erfolgreich sein muss. +Ausländische Software betrachtet China unterdessen als potenzielle Gefährdung für die nationale Sicherheit, heißt es in einem Bericht des Mercator Institute for China Studies vom November 2014. Interessant, vor diesem Hintergrund, dass die US-Firma Cisco an den Anfängen der "Great Firewall" mitgebaut hat. Empanzipationsanstrengungen in diesem Umfang sind sicherlich ein Sonderfall – viele andere Länder wählen exakt den umgekehrten Weg und kaufen Spionagesoftware aus dem Westen ein, um ihre Internetopposition auszuspähen, zu überwachen und zu unterdrücken. +Darüber hinaus filtern Chinas Zensoren auch inländische Inhalte – und zwar nach Einschätzung des US-Politologen Gary King als "extensivste Anstrengung zur selektiven Zensur von menschlichen Ausdrücken, die jemals umgesetzt wurde", wie er 2013 dem US-Magazin"The Atlantic"sagte. King fand in Studien heraus, dass Chinas Zensurinfrastruktur nicht nur unglaublich effizient arbeiten würde, sie fokussiere sich auch noch darauf, Einträge zu ganz konkreten Graswurzel-Initiativen wie Demonstrationen sofort zu eliminieren, während allgemeine Kritik gegenüber der Regierung etwas größere Chancen hätte, unzensiert zu bleiben. +Als bemerkenswert gilt vielen der Angriff aus China auf zwei Antizensur-Seiten auf der EntwicklerplattformGithubim April. Neu daran ist zum einen, dass China damit nicht nur digitale Informationen von außen abblockt oder innerhalb von China zensiert, sondern dass in diesem Fall ein unliebsamer, aber außerhalb Chinas gehosteter Inhalt gezielt attackiert wurde. +Ein weiterer, aber nicht zu unterschätzender Faktor der chinesischen Internetzensur funktioniert vollkommen analog. "Sehr verbreitet sind auch Einschüchterungen seitens der Behörden", sagt Silke Ballweg von Reporter ohne Grenzen. "Leute, die kritisch schreiben, werden auf ein Gespräch zum Tee eingeladen und dabei unter Druck gesetzt." In ihren Augen besonders gefährlich: "Neben den technischen Maßnahmen muss man feststellen: Selbstzensur ist sicherlich die wirksamste Form von Zensur, die in China stattfindet." Darüber hinaus werde seitens der Behörden versucht, über soziale Netzwerke die öffentliche Meinung gezielt zu beeinflussen. +Und so hat der ehemalige US-Präsident Bill Clinton mit seiner Pudding-Metapher ordentlich daneben gelegen. China macht wie kaum ein anderes Land der Erde vor, wie ambitioniert das Internet zensier- und kontrollierbar ist. Doch Clinton ist nicht der Einzige, der sich täuschte. Laut einem Bericht des Magazins "Economist" stand in der ersten E-Mail, die jemals von China aus gesendet wurde, am 14. September 1987: "Über die chinesische Mauer hinweg erreichen wir jede Ecke der Erde." Noch eine Vision, die sich nicht bewahrheitet hat im digitalen Käfig, den die Regierung Chinas seiner Bevölkerung gebaut hat. +Meike Laaff ist froh, dass ihr VPN-Tunnel gut funktioniert. Noch besser wäre es natürlich, solche Bemühungen zur digitalen Selbstverteidigung wären gar nicht erst notwendig. diff --git a/fluter/grosse-poette.txt b/fluter/grosse-poette.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/grosses-geschaeft.txt b/fluter/grosses-geschaeft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8c2567047090d50777a842f1e972900aa7d897a7 --- /dev/null +++ b/fluter/grosses-geschaeft.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +"The world is flat", so beschrieb der amerikanische Journalist Thomas Friedman im Jahr 2005 das globalisierte Wirtschaften und Denken. Früher standen Meere und Berge zwischen Punkt A und Punkt B, heute trennt nichts mehr Rudolstadt und Guangdong, über die globale Ebene kann man weit sehen und nach allem greifen. Die flache Welt erlebt man am besten auf Webseiten wie Alibaba.com, einem Portal, auf dem man in Kontakt mit chinesischen Fabrikanten treten kann. Alibaba erleichtert es zum Beispiel jungen Designern, einen Fabrikanten zu finden, der ihre Pläne in Prototypen umsetzen kann. Das Gespräch läuft über E-Mail und Instant Messenger, der Deal wird über PayPal und Kreditkarte abgewickelt – plötzlich ist es ebenso einfach, die Fließbänder in China in Gang zu setzen, wie eine CD bei Amazon zu bestellen. Wenige Wochen nach der Bestellung steht das Produkt vor der Tür, dann kann man entscheiden, ob und wo es in Serie gehen soll. +Bei dieser Frage stehen für viele Internetunternehmer auch Überlegungen über Arbeitsbedingungen an, schließlich besteht vor allem bei billigen Produktionsmöglichkeiten immer die Gefahr, dass in den Fabriken unter menschenunwürdigen Bedingungen gearbeitet wird oder Kinder zum Einsatz kommen. Dann stünde der eigenen Freiheit als Unternehmer im Web 2.0 die Unfreiheit der modernen Arbeitssklaven in der Dritten Welt gegenüber. Philipp Winkelbauer hat die Erfahrung gemacht, dass man im Internet nie genau weiß, wer am anderen Ende der Leitung steht, weshalb er bei Auswahl der Handelspartner darauf achtet, dass diese nicht auf den schwarzen Listen von Greenpeace und anderen NGOs auftauchen. "Fair Trade ist ein großes Thema für mich." Einen Teil seiner Umsätze mit der Teakplantage spende er deshalb auch an soziale Projekte in Thailand. Auch die Webseite Samasource.org will den Unternehmergeist am einen Ende der Welt mit der Unterbeschäftigung am anderen zusammenbringen und ermöglicht es Firmen, einfache Büroarbeiten wie das Erstellen von Excel-Tabellen von Computerarbeitern in Kenia oder Indien durchführen zu lassen. Das Projekt Give Work schaffe Arbeitsplätze, so wirbt Samasource. org und verspricht, dass das Outsourcing im kleinen Maßstab sowohl die eigene Produktivität erhöhe als auch armen Menschen ermögliche, eine Einkommensmöglichkeit und neue Lebenschancen über das Internet zu erhalten. +Das frühe 21. Jahrhunderts könnte also so etwas wie die Gründerzeit 2.0 sein. "Das Internet hat die Kosten für ein Startup zusammenfallen lassen", schreiben Jason Fried und David Hansson in ihrem Buch "Re-Work", "und das gilt nicht nur für das Internet selbst. Die Gesetze des Webs, die Dynamik und niedrigen Fixkosten gelten zunehmend auch in der realen Wirtschaft. Früher musste man, um ein Unternehmen zu gründen, ein Gebäude mieten und eine Verwaltung aufbauen. Heute, so Fried und Hansson, könne man Mitarbeiter wie externe Designer oder Programmierer je nach Bedarf zuschalten und sich oft gar den Büroraum sparen. "Positive wirtschaftliche Effekte", sagt Rolf Sternberg, Professor für Wirtschaftsgeografie an der Universität Hannover, also Wirtschaftswachstum und neue Arbeitsplätze, seien aber nur bei "wissensintensiven und wachstumsstarken Start-ups zu finden". Michael Wiggenhorn hat so eine wissensintensive Firma gegründet – mitten in der Krise: Coriolis, ein Pharma-Service- Unternehmen mit zwölf Mitarbeitern und Sitz in Martinsried. Die Firma hat eine Methode entwickelt, Medikamente haltbarer und transportfähiger zu machen. In dieser Branche braucht man Spezialisten und teures Hightech-Material. "Jetzt ist die Zeit, um zu investieren", sagt Wiggenhorn. "Krusten brechen auf. In den Unternehmen nimmt der Druck zu, sich zu verändern." Auf der ganzen Welt suchen Menschen und Firmen nach der neuen Killer-Applikation, innovativen Logistiksystemen und Vertriebsmodellen, eben the next big thing. In diesem Szenario, so Experten, bilden sich neue Spielräume für neue Spieler. Wiggenhorn ist beim Blick in die Auftragsbücher gut gelaunt. "Das Geschäft läuft." +Ideen sind in Deutschland viele vorhanden, meint der Wirtschaftsgeografieprofessor Rolf Sternberg. Oft fehlt eben das Geld. "Die Finanzierung ist eines der wichtigsten Hindernisse der Gründung." Deutsche Banken sind als knausrig bekannt, wenn es um Kredite für Firmengründer geht, und das hat sich durch die Bankenkrise nicht verbessert. Firmengründer müssen nach Investoren suchen und sich im Dschungel der Förderprogramme und Gründerpreise zurechtfinden. In den USA ist der Unternehmer eine mythische Gestalt. In Deutschland scheut man das Risiko und die Unsicherheit. Auch die Eltern von Philipp bestanden darauf, dass er etwas Anständiges lernt, bei einem großen Konzern, der Sicherheit bietet, ein 13. Jahresgehalt, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und vielleicht sogar eine Betriebsrente. Philipp tut ihnen den Gefallen und beginnt im Herbst eine Ausbildung bei der Telekom. "Ich werde meine privaten Unternehmungen aber weiter betreiben", sagt er. +Philipp sieht sich nicht als Angestellter, der mit den Jahren langsam, aber stetig in der Hierarchie aufsteigt und beim 40. Jubiläum der Betriebszugehörigkeit eine goldene Uhr erhält, sondern "möchte etwas Eigenes machen und Charakter einbringen". Seine Vorbilder sind Richard Branson, der Gründer des Plattenlabels Virgin, das später auch eine Fluglinie wurde – oder sogar der amerikanische Immobilientycoon Donald Trump, "weil die auch bei einem Rückschlag nicht aufgeben". Vier bis fünf Stunden pro Tag sitzt er am Rechner, sammelt Kontakte und akquiriert neue Geschäftspartner. Noch stehe der Ertrag nicht im richtigen Verhältnis zum Aufwand, einige Tausend Euro erwirtschaftet er pro Jahr durch seinen Mini-Handelskonzern, aber die Zukunft leuchtet und strahlt – so sieht er das. Gerade denkt er über ein innovatives Produkt nach, das mit biegsamen Leuchtdioden zu tun hat. Mehr könne er nicht verraten, die Konkurrenz schlafe nicht. Philipp hat in China schon einen Hersteller gefunden, der die Einzelteile einmal produzieren soll. Eine Firma, das hat er verstanden, ist kein Gebäude im Gewerbegebiet, sondern eine Struktur, die funktioniert. +Tobias Moorstedt hat nie vergessen, wie er mal als Pizza-Boy unterwegs war. Weil die Kunden aber ziemlich mit dem Trinkgeld geizten, hat er es ganz schnell wieder sein lassen. diff --git a/fluter/grossflaechig-und-intensiv-gefaerbt.txt b/fluter/grossflaechig-und-intensiv-gefaerbt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..94f4c4708bab42c2930f14a9aa3ff03e115d76ae --- /dev/null +++ b/fluter/grossflaechig-und-intensiv-gefaerbt.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Und diese Nebengeräusche, das eben doch Subtile, das immer noch da ist, auch in Eeros Leben, ist das eigentlich Schöne an "Blitzkrieg der Liebe". Da ist die liebenswert-harmlose Mutter, die sich zwar routiniert für das Leben ihres Sohnes interessiert, ihm aber ständig den Rücken zuwendet, weil sie immer gerade Kreuzworträtsel löst/Fotos in ein Album klebt/Kaffee kocht/putzt. Da ist der jähzornige Vater, der zu viel trinkt und dessen Nase in jedem Kapitel eine Spur dunkler schraffiert ist – der Eero aber immer wieder auf seine eigene Art seine Zuneigung zeigt, etwa wenn er ihm hilft, sein Fahrrad zu einer Art Chopper umzubauen. Und da ist vor allem Eeros Großvater, der ein Trauma aus dem Zweiten Weltkrieg mit sich herumschleppt und ständigPervitinschluckt, um auf dem Damm zu bleiben. Dieser Personenkreis hat in Eeros Leben bisher die größte Rolle gespielt. Nun verschieben sich seine Prioritäten. +Das zweite Schöne ist, dass Tikkanen nicht viele Worte macht. Seitenlang spricht niemand – und wenn, dann knappe Sätze. Ein bisschen scheint jeder in seinem eigenen Schweigen gefangen. Besonders eindrücklich zeigt sich das, als Eero versucht, den Großvater zum Krieg zu befragen. Er stellt Frage um Frage, doch der Großvater schweigt. Oder als Eero schließlich zum Militär muss und dort rennt und schwitzt und strammsteht und im Bett liegt und: schweigt. +Niemand kann dieses Schweigen so recht überbrücken. Eero und Kanerva versuchen es zumindest. Eero findet seine eigene Bildsprache, indem er sich Seiten aus Zeitschriften, Fotos oder Poster aufhängt, die ihm etwas bedeuten. Eine Nachricht an Kanerva verfasst er in Geheimschrift, sie muss von ihr erst entschlüsselt werden. Und als er zum Militär geht, schenkt sie ihm statt warmer Worte einen geflügelten Talisman. +Und drum herum immer: die Provinz. Sich heimlich betrinken aus dem Flachmann. Sich wie ein Biker fühlen auf dem Chopper-Fahrrad. Knutschen unter Bäumen, Lagerfeuer, nackt baden im See. Das fühlt sich gleichzeitig romantisch und trostlos an, so wie die ganze verdammte Provinz-Pubertät. Petteri Tikkanen muss es wissen: Er ist selbst so aufgewachsen, irgendwo im finnischen Hinterland. +Nadja Schlüter, Redakteurin bei jetzt.de, hat eine Schwäche für Coming-of-Age-Geschichten – obwohl sie sich nicht besonders gerne an ihre eigene Pubertät erinnert diff --git a/fluter/grossgefuehle-im-gegenlicht.txt b/fluter/grossgefuehle-im-gegenlicht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..20cfa8c0ad5b30245d7a1a300f8cd8c9b91564be --- /dev/null +++ b/fluter/grossgefuehle-im-gegenlicht.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Außer Shia LaBeouf (rechts) und Riley Keough (li.) rollen in "American Honey" nur Laiendarsteller durch den Mittleren Westen +"American Honey" von der britischen Regisseurin Andrea Arnold ist so klug, "USA" und "Amerika" zusammenzudenken. Wahrscheinlich musste erst eine Außenstehende kommen, um einen so genauen und neugierigen Blick auf dieses gewaltige Land zu werfen, dessen geografisches Zentrum, das sogenannte heartland, vor allem aus Staub und Highways zu bestehen scheint. Arnold sieht die Wunden und die Träume, so unerreichbar diese auch für die Jugendlichen sein mögen, und sie hüllt sie in ein warmes, honigfarbenes Gegenlicht, das dem Titel ihres Films alle Ehre macht. +Vor allem geht sie ganz nah ran. Fast drei Stunden fühlt man sich mit den Kids im Kleinbus oder in billigen Motelzimmern fast eingepfercht, nimmt unmittelbar teil an den Ritualen und dem gemeinsamen Singen und taucht ein in die zähflüssigen Hip-Hop-Beats, die fast pausenlos aus den Boxen quellen. +Die Solidarität, die der Film dabei für seine Figuren entwickelt, hat viel mit der Art und Weise zu tun, wie Arnold die Jungen und Mädchen filmt: in expressiven Close-ups, in ständiger Interaktion miteinander, eingefangen in fließenden, organischen Einstellungen, ohne in typischen Handkamera-Naturalismus zu verfallen. Ihre jugendlichen Darsteller/-innen, bis auf Shia LaBeouf allesamt Laien, sind sensationell – allen voran Sasha Lane, die zuvor als Kellnerin gejobbt hat. +Sasha Lane entdeckte Regisseurin Andrea Arnold in Florida am Strand - und schrieb prompt das Drehbuch für sie um +"American Honey" ist auch ihre Geschichte, so wie die von Millionen anderer amerikanischer Teenager ohne Perspektive. Am Anfang des Films sieht man Star in einer Mülltonne nach Essensresten für sich und ihre jüngeren Geschwister wühlen. Solche Bilder durchbohren immer wieder die wachtraumartigen Reiseimpressionen, sie erden den Film in einer sozialen Wirklichkeit. Euphorie und Ernüchterung liegen oft eng beieinander. +Das Roadmovie ist das mythische Genre, in dem das Kino von Amerika erzählt, von der Weite der Landschaft und dem Gefühl der Freiheit. Doch Arnold geht diesem Mythos nie auf den Leim. Sie erzählt auch von den USA im Jahr 2016. Denn die Freiheiten in "American Honey" sind vergänglich. Die Jugend ist die Phase, in der die Freiheitsversprechen noch die einzige Wahrheit darstellen. Grenzen erfahren die Kids, wenn sie mit der Außenwelt, christlichen Müttern und Cowboys, den Relikten eines vergangenen Amerikas, in Berührung kommen. +Ihre Jugend ist der Schutz vor dieser Welt und Arnold verstärkt die Wirkung dieses Ausnahmezustands immer wieder mit hypnotischen Zeitlupen. Draußen rauscht die Landschaft vorbei, doch im Inneren des Busses herrscht rasender Stillstand. "American Honey" macht diese widersprüchlichen Stimmungen auf atemberaubende Weise fühlbar. +"American Honey"; Regie und Drehbuch: Andrea Arnold, Kamera: Robbie Ryan, mit: Shia LaBeouf, Sasha Lane, Riley Keough, McCaul Lombardi, 163 Min. diff --git a/fluter/gruen-gruen-gruen-sind-alle-unsere-kleider.txt b/fluter/gruen-gruen-gruen-sind-alle-unsere-kleider.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7b36e787b30bfed86de80a5689b1fe342ff0d7aa --- /dev/null +++ b/fluter/gruen-gruen-gruen-sind-alle-unsere-kleider.txt @@ -0,0 +1,13 @@ + +Ihr Misstrauen ist schnell erklärt: Das schwedische Textilunternehmen ist, mit neuen Kollektionen nahezu im Zwei-Wochen-Takt, quasi der Inbegriff der ressourcen-fressenden "Fast Fashion" und hat in der Vergangenheit auch für allerhand negative Schlagzeilen gesorgt – zum Beispiel mit Steuervermeidung, niedrigen Löhnen, schlechten Arbeitsbedingungen und dem Schreddern von unverkauften Klamotten. Dass dasselbe Unternehmen jetzt Mülldeponien bekämpfen will, ob der Ressourcenschonung frohlockt und sich zur Speerspitze einer "globalen Mode-Bewegung für den Planeten" aufschwingt, halten die Kritiker für unglaubwürdig. + +Zudem lenke die Kampagne von der zeitgleich stattfindenden "Fashion Revolution Week" ab, die an denEinsturz des Rana-Plaza-Gebäudes mit der darin befindlichen Textilfabrikerinnert und ein Umdenken in der Modebranche fordert. H&M hätte sich ihnen doch einfach anschließen können,finden die Organisatorenund weisen trotzig darauf hin, dass 40 bis 60 Prozent der von dem schwedischen Unternehmen gesammelten Kleidung als Secondhand-Ware verkauft und nicht etwa recycelt werden. + + +Umweltaktivisten sind trotzdem nicht von der Kampagne überzeugt. Was Christiane Schnura von der "Kampagne für Saubere Kleidung" besonders skurril erscheint: Wer seine alte Kleidung bei H&M abgibt, erhält einen Preisnachlass auf den nächsten Einkauf. Was das Unternehmen als Dankeschön fürs Nichtwegwerfen verstanden wissen will, ist für Schnura ein Rabattsystem – "damit H&M noch mehr Kleidung verkaufen kann". Mark Starmanns vom Fair-Fashion-Netzwerk "Get Changed" sieht zwar den möglichen positiven Effekt, über das tatsächliche Ergebnis lasse sich aber nur spekulieren: "Solche Aktionen können Menschen natürlich auch dazu motivieren, Klamotten in den Laden zu bringen, die sie eigentlich noch tragen könnten." +Das Textilunternehmen ruft dazu auf, "den Kreislauf in der Mode zu schließen", bestätigt auf Anfrage von fluter.de aber, dass dies derzeit nicht vollständig möglich ist. Es werden also nicht alle gesammelten Textilien zu neuer Kleidung, viel davon wird verkauft oder lebt zum Beispiel als Putzlappen oder Dämmstoff weiter. Eine vergangene Kollektion, für die bereits gesammelte Kleidung verwertet wurde, habe aber aus bis zu 20 Prozent recycelter Baumwolle bestanden. +Das würde das Prinzip "Fast Fashion" sogar noch beschleunigen. "Recycling darf keine Ausrede sein, weiter hemmungslos Kleidung als Wegwerfware zu produzieren", urteilt Kirsten Brodde, Textilexpertin von Greenpeace. Sie hätte sich eine "H&M Vintage Week" gewünscht – oder noch besser eine "H&M Repair-Service Week". + +Aber betreibt H&M nun Greenwashing? Danach gefragt, betont man dort die große Bedeutung von Nachhaltigkeit für das Unternehmen und verweist auf den selbst herausgegebenen "Sustainability-Report". Auch Kirsten Brodde von Greenpeace hebt hervor, dass sich das Unternehmen einer Greenpeace-Kampagne zur Vermeidung giftiger Chemikalien angeschlossen und als erster Textilkonzern krebserregende und hormonell wirksame PFC aus seiner Produktion verbannt habe. Und selbst die Organisatoren der "Fashion Revolution Week" loben den Textilhersteller für seine Nachhaltigkeitsbemühungen in den Bereichen Bildung, Transparenz, Löhne und Umwelt: So istH&M einer der weltweit größten Abnehmer von Biobaumwolle. +Ausruhen kann sich das Unternehmen darauf nach Ansicht seiner Kritiker aber nicht: Die Umsetzung desGebäudesicherheitsabkommens "Accord"für Bangladesch stockt, festgelegte Sicherheitsmaßnahmen wurden oftmalsnoch nicht umgesetzt. "Die Verschleppung dieser Reparaturen kann im schlimmsten Fall tödlich enden", sagt Aktivistin Christiane Schnura und verweist auf einFeuer bei einem Zulieferer von H&M, bei dem in diesem Februar nur durch Glück niemand gestorben sei. +"Wenn H&M andere Marken inspiriert oder für seine Praktiken kritisiert wird, hat das beides etwas Gutes", sagt M.I.A. in einem Interview mit der Vogue und fordert, die Fans sollten der Marke eine Chance geben. Wie die sich auch entscheiden, mit dem Songtitel "Re-wear it" hat es die Musikerin ganz gut getroffen: Im Sinne der Ökobilanz ist es am besten, Kleidungsstücke möglichst lange zu tragen oder ihnen – etwa auf einer Tauschparty oder im Secondhand-Shop – ein zweites Leben zu ermöglichen. diff --git a/fluter/gruene-welle.txt b/fluter/gruene-welle.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1195775df2d244a5db786b796fa8b2f0566a649a --- /dev/null +++ b/fluter/gruene-welle.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Jakob Stümpfl baut Gemüse an: Karotten, Salat, Spinat, Kohlrabi, Radieschen, Kraut, Mangold, Tomaten, Paprika, sogar Artischocken. Außerdem Weizen, Dinkel und Roggen. Das Getreide liefert er an Demeter zur Weiterverarbeitung. Das Gemüse füllt er zusammen mit seinen Mitarbeitern wöchentlich in rund 1300 Kisten, die sie an ihre Kunden ausfahren. Die kleinste Kiste, für eine Person und Woche, kostet 9,95 Euro. Die Gemüse-Abonnements sind so beliebt, dass sie sich noch mehr lohnen als der Verkauf im Hof-laden. "Auch weil die Nachbarn hier nicht oft eingekauft haben", sagt Jakob Stümpfl. "Es war ihnen zu teuer oder sie halten einfach nichts von Bio." +Viele andere dagegen schon: In den vergangenen sechs Jahren hat sich der Umsatz mit Biolebensmitteln in Deutschland mehr als verdoppelt, im vergangenen Jahr stieg er um 16 Prozent, auf viereinhalb Milliarden Euro. Anteilig am europäischen Biolebensmittel-Markt sind das dreißig Prozent. Deutschland belegt in Europa unter den Verbrauchern Platz eins, unter den Herstellern dagegen nur Platz zehn. Die Zahl der deutschen Ökolandwirte stieg 2006 gerade mal um 0,4 Prozent auf 9645. "Auch hier im Kreis Augsburg ist in den letzten Jahren kein neuer Biobauer dazugekommen", sagt Jakob Stümpfl. Sein jüngerer Bruder Toni hat zwar wie er selbst Gemüselandbauer gelernt, will sich aber lieber mit einem Motorradladen selbstständig machen. Auch der Sohn der Nachbarn, die ebenfalls einen Demeter-Hof haben, wurde nicht Ökolandwirt, sondern Schreiner. +Jakob Stümpfl kann wie seine Kollegen – auch wenn die Nachfrage steigt – die Produktion nicht wesentlich erhöhen, ohne die Kriterien des ökologischen Landbaus zu verletzen. Sind die Lager ausverkauft, bestellen Händler und Supermärkte die fehlenden Lebensmittel daher im Ausland. Das Bundesministerium für Verbraucherschutz schätzt, dass bis zu einem Drittel der hier verkauften Bio-lebensmittel nicht in Deutschland angebaut wurde. Mit negativen Folgen: Wenn für den Transport von Öko-Äpfeln mit Lkw oder Flugzeug nach Deutschland Kraftstoff verbraucht und Schadstoffe ausgestoßen werden, sind die Äpfel kaum als umweltverträglich zu bezeichnen. Und: Deutsche Biolandwirte profitieren nicht von der steigenden Nachfrage nach Ökolebensmitteln. +Den Boom lösten die Lebensmitteldiscounter aus, die 2005 begannen, Produkte mit EU-Bio-Siegel anzubieten. Schon 2006 verkauften sie doppelt so viele Biolebensmittel wie im Vorjahr. Dass die Verbraucher zu Bioprodukten greifen, liegt vor allem an dem allgemeinen Wellness-Trend: Viele Menschen, die jetzt Bio kaufen, wollen zuerst sich selbst etwas Gutes tun und nicht der Umwelt. +Trotzdem trauen sich nur wenige Bauern, ihren konventionellen Acker auf biologisch-dynamischen Anbau umzustellen. Die Position des Deutschen Bauernverbands war jahrelang: Die Zukunft liegt im konventionellen Landbau. Erst fünf Prozent der Flächen in Deutschland sind ökologisch bewirtschaftet, so der Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft. Doch selbst wenn sie umstellen wollen, dauert der Wechsel zwei Jahre. In dieser Zeit bleiben die Einnahmen gleich – denn das Gemüse darf noch nicht als "Bio" deklariert werden –, während die Ausgaben steigen: Anstatt Vernichtungsmittel zu sprühen, muss das Unkraut mit der Maschine gezogen oder per Hand gezupft werden. Das ist aufwendig und damit teuer. Außerdem soll sich der Boden in diesen zwei Jahren erholen, in Zukunft muss er ohne Dünger alle Nährstoffe für die Pflanzen bieten. Seit 2004 zahlten immer weniger Bundesländer Geld für den Wechsel. Nach einer Umfrage der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft erwog jeder fünfte Ökobauer, die Umstellung wieder rückgängig zu machen, wenn die Unterstützung ausbleiben sollte. Agrarstaatssekretär Gert Lindemann sagte noch im Januar der Frankfurter Allge-meinen Zeitung: "Ich sehe keinen Sinn darin, wenn der Staat in einen boomenden Markt noch zusätzlich hineinfördert." Der Boom des Biomarktes scheint allerdings zu einem Umdenken zu führen: In diesem Jahr planen nach Informationen des Biolabels Bioland alle Bundesländer bis auf das Saarland, die Förderung wieder aufzunehmen. +Der Staat beschränkt sich darauf, die Kriterien für "Bio" festzulegen. Das EU-Bio-Siegel garantiert, dass keine Gentechnik, Bestrahlung, Pflanzenschutzmittel oder Dünger eingesetzt, dass die Tiere artgerecht gehalten und keine Antibiotika verfüttert werden. In Einklang mit diesen Regeln können aber auch Ökokartoffeln aus der israelischen Negev-Wüste als "Bio" verkauft werden, obwohl der Boden für deren Anbau intensiv bewässert werden muss. Das EU-Bio-Siegel definiert nur den Mindeststandard. Verbände wie Demeter oder Bioland achten auch auf Naturschutz, Lagerung und den Handel mit zugekaufter Ware. Sie wollen ein Bewusstsein für die gesamte Nahrungskette fördern.Für Jakob Stümpfl sind diese Anbaumethoden wichtig, er ist mit dem ganzheitlichen Denken aufgewachsen. Den Großvater fragten die Nachbarn noch skeptisch: "Wächst da überhaupt was ohne Dünger?", und sahen kopfschüttelnd zu, wie der sein Gemüse mit dem Schlepper nach Augsburg zu seinen Kunden brachte. Schon mit zehn Jahren fuhr der kleine Jakob mit über die Felder und wollte unbedingt Bauer werden. "Meine Tanten wollten, dass ich Bäcker lerne, weil es dann immer Kuchen bei uns gibt. Aber ich kann mir keinen besseren Beruf vorstellen als meinen", sagt Jakob Stümpfl. +Gleich nachdem er die 15 Hektar des Vaters übernommen hatte, pachtete er weitere 110 Hektar dazu, letztes Jahr baute er ein Gewächshaus. Ob seine Kinder einmal diese großen Flächen übernehmen, überlässt er ihnen: "Sie müssen nicht Bauer werden. Das Land ist ja nur gepachtet. Nur wenn jemand nach mir den Boden wieder konventionell bewirtschaften würde – da wäre ich wirklich traurig." diff --git a/fluter/gruesse-aus-der-todeszelle.txt b/fluter/gruesse-aus-der-todeszelle.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4124e3b18059ce11fc3e064ddadf1c26c529e8c8 --- /dev/null +++ b/fluter/gruesse-aus-der-todeszelle.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Susan Nowacki +Ihrem Brieffreund Robert Will, ebenfalls Häftling im Texanischen Staatsgefängnis, schreibt Susan Nowacki nahezu täglich einen Brief. Sie hält Gedanken über ihren Alltag fest und erzählt über Menschen und Aktionen, mit denen sie sich für seine Freilassung einsetzt. Auch in Wills Fall gibt es viele Hinweise, dass er womöglich unschuldig zum Tode verurteilt worden ist. Die meisten Briefe gehen per Email an die Gefängnisaufsicht. Die liest jedes Wort mit und druckt das Schreiben für den Häftling aus. Hin und wieder schickt die 39-Jährige auch einen Brief los, den sie von Hand geschrieben hat. "In solchen Briefen unterhalten wir uns gerne über Philosophie", sagt Nowacki. Der Mann aus Houston sei ein Nietzsche-Fan, sie ein Anhänger der Ideen Schopenhauers. Sie spricht auch über ihre Gefühle, ihre Wut gegen das amerikanische Justizwesen und die Schwermut, die sie befällt, wenn bekannt wird, dass wieder ein Gefangener hingerichtet worden ist. "Dann bekomme ich von Robert meistens Antworten, die mich wieder aufbauen", sagt sie. Und sehr viel Dankbarkeit dafür, dass sich überhaupt jemand für das Schicksal eines einfachen Mannes interessiert. +Viele Gefangene kommen mit der Einsamkeit in den 5,6 Quadratmeter großen Zellen und den Gedanken an den Tod nicht gut zurecht. Zumindest den Todeskandidaten in Texas ist selbst Fernsehen verboten. "Nicht wenige werden wahnsinnig", weiß Nowacki. Im Februar möchte sie ihren Freund zum ersten Mal besuchen, doch sie quält der Gedanke, dass er trotz aller Bemühungen, die Richter oder den Gouverneur von seiner Unschuld zu überzeugen, hingerichtet wird. +Diese unvermeidliche Frage hat Petra Herrmann nicht davon abgehalten, sich mit ihrem Brieffreund zu verloben. Am 29. September 2011 will sie Charles "Chuck" Thompson in der Polunski Unit heiraten. Irgendwann war es Liebe, nachdem sie sich elf Jahre regelmäßig geschrieben haben. Ursprünglich wollte sie nur helfen. Es sei klar, dass Chuck aus Notwehr getötet hat, sagt Herrmann, die sich seit vielen Jahren für das Recht des 41-Jährigen einsetzt. Sie ist Vorsitzende des Vereins "Alive" und kämpft in dieser Position auch für alle anderen Schuldigen und Unschuldigen in den Todestrakten weltweit. "Man kann einen Menschen nicht auf eine Tat reduzieren", so ihr Plädoyer gegen die Todesstrafe und für mehr Menschlichkeit. Ihren Einsatz sieht sie als Instrument der Aufklärung, denn viele wüssten einfach nicht, dass die Todesstrafe selbst in einem vermeintlich fortschrittlichen Land wie den USA zum Alltag gehört. Nicht zuletzt seien die Brieffreundschaften ein Mittel der Resozialisierung – Mitleid sei hingegen das Letzte, was die Häftlinge benötigen. "Wir geben den Menschen ein Stück Normalität, die sie sonst nicht erfahren", erklärt Herrmann. "Sie wollen ernst genommen und wie erwachsene Menschen behandelt werden." +Petra Herrmann und Charles Thompson +Auf der Homepage von "Alive" haben zum Tode verurteilte Häftlinge aus allen Bundesstaaten die Möglichkeit, sich vorzustellen und gewissermaßen um Brieffreunde zu werben. "Jeder, der in Erwägung zieht, sich gegen die Todesstrafe zu engagieren und eventuell einen Briefkontakt zu einem Gefangenen aufzubauen, sollte bedenken, dass die Gefangenen nicht nur Opfer einer gnadenlosen Justiz, sondern in den meisten Fällen auch Täter sind, die zum Teil grausame Straftaten begangen haben", heißt es auf der Homepage des Vereins "Initiative gegen die Todesstrafe" (IGT), wo ebenfalls Kontakte zu Häftlingen zu finden sind. Anfragen kommen trotzdem aus allen Schichten der Bevölkerung, von 16-Jährigen, aber auch von älteren Menschen. Viele Insassen haben sogar gleich mehrere Brieffreundinnen und Freunde. Simone Hillebrand-Dittrich beispielsweise hatte den selben wie der Bottroper Ludger Wilp. "Jeder Mensch braucht doch jemanden um sich herum", sagt die 43-jährige Berlinerin, die sich auch bei der IGT engagiert. "Sonst gehen wir doch ein wie eine Primel." Den Häftling aus der Polunski Unit kannte sie erst seit Oktober – im Mai starb Cary Kerr durch die Giftspritze. +"Unbeschreibliche Wut gepaart mit Trauer", habe sie verspürt, als sie von dem Tod ihres Freundes erfahren hat. Irgendwann möchte sie wieder einem Häftling schreiben. Aber nicht in Texas, wie sie sagt. "Ich würde es wahrscheinlich nicht aushalten, noch mal einen Freund zu verlieren." +Andreas Pankratz ist Volontär der Bundeszentrale für politische Bildung. diff --git a/fluter/grundgeruest.txt b/fluter/grundgeruest.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/grundlage-fuer-alles-boden.txt b/fluter/grundlage-fuer-alles-boden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cbc8e9e24e50e60a9e6be7cad0703811088c696f --- /dev/null +++ b/fluter/grundlage-fuer-alles-boden.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Unser Planet ist der einzige im Sonnensystem, auf dem es diese Art von Boden gibt. Und Äpfel. Im Wald ist diese vor Urzeiten begründete Einheit von Boden und Pflanzen greifbar: Zuoberst liegt das Laub des vergangenen Herbstes, verwelkte und faulig braune Blätter, Krabbler wie der Hundertfüßler, die Asseln oder der Kugelspringer fressen sich durch die Streu und erledigen den ersten Teil der Kompostierung. +Schiebt man die Streu beiseite, finden sich braune Krümel – das Ergebnis einiger Jahre "Bodenarbeit". Greift man in den lockeren dunklen Humus, hat man schnell einige Jahrzehnte in der Hand. Zentimeter um Zentimeter finden sich weniger Tiere und mehr mineralische Substanzen, bis man schließlich auf festen Untergrund stößt. +Der Boden unter unseren Füßen wächst. Auf der ganzen Welt unterschiedlich schnell, aber grob überschlagen sind es rund zehn Zentimeter in 2.000 Jahren – 80 Generationen, bis eine Handbreit Boden nachwächst. Die Äcker, von denen wir hierzulande unser Gemüse einfahren, sind etwa 10.000 Jahre alt und entstanden, als am Ende der vorigen Eiszeit die Gletscher aus Mitteleuropa verschwanden. +Das gleichförmige Wiederkehren von Entstehen und Vergehen, der Rhythmus des Bodens, ist in menschlichen Zeiträumen kaum zu erfassen, so langsam geschehen die Prozesse unter der Erde. Eine Ahnung von deren Bedeutsamkeit hatten wohl schon unsere Vorfahren. Archäologen entdecken immer wieder Darstellungen von "Erdgöttinnen", mit denen Menschen der Altsteinzeit möglicherweise dem Boden und seiner Fruchtbarkeit gehuldigt haben. Zu den bekanntesten Funden Europas zählen die sogenannten Venusfigurinen, handgroße, ausladend geformte Gestalten aus Stein, Ton oder auch Elfenbein – entstanden vor ungefähr 29.500 Jahren, als die Menschen in Europa dem Beginn der Eiszeit machtlos und hungernd entgegensahen. + +Gimme Moor! Die Nassgebiete speichern CO² und geben vielen Arten ein Zuhause + +Dass es ohne gesunden Boden kein Essen gibt, gilt heute wie damals. Denn auch wenn sich mittlerweile Pflanzen in Nährlösungen züchten lassen, ist das bisher noch zu teuer und energieintensiv, um damit die Menschheit mit Nahrung zu versorgen. Rund 90 Prozent unserer Nahrungsmittel werden mit Boden erzeugt, für fünf Kilogramm Obst wird eine Fläche von dreieinhalb Quadratmetern benötigt, für die gleiche MengeRindfleischbenötigt man 44-mal so viel Fläche. Um genügend Weizen, Yams und Linsen für die bald acht Milliarden Menschen auf dem Planeten zu produzieren, braucht es keine Gewächshäuser, sondern Felder. Die Menschen des 21. Jahrhunderts sind auf Humus angewiesen – genau wie einst die Steinzeitmenschen. +Mehr noch: Heute wissen wir, dass Böden uns nicht nur ernähren, sondern auch Regenwasser filtern und so neues,sauberes Trinkwasserschaffen. Gesunde Erde speichert Wasser und verhindert Überschwemmungen. Sie reguliert das Klima, kann Hitze und Kälte abpuffern. Und Böden speichern mehr Kohlenstoff als alle Wälder der Welt zusammen – mit großen Auswirkungen auf die Atmosphäre unddie Erwärmung der Erde. +Die größte Gefahr für das Bodenuniversum sind wir. In einer Welt ohne den Menschen lägen dichte Wälder und Graslandschaften über der Erde wie eine grüne Decke, Boden und Pflanzen würden einander halten und nähren. Stattdessen isst und verheizt die Menschheit den natürlichen Schutzfilm des Bodens. Für uns mag ein umgegrabener Acker eine Banalität sein, aber in der Einheit von Pflanzen und Böden ist er eine Wunde. Die Ernte, die auf unseren Tellern landet, wird dem Kreislauf entnommen, und ohne organisches Material, das in den Ackerboden eingeht, kann dieser nicht wachsen. Schlimmer noch: Wird er nicht gewissenhaft gepflegt, schwemmt Wasser und weht Wind den Ackerboden unwiederbringlich davon. +Ein so aus dem Takt gebrachter Boden kann gefährlich werden. Als sich beispielsweise im April vor zehn Jahren in Mecklenburg-Vorpommern eine riesige Sandwolke wie ein brauner Teppich auf die Autobahn legte, kollidierten 85 Autos und acht Menschen starben, weil der starke Wind die oberste Bodenschicht eines nahen Feldes aufgewirbelt hatte. Langfristig macht die Misswirtschaft den Boden zur Mangelware: Nur rund elf Prozent der Landoberfläche der Erde sind Ackerland, und jedes Jahr verschwinden davon etwa zehn Millionen Hektar – weil es falsch genutzt oder überbaut wird. Der Klimawandel trägt sein Übriges dazu bei, wenn Wetterextreme die Erosion beschleunigen oder die Tiere und Mikroorganismen im Boden unter den veränderten Bedingungen leiden. So schrumpft nicht nur die globale Ackerfläche, sondern auch die darauf erwirtschaftete Ernte. +Das Science-Fiction-Genre projiziert dieses Szenario immer wieder in die ferne Zukunft: den Verlust des Bodens, die intergalaktische Suche nach fruchtbarer Erde, einer neuen Heimat auf fernen Planeten. Ein Blick in die Menschheitsgeschichte zeigt, dass auf der Erde schon vielfach Zivilisationen an ihrem Umgang mit Boden gescheitert sind: Rom musste ab dem Jahr null jedes Jahr schätzungsweise 200.000 Tonnen Getreide aus den römischen Provinzen in Nordafrika importieren, die ausgelaugten Felder des Umlandes konnten die Bewohner nicht mehr ernähren. Die Hochkultur der Maya hatte um das Jahr 800 n. Chr. ihren Höhepunkt erreicht, bis zu sechs Millionen Menschen lebten im Tiefland von Yucatán im heutigen Mexiko. Die intensive Bewirtschaftung ließ den Boden erodieren, was wohl zum Niedergang des indigenen Volkes beitrug. Von anderen Gesellschaften wie den ersten Bewohnern der Osterinsel ist nicht viel mehr geblieben als beeindruckende meterhohe Steinskulpturen. Die heute weitgehend kahle Insel im Südostpazifik muss einst ein palmenbewaldetes Paradies gewesen sein – Heimat einer Kultur mit Sinn für monumentale Kunst und einem verhängnisvollen Hang zur Übernutzung natürlicher Ressourcen. +Es gibt viele Gründe, warum diese Zivilisationen ein Ende fanden – Angriffe von außen, Verwerfungen im Inneren, harte Winter, lange Dürren. Doch ihnen allen ist gemein, dass sie es versäumt hatten, den Boden – die Grundlage ihres Wohlstandes und die Basis ihrer Gesellschaft – ausreichend zu schützen. +Die vielleicht wertvollste Eigenschaft des Bodens ist aber die: Er verzeiht. Wo man mit dem Boden nicht auch das Klima zerstört, hat er das Potenzial, sich wieder zu erholen. Selbst Supermarkterde aus dem Plastiksack, kaum mehr als steriler Dreck, kann mit etwas Mühe, Kompost und Würmern wieder zum Leben erweckt werden. Wird Boden schonend bewirtschaftet, nicht ausgelaugt, sondern geschützt, schließt sich der Kreis zwischen Pflanzen und Boden – und Menschen. +Denn natürlich sind auch wir ein Teil des Ganzen. Auch unsere Körper werden einmal in den Boden eingehen, von den Bodenbewohnern zersetzt, bis nach einigen Jahren nur noch unsere Knochen und nach Jahrzehnten nichts mehr von uns übrig sein wird. Selbst zu Asche verbrannt nähren unsere Überreste den Boden. Und etwas Neues beginnt. + diff --git a/fluter/grundtendenz-zum-alarmismus.txt b/fluter/grundtendenz-zum-alarmismus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4d20b8c27e05be9b43cb071eb0c64063524df716 --- /dev/null +++ b/fluter/grundtendenz-zum-alarmismus.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Konkurrenzdruck, Einordnungsdruck, Geschwindigkeitsdruck: So entsteht dann oft ein ziemlich grelles Bild, das wenig zur Aufklärung der Leute beiträgt +Der Zeitdruck ist für den Journalismus durch die Rasanz der Ereignisse und der Konkurrenz zu Twitter oder Facebook noch größer geworden. Wo führt diese Entwicklung hin? +Es gibt, vor allem seit der Entwicklung von Twitter zu einer Art Nachrichtenkanal, eine interessante Zirkelbewegung: Vor allem im Fernsehen, auch bei den öffentlich-rechtlichen Sendern, werden Tweets vorgelesen, auf Twitter wird die Fernsehberichterstattung kommentiert. Was die Nachrichtenleistung betrifft, gerade bei Unglücken und Katastrophen aller Art, ist Twitter das schnellere Medium, das lässt sich auch nicht mehr zurückdrehen. Twitter und auch Facebook sind aber auch Gerüchtemedien und nicht gerade die bevorzugten Orte für aufklärende Interpretationen. Der professionelle Journalismus müsste sich in der entgrenzten Welt vieler Kommunikationskanäle neu orientieren, was natürlich nicht heißt, dass er seine aktuelle Nachrichtenleistung aufgeben kann. Es bringt aber nichts, Tweets vorzulesen, um vorzutäuschen, dass man nahe beim Volk ist. +Gibt es Vorteile, über Liveticker und Social Media so nah dran am Verbrechen zu sein? +Es gibt sicher Vorteile, aber eher für polizeiliche Warnungen oder die persönliche Kommunikation. Twitter kann auch eine Quelle für Journalisten sein, wenn sie sich nicht im Geschwindigkeitsrausch verlieren. Das ist aber nicht einfach. Ich bin ganz froh, in einer Welt ohne das Internet aufgewachsen zu sein und auch in einer publizistischen Sphäre ohne Online-Medien gearbeitet zu haben. Technologie- und Kulturkritik bringen ja meistens nichts, aber für mich biografisch ist es so. +Schon am nächsten Morgen nach dem Amoklauf in München berichteten Zeitungen von einem Terroranschlag, obwohl das in der Nacht zuvor lange unklar war und sich als falsch herausstellte. Wie kommt es dazu? +Es gibt einfach vorgefasste Interpretationsmuster, für die man Bestätigung sucht. Man konnte das am Abend der Amoktat in München sehr schön bei dem ARD-Moderator Thomas Roth beobachten, wie er versucht hat, nahezu allen zugeschalteten Gesprächspartnern bestimmte Spekulationen nahezulegen. Das ist sehr unprofessionell. Es ist eine sehr schwierige Aufgabe, im Livefernsehen über eine längere Strecke unvorhergesehene Ereignisse zu kommentieren oder zu begleiten. Dazu braucht man eine Menge Training, Reflexion und Erfahrung, und der Bedarf an Weiterbildung scheint mir hier bei ARD und ZDF, an die andere Ansprüche zu stellen sind als an Privatsender, ziemlich hoch zu sein. Bei gedruckten Zeitungen kommt natürlich das klassische Problem des Redaktionsschlusses hinzu. +Manchmal spricht aus den Berichten fast eine Sehnsucht nach klaren Einordnungen heraus. Warum ist es so schwer für Journalisten zuzugeben, dass sie sich erst einmal nicht sicher sind? +Außer den bekannten anthropologischen Konstanten, die nicht journalismusspezifisch sind, gibt es einfach diesen ökonomischen und publizistischen Konkurrenzdruck, der dazu führt, dass man auch bei den Einordnungen schneller sein will als andere. Zudem muss man zugeben, dass man auch als Leser oder Zuschauer Einordnungen haben will. Aber dem Publikum fällt schon auf, wenn im Fernsehen Korrespondenten zugeschaltet werden, die gar nichts wissen, sondern nur vom Hörensagen berichten. Da wird Journalismus gespielt wie elektronische Kinderpost. +Bei der Zeitungslektüre hat man manchmal den Eindruck, dass sich die Reporter geradezu in den Beschreibungen von Schrecken und Angst suhlen. Versetzen solche Beschreibungen die Leser in Panik? +Die unmittelbaren Wirkungen gehen doch eher vom Livefernsehen oder von den sogenannten "sozialen Medien" mit ihren Handyvideos aus. In Zukunft, bei noch besserer Bildauflösung, wird jeder zum Kamera-Operateur in Echtzeit. Das erhöht noch einmal die voyeuristischen Möglichkeiten, denen wir alle unterliegen. Man kann nur versuchen, eine gewisse Distanz dazu zu finden. Es ist ja seit längerem klar, dass Terroristen auf eine möglichst umfassende Verbreitung der Bilder von ihren Taten aus sind. +In München war der beste Journalist der Pressesprecher der Polizei – sagen manche. Was sagt das über den Zustand des Journalismus? +Ja. Er hat klar gesagt, was wer weiß und was er auch nicht weiß. Und er hat dumme Fragen von desorientierten Journalisten mit großer Selbstsicherheit als solche bezeichnet. Er hat unfreiwillig gezeigt, dass viele Journalisten für ihren Job nicht qualifiziert sind. Das habe ich in dieser Form vorher noch nicht erlebt. Ein Debakel für den Journalismus. +Lutz Hachmeister hat als Journalistik-Professor an der Uni Dortmund Mediengeschichte und Politik gelehrt. Gleichzeitig ist er aber selbst als Journalist tätig und produzierte mehrere preisgekrönte Dokumentarfilme und Hörspiele. Zudem gründete er das Institut für Medien- und Kommunikationspolitik (IfM). diff --git a/fluter/grundwasser-privatisierung-cola-lueneburg.txt b/fluter/grundwasser-privatisierung-cola-lueneburg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..05d940b7fcf0cb8ab1ff04e8295ccad70dbeea19 --- /dev/null +++ b/fluter/grundwasser-privatisierung-cola-lueneburg.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +"Dieses Zukunftsthema dürfen nicht nur die Alten bedienen", sagt Marianne Temmesfeld. Die pensionierte Ärztin ist Sprecherin von "Unser Wasser". Die Bürgerinitiative gründeten Anfang 2020 ein paar Pensionäre – um sich gegen Coca-Cola zu wehren, wie sie sagen. Seitdem organisiert "Unser Wasser" Demos und Protestspaziergänge, sammelt Unterschriften gegen die Bohrung. Solchen Aktionen hätten sich zuletzt immer mehr junge Menschen angeschlossen, berichtet Temmesfeld am Telefon. Als sie im vergangenen Jahr dem Landrat eine Liste mit mehr als 4.500 Unterschriften gegen den neuen Cola-Brunnen übergab, waren auch Aktivisten von Fridays for Future vor Ort. Beim Start der Probeentnahmen schlossen sich die jungen Klimaaktivisten einem Protestspaziergang der Bürgerinitiative an. "Grundsätzlich", sagt Benjamin Hirt, Sprecher der Lüneburger FFF-Gruppe, "stehen wir in Solidarität mit der Initiative. Wenn es sich anbietet, werden wir uns immer gegenseitig bei Aktionen unterstützen." +Bleibt nicht im Regenwasser stehen: Marianne Temmesfeld mit Aktivistinnen von Fridays for Future +Für die Bürgerinitiative ist das eine unbedingt gute Nachricht. Apollinaris Brands, eine 100-prozentige Tochterfirma von Coca-Cola, will im Raum Lüneburg die jährlichen Entnahmen verdoppeln, auf 700 Millionen Liter Trinkwasser. Die Zunahme entspricht etwa der Menge, die 7.500 Deutsche in einem Jahr verbrauchen. Dafür lief zwischen Februar und April, zunächst im Pumpversuch, ein neuer Brunnen. Es ist schon der dritte in der Region. Nach mehreren Probebohrungen hatte sich die Firma für die Gemeinde Reppenstedt entschieden, einen Vorort von Lüneburg mit knapp 7.700 Einwohnern. Das bereitet vielen Kopfzerbrechen. Schließlich hatte die Lokalzeitung berichtet, dass bereits in den Antragsunterlagen vor möglichen Schäden gewarnt wird: Während der mehrmonatigen Tests könne das Grundwasser an einigen Stellen absacken und an anderen "durchpausen", also austreten. +Noch durstig? +Unser Film zeigt, warum Deutschland auch in Krisenzeiten nicht um sein Trinkwasser fürchten muss + +Solche Berichte kontert Coca-Cola. Das Unternehmen schaltete große Anzeigen in der lokalen "Landeszeitung", um eine dreiteilige "Info-Serie zum Vio Brunnen" zu lancieren. Für Fragen der Bürger richtete es eine eigene Mailadresse ein. Presseanfragen nach der Möglichkeit einer Besichtigung der Wasseranlagen werden von einer PR-Agentur beantwortet. In einer sehr langen Mail. Die erinnert freundlich daran, dass Coca-Cola in Lüneburg bereits seit 2007 das "natürliche Mineralwasser ViO" abfülle. Seitdem habe sich nicht nur die Mitarbeiterzahl nahezu verdreifacht (auf mittlerweile 190), es sei auch "eine ganze ViO Getränkefamilie" entstanden. +Die Biolimonaden und Direktsaftschorlen kämen bei den Verbrauchern so gut an, dass eben auch der Bedarf an Wasser zur Produktion steige. Deshalb der zusätzliche Brunnen, der zwingend in Lüneburg entstehe, weil Mineralwasser direkt am Quellort abgefüllt werden müsse. Grundsätzlich schätze der Konzern Wasser aber als "lebenswichtiges öffentliches Gut", dessen Schutz und Wertschätzung zu den Schwerpunkten seines Umweltmanagements zählen. +Thorsten Deppner ist Fachanwalt für Umweltrecht. Er befasst sich oft mit Wasserfragen. Und stutzt nach einem Blick in die Planungsunterlagen zunächst wegen des Standorts des Probebrunnens: Coca-Cola möchte Wasser in 190 Meter Tiefe entnehmen. Dagegen heißt es in einem Erlass des Landes Niedersachsen: "Gut geschütztes Grundwasser tieferer Stockwerke ist besonders empfindlich gegenüber Eingriffen." Es solle daher "grundsätzlich derTrinkwassergewinnungvorbehalten bleiben" – also über den Wasserhahn zum Bürger kommen, nicht in einer Flasche. Der Landkreis, vermutet Deppner, könne durchaus wirtschaftlichen Interessen gefolgt sein, als er den Brunnen zusagte. Das wäre zulässig, aber wenig lukrativ: Coca-Cola zahlt der Stadt Lüneburg lediglich einen sogenannten Wasserpfennig. 0,009 Cent pro Liter. Für die beantragten Mengen wäre das ein Betrag zwischen 31.000 und 35.000 Euro im Jahr – weniger als viele Städte mit der Hundesteuer verdienen. +Angesichts solcher Summen hätte er empfohlen, den gesetzlichen Rahmen lieber im Sinn der Bürger auszuschöpfen, sagt Deppner. Sicher könne die Behörde ihre Genehmigung jederzeit wieder zurückziehen, wegen der hohen Bedeutung des Gutes Wasser gelte aber ein Besorgnisgrundsatz. Heißt: Der Landkreis kann eingreifen, wenn er schädliche Folgen auf die Trinkwasserversorgung oder die Umwelt auch nur erahnt. "Was passiert, wenn das Tiefengrundwasser mal von der Bevölkerung gebraucht wird?", fragt Deppner. +Schädliche Folgen oder Probleme bei der Trinkwasserversorgung scheint der Landkreis Lüneburg nicht zu sehen. Bei der Wahl des Brunnenstandortes sei darauf geachtet worden, dass das zugehörige Einzugsgebiet sich nicht mit den benachbarten Wasserschutzgebieten überschneide, schreibt die Behörde in einer Stellungnahme. Ob das Wasser überhaupt bewirtschaftet werden dürfe, sei eine Frage der Prüfung aller Belange und Interessen, wobei die Trinkwasserversorgung Vorrang habe. Das Genehmigungsverfahren für den Brunnen soll mehrere Jahre dauern. Bis Mitte April liefen die Pumpversuche, nun werten Gutachter die Ergebnisse aus. Auf Grundlage ihrer Expertise kann Coca-Cola einen endgültigen Antrag zur Wasserentnahme erarbeiten und dem Landkreis vorlegen. +Lüneburg ist mit solchen Interessenkonflikten nicht allein. Eine vom Deutschen Verein des Gas- und Wasserfachs beauftragte Analyse der Universität Trier kam vor zwei Jahren zu dem Ergebnis, dass der Vorrang, den die öffentliche Wasserversorgung laut Gesetz genießt, von den Wasserbehörden nicht durchgehend beachtet wird. Für viele Bürger und die lokale Fridays-for-Future-Gruppe eine Unart: Coca-Cola pumpe das Wasser ab, um es in Einweg-Plastikflaschen abzufüllen, zu verkaufen und damit Gewinne zu erzielen, sagt der Lüneburger Sprecher Hirt. Dabei sei "(Grund-)Wasser Menschenrecht und daher generell wo immer möglich schützenswert". Die Gesellschaft müsse entschiedener und organisierter gegen Wasserprivatisierung vorgehen. +Weiterlesen +Der Río Bogotá ist einer der schmutzigsten Flüsse der Welt. Aber bald sollen Menschen in ihm baden können. Wie das gehen soll,zeigt unsere Multimedia-Reportage +Dass solcher Protest erfolgreich sein kann, zeigte sich zuletzt in Brüssel. Mitte Dezember 2020 hat das Europäische Parlamenteine neue EU-Trinkwasserrichtlinie verabschiedet. Diese Richtlinie regelt unter anderem, dass künftig "Einzugsgebiete von Entnahmestellen von Wasser für den menschlichen Gebrauch einer Risikobewertung und einem Risikomanagement unterzogen werden" müssen. Sie schreibt vor, dass Wasser vor Verunreinigungen geschützt werden und besser zugänglich sein muss. Und dass alle Bürger ein Recht auf verständliche und leicht zugängliche Informationen zu ihrem Trinkwasser haben. +Bis 2023 müssen diese Trinkwasserrichtlinien in nationales Recht umgesetzt werden. Sie gelten als großer Erfolg der europäischen Bürgerinitiative Right2Water. 1,8 Millionen Stimmen sammelte sie mit ihrer Kampagne 2013 – und wurde zum ersten erfolgreichen Bürgerbegehren in der Geschichte der EU. + diff --git a/fluter/guatemala-stoffmuster-diebstahl.txt b/fluter/guatemala-stoffmuster-diebstahl.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..901ad4520c73ad0642bfe43175fb95f9053c67e1 --- /dev/null +++ b/fluter/guatemala-stoffmuster-diebstahl.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Heute ist Angelina 43 Jahre alt und in Guatemala eine Berühmtheit. Zeitungen aus der ganzen Welt haben über sie berichtet, mehrere Tausend Menschen folgen ihr auf Facebook und Instagram, auf YouTube findet man Filme über sie. Der Grund für diese Bekanntheit ist ein Video, das im Juni 2016 online ging. Darin sieht man Angelina, eine kleine Frau mit glatten schwarzen Haaren, im Saal von Guatemalas Oberstem Gericht. Sie trägt ein gewebtes Oberteil voller Muster und Farben, hinter ihr warten Hunderte indigene Frauen darauf, dass sie anfängt zu sprechen. "Wir indigenen Frauen arbeiten jeden Tag hart – aber was bekommen wir dafür? Nichts. Wir sind deshalb hierhergekommen, um den Schutz unseres kulturellen Eigentums zu fordern", sagt Angelina. Als kulturelles Eigentum sehen die Frauen ihre Webarbeiten an, die eng mit der Mayakultur verbunden sind. +Denn obwohl sie von der Gesellschaft stark diskriminiert werden – die bunt gewebten Stoffe indigener Weberinnen sind nicht nur in Guatemala beliebt. Globale Modeunternehmen wie H & M verkaufen Kleidung, Schuhe und Handtaschen mit Ethno-Mustern, Zalando vertreibt Ethno-Kleider, und selbst das Dessous-Label Victoria's Secret verwendete die bunten Muster, für die Angelina Aspuac einst ausgelacht wurde – und um die seit einigen Jahren ein Kampf tobt, der sich um viele Fragen dreht: Wem gehören diese Muster, und wer darf sie tragen? Und wer verhindert, dass sie einfach nachgemacht werden? +Der Ursprung des Streits lässt sich zurückdatieren auf das Jahr 2009, als einige Weberinnen in Guatemala Besuch von zwei Designerinnen – eine davon aus Italien – bekamen, die sich sehr für Stoffe und Muster interessierten. Wenige Wochen nach diesem Besuch erhielten die Weberinnen einen Brief: Die Frauen hatten ein Patent auf die Muster angemeldet, die sie in Guatemala kopiert hatten. Die indigenen Frauen sollten sie nicht mehr verwenden. "Das war wie ein Alarm. Plötzlich wurde uns klar: Sie stehlen unsere Tradition", erinnert sich Angelina. Verzweifelt wandten sich die Frauen damals an den Staat, doch es dauerte lange, bis der sich mit dem Schutz der Indigenen beschäftigte. +Erst Mitte 2016 reichte Angelina im Namen der Organisation AFEDES, die sich für die Rechte der Indigenen einsetzt, Beschwerde beim Verfassungsgericht in Guatemala-Stadt ein. Der Staat müsse die Webkunst der Indigenen gesetzlich schützen, so lautete die Forderung. +Auf der einen Seite des Konflikts steht die internationale Modeindustrie, deren Vertreter darauf verweisen, dass sie sich von Modeideen aus der ganzen Welt inspirieren lassen und die Verwendung sogar ein Zeichen der Wertschätzung sei. Auf der anderen Seite stehen Frauen wie Angelina Aspuac, die die Konzerne anklagen: "Sie stehlen unsere Muster und verdienen Millionen damit, aber wir haben kaum genug, um zu überleben." +Die Tradition der Huipiles existiert seit vielen Jahrhunderten in Mittelamerika. Manche erinnern an Blusen, andere reichen wie eine Tunika bis zu den Knien. Es gibt Huipiles, die sich innerhalb einer Woche weben lassen, an anderen arbeiten die Weberinnen bis zu einem Jahr, abhängig von der Komplexität der Muster. Sie sind es, die die Huipiles zu etwas Besonderem machen. Manche dieser Muster werden seit Jahrhunderten überliefert, andere neu entwickelt. Sie dienen nicht nur der Ästhetik, sie sollen auch ein Spiegel der Umwelt sein, eingebettet in die Vorstellungen der Mayakultur. "Die Konzerne interessieren sich nicht für die Bedeutung der Muster. Es geht ihnen nur ums Geld", sagt Angelina. +Dabei wäre die Tradition des Musterwebens beinahe verschwunden. Bis Mitte der 1990er-Jahre wütete in Guatemala ein Bürgerkrieg. Damals wurden vor allem indigene Gruppen aus ihren Dörfern vertrieben, und immer wieder kam es zu Massakern. Viele Frauen hörten deshalb auf zu weben und die Huipiles zu tragen, um nicht als Indigene aufzufallen. Es war nicht nur das Sterben eines uralten Handwerks, es war auch das Verschwinden einerIdentität. +Als sie 20 war, spürte Angelina Aspuac zum ersten Mal die Besonderheit der Muster. Zu der Zeit lebte sie in Guatemala-Stadt, gerade erst hatte sie ihre Ausbildung beendet, als sie von einer freien Sekretärinnenstelle bei der Organisation AFEDES hörte. Seit Ende der 1980er-Jahre kämpft der Verein für die kulturelle Identität der Mayagruppen. Im ganzen Land veranstalten die Aktivistinnen Treffen mit Frauen, um ihnen das Weben beizubringen. Nachdem Angelina den Job bekam, begann auch sie, Stoffe zu weben. Für sie war das der Moment, in dem sie sich als indigene Frau nicht mehr minderwertig fühlte, sondern stolz. In der Folge reiste sie durch das Land und traf sich mit anderen indigenen Frauen. Sie hörte Geschichtenvon Ausbeutung und Diskriminierung."Ich habe gelernt, dass wir Frauen uns selbst verteidigen müssen." +Im Juni 2016 versammelten sich schließlich Hunderte Menschen vor dem Gerichtsgebäude in Guatemala-Stadt. Drinnen bereitete sich Angelina auf ihre Rede vor, sechs Minuten hatte sie, um das Anliegen der Frauen vorzutragen. Sechs Minuten, in denen sie schließlich bestimmt und deutlich die Forderungen der Frauen vortrug. Und tatsächlich: Wenige Monate da­rauf beschloss das Gericht: Die Frauen bekommen recht, die Regierung muss ein Gesetz zum Schutz der indigenen Kultur beschließen. Weltweit kämpfen auch andere Aktivisten für den Schutz ihrer Designs: Im Juni 2015 beschuldigte eine indigene Gruppe aus Mexiko die bekannte französische Modeschöpferin Isabel Marant, ihre Muster gestohlen zu haben. Auch Massai-Gruppen in Tansania und Kenia gründeten vor einigen Jahren eine Organisation, um ihre traditionellen Designs zu schützen. Und im Januar 2020 erklärte die Regierung in Guatemala endlich, man werde sich mit einem Gesetzentwurf beschäftigen. +"Mich stört es nicht, wenn Ausländerinnen unsere Kleider tragen", sagt Angelina, "uns geht es um die großen Unternehmen: Sie verdienen Geld mit unserer Kultur. Wir wollen die Rechte daran zurück." +Seit einigen Jahren studiert sie nun Jura an der Universität in Antigua und steht kurz vor ihrem Abschluss. Anschließend möchte sie die Rechte indigener Frauen als Anwältin vor Gericht vertreten. Der Kampf um die Mode – für Angelina hat er gerade erst begonnen. + +Titelbild: Bruno Morandi/laif - Julia Zabrodzka diff --git a/fluter/guck-mal-was-ich-geschossen-habe.txt b/fluter/guck-mal-was-ich-geschossen-habe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..daceb5e87d4b7757229f388741ad928427aecbb0 --- /dev/null +++ b/fluter/guck-mal-was-ich-geschossen-habe.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Sauberes Geschäft +Schon gegen Ende seiner Ausbildung war Julian Röder mit einer seiner Serien für die World Press Masterclass nominiert. Aber dann befielen ihn Skrupel, mit Bildern vom Elend der Welt schnelles Geld in der Presse zu verdienen. Er studierte noch mal und begann, konzeptioneller zu arbeiten. Was ihm auch wieder Auszeichnungen einbrachte: Seine Arbeit "Waffen für Arabien" etwa wurde mit dem Lead Award in Silber bedacht. Fotografiert hat er auf der Waffenmesse in Abu Dhabi im Jahr 2011, als an anderen Orten der arabischen Welt gerade der Arabische Frühling aufblühte. Röder gehört zurBerliner Fotografen-Agentur Ostkreuz. +www.julianroeder.com diff --git a/fluter/guelle-guelle.txt b/fluter/guelle-guelle.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/gut-informiert-durch-den-coronavirus.txt b/fluter/gut-informiert-durch-den-coronavirus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..084d8cc5cfc1edb5583d1cc4ba37058a5fd7e180 --- /dev/null +++ b/fluter/gut-informiert-durch-den-coronavirus.txt @@ -0,0 +1,34 @@ +NDR Podcast "Corona Virus Update" + +Sag alles ab! Ein Song wie eine Corona-Parole +Tocotronic ist eine Parolenfabrik ("Im Zweifel für den Zweifel", "Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein", "Aber hier leben, nein danke"). Wie für jede Lebenslage hat die Hamburger Band auch für pandemische Zeiten einen eleganten Leitsatz parat: "Sag alles ab". Als radikale Absage an die Leistungsgesellschaft lobt der Song das Nichtstun – von dessen Segen sich jetzt viele überzeugen lassen können. Auch die Bundesregierung und dasRobert Koch-Institut(hier gibt es immer aktuelle Infos) raten inzwischen dazu, Sozialkontakte und Veranstaltungen weitgehend zu meiden, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. + +Nicht nur für Statistiknerds: Warum wir jetzt handeln müssen +Bei all den Meldungen, Anweisungen und Tipps verliert man schnell den Überblick, was jede/-r Einzelne nun eigentlich tun sollte. Der Autor Tomas Pueyo beantwortet diese Frage auf seinem medium.com-Blog klar und ausführlich und wurde dafür millionenfach mit Klicks belohnt: Warum hat China vieles richtig und die USA oder Italien vieles falsch gemacht? Warum infizieren sich 40 Prozent mehr Menschen, wenn bestimmte Maßnahmen einen Tag zu spät umgesetzt werden? Wer die Hintergründe der Ausbreitung und die besten Wege der Eindämmung kennen will, sollte sich die Zeit für diesen Longread nehmen. Nebeneffekt: Man versteht endlich, wozu man im Matheunterricht Exponentialfunktionen durchgekaut hat. Sie zu verstehen kann Leben retten. +Zum englischen Originalblog +…und zur deutschen Übersetzung + +Ein Antihysterikum +Ay, Corona! Die Zahl der Corona-Neuinfektionen in Deutschland schnellt hoch. Uns hat das überrascht und verunsichert – euch auch? Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat das beste Antihysterikum: Fakten. +Hier sind Antworten auf 15 häufige Fragen aus der Bevölkerung +Für Fakteninfizierte sammeln Recherchekollektive wie Correctiv verlässliche Quellen zu Neuinfizierungen, Risikogebieten oder Auslandsreisen: +Corona-Faktsheet von Correctiv + +Atemnot macht erfinderisch +Fragt man in Apotheken nach Mundschutz, lautet die Antwort dieser Tage meist: Ausverkauft! Atemschutzmasken werden in rauen Mengen aus Kliniken gestohlen (unter anderem der Kinderintensivstation an der Berliner Charité),kiloweise aus der Türkei geschmuggeltund im Internet zu verrückten Preis verhökert. Das Absurdeste daran: Sie helfen gar nicht zwingend gegen eine Neuinfektion mit Corona. Zumindest vermindert ein Mundschutz laut Robert Koch-Institut das Ansteckungsrisiko für eine gesunde Person nicht signifikant. Manche wollen trotzdem nicht auf einen Mundschutz verzichten und basteln ihn sich selbst. Der deutsch-namibische Fotograf Max Siedentopf hat einige Provisorien abgelichtet. +Max Siedentopf: "How to survive a deadly virus" + +Do's and Don'ts: im Hausarrest +Das Gruppenreferat gestern mit einer Infizierten gehalten? Im Kino neben einem fiebrigen Huster gesessen? Oder selbst positiv auf Corona getestet? Wen es erwischt hat oder wer als gefährdet gilt, hat zwei Wochen Hausarrest. Und zwar ohne Ausnahme: kein Beinevertreten, kein Gassigehen, kein Mal-eben-Zigaretten-Holen. Wer sich nicht dran hält (Kontrollanrufe!), dem winken bis zu zwei JahreKnast. Überrascht? Dann besser hier noch mal nachgucken. +BR24: "Was bedeutet Corona-Quarantäne?" + +We are all in this together +… beziehungsweise: not in this together. Wer unter Quarantäne steht oder vorsorglich (und vorbildlich!) zu Hause bleibt, kriegt es vielleicht nicht so mit – aber draußen ist es ganz schön ruhig geworden. Diese Fotostrecke zeigt, wie gespenstisch ein Fußballstadion in Italien, ein Busbahnhof in Bangkok oder eine Kreuzung in Tokio wirkt, wenn keine Menschenseele zu sehen ist. Und auch: wie schön. + + +The Atlantic: "When Everyone Stays Home: Empty Public Spaces During Coronavirus" + +Unter die Haut +Weltweit arbeiten cirkadrei Dutzend Institute unter Hochdruck an einem Impfschutzgegen Corona. Bis es spritzbereit soweit ist, wird es aber noch mindestens ein Jahr dauern. Älteren oder chronisch kranken Menschen raten Mediziner deshalb in der Zwischenzeit zu einerPneumokokkenimpfung. Doch manche glauben, dass Impfen eher schadet als hilft. Dieses Video ist ein fundierter Crashkurs in Sachen Immunsystem. Und räumt solche Zweifel für immer aus. + +Titelbild: Mahshad Jalalianmajidi/Middle Eastern Images/laif diff --git a/fluter/gute-nachrichten-weltmeere.txt b/fluter/gute-nachrichten-weltmeere.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ac74dff589e3b9962a9db1963366e9526116eeab --- /dev/null +++ b/fluter/gute-nachrichten-weltmeere.txt @@ -0,0 +1,14 @@ + +Dufte Luft und volle Meere +Der Ozean könnte zu unserem größten Verbündeten im Kampf gegen den Klimawandel werden – und Walkot die Wunderwaffe, mit der dieser Kampf gewonnen wird. Die Idee: Der an der Oberfläche schwimmende Walkot soll als Nährboden für Phytoplankton dienen, das wiederum Kohlendioxid aus der Luft bindet und in Sauerstoff umwandelt. Positiver Beieffekt: Auch in der Nahrungskette und dem Ökosystem des Meeres spielt Phytoplankton eine zentrale Rolle. Es ist Nahrungsquelle für Fische, die dann größeren Meeresbewohnern als Beute dienen und am Ende des Kreislaufes womöglich wieder als Walkot an der Meeresoberfläche schwimmen. Forscherinnen und Forscher von der Uni Cambridge entwickeln daher künstlichen Walkot, um diesen im Indischen Ozean zu testen. Ob das Kotexperiment gelingt, wird sich in den kommenden Monaten herausstellen. + +Lämpchen an +Jährlich sterben Tausende von Walen, Delfinen und anderen Meeresbewohnern ungewollt in Fischernetzen. Wie Forscherinnen und Forscher der University of Arizona zeigen konnten, gibt es eine simple und gleichzeitig effiziente Lösung, um dieses Massensterben zu reduzieren: Kleine, grün leuchtende LED-Lämpchen, alle zehn Meter an den Netzen befestigt, halten insbesondere Haie, Rochen, Kalmare und Meeresschildkröten ab, sich darin zu verfangen. Für die Fischerei ebenfalls ein Gewinn, denn man kann in Zukunft viel Zeit beim Einholen der Netze und dem Aussortieren des Beifangs sparen. + +Superfood Seegras +Seegras könnte gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und nicht nur den Welthunger bekämpfen, sondern den Klimawandel gleich mit. Die Samen des Seegrases sind Reis nicht unähnlich und verfügen über einen reichen Nährstoffgehalt. Sternekoch Ángel Léon aus Andalusien und das Meeresbiologische Institut der Uni Cádiz haben das Gras nun auf 3.000 Quadratmetern angebaut – ein großer Erfolg, denn das Seegras ist zuletzt durch Parasitenbefall und Umweltverschmutzung selten geworden. Und ganz nebenbei beleben Seegraswiesen den Meeresboden, sie senken den Kohlenstoffgehalt, mildern Fluten und könnten so langfristig derErhöhung des Meeresspiegelsentgegenwirken. + +Alternativer Antrieb +E-Mobilität– ein großes Schlagwort, insbesondere im Straßenverkehr, aber nicht so leicht übertragbar auf das Meer mit seinen großen Distanzen. E-Fähren, die zwischen kürzeren Strecken hin- und herpendeln, sind da schon gängiger, aber auch im Frachtverkehr bewegt sich etwas. Der erste vollelektrische und zukünftig autonom fahrende E-Frachter, die "Yara Birkeland", ist 2021 in Norwegen vom Stapel gelaufen. 120 Container kann das Schiff über kurze Distanzen transportieren und damit pro Jahr etwa 40.000 Lkw-Fahrten ersetzen. Angetrieben wird die "Birkeland" mit Strom aus Wasserkraft. Noch einen Schritt weiter geht der Extremsegler Yvan Bourgnon. Er arbeitet mit dem Verein "The Sea­Cleaners" an einem Segler, der nicht nur durch Solarenergie, sondern auch durch aus dem Meer gefischtes und erst in Gas und danach in Strom umgewandeltes Plastik angetrieben werden soll. + +Titelbild: Waterframe/picture alliance diff --git a/fluter/guten-appetit.txt b/fluter/guten-appetit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/guter-kampf.txt b/fluter/guter-kampf.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..461c34714bf04ccd2f1ce339db94b5470f865bf3 --- /dev/null +++ b/fluter/guter-kampf.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Der Irak musste sich schließlich aus Kuwait zurückziehen, Diktator Saddam Hussein aber blieb an der Macht und lieferte den USA 2003 erneut Gründe zum Einmarsch. Die Regierung von George W. Bush, dem Sohn von George Bush, bezichtigte Saddam, Kontakte zum Terrornetzwerk al-Qaida zu haben. Im Vorfeld dieses weiteren Krieges behaupteten die USA, dass der Irak über transportable Biowaffenlabore und ein geheimes Atomprogramm verfüge. Als Beweis dafür präsentierte der damalige Außenminister Colin Powell am 5. Februar 2003 im UN-Sicherheitsrat Satellitenfotos und Tonbandmitschnitte. Sechs Wochen später begann der Krieg, den George W. Bush bereits am 1. Mai 2003 wieder für beendet erklärte, wobei die Kämpfe jahrelang weitergingen und bis heute kein echter Frieden herrscht. +Ein US-amerikanischer Untersuchungsausschuss kam später zu der Erkenntnis, dass die angeführten Gründe für den Waffengang weitgehend haltlos gewesen seien und es keine Massenvernichtungswaffen gegeben habe. "Die Wahrheit ist das erste Opfer des Krieges", hatte der kalifornische Senator Hiram Johnson bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts treffend erkannt. +Zur Zeit der Irakkriege hatte die US-Regierung bereits jahrzehntelang Erfahrung mit der Lenkung der freien Presse gemacht. Der Kalte Krieg, bei dem die USA und die Sowjet union um die globale Vorherrschaft rangen, war nicht nur eine Zeit irrwitziger Aufrüstung, er war auch eine Hochphase ideologischer Kämpfe: Hier die bösen Kommunisten, dort der freie Westen – so lautete verkürzt gesagt die Botschaft der US-Propaganda, bei deren Verbreitung im Laufe der Jahrzehnte zunehmend die Medien störten. Waren die Journalisten im Ersten und Zweiten Weltkrieg noch als treue Verbreiter von Geschichten über tapfere Helden in Erscheinung getreten, entwickelte sich die Presse seit den 1950er-Jahren zunehmend zu einer kritischen Instanz. Durch unerschrockene Fotoreporter und die rasche Verbreitung des Fernsehens gelangte plötzlich die furchtbare Realität des Krieges direkt in die Wohnzimmer. So führten die Berichte über niedergebrannte Dörfer und Erschießungen auf offener Straße im Vietnamkrieg zu einem Umschwung in der öffentlichen Meinung und zum Anwachsen der Friedensbewegung. Die Behauptung vom gerechten Kampf für eine freie (vor allem kommunismusfreie) Welt war nicht mehr haltbar. +Die Erfahrungen aus dem Vietnamkrieg führten später dazu, dass die US-Regierung in weiteren Konflikten penibel darauf achtete, was die Journalisten zu sehen bekamen und was nicht. Als besonders krasses Beispiel für Zensur gilt der Einmarsch der US-Army im karibischen Inselstaat Grenada, dessen enge Kontakte zum kommunistischen Kuba den USA missfielen. In den ersten Tagen der Invasion im Herbst 1983 wurde Journalisten der Zugang zur Insel strikt verweigert, anschließend gab es die sogenannte Pool-Regelung, für die die US-Regierung einzelne Pressevertreter auswählte. Nach der Rückkehr hatten sie ihr Material mit den anderen Kollegen zu teilen. Die Fotoagenturen waren sogar ausschließlich auf Militärmaterial angewiesen. +Die Pool-Regelung setzte sich in der Folge durch und kam auch im Krieg gegen den Irak 1991 zum Einsatz. In diesem Konflikt setzte die US-Regierung nicht nur auf Schauergeschichten von ermordeten Frühgeborenen, sondern auch auf die Wirkung von ausgewählten Bildern aus den Kampfgebieten, die in unblutiger Videospielästhetik zeigten, wie treffsicher amerikanische Bomben militärische Ziele trafen. Diese sogenannten chirurgischen Einsätze in einem schnellen, sauberen Krieg entpuppten sich freilich größtenteils als Mär. So gab es weitaus mehr zivile Opfer, als der beschönigende Begriff "Kollateralschaden" vermuten ließ. +Aufgrund der Proteste der Presse gegen die Restriktionen im Golfkrieg entschied die US-Regierung, ihre Pressestrategie im nächsten Irakkrieg zu ändern. An die Stelle der Pool- Regelung traten 2003 die "embedded reporters" – die eingebetteten Reporter. Journalisten durften nun grundsätzlich Kriegsschauplätze besuchen, allerdings eng begleitet durch das Militär, das Orte und Interviewpartner sorgfältig aussuchte. Das diente zum einen durchaus der Sicherheit der Reporter, andererseits stellte das Pentagon (Sitz des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums) sicher, dass vor allem die Version der US-Regierung in die Medien kam. Dass dies bis heute nicht immer gelingt, ist vor allem das Verdienst unabhängiger Reporter wie des "New York Times"-Journalisten Dexter Filkins, der als eingebetteter Reporter über den Tod einer irakischen Frau berichtete. Auf die Frage, warum er die Frau erschossen habe, antwortete ihm ein US-Soldat: "Das Herzchen stand einfach im Weg." Eine Aussage, die das Pentagon wohl sehr gern vermieden hätte. diff --git a/fluter/guter-moslem-schlechter-moslem.txt b/fluter/guter-moslem-schlechter-moslem.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b64a5f6acd53d07f8ca81a7bcfc1640c2e348140 --- /dev/null +++ b/fluter/guter-moslem-schlechter-moslem.txt @@ -0,0 +1,6 @@ + +Michel Houellebecq hat wieder einmal einen unheimlich unsympathischen Protagonisten erschaffen, dessen Flucht vor seiner zunehmenden Erschlaffung man beiwohnen darf. Diesmal besteht der Ausweg nicht wie in früheren Houellebecq-Büchern im Sextourismus nach Thailand oder im Gang in den Swingerclub. Diesmal ist es die Überlegung, ob ein islamisches Frankreich nicht auch ganz schön wäre – zwar mit einem Arbeitsverbot für Frauen, dafür aber mit vielen Annehmlichkeiten für Männer; darunter mehrere Ehegattinnen und eine gut bezahlte Professur an der islamischen Sorbonne. Denn wie alle wichtigen gesellschaftlichen Institutionen Frankreichs wird sich auch die Pariser Eliteuniversität in Houllebecqs Szenario von der nahen Zukunft seines Landes islamisieren. +Für François, der eh mit alten Geschlechterrollen liebäugelt, hat dieser Ausblick durchaus Charme. Er fühlt sich nach seiner Dissertation über den französischen Schriftsteller Joris-Karl Huysmans, dessen Bücher ähnlich handlungsarm wie François' Leben sind, schon länger intellektuell erloschen. Seine letzte Liebesbeziehung hat er maximal unromantisch auslaufen lassen. Da trifft es sich gut, dass sich wenigstens in der Politik einiges tut: Sozialisten und Konservative helfen aus Angst vor einer Präsidentin vom rechten Front National einem muslimischen Präsidenten ins Amt, der als Erstes die Universitäten mit mehr Geld ausstattet und auch ansonsten anziehender wirkt als das politische Establishment (wobei Houellebecq weder im Buch noch in Interviews einen Hehl daraus macht, dass er den amtierenden Staatspräsidenten François Hollande für den größten Versager hält). Nach einem kurzen Bürgerkrieg, in dessen Verlauf der Antiheld des Buches auch mal über eine Leiche steigen muss, kommt er ins Grübeln. Ist im Vergleich zu den materialistischen, empathielosen Gesellschaften der westlichen Industrieländer selbst ein homophober und frauenfeindlicher Islam nicht sogar sinnstiftend? Bei der Beantwortung dieser Frage macht es sich François wahrlich nicht leicht. Er geht sogar in ein Kloster, um zu schauen, ob die Reset-Taste für sein Leben nicht eher in der Bibel als im Koran zu finden ist. + +Ob dies ein pro- oder antiislamisches Buch sei, wird Houellebecq nun ständig gefragt. Aber so einfach ist es nicht. Das Beharren auf einer bipolaren Deutung beweist eigentlich nur den Unwillen vieler Kritiker, auch die Werte des Westens in Frage zu stellen. Es zeigt sich darin derselbe Konfessionsdruck, der derzeit auf viele Muslime ausgeübt wird, die sich bitte schön vom Terrorismus distanzieren sollen. +Im Grunde genommen aber geht es in diesem Buch nicht um den Islam, sondern um die moralische Zermürbung unserer Welt. Es geht um den Terror von Opportunismus und Überdruss. Darum, ob die westlichen Moralapostel automatisch besser sind als die Muslimbrüder. Gut, dass diese Frage mal jemand stellt. diff --git a/fluter/guter-russe.txt b/fluter/guter-russe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/guter-stoff-0.txt b/fluter/guter-stoff-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2fe2eee16a52b927bc4837cb37f621d1be53ce50 --- /dev/null +++ b/fluter/guter-stoff-0.txt @@ -0,0 +1,18 @@ + +An seinem 30sten Geburtstag wird Josef K. verhaftet und angeklagt. Den Grund dafür erfährt er nicht, er bleibt aber auf freiem Fuß. Dennoch nimmt ein (heute würde man sagen: kafkaesker) Prozess seinen Gang, an dessen Ende Josef K. von zwei Schergen abgeholt und in einen Steinbruch geschleppt wird – wo man ihn ersticht. +Funfaktor:  Spannung: ****  Erotik: ** Bildung: ***** + +Der lange Zeit erfolglose Fischer Santiago fängt einen riesengroßen Marlin, zu dem er beim tagelangen Ringen eine besondere Beziehung bekommt. Auf dem Heimweg wird der Marlin von Haien bis auf das Skelett abgenagt. Hemingway hat mit dem Buch eine Erzählung über das Verhältnis von Mensch und Tier geschrieben. +Funfaktor: ***  Spannung: ****  Erotik: * Bildung: **** + +Auf dem Planeten Solaris stoßen die Forscher auf eine Art Avatare – Wiedergänger von auf der Erde verstorbenen Personen. Das bringt sie durcheinander, lässt sie aber auch über das Menschsein an sich nachdenken. Am Ende werden die Avatare zerstört. Der Pole Stanisław Lem gilt als einer der bedeutendsten Science-Fiction-Autoren. +Funfaktor: ***  Spannung: ***  Erotik: ** Bildung: **** + +Alle sehen in der Zeichnung des Erzählers einen Hut, nur ein von einem Asteroiden stammender Prinz sieht das, was es sein soll: eine Riesenschlange, die einen Elefanten verdaut. Die beiden freunden sich an, bis der Prinz nach einem Schlangenbiss verschwindet. Antoine de Saint Exupéry kehrte 1944 von einem Flug nicht zurück. +Funfaktor: ***  Spannung: **  Erotik:  Bildung: **** + +Ein paar tote Ratten und ein paar Kranke künden in der algerischen Stadt Oran von der Pestseuche, die dann Tausende dahinrafft. Ein Arzt kämpt erfolglos dagegen an, während der Pfarrer die Seuche als Strafe Gottes sieht. +Funfaktor: * Spannung: ****  Erotik: *  Bildung: **** + +Die Landstreicher Estragon und Wladimir warten an einer Landstraße auf eine Person mit dem Namen Godot, die sie nicht kennen und die auch nie kommt. Estragon: Komm, wir gehen! Wladimir: Wir können nicht. Estragon: Warum nicht? Wladimir: Wir warten auf Godot. Estragon: Aah! fluter sagt: große Kunst! +Funfaktor:  Spannung: **  Erotik:   Bildung: ***** diff --git a/fluter/guter-stoff.txt b/fluter/guter-stoff.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..22751bc23216fdf7ceb2ac41a5b3a7ff8a53366a --- /dev/null +++ b/fluter/guter-stoff.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Ohnehin sucht man im Handel meist vergebens nach anerkannten Produktionssiegeln – wie von Global Organic Textile Standard (GOTS), Naturleder IVN zertifiziert oder Naturtextil IVN zertifiziert Best (IVN steht für Internationaler Verband der Naturtextilwirtschaft). Anders als Eier-Erzeuger sind T-Shirt-Produzenten nicht zu einer überprüfbaren oder einheitlichen Kennzeichnung der Produktionsfaktoren verpflichtet. Tatsächlich genutzt werden die Siegel eher auf dem Nischen- statt dem Massenmarkt. Das belegt auch diese Zahl: Zwar steigt die Nachfrage nach Bio-Baumwolle, doch der Anteil des ökologisch produzierten Rohstoffs wird weltweit aufein Prozentoder gar darunter geschätzt. +Tatsächlich sind in der globalen Wertschöpfungskette oft so viele Subunternehmen eingebunden, dass Kontrolle und Bestrafung zur Herkulesaufgabe werden. Drastisch hat das 2013 der Einsturz des riesigen Geschäfts- und Fabrikgebäudes Rana Plaza in Bangladesch gezeigt, bei dem mehr als 1100 Menschen ums Leben kamen, vor allem Textilarbeiter. Dass auch Firmen, die in Deutschland verkaufen, in dem Gebäude produzieren ließen, ist unstrittig. Aber direkt beschäftigt waren die Opfer bei diesen Unternehmen nicht. Wer also ist wofür verantwortlich? Nicht zuletzt die Tragödie um das Fabrikgebäude war Anstoß für dasTextilbündnis, dem inzwischen dann doch immer mehr Produzenten und Verbände beigetreten sind. Unter ihnen finden sich globale Konzerne wie Adidas ebenso wie das schwäbische Familienunternehmen Trigema. Kritikern, etwa von Greenpeace, gehen dieZieledes Bündnisses nicht weit genug: jede Menge guter Vorsätze, aberkaum konkrete Vereinbarungen.Um soziale, ökologische und ökonomische Verbesserungen entlang der Textillieferkette voranzubringen, hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung 2014 das "Bündnis für nachhaltige Textilien" initiiert. Angestrebt wird von Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) unter anderem ein Siegel, das soziale und ökologische Standards in der Produktionskette festschreibt. Kaum war es publik geworden, hatte das Projekt schon ein Problem: Den einen geht es zu weit, den anderen nicht weit genug. Manche sehen Belange des Umweltschutzes nicht ausreichend berücksichtigt, andere halten dieÜberwachung der Produktionsketteschlicht für undurchführbar. +Nachhaltigkeit funktioniert in der Mode offenkundig nur als Zusatz. Da liegt der Unterschied zum Ei: Viele versprechen sich mit der Entscheidung für Öko auch einen guten Geschmack. Wenn es aber um Kleidung geht, bedeutet ökologisch und sozial nicht notwendigerweise, dass man schick angezogen ist. Welche Fashionista denkt bei einem Kleid, für das sie sterben möchte, schon an Ökobilanz und Kinderarbeit?Eine bereits existierende Zertifizierung anderer Art ist die derFair Wear Foundation (FWF). Die international operierende Organisation hat das Ziel, die Arbeitsbedingungen von Textilarbeitern zu verbessern. Die FWF stellt für die beigetretenen Unternehmen einen Entwicklungsplan mit Arbeitsschritten für die Verbesserung der Bedingungen in der Wertschöpfungskette auf. Die Fortschritte werden jährlich überprüft, die Ergebnisse veröffentlicht. Unter den Firmen, die sich dem Monitoring der FWF unterwerfen, sind Discounter wie das deutsche Unternehmen Takko und die schwedischen Designmarken Filippa K und Acne. Auch hier gilt: Offensiv werben tun sie mit ihren Bemühungen nicht. +Und doch gibt es Möglichkeiten, sich ein gutes Gefühl zu verschaffen und etwas zu tun: Secondhand kaufen, Teile tauschen, selber machen. Und beim Einkaufen neuer Klamotten: Fragen stellen, Fragen stellen, Fragen stellen. +Je mehr sich die Berliner Autorin Katrin Weber-Klüver mit Mode befasst, desto mehr rätselt sie, warum sich so viele Menschen so wenig für Qualität begeistern. diff --git a/fluter/gutes-recht.txt b/fluter/gutes-recht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/ha-hitler-war-auch-vegetarier.txt b/fluter/ha-hitler-war-auch-vegetarier.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/haben-sich-taliban-ver%C3%A4ndert-faq.txt b/fluter/haben-sich-taliban-ver%C3%A4ndert-faq.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..eb97eab90d78cb00f5832dcea3ce7de5df8872ae --- /dev/null +++ b/fluter/haben-sich-taliban-ver%C3%A4ndert-faq.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Nach dem Abzug der Sowjets 1989 und dem Fall des letzten kommunistischen Regimes in Kabul 1992 bekämpften sich die Mudschahedin dann gegenseitig. Sie stürzten das Land in einen Bürgerkrieg, der mit dem Aufstieg der Taliban und ihrer ersten Herrschaft endete. Das Talibanregime schränkte die Rechte der Afghanen massiv ein, unterdrückte Frauen, verbot Film und Musik. Ihre fünfjährige Herrschaft fand mit Beginn des NATO-Militäreinsatzes nach den Anschlägen des 11. September 2001 ihr (vorläufiges) Ende. + + +Der sogenannte "Krieg gegen den Terror" der USA in Afghanistan hatte weitreichende Auswirkungen. Kurz nach ihrem Einmarsch verbündeten sich die US-Amerikaner mit fragwürdigen Akteuren, darunter brutale Warlords und korrupte Politiker wie Afghanistans Ex-Präsident Hamid Karzai. Sie waren im Grunde auch in den 1990er-Jahren für den Aufstieg der Taliban mitverantwortlich, die viele Afghanen anfangs als eine Art brutale Ordnungsmacht wahrnahmen. Sie höhlten Institutionen für ihre persönlichen Interessen aus und nutzten die Hilfsgelder in Milliardenhöhe, um sich zu bereichern. Im "Krieg gegen den Terror" wurden UN-Schätzungen zufolge über 55.000 Zivilistinnen und Zivilisten in Afghanistan verletzt oder getötet. Die Korruption und die im Land vorherrschende Gewalt trieben viele Menschen in die Arme der Taliban. +Die afghanische Armee hat jahrelang gegen die Taliban gekämpft. Am Ende wurde aber auch sie von der Korruption in Kabul eingeholt. Viele Soldaten existierten etwa nur auf dem Papier, während andere monate- oder gar jahrelang ohne Sold, ausreichend Munition und Nahrung kämpfen und ausharren mussten. Gleichzeitig fand eine Entfremdung zwischen den einfachen Soldaten an der Front und den korrupten Machthabern in der sogenannten "Kabuler Blase" statt. Auch der Abzug der US-amerikanischen Soldaten und die zahlreichen Verluste im andauernden Krieg untergruben die Moral der afghanischen Armee. +Die Taliban haben sich in vielerlei Hinsicht verändert, vor allem im Umgang mit Medien und Technologie. Mittlerweile wissen sie, wie man sich auf der politischen Weltbühne verhält und pflegen seit Jahren Kontakte zu den verschiedensten Regierungen. Ideologisch handelt es sich aber immer noch um die Taliban der 1990er-Jahre: Nahezu die gesamte Führungsriege der Extremisten besteht aus dem nahen Umfeld des mittlerweile verstorbenen Talibangründers Mullah Omar. Die Taliban streben ein autoritäres Regime an. Ihre Regierung besteht ausschließlich aus Talibanmitgliedern. Außerdem haben die Taliban ein Legitimationsproblem in Afghanistan, weil sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten hauptsächlich einen Guerillakrieg führten und für zahlreiche terroristische Anschläge verantwortlich waren. +Nach der Rückkehr der Taliban – deren Regime gerade ausschließlich aus Männern besteht – wurde das Frauenministerium abgeschafft. Das war offiziell für die Repräsentation afghanischer Frauen zuständig. Laut einem Dekret dürfen Frauen gerade ohne männliche Begleitung keine Flugreisen antreten. Sonst unterscheidet sich ihre Situation von Region zu Region. In vielen Provinzen dürfen Mädchen und junge Frauen nicht mehr zu weiterführenden Schulen oder Universitäten. Frauenproteste wurden von den Taliban zuletzt brutal niedergeschlagen, Frauenrechtsaktivistinnen entführt und sogar getötet. Offiziell bestreiten die Taliban, dass sie damit in Verbindung stehen. Sie bemühen sich um ein frauenfreundlicheres Image, das viele Beobachter für unglaubwürdig halten. + + +Seit ihrer Rückkehr haben die Taliban Widerstandskämpfer in weiten Teilen Afghanistans vollständig entwaffnet. Die sogenannten "Nationalen Widerstandsmilizen" (NRF) um Ahmad Massoud, Sohn des Mudschahedin-Kommandanten Ahmad Schah Massoud, konnten sich nur kurzzeitig verteidigen und spielen im bewaffneten Konflikt mittlerweile keine Rolle mehr. Da sie mit den korrupten Warlord-Strukturen des vorherigen Regimes verbunden waren, werden sie von der lokalen Bevölkerung kaum unterstützt. +Eine Gruppe, die die Taliban bedroht,ist die afghanische Zelle des IS, der seit einigen Jahren auch in Afghanistan präsent ist.Die beiden Gruppen bekämpfen einander seit Jahren. Der IS, der religiöse Minderheiten wie Schiiten oder Sikhs jagt, gilt als deutlich radikaler als die Taliban. Er betrachtet selbst die Taliban als "vom Glauben abgefallen", weil die vor zwei Jahren mit der US-Regierung an einem Tisch saßen und einen Friedensdeal (Doha-Abkommen) unterzeichneten. Beide Gruppen unterscheiden sich auch ideologisch voneinander: Die nationalistisch-islamistische Agenda der Taliban reicht nicht über die Grenzen Afghanistans hinaus.Der IS dagegen strebt ein globales dschihadistisches Kalifat an. +Viele Staaten um Afghanistan herum, zum Beispiel Pakistan, Iran oder China, haben sich bereits vor Jahren mit den Taliban arrangiert – und unterstützen sie auch. Ähnlich könnten sich jetzt auch immer mehr westliche Staaten verhalten.Die EU hat etwa begonnen, wieder eine minimale Präsenz in Afghanistan aufzubauen.Der größte Hebel liegt weiter in den Händen der USA: Wegen des Kriegsausgangs sanktionieren sie das Talibanregime, treffen damit aber in erster Linie Millionen von afghanischen Zivilistinnen und Zivilisten. Da praktisch kein Staat in der Region demokratisch regiert wird, werden sich wohl irgendwann auch in Washington, Brüssel und andere westliche Zentren mit dem Gedanken anfreunden müssen, mit den Taliban zusammenzuarbeiten. + +Titelbild: Daniel Etter/laif diff --git a/fluter/haben-wir-denn-alle-einen-knall.txt b/fluter/haben-wir-denn-alle-einen-knall.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1c3f250121c72f13baae146e82ea485ee3f6d652 --- /dev/null +++ b/fluter/haben-wir-denn-alle-einen-knall.txt @@ -0,0 +1,34 @@ +Erst mal sind Waffen zum Töten da. Ja. Aber wenn man sich anschaut, wo legale Waffen heute in der deutschen Gesellschaft verwendet werden, dann ist das einerseits die Jagd, wo natürlich Tiere getötet werden, und zweitens gibt es das traditionell tief verwurzelte Sportschützenwesen. Dort geht es nicht um das Töten, und es ist auch nicht als Vorbereitung auf das Töten gedacht, sondern es hat rein sportliche Zwecke. +Spielt Aggression bei Jägern eine Rolle? +Wir haben Untersuchungen zur Persönlichkeitsstruktur von Jägern gemacht. Dabei haben wir festgestellt, dass das Aggressionspotenzial bei aktiven Jägern geringer ist als das in der Durchschnittsbevölkerung. Jäger gehen primär nicht auf die Jagd, weil sie ihrem Aggressionstrieb nachkommen und unbedingt töten wollen, sondern weil sie in der Natur sein wollen. +Aber man kann auch zum Pilzesammeln in den Wald gehen. +Das ist richtig. Jäger haben das Bedürfnis, möglichst eng mit der Natur, mit dem Wald und mit den Tieren verbunden zu sein. Und dazu gehört auch seit Urzeiten das Töten, aber nicht nur. Das verändert sich auch im Laufe des Alters. Junge Jäger fiebern ihrer ersten Erlegung entgegen, während es bei älteren Jägern durchaus vorkommt, dass sie nicht schießen, auch wenn sie die Gelegenheit dazu haben. +Wir sprechen ja jetzt von Schusswaffen. Aber es gibt natürlich eine Menge anderer legaler Waffen wie Armbrüste, Messer oder Macheten, die relativ frei erhältlich sind. +Die man aber nicht auf der Straße führen darf. +Genau. Aber woher stammt die Faszination des Menschen für die Waffe? +Waffen hatten immer eine lebenserhaltende Bedeutung. Waffen haben die Lebensgrundlage für die Familie oder für den Stamm gesichert. Deswegen wurde aus Waffen häufig ein Kult gemacht. Bei Indianern sind Speere verehrt worden. Und das hat sich ein Stück weit erhalten. Es gibt Untersuchungen über Jungen in unterschiedlichen Kulturkreisen, die im Kindesalter aus Ästen beispielsweise Speere schnitzen. Die Bedeutung der Waffe steckt also tief in uns drin. +Das heißt: Es bringt nichts, Kindern das Spielen mit Waffen zu verbieten? +Ich habe mich ja früher als Kriegsdienstverweigerer auch dafür eingesetzt, dass Waffen aus den Kinderzimmern verschwinden. Das war ideologisch geprägt. Und im Nachhinein würde ich sagen: Diese Aktionen waren nicht menschengerecht. +Es ist also nichts dagegen einzuwenden, wenn Kinder mit Plastikgewehren spielen? +Überhaupt nicht. Das Spielen mit Waffen führt nicht zwangsläufig dazu, dass sich jemand zu einem Amokläufer oder Waffennarr entwickelt. Waffen an sich machen nicht krank. Und diese Faszination für Waffen im Kindesalter vergeht auch wieder. +Auch in Computerspielen wird ja gern geballert. Fördert so etwas die Aggression? +Wenn man sich anschaut, welcher Shooter-Spieler tatsächlich jemanden mit einer Waffe verletzt oder getötet hat: Also diese Zahl ist verschwindend gering. Natürlich kommt diese Diskussion auf, wenn man erfährt, dass Amokschützen wie Robert Steinhäuser Shooter gespielt haben. Aber das tun 70 Prozent der männlichen Jugendlichen. +Spiele oder Waffen wirken also nicht als Aggressionsbeschleuniger? +Das ist reine Ideologie. Es ist nicht populär, das zu sagen. Aber wie Mädchen lieber zu einer blonden Barbie greifen, nehmen Jungs halt lieber eine Knarre in die Hand. Jungs wollen sich mächtig fühlen. Wie eben die Krieger, die früher ausgezogen und mit einem erlegten Mammut zurückgekehrt sind und denen dafür Respekt entgegengebracht wurde. Und natürlich posieren Jungs deswegen heute noch gern mit Waffen. Das bedeutet aber nicht, dass sie dann tatsächlich auf Menschen schießen. Überhaupt wünsche ich mir, dass man in der Diskussion über Waffen sehr viel sachlicher an das Thema herangehen würde – und bitte nicht ideologisch. +Das klingt für mich aber doch ein bisschen sehr nach Geschlechterklischees. Sind die einer sachlichen Debatte nicht eher abträglich? +Nein, im Gegenteil. Klischees sind Vorurteile, die einer Überprüfung an der Realität nicht standhalten. Um ein solches Klischee handelt es sich, wenn wir die Geschlechterunterschiede, gerade die angeborenen, künstlich wegdiskutieren, weil sie nicht in unser Wunschdenken passen. Ich halte es für aufrichtiger, diese Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen auch offen zu benennen, und wir kommen dann einer sachlichen Diskussion über die zeitweise Faszination für Waffen von Jungen auch näher; wir würden dann auch erkennen können, dass es sich um eine Entwicklungsphase handelt, von der keine echte Gefahr ausgeht. Ich denke, das würde die gesamte Diskussion um Waffen und ihre Bedeutung in unserer Gesellschaft entspannen. +Nach Amokläufen wie in Erfurt und Winnenden wird ja häufig eine Verschärfung des Waffengesetzes gefordert. Sind solche Rechtsverschärfungen überhaupt eine Garantie für die Sicherheit vor Waffen? +Nein. Das wäre nur dann möglich, wenn sämtliche Waffen aus der Zivilgesellschaft verschwinden würden. Das ist einfach unrealistisch. Die Waffengesetze, die wir in Deutschland haben, sind absolut hinreichend. Auch für eine Liberalisierung des Waffengesetzes gibt es keine Notwendigkeit. Wir wollen hier keine amerikanischen Verhältnisse. Wir haben andere kulturelle Voraussetzungen. In den USA geht die Kultur auf die Zeit des Wilden Westens zurück, als die Siedler mit der Waffe in der Hand Land erobert und verteidigt haben. Deswegen heißt es dort bis heute, dass man sein Land und seine Familie mit der Waffe beschützen dürfe. Diese Tradition hat nichts mit Deutschland zu tun. +Das Problem sind ja auch nicht die legalen Waffen, oder? +Die meisten Straftaten in Deutschland werden mit illegalen Waffen verübt. Und deren Besitz ist leider überhaupt nicht zu kontrollieren. Als die sowjetischen Soldaten aus der ehemaligen DDR abgezogen sind, haben sie häufig ihre Pistolen samt Munition verkauft. So sind Zehntausende Waffen auf dem Schwarzmarkt gelandet. Mit polizeilichen Mitteln kann man das kaum noch kontrollieren. Das ist keine schöne Wahrheit. Aber wir wollen ja auch keine falschen Sicherheitsgefühle hervorrufen. +Und wie viele Tötungsdelikte werden mit legalen Schusswaffen verübt? +Nur 0,6 Prozent. Die meisten Tötungsdelikte sind innerfamiliäre Eskalationen. Und da geht jemand, der zum Beispiel Jäger ist und deshalb eine Waffe besitzt, ja nicht an seinen Tresor, schließt auf, holt die Büchse heraus und erschießt damit seine Frau. In dieser Zeit wäre der Affekt längst verpufft. Meistens greift man dann eben in den Messerblock und zieht das Fleischermesser heraus. +Während Amokläufe viel länger geplant sind. +Genau. Amokläufe sind keine Affekttaten. Die sind lange vorbereitet und haben eine ganz andere psychische Verfassung des Täters zur Grundlage. Das sind meistens Leute mit einer depressiven Persönlichkeitsstruktur, die abgerutscht sind, sich von der Welt ungerecht behandelt gefühlt haben und sich rächen wollten. Das Rachemotiv ist dabei entscheidend. Diese Fälle sind selten und kann man nicht als Beispiel für das Tötungsdelikt schlechthin nehmen. +Kann man eine Neigung zum Waffenmissbrauch denn tatsächlich mit Hilfe eines psychologischen Tests, wie Sie ihn für Jäger oder für Mitarbeiter von Sicherheitsfirmen entwickelt haben, feststellen? +Ja. Unsere Diagnostika und Fragebögen geben Aufschluss über die Persönlichkeitsstruktur. Für die Erstellung dieser Tests lagen uns Daten von Legal- und Illegalwaffenbesitzern vor und von solchen, die wegen einer Körperverletzung oder einer Tötung mit einer Schusswaffe im Gefängnis gesessen haben. Zu den Fragen in den Tests sagen wir aber nichts, da man sich sonst auf die Tests einstellen könnte. +Eine Frage zum Schluss. Haben Sie persönlich ein Faible für Waffen? +Ich habe kein Faible für Waffen, aber ich bin selbst als aktiver Jäger Legalwaffenbesitzer. Dabei betrachte ich die Flinte und die Büchse als Handwerkszeug, wie ein Schreiner seinen Hobel und seine Schraubzwinge; ich habe also kein erotisches Verhältnis zu meinen Jagdwaffen. + +Dietmar Heubrock ist Direktor des Instituts für Rechtspsychologie an der Universität Bremen. In seiner Arbeit beschäftigt er sich u. a. mit der Prävention von Attentaten im öffentlichen Raum, Gefährdungsanalysen bei Bedrohungslagen und mit der psychologischen Begutachtung der persönlichen Eignung und der geistigen Reife zum Waffenbesitz nach dem Waffengesetz. Bei der Novelle des Waffengesetzes war er Sachverständiger vor dem Innenausschuss des Deutschen Bundestages. +Die Fotografen Miguel Hahn und Jan-Christoph Hartung leben in Madrid und Berlin. Ihre ArbeitFirearms and Soap Bubbles zeigt private Waffenbesitzer in Deutschland. diff --git a/fluter/hacken-gegen-den-is.txt b/fluter/hacken-gegen-den-is.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ed0d6da4dc83fd19d67cc48fcfdde088d4262379 --- /dev/null +++ b/fluter/hacken-gegen-den-is.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Es spricht viel dafür, dass Twitter nicht untätig ist. Im April löschte das Unternehmen nach eigenen Angaben 10.000 Accounts mit Bezug zum IS wegen Verletzung der Nutzungsbedingungen. Das Problem dabei ist jedoch, dass die Löschungen oft nur zu Katz- und Maus-Spielen führen. Viele Nutzer eröffnen ihre Accounts innerhalb weniger Tage unter anderen Namen, werden von ihren ehemaligen Followern wiedergefunden und setzen ihre Propaganda fort. +Die Social-Media-Aktivitäten von IS-Sympathisanten und -Mitgliedern sind vermutlich auch ziemlich interessant für Geheimdienste aus verschiedenen Ländern. Sie können über nicht direkt sichtbare, aber trotzdem bei Tweets mitgelieferte Daten über Standorte und Zeitzonen gut analysieren, welche Akteure miteinander kommunizieren und wo sie sich befinden – sofern die Urheber der Tweets keine Verschlüsselungstechniken benutzen. +Twitter zeigte sich bislang nur mäßig motiviert, die Inhalte auf seiner Plattform konsequent zu zensieren. Die US-Firma hat eine recht liberale Vorstellung davon, was in ihrem Kurznachrichtendienst erlaubt sein sollte und was nicht. In den Twitter-Regeln heißt es immerhin:"Du darfst keine Gewaltandrohungen gegen andere veröffentlichen oder posten oder Gewalt gegen andere fördern."Eine automatisierte Löschung etwa von Tweets, die einen bestimmten Inhalt haben, hat das Unternehmen jedoch noch nicht ins Auge gefasst. Facebook steht wegen eines ähnlich lockeren Ansatzes in Deutschland stark in der Kritik, weil das Portal nach Ansicht vieler Politiker,etwa des Justizministers Heiko Maas, zu wenig gegen rassistische Kommentare auf seinen Seiten unternimmt. +Um Inhalte zu löschen, die zum Beispiel gewalttätige Drohungen enthalten, setzt Twitter auf die Mitarbeit anderer Nutzer. Viel spricht dafür, dass die Daten über zwielichtige Twitter-Accounts, die derzeit von Anonymous-Aktivisten verbreitet werden, von Twitter gesichtet werden, um Konten auf der Plattform zu löschen. Das ist allerdings nur ein Tagessieg – ohne eine konsequente Strategie kann die IS-Propaganda in den sozialen Medien nicht dauerhaft unterbunden werden. +Anonymous ist eine Internet-Bewegung, die aus sogenannten Hacktivisten besteht – also Hackern, die sich als Aktivisten für Informationsfreiheit verstehen. Anonymous hat keine klare Struktur, sodass in der Regel nicht nachvollziehbar ist, wer hinter den Aktionen der Bewegung steht. In der Vergangenheit ist Anonymous, deren Erkennungszeichen die Guy Fawkes-Maske ist, etwa durch DDoS-Attacken (Englisch für "Distributed Denial of Service", also Dienstblockaden, die durch eine Vielzahl verteilter Rechner verursacht wurden) aufgefallen, mit denen Aktivisten die Webseiten von diktatorischen Regimen überlasteten und damit lahmlegten. Andere Aktionen unterstützten etwa Occupy Wall Street oder zogen gegen Scientology zu Felde. +Derzeit kursiert im Internet ein8-Punkte-Plangegen den IS, der im Namen von Anonymous dafür wirbt, nicht nur IS-Internetseiten abzuschalten, sondern die Organisation auszuforschen, um sie effektiver zu bekämpfen. Ein Teil der Aktivitäten richtet sich dabei auch gegen das sogenannte "Cyber-Kalifat", eine Hackergruppe mit Sympathien für den IS. +Arne Semsrott ist Redakteur bei fluter.de. Außerdem arbeitet er für die Open Knowledge Foundation Deutschland und betreut dort das Portal zur InformationsfreiheitFragDenStaat.de diff --git a/fluter/haende-hoch.txt b/fluter/haende-hoch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1ef965ce105c08ee4139ca9b9719c1c867ab39ba --- /dev/null +++ b/fluter/haende-hoch.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +"Es war eine Mischung aus Empörung und Unzufriedenheit", erinnert sich Marco Kistler an den Moment, in dem sein Kampfgeist erwachte. Der schlaksige Ostschweizer ist der Gemeinderat im Kanton Glarus. Den Glarner Dialekt des 29-Jährigen erkennt man gleich. Er sagt "Partii" statt "Partei", "ufbuue" statt "aufbauen". 2008, als die Bankenkrise die Welt erschütterte und die gigantischen Gehälter der Verantwortlichen bekannt wurden, war er 24 und hatte einen Posten in der Geschäftsleitung bei den Jusos, der Jungpartei der Sozialdemokraten. Und eine Idee: Was wäre, wenn der höchste Lohn in einem Unternehmen das Zwölffache des geringsten Lohnes nicht übersteigen dürfte? Wenn beim Zwölffachen einfach mal Schluss wäre? +"Es war einfach mal eine Idee unter vielen", sagt Marco Kistler heute. Auf seinem T-Shirt prangt eine imposante Berglandschaft. Darüber steht in grauen Zahlen: "1:12". Das ist das Kampagnenlogo. Wie genau er auf die Volksinitiative gekommen war, weiß Marco nicht mehr, aber natürlich hatte das weltweite Entsetzen über die risikoreichen Geschäfte der Banker damit zu tun. "Es gab aber damals noch keine öffentliche Diskussion darüber, ob man in diesem Bereich überhaupt demokratisch mitreden könnte." +Mit einer Volksinitiative kann jeder in der Schweiz eine Verfassungsänderung anregen. Hat man genügend Unterschriften von Stimmberechtigten gesammelt – bei einer landesweiten Initiative sind davon 100.000 in 18 Monaten nötig –, kommt es zur Abstimmung. Allerdings oft erfolglos: Im Gegensatz zu Vorschlägen, die von der Regierung ausgehen, werden Initiativen aus dem Volk in den meisten Fällen abgelehnt. So sagten die Schweizer erst vor ein paar Monaten Nein zu einer Gewerkschaftsinitiative, die mehr Ferien gefordert hatte. Die Mehrheit hatte sich von der Gegenkampagne der Wirtschaftsverbände überzeugen lassen, die vor wirtschaftlichen Einbußen gewarnt hatten. +Trifft eine Initiative allerdings den Nerv der Zeit, hat sie bessere Chancen. So haben die Schweizer – wohl aus Angst vor Überfremdung – mehrheitlich die sogenannte Minarett-Initiative angenommen: Minarette dürfen in der Schweiz nun nicht mehr gebaut werden. Die vier, die es schon gibt, können immerhin stehen bleiben. Das Ergebnis galt Kritikern der Volksabstimmungen als Beleg dafür, dass Plebiszite auch demokratiefeindlich sein können, wenn als Ergebnis die Rechte von Minderheiten eingeschränkt werden. In Deutschland war man auch verwundert, als eine weitere Abstimmung dazu führte, dass in Zürcher Kindergärten kein Hochdeutsch, sondern Schwyzerdütsch gesprochen werden muss. +Derzeit ist es nicht das ewige Thema, wie man den eigenen Dialekt erhält, diesmal sind es die Managergehälter, die auf hohes Interesse stoßen. Im März 2013 haben die Eidgenossen die sogenannte "Abzocker- Initiative" angenommen, mit 68 Prozent der Stimmen. Das bedeutet: Ab 2014 sind Abfindungen und Antrittsprämien in börsennotierten Unternehmen der Schweiz verboten. +Das Wort "Abzocker" gefiel auch den Jungpolitikern, die 2009 zum Sammeln der Unterschriften für die 1:12-Initiative loszogen. "Abzocker, zieht euch warm an", schrieben sie auf ein Plakat, das eine Fotomontage mit drei weitgehend nackten Schweizer Topmanagern zeigte, darunter auch ihr Lieblingsfeind, Pharma-Manager Daniel Vasella. Dieser klagte wegen des Plakats – und verlor den Prozess. +Die Unterschriften wurden auf der Straße gesammelt, meist an belebten Plätzen, von 500 freiwilligen Helfern mit Klemmbrettern und Infomaterial im Rucksack. Nach dem Sammeln der Unterschriften müssen diese zur Beglaubigung in die Gemeinden gesendet werden, in denen die Unterstützer wohnen – angesichts von gut 2.400 Gemeinden ein gewaltiger zusätzlicher Aufwand. "Wir haben fast jedes Wochenende zusammen mit etwa zehn oder 20 Freiwilligen Unterschriften sortiert", erinnert sich Marco Kistler. +Am 21. März 2011 wurden die Pappkisten mit den Unterschriften bei der Schweizer Regierung eingereicht. Mittlerweile war aus der Idee eine landesweite Bewegung geworden, die Zeitungen veröffentlichten Artikel, die Wirtschaftsverbände rüsteten zu einer millionenschweren Gegenkampagne. Die Bundeskanzlei setzte den Tag der Abstimmung auf den 24. November 2013 fest. In der Zeit bis zur Abstimmung wollen die Jungpolitiker 10.000 Schweizer dazu bewegen, Fahnen mit dem Logo aufzuhängen. +Die 1:12-Initiative sei von Neid, Missgunst und Polemik geprägt – so lauten die Argumente der Gegner. Sie sei sogar ein Angriff auf die Wirtschaftsfreiheit und gefährde den Wohlstand des Landes. Denn zahlreiche Firmen würden ins Ausland übersiedeln, wenn die Schweiz die Gehälter der Manager privater Unternehmen nach oben beschränke. "Weil wir vernünftig sind, stimmen wir im Herbst 2013 mit Nein zur 1:12-Initiative", heißt es auf einer Website. Die Wirtschaftsverbände, die die Gegenkampagne tragen, haben deutlich mehr Geld, um Stimmung zu machen. Allerdings könnten es eher die Schlagzeilen sein, die die Stimmung beeinflussen. So ging ein Aufschrei durch die Presse, als der Pharma-Manager Daniel Vasella nach seinem Rücktritt eine – später annullierte – Prämie von 72 Millionen Franken (rund 58 Millionen Euro) erhalten sollte, damit er nicht zur Konkurrenz geht. Über die neueste Veröffentlichung von Vasellas Beraterhonorar stöhnte selbst die unternehmerfreundliche "Neue Zürcher Zeitung": "Bitte nicht schon wieder." +Sicher ist der Ausgang der Volksinitiative noch keineswegs. Manche bemängeln, dass die Begrenzung der Gehälter zu willkürlich ist. Tatsächlich kann selbst Marco Kistler nicht erklären, wieso das Verhältnis der Löhne ausgerechnet 1:12 sein soll. "Wir stellen jetzt einfach mal die Frage, wie es wäre, wenn die Grenze bei 1:12 liegen würde." Im November wird sich also zeigen, ob die Schweiz die Managerlöhne in Unternehmen deckelt. Es ist wie ein Test für das ganze Land – wieder mal ein Experiment, das darüber Aufschluss gibt, wie groß der Handlungsspielraum in einer direkten Demokratie ist. diff --git a/fluter/haenyeo-taucherinnen-suedkorea.txt b/fluter/haenyeo-taucherinnen-suedkorea.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/haesslichkeit-buch-moshtari-hilal-interview.txt b/fluter/haesslichkeit-buch-moshtari-hilal-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3a0fedea4b26edac32a3d034e039423299598b2a --- /dev/null +++ b/fluter/haesslichkeit-buch-moshtari-hilal-interview.txt @@ -0,0 +1,32 @@ +Was bedeutet Hässlichkeit für Sie? +In der Kunst heißt es zum Beispiel, Schönheit sei langweilig, weil sie vorhersehbar sei und so vielen Regeln entsprechen müsse. Hässlichkeit dagegen sei unvorhersehbar und unregelmäßig und deshalb interessant. Ich finde, das stimmt. Die Autorin Gretchen E. Henderson, die zur Kulturgeschichte der Hässlichkeit gearbeitet hat, schreibt, Hässlichkeit sei der Gegensatz zu dem, was historisch als schön und richtig wahrgenommen wurde. Wenn jung, weiß und gesund als schön gilt, dann sind ihre Gegensätze weniger schön bis hässlich. Mir geht es darum, welchen Nutzen solche Normen historisch hatten. Wie wurde Hässlichkeit eingesetzt, wie war der Umgang mit denen, die als hässlich markiert wurden? +Welche Antwort haben Sie gefunden? +Schönheit muss selten und besonders sein, also qua Definition nicht von allen erreicht werden können, damit sie begehrt werden kann und kontrollierbar ist. Es geht also darum, eine Hierarchie aufzustellen. Wenn wir vor diesem Hintergrund über das kapitalistische System nachdenken, in dem wir leben, dann sehen wir, dass Schönheit auch in Produkte übersetzt werden kann. Es gibt dasVersprechen, dass man sich Schönheit erarbeiten kann, wenn man sich nur genügend Produkte oder Behandlungen kauft. Schönheit ist außerdem mit einem besseren Leben assoziiert, mit mehr Lebensfreude und Erfolg. +Häufig ist die Rede vom"Pretty Privilege": Menschen, die als schön wahrgenommen werden, werden bevorzugt behandelt. +Das öffentliche Urteil fällt oft sehr viel milder aus, wenn Menschen als attraktiv wahrgenommen werden. Aussehen ist ein Privileg und eine Form von Kapital. In diesem Sinne ist Schönheit auch ein Machtinstrument. Sie ist gewaltsam, weil sie immer auch mit Ausgrenzung einhergeht. Wir tun oft so, als sei der Diskurs um Schönheit oberflächlich, so als ginge es nur um persönliche Eitelkeit. Dabei geht die Sache viel tiefer. Eigentlich verhandeln wir in diesem Diskurs Menschlichkeit und den Wert eines Lebens. Im 19. Jahrhundert gab es in den USA und in Europa zum Beispiel Verordnungen gegen vermeintliche Hässlichkeit in der Öffentlichkeit, die in der Forschung zusammenfassend Ugly Laws genannt werden. Hier wurden Körper, die als unansehnlich und störend galten, also arme, kranke, deformierte oder rassifizierte Menschen aus dem öffentlichen Raum verbannt und damit kriminalisiert. Das klingt erst mal sehr archaisch, aber im Grunde machen wir das bis heute. +Was meinen Sie? +Zum Beispiel wenn wir arme Menschen oder Geflüchtete oderMenschen, die mit Obdachlosigkeit zu kämpfen haben, aus bestimmten Räumen entfernen lassen. Wir wollen das, was wir mit Hässlichkeit verbinden, also Armut, Zerstörung und Leid, nicht sehen, weil es unsere Normalität irritiert. Hässlichkeit stellt also auch das, was wir für richtig und erstrebenswert halten, infrage. In Wahrheit sind das aber die Körper von Menschen, die nicht nur ausgegrenzt, sondern auch ignoriert und verneint werden. Die Extremform davon war historisch betrachtet die Eugenik. Abweichendes Leben sollte gar nicht erst geboren werden. Die plastische Chirurgie liegt auf diesem Kontinuum irgendwo dazwischen. +Inwiefern? +Bei der Schönheitskorrektur geht es darum, die Abweichung von der Symmetrieoder einem Ideal zu korrigieren. Korrektur bedeutet also auch Anpassung. Die Geschichte der Nasenoperation ist in diesem Zusammenhang besonders interessant, auch weil sie so repräsentativ ist. +Welchen Ursprung hat sie? +Da gab es beispielsweise Jacques Joseph, einen der Begründer der modernen plastischen Chirurgie, insbesondere der Nasenkorrektur. Er war ein Berliner Arzt und der Sohn eines Rabbiners, der nach dem Ersten Weltkrieg damit begann, seinem Klientel unter anderem die Korrektur ihrer "jüdisch wirkenden Nasen" anzubieten. Wir beobachten hier einen Moment, in dem die Verantwortung gegen Diskriminierung anzugehen nicht vom politischen System getragen wird, und stattdessen der Markt individuelle Lösungsvorschläge anbietet. Die Nasenkorrektur ist eine solche vermeintliche Lösung, also das Versprechen, sich optisch zu assimilieren und nicht mehr als jüdisch aufzufallen.Im Englischen gibt es dafür den Begriff "passing": Wem es gelingt, als zur Norm gehörend durchzugehen, der kann so den Auswirkungen einer diskriminierenden Gesellschaft zumindest auf dem ersten Blick ausweichen. Historisch wurde so ein massiver operativer Eingriff normalisiert, der medizinisch nicht notwendig war. +"Hässlichkeit" ist ein sehr persönliches Buch. Sie berichten immer wieder von Momenten, in denen Sie selbst als anders oder als abweichend markiert wurden. Ist es Ihnen schwergefallen, darüber zu schreiben? +Es gibt bereits einiges an Forschung zum Thema Hässlichkeit, zum Beispiel zum Thema Fat Shaming, oder auch zu denAuswirkungen von anti-Schwarzem Rassismusoder den Disability Studies. Mir war es wichtig, einen eigenen Ansatz zu finden. Für mich sind dabei Gefühle wie Scham und Angst ganz zentral. Ich beginne mit dem Hass, vor allem dem Selbsthass, mit dem Minderwertigkeitskomplex, der durch den fremden Blick entsteht und der Selbstentfremdung, die damit einhergeht. Ich schreibe über große Nasen und tabuisierte Körperbehaarung, über Krankheit, Alter und Tod und wie das alles mit westlichen Vorstellungen von Gesundheit, Moderne und Frausein in Zusammenhang steht. Ich habe das Buch so geschrieben, wie ich es gerne gelesen hätte, weil mir im medialen Diskurs um Schönheit und Hässlichkeit genau diese Verbindungen gefehlt haben. + + +Wie vielKolonialismussteckt in unseren Schönheitsidealen? +Ich fand es schockierend zu sehen, wie viel wir von Rassentheoretikern übernommen haben, und wie vieles davon bis heute wirksam ist, ohne dass uns die Zusammenhänge bewusst sind. Zum Beispiel die Vorstellung, man könnte Menschen vermessen und dann aus ihrem Aussehen und bestimmten Winkeln und Linien, die ihr Gesicht ausmachen ihre Entwicklungsstufe in Abgrenzung zum Tier ablesen, ihren Charakter oder ihre Intelligenz. TikTok istein riesengroßes Archiv für Selbstdarstellung. Für mein Buch habe ich deshalb sehr viel auf der Plattform recherchiert. Dort gibt es zum Beispiel eine sogenannte Nasenprofil-Challenge, bei der die Leute ihren Daumen an der Nase anlegen, um sie zu vermessen. Es geht darum, herauszufinden, ob ihre Nase "perfekt" ist, oder nicht, also ob sich hinter dem Daumen ein Nasenhöcker verbirgt, oder ob der Nasenrücken entlang des Fingers verläuft. +Was hat das mit Rassentheorie zu tun? +Die Theorie des Gesichtswinkels stammt von einem niederländischen Mediziner namens Petrus Camper aus dem 18. Jahrhundert. Mithilfe von Vermessungslinien hat er die Menschen damals zugeordnet. Der Gesichtswinkel griechisch-römischer Statuen liegt nach Camper bei 90 bis 100. Das gilt als Ideal. Den Gesichtswinkel von Europäern hat er bei 80 festgelegt, also als dem Ideal am nächsten. Der von Menschen aus Asien und Afrika liegt laut Camper bei um die 70 und der eines Affen bei unter 60.Menschen aus Asien und Afrika seien nach dieser Kategorisierung dem Tier also näher als dem Ideal. Wenn die Leute heute auf TikTok ihre Nasen mit dem Daumen vermessen, sind es diese Winkel und die dahinterstehende rassistische Hierarchie, der sie nachspüren. Solche Kategorisierungen finden sich auch in vielen bildhaften Darstellungen wieder. +Können Sie ein Beispiel nennen? +Nehmen wir die Frage, welche Gesichter Hinweise auf das Böse geben. Früher dachte man, man könne sowas am Gesicht ablesen. Bis heute findet sich das in bestimmten Disney-Charakteren wieder oder in der Art, wie Rollen besetzt werden. Die Darstellungen von Bösewichten sind überwiegend rassistische, oft antisemitische Bilder. Meist haben sie dunklere Haut und Haare und größere Nasen. Die Guten dagegen sind häufig blond, haben im Vergleich hellere Haut und immer eine kleinere Nase. +Welche Chance haben wir, uns solchen Normen zu widersetzen? +Mir persönlich hat das Zeichnen von Selbstporträts und die künstlerische Selbstinszenierung geholfen, eine andere Herangehensweise an mein Aussehen und mein Gesicht zu finden. Um Kontrolle über mein Bild zu erlangen, habe ich nach dem Interessanten gesucht, und weniger nach dem Schönen. Mittlerweile habe ich kein Problem mehr damit, ein Foto von mir im Profil zu sehen. Früher hatte ich da große Hemmungen. Ich habe mich sehr stark mit mir selbst auseinandergesetzt und jetzt ertrage ich mich. +Dieser künstlerische Ansatz steht womöglich nicht allen zur Verfügung. +Eine andere Möglichkeit ist, sich bewusst zu machen, dass die Schönheitsnormen, denen wir nacheifern, nicht natürlich sind, sondern erlernt. Jedes Mal, wenn wir uns selbst oder andere als hässlich betiteln, wenn wir unsere Haut zu dunkel undunsere Oberschenkel zu dick finden, legitimieren wir damit eine Abwertung und Entmenschlichung unserer Körper und der Körper von anderen. Aber wir können unsere Assoziationen und unsere Sehgewohnheiten hinterfragen. Wir müssen nicht unbedingt so weitermachen, nur weil es schon immer so war. Hinterfragen bedeutet auch, bewusst unseren visuellen Konsum von Bildern zu steuern und auszuweiten. +Was fordern Sie also? Dass bestehende Schönheitsnormen diverser werden? +Schönheit funktioniert nur dann, wenn sie für die meisten unerreichbar bleibt. Deshalb ist es ein Trugschluss zu glauben, dass es Schönheitsnormen geben kann, die alle einschließen. Insofern hat selbst diverse Schönheit ihre Grenzen. Ich frage mich eher: Wenn es mir nun gelingt, einen Platz unter den Schönen zu ergattern, auf welcher Seite stehe ich dann? Welchen Sinn hat Schönheit überhaupt, wenn ich sie doch jederzeit wieder verlieren kann, zum Beispiel durch einen Unfall oder durch Alter und Krankheit? Politisch schließe ich mich lieber der Seite der Hässlichen an. Historisch gesehen ist das eine widerständige Position. Die Perspektive der Ausgegrenzten ist eine, aus der man viel lernen kann. Wenn man Ausgrenzung erlebt hat, weiß man, wie sie funktioniert, und versteht, wie man sie nicht reproduziert. Insofern ist das für mich am Ende die erstrebenswertere Position. + + +Moshtari Hilal ist Künstlerin, Kuratorin und Autorin, sie lebt in Hamburg. Hilal studierte Islamwissenschaft mit Schwerpunkt Gender und Dekoloniale Studien und ist Mitgründerin des Kollektivs Afghan Visual Arts and History sowie des Rechercheprojekts Curating through Conflict with Care. +Fotos: Moshtari Hilal, 2023, Portrait: Prissilya Junewin diff --git a/fluter/haim-gender-pay-gap-musikbranche.txt b/fluter/haim-gender-pay-gap-musikbranche.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6691bb4d445b6fded7f6387a87334f7973f0568e --- /dev/null +++ b/fluter/haim-gender-pay-gap-musikbranche.txt @@ -0,0 +1,7 @@ + + + +Dabei geht's der Band nicht ums Geld, sondern ums Prinzip, sagen sie. Von vornherein war nämlich klar, dass die Gage ungewöhnlich niedrig war. Haim hatte dem Festival trotzdem zugesagt, weil sie sich davon Aufmerksamkeit in Form von Radiozeit versprochen hatten. Als sie jedoch nach dem Konzert erfuhren, wie hoch der Gagenunterschied zu dem männlichen Kollegen war, änderten sie ihre Meinung. Und feuerten den verantwortlichen Booker. +Jetzt wüsste man natürlich gerne, was der Booker dazu sagt, oder das Festival oder auch der männliche Künstler, der so viel mehr Geld bekam. Die haben sich allerdings bislang nicht geäußert. Klar ist hingegen, dass die Diskussion um den Gender Pay Gap jetzt auch in der Musikbranche angekommen ist. Wie unterschiedlich auch abseits der Bühne je nach Geschlecht bezahlt wird, ermittelte im April eine Umfrage, die in England die Gemüter erhitzte.Bei den Major-Labels Universal, Sony und Warner verdienten Frauen im Schnitt 33,8 Prozent weniger als Männer. Der Grund dafür liegt  darin, dass Frauen seltener in Führungspositionen seien und entsprechend weniger Boni ausbezahlt bekämen. In England müssen Firmen mit mehr als 250 Mitarbeitern ihre Gender-Pay-Statistiken ausweisen. +Tatsächlich ist das Thema in der Musikbranche eher spät angekommen. In der Filmindustrie wird schon länger hitzig über die Gehaltsunterschiede zwischen Schauspielerinnen und Schauspielern gestritten. Zuletzt etwa schlug der Fall Claire Foy große Wellen. Sie spielt in der Netflix-Produktion "The Crown" – mit 130 Millionen Dollar eine der teuersten TV-Serien, die je gedreht wurde –, die junge Queen Elizabeth II, und war entsprechend das Gesicht der Serie. Dennoch bekam sie weniger Gage als ihr Co-Star Matt Smith, der Prinz Philip spielte. Durch frühere große Rollen war Smith anfänglich bekannter als Foy.Als der Gagenunterschied publik wurde, bekam sie eine Entschädigung von 274.000 Dollar. + diff --git a/fluter/haitianische-revolution-postkoloniale-geschichte.txt b/fluter/haitianische-revolution-postkoloniale-geschichte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e66166f889f753bc43eec8d392d72fb890eae845 --- /dev/null +++ b/fluter/haitianische-revolution-postkoloniale-geschichte.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +Dahinter steckt eine eurozentristische Geschichtsschreibung.Eurozentrismus meint eine Sichtweise, die vor allem eines im Fokus hat: Europa. Der Kontinent wird zum einzig relevanten Schauplatz und die europäische Geschichte als große Erfolgsgeschichte dargestellt. Obwohl die Geschichte von Haiti stark mit der heutigen Armut auf der Insel verbunden ist und viel über die Gegenwart Europas verrät, lernen Schüler*innen auf der ganzen Welt fast nichts darüber. Stattdessen müssen sie quasi jeden Schritt Napoleons auswendig lernen –weil es als Allgemeinwissen gilt. Warum? Die Antwort bieten die Ereignisse der haitianischen Geschichte selbst. + + +Im Jahr 1492 gründete Christoph Kolumbus (der Typ, der offiziell als "Entdecker" eines anderen Kontinents außerhalb von Europa gilt, obwohl der längst bewohnt war) auf Cap-Haïtien die erste amerikanische Kolonie überhaupt. Während sich später im östlichen Teil der Insel die spanische Krone auf dem Gebiet der heutigen Dominikanischen Republik niederließ, gründete der französische Staat Ende des 17. Jahrhunderts die Kolonie Saint-Domingue auf dem Gebiet des heutigen Haiti. Die Insel war unter den europäischen Mächten begehrt, konnten sie doch hier mit dem Zucker- undBaumwollanbau, aber vor allem mit dem Sklavenhandel unvorstellbaren Reichtum anhäufen. Ende des 18. Jahrhunderts führten die wenigen französischen Kolonialherren auf der Insel ein exquisites Leben auf dem Rücken rund einer halben Million versklavter Menschen, die aus den verschiedensten Regionen Afrikas verschleppt worden waren. +Die meisten dieser Menschen waren Frauen, unzählige von ihnen starben an Epidemien, Hunger und Erschöpfung. Laut Businessplan der weißen Franzosen dauerte die ertragreiche Arbeitsphase einer versklavten Person zwischen zwei und vier Jahren, bevor man sie durch eine*n neue*n, fittere*n Sklavin bzw. Sklaven ersetzte. Schwarze Menschen waren in den Augen der weißen Kolonialherren keine Menschen. Die haitianische Gesellschaft setzte sich wie folgt zusammen: (1) Weiße Sklavenhalter, (2) ihre Nachkommen, die sie zum Teil mit Sklavinnen zeugten, (3) ärmere weiße Arbeiter*innen, auch Petits Blancs ("Kleine Weiße") genannt, und (4) versklavte Schwarze. +Als sich auf Haiti die Nachricht von der Französischen Revolution verbreitete, hätte man sagen können: Die Gruppen 1 bis 4 sind ab sofort gleichgestellt. Stattdessen geschah Folgendes: Die "Petits Blancs" beschwerten sich, dass ihnen ihr "Menschenrecht auf den Besitz von Sklaven" verwehrt wurde. Für die Schwarze Bevölkerung auf Haiti bedeutete das: Die Abschaffung der Sklaverei kann nur durch einen Befreiungskampf der Schwarzen selbst erfolgen. + + +Während in Frankreich die Erklärung der Menschen- und Bürger*innenrechte feierlich verkündet wurde, ging die rassistische Entmenschlichung Schwarzer Menschen auf Haiti einfach weiter. Es folgte ein haitianisches Geschichtskapitel, das so gar nicht zur heutigen romantisierten Erzählung der Französischen Revolution passt: +Auf der karibischen Insel begann 1791 ein Sklavenaufstand. Der französische General Jean-Pierre Boyer suchte auf Haiti kurz darauf eigenhändig versklavte Menschen aus, die er öffentlich auf den Marktplätzen hinrichten ließ. Boyer wollte damit die immer selbstbewusster werdenden Schwarzen einschüchtern. Die Aktion sollte aber auch die weißen Kolonialisten amüsieren und ihnen zeigen, wer auf Haiti das Sagen hatte. Überhaupt machte der Sklav*innenaufstand Wunder möglich: Großbritannien eilte Frankreich auf Haiti zu Hilfe, obwohl die beiden Länder in Europa Erzfeinde waren. Der unbedingte Wille, die Sklaverei aufrechtzuerhalten, einte die Repräsentanten der vermeintlichen europäischen Überlegenheit in der Karibik. +Das Beispiel Haiti ist nur eines von vielen, der Geschichtsschreibung fehlt es ingesamt an Perspektiven, die nicht aus der europäischer Sicht erzählt werden. Das liegt mitunter daran, dass Schul- und Geschichtsbücher von (weißen) Europäern geschrieben worden sind und entsprechend eine voreingenommene Sicht auf die Entwicklung der Welt haben. +Denn: Geschichte wird immer von den "Gewinnern" geschrieben. Von denen, die an der Macht sind. Kein Wunder, dass es in vielen ehemaligen Kolonialmächten bis heute zu keiner vollständigen Aufarbeitung der Kolonialverbrechen gekommen ist und viele Menschen kaum etwas darüber wissen. So lernt man in der Schule beispielsweise eher wenig über die Unabhängigkeitsbestrebungen der afrikanischen Kolonien in den 1960er-Jahren. +Auch mit dem Ende des Zweiten Weltkriegesverbinden viele fälschlicherweise den 8. Mai, obwohl an diesem Tag im Jahr 1945 zwar der Krieg in Europa, nicht aber in der Welt beendet war. Das war nämlich erst im September 1945, mit der Kapitulation Japans, der Fall. Die Wissenschaftsdisziplin "Postkoloniale Studien" versucht seit Jahrzehnten, für Geschichtsschreibung zu sensibilisieren und Gegenentwürfe zur eurozentrischen Perspektive anzubieten. +Und diese Geschichtsstunde geht turbulent weiter: Die Verbrüderung zwischen Briten und Franzosen brachte einige Abgeordnete in der französischen Nationalversammlung so dermaßen auf die Palme, dass das Parlament 1794 die Sklaverei zeitweise abschaffte. Nicht wegen der krassen Menschenfeindlichkeit, mehr aus Nationalstolz: Eine Zusammenarbeit mit der britischen Krone kam für die stolzen Franzosen nicht in Frage. Die Abstimmung der Parlamentarier in Paris machte mehr als eine Million Schwarze Menschen in den Kolonien auf einen Schlag zu französischen Bürger*innen. Tatsächlich gleichgestellt wurden sie aber nicht. + +Auch der Haitianer Toussaint Louverture erkannte, dass sich die Schwarzen selbst befreien mussten. Der ehemalige Sklave wurde zum Anführer des gewaltsamen Aufstands auf Haiti, der zahlreiche Opfer forderte. Über die Jahre schloss Louverture clever strategische Bündnisse und kämpfte wechselnd mit und gegen Frankreich, Großbritannien und Spanien. Er verlieh Haiti eine Verfassung, die ein Verbot von Diskriminierung vorschrieb und die Sklaverei abschaffte. Die Unabhängigkeit von Haiti am Neujahrstag 1804 bekam Louverture jedoch nicht mehr mit: Er starb kurz zuvor in einer kalten Gefängniszelle im französischen Jura-Gebirge, in das er vom französischen Kolonialstaat verschleppt worden war. +Eine universale Geschichtserzählung, die die Perspektive vieler Staaten und Gruppen ernst nimmt, kann die Welt, wie die meisten von uns sie verstehen und in Schulen, Museen und Medien kennengelernt haben, auf den Kopf stellen. Der Aufstand der Sklaven auf Haiti hielt und hält den weißen Errungenschaften der Aufklärung den Spiegel vors Gesicht. Alle Menschen werden Brüder: Wirklich? Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit: Für welchen Teil der Menschheit waren diese Menschenrechte gedacht? Oder eher: Für welchen nicht? Mit Blick auf Haiti bröckelt das positive Image der Französischen Revolution. +Special: Wissen +Hier liest du weitere Artikelaus unserem Wissen-Schwerpunkt +Der haitianische Freiheitskampf prangerte den europäischen Rassismus und die damit verbundene koloniale Ausbeutung Schwarzer Menschen und People of Color an. Das Wissen darüber verdrängte man über Jahrhunderte in Europa – und weil die eurozentristische Geschichtsschreibung fast überall auf der Welt durch den Kolonialismus und die europäische Kulturhegemonie als Standard gesetzt wurde, kennen auch andere Menschen in anderen Regionen nur eine Version: Vive la France! +Die Unabhängigkeit von Haiti hatte indes nicht den weitreichenden Einfluss, den die Französische Revolution erzielen konnte: Die USA und alle europäischen Mächte weigerten sich, den haitianischen Staat anzuerkennen. Die Revolution sollte nicht als Vorbild für andere unterdrückte Schwarze und People of Color und ihren eigenen Freiheitskampf dienen. + +Du willst es noch besser wissen? +Dieses Videogibt einen Crashkurs in haitianischer Geschichte. +Und das hiererklärt, warum Haiti heute so arm ist. +Auf bpb.de gibt'snochmehrzur Geschichte Haitis,zu Globalgeschichte und Postkolonialismus. +Und für Fortgeschrittene: Susan Buck-Morss'"Hegel und Haiti – Für eine neue Universalgeschichte", erschienen bei Suhrkamp. + diff --git a/fluter/halbinsel-lynetteholm-kopenhagen-ostsee.txt b/fluter/halbinsel-lynetteholm-kopenhagen-ostsee.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4ea5bdaa2b44cc4cfaea700f3f8161715c5a6506 --- /dev/null +++ b/fluter/halbinsel-lynetteholm-kopenhagen-ostsee.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Die wohl lauteste Kritik kommt von der Organisation Klimabevægelsen. Der Dachverband für Klimavereine in Dänemark hat eine einstweilige Verfügung gegen Lynetteholm beantragt, um den Bau zu stoppen, bis die Bedenken geklärt sind. +Als das Projekt 2018 im dänischen Parlament vorgestellt wird, glänzt es als Zukunftsutopie. Der neue Stadtteil soll mit Platz für 35.000 Einwohner*innen nicht nur dem drohenden Wohnraummangel entgegenwirken, sondern auch der Klimakrise trotzen: Als Schutz gegen Sturmfluten soll sich Lynetteholm vor Kopenhagen im Meer auftürmen – so bewirbt die Stadt das Projekt. Ein Teil der Küste ist als natürliche Landschaft geplant, die die Wellenenergie abfangen und Erholungsgebiet sein soll. Denn durch den klimawandelbedingten Meeresspiegelanstiegwerden die Sturmfluten in den kommenden Jahrzehnten häufiger und heftiger. + + +Während das Projekt für die einen nach der perfekten Lösung für Kopenhagens Herausforderungenklingt, steht es bei Umweltschützer*innen und in der Bevölkerung in der Kritik. Die Auswirkungen auf das sensible Ökosystem der Ostsee seien nicht gut genug untersucht worden und die Entscheidung für den Bau von Lynetteholm überstürzt und undemokratisch. +Im Juni 2021 beschlossen, sind die Bauarbeiten zwei Jahre später so weit vorangeschritten, dass ein Teil der Halbinsel mit Bodenmaterial gefüllt wird – denn davon hat Kopenhagen durch die vielen Baustellen in der Stadt mehr als genug. Seit Jahren wird dieses Material in einem mittlerweile vollen Erddepot in Nordhavn gelagert, das vom Refshaleøen-Ufer am Horizont zu erkennen ist. Riesige Hügel aus Erde, Schutt und Sand formen eine eigene Landschaft, die über die Stadt hinauswächst und die zur Finanzierung des Großbauprojektes beiträgt. Bauunternehmen bezahlen, um Material in Lynetteholm abzuladen. +Von hier oben präsentiert sich Kopenhagen von seiner futuristischsten Seite – die Neubauten von Nordhavn lassen vermuten, wie es 2070 auch einmal auf Lynetteholm aussehen könnte. In circa 30 Jahren, wenn die Halbinsel so weit fertiggestellt ist, dass darauf gebaut werden kann, soll auch durch den Verkauf von Baugrund Einnahmen generiert werden. So soll sich Lynetteholm finanzieren – viele Kopenhagener*innen aber fürchten, dass der Finanzplan nicht gut kalkuliert ist und das Projekt viel teurer wird als geplant. +"Die Insel wird, zusammen mit der U-Bahn, den 20.000 Gebäuden und dem Hafentunnel eine Menge schädlicher CO₂-Emissionen verursachen", ärgert sich Andrea Fernande Rendtorff von Klimabevægelsen. Außerdem verstößt Dänemark ihrer Meinung nach mit dem Bau von Lynetteholm gegen zwei internationale Konventionen: dieEU-Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung(die EU-Kommission konnte jedochkeinen Verstoß gegen die Richtlinie feststellen) und die Espoo-Konvention. Der Konvention entsprechend erfordert wirksamer Umweltschutz, dass bei Projekten mit potenziell grenzüberschreitenden Auswirkungen auf die Umwelt alle Nachbarländer in eine Umweltverträglichkeitsprüfung einbezogen werden müssen. + + +Sollte sich Lynetteholm auf das Ökosystem der Ostsee auswirken, wie Expert*innen kritisieren, müssen Konsultationen mit allen Anrainerstaaten stattfinden. Dies sei bei der Entscheidung für Lynetteholm verschlampt worden. Lediglich Schweden sei in die Verhandlungen involviert und äußerte sich von Anfang an kritisch – die Kritik aber wollte niemand hören. +Als das dänische Parlament am 4. Juni 2021 für ein neues Gesetz zum Bau von Lynetteholm abstimmt, liegt dem dänischen Umweltministerium ein Brief des schwedischen Umweltministers vor, in dem er fordert: Das Parlament solle keine Entscheidungen hinsichtlich Lynetteholm treffen, bevor die Umweltauswirkungen ausreichend untersucht worden und die Espoo-Konsultationen zwischen den beiden Ländern abgeschlossen seien. Den Brief aber bekommt das dänische Parlament erst nach zehn Monaten zu Gesicht, als die Abstimmung für Lynetteholm längst stattgefunden hat. "Ein Fehler", wie es im Nachhinein heißt, der jedoch keinerlei Konsequenzen mit sich brachte. +Bis heute kritisieren schwedische Behörden das Projekt. Zuletzt schrieb das Umweltschutzamt in einem Brief: "Die schwedischen Behörden haben nach wie vor Bedenken, dass das Projekt Auswirkungen auf die Wasserströmungen […] haben könnte." Das wiederum könnte fatale Folgen für die Ostsee mit sich bringen. +Hier gehen die Meinungen aber auseinander – während Umweltschutzverbände die Umweltverträglichkeitsprüfung von Lynetteholm kritisieren, schreibt das für das Projekt zuständige dänische Verkehrsministerium auf fluter-Anfrage: "[…] die Halbinsel Lynetteholm [habe] nach Einschätzung der Behörden keine oder nur unbedeutende Auswirkungen auf die Wasserströmung in der Ostsee […]. Die Auswirkungen auf die Wasserströmung wurden mehrfach erörtert, und es wurde eine Prüfung durch Dritte durchgeführt, die die ursprünglichen Schlussfolgerungen bestätigte." + + +Als Binnenmeer ist die Ostsee über drei schmale Meerengen mit der Nordsee verbunden: dem Kleinen und dem Großen Belt und dem Öresund. Durch diese Meerengen wird sie wie über eine Nabelschnur mit sauerstoffreichem Salzwasser versorgt. Werden Teile des Zuflusses blockiert, kann sich das auf den Salzgehalt und damit auf das komplette Ökosystem auswirken. Um bis zu 0,25 Prozent werde die Halbinsel den Gesamtwasserdurchfluss sowie den Salztransport durch den Öresund verringern, wie es in einem Bericht zur Prüfung der Umweltverträglichkeit heißt. Denn sie ragt in den zwischen Dänemark und Schweden liegenden Öresund hinein und blockiert hier eine wichtige unterseeische Rinne, durch welche Salzwasser in die Ostsee strömt. +0,25 Prozent – das sei zwar ein niedriger Wert, "aber er ist nicht niedrig genug", sagt Jacob Steen Møller. Als Wasserbauingenieur war er an der Planung der Öresundbrücke beteiligt, die Kopenhagen und Malmö verbindet. Ein Jahrhundertbauprojekt, für das Ingenieur*innen jahrelang nach einem Weg suchten, die Brücke so zu bauen, dass sie keinen Wasserzufluss in die Ostsee blockiert. Das Resultat: die sogenannte Null-Lösung, bei der durch das Ausgraben von breiten Rinnen die Bereiche kompensiert werden, die die Brücke blockiert. +"Warum hat Dänemark Milliarden Kronen für die Null-Lösung der Öresundbrücke ausgegeben und dann alles vergessen und gesagt, dass Lynetteholm nicht die gleichen Anforderungen erfüllen muss?", fragt Møller. Zwar heißt es in dem Bericht zur Prüfung der Umweltverträglichkeit, die Blockierung würde durch den steigenden Meeresspiegel ausgeglichen werden. "Aber auch die Niederschläge und der Abfluss der Flüsse in die Ostsee werden sich aufgrund des Klimawandels verändern und höchstwahrscheinlich zunehmen", sagt Møller. "Dies wird den Salzgehalt der Ostsee verringern." +Schon jetzt ist die Ostsee in einem fragilen Zustand. Die vielen Nährstoffe, die aus der Landwirtschaft über Flüsse in sie geraten, setzen sie unter Stress. Etwa 25 Prozent sind bereits tote Zonen – also Bereiche, in denen der Sauerstoffgehalt so gering ist, dass es für Tiere und Pflanzen unmöglich ist, hier zu überleben. +Trotz der Kritik laufen die Bauarbeiten weiter. Ein breiter Steinwall ragt vor Refshaleøen ins Meer und kennzeichnet bereits den ersten Teil der Halbinsel. Neben Baucontainern häufen sich Sand, Erde und Pflastersteine. Lkws und Schiffe laden täglich tonnenweise Erde in das Becken ab. diff --git a/fluter/halleluja.txt b/fluter/halleluja.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..35bcc27ed287b52fe186e2850fd6bba1a0e82848 --- /dev/null +++ b/fluter/halleluja.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Temitope Balogun Joshua, bekannt als Pastor T. B. Joshua, ist einer der bekanntesten Prediger Afrikas. Seine "Synagogue, Church of All Nations" mit Sitz in Lagos empfängt jede Woche Zehntausende Gläubige zur Messe und zählt zahlreiche Prominente zu ihren Anhängern. Darunter Malawis ehemalige Präsidentin Joyce Banda, die Joshuas vermeintliche Wundertaten auf dessen eigenem TV-Sender Emmanuel TV bezeugt. Der Sender ist weltweit per Satellit zu empfangen und mit über 500.000 Abonnenten und weit mehr als 200 Millionen Videoaufrufen Nigerias erfolgreichster YouTube-Channel. Joshua behauptet, Kranke geheilt und sogar Tote zum Leben erweckt zu haben. Außerdem will er den Tod Michael Jacksons und den Absturz des Malaysia-Airlines-Flugs MH370 prophezeit haben. Seiner Anhängerschaft verspricht Joshua Geld und Fruchtbarkeit. +Die Heilsbotschaften kommen gut an. Während die Kirchen in Europa über Mitgliederschwund klagen, steigen Prediger wie T. B. Joshua in vielen afrikanischen Ländern zu religiösen Autoritäten, einflussreichen Medienmogulen und regelrechten Popstars auf. Ob die "Life Changers International Church" in Malawi, Kenias "Jesus Celebration Centre" oder die "Mountain of Fire and Miracles Ministries" in Nigeria – überall schießen unzählige neu gegründete Kirchen mit oft fantastischen Namen wie Pilze aus dem Boden. Katholiken und Protestanten, Evangelikale, Methodisten, Zeugen Jehovas, Pfingstkirchen und andere freikirchliche Sekten wetteifern um neue Anhänger. Eine Missionierungswelle schwappt über den Kontinent. Das Christentum verbreitet sich dank des Bevölkerungswachstums in keiner Weltregion so schnell wie in Afrika. +Vor allem in den Ländern, wo es an staatlicher Versorgung der Bürger fehlt. T. B. Joshua unterhält Lagerhäuser, in denen er eigenen Angaben zufolge Reisvorräte im Wert von rund 50.000 Euro für Bedürftige bereithält. Die Ausgabe der Notrationen wird öffentlichkeitswirksam über Emmanuel TV ausgestrahlt. Nach dem verheerenden Erdbeben von 2010 schickte Joshua sogar ein Erste-Hilfe-Team nach Haiti, das dort die Klinik Emmanuel aufbaute. Für benachteiligte Jugendliche gründete Joshua 2008 den Fußballverein My People FC. Für sein humanitäres Engagement ehrte die nigerianische Regierung Joshua mit einem der höchsten Orden des Landes. +Einige Kilometer nördlich von Lagos wird außerdem die vermutlich größte christliche Messe der Welt gefeiert: Hunderttausende Menschen finden in der Kirche der "Redeemed Christian Church of God" (RCCG) Platz. Wobei es sich nicht um eine Kirche im klassischen Sinne, sondern vielmehr um ein mehrere Quadratkilometer großes Areal handelt, auf dem einige riesige – Bierzelten nicht unähnliche – Hallen stehen. 2008 ernannte "Newsweek" den RCCG-Leiter Enoch Adeboye zu einer der einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt. +Großen Einfluss hat auch T. B. Joshua: Als sich junge Demonstrierende in Kamerun auf seine Lehren beriefen, ver-hängte Kameruns Regierung ein Einreiseverbot gegen den Prediger und bezeichnete ihn laut nigerianischen Medien als "Agenten des Teufels". +2015 musste sich Joshua gegen den Vorwurf wehren, einen Terroranschlag in Kamerun vorausgesagt zu haben. Auch ist gegen ihn ein Prozess anhängig: Mindestens 115 Menschen starben, als 2014 in Lagos ein Gästehaus seiner Kirche einstürzte. Joshuas Anwälte torpedieren das Gerichtsverfahren, das jedoch fortgesetzt werden soll. +Auch andere Prediger wie der junge Shepherd Bushiri, dessen "Enlightened Christian Gathering Church" im südlichen Afrika ganze Fußballstadien füllt, nutzen ihre Reichweite für politische Aufrufe. So wiegelte Bushiri die Menschen in seinem Heimatland Malawi gegen Homosexuelle auf: Schwule hätten keine Rechte, Homosexualität sei eine Sünde. Ähnlich homophobe Propaganda verbreiten Kirchen in Südafrika, Liberia oder der DR Kongo. In Uganda betrieben evangelikale Missionare aus den USA sogar Lobbyismus für ein Gesetz, das die Todesstrafe für Homosexuelle vorsah. Eine Ausnahme ist das "House of Rainbow", in Nigeria bekannt als die "schwule Kirche", deren schwuler Pastor Jide Macaulay sexuelle Minderheiten begrüßt. +Wer seine Pforten für Minderheiten und Benachteiligte öffnet, erreicht jedoch längst noch nicht die Popularität eines Shepherd Bushiri, von dessen vermeintlichen Wundertaten sich auf You- Tube zahlreiche Aufnahmen finden: Vor Tausenden Anhängern erweckt Bushiri einen toten Jungen zu neuem Leben. Aidskranke berichteten von ihrer Heilung. Und natürlich kann Bushiri über dem Boden schweben. Sein Zauber beeindruckt offenbar viele Gläubige – und lässt bei Bushiri die Kasse klingeln. Online kann man von ihm beworbenes Salböl für 60 Dollar pro Fläschchen kaufen. Eine süd afrikanische Zeitung berichtet, eine Privataudienz bei Bushiri koste umgerechnet über 300 Euro. Bushiri bestreitet, dass er sich an den Einnahmen bereichert. Dennoch konnte er seiner Anhängerschaft auf Facebook vergangenes Jahr nicht ohne Stolz verkünden, seinen dritten Privatjet in zwei Jahren gekauft zu haben: Die Fotos zeigen ein luxuriös ausgestattetes Flugzeug. Kaufpreis: 37 Millionen Dollar. Einem Facebook- Nutzer, der anmerkte, dass Bushiri mit dem Geld lieber Bedürftigen helfen sollte, entgegnete der Prediger: "Wann verkaufst du dein Handy, mit dem du diese Nachricht geschrieben hast, um das Geld den Armen zu spenden?" Seinen Erfolg rechtfertigt der Prediger als Gottes Willen. In Bushiris eigenen Worten: "Ich bin ein Gewinner." diff --git a/fluter/halligen-nordsee-folgen-klimawandel.txt b/fluter/halligen-nordsee-folgen-klimawandel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e53913a3d1e59763a54b437a754a4e0b37ccd15c --- /dev/null +++ b/fluter/halligen-nordsee-folgen-klimawandel.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +In Zeiten des Klimawandels ist diese Routine nicht mehr selbstverständlich. In seinem jüngsten Bericht prognostizierte der Weltklimarat einen Meeresspiegelanstieg in den kommenden 80 Jahren um bis zu 1,10 Meter. Nie zuvor ist er in den letzten Jahrhunderten in so kurzer Zeit so stark gestiegen. Im schleswig-holsteinischen Umweltministerium bereitet man sich gar auf Szenarien von bis zu zwei Metern vor. Sturmfluten der Nordsee könnten die Halligen sogar eines Tages ganz verschwinden lassen. Beim Klimawandel sitzen ihre Bewohner also in der ersten Reihe.Die Hooger müssen sich anpassen– doch in welchem Ausmaß sind sie dazu bereit? +"Ich glaube fest daran, dass die Halligen für die kommenden 100 Jahre bewohnbar sind", sagt Michael Klisch. Dieser Satz klingt beruhigend, zumal wenn er vom stellvertretenden Bürgermeister, der eine tiefsitzende Ruhe verströmt, vorgetragen wird. Zum Thema Küstenschutz hat er viel zu erzählen. Der "Blanke Hans", so nennt man hier die Nordsee bei Sturmfluten, ist seit jeher ein Teil des Lebens auf den Halligen, und seit jeher reagieren die Hooger auf ihn auf dieselbe Weise: Sie erhöhen ihre schützenden Warften. Doch können Extremereignisse in Zukunft öfter eintreten, wie Sturmtief Xaver vor sechs Jahren verdeutlichte. Damals stoppten die Wellen der Nordsee nur wenige Zentimeter vor den Haustüren der Bewohner. Klisch ist sich sicher, dass der übliche Werkzeugkasten erweitert werden muss. + + +Weltweit machen sich Schüler für das Klima stark– und somit auch für das Schicksal der Halligen +Platziert auf einem "Tisch" mit hydraulischen Beinen, ließen sich die Häuser anheben, erklärt Klisch. Noch besteht das Hydraulik-Haus nur in den Plänen von Architekten. Realität sind derweil die Schutzräume, über die mittlerweile die meisten Häuser auf den Halligen verfügen. Auf den ersten Blick lassen sie sich nicht vom Rest der Wohnung unterscheiden. Ihre Fundamente aber ragen mehrere Meter tief in den Boden hinein und bieten Standfestigkeit, wenn alles andere ins Schwimmen gerät. Das Problem solcher Zukunftsvisionen: Für den Schutz ihrer Häuser sind die Bewohner selbst zuständig – und das kostet meist eine Menge Geld. +Effektiver wäre es, meinen einige, die Hallig als solche zu schützen. Der politische Wille ist da: Die schleswig-holsteinische Landesregierung schrieb den Schutz der Halligen in ihren Koalitionsvertrag. Anders als viele ebenfalls vom steigenden Meerwasserspiegel bedrohte Inseln in der Südsee sind die notwendigen finanziellen Mittel vorhanden, mit denen die Hallig zukunftssicher gemacht werden kann. Die Frage, die sich nun stellt, ist die nach demWie. + + + + +Könnte man nicht einfach einen großen Deich um die Hallig herumbauen? Diese auf den ersten Blick so einleuchtende Lösung findet auf Hooge wenig Freunde.Denn wer die Nordsee aussperrt, macht aus der Hallig eine Insel– damit wäre sie nicht mehr so besonders, also touristisch auch weniger interessant, und die charakteristischen Lebensräume der Salzwiesen, auf denen Jahr für Jahr um die 60.000 Vögel brüten, würden verloren gehen. Experten verweisen zugleich auf die Gefahr, die ein hoher Deich mit sich bringen könnte. Denn sollte die Nordsee diesen einmal überwinden, würde die dahinter liegende Hallig volllaufen wie eine Badewanne, bei der der Abfluss nicht funktioniert. +DieArbeitsgruppe Halligen 2050, in der unter anderem Vertreter des schleswig-holsteinischen Umweltministeriums, die Bürgermeister der Halligen und einige Umweltschützer zusammenarbeiten, plädiert für eine andere Lösung: Nachhaltiger sei es, die Halligen häufiger überschwemmen zu lassen. Jede Überschwemmung ist für sie eine lebenserhaltende Maßnahme, denn dann lagern sich Schlick und Sand ab und lassen das Land anwachsen. +Auf Hooge sind das rund 2,6 Millimeter im Jahr. Gleichzeitig nimmt der durchschnittliche Hochwasserstand im gleichen Zeitraum um 4,6 Millimeter pro Jahr zu. Sich für die Zukunft zu wappnen bedeutet auf Hooge: im Hier und Jetzt auf Lebensqualität verzichten. Denn wer möchte schon den Gang zum Supermarkt, den Besuch auf dem Festland oder einfach den geselligen Skatabend beim Nachbarn um zwei Tage verschieben, weil sämtliche Straßen mal wieder unter der Nordsee verschwunden sind? +Nicht alle Bewohner sehen den Klimawandel als oberste Priorität an. "Es gibt wichtigere Probleme" ist immer wieder von einzelnen Halligbewohnern zu hören: Das Leben auf der Hallig ist teuer, die Arbeitsmöglichkeiten limitiert und Neubürger wie Lehrerin Manuela Warda selten. Zukünftige Umweltprobleme, an die man sich heute schon anpassen soll, sind nicht immer leicht zu vermitteln. +Dabei ist der Klimawandel in Hooge schon heute zu bemerken. Allerdings eher an Konto- als an Pegelständen: "Viele Banken geben für den Bau oder Kauf eines Hauses auf der Hallig keine Kredite mehr", erzählt Klisch. Bei Laufzeiten von 30 Jahren sei nicht sichergestellt, dass die Gebäude nach dieser Zeit überhaupt noch stehen werden. Ob die Lehrerin Manuela Warda dann noch auf Hooge wohnen wird? Erst einmal muss sie den ersten Winter auf der Hallig und die erste Sturmflut erleben. Mental ist sie in diesem Hinblick jedoch schon auf einer Linie mit den übrigen Hoogern: "Wir haben keine Angst vor dem Meer. Aber Respekt." + + diff --git a/fluter/hallo-ich-bin-arne-sprich-mich-an.txt b/fluter/hallo-ich-bin-arne-sprich-mich-an.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..15ec2fdf981e638023926d90a7bb338709276015 --- /dev/null +++ b/fluter/hallo-ich-bin-arne-sprich-mich-an.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Mein Problem: Wenn ich jemanden ansprechen will, dann tue ich das nicht, sondern spiele es erst in meinen Gedanken durch. Und habe dann direkt tausend Gründe parat, warum ich ab­gelehnt werden könnte. Und abgelehnt werden will ich nicht. +Andererseits will ich auch keine Angst vor Ablehnung haben. Also nehme ich mir vor, meine Angst abzulegen. Dafür habe ich ein prominentes Vorbild: den amerikanischen Psychologen Albert Ellis. Der war als Jugendlicher extrem schüchtern und setzte alles daran, sein Verhalten zu ändern. Als er 19 war, in den 1930er Jahren in New York, zwang er sich dazu, trotz seiner Angst im Park um die Ecke Frauen anzusprechen. "Wenn ich dabei sterbe, sterbe ich eben", sagte er. Von 130 Frauen, denen er sich innerhalb eines Monats auf den Parkbänken näherte, liefen 30 gleich weg. Mit den verbleibenden 100 plauderte er über alles, was ihm in den Sinn kam, vor allem über Vögel und Blumen. Parkzeug eben. Das führte aber zu nichts: 99 der 100 lehnten sein Angebot für ein Date ab. Und Nummer 100 erschien nicht zum verein­barten Treffen. +Auch wenn Ellis' Quote nicht überragend war, war er erfolgreich: Denn er lernte bei seinem Vorgehen, dass er beim Ansprechen von Frauen nicht stirbt. Oder wie er es selbst ausdrückte: "Nichts ist furchtbar oder schrecklich, es nervt einfach nur." Als Psychologe entwickelte Ellis dann später eine Verhaltenstherapie aus seinen Erfahrungen. +Ich will es Ellis also nachmachen und kündige im Freundeskreis an, in den Park zu gehen. "Das ist doch Unsinn", sagt mein Freund Nuri. "Du musst etwas machen, was du gerne machst. Dann findest du jemanden, der die gleichen Interessen hat wie du." Ich könne zum Beispiel Beachvolleyball spielen. "Außerdem macht ihr dann beide Sport, das Adrenalin pumpt in euren Körpern. Und sie findet dich gleich attraktiver." "Aber ich gehe gern in Parks", sage ich. +Letztlich überzeugen mich meine Freunde aber, dass das eine schlechte Idee ist. "Wer spricht heute noch Frauen auf Parkbänken an?", fragt mein Freund Lars. "Das machen doch nur gruselige Typen." Ich muss mir also was anderes überlegen. Wie spricht man Frauen heut­zutage denn an? +Ich schaue mir auf Youtube an, wie es die Profis machen. Männer, die in kurzen Clips zeigen, wie sie, ohne zu zögern, die heißesten Frauen auf der Straße ansprechen und mit ein paar coolen Sprüchen innerhalb von einer Minute reihenweise Telefonnummern einsammeln. Pick-up-Artists nennen die sich. Ich bin von deren Kunst auch direkt eingeschüchtert und hoffe, dass diese unsympathischen Typen im echten Leben Frauen netter behandeln. So überheblich wie die will ich nicht sein. +Lars ist ein großer Fan der Pick-up-Artists. Er meint, ich solle auf eine Frau in einer Bar zugehen und sie fragen, ob sie ungefähr das Gewicht von Eis­bären wisse. Sie würde das vermutlich nicht wissen, und ich solle dann antworten: "Genug, um das Eis zu brechen. Hallo, ich bin Arne."Ich bin von seinem Vorschlag nicht so begeistert. Denn sollte eine Frau auf so einen Spruch positiv reagieren, würde ich mich nicht weiter mit ihr unterhalten wollen. Ich will Frauen ansprechen, ich will mich nicht wie ein Idiot aufführen. +Muss also das Internet helfen. Ich lade mir Tinder herunter, eine Dating-App für Smartphones, die gerade en vogue ist. Sie erkennt meinen Aufenthaltsort und zeigt mir dann Profilbilder von Frauen in meiner Umgebung an, die grundsätzlich Interesse haben, sich mit Männern zu treffen. Wenn ich Lust habe, Kontakt mit einer von ihnen aufzunehmen, ziehe ich ihr Foto nach rechts. Wenn ich nicht will, nach links. Kurz hintereinander bekomme ich allerlei Frauen aus meiner Umgebung präsentiert: Seda, 25, ja; Franziska, 19, nein; Julia, 22, nein; Sara, 27, ja. Und so weiter. Das Raffinierte an Tinder: dass ich massenweise von Frauen abgelehnt werde, bekomme ich gar nicht mit. Denn nur wenn ich jemanden kennenlernen möchte und die Person mich auch, benachrichtigt mich die App. Die Absagen sind unsichtbar. +Zunächst überlege ich noch, wem ich zu- und wem absage, klicke auf die Profilbilder und suche nach weiteren Infos. Bald aber klicke ich Frauen nur noch wahllos nach links oder rechts und versuche, die Frauenliste aus meiner Umgebung erschöpfend abzuarbeiten. Eine halbe Stunde bleibt mein Handy still, obwohl ich Dutzenden Frauen ein Herzchen gesendet habe. Als sich dann schließlich doch etwas tut und Melanie, 28, Interesse an mir zeigt, habe ich schon längst die Lust verloren. Im Kaufhaus der Bekanntschaften verliert die einzelne für mich schnell an Wert. Ich antworte Melanie nicht und lege frustriert mein Smartphone weg. Ich fürchte, dass ich meine Angst vor Ablehnung nur dann verlieren kann, wenn ich meine eigenen vier Wände verlasse. Vielleicht ist es ja nötig, abgelehnt zu werden, um sich dann über Zusagen freuen zu können. +Freitagabend, ich bin mit Freunden in einem hippen Club in Berlin-Mitte. Mir fallen sehr viele Ausreden ein, warum ich gerade in diesem Moment keine Frau ansprechen sollte. An der Bar sitzt eine Frau alleine mit einem Drink. Ach, ich kenne schon genug Menschen, sag ich mir. Ich muss mir doch nichts beweisen, denke ich. Aber dann gebe ich mir einen Ruck: Nicht die Angst ist das Problem, sondern die Angst vor der Angst! Ich habe mir für den Abend einen Trick aus der Verhaltenstherapie geborgt. Mein Ziel ist es nicht, die Telefonnummern von Frauen zu erhalten, sondern Absagen. Wenn sie zusagen, gut, wenn sie mir einen Korb geben, umso besser – Ziel erreicht! +Also gehe ich entschlossen die sechs Schritte zur Bar, stelle mich neben die allein dort sitzende Frau, strecke meinen Arm zur Begrüßung aus und sage: "Hallo, ich bin Arne. Willst du dich zu uns setzen?" "Nein", sagt sie. Sie warte auf jemanden. Dabei lächelt sie zwar, aber mehr bekomme ich nicht mehr von ihr mit. Schnell verabschiede ich mich und fliehe zurück an den Tisch zu meinen Freunden. Gleich komme ich ins Grübeln: Hätte ich fragen sollen, auf wen sie wartet? War ich zu direkt? Die Fragen spüle ich mit einem Bier hinunter. So schlimm war die Absage eigentlich nicht, aber meinen Elan hat sie mir doch genommen. Ich hab eigentlich gar keine Lust, Körbe einzusammeln, merke ich. Den Rest des Abends spreche ich niemanden mehr an. +Am nächsten Tag schöpfe ich neuen Mut. Auf dem Weg zur Uni nehme ich mir vor, die dritte Frau, die mir entgegenkommt, anzusprechen. Die erste kommt vorbei, die zweite kommt, die dritte ... lasse ich lieber vorbeiziehen. Die sah nicht so freundlich aus, finde ich. Also noch mal: Die erste kommt vorbei, die zweite, die dritte ... Ich versuche, Augenkontakt aufzubauen, und lächle, aber sie bemerkt mich nicht und geht vorbei. Bei der nächsten Frau klappt es aber. Ich lächle sie an, sage "Entschuldigung" und improvisiere dann: "Ich mache gerade ein Experiment. Würdest du mir deine Handynummer geben, wenn ich dich danach fragen würde?" "Nee", sagt sie. "Ich kenne dich doch gar nicht." Da hat sie recht, finde ich und gehe weiter. Gut, dass ich sie nicht nach ihrer Handynummer gefragt habe. +Ich hab keine Lust mehr, Frauen anzusprechen. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ihnen das unangenehm ist. Schließlich werden viele Frauen dauernd in der U-Bahn, im Fahrstuhl, auf der Straße blöd angemacht. Und ich will keine Frau ansprechen, nur weil sie mich angelächelt hat. Dass ich meine Angst loswerden will, rechtfertigt nicht, dass sich andere unwohl fühlen. Ich brauche eine neue Taktik. +Was bisher geschah: Arne will eine Frau kennenlernen, will aber nicht mit blöden Sprüchen nerven. Er hat eine Dating-App probiert, in einer Bar sein Glück versucht – beides vergeblich. +Die ideale Welt für mich: Wenn jede Person mit anderen so sprechen würde, als ob sich alle kennen würden. Ohne Unterschiede zwischen Bekannten und Fremden, unkompliziert, freundlich. Und Ablehnungen sind dann auch nicht mehr so schlimm. Ich ändere also mein Vorgehen: Mein Ziel, Frauen anzusprechen, um eine Zusage oder Ablehnung zu bekommen, ist falsch. Mein Ziel ist es, einfach mit Menschen ins Gespräch zu kommen, des Gesprächs wegen. Gleichzeitig will ich aber niemanden mehr ansprechen.Deswegen bastele ich mir ein Schild, das ich mir umhänge. Darauf steht groß auf Deutsch und Englisch: "Hallo, ich bin Arne. Ich bin freundlich. Sprich mich an!" +Samstagnachmittag, ich stelle mich auf eine belebte Straße in Berlin-Kreuzberg, schaue jede Person aufmerksam an, die mir über den Weg läuft, und hoffe, dass ich angesprochen werde. +Das passiert öfter, als ich gedacht hätte. Allerdings sind es vor allem Touristen, die mich nach dem Weg fragen. Ein Engländer fängt ein Gespräch über Fußball mit mir an, ein Pärchen aus Köln erzählt mir von seinen Erlebnissen in Berliner Techno-Clubs. Und dann ist da noch Mateja. Mateja ist für ein Seminar in Berlin. Sie fragt mich, warum ich das Schild trage, und ich erzähle ihr von meinem Experiment. Mateja fängt an zu lachen. "Das finde ich gut", sagt sie. Sie sei Psychologin und habe während ihres Studiums einige Techniken gelernt, mit denen man Menschen ansprechen könne. "Kennst du Albert Ellis?", will sie wissen. "Der ist mein großes Vorbild", antworte ich und lächle zurück. Und dann frage ich sie: "Wollen wir einen Kaffee trinken gehen?" diff --git a/fluter/hallo-taxi.txt b/fluter/hallo-taxi.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6fadd5222f83a8f53af21e33fbaf0176a76e0b4d --- /dev/null +++ b/fluter/hallo-taxi.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Wie muss man sich überhaupt eine Gentherapie vorstellen? Ist das ein einmaliger Eingriff? Oder gibt es Medikamente, die regelmäßig eingenommen werden müssen? +Der große Vorteil der Gentherapie liegt darin, dass es ein einmaliger Eingriff ist. Ein Beispiel: Schwere Immundefekte können entweder durch eine Stammzelltransplantation eines passenden Spenders oder durch eine Gentherapie geheilt werden. Dafür entnimmt man den Patienten die Blutstammzellen und führt dann mithilfe von sogenannten Gen-Fähren oder Gen- Taxen eine gesunde Kopie des Gens in die Blutstammzelle ein. Aus den genetisch korrigierten Stammzellen entsteht dann wieder ein normales Immunsystem. +Das hört sich nach einem einfachen Verfahren an – ganz so, als gäbe es keine Risiken bei einer Gentherapie. +Die Risiken heutzutage liegen meistens in der mangelnden Effektivität. Das heißt, dass die Gene, die neu eingeschleust werden, nicht genau die Funktion übernehmen, die das defekte Gen im Körper hatte. Noch vor einigen Jahren bestand bei einer Gentherapie an Stammzellen die Gefahr, dass sich aus einer Blutstammzelle eine Leukämiezelle entwickelt. Die eingefügten Gen-Fähren hatten die Regulation potenziell krebsauslösender Gene beeinflusst. Mittlerweile haben wir das Problem jedoch erkannt und wissen, wie wir bessere Gen-Fähren herstellen und keine Leukämie mehr auslösen. +Wer kann eine Gentherapie überhaupt in Anspruch nehmen? Auch der normale Kassenpatient? +Leider nicht. Noch ist Gentherapie eine experimentelle Studie. Im Moment gibt es weltweit praktisch keine Gentherapie, die von einer Krankenkasse bezahlt wird. Gentherapien laufen über Forschungsprojekte und Studien und werden meist über Drittmittel oder durch Firmen finanziert. In Europa gibt es bisher zwei zugelassene Gentherapeutika: zum einen gegen einen schweren Immundefekt, zum anderen gegen eine seltene Fettsäurestoffwechselkrankheit. Dafür kostet die Therapie bis zu einer Million Euro, und natürlich gibt es da die Diskussion, wer das übernimmt. Allerdings kann man davon ausgehen, dass sich die Therapiekosten in Zukunft verringern werden, je mehr Gentherapeutika hergestellt werden. +In letzter Zeit hört man immer wieder von der Gentechnik-Methode namens CRISPR/Cas. Können Sie uns erklären, was sich dahinter verbirgt? +Im Gegensatz zur konventionellen Gentherapie kann man mit der CRISPR/Cas-Methode ganz gezielt das Erbgut verändern. Man benutzt dafür sogenannte Gen-Scheren, die man spezifisch für bestimmte genetische Erkrankungen herstellen kann. Damit steuert man ein ganz bestimmtes Gen an, schneidet es auf und tauscht dann die Sequenzabfolge, die die Krankheit verursacht, gegen eine gesunde aus. Das bedeutet, wir können wirklich da eingreifen, wo die Krankheit entsteht. Das ist eine Revolution. Im Labor funktioniert es schon extrem gut. Jetzt ist es eine Frage der Zeit, wann die ersten Studien am Menschen durchgeführt werden. +Spätestens dann bekommen ethische Fragen eine neue Dimension. +Was ethisch vertretbar ist und was nicht, wird bereits intensiv in Fachgesellschaften und zum Teil auch in den Medien diskutiert. Ich bin der Meinung, dass dabei klar unterschieden werden muss: Greifen wir in das Erbgut von Embryonen ein, um einen genetisch veränderten Embryo zu schaffen, der dann auch zur Welt kommt? Oder verwenden wir die Technologie in Körperstammzellen, weil wir einen therapeutischen Effekt erzielen wollen? In unserem Freiburger Institut für Zell- und Gentherapie setzen wir auch CRISPR/Cas ein – aber nur an Körperstammzellen. Bisher ist es in Deutschland verboten, in das Erbgut von Embryonen einzugreifen. Weltweit existiert allerdings kein Verbot. In Großbritannien ist es zum Beispiel für Forschungszwecke erlaubt, das Erbgut von Embryonen zu verändern. In den USA, Japan und China gibt es keine strikte Regelung. Häufig spielt die Ethikkommission der entsprechenden Universität eine große Rolle dabei, ob solche Studien zugelassen werden oder nicht. China geht allerdings mit großen Schritten voran. Dort sind bereits einige Experimente an Embryonen umgesetzt worden, die bestimmte Gene ausschalten. Ob das ethisch vertretbar ist, muss schlussendlich jeder Wissenschaftler selbst entscheiden, wenn er in diesen Ländern arbeitet. +Wer sind die kommerziellen Profiteure von Gentherapien? +In Zukunft die großen Pharmakonzerne. Im Moment investieren sie aber noch sehr viel Geld. Erst wenn man nicht nur seltene Erbkrankheiten behandeln kann, besteht die Möglichkeit, Geld mit Gentherapien zu verdienen. Bisher ist das nicht der Fall. +Inwieweit sind Behandlungswerkzeuge wie CRISPR/Cas bereits in der medizinischen Praxis angekommen? +In den USA wurde jetzt eine erste klinische Studie an Patienten zugelassen. Dabei geht es um eine Immuntherapie bei Krebs. Man muss sich das so vorstellen: Um Krebszellen zu bekämpfen, braucht man bestimmte Immunzellen – die heißen T-Zellen. Diese hat man für die Studie so verändert, dass sie die Krebszellen erkennen und eliminieren können. Bei experimentellen Studien vor zwei Jahren verschwanden nach der Therapie bei über 75 Prozent der behandelten Leukämiepatienten alle Krebszellen, das heißt, die Patienten hatten den Krebs komplett überwunden. Das wurde als großer Erfolg gefeiert. In den nächsten Jahren – davon geht man aus – wird über eine Milliarde Dollar in die CRISPR/Cas-Therapie fließen. +Seit wann ist es in Deutschland erlaubt, Menschen mithilfe von Gentherapie zu behandeln? +Vor circa zehn Jahren gab es die ersten klinischen Studien, alle bezogen sich auf Immundefektkrankheiten. Allerdings sind sie nicht erfolgreich verlaufen – vielleicht, weil die falschen Gen- Fähren eingesetzt wurden. Ein generelles Verbot gab es jedoch nie. Es war mehr eine Frage der Technologie: Wie weit sind wir, um überhaupt effektiv Gentherapien durchzuführen? +Angenommen, ich habe eine seltene Erbkrankheit und die Ärzte schaffen es, das dafür verantwortliche Gen zu reparieren. Werden meine Kinder dennoch daran erkranken können? +Ja, denn die Therapie setzt immer nur beim Patienten an. Wir dürfen per Gesetz nicht in die Keimbahn eingreifen, sprich: Wir dürfen nicht das Erbgut von Spermien oder Eizellen verändern. Nur dann würde es an die Nachkommen weitergegeben werden. Wenn wir also einen Patienten mit einer Erbkrankheit therapieren und er seine Krankheit überwindet, wird sie an seine Nachkommen weitergegeben werden. Wenn wir also einen Patienten mit einer Erbkrankheit therapieren und er seine Krankheit überwindet, werden seine Nachkommen immer noch das defekte Gen besitzen. +Gibt es auch schon gentherapeutische Erfolge bei Aids? +Bei HIV-Infektionen gibt es zwar gentherapeutische Ansätze, aber noch keine wirklichen Erfolge. Vieles sah im Tierversuch sehr vielversprechend aus, hat sich dann aber nicht eins zu eins auf den Menschen übertragen lassen. Einfach, weil der Mensch viel komplexer ist. Seit CRISPR/Cas besteht die Hoffnung, dass man Gen-Scheren zur Heilung von HIV effektiv einsetzen kann. +Bei welcher Krankheit kann man denn heutzutage am meisten erreichen durch Gentherapie? +Die unglaublichsten Erfolge sind bei der Bekämpfung von Leukämie erzielt worden. Mehr als 300 Menschen, die nur noch eine Lebenserwartung von wenigen Monaten hatten, sind durch Gentherapie therapiert worden. Aber auch bei Immundefekterkrankungen konnten bereits viele Patienten gerettet werden. +Wie weit sind wir noch entfernt von einer routinemäßigen Reparatur unseres Genoms bei Erbkrankheiten? +Irgendwann wird es dazu kommen. Aber die Frage bleibt, wie zugänglich die Organe und Zellen sind, die wir therapieren müssen. Wenn ich eine Blutkrankheit oder Immunkrankheit therapieren will, weiß ich, dass ich die Blutstammzellen korrigieren muss. Beim Blut oder auch Organen wie der Leber oder dem Auge sind die Erfolge groß. Geht es allerdings um neuronale Defekte wie Parkinson oder Alzheimer, ist es extrem schwer, die Zellen zu erreichen, die wir therapieren müssen. Das wird noch viele Jahre dauern. Im Labor können wir jedes Erbgut so verändern, wie wir es haben wollen. Die klinische Realität sieht ein bisschen anders aus. Aber eines Tages gibt es sicher auch Gen-Fähren, um alle Nervenzellen in unserem Gehirn zu erreichen. +Dr. Toni Cathomen ist Professor und Direktor des Instituts für Zell- und Gentherapie des Freiburger Universitätsklinikums. diff --git a/fluter/halten-sie-mich-fuer-tot.txt b/fluter/halten-sie-mich-fuer-tot.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1d099e459c2b8092aa3805083b5eda6273f286fa --- /dev/null +++ b/fluter/halten-sie-mich-fuer-tot.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Auf Sonntage freut er sich besonders. Da kann er endlich ein paar Aufgaben in Ruhe lösen. Mathematik ist zu dieser Zeit ein Staatssport, einer, der sowjetische Bürger selbst im Westen zu gut bezahlten Koryphäen macht – ganz ähnlich wie beim Schach, das in Russland seit jeher mit großem Eifer gespielt wird. In jedem zweiten Jahr gewinnt das Team der Sowjetunion die Internationale Matheolympiade. Auch Perelman macht 1982 mit, als 16-Jähriger. Ergebnis: Höchstpunktzahl. Goldmedaille. +Mit 16 geht er von der Schule ab, promoviert mit 24. Er beginnt sich immer mehr wie das Fach zu verhalten, das er beherrscht: logisch, nach strengen Regeln und für die meisten Menschen undurchschaubar. Ein Kommilitone erinnert sich, dass er stets dasselbe Sakko getragen und immer das Gleiche gegessen habe. Über Brot habe er oft gesprochen, das sei ihm irgendwie sehr wichtig gewesen. Die Fingernägel lässt er so lang wachsen, bis sie sich krümmen. +Perelman hat damals das Glück, in die Zeit von Perestroika und Glasnost hineinzuwachsen. Die Sowjetunion öffnet die Türen nach innen und nach außen. Anfang der 90er-Jahre  geht er in die USA, forscht und lehrt ein paar Jahre, löst ein mathematisches Meisterproblem namens "Seelen-Theorem" und kehrt 1995 zurück. Sein Spezialgebiet: Topologie. Er und seine Kollegen rätseln über "Alexandrow-Räume" und den "Ricci-Fluss". Und das Problem von Poincaré. Als er beginnt, das Problem zu erforschen, erzählt er niemandem davon. Mit gutem Grund: Einige Dutzend Mal hatten Mathematiker behauptet, das Problem von Poincaré gelöst zu haben. Sie irrten. Bis Perelman in jener Nacht im Jahr 2002 auf den Senden-Knopf drückte. +Vier Jahre später verleiht man ihm die Fields-Medaille, eine der höchsten Auszeichnungen der Mathematik, vergleichbar mit einem Nobelpreis. Perelman lehnt sie ab. Seine Begründung: Wer eines der sieben Welträtsel gelöst hat, welche Anerkennung braucht er dann noch? Weil die Poincaré-Vermutung zu den sogenannten Millenniumsrätseln gehört, bietet man ihm sogar ein Preisgeld von einer Million Dollar an. Und Perelman? Lehnt ab. Das Geld habe ein anderer genauso verdient. Mehr als mit seinem Beweis erlangt er mit diesen Gesten Weltruhm. +Doch je intensiver sich die Öffentlichkeit für ihn interessiert, desto mehr zieht er sich zurück. Reportern, die nach ihm fragen, sagt er bald: "Halten Sie mich für tot." Nur einmal noch spricht Perelman mit einer Journalistin. "Ich interessiere mich weder für Geld noch für Ruhm", vertraut er einer Reporterin des "New Yorker" an, während sie 2006 durch St. Petersburg spazieren. "Ich suche nach ein paar Freunden. Sie müssen auch keine Mathematiker sein." +Jan Ludwig lebt in Israel und arbeitet von dort als freier Journalist für deutsche Zeitungen und Magazine, unter anderem für die FAZ, GEO, ZEIT und Süddeutsche Zeitung. diff --git a/fluter/haltet-mal-die-luft-an-0.txt b/fluter/haltet-mal-die-luft-an-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8180591f427876e3a3cdc183efe9458f2ad1f455 --- /dev/null +++ b/fluter/haltet-mal-die-luft-an-0.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Es waren dann ja auch heftige Kämpfe geworden rund um Griechenland und den Euro. Van Middelaar hat die Debatten aus nächster Nähe verfolgt. Der 40 Jahre alte Niederländer sucht den richtigen Ton für Europa, er ist seit 2010 Redenschreiber von Ratspräsident Herman Van Rompuy. Dessen Rede anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU im vergangenen Dezember stammt von ihm. "Bei einer guten Rede", verrät er, "schlagen die Worte ein Band zwischen Redner und Publikum, zwischen Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit." Genau an diesem unsichtbaren Band arbeiten sie in Brüssel. +Luuk van Middelaar ist eher zufällig bei der EU gelandet. Er hat Geschichte und Philosophie studiert und als Student Kolumnen in niederländischen Zeitungen geschrieben. Die gefielen dem niederländischen EU-Kommissar Frits Bolkestein so gut, dass er ihn kurzerhand zum Vorstellungsgespräch einlud. "Ich wusste so gut wie nichts über die Arbeitsweise der EU", gesteht van Middelaar. Den Job als Bolkesteins Berater hat er dennoch bekommen. Seine Doktorarbeit "Passage nach Europa. Wie ein Kontinent zur Union wurde" hat später den Europäischen Buchpreis erhalten. Kein Wunder, dass Van Rompuy ihn in sein Team holte. Auf die Frage, was den Reiz ausmacht, für Europa zu arbeiten, sagt van Middelaar nur: "Das ist Politik in der Champions-League-Klasse." +Europas höchste politische Spielklasse ist ein undurchschaubarer Ort: Rund 45.000 Beamte arbeiten hier an Europas Zukunft. Aber außerhalb Brüssels wird das Niveau gern verkannt. Schon der Soziologe Max Weber hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor dem Beamten als "Fachmensch ohne Geist" gewarnt. Der österreichische Autor Robert Menasse notiert: ",Brüsseler Bürokratie' ist heute der Begriff, unter den immer wieder generell subsumiert wird, was im je Einzelnen Kritik oder Ressentiment, Wut oder Verachtung auslöst." +Dieses Brüssel will ja immer irgendetwas von den Menschen. Es hat Europas Studierenden den Bachelor beschert, Europas Städten die Feinstaubrichtlinie, und gegen die Kraft der Natur hat es Brüssel sogar geschafft, die Gurke gerade zu biegen. Das Problem ist nur: Dieses "Brüssel", über das sich ganz Europa gern erregt, gibt es eigentlich gar nicht. Brüssel ist eine Stadt in Belgien, die EU in Brüssel aber, das sind der Rat, über den die Mitgliedsstaaten versuchen, ihre nationalen Interessen zu verteidigen, die Kommission als Europas gemeinschaftliche Verwaltung und das Europäische Parlament als direkt gewählte Vertretung des Volkes. Die drei Institutionen ringen um Einfluss und Macht im Gebilde Europa. Das Ergebnis: Von der genialen Idee Europa bleibt außerhalb Brüssels nur ein Bild des Chaos übrig. Und darunter leidet vor allem das Image von Europas Beamten. +Es ist auch nicht einfach zu begreifen, dieses Europa. Dazu reicht ein Blick in den Maschinenraum. Im fünften Stock des Ratsgebäudes, auf derselben Etage, auf der auch Luuk van Middelaar arbeitet, liegen zwei unscheinbare Konferenzräume. Dort tagen einmal in der Woche die 27 Vertreter der Mitgliedsstaaten. Es geht um Saatgut, CO2-Grenzwerte für Autos und darum, wie viele Firmen künftig auf den Rollfeldern von Europas Flughäfen die Jets abwickeln. Es ist das Kleingedruckte in Europas Verträgen. Richtig sexy klingt das nicht. Und doch schicken die Staaten ihre besten Diplomaten. Es geht um nationale Interessen, und es geht um den Alltag von Millionen von Menschen. +"Wir werden allzu oft als Technokraten verkannt", sagt die Kommissionsbeamtin Mina Andreeva, 30. Wer zu ihr will, muss Luuk van Middelaar und das Ratsgebäude zurücklassen, dort grüßen zum Abschied vor dem Aufzug im Erdgeschoss die Fahnen der 27 Mitgliedsstaaten. Drüben, auf der anderen Seite der Straße, flattert vor dem Berlaymont-Gebäude, dem Sitz der Europäischen Kommission, keine Nationalflagge im Wind, sondern die Europafahne. Und das gleich 27 Mal. +Mina Andreeva sitzt unten im Pressecafé im Erdgeschoss des Berlaymont, gleich nebenan erklärt die EU-Kommission jeden Tag um Punkt zwölf Uhr ihre Politik. Es ist eine Art europäisches Mittagsgebet. Andreeva ist im bulgarischen Sofia geboren, im rheinischen Köln aufgewachsen, sie hat im niederländischen Maastricht European Studies studiert und im schottischen Edinburgh einen Master in Jura gemacht. "Europa und seine Vielfalt waren immer Bestandteil meines Lebens. Ich habe das immer als Chance gesehen", sagt Andreeva. Was lag da näher, als für die EU tätig zu werden? Andreeva arbeitet seit 2009 für die EU-Kommission und ist seit 2012 Sprecherin von Justizkommissarin Viviane Reding. Für die erklärt sie Details zur Frauenquote oder zum Datenschutz im Internet im Fall von Facebook, Google & Co. Und wenn man sie fragt, ob sie nun Deutsche sei oder Bulgarin, antwortet sie nur: "Ich bin Europäerin." In Deutschland habe sie eine gewisse Liebe zum Detail schätzen gelernt, in Bulgarien eine gewisse Lockerheit. "Obwohl", sagt Andreeva, "das kann auch die rheinländische Gelassenheit sein." +Europa wächst langsam zusammen. Und wer auf Andreevas Biografie blickt, merkt rasch: Die Generation Erasmus erobert Europa. Früher hieß es scherzhaft: "Hast du einen Opa, dann schick ihn nach Europa." Längst aber wird das Buchhaltertum in Europas Amtsstuben zurückgedrängt. Europas neue Riege ist selbstverständlich mehrsprachig, sie hat selbstverständlich im Ausland studiert und erlebt Europa längst als grenzenlosen Raum. Mal eben zum Geburtstag eines alten Studienfreunds nach Dublin, zum Liebsten nach Barcelona, zur Party nach Berlin. Europas junge Elite ist mobil, Europa ist für sie eine Chance. Die Generation Erasmus hat sie ergriffen. +So wie Helene Banner, 28. Die deutsche Mitarbeiterin der EU-Kommission hat sich früh für Europa entschieden und in einem deutsch-französischen Studiengang in Münster und Lille Politik studiert. Ein Projekt, das einst Kanzler Gerhard Schröder und Frankreichs Präsident Jacques Chirac angeschoben haben. Und ein Projekt, das zeigt: Europas Bildungsprogramme wirken. +Sie kam 2009 als Praktikantin zur EU-Kommission und ist geblieben. Jetzt arbeitet Banner im Stab von EU-Handelskommissar Karel De Gucht. Der ist heute in Indien, morgen in Südkorea und demnächst ganz viel in Amerika. Denn der Belgier De Gucht wird bald über ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA verhandeln. Von einem Markt mit 800 Millionen Menschen schwärmen Ökonomen. Helene Banner sagt: "Ich bin noch zu DDR-Zeiten in Schwerin geboren. Für mich war Europa immer ein emotionaler Moment." Und wie ist das, wenn die Emotion auf die Realität trifft? "Es ist Verwaltung", antwortet Helene Banner. "Aber es ist immer noch eine besondere Verwaltung." +Lob bekommen die Beamten aus der Brüsseler Champions League selten. Die Europamacher kämpfen gegen ein Zerrbild. "Wir werden eben durch 27 nationale Linsen betrachtet", sagt Mina Andreeva, ihr Fazit: "Europa fehlt ein Gesicht." +Luuk van Middelaar ist Redenschreiber, der Mann ist Philosoph und Historiker, der sollte doch wissen, wie sich die EU besser vermitteln lässt. Auf die Frage greift van Middelaar zu Bleistift und Papier und malt drei Kreise. Einen kleinen, tiefschwarz. "Das ist Brüssel, die Institutionen." Ein zweites Rund drumherum. "Das sind die Mitgliedsstaaten." Das größte Rund schließlich ist der Kontinent. "Die Schnittmenge", sagt van Middelaar, "ist die gemeinsame Geschichte. Und die müssen wir vermitteln." +Helene Banner hat eine ganz eigene Sicht auf die Arbeit für die EU. "Brüssel", sagt sie, "das ist Erasmus für Erwachsene." diff --git a/fluter/hamas-ueberblick.txt b/fluter/hamas-ueberblick.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..61dfb5fa4891a0b38fca00236faf4c60bce9fa0b --- /dev/null +++ b/fluter/hamas-ueberblick.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Am 7. Oktober 2023überfielen rund 3.000 Hamas-Terroristen Israel, die Terrororganisation hatte ihren Angriff mindestens über mehrere Monate vorbereitet. Der Anschlagsplan sei in israelischen Sicherheitskreisen bekannt gewesen – aber als unrealistisches Vorhaben abgetan worden, wieetwa Recherchen der "New York Times"zeigten. +Die Hamas ist zerstritten mit der moderaten Palästinenserpartei Fatah, die das von Israel besetzte Westjordanland regiert. Aus Sicht der Fatah ist die Hamas Konkurrenz. Als Partei der über Jahrzehnte gewachsenen Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) war die Fatah unter der Führung von Jassir Arafat Anfang der 1990er-Jahre in Friedensverhandlungen mit Israel getreten. Statt einen palästinensischen Staat durch Kompromisse gegenüber Israel zu verhandeln, strebt die Hamas die Vernichtung Israels und jüdischen Lebens an und die Errichtung eines islamischen Staates Palästina. + + +Vor dem 7. Oktober ließ sich beobachten, wie sich die Hamas und weitere Terrorgruppen in Teilen des Westjordanlands ausbreiteten, während die Fatah die Unterstützung der Bevölkerung verlor.Die Hamas wird teils aus dem Iran finanziert, erhält Waffen und militärische Trainings. In den vergangenen Jahrzehnten verübte sie immer wieder Terroranschläge auf Israel – unter anderem durch Selbstmordattentate und Raketenbeschuss. +Für das internationale Recht ist die Hamas eine Art blinder Fleck. Im juristischen Sinne ist die Terrororganisation ein nichtstaatlicher Akteur und damit nicht greifbar, da das Völkerrecht nur bindend ist für staatliche Akteure wie Regierungen.Deshalb hatte Südafrika die Möglichkeit, vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag eine Genozid-Klage gegen Israel einzureichen. Überlebende der Gräuel vom 7. Oktober dagegen müssen ihre Klagen an den Internationalen Strafgerichtshof richten, ebenfalls in Den Haag. Der untersucht mutmaßliche Kriegsverbrechen und kann dabei gegen Individuen vorgehen. +Infolge des Angriffs am 7. Oktober formulierte Israel das Kriegsziel, die Hamas militärisch zerstören zu wollen. Nach sechs Monaten Krieg in Gaza sollen nach Angaben der israelischen Armee mehr als 12.000 Terroristen getötet sowie Hunderte festgenommen worden sein. Unabhängig überprüfen lassen sich die Zahlen nicht. Die politische Führung der Hamas lebt mutmaßlich noch. Ihr Anführer Yahya Sinwar, der maßgeblich für den Angriffsplan vom 7. Oktober verantwortlich sein soll, ist auf der Flucht und wird in Gaza vermutet. Ismail Haniya, auch Führer der Organisation und Chef des politischen Arms, lebte schon vor Kriegsbeginn in Katar und der Türkei. +Israels Regierung ebenso wie die Militärführung haben mehrmals erklärt, dass sie Yahya Sinwar aufgreifen wollen. In der Vergangenheit funktionierte das in Zusammenarbeit mit Israels Geheimdiensten in der Regel über gezielte Tötungsaktionen, etwa Drohnenangriffe auf Verstecke. Diese hat Israels Armee nach Einschätzungen von Beobachtern in den vergangenen Monaten mehrmals durchgeführt und dabei etwa ein führendes Hamas-Mitglied im Libanon getötet: Saleh al-Aruri, stellvertretender Vorsitzender der Terrorgruppe, war im Januar durch einen Drohnenangriff in seinem Büro in Beirut getötet worden. Israel äußerte sich nicht zu dem Fall − distanzierte sich aber auch nicht. + +Titelbild: Ron Haviv/VII/Redux/laif diff --git a/fluter/hammer-job.txt b/fluter/hammer-job.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ec7ebda620d0d02cc1247751641da98bab26959f --- /dev/null +++ b/fluter/hammer-job.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Ich wohne mit sechs anderen Leuten in einer WG. Einer meiner Mitbewohner ist Tischler, der andere Zimmermann. Und irgendwann dachte ich mir: Das würde besser zu dir passen. Was mit den Händen machen, draußen sein, nicht immer nur über Texten sitzen. +Im September habe ich dann meine Ausbildung zum Zimmermann angefangen oder besser: zur Zimmerin. Wir lernen Sägen. Mechanik und Statik. Technisches Zeichnen. Welche Holzarten es gibt. Wie man Balken miteinander verbindet und Dächer baut. In einem halben Jahr dürfen wir auf der Baustelle arbeiten. +Wir sind 26 Leute in der Ausbildung, und ich bin die einzige Frau. Damit habe ich, ehrlich gesagt, nicht gerechnet. Die Jungs und die Meister gehen zum Glück entspannt mit mir um. Nur die Maurer pfeifen mir manchmal hinterher. +Als wir auf Kennenlernfahrt waren, habe ich mit drei Jungs im Zimmer gewohnt. Ich wollte nicht, dass wir getrennt untergebracht werden. Anfangs hatte ich die Sorge, dass es nervig werden würde, wenn die nur so Jungsgespräche führen. Aber es war schön. Mit uns war noch eine andere Gruppe 
da: lauter angehende Erzieherinnen mit einem Erzieher. Wir haben Lagerfeuer gemacht, und die haben uns ihre Häppchen angeboten. +Ich bin klein und schlank, aber ich baue schon Muskeln auf. Und Balken trägt man sowieso nie allein. Später arbeitet man viel mit Maschinen, da ist Muskelkraft nicht mehr so wichtig. Bei uns gibt es schnelle und langsame Jungs – ich bin nie die Schlechteste. +Nach der Schule habe ich eine Ausbildung zum Kaufmännischen Assistenten für Informationsverarbeitung absolviert. Am Ende saß ich nur noch im Büro herum und stempelte Dokumente. Genervt hat mich auch, dass ich kaum mit Menschen zu tun hatte, sondern immer nur demselben Kollegen gegenübersaß. Ich bin dann an eine Fachschule für Sozialpädagogik gegangen. Das bedeutet zwei Tage Schule und drei Tage in einer Kinder-tagesstätte. Es ist schon verrückt, dass ich dort der einzige Mann bin. Immerhin gibt es 19 Erzieherinnen. Ich finde die Sonder-rolle, die ich habe, aber ganz gut. Egal ob es meine Kolleginnen sind, die Mütter oder die Kinder – sie kommen alle sehr gern zu mir. +Ich glaube schon, dass Männer mit Kindern anders umgehen. Ich lasse zum Beispiel mehr durchgehen, bin oft geduldiger und nicht so streng. Nicht dass ich mir auf der Nase herumtanzen lasse. Die Kinder sind ja auch schlau und gehen dorthin, wo sie sich am meisten herausnehmen können. In meinem Freundeskreis gab es schon dumme Sprüche. Ob ich irgendwann noch mal was Richtiges machen würde und so. Auf solche Äußerungen hin habe ich dann immer angeboten, mal einen Tag mit mir zu tauschen, das wollte aber noch keiner annehmen. Oft wird die Arbeit, die ich mache, nicht gesehen oder unterschätzt. Darin zeigt sich die ganze Nichtachtung von solchen Berufen, die sehr wichtig für die Gesellschaft sind. +Viel Anerkennung bekommt man außerhalb der Kita also nicht, dafür bei der Arbeit umso mehr. Wenn ich mit den Eltern rede oder mit den Kindern, merke ich, wie froh die sind, dass mal ein Mann Erziehungsarbeit leistet. Besonders wichtig ist mir die ehrliche und direkte Rückmeldung der Kinder. Es heißt ja oft, dass die Jungs kaum noch Ansprechpartner haben, die sie verstehen. Das finde ich nicht, denn meine Kolleginnen sind bei Jungs und Mädchen gleichermaßen verständig. Andererseits sollten auch Mädchen durchaus von Männern erzogen werden, das ist ja in den Familien genauso wünschenswert. Für die Zukunft erhoffe ich mir, dass es etwas normaler wird, dass auch Männer in der Elementarpädagogik arbeiten. Ich mache jetzt genau das, was mir am meisten Spaß bereitet, aber ewig werde ich nicht in einer Kindertageseinrichtung bleiben. Ich will noch ein bisschen weiter, etwa mal die Leitung einer eigenen Einrichtung übernehmen oder zum Jugendamt. diff --git a/fluter/handel-der-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt b/fluter/handel-der-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f7dff05084c89504ee639f2f9497bf4e0865eb77 --- /dev/null +++ b/fluter/handel-der-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt @@ -0,0 +1 @@ +Die großen Supermarkt- und Discounter-Ketten orientieren sich an immer größeren Einzugsgebieten. Mit der Folge, dass Bewohner des ländlichen Raums für ihren Einkauf immer weiter fahren müssen. Legten die Deutschen 1982 am Tag insgesamt 219 Millionen Kilometer für ihre Einkaufsfahrt zurück, waren es 2002 bereits 444 Millionen Kilometer. Viele strukturschwache Regionen in Deutschland sind schlicht unterversorgt. Abhilfe sollen Dorfläden schaffen, in denen man das Nötigste kaufen kann. Gute Idee, wie wir finden (www.dorfladen-netzwerk.de, www.markttreff-sh.de). diff --git a/fluter/handlungsfreiheit.txt b/fluter/handlungsfreiheit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c1f3ffc8a5baffd23fc36c9b637d2637091aa497 --- /dev/null +++ b/fluter/handlungsfreiheit.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +"Der Wald ist einer der kostbarsten Schätze, die wir auf der Welt haben", davon ist die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald (SDW) überzeugt. Aber auch davon, dass wir die Bäume zu wenig beachten. Etwa die deutsche Kiefer, eine Überlebenskünstlerin: Sie wächst, wo sonst kein anderer Baum steht – in schwindelerregenden Höhen, ungeschützt vor Wind und Wetter oder auf Katastrophenflächen, zum Beispiel nach Waldbränden. Die Kiefer ist der wichtigste Baum der Forstwirtschaft, weil sie so zäh und anspruchslos ist. Und dennoch steht sie unter Naturschutz. Gemeinsam mit anderen Naturverbänden hat die SDW die Kiefer zum "Baum des Jahres" 2007 ernannt. Sie will damit auf Missstände aufmerksam machen. Auf Rodungen, künstliche Monokulturen und darauf, dass viele kaum noch eine Kiefer von einer Tanne unterscheiden können. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Landschaften zerbombt und der Wunsch der Menschen nach Natur so groß, dass sie die Schutzgemeinschaft 1947 als erste Bürger-initiative der Nachkriegszeit gegründet haben. Inzwischen kämpfen in Deutschland rund 25 000 Mitglieder für den Wald: Sie spenden Geld, pflanzen Schulwälder, unterrichten Waldkunde. Junge Erwachsene bis 27 Jahre können in der Deutschen Wald-jugend, der Jugendorganisation der SDW, mitmachen. Als Mitglied trägt man dort die Verantwortung für ein Stück Wald in seiner Nähe, pflegt und erhält es.www.sdw.de +Die Organisation WWF arbeitet im Zeichen des Großen Pandas, des Einzelgängers unter den Bärenarten. 1600 seiner Art leben noch in freier Wildbahn. Hinter dem "World Wide Fund For Nature" dagegen stehen weltweit mehr als fünf Millionen Förderer. Ihr Ziel ist es aber nicht nur, den Pandabären zu schützen: Seit seiner Gründung 1961 in der Schweiz setzt sich der WWF für den Erhalt der biologischen Vielfalt unserer Erde ein. Ganz anders als Greenpeace oder BUND versucht die Organisation aber nicht, mit medienwirksamen Aktionen Aufmerksamkeit zu erlangen. WWF setzt vielmehr auf den Dialog mit Wirtschaftspartnern und Politikern, kurzum auf Lobbyarbeit. Das System hat Erfolg: Insgesamt 374 Millionen Euro flossen im Jahr 2006 in den Spendentopf, allein in Deutschland fördern 324 000 Menschen den WWF, so viele wie noch nie zuvor. Mit den Geldern bezahlt die größte private Naturschutzorganisation der Welt ihre 4000 Mitarbeiter für die mehr als 2000 Natur- und Umweltprojekte. Fördermitglieder des WWF können zwar in der Regel nicht selbst auf Borneo Orang-Utans retten oder im Amazonasgebiet den Regenwald schützen, sie können aber eine Patenschaft dafür übernehmen. Und dabei das gute Gefühl zu haben, die Welt ein Stück besser zu machen.www.wwf.de +Eigentlich geht es darum, eine Anleitung zur Rettung der Welt zu erstellen, durch bewusstes Konsumieren. Claudia Langer ist Gründerin und Chefin von Utopia.de, einem Internetportal mit derzeit 11 000 Usern, den Utopisten. Mit Utopia.de wolle sie "den Gedanken der Nachhaltigkeit populär machen". Die Mutter zweier Kinder erzählt: "Sich im Internet zum Thema zu informieren kann die Zeit eines normalen Jobs beanspruchen!" So entstand die Idee, eine zentrale Anlaufstelle aufzubauen. Das Portal steht auf drei Säulen: Community, Wissen und Kaufen. Dazu gesellt sich offline die Utopia-Stiftung, eine Art Forschungszentrum. In der Online-Community tauschen sich User über Ideen zur nachhaltigen Lebensführung aus. Wo und wie kann man Strom sparen? Wo gibt's schöne, umweltfreundlich gefertigte Kleidung? Nach und nach soll so eine Art Wikipedia der Nachhaltigkeit entstehen. In der Abteilung "Kaufen" werden Produkte vorgestellt, die jeder zum Leben braucht und die die Umwelt nur gering belasten – aber gut aussehen. Denn das ist vielen Utopisten wichtig: Die Natur bewahren, ja, aber bitte mit Stil und nicht um jeden Preis.www.utopia.de diff --git a/fluter/handwerk.txt b/fluter/handwerk.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/hanna-brotherus-interview-essstoerung.txt b/fluter/hanna-brotherus-interview-essstoerung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5ed6063e38e22d66830d6d722357e47940c42741 --- /dev/null +++ b/fluter/hanna-brotherus-interview-essstoerung.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +Welchen Einfluss hattedie MagersuchtIhrer Schwester auf Sie? +Ich war wütend, dass sie nicht mehr mit mir Eis essen oder die Backreste aus der Schüssel kratzen wollte. Ich war eifersüchtig, weil sie die gesamte Aufmerksamkeit bekam – von meinen Eltern, von Ärzten, von Mitschülern. Irgendwann war sie das dünnste Mädchen in der Schule. Aber natürlich habe ich mir auch Sorgen um sie gemacht. Daher habe ich irgendwann angefangen, umso mehr zu essen. +Sie haben ebenfalls eine Essstörung entwickelt. +Ja, allerdings habe ich das damals nicht so wahrgenommen. Ich wollte meinen Eltern keine zusätzliche Last sein. Ich habe versucht, ein gutes Mädchen zu sein: gute Noten zu schreiben, immer die Hausaufgaben zu machen. Und ich wollte meine Eltern glücklich machen, indem ich aß. Irgendwann habe ich versucht, das mehr zu essen, was meine Schwester nicht mehr essen konnte. Ich saß in meinem Zimmer und habe Schokolade in mich reingestopft und glaubte, dass ich sie damit retten könnte. Doch stattdessen war sie irgendwann so dünn wie ein Strich, und ich wurde dicker. Uns ging es beiden nicht gut in unseren Körpern – doch nur bei ihr sah man eine Krankheit. +In Ihrem Roman beschreiben Sie die Essstörung Ihrer Schwester als Familienkrankheit, gar als Familienfluch. +Ich glaube, dass es in unserer Familie gewisse Vorbelastungen gab, die dazu geführt haben, dass meine Schwester krank wurde. Wir wurden als Mädchen dazu erzogen, immer brav zu sein, niemals wütend. Nach außen sollte unsere Familie aussehen, als sei alles schön, als hätten wir alles unter Kontrolle, das wurde uns eingeschärft. Gleichzeitig waren wir beide freie Geister, ich wurde Tänzerin, meine Schwester Designerin. Wir mussten also viel von dem, was wir sagen wollten, unter den Tisch kehren. Während meine Schwester durch die Magersucht Kontrolle über ihren Körper ausübte, verlor ich die Kontrolle über meinen. Dafür habe ich mich sehr geschämt. +Ihr Buch ist offiziell ein autofiktionaler Roman, keine Autobiografie. Trotzdem verarbeiten Sie dort Ihre persönliche Lebensgeschichte. Warum haben Sie diese Form gewählt, um sie zu erzählen? +Ich glaube, dass jeder in meiner Familie seine eigene Wahrheit hat. Mein Bruder erinnert sich etwa anders an unsere Kindheit und unsere Eltern als ich. Ich dem Buch erzähle ich aber meine Wahrheit. Dadurch wollte ich mich meiner eigenen Geschichte stellen, so wie ich sie erlebt hatte. Ich wollte keine Bilder ausschmücken, die ich aus meinem Leben hatte. Ich glaube, dass Kunst aus den Gefühlen eines Künstlers entsteht, sich dann aber mit allem vermischt, was die Fantasie hervorbringt. Meine Geschichte aufzuschreiben und dabei mit imaginären Situationen zu spielen war meine Art, dieses Kunstwerk zu schaffen. Es hat mir geholfen, die Geschichte meiner Familie zu verarbeiten. Trotzdem habe ich einige Dinge überspitzt, manche größer oder kleiner gemacht. Einiges habe ich von den Erfahrungen anderer geliehen. So war es mir möglich, Geheimnisse zu wahren. +Ein großes Geheimnis war, dass Sie schon früh ein gestörtes Verhältnis zum Essen hatten. Wie hat sich das verändert, als Sie begonnen haben, professionell zu tanzen? +Gerade beim Ballett muss man viel vor dem Spiegel stehen und seinen Körper ansehen. Das hat bei mir die Krankheit nur noch mehr getriggert. Tanz war ein Wettbewerb, den die dünnen Frauen gewonnen haben. Sie haben die Komplimente und die Solos bekommen. Daneben habe ich mich gefühlt wie ein Elefant. Wenn ich nicht erfolgreich war, dachte ich, es liege daran, dass ich nicht dünn genug sei. Tagsüber habe ich fast nichts gegessen. Ich hatte einen Kaffee und ein Stück Brot zum Frühstück, anschließend habe ich den ganzen Tag getanzt und vielleicht etwas Ananas und Joghurt gegessen. Spät am Abend gab's dann nur noch ungezuckertes Popcorn – Hauptsache, wenig Kalorien. Trotzdem war ich weder damals noch in meinem sonstigen Leben je so dünn oder so dick, dass es negativ aufgefallen wäre. +Dieses Essverhalten, das Sie beschreiben, ist – anders als Magersucht – nicht direkt sichtbar. Trotzdem ist es belastend und gefährlich für Betroffene. Wissen Menschen über solche Mischformen der Essstörung Bescheid? +Ich glaube nicht. Es wird zu wenig darüber geredet. Selbst mir fällt es schwer, über etwas zu sprechen, das nicht sichtbar ist. Aber wenn ich Vorträge zu dem Thema halte und die Anwesenden frage, wer Ähnliches erlebt hat, meldet sich fast jeder. Ich habe meine Essstörung jahrzehntelang versteckt und sehr lange gebraucht, um mir einzugestehen, dass ich eine habe. Stattdessen habe ich mir eingeredet, dass es normal wäre, wie ich esse. Erst als meine Tochter selbst Magersucht bekam und mir im Laufe ihres Heilungsprozesses vorwarf, meine Essstörung zu vertuschen, habe ich mich damit auseinandergesetzt. +Das muss schwer gewesen sein. +Ich war verzweifelt, weil ich sah, dass sich das wiederholte, was ich mit meiner Schwester erlebt hatte. In der Klinik gab es Tage, an denen wir als Familie gemeinsam mit meiner Tochter essen sollten. Ich wollte ihr unbedingt zeigen, dass ich normal esse, und habe trotzdem immer weniger gegessen. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass mich niemand verstehen würde, wenn ich mein Geheimnis offenbart hätte. Doch als sie mich damit konfrontierte, konnte ich nicht mehr wegrennen. Ich war tieftraurig, aber auch erleichtert. Es war, als wäre ich jahrelang in einem Tunnel gewesen und konnte nun endlich raus und alles um mich herum klar sehen. Ich bin froh, dass wir nun in der Familie offen über diese Probleme sprechen. Trotzdem habe ich manchmal Angst, dass die Kinder meiner Kinder, sollten sie je welche haben, ebenfalls an einer Essstörung erkranken könnten. +Ihre Tochter ist jetzt 21 Jahre alt. Haben Sie das Gefühl, dass jüngere Generationen prinzipiell anders und besser mit unterschiedlichen Körperformen umgehen können? +Ich kann nur für die Tanzwelt sprechen, und dort habe ich schon das Gefühl, dass es inzwischen wichtiger ist, fit zu sein als dünn. Es geht weniger um die perfekte Körperform als darum, dass die Person ein guter Tänzer oder eine gute Tänzerin ist. Jeder kann tanzen lernen. Als Choreografin arbeite ich mit jungen wie alten Menschen zusammen, mit Kindern mit Behinderung oder mit Menschen mit Fluchterfahrung. Alle haben andere Körper, und gerade diese Mischung ist gut. +Gleichzeitig gibt es – zumindest in Deutschland – Zahlen, die besagen, dass Essstörungen bei Jugendlichen zwischen 2020 und 2021 stark zugenommen haben. Gerade bei Mädchen. +Ich glaube, die Corona-Pandemiehat jungen Menschen sehr zu schaffen gemacht. Viele waren und sind einsam. Und wenn man dann noch ständig am Handy hockt und wenig rauskommt, kanndas einen schon sehr belasten. +Seit Beginn der Corona-Pandemie sehen Expertinnen und Experten bundesweit eine Zunahme von Essstörungen. Laut einer Studie der Kaufmännischen Krankenkasse gab es zwischen 2020 und 2021 bei 12- bis 17-jährigen Mädchen einen Anstieg um über 30 Prozent. Zudem wurden viele Betroffene, die in der Vergangenheit eine Essstörung hatten, während der Pandemie rückfällig. +Binge-Eating, Bulimie und Magersucht sind die häufigsten Essstörungen. Mischformen gibt es mindestens genauso oft. Eine Essstörung bedeutet nicht nur eine Gefahr für den Körper. Sie tritt mehrheitlich in Kombination mit einer psychischen Erkrankung wie einer Depression oder Angststörung auf und gilt als eine der häufigsten chronischen psychosomatischen Erkrankungen. Mädchen und Frauen sind häufiger von Essstörungen betroffen, jedoch erkranken auchimmer mehr Jungen und Männer. +Essstörungen sind heilbar. Therapiemöglichkeiten und Hilfsangebotehat die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aufgelistet. +Was könnte jungen Menschen helfen, die ähnlich zu kämpfen haben wie Sie damals? +Mir hat letztlich geholfen, einen guten Therapeuten zu finden, mit Freunden und meinen Kindern zu sprechen. Ich glaube, wir müssen weniger soziale und sonstige elektronische Medien konsumieren. Wir müssen raus in die Natur, mit anderen Menschen zusammen sein, reden, tanzen, singen, uns umarmen.Wir brauchen andere Menschengegen diese Ängste und gegen die Einsamkeit. Wir brauchen Liebe und Akzeptanz von anderen – aber zunächst müssen wir lernen,uns selbst zu lieben und zu akzeptieren. Das fällt mir an manchen Tagen leichter als an anderen. Für mich ist es manchmal schwer einzuschätzen, ob ich etwas esse, um anderen einen Gefallen zu tun, oder ob ich esse, weil ich Lust darauf habe und es mir guttut. Außerdem muss ich mich immer wieder neu daran erinnern, dass ich nicht dick bin. Süßes esse ich bis heute nicht. Ich kämpfe immer noch und werde wohl bis ans Ende meines Lebens kämpfen. +Dieses Interview wurde aus dem Englischen übersetzt + +Die Finnin Hanna Brotherus, Jahrgang 1968, ist Regisseurin, Choreografin und Tänzerin. +Portrait: Laura Malm +Titelbild: Linn Schröder / Sibylle Fendt -- OSTKREUZ diff --git a/fluter/hannah-arendt-macht-gewalt-wahrheit.txt b/fluter/hannah-arendt-macht-gewalt-wahrheit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..42e2bdbb80bf2cca4313c78baaa7c35f49bec24e --- /dev/null +++ b/fluter/hannah-arendt-macht-gewalt-wahrheit.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Insbesondere der Nationalsozialismus bildete die Negativfolie, vor der Hannah Arendt ihre Theorie von Politik und politischem Handeln entwickelte. Als junge Frau und Jüdin floh sie bereits 1933 aus Deutschland, zunächst nach Frankreich und später in die USA, wo sie bis zu ihrem Tod bleiben sollte, als Professorin für politische Theorie und Philosophie in Chicago und New York. 1961 reiste sie nach Jerusalem, um den Prozess Israels gegen Adolf Eichmann zu beobachten, einen hochrangigen Nazifunktionär, der die Deportation der europäischen Juden in Konzentrations- und Vernichtungslager organisiert hatte – und damit deren Ermordung. In ihrem Buch über den Prozess, der mit der Todesstrafe endete, prägte Hannah Arendt die Formel von der "Banalität des Bösen". Die Anklage zeichnete von Eichmann das Bild eines Antisemiten mit Lust am Leid der Juden. Doch Hannah Arendt erkannte in dem Mann, den sie im Gerichtssaal sah, eher einen "Hanswurst", eigentlich einen erschreckend normalen, das heißt, banalen Menschen. +Die Schilderung des Eichmann-Prozesses hat, für Arendt unerwartet, das ausgelöst,was heute "Shitstorm"heißt. Jüdische Organisationen und Aktivisten kritisierten aufs Schärfste unterschiedliche Aspekte, über die Arendt in ihrem Eichmann-Buch schreibt – und auch, wie sie davon erzählt, an­geblich mit zu wenig Einfühlungsvermögen für das jüdische Leid. +Was heute vom Fall Eichmann übrig bleibt, ist Arendts Erkenntnis, dass die farblosen Beamten von nebenan in finsteren Zeiten durchaus imstande sein können, ohne jedes Unrechtsbewusstsein ungeheuerliche Verbrechen zu begehen. Wobei man sicher hinzufügen muss, dass Adolf Eichmann nicht irgendein beliebiger Regierungsbeamter war, sondern schon vor Hitlers Machtübernahme ein überzeugter Nationalsozialist. Insgesamt aber hat Hannah Arendt eine beunruhigende Erkenntnis ausgesprochen. +Wurden solche Erkenntnisse allerdings auch politisch unbequem, sah die Philosophin sie als bedroht an. Im Aufsatz "Wahrheit und Politik" legt sie ihr Augenmerk auf "Tatsachenwahrheiten" – Ereignisse, die sich nachweisbar abgespielt haben, historische Daten etwa wie der Überfall Deutschlands auf Polen, der am 1. 9. 1939 den Zweiten Weltkrieg auslöste. Diese "Tatsachenwahrheiten", so Arendt, könnten problematisch besonders für Gesellschaften werden, in denen der totale Terror herrscht und die sich ihre Geschichte gerne selbst neu schreiben oder besser: zurechtlügen. Grundsätzlich gelte das aber auch für demokratische Staaten, wenn diese faktisch Gegebenes wie Meinungen behandelten. Dagegen bezeichnete Hannah Arendt Wahrheit 1964 als das, "was der Mensch nicht ändern kann". Die Wahrheit sei der "Grund, auf dem wir stehen, und der Himmel, der sich über uns erstreckt". +Zu der Schlussfolgerung gehört: Alles andere, was zwischen "Grund" und "Himmel" vorstellbar ist, kann, darf und soll sich ändern. Für Hannah Arendt lag das Wesentliche des Politischen in der Gestaltung unserer gemeinsamen Welt, und zwar aus unseren unverwechselbaren persönlichen Per­spektiven heraus. Politik hat Arendt als einen öffentlichen Raum der Freiheit verstanden. Das Macht-Haben hatte für sie nichts mit Zwang, Unterdrückung oder Gewalt zu tun. Vielmehr entspreche Macht "der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln", wie es in Arendts Schrift "Macht und Gewalt" von 1970 heißt. Und: Sobald sich eine mächtige Gruppe auflöse, verschwinde mit ihr auch wieder die Macht. +In diesem Sinn bedeute Politik eher, die Macht zum Handeln zu haben als die Macht zum Betrügen. Trotzdem scheint es Situationen zu geben, in denen das Lügen zum richtigen politischen Mittel werden kann. Lernen kann man das aus einem Fernsehinterview, das Hannah Arendt 1964 dem Journalisten Günter Gaus gegeben hat und das auf YouTube zu finden ist. Darin berichtet Arendt, dass sie, kurz nachdem die Nazis an die Macht gekommen waren, verhaftet wurde. Sie hatte für eine zionistische Organisation antisemitische Äußerungen im Land dokumentiert. Der Polizist, der sie verhörte, sei ihr sogar wohlgesonnen gewesen. Nur leider, leider, und das erzählt Arendt mit geradezu diebischer Freude, habe sie den armen Mann über ihre wahren Auftraggeber belügen müssen. Kurz darauf kam sie frei und verließ Deutschland. +Wenn ein ganzer Staat auf Verlogenheit fußt, ist Lügen also vielleicht das einzig Wahre. + +Titelbild: Fred Stein Archive/Archive Photos/Getty Images diff --git a/fluter/happiness-serie-iran-arte-rezension.txt b/fluter/happiness-serie-iran-arte-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e56bf09e119dce545579012b8eda6080339813c1 --- /dev/null +++ b/fluter/happiness-serie-iran-arte-rezension.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +"Happiness" zeigt aber nicht nur die Gegensätze zwischen dem Iran und dem europäischen Sehnsuchtsland, die Serie macht auch klar, wie verschieden die Lebensrealitäten innerhalb des Irans sein können: Shadi, aus wohlhabendem Haus, besucht eine gute Schule, bekommt privat Französischunterricht. Sina dagegen hat keine Arbeit und verdient mit illegalen Geschäften, was er zum Leben braucht. +Das Durchschnittsalter der Bevölkerung im Iran ist mit knapp 32 Jahren relativ niedrig, das Sagen haben aber die Alten, die das autoritäre Regime aufrechterhalten. Das Landist gespalten in Jung und Alt, in Arm und Reich. Viele junge Iraner:innen, gerade aus ärmeren Familien, sind arbeitslos; sie waren die treibende Kraft hinter denregimekritischen Protestender vergangenen Jahre, die sich vor allem an sozialen Fragen entzündeten. Die Reicheren dagegen wollen ihren Wohlstand und zumindest die Männer den Satus quo erhalten. Shadis Mutter sehnt sich nach einem besseren Leben für ihre Tochter und sich selbst. Die Figuren in der Serie, egal ob Shadi, ihre Freund:innen oder ihre Mutter, eint die Suche nach dem Glück ("Shadi" ist das persische Wort für Freude oder Glück). + +Die 15 Episoden dauern jeweils nur etwa fünf bis zehn Minuten, entsprechend temporeich wird erzählt. Trotzdem gelingt "Happiness" ein einfühlsames, ausgeruhtes Porträt von Shadi und ihren Freund:innen. Die Serienschöpfer Pouria Takavar und Yashar Alishenas sind selbst in Teheran geboren und kennen die Welt ihrer Figuren genau, ihre Lebensfreude und Verzweiflung. Takavar, Jahrgang 1995, hat bereits eine Instagram-Serie über Jugendliche in Teheran (@teh_runn) gedreht und diese für "Happiness" weiterentwickelt. Die Bilder, die er darin zeigt, wirken fast dokumentarisch – bei den beeindruckenden Wüsten- und Berglandschaften des Irans braucht es auch nicht viel Schnickschnack. +"Happiness" ist nah dran an den Protagonist:innen, einfühlsam und gleichzeitig von einer angenehmen Leichtigkeit. Dafür sorgt auch der sanfte, manchmal auch alberne Humor. Wenige Szenen reichen, und man versteht, warum Shadi zwar die Gesetze in ihrem Land hinterfragt, aber trotzdem an ihrer Heimat hängt. + +"Happiness" ist zu sehen in derArte-Mediathek. + diff --git a/fluter/happy-invasion-day.txt b/fluter/happy-invasion-day.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..31b378821fd1bfcf80878bbe3bdda442a2fdba07 --- /dev/null +++ b/fluter/happy-invasion-day.txt @@ -0,0 +1,21 @@ + +Das Datum erinnert an jenen Tag vor 230 Jahren, als der Engländer Arthur Phillip seinen Fuß in den Schlamm einer kleinen Bucht von Port Jackson setzte, nur einen Steinwurf von dem Ort entfernt, an dem heute das berühmte Opernhaus in Sydney steht. Ein Fahnenmast markiert noch heute die ungefähre Stelle. Phillip war Kapitän der sogenannten First Fleet: elf britische Schiffe, mit 550 Mann Besatzung an Deck und etwa 760 Strafgefangenen in ihren Bäuchen. +Bei den wenigsten von ihnen handelte es sich um Schwerverbrecher. Die 21-jährige Esther Abrahams etwa wurde ans Ende der Welt verbannt, weil sie eine halbe Rolle Seide gestohlen hatte. Ruth Baldwin, 26, hatte fünf Löffel geklaut. Beide wurden zu sieben Jahren Haft verurteilt. In ihrer Heimatstadt London aber waren die Gefängnisse voll. Es war billiger, sie mit auf die Boote zu schicken, als auf Staatskosten anderwärtig unterzubringen und zu ernähren. +Der 26. Januar 1788 machte die Verurteilten zu Siedlern. Aus Sicht der britischen Krone waren sie die ersten Menschen in einem Land, das sie als Terra nullius bezeichneten: unbewohntes Niemandsland. Dass die Geschichte der Aborigines zu jenem Zeitpunkt schätzungsweise mehr als 60.000 Jahre zurückreicht, war ihr egal. Bei blutigen Auseinandersetzungen und Massakern durch Kolonisten wurden in den folgenden JahrenZehntausende Aborigines und Torres-Strait-Insulaner ermordet,viele wurden in die Armut getrieben und starben durch Krankheiten und Hunger – manche Historiker sprechen von Völkermord. +Seit einigen Jahren wird die Opposition zu diesem Feiertag hörbar lauter, vor allem, seit Kevin Rudd vor zehn Jahren in seiner ersten Rede als Premierminister das Leid der indigenen Bevölkerungoffiziell anerkannte und um Entschuldigung bat. Flugzeuge kritzelten das Wort "Sorry" in den Himmel über Sydney. Im Namen des Staates bat Rudd insbesondere die Kinder der Stolen Generations um Verzeihung:Zwischen 1909 und 1969 ließ die australische Regierung Kinder von Ureinwohnern aus ihren Familien reißenund oft Tausende Kilometer von ihrer Heimat entfernt in Waisenhäusern oder weißen Familien unterbringen. Dort sollten sie "wie Weiße" erzogen werden, um später ein Arbeitsleben in der weißen Gesellschaft aufzunehmen. Besonders oft wurden sogenannte Half-Caste Children von ihren Familien getrennt: Kinder, bei denen ein Elternteil (meist der Vater) weiß war. Zeitweise wurde die Kinder in "A- und B-Kategorien" unterteilt, je nachdem, wie deutlich man ihnen ansah, dass sie indigene Vorfahren hatten. Die Präferenz der adoptionswilligen Eltern war eindeutig. + +Während die einen den Australia Day feiern, Garnelen brutzeln und kühles Blondes trinken, begehen die anderen den "Invasion Day" oder auch "Mourning Day": den Trauertag. Dieses Jahr fanden Demonstrationen in mehreren Städten statt, allein in Melbourne protestierten geschätzt 60.000 Menschen für Chancengleichheit und Selbstbestimmung für die indigene Bevölkerung – mehr, als bei den offiziellen "Australia Day"-Paraden mitliefen. +Seit Rudds Entschuldigung habe sich für die indigenen Gemeinden gar nichts verbessert, sagt June Mills. Sie gehört zu den Stammesältesten der Larrakia, die dort lebten, wo sich heute die Stadt Darwin befindet. "Die Zahl der Aborigenes und Torres-Strait-Insulaner in Gefängnissen steigt stetig. Die Zahl der Kinder, die von ihren Eltern weggenommen und in staatlichen Einrichtungen untergebracht werden, ist momentan besonders hoch. Die Geschwindigkeit, mit der unser Land und unsere heiligen Orte von Bergbauunternehmen in Besitz genommen werden, ist alarmierend." + +Tatsächlich hat fast jeder dritte Häftling in australischen Gefängnissen indigene Wurzeln, in der Gesamtbevölkerung sind es nur drei Prozent. Und über36 Prozent aller Pflegekinderstammen aus Aborigine- oder Torres-Strait-Insulaner-Gemeinden. BeimJugendarrest liegt ihr Anteil bei 53 Prozent. +Mehrere Aktivisten und Politiker, unter anderem der Parteivorsitzende der Grünen, Richard Di Natale, aber auch Prominente wie Tennislegende Pat Cash fordern nun, den Australia Day auf ein anderes Datum zu verlegen. Laut einer Erhebung des Thinktanks The Australia Institute hätten 56 Prozent der Australier nichts dagegen. Nur weniger als die Hälfte wusste,an welches Ereignis der 26. Januar überhaupt erinnert. + +Die Bloggerin Eugenia Flynn, die selbst Aborigine ist, ist gegen ein neues Datum. Indem man den Feiertag verschiebe, würde man die tatsächliche Unterdrückung der Ureinwohner leugnen. "Es würde suggerieren, dass wir einfach darüber hinwegkommen und uns als Teil der multikulturellen Gesellschaft Australiens fühlen, die es so gar nicht gibt", schreibt Flynn. Sie will den 26. Januar lieber beibehalten, um des Leides ihrer Vorfahren weiterhin prominent gedenken zu können. +June Mills dagegen plädiert dafür, den Australia Day auf einen anderen Tag zu verlegen. Zwar würde das nicht die großen Probleme lösen. Aber sie würde es zumindest als Erleichterung empfinden, wenn der Rest des Landes nicht an jenem Tag feiert, der ihr vor Augen führt, wie benachteiligt sie in ihrem Land ist. "Es wäre zumindest ein Anfang", sagt Mills und schlägt den 3. Juni vor. An jenem Tag im Jahr 1992 räumte das höchste australische Gericht den Urvölkern nach zehnjährigem Prozess das Recht auf öffentliches Land ein. Erst damit wurde offiziell: Zum Zeitpunkt der Kolonisation war Australien längst kein Niemandsland mehr. + +Kolonialwas? Mehr zum Thema Eroberungspolitik, Vertreibung und Geschichtsaufarbeitung gibt es auf bpb.de: +(Post)kolonialismus und Globalgeschichte +UN-Tag der indigenen Bevölkerungen +Vergangenes Unrecht aufarbeiten. Eine globale Perspektive + +Titelbild: Asanka Brendon Ratnayake/Anadolu Agency/Getty Images diff --git a/fluter/hasskommentare-im-internet.txt b/fluter/hasskommentare-im-internet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8e73a024df7c6697ff2c71d0aeeeb5dc558b8e24 --- /dev/null +++ b/fluter/hasskommentare-im-internet.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Tweets und Posts wie die von Weber las Kyrre Lien in den letzten Jahren zu Tausenden. Nicht aus Spaß, sondern quasi aus wissenschaftlichem Interesse. Der 28-jährige norwegische Journalist traf einige der aktivsten Hasskommentatoren und Online-Trolle weltweit. "Bislang kümmerten sich die Medien entweder um die Kommentare an sich, oder sie sprachen mit Wissenschaftlern, die zum Thema Hate-Speech im Internet forschen", sagt Lien. Er hingegen interessierte sich für die Menschen hinter dem Shitstorm und ihre Gründe, fremdenfeindliche, rassistische und homophobe Statements zu veröffentlichen. +Drei Jahre lang besuchte Lien unter anderem Leute in Norwegen, Großbritannien, Russland, Libanon, den USA und Deutschland. Entstanden ist daraus die Multimediareportage "The Internet Warriors", ein Videotagebuch mit 21 Porträts, die einen seltenen Einblick gewähren in eine sonst verborgene Welt von Leuten, die im Schutz des Digitalen teils groteske und gewaltverherrlichende Kommentare posten. +Neben Simone Weber besuchte Lien auch Robert Jackson. Anfang 50, Stahlarbeiter aus Haverhill, einer kleinen Gemeinde südöstlich vom englischen Cambridge. "Fuck Islam and dont you ever stand up for that evil cunt religion", schrieb er auf Facebook. Er hetzt gegen Ausländer, die britische Regierung und deren seiner Meinung nach zu laxe Einwanderungspolitik. All das, während ihm seine thailändische Ehefrau den Kaffee neben die Tastatur stellt. Den amerikanischen Lkw-Fahrer Nick Haynes traf Lien wenige Tage vor der jüngsten US-Präsidentschaftswahl. Der Mittvierziger wäre bereit für einen Bürgerkrieg gewesen, hätte Hillary Clinton die Wahl gewonnen. Mit seiner Meinung hielt Haynes nicht hinter dem Berg und postete im Schnitt 57-mal pro Tag, unter anderem: "Fuck u Obama u worthless motherfucker! And fuck that scumbag lying bitch Hillary! Trump is gonna wipe ur fucking names out of U.S. history!" +In Wales unterhielt sich Lien mit der Psychologiestudentin Ashleigh Jones. In ihrem Zimmer: pinkfarbene Bettdecke, kahle weiße Wände, das Take-away-Essen und der Playstation- Controller auf dem Nachtschrank. 175.000 Tweets hatte sie bis zu Liens Besuch abgesetzt. Nicht alle, aber etliche so krass wie dieser: "That bitch has really fucking pissed me off. FUCK YOU, YOU TIRED ASS SHOWGIRL CUNT GO BACK TO PARTY CITY WHERE YOU BELONG." Adressatin war die Musikerin Lady Gaga. Über den damaligen britischen Premierminister David Cameron schrieb sie: "I hope ISIS kill David Cameron." Ihre Kommentare seien schon ziemlich hart, gab Jones im Gespräch mit Lien zu. Doch sie seien in ihren Augen schlicht notwendig, um ihre Emotionen ausleben zu können. Für sie sei Twitter beinahe wie ein Tagebuch, in dem sie ehrlich ihre Meinung sage, ohne etwas zu beschönigen. Als Troll sieht sie sich selbst nicht: "Ich hab vielleicht starke Meinungen, aber sie sind einfach das – Meinungen. Für mich ist ein Troll jemand, der die Diskussion ruiniert, und das bin ich nicht." +"Das Klima, in dem online argumentiert wird, ist oft enorm hasserfüllt und aufgeheizt. Es gibt kaum noch Respekt für Meinungen, die nicht mit der eigenen übereinstimmen", be-schreibt Lien die Erfahrungen aus seinem Projekt. Überrascht habe ihn jedoch, dass diese Leute zwei völlig unterschiedliche Persönlichkeiten hätten: ein soziales, durchaus angenehmes Offline-Ego und eine Online-Version, die vor allem auf Krawall aus ist und dabei kein Blatt vor den Mund nimmt. +"Soziale Medien sind ein kulturelles Phänomen aus den USA. Dort hat die Meinungsfreiheit eine ganz andere Geschichte, Gesetzgebung und Wahrnehmung", sagt Adriane van der Wilk. Die unabhängige Forscherin aus Frankreich ist auf Genderfragen spezialisiert und veröffentlichte im September eine Untersuchung zum Thema "Cyber-Violence und Online- Hate-Speech gegen Frauen". Van der Wilks Studie belegt, dass Frauen besonders häufig Ziel von Hasskommentatoren sind. Gerade deshalb war Lien von der Waliserin Jones so überrascht – die es als Frau vor allem auf andere Frauen abgesehen hat. +Lien hat sich bemüht, ein möglichst breites Spektrum an Themen und Personen abzubilden: jung und alt, Männer und Frauen, Arbeiterklasse und gehobene Mittelschicht; politisch links beziehungsweise rechts, pro und kontra Klimawandel. Wochenlang klickte er sich durch Social-Media-Profile, verfolgte einen Shitstorm nach dem anderen. Im Schnitt dauerte es für jeden Protagonisten zwei Wochen, ehe er oder sie gefunden war. "Ich habe in dieser gesamten Zeit definitiv zu viele hasserfüllte Tweets und Kommentare gelesen", sagt Lien mit einem bitteren Lachen. Überrascht war er, wie oft die Leute auf seine Kontaktanfragen reagierten. Manche schrieben einfach, er solle als liberaler Scheißjournalist zur Hölle fahren, doch etliche waren von Liens Projekt überzeugt. Sie erkannten, dass er sie nicht besuchen wollte, um sie zu verurteilen oder zu bekehren – sondern lediglich, um zuzuhören. Sie fühlten sich ernst genommen. Sobald jemand ein Treffen zugesagt hatte, versuchte Lien, so schnell wie möglich vor Ort zu sein. Meist war er bereits zwei, drei Tage später bei den Protagonisten, um dann einige Stunden mit ihnen für sein Projekt zu verbringen. +Lien ließ die Protagonisten einige ihrer krassesten Tweets vorlesen und zeichnete mit der Kamera ihre Reaktionen auf. "Ich wollte mich bewusst im Hintergrund halten und objektiv bleiben. Der Zuschauer ist clever genug, um daraus zu erkennen, wie diese Leute und ihre Ansichten einzuordnen sind", erklärt er. Oftmals reagierten die Protagonisten mit Stolz oder Belustigung, wenn sie ihre Kommentare vorlasen. Von aufrichtiger Reue oder einem Unrechtsbewusstsein fehlte aber jede Spur, erinnert sich Lien. +Er versucht nicht zu demonstrieren, wie ideologisch und widersprüchlich seine Gegenüber denken oder handeln. Diesen Part überlässt er geschickt den Protagonisten selbst. Liens Videos leben von den stillen Augenblicken und den Zwischenmomenten. Wenn Ashleigh Jones im Anschluss an ihre Rechtfertigung kurz innehält und dann zum Limonadenglas greift. Wenn der Norweger Steinar Vetterstad verlegen lacht oder der Amerikaner Scott Munson breit in Richtung Lien grinst – mit einem selbstgefälligen Blick, der nach Anerkennung giert. +Doch was tun in einer Welt, in der – insbesondere in den sozialen Medien – mit jeglicher inhaltlichen Differenzierung zugleich Anstand und Respekt auf der Strecke bleiben? "Leider habe ich derzeit auch keine Lösung parat, wie Onlinedebatten zukünftig weniger hasserfüllt werden", sagt Lien. Es müsse eine Änderung in der Wahrnehmung der Leute her, wie wir miteinander umgehen, meint der Norweger. Doch das brauche viel, viel Zeit. +Etwa 200.000 Euro, schätzt Lien, hat das Projekt gekostet. Die meiste Unter- stützung kam von der Freedom of Ex- pression Foundation Oslo, dem "Guar- dian" sowie der norwegischen Tages- zeitung "Verdens Gang". Hier könnt ihr euch die ganze Dokumentation an- schauen:www.theinternetwarriors.com diff --git a/fluter/hauptsache-nebensache.txt b/fluter/hauptsache-nebensache.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..689a21379ce974eb3712bd920a95ea6b087b9982 --- /dev/null +++ b/fluter/hauptsache-nebensache.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Wie in mehreren Ländern Mittelamerikas ist in Nicaragua nicht Fußball, sondern Béisbol der unumstrittene Nationalsport - in den Siebzigern wurde in Nicaragua sogar zweimal die Baseball-WM ausgetragen. Auch heute hat jedes Kind einen selbst gebauten Schläger, jedes Dorf einen Béisbol-Platz, jede Region ihre eigene, kleine Liga. Falls jemand Fußball spielen will, muss er folglich auf das Béisbol-Feld ausweichen und den zentral gelegenen Werferhügel als Hindernis beim Dribbeln in Kauf nehmen. Dementsprechend schwach ist auch die Nationalmannschaft. Erst seit 1994 nimmt sie überhaupt an den Qualifikationsspielen zur WM teil und holte bei vier Anläufen gerade mal einen einzigen Punkt: 2004 beim 2:2 Unentschieden gegen die Insel St. Vincent/Grenadinen. +Nairobi, die kenianische Hauptstadt, ist gespalten: Im Westen leben die Reichen, darunter die Weißen, in bewachten Straßen und Villen, im Osten die Armen in den Slums und auf den Müllkippen. Wohl am schlimmsten sind die Verhältnisse in Mathare, hier reicht der Müll bis auf das kleine Feld der Mathare Youth Sports Association (MYSA), die vor 17 Jahren gegründet wurde, um den Kindern eine Alternative zum Betteln, Klebstoffschnüffeln und zur allgegenwärtigen Kriminalität zu bieten. Heute spielen mehr als 15000 Kinder und Jugendliche in den 1050 Sportclubs der MYSA, fünf von ihnen haben es bis in die kenianische Nationalmannschaft gebracht. Wenn diese gewinnt, was nicht sonderlich häufig der Fall ist, dannjubeln auch die Reichen – drüben, im Westen Nairobis. +Der kanadische Fußball blickt auf eine lange Geschichte zurück – lange zurückblicken muss man auch, um kanadische Erfolge zu finden. Der höchste Sieg der kanadischen Nationalmannschaft datiert aus dem Jahre 1904, als die USA mit 7:0 geschlagen wurden, der letzte Erfolg war die Teilnahme an der WM 1986. Heute spielt Fußball maximal eine Nebenrolle, Kanada ist fest in der Hand des Eishockeys und die Fußballnationalmannschaft leidet unter ihrer Erfolglosigkeit und dem Desinteresse der Kanadier. Dennoch werden internationale Turniere verfolgt. Dann schlägt das Herz der sonst sehr patriotischen Kanadier für ihre europäischen Abstammungsländer, wie etwa bei der Europameisterschaft 2004, als man in den Straßen Torontos zahlreiche portugiesische und griechische Flaggen sah. +Egal, ob auf der Straße, am Strand oder im Fernsehen: Fußball ist in Chile die Sportart, die Arm und Reich, Alt und Jung begeistert. Für den größten Erfolg der Landesauswahl der letzten Jahre blieb fast das ganze Land auf, um den Anpfiff um vier Uhr nachts mitzuverfolgen: Chile hatte das Endspiel bei den im Fußball unbedeutenden Olympischen Spielen in Sydney erreicht. In der chilenischen Profiliga dominieren seit Jahren zwei Vereine: Colo Colo und Universidad de Chile. Beide kommen, wie fast alle Clubs, aus Santi-ago de Chile, aber ihre Rivalität hat eine besondere Note. Während Universidad de Chile als Zentrum der Linken gilt, hatte Colo Colo zeitweise einen ganz besonderen Präsidenten: den faschis-tischen Diktator Pinochet. +Fußball fristete auf Trinidad & Tobago bisher ein eher unaufgeregtes Dasein. Die Ligaspiele waren mäßig besucht, Kricket begeistert die Massen. Seit der erfolgreichen Qualifikation für die WM 2006, der ersten für die Soca Warriors überhaupt, ist das ein bisschen anders. Am 19. November 2005, dem Tag des entscheidenden Spiels in Bahrain, unterbrach das Parlament seine Sitzung, Tausende waren schon mittags auf den Straßen und in den Kneipen und der Premierminister rief den nächsten Tag zum Feiertag aus. Plötzlich gab es keinen Zwist mehr zwischen den Einwohnern der beiden Inseln, zwischen den Hindus und Christen, zwischen Arm und Reich – und auf einmal wurden von den überwiegend schwarzen Anhängern auch die wenigen weißen Nationalspieler bejubelt. +Orlando Pirates oder Kaizer Chiefs? Südafrikanische Fußballfans müssen sich mit dem Herzen entscheiden, denn oberflächlich sind die Unterschiede marginal: Beide Teams kommen aus Soweto, einem südwestlichen Vorort von Johannesburg. Beide Clubs spielen im selben Stadion und sowohl Pirates als auch Chiefs waren während der Apartheid Clubs der unterdrückten Schwarzen. Überhaupt: Fußball ist in Südafrika eher der Sport der Schwarzen und der Townships, die weiße Minderheit spielt traditionell Kricket und Rugby. Mit dem Ende der Apartheid endete auch die Sperre der Fifa für Südafrika und damit die lange Dürre im südafrikanischen Fußball. 1996 gewannen die Bafana Bafana ("die Jungs") die Afrikameisterschaft, 1998 in Frankreich gab Südafrika sein WM-Debüt. Momentan sorgen zwar die verpasste Qualifikation für die WM 2006 und diverse Skandale für eine Krise, aber das wird 2010, wenn in Südafrika die erste WM des Kontinents ausgetragen wird, vergessen sein. +Gegen Rugby, Segeln, Tennis und Kricket hat Fußball in Neuseeland keine Chance. Fußball ist eine absolute Randsportart, die Nationalmannschaft zieht selbst gegen die schwachen Gegner der Australien/Ozeanien-Qualifikationsgruppe den Kürzeren, zuletzt gegen die Salomon-Inseln. Wenn Fußball gespielt wird, dann allein zum Spaß und meist ohne größere technische Finessen. Nur im Fernsehen hat Fußball einen gewissen Stellenwert: Dank der Zeitumstellung kann man die Spiele der englischen Liga am Sonntagmorgen live ansehen – als sehr frühes Frühstücksfernsehen.Illustrationen: Florian Gmach diff --git a/fluter/haus-erben-deutschland-generation.txt b/fluter/haus-erben-deutschland-generation.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2e69f8cd6700f155bf34f9f195d1d82160f76fc2 --- /dev/null +++ b/fluter/haus-erben-deutschland-generation.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Ich, ein 1990 geborener Alleinerbe, bin Bote dieser "Erbengesellschaft". In der vielfach nicht mehr Selbstverdientes darüber entscheidet, wie man lebt, sondern das Vermögen, das einem hinterlassen wird. Ein großer Teil dieser Gesellschaft wird, ob mit Abschlüssen dekoriert oder vor Ehrgeiz strampelnd, kaum je erreichen können, wofür andere nur ein Papier beim Notar unterschreiben müssen. Das Geld der Alten entscheidet über das finanzielle Glück und Unglück der Jungen. Ganz so, als steuerten wir nicht durch das 21., sondern zurück ins 19.Jahrhundert. +Die Deutschen revoltieren recht leise gegen diese Unwucht. Das liegt vermutlich daran, dass die Verständigung über den Nachlass Tabus mitbringt: Wer über Erbe spricht, kann Geld und Tod nicht auslassen. Und weil wenig so intim ist wie der Kontoauszug und das Sterben, schweigen viele lieber ganz. +Ich finde das falsch. Mein Fall, die weiß getünchten 105 Quadratmeter mit einem kleinen Erker und Terrasse, eingeklemmt zwischen zwei Eichen in einem Berliner Vorort, ist ein gutes Beispiel dafür, dass Erbe nur am Rande mit Tod und Geld zu tun hat. Klar: Zu erben, also finanziell von der Lebensleistung der Eltern zu profitieren, ist ein Privileg. Daneben geht es aber vor allem um Ideelles: Erbe ist konservierte Zeit, Ding gewordene Erinnerung. +Stehe ich vor unserem Haus, sehe ich wie in einer Art Doppelbelichtung meinen Opa, der, fast 70-jährig, im Unterhemd über den Dachstuhl klettert. Mama, wie sie Schnee schiebt im Wohnzimmer, das noch keine Decke hat. Und da hinten glimmt der rote Schädel meines Papas, der unter Ausstoß fantasievoller Flüche das Gelände zu einer Landschaft aus Steinterrassen zähmt, vielleicht in der Hoffnung, dass unser Vorort dann ein bisschen so aussieht wie Katalonien. +Wo wir schon bei Erinnerungen sind: Auch das zweite vermeintliche Tabuthema beim Erben, der Tod der Vererbenden, muss im Grunde keines sein. Dieser Text ist ja auch kein Nachruf, er zeigt meine Eltern nicht als vergangene Wesen, die ihrem Vermächtnis gütig hinterherlächeln. Er entsteht – ganz im Gegenteil – durch einen Neubeginn: Meine Eltern wollen mit Freunden eine Wohngemeinschaft beziehen, in der sie eines Tages bequemer altern können als in einem Haus voller Treppen. Und seit die beiden so klarsehen, höre ich eine Stimme. Sie spricht im Konjunktiv. Ich müsste vielleicht, sollte mal. Und hätte doch schon längst das Gespräch suchen müssen. Mit den WG-Plänen meiner Eltern wird es für mich ernst: Will ich überhaupt in unserem Haus wohnen? +Während "Ich erbe" fürstlich klingt, nach unbegrenztem Geld und begrenzten Sorgen, habe ich das Haus all die Jahre vor allem als Last erlebt. Was meine Eltern in ihren Vollzeitjobs und Überstunden verdienen, geht noch heute direkt ins Haus oder an die Bank. Meine Schulfreunde verbrachten die Ferien im Robinson-Club oder in den USA, ich verreiste mit meinen Großeltern. Eine Fernreise haben meine Eltern mit mir gewagt. Das Hotel an der türkischen Küste sah im Reisekatalog ganz nett aus, war aber noch im Rohbau. Über das Frühstücksbüfett liefen Straßenkatzen, wir reisten früher ab. Allzu lang wollten wir unser Haus ohnehin nicht allein lassen. Sie seien nicht so die Fernwehtypen, sagt Mama immer. +Meine Eltern genießen es, in diesem Haus zu leben, unter einem Dach, das keine anderen Bewohner kennt, auf der Terrasse, deren Sonnenstühle niemand reserviert. Ob sie heute noch mal eines bauen würden, bezweifeln aber beide. +Ich habe als Kind kaum etwas vermisst. Erst später fiel mir auf, wie unfrei ich dieses Leben finde. Ich bin nach Berlin gezogen, wie so viele andere. Und kann heute, in dem Alter, in dem meine Eltern sich damals für das Haus entschieden, sagen, dass ich nicht zurückkomme. Je jünger man ist, desto unwichtiger erscheint einem materieller Besitz. Das legen zumindest Studien nahe. Die Vermächtnisstudie von "Zeit", infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft und Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung nennt uns eine "postmaterialistische" Generation. Obwohl es letztlich teurer, ungesünder und auch irgendwie widernatürlich ist, lebe ich tatsächlich lieber auf wenigen Mietquadratmetern in der Großstadt. Wenn der Wasserhahn tropft, rufe ich meine Vermieterin an. Mir fehlen die Geduld und das Geschick, die mein Papa als gelernter Maschinenschlosser mitbringt. In meiner Familie sorgt das zuweilen für Heiterkeit ("Zwei linke Hände und nur Daumen dran"), mich als Hausbesitzer würde es irgendwann vermutlich aufreiben, auch finanziell. +Wirtschaftlich spricht sowieso einiges gegen mich als Eigentümer: Wer einen Kredit abzahlt oder Rücklagen bilden muss, verzichtet im Zweifel lieber einmal öfter auf Restaurants oder Kurzurlaube. Die Verantwortung, die Besitz mit sich bringt, haben meine Eltern immer betont. Das Problem:Ich verdiene weniger und weniger konstant als sie, gebe aber ganz gern Geld aus und kann die Gedanken an die finanzielle Absicherung mühelos verdrängen. Bei Riester und Rürup denke ich an Talkshowgäste, nicht an Altersvorsorge. "Besitz" kommt von "sitzen", sagt man. Für mich ist das nichts. +Trotzdem kommt mir der Gedanke, zurückzuziehen, manchmal heldenhaft vor, wie ein stiller Akt der Selbstaufopferung: da zu bleiben, wo man herkommt, zu tun, was immer getan wurde, damit alles weitergehen kann, das Haus, der Garten, die Terrasse, das Leben. Wie sagt man seinen Eltern, dass man diesen Akt nicht aufführen möchte? Und damit womöglich auch ihr Leben irgendwann in Kisten packt? Ein Riesendilemma, dachte ich. +Meine Eltern sehen das anders. Wer das Haus nach ihnen bewohnt, habe nie eine Rolle gespielt, sagt Papa. "An diesem Haus hängen Verpflichtungen", sagt Mama, "aber nicht für dich." Ich muss lächeln. Sie geben alles und gehen dann einfach unbeeindruckt weiter. Egal wie ich mich entscheide: Meine Eltern hinterlassen kein Haus oder Geld, sondern viel mehr: ihre Idee von Hingabe. + diff --git a/fluter/hausaufgaben.txt b/fluter/hausaufgaben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/hausgeklammert.txt b/fluter/hausgeklammert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/haut-bloss-ab.txt b/fluter/haut-bloss-ab.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fb024076f125893490a3e20068f3188bed4904db --- /dev/null +++ b/fluter/haut-bloss-ab.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Aber sie sind nicht die Einzigen, die die Binnenflucht anheizen. Die kolumbianische Regierung dämmte den Drogenanbau jahrelang ein, indem sie mit Militärflugzeugen Gift über den Plantagen versprühte. Dadurch gehen die Sträucher ein, allerdings greifen die Giftstoffe nicht nur die Pflanzen, sondern auch die Menschen an, die rund um die Plantagen leben. Viele flüchten, weil sie Angst um ihre Gesundheit haben. Im Mai kündigte die Regierung an, in Zukunft auf das bisher eingesetzte Unkrautvernichtungsmittel zu verzichten. Fachleute suchen jetzt neue Wege, um den Drogenanbau einzudämmen. Dann wieder fliehen die Menschen vor Massakern in ihren Dörfern. In den vergangenen Jahren sind Paramilitärs auch gegen die Landbevölkerung vorgegangen, manchmal reicht schon ein Streik der Plantagenarbeiter, damit die Gewalt eskaliert. +Baldomera hat über Unidad Víctimas in ein halbwegs normales Leben zurückgefunden. Die Helfer vermittelten ihr einen Job als Näherin. Den hat sie wenig später gekündigt und sich selbstständig gemacht. Nun schneidert sie zusammen mit anderen vertriebenen Frauen Kleidungsstücke für Supermarktketten. "Im Moment geht es mir wirklich gut, ich hatte viel Glück", sagt sie und lächelt schließlich doch für ein paar Sekunden.Manchmal gelingt es der Organisation, das Land zurückzubekommen: Laut Unidad Víctimas sind 90.000 Hektar inzwischen wieder im ursprünglichen Besitz.Die große Mehrheit der Inlandsflüchtlinge aber kann davon nur träumen, auch von einer geregelten Arbeit. Die Armenviertel im Süden Bogotás sind riesig und wachsen immer weiter. Die einzige Hoffnung für die Millionen Flüchtlinge ist ein Ende des Bürgerkriegs. Nur dann könnten sie ohne Angst in ihre Häuser und auf ihre Felder zurückkehren.Viele Tausend Menschen wurden dabei getötet. Auch sexuelle Gewalt treibt Kolumbianer in die Flucht. Hilfsorganisationen berichten von Hunderten Frauen, die ihre Heimat verlassen, weil sie dort von Männern missbraucht werden. Inzwischen bekommen die Vertriebenen endlich Unterstützung vom kolumbianischen Staat. Seit 2011 gilt ein Gesetz, das Inlandsflüchtlingen die nötigsten sozialen Standards garantiert. "Wir sorgen dafür, dass sie eine Wohnung haben, Essen bekommen, von Ärzten versorgt werden und in die Schule gehen können", sagt Maria Eugenia Morales von der staatlichen Organisation "Unidad Víctimas", Vereinigung der Opfer. diff --git a/fluter/hautfarbe-als-unterscheidungsmerkmal.txt b/fluter/hautfarbe-als-unterscheidungsmerkmal.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..66553d5481d14caf62788f24cf7fb38b0d4714c6 --- /dev/null +++ b/fluter/hautfarbe-als-unterscheidungsmerkmal.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Damit es keine Missverständnisse gibt: Klar ist es gut, erst malMenschen zu Wort kommen zu lassen, die möglicherweise selbst betroffen sind. Ich sehe es als Fortschritt, Diskriminierung mit klaren Begriffen zu benennen, um fürdie Teilhabe marginalisierter Gruppenzu kämpfen. +Nur kommt es mir so vor, dass immer öfter über das Ziel hinausgeschossen wird. Dass die Wahrnehmung vieler Menschen so sehr von Hautfarbe geprägt ist, dass sie die ganze Welt in diese Kategorie einteilen – als mache Hautfarbe einen automatisch zu einem Mitglied einer gigantischen homogenen Gruppe. Das ist fern von der sozialen Realität und besorgt mich, weil ich das Gefühl habe, dass Solidarität und Vertrauen über diese Trennlinien hinweg verloren gehen. +"Auf gar keinen Fall!", entgegnet letztens eine Instagram-Nutzerin auf die Frage, ob es okay sei, als weißer Mensch "People of Color" auf ihre Rassismuserfahrungen anzusprechen. Es sei unsensibel und festige Machtgefälle, "uns" direkt nach "unserem Trauma" zu fragen. Man solle stattdessen Bildungsangebote nutzen. +Mir, schwarzhaarig und braun, aufgewachsen in Berlin-Kreuzberg, stellen sich bei solchen Aussagen die Nackenhaare auf. Jemandem kategorisch eine Frage zu verwehren, finde ich total daneben – direkter kann man Dialog wohl nicht ersticken. Ich habe auch schonErfahrung mit Rassismusgemacht, zum Beispiel werde ich öfters mal als Kanake beschimpft (mein Vater kommt aus Indonesien BTW), auch schon von Polizisten. Wer mehr darüber wissen will, kann mich gerne danach fragen. Ich kann allerdings nur für mich und meine Erfahrung sprechen. +Vor zwei Jahren war ich auf einem Konzert der US-Rapperin Princess Nokia. Im brechend vollen Saal befahl sie den "weißen" Gästen, die dicht gedrängt vor der Bühne standen, nach hinten zu rücken. Sie sollten den POC Platz machen – damit "wir" auch mal im Vorteil seien. Meine Begleitung wollte gerade ein Foto schießen, und so liefen wir beide tatsächlich etwas in Richtung Bühne – sofort wichen die Gäste ehrerbietig nach allen Seiten aus. +Das war ganz lustig anzusehen, aber gleichzeitig dachte ich mir: Was wäre, wenn da vorne ein weißer Kevin steht, der wegen seines Namens immer schlechtere Noten bekommt? Der von seinen Mitschülern für seinen Caritas-Tribal-Pulli gemieden wird und dessenHartz-IV-beziehende Elternnie bei den Hausausgaben helfen? Der soll mir jetzt Platz machen? +Universalismus, also die Vorstellung, dass jeder Mensch erst mal Mensch ist, gilt vielen als komplett überholt. Stattdessen glauben sie, sich nicht mehr über Identitäten hinweg verstehen zu können. Ich habe zum Beispiel Bekannte, die vorsätzlich nur noch Kontakt zu Nichtweißen suchen – da verstehe man sich auf Anhieb besser. +Wenn ich jemanden kennenlerne, interessiert mich erst mal keinen Deut, ob er oder sie sich als black, indigen oder sonst was positioniert. "F*ck your ethnicity", wie Kendrick Lamar sagt. Ich fühle mich keinem Menschen näher, nur weil er POC ist. Eher noch, wenn er auch aus einfachen Verhältnissen stammt. Denn mal ehrlich: Wenn es überhaupt ein Unterscheidungsmerkmal gibt, von dem man in der Regel sagen kann, dass es über das Leben entscheidet, dann ist es die Kohle deiner Eltern. Aber das ist noch mal eine andere Geschichte. + +Nikita Vaillant ist 23 Jahre alt und studiert Kulturwissenschaften. Während seines Praktikums schreibt er aktuell auch für fluter.de. +Gif: James Clapham diff --git a/fluter/havarie-pluenderung.txt b/fluter/havarie-pluenderung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/heather-booth-schwangerschaftsabbruch-usa.txt b/fluter/heather-booth-schwangerschaftsabbruch-usa.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4b7c9991496c6cbc8d3a937220aa67405ee919fe --- /dev/null +++ b/fluter/heather-booth-schwangerschaftsabbruch-usa.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +fluter.de: Frau Booth, was hat Sie dazu inspiriert, politisch aktiv zu werden? +Heather Booth: Zum einen war da meine Familie: Sie vertrat die Ansicht, dass man die Welt in einem besseren Zustand verlassen sollte, als man sie vorgefunden hat. Zum anderen hat mich meine Zeit in der Bürgerrechtsbewegung in den USA geprägt. Ich bin ihr 1964 als 18-Jährige beigetreten, als ich am "Freedom Summer Project" teilnahm. Damals wurden Studierende aus dem Norden der USA rekrutiert, um nach Mississippi zu reisen und dabei zu helfen, die Wahlbeteiligung der dort lebenden Afroamerikaner*innen zu erhöhen. Sie wurden in diesem US-Bundesstaat besonders schlecht behandelt. Viele von ihnen trauten sich nicht, zur Wahlurne zu gehen, weil sie massiv eingeschüchtert oder bedroht wurden. +Auf dem Papier wurde die Sklaverei in den USA 1865 mit dem 13. Zusatz zur amerikanischen Verfassung verboten. Doch der Sklaverei folgte die Segregation. Vor allem in den Südstaaten wurden ab 1876 die"Jim-Crow-Gesetze"erlassen – restriktive Verordnungen, die eine dauerhafte Entrechtung der schwarzen Bevölkerung bewirkten. Diese Gesetze trennten die schwarze und weiße Bevölkerung in nahezu jedem Bereich des öffentlichen Lebens. Die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung, das Civil Rights Movement, kämpfte in den 1950er- und 1960er-Jahren verstärkt für die Gleichbehandlung von Schwarzen und Weißen. Alsbekanntestes Gesicht der Bewegung galt Martin Luther King Jr. Zwar forderte der Oberste Gerichtshof 1954 die Aufhebung der "Rassentrennung" in öffentlichen Schulen, doch viele Bundesstaaten verzögerten die Umsetzung des Urteils. Erst 1964 wurde mit dem Civil Rights Act die Trennung zwischen Schwarzen und Weißen in öffentlichen Einrichtungen wie Toiletten und Zügen aufgehoben. Bis heute sehen sich viele afroamerikanische Bürgerinnen und Bürger sowie andere People of Color in den USARassismus und Diskriminierung ausgesetzt. +War das Projekt ein Erfolg? +Das "Summer Project" erlangte nationale Bekanntheit, nachdem drei Beteiligte von Mitgliedern des Ku-Klux-Klans, einem rassistischen Geheimbund, getötet wurden. Aber innerhalb eines Jahres wurde der "Voting Rights Act" in Kraft gesetzt. Das Gesetz sollte rechtliche Hindernisse abbauen, die Afroamerikaner*innen das Wählen erschwerten. Und so habe ich gelernt, dass man wirklich die Welt verändern kann, wenn man sich zusammenschließt. +Es folgte bald die nächste Sache, für die Sie sich mit anderen zusammenschlossen. +Nach meiner Zeit in Mississippi bin ich zum Studieren nach Chicago zurückgekehrt. Dort hat mich irgendwann ein guter Freund gefragt, ob ich jemanden kenne, der Schwangerschaftsabbrüche durchführt. Seine Schwester war schwanger, wollte es nicht sein und war deshalb suizidal. Damals sprachen die meisten Menschen höchstens mit dem Partner oder der Partnerin über Sex und andere intime Angelegenheiten. Ich selbst hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch nie mit irgendjemandem über Schwangerschaftsabbrüche gesprochen. Trotzdem habe ich ihm gesagt, dass ich schauen würde, was ich tun kann. +Wie ging es dann weiter? +Ich wandte mich an eine spezielle Gruppierung der Bürgerrechtsbewegung und konnte dadurch einen Chirurgen, Doktor Theodore Howard, ausfindig machen. Er war ein führender Kopf der Bürgerrechtsbewegung in Mississippi gewesen, aber nach Chicago gezogen, nachdem sein Name auf einer Todesliste des Ku-Klux-Klans aufgetaucht war. Er erklärte sich bereit, den Schwangerschaftsabbruch an der Schwester meines Freundes durchzuführen. +Es blieb dann allerdings nicht bei diesem einen Schwangerschaftsabbruch. +Nein. Nachdem Doktor Howard den ersten Abbruch durchgeführt hatte, baten mich immer mehr verzweifelte Frauen um Hilfe. Mir wurde klar, dass ich ein System aufbauen musste. Und weil das System nicht legal sein konnte, bekam es den Decknamen "Jane". Doch irgendwann war ich nicht mehr in der Lage, die zahlreichen Anfragen zu bewältigen. Zudem wurde ich 1967 selbst schwanger, musste mich also um ein Kind kümmern. Deshalb habe ich zwölf Frauen rekrutiert, und so entstand schließlich das Jane-Kollektiv, das Schwangerschaftsabbrüche im Untergrund organisierte. +Hat Doktor Howard weiterhin die Abbrüche durchgeführt? +Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon länger keinen Kontakt mehr zu Doktor Howard. Irgendwann erfuhr ich, dass er wegen der illegal durchgeführten Abtreibungen verhaftet worden war. Ein Mann namens Mike übernahm dann seinen Job und führte die Abbrüche durch. Später haben wir herausgefunden, dass der gar kein Arzt war. Damit wurde uns klar, dass die Abbrüche auch von Laien durchgeführt werden können. Das Jane-Kollektiv ließ sich alles beibringen und hat so zwischen 10.000 und 11.000 Abbrüche durchgeführt, bis sie 1973mit dem Grundsatzurteil Roe vs. Wadelegal wurden. +Bei so vielen Abbrüchen muss doch auch die Polizei etwas mitbekommen haben. +Die Polizei wusste ziemlich sicher Bescheid, wollte sich aber nicht einmischen. Wir haben schließlich auch Abbrüche bei Verwandten von Polizisten durchgeführt. Aber 1971 dann hat die Schwägerin einer Person, bei der ein Abbruch durchgeführt wurde, das Jane-Kollektiv an die Polizei verraten. Sieben Frauen des Kollektivs wurden daraufhin 1972 verhaftet. Nach dem Urteil Roe vs. Wade wurden die Klagen allerdings fallen gelassen. +Sowohl Ihre Zeit bei der Bürgerrechtsbewegung als auch beim Jane-Kollektiv war alles andere als ungefährlich. Hatten Sie keine Angst? +Ich hatte die ganze Zeit Angst. In Mississippi hatte ich vor allem Angst, andere Leute durch mein Handeln in Gefahr zu bringen. Tatsächlich wurden vier Mitglieder der Familie Hawkins, bei der ich während des "Freedom Summer Project" wohnte, getötet. Ihr Haus wurde zweimal durch Brandbomben schwer beschädigt. Bei der zweiten Brandbombe wurden ein Sohn und zwei Enkelkinder getötet. Mrs. Hawkins wurde einige Zeit später von einem Polizisten getötet. Der Terror, den diese Familie erleben musste, ist unvorstellbar. Ich hatte Angst um mich, ich hatte Angst um die anderen. Aber ich war bereit, mein Leben zu riskieren. +Mittlerweile wurde das landesweite Recht auf Abtreibungen, das in den USA über fast 50 Jahre lang galt, wieder gekippt. Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie davon erfuhren? +An diesem Abend habe ich mir das Theaterstück "To Kill A Mockingbird" angeschaut. Es ist ein Stück über einen Anwalt, der einen unschuldigen afroamerikanischen Mann verteidigt, der der Vergewaltigung einer weißen Frau beschuldigt wird. In der Mitte des Stücks, als klar war, dass dieser Mann für schuldig befunden würde, wurde ich von einer tiefen Traurigkeit überwältigt und fing im Theater an zu weinen. Es lag nicht nur an der Tragödie des Stücks, sondern an der Entscheidung des Supreme Court und der Tatsache, dass wir in Zeiten leben, in denen unsere Freiheiten massiven Bedrohungen ausgesetzt sind. Das alles hat mich auf einmal mit ganzer Wucht getroffen. Jetzt ist es erst recht an der Zeit, sich zusammenzutun und gemeinsam gegen diese Ungerechtigkeiten zu kämpfen. +Wird es wieder Jane-Kollektive geben? +Es gibt bereits Untergrundkollektive, die Frauen dabei helfen, in Bundesstaaten zu reisen, in denen Abtreibungen legal sind. Der Kampf geht also weiter. +Machen Ihnen die jungen Menschen in Ihrem Land Hoffnung? +Im Moment steht viel auf dem Spiel, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern wirklich auf der ganzen Welt. Wir stehen am Scheideweg. Auf der einen Seite geht es um die Freiheit, darüber zu entscheiden, wann und mit wem wir ein Kind bekommen, oder auch die Möglichkeit, einen lebenswerten Planeten zu erhalten. Auf der anderen Seite gibt es Kräfte, die diese Freiheiten einschränken wollen.Zurzeit kämpfen überall auf der Welt junge Menschen für diese Freiheiten. Ich hoffe, dass ich eine Verbündete sein kann beim Versuch, diesen Wandel herbeizuführen. + +Titelbild:  STEFANI REYNOLDS/AFP via Getty Images diff --git a/fluter/heb-mal-ab.txt b/fluter/heb-mal-ab.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..613936a26dad54a6830df7af0daf2115feda5008 --- /dev/null +++ b/fluter/heb-mal-ab.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Wie in den meisten Ländern im subsaharischen Afrika lebt auch in Kenia die Mehrheit der Bevölkerung als Bauern auf dem Land. Die Jungen zieht es auf der Suche nach Ausbildung und Jobs in die Städte, in denen es Strom, fließendes Wasser und Banken gibt. Bis heute kennen viele Menschen in den Dörfern nichts davon. Wenn die Kinder ihre Eltern auf dem Land finanziell unterstützen wollten, mussten sie früher abenteuerliche und ungewisse Wege gehen. Sie gaben einem Nachbarn oder Busfahrer, der zufällig im Dorf vorbeikam, Bargeld mit. Oder sie schickten Geld per Postanweisung, was Wochen dauern konnte, wenn das Geld überhaupt ankam. Möglich war das eh nur, wenn der Empfänger ein Postfach besaß. Was kaum häufiger vorkam als der Besitz eines Bankkontos. +2007 wurde alles anders. Damals verfügten bereits mehrere Millionen Kenianer über ein Handy mit einer Safaricom-Nummer, die plötzlich zum Bankkonto wurde. Die Menschen konnten nun Geld auf ihr Mobiltelefon laden und es an andere Safaricom-Kunden versenden. Innerhalb von Minuten kam es beim Empfänger an, der darüber per SMS informiert wurde. Der konnte es weiterschicken oder sich bei einem M-Pesa-Agenten bar auszahlen lassen. Die Transaktionsgebühr richtet sich bis heute nach der Höhe der zu versendenden Summe und liegt bei etwa 95 Euro-Cent für 600 Euro, der höchsten Transaktionssumme. Die niedrigste Gebühr beträgt weniger als ein Cent. +Zwei Wochen nach der Einführung hatte Safaricom, das zu 40 Prozent Vodafone und zu 35 Prozent dem kenianischen Staat gehört, knapp 20.000 aktive M-Pesa-Nutzer, heute sind es 22 Millionen, die bei 94.000 Agenten – oft kleine Geschäftsleute wie Kioskbesitzer – landesweit Geld deponieren oder abholen. Mehr als die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung in Kenia nutzt M-Pesa. +Ursprünglich war das bargeldlose Bezahlsystem für die Mikrofinanz-Industrie entworfen worden, also um kleine Kredite auszuzahlen und Rückzahlungen zu ermöglichen. Doch schnell wurde sein Potenzial für die breite Öffentlichkeit deutlich. Die Kenia-ner bekamen einen schnellen, sicheren und jederzeit verfügbaren Geldtransfer geboten, ohne Schalteröffnungszeiten und Schlangestehen. Die kontolose Bevölkerung auf dem Land katapultierte sich damit ohne Umweg in die digitale Epoche von heute. +Der Geldtransfer von einem Mobiltelefon zum anderen war der Anfang. Inzwischen kann ein Nutzer Strom- und Wasserrechnungen bezahlen, an einem Geldautomaten Bargeld abheben, Flugtickets kaufen, Konzertkarten bestellen, den Taxifahrer bezahlen sowie einen Kleinkredit aufnehmen, um etwa eine Solaranlage zu kaufen und so zum ersten Mal Strom im Haus zu haben. Eltern überweisen Gebühren an die Schulen ihrer Kinder, Mieter zahlen ihre Miete. Als die Al-Shabaab-Miliz im April letzten Jahres die Garissa-Universität im Osten Kenias überfiel und 148 Menschen tötete, richtete Safaricom eine M-Pesa-Spenden-Nummer für die Verletzten und Hinterbliebenen ein. Und nicht zuletzt hilft M-Pesa beim Sparen: Je nach Summe gibt es bis zu vier Pro-zent Zinsen. +"Ich gehe gar nicht mehr zur Bank", sagt Billy Warero. Der 33-Jährige arbeitet in Nairobi bei einer Telekommunikationsfirma. Die Stromrechnung, das Kabelfernsehen, seine Einkäufe sowohl im Supermarkt als auch online – alles erledigt er überM-Pesa. Sein Gehalt landet noch auf dem Bankkonto, aber auch das kann er übers Handy auf sein M-Pesa-Konto überweisen. "Andererseits istM-Pesa verführerisch, denn damit ist das Geld auch schnell ausgegeben", sagt er. +Zwischen April 2015 und März 2016 wurden laut Safaricom Transaktionen im Wert von 46 Milliarden Euro getätigt. Das wären 85 Prozent der gesamten kenianischen Wirtschaftsleistung. M-Pesa ist mittlerweile unter anderem auch in den ostafrikanischen Ländern Tansania, Uganda und Ruanda verfügbar, aber auch in Ägypten, Afghanistan und Indien. In Malawi benutzen über zwei Millionen Menschen ein ähnliches System. Aus wirtschaftswissenschaftlicher Per-spektive handelt es sich bei diesem Phänomen um ein sogenanntes Leapfrogging, also um einen Bocksprung. Anstatt ein Bankensystem wie beispielsweise in Deutschland zu etablieren, wird ein gesamter Entwicklungsschritt übersprungen und durch eine Innovation ersetzt. Eine Innovation, die dazu beiträgt, Kenia zu einem modernen Land zu machen. diff --git a/fluter/heft89.txt b/fluter/heft89.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/heft90.txt b/fluter/heft90.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/heft91.txt b/fluter/heft91.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/heft92.txt b/fluter/heft92.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/heft93.txt b/fluter/heft93.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/heilige-journalisten.txt b/fluter/heilige-journalisten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..09c5570d608ba64e9c95de783b277329baa87a16 --- /dev/null +++ b/fluter/heilige-journalisten.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Wer hätte das gedacht: Ein Spielfilm über pädophile Pfarrer, die jahrelang Kinder missbrauchen und von der katholischen Kirche gedeckt werden, gewinnt den Oscar. Fast könnte man darin ein Stück Wiedergutmachung sehen, schließlich wurde die Academy im Vorfeld der Preisverleihung stark dafür kritisiert, wieder einmal keine schwarzen Künstler nominiert zu haben. Mit "Spotlight" bewiesen die Jurymitglieder nun immerhin, dass sie ab und zu doch noch ein Gespür für gesellschaftspolitische Relevanz besitzen. +Allerdings liegt auch der Verdacht in der Luft, dass der erste Preis für "Spotlight" vor allem eine politische Entscheidung ist. Zumal es andere Gründe kaum geben kann: Der Film, der die tatsächlichen Recherchen der Zeitung "Boston Globe" in den Jahren 2001 bis 2003 in den Mittelpunkt stellt, zeigt das Leben der investigativen Journalisten fast schon aufreizend holzschnittartig. Entweder sitzen sie mit hochgekrempelten Ärmeln in ihren deprimierenden Büros herum, oder sie laufen mit gezücktem Schreibblock durch die Gegend oder rennen gegen Türen, die sich gerade geschlossen haben. Diese Szenen summieren sich während der zwei Stunden zu einer geballten Ladung Langeweile. + + +Dabei gibt es ja genügend spannende Filme über reale Skandale, die von investigativen Journalisten aufgedeckt wurden – zuallererst ist da natürlich die Mutter aller Reporterfilme zu nennen: "All the president's men" (dt.: "Die Unbestechlichen") mit Dustin Hoffman und Robert Redford über den Watergate-Skandal. Die düstere Atmosphäre, das klandestine Milieu, die von Überwachung und Verdachtsmomenten durchdrungene Gesellschaft, das alles erzeugt noch heute eine Sogwirkung. So hätte auch "Spotlight" sein können, denn wie damals die Fußtruppen des US-Präsidenten Richard Nixon mit übelsten Tricks versuchten, ihre Taten zu vertuschen, so fragwürdig agierten in Boston die obersten Würdenträger der katholischen Kirche. Bernard Law, der Erzbischof von Boston, wusste von den Missbrauchsfällen in seiner Gemeinde und tat nichts dagegen. Nach Bekanntwerden des ganzen Ausmaßes holte ihn der Papst nach Rom und besorgte ihm dort einen Posten. +Bei "Spotlight" besteht die große Recherche zunächst nicht aus geheimen Treffen mit Zuflüsterern, sondern aus dem Gang ins eigene Archiv. Von dort fördern die "Boston Globe"-Redakteure Artikel hervor, die sie regelmäßig in Staunen versetzen. Die Geschichte über die pädophilen Pastoren, die kleine Jungs vergewaltigten, war schon längst im Blatt, nur hat sich niemand so richtig dafür interessiert und das ganze Ausmaß recherchiert. Da fügt sich ins Bild, dass der wichtigste Informant einen Kasten voller Beweismittel in die Redaktion trägt, den er schon vor Jahren mal angeboten hatte. Erst ein neuer Herausgeber sorgt dafür, dass die Reporter ihr Phlegma ablegen und endlich den Abgrund sehen, der sich die ganze Zeit vor ihrer Nase aufgetan hat. + + +So ist der Film unfreiwilligerweise nicht nur ein beklemmendes Zeugnis für das fehlende Unrechtsbewusstsein in der katholischen Kirche, sondern auch dafür, wie sehr Journalisten danebenliegen können. Dass sie eben keinen guten Riecher haben können oder noch schlimmer: kein Gefühl für Moral. Anstatt die Journalisten dafür abzufeiern, dass sie letztlich das gemacht haben, wofür sie da sind, hätte man lieber mal gewusst, wie dieser Skandal in der Zeitung über Jahre kaum Beachtung finden konnte, obwohl sich sein Ausmaß früh andeutete. So aber denkt der Film die Geschichte nur vom heroischen Ende her. Die Reporter bekommen einen Preis, die US-Kirche wird im ganzen Land mit ähnlichen Vorwürfen konfrontiert und letztlich zur Zahlung von einer Milliarde Dollar an die Opfer verdonnert. +Wie willkürlich und zufällig die Nachrichten-Karriere von Skandalen ist, zeigt ein ähnliches Beispiel in Deutschland. Bereits im Jahr 1999 hatte ein Reporter der "Frankfurter Rundschau" über Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule berichtet – ohne dass eine breitere Öffentlichkeit davon groß Notiz genommen hätte. Erst zehn Jahre später führte ein Artikel mit denselben Vorwürfen zu Ermittlungen und großem Aufhorchen. Vielleicht nimmt sich mal ein deutscher Regisseur dieser Geschichte an und macht es hoffentlich besser als die Truppe von "Spotlight". +"Spotlight", USA 2015; Regie: Thomas McCarthy, Drehbuch: Thomas McCarthy, Josh Singer, mit Mark Ruffalo, Michael Keaton, Rachel McAdams, John Slattery, Stanley Tucci und Liev Schreiber diff --git a/fluter/heilpflanzen-geschichte.txt b/fluter/heilpflanzen-geschichte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..13f59e494eca460a9f6e0a4803743466c2f3977d --- /dev/null +++ b/fluter/heilpflanzen-geschichte.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Daumenkino #1Der Daumen unserer Praktikantin nach einem kleinen Missgeschick +"Menschen reagieren auf schwierige Situationen mit Ausprobieren – das ist heute so und war schon bei unseren Vorfahren so: Wenn sie krank waren, nutzten sie, was sie in ihrer Umwelt fanden, um der Krankheit entgegenzuwirken", sagt Michael Heinrich, Professor an der School of Pharmacy des University College London. Dabei suchten sie vor allem Pflanzen mit einem intensiven Geruch oder besonderen Geschmack, Pflanzen, die sie einfach wiedererkennen konnten, und Pflanzen, die leicht erreichbar und verfügbar waren. +Besonders die traditionelle chinesische Medizin (TCM) setzt auf natürliche Stoffe. Vor etwa 5.000 Jahren soll der chinesische Urkaiser Shennong gelebt haben – auf ihn geht das älteste Buch über Ackerbau und Heilpflanzen zurück, auf dem TCM basiert, "Shen Nong Ben Cao Jing", was übersetzt so viel heißt wie der "Heilkräuterklassiker nach Shennong". Das Originalwerk existiert zwar nicht mehr, aber in der Ausgabe von 1987 wird die heilende Wirkung von Hunderten Pflanzen beschrieben, eine davon ist die der Ginsengwurzel. +Ren Shen (Radix Panacis Ginseng) ist süß und ein wenig kalt. Es beruhigt den Geist, besänftigt die Seele, kontrolliert das Herzklopfen, beseitigt das böse Qi, lässt die Augen leuchten, öffnet das Herz und schärft den Verstand. Die langfristige Einnahme kann den Körper leicht machen und das Leben verlängern. +Heute ist Ginseng eine der wichtigsten Heilpflanzen weltweit und wird häufig verwendet, um Vitalität und Ausdauer zu steigern sowie Stress, Angst und Müdigkeit entgegenzuwirken. In verschiedenen Studien konnte nachgewiesen werden, dass Ginseng Entzündungen hemmt. Ein anderes Mittel in der TCM ist die Kurkumapflanze, die ebenfalls entzündungshemmend wirken soll. Auch das Wissen aus anderen Kulturen findet in China Anwendung, so wird etwa Kümmel als Hausmittel gegen Bauchschmerzen verwendet – ein Gewürz, das bereits die alten Ägypter nutzten. +Ein anderes Heilmittel für den Bauch, der krank ist: Kümmel 1/64, Fett der Gans 1/8, Milch 20 ro, kochen, durchpressen, trinken. So steht es auf 3.500 Jahre altem Papyrus zur altägyptischen Heilkunst. Mehr als 80 Krankheitsbilder von Bauchbeschwerden bis hin zu dämonischen Einwirkungen werden beschrieben. Auf den 19 Metern Schriftrolle finden sich außerdem Heilmittel gegen Husten, das Ergrauen der Haare, zum Geschmeidigmachen der Knie und gegen Herzbeschwerden. +In Europa wurde besonders im Mittelalter viel mit Heilpflanzen experimentiert. Mithilfe von medizinischem Wissen aus alten Büchern sowie mit Heilkräutern versuchten sich Mönche und Nonnen als Heiler. So entstand die Klosterheilkunde. Die Benediktinerin Hildegard von Bingen schrieb zwischen 1150 und 1160 in heilkundlichen Werken etwa darüber, wie Quendel, eine Art Thymian, den Menschen innerlich heilt und reinigt. Oder Ackerminze den Magen wärmt und bei der Verdauung hilft. +Die Māori nutzten Pflanzen in der traditionellen Heilkunst, die sich Rongoā Māori nennt. Um Rongoā zu erlernen, müssen die angehenden Tohunga, die Fachleute der Heilkunst,die Beziehungen zwischen den Bäumen und Pflanzenverstehen und lernen, dass sie ein Teil der Welt von Tāne-mahuta, dem Gott des Waldes, sind. Denn Krankheit, so glaubten sie, besteht in einem Ungleichgewicht mit der Natur. Erst wenn die Ursache des Ungleichgewichts feststeht, kann sie geheilt werden – auch mithilfe von Heilpflanzen wie dem Manukastrauch. +Daumenkino #2Kurkuma hat die Wunde schon nach einem Tag geschlossen +Heute ist vor allem der Manukahonig bekannt, der in den vergangenen Jahren weltweit ein sehr beliebtes, aber auch teures Mittel für die Wundheilung geworden ist. Viele Arten von Honig wirken antibakteriell, weil sie ein Enzym enthalten, das Wasserstoffperoxid produziert und Bakterien so stark schädigen kann, dass sie sterben. Im Manukahonig allerdings gibt es noch einen weiteren Inhaltsstoff, der Bakterien tötet: Methylglyoxal. +Schon früher nutzten die Māori die Blätter der Manukasträucher für Tee, bei Nierenleiden, Fieber und Husten. Offene Wunden behandelten die Māori, indem sie Samenschalen zerquetschten und trocknen ließen, bevor sie sie auf der Wunde verteilten – so heilte sie schneller. Und wer an Bauchschmerzen litt, kaute die Samen, bis der Schmerz verging. Auch gegen Verstopfung gab es ein Mittel: Dazu kochten die Māori Manukarinde, bis das Wasser sich verdunkelte, und tranken es. Die Innenrinde der Äste – gekocht und getrunken – sollte den Schlaf verbessern und aufgeregte oder ängstliche Menschen beruhigen. +Gegen die eingeschleppten Krankheiten der Europäer, die Anfang des 19. Jahrhunderts Neuseelandkolonialisierten, waren die traditionellen Heiler allerdings chancenlos. Tausende Māori starben. Darum verloren viele den Glauben an die Heilkunst der Tohunga, die Tradition verschwand mehr und mehr. Einige Māori suchten dennoch nach den traditionellen Heilern, und so gaben sich einige Personen als Tohunga aus, denen aber das Wissen um Rongoā fehlte, weil sie nicht von etablierten Tohunga in die Heilkunst eingeführt worden waren. +Aus Sorge um die Wirksamkeit der Praktiken dieser selbst ernannten Tohunga beschloss das Parlament 1907 den Tohunga Suppression Act: Jede Person, die vorgab, übernatürliche Kräfte zu besitzen und alle Krankheiten heilen zu können, konnte zu einer Geld- oder Gefängnisstrafe verurteilt werden. Dennoch bildeten die Māori wahre Tohunga im Geheimen aus. 1962 wurde das Gesetz wieder aufgehoben. +Heute nutzen die meisten Māori das moderne Gesundheitssystem, doch gerade bei seltenen Krankheiten oder wenn die moderne Medizin nicht wirkt, vertrauen sie wieder auf die traditionelle Heilkunst. + +Titelbild: Prisma/Universal Images Group via Getty Images diff --git a/fluter/heiraten-mit-22.txt b/fluter/heiraten-mit-22.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/heisse-ananas.txt b/fluter/heisse-ananas.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9868cde44d3f2f194065eeed1965c68d1478da35 --- /dev/null +++ b/fluter/heisse-ananas.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Die "Ermittlungsgruppe Hafen Hamburg", eine Spezialeinheit des Zolls, hat in den vergangenen zehn Jahren nur in Hamburg mehr als 61 Tonnen Rauschgift aufgespürt, insgesamt 2,1 Milliarden Zigaretten und mehr als 350 Container mit gefälschten Sportschuhen. Auch in den Seehäfen von Bremerhaven, Kiel, Lübeck und Rostock arbeiten Ermittlungsgruppen. Kokain und Amphetamine, die aus dem Baltikum eingeschmuggelt werden, wurden zuletzt besonders häufig sichergestellt. Als Folge der Weltwirtschaftskrise kamen 2008 und insbesondere 2009 deutlich weniger Container in Hamburg an als in den Jahren zuvor – die Statistik der Fahnder des Zolls ist also nur bedingt aussagekräftig. +Was die Lieferung der "heißen Ananas" betrifft, entschließen sich die Ermittler, ers t gar nicht die Kollegen im ghanaischen Tema um Amtshilfe zu bitten. Sie beschlagnahmen den Großteil der Drogen. Ihr Plan: den Hintermännern eine Falle zu stellen. Der Container wird freigegeben, als sei damit alles in Ordnung. Eine Observationseinheit, die darin geschult ist, Personen oder Gegenstände zu verfolgen, bezieht Posten. Die Fahnder hören fortan das Telefon von Satbir K. ab, an den der Container adressiert war. Satbir, 49, der aus Indien stammende Betreiber der Phantom-Boutique, wählt mehrfach eine Nummer, die, wie sich später herausstellen soll, Quamar Z. gehört, einem 45-jährigen Pakistani im mittelenglischen Bradford. Quamar Z. wird seit Langem verdächtigt, Teil einer internationalen Drogenbande zu sein. +Container 5861402 verlässt am Vormittag des 15. Dezember 2008 den Freihafen, verfolgt von einer Observationseinheit des Zolls in unauffälligen Autos. Die Fahrt geht nach Westen, Richtung Bremen auf der Autobahn 1. In diesen Stunden werden die Nerven der Fahnder besonders strapaziert: Sie dürfen nicht auffallen, den Lastwagen andererseits nicht aus den Augen verlieren, was sich besonders in Ballungsgebieten wie dem Ruhrgebiet, in dem es nie weit ist bis zur nächsten Abfahrt, schwierig gestaltet. "Fünf Minuten genügen, und ein Laster ist verschwunden", berichtet Albers. Die Verfolger müssen sich auch darauf einstellen, von den Kriminellen beobachtet und sogar abgedrängt zu werden. Sobald eine Landesgrenze naht, kommt es auf jede Minute an, die Kollegen im Ausland um Verstärkung zu bitten, denn hier endet auch in der Europäischen Union die Kompetenz des Zollfahndungsamtes Hamburg. Für Ermittler ist die Situation schwierig: Die bürokratischen Schwellen sind hoch, und wer es im Nachbarland, das den Fall übernehmen soll, mit einer unterbesetzten oder lustlosen Abteilung zu tun bekommt, hat es schwer. Weshalb Drogenbanden ihre Wege oft so planen, dass die Container verschiedene Grenzen in kurzer Zeit passieren. +Die Fahnder, die hinter Container 5861402 her sind, wundern sich, denn es ist keine Route zu erkennen; anscheinend kennt auch der Fahrer der Spedition den Weg nicht so genau, denn man beobachtet mehrfach, wie er mobil telefoniert und Straßenkarten studiert. Am Abend stellt er den Container in einem Gewerbegebiet von Duisburg ab. "Nun galt es für uns, rasch eine Ablösung zu organisieren, die das Objekt weiter beobachtet", sagt Albers. In Autos verbringen Fahnder die Nacht. Nichts Verdächtiges passiert. Am nächsten Morgen fährt der Laster weiter, in westlicher Richtung aus dem Ruhrgebiet hinaus in die Niederlande. Einheiten des niederländischen Zolls übernehmen die Beobachtung. Der Laster rollt in den Hafen von Rotterdam und auf eine Fähre. Zielhafen: Hull, Nordengland. Im "Turm", wie die Hamburger Einsatzleitung im Fahnderjargon heißt, ruft man die englischen Kollegen der Serious and Organised Crime Agency (Soca) zur Unterstützung. Als die Fähre nach einer Nacht auf der Nordsee um 10 Uhr in England festmacht, übernehmen Soca-Einheiten die Verfolgung des Lasters. Sie beobachten, wie der Fahrer nahe Bradford anhält. Ein Sportwagen fährt heran, ein weißer Mercedes, am Steuer ein Mann mit Kaschmirmantel und buntem Schal, der offenkundig Wert auf eine gut geföhnte Frisur legt. Man kann den Mann später als Quamar Z. identifizieren. Nach dem kurzen Treffen, in dem der Fahrer Instruktionen erhält, braust der Sportwagen davon. Der Truck wird von einem Ford Transit in ein Gewerbegebiet von Bradford gelotst. +Als sechs Männer damit beginnen, die Packungen mit Ananas auszuladen, schlägt eine Spezialeinheit zu. Die Bande leistet keinen Widerstand. In den Vernehmungen stellt sich heraus, dass es sich um Handlanger handelt und der Trucker keine Ahnung hatte, was er durch Europa kutschierte; alleine der Fahrer des Transit, Michael D., räumt ein, bereits in einem anderen Fall größere Mengen Marihuana für einen Asiaten namens "Si" entladen und im Norden Englands verteilt zu haben. Ein Gericht wird ihn dafür zu neun Jahren Gefängnis verurteilen. Was die Fahnder alarmiert: Quamar Z., der entkommen konnte, berichtet zwei Tage nach den Festnahmen in einem Telefonat mit Satbir K. in Deutschland, dass sechs weitere Container mit ähnlichem Inhalt unterwegs nach Europa seien. Satbir K., der Darmstädter, macht ihm weis, er könne das beschlagnahmte Marihuana wiederbeschaffen, und kassiert dafür eine Überweisung von 8.200 Euro. Er fingiert für diese Summe einen Transport – und ruft an mit der Entschuldigung, auch diesmal sei die Polizei schneller gewesen. Ende März 2009, als klar scheint, dass keine weiteren Lieferungen unterwegs sind, nimmt die Polizei Satbir K. in Hessen fest. Quamar Z., der zwischendurch nach Pakistan geflogen war, wird kurz darauf bei der Einreise nach England verhaftet. "Er hatte noch immer keine Ahnung, dass wir an ihm dran waren", berichtet Albers erfreut. Nach mehr als vier Monaten ist eine Operation, an der mehr als 100 Beamte in drei Ländern beteilgt sind, vorerst abgeschlossen. Ein Hamburger Gericht verurteilt Satbir K. zu sechs Jahren und Quamar Z. zu acht Jahren Haft. +Sind Sie zufrieden, Zolloberinspektor Albers? Er nickt vorsichtig, er wirkt etwas zögerlich. Klar scheint, dass in Afrika weitere Täter beteiligt sein müssen, doch die Verurteilten schweigen in den Vernehmungen. "Fünfeinhalb Tonnen Marihuana fallen nicht vom Himmel, die hat jemand gesammelt und durch die halbe Welt geschifft", meint er. "Wir haben das mittlere Management abgefischt. Mal wieder." Es klingt etwas deprimiert, wie er das sagt. Wo aber stecken die Hintermänner, wer organisiert die großen Deals? Albers möchte sich dazu nicht zitieren lassen. Aus Ermittlerkreisen ist zu erfahren, dass sich allzu mutige Aussagen negativ auf die Karriere auswirken können. Man habe es mit Wirtschaftsbossen zu tun, die wegen ihrer guten Kontakte zur Politik nahezu unantastbar seien, ist zu erfahren. In ausländischen Banken, vor allem in der Schweiz, stelle man keine Fragen, woher die hohen Überweisungen kommen. "Wir treten einigen bösen Jungs auf die Füße, das ist Motivation genug", sagt er. Dann ist das Gespräch beendet. Auf Albers wartet eine Menge Papierkram, Berichte über den letzten Einsatz, und am Wochenende steht eine Observation an. "Größere Sache", murmelt Albers noch, und dann ist er schon auf dem Flur. +Der amerikanische Präsident Nixon gründete im Jahr 1973 eine eigene Sondereinheit, die den Kampf gegen Drogen führen sollte. Die Drug Enforcement Administration, oder kurz: DEA, verfügt über 5.235 Spezialagenten und Außenstellen in 63 Ländern. Die weltumspannenden Einsätze gegen das Drogenproblem stoßen aber nicht nur auf Sympathie. Immer wieder kritisieren ausländische Regierungen die DEA wegen ihres aggressiven Vorgehens. diff --git a/fluter/helden-der-arbeit.txt b/fluter/helden-der-arbeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/her-damit.txt b/fluter/her-damit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2f888eff3c40f7dfde747c0d8a499fdad4bf2f10 --- /dev/null +++ b/fluter/her-damit.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Protest: Erfolgreiche Klage einer Bürgerinitiative: Die Interessen eines privaten Unternehmens dürfen durch Enteignungen nicht durchgesetzt werden, befand das Bundesverfassungsgericht +Nach dem Zweiten Weltkrieg beschließt die sowjetische Militäradministration eine Bodenreform in ihrer Besatzungszone, um die Landwirtschaft zu fördern. Viele Ländereien bekommen neue Eigentümer. Die Regierung unter Helmut Kohl macht diese Bodenreform nach der Wiedervereinigung rückgängig. Rund 70.000 Erben der Neubauern werden entschädigungslos enteignet +Protest: Klagen der Geschädigten vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte werden abgelehnt +Bagger reißen ganze Ortschaften ab, um den Braunkohletagebau Garzweiler zu vergrößern. Die Bewohner werden umgesiedelt +Protest: Ja. Die Klagen wurden aber in verschiedenen Instanzen abgelehnt + +Airbus verspricht der Stadt Hamburg 400 Arbeitsplätze im Gegenzug für das Recht, seine Flugzeuglandebahn im Süden Hamburgs ausbauen zu dürfen. Dafür müssen allerdings auch viele Obstbauern der Region weichen, die dem Flugzeugwerk im Weg sind +Protest: Klagen von Obstbauern wurden abgelehnt. Nach wochenlangen Protesten verkauften schließlich die meisten Eigentümer unter der Drohung von Enteignung ihre Grundstücke +Für rund 45 Millionen Euro lässt der Freistaat Bayern die Autobahn A94 im Isental ausbauen. Für die Verlängerung der Fernverkehrsstraße droht ansässigen Bauern die Enteignung +Protest: Ja. Alle Klagen wurden bisher Abgelehnt +Die Bank Hypo Real Estate droht wegen der Finanzmarktkrise pleitezugehen. Weil sie mit Steuermilliarden gerettet wird, macht die Regierung es per Gesetz möglich, die Bank "zum Wohle der Allgemeinheit" zu verstaatlichen, um die Kontrolle über die Verwendung der Steuergelder zu erlangen. Dies ist aber gar nicht nötig, da der Bund durch eine sogenannte Kapitalerhöhung Eigentümer der Bank wird +Protest: Die FDP warf der Bundesregierung vor, sich am Wirtschaftsstandort zu "versündigen" diff --git a/fluter/herr-bachmann-und-seine-klasse-berlinale-rezension.txt b/fluter/herr-bachmann-und-seine-klasse-berlinale-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..867582b91d0214676b44f74452eced0320d6b35f --- /dev/null +++ b/fluter/herr-bachmann-und-seine-klasse-berlinale-rezension.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Die Stimme aus dem Off gehört dem 65-jährigen Lehrer Dieter Bachmann. Warum die Regisseurin Maria Speth in ihrem Dokumentarfilm ausgerechnet ihn begleiten wollte, klärt sich schon nach wenigen Minuten. Denn Bachmann ist keingewöhnlicher Lehrer. +"Manche behaupten, wir würden hier nur Musik machen", sagt er scherzhaft am Elternsprechtag. Und hat, als wolle er seinen Scherz gleich unterwandern, selbst in dieser Situation noch eine Gitarre in der Hand. Als Klassenlehrer ist Herr Bachmann auch für Deutsch und Mathe zuständig. Aber statt Diktaten oder Wahrscheinlichkeitsrechnung gibt vor allem die Musik im Schulalltag der 6b den Takt vor. Immer wieder gibt es Szenen, in denen Bachmann spontan einen Song intoniert. Dann wird wild durcheinandermusiziert. Einmal singt Stefi, die kurz nach ihrer Ankunft aus Bulgarien in Deutschland noch Sprachprobleme hat, mit ihrem Lehrer den Kanon "Hejo, spann den Wagen an". "Du hast richtig Talent", sagt er begeistert. "Du triffst perfekt den Ton bei dem ganzen Krach hier!" +Den richtigen Ton treffen: So ließe sich beschreiben, was Bachmann anderen Lehrer*innen voraushat. Empathisch geht erauf die Bedürfnisse seiner Schüler*innenein, lässt sie über eigene Erfahrungen sprechen, bewahrt sich mit ehrlichen Ich-Botschaften aber auch Respekt. Dabei wirkt der Pädagoge auf den ersten Blick weit weg von der Lebenswelt dieser neuen Generation von Schüler*innen: Im ACDC-Shirt und mit einer der täglich wechselnden Strickmützen auf dem Kopf blättert Bachmann in der Lesephase seiner Klasse in alten Karl-May-Bänden. Freilich: Solche Oberflächlichkeiten sind bloß Schubladen. Und es ist die besondere Stärke der dokumentarischen Form, die Speth für ihren Film gewählt hat – der sogenannten Langzeitbeobachtung –, die vielen Facetten eines Menschen abseits solcher Schubladen sichtbar zu machen. +"Herr Bachmann und seine Klasse"  läuft kostenlos in der bpb-Mediathek. Wir haben die Doku bereits 2021 anlässlich ihrer Berlinale-Premiere besprochen. +Maria Speth hat sich für "Herr Bachmann und seine Klasse" eine Menge Zeit genommen. Über ein komplettes Schulhalbjahr waren sie, Kameramann Reinhold Vorschneider und Tonmeister Oliver Göbel in der Klasse. Durch eine solche Dauerpräsenz wird ein Filmteam zwar nicht gleich unsichtbar, aber es steht irgendwann nicht mehr im Fokus der Kinder, sondern gehört zum Inventar wie die zahlreichen Gitarrenständer im Klassenraum. + +So kann Speth im beobachtenden Stil des "Direct Cinema", also scheinbar ohne Interaktion zwischen Kamera und Protagonist*innen, eine Modellkonstellation aus dem deutschen Schulalltag filmen: Die 6b steht vor dem wichtigen Übergang zur weiterführenden Schule. Wie an vielen Bildungseinrichtungen kommen etliche Schüler*innen aus Familien mit Migrationserfahrungen. Und ihre Lehrkräfte stehen mit Herrn Bachmann, in seinem letzten Jahr vor der Pension, und seiner jüngeren Kollegin Frau Bal für zwei Generationen Schuldienst. +So repräsentativ wie diese Koordinaten erscheinen auch die Probleme in der Klasse. Das Bildungsgefälle ist hoch und führt zu Frust, bei schulisch stärkeren genau wie bei schulisch schwächeren Schüler*innen. Manche Kinder vermissen ihre Heimat. Neuankömmlinge wie Stefi sind vom Stoff, den es aufzuholen gilt, überfordert. DerNotenzwangmacht auch Herrn Bachmann zu schaffen. Und schließlich gibt es Konflikte in der Wertevermittlung, wenn die Klasse – natürlich am Beispiel eines Lieds – im Unterricht über Homosexualität spricht. +Wie aber miteinander gesprochen wird, ist wohl eher ein Einzelfall im deutschen Schulsystem.Der Einfluss, den eine markante Lehrperson nicht nur auf Einzelne, sondern auf den sozialen Verband einer Klasse hat, zeigt sich in jeder Szene. Etwa wenn die Kinder mitten im Unterricht eine Gruppenumarmung machen, als eine Mitschülerin vom Tod ihres Opas erzählt. Wenn am Ende des Schuljahrs die Stühle hochgestellt werden, wünscht man diesen Kindern für ihre Zukunft einen weiteren Herrn Bachmann. + diff --git a/fluter/herr-der-flieger.txt b/fluter/herr-der-flieger.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/herrlich-dieses-alter.txt b/fluter/herrlich-dieses-alter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2a563aa4c8c7b5bc68d529ecdc04e70ddbc8d9bd --- /dev/null +++ b/fluter/herrlich-dieses-alter.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Seit Jahrzehnten ist Europa einer der wichtigsten Verbündeten der USA. Diese transatlantische Beziehung war schon immer mehr als nur Politik oder das regelmäßige Treffen der Wirtschaftsminister, die das nächste Freihandelsabkommen beraten. Europas wahre Anziehungskraft für Amerikaner ist seine Kultur. Bittet man die Menschen in den USA, Europa mit einem Wort zu beschreiben, hört man Begriffe wie "kultiviert", "romantisch" und "historisch". Ein anderes Attribut, das uns in den Sinn kommt, ist "vielfältig": Wenn man in einem riesigen Land aufgewachsen ist, in dem über Zeit- und Klimazonen hinweg dieselbe Sprache gesprochen wird, kann man die Vielfalt Europas kaum begreifen: dass man mit dem Interrail-Ticket in wenigen Stunden an völlig verschiedene Orte reisen kann – mit eigenen Sprachen, anderen kulturellen Eigenheiten. Eben noch hat man an den Tischen des Münchner Oktoberfests riesige Bierhumpen gestemmt, da bestaunt man schon die stocksteifen Gardisten vor dem Buckingham Palace oder die Ausgrabungen im Forum Romanum. Diese Vielfalt suchen wir Amerikaner in Europa, aber nicht nur. Das andere ist die Kraft, die in der Kontinuität liegt: Das Wissen, dass Europa nicht dem ständigen Wandel der Zeit unterliegt wie die Skylines unserer Städte, beruhigt viele Amerikaner. Wir sind vielleicht nicht gerade bekannt für unsere geografischen Kenntnisse oder unsere Leidenschaft für andere Sprachen, aber wir wissen die Historie zu schätzen. Zu Hause gibt es einfach nicht allzu viel davon. Nach europäischen Maßstäben befinden sich die USA in der Pubertät. +Während wir unsere Speicherkarten mit den Erinnerungen einer Europareise füllen, gibt es aber auch einige Dinge, die uns Amerikanern fremd sind. Meistens sind es eher Kleinigkeiten, die uns daran erinnern, dass wir in der Fremde sind. In der Sekunde, in der ein Amerikaner seinen Fuß auf europäischen Boden setzt, ist das Erste, was er bemerkt, nicht die atemberaubende gotische Kathedrale oder das jahrhundertealte Schloss – nein, es ist der Rauch, der uns überall entgegenwabert. Wo man auch ist, jemand mit einer Zigarette ist schon da und bläst den Qualm in unsere Richtung. Ja, ich habe den Kampf für das Rauchverbot in vielen Ländern mitbekommen, und dennoch: In den Augen eines Amerikaners gibt es in Europa immer noch mehr Raucher als Einwohner. +Eine andere Kleinigkeit, die uns immer wieder erstaunt, sind die europäischen Dimensionen. Es gibt kein "Super Size", kein "XXLarge", alles ist kleiner und kompakter. Es gibt hier Autos, die so lang sind wie breit, die aussehen, als passten sie in den Kofferraum eines amerikanischen Jeeps. Und dann fahren sie auch noch auf Straßen, die kaum breiter sind als die Gehsteige. Das Gleiche gilt für die Menschen. Selbst sie sind weniger voluminös. Sogar in einer Stadt wie Prag, wo sich die Menschen fast ausschließlich von Schweinebraten, Knödel und Bier zu ernähren scheinen, bleibt die Bevölkerung erstaunlich schlank. Wie geht das?, fragen sich Amerikaner. +Und dann wäre da noch die europäische Politik. Ein Konzept, das den meisten Amerikanern noch fremder ist als Zigaretten und Smarts. Dass der Staat so viele Wohltaten bereithält! In den USA ist die Meinung weit verbreitet, dass alle Europäer eh Sozialisten sind und sich schlichtweg nur die Zeit vertreiben bis zur Auferstehung von Karl Marx. +Immerhin: Für die Politiker in Washington besteht Europa nicht mehr nur aus Deutschland und Frankreich. Man sorgt sich um die wirtschaftliche Stabilität des ganzen Kontinents – auch weil man darin, trotz einer gewissen Hinwendung zu Asien, weiterhin einen wichtigen Partner sieht. Der ehemalige US-Präsident George W. Bush prägte 2003 den Begriff von "Old Europe" und meinte damit verächtlich die vermeintliche Fortschrittsfeindlichkeit. Davon ist schon lange nicht mehr die Rede. +Unser Autor ist Mitarbeiter im Berlin-Büro der "New York Times" diff --git a/fluter/herrscher-brauchen-grenzen.txt b/fluter/herrscher-brauchen-grenzen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..484a2457e6da70287650f253fe2be9a508eefe3a --- /dev/null +++ b/fluter/herrscher-brauchen-grenzen.txt @@ -0,0 +1,20 @@ + +Die OrganisationReporter ohne Grenzen(ROG) half ihm bei seinem Asylgesuch, unterstützte ihn in den ersten Monaten in Deutschland. Und sie gab ihm das, was Journalisten am meisten im Exil vermissen: eine Plattform, auf der er seine Artikel veröffentlichen kann. 2013 gründete ROG den Blogjournalistsinexile.com. Damit erhalten Reporter, die in Deutschland im Exil leben, die Möglichkeit zu veröffentlichen. +Die Mutterorganisation von ROG,Reporters sans frontières(RSF) mit Hauptsitz in Paris, wurde 1985 in Montpellier ins Leben gerufen und setzt sich für Journalisten in Not ein. 1994 gründeten 40 Journalisten in Berlin den deutschen Ableger. Die "tageszeitung" (taz) stellte dafür nicht nur ihren Konferenzraum zur Verfügung, sondern fungierte auch als provisorische Geschäftsstelle. Heute hat die deutsche Sektion rund 1.200 Mitglieder, die französische Mutterorganisation rund 1.600. Damit ist der deutsche Verband nach dem französischen der mit Abstand mitgliederstärkste. Sektionen von ROG gibt in insgesamt neun Ländern: Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Kanada, Österreich, Schweden, Schweiz, Spanien. +Noch im Jahr der Gründung stemmte die deutsche Sektion ihren ersten internationalen Hilfseinsatz. Während des Völkermords in Ruanda 1994 rief eine Radiostation zum Mord an den Tutsi auf: "Ihr seid Kakerlaken!", hörte man auf den grünen Hügeln Ruandas. "Wir werden euch alle töten." Um gegen die Hasspropaganda vorzugehen, richtete RSF im Kongo einen Radiosender ein. Von dort gaben Mitarbeiter von RSF und ROG den fliehenden Ruandern Hinweise, wie sie die Flucht überleben konnten. +Auch wenn sich Reporter ohne Grenzen als Menschenrechtsorganisation sieht, ist der Kampf für Pressefreiheit zentral. In den vergangenen 20 Jahren hat ROG Tausenden Journalisten dabei geholfen, ihren Beruf sicherer zu machen. Die Mitarbeiter organisieren Unterschriftenkampagnen für Inhaftierte, informieren über Zensurmechanismen, helfen Reportern bei der Flucht. Bekannt ist die Organisation aber vor allem für ihr Barometer der Pressefreiheit, das die toten und inhaftierten Reporter weltweit zählt. 66 Journalisten kamen im vergangenen Jahr um, während sie ihren Beruf ausübten: erschossen, zu Tode geprügelt, von einer Bombe getötet. In diesem Jahr waren es bereits 30. +Für die "Rangliste der Pressefreiheit" verschickt ROG jährlich einen Fragebogen an Hunderte Experten auf allen Kontinenten, darunter an Korrespondenten des eigenen Netzwerkes, Wissenschaftler und Juristen. Sie beantworten insgesamt 87 Fragen, beispielsweise: Wie groß ist die Medienvielfalt im Land? Wie stark zensieren sich Journalisten selbst? Sind Medien unabhängig, oder folgen sie staatlichen Vorgaben? Die Einschätzung der Experten ergibt eine Punktzahl, die mit den harten Zahlen verrechnet wird: Wie viele Journalisten wurden verhaftet, wie viele getötet oder verletzt? +Auch das Internet nutzt ROG für seine Zwecke. Im Rahmen der Kampagne "Grenzenloses Internet" entsperrte ROG im März Nachrichtenwebsites, die in ihrem Land blockiert waren: in Russland und China, Usbekistan und Bahrain. Die Seiten wurden gespiegelt und in der Cloud großer Anbieter wie Amazon und Google gespeichert. Man müsste laut ROG schon die gesamte Cloud sperren, um den Zugang zu blockieren – aber das beträfe dann auch Tausende anderer Websites. +Und als vor wenigen Wochen ein chinesisches Gericht die Journalistin Gao Yu wegen "Geheimnisverrats" zu sieben Jahren Haft verurteilte, stellte ROG geheime Regierungsdokumente online. Die chinesischen Zensoren beschreiben darin, wie genau sie Einfluss auf Medien nehmen: Löscht diesen Artikel auf allen Websites, heißt es da, ändert dort die Überschrift, beschwert euch bei der Redaktion. +Die deutsche Sektion von ROG unterstützt vielfach Journalisten aus Osteuropa und den zentralasiatischen Republiken – Länder, die im Pressefreiheitsranking regelmäßig auf den letzten Plätzen liegen. Zurzeit laufen Kampagnen für zwei Journalisten aus Usbekistan und Aserbaidschan, die eine seit einem halben Jahr in Untersuchungshaft, der andere seit sechs Jahren im Gefängnis. Gut möglich, dass bald wieder ein Exilant nach Deutschland kommt. Einer wie Moses Okile Ebokorait. +Kampagnen und Öffentlichkeitsarbeit +Bei Reporter ohne Grenzen protestiert noch der Chef persönlich: Als 2008, vor den Olympischen Spielen in Peking, die olympische Fackel durch Paris getragen wurde, kletterte der damalige Generalsekretär auf die Kathedrale von Notre-Dame und entrollte mit Helfern ein acht mal acht Meter großes Plakat. Statt olympischer Ringe zeigte es fünf Handschellen – Symbol für die prekäre Menschenrechtssituation in China. 2.000 T-Shirts pro Tag mit diesem Logo verkaufte allein die Pariser Sektion vor den Olympischen Spielen. Es war die vermutlich bekanntesteKampagnevon Reporter ohne Grenzen. Auf Initiative von ROG wurden auch schon UN-Resolutionen zum Schutz von Journalisten verabschiedet. +Nothilfe +Journalisten in Not zuhelfenwar die Gründungsidee von Reporter ohne Grenzen. Doch anders als erhofft, wird der Bedarf jährlich größer. In akuter Gefahr, etwa wenn sie bedroht werden, können Journalisten die 24-Stunden-Hotline von Reporter ohne Grenzen anrufen. Je nach Gefährdungslage wird die Organisation dann aktiv. 127 Journalisten nahmen im vergangenen Jahr diese Nothilfe in Anspruch. Den Journalisten, die in ihrem Heimatland verhaftet werden, verschafft ROG einen Anwalt oder medizinische Versorgung. Sie organisiert zudem Protestbrief-Kampagnen und versucht so, Druck auf die Regierungen zu erzeugen. Ist die Lage zu gefährlich, hilft ROG bei der Flucht nach Deutschland. Die Nothilfe-Referenten von ROG helfen beim Aufbau einer neuen Existenz, geben kostenlose Schulungen und unterstützen die Familien der geflohenen Journalisten. +Fotobücher +Mit demFotobuchfing alles an. Die "tageszeitung" veröffentlichte 1994 noch vor der Gründung von ROG ein Buch mit 100 Bildern renommierter Fotografen. Sie zeigen den Alltag der Kriegs- und Krisenberichterstattung. Seit der ersten Ausgabe erschien jedes Jahr ein neues Fotobuch, zuletzt die Ausgabe für 2015. Damals wie heute stellen Fotografen ihre Bilder kostenlos zur Verfügung. Der Erlös geht an Reporter ohne Grenzen. +Sicherheitstipps und Schutz für Kriegsreporter +Lebensversicherungen zum Anziehen sind teuer. Eine kugelsichere Weste, ein Helm und ein Notfallortungsgerät kosten selten unter 1.000 Euro. Ausgaben, die sich freie Journalisten nicht immer leisten können. Die französische und die schwedische Sektion verleihen deshalb gegen Pfand kostenlosSchutzausrüstungenfür den Einsatz in Krisengebieten. ROG gibtSicherheitstipps, ein kostenloses Handbuch erklärt, wie man gefährliche Situationen vermeidet – was leider nicht immer klappt. Denn in Konfliktzonen drohen Minenfelder, Scharfschützen und Krankheiten wie Cholera. Die deutsche Sektion vermittelt daher auch Versicherungen. Denn normalerweise übernimmt eine Krankenkasse nicht die Kosten, wenn ein deutscher Journalist im Irak oder in der Ukraine angeschossen wird. +Ranglisten +Auf der"Rangliste der Pressefreiheit 2015"von ROG, die 180 Länder bewertet, steht ganz Finnland ganz oben, vor Norwegen und Dänemark. Deutschland liegt auf Platz 12. Am unteren Ende finden sich Turkmenistan, Nordkorea, Eritrea. Ergänzt wird die jährliche Rangliste, die öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema Presse- und Informationsfreiheit schaffen soll, durch eine Weltkarte. Länderberichte erklären dazu im Detail, was in den jeweiligen Ländern passierte. ROG präsentiert auch noch weitere Listen. Zu den"Feinden der Pressefreiheit"etwa zählen so unterschiedliche Organisationen wie die italienische Mafia, der König von Swasiland, Drogenkartelle in Mexiko oder die israelische Armee. Erstmals 2014 ehrte man 100"Helden der Pressefreiheit", darunter den US-Journalisten Glenn Greenwald, der als Erster den Whistleblower Edward Snowden interviewte. +Jan Ludwig arbeitet als freier Journalist in Israel. Zwei Wochen nach seiner Ankunft kaufte er sich eine kugelsichere Weste und einen Helm. Vielen Reportern, die in den letzten Jahren in dieser Weltgegend umkamen, half allerdings auch das nicht. diff --git a/fluter/herzscherz.txt b/fluter/herzscherz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..877fdccf9ec2f155fec2db3fc75e3591134e5452 --- /dev/null +++ b/fluter/herzscherz.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +Martin Voigt: Das ist die allerbeste Freundin fürs Leben. Es gibt auch die ABF, ABFF und noch andere Versionen. +Und was ist an der ABF heute anders? Früher haben wir uns doch auch gegenseitig aufs Federmäppchen gekritzelt und sind händchenhaltend über den Schulhof geschlendert. +Früher hatte man als Inszenierungsplattform die Klasse, man saß genau wie heute zusammen auf dem Pausenhof. Neu ist, dass die Muster einer Mädchenfreundschaft selbst eine viel größere Aufmerksamkeit bekommen durch die Thematisierung in öffentlichen Netzwerken. +Für Ihre Untersuchung haben Sie den Typus "Schulmädchen mit bester Freundin" gebildet. Was muss man sich konkret darunter vorstellen? +Die öffentliche Vergleichbarkeit der Freundschaften auf Plattformen wie SchülerVZ oder Facebook hat ein anderes Bewusstsein für die Freundin gebracht. Die Mädchen haben angefangen, Bilder hochzuladen, auf denen sie mit der Freundin abgebildet sind, sie haben die Freundschaft inszeniert. Das hat eine Emotionalisierung angestoßen. Durch Sprache und Bilder ist in den sozialen Netzwerken eine Normierung entstanden, ein bestimmter Mädchentypus. Einige Mädchen nennen sich in der Berufsbezeichnung auch selbst Schulmädchen oder beste Freundin. +Gibt es denn den ABK nicht, den allerbesten Kumpel? +Jungs machen so etwas auch, aber anders. Die Ursachen liegen in der Freundschaftskonstruktion. Bei Jungen spricht man eher von einer "Side by side"-Freundschaft, einem Schulterschluss: gemeinsam auf eine Herausforderung, ein Problem oder eine Sportart fixiert sein. Jungs thematisieren ihre Beziehung an sich nicht so sehr, das war noch nie so und wird wahrscheinlich auch nie so sein. Allerdings bekommen Jungs natürlich mit, wie die Mädchen drauf sind. Wenn sie flirten, übernehmen sie diese Emotionalität manchmal. Wenn Jungs sich gegenseitig ein Herzchen posten, ist das eher witzig gemeint und auch ein Coolness-Faktor: Ihre soziale Position muss so gefestigt sein, dass sie es sich erlauben können, so zu schreiben. +Die Mädchen wirken in ihren Profilen gar nicht zögerlich oder schüchtern, wie es in dem Alter vielleicht normal wäre. +Die Sozialisationsphase geht relativ fix. Fünfte, sechste Klasse, dann kommt der Laptop ins Kinderzimmer, die beste Freundin ist schon auf Facebook, man legt zusammen den Account an und staunt erst mal, was da alles los ist. Aber dann geht es schnell, am selben Tag werden vielleicht die ersten Profilfotos gemacht, und nach wenigen Tagen ist man voll mit dabei. Bei Facebook nehmen die Teenies keine weltweite Anonymität wahr, sondern die eigene Jahrgangsstufe: die beste Freundin, die größere Clique, die Klasse, die Jahrgangsstufe, dann die Schule, umliegende Schulen – so entstehen ganz schnell 1.000 Freundschaften auf Facebook. Die Schule bei Feueralarm: Alle versammeln sich auf dem Pausenhof, jeder sieht den anderen, es sind wirklich alle da. So ist es auch auf Facebook. +"Soziale Medien sind Bühnen, auf denen Mädchen sich als sozial erfolgreiche Akteurinnen inszenieren", schreiben Sie. Ist das nicht wahnsinnig anstrengend? +Die Mädchen müssen sich selbst managen. Aber es macht ihnen ja auch Spaß: sich für ein Foto vorher zu schminken, ein neues Oberteil zu kaufen und am besten gleich in der Umkleidekabine zu fotografieren. Das wird nicht unbedingt als Arbeit empfunden. Obwohl auch ein Druck herrscht mitzumachen. In der Schule auf dem Mädchenklo werden vorm Spiegel erst mal Fotos von der Clique gemacht, die landen im Netz und sind somit dokumentiert, man zelebriert und inszeniert das. Man ist, wer man sein will. Und hierbei sind die Freundinnen die wichtigsten Größen im Schulalltag. +Was passiert denn im Netz, wenn ich gar keine ABF im realen Leben habe, in der Klasse eine Außenseiterin bin? +Man kann Schule und Netzwelt nicht mehr unterscheiden, virtuell und real ist für Vielnutzer sozialer Medien ein verwobener Raum. Diese mobile Anbindung via Smartphone ist für sie wie eine Nabelschnur in den Freundeskreis. Es wäre schwierig, wenn man völlig unbeachtet bliebe, wenn keine Bilder geliket werden, keine Kommentare kommen. Es gibt Mädchen, die laden zweimal am Tag ein neues Profilfoto hoch und lassen täglich Statusmeldungen vom Stapel, so stehen sie immer oben in der Neuigkeitenliste. Wenn man das nicht macht, fällt man eben durchs Raster. +Die Gästebucheinträge, die Sie untersucht haben, lesen sich manchmal wie aneinandergereihte Beziehungsphrasen: Ich hab dich so lieb, wir sind immer füreinander da, wir haben schon so viel durchgemacht. +Wenn Sie sich hinsetzen und Ihrer Oma einen Brief schreiben, haben Sie einen bestimmten Schreibduktus im Finger: "Liebe Oma, herzlichen Dank für das Weihnachtsgeschenk." Diese Mädchen benutzen ebenfalls ein bestimmtes Vokabular, einen bestimmten Stil. Die Bausätze werden bei Bedarf mit Inhalt gefüllt, manchmal bleibt es aber auch nur beim Gerüst: "Hey Schatz, will dich nicht verlieren, hab dich so unendlich lieb, bin immer für dich da." Auch vis-à-vis hat diese Gästebuchkultur bestimmte Muster geprägt. Vor 30 Jahren haben Mädchen auch zusammen gelacht und geweint, aber heute klingt dieses Hochemotionale durch, als wenn sich zwei 80-Jährige schreiben: "Wir haben schon sooo viel zusammen durchgemacht." +"Ich liebe dich" ist ja ein sehr starker, emotionaler Satz der deutschen Sprache. Welche Bedeutung hat er denn noch für die Schulmädchen, wenn sie ihn so inflationär gebrauchen? +Das ist die Frage. Es gehört dazu, so große Gefühle alltäglich zu zeigen und somit eine soziale Kompetenz zu erfüllen. Eine SMS hat niemand anderes mitgelesen, es war egal, ob da "hdl" oder "Bussi" stand. Aber wenn die Kommunikation öffentlich ist und eine Freundin ihrer Klassenkameradin schreibt "Ich liebe dich", man selbst schreibt aber nur "hdl", passt das nicht mehr. "Ich liebe dich" wird so mit der Zeit natürlich zu einer Höflichkeitsfloskel. Andererseits kann ein tief empfundenes Gefühl durchaus damit verbunden sein – vor dem Hintergrund, wie wichtig so eine beste Freundin ist. Für Erwachsene ist dieses öffentliche Zelebrieren von Gefühlen unglaubwürdig. Man muss aber hinterfragen, wie das alles aus der Perspektive einer 13-Jährigen aussieht. Und andersherum kann man ja auch fragen, ob die Sprache das Fühlen verändert. Dass der tägliche Gebrauch der Sprache beeinflusst, was man glaubt. +Und? +Die Mädchen bemerken ja auch, dass die Sprache, die ihnen zur Verfügung steht, von allen irgendwie auf dieselbe Art und Weise ausgereizt wird. Es kommt zu sprachlichen Spielereien wie: "Ich liebe dich nicht ... Nee, Spaß, ich lieb dich über alles!" oder: "Ich liebe dich so fucking viel." Es kursieren verschiedene Stilblüten des Satzes "Ich liebe dich", um Eingeschliffenes etwas zu durchbrechen. Seine tiefe Bedeutung, könnte man durch diese Betonungen schließen, ist den Mädchen vielleicht doch sehr wichtig. +"Ich liieb diich soo seha maiin shaadz <33" – Sätze wie diesen haben Sie zu Tausenden gesammelt. Was lesen Sie darin alles? +Ich habe ganz viele Vermutungen, denen ich auch in Versuchen nachgehe. Zum Beispiel habe ich verschiedenen Mädchen zwischen 17 und 21 Jahren – die waren selbst etwa von 2007 bis 2009 in sozialen Netzwerken sehr aktiv und haben mittlerweile eine ganz gute Distanz dazu – die Aufgabe gestellt, anhand von zwei Schreibweisen für das Wort "Schatz" bestimmte Typen zu identifizieren: Welcher Typ Mädchen hat eher "Shaadz", welcher eher "Schaatzii" geschrieben? Da gab es ganz interessante, deckungsgleiche Ergebnisse: Die auffällige Form, dieses "Shaadz", das haben halt die "Geddo Bitches", die "Emo-Tussis" benutzt, die schon geraucht haben, einen Freund hatten. Das war ein einhelliger, natürlich eher ablehnender Tenor. "Schaatzii": Das schrieben eher so die Niedlichen, das war normal. +Ihnen haben Lehrer davon berichtet, dass ihre Schüler Abkürzungen aus dem Netz, zum Beispiel "ka" für "keine Ahnung" oder "iwie" für "irgendwie", in der Klasse beim Sprechen benutzt haben. Haben die Teenies solche sprachlichen Spielereien eigentlich schon verinnerlicht? +Ich habe Zettelchen gefunden, auf denen handschriftlich Tastenzeichen für Emoticons benutzt wurden. Die waren wahrscheinlich aber bewusst platziert, um zu zeigen: Hier knüpfe ich an das an, was wir im Internet schon an emotionaler Bindung aufgebaut haben. Ob sich Sprache insgesamt verändert dadurch, ist schwierig zu sagen. Wenn man E-Mails von heute mit denen vor fünf Jahren vergleicht, sieht man, dass heute auch Geschäftspartner Smileys benutzen. Kommunikative Nähe hält auch im Schriftlichen immer mehr Einzug, der Ton wird lockerer. Irgendein Einfluss ist da, und die erste Generation, die mit den sozialen Netzwerken aufgewachsen ist, prägt diese Entwicklung jetzt. Ich würde gerne mal in Schulaufsätzen schauen, ob an Satzenden manchmal ein Smiley auftaucht. +Können die Jugendlichen ohne Smileys Witz und Ironie schriftlich gar nicht mehr ausdrücken? +Gute Frage. Diese Schulmädchen setzen Smileys ja so flächig ein, dass die einzelne Mimik, die damit eventuell transportiert werden könnte, gar nicht groß wahrgenommen wird. Sie färben den Text allgemein mit einem Lächeln oder Grinsen ein. +Muss man die deutsche Sprache vor Einflüssen aus der Online-Kommunikation beschützen? +Aus einer sprachpflegerischen Perspektive kann man natürlich sagen, dass durch Vereinfachungen und Reduzierungen von grammatischen Konstruktionen Wortvielfalt und ein Ausdruckspotenzial verloren gehen. Aber man muss vielleicht auch nicht überbewerten, was da passiert. Sprache ist ja etwas Lebendiges. Ich mache mir eher Sorgen um die Mädels. +Apropos Sorgen: Sie sehen in den Profilbildern der Mädchen einen Trend zur "kulleräugigen Niedlichkeit", man sieht Kussmünder, Ansätze von Dekolletés. Müssen Eltern da nicht total besorgt sein? +Das passiert ja alles auf einer sehr unterschwelligen Ebene. Man kann heutzutage keiner 13-Jährigen Facebook verbieten, das wäre, als würde sie einen Tag in der Schule fehlen. Man sollte vielleicht einen Kompromiss finden, dass die Kinder nicht ständig online sind. Darüber reden, welche Art von Fotos und Sprache okay ist. Ob diese extreme Emotionalität wirklich nötig ist. Eine Mutter fragte mich mal: "Wie ernst ist das denn, wenn meine Tochter so oft ,Ich liebe dich' an ihre Freundin schreibt? Ist die dann lesbisch?" Die Mädchen selbst fallen bei so einer Frage natürlich aus allen Wolken. diff --git a/fluter/herzschlag-gesetz-abtreibung-texas.txt b/fluter/herzschlag-gesetz-abtreibung-texas.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b9ee24776ba520c88db7e52b8809a3c8dcd6d3b9 --- /dev/null +++ b/fluter/herzschlag-gesetz-abtreibung-texas.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Seit September gilt in Texas, dem nach Alaska flächenmäßig größten Bundesstaat der USA, das sogenannte "Herzschlag-Gesetz". Es verbietet Schwangerschaftsabbrüche, sobald ein Herzschlag des Fötus festgestellt werden kann. Das ist um die sechste Schwangerschaftswoche herum möglich. Viele Frauen wissen zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht einmal, dass sie schwanger sind. Auch bei Vergewaltigung und Inzest macht das neue Gesetz keine Ausnahmen. +Der Kampf um die Abtreibung spaltet die USA seit jeher. Das neue texanische Gesetz wurde bereits durch einen Eilantrag der Regierung von US-Präsident Joe Biden gekippt – und dann von einem texanischen Berufungsgericht wieder in Kraft gesetzt. Nun zieht die US-Regierung vor den Obersten Gerichtshof der USA, um das Gesetz zu blockieren. Dieses Hin und Her führt zu großer Verunsicherung, und auch dazu, dass viele TexanerinnenHilfe in den Nachbarstaaten suchen. +Vicki Cowart von der Organisation "Planned Parenthood of the Rocky Mountains", die Frauen zum Thema Abtreibung berät und selbst Abtreibungskliniken in New Mexico und Colorado betreibt, sprach gegenüber dem Nachrichtendienst "9News" von einer rasanten Zunahme von Patientinnen aus Texas. In einer Einrichtung hätte diese Zunahme im September, als das Gesetz in Kraft trat, 520 Prozent im Vergleich zum Vormonat betragen. Um alle Patientinnen versorgen und beraten zu können, würden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Überstunden schieben. + + +An dem Tag, als das junge Paar vor die Abtreibungsklinik in Santa Teresa fährt, steht auch der 60-jährige Francesco auf einem Grünstreifen vor der Klinik. Weiter darf er sichgesetzlich nicht nähern. Er trägt einen blauen Sportanzug, um seinen Hals eine große Kreuzkette. In seinen Händen hält er sein, wie er sagt, Meditationsbuch. Es sind Auszüge aus der Bibel. Francesco engagiert sich bei "40 Days for Life", laut eigener Website die weltgrößte Graswurzelbewegung für das Ende von Abtreibungen. Fragt man ihn, was er von Schwangerschaftsabbrüchen hält, sagt er: "In meinen Augen ist Abtreibung Mord." Dann fängt er an, über Gott und das von ihm geschenkte Leben zu sprechen. +Wenn Patientinnen aus der Klinik an ihm vorbeilaufen, spricht er sie nicht aktiv an. Es gehe ihm darum, "Präsenz zu zeigen", erklärt Francesco. Das mache er jeden Montag, weil er an diesem Tag nicht in seinem normalen Job als Automechaniker arbeiten müsse. Ursprünglich stammt er aus Mexiko, das für eine restriktive Abtreibungspolitik bekannt ist. Doch im September entschied der Oberste Gerichtshof in Mexiko, dass Schwangerschaftsabbrüche kein Verbrechen mehr sind. Francesco schüttelt energisch seinen Kopf. "Ich verstehe einfach nicht, wie jemand Abtreibung befürworten kann." +Weiterlesen +Immer mehr Serien bauen Schwangerschaftsabbrüche in ihre Plots ein.Nicht immer gelingt das +Bis zum Abend wird an diesem Tag auch Valentine vor der Klinik in Santa Teresa stehen. Sie trägt eine schwarze Hose, ein türkisfarbenes Poloshirt, lächelt breit. Sie war es, die dem Paar mit dem texanischen Nummernschild einen Flyer in die Hand gedrückt hat. Sie ist 18 Jahre alt und geht aufs College. Später möchte sie Medizin studieren. Heute jobbt sie für die Non-Profit-Organisation "Her Care Connection". Valentine sagt über sich und die Organisation, dass sie weder für noch gegen Abtreibungen sind. "Wir schreiben Frauen nicht vor, was sie tun sollen", sagt sie. Stattdessen würden sie kostenfreie medizinische Beratungen anbieten. Im Netz findet man "Her Care Connection" auf der Seite von "Southwest Coalition for Life", einer Vereinigung, die sich gegen Abtreibung einsetzt. +Zwei Mitarbeiterinnen der Abtreibungsklinik in dem kleinen, unscheinbaren Städtchen Santa Teresa erklären an diesem Tag, dass überwiegend Frauen aus Texas zu ihnen kommen würden. Ein Schwangerschaftsabbruch würde bei ihnen 700 Dollar kosten – eine Summe, die für weniger Vermögende nicht leicht zu stemmen ist. +Für Joe Pojman ist das Herzschlag-Gesetz ein Etappensieg: "Jedes gerettete Leben ist für uns ein Erfolg." Pojman, Chef des Verbandes "Texas Alliance for Life", empfängt in seinem Büro in Austin. Er tritt staatsmännisch auf, trägt einen dunklen Anzug mit goldenen Knöpfen. Und führt durch einen langen Flur, in dem Fotos von glücklichen Müttern hängen, in einen Konferenzraum samt US-Flagge und einem Schaukasten, der Nachbildungen verschieden großer Föten aus Lehm zeigt. + + +Er und seine Organisation kämpfen fürein Gesetz, das Abtreibungen komplett verbietet, also auch vor dem ersten Herzschlag. "Als einzige Ausnahme bliebe", sagt er, "wenn das Leben der Mutter akut in Gefahr wäre." Diese Einschränkung würde dann unabhängig vom Zeitpunkt gelten. Selbst Inzest und Vergewaltigungen seien für ihn keine Ausnahmegründe: "Jede Gewalttat gegen eine Frau ist furchtbar. Aber wir können nicht das Kind für so eine Tat bestrafen." Pojman befürwortet auch, dass das Herzschlag-Gesetz Bürgerinnen und Bürger dazu ermutigt, Menschen zu melden, die Frauen bei einer Abtreibung geholfen haben – um im Falle einer Verurteilung eine Belohnung von 10.000 Dollar zu erhalten. Zahlen würden die Verurteilten. +Pojman ist eigentlich Luftfahrtingenieur und hat drei Jahre für die NASA gearbeitet. Inzwischen ist er hauptberuflich einer der wichtigsten Antiabtreibungslobbyisten der USA. Wenn man ihn fragt, was ihn dazu bewegt, sich gegen Abtreibungen einzusetzen, überlegt er kurz und erzählt dann, dass er als junger Mann erlebt habe, dass mehrere befreundete Pärchen im Nachhinein sehr unter einem Schwangerschaftsabbruch gelitten hätten. Am Ende sagt er noch: "Ich hoffe, Texas wird ein Vorbild für die gesamte USA, vielleicht auch für die ganze Welt." +Etwa zehn Fahrminuten von Pojmans Büro entfernt liegt die Frauenklinik "Whole Woman's Health of Austin". Obwohl zu diesem Zeitpunkt das Herzschlag-Gesetz in Kraft ist, stehen auch hier zwei Freiwillige von "40 Days for Life", Cathleen und Marty(siehe Titelbild). Die beiden sind schon im Ruhestand, tragen gemütliche Freizeitklamotten, wirken aber wild entschlossen. Während Cathleen ein Schild hochhält, auf dem "We are here to love you both!" steht, trägt Marty ein Shirt mit dem Aufdruck "I'm on a mission from God". Auch wenn Marty versichert, ihre Organisation sei nicht politisch, hängt an seinem Shirt der Button "Catholics for Trump". +Das Gesetz ist die größte Beschränkung von Abtreibungen in den USA seit ihrer allgemeinen Legalisierung im Jahr 1973. Damals verankerte der Oberste Gerichtshof das Recht von Frauen auf Abtreibung in dem Urteil "Roe versus Wade". Gerade befasst sich der mehrheitlich konservativ besetzte Supreme Court mit einem Abtreibungsgesetz aus Mississippi, das das Recht auf Schwangerschaftsabbruch noch grundsätzlicher beschneiden würde. Sollte "Roe versus Wade" vor dem Supreme Court fallen, könnten Schwangerschaftsabbrüche in einigen konservativ oder religiös geprägten Bundesstaaten wie Texas komplett verboten werden – sogar jene vor dem ersten Herzschlag. + +Fotos: Eva Kienholz und Nik Afanasjew diff --git a/fluter/hetze-gegen-lgbt-polen.txt b/fluter/hetze-gegen-lgbt-polen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..df1b30406f6b18c67352c673d71340e1795c81b8 --- /dev/null +++ b/fluter/hetze-gegen-lgbt-polen.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Laut einerStudieaus dem Jahr 2016 erfahren zwei Drittel der Homosexuellen in Polen Hass und physische Gewalt, aber nur vier Prozent der Taten werden polizeilich gemeldet. Auch wenn Übergriffe wie in Białystok die Ausnahme sind: Homophobie ist in Polenverbreiteter als in den meisten europäischen Ländern. +Seit Jahren gehen die zwei wichtigsten Kräfte im Land gegen die LGBTQI-Community vor: die Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) und die katholische Kirche. Sie wehrt sich gegen die "Ehe für alle" und fürchtet, dass ihr Einfluss schwinden könnte, wenn sich die katholische polnische Gesellschaft öffnet. Der Krakauer Erzbischof Marek Jędraszewski warnte im August gar vor der "regenbogenfarbenen Pest". Die rechtskonservative PiS-Regierung setzt hingegen methodisch auf Homophobie: Feindbilder helfen, Wähler*innenfür die anstehenden Parlamentswahlenzu aktivieren. +Vor der Wahl 2015schürte die PiS noch Ängste vor Überfremdung. Im diesjährigen Wahlkampf stellt sie vor allem Homo- und Transsexuelle als Bedrohung für die polnische Identität und Nation dar. Laut PiS-Chef Jarosław Kaczyński würden queere Menschen der Mehrheitsgesellschaft aggressiv ihre "LGBT-Ideologie" aufzwingen. Immer wieder bringt er Homosexuelle mit pädophilen Übergriffen in Verbindung. Auch regierungsnahe Medien hetzen gegen sexuelle Minderheiten: Zeitungen spotten über die "Schwulenehe", das Magazin "Gazeta Polska" legte einer Ausgabe sogar Sticker mit der Aufschrift "LGBT-freie Zone" bei. Deren Vertrieb wurde verboten, trotzdem erklären sich bis heute ganze Städte, Kreise und Kommunen als "LGBT-frei". Und drei Tage vor der Parlamentswahl am Sonntag veröffentlichte dann auch noch der staatliche Fernsehsender TVP1 einevermeintliche Doku mit dem Titel "LGBT-Invasion". +Trotz allem sieht die queere Community in Białystok einen Wendepunkt: Die Zahl der LGBTQI-Paraden steigt,der offen schwul lebende Politiker Robert Biedrońund seine im Februar 2019 gegründete linksliberale Partei Wiosna gelten als Hoffnungsträger. Und kürzlich erklärten Zehntausende überwiegend junge Polinnen und Polenunter dem Hashtag #JestemLGBT, dass sie homosexuell sind – und ganz normale Menschen. +Polen ist politisch gespalten, aber in einer Sache einig: Diese Wahl ist die wichtigste seit 30 Jahren. Warum?Das Wichtigste im FAQ diff --git a/fluter/heute-will-jeder-manager-sein.txt b/fluter/heute-will-jeder-manager-sein.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a452cba3bcfd8678489461fd2c2c99c5f756f7ed --- /dev/null +++ b/fluter/heute-will-jeder-manager-sein.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Warum schenken wir diesem Prinzip der Effizienz so großes Vertrauen? +Der Manager ist das führende Rollenmodell unserer Zeit. Er ist effizient und kann scheinbar alle Probleme lösen, vor allem die finanziellen. Also will und soll heute jeder ein Manager sein. +Und das führt zu Problemen? +Während meiner Recherchen zur Unternehmensberatung McKinsey war ich entsetzt, wie tief deren Prinzipien schon vorgedrungen sind, dass sich auch schon Verlage, die Kirche, Theaterhäuser auf Effizienz trimmen lassen. Wirtschaftlichkeit als oberstes Prinzip führt im Kulturbereich zu Eintönigkeit, Kreativität und Kritik gehen verloren. Die medizinische Versorgung und die Kirche gehen weniger auf die Bedürfnisse des Menschen ein. +Früher war also alles besser? +Die Klage über die Verschlechterung der Verhältnisse gab es immer. Auch Schiller, Goethe oder Kleist haben sich beschwert, dass alles dem Nutzengedanken unterworfen wird. Aber wenn ich mich nur auf meine eigene Lebenswelt konzentriere, dann habe ich im Laufe der Jahre sehr wohl eine Veränderung wahrgenommen. +Welche? +Wir verlieren Eigenschaften, die in Unternehmen scheinbar nicht der Rendite nützen: Gründlichkeit, Intensität, Kreativität. Ich bin mir sicher, dass im Gegenteil ein bisschen Müßiggang wichtig ist. +Aber junge Leute haben keine Zeit zu verschwenden! Jeder verlangt von uns, dass wir neben dem Studium Praktika machen oder ein paar Auslandssemester. +Ja, das sehe ich bei unseren Praktikanten. Die waren an wunderbaren Universitäten, haben beim Senator gearbeitet, 15 Praktika gemacht, können drei, vier Fremdsprachen. Das nötigt mir zwar Bewunderung ab, aber diese einheitlichen und auf Karriere getrimmten Lebensläufe führen nicht zu besseren Texten. Im Gegenteil: Ich stelle eine gewisse Erstarrung in den Texten fest. Weil die Autoren sich nicht mit Dingen beschäftigen, die außerhalb ihres Karrierekosmos liegen. Ihnen fehlt Persönlichkeit. Je mehr sich jemand in diese Karrierewelt hineinbegibt, desto mehr verliert er auch an Fantasie oder die Fähigkeit, über seinen Horizont hinauszudenken. Denken Sie zum Beispiel mal an "Second Life". +Was hat ein Onlinespiel damit zu tun? +Da bauen sich junge Menschen online eine neue Welt – und dann geht es dort wie in der realen Welt nur ums Kaufen und Verkaufen. Der gleiche Druck in einer Welt, die sich die User selbst erschaffen können, das hat mich wahnsinnig überrascht und auch ein bisschen schockiert. Für meinen Geschmack passen sich junge Leute zu schnell an, schauen sich die Dinge von den Alten ab. Man muss sich einen gewissen Grad an Auflehnung bewahren. Das heißt nicht, dass man der große Rebell ist. Eher, dass man andere und sich selbst jeden Tag aufs Neue überprüft. +Sie meinen, wir sollten das Ideal überprüfen, dem wir nacheifern? +Ich weiß, das ist schwierig. Weil dieser scheinbar ideale Mensch erfolgreich ist, Anerkennung bekommt, sehr viel Geld verdient und auch eine gewisse Coolness ausstrahlt. Diese idealtypische Figur wurde im Wirtschaftsleben erschaffen, von Unternehmensberatungen wie McKinsey. Wären wir alle so wie dieses Ideal, würde unser Leben veröden. Alles, was sich immer mehr angleicht, wird irgendwann öde und langweilig. +Also sollte ich lieber meinen Unique Selling Preposition, meine individuelle Macke betonen, um mich aus der Masse hervorzuheben? +Nicht unbedingt. Es kann auch jemanden glücklich machen, dass er sich anpasst. Man muss sich bewusst machen, was man will. Die Welt sieht immer nur so aus, wie wir sie machen. Allerdings haben nur wohlhabende Menschen diese Wahlfreiheit. +Und die sozial Schwächeren haben keine andere Wahl, als sich anzupassen? +Für alle gilt: Ist die Arbeitslosigkeit hoch, ist der Effizienzdruck am höchsten. Wirtschaftliches Wachstum dagegen birgt die Chance für Individualität. Erst mit einem gewissen Wohlstand entstehen Spielräume dafür, seine eigenen Lebensvorstellungen auch umsetzen zu können. +Gibt es denn noch Bereiche, die sich dem Effizienzprinzip entziehen? +Ich will hoffen, dass es die Liebe kann, sei es Liebe zwischen Mann und Frau oder zu Kindern oder Freunden. +Aber was ist mit Phänomenen wie "SpeedDating": in möglichst kurzer Zeit möglichst viele potenzielle Partner kennenzulernen. +Da spielt tatsächlich auch schon das Kosten-Nutzen-Denken eine Rolle. Der Bereich, auf den das ökonomische Denken keinen Zugriff hat, schrumpft unerbittlich. +Alles wird immer schlimmer? +Es wird zumindest nicht besser. Unsere Gesellschaft wird sich nicht mehr von der Effizienz als Leitprinzip lösen können. Aber in einzelnen Nischen geht das natürlich schon. Es ist ja nicht so, dass eine unerbittliche Teufelsmacht über uns kommt und uns zwingt, unser Leben dem Effizienzgedanken unterzuordnen. Das ist immer noch unsere eigene Entscheidung.Dirk Kurbjuweit, 44, ist Schriftsteller und seit 2002 stellvertretender Leiter des Berliner Büros des Spiegel. Er hat Volkswirtschaft studiert und wurde für seine Reportagen schon zweimal mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet.Von ihm erschien 2003: Unser effizientes Leben. diff --git a/fluter/hier-sind-noch-spuren.txt b/fluter/hier-sind-noch-spuren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..60de8444494d010a6d408f7f94e1039967fed6c2 --- /dev/null +++ b/fluter/hier-sind-noch-spuren.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Die DNA-Analyse gilt heute als eine der stärksten Waffen der Kriminaltechnik, doch manchmal staunen selbst die Biologen hier im Landeskriminalamt noch. Christiane Röscheisen, die Leiterin der Abteilung, erinnert sich an ein Messer, das eines Tages in einem der braunen Papierumschläge auf ihrem Flur ankam. Die Ermittler hatten es in einem Fluss gefunden. Die Klinge: blitzblank, kein Blut, kein Gewebe, nichts. Oder doch? Im Labor fanden die Biologen dann DNA, die das Wasser nicht weggespült hatte – vom Täter und vom Opfer gleichermaßen. "Wenn das dann funktioniert, ist man schon sehr überrascht", sagt Röscheisen. Am Ende bekommen die Ermittler aus dem Labor eine Nummer, eine Ziffernfolge für die Gen-Spuren. Diese Nummer können sie mit der zentralen DNA-Analysedatei des Bundeskriminalamtes abgleichen. +Dort sind zum Ende des zweiten Quartals 2016 die DNA-Profile von 857.666 Personen gespeichert. Zum Vergleich: Das entspricht immerhin gut einem Prozent der deutschen Bevölkerung. Bei etwa jeder dritten Spur lässt sich durch die Gen-Abfrage inzwischen ein potenzieller Täter ermitteln. +Das heißt umgekehrt aber auch: Bei zwei von drei Gen-Spuren bleibt der Abgleich ergebnislos. Wenn der Täter nicht noch irgendwo auftaucht, sich das Erbgut nicht in irgendein Polizeilabor verirrt und von dort in die Zentraldatei, bleibt die Spur wertlos. Über dieses Dilemma kommt die ausgefeilte Labortechnik nicht hinweg: Finden kann die Polizei mit der DNA-Analyse nur Personen, die sie im Prinzip schon kennt. +Was tun? Es gäbe eine Möglichkeit: Die Ermittler könnten die Person, deren Gene sie schon im Labor haben, besser kennenlernen. Denn im Erbgut stecken unzählige Informationen, die bislang noch gar nicht genutzt werden. +Mehr als 90 Prozent der DNA tragen keinerlei Information über Aussehen, Statur, Persönlichkeit, Krankheiten. Ein großer Teil davon dürfte bloß sogenannte Junk-DNA sein, Gen- Schrott ohne jeden erkennbaren Zweck. Herausfiltern dürfen die Ermittler allein den informationslosen Teil des Erbguts – und das Geschlecht. Um Menschen eindeutig zu identifizieren, ist dieser Blindtext variantenreich genug. +Aber wenn das die Suche nach dem Täter nicht voranbringt? "Ich wüsste eine Reihe von Fällen, wo es den Ermittlern helfen würde, wenn sie ein paar Informationen mehr hätten", sagt Biologin Röscheisen vom LKA Hamburg: die Haarfarbe, die Augenfarbe, die ethnische Abstammung. Nur geben darf das Labor diese Daten den Ermittlern nicht. Würde sie das gern ändern? Die LKA-Gutachterin äußert sich zurückhaltend: Es bräuchte erst eine Verständigung der Gesellschaft darüber, wie weit man die Polizei in die Gene der Menschen blicken lassen will. +In den Niederlanden dürfen die Ermittler bereits mehr aus der DNA lesen – seit ein spektakulärer Mordfall dort Schlagzeilen machte. Am 1. Mai 1999 wurde ein 16-jähriges Mädchen in Kollum, einer Kleinstadt in Friesland, vergewaltigt und ermordet. Zwölf Verdächtige ermittelte die Polizei, auf niemanden passte das DNA-Muster vom Tatort. Derweil kochte im Ort die Stimmung über: Die Bevölkerung hatte schnell die Bewohner eines Asylbewerberheims im Verdacht, die Lage wurde zwischenzeitlich so bedrohlich, dass Bereitschaftspolizisten das Heim sichern mussten. Die Ermittler griffen schließlich zu einem damals noch verbotenen Verfahren: Sie schickten die Gen-Probe zur weiteren Untersuchung ins Labor der Uni Leiden, um Hinweise auf die ethnische Abstammung des Täters zu bekommen. Dort stellte sich heraus: Der Täter ist höchstwahrscheinlich ein Europäer, ein Niederländer, kein Flüchtling. Später lockerte das niederländische Parlament das Gesetz; die Herkunft ist für die Gen-Labore seither nicht mehr grundsätzlich tabu. +Der Präzedenzfall zeigt bereits, welcher Sprengstoff in einer so weitreichenden Analyse stecken könnte: Was wäre passiert, wenn der Test die Bewohner des Flüchtlingsheims nicht entlastet hätte? Wenn vielleicht rein zufällig, aus irgendeinem anderen Grund auch deren Gene am Tatort aufgetaucht wären? Wie geht man mit einer Technik um, deren Beweiskraft auf viele schnell so erdrückend wirkt, dass sie andere Erklärungen kaum noch in Betracht ziehen? Wie viel sollte die Polizei über einen Täter wissen dürfen? +Für Manfred Kayser, einen deutschen Professor für forensische Molekularbiologie an der Erasmus-Universität Rotterdam, sind das unnötige Fragen. Die Gen-Spuren sieht er eher als eine Art Augenzeugenbericht an, nur weniger fehleranfällig: Wo Menschen sich irren, können die Gene sichere Beschreibungen eines Täters liefern. Warum sollte man das nicht nutzen können? "Das Aussehen ist keine Privatsache", sagt Kayser. "Für äußere Merkmale gibt es keinen Datenschutz." +Fieberhaft versucht Kayser, der DNA mehr Informationen zu entlocken. Für die Augenfarbe funktioniert der Test bereits recht gut: Sechs Gene werden dabei analysiert, sechs Stellen in dem langen Codewort der DNA. Am Ende bekommen die Ermittler eine Tabelle mit drei Wahrscheinlichkeitswerten, jeweils für blaue Augen, braune Augen und einen Mischton wie Grün oder Grau. Dort können sie dann lesen, dass der Täter zum Beispiel mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent blauäugig ist. +Für die zehn Prozent Zweifel sind die vielen anderen Gene verantwortlich, die die Forscher nicht testen, die sie vielleicht nicht einmal kennen. Hunderte, vielleicht Tausende Stellen im DNA-Code, die den Farbton der Augen mitmischen. +Bei anderen Merkmalen ist das Erbgut schon sehr viel schwieriger zu entziffern. Es gilt: Je mehr Gene das Merkmal mitbestimmen, desto größer ist der Aufwand, um sie zu finden. Die Gesichtszüge sind so ein Beispiel. +In einer Studie konnten Kayser und seine Kollegen fünf Gene finden, fünf von wohl Tausenden, die noch unentdeckt sind. Den größten Einfluss hat dabei ein Gen mit dem Namen TP63: Es schiebt die Augen weiter auseinander oder näher zusammen – um maximal 1,8 Millimeter. Allein um diesen winzigen Unterschied im Augenabstand aus der DNA zu entziffern, brauchten die Forscher die Vergleichsdaten von mehr als 9.000 Menschen. "Von einem genetischen Phantombild, das mehr als Geschlecht, Augen-, Haar-, und Hautfarbe sowie geografische Abstammung zeigt, sind wir noch weit entfernt", sagt Kayser. +Dennoch wirbt die US-Firma Parabon NanoLabs genau damit. Für Kayser und andere Genetiker wirkt das unseriös, das Unternehmen mache seine Methoden nicht transparent. Manchen Kunden schreckt das nicht: In Hongkong hatte eine Umweltinitiative im vergangenen Jahr weggeworfene Zigarettenstummel und ausgespuckte Kaugummis in die USA geschickt. Sie bekam 27 Phantombilder zurück, die überall in der Stadt großflächig plakatiert wurden: Seht her, das sind die Bürger, die ihren Müll auf die Straße werfen. diff --git a/fluter/hiergeblieben.txt b/fluter/hiergeblieben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1911afac7a8edddb5817f228c93fdf02671b9c12 --- /dev/null +++ b/fluter/hiergeblieben.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Wie viele Asylanträge werden bei uns gestellt? +Die Zahl der Flüchtlinge, die in Deutschland erstmalig Asyl beantragen, ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen. 2007 waren es noch 19.164, 2014 schon 173.072. Bis zum Jahresende wird mit rund 450.000 Asylanträgen gerechnet. In den ersten drei Monaten dieses Jahres wurde mehr als jeder dritte Antrag bewilligt. Bei Flüchtlingen aus Syrien, Eritrea und dem Irak lag die Quote bei 84,8, 72,9 und 92,4 Prozent. +Wer kümmert sich bei uns um die Asylanträge? +Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Nürnberg. Dessen Außenstellen in den Bundesländern führen die Asylverfahren durch. Dabei dauert die Bearbeitung eines Antrags durchschnittlich knapp sechs Monate – mit dem Ziel, diese auf drei Monate zu verkürzen. In dieser zeit leben die Asylbewerber meist in Unterkünften, die von den Bundesländern und Kommunen betrieben werden. Einen Asylantrag für Deutschland kann man nur in Deutschland stellen, nicht im Ausland. +Woher kommen die Flüchtlinge? +Die meisten Erstanträge auf Asyl in Deutschland in den ersten vier Monaten 2015 stammten von Menschen aus dem Kosovo (25,2 Prozent), aus Syrien (19,3 Prozent) und Albanien (11 Prozent). +Wie ist der Aufenthalt für Ausländer in Deutschland geregelt? +Wer nicht aus einem EU-Land oder einem Mitgliedsstaat des europäischen Wirtschaftsraums stammt, benötigt für einen längeren Aufenthalt in Deutschland grundsätzlich einen Aufent- haltstitel. Neben dem Visum für die Einreise sind das eine Aufenthaltserlaubnis (zeitlich befristet), die blaue Karte EU (zunächst befristet), eine Niederlassungserlaubnis oder eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU (unbefristet). +Warum kommen eigentlich mehr Männer als Frauen? +Tatsächlich waren laut Jahresbericht 2013 des BAMF 63,4 Prozent aller nach Deutschland kommenden Asylbewerber männlich; in der Altersgruppe 18 bis 25 Jahre waren es sogar 74,8 Prozent. Das könnte daher kommen, dass jungen Männern oft die strapaziöse Flucht eher zugetraut wird. Zudem kommt in patriarchalischen Gesellschaften Männern eher die Rolle des Verdieners zu, der die Familie mit Geld aus dem Ausland versorgt. +Wer legt fest, wo ein Flüchtling unterkommt? +Mit dem "Königsteiner Schlüssel" werden Aufnahmequoten für die einzelnen Bundesländer festgelegt – entsprechend der Steuereinnahmen und der Bevölkerungszahl der Länder. Die Aufnahme in den Kommunen erfolgt ebenfalls nach einem Schlüssel. Hier spielt vor allem die Einwohnerzahl eine Rolle: Je größer die Stadt, desto mehr Flüchtlinge muss sie unterbringen. +Warum werden Familien nicht automatisch zusamengeführt? +Tatsächlich verhindert der Königsteiner Schlüssel, dass Familienmitglieder automatisch zusammenleben können, bis ihr Asylantrag entschieden ist. Eine Ausnahme besteht nur für minderjährige Kinder oder für besonders hilfs- und pflegebedürftige Menschen. +Wie geht es weiter, wenn ein Asylantrag bewilligt wurde? +Einem Antragsteller, der als Asylberechtigter anerkannt worden ist, wird von der Ausländerbehörde eine Aufenthaltserlaubnis mit dreijähriger Gültigkeit ausgestellt. Nach den drei Jahren wird eine unbefristete Niederlassungserlaubnis erteilt, wenn die Asylberechtigung nicht zu widerrufen ist, und sich der Antragsteller selbst versorgen kann. Asylberechtigten stehen die gleichen Sozialleistungen zu wie deutschen Staatsangehörigen. Es besteht unbeschränkter Zugang zum Arbeitsmarkt, und Ehegatten und Kinder können unter erleichterten Bedingungen aus dem Ausland nach Deutschland geholt werden. Zudem besteht ein Anspruch auf Teilnahme an einem Integrationskurs. +Hat jemand, dessen Antrag auf Asyl abgelehnt wurde, noch eine Chance, in Deutschland zu bleiben? +In den Bundesländern gibt es sogenannte Härtefallkommissionen, die ein Bleiberecht an Ausländer vergeben können, die eigentlich ausreisen müssen. Hierfür wird geprüft, ob die negative Entscheidung menschlich oder moralisch vertretbar ist. diff --git a/fluter/hillbilly-elegie-jd-vance.txt b/fluter/hillbilly-elegie-jd-vance.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..07c81094bf62440f145998a15c2c1bfb391a4668 --- /dev/null +++ b/fluter/hillbilly-elegie-jd-vance.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Kann schon alles sein, so das Fazit von J. D. Vance, aber die Frage, die ihn beschäftigt, ist eher die nach dem Humus, auf dem all diese Ressentiments, der Opferkult und die Verschwörungstheorien wachsen. Und da ist Vance ein echter Experte. Denn er ist kein Soziologe oder Politologe, er ist in einer dieser kaputten Familien aufgewachsen, über die immer geredet wird. +"Meine Mutter war eine echte Multitaskerin. Sie konnte Auto fahren und uns gleichzeitig auf dem Rücksitz schlagen." In diesem lakonischen Ton beschreibt Vance seine Kindheit inmitten von Wutausbrüchen, exzessivem Alkoholgenuss und Arbeitslosigkeit. +"Hillbilly" – der Begriff steht für die sogenannten Hinterwäldler, die einst aus den Appalachen, einem Mittelgebirge im Osten der USA, auf der Suche nach Arbeit in den Mittleren Westen zogen, um dort in den Fabriken der Stahl- und Autoindustrie zu arbeiten, so wie es auch Millionen Schwarze aus den Südstaaten taten. Mittlerweile sind die Fabriken dicht, ganze Großstädte wie Detroit gammeln vor sich hin, und viele der arbeitslosen Menschen betäuben sich mit Opiaten, die von den Ärzten über Jahre hinweg bereitwillig verschrieben wurden, weil es imRust Beltfür viele keine vernünftige Gesundheitsversorgung gibt. Das extrem abhängig machende Schmerzmittel Oxycodon heißt daher auch "Hillbilly-Heroin". +Vance schreibt voller Zuneigung über seine Familie, aber dennoch schonungslos offen. Wie seine Mutter einen Mann nach dem anderen nach Hause brachte, darunter viele, die zu Gewalt neigten. Wie sie für Drogen noch den Rest ihrer Habe durchbrachte, wie seine Großmutter mit der gezückten Flinte durch die Gegend rannte und einmal sogar seinen Opa auf dem Sofa anzündete, weil sie von dessen Sauftouren genug hatte. Letztlich ist es diese erstaunlich brutale Oma, die Vance rettet und ihn immer wieder auffängt, wenn daheim alles in die Brüche geht. +Das Buch ist anrührend und lehrreich. Man ahnt, dass die Familienehre unter "Hillbillys" fast so ein Popanz ist wie bei der Mafia, dass Verwandte mit Waffen gerächt werden, auch wenn sie den Streit selbst angefangen haben. Was dazu führt, dass man gegenüber den eigenen Versäumnissen blind wird. Schuld sind immer die anderen. +Und das ist das große Verdienst des Buches. Dass es einerseits die politischen Fehlentwicklungen aufzeigt, die zum Niedergang eines Teils der USA geführt haben, aber andererseits auch das eigene Verschulden der Betroffenen thematisiert. So erzählt Vance, dass er es immer geschafft habe, irgendwelche Jobs zu bekommen, dass viele seiner Kumpels aber jeden Tag zu spät gekommen seien oder für Stunden in der Pause verschwanden. Als sie dann nach drei Ermahnungen entlassen wurden, hätten sie sich als Opfer gefühlt. +J. D. Vance: "Hillbilly-Elegie: Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise". Ullstein, Berlin 2017, 304 Seiten, 22 Euro +Vance hat es schließlich sogar zu einem Jurastudium gebracht und ist mittlerweile Investor im Silicon Valley. Er gehört also genau zu jenen Leuten, die die "Hillbillys" gefressen haben. Jungs mit guten Noten gelten ihnen immer noch als Weicheier oder Schwuchteln. Hoffentlich lesen viele von ihnen sein Buch, denn dann müssen sie ihm verzeihen. Es steckt echte Liebe für diese armen Menschen drin. + diff --git a/fluter/hintergrund-zur-politischen-lage-im-irak.txt b/fluter/hintergrund-zur-politischen-lage-im-irak.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3cc49e961646888c4d5a75a17bec8384a8792bf6 --- /dev/null +++ b/fluter/hintergrund-zur-politischen-lage-im-irak.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Unter der Herrschaft Saddam Husseins und seiner nationalistischen Baath-Partei gelangten primär sunnitische Iraker in hohe Ämter – die vor allem im Süden des Landes lebenden Schiiten hatten das Nachsehen. Das änderte sich mit dem Einmarsch der von denUSAangeführten Militärkoalition 2003 und dem Sturz des Regimes schlagartig. Nicht nur lösten die Besatzer per Handstreich die sunnitisch dominierte Armee des Irak auf, sie setzten auch durch, dass wichtige politische Ämter unter den Volksgruppen und Konfessionen aufgeteilt werden. +Die wichtigste politische Figur der Nachkriegsjahre wurde Nuri al-Maliki, ein schiitischer Dissident zu Zeiten Saddam Husseins, der als Premierminister die irakische Regierung von 2006 bis 2014 leitete. Kritiker werfen ihm vor, dass seine Politik die schiitische Mehrheit des Landes begünstigt habe und so maßgeblich dazu beitrug, den konfessionellen Konflikt im Irak zu schüren. Ein Szenario, vor dem sich die sunnitische Minderheit im Land stets gefürchtet hatte. +Der Aufstieg dessogenannten Islamischen Staats(IS) im Irak ist aus Sicht von Malikis Kritikern ein Beleg für diese These: Die von sunnitischen Muslimen dominierte Terrorgruppe hat sich vor allem dem Kampf gegen schiitische Muslime verschrieben, die sie für Ungläubige halten. So führen Beobachter den anfänglichen militärischen Erfolg der Gruppe nicht nur darauf zurück, dass unter der US-Besatzung arbeitslos gewordene Mitglieder der irakischen Armee hier Unterschlupf fanden; sondern auch darauf, dass ein Teil der Sunniten den IS sogar begrüßten, weil sie die Rache ihrer schiitischen Mitbürger fürchten. +Als die Islamisten im Sommer 2014 schließlich die nordirakische Großstadt Mossul überrannten, musste Maliki als Premierminister aufgeben. Sein Nachfolger Haider al-Abadi trat ein schweres Erbe an, hatte sich die irakische Armee im Kampf gegen denübermächtig wirkenden ISdoch als nahezu wirkungslos erwiesen. Aus Angst vor dem Terror folgten schließlich Zehntausende schiitische Kämpfer dem Ruf von Großayatollah Ali al-Sistani, den IS zu bekämpfen. Sie schlossen sich zum Haschd al-Schaabi, einem Verbund mehrerer Dutzend Milizen, zusammen. Erst diesen Truppen gelang es, Mossul zurückzuerobern und den IS aus weiten Teilen des Landes zu vertreiben. +Es war eine blutige Militärkampagne mit hohen Verlusten, während derer es immer wieder zu grausamen Vergeltungsaktionen des Haschd und der Armee gekommen sein soll. So wird den Milizen nachgesagt, sie würden die in ehemaligen IS-Gebieten lebenden Sunniten unter Generalverdacht stellen und entsprechend behandeln. Und während sich die schiitischen Milizen beim Kampf gegen den IS noch auf westliches Wohlwollen verlassen konnten, gilt die kampferprobte Truppe heute vor allem den USA als treuer Vasall des benachbarten Iran. +Über 15 Jahre nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein hat sich die Hoffnung auf einen stabilen Irak also nicht erfüllt. Im Gegenteil: Krieg, Terrorismus und das Ringen um regionale Hegemonie haben das Land und seine Bürger zerrieben, gespalten und desillusioniert. Entsprechend gering fiel die Wahlbeteiligung im Frühjahr 2018 aus, und Adil Abdul-Mahdi, der neue Premierminister, steht vor einer schwierigen Aufgabe: Wie kann es gelingen, dass Iraker sich nicht in erster Linie als Sunniten oder Schiiten verstehen, sondern als Bürger eines Landes? + +Der Autor Florian Guckelsberger ist Leitender Redakteur beimNahost-Magazin zenith. + + +Titelbild:  Osie Greenway / Barcroft Images / Barcroft Media via Getty Images diff --git a/fluter/hip-hop-50-curse-rueckblick.txt b/fluter/hip-hop-50-curse-rueckblick.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d019a02e3a9289f29871230409af2a8798677e33 --- /dev/null +++ b/fluter/hip-hop-50-curse-rueckblick.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Im ostwestfälischen Minden aufgewachsen, arbeitet Curse heute als systemischer Coach, Autor und Podcaster. Er ist aber seit dreißig Jahren aktiver Teil der deutschen Hip-Hop-Landschaft. Er hat sieben Alben releast (gerade arbeitet er am achten), sein Debüt "Feuerwasser" gilt bis heute als Klassiker: Da waren anspruchsvolle Lyrics, und eine Raptechnik, die deutsche Texte amerikanisch klingen und fließen ließ, was damals völlig neu war. + +fluter.de: Curse, erzähl mal: Wo und wie hast du Hip-Hop kennengelernt? +Curse: Schon im Kindergarten, echt jetzt, das war '82 oder '83. Unter meinen Erziehern war ein Zivi aus Berlin. Der war Breakdancer und hat uns Kids in der MittagspauseElectric Boogievorgetanzt. Kurz später habe ich einen Auftritt der Fat Boys im TV gesehen. Und die Neue Deutsche Welle schwappte durchs Land. Die hat mich früh für deutsche Texte und Wortspiele sensibilisiert. Als Kind habe ich das alles nicht zusammengebracht, ich kannte ja noch nicht mal den Begriff "Hip-Hop". Aber es hat mich extrem fasziniert. +New Generation +Auch LIZ gratuliert der Musik ihres Lebens –ist aber schockiert, wie sich Rap entwickelt +Zu der Zeit waren die vier Hip-Hop-Elemente DJing, Graffiti, Breakdance und Rap noch ähnlich beliebt und relevant. Wie war das in den 90ern, als du dann aktiver Teil der Szene wurdest? +Als ich auf die ersten Jams gegangen bin, zog Rap gerade an den anderen Elementen vorbei. Die Rap-Acts standen schon ganz oben auf den Flyern. Aber die Jams waren noch gestaffelt: nachmittags wurde gebreakt und gesprüht, abends fingen die Konzerte an, auf denen aufgelegt und gerappt wurde. In New York hatte sich Rap zu der Zeit schon komplett abgesetzt. Da gab es keine Jams mehr, auf denen alle vier Elemente zelebriert wurden. +Gerade in den Anfangsjahren stand Hip-Hop fürpolitischen Einspruchmarginalisierter Gruppen aus den Sozialbaublocks der Bronx. Er war sowas wie der Soundtrack zum Protest. +Dieser rebellische Geist hat mich komplett angefixt. Anfangs war das eher ein Feeling, weil ich die englischen Raptexte nicht verstanden habe. Als ich mich intensiver damit beschäftigte, hat sich eine komplett neue Welt eröffnet. Ich wollte mich bestmöglich bilden, hab die Biografien von Martin Luther King und Malcolm X gelesen und die Filme von Spike Lee inhaliert. Ich war kein Schwarzer Mensch in den USA und auch keine Person of Colour in Deutschland, aber Hip-Hop konnte ich auf mein Leben übertragen: Als Kunstform, die es ermöglicht, auf Missstände hinzuweisen und aus einer Anonymität heraus die eigene Geschichte zu erzählen. Diesen Spirit finde ich bis heute das Krasseste: Du lebst im letzten Dorf, bist der Welt scheißegal und hast trotzdem die Möglichkeit, dich auszudrücken und für Menschen zu sprechen, die nicht gehört werden. Das ist noch kein politischer oder sozialkritischer Akt. Aber irgendwann hört dir vielleicht jemand zu. Und dann hast du eine Plattform. +Ende der 90er-Jahre hast du selbst erste Musik veröffentlicht. Da waren Hip-Hop und insbesondere Rap in Deutschland mit Advanced Chemistry oder dem Rödelheim Hartreim Projekt schon etabliert. Hattest du damals das Gefühl, Teil einer neuen Generation zu sein, die sich von der ersten abhebt? +In Generationen wurde damals nicht gedacht. Ich hatte Respekt vor allem, was in der Landschaft bis dato passiert war. Aber natürlich wollten wir manches anders machen. Vielleicht habe ich mich einfach als Teil einer nächsten Generation begriffen … +… die was wollte? +Neue, freshe Sachen machen, in den Sounds und in den Texten. Ich wollte, dass Rap auf Deutsch genauso flowt wie NAS oder Souls of Mischief. Es gab schon eine aktive Szene, auch tiefgründige Texte. Aber eben noch keine Songs auf internationalem Niveau. Samy Deluxe, Kool Savas und Azad haben zeitgleich angefangen. Die hatten anderswo in der Republik denselben Anspruch, obwohl wir uns damals noch gar nicht kannten. +Die Szene war überschaubar. Heute ist das anders. Hast du das Gefühl, dass es überhaupt noch eine Hip-Hop-Szene gibt? +Heute ist es eher ein Kosmos. Hip-Hop ist ein Phänomen, das Menschen überall verbindet. So ein globales Movement trifft sich natürlich nicht zum Headspin machen in einem Mindener Hinterhof. Der Geist der 90er ist uns wohl verloren gegangen. Leider. Andererseits existiert heute, wovon wir früher geträumt und wofür wir den Scheiß gemacht haben. +Ist denn was übergeblieben vom Geist der frühen Tage? Wird im Deutschrap noch politisch getextet? +Durch denkommerziellen Erfolg, durch die Annäherung an den Pop, haben sich Themenschwerpunkte und Sounds verschoben. Entertainment ist in den Vordergrund gerückt. Und heute muss man vielleicht länger nach sozialkritischen Lyrics suchen, weil das Angebot an Rapmusik viel größer ist. Aber politischen Rap gibt es natürlich nach wie vor. Und ganz ehrlich: So explizit wie ein Disarstar hat damals niemand über Ungleichheit gerappt, ein OG Keemo schreibt wesentlich komplexer als die großen Lyricists der 90er. Damals waren die Texte, selbst die der politischsten MC's, viel allgemeiner. Wir mussten Gesellschaftskritik damals anders formulieren, sie richtig verpacken: Es gab einfach weniger Raum, weniger Verständnis, weniger Sensibilität. +In deinem Song "Zehn Rap Gesetze" aus 2000 heißt es: "Du musst Hip Hop lieben, als wärst Du immer nur Fan geblieben." Ist dir das gelungen? +Zu einhundert Prozent. Die Zeile löst immer noch am meisten bei mir aus, wenn ich den Song auf der Bühne performe. Ich verfolge Hip-Hop immer noch. Ich kriege längst nicht mehr alle Protagonist*innen mit, aber es gibt ja auch sau viele. Viele Acts spiegeln meine Lebensrealität nicht, aber aus MC-Perspektive kann ich die verstehen und wertschätzen. Ich feiere, dass deutscher Rap heute so divers ist: Für jede Stimmung und Situation gibt es einen passenden Sound. +Die Gefahr ist natürlich, dass es durch die Flut an Musik schwieriger wird, sie zu durchdringen. +Stimmt. Früher gab es zehn relevante Alben pro Jahr, die man sich sehr intensiv angehört hat. Heute wird Musik anders konsumiert und dadurch auch anders gemacht. Deshalb wird sie stellenweise etwas oberflächlicher und orientiert sich mehr an Hypes. +Hip-Hop feiert seinen Fünfzigsten. Was ist seine größte Leistung? Und was wünschst du ihm für die nächsten fünfzig Jahre? +Ich darf doch pathetisch werden? Hip-Hop hat seine eigene Prophezeiung erfüllt: From Nothing to Something. Oder, mehr noch: From Nothing to Everything. Ich habe im letzten Kaff am Ende der Welt 2Pac-Graffitis gesehen. Ich wünsche Hip-Hop, dass er in den nächsten fünfzig Jahren möglichst vielen so viel Energie, Message und Community gibt wie mir. Für mich war Hip-Hop immer sowas wie mein dritter Elternteil. Mama, Papa, Hip-Hop. + diff --git a/fluter/hip-hop-in-china-nach-dem-bann.txt b/fluter/hip-hop-in-china-nach-dem-bann.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..caadadf5cb705f9800ea456a27ab07c3568ebcd7 --- /dev/null +++ b/fluter/hip-hop-in-china-nach-dem-bann.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Für viele Künstler*innen war schnell klar: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Zensurbehörden den Rotstift zücken. Hip-Hop auf der einen Seite ist eine Musikrichtung, die distinkt unchinesisch und noch dazu in ihrer Herkunft eine Form des Protests einer unterdrücken Minderheit ist. Chinesische Behörden auf der anderen Seite bestehen auf einerharmonie- und traditionsbetonten Darstellung der Welt. +Es war der Rapper PG One, einer der Sieger von "Rap of China", der die Aufmerksamkeit der Zensurbehörden schließlich auf sich und den Hip-Hop zog. Nach zahlreichen Gerüchten über schlechtes Benehmen und die Verwicklung in außereheliche Affären grub jemand einen älteren Track von ihm aus, in dem er Drogenkonsum andeutete und das Wort "Bitch" fallen ließ. Daraufhin ließen die Behörden die Musik, Videos und TV-Auftritte von PG One von Streaming-Plattformen entfernen und verdonnerten den Künstler zu einer öffentlichen Entschuldigung. "Ich war den Einflüssen von Black Music ausgesetzt, als ich den Hip-Hop entdeckte. Ich habe dadurch gesellschaftliche Normen missverstanden, wofür ich mich zutiefst entschuldigen möchte", schrieb er auf Weibo, dem chinesischen Twitter, und machte sich damit nicht gerade Freunde. + + + + +Wenige Wochen nach dem Skandal um PG One wurden die Direktiven gegen Hip-Hop veröffentlicht: "Es wird ausdrücklich gefordert, tätowierte Künstler, Hip-Hop-Kultur […] aus dem Programm zu halten", heißt es in der Weisung an die Massenmedien. Die Verwendung von "geschmacklosen, vulgären oder obszönen Künstlern untersteht strikter Unterbindung". +Manche Hip-Hop-Stars wurden seitdem aus TV-Sendungen herausgeschnitten, dekadente Accessoires (Blingbling-Ketten) oder offensive Gesten (Mittelfinger) verpixelt. Hier und da verschwinden Videos oder Songs von Streaming-Plattformen, einige Rapper*innen wurden aus Festival-Line-ups gestrichen. Selbst wenn sich Künstler offensichtlich auf der "harmlosen Seite" des Hip-Hop-Spektrums bewegen – kaum ein Veranstalter will sich dem Risiko aussetzen, mit Hip-Hop im Programm negativ aufzufallen. +Mittlerweile zeichnet sich aber auch ab, dass die Weisung der Medienbehöre eine gezielte Intervention war, die es nicht auf die gesamte Hip-Hop-Gemeinschaft abgesehen hat. Weiterhin grünes Licht gibt es zum Beispiel für Crews wie CD Rev, die allerdings direkt von der Regierung unterstützt werden. Mit Tracks wie "The Force of Red" verbreiten sie regierungsbefürwortende Messages. In der Szene sind sie umstritten. Skandalrapper PG One versuchte im Frühjahr ein vorsichtiges Comeback, er gelobte Besserung und "positive Energie". Der Versuch ging aber nach hinten los: Mehrere Social-Media-Beiträge von ihm wurden gelöscht. Auch der "Rap of China"-Star GAI veröffentlichte im März ein neues Musikvideo. Aktuell gibt es außerdem mehrere Streetdance-Shows, vor allem eine Sendung namens "Hot Blood Dance Crew" ist im Netz der letzte Schrei. Der Fokus liegt auf Tanzmoves statt auf Texten, die Verwandtschaft zur Hip-Hop-Kultur ist aber offensichtlich. +Ein chinesisches Sprichwort besagt: "Von oben wird gesteuert, von unten gegengesteuert." Gerade Künstler*innen sind in China oft darin geübt, bestehenden Auflagen auszuweichen und um sie herum Neues zu schaffen. "Es kommt darauf an, was man als gut oder schlecht für den Hip-Hop in China ansieht", sagte der chinesisch-amerikanische Rapper Bohan Phoenix einem Magazin. "Ich persönlich glaube, dass es [die Zensur] das Geschäft weniger lukrativ macht für einfallslose Rapper, die nur über Ruhm, Frauen und Geld reden, und mehr Raum für Leute lässt, die wirklich was zu sagen haben." +Den massiven Einschnitten in die Meinungsfreiheit zum Trotz soll sich manch ein Hip-Hop-Fan sogar ein wenig über den Eingriff der Behörden freuen. So widrig die Gründe auch sind: Gewissermaßen bleibt das Genre vom großen Hype und der damit einhergehenden Kommerzialisierung verschont, und mehr Menschen haben wieder Interesse an kleinen Konzerten. Die lassen sich nämlich nur schlecht kontrollieren. Dem ideologischen Ursprung des Hip-Hops als einer Subkultur der Unterdrückten kommt das Genre jedenfalls erst mal wieder sehr nahe. + + +Fotos: Bryan Denton/The New York Times/Redux/laif diff --git a/fluter/hip-hop-und-politik-podcast.txt b/fluter/hip-hop-und-politik-podcast.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..60b034234029b80c869463d3f5e8a3e54ef1311a --- /dev/null +++ b/fluter/hip-hop-und-politik-podcast.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Jan Kawelke und Vassili Golod kennen die Wechselwirkung zwischen Rap und Politik. Beide produzieren für Cosmo, den interkulturellen Sender des WDR, seit August vergangenen Jahres "Machiavelli – Der Podcast über Rap & Politik". Kawelke schrieb unter anderem für das Hip-Hop-Fachmagazin "Juice", Golod ist studierter Politikwissenschaftler und arbeitet mittlerweile als Politikjournalist. Im Podcast schaffen beide etwas, das weder den Hip-Hop-Fachmedien noch den Kultur- und Politikredaktionen regelmäßig gelingt: einen unaufgeregten Blick auf kontroverse politische Aussagen von Rappern und das aktuelle politische Geschehen. +Pop oder Populismus? "Machiavelli" bespricht auch, welche Rolle Übertreibung im Hip-Hop spielt + +Die beiden produzieren keinen Laber-Podcast zum Wegdösen, stellen sich nicht als unantastbare Experten da, reißen keine platten Witze. Stattdessen schaffen sie eine Plattform, die die Stärken von Radiofeatures mit den Vorteilen des Podcastformats verbindet. Wenn Kawelke und Golod über Themen wieKollegahs Antisemitismusoderfeministische Bestrebungen in der Rap-Szenesprechen, lassen sie sich Zeit, holen weit aus. Wenn beide nicht weiterwissen, befragen sie lieber Expertinnen und Experten, als Halbwissen zu verbreiten. +Der journalistische Ansatz hebt "Machiavelli" von anderen Podcasts ab. Für eine Folge begaben sich Kawelke und Golod auf Recherchereise nach Österreich. Dort trafen sie unter anderem auf den RapperT-Ser,der Opfer polizeilichen Racial Profilings wurde, und auf die Junge ÖVP-Generalsekräterin Laura Sachslehner, die in Österreich kein Rassismusproblem erkennen kann. Kawelke und Golod nutzen die Aussagen als Diskussionsgrundlage, ordnen sie ein und vermitteln dadurch sowohl Politik- als auch Musikwissen. diff --git a/fluter/hipster-kolonialismus-pierrot-interview.txt b/fluter/hipster-kolonialismus-pierrot-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..74155d1ff14ffa787226dda0a489b818dcc9ecc9 --- /dev/null +++ b/fluter/hipster-kolonialismus-pierrot-interview.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +fluter.de: Grégory, du magst Hipster nicht wirklich, oder? +Grégory Pierrot:(lacht)Ich glaube nicht. Aber wir haben viel gemeinsam. +Was denn? +Bei Musik gibt es viele Überschneidungen, wahrscheinlich auch in der Mode. Hipster übernehmen ja irgendwie alles, oder? Es wird also immer irgendetwas geben, das man mag, das sich Hipster aneignen. +Genau das ist es, was du an Hipstern kritisierst, oder? +Das würde ich so pauschal nicht sagen. Ich habe ein Problem damit, wie sich bei vielen Hipstern Konsum vermischt mit Kultur, Politik und einer sehr eigenen Form von Ironie. +Kannst du das näher erklären? +Für mich ist dieses typische Hipster-Verhalten bis zu einem gewissen Punkt ein Verlust an Aufrichtigkeit. Alles kann man sich einfach kaufen. Man kann sich zum Beispiel für einen Tag eine Hip-Hop-Persona kaufen, ohne sich wirklich mit der Hip-Hop-Kultur zu beschäftigen. Natürlich hängen diese Einstellung und die Art des Konsums, die die Hipster von heute betreiben, auchmit der Globalisierung zusammen und der Tatsache, dass heute vieles so verfügbar ist.Aber es hat eben etwas sehr Oberflächliches: Sie übernehmen Trends eher aus Prestige als aus Überzeugung. +Du forderst in deinem Buch, die Figur des Hipsters zu dekolonisieren. Dabei gelten Hipster als eher progressive Gruppe. Was hat das miteinander zu tun? +Das widerspricht sich nicht. Weder in der Vergangenheit noch heute. Progressive Gruppen führten zum Beispiel die zweite Welle desfranzösischen Kolonialismusim 19. Jahrhundert an, während die Konservativen und der linke Flügel dagegen waren. Wenn überhaupt, lässt sich dabei dieses wirklich perverse Element identifizieren, dass eine ausbeuterische Praxis verdeckt wird durch ein vorgetäuschtes Interesse an anderen Kulturen. Kapitalistische Ausbeutung geht häufig einher mit Rassismus. Das gibt es auch bei Hipstern, aber die Muster dafür sind viel älter. +Inwiefern ist der Hipster-Lifestyle ausbeuterisch? +Auf ganz unterschiedliche Weise. Zum Beispiel bei Musiker*innen, sagen wir mal Miley Cyrus, Iggy Azalea oder Elvis Presley. Ich kann ihnen natürlich nicht ihre persönliche Aufrichtigkeit absprechen. Aber als kulturelle und wirtschaftliche Phänomene beruhen sie einzig und allein auf der Übernahme von Genres, die als Schwarz gekennzeichnet waren: Bei Elvis war es Rhythm and Blues, der Rock 'n' Roll heißt, seit weiße Musiker begannen, etwas Ähnliches zu spielen; bei Iggy Azalea ist es Hip-Hop, Miley Cyrus kopierte Schwarze Tanzschritte und Mode, um edgy zu sein, als sie sich von ihrer Disney-Persönlichkeit löste. Seit Generationen werden die Sprache und der Stil der afroamerikanischen Communitys kopiert. Anerkannt wird das nur ganz selten, weil niemand das Gefühl hat, das sei nötig.Ähnliches passiert beim Thema Gentrifizierung: Weiße Großstädter*innen übernehmen bestimmte Viertel, und Schwarze Communitys verlieren dabei häufig ihren Lebensraum. Die kulturelle Ausbeutung ist letztlich untrennbar mit der wirtschaftlichen Ausbeutung verbunden. +Kann man einem Hipster wirklich vorwerfen, ausbeuterisch zu sein, wenn er oder sie einfach nur Schallplatten oder Cold Brew Coffee mag? +Ich bin kein Priester, ich weise den Leuten keine Schuld zu. Es geht darum zu sehen, in welchen größeren Mustern wir als Gesellschaften stecken. Es geht auch um ein gewisses Bemühen. Macht es für uns Sinn, uns zwar mit bestimmten Kulturen oder Kunstformen zu beschäftigen, aber uns nie mit den Menschen auseinanderzusetzen, die sie schaffen? Ist das eine Schuldfrage? Ja, möglicherweise. Ist das etwas, das sich verändern ließe? Ich will es hoffen. Gleichzeitig ist das für uns alle schwer. Wir sind alle in solchen Ausbeutungsmustern gefangen. Und selbst das Bewusstsein darüber führt nicht unbedingt zum Handeln. Die Frage für uns alle, mich eingeschlossen, ist doch: Was tun wir dagegen? +In deinem Buch schreibst du, dass Hipster "die jüngste Ausprägung einer jahrhundertealten kulturellen Tradition" seien, nämlich der kulturellen Aneignung. Was ist kulturelle Aneignung für dich? +Für mich ist es die Übernahme kultureller Ausdrucksformen, ohne anzuerkennen oder zu erklären, woher sie kommen. Elvis Presley ist natürlich nicht der Einzige, aber alle wussten damals, welche Art von Musik er nachmachte. Er profitierte davon, als Weißer Schwarze Musik zu machen. Das machte seine ganze Karriere aus, so wurde er reich. Und das ist für mich ein echtes Problem. 70 Jahre später blicken wir auf Rock 'n' Roll zurück, als wäre es die Musik aller gewesen. Aber damals war das nicht so. Elvis wusste also genau, was er tat. Es war kein Ausleihen, sondern Diebstahl. +Andere argumentieren, dass sich Kulturen gegenseitig beeinflussen müssen, dass es gar keine so strikten Grenzen gibt.Und die Ursprünge von Kunst und Kultur sind ja meistens gar nicht so klar. +Das stimmt. Ich denke, alle Kulturen haben sich gegenseitig beeinflusst. Und ich glaube nicht, dass alle Kulturen voneinander stehlen. Es geht mir in diesem Zusammenhang um kommerzielle Netzwerke wie die Musikindustrie. Es geht um Leute, die als Musiker*innen für ihre Musik hätten bezahlt werden müssen, stattdessen verdienten andere Leute Unmengen von Geld mit dem, was sie produzierten. Ein ganz berühmtes Beispiel: Led Zeppelin, eine Band, die ich liebe. Ihre Musik basiert auf der Musik von Schwarzen. Es gab auch Plagiatsstreitigkeiten zu einigen ihrer Songs. Wurden sie also beeinflusst? Ja, natürlich. Haben sie die Musik, die sie inspiriert hat, verändert? Ja. Aber trotzdem war das kulturelle Aneignung, denn sie haben Geld verdient und so getan, als ob sie niemandem etwas schuldig wären. +Weiterlesen +Wer bestimmt eigentlich, was "in" ist und was "out"?Eine Spurensuche +Aber du liebst sie trotzdem? +Ja, natürlich. Ich bin mit ihnen aufgewachsen. Ich kann mich davon ja nicht lösen. Aber ich weiß, was sie getan haben. +Du könntest ja auch aufhören, ihre Musik zu hören. +Ich denke, wir können uns solcher Prozesse bewusst sein, ohne so tun zu müssen, als ob es Led Zeppelin nie gegeben hätte. Ist diese Musik problematisch? Ja. Kann sie gut sein? Ja.Ich denke nicht, dass das im Widerspruch zueinander steht. +Schon im 20. Jahrhundert gab es die Figur des Hipsters, es gibt sie aktuell, und ein ähnliches Phänomen wird vielleicht wieder auftreten. Was kann sie dann besser machen? +Ich schreibe im Buch, dass ich kein Rezept habe. Es wäre zu einfach, wenn wir genau wüssten, wie wir vorgehen sollen. Ich will nicht zu naiv und idealistisch klingen, aber es geht um echten Austausch und nicht um Ausbeutung. Es geht darum, sich anzustrengen und gemeinsam etwas aufzubauen, anstatt sich gegenseitig zu bestehlen. In jeder Hipsterwelle gab es Menschen, die es anders gemacht haben. Sie haben dazu beigetragen, dass wir uns all der Probleme bewusst geworden sind, über die wir hier sprechen. Die Sache ist: Hipster, die es anders machen, sind nicht das, was ich Hipster nennen würde. Alle Leute, die meiner Meinung nach dafür infrage kommen – Mick Jones von The Clash, Duck Dunn und Steve Cropper von Booker T. & the M.G.'s –, sind eher Musiker als Hipster. Das ist vielleicht die letzte Pointe dieses Buches, wenn es denn eine gibt: Machen, nicht nehmen! + +* Übrigens schreiben wir "Schwarz" groß, um zu verdeutlichen, dass es keine Eigenschaft ist oder Kategorie, in die man Menschen einordnen kann. Der Begriff ist eine politische Selbstbezeichnung von Menschen afrikanischer Herkunft, deren Erfahrung durch Kolonialismus und Rassismus geprägt ist. + diff --git a/fluter/historische-dokumente-deutschlands-im-barbarastollen.txt b/fluter/historische-dokumente-deutschlands-im-barbarastollen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..30cbb69e6fb5ce4de8f2826640ff92470c2dd7b1 --- /dev/null +++ b/fluter/historische-dokumente-deutschlands-im-barbarastollen.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Ich gehe mal eben ins Archiv: Der Barbara-Stollen, in dem sich das größte Langzeitarchiv Europas befindet, liegt in 400 Metern Tiefe +Die Temperatur im Stollen: zehn Grad mit minimalen Abweichungen nach oben und unten, im Sommer wie im Winter. Die Luft riecht leicht modrig, die grünen Notausgang-Lichter flimmern, an den Wänden lagert sich Kalk ab. Auf halber Strecke des Tunnels, nach etwa 400 Metern, befinden sich hinter rostroten Panzertüren zwei seitlich abgehende Parallelstollen und darin der eigentliche Lagerort. Neben Preuss kennen nicht einmal eine Handvoll Mitarbeiter den 13-stelligen Code, mit dem die Schlösser entriegelt werden. Die Wände dahinter sind mit Spritzbeton verstärkt und weiß verputzt. Mehr als 1.550 Edelstahltonnen, groß wie Bierfässer, verplombt und nummeriert, stapeln sich auf doppelgeschossigen Regalen. Darin enthalten sind Rollen mit Mikrofilm aus Polyester. Luftdicht, wasserdicht, staubfrei verschlossen – gesichert für eine halbe Ewigkeit. Mindestens 500 Jahre sollen die Filme so ihre Informationen zuverlässig speichern. +Alles von bleibendem Wert und Bedeutung lagert hier für die Nachwelt. Das einzigartige Archiv ist die deutsche Antwort auf die Haager Konvention: Im Mai des Jahres 1954 verpflichteten sich rund 50 Unterzeichnerstaaten zum Schutz ihres Kulturguts für den Kriegs- und Katastrophenfall. Die Wahl für das deutsche Archiv fiel nicht zuletzt wegen seiner Abgeschiedenheit auf den Barbarastollen. Fern von militärischen Standorten, Flughäfen oder einem größeren Bahnhof ist diese Gegend kein naheliegendes Ziel für einen Angriff. Als zu Zeiten des Kalten Kriegs der Umbau des stillgelegten Silberbergwerks am Ortsrand von Oberried begann, gingen Gerüchte um, dort sei ein Munitionslager oder eine Kommandoanlage geplant. Doch heimlich entstand hinter dem Gestein das Langzeitgedächtnis der Nation oder offiziell: der "Zentrale Bergungsort für den Kulturgutschutz der Bundesrepublik Deutschland". +Seit 1975 befinden sich Kopien der wichtigsten Dokumente aus deutschen Archiven in dem ehemaligen Bergwerksstollen mitten im Nirgendwo: historische Akten, Berichte, Kabinettsbeschlüsse, Pläne und Verträge, sicher verwahrt vor Krisen und Terror, vor Erdbeben oder Sabotage. +Selbst einer Atombombe soll das Lager unter dem Massiv des Schauinsland standhalten können. Und dem digitalen Wandel. Um die weißen Texte auf schwarzem Grund später mal zu entziffern, reichen Licht und Lupe oder Glas zum Vergrößern. CDs oder andere Speichermedien würden zu schnell verfallen. Elektronische Daten wären möglicherweise in einigen Jahren nicht mehr zu entschlüsseln – oder könnten gehackt und manipuliert werden. +Der eigentliche Einlagerrungsort befindet sich hinter rostroten Panzertüren in zwei seitlich abgehenden Stollen + +Tonnenweise Geschichte: Die historischen Dokumente lagern verplombt und nummeriert in mehr als 1.550 Edelstahltonnen, die in etwa so groß sind wie Bierfässer + + + +Die eigentlichen Daten sind natürlich nicht als Originale eingelagert, sondern auf Mikrofilm gebannt +Du hast den Farbfilm vergessen: Die meisten der Mikrofilme sind schwarz-weiß, weil das die technisch einfachste und wirtschaftlichste Lösung ist. Aber in besonderen Fällen werden auch Farbmikrofilme erzeugt, etwa um vielfarbige Darstellungen und kunstvolle Verzierungen zu sichern + +Ausgerollt würden die Filme fast einmal um den Erdball reichen. Darunter finden sich die Krönungsurkunde Ottos des Großen von 936, Baupläne des Kölner Doms ab 1248, das Reinheitsgebot, der Vertragstext des Westfälischen Friedens von 1648 oder die Ernennungsurkunde Adolf Hitlers zum Reichskanzler 1933. Gesichert sind Handschriften von Goethe, Schiller, Kafka, Partituren von Bach, Bismarcks Sozialgesetze, Archivmaterial aus der DDR. Im Jahr 2016 wurde am Tag der Deutschen Einheit die abgefilmte Originalausgabe des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland samt aller zugehörigen Akten dort eingelagert – werbewirksam als das milliardste Dokument. Der komplette Satz allein, verfilmt im Landesarchiv Berlin, umfasst 3.000 Seiten. Es ist die jüngste Erinnerung. +Das Superarchiv unter dem Schauinsland hinkt der Zeit Jahrzehnte hinterher. "Alle Dokumente zu Angela Merkels Kanzlerschaft werden frühestens eingespeichert, wenn ihre Amtszeit abgeschlossen ist", sagt Preuss. Bis zu vier Mal pro Jahr rollen Lastwagen mit neuen Fässern die Serpentinen entlang. Preuss entscheidet, wann und wie Nachschub eingelagert wird. Was darin landet, beeinflusst er nicht. Die Entscheidung liegt allein bei den Landes- und Bundesarchivaren. Sie bestimmen, welche Teile ihrer Bestände gefilmt werden – und welche nicht. Die Auswahlkriterien sind streng: Fast nur Filme von Unikaten landen im Stollen. Nur abgeschlossene Akten, Dokumente von Bestand und Bedeutung – auch noch nach Jahren. "Wenn in 500 Jahren jemand die Fässer öffnet, wird er einen Blick auf einen Teil unseres Alltagslebens werfen können." Es wird vor allem ein behördlicher Blick sein: Paragrafen, Zahlen, Bilanzen, das Vermächtnis der deutschen Verwaltungen. +Genug von staubtrockener Materie? Hier geht es wieder raus +Rund 3,5 Millionen Euro im Jahr lässt sich der Bund sein kollektives Gedächtnis insgesamt kosten. Deutschlandweit arbeiten 70 Verfilmer Tag für Tag gegen das Vergessen und bannen Seite für Seite, Foto für Foto auf Mikrofilm, was vorher nur auf altem Papier vorlag. Nach der Entwicklung werden die Aufnahmen in die Edelstahlbehälter gepackt, auf zehn Grad Celsius heruntergekühlt und mit Spezialdichtungen aus Kupfer abgeriegelt: "Da kommt nichts mehr raus oder rein", sagt Preuss. Gut 100.000 Euro fallen pro Tonne an, inklusive der Kosten für die Verfilmung. +Einmal hat sich der Aufwand bereits so richtig gelohnt: Als im März 2009 in Köln das Stadtarchiv einstürzte, zerfielen viele Dokumente. Ausgelöscht waren sie trotzdem nicht alle, denn im Barbarastollen fanden sich über eine Million Mikrofilmaufnahmen der zerstörten unersetzlichen Unikate. +Einmal am Tag macht hier der Wachmann eines Sicherheitsdiensts einen Kontrollgang. Drei verschiedene Sicherungssysteme schlagen Alarm, sollte jemand eindringen. Tatsächlich gab es bisher aber nur einen Ernstfall. 2011 hatte der Bewegungsmelder reagiert, Polizei und Sicherungsdienste waren nach wenigen Minuten vor Ort. Sie stießen auf verräterische Spuren eines Eindringlings: Mäusekot. diff --git a/fluter/historische-feministinnen-in-comic-portraets.txt b/fluter/historische-feministinnen-in-comic-portraets.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7be0ebf53165d38d94ac96f64f4e28087ba8c720 --- /dev/null +++ b/fluter/historische-feministinnen-in-comic-portraets.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Dazu gehört Clémentine Delait, eine Pariser Barbesitzerin, die mit ihrem rauschenden Vollbart die Gendernormen des 19. Jahrhunderts herausfordert, die angolanische Königin Nzinga, die im 17. Jahrhundert gegen die portugiesische Kolonialmacht aufbegehrt, oder die finnische Künstlerin Tove Jansson, Erfinderin der Mumins, die in den 1960er-Jahren offen in einer lesbischen Beziehung lebt. +Bagieu erzählt mit jedem ihrer Porträts auch die Geschlechterverhältnisse der jeweiligen Zeit. Ihre Geschichten skizzieren Frauen, die sich an den Gesellschaften aufreiben, in denen sie leben. Frauen, die sich nicht zufrieden geben mit den bestehenden Verhältnissen. Bis auf ihren rebellischen Charakter könnten die von Bagieu beschriebenen Frauen unterschiedlicher nicht sein: Sie kommen aus Lateinamerika, Afrika, Europa oder Asien, sind lesbisch, trans- oder heterosexuell, arm, reich oder mächtig, leben auf dem Land oder in der Stadt. Und diese Diversität der Heldinnen macht den Comic so interessant. Mit jedem Porträt entdeckt man einen neuen Kosmos, mit anderen Bildern, neuen Gesichtern, Aufgaben und Problemen. Durch das Zusammenspiel der Zeichnungen in leuchtenden, knalligen Farben und den kurzen, sehr humorvoll geschriebenen Texten, werden die Gefühle und Erlebnisse der Frauen lebendig – fast hat man das Gefühl, sie würden selbst zu einem sprechen. +Schnell erwischt man sich dabei, wie man beim Lesen noch mehr Hintergründe zu den Protagonistinnen googelt. Wie sieht die Erfinderin des Badeanzugs, Annette Kellermann, wirklich aus? Und konnten Frauen im antiken Ägypten tatsächlich Gynäkologinnen werden? +Die Comiczeichnerin Pénélope Bagieu ist einer der wichtigsten Newcomer des französischen Comics der letzten Jahre. Sie ist mit ihrem Blog "Ma vie est tout à fait fascinante" berühmt geworden. Seitdem hat sie eine Reihe von Comics herausgebracht, die sich mit dem Alltag von Frauen beschäftigen. Auf die Frage, wie sie die Geschichten, der Frauen für den Comic "Unerschrocken" gefunden habe, sagte sie in einem Arte-Interview: "Ich hatte überhaupt keine Schwierigkeiten solche Heldinnen zu finden. Sie sind wirklich überall. Nur leider sind sie selten das Thema eines Films oder einer Biografie." +Mit ihrem Buch stellt Bagieu nicht nur vergessene Pionierinnen ins Rampenlicht. Sie macht gleichzeitig auf den Kampf für Geschlechtergerechtigkeit in verschiedenen kulturellen Kontexten aufmerksam. Und obwohl die Frauen diverser nicht sein könnten und zum Teil vor Hunderten von Jahren lebten, hat man am Ende des Buches das Gefühl, dass ihre Anliegen bis heute aktuell sind. Von diesen "Unerschrockenen" kann man eine Menge mit in den Alltag nehmen. +Pénélope Bagieu: Unerschrocken. 15 Porträts außergewöhnlicher Frauen, Reprodukt 2017, 144 Seiten, 24 Euro diff --git a/fluter/historisches-saatgut-alte-sorten.txt b/fluter/historisches-saatgut-alte-sorten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..840b88993eb0a5b726a7dc69804a72cef4dd881e --- /dev/null +++ b/fluter/historisches-saatgut-alte-sorten.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Doch vor etwa 100 Jahren begann der Staat für Ordnung auf den Feldern zu sorgen. Jede Kartoffel wurde fortan gemessen, beschrieben und in irgendeine Liste gepackt. Wer eine neue Sorte züchtete und sie gewerblich vertreiben wollte, musste sie anmelden. Und der Staat, der ein Interesse an hohen Erträgen hatte und die Qualität der Samen sicherstellen wollte, entschied, ob sie erlaubt war oder nicht. Im Gegenzug bekam der Züchter irgendwann exklusive Rechte an der Vermarktung seiner Pflanze. Unter anderem, weil normale Bauern oft weder Zeit noch Geld für solche Prozeduren hatten, entstand die Saatgutindustrie. +"Wir wollen Freiheit für Sorten!", fordert der Züchter und Aktivist Ludwig Watschong. Er ist ein hagerer Mann, der eine abgewetzte blaue Arbeitshose und eine zerschlissene Gärtner- weste trägt und zu den Pionieren der Saatgutbewegung in Deutschland gehört. Schon vor mehr als 30 Jahren begann sich Watschong Sorgen um die genetische Vielfalt der Nutzpflanzen zu machen. Viele Obst- und Gemüsesorten, die man früher auf deutschen Märkten finden konnte, drohten auszusterben oder waren bereits verschwunden. Stattdessen baute ein wachsender Teil der Landwirte dasselbe an. +Staat und Saatgutindustrie haben gemeinsam dafür gesorgt, dass die Ernteerträge in Deutschland und Europa enorm gestiegen sind, diese Steigerungen wurden aber mit einem erhöh- ten Einsatz von Giften und einem Rückgang der Vielfalt in den Feldern und Gärten erkauft. Watschong und seine Mitstreiter erkannten diese Entwicklung schon in den 1980er-Jahren. Sie gründeten den "Verein zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt" (VEN), aus dem später in Witzenhausen, dem Zentrum des deutschen Ökolandbaus, der Saatgutversand "Dreschflegel" hervorging. Auf 17 Höfen in ganz Deutschland züchten und vermehren die Mitglieder des Kollektivs "Dreschflegel" heute Pflanzensorten, die in der industriellen Landwirtschaft keine Chance bekommen. Ein Gärtner in Ostfriesland hat sich zum Beispiel auf verschollene Grünkohlsorten wie die Ostfriesische Palme und den Diepholzer Dickstrunk spezialisiert. Ein anderer, der zwischen Schwarzwald und Kaiserstuhl anbaut, kümmert sich um Zackengurken, Hirschzungen und Teufelsohren. +Jeder Samen, der heute gewerblich auf einem europäischen Feld ausgebracht wird, hat eine langwierige und teure sogenannte Wertprüfung hinter sich. Zwölf EU-Richtlinien regeln, wie Saatgut beschaffen sein muss. Jedes Blatt einer Pflanze wird gemessen und mit Farbschablonen verglichen, jede Frucht gewogen und analysiert. In Behörden wie dem Bundessortenamt betreibt der Staat einen beachtlichen Aufwand, damit er Pflanzen wie Industrieprodukte bei der TÜV-Prüfung behandeln kann. Mehrere Jahre müssen die Nachkommen eines Samens immer identisch aussehen, um zugelassen zu werden. Wenn Früchte oder Blätter größer oder kleiner werden, wenn sie zu seltsamen Formen verwachsen oder die Farbe ändern, fallen sie durch. Es gibt allerhand technische Kriterien, die eine europäische Gemüsesorte für die Zulassung erfüllen muss. Ist sie ein Fortschritt? Sind die Erträge höher? Ist sie resistenter gegen Krankheiten, braucht sie weniger Pestizide? Wie eine Tomate, Kartoffel oder Gurke aussieht, ist sehr wichtig. Ob sich das aus dem Weizen gemahlene Mehl wirklich zum Backen eignet, auch. Ob unser Gemüse nach etwas schmeckt, ist dagegen weitgehend egal. +Der Hof von Ludwig Watschong liegt im Weserbergland, dem Grenzgebiet zwischen Niedersachsen und Hessen. Sanft geschwungene Hügel umrahmen seine Beete und sein Gewächshaus. Seine Arbeit ist der radikale Gegenentwurf zu Unternehmen, die ihre Pflanzen in Labors erschaffen, mit genetischen Manipulationen verändern und bestrebt sind, sich nicht nur den Sortenschutz, sondern sogar Patente zu sichern, eine viel weitreichendere Form von geistigem Eigentumsrecht. Bei Ludwig Watschong werden wilde Pflanzen nicht wie Unkraut behandelt, sondern sie dürfen sich in seinen Beeten gerne aussäen. Brennnesseln wachsen neben Pflanzbottichen, in denen eine seltene Wildreissorte aus Kanada keimt. In einem Folientunnel ragen die Spitzen von Zwiebeln aus der Erde. Daneben steckt ein besonderer Liebling von Watschong im Boden, der Elefantenknoblauch, eine handtellergroße Knolle, deren Zehen nach Porree schmecken. +Wie aufwendig die Arbeit eines Züchters ist, zeigt die Kerbelrübe, an der Watschong 1990 zu arbeiten begann. Die Rübe, die in Europa jahrhundertelang gegessen wurde, war praktisch nicht mehr vorhanden. Sie war einfach zu schwierig anzubauen und brachte zu niedrige Erträge. Watschong brauchte mehr als 20 Jahre, um diese Pflanze zurück in die Gärten zu bringen. Er kreuzte insgesamt zwölf verschiedene Rübenlinien, die er sich unter anderem aus Genbanken besorgte, bis er 2011 endlich wieder eine rückgezüchtete Kerbelrübe in der Hand hielt. So ein Gemüse wird oft als "alte Sorte" bezeichnet, doch Watschong hält diesen Begriff für Quatsch: "Man denkt da so statisch. Auch eine vor 200 Jahren gezüchtete Sorte, die ich in meinem Garten anbaue, ist jedes Jahr wieder neu." +Der potenzielle Vorteil dieser seltenen Sorten ist, dass in ihnen womöglich genetisches Material schlummert, das der Mensch bei Veränderungen des Klimas irgendwann einmal dringend brauchen könnte. Wer weiß, ob die Kerbelrübe nicht resistent gegen eine Krankheit ist, die in 20 Jahren auftritt und dann alle anderen Karotten dezimiert? Auch der Staat ist von der Bedeutung solcher seltenen Nutzpflanzen überzeugt. Statt dafür zu sorgen, dass sie auf möglichst vielen Äckern wachsen, werden diese Ressourcen jedoch nur in Genbanken verwahrt. +Während Watschong und seine Mitstreiter früher Tricks und Grauzonen nutzen mussten, um seltene Sorten in den Handel zu bringen (so wurden Kartoffeln beispielsweise als "Ansichtsexemplare" verkauft, die nur bei "unsachgemäßer Behandlung" keimten), ist die rechtliche Situation in den letzten Jahren für kleine Züchter besser geworden. Es scheint, als würde die genetische Vielfalt in den europäischen Gärten und Feldern an Bedeutung gewinnen. In den letzten europäischen Richtlinien zum Thema sind daher Ausnahmen enthalten. Die Samen von "Dreschflegel" gelten als Amateur- und Erhaltungssorten und werden nicht mehr so streng geprüft wie zuvor. Im April 2018 stimmte das EU-Parlament für eine neue Bioverordnung, die wesentliche Erleichterungen für ökologisch arbeitende Züchter bringen soll. +Würde Watschong denken wie der Manager einer herkömmlichen Saatgutfirma, würde er versuchen, sich die Kerbelrübe sofort europaweit schützen zu lassen. Aber seine Kunden sollen die Samen der Kerbelrübe gerne selber weitergeben und vermehren, dass sich Pflanzen verbreiten ist ihm wichtiger als der Gewinn. "Das hier ist mein Leben", sagt Watschong und deutet stolz auf seine Beete. diff --git a/fluter/hochzeitsgeschenk.txt b/fluter/hochzeitsgeschenk.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4d6c9a11128c2513cb6d751b13fd099296459baa --- /dev/null +++ b/fluter/hochzeitsgeschenk.txt @@ -0,0 +1 @@ +Ich hatte eine feste Arbeit und es war so verabredet, dass "meine Frau" auch sofort Arbeit suchen musste. Denn entweder arbeiten beide oder beide leben von Sozialhilfe, die gegenseitige Unterhaltspflicht macht ansonsten Probleme. Wir haben auch gleich einen Ehevertrag abgeschlossen, um Fragen wegen Gütertrennung und Rentenansprüchen so abzuklären, dass keinerlei Verpflichtungen füreinander bestehen. Alle zusätzlich anfallenden Kosten, das war auch verabredet, musste Fatima tragen - ich konnte mir finanzielle Nachteile durch die Heirat nicht leisten. Für die Hochzeit hatten wir Ringe ausgeliehen, ein paar Freunde und Freundinnen eingeladen und eben ein bisschen Theater gespielt.Das hat sogar Spaß gemacht. Als Zweites war wesentlich, eine gemeinsame Meldeadresse anzugeben. Getrennte Wohnsitze machen die Ausländerbehörde misstrauisch. Das war bei uns kein Problem, meine Wohnung war gerade noch groß genug und der Vermieter hat keine dummen Fragen gestellt. Wir haben auch bezüglich der Nachbarn darauf geachtet, dass sie uns ab und an als Ehepaar mitbekommen. Eine Liebesbeziehung war bei uns aber nie ein Thema, wir hatten sogar darüber geredet, dass das eher von Nachteil wäre, wenn es dann mit der Beziehung schief geht und Eifersucht ins Spiel kommt. Das klingt theoretisch, aber wir hatten wirklich keine näheren Gefühle füreinander. Fatima ist regelmäßig zu Besuch gekommen, gewohnt hat sie bei einer Freundin, natürlich ohne Registrierung. Sie hat öfter samstags die Flurtreppe geputzt, um im Haus aufzufallen. Einmal war jemand von der Ausländerbehörde da und hat eine Nachbarin befragt, was die uns später auch erzählt hat.Das war aber alles, wir hatten die ganzen Jahre, bis Fatima einen eigenen unbefristeten Aufenthaltsstatus bekommen hat, keine Probleme. Wir sind mit zwei weiteren "Ehepaaren" befreundet und haben uns mit denen oft ausgetauscht. Bei dem einen Paar, wo die Frau den deutschen Pass hatte und der Mann außerdem jünger war, lief es gleich viel schärfer, da ließ sich der Generalverdacht nicht ausräumen. Die hatten mehrfach Hausbesuche, zuerst unangekündigt. Da war die Frau allein zu Hause und hat abgelehnt, den Behördenmensch hereinzulassen. Die wollen dann ja nachsehen, ob Kleider des Ehepartners da sind, die berühmte Zahnbürste, ob eben ein gemeinsamer Haushalt geführt wird. Effizient finde ich Schutzheiraten auf jeden Fall, denn es wird ja jedes Mal das konkrete Bleiberecht für einen Menschen durchgesetzt. Es sind bestimmt nicht wenige, die damit Erfolg haben.Das Protokoll ist mit Material aus "SCHUTZEHE - ein Interview mit einem so genannten "Scheinehepaar" - erstellt, das unter www.schutzehe.de zu finden ist. Die Identität der GesprächspartnerInnen sind der Herausgeberin von www.schutzehe.de nicht bekannt. diff --git a/fluter/hoda-salah-ueber-frauenrechte-im-nahen-osten.txt b/fluter/hoda-salah-ueber-frauenrechte-im-nahen-osten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..69d5dd3d80d9dbf0d29dfd69e088c1653201d2d4 --- /dev/null +++ b/fluter/hoda-salah-ueber-frauenrechte-im-nahen-osten.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Sie sind in Ägypten aufgewachsen. Was hat das für Sie als Frau bedeutet? +Ich liebe meine Heimat und bin der Hochkultur Ägyptens mit ihrer Vielfalt verbunden. Ich bewundere die Ägypterinnen, die trotz des autoritären Regimes ihren Kampfgeist, ihre Herzlichkeit und ihren Humor behalten. Als Frau dort aufzuwachsen war trotzdem ambivalent. Es gab so viele Tabus! Die neue, junge Frauenbewegung bricht diese Tabus, was zu meiner Zeit schwierig war. Frauen in Ägypten, gerade solche in großen Städten, können heute alleine leben und verreisen. Sie heiraten später und streben egalitäre Verhältnisse an. +Wichtig für diese Entwicklung war auch der sogenannte "Arabische Frühling", die Arabellion. In Ägypten begann der Aufstand im Januar 2011, auchTausende von Frauen demonstriertenauf dem Tahrir-Platz in Kairo. Was hat sich seitdem gesellschaftlich für Frauen geändert? +Sehr viel! Ich habe damals entschieden, wieder in Ägypten zu leben, bin zwischen Ägypten und Deutschland gependelt, wollte Teil dieses historischen Geschehens sein. Den Militärputsch und das vorläufige Ende der Revolution erlebe ich wie viele Ägypter als persönliche Niederlage. +Zugleich bin ich begeistert von dieser neuen Bewegung junger Frauen, die ihre Rechte einfordert. Die arabischen Frauenbewegungen waren immer in diesem ideologischen Konflikt gefangen: Bist du islamisch oder bist du säkular? Die jungen Aktivistinnen thematisieren Dinge wie körperliche Selbstbestimmung, sexuelle Belästigung, die herrschende Doppelmoral, Tabus wie Jungfräulichkeit, Ehre und Schande. Sie kämpfen gegen das übermächtige Patriarchat, vom Staat über die Religion bis zum eigenen Haushalt. Sie sind frech, sie machen klar: Frauenrechte müssen Priorität haben. Damit haben sie Erfolg:2014 wurde in Ägypten erstmals ein Gesetz eingeführt, das verbale und physische sexuelle Belästigung unter Strafe stellt. Die #MeToo-Bewegung ist also auch in Ägypten erfolgreich. +Welche Rolle spielt dabei der sogenannte islamische Feminismus? +Er ist eine eher akademische Bewegung. Aktivistinnen in Ländern wie Ägypten, dem Libanon oder Tunesien würden nicht von sich selbst sagen: Wir sind islamische Feministinnen. Sie verstehen sich als Bürgerinnen, definieren sich nicht durch die Religion und beziehen sich auf die säkularen Verfassungen ihrer Länder sowieauf die UN-Frauenrechtskonvention, die alle arabischen Länder außer dem Sudan unterschrieben haben. Letztendlich ist der Begriff "islamischer Feminismus" nicht einheitlich, und er kann sowohl Eigen- als auch Fremdbezeichnung sein. Es gibt, wie in der deutschen Frauenbewegung ja auch, verschiedene Strömungen – unter anderem eine säkulare, liberale, sozialistische oder islamische. Was islamischer Feminismus verbindet, ist das Ziel, auf Basis der Religion Rechte für Frauen zu erkämpfen. +Was unterscheidet die Frauenbewegung von der in Europa? +Hoda Salah kam 1993 aus Ägypten nach Deutschland. Die Politik- und Islamwissenschaftlerin forscht zu Männlichkeiten und zur Frauenbewegung in arabischen und muslimischen Gesellschaften +Die erste Welle war in beiden Kulturkreisen ähnlich: Frauen forderten das Recht auf Bildung und auf Arbeit, die rechtliche Gleichstellung. In Europa erkämpfte die zweite Welle der Frauenbewegung in den 1960er- und  1970er-Jahren das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, für das Frauen in der arabischen Welt heute noch auf die Straße gehen müssen. Die sozialen Medien spielen für die Frauenbewegung in den arabischen Ländern eine große Rolle – genauso wie in Europa. Der Unterschied ist aber: In Europa kannst du offen deine Meinung sagen, ohne dafür sanktioniert zu werden. In arabischen Ländern geht das nicht. Viele der Staaten sind nach der Arabellion autoritärer und repressiver geworden. +Wie gehen Frauen damit um? +Sie wehren sich, sie üben Druck auf die Gesellschaft, den Staat aus. In den sozialen Medien thematisieren sie die Gewalt gegen Frauen und machen sie damit endlich sichtbar. Das hat für eine hohe gesellschaftliche Sensibilisierung gesorgt. Generell vermeiden Frauen es, direkt das Staats- oder Religionsoberhaupt zu attackieren – stattdessen thematisieren sie die Teilhabe von Frauen an der Öffentlichkeit. Das ist schlau, denn die Frauen haben verstanden, dass gerade autoritäre politische Systeme sich nicht von oben verändern lassen. Aber wenn man die Geschlechterverhältnisse ändert, dann gibt es eine Demokratisierung der Gesellschaft von unten nach oben. +Apropos Demokratisierung: Westliche FrauenrechtlerInnen scheinen oft zu glauben, man müsse Frauen in arabischen und muslimischen Gesellschaften "befreien" – eine durchaus problematische Haltung. Wie sehen Sie das? +Heute haben wir eine internationale Zivilgesellschaft und dadurch auch eine internationale Solidarität. Frauen in arabischen Ländern, in autoritären Systemen, haben mehr Probleme als Frauen in Deutschland, das ist klar. Aber deutsche Frauen leiden auch unter Ungleichheiten! Daher kann man nicht einfach sagen: Ich weiß, was gut für dich ist. Darüber hinaus geht es um Intersektionalität, darum, dass viele Faktoren für Identität und Diskriminierung eine Rolle spielen: zum Beispiel Ethnie, Herkunft, Bildung oder Klasse. Eine ägyptische Frau, die in einer Metropole wie Kairo mit 20 Millionen Einwohnern lebt, hat sehr viel mehr gemeinsam mit einer Frau in einer deutschen Großstadt als mit einer ägyptischen Frau in einem Dorf und umgekehrt. Es gibt nicht die arabische Frau, die westliche Frau. Frauensolidarität ist wichtig, aber sie muss auf Dialog basieren. + +Titelbild: Jörg Brüggemann/OSTKREUZ diff --git a/fluter/hoer-doch-mal-zu.txt b/fluter/hoer-doch-mal-zu.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..48dbef13cfdb075116ce1700fc9445b32179e552 --- /dev/null +++ b/fluter/hoer-doch-mal-zu.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Tausende Dankes-E-Mails habe er aus allen Ecken der Erde erhalten, sagt Thrun, für den die Weltvorlesung eine Art Erweckungserlebnis war – und ein Grundstein für das neue Experiment. Die Lehrer stehen laut Thrun Schlange, um ehrenamtlich bei Udacity Unterricht zu geben – obwohl es viel Arbeit erfordert, die Lektionen für das Internet zu erstellen. "Die Vision ist", sagt der 45-Jährige über Udacity, "dass unsere hochklassigen Ausbilder einen großen Einfluss auf die Welt ausüben können." Die Motivation sei groß, gerade die Unterprivilegierten mit Bildung zu versorgen, die ihnen normalerweise verschlossen bliebe. +Ob online oder Hörsaal, eine Vorlesung von Anfang bis Ende erfordert vom Teilnehmer großen Einsatz. Vor seinem Robotik-Kurs hat Thrun seine Zuhörer an den heimischen Rechnern gewarnt: Pro Woche müssten sie genau wie die Studenten in Kalifornien mit einem Zeitaufwand von ungefähr zwölf Stunden rechnen. 23.000 haben durchgehalten und das "Final Exam" bestanden – dieselbe Prüfung übrigens wie die Kommilitonen vor Ort. Das begehrte Abschlusszeugnis von der Nobel-Uni gab es dafür zwar nicht, immerhin aber eine Note und ein Zertifikat. Einige vielversprechende Absolventen hätten laut Thrun damit sogar ein Vorstellungsgespräch bei namhaften Unternehmen im Silicon Valley ergattert. Udacity ist nicht das einzige Projekt, das sich um eine bildungshungrige Weltgemeinschaft kümmert. "¡Gracias, muchas gracias!", bedankt sich Juan R. Berbín aus Venezuela auf der Facebook-Seite von "Coursera", einer neuen Online-Plattform aus den USA. "Endlich muss ich nicht mehr auf meinen Vater hören, was ich studieren soll", schreibt Rajan Devnath aus Neu-Delhi in Indien. +Wie Udacity ist Coursera ein sogenannter Massive Open Online Course – kurz MOOC. Die Plattform funktioniert so ähnlich, bietet allerdings zusätzlich zum obligaten Informatik- Handwerk medizinische sowie geistesund gesellschaftswissenschaftliche Kurse an. Nach bestandener Prüfung gibt es auch dort ein Zertifikat – noch kostenlos, künftig aber womöglich gegen eine moderate Gebühr. Im Gegensatz zu Udacity produziert Coursera seine Lehrinhalte nicht selbst, sondern bekommt sie von mehreren amerikanischen Universitäten. Neben Stanford bieten auch Professoren von Princeton, der University of Michigan – Ann Arbor und der Universität von Pennsylvania Vorlesungen an. Unabhängig von solchen privaten Initiativen tun gerade die US-Eliteunis sehr viel, um auch in der virtuellen Welt ein möglichst breites Publikum anzusprechen. Allen voran das MIT, das bereits 2001 damit begann, Unterrichtsmaterialien zur freien Verfügung im Internet bereitzustellen. Es war damit eines der ersten Institute, das die Forderung der Unesco von 2002 nach freien Lehrinhalten umsetzte. Ziel des Unesco-Projektes ist es, mit sogenannten Open Educational Resources (OER) allen Interessierten den Zugang zu bestimmten Anwendungsprogrammen und kostenfreier Bildung zu ermöglichen. Alle Menschen sollen die Chance bekommen, ihr ganzes Leben lang zu lernen. Seitdem haben Hochschulen wie das MIT unzählige Vorlesungen hochgeladen. +Den OER-Weg geht auch die "Open University" – die größte Hochschule Großbritanniens. Unter dem Label "Open Learn" hat sie Lehrmaterialien aus 170 Fachbereichen online gestellt und erlaubt Neugierigen einen Einblick in Ingenieurwissenschaften, die Geschichte Schottlands oder Theorien zur globalen Erderwärmung. Will man dort aber ein richtiges Online-Studium, beispielsweise in Psychologie, mit Bachelor-Abschluss absolvieren, dann werden Gebühren von rund 18.500 Euro fällig. Wie an einer normalen Fernuni eben. Eine Milliarde Menschen will das MIT mit seinem neuesten Projekt "edX" erreichen, das in Zusammenarbeit mit der Harvard-Universität entstanden ist. Was die Studenten mit dem digitalen Leistungsnachweis später anfangen können, wird sich noch zeigen müssen. So selbstlos, wie es sich zunächst anhört, ist das Gratisangebot jedenfalls nicht. Die Unis testen auf diesem Weg, wie Unterricht im 21. Jahrhundert mit Einsatz modernster Technologie aussehen kann. +Die Verantwortlichen solcher Formate wollen erfahren, wie der Austausch der Online-Studenten untereinander funktioniert. Denn im Web lernen heißt nicht, einfach nur auf den Bildschirm zu starren und brav zuzuhören. Viele bringen in MOOCs ihr Wissen ein, antworten in Foren, Blogs oder über die sozialen Medien auf Fragen ihrer virtuellen Kommilitonen. In eher künstlerischen Kursen wie etwa den zum Kreativen Schreiben lesen die Teilnehmer Kurzgeschichten ihrer Mitschüler und geben ihr kollektives Urteil ab. Auf der Peer-2-Peer-Plattform P2P-University erstellen die User sogar selbst Seminare über Themen, mit denen sie sich gut auskennen, und verdienen sich wie Pfadfinder für ihr Engagement bunte digitale Abzeichen. "Die P2PPlattformen sind sehr lebendig, manchmal aber auch ziemlich chaotisch", sagt Patricia Arnold, E-Learning-Beauftragte an der Hochschule für angewandte Wissenschaften München. +Die Professorin für Sozialinformatik beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Lernen im Internet. "Die neuen Plattformen bieten Möglichkeiten der Fortbildung in ganz neuem Maßstab", sagt Arnold. Das werde vor allem Menschen mit brüchigen Lebensläufen in ihrem Berufsleben helfen. Und auch wenn die Hochschulen derzeit den meisten nichtinstitutionalisierten Anbietern im Internet voraus sind, so kratzen die informellen Bildungsangebote jetzt schon an ihrer akademischen Lufthoheit. "Sie werden nicht die Unis ersetzen", sagt Arnold, "aber sie haben die Qualität, die Machtverhältnisse zu ändern." Zumal Online-Lernen offenbar nicht schlechter ist als gewöhnlicher Unterricht in der Klasse. In einer Langzeitstudie hat ein amerikanisches Forschungsinstitut herausgefunden, dass Schüler und Studenten sogar bessere Leistungen bringen, wenn sie ihr Wissen in Web-Kursen erworben haben. Das gilt allerdings eher für Erwachsene, die sich im Internet weiterbilden wollen, als für jüngere Schüler. +Hierzulande schrecken dennoch viele Lehrkräfte vor den neuen Methoden zurück. Zwar sind Online-Vorlesungen auch von deutschen Universitäten längst kostenlos im Internet verfügbar. Immer mehr Bildungshäuser entdecken iTunes, um Videos und Podcasts von Veranstaltungen sowie Lehrmaterialien bereitzustellen. Dort finden Interessierte beispielsweise Animationen zu Technik und Natur, dynamische Ökonomen, die anschaulich die Welt der Wirtschaft erklären, und multimediale Vorlesungen über das Bewusstsein des Menschen. "Aber nur wenige Professoren in Deutschland haben bisher das Potenzial erkannt", sagt Sozialwissenschaftlerin Arnold. Die neuen Wege widersprechen der akademischen Kultur dieses Landes und dem traditionellen Verständnis vom geistigen Eigentum, glaubt sie. Auch die deutschen Studenten halten sich noch zurück. Allerdings sei die Entwicklung noch jung und biete tatsächlich revolutionäres Potenzial. diff --git a/fluter/hoerspiel.txt b/fluter/hoerspiel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5786579eb409baa37cc8d9c901a3021513b7e4d5 --- /dev/null +++ b/fluter/hoerspiel.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +"Ich will die Stille konservieren, bevor sie ganz aus der Welt verschwindet", sagt er. Für Gordon Hempton ist Stille das Gleiche wie sauberes Wasser oder reine Luft: etwas, ohne das wir Menschen nicht existieren können. "Was für ein Geräusch macht ein Löwe?", fragt er. Hempton versucht damit zu erklären, warum Lärm Stress verur-sacht: "Laute Geräusche bedeuten Macht, Aggression, Gefahr. In einer lauten Umgebung sind wir unbewusst ständig auf der Hut." Deswegen ist es ihm so wichtig, einen Ort zu schaffen, an dem jeder akus-tischen Frieden erleben kann: den OSI oder One Square Inch. Eigentlich ist dieser "Quadratzoll" ein Stein, den Hempton als Dank für seine Bemühungen von einem Indianerhäuptling des hiesigen Quileute-Stamms überreicht bekam. Klein ist er, der Stein. Kaum größer als eine Streichholzschachtel. Und sienarot. +Hempton hat ihn auf einen umgestürzten Baumstamm gelegt, mitten im Wald. Wanderern, die die Stille suchen, soll er signalisieren, dass sie hier durch nichts gestört werden. Nicht einmal durch das Geräusch eines Flugzeugs. Gordon Hempton verbringt viel Zeit im Park. Wann immer er Flugzeugmotoren hört, notiert er sich die Uhrzeit. Zu Hause recherchiert er dann die verantwortliche Fluggesellschaft und erklärt ihr sein Anliegen. Bittet sie darum, ihre Route zu ändern. Die meisten tun es. Doch um die öffentliche Anerkennung des OSI bemüht Hempton sich noch immer. "Was bringen uns Nationalparks, in denen Stromgeneratoren brummen? Oder noch schlimmer: die mit Musik beschallt werden?", fragt er. +Ein Quadratzoll Stille, das wäre für ihn schon ein Anfang. Denn so, wie Lärm über große Distanzen zu hören ist, würde das akustische Naturschutzgebiet im Gegenzug bedeuten, dass in einem großen Stück des Waldes Stille herrscht. Ausgehend von der Fläche einer Streichholzschachtel. Dafür sind allerdings auch die Wanderer verantwortlich: Wer den OSI besucht, muss schweigen. +Irgendwann soll, so wäre es Hempton am liebsten, am Wanderweg "Hoh River Trail" ein Wegweiser stehen, der die Richtung weg vom Fluss ins Unterholz weist. Im Moment sind es noch weiße Schleifen, die helfen, den Stein zu finden. Hempton deutet auf die erste, dann stapft er wortlos voran. Er benutzt Baumstämme als Brücken, weil der Boden oft nur aus Schlamm oder Pfützen besteht. Am Stein angekommen sieht er nach dem Einweckglas, das er dort aufgestellt hat. Darin sind Notizen, die Wanderer hinterlassen haben: Briefe an Verstorbene. Gedanken zur Stille. Ein Heiratsantrag. Für ihn sind die Zettel ein Zeichen, dass der OSI etwas bei den Menschen bewirkt. "In jeder dieser Botschaften geht es um Liebe. Oder um Wunder", sagt er. Und sieht dabei sehr zufrieden aus. +Gordon Hempton, 55, entschied sich nach einem Hörsturz, in die Natur zu ziehen. Über das Glas am OSI sagt er: "Damit sich Besucher austauschen können. Auch ohne zu sprechen." diff --git a/fluter/hoert-das-denn-nie-mehr-auf.txt b/fluter/hoert-das-denn-nie-mehr-auf.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7160e783a3969c8237d7d13a44015f94d087bac5 --- /dev/null +++ b/fluter/hoert-das-denn-nie-mehr-auf.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Das Internet vergisst nicht. Mobbing-Attacken sind überall und jederzeit für alle sichtbar und erreichen einen weiten Personenkreis. Laut einer Studie der Techniker Krankenkasse war jeder dritte Heranwachsende schon einmal Opfer einer Mobbing-Attacke im Netz und jeder zwölfte nach eigener Aussage selbst schon einmal Täter. "Bei Mobbing im realen Leben unterscheidet man mehrere Gefühlsstufen, bei Cybermobbing gibt es nur zwei: Entweder es ist mir egal, oder ich habe sofort großen Stress damit und empfinde die Situation als sehr belastend", sagt der Lehrer Marco Fileccia. Er ist Referent der Initiative "Eltern Medien Jugendschutz" und unterstützt das Projekt Medienscouts NRW, bei dem Schüler in Nordrhein-Westfalen von der Landesanstalt für Medien ausgebildet werden, um unter anderem Mobbing-Attacken bei Mitschülern vorzubeugen. +Die Formen von Cybermobbing sind vielfältig. An erster Stelle stehen laut Techniker-Krankenkasse-Studie Drohungen und Beleidigungen, gefolgt von übler Nachrede, also dem bewussten Verbreiten von Lügen. Außerdem das Anlegen gefälschter Profile in Netzwerken oder das Hochladen peinlicher oder manipulierter Bilder und Videos. Besonders schlimm wird es, wenn sich ganze Gruppen organisieren und zu Online- und Offline-Angriffen verabreden. "Es gibt viele Gründe, warum Mobber andere malträtieren: aus Langeweile, Unbedachtheit, Lustgewinn oder fehlender Emotionsregulation", sagt Fileccia. Es gebe Typen, die sich überschätzten, denen die Empathie für andere und die Selbstkontrolle fehle, oder welche, die Lust am Machtgefühl hätten. +In einer Studie stellte die Universität Hohenheim 2011 fest, dass es neben den klassischen Tätern und Opfern noch eine dritte Gruppe gibt: die Täter-Opfer, die beide Seiten schon erlebt haben. "Sie nehmen innerhalb der Klasse eine zentrale und vor allem ‚strategische' Position ein und haben meist einen großen Freundeskreis", sagt Ruth Festl, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Projekt "Cybermobbing an Schulen". Sie reagierten aus der Opferrolle heraus, um sich quasi zu rächen. Diese Racheaktionen müssten sich nicht notwendigerweise gegen die vorherigen Täter, sondern könnten sich gegen andere, vermeintlich noch Schwächere richten. +Tina von Juuuport, einer Selbstschutz-Plattform im Netz, glaubt, dass viele Mobber sich über die Auswirkungen ihres Handelns nicht im Klaren sind. "Vor allem junge Leute wissen nicht, dass sie sich strafbar machen können, wenn sie beispielsweise gegen die Bildrechte von anderen verstoßen", sagt die 21-Jährige. Auf Juuuport antworten geschulte Jugendliche und junge Erwachsene von zu Hause aus auf die Anfragen von Gemobbten. Hier finden sich auch Foreneinträge wie der von Jani, der ein zweites Profil von sich auf Facebook samt Foto entdeckt hat. "Ich finde das so fies, kann mir nicht vorstellen wer so was machen könnte? Wie kann ich beweisen, dass ich nicht ,ich' bin?" +Missbrauch melden und den Eltern Bescheid geben, antworten einige. Melissa vom Juuuport-Team rät, einen Screenshot vom Fake-Profil zu machen und Freunde und Bekannte zu informieren, um möglichen Missverständnissen vorzubeugen. "Fünf bis zehn Anfragen bekommen wir in der Woche von Leuten zwischen 15 und 18 Jahren", sagt Tina. Die Medieninformatikstudentin arbeitet seit drei Jahren bei Juuuport. "Weil wir jung sind, können wir uns zum Teil besser in die Gemobbten hineinversetzen und schreiben lockerer als Erwachsene, was die Hürde minimiert." +"Nicht die Opfer tragen die Schuld, sondern die Täter. Das muss immer klar sein", sagt der Lehrer Fileccia. "Wichtig ist, mit einer Vertrauensperson über das Erlebte zu sprechen. Für den einen Betroffenen kann es richtig sein, mit dem Täter zu sprechen, für den anderen genau das Gegenteil, nämlich ihn zu ignorieren." Deshalb sei es wichtig, dass das Opfer immer über das "Wie" entscheiden sollte und die Bestrafung der Täter erst an zweiter Stelle stehe. Letztere hatten 2011 besonders viel Spaß dabei, sich auf der Internetseite "Isharegossip" über andere auszulassen. Diskutiert wurde bis zum Abschalten der Seite – vermutlich durch einen Hackerangriff – über "die größte Schlampe" und den "hässlichsten Jungen" einer Klasse. Zeitweise erreichte die Plattform bis zu 10.000 Nutzer gleichzeitig. Die Mehrzahl der Beleidigten waren Schülerinnen, und die Seite wurde überwiegend von Gymnasiasten besucht. Schulpsychologen vermuteten damals, dass die sich vor offenen Konfrontationen scheuten und deshalb indirekte Wege suchten, um Konflikte auszutragen. Die Betreiber von Isharegossip hatten damals versprochen, keine IP-Adressen zu speichern. +Mobbing im Netz kann jeden treffen, und oft kennen sich Täter und Opfer. Der Auslöser und die Gründe für Cybermobbing sind so vielfältig wie die Formen: Neid, Rachegefühle, unglückliche Liebesbeziehung oder fehlende Anerkennung. Für gewöhnlich kommen mehrere Faktoren zusammen. Wenn beispielsweise Fotos oder Pinnwandeinträge abwertend kommentiert werden und sich daraus plötzlich ein Streit entwickelt, der Kreise zieht. "Oft hat es mit dem ,Anderssein' zu tun: andere Klamotten, Haare oder anderes Verhalten als die Mehrheit", sagt Fileccia. +In diesem Sinne anders war auch der 18-jährige Student Tyler Clementi aus New Jersey, der sich 2010 nach einer Mobbing-Attacke das Leben nahm. Sein Mitbewohner hatte ihn heimlich dabei gefilmt, wie er einen Freund küsste und die Nachricht via Twitter verbreitet. Kurz darauf hinterließ der Student auf Facebook eine Abschiedsbotschaft und sprang von einer Brücke in den Hudson River. Sein Peiniger wurde im Mai 2012 zu 30 Tagen Gefängnis plus 3 Jahren auf Bewährung und rund 12.000 Dollar Strafe verurteilt. +Und noch ein weiterer Fall erschütterte 2012 die Netzgemeinschaft. Der 20-jährige Tim Ribberink aus den Niederlanden nahm sich im November das Leben. Seine Eltern gingen an die Öffentlichkeit und zitierten in der Traueranzeige aus seinem Abschiedsbrief: "Lieber Pap und Mam, ich wurde mein ganzes Leben lang verspottet, gemobbt, gehänselt und ausgeschlossen. Ihr seid fantastisch. Ich hoffe, dass ihr nicht sauer seid. Auf Wiedersehen, Tim". Und manchmal sorgt die Rachlust für neue Opfer. So hatte die Gruppe "Anonymous" kurz nach Amanda Todds Selbstmord den Namen, die Adresse und weitere Daten eines Mannes veröffentlicht, der sie in den Tod getrieben haben soll. Es gab Drohungen und Beleidigungen gegen ihn, aber letztlich stellte sich raus, dass der Mann der falsche war. diff --git a/fluter/hoffnung-resignation-klimawandel.txt b/fluter/hoffnung-resignation-klimawandel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..258991c8ae44213a60c68fa93924bc44e17a7367 --- /dev/null +++ b/fluter/hoffnung-resignation-klimawandel.txt @@ -0,0 +1,34 @@ +Claudia Blöser: Ich würde zwei Arten von Gründen für Hoffnung unterscheiden. Zum einen Gründe wie das Pariser Abkommen oder große kollektive Klimabewegungen. Die beschreiben, inwiefern es Anlass zur Hoffnung gibt. Von diesen Gründen hat aber gerade die ältere Generation wenige geschaffen, deshalb finde ich die Aussage von Lanz anmaßend. Und zum anderen gibt es "pragmatische" Gründe, die sich auf unser Handeln beziehen – egal wie die Welt beschaffen ist. Wir haben ganz einfach Grund zu hoffen, weil es nützlich wäre. +Mit Hoffnung ist man besser in der Lage zu handeln? +Blöser: Ja. Mit mehr Elan, größerer Ausdauer. Wer etwas verändern will, kann Hoffnung gut gebrauchen. Und die kann sich, anders als zum Beispiel Optimismus, auch auf das Unwahrscheinliche richten. +Sollten Politik oder Medien dann nicht eher Hoffnung kommunizieren, anstatt sich auf die Risiken der Klimakrise zu konzentrieren? +Fritsche: Man muss den Leuten schon sagen, wie es steht und wie bedrohlich die Lage ist. Aber man muss wissen, wie. Hohe Risiken zu kommunizieren motiviert insbesondere, wenn die Leute gleichzeitig das Gefühl haben: Ich kann etwas tun. Wenn ich Sie dazu bringen will, zur Krebsvorsorge zu gehen, muss ich Ihnen sagen: Es kann für Sie schlimm enden, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass Sie Krebs bekommen – aber hier sind Dinge, die Sie tun können, um schwere Formen von Krebs zu verhindern. Ähnliches gilt für die Klimakrise. Und andersherum gilt auch: Hoffnung motiviert vor allem die Leute zum Handeln, die wegen des Klimas in Sorge sind. +Blöser: Furcht und Hoffnung schließen sich übrigens nicht aus. Hoffnung bezieht sich auf etwas, das man für gut hält und von dem man gleichzeitig unsicher ist, ob es eintritt. Furcht funktioniert ähnlich, nur wünscht man sich da, dass etwas eben nicht passiert. Eine Person, die an die ungewisse Zukunft denkt, empfindet deshalb oft beides. +Greta Thunberg zieht die Furcht offenbar der Hoffnung vor. Ineiner berühmten Rede auf dem Weltwirtschaftsforum 2019sagte sie: "I don't want you to be hopeful. I want you to panic." Warum hat sie ein so negatives Bild von Hoffnung? +Blöser: Da spielte das Publikum, vor dem sie sprach, vermutlich eine große Rolle. Wenn sie den Wirtschaftsvertretern in Davos sagt: "Ich will eure Hoffnung nicht", dann wohl auch, weil Hoffnung oft mit begrenztem Einfluss einhergeht – sonst müsste man ja nicht hoffen. Ihr gegenüber saßen aber vor allem Personen in Machtpositionen. Die sollten lieber davon reden, was zu tun ist, statt davon, was zu hoffen ist. +Vielleicht hat Thunberg auch Angst, dass die Hoffnung uns in Sicherheit wiegt. Kann Hoffen ins Nichtstun führen? +Blöser: Wenn ich sage, ich hoffe etwas, dann heißt das auch: Ich bin nicht sicher, ob meine Handlungen ausreichen, um das zustande zu bringen. Wer hofft, ist von anderen Faktoren abhängig. Und läuft damit Gefahr, sich zu sehr auf die anderen Faktoren zu konzentrieren, statt selbst aktiv zu werden. Vielleicht meint Thunberg deshalb auch, Panik motiviere stärker zum Handeln. +Auch die "Letzte Generation" treibt vor allem die Angst vor der Zukunft in den Protest. Das Endzeitszenario steckt schon im Namen. +Fritsche: Im Namen steckt aber auch eine Handlungskomponente. Sie verstehen sich als letzte Generation, die Klimaextreme verhindern kann. Es geht also schon in Richtung Motivation, aber stärker über die Risikowahrnehmung. +Viele schreckt das eher ab. Finden Sie die Proteste und die Kommunikation der "Letzten Generation" klug? +Blöser: Zunächst mal sind Angst und Verzweiflung angesichts der Bedrohung eine angemessene Reaktion. Das müssen junge Menschen ausdrücken dürfen. Nur scheinen sieso keine Mehrheit hinter sich versammeln zu können, um dem eigenen Ziel näher zu kommen. In der Philosophie nennt man das "affektive Ungerechtigkeit": Menschen haben angemessene Emotionen, der Ausdruck dieser Emotionen ist für sie aber kontraproduktiv und dient nicht dem Erreichen des Ziels. Das ist der Konflikt, den ich da sehe. +Wäre Hoffnung besser geeignet, größere Gruppen hinter sich zu versammeln? +Fritsche: Hoffnung ist für Gruppen jedenfalls wichtig, die Hoffnung auf Veränderung liegt im Kollektiv. Individuell ist unsere Motivation, etwas für die Umwelt zu tun, oft eingeschränkt, mein Einfluss aufs Klima ist ja begrenzt. Aber wenn man sich nicht nur als Individuum, sondern als Mitglied einer Gruppe definiert – und das können wir Menschen –, kommt man schnell zum Schluss: Wir sind in der Lage, etwas zu verändern. +In der Klimakrise hoffen wir vor allem auf die Abwendung der Katastrophe. Gibt es zu wenige positive Zukunftsbilder? +Blöser: Es gibt schon einige, nur schüren die oft falsche Hoffnungen. Auf rettende Technologie etwa, mit der wir das CO₂ bald einfach aus der Atmosphäre saugen. Solche Visionen wecken auch die Hoffnung, dass wir weiterleben und konsumieren können wie bisher. Und diese Hoffnung wiederum motiviert gar nicht: Sie fokussiert auf etwas, das die Probleme lösen soll, ohne dass man selbst handeln müsste. +Dann bräuchte es größere Visionen, Utopien, um die Leute für sperrige Klimaschutzthemen zu begeistern? +Fritsche: Gemeinsam darüber nachzudenken, wie eine nachhaltige und gerechte Gesellschaft aussehen könnte, erhöht die Handlungsfähigkeit tatsächlich eher als das Nachdenken über Technologien, die die Klimakatastrophe abwenden. Kollektive Projekte helfen, ins Handeln zu kommen. Das können ruhig sehr große Kollektive sein – ein ganzes Land etwa. +Blöser: Andererseits scheint die Zeit der großen gesellschaftlichen Visionen vorbei. Die Utopien des 20. Jahrhunderts, zum Beispiel der Sozialismus, haben nur noch wenige Anhänger. Vielleicht ist es auch der Moment für kleinere, handhabbare Hoffnungen: dass die eigene Stadt klimaneutral wirdoder erst mal grüner. Lokal zu denken erleichtert es enorm, Hoffnung in Handeln zu übersetzen. +Können denn Handlungen selbst wiederum Hoffnung erzeugen? Die Aktivistin Luisa Neubauer sagt oft: "Hoffnung ist harte Arbeit." +Blöser: Ja, dieses Wechselspiel ist spannend. Weil es auch bedeutet: Man kann sich die Gründe für Hoffnung selbst schaffen. +Fritsche: Klimahandeln könnte sogar so etwas wie persönliche Therapie sein, eine Möglichkeit, mit Ängsten umzugehen,aus der Schockstarre auszubrechen. +Sollte man darüber reden, wenn man etwas für die Umwelt und Klimapolitik tut? +Fritsche: Ja. Wir Menschen sind stark soziale Wesen. Viele, die was tun oder tun wollen, schweigen darüber, weil sie glauben, andere stünden nicht dahinter. Es ist uns wichtig, nicht aus der Reihe zu tanzen. Dabei hat Klimaschutz in vielen Gesellschaften Mehrheiten. Es ist wichtig, das sichtbar zu machen. +Was macht Ihnen Hoffnung? +Fritsche: Dass sich die Wahrnehmung der Normalität verändert. Auch durch jüngere Debatten wie die zu den Wärmepumpen. Die werden hart geführt und verlangen manchen viel ab. Sie sind aber wichtig, um unsere Normalität herauszufordern: In 15 Jahren wird kaum jemand eine Gasheizung im Keller stehen oder ein Auto mit Verbrennungsmotor haben. +Blöser: Ich habe einen siebenjährigen Sohn. Bei ihm in der Klasse sind die Themen Klima und Umwelt viel normaler als für unsere Generation. Die Sorge um das Klima kann man weitergeben – die nächste Generation wird das Thema mit noch mehr Selbstverständlichkeit und Elan verfolgen. + +Immo Fritsche erforscht als Professor für Sozialpsychologie an der Universität Leipzig unter anderem, was Menschen zum Klimaschutz motiviert. +Claudia Blöser hat Physik und Philosophie studiert und hat gerade ihre Habilitation abgeschlossen. Die fragt danach, was Hoffnung ist und welche Funktionen sie hat. + +Titelbild: Eric Ruby diff --git a/fluter/hoffnungsvoller-Klimawandel-film-2040.txt b/fluter/hoffnungsvoller-Klimawandel-film-2040.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..241f6ca8b83c3fbbf70f31395afa1458bf9b0161 --- /dev/null +++ b/fluter/hoffnungsvoller-Klimawandel-film-2040.txt @@ -0,0 +1,8 @@ + + + + +In Bangladesch besucht er ein Dorf, in dem Wellblechhütten mit Solarpaneelen bestückt sind, die intelligent miteinander kommunizieren. Er trifft einen australischenÖkobauern, fährt mit einem Seetangzüchter aufs Meer und in einem selbstfahrenden Auto durch Singapur. Die vorgestellten Lösungen sind dabei nicht allzu ungewöhnlich: erneuerbare Energien, weniger Fleischverzehr, nachhaltige Landwirtschaft, Carsharing zur Autoreduktion, solche Dinge. Es geht in "2040" eher um die Stimmung, dieses John-Lennon-hafte "Imagine …"-Gefühl, das Gameau entfachen will. +Immer wieder blendet er in eine mögliche bessere Zukunft, wo die Änderungen "kaskadierende Effekte" zeigen sollen: Mehr Carsharing gleich weniger Autos und somit weniger Parkflächen, dafür mehr Platz in den Städten, etwa für Urban Farming, was zusätzlich dem Klima hilft. Wenn dann in musikuntermalten Animationssequenzen Hochhausdächer ergrünen und Autobahnen verschwinden, kippt das Ganze allerdings beinahe in Imagefilm-Kitsch um. +Als er mit seinem Film begonnen hatte, erzählte Damon Gameau im Haus der Kulturen der Welt, sei er nicht besonders zuversichtlich gewesen, was die Zukunft angeht. Jetzt schon. + diff --git a/fluter/hoi-polloi-zum-thema.txt b/fluter/hoi-polloi-zum-thema.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/hollywood-serie-rezension.txt b/fluter/hollywood-serie-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b8f80d4277f5325ca38096b06cf2c6264a706be4 --- /dev/null +++ b/fluter/hollywood-serie-rezension.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Sie entscheidet, dass der Film produziert werden soll: Regie führt der Halbphilippiner Raymond Ainsley, die Hauptrolle übernimmt neben Jack Castello die Schwarze Schauspielerin Camille Washington. Eine Nebenrolle geht an die chinesisch-amerikanische Schauspielerin Anna May Wong. Mitglieder desKu-Klux-Klansreagieren zwar mit Molotowcocktails auf die Pläne des Filmstudios, und Kinos im Süden der USA drohen mit Boykott. Trotzdem läuft die Filmproduktion weiter, übrigens im Gegensatz zu diesen kurz angeschnittenen, offenen Handlungssträngen. In einer Nebenhandlung der Serie verfolgt man den Jungschauspieler Rock Hudson, der Archie kennenlernt, sich verliebt und nebenbei zu Sex von seinem Agenten Henry Willson genötigt wird. + +Die Miniserie läuft seit 1. Mai beim Streaming-Anbieter Netflix +"Hollywood" lässt wahre Gegebenheiten wunderbar mit fiktiven Geschichten verschmelzen: So gab es neben dem zweifelhaften Agenten Willson, der eine Vielzahl junger Männer managte, auch die Schauspielerin Anna May Wong im echten Leben. Sie verlor aufgrund der damaligen Produktionsvorschriften (der männliche Gegenpart war weiß – "gemischte" Paare durften nicht gezeigt werden) die Rolle einer chinesischen Frau an eine weiße Schauspielerin, die für diese Performance anschließend einen Oscar gewann. Die Serie hält dabei aber, ganz im Gegensatz zur Realität, ein unerwartetes Happy End für Wong bereit, genau wie für Schauspieler Rock Hudson, der in der Serie im Jahr 1948 – 21 Jahre vor demStonewall-Aufstand, an den der Christopher Street Day erinnert– Hand in Hand mit Archie über den roten Teppich läuft. In Wirklichkeit war Hudsons Homosexualität ein offenes Geheimnis, bis er 1985 an den Folgen von Aids starb. +Neben dem starken Plot liefert die Serie auch einen diversen Cast. Die Kostüme sind zudem so atemberaubend, dass sie fast davon ablenken, wie verklärt die Netflix-ProduktionProstitutiondarstellt und wie eindimensional viele der Charaktere bleiben. So erfahren die Zuschauenden über Raymond Ainsley eigentlich nichts, abgesehen davon, dass er einen philippinischen Migrationshintergrund hat, während Figuren wie Jack Castello, der für eine Vielzahl weißer Hollywoodstars stehen könnte, viel mehr Zeit eingeräumt wird. Außerdem tut die Serie so, als gäbe es ganz einfache Lösungen gegen menschenfeindliche Machtstrukturen, und macht damit indirekt die Kämpfe vieler Bewegungen, die noch bis heute andauern, kleiner. Damit ignoriert sie das komplexe System dahinter und hält genau das, was sie verspricht: ein Hollywood-Ende, das einfach viel zu schön ist, um wahr zu sein. + + +Übrigens: Wir schreiben hier "Schwarz" groß, um zu verdeutlichen, dass es keine "Eigenschaft" ist, die mit Hautfarbe zu tun hat, keine Kategorie, in der man Menschen einordnen kann. Der Begriff "Schwarz" ist hier eine politische Selbstbezeichnung von Menschen afrikanischer Herkunft, deren Erfahrung durch Kolonialismus und Rassismus geprägt ist. + diff --git a/fluter/holocaust-erinnern-geschichte.txt b/fluter/holocaust-erinnern-geschichte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..969f01a541a923aa4aaa38a7d110cf63fc7e60ee --- /dev/null +++ b/fluter/holocaust-erinnern-geschichte.txt @@ -0,0 +1,30 @@ +Die Frage ist bis heute kontrovers. +Weil es letztlich zwei gegensätzliche Deutungen gibt: Die eine begreift die NS-Verbrechen als negativen Kristallisationspunkt der deutschen Geschichte, als radikalen Bruch, aus dem sich ein kritisches Verhältnis zur eigenen Geschichte ableitet. Nicht um sich selbst zu geißeln, sondern um daraus zu lernen und zu verhindern, dass so etwas wieder passiert. Das war zunächst die Perspektive einer kleinen Minderheit, die aber mit der Demokratie wuchs. +Die andere Deutung … +… betont eine lange und insgesamt positive Nationalgeschichte, in der die Zeit des Nationalsozialismus einen "Betriebsunfall" darstellt, mit dem man sich nicht lange aufhalten muss. Das ist auch, was AfD-Politiker meinen, wenn sie zum Beispiel von einem "Vogelschiss" in der deutschen Geschichte sprechen. Ein derart abfälliger Ton ist ungewöhnlich, inhaltlich sehe ich da aber keine neue Qualität. +Solche Positionen hat es immer schon gegeben? +Noch in den 80er-Jahren war es üblich, den zwölf Jahren NS-Vergangenheit 1.200 Jahre "gute" deutsche Geschichte gegenüberzustellen, auf die man stolz sein kann. Das war schlicht eine konservative Position. Erst in den 90er-Jahren wurde die Erinnerung an die NS-Verbrechen zur parteiübergreifenden Staatsräson. Die Sehnsucht nach einer "heilen" deutschen Geschichte ist aber nie verschwunden, und die AfD spricht sie heute wieder aus. +Momentan sieht es danach aus, dass wir nicht aus dieser Geschichte lernen, sondern eher verlernen: Synagogen und Flüchtlingsunterkünfte werden angegriffen, Menschen von Rechtsextremen mit dem Tode bedroht. +Auch das ist nicht neu, wobei sich die Situation zugespitzt hat, seit mit der AfD ein völkisch-nationalistisches Milieu in den Parlamenten sitzt. In dieser Stimmung fühlen sich Neonazis und sogenannte Wutbürger ermutigt, ihre Überzeugungen offen zu äußern –auch mit Gewalt. Dass dann Teile der CDU über eine Zusammenarbeit mit der AfD nachdenken, zeugt tatsächlich nicht von einem Lernen aus der Geschichte. Auf der anderen Seite gibt es hierzulande auch so etwas wie einen demokratischen Antifaschismus und eine hohe Sensibilität, insbesondere für Antisemitismus. Und ich denke, dieser Teil der politischen Kultur ist schon wesentlich auch von der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit geprägt. Es bleibt zu hoffen, dass sich daraus eine stabile Gegenwehr entwickelt. +Deutschland gilt als Vorbild in der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Immer wieder ist aber auch die Rede von einem "Schuldkult" oder Auschwitz als "Moralkeule". Wird das Erinnern den Deutschen lästig? +Diese Erinnerungskultur ist nichts, worauf man stolz sein kann – gerade angesichts der Verbrechen, um die es geht. Trotzdem sind etwa staatlich geförderte Gedenkstätten eine Errungenschaft. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass sie hart erkämpft wurden, zunächst von ehemaligen Verfolgten undHolocaust-Überlebenden, später auch durch zivilgesellschaftliche Initiativen. Glaubt man Umfragen, halten große Teile der Bevölkerung die fortwährende Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit für notwendig. Einen Konsens hat es diesbezüglich aber nie gegeben. Wer an Nationalstolz interessiert ist oder seinen Rassismus und Antisemitismus ungehemmt ausleben möchte, dem bleibt diese Erinnerungskultur ein Dorn im Auge. + +Kratzspuren an den Wänden erinnern an die Qualen der Häftlinge in der rekonstruierten Gaskammer im früheren Konzentrationslager Auschwitz + +Gedenkstätten berichten, dass zunehmend versucht wird, die Verbrechen zu relativieren, indem zum Beispiel auf deutsches Leid und deutsche Opfer verwiesen wird oder historische Fakten infrage gestellt werden. +Das sind Strategien der Schuldabwehr. Das hat es nach meiner Erfahrung immer gegeben. Damit muss man pädagogisch umgehen, indem man die Strategien aufdeckt. Derzeit scheinen diese Relativierungen aber vermehrt auch in organisierter Form aufzutreten, dass Leute sich also beispielsweise unter normale Besuchergruppen mischen und provozieren. Da muss man diskutieren, wie man auf solche Angriffe reagiert. Diese Diskussion findet auch statt. Aber fast noch wichtiger – und sehr viel schwieriger – scheint mir die Frage, wie man sich dazu verhält, dass mit der AfD eine in Teilen rechtsextreme Partei massiv an Einfluss gewinnt. +Wie reagieren die Gedenkstätten bisher? +Die politische und geschichtskulturelle Agenda der AfD wird offen kritisiert. In Niedersachsen konnte verhindert werden, dass die AfD in die Gedenkstättengremien einzieht, in Buchenwald werden AfD-Politiker von Gedenkveranstaltungen ausgeschlossen. Die Frage ist, wie lange man das durchhält. Die meisten Gedenkstätten werden aus staatlichen Mitteln finanziert. Was ist, wenn die AfD doch mal in einer Regierung sitzt? Arrangiert man sich dann? Oder verhält man sich widerständig und ist bereit, den Preis zu bezahlen? +Sollte der Besuch einer KZ-Gedenkstätte für Schülerinnen und Schüler zur Pflicht werden? Das wird immer wieder diskutiert. +Den Begriff der Pflicht finde ich schwierig. Schön wäre, wenn man allen Schülerinnen und Schülern eine Gedenkstättenfahrt ermöglicht. Und zwar eine, die nicht nur in einer kurzen Führung besteht, sondern mit einer Projektarbeit verbunden ist, die auf eigenen Fragen beruht. Viele Lehrkräfte sagen, dass sie dafür keine Zeit haben. Vielleicht braucht es also erst mal mehr Spielraum in den Lehrplänen, bevor man zu etwas verpflichtet, was dann eben auch nur pflichtgemäß gemacht wird. Allerdings irritiert mich bei diesen Diskussionen die Fixierung auf Jugendliche. +Warum? +Es waren Erwachsene, die die nationalsozialistische Gesellschaft gestaltet haben, die Verbrechen geplant und begangen haben. Und es sind auch heute Erwachsene, die die Gesellschaft prägen und Entscheidungen treffen. Von daher denke ich, dass vor allem Erwachsene angehalten sein sollten, Gedenkstätten zu besuchen. +Machen die Gedenkstätten ihnen Angebote? +Auf jeden Fall. Zum Beispiel Fortbildungen, in denen sie sich mit der Rolle ihrer eigenen Berufsgruppe beschäftigen können. Juristen haben antijüdische Gesetze gemacht, Krankenschwestern haben Kinder ermordet, Bäcker haben Konzentrationslager beliefert. Menschen, die diese Jobs heute machen, kommen über diesen Bezug in eine persönliche Auseinandersetzung: Wie konnte es dazu kommen? Wie hätte ich mich verhalten? Wie verhalte ich mich eigentlich heute? +Die NS-Vergangenheit rückt zeitlich immer weiter in die Ferne. Wie hält man Erinnern relevant? +Cornelia Siebeck forscht und schreibt zum gesellschaftlichen Umgang mit den NS-Verbrechen. Sie arbeitet für verschiedene Gedenkstätten und engagiert sich beim Aktiven Museum Faschismus und Widerstand in Berlin. (Foto: Christoph Kalter) +Das sollten Sie vielleicht jemanden fragen, der an der Gegenwartsrelevanz dieser Vergangenheit zweifelt. Für mich war sie seit jeher relevant. Ich war ein rebellischer Teenager. Als ich begriffen habe, was sich in diesem Land nur wenige Jahrzehnte zuvor abgespielt hat, habe ich mich bedroht gefühlt. Mir war klar, dass ich da so, wie ich leben wollte, nichts zu lachen gehabt hätte. Als ich mitbekam, dass es immer noch Nazis gibt, stand die Gegenwartsrelevanz gar nicht mehr zur Debatte. Heute würde ich diese Relevanz anders begründen, aber erst mal kommt es darauf an, dass einem die NS-Vergangenheit nicht als etwas "Fremdes" entgegentritt, sondern dass man sich von ihr berühren lässt. Ich gebrauche dafür gern den etwas aus der Mode gekommenen Begriff der Betroffenheit. Damit meine ich nicht leere Sentimentalität, sondern die Erkenntnis, dass mich diese Vergangenheit betrifft, dass ich in diese Geschichte involviert bin. +Betroffenheit lässt sich nicht künstlich herstellen. +Stimmt. Aber das ist auch gar nicht nötig: Diese Vergangenheit betrifft uns alle, ob wir wollen oder nicht. Der Nationalsozialismus ist vorbei, aber die Ideologien und gesellschaftlichen Mechanismen, auf denen er aufbauen konnte, sind nach wie vor da. Der Zweite Weltkrieg und die Massenverbrechen wirken in aller Welt nach, sowohl psychologisch als auch realpolitisch. Seit 75 Jahren vergeht kein Tag, an dem nicht über diese Vergangenheit und ihre Folgen gesprochen wird, hier und anderswo. So gesehen ist es auch ziemlich unerheblich, ob meine Vorfahren hier gelebt haben oder nicht. Das ist eine globale Geschichte, die keineswegs abgeschlossen ist. Gute Erinnerungsarbeit schafft Momente, in denen diese Gegenwart der Vergangenheit schlaglichtartig erkennbar wird. + +Titelbild: Beata Zawrzel / picture alliance / NurPhoto diff --git a/fluter/holocaust-leugnung-soziale-medien.txt b/fluter/holocaust-leugnung-soziale-medien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..abad8a2df2ae430dd11b116d718ed8b4969412ac --- /dev/null +++ b/fluter/holocaust-leugnung-soziale-medien.txt @@ -0,0 +1,31 @@ +Demnach leugnet oder verzerrt fast die Hälfte aller untersuchten Telegram-Inhalte, bei denen es um den Holocaust geht, den nationalsozialistischen Völkermord. Bei Twitter und TikTok sind es knapp ein Fünftel. Handelt es sich um ein neues Problem? +Kein neues, aber ein wachsendes. Wir sehen grundsätzlich immer mehr Hatespeech in sozialen Netzwerken, Verschwörungsmythen rund um den Holocaust sind ein Teil davon. 2020 wurden dieseVerschwörungen wegen der Pandemie besonders stark verbreitet, oft im Zusammenhang mit der Impfung oder anderen Covid-Maßnahmen. +"History under attack" ist eine datengestützte Studie zu Holocaust-Leugnung und -Verzerrung in den sozialen Medien. Dafür hat ein Team der UNESCO und der Universität Oxford in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Weltkongress im Sommer 2021 4.000 Inhalte mit Holocaust-Bezug auf fünf großen Plattformen gesammelt: Facebook, Twitter, TikTok, Instagram und Telegram. Die Wissenschaftler/-innen haben die Plattformen auf Englisch, Französisch, Deutsch und Spanisch durchsucht nach … +– neutralen Schlagworten wie "Juden" oder "Judentum" +– Ausdrücken mit Holocaust-Bezug wie "Ausschwitz" oder "Arbeit mach frei" +– und antisemitischen Phrasen wie "Zionist Occupied Government" – die Verschwörungstheorie des "Weltjudentums", das verschiedene Regierungen kontrolliere – und rechtsextremen oder verschwörungstheoretischen Codes, zum Beispiel "Holohoax" +Der Jüdische Weltkongress wandte sich mit dem Thema an die Unesco. +Ja. Gemeinsam mit dem Oxford Internet Institute und den Vereinten Nationen wollten wir das Problem angehen. Denn für Menschen, die den Holocaust selbst überlebt haben oder die Überlebende in der Familie haben, sind antisemitische Posts besonders schmerzhaft. + +Die Studie macht auch klar, wie unterschiedlich Holocaust-Revisionismus klingen und aussehen kann. +Manche Nutzer bestreiten konkret, dass es den Völkermord gab, etwa durch vermeintliche Faktenchecks laut denen Gaskammern, Massenerschießungen und Folter niemals existiert haben. Einige Posts leugnen den Holocaust nicht, sondern feiern ihn oder machen die jüdische Bevölkerung selbst für ihre Verfolgung und Ermordung verantwortlich. Am gefährlichsten sind aber antisemitische Memes. +Warum? +Memes sind ein Humorformat. Sie gehören zur Kultur des Internets, gerade unter jungen Menschen, Und sie nutzen oft sprachliche Codes, die nur bestimmte Kreise verstehen. +Haben Sie ein Beispiel? +Sehr beliebt ist der Bowler. Das Meme zeigt einen Mann beim Bowlen, der die systematische Tötung jüdischer Menschen quasi mit dem Argument "abräumt", die Türen der Gaskammern in Auschwitz seien aus Holz gewesen, hätten das Gas also gar nicht im Raum halten können. Was natürlich falsch ist, glatte Holocaustleugnung. Solche Memes haben schlimme Konsequenzen: Rechtsextreme und Verschwörungstheoretiker können ihren antisemitischen Hatespeech leichter verschleiern. Humor lässt den Hass akzeptabel erscheinen, fast schon fröhlich. Sie erreichen so auch den "normalen Diskurs", also Menschen jenseits ihrer Bubble. +Weil ihr Antisemitismus zunächst einfach als Witz gelesen wird. +Das hat auch mit dem Format zu tun: "Humorvolle" Bilder und Videos sind im Vergleich zu Texten schwieriger als antisemitisch zu identifizieren, sie normalisieren den Hass. Das wiederum erfordert eine spezielle Schulung der Plattformbetreiber, um die Inhalte zu bewerten. +Dabei ist der Anteil der leugnenden Inhalte von Plattform zu Plattform sehr unterschiedlich. Das geht von 3 Prozent bei Instagram bis zu 49 Prozent auf Telegram. +Je umständlicher es eine Plattform ihren Nutzern macht, einen Beitrag als antisemitisch zu melden, desto höher ist die Zahl der antisemitischen Beiträge dort. Das war eine Erkenntnis der Studie. Die mag banal klingen, zeigt aber, dass es enorm davon abhängt, wie groß der Wille des Unternehmens ist, Antisemitismus zu begrenzen. Wenn eine Plattform keine Richtlinien aufstellt, die es explizit verbietet, den Holocaust zu leugnen oder zu verzerren, sendet sie auch ein Signal: Bei uns ist alles erlaubt. So ist es zum Beispiel bei Telegram, das keine entsprechenden Regeln hat. +Sind andere Plattformen engagierter? +Keine kann antisemitische Posts komplett verhindern. Die anderen vier untersuchten Plattformen haben aber zumindest strikte Richtlinien und Moderation, deshalb werden antisemitische Posts dort auch schneller gesperrt. Facebook und TikTok sind Partnerschaften mit uns eingegangen. Wenn dort Menschen etwas über den Holocaust posten oder nach Informationen zu entsprechenden Begriffen suchen, erhalten sie den Hinweis aufeine Infowebsite des Jüdischen Weltkongresses und der UNESCO. Die erklärt grundlegenden Fakten: Was war der Holocaust? Wer war Adolf Hitler? Warum wurden die Juden zur Zielscheibe? Einfache Fragen in 19 Sprachen, damit möglichst viele genaue Informationen erhalten. +Was können Nutzer tun, die sich aktiv gegen Antisemitismus in den Netzwerken wehren wollen? +Zuerst sollten sie verdächtige Posts melden, egal wie erfolgreich sie damit sind. Wenn sie sich nicht sicher sind, ob sie etwas teilen sollten, gibt es einfacheChecklisten für Posts: Wer ist der Verfasser des Beitrags? Handelt es sich überprüfbare Fakten? Ist der Ton des Beitrags ausgewogen oder sensationslüstern und emotional aufgeladen? Daneben gibt es viele Menschen, die in den sozialen Netzwerken über den Holocaust aufklären. +Ein Beispiel? +Dov Forman und seine Urgroßmutter, Lily Ebert, die Ausschwitz überlebt hat. Sie führeneinen TikTok-Account, auf dem sie Fragen über den Holocaust beantworten. Nutzer sollten Menschen wie die beiden feiern. Und das bedeutet in sozialen Netzwerken: liken und teilen. +Anna Wegscheider, Juristin bei der Hatespeech-Beratungsstelle HateAid: "Posts, die den Holocaust explizit oder implizit leugnen, werden uns von Nutzer/-innen regelmäßig gemeldet. Unsere Beobachtungen decken sich mit den Ergebnissen der Studie: Viele der gemeldeten Posts sind auf Telegram zu finden, vor allem in rechten und rechtsextremen Gruppen. +Dadurch sind uns auch viele der Memes geläufig, die mit Codes arbeiten, die der Szene bekannt sind, der allgemeinen Bevölkerung aber nicht. Aus strafrechtlicher Sicht sind die besonders herausfordernd: Wir müssen jeweils im Einzelfall prüfen, ob auch eine codierte, implizite Leugnung die Schwelle der Strafbarkeit erreicht. Am Ende entscheiden die Gerichte, welche Memes strafrechtlich relevant sind. +Allgemein gilt aber: Den Holocaust zu leugnen ist in Deutschland eine Straftat. Deshalb sollten Nutzer/-innen solche Inhalte nicht nur melden, damit die Plattformen sie löschen können, sondern auch anzeigen. Strafanzeigen sind aus unserer Sicht besonders wichtig, damit Täter/-innen für ihr strafbares Verhalten auch im Netz sanktioniert werden. Sie können direkt bei der Polizei erstattet werden, vor Ort bei einer Polizeidienststelle oder über dieOnlinewache der Polizei im jeweiligen Bundesland. Wenn man unsicher ist: Beratungsstellen wieHateAidoderrespect!unterstützen bei der Anzeige." +Und wie geht ihre Arbeit weiter? Wird es eine weitere Studie geben? +Ich hoffe. Wir haben auch beobachtet, dass die Inhalte oft nicht beim Antisemitismus bleiben. Sie gehen mit anderen Phänomenen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit einher, mit Rassismus etwa, Frauenfeindlichkeit oder Homophobie. Wir würden gern genauer auf die schauen, die für solche Inhalte verantwortlich sind. Es könnte zum Beispiel sein, dass hinter den Hunderten antisemitischen Hassposts auf Telegram nur eine Handvoll Täter steckt. Das ist bislang völlig unklar. + diff --git a/fluter/holy-schiss.txt b/fluter/holy-schiss.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d41a5231c6b3eb65ba1856b68dd41f52642ca6b5 --- /dev/null +++ b/fluter/holy-schiss.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Dem Typus "Blut-, Verletzungs- und Spritzenphobie" wird in der psychologischen Klassifikation eine eigene Rubrik gewidmet. Die Neigung zur Ohnmacht ist in vielen Fällen genetisch bedingt. +Chronophobie ist die Angst vor der Zeit beziehungsweise vor ihrem Vergehen. Die so­genannte Torschlusspanik ist eine spezifische Form der Chronophobie. +Das kennen wir alle: Dentalphobie ist die Angst vor Zahnbehandlungen. +"Mir ist schlecht": Emetophobie ist die krankhafte Angst, sich übergeben zu müssen. +Felinophobie oder auch Galeophobie ist die übersteigerte Angst vor Katzen. +Gynäkophobie, das ist die Ab­neigung gegen alles Weibliche und Angst vor Frauen. Es gibt natürlich auch noch ein männliches Pendant dazu, die Androphobie. +Heterophobie ist nicht etwa das Gegenteil von Homophobie. Sie wird zum Teil als "die Angst vor dem anderen Geschlecht" bezeichnet, kann aber auch die Angst vor allem Andersartigen bedeuten. +Hydrophobie ist die krankhafte Scheu vor Wasser, die bei Menschen und zum Beispiel bei Tieren als Begleiterscheinung von Tollwut vorkommen kann. +Menschen mit Iatrophobie, der Angst vor Arztbesuchen, leiden lieber, als z einer Untersuchung zu gehen. Oft mit schwerwiegenden Folgen. +Judeophobie ist eng verwandt mit Antisemitismus und bezeichnet die Angst vor oder Ablehnung von allem Jüdischen. +Kleptophobie ist das Gegenstück zur Kleptomanie; die Angst, zu stehlen oder bestohlen zu werden. +Mysophobie ist die panische Angst davor, sich mit Viren oder Bakterien zu infizieren oder mit Schmutz in Kontakt zu kommen. +Nomophobie: Wortneuschöpfung, die für "no-mobile-phone-phobia" steht. Die Angst, nicht erreichbar zu sein über Handy. +Nyktophobie: krankhafte Angst vor der Dunkelheit und vor der Nacht, die mit dem Kon­trollverlust zusammenhängt, wenn man nichts mehr sieht. +Panophobie: krankhafte Furcht vor allen Vorgängen der Außenwelt, also Angst vor allem +Phonophobie: Sprechangst, krank­hafte Angst vor dem Sprechen bei Stotternden – oder auch krankhafte Angst vor Ge­räu­schen oder lauter Sprache. +Radiophobie oder auch Stra­hlen­angst ist die über­steigerte Angst vor radio­­aktiver Strahlung be­zie­hungs­weise deren negativen Folgen. +Situationsphobie ist eine krankhafte Angst, die nur in spezifischen Situationen auftritt, wie zum Beispiel Prüfungen, Lampenfieber vor Auftritten und so weiter. +Die Angst, als Scheintoter begraben zu werden, heißt Taphephobie. Auch Edgar Allan Poe, Fjodor Dostojewski und Alfred Nobel litten daran. +Urophobie: die Angst, zu einem unmöglichen Zeitpunkt Harndrang zu haben. +Auch für die krankhafte Angst vor Vergewaltigung existiert ein Fachwort: Virginitiphobie. Betroffene leben in ständiger Angst, vergewaltigt zu werden, und vermeiden jede Situation, die dazu führen könnte. +Als Xenophobie wird, ähnlich wie bei der Homophobie, Ab­lehnung oder Hass als Angst bezeichnet. Sie ist gleich­zusetzen mit Fremden­feind­lichkeit. +Marlene Roiser war Praktikantin bei fluter.de. Auch wenn sie sonst eher nicht so der ängstliche Tpy ist, hatte sie bei der Recherche Mühe, sich nicht selbst einige der Phobien zu attestieren. diff --git a/fluter/homemovie-vom-buergerkrieg.txt b/fluter/homemovie-vom-buergerkrieg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f99bcb555186a519a31116620ac8d366c363d540 --- /dev/null +++ b/fluter/homemovie-vom-buergerkrieg.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Eine wiederkehrende Erzählweise in den Dokumentarfilmen mehrerer Sektionen: Menschen, die ihre eigenen Flucht- und Migrationsgeschichten filmen. In "Les Sauteurs" (Forum) dokumentiert Abou Bakar Sidibé aus Mali, wie er versucht den Zaun zwischen Marokko und der spanischen Exklave Melilla zu überqueren – mit der Kamera, die ihm zwei europäische Dokumentarfilmer gegeben haben. In "Life on the Border" (Generation 14plus) haben Filmemacher Kinder und Jugendliche angeleitet, ihr Leben in den Flüchtlingslagern von Kobanê und Şingal filmisch festzuhalten. Und in "And-Ek Ghes..." (Forum) führt der Dokumentarfilmer Philip Scheffner, dessen zweiten Berlinale-Film "Havarie" wir schon besprochen haben, Co-Regie mit dem Sohn einer Roma-Familie, die von Rumänien nach Deutschland auswandert. +Es ist auffällig, dass diese Perspektive ganz andere Bilder hervorbringt, als wenn ein europäischer Filmemacher wie Gianfranco Rosi in seinem Lampedusa-Film "Fuocoammare" das Leid einer gefährlichen Mittelmeerüberquerung in Nahaufnahmen filmt. Rosi kommt schließlich mit dem sicheren Boot der Küstenwache an. +Der Syrer Avo Kaprealian dagegen sitzt mittendrin im Krieg. Sein Film "Houses without Doors" (Forum) ist eine Art Homemovie aus dem syrischen Bürgerkrieg. Er filmte zwischen 2012 und 2015 das Haus und die Straße seiner Eltern in Aleppo – unter großer Gefahr, denn das Assad-Regime verbietet es, Bilder des Bürgerkriegs zu machen. Die verstohlenen Blicke der Kamera unter dem Geländer des Balkons hindurch auf die Straße und auch die Gespräche mit dem Vater verraten das: "Nimm die Kamera weg! Überall ist jetzt Geheimpolizei." +Zunächst scheint das Leben in Aleppo noch halbwegs normal weiterzugehen. Man heiratet auf der Straße, während in der Ferne Detonationen zu hören sind. Später kommt der Bürgerkrieg unmittelbar in der Nachbarschaft an und zwingt Kaprealians Familie, sich im Libanon in Sicherheit zu bringen. Wie weit der normale Lebensalltag entfernt ist, bringt der Film mit Bildern aus dem eigenen Wohnzimmer auf den Punkt, wenn auf der Tonspur Schüsse zu hören sind, während im syrischen Fernsehen weiter Quiz-Shows laufen. + + +Die Bilder vom Balkon erinnern dabei stark an die erste Einstellung aus Harun Farockis Film "Videogramme einer Revolution" (1992), wo eine Kamera aus weiter Ferne einen Demonstrationszug gegen den rumänischen Diktator Ceaușescu filmt und es auf der Tonspur heißt: "Die Kamera ist gefährdet. Um aufnehmen zu können, ist sie oben geblieben. Aber sie geht so nah an das Ereignis heran, wie es das Objektiv erlaubt." +Für Farocki ist die Position der Kamera enorm bedeutsam – denn an ihr lässt sich auch eine politische Position ablesen. Und bei Farocki wie bei Kaprealian gilt: Das verbotene Filmen ist ein subversiver Akt, die Kamera wird gegen die Machthaber in Stellung gebracht, indem sie dokumentiert, was nicht dokumentiert werden darf. Und wie Farocki kontrastiert auch Kaprealian die "gefährdeten" Bilder mit der Selbstinszenierung des Machthabers, die er in der Montage zum Teil spöttisch verfremdet: Mit Zeitraffer lässt er Assad rückwärts durchs Spalier seiner Ehrengarde laufen und die Tür seines Palastes hinter sich schließen. + + +Bedeutsam ist auch die Entscheidung des Regisseurs, auf drastische Bilder der Gewalt zu verzichten. Es komme ihm pervers vor, im Angesicht bedrohter, verletzter oder toter Menschen zur Kamera zu greifen und möglichst intensive Bilder von diesem Elend zu machen, sagt Kaprealian im Zuschauergespräch nach der Vorführung. Die Gewalt ist aber auch so präsent genug in seinem Film: Auf der Tonebene, wo ständig Schüsse und Bombendetonationen zu hören sind, während der Wohnzimmeralltag irgendwie weitergeht; im Zeitvertreib der Kinder des Hauses, die den Bürgerkrieg mit Spielzeugwaffen nachahmen; und in der Rahmung des Films mit einem Prolog und einem Epilog, in dem Szenen aus dem surrealen Jodorowsky-Film "El Topo" (1970) zu sehen sind. +Die Suche nach symbolischen Bildern des Krieges soll dazu anregen, über die ethische Dimension von Gewaltbildern nachzudenken. Und genau das, ist Kaprealian überzeugt, erfüllt die Drastik der Nachrichtenbilder eben nicht. +"Houses without doors", Syrien / Libanon 2016, Regie: Avo Kaprealian, 90 Minuten +Weitere Vorführungen: +Mittwoch, 17.2., 13:30 Uhr (Cinemaxx 6), +Samstag, 20.2., 19.30 Uhr (Cinemaxx 4) diff --git a/fluter/hongkong-protestbewegung.txt b/fluter/hongkong-protestbewegung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..48f54918f1014253b3ec1d674b655e81ee86cdbb --- /dev/null +++ b/fluter/hongkong-protestbewegung.txt @@ -0,0 +1,34 @@ + +Joyce*, 42 Jahre, arbeitet als Marketingberaterin in Hongkong. Spätestens seit dem Inkrafttreten des nationalen Sicherheitsgesetzes im Juni 2020überlegt sie, ihre Heimat zu verlassen. +Während meiner Kindheit hatten wir die Königin Elizabeth auf den Briefmarken und in unseren Köpfen. Ich fühlte mich China in keiner Weise verbunden. Ich war früher nicht politisch interessiert. Das wurde uns in dem kolonialisierten Bildungssystem der Briten nicht beigebracht. Es lehrte, der Politik nicht zu viel Aufmerksamkeit zu schenken +Am 30. Juni 2020 verabschiedete der Nationale Volkskongress Chinas ein Sicherheitsgesetz für die Sonderverwaltungszone Hongkong. Noch am selben Tag trat es in Kraft. Damit reagierte China auf die Massenproteste in Hongkong gegen den wachsenden Einfluss Chinas. Das Gesetz bestraft "Abspaltung, Subversion, terroristische Aktivitäten und die Zusammenarbeit mit ausländischen Mächten zur Gefährdung der nationalen Sicherheit" und beschneidet die Autonomie der Sonderverwaltungszone. Im Extremfall droht für Vergehen lebenslange Haft. Strafbare Handlungen können dabei auch außerhalb Hongkongs, von Personen ohne festen Wohnsitz in Hongkong und ausländischen Staatsangehörigen begangen werden, also praktisch jeder Person weltweit, wenn sie sich im Zuständigkeitsbereich der chinesischen Justiz befindet. +Für die Umsetzung des Gesetzes gründete Peking neben einem Komitee zur Wahrung der Nationalen Sicherheit unter Aufsicht der Zentralregierung zusätzlich in Hongkong ein Sicherheitsbüro mit eigenem Strafverfolgungspersonal, für das Immunität gilt und das sich außerhalb der juristischen Zuständigkeit Hongkongs befindet. Lokale Gerichte können das Verhalten des Sicherheitsbüros also nicht überprüfen. Die Hongkonger Polizei richtete eine Abteilung ein, die ohne Haftbefehl Durchsuchungen oder Überwachungen durchführen kann und der auch Personal aus Festlandchina angehört. Verdächtige können nach Festlandchina gebracht und dort vor Gericht gestellt werden. Im Falle eines Konflikts mit Hongkonger Recht dominiert das Sicherheitsgesetz. Damit wird die Kontrolle durch die Hongkonger Justiz faktisch ausgehebelt. +Die Straftatbestände im Gesetz sind sehr vage formuliert. Dies wird von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International kritisiert, da es großen Spielraum für politisch motivierte Strafverfolgung bietet und freie Meinungsäußerung stark einschränkt. Bereits am Tag nach der Einführung wurden zahlreiche Menschen verhaftet. +International verurteilten vor allem westliche Staaten, darunter auch Deutschland, das Gesetz. Die Bundesregierung setzte die Auslieferung von per Haftbefehl gesuchten Verdächtigen nach Hongkong aus. Die Mehrzahl jedoch, meist wirtschaftlich von China abhängige Staaten, sieht das Gesetz als innere Angelegenheit an, in die es sich nicht einzumischen gilt. +Hongkong war ein glücklicher Ort. Wir haben Strände, wunderschöne Berge. Man kann wandern, schwimmen gehen, das Essen ist gut. Die Menschen sind sehr aufgeschlossen. Ich hatte hier immer ein Gefühl von Freiheit gespürt. Vieles davon empfinde ich bis heute. Doch wie lange können wir noch bleiben? Viele meiner Freunde und Familienmitglieder sind gegangen. Meist aus politischen Gründen. Auch mein Mann und ich diskutieren darüber, ob wir Hongkong verlassen sollten. Der Hauptgrund wären unsere zwei Kinder. Ich möchte nicht, dass sie in der Schule einer Gehirnwäsche unterzogen werden. Einige Lehrbücher wurden bereits umgeschrieben und zensiert. In Zukunft soll Patriotismus gelehrt werden, Lehrkräfte müssen der Regierung Treue schwören. Viele ausländische Lehrer, aber auch solche aus Hongkong gehen weg. +Während der ersten Demonstrationen 2014 hatte ich gerade meine Tochter bekommen. Manchmal saß ich nach der Arbeit mit den Studenten auf der Straße zusammen. Dann musste ich zu meinem Baby. Die Proteste waren ruhig. Lehrer kamen, um die jungen Protestler zu unterrichten. Aber die Regierung vertrieb sie zum Schluss mit Gewalt. Das spielte eine Rolle für die Proteste 2019, wo sich die Studenten schon vorher Taktiken überlegten, um sich gegen die Polizeiangriffe zu wehren. +Die Demonstranten nutzten ihre Telefone für Liveübertragungen. Ich sah jeden Abend, wie die jungen Menschen verprügelt wurden. Ich begann, selbst mehr an den Protesten teilzunehmen. Bei Nacht wurde es gefährlich. Dann brannten die Demonstranten Mülltonnen nieder und versuchten, die Polizei fernzuhalten. Irgendwann setzte diese tagsüber Wasserwerfer ein. Zwei Tränengasbehälter fielen einmal direkt neben meine Füße. Ich ließ mir die Augen reinigen und ging nach Hause. +Heute gibt es das Gesetz zur nationalen Sicherheit, das Hongkong für immer zerstören wird. Niemand weiß mehr genau, was legal, was illegal ist. Niemand wird je wieder protestieren. Diese Freiheit haben wir verloren. +Es ist schwer, heute noch Widerstand zu leisten. Doch es geht. Ich entscheide bewusst, wo ich mein Geld ausgebe: Unternehmen, die die Regierung und China unterstützen, meide ich. Es gibt Apps, in denen sie vermerkt sind. Das ist unsere kleine Rebellion. + + +Kacey Wong, 53 Jahre, setzte mit seiner Kunst während der Proteste ein Zeichen gegen die chinesische Regierung. Da er zuletzt nicht mehr das Gefühl hatte, sich frei ausleben zu können, floh er nach Taiwan. +Als der chinesische Künstler Ai Weiwei 2011 in Peking verhaftet wurde, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass wir auch in Hongkong die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks verlieren könnten. Mit anderen organisierte ich einen Protest. Wir forderten seine Freilassung. Für die Demonstration erschuf ich eine Figur aus Holz, Wolle und Leder namens "Grass Mud Horse", ein "Grasschlammpferd". Es war von einem Foto von Ai Weiwei inspiriert. Auf Rädern zogen wir es durch Hongkong, ich ritt auf ihm, hielt eine Rede. Es ist eines der wenigen Werke, die ich nun mitnach Taiwangenommen habe. +Die Proteste gaben mir die Gelegenheit, die Grenzen zu verschieben, wo man Kunst zeigen kann. Statt in einem Museum konnte ich den öffentlichen Raum nutzen. Der ist in Hongkong normalerweise streng kontrolliert. Während der Proteste wurde er frei nutzbar: Mein Körper und ich wurden zum Kunstwerk, die Straße zu meiner Galerie. Eine andere Installation war eine rote Gefängniszelle, die ich mitnahm. Ich selbst verkleidete mich als ein chinesischer Polizist, der alle anschrie und versuchte, sie in den Käfig zu sperren. Ich hatte das Gefühl, die Demonstranten zu ermächtigen. +Kacey Wong und das Grass Mud Horse +Auch 2019 ging ich mit den Studenten auf die Straße. Die Proteste waren viel gewalttätiger als zuvor. Ich verkleidete mich wieder als Polizist und sang mit den Demonstranten oder tarnte mich als Spartaner, um die jungen Demonstranten zu ermutigen. +Als die ersten Menschen nach der Einführung des nationalen Sicherheitsgesetzes verhaftet wurden, war das für mich der Warnschuss. Von nun an können sie jeden willkürlich verhaften. Ich packte meine Taschen und schloss meine Studios – ohne jemandem von meinem Plan zu erzählen, ins Exil nach Taiwan zu gehen. Das war sehr quälend. +Für mich steht fest, dass es eine Ausreise für immer ist. Es ist der einzige Weg, der mir garantiert, meine Kunst auszuleben, ohne mich einzuschränken. Wäre ich geblieben oder würde ich fest einplanen zurückzukehren, hätte ich einige Kunstwerke nicht kreieren oder Interviews nicht geben können. +Letztes Jahr habe ich in Taiwan Ausstellungen zu Hongkong veranstaltet. Noch immer sitzen dort viele im Gefängnis oder werden verfolgt. Ich habe sie nicht vergessen. Ich werde große Teile meiner Kunst weiterhin Hongkong und den Menschen widmen – in der Hoffnung auf ihre Freiheit. + + +Ray Wong, 29 Jahre, gründete 2015 in Hongkong eine Aktivistengruppe. Mehrmals wurde er verhaftet. Ihm drohten mehrere Jahre Haft. Heute lebt er im Exil in Göttingen. +Ich dachte früher nicht viel über die Freiheit, Demokratie und Menschenrechte nach. Der Bedeutung dieser Werte werden sich Menschen erst bewusst, wenn sie bedroht sind. Nach meinem Studium arbeitete ich als Innenarchitekt. Ich wollte Geld sparen und die Welt bereisen. 2014 brachen die Demonstrationen des "Umbrella Movement" aus, für freie Wahlen in Hongkong. Ich blieb, um mitzudemonstrieren. Dann wollte ich losziehen. So weit kam es nie. Ich hatte mich voll auf den Aktivismus eingelassen und gründete die Gruppe "Hong Kong Indigenous", die später zu einer politischen Partei wurde. Wir regten unter anderem die Diskussion an, ob Hongkong unabhängig werden könnte. +Im Verlauf der Demonstrationen änderte ich meine Meinung, welche Methoden im Protest angemessen sind. Ich sah nicht mehr, dass friedliche Mittel uns weiterbringen, da unsere Regierung nicht demokratisch gewählt ist und ihre Souveränität in Peking liegt. Ich plädierte für radikalere Wege. Wir mussten der Regierung zusätzliche Kosten aufbürden: durch das Besetzen von Straßen und Blockieren des Parlaments, durch eine direkte Konfrontation mit der Polizei. +Ray Wong in der Uni in Göttingen +Natürlich gerieten wir ins Visier der Regierung. Sechsmal wurde ich verhaftet. Das letzte Mal im Februar 2016. Ich wurde wegen Anstiftung zum Aufruhr angeklagt. Die Höchststrafe betrug zehn Jahre. Ich wurde auf Kaution freigelassen, das Gerichtsverfahren sollte zwei Jahre später beginnen. Dass ich keinen fairen Prozess bekommen würde, stand für mich fest. Ich beschloss zu fliehen. Im November 2017 ließ ich mich von einer deutschen Organisation zu einer Konferenz einladen. Dafür durfte ich, trotz meiner Auflagen, das Land verlassen. In Deutschland angekommen, bat ich um Asyl. Ich wurde als politischer Flüchtling anerkannt. Der Verteilungsschlüssel brachte mich nach Göttingen. Hier studiere ich heute Politik. +Während der Proteste 2019 fühlte ich mich schrecklich nutzlos. Viele kämpften in Hongkong jeden Tag mit der Polizei. Und ich saß in dieser kleinen, friedlichen deutschen Stadt. Ein Leben in einer Parallelwelt. Das Einzige, was ich aus Deutschland tun konnte, war mit den Medien und der Politik über die Situation in Hongkong zu sprechen. Das mache ich bis heute. +Unter den 47 Menschen, die heute vor Gericht stehen, sind viele meiner Freunde. Das Ganze ist eine politische Show der Kommunistischen Partei Chinas, um zu zeigen: Wer in Hongkong gegen die Parteilinie verstößt, bekommt das zu spüren. Gleichzeitig werden sie, so meine Vermutung, am Ende wenige freilassen, um den Schein zu erwecken, dass es noch ein funktionierendes Justizsystem gibt. +Trotz allem habe ich Hoffnung, dass ich einmal in ein freies und demokratisches Hongkong zurückkehre. Den Fall der Mauer hat schließlich auch niemand kommen sehen. + +* Name von der Redaktion geändert diff --git a/fluter/hoop-dreams-college-basketball-usa.txt b/fluter/hoop-dreams-college-basketball-usa.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..96158888fc3c7ea417314022d6810872f0baac84 --- /dev/null +++ b/fluter/hoop-dreams-college-basketball-usa.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Zwei mögliche Auswege: Musik oder Sport. Als großes Vorbild und Beweis, dass es jemand von ganz unten nach ganz oben schaffen kann, gilt landesweit Jimmy Butler aus dem Bundesstaat Texas. Sein Vater verließ die Familie, als Jimmy ein Kleinkind war. Im Alter von 13 Jahren hörte er von seiner Mutter einen Satz, der ihn geprägt hat: "Ich kann deinen Anblick nicht mehr ertragen – hau ab!" +Seine Therapie gegen den Schmerz und letztlich der Ausweg: Basketball. Aufgrund seines sportlichen Talents schaffte es Butler an ein College und schließlich an die Marquette, die größte private Universität in Wisconsin, die sämtliche Studiengebühren übernahm. Mittlerweile spielt Butler in der NBA bei Miami Heat. Sein Gehalt in der vergangenen Saison: 37,7 Millionen Dollar. Seine Beziehung zu den Eltern? "Ich bin niemandem böse. Wir lieben einander, daran wird sich nie was ändern." +Der Großteil der sportlichen Nachwuchsförderung in den USA findet an Schulen statt, die besten Teams von ihnen sind bekannt wie Profivereine. In Los Angeles ist es zum Beispiel die Sierra Canyon School, die unter anderem die Basketballprofis Kenyon Martin Jr., Brandon Boston Jr. und Ziaire Williams besuchten. Im aktuellen Schul-Basketballteam spielen unter anderem die Söhne von LeBron James. +Die Aufmerksamkeit für die Promikinder hilft auch denen, die keine berühmten Eltern haben – wie zum Beispiel Amari Bailey. Der 19-Jährige wuchs in Chicago bei seiner alleinerziehenden Mutter auf, zog mit 14 zum Basketballspielen nach LA und besuchte dort die Sierra Canyon School. Seit 2022 spielt er an der Prestige-Uni UCLA und hofft bei der NBA-Talentbörse Ende Juni, dass ihn ein Team aus der ersten Liga auswählt. +Organisiert wird der Unisport von der gemeinnützigen Non-Profit-Organisation NCAA, die die finanzielle Unterstützung für sportliche Studenten kontrolliert. Im Basketball etwa sind es 13 Vollzeitstipendien pro College, die auf die Akteure verteilt werden dürfen. Die NCAA nahm 2022 über TV-Rechte, Marketingrechte und Lizenzgebühren rund 10,6 Milliarden Dollar ein. +Die Colleges ziehen einen erheblichen Teil ihrer Beliebtheit (und damit Bewerbungen von Schülern) aus der Qualität ihrer Teams. Es ist Big Business, das sich bestenfalls sowohl für die Akteure als auch für die Colleges lohnt. Unis buhlen um die besten Sportler. Auch wenn bei den Frauenteams weniger verdient wird, für sie gibt es die gleichen Angebote, beim Basketball sogar mehr Stipendien als für Männer – und mit Hockey sogar einen Sport, für den nur Frauen Stipendien bekommen. +Etwa zehn Millionen Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 17 Jahren spielen in den USA Basketball in organisierter Form. In die NBA schaffen es nur die wenigsten, sie sind, wie man so sagt: "one in a million". Aber man muss auch gar nicht in der NBA landen und Millionen verdienen, um durch den Sport ein besseres Leben zu finden, als es viele junge Menschen in den etlichen sozialen Brennpunkten führen. Das Basketballspiel kann auch ohne Profilaufbahn ein Ausweg aus der Armut sein. Womit wir wieder bei Christopher Partida wären. +"Ich habe als Grundschulkind bemerkt, dass ich ein Basketballgenie bin", sagt Partida. Und als Genie hat er natürlich auch gemerkt, dass sein Talent für eine NBA-Karriere nicht reicht, für ein Stipendium an einer Highschool und danach womöglich an einer Universität aber durchaus. Und das ist schon verdammt viel wert, denn die Kosten für die Ausbildung an renommierten Highschools und Unis können sich inklusive Miete und Unterrichtsmaterial bis zum College-Abschluss schon mal auf eine halbe Million Dollar summieren. "Wir haben gegen die beste Schule in LA gespielt, ich habe einen Korb geschafft und meinen Eltern stolz davon berichtet", erinnert er sich. "Die Reaktion meines Vaters: ‚Das ist großartig, aber wie sieht es mit dem Abschluss aus?'" +Mittlerweile hat er nicht nur den in der Tasche, Partida steht kurz vor seinem Master. Zudem ist er Co-Trainer an der University of Saint Katherine. "Mein Traum: Professor an einem kleineren College und nebenbei Trainer des Basketballteams." Sport ist für Partida wie für viele mit einer ähnlichen Biografie nicht nur Ausweg, sondern Weg, nicht nur Beruf, sondern Berufung. "Ich bin nun der Ansprechpartner für viele Jungs, weil sie wissen, dass ich mal in der gleichen Lage gewesen bin wie sie: ein Bursche aus einer bescheidenen Immigrantenfamilie. Damit können sie sich identifizieren, und ich habe die Chance, das Leben dieser Jungs zu prägen." +Denn auch das ist Teil des Systems: Basketball begleitet einen möglichst ein Leben lang, und jeder trägt nach seinen Möglichkeiten einen Teil dazu bei, dass auch andere davon profitieren. So engagieren sich viele NBA-Profis auch außerhalb des Spielfelds: Jimmy Butler etwa kümmert sich um die Ernährung an Schulen und spendet regelmäßig für gemeinnützige Zwecke. LeBron James hat im Bundesstaat Ohio, wo er aufgewachsen ist, eine komplette Schule für die Jahrgangsstufen drei bis acht aufgebaut, die er dauerhaft unterstützt. Und Partida ist Trainer und Mentor für Teenager und will das bis zum Ende seines Lebens bleiben – oder wie er sagt: "Basketball is life!" + +Dieser Text ist in fluter Nr. 87 "Spiele" erschienen.Das ganze Heftfindet ihr hier. + +Titelbild: John Marshall Mantel/ZUMAPRESS.com/picture alliance diff --git a/fluter/hosgeldiniz.txt b/fluter/hosgeldiniz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5f23abd81dc762f3cf0fbdbd909034d59182fd3a --- /dev/null +++ b/fluter/hosgeldiniz.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Für Syrer, die von der türkischen Regierung offiziell als Gäste bezeichnet werden, gibt es, anders als für Flüchtlinge aus anderen Ländern wie etwa dem Irak, theoretisch keine Restriktionen. Sie dürfen sich überall im Land niederlassen und kostenlos staatliche Krankenhäuser nutzen. Wer sich registrieren lässt und damit einen sicheren Aufenthaltstitel erhält, soll demnächst problemlos eine Arbeitsgenehmigung bekommen. +Natürlich reichen die Container- und Zeltstädte für all die Menschen nicht aus, der Großteil der Flüchtlinge muss bei Verwandten unterkommen, sucht sich auf eigene Faust eine Wohnung, manche leben auf der Straße. Zuweilen sitzen ganze Familien in Istanbul auf den Fußwegen, betteln oder verkaufen Wasserflaschen. Andere leben in Abbruchhäusern oder campieren in öffentlichen Parks. +Die meisten Syrer versuchen, sich entweder in Istanbul oder einer der großen Städte im Südosten durchzuschlagen. Im südtürkischen Gaziantep mit 1,9 Millionen Einwohnern ist jeder zehnte Einwohner mittlerweile ein Syrer. "Natürlich haben wir Probleme hier", sagt Nursal Çakıro lu, der Vizegouverneur der Provinz. "Aber insgesamt kommen wir doch ziemlich gut zurecht." Von der "Politik der offenen Arme" spricht man in der Türkei – überall im Land hängen Plakate der Regierung, die dazu aufrufen, den "muslimischen Brüdern und Schwestern" zu helfen. Es geht wohl nicht nur um Nächstenliebe, mit derlei Appellen bedient die islamische Regierungspartei AKP auch ihre gläubige Wählerschaft. +Einst verband Präsident Erdogan und den syrischen Diktator Assad sogar eine Männerfreundschaft, aber das ist vorbei. Als der Bürgerkrieg anfing und für türkische Unternehmen in Anatolien wichtige Wirtschaftswege in Syrien wegbrachen, musste sich die Türkei außenpolitisch entscheiden – das hat sie, und zwar gegen Assad. "Die türkische Regierung bemüht sich auf aufrichtige Weise, den entkommenen Syrern zu helfen", lobt auch Hisham Marwah, Mitglied der syrischen Exilopposition in Istanbul. +Doch nicht alle Türken sind mit der Politik der offenen Arme zufrieden: Weil die Syrer um Arbeitsplätze konkurrieren und mancherorts die Mietpreise hochtreiben, schlägt den Flüchtlingen gelegentlich Ablehnung oder sogar Wut entgegen. Nach einer Untersuchung der Hacettepe-Universität in Ankara glauben 56 Prozent der Türken, dass die Syrer ihnen die Arbeit wegnehmen. Im November wurde syrischen Flüchtlingen im Badeort Antalya das Bleiberecht verwehrt. Menschen ohne gültige Papiere sollten die Küstenstadt innerhalb von zwei Wochen verlassen. +Zudem kämpft das Land mit hohen Lebenshaltungskosten und dem Verfall der heimischen Währung. Dennoch hat die Türkei laut Präsident Erdogan bislang für die Versorgung der syrischen Flüchtlinge umgerechnet fünf Milliarden Euro aufgewendet. "Die westlichen Staaten, die nach eigenen Angaben viel reicher sind als wir, überlassen die Flüchtlinge dem Tod im Meer", kritisierte Erdogan und fordert von den europäischen Ländern mehr Unterstützung für die Bürgerkriegsflüchtlinge. +Dass die Türkei in Zukunft nicht unbedingt bereit sein wird, noch wesentlich mehr Flüchtlinge ins Land zu lassen, zeigte sich bei einem Vorfall in der Nähe der syrischen Grenzstadt Tall Abyad. Als dort Mitte Juni Tausende Syrer über den Grenzzaun in die Türkei wollten, wurden sie von türkischen Soldaten mit Wasserwerfern und Warnschüssen zunächst daran gehindert. Möglicherweise ist selbst die Gastfreundschaft der türkischen Regierung irgendwann erschöpft. +(*Hoşgeldiniz ist Türkisch und heißt: Willkommen. Gesprochen: Hosch- Gell-di-nisss) diff --git a/fluter/how-to-sell-drugs-online-fast-titze-interview-netflix.txt b/fluter/how-to-sell-drugs-online-fast-titze-interview-netflix.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..97e6741b5cf69b690f32e2ed7ed71f7a21bfa484 --- /dev/null +++ b/fluter/how-to-sell-drugs-online-fast-titze-interview-netflix.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Stefan Titze: Es war einfach nicht mehr so ein zentraler Punkt. In der ersten Staffel war es noch wichtiger, diesen Konsumentenkosmos zu zeigen. Aber generell geht es in der Serie ja nicht in erster Linie um Drogen. Wir wollten Moritz' Geschichte erzählen, wie er langsam immer mehr aus egoistischen und kapitalistischen Gründen handelt als aus freundschaftlichen oder moralischen. +Aber es geht ja schon um den Onlineshop für Drogen, den Moritz aufbaut, und die erste Staffel hat durchaus suggeriert, dass Drogen heute zum Jungsein dazugehören. Es gab sogar die Kritik, eure Serie würde Drogen verherrlichen. Würdest du rückblickend etwas anders machen? +Ich finde nicht, dass unsere Serie Drogen verherrlicht. Ich finde es aber auch nicht sinnvoll, eine Serie mit erhobenem Zeigefinger zu schreiben. Dafür ist das Thema zu komplex. In der Serie gibt es viele Storylines und Charaktere mit unterschiedlichen Blickwinkeln. Ich bin sicher, dass diese clevere, reflektierte Generation, die ja auch für die richtigen Dinge auf die Straße geht, ihre eigenen Schlüsse ziehen kann. Darum würden wir die Serie wieder so machen. Ich glaube nicht, dass wir die Erziehungsberechtigten unseres Publikums sind. + +Die zweite Staffel von "How to Sell Drugs Online (Fast)" läuft seit 21. Juli auf Netflix + + +Ging es dir trotzdem darum aufzuklären? +Auf jeden Fall. Ich selbst zum Beispiel wusste vor der Serie nichts über Ecstasy. Alle sprechen über Alkohol, machen ihre Erfahrung damit. Niemand spricht über andere Drogen. Dabei hat ja auch Alkohol ganz furchtbare Nebenwirkungen. Wir im Autorenteam hatten alle keine Drogenerfahrungen. Deswegen gab es in der ersten Staffel diese großen Erklärsequenzen, zum Beispiel mit Ulrike Folkerts als Schwimmlehrerin, die die Wirkung von MDMA erklärt. Auf diese Weise konnten wir unterhaltsam alles über die Droge erzählen, ohne in der Story zu "erklärig" zu werden. +Wenn Fernsehsender versuchen, junge Lebenswelten abzubilden, kann das oft peinlich wirken. Musstest du mit deinen 25 Jahren viel recherchieren? +Wir mussten eine Menge recherchieren! Ich weiß gar nicht, wie sehr mir mein Alter geholfen hat, außer dass für mich digitale Kommunikation immer genauso wichtig war wie ein analoges Gespräch. Die sind in unserer Serie ja auch quasi gleichwertig. Ansonsten habe ich mich aber wie ein alter Onkel gefühlt, der cool bleiben will und der Jugend hinterherläuft, aber nicht mehr genau versteht, worüber die gerade redet. Versteht jemand TikTok? Ich nicht. +Akkurat recherchiert habt ihr auch die technischen Details, die man braucht, um einen Drogen-Onlineshop zu programmieren oder das Handy der Freundin zu hacken. +Aus meiner Fernseherfahrung kenne ich Hacker immer als kapuzen- und brillentragende Gestalten, die im Keller sitzen, und vor ihnen öffnet sich dann die Matrix. Wenn man gehackt wird, dann – normalerweise – nicht mit einem Gerät, das jemand ansteckt und mit dem er dann das Passwort knackt wie in einem Tom-Cruise-Film. Der Grund ist meistens, dass man auf eine Spam- oder Drohmail reagiert hat. Cyber Security ist ein total wichtiges Thema, das im Fernsehen oder im Kino nur selten realistisch beleuchtet wird. So faul wollen wir nicht sein. Alles, was wir erzählen, gibt es so, auch Lennys selbst programmierte App, die regelmäßig ein Keepalive-Signal an einen Server schickt. Wenn das abbricht, löscht sich der Server selbst. +In der ersten Staffel waren die Mädchen vor allemlove interests, also Objekte der Begierde der Jungs. In der zweiten habt ihr die Hackerin Kira eingeführt. Habt ihr damit auch auf Kritik reagiert? +Das war vor allem unser eigener Wunsch. In der ersten Staffel waren wir am Ende auch nicht zufrieden damit, dass Frauen häufig love interests waren oder über Jungs redeten. Wobei es ja da auch schon komplexere Probleme gab: Lisa zum Beispiel kommt aus dem Ausland zurück und versucht, wieder den Anschluss zu finden, unabhängig von Jungs. +Wie ist Kira, die Neue, so? +Sie ist weniger behütet aufgewachsen als die anderen Protagonisten, sie ist unabhängig, energetisch, laut, bunt. Ich mag zum Beispiel die Szene, in der sie einen Geschäftsmann über seine Laptop-Kamera beim Masturbieren filmt und ihn damit erpresst – übrigens sehr authentisches Hacking. Niemals im Hotel-Wi-Fi Pornos gucken! In ihrer Figur liegt eine große Sprengkraft. Es ist toll, wie sie natürlich auch durchLena Urzendowskyzu einer Figur wurde, die Genderklischees aufbricht. Es ist toll, wie sie keinen Vorstellungen entsprechen will. Sie ist so bei sich. Das finde ich inspirierend. Und hoffentlich ist es das auch für unsere jungen Zuschauer. + + +In der Schule schrieb Stefan Titze, 25, Glossen für die "Westfälische Rundschau". Direkt nach dem Abitur, neben dem Journalismus-Studium, arbeitete er als Autor für Jan Böhmermanns "Neo Magazin Royale" und die Sketch-Comedyshow "Gute Arbeit Originals". Für die erste Staffel der Netflix-Serie "How to Sell Drugs Online (Fast)", die er mitkonzipiert und -geschrieben hat, wird er im August mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Außerdem moderiert er mit seinem Kollegen Florentin Will den Comedy-Podcast "Das Podcast Ufo". diff --git a/fluter/humankapital.txt b/fluter/humankapital.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/hunger-im-ueberfluss.txt b/fluter/hunger-im-ueberfluss.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..96c57dbbeff1113fdfaa09a6fab954f8639f0c11 --- /dev/null +++ b/fluter/hunger-im-ueberfluss.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Die am wenigsten entwickelten Länder sind heute mehr und mehr von Lebensmittelimporten abhängig. 2005 und 2006 war in elf Subsahara-Ländern bereits über die Hälfte des Getreides Importware. In diesen Ländern sind Kleinbauern für einen besonders großen Teil der Nahrungsmittelproduktion verantwortlich. +Die Nahrungskrise 2008 zeigte, wie gefährlich eine Abhängigkeit vom Nahrungsweltmarkt samt seiner Preisschwankungen sein kann: Zwischenzeitlich stiegen die Preise für Grundnahrungsmittel wie Getreide, Reis oder Mais um bis zu 100 Prozent – zu teuer für den ärmsten Teil der Weltbevölkerung. Die Zahl der Hungernden stieg drastisch. +Wissenschaftler und auch Politiker in den besonders stark betroffenen Ländern sprechen heute vermehrt von 'Ernährungssouveränität', als Mittel zur Bekämpfung von Hunger. "Die Forderung nach globaler Ertragssteigerung ist zu simpel. Menschen müssen in die Lage versetzt werden, ihre eigene Nahrung zu produzieren", so Johannes Kotschi. Ein Land soll seine Bevölkerung mit der eigenen Landwirtschaft – zumindest zu einem großen Teil – selbst versorgen können. +In vielen Ländern wird nun wie schon in den letzten Jahrzehnten versucht, durch noch intensivere industrielle Landwirtschaft mehr Nahrung zu erzeugen. "Bisherige Strategien zur Steigerung der Nahrungsmittelproduktion haben mit zunehmend mehr Agrarchemie – also synthetischen Düngern und Pestiziden – gearbeitet. Kritisch daran ist einerseits die Überlastung der Ökosysteme, andererseits aber auch die Frage der wirtschaftlichen Effizienz. So konnte zwar die globale Getreideproduktion innerhalb von 50 Jahren verdreifacht werden, der Einsatz von synthetischem Stickstoff hat sich jedoch gleichzeitig verachtfacht", so Kotschi. Eine Steigerung der Produktion im industriellen Bereich erweist sich nicht nur als schwerwiegende Belastung für die Umwelt, sondern auch als unverhältnismäßig teuer. +Prof. Theo Rauch von der FU Berlin sagt hierzu: "Kleinbauern haben das Potenzial, wesentlich mehr Nahrung zu erzeugen, als sie es heute tun. Sicherlich nicht allerorts – es gibt Gebiete, die heute schon von Bodenknappheit betroffen sind. In vielen Regionen gibt es jedoch noch ungenutzte Ressourcen für Kleinbauern in großen Mengen." +Warum also steht bisher eine Zunahme der Produktion von Kleinbauern aus und weshalb bleiben vorhandene Ressourcen ungenutzt? Die Antwort ist schlicht: Kleinbäuerliche Landwirtschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten wegen zu niedriger Erzeugerpreise als unrentabel erwiesen. +Hinzu kamen schlechte Vermarktungsbedingungen. In abgelegenen ländlichen Gebieten vieler Entwicklungsländer macht die fehlende Infrastruktur einen gewinnbringenden Absatz der Ernte für Kleinbauern schwer bis unmöglich. "Die Bauern können die Ernte alleine nicht zum Verkauf in die nächste Kleinstadt bringen. Der Zwischenhändler, der den Transport übernimmt – in vielen Orten gibt es davon nicht mehr als einen – bezahlt jedoch wenig", sagt Theo Rauch. "Außerdem verkaufen die Kleinbauern all ihre überschüssige Ernte auf einmal und zur selben Zeit, direkt nach der Ernte. Damit sinken die Preise mitunter auf ein Drittel, in Extremfällen bis auf ein Sechstel von dem, was in den 'Hungermonaten' vor der Ernte gezahlt werden muss." +Der Grund dafür seien, so Rauch, einerseits fehlende Lagerungsmöglichkeiten, andererseits Schulden aus der Zeit vor der Ernte. Die Bauern sind oft zum sofortigen Verkauf gezwungen. Theo Rauch ergänzt: "Haben die Kleinbauern jedoch den Großteil ihrer Ernte verkauft, sind sie für ihre eigene Versorgung vom Zukauf abhängig, verschulden sich erneut und haben mitunter in den Monaten vor der Ernte nicht mehr als eine Mahlzeit am Tag auf dem Teller. Daher die hohe Zahl hungernder Bauern. An Ersparnisse, um in eine Ausweitung der Produktion zu investieren, ist da gar nicht zu denken." +Wieso wird den Kleinbauern an dieser Stelle nicht mehr von der Entwicklungszusammenarbeit unter die Arme gegriffen? Rauch antwortet: "Ich habe in den achziger Jahren selbst in Programmen zur Förderung kleinbäuerlicher Landwirtschaft gearbeitet. Damals war das gerade ein großes Thema. Wir haben jedoch schnell eingesehen, dass eine Produktionssteigerung in dem Bereich uns angesichts der Weltmarktbedingungen zu dieser Zeit nicht weiter brachte. Die Preise für landwirtschaftliche Produkte waren damals einfach zu niedrig. Ich erinnere mich an ein Treffen mit einer Gruppe von Kleinbauern im entlegenen Südwesten Tansanias. Ich fragte sie damals: 'Was tut ihr um eure Situation zu verbessern?'. Sie antworteten mir: 'Wir beten.' Ich fragte sie: 'Für Regen?' – 'Nein, für eine Hungersnot in unserm Nachbarland Sambia. Nur wenn dort zu wenig produziert wird, haben wir eine Chance, unsere Überschüsse los zu werden. In unserer Hauptstadt Daressalam essen die Leute heute nur den billigen amerikanischen Mais.' Der Absatz von kleinbäuerlichen Produkten war angesichts der niedrigen Preise stark subventionierter Nahrungsmittel aus Industrienationen zu dieser Zeit sehr schwierig." Nicht zuletzt deshalb war die Kleinbauernförderung damals zu wenig erfolgreich. Die Mittel dafür wurden folglich stark gesenkt. 1990 standen etwa 20 bis 25 Prozent der Gelder der deutschen Entwicklungszusammenarbeit für die Landwirtschaft zur Verfügung. 2007 waren es nur noch etwa fünf Prozent. +Niedrige Preise – das war vor einigen Jahren. Aktuell aber steigt die Nachfrage nach vielen landwirtschaftlichen Produkten enorm. Biosprit-vernarrte Europäer, fleischhungrige Asiaten und eine insgesamt wachsende Weltbevölkerung leisten ihren Teil. Die Preise für viele Agrarprodukte sind höher als vorher. Beste Bedingungen für einen Aufschwung im kleinbäuerlichen Sektor, oder nicht? +Die Situation angesichts der gestiegenen Preise droht aktuell jedoch, sich weniger als Chance, sondern vielmehr als Risiko für viele Kleinbauern in den Entwicklungsländern zu erweisen. +Der Grund ist einfach: Die junge Landbevölkerung der Entwicklungsländer ist in den letzten Jahrzehnten in die Städte gewandert, damit ist Arbeitskraft, damit sind aber auch viele der vererbten Kenntnisse für die Landwirtschaft verloren gegangen. Die Regierungen vieler Entwicklungsländer haben dem landwirtschaftlichen Sektor wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Jetzt, angesichts verbesserter Marktbedingungen, fehlen Kapazitäten, um darauf zu reagieren. +Die Politik hierzulande reagiert gleichermaßen langsam mit entsprechenden Förderprogrammen für Kleinbauern. Kein Wunder, hier wurde schließlich in den letzten Jahren stetig zurück geschraubt: Die Anzahl des mit ländlicher Entwicklung befassten Personals der GIZ (Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit), ehemals GTZ (Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit), ist beispielsweise auf etwa ein Fünftel der Beschäftigtenzahl der 1980er Jahre gesunken. +Diese Lücke füllen im Moment Investoren, die in großer Menge Anbauflächen in Entwicklungsländern kaufen. Nicht so schlimm, Hauptsache ist, es wird mehr Nahrung produziert? Ein trügerischer Schluss, denn ein Großteil der Investoren stammt selbst aus Ländern mit einem Nahrungsdefizit – hohe Exportquoten der Nahrungsmittelproduktion sind also zu erwarten. +Die Abhängigkeit der Entwicklungsländer vom Nahrungsmittelweltmarkt könnte somit in den kommenden Jahren sogar weiterhin steigen. Außerdem werden Kleinbauern mehr und mehr von den Ressourcen verdrängt – ein großer Bevölkerungsteil der Entwicklungsländer könnte dadurch langfristig seine Versorgungs- und Einkommensmöglichkeit verlieren. Verschiedene Initiativen fordern daher einerseits zwingende Quoten für einen Absatz der Nahrungsmittel auf dem Binnenmarkt und andererseits Mindestflächen von Ackerland für eine Selbstversorgung der Kleinbauern. +"Letztlich ist die Frage der Nahrungssicherheit für den Einzelnen vor allem eine Frage der Einkommenssicherheit", sagt Theo Rauch. Kleinbauern könnten sich selbst an mancher Stelle gut helfen: "Zuerst lohnt es sich, Abstand vom Prinzip der Selbstversorgung durch vornehmlichen Anbau von Grundnahrungsmitteln zu nehmen. In Nepal konnte beispielsweise eine Gruppe von Kleinbäuerinnen durch den Anbau von standortangepassten Marktfrüchten, wie Erdnüssen und Bohnen, mit einer Ackerfläche von 1/10 Hektar ein Einkommen für Grundnahrungsmittel von einer Fläche von ½ Hektar erwirtschaften. Das war sinnvoller für sie, als mit enormen Düngermengen den Ertrag beispielsweise einer Maisernte zu erhöhen." +Die Einkommen von Kleinbauern ließen sich nach Rauch außerdem mit einer besseren Abstimmung der Bauern untereinander stark anheben. "Wenn sie als Gruppe gemeinsam auf dem Markt auftreten, können viele Kleinbauern ihre Gewinne deutlich steigern. Zusammen können sie die überschüssige Ernte lagern und Ersparnisse sammeln, um den Verkauf der Ernte zeitlich zu strecken. Die drastischen Preissenkungen durch ein temporäres Überangebot werden dadurch verhindert. Gemeinsam können Kleinbauern sogar einen LKW mieten und so die Ernte selbstständig in die nächste Kleinstadt schaffen." +Nina Salzer studiert in Dresden Internationale Beziehungen und schreibt für Zeitungen und Magazine. diff --git a/fluter/hunger.txt b/fluter/hunger.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ad9c5c796c2676b77875929267878b8fd68961f5 --- /dev/null +++ b/fluter/hunger.txt @@ -0,0 +1 @@ +Moderation & Schnitt: Paul HofmannRedaktion: Luise Checchin und Paul HofmannSound: Max LangeCover: Jan Q. Maschinski diff --git a/fluter/hungernde-herzen.txt b/fluter/hungernde-herzen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e719b40edcd3c6bf99f7bb13a2cdc8d6442c591b --- /dev/null +++ b/fluter/hungernde-herzen.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Die Werbung umgibt uns mit Bildern, die sinnliches Vergnügen darstellen sollen: Von den Spots für Kräuteressenzen bis hin zur kultigen Kampagne zum 40. Geburtstag eines Schokoriegels von Cadbury werden uns die Gesichter von weißen Frauen präsentiert, die Lust simulieren und sich mit leicht geöffneten Lippen und elegant geschlossenen Augen abwenden, als ob die orgasmische Wirkung des fraglichen Produktes X sie beschämen würde. +Aber bei diesem Bild stimmt etwas nicht. Ein aktueller und sehr gelungener Akt von Gegenkultur im ursprünglichsten Sinne ist die Webseite "Beautiful Agony", ein Gruppenprojekt, bei dem anonyme Teilnehmer kurze Videoaufnahmen ihrer Gesichter beim Orgasmus ins Netz stellen. Wenn man dem haarigen Motorradfreak aus Australien und den coolen Ladys mittleren Alters beim Knurren, Schnaufen und Grimassieren zusieht, was durchaus an brünstige Schimpansen erinnert, wird einem klar, wie groß die Lüge ist, die von der merkantilen Erotik am Leben erhalten wird. All diese Videoclips, von denen jeden Monat Hunderte ins Netz gestellt werden, haben eine Sache gemeinsam: Sie animieren den Betrachter in keinster Weise dazu, in den nächsten Laden zu eilen, um Schokolade zu kaufen. +Laurie Penny, 25, ist Journalistin, Bloggerin und laut Selbstauskunft Feministin und Unruhestifterin. Sie lebt in London, trinkt viel Tee und hat das Rauchen immer noch nicht aufgegeben. Sie schreibt regelmäßig für die renommierte englische Tageszeitung "The Guardian" und betreibt das politische Blog www.penny-red.com. In Deutschland ist ihr Buch "Fleischmarkt: Weibliche Körper im Kapitalismus" bei der Edition Nautilus erschienen diff --git a/fluter/hust-keuch-roechel.txt b/fluter/hust-keuch-roechel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..441cd6c484071079ba9d929cd0a49bb05019fba0 --- /dev/null +++ b/fluter/hust-keuch-roechel.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Mittlerweile leben in Deutschland mehr als 380.000 Menschen in Gebieten, in denen die Grenzwerte für gesundheitsschädigende Stickoxide überschritten werden. Für sie sind die gesundheitlichen Risiken besonders hoch. Experten der Weltgesundheitsorganisation WHO schätzen außerdem, dass jährlich etwa 3,7 Millionen Menschen durch die Folgen des Feinstaubs sterben, 47.000 laut Umweltbundesamt davon in Deutschland. Als Feinstaub-Obergrenze gelten in der EU ein Jahresmittelwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter und ein Tagesgrenzwert von 50 Mikrogramm. Letzterer darf an maximal 35 Tagen pro Jahr überschritten werden. Gerade in Großstädten passiert das häufig – im Jahr 2013 in Stuttgart sogar ganze 91-mal. Ein wichtiger Grund dafür ist der dichte Stadtverkehr. +"Natürlich sind die modernen Antriebssysteme sparsamer, schadstoffärmer und klimafreundlicher geworden. Doch der Trend zu größeren und PS-starken Autos und die weltweite Zunahme des Straßenverkehrs heben diesen Fortschritt wieder auf", erklärt Felix Creutzig, Verkehrsforscher am Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change in Berlin. Außerdem sind auf den Straßen längst nicht nur "saubere" Modelle unterwegs. Ein durchschnittliches Auto fährt in Deutschland neun Jahre – bis sich neue Abgasnormen und saubere Antriebe auf den Straßen etabliert haben, vergeht also viel Zeit. +Das belastet Autofahrer übrigens nicht im selben Maß wie Radfahrer. Wie Wissenschaftler aus den Niederlanden festgestellt haben, ist zwar die Luft im Auto schlechter als auf der Straße, dafür atmen Radler durch die körperliche Anstrengung schneller und tiefer. Mehr als doppelt so viel Luft atmen sie ein, außerdem sind sie auf gleicher Strecke den Abgasen der Autos länger ausgesetzt. Das schmälert die positiven gesundheitlichen Effekte des Radfahrens deutlich. +An diesem grundsätzlichen Problem ändern wohl auch strengere Abgasnormen und die Schadensbegrenzungen im VW-Skandal wenig. Schon allein über den Umstand, dass die VW-Fahrzeuge deutlich mehr Schadstoffe ausstoßen, als auf den Prüfständen festgestellt wurde, wundern sich Experten wie Creutzig wenig. "Die Grenzwerte aus dem Labor sind ohnehin kaum aussagekräftig", so der Verkehrsforscher. Auch das Umweltbundesamt weist bereits seit Ende der 90er-Jahre darauf hin, dass in Deutschland die realen Schadstoffemissionen drei- bis viermal höher seien als die offiziellen Typ-Prüfwerte, die auf dem Rollenprüfstand ermittelt werden. Grund dafür sind die genormten Messungen: Wer langsam und konstant fährt, macht es dem Katalysator leicht, die Abgase zu reinigen. In Beschleunigungsphasen kommt es dagegen zu stärkeren Emissionen. Ein Umstand, den heutige Tests kaum berücksichtigen. +Die EU hat diese Lücke nun immerhin ein wenig geschlossen. Ab September 2017 sollen die Grenzwerte für alle neuen Modelle etwas realitätsnäher getestet werden, nicht nur auf dem Prüfstand, sondern auch auf der Straße. Am grundsätzlichen Problem ändert das jedoch wenig, die tatsächlichen Emissionen werden wohl auch weiter über den Grenzwerten liegen. Immerhin: Das neue Verfahren könnte die Dieselfahrzeuge – noch hat in Deutschland die Hälfte aller Neuwagen einen solchen Motor – in arge Bedrängnis bringen. Bei Tests nach dem neuen Verfahren scheiterten 22 von 32 untersuchten Modellen kläglich. +Ob das angesichts der Zunahme der Neuzulassungen und des anhaltenden Trends zu großen Fahrzeugen aber eine echte Verbesserung bringen kann? Fahrradlobbyisten und zahlreiche Lokalpolitiker jedenfalls setzen lieber auf das Vorbild der dänischen Hauptstadt Kopenhagen, wo der Fahrradverkehr gezielt politisch gefördert wird, um den Autoverkehr dadurch zu reduzieren. Fast 400 Kilometer Fahrradweg wurden in Kopenhagen angelegt, teils mehrspurig oder mit idyllischem Blick auf den Hafen. Mittlerweile fährt mehr als jeder Dritte, der in Kopenhagen arbeitet, mit dem Rad zum Job. In Zukunft soll der Anteil auf 50 Prozent steigen. Die Stadt wirbt damit, dass jeder neue Radweg den Autoverkehr um zehn Prozent reduziere. Auch spart die Fahrradbegeisterung der Kopenhagener jedes Jahr rund 90.000 Tonnen CO2-Emissionen. Die Stickoxid- und Feinstaubbelastung sei ebenfalls deutlich geringer als in anderen europäischen Metropolen. So wird das Radfahren auch wieder gesünder. Ein zusätzlicher Anreiz zum Umsteigen auf zwei Räder. diff --git a/fluter/i-love-it.txt b/fluter/i-love-it.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9915bba8d9428a57742ee0322367f4a88a078d8b --- /dev/null +++ b/fluter/i-love-it.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Patrick leidet an den Folgen eines Schädel-Hirn-Traumas. Er lässt sich leicht ablenken und kann sich vieles nicht merken. Claudia kam als Autistin zur Welt und verarbeitet sinnliche Eindrücke auf eine Weise, die für andere oft nur schwer nachzuvollziehen ist. Patrick und Claudia sind schon seit einiger Zeit ein Paar. Sie kuscheln oft und gerne miteinander, doch ihre Beziehung läuft nicht immer so, wie sich Patrick das vorstellt. Manchmal geht Claudia ihm auf die Nerven. Gleichzeitig wünscht er sich, dass sich beide mehr Zeit für Sex nehmen. Außerdem findet er, dass sich Claudia im Bett oft zu passiv verhält. Sex ist ein universelles Bedürfnis, auch bei Patrick und Claudia. Im Idealfall sorgt Sex nicht nur für ein unbeschreibliches körperliches Wohlbefinden, sondern auch für ein tiefes Gefühl von Nähe und Verbundenheit. Leider haben Idealfälle es an sich, dass sie nicht ständig vorkommen – eine Erfahrung, mit der nicht nur Behinderte leben müssen. +Alfons aus Berlin kennt solche Sorgen nicht. Sex ist für ihn nichts, wofür er sich anstrengen muss, sondern ein selbstverständlicher Teil seines Lebens. Alfons ist vor ein paar Monaten 16 Jahre alt geworden, hat einen frischen Knutschfleck am Hals und wirkt ziemlich männlich für einen Jungen in seinem Alter. Seit drei Jahren ist er mit seiner Freundin zusammen, zumindest immer mal wieder. Es gibt Phasen, in denen die beiden viel Zeit miteinander verbringen, und Phasen, in denen jeder macht, was er will. "Gerade ist es wieder ein bisschen offener. In den Ferien haben wir uns zum Beispiel kaum gesehen", sagt er. Vor drei Jahren haben die beiden zum ersten Mal miteinander geschlafen. Ganz schön früh. "Das ging gar nicht so sehr von mir aus", erinnert sich Alfons. "Sie war ein wenig frühreif und wollte es unbedingt ausprobieren. Das war schon etwas ganz Besonderes. Ich bin froh, dass ich das mit ihr gemacht habe." +Danach haben die beiden noch einige andere Dinge ausprobiert. "Wenn man öfter miteinander schläft, findet man allmählich raus, was für den anderen am besten ist", sagt Alfons. "Danach schläft man zusammen ein, und alles fühlt sich richtig an." Dass Alfons ein so entspanntes Verhältnis zum Sex hat, mag damit zusammenhängen, dass er das zweitjüngste von fünf Geschwistern ist, da bekommt man einiges mit. Hinzu kommt, dass seine Eltern ihm von Anfang an sehr viele Freiheiten gelassen haben. Sie machen keinen Stress, weil sie wissen, dass er meistens weiß, was er tut. Ein paarmal hatte Alfons auch schon was mit anderen Mädchen. "Es gibt natürlich diesen Trieb, dagegen kann man wenig machen. Von diesen Geschichten bin ich aber meistens eher unbefriedigt. Danach frage ich mich, warum ich das überhaupt gemacht habe." Eigentlich ist ihm Treue wichtig. Das Problem ist nur, dass er oft genau das haben möchte, was er gerade nicht hat. Wenn er also mit seiner Freundin zusammen ist, hat er manchmal das Gefühl, etwas zu verpassen, und wenn er allein ist, dann wäre er gerne bei ihr. "Wir finden aber immer wieder zurück zueinander." +Das wird wohl noch eine Weile so weitergehen. Nach der Schule möchte Alfons erst einmal weg von zu Hause, mindestens für ein halbes Jahr. Alles Weitere lässt er auf sich zukommen. "Ich bin doch erst 16. Da macht es noch keinen Sinn, sich festzulegen." +So eine Haltung wäre undenkbar gewesen, als Barbara so alt war wie Alfons. Wer damals mit einem anderen Menschen zusammen sein wollte, musste ihn heiraten oder es zumindest vorhaben. Sexuelle Bedürfnisse waren dabei völlig nebensächlich. "Wir hatten keine Ahnung von unserer eigenen Sexualität", erinnert sie sich. "In meiner ersten Ehe wusste ich noch nicht einmal, dass da irgendetwas fehlt." D ie emeritierte Professorin ist heute 75 Jahre alt und sieht mindestens zehn Jahre jünger aus. Den größten Teil des Sommers verbringt sie in einer kleinen Ferienhütte an einem See im Spreewald, und wenn sich am Strand keine Leute vom Campingplatz in der Nähe aufhalten, dann badet sie am liebsten nackt. Was sexuelle Erfüllung bedeuten kann, erfuhr sie zum ersten Mal Anfang der 60er-Jahre in einer heimlichen Liebesbeziehung mit einem Mann, der ebenfalls verheiratet war. "Es war wie ein Rausch, der mit einer tiefen Vertrautheit einherging." Mit dramatischen Konsequenzen: Ihre Ehen gingen zu Bruch, als die beiden das Geheimnis lüfteten. Barbara wurde von ihrer Familie verstoßen, auch die Beziehung zu ihrem Liebhaber scheiterte. "Als alleinstehende Frau mit zwei Kindern war ich damals vollkommen isoliert." +Mitte der 70er-Jahre lernte Barbara ihren zweiten Ehemann kennen und ist bis heute an seiner Seite geblieben. Auch nach dreieinhalb Jahrzehnten Ehe gehört Sex für sie zum Leben – und zwar regelmäßig. "Mein Mann und ich haben nach wie vor eine erfüllte Sexualität. Sie ist anders als vorher, vielleicht nicht mehr so ekstatisch, aber für beide Seiten befriedigend. Zärtliche Berührungen und liebevolle Worte spielen dabei eine große Rolle." Für Barbara bildet eine beständige körperliche Anziehungskraft die Grundlage für eine stabile Beziehung – und die Offenheit. "Man muss seine Wünsche kennen und die Scham ablegen, darüber zu sprechen", sagt Barbara. "Dann braucht man auch keinen Paartherapeuten." +Manchen Paaren fällt es jedoch schwer, ihre Wünsche zu artikulieren. Ihr Sexualleben ist deshalb oft mit enttäuschten Erwartungen verbunden, mit Frust und Zurückweisung, mit Langeweile und Stagnation. Diesen Paaren möchte Sophie zeigen, dass es auch anders geht. Zu ihren Seminaren unter dem Motto "Rituale der Liebe" kommen Frischverliebte, die sich besser kennenlernen wollen, aber auch Paare, die eine langjährige Beziehung führen und denen die Banalität des Alltags die Lust am Sex ausgetrieben hat. Es sei nun einmal nicht besonders erotisch, seinem Partner über Jahre hinweg dabei zuzusehen, wie er den Kinderwagen schiebt, den Staubsauger bedient oder die Steuererklärung ausfüllt, bestätigt Sophie, eine überaus ausgeglichen wirkende Endzwanzigerin mit blonden Haaren und großen blauen Augen. Von ihren Wochenendseminaren, die einer Neuauslegung der altindischen Tantra-Philosophie verpflichtet sind, versprechen sich diese Paare neue Impulse und neue Inspiration. Die sexuellen Erfahrungen stehen dabei zwar im Mittelpunkt, aber es geht um mehr. "Wir schauen auf vielen Ebenen, wie man Licht in eine Beziehung bringen kann", sagt Sophie. "Im Grunde geht es darum, die Kommunikation zwischen den Partnern zu verbessern." +Der Ablauf ihrer Veranstaltungen ähnelt dem der Behinderten-Workshops im Wendland: Am Freitagabend kommen alle Teilnehmer zu einer Kennenlernrunde zusammen. Samstags geht es mit einfachen Atem- und Bewegungsübungen weiter, bei denen sich die Paare aneinander herantasten. Die Übungen werden allmählich intimer, und je nach Zusammensetzung der Gruppe kann das Seminar am Sonntag in einer rituellen Vereinigung gipfeln, die im Tantra-Jargon "Maithuna" heißt. So sollen die Teilnehmer im Laufe des Wochenendes lernen, die Schönheit des Augenblicks wirken zu lassen und sich dabei vom Drang zu verabschieden, auf möglichst direktem Wege zum Höhepunkt zu kommen. "Die sexuelle Energie ist unsere Lebenskraft", sagt Sophie. "Im Alltag neigen wir dazu, diese Kraft zu bändigen. Meine Seminare sind darauf angelegt, einen neuen Zugang zu dieser Kraft zu finden." +Sophie bietet auch Workshops an, die sich ausschließlich an Männer richten. "Diese Veranstaltung ist speziell darauf ausgerichtet, dahin zu schauen, wo es nicht läuft, wo es Unsicherheiten und Scham gibt", sagt Sophie. Zu diesen Seminaren bringt sie einen rosafarbenen Satinbeutel mit, in dem sie eine Plüschvagina aufbewahrt, bei der die Einzelheiten der weiblichen Anatomie nachempfunden sind. Mit diesem Anschauungsobjekt demonstriert sie, was Frauen stimuliert. "Was ich mit den Männergruppen mache, hat viel mit Aufklärung zu tun", sagt Sophie. "Viele Männer sind sich nicht darüber im Klaren, wo sich bei der Frau was befindet. Deshalb wissen sie beim Sex oft auch nicht so genau, was sie da eigentlich tun." +Daniel braucht keine Nachhilfe, wenn es um die weibliche Anatomie geht. Der 26-Jährige will schon mit über 50 Frauen geschlafen und dabei die verschiedenen Erregungszonen sehr genau erkundet haben. "Sex ist toll", sagt er, und deshalb kann er nicht genug davon bekommen. Daniel arbeitet als Koch und kommt viel rum. In seinem Telefon sind ein paar Nummern gespeichert, die er nur anzurufen braucht, wenn ihm nach Sex zumute ist. Seine Samstagabende verbringt er oft in einer Diskothek, die nicht gerade zu den coolsten Clubs in Berlin gehört. "Der Laden ist nah, die Mädels sind hübsch, und die Konkurrenz ist nicht sehr groß", sagt Daniel. "Natürlich nehme ich nicht jede, aber irgendeine findet sich immer." Um Frauen, die mit verschränkten Armen dastehen, macht er einen Bogen. Wenn eine Gesprächsbereitschaft signalisiert, spricht er sie nicht frontal an, sondern eher von der Seite, um bloß nicht den Eindruck zu erwecken, dass er speziell an ihr interessiert sei. +Sein Antrieb ist der Reiz des Neuen: "Jede Frau verhält sich anders im Bett. Jede klingt anders, jede hat etwas Besonderes an sich." Er lernt auch immer wieder was dazu: "Als Schiffskoch habe ich mal eine kennengelernt, die es mochte, gewürgt zu werden. Das kannte ich vorher nicht, und ich hätte auch nicht gedacht, dass ich mich damit anfreunden kann. Konnte ich aber." Außerdem sucht Daniel das Gefühl der Bestätigung, das sich immer dann einstellt, wenn es ihm gelingt, eine Frau zu befriedigen: "Richtiger Sex geht nun mal nur zu zweit. Deshalb gehört es für mich dazu, sehr darauf zu achten, dass auch sie ihren Spaß hat. Dann fühlt sich der Sex auch für mich besser an. Wenn man nur plump draufloshackt, kommt für einen selber auch nicht viel dabei rum." Die meisten seiner Freunde haben nur mit fünf oder sechs Frauen geschlafen. Da fällt er schon ein wenig aus dem Rahmen. "Manchmal frage ich mich schon, ob die nun zu wenig Spaß haben oder ob ich es vielleicht übertreibe." Daniel ist sich nicht sicher, ob das, was er tut, normal ist. Doch das muss beim Sex jeder für sich selbst herausfinden. +"Die einzige Perversion, die ich kenne, ist fehlendes Einvernehmen", sagt Sookee. "Ich bin zum Beispiel ein Fan von Pornografie. Leider zeigt der überwiegende Teil der gängigen Ware kein einvernehmliches Miteinander. Es ist eine Schande, dass ein Aspekt unseres Erlebens, der so bereichernd und erfreulich sein könnte, dazu instrumentalisiert wird, Macht zu demonstrieren." +Sookee ist eine Rapperin mit vielen Tätowierungen an den Armen. In ihren Texten nimmt sich die 28-Jährige am liebsten den unverhohlenen Sexismus ihrer männlichen Kollegen vor. Ihr Sendungsbewusstsein ist groß, weil sie früher selbst solche Musik gehört hat, um von den Jungs anerkannt zu werden. Deshalb hat sie ihren Job als Deutschlehrerin an einer freien Schule aufgegeben und konzentriert sich nun ganz auf die Musik, auch wenn sie in der Rap-Szene als Störenfried angesehen wird. "Die spucken auf mich und nennen mich Kampflesbe." Dabei sind Sookees Texte alles andere als lustfeindlich. Im Gegenteil: Sie zelebrieren Formen der Lust, die sich über das, was andere als normal empfinden mögen, konsequent hinwegsetzen. "Beim Sex sollte nicht vorher festgelegt sein, wie es abzulaufen hat und wer für was zuständig ist. Das hält einen nur davon ab, eine schöne Zeit miteinander zu haben." Kategorien wie "lesbisch" oder "bisexuell" hält sie dabei für wenig hilfreich: "Sex macht mich glücklich, wenn ich mich dabei von diesem ganzen Schubladendenken befreien kann und mir das Geschlecht der Person, die mir gegenübersteht, ganz egal ist." +Zur Vorbereitung auf sexuelle Begegnungen empfiehlt sie vor allem den Mädchen die Masturbation: "Damit sie wissen, was sie von ihrem Körper erwarten können – und damit die ersten Erkundungen nicht von außen kommen. Ist übrigens auch ein gutes Mittel gegen Lampenfieber." diff --git a/fluter/i-love-yu.txt b/fluter/i-love-yu.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f81738ec8ed1de28067dd378fa4d4b85e9be3a0d --- /dev/null +++ b/fluter/i-love-yu.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Meine Freundin Maja hält das für latenten Rassismus. Und tatsächlich: Wer sich auf die Region einlässt, kann auch ganz andere Dinge erleben: eine Kultur der multiethnischen und religiösen Toleranz, die in Westeuropa ihresgleichen sucht. Selbst in den entlegensten Dörfern wird heute noch erzählt, wie gut das Zusammenleben früher war, dass es im Alltag kaum eine Rolle gespielt hat, wer was war: Serbe, Kroate, Bosnier. Muslime besuchten Christen zum Osterfest, und Christen gratulierten ihren muslimischen Nachbarn zum Opferfest. Man war Bürger eines gemeinsamen Landes, das auch international hohe Anerkennung genoss. Und schließlich der jugoslawische Pass! Es war das beste (und deshalb vermutlich am häufigsten gefälschte) Reisedokument der Welt, denn mit ihm konnte man visafrei sowohl nach West als auch nach Ost reisen. Jugoslawien, so meint Maja, war wahrscheinlich das Beste, was einer Vielvölkerregion wie der im Südosten Europas passieren konnte: ein Europa im Kleinen, lange bevor es die Europäische Union überhaupt gab. +Und heute? 130.000 Menschen mussten sterben, weitere vier Millionen vertrieben werden, um auf dem ethnischen Flickenteppich Nationalstaaten zu errichten. Statt von Jugoslawien wird jetzt vom Westbalkan gesprochen. Maja mag dieses Wort überhaupt nicht. Westbalkan, das ist faktisch ein Sammelbegriff für die Übriggebliebenen in der Region, die noch keine EU-Reife an den Tag legen: die Länder des ehemaligen Jugoslawien plus Albanien minus Slowenien, das bereits seit 2004 EU-Mitglied ist. Wenn im Juli 2013 Kroatien dem europäischen Klub zugehört, wird die Grenze zwischen den Guten und den Schlechten weiter nach Südosten rutschen, und wer dann noch Westbalkan ist, hat es wirklich schwer. Mit weiteren Aufnahmen ist wohl frühestens 2020 zu rechnen. +Wenn dann die EU überhaupt noch existiert, spottet meine Freundin Maja. Irgendwie ist ihre anfängliche Begeisterung über einen möglichen Beitritt verflogen. Einen wirklichen Gewinn erwartet sie sich mit Blick auf die desaströse Lage in den EU-Nachbarländern Bulgarien und Rumänien nicht, aber was sie und ihre Freunde zurzeit besonders stört, ist, dass sich alle Reformen nur nach dem Modell "Befehl und Gehorsam" vollziehen. Gute Beziehungen zu seinen Nachbarn lassen ein Land auf der Beitrittsleiter nach oben klettern; es war auch der entscheidende Hebel, mit dem Serbien und Kosovo in letzter Sekunde zu einem Kompromiss über ihren Territorialstreit gezwungen wurden. Aber irgendwas ist faul, meint Maja, wenn sich ehemalige Ultranationalisten nun als glühende Europäer aufspielen und einfach alles liefern, was Brüssel verlangt. "Auf Knien" bat der serbische Präsident Tomislav Nikolić kürzlich im bosnischen Fernsehen um Verzeihung für das Massaker von Srebrenica, bei dem rund 8.000 bosnische Muslime durch bosnisch-serbische Verbände ermordet wurden – und wirkte dabei so engagiert, als ob er sich gerade seine Fingernägel feilte. +Dabei finden die regionalen Kooperationen auf anderer Ebene schon längst statt. Doch wieder muss man genau hinschauen, denn es ist eine Entwicklung, die sich fernab des mitunter immer noch nationalistischen Getöses der Politik vollzieht; es ist ein Prozess von unten, vorangetrieben von unterschiedlichsten Akteuren, die alle zusammen auf vielfältigste Weise an so etwas wie einem neuen postjugoslawischen Raum arbeiten. +Schon ist von einer neuen "Jugosphäre" die Rede – ein Begriff, der von dem britischen Journalisten Tim Judah eingeführt wurde, um zunächst zu beschreiben, dass die ehemaligen Teilrepubliken inzwischen wieder die wichtigsten Handelspartner füreinander sind. Aber es ist nicht nur wirtschaftlicher Pragmatismus, der die Menschen wieder zusammenführt. Fast 40 Jahre gemeinsame Sozialisation hinterlassen ihre Spuren: eine gemeinsame Sprache, geteilte Geschmacks- und Konsumgewohnheiten. "Es ist wie ein gemeinsamer Stallgeruch innerhalb Jugoslawiens, der die Menschen verbindet", sagt Irena Risti, Historikerin an der Universität Belgrad. "Es ist nicht von den Eliten gesteuert, es ist etwas, das einfach passiert." So touren kroatische Bands schon längst wieder in Serbien oder Bosnien und spielen dort vor ausverkauften Hallen, es gibt gemeinsame Filmproduktionen, und auch der Buchmarkt hat sich wieder über die nationalen Grenzen hinweg ausgerichtet. Und im Sport wurde bereits 2001 eine adriatische Basketball-Liga gegründet, in der die besten Vereine Serbiens, Kroatiens, Sloweniens, Montenegros und Bosnien und Herzegowinas wieder vereint sind. +Und das alles ohne eine einzige Förderung durch die EU, die seit den Kriegen Abermillionen in die Region pumpt, um die Versöhnung voranzubringen. Doch was in der neuen Jugosphäre passiert, hat niemand geplant. Sie findet einfach statt. Maja und ihre Freunde etwa wurden 2008 durch den Protest der Belgrader Studenten gegen Studiengebühren politisiert, und ganz selbstverständlich haben sie damals Kontakt zu ihren Kommilitonen in Kroatien aufgenommen. Inzwischen trifft man sich jeden Mai, auf dem "Subversiven Forum" in Zagreb, das sich in den vergangenen drei Jahren zum Haupttreffpunkt der kritischen Jugend gemausert hat. Im vergangenen Jahr wurde die Zukunft Europas diskutiert, dieses Jahr ging es dann um die Utopie der Demokratie. +Dabei ist für die bis zu 1.000 Teilnehmer der jugoslawische Raum der selbstverständliche Bezugspunkt. Eine gemeinsame Geschichte und kulturelle Prägung, dazu noch eine Abscheu vor allen Formen des Nationalismus – so wird vielleicht verständlich, warum sich meine Freundin Maja noch immer als Jugoslawin bezeichnet. Mit Nostalgie hat das also wenig zu tun. diff --git a/fluter/i-may-destroy-you-serie-rezension.txt b/fluter/i-may-destroy-you-serie-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b30969fdfd05f8ad621e29b5506295f0d061c954 --- /dev/null +++ b/fluter/i-may-destroy-you-serie-rezension.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Michaela Coel übernahm bei "I May Destroy You" nicht nur die Hauptrolle, sie war auch Autorin, Produzentin und Co-Regisseurin. Und als wäre das nicht genug, basiert die Handlung der britischen Serie auf ihren eigenen Erfahrungen. Wie ihre Hauptfigur hielt Coel, heute 33 Jahre alt, einmaleine viel beachtete Rede: Im Jahr 2018 kritisierte sie vor der versammelten britischen TV-Prominenz den Umgang mit jungen Kreativen und die mangelnde Sensibilität für Sexismus und Rassismus in der Film- und Fernsehindustrie. Dabei erzählte sie auch, dass sie in der Nacht vor einer Drehbuch-Deadline von Unbekannten unter dem Einfluss von K.-o.-Tropfen vergewaltigt worden sei. Die Empathie ihrer damaligen Produzenten sei dürftig gewesen. + + +Schon in ihrer ersten Comedyserie "Chewing Gum" aus dem Jahr 2015 verarbeitete Coel Teile ihrer eigenen Biografie: Sie wuchs als Kind ghanaischer Eltern in einem überwiegend weißen Viertel in London auf. Mit "I May Destroy You" betrat sie ungleich schmerzhafteres und intimeres Terrain. "Definitiv nicht vollständig fiktional" nennt Coel die Serie. Ausgehend von ihrer eigenen Vergewaltigung, die in der ersten Episode fiktionalisiert wird (wobei sogar das Datum der Tat identisch ist), stellt Coel fortan die Frage, wasEinvernehmlichkeit beim Sexeigentlich bedeutet. Fast schon modellartig spielt die Serie zum Beispiel durch, welche Missverständnisse, Konflikte und ungesunden Machtverhältnisse gerade beim mehr oder weniger anonymen Onlinedating entstehen können. Die Vergewaltigungsszenen in "I May Destroy You" sind schwierig anzuschauen. Nach der britischen TV-Premiere wurde die Serie im Netz allerdings gerade von Menschen, die unter ähnlichen Traumata leiden, für ihre Glaubwürdigkeit und Sensibilität gelobt. +Das mag zum einen daran liegen, dass "I May Destroy You" sich auf die Geschichte der Überlebenden sexueller Gewalt konzentriert und es konsequent vermeidet, die Perspektive der Täter einzunehmen. Zum anderen liegt es aber sicherlich auch am ansonsten unbekümmert-authentischen Ton der Serie und einem darauf perfekt abgestimmten R-'n'-B-Soundtrack. Die drei Hauptfiguren – neben Arabella sind das ihre Jugendfreundin Terry sowie Kwame, der dauerdatende "King of Grindr" – lassen sich auf dem schmalen Grat zwischen Politisierung, Selbstfindung und Hedonismus durch London treiben. Wenn Arabella in einer Folge etwa am Morgen auf der Yogamatte den Begriff "Stealthing" aus einem feministischen Podcast aufschnappt, am Nachmittag wegen Geldsorgen Promo-Jobs macht und am Abend auf einem Kreativevent Instagram-Postings in ihr Handy hineinlabert, ist das nicht als Satire gemeint. Sondern als tragikomisches Bild einer ganz alltäglichen Großstadt-Millennial-Existenz. Auch im britischen Fernsehen ist es noch eine Ausnahme, wenn so weltgewandt von Jugend, kultureller und sexueller Diversität erzählt wird. Künstler*innen wie Michaela Coel sind gerade dabei, das zu ändern. + +"I May Destroy You" läuft ab dem 19. Oktober auf Sky. diff --git a/fluter/i-tonya-filmkritik.txt b/fluter/i-tonya-filmkritik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bf7b753a1d908af6d4c5028ceddc6d94408e055a --- /dev/null +++ b/fluter/i-tonya-filmkritik.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Zwar gewinnt Tonya daraufhin die Meisterschaften, doch als ihre bis heute nicht vollständig geklärte Mitwisserschaft vom Attentat bekannt wird, beginnt eine öffentliche Hetzjagd auf die damals erst 23-Jährige. Der Titel wird ihr aberkannt, die Medien stürzen sich auf ihr Privatleben und verfolgen die "Eishexe" Tag und Nacht. Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage, und der Eiskunstlaufverband, der "trashy Tonya" schon immer auf dem Kieker hatte, diskreditiert sie noch mehr als zuvor. +Worum geht's wirklich? +Um ein Mädchen aus der Unterschicht, das seit seiner Geburt nichts als Missachtung und Ablehnung erfährt: von der Mutter, deren Wutausbrüche einmal mit einem Steakmesser in Tonyas Arm enden. Vom Vater, der abhaut, als Tonya noch nicht mal in der Schule ist. Von Klassenkameraden und später von ihrem prügelnden Ehemann Jeff Gillooly. Bis hin zum Eiskunstlaufverband, der die in selbst genähten Kostümen und schrillem Make-up auftretende Tonya Harding systematisch schlechter bewertet als die Eisprinzessinnen aus gutem Elternhaus. Tonya ist der "White Trash", der nicht dazugehört zur elitären und kultivierten Welt des Eiskunstlaufens. Als Tonya einen Preisrichter nach dem Turnier unter vier Augen darauf anspricht, sagt ihr dieser direkt: "Sie entsprechen nicht dem Image, das wir wollen. Wir wollen jemanden aus einer gesunden amerikanischen Familie." +Schuldig oder nicht? Das ist bis heute nicht klar - lebenslang gesperrt wurde sie trotzdem +Wie wird's erzählt? +Im Stile des Dokutainment. Die Protagonisten sprechen direkt in die Kamera und erzählen ihre Sicht auf die Geschichte im Rückblick. Dabei werden die Ereignisse von damals re-inszeniert, was überwiegend ziemlich lustig, doch gleichzeitig auch unglaublich tragisch ist. Denn bei der Komödie von Regisseur Craig Gillespie handelt es sich nicht um eine ausgedachte, sondern um die wahre Geschichte von Tonya Harding. +Was zeigt uns das? +Der Film zeigt – neben dem Attentat und dem daraus resultierenden Prozess – vor allem auch Tonya Hardings jahrelangen Kampf um Anerkennung. Sie wird geboren und hat schon verloren. Trotz ihres stundenlangen Trainings jeden Tag, trotz der Tatsache, dass sie als erste Frau den dreifachen Axel während eines Wettbewerbs meistert, und trotz ihres außergewöhnlichen Könnens wird Tonya von der Gesellschaft und den Menschen um sie herum niedergemacht. Harding kämpft um Respekt, ob von ihrer Mutter, ihrem Mann, dem Eiskunstlaufverband, der Presse oder der Polizei. Doch sie steht ziemlich allein da. +Zitat +"Nancy und ich waren Freundinnen, aber die Presse wollte, dass Nancy die Prinzessin ist und ich ein Haufen Scheiße." +FYI +So überzeichnet die Figuren und der gesamte Prozess im Film auch anmuten, ein Blick in das Originalmaterial, das im Abspann gezeigt wird und ebenso aufYoutubezu finden ist, zeigt: Selbst die abstrusesten Sätze wurden wortwörtlich so gesagt. Besonders bizarr (und realgetreu) ist der Charakter des besten Freundes von Tonyas Ehemann und ihres späteren Bodyguards Shawn Eckardt. Neben seiner selbst ernannten Tätigkeit als "Terrorexperte" war er auch hauptverantwortlich für das Attentat. Seine – doch recht unterhaltsamen – geistigen Entgleisungen und sein Größenwahn entspringen keineswegs der Feder eines Drehbuchautors, sondern seiner eigenen Fantasie. +Good Job! +Der Soundtrack: Von Hot Chocolates "Everyone's a winner" bis Hearts "Barracuda" untermalen die poppigen Tracks den Film. +Ideal für … +… Zuschauer, die auf Formate über spektakuläre Kriminalfälle und Skandale der amerikanischen Geschichte à la "O. J. Simpson – Made in America" stehen. Auch "I, Tonya" reiht sich in diesen Reigen ein, der versucht, einen Teil der amerikanischen Gesellschaft zu erklären. + + +Fotos: NEON diff --git a/fluter/ibiza-video-inhalt-und-folgen.txt b/fluter/ibiza-video-inhalt-und-folgen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bd5b720ef578791d3f59698bbae4e8b9187554c6 --- /dev/null +++ b/fluter/ibiza-video-inhalt-und-folgen.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Die Neuwahlen werden im Herbst stattfinden. Einen genauen Zeitpunkt gibt es noch nicht. +–––– + +Ein Überwachungsvideo aus 2017 zeigt Heinz-Christian Strache, damals FPÖ-Parteichef, später Vizekanzler, und Johann Gudenus, damals Wiener Vizebürgermeister, später Fraktionsvorsitzender der FPÖ im Nationalrat, bei einem Treffen mit einer vermeintlichen russischen Multimillionärin. Strache stellt ihr u.a. öffentliche Aufträge in Aussicht, wenn sie Teile der mächtigen Boulevardzeitung "Krone" kauft und so auf Linie bringt, dass sie dieFPÖin derdrei Monate später stattfindenden Nationalratswahlunterstützt. Außerdem erzählt Strache von einem Verein,über den die vermeintliche Russin die FPÖ finanzieren könnte– vorbei an der staatlichen Kontrolle. Er lockt Aljona Makarowa mit großen Staatsaufträgen. Nur: Aljona Makarowa gibt es nicht. Sie war eine Falle. + + +Alle für einen: Für viele rechtspopulistische Kollegen in anderen EU-Mitgliedsländern ist der Ibiza-Skandal eine"Verfehlung Einzelner".Auf europäischer Ebene kooperieren sie aber nur bedingt +Heinz-Christian Strache und Johann Gudenus traten von ihren Ämtern zurück. Gudenus trat auch aus der Partei aus und löschte seine Facebook-Seite. "Ich befürchte weiteres Material, das mich in kompromittierenden Situationen zeigt", sagte er am Dienstag der österreichischen Nachrichtenagentur APA. Auf Strache als FPÖ-Chef soll Norbert Hofer folgen, der frühere Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten. +Heinz-Christian Strache, bisher Vizekanzler und Sportminister, gab seinen Rücktritt Samstagmittag bekannt. Er sprach von einer "b'soffenen G'schichte" und dass er sich "prahlerisch wie ein Teenager verhalten" habe, aber auch von einem "gezielten politischen Attentat". Wer hinter dem Video steckt, darüber kann bisher nur gemutmaßt werden +Nur einen Tag später postete Strache auf seiner Facebook-Fanseite (rund 800.000 Follower): "Jetzt erst recht". Die FPÖ will kurz vor derEU-Wahlmobilisieren. Anfang der Woche relativierte Strache weiter: "Abseits der betrunkenen Peinlichkeiten" habe er ein reines Gewissen. Viele Journalist*innen und Politiker*innen sehen das anders – besonders in Hinblick auf die Korruptionsbereitschaft Straches. Die Staatsanwaltschaft teilte mit, sie habe die Ermittlungen aufgenommen. + +Kurz meldete sich erst Samstagabend in den Hauptnachrichten zu Wort. Er kritisierte das Verhalten von Strache und Gudenus scharf, lobte aber auch die gemeinsame Regierungszeit. Es hätte allerdings viele Situationen gegeben, in denen es ihm schwergefallen sei, "das alles runterschlucken" – damit meinte er rassistische Vorfälle von FPÖ-Politikern. Mit den Worten "genug ist genug" kündigte Kurz die Regierung auf. Gleichzeitig warb er bereits um Stimmen für die ÖVP. +Medien berichteten, dass Kurz für eine Fortsetzung der Koalition den Rücktritt von FPÖ-Innenminister Herbert Kickl gefordert hatte. Dessen Ministerium soll Inhalt und Entstehung des Ibiza-Videos untersuchen. Und Kickl war zur damaligen Zeit Generalsekretär der FPÖ. +Die FPÖ war aber nicht bereit, Kickl zu opfern – der Rechtsaußen gilt als Hirn der Partei. Kurz bat daraufhin den Bundespräsidenten, Kickl als Innenminister zu entlassen. Die Verfassung ermöglicht diesen Schritt – er wurde nun zum ersten Mal begangen. Daraufhin traten alle FPÖ-Minister zurück. Nur Außenministerin Karin Kneissl, die auf einem FPÖ-Ticket nominiert wurde, aber offiziell parteilos ist, bleibt im Amt. + +Kurz ersetzte die zurückgetretenen FPÖ-Minister durch Experten und Spitzenbeamte, die der Bundespräsident am Mittwoch formell ernannte. Im Interimskabinett gibt es nun vier neue Gesichter, zwei bestehende Regierungsmitglieder erhalten zusätzliche Aufgaben. Ob Kurz bis zu einer Neuwahl weiterregieren kann, ist allerdings fraglich: Die kleine Oppositionspartei "Jetzt – Liste Pilz", eine Abspaltung der Grünen, kündigte einen Misstrauensantrag an. Noch ist unklar, ob FPÖ und SPÖ den Antrag unterstützen. Mit den Stimmen beider Parteien gäbe es eine Mehrheit. +Anders als in Deutschland gibt es kein konstruktives Misstrauensvotum. Das Parlament kann deshalb den Kanzler stürzen, ohne gleichzeitig einen Gegenkandidaten mit einer Mehrheit zum neuen Kanzler wählen zu müssen. Es wäre das erste Mal in der Geschichte der Zweiten Republik (ab 1945) und Kurz zugleich der Kanzler mit der kürzesten Regierungszeit, sollte er nach der Neuwahl nicht wiedergewählt werden. +Bundespräsident Van der Bellen müsste nach einem erfolgreichen Misstrauensvotum eine Person nominieren, die das Kanzleramt bis zu den Neuwahlen führt. Van der Bellen wandte sich angesichts der Regierungskrise bereits am Dienstagabend an die Bürgerinnen und Bürger. Er sprach von einem "Sittenbild, das Grenzen zutiefst verletzt" und bat: "Wenden Sie sich nicht angewidert von der Politik ab." Die Politiker mahnte er zu staatspolitische Verantwortung: "Denken Sie jetzt bitte nicht daran, was Sie für ihre Partei kurzfristig herausholen können, sondern denken Sie daran, was Sie für Österreich tun können". + +Das ist noch unklar. Der österreichische Bundespräsident Alexander van der Bellen sprach von September – davor sind in Österreich Sommerferien. Die große Frage ist, welche Regierungsmehrheiten sich finden werden. Die FPÖ scheint nach dem Skandal als Regierungspartei wenig wahrscheinlich, eine große Koalition aus ÖVP und SPÖ wäre schon bei der vergangenen Wahl rechnerisch möglich gewesen. Allerdings regierten beide Parteien einen Großteil der Zweiten Republik gemeinsam, zum Schluss waren sowohl Parteien als auch Wähler der ewigen GroKo überdrüssig. Die Tageszeitung "Die Presse" kommentierte, das Land sei somit "ein Stück unregierbarer" geworden. diff --git a/fluter/ich-arbeite-also-bin-ich.txt b/fluter/ich-arbeite-also-bin-ich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/ich-bekomme-quasi-schmerzensgeld.txt b/fluter/ich-bekomme-quasi-schmerzensgeld.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..443de6616a2b00662a88be19a7bf7eb1b073a864 --- /dev/null +++ b/fluter/ich-bekomme-quasi-schmerzensgeld.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Wo bist du gerade? +In Amsterdam. Ich berate eine Bank. +Gestern Abend hat das Interview nicht geklappt, weil du noch beschäftigt warst. Ist es normal, dass du so lange arbeitest? +Ich fange morgens um neun an, wenn es gut läuft, bin ich um acht abends fertig. Aber es kann auch mal bis zehn oder halb zwölf gehen. +Macht es dich nicht fertig, so viel zu arbeiten? +Du musst eben gewisse Ruhezeiten einhalten. Es schadet auf Dauer einfach deinem Körper, wenn du zu wenig schläfst. Ich merke dann immer, dass meine Produktivität nachlässt. Sport ist sehr wichtig, und man muss in den Urlaub fahren, um sich wieder aufzuladen. +Bist du schon mal an deine Grenzen gekommen? +Ich habe mal 36 Stunden durchgearbeitet. Danach ging aber gar nix mehr. +Beneiden oder bemitleiden dich deine Freunde um dein Leben? +Es gibt welche, die mich um das viele Reisen beneiden. Andere bemitleiden mich, weil sie sich nicht vorstellen können, so viel zu arbeiten. Und dann gibt es auch noch die, die dem ganzen kapitalistischen System argwöhnisch gegenüberstehen und ein grundsätzliches Problem mit Unternehmensberatern haben. +Warum tust du dir das eigentlich an? Geht es dir nur ums Geld? +Der Sinn der Arbeit ist nicht Geld. Geld ist quasi Schmerzensgeld. Wenn du jeden Tag zwölf oder 14 Stunden diese Arbeit machst, willst du einfach nicht wenig verdienen. Das Wichtigste ist, dass ich etwas lerne und Spaß dabei habe. Wenn ich mich persönlich weiterentwickle und von den Kollegen geschätzt werde, gibt mir das eine Befriedigung. +Wie viel verdienst du denn? +Das kommt auf meinen Bonus an. Mein Fixgehalt im Jahr sind 63000 Euro. +Was machst du damit? Du kannst es ja gar nicht ausgeben, so wenig Zeit, wie du hast. +Ich reise gerne. Ich lege es an und spare es. Ich werde mir bestimmt irgendwann eine Wohnung kaufen, und wenn ich mal eine Familie gründe, habe ich Startkapital. Das Geld gibt mir ein Stück Freiheit. Ich könnte jeden Moment sagen, ich höre jetzt einfach ein Jahr auf zu arbeiten. +Apropos, wie lange willst du denn eigentlich noch arbeiten? +Ich kann mir schon vorstellen, mein ganzes Leben lang zu arbeiten, bis es eben nicht mehr geht. Die Frage ist, für was und für wen ich arbeiten will. Moment, ich muss mal eben den Taxifahrer bezahlen. (Rumpeln im Hintergrund, Stimmen: How much is it? 27, please!) Um deinen Punkt noch mal aufzugreifen … +Ja? +… irgendwann gründe ich vielleicht ein eigenes Unternehmen. Wenn ich im Lotto gewinnen würde, könnte ich mir aber auch vorstellen, ganz gratis zu arbeiten, zum Beispiel für eine soziale Organisation. Ich müsste was machen, sonst würde mir langweilig werden. diff --git a/fluter/ich-bin-dabei.txt b/fluter/ich-bin-dabei.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7ecae2affdd2dd3385cbec945aa67e7ef841d6e5 --- /dev/null +++ b/fluter/ich-bin-dabei.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Doch die Lehrerkonferenz des Gymnasiums lehnte ab, auch Eltern anderer Kinder stellten sich quer. Man könne Henri nicht aufnehmen, weil man ihn nicht entsprechend fördern könne und er auch keine Aussicht habe, das Abitur zu schaffen. Er würde das Niveau senken, hieß es, und solle besser auf eine Sonderschule gehen. Auch an der örtlichen Realschule wurde Henri nicht aufgenommen. +Für Kirsten Ehrhardt war das damals ein Grund, in die Öffentlichkeit zu gehen. "Im Kern ging es dabei aber nicht um Menschen mit Behinderung, sondern um unseren Umgang mit Vielfalt", sagt sie heute. "Wollen wir Inklusion oder Separation?" +Eine Umfrage der "Aktion Mensch" aus dem Jahr 2012 hat ergeben, dass jeder Zweite in Deutschland Behinderte im Alltag nicht wahrnimmt, jeder Dritte nie Kontakt mit Behinderten hat. Laut Statistischem Bundesamt leben in Deutschland aber mehr als zehn Millionen Menschen mit einer amtlich anerkannten Behinderung. Mit anderen Worten: Es scheint da ganz selbstverständlich etwas zu geben, was im Fall von Mi-granten gern als warnendes Schlagwort verwendet wird – eine Parallelgesellschaft. +"Wir haben ein stark ausgebautes System von Sondereinrichtungen für Menschen mit Behinderung – wie in sonst keinem europäischen Land", sagt Britta Leisering vom Deutschen Institut für Menschenrechte. Sie beobachtet die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, die am 3. Mai 2008 in Kraft getreten ist. "Die soziale Ausgrenzung, die Menschen mit Behinderungen hier in Teilen noch erfahren, ist menschenrechtlich ein Problem." +Im Frühjahr 2015 hat ein UN-Ausschuss einen Bericht zum Stand der Inklusion in Deutschland veröffentlicht. Der Ausschuss zeigt sich auf nahezu jeder Seite des Dokuments "besorgt". Überspitzt formuliert: Behinderte wie Henri wohnen nicht mit uns, arbeiten nicht mit uns zusammen, sie fahren nicht mit uns Bus und Bahn, gehen nicht in dieselben Sportvereine und schon gar nicht in dieselben Schulen. "Wer wirklich Inklusion will, muss das Sondersystem zurückbauen", findet Kirsten Ehrhardt. Für sie heißt das: Förderschulen zugunsten inklusiver Schulen schließen, Wohnheime und Behindertenwerkstätten ebenso. +Mittlerweile gilt in Baden-Württemberg ein neues Schulgesetz. Nun können die Eltern entscheiden, ob ihr Kind eine Sonder- oder eine Regelschule besucht. Ein ähnliches Gesetz gibt es in Nordrhein-Westfalen. Wichtig dabei ist, dass weder die Förder- noch die Regelschule  zwingend vorgeschrieben sind. Denn es gibt auch Eltern, die genau die gegenteilige Sorge haben: Dass ihr behindertes Kind auf einer normalen Schule nicht genug gefördert wird. +Henri und seine Mutter haben sich für die Regelschule entschieden. Nachdem Henri die vierte Klasse wiederholt hat, besucht er nun seit einem halben Jahr die fünfte Klasse der Realschule, die ihn im vergangenen Jahr noch nicht aufnehmen wollte. In diesem Schuljahr hat es dort geklappt mit der Inklusionsklasse. Kein Glück, sondern Henris gutes Recht. diff --git a/fluter/ich-bin-dann-mal-weg-0.txt b/fluter/ich-bin-dann-mal-weg-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bc0915aba194671b9314d945a8b3b52490be9a0b --- /dev/null +++ b/fluter/ich-bin-dann-mal-weg-0.txt @@ -0,0 +1,2 @@ + +Auf der Internetseite von Sullivans Unternehmen, die mit Blättern verziert und in freundlichen Grüntönen gehalten ist, sieht man, was vom Menschen nach der "Resomation" übrig bleibt: ein Säckchen weißes Pulver – die Überreste der Knochen – und ein paar Liter Lauge. "Manche Leute werden die Flüssigkeit ihrer Angehörigen haben wollen, aber am Ende ist es am besten, wenn man sie durch eine Kläranlage schickt, wo sie wieder in der Erde landet, so wie die Natur es vorgesehen hat", sagt Sullivan. Das "New York Times Magazin" hat den Resomator zu einer der 80 besten Ideen des Jahres 2009 gekürt. Die Technologie ist schon in einigen US-Bundesstaaten zugelassen – angeblich mit großem Erfolg. Was allerdings nicht zwangsläufig daran liegen muss, dass immer mehr Amerikaner jetzt "umweltfreundlich" sterben wollen. Ein Ende im Resomator ist dort ganz einfach billiger als die Einäscherung im Krematorium. diff --git a/fluter/ich-bin-dann-mal-weg.txt b/fluter/ich-bin-dann-mal-weg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5e394c0028590da85e1e80f7c3df74f0ceb00566 --- /dev/null +++ b/fluter/ich-bin-dann-mal-weg.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Es gibt eine Reihe solcher Programme in Deutschland. Exit ist die älteste private Initiative, sie wurde 2000 vom ehemaligen Kriminaloberrat Bernd Wagner gegründet und hat seither nach eigenen Angaben 334 Rechtsextreme auf ihrem Weg aus der Szene begleitet. Daneben gibt es staatliche Programme. Die Konzepte sind so vielfältig wie die Angebote: Manche wenden sich an jugendliche Mitläufer, andere an inhaftierte Straftäter. Mal ist das Jugendamt zuständig, mal das Landeskriminalamt oder der Verfassungsschutz. In manchen Fällen müssen die Rechtsextremen selbst den ersten Schritt tun, andere Programme schicken ihre Mitarbeiter in die Szene, um aktiv für den Ausstieg zu werben. Kriminalhauptkommissar Gerd Maier vom Landeskriminalamt Baden-Württemberg zum Beispiel klingelt regelmäßig bei den Nazis an der Tür: "Maier ist mein Name, ich schaue nach dem Rechten." 30 polizeibekannte Rechtsextreme haben er und seine Kollegen neulich in Karlsruhe besucht, um ihnen das baden-württembergische Ausstiegsprogramm nahezulegen. In Internetforen kursieren inzwischen Warnmeldungen, wenn die Ausstiegswerber unterwegs sind, in manchen werden sogar die Autokennzeichen genannt. "Sollten jemals solche Spacken bei mir auftauchen, verfahre ich wie mit den GEZ-Kopfgeldjägern und knalle die Türe zu", schimpft da einer. Für Maier ein gutes Zeichen, die Rechtsextremen nehmen das Ausstiegsprogramm wahr: "Wir wollen uns in der Szene nachhaltig bekannt machen." Manch einer meldet sich erst Jahre später beim Aussteigerprogramm. +Rund 380 Rechtsextreme haben mithilfe des Baden-Württemberger Programms Big Rex der Szene den Rücken gekehrt. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt seit Kurzem auch die Aktion Neustart, das Aussteigerprogramm des niedersächsischen Verfassungsschutzes, das vor allem auf junge Einsteiger zielt. Taucht ein Name in den Polizeiberichten auf, der vorher noch nicht bekannt war, fahren die Mitarbeiter des Verfassungsschutzes raus und suchen das Gespräch: Was fasziniert dich an der braunen Ideologie? Ein Großteil der Ausstiegsprogramme, die die Innenminister ab 2001 initiiert haben, ist beim Verfassungsschutz angesiedelt – was auf manchen durchaus befremdlich wirkt. Schließlich wirbt der Geheimdienst gleichzeitig unter den Rechtsextremen um V-Männer, also verdeckte Ermittler. Ein Interessenkonflikt? In NRW jedenfalls wurde kürzlich bekannt, dass der Verfassungsschutz jahrelang ein Aussteigerprogramm nutzte, um Informationen abzugreifen. Die Landesregierung will jetzt überlegen, wie sich V-Mann-Programm und Ausstiegsangebote sauberer trennen lassen. In Rheinland-Pfalz hat man sich bewusst dafür entschieden, das Ausstiegsprogramm nicht bei der Polizei oder dem Verfassungsschutz anzusiedeln – sondern beim Landesjugendamt in Mainz. Schließlich sei Rechtsextremismus vor allem ein soziales Problem, sagt Angelika Stock, die dort die Projekte gegen Rechtsextremismus leitet. "Die Aussteiger sollen nicht das Gefühl bekommen, dass ihre Daten für Ermittlungen gegen sie verwendet werden." +Mainz nutzt das klassische Konzept: eine Hotline, die Ausstiegswillige von sich aus anrufen müssen. Wer ernsthaft aus der Szene will, so die Idee, muss auch selbst die Initiative dazu ergreifen. Im vergangenen Jahr klingelte das Aussteigertelefon 264 Mal. Es sind oft zögerliche Annäherungen: Die Anrufer legen nach ein paar Worten wieder auf, melden sich Wochen später erneut. Vor dem ersten Treffen müssen die Ausstiegsinteressenten eine Person angeben, die eine Referenz über sie abgeben kann, etwa die Polizei oder einen Fallbetreuer bei der Arbeitsagentur. Wer ist der Anrufer? Wie ernst ist es ihm mit dem Ausstieg? "Wir möchten nicht instrumentalisiert werden", sagt Angelika Stock. "Manchmal melden sich Leute kurz vor einem Strafverfahren bei uns, weil sie so auf ein milderes Urteil hoffen." +Die Mitarbeiter beraten die Aussteiger, wie man sich am geschicktesten aus der Szene zurückziehen kann. Möglichst geräuschlos, ohne Verdacht zu erregen. Welche Vorwände gibt es, um einem Treffen mit den Kameraden fernzubleiben? Den Job, der gerade kaum Raum lässt? Die skeptische neue Freundin? Legenden zu stricken ist heikle Arbeit. "Das ist kein Sportverein", sagt Stock. "Man kann nicht einfach sagen: Das war heute mein letzter Abend, ihr gefallt mir nicht mehr." Nicht immer klappt der stille Rückzug. Daniel, der über Exit ausstieg, gab den Vorsitz seiner Kameradschaft auf, behauptete, dass er sich wegen eines Gerichtsprozesses aus der Schusslinie bringen wolle. Aber die Kameraden riefen an: Wir können uns doch immer noch privat treffen. "Irgendwann wurden die Anrufe direkter", sagt Daniel. Ein halbes Jahr hätten sie ihn beschattet, ihn fotografiert, wenn er sich mit Leuten außerhalb der Szene traf. Schließlich lauerten sie ihm auf dem Berliner Weihnachtsmarkt auf, umzingelten ihn. "Sag schon, was läuft mit dir?" Zum ersten Mal in seinem Leben, sagt Daniel heute, hätte er wirklich Angst gehabt. +Auch Gerd Maier und seine Kollegen aus Baden-Württemberg wissen, wie brutal die Szene mit Aussteigern mitunter umspringt. Deswegen gehen sie auch mal bewusst Klinken putzen bei den Kameraden eines Aussteigers, natürlich ohne zu sagen, wen sie gerade betreuen. "Wie läuft es eigentlich mit Ihrer Bewährungsstrafe?" So eine Frage von einem Kriminalhauptkommissar macht Eindruck – ein Vorteil, wenn die Ausstiegshilfe direkt bei den Sicherheitsbehörden angesiedelt ist. Mit der Hilfe von Exit zog Daniel weg aus Berlin, wohin, will er nicht sagen, es klingt wie eine Nacht-und- Nebel-Aktion, wie eine Flucht aus dem alten Leben. "Wir mussten aufpassen, dass niemand etwas mitbekommt, dass niemand in der Nähe war, der uns hinterherfuhr", erzählt er. "Das war sehr konspirativ angelegt. Alles musste ganz schnell gehen, und die Tageszeit war sehr unschön für einen Umzug." Plötzlich fand sich Daniel alleine in der Fremde wieder. Ohne das alte Leben, aber auch noch nicht mit einem neuen. +"Da tut sich ein großes Loch auf, das viele nur schwer aushalten können", sagt Angelika Stock vom rheinland-pfälzischen Ausstiegsprogramm. "Viele haben sich in der Szene sehr lebendig gefühlt und müssen jetzt einen neuen Sinn finden, für den sie morgens aufstehen." Die Ausstiegshelfer überlegen, was es sonst noch geben könnte: Einen neuen Verein? Alte Kontakte zu Schulfreunden? Eine Ausbildung? Die Helfer gehen mit zu Behörden, organisieren manchmal auch das Geld, damit sich Aussteiger rechtsradikale Tätowierungen entfernen lassen können. Gerd Maier hat sich kürzlich beim Landkreis dafür eingesetzt, dass ein Aussteiger nach der Haftentlassung einen Zuschuss für Kleidung bekam. "Der hatte nur rechte Klamotten." Viele Aussteiger sind völlig orientierungslos im deutschen Ämterdschungel. Und oft zeigt sich beim Ausstieg, dass das braune Gedankengut all die Jahre etwas anderes überdeckte, viel tiefere, persönlichere Probleme. +Thomas Mücke vom Verein "Violence Prevention Network" geht zu jungen rechtsextremen Straftätern in den Knast, um mit ihnen ihr Weltbild aufzuarbeiten. Mücke legt Fotos auf den Boden, von Schwarzen, von Schwulen, von Ausländern, um herauszufinden, wie fest die Feindbilder sitzen. Manchmal laufen die Insassen rot an und wollen die Fotos zertrampeln. "Das ist ein Zeichen, dass da einer wirklich ein Problem hat." Die Straftäter, hat Mücke festgestellt, haben immer wieder ähnliche Biografien: zerrüttete Familien, Eltern, die trinken, kaum Anerkennung. "Die Gewalt entsteht aus der Lebensgeschichte, nicht aus der Ideologie", sagt Mücke. "Die Ideologie kommt nur irgendwann als Rechtfertigung dazu. Aber sie hält die Gewalt aufrecht." In den Gruppensitzungen versucht Mücke, kleine Risse in das Gedankengebäude zu bringen, damit die Jugendlichen über sich und ihr Leben nachdenken. Sie diskutieren über den Bombenangriff auf Dresden, über die angebliche jüdische Weltverschwörung und immer wieder darüber, welcher Frust es eigentlich ist, der sie austicken lässt. 480 rechtsextreme Straftäter haben das Programm seit 2001 durchlaufen. Die Rückfallquote liegt mit rund 30 Prozent weit unter der üblichen von etwa 78 Prozent. +Der ehemalige Kameradschaftsführer Daniel und seine Kollegen bei Exit versuchen inzwischen mit ungewöhnlichen Mitteln in der Szene für den Ausstieg zu werben. Etwa mit der "Operation Trojaner-T-Hemd". Für ein Rechtsrock-Festival schickten sie im vergangenen Sommer dem NPD-Kreisverband Gera 250 T-Shirts, eine angebliche Kleiderspende eines Sympathisanten. "Hardcore Rebellen: National und frei" stand unter einem Totenschädel auf dem schwarzen Stoff. Die Konzertbesucher griffen begeistert zu. Nach dem Waschgang verschwanden Totenkopf und Schriftzug, und das T-Shirt offenbarte seine wahre Botschaft: "Was dein T-Shirt kann, kannst du auch. Wir helfen dir, dich vom Rechtsextremismus zu lösen." diff --git a/fluter/ich-bin-ein-geschaeftsmann.txt b/fluter/ich-bin-ein-geschaeftsmann.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..328601bbf529ba3c2b4542bb32e9718820a163da --- /dev/null +++ b/fluter/ich-bin-ein-geschaeftsmann.txt @@ -0,0 +1,2 @@ + +Prostitution in Deutschland:In Deutschland arbeiten etwa 400 000 berufsmäßige Prostituierte, die Schätzungen zufolge einen Jahresumsatz von etwa 14 Milliarden Euro erzielen. Die deutsche Prostituierten-Interessenvertretung Hydra schätzt, dass darunter 100 000 bis 200 000 Ausländerinnen sind. Ihre Dienste werden täglich bis zu 1,5 Millionen Mal in Anspruch genommen.Seit dem 1. Januar 2002 ist das "Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten" in Kraft, mit dem die rechtliche und soziale Situation von Prostituierten verbessert werden soll. Das Gesetz ermöglicht Prostituierten die Absicherung in einer Sozialversicherung. Sie können sich in "wirksame Beschäftigungsverhältnisse" mit Bordellbetreibern begeben, das heißt: Arbeitsverträge abschließen. So können sie in gesetzliche Krankenkassen, in die Arbeitslosen- und Rentenversicherung aufgenommen werden. Das Gesetz ermöglicht es Prostituierten, Lohn einzuklagen. Zuvor wurde Prostitution als "sittenwidrige Tätigkeit" angesehen. Das ermöglichte es Freiern, sich vor der Bezahlung zu drücken - ein sittenwidriges Rechtsgeschäft gilt als nichtig.Geändert wurde auch Paragraf 180a des Strafgesetzbuches, der jetzt "Ausbeutung von Prostituierten" unter Strafe stellt; zuvor war es "Förderung". Als "Ausbeuter" gilt, wer Frauen "in persönliche und wirtschaftliche Abhängigkeit" bringt - für Hydra eine zu ungenaue Formulierung. Strafbar ist, unter 18-Jährige in einem Bordell arbeiten zu lassen oder jemanden zur Prostitution zu überreden. Verboten ist Prostituierten, Werbung zu betreiben - daher die "Fotomodell"- und "Massage"- Anzeigen in Zeitungen. diff --git a/fluter/ich-bin-ich.txt b/fluter/ich-bin-ich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..55b770290aa9438d0d9c98ea9be67cee47ace232 --- /dev/null +++ b/fluter/ich-bin-ich.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Zwei Jahre später ist aus Vanessa Jonas* geworden. Er sitzt in seinem Lieblingscafé in einer Großstadt in Deutschland. Er hat kurze hellbraune Haare, freundliche blaue Augen, ein unbeschwertes Lachen, ein wenig Bartwuchs und macht alles in allem nicht den Eindruck, als hätten ihn die letzten zwei Jahre groß belastet. Dabei hat er eine beschwerliche Zeit hinter sich, in der er mehrmals operiert wurde, täglich das männliche Sexualhormon Testosteron nahm und vor Gericht seinen Namen ändern ließ. Eierstöcke und Gebärmutter wurden entfernt, die Vagina ist geblieben. +Transsexualismus nennen es Experten, wenn ein Mensch sich nicht mit seinem biologischen Geschlecht identifizieren kann und ein anderes anstrebt. Jonas fühlte sich schon als Kind mit seinem Geschlecht und den dazugehörigen Erwartungen nicht wohl. Als Mädchen trug er kurze Haare und nie ein Kleid. Er spielte lieber mit den Jungs als mit den Mädchen. Und er war froh, dass seine Eltern ihm nie vorschrieben, wie er sich zu verhalten hatte. Dann sei er in die Pubertät gekommen, und sein Körper entwickelte sich in die komplett falsche Richtung. "Ich fand es richtig scheiße. Besonders die Menstruation und die Brüste. Alle Frauen in meiner Familie haben große Brüste, und ich wollte nicht, dass meine auch so aussehen." Um sie zu verstecken trug er nur schwarze Sport-BHs, weil die den Busen platt drücken. "Es hat sich alles falsch angefühlt", sagt Jonas und schaut dabei ein wenig stolz an seinem heutigen Oberkörper hinab. Das eng anliegende blaue Shirt betont seine athletische Statur. +Er hätte mit seinem Outing bis nach dem Abi warten können, es war nur noch ein Jahr bis dahin. Aber er wollte nicht. "Ich fühle mich nicht ganz wohl in meiner Hülle", gestand er seinem Lieblingslehrer, dem ersten Menschen, den er ins Vertrauen zog. Der Lehrer riet Jonas, noch einmal über sein Vorhaben nachzudenken, denn angesichts der Folgen seiner Entscheidung solle er sich wirklich sehr sicher sein. Nach dem Gespräch brauchte Jonas einige Tage, um wieder Mut zu fassen. Was wäre, wenn seine Freunde ihn als Freak abstempelten? Wer würde überhaupt zu ihm stehen? +Noch heute ist er aufgeregt, wenn er davon spricht, wie er schließlich seinen Mitschülern von seiner anderen Identität erzählte. Vor einer Unterrichtsstunde stellte er sich vor die Klasse, versuchte sich zu konzentrieren, spürte seine Halsschlagader pochen. "Ich muss euch was sagen. Ich habe beschlossen, mein Leben als Mann weiterzuführen. Es wäre mir lieb, wenn ihr mich ab jetzt Jonas nennt." Das waren seine mutigen -Worte. Alle Augen ruhten auf ihm, totale Stille, bis er erneut etwas sagte, nämlich: "Ich bin jetzt fertig." Und dann klatschte die ganze Klasse. +In der Familie verlief das Outing komplizierter. Als er seinen Eltern erzählte, dass er auch seinen Namen ändern -wolle, ging vor allem seine Mutter auf Distanz. Sie verstand nicht, wie wichtig es für Jonas war, sich eine neue Identität zu schaffen, und sie versteht es bis heute nicht. Schon seit einem Jahr haben sie kaum mehr Kontakt zueinander. Jonas erzählt kühl von diesem Konflikt, als wollte er sich die Enttäuschung nicht anmerken lassen. +Wie viele Menschen in Deutschland sich nicht mit -ihrem biologischen Geschlecht identifizieren, ist nicht sicher. Experten gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Offiziell gab es in den vergangenen zehn Jahren mehr als 17.000 Verfahren nach dem Transsexuellengesetz. Das ermöglicht seit 1980 eine Namens- und eine Personenstandsänderung. Allerdings gibt es eine Reihe durchaus umstrittener Bedingungen; eine davon sind zwei medizinische Gutachten. Psychotherapeuten sollen ausschließen, dass dem Wunsch nach Geschlechtsänderung eine akute Psychose oder Persönlichkeitsstörung zugrunde liegt. Viele transidente Menschen fühlen sich gerade dadurch wie Kranke behandelt. +Mit seinen Besuchen bei einem Psychotherapeuten fing Jonas kurz nach dem Outing an, nach einem Jahr bekam er das erste Gutachten und dann noch ein zweites, von einem anderen Fachmann. Der Weg zum Mann begann. +Jonas kramt sein Handy aus der Hosentasche, wischt mit seinen zierlichen Fingern über den Bildschirm und zeigt ein Foto von 2013. Darauf erkennt man ihn, doch sein Gesicht ist zarter, etwas runder als heute. Das nächste Foto ist von 2014, Jonas hatte das erste Mal Testosteron genommen. "Das war so ein krasser Tag", sagt Jonas und packt sein Handy wieder in die Hose. "Ich hab mich schon am Morgen ein bisschen wie high gefühlt, und als mir die Apothekerin das Testosteron-Gel gegeben hat, war ich nur noch am Grinsen." Das ist er auch heute noch, wenn er sich erinnert. Er schnappte sich das Gel und rannte nach Hause. In der nächsten Minute stand er nackt, Arme und Oberkörper vollgeschmiert mit dem Testosteron, im Badezimmer und wartete darauf, dass etwas passierte. Und obwohl erst mal nichts geschah, war er so glücklich wie nie. +Am nächsten Morgen beim Aufwachen bemerkte er plötzlich einen völlig neuen Geruch an sich, herber, kräftiger. "Ich dachte, da liegt eine andere Person im Bett, bis ich gemerkt habe: Das bin ja ich." Verwirrt war er auch, weil er große Lust auf Sex hatte, das war bis dahin eher selten gewesen. Nach einiger Zeit gewöhnte er sich an den neuen Geruch und an die neuen Gefühle. Seine Klitoris schwoll durch das Testosteron auf die -Größe eines Daumens an. Dadurch ist sie für Jonas nichts Weibliches mehr, eher so eine Art Mikropenis, wie er sagt. +Auch seine Stimme änderte sich mit der Zeit. Heute klingt sie wie die eines Jungen im Stimmbruch. Manchmal, wenn er aufgeregt redet, überschlägt sie sich. Mit der Zeit kamen auch der Bart und die breiteren Schultern, Nebenwirkungen wie Hitzewallungen und schlaflose Nächte allerdings auch. +Nach dem Testosteron folgten die Operationen: Jonas' Brüste, Gebärmutter und Eierstöcke wurden entfernt, alles verlief ohne Komplikationen. In Deutschland sind diese Maßnahmen ab 18 erlaubt. Die Zeit im Krankenhaus sei anstrengend gewesen, sagt Jonas. Aus drei Tagen wurden neun, aus kleinen Zweifeln große. Doch der Wille, seinen weiblichen Körper hinter sich zu lassen, gab ihm Kraft. Und dass ihm seine Schwester und sein jetziger Freund zur Seite standen. +Jonas ist glücklich mit seiner Entscheidung. Auch mit der, dass er seinen Körper nicht vollkommen angleichen ließ: Einen Penis hat er nämlich nicht. Das Risiko, dass etwas schiefgeht, war ihm zu hoch. "Mein Ziel war es, glücklich zu sein, und das habe ich jetzt mit den Eingriffen geschafft. Ich brauche keinen Penis." Auch dass er keine Kinder zeugen kann, mache ihm nichts aus. +Ob er dennoch irgendetwas vermisst? Die Antwort hört sich wie ein Klischee an, doch Jonas meint es ganz ernst. "Dass ich nicht mehr bis 20 denke, nur noch bis zwei", sagt er. Die Weitsicht fiele ihm seit dem Testosteron schwerer, aber ruck, zuck Entscheidungen treffen, das ginge jetzt deutlich einfacher. Bei der Verabschiedung hat Jonas noch einen Ratschlag. "Da muss man aufpassen. Jungs haben so ihre Moves, die ich lange nicht richtig konnte", sagt er. +Und dann gibt er ziemlich cool High five. +* Den Namen von Jonas haben wir geändert, weil er keine Lust hat, ständig auf seine Geschlechtsveränderung angesprochen zu werden. Kann man verstehen. diff --git a/fluter/ich-bin-keine-lesbe-auch-wenn-ich-mit-frauen-schlafe.txt b/fluter/ich-bin-keine-lesbe-auch-wenn-ich-mit-frauen-schlafe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1eb8149150f88706dbb6dd91da92435a9924c726 --- /dev/null +++ b/fluter/ich-bin-keine-lesbe-auch-wenn-ich-mit-frauen-schlafe.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Das Coming-out innerhalb meiner Familie war für mich ebenfalls eine gute Erfahrung. Mein Vater war schon immer sehr offen für vielfältige Lebenskonzepte, daher hatte ich keine besonders große Angst vor diesem Gespräch. Als er mich eines Tages zu meiner damaligen Angebeteten fuhr, habe ich ihm im Auto erzählt, dass wir uns nicht nur zur gemütlichen Pyjamaparty treffen, sondern auch miteinander schlafen. Mein Vater hat offen reagiert und mich nicht in Frage gestellt. "Du kannst zusammen sein, mit wem du möchtest, solange es dir Spaß macht und du glücklich bist", sagte er. Auch meine Geschwister haben sehr positiv, fast schon stolz auf diese neue Nachricht reagiert. Mein Comingout hat mich meiner Familie viel näher gebracht. Ich kenne aber auch Geschichten von Freund*innen, bei denen das Coming-out nicht so positiv verlaufen ist, und bin daher sehr dankbar, dass ich mit meiner Familie niemals Kämpfe wegen meiner sexuellen Orientierung führen musste. +Seit einigen Jahren identifiziere ich mich nicht mehr als lesbisch, sondern als queer. Streng genommen ist dies zwar nicht möglich, da der Begriff sich eigentlich gerade gegen eine auf Identität basierende Politik wendet, doch queer ist auch einfach ein Sammelbegriff für alle, die nicht ins heteronormative Gesellschaftsmuster passen. Darunter fallen unter anderem Menschen, die sich nicht in Kategorien wie Frau oder Mann, homo- und heterosexuell, trans* oder cis einordnen lassen wollen oder können. Das Konzept von "queer" stellt Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität als repressive Normen infrage und bietet Platz für Alternativen, die leider auch in "traditionellen" lesbisch-schwulen Zusammenhängen oft nicht mitgedacht werden. Ich fühle mich dem Queer- Begriff einfach mehr verbunden als dem Wort "lesbisch" – das klingt für mich zu sehr nach "Frau liebt Frau". Ich begehre und liebe auch Menschen, die sich nicht als Frauen identifizieren und trotzdem nicht als Männer geboren wurden, wie zum Beispiel nichtbinäre oder Trans*- Personen. Nun fühle ich mich ganz so, als sei ich endlich bei mir selbst angekommen, was meine sexuelle Orientierung betrifft. Und das war vielleicht ein langer, aber aufregender Weg. diff --git a/fluter/ich-bin-keine-spassbremse.txt b/fluter/ich-bin-keine-spassbremse.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..66cb2671427823dbae48ace12a06709f3dd7b1a9 --- /dev/null +++ b/fluter/ich-bin-keine-spassbremse.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Mit 16 habe ich mich auf Konzerten natürlich auch betrunken. Das hat mir aber nie wirklich etwas gegeben oder Spaß gemacht, ganz im Gegenteil: Ich habe einige desaströse Erlebnisse mit Alkohol gehabt. Irgendwann habe ich mich dann entschieden, dass das nichts für mich ist. Über die Musik gelangte ich an die Straight-Edge-Bewegung, die der Nüchternheit irgendwie eine hohe Wertigkeit gibt. Es geht mir darum, die Selbstkontrolle zu behalten. +Was ist denn Straight Edge überhaupt? +Der Name basiert auf einem Lied der Hardcore-Band Minor Threat aus den USA. In den achtziger Jahren hatten viele Leute aus der Hardcore-Szene die Schnauze voll von massivem Drogenkonsum und der damit verbundenen Selbstzerstörung. In einem Minor-Threat-Song heißt es "I don't smoke, don't drink, don't fuck – at least I can fucking think". Daraus sind die Grundregeln von Straight Edge entstanden: keine Drogen und kein Sex mit ständig wechselnden Partnern, um sich selbst nicht kaputt zu machen. +Geht es auch darum, sich von anderen Jugendbewegungen abzugrenzen? +Natürlich geht es auch um Abgrenzung. Alle Jugendlichen in einem gewissen Alter trinken so viel, wie sie können. Wer nicht mitmacht, wird schief angesehen. Der bewusste Verzicht darauf ist ein Gegenentwurf und damit extrem "anti". Das Gemeinschaftsgefühl dabei ist ziemlich wichtig. Es gibt sozusagen einen Gruppenzwang, um sich dem Gruppenzwang zum Drogenkonsum zu widersetzen. +Und wie passt der Verzicht auf Fleisch da rein? +Wenn man Verantwortung für sich selbst übernimmt, kommt man nicht daran vorbei, auch über seine Essgewohnheiten nachzudenken. Das heißt für mich: Ich will keine Tiere für meinen Genuss töten. +Bist du nie rückfällig geworden? +Doch. Nach anderthalb Jahren bin ich "gedropped", wie man das in der Szene nennt, und habe kurze Zeit Alkohol getrunken. Aber schon während des Trinkens hatte ich Reuegefühle. +Bist du als Straight Edger nicht unerträglich für den trinkenden Teil des Freundeskreises? +Ich habe gar kein Problem damit, wenn Freunde trinken. Es ist eher so, dass mir automatisch unterstellt wird, besonders dogmatisch und eine Spaßbremse zu sein. Zu Unrecht, wie ich finde. +Versuchst du im Bekanntenkreis zu missionieren? +Das mache ich eigentlich nie, es wäre mir einfach zu blöd. Ich ermahne nur ab und zu Freunde, wenn ich das Gefühl habe, dass sie sich selbst mit Drogen schaden. diff --git a/fluter/ich-bin-unter-18-und-ich-will-waehlen.txt b/fluter/ich-bin-unter-18-und-ich-will-waehlen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..523c0e6345116c918452877c6da3ffd3f9e1d807 --- /dev/null +++ b/fluter/ich-bin-unter-18-und-ich-will-waehlen.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Pro:- Demokratie darf Jugendliche nicht ausschließen. Repräsentative Wahlstatistiken zeigen: Das Wahlverhalten von Erstwählern weicht nicht eklatant von dem anderer Bevölkerungsteile ab. Die Ausgrenzung fördert erst die Neigung zur Radikalität.Contra:- Jugendliche haben eine Abneigung gegen Parteien und Mandatsträger. Deshalb neigen sie zu politischem Extremismus. Das ist eine Gefahr für die Stabilität der Demokratie. +Pro:- 16- und 17-Jährige haben existenzielle Interessen, die von Erwachsenen wenig oder gar nicht vertreten werden. Außerdem erhalten Jugendliche ab dem 16. Lebensjahr eine Reihe von Rechten zugesprochen wie zum Beispiel Ehefähigkeit, Eidesfähigkeit usw.Contra:- Wer wählen will, der muss auch volljährig und strafmündig sein. Wer strafrechtlich nicht voll verantwortlich ist für sein Verhalten, kann auch nicht verantwortlich sein für das Schicksal des Staates. +Pro:- Jugendliche haben das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Die Politikverdrossenheit unter jungen Menschen wird abnehmen, wenn sie durch das aktive Wahlrecht in die politische Entscheidungsfindung einbezogen werden: Wer weiß, dass er etwas bewirken kann, hat auch mehr Interesse an Politik.Contra:- Jugendliche stehen Parteien, Mandatsträgern und Wahlen ablehnend gegenüber. Ein früherer Zugang zu Wahlen trifft deshalb die Interessen der Jugendlichen nicht. Es ist sinnvoller, die von Jugendlichen favorisierten Elemente direkter Politik auszubauen und ihnen die Chance zu geben, in Jugendparlamenten oder Anhörungen etc. zu Wort zu kommen. +Pro:- Die demografische Entwicklung verlagert schon heute Entscheidungen über die Zukunft unserer Gesellschaft auf ältere Menschen. Diese Entwicklung wird sich noch verstärken. Die notwendige Anpassung politischer Entscheidungen an gesellschaftliche Veränderungsprozesse ist eher von denen zu erwarten, die unter diesen Bedingungen den größten Teil ihres Lebens verbringen müssen: den Jungen.Contra:- Repräsentative Umfragen belegen, dass es eine große Skepsis gegenüber der Senkung des Wahlalters gibt. Dieses Resultat entspricht auch der Stimmung unter Jugendlichen: Je wichtiger die jeweilige Wahl empfunden wird, desto größer ist die Zurückhaltung, da die Jugendlichen sich noch nicht reif genug für derartige Entscheidungen fühlen. +Parteipositionen zur Frage "Wählen mit 16?"-Die SPD mit ihrer Jugendorganisation Die Jungsozialisten (JUSOS) befürwortet das Wahlrecht für Jugendliche auf kommunaler Ebene.- Die CDU und ihre Jugendorganisation Junge Union (JU) ist gegen das Wahlrecht für Jugendliche.- Bündnis 90 / Die Grünen und die ihnen nahe stehende Grüne Jugend plädieren für eine Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre.- Die FDP lehnt das Wahlrecht für Jugendliche ab. Innerhalb ihrer Jugendorganisation Die Jungen Liberalen (JuLis) gibt es unterschiedliche Ansichten zur Frage "Wählen mit 16?".- Die PDS mit ihrem Jugendverband ['solid] tritt dafür ein, das aktive Wahlalter auf allen Ebenen der Politik auf 16 Jahre zu senken. +Valentin Nann ist Volontär bei der Bundeszentrale für Politische Bildung in Bonn. + + +Weitere Informationen zum Thema "Wählen ab 16?" gibt es hier:http://jugend-macht-politik.deGegenüberstellung der Argumente für und gegen eine Senkung des Wahlalterswww.wahlalter-16.deWebsite der Jusos zur Kommunalwahl in NRW 1999www.junge-union.deArgumentation der Jungen Union gegen das Jugendwahlrechtwww.gaj-sh.de/wahlalterPlädoyer der Grünen Jugend in Schleswig-Holstein für die Senkung des Wahlalterswww.16plus.deWebsite des Ministeriums für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung in NRW zur Kommunalwahl 1999www.geocities.com/CapitolHill/LobbyArgumente für das Wahlrecht ab 16www.ich-will-waehlen.de"Ich bin unter 18 - und ich will wählen." Wer diese bundesweite Kampagne im Internet unterstützen will, hat noch bis zum 12. September 2002 Zeit. Zehn Tage vor der Wahl werden dann alle Unterschriften als Petition dem Bundestag übergeben. Die Kampagne wird unter anderem von der BundesschülerInnenvertretung, der Deutschen Jugendpresse und der Grünen Jugend unterstützt.www.kraetzae.deDas Berliner Kinderrechtsprojekt KinderRÄchTsZÄnker (K.R.Ä.T.Z.Ä.) fordert seit 1992 das Wahlrecht ohne Altersgrenze. Nach der Argumentation von K.R.Ä.T.Z.Ä. ist das Recht auf politische Mitbestimmung ein demokratisches Menschenrecht, von dem in einer Demokratie niemand ausgeschlossen werden darf - auch nicht wegen seines Alters.www.u18.orgU 18 Berlin 2002 - Die Kinder- und Jugendwahl. Am 13. September 2002, eine Woche vor der Bundestagswahl, wollen Einrichtungen der freien und kommunalen Jugendhilfe und Schulen in Berlin eine Wahl für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren veranstalten. Die Ergebnisse der Wahl, die mit echt aussehenden Wahlscheinen in den Berliner Wahllokalen stattfindet, sollen noch am gleichen Abend auf Wahlparties medienwirksam öffentlich gemacht werden. diff --git a/fluter/ich-bleib-noch-ein-bisschen.txt b/fluter/ich-bleib-noch-ein-bisschen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0373d9b4f7810f972140be09388d31a32834180e --- /dev/null +++ b/fluter/ich-bleib-noch-ein-bisschen.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Um Geld zu verdienen, während ich hier bin, habe ich ein halbes Jahr an der Tankstelle gegenüber gearbeitet. Davor war ich arbeitslos, habe kaum Miete gezahlt und habe so rumgehangen. An einem Wochenende hatte ich mal eine Frau zu Besuch. Meine Eltern waren ziemlich nett zu ihr und haben sie verwöhnt. Und sie hat dann auch gefragt: Darf ich öfter kommen? Aber es war dann doch eine einmalige Sache. Eltern und Frau in einem Haus und auf Dauer, das ist schon anstrengend. Ich finde unsere Rituale schön. Meine Eltern kommen um 16 Uhr von der Arbeit, und um 16.30 Uhr essen wir gemeinsam. Dass ich nicht kochen und nicht wirklich viel einkaufen muss: Klar ist das ein Vorteil. Und ich nutze den auch. Klar nutzt man den. +Wenn ich das zweite Mal ausziehen kann, will und werde ich Doktor an einer Uni sein. Was das Leben angeht, will ich meine Einheit mit Gott finden und meine Erleuchtung in Bezug auf die Leiden der Welt. Das dauert vermutlich auch das ganze Leben. Und was eine eigene Familie angeht: Morgen wäre doof. Aber ich will ein Kind. Meine Gene weitergeben in Kombination mit der DNA einer Frau, die cool ist. Ja, schon. Wenn's passt, oder? diff --git a/fluter/ich-goldfinger.txt b/fluter/ich-goldfinger.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1b128bd8bc6894fe1db9f25826676195ec80a058 --- /dev/null +++ b/fluter/ich-goldfinger.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Dann suche ich mir eine Online-Plattform und zocke los. Zuerst investiere ich in VW, Siemens, die Großen halt. Das ist so spannend, wie Faultieren beim Kratzen zuzugucken. Aber ich mache Gewinn, ein paar Euro in wenigen Minuten. Dann wage ich mehr, setze mehr. Leider ohne Erfolg. +"Du, ich hab heute 50 Euro verloren", erzähle ich meiner Freundin beim Abendessen. "Warum hörst du dann nicht auf?", fragt sie. Ja. Aufhören. Nee, morgen hole ich es doch wieder rein. +Das, was ich hier kaufe, sind ja sogenannte Hebelprodukte: geringer Einsatz, hoher Gewinn. Oder hoher Verlust. Es geht allein darum, den Kursverlauf richtig vorherzusagen. Steigt eine Aktie in einer Stunde um zwei Prozent, mache ich 40 Prozent Gewinn – wenn ich auf "Steigen" gewettet habe. +Zweiter Tag. In den Börsennachrichten lese ich: Der Goldpreis fällt. Er fällt rapide. Experten warnen: Das geht noch weiter. Ich steige also ein und wette, dass der Goldpreis sinkt. Klingt bombensicher. +Doch in den Minuten, da ich auf die Maus klicke, steigt der Wert gerade. In Sekunden mache ich 20 Euro Verlust. Aussteigen? Ach, da geht noch was. Der Preis ist doch so weit oben, der muss ja wieder runter! Wieder setze ich Geld auf "Fallen". +Dann steigt er. Dann steigt er weiter. Und steigt. 100 Euro Verlust. Okay, ich will hier raus. Aber in der Zwischenzeit, in Sekundenbruchteilen, zieht der Wert so stark hoch, dass der alte Preis schon nicht mehr gilt. 200 Euro sind weg. Und nun? +Ich begehe alle Fehler, vor denen man mich bei der Einführung gewarnt hatte: Ich wage zu viel. Ich werde gierig. Ich verkaufe nicht, wenn ich Verlust gemacht habe. Sekunden können dann entscheiden. +Einige Mausklicks später habe ich die 500 Euro restlos verloren. Nach zwei Tagen. Immer wieder will meine Hand die Maus zum Programm-Icon führen und doppelklicken. Ein bisschen die Verluste reduzieren. Geht doch schnell. Na los. +Ich trinke keinen Alkohol, rauche nicht, nehme sonst keine Drogen. Süchtig bin ich nur nach Schokolade. Aber dieses Gefühl – na los, komm, nur noch ein Mal! – kommt mir bekannt vor: aus der Zeitung. Wenn Uli Hoeneß von seiner Börsensucht erzählt. +Dritter Tag. Ich lösche die Software. Erst nur die Verknüpfung auf dem Desktop, so ist sie aus den Augen. Dann das ganze Programm. diff --git a/fluter/ich-habe-kot-erbrochen.txt b/fluter/ich-habe-kot-erbrochen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cca7a870555664c9f4eec93d50701aa2305b34cc --- /dev/null +++ b/fluter/ich-habe-kot-erbrochen.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Und was haben Sie dann genommen? +Alkohol, LSD, Marihuana, Heroin, Kokain, später auch Ecstasy. Also eigentlich alles. Zum Schluss war die stärkste Droge der Alkohol, sehr hoch dosiert. Eine Flasche Schnaps zum Frühstück im Bett, sonst konnte ich nicht aufstehen. +Wann waren Sie an dem Punkt zu sagen: So kann es nicht weitergehen? +Nach 13 Jahren, und in dieser Zeit habe ich insgesamt sechs Entzüge gemacht. +Also hat der Entzug nicht auf Anhieb geklappt? +Nein, ich war in der Entzugsklinik, wurde entgiftet und bin danach immer wieder in mein altes Leben zurückgegangen. Man bekommt zwar gesagt, dass man seinen Freundeskreis meiden soll, aber irgendwo trifft man seine Freunde ja doch wieder. Irgendwann ist man der Meinung, man kann kontrolliert konsumieren, aber das ist Schwachsinn. Wer mir erzählen will, er hat Drogen unter Kontrolle, der lügt. Man braucht immer mehr, und man will immer mehr. +Wie muss man sich den Entzug vorstellen? Was passiert mit einem? +Der Blutdruck steigt, das Blut schießt einem aus der Nase und aus den Ohren, die Zunge verfärbt sich schwarz. Ich habe Blut und Galle gespuckt und Kot erbrochen. Ich habe fantasiert, hatte Halluzinationen, habe Sachen gesehen, die gar nicht da waren, und konnte nicht mehr zwischen Traum und Realität unterscheiden. Ich habe um mein Leben gekämpft. Zweimal bin ich fast gestorben und musste wiederbelebt werden. +Wie haben Sie es geschafft, die Schleife Sucht–Entzug–Sucht zu durchbrechen? +Letztendlich konnte und wollte ich so nicht weitermachen. Ich dachte mir: Entweder du schaffst es jetzt, oder du machst Schluss. Zudem litt ich nach dem letzten Entzug an dem für Alkoholiker typischen Korsakow-Syndrom: Mein Gehirn war zerschossen, und ich musste alles neu lernen. Ich habe sieben oder acht Jahre gebraucht, bis ich wieder klar denken konnte. Ich musste neu lernen, meine Gitarre zu spielen. Und ich musste viele Menschen neu kennen lernen, weil ich nicht mehr wusste, wer sie sind. +Sind Sie danach je wieder rückfällig geworden? +Nein, nach dem letzten Entzug habe ich eine Gruppentherapie gemacht und danach nie wieder was genommen und auch nie wieder Alkohol getrunken. +Neben Ihrer Musik gehen Sie heute an Schulen und sprechen mit Jugendlichen über Drogen. Wie reagieren die? +Gut, auch wenn viele sich erst nicht angesprochen fühlen, weil sie denken, sie hätten alles im Griff. Ich sage ihnen dann, sie sollen mal einen Selbsttest machen: Drei Tage nicht kiffen und schauen, ob sie genauso gut schlafen wie vorher oder ob der Körper sich schon an die Droge gewöhnt hat. diff --git a/fluter/ich-habs.txt b/fluter/ich-habs.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fc8a033871e56db870a78ce94fcb0ed76596c2e1 --- /dev/null +++ b/fluter/ich-habs.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Die alles erklärende Weltformel zu finden ist eine der ältesten Sehnsüchte der Physik. Die Entdeckung des legendärenHiggs-Teilchensim Juli 2011 mit Hilfe des gewaltigen Teilchenbeschleunigers am CERN bei Genf hat den Suchenden wieder neue Hoffnung gegeben. Das Higgs-Boson verleiht anderen Teilchen wie Elektronen, Protonen oder Quarks die notwendige Masse, um sie in Bewegung zu setzen. Bereits 1964 hatte Peter Higgs die Idee von der Existenz des "Gottesteilchens" entwickelt. Mit dem Fund fügten die Wissenschaftler dem sogenanntenStandardmodell der Teilchenphysikden letzten Baustein hinzu. In diesem Modell sind alle Kenntnisse zusammengefasst, die den Aufbau von Materie und die Wechselwirkung der Materieteilchen untereinander beschreiben. So weit, so gut. Allerdings hat dieses Modell ein paar Haken. Es erklärt nicht die Phänomene derdunklen Materie, die das Universum zusammenhält, und derdunklen Energie, die den Kosmos auseinandertreibt. Diese rätselhaften und bis heute nahezu unerklärten Phänomene machen rund 95 Prozent des Universums aus. Der dritte bekannte Haken: Das Standardmodell lässt die Rolle der Gravitation auf die Materieteilchen außer Acht. Wer aber die Weltformel finden will, muss auch deren Gesetzmäßigkeiten berücksichtigen.Die String-Theorie versucht diesen Makel zu beheben. Allerdings haben sich Mathematiker und Physiker hierfür ein hochkomplexes Modell erdacht, das kaum vorstellbar ist. "Ein String ist quasi eine eindimensionale, vibrierende Saite",erklärt Thomas Grimm, Forscher am Max-Planck-Institut für Physik in München. "Und die einzelnen Vibrationszustände charakterisieren dann die Teilchen unseres Universums." Damit wären nicht Elektronen oder Protonen die kleinsten Bauteile, sondern ebenjene Strings, die durch ihr Schwingen Protonen oder Quarks mit Hilfe von Gravitationswellen aufbauen. Diese Theorie mag eine Herausforderung für besonders heiße Denker und Rechner sein. Allerdings konnten noch keine Experimente ihre Existenz beweisen. +Fährt in der physikalischen Grundlagenforschung einen ganz heißen Reifen: Das Helmholtz-Zentrum für Materialien und Energie in Berlin +Physiker wie der US-amerikanische Nobelpreisträger Robert B. Laughlin halten die String-Denker deswegen – salopp gesagt – für realitätsferne Spinner. In seinem Buch "Abschied von der Weltformel" wirft er den String-Theoretikern ideologisches Arbeiten vor, mit dem sie horrende Forschungsgelder verpulvern würden.Er lehnt es ab, physikalische Gesetzmäßigkeiten zu erklären, indem man sie in immer kleinere Bauteile zerlegt. Der Mensch liebe eben absolute Fragestellungen, was aber nicht heiße, dass die Natur dies ohne Widersprüche wiedergebe. Die Physik müsse sich wieder mehr auf Alltagsfragen konzentrieren, so Laughlin. Auch der berühmte Physiker Stephen Hawking hat seinen Glauben an die Existenz einer "Theorie von allem" mittlerweile aufgegeben. Bei einem Vortrag im Jahr 2003 bekannte er:  "Manche Leute werden enttäuscht sein, wenn es keine endgültige Theorie gibt, die mit einer endlichen Zahl von Prinzipien formuliert werden kann. Ich gehörte in dieses Lager, aber ich habe meine Meinung geändert. Jetzt bin ich froh, dass unsere Suche nach Erkenntnis nie enden wird und wir stets die Herausforderung zu neuen Entdeckungen haben." +Die Bilder +Für die Fotoarbeit "My Beamline", die auch oben in der Galerie zu sehen ist, hat der Fotograf Kevin Fuchs ein Jahr lang die Wissenschaftler am Helmholtz-Zentrum für Materialien und Energie Berlin (HBZ) bei ihrer physikalischen Grundlagenforschung begleitet. Die Forscher sind auf der Suche nach Struktur und Aufbau der Materie, aus der sich alles zusammensetzt. Stark vereinfacht gesagt werden Elektronen im "Synchroton Booster" zuerst extrem beschleunigt und dann in einen kreisförmigen Speicherring geleitet. Dort werden sie von starken Magneten auf einer Kreisbahn gehalten und senden dabei Photonen aus. Die "Farben" des Photons – sie erstrecken sich von sichtbarem Licht bis zum Röntgenbereich – sind für verschiedensten Experimente wertvoll. Deshalb wird dieses Licht durch rund fünfzig angeschlossene Strahlrohre weitergeleitet, an deren Ende Versuchsaufbauten stehen. Und dies ist nur eine von mehreren Experimentierhallen. In den Bildern von Kevin Fuchs wirken die Forschungsplätze wie futuristische Abenteuerspielplätze. Sie sind auch in einem Bildband mit dem Titel "My Beamline – Eine fotografische Auseinandersetzung mit einem Ort der Forschung" erschienen. www.kevinfuchs.com +In der Forschungseinrichtung BESSY II: Mit Aluminiumfolie werden die Geräte isoliert. +Auch in der BESSY II: Flüssigstickstoff wird nachgefüllt +Jingyi Mo, Doktorandin von der Queen Mary University of London – und ein Übersichtsplan von der Experimentier- und Speicherringhalle BESSY II +Beim Aufbau eines neuen Experiments +Eine Kühlpumpe. Und ein Genie: Ilya Klimovskikh, Forschungsingenieur von der Staatsuniversität Sankt Petersburg +Eindeutig eine andere Liga als der Experimentierkasten Kosmos 2000 +Eine Vakuumpumpe. Und ein Überflieger: Dr. Matthias Reinhardt von der Forschergruppe Ultraschnelle Dynamik (Humboldt-Universität zu Berlin) +Arbeit am Experiment BESSY II +Im Gebäude des HZB streben nicht nur die Forscher nach Höherem +Dr. Enrico Schierle von der Abteilung Quantenphänomene in neuen Materialien +Teil eines Experiments, ein Aktenschrank mit Ergebnissen und ein Plan der Neutronenleiterhalle +Manche Versuchsaufbauten regen zu Science-Fiction-Fantasien an +Prof. Dr. Christian Pettenkofer vom Institut Silizium-Photovoltaik. Daneben das Periodensystem und Mr. Bean. Oder treffender: Mr. Beam? diff --git a/fluter/ich-hau-ab.txt b/fluter/ich-hau-ab.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..aa6a37466bdb88bba144291587f8fc6eb2bd0e64 --- /dev/null +++ b/fluter/ich-hau-ab.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Wie gehe ich damit um, dass ich weiß, dass ich bin, wie es bei Descartes heißt? Dass man am Wochenende unbedingt zusammen mit der Familie essen muss, wenn ich Essen eher als zweckmäßig ansehe, kann natürlich nerven. Und dass ich mit meinen Geschwistern streite, wo ich sie doch sehr mag, ist schade. Meine Schwester ist noch jünger, und mein Bruder wohnt nicht mehr zu Hause; letztes Jahr habe ich ihn kaum gesehen, und wenn ich ihn gesehen habe, dann hat sich das eine Weile so angefühlt, als hätten wir uns stängig in den Haaren. Grundsätzlich sind meine Eltern nicht besonders streng. Es gibt nicht viele Regeln, dennoch möchte ich selbst entscheiden, was ich für richtig und für falsch halte. +Wenn ich mir die Zukunft erträumen darf, dann sieht sie so aus, dass ich erst in eine WG ziehe. Da bin ich nicht gleich ganz auf mich allein gestellt und mit Menschen zusammen, denen es ähnlich geht wie mir. Dann, nach einem abgeschlossenen Studium, würde ich gern alleine wohnen und als Redakteur arbeiten, bei einer Philosophie- oder Theaterzeitschrift vielleicht. Wobei mein eigentliches Ziel ist, in die Politik zu gehen – Bundestagsabgeordneter in Berlin zu werden. Dort zieht es mich wieder hin, ich bin in Berlin geboren und Ende der zweiten Klasse mit meiner Familie nach Bremen gezogen. Ich könnte mir aber auch vorstellen, nach dem Abi ein Jahr ins Ausland zu gehen. Obwohl ich nicht so der super Sprachentyp bin. Nur eine eigene Familie zu haben, kann ich mir im Moment überhaupt nicht vorstellen. Mit der Politik, die es gibt, Parteien, die von Konzernen Geld annehmen, mit dem CO2-Ausstoß oder Regenwäldern in Ecuador, die zu Ölfeldern werden, halte ich die Welt gerade nicht für einen idealen Platz, um Kinder hineinzu-setzen. Andererseits hat das auch egoistische Gründe: Ohne Kind habe ich mehr Zeit für meine Freunde und mich. diff --git a/fluter/ich-ist-ein-anderer.txt b/fluter/ich-ist-ein-anderer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..09dd0023aa1b042b6b71efb1cb9d82758f3a91ef --- /dev/null +++ b/fluter/ich-ist-ein-anderer.txt @@ -0,0 +1 @@ +In den USA führen alle Arbeitgeber elektronische Backgroundchecks mithilfe der großen Datenbanken durch. Mit einem Mausklick und einer Internetverbindung zu einem der großen Datenhändler liegt den Unternehmen so die gesamte Lebensund Arbeitsbiografie offen. Da die Arbeitgeber nicht verpflichtet sind, den Bewerbern mitzuteilen, warum sie jemanden ablehnen, hatte Bronty Kelly lange Zeit keine Ahnung, warum er ständig abgelehnt wurde. Erst die Recherchen eines TVReporters brachten Klarheit. "Auf meinen Namen waren etliche Haftbefehle ausgestellt. Kellys Datenklon hatte sich kurzerhand bei jeder Verhaftung mit einem Führerschein und einer Sozialversicherungskarte ausgewiesen, die auf Kellys Namen ausgestellt waren.Aber auch mit einer neuen Sozialversicherungsnummer fiel Kelly seltsamerweise bei jeder Bewerbung durch. Diesmal stolperten die Computer darüber, dass Kelly keine Eintragungen über Arbeit und Kreditkartennutzung hatte. Dass ein 40-Jähriger kaum Datenspuren hinterlassen hatte, seine Konsumgewohnheiten nicht erfasst waren. Von dieser Spezies gibt es in den USA nur noch wenige Exemplare: Die meisten davon sind Exmafiosi, die sich im Zeugenschutzprogramm befinden. diff --git a/fluter/ich-klage-an.txt b/fluter/ich-klage-an.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..53d339fc1d43c01be28be16689d84ed12a3b9ffb --- /dev/null +++ b/fluter/ich-klage-an.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Warum eigentlich Gewalt, und warum vierte? Der Staatstheoretiker Montesquieu sprach im 18. Jahrhundert im Zuge der Aufklärung erstmals von den drei Gewalten: Judikative (Rechtsprechung), Legislative (Gesetzgebung) und Exekutive (ausführende Gewalt). Sein Zeitgenosse Jean-Jacques-Rousseau bezeichnete die Presse dann als vierte Säule des Systems. Die Medien machen keine Gesetze und schicken auch keine Polizisten los, um sich zu schützen. Aber durch kritische Berichterstattung können sie die anderen Gewalten kontrollieren und die Verhältnisse verändern. +Außerdem dienen sie als Informationsträger der Gesellschaft, damit sich diese als kritische Öffentlichkeit konstituieren und artikulieren kann. Das kann natürlich nur funktionieren, wenn der Staat seinerseits die Medien nicht kontrolliert. +Deshalb war der Kampf für die Pressefreiheit und gegen die staatliche Zensur eines der wichtigsten Ziele der Aufklärung. Die Presse war das entscheidende Instrument für das politisch gebildete Bürgertum, sich untereinander austauschen und auf den Staat einwirken zu können. Das erste Gesetz zur Abschaffung der Zensur wurde 1695 in England eingeführt. +Die Gründungsväter der ersten demokratischen Verfassung, der der Vereinigten Staaten, erkannten, wie fundamental eine freie Presse für eine freiheitliche Demokratie ist. "Wäre es an mir zu entscheiden, ob wir eine Regierung ohne Zeitungen oder Zeitungen ohne eine Regierung haben sollten, sollte ich keinen Moment zögern, das Letztere vorzuziehen", schrieb Thomas Jefferson. Die Pressefreiheit wird im ersten Zusatzartikel der Verfassung (First Amendment) sogar garantiert: "Der Kongress wird kein Gesetz erlassen […], das die Freiheit der Rede […] oder die der Presse einschränkt." +Diese Freiheit machten sich Journalisten und Schriftsteller wie Benjamin Flower, Ida Tarbell oder Upton Sinclair zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunutze. Sie enthüllten durch systematische Recherche schmutzige Geschäfte und Korruption in Wirtschaft und Politik. Der damalige Präsident Theodore Roosevelt bezeichnete sie als "Muckraker" (in etwa "Schmutzaufwühler", siehe auch Seite 36). Der Name blieb. Die berühmtesten Muckraker brachten später den mächtigsten Mann der Welt zu Fall. Carl Bernstein und Bob Woodward von der Washington Post deckten 1973 im Zuge der Watergate-Affäre die dunklen Machenschaften des Präsidenten Richard Nixon auf, der ein Jahr später zurücktrat.In Deutschland hatten es die Medien traditionell schwerer, ihre Rolle als vierte Gewalt wahrzunehmen. Das bekam auch Philipp Jakob Siebenpfeiffer zu spüren. Die von ihm herausgegebene Zeitschrift "Rheinbayern " zierte das Motto: "Die Aufgab' ist Stoff zu bieten, nicht zum Lesen, sondern zum Denken." 1832 organisierte er die erste deutsche Großdemonstration, als 30.000 Menschen auf das Hambacher Schloss in der Pfalz zogen, um für Freiheit und Demokratie einzutreten. Doch Siebenpeiffer wurde verhaftet und musste in die Schweiz fliehen. Erst 1919, in der Weimarer Republik, wurde das Recht auf eine zensurfreie Presse in die Verfassung aufgenommen. Trotzdem wurde dieses Recht immer wieder durch den Staat ausgehöhlt. Das trat vor allem im "Weltbühne-Prozess" zutage. Nach einem Artikel über die geheime und durch den Versailler Vertrag verbotene Aufrüstung der Reichswehr wurde Carl von Ossietzky als verantwortlicher Redakteur im November 1931 wegen Landesverrats angeklagt und zu 18 Monaten Haft verurteilt.Unter den Nationalsozialisten war es Joseph Goebbels, der das Potenzial der Medien, vor allem des Radios, als Propagandainstrument erkannte. Die täglichen Pressekonferenzen des Ministeriums für Propaganda und Informationen hatten den Charakter einer Befehlsausgabe. Jeder Journalist, der arbeiten wollte, musste der Reichspressekammer beitreten und seinen Beruf in Einklang mit der nationalsozialistischen Weltanschauung ausüben. In der DDR war das nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wesentlich anders. Artikel 27 der Verfassung garantierte zwar jedem Bürger das Recht, seine Meinung frei zu äußern sowie die Freiheit der Presse. Das Strafgesetzbuch aber stellte "staatsfeindliche Hetze" und den Missbrauch der Medien für die bürgerliche Ideologie unter Strafe.Zur indirekt kontrollierenden und nicht direkt kontrollierten Instanz konnten die Medien erst mit massiver Geburtshilfe der Alliierten in der Bundesrepublik werden. In Artikel 5 des Grundgesetzes wurde die Pressefreiheit festgeschrieben. Dort heißt es: "Eine Zensur findet nicht statt." Sorgfältig ausgewählte und überprüfte deutsche Journalisten und Verleger durften nach dem Zweiten Weltkrieg Lizenzen erwerben, Zeitungen machen und in Funkhäusern tätig werden. Die neuen Zeitungen sollten im Idealfall das vollkommene Gegenteil der gleichgeschalteten NS-Presse sein. Nach angelsächsischem Vorbild sollten sie objektive Berichterstattung im Nachrichtenteil bieten und, säuberlich davon getrennt, Meinungsvielfalt auf den Kommentarseiten. Beim Aufbau eines öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems nahmen die Briten die Vorreiterrolle ein. Sie gestalteten die neuen Sender nach dem Modell der "BBC".Doch richtig heimisch wurde die vierte Gewalt in Deutschland erst 1962. In seiner Titelgeschichte hatte der "Spiegel" die Kampfkraft und Strategie der Bundeswehr analysiert. Ergebnis: Sie wäre im Falle eines Angriffs des Warschauer Pakts nur "Bedingt abwehrbereit" (so der Titel). Angeblich hatte der stellvertretende Chefredakteur Conrad Ahlers dafür geheime Unterlagen verwendet. Für Kanzler Konrad Adenauer und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß war das Landesverrat. Vor allem Strauß, offenbar vom Rachebedürfnis an Spiegel-Gründer und Herausgeber Rudolf Augstein getrieben, den er einen "publizistischen Robespierre " nannte, verrannte sich in die Angelegenheit. Er ließ mehrere Redakteure festnehmen, darunter Ahlers, der extra von Spanien, wo er im Urlaub weilte, ausgeliefert werden musste. Augstein verbrachte 103 Tage in Untersuchungshaft. Die Redaktionsräume wurden durchsucht. Die Parallelen zum Weltbühne-Prozess waren offensichtlich, doch diesmal ging es anders aus. Nach Massenkundgebungen und Protesten fast sämtlicher Medien entschied der Bundesgerichtshof für den "Spiegel". Strauß, der eigentlich Adenauer als Kanzler beerben wollte, aber im Zuge der Spiegel-Affäre auch das Parlament belogen hatte, musste zurücktreten. diff --git a/fluter/ich-muss-mich-taeglich-verleugnen.txt b/fluter/ich-muss-mich-taeglich-verleugnen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8104a3479009966492406b8e6677eedc8faa3e3e --- /dev/null +++ b/fluter/ich-muss-mich-taeglich-verleugnen.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Ich würde leugnen, ganz klar. Versuchen, das Thema komplett aus der Öffentlichkeit zu halten. Je mehr geredet wird, desto höher ist auch der Druck auf mich. Die große Diskussion um meine Person kann ich mir einfach nicht erlauben. +Ist der Druck nicht ohnehin schon immens? +Natürlich. Der Preis für meinen gelebten Traum von der Bundesliga ist hoch. Ich muss täglich den Schauspieler geben und mich selbst verleugnen. Am Anfang war es ein großes Spiel und kein Problem, doch mit der Zeit zehrt es sehr an mir. Ich weiß nicht, ob ich den ständigen Druck zwischen dem heterosexuellen Vorzeigespieler und der möglichen Entdeckung noch bis zum Ende meiner Karriere aushalten kann. +Aber was wäre so schlimm daran, wenn es rauskäme? Es schaltet auch niemand ab, wenn im Showgeschäft der schwule Entertainer Hape Kerkeling eine Sendung moderiert. +Ich denke, Fußball und die Medien sind komplett verschieden. Auch wenn ich es natürlich dumm finde, passt das Klischee des "Standard-Schwulen" irgendwie in die bunte Welt des Fernsehens. Fußballer dagegen sind das männliche Stereotyp schlechthin. Sie müssen Sport lieben, aggressiv kämpfen und gleichzeitig das große Vorbild sein. Schwule sind das alles einfach nicht. Punkt. Oder soll jemand eine aufgebrachte Menge von Fans vor dem Spiel aufklären, dass "die Schwulen" eigentlich auch nur ganz normale Männer sind und gleich mitspielen? Unvorstellbar. In der Situation im Stadion oder nach dem Spiel wird jeder kleine Anlass in der Gruppe zu einer ganz großen Angelegenheit. Ich wäre nicht mehr sicher, wenn meine Sexualität an die Öffentlichkeit käme. +Bist du dann wütend auf die Fans? +Nein, ganz sicher nicht. Ich habe mal gehört, dass in solchen aufgeheizten Stimmungen nur noch das Kleinhirn im Menschen regiert, und da ist eben Toleranz nicht eingebaut. Das muss auch ich im Stadion akzeptieren, und die Fans sind einfach der unverzichtbare Motor, der auch mich jeden Spieltag antreibt. Generell reflektiert ein Heterosexueller kaum seine Sexualität. Niemand käme schließlich auf die Idee, mehrere Jahre sich selbst danach zu fragen, ob das eigene Empfinden auch wirklich real ist. Es passt schließlich in die Welt. Von meiner Position aus muss man auf Toleranz hoffen – Verständnis wird es nie geben. Dazu ist das Thema zu persönlich, und auch wir Schwulen sind da nicht besser, wenn es um Lesben oder auch Heterosexuelle geht. Toleranter sind wir aber allemal. Aber selbst wenn ich mit den Fans klarkäme, wäre die pure Öffentlichkeit schlimmer. +Warum eine solche Angst vor der Öffentlichkeit? +Die Geschichten, Titelseiten und Magazine. Alle würden gerne rausfinden, was ich wohl Schlimmes mit meinem Partner unter der Bettdecke anstelle. Wer beim supermännlichen Fußballspieler wohl unten und wer oben liegt. Da gibt es vieles! Meine Leidenschaft, der Fußball, wäre irrelevant. Entweder spaziere ich mit meinem Freund zu einem Event und bin danach drei Wochen in allen Medien oder ich berufe mich auf meine Privatsphäre und belüge mich selbst. Es gibt einfach keine Lösung. Unmöglich, einfach wie ein heterosexueller Spieler den neuen Partner zu präsentieren und am nächsten Tag vergessen zu werden. Normalität gibt es nicht. Zumindest wäre es für mich nicht normal, eine ganze Nation mein Intimleben diskutieren zu lassen. Das hat nur mich und die Person neben mir zu interessieren. +Und gibt es "die Person neben dir" – um zumindest eine der verhassten Fragen zu stellen? +Hier und heute finde ich die Frage sogar extrem wichtig. Diese Person gibt es bei mir nicht und bei anderen mir bekannten Spielern auch nicht. Obwohl: Ich hatte sogar einmal eine Beziehung. Aber du kannst dir vorstellen, dass ein monatelanges Versteckspiel pures Gift für eine Partnerschaft ist. Ich musste mich entscheiden. Klar, der Erfolg im Fußball danach war schön. Der Preis war entsprechend. +Statt des Freundes gibt es dann die bezahlte Spielerfrau für die wichtigen Anlässe? +Das Klischee ist leider im Grunde wahr. Zu manchen Anlässen kann ich einfach nicht alleine kommen, und dann gibt es immer Wege. Das machen auch alle so. Nur bezahlen musste ich nie – schließlich habe ich als richtiger Schwuler auch beste Freundinnen. +Du hast gerade andere Spieler angesprochen. Gibt es eine Art "Club der schwulen Bundesligaspieler", und weiß der Rest der Mannschaft von deiner Homosexualität? +(lacht) Nein, einen Club gibt es nicht. Ganz im Gegenteil. Ich weiß zwar von mehreren Spielern in der Liga. Richtige Treffen gibt es aber nicht – wäre wohl auch etwas zu auffällig. Das ist eine schwierige Parallelexistenz, die sich auch in der Mannschaft fortsetzt. Gesprochen wird kaum darüber, aber eigentlich müsste jeder Bescheid wissen. +Gibt es dann keine Probleme in der Mannschaft? +Überhaupt nicht. Ich kenne keinen Spieler in der ganzen Liga, der damit ein Problem hat. Es gibt sogar manche, die mit großem Interesse nachfragen – aber das ist wirklich die absolute Ausnahme. Natürlich sind einige Situationen wie das Duschen am Anfang für beide Seiten unangenehm. Ich habe aber kein Interesse an den Mitspielern, und irgendwann ist es für alle Seiten egal. Schließlich sind die Kollegen nicht ignorant. +Und was fragen dann so manche Kollegen? +Ach, ganz technisches Interesse kommt da zutage. (lacht) Aber auch nach dem Freund wird gefragt. Schließlich kenne ich die Geschichten der Kollegen schon aus der Zeitung, und bei mir muss erst gefragt werden. Alles total normal. +War ein Outing nach der positiven Stellungnahme des DFB durch Theo Zwanziger auch keine Option? +Nicht wirklich. Das ist alles gut gesagt, wenn man nicht am nächsten Spieltag ins Stadion muss. Vielleicht wäre es zu verschmerzen, wenn sich mehrere Spieler outen würden, aber selbst da sehe ich momentan wenig Hoffnung. Schließlich wäre es dann immer noch eine Minderheit, auf der man vorzüglich herumreiten könnte. +Warum hast du dich für das Interview entschieden? +Es ist wichtig, den ersten Schritt zu tun. Ich probiere mich gerade dabei selbst aus. Außerdem kannst du meine Situation nachvollziehen, und da spricht es sich einfacher. Andere wagen trotz der Anonymität nicht den Schritt. Vielleicht fühlen sich meine Kollegen nicht aufgefordert. Ich würde es mir wünschen. Wir können uns in einem Jahr wieder sprechen, und dann kann ich vielleicht meinen Namen unter das Gesagte setzen. +Wie sieht deine Zukunft aus? +Im Fußball weiter an mir zu feilen – schließlich habe ich noch einige Wünsche, die ich mir erfüllen möchte. Privat wird sich an der Situation nichts ändern. Ich würde mich natürlich sehr freuen, falls auf einmal die Lawine der Outings losbräche und ich auch einmal staunen könnte, wen ich doch noch nicht kenne. Ein Stück Normalität würde mich schon freuen. Einfach mit einem zukünftigen Partner in aller Öffentlichkeit ins Restaurant gehen. Ein Traum. diff --git a/fluter/ich-psycho.txt b/fluter/ich-psycho.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..32d6738b5cc7fecb1a395fb7b9e44a0f146a2129 --- /dev/null +++ b/fluter/ich-psycho.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Manche dieser Ängste hat Marie schon lange, andere kamen mit der Zeit dazu. Ganz alt ist ihre Angst vor engen, geschlossenen Räumen, Klaustrophobie genannt. Sie befiel sie zum ersten Mal im Kindergarten, da war sie zwei Jahre alt. Damals sollte sie in einen Karton kriechen und weigerte sich so vehement, dass der Kindergärtner ihre Eltern fragte, was mit ihr nicht stimme. Aber die fanden es ganz normal, dass ein Kind nicht in einen kleinen Karton krabbeln will. +Doch bald war es nicht mehr nur ein Karton, in den sie nicht wollte, bald machten ihr geschlossene Räume Angst und irgendwann auch das Autofahren. Und dann passierte etwas, das alles noch viel schlimmer machte: Als Marie fünf Jahre alt war, verschwand ihre Mutter. Einfach so, ohne Bescheid zu sagen. Zwar nur für eine Woche, aber die reichte, um Marie zu verunsichern. Um ihr zu zeigen, dass sie auf manche Sachen keinen Einfluss hat, dass manche Dinge einfach so geschehen. Auch die schlimmen. In der Psychotherapie geht man davon aus, dass Ängste wie Klaustrophobie oder die sogenannte Agoraphobie (das ist die Angst vor öffentlichen Plätzen oder weiten Räumen und großen Menschenmengen, auch Platzangst genannt) durch Erlebnisse des Kontrollverlusts ausgelöst werden. Das kann eine traumatische Erfahrung des Verlassenwerdens sein oder eine Gewalttat. Bei manchen Menschen führt das dazu, dass sie keine Situationen ertragen, über die sie letztlich keine Kontrolle haben. Wie bei Marie: Sie kann den Zug nicht anhalten, wenn ihr danach ist; der Aufzug könnte stecken bleiben; das Schiff sinken; und das Flugzeug, dessen Enge allein schon eine Zumutung ist, wird nicht landen, bloß weil sie aussteigen möchte. +Die Angst beginnt im Kopf, aber sie befällt schnell den ganzen Organismus. Erst beginnt Marie zu zittern und zu schwitzen. Ihr Puls wird schneller, sie hat das Gefühl, keine Luft mehr zu kriegen, manchmal kommen noch Bauchschmerzen dazu. Als Außenstehender bekommt man das alles gar nicht mit – nur, dass Marie apathisch wirkt. "Wenn die Leute mich dann so zitternd an der Supermarktkasse sehen, denken sie bestimmt, ich sei Alkoholikerin, aber in Wirklichkeit stehe ich da gerade Todesängste aus." +Es ist natürlich verrückt zu glauben, dass man einfach so an der Supermarktkasse stirbt, nur weil sich der Kopf das ausdenkt. Aber genau so funktioniert es: Im einen Moment ist Marie noch ganz ruhig, und plötzlich überlegt sie, wie schlimm es wäre, wenn sie keine Luft mehr bekäme oder einen Herz­infarkt. Und prompt beginnt ihr Körper, ihre Atmung zu ­behindern oder ihr Herz schneller schlagen zu lassen. "Ich weiß, es klingt seltsam, aber ich denke in solchen Momenten tatsächlich, dass ich sterben könnte", sagt Marie. Wenn niemand da ist, der ihr hilft und die Symptome ihrer Panikattacke richtig deutet, muss Marie ihre Angst ausstehen – bis der Körper so erschöpft ist, dass er die fixe Idee nicht mehr aufrechterhalten kann. Das kann eine halbe Stunde dauern, und wenn Marie danach nicht sofort etwas isst, bricht sie vor Erschöpfung zusammen. +Ein Karton, in den man nicht steigen will, eine Mutter, die einfach mal für eine Woche verschwindet, ohne sich zu ver­abschieden. Es ist in Maries Kindheit noch ein bisschen mehr vorgefallen. Als sie zehn war, zogen ihre Eltern von der Groß- in ­die Kleinstadt. In der neuen Schule wurde sie gehänselt, weil sie so anders aussah als die anderen, nicht so ordentlich. "Ich kam ja aus so einer Art Hippiehaushalt, da war ich den anderen schon suspekt", sagt Marie. Gleich am ersten Tag an der neuen Schule ließ sie der Lehrer vor die Klasse treten, wo sie ein Lied singen musste – selbst dann noch, als die anderen Kinder lachten und sie weinen musste. +Danach schwor sie sich, nie wieder ein Wort mit den Lehrern zu wechseln, was sie bis zum Abi durchhielt. "Mündlich habe ich immer eine Sechs bekommen und schriftlich eine Eins bis Zwei", sagt Marie. Das habe schließlich gereicht. Man kann sagen, sie hatte die Situation unter Kontrolle, zumindest in der Schule. Zu Hause leider nicht. Marie wurde erneut aus der Bahn geworfen, als ihre Mutter von einem Tag auf den anderen die Familie verließ und mit einem neuen Mann zusammenzog. Von da an war auch ihr Vater nicht mehr richtig anwesend, zurückgezogen in seiner Trauer. +Heute, rund 20 Jahre später, hat Marie ein gutes Verhältnis zu ihrer Mutter. Ihr Therapeut sagt, dass sie ihr verziehen habe, dass aber die Seele nichts vergesse. Dass ihre Ängste auch ein Mittel sind, ihre Mutter, die oft nicht da war, ein Leben lang an sich zu binden. Marie sagt dazu: "Kann schon gut sein." Und dass sie ihre Mutter heute gern ein bisschen für sich einspanne. Dafür, sie irgendwohin zu bringen, auf ihren sechsjährigen Sohn aufzupassen oder zu kochen, wenn sie selbst keine Lust dazu hat. "Ich glaube, sie hat ein ziemlich schlechtes Gewissen", sagt Marie. +Anfang dieses Jahres war Marie für fast zwei Monate in einer Klinik, wo sie jeden Tag in eine Gesprächstherapie ging. In Einzelsitzungen oder in der Gruppe. Viele, die sie dort traf, hatten ähnliche Ängste. "Aber irgendwie war ich die Dienstälteste. Manche bekamen erst seit zwei Jahren Panik­attacken, da konnte ich nur lächelnd zuhören." Und manche schienen ihr auch übel zu nehmen, dass sie immer so gut gelaunt war. +Denn über all die Jahre ist Marie kein vergrübelter Trauerkloß geworden, kein Angsthase, dem das Leben keinen Spaß macht. Im Gegenteil: Selbst wenn sie vom Kampf gegen ihre Ängste erzählt, versprüht sie gute Laune. Sie habe ja ein irre schönes Leben, sie liebe ihre Familie, ihren Job als Modedesignerin, und damit, dass sie New York wahrscheinlich nie sehen wird, hat sie sich abgefunden. Inzwischen verzichtet Marie auch auf Sport, da ihr Körper bei einer schnelleren Atmung ganz automatisch in den Panikattackenmodus schaltet. Das ist ihr ein bisschen zu stressig. +Gebracht hat ihr der Aufenthalt in der Klinik nichts. Genauso wenig wie eine andere Behandlung, der sich Marie vor ein paar Jahren unterzog. Bei der Konfrontationstherapie geht es darum, dass man sich seinen Ängsten schonungslos ausliefert. Für Marie hieß das, dass sie ganze Tage mit dem Fahrstuhl fuhr oder in der überfüllten U-Bahn durch eine fremde Stadt. Dann wieder flog sie morgens nach Mallorca und abends zurück, oder sie wurde in dunkle, enge Räume gesperrt. "Der absolute Horror" sei das gewesen, sagt Marie. Am Ende hatte sie 12.000 Euro dafür bezahlt und fünf Kilo abgenommen. Die Ängste aber waren noch da. +Dass ihr eine Therapie helfen könnte, daran glaubt  Marie nicht mehr. Aber dass sie ihre Krankheit in all den Jahren richtig erforscht hat, das hat ihr schon sehr geholfen. Sie weiß jetzt, dass ein stabiles Umfeld für sie das Wichtigste ist. Keine Schicksalsschläge wie vor einigen Jahren, als ihr Vater ganz plötzlich an einem Herzinfarkt starb. Oder als sie monatelang um das Leben ihres neugeborenen Sohnes bangen mussten. Da kamen die Panikattacken so oft wie lange nicht mehr. +Mittlerweile merkt Marie schon morgens nach dem Aufwachen, ob es ein guter Tag wird. Oder einer, an dem sie mitten auf dem Weg zur Arbeit ein komisches Gefühl beschleicht, das sich schnell zu einer massiven Beklemmung ausweitet – zu der Vorstellung, hier und sofort ersticken zu müssen, weil niemand da ist, der ihre Not bemerkt und sie ins Krankenhaus bringt. +Neulich hat sich Marie mit ein paar Freunden getroffen, die sie bei ihrem letzten Klinikaufenthalt kennengelernt hat. "Alles Psychos wie ich", sagt sie. Manche hatten die gleichen Probleme, manche ganz andere. Einer war sportsüchtig, weil er Angst hat, dass er sterben muss, wenn er sich nicht fit hält. Ein anderer konnte nicht im Dunkeln schlafen, zwei hielten sich für zu dick, obwohl sie schon fast unterernährt waren. +Sie alle sind auf eine Insel gefahren, um dort noch mal ganz ohne Therapeuten zusammenzusitzen – und ohne die, die sich nicht vorstellen können, dass es sehr erleichternd sein kann, über seine Macken zu lachen. Natürlich war es auf Maries Wunsch hin eine Insel, auf die man mit dem Auto kommt. Auf dem Weg dorthin stand Marie im Stau. Kurz dachte sie darüber nach, was wäre, wenn sie jetzt Atemnot bekäme und der Krankenwagen nicht zu ihr durchkommen würde. Aber das dachte sie wirklich nur ganz kurz. Und dann ging es weiter. +Oliver Gehrs ist jetzt nicht so der ängstliche Typ. Umso mehr hat er mit diesem Porträt sein Einfühlungsvermögen als Autor unter Beweis gestellt. diff --git a/fluter/ich-sehe-das-als-weiterbildung.txt b/fluter/ich-sehe-das-als-weiterbildung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..db473dba9225a17b5766294f49994e2a957561fb --- /dev/null +++ b/fluter/ich-sehe-das-als-weiterbildung.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Lohnt es sich denn? +Kommt auf den Tag an. Manchmal sind es nach sieben Stunden nur vier Euro, manchmal aber auch 15. +Warum bettelst du überhaupt? +Moment. Ich bettele nicht, ich schnorre. Ich sitze ja nicht hier mit einem Schild, auf dem "Ich habe Hunger" steht. Ich entertaine die Leute. Hier geht keiner vorbei, der danach nicht ein Lächeln auf dem Gesicht hat. +Hast du nie gearbeitet? +Schon. Ich habe sogar eine Ausbildung als Gärtner und Landschaftspfleger. Ich kann auf Bäume klettern, und einen Lkw-Führerschein habe ich auch. Aber meine Firma hat irgendwann Pleite gemacht, danach habe ich Hartz IV bekommen, und dann sollte ich so seltsame Ein-Euro-Jobs annehmen. Aber das läuft nicht mit mir. Ich finde, für ehrliche Arbeit soll man auch ehrliches Geld bekommen. Und mir für weniger als fünf Euro in der Stunde das Kreuz zu ruinieren – darauf habe ich keine Lust. Ich bin raus aus dem System. Ich will nichts vom Staat, und der Staat bekommt nichts von mir. +Lebst du nur von dem Geld, das du schnorrst? +Sag das mal keinem, aber ab und zu arbeite ich eben schwarz. Da bekomme ich so zwischen sieben und zehn Euro die Stunde. Ich gebe ja nicht allzu viel aus. Zum Wohnen habe ich zum Beispiel einen alten Bauwagen. +Ist der Hund neben dir so eine Art Marketingmaß­ nahme, damit du mehr Mitleid bekommst? +Mitleid will ich gar nicht haben. Der Hund ist mir zuge- laufen, den wollte keiner. Ich schaffe mir doch kein Tier an, damit es beim Schnorren besser läuft. +Hat es dich Überwindung gekostet, als du dich zum ers­ten Mal hier vor den Lidl gesetzt hast? +Ja, klar. Das erste Mal ist schwer. Es kommen ja auch ständig Leute, die sagen: Geh arbeiten! Meistens sind das selbst Arbeitslose. Am schlimmsten sind die Hartz-IV-Empfänger. +Wissen deine Eltern, was du machst? +Klar. Die finden das nicht so schlimm. Die wissen ja, was ich draufhabe. +Wirst du irgendwann wieder normal arbeiten? +Ich denke schon. Ich habe ja viele Qualifikationen. Ich darf zum Beispiel Lastwagen bis zu 40 Tonnen fahren, selbst Bagger. Außerdem bin ich ein Multitalent. Das ist ja beim Schnorren überhaupt das Allerwichtigste. Ich sehe das hier sowieso als eine Art Weiterbildungsmaßnahme – vor allem in Sachen Überleben. diff --git a/fluter/ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst.txt b/fluter/ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1ce027c3f628bf3ba9e83384e263b094c353d245 --- /dev/null +++ b/fluter/ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Die populäre Trendforschung entstand sinnigerweise zeitgleich mit dem Aufkommen des 1980er-Jahre-Hedonismus, und sie hat sich seither zu einer weitverzweigten Branche entwickelt, mit etablierten Marken, ausgeklügelten Verkaufsstrategien und komplizierten Analysewerkzeugen. Fast alle großen Firmen haben Trendagenturen angeheuert oder gleich eigene Szenario-Abteilungen installiert. Hinter der Trendforschung steht die Theorie, dass sich Ideen wie Epidemien verbreiten. Diffusion nennt das die Soziologie. Eine der berühmtesten Diffusionsstudien ist die Beobachtung zur Entwicklung des Hybridmais in den 1930ern. Die neue Maissorte war den alten deutlich überlegen. Trotzdem dauerte es 20 Jahre, bis sie sich durchsetzte. Die Diffusionsforscher nannten jene Bauern, die schon 1928 den Maisanbau umstellten, "Innovatoren", die etwas größere Gruppe, die von ihnen den Mais übernahm, waren die "Early Adopters". Sie waren Meinungsführer im Dorf, respektierte Leute, die die Innovatoren genau beobachteten und ihnen dann folgten. Nach Jahren folgte die "skeptische Masse", jene, die nie etwas verändern würden, bevor nicht auch die erfolgreichsten Bauern es vorgemacht hatten. Aber auch sie wurden vom "Hybridmais-Virus" erfasst und übertrugen ihn schließlich auf die Ewiggestrigen, die "Nachzügler". +Was aber können Trendforscher vorhersagen? Bekannt ist die Hamburger Trendbastelstube vor allem dafür, dass sie gesellschaftliche Strömungen in smarte Worte kleidet, die jeder versteht und die doch neu klingen. Die Top Drei der letzten zehn Jahre: "Ich-AG" (der Mensch wird sein ganzes Leben dem beruflichen Erfolg unterordnen, 2000), "Eigenzeit" (wenige werden mehr Überstunden machen, und viele haben dadurch weniger zu tun, 2003), "Karma-Kapitalismus" (Spiritualität und Nachhaltigkeit werden ein neuer Markt, 2007). Wenn man die jungen Leute betrachtet, die in schlechter Haltung vor ihren Riesenbildschirmen über Markenstrategien brüten, soziale Netzwerke studieren oder Lavendel-Kaugummis aus Japan probieren, muss man auch mal grundsätzlich die Frage stellen, ob es nicht schon zu viele Aussagen, zu viele Analysen, zu viele Kanäle gibt. Wer kann da ehrlich behaupten, er habe noch den Überblick? Sind nicht die geflechtartigen Entwicklungen unserer Gesellschaft mit ihren Hunderten sich kreuzenden Erzählsträngen sowieso unbeschreibbar geworden? Hand aufs Herz: Aus ein paar Blogs große Trends abzulesen, scheint ungefähr so treffsicher, wie im Ozean nach Teufelskärpflingen zu fischen. +Gebhardt ist da, berufsbedingt vermutlich, anderer Meinung: die Benennung großer Entwicklungen sei zwar kompliziert, aber nicht unmöglich. Um den Überblick zu bewahren, unterscheidet die postmoderne Trendforschung zwischen Megatrends, die irgendwann jeden noch so realitätsfernen Waldorflehrer erreichen (wie die Digitalisierung), Produkttrends (wie "Coffee-to-go"), Konsumententrends (Produkte im Internet zu kaufen) und reinen Moden, die flüchtig sind und verschwinden, bevor die Mehrheit sie überhaupt wahrnahm (Fensterglasbrillen). Man möchte natürlich das Trendbüro testen – so, wie man beim Wahrsager ja auch wieder umkehrt, wenn auf das Anklopfen die Frage kommt: "Wer ist da?" Deshalb: Frau Gebhardt, was ist der nächste Megatrend? Die angenehm unaufgeregte 40-Jährige, die so gar nicht dem Klischee des nerdigen Trendscouts entspricht, denkt kurz nach, dann sagt sie: "Der Einzelne wird die Zielgruppe, N = 1." In Zukunft werden Produkte nach den Wünschen des Einzelnen produziert. Und dann gibt es noch Gegentrends, ergänzt Gebhardt. Deren Logik besteht darin, dass man Dinge oft erst zu schätzen weiß, wenn sie vorbei sind: "Alles, was zu verschwinden droht, gewinnt an Bedeutung." Ein schöner Satz. Der auch der Trendforschung Hoffnung macht. +Eine auf den ersten Blick noch unseriösere Art der Vorhersage ist das Wetten. Eines der interessantesten Wettbüros ist die Long Now Foundation in San Francisco (siehe auch den Text auf Seite 40). In einer gelungenen Kombination aus Spielerei und Ernst kann man auf der Website longbets.org statt auf DFB-Pokalergebnisse auf die Zukunft wetten. Ein paar Beispielwetten: Wetten, dass bis zum Jahr 2090 die Hälfte der Menschheit ausgerottet sein wird? Oder: Wetten, dass bis 2010 mehr als 50 Prozent aller Bücher auf digitalen Geräten gelesen werden? +Manche drehen auch ein ganz großes Rad: Wetten, dass man im Jahr 2100 keine klare Unterscheidung mehr machen kann zwischen Menschen und Maschinen? Das Wettbüro funktioniert so: Jeder, der wettet, muss eine fundierte Erklärung abgeben, wie seine Wette motiviert ist. Was zur Folge hat, dass nicht irgendwelche Spinner mit Halbwissen prahlen, sondern Experten ihre zwar teilweise abstrusen, aber nie inhaltsleeren Ideen vorstellen. Noch zwei Beispiele: Bis 2040 wird "Chi" als "Lebenskraft" von der Schulmedizin anerkannt sein, oder: Bis 2063 wird es weltweit nur noch signifikante Währungen geben. Dies sind Prognosen. Wer glaubt, eine Prognose machen zu können, wird kostenlos Mitglied bei Long Bets, tippt seine Vorhersage ein und begründet sie in fünf bis zehn Zeilen. Die Prognose wird online publiziert. Jetzt können andere Mitglieder die Prognose herausfordern. Sie setzen mindestens 200 Dollar (der US-Investor Warren Buffett setzte 1 Million Dollar), schreiben eine Erklärung, warum sie nicht an diese Prognose glauben und notieren, welcher Wohltätigkeitsorganisation das Geld im Erfolgsfall zugutekommen soll. So wird aus der Prognose eine Wette. +Long Bets ist ein kleiner Seitenarm der gewaltigen Long Now Foundation, einer NGO, die sich mithilfe finanzstarker Mäzene (unter anderem Jeff Bezos, dem Amazon-Gründer), einer ambitionierten Aufgabe gewidmet hat: unser Schneller/Billiger-Denken in einLangsamer/Besser-Denken zu wandeln. Also eine Art Slow Food für den Geist. Was soll das? Es geht darum, unsere Aufmerksamkeitsspanne zu verlängern. Nicht nur bis zum nächsten Geburtstag, bis zur nächsten Legislaturperiode denken, sondern in großen Bahnen. Zu diesem Zweck soll eine digitale Bibliothek gegründet und die "10.000-Jahre-Uhr" gebaut werden. Diese Uhr erklärt der Erfinder Daniel Hillis so: "Als ich ein Kind war, sprachen die Menschen vom Jahr 2000. Sie sprachen 60 Jahre lang von diesem Datum. Meine Zukunft schrumpfte jedes Jahr um ein Jahr. Jetzt haben wir dieses Datum überschritten und die Menschen sprechen von gar keinem Datum mehr. Ich möchte eine große mechanische Uhr bauen, die einmal pro Jahr tickt, einmal pro Jahrhundert schlägt und deren Kuckuck jedes Millennium einmal ruft." Man sollte das nicht zynisch abtun, denn die Uhr gibt es inzwischen. 10.000 Jahre – können wir uns das vorstellen? Und wenn ja, wird es noch Menschen geben, um diese Uhr in 10.000 Jahren zu bestaunen? Können wir uns die Welt in 500 Jahren vorstellen? Oder wenigstens in 50? Die Uhr ist einfach eine andere Art, die alte Max-Frisch-Frage zu stellen: Sind Sie sicher, dass Sie die Erhaltung des Menschengeschlechts, wenn Sie und alle Ihre Bekannten nicht mehr sind, wirklich interessiert? +Man kann die Leute von Long Now natürlich für Spinner halten, man kann aber auch über einige der eingereichten Wetten nachdenken: Kevin Kelly, Mitgründer der Initiative, wettet zum Beispiel, dass bis 2060 weniger Menschen auf der Erde leben werden als heute. Seine Erklärung: Der Trend zur Kleinfamilie mit weniger als drei Kindern wird sich verstärken. Was passiert hier? Einerseits werden komplexe Wissenschaftstheorien über unsere Zukunft auf gut leserliche Fünfzeiler heruntergekocht, andererseits wird angeregt zum aktiven Nachdenken über unser Leben – und unsere Zukunft. Interessant auch die Negativwetten: 2035 wird der Aralsee in Mittelasien nicht mehr existieren. Oder: 2015 wird der letzte Videoverleih zumachen. Auch gut: 2030 verschwindet die Computermaus und bis 2120 gibt es keine Steuern mehr. Mein absoluter Favorit: Im Jahr 2100 wird es keinen Rassismus mehr geben. +Wen nicht die Zukunft unserer Welt quält, sondern die der eigenen Liebe, der geht zu Wahrsagern. Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass Deutsche jährlich rund 500 Millionen Euro bei Wahrsagern lassen. Nicht alle, natürlich, sind gleich gut. Ich höre Gerüchte von einer Frau mit eindrücklichen Referenzen: Sie habe die Finanzkrise vorhergesehen, 9/11, beide Irak-Kriege, den Tsunami. Große Schauspieler zählt sie zu ihrem festen Kundenkreis. Die Trendsetterin unter den Wahrsagern wohnt in einer Bungalowsiedlung in Hamburg-Norderstedt. Als ich klingle, öffnet eine Frau vorsichtig die Tür und zwei abgrundtief dunkle Augen fixieren mich. Ich möchte sofort alles bekennen: all meine Sünden, auch die, die ich nie begangen habe, und selbst jene, die ich bloß gern begangen hätte. Die Frau führt mich durch ein geschmacklos eingerichtetes Wohnzimmer, im Hintergrund lärmt ein Fernseher, ins Behandlungszimmer: Tisch, Stühle, ein randvoller Aschenbecher, Schokoladentafeln (für die Nichtraucher?), Taschentücher. Sie bittet mich, ein abgegriffenes Kartenspiel zu mischen und in drei Haufen zu teilen. Dann deckt sie eine nach der anderen auf: Kreuz 7, Karo 4, Kreuzkönig – 21, denke ich – aber ein plötzliches "Oh!" reißt mich aus meinen Blackjack-Überlegungen. "Ein Mann steht Ihnen nahe", sagt die Dame geheimnisvoll, grinst und entblößt ihre Raucherzähne. "Aha", sage ich und überlege, wen sie wohl meinen könne. Dann kommt eine 10 und dann ein Bube. "Ein Mann ist in Sie verliebt!" – Tatsächlich? – "Ja, Sie ziehen Männer an." Ich nicke gelassen. Anschließend hakt sie ein paar Allgemeinplätze ab: "Sie sind an einem Wendepunkt", "Sie haben bereits schwere Erfahrungen hinter sich", "Sie machen sich Sorgen" – Aussagen also, die jeder normal unglückliche Mensch mit einem Ja beantwortet. +Dann kommen Tarotkarten. Sie sagt: Ich hätte noch nie richtig geliebt, mir attestiert sie gute Instinkte, immerhin. Ferner: Kürzlich hätte ich viel Geld verloren und ich solle mich vor Männern in Acht nehmen. Nach 30 Minuten sage ich, ich hätte noch nie Geld verloren. Außerdem sei ich nicht schwul, sondern lebe in einer heteronormativen Kleinfamilie. Ein wütender Blick, der irgendwo tief hinter der mystischen Fassade eine große Unsicherheit verrät, trifft mich. Wohl beim Gedankenlesen verlesen, denke ich. Als ahne sie meinen stummen Kommentar, straft sie mich mit einer detaillierten Beschreibung von Unglücken, die mir zweifellos bevorstünden: Die Umstände meiner Ehe seien denkbar ungünstig, meine Tochter sei ständig krank und sollten wir je nach New York ziehen, würde das in einer Katastrophe enden, denn sie sehe in baldiger Zukunft einen Tsunami auf die Stadt zurollen. Dann lenkt sie ein: Was eben noch mein heimlicher Geliebter war (der Kreuzkönig), ist jetzt mein sportlicher Sohn (ich nicke wohlwollend) und – dies wird seine Lehrer interessieren – sollte er in der Schule Schwierigkeiten machen, dann nur, weil er hochbegabt ist. Sie schließt mit einem verkaufsfördernden Hinweis ("Hat Ihrem Sohn schon einmal jemand die Karten gelegt? Könnte sich lohnen"). Ich besinne mich auf meine Instinkte und verabschiede mich hastig. Etwas missmutig schüttelt sie mir die Hand, bleibt in der Tür stehen. Lange noch spüre ich ihren dunklen Blick auf meinem Rücken. Auf der Rückfahrt lasse ich mein Handy im Taxi liegen und verpasse meinen Zug. +Als Finne ist es Mikael Krogerus (33) gewohnt, auf Zeichen in der Natur zu achten. So bedeutet das Auftauchen von Walen in Finnland, dass fette Zeiten kommen. Eigentlich ziemlich logisch diff --git a/fluter/ich-weiss-gar-nicht-wie-ich-das-geschafft-habe.txt b/fluter/ich-weiss-gar-nicht-wie-ich-das-geschafft-habe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..05327bd48aee903c3ae1e5c92dfe98bb8b09dc38 --- /dev/null +++ b/fluter/ich-weiss-gar-nicht-wie-ich-das-geschafft-habe.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Sie haben es sich verdient, oder? +Allerdings. Ich habe 43 Jahre lang als Krankenschwester gearbeitet. Erst in der DDR, zuletzt an einem katholischen Krankenhaus in Hildesheim auf der urologischen Station. Da waren viele ältere, muffelige Männer, die nicht sehr freundlich waren. Das hat mir den Abschied aus dem Beruf etwas erleichtert. Zu meinem Mann habe ich immer gesagt: Wenn du mal so wirst, hau ich dir die Bratpfanne über den Kopf. +Ist es nicht ungewohnt, plötzlich die ganze Zeit zu Hause zu sein? +Schon. Oft träume ich auch noch nachts von der Arbeit. Ich spreche sogar im Schlaf und gebe meinem Mann Anweisungen, ich habe ja früher mal eine Station geleitet. Mein Unterbewusstsein ist anscheinend noch nicht in Rente. +Haben Sie gern gearbeitet? +Sehr gern. Mein Beruf – also die Krankenpflege – war für mich ein Wunschberuf. Ich wollte immer Menschen in schwierigen Situationen helfen. Krankenschwester – das klingt nach schwerer, unterbezahlter Arbeit. Ich habe meinen Job nicht als unterbezahlt empfunden. Ich habe ja neben meinem Lohn auch viel von den Menschen zurückbekommen. Da gab es eine Patientin, die dem Chefarzt gesagt hat, ich habe ihr Leben gerettet, weil ich ihr so gut zugehört habe. Selbst zur Nachtschicht bin ich gern gegangen, obwohl die über elf Stunden ging – von 19.45 Uhr bis morgens um sieben. Und anschließend habe ich zu Hause noch meine Schwiegermutter gepflegt. Heute frage ich mich manchmal, wie ich das alles geschafft habe. +Ist Ihre Familie da nicht zu kurz gekommen? +Meine Söhne haben das eher als positiv empfunden. Das sind selbstständige Menschen geworden, die eher an der langen Leine aufgewachsen sind. +Oft haben Rentner viel Zeit, aber nicht mehr genug Geld, um sie auszufüllen – um zum Beispiel herumzureisen … +Das steht bei uns eh nicht an. Wir haben für das Haus einen Kredit aufgenommen, den wollen wir bald abbezahlt haben. Und unser Garten ist so schön, da muss man gar nicht mehr verreisen. +Haben Sie noch Kontakt zu Ihren alten Kollegen? +Zu einigen schon, aber im Krankenhaus war ich nicht mehr, seit ich pensioniert wurde. Da will ich erst wieder hin, wenn ich selbst krank bin. Und wenn wir uns mit Freunden treffen, sage ich immer: Aber nicht von der Arbeit reden. diff --git a/fluter/ich-will-das-alles-gar-nicht-wissen.txt b/fluter/ich-will-das-alles-gar-nicht-wissen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f922aad536830c076326cfaad60df1e0b2316b4c --- /dev/null +++ b/fluter/ich-will-das-alles-gar-nicht-wissen.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Wie oft bin ich über einen Artikel gestolpert, habe ihn überflogen und mich von Links auf andere Artikel locken lassen? Von Kriegsverbrechen über die Nürnberger Prozesse zu Rudolf Heß – Stoff für drei Bücher in zehn Minuten. Und was ist hängen geblieben? Nicht viel, aber genug, um bei der nächsten Diskussion einen auf Jesus zu machen und das Brot des Halbwissens zu teilen. So machen das schließlich alle: Der Iran will Krieg, Brüssel diktiert die EU, und Günter Grass ist gegen Juden – oder wie war das noch mal? +An der Bushaltestelle, in der Vorlesung, in der Warteschlange an der Kasse – der Alltag lässt erahnen, was die Forscher wissen: Seit 1960 hat sich der tägliche Informationskonsum verdreifacht. Der Durchschnittsdeutsche verbringt monatlich mehr als 24 Stunden im Netz und hockt etwa 112 Stunden vor der Glotze. Ich habe keinen Fernseher, bin dafür aber 150 Stunden online. Damit vermeide ich zwar "DSDS" und den anderen Trash, aber vieles auf Facebook, Twitter und Youtube ist auch nicht gehaltvoller. Ich mache jetzt erst einmal eine Diät. diff --git a/fluter/ich-will-ein-neues-leben-beginnen.txt b/fluter/ich-will-ein-neues-leben-beginnen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e80297d70d09226d828ae81085dfbdcc5e68de9e --- /dev/null +++ b/fluter/ich-will-ein-neues-leben-beginnen.txt @@ -0,0 +1 @@ +Zunächst werde ich für ein paar Tage in Tel Aviv unterkommen, wohin es dann geht, weiß ich noch nicht genau. Ich bin kurz davor, ein neues Leben zu beginnen, und nun lässt mich die Angst langsam los.Natürlich existieren dort Konflikte, die eine ganz andere Größenordnung besitzen, und trotzdem fühle ich mich mit dem omnipräsenten Militär sicherer als in meiner Nachbarschaft hier in Paris. Das Massaker im Supermarkt, der nur ein paar Straßen von meiner Wohnung entfernt liegt, hat die friedliche Gemeinschaft zerstört. Nicht nur in unserem Viertel. Plötzlich gibt es Ratschläge wie "He, setz deine Sportcap über die Kippa" oder "Lauf lieber in Gruppen als allein". Aber ich will mich nicht verstecken müssen und mich von meinen Nachbarn distanzieren. Das Klima in Frankreich ist von einer großen Unsicherheit bestimmt.Schlimmer noch ist der unterschwellige Antisemitismus, der dir in der Politik begegnet. Auf der einen Seite erlebst du vor deiner Haustür das weltoffene Frankreich, das Land der Immigration. Andererseits wird dir oft das Gefühl gegeben, dass du als Immigrant lieber in deinem Heimatland bleiben solltest. Ich war schon öfter in Israel, aber nie für längere Zeit. diff --git a/fluter/ich-will-gar-keine-prognose-haben.txt b/fluter/ich-will-gar-keine-prognose-haben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9037cc6bab171709a7a04661dd0e5371e8fecd32 --- /dev/null +++ b/fluter/ich-will-gar-keine-prognose-haben.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Nein, nie. Ich habe immer von einem Tag auf den anderen gelebt und wenig Pläne gemacht. +Überhaupt nicht. Es gibt ein paar Dinge, die man im Leben planen muss: Umzüge, oder wenn man seinen Geburtstag groß feiern möchte. Alles andere, den Fun, also Urlaub, Freunde treffen, Kino und so weiter, mache ich frei Schnauze. Man gewöhnt sich ja auch an die Infektion. Vor diesem Interview habe ich ganz lange überhaupt nicht darüber nachgedacht. Ich ignoriere die Infektion so gut wie möglich. Manchmal geht das natürlich nicht, dann wache ich morgens auf und denke: Du hast die Krankheit in dir. Aber sie gehört zu meinem Alltag, in dem beispielsweise das Autofahren im Berliner Schnee viel gefährlicher für mein Leben ist. +Ich habe eine Ausbildung zum Hotelfachmann gemacht und hatte schon immer vor, nach Australien auszuwandern und dort in einem Luxushotel zu arbeiten. Das konnte ich mir dann abschminken, weil man dazu einen negativen HIV-Test vorlegen muss. Ich war aber immer ein Kämpfer und bin dann eben Flugbegleiter geworden, denn einer meiner Träume war es auch, zu fliegen. +Ich will gar keine Prognose haben. Bislang hatte ich bei den Bluttests, die ich alle drei bis vier Monate machen muss, immer gute Ergebnisse und muss bislang auch keine Medikamente einnehmen. Wenn das so weitergeht, kann ich ziemlich alt werden. 60 oder 65 Jahre – das fände ich nicht schlecht. Ich habe auch keine Angst vor meiner Krankheit, sondern eher Respekt, weil ich weiß, dass sie jederzeit meinen Körper beherrschen könnte, wenn ich mich gehen lasse. Das tue ich aber nicht, sondern nehme morgens und abends Vitamintabletten und versuche auch ansonsten, gesund zu leben. +Ich wäre gern verheiratet. Mein Freund ist nicht so begeistert davon – aber ich bleibe am Ball. Außerdem wäre ich gern Senior Cabin Crew Member und wünsche mir eine Eigentumswohnung in Mitte oder Tiergarten. Und viel reisen möchte ich weiterhin. Aber das wäre es auch schon. +* Name von der Redaktion geändert. diff --git a/fluter/ideen-fuer-die-zukunft-von-europa.txt b/fluter/ideen-fuer-die-zukunft-von-europa.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c3c3ffb77451f5c7caad609896b0f1488ad02519 --- /dev/null +++ b/fluter/ideen-fuer-die-zukunft-von-europa.txt @@ -0,0 +1,45 @@ +Ein entscheidender Vorteil für Nutzerinnen und Nutzer wäre laut Hillje, dass der Datenschutz auf der "Plattform Europa" deutlich strenger sein könnte als bei Facebook und Co. Denn private Unternehmen verdienen mit ihren Angeboten Geld. Sie halten sich deshalb meist nur an die niedrigsten gesetzlich vorgegebenen Standards. Ob die Plattform auch genutzt würde, steht natürlich auf einem anderen Blatt.(tm) + + + +"Ein Leben ohne Grenzen, eine Freedom zu verschenken, eine Freiheit, nicht zu denken", singt Bilderbuch-Sänger Maurice Ernst. Im "Europa22"-Video dreht sich neun Minuten und 40 Sekunden lang ein Personalausweis im Scheckkartenformat. Die Inhaber sind die Bandmitglieder, ihre Staatsangehörigkeit: EU. Die Idee von den "Vereinigten Staaten von Europa" inklusive EU-Pass wird auch von proeuropäischen Jugendorganisationen wie den "Jungen europäischen Föderalisten" unterstützt. +Aufbilderbucheuropa.lovekann sich jeder selbst einen solchen Pass (der natürlich nicht gültig ist) ausstellen und herunterladen. Jan Böhmermann hat einen, Sophie Paßmann auch, genau wie Justizministerin Katarina Barley von der SPD. +Der Pass ist umstritten. Kritik kam etwa von der AfD. Sie lehnt es ab, "die EU zu einem Staat mit Gesetzgebungskompetenz und einer eigenen Regierung umzuwandeln, ebenso wie die Idee der ‚Vereinigten Staaten von Europa'". Übrigens, auf unseren Reisepässen steht schon jetzt in Gold auf Dunkelrot, erste Zeile: Europäische Union.(tm) + + + +Sich selbst schützen, alles verschlüsseln, nichts preisgeben, nirgends teilnehmen: Wer Datenschutz ernst nimmt, fühlt sich manchmal wie ein Geheimagent. Doch das ist weder möglich noch sinnvoll, meint der Wiener Privacy-Aktivist Wolfie Christl. Seine These: Niemand wird seine Daten individuell schützen können. Datenschutz sei ein kollektives Problem, das nur kollektiv gelöst werden kann. Er schlägt ein europäisches Datenschutz-Set-up für Smartphones vor. Die EU sollte die "Entwicklung, Wartung, Zurverfügungstellung und Bewerbung" eines massentauglichen Set-ups finanzieren. Damit könnten, so der Selbstanspruch, Nutzer*innen ihr Gerät – unabhängig vom Hersteller – in wenigen Schritten gegen Überwachung undTrackingsichern. Die letzte große Datenschutzinitiative der EU ist genau ein Jahr alt: DieDSGVOist für Christl nur ein Kompromiss, eine Annäherung an einen gesamteuropäischen Datenschutz.(ph) + + + +Warum darf es keine europäischen Parteien geben, die gemeinsame Kandidat*innen zur Wahl aufstellen? Diese Frage warf nicht nur Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei seiner berühmten Sorbonne-Rede zur Zukunft Europas auf. Sie ist umstritten; während Kritiker stärkere Nationalstaaten fordern, wollen andere eine stärkere Europapolitik. Auch eine Bürgerinitiative sammelte Unterschriften für diese Idee. Die Abgeordneten würden weniger nationalen Interessen verpflichtet sein und allen Europäer*innen dienen. Die Idee stand im Februar 2018 im Europäischen Parlament zur Abstimmung – und scheiterte. +Daphne Büllesbach, die sich mit ihrem Thinktank "European Alternatives" für transnationale Listen einsetzt, hat einen noch weitreichenderen Vorschlag. Sie regt an, dass es parallel zum EU-Parlament eine europäische Bürger*innenversammlung geben soll. +Die eine Hälfte der 200 Mitglieder würde über eine Liste gewählt, die andere würde europaweit per Los bestimmt. "Das ist gar nicht so neu und war schon im alten Griechenland üblich", sagt Büllesbach. Das Gremium käme zusammen, um das EU-Parlament in besonders strittigen gesellschaftlichen Fragen zu beraten – zum Beispiel Steuerflucht oder die Verteilung von Geflüchteten. Für Büllesbach trage dies zu einer europäischen Stimme und damit einer gemeinsamen Öffentlichkeit bei.(np) + + + + +Der Marktanteil von Youtube und Netflix konnte in den vergangenen Jahren ungebremst wachsen. Geht es nach dem ARD-Vorsitzenden Ulrich Wilhelm, könnte sich das in Zukunft ändern. "Europa sollte aus Gründen der Souveränität in der digitalen Welt eine eigene Alternative entwickeln", sagt er. Wilhelm schlägt daher einen europäischen Streamingdienst vor. Senderübergreifende Mediatheken entstehen gerade in vielen Ländern. Es sind jedoch allesamt nationale Plattformen. Die EU solle eine Mediathek aufbauen, in der Inhalte aus allen EU-Staaten verfügbar sind. +Wie EU-weites Fernsehen abseits des Eurovision Song Contests entstehen kann, zeigt Jan Böhmermann. Vor zwei Jahren fand er zusammen mit europäischen Kolleg*innensatirische Antworten auf Trumps Motto "America first". Diese Woche veröffentlichte er das Lied"Do they know it's Europe". Late-Night-Moderator*innnen aus Großbritannien, Frankreich oder Portugal besingen darin gemeinsam ihren Kontinent. Die Videos schauen sich die Europäer*innen auf Youtube an. In der Europa-Mediathek wäre dafür bestimmt Platz.(np) + + + + +Die Idee einer europäischen Armee wird seit Jahrzehnten diskutiert. Der Vorschlag wird aber immer dann konkreter, wenn der Druck außerhalb und innerhalb der EU zunimmt: durch Kriege in der Ukraine und Syrien, die Flüchtlingsbewegung oder das Bröckeln der NATO, die im April 70 wurde. +Das Ziel der Armee-Befürworter ist klar: Die sicherheitspolitischen Ziele der EU sollen über denen der einzelnen Mitgliedstaaten stehen. "Polis180", ein parteiübergreifender Thinktank der "jungen Generation", hat eine europäische Verteidigungskooperation mit drei Einrichtungen ersonnen: Das Defence Framework verwaltet die gemeinsame Rüstungsinfrastruktur und -güter; die Crisis Reaction Force ist eine bei der EU angestellte Kriseneinsatzgruppe; und schließlich das Nuclear Shield. Es soll das französische Nukleararsenal als Abschreckungsmaßnahme aufrüsten – und dabei die Kernwaffen und Kosten über Europa verteilen. +Diese Ideen setzen ein europäisches Miteinander voraus, das es so in der Verteidigungspolitik bisher nicht gibt – und laut den Kritikern zu weit in nationalstaatliche Souveränität eingreift. Es zu entwickeln, so die Befürworter, wäre ein Schritt in Richtung europäischer Identität. Auch Angela Merkel hat diese Vision. In einer Rede plädierte sie im November 2018 vor dem Europäischen Parlament für europäische Streitkräfte. Diese Armee würde der Welt zeigen, "dass es zwischen den europäischen Ländern nie wieder Krieg gibt".(ph) + + +Ginge es nach der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, dann bestände die EU nicht aus 28 Mitgliedern, sondern aus 50. Mindestens. Klingt für viele nach einer Schnapsidee, wird aber von einer ganzen Reihe schlauer Köpfe ernsthaft diskutiert, seitdem Guérot vor drei Jahren das Buch "Warum Europa eine Republik werden muss" veröffentlicht hat. Die darin vertretene These geht so:Der Nationalstaat ist nicht praktikabel, die Region dagegen schon."Regionen sind die natürlichen politischen Organisationsrahmen", sagt Guérot. Sie wären nämlich historisch gewachsen, etwa um Wirtschaftszentren wie Barcelona oder Venedig, und ökonomisch alle ungefähr gleich stark. In Deutschland, so Guérot, könnte zum Beispiel um die Zentren Dresden und Leipzig die "Region Sachsen" entstehen. +In einer EU-50-plus gäbe es keine "Großen" mehr, die alles bestimmen, und die Bürger*innen hätten nicht mehr das Gefühl, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. Damit das Ganze nicht im Chaos endet, schlägt Guérot eine Neuordnung vor: Oben steht ein direkt gewählter EU-Präsident mit einem Kabinett. Und das EU-Parlament bekommt eine zweite Kammer, einen "Europäischen Senat", in die jede Region zwei Senatoren schickt.(sg) + +Stell dir vor: Zu deinem 18. Geburtstag kommt ein Briefkuvert. Darin steckt ein Gutschein für ein Interrail-Ticket. Zugreisen in Europa bis zu 30 Tage for free, einlösbar innerhalb von sechs Jahren.Das ist die Idee hinter FreeInterrail. +Sie entstand – natürlich – auf einer Interrail-Reise. Die Aktivisten und Autoren Martin Speer und Vincent-Immanuel Heer waren gemeinsam unterwegs: "Wir saßen in Wien und sprachen über unsere Reiseerfahrungen und die Ungleichheit, die es immer noch in Europa gibt. Nur wenige junge Menschen haben die Möglichkeit, an Austauschprogrammen wie Erasmus oder dem Europäischen Freiwilligen Dienst teilzunehmen. Wir stellten fest, dass es ein Programm braucht, das alle jungen Menschen einer Generation erreichen kann", sagt Martin Speer. +Die Idee fand auch das EU-Parlament in Brüssel gut. Im vergangenen Jahr startete ein Pilotprojekt: Fast 30.000 18-jährige EU-Bürgerinnen und Bürger erhielten nach einer Verlosung einen kostenlosen Interrail-Pass. Auch dieses Jahr wurden wieder 20.000 Tickets vergeben. Heer und Speer fordern aber weiterhin: Jede*r 18-Jährige soll ein Ticket bekommen.(tm) + + + +Jedes Land hat seine eigenen Unternehmenssteuern; Irland hat offenbar mit die attraktivsten, denn dort haben Firmen wie Google, Apple oder Facebook ihren europäischen Sitz. Manches Silicon-Valley-Unternehmen müsste viel mehr Steuern in der EU zahlen, wenn die Staaten sich absprechen würden: "Solange sich europäische Staaten gegenseitig das Geld wegnehmen, wird Europa nicht erfolgreich sein im Wettbewerb mit den USA oder mit China", sagt Gerhard Schick, ehemaliges Mitglied des Bundestages für die Grünen und Vorsitzender der Bürgerbewegung "Finanzwende". +Für ihn ist europäische Kooperation in Sachen Steuern ein wichtiges Mittel für eine zukunftsfähige Finanzindustrie. Er denkt dabei nicht nur an Unternehmenssteuern, sondern auch an die Verfolgung von Steuerkriminalität über nationale Grenzen hinweg. Das habe auchder Cum-Ex-Skandaldeutlich gemacht. Erst kürzlich deckte das Recherchenetzwerk Correctiv einen weiteren Steuerbetrug auf.Durch sogenannte Steuerkarusselle, bei denen sich Betrüger die Umsatzsteuer mehrmals in unterschiedlichen EU-Staaten erstatten lassen, entgehen der EU 50 Milliarden Euro – jährlich.(pe) + +Collagen: Renke Brandt diff --git a/fluter/identitaetssuche-in-russland.txt b/fluter/identitaetssuche-in-russland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/ihr-koennt-nach-hause-gehen.txt b/fluter/ihr-koennt-nach-hause-gehen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/ihr-kommt-hier-nicht-rein.txt b/fluter/ihr-kommt-hier-nicht-rein.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..696d833c48654b4d5d05125892278be48df653e8 --- /dev/null +++ b/fluter/ihr-kommt-hier-nicht-rein.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Platt gesagt kontrolliert der Zoll die Ein- und Ausfuhr von Waren und verfolgt dabei zwei Ziele: Erstens soll er die Einfuhr von Waren bremsen, zweitens soll er dem Staat Einnahmen bringen, indem er Verbrauchssteuern wie die Energie-, Tabak- und Stromsteuer erhebt - oder Einfuhrumsatzsteuern wie etwa die Biersteuer in Deutschland. 2012 flossen so 124 Milliarden Euro in die deutschen Staatskassen – ungefähr die Hälfte der Steuereinnahmen des Bundes. +Zollkontingentsmengen (eine Tonne Kartoffeln und kein Kilo mehr aus der Türkei), Einfuhrverbote (Chlorhühnchen aus den USA), Ausfuhrverbote (Chemie für Waffen an Bürgerkriegsländer), diverse Vorschriften (Knoblauch aus dem Iran braucht z.B. ein Zertifikat der iranischen Handelskammer, dass der Knofi auch den Nahrungsmittelauflagen der EU entspricht) oder Anti-Dumping-Zölle. Bleiben wir beim letztgenannten, weil das kürzlich wieder im Europaparlament diskutiert wurde: Abgeordnete forderten in Brüssel härtere Maßnahmen gegen subventionierte Importwaren aus Drittländern. Zankapfel waren beispielsweise chinesische Solarzellen und fertig montierte Solarpanels, die laut Kommission den EU-Markt überschwemmen und deshalb heimischen Produzenten zu viel Konkurrenz machen. Anderes Beispiel: Anti-Dumpingzölle auf Biodieselimporte aus Argentinien und Indonesien. Auch damit will die Kommission die "grüne" Industrie in Europa fördern. diff --git a/fluter/ihr-werdet-mir-nicht-das-hirn-waschen.txt b/fluter/ihr-werdet-mir-nicht-das-hirn-waschen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e75094750d7e349b21f893558eaf4eb07f968236 --- /dev/null +++ b/fluter/ihr-werdet-mir-nicht-das-hirn-waschen.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Was das Mädchen, das auf den Namen María Sol hörte, nicht wusste: Sie selbst war eines dieser Kinder. Und Herman Tetzlaff war in der Diktatur Chef der Einsatzgruppe eines Folterzentrums. Er mordete und folterte. Er war der Mann, der ihre Eltern von zu Hause verschleppt hatte. Der ihnen ihr 13 Tage altes Baby raubte, es für tot erklären ließ und eine gefälschte Geburtsurkunde besorgte, damit niemand Verdacht schöpfte. Sonntags ging er mit der Familie in die Kirche. +Victoria Montenegro sitzt auf einer Bank auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires, die Nachmittagssonne scheint ihr ins Gesicht. Es ist der Platz an der Casa Rosada, dem Regierungsgebäude. In der Mitte des Platzes steht die Mai-Pyramide. Um sie herum sind auf den Boden weiße Kopftücher gemalt, zur Erinnerung an die mutigen Mütter, die schon während der Militärdiktatur auf dem Platz protestierten. Sie suchten ihre Kinder: Dissidenten wie Victorias Eltern, die das Regime verschleppt hatte. Demonstrationen und Versammlungen waren verboten. Also banden sie sich die Windeln ihrer verschwundenen Kinder wie Kopftücher um und liefen um die Pyramide herum. Immer im Kreis. Jeden Donnerstag. Sie fragten: "Wo sind sie? Leben sie noch? Oder wo sind ihre Leichen?" Diktator Jorge Rafael Videla reagierte kalt. 1979 sagte er in einer Pressekonferenz: "Was ist ein Verschwundener? … Er ist ein Rätsel. Ein desaparecido hat keinen Körper, ist nicht da, nicht tot, nicht lebendig, er ist verschwunden." +Schon während der argentinischen Militärdiktatur, als massenhaft Regimegegner verschleppt und ermordet wurden, brachte das deren Mütter auf die Barrikaden. Viele von ihnen demonstrieren noch heute regelmäßig, weil das Militär immer noch nichts über den Ve +Die Militärjunta ging davon aus, dass mit dem Verschwinden der Leichen der Eltern jede Möglichkeit ausgelöscht war, die Herkunft eines Kindes zu beweisen. Der genetische Fingerabdruck war damals noch nicht erfunden. Auch Tetzlaff und seine Frau ahnten nicht, dass Gerichtsmediziner einige Jahre später mit nur einem Tropfen Blut feststellen könnten, zu welcher Familie ein Kind gehört. Auch wenn die Eltern tot sind und niemand weiß, wo ihre Leichen sind. +Victoria wollte es nicht wahrhaben, als ein Richter Anfang der 90er-Jahre eine DNA-Probe anordnete. Ihr Name war nicht ihr Name? Ihr Vater nicht ihr Vater? Plötzlich sollte sie das sein, was sie verabscheute: die Tochter von "Subversiven". Sie sagte Tetzlaff: "Egal was passiert, ich bin an deiner Seite." Selbst als er ihr gestand, dass er ein Mörder war, sagte sie: "Du hast getan, was du tun musstest. Du hast das Kind des Feindes aufgezogen, als wäre es dein eigenes." Der Psychologin der Großmütterorganisation "Abuelas", die Victoria Hilfe auf dem Weg in ein neues Leben ohne Lügen anbot, sagte sie: "Ihr werdet mir nicht das Hirn waschen!" +Trotzdem begann sie irgendwann, zwei Mal im Jahr Geburtstag zu feiern. Einmal an dem Tag im Mai, den Tetzlaff in die gefälschten Papiere eingetragen hatte. Und einmal im Januar, an ihrem echten Geburtstag. +Dann passierte lange nichts. Niemand zwang sie, ihre echte Familie kennenzulernen. "Aber ich hatte diese Kiste von den Abuelas bekommen", sagt Victoria. Darin waren: Fotos ihrer Eltern. Briefe von Verwandten. Kassetten und CDs, auf denen Tanten und Onkel von ihren Eltern erzählten. Sie erfuhr, dass ihr Vater am liebsten Schnitzel mit Pommes aß. Dass ihre Eltern gegen die Diktatur gekämpft hatten und für soziale Gerechtigkeit. Dass sie sehr verliebt waren und sich ein Kind wünschten, obwohl sie noch so jung waren, die Mutter 18, der Vater 20. "Diese Kiste hat mich lange begleitet. Ich habe nicht alles gleich gehört und gelesen, sondern ganz langsam, Stück für Stück. Immer nur so viel, wie ich ertragen konnte", sagt Victoria. Erst im Jahr 2000 begann sie, sich mit ihrem echten Namen vorzustellen. +Weinen ist etwas für Memmen, das hatte sie von Tetzlaff gelernt. Aber damals, vor Gericht, da brach es aus ihr heraus. Als die junge Frau dem Richter sagte: "Ich heiße Victoria Montenegro", da wusste Tetzlaff, dass sie sich von ihm losgesagt hatte. Zum ersten Mal stellte sie sich gegen ihren "apropiador", ihren Aneigner, wie sie ihren falschen Vater heute nennt. Alles ergab jetzt Sinn. Dass sie ihm nicht ähnlich sah. Dass er das Wochenendhaus der Familie "El Campito" nannte, das kleine Feld, so wie das Folterzentrum in der Kaserne Campo de Mayo, in dem auch ihre Eltern gequält worden waren. Dass ihre Ziehmutter ihr einmal drohte: "Sei brav, oder wir geben dich zurück." "Es war keine Adoption, eine Adoption ist etwas Gutes", sagt Victoria. "Es war Mord an meinen Eltern und Kindesraub. Da war keine Liebe. Meine Großmutter suchte ihr Leben lang nach mir und starb, ohne dass wir uns kennenlernen konnten." +Trotzdem, alles sei richtig, so wie es ist. "Die Wahrheit zu wissen ist eine Befreiung. Man kann auf einer Lüge kein Leben aufbauen. Sonst fällt es irgendwann in sich zusammen." Die schwierigste Zeit sei die gewesen, in der sie eine Lüge lebte, obwohl sie längst wusste, dass sie nicht María Sol war. "Dass Tetzlaff nicht mein Vater war. Dass meine Eltern Toti und Hilda hießen. Dass sie ermordet wurden, weil sie von einer besseren Welt träumten." Herman Tetzlaff starb 2003 in einem Militärgefängnis.Sie sei froh, die Wahrheit zu wissen, "auch wenn es oft sehr wehgetan hat." Etwa als das Skelett ihres Vaters gefunden wurde, verscharrt als Namenloser auf einem Friedhof in Uruguay, in einer Stadt an der Küste. Gerichtsmediziner konnten anhand der Art der Knochenbrüche belegen, dass er, wie Tausende andere Opfer auch, aus einem Flugzeug über dem Río de la Plata abgeworfen wurde. "Das zu erfahren war fürchterlich", sagt Victoria. "Ich hatte mir immer vorgestellt, sie seien erschossen worden in der Nacht ihrer Entführung. Aber sie wurden wochenlang gefoltert und dann lebendig aus einem Flugzeug in den Fluss geworfen." +In ihrem neuen Leben ist Victoria Vertreterin einer Regierungsorganisation und setzt sich für Menschenrechte ein. Heute ist sie auf die Plaza de Mayo gekommen, um Flyer gegen Gewalt gegen Frauen zu verteilen. Ihre wahren Eltern sieht sie jetzt jeden Tag. Hilda Torres und Roque "Toti" Montenegro sind auf zwei Passbildern in Schwarz-Weiß zu sehen, die Victoria als ihr Profilfoto bei WhatsApp hochgeladen hat. +Karen Naundorf ist Absolventin der Henri-Nannen-Journalistenschule und gehört zum Journalistennetzwerk "Weltreporter". Sie lebt in Argentinien und berichtet für deutschsprachige Medien aus ganz Südamerika diff --git a/fluter/illegale-muellkippen-deutschland.txt b/fluter/illegale-muellkippen-deutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..076e50bebaef8486ceccfb67973fbe113abcd904 --- /dev/null +++ b/fluter/illegale-muellkippen-deutschland.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Zwar verfügt Deutschland über eine hochentwickelte Entsorgungsin­dustrie.Doch die illegale Halde von Schönermark ist kein Einzelfall. Allein im Bundesland Brandenburg gibt es Recherchen zufolge über 100 mit insgesamt rund fünf Millionen Tonnen Müll. Das ist mehr, als die Einwohner der sieben größten deutschen Städte zusammen in einem Jahr wegwerfen. Geschätzte Kosten für Sanierung und Entsorgung: rund 500 Millionen Euro. +Aber auch in anderen Bundesländern machen Kriminelle Geschäfte mit Müll. Es gibt Quecksilberschmuggel und Gift­mülldeals, zuletzt landete die Verklappung von Ölpellets aus einer Raffinerie in Gelsenkirchen in der Presse. Die Liste ließe sich lange fortführen. +Einer, der sich mit solchen Fällen auskennt, ist Harry Jäkel, Leiter des Kommissariats "Schwere Umweltkri­minalität" beim Landeskriminalamt Brandenburg. Jäkel sagt, dass die Täter gegen Geld eine vernünftige Entsorgung versprächen, dann aber Frachtpapiere manipulierten, den Müll umdeklarier­ten und auf Deponien bräch­ten, auf denen er auf keinen Fall landen dürfte. Oder er komme gleich auf illegale Müllkippen. Laut Jäkel pas­siert es auch, dass Plastikmüll mit Gülle und Klär­schlamm vermischt wird, um in Kompostieranlagen "verwertet" zu werden. + +Mitten in der Natur wurde hier Müll abgeladen. Die Strafen für solche Vergehen sind relativ gering + +"Scheinverwertung" nennt Umweltermittler Jäkel das. Das Bundeskriminalamt hat in einem internen Papier die kriminellen Gewinne der Mülldeponiebetreiber mit den Profiten der organisierten Drogenkriminalität ver­glichen – und festgestellt: Das Dealen mit Müll ist sogar lukrativer. +Oft handele es sich bei den Müll­schiebern um ein Netz aus gewerblichen Unternehmen, vom mittelständischen Betrieb bis zum Großkonzern. Ein ein­ gespieltes System, in das unter anderem Müllmakler und Spediteure verstrickt seien. Viele Täter würden innerhalb der Abfallwirtschaft legal agieren, "wenn sich aber die Möglichkeit ergibt, machen sie illegale Geschäfte", so Jäkel. +Der Fall in Brandenburg ist exem­plarisch. Nach der Wende erhielt der Unternehmer, dem das Gelände in Schönermark gehört, von den Behörden die Genehmigung für eine Entsorgungs­anlage. Damit durfte er Abfälle aus der Papierindustrie zwischenlagern, um sie zu Brennstoff für Verbrennungs­anlagen zu verarbeiten. Deponieren durfte er sie aber nicht. Doch genau das tat er: Über die Jahre häufte er immer mehr an. +Am Fuß der Müllberge sammelt sich Sickerwasser, das gefährliche Stoffe enthält +Dabei hätte der Schwindel schon im März 2010 auffliegen und das ille­gale Geschäft gestoppt werden können. Bei einer routinemäßigen Lkw-Kon­trolle auf der Autobahn hielt das Bun­desamt für Güterverkehr einen Müll­transport an, der auf dem Weg nach Schönermark war. Dessen Ladung passte nicht zu den Angaben auf den Begleitpapieren, die der Fahrer mit sich führte. Auch das "angegebene Verwer­tungsverfahren" erschien den Kontrol­leuren "unplausibel". In der Folge be­schäftigte der Fall Umweltamt, Polizei und Staatsanwaltschaft. +Alarmiert durch die Lkw­-Kontrol­le flog das Landeskriminalamt über das Grundstück des Unternehmens. Auf den Luftbildern sah man, dass hier we­sentlich größere Mengen gelagert wur­den als die 5.000 Tonnen, die die Be­hörden zur Zwischenlagerung genehmigt hatten. Das LKA schätzte die tatsäch­lich gelagerte Menge auf das Vierfache. Daraufhin ermittelte die Staatsanwalt­ schaft gegen den Firmenchef. +Die Umweltbehörde vereinbarte mit dem Betreiber, dass er die Abfall­berge Monat für Monat abzutragen habe, doch statt den Müll zu entsorgen, häufte erweiteren an. Bis zu einer Anlagenkontrolle im November 2012. Da verhäng­te die Umweltbehörde dann angesichts all des Mülls einen Annahmestopp. +Doch auch daran hielt sich der Deponiebe­ treiber offenbar nicht. Auf dem Gelände lagert näm­lich Müll, der nach dem Annahmestopp im Jahr 2012 dort gelandet sein muss: ein Taschenkalender von 2014 zum Beispiel und eine Packung Fruchtpüree mit dem Mindesthaltbar­keitsdatum Dezember 2017. +Auf eine Anfrage teilt das zustän­dige Landesamt für Umwelt mit, der Behörde lägen keine Erkenntnisse vor, "die auf eine Gefahr für Mensch und/oder Umwelt" schließen ließen. Obwohl der Betreiber über Jahre falsche Mengen angegeben hat, glaubt man beim Landesumweltamt immer noch, dass an­ sonsten alles mit rechten Dingen zuging. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen gegen den Betreiber schon im November 2011 gegen Zahlung einer Geldbuße in Höhe von 2.000 Euro ein. Strafen sind im illegalen Müllgeschäft selten und wenn, dann oft mild. Das belegen auch Zahlen aus dem Justizministerium Brandenburg für die Jahre 1994 bis 2015: In 90 Prozent der Fälle, die überhaupt vor Gericht landeten, ver­hängten die Richter eine Geldstrafe. +Dabei stehen die recht geringen Beträge im Gegensatz zu den Kosten für die Allgemeinheit. Laut amtlicher Schätzung würde die Räumung der De­ponie in Schönermark rund acht Millionen Euro kosten. +Der Mann, der in Schönermark Zehntausende Tonnen Müll zu einer illegalen Deponie aufschütten ließ, ver­bringt den Ruhestand in einer Ferien­hausanlage mit schönem Blick über das Odertal. Auf die Frage nach den Müll­bergen sagt er: "Jeden trifft Schuld. Ich bin schuldig, weil es mein Grundstück ist." Mehr mag er nicht sagen. +Eines fällt aber sofort auf. Dort, wo er wohnt und sich mit der Vermietung von Ferienwohnungen befasst, sieht es zwischen Pferdestall und Bungalows unglaublich sauber aus. diff --git a/fluter/im-a-user-baby-so-why-dont-you-kill-me.txt b/fluter/im-a-user-baby-so-why-dont-you-kill-me.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..be17b4d060064bb2781d61245eb1e2bf446dad89 --- /dev/null +++ b/fluter/im-a-user-baby-so-why-dont-you-kill-me.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Vor anderthalb Jahren – da war ich fast 18 – kam dann der erste Brief von einem Anwalt. Ohne anzuklopfen – was schon mal ein schlechtes Zeichen ist –, stürzte meine Mutter ins Zimmer und knallte mir das mehrseitige Schreiben auf den Tisch. Ich las: "Es wurde festgestellt, dass in dem Netzwerk BitTorrent das unten stehende Werk unerlaubt vervielfältigt und dabei ausgehend von Ihrem Internetanschluss zum Download angeboten wurde." Es folgten Uhrzeit und Datum, IP-Adresse und der Dateiname. Zwischen all den Paragrafen, Aktenzeichen und Verweisen auf Gerichtsurteile fand ich die Behauptung, dass von einem "Gegenstandswert von 10.000 Euro" auszugehen sei. Zur Vermeidung eines Gerichtsverfahrens bot uns der Anwalt einen Vergleich an: Innerhalb von 14 Tagen sollten wir 803 Euro überweisen und eine Unterlassungserklärung unterschreiben. Ansonsten würden weitere "nicht unerhebliche Kosten" auf uns zukommen. +Ich googelte, was man in einem solchen Fall tun kann, und fand folgende Tipps: "Erstens: Bewahren Sie Ruhe! Zweitens: Zahlen Sie den geforderten Betrag nicht! Drittens: Schalten Sie einen auf Urheberrecht spezialisierten Anwalt ein und lassen Sie das Schreiben auf seine Rechtmäßigkeit hin überprüfen!" Also noch mehr Kosten. Außerdem fand ich mehrere Hinweise darauf, dass man auf keinen Fall die vorgefertigte Unterlassungserklärung unterschreiben solle, weil sich diese für den Abgemahnten zum Nachteil auswirken und als Schuldeingeständnis ausgelegt werden könne. Empfohlen wurde, nur eine von dem eigenen Rechtsanwalt verfasste Unterlassungserklärung zu unterschreiben. +Der von uns beauftragte Anwalt konnte den Betrag auf 450 Euro runterhandeln und hat uns dafür eine Rechnung über fast 170 Euro geschickt. Mit meinen Eltern einigte ich mich darauf, dass ich die Hälfte davon in Raten an sie abzahle. Doch noch bevor das Geld überwiesen war, flatterten zwei weitere Briefe von der Anwaltskanzlei ins Haus. Dieses Mal wurde uns vorgeworfen, Pornos mit den Titeln "Perverse versaute Spiele" und "Heiße Häschen suchen geile Eier" runtergeladen und zum Download angeboten zu haben. Das war absurd und wahnsinnig peinlich obendrein. Ich konnte meine Eltern davon überzeugen, dass ich niemals solche Filme aus einer Tauschbörse auf meinen Rechner gezogen habe. Wir recherchierten im Internet und fanden heraus, dass die Kanzlei dafür bekannt ist, Tausende von Massenabmahnungen wegen angeblicher Urheberrechtsverletzung zu verschicken, und dass ihre Mandanten ausschließlich Pornofilmproduzenten sind, die ihre Filmchen an irgendwelche Songs hängen, ohne dass man es merkt. +In zahlreichen Foren und Blogs stießen wir auf Leute, denen das Gleiche passiert war. Manche sollten sogar noch mehr zahlen. Manche schrieben, dass sie einfach nicht bezahlt hätten und dass nichts weiter passiert wäre. Andere hatten aber schon ein Mahnschreiben mit einer doppelt so hohen Forderung bekommen und wurden langsam panisch. Wir erfuhren, dass IP-Adressen als legitime Beweismittel vor Gericht gelten, wenn diese mit einer Anti-Piracy-Software festgestellt worden sind, der ein vereidigter Gutachter gerichtsverwertbare Ergebnisse bestätigt hat. +Meine Eltern zahlten also wieder, insgesamt noch mal rund 1.200 Euro inklusive der Anwaltskosten, wovon ich ein Drittel übernehmen musste. Obwohl ich mit diesen Billig-Schrott-Pornos nichts zu tun hatte, waren die IP-Adressen wohl über die Tauschbörsen- Software auf meinem Computer ermittelt worden. Als dann Brief vier und fünf mit ähnlichen Vorwürfen und Forderungen kamen, wurde die Laune zu Hause immer schlechter. Um bei Politikern das Problem der Anwalt-Abzocke bekannt zu machen, schickten meine Eltern Briefe an einige Bundestagsabgeordnete. Alle, die geantwortet haben, schrieben, dass ihnen das Problem mit der "Abmahnindustrie" umfänglich und seit Längerem bekannt sei. Jährlich, so schrieb ein Politiker, würden von der Telekom knapp 2,4 Millionen IP-Adressen herausgegeben, nachdem Rechtsanwälte diese über die Gerichte angefordert hatten. Und aufgrund von Fehlern in der Software zur Archivierung der IP-Adressen seien bislang schätzungsweise 100.000 Internetuser zu Unrecht abgemahnt worden. Immerhin wurde gerade ein Gesetzesentwurf fertiggestellt, der unter anderem die Höhe der Abmahngebühr bei der ersten festgestellten Urheberrechtsverletzung privater Internetnutzer auf maximal 155,30 Euro begrenzt. +Obwohl ich BitTorrent sofort nach dem ersten Brief deinstalliert habe, habe ich immer noch Angst, dass Briefe kommen, denn die Verjährungsfrist beträgt drei Jahre, und die Inkassofirma, die die offenen Forderungen der Kanzlei ersteigert hat, versucht die offenen Beträge einzutreiben. Ich habe alle meine Freunde davor gewarnt, sich auf den Plattformen der Tauschbörsen zu bewegen. Die meisten haben damit aufgehört und sind insgesamt vorsichtiger geworden, aber die nächste Falle lauert schon bei Facebook: Vor Kurzem hat einer meiner Freunde eine Abmahnung bekommen, weil er eine Disneyfigur als Profilbild bei Facebook eingestellt hatte. Wem ist schon klar, dass man damit Urheberrechte verletzt? Ein anderer muss über 700 Euro zahlen, weil er einen Mitschnitt eines Konzerts bei MySpace veröffentlicht hat. Wie ich mittlerweile Musik höre? Nur noch auf legalen Plattformen wie Spotify oder Simfy. Und wenn ich einen Song wirklich haben will, dann kaufe ich ihn mir. Wie viele Songs ich für all die Abmahngebühren hätte kaufen können, will ich mir lieber nicht vorstellen. diff --git a/fluter/im-eimer.txt b/fluter/im-eimer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/im-falschen-film.txt b/fluter/im-falschen-film.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1b80fe33f50c4da0c6951fa6786c75cf78a9c2ff --- /dev/null +++ b/fluter/im-falschen-film.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Wir sitzen am Esszimmertisch in einem kleinen Reihenhaus am Stadtrand, das er und seine Familie inzwischen gegen die Stadtwohnung eingetauscht haben. Es gibt Tee, D.s Ehefrau stellt einen Teller Butterkuchen auf den Tisch, setzt sich dazu, unterbricht ihren Mann gelegentlich neckisch in seinen Schilderungen. Frank D. lächelt dann sanft, nickt, sucht wieder den Blickkontakt zu seinem Gegenüber und erzählt freundlich weiter. Wie sich herausstellte, lauerte die Polizei an jenem Abend im Stadtwald einem lange gesuchten Exhibitionisten auf. Frank D. hatte am falschen Ort zur falschen Zeit an seinem Hosenschlitz herumgefummelt und war dann auch noch verdächtig weggerannt. Er hat sogar Verständnis, dass die Kollegen von der Polizei das irgendwie verdächtig fanden. Sie machten, vielleicht etwas zu ruppig, ihren Job: Mitnahme aufs Polizeirevier, erkennungsdienstliche Maßnahmen, Untersuchung der Unterwäsche auf Spermaspuren, Vernehmung. Bereits am Abend auf der Wache hatte D. seine Version zu Protokoll gegeben. Seitdem hat er seine Geschichte häufiger erzählt – zunächst natürlich noch am selben Abend ("Mach kein Licht und schrei nicht.") seiner Frau, später auch seinen Anwälten, dann Psychiatern... +Denn schlimmer noch als der Winterabend in Handschellen, schlimmer als der Verdacht der Polizeikollegen, er sei ein Mann, der nachts im Stadtwald sein Geschlechtsteil herzeigt, war das, was zwei Tage später in der Zeitung stand. Zunächst in "Bild", die bekanntlich nicht sonderlich zimperlich ist: Knapp 70 Textzeilen war der Artikel lang, die Überschrift mehr als doppelt so groß und deutlich: "Kommissar zeigte sich nackt im Stadtwald" – und daneben, ebenfalls groß und nur sehr halbherzig verpixelt: ein Foto von "Frank D. (45, Name geändert)", über den der Bild- Artikel weitere Details verriet: beruflicher Werdegang, "Familienvater", tätig im "Innenministerium" … Offenbar hatte irgendein Polizist Story und Foto heimlich der Presse gesteckt, vermutlich gegen Bargeld. So läuft das leider. "Bild wirkt", behauptet das Blatt selbst gern über sich, und Frank D., selbst kein Bild-Leser, erfuhr das anschließend am eigenen Leib: Bereits frühmorgens wurde er auf den Bild-Bericht aufmerksam gemacht – von Lesern aus Frank D.s Bekanntenkreis, die ihn wiedererkannt hatten! Noch am selben Tag meldeten sich bei ihm Familienangehörige, Kollegen und Freunde, echte und solche, die nur an der "Sensation" interessiert waren, wie es Frank D. nennt. Noch im Gespräch beim Tee ahnt man die Wucht des Schocks, sich so wie er in der Zeitung wiederzufinden. Erleben möchte man das lieber nicht. Frank D. sagt: "Es gibt so Dinge im Leben, die braucht man nicht." +Drei Tage nach "Bild" zog dann die örtliche Lokalzeitung nach: "Exhibitionist war Jugendexperte der Polizei " stand da als Überschrift. Ohne Fragezeichen, ohne Zweifel. Die Zeitung, die sich vor Ort um ein Vielfaches besser verkauft als "Bild", hatte auf ein Foto verzichtet. Doch dafür breitete der Artikel noch mehr private und berufliche Details aus Franks Leben aus. Unwahrscheinlich, dass jeder, der Frank D. auch nur flüchtig kannte, ihn da nicht wiedererkannt hätte – als den Polizeibeamten, der sich, wie es ohne Wenn und Aber hieß, im Stadtwald "vor einer Frau entblößt hat". Und Frank D. scheint noch heute erstaunt darüber, wie leicht es vielen fiel, die Vorverurteilung der Medien unbesehen zu übernehmen. Seinen Job im Ministerium, so viel war eigentlich schon damals klar, würde er nicht wieder antreten. Selbst wenn sich, was ein paar Monate später auch geschah, endlich herausstellen sollte, dass Frank D. ganz offensichtlich zu Unrecht beschuldigt worden war: Jemand, der als Exhibitionist groß in der Zeitung stand, ist im sensiblen politischen Betrieb kaum tragbar. "Ist das nicht der, der angeblich mal …?" Das reicht oft schon. +Objektiv betrachtet hatte Frank D. sogar Glück. Andere Rufmordopfer berichten, dass sie nach entsprechenden Medienberichten auf der Straße beschimpft, sogar bespuckt oder von anonymen Anrufern belästigt werden, dass sie nicht nur (wie der Beamte D.) in eine andere Abteilung versetzt, sondern arbeitslos wurden. Das immerhin blieb Frank D. erspart. Und es gibt Rufmordopfer, die gar nichts mehr berichten können – weil sie sich nämlich aus Verzweiflung umgebracht haben. Davon war auch Frank D. nicht weit entfernt. Er hatte bereits Schlaftabletten gesammelt, sein Testament geschrieben und eine Art Überlebensplan für seine Frau. Glücklicherweise schickte ihn sein Hausarzt zur Erholung in eine Rehaklinik. Das half. Ein bisschen. Fürs Erste. +Bis heute ist Frank D. in psychiatrischer Behandlung. Wenn er die Presseberichte von damals zeigt, schaut er selbst kaum hin. Abgeheftet sind sie irgendwo in zwei dicken Aktenordnern zwischen lauter Unterlagen über das, was Frank D. "den Vorfall" nennt. Denn anders als viele andere Rufmordopfer hat sich Frank D. gewehrt. Anwälte haben dafür sorgen können, dass nicht noch weitere Rufmordberichte erschienen sind, und von der Lokalzeitung und "Bild" vor Gericht Schmerzensgelder erkämpft – insgesamt mehrere Zehntausend Euro. Das klingt vielleicht nach viel Geld, ist es aber nicht. Vor allem nicht für die Verlage, die das Schmerzensgeld bezahlen müssen – im Redaktionsalltag ist das oft ein kalkulierbares Risiko. Viele Opfer, Täter, Angehörige ducken sich weg, aus Scham, selbst dann, wenn ihnen Unrecht getan wird. Für die Reporter, Redakteure und Verlage ist so ein Schicksal oft nichts weiter als eine "gute Story". Und "Kommissar nackt im Stadtwald" liest und verkauft sich natürlich viel besser ohne Wörter wie "könnte", "soll", "vielleicht" oder "mutmaßlich". +Natürlich, das sieht auch Frank D., hätten die Zeitungen berichten dürfen. Ein Polizist war festgenommen worden, weil ihn die Polizei für einen Exhibitionisten hielt, und gegen ihn ermittelte. So war es ja. Aber im Pressekodex (einer Selbstverpflichtung der Presse zu verantwortungsbewusster Arbeit) heißt es über die Berichterstattung: "Sie darf (…) nicht vorverurteilen." Und nicht nur das: Die Presse soll in der Regel nichts veröffentlichen, was "eine Identifizierung von Opfern und Tätern ermöglichen " würde, schon gar nicht, um "Sensationsbedürfnisse" der Leser zu bedienen. Eigentlich unmissverständlich. +Den Zeitungen in Frank D.s Heimatstadt war das egal. Die Lokalzeitung druckte irgendwann eine kleine Meldung. Frank D. hat auch die in seinen Ordnern archiviert: "Kommissar ist unschuldig – Ermittlungen eingestellt ". Die Bild-Leser wissen bis heute nichts davon. Entschuldigt hat sich bei ihm niemand. Auch jetzt noch, drei Jahre später, möchte Frank D. unerkannt bleiben. Es reicht nicht, sich einen anderen Namen für ihn auszudenken und den Stadtwald bloß Stadtwald zu nennen. Der Name der Lokalzeitung, die ihm so übel mitgespielt hat, muss unerwähnt bleiben, weil sie so heißt, wie die Stadt, in der er wohnt. Und wenn man dokumentieren will, wie groß und vorverurteilend die Bild-Schlagzeile gewesen ist, dann nur, wenn man Frank D.s Gesicht daneben zusätzlich verfremdet. Um die Pinkelecke von damals macht Frank D. bis heute einen großen Bogen, in den Stadtwald selbst kommt er immer noch oft: Der sei "prima zum Laufen", sagt er, "aber nicht so gut zum Weglaufenm ..." +Christoph Schultheis (43) ist Medienjournalist. Bis vor kurzem war er Mitbetreiber von Bildblog.de diff --git a/fluter/im-gruenen-bereich.txt b/fluter/im-gruenen-bereich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b8cd1f2a8ccfe05900e4c18553f61b0eaad84825 --- /dev/null +++ b/fluter/im-gruenen-bereich.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Um Antwort auf diese Fragen zu bekommen, bin ich hier – in der Höhe, gemeinsam mit Forschern im Kranzberger Forst, einem Waldstück bei Freising in Bayern. Ein bizarrer Anblick: Das Stück Wald unter mir sieht aus wie ein Patient auf der Intensivstation. Überall ragen Schläuche, Kabel, Apparate und Gerüste durchs Grün. Ich schwebe über mehr als 50 Doktorarbeiten, über einer Klimazeitmaschine. Seit zwölf Jahren werden die 307 Buchen und 522 Fichten auf dem Versuchsgelände ständig durch Hunderte von Kunststoffschläuchen und kleinen Düsen mit Ozon in einer Konzentration begast, wie sie 2040 normal sein könnte. Ein paar Bäume begasen die Forscher mit besonders präpariertem CO2, um herauszufinden, wie viel Kohlenstoff sich wo angelagert und wie schnell es in die Atmosphäre oder den Boden abgegeben wird. Mit der Klimazeitmaschine im Kranzberger Forst will die Deutsche Forschungsgemeinschaft Antworten auf die beiden zentralen Fragen finden: "Wie steuern Pflanzen bei unterschiedlichen Umweltbedingungen die Aufnahme und Nutzung der Ressourcen Lichtenergie, Kohlenstoff, Wasser und Nährstoff?" Und: "Wie wirkt sich die Verteilung in der Pflanze auf Wachstum, Konkurrenzfähigkeit und Parasitenabwehr aus?" Von enormer Bedeutung im Wettlauf des Waldes mit dem "global change" ist in erster Linie die Zeit. Bis ein Baum ausgewachsen (und interessant für Forstwirtschaft oder Kohlenstoffkreislauf) ist, vergehen meistens mindestens 50 Jahre – manche Bäume, z. B. Kiefern, können darüber hinaus mehrere Jahrtausende alt werden. + +Im Vergleich dazu sind die Umschwünge des menschengemachten Klimawandels bloß Wimpernschläge der Geschichte. Seit Kurzem ist die sogenannte "Begasung" abgeschlossen, die Forscher arbeiten nun an der Auswertung. Ein paar Ergebnisse gibt es schon: So scheinen Fichten das Ozon besser zu vertragen als die Buche. Beide Baumarten produzieren unter Ozonstress weniger Holz und verlagern ihren Vegetationszyklus. So treibt die Fichte früher im Jahr aus, die Buche später – was für beide die Gefahr winterlicher Frostschäden erhöht. Außerdem lässt das Ozon die Bäume aus der Form geraten: Die Fichte wächst schlanker, die Buche weniger stabil. Viel aufgenommenes CO2 wird offenbar schon Tage später wieder über die Rinde abgeatmet. Einige Fragen sind aber noch offen und endgültige Ergebnisse stehen aus. Auch andernorts wird geforscht – z. B. auf einer Plantage in Tennessee. Dort wurden täglich acht Tonnen CO2 auf ein Versuchsgelände mit Amberbäumen geblasen – wodurch ein Wert erzeugt wird, wie er der erwarteten Konzentration von 2050 entspricht. Anfangs nahmen die Bäume das Extra-CO2 gut auf, es war eine Art Baumdoping. +Nach einem Jahr waren die Pappelstämme um 13 bis 40 Prozent dicker +Nach sechs Jahren investierten die begasten Amberbäume aber fast nur noch in neue Wurzeln, der oberirdische Wuchs fiel überraschend zurück. Noch ist es sehr schwierig festzustellen, was sich im Boden genau abspielt und was den Baum treibt. Macht CO2 auf die Dauer durstig? Sind die Wurzeln selbst eine Strategie, um den vielen Kohlenstoff abzulagern oder um einer kommenden Dürre vorzubeugen? Oder sind sie nur Beleg für die Suche nach mehr Nährstoffen, wie Stickstoff? Erstaunliche Ergebnisse liefert auch eine Untersuchung aus Italien, wo drei Pappelarten von 1999 bis 2005 mit CO2 besprüht wurden. Nach einem Jahr waren die Pappelstämme 13 bis 40 Prozent, nach zwei Jahren die Äste 34 bis 56 Prozent dicker als bei der Vergleichsgruppe. Im Wurzelbereich zeigt sich am Ende ein Biomassezuwachs von 54 bis 82 Prozent. +Bei aller Forschung hilft manchmal am Ende auch nur der Zufall weiter – oder eben ein Wunder. So wie beim Kiefernwald am Rande der Negev- Wüste. Als diese symbolpolitische Aufforstung in Israel vor 35 Jahren begann, hätte die botanische Lehrmeinung den Pflanzungen im Zeichen von Völkerverständigung und nationaler Identität wegen Trockenheit und Hitze keine Überlebenschance einräumen dürfen. Dass der in großen Teilen gespendete Wald heute aber keineswegs darbt, sondern sich prächtig entwickelt und selbstständig ins Wüsteninnere ausbreitet, können sich die Forscher des Weizmann Institute of Science nur mit einem erklären: mit dem drastischen Anstieg von CO2 in der Atmosphäre. Erst in dieser geballten Dosis könnten die Kiefern nun genügend CO2 einatmen – ohne dabei ihre Poren weit öffnen zu müssen und im Wüstenklima alle Flüssigkeit zu verlieren. Als nächsten Schritt wollen sich Wissenschaftler aus aller Welt um die tropischen und borealen Wälder kümmern. Denn diese Ökosysteme sind viel größer und daher bedeutender für den globalen Kohlenstoffkreislauf, als die bisher studierten mitteleuropäischen und nordamerikanischen Wälder. Gesucht werden allerdings noch billige CO2- Quellen vor Ort, passende Forschungsdesigns sowie das technische Equipment im Größenmaßstab des Regenwalds. Aber sobald es so weit ist, steig ich da gern wieder in die Gondel und lass mich in die Wipfel bringen – diesmal auf über 60 Meter Höhe. diff --git a/fluter/im-partyzug-von-kroatien-nach-serbien.txt b/fluter/im-partyzug-von-kroatien-nach-serbien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e24968bf84f361346b15449015bee11d1332336a --- /dev/null +++ b/fluter/im-partyzug-von-kroatien-nach-serbien.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +"Mein Vater hat gegen die Serben gekämpft, um seine Heimat zu schützen. Gehasst hat er sie eigentlich nicht, er hasst sie auch heute nicht", sagt Tommy Brstilo, 19. Er studiert gerade Ingenieurwissenschaft und Programmieren in Zagreb. Sein Vater habe ihn dazu ermutigt, diese Zugfahrt zu machen, denn Belgrad sei eine so schöne Stadt. "Klar gibt es noch die Extremisten, die tatsächlich denken, dass der Krieg noch weitergeht. Ich wurde nach Kriegsende geboren. Der Krieg betrifft mich nicht. Ehrlich gesagt versteh ich gar nicht, worum es da eigentlich ging", sagt Brstilo. +Gen Mitternacht trudeln Reisende nach und nach ein, ausgestattet mit kleinen Köfferchen und Taschen voller Alkohol. Viele Studenten und Studentinnen nehmen sich für den Partyzug ein verlängertes Wochenende frei, bevor sie wegen der Arbeit keine Zeit mehr dafür haben. Die meisten trinken, manche sind schon betrunken, sie schießen Selfies, singen Lieder und tanzen auf dem Bahnsteig. Ein paar haben Bluetooth-Boxen für ihre Handymusik dabei, einer hat sogar die großen Lautsprecher auf Rädern mit. +Der Zug fährt erst um drei Uhr früh los, die Party beginnt aber schon Stunden vorher. Internationale Popsongs laufen auch, aber die krasse Party geht da ab, wo die Balkan-Beats gespielt werden. Vor allem bei serbischem Turbofolk: einer Melange des 21. Jahrhunderts, einem Mix aus westlichem Pop, türkischen Rhythmen und Balkan-Folk. Der dazu passende Tanzstil: Pumper-Faust mit orientalischem Körperkreisen und Wirbelbewegungen der emporgereckten Arme. +Für viele ältere Kroaten klingt diese Art von Musik nach orientalischem Kitsch und verdächtig serbisch. Denen, die nach dem Krieg geboren sind, ist das egal. Auf die Musik lässt sich gut tanzen. "Ich mag jede Art von Musik", sagt Marin Bilic, 20, Jurastudent in Rijeka. "Egal ob Hip-Hop oder Rihanna, ich tanz dazu und steh nicht still. Aber Turbofolk ist das Beste, weil man alles rauslassen kann, einfach tanzen, singen, alles fühlen, was du willst." +Die unangefochtene Königin des Turbofolks ist Svetlana Ražnatović, besser bekannt als "Ceca". Ceca ist nicht gerade berühmt für politische Korrektheit. Nicht zuletzt, weil sie die Witwe von Željko "Arkan" Ražnatović, einem hochrangigen Kriminellen und paramilitärischen serbischen Anführer, ist. Ražnatović wurde 2000 in Belgrad ermordet, bevor er vor dem Kriegsverbrechertribunal für seine Vergehen an der Menschheit in Kroatien und Bosnien zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Ceca hat in Kroatien Auftrittsverbot. Gespielt wird ihre Musik in den Kneipen und Clubs trotzdem. +Kroaten und Serben sprechen praktisch dieselbe Sprache und haben über 70 Jahre zusammen gelebt, erst im Königreich Jugoslawien, später in der Sozialistischen Föderativen Republik. Die Party-Reisenden haben nur eine vage Ahnung von der gemeinsamen Geschichte, Details kennen sie nicht. +Drei Tage lang blieben die Kroaten in Belgrad, um zu trinken, Clubs zu entdecken und Sehenswürdigkeiten zu bestaunen. Die ehemalige Hauptstadt Jugoslawiens ist größer und billiger als Zagreb. Belgrad wird auch ein immer beliebteres Reiseziel in Europa, bekannt vor allem für das bunte Nachtleben. Junge Kroaten feiern auch lieber in der bröckelnden Grandeur der unrestaurierten serbischen Hauptstadt als im eher farblosen Zagreb. + +"In Kroatien sind die Menschen ein bisschen steifer", erklärt Branko Paunovic, der 29-jährige Besitzer der "Fun Factory", die die Touren nach Belgrad organisiert. "Wir sind uns nicht einig darüber, wer wir eigentlich sind", sagt er. "Die eine Hälfte hält sich für Europäer und will nicht mehr zum Balkan gehören. Die anderen denken, dass wir sehr wohl dazugehören und das endlich akzeptieren müssen. Irgendwie sind wir eine Mischung, gerade weil wir an der Grenze zwischen Europa und dem Balkan leben." +Paunovic, geboren und aufgewachsen in Kroatien, wurde in einem kroatisch-serbischen Elternhaus groß. Der größte Unterschied zwischen den beiden Nationen sei doch der, dass die Serben entspannter und humorvoller gegenüber ihrem Schicksal seien. Er beschreibt die Mentalität der Serben so: "Wir sind im Balkan, alles ist am Arsch, na und? Wir können immer noch trinken." diff --git a/fluter/im-spiegelsaal-stroemquist-interview-schoenheit.txt b/fluter/im-spiegelsaal-stroemquist-interview-schoenheit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4f4f7921452b71160f89464bde8798bc9bb8f749 --- /dev/null +++ b/fluter/im-spiegelsaal-stroemquist-interview-schoenheit.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Liv Strömquist: Während der Pandemie ist mir aufgefallen, dass ich sehr viel Zeit damit verbracht habe,auf Instagram herumzuscrollen. Plötzlich war eine Stunde vergangen, und ich schaute mir den Ex-Freund irgendeines Prominenten an. Man verliert sich in dieser Welt. Es wird zu einem immer größeren Teil unseres Lebens, Fotos von anderen Menschen und deren Gesichtern anzuschauen. +Einer dieser Menschen ist die Influencerin und Unternehmerin Kylie Jenner, der du auch ein Kapitel in deinem Comic gewidmet hast. Warum schauen wir uns ihre Bilder so gerne an? +Der französische Philosoph René Girard geht davon aus, dass es ein grundlegender menschlicher Trieb ist, andere Menschen nachahmen zu wollen. Was noch dazukommt: Wir leben in einer Zeit, in der wir viele individuelle Freiheiten haben, und leben außerdem in einem kapitalistischen System, das uns ständig dazu bringen will, Dinge zu begehren. Aber es ist schwer, sich andauernd zu entscheiden, was man will. Deshalb wählt man jemanden wie Kylie Jenner, ein Vorbild, das die Wünsche für einen kanalisiert. Man sieht sie also an und möchte so aussehen wie sie und die gleichen Dinge haben wie sie. Girard nennt es das"mimetische Begehren". + +Wenn ich so durch meine Timelines scrolle, habe ich das Gefühl, dass dieses mimetische Begehren außer Kontrolle geraten ist. +Ja, und das hat in meinen Augen mit dem Mangel an Sinn und Zweck zu tun, den heute viele Menschen verspüren. All diese Influencer sind dazu da, uns etwas zu verkaufen. Es fehlt vielen in unserer Gesellschaft an einem Traum oder einem Wunsch, der größer ist als der, etwas zu konsumieren. +Warum werden wir auch ein bisschen deprimiert, wenn wir Kylie Jenner ansehen, aber nicht, wenn wir einen süßen Welpen betrachten? +Menschen wie Kylie Jenner sind Vorbilder, aber gleichzeitig sind sie auch Konkurrenz. Und weil sie so perfekt wirken, fühlt man sich ihnen in gewisser Weise unterlegen. Das macht uns traurig oder wütend. Der Welpe ist mit seiner Schönheit dagegen kein Konkurrent. +Kylie Jenner und viele andere Prominente lassen sich heute medizinisch behandeln, um noch perfekter auszusehen. Man könnte also sagen, Schönheit ist nicht mehr nur eine Gabe, sondern eine Leistung. Was folgt daraus? +Der Soziologe Hartmut Rosa sagt, dass das Bezeichnendste an unserer Zeit ist, dass wir alles optimieren wollen. Alles muss zu jeder Zeit kontrollierbar sein. Unsere Beziehung zu unserem eigenen Gesicht und Körper ist ein Projekt. Man schaut sich verschiedene Teile seines Körpers an und denkt darüber nach, wie man sie am besten optimieren kann. Aber wenn man die ganze Zeit von diesen Dingen besessen ist, was ist das dann für ein Leben? Wenn man Schönheit im Alltag erlebt, ist das selten eine kontrollierte Erfahrung. Es ist doch fast immer so, dass man jemanden in einem unkontrollierten Moment ansieht und dann Schönheit erkennt, die oft mit dem inneren Zustand dieser Person zusammenhängt. Man sieht etwas in den Augen dieser Person, und sie wird für einen plötzlich sehr schön. + + +Immerhin schlagen Frauen als Influencerinnen selbst Kapital aus ihrer Schönheit. Ist das nicht besser, als dass andere daran verdienen? +Als ich ein Teenager war, hatte ich viele Freundinnen, die auf der Straße von Fotografen angesprochen wurden. Die schlugen ihnen vor, sie zu fotografieren und damit berühmt zu machen. Heute ist das anders: Wenn jemand sehr hübsch ist, dann kann diese Person einen Account und eine Fangemeinde haben und davon leben. Das ist eine Machtverschiebung zugunsten der Frauen. Für die Frauen in den Fünfziger- oder Sechzigerjahren war es schwieriger, zum Beispiel für Marilyn Monroe, eine der am häufigsten fotografierten Frauen ihrer Zeit. Sie blieb abhängig von Fotografen wie Bert Stern,der sie 1962 insgesamt drei Tage lang fotografierte. Kurze Zeit später starb sie an einer Überdosis. Sie wurde Opfer der Umstände. Stern veröffentlichte anschließend alle Bilder dieser Fotosession, auch die, die Monroe vor ihrem Tod noch durchgestrichen hatte. +In Deutschland gibt es Menschen, die sich gerade über Influencerinnen lustig machen. Warum wird ihre Arbeit nicht ernst genommen? +Es gibt diese Art von Shaming, weil Schönheit stark mit dem sozialen Konstrukt von Weiblichkeit verbunden ist. Im Christentum wurde es zum Beispiel als Sünde angesehen, eitel zu sein. Sich der eigenen Schönheit zu bewusst zu sein und sie auch noch einzusetzen wurde als etwas Schlechtes angesehen. Ich denke, das hat damit zu tun, dass Schönheit von vielen als eine inhärent weibliche Macht angesehen wurde. +Fühlst du dich als Autorin unter Druck gesetzt, deine eigene Schönheit zur Schau zu stellen? +Kürzlich war ich in einer schwedischen Morning-Fernsehshow eingeladen und hatte mir dafür die Haare nicht besonders gestylt. Anschließend habe ich sehr wütende E-Mails von den Zuschauern bekommen, nach dem Motto: Warum sieht dein Haar so schlimm aus?(lacht). Ich dachte mir: Ich habe gerade ein Comicbuch gemacht, ich muss mir doch die Haare nicht stylen lassen. Schönheit ist ein zweischneidiges Schwert: Sie kann Macht verleihen, aber gleichzeitig auch schlecht sein, weil es vor allem für Frauen eine Pflicht geworden ist, schön zu sein. +Liv Strömquist, Jahrgang 1978, hat im Alter von fünf Jahren mit dem Zeichnen angefangen. Die studierte Politikwissenschaftlerin lebt im schwedischen Malmö und produziert neben den feministischen Comics, für die sie berühmt geworden ist, seit fast zehn Jahren den Podcast "En varg söker sin pod", gemeinsam mit der Autorin Caroline Ringskog Ferrada-Noli . +"Im Spiegelsaal" von Liv Strömquist, übersetzt von Katharina Erben, ist im Avant-Verlag erschienen. diff --git a/fluter/im-teufelskreis.txt b/fluter/im-teufelskreis.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..82794c0337a20cb051fa0441cd303649bc6d8a5b --- /dev/null +++ b/fluter/im-teufelskreis.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Das Zeug wirkt dann in einer Art Teufelskreis: Wenn die Wirkung nachlässt, fühlt man sich erschöpft, umso unkonzentrierter und hat den drängenden Wunsch, noch eine Tablette zu nehmen. So kommt man sehr schnell in eine psychische Abhängigkeit. +Am Anfang hatte ich mir noch gesagt, ich nehme es nur vor ganz schweren Prüfungen. Aber als ich gesehen habe, wie gut es funktioniert und dass die Noten stimmen, habe ich es dann doch in jeder Prüfungsphase genommen. Später auch vor Vorstellungsgesprächen oder Präsentationen. Es war für mich der einfachere Weg, als mich meinen Ängsten zu stellen. Denn bevor ich mit dem Ritalin angefangen hatte, war ich durch zwei Prüfungen gefallen und hatte eine regelrechte Prüfungsangst entwickelt. Mit den Tabletten fühlte ich mich sicherer, ähnlich wie mit einem Spickzettel, nur dass die Tabletten einen tatsächlichen Effekt aufs Gehirn haben. Das Ritalin unterdrückt negative Gefühle, das Lampenfieber verschwindet, der Stress wird unterdrückt. Man fühlt sich auch erhaben gegenüber anderen, hat ein gesteigertes Ego. So ähnlich stelle ich mir die Wirkung von Kokain vor. +Aber auch die anderen bekommen mit, dass man sehr fokussiert und verschlossen ist, aufgedreht, gereizt und aggressiv. So merkte ich auch schnell meinen Mitstudenten an, wer gerade "high" war und wer nicht. Denn obwohl die meisten es verheimlichen und sich wahrscheinlich, wie ich, nur unter sehr engen Freunden darüber austauschen, glaube ich, dass Ritalin unter Studenten sehr weit verbreitet ist. Besonders bei sehr lernintensiven Fächern wie Jura, VWL und BWL. +Ich selbst habe es immer strikt geheim gehalten. Deswegen möchte ich hier auch nicht meinen richtigen Namen nennen. Ich schäme mich für dieses Gehirn-Doping. Schon damals empfand ich es als charakterliche Schwäche, dass ich dem Drang immer wieder nachgegeben habe. Ich war aber auch zu schnell davon überzeugt, dass die Kommilitonen es auch alle machen – und ich am Ende der Doofe sein könnte, der es nicht macht. Die gelb-weiße Ritalin-Packung habe ich in der Uni häufig wiedererkannt: Sie ragte bei Mädchen aus der Handtasche oder lag bei manchen in der Klausur unter der Bank. +Mir ist vollkommen klar, dass diese Art von Gehirn-Doping nicht fair ist. Trotzdem verhält es sich wie beim Doping im Sport: Da ist auch der faire Wettkämpfer am Ende der Gelackmeierte. Wer nicht dopt, kann nicht mithalten. Doping im Studium ist allerdings einfacher als im Sport: Es gibt ja keine Kontrollen und ausdrücklich verboten ist es auch nicht. +Meiner Meinung nach geht die Öffentlichkeit nicht gut damit um. Die Berichterstattung finde ich viel zu reißerisch, als wären es ein paar einzelne Spinner, die im Studium Aufputschmittel nehmen. Mein Eindruck aus München ist, dass es schon ziemlich viele sind und mit dem Bachelor auch immer mehr werden. Denn der Leistungsdruck, der dahintersteckt, ist doch dem Aufbau des Studiums geschuldet. Es ist eben schwer, beim banalen Auswendiglernen die Konzentration über Stunden, Tage und Wochen zu halten. Und dabei die Angst im Rücken zu haben, exmatrikuliert zu werden, wenn man zu häufig durchfällt. +Aufputschmittel der Fairness halber zu legalisieren, wäre auch keine Lösung. Ich habe am eigenen Leib die Nebenwirkungen erfahren. Ritalin fällt nicht umsonst unter das Betäubungsmittelgesetz. Während der Prüfungsphasen habe ich kaum geschlafen, höchstens vier Stunden pro Nacht, bin abgemagert, weil ich keinen Hunger hatte. Der Körper ist danach fix und fertig. Ich habe Lichtblitze gesehen, weil ich so übermüdet war. +Und einmal hatte ich sogar einen Filmriss, als ich das Aufputschmittel vor einem Date genommen hatte. Das war sowieso gar keine gute Idee, denn man wird ja davon total arrogant und überheblich. Das kam bei ihr natürlich nicht so gut an. Dazu hatte das Ritalin in Kombination mit Alkohol einen verheerenden Effekt: Es hat die Erinnerung an den Abend am Ende völlig ausgesetzt." +*Name von der Redaktion geändert diff --git a/fluter/im-visier-der-taliban.txt b/fluter/im-visier-der-taliban.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2a7d52db5ab3f03e35384596237ff84693d49ff0 --- /dev/null +++ b/fluter/im-visier-der-taliban.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Fluter: Herr Rashid, Sie leben in Lahore. Wie ist die Stimmung in der Stadt nach dem Anschlag an Ostern? +Ahmed Rashid: Es gab viele Anschläge in Lahore, und hier leben zwölf Millionen Menschen, also was in einem Teil der Stadt passiert, wirkt sich nicht unbedingt auf die anderen aus. Aber trotzdem war es ein Schock, vor allem weil es in dem Park passiert ist, der als eine Art Zentrum für Frauen und Kinder gilt. Dazu kommen die politischen Auswirkungen und die Enthüllung der "Panama Papers", in die auch viele pakistanische Politiker verwickelt sind. Es kam also eins zum anderen. +Ziel des Anschlags waren Christen. Wie wirkt sich das auf das Leben der religiösen Minderheiten in Pakistan aus? +Die Wirkung kann man gar nicht überschätzen. Zumal die Terroristen bekannt gegeben haben, dass sie von nun an alle Christen bekämpfen werden. Das ist natürlich extrem beunruhigend, besonders für die Christen, aber eigentlich für alle Bevölkerungsgruppen. Seit 1947 haben wir Pakistan mit all den Minderheiten geteilt, und die Gründungsväter des Landes haben das immer hervorgehoben. Aber leider scheint es so, dass wir die Sicherheit der Minderheiten nicht mehr gewährleisten können. + + +Sie haben von politischen Folgen gesprochen. Welche sind das? +Noch in der Nacht des Anschlags zog die Armee ins Pandschab-Gebiet ein und nahm mutmaßliche Terroristen fest, die offenbar auf einer Liste standen. Eigentlich gab es eine Abmachung zwischen der Armee und Premierminister Nawaz Sharif, dass die Armee sich aus dem Pandschab-Gebiet, dem Herzen der Machtbasis Sharifs, heraushalten würde. Dafür erhielt die Armee die Kontrolle über die Außen- und Nuklearpolitik des Landes und war für den Antiterrorkampf in Karatschi, dem Süden und entlang der Grenze zu Afghanistan zuständig. Jetzt hat die Armee diese Vereinbarung gebrochen und so einen Machtkampf ausgelöst. Dabei wissen die Menschen, dass beide Fraktionen Verbindungen zu extremistischen Gruppen hatten und womöglich noch haben, besonders in der umstrittenen Kaschmir-Region im Dauerkonflikt mit Indien. +Auch zu der Jamaat-ul-Ahrar-Gruppe, die sich zu dem Anschlag bekannt hat? In Europa ist diese Gruppe unbekannt. +Es ist eine relativ neue Splittergruppe der pakistanischen Taliban. Wir wissen nicht viel über sie, nur dass sie nicht sehr beliebt ist bei den Menschen und auch keine Machtzentren hat wie die Taliban. Sie hat sich dem Umsturz des Systems in Pakistan verschrieben, also ist sie für die Regierung und die Armee ein Feind. Zwar hat sie sich von den pakistanischen Taliban losgesagt, hat aber immer noch enge Verbindungen zu der aus Afghanistan, und viele Mitglieder leben auch dort, in der Grenzregion zwischen den Ländern. +Nach den Hindus bilden die Christen in Pakistan die zweitgrößte religiöse Minderheit +Es ist nicht lange her, da schien es, als hätte die Armee die Taliban und andere Terroristen im Griff. Es gab kaum noch Anschläge. Was ist passiert? +Für die Taliban in Pakistan stimmt das auch immer noch, auf pakistanischem Boden gibt es keine Hochburgen mehr. Doch die meisten sind nach Afghanistan geflüchtet und führen die Attacken jetzt von dort aus. Das Problem ist, dass sowohl die Armee als auch die Regierung die afghanischen Taliban sogar als Freunde des Landes gesehen haben. +Welche Rolle spielt dabei, dass sich beide Länder nicht darauf einigen konnten, wie sie die Taliban bekämpfen sollen? +Eine große. Aus beiden Ländern nutzen Taliban die poröse Grenze, um Attacken im jeweils anderen Land zu planen oder auszuführen. In Pakistan ist das sicherlich ein Versagen der Armee, nicht genug Druck auf die afghanischen Taliban auszuüben, dass die nach Hause zurückkehren. Dieses Versagen wirkt sich auch auf die Friedensverhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban aus, weil es die Position der Taliban stärkt und ihnen einen immer verfügbaren Rückzugsraum verschafft. Gleichzeitig muss verhindert werden, dass die pakistanischen Kämpfer Zufluchtsorte in Afghanistan finden. Das zu verhindern kann nur geschehen, wenn es einen Friedensprozess zwischen der afghanischen Regierung und den dortigen Taliban gibt, und darauf muss auch Pakistan drängen. + + +Da es keine Hochburgen mehr gibt, gründen sich deshalb nun Splitter-Gruppen wie Jamaat-ul-Ahrar? +Sicherlich gab es durch die intensive Bekämpfung der Taliban eine Zersplitterung. Dazu kommen auch interne Streits um Strategie, Einfluss und Geld. In der Zersplitterung liegt natürlich auch eine Gefahr, denn bei den Taliban wusste man doch recht gut, woran man ist. Diese neuen Gruppen kennt man nicht, und deswegen sind sie schwierig zu bekämpfen und zu überwachen. +Haben die Verbindungen zu Daesh? +Soweit wir wissen, nicht, auch wenn es über kurz oder lang passieren könnte, dass sie sich Daesh anschließen. Nun hat Daesh aber eigentlich wenig Unterstützer in Pakistan. Extremistische Gruppen wie die Taliban oder Al Kaida sind hier etabliert und extrem gut vernetzt, schließlich bestehen sie seit 20 oder 30 Jahren. Den Aufstand, den der Nahe Osten gerade erlebt, haben wir in unserer Region schon seit vielen Jahren, in Afghanistan seit 1979. Deshalb glaube ich, dass Daesh hier nur schwer Fuß fassen wird. +Müssen wir diese neuen Gruppierungen in Westeuropa fürchten? Werden sie ihren Terrorismus exportieren? +Darüber kann man nur spekulieren. Die Taliban haben zwar Al-Kaida-Leuten Unterschlupf gegeben, aber nie von sich aus Attacken in anderen Ländern ausgeführt. Bei den neuen Gruppen könnte es nun sein, dass sie sich unter dem Einfluss von Al Kaida und Daesh dem globalen Dschihad anschließen werden. Aber bis jetzt gibt es keine Anzeichen dafür. +Ahmed Rashidist einer der angesehensten Journalisten Pakistans. Er nimmt regelmäßig auf CNN und BBC World Service zu politischen Konflikten Stellung. Auf Deutsch erschien zuletzt sein Buch "Am Abgrund. Pakistan, Afghanistan und der Westen". +Pakistans Problem mit Extremismus und Terrorismus liegt vor allem in der Geschichte des Landes begründet. Nach der Abspaltung von Indien 1947 gab sich der junge Staat als Hüter des Islam, auch um sich ideologisch vom hinduistischen Indien abzugrenzen. Beide Staaten stehen sich seither feindlich gegenüber. In Pakistan wird der Islam in der Schule gelehrt und den Soldaten in der Armee eingeimpft, sie müssten ihre Religion gegen Indien verteidigen. Im Konflikt mit Indien um die umstrittene Kaschmir-Region als auch in außenpolitischen Auseinandersetzungen mit Afghanistan an der westlichen Grenze setzte der pakistanische Geheimdienst ISI lange Zeit auf die Unterstützung extremistischer Gruppen – und tut dies nach Ansicht vieler Experten noch heute.Viele der Extremisten sind Nachfolger der islamistischen Mudschahedin, die nach dem Einmarsch der Sowjettruppen in Afghanistan 1979 auch von den USA und Saudi-Arabien bewaffnet wurden. Seit 2001 gab es in Pakistan mehr als 60.000 Opfer von Terrorangriffen.Minderheiten wie Christen oder die muslimische Ahmadiyya-Gemeinde haben es schwer in Pakistan, vor allem wegen des Blasphemiegesetzes, das für die Schmähung des Propheten Mohammed die Todesstrafe vorsieht. In den vergangenen 20 Jahren wurden 62 Menschen Opfer von Selbstjustiz, nachdem sie der Gotteslästerung angeklagt waren. Mehr als die Hälfte gehörte religiösen Minderheiten an, obwohl diese nur vier Prozent der pakistanischen Bevölkerung ausmachen. +Constantin Wißmann arbeitet als freier Journalist in Berlin. Er berichtet für Zeitungen und Magazine regelmäßig aus Krisengebieten und über den islamisch motiviertem Terrorismus, insbesondere in Afghanistan und dem Irak. diff --git a/fluter/im-zweifel-fuer-den-zweifel.txt b/fluter/im-zweifel-fuer-den-zweifel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5687605b41369125e2f099731a6c4487b3e1d0a0 --- /dev/null +++ b/fluter/im-zweifel-fuer-den-zweifel.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Die Angst vor Verfolgung und Repression hat Adam und Raksmay nach Deutschland gebracht, wo beide sogenannte Geduldete sind oder "vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer", wie das im Amtsdeutsch heißt. Die Asylanträge von Adam und Raksmay wurden abgelehnt, weil sie nicht nachweisen konnten, dass eine individuelle Verfolgung aufgrund ihrer politischen Überzeugung, Religion, Sprache oder Herkunft droht. Eine allgemein unsichere Lage im Land reicht für die Anerkennung nicht aus. Die Situation der Geduldeten regelt wiederum das "Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet", und darin finden sich Begriffe wie "Aufenthalts­gewährung", "Zurückschiebung" und "Ermessensausweisung". Mutmachend klingt das nicht. +Geduldete haben keinen "Aufenthaltstitel" in Deutschland. Sie sollen eigentlich abgeschoben werden, aber aus "tatsächlichen oder rechtlichen Gründen" geht es nicht. Etwa weil sie selbst oder Familienangehörige schwer erkrankt sind, weil Ausreisedokumente fehlen oder manchmal sogar, weil es ge­rade keine direkte Flugverbindung ins Herkunftsland gibt. In Staaten, in denen aufgrund der Situation vor Ort eine Gefahr für das Leben besteht, etwa wegen eines Krieges, wird ebenfalls nicht abgeschoben. Die Auswahl dieser Staaten kann sich, um es noch ein wenig komplizierter zu machen, von Bundesland zu Bundesland unterscheiden. +Familien mit minderjährigen Kindern sollen nicht zerrissen werden, wobei man schon ab dem 17. Lebensjahr als "asylmündig" gilt. Das führt dazu, dass Kinder aus manchen Flüchtlingsfamilien nach ihrem 16. Geburtstag in ein Land abgeschoben werden, in dem sie mitunter nur wenige Jahre ihres Lebens verbracht haben, und manchmal nicht mal das: Denn selbst Kinder, die hier geboren wurden, sind nicht automatisch Deutsche, wenn ihre Eltern zum Zeitpunkt der Geburt nur geduldet waren. Vielfach wird keine Geburtsurkunde beantragt, denn dazu müssten die Eltern dem Standesamt ihren Personalausweis, einen Reisepass oder ein anderes anerkanntes Passersatzpapier vorlegen. Das können oder wollen sie oftmals aber nicht. +94.508 Menschen lebten Ende 2013 als Geduldete in Deutschland, mehr als ein Drittel von ihnen befindet sich schon seit mehr als fünf Jahren in diesem Zustand, über 10.000 sogar schon mehr als 15 Jahre. Über die Hälfte der Geduldeten sind jünger als 29 Jahre. Sie hängen in einer Zwischenwelt fest, leben von einer Duldung zur nächsten, oft hält die Sicherheit nur drei oder sechs Monate, dann wird die Durchführung einer Abschiebung wieder überprüft. "Das hat mich sehr passiv gemacht", beschreibt Adam seine Situation. Auch Raksmay haben die dauernden Gedanken an eine Abschiebung in den ersten Jahren, die sie in Deutschland verbracht hat, zugesetzt: "Ich konnte nicht schlafen, hatte immer Kopfschmerzen, genau wie meine Mutter und mein Bruder. Man kann fast nichts machen, außer zu Hause rumzusitzen. Es fühlte sich an, als sei mein Leben schon vorbei." +Aktuell hat Raksmay das seltene Glück, für volle 18 Monate geduldet zu sein, weil sie ihren Mittleren Schulabschluss (MSA) nachholt. Dabei hat die 27-Jährige sogar schon einen Bachelorabschluss, allerdings wird der hier nicht anerkannt. +Für Adam geht es derzeit darum, eine Ausbildungs­stelle als Physiotherapeut zu finden. Einen Studienplatz oder eine Arbeitserlaubnis zu bekommen war bisher für ihn fast unmöglich. "Ich fühle mich so eingeschränkt wie im Knast", sagt Adam. Das Internet hilft ihm bei der Alltagsbewältigung, hier informiert er sich über die Lage in seiner Heimat und hält auf Facebook und in russischen sozialen Netzwerken Kontakt zu Freunden von früher, die zum Teil in Dagestan leben, zum Teil aber auch in anderen deutschen Städten, in Frankreich oder Italien. Berlin verlassen dürfen Adam und Raksmay bislang nur mit einer Ausnahmegenehmigung. Residenzpflicht nennt sich das – die aber in Zukunft gelockert werden soll, so dass zum Beispiel Familienangehörige, die in einem anderen Landkreis wohnen, frei besucht werden können. +Freundschaften zu Deutschen haben Adam und Raksmay bisher kaum geschlossen. Das liegt ein wenig daran, dass sie beide recht schüchtern sind. Aber auch, weil sie sich dafür schämen, dass sie Geduldete sind und von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) leben, die das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum abdecken sollen.­ "Man fühlt sich wie ein Loser, als sei man nicht so intelligent", sagt Adam. "Die meisten Leute wollen darüber auch nichts hören. Die kennen das nicht und verstehen überhaupt nicht, was mein Problem ist." +Dass ein Bleiberecht für Menschen wie Raksmay und Adam so schwer zu bekommen ist, hat auch wieder mit Angst zu tun. Der Angst des Staates, ausgenutzt zu werden, der Angst, dass auf einmal viel mehr Leute nach Deutschland kommen und hier bleiben wollen, auch wenn sie in ihrer Heimat gar nicht verfolgt werden, einfach weil es so leicht geht. Und aus Angst erwächst schnell Misstrauen, also wird den Menschen, bei denen man sich nicht ganz sicher ist, das Leben lieber ein wenig unkomfortabler gestaltet. Im Zweifel für den Zweifel. +Immerhin wurde Anfang 2005 eine Instanz geschaffen, die mit dem Zweifel umgehen soll: die Härtefallkommissionen. Jedes Bundesland hat so eine, sie sind ein Zugeständnis an die Tatsache, dass selbst die ausgefeiltesten Gesetzestexte eben nicht immer für jeden Einzelfall das erreichen, was sie sollen. Die Kommissionen bestehen meist aus sieben bis zehn Mitgliedern, darunter sind in der Regel Vertreter der Innenbehörde, der Ausländerbehörde, von Kirchen, Landeswohlfahrtsverbänden und Flüchtlingsinitiativen. Sie prüfen die Anträge und geben eine Empfehlung ab. Erheblich straffällig gewordene Menschen haben zum Beispiel keine Chance, wobei das laut einer Flüchtlingsinitiative mitunter schon beim mehrmaligen Fahren ohne Fahrkarte, also einem "Erschleichen von Leistungen", vorkommen kann. +Das Bundeskabinett hat kürzlich eine Reform des Bleiberechts auf den Weg gebracht, die geduldeten Menschen, die gut integriert sind, stichtagsunabhängig die Chance auf einen Aufenthaltstitel bietet. Andererseits soll es aber noch einfacher werden, etwa straffällig gewordene Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus auszuweisen. Flüchtlingsorganisationen und Opposition kritisieren die Pläne scharf. Nun soll sich der Bundestag mit dem Gesetzesentwurf befassen.Die Entscheidung liegt aber letztlich bei den jeweiligen Innenministerien. In der Vergangenheit hat die Innenministerkonferenz immer mal wieder Geduldeten unter bestimmten Bedingungen – etwa weil sie zu einem Stichtag ausreichend lange in Deutschland lebten und sich um einen Arbeitsplatz bemühten oder eine Beschäftigung nachweisen konnten – ohne Einzelfallprüfung ein verlängertes Bleiberecht gewährt. Flüchtlingsverbände, aber auch mehrere Parteien wollen noch weiter gehen: Sie fordern eine stichtagsunabhängige Regelung, die den zermürbenden Kettenduldungen ein Ende setzt. +Adam und Raksmay stehen beide auf der Liste der Berliner Härtefallkommission. Bis ihr Fall geprüft wird – einen festen Termin dafür gibt es nicht –, können sie sicher in Deutschland bleiben. Und dann? Die kurzfristige Hoffnung von Raksmay und Adam ist: ein sicheres Leben in Deutschland führen zu können, eine Perspektive zu haben, und sei es erst mal für einige Jahre. Denn die beiden wollen gar nicht für immer in Deutschland bleiben. Sie hoffen darauf, dass sie sich irgendwann in ihren Ländern wieder sicherer fühlen können. Dann wollen sie zurück. +Michael Brake arbeitet freiberuflich als Autor und Redakteur, unter anderem für fluter.de, die taz und Zeit Online. Normalerweise schreibt er über weniger existenzielle Themen: Comics, Internetkultur und Tiere nämlich. diff --git a/fluter/imam-riza-moschee-neukoelln.txt b/fluter/imam-riza-moschee-neukoelln.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bd87d2f9ccb914faf6e9b7e0fbc33092f6d67fcc --- /dev/null +++ b/fluter/imam-riza-moschee-neukoelln.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Für Mansour ist Imam Husain ein Vorbild für Gerechtigkeit und Freiheit. Und der Gedenktag seines Todes der Höhepunkt des Jahres. Trotz der Trauer freut er sich auf das Fest. Er fühle sich danach gereinigt, wie neugeboren. +Von außen ist die Imam-Riza-Moschee unauffällig. Nur die orientalisch verzierten Fenster und eine LED-Anzeigetafel mit der Inschrift "Islamisches Zentrum Imam Riza" über dem Eingang weisen darauf hin, dass sich in dem Haus in der Reuterstraße in Berlin-Neukölln ein Gebetsort befindet. +Im Gegensatz zu einigen anderen Moscheen in Deutschland steht hinter der Imam-Riza-Moschee laut eigener Aussage kein großer Geldgeber – keine Stiftungen, keine Staaten wie Saudi-Arabien, Türkei oder Iran –, sondern die Moscheebesucher selbst: schiitische Türken, Aserbaidschaner, Afghanen und Iraner. Sie finanzieren die Moschee durch einen freiwilligen Beitrag an einen Solidaritätsverein: Wer kann, der gibt. Neben religiösen Veranstaltungen gibt es in der Moschee auch kulturelle Events, etwa das persische Neujahrsfest und Sprachkurse. + + +Doch außerhalb ihrer Mauern hat die Moschee keinen guten Ruf. 2020 wurde laut Medienberichten eine Gedenkfeier für denvon den USA getöteten iranischen General Qassem Soleimani, der auf der EU-Terrorliste stand, abgehalten. "Die Moscheebesucher huldigen einem Mörder und Terroristen",titelte "Die Welt". Der "Tagesspiegel" zitierte deutsche Sicherheitskreise, wonach sich in der Moschee auch Anhänger der Hisbollah treffen, einer radikalschiitischen Organisation aus dem Libanon, gegen die in Deutschland ein Betätigungsverbot gilt. Auf Nachfrage bestätigt der Bundesverfassungsschutz, weiterhin Hinweise zu haben, dass einzelne Mitglieder und Besucher der Moschee dem iranischen Regime und der Hisbollah nahestehen. +Als ich im Februar dieses Jahres zum ersten Mal in der Imam-Riza-Moschee bin, weiß ich nichts davon. Mansour hat mich eingeladen, ich komme als Freund. Ich kenne ihn seit mehreren Jahren, auch seine Geschichte: die Privatschule, die er in Afghanistan leitete, sein Motto, Männer und Frauen gemeinsam studieren zu lassen, die Drohungen der Taliban, schließlich die Flucht nach Deutschland. +Wir sind spät dran. Das Gebet ist zu Ende, aber einige Gläubige, Jugendliche mit Oberlippenflaum und Männer im Alter von Mansour, sitzen noch auf den Teppichen rund um den Ältesten der Gruppe versammelt, einen bärtigen Mann Mitte 40, der Fragen rund um den Glauben beantwortet. Auch ich darf Fragen stellen, selbst heikle Fragen, etwa über die politische Vereinnahmung des Glaubens durch die Mullahs im Iran. Er sagt, das stehe außerhalb seines Urteilsvermögens. +Ganz anders läuft es bei meinem zweiten Besuch Mitte Juli – dieses Mal komme ich als Journalist. In einem karg eingerichteten Büroraum sitzt ein türkischer Imam vor mir, der zu den Vorsitzenden des Moscheevereins gehört. "Wir sprechen mit Medienvertretern grundsätzlich nicht", weist er mich sofort ab. Zwei Gründe nennt er dafür. Erstens: Journalisten hätten in der Vergangenheit Tatsachen und Aussagen der Moscheevertreter verdreht. Konkrete Beispiele dafür nennt er nicht. +Der zweite Grund: Journalisten würden ständig nur politische Fragen stellen. Das hier sei eine Gebetsstätte, kein Ort für politische Auseinandersetzungen. Ich frage nach der Gedenkveranstaltung für Qassem Soleimani: Wenn die Moschee mit Politik nichts zu tun haben will, warum hat man damals einen iranischen Regimevertreter geehrt? Die Stimmung, die zuerst noch höflich distanziert war, wird nun feindlich: "Sehen Sie? Sie machen alles politisch!" Auf eine nachfolgende Anfrage per E-Mail bekomme ich keine Antwort. +Moscheen in Deutschland werden oftmals als verschlossene Welten beschrieben. Für sein Buch "Inside Islam" aus dem Jahr 2017 hat der Journalist Constantin Schreiber einige Moscheen in Deutschland besucht undaufgezeichnet, was dort gepredigt wird. Dabei gab es an dem Buchauch viel Kritik; unter anderem, dass der Autor auf der Grundlage weniger Moscheen ein zu negatives Bild zeichne. +Die Predigt, die er in der Imam-Riza-Moschee in Neukölln dokumentiert, stammt ausgerechnet von Sabahattin Türkyilmaz, jenem Imam, der meine Fragen nicht beantworten wollte. Seine Predigt, die man in Schreibers Buch nachlesen kann, ist hochpolitisch. Er macht aus seiner Abneigung gegen die Demokratie keinen Hehl: "Ihr könnt nicht sagen: ‚Ich bin zugleich Demokrat und Schiit.' Nein, das geht nicht." +Auf seinem Facebook-Profil teilt Türkyilmaz bis heute regelmäßig die Reden von Ali Khamenei, dem obersten Führer des islamistischen Regimes in Iran, das allein im letzten Jahr über 500 Demonstranten und Dissidenten töten beziehungsweise hinrichten ließ. Vor Jahren trat Türkyilmaz als Imam einer Frankfurter Moschee zurück, weil er wegen seiner Teilnahme an einer antisemitischen Veranstaltung in die Kritik geraten war. +Die Predigten von Türkyilmaz habe er nie gehört, sagt Mansour. Weil er kein Türkisch spricht, würde er sie gar nicht verstehen. Auch sonst habe er nie erlebt, dass in der Moschee von Politik gesprochen wird: "Wir wurden sogar dazu ermahnt, politische Diskussionen nicht im Moscheebereich auszutragen." Die medialen Berichte über die Nähe zur Hisbollah und zum Mullah-Regime im Iran seien ihm neu. +Das könnte daran liegen, dass die Afghanen, wie Mansour, hier ihre eigenen persischsprachigen Gelehrten haben. Gegen einen freiwilligen Unkostenbeitrag dürfen sie die Räumlichkeiten der Moschee nutzen, ihre Veranstaltungen finden getrennt von der türkischsprachigen Gemeinschaft statt. Mansour betont auch mehrmals, dass er nicht für die anderen Moscheebesucher, sondern nur für sich selbst spricht. +Die Moschee ist für ihn ein wichtiger Bestandteil seines Lebens. Jede Woche kommt er einmal zum Gebet, danach sitzen er und die anderen Gläubigen oft noch zusammen, trinken Tee oder gehen gemeinsam mit ihrem Imam eine Shisha rauchen. +Doch welche Botschaften hören die Moscheebesucher bei den afghanischen Gelehrten? "Es geht meistens um rein religiöse Themen", berichtet Mansour, "aber manchmal auch um unser Leben als Muslime in Deutschland." Der Prediger beziehe Deutschland oft in seine Gebete mit ein, es möge frei und friedlich bleiben. Er halte die Gläubigen dazu an, dankbar zu sein, dass man hier aufgenommen wurde. Er ermahne sie, sich anzupassen und nach außen ein gutes Bild vom Islam zu zeigen. +"Wir sollen beispielsweise unsere schwarzen Aschura-Fahnen mit den arabischen Inschriften nicht auf den Balkon hängen, weil Deutsche, die den Brauch nicht kennen, das missverstehen und uns für Extremisten halten könnten", erzählt Mansour. Als ich ihn einmal als "strenggläubig" bezeichne, lehnt er den Begriff ab: "Strenggläubig heißt für mich radikal. Das sind die, die zum Beispiel einer Frau nicht die Hand geben." +Dieser Text istim fluter Nr. 88 "Neukölln"erschienen +Mansour zeigt mir ein anderes Bild von der Moschee als jenes, das man von den Medien kennt. In seinen Berichten wird die Moschee zu einem Ort, wo Menschen abgeholt und auf eine neue Gesellschaft vorbereitet werden, ohne ihre eigenen Glaubenssätze ablegen zu müssen. +Für viele – vor allem für die, die alsunbegleitete Minderjährigenach Deutschland kamen – sei die Gemeinschaft der Moscheebesucher wie eine Familie. In ihrer Freizeit gehen sie zusammen Fußball spielen, schwimmen oder grillen. "Statt auf der Straße herumzuhängen und auf die schiefe Bahn zu geraten, kommen sie zu uns", sagt Mansour. +Die Moschee als Ort der Integration, nicht nur des Gebets. Dass das gelingen kann, ist eine Ansicht, die zahlreiche Islamwissenschaftler und Integrationsexperten mit Mansour teilen. Wie es gelingen kann, bleibt aber eine offene Frage: Initiativen für mehr Dialog zwischen Moscheen und Öffentlichkeit gibt es schon, wie etwa das Projekt "Moscheen für Integration". Auch staatliche Förderungen, falls bestimmte Kriterien erfüllt werden, oder Sanktionen im Falle von demokratiefeindlichen Predigten sind Ideen, die diskutiert werden. Andernfalls bleibt es, wie in der Imam-Riza-Moschee, den einzelnen Imamen und Moscheeältesten überlassen, wie sie ihren Einfluss auf die Gläubigen nutzen. + +Titelbild: Robin Hinsch diff --git a/fluter/immer-dasselbe-lied.txt b/fluter/immer-dasselbe-lied.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a34138d6027e807d6934f95826f386c9ace841d6 --- /dev/null +++ b/fluter/immer-dasselbe-lied.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Der beschwingte Sommer-Sonne-Gute-Laune-Mitschnipp-Dauerbrenner, den er für seine damalige Band "Katrina And The Waves" verfasste, läuft nicht nur weltweit im Radio rauf und runter, sondern auch in Hollywood-Blockbuster-Filmen wie "High Fidelity", "Herbie Fully Loa- ded", "Bean – Der ultimative Katastrophenfilm", "Kuck' mal wer da spricht!" oder "Moon". Auch in TV-Hit-Serien wie "The Simpsons", "Futurama" oder "Gilmore Girls" läuft Rews Gassenhauer. Obendrauf kommen Videospiele wie "Band Hero", "Lego Rock Band" oder "Singstar". Selbst "Bob der Baumeister" trällerte im Kinderfernsehen "I'm Working On Sunshine". Ein Lied, dem man kaum entkommen kann. +Als Kimberley Rew seinen Mega-Bestseller schrieb, wohnte er in einem winzigen Zimmer zur Miete. "Ich hatte damals kein Geld, aber Depressionen, wie so oft behauptet wird, hatte ich nicht", erinnert sich der Brite, der bis dahin in mäßig erfolgreichen Gitarrenbands musizierte. Eines Tages wollte er einfach nur ein Lied im Stil der alten Soulhits der sechziger Jahre komponieren. "Die Melodie dauerte ein wenig, aber als ich die hatte, ging es schnell mit dem Text. Ich merke immer, wann ein Song etwas besser als normal gelungen ist, aber ich hatte keine Ahnung, was für einen Treffer ich hier gelandet hatte." Anfangs war keine Plattenfirma an dem Lied interessiert. Ein kleines Label aus Kanada veröffentlichte es schließlich, ohne dass es jemand bemerkte. Der Radioerfolg stellte sich ein, als ein kluger Produzent noch ein paar Bläser zum Gi- tarrenpop hinzufügte. Das war 1985, und seitdem ist "Walking On Sunshine" zuverlässig weltweit jeden Sommer einer der meistgespielten Radiosongs. +Seine Heimatstadt Cambridge verlässt Rew nie. Keine Lust. Wie viel Tantiemen er auf seinem Konto angesammelt hat, verrät er nicht. "Über Geld sollte man nicht sprechen", sagt er. Sein Lied erklingt sogar, wenn man eine bestimmte elektrische Kinderzahnbürste einschaltet. Ist Kimberley Rew egal, was mit seiner Musik passiert, solange die Kasse klingelt? "Natürlich nicht", antwortet er empört. "Ohne meine Zustimmung läuft nichts. Die Zahnbürste fand ich super, indirekt sorge ich doch dafür, dass Kinder ihre Zähne putzen." diff --git a/fluter/immer-die-fuesse-nach-vorne.txt b/fluter/immer-die-fuesse-nach-vorne.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..baa37a90faf8d6f7c0c740f6804cfb32a4664429 --- /dev/null +++ b/fluter/immer-die-fuesse-nach-vorne.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Was soll uns das zeigen? +Die Routinen des Kulturbetriebs. Die ersten zwei, drei Konzerte werden noch ausführlich vom Soundcheck über den Auftritt bis zum anschließenden Band-DJ-Set in einem Club gezeigt, danach zieht das Tempo an, denn: Es ist ja doch immer das Gleiche. Wie Kapitelüberschriften stehen die Städtenamen in Großbuchstaben auf der Kinoleinwand: Belfast. Keele. Liverpool. Manchester. Norwich. Oxford. And so on. +Wie wird's erzählt? +Aus der Perspektive einer Außenstehenden: Estelle kommt während der Tour dazu, um Marketing- und Social-Media-Aufgaben für die Band zu übernehmen. Was man aber erst im Laufe des Films kapiert: Estelle ist eine Schauspielerin, genau wie noch ein weiteres Mitglied der Band-Entourage. Dieser Riss in der Realität irritiert – was ist jetzt dokumentarisch, was gestellt? –, funktioniert aber. +Beste Nebenrolle +Der Tourbus. Egal wo das Konzert stattfindet, am Abend geht es wieder auf die Straße. Seltsamerweise hat der Bus ein deutsches Kennzeichen, und der Fahrer sitzt links. +Geht gar nicht +Aus dem Wechsel von (realen) Konzerten und (gespielten) Sexszenen hatte Michael Winterbottom 2004 schon einen ganzen Film gemacht: "9 Songs", der dank expliziter Darstellungen und wenig Handlung so etwas wie ein Porno für das Arthauskino war. Auch in "On the Road" lässt er seine fiktiven Charaktere eine Affäre beginnen. Das ist okay. Doch spätestens beim dritten Mal Sex wünscht man sich ein wenig Privatsphäre für die beiden. +Good Job! +Die Musik ist super. Touren Wolf Alice eigentlich auch mal bei uns? +Wieder was gelernt +Wie herum schläft man im Tourbus? Die Füße in Fahrtrichtung, damit man sich bei Vollbremsungen nicht den Kopf stößt. Und was ist Regel Nummer eins auf Tournee? "Never shit on the bus". Hat auch was mit Vollbremsungen zu tun. +Ideal für … +Musikfans natürlich. Großbritannien-Fanboys. Und für alle, die im Kulturbetrieb arbeiten oder das gerne würden. Wer sich Handlung wünscht, wird ein wenig gelangweilt sein. +"On the Road", Großbritannien 2017;Regie: Michael Winterbottom, mit Leah Harvey, James McArdle, Ellie Roswell, Joff Oddie, Theo Ellis, Joel Amey;121 Min. diff --git a/fluter/immer-mitten-in-die-presse.txt b/fluter/immer-mitten-in-die-presse.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fbff9786618b662c1b66aa88b7600ef819e30da2 --- /dev/null +++ b/fluter/immer-mitten-in-die-presse.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Schläge und Kugeln: Russland (Platz 148) +Das letzte Opfer war Nikolai Andruschtschenko. Ein Lokaljournalist aus Sankt Petersburg, Gründer der "Nowy Petersburg". Der 73-Jährige war von mehreren Männern verprügelt worden, nach rund sechs Wochen im künstlichen Koma starb er am 19. April 2017. Andruschtschenko galt als Kritiker der Regierung von Wladimir Putin. Seit dessen erstem Amtsantritt als Präsident 2000 sind Dutzende Journalistinnen und Journalisten in Russland ums Leben gekommen, zahlreiche von ihnen wurden erschossen, besonders in der Kaukasusrepublik Tschetschenien und dem benachbarten Dagestan leben Journalisten gefährlich. Die wohl prominenteste Tote, die 2006 in ihrem Wohnhaus erschossene Anna Politkowskaja, war denn auch eine der schärfsten öffentlichen Kritikerinnen von Putins Krieg in Tschetschenien. Ein Bezug zwischen staatlichen Stellen und den auffällig vielen Todesfällen ist dabei nicht herzustellen, jedenfalls nicht vonseiten der russischen Justiz. Mit der Pressefreiheit sieht es ansonsten finster aus in Russland, immer mehr Medien geraten unter staatliche Kontrolle, oder es läuft wie beim Fernsehsender Doschd, der seit 2014 nicht mehr landesweit zu empfangen ist. Immerhin: Mit der "Nowaja Gaseta", für die auch Anna Politkowskaja schrieb, gibt es bis heute eine unabhängige, mehrfach in der Woche erscheinende Zeitung. +Blogger in Isohaft: Ägypten (Platz 161) +Ahmed Douma geht es nicht gut. Er leidet unter Schlafmangel, chronischen Kopfschmerzen, Rücken- und Kniebeschwerden, berichtet die Menschenrechtsorganisation "Amnesty International". Es sind die Folgen der Einzelhaft, in welcher der ägyptische Aktivist und Blogger nach Angaben seiner Familie seit über drei Jahren sitzt, die Bibliothek und die Gebetsräume des Gefängnisses seien Douma dabei verwehrt. Dabei ist Ahmed Douma ein trauriger Hattrick gelungen: Unter jeder der letzten drei Regierungen Ägyptens – Mubarak, Mursi, al-Sisi – wurde der heute 28-Jährige ins Gefängnis gesteckt. Nun aber sitzt er lebenslang, und auch sonst ist seit dem Militärputsch im Jahr 2013, der Abdel al-Fattah al-Sisi zur Macht verhalf, die ohnehin geringe Pressefreiheit in Ägypten noch weiter eingeschränkt worden. "Reporter ohne Grenzen" zählt mindestens 23 Journalisten in ägyptischen Gefängnissen. Im Mai 2016 wurden zwei Mitarbeiter des TV-Senders Al-Dschasira sowie eine weitere Journalistin wegen Verrats von Staatsgeheimnissen gar zum Tode verurteilt – allerdings in Abwesenheit. Was mit Ahmed Douma passiert, ist derzeit ungewiss. +Keine Kritik an der Nation: Polen (Platz 54) +Von einer "Repolonisierung" der polnischen Medien träumen die Politiker der rechtskonservativen PiS-Partei von Jarosław Kaczynski. Kaum an der Macht erließen sie Ende 2015 ein neues Mediengesetz, das die Besetzung der Führungsposi tionen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen durch die Regierung vorsah. Mit Jacek Kurski wurde ein PiS-Mann Chef beim Fernsehsender TVP, in der Folge verließen auch regierungskritische Nachrichtensprecher, Korrespondenten und Redakteure den Sender mehr oder weniger freiwillig. Probleme haben aber auch die unabhängigen privaten Medien, denn staatlich kontrollierte Unternehmen schalten weniger Anzeigen. Zudem will die Regierung den Einfluss ausländischer Investoren begrenzen. In der Folge ist Polen seit dem Machtwechsel in der Rangliste der Pressefreiheit von Platz 18 auf Platz 54 abgestürzt. Doch immerhin: Als die PiS-Regierung Ende 2016 auch noch den Zugang für Journalisten zum Parlament massiv einschränken wollte, besetzten Oppositionsmitglieder den Plenarsaal, Demonstranten blockierten die Ausgänge des Gebäudes, es gab Demo um Demo. Die Regierung gab schließlich nach. Noch ist Polen nicht komplett verloren. +"Welt"-Korrespondent weggesperrt: Türkei (Platz 155) +#FreeDeniz hat es längst in die 20-Uhr-"Tagesschau" geschafft. Die Bewegung, die in Deutschland für die Haftentlassung von Deniz Yücel kämpft, dem Türkei-Korrespondenten der "Welt". Yücel, in Hessen aufgewachsen, deutscher und türkischer Staatsbürger, sitzt seit Februar in Silivri westlich von Istanbul in Untersuchungshaft im Gefängnis. Er soll angeblich Propaganda für eine terroristische Organisation verbreitet und das türkische Volk aufgewiegelt haben. Dabei ist Deniz Yücel längst kein Einzelfall: Laut "Reporter ohne Grenzen" befanden sich Ende Mai 50 Journalisten in türkischer Haft, so viele wie in keinem anderen Land der Welt. Dutzende weitere Journalisten, die in Haft sitzen, sind wahrscheinlich. Allerdings lässt sich das nicht nachweisen, denn die türkische Justiz äußert sich oft nicht über die genauen Anschuldigungen. Fast alle von ihnen wurden Opfer der Verhaftungswellen, mit denen Präsident Recep Tayyip Erdoğan und die regierende Partei AKP seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 ihr Land überziehen. Zudem wurden über 150 Medien geschlossen und über 700 Presseausweise annulliert. So ist die Berichterstattung überwiegend staatstreu – bei der knappen Abstimmung im April 2017 zugunsten des Verfassungsreferendums, das Präsident Erdoğan deutlich mehr Macht verschafft, könnte sie den entscheidenden Ausschlag gegeben haben. diff --git a/fluter/immer-weniger-zeitzeugen-des-holocaust.txt b/fluter/immer-weniger-zeitzeugen-des-holocaust.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cdff734ad4aecf930c7196e43d9b122bd0f6c685 --- /dev/null +++ b/fluter/immer-weniger-zeitzeugen-des-holocaust.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +"Zeitzeugen sind durch nichts zu ersetzen", sagt Andreas Eberhardt, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ), die sich um die Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus, um Versöhnung und Geschichtsvermittlung bemüht. Mithin kein Ersatz, aber ein neuer Ansatz ist für Eberhardt die Verbindung von realer Echtzeit- und digitaler, aufgezeichneter Kommunikation, kurz: Erinnerungskultur 4.0. Eberhardt hat sich im New Yorker Museum of Jewish Heritage das Modellprojekt "New Dimensions in Testimony" angesehen: Zwei Überlebende des Holocausts gaben auf Hunderte Fragen Antworten und ließen sich dabei filmen. Das Material wurde so aufbereitet, dass nun Museumsbesucher diesen digitalen Zeitzeugen Fragen stellen können. Die aus diesen Filmaufnahmen generiertenAvatare erscheinen lebensgroß auf Flachbildschirmen und sampeln aus dem Pool an Auskünften ihrer realen Vorbilder passende Antworten. Eberhardt war beeindruckt: "Man beginnt zuzuhören." + + + +Die Stiftung möchte dieses neue Format der Zeugenschaft bald auch in Deutschland vor- und damit zunächst einmal zur Diskussion stellen. Dass es Vorbehalte gibt, liegt auf der Hand: Es sind keine echten Menschen, sondern ein Konstrukt aus Avataren und Algorithmen, die einem Antworten vorsetzen. Wie glaubwürdig ist das? Wie manipulativ womöglich? Andererseits sind auch Zeitzeugenberichte, die traditionell gefilmt und geschnitten wurden und werden, nie frei von Intentionen der Macher und auch nicht frei von bewussten oder unbewussten Realitätsverschiebungen der Zeitzeugen selbst. Ob Fotografien oder Filme, persönliche Berichte oder historische Dokumente, ob analog oder digital aufbereitet – Material wird immer zu einem bestimmten Zweck ausgewählt und eingesetzt. Entscheidend ist, wie sorgfältig mit den Quellen umgegangen wird, welche Qualität die Quellen selbst haben. Das war in der Vergangenheit so und wird in der Zukunft so bleiben. +Für Eberhardt ist eine wichtige Aufgabe künftiger Erinnerungsarbeit deshalb auch eine Rückbesinnung auf Faktenvermittlung. Die sei, sagt er, in den vergangenen Jahrzehnten durch den Fokus auf Oral History, also mündliche Überlieferungen und Lebensberichte, zu sehr in den Hintergrund geraten. "Wir haben von den Zeitzeugen den Auftrag bekommen, dass Geschichte nicht vergessen werden darf", sagt Veronika Nahm, Leiterin der Ausstellung und Pädagogik im Berliner Anne Frank Zentrum. Anne Frank ist eine sehr besondere Zeitzeugin der Judenverfolgung. Sie ist vielleicht die weltweit bekannteste, weil sie selbst 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen gestorben ist, der Nachwelt aber ihr berühmtes Tagebuch hinterlassen hat. Von jeher ist Anne Frank für viele Menschen der Nachkriegsgenerationen eine virtuelle Gefährtin, die jeder Tagebuchleser in seinem Kopf auf seine Weise zum Leben erweckt. Und so wird es vermutlich auch in Zukunft bleiben. +Ein Schwerpunkt des Zentrums ist es, Anne Franks Lebenswelt und ihre Träume mit der Welt und den Träumen Gleichaltriger heute in Beziehung zu setzen. Um Geschichte und Gegenwart zu verbinden. Um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu zeigen. Um deutlich zu machen, dass Antisemitismus und Rassismus nicht mit dem NS-Regime für immer untergegangen sind. +Künftig sollen in einer gerade neu konzipierten Ausstellung die Orte eine größere Rolle spielen, an denen Anne Frank lebte. Gerade junge Besucher beschäftige oft, so hat Nahm beobachtet, wie diese Orte heute aussehen, ob und wie dort an Anne Frank erinnert wird. Einen virtuellen Rundgang durch das Haus in Amsterdam, in dem sich die Familie mehr als zwei Jahre lang versteckt hielt, bietet das Zentrum bereits an. + + +Orte sind kein Ersatz für das, was Menschen berichten, aber auch sie können erzählen. Und weil sie bleiben, gewinnen sie als Zeugen der Vergangenheit noch an Bedeutung. +In Berlin-Kreuzberg ist Ende der 1980er-Jahre – angestoßen auch von Zeitzeugen – das Dokumentationszentrum "Topographie des Terrors" entstanden, 2010 kam ein Neubau hinzu. Genau an dem Ort, an dem Gestapo und SS ihre Zentralen hatten. In dem flachen Neubau mit Ausstellungsflächen im Erdgeschoss und Bibliothek und Seminarräumen im Untergeschoss steht die Auseinandersetzung mit den Tätern im Mittelpunkt. Es geht um eine sachliche, faktenorientierte Darstellung der Geschichte, weniger eine emotionale. Ohnehin haben Täter selten Auskunft gegeben, erst recht keine, in der sie ihre Schuld er- und bekannt hätten. Zeitzeugen, die bereit sind, ihre Erinnerungen zu teilen, sind fast immer Opfer. +Wenn es um die Zukunft des Erinnerns geht, ist Ulrich Tempel, der Archivar des Dokumentationszentrums, optimistisch. Denn er ist überzeugt, dass es durch die Digitalisierung der Dokumente und Überlieferungen gerade auch für Nichtwissenschaftler immer einfacher und ertragreicher werden wird, die Vergangenheit zu erschließen. +Parallel verweist Tempel auf "die sekundären Zeitzeugen als eine wichtige Fortsetzung der Zeugenschaft". Er meint dieKinder, Enkel, Urenkel von Tätern und Opfern, die fragen, forschen und miteinander ins Gespräch kommen. Mehr, als es die Täter und Opfer oftmals selbst vermocht haben. +Der Holocaust ist ein fester Teil der Erinnerungskultur in Deutschland. Die Vorstellungen der Nachgeborenen verändern sich jedoch und laufen Gefahr, sich von realen Geschehnissen und Berichten zu entfernen. Auch die Täter-Opfer-Erinnerungen wandeln sich. Wie sehr, darauf gibt eine Studie Hinweise, an der die Stiftung EVZ mitgewirkt hat. Gut tausend Menschen in Deutschland wurden telefonisch befragt: Erste Befunde ergaben, dass nur wenige ihre Vorfahren als Täter bezeichnen. Lediglich 18 Prozent der Befragten gaben an, in ihrer Familie habe es Täter gegeben, 12 Prozent wussten es nicht, 69 Prozent verneinten. Auf die Frage, ob unter den Vorfahren Opfer des Zweiten Weltkriegs waren, antworteten 54 Prozent mit Ja. Stiftungschef Eberhardt betont, die Studie sei nur ein Schlaglicht und man werte Fragen und Antworten noch aus – unklar ist zudem, wie viele der befragten Menschen damals überhaupt deutsche Vorfahren hatten. +Dennoch: Von denen, die Opfer waren, kann bald keiner mehr Widerspruch erheben oder für Klarheit in Schuldfragen sorgen. Es müssen dann Fakten sprechen. Und Orte. Und vielleicht auch Avatare. + +Die Bilder auf dieser Seite gehören zu der Fotoarbeit "The Irreversible", für die Maciek Nabrdalik und Agnieszka Kulawiak (VII / Redux / laif)Holocaust-Überlebende in der ganzen Welt getroffen und porträtiert haben. Das Titelbild zeigt Selma Engel-Wijnberg, geboren im Mai 1922, eine von nur zwei niederländischen jüdischen Überlebenden des Vernichtungslagers Sobibor. Sie verstarb am 4. Dezember 2018 in den USA. diff --git a/fluter/immobilienarchiv-von-correctiv.txt b/fluter/immobilienarchiv-von-correctiv.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5ca0feb9572be8478519832e991f24f57f4afb94 --- /dev/null +++ b/fluter/immobilienarchiv-von-correctiv.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Auf einer Website haben bereits Tausende Mieter Informationen hochgeladen, zusammen mit einem Nachweis – zum Beispiel Mietvertrag oder Nebenkostenabrechnung. Das Prinzip entspricht in etwa einem riesigen Puzzle: Viele einzelne Personen verfügen über viele einzelne Informationen, die nicht öffentlich zugänglich sind. Die Journalisten fügen aus diesen Einzelteilen ein Gesamtbild zusammen. Die Recherche läuft in Kooperation mit dem "Hamburger Abendblatt" und dem Mieterverein zu Hamburg. +"Es fehlen Überblick und Transparenz", sagt Simon Kretschmer, einer von zwei Geschäftsführern, im Berliner Büro von Correctiv, einer Redaktionsgemeinschaft, die von Spenden lebt und die ihre Geschichten kostenlos anderen Medien zur Weiterverbreitung überlässt. Die Bürger sind ihnen bei ihren Recherchen wichtig, sie wollen sie in ihre Arbeit einbeziehen: im Schwarm Daten sammeln, wo es vielleicht keine offiziellen Statistiken gibt – oder wo diese fragwürdig oder lückenhaft erscheinen. +Correctiv macht in diesen Fällen das, was sein Name ursprünglich bedeutet: ausgleichen, berichtigen, verbessern. In Dortmund recherchierte die Redaktion in Kooperation mit den "Ruhr Nachrichten" etwa den Unterrichtsausfall an den Schulen: Einen Monat lang konnten Schüler, Lehrer und Eltern über ein Onlineformular alle ausgefallenen Stunden angeben. +In Hamburg gab es vor der Recherche zum Immobilienmarkt praktisch gar keine Zahlen. "Im Gegensatz zu Deutschland gibt es in anderen Ländern ein zentrales öffentliches Immobilienregister", sagt Jonathan Sachse. Er ist Mitglied der Redaktion und hat seit 2014 an vielen Projekten mitgearbeitet – auch in Hamburg. Dass es keine Übersicht über den Wohnungsmarkt gibt, nutze vor allem den großen Immobilienfirmen. "Die Intransparenz hat Folgen: Deutschland ist Studien zufolge in Europa einer der beliebtesten Märkte für Geldwäsche", sagt Sachse. Erst im Juli wurden in Berlin 77 Immobilien eines arabischen Familienclans beschlagnahmt, die mit Geld aus kriminellen Aktivitäten finanziert worden sein sollen. +"CrowdNewsroom" nennt Correctiv die Methode: eine Art virtuelle Redaktion, in der Journalisten und Bürger gemeinsam Daten zusammentragen. Es geht ums Mitmachen, Gemeinsam-Machen, Einbeziehen. "Wir stärken damit auch die Medienkompetenz der Bürger. Weil wir an vielen Stellen erklären, wie unsere Arbeit praktisch und ganz konkret funktioniert", erklärt Jonathan Sachse. So versuchen sie, das Vertrauen in den Journalismus zu stärken. Man konzentriert sich auf einige wenige Themen und arbeitet daran lange, detailliert und aufwendig. Eine Arbeitsweise, die sich klassische Medien, Verlage und Zeitungen immer seltener leisten können. In den letzten Jahren hat Correctiv an sehr unterschiedlichen Themen gearbeitet: Recherchiert wurde zu den Hintergründen des Absturzes des Malaysia-Airlines-Flugzeugs MH17, das 2014 über der Ukraine abgeschossen wurde. Zu resistenten Keimen in Krankenhäusern, sexueller Belästigung beim WDR und der Rolle der Mafia in der europäischen Wirtschaft. Außerdem deckten die Mitarbeiter einen riesigen Medizinskandal um einen Apotheker aus Bottrop auf, der daraufhin wegen gepanschter Krebsmedikamente in 60.000 Fällen angeklagt wurde. Und als erstes großes Projekt mithilfe des "CrowdNewsrooms" sam- melten sie 2016 zusammen mit Bürgern in ganz Deutschland Informationen über Vorstandsgehälter und Dispozinsen ihrer lokalen Sparkassen. +Auch wenn Correctiv die Daten für die Recherchen oft im Internet sammelt, wissen die Reporter, dass man das Vertrauen der Menschen nicht allein mit einer Präsenz im Internet gewinnen kann. Deswegen das Ladenbüro in St. Pauli, wo sie auch Diskussionen mit Mietern, Experten und Politikern organisierten. "Es gab auch 300 Leute, die gleich am ersten Tag ihre Dokumente hochgeladen haben, ohne vorher in den Laden zu kommen", sagt Jonathan Sachse, "andere haben aber erst mal Fragen und Sorgen. Sie wollen die Leute kennenlernen, denen sie ihre Daten geben." Nicht alle Bürger seien so digitalaffin, wie man das heute manchmal annehme, meint Simon Kretschmer: "Uns ist die alte Frau eben genauso wichtig wie der digitale Mittzwanziger." +Mithilfe der Bürger und der Hamburger Genossenschaften, die sich als Reaktion auf die Correctiv-Recherche entschlossen, ihren Bestand offenzulegen, kennen sie nun die Eigentümer von etwa 150.000 Wohnungen. Die gesammelten Daten werden geprüft, sortiert und aufbereitet, um weiterführende Fragen zu beantworten. Wie viel Eigentum liegt eigentlich in Immobilienfonds? Wer sind die Anteilseigner an den Fonds? "Die Spuren sind oft unklar und verlieren sich nicht selten in irgendwelchen Steueroasen", sagt Jonathan Sachse. +Die ersten Storys, an denen die Hamburger Bürger mitgewirkt haben, sind nun in der Welt. Darüber etwa, wie eine Luxemburger Firma beim Erwerb von Wohnhäusern in Hamburg die Gundsteuer spart, oder über ein dänisches Bankenkonsortium, das die Mieten erhöht und an Renovierungen spart, um ihren Kunden die Rendite zu sichern. Es sind die ersten Kapitel einer Geschichte, die ein neues, ein genaueres Bild einer sich verändernden Stadt zeichnet. diff --git a/fluter/impeachment-trump-ablauf.txt b/fluter/impeachment-trump-ablauf.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..219c2a4ee30a1502009987cf6e01f61b38e7b428 --- /dev/null +++ b/fluter/impeachment-trump-ablauf.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Impeachment lässt sich mit "Amtsenthebungsverfahren" übersetzen. Es ist ein Prozess, den die Gründerväterder USAals Schutzmechanismus in die Verfassung aufgenommen haben, um den Präsidenten bei Machtmissbrauch absetzen zu können. Die Hürden dafür sind laut Artikel II Abschnitt IV "Verrat, Bestechung oder gravierende Delikte und Vergehen". + +In einem Telefonat Ende Juli habe Donald Trumpden ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyjdazu aufgefordert, Anschuldigungen gegen den früheren Vizepräsidenten Joe Biden und dessen Sohn Hunter nachzugehen. Dazu muss man wissen,dass sich der Demokrat Joe Biden momentan um die Kandidatur als Trump-Herausforderer bewirbt, also im November 2020 direkt gegen ihn antreten könnte. +Als mögliches Druckmittel für die Untersuchung gegen Biden soll der US-Präsident angewiesen haben, Militärhilfen an die Ukraine (in Höhe von fast 400 Millionen US-Dollar) zurückzuhalten. Ein bislang anonymes Mitglied einerUS-Geheimdienstbehörde, das im Weißen Haus für das Thema Ukraine zuständig und mit dem Anruf vertraut war, reichte daraufhin eine sogenannte Whistleblower-Beschwerde ein. Sie unterstellt Trump, "die Macht seines Amtes zu benutzen, um Einmischungenin der Wahl 2020durch ein anderes Land zu erbitten". +Daraufhin eröffnete Nancy Pelosi, die ranghöchste Demokratin im amerikanischen Abgeordnetenhaus, im September offiziell die Vorstufe einer Impeachment-Untersuchung gegen Donald Trump. + +Der formelle Ablauf im Fall Trump sieht wie folgt aus: Bei der von Pelosi angeordneten Untersuchung schauen sich sechs Ausschüsse genau an, ob und inwiefern dem Präsidenten ein Fehlverhalten anzulasten ist. Falls es haltbare Vorwürfe gibt, werden sie anschließend im Abgeordnetenhaus diskutiert und zur Abstimmung gestellt. Eine einfache Mehrheit (die Demokraten haben 235 von 435 Sitzen) reicht aus, um den Fall an den Senat weiterzureichen, wo in einer Art Tribunal noch einmal über die Vorwürfe abgestimmt wird. Im Senat haben die Republikaner 53 von 100 Sitzen. Bei einer Zweidrittelmehrheit gegen ihn würde Trump des Amtes enthoben, ohne das Recht auf Revision des Urteils. Vizepräsident Mike Pence würde in diesem Fall automatisch zum neuen US-Präsidenten. + +Gegen zwei amerikanische Präsidenten: Andrew Johnson 1868 und Bill Clinton 1998. Beide wurden jedoch im Senat freigesprochen. Richard Nixon legte sein Amt 1974 im Zuge der Watergate-Affäre nieder, bevor offiziell über den Fall abgestimmt werden konnte. + +Ende Oktober sagte Alexander Vindman, ein hochrangiger Offizier und Berater Trumps, gegen ihn aus – als erster Mitarbeiter des Weißen Hauses. Vindman sagte, er habe das Telefonat mit dem ukrainischen Präsidenten direkt mitgehört. Was die sechs untersuchenden Ausschüsse darüber hinaus an Beweismaterial zusammentragen werden, ist noch unbekannt. Das angebliche Geschäft zwischen Trump und Selenskyj stößt aber – um es mal diplomatisch auszudrücken – bei vielen Abgeordneten auf Unbehagen. Laut jüngsten Umfragen spricht sich unter den Demokraten bereits eine Mehrheit für ein Verfahren aus. Im Senat müssten sie allerdings anschließend 20 republikanische Senatoren umstimmen, was aktuell unwahrscheinlich ist. Zwar hat Trump längstnicht nur Fans in seiner Partei– unter den republikanischen Wählerinnen und Wählerngenießt der Präsident aber immer noch große Zustimmung. + +Nein, noch sind die Ausschüsse damit beschäftigt, Zeugen zu befragen und Beweisstücke auszuwerten. Künftig werden die bislang geheimen Sitzungen öffentlich abgehalten, um sie für die Wählerinnen und Wähler greifbarer zu machen. Das hat die demokratische Mehrheit im Repräsentantenhaus beschlossen. Die ersten offen zugänglichen Anhörungen könnten bis Ende November stattfinden. Eine Abstimmung im Abgeordnetenhaus wird aber erst um Weihnachten herum erwartet, sodass es zu einem abschließenden Verfahren im Senat wohl nicht vor Anfang 2020 kommen würde. + +Mehr über das politische System der USA und wie sich dort die demokratischen Institutionen gegenseitig kontrollieren, erfährst du bei derBundeszentrale für politische Bildung. + +Collage: Bureau Chateau / Jannis Pätzold diff --git a/fluter/impfstoff-corona-verteilung-einfach-erklaert.txt b/fluter/impfstoff-corona-verteilung-einfach-erklaert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..db0e7033ae779c4b9b9d40f0377763fd8bdf77f4 --- /dev/null +++ b/fluter/impfstoff-corona-verteilung-einfach-erklaert.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Sind die Impfstoffe verfügbar und auch auf EU-Ebene zugelassen, haben alle Mitgliedstaaten der EU gleichzeitig Zugriff auf sie. Verteilt wird entsprechend der Bevölkerungszahl des Landes, Deutschland stehen rechnerisch 18,6 Prozent aller Dosen zu. Innerhalb der Staaten verteilen die Regierungen den Impfstoff, in Deutschland ist das Gesundheitsministerium für die Koordination zuständig. Für Deutschland bedeutet das: Die Impfdosen werden der Bevölkerung entsprechend auf die 16 Bundesländer verteilt. +Von den bisher in der EU zugelassenen zwei Impfstoffen der Unternehmen Biontech/Pfizer und Moderna sind 300 Millionen bzw. 160 Millionen Dosen vorbestellt. Zusätzlich hat die EU mit vier weiteren Pharmaunternehmen Verträge abgeschlossen, zwei weitere sollen folgen. Sollten am Ende alle vorbestellten Impfstoffe die Prüfung der Europäischen Arzneimittel-Agentur bestehen, stünden knapp zwei Milliarden Impfdosen zur Verfügung – also mehr, als für die zweimalige Impfung aller 450 Millionen EU-BürgerInnen nötig wäre. Individuelle Verhandlungen von Mitgliedstaaten mit den Pharmakonzernen sind daher weder rechnerisch nötig noch in der gemeinsamen Strategie vorgesehen – dass es sie dennoch gibt, sorgt in Brüssel für Ärger. +Einfach nach Mainz fahren und bei Biontech Impfstoff für Deutschland sichern – das verstößt gegen die EU-Strategie des gemeinsamen Vorgehens. Dennoch: Ende letzten Jahres hat das Bundesgesundheitsministerium mitgeteilt, dass die deutsche Regierung auf eigene Rechnung 30 Millionen Dosen des Biontech/Pfizer-Impfstoffs geordert habe. Mittlerweile gibt es darüber hinaus eine Option auf 20 Millionen nationale Impfdosen bei Curevac, einem Tübinger Unternehmen, mit dem die EU bereits einen Vertrag abgeschlossen hat, dessen Impfstoff aber noch nicht zugelassen wurde. +Das verschärft den Verteilungskonflikt um den knappen Impfstoff. Offene Kritik kam unter anderem von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen, und auch in italienischen Medien war der deutsche "Alleingang" hitzig diskutiert worden. Deutschland ist dabei kein absoluter Einzelfall: Ungarn erhielt bereits im Dezember rund 6.000 Dosen des zuvor bestellten russischen Impfstoffs Sputnik V. +Eine gemeinsame Strategie sichert besser gegen Misserfolge ab, streut die Risiken und bündelt die Investitionen – das ist die Idee. Jetzt aber, da reiche, unabhängig agierende Länder wie die USA, Israel, Kanada, Großbritannien oder Japan deutlich mehr Impfstoff zur Verfügung haben als Deutschland, werden Zweifel laut. Viele Beobachter sagen, die EU hätte vorab nicht nur 300 Millionen, sondern das Maximalangebot von 500 Millionen Impfdosen bei Biontech bestellen müssen – auch wenn es einer der teuersten Impfstoffe ist und die Zulassung des neuartigen mRNA-Produktes zum Zeitpunkt der Bestellung nicht absehbar war. Dieses Risiko aber wollten im Herbst 2020 vorwiegend osteuropäische EU-Länder nicht mittragen. Sie hatten auf einen herkömmlich produzierten, günstigeren Impfstoff gewettet. +Der Preis wird zwischen Hersteller und Abnehmer ausgehandelt. Der Wettbewerb um die Medikamente ist groß, entsprechend hoch sind die Preise. Offiziell ist zu den EU-Preisen nichts bekannt, denn die Verträge sind vertraulich. Das bedeutet auch, dass das Europäische Parlament diesen Prozess nicht kontrollieren kann – zum Missfallen der Abgeordneten. Eine belgische Politikerin legte versehentlich offen, dass eine Dosis von Moderna und Biontech/Pfizer um die 15 Euro kostet und von AstraZeneca, einem herkömmlich produzierten Impfstoff, weniger als 2 Euro. +Insgesamt sollen in Deutschland 2021 rund 140 Millionen Impfdosen von Biontech und Moderna zur Verfügung stehen. Allein die Lieferung dieser beiden Hersteller könnte ausreichen, um eine "Herdenimmunität" zu erzielen. Wie lange es dauert, bis ein Großteil der Bevölkerung gegen Covid-19 geimpft ist, lässt sich nicht seriös prognostizieren – auch wenn der Gesundheitsminister jedem Bürger ein Impfangebot bis zum Sommer in Aussicht gestellt hat. Ob das klappt, hängt eben auch maßgeblich von der Organisation der Verimpfung in Deutschland ab. +Betrachtet man die Menge der Impfdosen pro 100 Einwohner, sieht man, dass das kleine Land Israel die Liste deutlich anführt: Laut dem israelischen Gesundheitsministerium haben rund 30 Prozent der Bevölkerung die erste Dosis des Biontech/Pfizer-Impfstoffs erhalten. Bei diesem Tempo könnte das Land bereits im Frühjahr eine überwiegende Immunisierung erreicht haben. Die israelische Regierung hatte sich frühzeitig mehrere Millionen Dosen des Impfstoffs für ihre neun Millionen Einwohner gesichert und mit dem Einkauf bei Biontech/Pfizer auf das richtige Pferd gesetzt. Ein weiterer wichtiger Faktor für den Erfolg der Impfkampagne: Während im deutschen Gesundheitssystem Corona-Infektionen teils noch per Fax gemeldet werden, hat Israel ein weitgehend digitalisiertes zentrales Gesundheitssystem. Es sorgt für eine übersichtliche Datenbasis, die eine enge Überwachung der Schnellimpfung sicherstellt – ein großer Vorteil für die schnelle Verteilung, da die zweimalige Vergabe der wärmeempfindlichen Impfstoffe gut koordiniert sein muss. Allerdings gilt eine solche Zentralisierung von Gesundheitsdaten als datenschutzrechtlich bedenklich. +Eine andere Strategie verfolgen einige Länder der Südhalbkugel: Weil etwa Südkorea, Vietnam und Australiendie Ausbrüche des Virus derzeit mit ausgefeilten Schutz- und Hygienekonzepten unter Kontrolle haben, scheint den politisch Verantwortlichen die Impfung gegen Covid-19 dort weniger dringlich. "Wir kommen mit Covid-19 relativ gut zurecht, sodass wir nicht überstürzt mit der Impfung beginnen müssen, wenn die Risiken noch nicht verifiziert sind", sagte der südkoreanische Gesundheitsminister Park Neung Hoo bereits Anfang Dezember 2020. Am 14. Januar meldete das Land 513 neue Fälle – Tendenz fallend. +Kurz gesagt: sehr schlecht. Zwei Drittel der Weltbevölkerung müssen auf eine Impfung voraussichtlich noch bis zu drei Jahre warten. Das Rote Kreuz fürchtet, dass rund 60 Millionen Menschen in Kriegsgebieten überhaupt nicht geimpft werden können. Die EU-Kommission hatte bereits im August 2020 angekündigt, Garantien in Höhe von 400 Millionen Euro für eine internationale Impfstoffallianz COVAX zu geben, um auch ärmere Regionen mit Impfstoffen versorgen zu können. +Zielführender als eine finanzielle Hilfestellung könnte jedoch sein, das Know-how für die Impfstoffherstellung offenzulegen, wie es Indien und Südafrika bereits im Oktober 2020 in einem Antrag an die Welthandelsorganisation gefordert haben: Der Patentschutz auf die Technologie zur Herstellung der Covid-19-Impfstoffe sowie auf Produkte für die Vorbeugung und Behandlung von Covid-19 sollte bis zum Ende der Pandemie ausgesetzt werden, damit unter anderem günstigere Nachahmerpräparate produziert werden könnten. Akteure wie die USA und Kanada sowie die EU lehnen diesen Vorschlag jedoch ab, weil dadurch der Investitionsanreiz in die teure Impfstoffentwicklung geschmälert würde. +Die Fotos wurden im Impfzentrum Liederhalle in Stuttgart gemacht. Sebastian Lock/Die Zeit/laif diff --git a/fluter/impressionen-donbas-ukraine.txt b/fluter/impressionen-donbas-ukraine.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..73057569f2df6728df54d870cc7f51001e7dae70 --- /dev/null +++ b/fluter/impressionen-donbas-ukraine.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +"Natürlich denke ich nicht ständig an den Tod oder an die Gefahr, in einen Folterkeller verschleppt zu werden. Aber sobald ich auf ukrainischem Hoheitsgebiet bin, merke ich, dass diese Gedanken in Donezk latent immer da sind, wie auch der Krieg ständig über den leeren Parks schwebt. Das ist eine grundsätzlich andere psychologische Erfahrung. Natürlich gibt es auch in Kramatorsk Kriminelle, ich kann auch hier überfallen und sogar umgebracht werden. Aber in Donezk ist das an der Tagesordnung, und niemand wird bestraft, es sei denn, der Betroffene hat die nötigen Beziehungen nach oben." + +Ein Junge fischt im Fluss Krywyj Torez nach Flusskrebsen +Ein kaputter Spielplatz in Pokrowsk +"Diemilitärisch-patriotische Erziehung der Jugendist ein zentrales Anliegen der Oberen, den Kindern werden die Ideale der ,Russischen Welt' und der Hass gegen alles Ukrainische eingeimpft. Diese ideologische Arbeit durchzieht alle Bildungseinrichtungen. (…) Außerdem gibt es noch die ,Akademie des Innenministeriums'. (…) In dieser Akademie werden nicht nur die Führungskader für das gesamte Polizeisystem ausgebildet, auch Verhörmethoden und Methoden der Informationsbeschaffung sind Bestandteil der Ausbildung. Damit die heute 17- bis 20-Jährigen mit den Methoden vertraut sind und die Repressionen fortsetzen können." +"Ein Junge wie du und ich, mit einem netten Lächeln. Um die 20, braun gebranntes Gesicht, Blutergüsse unter den Nägeln, keine unübliche Verletzung bei den hiesigen Arbeitern. Das ist Andrij aus Makijiwka. Vor dem Krieg sang er die Songs von BoomBox mit und arbeitete auf dem Bau. 2014 ist er auf die russische Linie eingeschwenkt, hat eine Tarnuniform angezogen und lächelt seitdem viel seltener. Sein Kumpel Serhij war auch ein einfacher Arbeiter und in Bezug auf die Politik genauso naiv wie Andrij. Im Sommer 2014 ging er an die Front und geriet in die Schlacht um Ilowajsk. Seitdem hat er Albträume. Später kam ein dritter Bekannter dazu – Anton. Vor dem Krieg war er im Knast. (…) Als Anton aus dem Knast raus war, hat er kurze Zeit gearbeitet, aber relativ schnell gecheckt, dass er mit kostenloser Verpflegung, einem ordentlichen Schluck und einer Knarre in der Hand besser wegkommt als mit dem mickrigen Gehalt als Bergmann." + +Ukrainische Soldaten nehmen an einem Ritual teil +Bei einem Bauern in der Donezk-Region +Ein junger Bergarbeiter und seine Freunde in Pokrowsk +In der Nähe von Toretsk +"Die meisten Einheimischen sind sehr genügsam. Ihre Bedürfnisse gehen nicht über ihr alltägliches Leben hinaus. Am meisten profitieren die hiesigen Rentner. Viele beziehen sowohl eine ukrainische als auch eine russische (,republikanische') Rente, und bis vor Kurzem erhielten sie auch Lebensmittelpakete. Die Glotze und 50 Jahre Sowjetunion haben sie davon überzeugt, dass auf der anderen Seite Faschisten leben, die sie im Zweiten Weltkrieg nicht alle erwischt haben. (…) Hier sind russische Rubel im Umlauf, es werden Sozialleistungen aus Russland ausgezahlt, hier herrscht das russische Machtmodell: billige Wurst und Folterkeller." +"Die Propaganda verfolgt zweierlei Ziele. Zum einen wird die sowjetische Vergangenheit kultiviert, insbesondere der Sieg im Zweiten Weltkrieg. (…) Man zieht eine Parallele zwischen den heutigen Kämpfern und den Soldaten, die in den 1940er-Jahren für die Befreiung des Donbas gekämpft haben. Auf riesigen Plakaten, die sich oft über die ganze Wandfläche eines Hochhauses erstrecken, sieht man Fotos von sowjetischen Soldaten, die ihre Frauen umarmen. Und auf derselben Wand, etwas weiter unten, das gleiche Bild mit Kämpfern von heute. Und die Überschrift: ,Wir haben damals gesiegt und werden auch jetzt siegen.'" +Geburtstagsfeier in der Donezk-Region +Oleksandr Wassyljowytsch hat früher in einem Kraftwerk gearbeitet. Er lebt in Schtschastja +"Dass man tiefer im Sumpf versinkt, je mehr man strampelt, weiß jeder. Die ,VRD' (Volksrepublik Donezk) wird oft mit einem Sumpf verglichen, doch kaum jemand merkt, dass es die ukrainische Macht ist, die dem Versinken kräftig Vorschub leistet. Alle Hindernisse, die die Ukraine für die besetzten Gebiete errichtet, führen am Ende nur dazu, dass sich die Menschen mehr mit dem neuen System identifizieren. (…) Die Sperrstunde wird Normalität, wenn ein Fahrstuhl explodiert, denkt man: Das geht ja nun schon drei Jahre so. Das Problem wird zur Gewohnheit, die Gewohnheit zur Norm, in der das Getto dein Zuhause ist." + +Aus dem Ukrainischen übersetzt von Claudia Dathe und Sofiya Onufriv. +Die Zitate stammen aus Stanislaw Assejews Buch"In Isolation"mit Texten aus dem Donbas, erschienen im Verlag edition.fotoTAPETA Berlin. diff --git a/fluter/in-afro-metropolis.txt b/fluter/in-afro-metropolis.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a90fb2416f123da42401641465632065f86e7869 --- /dev/null +++ b/fluter/in-afro-metropolis.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Rings um unser kleines Straßenlager gehen, stehen, sitzen, tanzen, essen, schlafen gerade zwischen 15 und 20 Millionen Menschen, so genau weiß das keiner. Auf jeden Fall ist Lagos im westafrikanischen Nigeria die größte menschliche Ansiedlung Subsahara-Afrikas. Eine Superlativstadt in einem Superlativstaat: Nigeria ist das bevölkerungsreichste Land des Kontinents, es ist der wichtigste Ölproduzent Afrikas, und trotz gesunkener Ölpreise generiert es immer noch unglaubliche Geldströme. Nigeria hat bald so viele Internetnutzer, wie Deutschland Einwohner hat. +Vor allem junge Menschen sind über die sozialen Medien mit der ganzen Welt verbunden und darum bestens informiert über neue Mode oder Musik. Aber nicht nur das. Politische Blogger wie der 1984 geborene Internetstar Japheth Omojuwa erreichen über das Netz viele Winkel des riesigen Landes und stoßen dort virale Debatten gegen Korruption an oder organisieren friedliche Proteste, die jüngst sogar mitverantwortlich waren für einen Machtwechsel an der Regierungsspitze. +Nigeria ist also hochdynamisch – aber auch extrem labil. Zerrissen von schnellem Bevölkerungswachstum, sozialer Ungerechtigkeit und ethnischen Konflikten. Mehr als 250 Völker leben hier miteinander, und mit den Islamisten von Boko Haram sowie der Guerillatruppe MEND aus dem undurchdringlichen Delta des Nigerflusses zerren gleich zwei Terrorgruppen am Staatsgefüge. Das Land ist ein Hexenkessel – und Lagos liegt an seinem Siedepunkt. +Gestern Abend war es spät geworden im ehemaligen Kolonialgefängnis. Mitten in Downtown Lagos klafft dieses Loch zwischen den heruntergekommenen 1970er-Jahre-Wolkenkratzern. Zur Kolonialzeit hatten die Briten hier Gefangene wie Hunde eingesperrt. Heute ist der Ort eine nationale Gedenkstätte namens Freedom Park. Auf der Dachterrasse des kleinen Gebäudes in der Mitte des Parks schubberten an diesem Abend angeschickerte Paare über den Dancefloor. Eine Party der Kulturelite: Verleger, Künstler, reiche Mäzene. Der DJ hatte nicht viel zu tun. Denn er spielte ausschließlich Afrobeat-Stücke von Fela Kuti, und die sind meist eine Viertelstunde lang. Viel Zeit für Pinkelpausen. +Der Nigerianer Fela Kuti ist der bis heute größte afrikanische Popstar aller Zeiten. Der Dauerkiffer erfand die Funk-Variante Afrobeat, trat am liebsten in weißen Glitzeranzügen auf und heiratete mal 27 Frauen auf einen Schlag. Er mischte sich stets auch in die Politik seines Landes ein und hatte etwa den Nerv, in Nigerias Militärdiktaturen die Soldaten als "Zombies" zu verhöhnen. 1997 starb er an Aids. Heute wird er vom Staat fast kaputt geknuddelt. So hat die Regierung Kutis Wohnhaus in ein Museum verwandelt und den Mann zum "kulturellen Erbe" erklärt. +Irgendwann sang die ganze Party auf dem Dach im Freedom Park lauthals mit. "Zombie no go think, unless you tell am to think", schmetterten sie Kutis Militärschmähung. Es war ein bisschen wie auf der Geburtstagsparty der eigenen Eltern, wenn alle betrunken sind und sich peinlich benehmen. Zum Abschluss schoss jemand in den Betonschluchten eine Silvesterrakete ab. Die grün-weiße Feuerblume spiegelte sich in den Bürofenstern. +Beim Anflug auf Lagos kurz vor Sonnenuntergang, hat man noch einen Überblick: bis zum Horizont ein Meer von Lichtern, in der Mitte ein Bündel von Hochhäusern, dazwischen ein Geflecht aus Kanalarmen, Inseln, Hafenbecken und Brücken. Lagos ist eine Lagunenstadt, ein afrikanisches Venedig, ins Gigantische aufgeblasen und einmal kräftig durchgeschüttelt. Steckt man dann erst mal drin, verliert man die Orientierung. +Wenn man auf dem Murtala Muhammed International Airport gelandet ist, dann schütteln sie einem im Flugzeug sehr kräftig die Hand: "Welcome to Lagos." Dann eine Fahrt durch die hereingebrochene Finsternis über die Third Mainland Bridge, funzelige Scheinwerfer, rasendes Tempo. Rechts Hütten auf dem Wasser, der schwimmende Slum Makoko. Selbst unter uns, auf den Pfeilern der zwölf Kilometer langen Brücke, die als Umgehungsstraße einfach ins flache Lagunenwasser geklotzt wurde, leben Menschen. Und weit vor uns glitzern Hochhäuser. Es ist eine Nachtfahrt durch Afro-Metropolis. +Ringsum sind sie jetzt also, diese energischen, sehr von sich überzeugten, aber auch sehr herzlichen Menschen, die man auf Deutsch wohl "Lagosianer" nennen muss. "Centre of Excellence" haben sie sich auf die Nummernschilder der Autos geschrieben. Statt "Hello" sagt man meist direkt "You are welcome". Und eine verbreitete Antwort auf Bitten ist ein dröhnendes "No wahala", "Kein Problem" in Pidgin, der kreativ korrumpierten, ausdrucksstarken Lokalversion von Englisch. Alle sind superherzlich, superoptimistisch. Und jeder ist immer auf der Suche nach einem guten Geschäft. Für dicke Bündel mit den meist speckigen Naira-Scheinen, der lokalen Währung, kriegt man alles in Lagos, die Stadt ist ein großes Goldgräbernest. Schon die Namen auf dem Stadtplan klingen wie von einer Piratenschatzkarte: Five Cowrie Creek, Banana Island, Tarkwa Bay. Kein Wunder, denn Lagos war schon immer eine Hafen- und Handelsstadt, nach allen Seiten offen, eine kulturelle Kontaktzone. +Hier sitzt darum auch die riesige nigerianische Musikindustrie, dren durchgestylte "Naija-Pop"-Produkte auf dem gesamten Kontinent führend sind. Man muss das so industriell formulieren, denn diese Musik hat nicht viel gemein mit Chikes rumpeliger Rhythmusschleife, die vor dem Krankenhaus durch die Straße hallt. "Naija" ist Pidgin für Nigeria, und diese Musik ist eine slicke Mischung aus Hip-Hop und hochgezüchtetem House. Naija-Rapper wie Davido, P-Square und D'Banj oder die Sängerin Yemi Alade zeigen sich gern in Designerklamotten und italienischen Sportwagen – und tatsächlich verdienen die Stars und ihre Produzenten vermutlich nicht schlecht, denn Naija-Hits dominieren die Bars und Dancefloors von Senegal bis Simbabwe. In Lagos bemühen sich die zugehörigen Clubs wie etwa die Hochglanz-Disco Quilox um globalen Aufsteigerchic – mit VIP-Sitzecken voller weißer Ledersofas, Champagnerkübeln und zu kalt gedrehter Klimaanlage. Im Quilox ("Where luxury becomes a lifestyle") geben die einen die Öl-Dollars ihrer Eltern aus, während die anderen so tun oder zumindest davon träumen. +In der Nacht hat der Wüstenwind Harmattan Staub aus der Sahelzone nach Süden geblasen. Ein Grauschleier liegt nun über der Stadt, und sie sieht aus, als habe ihr jemand mit einem Bildbearbeitungsprogramm die Farben rausgedreht. Eine Fahrt durch das Zwielicht, vorbei an wuchtigen, heruntergekommenen Wolkenkratzern. Lagos hat so viel urbane Struktur wie kaum eine andere Stadt in Subsahara-Afrika. Oft ist diese Struktur marode bis kurz vorm Kollaps. Oft aber auch brandneu – wie die S-Bahn, die von den Chinesen in Rekordtempo auf Pfeilern über den Slums errichtet wird. Lagos ist apokalyptisch und aufstrebend zugleich, ein ständiges Werden und Vergehen. Mittendrin liegen gekenterte Tankschiffe, die wie harpunierte Wale aus Stahl aussehen und langsam zu Rost zerbröseln. +Der Verkehr auf den Straßen ist ein immerwährender "Go-slow", wie sie hier Staus nennen, ein endloses Geramme, Gehupe und Geschiebe. Mohammadu Yahaya, genannt Mudi, fährt im blitzblanken schwarzen Audi TT vor. Er ist der 1970 geborene Sohn eines einflussreichen Ex-Ministers und arbeitet als Künstler, Filmemacher, Journalist, Fotograf. Nebenbei kämpft er mit einer Netzplattform und alternativen Medienprojekten gegen die Ungerechtigkeiten der herrschenden Klasse. Nicht immer zur Freude seines Vaters. +Mudi, der ein traditionelles Gewand mit schwarzer Hipsterbrille kombiniert, ist ein glühender Fan von Fuji. Das ist eine ziemlich komplexe Partymusik, entstanden aus Improvisationen, mit denen früher nigerianische Muslime einander in der Fastenzeit vor Sonnenaufgang geweckt ha-ben. Über charakteristisch blubbernden Talking Drums eiert Gesang, der den muslimischen Norden des Landes widerspiegelt. Wenn die Muslime von Lagos, größtenteils Angehörige des Yoruba-Volks, eine Fuji-Party feiern wollen, sperren sie mit zwei großen Zelten eine ganze Straße ab. Im Menschenauflauf dazwischen wird kein Alkohol getrunken, stattdessen gibt es so ziemlich jede andere denkbare Droge. Dazu spielen Fuji-Bands endlos aneinandergereihte Stücke, die für Außenstehende schwer voneinander unterscheidbar sind. "Es kommt auf die Texte an", erklärt Mudi grinsend. +Das war unterhaltsam, aber ermüdend. Wir sitzen trotzdem immer noch auf den halben Plastikstühlen herum. Chikes Beat läuft und wird noch die ganze Nacht weiterlaufen. Vier Takte vertrackte Billigsynthesizer-Drums, nackt, ohne jede Begleitung. Er ist letztlich das reizvollste Stück aktueller Musik, das wir in diesen Tagen in der Stadt zu hören bekommen. Fela Kuti: tot, musealisiert. Naija-Pop: hat seine Momente, geht nur ohne Champagnerallergie. Fuji: mitreißend, aber was macht man, wenn man kein Yoruba spricht? Es bleibt Chikes Loop. Und die Hoffnung auf mehr. Es muss irgendwo schon da sein, in diesem Wahnsinn von einer Stadt. Oder demnächst kommen. Bald tanzen alle. Und einer neben mir legt mir seinen Arm um die Schultern und sagt mit zufriedenem Armschwenk, der diese ganze gigantische, verworrene, unerfassbare Stadt um uns he-rum ebenfalls umarmt: "You see, this is Lagos." + +Mit der Entführung von 276 Schülerinnen geriet die islamistische Terrorgruppe Boko Haram im April 2014 weltweit in die Schlagzeilen. Bis dahin waren bereits vor allem im Bundesstaat Borno tausende Menschen Opfer ihrer Anschläge geworden. Boko Haram (übersetzt in etwa: "Westliche Bildung verboten") kämpft für einen rigiden Islam. Experten sehen die Entstehung der Terrorgruppe im Zusammenhang mit der jahrzehntelangen strukturellen Vernachlässigung des nigerianischen Nordens, wo ein großer Teil der Bevölkerung in Armut lebt. Unterstützung soll Boko Haram von anderen Terrororganisationen wie Al-Qaida im islamischen Maghreb und Al-Shabaab bekommen. Der Terrorismus und die Kämpfe der nigerianischen Armee gegen Boko Haram haben für große Zerstörungen und Millionen von Flüchtlingen gesorgt. +Zur Vertiefung:"Boko Haram" von Mike Smith, 286 S., 4,50 Euro, bpb-Bestellnr. 1657, bpb-Bestellnummer 1657 + +Mit über 180 Millionen Menschen ist Nigeria der bevölkerungsreichste  Staat Afrikas und einer der gläubigsten: 50 Prozent sind Muslime, 40 Prozent Christen. Die Haupteinnahmequelle ist Erdöl, das im Nigerdelta gefördert wird. Durch marode Pipelines kam es dort immer wieder zu Umweltkatastrophen, die die Lebensgrundlage vieler Menschen zerstörten. diff --git a/fluter/in-aller-fruehe.txt b/fluter/in-aller-fruehe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/in-creative-writing-eine-eins.txt b/fluter/in-creative-writing-eine-eins.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e78e89ae2c32614e8f0066f44625793b15f2e88a --- /dev/null +++ b/fluter/in-creative-writing-eine-eins.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Auch "Unschuld" ist ein typischer Franzen: Die Protagonistin Purity Tyler verdingt sich im weniger glamourösen Sektor des Silicon Valley als Callcenter-Kraft, bis sie aufbricht, ihren Vater zu suchen, über den sich ihre hochkomplizierte Hippie-Mutter beharrlich ausschweigt. Auf der Suche begegnet sie dem charismatischen Andreas Wolf, der sich einst in der DDR um vernachlässigte Jugendliche kümmerte (am liebsten natürlich um die weiblichen, hübschen) und nach dem Mauerfall zum Whistleblower-Popstar wird, der aus seinem Versteck im bolivianischen Dschungel heraus Geheimnisse über Staaten und Unternehmen lanciert. Bei ihm ist jede dissidente Anwandlung letztlich ein Fluchtversuch vor seinem systemtreuen Stiefvater und dem etwas zu libidinösen Verhältnis zu seiner Mutter. +Jeder in diesem Buch ringt um eine andere Version übergeordneter Gerechtigkeit, und dabei muss mitunter die moralische Integrität leiden. Es treten auf: Mütter, die ihre Selbstliebe als Erziehungsmaßnahme tarnen, nimmermüde Väter, die neben der beruflichen Karriere an allen Fronten um Zuneigung kämpfen, und Kinder, die erfolglos versuchen, ihre Traumata wegzuonanieren – und das nicht nur im übertragenen Sinne. +Letztlich stellt Franzens Buch eine wahrhaft große Frage: Darf man lügen und betrügen, wenn man damit im Grunde nur das Beste will? Eine Antwort darauf gibt es nicht und muss es auch nicht geben. Was es aber geben könnte, wäre ein ernsthafteres Bemühen darum. +Stattdessen bekommt man Seite um Seite das Gefühl, dass es Franzen selbst letztlich gar nicht so genau wissen will. Dass er vor allem Freude daran hat, wie gut er seine erzählerischen Kniffe beherrscht, wie virtuos er all die Kapitel unter einen Hut bringt. Und dass er sich mit der schlichten Botschaft begnügt, die der ziemlich pathetische letzte Satz überbringt: Liebe ist am Ende die stärkste Kraft, die alles heilen kann. Diese Plattheit ist eines Franzen eigentlich nicht würdig. diff --git a/fluter/in-der-schattenwelt.txt b/fluter/in-der-schattenwelt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9c2790c5b5f42316afae8c672cbe67b300214fec --- /dev/null +++ b/fluter/in-der-schattenwelt.txt @@ -0,0 +1,38 @@ +Di Nicola: Du hörst dich bei Bekannten um und bekommst eine Telefonnummer von einem Agenten, der für deine Gegend zuständig ist. Er sagt dir: "Ich bringe dich für 1.000 Dollar in den Niger, dann musst du selbst weitersehen." So arbeitest du dich Schritt für Schritt weiter. Irgendwann hast du mit den Männern zu tun, die dich über die Grenze nach Libyen bringen. Dort wirst du in eine der Hütten irgendwo an der Küste gepfercht. Wenn du Pech hast, wirst du Opfer von Gewalt. Die Schlepper wollen die Kontrolle über die Menschen haben. Schließlich geht es irgendwann nachts los, ihr werdet auf einen Kahn gedrängt. Tage später greift euch die italienische Marine auf. Die Italiener können euch nicht zwingen, Fingerabdrücke abzugeben. An Land hörst du dich um, suchst Kontakte zu Schleppern, die dich bis nach Deutschland bringen, im Auto zum Beispiel. Oder du versuchst allein dein Glück. +In Ihrem Buch "Bekenntnisse eines Menschenhändlers" schreiben Sie: "Es wird Zeit, dass wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass es sich bei Schleusern um kleine Gauner handelt, die sich auf die Schnelle ein paar Dollar verdienen wollen." Wer steckt hinter den kriminellen Organisationen, die die Flüchtlinge nach Europa schleusen? +Man muss sich das wie in der freien Wirtschaft vorstellen. Da gibt es kleine und große, mittlere und multinationale Unternehmen. So ist das auch im Business der illegalen Einwanderung. Das sind knallharte Geschäftsmänner, die in einem gigantischen Netzwerk zusammenarbeiten und ihre Vertreter selbst in den abgelegensten Gegenden der Welt haben. +Muss man sich das wie eine Art Mafia vorstellen? +Nein. Das sind organisierte Kriminelle, aber keine Mafiosi. Es sind auch sehr kleine Gruppen darunter. Jeder arbeitet auf seinem Reiseabschnitt, ist sozusagen spezialisiert auf einen Teil des Angebots. Es handelt sich um das größte illegale Reisebüro der Welt mit ausgelagerten Unternehmenszweigen. +Wer sind die Hintermänner der Organisationen? +Bei unseren Recherchen haben wir zum Beispiel in Kairo einen Mann kennengelernt, der sich El Douly nennt. Er ist einer von denen, die das große Geschäft machen. Er operiert nur in Ägypten, hat eine ganze Reihe von Agenten im Süden des Landes. El Douly und seine Männer sorgen dafür, dass die Migranten über die Grenze nach Libyen gelangen. Dort werden sie dem nächsten Schlepperring anvertraut, mit dem sie dann über das Mittelmeer kommen. +Wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Netzwerken? +Sie bekriegen sich untereinander nicht, sondern kooperieren. Da greift ein Rad ins andere. Der kurdische Schleuserkönig Muammer Küçük hat einmal gesagt: "Vor 15 Jahren gab es nur ganz wenige von uns. Es war ein jungfräulicher Markt. Heute sind wir viele, aber es gibt Platz für alle." +Wie kann man diese Hintermänner am besten beschreiben? +Das sind ausgebuffte Profis. Diejenigen, die die überfüllten Boote übers Mittelmeer steuern, sind kleine Fische. Da kann man Tausende verhaften, und es passiert nichts. Wie bei Drogendealern. Entscheidend sind die Personen, die das Netzwerk zusammenhalten. Sie können sich gut ausdrücken, haben Charisma. Bei unserer Recherche passierte es, dass ich mich dabei ertappte, wie ich dachte: "Der ist ja sympathisch." In Wahrheit sind das Verbrecher. +Wie ist die Arbeit in den Netzwerken aufgeteilt? +Es gibt die Agenten oder Emissäre, die Flüchtlinge anwerben und in direktem Kontakt mit den Migranten sind. Dann gibt es beispielsweise die Skipper, die Schiffe übers Meer steuern. Meist kennen sie ihre Chefs gar nicht, sondern werden von Vermittlern instruiert. Dann gibt es diejenigen, die die Flüchtlinge von einer Anlaufstelle in einer Stadt in ein Versteck am Meer transportieren. Andere agieren als Wachleute oder als Kassierer. Jeder hat seinen Anteil am Geschäft. +Wie viel Geld verdienen die Schleuser insgesamt? +Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration machen Schleuser weltweit einen Jahresumsatz von drei bis zehn Milliarden Dollar. Sehr vorsichtig geschätzt verdienen die Schleuser allein im Mittelmeer jährlich ca. 80 Millionen Dollar. +Wie kommt man auf diese Zahl? +1.000 Dollar ist der Standardpreis für die Überfahrt von Libyen nach Italien. Bei 1.000 Menschen kommt ein Schleuser auf eine Million Dollar. Nimmt man 200.000 Bootsflüchtlinge wie für das Jahr 2014 an, dann kommt man auf 200 Millionen Dollar. Setzt man nur 500 Dollar pro Überfahrt an, ergibt das 100 Millionen Dollar Jahresgewinn für die Mittelmeer-Schlepper. +Wie sind die Tarife auf den anderen Flüchtlingsrouten? +Ein Syrer, der über die Türkei nach Europa kommt, zahlt zwischen 6.000 und 7.000 Dollar. In Afrika südlich der Sahara wird in einzelnen Tranchen von 500 bis 1.000 Dollar für jede Etappe, jeden illegalen Grenzübertritt gezahlt. Die gesamte Reise nach Europa kostet einen afrikanischen Flüchtling mindestens 5.000 Dollar. +Was machen die Schleppernetzwerke mit dem Geld? +Manche investieren in andere illegale Geschäfte wie Drogen oder Waffen. El Douly hat Restaurants und Geschäfte. Das Geld wird reinvestiert, etwa zur Bestechung von Grenzbeamten. Bei den Schleppern in Libyen ist es wahrscheinlich, dass das Geld auch den Terrorismus finanziert. +Welche strategische Bedeutung hat das zerfallende Libyen für die Schleuser? +Libyen ist ein neuralgischer Punkt. Aber stellen wir uns vor, wir könnten Libyen aus der Landkarte einfach herausschneiden und das Schlepperproblem dort so beseitigen. Es würde nichts nützen. Die Schleuser überlegen 24 Stunden am Tag, wie sie die Festung Europa stürmen können, und sind rasend schnell. Während wir uns um das Mittelmeer Gedanken machen, kommen haufenweise Menschen über den Balkan nach Europa. 100.000 Menschen im Jahr. Macht man Libyen dicht, dann kommen sie über eine andere Route. +Bedeutet das, dass die Bekämpfung der Schleuser ihnen eigentlich in die Karten spielt? +Es kommt darauf an, wie man vorgeht. Ein ukrainischer Schleuser sagte uns: "Ihr werdet den Flüchtlingsstrom nie abschneiden können. Ich bin wie Moses, der erste Schleuser der Menschheitsgeschichte. Das ist eine unversiegliche Quelle. Wenn ihr Fluchtwege abschneidet, spielt ihr nur unser Spiel. Denn wir werden neue finden. Ihr zieht die Mauern um die Festung Europa höher? Wir erhöhen die Preise." Je mehr wir uns abschirmen, desto mehr Tote wird es geben, und desto mehr Flüchtlinge werden die illegale Einreise riskieren. +Was ist also zu tun? +Die Ermittler sind im Vergleich zu den Schleppern sehr langsam. Es ist, als ob sie in einem Ruderboot einem Schnellboot hinterherfahren. Europaweit müssten die Ermittler viel mehr zusammenarbeiten. Wir brauchen einheitliche, strenge Gesetze, Datenbanken. Die EU müsste sich so gut wie die Schleuser koordinieren. Wir brauchen eine neue, europaweit einheitliche Flüchtlingspolitik. +Wissen die Flüchtlinge um die Gefährlichkeit der Flucht und die angespannte soziale Lage in vielen Teilen Europas? +Die meisten wissen Bescheid. Es gibt nur wenige Unbedarfte, die die Realität verdrängen. Ich erinnere mich noch an einen Flüchtling, der sagte: "Mein Schlepper ist ein guter Mann. Er ist die einzige Chance, die ich habe. Zu Hause werde ich umkommen." Selbst wenn sie bei Schwarzarbeit für 500 Euro im Monat unter schlimmen Bedingungen Tomaten in Kalabrien pflücken müssen, sind sie einverstanden. Denn das ist 50-mal so viel Verdienst wie zu Hause. Mit dem Geld können sie ein ganzes Dorf ernähren. +Welche Folgen haben die EU-Dublin-Verordnungen, nach denen die Flüchtlinge nur in dem Land Asyl beantragen können, in dem sie ankommen? Also meist Italien, Griechenland oder Bulgarien. +Die Dublin-Verordnungen bedeuten zusätzlichen Gewinn für die Schleuser. Denn auch die Flüchtlinge, die Recht auf Asyl haben, zahlen Tausende von Dollars, um dort hinzukommen, wo sie ihren Asylantrag stellen können. Das hat mit unserem Selbstverständnis von Europa als Wiege der Menschenrechte nichts mehr zu tun. Ein sizilianischer Bischof sagte: "Holen wir die Asylbewerber doch lieber vor Ort mit Flugzeugen ab, das ist letztendlich sogar günstiger." +Was denken Sie über den Vorschlag, die Boote der Schlepper zu bombardieren? +Das ist kurzsichtig. Wenn man garantieren könnte, wirklich alle für die Flucht verwendeten Kähne zu vernichten, okay. Aber das ist unmöglich, Schiffe werden neu gebaut, und die Schlepper sind sehr agil darin, sich neu zu organisieren. Ich habe das Gefühl, es handelt sich um medienwirksamen Aktionismus. +Nach Ihrer Beschreibung klingt es so, als habe Europa kaum Chancen gegen die Schlepperorganisationen. Müssten die Grenzen geöffnet werden, um ihnen wirklich beizukommen? +Ich glaube, Grenzen entsprechen einem menschlichen Bedürfnis. Sich abzugrenzen fördert auch die eigene Kultur und schützt das, was sich innerhalb dieser Grenzen und Mauern befindet. Wenn man die Grenzkontrollen abschafft, dann beseitigt man zwar ein Problem, nämlich die Schlepperkriminalität. Aber man schafft auch ein neues. Man muss ein Gleichgewicht finden zwischen unbegrenzter Öffnung und totaler Abschottung. +Worin besteht der Kernfehler, den Europa in der Flüchtlingspolitik begeht? +Die Schlepper kooperieren und sind schnell. Die 28 Länder der EU sind langsam, misstrauen sich und sind in nationalen Egoismen verhaftet. Außerdem fehlt es an einer politischen Vision. Der Blick darf sich nicht auf die nächste Wahl richten, sondern wirklich auf die Lösung des Problems. +Andrea Di Nicola, 41, ist Professor für Kriminologie an der Universität Trient mit den Forschungsschwerpunkten organisierte Kriminalität, Menschenhandel und Immigration. Nach jahrelangen Recherchen veröffentlichte er 2015 zusammen mit dem Journalisten Giampaolo Musumeci das Buch "Bekenntnisse eines Menschenhändlers – Das Milliardengeschäft mit den Flüchtlingen" (Verlag Antje Kunstmann, München, 2015, 206 Seiten, 18,95 Euro). diff --git a/fluter/in-der-turnhoelle.txt b/fluter/in-der-turnhoelle.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..76a386b0eb5de9ea733f65c78b645f98a6d6d05d --- /dev/null +++ b/fluter/in-der-turnhoelle.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Ich war nicht einmal dick, hatte weder einen Klumpfuß noch X-Beine. Ich war lediglich auf mir unverständliche Weise unfähig zu allem, was Sie verlangten. Beim Badminton hatte ich den Ball fest im Blick und schlug doch einen halben Kilometer daneben. Meine Laufgeschwindigkeit ließ sich verlässlich schätzen, indem man das Durchschnittstempo der Fünftklässler durch vier teilte. Und wo immer ich nach Luft japste, mich in irgendwelchen Seilen verhedderte oder vom Reck fiel, warteten Sie bereits mit dem Blick eines Oberfeldwebels. +Inzwischen weiß ich: Ich bin nicht allein mit dieser Erfahrung. Im vergangenen Jahr schlossen sich Tausende einer Petition zur Abschaffung der Bundesjugendspiele an. Auch die Wissenschaft hat die Traumata der Sportschwachen dokumentiert: Das Fach habe ein "hohes Beschämungspotenzial", sagt Ina Hunger, eine Sportprofessorin der Uni Göttingen, die in ihren Forschungen die Schülerinnen und Schüler befragte, die sich, so wie ich, nur auf der Bank am Rande des Spielfelds halbwegs sicher fühlten. "Im Sportunterricht fällt es Schülern schwerer als in anderen Fächern, sich von ihrem Versagen zu distanzieren." +Denn Sport ist für viele Schüler nicht wie Mathe oder Englisch, erklärt Hunger, und auch ich empfand Sport als einen großen Übergriff im Stundenplan, ein Fach ohne Tafel und Bücher, dafür so viel intimer, existenzieller, die Misserfolge brennen sich stärker in die Seele ein als in anderen Fächern. Man schüttelt sie nicht so einfach ab wie eine Fünf im Vokabeltest, bei dem man vielleicht nur zu faul zum Lernen war. Sie bleiben kleben am eigenen Körper, dem man nicht entkommen kann. Sie lassen sich nicht nach Unterrichtsschluss einfach in die Ecke werfen wie ein Matheheft, denn in ihnen schwingt immer auch ein Urteil über das Leben jenseits der Schule mit, über die Freizeittauglichkeit, über die Frage der Zugehörigkeit zu den coolen Kids. Zu denen gehörte ich natürlich nicht. Deswegen holten mich die coolen Kids beim Zusammenstellen der Mannschaften auch immer als Letzten in ihr Team. +Wenn man sagt, jemand habe sich sportlich verhalten, gilt das meistens als adelnde Bemerkung. Sport soll für Werte wie Fairness stehen, für Teamplay und Miteinander. Ein Schulfach wie Mutter Teresa. Auch Sie, Frau R., schwangen von Zeit zu Zeit solche Reden. Ich verstehe bis heute nicht, wie man zu dieser Einschätzung kommen kann. Für mich stand Sport für alles Schlechte, was die Gesellschaft hervorbringen kann: Konkurrenzdenken, Herabwürdigung, Ellenbogen. +Und dann kamen Sie und Ihre Kollegen eines Tages auch noch auf die Idee, einen Sponsorenlauf für das Afrika-Projekt unseres Gymnasiums zu organisieren. Ein paar Einzelhändler aus dem Ort verpflichteten sich zu einer Spende für jeden Kilometer, den wir Schüler auf den Feldwegen hinter der Schule joggten. Mit einem Mal wurde meine Konditionslosigkeit sogar ein moralisches Problem. Ich meldete mich krank, mit schlechtem Gewissen. Aber auch irgendwie empört. +Überhaupt fand ich viele Vorwände. Beim Schwimmen behauptete ich, nicht im Besitz einer Badehose zu sein. Ich errechnete, wie häufig ich bis zum Halbjahresende noch fehlen dürfte. Ich spekulierte darauf, dass Sie mein gemächliches Gehen beim Sprinten schon irgendwie als Teilnahme werten würden. Schlechter als eine Vier in Sport, das geht eigentlich gar nicht, dachte ich. Sie belehrten mich eines Besseren. Meine Note musste ich im Abitur schließlich mit Latein ausgleichen. Ausgerechnet. +Muss Sport so demütigend sein? Vielleicht hätte man es so machen können wie am Schiller-Gymnasium in Köln. Die Lehrer dort verzichten auf Sportnoten, zumindest bis zur achten Klasse – eine Regelung, für die sie beim Kultusministerium gekämpft haben. +Wo Sie mir damals eine Fünf ins Zeugnis klatschten, steht bei den Schiller-Schülern heute: siehe Anlage. Jeder bekommt einen individuellen Rückmeldebogen. Die Athleten der Klasse, sagt Sportlehrer Simon Guardiera, vermissen zwar manchmal ihre Eins. "Aber die Schwachen profitieren umso mehr." Weil sie lernen: Ich bin kein tollpatschiger Körper, der am Ende des Schuljahres mit "befriedigend", "ausreichend", "mangelhaft" etikettiert wird. Ich kann doch etwas. Ein Allheilmittel ist es vielleicht nicht, aber ein Anfang. +Bei uns schmiedeten im letzten Schuljahr alle große Pläne für die Zukunft: Work and Travel in Australien. Sich für ein Studium in Oxford bewerben. Arzt werden. Oder Anwalt. Ich hatte nur einen ernsthaften Vorsatz: keinen Sport mehr. Niemals. War das Ihre Absicht, liebe Frau R.? +Viele Grüße,Ihr Bernd (Abi-Jahrgang 2004) +PS: Vor drei Wochen habe ich mich doch noch im Fitnessstudio angemeldet. Trotz allem. + +Horrorfach? Lieblingsfach! +Nicht jeder hasst Sport, bei den meisten Schülerinnen und Schülern ist das Fach sogar äußerst beliebt. Das zeigt unter anderem die großeDSB-Sprint-Studie über den Schulsport, für die vor zehn Jahren rund 9.000 Schüler in verschiedenen Bundesländern befragt wurden. Drei Viertel von ihnen besuchen den Sportunterricht gern, generell gern zur Schule geht dagegen nur die Hälfte. Zwei Drittel der Schüler freuen sich jedes Mal auf den Sportunterricht. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass nicht der eine oder andere unter dem Fach leidet: Die Sportschwachen fühlen sich schließlich umso isolierter, je begeisterter ihre Klassenkameraden mitturnen. Aufschlussreich sind zudem die Details: Bei Jungen ist das Fach beliebter als bei Mädchen; und je älter die Schüler werden, desto geringer ist ihre Begeisterung - was aber für die Schule generell gilt. Vor allem wünschen sich die Schüler mit zunehmende Alter, dass Sport weniger ein Leistungsfach ist, sondern ein Ausgleich zum stressigen Schulalltag.  Dass Schulsport gut für die Gesundheit ist und einen Ausgleich zum Schulalltag im Sitzen darstellen kann, ist eines der wichtigsten Argumente für das Unterrichtsfach. Die Sprint-Studie urteile, dass außerschulischer Sport den Schulsport nicht ersetzen könne. +Auch Experten diskutieren regelmäßig, wie leistungsorientiert der Sportunterricht sein sollte – Allerdings werden Sportnoten inzwischen "offenbar anders vergeben als in anderen Unterrichtsfächern", wie die Sportstudie feststellte und kritisierte. Weichere Kriterien wie Sozialverhalten der Schüler dominierten die Bewertung, nur für knapp 60 Prozent der Sportlehrer sind die Leistungen für die Notengebung besonders relevant. Vor allem verteilen sie deutlich bessere Zensuren als andere Fachlehrer. diff --git a/fluter/in-der-wohnmaschine.txt b/fluter/in-der-wohnmaschine.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7c3afc893cbf3aa04c0d1e3be2843b18f04d5614 --- /dev/null +++ b/fluter/in-der-wohnmaschine.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Wie könnte man ihnen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen? Wo sollten all diese Leute hin, die die Industrialisierung in die Städte gespült hatte? Die sogenannte "soziale Wohnungsfrage", die auch Denker wie Tocqueville umtrieb, war die architektonische und politische Millionenfrage der Zeit. Es sollte noch fast einhundert Jahre dauern, bis sie in einigen Regionen gelöst wurde. +Fliegende Städte, mit denen man vor dem Klimawandel fliehen kann: Eine Utopie von Buckminster Fuller (1960) +Im Jahr 1835, als Tocqueville ­seine Beobachtungen notierte, galt Manchester als Zentrum des globalen Fortschritts. Webstühle, Hochöfen und Kokereien produzierten Tonne um Tonne, ihre Schlote verdunkelten mit ihrem Qualm den Himmel. Das Zeit­alter der dampfbetriebenen Eisenbahn war gerade angebrochen. +Doch vom neuen Reichtum profitierten nur wenige. Fabrikarbeiter wurden in dieser Phase der Industrialisierung behandelt, als wären sie Rohstoffe wie Kohle und Erz. Die engen Wohnungen waren nichts anderes als Lagerhallen, in denen Arbeiter vorrätig gehalten wurden. Durch ihre Arbeit in den Bergwerken starben sie an Staublunge, erkrankten an Knochenerweichung, weil ihnen Licht fehlte. Und doch zog es viele Menschen in die Ballungsgebiete. Denn auf dem Land gab es oft überhaupt keine Arbeit, und wenn, war sie ähnlich hart wie in den Städten. +So wuchsen die Städte auch in Deutschland gigantisch schnell. Der "Ruhrpott" war bis 1850 nur ein Pöttchen. Dann wurde er zum Schnellkochtopf. Dortmund, eine von Kohlevorkommen umgebene Mittelstadt in Westfalen, wuchs von gut 40.000 Einwohnern im Jahr 1870 auf rund 535.000 im Jahr 1930. +Kein Wunder, dass sich einige Architekten bald als "Sozialingenieure" oder gar Ärzte sahen, deren Medikamente Luft, Raum und Licht waren. Eine neue Architektur sollte die röchelnden, krumm gewachsenen, blassen Bewohner der Städte kurieren. Nicht immer waren die ersten Therapievorschläge erfolgreich. Anfang der 1870er-Jahre errichtete man in der heutigen Türrschmidtstraße in Berlin-Lichtenberg 60 Reihenhäuser für werktätige Menschen – allerdings ohne Wasseranschluss, der war zu teuer. Toilette und Wasserpumpe lagen im Hof. Unter diesen Bedingungen wollten Arbeiter schon damals nicht in einen Neubau ziehen. Die restlichen 140 geplanten Häuser wurden erst gar nicht gebaut. +Es dauerte ein paar Jahrzehnte, bis die Rohstoffe günstig und die Ideen ausgereifter waren. 1845 wurden bereits Fertigteile für deutsche Häuser gegossen: Treppen aus Beton. Mehr als sieben Stockwerke baute man trotzdem nur selten in die Höhe – bis der US-Amerikaner Elisha Otis 1852 den absturzsicheren Aufzug erfand. +Auch Walt Disney entwarf eine ideale Stadt (1962-1966) +Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten sich architektonische Strömungen wie das Bauhaus in Weimar. Schnörkellose, lichte Häuser entstanden etwa in Stuttgart und Berlin. 1933 wurde die Bauhaus-Schule in Berlin unter dem Druck der Nationalsozialisten geschlossen. Jüdische Architekten wanderten ins damalige Palästina aus. In Tel Aviv, wo sich die Stadtbevölkerung in den 1930er-Jahren vervielfacht hatte, schufen sie die "Weiße Stadt", mit 4.000 Gebäuden die größte Ansammlung von Bauhaus-Bauten der Welt. +In den 1920er-Jahren begann der industrielle Bau von Häusern mit Beton. Ironischerweise wollte man die von der Industrialisierung geschaffenen sozialen Wohn­probleme mit den Mitteln der Industrialisierung selbst bekämpfen: Das immer gleiche Produkt in immer gleicher Qualität herzustellen ist einfach billiger. Bauhaus-Begründer Walter Gropius, Kind einer Familie von Architekten und Vorbild einer ­ganzen Dynastie, schlug vor, Häuser wie am Fließband zu produzieren. Das hieß: Standardputz statt Stuckdecke, Einheitsbad statt Goldhähne. Die Gropiusstadt in Berlin, Anfang der 1960er-Jahre nach seinen Vorstellungen erbaut, steht noch heute: eine aus grauen Hochhäusern bestehende Siedlung. +Das "Neue Frankfurt", wie sich eine Gruppe von Architekten nannte, entwarf zwischen 1925 und 1930 Häuser nach funktionellen Gesichtspunkten mit optimaler Raumausnutzung und unter Verwendung von genormten Bauteilen. Sie vermaßen etwa, wie oft man sich in der Küche drehen musste, um einen Kuchen backen zu können. Je ökonomischer die Wohnung, je kürzer der Weg zu Eiern, Butter und Zucker, desto besser. Das Ergebnis: die "Frankfurter Küche", eine Art ergonomischer Arbeitsplatz, erhältlich in zwei Größenvarianten. +Als vielleicht größter Wohn­denker seiner Zeit galt Le Corbusier. 1887 in der Schweiz als Charles-Édouard Jeanneret-Gris geboren, ist sein Künstlername heute Inbegriff für teils bizarre Ideen. Noch heute streiten Kritiker darüber, ob Le Corbusier nur faschistisch dachte – ein Antisemit war er ohnehin – oder auch faschistisch baute. +Den Plan Voisin für Paris erdachte Le Corbusier (1925) +Seine Vision einer modernen Siedlung: alle Bereiche städtischen Lebens trennen – einkaufen in der Innenstadt, arbeiten in den Randbezirken, wohnen in der Vorstadt. Le Corbusiers Ideen revolutionierten die Stadtplanung weltweit. Fast ein halbes Jahrhundert lang galt die Vorstadt als idealer Lebensort. Le Corbusiers Medikament hatte jedoch eine starke Nebenwirkung: die Pendler, Männer und Frauen also, die – allein in einem fünfsitzigen Fahrzeug – 40 Minuten im Stau stehen, um eine Strecke von fünf Kilometern zu schaffen. +Le Corbusier stellte den Nutzen über alles. Dekoration war für ihn eine zu vernachlässigende Kategorie. Das Kloster Sainte-Marie de la Tourette bei Lyon, in den 1950er-Jahren von ihm erbaut, sieht eher aus wie eine Mischung aus belgischer Waffel und Atombunker denn ein Ort, an dem Mönche leben. Für Paris ersann Le Corbusier 1925 einen Plan, wie man drei Millionen Menschen mitten in der Innenstadt ansiedeln könnte. Das historische Zentrum zwischen Louvre und Pariser Oper wollte er planieren, stattdessen 18 gigantische, regelmäßig angeordnete Riesenhäuser errichten, mit breiten Verkehrsschneisen und Parkplätzen. "Wohnmaschinen" hieß ein Konzept für die serielle Fertigung von Wohnhäusern. +Der Plan war für Paris auch eher unnötig. Die Stadt war im Zweiten Weltkrieg verschont geblieben von den Bomben der Wehrmacht. Andere Metropolen wie Warschau lagen hingegen in Trümmern, in Deutschland hatten die Alliierten die Stadtzentren bombardiert. Niemals zuvor waren deshalb so viele Menschen ohne Wohnung wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Wieder herrschte Wohnungsnot. +Auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs setzte man in den Jahrzehnten nach 1945 auf ein eigenes Mittel, um die herrschende Wohnungsnot zu bekämpfen: den sogenannten Plattenbau. Durch die vorgefertigten Bauteile konnten ganze Wohnblöcke zügig errichtet werden. Zwischen 32 und 105,5 Quadratmeter gaben die Platten vom späteren Modell WBS 70 her, günstig im Bau und ungeheuer stabil. "Arbeiterschließ­fächer" wurden sie zuweilen spöttisch genannt, aber die meisten Menschen zogen gern ein, weil die Wohnungen im Vergleich zu den unsanierten Altbauten modern und komfortabel waren. +Heute tendieren Stadtplaner und Architekten wieder zu eng bebauten Städten. Dass die nicht so elend aussehen müssen wie einst in Manchester, zeigt das Beispiel Tokio: Rund neun ­Millionen Menschen leben allein im sehr dicht bevölkerten Stadtkern, nahe beieinander und gut vernetzt. Nur eine Minderheit braucht dort ein Auto. diff --git a/fluter/in-einem-land-vor-unserer-zeit.txt b/fluter/in-einem-land-vor-unserer-zeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9062f893e0748428019ca740eebff4cf8775daf6 --- /dev/null +++ b/fluter/in-einem-land-vor-unserer-zeit.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Ein Visum für eine Reise in das hermetisch abgeschlossene Land bekommt nur, wer unter Androhung einer nicht weiter konkretisierten Strafe schriftlich erklärt, nicht in Mainstream-Medien von seinen Erlebnissen zu berichten. Vor der Einreise, die in der Regel mit Hilfe einer ausländischen Reiseagentur über Nordkoreas befreundetes Nachbarland China erfolgt, werden Touristen einem einstündigen Briefing unterzogen. So soll verhindert werden, dass sie wegen Fehlverhaltens – das kann schon eine unbedachte lästerliche Äußerung über einen der Kims sein – gleich wieder ausgewiesen werden und zudem die für sie verantwortlichen nordkoreanischen Reiseführer in Gefahr bringen. +Denn einmal im Land angekommen, begleiten einen unentwegt zwei aufmerksame Guides der staatlichen Tourismusorganisation KITC, der "Korean International Tourism Company". Sie nicken Fragen über Leben und Alltag in der Diktatur freundlich weg. Sie schirmen einen ab auf den kurzen Wegen zwischen dem Reisebus, in dem man von einer Sehenswürdigkeit zur anderen kutschiert wird, und dem Hotel, das zu verlassen einem ansonsten verboten ist. Sie verhindern, dass Reisende in Kontakt mit der Bevölkerung kommen, und führen die Besucher wieder und wieder vor Kim-Statuen und Staatsdenkmäler, vor denen sie sich tief zu verbeugen haben. +Alles, was man in Nordkorea sieht und erlebt, ist von der politischen Situation gefärbt: die repräsentative Monumentalarchitektur, besonders in der Hauptstadt Pjöngjang. Die Ordnung und Disziplin, mit der sich die Menschen über die Straße bewegen. Ihre uniforme Kleidung, denn alles, was westlich aussieht oder zu viel Aufmerksamkeit erregt, gilt als unsozialistisch und damit als verdächtig – und Jeans weisen einen als Sympathisanten der USA aus und sind deswegen überhaupt nirgends zu sehen. Aber auch Details wie der Umstand, dass man in sieben Tagen nur ein einziges Werbeschild zu sehen bekommt. Einsam und auch ein wenig höhnisch steht es am Straßenrand und wirbt für ein Auto chinesischen Fabrikats. Denn wem, außer den höchsten politischen Kadern, wäre es erlaubt, ein Auto zu kaufen? Wer hätte das Geld dazu? +Und dann ist da diese Sauberkeit, die von unzähligen Straßenfegern, Brückengeländer-Putzerinnen und Baumblüten-Aufsammlerinnen eisern aufrechterhalten wird. Auf dem weitläufigen Gelände des Mausoleums, in dem der "Große Führer" Kim Il-sung (Regierungszeit 1948 bis 1994) und der "Geliebte Führer" Kim Jong-il (1994 bis 2011) einbalsamiert in Schneewittchensärgen liegen und von ihrem Volk lautstark beschluchzt werden, gibt es Leute, die mit großen Holzschiebern unschöne Pfützen beseitigen. +An den Bushaltestellen lesen die Leute in Büchern, statt auf Handys herumzutippen. Selbst dieser für westliche Besucher erfrischende Anblick ist dem Umstand geschuldet, dass Einheimische keinen Zugang zum Internet haben – und es ohnehin nur sehr wenige Mobiltelefone gibt, mit denen sich auch nur nordkoreanische Nummern anrufen lassen. Nordkorea ist ein Land vor unserer Zeit. Ein Land außerhalb unserer Welt. Und sollte man einmal vergessen, wo man ist, erinnern einen die Lautsprecher, die von früh bis spät die Plätze mit Propaganda-Programmen beschallen. +So fühlt man sich auf einer Nordkorea-Reise unweigerlich als Zuschauer einer gigantischen Inszenierung. Alles wirkt wie ein schlecht ausgedachter Verschwörungsthriller. Warum gibt es auf der Anzeigetafel im Hotelfahrstuhl keinen sechsten Stock? Ein Mitreisender raunt, da säße die Sicherheitsbehörde und höre die allesamt verwanzten Zimmer ab. Da es hier ohne Internet und ohne andere verlässliche Quellen keine Möglichkeit gibt, irgendetwas zweifelsfrei zu bestätigen, bestimmen derlei Gerüchte und Kolportage-Storys die Gespräche der Reisenden untereinander. +So endet jeder Tag mit hundert neuen Fragen. Wo steht eigentlich der Wohnpalast des Machthabers Kim Jong-un? Hungern die Leute? Wie stellen sie sich die Welt nach dem Untergang der Sowjetunion vor? Was denken sie über uns? Der Führer vom Reiseunternehmen in Peking, der seit Jahren immer wieder Touristen hierher begleitet, sagt unbefriedigend oft: "Wir wissen es auch nicht." +Die Ahnung um die Umstände, unter denen die Leute hier leben – der Drill, die Indoktrination, das Wissen um die Arbeitslager –, ist wie eine Brille, die abzusetzen unmöglich ist. Und doch gibt es Momente, in denen die Schatten verfliegen und sich kurze Momente von Leichtigkeit und Rührung einstellen. Anders als man es in einem sich als sozialistisch verstehenden Land vermutet, finden am 1. Mai keinerlei Paraden und keine Kundgebungen statt. Stattdessen lüftet sich die Glasglocke. In den Parks von Pjöngjang werden Picknicks veranstaltet, viele Leute haben frei, sie trinken selbst gebrauten milchigen Reiswein, spielen und tanzen. Für Studenten ist der Feiertag eine gute Gelegenheit, ihre zukünftigen Ehepartner zu treffen. Alle tragen Freizeitkleidung, Männer oft nur Unterhemden, überall sind Kinder. Plötzlich ist alles bunt. +Selbst die Regenwolken, die bis zum Vortag über der Stadt hingen, scheint jemand abbefohlen zu haben. Statt misstrauisch und ängstlich schauen die Menschen neugierig, freundlich sogar. Als sich die Touristengruppe durch den Park bewegt, erfasst eine ältere Frau die Hände eines amerikanischen Reisenden, und die beiden tänzeln zu entfernt an Disko-Rhythmen erinnernde Musik aus dem Ghettoblaster durch die lustige Menge. +Als die Sonne schon tief über der Stadt steht und die Reisegruppe in eines der von der KITC betriebenen Restaurants gefahren wird, steht da auf einmal ein Sofa mitten auf dem Fußweg. Darauf sitzen zwei entspannt aussehende Nordkoreaner an ihrem Feiertag. Als die Touristen – so hatte man es ihnen eingebläut – gestikulierend fragen, ob sie die Einheimischen fotografieren dürfen, verneinen diese. Die Besucher bedauern, bedanken sich und gehen ihres Weges. +Nur ein paar Augenblicke später ist das Möbel verschwunden. Samt derer, die auf ihm saßen. Der heitere, für hiesige Verhältnisse vielleicht sogar anarchische Moment: vorbei. +Lou Hennings war im Frühjahr 2014 für sieben Tage in Nordkorea. diff --git a/fluter/in-guter-gesellschaft.txt b/fluter/in-guter-gesellschaft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1e3f6f3e4705d6666145a14777c512def8a41246 --- /dev/null +++ b/fluter/in-guter-gesellschaft.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Corporate Social Responsibility (CSR) nennt man derartiges sozialverantwortliches Handeln von Unternehmen. Das bedeutet: Firmen setzen sich freiwillig und langfristig für soziale und ökologische Belange ein, über-erfüllen gesetzliche Mindestanforderungen und Tarifvereinbarungen und zeigen Verantwortung für ihre Mitarbeiter, deren Familien, die Region, die Gesellschaft als Ganzes.Das gesellschaftliche Engagement soll keineswegs wirtschaftlichen Misserfolg schönen. Im Gegenteil. "Wir haben wirtschaftlichen Erfolg, weil wir so viel Geld in andere Projekte stecken", sagt Manuela Olhausen. "Denn die Arzneimittel, die wir anbieten, sind austauschbar." Bei Beginn des Betapharm-Engagements lag die Firma auf Rang 15 der deutschen Billigmedikamentenhersteller. Heute liegt sie auf Platz vier – und das ohne Endverbraucherwerbung, wie sie zum Beispiel Konkurrent Ratiopharm macht. +Der Begriff CSR ist in Deutschland neu, gesellschaftliches unternehmerisches Engagement aber hat Tradition. Schon Robert Bosch förderte die Weiterbildung seiner Mitarbeiter, führte 1906 den Achtstundentag ein und stiftete in Stuttgart ein Krankenhaus. Die Globalisierung hat dem Thema aber eine neue Dimension gegeben. "Während der Einflussbereich von transnationalen Unternehmen wächst, gibt es noch zu wenig Möglichkeiten, Unternehmen für ihr Handeln zur Verantwortung zu ziehen", sagt Cornelia Heydenreich vom CorA-Netzwerk für Unternehmensverantwortung, in dem sich dreißig Organisationen und Verbände zusammen-
geschlossen haben, um Unternehmen zur Einhaltung der Menschenrechte sowie internationaler Sozial- und Umweltstandards zu verpflichten. "Bisher waren Unternehmen in einen nationalstaatlichen Rahmen und ein entsprechendes kulturelles Umfeld mit tradierten Normen und Werten eingebettet. Das hat ihre Strategie langfristig mitbestimmt", sagt Marcus Kreikebaum vom Institut für Unternehmensethik an der European Business School im hessischen Oestrich-Winkel. Durch die Globalisierung sind viele Firmen weltweit tätig und nicht mehr fest in einer Region verankert, Hedgefonds bestimmen immer häufiger die Geschäftspolitik, das Streben nach schnellstmöglichem Profit löst langfristiges Wirtschaften ab. +Prinzipien, wie sie in den Leitsätzen der OECD, dem UN Global Compact oder den Social Accountability Standards niedergelegt sind, legen lediglich Minimalstandards fest, Verstöße können nicht bestraft werden. NGOs und Netzwerke wie CorA sind deshalb wichtige Kontrollinstanzen, die öffentlichen Druck auf Unternehmen ausüben. "Viele Unternehmen denken erst um, wenn ihnen solche Organisationen aufs Dach steigen", sagt Anna Peters vom CSR-Projekt der Bertelsmann-Stiftung, die soziales Engagement von Unternehmen unterstützt. Ein bekanntes Beispiel: Mitte der Neunziger geriet Nike wegen schlechter Arbeitsverhältnisse in seinen Fabriken in die Kritik – und musste handeln. Dass Lidl Bioprodukte führt, ist auch eine Reaktion darauf, dass Greenpeace die starke Pestizidbelastung in Lidl-Obst und -Gemüse öffentlich machte. Greenpeace International versucht derzeit, mit der Kampagne Greenmyapple.com die Firma Apple dazu zu bringen, auf giftige Stoffe in ihren Produkten zu verzichten. Die Stiftung Warentest überprüft seit gut zwei Jahren nicht nur die Qualität von Produkten, sondern auch die Herstellungsbedingungen und die Umweltbilanz. Darin schneidet die Axel Springer AG gut ab. Das Unternehmen hat sich auf Waldnutzungsstandards verpflichtet: Es darf nicht mehr Holz geerntet werden, als nachwächst, Tiere und Pflanzen müssen geschont, Waldarbeiter ausgebildet werden. Bekanntestes Beispiel für CSR: die US-Bekleidungsfirma American Apparel, die nicht in Billiglohnländern produziert. Designen, Nähen, Vermarkten – alles geschieht in Los Angeles. Ein weiteres Angebot: kostenlose Englischkurse für Spanisch sprechende Mitarbeiter. +Solches Engagement hat nichts zu tun mit Marketingmaßnahmen, wie sie zum Beispiel Krombacher einfielen. Der Bierbrauer warb damit, einen Teil des Kaufpreises für jeden Bierkasten in den Schutz des Regenwalds zu investieren. CSR hätte bedeutet, sich um die Qualität seines Produkts und die Bedingungen seiner Herstellung zu kümmern. "Was hat das mit meinem Kerngeschäft zu tun, und was können wir glaubwürdig vertreten? Diese Fragen müssen sich Unternehmen stellen, die sich engagieren wollen", erklärt Anna Peters die Grundlagen für gelungenes CSR. Alles andere seien Einzelaktionen, die zwar Gutes stiften können, aber kein langfristiges Unternehmensengagement. Aber nicht nur für Firmen, die wie Apple, American Apparel oder Nike ihre Produkte direkt an den Kunden bringen, ist CSR wichtig. Der Trend ist mittlerweile auch an der Börse angekommen. Die Rating-Agentur Oekom Research in München überprüft für Investoren und Finanzdienstleister rund 150 soziale und ökologische Kriterien – die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter spielen dabei genauso eine Rolle wie Maßnahmen, den Energieverbrauch zu reduzieren, und die Frage, ob Zulieferer gegen Kinderarbeit vorgehen. "Wenn Unternehmen in unserem Rating schlecht abschneiden, investieren die Investmentfonds nicht mehr in sie", erklärt Vorstandsvorsitzender Robert Haßler. "Das ist ein klarer Sanktionsmechanismus und zugleich ein wichtiger Anreiz für die Firmen." Dass der Ruf nach gesellschaftlicher Beteiligung von Unternehmen größer wird, hat laut Anna Peters noch einen weiteren Grund: "Jeden Tag lesen wir in der Zeitung, dass der Staat als omnipotenter Problemlöser an seine Grenzen stößt, sei es bei der Gesundheits-reform oder der Finanzierung von Verkehrs-projekten. CSR könnte ein Baustein zu einem Politikstil sein, bei dem Staat, Gesellschaft und Wirtschaft besser zusammenarbeiten." +Die Betapharm hat diesen zweiten, Corporate Citizenship genannten Schritt schon vollzogen. Sie fördert nicht nur Gutes, sondern versucht darüber hinaus, das Gesundheits-system zu verändern. Eine vom Beta Institut beauftragte Studie konnte zeigen, dass der "Bunte Kreis", der chronisch kranke Kinder und deren Familien nach dem Krankenhausaufenthalt zu Hause betreut, mit seinen Leistungen langfristig die Kosten senkt. Aufgrund dieser Ergebnisse wurde eine Gesetzesinitiative in den Bundestag eingebracht, die Nachsorge durch den "Bunten Kreis" zahlen mittlerweile die Krankenkassen, aus dem Projekt ist eine bundesweite Nachsorgeleistung geworden. Inzwischen gibt es deutschlandweit 22 "Bunte Kreise," weitere sind in Planung. +"Unternehmen", erklärt Marcus Kreikebaum, "begreifen mehr und mehr, dass sie ein Produkt der Gesellschaft sind und ihre Aufgabe darin besteht, zum Wohlergehen dieser Gesellschaft beizutragen – und zwar zum beiderseitigen Nutzen." diff --git a/fluter/in-ketten.txt b/fluter/in-ketten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/in-the-heights-film-musical-rezension.txt b/fluter/in-the-heights-film-musical-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a64e5042aa5730772716602f044d90bcfef8a1ed --- /dev/null +++ b/fluter/in-the-heights-film-musical-rezension.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Hinter "In the Heights", das 2005 schon als Bühnenstück Premiere feierte, steckt der Autor, Komponist und Schauspieler Lin-Manuel Miranda. Weltberühmt machte ihn 2015 sein Musical "Hamilton" über einen der US-amerikanischen "Gründerväter". Das Stück wurde damals nicht nur für die innovative Mischung aus Hip-Hop und Popmusik gefeiert, sondern auch für die Besetzung. Miranda ließ die historisch weißen Figuren von nichtweißen Schauspieler:innen spielen. Einen ähnlichen Befreiungsschlag erhofften sich viele von der Verfilmung von "In the Heights". Hollywood hat Menschen mit lateinamerikanischen Wurzeln bisher schließlich wenig teilhaben lassen. Im Jahr 2020 gingennur fünf Prozent der Sprechrollenin den 100 größten Hollywoodfilmen an Schauspieler:innen aus dieser Gruppe. Dabei macht sie in den USA 18 Prozent der Bevölkerung aus. Beim US-amerikanischen Kinostart von "In the Heights"gab es trotzdem Kritik. Denn die Darsteller:innen haben zwar fast alle lateinamerikanische Wurzeln, sie haben aber auch fast alle sehr helle Haut. Damit würden Miranda und sein Regisseur Jon M. Chu die Gruppe der Afrolatinos aus ihrer Erzählung ausschließen, so der Vorwurf, obwohl gerade die einen Großteil der Bewohner:innen von Washington Heights ausmachen. Miranda gab seinen Kritiker:innen recht und versprach, es beim nächsten Film besser machen zu wollen. + + + +Rappend, scratchend, mambotanzend. "In the Heights" ist ein Sammelsurium aus Stilen und Referenzen. Wie alle guten Musicals schafft es der Film, dass sich der Wechsel aus Musik und gesprochenen Dialogen ganz natürlich anfühlt. Das gilt auch für die Grenzen zwischen Realität und Fantasie, die so fließend sind, dass man sich beim Verlassen des Kinos enttäuscht fragen möchte, warum hier draußen keine Wasserschläuche im Takt spritzen, Gummideckel als Plattenteller dienen oder Liebespaare die Hauswände hinauftanzen. +… Menschen, die in keinem Stau mehr stehen können, ohne andie Anfangsszene von "La La Land"zu denken. Das Überwältigungspotenzial, das in diesem kollektiven Autodächer-Tanz liegt, findet man auch in "In the Heights" wieder – und zwar in jeder zweiten Szene. Von der Eingangsnummer, in der Dutzende Passanten auf der Kreuzung vor Usnavis Laden breakdancen, bis zum Wasserreifen-Ballett, in das sämtliche Schwimmer:innen des Stadtteil-Freibads ausbrechen: "In the Heights" ist so übermütig und mitreißend, dass man sich fragt, ob Usnavi nicht noch etwas anderes als "leche" in seinen viel gerühmten "café" schüttet. +"In the Heights" ist der ideale Film, um nach anderthalb Jahren Pandemie dem Gemeinschaftserlebnis Kino zu frönen. Bei aller Sommer-Blockbuster-Gefühligkeit driftet er aber nie ins Sozialkitschige ab. Sicher, "In the Heights" feiert die Bewohner:innen von Washington Heights für ihre Widerstandskraft und den Stolz auf ihre kulturellen Wurzeln. Er romantisiert aber nicht die prekären Verhältnisse, in denen viele von ihnen leben, oder die schmerzhaften Erfahrungen, die einige von ihnen mit sich herumtragen. Usnavis Ersatzoma Claudia etwa wird noch nach Jahrzehnten von den Demütigungen eingeholt, die sie, gerade aus Kuba emigriert, als Haushälterin in der Upper East Side erlebte. Usnavis Freundin Nina wiederum ist in den USA geboren, erfährt aber auf der Eliteuniversität, an der sie studiert, trotzdem regelmäßigDiskriminierung– so etwa, als man sie auf einer Veranstaltung nicht für eine Studentin, sondern für eine Kellnerin hält. Es sind solche Details, die "In the Heights" ganz beiläufig zu einem politischen Film machen. "Tell our stories" – erzähl unsere Geschichten –, fordern in einer Szene ein paar Demonstranten, die für die Anerkennung der "Dreamer" protestieren, jene Menschen, die seit ihrer Kindheit ohne Papiere in den USA leben. Genau das tut "In the Heights". Und bei der Ohrwurmdichte des Films wird man die Geschichten wohl nicht so bald vergessen. + +"In the Heights" startet am 22. Juli in den deutschen Kinos. + diff --git a/fluter/inan-roman-natuerlich-kann-man-hier-nicht-leben-interview.txt b/fluter/inan-roman-natuerlich-kann-man-hier-nicht-leben-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4e5c579f9fd7826c887f70b37b5b6059933fcb66 --- /dev/null +++ b/fluter/inan-roman-natuerlich-kann-man-hier-nicht-leben-interview.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +Özge İnan: Ich habe damals die Gezi-Proteste auch extrem interessiert verfolgt, aber weniger naiv als Nilay im Roman. Diesen Wunschtraum, irgendwie dabei zu sein, den habe ich trotzdem total gespürt +Inwiefern warst du weniger naiv? +Ich komme aus einem politischen Haushalt, mein Vater war als Teil der linken Studentenbewegung unmittelbar von den Auswirkungen des Putsches 1980 betroffen. Aber bei uns wurde sowohl auf persönliche als auch auf politische Disziplin geachtet – dazu gehörte: Du kannst nicht, wenn du Schule hast, irgendetwas anderes machen außer Schule. Außerdem galt: Man muss rational sein und kann sich nicht so leicht von Gefühlen leiten lassen. Diese beiden Dinge haben dafür gesorgt, dass ich nicht wie Nilay einfach so ins Flugzeug nach Istanbul gestiegen bin, obwohl ich mir das eigentlich sehr gewünscht hätte. +Was waren damals deine Erwartungen? +Ich hatte schon große Hoffnungen. Vor allem hatte ich keinen Erfahrungsschatz, auf den ich zurückblicken konnte, um zu sagen: Das gab es doch schon mal, und dann ist auch nichts draus geworden. Damals hat es sich einfach angefühlt wie ein historischer Moment. Und es war ja auch einer, nur nicht mit einem direkten Ergebnis, sondern eher durch das, was da entstanden ist: diese Einigkeit, dass es so nicht weitergehen kann. +Wie siehst du heute, zehn Jahre später, die Auswirkungen der Gezi-Proteste? +Auf jeden Fall schaue ich auf eine oppositionelle Zivilgesellschaft in der Türkei, die von Gezi immer noch sehr inspiriert ist. Die verschiedenen Gegner des Erdoğan-Regimes standen einander bis dahin feindselig gegenüber, weil sie untereinander Rechnungen offen hatten. Allen voran die säkulare Rechte und die progressive Linke. Im Wahlkampf 2023 gab es noch einmal so einen Moment, wo diese Gräben zugemacht wurden(erstmals hatten sich bei dieser Wahlsechs Oppositionsparteien zusammengeschlossenund auf einen gemeinsamen Kandidaten gegen Erdoğan geeinigt, Anm. d. Red.). Das meine ich ausdrücklich wertfrei. Aber das ist dieser Gezi-Geist: dass man sich doch die Hände reichen muss, weil die Regierung einfach übermächtig ist. +Die Haupthandlung deines Romans spielt in den Jahren ab dem Militärputsch 1980 und erzählt die Geschichte von Nilays Eltern, die später aus politischen Gründen nach Deutschland fliehen. In der Türkei gab es ja eine ganze Reihe von Militärputschen – warum hast du ausgerechnet diesen in den Mittelpunkt gerückt? +Der Putsch 1980 und die Jahre der Militärregierung danach sind sehr stark im kollektiven Gedächtnis der Türkei präsent. Das hat sich den Leuten als Horror eingeprägt. Das Militär ist zwar Schutzmacht, aber auch Bedrohung im Hintergrund, die diese Republik immer begleitet – weil sie die demokratische Legitimation der Regierung nicht respektiert. Das Militär hat immer wieder bewiesen, dass es einschreitet, wenn ihm der Lauf der Dinge nicht passt. Auch mit dem Putschversuch 2016(die türkische Regierung macht dafür die Gülen-Bewegung verantwortlich, da sie das Militär unterwandert haben soll, Anm. d. Red.)hat es gezeigt, dass es nicht integer ist. So etwas beeinflusst auch die Protestkultur eines Landes. +Die Liste der Militärputsche in der Türkei ist lang und geht auf die Verbindung einer politischen Elite und des Militärs zurück, die sich seit den nationalistischen "Jungtürken" hartnäckig hält. Diese Bewegung entstand 1889 an der Militärischen Medizinschule in Istanbul. Von 1913 bis 1918 stellte sich eine diktatorische jungtürkische Komiteeregierung an die Spitze des Osmanischen Reichs, um ihre eigene Macht zu sichern und in Kleinasien ein "Nationalheim für Türken" zu schaffen. Sie warfürden Völkermord an den Armeniernverantwortlich. +Die politischen Ideen der Jungtürken prägten auch den Begründer der Republik Türkei, Mustafa Kemal, und sein politisches Wirken. Seine Gründungsideologie, der sogenannte Kemalismus,wurde 1937 in die türkische Verfassung aufgenommen. Das Militär versteht sich als Hüterdieses Kemalismus, insbesondere der Trennung von Staat und Religion, aber auch eines starken Nationalismus, der für die Identität von Minderheiten keinen Platz vorsieht. Zu große Abweichungen sollen verhindert werden. Militärputsche oder Putschversuche gab es in der Türkei seit der Staatsgründung in den Jahren 1960, 1971, 1980, 1997 und 2016. Der Putsch von 1980 gilt als der gewaltvollste. Zu dem Zeitpunkt herrschten in der Türkei bürgerkriegsähnliche Zustände mit Straßenkämpfen zwischen rechten und linken Kräften, Tausende Menschen wurden ermordet. +Generalstabschef Kenan Evren beanspruchte für sich, die Einheit und Ordnung des Landes wiederherzustellen. Er und seine Verbündeten entsandten Streitkräfte nach Ankara, besetzten politische Schlüsselpositionen, setzten die Regierung unter Süleyman Demirel ab, führten das Kriegsrecht ein und verboten alle politischen Parteien. Die Militärjunta verfolgte politische Aktivisten mit Verhaftungswellen, Folter und Todesurteilen. Verschärfte Gesetze schränkten die Möglichkeiten politischen Engagements stark ein – unter anderem wurde die kurdische Sprache verboten. In der Folge kam es zu einer Emigrationswelle insbesondere von Kurden, von denen viele in Deutschland Schutz suchten. +Protestierende fürchten also immer einerseits das Regime und andererseits das Militär? +Ja – da fällt mir eine Geschichte von meiner Cousine ein: Die kam uns mal in Deutschland besuchen, und das ist ein aufwendiger Prozess. Reisepass und Visum beantragen, viele Papiere einreichen, hohe Bearbeitungsgebühren etc. Die Deutschen machen den Ausländern, was Visa angeht, ja das Leben zur Hölle. Bei ihr hat das auch anderthalb Jahre gedauert. Als endlich alles fix war, haben wir gedacht: Was soll jetzt noch schiefgehen? Und sie sagte nur: Putsch! Das Thema ist derart präsent, dass man Witze darüber macht. Aber natürlich ist es nicht lustig. +Ich habe den Eindruck, dass die Geschichten der politischen Geflüchteten aus der Türkei, wie die von Nilays Eltern, bisher nicht so eine große Rolle gespielt haben in der deutschsprachigen postmigrantischen Literatur. +Das ist einer der Gründe, warum ich diese Geschichte erzählen wollte. Weil das auch für Deutschland superwichtig ist. Politische Migranten sind ja nicht nach Deutschland gekommen und waren dann plötzlich unpolitisch, sondern sie haben weitergemacht, haben sich engagiert, haben Kunst gemacht, Kultur geschaffen, Vereine gegründet. Das alles hat Deutschland geprägt, und ich habe das Gefühl, niemand hat es so recht mitbekommen. +Im Roman finden sich viele Details über die politische Protestbewegung Anfang der 1980er-Jahre, wie hast du die recherchiert? +Das war ein Wissensstand, auf den ich ziemlich einfach zurückgreifen konnte, weil meine Eltern und deren Freunde diese Zeit selbst erlebt haben und allesamt Menschen sind, die wahnsinnig gerne erzählen. Außerdem hatte ich an der Universität einen Kurs zu türkischem Verfassungsrecht, in dem die Dozentin sehr darauf geachtet hat, dass wir den historischen Kontext begreifen, weil die türkische Verfassung sehr geprägt ist von diesen historischen Zerwürfnissen zwischen Militär und Regierungen. Was ich dann noch meine Familie gefragt habe, waren Details: Was für eine Art Schreibmaschine habt ihr benutzt? Was für Waffen hatten die Polizisten? +Du schreibst normalerweise journalistische Texte oder bringst deinen Standpunkt in kurzen Tweets auf den Punkt – wie war es jetzt für dich, einen Roman zu schreiben? +Es ein ganz anderes Gefühl, ich fand es aber total schön, mit diesen Figuren so vertraut zu werden. Am Anfang ist der Schreibprozess sehr an der Handlung orientiert, und du willst, dass diese und jene Sachen passieren. Dann fragst du dich: Wie muss jemand drauf sein, damit er sich in so eine Situation überhaupt reinmanövrieren kann? Wenn die Figuren einmal da sind, ist es, als würde man mit ihnen kommunizieren. +Welche Figuren waren dir besonders wichtig? +Definitiv die Frauenfiguren. Die Hebamme von Nilays Mutter Hülya ist zum Beispiel ein Typus, der unfassbar oft in der Türkei vertreten ist: eine Frau, der es gelingt, in einer zutiefst frauenfeindlichen Welt ein erfülltes Leben zu führen, ohne sich selbst zu verraten. So ist es eigentlich mit allen Frauenfiguren in Hülyas Welt. Das zu formen war extrem schön, weil ich das Gefühl hatte, dass ich den Frauen ein Denkmal setze, die eben weder – wie sich der gemeine Europäer das vorstellt – total unterdrückt sind noch verblödet und verblendet. Zu diesen Frauen gehört natürlich auch Hülya selbst, die sich gegen die Migration so sehr wehrt, weil sie weiß, was auf sie zukommt, wenn sie in Deutschland schwanger wird oder mit Kind auf sich gestellt ist. Gerade für eine Frau, die in ihrer Heimat politisch so engagiert und mitten in der Gesellschaft war, ist es eine schlimme Erfahrung, woanders hinzukommen und von heute auf morgen sprachlos zu sein. Meine Mutter hat erzählt, dass sie diesen Begriff "sprachlos" von ihren Freundinnen, die auf diese Art migriert sind, tatsächlich immer wieder gehört hat. + +Özge İnan, Jahrgang 1997, hat Jura studiert, für das ZDF Magazin "Royale" gearbeitet und ist heute Redakteurin bei der Wochenzeitung "Freitag". + + + +Titelbild: Araz Zeyniyev / Getty Images diff --git a/fluter/incels-bewegung-terror-maenner.txt b/fluter/incels-bewegung-terror-maenner.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9f8d035ba9bb903ea33687f5c6981af2d1a8e145 --- /dev/null +++ b/fluter/incels-bewegung-terror-maenner.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Ob bei dem Terroranschlag im Oktober 2019 in Halle, in Hanau im Fe­bruar 2020 oder in Christchurch im März 2019 – eine antifeministische Agenda und Hass gegen Frauen ziehen sich bei diesen rechtsextremen Attentätern wie ein roter Faden durch ihre Bekenntnisse. So klagte etwa derAttentäter von Hanau, dass er sein Leben lang keine Freundin gehabt habe – die Schuld daran gab er Frauen und demFeminismus. Auch der Täter in Halle schimpfte auf den Feminismus, der seiner Meinung nach schuld an den sinkenden Geburtenraten im Westen sei, und der Täter von Christchurch vertrat die Verschwörungstheorie, dass es zu einem "Bevölkerungsaustausch" mit den Muslimen kommen werde. Als "Vorbild" diente ihnen scheinbar Anders Breivik, der 2011 in Norwegen insgesamt 77 Menschen ermordet und nach Augenzeugenberichten vornehmlich auf Frauen gezielt hatte.In seinem Manifest legte Breivik dar, dass es notwendig sei, Frauen zu töten, um die patriarchale Ordnung in der Gesellschaft wiederherzustellen. +Manche Incels tauschten sich vor ihren Anschlägen online über ihren sexuellen Frust aus, in Chatforen wie dem damals noch bestehenden 8chan oder reddit. "Diese Foren dienen als Katalysatoren von rechtsextremem Gedankengut, weil dort ein Gemeinschaftsgefühl geschaffen wird", sagt Eike Sanders, Mitarbeiterin des Antifaschistischen Pressearchivs und Bildungszentrums e. V. (apabiz) und Mitglied im Forschungsnetzwerk Frauen und Rechtsextremismus. Feminismus werde in extrem rechten Verschwörungsideologien als Türöffner für Migration und Multikulturalismus angesehen und Feministinnen als Verräterinnen, die keine Kinder bekämen. Daher drohe der "große Austausch", also dass eine weiße Bevölkerung durch eine nichtweiße ersetzt werde. +Als "Grundübel" gilt in diesem Szenario das Judentum, aber auch die Rolle der emanzipierten Frau ist zentral. "Erst wenn Verschiedenes zusammengreift, macht das für viele Täter eine sinnstiftende Ideologie aus", sagt Sanders. "In der extremen Rechten funktionieren die drei Feindbilder, die durchAntisemitismus, Rassismus und Antifeminismus hervorgebracht werden, zwar unterschiedlich, finden sich aber in derselben Erzählung wieder, bedingen und stärken einander." Daher sei es wichtig, einen Anschlag nicht auf ein Ideologiemerkmal zu reduzieren. +Ob die Männer aufgrund ihres Frauenhasses rechtsextrem werden oder durch ihren Rechtsextremismus Frauenhass entwickeln, lässt sich schwer sagen. An einen direkten Kausalzusammenhang denkt Eike Sanders nicht. "Ich glaube aber, dass es sich gegenseitig verstärken kann." Denn derRechtsextremismusbiete den idealen Nährboden für antifeministische und sexistische Ideologien: Der Mann ist für das Politische und den Krieg zuständig, die Frau für das Heim und die Erhaltung der "weißen Rasse". Frauen haben nur eine dienende Rolle, die der Mann durch (sexuelle) Gewalt einfordert. +Der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit untersuchte dieses Rollenverständnis bereits in den späten 1970er-Jahren im Zuge der Aufarbeitung des Nationalsozialismus. In seinem viel beachteten Buch "Männerphantasien" beschreibt er den "soldatischen" Mann, der sich von der Weiblichkeit bedroht sieht und dessen verdrängte Sexualität schließlich in Gewalt mündet. Gestützt wird dieses Männerbild bis heute von patriarchalen Vorstellungen, die in weiten Teilen der Gesellschaft vorherrschen. Laut einer UN-Studie gab es in Europa 2017 mindestens 3.000Femizide, also Morde an Frauen aufgrund ihres Geschlechts. Auch in Partnerschaften ist tödliche Gewalt an Frauen stark verbreitet. Allein in Deutschland wurde 2018 fast jeden dritten Tag eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner ermordet. +Heike Kleffner vom Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt beobachtet ebenfalls eine steigende Anzahl an Frauen, die sich an Beratungsstellen für Betroffene rechter Gewalt wenden: "Das sind vor allem Frauen, die von Rassismus betroffen sind. Sie werden von den Tätern zum Beispiel als Migrantinnen oder Geflüchtete wahrgenommen und aus rassistischen Motiven angegriffen, beleidigt und bedroht." Aber auch sogenannte politische Gegnerinnen seien von rechter Gewalt betroffen. Die Angriffe ereigneten sich an öffentlichen Orten wie Spielplätzen, Supermärkten oder in Bussen oder Bahnen. Nach rechten, rassistischen oder antisemitisch motivierten Angriffen seien die Betroffenen – abhängig von den Tatumständen und der Unterstützung, die sie im sozialen Nahbereich erfahren – unter Umständen noch Jahre später im Alltag eingeschränkt oder litten unter posttraumatischen Belastungsstörungen, sagt Kleffner. Dies sei vor allem der Fall, wenn die Frauen sich mit ihrer Situation alleingelassen fühlten. +Lange Zeit wurde der Zusammenhang zwischen Rechtsextremismus und Gewalt gegen Frauen nicht näher beachtet. Die Erklärung dafür sieht Eike Sanders darin, dass Gewalt an Frauen als privat und nicht als politisch eingestuft und die Verbindung zum antifeministischen Terrorismus nicht gezogen werde. Durch das Erstarken rechter Parteien hat sich auch die antifeministische Agenda im rechten Spektrum verändert. Nun werde offener über Feminismus als Feindbild gesprochen und damit Politik gemacht, urteilt Sanders. +Gleichzeitig wird inzwischen mehr über Frauenhass als Tatmotiv diskutiert, wenn auch nicht so viel wie über Rassismus und Antisemitismus. "Rechter Frauenhass und die Incel-Bewegung werden leider allzu oft verharmlost und von Gesellschaft und Politik, auch als Einstiegsfaktor bei der Radikalisierung in der extremen Rechten, zu wenig beachtet", bestätigt Heike Kleffner. Dadurch ignoriere man die Gefahr, die von rechten Gewalttaten ausgehe. "Eine Gesellschaft, die rechte Gewalt gegen Frauen nicht als Problem anerkennt, lässt Frauen und Mädchen im Stich." +8chan, das Internetforum, in dem sich sowohl der Täter von Halle als auch der von Christchurch radikalisiert haben soll, ist inzwischen offline. Keine drei Monate nachdem die Seite geschlossen wurde, gab es bereits ein Nachfolge-Imageboard – es heißt nun 8kun. + diff --git a/fluter/indiana-jones-game-kolonialismus.txt b/fluter/indiana-jones-game-kolonialismus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cdfc21b51cd5674aaea19007993de635374d2c42 --- /dev/null +++ b/fluter/indiana-jones-game-kolonialismus.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Oberflächlich ist dem Studio dabei ein famoses Spiel gelungen, das mindestens 15 Stunden mit zahlreichen Quests, Kämpfen und Rätseln an verschiedenen Orten das nostalgische Fan-Herz höherschlagen lässt und die Atmosphäre aus den Filmen gekonnt ins Medium Videospiel überträgt. Auch die Handlung ist dem Umfang des Spiels angemessen breit erzählt. Der Titelheld ist im Jahr 1937, also zwischen den Filmabenteuern "Jäger des verlorenen Schatzes" und "Indiana Jones und der letzte Kreuzzug", auf der Suche nach magischen Steinen, die in Artefakten auf der Welt verteilt sind. Die Stätten dieser Artefakte bilden auf dem Globus einen perfekten Kreis. +Doch ist deren angeblich göttliche Macht auch für dieNationalsozialistenvon großem Interesse: Mit dem Archäologen Emmerich Voss schicken die Entwicklerinnen und Entwickler des Spiels einen machtbesessenen Antagonisten auf Raubzug. Er wird zunächst im Vatikan, dann in Gizeh und Sukhothai von Indiana Jones und der italienischen Journalistin Gina Lombardi bei seinen Ausgrabungen gestört. Voss beutet die Bevölkerung für sich aus, verschiebt Grenzen und geht auch über Leichen, um an die Steine zu kommen. Indiana Jones' Widersacher ist hochintelligent, brutal und skrupellos. +Auffallend ist, wie stark Voss in "Der Große Kreis" als umfassender Gegensatz zu Indiana Jones inszeniert wird. Jones bemüht sich um Gespräche mit den Bewohnerinnen und Bewohnern der Dörfer, geht respektvoll mit Kulturgütern um und nimmt die Herausforderungen seines Weges würdevoll an, statt wie die Nazis mit schwerem Gerät halb Ägypten umzupflügen. +In dem Bethesda-Spiel findet die Abgrenzung von Gut und Böse nicht etwa durch eine kritische Gegenüberstellung von Kolonialismus und Antikolonialismus statt, sondern durch die ideologischen Beweggründe, wegen derer der Raub begangen wird. Dass in beiden Szenarien Kulturgut gestohlen wird, scheint bei dieser moralischen Rechnung keine Rolle zu spielen. Fakt ist aber: Zumindest mit Blick auf seinen verinnerlichten Kolonialismus ist Indiana Jones keinen Deut besser als sein Gegenspieler. Beide agieren nach denselben Kategorien: Ein Land wird "genommen", aufgeteilt und ausgebeutet. So wie auchder europäische Kolonialismusauf dem afrikanischen Kontinent die Landesgrenzen reißbrettartig aufteilte. + +Nun verschiebt Indiana Jones in "Der Große Kreis" zwar keine Landesgrenzen, doch er fliegt in andere Länder – vermeintlich "exotische", die wirtschaftlich und politisch schlechter dastehen als seine Heimat, die USA, und mehrheitlich von nicht weißen Menschen bewohnt werden – und plündert sie aus. Kein Tempel, keine Höhle ist sicher vor dem Archäologen. Er entfernt Kulturgüter, die von großem Wert für die einheimische Bevölkerung sind und heute geschützt wären, aus ihrer sicheren Umgebung, um sie zu erforschen und "zu bewahren". Indiana Jones' berühmter Satz "Es gehört in ein Museum!" scheint auch zum Motto für das Spiel geworden zu sein. Dass die Artefakte womöglich nicht in ein westliches Museum, sondernin die Länder gehören, aus denen sie stammen, kommt hier nicht zur Sprache. +Indiana Jones ist schließlich der Gute. Die Nazis, sei es im Videospiel oder den renommierten Filmen, gehen in ihrem kolonialen Denken noch einen Schritt weiter. Sie wollen die Kulturgüter nicht nur, wie es Jones vorgibt, ehren und beschützen, sondern zum eigenen Profit nutzen – für die Weltherrschaft. +So werden Indiana Jones' Raubzüge im Spiel zur löblichen Tat. Er rettet die Welt! Kolonialismus für den guten Zweck? Eine Sichtweise, die im Zuge heutiger Debatten sehr fragwürdig erscheint, selbst wenn es "nur" um ein Computerspiel geht. Insbesondere weil andereAbenteuer-Videospiele wie "Tomb Raider"in der Vergangenheit gezeigt haben, dass es auch anders geht. Sie adressieren die Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung und lassen ihre Charaktere mit der Schuld leben, eine Sintflut oder einen Erdrutsch ausgelöst zu haben. +Indiana Jones macht sich währenddessen von jeglicher Verantwortung frei – und wird weiterhin als Held stilisiert. Für ein Videospiel aus dem Jahr 2024 klingt das rückschrittlich statt innovativ. Dem Erfolg von "Indiana Jones und der Große Kreis" tut das aber keinen Abbruch: Das Spiel wurde am Erscheinungstag über 12.000-mal auf der Videospiel-Plattform Steam abgerufen. +Was also fasziniert Menschen so an Abenteuerspielen? Vermutlich die Möglichkeit, eine fortlaufende Geschichte in appetitlicher Schnelligkeit zu erleben. Indiana Jones muss jetzt handeln. Er muss im richtigen Moment die Peitsche schwingen, Rätsel lösen und sich einen Wettlauf gegen die Zeit mit seinen Widersachern liefern. Außerdem, ganz klar: Nostalgie; die gute alte Zeit der 80er und 90er, als die Welt noch mehr oder weniger in Ordnung war – zumindest in der Retrospektive. Die schwarz-weiße Heldengeschichte lässt das Leben einfach erscheinen. Lange abwiegen, was nun richtig oder falsch ist, muss man hier nicht. Was zählt, sind Taten. Das Spiel erlaubt nicht nur, sich mächtig, sondern in erster Linie selbstwirksam zu fühlen – ein Empfinden von Kontrolle, nach dem sich viele Menschen in solch komplexen Zeiten sehnen. +Und mal ehrlich, das ist ziemlich verständlich. Als Abenteurerin oder Abenteurer fühlt man sich schließlich verdammt lebendig. Diesen Kitzel bekommt auch Indiana Jones zu spüren, der aus der Rolle des bebrillten Archäologen in die des mutigen Globetrotters schlüpft. Eine Verwandlung, die den Durst nach Wanderlust stillt. Spielende teilen diesen Drang, und die digitale Welt bietet Möglichkeiten, ihm nachzukommen. Mittendrin zu sein, erlaubt den Spaß am Eskapismus. Der sei allen Indy-Fans gegönnt. Doch man darf sich die Frage stellen: Wie cool ist so ein Kulturgut klauender Action-Archäologe wirklich? + +Fotos: Bethesda Softworks diff --git a/fluter/indien-interreligioese-ehen.txt b/fluter/indien-interreligioese-ehen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1101fe0dd7f1fc1dfa67846cf7c6d6c9a0c975d7 --- /dev/null +++ b/fluter/indien-interreligioese-ehen.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +Hinter der Geschichte +Indien ist ein multireligiöses, multiethnisches Land, in dem neben der Mehrheit der Hindus Christen, Sikhs, Buddhisten und Jains leben. Die größte Minderheit: die fast 200 Millionen Muslime. Bei der Gründung der Staaten Indien und Pakistan 1947 mussten Millionen Menschen umsiedeln, Hindus, Muslime und Sikhs gerieten in blutige Auseinandersetzungen. Die Gewalt flammt immer wieder mal auf, aber insgesamt leben die Glaubensgemeinschaften weitgehend friedlich zusammen. +Seit 2014 Narendra Modi Premierminister wurde, verfolgt die Regierung einen Hindu-nationalistischen Kurs: Sie hat Gesetze geschaffen, die besonders Muslime diskriminieren, und ein gesellschaftliches Klima, in dem Übergriffe akzeptiert und Regierungskritiker öffentlich diffamiert werden. +Wochenlang darf er nicht telefonieren oder das Haus verlassen. Sie zwingen ihn, seinen Job zu kündigen, schlagen ihn, drohen mit dem Tod. Er muss Psychopharmaka schlucken und Geisteraustreibungen über sich ergehen lassen. Und das alles wegen Shifa. Sie ist Muslimin, Ankur kommt aus einer hinduistischen Familie. +Die Reaktion ist extrem, aber keine Ausnahme. Ankurs Familie gehört zur aufstrebenden Mittelschicht, das Drama um ihn und Shifa spielt im Herzen der indischen Gesellschaft. +In den vielen Bollywood-Filmen des Landes dominiert das immer gleiche Ringen um romantische Liebe: der erste Blick, das erste Missverständnis, die Versöhnung, die Heirat. Dabei ist die Liebe in Indien eine komplexe Sache: Hier versuchen selten nur zwei Menschen herauszufinden, wie und mit wem sie ihr Leben verbringen wollen, sondern viele: die Familie, die religiöse Community, politische Gruppen, sogar der Staat. +Die große Mehrheit der indischen Ehenarrangieren die Eltern: 93 Prozent der befragten Verheirateten in städtischen Gebieten gaben bei einer großen Studie aus dem Jahr 2018 an, dass ihre Familie ihren Ehepartner ausgesucht hat. Liebesheiraten, bei denen sich die Partner eigenständig kennenlernen, sind die Ausnahme. +Das bedeutet nicht unbedingt, dass die Paare zwangsverheiratet werden. Oft dürfen die "Kinder" bei der Entscheidung mitreden. Aber die Auswahl ist traditionell Aufgabe der Eltern. Neben individuellen Vorlieben schauen sie vor allem, dass die Familien zusammenpassen. Geld und Status spielen eine Rolle, für Hindus die Kastenzugehörigkeit und sehr zentral ist der Glaube. In einer 2020 landesweit durchgeführten Umfrage gaben 99 Prozent der verheirateten Befragten an, einen Ehepartner gleichen Glaubens zu haben. Inderinnen und Inder heiraten bis heute, wie es schon ihre Großeltern getan haben – und sie wollen, dass das so bleibt: Die überwiegende Mehrheit spricht sich gegen interreligiöse Ehen aus, über alle Glaubensgruppen hinweg. +Diese Konvention trifft Paare wie Shifa und Ankur, die für ihre Liebe mittlerweile fern der Heimat unter Polizeischutz leben. Treffen lassen sie sich nur über Videocalls. Die beiden haben Angst. Deshalb sollen ihre Nachnamen und ihr Aufenthaltsort nicht in diesem Text stehen. +"Wir haben uns bei der Arbeit kennengelernt, es hat gleich geklickt", erzählt Shifa, schulterlange Haare, floral besticktes Hemd. Sie lächelt, wenn sie über Ankur spricht. Beide sind damals Anfang 20. Shifa hat gerade ihren Master in Psychologie abgeschlossen, die beiden arbeiten als Lehrer für eine NGO. Sie reden viel, irgendwann lange über die offiziellen Meetings hinaus. +Im Sommer 2022, die beiden kennen sich ein Jahr, weiß Shifa, dass er der Mensch ist, mit dem sie ihr Leben verbringen will. Das will sie ihm sagen. "Obwohl wir nicht zusammen sein konnten." Ankur ist Rationalist, er glaubt an Vernunft, nicht an einen Gott. Auch Shifa ist nicht strenggläubig. Aber dass sie aus unterschiedlichen Communitys kommen, lässt sich schon an ihren Nachnamen ablesen. Und ihre Eltern dulden keine Partner aus einer anderen Glaubensgemeinschaft. +Shifa gesteht ihre Liebe. Ankur sagt: "Lass uns weglaufen." Aber Shifa will ihre Familie nicht verlieren. Ankur sagt: "Dann konvertiere ich zum Islam." Auch das wird in beiden Familien auf Widerstand stoßen. Schließlich überzeugt er sie, es wenigstens zu versuchen: ihren Familien zu erklären, was sie einander bedeuten. Ankur sei bedingungsloser Optimist, sagt Shifa. Noch etwas, das sie an ihm liebe. Bis zu seiner Entführung sind es noch sieben Monate. +Unter Premierminister Narendra Modi ist das gesellschaftliche Klima in Indien rauer geworden, für die Minderheiten und besonders für Menschen wie Ankur und Shifa, die sich nicht den gesellschaftlichen Normen beugen. Seit Jahren kursiert die Verschwörungserzählung, dass muslimische Männer hinduistische Frauen heiraten würden, um sie zum Islam zu bekehren und mit diesem "Liebes-Dschihad" die hinduistische Mehrheitsgesellschaft zu unterwandern. +Es gibt keine Daten, die dieses Narrativ stützen. Die Erzählung aber zieht Jahr für Jahr weitere Kreise: Unter dem Vorwand, den "Liebes-Dschihad" zu bekämpfen, werden Paare in ganz Indien eingeschüchtert und angegriffen. +Das ermöglicht eine Besonderheit des indischen Rechts. In der konservativen indischen Gesellschaft haben unverheiratete Paare einen schweren Stand: Sie können schwerer Wohnungen anmieten und fürchten Nachteile für ihre Kinder. Das soziale Stigma ist groß, gerade für interreligiöse Paare. Wenn sie heiraten, müssen sie das – im Gegensatz zu allen anderen Paaren – standesamtlich tun. Und diese Ehen regelt der "Special Marriage Act". Er schreibt vor, dass sich die Paare 30 Tage vor der Heirat mit Namen und Anschrift anmelden müssen – öffentlich. Fanatiker durchforsten die Daten, um die Paare und deren Familien einzuschüchtern. Zudem haben zahlreiche Bundesstaaten zuletzt Gesetze erlassen, die interreligiöse Ehen erschweren: Wer den Glauben wechselt, muss das vorab ebenfalls anmelden und beweisen, dass er nicht durch "falsche Darstellung", Gewalt, "Verlockung" oder "betrügerische Mittel" vom Partner beeinflusst worden ist. Gelingt das nicht, drohen dem "Verführer" bis zu zehn Jahre Haft. Untersuchungen zeigen, dass bisher fast nur muslimische Männer angezeigt wurden – vor allem von nationalistischen Gruppen. +In dieser Gemengelage ist das Verliebtsein auch ohne Ehe eine Prüfung. Keiner weiß das besser als Asif Iqbal. Sein Büro liegt in einem verwinkelten Viertel im Osten Neu-Delhis. Seit bald 20 Jahren hilft Iqbal Paaren, sich gegen die Liebesverbote zu wehren. "Weil jeder frei wählen sollte, mit wem er das Leben verbringt", sagt Iqbal, "und weil wir damit an einer Säule des Patriarchats sägen." Iqbal lacht. +Dhanak-Gründer Asif Iqbal weiß, dass die Schwierigkeiten nicht mit der Heiratsurkunde enden: Er lebt selbst in einer interreligiösen Ehe +Der ausgebildete Sozialarbeiter strahlt die überlegte Ruhe aus, die es hier braucht. Die Paare, die zu Iqbal kommen, sind im Ausnahmezustand. "Sie haben Angst, gegen ihren Willen verheiratet oder verschleppt zu werden, Angst vor den Menschen, die ihnen am nächsten sind, und auch vor der Polizei." +Iqbal kommt aus einer muslimischen, seine Frau aus einer hinduistischen Familie. 2005 gründeten sie mit anderen Dhanak Of Humanity. Mittlerweile hat er fünf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Fast alle sind "Survivors", wie sie sich nennen: Überlebende einer Gesellschaft, die sie wegen ihrer Liebe verstoßen hat. +Um Paare vor Zwangsehen, Suiziden und Ehrenmorden zu bewahren, arbeitet der Verein auch mit staatlichen Einrichtungen zusammen. Denn theoretisch haben alle Inder das Recht, ihre Partnerinnen und Partner frei zu wählen. Aber praktisch wird das nicht auf jeder Polizeidienststelle anerkannt. Darum helfen Iqbal und sein Team: Sie helfen dabei, die standesamtliche Heirat anzumelden. Beraten zum Umgang mit den Familien. Und bringen Paare bei akuter Bedrohung in einem "Safe House" unter, das von der Polizei geschützt werden muss. +Vor Jahren empfahl Indiens Oberster Gerichtshof, dass es solche Häuser im ganzen Land geben soll, mindestens eines pro Distrikt. Heute gibt es solche Schutzräume nur in drei Staaten. Der in Delhi hat Platz für zehn Paare. Seit September leben Ankur und Shifa hier. +"Plötzlich war Ankur einfach nicht mehr erreichbar", erinnert sich Shifa. Sie wusste, dass er mit seinen Geschwistern weggefahren war. Tagelang bleiben ihre Nachrichten und Anrufe unbeantwortet. Dann schickt Ankur erste Sprachnachrichten. Er habe geweint und verzweifelt gewirkt, erzählt Shifa, und er habe erklärt, sich trennen zu wollen. Zwei Tage später kann Ankur die erste E-Mail an der Überwachung seiner Familie vorbeischmuggeln. "Darin stand, dass er mit mir zusammenbleiben will. Und dass ich dringend Hilfe suchen soll." +Eine Familie sei wie eine Hand, sagen Ankurs Verwandte: Ein einzelner Finger könne nichts, um zuzugreifen, müssen alle Finger kontrolliert handeln. Für Ankur wird seine Familie zur Faust. Eine, die nach ihm und Shifa schlägt. Seine Familie lässt Beziehungen zu radikalen Hindu-Organisationen spielen, droht, Shifa wegen des "Liebes-Dschihads" anzuzeigen, Auftragsschläger zu ihrer Familie zu schicken. Shifa ist in diesen Wochen allein. Ihre Eltern sind auch gegen die Verbindung, Freunde wenden sich aus Angst vor Schikane ab. Im Mai 2023 findet Shifa im Internet Dhanak, sie ruft Asif Iqbal an. +Bis zu 60 Paare melden sich jeden Monat bei Dhanak. Maximal 40 begleiten Iqbal und sein Team jedes Jahr bis zur Heirat. Viele hätten am Ende doch zu viel Angst und knickten ein, erzählt Iqbal. Wie ihre Geschichten enden, erfährt er nie. +Vor Angriffen sichert Iqbal sich und den Verein durch eidesstattliche Erklärungen der Paare ab. In denen unterschreiben sie, dass sie freiwillig und aus Liebe handeln. Nur so könne man sichergehen, dass die Organisation später nicht angeklagt wird, wenn einer einen Rückzieher macht, erzählt Iqbal. Der Druck auf seine Organisation ist groß. An früheren Standorten randalierten schon aufgebrachte Eltern, die Adressen des Büros und des Safe House sind geheim. +Dieser Text istim fluter Nr. 89 "Liebe"erschienen +Für Ankur und Shifa gibt es am Ende nur eine Lösung: Täuschung. Ankur gibt sich zu Hause geläutert. Er betet täglich mit seiner Familie, trennt sich offiziell von Shifa. Nach Wochen des Terrors darf er zurück nach Mumbai. Bald treffen sie sich für wenige Minuten, heimlich, an einer Bahnstation, und planen ihre Flucht nach Delhi. Erst im Flugzeug, es ist Shifas erster Flug, fühlen sie sich wieder sicher. Sie schlafen einen Monat lang im Büro von Dhanak. Tagsüber wird ihr Zimmer als Beratungsraum genutzt. +Am 11. Oktober 2023 kehren Ankur und Shifa für einen Tag zurück nach Mumbai: um zu heiraten. Unter Polizeischutz. Ihre Eltern informieren sie vorab telefonisch. Ankurs Mutter droht mit Selbstmord, Shifas Mutter bricht den Kontakt ab. Aus ihrem Freundeskreis traut sich niemand zur Hochzeit. Trauzeugen sind "Überlebende" aus dem Dhanak-Netzwerk. +Er erlebe oft, erzählt Asif Iqbal, dass die Familien nach einer Zeit doch einlenken und die Ehe hinnehmen. Das sei bei ihm selbst so gewesen: Mit den Jahren verblasse die Erinnerung an die Verletzungen, und übrig bleibe eine Lücke, das gegenseitige Nicht-Verstehen. "Diese Paare", sagt Iqbal, "stellen das System infrage. Darum werden sie so harsch bekämpft. In jeder dieser Lieben liegt Kraft für Veränderung." diff --git a/fluter/indigene-kolumbien-rappen-gegen-gewalt.txt b/fluter/indigene-kolumbien-rappen-gegen-gewalt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/indigene-mapuche-im-widerstand-gegen-chile.txt b/fluter/indigene-mapuche-im-widerstand-gegen-chile.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..168d90933af0c487f4409a0f0f0b13ae888d870e --- /dev/null +++ b/fluter/indigene-mapuche-im-widerstand-gegen-chile.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Die Serie "Wallmapu" von Silke Kirchhoff zeigt den Alltag der Mapuche, die ihre Kultur bis heute pflegen. Dieser Tanz symbolisiert die Bewegungen des Choyke, eines flugunfähigen Vogels + +Bis heute ist das Verhältnis zwischen beiden Volksgruppen gespannt. Wenn es zwischen ihnen zu Zusammenstößen kommt, sprechen viele chilenische Politiker und Medien von "Mapuche-Terrorismus". Bei Festnahmen beruft sich die Justiz meistens auf das Antiterrorgesetz. Es stammtnoch aus der Pinochet-Diktaturund erlaubt, "Terroristen", die sich gegen die Regierung wenden, auch ohne klare Beweislage und Gerichtsprozess im Gefängnis oder in Untersuchungshaft festzuhalten. Auf der Grundlage des Antiterrorgesetzes sind bereits mehrere Mapuche-Aktivisten verhaftet worden. +Häufig wird das Gesetz auch angewendet, um die wirtschaftlichen Interessen der Forstindustrie zu schützen. Jaime Huenchullán aus der Gemeinde Temucuicui war mehrfach im Gefängnis, weil er und seine Familie gemeinsam mit anderen Mapuche in den 1990er-Jahren ein Grundstück besetzten, das dem Forstunternehmen Mininco gehörte. Der Hintergrund: Während der Agrarreform des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende wurden zahlreiche Gebiete an die Mapuche zurückgegeben. Allerdings wurden ihnen diese während der Pinochet-Diktatur wieder weggenommen und an Forst- und Agrarunternehmen verkauft. Im Jahr 2003 gelang es der Gemeinde Temucuicui nach jahrzehntelangem Widerstand gegen das Forstunternehmen Mininco, 1.900 Hektar Land zurückzugewinnen. Aber nicht ohne Folgen. "Die Unterdrückung hat nicht aufgehört. Die Antwort des Staates auf unsere Forderungen ist die Militarisierung der Region. Seit 2012 haben wir einen Militärstützpunkt gleich nebenan", sagt Huenchullán. + +Im ganzen Land gibt es eigene Kultur- und sogar Gesundheitszentren, die Treffpunkte für Mapuche sind +Viele Mapuche leben von der Landwirtschaft, sie bauen vor allem Quinoa, Kartoffeln und Chili an +Erst vor wenigen Monaten wurde ein Spezialkommando der chilenischen Polizei in der Araukanien-Region stationiert, das sogenannte "Dschungelkommando". Schon im November 2018 erschoss ein Polizist des Kommandos den 24-jährigen Mapuche Camilo Catrillanca in der Gemeinde Temucuicui. "Sein Tod hat dazu geführt, dass wir uns als Mapuche stärker vereinen, um uns gegen den Krieg zu verteidigen, den der chilenische Staat gegen uns führt", sagt Huenchullán. +In der chilenischen Verfassung, die noch aus den Zeiten der Militärdiktatur stammt, werden die Mapuche nicht als Volk anerkannt. Auch nach der Rückkehr zur Demokratie 1990 haben die chilenischen Regierungen die Rechte der Mapuche systematisch missachtet. Seit der neoliberalen Öffnung Chiles drängen vermehrt ausländische Investoren ins Land, insbesondere in das von den Mapuche beanspruchte Territorium, das reich an natürlichen Ressourcen ist. +Besonders stark wachsen die Investitionen im Energiesektor. Chile gilt als Paradies für erneuerbare Energienaufgrund der reichen Wasserressourcen, großen Höhenunterschiede und vielen Sonnenstunden– hervorragende Voraussetzungen für Solaranlagen, Wind- und Wasserkraftwerke. Doch häufig sorgen die Energieprojekte für Konflikte mit den Mapuche. Das österreichische Unternehmen RP Global baute ein Wasserkraftwerk in Tranguil in der Gemeinde Panguipulli gegen den Widerstand der Mapuche. Die Aktivistin Macarena Valdés, die sich gegen den Bau des Wasserkraftwerks einsetzte, wurde am 22. August 2016 erhängt in ihrer Küche gefunden. Es sah zunächst nach Selbstmord aus, aber eine zweite Autopsie ergab, dass die junge Frau bereits tot war, als sie aufgehängt wurde. Ihr Ehemann Rubén Collío sucht bis heute nach Gerechtigkeit: "Macarena wurde ermordet, weil sie unser Territorium und unser Wasser verteidigt hat. Wir werden nicht aufgeben, bis wir die Verantwortlichen gefunden haben." Das Wasserkraftwerk wurde trotzdem gebaut, die chilenische Justiz legte den Fall zu den Akten. + + +In der Mapuche-Gemeinde Collipulli entsteht gerade Chiles größter Windpark – ein Projekt des deutschen Unternehmens wpd. Ein Mapuche, der wenige Kilometer von dem Windpark entfernt lebt und anonym bleiben will, meint: "Hier werden Abkommen geschlossen, ohne die Meinung der Bevölkerung zu berücksichtigen. Mit diesem Projekt wird das Unternehmen Millionen verdienen.Wir wollen nicht weiter in Armut leben. Wir wollen am Gewinn beteiligt werden." 400 Millionen US-Dollar investiert wpd in den Bau. Dem Unternehmen zufolge wird der Windpark der Gemeinde Wohlstand und Fortschritt bringen. Aber garantiert werden lediglich 65 feste Arbeitsplätze während der Bauzeit von etwa 98 Tagen. Die Pachtverträge wurden mit wohlhabenden Agrarunternehmern geschlossen. Die lokale Bevölkerung wird dagegen keine Vorteile haben – und auch die erzeugte Energie ist nicht für sie. Denn die meiste Energie wird in Chile durch den Bergbau, die Forstindustrie unddie industrielle Landwirtschaftverbraucht – Wirtschaftssektoren, die auf den Export ausgerichtet sind, vor allem in die USA, nach China und nach Europa. +Der Historiker Martín Correa glaubt, dass der chilenische Staat mit seiner neoliberalen Wirtschaftspolitik dafür gesorgt hat, dass sich der Konflikt zunehmend radikalisiert. "Erst wurden die Mapuche durch die Siedler verdrängt, dann durch die Forstwirtschaft und heute durch Energieprojekte wie Wasserkraftwerke und Windparks", sagt Correa. Und all das geschehe unter dem Deckmantel von Chiles wirtschaftlicher Entwicklung, die den Mapuche nie Vorteile gebracht habe, deren Kosten sie aber tragen müssten. "Aber der Kampf der Mapuche", so Correa, "ist noch lange nicht beendet." diff --git a/fluter/industrielle-revolution-teil-ii.txt b/fluter/industrielle-revolution-teil-ii.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2afa87d35bdcff58a241b6ffcf5c8584a52b9d9a --- /dev/null +++ b/fluter/industrielle-revolution-teil-ii.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Der Stuhl "Mirra" ist eines von bisher wenigen Produkten auf der Welt, welche das Siegel "Cradle to Cradle" tragen, das der deutsche Chemiker und Umweltaktivist Michael Braungart zusammen mit dem US-Architekten William McDonough entwickelt hat. "Cradle to Cradle" (dt. "Von der Wiege zur Wiege") ist nichts weniger als der Versuch einer "zweiten industriellen Revolution", ein System zu entwickeln, in dem die verwerteten Stoffe am Ende des Produktlebenslaufs nicht auf der Deponie (oder im Straßengraben) landen, sondern wieder in den Kreis- lauf eingespeist werden. + +"Cradle to Cradle"-Prozesse werden mittlerweile unter anderem bei Teppichkonzernen, dem Autokonzern Ford und eben dem Möbelgiganten "Herman Miller" eingesetzt. Das Modell für Braungart sind die Kreisläufe der Natur, "in der es keinen Abfall gibt, sondern nur Nahrung". Die Produkte sollen frei seinvon Restmüll und Rückständen, und aus Teilen bestehen, die biologisch abbaubar sind oderkomplett wiederverwertet wer- den können. Kunststoff ist kein Wegwerfprodukt, sondern ein Nährstoff für den industriellen Metabolismus. +Wer nicht verantwortungsvoll gestaltet, sieht alt aus – und die Produkte auchDas Mantra des Produktdesigns lautet seit einem knappen Jahrhundert "Form Follows Function". Gut möglich, dass man diese Formel offiziell umschreiben und um einen dritten Faktor ergänzen muss: Nachhaltigkeit, Verträglichkeit, Bescheidenheit, wie immer man es nennen möchte. Gelungenes Design, schreibt Alice Rawsthorn, die Designkritikerin der "International Herald Tribune", wird zu einer unglaublich komplexen Aufgabe: "Ob ein Produkt verantwortungsvoll gestaltet, entwickelt, hergestellt, vertrieben und verkauft wird, ist mittlerweile genauso wichtig, wie die Frage, ob es gut funktioniert." +Die Arbeit von Burkhard Schmitz besteht also nicht mehr nur darin, einem Stuhl eine Form zu geben, die dem Auge und dem Körper gefällt, sondern "man muss auch alle anderen Phasen des Produktlebenslaufs berücksichtigen": die Produktion, die Auslieferung, die Entsorgung. Schmitz blickt nicht nur auf Baupläne und Computerbildschirme, sondern hat immer auch das Bild des Erdballs im Hinterkopf, um den sich Geschäftsbziehungen und Transportwege ziehen wie rot glühende Linien. Bei der Komplexität und Größe des Weltmarkts kann es auch einem erfahrenen Designer manchmal schwindlig werden: "Der Mirra wird in einer Millionenauflage verkauft. Wenn ich den Stuhl nur zehn Gramm schwerer oder leichter mache, dann hat das einen enormen Einfluss auf die CO2-Emissionen, die beim Transport entstehen. Jede Entscheidung hat Folgen. Das ist eine große Verantwortung." +Wir haben versucht, erzählt Schmitz, "den Stuhl so leicht wie möglich zu machen und so wenige Moleküle wie möglich zu verwenden". Design auf der Molekularebene. Eine Folge des Minimalismus ist, dass der Stuhl sehr elegant und leicht aussieht. Auch das ist eine Lektion der Arbeit: Sparsamkeit und Selbstbeschränkung bringen eine interessante Form hervor. Verzicht ist schön. +Die Menschen haben über Jahrtausende die Ressourcen ihrer direkten Umgebung aufgebraucht, den Müll in der Natur entsorgt und sind, wenn die Rohstoffe aufgebraucht waren und der Lebensraum zur Müllhalde mutiert war, einfach weitergezogen – dieses Verhaltensmuster zieht sich von der Ära der Jäger und Sammler hinein bis ins Industriezeitalter. In den vergangenen 50 Jahren hat sich der globale Verbrauch von Nahrungsmitteln und Frischwasser verdreifacht, der Verbrauch von fossilen Energiequellen hat sich gar vervierfacht. "Wir leben in einer vollen Welt", schrieb kürzlich das populärwissenschaftliche Magazin "Scientific American", "die Rohstoffe sind ebenso limitiert wie die Fähigkeit des Planeten, Abfallprodukte zu absorbieren". Der doppelte Druck von Klimakrise und "Peak Oil", dem Zuviel von Abgasen und dem Zuwenig von Rohstoffen, wird das Leben und unseren Umgang mit Produkten fundamental verändern. "Das bloße Weitermachen ist kriminell, die bloße Verzichtsethik ist naiv. Dazwischen liegen die intelligenten Wege", sagte der Philosoph Peter Sloterdijk nach dem gescheiterten Klimagipfel von Kopenhagen, der bei der Lösung des Problems nicht auf Politiker, Wähler oder gar Manager setzt, sondern auf die Designer. Für den deutschen Großdenker Sloterdijk sind "Designer und Architekten mit multipolarer Ingenieursintelligenz die Helden des 21. Jahrhunderts". Er setzt auf Konzepte wie "Cradle to Cradle", "ein verfahrensorientiertes Design, das Gesamtrechnungen aufstellt und sich nicht mehr mit Endproduktästhetik begnügt". Es klingt, als hätten Burkhard Schmitz, der an der Universität der Künste in Berlin auch junge Designer ausbildet, und seine Kollegen eine ziemlich interessante Karrierephase vor sichEiner entwirft sogar ein Luftschiff +In diesem Sommer findet in Berlin das Designforum BerliNordik statt, in dem Designer aus Berlin und fünf nordischen Ländern eine Antwort finden sollen auf die Frage "Wie kann Produktdesign mehr Verantwortung für ein anderes Leben übernehmen?" Da gibt es eine Berliner Designerin, die Möbel aus alten Schubladen macht. Oder das Büro Ett La Benn, das die Lampe "Malva" vorstellt, deren Schirm aus gehärteter Viskose und Cellulose besteht, und die man, wenn man von dem eleganten schwarzen Leuchtkörper genug hat, zusammen mit Eierschalen und alten Äpfeln auf dem Komposthaufen entsorgen kann. Oder den Norweger Adrian Paulsen, der eine mit Nanotechnologie ausgestattete Boje entworfen hat, die den Schadstoffgehalt im Hafenwasser misst, und, sobald eine gewisse Grenze überschritten, die Farbe wechselt und gleichzeitig lange Arme ausfährt wie eine Qualle, die die Schadstoffe aus dem Wasser filtert. Die Boje ist Warnsignal und Wischmopp zugleich. +"Ökobilanz", "Nachhaltigkeit", "Green Design" sind im 21. Jahrhundert ein Verkaufsargument, das Hersteller auf das Produkt kleben wie ein Preisschild oder den orangen Klebepunkt mit der Aufschrift: "Um 40 Prozent reduziert." Es gibt kleine Spielereien, kluge Ansätze und große Lügen – immer wieder geht die Verbraucherzentrale per Abmahnung gegen Werbean- zeigen und Behauptungen von Firmen vor; zum Beispiel sollen Autohersteller den Slogan unterlassen, ein Elektroauto fahre "ohne Abgase", denn der Großteil des Stroms kommt schließlich immer noch aus nicht regenerativen Energiequellen. Und wenn Nike nun mitteilt, dass die Trikots, in denen acht Nationalmannschaften, darunter die der Niederlande und Brasilien, bei der Fußball-WM in Südafrika auflaufen werden, aus geschredderten PET-Flaschen bestehen, dann nicht unbedingt, weil es billiger ist, sondern wegen des globalen Werbeeffekts. Der Konzern hat aber auch den Trash Talk Basketball-Schuh vorgestellt, der aus Fabrik- und Lederabfällen hergestellt wird. Nike lässt sich bei der Produktion eines schadstofffreien und komplett recyclebaren Turnschuhs auch vom Cradle-to-Cradle-Propheten Michael Braungart beraten. Bereits 2011 sollen alle neu entwickelten Schuhe des US-Mutterhauses dem "Considered Design"-Standard entsprechen – und Nike verkauft immerhin 250 Millionen Paare pro Jahr, davon sechs Millionen in Deutschland. Der erste Ökoschuh aus dem Jahr 2005 sah noch aus, als hätte man ihn aus Leder, Jute und grobem Garn zusammengenäht. +Der Designer und Ökovordenker Victor Papanek meinte mal, dass sein Job vor allem darin bestehe, dass man Menschen dazu überrede, mit Geld, das sie nicht haben, Dinge zu kaufen, die sie nicht brauchen, um Nachbarn zu beeindrucken, denen das aber egal ist. Das klingt nicht nach einer sinnvollen Aufgabe. Vielleicht ist es nun an den Designern und Architekten, ihre Verführungskraft auf eine andere Art und Weise einzusetzen. "Nicht nur bessere Produkte entwerfen", meint Friedrich von Borries, Professor an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg, sondern auch "Bilder, die zeigen, wie ein anderes Leben und Wirtschaften aussehen könnte". Der Architekt Buckminster Fuller zum Beispiel hat schon vor 50 Jahren futuristische Kuppeln entworfen, und davon geträumt, jeden Sonnenstrahl einzufangen, der die Erde erreicht. Und der junge belgische Architekt Vincent Callebaut baut in seinem Computer immer wieder Objekte und Strukturen, die direkt vom Set eines Science-Fiction- Films von Steven Spielberg stammen könnten – zum Beispiel ein urbanes Luftschiff, das mehrere Tausend Menschen beherbergt und von Biomassereaktoren betrieben wird, die mit Algen arbeiten. "Technisch ist das noch nicht umzusetzen", sagt Friedrich von Borries, "aber wir brauchen erst neue Ideen, bevor wir uns ans Zeichnen der Baupläne machen können." + diff --git a/fluter/influencer-buch-nymoen-schmitt-kritik.txt b/fluter/influencer-buch-nymoen-schmitt-kritik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4910080719fbbc80f345507f231e3427fc6a1049 --- /dev/null +++ b/fluter/influencer-buch-nymoen-schmitt-kritik.txt @@ -0,0 +1,27 @@ + +fluter.de: Influencer/-innen posten Inhalte, die ihnen wichtig sind, und finanzieren das mit Werbung. Was ist so schlimm daran? +Ole Nymoen: Wenn eine Nischen-Influencerin, die gerne kocht, kurz eine Pfanne in die Kamera hält nach dem Motto "Danke dafür, jetzt geht's weiter", ist das überhaupt kein Problem. +Wolfgang M. Schmitt: Im Prinzip ist das nichts anderes als der klassische Anzeigenmarkt. Bei vielen Influencern ist es aber genau andersherum: Da wird das eigene Ich als vermeintlich authentische Figur inszeniert und jeder Schritt im Tag des Influencers mit einem Preisschild versehen: Seht her, das ist, was ich gerne koche, diesen Sport mache ich, für dieses Thema mache ich mich stark –jeweils verbunden mit einer Werbekooperation. +Ole: Häufig werben Influencer selbst dann, wenn sie nicht dafür bezahlt werden. Videos darüber, wie Sachen bei Amazon bestellt werden, Challenges wie "5 Minuten bei DM": Die Leute sehen sich in ihrem Feed Dauerwerbesendungen an. +Warum klicken denn solche Morgenroutinen und andere Banalitäten besser als politische Themen?Sind wieder mal die Algorithmen schuld? +Wolfgang: Die greifen auch nur auf, was kommerziell erfolgreich ist, das heißt was möglichst banal und harmlos erscheint und gut mit Werbebotschaften kombinierbar ist. Früher hat schließlich auch Thomas Gottschalk für Goldbären geworben – und nicht jemand, der stark polarisiert. Es gibt mittlerweile zwar einige Influencer, die erkannt haben, dass sie mit politischem Anstrich neue Nischen erobern können; wenn sie beispielsweise über ihren Onlineshop blaue EU-Pullis verkaufen. Das kann man natürlich besser und sinnvoller finden als Schminktutorials und Fitnessvideos. Andererseits werden auch wichtige Themen dadurch immer nur oberflächlich behandelt im Sinne eines "Minimalkonsens", damit die Inhalte nicht von den Algorithmen oder Werbekunden abgestraft werden. +Ist es nicht trotzdem erst mal begrüßenswert, dass Einzelpersonen mit wenig Aufwand Hunderttausende Menschen politisieren können? Influencer/-innen treten heute regelmäßig große Debatten los. Ich denke da zum Beispiel an Rezo und sein Video über die CDU. +Ole: Mit Rezo sprichst du tatsächlich eine große Ausnahme an. Über seine methodischen Ansätze lässt sich streiten, viele Fakten waren einseitig, aber: Er hat sich eine Stunde Zeit genommen, um komplexe Themen anzugehen. Was wir kritisieren, ist, wie Wolfgang eben sagte: Wenn Influencer politisch werden, dann in der Regel mit Inhalten, denen jeder zustimmen würde, der nicht völlig antifeministisch oder rassistisch ist. Dass beispielsweise auf einen rassistischen Artikel in einer Zeitung hingewiesen wird, ist gut und richtig. Aber ich glaube, dass das bei vielen Leuten die Ursachenforschung ersetzt. Dass man meint, mit ein bisschen Awareness ein reales Problem gelöst zu haben, ist eine große Bequemlichkeit. Und stimmt einfach nicht. +War das früher so anders? +Ole: Der Unterschied zu früher ist: Wer sich damals eine Sendung wie "Wetten dass?" angesehen hat, hatte nicht das Gefühl, dass er sich mit Politik beschäftigt oder sich gar engagiert hätte. Auf sozialen Netzwerken dagegen beobachten wir eine gefährliche Pseudopartizipation: Hier ein Like, dort ein Retweet, schon denkt man, man hätte sich politisch engagiert. +Meint ihr nicht, dass die Follower/-innen unterscheiden können, um welche Art von Inhalt es sich handelt, und die Posts vielmehr als Anlass nehmen, sich zu informieren? +Ole: Nein, ich fürchte, die bleiben da stehen. +Wolfgang: Was du beschreibst – dass man seinen Feed erst mal nur als Informationspool wahrnimmt –, funktioniert, wenn man Inhalte einordnen kann. Also weiß: Das ist die Meinung eines Influencers, da steckt vielleicht eine Kampagne dahinter. Ich denke aber auch, dass Social Media häufig eher ein Ersatz ist. Rezos "Zerstörung der CDU" hat politisiert und angeregt, Dinge zu hinterfragen. Aber – und das finde ich höchst interessant – der Fall Rezo hat sich nicht wiederholt. Die Medien haben das Thema aufgegriffen, alle Parteien haben in irgendeiner Form reagiert, aber kein einziger Influencer hat es gewagt, etwas Ähnliches zu machen. Rezos harsch formulierte Angriffspunkte – etwa der Drohnenkrieg oder die wachsende soziale Ungleichheit in Deutschland – hat kein bekannter Influencer aufgegriffen. Stattdessen ist man zur üblichen Konsensproduktion zurückgekehrt. +Das Topmodel Paloma Elsesser, die häufig als "Plus-Size-Model" bezeichnet wird,sagteneulich im "ZEIT-Magazin": "Dank der sozialen Medien haben wir heute das Glück, Menschen, die unterschiedlich aussehen und die uns auch im normalen Alltag begegnen, viel stärker in der Öffentlichkeit wahrzunehmen." Ist es nicht ein befreiendes Moment, wenn Influencer/-innen bestimmte Normen aufbrechen? +Wolfgang: Klar, das ist absolut begrüßenswert. Alte Gatekeeper verlieren ihre Bedeutung, und plötzlich zeigt sich: Die Leute wollen gar nicht immer die gleichen Körpertypen sehen. +Aber? +Wolfgang: Selbst wenn solche progressiven Influencer teils hohe Followerzahlen haben, bleiben sie allein von ihrer Zahl her extreme Randphänomene. Die allermeisten erfolgreichen Influencer haben immer nochSixpacks, Bikinifiguren und sehr weiße, sehr große Zähne. +Ole: Für viele junge Menschen ist es eine große Entlastung, dass es in den sozialen Medien verschiedene Körperbilder gibt. Auch wenn es mitunter eine etwas zynische Spielart der Bodypositivity gibt. Wenn eine an sich "perfekte" Influencerin ein Bild hochlädt, auf dem man sie mit Doppelkinn sieht, und dieses Bild mit dem Hashtag #nobodyisperfect versieht, impliziert das: An jedem anderen Tag bin ich verdammt noch mal perfekt. Das ist schon etwas boshaft. +Auf Körpernormen geht ihr in eurem Buch ausführlich ein. Warum ist der Druck durch soziale Medien eurer Meinung nach heute größer, wo doch überall Bodypositivity gepriesen wird? +Wolfgang: Das Körperideal ist immer noch das gleiche. Aber durch die vermeintliche Nähe der sozialen Netzwerke wähne ich die Person in meinem unmittelbaren Umfeld. Das war mal anders: Die Influencer von früher suggerierten keine Nähe, sondern Ferne. Marlene Dietrich hat in den ersten Jahren ihrer Karriere keine Autogramme gegeben, Greta Garbo kaum Interviews – um mal den ganz großen Bogen zu spannen. Damals konnte man sagen: "Ich bin kein Hollywoodstar oderTopmodel." Die Frage "Warum sehe ich nicht so aus?" ist durch die gefühlte Nähe zu den eigenen Idolen heute viel naheliegender. +Ihr schreibt, dass Influencer/-innen neben diesen Körpernormen auch traditionelle Geschlechterrollen verstärken. Das finde ich interessant, da vor allem Frauen erfolgreich influencen … +Ole: Man könnte sagen, diese Influencerinnen sind als erfolgreiche Unternehmerinnen sehr emanzipiert. Es gibt oft sogar eine umgekehrte finanzielle Abhängigkeit, wenn beispielsweise Influencerinnen ihre Partner als Kameramänner engagieren. Gleichzeitig reproduzieren sie aber oft Normen … +Wolfgang: … und nähren die Illusion, dass man alles verbinden kann: Karriere, Familie, Sexyness, einen tollen Lifestyle. Das entspricht natürlich absolut nicht der Realität. +Ole: Für die Influencerinnen selbst mag ihr Erfolg also durchaus ein befreiendes Moment sein. Aber der Großteil macht anderen Frauen vor, wie sie sich zu stylen haben, um zu gefallen. Sie leben also davon, dass ihre Followerinnen diesen emanzipativen Schritt nicht schaffen. + +Titelbild: Adam Amengual/NYT/Redux/laif diff --git a/fluter/infografik-reichtum.txt b/fluter/infografik-reichtum.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/infografiken-zum-thema-meer.txt b/fluter/infografiken-zum-thema-meer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c0cb3f227f94be8b0fda9b8d64b0dcf53f5b0736 --- /dev/null +++ b/fluter/infografiken-zum-thema-meer.txt @@ -0,0 +1,4 @@ + + +Hier kannst du die Infografiken als PDF herunterladen: + diff --git a/fluter/innovationen-mit-hand-und-fuss.txt b/fluter/innovationen-mit-hand-und-fuss.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..edec387305ade9ebdc36813434d0e92989d8543e --- /dev/null +++ b/fluter/innovationen-mit-hand-und-fuss.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Noch bis vor wenigen Jahrzehnten bedeutete es eine dramatische Veränderung im Leben, wenn Menschen einen Körperteil verloren. Sie bekamen dann zwar Prothesen, aber sie mussten mit Schmerzen, Stützen und einem stark eingeschränkten Alltag zurechtkommen. Eine Treppe einigermaßen flott hinunterlaufen? Rückwärtsgehen? Beim Laufen nicht ständig auf dem Boden nach Hindernissen Ausschau halten? Das war für viele mit einer Beinprothese undenkbar. +Ende der 80er-Jahre hat dann eine Technikrevolution eingesetzt, die es Menschen wie Kerstin Loeh ermöglicht, mit ihren künstlichen Beinen und Füßen nicht nur zu gehen und zu laufen. Wer vor der Amputation normal laufen und gehen konnte, bekommt die neuen Prothesen von der Krankenkasse in der Regel bezahlt. So können sie auch tanzen, wandern, Rad fahren und nach der Reha wieder arbeiten. Holzbeine oder Plastikstelzen gehören der Vergangenheit an. Auch Prothesen sind längst Hightechprodukte. Wie Smartphones sind sie heutzutage voll mit Prozessoren, Sensoren und Rechenpower. Auf diese Weise versuchen Prothesenhersteller die Bewegungsabläufe echter Gliedmaßen immer besser zu simulieren. +Uli Maier, Orthopädietechniker-Meister beim niedersächsischen Prothesenhersteller Ottobock: "Früher mussten die Patienten mit ihren Prothesen immer ‚aktiv mitarbeiten': sich abstützen, das Prothesenkniegelenk durch Muskelkraft sichern, permanent aufpassen, nicht zu stolpern oder hinzufallen. Sie mussten damit leben, langsamer und eingeschränkt zu sein. Und man hat sehr schnell gemerkt, dass sie eine Prothese tragen." +Die Technik in modernen Beinprothesen hingegen misst permanent, wie stark und wie schnell das künstliche Kniegelenk gerade gebeugt wird, welche Kräfte am Prothesenfuß wirken, und steuert entsprechend das künstliche Bein. Ohne dass der Träger dies aktiv beeinflussen müsste. "Dadurch kann man viel intuitiver und natürlicher gehen. Die Patienten, die ich betreue, sagen mir immer, wie angenehm es ist, sich nicht mehr aufs Gehen konzentrieren zu müssen", sagt Maier. +Jetzt zugreifen: Das neueste Ding sind Hände, die mit einem Tastsinn ausgestattet sind +Auch für Menschen, denen Arme und Hände fehlen, ist vieles besser geworden. Mit sogenannten "myoelektrischen" Prothesen können sie über die verbliebenen Muskeln in ihrem Arm eine künstliche Hand steuern. Wenn wir unsere Muskeln benutzen, entstehen auf der Haut elektrische Spannungen. Elektroden messen diese Spannungen und steuern damit die Prothesenhand. So kann man sich ohne Probleme die Schuhe zubinden oder sichein Glas Wasser eingießen. Dinge, die für Gesunde selbstverständlich sind, für Menschen mit Amputationen aber erst dank der neuen Prothesentechnik möglich werden. +Doch die fortschrittliche Technologie hat ihren Preis. Sie kostet mitunter so viel wie ein Auto der gehobenen Mittelklasse. Uli Maier hört häufiger, dass solche Prothesen doch ein ziemlicher Luxus seien – und hat dafür kein Verständnis: "Für mich hat die Mobilität von Amputierten nichts mit Luxus zu tun, es geht um Lebensqualität", sagt er. Für Kerstin Loeh ist entscheidend, was sie von der neuen Technik im Alltag hat. "Ich muss mich zwar immer noch mehr konzentrieren, als wenn ich mit meinem eigenen Bein gehen würde. Aber die neuen Prothesen kompensieren so viel, dass das Sturzrisiko sehr klein ist", sagt Loeh. +Forscher auf der ganzen Welt arbeiten daran, die Prothesen für Beine und Arme künftig noch besser zu machen. Handprothesen zum Beispiel könnten dem Träger über eine direkte Nervenverbindung zumindest einen Teil der Sinneseindrücke zurückgeben. Wie groß ist das, was ich gerade anfasse? Ist es weich, ist es hart? Am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) in Stuttgart forschen Experten auch daran, wie man Teile für künstliche Extremitäten mit 3-D-Druckern herstellen könnte. "Damit würde die Herstellung günstiger werden. Und wir könnten die Teile viel leichter individuell anpassen", sagt Urban Daub, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut. +Könnten die künstlichen Körperteile irgendwann sogar besser sein als unsere biologischen Exemplare? Werden wir in der Zukunft unsere Körper mit den neuesten Errungenschaften der Technik upgraden, weil wir mit künstlichen Beinen weiter springen und mit künstlichen Händen fester greifen können? Auch wenn die Technik in der jüngsten Vergangenheit einen riesigen Sprung nach vorne gemacht hat, hält Orthopädietechniker Maier solche Spekulationen für unsinnig. +Auch weil sie zum Teil falsche Erwartungen schaffen. Manche Patienten seien schon zu ihm gekommen und hätten erwartet, innerhalb weniger Stunden wieder normal laufen zu können. Dabei geht ohne Physiotherapie, Training und Gewöhnung auch heute nichts, wie Maier betont: "Die Natur bleibt der Marktführer, wenn es um die Funktionalität von Armen und Beinen geht." +Stefan Kesselhut arbeitet als freier Autor und lebt in Berlin. Die Fortschritte der Prothesentechnik verfolgt er mit Begeisterung. Er würde trotzdem nicht freiwillig auf seine biologischen Gliedmaßen verzichten. diff --git a/fluter/ins-deutsche-reich-der-fantasie.txt b/fluter/ins-deutsche-reich-der-fantasie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8493dc847aba445248959817674a0caa660b4705 --- /dev/null +++ b/fluter/ins-deutsche-reich-der-fantasie.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Die Agenda der "Reichsbürger" ist schnell erklärt: Sie wollen eben jenes "Reich", das nach ihrer Auffassung formell immer noch existiert, wiederaufleben lassen. Und im Kleinen tun sie das  schon: Sie stellen selbst gestaltete Pässe, Baugenehmigungen und Führerscheine aus, organisieren Tauschringe und gründen Fantasieprovinzen wie das Fürstentum Germania im Norden Brandenburgs oder Germanitien in Württemberg. Vorstufen, bis das "Reich" wieder eine handlungsfähige Regierung hat. +Weil das Realitätsverweigerung  ist, tauchte die Bewegung vor Xavier Naidoos Auftritt am Tag der Deutschen Einheit in den Medien eher im Vermischten auf – als kleine Randnotiz.  Dabei ist das Thema ernster, als es klingt. Der Verfassungsschutz hat die "Reichsbürger"-Bewegung schon länger auf dem Radar. Sie ist ein Sammelbecken für Neonazis und Antisemiten. Immerhin fordern die "Reichsbürger" ein Deutschland in den Grenzen von 1937. Bei so viel Geschichtsrevisionismus ist es kein Wunder, dass auch die NPD kräftig mitmischt. Bei Naidoos Auftritt war etwa der Berliner NPD-Vorsitzende Sebastian Schmidtke vor Ort. Der bekannteste "Reichsbürger" ist Horst Mahler, früher gründete er die RAF mit, dann richtete er sich nach rechts und wurde NPD-Anwalt (heute wegen Volksverhetzung inhaftiert und ohne Zulassung), Antisemit und Holocaust-Leugner. Nicht weniger beunruhigend: Es werden mehr. Das konnte man zuletzt auf Mahnwachen, Friedensmärschen und den sogenannten Montagsdemonstrationen beobachten, die von rechts unterwandert wurden und viele Menschen anziehen, die grundsätzlich etwas gegen Deutschland und seine Verfassung haben. +Die "Reichsbürger" sind ein bundesweites Phänomen, aber keine einheitliche Bewegung. Sie sind in kleinen Gruppen organisiert, oft KRRs genannt – nach der ersten "Kommissarischen Regierung des Deutschen Reichs", die 1985 in Westberlin gegründet wurde. Zu den umtriebigsten zählt heute die "Exil Regierung Deutsches Reich". Nach deren Gedankengut muss man auf der Internetseite nicht lange suchen. Gleich auf der Startseite wird mit der "Boot-ist-voll-Rhetorik" gegen Asylbewerber gewettert, die Medienberichterstattung in der Ukraine-Krise als einseitig und Russland-feindlich bezeichnet und zum Mitmachen aufgerufen. Bewerben kann man sich etwa für eine Stelle im "Reichsministerium für die besetzten Gebiete". Noch weiter geht eine Gruppierung namens "Die Reichsbewegung –  Neue Gemeinschaft von Philosophen". Die mischt braune Esoterik mit rechten und antisemitischen Verschwörungstheorien und rassistischer Hetze. Und sie verschickt Morddrohungen. Die tauchten in Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg und Schleswig Holstein auf – nicht nur in Briefkästen jüdischer und muslimischer Einrichtungen, sondern auch bei Einzelpersonen. +Xavier Naidoo ist keiner von diesen Briefeverschickern. Aber er hat deren rechtspopulistischen "Das wird man doch mal sagen dürfen"-Jive gut drauf. In Mannheim registriert man mit Beunruhigung, dass sich der wichtigste Imageträger der Stadt in die Nähe von Demokratieskeptikern, Amerikahassern, Israelfeinden und anderen politischen Irrläufern begibt. Das von Naidoo und seinem Produzenten in Mannheim initiierte Projekt, eine ehemalige US-Kaserne in einen Medienpark für Musik- und Showproduktionen umzuwandeln, ist auf Eis gelegt worden. Auch die Popakademie setzte die Zusammenarbeit mit ihrem prominenten Gastdozenten aus. Großen Respekt dagegen zollt ihm die NPD auf ihrer Homepage. Der Sohn Mannheims sei einer, der "unangenehme Wahrheiten" ausspreche. diff --git a/fluter/insekten-nahrungsmittel-nachhaltigkeit-tierschutz-video.txt b/fluter/insekten-nahrungsmittel-nachhaltigkeit-tierschutz-video.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/insektensterben.txt b/fluter/insektensterben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2a185aad3e5ac237544ba8460f122eb139774f7c --- /dev/null +++ b/fluter/insektensterben.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Zuletzt sorgte eine Studie von Insektenforschern aus Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden für Auf- sehen. Die Entomologen hatten über 27 Jahre an 63 verschiedenen geschützten Standorten und in mehr als 1.500 einzelnen Messungen ermittelt, dass die Biomasse der eingefangenen Insekten dramatisch zurückgegangen ist. Es gibt kaum Zweifel daran, dass mit dem Schwinden der Masse auch das Aussterben im Kleinen und Allerkleinsten voranschreitet. Stark rückläufig sind beispielsweise die Bestände von Wiesenschmetterlingen in Europa, Schätzungen zufolge um bis zu 50 Prozent zwischen 1990 und 2011. Es geht offenbar gerade in aller Stille eine ganze Welt verloren. Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie reichen von monokultureller und intensivierter Landwirtschaft für die Fleisch- und Energieproduktion über die Zuführung von Pestiziden und Überdüngung mit Gülle bis zur Versiegelung von Flächen und der Überbauung von Brachen. Der Marienkäfer überwintert in den Spalten von altem Holz, im Frühjahr macht er sich auf die Suche nach Blattläusen. Auf einem versiegelten Acker findet er keins von beidem. Hoch spezialisierten Sechsbeinern, deren Lebensraum oft nur wenige Quadratmeter umfasst, ist systematisch die Lebensgrundlage entzogen worden. Und damit auch Fröschen, Fischen, Echsen oder Vögeln, die wiederum von diesen Insekten leben. +Ein Problem ist das nicht etwa aus romantischen, sondern aus ganz praktischen Gründen. In gesunden Ökosystemen hängt alles mit allem zusammen. Der Mensch ist Teil eines Ganzen, dessen Fundament die Insekten sind. Bricht die kleine Welt weg, geraten auch die Grundlagen der großen Welt ins Rutschen. Denn nicht nur Bienen, auch Käfer, Motten, Wespen und andere Vertreter des wirbellosen Flugpersonals bestäuben weltweit Pflanzen jeder Art – etwa Apfelbäume. Damit fallen eben auch Obst und Gemüse weg, auf die wir Menschen angewiesen sind. Wenn die Insekten nicht mehr bestäuben, müssen die Menschen ran und, wie heute schon in der chinesischen Provinz Sichuan, Obstbäume per Hand bestäuben. +Gemessen an der Größe der Katastrophe erscheinen die Möglichkeiten zum Gegensteuern überraschend simpel. Intensiv genutzte Ackerflächen sollten schrumpfen oder doch wenigstens um wilde Wiesen und Äcker ergänzt werden. Eine Agrarwende zu mehr Nachhaltigkeit würde helfen. Parallel zur Politik sind aber auch die Verbraucher gefordert. Die ungebremste Nachfrage nach billigem Brot und Fleisch macht den Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden erst nötig. +Zuletzt lässt sich mit wenigen Mitteln die pflegeleichte Monokultur des heimischen Gartens in ein Paradies für Summ- und Krabbelgetier verwandeln. Mit Insektenhotels kann sogar ein Balkon in der Stadt zu einem winzigen Refugium für Wildbienen und andere Insekten gemacht werden. Und eine Maßnahme, die Ökonomie und Natur gleichermaßen nützte, unternahm die Stadt Augsburg: Das Tiefbauamt ließ 25.000 veraltete Quecksilberleuchten und Leuchtstoffröhren in Straßenlaternen gegen moderne Natriumhochdrucklampen austauschen. Die Umrüstung lohnt sich nicht nur finanziell für die Stadt, sondern hilft auch den Insekten: Weil diese sich am kühlen Mondlicht orientieren, lockt sie das gelbliche Licht der neuen Lampen viel weniger an. Zehnmal weniger Insekten sterben dadurch nachts in Augsburg, und die Lampen müssen seltener gereinigt werden. Trotzdem verenden vielerorts noch immer Nacht für Nacht haufenweise Insekten im Licht der Laternen, allein in Deutschland sollen es schätzungsweise mehr als eine Milliarde sein. +Für die Hirschkäfer am Frankfurter Flughafen konnte die Katastrophe abgewendet werden. Die Werft für das Flugzeug ist zwar längst gebaut, aber die Eichenbaumstümpfe mit den Larven des Hirschkäfers wurden umgesiedelt. Seine Population hat sich erholt, die schleichende Katastrophe ist damit aber nicht abgewendet. Nur vertagt. diff --git a/fluter/inselloesung.txt b/fluter/inselloesung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/inside-bnd.txt b/fluter/inside-bnd.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2c9126c600144cb2d9d4326d26a15e7e77d4a89b --- /dev/null +++ b/fluter/inside-bnd.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Sowohl die Fotografen als auch die Autoren des Buches stellen ihre Arbeit unentgeltlich zur Verfügung, um ROG zu unterstützen. Das Buchprojekt lebt von Goodwill und Ehrenamtlichkeit, hinzugekommen ist neuerdings auch Crowdfunding, um einen Teil der Produktionskosten zu finanzieren. Die Auflage liegt bei 8.000 Stück. Wer Mitglied bei Reporter ohne Grenzen ist, kann ein Abo für das Jahrbuch abschließen. +Seit 2010 wird das Jahrbuch von der Berliner Bildredakteurin Barbara Stauss betreut. Stauss ist auch Gründungsmitglied der Zeitschrift "mare", wo sie seit 1996 Fotochefin ist. "Der Band gliedert sich in einen Faktenteil, der die Lage der Pressefreiheit in ausgewählten Ländern beschreibt, sowie in einen Essayteil mit langen Fotostrecken", erklärt Stauss das Konzept. In längeren Texten legen die Fotografen dar, was sie antreibt und welchen Schwierigkeiten sie bei ihrer Arbeit gegenüberstehen. Dazu werden sie von schreibenden Kollegen interviewt. Es entsteht ein Gesprächsprotokoll. +Neben fotografischen Langzeitbeobachtungen bringt das ROG-Buch auch Reportagen von den Brennpunkten des Nachrichtengeschehens weltweit: Im aktuellen Band 2015 war das der Ukraine-Konflikt und 2014 die Gezi-Park-Proteste in der Türkei. "Wir arbeiten rückblickend", erklärt Stauss das Vorgehen bei der Zusammenstellung der Themen. "Das Buch erscheint ja im Frühjahr des Folgejahres, immer zum 3. Mai, dem internationalen Tag der Pressefreiheit." Die Themenwahl speist sich aus jenen Ländern, mit denen sie während des Jahres besonders viel zu tun hatten . Bei der Schwerpunktsetzung versuchen sie, möglichst alle Kontinente zu berücksichtigen. +"Die Fotografen, deren Bildstrecken wir auswählen, sollen vorzugsweise aus dem jeweiligen Land stammen, dort leben oder sich lange dort aufgehalten haben", sagt Stauss. "Aber wir machen natürlich auch Ausnahmen. Letztlich zählt die journalistische und ästhetische Qualität der Fotos." +Der Fotograf Martin Lukas Kim hat erstmal Basisarbeit geleistet und nach dem Abi für die Hannoversche Allgemeine Zeitung bei Kaninchenzüchtern und auf Schützenfesten geknipst. Dann ging es an die FH für Fotodesign in Dortmund und weiter durch diverse andere angesehene Bildungsinstitute bis zum Diplom. Nach einigen Assistenzen für Werbefotografen in Hamburg arbeitet er seit 2008 als selbstständigerFotograf für Werbeagenturen, Redaktionen, Architektenbüros, Unternehmen und NGOs. +www.martinlukaskim.de +Kurzer Dienstweg: Das BND-Gelände in Pullach wird durch eine Straße geteilt. Seit es diesen Tunnel gibt, müssen die Mitarbeiter nicht mehr die öffentliche Straße benutzen, wenn sie von einer Seite auf die andere wollen. +Vintage, nicht retro: Die Inneneinrichtung dieses Konferenzraums ist seit den 1930ern praktisch gleich geblieben. +Do it yourself: Wenn der BND mal etwas manipulieren muss, geschieht das (wie hier im Bild) in den eigenen Werkstätten. Druckerei, Schneiderei, Schreinerei – der BND hat alles. +Kein Agent, wer nicht kämpfen kann: Hier wird Soshin-Do trainiert, eine vom Karate abgeleitete Kampfkunst. +Deichkind lassen grüßen: Wenn die Beleuchtung im Bunker aus ist, fühlt man sich bei den fluoreszierenden Lichtern glatt wie bei einem Konzert. +Hat wohl schon länger kein Meeting mehr erlebt: Ein Besprechungsraum im moderneren Geländeteil. Hier saß die Analyseabteilung – und die befindet sich bereits in Berlin. +Relikt aus dem Kalten Krieg: der Luftschutzbunker. Hier gibt es noch heute Schlafplätze, Frischwassertanks und einfache Sanitäranlagen. +Unangenehmes Erbe: In der "Präsidentenvilla" lebte Hitlers Stellvertreter Martin Bormann. Die Gemälde sind dennoch dieselben geblieben – nur das Bild des Bundespräsidenten wird regelmäßig ausgetauscht. +Auch das gehört dazu: Die Auslandsmitarbeiter des BND müssen schießen können. Hier werden die Styropor-Ziele vom Schießstand aufbewahrt. +Ganz schön deutsch: der Dienstplan der Wachhunde, die rund um die Uhr mit dem Sicherheitspersonal auf dem Gelände patrouillieren. +Guten Morgen, Herr Mustermann: Auf den Dienstausweisen im Pförtnerhaus stehen in aller Regel keine echten Familiennamen, sondern Dienstnamen, mit denen sich die Mitarbeiter wie selbstverständlich anreden. +Kann sich der BER ein Beispiel dran nehmen: Kabelsalat gibt es beim BND nicht. Diese Telefonanlage ist allerdings auch schon lange nicht mehr in Betrieb. +Fürs Museum: die Überwachungstechnik im sogenannten Signal-Intelligence-Raum ist völlig veraltet. +Suspicious Minds: Das Elvis-Zimmer ist eine kleine Attraktion in Pullach. Sogar BND-Präsident Gerhard Schindler soll es schon besichtigt haben. +Mund-zu-Gummi-Beatmung: Im Sanitätsbereich liegen Silikonmasken für Erste-Hilfe-Übungen. +Mauer des Schweigens: Was hinter dem Eingangstor des BND passiert, ist natürlich streng geheim. diff --git a/fluter/integration-gastarbeiter-aus-vietnam-und-der-tuerkei.txt b/fluter/integration-gastarbeiter-aus-vietnam-und-der-tuerkei.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/integrationskomoedie-die-migrantigen-interview.txt b/fluter/integrationskomoedie-die-migrantigen-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ba38952c62c94760793a2cb8dae49aae74ff7e4e --- /dev/null +++ b/fluter/integrationskomoedie-die-migrantigen-interview.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Wer ist "wir"? +"Wir" sind zum Beispiel meine beiden Hauptdarsteller Faris Endris Rahoma, Aleksandar Petrović – und auch ich. Wir sind in Wien aufgewachsen und haben einen Migrationshintergrund. Ich bin im Iran geboren und kam im Alter von zwei Jahren mit meinen Eltern nach Österreich. +Auch Ihr Film handelt von zwei Wienern mit Migrationshintergrund. Die beiden heißen Benny und Marko und leben in einem sogenannten Problemviertel, dem Rudolfsgrund. Dabei handelt es sich aber um ein fiktives Viertel. +Ich habe mich beim Rudolfsgrund von meinem Wiener Heimatbezirk Rudolfsheim-Fünfhaus inspirieren lassen, in dem viele Migranten leben. Meine beiden Hauptdarsteller sind in ähnlichen Bezirken aufgewachsen, wir drei kennen uns schon seit 20 Jahren. Dennoch haben wir uns im Film für ein fiktives Viertel entschieden. Ich wollte nicht, dass ein realer Bezirk eine negative Konnotation erhält. Obwohl es in dem Film-Viertel nicht wirklich schlimm zugeht. +Nun sind ihre beiden Protagonisten eigentlich zwei Hipster. Marko arbeitet in einer Werbeagentur und Benny ist Schauspieler. Warum wollen die beiden das "Migrantsein" erlernen – wie Gangster sprechen, Drogendeals abwickeln und viel Döner essen? +Die beiden Hauptfiguren brauchen dringend Geld und machen deshalb bei einer Fernseh-Doku über einen "sozialen Brennpunkt" mit, den Rudolfsgrund. Und Benny und Marko glauben, dass diese Klischees von ihnen erwartet werden. "Die Migrantigen" ist damit auch eine Medienkritik. Das Thema Integration wird in der medialen Berichterstattung Österreichs oft sehr stereotyp und negativ behandelt. +Zum Teil stellt die Fernsehredakteurin im Film sogar Szenen. +Ich finde Fake-News-Vorwürfe oder Lügenpresse-Rufe vollkommen falsch. Das wird von Rechten für ihre Zwecke benutzt. Aber es gibt eine tendenzielle Berichterstattung über das Thema Integration. Migranten sind entweder furchtbar arm oder haben irgendetwas falsch gemacht, oftmals sind sie Kriminelle. Dieses Opfer- oder Tätersein von Menschen mit Migrationshintergrund geht mir auf die Nerven. Vielleicht verkaufen sich TV-Beiträge so besser. Aber ich hab das Gefühl, es ist sehr gefährlich, wenn nur über bestimmte Seiten von Menschen berichtet wird. +Was können Medien anders machen? +Sie sollten ihre Redaktionen diverser zusammensetzen. Deutschland ist da ein bisschen besser, aber nicht viel besser als Österreich. In beiden Ländern gibt es zu wenige Journalisten mit Migrationshintergrund, die mit einer anderen Perspektive und weniger klischeehaft auf den Alltag der Menschen und das Thema Integration gucken. Aber der Film ist natürlich auch überzeichnet, nur so funktioniert eine Komödie, natürlich arbeiten nicht alle Medien so. +Am liebsten im Unterhemd: In der bösen Kommödie "Die Migrantigen" lässt Regisseur Arman T. Riahi seine Hauptdarsteller lernen, sich wie richtige Ausländer zu verhalten +Oft sind Filme über die Themen Migration und Integration als Sozialdramen angelegt, sie handeln von "Ehrenmorden", Flucht und Diskriminierung. Warum haben Sie sich für Humor entschieden? +Ich wollte den Leuten ein anderes Gefühl geben. Die Leute sollten das Gefühl haben, sie dürfen über die beiden Migrantigen lachen. Oft glaubt man ja, man darf das nicht, dann ist man ausländerfeindlich. Diese Angst wollte ich dem Zuschauer nehmen. Und Lachen ist das beste Mittel, um diese Angst zu vertreiben. Dann kann man nach dem Film ungezwungener über diese Themen reden. +Der Humor im Film entsteht dadurch, dass Sie bewusst mit Klischees arbeiten. Werden Vorurteile dadurch nicht erst recht reproduziert und verhärtet? +Nein. Weil wir ja mit den Klischees brechen und sie in einen neuen Kontext stellen. Etwa als die beiden Hauptdarsteller vor einem Boxclub stehen, sich nicht hineintrauen und Marko als "Ex-Jugoslawe" sagt: Da sind nur Tschetschenen und Kasachen drin, die haben doch die Hälfte ihres Lebens im Gefängnis verbracht. Das ist natürlich Blödsinn. Hier versucht sich Marko aber einer Kultur anzunähern, von der alle glauben, dass er ihr entsprechen muss. Das ist lustig, verstößt gegen unsere Sehgewohnheiten und macht uns das Klischee bewusst. +Dann gibt es eine Szene, in der Schauspieler Benny in breitestem Wienerisch für eine Hauptrolle vorspricht. Aber vom Castingleiter, gespielt von Josef Hader, gesagt bekommt, dass er eigentlich für die Rolle des Taxifahrers vorspricht. +Da haben wir es mit einem realen Problem zu tun. Die beiden Hauptdarsteller wurden selbst nach unserem Film wieder für solche Rollen gecastet: Drogendealer, Schläger, alles was ins Kleinkriminelle driftet. Aleksandar spricht kein Russisch, wurde aber als russischsprechender Georgier gecastet. Jeder, der Russisch versteht und ihn sehen würde, denkt sofort: Was soll das? Warum macht der einen russischen Akzent nach? Deshalb haben viele Österreicher mit Migrationshintergrund auch keinen Bezug zum österreichischen Film und TV. Warum soll ich mir das angucken, einen Araber, der einen Türken spielt? Das ist unrealistisch. Da schaue ich mir lieber gleich einen türkischen Film an. +Ändert sich da denn gar nichts? +In den letzten 15 Jahren hat sich schon etwas getan. Es gibt zum Beispiel mehr Moderatoren mit Migrationshintergrund in Österreich. Aber für mich sind das oft nur kosmetische Veränderungen, keine tiefer gehenden Änderungen in den Redaktionen. Das passiert auch nicht von einem Tag auf den anderen. Trotzdem haben Medien und Filme großen Einfluss darauf, wie man sich als Bevölkerung sieht. Deshalb haben wir uns gedacht, wir machen das jetzt. Wir machen einen eigenen Film als Drehbuchautor, Regisseur und Schauspieler mit Migrationshintergrund. +Was hoffen Sie, hat der Film für einen Effekt? +Ich hoffe, dass die Zuschauer, vor allem jüngere, genauer hinschauen. Dass sie Meinungen, die ihnen vorgesetzt werden, erstmal für sich überprüfen. Immer mehrere Quellen einbeziehen. Asyl ist nicht gleich Migrant ist nicht gleich Flüchtlinge, Ausländer, Gastarbeiter ist nicht gleich fehlende Integration. +"Die Migrantigen", Österreich 2017, Regie: Arman T. Riahi, Buch: Aleksandar Petrović, Arman T. Riahi, mit Aleksandar Petrović, Faris Endris Rahoma, Doris Schretzmayer, Josef Hader, 95 Minuten diff --git a/fluter/internationale-haerte.txt b/fluter/internationale-haerte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cf77a50ab3136946e1927d17d9a672b804f06612 --- /dev/null +++ b/fluter/internationale-haerte.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Es war die größte Zeit des österreichischen Fußballs: In den dreißiger Jahren begeisterte die Nationalmannschaft mit ihrem technisch versierten Kurzpassspiel, die Finalteilnahme bei den Olympischen Spielen 1936 machte berechtigte Hoffnung auf ein gutes Abschneiden bei der WM 1938 in Frankreich. Doch mit dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich am 12. März 1938 zerplatzte dieser Traum, die Österreicher wurden mit der deutschen Auswahl zwangsvereinigt. Diese war zwar amtierender WM-Dritter, doch pflegte sie einen gänzlich anderen, wesentlich kampfbetonteren Stil. Bei der WM musste Reichstrainer Sepp Herberger auf politischen Druck Spieler beider Mannschaften im Verhältnis 6:5 aufstellen, ohne dass diese sich aufeinander hatten einspielen können. Gleich in der ersten Runde scheiterte die favorisierte großdeutsche Mannschaft an der Schweiz. +2001 erreichte der Konflikt um Tibets Unabhängigkeit von China Kopenhagen. Ein dänisch-tibetanischer Freundschaftsverein hatte die in indischen und nepalesischen Flüchtlingslagern gebildete Nationalmannschaft Tibets zu einem Freundschaftsspiel gegen das zu Dänemark gehörende, aber teilautonome Grönland eingeladen. Die chinesische Regierung protestierte erfolglos. Das Spiel fand statt, in der 13. Minute ging Tibet sogar in Führung. Grönlands Politiker hatten indes ganz andere Sorgen: Sie fürchteten, China könnte so verärgert sein, dass es den für Grönlands Wirtschaft wichtigen Krabbenhandel boykottieren würde. Am Ende gewann Grönland 4:1. Der Handel mit den Krabben ging unbeeinträchtigt weiter. +Bei Fußball-Länderspielen spielen Länder gegeneinander, so einfach ist das. Was aber ist mit den Ländern, die es auf der politischen Weltkarte nicht gibt, mit Autonomieregionen, mit Völkern, die keinen eigenen Staat haben und folglich auch von der Fifa nicht anerkannt werden? Diesen Mannschaften wollen die belgischen Erfinder des alternativen "Viva World Cup" eine Plattform geben. Lappland soll gegen Tschetschenien spielen können, der Kosovo gegen Nordzypern, Kurdistan gegen das Baskenland und die Shetlandinseln gegen den Vatikan – auch mit dem Ziel, dem Wunsch einiger dieser Verbände Nachdruck zu verleihen, Mitglied in der Fifa zu werden. Eine Ausnahme unter den Ausnahmen ist Monaco: Das Fürstentum ist ein anerkannter Staat, verzichtet aber auf einen eigenen Fußballverband und eine eigene Nationalmannschaft, damit der Fußballverein AS Monaco in der französischen Liga spielen darf. +Arthur Friedenreich, 1892 geborener Sohn eines deutschen Ingenieurs und einer schwarzen Wäscherin, schoss während seiner Laufbahn über 1300 Tore. Bei der Copa América 1921 in Brasilien selbst durfte er dennoch nicht auflaufen: Staatspräsident Epitácio Pessoa untersagte Farbigen die Turnierteilnahme, Brasilien wurde auch deshalb lediglich Zweiter. Die allgemeine Verärgerung darüber war so groß, dass Pessoa den Beschluss widerrufen musste: Friedenreich und andere dunkelhäutige Spieler durften – wieder – für Brasilien auflaufen. Allerdings nicht ohne Einschränkungen: Vor jedem Spiel muss-ten sie die krausen Haare glätten und ihre Haut mit Reismehl einreiben. +Als Israel bei der WM-Qualifikation erstmals 1958 auf Ägypten, den Sudan und Indonesien treffen sollte, zogen die muslimischen Länder ihre Teilnahme zurück: Unter keinen Umständen wollten sie in Israel auflaufen, fast hätte Israel sich dadurch für die WM qualifiziert. 1974 hatten sich die Verhältnisse verschoben, nun musste Israel in Folge der wachsenden Bedeutung der arabischen Mitglieder aus dem asiatischen Fußballverband austreten. Eine kleine Odyssee begann: 1978 spielte Israel in der Ostasien-Gruppe, 1982 in einer der Europa-Gruppen und 1986 in der Ozeanien-Gruppe um einen WM-Platz. Seit Beginn der neunziger Jahre haben die Israelis nun endgültig in Europa ihre fußballerische Heimat gefunden. 1994 wurden sie UEFA-Mitglied und spielen seitdem auch in der Qualifikation zur Europameisterschaft mit. +Die Vorrundenpartie der Nationalmannschaften von BRD und DDR bei der WM 1974 war die erste Begegnung der beiden deutschen Staaten auf dem Fußballfeld: Freundschaftsspiele zwischen Ost- und Westmannschaften waren nicht üblich, bei Pflichtspielen waren die deutschen Staaten nie zueinander gelost worden. In der westdeutschen Mannschaft spielten Beckenbauer, Netzer und Gerd Müller, die BRD war amtierender Europameister, die DDR nahm zum ersten Mal überhaupt an einer WM teil. Entsprechend siegesgewiss titelte Bild: "Warum wir heute gewinnen." Doch die DDR konnte das Spiel lange offen halten und gewann schließlich durch das Tor von Jürgen Sparwasser. Erst als im Februar 1990 die Qualifikationsgruppen für die EM 1992 ausgelost wurden, landeten BRD und DDR dann doch noch mal in einer Gruppe, während der Prozess der Wiedervereinigung bereits voranschritt. Nun titelte Bild: "Wir gegen uns – So ein Quatsch!" Die DDR spielte schließlich nicht mit, die deutsche Mannschaft zog ins EM-Finale ein, mit zehn westdeutschen Spielern und dem Ostdeutschen Matthias Sammer.Illustration: Damentennis & Ruzi diff --git a/fluter/internet-das-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt b/fluter/internet-das-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4c60fbc73de3fa6b9d3d7bd03e2c137b9a812c9c --- /dev/null +++ b/fluter/internet-das-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt @@ -0,0 +1 @@ +Eine junge Korrespondentin informierte uns darüber, dass es in einem israelischen Touristenort jetzt einen Freizeitpark gibt, in dem das W-Lan über herumlaufende Esel verteilt wird. In Texas existiert ein anderes Projekt, bei dem man Obdachlose mit Routern ausgestattet und das Ganze als "Homeless-Hotspots" verkauft hatte. Das waren natürlich zwei verwirrende Neuigkeiten, aber – auch wenn das jetzt ein neuer globaler Trend sein sollte – so richtig als Artikel vorstellen konnten wir uns das nicht. diff --git a/fluter/interview-bayan-layla-film-elaha.txt b/fluter/interview-bayan-layla-film-elaha.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ece4d99c4b8e01e2401b16101ab972f305e8143d --- /dev/null +++ b/fluter/interview-bayan-layla-film-elaha.txt @@ -0,0 +1 @@ +"Elaha" lief auf der diesjährigen Berlinale und kommt am 23. November in die deutschen Kinos. diff --git a/fluter/interview-buergermeisterin-kleine-gemeinde.txt b/fluter/interview-buergermeisterin-kleine-gemeinde.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4ebadfb2ecb1cc945d412bc6b7c74bf79559e4fb --- /dev/null +++ b/fluter/interview-buergermeisterin-kleine-gemeinde.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Sie sind eine von 90 Frauen in Baden-Württemberger Rathäusern. Rund 1.000 Kommunen in Ihrem Bundesland steht ein Mann vor. Macht der Hashtag MeToo eigentlich auch in Schrozberg seine Runde? +Ich könnte zumindest viele #MeToo-Geschichten erzählen – auch in meinem Amt als junge Bürgermeisterin. Die Kommunalpolitik ist in der Tat eine Männerdomäne. Dass ich gewählt wurde, hatte vor allem mit meinen Mitbewerbern zu tun. Die hatten sehr viel weniger Erfahrung mit der Verwaltung. +Muss man für Ihren Job mit den Menschen vor Ort ver- bunden sein? +Nein, das ist ein Trugschluss. Es gibt sogar Studien, in denen vom Malus der Einheimischen gesprochen wird. Weil familiäre Verstrickungen vermutet werden und weil man die guten und schlechten Eigenschaften der Bewerber schon kennt. Der Außenstehende wird bevorzugt, weil man sagt: "Da kommt jemand Neutrales, der frischen Wind in die Gemeinde bringt." Davon habe auch ich profitiert. +Ihre Kommune wird in den nächsten 20 Jahren knapp sieben Prozent ihrer rund 5.600 Einwohner verlieren. Was machen Sie dagegen? +Wie ein Unternehmen versuchen wir ein Alleinstellungsmerkmal zu haben. Wir wollen im Breitbandausbau möglichst weit vorn sein. Als eine von wenigen Gemeinden deutschlandweit lassen wir jedes Haus mit Glasfaser versorgen. Wir müssen auf einer Fläche so groß wie Paris Kabel verlegen. Zehn Millionen Euro wird das die Gemeinde kosten. +Gibt es auch mal Streit mit den Ortsvorstehern der Teilgemeinden, die in Ihrer Kommune liegen? +Streit würde ich es nicht nennen, aber klar, die Ortsvorsteher haben ihre eigene Meinung und versuchen, das Beste für den eigenen Ort rauszuholen. Aber der Gemeinderat, in dem ich eine von 24 Stimmen habe, hat das letzte Wort. Beim Breitbandausbau waren wir uns alle einig. +Und bei welchen Themen gibt es Zoff? +Ob in dem Dorf ein Gemeinschaftshaus gebaut oder der Feldweg zur Kreisstraße wird. Oder ob das Freibad saniert wird. Ein Freibad ist natürlich eine sehr emotionale Angelegenheit, weil viele dort schwimmen gelernt und ihre Sommer verbracht haben. Der Gemeinderat hatte beschlossen, das Freibad zuzumachen. Einem Bad muss man immer viel Geld zuschießen, es ist nie kostendeckend. Zumindest nicht mit sozial verträglichen Eintrittspreisen. Die Schrozberger haben dann einen Bürgerentscheid durchgeführt. 54 Prozent haben für das Bad gestimmt. Somit musste der Gemeinderat die Sanierung angehen. +Ist die Demokratie unmittelbarer zu erfahren in kleinen, ländlich geprägten Kommunen? +Ja, die Leute sind mit ihrem Wohnort verbundener und engagieren sich stärker. Gleichzeitig interessieren sich die jüngeren Leute immer weniger für Politik und haben den Eindruck, dass sie nichts bewegen können und nicht gehört werden. Viele sagen: "Hauptsache, mir selber geht's gut." Das ist schade, denn gerade im kommunalen Bereich kann man sehr viel erreichen, wenn man sich engagiert diff --git a/fluter/interview-el-hotzo-mindset.txt b/fluter/interview-el-hotzo-mindset.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bd36a06d6db1dcce25fb57f7e0a288477963f3c9 --- /dev/null +++ b/fluter/interview-el-hotzo-mindset.txt @@ -0,0 +1,39 @@ +Du gibst dich und deine Sorgen in der Öffentlichkeit betont gewöhnlich, dabei bist du mit 1,5 Millionen Followern ein Internetstar. +Nach zwei Jahren Showbusiness bin ich frustriert: Es ist nicht so glitzernd und geil, wie man es sich vorstellt. Du denkst, im Backstagebereich wird Kaviar gegessen und Champagner getrunken, aber dann steht da eine Hummusplatte neben einer Cola. Ich werde mit Witzeschreiben nie so reich werden, dass ich keine Wäsche mehr waschen muss. Wahrscheinlich ist das gut so. +Die Protagonisten deines Romans "Mindset" machen es genau andersrum: Sie stapeln hoch und wollen um jeden Preis Anerkennung. Dabei helfen sollen dubiose Selbsthilfeseminare. +Sich selbst zu verbessern ist nicht per se schlecht oder neoliberal– es ist schön, wenn man an sich arbeitet. Aber in Wirklichkeit sind diese Seminare deutlich gefährlicher, als ich sie darstelle. Zur Recherche war ich in einem dieser Onlinekurse, da steckt neben großem Betrugs- auch großes Gewaltpotenzial drin. Völlig selbstzerstörerisch. +Deine Figuren wollen alles sein, nur nicht mittelmäßig. +Im Internet wird uns die ganze Zeit vorgelebt, dass wir der Mittelmäßigkeit entfliehen müssen. Jeder Influencer und jede Influencerin macht einen individuellen Urlaub und keinen auf Malle. Alles muss interessant wirken, selbst die Spotify-Playlist am Ende des Jahres muss besonders sein. Dabei glaube ich, dass im Ordinären eine Kraft liegt. Wer die eigene Durchschnittlichkeit annimmt, spart viel Kraft. +Um damit … +… das Leben zu genießen. Das ist einfacher, wenn man nicht darauf bedacht ist, dauernd die Außenwahrnehmung zu steuern. Ich habe mal bei Siemens gearbeitet und mir gedacht: Um Gottes willen, wie können diese Leute seit 40 Jahren an einer Dampfturbine arbeiten?! Aber wenn die um 15 Uhr nach Hause fahren, wartet da ein kleiner Rasen, den sie mähen können, und vielleicht eine Person, die sie liebt und ein paar Kinder, die sie mögen. Ein durchschnittliches Leben ist sicher nicht so unglücklich, wie ich es in meinen Memes gern aussehen lasse. +Ähnlich wie dein Protagonist Mirko bist auch du in einem Kaff aufgewachsen. Du warst ein Außenseiter, hast in Erlangen und Nürnberg ein duales Studium gemacht, BWL, und dann noch Wirtschaftspsychologie studiert – in Bielefeld. War dir das irgendwann zu mittelmäßig? +Bei meinem ersten Job hat wer zu mir gesagt: Hey, wenn du das fünf Jahre machst, stehen dir alle Türen offen! Ich habe mir gedacht: Fünf Jahre? Das ist ein Viertel meiner bisherigen Lebenszeit! Ich habe die Vorstellung nicht gepackt, dass mein Leben fertig geplant ist. +In ihrem Versuch, sich von anderen abzuheben, nämlich "Wölfe" zu sein statt Schafe, wanken deine Figuren ständig zwischen Selbstüberhöhung und -erniedrigung. Ist das etwas, das du … +Ja. Zu 100 Prozent. +"Ja" auf welche Frage? +Ich beobachte bei mir, dass ich kein "Joa, ganz gut" habe, sondern nur ein "Ich bin der Allergrößte", wenn ich eine gute Sendung geschrieben habe[Anm.:Hotz schreibt u.a. für dasZDF Magazin Royale],oder ein "Ich bin das Letzte", wenn mir an einem Tag kein Gag eingefallen ist. Dieses krasse Schwanken ist bei vielen Menschen in meinem Umfeld so. Es gibt so selten die Gewöhnlichkeit und so oft das Extrem. Vielleicht liegt das an der Branche und daran, dass Erfolg, den die meisten anstreben, eben ein Extrem ist. +In deinem Roman bedeutet erfolgreich sein: Porsche fahren, Rolex tragen. Sind das immer noch Insignien für Erfolg? +Es gibt natürlich komplett abgehobene Milliardäre wie Mark Zuckerberg, die mit kurzen Hosen und Sandalen herumlaufen. Aber ich denke, in der breiten Masse zwischen geleastem Porsche und Millionär ist das schon so. Auch im Mikrokosmos der Erfolgscoaches, um die es in dem Buch viel geht, gelten noch die gutbürgerlichen 80er-Jahre-Statussymbole. +Und bei deinen Followern? +Da hilft ein gut eingelaufenes Paar Doc Martens. Eine große Plattensammlung. Die coole Jahresendzusammenfassung auf Instagram. Auch Unwissen ist gerade ein gutes Statussymbol. +Ah ja? +Wenn ich zum Beispiel über irgendeinen Podcast oder eine Serie rede und mein Gegenüber unterbricht: "Fest und flauschig? Dschungelcamp? Hab' ich noch nie gehört", dann denk ich mir: Fuck, du bist der coolste Mensch aller Zeiten. +Weil es der Person egal ist, nicht mitreden zu können? Oder weil sie keine Zeit hat für "sowas"? +Beides. Manche tun natürlich auch gern so, als wären sie einzig literarisch gebildet. Aber wenn man etwas nicht kennt oder weiß, ist es cool, dazu zu stehen. +Würde deine Geschichte auch mit zwei weiblichen Hauptrollen funktionieren? +Ich glaube, nein. Es gibt diesen Selbstverbesserungskult auch in der, sagen wir, "weiblichen Hälfte" des Internets. Aber diese Verwebung von neoliberaler Erfolgserzählung und pseudowissenschaftlichem Alphamensch-Denken? Zumindest ist mir dieses zerstörerische Kultdenken bisher nur im "männlichen Internet" aufgefallen. Würde man die Geschichte mit zwei Protagonistinnen erzählen, ich glaub, es würde vielleicht in RichtungGirl-Boss-Erzählunggehen … +Eine wichtige Rolle in deinem Roman spielt die Kryptowährung "$EGO". Auch so ein Thema des "männlichen Internets"? +Krypto hat genau die richtige Mischung aus Überlegenheit, Technik und Sektenhaftigkeit – man kann sich schlauer fühlen als alle anderen. Es hat eine eigene Meme-Kultur. Und der größte Mann der Welt ist ein Kryptofan, Elon Musk, was auch viele anzieht. Krypto ist der V8-Motor, aber als Technologie. + +Weiterlesen +Können Insta und Co. psychisch krank machen? +Mirko und Maximilian sind süchtig nach Bestätigung. Wie ist das bei dir: Was machen 100.000 Likes mit dir, was zehn? +Mein Gehirn kann Zahlen über 100 schlecht verarbeiten, das schützt mich ein bisschen. Und ich habe im Gegensatz zu anderen Personen des Internets den großen Vorteil, dass ich nicht finanziell davon abhängig bin. Aber es macht trotzdem etwas mit mir: Ich bin glücklich, wenn ich Zuspruch bekomme. Mein Abend wird schlechter, wenn ich sehe: Ah, das fand keiner lustig. Twitter ist eine der wenigen Plattformen, wo man Leute noch treffen kann. Also nicht nur mit ihnen in Kontakt treten, sondern sie auch im Herzen treffen. +Du hast ein Jahr an deinem Buch geschrieben. Wie war es für dich, nicht gleich Feedback zu bekommen? +Ultrahart. Zeitweise hatte ich überhaupt keinen Bock mehr weiterzuschreiben. Aber am Ende bist du stolz darauf. Ich glaub, es hat meiner Psyche sehr gutgetan. Nicht immer nur Tweet, Tweet, Tweet, Instagram-Post, Story und dann alles wieder löschen, weil es nicht lustig war. +Auch in "Mindset" kommensoziale Medienschlecht weg. Warum bleibst du dabei? +Ohne Social Media wäre ich nichts, allein beruflich. Außerdem hatte ich immer Probleme, Freunde zu finden. Es ist kitschig und peinlich, das zu sagen, aber mir hätten die viel gescholtenen sozialen Medien nichts Besseres schenken können als einen Freundeskreis, der mich mag, wie ich bin. Oder zumindest so tut. Es ist befreiend, mit Menschen Zeit zu verbringen, nicht weil man in der Schule oder irgendwo neben ihnen sitzen muss, sondern weil man einen ähnlichen Humor oder Blickwinkel auf die Welt hat. +In deinen Tweets kritisierst du die Welt und ihren Kapitalismus, indem du dich darüber lustig machst. In deinem Buch taucht ein Erzähler auf, der in ganz kurzen Passagen überraschend ernsthaft referiert: über den Unabomber, überden Frühsozialisten Robert Owen, über die Versklavung durch die Uhr. Gibt es bald mehr Ernstes von dir? +Auf gar keinen Fall. Viele Comedians wollen ernst genommen werden. Ich hatte aber einfach Lust, am Anfang jedes Kapitels eine böse, wütende Stimme zu hören. Ich glaube auch nicht, dass ich schlau genug bin für Ernsthaftigkeit – und das sage ich ganz ohne Tiefstapelei. + +Titelbild: Nikita Teryoshin / OSTKREUZ diff --git a/fluter/interview-expertin-taylor-swift-female-fandom.txt b/fluter/interview-expertin-taylor-swift-female-fandom.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0ea1d1689e802f26e4cf00acd8abb3392e2b170f --- /dev/null +++ b/fluter/interview-expertin-taylor-swift-female-fandom.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +Girl Culture, was bedeutet das? +Sie steht im Kontrast zu dem, was in unserer gegenwärtigenOptimierungsgesellschafterstrebenswert ist. Also schnell erwachsen werden, Arbeit am Selbst, Karriere. Girl Culture funktioniert dagegen über spielerische Elemente – über Glitzerfarben, Pastell-Outfits und Referenzen auf eine unbeschwerte Kindheit in den 90er-Jahren. Und durch die Verklärung von Romanzen wie auch bei gerade wieder angesagten "Romance Novels". Dadurch ermöglicht Taylor Swift eine kurze Auszeit von einer Gegenwart, die sehr deprimierend sein kann. +Trotzdem ist sie ein abgeschotteter Weltstar mit Privatjet und exklusivem Freundeskreis. Wie kreiert sie dennoch Nahbarkeit? +Sie ist ein Weltstar, schafft es aber gleichzeitig, sich als permanenter Underdog zu inszenieren. Auch auf ihrem neuen Album "The Tortured Poets Department" erzählt sie vom "awkward girl", das verträumt ist, sich vorstellt, wie es wäre, in einer anderen Zeit zu leben. Eine, die früher nicht zu den coolen Kids gehört hat, nicht so schön war wie jetzt. Das sind Elemente, die ihre "Ihr könnt so sein wie ich"-Erzählung stärken. Die Nahbarkeit entsteht aber auch durch ihre besondere Beziehung zu den Fans. +Wie sieht diese Beziehung aus? +Beyoncé-Konzerte erinnern an Messen. Taylor-Swift-Konzerte sind dagegen eher die Hochzeit der besten Freundin. Ihre Konzerte wirken wie etwas, das zusammen geschaffen wird. Dieser Aspekt der Gemeinschaft wird auch durch die Easter-Egg-Kultur noch mal verstärkt: Taylor Swift versteckt Codes und Anspielungen in Textzeilen, Musikvideos und auf Albumcovern, die die Fans dann zu entschlüsseln versuchen. Zum Beispiel die Zahl 13 – Taylors Lieblingszahl. Fans ergründen penibelst, wo die 13 überall auftaucht. Diese interpretative Arbeit sorgt für Zusammenhalt. Und natürlich gibt es auch die Referenzen auf Ex-Lover und ihre Freundinnen. Deshalb nehmen Fans so intensiv daran teil. + + +Viele Fans tragen bei Konzerten sogar selbst gebastelte Freundschaftsarmbänder und tauschen sie mit anderen vor der Show. +Die Freundschaftsbänder sind ein gutes Beispiel dafür, dass Fans nicht, wie oft behauptet wird, eine willenlose Masse sind, die nur das macht, was der Star ihr vorgibt. Diese eindimensionale Beeinflussung gibt es nicht – und Taylor-Swift-Fans sind das Gegenteil. In ihrem Song "You're on your own, Kid" hat sie in nur einer Zeile auf ein Freundschaftsarmband verwiesen, übrigens auch als Praxis unter "uncoolen" Teenagern. Daraufhin hat sich dieser Trend unter ihren Fans entwickelt und wurde zum Selbstläufer. +Taylor Swift, bekennende Demokratin, wird nachgesagt, sie könne den Ausgang der Wahlen in den USA beeinflussen. Hältst du das für möglich? +Taylor Swift steht für sexuelle Vielfalt und Selbstbestimmung. Also für Dinge, die man sich in den USA mittlerweile wieder erkämpfen muss. Daher ist es relevant, wenn Taylor Swift sagt, dass sie die Demokraten gewählt hat. Und natürlich stehen die Werte, die Taylor Swift durch ihre Musik vermittelt, den Demokraten näher als den Republikanern. +Trotzdem haben Rechte in der Vergangenheit versucht, Taylor Swift für sich zu vereinnahmen. +Sie ist weiß, blond und normschön. Durch diese Körpermerkmale kann sie von Rechten für ihre Ideologie missbraucht werden. Würden diese Rechten aber Swifts Songtexte lesen, würden sie sofort merken, dass sie gar nicht mit einer rechten Ideologie vereinbar ist. Es hat relativ lange gedauert, bis sie sich dagegen auch bewusst ausgesprochen und politisch positioniert hat. Daraufhin wurde sie vonTrumpbeschimpft. +Du schreibst in einemAufsatzüber Taylor Swift, dass ihre Haltung von ihren Erfahrungen als Frau und von Empowerment und Gesellschaftskritik geprägt ist. Wie funktioniert ihr Feminismus? +Sie sagt: Ihr seid Teil einer Gemeinschaft, deren Merkmale ich auch teile, und uns eint die Erfahrung als weiße Frau in einer patriarchalen Gesellschaft. Wir lernen, männlich auftreten zu müssen, um Erfolg zu haben. Wir lernen aber auch, dass Freund*innenschaft wichtig und Dating dramatisch, aber auch schön ist. In erster Linie besteht ihrFeminismusalso darin, intime, private und auch schambesetzte Erfahrungen öffentlich zu verhandeln. +Ist ihr Feminismus für die weiße Mittelschicht? +Es kann viel in Taylor Swift reingelesen werden. Hörer*innen verknüpfen ihr eigenes Leben und Weltbild mit den Aspekten, die sie anspricht. Was nicht passt, blenden sie aus. Darum ist sie zum Beispiel auch für eine queere Community relevant. Im Video zu "You Need To Calm Down" spielen viele bekannte queere und Drag-Performerinnen mit. Das zeigt zumindest auf einer symbolischen Ebene: Auch ihr seid Teil meines Feminismus. Außerdem wurden mit der Zeit immer mehr Menschen of Color für Musikvideos gecastet. Taylor Swifts Feminismus ist also sehr offen und bestärkend. +Als Scooter Braun Chef von dem Label wurde, bei dem Swift bis 2018 unter Vertrag war, nahm sie ihre alten Alben als "Taylor's Version" noch mal auf, um ihm nicht die Rechte an ihrer Musik zu überlassen. Braun soll Swift früher gemobbt haben. Ist das auch ein empowernder Akt? +Es war für sie nicht möglich, die Masterversionen der Alben in ihren Besitz zu bringen, also nimmt sie alle neu auf. Einerseits scheint es Taylor Swift ein Bedürfniss zu sein, sich auszudrücken und im Besitz der eigenen Kunst zu sein. Das ist Empowerment. Andererseits werden ihre Alben neu verkauft, das ist wiederum profitorientiert. +Die Taylor-Welt ist eine sehr teure, die Ticketpreise zu ihrer "Eras Tour" starten bei knapp 100 Euro, es kann aber auch viel mehr kosten. Warum sind Fans bereit, so viel zu bezahlen? +Manche Leute fahren in den Urlaub, manche schrauben an ihren Autos herum, und manche gehen zu Taylor-Swift-Konzerten.Fandomist eine Art von intensiver emotionaler Beziehung zum Idol. Es geht darum, Werte und Erfahrungen aus der Fanbeziehung zu generieren, die das Leben lebenswert machen. Die Zeit, die man effektiv beim Konzert im Stadion verbringt, ist dann viel geringer als alles, was davor und danach stattfindet: Das Reisen, die Vorfreude, die Vorbereitung der Outfits, das stundenlange Anfertigen von Freundschaftsbändern. +Also ist Taylor Swift ein Hobby? +Ein zeitintensives Hobby. Manche Leute wachsen irgendwann aus Fandoms raus, manche bleiben ihr Leben lang Fan und altern mit ihrem Idol. Bei Taylor Swift geht es mittlerweile in ihren Songs auch um Hochzeit und Kinderkriegen. Ich bin gespannt darauf, was sie lyrisch verhandelt, wenn sie 50 ist. + +Svenja Reiner ist Kulturwissenschaftlerin, Autorin und Literaturvermittlerin. Sie promoviert in Musikwissenschaft über Fans in der Neuen Musik. +Portrait: Sophia Hegewald diff --git a/fluter/interview-giulia-becker-buch.txt b/fluter/interview-giulia-becker-buch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9e1bf56a72a194807f8a0164e816d32ad76580bf --- /dev/null +++ b/fluter/interview-giulia-becker-buch.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +fluter.de: Dein neues Buch ist eine Sammlung von Kurzgeschichten. Im ersten Kapitel denkt die Ich-Erzählerin über ihre eigene Beerdigung nach. Danach geht es ums Ausmisten, gefolgt von einem Selbsttest: "Bin ich ein potenzieller Serienmörder?". Wie kam es zu diesem Buchkonzept? +Giulia Becker: Das ist ein bisschen aus der Not heraus entstanden, weil ich selbst Probleme habe, bei längeren Texten dranzubleiben. Seit es das sogenannte Internet gibt, stecke ich in einer andauernden Lesekrise. Deshalb habe ich vor ein paar Jahren Kurzgeschichtenbände für mich entdeckt. Ich habe die Bücher von Ella Carina Werner, Fran Leibowitz und Demetri Martin verschlungen. Und ganz schnell gemerkt: Genau das will ich auch machen. Mir gefällt an der Form, dass ich einfach machen kann, was ich lustig finde und von dem ich glaube, dass es andere zum Lachen oder auf gute Gedanken bringt. +Manche deiner Kolleg:innen machenWitze auf Kosten anderer, zuletzt zum Beispiel Luke Mockridge über Menschen mit Behinderung. Wie blickst du auf diese Art Comedy? +Ich sehe ja, was Humor alles kann, und dann schaffen es trotzdem die billigsten und menschenverachtendsten Witze, die noch dazu schon hundertfach gemacht worden sind, in die Öffentlichkeit, das finde ich frustrierend. Die humoristische Bildung in Deutschland ist auf einem schlimmen Stand. Vielleicht müssten wir Humor als Schulfach einführen, damit die Leute ein bisschen anspruchsvoller werden in ihrem Lachen. Ich meine damit nicht hochtrabende intellektuelle Witze, die mache ich selber nicht. Soziale Intelligenz würde auch schon helfen. +In deinen Büchern machst du dich nicht über Menschen lustig, sondern teilst einen liebevollen Blick auf die Figuren, ihre Sorgen und ihr Scheitern. +Ich mache mich schon auch mal gerne über neoliberale Berlin-Mitte-Spießer mit fünfstelligem Monatseinkommen und Ozempic-Leibarzt lustig, aber grundsätzlich versuche ich, Comedy woanders zu suchen. Am Ende des Tages sind die auch einfach sehr langweilig. Ich liebe das Absurde. Ich muss niemanden durch den Kakao ziehen, mein Humor braucht das nicht. Ich mache Quatsch, und ich bin auch einfach Fan von Quatsch. Es geht doch nichts über einen zünftigen Jux. +Im Buch geht es auch um Konsum, den du einerseits faszinierend findest, andererseits kritisierst. Zara, schreibst du, sei das "Modegeschäft für alle, die schon mal wissen wollten, wie es sich anfühlt, wenn einem nicht mal ein Schal passt". +Modegeschäfte sind der Staatsfeind Nummer eins von mir und wahrscheinlichallen dicken Personen. Wenn ich Kleider kaufen möchte, finde ich in der Stadt keinen einzigen Laden, der meine Größe hat. Es gab mal eine Zeit, als es bei H&M noch große Größen gab, aber die wollen jetzt dicke Menschen wohl gar nicht mehr im Geschäft haben. Natürlich musste ich mich im Buch deswegen auch an deutschen Innenstädten abarbeiten. +"Wenn ich nicht Urlaub mache, macht es jemand anderes" erscheint am 12. November im Rowohlt-Verlag +Dein Markenzeichen ist ein komischer Blick auf tragische Situationen. Hattest du den schon immer? +Ich habe schon immer versucht, auch über blöde Dinge zu lachen, das Leben nicht ganz zu ernst zu nehmen. Diesen lustigen Blick aufs Leben habe ich mir von meiner Oma abgeguckt. Sie konnte schon immer, wenn ihr ein Missgeschick passiert ist, wirklich herzlich darüber lachen.Humor hilft, die Schwere aus einer Situation rauszunehmen. +Hilft er auch angesichts der Weltlage? +Es ist jetzt nicht so, dass ichWitze über den Nahostkonfliktmache und mich danach besser fühle. Doomscrolling kenne ich gut, ich konsumiere sehr viele Nachrichten, manchmal zu viel. Was mir hilft, sind Inseln, auf denen ich ohne Reue mal alles vergessen kann. Wenn ich merke, es wird mir zu viel und ich komme in eine Abwärtsspirale, gucke ich zum Beispiel eine Folge "Das perfekte Dinner", in der ein Kandidat als Nachtisch Vanillepudding mit Krabben serviert, dann geht's wieder. Oder ich begebe mich auf YouTube oder Wikipedia in irgendein thematisches Rabbit Hole, um mich ein bisschen abzulenken. +Eine Auszeit vom Weltschmerz ist auch der "Drinnies"-Podcast, den du im ersten Corona-Winter mit deinem Partner, dem Comedy-Autor Chris Sommer, gestartet hast. Was sind eigentlich "Drinnies"? +Das sind eher introvertierte Personen, die sich nicht mit Leuten treffen müssen, um ihre sozialen Batterien aufzuladen, sondern im Gegenteil dafür eher Zeit alleine brauchen. Damit können wir uns beide identifizieren. +Wann hast du gemerkt, dass du ein "Drinnie" bist? +Ich habe schon in der Schule gemerkt, dass ich anders bin, auch als meine Freundinnen. Mit ihnen habe ich mich wohlgefühlt, aber danach Zeit allein gebraucht. Es fällt mir schwer, auf fremde Menschen zuzugehen, und ich mag keinen Small Talk. Irgendwann habe ich beschlossen, dass das nun mal meine Charaktereigenschaft ist. Und dass ich mir das Leben nicht unnötig schwer mache, indem ich mich zu sozialen Interaktionen zwinge, auf die ich keine Lust habe. +Früher war es fast ein Tabu zu sagen, dass man lieber für sich ist oder nach sozialem Stress eine Pause braucht. Man könnte sagen, euer Podcast hat geholfen, das "Drinnie"-Sein zu entstigmatisieren. +Das war nicht geplant, wir machen ja einen Comedy-Podcast. Aber wir freuen uns natürlich, wenn das so ist. Wir dachten am Anfang, das wird ein Nischen-Podcast, und dann hat sich das verselbstständigt. Bis heute bekommen wir wöchentlich E-Mails von Leuten, die sagen, sie haben endlich ein Wort dafür. Nachdem wir in der Talkshow "Kölner Treff" zu Gast waren, hat sich eine Frau bei uns gemeldet, die über 90 war. Sie schrieb, dass sie nach der Sendung den Podcast gehört und gemerkt habe, dass sie ein "Drinnie" sei. Für uns ist es ja heute schon krass, dass man als Couch-Potato und Freak gelabelt wird, wenn man lieber mal alleine ist und nicht immer mit anderen abhängen will, aber wie das vor 80 Jahren war, mag ich mir gar nicht vorstellen. Schön ist auch, wenn sich Jugendliche melden, sogar Achtjährige, die ganz stolz sagen, dass sie "Drinnies" sind. +Gerade in der Schulzeit will man ja nicht auffallen oder anders sein. +Hätte ich mit 13, 14 Jahren jemanden gehabt, der mir sagt, das ist nicht uncool, sondern vielleicht sogar ganz cool, dass ich so bin, wäre mir wahrscheinlich eine Menge erspart geblieben. Eigentlich wollen wir "nur" unterhalten, aber dass das bei so vielen Leuten so viel ausgelöst hat, ist ein toller Nebeneffekt. + +Foto: Frederike Wetzels diff --git a/fluter/interview-kino-corona-shariat-hourmazdi.txt b/fluter/interview-kino-corona-shariat-hourmazdi.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3369ea16e8561af47151042aec767a42b243d717 --- /dev/null +++ b/fluter/interview-kino-corona-shariat-hourmazdi.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Ein guter Film ist wie ein Popsong: Hier lest ihr,was Faraz Shariat über seinen Debütfilm "Futur Drei" und postmigrantisches Leben in Deutschland zu sagen hat +Banafshe Hourmazdi spielte u.a. in Faraz Shariats "Futur Drei" oder imComing-of-Age-Film "Kokon". +Jonas Heldts Dokumentarfilm "Automotive" begleiteteine junge Leiharbeiterin bei Audi, deren Job bald wegautomatisiert werden soll. diff --git a/fluter/interview-mit-leiterin-berlinale-mariette-rissenbeek.txt b/fluter/interview-mit-leiterin-berlinale-mariette-rissenbeek.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/interview-mit-risikoforscher-gerd-gigerenzer.txt b/fluter/interview-mit-risikoforscher-gerd-gigerenzer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..27b314512770aa2bc6a2de092e1fae84d11f2249 --- /dev/null +++ b/fluter/interview-mit-risikoforscher-gerd-gigerenzer.txt @@ -0,0 +1,34 @@ +Was würde man riskieren, wenn man immer auf Nummer sicher ginge? +Eine Menge! Die Welt, wie wir sie kennen, würde ja nicht existieren, wären Menschen nicht immer wieder Risiken eingegangen. Es gäbe heute keinen Handel und keine Innovationen. Risiken einzugehen ist ein ganz wesentlicher Motor unserer Zivilisation. Der Versuch, sich gegen alles abzusichern, würde zur völligen Lähmung führen. Es gibt sogar Beispiele, dass man sich manchmal in Gefahr bringt, wenn man jegliches Risiko vermeiden will. +Welche? +Viele Menschen haben gezögert, sich mit AstraZenecagegen Corona impfen zu lassen,und warteten lieber ab, bis sie den Biontech-Impfstoff bekamen. Man versuchte, das sehr kleine Risiko einer schweren Hirnvenenthrombose zu vermeiden, und ging dabei unter Umständen das deutlich größere Risiko ein, sich in der Wartezeit mit Covid-19 zu infizieren und womöglich auf einer Intensivstation um sein Leben kämpfen zu müssen. +Ein bisschen Furcht ist im Leben aber schon sinnvoll, oder? +Hätten wir nicht die richtige Dosis Furcht, würden wir in jede Gefahr reinstolpern und könnten auch nicht überleben. Eines ist dabei aber ganz wichtig zu verstehen: Wir lernen die Furcht größtenteils nicht durch eigene Erfahrung, sondern sie wird uns sozial vermittelt. Wir fürchten uns also vor dem, wovor sich auch die Freunde und die Familie fürchten – und wovon die Medien und die Werbung sagen, dass wir uns fürchten sollen. Grundsätzlich ist dieses soziale Lernen vernünftig, denn man kann ja schlecht alle Gefahren selbst austesten. Nur kann das eben auch dazu führen, dass man sich vor den falschen Dingen fürchtet. +Die Fotografen Hahn Hartung haben in den vergangenen Jahren Menschen in Deutschland besucht, die sich auf das Schlimmste vorbereiten... +Was wären Ihrer Ansicht nach solche falschen Dinge? +Welche Gefahr ist größer: in den nächsten Jahren von einem Terroristen getötet zu werden oder von einem Autofahrer, der von einem Smartphone abgelenkt ist? Nach Umfragen glauben viele, dassTerrorismusdie größte Gefahr sei, gestehen aber unbefangen ein, dass sie am Steuer Nachrichten verschicken und lesen. In Deutschland kamen in den letzten zehn Jahren im Schnitt drei Personen pro Jahr durch Terroristen ums Leben, doch über 300 Personen verloren ihr Leben durch abgelenkte Fahrer, die auf ihrem Handy Nachrichten verschickten oder etwas streamten. Die Angst vor Terrorismus dient in vielen Ländern auch dazu,staatliche Überwachungssystemeeinzuführen, welche die Freiheiten der Demokratie untergraben. Es gibt da große Diskrepanzen zwischen den realen Risiken und den weitverbreiteten Ängsten. +Wie kann man das ändern? +Meines Erachtens müsste schon Kindern und Jugendlichen Risikokompetenz beigebracht werden: Risiken richtig einschätzen, sie abwägen und dabei informiert und entspannt mit Unsicherheiten umgehen. Da gibt es einen großen Nachholbedarf. In der Schule lernt man heute vor allem die Mathematik der Gewissheit – Algebra und Geometrie –, aber kaum statistisches Denken. Nicht mal im Medizinstudium wird das richtig vermittelt. Untersuchungen zeigen, dass eine Großzahl der Uniabsolventen nicht in der Lage ist, Risiken richtig einzuschätzen. Dabei könnte man das schon in der Schule anhand ganz anschaulicher Probleme vermitteln. +Wie sehr kommt es neben der rationalen und mathematischen Bewältigung von Risiken auch auf "Bauchgefühl" und Intuition an? +Das hängt ganz von der Situation ab. Bei stabilen Problemen, zu denen es verlässliche Zahlen und Variablen gibt, kommt man mit komplizierten mathematischen Modellen sehr weit. Das Risiko, im Casino beim Roulette zu verlieren, kann exakt berechnet werden. Aber je ungewisser und instabiler ein Szenario wird, etwa weil der Faktor Mensch ins Spiel kommt, desto besser funktioniert die intuitive Einschätzung. Ich vergleiche das immer mit dem Sport: Ein Baseballspieler berechnet ja auch nicht die Flugbahn des Balls, er hat einfach ein Gefühl dafür und fängt ihn. Das läuft größtenteils unbewusst ab – aus jahrelanger Erfahrung und Übung. +Trotzdem werden heute große Hoffnungen auf künstliche Intelligenz gesetzt. Wird sie uns künftig helfen, mit Risiken noch besser umzugehen? +In den USA wird in manchen Gerichtssälen mithilfe von Algorithmen vorausgesagt, ob der Angeklagte innerhalb der nächsten zwölf Monate wieder straffällig wird. Diese Vorhersagen sind jedoch nicht besonders gut. Auch hier gilt: Ist die Situation eher ungewiss und instabil, funktionieren Erfahrung und einfache Regeln oft genauso gut oder besser als die kompliziertesten Algorithmen. Obendrein sind Faustregeln keine Blackbox, sondern können transparent gemacht werden. Wir haben beispielsweise effiziente Entscheidungsbäume entwickelt, welche Ärzte bei der Aufnahme von Patienten in Kliniken anwenden. Etwa, ob ein Patient mit schweren Herzbeschwerden direkt in die Intensivstation gebracht wird oder in ein reguläres Bett mit Telemetrie kommt. Das ist eine Entscheidung auf Leben und Tod. Aber diese einfachen Regeln funktionieren erstaunlich gut. Sie fragen nur: Gibt es ein bestimmtes Merkmal im Elektrokardiogramm? Sind die Herzbeschwerden die primären Beschwerden? Und noch ein oder zwei Fragen mehr – danach wissen Sie, was zu tun ist. +Warum wollen Sie Kindern und Jugendlichen dann den Umgang mit Statistiken beibringen? +Um ihnen zu helfen, informierte Entscheidungen selbst treffen zu können. Nichts ist ohne Risiko, das Leben selbst ist ein Risiko. Statistisches Denken braucht jeder, um irreführende Berichte in Medien zu durchschauen, statt von diesen verängstigt und beeinflusst zu werden. Früher hat man gefragt, warum sollten wir allen Menschen Lesen und Schreiben beibringen? Es reicht doch, wenn einige das verstehen und den anderen sagen, was zu tun ist. Heute ist der informierte Umgang mit Risiken und Ungewissheiten genauso wichtig wie damals Lesen und Schreiben. +... Kriege, Terroranschläge, Naturkatastrophen – für diese Fälle haben die Porträtierten vorgesorgt +Sind junge Menschen heute insgesamt mehr oder weniger risikofreudig als vergangene Generationen? +So allgemein kann ich das nicht sagen. Aber man kann sich bestimmte Indikatoren ansehen. Studien aus den USA zeigen zum Beispiel, dass kurz nach Einführung der Smartphones die ungewollten Schwangerschaften und Abtreibungen zurückgegangen sind. Ob das so ist, weil die jungen Frauen jetzt besser informiert sind oder weil sie weniger physischen Kontakt zu Männern haben, ist jedoch unklar. Und dann gibt es neue Risiken, die durch mangelnde Kontrolle über die neuen Technologien entstehen: Neben den am Steuer verschickten Textnachrichten ist das etwa auch die Tatsache, dass die meisten Digital Natives nie gelernt haben, versteckte Werbung von echten Nachrichten zu unterscheiden oder herauszufinden, wer hinter einer Website steht und versucht, die eigene Meinung zu manipulieren. Risikokompetenz ist also die beste Verteidigung gegen Manipulation. +Weshalb sind risikokompetente Bürger wichtig für eine Demokratie? +Aus dem gleichen Grund, aus dem die Bürger lesen, schreiben und rechnen können sollten. Risikokompetenz ist heute mehr denn je die Voraussetzung, um qualifizierte Entscheidungen zu treffen. Zumal auch viele neue Risiken entstanden sind, mit denen wir umgehen müssen, etwa das reale Risiko eines groß angelegten Missbrauchs unserer digitalen Daten. Immer mehr Menschen geben sich bedenkenlos einer kommerziellen Form der Überwachung durch die Social-Media-Plattformen hin. Sie übersehen, wie eng die Verbindung zwischen der Politik und der kommerziellen Tech-Industrie ist. Ich empfehle allen, sich mal das soziale Kredit- und Überwachungssystem anzusehen, das derzeit in China entsteht, um Menschen auf Linie zu bringen. Auch in Deutschland sammeln Datenhändler wie Acxiom alle persönlichen Daten, die sie bekommen können. Da sollten wir fragen: Möchten wir das? Deshalb: In Zeiten immer schlauerer Algorithmen brauchen wir auch schlaue, risikokompetente Menschen. +Wie steht es mit der Risikokompetenz der Gesellschaft als ganzer? Viele haben jahrelang die Tatsache des Klimawandels weitgehend ausgeblendet und damit das Risiko schlimmer Konsequenzen für nachfolgende Generationen erhöht. +Wir leben in einer Gesellschaft, in der viele Angst haben, Risiken einzugehen, und damit Innovation verhindern. Das gilt insbesondere für große Unternehmen. Das hat meines Erachtens auch mit einer negativen Fehlerkultur zu tun – es könnte ja schiefgehen, wenn man etwas Neues riskiert. Viele Manager haben Angst, Fehler zu machen und dafür bestraft zu werden. Diese Absicherungskultur verbreitet sich immer mehr in Wirtschaft, Politik und im Gesundheitswesen. Familienunternehmen haben noch eher eine positive Fehlerkultur, in der Fehler als Chancen erkannt werden, man Fehler bereitwilliger zugibt, um daraus zu lernen und zu besseren Lösungen zu kommen. +... mit Schutzanzügen, Waffen zur Verteidigung,  Überlebenstraining oder Vorratskellern +In den vergangenen Monaten der Pandemie wurden von der Politik auch Fehler gemacht und einige Kurswechsel vorgenommen. Die Akzeptanz in der Bevölkerung dafür war teilweise gering. +Der Unmut ist angesichts der Bedrohung, die die Menschen durch Covid-19 empfinden, verständlich. Trotzdem sollte sich in einer solchen Situation jeder einmal fragen: Wie würde ich entscheiden? Man kann in Zeiten so großer Ungewissheit keine Fünfjahrespläne machen, sondern muss auch mal kurzfristig umschwenken, wenn neue Erkenntnisse vorliegen. Das ist keine Schwäche, sondern macht jetzt gutes Risikomanagement aus. Das kurze Aussetzen der Impfung mit AstraZeneca war dagegen kein Beispiel für gutes Management – die Politik versuchte wohl, die Ängste der Impfskeptiker zu beruhigen, hat aber das Vertrauen vieler anderer in den Impfstoff schwer beschädigt. Und mit Folgen für die Gesundheit: Die Impfdosen blieben liegen, und weniger Menschen wurden geimpft. +Es gibt aber auch gesellschaftliche Gefahren, die statistisch belegt sind, etwa das Armutsrisiko. Wie viel Risiko ist Ihrer Meinung nach jedem Einzelnen zuzumuten, und wie viel Mindestsicherung soll der Staat bieten? +Im Vergleich zu den USA haben wir in Deutschland eine viel stärkere Sicherung durch den Staat vor Armut, Krankheit und anderen Problemen. Und das ist auch gut so. Eine soziale Marktwirtschaft braucht aber auch mündige Bürger, die wissen, wo sie verlässliche Informationen finden, und bereit sind, selbst Verantwortung zu übernehmen. Wichtig ist dabei, dass der Einzelne auch die gesellschaftlichen Verzerrungen in Bezug auf Risiken erkennt. +Die da wären? +Zum einen die mediale Berichterstattung: Weil man in vielen Redaktionen gern "bad news" bringt, weil das Auflage und Reichweite verspricht, wird sehr oft über Kriminalität oder Unglücke berichtet. Viele Deutsche denken deshalb, das Risiko, einem Verbrechen zum Opfer zu fallen, sei gestiegen. Dabei zeigt die Statistik,dass die Kriminalität seit Jahren insgesamt zurückgeht. Zudem gibt es ganze Branchen, die Angst zu Geld machen, wie dieVersicherungsbrancheund auch die medizinische Industrie, die ihre Geräte verkaufen will. In den USA etwa werden jedes Jahr geschätzt eine Million Kinder unnötigen Computertomografien ausgesetzt. +Weiß man, warum manche Menschen risikofreudiger sind als andere und welche Rolle dabei Kriterien wie Alter, Geschlecht oder soziale Schicht spielen? +Junge Männer gehen öfters unnötige Risiken ein – wie Bungeespringen – als junge Frauen oder ältere Menschen. Dazu gibt es evolutionstheoretische Erklärungen, wonach junge Männer stärker um ihren Status in sozialen Hierarchien kämpfen müssen. Wenn sie schließlich eine feste Partnerschaft eingehen, beruhigt sich das meist wieder. Die Kultur spielt ebenfalls eine starke Rolle bei der Risikofreudigkeit. Meine amerikanischen Freunde werden blass, wenn sie auf einer deutschen Autobahn fahren, auf der es keine Geschwindigkeitsbegrenzung gibt, oder einen Weihnachtsbaum mit brennenden Kerzen sehen. Das ist für sie ein unverantwortliches Risiko. Wenn unter einem sicheren elektrischen Weihnachtsbaum mit US-Flagge auf der Spitze aber einGewehr für den 16-jährigen Sohnliegt, ist das voll okay. +Wenn es ums Risiko geht, kommt meist Gerd Gigerenzer ins Spiel. Als Psychologe hat er sich am Max- Planck-Institut und an der Universität Potsdam viele Jahre lang damit beschäftigt, wie Menschen Entscheidungen treffen. Also auch damit, wie viel sie dabei wagen. diff --git a/fluter/interview-protestforscher-demos-ostdeutschland.txt b/fluter/interview-protestforscher-demos-ostdeutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f133c712b93953cbf604d3fdb408e36173f12d87 --- /dev/null +++ b/fluter/interview-protestforscher-demos-ostdeutschland.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Wieso erscheinen die Demonstrationen gegen rechts gerade in Ostdeutschland so bedeutend? +Dort standen in den vergangenen Jahren extrem rechte Akteure im Vordergrund, man erinnere sich an die Pegida-Bewegung. Der AfD ist es gelungen, mit der Migration ein Thema zu besetzen, das in der Gesellschaft viel diskutiert wurde. Damit haben sie viele mobilisiert. Auf den Straßen kam es ab 2020 zu Protesten gegen die Corona-Maßnahmen, die teilweise von der extremen Rechten dominiert wurden. Das hat verschiedene Gründe – in vielen Orten gibt es Kontinuitäten seit den flüchtlingsfeindlichen Protesten ab 2014/2015, sehr gut vernetzte Akteure und ein politisches Klima der Normalisierung des Rechtsextremismus. Gegenbewegungen gab es auch – zum Beispiel "Unteilbar" im Jahr 2018 (heute "Hand in Hand", Anm. der Red.), das als Reaktion auf rechte Ausschreitungen in Chemnitz und Köthen entstand. Jetzt haben wir folgende Situation: Die AfD ist stark. DerLandesverfassungs-schutzin Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen stuft die jeweiligen Landesverbände der AfD in den drei Bundesländern als "gesichert rechtsextremistisch" ein. In drei ostdeutschen Bundesländern stehen Landtagswahlen an, die Pläne aus Potsdam wurden bekannt. Unter anderem dadurch entsteht eine zunehmende Drohkulisse, die bei vielen Menschen in den ostdeutschen Bundesländern das Bewusstsein schärft, dass wir es mit einem gesamtgesellschaftlichen Problem mit Rechtsextremismus zu tun haben. + +Die erste Demo gegen Rechts in Dippoldiswalde(Foto: Nora Börding) +Auch inostdeutschen Kleinstädten wie Grimma oder Dippoldiswaldepositionieren sich deshalb nun viele Menschen gegen rechts. Doch aus Angst vor Anfeindungen wollen viele ihre Namen nicht der Presse nennen. Ist diese Angst begründet? +Die Erfahrung zeigt, dass Menschen, die sich in den letzten Jahren in der Zivilgesellschaft engagiert haben, extrem angegangen wurden. Jakob Springfeldhat zum Beispiel als erster Jugendlicher in Zwickau Fridays-for-Future-Proteste organisiert und wurde dafür bald von Rechten bedroht. Man schlendert in diesen Gegenden nicht einfach zu einer Demonstration, ohne darauf zu achten, wer sonst noch unterwegs ist, wer hinter einem herläuft – oder einem vielleicht bis zur Wohnungstür folgt. In ländlichen Gegenden undKleinstädtenkann es weitreichende Konsequenzen haben, sich politisch zu positionieren. +Wie meinen Sie das? +Ein Sportverein ist in der Regel abhängig von Sponsoren, die vielleicht kein Geld mehr geben, wenn der Verein ihre Werte nicht vertritt, und ein Handwerker kommt aus politischen Gründen nicht mehr ins Haus. Feindbilder spitzen sich schnell zu und führen dazu, dass es zum Beispiel einen Brandanschlag auf das Haus eines Demo-Organisators gibt wie in Waltershausen im Landkreis Gotha. In Orten, in denen jeder jeden kennt, ist das alles sehr real. Andersherum kann eine Demonstration in so einem Nahbereich auch große positive Effekte haben. +Inwiefern? +Etwa wenn man in Dippoldiswalde mit 800 Menschen auf dem Markt steht und sich fragt, wo denn diese ganzen Leute herkommen. Oder wenn man dort jemanden trifft, der einem im Alltag oft begegnet, und man sich bisher nicht sicher war, für was er oder sie steht. Das schweißt zusammen und stärkt die Zivilgesellschaft im Kleinen. Diese Demonstrationen sind für viele unterschiedlich wichtig: Einige sind durch sie aufgewacht, andere waren bereits resigniert und sehen nun – da steht ja noch jemand neben mir. +Wird dieses Gefühl anhalten, oder verpufft die Wirkung schnell wieder? +Dass so große Straßenproteste lange anhalten, ist nicht sehr wahrscheinlich – dafür ist der organisatorische Aufwand zu groß. Aber nur weil die Bewegung auf der Straße ihren Anfang gefunden hat, muss sie nicht dort fortgeführt werden oder enden: An einigen Orten ist dadurch wieder eine demokratische Zivilgesellschaft entstanden, die es vielleicht kaum noch gab, an anderen wurden neue Bündnisse geschmiedet,  die vielleicht politisch nicht für das gleiche stehen oder für die gleichen Themen kämpfen, aber sich ab jetzt zusammen für mehr Demokratie und gegen rechts engagieren. Der Protest besteht so weiter, nur in anderer Form. + +Alexander Leistner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig. Er forscht zu sozialen Bewegungen und Protest. + + +Portrait: privat; Titelbild: Ashkan Shabani/Redux/laif diff --git a/fluter/interview-susanne-heinrich-film-das-melancholische-maedchen.txt b/fluter/interview-susanne-heinrich-film-das-melancholische-maedchen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..516855f99281ee11fd38950ecc242a461344dc33 --- /dev/null +++ b/fluter/interview-susanne-heinrich-film-das-melancholische-maedchen.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Der Film spricht aus Sicht einer jungen Frau über Themen wie Selbstverwirklichung und Geschlechterverhältnisse. Wie haben Sie die Hauptfigur entwickelt? +Als Erstes gab es den Filmtitel "Das melancholische Mädchen". Das ist vor allem eine Typenbeschreibung, also ein Typ Frau, der vom Neoliberalismus hervorgebracht wird. In dieser Gesellschaft bekommen wir vieles als Einzelschicksal erzählt. Ich wollte hingegen seriell davon erzählen und die Ökonomisierung zwischenmenschlicher Beziehungen, vor allem zwischen Männern und Frauen, in den Mittelpunkt stellen. Es ist kein Film, der darauf abzielt, dass Figur und Zuschauer/-in im selben Moment das gleiche Gefühl haben. Viele können aber sicher Situationen wiedererkennen oder sich mit Positionen oder der Ironie der Figur identifizieren. + +Susanne Heinrich ist Regisseurin, Drehbuchautorin und Schriftstellerin. Sie brach ihre Schullaufbahn vor dem Abitur ab und studierte anschließend am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. 2005 erschien "In den Farben der Nacht", ihr Buchdebüt mit Erzählungen. Ihr erster Kinofilm "Das melancholische Mädchen" wurde 2019 als bester Spielfilm beim Filmfestival Max Ophüls Preis ausgezeichnet. + +Sehen Sie den Film selbst als feministischen Film? +Das wird in der Rezeption des Films entschieden. Er ist natürlich auf der Basis meines eigenen Feminismus entstanden, zu dem ich selbst erst spät gefunden habe. +Was bedeutet Feminismus für Sie? +Für mich steht Kapitalismuskritik im Zentrum vom Feminismus. Deswegen steht auch das Kapitel "Feminismus zu verkaufen" am Anfang. Dass Feminismus vermarktbar geworden ist, führt dazu, dass viele Themen und Positionen verflachen. Ich finde es schwierig, wenn irgendwelche Hollywood-Diven Reden darüber halten, dass Frauenfilme ja auch erfolgreich sein können. Gleichzeitig verändert sich strukturell nicht viel. Mal auf den Mikrokosmos Filmbetrieb geschaut: Die Statistiken zum Anteil von Frauen haben sich quasi überhaupt nicht geändert in den letzten 30 Jahren, die Schlüsselpositionen sind noch vollkommen ungleich besetzt. Ich glaube, dass der Feminismus im Kapitalismus schnell an seine Grenzen stößt. +Das melancholische Mädchen sagt einmal: "Ich habe letztens einen Film von Helke Sander gesehen. Die Frauen darin waren aufgeklärter, weniger unterdrückt und nicht so blutleer wie wir." Ist die Generation um Helke Sander ein Einfluss für Sie? +Ich kann viel mit dem materialistischen Feminismus der neuen Frauenbewegung anfangen, weil ich das Gefühl habe, dass viele Fragen von damals nicht geklärt sind und mich selbst betreffen. Zum Beispiel: Wie kann ich als Mutter und künstlerisch arbeitende Frau leben? Geht das ökonomisch überhaupt, und kann ich darin eine Würde bewahren? Von Sander, aber auch vonUla Stöckloder Jutta Brückner geht etwas im deutschen Filmschaffen aus, an das ich gerne anknüpfen würde. Auch wenn es stilistisch eher andere Fixsterne gibt, wie Harun Farocki, aber auch die Nouvelle Vague. + + + + +Stilistisch ist auffällig, wie die Männerkörper in Ihrem Film inszeniert werden. Wollten Sie den "männlichen Blick" im Kino umkehren? +Mein Verleiher Björn Koll [von Edition Salzgeber, Anm.] meinte dazu einmal, die Großaufnahme von dem Penis in der Badewannen-Szene sei die Rache für 100 Jahre unmotivierte Dekolleté-Shots im Kino. Das ist vielleicht ein bisschen zu kurz gegriffen. Aber natürlich habe ich mich mit Laura Mulvey auseinandergesetzt. Die feministische Filmtheorie zummale gazebesagt, dass der weibliche Körper aus dieser Perspektive immer das Spektakel im Bild ist. Mit diesem Blick wollte ich spielen, ihn vorführen und sichtbar machen: Was passiert, wenn man Männerkörper wie Frauenkörper filmt? Da gibt es die Szene im Prolog, in der man mit der Kamera plötzlich von oben herab auf diesen nackten, weichen Männerkörper schaut, der dort hindrapiert ist nach dem ikonografischen Motiv der "liegenden Schönen". In einer anderen Szene lasse ich einen Mann Pin-up-Posen auf dem Bett performen, während die Frau die Stimme, also die Erzählhoheit in der Szene besitzt. +Was würden Sie sich wünschen, wie solche Bilder auf Zuschauer/-innen wirken? +Ich fände es schön, wenn sie ein befreiendes Lachen auslösen. Das habe ich bei Vorführungen schon beobachtet, auch bei Männern, es haben sich bei mir erstaunlich viele Männer für den Penis-Shot bedankt. Und natürlich fände ich es gut, wenn der Film Fragen zum eigenen Blick und zu konventionellen Körperbildern in Filmen auslöst. +Set-Design, Farbgebung und Schauspiel: Die ganze Ästhetik ist von extremer Künstlichkeit geprägt. +Die Aussage des Films liegt zum großen Teil in dieser Ästhetik. Wir haben im Studio gedreht, damit man in den unterschiedlichen Zimmern immer das Gefühl hat, als hätte man sie schon mal gesehen. Im selben Set wurde jeweils nur die Tapete ausgetauscht. Statt realistischer Räume, die wirklich bewohnt sind, sind es eher Mottozimmer. Im Prinzip sprechen diese Räume so, wie auch der Text gesprochen wird. Beide Ebenen treten miteinander in Dialog, überformen einander. Den Modus der Repräsentation und Psychologisierung wollte ich überwinden, damit "Das melancholische Mädchen" als typisiertes Sittengemälde gesehen werden kann. + +Dieser Text stammt aus demKinofenster, dem filmpädagogischen Portal der bpb. Da gibt es noch viel mehr über "Das melancholische Mädchen". EineFilmkritik,eine Szenenanalyseund ein Rückblick auffeministische Vorbilderdes Films. + +Porträt Susanne Heinrich: Christiane Gundlach diff --git a/fluter/interview-thueringen-projekt-demokratie-gefahr.txt b/fluter/interview-thueringen-projekt-demokratie-gefahr.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..792e649e4c384988a9abfebfe313d619972d1c60 --- /dev/null +++ b/fluter/interview-thueringen-projekt-demokratie-gefahr.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +In Ihrer Analyse haben Sie verschiedene Szenarien durchgespielt, wie genau Parteien die Demokratie aushöhlen können. +Wir wissen aus anderen Ländern, dass autoritär-populistische Parteien häufig zuerst die Justiz angreifen. In Thüringen könnte so eine Partei versuchen, wichtige Posten mit ihren eigenen Leuten zu besetzen und so die Rechtsprechung zu beeinflussen. Sie hätte es nicht ganz so einfach wie Orbán in Ungarn, weil die Thüringer Verfassung besser gegen autoritär-populistische Strategien gewappnet ist als die ungarische Verfassung von 1989. Aber außer Gefahr ist die Thüringer Justiz nicht. +Worin genau besteht die Gefahr? +Eine autoritär-populistische Partei könnte versuchen, die Justiz von ihrem eigenen politischen Programm abhängig zu machen. Die Gewaltenteilung außer Kraft zu setzen. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass autoritär-populistische Regierungen vor allem ein Ziel verfolgen: Sie wollen Staat und Gesellschaft so umkrempeln, dass sie irgendwann nicht mehr abgewählt werden können. Das versuchen sie Schritt für Schritt und, wenn möglich, ohne mit Gesetzen oder der Verfassung zu brechen. Wenn eine Thüringer Landesregierung beispielsweise die Lehrpläne für Geschichte umschreibt oder Polizei- und Verfassungsschutzpräsidenten mit "eigenen Leuten" besetzt, ist das legal.  Der Demokratieabbau ist in so einem Fall schwer zu erkennen, weil nicht unbedingt ersichtlich ist, dass es sich um eine antidemokratische Strategie handelt. +In anderen EU-Staaten wieUngarn oder Polenhaben autoritäre Parteien vorgemacht, wie man die unabhängige Justiz oder auch die Pressefreiheit beschneidet. Wie wahrscheinlich ist es aus Ihrer Sicht, dass so etwas auch in Deutschland passiert? +Wie wahrscheinlich es wäre, dass so etwas auf Bundesebene passieren könnte, haben wir bislang nicht untersucht. Der Thüringer Ministerpräsident kann aber beispielsweise im Alleingang die Landeszentrale für politische Bildung abschaffen oder die Medienstaatsverträge mit ARD, ZDF und MDR kündigen. Ob diese Szenarien wirklich eintreten, hängt natürlich davon ab, wer in Regierungsverantwortung kommt. +Wie genau haben Sie die Zukunftsszenarien entwickelt und wie valide ist solche Forschung eigentlich? +Die Szenarien sind valide. Wir haben uns erst ausführlich mit Fällen wie Ungarn und Polen beschäftigt, dann mögliche Szenarien für Thüringen entwickelt und mit über 150 Fachleuten vor Ort abgeklopft: Kann das mit unseren Institutionen und Normen auch so passieren? Oder ist das in Thüringen anders? Wo sind für autoritär-populistische Parteien Einfallstore, mit denen sich bisher keiner beschäftigt hat? Wir haben uns also angeschaut,wieund unter welchen institutionellen Bedingungen ein solcher Demokratieabbau in Thüringen passieren könnte. Alle Szenarien sind, unabhängig vom Wahlergebnis, politisch und juristisch plausibel. +Die Thüringer Regierung hatte diskutiert, vorsorglich die Landesverfassung "wetterfest" zu machen. Letztlich konnte sich die Koalition aber auf keine gemeinsame Linie verständigen. +In Thüringen regiert gerade eine Minderheitsregierung. Es wäre also schwer geworden, noch vor den Landtagswahlen die Verfassung zu ändern. Nichtsdestotrotz – es wäre möglich gewesen. Und mir fällt auf, dass immer noch viele Menschen in Thüringen Selbstberuhigungsthesen reproduzieren: ‚So etwas kann doch nicht in Deutschland passieren. Wir haben doch aus der Geschichte gelernt. Wir sind doch ein föderaler Staat.' Aber mit dieser Haltung verkennt man, was passieren könnte, wenn wir eine autoritär-populistische Regierung hätten. Was auf die zwei Millionen Bürgerinnen und Bürger in Thüringen zukäme. + +Sie haben sieben konkrete Vorschläge gemacht, um die Thüringer Demokratie wehrhafter zu machen. Welche Punkte wären aus Ihrer Sicht besonders dringend? +Das Allerwichtigste wäre, dass sich Politik und Gesellschaft nochmal im Detail mit allen Szenarien auseinandersetzen. Letztlich ist eine Verfassung nie zu hundert Prozent wasserdicht. Das kann sie auch nicht sein, weil sie Freiheiten und Pluralität gewährleisten soll, und und das setzt voraus, dass sich eine Mehrheit im Land zu den Grundwerten demokratischer Rechtsstaatlichkeit bekennt. +Gleichzeitig muss man aber auch aufpassen, dass man mit dem Versuch, die Verfassung vor autoritären Populisten zu schützen, nicht selbst ins Autoritäre kippt. Nur weil eine Partei genügend Stimmen hat, um Entscheidungen mit Zweidrittelmehrheit zu blockieren, sollte man nicht die erforderlichen Mehrheiten absenken. Das würde der Demokratie in diesem konkreten Fall schaden.  In Thüringen werden besonders wichtige Entscheidungen wie die Auflösung des Landtags von möglichst vielen Abgeordneten getragen, so sieht es die Landesverfassung vor und das sichern Zweidrittelmehrheiten ab. Unsere Vorschläge – etwa, dass der Landtag einer Kündigung der Medienstaatsverträge zustimmen sollte – sind aber unbedenklich, sie stärken die Demokratie. +Laut dem jüngsten "Thüringen-Monitor" sind nur mehr 45 Prozent der Thüringer mit der Umsetzung der Demokratie zufrieden  – das ist der niedrigste Werte seit 2008. +Ich glaube, dass die Krisen der letzten Jahre hier eine Rolle spielen: Pandemie, Krieg, Inflation. Autoritär-populistische Parteien wie die AfD nutzen solche Krisen gezielt aus und streuen populistische Erzählungen, um das Vertrauen in die Demokratie, in die demokratischen Parteien, zu schwächen. Ich bin selbst Thüringerin und beobachte, dass viele Menschen in Thüringen, die in der DDR aufgewachsen und sozialisiert worden sind, eine andere Vorstellung davon haben, wie eine Demokratie funktionieren sollte. Nämlich schneller, mehr ergebnis- als prozessorientiert. Wie gesagt, wir hatten jetzt die letzten Jahre eine Minderheitsregierung, bei der viele Entscheidungsprozesse vielleicht besonders kompliziert waren und lange gedauert haben. Minderheitsregierungen können gut funktionieren, aber dass sich die Fraktionen in Thüringen in den vergangenen Jahren so schwer einigen konnten, hat die Zufriedenheit der Thüringerinnen und Thüringer mit der Demokratie bestimmt nicht gestärkt. +Was können junge Menschen tun, um die Demokratie zu verteidigen? +Es ist wichtig, dass sich junge Menschen informieren und lernen, politische Debatten einzuschätzen, damit sie sich auch außerhalbder eigenen Blase bewegenund autoritäre und populistische Erzählungen erkennen und bewerten können. Und jeder kann etwas gegen die Bedrohung durch autoritär-populistische Parteien tun, indem sie oder er sich mit den möglichen Szenarien beschäftigt und darüber mit anderen spricht. Wenn das Bewusstsein für die Gefahren für die Demokratie steigt, verstehen die Bürgerinnen und Bürger auch schneller, warum es nicht okay ist, dass eine Partei Grundrechte abschaffen will.  Passiert so etwas tatsächlich, können sie handeln. Zum Beispiel mit Hilfe des neuenGegenrechtsschutzes, dendie Gesellschaft für Freiheitsrechte,Frag den Staatund derVerfassungsblogaufgebaut haben. +Sind diese Szenarien auch in anderen Bundesländern denkbar? +Total. Aber es gibt natürlich Unterschiede in den Verfassungen und den jeweiligen Gesetzestexten, die müssen wir uns erst einmal genau anschauen. Auf unser Thüringen-Projekt haben wir viele positive Rückmeldungen bekommen. Jetzt wollen wir das Projekt ausweiten. + + +Hannah Katinka Beck, 27, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Verfassungsblog. Seit September 2023 arbeitet sie beim Thüringen-Projekt. + +Das Interview wurde bereits vor der Landtagswahl in Thüringen am 1. September 2024 geführt. + diff --git a/fluter/interview-ueber-den-umgang-der-generationen-untereinander.txt b/fluter/interview-ueber-den-umgang-der-generationen-untereinander.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..28930de7e91bcbae455623259b993fee6202486a --- /dev/null +++ b/fluter/interview-ueber-den-umgang-der-generationen-untereinander.txt @@ -0,0 +1,31 @@ +Auch nicht die starken Gefühle, die Eltern für ihr Kind haben? +Die deutlich emotionalisierte Eltern-Kind-Beziehung hängt auch mit Vorstellungen über Kindheit zusammen. Zunehmend setzte sich ein Verständnis von Kindern als schützenswerte Wesen durch, die nicht für Geld arbeiten, geschlagen werden oder Sex mit Älteren haben sollen. Stattdessen sollen sie in die Schule gehen. In jüngerer Zeit sieht man sie zunehmend als mit besonderen Rechten ausgestattet. Diese Ideen werden seit der Kolonialzeit exportiert und zum Beispiel durch Entwicklungspolitik oder NGOs in hohem Maße auch global verbreitet. +Es gibt aber Länder, die zum Beispiel mit Kinderarbeit kein Problem haben. In Bolivien gibt es sogar Kindergewerkscha !en, die im Namen der Kinder das Recht auf Arbeit verteidigen. +Ja, das stimmt, und auch in Europa und Nordamerika war das Thema Kinderarbeit lange umstritten. Vor allem in der Landwirtschaft, aber auch anderen Familienbetrieben war und ist der Beitrag von Kindern wichtig. Wir sehen Überbleibsel davon zum Beispiel bei den sogenannten Kartoffelferien. Diese wurden eingeführt, damit die Kinder bei der Ernte helfen konnten. Nach wie vor lernen Kinder in vielen Gegenden der Welt durch die Mitarbeit im Haushalt, auf dem Hof oder in der Werkstatt. +Kann man von Kulturen, in denen das Miteinander der Generationen anders organisiert ist, etwas lernen? Oft scheint dort zum Beispiel der Umgang mit Älteren empathischer zu sein. +Lange Zeit hat man geglaubt, dass alte Menschen in nicht industrialisierten Gesellschaften mehr geachtet und respektiert werden. Das lässt sich aber so nicht halten. Auch dort, wo es einen grundsätzlichen Respekt vor dem Alter gibt, hängt die individuelle Wertschätzung sowohl von mentaler Vitalität als auch vom persönlichen, auch materiellen, Erfolg im vorherigen Leben ab. Wem es gelungen ist, Kapital anzuhäufen – das kann Wissen sein, eine Viehherde oder Geld auf dem Konto –, wird wahrscheinlich im Alter mehr geachtet. Zudem finden wir natürlich auch Unterschiede zwischen den Männern und Frauen. +Es gibt auch Naturvölker, die ihre Alten opfern oder sterben lassen, wenn sie nicht mehr zum Überleben der Gemeinschaft beitragen können. +Als Ethnologin würde ich den Ausdruck "Naturvölker" lieber nicht verwenden, aber Sie haben insofern recht: Neben einer Romantisierung anderer Gesellschaften finden wir auch das umgekehrte Bild eines anscheinend grausamen Umgangs mit alten Menschen in anderen Gesellschaften. In diesem Sinne wurden Vernachlässigung oder gar Tötung von alten Menschen, häufig in Bezug auf die Inuit, diskutiert. Dies bleibt allerdings umstritten. Aber wir können das Interesse daran – ebenso wie die Romantisierung – als Ausdruck unserer eigenen Beschäftigung mit dem Thema sehen. Neben solchen Beschreibungen kultureller Muster finden wir auch Erklärungen auf der individuellen Ebene. Zum Beispiel habe ich in einer Studie aus Indonesien von einer Frau gelesen, die im Alter allein gelassen wurde, bis sie verhungerte. Weder ihre Schwiegertochter noch Nachbarn oder andere Dorfbewohnerinnen und -bewohner wollten sich um sie kümmern. Sie hatte es wohl nicht geschafft, zu Lebzeiten genug positive Beziehungen aufzubauen. +Wie wichtig ist das Abtreten der Alten? +Sie meinen vielleicht die Vererbung von Besitz und Macht an die jüngere Generation? Das ist sicher ein wichtiger Teil von Generationenbeziehungen. In bäuerlichen Familien beispielsweise markiert die Übertragung des Hofes häufig den Schritt in die Selbstständigkeit und das Erwachsenwerden der jüngeren Generation. Auf der anderen Seite steht die Furcht der Alten vor dem Verlust der Macht und zumindest historisch auch die Gefahr, mit ihrem Abtreten nicht mehr ausreichend versorgt zu werden. +Lassen Sie uns über den demografischen Wandel reden. Gefährdet die drohende Überalterung der Gesellschaft nicht den sozialen Frieden, weil die Anliegen der Jungen wenig Gehör finden? Die Jungen haben das Gefühl, dass die Alten die Ressourcen verbrauchen und dann auch noch kaum bezahlbare Renten beziehen. +Ich bin mir nicht sicher, was Sie mit "Überalterung" meinen bzw. woran Sie das "Über" messen. Aber ja, wir beobachten ein Ansteigen der Lebenserwartung und in vielen Ländern auch eine Umkehrung der Bevölkerungspyramide. Diese Entwicklung wird häufig problematisiert, etwa in dem Zusammenhang, auf den Sie wohl im Hinblick auf die Renten anspielen. +Bei einem Rentenalter von derzeit 67 … +Das mag niedrig erscheinen, wenn man bedenkt, dass das Alter heute einen viel größeren Teil des Lebens einnimmt als zu der Zeit, in der das Rentenalter eingeführt wurde. Daher spricht die Soziologie auch von "jungen Alten", "mittelalten Alten" und "alten Alten". Diese Abschnitte sind nur bedingt vom tatsächlichen oder chronologischen Alter abhängig, sondern vielmehr auch von der individuellen Lebens- und Gesundheitssituation. Insofern denkt man heute darüber nach, diese Übergänge flexibler zu gestalten. Jemand, der körperlich tätig war, geht vielleicht früher in Rente, ein anderer arbeitet bis ins hohe Alter. Zum Beispiel finde ich persönlich die Vorstellung, mit 65 aufzuhören zu arbeiten, aus meiner heutigen Perspektive nicht unbedingt attraktiv. +Ein anderes Problem ist der drohende Kollaps der Pflegesysteme, wenn es zu viele Menschen gibt, um die sich gekümmert werden muss. +Zunächst ist es ja mal eine positive Entwicklung, dass die Lebenserwartung und auch die Vitalität vieler Menschen zunehmen. Daher ist das Ausmaß der schon lange vorausgesagten Care-Krise noch nicht sicher. Momentan beobachten wir einen Anstieg der Zahl der Pflegekräfte aus dem Ausland. +Und das halten Sie für ein probates Mittel? +Häufig wollen Menschen im Alter durchaus eine enge emotionale Bindung zu ihren Verwandten, aber nicht unbedingt von ihnen körperlich gepflegt werden. Das kann etwas mit Scham zu tun haben. Laut Umfragen möchten in Japan zum Beispiel wesentlich mehr Menschen von einem Roboter als von einem Familienangehörigen gepflegt werden. +Haben die Generationen früher enger zusammengelebt? +Wenn Sie damit die Idee meinen, dass in Europa früher Menschen eher in Mehrgenerationenhaushalten gelebt haben: nein. Auch die Vorstellung, dass die Bedeutung von Verwandtschaft in der Moderne abgenommen hat, wurde von Sozialhistorikern weitestgehend widerlegt. Im Gegenteil: Man kann feststellen, dass verwandtschaftliche Beziehungen in der Moderne wichtiger werden. +Es gibt aber die Kritik, dass die Alten zunehmend in Pflegeheime abgeschoben werden. +Genau für diese Kritik wird die Vorstellung, dass es früher besser gewesen sei, herangezogen. Gleichzeitig trägt dazu bei, dass ein Leben im Alter in der Familie als gut und in der Institution als schlecht empfunden wird. Allerdings gab es ja einerseits früher gar nicht so viele alte Menschen, die von ihrer Familie hätten versorgt werden müssen. Andererseits gab es auch früher schon Institutionen, in denen die Seniorinnen und Senioren gelebt haben. Deren Anteil an der Gesamtbevölkerung ist zumindest bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ziemlich konstant geblieben. Zudem werden auch in Deutschland die meisten älteren Menschen zu Hause gepflegt. +Und dann ist die Pflege meistens Sache der Frauen, etwa von Töchtern, selten von Söhnen. +Das ist sicher richtig, sowohl bei der Pflege im Alter als auch bei der Versorgung von Kindern. Die Freistellung von Frauen von der Lohnarbeit wird gerade in einem konservativen Wohlfahrtsstaat wie Deutschland auch politisch gefördert. Instrumente wie das Ehegattensplitting belohnen vor allem Paare mit großen Einkommensunterschieden mit Steuervorteilen. Das sind häufig Familien, in denen der Mann Vollzeit arbeitet und die Frau zu Hause bleibt oder dazuverdient. Frauen, die als Mütter nicht oder nur geringfügig erwerbstätig sind, fallen auch in der Arbeitslosenstatistik nicht auf. +Besteht da nicht ein Widerspruch? Immerhin wird ja viel von Geschlechtergerechtigkeit gesprochen. +Es gibt verschiedene Ideale und Normen, die sich zum Teil überlappen oder gar widersprechen. Neben dem Gleichheitsideal gibt es eben auch Vorstellungen über eine "gute" Kindheit, "gute" Mütter und die Beziehung zwischen Eltern und Kindern. So wechseln Frauen häufig ihr Ideal der selbstständigen und berufstätigen Frau nach der Geburt ihres ersten Kindes gegen ein Ideal der guten Mutter, die eben nicht oder nur wenig erwerbstätig ist, aus. In dieser Lebensphase und auch später erscheint es dann logisch, dass sie sich auch um ältere Familienmitglieder kümmern. In der Praxis herrscht also ein eher konservatives Gendermodell, das sich neben der Kindeserziehung auch auf die Pflege der älteren Menschen – also die Beziehungen zwischen den Generationen – auswirkt. +Wie wichtig sind Zäsuren? Also biografische Einschnitte, bei denen man mehr Verantwortung übernimmt und feststellt: Ich bin jetzt erwachsen. +Sie spielen hier wahrscheinlich auf sogenannte Übergangsrituale an, die den Eintritt in eine neue Phase, einen neuen Lebensabschnitt markieren. Und ja, bei uns markiert der 18. Geburtstag einen solchen Übergang, an den dann auch neue Rechte und Pflichten geknüpft sind. Allerdings ist der Inhalt des Kind- oder Erwachsenseins ja nicht gegeben, sondern wird kulturell immer wieder neu ausgehandelt. Häufig wurde der Übergang zum Erwachsensein an der Geschlechtsreife festgemacht. So war es in Europa lange gang und gäbe, dass die Mädchen mit der Geschlechtsreife als heiratsfähig galten. Heute würde man in Deutschland ein Mädchen, das zum ersten Mal seine Tage bekommt, noch nicht unbedingt heiraten lassen. Es gibt kein globales System, wir können uns nur in einzelnen Gesellschaften immer wieder neu darauf einigen. +Lassen Sie uns noch über die Weitergabe von Erfahrungen sprechen. Wie wichtig ist der Austausch zwischen den Generationen? +Auch in dieser Frage scheint mir eine Kritik versteckt zu sein. Zumindest hört man häufig, dass heute nicht mehr genug Wert auf die Erfahrungen und das Wissen der alten Menschen gelegt würde. Allerdings ist es ja nicht generell so, dass auf Alte nicht gehört wird. So haben wir viele ältere Politiker, die im Parlament oder in Talkshows sitzen, der Papst ist ein alter Mann, und auch in der Wissenschaft kann durch Seniorität das Ansehen steigen. Auf der individuellen Ebene ist es vielleicht heute auch in Deutschland einfacher für die Enkelgeneration, den Großeltern zuzuhören, als vor einiger Zeit, als man noch vermuten musste, dass man einen Naziopa vor sich hatte. +Tatjana Thelen ist Professorin für Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien. Ihre Themenschwerpunkte sind Verwandtschaft, Pflege und soziale Sicherung diff --git a/fluter/interview-wie-baut-man-ein-earthship.txt b/fluter/interview-wie-baut-man-ein-earthship.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..947cca34fe17df46c30b9f9747570e13438dda59 --- /dev/null +++ b/fluter/interview-wie-baut-man-ein-earthship.txt @@ -0,0 +1,35 @@ +Wie kann ich mir das vorstellen? +Also, ein Earthship ist immer so gebaut, dass es bestimmte Prinzipien erfüllt: Zum einen ist wichtig, dass die Bauweise "regenerativ" ist, wie ich es nenne. Das bedeutet, dass beim Bau eines Earthships das verwendet wird, was schon da ist. Schon Bestehendes wird wiederverwendet. +Zum Beispiel? +Zum Beispiel Autoreifen. Ein Earthship hat nach außen hin dicke Lehmwände, in die bis zu 1.000 gebrauchte Autoreifen aufgeschichtet werden, als Stütze für die Erde und den Lehm. Sie dienen auch als thermaler Speicher. Normalerweise würden die Reifen verbrannt oder irgendwohin verschifft, aber wenn ich sie verbaue, verlängere ich ihre Lebenszeit um viele Jahre. Das ist das, was an der Bauweise der Earthships "regenerativ" ist. + + +Welche anderen Prinzipien machen die Bauweise aus? +Da geht es vor allem um Vorgänge, die für die Funktion eines Earthships wichtig sind. Zum einen wäre da Energie: Da habe ichPhotovoltaikmoduleauf dem Dach für den Strom. Dann natürlich Wärme: Ein Earthship hat in Richtung Süden immer eine große Glasfassade. Durch diese fällt Sonnenlicht hinein, und die Wärme, die so entsteht, wird in den dicken Lehmwänden gespeichert – das Haus heizt sich auf. Im Gegensatz dazu habe ich auch ein Rohrsystem, welches durch das Erdreich nach draußen führt und durch das das Haus dann passiv gekühlt wird, ohne Klimaanlage. Ein weiterer Punkt ist dieWasserversorgung: Für die Dusche und Küche wird Regenwasser gesammelt. Nachdem das verwendet wurde, geht es durch eine Filter- und Kläranlage und dann in die Toilettenspülung. Wenn das Wasser dann dreimal benutzt wurde, nutzt das Earthship das Wasser, das übers Klo ausgetragen wird, nach einem Reinigungsvorgang, der Feststoffe und Flüssigkeit trennt, als Gießwasser und Dünger. Kurz: ein vollständiger Kreislauf. Zumindest in der Theorie, in der Praxis verhindern lokale Bedingungen und Gesetze einen geschlossenen Kreis. +Wenn Sie von lokalen Bedingungen sprechen: An ihrem Ursprungsort, New Mexico in den USA, sind die Earthships ideal an die dortigen Bedingungen angepasst: Die dort herrschende Hitze und Trockenheit ist also im Konzept mitgedacht. Funktioniert das auch in Deutschland? +Na, wir haben das Earthship natürlich ein bisschen angepasst, auch an das deutsche Klima. +Sie meinen das Earthship Tempelhof in Kreßberg, Baden-Württemberg – das erste und bisher einzige Earthship Deutschlands. Da haben Sie als Architekt den Bau geleitet. +Genau. Dort haben wir zum Beispiel die Scheibenneigung etwas geändert für einen besseren Solarertrag. Und als Back-up haben wir eine Heizung eingebaut, die ans Nahwärmenetz angeschlossen ist. Die könnte dann helfen, die thermische Masse – also die Lehmwände – aufzuwärmen, weil es hier ja schon ein bisschen kälter ist als in New Mexico. Die Heizung wurde aber noch nicht gebraucht, das hat die letzten fünf, sechs Jahre ohne funktioniert. + +Die Energiekrise im Blick: Warum gibt es in Deutschland nicht mehr von diesen Häusern? +Ein Punkt ist ganz klar das Baurecht. Am einfachsten ist es für uns, wenn im Bebauungsplan der jeweiligen Gemeinde der Bau von experimentellen Gebäude erlaubt ist. Ein Problem ist oft, dass man mit dem Wunsch, ein Earthship zu bauen, bei den Baubehörden erst mal keine offenen Türen einrennt. +Warum nicht? +Das liegt vor allem daran, dass fast überall noch klare Richtlinien fehlen, was die Art der Konstruktion und die Zulassung von Baustoffen angeht, die im Earthship enthalten sind. +Also fehlen schlicht die Vorgaben? +Nicht nur, aber auch. Es gibt ein paar rechtliche Bedingungen, die wir hier haben. Ein Earthship muss in Deutschland zum Beispiel ans Abwassersystem angeschlossen sein und das Trinkwasser aus der gewöhnlichen Leitung kommen. Das ist anders als in den USA. In New Mexico fließt das Schmutzwasser in eine Klärgrube und danach einfach nach außen in die Wüste, wo es dann versickert. Das gereinigte Abwasser ist nährstoffreich und düngt die Wüste. Zeitgleich gibt es Unklarheiten zu den Baustoffen: Bislang darf man Autoreifen nicht einfach so als Baustoff für den Hausbau verwenden, denn die gelten als "überwachungsbedürftige Abfälle". Wenn ich also die Autoreifen in die Wand baue, muss das unter Umständen zunächst behördlich genehmigt werden. +Haben Sie Lösungsvorschläge? +Ich würde immer empfehlen, von Anfang an mit den Behörden vor Ort, den Gemeinden und den Bauämtern den Dialog zu suchen und gemeinsam zu gucken, wie man ein Konzept entwickelt, mit dem man das Earthship genehmigt bekommt. Könnte man das Verbauen von Autoreifen zum Beispiel alsfachgerechte Entsorgungzertifizieren? Damit käme man dann rechtlich auf einen gemeinsamen Nenner, an den momentan noch nicht so gedacht wird. Aber es geht auch um die Art der Konstruktion der Earthships: Die muss wissenschaftlich begleitet werden, damit sie zur Normalität werden kann in der Baunorm. Momentan fehlt das noch. + + +Die Earthships schauen sehr, nun ja, eigenwillig aus. Könnte man sie auch so bauen, dass sie mehr dem gewohnten, bürgerlichen Bild entsprechen? +Tatsächlich stoßen Earthships bei vielen Behörden auf Ablehnung, weil sie nicht dem gängigen "Straßen- oder Stadtbild" entsprechen, ja. Für das Prinzip und die Funktionsweise des Earthships ist es egal, ob das Haus jetzt rechteckig oder so schön organisch geformt ist. Die organische Form strahlt für viele allerdings eine natürliche Wärme und Behaglichkeit aus. Wenn ich das Haus eckig bauen würde, ginge das verloren. +Was muss geschehen, damit Earthships wirklich massentauglich werden? +Dafür müsste man das Ganze erweitern: im nächsten Schritt also größere, höhere Gebäude bauen, mitGrünbepflanzungen an den Fassadenseitenund vernünftigen Gewächshäusern. Die Ideen dazu gibt es ja schon, die werden auch bereits umgesetzt. Wichtig wäre es, die Prinzipien im jetzigen Städtebau zu berücksichtigen und nicht nur auf dem platten Land, wo genügend Platz ist. +Klingt machbar. +Ja, aber es bleibt ein wichtiger Knackpunkt, nämlich die Geldfrage: So ein Earthship ist fast so teuer wie ein normales Öko- oder Passivhaus. +Obwohl es größtenteils aus Müll besteht? +Ja, die Baustoffe selbst sind günstig. Aber das Bauen ist teuer, denn da geht sehr viel Handarbeit rein. Man braucht schon ein Team, das die Sache anleiten kann. Ein wichtiger Punkt bei dieser Art von Gebäude ist das gemeinschaftliche Bauen. Und diese Gemeinschaft muss unterhalten werden. Nicht mit Musik – wobei das auch gut ist –, aber mit Essen, Trinken, Unterkunft und so weiter. Wenn ich also nicht viel Geld habe, dann kann es sein, dass so eine Baustelle mal eben zehn Jahre dauern kann. Und wenn ich dann auch noch eher eigenbrötlerisch bin und keine Lust auf Gemeinschaft habe, dann sollte ich mir noch mal überlegen, ob ein Earthship wirklich das Richtige für mich ist. +Wie schätzen Sie die Zukunft von Earthships ein? +Natürlich positiv! Gerade in Städten bietet es sich an,Leerstand zu nutzenund aufzuwerten, Baulücken zu schließen und alternative Flächen, wie zum Beispiel Fassaden, zu begrünen, um das Klima in der Stadt zu verbessern und gleichzeitig den ökologischen Fußabdruck des Gebäudes zu reduzieren. Die Earthship-Prinzipien lassen sich auch bei der Sanierung von Bestandsgebäuden anwenden: Sie können passiv gekühlt werden oder das Wasser mehrfach nutzen. Ein Gewächshaus an der Südseite eines Hauses oder auf dem Dach kann die Bewohner mit Nahrungsmitteln versorgen. In meinem nach Earthship-Prinzipien umgebauten Gebäude von 1900 trägt die Papaya in diesem Jahr zum ersten Mal Blüten. +Ralf Müller ist Architekt bei der Organisation "Wir bauen Zukunft" und Bauleiter des ersten und bislang einzigen Earthships Deutschlands. +Fotos: earthship.schloss-tempelhof.de diff --git a/fluter/interview-wissen-bildung-gesellschaft.txt b/fluter/interview-wissen-bildung-gesellschaft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7e49db011099a031cd0aea5f1bebcded1a0fc8c2 --- /dev/null +++ b/fluter/interview-wissen-bildung-gesellschaft.txt @@ -0,0 +1,34 @@ +Woran merken Sie als Professorin, ob Ihre Studenten eine solche "Erfahrung" gemacht haben? +Wenn ich in ein Seminar komme und feststelle: Es liegt was in der Luft. Etwas, das ich den Leuten vermittelt habe, hat sie erwischt. Die Studierenden fangen an, tiefgründigere Fragen zu stellen. Oder wenn ich eine Arbeit von einem Studierenden lese und merke: Da hat sich jemand Gedanken gemacht, wie er diesen Text komponiert. Vielleicht ist dann nicht alles korrekt – aber es hat eine Auseinandersetzung begonnen. +Wer entscheidet eigentlich, welches Wissen heute im Unterricht wichtig ist? +(lacht)Es gibt kein Zentralkomitee, das darüber entscheidet. Schulpolitik ist in Deutschland größtenteils Ländersache. Seit längerer Zeit gibt es eine Auseinandersetzung zwischen denjenigen, die eine konservative Position vertreten und die immer noch den alten Bildungskanon mit bestimmten Klassikern verteidigen, und anderen, die eher modernistische oder reformpädagogische Positionen vertreten, die jegliche Kanonisierung abschaffen wollen. Ich glaube, dass beide Positionen falsch sind. Denn ich finde, die Jugendlichen sollten in der Schule auf jeden Fall mit etwas herausgefordert werden, mit naturwissenschaftlichen ebenso wie mit literarischen Texten. Es ist bedauerlich, dass es über einen neuen, zeitgemäßen Kanon kaum Debatten gibt. Wenn wir das nicht diskutieren, entscheiden die Schulbuchverlage für uns. +Das wirklich wichtige Wissen ist also dasjenige, das Menschen herausfordert oder sogar überfordert? +Ich glaube, es ist eine Legende, dass junge Menschen nicht bereit sind, sich mit komplexen und abstrakten Inhalten auseinanderzusetzen. Dieses Alter war für mich die intensivste Bildungszeit, da war ich besonders neugierig. Wichtig ist, Texte zu finden – und das können auch Klassiker sein –, die auch experimentell sind. Denn in Bildungsprozessen ist wichtig, dass die Form etwas transportiert. Das bringt die Leute dazu, die Perspektive einzunehmen von jemandem, der nicht mehr nur Rezipient ist. Sie beginnen, sich zu fragen: Hättest du den Text auch so komponiert? Ich denke, man sollte heute einen neuen Bildungskanon finden, der das mehr berücksichtigt und den Themen unserer Zeit entspricht. + +Special: Wissen +Weißt du was?Hier liest du weitere Artikelaus unserem Wissen-Schwerpunkt (Foto: Renke Brandt) +Über die Frage, welches Wissen der Gesellschaft wie viel bedeutet, wird seit Beginn derCorona-Pandemievermehrt diskutiert. Die Forderung wurde laut, das Wissen und die Leistungen von Praktikern wie Krankenpflegern mehr zu honorieren. Stimmen Sie dem zu? +Aber ja. Pflegekräfte sind Professionelle. Und die Wissensform, die professionelle Menschen charakterisiert, ist immer die Fähigkeit, etwas Allgemeines auf einen konkreten Fall anzuwenden. Die Ausbreitung des Coronavirus hat uns vor Augen geführt, dass verschiedene Formen von Professionalität und Wissen ungeheuer relevant sind – dass diese Bereiche besser finanziert und die Menschen noch besser ausgebildet werden müssen. In Bezug auf das Thema Wissen war Covid-19 für mich aber noch in anderer Hinsicht sehr interessant. +In welcher? +Die Naturwissenschaften, in diesem Fall die Virologie, haben eine unglaubliche Präsenz erhalten. Das sind Themen, die normalerweise nicht groß stattfinden in den Medien. Ich fand sehr gut, wie man es auch mitneuen medialen Formen wie Podcastsgeschafft hat, komplexes wissenschaftliches Wissen einer größeren Öffentlichkeit zu vermitteln. +Es gab aber auch viel Kritik, unter anderem daran,dass verschiedene Forscher zu unterschiedlichen Aussagen und Empfehlungen gekommen sind. +Es war eine Gelegenheit, der Öffentlichkeit zu zeigen,dass Kontroversen und Dissens zur Wissenschaft gehören und dass ebendies ihre Stärke ausmacht. Sie ist nichts anderes als die methodische Suche nach der Wahrheit. Niemand besitzt die Wahrheit schlechthin. Worauf es ankommt, ist, dass die methodologischen Verfahren nachvollziehbar sind. Das unterscheidet Wissenschaft von Glauben. Zudem hat die Coronakrise meines Erachtens eher zu einer Aufwertung von neuen Wissensformen geführt,die auf Kooperation und interdisziplinärer Zusammenarbeit basieren. Ärzte, Naturwissenschaftler, Geisteswissenschaftlerinnen, Sozialwissenschaftler, Krankenpfleger, Politikerinnen – alle mussten zu einem gemeinsamen Weg finden. Entgegen dem neoliberalen Mantra, wonach nur harte Konkurrenz das Geschäft belebt. +Die Menschheit verfügt in vielen Bereichen über so viel Wissen wie wohl nie zuvor. Warum hilft uns das nicht noch mehr dabei, die Welt zu einem besseren Ort zu machen? +Im Grunde teile ich diese Sichtweise: Es reicht nicht, wenn wir uns ein bestimmtes Wissen aneignen, wir sollten es auch in Gestaltungsprozesse übersetzen, die unsere Lebensbedingungen verbessern. Einschränkend muss ich aber sagen: Das Schicksal der Menschheit liegt nicht allein in den Händen von einzelnen Individuen, die sich bilden. Es geht auch um größere Strukturen, an die man rangehen muss: die kapitalistische Ordnung, in derWachstumund Profitmaximierung handlungsleitend sind. Darin gibt es mächtigeLobbys, die ihre Interessen verteidigen – auch wenn dadurch eine weitreichende ökologische Zerstörung fortgesetzt wird. Doch auch dazu gab es eine wichtige Erkenntnis in der Corona-Zeit: dass sich klare wissenschaftliche Ergebnisse auf Dauer nichtausklammern lassen. +Rita Casale, 52, hat in Italien, Frankreich und Deutschland studiert und ist heute Professorin für Theorie der Bildung an der Bergischen Universität Wuppertal. +Es heißt heute oft, die Welt sei zu komplex geworden, als dass wir sie noch verstehen könnten. Wie sehen Sie das? +Das Mantra von der Komplexität kann zu einer Ausrede werden, warum wir unser Nichtverstehen angeblich akzeptieren müssten. Sicher, die Welt ist komplex. Aber die Wissenschaft und das Wissen selbst sind auch komplexer geworden. Sie sollten uns dazu verhelfen, einen Zugang zu dieser Komplexität zu erschließen. +Gibt es auch einfache Wahrheiten? Was ist etwa mit der zentralen Botschaft derFridays-for-Future-Bewegung: Die Menschheit produziert zu viel Klimagase, wir müssen unseren Lebensstil radikal ändern. +Ich würde nicht sagen, dass diese Dinge einfach sind. Aber ich glaube, dass es die Aufgabe der Wissenschaft ist, klar zu sprechen. Sie sollte in der Lage sein, komplexe Sachverhalte nicht zu vereinfachen, aber deutlich zu erklären. Was sie bezüglich des Themas Klimawandel ja auch tut. Komplexität darf kein Vorwand sein, um bestimmte Zusammenhänge zu verblenden. Und Bildung bedeutet deshalb heute auch, urteilsfähig zu werden und Zusammenhänge zu erkennen. Zum Beispiel,was eine spezifische Form der Wirtschaftsorganisation mit dem Klimawandel zu tun hat. Es geht also darum, Komplexität nicht zu reduzieren, sondern klar, stringent und logisch zu argumentieren. +Die Wissenschaft ist heute in hochspezialisierten Fachbereichen organisiert, die sich jeweils nur mit kleinen Ausschnitten der Realität befassen. Besteht die Gefahr, dass wir den Gesamtüberblick verlieren? Droht Expertenblindheit? +In der Tat ist der "Experte" die moderne Figur des Wissenschaftlers als desjenigen, der über ein sehr spezialisiertes Wissen verfügt. Es gibt aber noch eine andere Figur, die ich für sehr notwendig halte und die nicht unbedingt das Gegenteil des Experten sein muss – jemand, der in der Lage ist, sich auch jenseits der Expertise zu bewegen. Das ist die Figur des Intellektuellen. Wir brauchen heute Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, aber auch Menschen aus dem öffentlichen Leben, die Zusammenhänge analysieren. Die Schule und die Universitäten sollten diese Beschäftigung mit Zusammenhängen und den Blick über den fachlichen Tellerrand hinaus vermitteln. +Wie könnte das ablaufen? +Ich halte es für problematisch, wie die Lehre an der Universität seit der Bologna-Reform organisiert ist: dass zuerst der Bachelor kommt, der überwiegend berufsqualifizierend ausgerichtet ist, und dann ein Master draufgesetzt werden kann, der den Zugang zur Wissenschaft ermöglicht. Ich bin für den umgekehrten Weg: zuerst die allgemeine Bildung, dann die berufliche Ausbildung. Denn wir brauchen Studenten und Studentinnen, die sagen: Okay, das ist das ganze Spektrum der Problematik – und innerhalb dessen möchte ich mich jetzt um genau diesen und jenen Punkt kümmern. Man sollte deshalb mit dem Allgemeinen beginnen und dann zum Konkreten kommen. Ebenso brauchen wir eine Schule, die Schüler und Schülerinnen befähigt zu erkennen, welcher Zusammenhang sie interessiert – und sich dann die Texte rauszusuchen, mit denen sie das vertiefen können. +Mal provokant gefragt: Lieber gar kein Wissen als Halbwissen in einem bestimmten Bereich? +(lacht)Weder noch! Wichtig ist meines Erachtens erst mal, dass wir zu einer guten Haltung finden gegenüber der Welt, über die wir etwas wissen wollen. Wir können viel von den Handwerkern lernen. Denken Sie an einen Schreiner oder einen Goldschmied. Der hat ein unglaublich präzises Wissen. Er weiß genau, dass er bei der Bearbeitung eines Gegenstandes den Besonderheiten des Stoffes und seiner Form gerecht werden muss. Man kann das meines Erachtens auf die Sphäre der geistigen und akademischen Arbeit übertragen. Auch da wird sich ja mit "Stoff" beschäftigt, mit Wissensstoff. Auch dessen Besonderheiten muss man gerecht werden und sich erst mal darauf einlassen. Um etwas zu begreifen, muss man sich persönlich und seine Voreinstellungen zurücknehmen. Der Philosoph Adorno sprach vom "Vorrang des Objekts". +Heißt das: Ich muss mir erst mal auch klar eingestehen, was ich alles nicht weiß? +Das ist ein zentraler Aspekt von Bildung heute: zu wissen, was man alles nicht weiß. Das ist der Ausgangspunkt eines jeden Bildungsprozesses. Die Erfahrung, dass mir etwas unbekannt, fremd und nicht vertraut ist. Jemand, der meint, alles zu wissen, kann kein Gebildeter sein und werden. +Dennoch: Politisch stellt sich die Frage, wie der Zugang zu Bildung und Wissen gestaltet werden soll.Wie steht es in Deutschland um die Bildungsgerechtigkeit? +Dass die Qualität der Bildung, die ein Kind erhält, immer noch stark gekoppelt ist an seine soziale Herkunft, ist empörend. Das hat verschiedene Gründe. Zugrunde liegt dem die Trägheit des Systems. Seit Jahrzehnten versucht man, diese Strukturen aufzubrechen, aber scheitert an bestimmten politischen Interessen, das dreigliedrige Schulsystem weiterhin aufrechtzuerhalten. Dabei ist Schule einer der wenigen Orte, an denen es die Möglichkeit gäbe, Kinder aus unterschiedlichen Kontexten mit allgemeinen Themen, mit allgemeinem Wissen in Kontakt zu bringen. Leider sehe ich nicht, dass die Schule in Deutschland diesem Auftrag gerecht wird. + + diff --git a/fluter/interview-yvan-sagnet-film-das-neue-evangelium.txt b/fluter/interview-yvan-sagnet-film-das-neue-evangelium.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ef87e29d9ce86f0df27e1f553007f05a4861d957 --- /dev/null +++ b/fluter/interview-yvan-sagnet-film-das-neue-evangelium.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +fluter.de: In deinem Schauspieldebüt stellst du niemand Geringeren als Jesus dar: Was ging dir durch den Kopf, als Milo Rau dir die Rolle anbot? +Yvan Sagnet: Er machte mir sofort klar, dass es sich um keinen klassischen Spielfilm handeln sollte, sondern um eine Mischung aus Dokumentation und Fiktion. Es sollte um die Jesus-Figur gehen, aber auch um politische Fragen. Weil das, was ich mache, recht politisch ist und ich gleichzeitig katholischer Christ bin, schien mir das Ganze ziemlich perfekt, und ich dachte: Wow, was für eine Ehre. +Was waren für dich die größten Herausforderungen beim Dreh? +Im Dokumentarteil – zum Beispiel, als wir eine Demonstration von Erntehelfern organisiert haben – war es manchmal schwierig, sich durch die Filmkameras nicht von dem, was man gerade tat, ablenken zu lassen. Bei den Jesus-Szenen gab es außerdem Momente, die körperlich und emotional ziemlich anstrengend waren. Die Kreuzigungsszene etwa: Die haben wir in einer bergigen Landschaft gedreht. Es war sehr kalt an dem Tag, und ich war nackt, weil Jesus der Überlieferung nach ja nackt war. Ich hing also stundenlang dort oben am Kreuz in der Kälte, und irgendwann fing ich einfach an zu weinen: weil ich physisch so erschöpft war, aber auch weil mir der Gedanke an das Leid Jesu plötzlich so nah ging. +Es gab während der Dreharbeiten in Italien auch Kritik an dem Filmprojekt und Angriffe auf deine Person. Die rechte Zeitung "La Verità" druckte auf ihrer Titelseite ein Foto von dir als Jesus und dazu den Kommentar: "Könnten Migranten tatsächlich übers Wasser gehen, hätten wir ein echtes Problem". Wie bist du mit so etwas umgegangen? +Ich war schockiert, ich hatte ja nichts Schlimmes gemacht, nur in einem Film mitgespielt. Einige Kritiker unseres Projekts haben tatsächlich gesagt, ein Schwarzer könne Jesus nicht verkörpern, weil Jesus weiß gewesen sei. Für sie war der Film eine Beleidigung ihres Glaubens. Ich dachte mir, das kann doch nicht wahr sein: Jesus und seine Lehren sind universell – es gibt keinen weißen, schwarzen, europäischen oder afrikanischen Jesus. Jesus war Jesus. Ich denke, dass es die Kritik an dem Film nicht gegeben hätte, wenn Jesus von einem Italiener gespielt worden wäre und nicht von mir. + +Was würde Jesus im Jahr 2020 machen? Für den Regisseur Milo Rau war klar: Er wäre Schwarz und würde gegen Ausbeutung kämpfen + +Dein Name ist in Italien verbunden mit einem historischen Ereignis: Du hast im Jahr 2011 den ersten Streik von Landarbeitern in Süditalien organisiert. +Ja, wobei ich eher zufällig dazu kam, auf den Tomatenfeldern im Süden zu arbeiten. Ich war eigentlich zum Studieren aus Kamerun nach Turin gezogen. Aber weil ich Geld brauchte, um das Studium zu finanzieren, wollte ich 2011 als Erntehelfer in Apulien arbeiten. Ich dachte, das würde ein ganz normaler Job, aber was ich vorfand, war ein System der Ausbeutung, in dem die sogenannten Caporali – die Vermittler zwischen den Bauern und den Erntehelfern – die Arbeiter ausnutzten. Ich entdeckte sozusagen die dunkle Seite Italiens. +Wie sahen die Arbeitsbedingungen denn genau aus? +Es gab eine Art Ghetto für die Arbeiter, von denen sehr viele Migranten waren. Sie wohnten in Plastikbaracken ohne Strom und fließendes Wasser, matschig und voller Müll, ein wirklich unwürdiger Ort. In meinem Heimatland Kamerun hatte ich so etwas noch nie gesehen. Die Arbeit selbst sah so aus, dass die Caporali uns Arbeiter in völlig überfüllten Kleinbussen zu den Feldern fuhren. Für diesen Transport mussten wir fünf Euro bezahlen, außerdem noch fünf Euro für die Verpflegung. Anschließend pflückten wir bei ungefähr 40 Grad Hitze Tomaten. Für eine Kiste, in die 300 Kilo passten, gab es 3,50 Euro. Am Ende des ersten Tages hatte ich drei Kisten gepflückt und insgesamt vier Euro verdient. Auch für die, die geübter waren als ich, war es sehr schwierig. Der Caporale setzte einen unter Druck, möglichst schnell zu pflücken. Und wer sich krank fühlte und aus dem Niemandsland der Tomatenfelder ins Krankenhaus wollte, musste ihm erst 50 Euro für die Fahrt bezahlen. Nach fünf Tagen dort habe ich gesagt: "Das reicht mir jetzt, ich werde rebellieren." +Warum denkst du, ist vor dir noch niemand diesen Schritt gegangen? +Unter diesen Bedingungen zu streiken ist keine Selbstverständlichkeit. Die Caporali sind gewalttätig, und auch die Mafia hat in dieser Region großen Einfluss und kann versuchen, dich einzuschüchtern. Und abgesehen davon gab es bei meinen Kollegen auch die Angst, nicht mehr arbeiten zu können.In Italien ist es für Migranten nicht einfach, einen Job zu finden, insbesondere für die, die keine Aufenthaltspapiere haben.Viele hatten also einfach keine Wahl und akzeptierten deshalb diese Zustände. Ich hatte Papiere, ich studierte in Italien, wusste, was Gewerkschaften waren, und hatte das Glück, mutig genug zu sein, die anderen zum Mitmachen zu überreden. + +Das letzte Abendmahl ist in "Das Neue Evangelium" diverser besetzt, als es die meisten Gemälde zeigen + +Wie ging es danach weiter? +Wir haben viel Unterstützung bekommen: von den Gewerkschaften, der Presse, von Teilen der Zivilbevölkerung, aber auch von den politischen Institutionen. Es wurde schließlich das erste Gesetz gegen das System der Caporali beschlossen, und einige Caporali und Bauern sind auch schon festgenommen und angeklagt worden. Die konkreten Lebens- und Arbeitsbedingungen der meisten Arbeiter haben sich aber leider nicht besonders verbessert. Es bräuchte bessere Wohngelegenheiten für die Saisonarbeiter,es müsste überall der Mindestlohn bezahltund die vorgeschriebenen Arbeitszeiten eingehalten werden, und es bräuchte vor allem viel mehr Kontrollen. +Du hast eben erwähnt, dass du selbst Katholik bist, so wie viele der Menschen, die kritisiert haben, dass ein Schwarzer Jesus verkörpert oder dass Migranten überhaupt zum Arbeiten nach Italien kommen. Hast du dich je gefragt, warum diese Menschen dieselbe Religion wie du haben, sie aber offensichtlich anders interpretieren? +Das ist meiner Meinung nach ein großes Problem des Westens: Die Religion ist häufig nur noch ein Dogma, etwas Kulturelles, sie wird nicht praktiziert. Jesus hat gesagt, Religion bedeute, gute Taten zu vollbringen. Sie bedeutet also nicht nur, am Sonntag in die Kirche zu gehen. Du sollst deinen Nächsten aufnehmen, ihm helfen. Und das heißt eben auch, Migranten, die in Not sind, zu helfen. +"Das Neue Evangelium" ist coronabedingt ab dem 17. Dezember erst einmal nurdigital abrufbar.30 Prozent des Preises eines "digitalen Kinotickets" werden dabei an ein Kino weitergegeben, das die Zuschauer*innen beim Kauf auswählen können. diff --git a/fluter/interview-zur-postkolonialen-geschichtsschreibung.txt b/fluter/interview-zur-postkolonialen-geschichtsschreibung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c8fd7ddf2403b0f25c504695469ade372ae76bd7 --- /dev/null +++ b/fluter/interview-zur-postkolonialen-geschichtsschreibung.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Kofi Baku: Darunter verstehe ich, dass man sich mit intellektuellen, juristischen, verfassungsmäßigen, sozialen und wirtschaftlichen Argumenten dem Kolonialismus widersetzt. Man findet diesen Widerstand in allen möglichen Zusammenhängen: in Schriften, in Zeitungsartikeln, in Journalen, in Flugblättern, in Vorlesungen. +Was bedeutet es für Sie, im historischen Gedenken Widerstand gegen Kolonialismus zu leisten? +Kollektives Erinnern wird ja in vielen Formen zementiert, typischerweise in Kunstwerken, in intellektuellen Diskursen und akademischen Publikationen, aber auch physisch manifestiert in Museen und historischen Stätten. Und oft wohnt dem noch die Perspektive der alten Kolonialisten inne. Manchmal läuft dieses historische Gedenken subtil ab, dadurch aber nicht weniger wirkungsvoll, – etwa in Form von Gesetzen und sozialen Vereinbarungen. Wer sich nun diesen kolonialen Übergriffen widersetzt, wählt selbst die Aspekte der Vergangenheit aus, mit denen er oder sie argumentieren möchte. Die durch Kolonialismus geschädigte Person entscheidet, dass dies die Aspekte der Geschichte sind, die gegen koloniale Übergriffe in Stellung zu bringen sind. +Das klingt ein wenig nach Rosinenpicken. Warum soll das hilfreich sein, wenn es darum geht, zu einer umfassenderen Sichtweise des Kolonialismus in der Geschichtsschreibung zu kommen? +Das Argument des Rosinenpickens greift da nicht. Geschichtsschreibung ist immer selektiv. Wie in jeder akademischen Disziplin beginnt auch der Historiker seine Forschung mit einer bestimmten Hypothese und sucht dann Aspekte, die sie untermauern. In der postmodernen Theorie geht man ja davon aus, dass es eine objektive Realität gar nicht gibt. Alles, worüber wir schreiben, wie wir die Welt wahrnehmen und sie interpretieren, ist geprägt durch unsere Erziehung, unsere kulturellen Normen, unsere Eigenheiten und Präferenzen. Insofern ist der Historiker der Vermittler zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Den Teil der Geschichte, an den wir uns erinnern wollen, betrachten wir dann als unsere Geschichte. + + +Wie geht denn Ghana mit seiner kolonialen Vergangenheit um? +Wir leben hier immer noch mit einigen inakzeptablen Erscheinungsformen des Kolonialismus. Dass unserer lokalen Kultur in großem Umfang europäische Ideale aufgezwungen wurden, etwa in Form des englischenCommon Law,ist immer noch hochaktuell und umstritten. Die Kolonialisten mögen gegangen sein, doch ihr Erbe ist noch nicht verschwunden. Auch die Argumente gegen die wirtschaftliche Vorherrschaft durch Ausländer gelten weiter: Was früher als koloniale ökonomische Unterwerfung galt, wurde nur neu verpackt und mit dem Label Auslandsinvestition versehen. +Werden die gebraucht, um die Wirtschaft eines Landes wie Ghana zu entwickeln? +Glauben wir denn wirklich, dass wir nur dann erfolgreich sein können, wenn diejenigen, die uns einst kolonialisiert haben, nun als Partner wiederkommen und in unser Land investieren? Die vollständige Übernahme westlicher Systeme führt dazu, dass die ghanaische Identität – unsere Kultur, unsere Werte, unsere Religion – weiter erodiert. Alles ist davon betroffen: von den ganz alltäglichen Dingen über unsere Normen, unsere sozialen, legalen und ökonomischen Institutionen bis hin zu unserem Konzept von Realität und auch unseren Fähigkeiten. Da ist intellektueller Widerstand immer noch dringend nötig. +Kofi Baku ist Historiker an der University of Ghana in Accra +Es gibt diesen Widerstand in ehemals kolonialisierten Ländern vielerorts ja schon. Warum haben westliche Wissenschaftler so lange keine Notiz davon genommen? +Gleichgültigkeit ist das Herz des Kolonialismus. Es liegt in der Natur der kolonialen Unterwerfung, sich für die Ideen und Anliegen der Unterworfenen nicht zu interessieren. Eroberer fühlen sich grundsätzlich immer überlegen, haben aber nicht die Absicht, sich um die Belange der Eroberten zu kümmern. Sie denken, dass sie ein Mandat haben, diese Menschen, die sie für minderwertig halten, zu zivilisieren. +Wie hätte sich das ausgewirkt, hätten westliche Historiker frühzeitiger versucht, den Kolonialismus mit den Augen der kolonialisierten Menschen zu betrachten? + +Die imperiale Selbstgefälligkeit Europas hat westliche Wissenschaftler lange davon abgehalten, sich mit den intellektuellen Angeboten zu befassen, die es in den früheren Kolonien gibt. Hätten sie den Kolonialismus je mit den Augen der Menschen gesehen, die ihn selbst erfahren haben, wäre er zu Ende gewesen, bevor er überhaupt richtig losging. Das hätte den ganzen Zweck der Unterwerfung zunichtegemacht. Das Nichtbeachten des Widerstands der Unterworfenen ist ein zentraler Wesenszug des Kolonialismus. Allerdings: Weil die kolonialisierten Völker viele westliche Praktiken übernommen haben, durften die Kolonialisten irrtümlich annehmen, die Völker seien mit ihrer Unterwerfung einverstanden. +Wie kann verhindert werden, dass diese hegemoniale Perspektive auch in Zukunft noch die Erinnerungskultur prägt? +Wenn wir wollen, dass unsere Version der Geschichte wahrgenommen wird, müssen wir beginnen, sie systematisch zu erfassen. Nur so wird sie von Dauer sein. Es gibt ein chinesisches Sprichwort: "Die blasseste Tinte ist klarer als die klarste Erinnerung." Wenn wir die Dinge nicht aufschreiben, werden sie verschwinden. Aber im Moment tun wir noch nicht genug dafür, um die Geschichte aus unserem Blickwinkel zu erzählen. Deshalb müssen wir unserer Geschichtswissenschaft mehr Ressourcen zur Verfügung stellen, damit sie zum Beispiel die mündlich überlieferte Geschichte bisher unterdrückter Menschen erfassen kann. + +Titelbild: Torfinn/laif diff --git a/fluter/irak-junge-kunst-armando.txt b/fluter/irak-junge-kunst-armando.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/iran-feministische-revolution-interview.txt b/fluter/iran-feministische-revolution-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1378288a84b83c70c503d5a09ea7899cab8631b1 --- /dev/null +++ b/fluter/iran-feministische-revolution-interview.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +Um diese Ordnung aufrechtzuerhalten, schreckt das Regime auch vor Hinrichtungen nicht zurück: Mindestens 17 Protestierende wurden bereits zum Tode verurteilt, vier Urteile wurden schon vollstreckt. Welche strategische Bedeutung haben diese Prozesse für das Regime? +Die Hinrichtungen scheinen nicht dem Zweck zu dienen, Angst unter den Demonstranten zu verbreiten – trotzdem haben natürlich viele Angst. Aber dem Regime geht es in erster Linie darum, die Panik unter den Anhängern des Regimes zu bekämpfen. Denn diese unterstützen immer weniger die Praktiken des Regimes. Sie lehnen zunehmend sowohl die physische Gewalt als auch Demonstrationen zugunsten des Staates ab. Ich glaube aber nicht, dass dieser Plan funktioniert: Die Krise des Irans ist grundlegender und hängt mit der Korruption und Ungerechtigkeit des Staates zusammen. Und diese Krise nehmen nicht nur die Protestierenden wahr. +So funktioniert das politische System im Iran:Seit der Revolution 1979 bezeichnet sich Iran als Islamische Republik. Offizielles Staatsoberhaupt mit unbegrenzter Amtszeit ist Ali Chamenei, der sowohl politischer als auch geistlicher Führer des Landes ist. Chamenei trägt den Beinamen "Ajatollah" (Zeichen Gottes). Er regiert das Land autoritär, hat den Oberbefehl über die Streitkräfte, ernennt den obersten Richter und den sogenannten Wächterrat. Alle vier Jahre können die Iraner:innen Parlament und Regierungschef wählen. Die Wahlen gelten jedoch als unfrei. Alle Kandidaturen für das Parlament werden vom Wächterrat im Vorfeld der Wahl überprüft und unpassende Kandidierende aussortiert: Internationale Wahlbeobachtungsmissionen werden bei Wahlen in Iran nicht zugelassen. Auf dem Demokratieindex des "Economist"stand Iran 2021 auf Platz 152 von 167.Seit 2021 steht Ebrahim Raisolsadati dem Kabinett vor. Berichten zufolge hat das Gremium mehr als 90 der 290 Parlamentarier:innen nicht zur Wiederwahl zugelassen. Im Parlament dürfen nur Gesetze erlassen werden, die mit dem islamischen Recht, der Scharia, vereinbar sind. Das wiederum wird ebenfalls vom Wächterrat kontrolliert. Zwischen Parlament und Wächterrat vermittelt der Schlichtungsrat (wie der Wächterrat selbst ebenfalls von Chamenei ernannt). Alle acht Jahre wählen die Iraner:innen einen Expertenrat, der aus Geistlichen besteht und den "Revolutionsführer" theoretisch überwachen soll. Tatsächlich sind die Einflussmöglichkeiten des Expertenrats begrenzt. +Auch auf den Straßen gehen die iranischen Sicherheitskräfte immer brutaler gegen die Protestierenden vor. Welchen Einfluss hat das auf die Proteste? +Vor allem seit den Todesurteilen und Hinrichtungen finden weniger Massenproteste statt. Doch gerade junge Menschen sind kreativ geworden, um ihre Wut auszudrücken. Sie schütten rote Farbe in Brunnen, um an getötete Demonstrierende zu erinnern. Frauen schneiden sich die Haare ab, laufen ohne Hidschab herum oder schlagen Mullahs die Turbane vom Kopf. Diese performativen Protestformen sind Hauptmerkmale der Revolution. +Ist es eine Revolution? Manche würden das bestreiten. +Für mich ist es eine Revolution, denn sie fordert eine grundlegende Änderung der derzeit vorherrschenden Machtverhältnisse. Für die Demonstrierenden steht die Idee einer besseren Zukunft im Vordergrund. Es geht nicht um die Wiederbelebung einer alten Ordnung, sondern um ein neues, anderes Morgen. Es geht um die Infragestellung des staatlichen politischen Monopols. Und es geht um Solidarität. Das alles hat ein kollektives Gefühl der Zusammengehörigkeit bei Iranerinnen und Iranern geschaffen. Die größte Angst ist die Niederlage, nicht die Angst vor einem Bürgerkrieg oder der Intervention anderer Staaten, wie das bei vorherigen Protestwellen der Fall war. +Was ist anders als bei den Protesten 2009 oder 2017 bis 2019? +Zunächst einmal ist diese Bewegung nicht auf eine oder wenige Regionen beschränkt. Sie hat zwar in der iranischen Provinz Kurdistan angefangen, sich aber schnell auf das ganze Land ausgedehnt – über ethnische Landesgrenzen hinweg. 2009 zielten die Proteste auf die Ergebnisse der damaligen Präsidentschaftswahl ab und fanden hauptsächlich in Teheran und anderen großen Städten statt. Und in den Jahren 2017 bis 2019 gingen vor allem wirtschaftlich ausgegrenzte und unzufriedene Menschen, die keine Perspektive für eine bessere Zukunft hatten, in den marginalisierten Teilen des Landes auf die Straße. Dieses Mal wollen Menschen radikalere Veränderungen: mehr Freiheiten für Frauen und das Recht, über den eigenen Körper zu bestimmen. Für mich ist das eine feministische Revolution. +Sie beziehen sich damit auf den Leitspruch der Proteste:"Jin, Jiyan, Azadî"("Frau, Leben, Freiheit") – der auch von männlichen Protestierenden benutzt wird. +Das ist für mich das Schöne an dieser Revolution: die Art und Weise, wie die Menschen ihre Sensibilität für die Unterdrückung eines anderen Teils der Gesellschaft zeigen. Es ist etwas sehr Feministisches, den Schmerz und das Leid der verschiedenen von Diskriminierung betroffenen Gruppen anzuerkennen. Aber Feminismus befasst sich nicht nur mit den Machtverhältnissen zwischen Männern und Frauen. Frauen stehen bei dieser Revolution zwar an der Spitze, aber es geht um mehr als um den Hidschab-Zwang. Es geht darum, wie der Islamische Staat versucht, Körper und Leben zu beherrschen. Das betrifft vor allem Cis-Frauen und LGBTQIA+-Menschen. Für viele ist es nicht nur eine Rebellion gegen den Staat. Es ist zugleich eine Revolte gegen das Patriarchat. Diese Revolution birgt also die Chance, die Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen und das Verständnis von Männlichkeit zu verändern. + + +Welche Vorstellung von Männlichkeit meinen Sie? +In der westlichen Welt herrscht das Klischee, dass ein Mann aus dem Mittleren Osten gewalttätig ist und die Frau vor ihm gerettet werden muss. Das ist eine sehr koloniale Vorstellung. Indem die Bewegung zeigt, dass Männer und Frauen gemeinsam für mehr Freiheit und Gleichheit eintreten, zeigt sie auch, dass es an der Zeit ist, diese Annahmen zu überdenken. Das bedeutet jedoch nicht, dass das starke Patriarchat eines Tages völlig verschwinden wird. +In Kurdistan sind die Proteste besonders stark. Ebenso die Gewalt gegen die Protestierenden. Geht es bei den Protesten auch um mehr Rechte für Kurd:innen? +Der Slogan "Frau, Leben, Freiheit" stammt aus dem kurdischen Kampf in den kurdischen Gebieten und wurde vor allem durch den Widerstand in Rojava, im Nordosten von Syrien, bekannt. Und natürlich geht es darum, sich gegen die Diskriminierung von Minderheiten im Allgemeinen und für die Gleichberechtigung einzusetzen. Viele Demonstrierende unterstützen die kurdische Bewegung. Aber man kann die Proteste nicht auf einen Faktor beschränken. Vielmehr steht über allem das Ziel, frei leben zu können – egal ob als Frau, Mann, Kurdin, Perser oder Teil jeder anderen ethnischen Gruppe. +Könnten die Proteste also wirklich Erfolg haben? +Niemand kann diese Frage verlässlich beantworten. Aber das bestehende Regime wird nicht ohne große Veränderungen davonkommen. Letztendlich müssen sich die iranischen Behörden jedoch weigern, Menschen zu erschießen. Aktuell sind sie dazu noch nicht bereit. Trotzdem bin ich verhalten optimistisch. +Wieso? +Für die jungen Menschen, die die Proteste anführen, gibt es kein Zurück mehr. Das Regime, das seit über 40 Jahren an der Macht ist, hat ihnen ein besseres Leben versprochen und dieses Versprechen nicht gehalten. Viele haben keine Perspektive und das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Manche haben das Land sogar verlassen. Sie werden nicht so schnell aufgeben. Deswegen gehe ich davon aus, dass die Proteste noch Monate, wenn nicht Jahre weitergehen werden. +Manche glauben, es bräuchte eine:n Anführer:in, um die Proteste über so lange Zeit erfolgreich weiterführen zu können. +Führerlos zu sein hat auch große Vorteile: Das macht es dem Regime schwer, bestimmte Personen ins Gefängnis zu stecken und die Bewegung damit zu unterdrücken. Ein Anführer sollte sich eher natürlich herauskristallisieren und das Ergebnis der Revolution sein. Doch egal ob mit oder ohne Anführer: Diese Revolution ist die beste Chance seit langem, eine bessere und gerechtere Gesellschaft im Iran zu schaffen. + +Das Interview wurde aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. + +Nader Talebi versteht sich als Aktivist und ist Wissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin. Dort arbeitet er zu den Themen Migration und Revolution im Mittleren Osten. Seit 2015 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung. Seine Doktorarbeit schrieb er über die iranische Revolution von 1979. + +Titelbild: IranWire/Middle East Images/laif diff --git a/fluter/iran-sanktionen-auswirkungen.txt b/fluter/iran-sanktionen-auswirkungen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6a45b85a782d6fe5be14d197cf7dda79991b48ed --- /dev/null +++ b/fluter/iran-sanktionen-auswirkungen.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Die US-amerikanische Regierung behauptet, man wolle Druck auf die iranische Regierung ausüben. Humanitäre Hilfe sei nicht betroffen, die Bevölkerung nicht das Ziel. Aber durch die Sanktionen ist der Bankbetrieb eingeschränkt, und das hat Auswirkungen auf alles. Einige iranische Banken sind vom Zahlungsverkehrssystem Swift ausgeschlossen. Es gibt also keine Möglichkeit mehr, für Importware zu bezahlen, weil man keine internationalen Überweisungen mehr tätigen kann. Deshalb ist selbst der Handel mit Ländern, die von den Sanktionen nicht direkt betroffen sind, so gut wie ausgeschlossen. Alles wird entweder viel, viel teurer oder die Qualität leidet extrem. +Die medizinische Versorgung ist unsere größte Sorge. Viele Diabetiker können sich kein Insulin mehr leisten, weil das Importware ist. Meine Mutter hat von einem Unfall schlimme Verbrennungen und bräuchte eigentlich verschiedene Cremes. Sie sind zu teuer für uns, weil sie hier nicht produziert werden oder Inhaltsstoffe haben, die importiert werden müssten. Wenn mich Freunde aus Deutschland besuchen, bitte ich sie, mir das Zeug mitzubringen. + + +Seit November 2018 haben die USA dieSanktionengegen den Iran wieder eingesetzt und sogar verschärft, nicht zuletzt, um die iranische Regierung durch Isolation zu zwingen, das Atomabkommen neu zu verhandeln – US-Präsident Trump gingen die Einigungen nicht weit genug. Die Sanktionen sollen ihm zufolge vor allem die Ölindustrie, den Banken- und Finanzsektor und die Transportbranche treffen. +Auch Dinge, die erst mal weniger drastisch erscheinen, sind frustrierend: Mein Bruder hat sich vergangenes Jahr ein Ladegerät für seinen Laptop gekauft. Gestern hat er mir erzählt, er hat in einem Laden gesehen, dass das jetzt zehnmal so teuer ist wie damals. Es sollte über zehn Millionen iranische Rial kosten. Das sind umgerechnet etwa 210 Euro, mein komplettes Monatsgehalt! Stell dir mal vor, du arbeitest freiberuflich, brauchst dafür deinen Computer und irgendwas geht kaputt. Das ist eine Katastrophe. Ein gebrauchter Laptop würde mich etwa 15 Monatsgehälter kosten. +Die EU sagt zwar, dass sie am Iran-Deal festhält, aber sie kann die Folgen der Sanktionen nicht ausgleichen. Die Firmen, die nach dem Atomabkommen ins Land kamen, sind alle weg. Die amerikanischen sowieso, aber auch die europäischen. Sie haben Angst vor den Sanktionen. Total war eine der ersten Firmen, die nach dem Iran-Deal kamen und als eine der ersten wieder gegangen ist. Siemens kam und ging, Peugeot, Airbus und viele andere. Man muss noch nicht einmal so groß denken: Ich kenne ein paar Leute, die Läden auf Teherans Großem Basar hatten und zumachen mussten. Natürlich könnten sie ihre Waren zu einem Preis anbieten, der für sie rentabel ist. Kaufen würde sie aber niemand mehr. Alles ist teurer geworden, die Löhne aber sind gleich geblieben oder sogar gesunken. +DieEUhält am Atom-Deal mit dem Iran fest. Aktuell arbeiten Deutschland, Frankreich und Großbritannien an einer Lösung, die es europäischen Firmen erlauben soll, trotz der US-Sanktionen mit Iran Handel zu treiben. +Ich bin eigentlich Fotograf, arbeite aber zurzeit als Englischlehrer. Weil alle ins Ausland wollen, ist das ein ziemlich sicherer Job. Das Schlauste, was du im Moment machen kannst, ist, eine Sprachschule zu eröffnen. Du wirst dich vor Aufträgen nicht retten können. +Natürlich haben junge Leute auch schon vor den Sanktionen darüber nachgedacht auszuwandern. Aber jetzt wollen alle weg: junge, alte, gut ausgebildete, schlecht ausgebildete, arme, reiche Leute, alle deine Freunde, deine ganze Familie. Seit Trump reden die Leute von nichts anderem mehr. Du steigst ins Taxi, es geht um den Euro-Preis, im Supermarkt um den Dollar-Preis, auf der Straße darum, wie du am besten ein Visum bekommst. Es geht nur noch darum, rauszukommen. Kaum jemand hat noch Vertrauen in die Regierung oder glaubt daran, dass die Situation sich verbessern könnte. Und selbst wenn sich etwas ändern würde: Die Leute wollen nicht mehr länger warten. + +Für seine Schilderungen könnte Amin in Schwierigkeiten geraten, sein Name wurde daher von der Redaktion geändert. diff --git a/fluter/irgendwas-mit-medien.txt b/fluter/irgendwas-mit-medien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/islamischer-staat-frauen-radikalisierung.txt b/fluter/islamischer-staat-frauen-radikalisierung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..70ccef2267b45fa1f681ea2a1bc81f3adbabd661 --- /dev/null +++ b/fluter/islamischer-staat-frauen-radikalisierung.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Das Bundesamt für Verfassungsschutz zählte bis März dieses Jahres mehr als 1.060 Männer und Frauen, die nach Syrien und in den Irak ausgereist sind. Ihre Biografien unterscheiden sich, einige sind konvertiert, andere in einer muslimischen Familie aufgewachsen, sie kommen aus Städten und vom Land, haben große Freundeskreise oder sind eher Außenseiter, und mitnichten sind alle "Bildungsverlierer". "Es gibt gebildete Radikalisierte und ungebildete Radikalisierte", fasst Marwan Abou-Taam vom Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz zusammen. Sie verbindet nur, dass sie sich radikalisiert haben. +Gut ein Viertel – größtenteils Männer – ist schon nach wenigen Monaten wieder aus dem "Kalifat" zurückgekehrt. Für Frauen war dies hingegen kaum möglich: Die strengen Sitten des IS verbieten ihnen, allein zu reisen, ihr Platz im "Kalifat" ist im Haushalt. Die meisten Frauen kamen darum erst zurück, als der "Terrorstaat" schon bröckelte. Je mehr IS-Anhängerinnen nun zurückkehren, desto mehr stehen diese zwei Fragen im Raum: Warum haben sie sich dem IS angeschlossen, und welche Verbrechen haben sie begangen? +Um die zweite Frage kümmern sich vor allem die Sicherheitsbehörden und die Justiz. Die Bundesanwaltschaft hat inzwischen gegen mehrere IS-Rückkehrerinnen Verfahren eröffnet. Ihnen werden verschiedene Verbrechen vorgeworfen: die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Verstöße gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz, gegen das Völkerrecht oder die Fürsorgepflicht für die eigenen Kinder, Mord, Kriegsverbrechen, Sklaverei. Vielen IS-Männern sind Verbrechen leichter nachzuweisen. Sie posierten in Propagandavideos, wurden vom "Terrorstaat" bezahlt. Bei den Frauen ist das schwieriger. Sie waren im "Kalifat" offiziell nur Hausfrauen und Mütter. Mit der Frage, ob sie dadurch auch die Terrororganisation Islamischer Staat unterstützt haben, beschäftigen sich gerade mehrere Gerichtsverfahren. In München läuft ein Prozess gegen eine 2014 ausgereiste Frau, unter anderem wird ihr Mord vorgeworfen. In der Anklageschrift heißt es, sie sei nicht eingeschritten, als ihr Ehemann ein fünfjähriges Mädchen im Garten ankettete und in der Hitze sterben ließ. Auch mehreren anderen der in Deutschland angeklagten Frauen wird Sklaverei vorgeworfen. + + +"Wir müssen die Frauen als Akteurinnen sehen und nicht nur als passive Naivchen, die auf jemanden reingefallen sind und verführt wurden", sagt Claudia Dantschke, Islamismusexpertin und Gründerin von "Hayat", einer Beratungsstelle für die Angehörigen von Jugendlichen, die sich islamistisch radikalisiert haben. +Etwa 500 Familien haben sich seit der Gründung bei Hayat gemeldet, von besorgten Eltern, deren Sohn auf YouTube radikalen Predigern lauscht, bis zum Vater, dessen Tochter über Nacht verschwunden war. Dazwischen seien auch Fälle gewesen, in denen Mädchen unfreiwillig im "Kalifat" gelandet sind. "Aber das sind die Ausnahmefälle. Man kann schon generell sagen, dass sich auch die Mädchen, die mit 15 oder 16 weg sind, aktiv dafür entschieden haben." +Bei jedem neuen Fall versuchen Dantschke und ihr Team zu ergründen, wie es zu der Radikalisierung gekommen ist. "Wir haben festgestellt: Auf der Suche nach dem Islam ist eigentlich keiner", sagt Dantschke. Jedoch fehlt den meisten etwas: Anerkennung, Aufmerksamkeit, Orientierung, ein Abenteuer. Die Anwerbestrukturen der islamistischen Szene sind darauf ausgerichtet, diese Bedürfnisse zu erfüllen. "Salafistisches Streetworking" nennt Dantschke das. +Chatgruppen und Onlineforen spielen inzwischen eine wichtige Rolle bei der Radikalisierung, beobachtet Sofia Koller, Projektleiterin eines Workshops, in dem sich Experten aus Behörden, der Wissenschaft und Praktiker aus der Sozialarbeit austauschen. "In den vergangenen fünf Jahren hat sich das extrem verändert. Es gibt viel mehr Leute, die online sind, und es gibt auch mehr Content von extremistischen Gruppen." Auch die Art der Propaganda habe sich verändert, so Koller: "Sie ist insgesamt quantitativ weniger und auch qualitativ weniger hochwertig." Alte Inhalte werden wiederverwendet, und statt der professionellen Bilder aus dem IS-Apparat werden die Beiträge von einzelnen Anhängern wichtiger. Das liege auch an der stärkeren Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden, sagt Koller. +Das "Kalifat" macht dezentral, möglichst im Netz weiter – und findet dort Anhängerinnen. "Die meisten, die sich jetzt noch neu radikalisieren, sind Mädchen", sagt Claudia Dantschke. "Wir haben insgesamt weniger neue Fälle als noch vor ein paar Jahren. Aber eben wesentlich mehr Mädchen als Jungen." Warum das so ist, wissen auch die Experten von "Hayat" noch nicht. +Für Frauen ist es häufig eine neue Freundin, die in einem Chat Fragen beantwortet, bei Kummer tröstet. Bei den Anwerbungen spielen Frauen eine wichtige Rolle, denn durch die strenge Geschlechtertrennung dürfen Männer fremde Frauen nicht ansprechen. Die Ratschläge laufen auf dasselbe Ziel hinaus: Sei eine gute Muslima. Du bist überlegen, wenn du die wahre Religion lebst. +Diese "wahre Religion" ist in dem Fall der Salafismus, eine besonders konservative Strömung im Islam, deren Anhänger glauben, der Koran sei wortwörtlich zu nehmen und ein Leben wie in der Anfangszeit des Islam erstrebenswert. Viele ihrer Ansichten kollidieren mit freiheitlich-demokratischen Werten, und die meisten Deutschen, die für den IS kämpften oder Anschläge verübt haben, hatten mit dieser Szene zu tun. Der "Verfassungsschutzbericht 2018" rechnet dem salafistischen Milieu 11.300 Mitglieder zu, 500 mehr als im Vorjahr. Der Salafismus mit seinen rückwärtsgewandten Ideen und Idealen hatte in den vergangenen 15 Jahren in Deutschland erstaunlichen Erfolg. +Ab 2004 erschienen mehr und mehr Videos salafistischer Prediger bei YouTube auf Deutsch – eine Neuerung. Stundenlang sind die Vorträge zum Teil, aber sie vermitteln in einfach verständlicher Sprache die salafistische Sicht auf die Welt. "Wer sich damals radikalisiert hat, ist noch in die Tiefe gegangen. Das waren längere Prozesse, die ein bis zwei Jahre gedauert haben", sagt Dantschke. Der Konvertit Pierre Vogel wird zu einem vermeintlichen Star der Szene, tourt mit seinen Vorträgen durchs Land. Im Frühjahr 2011 ruft er zu einer Kundgebung in Frankfurt am Main auf. Etwa 1.500 Menschen kommen. Kurz vor dem Ende fragt Vogel ins Publikum: "Ist hier jemand, der heute zu den Glücklichen gehören will? Der den Islam annehmen will?" Ein junger Mann meldet sich, die Menge jubelt. Ihm folgen weitere. Am Ende sprechen 17 Jugendliche auf der Bühne das islamische Glaubensbekenntnis, um zu konvertieren. +In dieser Zeit werden Teile der Szene immer radikaler. Als Mitglieder der rechtsextremen Kleinpartei Pro NRW Karikaturen des Propheten Mohammed zeigen, ruft die Organi­sation Millatu Ibrahim aus Solingen zur Gewalt auf. Die Gruppe wird bald darauf verboten – viele ihrer Mitglieder reisen später Richtung IS aus. +Einer aus der Millatu-Ibrahim-Gruppe war Denis Cuspert, der sich vor seiner "Islamistenkarriere" als Rapper Deso Dogg versucht hatte. Die Popstarpose behält er bei, sie kommt gut an bei der "Generation Pop-Dschihad", wie Claudia Dantschke die neue Strömung in der Radikalisierung nennt, die der "IS" mitprägte. Kurze Internetvideos vermitteln einfache Botschaften, die theologische Basis spielt eine untergeordnete Rolle. Islamistische Kalendersprüche, extremistische Gedanken auf Instagram-Kacheln. Das ermöglicht Radikalisierungen im Turbotempo, auch wenn die Ideologie dann nicht so fest sitzt. +Im "Terrorstaat" finden der Ex-Rapper Denis Cuspert und Omaima zueinander, eine der Frauen, die nun in Deutschland vor Gericht stehen. Die Hamburgerin war 2015, da war ihr jüngstes Kind gerade zwei Monate auf der Welt, ihrem vorherigen Ehemann ins "Kalifat" gefolgt. Sechs Wochen nach ihrer Ankunft ist dieser tot. Bald darauf heiratet sie seinen Vertrauten Cuspert, der zu den bekanntesten deutschen IS-Islamisten zählt. Auch er wird das "Kalifat" nicht überleben. Omaima macht viele Bilder mit ihrem Smartphone von ihrem Leben im "Kalifat". Das Telefon wird Jahre später der Journalistin Jenan Moussa zugespielt, die Omaima 2019 in Hamburg aufspürt. +Die Bilder von Omaimas Smartphone zeigen eine Frau, die oft lacht, die draußen Vollverschleierung trägt und auf einem Foto ein Gewehr über der Schulter. Und ihre Kinder, die IS-Flaggen hochhalten. Was hat die Hamburgerin in Syrien gesucht? Zum Prozessauftakt im Mai vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht stellt sie ihr Leben in Syrien als das einer Hausfrau und Mutter dar. Wie sehr sie die Strukturen des "Islamischen Staats" unterstützt hat, muss das Verfahren zeigen. + + diff --git a/fluter/islamisches-gesetz-scharia-kurz-erklaert.txt b/fluter/islamisches-gesetz-scharia-kurz-erklaert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e9c3adff22de57e35aa49ae430a4d7b0159a7d1b --- /dev/null +++ b/fluter/islamisches-gesetz-scharia-kurz-erklaert.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Das islamische Rechtssystem ist sehr umfassend und beinhaltet auch Körperstrafen wie Prügel, Steinigung oder andere Formen der Todesstrafe. Sehr harte Strafen werden für Diebstahl, Ehebruch oder homosexuelle Handlungen verhängt. Da die Scharia aber keine kodifizierte Gesetzessammlung wie etwa das Grundgesetz ist, wird verbotenes Verhalten in verschiedenen muslimisch geprägten Ländern unterschiedlich interpretiert und bestraft. Der Ruf nach der Scharia wird zudem häufig vonislamistischen Gruppenals politischer Kampfbegriff verwendet. +In der Verfassung mehrerer Staaten wird die Scharia als Quelle des Rechtsverständnisses genannt, so in Ägypten, Bahrain, Jemen, Kuwait, Libanon, Sudan, Libyen, Syrien und in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Vor allem im Familienrecht gilt sie dort als Grundlage der Gesetzgebung. In Saudi-Arabien, Oman, Pakistan und Afghanistan wird die Scharia in weiten Teilen mit der Rechtsordnung gleichgesetzt, die Länder werden deshalb auch "Gottesstaaten" genannt. In einigen Ländern wie Nigeria oder Indonesien gibt es die Scharia nur in Teilgebieten, und in Malaysia wird nur die muslimische Bevölkerungsmehrheit nach den Scharia-Gesetzen gerichtet. +Die Provinz Aceh wird als die "Veranda Mekkas" bezeichnet, weil islamische Pilger früher durch die nördlichste Provinz Indonesiens reisen mussten, um heiligen Boden in Arabien zu erreichen. Auch deswegen hat sich der Islam in Aceh besonders manifestiert. +Gleichzeitig gab es im vergangenen Jahrhundert immer wieder bewaffnete Kämpfe um Unabhängigkeit zwischen der "Bewegung Freies Aceh" (GAM) und der Regierung. Eine wichtige Rolle spielt dabei die FPI, die Dokumenten auf Wikileaks zufolge schon lange von der Regierung als Geheimdiensttruppe unterstützt wurde. Im Zuge von Friedensverhandlungen nach der Tsunami-Katastrophe wurde Aceh dann in bestimmten Bereichen Autonomie zugestanden – und im Gegenzug erhielten Islamisten in einigen Punkten die Erlaubnis, die Scharia durchzusetzen. +In der indonesischen Provinz Aceh wird "sittenwidriges" Verhalten wie Alkoholkonsum, Glücksspiel oder außereheliche sexuelle Aktivitäten bestraft, darunter fallen häufig auch homosexuelle Handlungen. Über andere Straftaten wird in Indonesien hingegen nach Gesetzestexten geurteilt. +Das sittenwidrige Verhalten wird in der Provinz Aceh auch mit öffentlichem Auspeitschen geahndet, wobei ein vermummtes Mitglied der Scharia-Polizei die Strafe mit einem Rohrstock vollstreckt. Über die Fälle urteilt zuvor ein islamischer Richter – dazu hat die Provinz Aceh sogar ein modernes E-Portal eingeführt, in dem über Fälle informiert wird und über das Betroffene Beschwerden einreichen können. +Bei der Prügelstrafe stehen das Bloßstellen und die Scham der Täter vor der islamischen Gemeinschaft im Vordergrund. Seit der endgültigen Einführung des islamischen Strafrechts im Oktober 2015 sollen laut Human Rights Watch mehr als 500 Menschen in Aceh ausgepeitscht worden sein. + +Titelbild: Fachrul Reza / Barcroft Images / Barcroft Media via Getty Images diff --git a/fluter/islamismus-gefahr-radikalisierung.txt b/fluter/islamismus-gefahr-radikalisierung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8000ab81f1fd198cb3c8a9fa7a1f45fe5b83abb0 --- /dev/null +++ b/fluter/islamismus-gefahr-radikalisierung.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Was macht diese Ideologie aus? +Sie ist per Selbstdefinition antiwestlich. Ihre Anhänger sehen sich als Gegenpart zu einer aus ihrer Perspektive existierenden Dominanz des Westens. Sie suchen in der Geschichte des Islam, im Koran und anderen Schriften nach Legitimation für eine islamische Herrschaft. Dieser Prozess hat in der islamischen Welt begonnen, aber inzwischen ist die gewalttätige Ausprägung, der Dschihadismus, ein globales Phänomen. +Auch in Deutschland findet diese Ideologie Anhänger. Was begeistert die so am IS, dass sie in ein Kriegsgebiet ziehen? +Dabei spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Einmal das Angebot, das der IS gemacht hat:Komm zu uns, bei uns kannst du Geschichte schreiben und einen neuen Staat aufbauen. Dazu kommt, dass es anfangs sehr einfach war, hinzukommen. Für 50 Euro war man mit einem günstigen Flug und einem Sammeltaxi bis zur Grenze mittendrin. Das hat sich später geändert, als die Türkei und Russland die Vereinbarung getroffen haben, die Grenze für Europäer zu schließen. Spannenderweise beginnt der IS ab diesem Zeitpunkt, an Wucht zu verlieren. +Welche Rolle hat die IS-Propaganda gespielt? +Die Propaganda hat gezielt Abenteuerlust geschürt. In einem bestimmten Alter widmet man sich revolutionären Gedanken, oft auch als Rebellion. Ohne den Krieg wären wahrscheinlich nicht so viele junge Menschen auf die Idee gekommen, sich in diese Richtung zu radikalisieren. Der Konflikt hat wie ein Magnet gewirkt, mit seinem Abflauen nahmen auch die Ausreisen ab. Wir haben sehr professionelle Propagandavideos ausgewertet, in denen der IS diesen Krieg als Spielplatz dargestellt hat. Männer, die mit glänzenden Gewehren rumballern und umherziehen. +Gab es sonst noch Versprechen? +Ja, überraschenderweise Sexualität. Salafisten werfen der westlichen Gesellschaft vor, sie wäre übersexualisiert. Gleichzeitig locken sie junge Männer mit Frauenversprechen nach Syrien: Entweder du bekommst die Frau als Sklavin, oder du bekommst eine freie Frau, mit der du Kinder machen kannst. Und wenn du tot bist, bekommst du sie als Jungfrauen. Für den IS sind Frauen eine wichtige Ressource. Sie organisieren den sozialen Rückhalt und spielen ebendiese zentrale Rolle in den Versprechungen. Die freien Frauen aber mussten weltweit rekrutiert werden. Dafür hat der IS riesige Anstrengungen unternommen. +Womit hat der IS diese Frauen angelockt? +Eines der Hauptmotive vieler junger Frauen ist Gleichberechtigung. Das Spannende am Salafismus ist, dass er sagt: Was die Frauen nicht dürfen, ist auch den Männern verboten. In vielen konservativen muslimischen Familien in Deutschland gelten strikte Sexual- und Moralregeln für die Töchter, aber weniger für die Söhne. Die salafistischen Prediger in Deutschland haben argumentiert, dass das falsch sei, und den Mädchen so eine Art Geschlechtergerechtigkeit versprochen. Interessant ist auch: Viele der ausgereisten Frauen sind Konvertitinnen. Frauen, die eigentlich mit allen Freiheiten aufgewachsen sind, das zu erleben, was ihnen Spaß macht. Sie haben sich freiwillig in die Sprachlosigkeit begeben. +Warum macht eine Frau das? +Die vielen Rollen, die möglichen Lebensvorstellungen, die eine liberale Demokratie bietet, diese Variationen überfordern durchaus manche Menschen. In vielen extremistischen Gruppen, nicht nur im Islam, gibt es Personen, die sich bereitwillig einer Rolle zuordnen lassen. Der Salafismus ist eine männlich geprägte Ideologie. Die Frau spielt nur eine nachgeordnete Rolle. Aber es ist eine klare Rolle mit klaren Erwartungen. +Dr. Marwan Abou-Taam ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Landeskriminalamts Rheinland-Pfalz. Seine Schwerpunkte sind internationaler Terrorismus, innere Sicherheit und Salafismus. diff --git a/fluter/islamistische-radikalisierung-von-jugendlichen-verhindern.txt b/fluter/islamistische-radikalisierung-von-jugendlichen-verhindern.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b9418f5cf00e9783bb939685fee66f64d5096c54 --- /dev/null +++ b/fluter/islamistische-radikalisierung-von-jugendlichen-verhindern.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +fluter.de: Der Neuköllner Rollberg ist vermutlich nicht eins zu eins vergleichbar mit den Banlieues in Paris, aus denen einige der Attentäter vom 13. November stammten. Trotzdem: Wie verhindert man in einem Kiez mit vielen bildungsfernen und perspektivlosen Familien, dass sich Jugendliche radikalisieren? +Gilles Duhem: Es gibt sicher nicht nur eine Erklärung für die Pariser Anschläge, sondern viele. Einer der Drahtzieher hat offenbar eines der schicksten Gymnasien von Brüssel besucht und sprach gut Französisch. Für dieses Phänomen muss es eigene Gründe geben. Aber bei dem Gros der Radikalisierten, das vermute ich aus meinen Erfahrungen hier, ist ein großer Minderwertigkeitskomplex der westlichen Gesellschaft gegenüber die Ursache. Zugleich wollen sie den Konsum des Westens, und zwar die volle Dröhnung. Doch wegen ihrer mangelnden Bildung können sie sich ihre materiellen Wünsche nur sehr begrenzt erfüllen. Sie erleben sich daher ständig als Scheiternde und Frustrierte. Religiöse Radikalisierung ist für sie eine Möglichkeit, auch endlich als etwas zu gelten und  in bestimmten Kreisen eine gewisse Bewunderung und Anerkennung zu ernten. Eine bundesweit anerkannte Spezialistin – Claudia Dantschke, vom Verein "Hayat"(Türkisch und Arabisch für ‚Leben'; Anm. der Redaktion), die deutschlandweit erste Beratungsstelle für salafistisch Radikalisierte und ihre Angehörigen – spricht sogar vom "Pop-Jihad". Aber das ist noch nicht alles. +Worum geht es noch? +Attraktiv sind radikale religiöse Gruppierungen für sie auch, weil sie dort Struktur finden – Struktur und männliche Rollenbilder. Beides vermissen sie in ihren Familien. Denn die sind zwar häufig durch eine patriarchale Kultur geprägt, doch die Männer füllen diese Tradition meist nicht mehr aus. Die sind wie Phantome: immer unterwegs, in Anführungsstrichen "Geschäfte machen". Und wenn sie auftauchen, sind sie wegen ihrer eigenen Unzufriedenheit oft jähzornig, was den Kindern Angst macht. Wenn solche Jugendliche nun radikal religiös werden, dann hat das meines Erachtens wenig mit dem Islam als spiritueller Tradition zu tun. Die sind auf der Suche nach Anerkennung, Geltung, Struktur und Männlichkeitsmustern. Bei den religiösen Fundamentalisten finden sie die – nur eben die grundfalschen. +Was kann man nun konkret dagegen tun? +Eben das, was wir hier täglich tun: Wir setzen Bildung und Öffnung zur Welt dagegen. Damit die Kinder später nicht abgehängt werden und sich in dieser vom harten Wettbewerb geprägten Gesellschaft bewähren können. Nur ist das den Familien schwierig zu vermitteln. Von Bildung hat man nicht, wie vom Konsum, unmittelbar etwas, sondern erst in zehn oder zwanzig Jahren. Wir brauchen daher unendlich viel Geduld, Ausdauer und Zähigkeit. Und Bildung ist in dem Zusammenhang ein großes Wort. Es ist unglaublich, wie weit vorne man manchmal anfangen muss. +Wo denn? +Was ist ein Termin? Was bedeutet es, pünktlich zu kommen? Was ist eigentlich Zeit?  Auch das müssen wir den Kindern oft erstmal beibringen. Wir hatten hier schon 15-Jährige, die das Konzept der Uhrzeit nicht verstehen. Wir haben einen guten Kontakt zu vielen der Eltern, sogar zu manchen Vätern. Aber dieses abstrakte Konzept, warum solche Dinge wichtig sind, ist oft gar nicht vorhanden. Deshalb sage ich immer: Ich bin Gehirnzellenimporteur und Arschtrittverteilmaschine. Gehirnzellenimporteur, weil ich freiwillige Helfer aus der Mittelschicht aus ganz Berlin rekrutiere, die den Kindern hier Nachhilfe geben und ihnen Lebenstechniken und Werte vermitteln und ihre wahren "Lobbyisten" werden. Und Arschtrittverteilmaschine, weil ich Kinder und Eltern immer wieder dazu bringen muss, sich an Abmachungen zu halten. +Es bedarf einer ungeheuren Ausdauer und Zähigkeit, um aus einem Viertel mit vielen sozial abgehängten Familien einen Ort zu machen, an dem Jugendliche eine echte Perspektive finden können. +Braucht es nicht auch ein bisschen menschliche Wärme, wenn man Jugendliche für einen anderen Weg gewinnen will? +Erstmal gehe ich hier tatsächlich wie eine ostpreußische Gouvernante aus dem 19. Jahrhundert vor. Um das hier am Laufen zu halten, braucht es Autorität, Führung und Klarheit. Wenn Menschen sich permanent verpassen, verpufft die Energie. Und da möchte ich keine kulturalistischen Argumente hören, wonach andere Kulturen eben anders mit Zeit umgehen. In der globalisierten Welt ist eine Minute für alle eine Minute! Wer das nicht kapiert, ist raus. Das muss man von allen einfordern, sonst bilden sich Blasen von Abgehängten. Aber das strikte Regiment schließt menschliche Wärme ja nicht aus. Im Gegenteil, es macht sie erst möglich. Wärme kann ja nur ausgetauscht werden, wenn es überhaupt zu Begegnungen kommt. Dann ist sie sogar das allerwichtigste Mittel, um die Leute zu integrieren. Auf einen Platz bei der Schülerhilfe warten viele Anwärter, er ist der beste Beweis, dass unser System das richtige ist. +Bitte mal konkret, wie läuft das denn ab, Integration durch menschliche Wärme? +Nehmen wir das Beispiel von C., dem Hausaufgabenhelfer, und K., einem Berliner Jungen, deren Eltern aus einem sehr traditionellen muslimischen Land stammen. C. ist hochgebildet und arbeitet als Dozent. Die beiden lernen nicht nur zusammen für die Schule, sondern unternehmen auch sonst viel miteinander: gehen schwimmen, spielen Schach, fahren Fahrrad. Irgendwann kam die Sprache auf den IS. C. hat die Sache dann mal für den Kinderverstand erklärt: "Das sind Leute, die sich für die Hand Gottes halten und alle hassen, die keine Muslime sind. Mich hassen sie ganz besonders, weil ich schwul bin und Männer liebe. Wenn die mich treffen, töten sie mich." Da sagte der Junge nur: "Ich will aber nicht, dass du stirbst." Um solche Momente geht es. +Wie kommen schwule Hausaufgabenhelfer bei den sehr traditionellen Familien an? +Darauf nehme ich keine Rücksicht. Wir erzeugen bewusst solche Reibungen zwischen den unterschiedlichen Lebensentwürfen und Religionen, nur so lassen sich Berührungsängste abbauen. Darum zum Beispiel auch unser Projekt "Shalom Rollberg", ein anderes Projekt von MORUS 14, bei dem wir Begegnungen zwischen der jüdischen Community Berlins und muslimischen Bewohnern des Rollbergkiezes fördern. Eine Fehlannahme des alten Multikulti-Konzeptes war doch, dass die Zuwanderer Multikulti gut finden und wollen. In Wirklichkeit wollen die meisten Menschen, Einheimische wie Migranten, nur Monokulti. Deshalb sind mancherorts Parallelgesellschaften entstanden. Meine Erfahrung ist: Wenn man diese Vielfalt will, muss man sie organisieren und die Leute einfach damit konfrontieren. Denn: Zumindest viele der Zuwanderer, mit denen wir es hier zu tun haben, sind von ihrer Kultur und ihrem Milieu her gar nicht auf Konsens und Pluralismus ausgerichtet, sondern eher auf Clanstrukturen und ein ständiges Kräftemessen. +Und wenn das mit der "verordneten" Vielfalt nicht klappt? Was ist, wenn Jugendliche sich trotz all dieser Bemühungen radikalisieren? +Ganz aktuell haben wir so einen Fall: Wir empfangen ganz schwache Signale von einem 13-Jährigen, der eine zunehmende Affinität zu islamistischen Parolen erkennen lässt. Die Studentin, die ihn bei den Hausaufgaben betreut, hat mich darauf hingewiesen. Ich werde die Eltern um ein Gespräch bitten und versuchen, mein Vertrauenskapital und meine Empathie spielen zu lassen. Ich weiß aber nicht, ob es klappen wird. +Die Bundesfamilienministerin hat vor ein paar Tagen angekündigt, das Präventionsprogramm gegen die islamistische Radikalisierung von Jugendlichen aufzustocken. Wie sollte dieses Geld investiert werden? +In genau solche Initiativen wie Hayat oder uns. Schülerhilfe, in diesem umfassenden Sinne verstanden, ist effektive Jihadismus-Prävention. Wie und wo sonst hätte bitte der kleine K. einen C. kennenlernen sollen, der ihm vermittelt, wie man in diesem Land denkt und lebt? Der Wille der Bürger ist auch da, wie man an unseren zahlreichen Helfern sieht. Aber dafür braucht es Strukturen wie uns, die das generalstabsmäßig organisieren. Das Geld sollte also investiert werden, um an vielen Orten so etwas zu ermöglichen. +"Ich bin Gehirnzellenimporteur und Arschtrittverteilmaschine" – so fasst der Volkswirt und Stadtplaner aus Paris seine Arbeit manchmal zusammen. +Erwarten Sie, dass die Politik das so entscheiden wird? +Ich rechne nicht damit. Kontinuität ist die beste Waffe gegen Radikalisierung. Das öffentliche Fördersystem mit begrenzten Förderzeiträumen macht sie aber quasi unmöglich. Konzepte wie unseres sind zu gebietsübergreifend, um in das Raster der vielen behördlichen Anforderungen zu passen. Deswegen müssen wir uns hier ja seit Jahren mit privaten Spenden über die Runden retten und könnten an dem Papierberg schier verzweifeln, wenn wir mal staatliche Zuschüsse beantragen. Jedes Detail soll man da im Voraus bestimmen –  das ist überhaupt nicht möglich. So eine Initiative hier ist ein lebender Organismus. Worauf es ankommt, ist, dass man auf Dauer ein verlässlicher Anlaufpunkt für die Familien und ihre Kinder ist – über Jahre. Nur so kann etwas wachsen. Aber dafür bräuchte man genug Zeit und Geld –  und als Voraussetzung einen Vertrauensvorschuss von Seiten der Behörden. Den bringen sie aber nach meiner Erfahrung oft nicht auf. diff --git a/fluter/israel-7-oktober-2023-terror.txt b/fluter/israel-7-oktober-2023-terror.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ce0f3709a953564767b6bc483fbd897962d1e9cb --- /dev/null +++ b/fluter/israel-7-oktober-2023-terror.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Um kurz nach 6.30 Uhr Ortszeit riss das Heulen der Sirenen die Menschen im Süden und im Zentrum Israels aus dem Schlaf. Der Blick auf das Telefon aber irritierte. Die meisten Israelis haben eine der Raketenwarn-Apps installiert, auch melden die israelischen Medien Angriffe immer sofort als Eilmeldung. An diesem Morgen aber schwiegen die Telefone, keine Warn- und keine Eilmeldung. Später wurde klar, dass die Hamas systematisch die Warnsysteme zerstört hatte. Das wusste zu diesem Zeitpunkt noch kaum jemand. Wer keinen eigenen Schutzraum in der Wohnung hatte, flüchtete sich in den Hausflur oder Keller, traf dort Nachbarn, die scherzten: "Vielleicht ist ein Soldat eingenickt und mit dem Kopf auf den Alarmknopf gefallen!" +Beim zweiten Alarm, etwa 20 Minuten später, war das Lachen vergangen. Über soziale Medienverbreiteten sich erste Videos, die das Grauen jenes Tages ankündigten. Ungefähr 3.000 palästinensische Terroristen, überwiegend der Terrororganisation Hamas, drangenaus dem Gazastreifennach Israel ein. Sie hatten an fast 30 Stellen den sechs Meter hohen Grenzzaun gesprengt. Noch war die Nachrichtenlage völlig unklar, aber eindeutig war: Mit dem Eindringen der Terroristen war Israels Albtraum wahr geworden. +Israel, gegründet als Sicherheitsversprechen jüdischen Lebens, konnte an diesem Tag seinem Auftrag nicht nachkommen. Propagandavideos der Terroristen, Aufnahmen und Aussagen der Überlebenden dokumentieren die Gräuel dieses Tages. Die Terroristen überfielen die israelischen Militärbasen (die unter anderem dafür zuständig sind, die Zivilbevölkerung zu alarmieren, und es aufgrund der Überfälle nicht konnten), sie überfielen die Kibbuzim direkt an der Grenze zu Gaza, sie verübten ein Massaker auf dem Musikfestival "Nova", das auf einem freien Feld zwischen zwei Kibbuzim stattfand. + + +Die Terroristen töteten, wen sie treffen konnten, vergewaltigten Frauen, schändeten Leichen oder im Sterben liegende Menschen und verübten laut Zeugenaussagen noch weitere Gräueltaten. Menschen wurden in Autos verbrannt, konnten später nur anhand von Knochenresten identifiziert werden. Ähnliche Szenen spielten sich in den Kibbuzim ab: Kinder mussten mit ansehen, wie ihre Eltern hingerichtet wurden. Eltern, wie ihre Kinder geschändet wurden. +Die Terroristen hielten mehrere Orte und umliegende Straßen über Stunden unter Kontrolle. Auch deshalb dauerte es bis zum Abend, bis die Dimension des Angriffs deutlich wurde, inklusive der massenhaften Geiselnahmen. Bei dem über Monate geplanten Angriff verschleppten die Terroristen mehr als 240 Menschen nach Gaza. Mindestens 1.200 Menschen wurden an dem Tag getötet. Das sind mehr als während der gesamten Zweiten Intifada, der mehrjährigen Phase palästinensischer Terroranschläge Anfang der 2000er-Jahre. Die Hamas-Gräuel vom 7. Oktober stellen den schwersten Angriff auf jüdisches Lebenseit dem Holocaustdar. +Auf den Angriff der Hamas folgte der schwerste Krieg in Gaza seit Bestehen des israelisch-palästinensischen Konflikts. Die Ziele: Die Hamas sollte zerstört und die Geiseln befreit werden. Für die Hamas sind die Geiseln eine Art Lebensversicherung und Verhandlungsmasse. Mitte November einigten sich Israel und die Terrorgruppe erstmals auf ein Abkommen − etwas mehr als 100 israelische Geiseln wurden freigelassen, ausschließlich Frauen und Kinder. Israel entließ dafür 240 palästinensische Insassen aus israelischen Gefängnissen, ebenfalls nur Frauen und Kinder – oder in diesem Fall Jugendliche. Gemessen an der Einwohnerzahl Israels gilt der Hamas-Angriff als einer der weltweit tödlichsten Terrorangriffe der modernen Geschichte. +Der Krieg in Gaza dauert immer noch an. + +Titelbild: Gianluca Cecere/laif diff --git a/fluter/israel-friedensdorf-newe-schalom.txt b/fluter/israel-friedensdorf-newe-schalom.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b2def24edfd07c8814c77ef1356f3a7283555ee3 --- /dev/null +++ b/fluter/israel-friedensdorf-newe-schalom.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Gut 360 Einwohner hat das Dorf, das sind ungefähr 100 Familien, zu gleichen Teilen jüdisch und arabisch. Das ist kein Zufall, sondern die Essenz des Projekts, das es seit den Siebzigern gibt und das seitdem wächst. Es gibt keine religiösen, ethnischen oder kulturellen Mehr- und Minderheiten, alle zählen gleich. Hier wollen sie zeigen, dass ein Miteinander möglich ist, nicht nur ein Nebeneinander. +Seit die Hamasam 7. Oktober 2023mindestens 1.200 Israelis, Jüdinnen und Juden, Frauen, Kinder und Alte ermordete, folterte und schändete und seit die israelische Armee als Antwort den Gazastreifen in den Erdboden bombt, kommen sogar die so dialogerfahrenen Dorfbewohner an ihre Grenzen. +Einerseits sind da die jüdischen Einwohner. Sie fürchten den Terrorund die Hamas. Viele kennen jemanden, der enge Freunde oder Verwandte bei den Anschlägen verloren hat. Israel ist ein kleines Land. Andererseits sind da die arabischen Einwohner. Sie sorgen sichum Angehörige im Gazastreifenund fürchten, in Israel zum Ziel von Anfeindungen zu werden. All diese Gedanken sind nachvollziehbar, aber die Sorgen der einen sind eben nicht die der anderen. Und so wird es schwieriger, einander zuzuhören. Was sie hier besser verstanden haben als andere: Schwierig heißt nicht unmöglich. +Also fanden seit dem 7. Oktober mehrere Versammlungen in der Gemeinde statt. Zunächst "uninational", wie sie es nennen. Dann treffen sich die beiden Gruppen getrennt voneinander. Nicht, um einander auszuschließen, sondern damit die mit den gleichen Nöten sich erst mal verständigen können. Das ist die Grundlage für gemeinsame Treffen. "You can't unite in suffer", beschreibt Samah Salaime das. +Salaime ist Palästinenserin und kam 2000 ins Dorf. Sie zog aus Ostjerusalem her, als geradedie zweite Intifada losging, eine über Jahre anhaltende Welle an Terroranschlägen radikaler Palästinenser in Israel und den besetzten Gebieten. Salaime habe ihrem Kind eine bessere Erziehung bieten wollen, kein Schulsystem, das Araber und Juden von Kindheit an trennt. "Wir werden Probleme nur gemeinsam lösen können", sagt sie. Im Dorf gibt es keine Synagoge und keine Moschee, die jüdischen und die arabischen Kinder gehen – anders als üblich in Israel – gemeinsam zur Schule. +Roi Silberberg, breites Kreuz, weiches Gesicht und leuchtend pinkfarbene Sneaker, ist vor zweieinhalb Jahren mit seiner Familie hergezogen. Er ist Jude und leitet die School for Peace im Ort. Dort lernen Erwachsene in Seminaren, sich miteinander auszutauschen und heute auch: miteinander zu trauern. Silberberg selbst besuchte ein solches Seminar 2006 und fand vor allem die Methodik beeindruckend. "Als Erstes musste ich verstehen, dass ich Verantwortung habe. Für meine Gruppe und für mich selbst. Und dass ich von manchen Dingen profitiere, selbst wenn ich nicht einverstanden mit ihnen bin", erinnert er sich. Als er sich damals auf das Seminar bewarb, bekam er die Zusage unter der Bedingung, dass er einen arabischen Teilnehmer mitbringen müsse. Er ging an seiner Uni auf die Suche. Die strenge Parität führte zu einem Austausch, bevor der Kurs überhaupt angefangen hatte. +Silberberg, Salaime und all die anderen im Dorf beschreiben die vergangenen Monate als schwierig. Silberberg sagt, denjenigen, die sonst nicht so viel diskutieren, fiele es heute noch schwerer, weil das Misstrauen gewachsen sei. Aber er habe auch erlebt, wie stark der Wille bei allen sei, sich in diese Partnerschaft einzubringen. Einer der Bewohner initiierte nach den Anschlägen der Hamas einen eigenen Podcast, um das Dorf enger zusammenzubringen. Und Samah Salaime sagt: "Wenigstens hat seit Beginn des Krieges niemand das Dorf verlassen." +Der Druck kommt jedoch nicht nur von innen. Journalisten interessieren sich seit Kriegsbeginn wieder vermehrt für das Projekt, das macht es für die Bewohner nicht einfacher. Es gibt ein gewisses Misstrauen gegenüber Reportern. Zu oft sei man nicht richtig verstanden worden, sagt ein Mann im Café. Und: Die verbindende Botschaft, die von Newe Schalom/Wahat al-Salām ausgeht, wird nicht von allen da draußen als etwas Positives gesehen. Es gab schon Brandanschläge, auch auf die School for Peace. Manche Menschen wollen einfach keinen Frieden. + +Dieser Text istim fluter Nr. 91 "Streiten"erschienen +Die Sicherheit bleibt eines der bestimmenden Themen im Dorf. Die Zufahrt ist mittlerweile durch ein Stahltor verschlossen, manche Bewohner meldeten sich freiwillig, um Wache zu schieben. Fremde kommen nicht unbemerkt hinein. Auch darüber gab es Debatten im Ort, manche waren dagegen, um sich nicht wie israelische Siedler abzuschirmen, andere waren dafür, aus Sicherheitsgründen. Ihre Argumente gewannen diesmal. +Das Tor ist vor allem für Autos gedacht, nicht das gesamte Dorf ist eingezäunt. Es gibt einen kleinen Parkplatz nicht weit vom Eingang. Hier liegen einem die Mandelbäume in den Hängen zu Füßen. Bei klarer Sicht kann man die Skyline von Tel Aviv fast erkennen. Wenn es dämmert, sehen sie hier manchmal, wie sich die Raketen der Hamas und des israelischen Iron Dome in der Luft treffen und explodieren. Ein sinnloses, tödliches Feuerwerk. Und eine Erinnerung daran, warum Projekte wie dieses wichtig sind, selbst wenn es nicht immer leicht ist +Titelbild: Piero Oliosi/Polaris/laif +©Zeit Online, November 2023 (aktualisiert) diff --git a/fluter/israel-palaestina-gebietsstreit.txt b/fluter/israel-palaestina-gebietsstreit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6c9f7cef828643a6ec6f3e673a483c65449b5930 --- /dev/null +++ b/fluter/israel-palaestina-gebietsstreit.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Am 29. November 1947stimmte mit 33 Staaten die Mehrheit der UN-Mitglieder für diesen Teilungsplan. 43 Prozent des Landes waren demnach für die 1,3 Millionen arabischen Menschen gedacht, 56 Prozent für die 600.000 Jüdinnen und Juden. Das löste innerhalb der arabischen Nachbarländer Empörung aus, sie erkannten den Plan nicht an. Am 14. Mai 1948 erklärte Israel seine Unabhängigkeit, Ägypten, Jordanien, Libanon, Irak und Syrien erklärten daraufhin Israel den Krieg. Dieser Krieg wird auf israelischer Seite als Unabhängigkeitskrieg bezeichnet, auf arabischer Seite werden die Geschehnisse als "Nakba", die Katastrophe, erinnert. +Im Zuge dessen erreichte Israel eine Grenzziehung zu seinen Gunsten und nahm ein Drittel mehr an Gebiet ein, als nach dem UN-Teilungsplan vorgesehen war. Ostjerusalem und das Westjordanland wurden von Jordanien besetzt, der Gazastreifen von Ägypten. Die Waffenstillstandslinie des Krieges ist die sogenannte Grüne Linie und Israels international anerkannte Grenze. +Selbst innerhalb der moderaten Palästinenserpartei Fatah sprechen Mitglieder von "48", wenn sie Israel meinen. Die Formulierung impliziert, dass Israel mit seinen von der internationalen Gemeinschaft bestätigten Grenzen von 1948 nicht anerkannt wird. Die Anerkennung der israelischen Grenzen von 1948 ist ein Knackpunkt des Gebietsstreits. Weder der Libanon noch Syrien, erst recht nichtdie radikalislamische Hamasgestehen den mittlerweile über sieben Millionen jüdischen Israelis diese und damit Israels Existenz als Staat zu. +Gleichzeitig gewinnen auf jüdisch-israelischer Seite in den vergangenen Jahren radikale Kräfte mehr und mehr Einfluss, die von einem "Großisrael" träumen. Auch sie akzeptieren Israels Grenzen nicht, sondern fordern die Landnahme des gesamten früheren Mandatsgebiets Palästinas. Die Idee eines eigenen palästinensischen Staates lehnen sie ab. + + +1967,im Sechs-Tage-Kriegzwischen Israel auf der einen und Jordanien, Syrien und Ägypten auf der anderen Seite, besetzte Israel Ostjerusalem, das Westjordanland und Gaza, die ägyptische Sinaihalbinsel sowie die syrischen Golanhöhen. Insgesamt ein Gebiet, das dreimal so groß ist wie der Staat Israel selbst. Jerusalem ist dabei der zweite Knackpunkt des Gebietsstreits. Jüdinnen und Juden wollten die für sie heilige Klagemauer und den Tempelberg in ihrem Gebiet haben. Musliminnen und Muslime beanspruchen allerdings den Felsendom und die Al-Aqsa-Moschee für sich, beide befinden sich auf dem Gebiet des Tempelbergs und direkt an der Klagemauer.Der Zugang zum Tempelberg wird von der jordanischen Waqf-Behörde kontrolliert, dies hatte Israels Verteidigungsminister Mosche Dajan nach dem Sechs-Tage-Krieg entschieden. +Im Sechs-Tage-Krieg schuf Israel auch in der Jerusalemfrage militärisch Fakten, indem es den bis dahin von Jordanien besetzten Ostteil erst besetzte und später annektierte. Seit 1980 wird das vollständige und vereinte Jerusalem als Hauptstadt Israels bezeichnet. Diese israelische Position wird von der internationalen Gemeinschaft grundsätzlich nicht anerkannt. Während der Regierungszeit von Donald Trump wollte der damalige US-Präsident zwar die US-Botschaft nach Jerusalem verlegen lassen. Das ändert aber nichts an der völkerrechtlichen Situation, nach der die Besetzung und die Annexion illegal sind. +Es gibt insgesamt mehrere, teils nicht miteinander vereinbare Positionen bei der Frage, um welches Gebiet gestritten wird − und über welches überhaupt verhandelt werden kann. Israels Verbündete halten sich dabei an die Grenzen von 1948, fordern seit Jahren einen Baustopp neuer israelischer Siedlungen im Westjordanland. Gleichzeitig wächst innerhalb Israelsseit dem 7. Oktober 2023die Zustimmung für den Bau von Siedlungen im Gazastreifen. Aus diesem hatte Israels Armee 2005 alle Siedler zurückgeholt und die Besatzung beendet. 38 Prozent der Israelis stimmen laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Israel Democracy Institute für die erneute Besetzung. +Um einen palästinensischen Staat auf Basis der Grenzen von 1948 verhandeln zu können, braucht es auch ein Entgegenkommen der palästinensischen Seite. Hier hat sich die Fatah, die das Westjordanland regiert, auf Israel zubewegt und offiziell Israels Existenz anerkannt. Eine repräsentativeStudiedes palästinensischen Meinungsforschungsinstituts Palestinian Center for Policy and Survey Research aus dem Januar 2023 ergab aber: 93 Prozent der palästinensischen Befragten sind der Meinung, dass Juden und Jüdinnen keinen Anspruch auf das frühere Mandatsgebiet Palästina haben. + +Titelbild: Naftali Hilger/laif diff --git a/fluter/ist-bds-boykott-bewegung-antisemitisch.txt b/fluter/ist-bds-boykott-bewegung-antisemitisch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5846e0e0d76aae30965533161feadd590fc2dfcf --- /dev/null +++ b/fluter/ist-bds-boykott-bewegung-antisemitisch.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Wie funktionieren die geforderten Boykotte? +DasInstrument des Boykottsist politisch immer wieder eingesetzt worden. Dabei muss man sich stets die Frage stellen, was wie und mit welcher Begründung boykottiert wird. So wie BDS agiert, ist es ein Boykott, der nicht den demokratischen Staat Israel trifft, wo eine freie Marktwirtschaft herrscht, sondern Individuen. Man nimmt Einzelne in Haftung – nicht für etwas, das sie selbst tun, sondern für etwas, das sie angeblich sein sollen. +Samuel Salzborn ist Gastprofessor fürAntisemitismusforschung an der TU Berlin. Im September erscheint sein neues Buch "GlobalerAntisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne" +Boykotte gegen israelische Waren und Kulturevents treffen am Ende auch arabische Israelis. +An diesem Punkt kommt eine Perfidität zum Ausdruck, die wir an vielen dieser propalästinensischen Kampagnen beobachten. Gerade diejenigen Palästinenser, die mit Israel zusammenarbeiten, die an Austausch und Dialog orientiert sind, sind oft von erheblichen Repressionen durch die palästinensische politische Führung betroffen. +Die Frage ist, welche politische Ordnung BDS anstrebt. In der Grundsatzerklärung aus dem Jahr 2005 fordert die Kampagne ein Rückkehrrecht für arabische Bewohner des Staatsgebiets von Israel, die 1948 vertrieben wurden oder geflohen sind. Als "Flüchtlinge" werden dabei auch ihre Nachkommen verstanden, inzwischen sind es Millionen Menschen. +Diese angebliche Vererbbarkeit des Flüchtlingsstatus ist ein zentraler Punkt. Man kennt das im internationalen Kontext nur aus einem anderen Fall: in Bezug auf die deutschen Flüchtlinge aus Osteuropa infolge des Nationalsozialismus. Die deutschen Vertriebenenverbände haben sich auch zurechtkonstruiert, dass es eine Vererbbarkeit der Flüchtlingseigenschaft gebe. +Unter anderem wegen der Forderung nach diesem "Rückkehrrecht" für Vertriebene sagen viele Kritiker von BDS, die Kampagne wolle Israel kurzfristig sein Existenzrecht absprechen und langfristig den Staat zerstören. +Das sehe ich auch so. Die islamistische, im Gazastreifen regierendeTerrororganisation Hamasproklamiert als ausdrückliches Ziel ihrer Politik die Vernichtung Israels. BDS muss man als flankierende Kampagne für den palästinensischen Terrorismus begreifen, weil es ihr darum geht, mittels einer Reihe von Lügen Israel zu delegitimieren. Ein Aspekt dabei ist, dass man mittels der Forderung nach einem "Rückkehrrecht" bevölkerungspolitisch etwas durchsetzen möchte, das man politisch, rechtlich und historisch nicht sinnvoll begründen kann: indem man andere Mehrheitsverhältnisse schaffen will. +Die 2005 gegründete Bewegung"Boycott, Divestment and Sanctions" (BDS)ruft zum Boykott israelischer Waren, Unternehmen und Künstler auf. Weil sich die israelische Botschaft mit 1.200 Euro an den Reisekosten dreier israelischer Künstler beteiligt, die im August beim Berliner Pop-Kultur-Festival auftreten, rief BDS Künstlerinnen und Künstler dazu auf, ihre Auftritte abzusagen. Mindestens fünf Acts aus den USA und Großbritannien haben dies bisher gemacht. Die Veranstalter halten derweil daran fest, dass "Diskurs und Dialog der einzige Weg sind, mit den Konflikten in dieser Welt umzugehen". +Es geht also auch darum, wer bestimmte Territorien kontrolliert. Welche Gebiete meint die BDS-Kampagne, wenn sie das Ende der "Besatzung und Kolonisierung allen besetzten arabischen Landes" fordert? +Wenn wir uns palästinensische Schulbücher anschauen, Landkarten, die verbreitet werden, oder Plakate, die auf Demonstrationen gezeigt werden, dann zeigt sich, dass mit "Besatzung" ganz Israel gemeint ist – und nicht nur die von Israel seitdem Sechstagekrieg 1967weiterhin kontrollierten Gebiete Westjordanland und Golanhöhen. Es ist in Bezug auf die Gründungsphase Israels auch immer wieder von "Siedlungskolonialismus" die Rede, was historisch falsch ist. Nachdem Palästina 1920 als Völkerbundmandat an Großbritannien übertragen wurde, hat der Jüdische Nationalfonds begonnen, Land zu erwerben. Arabische Großgrundbesitzer haben dieses Land freiwillig verkauft, weil die Landpreise enorm in die Höhe geschnellt waren. Von Kolonialismus konnte dazumal also keine Rede sein. +BDS wirft Israel vor, arabisch-palästinensischen Einwohnern Gleichheitsrechte abzuerkennen. Worum geht es da? +Gerade die Frage des israelischen Staatsangehörigkeitsrechts ist ein Dreh- und Angelpunkt der Diskussion. Auch Araber können die israelische Staatsangehörigkeit erwerben. Zwanzig Prozent der Bürger Israels sind Araber muslimischen oder christlichen Glaubens. Die Gesellschaft ist sehr plural, in mancher Hinsicht sogar mehr als manche Demokratien in Westeuropa.Das israelische Staatsangehörigkeitsrechtist grundsätzlich nicht diskriminierend und nicht rassistisch. Kampagnen wie BDS machen es sich aber zunutze, dass grundlegende Informationen in Teilen der europäischen Bevölkerung nicht vorhanden sind und man sich so über etwas empören kann, was gar nicht real ist. +Die BDS-Kampagne kritisiert Israel in vielen Bereichen. Ist sie deswegen auch antisemitisch? +Man kann über BDS drei Dinge festhalten. Erstens: Wenn man auf die grundsätzliche Struktur dieser Bewegung schaut, sieht man, dass ein Großteil ihrer Annahmen und Behauptungen auf Lügen und falschen Vergleichen [unter anderem mit dem südafrikanischen Apartheidsregime, Anm. der Redaktion] basiert. Zweitens: BDS hat eine grundsätzlich israelfeindliche Ausrichtung. Drittens: In der Verbindung dieser Dimensionen ist es ohne Zweifel eine antisemitische Kampagne. Es gibt für die Antisemitismusforschung drei Schlüsselkriterien: Über die Delegitimierung haben wir bereits gesprochen. Dazu kommen die Dämonisierung und das Anwenden doppelter Standards. Wenn diese Kriterien mit Blick auf Israel zutreffen, geht es nicht um Kritik, sondern um Antisemitismus. Bei BDS sind alle diese Kriterien erfüllt. + +Mehr zum Thema: +In welchen Formen tritt Feindschaft gegen Juden heute sonst noch auf?Beispiele und weiterführende Artikel gibt es hier. +Und was genau ist antizionistischer Antisemitismus noch mal?Hier erfahrt ihr es genau. +Dieses Jahr feiert Israel den 70. Jahrestag der Staatsgründung.Dieses kostenlose Themen-Hefthilft, seine Geschichte besser zu verstehen. diff --git a/fluter/ist-das-leben-nicht-schoen.txt b/fluter/ist-das-leben-nicht-schoen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/ist-der-medizin-nc-sinnvoll.txt b/fluter/ist-der-medizin-nc-sinnvoll.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f65216976850158ee0541cc90b7bb86a76f3155e --- /dev/null +++ b/fluter/ist-der-medizin-nc-sinnvoll.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Dieses Bewerbungsverfahren fanden zwei Anwärter unfair und zogen vors Verwaltungsgericht Gelsenkirchen. Sie bekamen recht: Die Richter hielten die gängigen Regeln in Teilen sogar für verfassungswidrig, da viele Bewerber von vornherein ausgeschlossen seien. Sie würden der freien Wahl der Ausbildungsstätte und des Berufs sowie dem allgemeinen Gleichheitssatz Gleichheit nicht entsprechen. Beides ist im Grundgesetz verankert. Verstößt der NC also gegen die Verfassung? Eine Antwort auf diese fundamentale Frage muss jetzt das Bundesverfassungsgericht geben. Im Oktober starteten die Verhandlungen. +Das derzeitige Verfahren hat noch ein Problem: Es ist komplex und uneinheitlich. Für die Zulassungen gilt die sogenannte 20-20-60-Regel: 20 Prozent der Plätze vergibt die Stiftung für Hochschulzulassung und orientiert sich dabei allein an der Abiturnote. Weitere 20 Prozent der Bewerber rücken aus der Warteliste nach. Hier spielt allerdings abermals die Abiturnote eine Rolle, denn bessere Absolventen bekommen den Vorzug. Zudem entscheiden soziale Kriterien: Bewerber mit Kind, Verheiratete oder in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft Lebende sowie Schwerbehinderte bekommen eher die Zusage für einen wohnortnahen Studienplatz. Den überwiegenden Teil der Plätze, 60 Prozent, vergeben die Hochschulen jedoch in Eigenregie nach unterschiedlichen Kriterien. Einige berücksichtigen praktische Erfahrungen im medizinischen Bereich. Manche vergeben Bonuspunkte für die Abiturnoten einzelner Fächer. Andere fordern einen Studierfähigkeitstest für Medizin, den Test für Medizinische Studiengänge (TMS) oder den Hamburger Naturwissenschaftstest (HAM-Nat), in denen naturwissenschaftliche Kenntnisse und kognitive Fähigkeiten geprüft werden. Wieder andere Universitäten führen Interviews durch. Kurz: Jeder macht, was er will. +Der Vorsitzende des Ersten Senats, Richter Ferdinand Kirchhof, fragte zum Verhandlungsstart im Oktober, ob die Abiturnote in einem föderalen Schulsystem überhaupt vergleichbar sei. "Platt gesagt, ein 1,0er aus Bayern entspricht nicht einem 1,0er aus Bremen", erklärt Fachanwalt Dirk Naumann zu Grünberg, der dem Verfahren als Beobachter beiwohnt. Er meint, dass das Vergabeverfahren ein "zerfasertes Verfahren" ist, in dem es keine Planbarkeit gibt. "Ich kann als Bewerber nicht abschätzen, ob ich Chancen habe oder nicht", so der Fachanwalt. +Die Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e.V. hingegen kritisiert, dass ältere Bewerber, deren Abitur über ein Jahrzehnt zurückliegt, dieselben Chancen haben wie jüngere Bewerber. "Diejenigen, die schon lange aus dem Lernen raus sind, brechen besonders häufig das Studium ab. Deshalb sollte ein 40-Jähriger andere Chancen haben als ein 27-Jähriger", findet Luca Salhöfer, Bundeskoordinator der Vereinigung. Der Verein macht sich für ein bundesweit einheitliches Verfahren stark – zumindest teilweise. Seinem Vorschlag zufolge soll die Hälfte der Plätze nach einem Kriterienkatalog vergeben werden, der neben der Abiturnote die Wartezeit, die Ergebnisse von Studierfähigkeitstests und berufliche Erfahrungen im medizinischen Sektor bewertet. So könnte möglicherweise auch Studienabbrüchen vorgebeugt werden. Die andere Hälfte der Plätze sollen weiterhin die Hochschulen in einem individuellen Verfahren vergeben. Die Hoheit der einzelnen Universitäten bliebe bestehen. +In eine ähnliche Richtung geht der Vorschlag der Bundesärztekammer. "Wir sehen die starke Fokussierung auf die Abiturnote kritisch", teilt der Pressesprecher Samir Rabbata mit. Ärzte bräuchten vor allem auch eine soziale Ader, Empathie und Fingerspitzengefühl in der Kommunikation. Die Abiturnote soll deshalb an Gewicht verlieren, indem auch die soziale Kompetenz, soziales Engagement und berufliche Erfahrung einbezogen werden. +Hierzu regte der Präsident der Bundesärztekammer, Ulrich Montgomery, im April 2017 an, bundesweit Assessmentcenter einzurichten, wo die Studienanwärter Tests absolvieren. Das würde bei rund 43.000 Bewerbern jedes Jahr 43 Millionen Euro kosten, so seine Rechnung. +Können wir von anderen Ländern lernen? In Kanada geht das Auswahlverfahren einen anderen Weg. Dort müssen die Studierwilligen zunächst ein Bachelorstudium in einem Fach ihrer Wahl abschließen. Dann erwartet sie ein etwa fünfstündiger Eignungstest. Darin prüfen die Auswahlmanager die Kenntnisse in Biologie, Chemie und Physik sowie die Sprachkompetenz. Mit dem Bachelorabschluss und dem Testergebnis bewerben sich die Anwärter. Die Hochschulen laden dann zu Interviews ein, in denen die Bewerber mit sozialem Engagement und Berufserfahrung punkten können. Generell zeigen Modelle im Ausland zumindest in einem Punkt den Weg: Ein Gymnasialabschluss ist zwar die Voraussetzung fürs Studium, aber der Notendurchschnitt ist allenfalls ein Kriterium unter vielen. Auf die Abschlusszensur als Türöffner für viele Studiengänge wird in keinem Land so viel Wert gelegt wie in Deutschland. +Sollten die Karlsruher Richter den NC in seiner bestehenden 20-20-60-Regel tatsächlich kippen, könnte sich das auch auf andere Studiengänge auswirken, bei denen es mehr Bewerber als Plätze gibt. Dazu zählen Psychologie, Architektur, Medien- und Kommunikationswissenschaften, Betriebswirtschaftslehre und Jura. "Das wäre denkbar", sagt zu Naumann zu Grünberg. "Allerdings haben die Richter auch deutlich gemacht, dass die sogenannte Wesentlichkeitstheorie gilt: Nur in der Medizin beträgt die Wartezeit derart rekordhafte sieben Jahre. Es geht um die berufliche Zukunft Tausender Menschen und die Gesundheitsversorgung der Gesellschaft." Deshalb darf der Gesetzgeber der Regierung oder der Hochschulverwaltung wesentliche Entscheidungen nicht allein überlassen. +Es gibt viele Vorschläge, das bestehende System zu verändern. Jedoch werden weitreichende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht von allen Beobachtern für realistisch gehalten. "Alles, was weit über den Numerus clausus hinausgeht – auch das wurde in der Verhandlung deutlich –, wäre sehr viel Aufwand für die Hochschulen",fasste der "Spiegel" die Haltung anderer Beobachter zusammen. +Ein Grundproblem kann aber auch das Bundesverfassungsgericht nicht lösen: Auf einen Medizinstudienplatz kommen zurzeit fast fünf Anwärter. "Hier wäre die Politik gefordert", findet zu Naumann zu Grünberg. Sie müsste die Fakultäten ausbauen. Das Urteil aus Karlsruhe kann lediglich die Verteilung der begehrten Plätze ändern, indem es den Gesetzgeber auffordert, innerhalb einer Frist – üblicherweise drei Jahre – die Regeln zu überarbeiten. "Dann werden andere Glück haben", betont zu Naumann zu Grünberg. "Vielleicht kann auch ein 2,0er-Abiturient Medizin studieren. Aber ein 3,8er wird es immer noch schwer haben, weil das Gericht schon deutlich gemacht hat, dass die Abiturnote auch weiterhin ein Indiz sein wird." +Was macht Tobias nun – in Zeiten der Ungewissheit? Viele haben ihm zum Medizinstudium im Ausland geraten. In Breslau, Valencia oder Nikosia kann er auf Englisch studieren und mit einem anerkannten Abschluss nach Deutschland zurückkehren. Doch das kostet. In Breslau fallen rund 6.000 Euro Studiengebühren pro Semester Humanmedizin an, in Nikosia sind es sogar 9.500 Euro. Wer schnell Geld verdienen will, so sagte man ihm, macht besser eine medizinische Berufsausbildung, zum Beispiel zur Pflegekraft. Was ihm keiner gesagt hat: Vielleicht gelten in drei Jahren andere Zulassungsregeln – mit denen auch er ins Studium reinrutschen kann. Wann das Urteil darüber fällt, ist aber noch nicht klar. + + diff --git a/fluter/ist-der-spatz-vom-aussterben-bedroht.txt b/fluter/ist-der-spatz-vom-aussterben-bedroht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0d6f6d4a9f11027b4f2d125f735f8e26fdf8f0fb --- /dev/null +++ b/fluter/ist-der-spatz-vom-aussterben-bedroht.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Allerdings verbietet Staatschef Nicolás Maduro die Einfuhr von Hilfsgütern: Sie wäre nur eine "politische Show", um ihn zu stürzen. Deshalb schmuggelt Pérez' Organisation die Medikamente nach Venezuela. Weil das menschlich nachvollziehbar, aber rechtlich nicht ohne ist, bleiben Pérez, die Organisation und ihre 24 freiwilligen Helfer in dieser Geschichte anonym. +Die Geschichte von Clarence erzählt viel, und sie zeigt auch, wie eng die Bindung sein kann zwischen Mensch und Spatz. Und tatsächlich: Haussperlinge, so heißen die Vögel korrekterweise, haben sich uns Menschen vor mehr als 10.000 Jahren angeschlossen. Sie sind uns als sogenannte Kulturfolger hinterhergezogen, haben sich uns angepasst, und heute gibt es sie überall dort, wo auch wir Menschen leben. +Noch jedenfalls. +Seit 2002 steht der Spatz in Deutschland auf der Vorwarnstufe der Roten Liste, seit 2018 gilt er in Hamburg sogar als gefährdet. Dort ist der Bestand allein in den vergangenen 15 Jahren um 45 Prozent gesunken. +Wer wissen will, woran das liegt, muss Uwe Westphal anrufen. Der Biologe und Tierstimmenimitator hat 2016 das Buch "Mehr Platz für den Spatz!" geschrieben und erzählt am Telefon von glatten Neubauten, die mit ihren dichten Dämmungen keine Nistplätze mehr bieten. Von zugebauten Brachen, auf denen früher noch die Spatzen wohnten. Und von versiegelten Flächen, die den Dreckspatzen ihre so dringend benötigten Staubbäder unmöglich machen. +Anders als früher fühlt sich der Spatz also nicht mehr dort wohl, wo wir Menschen sind. Im Gegenteil: Da, wo wir uns am breitesten machen, verschwindet er. Uwe Westphal ist deshalb besorgt: "Spatz und Mensch leben seit Ewigkeiten zusammen. Wenn die nun plötzlich nicht mehr gemeinsam mit uns existieren können, dann sollten wir uns wirklich Gedanken machen." +Dass der Spatz aber überhaupt noch mit uns zusammenleben will, gleicht schon einem Wunder. Denn gut behandelt haben wir ihn, ehrlich gesagt, nicht: Lange galten Spatzen als Schadvögel, als Korndiebe. Mao ließ die Spatzen fast ausrotten, weil sie das Saatgut aufpickten, und erntete dafür eine Hungersnot, weil die Insekten zur Plage wurden und über das Land herfielen. Auch in Deutschland versuchte man bis in die 1960er-Jahre, die Vögel zu vernichten: Man vergiftete Weizen und hat sogar ihre Schlafplätze mit Dynamit gesprengt. +Noch hat der Sperling aber immer einen Ausweg gefunden. Was ihm dabei sicherlich zugutegekommen sein dürfte, ist seine hohe Intelligenz. Und vielleicht auch, dass wir Spatzenhirne diese immer unterschätzt haben. + diff --git a/fluter/ist-die-eu-undemokratisch-pro-contra.txt b/fluter/ist-die-eu-undemokratisch-pro-contra.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..56ce1c6a742172dbf2a53af9131ffc6341a0c1b0 --- /dev/null +++ b/fluter/ist-die-eu-undemokratisch-pro-contra.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Fast scheint es egal, wer in Europa an die Macht kommt. So sehr ähneln sich viele Parteien in diesen Tagen in ihrem Für-Europa-Sein. Fast alle Spitzenkandidaten haben sich in einem blauen Europa-Pulli fotografieren lassen, und ihre Parteien haben in den Städten längst auch den letzten Laternenpfahl plakatiert mit Variationen des "Europa ist die Antwort"-Pathos. Auch Firmen wie die Deutsche Bahn oder Fritz-Kola werben für den Staatenbund. Der Brausehersteller lässt über einen Instagram-Werbeclip verbreiten, dass die EU Frieden, Freiheit und Demokratie sei, und fordert: "Tu etwas dafür, dass das so bleibt". Und das ist alles richtig und eben auch irgendwie nicht. +Anders als die Vereinten Nationen lassen die Unionsstaaten keine Diktaturen in ihren Klub. Die Grundierung der EU ist also demokratisch – klar. Doch wer bei all der Europa- und Demokratiebegeisterung nicht ganz so genau hinschaut, was in Brüssel eigentlich los ist, kann leicht übersehen, dass in Europas Mitte einige Politiker längst damit begonnen haben, die europäische Demokratie auseinanderzubauen. An ihrer Stelle errichten sie eine undemokratische Dunkelkammer, in die nur wenige Zutritt haben. +Auf einen Europaabgeordneten kommen etwa 33 Lobbyisten, schätzt die Organisation LobbyControl. Die haben nur ein Ziel:ihre Interessen in Gesetzen und Richtlinien festschreiben zu lassen. Das ist ein Problem. Denn in Brüssel sind nicht alle Gruppen gleich vertreten, zwei von drei Lobbyisten arbeiten für Wirtschaftskonzerne. Umwelt- oder Verbraucherschutzverbände sind in der Unterzahl. Denn wer für seine Interessen werben will, muss sich das leisten können.Da wären zum Beispiel die Kosten für das Porto der Briefe und Kondome, mit denen eine Lobbyorganisation für Uploadfilter warb. Ihre Botschaft an die Abgeordneten: "Wir lieben Tech-Giganten und wir lieben Schutz." Effektiver und teurer waren da mutmaßlich die fast 800 Treffen von Lobbyisten mit Mitarbeitern der EU-Kommission, in denen sie über Urheberrecht sprachen – und wohl auch Uploadfilter. Ende März reformierte dann das Europaparlament das Urheberrecht und ermöglichte jene Uploadfilter. +Das Europaparlament hat selten wirklich etwas zu sagen. Und das gefährdet die europäische Demokratie mehr als jede Lobbyistendelegation. Das EU-Parlament muss zwar Gesetze verabschieden, darf selber aber keine vorschlagen. Wenn EU-Gesetze entworfen werden, geschieht das immer häufiger in Räumen, die kein Bürger und kein Journalist betreten kann. +Dort, in Europas Dunkelkammer, treffen sich Rat, Kommission und EU-Parlamentarier. Sie werden in Brüssel "informeller Trilog" genannt, sind aber nicht gesetzlich geregelt. Dabei werden inzwischen vier von fünf Gesetzen auf diese Art erarbeitet. Das Ergebnis nicken anschließend die EU-Parlamentarier nur noch ab. Wer zuvor für welche Interessen mit welchen Argumenten geworben hat? Lange wusste das niemand. Erst im März 2018 forderte das Europäische Gericht, mehr Transparenz zu schaffen und Dokumente offenzulegen. Doch häufig sagen die Trilog-Beteiligten, es gebe gar keine Dokumente oder Protokolle. Bei diesen Treffen im kleinen Kreis gewinnen oft die Nationalregierungen und drücken ihre eigenen Interessen durch. Die Bundesregierung versuchte so, bestimmte Abgastests zu verhindern oder Mechanismen gegen Steuervermeidung. Das ist nicht gerade europäisch und nicht demokratisch. +Die Europa-Begeisterung ist ja auch gut, denn es ist wichtig, den Nationalisten etwas entgegenzustellen. Doch wer sich nur vor die EU stellt, sieht nicht, was da mitunter schiefläuft. Die EU bietet nicht nur Anlass zu feiern, und Europa ist nicht immer die Antwort. Es ist ein Konstrukt, das auch von innen bedroht wird und neue Regeln braucht. Wie das geht, wurde Anfang des Jahres deutlich, als es EU-Parlamentariern trotz des Widerstandes einiger Abgeordneter überraschend gelang, neue Transparenzregeln zu verabschieden. Künftig müssen Ausschussvorsitzende und sogenannte Berichterstattende in Gesetzgebungsverfahren offenlegen, wann sie welche Lobbyisten treffen. Ein Anfang. + + +Nico Schmidt ist Reporter für das europaweite Recherchenetzwerk Investigate Europe. Als er neulich zum ersten Mal im Brüsseler EU-Viertel recherchierte, war er verblüfft, wie getrennt diese Welt vom Rest der Stadt ist. Dort sah er in den Straßen und Bars vor allem Lobbyisten. + + +Collagen: Renke Brandt +entgegnet Jule Könneke + +Flagge für Europa zu zeigen ist heute wieder angesagt. Besonders in einer Zeit,in der einige europäische Parteien die EU am liebsten abschaffen wollen. Sie sei "undemokratisch", lautet einer der beliebten Vorwürfe. Das stimmt nicht! +Fangen wir bei derGrundarchitektur der EUan. Okay, klingt langweilig, aber erlaubt mir diesen Ausflug. Die EU-Bürger*innen wählen ihre Abgeordneten in fairen, geheimen und freien Wahlen. Die EU-Abgeordneten vertreten, wie in nationalen Parlamenten, also ihre Wähler*innen unmittelbar. Was soll daran undemokratisch sein? Der Europäische Rat setzt sich aus den – demokratisch gewählten – Staats- und Regierungschefs der einzelnen Mitgliedstaaten zusammen. Die Europäische Kommission schließlich wird zwar nicht gewählt, jedoch ist der Europäische Rat, der die Mitglieder der Kommission vorschlägt, auf die Zustimmung des EU-Parlaments angewiesen. Die EU-Kommission ist damit dem Parlament gegenüber nicht nur rechenschaftspflichtig. Das Europäische Parlament hat auch immensen Einfluss auf die Zusammensetzung der Kommission. +Apropos Parlament: Dort wird fast so lauthals debattiert wie im britischen Unterhaus, wenn es über Brexit-Fragen streitet. Anders als im Deutschen Bundestag gibt es im EU-Parlament keine klare Unterscheidung zwischen Regierung und Opposition. Da sich die EU-Kommission folglich nicht auf eine feste Parlamentsmehrheit stützen kann, müssen für jede ihrer Gesetzesinitiativen aufs Neue Mehrheiten und Kompromisse zwischen den Fraktionen gefunden werden. Das erfordert überzeugende Argumente, erhöht die Transparenz und schafft eine vielfältige Debattenkultur! Ein einfaches "Durchwinken" von Gesetzesinitiativen gibt es in Brüssel nicht. Eine Mehrheit muss sich immer wieder neu finden und überzeugen lassen. +Die EU ist in den vergangenen Jahren immer demokratischer geworden. Seit dem Lissabon-Vertrag von 2009 müssen die Parlamentarier*innen allen EU-Gesetzen zustimmen. Außerdem stellen die europäischen Parteien mittlerweile eine Spitzenkandidatin oder einen Spitzenkandidaten für die Kommissionspräsidentschaft auf. Das garantiert den EU-Bürger*innen ein weiteres Mitspracherecht. Denn die Ergebnisse der EU-Parlamentswahlen werden bei der Ernennung des Kandidaten oder der Kandidatin für den Vorsitz der EU-Kommission berücksichtigt. +Viele Kritiker*innen verwechseln die Demokratie, die sie aus ihrem Nationalstaat kennen, mit der auf europäischer Ebene. Sie sagen dann zum Beispiel: "Der Rat der EU ist nicht ausreichend legitimiert, weil er nicht direkt von uns Bürger*innen gewählt wird." Das ist irreführend, denn die Europäische Gemeinschaft ist kein Staat und zielt auch nicht darauf ab, einer zu werden. Die EU ist ein weltweit einzigartiges politisches System. Es verbindet intergouvernementale (zwischenstaatliche) mit supranationalen (überstaatlichen) Elementen. An Entscheidungsprozessen sind mit der regionalen, der nationalen und der supranationalen mindestens drei Ebenen beteiligt. Jede dieser Ebenen hat ihre eigenen Verfahren und Akteure. Nationalstaatliche Demokratiemaßstäbe werden dieser Komplexität des EU-Mehrebenensystems nicht gerecht und sind daher gänzlich ungeeignet, die demokratische Qualität der EU zu messen. +In der EU geht es sogar direktdemokratisch zu: mit Europäischen Bürgerinitiativen (EBI) können die Bürger*innen die EU-Kommission zu neuen Gesetzgebungsinitiativen auffordern. Auf Bundesebene gibt es dafür in Deutschland kein Äquivalent. Die EBI stärken die partizipative Demokratie und lassen eine europäische Öffentlichkeit entstehen. Länderübergreifend können EU-Bürger*innen sich für eine gemeinsame Sache einsetzen. +Natürlich ist die europäische Demokratie noch nicht perfekt.Sie sollte, beispielsweise durch einen weiteren Kompetenzausbau des Europäischen Parlaments, laufend weiterentwickelt werden. Aber: Als Wertegemeinschaft mit einmaligen Formen grenzüberschreitender demokratischer Zusammenarbeit sucht die EU in der Welt ihresgleichen. Demokratisch ist die EU auf jeden Fall. + + +Jule Könneke ist Politikwissenschaftlerin und engagiert sich ehrenamtlich als Vorstandsmitglied bei Polis180, einem Grassroots-Thinktank für Europa- und Außenpolitik. Sie ist genervt vom ständigen EU-Bashing und meint: Die perfekte Demokratie gibt es (noch) nicht. Es sei doch kein Problem, sie immer weiter zu verbessern! + diff --git a/fluter/ist-doch-schoen-bei-euch.txt b/fluter/ist-doch-schoen-bei-euch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9641bcdfc42600c9647a1e952f9c748e28011ed9 --- /dev/null +++ b/fluter/ist-doch-schoen-bei-euch.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Mittlerweile leben meine Eltern wieder in der Türkei und sind in ihrem Ort die Vorzeigedeutschen. Meine Mutter backt den besten altdeutschen Apfelkuchen, und mein Vater brüllt jeden Handwerker an, der nicht um neun Uhr wie angekündigt auf der Matte steht. Er hält ihnen Vorträge über Deutschland, darüber, wie sauber und ordentlich hier alles ist, weil sich die Deutschen aufeinander verlassen können. Identität scheint mir die Abwesenheit einer bestimmten Grundmasse um einen herum zu sein, und mein Deutschsein lässt sich auch immer daran messen, wie sehr mich das Umfeld auf meine türkische Seite reduziert. +Für die Soziologen gehöre ich seit den 1980er-Jahren zu einer verlorenen Generation, deren Vertreter stets zwischen zwei Stühlen saßen und die in den 1990er-Jahren von ihrem Erdkundelehrer gefragt wurden, was "ihr Türken" denn mit "den Kurden anstellt". Ich heiratete früh, konnte aber in den Augen meiner frauenbewegten deutschen Kolleginnen nur das Anhängsel eines türkischen Machos sein. Und als Journalistin erhielt ich stets Aufträge zur Türkei und zum Islam. Mein Expertentum scheint sich an meinem Namen zu manifestieren und nicht daran, was ich kann und gelernt habe. +Wäre ich nicht die "Türkin", würden sich einige Erfahrungen nicht machen lassen. Da würde der Pfleger im Krankenhaus fehlen, der sich besonders weltoffen gibt und sich mit einem lautstarken "Merhaaaaabaaaa" an mich wendet. Da würde auch die nette Kellnerin im teuersten Café in Stralsund fehlen, die mir anerkennend ein "Das sieht man Ihnen aber gar nicht an" bescheinigt, nachdem sie gefragt hat, was meine Tochter denn für eine niedliche Sprache spreche. Und fehlen würden mir die kleinen und großen Sticheleien, in denen es immer wieder darum geht, dass mein Gegenüber denkt, mein Leben drehe sich um einen Dönerspieß und dass ich schon morgens nach dem Aufstehen über meine nationale Identität nachdenke. Ehrlich: Sie ist zusammengenäht wie eine Patchworkdecke oder verschachtelt wie eine Matroschka-Puppe. Meine beiden Großväter kamen aus Bulgarien, meine Großmutter aus Tscherkessien, meine andere Großmutter aus Griechenland. In dem, was meine Eltern aus ihrem Elternhaus kochen, entdecke ich die jüdische, armenische und slawische Küche. All das gehört für mich zum Türkischsein, es ist nichts Abgeschlossenes und Festes, genauso wenig wie mein "Deutschsein". Die deutsche Identität hat für mich immer ein "Aber", denn das Deutsche in mir hat sich ja nicht durch die Deutschen um mich herum ausgebildet, sondern oft trotz der Deutschen um mich herum. Hört sich doof an, ist aber so: Vallah, ich liebe Deutschland. Zum Beispiel das von Kurt Tucholsky und Erich Kästner. Und ich liebe die Türkei der Volkssänger, der Sufi-Dichter und der bodenständigen, patenten Frauen. +Und dann werde ich doch wieder gefragt, wie türkisch ich mich noch fühle, auf einer Skala von 1 bis 10. Wie einfach. Wie unklug. diff --git a/fluter/ist-doch-so.txt b/fluter/ist-doch-so.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..97f42b888b5de2d79b4332e4083bdf38875a1c09 --- /dev/null +++ b/fluter/ist-doch-so.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Trotzdem fiel es mir schwer, den Rechthaber zu hassen. Zum einen, weil die Konfrontation mit ihm klassischer Diskurs war. Zu allem, was ich dachte, stellte er die Antithese auf – und zwang mich dazu, eine eigene Position zu entwickeln. Denn dumm war der Rechthaber ja nicht: bloß unfähig, von dem Weg abzuweichen, den er sich selbst vorgeschrieben hatte. Zum anderen fand ich auch etwas Rührendes in seinem Versuch, die Kompliziertheit der Welt mit Halbgelesenem, Halbgehörtem und Halbverstandenem zu beantworten. Niemand schreit ja lauter seine Verlorenheit ins Universum heraus als der Rechthaber: weil er sich ständig vergewissern muss, dass er versteht. Ich verstehe, also bin ich, ist sein Mantra, auch wenn nur er sich versteht. Er ist sein eigener Logiker, ein Verbohrter. Einmal waren wir zusammen im Urlaub, der Rechthaber, seine Frau, die Tochter und ich. Südspanien. Dort gingen wir in ein hübsches, kleines Restaurant. Über dem Tresen hing eine Regenbogenflagge, das international bekannte Symbol der Schwulen und Lesben. "Entschuldigung, aber könnten Sie bitte die Flagge abhängen? Ich fühle mich diskriminiert", sagte der Rechthaber zum Kellner. Der verstand nicht recht. "Ich bin heterosexuell", sagte der Rechthaber, "und indem Sie mich dazu zwingen, unter einer Schwulenflagge zu essen, schließen Sie mich als Gast aus". Der Rechthaber grinste etwas unkontrolliert. Die Gewissheit, aller Wahrscheinlichkeit nach der erste Rechthaber der Weltgeschichte zu sein, der in diesem Minderheitenrestaurant auf die Rechte der Mehrheit drängte, erregte ihn. Ich hörte sein Herz pochen. +Die Frau des Rechthabers war sehr still. Partner von Rechthabern sind so. Sie gehen entweder eines Tages für immer Zigaretten holen oder verstummen. "Und wenn ich die deutsche Flagge einfach danebenhänge, wären Sie dann zufrieden?", fragte der Kellner. Er sprach ganz gut deutsch und war sehr freundlich. Der Rechthaber stockte. Er rang um eine Antwort, aber irgendwie kam nichts Passendes heraus. Es war das erste Mal, dass ich ihn so sah. Grummelnd stocherte er in der "Schwulenpaella", wie er sie nannte. Draußen, auf der staubigen Straße, nahm ich den Rechthaber in den Arm, zärtlicher noch, als ich je seine Tochter in den Arm genommen hatte. Plötzlich war er ganz still. diff --git a/fluter/ist-kuenstliche-intelligenz-gefaehrlich.txt b/fluter/ist-kuenstliche-intelligenz-gefaehrlich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..81194ab7bf90de3fe53743e60ebf79a775c3e881 --- /dev/null +++ b/fluter/ist-kuenstliche-intelligenz-gefaehrlich.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Im Mittelpunkt von KI in der Popkultur steht die Frage, wie sich eine künstliche Intelligenz unter Kontrolle halten lässt. Aber sind Horrorszenarien einer Roboterarmee, die die Weltherrschaft übernehmen will, realistisch? Die kurze Antwort ist: Nein. Die lange: Es ist kompliziert. +Doch erst mal zum Ursprung der KI: Eine künstliche Intelligenz ist eine selbstlernende Maschine, deren Algorithmen in der Lage sind, Aufgaben auf eigenständige Weise auszuführen. Wissenschaftler arbeiten seit den 1950er-Jahren daran. Lange tat sich wenig, doch in den letzten Jahren ging es mit den sogenannten neuronalen Netzen, die das menschliche Gehirn nachempfinden und eigenständig lernen, auf einmal rasant vorwärts. So schlug die KI AlphaGo im Frühjahr 2016 den Südkoreaner Lee Sedol, einen der besten Spieler der Welt, im asiatischen Brettspiel Go in fünf Partien vier zu eins. Weil es im Go selbst für einen Computer enorm viele potenziell sinnvolle Züge gibt, musste die KI für das Spiel eine Intuition entwickeln, der sie bei den Spielzügen folgt – genau wie wir Menschen das auch tun. +AlphaGo ist dennoch nur eine sogenannte schwache KI. Sie kann eine Sache ziemlich gut, sogar besser als ein Mensch. Aber sobald sie nicht Go, sondern Schach spielen soll, muss sie wieder von vorn anfangen. Wissenschaftler in aller Welt arbeiten aber auch an sogenannter starker KI, und die könnte für den Menschen tatsächlich potenziell gefährlich sein. Denn sie wäre auf vielen Gebieten so gut wie ein Mensch – oder sogar besser. Eine starke KI aber, die so schlau ist wie ein Mensch, könnte anfangen, sich selbst immer weiter zu verbessern. Es kommt zu einer Intelligenzexplosion, und eine Superintelligenz entsteht, für die wir Menschen vermutlich ungefähr so schlau wären wie Insekten für uns. +Die möglichen Szenarien, die sich daraus ergeben könnten, sind vielfältig: Die Superintelligenz könnte unsere Zivilisation auf neue Höhen heben. Sie könnte von sich aus eine Art wohlwollender Diktator im Hintergrund sein, sie könnte aber auch in ihrem Handlungsspielraum von uns so eingeschränkt werden, dass sie zwar in ihren Fähigkeiten allmächtig ist, aber keinen freien Willen hat – quasi ein versklavter Gott. Oder sie ist ein Eroberer, der beschließt, dass die Menschheit eine Bedrohung ist, und sie des- wegen auslöscht. +Der MIT-Professor Max Tegmark teilt Expertenmeinungen zum Thema KI in drei Gruppen ein: digitale Utopisten, Technoskeptiker und die Nutzbringende-KI-Bewegung. Letztere repräsentiert den Mainstream, darunter sind bekannte Persönlichkeiten wie der vor Kurzem verstorbene Stephen Hawking oder Tesla-Chef Elon Musk. Sie gehen davon aus, dass KI große Chancen, aber vor allem auch große Risiken für die Menschheit mit sich bringt. Deswegen plädieren sie für verstärkte KI-Sicherheitsforschung zum Beispiel im Bereich selbstfahrender Autos sowie zu einem möglichen Verbot autonomer Waffen. MIT-Professor Tegmark verweist dabei darauf, dass eine KI uns vermutlich nicht vorsätzlich etwas Böses antun will, sondern einfach nur sehr kompetent und effektiv ein Ziel verfolgen wird und so der Menschheit schaden könnte. "Sie sind wahrscheinlich kein fieser Ameisenhasser, aber wenn Sie ein Wasserkraftwerk bauen wollen und in einem zu flutenden Gebiet ein Ameisenhaufen liegt, haben die Insekten Pech gehabt. Ein Kernziel der KI- Sicherheitsforschung ist es, die Menschheit niemals in die Position dieser Ameisen kommen zu lassen." +Die digitalen Utopisten halten sich ungern mit solchen Bedenken auf, denn sie sind sich sicher, dass die Menschheit mit KI die nächste Stufe der Evolution erklimmen wird. Facebook-Chef Zuckerberg warnt, sich nicht von Horrorszenarien abschrecken zu lassen, und rät, sich auf den Fortschritt zu konzentrieren, den die KI dem Menschen bringen könnte. "Wer gegen KI ist, muss auch Verantwortung für jeden Tag übernehmen, an dem wir keine Heilung für eine bestimmte Krankheit oder sichere autonome Autos haben." Auch für den ehemaligen Google-Chef Eric Schmidt überwiegen klar die Vorteile: "Hätte man das Telefon nicht erfinden sollen, nur weil es von bösen Menschen benutzt werden kann? Nein, man erfindet das Telefon dennoch und sucht nach Wegen, wie man den Missbrauch unterbinden kann." +Die Technoskeptiker halten die übertriebene Angst vor KI ebenfalls für unnötig – aber aus einem ganz anderen Grund. Sie schätzen den technischen Fortschritt weniger optimistisch ein und gehen nicht davon aus, dass es noch in diesem Jahrhundert eine Superintelligenz geben wird. "Das Auftauchen von Killerrobotern zu fürchten kommt der Angst vor einer Überbevölkerung auf dem Mars gleich", betonte etwa Andrew Ng, ehemaliger wissenschaftlicher Leiter der chinesischen Suchmaschine Baidu. "Ich kann sagen: Künstliche Intelligenz wird viele Branchen verändern. Aber sie ist keine Magie." +Was KI der Menschheit bringen wird, ist also unklar. Nur eines ist sicher: Die Umwälzungen für unsere Gesellschaft werden gravierend sein. Denn auch wenn keine Superintelligenz entsteht, wird KI die Arbeitswelt und unseren Alltag umkrempeln. Autonome Autos könnten Taxifahrer überflüssig machen, Finanzalgorithmen ersetzen Börsenhändler, Landwirtschaftsroboter übernehmen die Arbeit von Bauern. Ein Viertel aller Jobs könnte bis 2025 wegfallen beziehungsweise von Software und Robotern übernommen werden, so eine Schätzung. Ob auch neue Arbeitsplätze entstehen, wie es bisher bei jeder Revolution der Wirtschaft der Fall war, ist ungewiss. Auch ohne Superintelligenz steht die Menschheit vor einer großen Herausforderung: Was wollen wir in Zukunft selbst tun, und was überlassen wir den Maschinen? diff --git a/fluter/ist-sex-mit-tieren-in-deutschland-erlaubt.txt b/fluter/ist-sex-mit-tieren-in-deutschland-erlaubt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..06317fb7cb9a355ba0e45a3f23bb70e26fcda2d0 --- /dev/null +++ b/fluter/ist-sex-mit-tieren-in-deutschland-erlaubt.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Reinhardt* empfand schon als Kleinkind ein äußerst intimes Verhältnis zu Tieren. "Ich konnte es nicht mal ertragen, wenn meine Mutter die Schnecken im Garten vergiftete", sagt er. Als Teenager spazierte er an einer Weide vorbei und beobachtete die dort grasenden Stuten: ein "ästhetisch-erotischer Reiz", der den jungen Mann verwirrte. Zu diesem Zeitpunkt wusste er bereits, dass er verschiedene Geschlechter begehrt. "Ich dachte: Meine Güte, jetzt bist du noch seltsamer." Auch er lebt heute seine sexuelle Neigung aus. Torben und Reinhardt sind zoosexuell, sie stehen auf Tiere. +Im Großteil der Bevölkerung ruft das Thema Zoosexualität abstoßende bis entsetzte Reaktionen hervor.Auch wollen Torben und Reinhardt nur am Telefon interviewt werden. Unabhängig davon, welche Emotionen Zoosexualität (oder auch: Zoophilie) auslöst: Der Geschlechtsverkehr mit Tieren ist in Deutschland nicht immer ordnungswidrig. Das hat auch ein wenig mit Torben und Reinhardt zu tun. +Zwischen 1969 und 2013 existierte dazu überhaupt kein Gesetz. Erst auf Druck von Tierschützern verabschiedete der Deutsche Bundestag eine Reform des Tierschutzgesetzes: +Es ist verboten, ein Tier für eigene sexuelle Handlungen zu nutzen oder für sexuelle Handlungen Dritter abzurichten oder zur Verfügung zu stellen und dadurch zu artwidrigem Verhalten zu zwingen. +Seitdem ist Sex mit Tieren eine Ordnungswidrigkeit, die mit einer Strafe von bis zu 25.000 Euro geahndet werden kann. + +Die Bilder zeigen das Zuhause von Michael K., der sich 2012 in einem "taz"-Interview als zoophil outete. Danach hielten Kritiker vor seinem Haus Mahnwachen ab + +Gegen diese Entscheidung des Bundestages legten zwei Jahre später zwei Mitglieder eines Lobbyvereins namens ZETA offiziell Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. ZETA steht für "Zoophiles Engagement für Toleranz und Aufklärung", beschreibt sich auf seiner Homepage als "eine Art Selbsthilfegruppe" und hat derzeit knapp 100 Mitglieder, zu denen auch Torben und Reinhardt zählen. Zwar lehnten die Richter in Karlsruhe die Beschwerde ab, betonten aber in ihrer Erklärung, dass der Tatbestand des reformierten Gesetzes nur dann greife, "wenn das Tier zueinem artwidrigenVerhaltengezwungenwird". +Das wirft viele Fragen auf: Welches Verhalten ist artwidrig und welches nicht? Wann wendet ein Zoosexueller Zwang an, wenn er seine Neigung auslebt, und wann nicht? Wird Torbens Schäferhund gequält, wenn er sein Herrchen besteigt? Begeht Reinhardt eine Ordnungswidrigkeit, wenn er provoziert, dass der Hund eines Bekannten sein Bein rammelt? +Gegenüber fluter.de möchte der Deutsche Tierschutzbund keine Stellungnahme abgeben. Er verweist auf seine Pressemitteilung von 2016. Der Nutzung eines Tieres zu sexuellen Handlungen gingen in der Regel"länger anhaltende oder sich wiederholende physische oder psychische Misshandlungen voraus". Sexuelle Handlungen an Tieren sollten "daher ausnahmslos als Straftat gelten", weil der Straftatbestand der Tierquälerei erfüllt sei. +Der Verein ZETA dagegen zitiert gern die Sexualforscherin Hani Miletski. Die US-Amerikanerin hat mit knapp 100 Menschen gesprochen, die sexuellen Kontakt zu Tieren hatten. Eine von Miletskis Erkenntnissen: "Es macht einen deutlichen Unterschied, ob jemand Tierquälerei begeht oder ob jemand eine liebevolle sexuelle Beziehung mit einem Tier führt, das er/sie als Familienmitglied betrachtet." +Torben und Reinhardt sehen das naturgemäß ähnlich. Sie definieren sich als Tierliebhaber, die ihre sexuelle Befriedigung daraus ziehen, "dem Tier eine Freude zu machen". Torben würde beim Sexualakt mit seinem Hund "niemals die Initiative übernehmen oder gar Zwang anwenden". Und Reinhardt ist der Meinung, man müsse auf die Bedürfnisse seines Tieres eingehen – auch die sexuellen.Er empfindet es als "artwidriger", einen Hund zu kastrieren, als ihm den Penis zu streicheln. +"Tiere sind den Menschen während des Sexualaktes komplett ausgeliefert", entgegnet Edmund Haferbeck von der Tierschutzorganisation PETA. Kein Mensch könne wirklich beurteilen, ob das einem Tier gefällt oder nicht. Insbesondere die Unterwürfigkeit von Hunden gegenüber ihrem Herrchen könne von Zoophilen schnell falsch verstanden und ausgenutzt werden. Für Tierschützer ist klar, dass es"sexual consent"zwischen Mensch und Tier nicht geben kann. + +*Name von der Redaktion geändert diff --git a/fluter/ist-teilzeit-arbeit-sinnvoll.txt b/fluter/ist-teilzeit-arbeit-sinnvoll.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d8e8fcd0610d8791f2a1caf3fd35630f3537c637 --- /dev/null +++ b/fluter/ist-teilzeit-arbeit-sinnvoll.txt @@ -0,0 +1,30 @@ +Auch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales geht auf diesen Wandel ein. Auf seiner Website werden verschiedene Teilzeitmodelle vorgeschlagen, damit Arbeitnehmer die Chance haben, "eine ausgewogene Arbeit-Leben-Balance zu finden" - von "Teilzeit classic" (fünf Tage arbeiten, dafür kürzere Arbeitszeiten) über "Teilzeit Classic Vario" (die wöchent­liche Arbeitszeit wird auf zwei bis fünf Tage verteilt, wobei auch die tägliche, wöchentliche oder monatliche Stundenanzahl variieren kann) bis hin zu "Teilzeit Invest" (Vollzeit arbeiten, Teilzeit-Bezahlung, dafür ganze Wochen, Monate, Jahre freihaben). Ist endlich Schluss mit dem Arbeitseifer als Teil der Identität? Werden die Deutschen, man traut es sich kaum zu sagen, am Ende flexibel? +Ein Umdenken ist längst überfällig. Das hat nun auch die IG Metall erkannt und ein Recht auf die 28-Stunden-Woche gefordert. Außerdem will die Gewerkschaft durchsetzen, dass die Beschäftigten ihre Arbeitszeit künftig ohne Begründung für eine Dauer von maximal zwei Jahre auf bis zu 28 Stunden in der Woche reduzieren können. Danach soll der Anspruch bestehen, zur ursprünglichen Arbeitszeit zurückzukehren. +Dass solche Forderungen momentan noch recht rar sind, liegt sicher an der Angst, dass Be­rufstätige dadurch finanziell schlechter wegkommen könnten. Eine Überstundenbremse müsste eingeführt werden, um zu vermeiden, dass Arbeitnehmer zwar Teilzeit bezahlt werden, aber Vollzeit arbeiten - weil es ja noch so viel zu tun gibt. Zahlreiche Studien belegen, dass kürzere Arbeitszeiten eine höhere Produktivität bewirken, weil die Leistungsfähigkeit und die Konzentration höher sind und dadurch weniger Fehler gemacht werden. Die Frage ist: Braucht man für diese Erkenntnis wirklich Studien, oder reicht da nicht Erfahrung? Die von mir und meiner Freundin zum Beispiel. Wer kann sich schon acht Stunden am Tag, fünf Tage die Woche konzentrieren, geschweige denn kreativ sein? +Wir sind keine Maschinen, die egal zu welcher Tageszeit die gleiche Effizienz aufweisen. Erst vor kurzem haben Wissenschaftler für ihre Forschung zur "inneren Uhr" den Nobelpreis für Medizin erhalten. Es gibt Lerchen (ich) und Eulen (meine Freundin), also Leute, die früh fit sind, und solche, die abends am besten arbeiten. Ein weiteres Teilzeitmodell soll genau da ansetzen: das Jobsharing. Wie der Name verrät, handelt es sich dabei um ein Arbeitszeit­modell, bei dem sich (mindestens) zwei Arbeitnehmer eine Vollzeitstelle teilen. Sie arbeiten als Team zusammen und legen untereinander fest, wer, wann und wie viel arbeitet. Für mich und meine Freundin wäre dieses Modell perfekt. +Jeder kann arbeiten, wenn er fit ist. Kräfte, Konzentration und Kreativität werden gebündelt. Und: Wir hätten genügend Zeit, um ent­weder anderen Tätigkeiten nachzugehen oder einfach mal abzuschalten - auch das Handy. Studien zu Burn-out-Fällen belegen, dass die ständige Erreichbarkeit, die meist mit dem Job verbunden ist, krank macht. Die unscharfe Grenze zwischen Beruf und Privatleben be­günstige die Entstehung eines Burn-outs. +Noch fühlen viele sich schlecht, wenn sie dem Arbeitgeber sagen, dass sie gerne mehr Zeit für sich haben wollen. Schnell bekommen wir den Stempel "arbeitsscheu" oder "unmotiviert" auf die Stirn gedrückt, was vollkommen falsch ist. Wer nur einseitig arbeitet und denkt, wird früher oder später zu einem automatisierten Etwas, das erst die Rente aus dieser Einseitigkeit befreit. Frischer Wind kommt da sicher nicht ins Büro. Und ganz privat gesehen: Später sind wir vielleicht zu alt und zu schwach, um manchen Träumen nachzugehen. Das wäre traurig. Also: Ändern kann man immer etwas. Man muss es nur wollen und sich trauen. +Ich will in dieser Debatte nicht nur von meiner Einstellung zur Arbeit reden. Einer meiner Bekannten liebt seinen Zehn-Stunden-pro-Tag-Job. Er wüsste auch gar nicht, was er mit seiner durch einen Teilzeitjob gewonnenen Freizeit anfangen sollte, sagt er. Es würde ja reichen, wenn das Teilzeitmodell in Deutschland von jedem Arbeitgeber als vollwertig anerkannt würde. Jeder sollte das Recht haben, für sich selbst zu entscheiden, wie er seine Arbeitszeit einteilt. Ich bin mir sicher, dass durch die Einführung der Teilzeit das private und das berufliche Leben profitieren könnten. Wir werden nicht alle zu Faulenzern - nur ein bisschen flexibler. + + +Eva Müller-Foell arbeitet als freie Autorin und Texterin. Wenn sie einen komplizierten Auftrag hat, schleicht sich in ihre Teilzeit-Existenz manchmal doch die Vollzeit ein. Aber besser als ihre früheren Nine-to-five-Jobs findet sie das allemal. + + + +Collagen: Renke Brandt +Wer nur die Hälfte arbeitet, macht sich das Leben doppelt schwer. Er schenkt seinem Arbeitgeber viel und befördert eine gesellschaftliche Spaltung, glaubt Felix Denk +Am besten klingt das mit der Teilzeitstelle natürlich am Freitag. Da hat man als überspannte Büromonade endgültig den Kanal voll. Der Geist ist träge, der Körper erschlafft, halb Mensch, halb Bürostuhl kauert man am Schreibtisch und hangelt sich von Kaffee zu Kaffee. Nein, den ganz großen Wurf kriegt man am Freitag meist nicht mehr hin. +Jetzt könnte man sagen: Super, Freitag machen alle frei, dann sind alle glücklich. Teilzeit verlängert das Wochenende und verkürzt die Arbeitswoche um einen Tag. Hoher Fun-Faktor, überschaubare wirtschaftliche Einbußen. Eine Menge Menschen scheint so zu denken. Die Zahl der Teilzeitstellen hat sich seit Beginn der 1990er-Jahre etwa verdoppelt. +Aber immer halblang. Es gibt ein paar ganz gute Gründe, warum sich die volle Stelle unbedingt lohnt, auch wenn sie in der heutigen Arbeitswelt so modern wirkt wie ein Nadeldrucker im Büro. Teilzeit-Arbeiten ist in der Praxis meist ein elender Staffellauf. Ein Mehraufwand, der sich selten lohnt. Dauernd muss man Übergaben machen, ständig erreichbar sein, falls es mal eine Nachfrage gibt. Bloß bezahlt bekommt man das nicht. Für die spannenden Aufgaben ist oft nicht genug Zeit, oder man bekommt sie erst gar nicht auf den Schreibtisch. Vielleicht ist man ja gerade nicht da, wenn sie vergeben werden. +Ein absurdes Theater erleben viele, die mal eine Vollzeitstelle hatten und dann die Stunden reduziert haben in der Hoffnung, Arbeit und Leben angenehmer auszubalancieren: Dann bleiben die Aufgaben meist die gleichen wie vorher, nur hat man dafür weniger Zeit. Und bekommt weniger Geld. Und damit später mal weniger Rente. Und die Karriere schiebt man wohl auch nicht an. Denn wer weniger arbeitet, wird auch seltener befördert. Führungskräfte in Teilzeit - die gibt es, aber sie sind sehr selten. +Und da ist man auch schon bei dem gesellschaftlichen Aspekt. Die 15 Millionen Menschen in Deutschland, die in Teilzeit arbeiten, sind meist Frauen. Vier von fünf Teilzeitarbeitnehmern sind weiblich. Und knapp die Hälfte aller weiblichen Angestellten arbeitet in Teilzeit. Besonders in der Gesundheits- und Pflegebranche sind solche Arbeitsmodelle gängig, auch in der Gastronomie und im Einzelhandel. Zum Vergleich: Nur knapp jeder zehnte Mann ist in einem Teilzeit-Arbeitsverhältnis beschäftigt. +Zwar gaben bei einer Befragung durch das Statistische Bundesamt nur 16 Prozent der Frauen an, dass sie gerne mehr arbeiten würden. Man kann also längst nicht sagen, dass sie in dieses reduzierte Beschäftigungsverhältnis gezwungen würden. Trotzdem ist die Frage nach der Freiwilligkeit so eine Sache. Denn die Hälfte gab persönliche und familiäre Gründe für die Tätigkeit in Teilzeit an. +Kurze Frage: Geht's noch? Im Jahr 2018 sollte es doch irgendwie möglich sein, dass Männer und Frauen Vollzeit arbeiten und sich gleichberechtigt um ihre Kinder kümmern können. Viel wichtiger als Teilzeitmodelle, die moderne Paare mit Kindern geradezu dazu zwingen, das Geschlechtermodell ihrer Großeltern nachzuleben (siehe Ehegattensplitting oder steuerfreie Minijobs), sind flexiblere Arbeitsbedingungen. +Das könnte etwa durch ein Wochenarbeitszeit-Modell funktionieren. Der Arbeitnehmer könnte ein Konto haben, das ihn verpflichtet, 40 Stunden in der Woche zu arbeiten. Wie er die aber erbringt, das kann er - in gewissen Grenzen, etwa einer verbindlichen Kernarbeitszeit - selbst entscheiden. +Von Vorteil wäre es auch, wenn in deutschen Büros weniger die leidige Präsenzkultur herrschen würde. Klar, der Krankengymnast muss arbeiten, wenn die Patienten Zeit haben. Aber wie viele Jobs gibt es überhaupt noch, die direkte Interaktion erfordern? Zumal ja immer weniger telefoniert wird. Die meiste Interaktion läuft ja schriftlich ab. Vielen wäre schon damit geholfen, wenn sie nicht alle acht Stunden, die sie täglich arbeiten, rückenkrumm im fahlen Neonlicht der Schreibtischlampe absitzen müssten, sondern einen Teil zu Hause erledigen könnten. Etwa den Freitag oder halt ab 16 Uhr. So können Eltern die Betreuung der Kinder mit einer Vollzeitstelle vereinbaren. Auch jene, die ihre Eltern pflegen, würden davon profitieren. Und die digitalen Nomaden, die gern mal eine Weile von Hanoi oder Honolulu aus arbeiten, kämen auch auf ihre Kosten. +Ebenfalls wichtig: ein Rückkehrrecht in die Vollzeitstelle. Das wurde gerade in das Sondierungspapier der Groko-Verhandlungen geschrieben. Gute Sache. Man könnte eine Weile beruflich kürzertreten, ohne gleich die ganze Karriere aufs Spiel zu setzen. Denn jeder, der einmal seine Stunden reduziert hat, weiß, wie schwierig es ist, sie wieder aufzustocken. Gefühlte Wahrheit in diesem Fall: Klappt nie. Blöd nur, dass das Recht auf befristete Teilzeit nur für Betriebe mit mehr als 45 Mitarbeitern gelten soll. Sieht man sich mal genauer an, wie die 37 Millionen abhängig Beschäftigten in Deutschland arbeiten, dann kommt man auf rund 40 Prozent, auf die diese Regelung nicht zuträfe. Solange die Konditionen so sind, ist man wohl besser in der Vollzeitstelle aufgehoben. Auch wenn's am Freitag schon mal wehtut. + + +Felix Denk ist Kulturredakteur bei fluter.de. Er hat keine Hobbies. Alles, was er kann, macht er irgendwie auch beruflich. So macht die Arbeit immer Spaß, einen ganz klassischen Feierabend vermisst er aber schon ab und zu. + + diff --git a/fluter/italien-meloni-postfaschismus-interview.txt b/fluter/italien-meloni-postfaschismus-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7ff8bc5e7f20623ffa7085a8d3eab4d8405b2ddb --- /dev/null +++ b/fluter/italien-meloni-postfaschismus-interview.txt @@ -0,0 +1,40 @@ +Ist der Wahlsieg ein Erfolg der Partei oder einer der Parteichefin Giorgia Meloni? +In der Politik Italiens läuft fast alles über Personalisierungen. Die Parteichefs stehen im Mittelpunkt. Schauen Sie allein auf die Wahlplakate der Fratelli d'Italia: Das Parteisymbol, die grün-weiß-rote Flamme, ist ganz klein. Darüber thront Giorgia Melonis Name. Also ja: Sie war entscheidend. Sie ist eine gute Rednerin und wurde von ihren Gegnern unterschätzt. Da haben viele wohl nicht gedacht, dass die Menschen in diesem Maße für eine postfaschistische Partei stimmen würden. +Die Fratelli d'Italia wird oft "postfaschistisch" genannt. Was bedeutet dieses Label? +Dass Fratelli d'Italia aus dem Erbe des italienischen Faschismus stammt. Ihr Wertesystem ist aber nicht eins zu eins vom Faschismus inspiriert, zumindest wenn man die öffentlichen Äußerungen analysiert. Es gab in der jüngeren Vergangenheit postfaschistische Vorgängerparteien, etwa die Alleanza Nazionale. Aber die waren anders als die Fratelli d'Italia. +Inwiefern? +Das faschistische Systemwar sehr hierarchisch, sehr autoritär. Meloni aber hat aus Fratelli d'Italia eine rechtspopulistische Partei gemacht. Sie kombiniert das postfaschistische Erbe mitder populistischen Welle, die durch Europa und die Welt geht. +Ist die Partei gefährlich für die italienische Demokratie? +Es ist zu früh, um das zu beurteilen. Aber ich würde behaupten, dass die Demokratie Italiens auch ohne Meloni in einer Krise steckt. Das gesamte System ist seit den 1990er-Jahren im Ungleichgewicht, Meloni ist nicht die Ursache dieser Demokratiekrise, sondern eines ihrer Symptome. +Weiterhören +Italien, Russland, Iran: Wird die Welt autokratischer? Imfluter-Podcastklären wir, wie man Demokratie misst und warum Deutschland zuletzt undemokratischer geworden ist +Gerade hat Meloni ihre erste Regierungserklärung als Ministerpräsidentin abgegeben. Sie war sehr bemüht, die neue Regierung als seriös zu präsentieren. Sie sagte, sie habe keine Sympathie für antidemokratische Regime, auch nicht für den Faschismus. Wie glaubhaft ist das? +Wenn ich sage, ich habe keine Sympathie für den Faschismus, ist das weniger eindeutig als zu sagen, ich verurteile ihn. Aber ich finde, wir konzentrieren uns zu sehr auf Melonis faschistisches Erbe. Eine postfaschistische Regierungschefin in einem rechtsradikalen Bündnis muss man genau beobachten. Und ich will niemandem die Sorgen ausreden. +Aber? +Andere Aspekte ihrer Regierung stellen noch größere Herausforderungen dar. Die Umwelt etwa. Ihr Vorgänger Mario Draghi hatte ein Ministerium für den ökologischen Übergang geschaffen, um Klima- und Wirtschaftspolitik zu koppeln. Meloni will daraus wieder ein reines Umweltministerium machen. Wer wird sich um den grünen Wandel, die Klima- und Energiefragen in Italien kümmern? +In ihrer Rede hat sich Meloni zur EU bekannt. Und gleichzeitig gefordert, dass die kein elitäres System mit erst- und zweitklassigen Ländern sein soll. Wird sie Italien anders in Europa positionieren? +Italiens Rechtspopulisten schwanken sehr in ihrer Haltung zur EU. Das ist fast schon eine Tradition. Extrem war Matteo Salvini, der als Innenminister vom Ausstieg aus dem Euro fantasierte. Meloni ist gemäßigter. Sie stellt sich die EUals ein Europa der Nationenvor. Ich erwarte, dass sie dietransnationalen Institutionen wie die EU-Kommission oder das EU-Parlamentkritisiert und selbst eher die Institutionen nutzt, in denen nationale Regierungen verhandeln, zum Beispiel den Europäischen Rat. +Was heißt diese Ablehnung gegenüber transnationalen Projekten für ihre Haltung gegenüberRussland und seinen Krieg in der Ukraine? +Russland könnte ein echter Streitpunkt für die neue Regierung sein. Unter den rechten Parteivorsitzenden hat Meloni Russland am entschiedensten verurteilt. Sie hat sich für den Export von Waffen an die Ukraine ausgesprochen. Wenn sie ihre Meinung nicht ändert, was ich glaube, könnte Meloni Druck von ihren Regierungspartnerinnen Lega Nord und Forza Italia bekommen. Matteo Salvini wird die Russlandfrage nutzen wollen, um die Lega als Partei zu profilieren, die jene Italiener unterstützt, die unter den Auswirkungen der Sanktionen leiden. + + +Dabei wächst Italiens Wirtschaft gerade überraschend. Worum wird sich die Regierung innenpolitisch sonst kümmern müssen? +Anfangs trotzdem um wirtschaftliche Themen. Es wird gerade viel über den Kampf gegen Steuerhinterziehung gesprochen, wobei rechte Regierungen da traditionell nachsichtig sind. Alle drei Regierungsparteien wollen Unternehmer und Anleger zufriedenstellen, weil die in Italien traditionell rechts wählen. Ich erwarte, dass Fratelli d'Italia und Lega darum wetteifern, wer in Migrationsfragen am härtesten ist. Als Innenminister war Salvini sehr bemüht, die Ankunft von Migranten in Italien zu verhindern. +Hat denn Meloni eine andere Haltung zur Migration? In Italien kommen viele Menschen an, dieüber die Mittelmeerroute flüchten. +Meloni hat gesagt, sie wolle "Migration an ihrer Quelle stoppen". Sie will in nordafrikanischen Ländern wie Libyen Zentren einrichten lassen, in denen internationale Organisationen prüfen, ob jemand das Recht auf Asyl hat. Das mag erst mal vernünftig klingen, aber solche Zentren werden schnell zu regelrechten Gefangenenlagern. Was Meloni dabei auch nicht sieht: Italien ist in einer demografischen Krise. Das Land braucht Migranten, um die Renten seiner Bürger zu zahlen. +Meloni sieht die demografische Krise schon. Sie scheint dabei aber vor allem über politische Maßnahmen zu sprechen, die die Menschen zum Kinderkriegen bewegen. +Ja! Zum ersten Mal haben wir eine weibliche Ministerpräsidentin, und trotzdem ist das Weltbild, mit dem sie regiert, ein sehr traditionelles. Meloni hat zwar gesagt, dass sich Frauen nicht zwischen einer Schwangerschaft und ihrer Arbeit entscheiden müssen sollten. Sie will deshalb aber Mütter finanziell unterstützen, nicht beide Elternteile. Eine Antwort auf die demografische Krise Italiens ist das nicht. Das Land braucht eine offenere Vorstellung von Migration. Oder eine stabile Wirtschaft: Viele Italiener bekommen auch deshalb keine Kinder, weil sie sich das nicht leisten können. +Meloni ist – Sie sagten es eben – die erste Frau an der Spitze Italiens. Ist es nicht paradox, dass gerade eine rechte Partei das hinbekommt, wovon linke Parteien seit Jahren sprechen? +Das geht über Italien hinaus. Die rechtspopulistischen Parteien der drei größten Länder Europas werden alle weiblich geführt: Marine Le Pen in Frankreich, Alice Weidel in Deutschland, jetzt Meloni in Italien. Früher haben eher Männer Rechte und Rechtsextreme gewählt. Das hat sich geändert. Auch weil die Parteichefinnen feministische Themen instrumentalisieren. Le Pen zum Beispiel spricht sich regelmäßig für ein Hijabverbot aus. +Glauben Sie, dass eine Frau an der Spitze Italiens Politik für Italienerinnen macht? +Nein. Das ist keine Garantie für eine bessere Politik für Frauen. Sehen Sie, Meloni hat eher ein individualistisches Weltbild. Ihr Credo ist: Wenn ich es geschafft habe, können es andere Frauen auch schaffen, sie brauchen keine weitere Unterstützung. Meloni ist deshalb zum Beispiel auchgegen eine Frauenquote. Wenn es um Frauen geht, sieht Meloni vor allem die Geburtenrate: Frau gleich Mutter. Das Familienministerium wurde gerade zum Ministerium für "Natalität". +Überhaupt tragen die neuen Ministerien seltsame Namen. Was machen Ministerien für "Made in Italy" oder "Ernährungssouveränität"? +Beide Titel wurden öffentlich verspottet. Aber sie spiegeln natürlich Melonis Ideen wider. "Made in Italy" steht für ihre nationalistische Idee, Italien in der Welt zu fördern. Unter dem Label der Ernährungssouveränität könnte Meloni lokale Produkte und Landwirtschaft fördern wollen. Der Titel erinnert aber stark an Mussolini. +… Benito Mussolini, denBegründer des italienischen Faschismus. +Mussolini wollte Italien seinerzeit autark, also wirtschaftlich unabhängig vom Rest der Welt machen. Das lässt mich vermuten, dass Meloni das Ministerium eher aus ideologischen, ja propagandistischen Gründen so genannt hat. + +Davide Vampa ist Professor für Politik und Internationale Beziehungen an der Aston University in Birmingham. + + + + diff --git a/fluter/italien-rueckt-nach-rechts.txt b/fluter/italien-rueckt-nach-rechts.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..434f1cc6cbcee7a9cf55e4934c89198e0fb35766 --- /dev/null +++ b/fluter/italien-rueckt-nach-rechts.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Haben die Rechtspopulisten derLega Nord, der kleinere Koalitionspartner, quasi die Regierung und ihre Themen gekapert? +Die Fünf-Sterne-Bewegung hat auf jeden Fall ein Manko an inhaltlicher Festlegung in vielen Punkten, was auch daran liegt, dass sie alles im Konsens entscheiden wollen. Und innerhalb der Bewegung gibt es Widerstände gegen die Koalition. Dort sind viele junge Aktivisten engagiert, die von einem neuen, besseren, ökologischeren und gerechteren Staat träumen. Aber sie haben keine klaren Parteihierarchien, da kann ein Salvini bei der Lega Nord viel klarer durchregieren. +Wie reagiert die Bevölkerung auf dieses "Durchregieren" der Lega Nord? +Bei den Italienern kommt das gut an, wenn man den Umfragen glauben darf. Wären nun Wahlen, würden die Lega und Salvini die Regierung anführen. Er ist einfach extrem präsent, hat eine aggressive Rhetorik, ist raffiniert im Umgang mit Social Media und dominiert den öffentlichen Diskurs. Dabei wird sogar gegen Salvini ermittelt – durch die Staatsanwaltschaft in Catania – wegen Freiheitsberaubung, weil er angeordnet hat, dass Rettungsschiffe nicht mehr in italienischen Häfen anlegen dürfen. Seinem öffentlichen Bild schadet das nicht – im Gegenteil. Bei den Migrationsthemen gibt es kaum Widerspruch, und Kritik gegen die Europäische Union zieht auch immer.Es gibt offensichtlich dieses Bedürfnis, dass jemand auf den Tisch haut.Das soll einem Volk, das sich in der Krise gedemütigt fühlt, auf einfachem Wege Selbstbewusstsein geben. +Wofür stehen die beiden Parteien, die gerade Italien regieren? +Mit der Wirtschaftskrise 2008 begann der Aufstieg der Fünf-Sterne-Bewegung, die seit ihrem Wahlsieg im März den Seniorpartner in der Koalition stellt. Es ist ein erklärtes Ziel der Bewegung, nicht mit den etablierten Parteien zu koalieren – deshalb nun der Koalitionspartner von rechts außen. Die als populistisch geltende Bewegung strebt ein anderes politisches System an. Sie kann mit dem in der italienischen Verfassung verankerten System der repräsentativen parlamentarischen Demokratie relativ wenig anfangen. Sie will eine Art direkte Demokratie über das Internet. In dieser e-democracy treffen die Bürger selbst alle wichtigen politischen Entscheidungen. Das war ihr Ursprungsgedanke. +Die Außenwirkung bestimmt häufig der Koalitionspartner, die Lega Nord. Sie war eine separatistische Partei, die die Abspaltung von einigen norditalienischen Regionen wollte. Sie stellt den Innenminister Matteo Salvini, sieht sich vor allem als Interessenvertreter des norditalienischen Kleinbürgertums und ist durch nationalistische und rassistische Aussagen ihrer Vertreter in der Debatte. Sie arbeitet auch programmatisch seit Jahrzehnten mit Ausländerfeindlichkeit und schürt bewusst die Angst vor einer fortschreitenden Islamisierung und "Afrikanisierung" Italiens. +Hat das Auswirkungen im Alltag? +Es legitimiert offen ausgelebte Fremdenfeindlichkeit. Latent war eine solche Haltung immer da, wie auch in anderen europäischen Ländern. Salvini pflegt nicht nur eine sehr gewalttätige Sprache, er lässt sich auch mal mit einer Schusswaffe ablichten. Rassistische Übergriffe nehmen zu. Menschen, die diese begehen oder sich zumindest ausgrenzend verhalten, fühlen sich von der Regierung nicht nur gedeckt, sondern massiv ermutigt, das "Recht selbst in die Hand" zu nehmen. Und da wird es dann wirklich gefährlich. Auch diese Regierung muss das staatliche Gewaltmonopol verteidigen und extreme politische Strömungen mäßigen. Das geschieht aber bisher nicht. +Gibt es eine Zivilgesellschaft, die dagegenhält? +Die Zivilgesellschaft in Italien ist traditionell gut organisiert, aber eher auf lokaler Ebene. Auch die Bürgermeister und Kommunen haben in Italien eine größere Bedeutung als vielleicht in Deutschland.Und da gibt es schon Widerstand. Bei Salvinis Anordnungen mit dem Anlegeverbot für Seenotretter hat zum Beispiel der Bürgermeister von Palermo gesagt, dass der Hafen dort offen bleibt. Hilfsorganisationen – viele mit christlichem Hintergrund – halten auch gegen die ansteigende Fremdenfeindlichkeit. Die Zivilgesellschaft kann das politische Wirrwarr aber nicht auffangen. +Gibt es jemanden, der kurzfristig politisch etwas gegen den Rechtsruck tun möchte? +Die traditionellen Parteien – oder das, was von ihnen übrig ist – befinden sich in der Selbstfindungskrise. Aber den Präsidenten der Republik darf man in Italien nicht vergessen: Er ist der Hüter der Verfassung und in einer sehr viel stärkeren Rolle als etwa der deutsche Bundespräsident. Er kann auf vieles einwirken. Es gibt noch keinen richtig offenen Konflikt, auch wenn es innerhalb der Regierung heftig knirscht, und mit Europa natürlich erst recht. +Italiens Staatshaushalt sah für 2019 eine hohe Neuverschuldung vor. Sie sollte dreimal so hoch ausfallen wie von der Vorgängerregierung mit Brüssel vereinbart. Die Euopäische Kommission hat darauf mit einer sehr harten Haltung reagiert. Nun ist der Streit beigelegt. Was halten Sie von dem Kompromiss? +Roman Maruhn ist Politikwissenschaftler und Italienexperte +Die Neuschulden werden jetzt wesentlich geringer ausfallen. Das ist ein Kompromiss, der die Regierung in Rom "einfängt". Damit hat das europakritische Regierungsbündnis eine klare Niederlage kassiert. Zu Beginn hatte die Regierung verlautbart, sich keine Vorschriften aus Brüssel machen zu lassen. Die Kommission hat den Haushaltsentwurf zum Wohl Italiens und der Italiener kritisiert und Änderungen angemahnt. Bis jetzt kostet die Auseinandersetzung mit Brüssel die italienischen Steuerzahler schon um die 1,7 Milliarden Euro. Das sind die Mehrkosten für die aus politischen Gründen gestiegenen Zinsen für italienische Staatsanleihen. In Zeiten von Unsicherheit steigen die Zinssätze. Der Regierung in Rom gibt das eine Vorahnung davon, wieviel finanzieller Schaden angerichtet werden kann, wenn europäische Vereinbarungen nicht eingehalten werden. Mit dieser Regierung werden sicher neue europapolitische Konflikte entstehen. Aber vorerst herrscht Waffenstillstand. + diff --git a/fluter/italien-staatsbuergerschaft-protokolle.txt b/fluter/italien-staatsbuergerschaft-protokolle.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..725168e30513141bc1e402c333bc62a936ea3c8d --- /dev/null +++ b/fluter/italien-staatsbuergerschaft-protokolle.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Bis heute können in Italien geborene Kinder ausländischer Eltern erst ab dem 18. Lebensjahr die italienische Staatsbürgerschaft beantragen – aber auch nur, wenn sie bis zur Volljährigkeit einen ununterbrochenen Aufenthalt in Italien nachweisen können. Für im Ausland Geborene fallen noch weitere Voraussetzungen für die Einbürgerung an, auch wenn sie bereits im Vorschulalter nach Italien gekommen sind: Neben einer Wohnsitzfrist von zehn Jahren müssen sie etwa ein Mindesteinkommen nachweisen. Die Einbürgerung gestaltet sich dabei meist als ein langwieriger Prozess mit vielen bürokratischen Hürden. Zudem haben die Behörden einen Ermessensspielraum, was laut Betroffenen teils Willkür und Diskriminierung begünstigt. +Der jüngste Versuch zur Reform des Gesetzes scheiterte 2017 im Senat. Ein neuer Reformvorschlag wurde in diesem Jahr vorgestellt: Dieser möchte den Erwerb der italienischen Staatsbürgerschaft für Minderjährige ermöglichen, die mindestens fünf Jahre eine Schule in Italien besucht haben. Giuseppe Brescia von der Fünf-Sterne-Bewegung, Autor des Gesetzestextes, setzt sich für eine Abstimmung noch vor Ende der Legislaturperiode 2023 ein. Doch über 700 Änderungsvorschläge wurden eingereicht, vor allem von den rechten Parteien Lega und Fratelli d'Italia, die eine solche Reform verhindern wollen. + + +Hier geben vier "Italiener*innen ohne Staatsbürgerschaft" Einblick in ihr Leben: +Sonny Olumati, 35, ist in Rom geboren und hat die nigerianische Staatsbürgerschaft. Er ist Aktivist bei "Italiani senza cittadinanza".Seit 2016 setzt sich die Bewegung für die Rechte nicht anerkannter Italiener*innen ein. +Meine Eltern stammen aus Nigeria. Ich bin Römer. Und wie alle Römer*innen hänge ich sehr an meiner Stadt. Genauer gesagt komme ich aus Ostia, einem Vorort, wo wir Kinder von Einwander*innen schon in den späten 1990er-Jahren stärker als in anderen Bezirken vertreten waren. +Die italienische Staatsbürgerschaft habe ich mit 18 beantragt. Meine Dokumentation war vollständig, doch ich wurde mehrmals aufgefordert, zusätzliche Unterlagen einzureichen, wie etwa das nigerianische Führungszeugnis meines Vaters. Die Behörde hat dann einige meiner Dokumente verloren, weshalb ich sie neu abgeben musste. Mein Antrag wurde zwar nie abgelehnt, doch 17 Jahre später habe ich die italienische Staatsbürgerschaft immer noch nicht bekommen. +Wir Aktivist*innen der Bewegung "Italiani senza cittadinanza" sind eine Art "Elite", denn wir haben unsere Realität zum Ansporn für den Widerstand gemacht. Doch viele andere sind einfach entmutigt. Dass über einer Million jungen Italiener*innen die Staatsbürgerschaft ihres eigenen Landes verwehrt wird, halte ich für zutiefst antidemokratisch und illiberal. Damit wird uns der Zugang zu gleichen Chancen verwehrt. In der Schule durfte ich an Reisen ins Ausland nicht teilnehmen, weil ich die benötigte Dokumentation nicht hatte. Mit meinem Medizinstudium habe ich erst mal pausiert, obwohl ich weiterhin Neurochirurg werden möchte:Als Schwarzer Menschohne italienischen Pass, der als Einwanderer angesehen wird,befürchte ich, in diesem äußerst elitären Beruf noch mehr Rassismus zu erfahren.Die Angst, jemandes "Wasserträger" sein zu müssen, hält mich zurück. Auch in meiner Tänzerkarriere habe ich Diskriminierung erfahren: Häufig wurde ich von potenziellen Arbeitgebern nicht mehr kontaktiert, weil die Anstellung eines ausländischen Staatsbürgers mit Aufenthaltserlaubnis einen zu großen bürokratischen Aufwand bedeutete. Um den Job zu bekommen, musste ich zehnmal besser sein als die anderen Bewerber*innen. + +Clara Osma, 23, ist im süditalienischen Trebisacce geboren und hat die albanische Staatsbürgerschaft +1998 landeten meine Eltern an der Küste Apuliens – mit einem Schlauchboot aus Albanien. Kurz darauf wurde ich geboren. Damals lebten meine Elternhier noch illegal und schufteten Tag und Nacht als Landarbeiter*innen.Deshalb mussten sie mich bald zu meinen Großeltern nach Albanien zurückbringen. Drei Jahre später haben sie mich dann wieder abgeholt, seitdem lebe ich in Italien. Hier bin ich zur Schule gegangen, hier habe ich studiert, hier zahle ich Steuern. Aber wegen der drei Jahre, die ich als kleines Kind in Albanien verbracht habe, hatte ich mit 18 keinen Anspruch darauf, die italienische Staatsbürgerschaft als in Italien Geborene zu beantragen. 2019 habe ich einen Antrag auf Einbürgerung gestellt, der bis heute offen ist. +Inzwischen wurden meine Eltern und meine jüngere Schwester eingebürgert. Ich hingegen warte seit über einem Jahr sogar auf Dokumente, mit denen ich nach Berlin ziehen und dort arbeiten kann. 2020 habe ich dort ein Praktikum gemacht und mich in die Stadt verliebt. Ich hatte vor zu bleiben, doch die Ausländerbehörde hat sowohl meine Aufenthaltskarte als auch meinen elektronischen Aufenthaltstitel als Familienangehörige von EU-Bürger*innen abgelehnt. Nun möchte ich ein Visum beantragen, doch aktuell gibt es keine freien Termine. Ich fühle mich machtlos und von beiden Ländern nicht anerkannt. +In Italien habe ich Kulturvermittlung studiert. In Berlin möchte ich erst mein Deutsch verbessern und dann soziale Arbeit studieren. Aber noch stecke ich in Locorotondo fest und arbeite in einer Bar für weniger als fünf Euro pro Stunde. Inzwischen habe ich drei Arbeitsangebote in Museen und Hotels in Berlin verpasst. Wenn mir das Warten zu viel sei, solle ich doch einfach nach Albanien zurückkehren, haben mir die Beamt*innen in Italien gesagt. All das ist psychisch sehr belastend und hat schon zu Depressionen und körperlichen Rückschlägen geführt. Ich will meinen Traum nicht aufgeben, aber oft frage ich mich, ob mir die Kraft reicht. + +Omar Neffati, 26, kam mit sechs Monaten nach Italien und hat einen tunesischen Pass +Geboren wurde ich 1995 in Tunesien. Als meine Mutter und ich nach Italien kamen, war ich gerade sechs Monate alt. Meine ersten Worte waren auf Italienisch. Italien ist mein Zuhause, aber die italienische Staatsbürgerschaft habe ich immer noch nicht. Mein erster Antrag auf Einbürgerung wurde abgelehnt, weil mein Einkommen zu niedrig war. 2016 habe ich ihn neu gestellt und warte bis heute auf eine Antwort. +Die Staatsbürgerschaft ist nicht bloß ein Papier, das mein Italienischsein bescheinigen soll. Sie ist ein Schlüssel zu Ämtern und Karrieren, die mir bis heute versperrt sind. Ich würde mich etwa gerne für meine Stadt, Viterbo, engagieren. Doch ich kann nicht bei Wahlen antreten und nur beschränkt im öffentlichen Dienst arbeiten. Mein Studium der internationalen Beziehungen, meine Erfahrung als politischer Aktivist, meine multikulturelle Kompetenz und Mehrsprachigkeit spielen da keine Rolle.Wählen kann ich auch nicht.Sogar das Recht, in meinem eigenen Land zu bleiben, muss ich mir immer wieder neu verdienen: Ich darf nicht riskieren, zwischendurch meine Arbeit zu verlieren, sonst bekomme ich keine Aufenthaltserlaubnis. Ohne Aufenthaltserlaubnis wäre ich illegal und könnte nach Tunesien abgeschoben werden. +Ich habe immerhin das Glück, eine Ausbildung genossen zu haben. Das schenkt mir kulturelles Kapital. Ich begreife meine Situation und kann sie deshalb leichter verändern. Andere haben dieses Privileg nicht und spüren nur Ärger und Frust. Und doch: Ich bin mir sicher, dass wir uns eine Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes erkämpfen werden, denn es geht um universelle Gerechtigkeit. Wenn ich die italienische Staatsbürgerschaft erhalte, werde ich als Erstes meinen Wahlschein holen – hoffentlich rechtzeitig für die nächste Parlamentswahl 2023. + +Fioralba Duma, 32, kam mit elf Jahren nach Italien und hat einen albanischen Pass. Auch sie ist Aktivistin bei "Italiani senza cittadinanza". +Der italienische Traum meines Vaters ist bereits im italienischen Klang meines Vornamens enthalten: Fioralba. 2000 hat er Albanien verlassen. Ein Jahr später, ich war damals elf, sind meine Mutter, meine Schwester und ich ihm gefolgt. Wir sind mit einem Touristenvisum nach Italien eingereist und dann geblieben. +Obwohl mir als Tochter von Einwander*innen davon abgeraten wurde, habe ich das klassische Gymnasium besucht und dann Psychologie in Rom studiert. Darauf bin ich stolz. Doch ich musste auf vieles verzichten. Der Wohnsitzfrist von zehn Jahren, die ich irgendwann zur Einbürgerung würde vorweisen müssen, war ich mir schon immer bewusst. So habe ich es mir als Jugendliche nicht mal erlaubt, von einer längeren Arbeitserfahrung im Ausland zu träumen. +Heute bin ich 32 Jahre alt, wohne in Rom, bin als Kommunikationsexpertin im sozialen Bereich tätig und habe immer noch keinen Anspruch auf die italienische Staatsbürgerschaft. Wegen meiner als prekär geltenden Arbeitssituation erfülle ich die Einkommensvoraussetzung nicht. Doch die Staatsbürgerschaft sollte ein Recht sein und keine Auszeichnung für besondere Verdienste. Das Einkommen dürfte dabei keine Rolle spielen, insbesondere nicht in einem Land, wo die Arbeitslosenquote vor allem unter jungen Menschen hoch und Schwarzarbeit weit verbreitet ist. +Unsere Existenz als Italiener*innen ohne Staatsbürgerschaft ist durch Atemlosigkeit geprägt, denn all unsere Lebensentscheidungen werden durch unfassbare, ungerechte Anforderungen beeinflusst. + diff --git a/fluter/ivie-wie-ivie-sarah-bla%25C3%259Fkiewitz-film-interview.txt b/fluter/ivie-wie-ivie-sarah-bla%25C3%259Fkiewitz-film-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..13c25ec7375a1beef7b8fdb655bfcf68d52ca8e1 --- /dev/null +++ b/fluter/ivie-wie-ivie-sarah-bla%25C3%259Fkiewitz-film-interview.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Es gab bisher wohl wenige Musiker, die ihre Homosexualität so offen zelebriert haben wie Lil Nas X. Allein in den vergangenen Wochen knutschte er mit einem seiner Tänzer bei den BET Awards und räkelte sich bei den MTV Music Video Awards zwischen halb nackten Männern auf der Bühne. Damit sorgte er für Shitstorms vonseiten konservativer US-Amerikaner:innen und ließ wohl Millionen queerer Herzen höher schlagen. +Lil Nas X ist nicht der erste schwule Rapper, der die homofeindliche Hip-Hop-Szene aufmischt. Neben ihm stehen auch Musiker wie Frank Ocean, Tyler the Creator, Zebra Katz oder Mykki Blanco offen zu ihrer sexuellen Orientierung. Der aus Georgia stammende Lil Nas X provoziert christliche Fundamentalist:innen und konservative US-Amerikaner:innen aber wie kein anderer: Im Musikvideo zu seiner ersten Singleauskopplung "Montero (Call me by your name)" rutscht er als fallender Engel an einer Poledance-Stange in die Hölle, verführt Satan auf dessen Thron, nur um ihm anschließend das Genick zu brechen. Der Song ist eine Hymne an dieSelbstakzeptanzqueerer Menschen. +Das Album "Montero" umfasst nun insgesamt 15 Songs und Kollaborationen mit Popgrößen wie Miley Cyrus, Megan Thee Stallion, Doja Cat und sogar Sir Elton John. Lil Nas X nimmt seine Fans darauf mit auf eine Reise zu sich selbst, singt über Liebe, Komplexe, Suizidgedanken und seinen Weg zum Ruhm. Dabei überrascht "Montero" mit Gitarrensounds und einem Mix verschiedener Genres. In der düsteren Rockballade "Life after Salem" singt Lil Nas X zu verzerrter Gitarre über eine zerbrochene Liebe, und Lieder wie "Void" und "Lost in the Citadel" klingen mehr nach 2005er-Indie-Rock als nach Hip-Hop. Dazwischen gibt es mit "Dead Right Now" und "Scoop" tanzbare Popsongs. Auch die Uptempo-Nummer "That's what I want" sorgt für gute Laune und ist der wohl radiotauglichste Titel des Albums. + + +Ein Thema, auf das Lil Nas X im Video zu "That's what I want" und in anderen Songs des Albums anspielt, ist die Tatsache, dass er beim Sex gerne bottom ist. Dass ein schwuler Musiker seine sexuelle Vorliebe so offen thematisiert, kommt einer kleinen Revolution gleich. Denn selbst in der queeren Community werden häufig frauenfeindliche Strukturen reproduziert, und mit den unterschiedlichen Rollen, die Männer im Bett einnehmen, werden verschiedene Eigenschaften assoziiert. Tops gelten als aktiver und maskuliner, Bottoms als passiver und femininer. Lil Nas X kehrt dieses Klischee um, indem er sich als "Power Bottom" inszeniert, der die Kontrolle übernimmt, statt diese abzugeben. Damit provoziert er nicht nur in derheteronormativ dominierten Musikbranche, sondern bricht auch mit Vorurteilen innerhalb der queeren Community. +In der queeren Community bezeichnen sich viele je nach sexueller Vorliebe als "top", "bottom" oder "versatile". Im Deutschen spricht man häufig auch von "aktiv", "passiv" oder "vers". In der schwulen Community sind "Tops" diejenigen, die beim Sex den "Bottom" penetrieren, während Personen, die sich als "vers" bezeichnen, beide Rollen gerne einnehmen +Die Shitstorms, die Lil Nas X durch solche Tabubrüche heraufbeschwört, scheinen dank seiner lässigen Reaktionen einfach an ihm abzuprallen. Er ist schließlich im Internet groß geworden und weiß es für seine Zwecke zu nutzen. Damit erscheint Lil Nas X wie das ideale Vorbild für eine neue Generation queerer Menschen. Und wer weiß, womöglich hat der Rapper Kid Cudi sogar recht mit der Prophezeiung, die er kürzlichin einem Interviewgemacht hat: Lil Nas X könnte der Musiker sein, der die "homofeindliche Wolke", die über dem Hip-Hop schwebt, endgültig verscheucht. +Titelbild: NINA WESTERVELT/NYT/Redux/laif diff --git a/fluter/ivie-wie-ivie-sarah-bla%C3%9Fkiewitz-film-interview.txt b/fluter/ivie-wie-ivie-sarah-bla%C3%9Fkiewitz-film-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b193b6bc81996e5e8ceff2ded13efde85c4a55d3 --- /dev/null +++ b/fluter/ivie-wie-ivie-sarah-bla%C3%9Fkiewitz-film-interview.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Sarah Blaßkiewitz: Ich wusste von Anfang an, was ich erzählen wollte: eine Protagonistin, die mit sehr guten Freunden aufwächst, die wie eine Familie für sie sind – mit allen Ups und Downs. Der Alltagsrassismus war in dieser Erzählung automatisch mit dabei, weil ich die Geschichte von zwei afrodeutschen Frauen erzähle, zu deren Realität es leider gehört, Rassismus zu erfahren. Ich wollte eine Lebenswelt zeigen, die ich selbst so vorher medial noch nicht gesehen hatte. Und tatsächlich gab es noch nie zuvor zwei afrodeutsche Frauen als Protagonistinnen in einem deutschen Film. +Inwieweit spiegelt der Film deine eigene Lebensrealität wider? +Ich habe dafür viel auf eigene Erfahrungen zurückgegriffen, die ich selbst als Schwarze Frau in Deutschland gemacht habe. Ich bin aber weder Ivie noch Naomi. Allerdings habe ich eine ähnliche Reise wie Ivie hinter mir. Auch ich habe mich als junge Frau gefragt: "Wer bin ich, und wie sehen mich die anderen?" Ich habe viel in Zweifel gezogen. Anderes ist durch Erfahrungen und Geschichten in meinem Umkreis inspiriert. Dafür muss man keine afrodeutsche Geschichte haben. Mein Wunsch war es, dass sich alle Menschen angesprochen fühlen. +Ivies beste Freundin Anne nennt Ivie "Schoko". Beide haben diesen Begriff nie hinterfragt – bis Naomi auftaucht. Kann eine Freundschaft solche rassistischen Zwischentöne auf lange Sicht aushalten? +Ich hoffe schon, dass sich so etwas aufarbeiten lässt. Denn Anne hat das ja nicht böswillig gemeint, sondern sich kulturell verankerter Mechanismen bedient, die sie nie hinterfragt hat. In guten Freundschaften kann es gelingen, dass man solche Konflikte aushält und überwindet – und dazu gehört dann auch, die eigenen rassistischen Denkweisen und Handlungen zu reflektieren und darüber offen zu sprechen. +Du hast das Drehbuch ja schon zwischen 2016 und 2017 geschrieben. Hat sich seitdem etwas im Bewusstsein über Alltagsrassismus verändert? +Ich glaube schon. Das Thema Rassismus hat in den vergangenen Monaten viel mehr gesellschaftliche Aufmerksamkeit bekommen. Besonders die Debatten in den USA und die Black-Lives-Matter-Bewegung hatten darauf einen großen Einfluss. Das hat vielen Schwarzen Menschen – auch in Deutschland – mehr Selbstbewusstsein gegeben und die öffentliche Darstellung und Wahrnehmung von Afrodeutschen zum Positiven verändert. Es gibt medial inzwischen zum Beispiel viel mehr positiv konnotierte Darstellungen von Schwarzen Frauen, auf denen sie ihre Haare natürlich tragen. + +Hat Black Lives Matter denn die Filmproduktion konkret beeinflusst? +Weil ich das Drehbuch schon 2017 geschrieben hatte, im Grunde nicht. Als die Demonstrationen im Sommer 2020 losgingen, hatte ich trotzdem eine richtige Krise: Es hat mich alles so erschlagen, und ich war so traurig. Ich habe im Drehbuch noch mal jedes Wort umgedreht. Wir haben im Team diskutiert, vor allem mit den beiden Hauptdarstellerinnen habe ich mich eng ausgetauscht: Womit geht es uns gut, womit schlecht? So gesehen hat Black Lives Matter mich und uns alle empowert, das dann durchzuziehen. +Es gibt einige sehr unangenehme Szenen im Film, etwa als Ivie beim Vorstellungsgespräch über ihren "Background" ausgefragt wird. Reagieren Menschen, die selbst von Alltagsrassismus betroffen sind, anders auf den Film als Nichtbetroffene? +Es gibt Leute im Publikum, besonders aus der afrodeutschen Community, die sich danach erst mal sammeln müssen, weil sie Dinge gesehen haben, die sie selbst schon erlebt haben. Es gibt aber auch die, die dann sagen: "Endlich sehe ich mal mein Leben im deutschen Film abgebildet." Natürlich möchte ich als Erzählerin gerade das: dass man mit der Protagonistin mitfühlt. Und solche Gefühle von Scham oder Wut zeugen ja davon, dass man sich in die Protagonistin reinversetzen kann, auch als Weiße Person. In vielen Szenen, wie zum Beispiel der vom Vorstellungsgespräch, geht es darum, diese Situation einfach mal auszuhalten, zu spüren, wie unangenehm das ist. +Gibt es eine Szene, die Zuschauende bisher besonders heiß diskutieren? +Es gibt eine Szene, in der Polizisten auftreten und sich sehr rassistisch verhalten. Das könnte für einige so rüberkommen, als suggeriere ich, dass alle Polizisten rassistisch sind. Das will ich damit natürlich nicht aussagen. Aber Racial Profiling gibt es nun mal, und hätte ich das weggelassen, nur aus Angst, jemandem auf den Schlips zu treten, hätte ich einen großen Fehler gemacht. +Gleichzeitig werden durch manche Szenen, in denen auchrassistische Sprachegezeigt wird, verletzende Begriffe reproduziert. Warum hast du dich dazu entschieden, das trotzdem so konkret darzustellen? +Es gab schon Schmerzmomente, als ich diese Szenen geschrieben habe, und dann auch, als ich sie gedreht habe. Ich wurde auch selbst schon mit solchen Wörtern bezeichnet, die mich verletzt haben. Aber es bringt ja nichts, es zu beschönigen: Rassistische Übergriffe passieren. Und es macht keinen Sinn, das zu verschweigen. Denn so ein Film kann ja im Idealfall auch Menschen dazu anregen, sich mehr mit Rassismus und Menschen, die davon betroffen sind, zu beschäftigen. + +"Ivie wie Ivie" ist ab dem 16. September in den deutschen Kinos zu sehen. + +Titelbild: Weydemann Bros. / Constanze Schmitt & David Schmitt diff --git a/fluter/jack-urwin-boys-dont-cry.txt b/fluter/jack-urwin-boys-dont-cry.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..37ff7557eceab83f0582c0d5a9ba110f8f503fdc --- /dev/null +++ b/fluter/jack-urwin-boys-dont-cry.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Jetzt nicht mehr. Der "Vice"-Essay schlug, nun ja, wie eine Bombe ein. Der schottische Kult-Schriftsteller Irvine Welsh bezeichnete ihn als "fantastisch". Und Urwin machte sich, ermutigt von der britischen Feministin Laurie Penny, an seinen nächsten, seinen ersten richtig großen Essay. Urwin, der seit Erscheinen von "Boys don't cry" auf Lesetour ist, wollte ein Buch für Männer, genauer: für "jedermann" schreiben. Das hat er getan, eine "trockene akademische Abhandlung" ist es nämlich nicht. Es ist einfach, aber nicht zu einfach. Es will den stillschweigend vorausgesetzten Männlichkeitsidealen etwas entgegensetzen. Es stellt Fragen, reflektiert Probleme, sucht nach Antworten, will praktischer, persönlicher Ratgeber sein. Das Buch sagt "du", sein Leitgedanke, für Feministinnen zweifellos ein uralter Hut, geht so: Für deinen Wert darf es keine Rolle spielen, welches biologische Geschlecht du hast. +... aber toll ist es deshalb noch lange nicht. Urwin zitiert einen Satz, den der eine oder andere von seinem Opa kennen dürfte: "Früher war alles viel einfacher, da waren Männer Männer und Frauen Frauen." Das heißt auch: Sie durften nicht wählen und der Ehemann konnte sie straffrei vergewaltigen; in manchen Ländern ist das heute noch so. Sehr viel früher einmal mag es vielleicht Sinn gehabt haben, dass Männer von Natur aus aggressiver sind, wegen der wilden Tiere und so. Aber die Dinge haben sich gewandelt, schreibt Urwin. Wir sind keine Jäger und Sammler mehr: "Wenn Menschen männliche Aggression als unvermeidlichen Teil unserer Natur verteidigen, ist das für Männer schlicht eine Möglichkeit, sich der Verantwortung für ihr beschissenes Verhalten zu entziehen." Apropos "natürlich": "Die Vorstellung, Homosexualität wäre unnatürlich, erwächst hauptsächlich aus dem Glauben, Sexualität existierte einzig als Mittel zur Reproduktion." Eine ziemlich verengte, schrecklich lustfeindliche Sicht auf Sexualität, findet Urwin. Und denkt: "Dass sich die Geschlechterrollen heute verändern, hätte ja auch Anlass dafür sein können, dass Männer ihre Rolle in der Gesellschaft überdenken und traditionell weibliche Aufgaben übernehmen, zum Beispiel auf Kinder aufzupassen. Leider gibt der Mann nur sehr ungern seine Privilegien auf. Anstatt die Veränderungen zu akzeptieren und zu sagen 'Wir Männer ändern uns jetzt auch', machen viele Männer Frauen für ihre fehlende maskuline Identität verantwortlich." +Männliche Säuglinge tragen Babyblau, neugeborene Mädchen Rosa. Immer noch. Schlimm genug, derart früh auf ein soziales Geschlecht festgelegt zu werden. Schwerer wiegt indes dieser Satz: "Jungen weinen nicht." Urwin schreibt: "Wichtig ist, was beim Weinen passiert: Es löst Gefühle und dient als Ventil. ... Wenn man einem Jungen sagt, er solle einen Instinkt, der ihn nach dem ersten Atemzug überkommt unterdrücken, sagt man im Grunde, dass alle Formen emotionalen Ausdrucks tunlichst zu vermeiden sind, wenn er männlich rüberkommen will." Der Weg vom Vermeiden zum Verweigern von Hilfe ist kurz. Die Kernaussage des Buchs lautet daher: Wenn es schlecht läuft, sterben Männer an dem, was sie als Männlichkeit lernen. Männer sind häufiger Alkoholiker, begehen häufiger Selbstmord und sie sterben auch häufiger im Straßenverkehr, weil sie hier ein höheres Risiko eingehen als Frauen. +Die Sache mit den Autounfällen geht bereits in die Richtung, ist aber nicht das Ende der Fahnenstange. Männer gehen nicht nur höhere Risiken ein, sie sind in der Regel auch gewalttätiger als Frauen. Urwin stellt die These auf: Die Frauen steigen gesellschaftlich auf, die Männer fühlen sich als Verlierer, ihr Selbstbild als wichtigstes Wesen auf dem Planeten geht flöten. Sie werden immer unsicherer, was ihre Männlichkeit anbelangt. In der Folge kommt es, so Urwin, zu übertriebenen Verhaltensweisen und Handlungen. Sie sollen verloren geglaubte Männlichkeit wiederherstellen. Hooliganismus, Amokläufe und Rape Culture nennt er als Beispiele. Dass dieser Erklärungsansatz ein bisschen kurz greift, ist Urwin klar. Er nennt noch ein paar andere, vor aber allem schiebt er nicht alles auf das männliche Sexualhormon Testosteron. Er schreibt: "Männlichkeit muss nicht unbedingt negativ sein, aber sie wird toxisch, wenn Männer denken, sie müssten gewalttätig sein, um männlich zu sein. Darunter leidet die Gesellschaft", insbesondere die Mitmenschen, Partner, Partnerinnen und Kinder. +Auch wenn seine Körpersprache abwehrend wirkt - Jack Urwin will reden - und zwar über ein Männerbild, das den Männern nicht gut tut (und den Frauen auch nicht). +"Noch mehr als deine Unfähigkeit, mir gegenüber deine Gefühle zum Ausdruck zu bringen, warst du es so gewohnt, alles wegzudrücken, dass du den Kontakt mit der Realität deiner Gefühle verloren hast." Problematische Situationen leugnete Urwin, schwierige Themen musste seine frühere Freundin Megan allein durchackern. Nicht schön, nicht gesund, Reden hätte geholfen, hilft noch immer, meint Urwin, und hat unbedingt recht. +Sein Buch könnte ein Leitfaden sein für Gespräche über nicht zugelassene und verdrängte Gefühle, über destruktive Männlichkeitsvorstellungen, männliche Macht und (pornographische) Sexualität, über männliche Schönheitsideale, sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen. Es ist ein Buch zur Zeit, denn Diskussionen über Männlichkeit sind en vogue. Auf dem Niveau feministischer (Frauen-)Forschung, die seit mehr als 50 Jahren betrieben wird, bewegen sich solche Diskussionen eher nicht. Auch Urwins Buch nicht. Das weiß er selbst, aber er weiß eben auch solche Sachen: "Wenn wir Männer nicht überflüssig werden wollen, müssen wir uns den Feminismus ansehen und fragen, was wir von Frauen lernen können. Frauen haben schon bewiesen, dass sie alles können, jetzt ist es an den Männern, zu beweisen, dass sie alles können, was Frauen können." + +Jack Urwin: "Boys don't cry – Identität, Gefühl, Männlichkeit". Edition Nautilus, Hamburg 2017, 232 Seiten, 16,90 Euro diff --git a/fluter/jacke-wie-hose.txt b/fluter/jacke-wie-hose.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/jaeger-und-sammler-0.txt b/fluter/jaeger-und-sammler-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7e3de54485c6bc12405450e59326f6933049352c --- /dev/null +++ b/fluter/jaeger-und-sammler-0.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Ob man denn mal reinschauen könne? Es ist sinnlos, den Steuerfahnder Carsten B. so etwas zu fragen. Ihn zu bitten, eine der Kisten oder auch nur ein paar Ordner für den neugierigen Besucher zu öffnen. Ein paar krumme Zahlen herzuzeigen, nur ganz kurz. Den wildesten Fall zu erklären, an dem er gerade arbeitet. So was von sinnlos. Carsten B. ist die Diskretion und Korrektheit in Person. "Ich hab ja mein Steuergeheimnis." Den Satz sagt er mehrfach. Meistens beginnen seine Ermittlungen mit einem Hinweis. Anonyme Tippgeber melden sich. Betrogene Ehemänner und Ehefrauen, verbitterte Angestellte, Nachbarn und Konkurrenten. Sie wollen Rache, manchmal auch Gerechtigkeit. Immer öfter kauft der Staat aber auch CDs von Informanten und findet so heraus, wer womöglich Geld in Liechtenstein oder der Schweiz versteckt hat, ohne dafür Steuern zu zahlen. Regelmäßig stoßen Kollegen von Carsten B. bei routinemäßigen Betriebsprüfungen auf merkwürdige Buchungen. Zum Beispiel, wenn der Besitzer einer Imbissbude 10.000 Würstchen eingekauft, aber gegenüber dem Finanzamt nur 2.000 verkaufte Hotdogs angegeben hat. Und manchmal kommt sogar ein Computerprogramm darauf, dass es in den Zahlen und Abrechnungen einer Firma oder eines Selbstständigen Zahlenfolgen gibt, die im richtigen Leben sehr unwahrscheinlich sind, nicht aber in gefälschten Bilanzen. +"Meistens finden wir dann was", sagt Carsten B. "Aber ich muss immer in beide Richtungen ermitteln und auch entlastende Beweise suchen." Er ist nicht auf irgendein Fachgebiet oder Gewerbe spezialisiert. Carsten B. macht Umsatzsteuerbetrug, Einkommenssteuerbetrug, Körperschaftssteuerbetrug, Vermögenssteuerbetrug – das volle Programm. Und zurzeit kümmert er sich auch um Kindergeld, weil das komischerweise in Deutschland als Steuerleistung gilt. 530,6 Milliarden Euro hat der Staat im Jahr 2010 von seinen Bürgern und Unternehmen bekommen. Diese Zahl ist bekannt. Wie viel ihm Betrüger pro Jahr vorenthalten, weiß dagegen keiner so genau. 30 Milliarden Euro schätzt die Steuergewerkschaft. Stimmt nicht, sagt das Finanzministerium. Und auch die meisten Fachleute sind sich einig, dass man Geld, das versteckt wird, weder sehen noch seriös berechnen kann. Ganz anders sieht es mit den Erfolgen der Steuerfahnder aus. Im Jahr 2009 (dem letzten Berichtsjahr) haben sie bundesweit knapp 1,6 Milliarden Euro zurückgeholt. Rund 30 Millionen Euro Geldstrafen und 1.794 Jahre Gefängnis wurden aufgrund ihrer Ermittlungen insgesamt verhängt. Für den Staat ist einer wie Carsten B. auf jeden Fall ein gutes Geschäft. +Wie viel Geld er persönlich dem Staat schon eingebracht hat, weiß er nicht. Das hat er sich nicht notiert. Das würde er wahrscheinlich auch gar nicht sagen, weil die Höhe der Betrugssummen offiziell gar keine Rolle spielt. Ebenso wenig wie die Prominenz der Verdächtigen. Eine kleine Firma zu stoppen, die Scheinrechnungen ausstellt, ist ihm genauso recht, wie Prominente zu überführen. "Unabhängig von der Größe der Hinterziehung existiert ein Verfolgungszwang", sagt Carsten B. Was ihm dagegen etwas mehr Freude zu bereiten scheint: schwierige Fälle, komplizierte Fälle, Rätsel, die er knacken muss. Wenn man ihn reden hört, hat man den Eindruck, der größte Teil der Arbeit eines Steuerfahnders ist Kombinatorik, Logik, reine Mathematik. Die Ermittlungen können Jahre dauern. +Und dann geht es manchmal auch ganz schnell. Carsten B. rückt mit seinen Kollegen aus. Manchmal Polizei dabei, manchmal nicht. Klingelt Menschen aus dem Schlaf, belehrt sie rechtlich, durchsucht Wohnungen und Büros, stellt Aufzeichnungen, Schmierzettel, Listen, Belege sicher. Hat Handschuhe mitgenommen, falls es mal dreckig wird. Er bittet die Verdächtigen zu kooperieren, den Schließfachschlüssel rauszurücken, die Firma aufzusperren, verhört sie, lässt sie erklären, warum sie keine Steuererklärung abgegeben haben, warum sie eine abgegeben haben und sie so fehlerhaft ist, wie das mit ihrem extrem niedrigen Gewinn denn um alles in der Welt plausibel sein kann. Er sagt, er gehe immer sehr respektvoll mit den Verdächtigen um. "Man darf nicht vergessen, da ist zwar ein Steuerpflichtiger. Da ist aber immer auch ein Mensch." +Gerechtigkeit, das ist für ihn ein zu schwammiger Begriff. "Gerechtigkeit wird man nicht herstellen können", sagt er. Um die Gerechtigkeit sollen sich die Philosophen und Politiker kümmern, nicht die Steuerfahnder. Die wirtschaftlichen Vorteile einzudämmen, die ein Steuerhinterzieher gegenüber einem Steuerzahler hat. So könnte man das Ziel seiner Arbeit vielleicht eher formulieren. Carsten B. macht diesen Job seit zwanzig Jahren. Er war bei reichen Leuten, armen Leuten, verrückten Leuten daheim. Er kennt ihre Finanzen. Er kennt ihr Leben. Er sagt: "Es ist eine Gauß'sche Normalverteilung" – den typischen Täter gibt es nicht. Du, ich, wir alle: Jeder kann ein Betrüger sein. Und da draußen lauert Carsten B. diff --git a/fluter/jaeger-und-sammler.txt b/fluter/jaeger-und-sammler.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f71d728966d9be2f23ed562d10b760eb7b089412 --- /dev/null +++ b/fluter/jaeger-und-sammler.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Ginge es nicht auch anders? Könnte man zum Beispiel bei Airbus nicht auch sagen: Ihr könnt ruhig ein bisschen weniger Gewinn machen, wenn ihr dafür mehr Mitarbeiter beschäftigt? Ich sage: nein. Ein Unternehmen muss so rentabel wie möglich gemacht werden, sobald man die Gelegenheiten dafür sieht. Ansonsten sichert man vielleicht kurzfristig einige Arbeitsplätze, langfristig aber wäre es das Ende für alle. Ein gutes Beispiel ist das Thema Steinkohle: Hier hat man viel zu lange versucht, sich gegen einen Strukturwandel zu stemmen. Die Folge ist nicht nur, dass viel Geld in einen überholten Wirtschaftsbereich geflossen ist, das besser in Zukunftstechnologien investiert worden wäre. Man hat auch junge Menschen bis vor Kurzem unter Tage geschickt und ihnen so ihre Zukunft verbaut, statt ehrlich zu sagen: Jungs, ihr studiert besser Elektrotechnik. +Investoren wie ich unterstützen und beschleunigen mit ihrem Geld Entwicklungen und Veränderungen auf den Märkten, die 
ohnehin stattfinden würden – nur ohne das Kapital viel langsamer oder in anderen Ländern dieser Welt. Zudem investieren wir in risikoreiche Branchen oder in schwierigen Umfeldern, in denen Unternehmen ohne uns große Schwierigkeiten hätten, an Gelder zu gelangen. Für die Volkswirtschaft eines Landes ist das Engagement von Investoren positiv. +Alles gut also? Nein, natürlich nicht. Vor allem wenn die Investoren nicht gut genug aufpassen, können in Unternehmen grobe Managementfehler zu massiver Arbeitsplatzvernichtung wie bei der Deutschen Telekom, DaimlerChrysler oder VW führen. Zudem haben sich in den letzten Jahren viele Investoren an Gewinne von bis zu zwanzig oder 25 Prozent gewöhnt. Solcher Erfolg nährt die Gier. Deshalb wurden in jüngster Zeit Investitionen getätigt, die mit zu spitzem Bleistift gerechnet wurden. Tragisch kann es besonders dann werden, wenn Anteile eines Mittelständlers mit geliehenem Geld gekauft sind, die Schulden für das geliehene Geld dem Mittelständler aufgebürdet werden und dessen Umsätze nicht mehr genügen, um die Schuldenlast zu bezahlen. Einst gesunde Unternehmen können dann pleitegehen.Aber ich glaube: Auch das wird langfristig der Markt regeln. Schließlich entsteht dort, wo ein Unternehmen pleitegeht, auch die Chance für etwas Neues. Und es ist nicht das Ziel von Investoren, Unternehmen in die Insolvenz zu treiben. Wem das häufiger passiert, der verliert das Vertrauen seiner Anleger. +Es gibt kein Investment, das ausschließlich gute Seiten hat. Doch man kann sagen: Wo man nicht versucht, den Markt durch staatliche Eingriffe, Regeln und Gesetze zu beeinflussen, geht es den Menschen rein materiell besser. Ich glaube daher nicht an den Sinn von Interventionen, ich glaube an den Markt und seine natürlichen Kräfte. Da jede Aktie eines Unternehmens eine Stimme hat, drücken sich in den Kursen immer die Entscheidungen der Mehrheit aus, der Aktienmarkt ist daher für mich Demokratie. +Die Geschichte der Hedgefonds und Private- Equity-Gesellschaften ist in Deutschland noch sehr jung und viele Menschen verstehen nicht, welche Aufgabe sie erfüllen. Das bereitet Unbehagen, deshalb ruft man in Deutschland nach Institutionen, die Regeln erlassen sollen, damit man ein Gefühl von Kontrolle be-kommt. Andere Länder mit Pioniergeschichte wie England oder die USA, deren Wirtschaftsverständnis eher meines ist, reagieren ganz anders. Sie misstrauen den Institutionen und verlassen sich lieber auf sich selbst und die Kräfte des Marktes. Eine Folge: Scheitert in Deutschland ein Unternehmen, an dem sich Finanzinvestoren beteiligt haben, ist das mediale Interesse extrem hoch. Wie viele Unternehmen fit gemacht wurden für den globalen Wettbewerb und wie viele Arbeitsplätze dadurch bereits geschaffen wurden, interessiert dagegen leider bisher kaum jemanden."Sy Schlüter, 47, brachte schon 1994 den Hedge- fonds Copernicus auf den Markt. Heute ist er Geschäftsführer der Hamburger CAI Analyse- und Beratungs GmbH, eines Hedgefonds. diff --git a/fluter/jakob-hein-jugendliche-herausforderungen.txt b/fluter/jakob-hein-jugendliche-herausforderungen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..015eecdedbb57ac30d693de91fc369c76cfb8193 --- /dev/null +++ b/fluter/jakob-hein-jugendliche-herausforderungen.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Ein bisschen Gegenwind ist aber schon auch sinnvoll, oder? +Das Leben besteht schon aus einer Kette an Herausforderungen. Es ist wichtig, dass wir früh lernen, die gelassen anzunehmen. Und weiterzumachen, wenn wir mal etwas nicht schaffen. Wenn jemand nach dem Schulabschluss weiß, wie er Herausforderungen angeht, ist es fast egal, worin die im Leben bestehen. Leider kommen viele aus der Schule, haben zwölf Jahre lang auswendig gelernt und wissen: Ich bin gut in Mathe und Musik. Zeig mir die Stellenanzeige, in der steht: Wir suchen Sie, wenn Sie gut in Musik sind. Wir suchen doch Kompetenzen, Flexibilität, die Lust, sich auf neue Dinge einzulassen. +Seit der Antike wird behauptet, dass die Jungen weniger fähig und willens seien. Können junge Menschen heute weniger gut mit Herausforderungen umgehen? +Das ist ein solcher Blödsinn. Als ich 1998 in die Medizin bin, hieß es: unendlich Überstunden machen und sich dafür noch schlecht behandeln lassen. Meine Generation konnte durch Fleiß und Anstrengung ökonomisch aufsteigen. Das war eine gute Erfahrung für mich. Man muss aber ehrlich sagen, dass dieser Aufstieg jungen Menschen heute nur in bescheidenerem Maße möglich ist. Oder gar nicht mehr. +Laut Studienglaubt ein Großteil der Jungen, dass es ihnen in Zukunft schlechter gehen wird als ihren Eltern. +In der westlichen Welt erreichst du Wohlstand nicht mehr über den Job, sondern über ein Erbe. Und in einer Welt der Klimakatastrophe leben wir vermutlich eh von Einschlag zu Einschlag, von Überschwemmung zu Dürre. Warum soll ich mich für eine solche Zukunft in einem wenig aussichtsreichen Job abrackern, wenn ich das Leben genießen kann? + +Dieser Text istim fluter Nr. 90 "Barrieren"erschienen +Verzweifeln Ihre Patientinnen und Patienten eher an strukturellen Herausforderungen wie der Klimakrise und Kriegen oder an individuellen Problemen? +Viele kommen mit Angsterkrankungen, die durch die Krisen draußen verstärkt werden. Ihr Umfeld kann das kaum mehr auffangen: Man kann Jugendlichen ja nicht ausreden, dass sieSchiss vor der Klimakrisehaben oder keine Lust, sich für wenig Aussichten im Job aufzureiben. DasAngstlevel ist hoch unter den jungen Menschen, die ich hier kennenlerne. +Wird bei denendie Angst selbstzum Hindernis? +Zum größten Hindernis. Angst ist erst mal eine natürliche Reaktion auf Ungewohntes. Aber wenn man den Ängsten nachgibt, wachsen sie. Bis man sich gar nichts mehr traut. +Wovon hängt denn ab, ob jemand das Gefühl hat, einer Herausforderung gewachsen zu sein? +Es gibt genetische Voraussetzungen, ist aber vor allem davon abhängig, wie jemand aufwächst. Bekomme ich vorgelebt, dass Herausforderungen positive Lernerfahrungen sein können, dass sie in der Regel zum Erfolg führen? Diesen Erfahrungsraum müsste Schule schaffen, Therapie kann helfen, meist entscheidet aber das Elternhaus. Und damit die Verhältnisse, aus denen man kommt. +Mit Geld sind die Hürden flacher? +Ja. Eine Schule mit kleinen Klassen, das Auslandsjahr, die Mitgliedschaft im Sportverein: alles Erfahrungen, die Biografien nachweislich positiv beeinflussen. +Unterscheiden sich Frauen im Umgang mit Herausforderungen von Männern? +Schon. Meine trans Patienten und trans Patientinnen nehmen diese Geschlechterrollen zum Beispiel sehr stark wahr, weil sie oft noch ihren Platz suchen. Vielen Jungs geht es nach wie vor darum, sich selbst zu schaden: ganz viel trinken, zu schnell fahren, den Kopf doll irgendwo dranhauen. +Und Frauen? +Da geht es oft ums Sein, nicht ums Werden:schön sein,für andere da sein, weniger Risiko eingehen. Ist alles sozialer Quatsch. Aber hartnäckiger Quatsch. +Kann man die Psyche über kleine Herausforderungen bewusst trainieren, um resilienter zu werden? +Absolut. Der Vater einer Kollegin hat ihr immer fünf Mark geschenkt, wenn sie etwas zum ersten Mal gemacht hat. Über den Antrieb Geld müsste man reden. Aber die Haltung bleibt: Toll, dass du dich an Neues wagst. Das fordert auch Eltern heraus: auszuhalten, dass ihr Kind es anders macht als sie. Ohne zu bewerten. Und offen dafür zu sein, dass sie dabei auch dazulernen können. + +Jakob Hein, geboren 1971, war Oberarzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Charité. Seit 2011 führt er eine eigene Praxis. + +Titelbild: Melissa Schriek diff --git a/fluter/jakob-springfeld.txt b/fluter/jakob-springfeld.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9c2f235c351c8c2ff709e93bb400937b35cf50e1 --- /dev/null +++ b/fluter/jakob-springfeld.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Als in Zwickau 2019 ein Baum abgesägt wird, berichten Medien deutschlandweit darüber. Es ist nicht irgendein Baum. Er wurde im Gedenken an Enver Şimşek gepflanzt, das ersteMordopfer des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU).Die rechtsextreme Terrorzelle hat insgesamt zehn Menschen ermordetund lebte jahrelang im Untergrund, zuletzt in Zwickau. Der Gedenkbaum wurde nach nur wenigen Wochen von Unbekannten abgesägt. Daraufhin pflanzte die Stadt zehn neue Bäume. Zur anschließenden Gedenkversammlung kamen die Bundeskanzlerin und Sachsens Ministerpräsident. Zum Schluss ging das Wort an einen Schüler: Jakob. Der damals 17-Jährige trug eine dunkle Sportjacke und lächelte etwas schüchtern, als er nach dem Mikrofon griff. Seine Stimme aber war selbstbewusst, seine Worte deutlich: "Wir hoffen, dass es nicht dabei bleibt, dass wir hier Bäume gepflanzt haben." Im Namen seiner Schule hoffe er, dass sich die Stadt mehr mit den Taten des NSU auseinandersetze – aber auch zeige, wie bunt Zwickau eigentlich sei. Um gegen die Tat ein Zeichen zu setzen, organisierte Jakob mit ein paar Klassenkameraden spontan eine Gedenkaktion. Über 100 Schülerinnen und Schüler trafen sich in der Mittagspause zu einer Schweigeminute, viele brachten Blumen mit. +Durch Aktionen wie diese wird Jakob in der Stadt bekannt. Angefangen hat er bereits mit 14, als er für seine Klassenkameraden einen "Sozialen Tag" organisierte, bei dem sie sich mit Geflüchteten in Zwickau austauschen konnten. Dass sein Engagement auch negative Reaktionen auslösen kann, war ihm anfangs nicht bewusst: "Ich habe das eher belächelt. Erst später wurde mir klar, dass sich die Stimmung immer mehr auflädt." + +Jakob glaubt, dass sich viele junge Menschen in seiner Heimatstadt aus Angst vor dem Hass nicht engagieren + +Tatsächlich berichten viele Menschen, die sich politisch äußern, von Anfeindungen.Dabei gibt es sowohl im rechts- als auch im linksextremen Bereich einen Anstieg der Gewalt. Erst kürzlich sorgte eine Morddrohung gegen die Comedyautorin und Kolumnistin Jasmina Kuhnke, die sich seit Jahren gegen Rassismus engagiert, für Aufsehen. Im Netz war ein Video mit Gewaltfantasien und ihrer Adresse veröffentlicht worden. Laut einer Forsa-Umfrage erleben über die Hälfte der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister Hass in ihrem Alltag: Beleidigungen auf der Straße, Drohnachrichten per Post oderin den Sozialen Medien.Jakob bereitet das große Sorgen: "Viele stehen unter dem gleichen Druck wie wir und haben Angst, angefeindet zu werden, wenn sie sich zu krass positionieren." Das sei auch deswegen problematisch, weil Kommunalpolitikerinnen und -politiker aus Angst oft nicht konsequent genug gegen gewaltbereite Gruppen in der Stadt vorgingen. +Für den Sozialpsychologen Andreas Zick ist das eine beunruhigende, aber nicht überraschende Entwicklung. Er ist Teil des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) und leitet das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld. "Wir haben schon vor zehn Jahren vor einer Verrohung der Gesellschaft gewarnt", sagt Zick. Seiner Meinung nach wurden Populismus, Aggressivität und Gewalt zu lange unterschätzt: "In Deutschland gehen wir bei vielen politischen Ideologien von Extremismus aus. Das ist nicht falsch, aber wir diskutieren viel zu wenig darüber, dass diese Einstellungen auch weit in der Mitte zu finden sind – und zwar quer durch alle sozialen Gruppen." +Vor allem rechtsextrem oder rechtspopulistisch orientierte Personen verstärkten diese Einstellung durch starke Feindbilder, um die Gesellschaft zu spalten und möglichst viele Menschen gegen "die politische Klasse" zu mobilisieren. Dazu suchten sie sich gesellschaftliche Themen, die ohnehin schon kontrovers diskutiert werden, wie beispielsweiseFlucht,Migration,FeminismusoderKlimaschutz.Offenheit und Vielfalt würden als Bedrohung inszeniert, genauso wie Gruppen, die einen gesellschaftlichen Wandel anstoßen wollen – wie Fridays for Future. Gewalt gegen diese Menschen werde dann häufig als Akt des Widerstandes, also als notwendiges Mittel umgedeutet. +Zick beobachtet, dass Debatten immer aggressiver geführt werden und sich Konflikte oft nicht mehr konstruktiv lösen lassen. Mit der Zeit könne das unsere Demokratie aushöhlen: "Die zivilgesellschaftliche Kraft wird durch das Klima geschwächt. Es kann sein, dass sich Normen und Werte verschieben und wir bereit sind, mehr Gewalt zu akzeptieren." Seiner Meinung nach brauche es mehr Aufklärungs- und Präventionsprogramme sowie Zivilcourage-Trainings, um zu lernen, wie man Gewalt entgegentreten kann, und mehr Aufmerksamkeit für Betroffene. Denn diese würden sich mit der Zeit oft zurückziehen und verstummen. +Das beobachtet auch Jakob: "Viele junge Leute wollen nicht mehr über die Situation in Zwickau berichten oder nur anonym, weil sie Angst vor den Konsequenzen haben." Sie fühlten sich nicht ausreichend geschützt – auch weil Behörden Hassbotschaften im Netz häufig nicht ernst nähmen: "Das wird leider noch viel zu oft weggelächelt nach dem Motto: Was im Netz steht, das passiert ja nicht in der Realität." +Dabei zeigt spätestens der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, dass Anfeindungen im Netz auch zu physischen Übergriffen führen können. Lübcke wurde 2019 durch einen Kopfschuss von einem Rechtsextremisten getötet – zuvor hatte Lübcke immer wieder virtuelle Hassbotschaften und Drohungen bekommen, weil er sich für Geflüchtete eingesetzt hatte. +Organisationen wie "HateAid", eine Beratungsstelle für Betroffene digitaler Gewalt in Deutschland, fordern schon seit Langem, dass Anfeindungen und Hassbotschaften im Netz von Politik, Gesellschaft und Justiz härter verfolgt und als Gewalt anerkannt werden – auch mit Blick auf die psychischen Folgen für Betroffene, die von emotionalem Stress bis hin zu Depressionen reichen können. +Für Jakob kam der Hass gegen ihn überraschend, jetzt wendet er sich bewusst an die Öffentlichkeit, um Betroffenen zu zeigen: "Ihr seid nicht allein!" Dabei ist ihm wichtig, nicht als Einzelschicksal gesehen zu werden, denn er stehe stellvertretend für viele Menschen, die tagtäglich Hass erleben. Gleichzeitig sei er nicht der Einzige, der sich engagiere und traue, seine Stimme zu erheben – auch in Zwickau. Jakob bereut seinen Weg nicht und will sich auch weiterhin engagieren. Hätte er sich anders entschieden, wenn er schon vor fünf Jahren gewusst hätte, was für eine Angst er dadurch in seiner eigenen Heimatstadt mitunter haben würde? Darauf hat er keine eindeutige Antwort, es komme immer darauf an, in welchem Moment man ihn das frage. So oder so: Für ihn gebe es nun kein Zurück mehr. diff --git a/fluter/japan-kinder.txt b/fluter/japan-kinder.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2226138e3437d823601dc0538c72b7b5eff5b16f --- /dev/null +++ b/fluter/japan-kinder.txt @@ -0,0 +1,14 @@ + + +Das Familien- und Beziehungsleben in Japan ist oft auf Funktionales konzentriert.Man teilt sich Aufgaben,sieht sich morgens früh und abends spät. Die Pandemie hatte in dieser Sache für einen Funken Hoffnung gesorgt. Durch das Homeoffice und die wiederholten Appelle der Regierung, die Menschen sollten möglichst zu Hause bleiben, hat die gemeinsam verbrachte Tageszeit bei Paaren zugenommen. Und die oft ohnehin schon langen japanischen Arbeitstage haben sich vor Corona nicht selten dadurch ausgedehnt, dass Vorgesetzte nach Feierabend zum gemeinsamen Trinken aufforderten. Diese Abende sind zeitweise ganz ausgefallen – und bis jetzt weniger geblieben. +Nichts verpassen? Mit unseremNewsletterbekommst du alle zwei Wochen fünf fluter-Highlights +Mayumi Yamashita arbeitet seit Beginn der Pandemie ein bis zwei Tage von ihrer Wohnung aus. Mehr Zeit habe sie deshalb nicht, sagt sie. Etwas Ähnliches berichtet Yumi Nakata, eine 40-jährige selbstständige Designerin. Auch sie nimmt jetzt mehr Termine von daheim wahr, aber: "Mit meinem Freund verbringe ich auch jetzt nicht viel mehr Zeit als vorher." Nakatas Freund hat eine feste Anstellung mit einem durchschnittlichen Lohn. Das Paar hätte auch prinzipiell einen Kinderwunsch. Doch selbst mit doppeltem Einkommen, mehr Zeit zu Hause und immerhin einer festen Stelle können sie sich nicht vorstellen, dass das funktionieren würde. +Sie sind damit nicht allein. Ende März meldete das Gesundheitsministerium in Tokio, dass die Geburtenzahl im Januar 2021 knapp 15 Prozent unter dem Vorjahresmonat lag. Für das gesamte Jahr 2020 wird davon ausgegangen, dass die Geburtenzahl insgesamt unter 850.000 liegt. Auch dies wäre einRekordtiefwert. Dabei wünschen sich die meisten Personen in Japan, was für Industrieländer typisch ist, laut Befragungen ungefähr zwei Kinder. Schon vor der Pandemie brachten Frauen in Japan im Schnitt aber nur 1,4 Kinder zu Welt. +Woran scheitert es? Yumi Nakata gibt die Antwort, die die meisten Frauen geben: "Die Ausbildung von Kindern ist teuer." Allein eine öffentliche Schule kostet 40.000 Yen im Monat (rund 300 Euro). Das wäre noch günstig. Wer sein Kind auf eine bessere Schule schicken will, muss deutlich mehr zahlen. Dann kommt noch Nachhilfeunterricht obendrauf. Den nimmt so ziemlich jedes Kind in Japan. In den sieben Jahren von der Oberschule bis zum Universitätsabschluss, den in Japan die meisten machen, kosten Kinder durchschnittlich knapp zehn Millionen Yen (rund 77.000 Euro). Und bei all diesen Ausgaben springt der Staat kaum ein. +Auch die seit einigen Jahren bestehende Möglichkeit, in Elternzeit zu gehen und Elterngeld zu beziehen, nimmt kaum jemand in Japan wahr. "Mein Chef hat mir ziemlich klar gesagt, dass ich Elternzeit zwar nehmen kann. Aber dann würde ich meine jetzige Position verlieren", sagt Mayumi Yamashita. "Außerdem solle ich mir überlegen, ob ich wirklich meinen Kollegen Mehrarbeit aufdrücken will." Der Druck auf Eltern, insbesondere Mütter, in der japanischen Arbeitswelt ist generell hoch. Unter Arbeitgebern herrscht die Erwartungshaltung vor,dass sich weibliche Arbeitskräfte mit der Schwangerschaft aus dem Job verabschiedenund dann im Familienleben die Hausfrauenrolle einnehmen. Aus pragmatischen Gründen täten Frauen mit Kinderwunsch gut daran, nach Männern mit einem festen und hohen Einkommen zu suchen. Doch selbst wenn sie sich auf diesen Pakt einlassen würden: Auf Japans prekärem Arbeitsmarkt sind diese Männer Mangelware. Rund die Hälfte der Menschen unter 25 Jahren hat keine Festanstellung. + + +Ende Juni 2021 empfahl die Regierung Unternehmen, eine Viertagewoche einzuführen. Wenn die Menschen weniger arbeiteten, hätten sie vielleicht mehr Zeit für Familienleben. Ayano Ishizuka hat über die Regierungsempfehlung, die Arbeitswoche zu verkürzen, nie etwas von ihrem Arbeitgeber gehört. Kurz nach sechs Uhr abends, nach ihrem Feierabend im Norden von Tokio, sucht die 27-jährige IT-Beraterin ein Café auf, um ihre Gedanken per Videocall zu schildern. "Ich arbeite jeden Tag offiziell von neun bis sechs Uhr abends. Was das Zeitmanagement angeht, ist mein jetziger Job schon viel angenehmer als der davor. Jetzt habe ich in der Regel die Wochenenden frei und komme oft auch abends um sechs Uhr aus dem Büro." +Aber Flexibilität für Auszeiten kenne sie aus der japanischen Arbeitswelt generell kaum. "Im Moment bin ich Single und habe deshalb keine Probleme, länger zu arbeiten, und auch keine konkreten Kinderpläne", sagt Ayano Ishizuka. "Aber ich weiß auch von anderen Kolleginnen, dass es als Angestellte in Japan nicht gerade einfach ist, beides unter einen Hut zu bringen." +Die Idee der Regierung, dass Betriebe ihrer Belegschaft einen zusätzlichen freien Tag ermöglichen sollten, findet sie trotzdem nicht optimal. "Der Gedanke ist schon gut. Aber richtig hilfreich wäre es doch, wenn die Arbeitszeitgestaltung insgesamt flexibler wäre. Wenn mich meine Klienten zum Beispiel gerade nicht mit Fragen drängen, wäre es super, wenn ich einfach mal spontan freinehmen könnte." +Aber so sei der japanische Arbeitsalltag eben nicht geregelt. Es werde ständige Anwesenheit erwartet. Und dies sei ein wichtiger Grund, warum die Geburtenrate im Land so gering ist. Denn viele Frauen mit Kinderwunsch stehen dann mit Ende 20 vor der schweren Entscheidung zwischen Karriere und Familie. Beides schaffen nur wenige. diff --git a/fluter/japanische-alternativen-zum-reichtum.txt b/fluter/japanische-alternativen-zum-reichtum.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..44cf87376d98f7af1ab50009aa69ca737f08cbcb --- /dev/null +++ b/fluter/japanische-alternativen-zum-reichtum.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Wahrscheinlich würden die Tamayas heute zu den reicheren Familien Japans zählen, hätten sie sich nicht an eine Tradition der Edo-Zeit (1603 – 1868) gehalten, in der in Japan viele kulturelle Dinge aufblühten, die heute als typisch japanisch verstanden werden – und eine Kultur des Teilens immaterieller Güter entstand. Shobei Tamaya rezitiert die Worte seines Vaters: "Jeder muss profitieren!" – der Käufer, der Verkäufer und die Gesellschaft. "So sah man die Dinge damals." +Also legte Tamayas Vorfahr, nachdem er mal wieder einen mechanischen Coup gelandet hatte, im Jahr 1796 all seine Baupläne offen. Drei Bücher voller Konstruktionsdetails von mechanischen Uhren und den beliebten Puppen wurden zu Allgemeinwissen. Muss man sich über so etwas nicht ärgern? Statt in der Chefetage eines Konzerns zu sitzen, schnitzt der jüngste der Söhne heute an einer Figur für das nächste Stadtteilfest. "Andere Mechaniker, die sich nicht mehr an die Kooperation hielten, wurden reich", sagt er und holt aus einer Vitrine voller Puppen die alten Bücher mit den Skizzen. "Schön für die." Zu denen, die von der Kreativität der Tamayas profitierten, gehörte der Gründer des späteren Weltkonzerns Hitachi, auch der Vater von Toyota ließ sich inspirieren. +Shobei Tamaya aber ist zufrieden – und stolz. "Meine Familie war immer der Kultur und dem Handwerk verpflichtet." Fast ein Jahr braucht er für eine gute Puppe. "Reichtum", sagt Shobei Tamaya mit Blick auf eine noch kahle Puppe in seinen Händen und schmunzelt in seinen Bart, "das ist für mich Respekt vor alten Regeln. Und Sorgfalt. Die darf auch ruhig auf Kosten der Geschwindigkeit gehen." +Auch Takahiro Chino lebt davon, alten Traditionen zu folgen. Oder wie sie ihn auch nennen: Ginseizan. Das ist sein Kampfname, im 300 Kilometer weiter östlich gelegenen Tokio ist Chino Sumoringer. Nach dem dreistündigen Morgentraining stöhnt er, wieder mal wurde er in fast jedem Kampf von seinen Trainingskollegen aus dem Ring geschubst, geschoben oder gehoben. Takahiro Chino wiegt nur gut 90 Kilo. Das sind zwar ein paar Kilo mehr als noch vor fünf Jahren, als er anfing, aber weiterhin ist er der Leichteste von allen. Die stärksten Ringer bringen doppelt so viel auf die Waage. +Von Anfang an wusste Takahiro Chino, dass er wohl nie eine große Karriere hinlegen würde, jedenfalls nicht im ältesten Sport des Landes. "Ich war früher Eiskunstläufer", sagt er, als er nach dem Training seine lahm gewordenen Arme an einem dicken Holzpfahl neben dem Ring dehnt. "Aber ich war nicht talentiert genug. Und im Sumo suchten sie noch Leute. Es herrschte richtig akuter Mangel an jungen Ringern." In den 1990er-Jahren war der Sport, der irgendwann vor zwei Jahrtausenden entstand und unter Traditionalisten einen religiösen Status genießt, noch einer der beliebtesten des Landes. Heute aber hängen sich Kinder lieber die Poster von Fußballern über das Bett als das eines fülligen, fast nackten Ringers. Im Sumo hat man auch längst nicht die besten Verdienstaussichten. +Shobei Tamayas Familie baut seit Jahrhunderten mechanische Puppen, Vorläufer der Robotik +Trotzdem. Takahiro Chino war als Kind zu dünn, deshalb hatte er sich als Heranwachsender nie im Ring versucht. Aber das Starke, Gewaltige und dennoch kaum Aggressive beim Sumo hat er schon immer bewundert. Eines Tages merkte Chino, dass es doch eine Chance gab: "Als ich im Haus meiner Eltern in Nagano durch das Fernsehprogramm zappte, hieß es auf einem Sportsender, dass der Ootake-Stall noch Ringer suchte. Da hab ich sofort angefangen zu fressen." Die nötige Beweglichkeit hatte Chino noch von seinem Training auf dem Eis. Und siehe da: Beim Probetraining überzeugte den Meister in Tokio Takahiro Chinos starker Wille, und er nahm ihn auf. Beharrlichkeit ist das Wichtigste, sagen sie bei Ootake. +Seitdem darf Chino sich Profiringer nennen, aber so richtig glamourös ist das nicht. Er bekommt Kost und Logis, aber kein großes Gehalt. In einem kleinen Häuschen in einer engen Straße im Südosten Tokios schläft er nachts auf einer auf dem Küchenboden ausgerollten Matte. Seine Tage verbringt er vor allem mit Training, Essen, Training und Essen. "Beim Sumo wirst du nur sehr langsam stärker. Vor allem, wenn du nicht so massiv bist. Ich muss deshalb meine Schnelligkeit und Technik trainieren. Und so viel zunehmen, wie es geht." +Teil des Lebensstils sind strenge Hierarchien. Unangenehm für die Jüngsten und Schwächsten, aber so sind eben die Regeln. So war es über Jahre Takahiro Chino, der täglich nach dem Training das Essen für alle anderen kochen musste, viel Reis mit Gemüse und Hühnerfleisch. "Ich bin auf einem guten Weg", sagt Chino. "Aber ich muss mich total im Training auflösen." +Viele Menschen in Japan vereint das völlige Vertiefen in die Tätigkeit – was immer sie auch tun. Die Arbeit um ihrer selbst willen. Einen guten, gründlichen Job machen, nicht weil es dann einen Bonus gibt, sondern weil die Arbeit gut gemacht wird. Die Schattenseite davon ist, dass viele Arbeitnehmer sich so sehr in den Dienst der Firma oder der Sache stellen, dass sie manchmal ihr Privat- und Familienleben vernachlässigen. +Man bemüht sich nicht nur wegen des Ergebnisses, sondern genauso wegen des Vorgangs, der zum Ergebnis führt. Kouchi Higuchi hat gemerkt, dass er ohne das nicht kann. Im siebten Stock eines Bürogebäudes im Zentrum von Tokio läuft er morgens im Blaumann durch die Gänge. Sein Job ist es, die Klimaanlage und die Stromversorgung zu prüfen: einmal in jedes Büro, von der Anwaltskanzlei bis zur Werbeagentur, und die Angaben abgleichen mit den Standmeldungen im Kontrollraum. Dann geht es ins nächste Stockwerk. "Sieht gut aus", nickt er. +Kouichi Higuchi (li.) war schon in Rente. Heute arbeitet er wieder, nicht nur aus Geldgründen +Kouchi Higuchi ist 68, vor acht Jahren musste der Automechaniker altersbedingt in Rente gehen, wie es das Gesetz vorsieht. Aber nach ein paar Wochen auf der Couch juckte es ihn. "Ich fühlte mich so nutzlos." Zuerst heuerte er bei der Stadtverwaltung seines Wohnorts an, am Rande Tokios. Als er mit 65 auch dort zu alt war und ausscheiden musste, fand er seinen aktuellen Job: in der Gebäudeinstandhaltung. +Kouchi Higuchi ist körperlich fit. Er arbeitet weiter, wie viele Rentner in Japan, weil er kann und will. Er macht es sogar für ein Drittel seines Lohns vor Rentenantritt. "Meine Frau ist auch 68, die arbeitet in einem Gemüsegeschäft." +Geht es um's Geld? Ja, aber es ist nicht nur das. "Ich will nützlich sein, so lange wie möglich." Das klingt fast zu kitschig, aber wenn man diesen Mann vorbei an den Bürotüren durch die Gänge spazieren sieht, glaubt man ihm. Er wirkt einfach fröhlich und ausgefüllt. Wohl noch mehr als in manch anderen als arbeitsam bekannten Ländern gelten Unermüdlichkeit und Aufopferung in Japan als Tugend. Kouchi Higuchi fährt jeden Morgen eine Stunde zu seinem neuen Job in diesem Bürogebäude. "Immer, wenn es ein Problem mit der Klimaanlage oder dem Strom gibt, helfe ich den Leuten, und sie danken es mir. Das macht mich glücklich." Kann es so einfach sein? Kouchi Higuchi zuckt mit den Schultern. Ja, sei es, jedenfalls im hohen Alter, wenn man den größten Teil des Lebens schon hinter sich habe. +Das selbstlose Auflösen in der Tätigkeit. Alle sollen profitieren. Es klingt nach Idealen für eine Gesellschaft voller Fleiß und Fairness, nahezu utopisch. So funktioniert also Japan? Zurück in Nagoya, bei Shobei Tamaya, dem Puppenbauer. Auf seinem Werktisch steht jetzt eine Bogenschützenfigur, die sich durch in ihr drehende Zahnräder mit dem Arm einen Pfeil aus dem Köcher zieht und dann mit einem Bogen auf eine rund einen Meter entfernte Zielscheibe schießt. "Treffer!" Shobei Tamaya jubelt. Zum ersten Mal blickt er entspannt durch den Raum. "Als ich jung war, gab mir mein Vater vor, diesen Bogenschützen nachzubauen. Ein echter Klassiker. Es war mein Meisterstück." +Das Original, anders als Tamayas Werk, ist nicht mehr in Gebrauch. Es ist anderswo hinter einer Vitrine versteckt, wo man es weder in Aktion sehen noch die Bauart nachvollziehen kann. Der Toyota-Konzern, einer der größten Autobauer der Welt, hält es im Sammlerbesitz. "Das ist der Weg zu finanziellem Reichtum", sagt Shobei Tamaya und verschwindet im Materialraum. Aber man könne auch nach etwas anderem suchen. + + diff --git a/fluter/je-suis-karl-rezension-berlinale.txt b/fluter/je-suis-karl-rezension-berlinale.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c40797e437c1dfe5d2ff07e1d5b10b1fb16905f8 --- /dev/null +++ b/fluter/je-suis-karl-rezension-berlinale.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +"Je suis Karl" erinnert an ein Auto, das von null auf 180 beschleunigt. Nach knapp zehn Minuten explodiert die Bombe in Maxis Zuhause, und die Ereignisse überschlagen sich: Maxi trifft Karl, kurz darauf ist sie in Prag, dann in Paris. Dokumentarisch anmutende Handyaufnahmen und die immer wieder aufpoppenden Instagram- und YouTube-Feeds rechter Influencer:innen verstärken die Dynamik noch einmal. Auch der Soundtrack sorgt für Tempo: Harte Hip-Hop-Beats untermauern in vielen Szenen Maxis Wut und Verzweiflung, und so entschlossen, wie Karls Anhänger:innen in einem Prager Club den extra für den Film komponierten Rap "A la guerre" ("In den Krieg") mitgrölen, bekommt man es richtig mit der Angst zu tun. Man merkt: Das ist nicht einfach nur eine Textzeile. Diese jungen Menschen meinen es todernst. +Da fällt die Auswahl schwer, schließlich lebt fast jede Szene vom starken Spiel der beiden Hauptdarsteller:innen Luna Wedler und Jannis Niewöhner. Als Maxi zum Beispiel erfährt, dass ihre Mutter und beide Brüder tot sind, sie sich die Seele aus dem Leib schreit und im Krankenzimmer randaliert, ist ihre Verzweiflung so greifbar, dass man am liebsten mitschreien möchte. Schreien will man aber auch, um Maxi vor Karl zu warnen: Als Zuschauer:in erfährt man recht früh von Karls wahren Absichten. Jannis Niewöhner verkörpert diesen jungen Mann zwischen Charisma und Wahnsinn so überzeugend, dass es einen häufig erschaudern lässt. Etwa als Karl seine "Kameraden" im roten Dämmerlicht und untermalt von Technobeats auf den finalen Coup einschwört und schon in der nächsten Szene den liebevollen Freund für Maxi mimt. +"Seit Mama tot ist, habe ich Angst, das erste Mal in meinem Leben habe ich Angst", sagt Maxi zu ihrem Vater, als der sie in Paris aufspürt, wohin sie ihre neuen politischen Überzeugungen geführt haben. "Je suis Karl" zeigt, wie schnell Trauer, Wut oder Angst Menschen dazu bringen können, sich gänzlich von ihren eigentlichen Idealen abzuwenden. Und der Film zeigt die potenzielle Gefahr, die für demokratische Gesellschaften von einer europaweit vernetzten, strategisch klugen und manipulativen rechtsextremen Bewegung ausgeht. Das mag an manchen Stellen etwas zu dick aufgetragen sein. Andererseits braucht es vielleicht gerade diese Überzeichnung, damit die Botschaft ankommt – und das tut sie. "Je suis Karl" ist ein Film, der einen sprachlos und mit dem unguten Gefühl zurücklässt, dass das alles nicht so weit weg ist von der Realität. + +"Je suis Karl" läuft ab dem 16. September in den deutschen Kinos. + +Titelbild: Sammy Hart/Pandora Film diff --git a/fluter/jede-menge-wirklichkeit-0.txt b/fluter/jede-menge-wirklichkeit-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c937961e1b656aa7789fdc19adf732fbeda91b69 --- /dev/null +++ b/fluter/jede-menge-wirklichkeit-0.txt @@ -0,0 +1,26 @@ + +GoT für... EU-Kritiker +Die Sieben Königslande sind eine Art loser Staatenbund, in der jedes Herrscherhaus auf seine eigenen Interessen pocht. Zwar gibt es gemeinsam genutzte Institutionen, aber deren Erfolg ist immer gefährdet. Die militärische Einheit "Night's Watch" etwa, die vor den Eindringlingen aus dem Norden schützen soll, verliert sich in internem Streit. Und die "Eiserne Bank von Braavos",  haben die bankrotten Lannisters schon so oft um Kredite angepumpt, dass eine Staatspleite unabwendbar scheint. Manche sehen gar so viele Parallelen zwischen der EU und "Game of Thrones", dass sie die Griechenland-Kriseanhand der Serie erklären. + +... für Feministen +Die zahlreichen Szenen, in denen Frauen verschenkt, misshandelt oder sonst wie gedemütigt werden, können nicht darüber hinwegtäuschen: Was Macht betrifft, stehen Frauen in "Game of Thrones" Männern in nichts nach. Sei es die Kriegerin Brienne of Tarth, die rote Priesterin Melisandre oder das Badass-Mädchen Arya Stark – in der Serie sind es erfrischend oft die Frauen, die das Ruder herumreißen. Relativ klischeefrei, mehrdimensional und meistens auch ziemlich erbarmungslos. + +... für Historiker +"Game of Thrones" bedient sich neben der düstren Atmosphäre des europäischen Mittelalters auch konkreter Ereignisse: Die verfeindeten Familien Stark und Lannister zum Beispiel ähneln den Yorks und Lancasters, die sich im 15. Jahrhundert während der Rosenkriege in England bekämpften. Aber auch andere Zeitalter stehen Pate: Das knallgrüne "Seefeuer", mit dem die Lannisters eine Invasionsflotte besiegten, erinnert an das "Griechische Feuer", mit dessen Hilfe die Byzantiner im 7. Jahrhundert arabische Belagerer abwehrten. Der gewaltige Eiswall, der die Bewohner Westeros' von den Wildlingen und "White Walkers" trennt, lässt wiederum an den Hadrianswall nördlich von Newcastle denken, der das römisch besetzte Britannien einst gegen die Stämme der Pikten und Iren schützen sollte. +... für Integrationsbeauftragte +In Hollywoodproduktionen, deren Protagonisten ähnlich machtbesessen sind wie jene von "Game of Thrones", sind es meist gestählte Alphatiere, die das große Spiel machen. In "Game of Thrones" ist das anders. Die Schwulen, Schwarzen und Sklaven, die Waisen, Wilden und Verstümmelten – es sind vor allem die Ausgegrenzten, die zu Helden werden. Da ist zum Beispiel der Kleinwüchsige Tyrion Lannister, ein wahrer Intellektueller und bekennender Hedonist ("That's what I do. I drink and I know things."). Da ist der geistig behinderte Diener Hodor, der durch Willensstärke und Körperfülle den Jungen Bran Stark – der wiederum querschnittsgelähmt ist – vor den Zombies rettet. Und dann gibt es da noch ein ganzes Volk, dass es zu integrieren gilt: Die wüsten "Wildlings". Vor den Untoten flüchten sie gen Süden und müssen dort erstmal gegen Vorurteile kämpfen. + +... für Klimaforscher +"Winter is coming" beschwören die Starks, das sympathischste der sieben Adelshäuser Westeros', bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Die finsteren Mienen, die sie dabei tragen, lassen erahnen: Winter bedeutet nicht, sich vor den Kamin zu kuscheln und Plätzchen zu backen. Winter bedeutet Gefahr. Nach einem ungewohnt langen Sommer steht Westeros eine Kälteperiode bevor, deren Ende unabsehbar ist. Immer, wenn die Starks ihr "Winter is coming" raunen, mahnen sie dazu, sich vorzubereiten – vor dem Klimawandel und schließlich auch vor den bestialischen "White Walkers", die sich unaufhaltsam aus dem Norden nähern. Die meisten anderen haben für diese Warnung nur ein mildes Lächeln über. Für sie klingt der Klimawandel nach einem Ammenmärchen. + +... für Neo-Reaktionäre +Die soziale Hierarchie der Sieben Königslande gleicht einer Pyramide: Oben ein totalitärer König, darunter die Herrscherhäuser. Dann kommen Ritter und an unterster Stelle die Lehnsleute, das gemeine Volk. Ganz undemokratisch geht es in der feudalistischen Welt von "Game of Thrones" aber dennoch nicht zu. So wählen die Ritter der "Night's Watch" ihren obersten Kommandanten durch eine anonyme Abstimmung. Auch die "Wildlings", die sich selbst als "freies Volk" bezeichnen, wählen ihre Häuptlinge. Das Fußvolk von Westeros nennen sie dagegen abschätzig "Die Knienden" und denken gar nicht daran, sich deren Adel oder König zu unterwerfen. Auf den "Eiseninseln" gibt es sogar eine Art Wahlkampf um die oberste Position, inklusive inbrünstiger Wahlversprechen. Und Daenerys Targaryen will die unfreien Sklavenhaltergesellschaften sowieso über den Haufen werfen. Doch wenn erst einmal an der Macht – egal, ob nun durch Abstimmung oder Abstammung – werden die Anführer in "Game of Thrones" meist zu autoritären Herrschern. Dass die meisten Menschen kein Mitspracherecht besitzen, kümmert sie recht wenig. + +... für Revolutionäre +Korrupte Königshäuser, inzestuöse Herrscher und kein Geld für die Armen – das Volk hat seine Anführer satt. Was, wenn jetzt jemand käme, der eine neue Richtung einschlägt? Die Sprache des Volkes spricht und ihre Leiden versteht? Die junge Daenerys "Mother of Dragons" Targaryen macht genau das. Das Politestablishment, nämlich die um sich selbst kreisenden Adelshäuser von Westeros, sind für sie nichts weiter als Speichen eines Rades: "Mal ist diese Speiche oben, mal jene, das Rad dreht sich weiter und weiter und zerdrückt die am Boden". Daenerys befreite die Sklaven der Stadt Astapor in "Slaver's Bay", ermutigte die Sklaven von Meereen zum Aufstand und sammelte das Nomadenvolk Dothraki hinter sich. Mit ihrer Hilfe will Daenerys das Rad des Establishments nicht nur stoppen. Sie will es zerbrechen. Noch ist Daenerys Armee klein, doch durch ihre selbstherrliche und aufbrausende Art schafft sie es, das Volk einzunehmen. Fällt der Feudalismus? Und was kommt dann? In England wurde ernsthaft diskutiert, ob man mit marxistischer Geschichtstheorie das Ende der Serie voraussagen könne (hierundhier). + +... für religiöse Fanatiker +Der "Kriegerische Arm des Glaubens" ist ein militärischer Orden, der seine Religion "Glauben an die Sieben" mit Gewalt durchsetzt. Die fanatische Miliz verfolgt "unmoralische" und in ihren Augen lasterhafte Menschen. Sich mit Frauen vergnügen, über den Durst trinken oder als Mann einen Mann lieben? Geht gar nicht! + +... für Sozialarbeiter +Gäbe es in der Welt von "Game of Thrones" so etwas wie ein Jugendamt – es hätte alle Hände voll zu tun. Eltern, die ihre Kinder lieben, no matter what? In Westeros die absolute Ausnahme. Stattdessen gibt es Väter, die ihre Kinder psychisch missbrauchen, eine Mutter, die ihre Tochter  wegen einer Hautkrankheit wegsperrt, einen Vater, der seine Töchter vergewaltigt... Manche Charaktere kommen über ihre schlimmen Erlebnisse hinweg. Eine gewisse Prädisposition für schwierige Lebensverläufe ist bei ihnen aber zu vermuten. diff --git a/fluter/jeder-kaempft-seinen-eigenen-krieg.txt b/fluter/jeder-kaempft-seinen-eigenen-krieg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f2de8c7b43a5c5d72133a2e7d0ed17e6a22084eb --- /dev/null +++ b/fluter/jeder-kaempft-seinen-eigenen-krieg.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +J. D. Salinger, der Autor von "Der Fänger im Roggen", hatte ebenfalls eine Schwäche für diese Frauenfiguren. Das zeigt sich schon in seinen frühen Kurzgeschichten, von denen drei nun erstmals ins Deutsche übersetzt wurden: In "Die jungen Leute" werden drei mögliche Varianten der armen, reichen Frau durchexerziert. In der Titelgeschichte ist es Edna, die auf einer Studentenparty viel zu sehr darauf konzentriert ist, zu strahlen, als dass sie echte Ausstrahlung entwickeln könnte. In "Geh zu Eddie" ist es Helen, das arbeitslose Showgirl mit der "Glamour-Schnauze", deren Affären ihrem Bruder zuwider sind. Und in "Einmal die Woche bringt dich schon nicht um" ist es Virginia, deren Mann in den Krieg zieht und die nur widerwillig bereit ist, sich um seine geliebte Tante zu kümmern. +Die Frauen sind hochnäsig, kühl, verwöhnt und lassen ihre männlichen Gegenspieler am langen Arm verhungern – scheinbar. Doch da sind diese kleinen Gesten, in die sie sich flüchten und die ihre Unsicherheit zeigen. Edna, die sich imaginäre Asche vom Schoß wischt. Helen, die sich demonstrativ die Nägel feilt. Virginia, die immer wieder unvermittelt gähnt. Diese Art von arroganter Verletzlichkeit verbindet sie. Die Situation der College-Studentin Edna, die der Mutter der Party-Gastgeberin Zigaretten klaut, ist dabei keineswegs belangloser oder weniger existenziell als die der potenziellen Kriegerwitwe Virginia. Das ist Salingers Kunst: Jede seiner Figuren kämpft ihren eigenen Krieg – und am Ende gewinnt niemand. +Ebenfalls gerade im Piper Verlag erschienen ist "Oona & Salinger", der neue Roman des Franzosen Frédéric Beigbeder, der sich grob an biografischen Fakten orientiert. Mit Oona O'Neill, New Yorker It-Girl aus gutem Hause und Tochter des Dramatikers Eugene O'Neill, führte Salinger im Sommer 1941 eine Beziehung, sie war 16 und er 22. Das Kennenlernen im legendären New Yorker Stork Club unter dem spöttischen Blick Truman Capotes, das keusche und doch leidenschaftliche Beieinanderliegen, die Gespräche über Literatur, das alles hat Beigbeder frei erfunden. Ebenso wie die Briefe, die Salinger als Soldat im Zweiten Weltkrieg an Oona schreibt, als diese längst mit dem sehr viel älteren Charlie Chaplin verheiratet ist (was wiederum stimmt). +Beigbeder sucht mit seinem Buch nach einer Erklärung, wie aus seinem Lieblingsautor der Mensch wurde, der er war: der Verfasser des wohl berühmtesten Coming-of-Age-Romans der Welt und der menschenscheue Mann, der bis zu seinem Lebensende zurückgezogen im Wald lebte. Und er findet sie in der Beziehung zu Oona und im Krieg, in dem Salinger unfassbarer Grausamkeit ausgesetzt war. +Auf seiner Suche beschränkt Beigbeder sich nicht auf die Erzählung allein, sondern ist als Autor jederzeit präsent. Er sinniert seitenlang über die Liebe, analysiert den D-Day, interpretiert seine historischen Figuren ("Das Einzige, was man mit Oona zu tun brauchte, war, sie zu trösten, sich um sie zu kümmern"), verklärt sie ("Oona ist keine Frau, sie ist ein Prinzip. Ihre Schönheit ist ultramodern") und führt ihre Welt und die unsere zusammen, indem er den Leser auffordert, sich ein Casting-Video von Oona auf YouTube anzusehen. Beigbeders Oona muss man dabei in ihrer kühlen, berechnenden und doch zarten Art bewundern und fürchten zugleich. Beigbeders Salinger mit seiner schüchterner Art zu lieben und seiner melancholischer Ruhe hingegen fühlt man sich nah. +Und so geht es einem auch mit den Figuren in "Die jungen Leute" – den männlichen Gegenspielern ist man immer etwas näher, die Frauen hingegen, die sind furchtbar und faszinierend. Liest man "Oona & Salinger" und "Die jungen Leute" parallel, fragt man sich, ob nun Oona O'Neill Salinger zu seinen Frauenfiguren inspiriert hat – oder Salingers Frauenfiguren Beigbeder zu seiner Oona inspiriert haben. Wahrscheinlich stimmt beides. +Am Ende übertreibt Beigbeder es etwas mit der lebenslangen Liebesgeschichte. Da führt er Oona und Salinger im Jahr 1980 zu einem letzten Treffen zusammen, das es nie gegeben hat: in der Oyster Bar in der New Yorker Grand Central Station, dem Bahnhof, in dem auch Holden Caulfield eine Nacht verbrachte. Dort lässt Beigbeder die gealterten Ex-Liebhaber Sätze im Stil einer Hollywood-Romanze austauschen ("Wir waren so jung und so dumm …"), Oona nervös an ihrer Perlenkette herumfummeln und endet in einer kitschigen Szene rund um ein gemeinsames Erinnerungsstück. Aber man möge ihm das verzeihen. Denn am Ende ist "Oona & Salinger" ja nicht nur die Suche nach einer Erklärung, sondern auch: eine Hommage an einen Schriftsteller, geschrieben von einem Schriftsteller, der ihn sehr bewundert. +Nadja Schlüterist Redakteurin bei jetzt.de diff --git a/fluter/jens-balzer-pop-populismus-das-entfesselte-jahrzehnt.txt b/fluter/jens-balzer-pop-populismus-das-entfesselte-jahrzehnt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a2ddff14a3875a24e4aff1a2f8c3d6c27c656d54 --- /dev/null +++ b/fluter/jens-balzer-pop-populismus-das-entfesselte-jahrzehnt.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Beide Ereignisse zeigen laut Balzer etwas Typisches für die Siebziger: eine "Dialektik aus Utopie und Utopieverlust". Eine Sehnsucht nach einer erdumspannenden Gemeinschaft und die Vereinzelung der Menschen durch kollektive Enttäuschung. Denn kurz nach Woodstock begeht dieManson Family, eine kalifornische Hippiekommune, ihre Morde. Folgt man Balzer, nehmen bestimmte kollektive Fortschritte der Sechziger – der beginnende Feminismus, die Emanzipation, die sexuelle Revolution,der neue Mann– in den Siebzigern erst richtig Fahrt auf. Am Ende der Dekade machen sich auch Neofaschismus undRassismusbreit. Balzer hat immer die gesellschaftlichen Widersprüche im Blick. Das ist nicht nur produktiv, es liest sich auch gut. +So zitiert erDavid Bowie, der 1969 über Großbritannien sagte: "Dieses Land schreit nach einem Führer." Später, im Gewand seiner Kunstfigur des "Thin White Duke", machte Bowie eine Geste, die ein Hitlergruß gewesen sein könnte – oder auch nicht. Balzer weist weiter (und zu Recht) darauf hin, dass der Nazirock im Windschatten des Punk entstanden ist. Wenn er aber schreibt, es gebe "eine direkte historische Linie, die vom Thin White Duke über die Sex Pistols bis zu Beate Zschäpe führt", ist das eine arg steile These: DerTerror des Nationalsozialistischen Untergrundshat viel mit direkten und indirekten Linien in der deutschen Geschichte zu tun – aber wenig mit den Verirrungen David Bowies oder des nicht besonders hellen Sid Vicious, der Hakenkreuze spazieren trug, als er bei den Sex Pistols Bass spielte. +Die schönsten Passagen beschert Balzer, wenn er sich den Raum nimmt, die popkulturellen Zeichen der Zeit im Detail zu lesen. Vor allem dann, wenn er sich Dingen widmet, die anderen als irrelevant erscheinen mögen. Etwa Perry-Rhodan-Groschenheften, deren Held im Verlauf der Siebziger vom Pseudofaschisten zum Pazifisten mutierte. Oder dem Trend zum Aufkleber und zum Button. "In der Sehnsucht nach Buntheit ist die Sehnsucht nach einer neuen Individualität verkapselt", schreibt Balzer. "Man möchte aus dem grauen Alltag und aus der grauen Masse heraustreten." +Als Popkritiker ist Balzer in seinem Element, wenn er erklärt, welche Rolle Pop dabei spielt, angestammte Lebensweisen radikal zu hinterfragen: "Dass viele Menschen etwas an der Welt verändern wollen, liegt ja auch daran, dass sie sich in dieser Welt fremd und einsam fühlen. Wer anders sein will, sucht deshalb nach anderen, die auf dieselbe Weise anders sein wollen wie man selbst." Also sammeln sich die Leute in Wohngemeinschaften, Szenen und Subkulturen. Und so hat Balzer natürlich recht, wenn er schreibt, die Siebziger seien das Jahrzehnt, in dem "unsere Gegenwart beginnt". Was sich allerdings mit guten Gründen auch von den Sechzigern, den Achtzigern oder den Neunzigern behaupten ließe. +Und wie steht es popkulturell um unsere Gegenwart? Auch da weiß Balzer weiter: Sie bildet die gesellschaftliche Polarisierung ab. So lautet zumindest die These von "Pop und Populismus", Balzers fast zeitgleich erschienenem Essay. Denn der Ton wird rauer: Es gebe eine Brutalisierung und eine Maskulinisierung, so Balzer, eine diskriminierende, rassistische, patriarchale, sexistische, homophobe Grundierung in weiten Teilen des Pop. Und vielAntisemitismus. +Seine Belege sind offensichtlich. Er findet sie nicht im Subsubsubkulturellen, sondern bei den Branchengrößen, bei Bands wieFrei.Wild, einem Sänger wie Andreas Gabalier oder Rappern wie Bushido, Kollegah und Farid Bang. Die haben musikalisch wenig, rhetorisch aber einiges gemein. Sie alle beherrschen den populistischen Dreischritt Grenzüberschreitung, Relativierung, Selbstviktimisierung. +Es geht etwa los mitrassistischen und antisemitischen Reimen über Auschwitzinsassen wie bei Kollegah und Farid Bangoder mit dem Spiel mit Nazisymbolen wie demEisernen Kreuz bei Andreas Gabalier. Es folgen ein reflexhaftes "War nicht so gemeint" und schließlich die Klage über den missgünstigen Mainstream, dessen Opfer man sei. Bloß: Wer lernt hier von wem? Balzers Theorie: Der Pop mit seinen reaktionären Fantasien, Haltungen und Begriffen nahm den politischen Populismus vorweg. Rapper wie Bushido gelten ihm als Pioniere des Hate Speech. +Dank Balzers theoriefreudigem Essay stellt man schnell fest: Mindestens dieProvokation, eine der ältesten Gesten der Popmusik, scheint von den Rechten und Reaktionären ziemlich erfolgreich vereinnahmt. Stellte Elvis' Hüftschwung die gängige Sexualmoral der 1950er-Jahre infrage, verschieben heute Rapper wie Gzuz mit einem gewalttätigen Sexismus bloß noch die Grenzen des Sagbaren: "Bring deine Alte mit, sie wird im Backstage zerfetzt. Ganz normal, danach landet das Sextape im Netz" (aus "Wolke 7"). Zielten die Provokationen von Glamrock, Disco und auch frühem Hip-Hop häufig darauf ab, Diskriminierung zu überwinden und die Botschaft zu verbreiten, dass jeder so leben darf und soll, wie er möchte, geht diese Perspektive den zynischen Individualisten des Deutschrap völlig ab. +Populistische Muster erkennt Balzer aber auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums: Wenn eine linke Punkband wieFeine Sahne Fischfiletihre Loblieder auf Mecklenburg anstimmt, ähnele das durchaus dem, wie Frei.Wild ihre Heimat Südtirol besingen, die sie von "Gutmenschen" und "Moralaposteln" bedroht sehen – oder, offenbar ähnlich schlimm, von "Kritikern". Nur dass Feine Sahne Fischfilet ihr Zuhause eben von "Nazis", "Faschos" und "Rassistenpack" gefährdet sehen. +Sind die Gegenkultur und das utopische Denken des Pop am Ende, weil eingeklemmt zwischen rechter und linker Identitätspolitik? Muss nicht sein, schließt Balzer. Ein Umdenken sei aber nötig: Man sollte die Künstler*innen stärker für ihre Aussagen in die Verantwortung nehmen. Und deshalb auch genauer hinhören. + diff --git a/fluter/jenseits-des-nadelstreifens.txt b/fluter/jenseits-des-nadelstreifens.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5587342dd75886ecc2c9e0ccbb17daa535fa18b2 --- /dev/null +++ b/fluter/jenseits-des-nadelstreifens.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Ägyptische Pharaonen wie Tutanchamun trugen einen Königsbart – keinen echten, keinen Rauschebart, das wäre im alten Ägypten viel zu unhygienisch gewesen. Des Pharaos Bart bestand aus Wolle oder Pferdehaaren, eng zusammengebunden, und wurde mit einer Schnur hinter den Ohren befestigt. Bärte galten als göttliches Symbol. Auch die Frauen auf dem Pharaonenthron, etwaHatschepsutim 15. Jahrhundert vor Christus, schmückten sich mit einem künstlichen Bart. Die Grabmaske vonTutanchamunzeigt den gesamten Kopfschmuck, den ägyptische Könige bei Zeremonien präsentierten: Um seinen Kopf ist das blau-goldene Nemes-Tuch gefaltet, und über seiner Stirn bäumt sich angriffslustig die Uräus-Schlange auf, die das Böse fernhalten sollte. +Als Hatschepsut den ägyptischen Thron bestiegen hatte, entdeckten die Phönizier das später berühmteste Mittel, mit dem edle Stoffe gefärbt wurden: Schneckenschleim. 8.000 bis 10.000 Meeresschnecken muss das Drüsensekret entnommen werden, um ein einziges Gramm Purpur-Farbstoff zu erhalten. Lange Zeit galt Purpur als die Farbe der Macht: einfach deshalb, weil die Herstellung so aufwendig und daher teuer war. Um ihre Autorität zu demonstrieren, trugen nicht nur jüdische Hohepriester, die einige Jahrhunderte vor Christus in den Jerusalemer Tempeln dienten, und byzantinische Kaiser in der Spätantike, sondern auch deutsche Kaiser im Mittelalter sowie römisch-katholische Kardinäle purpurfarbene Kleidungsstücke. +Auch die hohen Beamten im alten Rom verzierten ihre ansonsten weißen Togen mit purpurnen Säumen. Auf diese Weise hoben sie sich von allen anderen Bewohnern der Stadt optisch ab: sowohl von den zahlreichen Sklaven als auch den einfachen Bürgern. Die Anwärter auf ein öffentliches Amt mussten eine noch weißere, glänzendere Toga tragen, als Zeichen für Unbestechlichkeit und Reinheit – und rieben den Keidungsstoff mit Kreide ein. Weiß bedeutet  auf Lateinisch "candidus". Hiervon leitet sich nicht nur das deutsche Wort "Kandidat", sondern auch die sprichwörtliche weiße Weste ab. +Nicht eine Krone, nicht zwei, gleich drei Kronen trugen jahrhundertelang die Päpste bei ihrer Krönung. Weil sie nur einen Kopf haben, wurden die stilisierten Kronen zur sogenanntenTiarazusammengefasst. Über einem fast eiförmigen Korpus steckt je ein Reifen für jeden Bereich, den der Papst seinem Selbstverständnis nach beherrscht: Vater der weltlichen Könige, Herrscher der Welt – und Stellvertreter Christi. Als Päpste noch Armeen befehligten, als sie ihre Ländereien – etwa im Albigenserkreuzzug 1209–1229 – mit Soldaten vergrößerten und nicht mit Missionaren, war das vielleicht plausibel. Aber nicht im 20. Jahrhundert – und schon gar nicht in Vatikanstadt, dem kleinsten Staat der Welt. Deshalb entschiedPapst Paul VI.im Jahr 1964, der Welt ein Zeichen zu setzen und die Krone abzulegen. Während eines Konzils stellte er die fast fünf Kilo schwere Tiara auf den Altar im Petersdom, um der weltlichen Macht zu entsagen, die er ohnehin nicht mehr genoss. Seither hat kein Papst mehr die Tiara getragen. +Noch bescheidener warSitting Bull, der Häuptling des Sioux-Indianervolkes der Hunkpapa Lakota, der im 19. Jahrhundert durch die Schlacht am Little Bighorn von 1876 berühmt wurde. Jahrelang hatte er Widerstand gegen die US-amerikanische Regierungspolitik geleistet, bevor er sich letztlich für eine Versöhnung starkmachte. Für jeden Feindkontakt, jede Verwundung erhielt ein Krieger der Lakota eine Adlerfeder. Der Adler galt als heiliges Tier, weil es so hoch flog und so weit sehen konnte wie kein anderes. Doch trotz seiner angeblich 69 Siege im Kampf und dreier Verwundungen trug Sitting Bull meist nur zwei Federn: eine große, die ihm sein Vater überreichte, nachdem er als 14-Jähriger die Krieger eines verfeindeten Stammes in ihrem Lager überrascht hatte; die zweite, eine rot gefärbte, erhielt er, als er in einer Schlacht am Fuß verwundet wurde. Mit seiner braunen Lederjacke und zwei Federn dürfte Sitting Bull zu den eher einfach gekleideten Herrschern des 19. Jahrhunderts gehören. +Einige Jahrzehnte später kamen gedecktere Herrscherfarben in Mode: Feldgrau und Olivgrün lagen im Trend. Viele Diktatoren des 20. Jahrhunderts, selbst ehemalige Soldaten, stützten ihre Macht auf die Armee, beispielsweiseMuammar al-Gaddafi, der in Libyen durch einen Putsch an die Macht gekommen war und bis zu seinem gewaltsamen Tod im Jahr 2011 dort herrschte. Er gehört zu einer Gruppe von Despoten, die man wohl am besten der "Lametta-Fraktion" zuordnen könnte. Ob schwarz, weiß oder grau: Gaddafis Paradeuniformen waren über und über behangen mit Dutzenden teils bizarr geformten Orden, goldenen Fransen und Schärpen. Dass sich ein solch statusbewusster Mann am Ende seines Lebens vor seinen Häschern in ein Abflussrohr flüchten musste, ist eine Ironie der Geschichte. +Diese Ära der Militärdiktatoren ist glücklicherweise weitestgehend vorbei. Die Farbtupfer im Einheitsschwarz setzen heute eher auf weibliche Herrscher: Margaret Thatchers blaue Handtasche oder Merkels Blazer in allen Farben des Regenbogens sind inzwischen geradezu legendär. diff --git a/fluter/jesidische-kinder-beim-is-trauma.txt b/fluter/jesidische-kinder-beim-is-trauma.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4e207146610ac255851e6b7f2699ab68d947d7c2 --- /dev/null +++ b/fluter/jesidische-kinder-beim-is-trauma.txt @@ -0,0 +1,33 @@ +Paiwan, dessen Nachname zu seinem Schutz und dem seiner Familie hier nicht genannt werden soll, ist einer von Tausenden Jesiden, die im August 2014 von derTerrormiliz Islamischer Staat (IS)verschleppt wurden. Frauen und Mädchen wurden als Sklavinnen verkauft, Jungs in Trainingslager gezwungen und zu Kämpfern ausgebildet. Sie sollten für denselben Islamischen Staat in den Krieg ziehen, der ihre Mütter vergewaltigt und ihre Väter umgebracht hatte. Der UNO-Menschenrechtsrat verurteilte die Verbrechen des IS an den Jesiden als Völkermord. +Anfang Februar starteten dieSyrischen Demokratischen Kräfte (SDF)im syrischen Baghus eine Offensive, um das letzte Dorf vom IS zurückzuerobern. Die SDF sind ein Zusammenschluss mehrerer Milizen verschiedener Ethnien. Sie kämpften in den vergangenen Jahren in Nordsyrien gegen den Islamischen Staat – logistisch und mit Waffen von den USA unterstützt. Ende März verkündete die SDF den Sieg über den IS. Damit ist das selbst ernannte Kalifat der Terrormiliz, zumindest als geografisches Gebiet, vorerst Geschichte. Doch der Schaden, den der IS in der Gesellschaft angerichtet hat, ist groß. +"Daesh", wie der IS auch genannt wird, wütete vor allem im Irak. Wie konnten die Dschihadisten dort so erfolgreich sein? Hintergründe erfahrt ihrhier +"Der IS fokussierte sich mit seiner Terrorpropaganda stark auf Kinder", sagt Ayad Salih, Vorsitzender des Irakischen Instituts für Entwicklung. Die NGO, die sechs Gemeinschaftszentren für traumatisierte Kinder in Mossul betreibt, hatte vergangenes Jahr eine Studie dazu veröffentlicht. +Der IS schrieb die Schulbücher um, gerechnet wurde nicht mehr mit Äpfeln, sondern mit Gewehrkugeln. Bei öffentlichen Enthauptungen wurden die Kinder in die erste Reihe gesetzt. Manche wurden zu Kämpfern ausgebildet und als Selbstmordattentäter eingesetzt. 51 Kinder sollen sich allein im Januar 2017 in Mossul in die Luft gesprengt haben, wie die Terrorexpertin Mia Bloom von der Georgia State University gegenüber dem "Economist" sagte. "Der IS hat den Nährboden hinterlassen für eine nächste Generation vonExtremisten", sagt Salih. + +Auch diese Jesidin war in IS-Gefangenschaft. Sich ohne Vollverschleierung fotografieren zu lassen, wäre dort unvorstellbar +Zuhause dürfen Paiwan und sein Cousin wieder Kinder sein. Manchmal klappt das auch +Während die arabischen Kindersoldaten im Irak wie Erwachsene behandelt und ins Gefängnis gesperrt werden, kamen die befreiten jesidischen Kinder zurück zu ihren Familien, viele schwer traumatisiert, die Angehörigen überfordert. Sie stellen die Gesellschaft vor eine Frage: Wie mit Kindern umgehen, die gelernt haben, ihre Nächsten zu hassen? +Das Haus der Familie von Paiwan, ein Rohbau, in dem die Fliesen schon gelegt sind, die Decke aber noch unverputzt ist, liegt auf halber Strecke zwischen der irakisch-kurdischen Hauptstadt Erbil und dem etwas kleineren Dohuk. Hier lebt er in Freiheit. Doch die drei Jahre, die Paiwan unter dem Islamischen Staat lebte, verfolgen ihn und seine Familie. +Die Familie hat die jüngste Schwester vor ein paar Wochen zu ihren Verwandten in ein Lager für Geflüchtete in der Nähe gegeben. "Wir hatten Angst um sie wegen Paiwan", sagt seine Tante Nisreen. "Offen gestanden hatte ich eine Zeit lang selber Angst vor ihm." +Nisreen sitzt in einem kleinen Zimmer neben dem Eingangsbereich. In gedämpftem Ton erzählt sie Paiwans Geschichte. Er selbst möchte nicht über das Geschehene reden. Einzig auf die Frage, warum er seine Schwester schlage, antwortet er: "Weil sie sich über mich lustig macht. Wenn sie das tut, werde ich wütend." + +Nicht gerade Disneyland: So sieht es hinter dem Haus von Paiwans Familie aus. Sie lebt in einem Dorf zwischen Dohuk und Erbil, der Hauptstadt der autonomen Region Kurdistan +Die Familie stammt aus einem Dorf in der Region Sindschar nahe der syrischen Grenze. Als der IS Sindschar überrannte, wollten sie ins Gebirge fliehen. Doch der IS fing das Auto ab. Die Terroristen brachten Paiwan, seine Schwester, seine Mutter und seine Tante nach Mossul. Dort wurden sie getrennt. +Die ersten Monate blieb Paiwan bei seiner Mutter und dem IS-Kämpfer, der sie gekauft hatte. Wenn sie den Raum verließ, fing er an, das Zimmer zu verwüsten. Einmal habe er versucht, es anzuzünden. Dafür brach ihm der IS-Kämpfer das Bein. +Irgendwann trennte der IS Mutter und Sohn. Paiwan wurde in ein Trainingslager für Kinder gebracht. Dort herrschte ein brutales Regime: Als Paiwan einmal ein Stück von einer Seite des Koran abriss, bekam er zur Strafe eine Woche lang nur eine Mahlzeit am Tag, erzählte er später seinen Verwandten. Kämpfen musste er aber nie, sagt die Familie. +Im Sommer 2017 kaufte die Familie Paiwan für mehrere Tausend Dollar und mithilfe eines jesidischen Schleppers frei. In den ersten Wochen in Freiheit schlief Paiwan kaum. Er weinte und verlangte nach seiner Mutter. Seine Tante Nisreen versuchte, ihn zu beruhigen: Seine Mutter würde bestimmt bald freikommen. Sie ist es bis heute nicht. + +Woran nochmal glauben Jesiden? Und warum werden sie verfolgt? +Über 3.000 der 2014 verschleppten Jesiden werden bis heute vermisst. Ihre Familien wissen nicht, ob sie gestorben sind, ob sie immer noch unter dem IS leben oder ob sie von den fliehenden IS-Kämpfern erneut verschleppt wurden. +Nach ein paar Wochen hörte Paiwan auf, wie die IS-Kämpfer zu reden. Wenn jetzt jemand über die Terroristen sprach, sagte er, sie sollten aufhören. Die Wutausbrüche blieben. "Wir wissen nicht, was wir mit ihm tun sollen", sagt Nisreen. Sie selbst kämpft seit ihrer Entführung gegen Depressionen. Der Vater von Paiwan arbeitet als Tagelöhner, häufig in der Landwirtschaft – und schafft es, die Familie trotz Wirtschaftskrise zu ernähren. Sie hofft, dass ihre verschollenen Verwandten irgendwann doch freikommen. Dann, sagt Tante Nisreen, wollen sie den Irak verlassen. "Dieses Land ist für uns nicht sicher." + +Harter Boden, starker Tobak: Paiwan und sein Cousin gucken "König der Löwen" +Schon etwas weicher: der Gruppenraum im "Mental Health Center" in Dohuk. Hier werden Kinder psychologisch betreut + +Das Mental Health Center liegt in einem ruhigen Viertel am Rand von Dohuk. Die Einrichtung ist auf die psychologische Betreuung von Kindern spezialisiert. Auch Paiwan kam einige Male hierher. Doch die Familie hat zu wenig Geld, um regelmäßig in die Stadt zu fahren. +"Was ich in den letzten vier Jahren gesehen habe, kannte ich aus meiner ganzen Karriere davor nicht", sagt Thikra Ahmed Muhammed. Die 42-Jährige arbeitet seit 2007 im Mental Health Center und ist heute die leitende Psychiaterin. Die Kinder sind wegen Angstzuständen und Aggressionsstörungen, wegen Depressionen und Suizidgedanken hier. Mindestens zehn Mal seien elfjährige oder jüngere Kinder ins Zentrum gekommen, nachdem sie versucht hatten, sich das Leben zu nehmen. + +Es gibt auch Jugendliche, die aus freien Stücken beim IS sind –nachdem sie gebrainwashed wurden +Über Einzelgespräche und Gruppentherapien versuchten Ahmed und ihre Mitarbeiter, ihre Patienten wieder zu dem zu machen, was sie eigentlich sind: Kinder. "Wenn ein Kind wieder mit Freude sein Lieblingsspiel spielt, ist das ein Erfolg für uns." +Doch dem Zentrum fehlen die Mittel: Es ist staatlich subventioniert und der Krieg hat in Kurdistan eine Wirtschaftskrise ausgelöst. Mittlerweile hat das Zentrum nicht mal mehr genug, um den Familien den Transport zur Klinik zu bezahlen. Das führt dazu, dass Kinder wie Paiwan zwar ein- oder zweimal zur Diagnose kämen, dann aber nicht mehr zur Therapie. Tahira Abdulrazaq, die ehemalige Kindersoldate betreut, sagt: "Die Suizidversuche von Kindern sind ein Resultat davon, dass wir vier Jahre lang nichts in ihre psychologische Betreuung investiert haben." +Paiwan und sein Cousin sitzen auf dem Boden. Sie starren in einen kleinen Fernseher. Und dann verrät Paiwan doch noch etwas aus seiner Vergangenheit: Seit seiner Zeit beim IS interessiert er sich für Waffen. Wenn er einmal groß ist, sagt der Zehnjährige, will er Peschmerga-Kämpfer werden. diff --git a/fluter/jetzt-halt-mal-die-presse.txt b/fluter/jetzt-halt-mal-die-presse.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9e79a976f7a220e3c30492d4a4ef6f787104cb4e --- /dev/null +++ b/fluter/jetzt-halt-mal-die-presse.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Machen Medien Angst, oder berichten sie nur über Ängste, die es gibt? Und kann man das überhaupt voneinander trennen? Fragt man in den Redaktionen nach, ist die Antwort meist ganz einfach: Man müsse die Sorgen der Bevölkerung wegen der steigenden Flüchtlingszahlen ernst nehmen, heißt es zum Beispiel. Man dürfe die Ängste um das Ersparte nicht ignorieren. Man müsse der Unsicherheit, die die Globalisierung auslöst, Rechnung tragen. +Die meisten Berichte über Angst funktionieren nach ein und demselben Schema. In der Regel, wenn Zeitungen oder Sender Angst verbreiten, machen sie es wie die Journalisten der "Bild"-Zeitung, die im vergangenen Frühjahr über eine vermeintliche "Hai-Angst auf Mallorca" berichteten. Wie gesagt: ein Bericht über die Angst, kein Aufruf, Angst zu bekommen. Er beginnt mit der Unterzeile: "Urlauber in großer Angst: Fünf Meter lang ist der Hai-Kadaver, der mit einem Kran aus dem Hafen von Port d'Andtrax (Mallorca) gezogen wird. Ein Bild, das deutsche Urlauber erschaudern lässt." +Zum Beweis zitieren die Journalisten zwei Touristen, einen Rentner, der nicht mehr ins Wasser gehen will, und "Julia Jörg (27), Personal Trainerin aus Bad Homburg, mit Tochter Jasmina (4)". Die Zeugin sagt ihnen: "So ein riesiger Fisch. Da wird mir angst und bange um meine kleine Tochter. Wir gehen nur noch ein paar Meter ins Wasser!" Die Autoren sind korrekte Journalisten. Sie bleiben bei den Fakten. Sie schreiben auch "Von diesem Riesen-Hai im Hafenbecken ging zwar keine direkte Gefahr aus, denn: Es war ein für Menschen ungefährlicher Schlafhai." Aber sie wissen, wie man der Angst Raum lässt. Im Mittelmeer gebe es insgesamt 49 Haiarten, schreiben sie, dann: "Sogar Weiße Haie." Wer nicht die geringste Angst vor Haien hat, wird über die Geschichte lachen. In wem aber eine kleine Angst irgendwo verborgen schlummert, den kann das ansprechen. +So funktionieren die meisten Artikel, Radio- oder Fernsehbeiträge über "Angst um X", "Sorge vor Y", "Bangen um Z": Stimmen von einzelnen sorgenvollen Bürgern. Blick auf den Anlass der Angst. Vielleicht ein womöglich etwas isoliertes Zitat eines Experten oder aus einer Studie, das die Angst plausibel erscheinen lässt. Dann, solange wir uns im halbwegs seri­ösen Journalismus bewegen, die wissenschaftlich-faktische Relati­vierung. Und am Schluss eine Szene, ein Sachverhalt, ein Umfrageergebnis oder eine weitere Stimme aus dem Volk, die ­weiterhin offen lässt, ob nicht doch Anlass für Angst besteht. +Natürlich müsste man als Journalist die Angst durch die Aufklärung ersetzen. Aber Journalisten leben sehr gut von der Angst. Die Angst ist ja oft erst der Anlass, eine Zeitung zu kaufen oder einen Artikel zu lesen. Man kann sagen: Der Leser will sich auch ein bisschen gruseln. +Dabei kann jeder Bericht über Angst, und sei er noch so seriös, als Verstärker der Angst wirken. Epidemien wie Ebola sind weniger harmlose Beispiele als Haie vor Mallorca: Ebola, das "Virus der Angst" ("Süddeutsche Zeitung", 2014), die Schweinegrippe und das "Virus der Angst in unseren Köpfen" ("Süddeutsche Zeitung", 2009), Vogelgrippe, das "Virus der Angst" ("Focus", 2005), SARS, das "Virus der Angst" ("Süddeutsche Zeitung", 2003), Maul- und Klauenseuche, das "Virus der Angst" ("Der Spiegel", 2001), HIV, das "Virus der Angst" ("Focus", 1993) – manchmal ist die Schlagzeile auch schon bei der Hand, bevor die Angst anschwillt. Und Angst funktioniert ja wirklich wie ein Virus, deshalb lässt sich mit Viren so schön Angst machen. Die Angst aus der Schlagzeile ist schon im Kopf des Lesers angekommen, bevor ihn die Fakten aus der Wissenschafts­redaktion erreichen. +Information ist eigentlich das Gegenteil von Angst. Aber nur von beruhigenden Informationen können oft selbst Qualitätsmedien nicht leben. Dazu kommt, dass Journalisten nicht anders funktionieren als die Menschen, die sie informieren sollen. Auch Journalisten lassen sich manchmal lieber von Angst leiten als von besserem Wissen. Manchmal allerdings brauchen Medien die Angst im allerbesten Sinne: die Angst derjenigen, über die sie berichten, derjenigen, die lieber im Verborgenen handeln. Diese Angst sollen sie ruhig verbreiten. +Lutz Meier ist freier Wirtschaftsreporter in Berlin. Früher hat er bei der Financial Times Deutschland jahrelang die Medienberichterstattung verantwortet und die Zeitung als Korrespondent in Paris vertreten. diff --git a/fluter/jetzt-ist-mal-schicht.txt b/fluter/jetzt-ist-mal-schicht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..130a4be595c6292100e58d85773f0c46cf4f75e5 --- /dev/null +++ b/fluter/jetzt-ist-mal-schicht.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +In Deutschland begann die Ausbeutung, als sich im 19. Jahrhundert unter preußischer Herrschaft im Ruhrgebiet die Schwerindustrie entwickelte – und die Menschen massenhaft vom Lande in die Hüttenwerke von Essen, Duisburg, Gelsenkirchen oder Bochum strömten. Um dort Roheisen zu produzieren oder den Stahl für die Eisenbahnen zu gießen, für Bügeleisen – und natürlich für die Kanonen, mit denen das junge Reich bald von sich reden machen sollte. Aufkeimenden Konflikten zwischen Kapital und Arbeit begegnete die Obrigkeit so autoritär wie Kaiser Wilhelm II, der erklärte: "Gegen die Arbeiterbewegung bin ich zum Kampf auf Leben und Tod bereit und entschlossen." Das sollte sich erst 1918 ändern. Nach dem ersten verlorenen Weltkrieg einigten sich Carl Legien (Vorsitzender der Gewerkschaften) und der Industrielle Hugo Stinnes (Vorsitzender der Unternehmerverbände) erstmals darauf, ihre Interessen gegenseitig anzuerkennen. Vor allem änderte damit die Großindustrie, in heller Panik vor drohenden Konflikten mit den Arbeitern, grundsätzlich ihre Politik einer strikten Ablehnung gegen eine organisierte Belegschaft. Künftig erkannte das Kapital die Gewerkschaft als Tarifpartner an. Das sogenannte Stinnes-Legien-Abkommen gilt als erster "Sozialpakt" und Modellfall des "rheinischen Kapitalismus", der eine soziale Marktwirtschaft zum Ziel hatte. +Ab 1945, wieder nach einem Krieg, erfolgte der zweite entscheidende Einschnitt im Verhältnis von Kapital und Arbeit, als sich die Siegermächte Hitlers Bastionen der Kriegswirtschaft vorknöpften – die altbekannten Industriekonglomerate an der Ruhr. Kaum war die Entflechtung der Eisen- und Stahlindustrie abgeschlossen, sorgten die Alliierten dafür, dass die Aufsichtsräte in Montanunternehmen mit mehr als tausend Beschäftigten paritätisch auch mit Arbeitnehmervertretern besetzt wurden. Ein Geschenk, das den Aufstieg der Gewerkschaften und damit den Erfolg der sozialen Marktwirtschaft nach 1945 erst ermöglicht hat. Auch wenn er sich wegen der Tarifautonomie von Arbeitnehmern und Arbeitgebern eigentlich raushalten müsste, sitzt heute manchmal auch der Staat mit am Verhandlungstisch. Freundlich lächelnd, weil er sich in der Regel keinen hitzigen Arbeitskampf wünscht, sondern eine stabile "Sozialpartnerschaft" aller Beteiligten. Auch sprechen wir gerne von einem "gestaltenden Miteinander" zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften. Ziel ist in unserer sozialen Marktwirtschaft nicht mehr, wie noch von den Kommunisten gefordert, die Abschaffung der "herrschenden Klasse" durch die Machtergreifung einer "geknechteten Masse" – sondern eine milde Konsenspolitik, die gegensätzliche Interessen der beiden Parteien in allgemeines Wohlgefallen auflöst. +Die Realität sieht oft anders aus, auch wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel die betriebliche Mitbestimmung unlängst noch als einen "nicht wegzudenkenden Teil unserer sozialen Marktwirtschaft" bezeichnete. Inzwischen aber gibt es in Deutschland schon rund 40 Firmen, die sich den Mitbestimmungsgesetzen entziehen – darunter der Paketdienst United Parcel Service (UPS) oder die Fluggesellschaft Air Berlin. Manchmal drohen Firmen, in denen die Arbeiter für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen, mit einer Verlagerung ihrer Produktion ins Ausland – oft in Billiglohnländer. Das macht es für die Gewerkschaften schwerer, ihre Forderungen durchzusetzen. Jedes Unternehmen, das seine Arbeitsplätze aus Deutschland abzieht – und seien sie noch so schlecht bezahlt –, lässt die Gewerkschaften wie Jobkiller aussehen. Darüber hinaus spalten sich immer mehr Gewerkschaften in Untergewerkschaften auf (es gibt zum Beispiel eine für Piloten oder Lokführer), die dann mit den Unternehmen eigene Tarife für ihre Mitglieder aushandeln – mit der Folge, dass zuweilen in ein und demselben Unternehmen unterschiedliche Arbeitszeiten gelten oder verschiedene Löhne gezahlt werden, je nach Tätigkeit. Mit der Tarifeinheit ist dann auch oft der soziale Frieden dahin. +Ein Frieden, der auch von anderer Seite her ernsthaft bedroht ist. Denn den Gewerkschaften laufen europaweit die Mitglieder davon, und jedes einzelne verlorene Mitglied schwächt das Mandat der Gewerkschaften, die Interessen der Beschäftigten gegenüber denen der Unternehmen zu vertreten. In Finnland sind mehr als 70 Prozent der Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert, in Frankreich nur acht Prozent. Deutschland dümpelt mit 20 Prozent im unteren Mittelfeld, hinter Bulgarien und knapp vor Portugal, Tendenz: fallend. Es gibt zwar immer noch riesige Gewerkschaften wie Ver.di mit mehr als zwei Millionen Mitgliedern, aber die schiere Größe täuscht. So ist Ver.di aus schrumpfenden Einzelteilen entstanden, unter anderem aus der "Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr" (ÖTV) und der "Industriegewerkschaft Medien". Um den Bedeutungs- und Mitgliederverlust aufzuhalten, rät der Soziologe Oskar Negt den Gewerkschaften als Weg aus der Krise, "sich nicht auf eine trotzige Verteidigungshaltung zu versteifen und darauf zu warten, dass die antigewerkschaftlichen Ressentiments wieder nachlassen". Stattdessen sollten sie ihr Wirkungsfeld erweitern auf Wohngebiete, Stadtteile, Familie und Erziehung, Verkehr und Ökologie – das alles bedarf laut Negt einer gesellschaftlichen Neuorganisation und der sozialen Expertise der Gewerkschaften. Tatsächlich könnte der zentrale Grundwert jeder Gewerkschaft auch fern des Arbeitsplatzes zum gesellschaftlichen Frieden beitragen und eine Renaissance erleben: die Solidarität. Auch der wirtschaftliche Strukturwandel dürfte zum Mitgliederschwund der Gewerkschaften beigetragen haben. Warum sollte man für die 35-Stunden-Woche streiken, wenn Wirtschaft und Politik längere und flexiblere Arbeitszeiten als Allheilmittel preisen? Und während die Schwerstarbeit in Kohlegruben und an erbarmungslosen Fließbändern noch der rechte Platz für den Arbeitskampf erschien, wirkt der heutige Existenzkampf mit dem Laptop doch auf den ersten Blick ungleich bequemer. Dabei kann es auch dort zuweilen schmutzig zugehen. diff --git a/fluter/jetzt-kommts-raus.txt b/fluter/jetzt-kommts-raus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1575adbd418b8014c29f6764219b8951aecee8ff --- /dev/null +++ b/fluter/jetzt-kommts-raus.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +US-Präsident Ronald Reagan, von 1981 bis 1989 im Amt, war in seiner ersten Karriere Radiokommentator und Schauspieler. Er weiß, dass man vor einem Auftritt besser mit etwas Sprechtraining die Stimme aufwärmt. Am 11. August 1984 soll er eine fünfminütige Radioansprache an sein Volk aufnehmen. Es ist die Zeit des Kalten Krieges, in der kleinste Zwischenfälle zwischen den beiden Machtblöcken USA und Sowjetunion zu diplomatischen Erschütterungen führen können. Reagan musste sich also sehr sicher sein, dass seine Worte nicht an die Öffentlichkeit gelangen, als er zum Warmsprechen sagt: "Liebe Landsleute, ich freue mich, Ihnen heute mitteilen zu können, dass ich ein Gesetz unterzeichnet habe, das Russland für vogelfrei erklärt. Wir beginnen in fünf Minuten mit der Bombardierung." Dumm bloß, dass das Aufnahmeband mitschneidet und der Ausspruch später versehentlich ausgestrahlt wird. Die Moskauer Zeitung "Prawda" ("Wahrheit"), damals Zentralorgan der KPdSU, nutzt Reagans Mikrofonpanne als Steilvorlage: Reagan habe nur ausgesprochen, was er wirklich denke, ist da zu lesen. Der wiederum versucht sich in Schadensbegrenzung. Sein kleiner Scherz sei eine Parodie für all jene gewesen, sagt er, die ihn immer als Kriegstreiber bezeichnen. + +"Ich kann ihn nicht mehr sehen, das ist ein Lügner" – so lästert Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy 2011am Rande eines G-20-Gipfelsüber Israels Premier Benjamin Netanjahu. Sein Gesprächspartner ist US-Präsident Barack Obama, der antwortet: "Du bist ihn leid, aber ich habe jeden Tag mit ihm zu tun". Diese kleinen Bösartigkeiten werden vor dem eigentlichen – auch für Journalistenohren bestimmten – Gespräch ausgetauscht. Nun haben die französischen Journalisten aber bereits das Gerät in die Hand gedrückt bekommen, auf dem sie später die Simultanübersetzung der Konversation hören sollen, bloß noch ohne Kopfhörer. Dumm nur, dass einige von ihnen eigene Kopfhörer dabeihaben, diese schon mal einstöpseln und so alles mithören können. +Es scheint, als seien die Regierungschefs Großbritanniens besonders anfällig für Mikrofonpannen. John Major, von 1990 bis 1997 Premierminister, bezeichnet drei euroskeptische Kabinettsmitglieder am Rande der Aufzeichnung eines Fernsehinterviews als "Bastarde", die er kreuzigen würde, und sich selbst als einen "Waschlappen". Techniker schneiden das Gespräch mit und spielen es der Presse zu. Gordon Brown, als Premierminister von 2007 bis 2010 im Amt, muss im Wahlkampf vor laufenden Kameras mit einer Bürgerin sprechen, deren Standpunkte ihm offenbar so gar nicht gefallen. Denn im Anschluss an das Gespräch bezeichnet er sie als "verbohrt" und giftet in Richtung seiner Wahlkampfmanager: "Das war ein Desaster. Sie hätten mich nie mit dieser Frau zusammenbringen dürfen." Um ein Desaster handelt es sich auch, weil das eingeschaltete Mikro des TV-Senders noch an Gordon Browns Hemd klemmt. Ähnlich ergeht es im September 2014 dem Premier David Cameron. Nachdem das Referendum der Schotten über ihre Loslösung von Großbritannien gescheitert ist, erzählt er bei einem Treffen dem früheren New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg – und ungewollt auch der Öffentlichkeit –, dass die Königin nach dem Verbleib Schottlands im Vereinigten Königreich "vor Freude gar nicht mehr aufhörte zu schnurren". +Wie smart sind Smartphones eigentlich wirklich? Richard Barnes, der ehemalige Vizebürgermeister von London, bekommt angeblich nichts davon mit, als die Auto-Upload-Funktion seines Handys Fotos von ihm auf sein Facebook-Profil stellt. Es handelt sich dabei nicht um irgendwelche Fotos. Das Smartphone pickt sich ausgerechnet Nacktbilder des Politikers heraus. Bis Barnes den Streich seines Telefons bemerkt und die Fotos von Facebook löschen kann, sind bereits jede Menge Screenshots davon im Umlauf in der Netzwelt. Sein Smartphone sei gehackt worden, verteidigt Barnes sich später. "Glauben Sie allen Ernstes, dass ich dermaßen bescheuert wäre, so etwas nach 30 Jahren in der Politik zu machen?", sagt der konservative Politiker einer Zeitung. Sollte sein Mobiltelefon wirklich autonom gehandelt haben, dann hat es wohl ein sehr öffentlichkeitswirksames Exempel statuiert. +Oliver Geyer mag diese Momente, wenn Masken fallen und Menschen ein bisschen unprofessionell werden. Denn dann kommt immer auch ein Stück Wahrheit zum Vorschein. Und was kann sich ein Journalist mehr wünschen? diff --git a/fluter/jetzt-mal-ehrlich.txt b/fluter/jetzt-mal-ehrlich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1a19afb3bd11bfafad0a3d8541a5ad0a7bdb8bbc --- /dev/null +++ b/fluter/jetzt-mal-ehrlich.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Mann im Mond. Eigentlich dienen Fotos dazu, Ereignisse zu dokumentieren. Manchmal aber sind Bilder auch der Auslöser für Zweifel. Bestes Beispiel: die Mondlandung. Da fotografierten die Astronauten von Apollo 11, was ihre Kameras hergaben – und dann nutzten Verschwörungstheoretiker genau diese Belege, um Indizien dagegen zu finden und die Bilder als Propagandalüge der US-Regierung hinzustellen. Denn wie kann eine Fahne wehen, wenn es doch keinen Wind auf dem Mond gibt? Und warum erkennt man verschiedene Schatten, wenn es doch nur eine Lichtquelle (die Sonne) gibt? Das sind nur zwei der Fragen, die sich Hobbyastronomen stellten. Der Ausdruck "gefährliches Halbwissen" ist vermutlich für Leute wie sie erfunden worden. Denn die echten Experten sind sich dann doch ziemlich einig: Natürlich geht das mit der Mondlandung. Man muss nur Ahnung von Physik haben. + + +So locker sind wir: Eine Razzia in der Sauna? Nackt-Yoga mit Kind? Nein: ein Foto der Kommune 1, der bekanntesten WG der 68er-Generation. So sahen sie also aus, die Hippies mit ihrer Mischung aus Sex und Drogen, die die Gesellschaft von allen Zwängen befreien wollten und mit diesem Bild gegen den als brutal und übergriffig empfundenen Staat protestierten. Später berichtete ein Mitglied der Kommune, dass das Posieren für den Fotografen Thomas Hesterberg im Juni 1967 als eher lästig empfunden wurde und alle froh waren, sich wieder anziehen zu können. Nackt kannten sich nämlich nur die wenigsten untereinander, freie Liebe existierte eher in den Köpfen als im Bett. Täglicher Sex? Schrecklich, fand Rainer Langhans, der Oberguru mit dem Lockenkopf. + + + +Inder statt Kinder: Im Februar 2016, als täglich Hunderte Asylsuchende die deutsche Grenze überquerten, twitterte die frühere Präsidentin des Bundes der Vertriebenen dieses Foto. Laut eigener Aussage erhielt Erika Steinbach das Bild von einem "besorgten Vater" per Mail. Steinbach hätte zumindest auffallen müssen, dass das Bild dreist bearbeitet wurde: Zwei Gesichter im Hintergrund wurden hineingeschnitten. Das Foto kursierte schon seit rund vier Jahren in Europa, je nach Land überschrieben mit "Polen 2020", "Norwegen 2030" oder "Rumänien 2030". Der NDR machte sich auf die Suche nach dem Fotografen – und fand die Familie des kleinen blonden Kindes in Australien. Aufgenommen wurde das Bild demnach in einem Kinderheim auf einer Indienreise im September 2011. Als die Eltern von dem Missbrauch des Bildes hörten, sagten sie: "Dass ein so schönes, vorurteilsfreies Aufeinandertreffen von Kindern in solcher Weise verdreht wird, zeigt, wie arm Rassismus ist." + +Der Schrei der anderen: Das Foto des Kriegsfotografen Nick Út aus dem Vietnamkrieg, das schreckverzerrte Gesicht der neunjährigen Kim Phúc, ist eines der berühmtesten Bilder des 20. Jahrhunderts. Anders als oft behauptet, zeigt das Foto keinen Angriff der US-Luftwaffe auf ein von Nordvietnamesen erobertes Dorf. Es war ein südvietnamesisches Flugzeug, das am 8. Juni 1972 seine tödliche Fracht abwarf – und dabei versehentlich die eigenen Leute traf. Doch weil sich in diesem Foto so viel vom Grauen des Krieges zeigt, wurde es ganz allgemein zum Sinnbild des blutigen Gemetzels zwischen den Südvietnamesen, den USA und dem Vietcong. Jahrelang zog der US-Amerikaner John Plummer, ein Ex-Soldat, mit der Geschichte um die Welt, er trage die Schuld an Kim Phúcs Verbrennungen. Schließlich habe er den Napalm-Einsatz befohlen. Vor Fernsehkameras verzieh ihm 1996 die nun schon erwachsene Kim Phúc. Die Sache hat nur einen Haken: Plummer, der später alkoholabhängig wurde, hat zwar in Vietnam gekämpft, aber nachweislich nicht in diesem Dorf. Er wurde nicht nur ein Opfer des Krieges, sondern auch der Kriegsfotografie. diff --git a/fluter/jetzt-musst-du-es-machen.txt b/fluter/jetzt-musst-du-es-machen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..99cadd75b0fd86598b8a6e7c3fe6ad6a1164d19c --- /dev/null +++ b/fluter/jetzt-musst-du-es-machen.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Es ist ein Bruch, mit dem Robins Leben eine neue Richtung bekommen hat. Vielleicht noch entscheidender ist der Generati­onswechsel für die Firma, die Robins Vorfahren ein Jahrhundert lang durch viele Widrigkeiten gelenkt haben. +Denn eigentlich ist Robin noch gar nicht fertig mit dem Stu­dium. Erst nächstes Jahr schreibt er seine Masterarbeit an der IÉSEG, einer Elite-­Wirtschaftsschule im französischen Lille. Dort hat er in den vergangenen Jahren das Handwerk des Unterneh­mers gelernt. Zuletzt fand er aber nur wenig Zeit, sich um seinen Abschluss zu kümmern. "Es ist schon hart", sagt Robin. "Alles, was ich mir in Frankreich aufgebaut habe, ist vorbei." Er sagt es ganz nüchtern, ohne Wehmut, während er in seiner Mittagspause die gebratenen Nudeln vom China-­Imbiss auf die Gabel rollt. +Der kleine Besucherraum der Firma, wo er sich zur Mittags­pause hingesetzt hat, ist eher altmodisch eingerichtet, wie eine gutbürgerliche Gaststätte. Sein Vater nutzte den Raum vor langer Zeit als Büro. Vor dem Eingang empfängt die Besucher eine schwere Standuhr. In den Regalen erinnern Neumärker ­Bügel­eisen an die ersten Jahre des Unternehmens – Bügeleisen, die einst statt mit Strom mit heißer Kohle betrieben wurden. Für Robin sind sie auch eine Mahnung, fortzuführen, was so viele Jahre zuvor begonnen hat. +Angefangen hat alles mit Robins Ur­-Ur­-Großvater Ernst Neumärker, der 1894 in Düsseldorf mit Sargbeschlägen und Sarggriffen handelte. 1910 kaufte er schließlich die Gießerei in Hemer bei Iserlohn, und aus den Sarggriffen wurden erst Bügel-­ und dann Waffeleisen. +Die Geräte verkauften sich so gut, dass die Firma schon 1912 rund 1.000 Mitarbeiter beschäftigte. Das Unternehmen florierte und betrieb zehn Fabriken und mehrere Niederlassungen in ganz Europa. "Im Zweiten Weltkrieg ist dann sehr viel kaputtgegan­gen", erzählt Robin. In der Nachkriegszeit konnte das Unterneh­men nicht an die frühen Erfolge anknüpfen. Ende der 60er Jahre kam dann fast der Bankrott, bis Robins Vater Wolfgang die Führung übernahm. "Er hat das Unternehmen wieder aufgebaut", sagt der Sohn. +Robin erinnert sich noch gut daran, wie er als Fünfjähriger in der Verwaltung und der Produktion gespielt hat. In den Räumen, wo sie gearbeitet hat, hat die Familie früher auch gewohnt. Deswegen kannten die meisten Mitarbeiter ihren heutigen Chef schon als kleinen Jungen. Für den jetzt 24­-Jährigen ist das kein Problem. "Das zeichnet ein mittelständisches Unternehmen aus, dass die Mitarbeiter wie eine zweite Familie sind." +Der Mittelstand wird von Politikern oft als Stütze der deut­schen Wirtschaft und Quelle des Wohlstands gelobt. Die meisten mittelständischen Unternehmen befinden sich im Besitz von kleinen und großen Familien; aber auch hinter riesigen Kon­zernen wie beispielsweise der Metro­Gruppe, BMW oder Bosch bestimmen Familien die Geschäftspolitik. Ob Dax-­Unterneh­men oder kleiner Handwerksbetrieb – Familienunternehmen stehen im öffentlichen Ansehen oft für Werteverbundenheit statt für blindes Wachstumsstreben und für einen verantwor­tungsvollen Umgang mit den Mitarbeitern statt für kurzfristiges Streben nach Profit. +Dem fühlt sich auch Robin verpflichtet und hat sich einiges von seinem Vater abgeschaut, kleine Gesten der Wertschätzung zum Beispiel. So begrüßt er morgens jeden Beschäftigten persön­lich. "Das Unternehmen ist sehr stark von meinem Vater und seinem Charisma geprägt. Seine Vorbildfunktion für die Mitar­beiter muss ich jetzt übernehmen", sagt Robin. Fast könnte man auf die Idee kommen, das gerahmte Bild des Vaters im Flur sei eine Mahnung an den Sohnemann: Junge, mach nichts, was dein alter Herr nicht auch tun würde. +Ist die Verantwortung nicht zu groß? Robin, über 1,90, breite Schultern, lächelt. Es kam für ihn und seine Mutter nicht infrage, dass ein externer Geschäftsführer den Betrieb übernimmt. +"So jemand vertritt nicht in erster Linie unsere Interessen", sagt Robin. Ohnehin war es für ihn spätestens nach dem Abi klar, dass er selbst Unternehmer werden will. +Das bedeutet, von morgens früh bis spät abends da zu sein. Auch am Wochenende muss Robin darüber nachdenken, was am besten ist für den Betrieb und seine Mitarbeiter. Wenn er sich und seinen Vater vergleichen müsste? "Ich habe einen ganz anderen Ansatz", meint Robin. Sein Vater sei ein Kaufmann alter Schule gewesen, immer um das unmittelbare Wohl des Geschäftes be­sorgt, aber doch ein wenig verschlossen, was die Unternehmens­führung angeht. +Sollte Robin Erfolg haben, wäre das zunächst nicht sein Ver­dienst, das gibt er offen zu. Der Vater hat mehr als 40 Jahre ein Unternehmen geführt, das weltweit mit 20 Handelspartnern sei­ne Produkte vertreibt. Doch wenn der Sohn über Unternehmer­tum spricht, macht sich der Einfluss der zeitgenössischen Manage­ment-­Lehre bemerkbar. Da ist bei ihm von einer Firmenphilosophie die Rede, von einer Vision, von Strukturen, die noch fehlen, von Marktvorteilen und einem langfristigen Aufbau der Marke. "Wir wollen größer und bekannter und in unserer Nische die Besten werden." +Er steht auf dem Betriebshof und schaut sich um. In den vergangenen Jahrzehnten sei alles ein wenig chaotisch gewachsen: Produktion, Entwicklung, Lager. Aber das Hauptgebäude mit dem industrietypischen zackenartigen Scheddach steht noch da wie vor 100 Jahren. Was bedeutet für Robin Tradition? Er überlegt. Sie sei wichtig. Aber auch schädlich. "Wenn man sich nur auf sie stützt, vermittelt es den Eindruck, dass man auf der Stelle tritt." Robin, Unternehmer in fünfter Generation, hat dagegen noch viel vor; die Standuhr vor dem ehemaligen Büro seines Vaters soll kein böses Omen sein. Dass ihre Zeiger irgendwann auf 11.03 Uhr stehen geblieben sind, ist ihm noch gar nicht aufgefallen. diff --git a/fluter/jewrovision-juedische-jugendliche-deutschland.txt b/fluter/jewrovision-juedische-jugendliche-deutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..24fa5151d459345443f43cfebd93c24703c12cfc --- /dev/null +++ b/fluter/jewrovision-juedische-jugendliche-deutschland.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Sonntag, kurz nach elf, wenige Tage vor der großen Show in Berlin. "Kadima", Hebräisch für "vorwärts", steht in großen schwarzen Lettern, mit Glitzer besprenkelt, über einer Tür im dritten Stock der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf. Die Gemeinde ist mit 7.000 Mitgliedern und eigener Synagoge eine der größten jüdischen Gemeinden Deutschlands – nur Berlin und München sind größer. Heute hat die Kadima-Jewrovision-Gruppe ihre Generalprobe. Im Erdgeschoss, in einer großen Halle mit Holzboden und orangefarbenen Vorhängen, sammeln sich Kinder und Jugendliche, die meisten in Jogginghosen und Sportschuhen. Einige albern herum, andere sitzen verschlafen am Rand. "Heute geht's richtig ab, ich will Motivation sehen!", ruft Marina. +Die 19-Jährige mit den langen braunen Haaren ist dieses Jahr nicht nur Jewrovision-Teilnehmerin, sondern auch "Madricha", Betreuerin der Jugendlichen. Während Techno durch die Halle dröhnt und im Minutentakt mehr Jugendliche eintrudeln, macht Marina Hampelmänner vor, joggt auf der Stelle. Die anderen machen es nach, mal mehr, mal weniger motiviert. Gegen halb zwölf fehlen immer noch mindestens zehn Teilnehmende. Aber Alexander Coda, der Choreograf, will anfangen. Schwerpunkte heute: Fokus finden, Schritte wiederholen, Abläufe verinnerlichen. Noch gibt es Fragen: Springe ich nach links oder rechts? Bleibt mein Arm unten, oder geht er nach oben? "Stell dir vor, es schauen 3.000 Leute zu", sagt Alexander Coda zu einem Mädchen, das eben aus der Reihe getanzt ist, "und dann sitzt ein Schritt nicht, das fällt sofort auf." +Auch wenn immer noch Einsätze danebengehen: An Bühnenpräsenz mangelt es Marina nicht. Zur Akustikversion von "We got love" von Sigala und Ella Henderson singt sie den von Kadima umgedichteten Text: "Hab keine Angst davor, anders zu sein, denn du bist jüdisch und nicht allein." Die Tänzer:innen hinter ihr bewegen ihre Arme langsam, fast roboterartig, dann wechselt der Beat, die Gruppe verfällt in Hip-Hop-Moves, und ein Junge und zwei Mädchen singen Zeilen, die nachhallen: "Wir stehen für uns ein, und wir haben keine Angst, kämpf für deine Rechte, solange du es kannst". +Wie viele Juden in Deutschland leben, kann nur geschätzt werden. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, ging 2021 von etwa 150.000 aus. Knapp 92.000 davon sind in einer der 104 lokalen Gemeinden unter dem Dach des Zentralrats organisiert. Jugendzentren sind oft ein wichtiger Teil der Gemeinde. "Es soll ein Ort sein, an den man sich zurückziehen kann und an dem sich keiner anders fühlen muss", erklärt Igor. Er ist 21 und einer der Jugendzentrumsleiter von Kadima. Ein Safe Space für jüdische Kinder und Jugendliche also, in dem sie nicht komisch angeguckt werden, weil sie einen Davidstern, eine Kippa oder ein Shirt mit hebräischen Schriftzügen tragen. Bei der Jewrovision wird dieser Gedanke besonders zelebriert: Alle Teilnehmenden und Beteiligten sind jüdisch. + + +Fragt man Marina, welche Bedeutung die Veranstaltung für sie hat, überlegt  sie nicht lange. "Es bedeutet alles für mich." Es ist ihre fünfte Jewrovision, die erste als Sängerin. Es passiere ihr immer wieder, dass Menschen überrascht reagierten, wenn sie hörten, dass sie Jüdin sei. Manche würden gar nicht wissen, dass noch jüdische Menschen in Deutschland leben. "Das trifft einen schon manchmal", gibt Marina zu. Sie kenne viele, die sich in Deutschland alleine fühlten, sich nicht trauten zu sagen, dass sie jüdisch sind. "Deswegen ist es so wichtig, dass man sich mit anderen Juden in Deutschland austauscht und zeigt, dass es uns noch gibt." Alle hätten die Jewrovision, die in den vergangenen beiden Jahren wegenCoronaausfallen musste, vermisst, sagt Max. Der 17-Jährige ist seit vier Jahren Tänzer im Kadima-Team. Er schwärmt von dem einzigartigen Netzwerk, das die Jewrovision schaffe. So sei man – egal wo in Deutschland – nicht alleine, habe Freunde in jeder Stadt. Max ist es wichtig, dieses Netzwerk aufrechtzuerhalten. Bei der Jewrovision feiern die Jugendlichen nicht nur das jüdische Leben, sie setzen sich aktiv mit jüdischen Werten, Traditionen und ihrer Herkunft auseinander. Manche feiern gar das erste Mal Schabbat. Auch er habe erst durch das Jugendzentrum zum Glauben gefunden, erzählt Max. Heute sei die Synagoge für ihn ein Rückzugsort, vor allem wenn es ihm mal schlecht gehe. +Als sich die Kadima-Gruppe nach der Mittagspause zum ersten Mal gemeinsam das fertige Vorstellungsvideo anschaut, sitzen und stehen alle eng gedrängt um den kleinen Laptop. Kurz sieht man die Düsseldorfer Synagoge, dann vier der Kadima-Jugendlichen, darunter auch Max, in knalligen Anzügen. Sie singen von Zusammenhalt und Traditionen, tragen Kippa, Davidstern und Gebetsmantel. Am Ende tanzen und springen sie ausgelassen, bunte Luftschlangen fliegen durchs Bild. Als der Bildschirm schwarz wird, klatschen und johlen die Jugendlichen. Igor sitzt im Schneidersitz auf dem Holzboden und schwört sie noch einmal ein. Es hat etwas von einem pep talk kurz vor einem Fußballendspiel. "Vergesst nicht, dass wir ein Team sind, vergesst nicht, dass wir die Jewrovision rocken werden!" Er streckt seine Hand in die Mitte, die anderen tun es ihm gleich. "Auf drei: eins, zwei, drei: TEAM!" +Freitagnachmittag, in ein paar Minuten geht die Show los.Auf YouTubeund bei Facebook läuft sie im Livestream. Der Veranstaltungsort, die Kongresshalle im Estrel-Hotel in Berlin-Neukölln, ist in rotes Licht getaucht, man sieht vereinzelte Fahnen und bunte Knicklichter. "The Show Must Go On", singen zwei junge Frauen, beide in glitzernden Minikleidern. Nach zwei Jahren Zwangspause passt der Queen-Song perfekt für den Eröffnungsact der Jewrovision, die dieses Jahr das gleichnamige Motto hat: "The Show Must Go On". +Während es an vielen Stellen der Show umdie Einsamkeit geht, die Corona den Jugendlichen gebracht hat, spielen auch aktuelle politische Debatten und Krisen eine Rolle. Die Klimakrise etwa, der Kampf gegenAntisemitismusund Rassismus, Krieg, Terror. "Deutschland, es reicht. Jewish life in Germany nur mit Polizei", singen die Jugendlichen aus Frankfurt, "Corona-Leugner (…) haben unseren Stern genutzt und unser Volk beschmutzt" die Teilnehmenden aus Bochum. Nicht jeder Schritt sitzt, nicht jeder Ton wird getroffen. Auch bei Kadima, die als Fünfte dran sind, läuft es nicht perfekt. Aber darum geht es hier auch nicht: Die Jewrovision ist dafür da, sich gegenseitig zu feiern. Und genau das passiert: "DYNAMIT, KADIMADYNAMIT", schallt es nach dem Auftritt der Düsseldorfer:innen durch die Halle. +Nach mehr als drei Stunden Show werden vor rund 3.000 Gästen die Sieger:innen verkündet. Kadima kommt bei der Hauptpreisverleihung nur auf den vierten Platz, gewinnt dafür aber den Videopreis. Den Sieg holt sich das Jugendzentrum Amichai aus Frankfurt, knapp vor Olam aus Berlin. "Ich gönne es Frankfurt und Berlin total, die waren meine Favoriten", sagt Marina später in einer Sprachnachricht, die Stimme heiser vom Singen und Schreien. Auf der Rückfahrt nach Düsseldorf am Sonntag feiert Kadima weiter. "Alle in diesem Bus sind durchgedreht", sagt Igor auf Instagram. Er dreht die Kamera, man sieht die Gruppe, wie sie im Gang tanzt, schreit und singt. Kurz vor der Ankunft, es ist fast Mitternacht, wird noch einmal das Kadima-Lied angestimmt: "Ich bin auch jüdisch, das ist nicht geheim, habe keine Angst, niemand kriegt uns klein, zusammen sind wir stark, du bist nicht allein." diff --git a/fluter/jobs-bei-film-und-fernsehen.txt b/fluter/jobs-bei-film-und-fernsehen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..22a4d9712aa47711cf08cd31d6cafc7545dd919c --- /dev/null +++ b/fluter/jobs-bei-film-und-fernsehen.txt @@ -0,0 +1 @@ +Zweites Deutsches Fernsehen (ZDF)www.zdf.deDas ZDF hält eine sehr übersichtliche Internetseite zum Thema Ausbildung bereit. Bewerbungen sind nur auf dem Postweg möglich. Praktisch: Das ZDF hat Telefonnummern für Nachfragen angegeben.ARDwww.daserste.deEine gute Übersichtsseite, die viele offene Ausbildungsplätze bei den einzelnen Landesrundfunk-Anstalten auflistet. Bei allen Stellenangeboten sind Kontaktdaten vorhanden.Hessischer Rundfunk (HR)www.hr-online.deDer HR bildet in vielen Bereichen aus und stellt dies auch sehr übersichtlich dar. Es gibt eine Seite mit Bewerbungs-Tipps, Stellenangeboten und Telefonnummern für Nachfragen.Mitteldeutscher Rundfunk (mdr)www.mdr.deViel zu lesen zum Thema Ausbildung gibt es auf den Internetseiten des MDR. Sehr gelungen sind die Tipps beim "Ratgeber Bewerbungen". Achtung: Die Verweise zu "Praktika" und "Berufsausbildung" sind ganz unten links in der Navigation. Bewerben könnt ihr euch auch beim MDR nur per Post.Norddeutscher Rundfunk (NDR)www1.ndr.deDer NDR stellt auf seinen Seiten sehr interessante Infos für euch bereit. Unter "Let's go media" findet ihr eine Übersicht über die vielen verschiedenen Berufe bei Film und Fernsehen. Außerdem gibt es Erfahrungsberichte von ehemaligen Auszubildenden.Radio Bremenwww.radiobremen.deAuf der Seite von Radio Bremen sind die Informationen etwas spärlich aber immerhin wird erklärt, wie man sich am besten für ein Praktikum beim Sender bewirbt.Saarländischer Rundfunk (SR)www.sr-online.deDer SR stellt auf seinen Seiten kurz vor, was für Anforderungen an Praktikanten oder Hospitanten gestellt werden und wie ihr euch richtig bewerbt. Sehr gelungen sind die Informationen zu den Ausbildungsplätzen für Rundfunkjournalisten (Volontariate).Radio Berlin Brandenburg (RBB)www.rbb-online.deAuch beim RBB sind die Seiten zum Thema Ausbildung sehr übersichtlich. Es gibt Informationen zu journalistischen Praktika, Betriebspraktika für Schüler und Ausbildungsberufen beim RBB. Außerdem werden offene Praktikumsstellen angeboten.Südwestrundfunk (SWR)www.swr.deDer SWR alleine vergibt circa 500 Plätze für Praktikanten und Hospitanten im Jahr. Auf den Internetseiten findet Ihr viele Informationen zu den vielen Ausbildungsberufen und eine Jobbörse mit aktuellen Stellenangeboten.Westdeutscher Rundfunk (WDR)www.wdr.deAuf den Internetseiten des WDR bekommt ihr alle Informationen, die ihr braucht, um euch ein Bild von den verschiedenen Berufsbildern zu machen, wie man sich richtig bewirbt und wo der Sender noch freie Ausbildungsplätze zu vergeben hat.Deutsche Wellewww.dw-world.deDie Deutsche Welle richtet sich mit ihrem Programm an interessierte Ausländer oder im Ausland lebende Deutsche. Der Sender bietet eine Vielzahl verschiedener, sehr interessanter Ausbildungsmöglichkeiten an. Auf der Internetseite der eigens für die Ausbildung bei der Deutschen Welle gegründeten DW-Akademie findet ihr alles Wissenswerte über Praktika, Volontariate und vieles mehr.JournalistenschulenWer von Euch die journalistische Laufbahn einschlagen möchte, der kann sich auf den Internetseiten der privaten Journalistenschulen vorab gut informieren. Selbstverständlich gibt es auch eine Menge staatlicher Universitäten, die Studiengänge in diesem Bereich anbieten. Hier kann euch der Medienstudienführer sehr hilfreich sein.Deutsche Journalistenschule in Münchenwww.djs-online.deRTL Journalistenschule in Kölnwww.rtl-journalistenschule.deHenri-Nannen-Schule in Hamburgwww.journalistenschule.deBerliner Journalistenschulewww.berliner-journalisten-schule.deJournalistenschule Ruhr in Essenwww.journalistenschule-ruhr.deAxel Springer Journalistenschule in Berlinwww.axelspringer.deKölner Journalistenschulewww.koelnerjournalistenschule.deElectronic Media Schoolwww.ems-babelsberg.infoMedienstudienführerwww.medienstudienfuehrer.deEine sehr praktische Internetseite, mit deren Hilfe ihr euch bestens informieren könnt, wo welche Ausbildungen angeboten werden.FilmschulenNicht wenige von euch träumen wahrscheinlich von der großen Karriere beim Film. Auch hierfür ist eine gute Ausbildung sehr wichtig, weil die Anforderungen an Filmschaffende mit der zunehmenden Technisierung des Genres sehr viel größer geworden sind. Bei den folgenden staatlichen und privaten Filmschulen findet ihr alle Ausbildungsmöglichkeiten, die für diesen Bereich angeboten werden.StaatlichHochschule für Film und Fernsehen in Potsdamwww.hff-potsdam.deStudiengänge: Animation, Film- u. Fernsehdramaturgie/Drehbuch, Film- und Fernsehproduktion, Film- und Fernsehregie, Kamera, Montage, Ton, Szenografie und FilmmusikDeutsche Film- und Fernsehakademie in Berlinwww.dffb.deDie dffb bildet in den Bereichen Regie, Kamera und Produktion aus. Unter den Dozenten finden sch prominente Namen wie der Star-Kameramann Michael Ballhaus ("Gangs of New York").Hamburg Media Schoolwww.hamburgmediaschool.deAn der Hamburg Media School unterrichten viele bekannte Filmschaffende wie Sönke Wortmann oder auch Dieter Wedel. Ausgebildet wird in den Bereichen Regie, Kamera, Drehbuch und Produktion.Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburgwww.filmakademie.deStudiengänge: Regie, Kamera, Schnitt, Filmgestaltung, Animation, Dokumentarfilm, Werbefilm und Produktion. Außerdem werden einige Workshops angeboten.Hochschule für Fernsehen und Film in Münchenwww.hff-muc.deStudiengänge: Kommunikations- und Medienwissenschaft, Film und Fernsehspiel, Dramaturgie, Dokumentarfilm und Fernsehpublizistik, Fernsehjournalismus, Produktion und Medienwirtschaft, Werbe-, PR- und Imagefilm, Film-, Fernseh- und SzenenbildKunsthochschule für Medien in Kölnwww.khm.de/An der KHM in Köln unterrichtet unter anderen ein ziemlich bekanntes TV-Gesicht - Alfred Biolek. Die verschiedenen Studienmöglichkeiten sind unterteilt in die vier Fächergruppen Fernsehen und Film, Mediengestaltung, Medienkunst sowie Kunst- und Medienwissenschaften.PrivatInternationale Filmschule in Kölnhttp://www.filmschule.deDie Filmschule bildet aus in den Bereichen Regie, Szenenbild, Drehbuch, Kostümbild, Producing, Filmmontage, Animation und Schauspiel. Die Dozentenliste liest sich wie das "Who is Who" des deutschen Films. So unterrichten unter anderen Klaus Maria Brandauer und Maximilian Schell an der ifs.The German Film School in Elstalwww.filmschool.deDer Schwerpunkt liegt bei dieser Schule auf den Bereichen 3D-Grafik und Animation, die spätestens seit der Verfilmung von "Herr der Ringe" aus der Filmlandschaft nicht mehr wegzudenken sind.Film & Television School Europe in Düsseldorf (FiTS)www.fits-europe.deDie FiTS ist eine internationale Kooperation der Akademie für Internationale Bildung und der Loyola Marymount University in Los Angeles. Es werden Workshops und Ausbildungen für Film und Fernsehen angeboten.Kommunikations- und Medienzentrum in Köln (KOMED)www.komed.deDie Schule bietet viele Kurse für die Bereiche Fernsehen, Internet und Hörfunk an.Institut für Schauspiel, Film- und Fernsehberufe in Berlin (iSFF)www.isff-berlin.deDas iSFF in Berlin können Kurse und Lehrgänge für Drehbuch, Dokumentarfilm, Regieassistenz und Schauspiel belegt werden.Filmwerkstatt in Münsterwww.filmwerkstatt.muenster.deDie Filmwerkstatt in Münster bietet einige Weiterbildungen in Form von Ein-Tages-Seminaren an.Kölner Filmhauswww.koelner-filmhaus.deDas Filmhaus in Köln hat eine große Anzahl an Seminaren im Programm. Hier könnt ihr euch in den Bereichen Kurzfilm, Kamera, Schnitt, Produktion, Drehbuch, Regie und TV-Arbeit weiterbilden.Mehr zum Thema FilmSchauspielschulenwww.spielsite.deWas wäre Film und Fernsehen ohne Schauspieler? Ziemlich langweilig, oder? Auf dieser Seite findet ihr alle Schauspielschulen in Deutschland und Österreich.Kinder- und Jugendfilmzentrum in Deutschland (KFJ)www.kjf.deDas KFJ veranstaltet bundesweit Projekte und Aktionen in den Bereichen Film, Fotografie, Video und Multimedia. Auf der Internetseite könnt ihr euch über Wettbewerbe und Veranstaltungen informieren.Jugendvideopreiswww.jugendvideopreis.deDer Deutsche Jugendvideopreis prämiert jährlich die besten Jugend-Medienproduktionen (Film oder Multimedia). Mitmachen können alle unter 26 Jahren. Es winken Prämien im Gesamtwert von 14.500 Euro.Sonstige hilfreiche LinksKoordinationszentrum für Ausbildung in Medienberufenwww.aim-mia.deDiese Seite bietet sehr viele Informationen zum Thema Ausbildung in Medienberufen. So werden zum Beispiel die verschiedenen Medienberufe oder auch die einzelnen Bildungswege vorgestellt.BerufeNethttp://berufenet.arbeitsamt.deEine sehr hilfreiche Seite der Bundesagentur für Arbeit, auf der ihr wichtige Informationen zu den "Traumberufen" findet.Was soll werden?www.wassollwerden.deEine Initiative des Musiksenders MTV - die Internetseite gibt Hilfestellungen rund um das Thema Ausbildung und Beruf.Die Informationen wurden zusammengestellt von Markus Wessel, freier Autor und Journalist in Köln. diff --git a/fluter/jobs-zukunft-digitalisierung-podcast.txt b/fluter/jobs-zukunft-digitalisierung-podcast.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..af9b18405f24858b3d94abe28402b13197534a3e --- /dev/null +++ b/fluter/jobs-zukunft-digitalisierung-podcast.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Ihr habt Lob, Kritik oder eigene große Fragen, die wir in der Pause beantworten sollen?Schreibt uns an post@fluter.de. + +0:35MinutenDigitalisierung, Babyboomer, Systemrelevanzen: große Fragen an die Arbeit von morgen +0:59Wir holen Stühle aus Philipps Büro – und stellen unseren heutigen Pausengast erst mal vor. +1:39Es wird nicht zum ersten Mal prophezeit, dass uns Maschinen die Arbeit wegnehmen. Unsinn, sagt Philipp. +3:29Sind von der zunehmenden Automatisierung alle Berufe gleichermaßen bedroht? +4:04Gibt es 2050 noch Chirurg*innen, Bauarbeiter*innen oder Sexarbeiter*innen? Und in welcher Form? Philipp schätzt die Zukunft einiger Berufe ein. +6:58Arbeiten wir um der Arbeit willen – oder warum gehört Arbeit so unumstößlich zum Leben dazu? +8:50Warum bekommt die Hirnchirurgin mehr Anerkennung als der Kassierer, die arbeiten doch beide? Und welche Form der Anerkennung fehlt dem Kassierer? +10:53Was unterscheidet produktive und reproduktive Arbeit – und warum ist der Unterschied wichtig? +12:06Wird die Corona-Pandemie unser Bild von Pfleger*innen, Erzieher*innen oder Paketbot*innen nachhaltig verändern? +13:02Was ist wichtig für die Jobs der Zukunft? Und was wird Philipp seinen Kindern raten, wenn sie irgendwann Berufe wählen? +14:32Was wir aus der Folge mitnehmen. + + +Moderation: Paul HofmannSound und Schnitt: Niklas PrenzelMusik: Max LangeCover: Jan Q. Maschinski diff --git a/fluter/john-object-soldat-ukraine.txt b/fluter/john-object-soldat-ukraine.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..474b4bf1e119d7c141bc394a7fd6f1ef8a9c7576 --- /dev/null +++ b/fluter/john-object-soldat-ukraine.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Der "fluter" hatte überTimurs erstes Jahr an der Frontberichtet, in dem der Künstler zum Krieger wurde. Wie geht es ihm heute? Wir haben nachgefragt und nachgelesen. Kurz: Auch in seinem zweiten Kriegsjahr hat Timur in den sozialen Medien und aufseinem Blog "A light in every darkness"über den Krieg geschrieben. So hoffnungsfroh, wie der Titel seines Blogs es andeutet, waren seine Posts aber nicht. +An einem Tag schreibt Timur darüber, dass Russland "an diesem Morgen etwa eine Milliarde Dollar" dafür ausgegeben habe, Ukrainer zu töten – er meint damit die ständigen russischen Angriffe mit Raketen und Drohnen. An einem anderen stellt er fest, von der Musikszene zurückgelassen worden zu sein, nichts mehr produzieren zu können, das musikalisch jemanden interessiere. Er schreibt auch über eine gescheiterte Beziehung. "Ich habe keinen Kontakt mehr zu der Person, die ich letztes Jahr heiraten wollte und die ich für meine große Liebe gehalten habe." Timurs Posts zeigen: Jeder Kriegstag bedeutet Verlust, auch für jene, die ihn überleben. +Aufgeben will Timur aber keinesfalls. "Selbst wenn das möglich wäre, wäre es für mich keine Option", antwortet er uns schriftlich auf die Frage, ob er je darüber nachgedacht habe, seinen Militärdienst zu quittieren. Moralisch vertretbar sei es ihm erschienen, sich im vergangenen Herbst von der Front zu einer Stellung unweit von Kyjiwversetzen zu lassen, wo die unmittelbaren Kampfhandlungen weiter weg seien. Nun könne er, nach Feierabend, zusätzlich zu seinem Leben als Soldat auch "ansatzweise" ein ziviles Leben führen. +In der Ukraine wird gerade eine offene Debatte darüber geführt, wer welches Leben führen darf und wer an der Waffe zu dienen habe. Viele Ukrainer, die sich nach der Kriegseskalation freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet haben, fragen sich, wie lange sie ihr Land in den Schützengräben verteidigen sollen, während andere Landsleute gar nicht kämpfen. Zumal die Soldaten nach der gescheiterten Gegenoffensive im vergangenen Jahr und wegen der angespannten Lage an der Front nur selten die Erholungstage bekommen, die ihnen eigentlich zustehen. +Timur aber erklärt: "Wir werden weiterkämpfen und alle Gebiete befreien." Er meint damit auchden Donbasund die Krim – jene beiden Landesteile, die Russland teilweisebereits seit 2014 okkupiert. Auch von seinen Mitkämpfern höre Timur nichts anderes. +Enttäuscht zeigt sich Timur von der Einstellung vieler westlicher Länder, die der Ukraine zwar Waffen lieferten, dies aber zumeist spät und nach langen Debatten. Fortschrittlichste Technik bleibe dem angegriffenen Land oft verwehrt. +Wie geht es den Menschen im Donbas? +Éric Vazzoler gibt in der Ukraine Foto-Workshops. 2023 reiste er in das zerstörte Mariupol undließ Jugendliche ihre Stadt porträtieren. +"Man sollte meinen, Deutschland könnte mehr als 18 Leopard-2-Panzer schicken? Und sollte man nicht meinen, dass ein Menschenleben den höchsten Wert hat, nicht zu vergleichen mit irgendeinem Stück Metall?" Timurs Worte klingen bitter, wie auch viele seiner Posts, sie klingen auch umso härter, je länger der russische Überfall andauert. Und natürlich dient auch das Metall, aus dem Leopard-Panzer gefertigt werden, dem Tod von Menschen, auch wenn sie in diesem Fall, aus Timurs Sicht, feindliche Soldaten sind. +"Ich will nicht sarkastisch klingen, aber ich hielt Völkermord für etwas Unannehmbares und ging davon aus, dass er mit allen erforderlichen Mitteln gestoppt würde, unabhängig davon, wer wem Öl und Gas verkauft", schreibt Timur und meint damit die Reaktion vieler Staaten, die lieber weiter mit Russland Geschäfte machen würden, statt die Aggression des Landes gegen die Ukraine zu verurteilen. +Auch wenn internationale Experten sich uneinig sind, ob das russische Vorgehen in der Ukraine als Völkermord zu bezeichnen ist, sind sie sich einig, dass es kaum gelungen ist, die russische Wirtschaft mit Sanktionen in die Knie zu zwingen. So produziert Russland sowohl zivil als auch militärisch weiter – und schickt immer mehr Waffen und Soldaten in die Ukraine. Laut einer Schätzung der US-Regierung wurden in den ersten 18 Monaten seit der Kriegseskalation am 24. Februar 2022 etwa 70.000 ukrainische Militärangehörige getötet und bis zu 120.000 verwundet. +Im dritten Jahr des russischen Überfalls ist der Krieg von einem Schockmoment zu einer dauerhaften Realität geworden. Der Ukraine droht eine verlorene Generation. Sie besteht aus vielen jungen Menschen wie Timur, die den Glauben an den Sieg ihres Landes vielleicht noch aufbringen können, den Glauben an ihre eigene Zukunft aber nicht. +Manchmal stellt Timur noch musikalische Schnipsel ins Netz, die an seinen rauen, industriellen Sound aus der Zeit vor der Kriegseskalation erinnern, aber heute düsterer klingen. Als Rückkehr zur Musik betrachtet Timur diese Ausflüge in sein früheres Leben nicht. "Ein Instrument nur anzuspielen oder aber ein Musikstück zu konzipieren, zu schreiben, zu produzieren, das sind zwei ganz unterschiedliche Dinge." Laut seinem Profil in den sozialen Netzwerken ist Timur weiter ein "Ukrainian soldier. Ex-musician". +Timur weiß nicht, ob er irgendwann "Musiker. Früherer Soldat" schreiben wird, schreiben kann. "Ich denke überhaupt nicht über die Zukunft nach. Die Russen könnten mich jeden Tag umbringen." + +Titelbild: Timur Dzhafarov@johnobject diff --git a/fluter/journalismus-ausbildung-wie-wird-man-parlamentskorrespondent.txt b/fluter/journalismus-ausbildung-wie-wird-man-parlamentskorrespondent.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b0422f0e33870f69b606298b03db6e5f5f6de8fe --- /dev/null +++ b/fluter/journalismus-ausbildung-wie-wird-man-parlamentskorrespondent.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Im Journalismus gibt es nicht die eine, sondern beinahe unendlich viele Möglichkeiten, den Einstieg in den Beruf zu finden. Die einen raten von medienwissenschaftlichen Studiengängen ab und zu etwas, das einen inhaltlich interessiert: Politikwissenschaft ist ein Klassiker, Arabistik eher eine Ausnahme – und nicht zuletzt auch deshalb gerade sehr gefragt. Andere sehen besonders praxisbezogene Medien-Studiengänge als guten Einstieg. Praktika sind in jedem Fall eine gute Möglichkeit, bei einer Zeitung, beim Fernsehen, Radio oder bei einem Online-Medium Fuß zu fassen. Viele entscheiden sich nach dem Studium für ein Volontariat, die Ausbildung an einer Journalistenschule oder einen journalistischen Aufbaustudiengang. +Was verdienen Journalisten? +Gemäß Tarifvertrag verdienen Berufseinsteiger ohne sogenannte "Regelqualifikation" als festangestellte Redakteure etwa 35.000 Euro jährlich. Mit Regelqualifikation ist es etwas mehr: etwa 38.000 Euro jährlich. Als Regelqualifikation gelten laut Verdi ein Volontariat, ein abgeschlossenes Journalistikstudium (oder ein vergleichbares Studium, darüber wird dann im Einzelfall entschieden) oder die Ausbildung an einer anerkannten Journalistenschule. Mit mehr Berufserfahrung steigt auch das Gehalt. Viele in der Branche arbeiten allerdings freiberuflich und kommen oft auf deutlich weniger Einkommen: Laut einerBefragung des Deutschen Journalisten-Verbands von 2014verdienen freie Journalisten unter 30 im Schnitt 1.749 Euro monatlich, also aufs Jahr gerechnet knapp 21.000 Euro. +Ein ganz normaler Arbeitstag beginnt meistens schon abends, dann gucke ich in die Zeitung von morgen als Vorbereitung. Am Morgen blicke ich immer als Erstes auf Twitter, in der Tram lese ich ein E-Paper. Um neun Uhr haben wir Konferenz im Büro. Da schalten wir uns mit den Kollegen in Hamburg zusammen und besprechen die aktuelle Lage des Tages für das Politik-Ressort: Welche Themen sind heute wichtig? Steht ein Termin an? Ist irgendetwas passiert? +Wenn etwas Aktuelles anliegt, muss man ziemlich schnell reagieren. Ich bin bei uns unter anderem für die Grünen zuständig. Beispiel: Es gibt Streit um die Parteivorsitzenden. Da kann ich nicht drei Stunden warten, sondern wir brauchen schnell eine gute Analyse auf der Website. Das ist das Besondere an Online im Gegensatz zu einer Tageszeitung oder vielleicht sogar einer Wochenzeitung oder einem Magazin. Es gibt keine feste Deadline bei uns, der Anspruch ist aber, am frühen Nachmittag eine erste Einordnung zu liefern: Um wen geht es? Worum streiten die? Wie kam es dazu? Im Laufe des Nachmittags gibt es dann vielleicht noch einen Kommentar dazu, also ein meinungsbildendes Stück. +Wenn also irgendetwas ist, rufe ich nach der Konferenz ein paar Leute an. Meistens sind das zuerst Leute aus der zweiten Reihe, die sind total gut vernetzt. Das heißt in den Meldungen so schön, die Information stamme "aus Parteikreisen". Die frage ich: Wie war denn das? Wer ist da gegen wen? Warum wollen die einen das, die anderen nicht? Ich schreibe ihnen einfach direkt eine SMS: Können Sie mich bitte in den nächsten ein bis zwei Stunden zurückrufen, es ist dringend. Das geht schneller als über die Pressesprecher. Zitate von Politikern aus der ersten Reihe schicke ich dann noch an die Pressestelle, wo sie überprüft und offiziell zur Veröffentlichung freigegeben werden. So was wäre ein Tag, an dem ich sehr schnell arbeiten muss, wenn es eine "Lage" gibt – so nennen wir das, wenn etwas passiert. +Es gibt auch ruhigere Tage, an denen man Dinge vorbereiten kann. Die Bundestagswahl zum Beispiel. Heute hatte ich ein bisschen Zeit, da habe ich schon mal die Wahllisten durchgesehen: Wer ist da jetzt drauf? Wen stellen die Parteien auf? +Im Online-Journalismus kriegt man gut mit, wie viele Leute deinen Text lesen. Wir können das direkt sehen. Ich mag das Gefühl, wenn etwas gut geklickt wird und ich weiß, ich habe jetzt meinen Teil zu dieser Debatte beigetragen. Oder wenn ich vielleicht sogar die Erste war, die etwas geschrieben hat, das eine Debatte lostritt. Umgekehrt kann es frustrierend sein, wenn ich lange an einer Geschichte saß, die niemanden interessiert. +Ich bin schon seit neun Jahren bei Spiegel Online (SPON), im Parlamentsbüro seit vier. Es war nie beabsichtigt, dass ich in den Politikjournalismus gehe. Ich habe Geschichte und Medienwissenschaften studiert und wollte immer Kulturjournalismus machen – Konzert- und Filmkritiken schreiben. Das habe ich sogar im Master studiert, aber abgebrochen. Ich habe gemerkt, dass es nicht zu mir passt. Ich fand alles furchtbar fern. Man schreibt da nur für seinen eigenen Dunstkreis. +Also bin ich auf die Berliner Journalistenschule gegangen. Da konnte man richtig schreiben üben. Zu SPON bin ich über ein Pflichtpraktikum gekommen, das im Rahmen der Journalistenschule vorgesehen war. Das war auch im Berliner Büro. Mein damaliger Chef hat mich direkt am ersten Tag zu einer Reportage über Scientology geschickt. Das war toll, weil ich endlich das Gefühl hatte, ich kann hier einfach schreiben. Später ging ich zu Landesparteitagen und solchen Veranstaltungen und lernte da im Grunde, wie Politik funktioniert. Vorher war ich grundinteressiert, habe Polit-Talks geguckt und so. Aber ich war nie einer von diesen Nerds, die schon alles über das Wahlsystem wissen und eine eigene Partei gegründet haben. +Was ich eigentlich am besten fand: Man ist dicht dran an etwas, das gerade real passiert. Ich habe meinen Zugang zur Politik über die Parteien gefunden, und das finde ich total logisch, denn dort wird ja wirklich was gemacht. Nach dem Praktikum habe ich zwei Jahre im Hamburger Spiegel-Online-Büro als Politikredakteurin Nachtschichten gemacht, bis die Stelle in Berlin ausgeschrieben wurde. Und da hab ich mich eben beworben. +Der Job ist gut für Leute geeignet, die sich nicht sofort von Schwierigkeiten abschrecken lassen. Hier geht vieles sehr schnell, und es gibt viele Netzwerke, die am Anfang sehr undurchsichtig wirken. Sobald man einmal loslegt, kommt man aber sehr schnell rein, versprochen. Wer Hauptstadtjournalismus machen will, muss willens sein, Netzwerke zu bilden und auf Leute zuzugehen. Das ist ein alter Rat, aber das ist hier einfach die Basis. +Ich glaube, es ist wichtig, Politik nicht zu überhöhen als etwas sehr Schwieriges, Mächtiges und immer zu staunen: "Wow, die Kanzlerin." Man sollte die Politik genau von diesem Podest herunterholen und versuchen zu verstehen, warum die Leute so handeln, wie sie es tun. diff --git a/fluter/juco-2-studie.txt b/fluter/juco-2-studie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e566e032aaeb5042fb2d7047442738d94a6c44ec --- /dev/null +++ b/fluter/juco-2-studie.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Wie hat sich der Alltag von jungen Menschen während der Pandemie verändert? +Radikal. Allein die sogenannten Kernherausforderungen des Jugendalters: sich selbst zu positionieren, sich mit anderen Jugendlichen in einer Gruppe zu treffen,Freundschaftenund Paarbeziehungen aufzubauen, sich auszuprobieren – all das war von heute auf morgen überhaupt nicht mehr möglich. Hobbys wie Sport, die Pfadfinder oder Ähnliches sind ausgefallen. Während der Lockerungen konnte man sich dann zum Beispiel in Jugendzentren zu bestimmten Zeiten mit ein bis zwei Freunden auf Abstand treffen.Aber einfach zu kommen und zu gehen und sich mit vielen zu treffen, das ging nicht. Der psychosoziale Ausgleich fehlte. +Zu dem fehlenden Ausgleich kommen neue Herausforderungen. Eine Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf zeigt, dass immer mehr Kinder und Jugendliche sichpsychisch belastetfühlen. Was haben die Auswertungen der JuCo-Studien diesbezüglich ergeben? +Wir haben am Ende des Fragebogens immer ein freies Kommentarfeld, das in der Regel selten genutzt wird. Diesmal wurden unwahrscheinlich viele Kommentare geschrieben. Viele berichteten, sie fühlten sich sehr einsam und es ginge ihnen nicht gut, weil die ganzen Kontakte wegfallen. Freundschaften brächen weg, und neue könne man nicht aufbauen. Sehr viele schrieben so was wie: "Ich bin hier so allein in meiner Gedankenwelt zu Hause, und die depressiven Stimmungen nehmen irgendwie zu." +Zahlen der Barmer Versicherung zeigen, dass die Anträge für Therapien von Jugendlichen gestiegen sind. Macht sich das auch in der JuCo-Studie bemerkbar? +Die zweite JuCo-Studie hat gezeigt, dass junge Menschen vielen Belastungen ausgesetzt sind und sich auch psychisch überfordert fühlen. Andere Studien bestätigen das. Es wird in Zukunft sehr wichtig sein, auch langfristige Maßnahmen zu entwickeln, um dieFolgen der Pandemie für junge Menschenmit ihnen gemeinsam aufzuarbeiten. Eine Möglichkeit kann dabei Beratung sein. Es braucht niedrigschwellige Beratungs- und Unterstützungsangebote für junge Menschen mit sozialen Unsicherheiten und in der Übergangsgestaltung. + + +Psychische Probleme haben oft mit Ängsten zu tun. In der JuCo2-Studie stimmten über 45 Prozent der Befragten der Aussage "Ich habe Angst vor meiner Zukunft" eher oder voll zu. Welche Ängste sind das? +Es geht viel um Übergangsphasen: von der Schule in die Arbeit, in ein Praktikum, in einen freiwilligen sozialen Dienst, ins Ausland oder ins Studium. Manche hatten Angst davor, keinen Ausbildungsplatz zu finden – in der Hotellerie oder Gastronomie war das zum Beispiel im vergangenen Jahr nicht möglich. Andere haben in den Bereichen Medien und Design gerade angefangen, aber hatten zu Hause nicht die nötige Technik zum Arbeiten, und die Berufsschulen waren geschlossen. Viele junge Menschen haben zudem geschildert, dass ihre Nebenjobs weggebrochen sind und sie deswegen nun finanzielle Sorgen haben. +Nicht jeder kann sich ein Leben ohne Nebenjob leisten oder Ausbildungspläne spontan ändern – und auch vor der Pandemie waren die Bedingungen nicht für alle gleich. Wie steht es seither um die Chancengleichheit? +Die These der JuCo-Studien ist: Wo es vor der Pandemie schon Schwierigkeiten gab – wo junge Menschen oder Familien also bereits wenig Ressourcen oder Unterstützung hatten –,haben sich diese verstärkt.Das gilt auch in der Bildung. Diejenigen, die allein nicht gut lernen können, keine Hilfe in der Familie bekommen, sich keine Nachhilfe leisten können oder denen die Schulsozialarbeit weggefallen ist, haben viel größere Herausforderungen als die mit Ressourcen. +Gab es auch junge Menschen, die von der Pandemie profitiert haben? +Gerade in der ersten Studie haben einige gesagt: "Ich finde das ganz gut, wenn bestimmte Gegebenheiten mal wegbrechen." Viele sind von einem Termin zum nächsten gehetzt – langer Schultag, Nachhilfe, Sportverein und andere Engagements. Nun ist es ein bisschen entzerrter. Außerdem haben junge Menschen mit Sozialphobien oder die, die in der Schuleunter Mobbing litten, von weniger Druck berichtet. +In der Studie heißt es: Die junge Generation fühlt sich von der Politik in Zeiten der Pandemie nicht gehört. Wie hätte man junge Menschen mehr beteiligen können? +Bereits vor Corona waren junge Menschen nicht so richtig einbezogen, sichtbar oder konnten sich nicht leicht mitteilen in der Politik. Für uns war es wichtig, darauf hinzuweisen, dass in solch einer Krise alle Perspektiven miteinbezogen werden müssen. Auch die der Jugend. Es gibt bereits Instrumente, die etabliert wurden, um junge Menschen zu beteiligen, von Kinderparlamenten über Jugendparlamente, Jugendhilfeausschüsse, Schüler- und Schülerinnenvertretungen bis hin zum Bundesjugendkuratorium. Aber vieles davon hat einfach gar nicht stattgefunden in der Zeit. +Sowohl in der JuCo1- als auch der JuCo2-Studie betrug das Durchschnittsalter der Teilnehmenden 19 Jahre. Das sind die diesjährigen Erstwählerinnen und Erstwähler. Welche Auswirkungen könnte der Umgang mit jungen Menschen in der Pandemie auf die Bundestagswahl haben? +Starke Jugendbewegungen wie Fridays for Future gab es schon vor der Pandemie. Man hat an ihnen gemerkt, dass Jugendliche sich beteiligen wollen und politische Forderungen haben. Während der Pandemie gab es sehr wenig Aufbegehren von Jugendlichen. Mein persönlicher Wunsch wäre, dass das wieder auflebt – verschiedenste politische Jugendbewegungen mit dem Gefühl von "Wir wollen jetzt mitgestalten, und es muss jetzt mal um uns gehen". Aber ob das passiert, weiß ich natürlich nicht. Vielleicht ist die Frustration auch zu groß. +Tanja Rusack ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Uni Hildesheim +Es ist also viel verpasst worden in den letzten eineinhalb Jahren. Was sollte die Politik nun tun? +Ich finde es absolut wichtig, dass geguckt wird, wie man Dinge ausgleichen kann. Ein kostenloses Interrail-Ticket, wie es im Gespräch war, wäre eine schnelle Wiedergutmachung. Genau wie Geld für einen Laptop für die, die sich keinen leisten können. Viele junge Menschen haben ein Jahr lang Schule oder ihr Studium nur auf dem Smartphone verfolgt. Es braucht aber auch mittel- und langfristige Perspektiven, zum Beispiel flächendeckend niederschwellige Beratungsangebote. Wir müssen Unterstützungsmöglichkeiten etablieren und schauen, wie wir junge Menschen empowern können. + diff --git a/fluter/juedische-kontingentfluechtlinge-deutschland.txt b/fluter/juedische-kontingentfluechtlinge-deutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/juedische-polen-zum-holocaust-gesetz.txt b/fluter/juedische-polen-zum-holocaust-gesetz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a58a0fe546397451151dee97556c59d66243a8f0 --- /dev/null +++ b/fluter/juedische-polen-zum-holocaust-gesetz.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Auch unabhängig von der Debatte um das neue Gesetz ist das gesellschaftliche Klima in Polen gegenüber der jüdischen Bevölkerung rauer geworden.  Jüdische Gemeinden und Organisationen in Polen berichten, dass sich die Stimmung im Land verändert hat. Die Zahl der Beleidigungen und Bedrohungen gegen jüdische Einrichtungen wachse. +Was bedeutet das für Polen mit jüdischem Background? Wie ist die Stimmung im Land? Was hat sich verändert? Wir haben fünf von ihnen gefragt. + +Patrycja Dołowy, 40, Fotografin und Aktivistin +"Was der Ministerpräsident in München gesagt hat, ist empörend, abscheulich und böse. Alles, was diese Regierung verstecken wollte, hat sie nun noch deutlicher ans Tageslicht gebracht. +Meine Großmutter und ihre Zwillingsschwester flohen während des Todesmarsches aus Auschwitz. Als sie zu ihrem Haus in Łódź zurückkehrten, begrüßten ihre enttäuschten Nachbarn sie mit den Worten: ‚Diese Juden sind zurück.' Und in den 1950er-Jahren, als mein Vater zur Schule ging, versammelten sich regelmäßig ältere Kinder, um diejenigen zu verprügeln, die nicht am Religionsunterricht teilnahmen." + +Stanisław Skarżyński, 34, Journalist +"Ich habe Arrangements getroffen für den Fall, dass ich schnell das Land verlassen muss. Und ich bin nicht der Einzige. Für mich, einen Polen jüdischer Abstammung, ist das ein politisches Statement. Es ist so schrecklich wie simpel: Die polnische Regierung und die regierende Partei haben sich dafür entschieden, den dunklen, antisemitischen Weg zu gehen, und die polnischen Juden sind wieder diejenigen, die sich in ihrem eigenen Land nicht sicher fühlen können." + +Ruta Śpiewak, 41, Soziologin an der Polnischen Akademie der Wissenschaften +"Ich bin mit den Geschichten meines Großvaters aufgewachsen. Eine seiner Schwestern ist im Ghetto von Białystok gestorben, eine andere in Treblinka. Ich wuchs also im Schatten dieser schrecklichen Traumata auf. Gleichzeitig aber hatte ich das Gefühl, dass Antisemitismus mich nicht betrifft, auf keine Weise. Das war bloß Geschichte. Seit vergangenem Jahr aber ändert sich etwas. Stimmen, von denen ich glaubte, sie seien längst vergangen, kehrten in den öffentlichen Diskurs zurück. Es sind Stimmen, die sagen, dass ein Jude jemand Böses oder Fremdes sei. Ich bin enttäuscht, denn es zeigt sich, dass es selbst in meiner Gemeinde Leute gibt, die nichts Falsches daran sehen, was gerade über Juden und den Holocaust gesagt wird. Ich mache mir Sorgen um die Sicherheit meiner Kinder und frage mich, ob ich sie vor diesem Hass schützen kann. Ich frage mich, ob das hier noch mein Land ist. Auf der anderen Seite bin ich froh, dass ich Unterstützung von der jüdischen Gemeinde und von den Menschen um mich herum erfahre, die, obwohl sie nicht jüdisch sind, genauso empört und traurig sind wie ich." + +Paweł Passini, 40, Theaterdirektor +"Wir leben in spannungsreichen Zeiten, die Menschen sehnen sich nach einfachen Antworten, und die Monster wurden nun wieder entfesselt. Es ist widerlich, dass Polen seine internationale Stellung für interne Kämpfe opfert. Polen braucht eine Art empathischen Raum für Konversationen über jüdische Themen. Das ist besonders wichtig in einem Land, in dem, wie es heißt, die Grenze durch jedes Bett verläuft, ein Land der Grenzen. Ich will das alles verstehen als Pole, als Jude, als jemand, der zu einem Viertel Grieche mit italienischen Wurzeln ist. Wir waren schon recht weit, was diese Arbeit am Verstehen angeht, und jetzt wird die Arbeit vieler Jahre in einem Kampf um Macht einfach so zerstört." + +Monika Sznajderman, 58, Schriftstellerin und Verlegerin +"Ich mache mir um mich keine Sorgen. Ich mache mir Sorgen um dieses Land. Darum, wie es in einigen Jahren aussehen wird, und um meine Kinder und Enkel. Werden sie in einem archaischen, rückwärtsgewandten, nationalistischen, großkatholischen Polen leben? Wird die nächste Generation wieder dazu gedrängt werden, das Land zu verlassen? Damit rechne ich. +Ich bin wütend und verzweifelt. Wütend auf diese Regierung, dass sie Hass sät – gegen Juden, Ukrainer, Flüchtlinge –, ihn auch noch befeuert, im besten Fall passiv zusieht. Ich bin wütend auf die katholische Kirche, die im schlimmsten Fall diesen Hass auch befeuert und im besten Fall ebenfalls passiv bleibt. Und ich bin verzweifelt, weil das mein Land ist." + +Titelbild: Maciek Nabrdalik/The New York Times/laif diff --git a/fluter/juedisches-leben-neukoelln-hillel.txt b/fluter/juedisches-leben-neukoelln-hillel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ffcf8d171a204feb2d856596d3b90a05824889ed --- /dev/null +++ b/fluter/juedisches-leben-neukoelln-hillel.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Treffpunkte außerhalb von Synagogen, wo junge Jüdinnen und Juden zusammenkommen, um sich solche Fragen zu stellen und neue Zugänge zum Glauben zu finden, sind selten. In den letzten Monaten und Jahren gab es immer wieder Berichte über antisemitische Übergriffe. Der Zentralrat der Juden spricht schon seit einer Weile von "Problemvierteln" in Berlin, gerade wenn dort viele Menschen islamischen Glaubens leben wie in der Sonnenallee oder der Karl-Marx-Straße. +Warum also ausgerechnet hier ein jüdisches Zentrum gründen? "Hier leben viele junge Menschen", sagt die Rabbinerin Rebecca Blady, die aus den USA stammt und den Hillel-Standort in Berlin gemeinsam mit ihrem Mann Jeremy gründete. "Es gibt viele Möglichkeiten, eine sehr diverse Nachbarschaft und viele Menschen mit Migrationserfahrung." +Wie steht sie zu dem Thema Antisemitismus in Neukölln? Blady sagt: "Der Antisemitismus nimmt gerade auf der ganzen Welt zu, nicht nur in Neukölln." Sie sagt auch: "Immer wenn ich Antisemitismus erlebt habe, und ich habe viel davon erlebt, ging er von weißen deutschen Rechtsradikalen aus." Arabisch sprechende Menschen seien ihr gegenüber noch nie gewalttätig geworden. Sie sieht die vielen Muslime in Neukölln eher als Verbündete. "Unsere Nachbarn haben ähnliche Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht wie wir. Sie leben als Minderheit in der deutschen Mehrheitsgesellschaft." + + +Gern erinnert sie sich an das letzte jüdische Lichterfest im Dezember 2022. Sie hatten die Idee, am Rathaus Neukölln die Chanukkia – den achtarmigen Leuchter – aufzustellen. Niemand im Kiez habe sich daran gestört, also stand der Leuchterdie vollen acht Tage von Chanukkavor dem Rathaus. +Andere haben andere Erfahrungen gemacht. Antisemitische Parolen bei propalästinensischen Protesten in Neukölln am Ostersamstag dieses Jahres und das Nichteinschreiten der Polizei zeichnen das Bild eines judenfeindlichen Klimas. +Hillel, benannt nach einem einflussreichen Lehrer des Judentums, ist nach eigenen Angaben weltweit die größte jüdische Studierendenorganisation. Unter der Leitung der Bladys treffen in Neukölln junge Menschen aufeinander, um zu diskutieren, zu beten, zu feiern und gemeinsam zu lernen. Hillel bezeichnet sich als "radikal divers", das bedeutet: Sie sind offen für alle Jüdinnen und Juden, ungeachtet der Nationalität oder ihres Hintergrunds. +"Ich glaube, dass es die deutsche Mehrheitsgesellschaft gern hat, wenn sich Jüdinnen und Juden als Opfer sehen", sagt Mischa Ushakov, ein junger Mann Mitte 20 mit wild abstehenden Haaren und einem Siebentagebart. Ushakov arbeitet als Fellow für Hillel, letztes Wochenende hat er zum Beispiel einen Techno-Schabbat angeboten, eine eher ungewöhnliche Art, den wöchentlichen Ruhetag vom Freitag- bis Samstagabend zu begehen. An anderen Tagen veranstaltet er Spaziergänge durch die Nachbarschaft, um zu schauen, wo und wie man helfen kann. Und bald soll es eine Veranstaltung geben, bei der es um jüdische Sichtweisen auf Migration und den Umgang mit Geflüchteten geht. +An einem frühen Sommerabend steht Rebecca Bladyauf dem Tempelhofer Feldund reckt die Arme zum Himmel. Heute gibt sie in Shirt und Leggings eine Yogastunde. "Aufrecht zu stehen ist manchmal die große Herausforderung", sagt Blady mit einem Lächeln in die Runde. Die Abendsonne strahlt sie von hinten an, und es fällt plötzlich sehr leicht, sie sich als erleuchtete Rabbinerin vorzustellen. + +Rebecca Blady und ihr Mann kamen 2016 erstmals nach Berlin und verbrachten den Sommer in der Stadt. Sie spürten gleich, dass es hier eine Aufgabe für sie gibt. Denn Berlin ist für Rabbinerinnen und Rabbiner eine echte Herausforderung, weil viele Jüdinnen und Judenunterschiedlichster Identitäten in der Stadt leben, man jüdisches Leben dennoch kaum sieht. Anders als in Israel oder den USA fehlen in Deutschland die Strukturen, vor allem für junge Menschen. Die Bladys wollten das ändern und kamen zurück. 2021 fanden sie schließlich einen Raum in Neukölln, der perfekt passte: einen Ort, den sie selber gestalten und zum Mittelpunkt einer lebendigen Community machen konnten. +Stichwort Antisemitismus +Antisemitische Einstellungen sind in der gesamten Gesellschaft weit verbreitet. Die meisten Übergriffe auf Juden und Jüdinnen sind Studien zufolge auf eine rechtsextreme Motivation zurückzuführen. Aber auch unter Musliminnen und Muslimen lassen sich antisemitische Einstellungsmuster finden – insbesondere israelbezogener Antisemitismus. +Kritik an israelischer Politik ist nicht gleich antisemitisch. Aber sie kann es sein, wenn zum Beispiel die Ablehnung des gesamten Staates Israel auf antisemitischen Vorurteilen beruht – oder die israelische Politik mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt wird. Gründe dafür könnten etwa eigene Diskriminierungserfahrungen und – sofern eine Migrationsbiografie vorliegt – die starke Propagierung von Antisemitismus in den Herkunftsländern sein. +Du willst mehr über Antisemitismus erfahren? Klick mal hier:bpb.de/antisemitismus +Von außen deutet nichts darauf hin, dass hier eine junge jüdische Community zusammenkommt – und das soll es auch nicht, denn jüdische Einrichtungen sind in Deutschland immer noch einem hohen Risiko ausgesetzt. Gemeinsam mit Freunden aus Berlin besuchte Rebecca Blady am 9. Oktober 2019 die Synagoge in Halle, alsein Rechtsextremist einen Anschlag darauf verübte, der dem ganzen Land schlagartig klarmachte, wie gefährdet und verletzlich jüdisches Leben auch fast 80 Jahre nach dem Nationalsozialismus noch ist. Lediglich die Tür der Synagogeschützte an dem Tag die Menschenvor den Plänen des Attentäters. +Dieses Ereignis hat Blady – wie viele andere Jüdinnen und Juden auch – politisiert. Sie will die Opferrolle, die der jüdischen Gemeinschaft oft zugeschrieben wird, verändern: "Wir sind als Jüdinnen und Juden keine Opfer, sondern Teil der Zivilgesellschaft und wollen einen Impact haben", sagt sie. Ein Jahr nach dem Attentat veranstaltete Hillel das "Festival of Resilience", zu dem mehrere Communitys zusammenkamen, um sich gemeinsam widerständig zu zeigen und an die Opfer der Gewalt zu erinnern; insbesondere an Jana L. und Kevin S., die der Attentäter nach seinem vergeblichen Versuch, in die Synagoge einzudringen, erschossen hatte. +Hat sie keine Angst, dass auch Hillel in den Fokus von Attentätern geraten könnte, gerade weil der Ort in Neukölln vergleichsweise ungeschützt ist? Blady schüttelt den Kopf. "Ich habe keine Angst. Aber nur weil ich keine Angst habe, heißt das nicht, dass die Angst der anderen nicht legitim wäre", sagt sie. Tatsächlich kommen einige zu den Treffen nur mit Bedenken, andere gar nicht, weil sie sich nicht sicher fühlen. +"Wir können Akzente setzen", sagt Ushakov, und die beste Art, sichtbar zu werden, sei es, es nicht allein zu versuchen. "Wir müssen uns sagen: Ey, wir haben Leute um uns herum, die uns kennen und die uns schätzen." Sich mit denen zusammenzuschließen, dafür sei Neukölln genau der richtige Ort. "Ich glaube, wir sind hier gut aufgehoben." + +Dieser Text ist im fluter Nr. 88 "Neukölln" erschienen.Das ganze Heftfindet ihr hier. diff --git a/fluter/jugend-forscht.txt b/fluter/jugend-forscht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..35f419d7e57b538b47c5b4f9ad8eb65168f40572 --- /dev/null +++ b/fluter/jugend-forscht.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Schettler konnte sich nicht bei Ashoka bewerben. Die Organisation sucht selbst nach Menschen mit Ideen und fordert diese dann zu einer Bewerbung auf. Nur ein Prozent der Anwärter wird als Social Entrepreneur, als Sozialunternehmer, aufgenommen. Wer das Aus- wahlverfahren übersteht, erhält neben Beratung und dem Zugang zu einem weltweiten Netzwerk vor allem finanzielle Unterstützung. +Ashoka übernimmt die Kosten für den Lebensunterhalt, so kann sich der Fellow in den folgenden drei Jahren ganz auf sein Projekt konzentrieren. Die Mittel stammen von privaten Stiftungen und Privatpersonen. Rund 2000 Social Entrepeneurs in über siebzig Ländern sind bislang in den Genuss der Ashoka-Unterstützung gekommen, davon außer Schettler nur sechs in Deutschland. Der bekannteste unter ihnen ist Muhammad Yunus, der 2006 mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde. Ohne Hilfe von Ashoka hätte die von ihm 1983 gegründete Grameen Bank, die Mi- krokredite an Bedürftige vergibt, vielleicht nie die Entwicklungshilfe revolutionieren können. Nachhaltigkeit in dieser Form strebt Ashoka bei jedem Projekt an. Daher werden keine Stipendien für den Bau von Krankenhäusern vergeben, sondern für Projekte wie Science-Lab, die eine grundlegende Neuerung versprechen. +Heike Schettler und ihre Partnerin wollen ihr Engagement in den nächsten Jahren auf Kindergärten und Grundschulen ausweiten. Schon heute beschäftigen sie zwölf Teilzeitkräfte. "Wenn wir im staatlichen Bildungssystem Unterstützung finden,werden daraus vielleicht Vollzeitstellen", hofft Schettler. Die Erfolgsbilanz von Ashoka legt nahe, dass es klappen könnte: Neun von zehn Ideen von Ashoka-Stipen- diaten werden von anderen Organisationen oder staatlichen Institutionen aufgegriffen und weiterentwickelt. Heike Schettler führt diesen Erfolg darauf zurück, dass Ashoka nach professionellen Unter- nehmern sucht, die am Markt bestehen können. "Der einzige Unterschied zwischen kommerziellen Anbietern und uns ist, dass wir nicht nach maximalem finanziellem Profit streben, sondern nach dem größtmöglichen Nutzen für die Gesellschaft." diff --git a/fluter/jugend-wahlen-taiwan.txt b/fluter/jugend-wahlen-taiwan.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..34963fe600926c53e08f88611818a4735248dbd4 --- /dev/null +++ b/fluter/jugend-wahlen-taiwan.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Auch er positionierte sich zur China-Frage und wählte einen Kurs, der zwischen dem der beiden großen Parteien liegt: den Dialog suchen und gleichzeitig das Verteidigungsbudget erhöhen. Aber der Fokus seines Wahlkampfs lag auf den Löhnen, die immer gleich bleiben, und den Immobilienpreisen, die steigen. Den beiden anderen Parteien warf er vor, die innenpolitischen Probleme über die China-Frage zu vergessen. +Die Wahlen 2024 wurden weltweit mit Spannung verfolgt, weil in den vergangenen Jahren die politischen und militärischen Spannungen zwischen China und Taiwan zugenommen haben. Am Ende entschied die DPP die Präsidentschaftswahlen mit gut 40 Prozent für sich, verlor aber die absolute Mehrheit im Parlament. Ko Wen-je gewann mit der TPP aus dem Stand 26,5 Prozent der Stimmen, mehr als je ein anderer Kandidat jenseits der beiden großen Volksparteien. +Warum wählen junge Menschen plötzlich die TPP? Waruminteressieren sie sich nicht mehr nur für die Beziehung zu China? Und was treibt sie stattdessen um? +Eine, die aus Unzufriedenheit TPP wählte, ist Huang Hsin-Te. Sie ist 26 Jahre alt und arbeitet als Sales Admin für ein Robotics-Unternehmen in Taipeh. Für eine eigene Immobilie reicht ihr Geld auf keinen Fall, und selbst mit einem Job, bei dem sie ganz gut verdient, kann sie es sich nicht leisten, ohne Mitbewohner:innen zu leben. +Den meisten von Huangs Freund:innen geht es ähnlich. "Ich kann zwar in Taipeh leben, aber nicht in Bars oder auswärts essen gehen, und wenn andere auf eine Party gehen, bleib ich zu Hause." Den Traum vom Eigenheim habe sie schon lange aufgegeben. Deswegen stimmte sie dieses Jahr das erste Mal für die TPP. Sie hofft, dass Ko die Situation verändern kann. In einem Aktionspapier verspricht er: mehr Sozialwohnungen zu bauen, Steuerreformen für Hausbesitzer:innen und Subventionen für Mieter:innen. "Ich vertraue ihm", sagt Huang. +Auch Chen Hsuan reicht ihr Geld nicht. "Früher war es so, dass du Geld verdienst, wenn du hart arbeitest", sagt die 29-jährige Kuratorin aus Taipeh. "Aber heute ist es anders." Sie glaubt allerdings nicht, dass eine andere Partei bessere Lösungsansätze hat als die DPP. Und: Die wirtschaftlichen Probleme Taiwans sind für Chen nicht wahlentscheidend. "Geopolitik ist der wichtigste Faktor für meine Wahl, denn ich habe Angst davor,dass China unsere Freiheit gefährdet." Die DPP habe in den letzten acht Jahren das Fundament für die Unabhängigkeit von China gelegt. +Wenn Chen mitbekommt, dass Bekannte nicht wählen gehen wollen, sagt sie halb im Scherz: "Geh, es könnte das letzte Mal sein." China hat im Vorfeld der Wahlen Militärmanöver in der Nähe der Insel durchgeführt, um die Taiwaner:innen zu verunsichern. +Zum Wählen musste Chen nach Hause zu ihren Eltern fahren, die in Kaohsiung, einer Stadt im Süden, leben. Denn in Taiwan stimmt man nicht dort ab, wo man wohnt, sondern dort, wo der Haushalt der Familie gemeldet ist. Das ist für viele junge Wähler:innen ein finanzielles Problem. +Chang Alvin, Präsident der Taiwan Youth Association for Democracy, hat deshalb mit den Mitteln einer Fundraising-Kampagne Busse und Schiffe gemietet, um junge Wähler:innen in ihre Heimatstädte zu bringen. "Wir haben eine geringe Wahlbeteiligung unter den jungen Wähler:innen", sagt er. "Wir wollen nicht, dass Geld der Grund dafür ist." 1.200 Menschen haben das Angebot der Organisation zufolge bei den Wahlen 2024 angenommen. Auch die zwei Millionen Taiwaner:innen, die im Ausland leben, müssten zum Wählen zurück nach Taiwan fliegen, sonst wird ihre Stimme nicht gezählt. Briefwahl ist aus Angst vor Wahlmanipulation nicht möglich. +Lin Wei-Lun findet die Regelung problematisch. Der 27-jährige Fotograf kommt aus Taipeh, aber lebt derzeit in London und musste für die Wahlen einen Langstreckenflug buchen. Er freue sich zwar, seine Familie zu sehen, aber er habe auch Freunde, denen es anders geht. In vielen Familien wütet einpolitischer Generationenkonflikt, da viele Eltern noch Kuomintang wählen und es die jüngere Generation in der Vergangenheit eher ins Lager der DPP zog.  Aus Angst vor Auseinandersetzungen reisen einige von Lins Freund:innen nicht nach Hause – und verlieren damit ihre Stimme. +Das ist besonders problematisch, weil Taiwan eine stark alternde Gesellschaft ist und es ohnehin wenig junge Wähler:innen gibt. Die Geburtenrate gehört zu den niedrigsten der Welt. Die Parteien konzentrieren sich in ihren Wahlprogrammen daher eher auf die Belange größerer Alterskohorten und kümmern sich zum Beispiel um eine Verbesserung des Gesundheitssystems für Rentner:innen. +Die Interessen der jungen Wähler:innen haben sich verändert, sagt Chang Alvin. Sie interessieren sich zwar immer noch für geopolitische Fragen, aber seit dieser Wahl reden sie auch über Bildung, zum Beispiel über mentale Probleme unter Schüler:innen und die nicht verfügbaren Therapieplätze – bis vor kurzem noch ein Tabu in der taiwanischen Öffentlichkeit. Außerdem mischen sie sich in die Verkehrspolitik ein und fordern sichere Bürgersteige. "Junge Menschen sind keine Single-Issue-Wähler:innen", sagt Chang Alvin. "Sie interessieren sich für mehr als ein Thema und informieren sich über das Internet." +Die Politikwissenschaftlerin der National Taiwan University, Chang Kuei-min, hat beobachtet, dass die TPP damit punktet, sich mit Parolen von den anderen beiden Parteien abzugrenzen und übers Internet zu mobilisieren. Junge Taiwaner:innen hören über soziale Medien Parolen, dass sich wirtschaftlich etwas verändern soll. Viele wissen aber gar nicht, was die Partei konkret machen will und dass es der Wirtschaft in Taiwan eigentlich nicht so schlecht geht. "Es ist das Narrativ der TPP, das die jungen Leute anzieht." Das bereite ihr Sorgen. Die TPP wird deshalb manchmal als populistische Partei bezeichnet. +Viele Erstwähler:innen, die mit der DPP groß geworden sind, sehen diese als politische Elite, die sie ablehnen. Die Hälfte der Wähler:innen unter 40 Jahre unterstützt laut der Ling-Media-Umfrage die TPP. Chang Kuei-min sieht das als große Herausforderung für die Zukunft. "Wir haben 3,5 Millionen unglückliche Wähler:innen, das ist ein schlechtes Zeichen." Chang sagt, die TPP habe bei dieser Wahl die Unzufriedenheit der jungen Wähler:innen gebündelt. Deshalb spricht sie sich für mehr Diversität im taiwanischen Parteienspektrum aus. "Das Parlament muss jünger werden und die sozialen Fragen ernst nehmen." +Fotograf Lin Wei-Lun kritisiert die Auftritte des TPP-Politikers Ko. "Er äußert sich oft politisch inkorrekt oder sexistisch und behauptet dann, es nicht gesagt zu haben." Aber Lin sagt auch, dass Ko ein guter Bürgermeister in Taipeh war und dass er versteht, warum er bei jungen Leuten so gut ankommt. Schon vor seiner Kandidatur zum Präsidenten war Ko bekannt für eigenwillige Aktionen: Er veröffentlichte zum Beispiel einen Rappsong oder ließ sich dabei livestreamen, wie er mit dem Fahrrad in 30 Stunden eine 520-Kilometer-Strecke auf der Insel zurücklegte. "Ich glaube, für viele ist es nicht cool, die KMT oder DPP zu wählen", sagt Lin. Deren Hauptaugenmerk seien immer die Beziehungen zu China, damit würden sie versuchen, Wähler:innen zu fangen. +Und das macht mehr und mehr junge Menschen wütend. "Ich wünschte mir jemanden, der sich für uns interessiert, denn wir sind frustriert." Junge Taiwaner:innen sehnen sich nach einer Zukunft jenseits der China-Frage. + +Titelbild: Annice Lyn/Getty Images diff --git a/fluter/jugendarbeitslosigkeit-rumaenien.txt b/fluter/jugendarbeitslosigkeit-rumaenien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..57c0f69c8846f7eb3c1c6d7958546aeba2649d7a --- /dev/null +++ b/fluter/jugendarbeitslosigkeit-rumaenien.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Am Abend, als Adrian Popescu beschließt, Rumänien zu verlassen, ist sein Schulabschluss vier Jahre her. Seitdem sucht er einen Ausbildungsplatz. Eigentlich wollte er ein Handwerk lernen, mit Holz arbeiten, eine eigene Firma gründen. Inzwischen ist er 21 und möchte nur noch eins: Geld verdienen. +Adrian lebt mit seiner zehn Jahre älteren Schwester Liana und seiner Mutter in einem kleinen Haus am Stadtrand. Liana hat in einem Textilgeschäft gearbeitet; als es pleiteging, wurde sie entlassen. Seitdem sucht auch sie einen Job. Für umliegende Bauern und Nachbarn erledigen die Geschwister kleine Jobs. Sie helfen beim Renovieren oder der Ernte, reparieren Wasserhähne, flicken Hosen. Das Geld reicht, um satt zu werden. Auf Facebook nennt Adrian sich den "Boss von Târgu Mureș". Auf den Fotos in seiner Timeline trägt er weiße Hemden, posiert vor großen Autos, die nicht seine sind. Frauen kommentieren seine Posts mit Herzen. Um dieses Bild aufrechtzuerhalten, will er seinen echten Namen auch nicht in diesem Text lesen. +Weiterlesen: +Auch Marco Richard ist aus einer rumänischen Kleinstadt zum Arbeiten nach Deutschland gekommen – als Erntehelfer.Von seinen Erfahrungen und den Arbeitsbedingungen der Saisonarbeitskräfte lest ihr hier. +Auf Facebook entdeckt der "Boss" einen Post: Ein Mann ruft junge Menschen auf, sich für Arbeit bei einem deutschen Konzern zu melden:Europas größtem Schlachtunternehmen Tönnies. Das funktioniert: Im EU-Vergleich hat Rumänien seit Jahren mit die höchsten Anteile junger Menschen ohne schulische oder berufliche Ausbildung. Die Jugendarbeitslosigkeitsquote ist zwar bis zur Corona-Pandemie mehrere Jahre in Folge gesunken, aber mit heute 16 Prozent immer noch vergleichsweise hoch. So zieht es jedes Jahr Tausende junge Rumän:innen ins Ausland. Auch Adrian hinterlässt unter dem Post seine Telefonnummer. +Wenig später bekommt er bei WhatsApp ein Foto geschickt: Es zeigt zwei Menschen, die helle Kittel tragen und blaue Hauben und große Brocken Fleisch in den Händen. Ihre weißen Schuhe stehen im Blut. Den Namen Tönnies kennt jeder in Târgu Mureș. Wer für ihn arbeitet, hat es geschafft, glaubt auch Adrian. Er kennt Leute, die im Schlachtbetrieb arbeiten und ihren Familien Geld schicken können. Noch am selben Abend beschließt Adrian, Rumänien zu verlassen. +Er ist einer von vielen. Im Bus nach Deutschland sitzen sie dicht gedrängt. "Wenn die Verzweiflung groß ist, fahren die Menschen los, ohne genau zu wissen, was sie erwartet. Wenn nichts im Kühlschrank ist, kann man keine Zukunft planen", sagt Stanimir Mihaylov. Er arbeitet im Projekt "Arbeitnehmerfreizügigkeit fair gestalten" des Vereins Arbeit und Leben in Düsseldorf, berät dort Migrant:innen aus der EU. Mihaylov wurde in Bulgarien geboren, er kam als junger Mann zum Studieren nach Deutschland. "Ich kenne das Gefühl der Perspektivlosigkeit", sagt er. Bulgarien hat eine ähnliche Jugendarbeitslosenquote wie Rumänien. +Als jugendarbeitslos gelten 15- bis 24-Jährige, die keinen Arbeits- oder Ausbildungsplatz haben. Die oft zitierte Jugendarbeitslosenquote gibt dabei aber nicht an, wie viel Prozent aller Jugendlichen arbeitslos sind. (Viele junge Menschen gehen ja Vollzeit zur Schule oder Uni, zählen also nicht zur Erwerbsbevölkerung.) Die Quote beziffert vielmehr, wie viel Prozent der 15- bis 24-Jährigen arbeitslos sind, die dem Arbeitsmarkt eigentlich zur Verfügung stehen. +In Reutlingen angekommen, erwartet Adrian ein Mann, der ihn zur Unterkunft bringen soll. So hatte es der Vermittler auf WhatsApp versprochen. In brüchigem Rumänisch erklärt er nun, das Angebot sei geplatzt, die Stelle nicht mehr zu vergeben: Corona. Dann ist er verschwunden. +Adrian steht mit nichts als einer Tasche am Bahnhof in einem Land, dessen Sprache er nicht spricht. Der Akku seines Smartphones ist leer, er weiß nicht, wo er übernachten soll. +Was Adrian widerfahren ist, sei systematischer Betrug, sagt Mihaylov, und kein Einzelfall: Subunternehmer würden im Internet mit gutem Gehalt, einer Unterkunft, einer Zukunft in Deutschland locken. "Vor Ort sieht die Situation dann aber oft anders aus." Manche Vermittler behaupten nur, für offizielle Subunternehmer zu rekrutieren und streichen die Vermittlungspauschalen ein. Andere arbeiten wirklich für die Unternehmen, brechen aber wie in Adrians Fall den Kontakt ab, wenn alle Stellen besetzt sind oder ein Betrieb pandemiebedingt schließen muss. Bei Tönnies sei dieses Vorgehen nicht bekannt und würde nicht akzeptiert, hieß es auf fluter.de-Anfrage von einem Sprecher des Unternehmens. +Jugendarbeitslosigkeit in Europa +Gerade fertig mit Studium oder Ausbildung – und kein Job in Sicht: Menschen unter 25 treffen Arbeitslosigkeit und ein Mangel an Ausbildungsplätzen besonders hart. In der Corona-Pandemie hat sich die Situation noch mal verschärft. Allein bei der Beratungsstelle, in der Stanimir Mihaylov arbeitet, haben sich die Anfragen verdoppelt. +Die Gesamtstatistik bestätigt diesen Eindruck. Die Jugendarbeitslosenquoten sind zwar prinzipiell höher als die Gesamtarbeitslosenquoten (viele Jugendliche im potenziell erwerbsfähigen Alter gehen wegen der Schulpflicht oder eines Studiums nicht arbeiten). Derzeit liegt die Jugenderwerbslosenquote in der EU aber bei 17,1 Prozent – mehr als doppelt so hoch wie die Gesamtarbeitslosenquote. +Besonders betroffen sind neben Rumänien auch Italien, Griechenland oder Spanien. Dort kam es zuletzt immer wieder zu Protesten gegen die Regierungen – die Demonstrierenden fordern Reformen des Bildungssystems und höhere Mindestlöhne. +14 Tage sind seit Adrians Ankunft in Deutschland vergangen. 14 Tageauf der Straße. Er bettelt in der Innenstadt, schläft bei Minusgraden in einem Parkhaus. Als er versucht, einen Platz in einer Notunterkunft zu bekommen, wird er abgewiesen. Weil die Notunterkunft überlastet sei, heißt es. Auch dass Adrian keinen deutschen Pass hat, könnte ein Faktor gewesen sein: Wie viele Betreiber von Notunterkünften meldet auch die AWO Reutlingen seit Jahren, dass sie überfordert sei von der Masse osteuropäischer Obdachloser. +Adrian ist leiser geworden in diesen Tagen, hält den Kopf leicht gesenkt. Er wirkt wie ein Junge. Die Kleidung ist schmutzig und feucht, seit Tagen kann er sich nicht richtig waschen. Hilfe anzunehmen falle ihm schwer, sagt Adrian. "Ich möchte keine Umstände machen. Es geht schon." +In einem Einkaufszentrum lädt er sein Handy, nutzt das freie WLAN, um seiner Mutter zu schreiben. Ein Bekannter schickt ihm auf Facebook ein Angebot: Arbeit in München, in einem Schlachtbetrieb. Mit dem erbettelten Geld kauft Adrian ein Zugticket. +Der Schlachtbetrieb steht am Rand von München. Adrian lebt auf dem Gelände, in einem Backsteingebäude mit Kachelofen, das er sich mit 15 anderen Arbeiter:innen teilt. Viele kommen ebenfalls aus Rumänien, ihre Betten stehen dicht beieinander. +Die Tage sind lang, mindestens neun Stunden arbeitet Adrian in den grauen Hallen. "Am Abend tun mir Hände und Rücken weh, aber ich bin meistens so erschöpft, dass ich direkt einschlafe", sagt er am Telefon. Wer sich beschwere, dem werde die Kündigung angedroht. Also beschwert Adrian sich nicht. Auch nicht, als er am 3. März 22 Jahre alt wird. An seinem Geburtstag zerlegt er Schweinehälften. +Die Arbeit in den Fleischfabriken sei körperlich nicht lange durchzuhalten, sagt Stanimir Mihaylov. Er habe oft erlebt, dass Leuten gekündigt werde, die nicht mehr weiterarbeiten konnten; die mit dem Arbeitsplatz dann auch ihre Unterkunft verlören. Eine Situation, die oft ausweglos erscheint. Adrian erzählt von seinem Cousin, dem kürzlich in einem deutschen Schlachtbetrieb gekündigt wurde. Seitdem sei er nur noch mit einer Flasche Jägermeister in der Hand anzutreffen. +Seit April 2021 ist Leiharbeit in der Fleischindustrie verboten. Für die Arbeiter:innen könne das Verbot eine Grundlage sein, um sich rechtlich gegen Großkonzerne zu wehren, sagt Mihaylov. Ob es ihre Situation konkret verbessert, müsse sich erst noch zeigen. +Für Adrian kommt das Verbot zu spät: Zwei Wochen nach seinem Geburtstag muss der Betrieb schließen. Etliche Arbeiter:innen haben sich mit Corona angesteckt. Adrian wird entlassen, bevor er überhaupt einen Vertrag unterschrieben hat. Er ist müde, verzweifelt und fast pleite. Adrian Popescu kann nicht mehr. Und kauft sich mit dem Geld, das er verdient hat, ein Busticket zurück nach Rumänien. diff --git a/fluter/jugendjury-generation-berlinale-festival.txt b/fluter/jugendjury-generation-berlinale-festival.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/jugendliche-liebe-beziehungen.txt b/fluter/jugendliche-liebe-beziehungen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fb49cbf2acc0b533d0878e1dfda3619f25b7bab6 --- /dev/null +++ b/fluter/jugendliche-liebe-beziehungen.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Lina sagt zu alldem erst mal gar nichts, und wenn sie was sagt, geht ihr Blick rüber zu Anton. Es sind schnelle, verlegene Blicke, ein kurzes Abchecken: Wie reagiert Anton, lacht er auch? Sieht er mich an? Treffen sich ihre Blicke, passiert es: dieses spezielle Grinsen, wie es nur Verliebte grinsen. Hier an diesem Donnerstagabend im Burger King ist es da. Die ganze Zeit. +Seit ein paar Wochen ist Lina klar, dass sie auf Anton steht und nicht nur mit ihm befreundet sein will. "Da geht was. Das sieht man doch", sagt Vanessa. Geht es nach Linas Snaps, hat Vanessa recht. Nicht sie ist in Linas Snapchat die Nummer eins, sondern Anton (und umgekehrt). Mit keiner anderen Person schickt Lina sich so viele Bilder und Videos. 208 Flammen stehen heute neben seinem Namen. 208 Tage ununterbrochene Kommunikation. +Am Wochenende will sie es wagen und mit Anton knutschen. Ein großer Schritt: "Richtig mit jemanden rumgemacht habe ich noch nie." Bei Vanessa ist das anders, aber nach einer schlechten Erfahrung ist sie vorsichtiger geworden: "Er hat Dinge erzählt, die niemanden etwas angehen." Intimität ist für die beiden keine schnelle Nummer mit irgendwem. Die meisten in der Clique hätten noch nicht viele Erfahrungen, aber eine Vorstellung, was sie wollen. "Mir ist wichtig, dass es nicht irgendein Verarschen ist und die Person vorher mal drüber nachgedacht hat, ob man jetzt was mit mir haben möchte", sagt Vanessa. Eine Beziehung hätten beide gerne. Sie sind sich einig: "Wenn man in jemanden verliebt ist, will man die Person ja schon für sich haben. Also dass siemit keiner anderen was hat." +Linas und Vanessas Einstellungen spiegeln sich in Studien wider. Ineiner der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung von 2019heißt es, dass die meisten Jugendlichen heterosexuell sind. Neun Prozent der 14- bis 25-Jährigen beschrieben sich als nicht ausschließlich hetero. Die Studie widerlegt auch die Annahme, dass Jugendliche immer früher Sex hätten: Der Anteil der 16-Jährigen, die schon Sex hatten, ist von 39 (2014) auf 35 Prozent gesunken. Die Mehrheit der befragten Jugendlichen fühlte sich zu jung für Sex oder suchte die oder den Richtigen. +Dieser Text istim fluter Nr. 89 "Liebe"erschienen +Den hat auch Vanessa noch nicht gefunden, trotz Matteo. Seitdem er auf seinem E-Scooter mit großer Geste und viel "Digga, was geht", "Digga, fick dich" im Burger King erschienen ist, ist Vanessa sichtlich angespannter. Seit vorletztem Sommer haben sie und Matteo immer mal wieder was. Aber nicht ausschließlich miteinander. +"Ich habe eben Erik an der Ampel getroffen. Das war so peinlich." Kaum hat Vanessa das gesagt, schaut Matteo von seinem Handy hoch. "Ach was, der schöne Erik." Matteo ist getriggert, Vanessas Ziel erreicht. Dabei will sie gar nicht so richtig was von Erik: zu schön, zu beliebt. "Der hat für mich Celebrity-Status. Da schwärme ich nur." +Wie es weitergeht? Das lest ihrin Teil 2. + diff --git a/fluter/jugendliche-liebe-corona.txt b/fluter/jugendliche-liebe-corona.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e197bf19042cb2b2150f8fdeb59cf9b4a57bb508 --- /dev/null +++ b/fluter/jugendliche-liebe-corona.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Beziehungen, ob freundschaftlich oder romantisch, sind wie ein Gerüst. An ihm entlang testen sich die Jugendlichen aus, verhandeln miteinander, finden Sicherheit und lernen, Unsicherheit auszuhalten. Sie machen sich gegenseitig zum Wichtigsten. Denn sie ahnen, ohne es schon zu wissen: Diese Zeit kommt nicht zurück, aber bleibt für immer. +"Unsere Generation hat durch Coronaeinen Aussetzer in Sachen Liebe." Die Schulcrushes, das vorsichtige Herantasten, das Flirty-Sein: All die kleinen Vorstufen fehlen. "Entweder die Jungs wollen gleich mit dir zusammenkommen und lieben dich von null auf hundert über alles", sagt Vanessa. "Oder sie verarschen dich einfach nur." +Mehrere Studien belegen, dass die Einschränkungen in der Coronapandemie Jugendlichemit am stärksten getroffen haben. Eine der größten ist die COPSY-Studie, für die deutschlandweit junge Menschen zu ihrer psychischen Gesundheit und Lebensqualität befragt wurden.Laut ihr fühlten sich Anfang 2022acht von zehn Kindern und Jugendlichen "ziemlich" oder "äußerst" psychisch belastet. +Lina und Vanessa haben in der Pandemie ihre Hobbys aufgegeben, das Tanzen und den Chor. "Nur noch vor der Kamera singen und tanzen hat irgendwann echt keinen Bock mehr gemacht. Ich habe mich zurückgezogen und wollte gar nicht mehr richtig raus", sagt Vanessa. "Wir haben uns in fiktive Welten geflüchtet", sagt Lina. In der Schule würde es seit der Pandemieauch eher schlechter laufen. Der Bock auf Singen und Tanzen ist bis heute nicht zurück, der auf Abhängen mit ihren Leuten dafür umso mehr. +Dieser Text istim fluter Nr. 89 "Liebe"erschienen +Sobald bei jemandem die Eltern nicht zu Hause sind, wird die Chance genutzt. Diese Woche steht ein gemeinsamer Filmabend an. Ein Horrorfilm. +Vanessa sitzt zwischen Lina und Matteo. Je heftiger der Killerclown wütet, desto näher rückt Vanessa an Matteo heran. "Ich hatte wirklich voll Angst." "Ja, ja, ist klar", sagt Lina. "Ich hätte dich auch in den Arm nehmen können. Saß ja auch neben dir." +Die Party am Freitag verbringt Lina in Antons Arm. "Die anderen haben sich schon über uns lustig gemacht und immer unsere Köpfe aneinandergedrückt. War uns zu blöd, da rumzumachen." Aber die nächste Party lässt ja zum Glück nicht lange auf sich warten. +Matteo macht Anton schon vorab eine Ansage. "Wenn du heute nichts mit Lina hast, bekommst du Schläge." Ein Scherz. Und eine Vorlage. Als die anderen auf einmal alle weg sind und nur noch Lina und Anton draußen auf der Bank sitzen. "Anton hat wieder seinen Arm um mich gelegt und gesagt: ‚Schläge von Matteo tun ganz schön weh.' Da hab ich es dann einfach gemacht." +Lina ist glücklich. "Mal gucken, was das Leben jetzt bringt." Ein paar Tage später ist klar: nicht immer nur Gutes. +Wie es weitergeht? Das lest ihrin Teil 3. + diff --git a/fluter/jugendliche-liebe-kommunikation.txt b/fluter/jugendliche-liebe-kommunikation.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ded5c4313134562de6b49ef1d0d80ff5dda0ad22 --- /dev/null +++ b/fluter/jugendliche-liebe-kommunikation.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Gegen 22 Uhr treffen die beiden Partys auf der Straße aufeinander und damit auch Lina und Anton. Beide haben Sekunden, um zu entscheiden, ob sie sich jetzt ignorieren, verstecken oder ganz normal sein sollen. Anton schaut verunsichert zu Lina und setzt schließlich zur Umarmung an. Lina streckt ihm die Hand entgegen. Ein kurzes "Hi", das war's. "Wir sind immer noch gut miteinander", sagt Lina. "Aber er hat mich gedumpt." Sie erzähle ihm jetzt erst mal nichts mehr von sich. +Auch Vanessa und Matteo scheinen sich heute fürs Ignorieren entschieden zu haben. Vergangenes Wochenende hat er ihr nach der Party noch geschrieben: "Mit wem bist du gerade? Wollen wir uns morgen Nachmittag treffen?" Jetzt wartet Vanessa vergeblich darauf, dass er bei Snapchat antwortet. "Aber er sieht sich noch meine Insta- Storys an." +Kommunizieren heißt oft taktieren. Vor ein paar Tagen hatten Vanessa und Matteo eine ähnliche Situation. Sie hat ihm morgens ein Foto geschickt, um 17 Uhr wartet sie immer noch auf die Antwort. Dabei sei es auf Snapchat schon richtig lang, eine halbe Stunde nicht zu antworten. Als Matteo gegen 18 Uhr eine Nachricht schickt, ringt sie den restlichen Abend mit sich, ob sie die Nachricht öffnet. Das würde er ja sehen. Immer wieder nimmt sie ihr Handy in die Hand, legt es wieder weg, zieht sich nervös die Hoodieärmel über ihre Handgelenke. "Ich struggle gerade richtig hart." Aber wenn sie warten muss, muss er es auch. Ein Klassiker. +Manchmal machen die beiden Fake-Rundsnaps, um mehr Aufmerksamkeit von Matteo und Anton zu bekommen: Snaps, die wirken, als gingen sie an mehrere Personen, aber tatsächlich bekommt sie nur der Crush. Auch die Entscheidung, wer wem bei Snapchat gerade seinen Standort anzeigen lässt, wird gerne mal als Signal gewertet. +Dieser Text istim fluter Nr. 89 "Liebe"erschienen +Das Taktieren lässt sich auch hier draußen auf der Straße beobachten. Es regnet. Und während sich Lina wieder nach drinnen verzogen hat, zieht Vanessa ihre Kreise, immer um Matteo herum, aber nicht zu ihm. +Lina verdreht die Augen: "Die beiden gehen einem schon manchmal auf die Nerven. Mich würde dieses Hin und Her zerstören. Auch wenn mein Crush mit einer anderen was hätte." Vanessa nimmt das erste Verliebtsein, Rummachen, den ersten Liebeskummer – dieses Wirrwarr, in dem sie gerade stecken, mittlerweile gelassener: "So ist immer dieser Reiz da, dieses Besondere. Das macht das Leben spannend." + diff --git a/fluter/jugendstudien-und-generationen.txt b/fluter/jugendstudien-und-generationen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/jugendtreff.txt b/fluter/jugendtreff.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..30fd4731dae6c08318c27e5270e5cec71cd3e420 --- /dev/null +++ b/fluter/jugendtreff.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +In seinem Job bei der Bezirksverwaltung im Stadtteil Yenisehir hat Ercan in seinen eineinhalb Jahren schon kommunale Parks, Fußgängerzonen, Schwimmbäder und Galerien planen und verwirklichen können. Als Sprecher eines regionalen Protestbündnisses von Kommunen, Berufsverbänden und Bürgerinitiativen gegen den Ilisu-Staudamm hat er die türkische Regierung und das westeuropäische Baukonsortium ins Schwitzen gebracht. Ob es richtig war, den Arbeitsplatz in Darmstadt für das Abenteuer in Diyarbakir aufzugeben – diese Frage habe sich längst beantwortet. "Und so schlecht ist das Kulturangebot hier auch gar nicht mehr", beteuert Ercan. Alles relativ, finden auch die anderen jungen Leute: "Vor zehn Jahren,bevor ich zum Studium fortging, war in Diyarbakir abends nichts los, aber auch gar nichts",erinnert sich Yasemin, die Psychologin. "Als wir Kinder waren,ging nach fünf Uhr nachmittags niemand mehr auf die Straße, nicht einmal, um ein Brot zu holen", erzählt Zelal von der Zeit des Kriegsrechts. "Wir durften abends nicht einmal hinter dem Vorhang hervor auf die Straße gucken – da gab's sofort was hinter die Löffel." Heute trifft man sich abends auf der ersten Kneipen- und Vergnügungsmeile von Südostanatolien, der "Straße der Kunst" im Stadtteil Baglar. In Grüppchen und Pärchen schlendern Hunderte junge Leute nach Sonnenuntergang über die verkehrsberuhigte Promenade unter Bäumen und Lichtern hindurch. In den Cafés und Teegärten, die sich hier aneinanderreihen, sitzt man im kurdischen Stil auf niedrigen Hockern um bunt gedeckte Tischchen zusammen; ein Buchladen namens "Frida" lässt seine Kunden im Teegarten unter Bäumen schmökern. Alkohol wird nirgendwo ausgeschenkt, aber das stört niemanden. Bei Tee oder Cola wird überall gelacht und diskutiert. An Sommerabenden geht es anschließend oft weiter in den Kosuyolu-Park,der ebenso wie die "Straße der Kunst" gleich nach Ende des Ausnahmezustands vor vier Jahren von der kurdischen Stadtverwaltung eröffnet wurde.Ganz Diyarbakir ist hier abends unterwegs: Kinder schaukeln auf taghell beleuchteten Spielplätzen, in den Teegärten rings um den Kunstsee ist kein Stuhl mehr frei und auf den Rasenflächen geht eine bunte Picknickrunde in die nächste über. Sorglos und unbeschwert scheinen die Bewohner von Diyarbakir den Abend zu genießen. "Der Schein trügt", sagt S., der sich wie ein Schatten aus der Menge gelöst hat, um sich im Teegarten mit an den Tisch zu setzen. "Wenn du in Diyarbakir lebst, dann bestimmt der Konflikt dein Leben – da kannst du noch so unpolitisch sein." S.ist auf der Flucht vor den Feldjägern der türkischen Armee, abgetaucht, um dem Wehrdienst zu entgehen: ein Hundeleben, obwohl er bei Gesinnungsgenossen auf dem Bau arbeiten kann. Tagsüber erschreckt ihn jede Uniform, nachts jedes Auto, das auf der Straße hält. Aber alles sei besser, als von der türkischen Armee auf die Rebellen in den Bergen gehetzt zu werden, sagt S.: "Bei den Angriffen auf die PKK werden immer die kurdischen Rekruten verheizt." Ein Kindergesicht hat S. trotz seiner 27 Jahre und Augen wie ein alter Mann. Sein Dorf im Bezirk Lice wurde 1999 abgebrannt, sein Vater saß 15 Jahre hinter Gittern, er selbst hat keinen Schulabschluss, keinen Beruf und keine legale Existenz. "Du kannst hier nicht leben wie ein Mensch", sagt S.und erinnert an die Opfer der Frühjahrskrawalle: "Jeden Augenblick können sie dich abführen, einsperren, verheizen, erschießen." Um ihn herum lachen und plaudern junge Männer und Frauen, der Wind weht Kinderlachen herüber. Die Zukunft? "An die glaube ich schon lange nicht mehr", sagt S. Dann verschwindet er wieder in der Menge. +Infokasten Kurden +Mit etwa 30 Millionen Menschen sind die Kurden weltweit das größte Volk ohne eigenen Staat. Die Kurden sind ein iranisches Volk, entfernt verwandt mit den Persern, die genaue Herkunft ist unter Historikern umstritten. Ihre Sprache ähnelt am ehesten dem Persischen. Der Name "Kurdistan" für ihr angestammtes Siedlungsgebiet ist seit dem 12.Jahrhundert überliefert, das Gebiet war Teil des Osmanischen Reiches und des Persischen Reiches, das in Teilen dem heutigen Iran entspricht. Rund 75 Prozent der Kurden sind sunnitische, der Rest schiitische oder alevitische Muslime. Die Alliierten hatten bei der Umstrukturierung des früheren Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg im Vertrag von Sèvres 1920 einen Teil Anatoliens für ein autonomes Kurdengebiet vorgesehen. Ein Vertragsentwurf der Amerikaner lag schon auf dem Verhandlungstisch der osmanischen Delegation, doch die türkische Nationalbewegung unter Mustafa Kemal Atatürk verhinderte seine Umsetzung. Der Vertrag von Lausanne von 1923 teilte das kurdisch besiedelte Gebiet dann auf die heutigen Staaten Türkei, Iran, Syrien und Irak auf. Eine Autonomie für die Kurden oder gar ein eigener Staat lagen wieder in weiter Ferne, sie verloren sogar den Status als anerkannte Minderheit. Dem kemalistischen Nationalbegriff folgend wurden sie wie alle anderen islamischen, aber ethnisch und kulturell verschiedenen Gruppen wie Tscherkessen oder Lasen zu – theoretisch gleichberechtigten – türkischen Staatsbürgern und der türkischen Nation eingegliedert. Ethnische und kulturelle Unterschiede wurden negiert, die Regierung erzeugte einen enormen Assimilierungsdruck, bei den Kurden stieß vor allem die Trennung von Religion und Staat auf Widerstand. Ein erster Aufstand der Kurden, der neben religiösen auch wirtschaftliche und politische Gründe hatte, wurde 1925 niedergeschlagen. Bis 1938 gab es mehr als zwanzig Aufstände, bei denen die kurdisch-nationale Frage unterschiedlich große Bedeutung hatte. Die militärische Unterdrückung der Kurden wurde von Deportationen und der Ansiedlung von Türken in kurdischen Regionen begleitet, kurdische Familien- oder Ortsnamen wurden turkifiziert. Die türkische Regierung leugnete sogar die Existenz der Kurden. Sie bezeichnete die Angehörigen dieses jahrtausendealten Volkes nur noch als "Bergtürken", verbot den Kurden die eigene Sprache, schloss oder beschlagnahmte kurdische Verlage. Einen politisch anerkannten Status haben die Kurden bisher nur im Irak: Dort sind sie föderalistisch organisiert, haben ein eigenes Parlament, ihre Rechte sind in der irakischen Verfassung verankert. In der Türkei führt die kommunistisch orientierte Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) seit 1984 einen bewaffneten Kampf für einen kurdischen Nationalstaat. 37000 Menschen starben bisher in diesem Konflikt. Nachdem PKK-Führer Abdullah Öcalan 1999 festgenommen und wegen Hochverrats zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, verkündete die PKK einen einseitigen Waffenstillstand. Jahrelang war es im Südosten der Türkei, wo die meisten Kurden leben, ruhiger. Doch seit etwa einem Jahr häufen sich die Angriffe der PKK wieder, die im Nordirak, etwa 25 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt, Lager für ihre Kämpfer unterhält. Bis zum Juli dieses Jahres starben 14 türkische Soldaten und 40 Separatisten, der PKK zugeordnete Splittergruppierungen verübten im Juli und August mehrere Anschläge, unter anderem in Istanbul und dem Touristenort Antalya. Die türkische Regierung hatte eigentlich versprochen, das Kurden-Problem demokratisch zu lösen. Doch sie ist dem Druck nationalistischer Kreise ausgesetzt, die ein hartes Vorgehen gegenüber der PKK fordern. Der jüngste Terror der PKK ist auch eine Antwort auf die immer lauter werdende Forderung kurdischer Politiker und Intellektueller, grundsätzlich auf Gewalt zu verzichten. So verlangte der kurdische Schriftsteller Tariq Ziya Ekinci im Mai 2006: "Die PKK soll die Waffen ohne Bedingung niederlegen." Und der konservative kurdische Politiker Abdülmelik Firat stellte fest: "Öcalan ist nicht der Repräsentant der Kurden." diff --git a/fluter/julia-korbik-ueber-simone-de-beauvoir.txt b/fluter/julia-korbik-ueber-simone-de-beauvoir.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..96c860f70cc8063872ffd0c7c13ee58c77442c35 --- /dev/null +++ b/fluter/julia-korbik-ueber-simone-de-beauvoir.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +"(Aber) ich lasse mich auf das große Abenteuer ein, ich zu sein", schreibt de Beauvoir 1929 in ihr Tagebuch. Das erste Mal hatte Korbik in der neunten Klasse von ihr gehört. Eigentlich ging es um ein Referat über den Existenzialisten Sartre, den Lebenspartner von Beauvoir. Aber sie mochte die Frau mit ihrem seltsamen Turban an seiner Seite. Beauvoirs Roman "Die Mandarins von Paris" liest sie mit 18, da war sie schon schwer frankophil. Und seither lässt sie ihr neues Vorbild nicht mehr los. "Simone war eine außergewöhnliche Frau. Sie gehört nicht in den Schatten von Sartre", sagt sie. +Am Anfang des Buchs steht ein Zitat von Beauvoir: "Ich liebe das Leben so sehr und verabscheue den Gedanken, eines Tages sterben zu müssen. Und außerdem bin ich schrecklich gierig; ich möchte vom Leben alles …" Das ist es, was Korbik so fasziniert: "Beauvoir war eine mutige, kritische Frau voller Fehler und großer Lebenslust, die nicht aufgehört hat, zu denken und tätig zu sein." Für Korbik ist sie immer wieder Inspiration, wenn es um die Arbeit geht oder um die Liebe, um den Freiheitswillen, um das Denken über die Welt und ganz wichtig: um den Feminismus. +Etwa mit Sätzen wie diesen: "Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. Keine biologische, psychische oder ökonomische Bestimmung legt die Gestalt fest, die der weibliche Mensch in der Gesellschaft einnimmt." Beauvoirs sozialgeschichtliches und philosophisches Werk "Das andere Geschlecht" gehört zu den Grundlagen der zweiten Welle des Feminismus. Mittlerweile gibt es feministische Literatur, die aktueller sind. Aber wie Beauvoir denkt und Fragen stellt, ist für Korbik sehr modern. Beauvoir rief schon 1973 zu einer Art #MeToo auf: In der Zeitschrift "Les Temps Modernes" richtete sie eine Rubrik ein, in der Leserinnen von ihren Erfahrungen mit alltäglichen Übergriffen berichteten. +Julia Korbik wirft einen frischer Blick auf Simone de Beauvoir und erzählt von ihr als Schriftstellerin, Philosophin, Freundin und Feministin. +"Diese Frau hat das Potenzial, einen mit der Wucht ihrer Gedanken umzuhauen", schreibt Korbik in der Einleitung. Deshalb stört es sie auch so, dass nur wenige die Werke noch lesen und sich viele nicht an Beauvoir herantrauen. "Zugegeben, ihre Bücher sind dicht geschrieben. Aber es lohnt sich so sehr." +Man muss Korbik nicht erst groß Fragen stellen, um etwas von ihr zu erfahren, denn sie erzählt viel. Und schnell. Von ihrem neuen Projekt in Polen für das Online-Magazin "Café Babel" und vom Italienischkurs an der Volkshochschule. Dann stellt sie – ganz Journalistin – schnelle Rückfragen und diskutiert ihre Gedanken. "Wichtiger als irgendein Label ist mir, dass ich tätig bin, dass ich das tue, was ich als Feminismus begreife." +Teil davon war ihr erstes Buch "Stand up. Feminismus für Anfänger und Fortgeschrittene" oder ihrTED-Talk über feministische Perspektiven. Gerade schreibt sie ihr drittes Buch –"How to be a girl"(erscheint im September) –, wieder ein Werk, das die Zugänglichkeit zu den großen feministischen Gedanken erleichtern soll. "Wegen meiner Arbeiten denken einige, ich könnte ihnen alles zum Feminismus beantworten und immer auch Widersprüche auflösen." +Aber das will Korbik nicht. Und kann sie nicht, wie sie freimütig zugibt. Selbst denken und etwas tun, darum gehe es. "Gleiche Rechte für alle in wirtschaftlicher, politischer und sozialer Hinsicht, immer und überall", so beschreibt sie ihre feministische Überzeugung und das, wonach sie strebt. +Irgendwann will Korbik wieder nach Frankreich ziehen. "Dort gibt es mehr Raum zum Scheitern im Alltag. Schon ein Baguette kaufen kann zu einem Abenteuer werden. Hier dagegen ist alles absehbar." Aber erst mal will sie für eine Zeit nach Rom. "Mein Italienisch soll ja besser werden." Untätig bleiben kann sie nicht. + + + + +Julia Korbik: "Oh, Simone! Warum wir Beauvoir wiederentdecken sollten", Rowohlt Taschenbuch Verlag, 320 Seiten, 12,99 Euro + + +Dieser Text wurde veröffentlicht unter der LizenzCC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden. diff --git a/fluter/julia-zange-realitaetsgewitter.txt b/fluter/julia-zange-realitaetsgewitter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3ef8263f5c2f2e7f257e048ef4f6cb6758ad7db0 --- /dev/null +++ b/fluter/julia-zange-realitaetsgewitter.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Der kleine Wunderkasten spuckt in regelmäßigen Abständen neue Partyeinladungen aus, die Marla stets in letzter Minute davor bewahren, einen Abend allein in der Wohnung verbringen zu müssen. Wenn gerade keine Party ist, trifft sie sich mit Typen, die sie auf einer Party kennengelernt hat, in irgendwelchen angesagten Lokalen. (Hier ein praktischer Hinweis: Wer eine Berlinreise plant und keinen aktuellen Reiseführer besitzt, kann diesen Roman auch als Restaurantführer benutzen. Die genannten Locations gibt es wirklich; und sie sind wirklich komplett mit Marla-ähnlichen Hipstern überfüllt.) Echte Freunde aber scheint sie nicht zu haben (Freundinnen schon gar nicht). Und obwohl Marla so blond und so hübsch ist, ständig angesprochen wird und sich immer ziemlich schnell ein bisschen verliebt, passiert dann doch kaum mehr als eben das. +Julia Zange: "Realitätsgewitter". Aufbau Verlag, Berlin 2016, 157 S., 17,95 Euro +Leider passiert das ganze Buch hindurch nicht mehr. Der einzige etwas dramatischere Höhepunkt ist erreicht, als Marla eine Reise in die alte westdeutsche Heimat unternimmt, weil ihre Großmutter Geburtstag hat, und dabei in eine unerfreuliche, handgreifliche Auseinandersetzung mit ihrer Mutter gerät. Offenbar wirkt diese Passage so realitätsnah, dass die echten Eltern von Autorin Julia Zange sich um eine einstweilige Verfügung gegen das Buch bemühten. Und danach ist dann auch die Luft raus. Marla verkriecht sich für ein paar Tage auf Sylt, absolviert ein letztes Tinder-Date mit einem Typen, mit dem es schon wieder nicht funkt, und beschließt, zurück in Berlin, dass sie jetzt vielleicht doch etwas erwachsener sein möchte. Oder so ähnlich. +Das Gute an Zanges Roman ist, dass man ihn sehr schnell lesen kann. Sozusagen in einfacher Sprache geschrieben, wiegen auch die paar Gedanken, die er enthält, so leicht, dass sie entflogen sind, kaum dass man das Buch zugeklappt hat. Andererseits gelingt es Julia Zange – die nicht 1987, wie fast überall im Netz kolportiert, sondern 1983 geboren ist und damit auf die Mitte der Dreißiger zugeht – ziemlich gut, die Orientierungslosigkeit im Leben einer verpeilten Mittzwanzigerin atmosphärisch wiederzugeben. +Wer also selbst gerade etwas ratlos im Leben steht und tatsächlich auf der Suche nach einem Roman ist, in dem sich die eigene Orientierungslosigkeit in angemessen auswegloser Art gespiegelt findet, ist mit "Realitätsgewitter" gut bedient. Und, klar, wer ein paar Ausgehtipps braucht, natürlich sowieso. + +Titelbild: Julia Luka Lila Nitzschke diff --git a/fluter/julian-radlmaier-blutsauger-berlinale.txt b/fluter/julian-radlmaier-blutsauger-berlinale.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b01b2d9be8be6754a61ff76d544bbb4647f7cd72 --- /dev/null +++ b/fluter/julian-radlmaier-blutsauger-berlinale.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +fluter.de: Viele aktuelle Filmproduktionen sind durch die Pandemie beeinträchtigt. "Blutsauger" wurde im letzten Jahr fertiggestellt – war der Film auch davon betroffen? +Julian Radlmaier: In dieser Hinsicht hatte ich wirklich Glück, weil wir die Dreharbeiten schon abgeschlossen hatten. Als die Pandemie anfing, war ich gerade im Schnittprozess. Im Sommer, als die Umstände etwas einfacher waren, haben wir dann die Postproduktion realisieren können. So konnte der Film fast unbehelligt von der Pandemie gemacht werden. +Der Ausgangspunkt von "Blutsauger" ist eine reale Begebenheit der Filmgeschichte: Der sowjetische Regisseur Sergei Eisenstein musste 1927 die Szenen aus seinem Film "Oktober" herausschneiden, in denen der kommunistische Revolutionär Leo Trotzki dargestellt wurde – auf Anordnung von Josef Stalin, der Trotzki als Gegner ansah. Wie bist du auf die Idee gekommen, auf dieser Episode einen Film aufzubauen? +Ich fand diese Anekdote schon immer interessant, und in einer Biografie über Eisenstein bin ich dann noch auf ein lustiges Detail gestoßen: Eisenstein hatte für die Rolle Trotzkis nämlich einen Laiendarsteller gecastet, der im wahren Leben "eine Art Zahnarzt" gewesen sein soll. Mehr stand in der Biografie dazu nicht, aber ich hatte gleich die Idee, daraus eine Figur zu entwickeln, weil ich mich fragte: Wer war dieser möglicherweise falsche Zahnarzt, der zum Eisenstein-Schauspieler wurde – und was ist danach mit ihm passiert? +In deinem Film träumt dieser Laiendarsteller von Hollywood, strandet aber an der deutschen Ostsee in der Villa einer Fabrikbesitzerin, die sich als Vampir herausstellt. Die Geschichte erinnert an einen Schelmenroman, in dem ein unbedarfter Protagonist durchs Leben stolpert. Hattest du dieses Genre beim Schreiben im Sinn? +Sehr sogar. Die Trotzki-Anekdote hat sich sofort mit einer anderen Lektüre-Erinnerung verbunden. Es gibt einen tollen Roman von Ilja Ehrenburg, auch aus den 1920er-Jahren, mit dem Titel "Das bewegte Leben des Lasik Roitschwantz". Da geht es um einen unbescholtenen Bürger in der frühen Sowjetunion, der das Land verlassen muss, weil er im falschen Moment vor einem Parteiplakat zu husten anfängt. Er geht nach Deutschland und landet in Berlin auf dem Set eines Fritz-Lang-Films. Mit dieser Grundstimmung eines burlesken Schelmenromans und einer Figur, die aus dem Frühsozialismus in den Westen geht, wollte ich meinen Film erzählen. +Ein anderer wichtiger Einfluss ist das Buch"Das Kapital" von Karl Marx. In der ersten Szene diskutiert sogar eine Marx-Lesegruppe über eines seiner Zitate: "Das Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampirmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt." +Bei Marx wimmelt es von Vampir- und Geistermetaphern. Diese literarische Figurenwelt, die aus den Schauerromanen des 19. Jahrhunderts kommt, steckt im "Kapital" drin. Ich dachte: Wenn man einen Film machen will, der Marx ernst nimmt, dann muss man diese Metaphern verwenden. +Schon dein Debütfilm hat sich mit marxistischer Theorie beschäftigt. Warum spielt Marx in deinen Filmen so eine wichtige Rolle? +Die Theorien von Marx haben die letzten zwei Jahrhunderte fundamental geprägt. Ich denke, dass sie uns immer noch viel zu sagen haben. Was mich zentral daran interessiert, ist die sogenannte Mehrwert-Theorie(Anmerkung der Redaktion: Damitwollte Marx die Ausbeutung der Arbeiter*innen durch die Unternehmer nachweisen). Vielleicht weil sie über die größeren systemischen Analysen hinaus eine Dimension hat, die jeder Mensch in seinem Alltag spüren kann. Also die Fragen: Warum arbeitet man und für wen eigentlich? Welchen Einfluss hat der Wert der Arbeit darauf, wie man seine Lebenszeit verbringt? + + +In "Blutsauger" ist der Vampir eine Kapitalistin, die sich vom Blut ihrer Arbeitnehmer*innen ernährt. Lässt sich gerade mit populären Genreformen politische Theorie vermitteln? +Einerseits finde ich, dass die Vampirmetapher als Bild für die Produktionsverhältnisse im Kapitalismus super funktioniert. Andererseits hat sie eine ambivalente Geschichte, weil die Vampirfigur insbesondere im Nationalsozialismus antisemitisch benutzt worden ist. Deshalb macht der Film deutlich: Die Vampire sind keine "Rasse", keine von irgendwem als biologisch unterschiedlich angesehene Art. Es gibt zum Beispiel den Bürgermeister des fiktiven Ostseestädtchens, der an ein Erbe gelangt und so zum Vampir aufsteigt. "Vampir sein" ist also eine strukturelle Position, in die man hineingerät. Man wird Vampir, wenn man Kapital erwirbt. Aber eigentlich ist das Horrorgenre nicht die filmische Tradition, die mich interessiert. Vielleicht ist der Film deshalb für Vampirfans enttäuschend, weil er sehr unblutig und nicht besonders unheimlich ist. +Vor allem ist es eine Komödie mit ziemlich witzigen Dialogen, Kostümen und Requisiten. Wie entsteht deine Art von Komik? +Das ist ein ziemlich instinktiver Prozess. Oft passiert irgendein Fehler, oder ich sehe eine Möglichkeit, meine eigenen Sinnkonstruktionen ein bisschen zu torpedieren … +… zum Beispiel zu Beginn, wenn beim Blick auf das Meer die Jahreszahl 1928 eingeblendet wird und dann ein Kitesurfer ins Bild segelt? Das macht den Eindruck einer realistischen historischen Darstellung ja gleich wieder kaputt. +Ja, das war beim Drehen nicht geplant, aber genau das brauchte es an der Stelle. In einer anderen Szene fährt eine Figur mit einem Kawasaki-Motorrad aus der Jetztzeit durch die Gegend. Ich arbeite außerdem gerne mit Laiendarsteller*innen zusammen, weil die auch so eine Widerständigkeit haben, die sich der Fiktion in den Weg stellt. Das ist mir wichtig, gerade wenn man sich mit Theorien beschäftigt, die eine gewisse Autorität haben. Man nimmt die Theorien dann nicht weniger ernst, aber die Komik schafft die Möglichkeit, sich spielerisch mit ihnen auseinanderzusetzen, und verhindert auch, dass man Agitprop(Anmerkung der Redaktion: kommunistische Propaganda)oder so etwas Ähnliches macht. +Andere aktuelle Produktionen, etwa "Babylon Berlin" oder"Berlin Alexanderplatz", entdecken im Heute politische Parallelen zu den 1920er-Jahren – zum Beispiel beim Erstarken der extremen Rechten. Warum weicht dein Film dem Epochenvergleich eher aus? +Wir haben versucht, diesen festen Kanon an Bildern und Erzählungen von uns fernzuhalten: das verruchte Berlin auf der einen Seite, die SA-Schläger auf der anderen. Der Bezug auf die 1920er kommt ja von der Eisenstein-Anekdote. Für mich ist die Hauptfigur des Ljowuschka einer der ersten postsozialistisch Enttäuschten. Die These des Films ist vielleicht, dass die Umstände, wenn eine linke Lösung versperrt scheint, eine rechte Perspektive auf die Gesellschaft begünstigen. Wenn in einer Szene etwa ein Migrant verfolgt wird, denke ich eher anRostock-Lichtenhagen 1992. Zeitlich bietet der Film also mehrere Interpretationsebenen an. +"Blutsauger" sehen auf der Online-Berlinale zunächst nur die Berlinale-Jury und die Presse. Was hältst du davon als Filmemacher? +Die virtuelle Premiere ist für den Film schon ein bisschen schade. Zum einen müsste man ihn eigentlich auf der großen Leinwand sehen, um ihn in seiner Fülle wahrnehmen zu können. Zum anderen ist das Schöne an der Berlinale ja auch, dass über einen Film geschrieben und gesprochen wird – dieses ganze soziale Moment bricht bei einem virtuellen Event weg. Meine Hoffnung ist, dass es im Juni eine richtige Premiere mit Publikum geben kann und später im Jahr dann einen Kinostart. + +Julian Radlmaier, geboren 1984, studierte Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin und anschließend Regie an der Deutschen Film- und Fernsehakademie. Sein Abschlussfilm "Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes" (2017) bekam als bester Debütfilm den Preis der deutschen Filmkritik. "Blutsauger" wurde 2019 in Vorproduktion mit dem Deutschen Drehbuchpreis ausgezeichnet. +Titelbild: faktura film, Porträt: Tim Schenkl diff --git a/fluter/junge-aktivisten-putin-russland.txt b/fluter/junge-aktivisten-putin-russland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d233b2fc2f7ba1ad8702f35b56bdcc41c023b464 --- /dev/null +++ b/fluter/junge-aktivisten-putin-russland.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Als die Spitze der Landzunge fast erreicht ist, hält die Gruppe an einer Waldlichtung, die überraschend sauber ist – scheinbar unberührte Natur, nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. "Hier haben wir kürzlich aufgeräumt", erklärt Gleb. "Wenn wir es schön haben wollen, müssen wir selbst dafür sorgen." +Heute führt Gleb, zusammen mit zwei Mitstreiterinnen, vier westeuropäische Touristen in die Natur der Großstadt. Mit alternativen Stadttouren weiten sie den Horizont von Besuchern, die sonst nur Paläste und Schlösser aus der Zarenzeit zu sehen bekommen. Sie bieten einen alternativen Blick auf die Stadt. Nach rechts geht der Blick übers Wasser bis zum höchsten Wolkenkratzer Europas. Er läuft nach oben spitz zu und erinnert an eine Rakete. Zur anderen Seite steht an der Hafeneinfahrt ein kürzlich renoviertes Stadtschild mit meterhohen Buchstaben: Leningrad. So hieß Sankt Petersburg bis zum Zerfall der Sowjetunion. Hier lebt der Name fort. +Olga, Nadja und Gleb sind in den Dreißigern, tragen bisweilen leicht abgewetzte Klamotten, "wir leben konsumreduziert", sagen sie. Ihre Energie stecken sie lieber in Demonstrationen, zuletzt gegen Wahlfälschung. Oder sie organisieren Aufklärungskampagnen für Drogenkonsumenten und Gesprächsrunden, in denen Menschen über den Tod oder Geschlechterrollen debattieren. Dafür haben sie vor fünf Jahren einen Verein gegründet, "Trava", das bedeutet "Gras" – weil es eine Graswurzelbewegung sein soll, wie Olga erklärt: eine Initiative von unten. +Seit Wladimir Putin 2012 nach vier Jahren als Ministerpräsident wieder Staatspräsident geworden ist, werden demokratische Rechte und Freiheiten zunehmend eingeschränkt. Nichtregierungsorganisationen müssen sich als "ausländische Agenten" registrieren lassen, wenn sie Gelder aus dem Ausland erhalten, das Gesetz gegen sogenannte "Schwulenpropaganda" zwingt Homosexuelle, sich in der Öffentlichkeit unsichtbar zu machen. Bei den Regionalwahlen wurden viele Oppositionskandidaten nicht zugelassen. Zuletzt trat ein Gesetz in Kraft, das dem Kreml die vollständige Kontrolle des Internets ermöglichen soll. Keine leichten Zeiten für demokratische Aktivisten. "Es ist manchmal entmutigend, aber man darf nicht aufgeben", sagen die drei. Zusammen mit weiteren Freunden haben sie sich deshalb aufgemacht, eine "empathische Gesellschaft ohne Unterdrückung" zu erreichen. + +Junge Russen demonstrieren gegen die Korruption im Land + + +Nach der Tour laden Olga, Gleb und Nadja in ihre Wohnung in einem 14-geschossigen Plattenbau. "Was wir machen und was wir sind, lässt sich nicht trennen", erklärt Gleb. "Bei uns geht das auch gar nicht anders. Weil der russische Staat so repressiv ist, muss ich den Leuten vertrauen können, mit denen ich mich für etwas einsetze." Gleb stammt aus Murmansk im Nordwesten Russlands und erzählt, dass er dort einmal erlebt hat, wie ein Polizeispitzel eine aktivistische Gruppe infiltriert hat. "Dabei war das eine Jugendorganisation, die nicht radikal war", erzählt er. So zwingt der straffe russische Sicherheitsapparat die Aktivisten geradezu in intensive Freundschaften. +Nadja stammt aus Sibirien und hat die Aktionen von Trava zunächst im Internet verfolgt. "Die haben auf dem Höhepunkt der Krise zwischen Russland und der Ukraine Skype-Dates zwischen Menschen in beiden Ländern organisiert, damit die sich nicht entfremden. Das fand ich so stark!", erzählt sie. "Ja, das war eine Nummer", sagt Olga. Die Teilnehmer hätten sich teilweise lautstark gestritten. Olga sagt: "Wir haben es halt versucht." +Nadja berichtet, dass es in der russischen Provinz kaum vergleichbare Gruppen gebe. "Da setzen sich Menschen höchstens für lokale ökologische Belange ein, gegen eine neue Mülldeponie oder so." Zu Olga und Gleb ist Nadja während der Fußballweltmeisterschaft 2018 in Russland gestoßen. Die beiden hatten mitten in Sankt Petersburg das "diversity house" mitorganisiert – eine Plattform für Diskussionen über die Rechte von Schwulen und anderen diskriminierten Minderheiten. "Es war unglaublich, dass so etwas bei uns möglich war!" +Nadja hat für die gesamte Gruppe ein Abendessen gekocht. Es gibt einen Auflauf mit Zucchini, Auberginen, Kartoffeln, überbacken mit Käse. Alle Lebensmittel sind "gerettet", wie Nadja es ausdrückt, sie waren von Supermärkten zur Vernichtung aussortiert worden. +Olga betont eine weitere Besonderheit ihrer Organisation: "Wir arbeiten horizontal!" Das heißt: keine Anführer und keine Hierarchien. "Das wirkt sich auch positiv auf uns als Freundeskreis aus, weil wir versuchen, jedes Machtgefälle zwischen uns zu vermeiden." Gleichzeitig helfe es der Gruppe auch, ak­tionsfähig zu bleiben, denn sie hänge nicht von einzelnen Mitgliedern ab, etwa wenn sie verhaftet werden – wie das Olga bereits selbst passiert ist. +Im Sommer 2017 nahm sie an Protesten teil, zu denen der oppositionelle Politiker Alexej Nawalny aufgerufen hatte. Zwölf Tage saß Olga dafür in Haft. "Die anderen haben mir Hummus und Brot gebracht", erzählt sie. "Das Essen im Gefängnis war ungenießbar." +Zum Unterstützernetzwerk, das sich für Olga eingesetzt hat, gehört auch Josh. Als Kanadier fällt der freie Journalist im Freundeskreis auf. "Ich habe irgendwann angefangen, Russisch zu lernen, bin deshalb in Sankt Petersburg gelandet und hängen geblieben", erzählt er. Er habe durch Couchsurfing bei Mitgliedern von Trava übernachtet und so die anderen kennengelernt. "Was wir hier versuchen, würde ich als politische Bildung beschreiben", erklärt Josh. Für solche Anliegen brauche man in Russland auch richtig gute Freunde, "sonst wäre das, was wir hier machen, einfach psychisch zu anstrengend". +Josh selbst veranstaltet Kitchen Talks, ein Format, bei dem sich Menschen in ihren eigenen vier Wänden über das austauschen, was sonst tabuisiert wird. Es ist eine Art zivilgesellschaftliche Gesprächstherapie. +Am Abend wollen die Aktivisten wieder auf eine Expedition, auch wenn es diesmal nicht in die Natur hinausgeht – sondern nach oben. Vom Dach ihres Wohnhauses sehen sie Hafenkräne, Fabrikschlote und in der Ferne die wolkenkratzende Gazprom-Zentrale – aber auch ein verlassenes Wohnhaus in ihrem eigenen Bezirk. Olga zeigt darauf. "Nachdem alle Mieter ausziehen mussten, haben wir dort einen Jugendklub aufgezogen, für die Kinder aus der Nachbarschaft. Es geht in kleinen Schritten voran." Der Weg ist weit, aber umsonst gehen sie ihn sicher nicht. + +* Russisch für "Freundschaft" + diff --git a/fluter/junge-amerikaner-erinnern-sich-an-wahlnacht.txt b/fluter/junge-amerikaner-erinnern-sich-an-wahlnacht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..30bee8fe1ab48fa3f761ba97e11a1191bade421b --- /dev/null +++ b/fluter/junge-amerikaner-erinnern-sich-an-wahlnacht.txt @@ -0,0 +1,20 @@ + +Thomas ist 22 und studiert Politikwissenschaften an einem kleinen College in Upstate New York +Ich habe aus zwei Gründen Donald Trump gewählt: Erstens war ich davon überzeugt, dass er als erfolgreicher Manager ein kompetentes Kabinett einstellen würde, das die besten Entscheidungen im Sinne der Vereinigten Staaten treffen würde. Und zweitens repräsentiert Hillary Clinton für mich die Schattenseite der US-amerikanischen Politik. Doch gerade in den TV-Duellen wurde mir klar, dass ich eigentlich von keinem Kandidaten wirklich überzeugt war. Ich stand der Aussicht auf eine Trump-Präsidentschaft einfach etwas optimistischer gegenüber als der einer Clinton-Präsidentschaft. Als Trump in der Wahlnacht zum Sieger erklärt wurde, war ich dann aber schon sehr glücklich. Ich hätte einfach nicht gedacht, dass er überhaupt gewinnen kann. Meine Gefühle änderten sich aber sehr schnell. Schon als Trumps Sprecher am Tag nach der Amtseinführung erklärte, dass diese von der "biggest crowd ever" besucht worden sei, dämmerte es mir: Habe ich einen gigantischen Fehler gemacht? Auch sein Kabinett widersprach dann allen meinen Hoffnungen. Dann kam sein Einreiseverbot für Menschen aus bestimmten muslimischen Ländern. Dann fing er an, einen Konflikt mit Nordkorea vom Zaun zu brechen. Dann wollte er verbieten, dass Trans-Menschen im Militär dienen. Abstoßend! Vor einem Jahr hatte ich die Wahl zwischen dumm und dümmer. Im Nachhinein betrachtet muss man sagen, dass ich mich für dümmer entschieden habe. + + + +Antonia, 24, arbeitet für eine Non-Profit-Organisation in Detroit, die sich um die Dekonstruktion von verlassenen Häusern kümmert +Irgendwann in der Wahlnacht war ich zu müde, um die Berichterstattung weiter zu verfolgen. Ich bin im festen Glauben daran ins Bett gegangen, dass Hillary die Wahl gewinnen würde. Es war ein bisschen wie Weihnachten: Ich wusste, morgen früh wache ich auf und wir haben eine Frau im Weißen Haus. Als ich dann realisierte, dass Trump gewonnen hatte, überkam mich ein hohles, surreales Gefühl. Auf der Arbeit war es nicht anders: Keiner meiner Kollegen konnte fassen, was passiert war. Momentan wird unser Job massiv dadurch beeinträchtigt, dass Trump das Budget für die United States Environmental Protection Agency gekürzt hat. Jetzt können wir viele unserer Projekte nicht mehr finanzieren und müssen uns komplett neu aufstellen. Doch für die meisten Menschen in Detroit hat sich kaum etwas geändert: Wenn sie vor der Wahl keinen Job hatten, dann haben sie jetzt auch keinen. Für Trump und seine Politik bleibt ihnen nicht viel Zeit und Interesse. Natürlich hat er viel darüber gesprochen, sterbende Industriezweige wiederzubeleben, aber ich glaube nicht, dass er weiß, was das bedeutet. Mich schockiert es, dass unser Land von einem frauenfeindlichen Rassisten regiert wird – und als schwarze Frau habe ich mittlerweile etwas mehr Angst, dass ich Opfer eines Angriffs werde. Dabei waren Rassismus und Sexismus schon immer latente Phänomene in unserer Gesellschaft; das Einzige, was sich geändert hat, ist, dass rassistische und sexistische Meinungen unter Trump viel offener zum Ausdruck kommen. + + + +Will ist 24 und arbeitet als Mitarbeiter der Zulassungsstelle für die Harvard Law School. Er stammt aus Saltillo, einem 120-Seelen-Dorf in Texas +In der Wahlkampfphase hatte ich Einblick in beide Welten: Alle Menschen, die ich aus meiner Heimatstadt kenne, haben Donald Trump unterstützt, und alle Menschen, die ich von meiner Arbeit oder aus meiner Studienzeit kenne, haben Hillary Clinton unterstützt. Den Wahlabend habe ich dann mit Freunden auf dem Campus meiner alten Universität in North Carolina verbracht. Nach der Wahl hatte ich kurzzeitig die Hoffnung, dass sich Trump nur so demagogisch verhalten hatte, um Stimmen zu fangen, und dass er als Präsident deutlich besser regieren würde, als es sein Wahlkampf vermuten ließ. Diese Hoffnung hat sich jedoch schnell zerschlagen. Jetzt sorge ich mich vor allem darum, in welche internationale Katastrophe er uns hineinsteuern wird. Außerdem sind momentan noch so viele Posten in Washington unbesetzt, dass unser Staat in weiten Teilen nicht funktionieren kann. Ich mache mir Sorgen, welche Langzeitfolgen diese Erosion von politischen Institutionen für unser Land haben wird. Ich persönlich merke, dass ich seit der Wahl politisch apathischer geworden bin. Ich versuche einfach, nicht über Politik zu reden, wenn ich zu meiner Familie nach Texas fahre. Für mich ist die Wahl von Donald Trump ein weiterer Schritt in Richtung der wachsenden Polarisierung in den USA. Es erscheint mir unmöglich, positiven Wandel zu vollziehen, wenn die Meinungen und Wünsche der Menschen in unserer Gesellschaft so weit auseinanderliegen. + + + +Was halten eigentlich eingefleischte Republikaner von der bisherigen Leistung ihres Präsidenten? Wir haben einen gefragt + + +Titelbild: Timothy Fadek/Redux/laif diff --git a/fluter/junge-amerikaner-us-wahl.txt b/fluter/junge-amerikaner-us-wahl.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ccd5a9b30d2ea9d7856f3dce7b6f6a6564341da0 --- /dev/null +++ b/fluter/junge-amerikaner-us-wahl.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Biden ist für mich mehr als ein Verlegenheitskandidat. Anders als Trump ist er kein Faschist under hat progressive Ideen zu Bildung, Gesundheit und einer grünen Wirtschaft, die den Klimawandel bekämpft. +Durch meine Zeit als Soldatin finde ich oft einen anderen Zugang zu den Menschen. Die Leute kennen mich als Air-Force-Pam, nicht nur als politisch aktive und progressive Latina, und begegnen mir mit weniger Vorurteilen als anderen Aktivisten. Die Zeit nach Trump wird kompliziert. In zwei Jahren werden wir die Verbrechen seiner Regierung und seine kriminelle Vernachlässigung derCorona-Pandemieimmer noch aufarbeiten. Wir müssen soziale Bewegungen international vernetzen, zum Beispiel auch mit unseren deutschen Partnern zusammenarbeiten, um einen antirassistischen, multikulturellenGreen New Dealumzusetzen!" + + +"Ich bin weder als Demokrat noch als Republikaner, sondern als Unabhängiger im Wählerverzeichnis registriert. Ich werde zum ersten Mal wählen, weil viel auf dem Spiel steht, wenn es um die Richtung unseres Landes für die nächsten vier Jahre geht. Ich weiß, dass der Bundesstaat New York definitiv an Joe Biden gehen wird. Aber als Christ finde ich es wichtig, Stellung zu beziehen: Ich hoffe, dass Präsident Trump eine zweite Amtszeit gewinnt. +Er hat viele gute politische Entscheidungen getroffen.Zum Beispiel die Wirtschaft dereguliert und so das Wachstum angeregt. Das hat zu den niedrigsten Arbeitslosenquoten unter Hispanics und Afroamerikanern überhaupt geführt. Trump hat das größte Wirtschaftswachstum der Geschichte gemanagt, und er war einer der ersten Präsidenten, die China als Bedrohung gesehen und herausgefordert haben – während Biden betont, dass man sich um China keine Sorgen machen muss. Er ist ein sehr schwacher Kandidat, der in jedem anderen Wahlkampf niemals gewählt würde. Ich finde, das ist das Problem mit Biden: Er gibt einem wenig Gründe, ihn nicht zu mögen, aber auch keine Ideen, die man mag. Außerdem muss er daran arbeiten, dass der progressive Flügel der Partei ihn nicht weiter nach links drückt, als er ohnehin schon ist. Er hat versucht, sich als Zentrist zu positionieren, der das Land wieder zum Status quo zurückführt. Aber allein seine Wahl für Kamala Harris als Vizepräsidentin zeigt, dass er viel weiter links steht als er beteuert. Außerdem hat Trump eine deutliche ‚Pro Life'-Haltung [der in den USA gebräuchliche Begriff fürAbtreibungsgegner, Anm. d. Red.]. Möglicherweise ist er der konservativste Präsident meiner Lebenszeit – ich war noch nicht auf der Welt, als Ronald Reagan im Amt war." + +"Diese Wahl ist nicht sehr wichtig für mich. Beide Kandidaten sind meiner Meinung nach nicht besonders qualifiziert, um in die Fußstapfen anderer Präsidenten zu treten. Trump hat bewiesen, was er macht, wenn ihm die Macht gegeben wird – im Vergleich zu Obama hat er nicht viel erreicht. Ich finde gut, dass sich die Demokraten aufKlimapolitikkonzentrieren, weil das Thema immer wichtiger wird. Trump hat da schnell dichtgemacht und die wachsenden Sorgen vieler Menschen ignoriert. Ich hoffe, dass es ein paar Veränderungen gibt, sollte Biden Präsident werden. Er will eine ‚Made in All of America'-Politik verfolgen, was wegen vieler neuer Jobs erst mal gut klingt. Ich mag die Idee, dass es mehr Produkte aus den USA gibt. Aber das erhöht auch den ökonomischen Druck auf die Amerikaner, was wiederum unfair ist, weil manche Dinge im Ausland zu besseren Preisen und in höherer Qualität hergestellt werden können. +In der Außenpolitik hat Trump Gutes geleistet. Dass er Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un getroffen hat, war doch total überraschend, weil der für genau das Gegenteil von dem steht, woran Amerika glaubt. Dass Trump dafür gesorgt hat,Atomwaffenan der koreanischen Grenze abzubauen, war für mich ein Höhepunkt seiner Amtszeit. Ein Tiefpunkt war dagegen seine Einwanderungspolitik. Die Menschen kommen, weil wir als ‚Land der unbegrenzten Möglichkeiten' bekannt sind. Wenn ihnen diese Möglichkeiten genommen werden, trägt das nicht zu einer starken Wirtschaft bei. Ich habe keine Erwartungen an die Zeit nach dem 3. November. Wer auch immer der nächste Präsident wird – er wird es nicht schaffen, die USA besonders zu verbessern." + +"Bidens Einsatz für Frauenrechte finde ich gut. Seine Ideen zur Regulierung von Banken teile ich weniger, weil es dadurch für Gründer und kleine Unternehmen schwer wird, Geld zu leihen – das schadet Start-ups und untergräbt Innovation. Obwohl ich Republikanerin bin, werde ich Biden wählen. Ich finde Trump auf vielerlei Arten problematisch, am meisten seine Position zum Thema Einwanderung. Als Tochter eines Einwanderers finde ich es abstoßend,wie wir Immigranten behandelnund wie Trump über die spricht, die in die USA kommen, weil sie ein besseres Leben suchen. +Bei den ‚Republican Women for Progress' helfe ich zusammen mit anderen desillusionierten Republikaner-Wählern, die Wahlbeteiligung zu erhöhen, zum Beispiel durch Wahlkampf am Telefon und Textnachrichten. Ich hoffe, wir können unser Verhältnis zu Europa verbessern und Menschen in politische Verantwortung wählen, die dieses Land wirklich vertreten. Ich habe etwas Angst vor den Tagen nach dem 3. November. Hoffentlich wird es einen klaren Wahlausgang geben – und damit eine friedliche Amtsübergabe." +Alanna Fridfertig, 24, sorgt als Outreach Director bei den "Republican Women for Progress" dafür, dass sich mehr Frauen mit den Zielen der Republikaner beschäftigen + + +Collagen: Renke Brandt diff --git a/fluter/junge-belarussen-flucht-auswanderung.txt b/fluter/junge-belarussen-flucht-auswanderung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2f7f20fa9f088cd416d0399b587ea271ed59e24b --- /dev/null +++ b/fluter/junge-belarussen-flucht-auswanderung.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +"Wir haben uns nicht viel gedacht, als wir zur Demo gegangen sind", sagt Julian. Seine Geschichte erzählt er aus seinem jetzigen Exil in Polen. Über Zoom ist ein junger Mann mit scharfen Gesichtszügen und schüchternem Blick zu sehen. Er antwortet oft knapp. +An diesem 9. August laufen die vier Freunde zum Minsker Hauptbahnhof. Sie sind überrascht, wie viele Menschen ihnen begegnen, erzählt Julian. Die ganze Stadt scheint aufgekratzt. Viele Menschen schwenken die weiß-rot-weiße Flagge der Opposition. Unweit des Bahnhofs hält plötzlich ein Truppentransporter der Polizei, Beamte springen auf die Straße. Julian sagt: "Die haben sofort auf uns eingeprügelt." +Auf Knien und mit den Händen hinter dem Kopf musste Julian fünf Stunden lang auf der Straße ausharren … +… bis ihn die Polizei abtransportierte. Wohin und warum, wurde ihm nicht gesagt +Fäuste und Schlagstöcke prasseln auf die Jugendlichen nieder. "Der Oberpolizist hat gebrüllt: ‚Wer hat den Pflasterstein geworfen?'" Doch weder Julian noch seine Begleiter hätten etwas damit zu tun gehabt. "Die haben uns übel zugerichtet, ich habe geblutet und hatte Schürfwunden", sagt Julian. Dann hätten die Beamten ihn und seine Freunde in den Transporter gezerrt. "Ich hab gedacht: ‚Das war's.'" An der nächsten Straßenecke hält der Transporter aber plötzlich, einer der Polizisten befiehlt allen abzuhauen. +Blutend und verletzt taumeln die Jugendlichen durch Minsk, an einer Kreuzung geraten sie in eine Kontrolle. Polizisten fragen sie, ob sie von den "illegalen Protesten" kommen. Sie versuchen sich rauszureden, "aber das funktionierte natürlich nicht, so wie wir aussahen". Wieder werden die Jugendlichen festgesetzt. Diesmal werden sie nicht geschlagen, müssen aber auf ihren Knien und mit den Händen hinter dem Kopf ausharren. "Fünf Stunden mussten wir so verbringen. Als Versorgung gab es nur Wasser, nach mehrmaliger Nachfrage." Anschließend werden Julian und seine Freunde von der Polizei abtransportiert. Weder erfahren sie, wohin sie gebracht werden, noch wissen sie, was ihnen vorgeworfen wird. +Offiziell hat Amtsinhaber Lukaschenko bei den Präsidentschaftswahlen am 9. August über 80 Prozent aller Stimmen auf sich vereinigen können – die stärkste Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja nur 9,9 Prozent. +Warum sagen jetzt alle Belarus – und nicht "Weißrussland"? Durch die Proteste setzt sich die Selbstbezeichnung Belarus langsam durch. Der Begriff "Weißrussland" stammt aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, in der deutsche Soldaten das belarussische Gebiet als zum russischen Territorium gehörend wahrnahmen. Viele Belaruss*innen empfinden den Namen deshalb als Gleichsetzung mit Russland – die historisch nicht korrekt ist und die Unabhängigkeit des Volkes untergräbt. +Doch der Präsident habe das Wahlergebnis gefälscht – davon sind zumindest jene Belarussen überzeugt, die seit Monaten für einen demokratischen Neuanfang demonstrieren. Analysen sowie Nachwahlbefragungen, etwa der Menschenrechtsorganisation "Viasna" oder des "Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien" (ZOiS), deuten darauf hin, dass tatsächlich im großen Stil manipuliert worden ist. Auch die EU wirft Lukaschenko Wahlbetrug und Unterdrückung der Demokratiebewegung vor und hat Sanktionen gegen ihn verhängt: Er darf nicht mehr in die EU einreisen, und mögliche Konten in der EU wurden eingefroren. Die "Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (OSZE) sieht gar "überwältigende Beweise" für Wahlfälschungen. +Auch die "vierte Gewalt", also eine unabhängige Presse, hat Lukaschenko kaum zu fürchten: Im Ranking der Pressefreiheit liegt Belarus weltweit auf Platz 153, kein Staat in Europa schneidet so schlecht ab (es sei denn, man zählt die Türkei mit – die liegt auf Platz 154). "Europas letzte Diktatur", so liest man immer wieder, wenn es um Belarus geht. +Trotz solcher Hin- und Beweise bringt ein Konflikt, wie er sich in Belarus ereignet, oft eine unklare Faktenlage mit sich. Nicht nur das Wahlergebnis, auch die Anzahl getöteter oder festgesetzter Demonstranten kann nur geschätzt werden. Aber: Sie vermitteln eine Idee davon, was sich im Land abspielt. So zählt das Onlineportal naviny.mediaallein für den August 1.100 Menschen, die bei oder nach Demonstrationen zum Teil schwerste Verletzungen davongetragen haben. Das Portal präsentiert auch drastische Fotos angeschossener oder verstümmelter Menschen. "Viasna" zählt allein für den 8. November landesweit mehr als 1.000 Festnahmen. Die OSZE berichtet von systematischer Folter. Zahlreiche Aufnahmen belegen, dass die Polizei scharf schießt. Die Regierung um Lukaschenko bestreitet dagegen Unrechtmäßigkeiten. Sie rechtfertigt das Vorgehen der Polizei damit, dass die Sicherheit des Landes durch die angeblich vom westlichen Ausland gesteuerten Proteste in Gefahr sei. +Auf offizielle Anfragen von Journalisten antworten die belarussischen Behörden seit Ende August nicht mehr. So bleibt nur, möglichst viele Geschichten zusammenzutragen und miteinander abzugleichen. Julians Tage in Haft ähneln jedenfalls zahlreichen anderen Beschreibungen, etwa auch der Geschichte des russischen Journalisten Nikita Telishenko, der einen Tag nach Julian verhaftet worden war und hinter denselben Gefängnismauern gesessen hat. Er schreibt von schweren Misshandlungen festgenommener Demonstranten. +Als er nach vier Tagen aus der Haft entlassen wurde, beschloss Julian zu fliehen +In Warschau, wo er jetzt lebt, erinnern Blumen und Kerzen an die getöteten Demonstranten + +"Ich habe oft Schreie gehört", berichtet Julian von seinen Erfahrungen hinter Gittern. "Es gab auch zu wenig zu essen. Ich hatte ständig Hunger." Insgesamt hätte er aber noch Glück gehabt, da er selbst zwar geschlagen, aber nicht "verunstaltet" worden sei. Ein offizieller Haftgrund wurde ihm in der gesamten Zeit nicht mitgeteilt. Vier Tage verbrachte er in verschiedenen Zellen. +Einen anderen Blick liefert Sviatlana Shelepen, nämlich den von der anderen Seite der Mauer. Die Menschenrechtsaktivistin ist eine aktive Teilnehmerin der Proteste und half Julians Mutter nach dessen Festnahme. "Wir haben ihn vier Tage lang gesucht", erzählt Sviatlana per Telefon aus Minsk. Es sei vor allem die Ungewissheit, die vielen Angehörigen den Rest gegeben habe. "Die Polizei hat einfach keine Auskünfte gegeben", erzählt Sviatlana. Mit einem so unmenschlichen Vorgehen demaskiere sich das Regime selbst, findet sie. +Als Julian schließlich entlassen wird, warten Aktivisten auf dem Parkplatz vor dem Gefängnis. Sie geben ihm ein Telefon, er ruft seine Mutter und die wiederum Sviatlana an. Gemeinsam holen sie ihn ab. Aber die Erleichterung währt nicht lange: Julian bekommt eine Vorladung, ihm soll wegen seiner "Teilnahme an einer illegalen Demonstration" der Prozess gemacht werden. Erfahrungen anderer Demonstranten zeigen, dass "zwischen 15 Tagen Arrest und einer längeren Haftstrafe" vieles denkbar ist, berichtet Sviatlana. Am Tag vor Julians Prozess fährt sie mit ihm an die belarussisch-polnische Grenze. Sviatlana hat ein Arbeitsvisum für Polen, sie gibt Julian als ihren Mitarbeiter aus. +Julians Mutter bleibt in Minsk, und auch Sviatlana selbst bleibt nur einige Wochen in Warschau. "Ich habe mich etwas erholt", sagt sie. Seit Beginn der Unruhen hat sie für "Viasna" und andere Organisationen Geschichten von Demonstranten protokolliert. "Wenn du von so viel Unmenschlichkeit hörst, bist du irgendwann am Ende." Trotzdem fährt sie bald zurück nach Minsk. "Wir müssen weitermachen, bis wir uns die Demokratie erkämpft haben." +Das belarussische Volk wählt seinen Präsidenten direkt. Wahlberechtigte können ihre Stimme schon mehrere Tage vor der Auszählung abgeben. Diese Regelung wurde bereits bei der letzten Präsidentschaftswahl kritisiert, weil es dadurch an Transparenz fehle. Internationale Beobachter bewerten Wahlen in Belarus immer wieder als nicht frei. In diesem Jahr hat die OSZE keine Wahlbeobachtungsmission nach Belarus entsandt, da die Organisation keine formale Einladung erhalten habe. +Eine Amtszeit dauert fünf Jahre. Ursprünglich war es nicht möglich, länger als zwei Wahlperioden zu amtieren. Im Jahr 2004 stimmten jedoch nach offiziellen Angaben 77 Prozent der belarussischen Wahlberechtigten in einem Referendum für eine Verfassungsänderung, die weitere Amtszeiten von Lukaschenko möglich machte. Das Gallup-Institut vermutete damals, dass die Wahlbeteiligung in Wahrheit unter 50 Prozent lag und die Abstimmung damit eigentlich nicht gültig war. + +Vor allem inWarschauhat sich – verstärkt seit August – eine Gemeinschaft von Exil-Belarussen gefunden, die nicht zurückkönnen oder -wollen. So lebt dort auch der junge Kopf hinter dem Telegram-Kanal Nexta, über den sich viele Demonstranten in Belarus informieren. +"Ich will hier neu anfangen", sagt Julian über Polen. "Auch wenn es bitter ist, von meinen Freunden und meiner Familie getrennt zu sein." In Belarus hatte er die Schule abgeschlossen, aber eine Ausbildung zum Werbekaufmann abgebrochen. In Polen macht er zunächst eine Kur, erholt sich psychisch und körperlich von den Strapazen. +Bei einem Telefonat einige Wochen nach seiner Ankunft ist Julian mittlerweile 18 geworden. Er hat ein Stipendium für einen Studienplatz im polnischen Lublin bekommen. Dort könne er zuerst allgemeine Kurse besuchen und sich später für ein Fach entscheiden. +Die Proteste in seiner Heimat Belarus gehen derweil weiter. diff --git a/fluter/junge-indigene-taiwan.txt b/fluter/junge-indigene-taiwan.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e49d78521390618f378388a07766e6fe6859f98e --- /dev/null +++ b/fluter/junge-indigene-taiwan.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +"Ich bin sehr nervös", sagt Savungaz Valincinian, eine der Betreiberinnen des neuen Cafés und Aktivistin der Indigenous Youth Front. Sie hat die Feier bei den Behörden angemeldet, aber die haben weder eine Genehmigung ausgestellt noch ein Verbot ausgesprochen. Damit bleibt die Unsicherheit. Wird die Polizei kommen und die Zeremonie abbrechen? "Was passiert, passiert", sagt Valincinian. +Indigenous Youth Front +Am Anfang stand ein Generationenkonflikt: Entscheidungsträger in traditionellen indigenen Interessenverbänden Taiwans hatten sich 2013 kritisch über die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geäußert – die 2019 schließlich erlaubt wurde. Jüngere Indigene fühlten sich nicht mehr repräsentiert und schlossen sich zu einer eigenen Gruppe zusammen: der Indigenous Youth Front.Einige Mitglieder hatten bereits gemeinsam an Protesten teilgenommen, etwa gegen denLandraub an Indigenen, Umweltzerstörung oderAtomkraft. +Rund eine halbe Million Menschen indigener Abstammung leben in Taiwan, gut zwei Prozent der Bevölkerung. Die meisten der rund 23 Millionen Einwohner sind Nachfahren chinesischer Einwanderer. Die Indigenen ihrerseits gehören zu 16 verschiedenen Völkern, Amis etwa und Bunun. Gemeinsam ist ihnen, dass sie jahrzehntelang unterdrückt wurden. Weder durften sie ihre Sprachen sprechen noch traditionelle Namen verwenden. "Ich habe Angst, dass unsere Kultur mit der nächsten Generation verloren sein wird, wenn wir jetzt nicht handeln", sagt Ciang Ispalidav. +Dabei leben die Angehörigen der indigenen Völker schon seit ewigen Zeiten auf Taiwan, während Menschen chinesischer Abstammung vor allem in den vergangenen 400 Jahren auf die Insel gezogen sind. Mehr und mehr haben sie die Indigenen in die bergigen Regionen des Ostens verdrängt. Dort ist ihr Bevölkerungsanteil bis heute am höchsten. +Im Jahr 1895 übernahm das japanische Kaiserreich die Herrschaft in Taiwan und machte die Insel zur Kolonie. Die neuen Herren verboten den Gebrauch aller nichtjapanischen Sprachen und zwangen alle Bewohner, japanische Namen anzunehmen. "Spätestens jetzt verloren die indigenen Gruppen ihre Souveränität", sagt Liu Shih-Lung vom National Museum of Prehistory in Taitung, einer Stadt im Osten Taiwans. Das Museum hat sich zum Ziel gesetzt, die Öffentlichkeit über die indigenen Kulturen aufzuklären. +An der Unterdrückung änderte sich auch nichts, als Taiwan mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs von Japan an die Republik China fiel. Als 1949, nach dem chinesischen Bürgerkrieg und der Errichtung der Volksrepublik China auf dem Festland, über eine Million Anhänger und Vertreter der Republik China auf die Insel flohen, errichtete Diktator Chiang Kai-Shekdort eine Einparteienherrschaft. Erst seit den 1980er-Jahren wurden die Sprachverbote nach und nach gelockert, sagt Liu Shih-Lung. Im Jahr 2016 bat Tsai Ing-Wen, die Präsidentin des mittlerweile demokratisch regierten Taiwan, bei ihren indigenen Landsleuten um Entschuldigung für das Unrecht. +Trotzdem erschwert es die lange Zeit der Unterdrückung, an alte Traditionen anzuknüpfen. "Meine Vorfahren lebten in Dörfern in den Bergen, bis sie in die Städte gezwungen wurden", sagt Tana Panay Kumod Takisvilainan aus der Stadt Yuli im Osten Taiwans. Sie spricht über die Zeit der japanischen Besatzung ab 1895 bis 1945. Indigene Dörfer wurden aufgelöst, die Menschen gewaltvoll in Städte umgesiedelt. Wie dünn der Faden ist, an dem ihr kulturelles Erbe hängt, hat sie in der eigenen Familie erlebt. Die Sprache Bunun hat sie nicht von ihren Eltern, sondern den Großeltern gelernt. "Nur die Älteren erinnern sich noch an Riten und Praktiken", ergänzt sie. +In der Mehrheitsgesellschaft wiederum herrschte lange völlige Unkenntnis. In der Schule stand das Thema nicht auf dem Stundenplan. "Über die Indigenen habe ich in meiner Kindheit nichts erfahren", sagt Liu Shih-Lung. Die Folgen spürt Tana Panay Kumod Takisvilainan bis heute. "Wenn ich in Taipeh bin, werde ich manchmal gefragt, ob ich aus Indonesien komme", sagt sie. Ihr etwas dunklerer Teint werde als fremd wahrgenommen. Das Interesse an ihrer Kultur, etwa traditionellen Tänzen, sei oft oberflächlich, kritisiert sie. "Viele Leute wollen nur schnell ein Foto machen und es bei Social Media posten." +Dazu beigetragen haben auch staatliche Tourismuskampagnen, meint Savungaz Valincinian. Die stellten die alten Kulturen als bunte Folklore dar. Um sich dagegen zu wehren, gründete sie gemeinsam mit Freunden die Indigenous Youth Front. Spektakulär war gleich eine ihrer ersten Aktionen. Die Aktivisten taten, als wären sie Touristen, und besuchten ein Fremdenverkehrsamt. Dort fotografierten sie die Mitarbeitenden bei der Arbeit und kommentierten laut deren scheinbar exotisches und wundersames Verhalten. Der Protest hatte Erfolg, die unbedachte Kampagne wurde wieder eingestellt. +Doch die Eröffnungszeremonie des Café Lumaq ist eine andere Nummer. In Taipeh treten Indigene nach wie vor kaum öffentlich in Erscheinung, obwohl viele Jüngere auf der Suche nach Arbeit in die Hauptstadt gezogen sind. Die Behörden seien weniger kooperativ und vielleicht auch unerfahren, sagt Savungaz Valincinian. +Eine gewisse Anspannung ist zu spüren, als Ciang Ispalidav das Schwein aus seinem Schlummer weckt. Gemeinsam mit anderen fesselt er das Tier an den Haxen und trägt es auf die Straße, wo die Männer es auf einer Unterlage aus Pappe mit aller Kraft auf den Boden drücken. Dann geht alles ganz schnell. Mit einem beherzten Schnitt durchtrennt Ciang Ispalidav die Hauptschlagader. Das Schwein schreit auf. Doch bald werden die Rufe leiser. Es grunzt noch einmal und hört auf zu atmen. + + +Für Aufmerksamkeit sorgt die Szene trotz ihrer Kürze. Ein Streifenwagen fährt vor. Wie sich herausstellt, haben Nachbarn wegen des Aufruhrs die Polizei gerufen. Savungaz Valincinian schildert den Beamten die Situation, verweist auf die beantragte Genehmigung. Die Polizisten akzeptieren die Erklärungen, die Gruppe ist erleichtert. +Endlich beginnt die eigentliche Feier. Viele Teilnehmende ziehen sich zu diesem Anlass um, tragen nun festliche Kleidung – meist schwarze oder weiße Gewänder, geschmückt mit bunten geometrischen Mustern. Auf einem großen grünen Blatt werden der Kopf und die Organe des Schweins ausgestellt. Eine ältere Frau führt durch ein Ritual, spricht einen Segen und gute Wünsche. Anschließend wird das Fleisch des Tieres zubereitet und den Gästen angeboten. +"Dass so eine Zeremonie mitten in Taipeh möglich war, berührt mich sehr", sagt Ciang Ispalidav. Auch Savungaz Valincinian ist die Freude anzumerken. Ihr lautes Lachen ist immer wieder zu hören. Das Café soll nun als Anlaufstelle für Indigene und Unterstützende dienen, wünscht sie sich: Der Kampf gegen die Unwissenheit und um Anerkennung sei noch lange nicht gewonnen. + +Tobias Sauer recherchierte Ende 2022 für zwei Monate mit einem Stipendium der Internationalen Journalisten-Programme in Taiwan. diff --git a/fluter/junge-klima-aktivisten-weltweit.txt b/fluter/junge-klima-aktivisten-weltweit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3efa4d1f87202df274ef968e904c474f661bac9c --- /dev/null +++ b/fluter/junge-klima-aktivisten-weltweit.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Am 20. August 2018 ging Greta Thunberg nicht zur Schule, sondern setzte sich vors schwedische Parlament um zu demonstrieren. Ihre Forderung: Schweden solle das Pariser Abkommen erfüllen undMaßnahmen ergreifen, um die Erderwärmung auf unter zwei Grad zu begrenzen. In den folgenden drei Wochen saß Greta jeden Tag vorm Parlament, gemeinsam mit immer mehr Unterstützern. Mittlerweile streikt sie "nur noch" freitags, hat aber weltweit junge Menschen inspiriert: In vielen Ländern finden freitagsDemos und Schulstreiks unter dem Motto #FridaysforFuturestatt. Dazu trugen auch ihre Auftritte vor der Weltöffentlichkeit bei. Im Dezember hielt Greta eineviel beachtete Redebei der Weltklimakonferenz, im Januar legte sie beim Weltwirtschaftsforum in Davos nach. "Ich will eure Hoffnung nicht", sagte sie dort an die Erwachsenen gerichtet. "Ich will, dass ihr in Panik geratet, dass ihr die Angst spürt, die ich jeden Tag spüre!"Anschließend wurde Greta im Netz von Klimaskeptikern mit Hass überschüttet. Unter anderem warf man ihr vor, sie werde bezahlt und von ihren Eltern und Klimaaktivisten gesteuert. Auf ihrer Facebook-Seite räumte sie mit den Gerüchten auf – und in den Kommentaren darunter wird deutlich: Die Unterstützung für die von ihr gegründete Bewegung ist nach wie vor riesig. +Edgar Edmund (18), Tansania +Während der Regenzeit in Tansania im Frühjahr 2015 kam es zu verheerenden Überschwemmungen. Mindestens40 Menschen kamen ums Leben und Hunderte wurden obdachlos, weil ihre Lehmhäuser weggeschwemmt wurden. Als das Wasser zurückging, sah Edgar Edmund nicht nur die Zerstörung, sondern auch dieTonnen an Plastikmüll,die zurückblieben – und hatte eine Idee, um beide Probleme auf einmal zu lösen: Wenn es möglich wäre, stabilen und günstigen Baustoff aus altem Plastik herzustellen, könnte man den Müll recyceln und gleichzeitig Häuser bauen, die der nächsten Flut standhalten würden. Edgar konstruierte den Prototyp einer Maschine, die aus altem Kunststoff feste Ziegel presst, und gründete das Unternehmen Green Venture Recycles. 2017 wurde er dafür mit dem Children's Climate Prize ausgezeichnet. Mittlerweile hat er mehrere Zehntausend Kilo Plastik recycelt, mehr als 100 bezahlte indirekte Arbeitsplätze geschaffen und in seiner Heimatstadt Arusha viele Schüler über Umweltschutz aufgeklärt. Außerdem möchte er seine Idee in andere Länder exportieren. +Kelsey Juliana (22), USA +Viele Politiker und Unternehmer, die aktuell Entscheidungen treffen, werden die schlimmeren Auswirkungen des Klimawandels nicht mehr erleben. Wer heute jung ist, vielleicht schon. Aus diesem Grund hat Kelsey Juliana 2015 gemeinsam mit 20 anderen Kindern und Jugendlichen zwischen 8 und 19 Jahren die US-Regierung – damals noch unter Präsident Obama – verklagt. Die Regierung, so die Argumentation, verletze verfassungsgemäße Rechte der Kläger auf Leben und Freiheit, indem sie durch hohe CO2-Emissionen den Klimawandel vorantreibe. Kelsey und ihre Mitstreiter werden von der Organisation Our Children's Trust unterstützt, die Jugendlichen dabei hilft, auf dem Rechtsweg gegen den Klimawandel zu kämpfen. Nach drei Jahren wurde die Klage "Juliana vs. United States" im Oktober 2018 von einer Richterin aus Oregon zugelassen, sodass das Verfahren in Kelseys Heimatstaat eröffnet werden konnte. Seitdem ruht es allerdings, weil die Regierung es mit verschiedenen juristischen Mitteln blockiert. Aber Kelsey und die anderen wollen nicht aufgeben, bis es eine Entscheidung gibt. Und vermutlich auch nicht, falls diese gegen sie ausfallen sollte. + +Litia Baleilevuka (21), Fidschi +Eigentlich dachten Litia Baleilevuka und ihre Familie, dass sie auf Zyklone, also die tropischen Wirbelstürme im Südpazifik, gut vorbereitet seien. Doch als Zyklon Winston im Februar 2016 auf Fidschi traf, war dieser Sturm verheerender als alle zuvor. "Er wehte Häuser davon, als wären sie aus Lego, er entwurzelte Bäume, die jahrzehntelang gestanden hatten", schreibt Litia in einem Bericht für die gemeinnützige Thomson Reuters Foundation. Drei Tage lang war ihre Familie von der Außenwelt abgeschnitten und erfuhr danach, dass das Dorf, aus dem Litias Mutter stammt, völlig zerstört wurde. Im Dezember 2018 hat Litia als Mitglied des Netzwerks Pacific Island Represent für Klimaaktivismus auch auf der Weltklimakonferenz in Kattowitz davon erzählt. So machte sie darauf aufmerksam, dass auch ein kleines Land wie ihres dieFolgen der Erderwärmungzu tragen hat, die hauptsächlich von den großen Industrieländern verursacht wurde. Litia fordert darum, dass die Energiegewinnung aus fossilen Brennstoffen schnellstmöglich beendet wird. Auch in ihrer Heimat ist sie als Umweltaktivistin aktiv und organisiert zum Beispiel Klimaschutzprojekte, um über das Thema zu informieren. + +José Adolfo (13), Peru +Die wenigsten Kinder denken darüber nach, eine Bank zu gründen. Aber José Adolfo hat genau das gemacht, und zwar schon mit sieben Jahren. Allerdings zahlt man bei seiner "Ökobank" kein Geld ein,sondern ... Müll! Kinder und Jugendliche bringen recyclingtaugliches Material zu José, zum Beispiel Altpapier, und können, wenn sie mindestens fünf Kilo davon haben, ein Konto eröffnen. Durch interessierte Recyclingunternehmen wird ihr "Erspartes" zu richtigem Geld, das auf dem Konto belassen oder abgehoben werden kann. Wer ein Konto hat, muss monatlich mindestens ein Kilo Müll einzahlen und kann außerdem einen Mikrokredit aufnehmen. Es ist auch möglich, mit dem Müll als Währung direkt im Shop der Bank einzukaufen. Mit seinem Projekt will José die Armut in seiner Heimat bekämpfen. Denn wenn Kinder finanziell unabhängig sind, können sie zur Schule gehen, anstatt zu arbeiten, auch wenn ihre Eltern keinen Job haben oder nicht genug verdienen. Gleichzeitig fördert die Bank nachhaltigen und klima-freundlichen Konsum, macht darauf aufmerksam, dass die Ressourcen der Erde begrenzt sind und dass alles einen Wert hat – auch die Dinge, die wir wegwerfen. 2018 wurde José für seine Idee mit dem Children's Climate Prize ausgezeichnet. Über 3.000 Kinder und Jugendliche sind mittlerweile bei der "Ökobank" aktiv. diff --git a/fluter/junge-konservative-briten-im-wahlkampf.txt b/fluter/junge-konservative-briten-im-wahlkampf.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..84aa0fb8aa9ea36bc90a4cc5c95d52cdb122a144 --- /dev/null +++ b/fluter/junge-konservative-briten-im-wahlkampf.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Mit Phil sind deshalb an diesem Montag Ende Mai trotz Feiertag gut 20 Wahlkampfhelfer nach Croydon gekommen, dem Londoner Vorort, in dem der Student wohnt. Sie bilden Teams und teilen sich die Straßen untereinander auf. In Phils Gruppe sind unter anderem Tim, weiß und sehr englisch. Samuel, sehr jung und dunkelhäutig. Rebecca, mit indischem Hintergrund und Mark, der die Gruppe mit einem Klemmbrett von Tür zu Tür schickt. Zwei Dinge, die sie alle gemeinsam haben: Hochachtung vor Theresa May und Begeisterung für den Brexit. + +Für die Tories zieht Phil auch an Feiertagen um die Häuser. Hier verteilt der 20-jährige Student Flyer im Londoner Vorort Croydon + +Für Tim ist die Europäische Union zu undemokratisch und diktatorisch. Für Samuel nicht notwendig und für Phil war das EU-Referendum ein massiver Stinkefinger gegen das englische und europäische Establishment. Eine Revolution der kleinen Leute, sagt er und zeigt auf seinem Handy stolz ein Video von einer Rede des ehemaligen Premierministers David Cameron. Darauf sind zwei junge Männer im Publikum zu sehen, die plötzlich aufspringen, grölen und ein Anti-EU-Plakat hochhalten. Es ist Phil, zusammen mit einem Freund. Das Publikum stöhnt, Cameron nimmt die Unterbrechung gelassen und geht kurz darauf ein. +Der ehemalige Premierminister hatte die Idee des Referendums selbst ins Spiel gebracht und gab sich auch eine Zeit lang öffentlich sehr EU-kritisch. Schließlich aber positionierte er sich gegen den Brexit. Auch viele andere Konservative kämpften mit aller Kraft für einen Verbleib in der EU, die Frage spaltete die Partei merklich. + +"Ich hatte den ganzen Tag über Bauchschmerzen, so aufgeregt war ich", erzählt Phil, der sich unter falschem Namen auf die geschlossene Veranstaltung geschmuggelt hatte. Am nächsten Tag war ein Foto der Aktion in allen Zeitungen. Es zeigte ein politisches Phänomen, das viele verblüffte: Konservative mit Guerilla-Taktiken. +Die meisten jungen Briten stimmten klar für Europa. Bei den 18- bis 24-Jährigen waren es laut einer Nachwahlbefragung des britischen Meinungsforschungsinstituts YouGov am 23. Juni 2016 etwa 66 Prozent. Viele von ihnen verbinden die Europäische Union mit einer chancenreichen Zukunft. Je älter die Wähler, desto eher stimmten sie für den Ausstieg. Von den über 65-Jährigen waren nur 38 Prozent für einen Verbleib in der EU. + +Fragt man den 18-jährigen Schüler Callum, dann führt nur ein Weg in die selbstbestimmte Zukunft Großbritanniens: der aus der EU + +Auch in Lewes, knapp 80 Kilometer weiter südlich, macht der Wahlkampf an diesem Feiertag keine Pause. Callum ist seit dem Morgen auf den Beinen. Erst im Büro seiner Abgeordneten, um den Tag zu besprechen, später dann beim Wahlkampf. Der 18-Jährige lernt gerade für sein Abitur, jede freie Minute kratzt er für die Konservativen zusammen. Die blaue Rosette seiner Partei pinnt er sich aber trotzdem nur für das Foto an seinen Pullover. +Callum koordinierte die Brexit-Kampagne in seinem Wahlkreis, obwohl er zu jenem Zeitpunkt noch nicht einmal wählen durfte. Glücklich ist er mit dem Sieg trotzdem nicht: Er findet nicht gut, dass das Land so gespalten ist. Das anfangs so oft proklamierte "Wir" der Brexit-Befürworter gibt es für ihn nicht mehr. +Auch persönlich hätte der Ausgang des Referendums für ihn erst einmal wenig Positives. "Brexit ist toxisch", sagt er. Man könne das Thema kaum noch neutral diskutieren, sofort werde es emotional. Callum ist der einzige Brexit-Enthusiast in seiner Familie. Einige Tage nach dem EU-Referendum saßen er und sein Vater vor dem Fernseher und schauten Nachrichten. Als ein Freund der Familie vorbeikam und sich in die aufkommende Diskussion einklinkte, wurde daraus ein großer Streit. "Wir haben uns nur noch angeschrien", erzählt Callum. Seitdem meidet er das Thema in der Familie und in großen Teilen seines Freundeskreises. +Noch stärker als das Alter, so Wissenschaftler der London School of Economics, korrelieren der Wohnort und die Bildung der Wähler mit der Haltung gegenüber der EU. Vereinfacht gesagt: Gut ausgebildete und solche, die im Norden oder größeren Städten wohnen, waren eher für den Verbleib in der EU. Schlecht ausgebildete, im Süden und der Provinz lebende Wähler votierten eher für den Ausstieg. Viele von ihnen erhoffen sich vom Brexit eine drastische Begrenzung der Zuwanderung. +Phil und Callum sind weder Hinterwäldler noch ungebildet. Phil studiert Geschichte, Callum möchte im Herbst ein Politikstudium beginnen. Beide sind schon öfter in andere europäische Länder gereist. Sie haben auch nichts gegen Migration – solange sie kontrolliert verläuft. Callums Vater ist Neuseeländer, Phils Mutter Russin. +Die beiden sehen den Brexit als Chance, die Zukunft ihres Landes selbst in die Hand zu nehmen. Es geht ihnen um Selbstbestimmung und Demokratie. Die sei am besten, so Callum, wenn sie so nah wie möglich beim Volk liege. "Das Europaparlament kann noch nicht einmal Gesetze auf den Weg bringen", sagt Callum, etwas vereinfacht dargestellt. Großbritannien hätte dagegen eine demokratische Tradition, die ihn stolz mache. Auf lange Sicht, so glauben beide, würde es Großbritannien ohne die EU besser gehen. +Phil und seine Freunde ziehen deshalb dreimal täglich mit Flyern und Briefen bewaffnet um die Häuser. Sie wollen Theresa May eine möglichst breite Basis verschaffen, damit sie in Brüssel in Ruhe verhandeln kann. In den Türgesprächen taucht auch knapp ein Jahr nach dem Referendum immer wieder das Wort "Brexit" auf. Nr. 37 findet Theresa May und ihr "Brexit bedeutet Brexit" zu diktatorisch. Nr. 12 wird dieses Mal aufgrund des EU-Austritts konservativ wählen. +Tatsächlich saßen die Konservativen nach dem Referendum fest im Sattel, zumindest nach einigen Turbulenzen. Theresa May positionierte sich als die einzig Fähige ihrer Partei. Zwar holt die Labour-Partei unter Jeremy Corbyn nun wieder auf: Der jüngsten Umfrage des Instituts YouGov für die "Times" zufolge liegt sie nur noch drei Prozent hinter den Konservativen – dass sie die meisten Wahlkreise gewinnt, ist aber unwahrscheinlich. Auch deshalb sind die Konservativen heute siegessicher. +Vor einem Jahr war das anders. Als in den frühen Morgenstunden klar wurde, dass Großbritannien tatsächlich für den Brexit gestimmt hatte, brach bei Phil und seinen Freunden Jubel aus. Phil rannte in die britische Flagge gehüllt auf die Straße. Die Sonne ging gerade erst auf, es war sechs Uhr früh. Sie schrien, lachten und tanzten. Taxifahrer hupten, Lkws blieben stehen. Es war, so erzählt Phil heute, der beste Tag seines Lebens. + +Titelbild: ANDREW TESTA/NYT/Redux/laif diff --git a/fluter/junge-menschen-gestalten-aktiv-ihre-zukunft.txt b/fluter/junge-menschen-gestalten-aktiv-ihre-zukunft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..26c46fcddbcaf52be5ce563892d25baaf8a6fd61 --- /dev/null +++ b/fluter/junge-menschen-gestalten-aktiv-ihre-zukunft.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Auch aufgrund der Vorzüge, die die wohlhabenden Kinder der westlichen Industrienationen genießen, steckt die Menschheit in einer ernsten Krise. Diese Krise hat eine entscheidende ökologische Komponente. Die fortwährende Überschreitung der planetaren Grenzen stellt im Sinne der Generationengerechtigkeit wahrscheinlich das offensichtlichste und dramatischste Verbrechen dar. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir bis zum Ende des Jahrhunderts in einer bis zu sechs Grad wärmeren Welt leben müssen, beträgt Forschern der Earth League zufolge schon eins zu zehn, wenn jetzt keine Klimaschutzmaßnahmen ergriffen werden. +Diese Welt wäre die Hölle im Vergleich zu den Zuständen, die wir (noch) genießen. Ex-Bundesentwicklungsminister Gerd Müller beschreibt für diesen Fall ein Szenario von 100 Millionen afrikanischen Klimaflüchtlingen. Wer dann kein Elon-Musk-Shuttle zum Mars geboardet hat, wird die Chance haben, eine Mischung aus Weltuntergangsfilmen wie "The Road", "Blade Runner" und "3 %" live mitzuerleben. +Es gibt also keinen Grund für Gleichgültigkeit, keine Zeit für Sinnkrisen, weil es genug echte Probleme zu lösen gilt. Nur: Woran mangelt es uns, sie anzugehen? Sind wir zu schwach und zu faul? Fehlen uns die Werte? Sind wir durch grelle Marketingbotschaften zum grenzenlosen Konsum verdammt, der uns dazu zwingt, langsam erst die Lebensgrundlage unserer schwächeren Nachbarn und dann uns selbst zu verzehren? Ein Teil des Problems ist, dass wir in einer Kultur zunehmender Unehrlichkeit und Nachgiebigkeit von politischen Positionen leben. Oft gilt bei den Parteien: Keine Fehler zugeben, dem Wähler nicht zu viel zutrauen. Alles, was in mehr als zwei Sätzen erklärt werden muss, wird ausgeblendet. Jeder hat auf alles die einzig richtige Antwort, eine wirkliche Diskussion gibt es nicht. +In Anbetracht der Komplexität unserer Probleme führt das nicht weit. Politiker müssen den Diskurs bekräftigen, überparteilich gestalten, unabhängig argumentieren. Und es ist Zeit für Visionen – die wir uns aufgrund der vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse erlauben müssen. Ich glaube, man sollte – bei allem Respekt vor Graswurzel- Initiativen und Petitionen-Schreibern – die Stimme der Zukunft, repräsentiert durch die junge Generation, im Kern der politischen Entscheidungslandschaft verankern: dem Parlament. Wie würden zum Beispiel Koalitionsverhandlungen verlaufen, wenn zehn Sitze an Vertreter der jungen Generation, eine Art "Jugendrat", vergeben wären? Diese wären von allen unter 30-Jährigen gewählt und würden Themen vertreten, die in einem wissenschaftlichen, basisdemokratischen Prozess erarbeitet wurden. Das wäre revolutionär, mal gar nicht deutsch und würde die politische Landschaft ein wenig neu ordnen. Na ja, zumindest weitaus interessanter machen. Im besten Fall würde es dazu führen, dass Politik nicht mehr an den wichtigsten Themen der Zukunft vorbei gemacht werden könnte. Vielleicht würde die Generation meines Sohnes in einem Land aufwachsen, das mutig und unerschrocken auf jedes Mitglied seiner Gesellschaft zugeht. +Ich glaube, wir brauchen einen solch revolutionären Schub, um uns für die Aufgaben, die vor uns liegen, bereit zu machen. Denn, und das ist eine von diesen Wahrheiten, die ungern ausgesprochen werden: Wir sind die erste Generation, die innerhalb kürzester Zeit die vielleicht schlimmste humanitäre Katastrophe, den weltweiten Hunger, beenden könnte. Wir sind die letzte Generation, die den ökologischen Kollaps unserer Erde verhindern kann. Dafür müssen wir jedoch wirklich etwas ändern und wirklich auf etwas verzichten. Likes und Hashtags reichen dafür nicht. Lasst uns meinetwegen weiterhin unseren Lebenslauf mit einem sozialen Jahr in Afrika schmücken, aber dann auch auf das mit Konfliktmaterialien vollge stopfte neueste Smartphone verzichten. +Lasst uns etwas Besseres verlangen, auch von uns selbst. Es ist ja lässig, zu Hinterhof-Brew über den Wasser-Fußabdruck von Rindfleisch zu schwadronieren, aber dann lasst uns auch konsequent biologische Lebensmittel einkaufen. Wir sind die Betroffenen, aber wie tief geht unser Protest? Wie groß kann die Leidensfähigkeit einer Generation sein, die nie wirklich leiden musste? Unsere Großeltern überlebten die Kriege und begannen den Wiederaufbau. Unsere Eltern kämpften für Gleichberechtigung und die Wiedervereinigung. Was werden wir hinterlassen? + +Tielbild: Sandra Hoyn/laif diff --git a/fluter/junge-menschen-im-kosovo-gehen-oder-bleiben.txt b/fluter/junge-menschen-im-kosovo-gehen-oder-bleiben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d6c4284aa7f4eaf2f274571f6365ac51a3376c4a --- /dev/null +++ b/fluter/junge-menschen-im-kosovo-gehen-oder-bleiben.txt @@ -0,0 +1,14 @@ + +Das Bubble Pub hat im April 2022 eröffnet und sollte ein Ort für dieLGBTQI+-Communitywerden. Ein Ort, den sich Betreiber Lend Mustafa sein ganzes Leben lang wünschte: "Es ist ein befreiendes Gefühl zu sehen, wie hier alle sie selbst sein können", sagt der 26-Jährige. Er hat kurze Haare, leichten Bartwuchs und weiche Gesichtszüge. Wie so viele im Land verbindet ihn eine Geschichte mit Deutschland: Seine Eltern flüchteten wegen des Krieges ins baden-württembergische Waldkirch, später wuchs er aber im Kosovo auf. In Pristina lebt er gemeinsam mit seinem Partner und arbeitet nebenbei als Projektmanager für eine NGO. +Das heutige Kosovo war früher eine autonome Provinz der Teilrepublik Serbien innerhalb des Vielvölkerstaats Jugoslawien. Das Gebiet wird jedochschon lange mehrheitlich von sogenannten Kosovo-Albaner:innen bewohnt. Weil das Kosovo seit 1989 durch Serbien immer stärker in seinen Autonomierechten eingeschränkt wurde, verabschiedeten Abgeordnete der Kosovo-Albaner:innen 1990 heimlich eine Verfassung, woraufhin Serbien den Ausnahmezustand verhängte. Ein Jahr später folgte eine Unabhängigkeitserklärung, die per Volksabstimmung bestätigt wurde. Serbien erkannte die Unabhängigkeit jedoch nicht an. Die Situation eskalierte 1998 im Kosovokrieg, in dem die kosovarische und vor allem die kosovo-albanische Zivilbevölkerung Opfer systematischer Überfälle, Vertreibungen und Massenmorde wurde. Auch die kosovo-albanische Befreiungsarmee UÇK machte sich schwerer Menschenrechtsverbrechen schuldig. Im Zusammenhang mit dem Krieg starben oder verschwanden zwischen 1998 und 2000 mindestens 13.535 Menschen. 1999 begann die NATO ohne UN-Mandat ihren ersten Kampfeinsatz, der bis heute völkerrechtlich umstritten ist. Infolge des Krieges zog sich Jugoslawien, das damals noch aus Serbien, Montenegro und Kosovo bestand, aus dem Gebiet des Kosovos zurück. Nach dem Krieg übernahmen die Vereinten Nationen 1999 die Verwaltungshoheit des Gebiets. 2008 erklärte sich das Kosovo einseitig für unabhängig und wird heute von 117 der 193 UN-Mitgliedstaaten anerkannt. Unter den Ländern, die die Unabhängigkeit nicht anerkennen, sind auch fünf EU-Staaten. +Die queere Community ist im Kosovo nicht besonders sichtbar. Zwar wird schon seit 2017 jedes Jahr eine Pride veranstaltet, in der mehrheitlich muslimischen Bevölkerung gilt Queersein jedoch oft als schwieriges Thema, Ablehnung ist weit verbreitet. Der Premierminister plante erst kürzlich, die eingetragene Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare einzuführen. Doch der Vorschlag wurde vom Parlament abgelehnt. Dabei schützt die Verfassung des kleinen Landes theoretisch ausdrücklich vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung – anders als in Deutschland. +Lend ist in seiner Heimat bekannt, weil er die erste kosovarische Person war, die öffentlich zu ihrer Transgeschlechtlichkeit stand. Das war nicht immer einfach, und die Reaktionen waren häufig negativ. Schon seit Jahren hatte er den Plan, seine eigene Bar zu gründen, es fehlte aber immer das Geld. Als er 2021 endlich Unterstützer:innen fand, arbeitete er für die Eröffnung eng mit der Polizei zusammen. Die Menschen sollen hier schließlich genauso sicher sein wie in anderen europäischen Städten. +Wenn Lend über seinen Job und seinen Aktivismus spricht, wirkt er euphorisch, und man spürt, dass er eine Vision für seine Heimat hat. Dank seines Jobs konnte er schon häufig durch Europa reisen, andere Städte besuchen und sich von anderen queeren Bars in europäischen Metropolen inspirieren lassen. Schon seit Jahren hätte er die Möglichkeit auszuwandern, erzählt er, und einen besser bezahlten Job im Ausland zu finden, aber nichts erfülle ihn mehr, als im Kosovo für seine Community und andere Minderheiten zu kämpfen: "So chaotisch es hier auch ist, ich würde nirgendwo anders lieber leben." +Für die meisten Kosovar:innen ist es aber fast unmöglich, das Land zu verlassen. Selbst für einen kurzen Trip in den Schengenraumbrauchen sie derzeit noch ein Visum, und der Antragsprozess dauert oft lange, ist kompliziert und teuer. Nachdem die Frage der Visaliberalisierung jahrelang politisch blockiert wurde, einigte sich die EU im vergangenen Dezember: Ab dem Jahr 2024dürfen Kosovar:innen ohne Visum in die EU einreisen. +Die 26-jährige Nerona träumt wie viele junge Kosovar:innen genau davon. "Ich möchte andere Orte sehen und neue Kulturen kennenlernen", sagt sie. Nach Kroatien würde sie zum Beispiel gerne reisen oder in die Niederlande. Als ihr Bruder in Slowenien studierte, wollte sie ihn besuchen; sie versuchte, ein Visum zu beantragen, gab aber schnell wieder auf: "Ich fühle mich manchmal wie in einem Käfig." +Nach ihrem Bachelor in Buchhaltung brauchte Nerona eine Auszeit, erzählt sie: "Aber ich konnte einfach nirgendwohin, wo ich noch nie gewesen war." Deshalb plant sie nun, ihren Master im Ausland zu absolvieren. "Ich denke, dass ich danach zurückkommen werde", sagt sie. "Aber ich schließe auch nicht aus, im Ausland zu bleiben." +Nicht nur die Visabestimmungen machten es jungen Menschen bisher schwer. Das Kosovo gilt als eines der ärmsten Länder Europas, mehr als 17 Prozent der Bevölkerung leben an der Armutsgrenze. Unter anderem deshalbkam es 2014 und 2015 zu einer großen Auswanderungswelle, während der Zehntausende Kosovar:innen Asyl in der EU beantragten. Mittlerweile sind die Zahlen zwar rückläufig, die Jugendarbeitslosigkeit liegt aber noch immer bei rund 50 Prozent. +Das spürt auch Nerona, die noch immer bei ihren Eltern lebt. Die Löhne im Kosovo seien niedrig, und viele Menschen könnten sich ihren Job nicht aussuchen. Viele hier glauben, genau wie Nerona, dass ihre Arbeit im Ausland stärker wertgeschätzt werde: "Vielleicht denke ich das aber auch nur, weil ich noch nie dort war." +Nerona will erstmal weg aus dem Kosovo – zumindest für ihren Master +Obwohl sie einen Bachelorabschluss hat, jobbt Nerona seit drei Jahren in einem Buchladen in Pristina. Weil dort auch englischsprachige Bücher verkauft werden, ist er unter jungen Menschen besonders beliebt. Dort – und fast überall sonst in der Stadt – spürt man,dass sich Pristina im Wandel befindet, sagt Nerona: "Junge Kosovar:innen machen, was sie wollen, und lassen sich nichts vorschreiben." Die Gesellschaft werde immer offener und aufgeschlossener neuen Dingen gegenüber. "Ich sehe in letzter Zeit immer mehr junge Menschen, die machen, worauf sie Lust haben", sagt Nerona. Kosovar:innen, die sich exzentrisch anziehen und kreativ sind. "Die Jugend macht unser Land besser, aber wichtige Entscheidungen treffen noch immer die Alten." +Auch Lend ist frustriert davon, dass die wichtigsten Posten im Land mit korrupten Politiker:innen besetzt sind, wie er sagt. Genau wie Nerona ist er aber fasziniert, wie tolerant junge Menschen in seiner Heimat mittlerweile sind. Für ihn ist allein das ein Grund, dort zu bleiben und etwas zu verändern: "Die Situation ist zwar nicht die beste", räumt er ein, "aber solange wir einander haben, wird alles gut." diff --git a/fluter/junge-ukrainische-gefluechtete.txt b/fluter/junge-ukrainische-gefluechtete.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a22e1b79d965982bc5c19d4f268eb4289fa73a73 --- /dev/null +++ b/fluter/junge-ukrainische-gefluechtete.txt @@ -0,0 +1,37 @@ +Ein Jahr später treiben die Wolken unentschieden über das Stadion des 1. FC Schweinfurt. An Spieltagen kostet ein Stehplatz hier zwölf Euro, die Rindswurst kriegt man für stabile drei. Heute spielt Schweinfurt (4. Liga) gegen den Würzburger FV (5. Liga). 200 Zuschauer. Keine nennenswerten Torchancen. Kurz vor der Halbzeit steht es noch 0:0. +Dmytro beobachtet das Spiel von der Auswechselbank aus, die Hände tief in seiner Jacke. "Schnüdel", steht auf seinem Rücken, der Spitzname der Schweinfurter. Seit einem Jahr lebt Dmytro nun hier im Norden Bayerns. +Er ist froh, dass er in der Türkei war, als russisches Militär in sein Heimatland einfiel. Seine Mutter schrieb ihm eine Nachricht: "Flieg bitte nicht nach Hause. Flieg nach Deutschland." Er solle sich bei einem Bekannten in der Nähe von Schweinfurt melden, sie komme mit seinem kleinen Bruder nach. Inzwischen ist Dmytro 18 Jahre alt, im wehrfähigen Alter also. Wäre er zurückgekehrt, hätten sie ihn vielleicht eingezogen. +Der Krieg in der Ukraine hat zu einer der größten Fluchtbewegungen in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs geführt. Mehr als fünf Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer flohen innerhalb ihres Landes, etwa acht Millionen gingen in andere Länder Europas – die meisten nach Polen (ca. 1,5 Millionen) und Deutschland. Ende 2022 lebten über eine Million Geflüchtete hier. Weil Männer über 18 nicht aus der Ukraine ausreisen dürfen, sind die meisten Frauen. + + +Eine davon ist Alina Vivcharuk, 25 Jahre alt. Es ist inzwischen das zweite Mal, dass Alina vor russischen Soldaten fliehen musste. Sie wurde im Osten der Ukraine geboren, in Luhansk, wo der russisch-ukrainische Kriegschon seit 2014 tobt. Ihre Mutter setzte sie ins Auto, Alina war da 16 Jahre alt. In Krywyj Rih fingen beide noch einmal neu an: Alina machte Abitur, studierte Englisch und Russisch. Einmal, als sie durch die Fußgängerzone bummelte, hörte sie eine Straßenmusikerin. Sascha. Sie ging zu ihr, fragte nach ihrem Insta-Account. In der Ukraine wusste sie, wie man flirtet. Ein halbes Jahr später zogen die beiden zusammen. Als die russischen Panzer über die Grenze fuhren, entschlossen sie sich zu fliehen. +Nun sitzt Alina in einer Pizzeria in Reutlingen. Ihre Augen hat sie grün geschminkt, dieselbe Farbe wie ihr Oberteil. Gerade kommt sie vom Deutschkurs, fünf Stunden, mehrmals die Woche. Anfangs konnte sie kein Wort Deutsch, wie die meisten der ukrainischen Geflüchteten. Etwas stolz ist sie schon, wie gut sie inzwischen ist. +Dmytro und Alina haben sich noch nie getroffen. Beide sind aus derselben Stadt geflohen, beide sind in Süddeutschland gelandet. Aber ihr Leben hier könnte nicht verschiedener sein. Für Dmytro ist Deutschland ein Abstieg, für Alina das Gegenteil. Dmytro würde überall hingehen, wo er im Tor stehen kann, auch wieder zurück in die Ukraine. Alina gehört zu dem Drittel der Geflüchteten, die auch nach dem Krieg in Deutschland bleiben wollen. +Vor dem Krieg arbeitete Alina als Barkeeperin, zeitweise 14 Stunden pro Tag, manchmal ohne Wochenende. "Deutsche Menschen sind da immer überrascht. Aber als Barkeeperin konnte ich mehr Geld verdienen als mit Sprachen", sagt sie und lacht. "Nicht so viel, aber mehr." Wie Alina haben 72 Prozent aller ukrainischen Geflüchteten in Deutschland einen Hochschulabschluss. +Drei Viertel aller Geflüchteten aus der Ukraine sagen, sie fühlten sich bei ihrer Ankunft willkommen. Auch Alina und ihre Freundin Sascha. "Alle waren so nett", sagt sie. Die Helfenden hatten den beideneine Gastfamilie organisiert. Dort zogen die beiden in ein gemeinsames Zimmer, so lange, bis sie auf eigenen Beinen stehen würden. In den ersten Tagen erkundeten sie die Stadt. Die kleine Stadt, wie Alina Reutlingen mit seinen 116.000 Einwohnerinnen und Einwohnern nennt. Das Erkunden dauerte also nicht lang. Alina mag das. Das eine halbe Stunde entfernte Stuttgart ist ihr zu laut. +Die deutschen Behörden schufen schnell ein System, das Geflüchteten aus der Ukraine die Einreise erleichtern sollte. Ukrainische Geflüchtete müssen kein normales Asylverfahren durchlaufen, sondern können zunächst 90 Tage ohne Aufenthaltstitel hierbleiben. Sie dürfen arbeiten, haben Anspruch auf Unterstützung, können ihre Kinder zur Schule schicken. Dazu kommt: Die wenigsten Geflüchteten aus der Ukraineleben in Sammelunterkünften, die meisten kamen bei Verwandten und bei Gastfamilien unter – wie Dmytro und Alina. +Und dennoch warten auch auf die Geflüchteten aus der Ukraine bürokratische Hürden: Registrierung, Aufenthaltstitel, Anträge auf Sozialleistungen. Alina sagt: "Das Rathaus war sehr, sehr kompliziert. Wir haben nichts verstanden." Ohne Ilona und Thomas, ihre deutsche Gastfamilie, hätten sie es nicht so leicht geschafft. Aber Stress gab es natürlich dennoch: Ihre ukrainische Wohnung hatte mehrere Zimmer, in Deutschland mussten sie sich plötzlich eines teilen. Sie hatten keinen Rückzugsort mehr und überlegten, ob sie sich trennen sollten. Aber dann? Sie kannten ja kaum jemanden. +Dmytro wollte die ersten Monate nichts mit Fußball zu tun haben, eigentlich mit gar nichts. Er wohnte zunächst mit seiner Familie bei einem Bekannten in einer Kleinstadt, 30 Minuten von Schweinfurt entfernt. Dort lag er auf dem Bett – und wenn er nicht Filme guckte, schrieb er sich mit Freunden und ehemaligen Teamkollegen. Sein Leben war ja immer nur auf ein Ziel ausgerichtet: Fußballprofi. Er ging nicht feiern, er trank keinen Alkohol. Eine Freundin hatte er nicht. Und plötzlich war er auch noch fremd. Dmytro zog sich zurück. +Es brauchte erst einen Arschtritt seiner Mutter und ihre Initiative. Ein Bekannter von ihr rief in der Geschäftsstelle des 1. FC Schweinfurt an und verabredete ein Probetraining für Dmytro. Wenig später unterschrieb er schon einen Vertrag. Seit Juni fährt er nun täglich nach Schweinfurt. Fünf Tage die Woche hat er Training. Am Wochenende Spiele. Ein Vollzeitjob. +Nach der Halbzeit nimmt Dmytro wieder auf der Ersatzbank Platz. Nach und nach werden Mitspieler eingewechselt. Den erschöpften Ausgewechselten reicht Dmytro entweder Wasser oder eine Jacke. Und dann, wie aus dem Nichts, geht Schweinfurt in Führung. Die Bank springt auf. Dmytro reckt die Fäuste in die Luft. +"Dmytro ist wahnsinnig professionell", sagt Robert Hettich, der Sportliche Leiter von Schweinfurt. Gerade noch sei Dmytro dritter Torhüter, die beiden anderen seien eben mehrere Jahre älter als er. Es habe Phasen gegeben, da dachten sie im Verein, jetzt geht Dmytro richtig ab. Dann wieder sei es nicht so gut gelaufen. Das sei normal, sagt Hettich. "Er muss jetzt Deutsch lernen, dann ist er wirklich da. Dann kann er mit den Jungs auch mal feiern gehen." +Die Sprache ist wichtig, um sich zu integrieren. Dmytro weiß das. +"My English is okay. It's no problem talking to the guys on the team. We share our stories. They ask me a lot about my culture and I ask a lot too, but ..." +Dmytro bläst die Backen auf. +"Maaaaaaaann, Deutsch ..." +Seit ein paar Wochen ist er jetzt in einem Deutschkurs. Er lernt zwischen dem Training und dem Abend. Er hat für nichts anderes mehr Zeit: Fußball und Vokabeln. Was ist mit Freunden? Dmytro schüttelt den Kopf und lässt ganz lange die Luft raus. +"I mean, I can speak a couple of words. Hallo. Danke. Wie geht's dir? But, oh my god, the language is so hard." +Beim Training verständigt er sich auch mit Händen und Füßen. Und wenn er mal kompliziertere Dinge ausdrücken will, holt er sein Smartphone heraus. Google Translate regelt den Rest. +Ich tippe in mein Smartphone und reiche es ihm: Bist du glücklich in Deutschland? +"Wie die meisten Menschen bin ich froh, in Sicherheit zu sein und keine Explosionsgeräusche zu hören, nicht zu sehen, wie Raketen fliegen,wie Zivilisten sterben. Ich verstehe, dass ich im Moment in Deutschland bin und meinen Job machen muss – Fußball spielen." +Ich tippe: Was war dein schönster Moment bisher bei Schweinfurt? +"Als mir klar wurde, was Fußball in Deutschland ist: Hier gehen die Leute zu den Spielen und unterstützen ihre Mannschaft immer, bei jedem Wetter und mit jedem Gegner. Als ich zum ersten Mal in die Mannschaft kam, stand ich auf dem Podium und spürte die ganze Ladung des Stadions, die Ladung der Fans, die die Mannschaft anfeuerten und unterstützten. Wir haben gewonnen." + + +Alina sagt, es sei ein sehr schnelles Jahr gewesen. Sie lacht. Sie habe viel gelernt, über sich, über Deutschland. "Es hat mich selbstbewusster gemacht." Und: "Deutsche haben sehr wenig Zeit auch." Wieder lacht sie. +Die meiste Zeit verbringt Alina mit Spazierengehen und im Fitnessstudio. Im Deutschkurs hat sie jetzt Freundschaften gefunden. Aber sonst ist es "immer noch sehr schwierig". +Sascha und sie haben sich im Sommer getrennt. Es war zu viel, zu nah. Als Sascha eine Wohnung in Reutlingen fand, ging Alina trotzdem mit zur Besichtigung. Der Vermieter sprach auf Deutsch. "Als ich ihn verstanden habe, da habe ich zum ersten Mal gedacht: Ich bin jetzt da." Es gab noch ein zusätzliches Zimmer. Alina zog ein. "Unsere Freunde finden das komisch", sagt sie und lacht. Aber: "Jeder hat sein eigenes Zimmer. Das ist sehr gut." +Bald haben die beiden die nächste Deutschprüfung. B1. Danach: B2, wofür sie fließend Deutsch sprechen muss. Und dann? "Feuerwehrfrau. Das würde mich sehr interessieren. Aber dafür brauche ich einen deutschen Pass", sagt Alina. Sie hat sich schon informiert. +Wenn das nicht klappt, macht sie vielleicht eine Ausbildung oder lässt sich ihr Diplom anerkennen. Der Krieg wird noch lange gehen, glaubt sie. "Wir siegen. Es gibt keine andere Option für mich", sagt Alina. Und wenn es so weit ist, will sie jeden Urlaub zurück in die Ukraine. +Wir wollen schon aufstehen, da lehnt sich Alina noch einmal über den Tisch. Sie habe da letztens einen so hübschen Mann in der Fußgängerzone gesehen: "Wie lernen sich die Deutschen denn kennen?" +In Schweinfurt pfeift der Schiedsrichter ab. Schweinfurt hat tatsächlich gewonnen. 2:1. Dmytro ist der Einzige, der nicht eingewechselt wurde. Allgemeines Shakehands mit dem Gegner, dann kommen alle Spieler auf dem Platz zusammen, formen einen Kreis. Und so steht Dmytro auf dem Fußballfeld, mit seinen Mitspielern Arm in Arm. Der Trainer redet auf Deutsch auf sie ein. Das alles mag Dmytro noch nicht verstehen. Dmytro mag auch noch kein Fußballprofi sein. Aber jetzt ist er schon mal ein Schnüdel. Ein Anfang. Der Rest kann ja noch werden. diff --git a/fluter/jungfernhaeutchen-gibt-es-nicht-oliwia-haelterlein.txt b/fluter/jungfernhaeutchen-gibt-es-nicht-oliwia-haelterlein.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5892f82fbd5415318fcf352019be12b329f09e52 --- /dev/null +++ b/fluter/jungfernhaeutchen-gibt-es-nicht-oliwia-haelterlein.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Trotzdem gibt es sogar operative Eingriffe, die diese Korona wiederherstellen sollen. Wieso glauben so viele so fest an diesen Mythos? +Weil es uns so erzählt wird von Eltern, Freund*innen, in der Schule und den Medien: Es gibt diese Haut, die reißt und schmerzt beim ersten heterosexuellen Sex, durch Tampons oder Sport. Wenn das alle um dich herum glauben, macht es etwas mit dir. Die Vorstellung, dass beim ersten Mal jemand in dich gewaltvoll eindringen muss und was aufsprengt und es reißt und blutet, ist doch ein Horror, oder? Da ist es nur logisch, dass der Körper auf solche Vorstellungen und Ängste reagiert. Viele junge Mädchen haben wirklich Symptome, sie krampfen, es tut weh, vielleicht blutet es. Viele Mädchen erzählen aber auch, sie hätten geblutet, obwohl sie nicht geblutet haben. Sie denken, es stimmt etwas nicht mit ihnen, aber wollen dazugehören. Wie ein vorgegebenes Skript, das erfüllt werden muss. +Wo würdest du ansetzen, um diese Legende abzuschaffen? +In der Schule und Familie, unter Freund*innen und in Büchern, bei der Sprache. Es geht darum,Körperteile richtig zu benennen und zu enttabuisieren. Aus Schamlippen Vulvalippen machen, aufklären, was eine Vagina und was eine Vulva ist. Warum haben wir einen Schambereich und nicht einen Freudenbereich? Was macht diese verbale Beschämung mit uns? Wir sollten andere auch darauf hinweisen, wenn sie Begrifflichkeiten und Themen reproduzieren, die sexistisch sind, und Alternativen aufzeigen. Man könnte denken, das Jungfernhäutchen sei ein Aufklärungsthema für Teenies, aber das finde ich überhaupt nicht. Wenn ich darüber spreche, dass eine Frau eine verschlossene Vagina hat, die von einem Penis geöffnet werden muss – was sagt das über unsere Gesellschaft aus? +"Das Jungfernhäutchen gibt es nicht" ist im MaroVerlagerschienen +Was machen diese Vorstellungen mit Männern, die noch keinen Sex hatten? +Bezeichnend ist schon mal, dass es das Wort "Jungmann" gar nicht gibt. Sexlose Männer werden als schwächere Männer gelesen, eben alsJungfrau, Trottel, Loser, die keine abbekommen haben. Das sagt viel darüber aus, wie Männer als sexuelle Wesen gelesen werden: im Gegensatz zur Frau "aktiv", mit einer naturgegebenen Libido, die ihn fünfmal am Tag masturbieren und alles vögeln lässt, was nicht fliehen kann. Das kann großen Druck auslösen. +Du untersuchst unter anderem, wie Popkultur unser Bild vom ersten Sex prägt. Hast du dabei Empowerndes gefunden? +Nicht viel.Aber ich kann die Serie "Sex Education" empfehlen.Da gibt es beispielsweise mal einen Mann, der Angst hat vor dem ersten Mal. Oder die Serie "Chewing Gum", die den ersten Sex aus der Perspektive mehrerer Figuren thematisiert und entmystifiziert. Überrascht hat mich mit "Willkommen im Leben" auch eine Serie aus den 90er-Jahren. Da werden die Probleme und Fragen sehr divers und reflektiert dargestellt. +Was kann jeder und jede Einzelne in Bezug auf das Jungfernhäutchen anders machen? +Erst mal sollten wir aufhören, es Jungfernhäutchen zu nennen. Wir können darüber aufklären, dass es in der Vagina Schleimhäute gibt, dass die aber niemals anzeigen, ob eine Frau penetrativen Sex hatte oder nicht. Wir sollten uns fragen: Warum ist es überhaupt relevant zu wissen, ob eine Frau Jungfrau ist oder nicht? Wer hat etwas davon, dass es den Mythos dieses Häutchens gibt? Das betrifft übrigens tatsächlich jede Person, weil es damit zu tun hat, wie wir über Sexualität sprechen, und weil essexistische Rollenund patriarchale Strukturen reproduziert. + +Oliwia Hälterlein ist Kulturwissenschaftlerin und Dramaturgin. Sie organisiert Workshops und Aktionswochen zur sexuellen Bildung undfeministischer Pornografie. (Foto: Minz und Kunst Photography) + diff --git a/fluter/juniorwahl-zur-bundestagswahl-2017.txt b/fluter/juniorwahl-zur-bundestagswahl-2017.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8f9284bc32a427f51bfc695bcfa97027b391a9ae --- /dev/null +++ b/fluter/juniorwahl-zur-bundestagswahl-2017.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Projektstart: Worum geht's und was soll das überhaupt +Auch ein bisschen Papierkram gibt es vorab zu erledigen: Die Schüler packen ihre Wahlunterlagen aus +Dann noch der eine oder andere Fingerzeig vom Lehrer +Wahlkabine aufbauen +Nach der Stunde ist Martin Stöckl von seinen SchülerInnen beeindruckt. Die erste von insgesamt sechs Vorbereitungsstunden für die Juniorwahl ist gut gelaufen: "Ich habe die Klasse dieses Jahr zum ersten Mal. Ich bin erstaunt, wie viel Interesse da war." Kommende Woche, für die nächste Vorbereitungsstunde, will er eine Wahlurne mitnehmen. Die Schüler sollen ein Wahllokal einrichten, eine Wahlkommission wählen, die dann die korrekte Stimmabgabe überwachen soll, und anhand der Programme der Parteien Wahlplakate erstellen und in der Schule aufhängen. "Das ist die Zeit, wo unsere Chemie- oder Mathelehrer mitbekommen: Jetzt steht wieder eine Wahl an." +Martin Stöckl unterrichtet in der 9b Politikwissenschaft und Geschichte und führt die Juniorwahl selbst durch. Am Johann-Gottfried-Herder-Gymnasium nehmen rund 700 Jugendliche daran teil, alle Klassen von der siebten bis zur zwölften. Seit 2011 organisiert Stöckl die Vorbereitungen. Immer dann, wenn Bundestags- oder Europawahlen anstehen oder in Berlin das Abgeordnetenhaus gewählt wird. Der Urnengang findet jeweils in den Geschichts- oder Politikstunden statt in der Woche vor der "richtigen" Wahl. Das Wahlergebnis schaut sich die ganze Schule dann am Montag drauf gemeinsam an. Fünf Mal bislang, mit sehr erstaunlichen Ergebnissen: "Einmal lag die Tierschutzpartei vor der CDU", sagt Stöckl, graues Sakko, leicht ergrautes Haar, und lacht. "Das liegt vor allem an den jüngeren Schülern. Die wählen sehr idealistisch. In der Oberstufe dagegen sind viele Schüler politisch aktiv, zum Beispiel in der Flüchtlingshilfe. Da schneiden in der Regel die Linke und die Grünen am besten ab." +Den eigenen Wahlschlüssel bei der Wahlaufsicht abgeben +Und dann kann endlich gewählt werden – an diesem Computer +Die Idee zur Juniorwahl entstand 1999, als der Parteienforscher Jürgen Falter in einer Talkshow empfahl, Schüler in Deutschland ähnlich früh wie in den USA an demokratische Abläufe heranzuführen. Nach dem Vorbild des amerikanischen "KidsVoting" entstand die deutsche Juniorwahl. Noch im selben Jahr organisierte sie der Verein Kumulus an drei Berliner Schulen. Seither hat sich die Anzahl der teilnehmenden Schulen mehr als vertausendfacht. Wohl auch, weil verschiedene wissenschaftliche Studien nahelegen, dass die Juniorwahl das Interesse der Jugendlichen für Politik hebt, den NichtwählerInnen-Anteil senkt (laut einer Untersuchung der Universität Stuttgart von 22 auf unter 7 Prozent), zu mehr politischem Austausch an Schulen und in Familien führt – und sogar die Wahlbeteiligung der Eltern steigert. +Nach der Wahl: Zeit zur freien Verfügung, die auch gerne an den Computern verbracht wurde +Demokratieerziehung nennt Martin Wagner das. Wagner ist Schulleiter am Johann-Gottfried-Herder-Gymnasium. Er freut sich, wie ernst die Schüler die Wahl nehmen. Vor allem Themen wie Gentrifizierung, Umweltschutz oder Migration lägen vielen am Herzen. Mithilfe des Wahl-O-Maten, dessen Fragen aktuelle politische Debatten wie nach der Obergrenze für Flüchtlinge oder dem Braunkohleabbau aufgreifen, überprüfen die Jugendlichen, wie die politischen Parteien zu diesen Inhalten stehen. "Bislang hat die AfD bei der Juniorwahl schlecht abgeschnitten", sagt Wagner und vermutet mit Blick auf seine Schule: "Es ist unter Schülern schlicht uncool, AfD zu wählen." Am besten hatten dort die Linke, die Grünen und die SPD abgeschnitten. Bundesweit sahen die Ergebnisse anders aus, Wahlsieger waren dort die CDU/CSU, gefolgt von der SPD. Wie schlecht oder gut die Parteien dieses Mal bei den GymnasiastInnen abschneiden, zeigt sich am Tag nach der Bundestagswahl. Vorausgesetzt, mit der Wahlsoftware läuft alles rund. Das Johann-Gottfried-Herder-Gymnasium ist eine jener Schulen, die nicht per Brief wählen, sondern am Computer. Trotz der Bedenken aus der 9b, dass die Online-Wahl leicht gehackt werden könnte. diff --git a/fluter/k-pop-fuer-die-otter.txt b/fluter/k-pop-fuer-die-otter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a03ad7746b4efc4be22e5ac8b3c7738c31bc6870 --- /dev/null +++ b/fluter/k-pop-fuer-die-otter.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Diese ungewöhnliche Form der psychologischen Kriegsführung hält sich hartnäckig bis heute. Weil südkoreanisches Fernsehen im Norden nicht gesehen werden kann, versucht der Süden auf verschiedene Arten, Nachrichten aus der freien Welt in das abgeschottete Land zu tragen: DVDs, USB-Sticks und seit Neuestem kleine Speicherchips mit TV-Serien werden unter Lebensgefahr über China ins Land geschmuggelt. Parallel wirft der Süden auch immer diese grünen Lautsprecher an, die an 21 Stellen an der Grenze aufgestellt sind. +Die Lautsprecher laufen nicht permanent, sondern zwei bis sechs Stunden täglich, aber zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten. Ausgestrahlt werden Diskussionen über Demokratie, Nachrichten aus dem Norden und Süden – und der Wetterbericht. Zwischendurch plärrt der Sänger Psy den weltweit berühmten YouTube-Hit "Gangnam Style" in die Landschaft ("Hey, sexy lady!"). Oder die K-Pop-Band Big Bang singt ihren berühmtesten Song "Bang Bang Bang". Im Text gibt es ausgerechnet die Zeilen: "Keiner bewegt sich! Ich setze alles in Brand! Ich nehm dich mit. Bang bang bang!" + + +Der Erfolg dieser Maßnahmen ist umstritten. Von den mindestens 27.000 Flüchtlingen, die es vom Norden in den Süden geschafft haben, gibt es aber einige, die sagen, sie hätten über die Lautsprecher erfahren, wie das Leben außerhalb Nordkoreas aussieht. Zumindest inspiriert worden seien sie von den Meldungen. Cheong Seong-chang, südkoreanischer Wissenschaftler, sagt, dass die Lautsprecher dem Norden ein Dorn im Auge sind, aber nicht wegen der Dörfer in Grenznähe. "Es geht vor allem um die Moral der Soldaten, die an der Front eingesetzt sind." Deshalb spricht die Frauenstimme diese auch mal direkt an: "Soldaten! Verschwendet nicht eure wundervolle Jugend und rebelliert!" +Ursprünglich wurden die Lautsprecher im Jahr 1962 installiert, so argumentiert zumindest der Süden, um ganz ähnliche Lautsprecher aus dem Norden zu übertönen. In den Jahren darauf gab es immer wieder Abkommen, die zeitweise zur jahrelangen Abschaltung führten. Zuletzt wurde eines dieser Abkommen für nichtig erklärt, als 2015 Landminen an der Grenze zwei Soldaten aus dem Süden schwer verletzten. Einer verlor beide Beine. Die Lautsprecher wurden geputzt, wieder angeschlossen und begannen erneut, Nachrichten in den Norden zu senden. Der antwortete dieses Mal ebenfalls aggressiv und beschoss einige der Lautsprecher. Der Süden ließ darauf zehn neue zu den ohnehin schon vorhandenen elf aufstellen. +Die sind jedes Mal dann im Einsatz, wenn Kim Jong-un wieder einen Raketentest oder eine andere Provokation gestartet hat. Darüber berichten dann Journalisten, was dem Verteidigungsministerium nicht immer gefällt, weil sie von "Propaganda- Lautsprechern" schreiben. So ging deshalb vor einiger Zeit ein Schreiben bei sämtlichen Auslandskorrespondenten in Seoul ein mit der Bitte, sie sollten doch bitte die Lautsprecher anders nennen, nämlich: "Stimme der Hoffnung". Schließlich würden durch diese meterhohen Anlagen Menschen mit den Nachrichten der freien Welt versorgt. +Doch der Diktator wird eben darin auch gern einmal "kindisch" oder "zurückgeblieben" genannt. Schließlich bezeichnete der Norden die letzte Präsidentin Südkoreas in seiner Presse regelmäßig als "Hure der USA". Aber am 38. Breitengrad in Korea sind neutrale Sätze Mangelware. Auch dieser Satz hallte neulich über die Urwaldgrenze: "Kim Jong-uns inkompetentes Regime versucht die Welt mit absurden Lügen zu hintergehen." +Unter den größten Wirbeltieren, die ungestraft zwischen beiden Grenzen hin- und herwechseln, sind übrigens Otter. Sie gelten als sehr scheu, raubsüchtig – und haben ein sehr gutes Gehör. + +Titelbild: picture alliance/dpa diff --git a/fluter/k.i.z-rap-ueber-hass-album-rezension.txt b/fluter/k.i.z-rap-ueber-hass-album-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b0c280857c369d283dbf0c7e47a0be14f1ab4e26 --- /dev/null +++ b/fluter/k.i.z-rap-ueber-hass-album-rezension.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +K.I.Z' neues Album heißt "Rap über Hass". Als Zuhörer*in fragt man sich da: Ist das nun ein Album, das den Hass, derzum Beispiel im Netzimmer stärker zu toben scheint, unterwandert oder ihn einfach nur abbildet? Und inwiefern hält der K.I.Z-Stil den immer intensiverenDiskussionen über diskriminierungsfreie Sprachestand? Spoileralert: Das Beste am Album ist eigentlich sein Titel, der all diese Fragen aufwirft. +"27 Minuten Hass auf Veranstaltung gegen Hass",titelte die "Bild"im September 2018 nach dem K.I.Z-Auftritt beim #wirsindmehr-Konzert in Chemnitz und kritisierte, dass die Rapper mit Zeilen wie "Ich ramme die Messerklinge in die Journalistenfresse" fehl am Platz gewesen seien.Ähnlich entsetztüber die Botschaften der Gruppe zeigte sich die AfD und stellteeine Kleine Anfrage im Bundestag, in der sie die vermeintlichen "Hass-Texte" von K.I.Z kritisierte. Die ersten Worte des Titelsongs von "Rap über Hass" hat deswegen der AfD-Abgeordnete Bernd Baumann: In dem vorangestellten Ausschnitt seiner Bundestagsrede aus dem Jahr 2018 kommt er zu dem Schluss, dass die Musik von K.I.Z "deutschfeindlich" sei. +Der Titel des neuen Albums scheint für die Gruppe also auch eine humorvolle Reaktion zu sein: auf die Berichterstattung der "Bild" und die Empörung der AfD. + + + +Der Witz ist gelungen, und er hätte so viel Potenzial geboten, Songs zu veröffentlichen, die zeigen, warum der angebliche "Hass-Rap" von K.I.Z Sinn ergibt – und wo der doppelte Boden ihrer Musik liegt, den einige nicht sehen. Stattdessen klingen die neuen K.I.Z-Songs uninspiriert. Die drastische Ausdrucksweise und der überspitzte Humor scheinen sich erschöpft zu haben. Denn der öffentliche Diskurs um die Frage, inwieferneine sensibilisierte Sprachefür gesellschaftlich benachteiligte Gruppen von Bedeutung ist, hat sich in den vergangenen Jahren weiterentwickelt. Es ist nun in großen Teilen der Gesellschaft anerkannt, dass Frauen, queere Menschen oder Personen mit internationalen Wurzeln auch verbal Teilhabe und Respekt einfordern. K.I.Z aber sind, so wirkt es, beim Ficken, Prügeln und Pöbeln stehen geblieben. +Wenn Tarek rappt "Ramm' meine Zunge zwei Meter in deine Schwulenfresse", kommt das nicht lustig rüber, sondern daneben. Und wenn auf einem Album von drei Typen jemand ironisch über das Begrapschen von Frauen rappt, dann ist die Ironie im Falle von K.I.Z zwar herauszuhören, aber sie führt zu nichts. Es stellt sich die Frage nach dem Sinn solchen "Penis-Humors". Die aber beantworten K.I.Z nicht. Der Sinn ihres Albums scheint nicht die große Auseinandersetzung mit politischen Themen, sondern eine maximale Livetauglichkeit auf den Post-Corona-Festivals zu sein. Es gibt Mitgrölmelodien, eine harmlose Ode an die Fans fürs gemeinsame Feuerzeug-Schwenken. Und es gibt den Song "Filmriss", musikalisch angelehnt an den Hip-Hop-House-Hit "Stoff und Schnaps" aus den Niederlanden (der nicht gerade frisch, sondern von 2016 ist). +"Rap über Hass" wirkt inhaltlich und musikalisch aus der Zeit gefallen. Die Chance auf ein kluges Statement zur Frage, wie "Rap" und "Hass" zusammenhängen, haben K.I.Z verpasst. Allerspätestens wenn Fans auf dem nächsten Konzert begeistert "Schwulenfresse" mitschreien, wird die Rolle der ironischen Provokateure nicht mehr aufgehen. Hass schüren sie damit vielleicht nicht, aber sie bringen gesellschaftlich auch nichts voran. + +"Rap über Hass" von K.I.Z erscheint bei Vertigo. + +Titelbild: Philipp Gladsome / Gerngross Glowinks diff --git a/fluter/kaffeeanbau-arbeitsbedingungen.txt b/fluter/kaffeeanbau-arbeitsbedingungen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6cdaefbe3532eed8219dd39736db4d514ef70c13 --- /dev/null +++ b/fluter/kaffeeanbau-arbeitsbedingungen.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Kritiker bemängelnallerdings, dass die Produzenten und Arbeiter auch im Fair-Trade-System benachteiligt werden. Denn Zwischenhändler und Verkaufsketten – meist in reicheren Ländern beheimatet – profitieren stärker von den höheren Tassenpreisen als die Bauern und Pflücker vor Ort. +Was dagegen hilft? Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung rät zur genossenschaftlichen Organisation der Kaffeeplantagen. Die wären somit Eigentum der Plantagenarbeiter, und es gäbe weniger Zwischenhändler, die mitverdienen wollen. So könnten die Kooperativen in den Anbaugebieten des globalen Südens mehr vom Gewinn aus dem Kaffeehandel abbekommen. diff --git a/fluter/kahvehane-podcast-renk-interview.txt b/fluter/kahvehane-podcast-renk-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cac2d525c7421389be3a092b3a52533e5bbe90af --- /dev/null +++ b/fluter/kahvehane-podcast-renk-interview.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +fluter.de: Vier Monate und neun Folgen "KAHVEHANE". Wie sind die Reaktionen bisher? +Fatima: Der Podcast kommt gut an. Eine Folge bekam bisher mit Abstand am meisten Resonanz: die zu Sexualität. Das war schon heikel: Ich, als arabische Frau, die sich selbst als Muslimin bezeichnet, spricht über Sex. Das Feedback war aber fast nur positiv. Mir haben viele Frauen geschrieben, die begeistert waren, wie offen ich spreche. +Das klingt so, als würdet ihr es schaffen, Menschen außerhalb liberaler Bubbles zu erreichen? +Erdal: Die Sache mit den Bubbles ist verflixt. Ich glaube, wer sich für unsere Themen interessiert, findet seinen Weg zum Podcast. Aber klar: andere eben nicht. Dabei sind die Themen, die wir im Podcast besprechen, für Menschen unterschiedlichster Communitys interessant. +Fatima: Wir geben uns auch Mühe, den Podcast zugänglich zu machen. Wir zeigen uns verwundbar, sind selbstkritisch. Die Hörer*innen sollen ruhig merken, dass wir bei weitem nicht alles wissen. Was wir im Podcast sagen, gilt nur für uns und unsere Beobachtungen. Ich glaube, das kommt gut an. +Kahvehanes sind Kaffee- oder Teehäuser in der Türkei, in denen man sich trifft, Çay trinkt, Okey spielt und redet. Türkische Gastarbeiter brachten diese Tradition nach Deutschland, ihre Kultur ist so heute auch in deutschen Innenstädten sichtbar. Das "renk.", ein Magazin für People of Color, griff diese Idee für eine Eventreihe auf – aus der wegen der Corona-Pandemie ein Podcast wurde, der alle erreichen will. Vor allem Deutsche mit Migrationshintergrund, queere Menschen und Frauen – nicht so wie die klassischen Kahvehanes, die nur Männern offenstehen. +Traditionell sind Kahvehanes als Kulturvereine organisiert. Während es in den meisten um das Beisammensein und den Austausch unter Gleichgesinnten geht, gibt es auch Vereine, die diesen Status ausnutzen: Manche türkische Kulturvereine werden aufgrund ihrer Nähe zu den rechtsextremen Ideologien der sogenanntenGrauen Wölfevom Verfassungsschutz beobachtet. +Euer Podcast ist explizit antirassistisch und weist auf die oft missliche Darstellung von Muslim*innen oder anderen Minderheiten in Deutschland hin. Was läuft schief, dass das noch immer notwendig ist? +Erdal: Ich gehöre zur Generation Deutschtürken, die in Deutschland geboren ist, aber immer noch mit denselben Problemen kämpft, die schon unsere Eltern als Gastarbeiter*innen hatten. Wir haben es bis heute schwerer, in Clubs zu kommen, einen Joboder die richtige Wohnung zu finden.Viele Institutionen, ob in der Politik, in den Medien oder in der Kultur, müssen diverser besetzt werden. Sie spiegeln unsere Gesellschaft nicht wider. +Fatima: Wir haben ein großes Problem mit Rassismus in Deutschland. Es muss sich viel ändern. Dass das so lange dauert, liegt sicher mitunter auch daran, dass unsere Politiker*innen im Schnitt so alt sind. Wir brauchen mehr Diversität und viel mehr junge Menschen mit neuen Blickwinkeln in wichtigen Positionen. +Erdal: Das ist im Grunde auch, was wir mit dem Podcast wollen: herausschreien,dass wir, also Menschen mit Migrationshintergrund, ein Teil Deutschlands sindund dass Menschen ohne Migrationshintergrund damit klarkommen sollten. Wir wollen, dass das "Ihr" verschwindet und nur noch ein "Wir" bleibt. Das geht aber nur, wenn wir einen Draht zueinander finden und die Gewohnheiten des anderen verstehen und akzeptieren. +Was können die deutschen Medien dazu beitragen? +Erdal: Ein Beispiel: Als die deutschen Medien vermeldeten, dass eine Mainzer Firma den Corona-Impfstoff entwickelt habe, haben viele mit keiner Silbe erwähnt, dass die Forscher*innen einen türkischen Background haben. Sobald es etwas Negatives über People of Color, Araber*innen oder Deutschtürk*innen zu berichten gibt, sind die Schlagzeilen aber voll.Viele Medien müssen meiner Meinung nach sensibler mit ihrer Sprache umgehen– und erkennen, welche Deutungshoheit sie über die Wahrnehmung vieler Communitys haben. +Was entgegnet ihr Menschen in Deutschland, die Angst vor sogenannten Parallelgesellschaften haben? +Erdal: In den 60er- und 70er-Jahren dachten die Gastarbeiter*innen, dass sie höchstens zwei oder drei Jahre in Deutschland bleiben dürfen. Ich hätte mich an deren Stelle auch nicht verändert und das Leben lieber so weitergelebt wie zu Hause. Es ist bis heute eine riesige Aufgabe für Menschen mit Migrationshintergrund, sich mit Deutschland zu identifizieren. Sie müssen noch immer doppelt so viel leisten, um das Gleiche zu erreichen wie Menschen ohne Migrationshintergrund. Ich bin fast 40 und habe oft das Gefühl, dass ich hier nicht dazugehöre. Ich stehe da mittlerweile drüber – verstehe aber auch, dass andere das nicht schaffen. +Fatima: Ich finde es vor allem schade, wenn Menschen mir mit Angst begegnen. Wir, die mit Migrationshintergrund, sind schließlich die, die Gewalt erleben in Form von rassistischer Diskriminierung oder fehlender Solidarität. Die Gesellschaft kann doch dankbar für die sprachliche, kulinarische, filmische oder literarische Vielfalt Deutschlands sein. Die Erzählung von der Parallelwelt halte ich für eine absurde Illusion.Klar gibt es arabische Clans. Aber die werden medial viel größer gemacht, als sie wirklich sind. +Könnt ihr auch in den deutschtürkischen Communitys Vorurteile widerlegen? +Erdal: Klar. Wir haben beispielsweise über Traditionen bei türkischen Hochzeiten gesprochen, die oft nicht hinterfragt werden: Die Braut bekommt häufig von ihrem Bruder eine rote Schleife um die Hüfte gebunden, die ihre Jungfräulichkeit symbolisieren soll. Viele finden diesen Brauch romantisch, obwohl er sexistisch ist. Überhaupt brechen bei Geschlechterfragen viele Tabus und Vorurteile: Toxische Männlichkeit war uns als Thema besonders wichtig. Die Mannwerdung türkischer Jungs soll gern gefeiert werden, abertrotzdem sollten sie weinen und ihre Gefühle zeigen dürfen. +Worum geht's in den nächsten Folgen? +Erdal: Wir sprechen in den nächsten Folgen über andere dunkle Seiten von Bräuchen, über Datingportale, Homosexualität … +Fatima: … und darüber, wie es ist, über 30, aber noch unverheiratet zu sein. + diff --git a/fluter/kai-wiedenh%C3%B6fer-wall-on-wall-belfast.txt b/fluter/kai-wiedenh%C3%B6fer-wall-on-wall-belfast.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9bb1b057bf6f7feb43823b3fb4bc75d9f2e85b1e --- /dev/null +++ b/fluter/kai-wiedenh%C3%B6fer-wall-on-wall-belfast.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Worum geht's noch gleich im Nordirland-Konflikt? Und was hat der Brexit damit zu tun?Das Wichtigste im FAQ +Ihre Erbauer haben die MauernPeace Wallsgenannt, weil sie Katholiken von Protestanten, Nationalisten von Unionisten trennen. Auf einer Seite der Mauer leben die, die sich als Iren sehen und unabhängig sein wollen. Auf der anderen Seite die, die sich Briten nennen und zum Vereinigten Königreich gehören möchten. +Beide Seiten trennt über 20 Jahre nach demKarfreitagsabkommen, das den gewaltsamen Nordirland-Konflikt so gut wie beendete, nicht nur die Religion, sondern auch die politische Einstellung. Dafür sind die Friedensmauern ein zementierter Beweis. + +Mauern wie diese trennen in Belfast katholische von protestantischen Nachbarschaften + +Der Berliner Fotograf Kai Wiedenhöfer dokumentiert solche Trennungen seit Jahrzehnten: In Belfast, Bagdad und Palästina, in der spanischen Exklave Ceuta, auf Zypern oder in den USA hat er Mauern fotografiert. Begonnen hat Wiedenhöfer damit beimFall der Berliner Mauer. 30 Jahre ist das her. 50 Jahre sind vergangen, seit die erstenPeace Wallserrichtet wurden. Anlässlich beider Jahrestage stellt Wiedenhöfer seine Bilder bis Mitte November 2019 in Belfast aus:Über 30 Mauern aus der ganzen Welthat er im Großformat, auf 9 x 3 Meter, auf die Friedensmauer tapeziert. "Wall on Wall" heißt seine Ausstellung, die 2013 schon auf den Resten der Berliner Mauer zu sehen war. +Dass sie oft unter bedrohlichen Umständen entstanden sind, ist den Bildern nicht anzusehen. In der mexikanischen Grenzstadt Tijuana packte Wiedenhöfer seine teure Kameraausrüstung unter den Augen von Dealern aus. In Bagdad konnte er es schlicht nicht riskieren, auf das richtige Licht für ein Foto zu warten: Es hätte bedeutet, dass er sich zur Zielscheibe macht. Das Leben eines Ausländers, sagt Wiedenhöfer, ist in vielen Krisenregionen eine begehrte Währung im Kampf um Aufmerksamkeit: "Wenn zehn Iraker sterben, ist das keine Schlagzeile wert. Stirbt ein Ausländer, steht das überall." + + +Ob Zäune, Barrikaden, Stacheldraht oder Beton. Ob Trennung zwischen Nationen, Religionen, politischen Gesinnungen oder Arm und Reich. Schauplatz und Grund der Mauern sind für Wiedenhöfer eigentlich irrelevant. Er will ihre Absurdität zeigen. "Es ist eine einfältige Idee, ein Problem lösen zu wollen, indem man eine Mauer baut", sagt Wiedenhöfer. "Das hat in der Geschichte so gut wie nie geklappt." diff --git a/fluter/kalle-kosmonaut-film-rezension.txt b/fluter/kalle-kosmonaut-film-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..30e7d2d10c589462384084ce593d26a3f4b9b5e7 --- /dev/null +++ b/fluter/kalle-kosmonaut-film-rezension.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Zunächst sieht es auch nicht danach aus. Der Film begleitet Kalle beim fröhlichen "UNO"-Spielen mit der Mutter, bei Breakdance-Übungen mit der Clique, bei Spaziergängen mit seiner Freundin und zur eigenen Jugendweihe-Feier. Doch irgendwann scheint sich etwas zu verändern. Animierte Traumsequenzen visualisieren Kalles innere Zerrissenheit und zeigen Momente, bei denen die Kamera nicht dabei war – wie auch bei den Ereignissen der Nacht, in der Kalle erst Drogen genommen und dann auf einem Bahnsteig einen fremden Mann verletzt hat – wie genau, wird nur vage angedeutet. + + +Wenn Kalle als Junge von einer besseren Zukunft träumt oder als Teenager seine Taten bereut, liegt es nahe, Mitgefühl zu empfinden. Mitunter überschreitet "Kalle Kosmonaut" jedoch die Grenze zu einem bemitleidenden Blick. Ohne dass es notwendig wäre, werden eine Polizistin und ein Sozialarbeiter eingeführt, die bekräftigen, wie schwer es Kinder in Kalles Kiez haben und wie sehr sie sich ein besseres Leben für Kalle wünschen. Der Film läuft hier Gefahr, auch die Zuschauenden in die Rolle von Mitleidstourist*innen zu drängen, die einen kurzenEinblick in das Leben einer "Unterschichtsfamilie"erhalten. +Gleichzeitig versuchen die Filmemacher*innen, die Herzlichkeit und den meist liebevollen Umgang innerhalb Kalles Familie in den Fokus zu rücken. Dabei inszenieren sie die Familienmitglieder und deren Schicksale – Oma eine trockene Alkoholikerin, Opa ein Wendeverlierer, die Mutter alleinerziehend und ihr neuer Partner ein ehemaliger Häftling – etwas zu nah an Stereotypen, um ihnen wirklich nahekommen zu können. Mit Klaviermusik untermalte Szenen und Rückblenden in Schwarz-Weiß erzeugen zusätzlich eine dramatische Künstlichkeit. +Interessant wird es besonders dann, wenn die Filmemacher*innen ihre Betroffenheit zurückstellen und Kalle den Raum lassen, sich selbst mit allen widersprüchlichen Facetten zu zeigen. Zum Beispiel nach dem Absitzen seiner Haftstrafe: Im Gefängnis haben sich Kalles Aussehen und seine Sprache verändert. Die Haare kurz rasiert, den Blick verhärtet, die Sätze von Slang durchsetzt, erzählt Kalle davon, wie sehr ihn das Gefühl des Eingesperrtseins psychisch belastet hat. Er leidet unter Albträumen, fühlt sich erdrückt von finanziellen Sorgen und sehnt sich raus aus Berlin. +In der Rapmusik findet er einen Weg, sich auszudrücken. Wenn er seine Songs performt und dabei direkt in die Kamera blickt, scheint es endlich so, als begegne er den Zuschauenden auf Augenhöhe. Kalle ist da knapp 20, noch immer unzufrieden und oft überfordert. Aber er ist auch ein selbstbewusster junger Mann und Familienvater, der beginnt, sich von der Geschichte zu emanzipieren, die der Film über ihn und sein Leben erzählt. + +"Kalle Kosmonaut" hatte auf der Berlinale 2022 Premiere und läuft ab dem 26. Januar 2023 in den deutschen Kinos. + +Titelbild: Günther Kurth diff --git a/fluter/kamala.txt b/fluter/kamala.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6a9e503e42ff15b78d76b15213d6244ddebd7443 --- /dev/null +++ b/fluter/kamala.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Besonders bei den jungen Menschen scheint Harris gut anzukommen: Laut einerUmfrage von Ende Julihätten, wenn die Wahl zu diesem Zeitpunkt stattgefunden hätte, 56 Prozent der 18- bis 29-Jährigen für Harris gestimmt und nur 38 Prozent für Trump. Einen knappen Monat vorher, als Biden noch gegen Trump antrat,lag Trump in dieser Altersgruppe vorne. +Um Präsidentschaftskandidat:in in den USA zu werden, müssen die Anwärter:innen zuerst die Mehrheit der Delegierten ihrer Partei gewinnen. Das geschieht normalerweise im Rahmen der Vorwahlen und Wahlversammlungen (Caucuses) der beiden Parteien in den einzelnen Bundesstaaten. Die zur Vertretung des Volkes ausgewählten Delegierten sprechen ihrer jeweiligen Kandidat:in dort ihre Unterstützung aus. Staatsdelegierte gehen dann zum nationalen Kongress, um ihre Wahl zu bestätigen. Wenn keine Kandidat:in:in die Mehrheit der Delegierten einer Partei während der Vorwahlen und Caucuses erhält, wählen die Kongressdelegierten eine Kandidat:in . Die endgültige Präsidentschaftskandidatur jeder Partei wird dann am Ende der beiden nationalen Parteitage offiziell bekannt gegeben. +Beide Parteitage finden traditionellerweise im Sommer statt. Mittlerweile ist ihr eigentlicher Zweck nicht mehr die Wahl der Kandidat:innen, denn diese stehen meist schon nach den Vorwahlen fest. In diesem Jahr hatte Kamala Harris bereits Anfang August genügend Delegiertenstimmen auf sich vereint, um Präsidentschaftskandidatin der Demokrat:innen zu werden. Ihre offizielle Nominierung galt also als Formalie. Stattdessen werden die Parteitage genutzt, um Aufmerksamkeit zu erregen. Daher gleichen sie sorgsam orchestrierten Megaevents mit zahlreichen Auftritten von Prominenten. +Der republikanische Parteitag fand vom 15. bis zum 18. Juli in Milwaukee, Wisconsin, statt, wo Donald Trump offiziell zum Kandidaten ernannt wurde. Die Präsidentschaftskandidat:innen entscheiden sich jeweils vor der Wahl für eine Vizepräsidentschaftskandidat:in . Oft werden diese bei den nationalen Parteitagen vorgestellt Bei dieser Wahl sind es der republikanische Senator J. D. Vance aus Ohio und der demokratische Gouverneur Minnesotas, Tim Walz. +Auch die Meme-Maschine läuft auf Hochtouren:Harris sei brat, schrieb die Sängerin Charli XCX auf X in Anspielung auf ihr aktuelles Album. Ihre Fans posten Kokosnuss-Emojis in ihren Timelines. Damit spielen sie auf eine Rede von Harris über ihre Mutter an, die ihr einmal sagte, dass man in einen Kontext hineingeboren werde und nicht einfach wie eine Kokosnuss aus einer Palme falle. Doch wie nachhaltig ist der Hype um Harris? Wird er bis zu den US-Wahlen am 5. November anhalten? Wir haben mit jungen Wähler:innen rund um den Parteitag über Kamala Harris gesprochen. + + +"Ich würde eher für einen Hund stimmen", sagt Martina, 19 Jahre alt, aus Naperville, einem Vorort von Chicago. Sie ist mit drei Freunden für den demokratischen Parteitag ins Stadtzentrum gekommen, "um ein bisschen Drama" mitzunehmen. Bisher finden sie die Stimmung aber enttäuschend ruhig, deswegen machen die vier Freund:innen Selfies vor Chicagos Wahrzeichen "The Bean", einer spiegelnden Kunstinstallation im Millennium-Park. Warum kommt der Harris-Schnellzug nicht bei ihnen an? +"Es ist so repetitiv", sagt Martina über den Social-Media-Auftritt von Harris. Grundsätzlich tauchten immer wieder dieselben Politiker:innen auf, von denen einige "so alt wie das Farbfernsehen" seien. "Es fühlt sich für mich so an, als würde ich Rechte verlieren", fügt sie hinzu. Seitder Oberste Gerichtshof 2022 das Urteil Roe vs. Wade aufhob, sind Schwangerschaftsabbrüche in vielen Staaten der USA de facto verboten. Harris hat sich wiederholt für Frauenrechte ausgesprochen. Martina ist skeptisch: "Ich höre so viele Gerüchte über sie." Sie setze sich nicht für Abtreibung ein und sei ohnehin crazy, so Martina. Das zu betonen wird auch Donald Trump nicht müde. Auch in diesem Wahlkampf sindFake Newsund Desinformation eine Methode, die bei einigen Menschen funktioniert. Dass sich Harris als Vizepräsidentin für die Finanzierung von Abtreibungen durch die Krankenversicherung für Menschen mit wenig Einkommen einsetzte, ist den vier nicht bekannt. Sie scheinen noch kein klares Bild davon zu haben, wofür Harris eigentlich steht. +Kamala Harris wurde 1964 in Oakland, Kalifornien, als Tochter einer indischen Medizinerin und eines schwarzen Wirtschaftswissenschaftlers aus Jamaika geboren. Harris studierte Politik- und Wirtschaftswissenschaften an einer historisch afroamerikanischen Universität in Washington, D.C., und später Jura in San Francisco. Danach arbeitete sie als Staatsanwältin, wurde 2016 für die Demokrat:innen in den Senat gewählt und ist seit 2021 Vizepräsidentin unter Joe Biden. + + +Ein Studium wie das von Harris ist etwas, wovon die vier Freund:innen vor der spiegelnden Bohne nur träumen können. Martina überlegt, nach Polen zu ziehen, wo ihre Eltern herkommen, weil das Leben dort günstiger und die Studiengebühren "zumutbar" seien. Alle Vier wollen eigentlich zu Hause ausziehen, aber ihnen fehle das Geld. Viele ihrer Freund:innen kämen nur mit zwei oder mehr Jobs über die Runden – eine Situation, die für zahlreiche Amerikaner:innen Alltag ist. Etwa 11,5 Prozent von ihnen leben in Armut. Das sind fast 38 Millionen Menschen. Die Inflation hat innerhalb kürzester Zeit die Lebenshaltungskosten steigen lassen. Harris hat angekündigt, sie senken zu wollen und die wirtschaftliche Stabilität von Mittelklassefamilien zu sichern. Sie inszeniert sich selbst im Gegensatz zu Donald Trump als "hard working", erzählt, dass sie sich in ihrer Collegezeit bei McDonald's Geld verdient habe. Wie Harris ihr Wirtschaftsprogramm finanzieren möchte, ist noch nicht bekannt. +Bei Martina und ihren Freund:innen kommen ihre Vorschläge nicht an. Unter Trump sei das Benzin günstiger gewesen und die Inflation nicht so hoch, erinnert sich der 19-jährige John. "Trump ist kein Politiker, sondern ein Businessmann", sagt er. Der verstehe eben Wirtschaft. Unter dem amtierenden Präsidenten Joe Biden hat sich die Wirtschaft stabil entwickelt. Das scheint sich im Leben der vier nicht bemerkbar zu machen. +Armut ist beim Parteitag der Demokratischen Partei kein großes Thema. Er findet im United Center im Herzen Chicagos statt, und genau so wollen sich die Demokrat:innen auch zeigen: geschlossen und geeint hinter ihrer Kandidatin Kamala Harris. Doch unweit des Parteitages demonstrieren Tausende. Einer von ihnen ist Angel Naranjo, ein 19-jähriger Geschichtsstudent aus Little Village, einer Gegend in Chicago, in der viele südamerikanische Migrant:innen leben. Naranjos Mutter kam in den 1990er-Jahren aus Mexiko, hat ihn alleine großgezogen und lebt bis heute ohne Aufenthaltspapiere in den USA. Menschen wie Naranjo, die aus armen Verhältnissen kommen, galten lange Zeit als Stammklientel der Demokrat:innen. +Naranjo aber will im November nicht für Harris stimmen. Er ist Teil der Organisation "New Students for a Democratic Society". Mit ihr setzt er sich für die Beendigung desKrieges in Gazaein. Er verurteilt Joe Biden und Kamala Harris dafür, dass sie Israel mit Waffen und Geld unterstützen; Ressourcen, die Naranjo lieber in Bildung und Gesundheit investiert sehen würde. Damit ist er nicht allein. Der Krieg in Gaza bringt viele Menschen auf die Straße, die normalerweise für die Demokratische Partei stimmen würden, unter ihnen viele arabische und muslimische Wähler:innen und viele junge Menschen, die sich als progressiv verstehen. Während der Proteste kommt es zu Zusammenstößen mit der Polizei, am Ende der vier Tage werden insgesamt 74 Protestierende verhaftet. Doch die Polizei zieht insgesamt eine positive Bilanz: Im Großteil seien die Proteste friedlich verlaufen. + + + +Dass Naranjo als Sohn einer Immigrantin Gemeinsamkeiten mit Harris habe, findet er nicht relevant. "Sie nimmt die Stimmen von braunen und schwarzen Menschen, ohne etwas für sie zu tun", sagt er. "Repräsentation ist irreführend." Die Frage, ob es ihm und seinen Freund:innen unter Trump schlechter gehen könnte, treibt ihn nicht um. "Wie viel schlechter kann es noch werden?" Naranjos Protest und der seiner Mitstreiter:innen zeigt auch, dass das Zwei-Parteien-System der USA immer stärker infrage gestellt wird. Auf ihren Plakaten stehen Sprüche wie "Wir brauchen eine neue Partei, keinen neuen Demokraten". +Ein paar Kilometer weiter nördlich, in einer Gegend, die nur "Boystown" genannt wird, sammeln sich die hartgesottenen Harris-Fans. In einer Gaybar macht sich ein bärtiger Showmaster mit brat-grüner Sonnenbrille fertig für das große Charli XCX/Kamala-Brat-Summer Quiz. Das Event ist Teil eines Rahmenprogramms des Parteitages. An den Wänden der Bar hängen Poster von Harris mit dem Schriftzug "Power to the People", die an Barack Obamas Kampagne erinnern, die ihn 2008 ins Weiße Haus brachte. +Das Kalkül der Demokrat:innen, ihre Kandidatin popkulturell anzubinden, scheint auch hier aufzugehen. Zwei junge Frauen tragen Freundschaftsarmbänder mit "Momala", wie Harris von ihren Stiefkindern genannt wird. "Wir lieben Kamala", kreischen sie, "sie ist total brat." Suzanna und John, 28 und 38 Jahre alt, sind dagegen pragmatischer: "Es ist 2024, es ist Zeit für eine Frau im Präsidentenamt", sagt Suzanna. Außerdem seien ihr Frauenrechte wichtig, deswegen gebe es keine Alternative zu Harris. Wirklich inhaltlich überzeugte und begeisterte Anhänger:innen sind die beiden nicht. Suzanna ist wütend über die Alternativlosigkeit bei der anstehenden Wahl, und vor allem John hat noch Zweifel, ob Harris wirklich tun wird, was sie ankündigt. Als queere Person sei der Fall für ihn aber klar: "Ich wähle lieber jemanden, der will, dass ich existiere." diff --git a/fluter/kambodschanische-strassenkinder-gruenden-metalband.txt b/fluter/kambodschanische-strassenkinder-gruenden-metalband.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..de035a9b3ce9b2708c6157ae45cbdad44db62aa4 --- /dev/null +++ b/fluter/kambodschanische-strassenkinder-gruenden-metalband.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Leben auf der ehemals größten Müllkippe des Landes: Die Bandmitglieder in Stung Meanchey, der Stadt der fliegenden Scheiße +Zwischen den Müllsäcken liegen Hunde in der Mittagshitze. Für nicht allzu abgemagerte Exemplare zahlen die Restaurants der Stadt bis zu 20 US-Dollar. Die Slumbewohner halten sie wie Vieh, das namenlos bleibt, auf die Verschläge aufpasst und eines Tages gegessen oder verkauft wird. Die Streuner, die von dem zehren, was andere wegwerfen, sind die Wappentiere der Band Doch Chkae: Der Name bedeutet "Hundeleben", ein Ausdruck tiefster Abschätzigkeit und in Kambodschas junger Popkultur eine Ansage von nie dagewesener Radikalität. "I am crazy like a rabies dog / I hate my fucking life" brüllt Sänger Theara im ersten Death-Metal-Song, der jemals in der Landessprache Khmer aufgenommen wurde. In einem ihrer Musikvideos springen die Bandmitglieder mit gefletschten Zähnen gegen das Gitter eines Käfigs, ihre kindlichen Gesichtszüge zu brutalen Fratzen verzerrt. Theara, Vichey und Hing sind 18, 17 und 15 Jahre alt. Wobei das nur geschätzt ist. Ausweispapiere wurden ihnen erst im Heim ausgestellt. +Das Elend der Müllkinder zieht immer wieder die Aufmerksamkeit der seit den 90er-Jahren zahlreich im Land vertretenen NGOs auf sich. Obwohl sich die Armutsrate zwischen 2004 und 2011 mehr als halbiert hat, ist Kambodscha nach wie vor auf humanitäre Hilfe aus dem Ausland angewiesen. Das Bildungssystem hat sich von den vier Jahren unterdem Terrorregime der Roten Khmer noch immer nicht erholt. Es wurde dabei quasi abgeschafft, ebenso das Gesundheitssystem. Der Altersdurchschnitt liegt bei gerade mal 23,9 Jahren. Laut einer Schätzung von UNICEF leben allein in der Hauptstadt Phnom Penh über 10.000 Kinder auf der Straße, viele arbeiten als Prostituierte. Die Waisenhäuser und Bildungseinrichtungen der NGOs haben mittlerweile die Funktion eines sozialen Sicherheitsnetzes übernommen. Laut einer Studie der Columbia-Universität sind 80 Prozent der 49.000 in kambodschanischen Heimen lebenden Kinder keine Waisen im traditionellen Sinne. Theara und sein Halbbruder Hing wurden von ihrer Tante großgezogen, bis sie sich, ebenso wie Vicheys Mutter, den Unterhalt nicht mehr leisten konnte. Viele Familien trennen sich von ihren Kindern in der Hoffnung, dass die NGOs ihnen eine Perspektive oder zumindest eine vorübergehende finanzielle Entlastung bieten. +Theara, Vichey und Hing im Studio +"Vichey hat eine Cousine, deren Mutter nur im Heim vorbeikommt, um zu sehen, ob sie schon Brüste hat, um sie mit auf den Strich zu nehmen", erzählt Timon Seibel. Der 36-Jährige ist der Manager von Doch Chkae. Vor acht Jahren kam der Schweizer nach einem Philosophiestudium als Mitarbeiter der spendenfinanzierten NGO Chidbodia ins Land. Als Betreuer eines Kinderheims in einem Vorort von Phnom Penh hat er Theara, Vichey und Hing aufwachsen sehen. Die drei waren im Heim die Problemkinder. Besonders Theara fiel durch extremen Jähzorn auf. "Er flippte immer wieder wegen Kleinigkeiten aus. Trat Türen ein. Schlug Sachen kaputt", erinnert sich Seibel. "Hing zog dann oft nach. Er wollte so sein wie sein älterer Bruder." Vor drei Jahren gelang es dem Heim, Thearas Vater ausfindig zu machen, einen Architekten, der in einem Vorort mit seiner Familie lebt. Sie sprachen kurz am Telefon, dann ließ der Vater die Betreuer wissen, dass sie ihn nie wieder anrufen sollen. Thearas Mutter habe als Prostituierte gearbeitet, und er wolle nichts mehr mit diesem Kapitel zu tun haben. Als Theara die Betreuerinnen ein paar Wochen später mit einem Küchenmesser bedrohte, waren sie kurz davor, ihn rauszuwerfen. Theara wäre heute längst wieder bei seinen drogendealenden Cousins auf der Straße, glaubt Seibel, wäre da nicht der Abend des 11. November 2014 gewesen. +Einst Zuschauer, jetzt selbst auf der Bühne: Doch Chkae beim Konzert in der Show Box +Damals nahm der Erzieher Vichey, Theara und den minderjährigen Hing in eine Bar in der Innenstadt mit, "einfach weil sie die Ältesten und Aggressivsten waren und ich nicht weiterwusste". In dieser Nacht spielte in der hauptsächlich von Ausländern frequentierten Show Box die Deathcore-Band Sliten6ix. Es war ein Erweckungserlebnis für die späteren Mitglieder von Doch Chkae. Bereits am nächsten Tag machten sich die Jungs, die bisher oft lethargisch in den Tag hinein lebten, im Internet auf die Suche nach mehr von dieser Musik. Seibel empfahl ihnen die Red Hot Chili Peppers, der Youtube-Algorithmus leitete sie weiter zu Rage Against The Machine und schließlich zur Deathcore-Band Slipknot. "Sachen, die mir schon zu krass waren", sagt Seibel. Fast zeitgleich begannen die drei, diszipliniert zu proben. "Sie sind fast jeden Tag im Musikzimmer des Heims ausgerastet. Ich bin zwar mit Kunsttherapie und solchen Dingen vertraut, aber dass sie sich zu Metal dermaßen abreagieren würden, hat mich doch überrascht." +Rote Khmer +Im Frühling 1975 nahm die maoistisch-nationalistische Guerillabewegung "Rote Khmer"die kambodschanische Hauptstadt Phnom Penh ein und stürzte die Militärregierung. Damit begann eine fast vier Jahre währende Schreckensherrschaft, der rund 1,7 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Der Plan der Roten Khmer war es, ein radikal-kommunistisches System zu etablieren. Sie wollten eine in ihren Augen "ursprüngliche", landwirtschaftlich geprägte Gesellschaft schaffen. Dafür teilten sie die Bevölkerung in ein "altes" und "neues" Volk ein: Die städtische Bevölkerung, das "neue Volk", war der Klassenfeind, der sich an den Erträgen der ländlichen Bevölkerung bereichere. Die Roten Khmer schafften jegliche religiösen Praktiken, Geld und Privatbesitz ab. Im Dezember 1978 entschieden die Machthaber der Roten Khmer, in Vietnam einzumarschieren, um das einst von Kambodschanern bewohnte Mekong-Delta zu erobern. Dem sofortigen Gegenangriff der Vietnamesen konnten die Truppen der Roten Khmer kaum Widerstand leisten. Innerhalb kürzester Zeit eroberten die vietnamesischen Truppen Phnom Penh. Am 7. Januar 1979 war die Herrschaft der Roten Khmer beendet. Am 17. Februar 2009, 30 Jahre nach dem Ende des Rote-Khmer-Regimes, begann der erste Prozess gegen einen der Hauptverantwortlichen. +Bei den ersten Auftritten im Heim: ungläubige Gesichter. "Die meisten Kambodschaner haben so eine Musik noch nie gehört", sagt Theara. Im Gegensatz zu anderen asiatischen Ländern wie Indien oder Indonesien hat sich Metal in Kambodscha nie etabliert. Dabei war seine Bevölkerung wagemutig: Unter König Sihanouk erblühte in den 60er-Jahren die Popkultur, Miniröcke und langes Männerhaar gehörten zum Straßenbild von Phnom Penh, bis die Roten Khmer 1974 einen blutigen Feldzug gegen alles begannen, was sie als westlich dekadent empfanden. Rund 1,7 Millionen – einigen Schätzungen zufolge sogar noch erheblich mehr – Kambodschaner kamen in gerade mal fünf Jahren ums Leben. Ein unfassbarer, von der Regierung ausgehender Genozid, dem auch nationale Popstars wie der im ganzen Land bekannte Sinn Sisamouth zum Opfer fielen. Death Metal müsste mit seiner morbiden Ästhetik eigentlich zu sehr verstören im Land der Killing Fields. So nennt man die Stätten der Massenmorde. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb entwickelte sich die junge Band Doch Chkae zum Gesprächsthema. Nach Auftritten in der Show Box und einem Gastspiel beim in der Innenstadt stattfindenden Golden Street Festival besuchten Reporter die Band im Studio. Die "Phnom Penh Post Weekend" erschien mit Theara auf dem Titelblatt. Überschrift: "Not The Same Old Song". Die "Cambodia Daily" schrieb, Doch Chkae verkörperten eine "neue Lust auf Khmer Metal". "Gerade rechtzeitig", findet Seibel. +2016 kündigte die immer repressiver auftretende Regierung unter Premierminister Hun Sen an, die Zahl der NGOs im Land drastisch zu reduzieren. Sie würden Proteste schüren und die Familie als kleinste Einheit der Gesellschaft unterwandern, hieß es. Viele NGOs glauben dagegen, dass die Regierung mittlerweile lieber Entwicklungshilfe der neuen Regionalmacht China annimmt, die an weniger Bedingungen und Kontrollmechanismen geknüpft ist. +Bandprojekte wie Doch Chkae könnten hier in Zukunft eine Vorbildfunktion einnehmen, meint Seibel, der neben seiner Arbeit als Sozialarbeiter nun auch eine Plattenfirma namens Yab Moung betreibt, die die Musiker zur Selbsthilfe ermutigen soll. "Jedes Bandmitglied ist Teilhaber und bekommt 120 Dollar im Monat, was ungefähr dem entspricht, was sie als Tellerwäscher in der Stadt verdienen würden", so Seibel. Die Bandmitglieder lernen, die Produktion ihrer Musik selbst zu übernehmen, ebenso das Management und den Vertrieb. "Ich habe zu meinen Mitarbeitern gesagt: Seht es als Ansporn und gründet Unternehmen, die wiederum andere ausbilden." Dass Doch Chkae in der Stadt Konzerte spielen und sogar im Fernsehen waren, hat sich rumgesprochen. "Es kommen Kinder von überall und wollen mitmachen. Ich bin gespannt, ob Doch Chkae auch auf die Subkultur einen Einfluss haben wird als erste Death-Metal-Band, die auf Khmer singt und es zu etwas bringt", sagt Seibel. +Kurze Pause während der Bandprobe +Einem Reporterteam erzählte Sänger Theara kürzlich, dass er anderen helfen wolle, die wie er im Schatten der Müllberge aufwachsen. Doch Chkae wollen in "Flying Shit Town" bald ein Fundraisingkonzert geben. Es soll ein Musikraum für die Dorfkinder entstehen, den Theara leiten will. Statt Death Metal schwebt ihm jedoch etwas anderes vor: "Ich möchte ein Gangsta-Rap-Projekt starten und unsere Geschichte erzählen." Hip-Hop passt vielleicht noch besser in diese Lebenswelt. Als im Land bereits etabliertes Genre könnte Rap auch mehr Hörer erreichen. +Eine kleine Revolution haben Doch Chkae in ihrem Umfeld schon geschafft: Die Haus- und Hofhunde von der Plattenfirma Yab Moung haben mittlerweile alle einen Namen. + + +Titelbild: Steve Porte diff --git a/fluter/kampf-mit-worten-statt-mit-faeusten.txt b/fluter/kampf-mit-worten-statt-mit-faeusten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dc839d38d5dd8b2fce787ebbba644ccf4ce3bcc1 --- /dev/null +++ b/fluter/kampf-mit-worten-statt-mit-faeusten.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Als die Gruppe N.W.A. mit Rappern wie Ice Cube oder Dr. Dre Ende der 1980er den Durchbruch schaffte, begann der Aufstieg des Gangsta-Rap, eines Subgenres des Rap, dessen Protagonisten mal mehr, mal weniger authentisch ihren gewalttätigen und kriminellen Alltag schildern. Was als Situation aussichtslos erschien, wurde glorifiziert, und die Rapper wurden zu Helden und Vorbildern der frustrierten Großstadtjugend aus sozial schwachen Verhältnissen. Wenige Jahre später implodierte dann das konstruierte Universum aus Rap-Fehden und provokanten Diss-Tracks zwischen der Ost- und der Westküste der USA: Mit The Notorious B.I.G. und 2Pac wurden zwei Aushängeschilder der gespaltenen HipHop-Lager ermordet. Der Popularität des Genres schadete aber selbst das nicht: Auch heute noch gehört Gangsta-Rap zu den kommerziell erfolgreichsten Musiksparten. +Szenenwechsel. Ende der 1990er irgendwo im bürgerlichen Süden Berlins: Ein junger Mann bastelt an seinen Songs. Anis Mohamed Youssef Ferchichi möchte nicht in seinem Lehrberuf als Maler und Lackierer arbeiten – und er ist ehrgeizig. Weil er weiß, dass der Pfad zum Erfolg steinig ist, gibt er sich einen japanischen Namen, der so viel wie "der Weg des Kriegers" (Bushido) bedeutet. Im Track "Schlangen" von seinem ersten Demotape rappt er "Kümmer' dich um HipHop, denn das ist deine Leidenschaft". 2003 veröffentlicht er mit "Vom Bordstein bis zur Skyline" einen Meilenstein der deutschen Rap-Geschichte und eines der wohl ersten, authentisch klingenden Gangsta-Rap-Alben der Bundesrepublik. Bushido hat es gepackt: weg von der abgebrochenen Gymnasialbildung und den ersten Problemen mit dem Gesetz hin zur aussichtsreichen Musikkarriere. Kriminelle Verbindungen werden ihm und seinem Umfeld auch heute noch nachgesagt, der Rapper selbst wurde in der Vergangenheit bereits wegen Beleidigung angeklagt. +Bushido in martialischer Pose auf einem Werbeplakat 2007 +Viele sind Bushido & Co auf diesem Weg gefolgt. Indem sie ihre eigene Geschichte erzählen, ihr Selbst ausdrücken und durch Musik verwirklichen, eröffnet das Genre Jugendlichen, unabhängig vom gesellschaftlichen Stand, neue Möglichkeiten und Perspektiven. Sei es als Hobby, das sie von der Straße holt und motiviert, oder tatsächlich als berufliche Perspektive. Kein Wunder also, dass selbst christliche Jugendhilfswerke wie "Die Arche" in Berlin mit Gangsta Rap-Musikern zusammenarbeiten und ihre "Sorgenkinder" in speziellen Workshops dazu einladen, ihre Geschichte musikalisch – und in ihrer eigenen Sprache – zu verarbeiten. Im Jahr 2009 wurde mit dem Rap-Sampler "Deutschlands Vergessene Kinder" sogar explizit Geld für das Jugendhilfswerk gesammelt. +Rap, auch Gangsta-Rap, kann helfen, schwierige Lebenslagen wie Gewalt oder soziale Ungerechtigkeit in etwas Kreatives zu verwandeln. Aber Gangsta-Rap ist auch ein Film für die Ohren, ein atmosphärisches Unterhaltungsinstrument, dem "ohne ein Wissen um szenetypische Kontexte und Bedeutungen", so der Soziologe Christoph Liell, gerne einmal jegliche künstlerische Daseinsberechtigung abgesprochen wird.Das ist schade, denn Künstler wie Kollegah, der nebenbei Jura studiert, übertreffen sich gegenseitig an absurden Kriminalitäts- und Gewaltszenarien und nutzen dabei die sprachlichen Möglichkeiten der textintensiven Musikrichtung Rap. Haftbefehl hingegen eckt – vor allem, wenn er politisch wird – durchaus mit seinen Texten an und hat schon heftige Kritik einstecken müssen. Gibt er sich aber als einfacher und charismatischer Junge von der Straße, ist es vor allem seine einzigartige Stimme, die er – ganz im Stile französischer Rapper und unter Vermischung verschiedener Sprachen – als regelrechtes Instrument nutzt. Mit "Babo" lieferte der gebürtige Offenbacher außerdem das Jugendwort des Jahres 2013. +Rapkünstler Haftbefehl nutzt seine Stimme als Instrument +Dennoch gibt es bisher keine einzige empirische Studie, die eine Verbindung zwischen ausgeübter Kriminalität und Gangsta Rap herstellen konnte. Und das, obwohl die Diskussion um solche Wechselwirkungen nicht neu ist. Bereits 2002 brachte der Soziologe Christoph Liell in seinem Vortrag "Musik und Gewalt in Jugendkulturen" das elementare Problem derartiger Forschungsansätze auf den Punkt: "Ungeklärt bleibt dabei […] ob spezifische musikalische Präferenzen tatsächlich eine höhere Gewaltaffinität verursachen, oder ob umgekehrt nicht Befragte mit schon bestehenden ausgeprägteren Gewaltneigungen bestimmte Musikstile bevorzugt hören." Wichtig sei hier – wie in so vielen Fällen - der Dialog zwischen Jugendlichen und Erwachsenen mit gefestigten Wertvorstellungen. Wer weiß, dass nicht alle Frauen "Huren" sind, wird eine solche Äußerung im Rahmen eines Rapsongs besser einzuordnen wissen – ob als gewollte Überspitzung, als bewusster Angriff im Rahmen einer verbalen Auseinandersetzung oder eben auch als dumme Propaganda eines weniger reflektierten Musikers.Natürlich gibt es da auch die andere Seite. Die, die jede Kritik am kriminellen Vorbildpotenzial von gewaltverherrlichenden, diskriminierenden oder frauenfeindlichen Gangsta-Tönen und dem kommerziellen Erfolg ihrer Vertreter zu bestätigen scheint. Rapper Xatar sitzt wegen eines Überfalls auf einen Goldtransporter im Gefängnis. Bushidos Ex-Zögling Kay One will gegen dessen Umfeld aussagen und muss nun angeblich um sein Leben fürchten. Das hat dann nichts mehr mit der Musik und den damit zelebrierten harten Image zu tun, sondern das sind ganz klar reale Fälle von Gewalt und Kriminalität. Wenn insbesondere junge Menschen den ganzen Tag hören, wie vermeintlich erstrebenswert Selbstjustiz, Drogenhandel und die allgemeine Missachtung des deutschen Rechtsstaats sind – wie sollten sie davon nicht negativ beeinflusst werden? So lautet entsprechend auch das Hauptargument der Kritiker. +Wenn sich junge Menschen in ihren Ängsten und ihrer Wut alleine gelassen fühlen, dann braucht es vielleicht jemanden wie den Frankfurter Azad, der rappt: "Wir sind die Letzten in der langen Schlange zur Kasse des Lebens." Azad weiß, wovon er spricht. Dass genau derselbe Künstler einen Song später zum rhetorischen Sparring antritt und seinem imaginären Gegner den Kiefer einschlägt, mag da für Außenstehende schwer zu verstehen sein. Sollte aber jemand genau in diesem Rap-Part ein Ventil finden und mit etwas weniger Aggression im Bauch zur Schule gehen – dann hat die Musik ihre Rolle erfüllt. +Auf bpb.de:"Musik und Gewalt–Gratwanderung zwischen Kunst und Manipulation"Auf rap.de:"Hip Hop Hilft – Zu Gast beim Workshop in der Arche"spex.de:"Keiner will was gesagt haben"DerSongtext zu "Phoenix" von Azad diff --git a/fluter/kampf-um-die-pressefreiheit-slowakei.txt b/fluter/kampf-um-die-pressefreiheit-slowakei.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c6c37b5773ec99bed21015e53562d21c359a402b --- /dev/null +++ b/fluter/kampf-um-die-pressefreiheit-slowakei.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Auf dem Küchentisch fanden Ermittler:innen zwei Laptops. Martina Kušnírová suchte nach Brautkleidern für die Hochzeit, Ján Kuciak recherchierte zu Verbindungen zwischen der kalabrischen Mafia 'Ndrangheta und slowakischen Eliten. Es war seine letzte Arbeit im Rahmen des Panama-Papers-Skandals rund um Steuerhinterziehung und Geldwäsche, bevor man ihn und seine Verlobte am 21. Februar 2018 in seinem Haus tötete. +Ján Kuciak, 27, war Investigativjournalist und deckte Korruption und Mafiaverstrickungen auf. Über den einflussreichen Geschäftsmann Marián Kočner schrieb er mehrfach, der ihm auch anschließend drohte, sich "persönlich um ihn zu kümmern". Kuciak meldete die Drohung der Polizei, doch diese reagierte kaum. Wenig später wurde er erschossen. +Der Mord wurde von einem Auftragsmörder ausgeführt, der gestand und verurteilt wurde. Marián Kočner, der als mutmaßlicher Auftraggeber angeklagt wurde, wurde 2020 und 2023 ein weiteres Mal mangels Beweisen freigesprochen. +Heute, sechs Jahre später, dokumentiert Farská für die Safe-Journalism-Plattform des Investigativzentrums Ján Kuciak Angriffe auf Journalist:innen. Aus der Anführerin wurde eine Chronistin, die aufzeichnet, was sie einst verhindern wollte: die Bedrohung derPressefreiheitin der Slowakei. Journalist:innen werden zu Feind:innen erklärt, unabhängige Medien unter Druck gesetzt,der öffentlich-rechtliche Rundfunkin ein Staatsmedium umgewandelt. Denn Robert Fico ist zurück. Im Herbst 2023 wurde er erneut Premierminister. Seitdem schürt er eine zunehmend feindselige Stimmung gegenüber Medienschaffenden. "Er hasst Journalist:innen, weil sie eine Rolle dabei spielten, dass er seine Macht [2018] verloren hat", sagt Karolína Farská. +ÜberDesinformationskanälewie den des YouTubers Daniel Bombic, der mitantisemitischen Inhaltenauffällt, verbreitete Fico eine neue Erzählung der Ereignisse: Die Proteste gegen ihn seien von westlichen Mächten gesteuert worden, angeführt vom jüdischen US-Investor George Soros. Dieser ist im Zuge seines politischen Engagements in Osteuropa immer wieder Antisemitismus ausgesetzt. Verschwörungen wie diese hält die Journalistin Xénia Makarová für absurd: "Aber vor ein paar Monaten fragte mich sogar meine Mutter: ‚Wirst du wirklich von Soros bezahlt?' Sie wiederholen dieselbenLügenso oft, bis die Leute sie glauben", sagt Makarová. +In der Slowakei herrscht ein Klima der politischen Gewalt. Robert Fico wurde am 15. März bei einem Attentat lebensgefährlich verletzt. Während einer Pressekonferenz im Herbst 2024 beschuldigte er mehrere Medien, indirekt schuld daran zu sein, dass er angeschossen wurde. Gleichzeitig häufen sichAngriffe auf Journalist:innen, auch durch Regierungsmitglieder. "Der Kampf um Medienfreiheit eskaliert", sagt Lucie Sykorova vom Europäischen Zentrum für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF). Laut der Organisation ereigneten sich im Jahr 2024 bisher 40 gemeldete Angriffe, mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. +Xénia Makarová selbst hatte im Oktober 2024 einen kritischen Artikel über die Renovierung des Regierungsgebäudes veröffentlicht. Am nächsten Tag klopften Juraj Gedra, der Leiter des Regierungsbüros, und Erik Kaliňák, EU-Abgeordneter und Berater des Premierministers, unangekündigt an ihre Bürotür. Der eine filmte sie mit dem Handy, der andere stellte aggressive Fragen zu angeblichen Fehlern im Artikel. Noch am selben Tag erschien auf den offiziellen Facebook- und YouTube-Profilen der Regierungspartei SMER ein bearbeitetes Video, das die Angreifer positiv darstellte. Die Partei zahlte auf Facebook für zusätzliche Reichweite, und Makarová traf eineWelle von Hass und Morddrohungen."Ich kann nicht in ihre Köpfe sehen, aber sie wollten offenkundig kein Gespräch führen. Ihr Ziel war es, ein Video für die sozialen Medien zu produzieren", sagt sie heute. "Ich sollte als Journalistin unglaubwürdig aussehen." +Angriffe auf die Pressefreiheit machen jedoch nicht bei Einzelnen halt, sondern gehen an die Struktur. "Es ist wie in Ungarn: Copy Paste in der Slowakei", sagt die Journalistin Soňa Weissová. Sie versuchte, den Umbau des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in einPropagandainstrumentder Regierung aufzuhalten. Eine Entwicklung, die Kritiker:innen "Orbanisierung" nennen – in Anlehnung an den Staatsumbau des ungarischen rechtskonservativen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. "Es hätte Haie gebraucht, um die Proteste zu organisieren. Ich bin nur ein kleiner Fisch, aber irgendjemand musste es ja machen." +Weissová, die 15 Jahre beim Rundfunk gearbeitet hatte, wurde zur Protestfigur: Sie organisierte Demonstrationen, sprach in Podcasts, ließ sich mit zugeklebtem Mund fotografieren – ein Symbol fürerstickte Pressefreiheit. Doch einen Monat nach dem Attentat auf Robert Fico im Mai 2024 stimmte das Parlament einer Reform zu. Die unabhängige Rundfunkanstalt RTVS wurde abgeschafft und durch eine regierungskontrollierte Einrichtung, die STVR, ersetzt. Die Leitungsposition wird von einem Rat bestimmt, dessen Mitglieder vom Kulturministerium und Parlament ernannt werden. Finanziert wird die STVR durch Werbung und staatliche Zahlungen, was deren Unabhängigkeit zusätzlich infrage stellt. +Wenige Wochen später kündigte Weissová: "So konnte ich nicht mehr arbeiten." Auch andere Journalist:innen wurden entlassen oder gingen freiwillig. Manche passten sich den neuen Strukturen an. Kolleg:innen, die einst beim "Schwarzen Tag", dem Tag nach dem Regierungsbeschluss, mit Weissová protestiert hatten, grüßten sie inzwischen nicht mehr. "Ich verstehe, wenn man Kinder hat oder einen Kredit, den man zurückzahlen muss. Aber ich wollte abends in den Spiegel sehen können – was hatte ich denn für eine andere Wahl, als zu gehen?", sagt sie. Heute besucht Weissová Deutschkurse, um im deutschsprachigen Journalismus Fuß zu fassen – auch wenn sie wenig Hoffnung hat. +Karolína Farská, die nach Ján Kuciaks Tod die Proteste anführte und heute Angriffe auf Journalist:innen dokumentiert, sieht bei Fico mehr als nur Rache. "Eines seiner Hauptziele ist es, sich und seine Verbündeten vor strafrechtlichen Konsequenzen zu schützen, die in einer funktionierenden Demokratie auf sie zukämen." Nach dem Mord an Ján Kuciak und der Berichterstattung der Medien wurden hochrangige Politiker festgenommen – ein seltenes Zeichen dafür, dass der Rechtsstaat funktionierte. Doch Fico zog daraus seine Lehren: Er baut demokratische Strukturen ab, schwächt die Presse und sichert so seine Macht gegen Kritik. +Titelbild: Vladimir Simicek/AFP via Getty Images diff --git a/fluter/kampf-um-mossul-wie-cadus-direkt-an-der-front-hilft.txt b/fluter/kampf-um-mossul-wie-cadus-direkt-an-der-front-hilft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..825f171aa0f50d68af7b8d6c4a5b82d18bc0eb1d --- /dev/null +++ b/fluter/kampf-um-mossul-wie-cadus-direkt-an-der-front-hilft.txt @@ -0,0 +1,31 @@ +fluter.de: Du bist seit ein paar Tagen aus Mossul zurück. Wie geht es dir? +Sebastian Jünemann: Seit ich 20 bin, arbeite ich im Katastrophendienst. Über all die Jahre habe ich Verarbeitungsmechanismen entwickelt. Ich weiß: Tot ist tot. Das kann ich nicht beeinflussen. Aber natürlich sehen wir Sachen, die verarbeitet man nicht so leicht. Wie einen Fünfjährigen mit zerfetzten Armen und Beinen. +Sind alle Patienten so schwer verletzt? +Jeder, der zu uns kommt, ist in akuter Gefahr, sein Leben zu verlieren. Viele sind von IS-Scharfschützen angeschossen worden, als sie aus der Altstadt geflohen sind. Die meisten Patienten haben aber ältere Verletzungen, die stammen von den Luftangriffen der Anti-IS-Koalition. +Das Cadus-Team kümmert sich um Schwerverletzte, vor allem um Zivilisten, die aus Mossul geflohen sind +Was erzählen die Menschen, die zu euch kommen? +Alle sagen: Es ist gut, dass der IS weg ist. Aber sie haben auch Angst vor dem, was danach kommt. Die Bevölkerung von Mossul ist mehrheitlich sunnitisch, der Großteil der irakischen Soldaten sind Schiiten. Und Christen haben uns erzählt, dass die irakischen Befreier zu ihnen gesagt haben: "Konvertiere zum Islam oder entrichte eine Schutzsteuer." Genau das haben auch die IS-Leute gemacht. +Du hast mit vielen Menschen gesprochen. Was ist dein Eindruck von der Situation in Mossul? +Es gibt für die IS-Kämpfer keinen Korridor mehr, die Stadt zu verlassen. Die sind eingesperrt, und die Zivilisten sind mitgefangen. Die Koalition bereitet die Bodenangriffe mit Luftschlägen vor. Bei jeder Bombe, die geworfen wird, bei jedem Mörser, der gefeuert wird, kommt es zwangsläufig zu vielen Verletzten. Das nehmen die Befreier ganz klar in Kauf. +In den Straßen von Mossul: Vor allem der Westen der Stadt ist zerstört +Was bedeutet das für euch? +Wenn die irakische Armee einen Korridor freischießt und Zivilisten fliehen können, kommen sehr viele Menschen zu uns. Wir sind aber nur sechs Ärzte und Rettungssanitäter. Wir können nicht alle sofort behandeln. Wir müssen auswählen. Welcher Patient wird sowieso sterben? Welcher Patient wird sowieso überleben? Welcher Patient wird nur überleben, wenn wir ihn behandeln? Ich musste mal entscheiden, die Reanimation eines Achtjährigen abzubrechen. Der Junge war auf eine Mine getreten, beide Beine waren total zerfetzt. Sein Bruder hatte ihn eine Stunde durch die Gegend geschleppt. Als die beiden bei uns ankamen, war der Junge ausgeblutet, nicht ansprechbar, wahrscheinlich schon tot. Wir haben Adrenalin verabreicht, reanimiert. Nach einer halben Stunde habe ich gesagt: "Wenn wir in fünf Minuten keine Herzaktion haben, ist Schluss." Wir haben dann mit dem Ultraschall geschaut, ob sich was im Herzen tut. Da war nichts. +Das klingt ganz schön abgeklärt. +Natürlich will man manchmal einfach nur weg. Das hat aber nicht allein mit den Einsätzen zu tun. Wir schlafen in einer ehemaligen Autowerkstatt, auf das Blechdach knallt den ganzen Tag die Sonne. Das ist eine moderate Sauna. Jeder kriegt Durchfall. Aus den Klamotten kriegt man das Blut nicht raus. Wir kacken in Plastiktüten, um keine Krankheitserreger zu verbreiten. +Die Krankenstation befindet sich in einer alten Garage. Die Laster von Cadus parken davor +Wie kam es überhaupt dazu, dass ihr nach Mossul gegangen seid? +Vor drei Jahren habe ich mit anderen die Hilfsorganisation Cadus gegründet, wir wollten in Syrien mobile medizinische Hilfe leisten. Es hat sich sehr schwierig gestaltet, unsere Laster mit den mobilen Krankenhäusern in den Irak zu bringen, von wo wir nach Syrien wollten. Als wir die endlich in Erbil in der kurdischen Autonomieregion hatten, begann die Offensive auf Mossul. Es war leider gleich klar: Da passiert eine humanitäre Katastrophe. +Wieso seid ihr an die Front gegangen? Ihr könntet ja auch in einem Flüchtlingslager helfen. +Wir haben bei der Weltgesundheitsorganisation gefragt, wo unser Einsatz am sinnvollsten ist. Dort waren sie verzweifelt auf der Suche nach Organisationen, die bereit waren, die Erstversorgung an der Front zu übernehmen. Den großen Organisationen ist das zu gefährlich. Die organisieren lieber die Feldkrankenhäuser, wohin unsere Patienten verlegt werden, wenn wir sie stabilisieren können. Die sind etwa 20 Kilometer entfernt. +Die Helfer von Cadus leisten nahe der Front die Erstversorgung. Wenn sie die Patienten stabilisieren können, werden sie in die Feldkrankenhäuser großer Hilfsorganisationen verlegt, die etwa 20 Kilometer entfernt sind +Euer Lazarett liegt gleich neben einer irakischen Einheit. +Ärzte ohne Grenzen, die aus Prinzip auf Distanz zu Kriegsparteien gehen, haben mehrmals versucht, ein Erstversorgungszentrum wie das unsrige direkt an der Front aufzubauen. Aber sie wurden immer wieder beschossen. Es war klar: Wir müssen näher ran ans Militär, sonst bringen wir uns zu sehr in Gefahr. +Weißt du, ob ihr IS-Kämpfer behandelt habt? +Natürlich sagt niemand, dass er beim IS war. Aber wenn jemand komplizierte Knochenbrüche hat, die mit einem externen Gestell fixiert sind, wenn also jemand in Mossul eine aufwendige ärztliche Versorgung bekommen hat, war er mit großer Wahrscheinlichkeit Kämpfer. Das sagen die irakischen Soldaten. Ein Beweis ist es natürlich nicht. +Prüfen die Iraker, ob die Verletzten, die sie zu euch bringen, IS-Kämpfer sind? +Es gibt Screening-Points, die liegen zwischen uns und der Front. Wenn ein Jugendlicher eine Kugel in den Kopf kriegt, halten die Soldaten nicht am Screening-Point. Dann prüfen sie im Fahrzeug, ob er eine Sprengstoffweste trägt. Wenn nicht, kommt er zu uns. +Sebastian Jünemann schaut nach einem Patienten +Habt Ihr erlebt, dass die Iraker mutmaßliche IS-Kämpfer foltern? +Da war ein Mann, dessen Fingerkuppen waren mit einem scharfen Gegenstand abgeschnitten worden, die Wunden waren frisch. Ich habe ihn ganz unschuldig gefragt: "Wie kommt es denn zu so einer Verletzung?" Er antwortete, das sei gerade am Screening-Point passiert. Und der Major, der danebenstand, sagte: "Das machen die, wenn sie glauben, dass jemand nicht die Wahrheit sagt." Wir dokumentieren das dann und leiten es an die Weltgesundheitsorganisation weiter. +Wie geht es für euch weiter? +Wir arbeiten in Mossul, bis die Stadt komplett befreit ist. Dann müssen wir sehen, ob es sinnvoll ist zu bleiben. Das hängt auch davon ab, wie häufig IS-Schläfer Anschläge verüben. Die Lastwagen mit den mobilen Krankenhäusern sollen in jedem Fall so schnell wie möglich nach Rakka, wo die Kurden gegen den IS kämpfen. Aber erst mal müssen wieder Spenden reinkommen. diff --git a/fluter/kampf-um-woerter.txt b/fluter/kampf-um-woerter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..135cdf561a2b15162cf6087394a824383a45cfa3 --- /dev/null +++ b/fluter/kampf-um-woerter.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Eine besonders beliebte Form der Wortprägung ist die Metapher. Wörter oder Wendungen mit bildhafter, übertragener Bedeutung sind deshalb so attraktiv, weil sie komplexe Sachverhalte vereinfachend und verständlich darstellen. Sie enthalten darüber hinaus oft noch versteckte Argumentationen und Handlungsanweisungen. In den Auseinandersetzungen über die Einwanderungspolitik wurde zum Beispiel mit Ausdrücken wie "Ausländer-" beziehungsweise "Asylantenflut", "-schwemme", "-strom", "-welle" und "-lawine" der Eindruck hervorgerufen, als handele es sich bei den Zuwanderern um eine ungeheuer große, kaum beherrschbare Menge von Menschen, die nach Deutschland wollen. Zugleich enthielt das gewählte Bild die als notwendig angesehene Gegenmaßnahme. Es entstand der Eindruck, dass gegen die massenhafte Zuwanderung Dämme errichtet werden müssten – ein plakatives Argument, um das Asylrecht einzuschränken. +Ab Mitte der sechziger Jahre etablierte die SPD ihr Fahnenwort "Chancengleichheit" als Bezeichnung für das von ihr vertretene bildungspolitische Konzept, sozial schwächer gestellten Kindern durch die Einführung von Gesamtschulen bessere Zugangsmöglichkeiten zu höheren Schulen zu eröffnen. Das Wort setzte sich derfolgreich durch. Chancengleichheit hat mittlerweile – auch weil der Ausdruck in anderen gesellschaftlichen Bereichen benutzt wird – wieder einen ähnlichen parteiübergreifenden Stellenwert als Programmund Zielvokabel wie in den sechziger Jahren. +Oft wird versucht, ein vom politischen Gegner benutztes Fahnenwort seiner positiven Bedeutung zu berauben und zu einer Stigmavokabel zu machen – indem zum Beispiel ein Wortbestandteil davon eine negative Bedeutung bekommt. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Verwendung der Wörter Gemeinschaftsschule und Einheitsschule in der politischen Auseinandersetzung um die Abschaffung oder Beibehaltung des gegliederten Schulsystems. Während das Wort Gemeinschaftsschule von den Befürwortern des gemeinsamen Lernens benutzt wird, spielt die Gegenvokabel Einheitsschule mit dem Bild von Gleichmacherei. +Eine spezielle Variante der Auseinandersetzung um Fahnenwörter und Gegenvokabeln ist es, sich selbst mit einer Stigmavokabel zu bezeichnen und sie dadurch zu neutralisieren. In den siebziger Jahren bezeichneten sich zum Beispiel Homosexuelle als Schwule beziehungsweise Lesben – bis dahin stigmatisierende Diffamierungsund Beschimpfungsvokabeln – und erreichten dadurch, dass diese Ausdrücke heute neutral verwendet werden können. +Sprachstrategisch wirkungsvoll ist auch die Verwendung der sogenannten realistischen Diktion, der Gleichsetzung von Begriffen, zum Beispiel: "Deutschland ist (k)ein Einwanderungsland", "Kopftuchverbot ist Berufsverbot". Dabei verdecken solche Formulierungen, dass jemand mit bestimmter Zielsetzung einen Ausdruck wählt, der einen Sachverhalt wie Zuwanderung als notwendig oder überflüssig bewertet, oder dass jemand das Verbot, als Lehrerin im Unterricht ein Kopftuch zu tragen – was als demonstrativer Ausdruck einer Religionszugehörigkeit gilt –, als Berufsverbot einschätzt. +Das Beispiel der Auseinandersetzung um das Schlagwort "neue Mitte" zeigt exemplarisch, wie langlebig semantische Kämpfe sein können: Der Ausdruck Mitte war und ist als Hochwertvokabel für alle politischen Lager attraktiv. Im Sinne von "Zielgruppe" steht Mitte für die Mehrheit der Wähler, die es bei Wahlen zu erobern gilt. Bundeskanzler Willy Brandt prägte 1972 den Ausdruck "neue Mitte", worunter er nicht mehr die Wähler der bürgerlichen Parteien, sondern die sozialliberale Regierungspolitik verstanden wissen wollte. Daneben sollte mit der Vokabel "neue Mitte" ein Konzept geschaffen werden, das es ermöglichte, die Studentenbewegung in die parlamentarische Demokratie zu integrieren. Mit dieser Wortprägung versuchte er zum einen, von den positiven Assoziationen des Ausdrucks Mitte zu profitieren, zum anderen ging es ihm darum, ihn den bürgerlichen Parteien durch den Zusatz "neu" zu entreißen. Die Opposition widersetzte sich dieser Uminterpretation. So erklärte Franz Josef Strauß (CSU): "Die neue Mitte, die Sie darstellen wollen, gibt es gar nicht. Entweder ist es die alte Mitte, dann ist es auch die neue Mitte – oder es ist keine Mitte." +Im Bundestagswahlkampf 1994 definierte sich die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP als Koalition der Mitte und warb mit dem Slogan "Politische Mitte oder Linksbündnis". Dem versuchte die SPD im Bundestagswahlkampf 1998 in Anlehnung an Tony Blairs "New Labour" oder Bill Clintons "New Democrats" eine neue Mitte entgegenzusetzen, worunter SPD-Kanzlerkandidat Schröder eine Politik verstand, die "die Eigenverantwortlichkeit der Menschen fördert und sie stärkt" und die "für Solidarität und Innovation, für Unternehmungslust und Bürgersinn, für ökologische Verantwortung und eine politische Führung" steht. +Umstritten war hier vor allem die Frage, ob die Strategie der SPD darin bestünde, die Vokabel Mitte zu besetzen und ihre positive Konnotation für sich in Anspruch zu nehmen, oder ob ihre Verwendung für eine programmatische Neudefinition der politischen Mitte stünde. Aus Sicht von Union und FDP ging es dem Kanzlerkandidaten Schröder vor allem um die Besetzung eines Wortes. +Insbesondere an der Verwendung des Wortes "neu" entzündete sich die Kritik. Von konservativer Seite wurde die Argumentation von Strauß wieder aufgegriffen, um die Skepsis über den Innovationsgehalt des Wortes und über die Politik zu unterstreichen. Der Versuch, die Programmvokabel "Neue Mitte" von 1973 zu übernehmen, wurde als gescheitert betrachtet, da sich die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der Zwischenzeit verändert hatten. Mitte ist heute eine umkämpfte Vokabel, die fast alle politischen Parteien für sich beanspruchen. +Unser Autor, geboren 1967, ist Germanist an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und forscht dort zur "Politischen Sprache der Weimarer Republik". diff --git a/fluter/kampf-von-rechts-gegen-political-correctness.txt b/fluter/kampf-von-rechts-gegen-political-correctness.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..de0cb7f37764e195880f3fbf350b497b278d3bc1 --- /dev/null +++ b/fluter/kampf-von-rechts-gegen-political-correctness.txt @@ -0,0 +1,22 @@ + +Nicht nur er allein sieht in "der" Political Correctness eine Unterdrückung der Meinungsfreiheit und hofft, dass sie beschädigt wird. Der Wahlsieg Donald Trumps bei den Präsidentschaftswahlen gilt auch als großer Triumphamerikanischer Trollegegen die "politisch Korrekten". Sie hätten einen von ihnen, also einen der immer wieder mit angeblich "mutigen", oft einfach nur plump rassistischen Äußerungen für Aufsehen sorgt, ins Amt geshitpostet – das sei ihr Verdienst, sagen sie. Organisiert haben die Trolle sich unter anderem in einem anonymen Internetforum namens "Politically Incorrect" auf der Plattform 4chan. +Einst gründete sich hier das bekannte Kollektiv "Anonymous", inzwischen aber haben im Forum die Inhalte der sogenannten Alt-Right an Bedeutung gewonnen. Diese rechte Bewegung, deren Erkennungszeichen der auch von Trump geteilteFrosch Pepeist, werde vor allem von gebildeten, aber perspektivlosen weißen Männern getragen, so die Kommunikationswissenschaftlerin Angela Nagle. Männern also, die ein gewisses "Unbehangen in der Kultur" verspüren und dieses auf die vermeintliche Political Correctness projizieren. + + +Der Wahlerfolg Trumps bestätigt eine selbsterklärte Bewegung, die sich gegen die sogenannte "Political Correctness" richtet. So sieht das Sellner, so sehen das die 4chan-Trolle und so sehen das auch mancheVertreter von Rechtspopulisten. Nicht nur für die extreme Rechte wie die Identitären ist der Kampf gegen eine verspürte "Political Correctness" zu einem wichtigen Schlagwort geworden, wenn es darum geht, das eigene Handeln und Sprechen zu rechtfertigen. +"PC" wird auch als Schimpfwort benutzt. Das war schon so, als es in den 90er-Jahren vermehrt in Artikeln auftauchte, die vor Sprachregelungen und "Tugendterror" warnten. Positiv haben sich nur sehr wenige auf diesen Begriff bezogen – selten haben Gruppen die "Political Correctness" als ein Programm oder Manifest vor sich hergetragen. "PC" ist als Begriff im Kulturkampf zwischen "links" und "rechts" entstanden und wird teilweise auch im Mainstream diskutiert. +Wenn Alice Weidel, Fraktionsvorsitzende der AfD im Bundestag, auf einem Parteitag aber sagt, sie werde sich nicht den Mund verbieten lassen, "denn die ‚Political Correctness' gehört auf den Müllhaufen der Geschichte", dann wird deutlich, welche zentrale strategische Rolle dieses Phantom besonders in (rechts)populistischen Bewegungen einnimmt. Ein Phantom deshalb, weil PC kaum greifbar erscheint: Es wird von seinen Gegnern selten an bestimmten Positionen festgemacht, über die man diskutieren könnte, auch der Schutz von Minderheiten rückt in den Hintergrund; stattdessen scheint PC wie ein übermächtiges Prinzip von "oben" im Raum zu schweben. + +Als Rechtspopulisten werden in der Politikwissenschaft jene definiert, die behaupten, den echten Willen eines Volkes gegen die Interessen korrupter oder elitärer Politiker zu vertreten. Auf der Seite ihrer Unterstützer spielt demnach eine Selbstwahrnehmung als vermeintlich Unterlegene oder Bedrohte eine Rolle: Sympathisanten fühlen sich häufig als Opfer eines übermächtigen Establishment, das den wahren Volkswillen unterdrückt und gegen die eigenen Interessen handelt: "Wir sind das Volk und nur wir sind das Volk", wie Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller das zusammenfasst. Auch Studien zeigen, dass beispielsweise Trump vor allem dort gewählt wurde, wo die weiße Mehrheit schwindet. In Deutschland bekam die AfD viele Stimmen aus strukturschwachen Regionen – in Ost und West. In Frankreich geriert sich der Front National als Stimme der Arbeiterschicht, die – wie der Soziologe Didier Eribon meint – von der Linken vergessen wurde. Für den Brexit wurde vorwiegend von sozioökonomisch schlechter gestellten Gruppen gestimmt. +Rechtspopulismus basiert auf Abgrenzung – er benötigt Feinde. Und wo es keine gibt, werden welche imaginiert. Der vermeintliche Gegensatz zwischen Volk und Elite ist dabei nur einer von mehreren. Denn das zugrundeliegende Weltbild ist komplexer: Rechtspopulismus gilt auch aufgrund der Vielzahl konservativer Denkfiguren als eine reaktive Ideologie, die ihr Weltbild dementsprechend vor allem aus der Abwehr moderner Prozesse speist. + + +Der erstarkte Rechtspopulismus ist für viele Experten eine Reaktion auf Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. Die Anhänger rechtspopulistischer Bewegungen fühlen sich oft vernachlässigt, wenn ihnen andere Gruppen gleichgestellt werden, die sie als minderwertig betrachten. Das können zum Beispiel Frauen sein, Schwarze oder Homosexuelle. Sie wollen diese emanzipativen Errungenschaften aufhalten. +Dass jetzt auch noch der Mohrenkopf zum Schokokuss wird, passt ins Weltbild der Rechtspopulisten: Die gleiche Elite, die die Interessen des Volkes nicht mehr kennt, schreibe ihm, "dem Volk", jetzt vor, wie es zu sprechen habe. Viel lieber möchte man bei den alten Ressentiments verweilen. Die Sprache soll so bleiben, wie sie immer war. "PC" gehöre, ähnlich wie Globalisierung, Digitalisierung oder Gleichstellung, zu einem Zwangsprogramm, das der Mehrheit gegen ihren Willen zugunsten einer Minderheit (bzw. "der Elite") aufgezwungen wird. Wer dagegen ist, werde als "unkorrekt" aus dem Diskurs ausgeschlossen, klagen die "PC"-Kritiker. + + +Es ist das optimale Narrativ für Populisten, weil es einerseits ihre Rolle als Opfer und Außenseiter unterstreicht. Gleichzeitig bauen sie so eine Drohkulisse auf, von der sie behaupten, nur sie würden diese einreißen können. Wie schon im populistischen Konflikt zwischen Volk und Regierenden stehen die "politisch Inkorrekten" dabei auf der moralisch guten Seite. Indem "Political Correctness" und "Tugendterror" mit Zwang und Bevormundung verbunden wird, können sich Rechtspopulisten als Kämpfer für die Freiheit ausgeben. Emanzipative Errungenschaften werden somit zu totalitären Regeln. +Und hier liegt die eigentliche Krux: "Politisch Korrektes" will fortschrittlich sein. Dass Frauen wahrlich – also auch in der Sprache – gleichberechtigt sein sollten etwa, oder dass es eine rassistische Beleidigung ist, jemanden als Neger zu bezeichnen. Indem man solche Veränderungen als totalitär brandmarkt, sind es auf einmal die eigenen Ressentiments, die Emanzipation signalisieren. + + +Titelbild: Guy Corbishley/Alamy Live News diff --git a/fluter/kampfsport-als-mittel-gegen-terror-in-dagestan.txt b/fluter/kampfsport-als-mittel-gegen-terror-in-dagestan.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..38260e67b5c8f12366ea6b6df94d93f599de1bfd --- /dev/null +++ b/fluter/kampfsport-als-mittel-gegen-terror-in-dagestan.txt @@ -0,0 +1,39 @@ +"Dagestan ist seit 2009 das Epizentrum des bewaffneten Kampfes im Nordkaukasus", erklärt Jekaterina Sokirjanskaja, Kaukasus-Expertin der International Crisis Group, gegenüber dem Deutschlandfunk. Die islamistischen Kämpfer, die im Untergrund agieren und gegen die Sicherheitsbehörden kämpfen, sind Ende der 1990er-Jahre aus dem benachbarten Tschetschenien ins Land gelangt. + + + + + + +Bis heute sollen sich nach Schätzungen der russischen Behörden mehr als 1.000 Kämpfer dem Islamischen Staat angeschlossen haben. Rund 15.000 Menschen stehen auf der Gefährderliste. Der jugendliche Bremer Gefährder, der Ende letzten Jahres abgeschoben wurde, stammte aus Dagestan, ebenso die zwei jungen Selbstmordattentäterinnen, die in der Moskauer U-Bahn 2010 eine Bombe zündeten. Und auch die beiden Brüder, die 2013 den Anschlag auf den Marathon in Boston verübten, lebten zumindest zeitweise dort. + + + + +Doch Dagestan ist noch für etwas anderes bekannt: seine unschlagbaren Ringer. Shirvani Muradov hat eine olympische Goldmedaille gewonnen, Mavlet Batirov und Adam Saitiev zwei und Adams Bruder Buvaisar gleich drei. Tausende Jungs träumen davon, es ihnen eines Tages gleichzutun. Und weil das ein besseres Ziel ist, als Kämpfer für ein Kalifat zu werden, stecken Dörfer, Städte und Kommunen viel Geld in den Ausbau von Trainingszentren – die oft Fitnesscenter, gemäßigte Moschee und Kindertagesstätte in einem sind. + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +Die nächste Runde wird besser, so wahr Allah helfe + + + diff --git a/fluter/kann-denn-reden-suende-sein.txt b/fluter/kann-denn-reden-suende-sein.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2e027e79067183fdbeb16c435aaa565560d96d95 --- /dev/null +++ b/fluter/kann-denn-reden-suende-sein.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +"Gotteslästerung" wird es nicht mehr so oft genannt. Aber auch in vielen christlich geprägten Ländern gibt es noch Gesetze, die "Bekenntnisbeschimpfung" unter Strafe stellen +Aus Angst floh Kaschgari nach Malaysia. Mittlerweile hatte der saudi-arabische König Abdullah ibn Abd al-Aziz die Verhaftung Kaschgaris angeordnet. Denn in der ölreichen Monarchie, deren Bevölkerung zu 90 Prozent aus Sunniten besteht und die für ihre ultrakonservative Auslegung des Islam bekannt ist, werden kritische Äußerungen gegen den Islam und dessen Würdenträger wie auch die "Verunglimpfung" des Korans oder des Propheten mit drakonischen Strafen geahndet. Das in Saudi-Arabien befolgte Recht orientiert sich grundsätzlich an den Normen der hanbalitischen Rechtsschule und den Anweisungen der Scharia als Gesamtheit des islamischen Gesetzes. Die Scharia regelt auch die sogenannten Grenzverbrechen, also die "Verbrechen gegen das Recht Gottes" (arabisch: hadd), zu denen die Apostasie (Entsagung des Glaubens) gehört. +Die malaysischen Behörden nahmen Kaschgari schließlich fest und übergaben ihn der saudi-arabischen Polizei. 20 Monate musste der junge Blogger in einem Gefängnis verbringen, ohne dass ihm der Prozess gemacht wurde. Weniger Glück hatte der Blogger Raif Badawi, der in seinem Blog "Liberal Saudi Network" die saudi-arabische Religionspolizei kritisierte und Meinungs- und Pressefreiheit einforderte. Er wurde im Mai 2014 wegen "Beleidigung des Islam" verurteilt. Die Strafe: zehn Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von rund 240.000 Euro. Zudem: 1.000 Peitschenhiebe. Anfang des Jahres wurden ihm bereits 50 Hiebe verabreicht. Badawi wurde dabei so schwer verletzt, dass die weitere Vollstreckung der Strafe bis heute ausgesetzt wurde. Gerade in Ländern, in denen der radikale Islam die Grundlage des Rechtssystems bildet, wird der Vorwurf der "Beleidigung des Islam" häufig dazu benutzt, Kritiker, Journalisten und Medien mit harten Strafen zu bekämpfen und auszuschalten. +Das US-amerikanische Pew Research Center listete für das Jahr 2012 insgesamt 20 Länder auf, in denen die Apostasie mit Bestrafungen bis hin zur Todesstrafe geahndet werden kann. +Neben Saudi-Arabien ist dies unter anderem im Iran, in Pakistan, in Afghanistan oder im Sudan der Fall. Die Studie "Blasphemy. Information sacrificed on altar of religion", die im Dezember 2013 von der Organisation Reporter ohne Grenzen veröffentlicht wurde und die sich mit Repressionen gegen Journalisten und Medien unter dem Deckmantel der Religion beschäftigt, kommt zu dem Schluss: "Tatsächlich wird das System der religiösen Zensur nur selten genutzt, um tatsächliche Blasphemie oder die Verletzung eines Dogmas zu bestrafen." Und weiter: "In Theokratien ist die Anschuldigung der Blasphemie eine legale Waffe, um die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten." +In solchen Ländern sind Gesetze und Regeln, die angeblich Religion, Tradition und Tugend schützen sollen, im Wortlaut so schwammig gehalten, dass sie vor allem dem Zweck der religiösen und auch der weltlichen Machthaber dienen, unliebsame Kritiker mundtot zu machen und die eigene Macht zu erhalten und zu schützen. +Journalisten, die die Macht der Mullahs im Iran in Frage stellen oder die Korruption des pakistanischen Klerus kritisieren, werden von den Machthabern nicht selten als "neue Häretiker" gebrandmarkt, die gegen die göttliche Ordnung handeln. In Saudi-Arabien werden Freiwillige sogar dazu ausgebildet, das Internet nach "unmoralischen" und "antiislamischen" Inhalten zu durchforsten. Das iranische Regime hat mit dem "Halal-Internet" ein Netz organisiert, in dem nur die Seiten und Inhalte abrufbar sind, die den Mullahs genehm sind. +Und in Artikel 41 des marokkanischen Pressegesetzes beispielsweise heißt es, dass Journalisten, "die die islamische Religion, das monarchische System oder die territoriale Integrität" attackieren, zu einer Gefängnisstrafe zwischen drei und fünf Jahren und einer Geldstrafe von 10.000 bis 100.000 Dirham (900 bis 9.000 Euro) verurteilt werden können. +Auch in Pakistan kommt es immer wieder zu Anschuldigungen gegen Journalisten und Medien auf der Basis von Blasphemie-Gesetzen. Der Herausgeber der Zeitschrift "Nia Zamana", Schoaib Adil, musste 2014 mit seiner Familie aus seiner Heimatstadt fliehen, weil er Angst hatte, vor Gericht gestellt zu werden. In einem Interview für das Committee to Protect Journalists (CPJ) sagte er: "Bei uns will niemand über Blasphemie sprechen. Anwälte halten sich aus diesen Fällen raus. Richter an niederen Gerichten werden durch die Mob-Justiz von religiösen Gruppen kontrolliert und beeinflusst, die sich schnell und effektiv organisieren können. Die sind so mächtig, dass sie sogar Richter zum Schweigen bringen. Denn denen ist klar, dass sie erschossen werden können. Also verurteilen die niederen Richter die Angeklagten häufig zum Tode und überlassen es dann den höheren Gerichten, das letzte Urteil zu sprechen. Häufig werden Angeschuldigte auch ermordet. Und jeder, der angeklagt ist, wird in jedem Fall für Jahre im Gefängnis landen, auch wenn man ihm nichts beweisen kann." +Für Journalisten wird die Arbeit so zu einer schwierigen Gratwanderung, deren Risiko sie kaum einschätzen können. Die Angst vor Strafen und Repressionen führt oft zur Selbstzensur. Nur die Mutigsten lassen sich den Mund nicht verbieten. +Aber auch in vielen christlich geprägten Ländern ist Gotteslästerung noch strafbar, darunter Griechenland und Italien. Die "Diffamierung von Religion" wiederum steht in 86 von weltweit 198 Ländern unter Strafe, so auch in fast allen Ländern der EU. Die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung "Jyllands-Posten" im Jahr 2005 oder der Anschlag gegen das französische Satiremagazin "Charlie Hebdo" am 7. Januar 2015 haben auch in den westlichen Demokratien Diskussionen darüber entfacht, ob die demokratische Meinungs-, Kunst- und Pressefreiheit mehr Rücksicht auf religiöse Gefühle nehmen sollte. +In Deutschland jedenfalls wurde der Blasphemie-Paragraf im Jahr 1969 so umformuliert, dass "Gotteslästerung" als Straftatbestand darin nicht mehr vorkommt. Doch auf die Beschimpfung von "Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen" stehen laut Paragraf 166 StGB immer noch bis zu drei Jahre Haft. Allerdings geht es bei diesem Gesetz nicht um die religiösen Gefühle des Einzelnen, sondern um Meinungsäußerungen, die das Potenzial haben, den öffentlichen Frieden zu stören. Urteile im Sinne des Paragrafen werden allerdings nur sehr selten gesprochen. Es gibt jedoch immer wieder Debatten über eine Abschaffung des Paragrafen. Dies fordern Grüne und FDP, während es aus der Union Stimmen für eine Verschärfung gibt. Die beiden großen Kirchen sind für die Beibehaltung des Status quo. diff --git a/fluter/kann-eine-allmende-funktionieren.txt b/fluter/kann-eine-allmende-funktionieren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cfa38d08230be9e30d9868992dc99cd4b98f772d --- /dev/null +++ b/fluter/kann-eine-allmende-funktionieren.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Die Allmende (auf Englisch: commons), wie man solche Gemeingüter nennt, an denen alle Gemeindemitglieder das Recht zur Nutzung haben, ist seit vielen Jahren Forschungsgegenstand von Wirtschaftswissenschaftlern, Psychologen und Historikern. Sie umfasst etwa Wege, Wälder, Wiesen, Heiden, Moore oder auch den Löschteich. Schon im Mittelalter hat es in den meisten Dörfern in Europa eine gemeinschaftlich genutzte Weide gegeben. +Das Land gehörte zwar Grundbesitzern, aber das Gewohnheitsrecht machte es allen zugänglich. Um die Nachhaltigkeit zu garantieren, wurde die Nutzung der Gemeingüter zunehmend detailliert geregelt. Als die Eigentümer später wegen zunehmender Flächenknappheit dazu übergingen, die bisherigen Allmenden für sich privat zu nutzen, kam es insbesondere in England zu heftigen Protesten. +Als eine Art Weide für alle könnte man heute das Allmende-Kontor auf dem Tempelhofer Feld in Berlin bezeichnen. Seit 2011 gärtnern hier mittlerweile etwa 700 Mitglieder. Sie haben so gemeinsam eine beeindruckende Landschaft aus Hochbeeten und Sitzgelegenheiten entstehen lassen. Das eigene Beet pflegt jeder selbst, um die gesamte Anlage kümmern sich alle gemeinsam. Um das zu organisieren und sich darüber hinaus auszutauschen, finden regelmäßige Treffen statt. Obwohl es auch hier hin und wieder vorkommt, dass Leute sich unerlaubt am Obst und Gemüse bedienen, scheint das Allmende-Konzept insgesamt aufzugehen, nämlich "die nachhaltige und solidarische Nutzung und Pflege von Ressourcen nach Regeln, die von den Mitgliedern der Gemeinschaft selbst gesetzt werden", wie es in der Satzung heißt. +Die US-amerikanische Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom zeigte, dass vor allem lokale Institutionen dabei helfen, Güter effektiv für das Gemeinwohl zu nutzen. Wenn Menschen in Genossenschaften oder Räten organisiert sind, tendierten sie dazu, den gemeinsamen Reichtum zu erhalten und womöglich sogar zu mehren. In Teilen des Schweizer Alpenraums werden Allmenden nach solidarischen Regeln seit über einem halben Jahrtausend bewirtschaftet. Mit ihrer Forschung wandte sich Ostrom in erster Linie gegen Befürworter einer starken zentralstaatlichen Kontrolle, aber auch gegen Wirtschaftswissenschaftler, die zur Lösung des Allmende-Problems Privatisierungen bevorzugen. +Müsste es nicht aber auch ohne Organisation funktionieren, dass Menschen sich zum Beispiel um die Sauberkeit von öffentlichen Straßen und Plätzen kümmern, wenn sie selbst Sauberkeit gut finden? Psychologen haben interessante Hinweise darauf gefunden, warum das leider nicht so einfach ist: So neigen Menschen dazu, ab einer gewissen Verschmutzung eines Platzes selbst zur Vermüllung beizutragen. Das liegt da ran, dass Menschen das Verhalten anderer in der Regel imitieren. +Kommen wir an einen neuen Platz, suchen wir unbewusst nach Hinweisen auf vorherrschende Normen und Praktiken: Ist es hier üblich, Müll zu entsorgen, oder ist es okay, ein benutztes Taschentuch auf die Straße zu werfen? Der Psychologieprofessor Robert Cialdini machte ein Experiment, ob Autofahrer auf einem Parkplatz beim Einsteigen in ihren Wagen Flyer von ihrer Windschutzscheibe auf den Boden werfen oder ordnungsgemäß entsorgen. Das Resultat: Sahen die Autobesitzer kurz vor Einsteigen viel Müll auf dem Boden, ließen sie den Flyer auf den Boden fallen. War dieser sauber, hielten sie sich damit zurück. +Überhaupt ist unser Verhalten stark davon abhängig, zu welcher Gruppe wir gehören, welche Normen dort vorherrschen, wie wir uns dabei fühlen, welche Reaktionen wir von anderen erwarten und ob wir für Fehlverhalten möglicherweise bestraft werden. Das funktioniert besser, wenn die Gruppe klein ist. Bei größeren Gruppen – im Extremfall die Weltgemeinschaft – wird es schwierig, zumal die Identifizierung mit der Gruppe dann kaum möglich ist. +Das lässt sich gut am Beispiel des Klimawandels veranschaulichen. Obwohl alle Staaten der Welt ein Interesse daran haben müssten, die negativen Folgen des Klimawandels abzubremsen, wurde jahrzehntelang um ein gemeinsames Klimaschutzabkommen gestritten bis es schließlich im Dezember 2015 in Paris verabschiedet werden konnte. Viele Staaten hatten zuvor wirtschaftliche Einbußen befürchtet und fanden daher wenig Anreize, diese in Kauf zu nehmen, wenn sie sich nicht direkt von den Folgen des Klimawandels betroffen sahen. Das änderte sich erst allmählich, als die Auswirkungen des Klimawandels fast überall zu spüren waren, so etwa auf den Finanzmärkten. Doch kürzlich – nach US-Präsident Donald Trump – stellte nun auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdo˘gan das Pariser Klimaschutzabkommen wieder infrage. +Vielleicht müssen die Zerstörungen durch den Klimawandel noch größer werden, damit die Weltpolitik drastische Maßnahmen zum Schutz des Klimas trifft. Den Mathematikern Francisco Santos und Jorge Pacheco zufolge ist die gemeinsame Wahrnehmung eines Risikos besonders hilfreich, damit Menschen zusammenarbeiten. +Wirklich gut funktioniert das in kleinen Gruppen. Aber auch viele kleine Initiativen können etwas bewegen: Vernetzen sie sich nämlich, können sie gemeinsam in der Gesellschaft vorherrschende Normen beeinflussen. +Das gilt für die Weltpolitik, aber auch übertragen auf die WG-Küche: Lokale Institutionen wie wöchentliche WG-Treffen, eine gemeinsame Einkaufskasse sowie Absprachen zum Abwasch und solidarische Regelungen für die Mietkosten erhöhen in den meisten WGs sicherlich auch die Sauberkeit. Das garantiert zwar nicht, dass nicht ab und zu mal jemand den Käse der Mitbewohner aus dem Kühlschrank isst – aber im Einzelfall kann man das auch mal ertragen. + + diff --git a/fluter/kann-eine-offene-beziehung-funktionieren.txt b/fluter/kann-eine-offene-beziehung-funktionieren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2dd83f29a5d508df803e50e6ed1cf475749c3fcf --- /dev/null +++ b/fluter/kann-eine-offene-beziehung-funktionieren.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Wir sagten: Wir machen das, ab jetzt. Weil es mich so begeisterte, was wir taten, wollte ich gleich alles darüber wissen. Ich las Friedemann Karig, der in "Wie wir lieben" die Monogamie als "das kranke Modell" bezeichnet. Offene Beziehungen, so Karig, würden Paare hingegen "unverwundbar" machen. Das leuchtete mir ein. Wer von niemandem Treue erwartet, der kann auch nicht belogen und verletzt werden – oder? Solche Fragen stellte ich nun trium­phierend meinen fest gebundenen Freunden. Und ich meinte, dass es sie auch ein wenig neidisch machte. +Nicht mehr in einer exklusiven Liebesbeziehung zu sein war wie der Welt mit offenem Visier entgegenzutreten. Schlimme Gefühlewie Eifersuchtoder Verdächtigung? Hatte ich für mich abgeschafft. Mit 25 entsprach ich nun einem modernen Bild, wie es derzeit in Netflix-Serien ("Easy") oder Pop-Romanen ("Allegro Pastell") von meiner Generation gezeichnet wird. +Ich glaube sogar, dass das letztlich ausschlaggebend war: Wir, Leah und ich, wollten etwas tun, das als zeitgemäß gilt. Es fühlte sich intuitiv richtig an. Und das gute Gefühl hielt auch eine Weile vor, wie ein High, bei dem man sich nie fragt, ob es jemals endet. Aber irgendwann verstanden wir, dass in unserer Beziehung, als wir sie geöffnet hatten, etwas abhandengekommen war, das wir niemals als gefährdet angesehen hätten: die Wahrheit. Ich will das erklären. +Alles begann mit der "Nicht fragen, nicht sagen"-Regelung. Wie in jeder Liebesbeziehung, die keine sexuelle Exklusivität beinhalten soll, mussten wir uns darauf einigen, wie wir über Sex mit anderen sprechen wollten. Es dem anderen einfach ungefragt erzählen? Das kam uns ungut vor. Denn kleinere Verletzungen, da waren wir uns einig, waren ja vielleicht doch nicht auszuschließen. Wir wussten nicht, wie es sich anfühlen würde, wenn der andere zum ersten Mal eine andere Person datet, küsst, sich vielleicht in sie verguckt, vielleicht mit ihr schläft. Ich wusste, dass ich nicht unvorbereitet damit konfrontiert werden wollte. Also hielten wir fest: Don't ask. Don't tell. +Es vergingen einige Wochen, bis wir zum ersten Mal unser neues Beziehungsmodell auslebten. Ich traf, wie erhofft, Sophia, wir schliefen miteinander, es war wunderschön und genauso, wie wir es uns immer vorgestellt hatten. Auch Leah schlief mit einem anderen Mann, was mich ehrlich freute. Dass es mir gut damit ging, merkte ich auch daran, dass ich den anderen nichtauf Instagram stalkte. Ich war, wie Karig es versprochen hatte: unverwundbar. Dachte ich. +Aber wenn man zusammenlebt, ist es gar nicht so einfach, Dinge zu tun, von denen der andere nichts erfahren soll. Ich hatte da einen gewissen Vorteil: Leah wohnte die halbe Woche in einer anderen Stadt. Ich konnte mein Leben also gut strukturieren in klassische Beziehungstage – und Eskapismus. +Für Leah war das nicht so leicht, ich war ja immer da. Und so begann ich mit der Zeit, Verhaltensmuster wiederzuerkennen, die mich erahnen ließen, wann sie den anderen Mann traf. Meistens war es freitags, dass sie sagte: "Ich gehe mit Freundinnen etwas trinken", aber ich nur hörte: "Und danach treffe ich noch jemanden." +Ich hätte in solchen Momenten nachfragen können. Oder sollen? Das wusste ich irgendwann nicht mehr. Es störte mich, dass wir nun dauernd nach Formulierungen suchten, in denen man etwas aktiv verschweigt und den anderen im Vagen lässt. Was unterscheidet bewusstes Weglassen überhaupt von einer Lüge? Wir justierten also noch mal nach. Von nun an galt: Alles erzählen. Die ganze Wahrheit, immer. +Eines Morgens, Leah war gerade eine Nacht weggeblieben, schrieb ich ihr: Alles gut? Und: Gestern Date gehabt? Ich schrieb ihr, weil ich nicht warten wollte, bis sie es erzählte. Ich war aufgewühlt, weil mir unsere Regeln plötzlich unsinnig vorkamen. Ich blickte nicht mehr durch. Und ich merkte schon beim Schreiben, dass es völlig egal war, wann oder was sie antworten würde, denn ich kannte ja schon die Antwort. +Einige Wochen redete ich mir noch ein, dass es perfekt so sei: eine Beziehung, die nicht an Unehrlichkeit scheitern kann. Die immun gegen Verletzungen ist, unverwundbar. +Doch dann merkte ich, dass die Liebe für mich einer der letzten Lebensbereiche ist, in denen man sich eben nicht immunisieren muss. Unsere Gegenwart,in der gleichzeitig Rechtsextreme Auftrieb habenundein Virus die Welt lahmlegt, nehme ich als andauernde Krise wahr. Private Rückzugsorte werden damit wichtiger. Für mich müssen das Orte sein, an denen man eine besondere Erfahrung macht: verwundbar zu sein, ohne verwundet zu werden. +Liebe bedeutet für mich genau das: schwach werden, sich weggeben. Und dann erleben, wie man trotzdem nicht verletzt wird. In einer offenen Beziehung, in der alles entgrenzt und erlaubt ist, ist das aber in meinen Augen unmöglich. +Ein paar Monate später fühlte sich unsere Liebe abgestumpft an. Wir trennten uns und zogen auseinander, sie nahm die Auflaufform mit und ließ mir den Standmixer da. Wir hatten Sexualität, Nähe oder Anziehung außerhalb unserer Beziehung gefunden und mussten sie dadurch nicht mehr innerhalb aushandeln. Wir wollten frei sein. Näher zusammen brachte uns das nicht. + diff --git a/fluter/kann-ich-das-tragen.txt b/fluter/kann-ich-das-tragen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..02abbbb18887860b4e0c041b582b177a3133f2f2 --- /dev/null +++ b/fluter/kann-ich-das-tragen.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Und nach und nach regte sich auch in den konsumstarken Ländern der Widerstand: In China sind schon seit 2008 besonders dünne Beutel verboten, Kalifornien hat Anfang Oktober ein Gesetz gegen Einwegtüten erlassen. Und in Deutschland soll Kiel bald plastiktütenfrei werden, das hat der Stadtrat im September beschlossen. +Aber: Was bringt so ein Verbot überhaupt? "Papiertüten sind zwar ökologisch abbaubar, verbrauchen aber unterm Strich mehr Energie, Wasser und Chemie bei der Herstellung", sagt Thomas Fischer von der Nichtregierungsorganisation Deutsche Umwelthilfe. Keine Optimallösung also, aber immerhin eine Alternative. Und die müsse man unbedingt anbieten, damit sich überhaupt irgendetwas verändert. +Für den Fischhändler Sahabuddin Ahmed aus Bangladesch scheinen Papiertüten keine Alternative zu sein. "Es ist unmöglich, darin frischen Fisch zu tragen." Auch Jutebeutel sind für ihn keine Option, weil sie schlichtweg zu teuer sind. Sie kosten rund das Zehnfache einer Plastiktüte. Umweltaktivisten beklagen zudem, dass die verbotenen Polyethylentüten noch immer im Umlauf sind – und das angeblich sogar mit Hilfe von lokalen Behörden – gegen ein bisschen Schmiergeld. Muhammad Maududur Rashid Safdar, Direktor der Umweltbehörde der Stadt Dhaka, versichert: "Wir führen laufend Kontrollen in Geschäften und Fabriken durch, die Polyethylentüten herstellen und verkaufen könnten." Die Produktion sei seit deren Einführung als Verpackungsmaterial im Jahr 1982 noch nie so gering gewesen. +Wie geleckt sehen die Straßen in vielen Teilen Kigalis in Ruanda aus. Das einstige Bürgerkriegsland hat sich zu einem Vorzeigeschüler der Vereinten Nationen gemausert – als eines der saubersten und fortschrittlichsten Postkonfliktländer in Afrika. An seiner Spitze steht Paul Kagame, der das Land mit autoritärer Hand regiert und nur wenige Kritiker zulässt. So wird auch in Sachen Plastiktütenverbot hart durchgegriffen – etwa an den Grenzen zu den Nachbarländern. Dort wird sogar das in Plastik verpackte Toastbrot in Papiertüten umsortiert. +Da auch der Schwarzmarkt in Ruanda immer weiter wächst, sollen nun vor allem die Händler verfolgt werden: "Wir wollen Inspektoren einsetzen, die nicht nur Plastiktüten beschlagnahmen, sondern auch die Dealer festnehmen können", sagte ein Mitarbeiter der ruandischen Umweltmanagementbehörde der Tageszeitung "New Times". Aber nicht nur Strafen sollen die Problematik der Tüten ins Bewusstsein rücken. Seit einigen Jahren wird Kindern in Schulen erklärt, wie gefährlich so ein paar Gramm Polyethylen sind. Und dort hören sie vielleicht auch, dass die Industriestaaten verglichen mit all diesen Bemühungen echte Entwicklungsländer sind. +Marion Bacher volontiert bei der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) im Fachbereich Multimedia. diff --git a/fluter/kann-mal-bitte-jemand-die-aura-der-freiheit-komponieren.txt b/fluter/kann-mal-bitte-jemand-die-aura-der-freiheit-komponieren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d68bd66037c4464a2a8ae6430cd36cec82e87ead --- /dev/null +++ b/fluter/kann-mal-bitte-jemand-die-aura-der-freiheit-komponieren.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Denn der Verlust der Freiheit betrifft nicht nur die Kreativen, sondern auch die Konsumenten. Und es betrifft, so Balzers These, nicht nur den kommerziell erfolgreichen Pop, sondern alle Bereiche des Lebens, denn in der Musik spiegelten sich gesellschaftliche Entwicklungen unmittelbarer als in allen anderen Kunstformen. Pop sei der ideale Seismograf der digitalen Moderne. Vor allem für die "Verschränkung von Konsum und Kontrolle im total gewordenen Digitalkapitalismus", klagt Balzer, sei die Popmusik Vorreiterin. Das werde etwa augenfällig bei den modernen Festivals, bei denen der Musikliebhaber mit Armbändern, die jedes Bier und jede Bratwurst registrieren, zum markierten Herdentier und durchleuchteten Konsumenten wird. +Dem entgegen setzt Balzer eine, wie er es nennt, "Ästhetik des Verschwindens". Die diagnostiziert er im Auftreten von Superstars wie Beyoncé, die sich bei ihren Auftritten hinter einem Aufmarsch von Tänzern zu verstecken scheinen. Er findet sie aber auch und vor allem in den extremen Spielarten der aktuellen Avantgarde. Die sind für Balzer Heilsbringer, weil sie der Popmusik, wie man sie kennt und sie trotz Absatzkrise immer noch die Charts prägt, Auswege aus der kreativen Sackgasse aufzeigen, indem sie die altbekannte Popästhetik (Songstrukturen, Starprinzip) radikal auflösen. +Um Entwicklungen wie dieser nachzuspüren, hat Balzer Konzerte besucht. Konzerte in großen Hallen von globalen Popstars wie Céline Dion ("paradigmatische Beknacktheit"), von Helene Fischer ("mega-eklektische Multimediakünstlerin") oder Sting ("hypernervöse Hektik des Mittelschichtsbürgers"), aber auch Konzerte in kleinen Clubs von avantgardistischen Lärmwerkern wie SunnO))) ("Minimalismus der Mittel") oder Harfe spielenden Folk-Revolutionärinnen wie Joanna Newsom ("lange Lieder von Vergänglichkeit, Verfall und Verrat"). Man merkt, Balzer liebt die Alliteration. +"Pop – Ein Panorama der Gegenwart", Rowohlt Berlin, 256 Seiten, 20 Euro + +Mehr liebt er nur noch das Liveerlebnis. Der 1969 geborene Balzer schöpft für "Pop" vornehmlich aus seinem reichen Fundus an Konzertkritiken, die er für seinen Arbeitgeber, die "Berliner Zeitung", in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten geschrieben hat. Ein Ansatz, der nicht falsch ist, denn auf der Bühne manifestiert sich die aktuelle Popmusik. Allerdings nicht nur dort: Viele der innovativsten und prägendsten Musiken der Gegenwart werden, der modernen Technik sei Dank, fernab von Bühnen in Wohnzimmern für den Dancefloor entwickelt. Das Kaleidoskop, das Balzer zu zeichnen versucht, ist also ein eingeschränktes. +Vor allem aber verläuft, wie Balzer einmal schreibt, "die Zeit in den Paralleluniversen des Pop in sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten". Dieses grundsätzliche Problem kann auch der leidenschaftliche Konzerthopper Balzer nicht lösen. Sein Buch findet nicht zu einer kausalen Erzählung, das Kaleidoskop fügt sich nicht wirklich zum schlüssigen Gesamtbild, sondern bleibt eine Sammlung von Schlaglichtern, die vieles über den modernen Pop erzählt, aber eben nicht alles. +Das ist aber nicht so sehr der Fehler des Buches, sondern der des Pop selbst. Früher gab es große Erzählungen, weltweite Phänomene wie Punk oder zuletzt Techno, die den Pop radikal neu definierten. Das hat sich geändert: Heute erzählt Pop nicht mehr eine große Geschichte, sondern viele kleine Storys. Er hat sich, Ausdruck des digitalen Zeitalters und der damit einhergehenden Aufsplitterung der Welt, in Nischen zurückgezogen. Selbst seine globalen Stars besitzen nur noch eine eingeschränkte Relevanz: Elvis kannte einst jeder, einen Kanye West heute längst nicht mehr alle. Aber gerade in seiner Entwicklung zur Nischenkunst ist der Pop ein Abbild einer sich verändernden Welt und so gesehen tatsächlich wohl eine höchst zeitgemäße Kunstform. Das kann man bei Balzer sehr unterhaltsam und oft witzig nachlesen, auch wenn das versprochene "Panorama der Gegenwart" unvollständig bleiben muss. +Thomas Winkler schreibt schon so lange über Popmusik, dass er noch jene Zeiten erlebt hat, in denen man glaubte, mit dem Indie-Rock-Modell, das Jens Balzer ins einem Buch beerdigt, die Welt retten zu können. diff --git a/fluter/kann-man-davon-leben.txt b/fluter/kann-man-davon-leben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b6221014c0d94cf3ed197810847d9e0e1c466f6d --- /dev/null +++ b/fluter/kann-man-davon-leben.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Riesige aufwendige Scherenschritte gehören zu ihrer Arbeiten. "Im Gegensatz zu Kollegen, die ganz gelassen darauf reagieren, wenn der Strom abgestellt wird", erklärt Lena, spiele Sicherheit für sie eine große Rolle. "Erst dann habe ich die Ruhe, um arbeiten zu können." Im Zweifel kann sie sich auf das Freunde- und Künstlernetzwerk verlassen. +Situationen, in denen es eng wird, kennen die meisten Künstler. "Das Einkommen ist schwer vorherzusehen. Es gibt Dürreperioden, in denen man nichts verkauft, die man auffangen muss", sagt Manfred Kohlhaas vom BBK und nennt einige Möglichkeiten: In sozialen Notlagen hilft beispielsweise das Sozialwerk der Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst. Arbeitslosengeld II hingegen ist für die wenigsten eine Alternative, tatsächlich "arbeitslos" sind Künstler schließlich selten. +Auf die Verhältnisse von freiberuflichen Künstlern geht außerdem die gesetzliche Künstlersozialkasse (KSK) ein: Kunstschaffende müssen nur die Hälfte der Beiträge für Sozialversicherungen zahlen. Den anderen Teil zahlen "Kunstverwerter" wie Galerien oder Verlage. Ein bisschen Sicherheit schaffen außerdem Förderprogramme: Städte vermieten günstige Atelierräume, eine Vielzahl an Stipendien von Firmen, Museen, Kommunen oder Kunstvereinen verspricht eine kurz-, manchmal mittelfristige ideelle und finanzielle Förderung. +Wer eine Galerie gefunden hat, gehört unter den Berufsanfängern zu "den wenigen Glücklichen", sagt Julian. Der Galerist fungiert als eine Art "Manager". Die Beziehung kann ganz unterschiedlich sein, genauso wie die geschäftliche Vereinbarung. Feste Verträge oder gar "Verkaufsgarantien" gibt es äußerst selten. Üblich ist eine hälftige Gewinnverteilung. Dafür investiert der Galerist in Pressearbeit, Vernissagen, Kunstmessen und nutzt sein Netzwerk. Im besten Fall baut er den Künstler langfristig auf. Klarheit zu vielen der oft nur mündlichen Absprachen zu Gewinnbeteiligung, Transportkosten oder Ausstellungsarbeit schaffen die vom Verband der Galeristen 2010 veröffentlichten Grundregeln der Zusammenarbeit. Zum anderen werden die Leitlinien kritisiert, da sie Künstler stärker an den Kosten beteiligt sehen. Lena ist glücklich mit ihrer Galerie in Münster, rät bei einem Übermaß an Vorleistungen aufzupassen und "sich nicht alles gefallen zu lassen". +Den Wert von Kunst zu berechnen, ist schwierig - und sensibel. "Das ist das Riesenproblem, man hat keine Vergleichbarkeit", sagt Julian. "Ich habe zwar eine Anzahl von Stunden, die ich tatsächlich am Bild male, aber dazu gehört noch alles andere." Etwa: die Beschäftigung mit der Arbeit, Ideen konkretisieren, reflektieren, Ausstellungen vorbereiten. Sogenannte Faktorberechnungen, die je nach Art des Werks (Papier, Leinwand) Höhe und Breite mit einem bestimmten Faktor multiplizieren, dienen eher dazu, die Werke desselben Künstlers vergleichen zu können. Am Ende erfolgt die Preisfestlegung sehr individuell mit dem Galeristen – und der Frage: Was will und muss ich dafür nehmen? +Grundsätzlich besteht der Kunstmarkt aus Primär- und Sekundärmarkt. Der erste bezeichnet den Markt der Galerien. Der zweite den der Auktionshäuser, auf dem die Erstverkaufspreise nicht unbedingt eine Rolle spielen. Verkaufte beispielsweise Gerhard Richter 1964 eines seiner Werke noch für 450 DM, ist es heute circa acht Millionen Euro wert. +Neben dem Bekanntheitsgrad geht es bei der Preisbestimmung auch darum: Wer sammelt? In welchem Museum taucht der Künstler auf? Weiter fließen Zustand der Werke, ihre Seltenheit (lebt der Künstler noch?) und die Nachfrage in die Schätzung ein. Diese lasse sich dann in einem festen Rahmen sehr klar beziffern, bestätigt Marie-Kathrin Krimphoff von artnet, einer internationalen Transaktionsplattform für den Kunstmarkt. Als Senior Specialist kuratiert sie Auktionen und schätzt moderne, zeitgenössische Kunst für den weltweiten Markt. +Ganz linear jedoch schlägt das Kunstmarktpendel nicht immer aus. "Der Kunstmarkt ist unglaublich lebendig und immer in Bewegung", sagt Krimphoff, die die wichtigen Kunstmessen von Basel über Köln bis New York im Blick hat. Das heißt zum einen: Die Gefahr, dass eine neue "Kunstblase" platzt, lässt sich nicht zu hundert Prozent ausschließen. Zum anderen bedeutet diese Vielfalt, dass jeder seine Nische finden kann. Spezialisierte Sammler gibt es beispielsweise auch für Videokunst, die als eher schwieriger zu verkaufen gilt. "Nur" auf den Künstler aufmerksam werden, müssen die Sammler. +"Marktorientierung kann nicht funktionieren", sagt die Kunstmarktexpertin Krimphoff. Die Trends und Mechanismen sind fragil. Verkaufen sich etwa Neonbilder gerade gut, bedeutet das noch lange nicht, dass jeder Künstler mit "Neon" Erfolg hat. "Es ist nach wie vor schwierig, eine eigene unverwechselbare Handschrift zu entwickeln und damit ein Künstler mit Wiedererkennungswert zu werden", so Krimphoff. +"Ich kenne es selber, dass man gesagt bekommt: 'Das Format verkauft sich gerade gut' oder 'Willst du nicht mit dieser Thematik weitermachen?' Damit umzugehen, ist ein Problem: Einerseits will man natürlich seine Bilder verkaufen. Andererseits will man sich nicht verkaufen." Ästhetische Entscheidungen, steht für Julian fest, dürfen nicht in die künstlerische Arbeit eingreifen. +Bisher läuft Lenas Tag dreigeteilt: Geld verdienen, Kunst machen und vermarkten. Kunst macht Arbeit. Denn sich vermarkten heißt mit seiner Arbeit präsent zu sein, sich auf Preise, Stipendien oder "Artist Residencies" zu bewerben; in der Kunstszene vorzukommen. "Vieles läuft über Vitamin B, Netzwerke oder man schüttelt irgendwo mal passend die Hand", sagt Julian. Will man es schaffen, dann entscheiden irgendwo auch zwei unbestechliche Variablen mit: Glück und Genialität – wissen die Mitspieler in der Kunst. "Alle Türklinken zu putzen, ist in der Branche eher verschrien. Das Durchdringen des Netzwerkes geschieht eher indirekt und ist nur bedingt von den Künstlern beeinflussbar", sagt auch Marie-Kathrin Krimphoff. +Sieben Jahre, sagte einmal der Direktor der Tate Modern Chris Dercon, habe ein Künstler Zeit, um Karriere zu machen: Fünf Jahre will Lena sich nehmen und hat Lust auf diesen Start. Irgendwo geht es ihr wie Julian, der sagt: "Ich kann es nicht absehen, es soll sich entwickeln. Im Grunde träume ich irgendwo auch den Traum, durch Kunst erfolgreich zu werden und davon leben zu können." +Petra Bäumer schreibt für Magazine und Zeitungen. Sie lebt in Köln. diff --git a/fluter/kann-man-deutsche-bevoelkerung-mit-bio-ernaehren.txt b/fluter/kann-man-deutsche-bevoelkerung-mit-bio-ernaehren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..985a4b127512a2439a69de42aabd3a0cd3419b67 --- /dev/null +++ b/fluter/kann-man-deutsche-bevoelkerung-mit-bio-ernaehren.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Und was und wie viel ist das? +In Deutschland wirft jeder durchschnittlich mehr als vier Kilo Fleisch und Wurst im Jahr weg. Sieben Prozent des Pro-Kopf- Fleischverzehrs macht das aus. Und was heute kaum mehr gegessen wird, sind vor allem Innereien und Tierteile wie Schweinsfüße oder Zungen. Da ist der Konsum über die letzten 30 Jahre um 90 Prozent zurückgegangen. +Für die Fleischproduktion braucht es ja jede Menge landwirtschaftliche Flächen ... +Ja, Futtermais ist beispielsweise auf fast einem Fünftel der Ackerfläche eine der größten Kulturen in Deutschland. Für die vielen tierischen Produkte, die gegessen werden, braucht man den Mais als gute Futterpflanze mit hohen Erträgen. Allerdings werden die Böden mit jahrelangen Maismonokulturen völlig ausgelaugt. +In Deutschland gibt es viele Menschen, die gegen den Einsatz von Pestiziden und Gentechnik sind. Wäre es denn möglich, die deutsche Bevölkerung nur mit Biolebensmitteln zu ernähren? +Wenn man weniger tierische Produkte isst, auf jeden Fall. Bei einer Umstellung auf Bio müsste der Konsum um 50 Prozent reduziert werden, damit Deutschland nicht mehr Land bräuchte. Wir sollten uns also die Frage stellen, ob wir wirklich so viel Fleisch, Milch, Käse und Eier essen müssen. Denn nur durch einen nachhaltigen Konsum können wir die Auswirkungen des Ernährungssystems auf die Umwelt verringern. Zum Beispiel gibt es durch die Düngung in der Landwirtschaft viel zu viel Stickstoff in den Böden. Das gesamte Produktionssystem ohne zusätzliche Veränderungen auf Bio umzustellen ist aber auch keine Alternative, weil wir dafür viel mehr Fläche benötigten. Deshalb brauchen wir eine Kombination, die die Produktion nachhaltiger macht und gleichzeitig die Konsumenten in die Pflicht nimmt. +Es geht also auch um Verzicht? +Das hört sich sehr negativ an. Sagen wir lieber, wir sollten die Tugenden Bescheidenheit und Klugheit attraktiv machen. So wie bisher können wir auf keinen Fall weitermachen. Es muss eine neue Wertehaltung her, die eine freiwillige Konsumreduktion und ein Bewusstsein für planetare Grenzen beinhaltet. Aber das dauert mindestens zwei Generationen. Beef Verfechter der Gentechnik weisen darauf hin, dass Landwirte mit Genpflanzen höhere Ernteerträge erwirtschaften können. +Wäre das eine Alternative, um weiter dieselbe Menge Fleisch essen zu können? +Auch mit Gentechnik können wir die Erträge nicht so hochschrauben, dass wir gleich viel Fleisch produzieren können. Das schafft man nicht. Und das Problem der Nährstoffüberschüsse in Ökosystemen wäre dadurch auch nicht gelöst. +Sind Bio- und Industrielandwirtschaft zwingend unversöhnliche Gegensätze? Kann man vielleicht beides intelligent miteinander kombinieren? +Das Wichtigste ist eine Lebensmittelproduktion, die weniger Auswirkungen auf die Umwelt hat, kombiniert mit einem Konsum, der weniger totale Menge braucht. Und das heißt: weniger Abfall und weniger tierische Produkte. Dann spart man sich nämlich all die Futtermittel wie Getreide und Soja. Auf der Produktionsseite können wir die Umweltauswirkungen durch verschiedene Maßnahmen minimieren. Dazu gehört der Biolandbau mit weniger Pestizid- und Stickstoffdüngereinsatz. Aber die konventionelle Landwirtschaft hat auch Innovationen zu bieten, die für den Bioanbau attraktiv sind. Zusätzlich müssen wir die Leistungen, die die Ökosysteme erbringen, nutzen und den Fokus auf Dinge wie zum Beispiel die Bodenfruchtbarkeit setzen. Bio kann auch hier viel bei- tragen. Wir brauchen gute Ansätze aus allen Systemen. +Hinzu kommt, dass wir immer mehr Flächen für Windräder und Solarzellen nutzen. Wird das Land für Getreide und Gemüse knapp? +Solar frisst auf jeden Fall Fläche. Man sollte die Anlagen deshalb zumindest so hoch konstruieren, dass sich darunter Hühner aufhalten oder dort auch Schafe grasen können. Sonst verliert man die Fläche ganz. Grundsätzlich gilt aber auch beim Energieverbrauch: Wir müssen versuchen, das System kleiner zu machen, also weniger Energie zu verbrauchen. diff --git a/fluter/kann-man-machen.txt b/fluter/kann-man-machen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..caa65df905e72246ce40ea1375185ef2375b8597 --- /dev/null +++ b/fluter/kann-man-machen.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Tritt eine Lehrerin vor die Klasse und sagt: "Guten Tag, ich bin die Lehrerschwemme. Seid ihr die geburtenschwachen Jahrgänge?" Der Witz bringt es auf den Punkt: Nur weil die Schülerzahlen sinken, gibt es noch lange nicht zu viele Pädagogen. Bis 2020 gehen laut Berechnungen des Bildungsforschers Klaus Klemm 467.000 deutsche Lehrer in Pension, es kommen aber nur knapp 300.000 nach. Schon heute ist fast die Hälfte des Kollegiums über 50. Wer Mathematik oder Informatik auf Lehramt studiert, wird sich seine Schule demnach aussuchen können – wenn er einen Master-Abschluss macht. Noch besser sind die Beförderungsmöglichkeiten an den Berufsschulen: "Viele Abiturienten wissen gar nicht, dass sich dort die gleiche Laufbahn eröffnet wie an Gymnasien", erklärt der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, in der "Welt". Zudem können Berufsschullehrer auch an Fachoberschulen oder Wirtschaftsgymnasien unterrichten. Der Unterricht ist deutlich praxisorientierter als am Gymnasium. Praktiker ohne Lehramtsstudium sind als Quereinsteiger willkommen. Die besten Chancen bieten die technischen und naturwissenschaftlichen Fächer, vor allem Metall- und Elektrotechnik. Nachfrage besteht aber auch in den "weichen" Fächern. Ein junger Essener Berufsschullehrer berichtet, dass an seinem Kolleg 2009 über 6.000 Stunden ausgefallen sind, "davon über 1.000 jeweils in den Fächern Sport, Politik und Religion". + +Nichts ist so teuer wie ein fehlender Ingenieur. Pro Jahr erwirtschaftet er das 1,7-fache eines durchschnittlichen Arbeitnehmers, hat das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) errechnet. Doch während bis 2020 fast eine halbe Million Ingenieure in den Ruhestand gehen wird, bilden die Hochschulen zu wenig Nachwuchs aus. Das kostet Deutschlandjedes Jahr mehrere Milliarden Euro. Das Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) prophezeit bis 2020 eine Lücke von etwa 380.000 Ingenieuren. Ganz besonders gesucht werden aller Voraussicht nach Bauingenieure, Verfahrenstechniker und Maschinenbauer. Noch gefragter sind Alleskönner wie der Vertriebsingenieur. "Es gibt einen sehr hohen Bedarf an Wirtschaftsingenieuren, die die Schnittstelle zwischen Entwicklung, Verkauf und Beratung besetzen können", sagt Carola Feller vom Maschinenbau-Verband VDMA. Die Kenntnis maßgeschneiderter Spezialmaschinen in Kombination mit sozialer Kompetenz ergäben einen "extrem anspruchsvollen Beruf", für den zunehmend Bewerber fehlen. Denn solange eine Sonderanfertigung in einer Werkhalle steht, muss sie gewartet werden – und sichert den Vertriebsprofis den Job. +Wie war das noch im Englischunterricht? "Nurse" = "Krankenschwester". Dabei stimmt das nicht mal zur Hälfte. Denn die Berufsbezeichnung "nurse" umfasst alle Pflegeberufe – und beide Geschlechter. Mangels eines besseren Ausdrucks könnte es in Deutschland bald sehr viele Nurses geben. Die bisherigen Berufsbilder Krankenpfleger, Kinderkrankenpfleger und Altenpfleger sind überholt. Laut Koalitionsvertrag sollen sie bald in einer modernisierten Ausbildung zusammengeführt werden. "Gebraucht werden Generalisten", sagt Johanna Knüppel vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK). Der Zukunftsforscher Matthias Horx nennt den neuen Job "Krankenschwester 2.0". Er glaubt, dass immer mehr Krankenschwestern die Aufgaben von Hausärzten übernehmen werden: "Es entsteht eine Mischform aus Arzt, Pfleger und Medizintechniker." Gebraucht werden sie dringend. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird in den Jahren ab 2020 von heute rund 2,4 Millionen auf über drei Millionen ansteigen. Der DBfK ist daher überzeugt: "Allein500.000 Pflegefachkräfte müssen in den kommenden 20 Jahren zusätzlich qualifiziert werden. Der Verband warnt aber auch: "Pflege ist ein harter Beruf", Schichtarbeit und körperliche Anstrengung gehören dazu. Zum Trost gehöre die "Krankenschwester" aber noch immer zu den Berufen mit dem höchsten Ansehen. +Neue Berufe entstehen genau dann, wenn sie gebraucht werden. Der 2008 ins Leben gerufene "Produktionstechnologe" wurde offenbar dringend gebraucht. Deutschlands Maschinenbau ist schließlich Weltspitze. Es fehlen nicht nur Ingenieure, sondern auch Facharbeiter. Als "Mechatroniker für Fortgeschrittene" vereint das neue Berufsbild nicht nur Mechanik und Elektronik miteinander, sondern schließt die Weiterbildung zum Prozessexperten gleich mit ein. Das heißt, dass der Mechatroniker Produkte von der Entwicklung über die Fertigung bis hin zur Lieferung begleitet. Sein Alltag besteht nicht nur aus Fräsen, Montieren oder Programmieren. Vielmehr arbeitet er eng mit den Entwicklern, Konstrukteuren und Kunden zusammen, kann sogar kreativ in die Arbeitsabläufe in der Fabrik eingreifen. Carola Feller vom VDMA ist überzeugt: "Das kann kein anderer Beruf bieten." +"Es muss nicht immer Hip-Hop sein, mach doch mal Metal!" Mit betont jugendlichen Slogans wirbt das Handwerk um Nachwuchs. Der Berliner Zukunftsforscher Steffen Kröhnert kennt den Grund: "Handwerk kann nicht globalisiert werden, es wird vor Ort gebraucht." Das Bundeswirtschaftsministerium rechnet bis 2020 mit einem zusätzlichen Bedarf von 1,8 Millionen Fachkräften. "Besonders stark betroffen" sei das Handwerk. Fehlen werden allerdings nicht die guten alten Rohrklempner, betont der Handwerksverband ZDH, sondern Hightechfachkräfte. Wachstum versprechen Angebote, die auf eine alternde Bevölkerung zugeschnitten sind, zum Beispiel Treppenlifte oder seniorenfreundliche Bäder. Auch umwelttechnische und energiebezogene Berufe böten "sehr gute Berufsaussichten", sagt Klaus Hahne vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB). Von diesem Milliardenmarkt profitieren laut Handwerkssprecher Alexander Legowski auch "Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik": Sie können Häuser nicht nur klimafreundlicher gestalten, sondern auch seniorengerechter machen – wenn sie sich für den richtigen Ausbildungsbetrieb entschieden haben. diff --git a/fluter/kann-weg.txt b/fluter/kann-weg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2caf6e3f8f890cbf86bf9fbc2ef05855df583409 --- /dev/null +++ b/fluter/kann-weg.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Und so wurde beim Bau der ersten drei Wohnkomplexe, wie die für mehrere Tausend Menschen ausgelegten Stadtteile hier heißen, geklotzt. Sie bieten Vorzeigearchitektur, häufig im Stil des sozialistischen Klassizismus, mit Torbögen und Arkadengängen, Säulen und Pilastern. Die Straßen sind großzügig angelegt, die meist viergeschossigen Wohnhäuser von geräumigen Grünanlagen umgeben. +Weit erstreckt sich die Stadt – und noch weitläufiger wirkt sie heute, da zwischen den Häusern oft triste Leere herrscht. Denn Menschen trifft man bei einem Spaziergang durch Eisenhüttenstadt nicht viele. Und gäbe es nicht die überfüllte Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge, wären es noch weniger. 27.552 Einwohner hatte Eisenhüttenstadt im November 2014; 1990, im Jahr der deutschen Wiedervereinigung, waren es noch über 50.000. +Danach brach die Wirtschaft der ehemaligen DDR zusammen. Das Stahlwerk arbeitet zwar bis heute, inzwischen betrieben vom luxemburgischen Weltmarktführer Arcelor-Mittal. Doch statt wie früher 12.000 Menschen sind nur noch rund 2.500 Leute hier beschäftigt. Vor allem für Frauen, von denen in der DDR viel mehr berufstätig waren,  gab es nach 1990 kaum noch eine Perspektive. Die Folge: Wer konnte, der ging. Und das waren vor allem die, die erst in den 1980er-Jahren hierher gekommen waren: die Jüngeren, die Qualifizierteren – wie in so vielen Städten in den neuen Bundesländern. +Was aber macht man, wenn die Stadt schrumpft? Als Erstes braucht man die Einsicht, dass die Leute nicht mehr wiederkommen – und erst recht keine neuen. Schon 1995 prognostizierten Stadtforscher eine solche Entwicklung für die neuen Bundesländer. Deshalb begann Eisenhüttenstadts Verwaltung 2011 damit aufzuräumen. Andere Städte in Ostdeutschland reagierten nicht so überlegt und schnell. "Die haben den Schuss nicht gehört", meint Gabriele Haubold, die den Rückbau mitorganisiert hat. +Eisenhüttenstadts spezielle Situation: Der historische Stadtkern bildet das größte -zusammenhängende Denkmalschutzgebiet in Deutschland. Bloß waren diese Musterwohnungen des Sozialismus fast alle unsaniert. Die später gebauten Plattenbauten am Rand hingegen sind moderner, außerdem hatten private Wohnungsgesellschaften nach der Wende in sie investiert. Deshalb nahm die Stadtverwaltung als einen ihrer ersten Schritte eine sogenannte Portfolioanalyse vor. Dabei wurden sämtliche Wohnkomplexe untersucht: Wie viele Menschen wohnen noch dort? Was steht leer? Wie viele Ein-, Zwei-, Dreiraumwohnungen werden benötigt? Wo wollen die Leute hin? Und was können sie zahlen? +Das Ergebnis: Man solle den Stadtkern aufgeben und den Rand stärken. Für Gabriele Haubold und die anderen Planer war das allerdings keine Lösung. Sie machten vielmehr -genau das Gegenteil: Im Innenstadtbereich wurde saniert – und am Rand gestrichen. Finanziert wurde diese Maßnahme auch vom Bund. Im Rahmen des Programms "Stadtumbau Ost" flossen seit 2002 insgesamt rund drei Milliarden Euro an ostdeutsche Kommunen. +Auf Vorher-nachher-Luftaufnahmen von Eisenhüttenstadt kann man inzwischen gut erkennen, was seitdem passiert ist: Im Stadtkern fehlen nur wenige Gebäude. In den Wohnkomplexen V und VI, die in Plattenbauweise errichtet wurden und kaum etwas mit der Eleganz der Innenstadt zu tun hatten, existieren hingegen ganze Häuser nicht mehr. Und vom Wohnkomplex VII ist praktisch nichts mehr übrig: Von einst 3.141 Wohneinheiten gibt es nur noch 342. Wenn man heute dort vorbeifährt, blickt man auf ein blühendes Wiesenmeer. Das Unkraut hat sich die Flächen längst einverleibt, und eine Gruppe Tauben fliegt in Formation darüber hinweg. Lediglich die Asphalttrassen der früheren Straßen lassen erahnen, dass hier einmal einige Tausend Menschen lebten. +Die Mieter in den städtischen Wohnungen wehrten sich anfangs. Sie gründeten Initiativen, sammelten Unterschriften, schrieben wütende Briefe an die Stadtverwaltung. "Im Rathaus werden die Toiletten saniert, aber unser Block soll weg", liest Gabriele Haubold aus einem dieser Schreiben vor. Sie zeigt sich wenig sentimental, dabei hätte sie sogar Grund dazu: In den 1980er-Jahren hatte die ausgebildete Architektin Haubold noch am Wohnkomplex VII mitgewirkt. +Eine Alternative zum Rückbau sieht sie nicht. Was würde es bringen, wenn eine Stadt aus vielen halb leeren Wohnungsblöcken besteht statt aus wenigen belebten? "Busse, Straßen-beleuchtung, auch die Freiflächenpflege, alles ist ja auf eine Einwohnerzahl ausgerichtet. Wenn Sie in einem Gebiet, das für 9.000 Einwohner vorgesehen war, nur noch 360 versorgen müssen, können Sie sich vorstellen, gibt's Probleme", erklärt Haubold. "Am Ende haben Sie dann eine Geisterstadt, wo aber noch eine Kita ist, weil es da noch drei Kinder gibt." Auch die Heizkosten in einem halb leeren Haus sind pro Haushalt höher, weil man für die leeren Nachbarwohnungen mitheizt. "Den Leerstand bezahlt man dann auch selber", fügt Gabriele Haubold hinzu. Aber das machten sich die wenigsten klar. "Eisenhüttenstadt war früher durch seine Zuzüge immer eine junge Stadt", sagt Haubold. Nun ist es eine alte: Nur 11,7 Prozent der Bewohner sind unter 18, dafür 28,7 Prozent über 65 Jahre alt. Der Durchschnitt liegt bei 49,1 Jahren, das ist rund fünf Jahre höher als der bundesdeutsche Bevölkerungsdurchschnitt. +Es gibt mittlerweile in Eisenhüttenstadt ein "Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR" mit über 170.000 Exponaten. Doch die Sache mit den "weichen Standortfaktoren" – also der Ansiedelung von Kulturangeboten oder anderen Dingen, die Eisenhüttenstadt vielleicht als Wohnort für Pendler nach Frankfurt an der Oder oder gar nach Berlin attraktiv machen könnten – will noch nicht so recht klappen. Eine Imagebroschüre bewirbt das "seit 1997 aufgeführte Musical ‚Schneemann Snowy'". +"Wir wissen nicht, ob wir alles richtig machen", gesteht Gabriele Haubold selbstkritisch, betont aber gleichzeitig: "Wir haben den Anspruch, keine sanierte Wohnung abzureißen, und das haben wir bisher durchgehalten." Elf Prozent Leer-stand wies Eisenhüttenstadt Ende 2014 auf. Eine Menge? Ohne den Rückbau von über 6.000 Wohneinheiten wären es über 30 Prozent. Auf 22.000 Menschen soll die Bevölkerung Eisenhüttenstadts Prognosen zufolge bis 2030 zurückgehen. Es wird noch mehr abgerissen. Und die Leute werden weiter schimpfen. "Der Stadtumbau ist immer noch negativ belegt. Sie werden wenige treffen, die sagen: Es ist okay", sagt Gabriele Haubold. Was es heißt, aus der eigenen Wohnung rauszumüssen, weil der Häuserblock verschwindet, weiß sie recht gut. Auch ihre Wohnung wurde abgerissen, anderthalb Jahre lebte sie in einem Übergangsapartment – bis die neue bezugsfertig war. diff --git a/fluter/kannst-du-dir-ausmalen-tool-eu-in-zahlen.txt b/fluter/kannst-du-dir-ausmalen-tool-eu-in-zahlen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..81cca4561d5093e6584b332d572b7cbdd3ef2b04 --- /dev/null +++ b/fluter/kannst-du-dir-ausmalen-tool-eu-in-zahlen.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Quelle +Seit etwa 2013 steigt die Zahl der Asylanträge in der EU. Die Mehrheit der Asylbewerber*innen kommt aus Syrien. Die meisten Asylanträge (ca. 25 Prozent) werden in Deutschland gestellt. Wenn man die Zahl der Asylanträge ins Verhältnis zur Einwohnerzahl setzt, nehmen Griechenland und Zypern die meisten Schutzsuchenden auf. Seit 2016 erreichen weniger Flüchtlinge die EU. Die Zahl der Asylbewerber*innen sinkt seither. +Ein Asylbewerber ist eine Person, die während des Berichtszeitraums einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat oder als Familienangehöriger in einen solchen Antrag einbezogen ist. + +Quelle +Die Rezession, die aufdie Wirtschaftskrisefolgte, hat insbesondere junge Menschen schwer getroffen. Im Jahr 2008 betrug der Anteil der arbeitslosen 15- bis 24-Jährigen in der EU 15,9 Prozent, 2013 erreichte er mit 23,8 Prozent seinen Höhepunkt. DieJugendlichen in Ländern wie Griechenland,Spanien und Italien litten besonders unter der Wirtschaftslage. +weiter zu→ Teil II diff --git a/fluter/kapitalismus-kinder-animal-crossing-new-horizons.txt b/fluter/kapitalismus-kinder-animal-crossing-new-horizons.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ae00d6f04b7eb2f66ae1908a6b4d735ecdc292f2 --- /dev/null +++ b/fluter/kapitalismus-kinder-animal-crossing-new-horizons.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Einen kurzen bösen Augenblick kippt der Ton der Erzählung. Genau ein Textfenster lang wirkt Tom Nook ehrlich bestürzt, irritiert, dass hier jemand meint, ohne die nötigen Sternis – so heißt die Währung in der niedlichen Welt – in ein Inselresort ziehen zu können. +Mehr zum Thema Games & Geld +Warum sogenannte "Lootboxen" in Games süchtig machen können +Vielleicht ahnen einige Kinder schon, dass ihre Eltern das Spiel sehr wohl bezahlt haben (es kostet 60 Euro) und dass sie in der kurzen Spielzeit nichts falsch gemacht haben können. Aber die kurze scharfe Spitze am Anfang dieserinteraktiven Weltfluchtführt bestimmt zu roten Wangen und weiten Augen in den jungen Gesichtern. Dann kommt die eigentliche Pointe: Tom Nook findet seinen fröhlichen Ton wieder. Natürlich ist das alles gar nicht schlimm, es gibt einen Plan, alles abzubezahlen – mit Lohnarbeit. Erledigt man Dinge für Nook, werden einem sogenannte "Nook-Meilen" angerechnet. Die Lektion, die Spieler – egal welchen Alters – dabei lernen: Wer freundlich ist, der muss das nicht aufrichtig meinen. Vielleicht steckt einfach nur finanzielles Interesse dahinter. +Am 20. März ist "New Horizons" für die Switch erschienen, die "Animal Crossing"-Serie (das neue Spiel ist das fünfte in der Reihe) hatte diese Pointe aber schon immer. Sie inszeniert die Idylle als Falle: Spieler wandern in ein Dorf aus, das von sprechenden Tieren bewohnt wird. Hier gehen sie spazieren, pflegen Freundschaften, angeln, jagen Insekten, fällen Bäume, jäten Unkraut. Alles in dieser Welt sieht nett und bunt aus. Misstöne? Gibt es kaum. +Umso bedrohlicher ist die Figur des turbokapitalistischenImmobilienhaisNook. Er gibt allen Spielen der Serie den selben Rhythmus: Zuerst heißt er Spieler willkommen, dann gibt er ihnen einen Wohnraum, der anschließend abbezahlt werden muss. Doch kaum hat man eine Schuld getilgt, nervt Nookmit dem nächsten Extra, der nächsten Erweiterung, für die man sich in Schulden stürzt. +Dieser Zahlungsdruck lauert unter der Oberfläche jedes Spielzugs. Ein bisschen angeln gehen, sich Zeit lassen, die Stille genießen – das können die Spieler zwar. Aber wer trödelt, der bezahlt nicht einmal das Smartphone ab. Und wer faul ist, der kann sich auch kein Haus leisten.Der schläft im Zelt. Derweil haben die Nachbarn inzwischen ein Haus. Spricht man sie darauf an,prahlen sie, wie viel Platz sie jetzt hätten: Sie wohnen jetzt auf der Insel, statt hier nur zu hausen. +Natürlich macht das Eindruck.Natürlich will man jetzt auch ein Haus.Ab welchem Alter Spieler eine ironische Ebene erkennen können? Zumindest werden einige Kinder wohl merken, dass die Insel zwar schön, dass Schmetterlinge zu fangen toll und Dekorieren witzig, aber Tom Nook irgendwie doof ist. +Wie steht Nintendo zu seiner Figur? In einem Interview mit der Technikseite The Vergeverteidigt der Produzent Hisashi Nogami den Immobilienhai: Er sei "fürsorglich", aber eben "erwachsen" und deswegen "vorsichtig im Umgang mit Geld". Nogamis Gesichtsausdruck bei dem Interview ist nicht überliefert. Wenn er das ernst meint, begreift er den Kapitalismus wohl als Naturzustand und sein Spiel als ein Erziehungswerkzeug. +Denn: Wer möglichst viel interagiert, der wird belohnt. Das wirkt zuerst befreiend – schließlich gibt es unzählige Möglichkeiten, Geld zu verdienen. Aber es ist auch ein schleichendes Gift: Jede Begrüßung, jedes selbst entworfene Design ist nicht nur Ausdruck der Freude, es ist auch eine kalkulierte Interaktion, um dringend benötigte Meilen zu verdienen. Die Spieler lernen: Nichts hat einen Wert an sich; Sternis und Meilen sind es, was zählt. +Dass einer von Nooks Lehrlingen Schlepp heißt, könnte aber die eine oder andere Stirn zum Runzeln bringen. Und auch, dassmanche Jobs wirklich sinnlos sindund die Werbung für das Spiel als schmieriges Teleshopping inszeniert ist. Vielleicht erkennen Spieler die mehr oder weniger absichtlich eingestreute kritische Dimension. Die logische Konsequenz? Sie müssten aufhören, "Animal Crossing" zu spielen. Das ginge dann aber doch sehr weit. Das Spiel hat schließlich 60 Euro gekostet. + +"Animal Crossing" ist am 20. März für Nintendo Switch erschienen. + +Titelbild: Nintendo diff --git a/fluter/kapitalismus-sprache-wirtschaft-interview-sahner-staehr.txt b/fluter/kapitalismus-sprache-wirtschaft-interview-sahner-staehr.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..80e77321431ad2998af2ca6c9f1fccfe21a3b227 --- /dev/null +++ b/fluter/kapitalismus-sprache-wirtschaft-interview-sahner-staehr.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +Simon Sahner: Wir sehen das auch, wenn wir überFinanzkrisensprechen, die wie ein "Sturm", ein "Tsunami" oder "Hurrikan" auf uns zukommen. Gerade Naturkatastrophen-Metaphern tragen einen großen Teil dazu bei, dass der Eindruck entsteht, der Kapitalismus funktioniere nach physikalischen Naturgesetzen und habe unvermeidbare Folgen. Das stimmt aber einfach nicht. +Wir leben aber eben im Kapitalismus. Wieso ist es dann problematisch, wenn wir auch kapitalistisch sprechen? +Simon: Wenn wir diese kapitalistische Sprache nicht reflektieren, dann vergessen wir, wie uns der Kapitalismus beeinflusst und welche negativen Folgen er hat. Wir wollen mit diesem Buch den Kapitalismus nicht abschaffen. Das ist utopisch und naiv und von heute auf morgen gefährlich. Es geht uns darum, ein Bewusstsein zu schaffen. Denn Sprache ist immer auch eine Stütze von Systemen. Und wenn man sich nicht über diese Systeme und ihre Sprache im Klaren ist, dann nimmt man etwas als einfach gegeben hin und setzt sich damit nicht weiter auseinander. +Im Buch heißt es, dass der "Markt" eines der machtvollsten Bilder sei, die der Kapitalismus hervorgebracht habe. Inwiefern? +Daniel: Der Markt ist ein Konzept, das beschreibt, wie Preise gebildet werden: Man hat eine Gruppe, die etwas nachfragt, eine zweite bietet etwas an, und eine dritte sorgt dafür, dass sich alle an die Regeln halten. Das ist an sich eine sinnvolle Vereinfachung. Das große Problem an der Marktmetapher ist aber, dass Politiker*innen und Interessenvertretungen über den Markt sprechen, als hätte er ein Eigenleben: Wir seien dem Markt "ausgeliefert", wir müssten die Märkte "beruhigen". Dabei funktioniert der Markt nach von uns als Gesellschaft festgelegten Regeln. Wenn wir sprachlich so tun, als würde der Markt außerhalb des Staates existieren, ist das gefährlich, weil wir als Gesellschaft unsere Handlungsmöglichkeiten beschneiden. Denn wir könnten jederzeit unsere marktwirtschaftliche Grundordnung ändern, wenn es dafür die demokratischen Mehrheiten gäbe. Indem man sich das bewusst macht, erhält man als Gesellschaft ganz viel Verantwortung zurück. +"Die Sprache des Kapitalismus" von Simon Sahner und Daniel Stähr erscheint am 13. März im Verlag S. Fischer +Die alltägliche Phrase "Geld verdienen" haltet ihr auch für problematisch. Inwiefern? +Simon: Die Aussage beinhaltet, dass ich genau die Leistung erbringe, die dieses Gehalt rechtfertigt. Und es ist ein kapitalistischer Gedanke, dass Leistung immer auch gleich ein bestimmtes und gerechtfertigtes Gehalt liefert. Wenn man sprachlich penibel sein will, sollte es heißen, dass wir einen Lohn erhalten. Denn ob ein Profifußballer oder eine Pflegekraft ihr Gehalt "verdient", ob es sich also um einen gerechten Lohn für ihre Tätigkeit handelt, ist ein ganz anderes Thema. +Zur kapitalistischen Sprache zählt ihr nicht nur einzelne Formulierungen, sondern auch ganze Erzählungen, zum Beispiel Aufstiegsgeschichten, die in sozialen Medien sehr präsent sind. +Daniel: Diese Geschichten sind, plakativ gesagt, ein Opium für die breite Masse. Sie wird beruhigt mit der Verheißung, dass jeder es irgendwie schaffen kann. Dieses Leistungsprinzip ist das Grundgerüst des Kapitalismus, ohne dieses Versprechen funktioniert es nicht. Dabei wissen wir, dass es nicht stimmt. +Simon: Die Erzählung vom Tellerwäscher zum Millionär ist ein solches und dazu extrem starkes Narrativ. Eines der besten Beispiele ist Elon Musk, der zwar sehr viel Kritik erfährt, aber auch eine riesige Fangemeinde hat. Bei seiner Geschichte wird selten miterzählt, dass viele seiner Erfindungen auf Grundlagenforschung beruhen, die von Universitäten oder der NASA kamen. So entsteht eine kapitalistische Erzählung, die unvollständig ist. +Es wird sehr hitzigüber Sprache diskutiert, manche finden, sie sollte gendergerecht und diskriminierungsfrei sein, andere lehnen das ab. Wie passen eure Ideen da hinein? +Daniel: Es wird der Sprachkritik häufig vorgeworfen, dass Sprache kaputt gemacht oder verkompliziert werden soll. Aber uns geht es nur darum, dass man endlich anfängt, genau zu sprechen, und Dinge so benennt, wie sie sind. +Simon: Wichtig ist auch, dass diese Reflexionen nichts mit sprachlicher Kontrolle zu tun haben, sondern einfach mit Bewusstsein. Genauso wenig, wie ich jemanden dazu zwingen kann, inklusiv zu gendern, kann ich jemanden dazu zwingen, nicht mehr zu sagen, dass die Preise steigen. +Ihr werft der kapitalistischen Sprache vor, ideologisch zu sein. Aber ihr unterstützt den Vorschlag der Millionenerbin Marlene Engelhorn und des Vermögensforschers Martin Schürz, von "überreich" statt von "superreich" zu sprechen. Ist das nicht auch alles andere als wertfrei? +Daniel: Jede Sprache ist ideologisch. Unsere Kritik ist nicht, dass die kapitalistische Sprache ideologisch ist, sondern dass viele Leute so tun, als wäre sie objektiv und wertfrei. Wir müssen endlich anfangen, das klar zu benennen. +Simon: Das Wort "super" hat im Deutschen eine positive Konnotation. Wenn man sich aber anschaut, welche Effekte ein solcher Reichtum hat – wir sprechen nicht von zwei oder drei Millionen Euro Vermögen, sondern von Hunderten Millionen oder Milliarden –, dann kann man wissenschaftlich nachweisen, dass von diesen Menschen sehr viele klimaschädigende Verhaltensweisen ausgehen und dass ein solcher Reichtum schlecht für die Gesellschaft ist. Das ist nicht super. Deshalb kann man argumentieren, besser von "überreich" zu sprechen. +Was würde sich verändern, wenn wir anders über Wirtschaft und Geld sprechen? +Daniel: Gerade wenn wir anders über Finanz- oder Wirtschaftskrisen oder das Bekämpfen der Klimakatastrophe sprechen, wären wir in der Lage, mutigere Entscheidungen zu treffen – etwa Unternehmen oder Banken zu verstaatlichen oder zu zerschlagen, wenn sie zu einer Gefahr für unsere Demokratie werden. +Simon: Außerdem würde sich die Angst verringern, über bestimmte Veränderungen nachzudenken. Der Kapitalismus ist sehr stark darin, es möglichst schwer zu machen, sich Alternativen vorzustellen. Selbst in der Kritik an ihm, die er zulässt. Noch gilt der Kapitalismus als natürlicher Grundzustand der Wirtschaft. Wenn man die Sprache reflektiert und sie anders verwendet, dann könnte man von dieser Angst wegkommen und den Weg frei machen für eine drastische Veränderung des Systems oder mögliche Alternativen. +Daniel: Viele Menschen erkennen die Fehler des Kapitalismus. Aber es gibt keine mehrheitsfähigen Konzepte, was stattdessen kommen soll. Wenn wir unsere Sprache reflektieren, ist es der erste Schritt, um ein besseres System zu gestalten. + +Daniel Stähr, geboren 1990, ist Ökonom und Essayist. Er promoviert an der Fernuniversität Hagen. + +Simon Sahner, geboren 1989, ist freier Autor, Literatur- und Kulturwissenschaftler und Mitherausgeber des feuilletonistischen Onlinemagazins "54books". + + +Titelbild: Heinrich Holtgreve/OSTKREUZ; Portraits: Stefan Gelberg diff --git a/fluter/karl-may-maci-nergiz-interview.txt b/fluter/karl-may-maci-nergiz-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c9551350f9524e05e5ff91aabbe0a03ce1b96ef6 --- /dev/null +++ b/fluter/karl-may-maci-nergiz-interview.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +Mazlum Nergiz: Enis hatte mir um Weihnachten 2016 vom Cover des Magazins der Deutschen Bahn erzählt. Der Schauspieler Wotan Wilke Möhring war darauf als Old Shatterhand verkleidet abgebildet. Es ging um ein Remake von "Winnetou"(der dreiteilige Fernsehfilm "Winnetou – der Mythos lebt" lief um Weihnachten 2016 auf RTL, Anm. d. Red.). +Enis Maci: Vorher hatte ich zwar von Karl May gehört, wusste, dass es Winnetou gibt und Mayein ominöses Buch geschrieben hat, das in Albanien spielt, aber mehr nicht. Dann kam dieses Cover mit dem Titel "Jeder Mann braucht einen Blutsbruder". Das war der Anfang unserer Recherche und von allem, was folgte: Wir haben das Karl-May-Museum in Radebeul besucht, waren bei den Karl-May-Festspielen in Bad Segeberg und an den Originalschauplätzen der Winnetou-Filme in Kroatien. +Mazlum Nergiz: Mit Beginn dieser Recherche habe ich mich zum ersten Mal bewusst mit seinen Texten und den Karl-May-Verfilmungen auseinandergesetzt. Für mich war May am Anfang selbst eine Projektionsfläche. Ich wusste, dass er sich mit dem "wilden Kurdistan" beschäftigt hat, dass Jesiden auftauchen … +Enis Maci: … dass Leute ihre Kinder seinetwegen als Indigene verkleiden. + +Mazlum Nergiz: Als wir einmal begriffen hatten, was für ein großes Themennetz sich um Karl May spannt, wurde es interessant. Wir beschlossen, unsere eigene Landkarte zu zeichnen. +Enis Maci: Das Buch erzählt gewissermaßen die Geschichte davon, wie wir an dem Thema hängen bleiben. Im Theaterstück geht es dagegen mehr ums Hochstapeln an sich. Denn May war ja selbst ein Hochstapler, frei nach dem Motto: Wenn ich meine eigene Geschichte nur oft und laut genug erzähle, dann wird sie wahr. Er wollte ein anderer werden. Eigentlich ist er bitterarm aufgewachsen, war kleinkriminell und kam mehrmals ins Gefängnis (Karl May beging als junger Mann, nachdem ihm wegen einer Kleinigkeit die Lehrerlaubnis entzogen worden war, Diebstähle und Betrügereien, wegen denen er insgesamt fast acht Jahre in Haft saß, Anm. d. Red.). Daraus hat er sein Erzählprinzip entwickelt. Dass er immer weiter log, brachte ihn ganz nach oben. +In den vergangenen Jahrengab es immer wieder Diskussionen, unter anderem über Rassismus und Frauenfeindlichkeit in Karl Mays Werk. Die einen verteidigen ihn, die anderen wollen nicht, dass seine Bücher weiter gelesen werden. Wie seid ihr mit der Lektüre umgegangen? +Enis Maci: Je länger wir gesprochen und geschrieben haben und ins Denken gekommen sind, desto mehr wurde May auch zu einem Gegenstand unseres Lebens. Wir konnten ihm dadurch unmöglich nur ablehnend gegenüberstehen. Was das konkret Politische angeht, haben sich unsere Standpunkte durch die Arbeit eigentlich nicht verändert. Dazu, welche kulturellen Praktiken aus der Karl-May-Rezeption in Deutschland entstanden sind, also dass sich Kinder als Indigene verkleiden zum Beispiel, oder zu seinen rassistischen Ressentiments. Aber natürlich ist er eine faszinierende Figur, an der man viel deutsche, europäische und Klassen-Geschichte ablesen kann. Natürlich musste ich ihn am Ende auch ein bisschen lieben. +May schreibt über die Blutsbruderschaft von einem deutschen Abenteurer und einem Indigenen, über Länder der arabischen Welt, sogar über Südamerika. Wie gut wusste er Bescheid? +Enis Maci: Am Anfang dachte ich: Karl May, das ist schlecht recherchierter Kolonialkitsch, der die Indigenen Amerikas durch hohle Projektion überhöht und verächtlich ist gegenüber dem sogenannten Orient. Natürlich ist es komplizierter. Gerade in seiner Recherche war May sehr genau. Seine Ressentiments gegenüber verschiedenen Personengruppen können auch als Konsequenz seines Quellenstudiums begriffen werden. Was ihn nicht von seiner Verantwortung entbindet. Allerdings kannte er die Orte, von denen er schrieb, nur aus Quellen. An den meisten ist er nie gewesen. Wenn wir ihn sprechen hören, etwa von den deutschen Siedlern in Amerika oder von den Armeniern oder Jesiden, dann hören wir auch das deutsche Kaiserreich sprechen, dessen Spuren wiederum bis in unsere Zeit reichen. +Mazlum Nergiz: Er hat sich wirklich stapelweise Bücher, wissenschaftliche Aufsätze, Enzyklopädien, Landkarten nach Radebeul, wo er wohnte, schicken lassen und sehr genau ethnografische Bücher studiert und sie teilweise wortgenau in seine Romane eingebunden. Er hat sich zumindest im "Orientzyklus" nicht die Mühe gemacht, die historischen Ereignisse zu fiktionalisieren, zum Beispiel den Teil über die Unterdrückung der jesidischen Kurden. +In eurem Essay erwähnt ihr, dass Mayeinerseits gegen die Armenier*innen hetzteund sich andererseits mit den Jesid*innen überidentifizierte. Wie kam es zu diesen extremen Haltungen? +Mazlum Nergiz: May hört durch sein wissenschaftlich-ethnografisches Selbststudium plötzlich von dem Volk der Jesiden und ihrer brutalen Unterdrückung. Er war davon so berührt und emotionalisiert, dass er es sich zum Auftrag machte, sich mit seinen Abenteuerromanen für die Sache der Jesiden einzusetzen. Gleichzeitig hat er zu einer Zeit geschrieben, in der in Deutschland ein extrem armenienfeindlicher Diskurs stattfand. Diesen Diskurs hat er wiederum in seinen Romanen regelrecht nachgemacht. Deswegen gibt es auch diese von Ressentiments getränkten Äußerungen über die Armenier. + +Enis Maci: Mays Ansatz war immer ein naiver. Er war einer, der sich selbst nach Jahrzehnten des Erfolgs als Underdog betrachtete. Als läse er von den Jesiden und dächte sich: Die sind Underdogs genauso wie ich, darüber schreibe ich. Es gab da eine seltsame Sympathie. Eigentlich hat das nichts zu tun mit dem Kampf, den er selbst in der Gesellschaft ausgefochten hat. Aber in seinen Werken kommt es irgendwie doch zusammen. May hat Geschichten erzählt, mit denen man in andere Welten reisen kann, in denen es keinen Staat, keine Lohnarbeit, keine aktiv handelnden Frauen und so weiter gibt. Diese Geschichten sind aber gleichzeitig eingebettet in Landschaften, die von Gewalt, kolonial geprägten Grenzziehungen und Genozid geschändet waren. +Mazlum Nergiz: Er verließ damit die bürgerliche Ordnung, ohne sie zu verletzen. +Auch bei den Geschichten über Winnetou und Old Shatterhand? +Mazlum Nergiz: In der Konstruktion der Indigenen ist er seiner Harmoniesucht verfallen. Die Beziehung zwischen Winnetou und Old Shatterhand ist geprägt von Brüderlichkeit und Aufopferungsbereitschaft: Die ehrlichen Weißen und die edlen Ureinwohner vereinigt im Kampf gegen die Bösen, Geldgierigen unter den Kolonialisten … +Enis Maci: Er ersetzte den Genozid an den Ureinwohnern in Nordamerika durch diese Koalition, die es nie gab. Es gibt in seinen Texten ausgewählte Bösewichte und demgegenüber viele ehrenwerte Siedler, die nur ein gutes Leben wollen. Damit machte sich der Sachse May auf perfide Art den amerikanischen Traum zu eigen. +Mazlum Nergiz: Es ist interessant zu beobachten, wo er in seinem Quellenstudium akkurat blieb und wo er in die komplette Fiktion und fast schon in eine Gegenwirklichkeit und Gegendarstellung abdriftete. +Was ist nach all der Recherche eure Antwort auf die Frage, warum Karl Mays Bücher heutzutage immer noch gelesen werden? +Enis Maci: Seit Generationen lesen Menschen diese Bücher in ihrer Kindheit und geben sie wiederum an ihre Kinder weiter. Die kindliche Begeisterung ist einer der Gründe. +Mazlum Nergiz: Außerdem ist Karl May eine Art Meme, das in unserer Gesellschaft durch die Relektüre, aber auch durch neue Filme wie den mit Wotan Wilke Möhring konstant reproduziert wird. Aber ein Hauptgrund für den Erfolg von Karl May ist in unseren Augen die Faszination daran, ein anderer werden zu wollen und zu sein. Dieses erzählerische und psychologische Element bei May ist unglaublich gegenwärtig. Auf eine Art war er ein Influencer seiner Zeit. +Das Buch: "Karl May" von Enis Maci und Mazlum Nergiz ist in der Edition Suhrkamp erschienen. +Das Stück "Karl May" läuft an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. +Enis Maci, Jahrgang 1993, ist Essayistin und Dramatikerin. +Mazlum Nergiz, Jahrgang 1991, arbeitet als Autor und Theatermacher. +Titelbild: Wassili Franko; Portraits: Max Zerrhan diff --git a/fluter/karneval-in-rio-fast-abgesagt.txt b/fluter/karneval-in-rio-fast-abgesagt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..031d0e37d7749351feddeb68d91d97cf60fc029f --- /dev/null +++ b/fluter/karneval-in-rio-fast-abgesagt.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Die Situation beruhigte sich wieder etwas, als private Spender und Unternehmen bekannt gaben, für einen Teil des fehlenden Geldes aufkommen zu wollen. Zwischenzeitlich wollte auch die Regierung in Brasilia finanziell aushelfen, zog ihre Unterstützung Ende des letzten Jahres aber wieder zurück. Das meiste Geld kommt jetzt vom Taxidienst Uber, der als Profiteur der Wirtschaftskrise in Brasilien gilt. +Die Sambaschulen bereiten sich monatelang auf den großen Tag im Sambódromo vor, wo sie sich an Karneval miteinander messen werden. Steven Harper, der seit vielen Jahren in Brasilien lebt und Choreograf bei der Sambaschule Mangueira ist, erklärt, wie das auch mit weniger Geld funktionieren soll: "Durch Kreativität! Wir haben keine aufwendige Technik wie manche Schulen in den vergangenen Jahren", sagt Harper. "Und durch den Einsatz aller Leute, die mitmachen." +In der letzten Woche vor Karneval trafen sie sich mitten in der Nacht für Proben. Dann war es etwas kühler, und weniger Leute waren unterwegs, die ihre Kostüme sehen und die Überraschung verderben könnten. "Diesen Aufwand macht nur mit, wer Karneval wirklich liebt", sagt Steven Harper. +Laut Bürgermeister Crivella waren die Kürzungen unumgänglich. Tatsächlich steckt Rio in einer finanziellen und sicherheitspolitischen Krise. Auseinandersetzungen in den Favelas, den Randbezirken der Stadt, sind an der Tagesordnung. Drogenbanden liefern sich fast täglich Schießereien mit der Polizei. Allein im Januar wurden 640 Konfrontationen gemeldet. Die Polizisten der Stadt erhielten 2017 ihr ohnehin geringes Gehalt oft viel zu spät, manche Einheiten hatten nicht genug Geld, um ihre Dienstwagen zu betanken. Vom Optimismus, der während der Fußballweltmeisterschaft 2014 und der Olympischen Spiele 2016 in der Luft lag, ist nicht mehr viel übrig. +Viele Beobachter und Kritiker glauben, dass es Crivella mit seinen Kürzungen um etwas ganz anderes geht. Crivella ist ein ehemaliger Bischof der evangelikalen "Universalkirche des Königreichs Gottes", gegründet von seinem Onkel, dem Milliardär Edir Macedo. Und die hält von nackten Brüsten und berauschenden Nächten wenig. +Im traditionell katholischen Brasilien erleben evangelikale Kirchen seit ein paar Jahren einen starken Mitgliederzuwachs. Mittlerweile zählt rund ein Fünftel der Bevölkerung zu evangelikalen Gemeinden, die oft sehr darauf bedacht sind, ihre gesellschaftspolitischen Positionen in der Öffentlichkeit zu behaupten. Die Universalkirche des Königreichs Gottes, die ihren Hauptsitz in Rio de Janeiro hat, etwa besitzt ein großes Medienunternehmen. Immer mehr Menschen, die wie Crivella eng mit den evangelikalen Kirchen verbunden sind, nehmen Positionen in der Politik ein. + +Ihre Wahlerfolge lassen sich aber nicht nur durch den Mitgliederzuwachs der evangelikalen Kirchen erklären, sondern auch durch die starke Abneigung gegenüber den linken Parteien. Ein großer Korruptionsskandal in Brasiliens Politik hatte in den letzten Jahren zu Ermittlungen gegen Mitglieder des gesamten Parteienspektrums geführt. Der öffentliche Ärger trifft allerdings in erster Linie Mitglieder der Arbeiterpartei (PT), die 13 Jahre lang in der Regierung war. Es sind vor allem die ehemaligen Wähler der Arbeiterpartei aus den ärmeren Vorstädten, bei denen evangelikal-religiöse und häufig auch antipluralistische Ansichten wie von Crivella Erfolg haben. +Die Traditionen und Moralvorstellungen der evangelikalen Kirchen unterscheiden sich voneinander. So gilt die Universalkirche des Königreichs Gottes mit ihrem modernen Marketing, ihren Tänzen und der weniger strengen Kleiderordnung als vergleichsweise liberal. Mit der sexuellen Ausgelassenheit des Karnevals aber werden die allermeisten Kirchen nicht warm. Hinzu kommt, dass die Sambaschulen in ihren Paraden andere Religionen thematisieren, der Samba ist eng mit der afrobrasilianischen Kultur verwoben. +Marcos Lodi ist selbst Evangelikaler und begeisterter Karnevalsfan. "Viele Evangelikale fühlen sich unwohl mit dem Karneval. Das liegt aber vor allem daran, weil sie es nicht kennen", sagt er. "Die Paraden sind eigentlich fantastische Geschichtsstunden über die Geschichte Brasiliens." +In diesem Jahr steht bei den Sambaschulen allerdings weniger die Geschichte Brasiliens als ihre Abneigung gegen Crivella im Vordergrund. Als eine der kritischsten Schulen gilt Mangueira. Sie greift die finanziellen Kürzungen gleich in ihrem Motto auf: "Com ou sem dinheiro, eu brinco" – Ich spiele mit oder ohne Geld. Einer der Mangueira-Wagen sieht aus wie eine Bar, an deren Tresen verschiedene Heilige sitzen – religiöse Pluralität statt religiöse Intoleranz. Auch ein großes Thema in diesem Jahr: Glitzer, als Hommage an die LGBT-Bewegung. Die Administration Crivellas strich das komplette Sponsoring für die Gay-Parade. +Die Kürzungen haben aber noch einen anderen Effekt: Der Karneval verlagert sich wieder mehr auf die Straße. Anders als sonst üblich dürfen dieses Jahr nur zwei der 13 Sambaschulen eine offizielle Probe im Sambódromo veranstalten, um ihren Ablauf zu üben. Dabei ist perfektes Timing in den Wettbewerbskategorien unabdingbar. Die Paraden dürfen maximal 75 Minuten lang sein – brauchen die Schulen länger, droht Punktabzug. +Die Sambaschulen verlagern ihre Proben deshalb kurzerhand an öffentliche Orte, zum Beispiel auf die große Avenida Atlântica, die am Strand von Copacabana entlangführt. Das freut jenen Teil der Bevölkerung, der wegen der hohen Ticketpreise keine Gelegenheit hat, beim Karneval im Sambódromo dabei zu sein. +Dass Crivella nun kurz vor dem Karneval sein Image aufbessern wollte, interessiert viele Sambaschulen nicht im Geringsten. Im Fernsehen sang er wenige Tage vor dem Beginn des Treibens selbstironisch einen Samba-Klassiker mit abgeändertem Text vor: "Wer keinen Samba mag, ist kein guter Bürgermeister." Nach langem Hin und Her und nach Absprache mit Vertretern seiner Kirche hatte er angekündigt, an diesem Jahr ins Sambódromo zu kommen. Allerdings nicht, um Samba zu tanzen, sondern um die Infrastruktur zu überprüfen, wie er betont. "Danach wird niemand mehr sagen, dass Crivella den Karneval nicht mag, weil er gläubig ist", sagte Crivella über Crivella. Am Sonntag – einen Tag vor dem großen Umzug – verkündete er in einer Videobotschaft vom Flughafen in Rio, dass er doch nicht teilnehmen wird. Und flog nach Europa. + +Titelbild: MAURO PIMENTEL/AFP/Getty Images diff --git a/fluter/karparten-volk-huzulen-ukraine.txt b/fluter/karparten-volk-huzulen-ukraine.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..70f68ac6527d9df8a136a380f48bf803c02261ba --- /dev/null +++ b/fluter/karparten-volk-huzulen-ukraine.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Aufgrund ihrer langen Abgeschnittenheit entwickelten die Huzulen eine eigenständige Kultur mit eigenen Bräuchen und Überlieferungen. Das Übersinnliche, Mythen und Märchen sind heute noch in den Traditionen ihres Volkes lebendig. Ihre Sprache: ein ukrainischer Dialekt mit vielen eigenen Wörtern und Ausdrücken. Ihretraditionelle Kleidung: bunt bestickte Hemden und Blusen – oft noch von Hand gefertigt aus Schafswolle. Ihr Glaube: griechisch-katholisch, ukrainisch-orthodox oder eine Mischung daraus, oder überhaupt nichts. Außerdem ist der Glaube an Waldgeister, Hexen und Zauberer weit verbreitet. Ihre Musik: folkloristisch und mit vielen Instrumenten. Nicht selten werden bei Dorffesten Zymbal, der Dudelsack Koza oder die Sopilka-Flöte ausgepackt. +Einmal, vor fast 20 Jahren, horchte sogar halb Europa vor dem Fernseher auf: Was war das für eine verzauberte Musik, die Sängerin Ruslanabeim Eurovision Song Contest sang? Was für ein seltsam langes Horn wurde da anfangs von den Musikern geblasen? Die Huzulin Ruslana gewann den Wettbewerb von 2004, und viele hörten damals zum ersten Mal etwas von der Existenz dieses kleinen Volkes. +Seither ist es wieder stiller geworden rund um das touristische Zentrum der Huzulen, dessen Namen, Werchowyna, kaum jemand fehlerfrei aussprechen kann. +Viele der Schafhirten ziehen im Frühjahr wieder hinauf auf die Sommerweiden der Almen, und unten in den Tälern bereiten sie die kommenden Hochzeitsfeste vor. Und doch hat auch vor diesem Volk die Modernität keinen Halt gemacht. Viele junge Menschen ziehen in die Städte, um zu studieren oder zu arbeiten, und legen ihre traditionellen Trachten ab. Aber eines bleibt: Die Huzulen sollen zu den gastfreundlichsten Menschen der Erde zählen – das berichteten Reisende bereits vor über 150 Jahren, wenn sie in diesen abgelegenen Teil der Nordkarpaten kamen. Das ist heute nicht viel anders. Seit dem Kriegsausbruch wohnen nun auch Flüchtlinge aus Charkiw oder Kyjiw in den Dörfern. Es heißt, man hat sie aufgenommen wie gute Freunde. + +Titelbild: Kathrin Harms/laif diff --git a/fluter/kartenspiel.txt b/fluter/kartenspiel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/kartografie-meer-im-zentrum.txt b/fluter/kartografie-meer-im-zentrum.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/katakomben-serie-muenchen-joyn-rezension.txt b/fluter/katakomben-serie-muenchen-joyn-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bfd1d2d82e7b9c6d8e094dc3100eaa12743a4b7c --- /dev/null +++ b/fluter/katakomben-serie-muenchen-joyn-rezension.txt @@ -0,0 +1,8 @@ + +Wer in München lebt, kennt dieGeschichten über die "Katakomben"genannten Versorgungstunnel unter dem Hauptbahnhof, in die sichdrogenabhängige Menschenzurückziehen. Zugänge gibt es über U-Bahn-Schächte und Tiefgaragen. Anders als in anderen deutschen Städten wie Frankfurt, Berlin oder Hamburg gibt es in München keine Konsumräume, in denen Süchtige unter Aufsicht Drogen nehmen können. Das istseit Jahren ein Streitthemain der Stadt: KritikerInnen bemängeln, dass so die Abhängigen gezielt in die Unsichtbarkeit verdrängt würden – als würde das Problem verschwinden, wenn man es nur gut versteckt. +Am Anfang jeder der sechs Folgen wird die Nacht des Raves aus einer anderen Perspektive gezeigt. Eine Erzählweise, die derzeit in Film und Fernsehen etwas überstrapaziert wird (zuletzt sah man sie zum Beispiel in der ZDF-Serie "Tod von Freunden"), die aber trotzdem ihren Charme behält. Jedes Mal ergänzen neue Details das Gesamtbild, dadurch entwickelt "Katakomben" schnell einen starken Sog (Regie: Jakob M. Erwa, Head-Autoren: Jakob M. Erwa und Florian Kamhuber). Die ProtagonistInnen sind außerdem ambivalent und bleiben unvorhersehbar: Für ihre – teils – hehren Ziele überschreiten sie so einige moralische Grenzen. Da sieht man über so manches überstrapazierte Klischee (die verwöhnten Rich Kids mit Louis-Vuitton- und Prada-Tüten im Zimmer) und Binsenweisheiten ("Was bringt ein voller Kühlschrank, wenn man nie zusammen isst?") hinweg. +Diversität ist in der Serie ganz selbstverständlich – egal ob es um Hautfarbe oder Sexualität geht und ohne dass das thematisiert oder problematisiert wird. Formal ist "Katakomben" schön komplex: Zwischendrin gibt es Aussparungen und Sprünge und auch am Ende einige offene Fragen, die gern Anlass für eine Fortsetzung sein dürfen. + +"Katakomben" läuft ab dem 11. März auf Joyn Plus (die erste Folge kann man auch ohne Abo gucken) + +Titelbild: Joyn/Neuesuper/Arvid Uhli diff --git a/fluter/katalanen-unabh%C3%A4ngigkeit-spanien-konflikt.txt b/fluter/katalanen-unabh%C3%A4ngigkeit-spanien-konflikt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..00a1b5c80f5e5a0f0fc8e1b1c33c03fbffcf0a6b --- /dev/null +++ b/fluter/katalanen-unabh%C3%A4ngigkeit-spanien-konflikt.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Der Konflikt beruht auch auf der Zeit des spanischen Faschismus: 1936 putschten spanische Nationalisten mithilfe von deutschen Nationalsozialisten und italienischen Faschisten gegen die demokratisch gewählte Regierung. Nach einem dreijährigen Bürgerkrieg wurde unter Francisco Franco eine Diktatur errichtet, in der jegliche Opposition unterdrückt und regionale Kulturen verboten wurden – auch die katalanische. +Nach Francos Tod 1975 und dem von König Juan Carlos geleiteten Übergang zur Demokratie wurden die Verbrechen der Diktatur über Jahrzehnte kaum aufgearbeitet. Bis 2005 stand sogar auf einem Platz in Madrid eine sieben Meter hohe Statue des Diktators, der im Valle de los Caídos begraben wurde, einer monumentalen Gedenkstätte, in der neben dem Diktator Tausende im spanischen Bürgerkrieg gefallene Soldaten – Franco-Anhänger wie Kämpfer gegen den Faschismus – bestattet wurden. Erst im vergangenen Jahr wurde Franco nach anhaltenden Protesten umgebettet. +Dass die Zentralregierung in Madrid die Verklärung des Faschismus lange Zeit duldete, hat das Misstrauen der Katalanen gefördert – und damit auch den Wunsch, ihre eigene Geschichte zu schreiben. Dabei sei der falsche Eindruck erweckt worden, dass nur die Katalanen Opfer des Franco-Regimes gewesen seien, sagt José Ignacio Torreblanca, ein 52-jähriger Politologe. "Die schlimmsten Verbrechen passierten aber an der Frontlinie in Madrid, in Badajoz, in Andalusien und Extremadura, in Asturien und Galicien. Nicht am Rande des Landes, in Katalonien. Alle Spanier waren Opfer des Franquismus." Für Torreblanca spalten die katalanischen Separatisten mit ihren Opfererzählungen nicht nur die spanische Gesellschaft, sondern auch das europäische Projekt, das von der Überwindung der Kleinstaaterei lebt. So verbreitet beispielsweise ein Geschichtsinstitut in Barcelona Theorien, dass der Autor von "Don Quijote" Katalane war, die katalanische Originalversion aber von den Spaniern vernichtet wurde. Auch Christoph Kolumbus war ihnen zufolge Katalane, Leonardo da Vinci und William Shakespeare ebenso. Trotz dieser offensichtlichen Geschichtsfälschungen unterstützen Politiker und Organisationen, die der katalanischen Regionalregierung nahestehen, das Institut. +Die katalanische Gesellschaft ist gespalten. "Katalonien hat eine gemischte, zweisprachige Bevölkerung", sagt Torreblanca, "aberdas Projekt Unabhängigkeitfokussiert sich nur auf eine Hälfte." Tatsächlich würden nach jüngsten Umfragen rund 45 Prozent der Katalanen für und fast 47 Prozent gegen die Unabhängigkeit stimmen. Wobei sich der Teil, der die Unabhängigkeit will, in seinen Vorbehalten immer wieder von der spanischen Regierung bestätigt fühlt, die eine ernsthafte Thematisierung des Konflikts scheut und sich stattdessen hinter der Justiz versteckt und auf Gewalt setzt. +Oscar Bellera aus Barcelona, derbeim Referendum noch für die Unabhängigkeitstimmte, hat seine Meinung inzwischen geändert. "Als sie nach der symbolischen Abstimmung die Unabhängigkeit erklärten, wobei sie über alle Gesetze hinwegsahen und das Parlament auflösten, war das irgendwie totalitär", sagt er. "Es ging nicht mehr darum, fairere Lösungen für die Menschen in Katalonien zu finden, sondern einzig um die Unabhängigkeit." Wer nicht mitmache, sei ein schlechter Katalane. +Das Titelbild zeigt die Umbettung von Francos Leichnam. Foto: Getty Images diff --git a/fluter/katastrophen-humor-umgang-corona.txt b/fluter/katastrophen-humor-umgang-corona.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..95e421fa7a80b0122e62600ade9a4ba3717cc4c0 --- /dev/null +++ b/fluter/katastrophen-humor-umgang-corona.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Um uns nach dieser Form der Auflockerung zu sehnen, müssen wir also gar nicht direkt vom Elend betroffen sein. Regelmäßig sind wir mit Leid konfrontiert, das uns nur indirekt belastet. Und wenn wir dann alle gemeinsam geschockt oder überfordert sind – von einem Flugzeugabsturz, einemAnschlag, einem unerwarteten Tod –, suchen wir einen Weg um die unangenehmen Gefühle herum. Manche machen dann Witze – auch über die Katastrophe selbst. +Das kann ein Dilemma sein. Denn jede Person hat ein anderes Empfinden dafür, ob und wann genau es geschmacklos ist, über ein schreckliches Ereignis zu lachen. Ein eindrückliches Beispiel ist der 11. September 2001 – ein Ereignis, das in Echtzeit medial um die Welt ging. +Während schon am nächsten Tag im damals noch recht jungen Internet die ersten Witze über die Anschläge verbreitet wurden, schwieg die breite Öffentlichkeit erst mal andächtig. Lachen war zunächst so undenkbar, dass US-Satireshows und -magazine ihre Arbeit einstellten; der "New Yorker" erschien ohne seine berühmten Cartoons. Nur wenige Wochen nach den Anschlägen versuchte sich Comedian Gilbert Gottfried in einem New Yorker Comedy-Club an einem Comic Relief und erzählte einen Witz über 9/11: "Ich muss heute früher gehen, weil ich einen Flug nach Kalifornien nehmen muss. Ich kann leider nicht direkt hinfliegen – das Flugzeug macht einen Stopp am Empire State Building." Statt Lachern erhielt der Comedian nur Buhrufe und die Antwort einer Person aus dem Publikum, die ihm unmissverständlich "too soon!" – "zu früh!" – entgegenrief. +Knapp einen Monat nach den Anschlägen gab der damalige New Yorker Bürgermeister Rudy Giuliani in einer Ansprache dann die offizielle Erlaubnis, wieder zu lachen: "Ich bin heute hier, um euch das Lachen wieder zu erlauben. Und wenn ihr das nicht macht, lasse ich euch verhaften!" Witze über die Anschläge selbst kratzen aber vor allem in den USA bis heute an der Grenze des Sagbaren – zumindest außerhalb des Internets. Für manche Witze wird es vielleicht immer zu früh bleiben. + +Nach dem islamistischenTerroranschlag auf die Redaktion der Pariser Satirezeitschrift "Charlie Hebdo"im Januar 2015 änderten auf Facebook und Twitter Menschen weltweit ihr Profilbild zum "Je suis Charlie"-Schriftzug. Es beganneine Diskussion über den Unterschied zwischen ehrlicher Trauer und inszeniertem Mitgefühl,mit dem man sich online zu profilieren versucht. Selbst Mitarbeiter des Satiremagazins empfanden die Aktion als absurd. Eines der Gründungsmitglieder, der Zeichner Bernard Willem Holtrop, sagte in einem Interview: "Wir kotzen auf all die Leute, die sich plötzlich unsere Freunde nennen." Viele hätten noch nie eine Ausgabe von "Charlie Hebdo" gesehen. +Plötzlich prangte der "Je suis Charlie"-Schriftzug im Internet auf Bildern von Charlie Chaplin oder Charlie Brown von den Peanuts. Das sollte Kritik an den leichtfertigen Solidaritätsbekundungen in den sozialen Medien sein. So funktioniert Katastrophenhumor in den allermeisten Fällen. Grausamkeit und Bedrohung werden mit etwas Harmlosem, Banalem aufgelöst: King Kong auf den Twin Towers oder Kim Jong-un als Kleinkind mit einer Atomrakete. Diese Art des Humors erleichtert ungemein, aber bewegt sich schnell an der Grenze zur Verharmlosung. Viele Comedianssahen Donald Trump lange Zeit vor allem als ein Sprungbrett für beste Satire– dass er die US-Demokratie ins Wanken bringen würde, ging nicht selten unter. Und wie sieht es mit all denKlopapier- und Maskenwitzen zu Beginn der Pandemie aus? Waren sie nur Comic Relief oder Verharmlosung der Lage? +DasCoronavirushat bislang mehr als zwei Millionen Tote weltweit gefordert. Dennoch scheinen Witze und Memes über das Virus wenig Irritation auszulösen. Im Gegenteil: Corona-Bier oder falsch aufgesetzte Masken sind Running Gags. Selbst Songs über tote Omas,wie kürzlich in Böhmermanns Satiresendung, lösen keinen großen öffentlichen Aufschrei aus. +Das hat verschiedene Gründe: Bei einer Pandemie handelt es sich nicht um einen barbarischen Akt des Hasses, sondern um eine Naturkatastrophe. Corona kennt keine Schuldigen, die mithilfe von Humor moralisch haftbar gemacht werden könnten. Außerdem ist es die erste Krise des modernen Zeitalters, von der wirklich jede Person auf der Welt betroffen ist. Und über die eigene Misere  witzelt es sich oft am besten. diff --git a/fluter/katastrophenfilm-liste-klimawandel.txt b/fluter/katastrophenfilm-liste-klimawandel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dd1718b6cf595568f80f77f93ae9c36753c802d6 --- /dev/null +++ b/fluter/katastrophenfilm-liste-klimawandel.txt @@ -0,0 +1,71 @@ +Schönstes Zitat: +"Kaninchen! Nachdem wir so viel Zeit und Geld aufgewendet haben, um sie zu bekämpfen, erfährt man jetzt, dass sie zum Schluss gewinnen!" + + + +Da will man den Planeten mit unerschöpflichen Energiereserven versorgen und dann das: Weil das Experiment "Flashlight" in die Hose geht, findet sich der mitverantwortliche Wissenschaftler Zac Hobson eines Tages ganz allein im scheinbar menschenleeren Neuseeland wieder. Was den armen Hobson beinahe in den Wahnsinn treibt. Zwischenzeitlich sieht man ihn nur mit Nachthemd bekleidet einen bunten Redenmix von Adolf Hitler bis Queen Elizabeth vom Balkon schmettern, ehe er doch noch die Kurve kriegt und am Ende gar zwei weitere Überlebende findet, mit denen er schließlich die vermaledeite "Flashlight"-Anlage zerstören will. Dreimal dürft ihr raten, wer aus diesem Trio zum heldenhaften Selbstmordbomber wird. +Schönstes Zitat: +"Zac Hobson, 5. Juli. Erstens: Im Projekt "Flashlight" hat es eine Fehlfunktion gegeben, mit verheerenden Folgen. Zweitens: Es scheint, dass ich der einzige Überlebende bin." + + + + +Als "muffig reaktionär" hat der Kulturkritiker und glühende Cineast Georg Seeßlen einst Wolfgang Petersens "Outbreak" runtergeputzt, und spontan muss man bei dieser Beschreibung an Hauptdarsteller Dustin Hoffman alias Colonel Sam Daniels denken, der in seinem quietscheentengelben Schutzanzug tatsächlich aussieht, als müsste er die Welt nicht vor einem furchtbaren Ebola-Ableger bewahren, sondern jeden Moment damit beginnen, seine Steuererklärung zu machen. Wozu dann doch keine Zeit bleibt, schließlich droht neben dem Killervirus auch noch ein durchgeknallter General zur landesweiten Plage zu werden. Für das Virus findet sich ein Gegenmittel, der General kommt in den Knast. Problem abgeheftet. +Schönstes Zitat: +"Wenn das Virus sich ausbreitet, werden 250 Millionen Amerikaner sterben." + + + +Eigentlich will sich das Meteorologen-Supertalent Bill Harding ("Billy ist der verrückteste Hund, den es in der Branche gibt!") nur von der sturmerprobten Dr. JoAnne Thornton-Harding scheiden lassen, aber schließlich packt den verrückten Hund doch wieder das Tornado-Jagdfieber, und nur Minuten nachdem man Billy und Dr. JoAnne mit den Scheidungspapieren hantieren sah, lenken die beiden ihren Pick-up in gigantische Twister im Nirgendwo von Oklahoma, um endlich handfeste Daten für ihr Frühwarnsystem DOROTHY zu sammeln. Was am Ende – den von brüllenden Windhosen davongetragenen Tanklastwagen, Milchkühen und Statisten zum Trotz – natürlich gelingt. Sachliches Wikipedia-Fazit: "Beide beschließen, ihrer Ehe eine weitere Chance zu geben." +Schönster Dialog: +"Noch eine Kuh!""Nein, ich denke, das war dieselbe." + + + +Mike Roark alias Tommy Lee Jones leitet das Los Angeles County Office of Emergency Management. Und natürlich ist so ein Katastrophenschützer nichts ohne handfeste Katastrophe. Hier ist es ein Vulkan, der, klar, genau dann ausbricht, als Katastrophenschützer Mike endlich mal Urlaub machen will. Stattdessen stellt er sich dem unaufhaltsamen Magma, das sich durch die Straßen von L.A frisst. Doch was schon "unaufhaltsam", wenn Tommy Lee Jones die Hauptrolle besetzt?Mit flammenden Appellen treibt er als Roark sämtliche Sicherheitsorgane zu Höchstleistungen, die das Magma schließlich mit gewagten Sprengexperimenten in den Pazifik leiten. Gefahr gebannt, ab in den Urlaub. +Schönstes Zitat: +"Das Wort `Rückzug` will ich nicht hören!" + + + +Selten einen Film gesehen, der doch eigentlich die Auslöschung der menschlichen Spezies behandelt und dabei so viele erhobene Zeigefinger präsentiert. Der Astronom, der als Erster die drohende Gefahr des auf die Erde zurasenden Riesenkometen erkennt? Stirbt bei einem Autounfall, weil er das Handy am Ohr hat und einem Lkw-Fahrer die brennende Kippe in den Schritt fällt. Was gibt der dem Tod geweihte Raumfahrer seinem Sohn als letzte Worte mit auf den Weg, ehe er das mit Atomsprengköpfen versehene Raumschiff in den Kometen steuert? "Sei immer schön artig." Immerhin: Er und seine heldenhaften Kollegen retten schließlich den Planeten. +Schönstes Zitat: +"Das ist wirklich klasse. Noch nie hat jemand aus unserer Siedlung entdeckt, dass die Welt untergeht." + + + +Dennis Quaid lächelt. Jake Gyllenhaal lächelt. Aus, aus, aus, der Film ist aus. Verstört betrachtet man nach 118 Minuten diese Abschlussszene und fragt sich, ob Roland Emmerich nun ein Zyniker oder ein hoffnungsloser Optimist ist, wenn er seine Hauptdarsteller so zuversichtlich grinsend zeigt, nachdem soeben New York, Los Angeles und viele andere Küstenstädte von einer neuen Eiszeit überrascht und ausgelöscht wurden und eigentlich niemand wirklich sagen kann, wie lange die von Quaid und Gyllenhaal gespielten Jack und Sam Hall in diesem Winter-Wonderland noch überleben werden. Was soll's. Übermorgen ist auch noch ein Tag. +Schönstes Zitat: +"Ich glaube, wir haben einen kritischen Grad der Aussüßung erreicht." + + + +Wann wird's mal wieder richtig Sommer? Wir befinden uns im Jahr 2057, die Sonne droht zu erlöschen, und die Menschheit schickt mal wieder eine Kamikaze-Truppe ins All, um den Schaden zu beheben und den solaren Winter zu beenden. Auf ihrem Weg entdeckt die Besatzung der "Icarus II" die längst verglüht geglaubte "Icarus I" und auf ihr Beweise dafür, dass die Mannschaft von Kapitän Pinbacker kollektiven Selbstmord begangen hat, um, wie es der selbst ernannte Vollstrecker göttlichen Willens Pinbacker (der noch am Leben ist) im Video-Logbuch erzählt, dem tödlichen Schicksal der Menschheit nicht im Weg zu stehen. Den offenbar deutlich weniger gottesfürchtigen Crewmitgliedern der "Icarus II" gelingt es am Ende doch, mit einer gigantischen Bombe das Fusionsfeuer der Sonne neu zu entfachen. +Schönster Dialog: +"Menschliche Haut." +"Was?" +"80 Prozent des Staubs sind menschliche Haut." + + + + +Tief eingegraben in eine alte Kupfermine, wo sich betagte Kollegen von ihren Assistenten Eiswürfel bringen lassen, um die geplagten Forscherfüße zu kühlen, sieht der indische Wissenschaftler Dr. Satnam Tsurutani das Ende der Welt nahen. Einer heftigen Sonneneruption sei Dank, heizt sich der Erdkern immer weiter auf, schon bald werden die tektonischen Platten auseinanderbrechen wie eine mit dem Löffel bearbeitete Crème brûlée. Was schließlich viel früher passiert als eigentlich berechnet. Megatsunamis, Vulkanausbrüche, Erdbeben – der Zivilisation bleibt auch nichts erspart, aber irgendwie schafft es Filmheld Jackson Curtis (John Cusack) natürlich doch bis nach Tibet und dort in eine der heimlich gebauten Riesenarchen. Nicht dabei: der amerikanische Präsident, der vom Flugzeugträger "USS John F. Kennedy" erschlagen wird. +Schönster Dialog: +"Was ist das?" +"Hawaii." +"Nicht gut." + + + + +Gar nicht so leicht, sich nach all den Roland-Emmerich-Untergangsspektakeln mit einem Film auseinanderzusetzen, der die Folgen der Klimakatastrophen aus beinahe soziologischer Sicht vermitteln möchte. In diesem oscarnominierten Spielfilmdebüt des Regisseurs (und studierten Soziologen) Benh Zeitlin versucht sich das kleine Mädchen Hushpuppy am Überleben im überfluteten, vom Rest des Landes abgeschnittenen und dem Untergang geweihten Louisiana. Zeitlins Zeitzeugeneindrücke von den dramatischen Folgen des Hurrikans "Katrina" sind unübersehbar, neu sind die sich aus dem schmelzenden Polarkappeneis befreienden Auerochsen, imposante Urviecher, die selbstredend nur Heldin Hushpuppy zu stoppen vermag. Zumindest ein kleiner apokalyptischer Trost. +Schönstes Zitat: +"Geht etwas kaputt, selbst das allerkleinste Teil, geht auch das Universum kaputt." + +Weniger Fiktion, mehr Fakten zu Klimakatastrophen: +Heftig!Ein ganzer fluter nur zum Klimawandel +Warum manche den Klimawandel bezweifeln +Kompakt:Die wichtigsten Erkenntnisse der Klimaforschung +bpb-Dossier:Ursachen und Folgen des Klimawandels + +Titelbild: picture alliance/Everett Collection diff --git a/fluter/kate-beaton-ducks-%25C3%25B6lsande-kanada.txt b/fluter/kate-beaton-ducks-%25C3%25B6lsande-kanada.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..867582b91d0214676b44f74452eced0320d6b35f --- /dev/null +++ b/fluter/kate-beaton-ducks-%25C3%25B6lsande-kanada.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Die Stimme aus dem Off gehört dem 65-jährigen Lehrer Dieter Bachmann. Warum die Regisseurin Maria Speth in ihrem Dokumentarfilm ausgerechnet ihn begleiten wollte, klärt sich schon nach wenigen Minuten. Denn Bachmann ist keingewöhnlicher Lehrer. +"Manche behaupten, wir würden hier nur Musik machen", sagt er scherzhaft am Elternsprechtag. Und hat, als wolle er seinen Scherz gleich unterwandern, selbst in dieser Situation noch eine Gitarre in der Hand. Als Klassenlehrer ist Herr Bachmann auch für Deutsch und Mathe zuständig. Aber statt Diktaten oder Wahrscheinlichkeitsrechnung gibt vor allem die Musik im Schulalltag der 6b den Takt vor. Immer wieder gibt es Szenen, in denen Bachmann spontan einen Song intoniert. Dann wird wild durcheinandermusiziert. Einmal singt Stefi, die kurz nach ihrer Ankunft aus Bulgarien in Deutschland noch Sprachprobleme hat, mit ihrem Lehrer den Kanon "Hejo, spann den Wagen an". "Du hast richtig Talent", sagt er begeistert. "Du triffst perfekt den Ton bei dem ganzen Krach hier!" +Den richtigen Ton treffen: So ließe sich beschreiben, was Bachmann anderen Lehrer*innen voraushat. Empathisch geht erauf die Bedürfnisse seiner Schüler*innenein, lässt sie über eigene Erfahrungen sprechen, bewahrt sich mit ehrlichen Ich-Botschaften aber auch Respekt. Dabei wirkt der Pädagoge auf den ersten Blick weit weg von der Lebenswelt dieser neuen Generation von Schüler*innen: Im ACDC-Shirt und mit einer der täglich wechselnden Strickmützen auf dem Kopf blättert Bachmann in der Lesephase seiner Klasse in alten Karl-May-Bänden. Freilich: Solche Oberflächlichkeiten sind bloß Schubladen. Und es ist die besondere Stärke der dokumentarischen Form, die Speth für ihren Film gewählt hat – der sogenannten Langzeitbeobachtung –, die vielen Facetten eines Menschen abseits solcher Schubladen sichtbar zu machen. +"Herr Bachmann und seine Klasse"  läuft kostenlos in der bpb-Mediathek. Wir haben die Doku bereits 2021 anlässlich ihrer Berlinale-Premiere besprochen. +Maria Speth hat sich für "Herr Bachmann und seine Klasse" eine Menge Zeit genommen. Über ein komplettes Schulhalbjahr waren sie, Kameramann Reinhold Vorschneider und Tonmeister Oliver Göbel in der Klasse. Durch eine solche Dauerpräsenz wird ein Filmteam zwar nicht gleich unsichtbar, aber es steht irgendwann nicht mehr im Fokus der Kinder, sondern gehört zum Inventar wie die zahlreichen Gitarrenständer im Klassenraum. + +So kann Speth im beobachtenden Stil des "Direct Cinema", also scheinbar ohne Interaktion zwischen Kamera und Protagonist*innen, eine Modellkonstellation aus dem deutschen Schulalltag filmen: Die 6b steht vor dem wichtigen Übergang zur weiterführenden Schule. Wie an vielen Bildungseinrichtungen kommen etliche Schüler*innen aus Familien mit Migrationserfahrungen. Und ihre Lehrkräfte stehen mit Herrn Bachmann, in seinem letzten Jahr vor der Pension, und seiner jüngeren Kollegin Frau Bal für zwei Generationen Schuldienst. +So repräsentativ wie diese Koordinaten erscheinen auch die Probleme in der Klasse. Das Bildungsgefälle ist hoch und führt zu Frust, bei schulisch stärkeren genau wie bei schulisch schwächeren Schüler*innen. Manche Kinder vermissen ihre Heimat. Neuankömmlinge wie Stefi sind vom Stoff, den es aufzuholen gilt, überfordert. DerNotenzwangmacht auch Herrn Bachmann zu schaffen. Und schließlich gibt es Konflikte in der Wertevermittlung, wenn die Klasse – natürlich am Beispiel eines Lieds – im Unterricht über Homosexualität spricht. +Wie aber miteinander gesprochen wird, ist wohl eher ein Einzelfall im deutschen Schulsystem.Der Einfluss, den eine markante Lehrperson nicht nur auf Einzelne, sondern auf den sozialen Verband einer Klasse hat, zeigt sich in jeder Szene. Etwa wenn die Kinder mitten im Unterricht eine Gruppenumarmung machen, als eine Mitschülerin vom Tod ihres Opas erzählt. Wenn am Ende des Schuljahrs die Stühle hochgestellt werden, wünscht man diesen Kindern für ihre Zukunft einen weiteren Herrn Bachmann. + diff --git a/fluter/kate-beaton-ducks-%C3%B6lsande-kanada.txt b/fluter/kate-beaton-ducks-%C3%B6lsande-kanada.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d270caa537aca47fd8f347f92a281cb0ce51130a --- /dev/null +++ b/fluter/kate-beaton-ducks-%C3%B6lsande-kanada.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Kate Beaton: Sie sind ein großes Ölvorkommen in Alberta, in Nordkanada. Aber es handelt sich nicht um flüssiges Öl, sondern um eine Substanz namens Bitumen. Man sagt Ölsand dazu, weil das Bitumen mit der Erde vermischt ist. Um es aus dieser Erde zu gewinnen, braucht es chemische Prozesse und viel Hitze. Ein energieintensiver Vorgang mit einem großen CO2-Fußabdruck, der außerdem sehr teuer ist. Es ist ein "kontroverses" Öl. Aber wenn die Ölpreise auf einem Rekordhoch stehen, dann ist es dennoch profitabel für Unternehmen, es zu fördern. +Wenn man die Ölsande googelt, findet man Bilder höllischer Nicht-Landschaften. In Ihren sanft verlaufenen Zeichnungen sehen sie manchmal fast magisch aus. +Es gab solche Momente, während ich dort war. Momente, die sich anfühlten, als sei man auf einer Mondbasis. Mit all diesen hoch aufragenden Strukturen aus Licht und einem großen offenen Himmel darüber. Aber meistens nimmt man einfach nur Dreck wahr. Auch in der Luft. Überall nur brauner Schlamm. + + +Die Ölsande sind das drittgrößte Rohölvorkommen der Welt – nachÖlfeldern in Venezuelaund Saudi-Arabien. Welche Rolle spielen sie für die kanadische Gesellschaft? +Sie haben einen gigantischen Einfluss auf die kanadische Gesellschaft. Die Ölsande sind ein wirtschaftlicher Motor des Landes. Sie dominieren die Provinz Alberta, wo sich alles um Öl und Gas dreht. Und der Rest Kanadas ist damit ökonomisch verwoben. Aber die Ölgewinnung ist auch gefährlich. Wegen des ökologischen Schadens, der da entsteht. Es gibt Widerstand gegen die Ölsande und die Pipelines. Dochdie Ölunternehmenhaben einen großen politischen Einfluss, sie sind diejenigen mit dem Geld und den Jobs. +In Ihrem Buch erzählen Sie, wie Arbeiter*innen aus dem ganzen Land in die Ölsande kommen, um Geld zu verdienen. +Das ist tatsächlich so. Die Ölsande berühren die Leben aller Menschen in Kanada. Aber an der Frontlinie steht die indigene Bevölkerung, diefirst nations. Als die ersten Unternehmen in den Sechzigerjahren in die Ölsande kamen, gab es keine ordentliche Diskussion mit den indigenen Gemeinschaften, die dort lebten. Stattdessen wurden Versprechen gegeben, die dann gebrochen wurden. +Die zwei Jahre, die Sie in den Ölsanden gearbeitet haben, lesen sich im Comic auch wie die Geschichte einer politischen Bewusstwerdung. +Als ich dort ankam, war ich 21, hatte einen Uni-Abschluss, dachte, ich sei smart und gebildet, aber ich wusste nichts. In den ersten Tagen habe ich mich wie ein Reh im Scheinwerferlicht gefühlt. Diese Flut von langen Arbeitstagen, die Belästigungen als Frau in dieser Männerwelt, die Anstrengung, einfach nur den Kopf über Wasser zu halten. Erst im zweiten Jahr war ich in der Lage, mir des Kontextes bewusst zu werden, in dem ich arbeitete. Das Leben der anderen wahrzunehmen. Den größeren Zusammenhang von Arbeiter*innen, Unternehmen,Klasseund Macht. + + +Im Nachwort von "Ducks" schreiben Sie, dass die Ölsande "entweder als absolut gut oder absolut schlecht" beschrieben werden. Ihnen selbst gelingt es, ein komplexes Bild der Menschen dort zu zeichnen, überwiegend sind es Männer. War es schwer, so viel Empathie aufzubringen in Anbetracht der Diskriminierung und des Missbrauchs, den Sie selbst dort erfahren haben? +Nein, überhaupt nicht. Man verbringt Tage und Nächte mit diesen Leuten. Natürlich, es gibt viele, die ich nie wiedersehen will. Aber selbst bei denen, die nicht immer nett zu mir waren, kann man den Schmerz in ihren Leben spüren. Ich konnte irgendwann gehen, sie nicht. Sie waren an diesem Ort gefangen, der schrecklich war, für alle. Als wegen der sinkenden Ölpreise viele Arbeiter entlassen wurden, stieg die Selbstmordrate in Alberta. Weil diese Leute einfach nicht mehr wussten, wie sie außerhalb der Arbeitscamps überhaupt existieren konnten. Wenn du das hörst, weißt du, dass es hier ein größeres Problem gibt, als dass sich jemand dir gegenüber sexistisch verhält. Es gab auch viele Typen, die sagten: Ich mag nicht, wer ich hier bin. Dieser Ort bringt das Schlimmste in einem hervor. Ich will mich da auch nicht ausnehmen. Sicherlich gab es auch rassistische Vorfälle, die ich als weiße Frau nicht wahrgenommen habe. Jeder ist dort in seine eigene Einsamkeit eingewickelt. + + +"Ducks" landete in Nordamerika auf Bestenlisten und in den Lesetipps von Barack Obama. Hat der Erfolg des Buches die Debatte über die Ölsande in Kanada verändert? +Es ist noch zu früh, um das zu sagen. Die große Reaktion auf "Ducks" liegt auch darin begründet, dass man so selten Geschichten aus den Ölsanden zu hören bekommt. Es ist eine sehr isolierte Umgebung. Auf der einen Seite ist es der Motor des Landes. Gleichzeitig arbeitet man dort beinahe im Geheimen. Absichtlich. Wer dort fotografiert, wird gefeuert. Die Leute außerhalb wissen nichts über die menschlichen Beziehungen vor Ort. Oder darüber, was der Ort mit den Arbeitern macht. Ich hoffe also, dass es mehr Geschichten aus den Ölsanden geben wird. Und dass sich die Art und Weise ändert, wie wir in Kanada über Arbeit sprechen. +Nach all Ihren Erfahrungen: Würden Sie, wenn Sie noch einmal entscheiden könnten, wieder zwei Jahre in die Ölsande gehen? +Das ist schwer zu sagen, weil mein Leben ja das einzige Leben ist, das ich gelebt habe. Obwohl alles sehr schwierig war: Wenn ich nicht gegangen wäre, würde das bedeuten, nicht die Dinge über die Welt zu wissen, die ich heute weiß. Das ist ein Handel, den ich trotz der traumatischen Erfahrungen nicht bereit bin einzugehen: unwissend zu sein in Bezug auf den Kapitalismus, die Rechte Indigener, die Macht der Regierung und wie wir uns gegenseitig in Isolation behandeln – all diese Dinge, die ich in mir trage. Ich wäre nicht die Person, die ich heute bin. + +Kate Beaton, geboren 1983, wuchs auf einer Insel in der ostkanadischen Provinz Nova Scotia auf. Ihren Durchbruch als Comiczeichnerin hatte siemit dem Webcomic "Hark! A Vagrant". + +"Ducks – Zwei Jahre in den Ölsanden" ist als Gemeinschaftsproduktion der Verlage Zwerchfell und Reprodukt erschienen. diff --git a/fluter/kate-tempest-worauf-du-dich-verlassen-kannst.txt b/fluter/kate-tempest-worauf-du-dich-verlassen-kannst.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2b40c041465382a71578cf7a5b41dcdb66a56138 --- /dev/null +++ b/fluter/kate-tempest-worauf-du-dich-verlassen-kannst.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Neben allem anderen ist "Worauf du dich verlassen kannst" auch eine Liebeserklärung an London – vor allem an das London südlich der Themse, das immer noch weniger "posh" und mehr "working class" ist als die Stadtteile nördlich des Flusses und in dem Kate Tempest selbst aufwuchs. Auch die Protagonisten ihres Romans stammen von dort. Die schöne Becky, die Tänzerin ist und als Choreografin arbeiten möchte, aber ihren Lebensunterhalt mit erotischen Massagen verdient. Die um ein paar Jahre ältere, ziemlich toughe Harry, die zusammen mit ihrem Kindheitsfreund Leon Kokain an die Reichen und Schönen vertickt, während alle Welt glaubt, sie arbeite im Personalwesen. Der planlose Pete, der von der Stütze lebt, sich in Becky verliebt und vor Eifersucht fast umkommt, weil er sich einbildet, sie könne Sex mit ihren Massagekunden haben. +Kate Tempest: Worauf du dich verlassen kannst. Aus dem Englischen von Karl und Stella Umlaut, Rowohlt, 400 Seiten, 14,99 Euro +Auch Harry ist Becky sofort verfallen, als sie sich zufällig auf einer Party kennenlernen. Und im Grunde steuert ein großer Teil des Romans auf die Frage zu, ob sie sich nun kriegen oder nicht. Also Becky und Harry. Eingesponnen ist diese Liebesgeschichte in ein zunehmend spannungsvolles Szenario voller seltsamer Zufälle, wie sie im realen Großstadtleben eigentlich kaum jemals vorkommen. Kate Tempest knüpft ein unterirdisches Netz von Beziehungen zwischen den Romanfiguren, das teilweise über Generationen zurückreicht. Da hat der Vater von Becky ein revolutionäres Buch geschrieben, das niemand mehr kennt, das aber Pete liest, als sie sich kennenlernen. Und Beckys Onkel arbeitet ausgerechnet für den Dealer, der Harry und Leon mit Stoff versorgt. Wenn Harry das nur eher gewusst hätte … Es sind schicksalhafte Verbindungen, die eine tiefe Sehnsucht als Subtext unter diesen Roman legen: die Sehnsucht, dass die Dinge im Leben einen Zusammenhang ergeben und nicht einfach nur so passieren. +Da es im wirklichen Leben eher weniger zusammenhängend zugeht, ist "Worauf du dich verlassen kannst" im Grunde eine Art Märchen. Ein sehr modernes, cooles, temporeiches Großstadtmärchen, mit viel Sex, Drugs, Rock 'n' Roll und Londoner Kiezflair, aber eben doch eine Geschichte von lauter guten Menschen, die zwar ihre Probleme haben, sich aber zusammenraufen und es den Bösewichten schon zeigen. Was soll man sagen: Toll erzählt ist das und liest sich weg wie nix. + diff --git a/fluter/katharina-rogenhofer-klimaschutz.txt b/fluter/katharina-rogenhofer-klimaschutz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e9229122c467595c3ec6c7037f74ad2ed6553365 --- /dev/null +++ b/fluter/katharina-rogenhofer-klimaschutz.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Warum eigentlich genau? +Wenn der Permafrostboden auftaut, wird Methan und CO2 frei. Dieses Gas heizt die Atmosphäre auf. So entsteht ein Teufelskreis. Von solchen gefährlichen Rückkopplungseffekten gibt es auf der Erde einige. Im Buch vergleiche ich die aktuelle Situation mit einem Boot, das mit schneller werdender Strömung auf einen Wasserfall zusteuert. Wir wissen nicht genau, wie tief es hinuntergeht und was uns unten erwartet. Den Fall sollten wir jedoch tunlichst vermeiden. Ich möchte mir jedenfalls keine Welt vorstellen,die drei oder vier Grad wärmer ist als die heutige. +Sie sind Wissenschaftlerin und Klimaaktivistin. War das eine Auslöser für das andere? +Forschende sind nicht nur Menschen, die Zahlen und Fakten im Blick haben, sondern auch aktiver Teil der Gesellschaft. Deshalb ist das Bild der Wissenschaft im Elfenbeinturm längst überholt. Klimaforschende treten auch als Mahner der Politik auf, engagieren sich in der Bildung oder unterstützen Umweltorganisationen. +Im Wahlkampf hörten wir oft, dass Klimaschutz nicht auf Kosten der Menschen oder Wirtschaft gehen darf. Geht Klimaschutz, ohne Opfer zu bringen? +Wenn wir so weitermachen wie bisher, müssen wir in Zukunft auf fast alles verzichten, was wir jetzt als gegeben annehmen. Extremwetterereignisse wie kürzlich die Hochwasser in Deutschland und Österreich werden zunehmen, viele Menschen sterben, der Wiederaufbau wird Milliarden kosten. Einen größeren Verzicht als auf unsere Lebensgrundlage gibt es wohl nicht. Mutige Klimapolitik könnte für uns also am Ende sogar einen Gewinn an Lebensqualität bedeuten. Aber die Politik muss die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen und dabei soziale Aspekte berücksichtigen. + +"Ändert sich nichts, ändert sich alles – Warum wir jetzt für unseren Planeten kämpfen müssen" (288 Seiten, 20 Euro) von Katharina Rogenhofer ist im Paul Zsolnay Verlag erschienen. +In Ihrem Buch fordern Sie dazu einen Green New Deal. Was verstehen Sie darunter? +Der Begriff leitet sich von dem "New Deal" von US-Präsident Franklin D. Roosevelt ab. Das waren umfangreiche Sozial- und Wirtschaftsreformen als Antwort auf die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre. Dieses Programm hat viel Positives bewirkt. Es wurde die Infrastruktur ausgebaut, elektrische Leitungen gelegt, Kanalsysteme und Straßen errichtet. Ein politisches Programm dieser Größenordnung brauchen wir heute auch. Die Menschen brauchen ein Dach über dem Kopf, eine soziale Perspektive, ein gutes Einkommen – und gleichzeitig dürfen wir die Grenzen des Planeten nicht weiter überschreiten. +Haben Sie ein paar konkrete Vorschläge, wie das gelingen kann? +Wir müssen erst mal damit aufhören, das Falsche zu tun: Wir sollten Straßenprojekte überdenken, alternative Mobilitätskonzepte für Pendler stärken, keine Öl- und Gasheizungen mehr verbauen, Subventionen für klimaschädliche Technologien einstellen. Und wir müssen anfangen, das Richtige zu tun. Also erneuerbare Energien stärker ausbauen,klimafreundliches Bauen und Sanieren fördern, den öffentlichen Nahverkehr in Stadt und Land neu denken oder Arbeitsmarktprogramme für grüne Berufe schaffen. Das ist eine riesige Aufgabe, da viele Reformen gleichzeitig stattfinden müssen, aber es lohnt sich. +Welche Rolle spielen dabei neue Technologien? +Grüne Technologien sind wichtig, gerade wenn es um erneuerbare Energien oder klimafreundliche Produktionen geht. Aber Technologie darf keine Ausrede sein, um heute nichts zu tun und nur auf ein besseres Morgen zu hoffen. Studien besagen, dass 80 Prozent der zur Klimawende nötigen Technologien schon vorhanden sind, sie aber noch mehr verwendet werden müssen. Außerdem sollten wir über soziale Innovationen nachdenken.Wie können wir weniger konsumierenundmehr miteinander teilen?Die Städte so gestalten, dass viele Wege zu Fuß, per Rad oder mit öffentlichem Nahverkehr erledigt werden können? Antworten darauf sind mindestens genauso wichtig wie neue Technologien. +Wie zentral ist der Beitrag jedes Einzelnen in Sachen Klimaschutz? +Politische Veränderungen kommen vor allem dann, wenn sie von möglichst vielen Menschen gefordert werden. Deshalb ist der Beitrag jedes Einzelnen sehr wichtig. Wir müssen laut sein und Forderungen an die Politik stellen. Fridays for Future hat gezeigt, wie gut das funktioniert. Inzwischen macht die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Klimaneutralität zumindest verbal zur Chefsache. Das wäre vorher undenkbar gewesen. +Ich dachte eher daran, den eigenen Konsum zu reduzierenoder den Müll richtig zu trennen. +Natürlich gibt es einen Beitrag, den wir individuell leisten können. Aber dabei stoßen wir schnell an unsere Grenzen. Wenn ich Plastikmüll im Park aufhebe, ist das sicher richtig und wichtig.Ich löse damit aber nicht das Problem von Meeresplastik in der Tiefsee.Nur Bioprodukte zu kaufen können sich nicht alle Menschen leisten. Gleiches gilt für den Verkehr. Ich habe in Oxford studiert, bin meistens mit dem Zug von Wien nach England gefahren. Das dauert viel länger und ist viel teurer als ein Flug. Dadurch wird klimafreundliches Verhalten zu einem Privileg. Um das zu ändern, braucht es den Willen der Politik und der Wirtschaft. Und den beeinflussen wir am besten, indem wir uns zusammenschließen und Veränderungen einfordern. +Wie holt man all jene Mitbürger mit ins Boot, die gerne Fleisch essen, SUV fahren und nichts von Fridays for Future halten? +Viele dieser Menschen haben sicher selbst Kinder oder Enkel und wünschen sich für sie eine gute Zukunft. Das ist ein guter Ansatzpunkt für Argumente. Gesamtgesellschaftlich wäre es mir am liebsten, wenn wir sie gar nicht überzeugen müssten. Eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern sollte sich nicht auch noch Sorgen um die richtige Verpackung oder die Herkunft von Lebensmitteln machen müssen. Idealerweise wäre das klimafreundliche Produkt oder Verhalten die bequemste Wahl und nicht mit umständlichen Recherchen oder großem Hintergrundwissen verbunden. +Wie blicken Sie in die Zukunft? +Der Blick in die Zukunft ist für mich eine Berg-und-Tal-Fahrt der Gefühle. Wir stehen vor einer kollektiven Herausforderung, die so groß ist wie keine zuvor. Aber wenn ich nicht optimistisch wäre, dass wir die Klimawende irgendwie schaffen, würde ich nicht meine Arbeit machen können, sondern mich nur noch unter einer Decke verkriechen. Und die Wissenschaft sagt ja, dass alles noch möglich ist. Das Zeitfenster wird nur kleiner und die nötigen Anstrengungen größer. Deshalb müssen wir jetzt alle aktiv werden. +Katharina Rogenhofer, geboren 1994 in Wien, studierte Zoologie an der Universität Wien und Nachhaltigkeits- und Umweltmanagement in Oxford. 2018 holte sie mit weiteren Aktivistinnen und Aktivisten die "Fridays for Future"-Bewegung nach Österreich, 2019 übernahm sie die Leitung des Klimavolksbegehrens und verfolgt damit das Ziel, politischen Druck für eine klimafreundliche Zukunft aufzubauen. + diff --git a/fluter/kein-ausweis-kein-gras.txt b/fluter/kein-ausweis-kein-gras.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..98de8a8097d3af13b5c123936e4ac95fd0f9b666 --- /dev/null +++ b/fluter/kein-ausweis-kein-gras.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Nein, natürlich nicht. Ich wollte eine ehrliche Arbeit finden und Geld verdienen. In Afrika denken alle, es sei total einfach, hier das ganz große Geld zu machen. Deshalb war mein einziges Ziel, nach Europa zu kommen. Ich war mir sicher, dass sich alles Weitere schon finden würde. +Und warum dealst du dann? +Ich muss essen und leben und meine Rechnungen bezahlen. Ich muss meiner Familie in Nigeria Geld schicken. Außerdem habe ich selbst zwei Kinder hier. Mein Sohn ist neun, und meine Tochter ist zwei. Das Leben ist teuer. Und es ist eben doch nicht so einfach, in Deutschland viel Geld zu verdienen. +Wissen deine Familie in Afrika und deine Familie hier, dass du Drogen verkaufst? +Nein, das weiß niemand, auch die meisten meiner Freunde nicht. Das behalte ich für mich. +Was erzählst du ihnen dann, wo das Geld herkommt und wo du hingehst? +Ich habe noch einen richtigen Job. Ich arbeite in einem Hotel, mache dort die Betten und so. Hier stehe ich jeden Tag nur ein paar Stunden, bevor ich zu meiner anderen Arbeit gehe. Mit dem Dealen verdiene ich mir etwas dazu. +Was verkaufst du hier eigentlich? +Nur Gras. Härtere Drogen würde ich nicht verkaufen, das ist mir zu gefährlich. Da kriegt man nur Ärger mit den Polizisten. +Hattest du mit denen schon mal Ärger? +Normalerweise nicht, die sind eigentlich sehr freundlich zu uns. Die wissen, was wir hier machen, das ist ja kein Geheimnis. In diesem Park wird seit 30 Jahren mit Gras gedealt. Die sind froh zu wissen, dass hier außer Gras nichts verkauft wird, und wir sind froh, weil sie uns weitestgehend in Ruhe lassen. Aber vor einiger Zeit haben die uns intensiver beschattet als sonst, weil es zunehmend Probleme mit kiffenden Jugendlichen gab. Seitdem frage ich Leute, die aussehen, als seien sie noch keine 18, nach ihrem Ausweis. +Im Park gilt das Jugendschutzgesetz? +Ja. Kein Ausweis, kein Gras. Ich kann ja auch verstehen, dass es nicht gut ist, Gras an Teenager zu verkaufen. Ich würde auch nicht wollen, dass jemand meinen Kindern Drogen gibt. diff --git a/fluter/kein-job-keine-frau.txt b/fluter/kein-job-keine-frau.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e703e0cb253047904d2b29b35bb05620695e7033 --- /dev/null +++ b/fluter/kein-job-keine-frau.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Wenn er in Sachsen-Anhalt bleibt, wird er zu einer Minderheit gehören. Wenn man in den Gebieten, von denen ich eben gesprochen habe, Umfragen unter jungen Leuten macht, stellt sich immer heraus, dass sie fast alle dort wegziehen wollen. Die Bereitschaft dazu steigt mit höherem Bildungsabschluss: fast 100 Prozent der Abiturienten möchten gehen. Diejenigen, die bleiben wollen, tun das nur, wenn sie einen Ausbildungsplatz finden, oder, was leider häufig ist, wenn sie keinen finden oder die Schule abbrechen. Denen fehlt dann auch einfach die Qualifikation, um sich irgendwo anders zurechtzufinden. +Das kann man so sagen. Das ist leider das Schicksal einer ganzen Reihe von jungen Leuten in diesen ländlichen Gebieten, und zwar von mehr Männern als Frauen, da die noch viel häufiger in den Westen abwandern. Die Männer, die zurückbleiben, kann man oft so beschreiben: nicht qualifiziert, kein Job, keine Frau. +Ja. Die Mädchen sind in der Regel besser in der Schule, und finden so auch meist leichter einen Ausbildungsplatz, sie sind auch flexibler und eher bereit, Jobs im Dienstleistungsbereich zu übernehmen: in Banken, im Gesundheitsbereich, in Versicherungen und so weiter. Dort gibt es auch mehr Arbeitsplätze, da die klassischen Malocher-Jobs in Zechen und Industrie weggefallen sind. Der Arbeitsmarkt hat sich zugunsten der Frauen entwickelt, während die Männer nicht begriffen haben, dass man auch als Mann als Altenpfleger arbeiten kann. +Eine solche Politik müsste dazu führen, dass jede Frau 2,1 Kinder bekommt. Das ist sehr schwer. Wir haben seit 35 Jahren eine Fertilitätsrate von 1,4, das heißt seit mehr als einer Generation. Das wird irgendwann zu einer sozialen Norm: Im Umfeld der meisten jungen Menschen gibt es einfach wenig Kinder, man hat keine oder wenig Geschwister und es ist sogar normal, überhaupt keine Kinder zu haben. Dadurch sinkt auch die Zahl der Kinder – eben weil sich weniger Menschen welche wünschen. Und genau das kann ja die Familienpolitik nicht ändern. Sie kann nur denen, die sich überhaupt Kinder wünschen helfen. Wir haben mal eine Umfrage unter Leuten gemacht, die keine Kinder haben, aber gern welche hätten, um herauszufinden, woran es liegt. Die Mehrzahl sagte: Es fehlt der geeignete Partner – meistens der Mann. Daran kann auch die Familienministerin nichts ändern. +Man muss diesen Jugendlichen sagen, dass im Prinzip alle Regionen Potenziale haben. Man muss aber gleichzeitig sagen, dass der Trend bei einer schwindenden Bevölkerung in die Zentren geht. Der Wandel zu einer Wissensgesellschaft beschleunigt den Drang in die Städte zusätzlich. In Volkswirtschaften wie unserer, die kreative Ökonomien sind, gehen die Kreativen zu anderen Kreativen. Und die sitzen in den Städten, und nicht auf dem mecklenburg-vorpommerischen Land. Deshalb muss man den Leuten realistischerweise sagen: Geht lieber in die Städte, wenn ihr in euren Heimatregionen keine Potenziale findet. Diese Potenziale können wir leider nicht immer finden. +Potenziale, die erst in den nächsten fünf Jahren entdeckt werden, kennt keiner. Das heißt aber nicht, dass sie nicht da sind. Nur ein Beispiel: In der fränkischen Rhön hat ein Brauer, der kurz vor der Pleite stand, die Bionade erfunden. Ein geniales Produkt, das dort Tausende Arbeitsplätze geschaffen hat, weil versucht wird, mit Rohstoffen aus der Region zu arbeiten. Durch diese Innovation, dieses kreative Produkt, hat er also einen Grund zum Bleiben geschaffen. Wenn solche Potenziale verwirklicht werden, sollen junge Leute auch um Himmels willen in ihren Regionen bleiben. Aber man muss realistisch einschätzen: geht das, oder geht das nicht? +Ich befürworte den Abbau von sinnlosen Regulierungen: gerade in Krisengebieten brauchen wir neue Strukturen. Es gibt mehr Potenziale, als wir wissen, weil es auf allen Ebenen so viele Regelwerke gibt, die der Kreativität im Weg stehen. Das beste Beispielsind die Schulen: Es gibt sehr viele Regeln, wie eine Schule auszusehen hat: so und so viele Schüler, so und so viele Parallelklassen, so und so viele Toiletten. Wenn eine bestimmte Normgröße unterschritten wird, schließt eine Schule. Das ist keine kreative Lösung für eine schrumpfende Region mit wenigen Kindern. In solchen Fällen sollte man Zwergschulen zulassen oder Schulen, die von Ort zu Ort pendeln. Das sind neue Modelle, die man ausprobieren muss – wenn Regionen das im Moment möchten, werden sie jedoch dabei behindert. +Das kann man nicht sagen. Zum Teil kann das sehr schnell gehen – ein Bionade-Effekt zeigt zum Beispiel sehr schnell Wirkung. Andere Dinge, wie zum Beispiel Bevölkerungsstabilität durch höhere Kinderzahlen, dauern ewig. Es sei denn, man löst das durch Zuwanderung, dann geht es schneller. Dazu müsste man aber das Zuwanderungsgesetz ändern, das im Moment Zuwanderung geradezu behindert. In Großbritannien hat man das ganz anders gelöst, dort hat man von der Zuwanderung hoch qualifizierter Balten und Polen stark profitiert. Die Angst, überrannt zu werden, war in Deutschland geradezu absurd. +Schauen, wo Entscheidungen getroffen werden. Schauen: was macht unser Bürgermeister eigentlich? Wenn ein Jugendklub geschlossen werden soll, fragen, woran es liegt: Fehlt das Geld? Fehlt es an Leuten, die sich engagieren? Meistens ist es das. Es kann tatsächlich jeder was bewirken, der sich entschließt, sich zu engagieren und zum Beispiel die Jüngsten im Fußballklub zu trainieren. Gerade in den Problemregionen auf dem Land brauchen wir extrem viel von dieser Art Zivilgesellschaft. + +Reiner Klingholz ist seit 2003 Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Unter seiner Leitung erschien im Juni 2009 die Studie Demografischer Wandel. diff --git a/fluter/kein-leben.txt b/fluter/kein-leben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..71af106526558bb1f20456cd956dde6f2d04f45e --- /dev/null +++ b/fluter/kein-leben.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Er wäre lieber Krankenpfleger als ein Dealer hier an der Ecke, aber die Ausländerbehörde lässt ihn nicht. Das jahrelange Hickhack mit den Behörden habe ihn zermürbt. Er mache gerade eine Psychotherapie, sagt er. +Amadou Diallo kocht. Auf dem Herd blubbert Niri – Reis und Rind in Tomatensauce. Die Wohnung in einem dieser heruntergekommenen Häuser in der Nordstadt hat ihm ein Afrikaner untervermietet. Es gibt kaum Möbel, von den Decken baumeln nackte Glühbirnen, in der Küche stehen zwei alte Sofas mit Brandflecken, davor ein wackliger Plastiktisch. +2013 stellte er im Kreis Steinfurt im Norden Nordrhein-Westfalens seinen Asylantrag: als Amadou Diallo, geflohen aus Guinea, weil er und seine Familie verfolgt würden. Tatsächlich hat er einen ganz anderen Vornamen und war Handyverkäufer in Guineas Hauptstadt Conakry. Amadou Diallo ist ein Allerweltsname, das westafrikanische Pendant zu Thomas Müller. Er hätte gern gearbeitet, durfte aber nicht. Zwei Jahre brauchte die deutsche Bürokratie, um seine Identität zu klären, bis dahin sollte er als Geduldeter in einem Wohnheim herumsitzen, mit einem Arbeitsverbot belegt. Tatsächlich stand er schon nach wenigen Wochen in der Dortmunder Nordstadt und vertickte Drogen. Bis ihm im August 2015 die Ausländerbehörde mitteilte, dass seine Duldung nicht verlängert werde und er binnen 30 Tagen Deutschland verlassen müsse. Daraufhin tauchte er unter. +Bouba* hat es geschafft. Vor sechs Jahren kam er aus Westafrika nach Dortmund und durfte bleiben, weil er, noch während sein Asylantrag lief, eine junge deutsche Studentin heiratete. Bouba ist smart, er hat einen offenen, wachen Blick und trägt ein gebügeltes Hemd, keine dicken Ketten aus Falschgold. Inzwischen wohnt er in einer Nachbarstadt und studiert dort auf einen Ingenieursabschluss hin. Aber manchmal zieht es ihn zurück in Dortmunds Norden, dahin, wo auch für ihn alles anfing. Dann steht er mit den Drogenhändlern an der Ecke und kauft sich ein paar Gramm Gras, für abends, wenn er nicht lernen muss. Er kennt die Dealer. Aber er hat kaum Verständnis für sie. "Sie machen auf Mitleid und lügen", sagt er. Sicher, 
einige strengten sich an, versuchten sich zu integrieren, zerbrächen dann aber an der Perspektivlosigkeit. Doch die meisten fänden sich viel zu schnell ab mit ihrer Lage. Resignierten viel zu früh. Und wollten dann nur noch mitnehmen, was geht. "Die tun alles für Geld." +Wie die anderen Afrikaner verkauft Amadou Marihuana, das Fünf-Gramm-Tütchen zu 50 Euro. Wenn seine Drogenvorräte erschöpft sind, holen er und die anderen sich manchmal Nachschub bei den Arabern, die ein paar Meter weiter vor den Cafés stehen und rauchen. Er hasst die Araber, aber sie geben in der Nordstadt den Ton an – einem Viertel, das die "FAZ" mal 
"Getto mitten in Deutschland" nannte und dessen Drogenszene kürzlich Stoff für einen "Tatort" war. Jeder Vierte der gut 50.000 Einwohner hier hat keinen Job, mehr als zwei Drittel haben ausländische Wurzeln, fast jeder Zweite besitzt keinen deutschen Pass. Egal, wen man fragt, Taxifahrer, Kioskbesitzer, Friseure, Passanten: Alle haben Angst. Angst vor den Flüchtlingen, vor anderen Migranten, den besoffenen Deutschen. +Die Araber aus dem Maghreb schauen auf die Dunkelhäutigen herab, ein Rassismus, der Afrika durchzieht und sich in der Nordstadt spiegelt. "Die Nigger sehen keine Frauen auf der Straße, sondern nur Aufenthaltspapiere", schimpft der Anführer der algerischen Dealer im Keuning-Park, ein Hüne im Jogginganzug. "Muss nur eine dick werden, paff, können die bleiben." +Und mittendrin die jungen Linken vom Kulturverein "Nordpol", die in Amadou und den anderen Flüchtlingen nur Ausgebeutete sehen – Studenten und Sozialarbeiter Anfang 20, mit schwarzen Schals und schwarzen Hosen, deren Taschen Platz für Drehtabak und Aufkleber lassen. Sie betreiben im Nordpol ein "Refugee Welcome Café", veranstalten manchmal Sprachkurse und diskutieren über das "systemische Problem Polizei". Manche halten sie für radikal – die Afrikaner sind ihnen dankbar. Für sie sind es die einzigen Menschen, die ihnen helfen. +Als Emmanuel Peterson zu seiner Mutter und seinen beiden Schwestern, die schon vor ihm hier wohnten, aus Ghana nach Deutschland kam, war er zehn. Seine Mutter wurde als Asylbewerberin anerkannt, er träumte davon, Profifußballer zu werden, schaffte es tatsächlich bis in die dritte Liga, aber dort war dann Schluss. Später hat er den "Verein junger Deutsch-afrikaner" gegründet, der bei Behördengängen hilft, Konflikte löst, beitragen will zur Integration. Peterson, 29, ist ein Athlet mit breiten Schultern und einem ansteckenden Lachen. Jeder Dönerverkäufer in der Nordstadt freut sich, wenn er ihn sieht, und grüßt ihn mit Handschlag. Peterson hat einen nüchternen Blick auf die jungen Afrikaner. "Sie wissen, dass sie in Deutschland nur bleiben können, wenn sie lügen", sagt er, während er durchs Viertel schlendert. +"Deswegen schmeißen sie ihren Pass weg, machen sich jünger oder ändern ihren Namen." +Der Aufenthaltsstatus vieler Westafrikaner heißt "geduldet". Ihr Asylantrag wurde abgelehnt, aber sie werden nicht abgeschoben, weil noch Pässe fehlen, es in ihrem Heimatland zu gefährlich oder ihre Identität nicht geklärt ist. Eine Duldung ist das Niemandsland der Einwanderung. Eine Arbeitserlaubnis zu bekommen ist sehr schwierig. 2014 wurde die Wartezeit jedoch auf drei Monate und die Vorrangprüfung auf 15 Monate verkürzt. Theoretisch dürfen sie also arbeiten. Allerdings nur, wenn sie ihre Mitwirkungspflichten zur Ausreise (z. B. die Vorlage von Dokumenten) nicht verletzt haben – und die Ausländerbehörde grünes Licht gibt. Aber warum sollte sie das? Sie will ja abschieben und wartet nur darauf, dass die Identität geklärt wird und Pässe vorliegen. +Emmanuel Peterson sagt: "Es ist der Mangel an Alternativen, der die Jungs auf die Straße treibt." Sie kämen nach Europa, um zu arbeiten, wollten ranklotzen, etwas aufbauen. Aber dann dürften sie nicht. Es gebe nur zwei Möglichkeiten: Entweder man gebe den jungen Afrikanern eine Chance. Oder man gebe ihnen ein Rückflugticket. Aber dieses Dazwischen? Peterson schüttelt den Kopf. +Vor Frank Binder haben die jungen Guineer Angst. Er ist Flüchtlingsreferent der Ausländerbehörde Dortmund und hat früher dafür gesorgt, dass etliche von ihnen abgeschoben wurden. Er reiste schon nach Guinea, um Pässe zu besorgen. +Binder sitzt in offener Jacke am Schreibtisch in seinem gänzlich leeren Büro, schwarzes, volles Haar, zum Vokuhila geschnitten, aber so seriös und sachlich, dass er im Grundbuchamt sitzen könnte. Bis vor drei Jahren sollten alle geduldeten Westafrikaner abgeschoben werden, sobald sie auf dem Papier volljährig waren, woraufhin etliche offenbar abtauchten. Dann änderte Dortmund seine Strategie, und nun erklärt Binder, alle der rund 400 in Dortmund hätten eine "gute Bleibeperspektive". In den vergangenen drei Jahren habe man keine Guineer aus Dortmund abgeschoben. "Jeder guineische Flüchtling, der sich an die Spielregeln hält und mit offenen Karten spielt, kann bleiben." Heißt: wenn er nicht straffällig wird und seinen echten Pass abgibt. Der Pass sei das Wichtigste. Nur dann könne er, Binder, helfen, ihnen eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Binder stellt klar: "Wenn man zu oft beim Dealen erwischt wird, dann hat man jedes Aufenthaltsrecht verwirkt." +"Die Nordstadt ist ein vielseitiges und schönes, aber auch ein Multi-Problem-Viertel", sagt der Sprecher der Dortmunder Polizei diplomatisch. Die Guineer seien ein Mosaiksteinchen unter vielen. Es gebe dort Straßenkriminalität, eine Alkoholiker- und eine Drogenszene. 300-mal wurden Algerier und Marokkaner wegen Raub und Diebstahl angezeigt, die Guineer fielen eben durch das Dealen auf. Er widerspricht der Behauptung, dass die Polizei die Lage nicht im Griff hat. Die Kriminalität in der Nordstadt, das Dealen der Afrikaner an den Ecken sei Ausdruck eines "gesellschaftlichen Problems" und durch Polizeiarbeit allein nicht zu lösen. +Auch Oury kam mit falschem Pass über Frankreich nach Deutschland, auch er behauptete, minderjährig zu sein, man kann ihn aber auch auf knapp 30 schätzen. Sein Asylverfahren läuft noch, zur Sicherheit hat er seinen Pass weggeworfen, damit er nicht so leicht abgeschoben werden kann, sollte es abgelehnt werden. Seit zwei Jahren dealt er in der Nordstadt, dreimal hat ihn die Polizei in dieser Zeit mit Gras erwischt. Einmal bekam er 90 Sozialstunden in einem Jugendheim aufgebrummt. "Das war toll", strahlt Oury, wenn er davon erzählt, "ich wollte da mit den Leuten gerne bleiben." Er bekam einen Ausbildungsvertrag angeboten und stellte bei der Ausländerbehörde im Kreis Gütersloh einen Antrag, die Stelle antreten zu dürfen. Die Beamten hätten abgelehnt, erzählt Oury. +Zurück nach Afrika? Geht auch nicht. Jeder daheim wüsste, welcher Sohn von welcher Familie in Deutschland ist. Die Menschen in den Dörfern erwarteten Großzügigkeiten, die Familien Geld. Dass es ihnen schlecht geht, glaube in Guinea keiner. "Keine Arbeit. Keine Zukunft. Nicht zurück", sagt Oury, auf seinem ungemachten Bett kauernd. Und eine Freundin habe er auch nicht. "Warum soll ich eine Freundin haben mit meinem Scheißleben?" +Aladin El-Mafaalani ist Professor an der FH Münster und forscht zu minderjährigen Flüchtlingen. "Die Afrikaner haben gelernt, dass die deutsche Bürokratie langsamer ist als sie", sagt er. "Sie unterwandern das System und tauschen ihren Pass und ihre Identität gegen einen Aufenthalt ein. Gleichzeitig verbauen sie sich dadurch alle Chancen auf ein legales Leben." +Im Grunde genommen lässt Deutschland nur zwei Gruppen herein: Hochqualifizierte und Verfolgte. Inder mit einem Abschluss in Informatik oder Syrer, die vor Fassbomben fliehen. Doch dazwischen gibt es unzählige andere, die auch kommen wollen. Die nach einem Schlupfloch suchen. Der neuen Migration und dem Erfindungsreichtum der Wandernden ist dieses System nicht gewachsen. Es fehlen Perspektiven, legal einwandern zu können, und zugleich ein Plan, der dafür sorgt, dass sich im Land kein illegales Subproletariat bildet. +El-Mafaalani erzählt von den Libanesen, die in den 1980er-Jahren in die USA geflohen sind, dort für sich sorgen mussten – und heute bestens integriert sind. Während ihre nach Deutschland geflüchteten Landsleute jahrelang geduldet wurden, ohne Recht auf Arbeit, nicht einmal ihre Kinder durften zur Schule gehen. "Ich wundere mich", sagt El-Mafaalani, "dass die Kriminalität unter den Libanesen in Deutschland nicht noch höher ist." +Nach dem Essen serviert Amadou eine afrikanische Brause, Ingwerbier und frischen Minztee. Dann zeigen er und seine drei Freunde Videos auf ihren Handys von prügelnden Soldaten in Guinea. Sie erzählen von der Willkür und den Unruhen, die zugenommen haben, seit im Oktober Staatspräsident Alpha Condé die Wahl gewann. Amadou zieht ein afrikanisches Gewand über sein Guinea-Fußballtrikot, dann knien sich alle vier auf den Wohnzimmerteppich und beten. +*Name geändert +Unser Autor ist Mitarbeiter des Non-Profit-Recherchezentrums Correctiv.org, das sich investigativen Reportagen widmet und über Spenden und Mitgliedsbeiträge finanziert. diff --git a/fluter/kein-schoener-land.txt b/fluter/kein-schoener-land.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..eb1bb74cf44951da5763c33eec722732e1d0966b --- /dev/null +++ b/fluter/kein-schoener-land.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Trotz des Materialmangels wuchs das Dorf schnell, die Vertriebenen errichteten schlichteSiedlerhäuser für sich und ihre Familien. Die Kriegsheimkehrer nahmen die Wirtschaft wieder auf. Auf Anordnung der sowjetischen Militäradministration sicherte eine Bodenreform schon 1947 den Landlosen eigene, kleine Äcker zu. Doch es war einmühsamer Anfang für die neuen Bauern. Der lehmigsandige Boden ließ sich nur schwer bearbeiten. Es gab wenige Pferde und Maschinen. Einige hatten noch nie zuvor einen Pflug bedient. Für Bauer Lorenz und seine Familie war der Sommer 1952 eine unruhige Zeit. Der Vater sorgte sich, dass die Russen die DDR zu einer Art zweiten Sowjetunion machen wollten, denn fernab von Mestlin hatte die SED eine folgenschwere Entscheidunggetroffen. Auf ihrer zweiten Parteikonferenz beschlossen die Delegierten die "planmäßige Errichtung der Grundlagen des Sozialismus in der DDR". Das klang nach Kollektivierung und Repression. Aus Angst vor den Veränderungen flohen fast alle Bauern aus Mestlin und den Nachbardörfern in den Westen. Sie nahmen ihre Tiere mit und auch ihr Wissen über die Böden und die Ernte. Noch heute reden die Alten im Dorf davon, wie ganze Familien nachts ihr Hab und Gut zusammenschnürten und tags darauf verschwunden waren. Bauer Lorenz und sein Vater hatte nicht viel Land zu verlieren. Sie blieben, obwohl sich Mestlinein paar Wochen nach der Parteikonferenz bereits zu verändern begann. 25 Neubauern schlossen sich zu einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) zusammen und begannen, gemeinsame Sache zu machen. Sie nannten das ganze "Neues Leben", wahrscheinlich weil es so sehr nach Zukunft klang. +Viele der Bauern, darunter auch Lorenz' Vater, weigerten sich zunächst, in die LPG zu gehen. Doch es war keine freiwillige Entscheidung, nicht in Mestlin und nirgendwo sonst in der DDR. Die SED setzte die Bauern unter Druck. Sie trieb die Kollektivierung der Landwirtschaft voran. Bald konnte auch Lorenz nicht mehr standhalten – sein Land wurde Teil der LPG. Zur selben Zeit rückten im ehemaligen Tagelöhnerdorf Mestlin die Baukolonnen an. Um die "Lebensbedingungen von Stadt und Land" auszugleichen, wurde die Wasser- und Abwasserversorgung erneuert, es wurden 152 Wohnungen errichtet und elektrische Leitungen verlegt. Auf dem Gutsherrenacker entstanden gewaltige, fastgroßstädtische Gebäude in Sichtweite der alten Tagelöhnerkaten. Sie bauten eine Kinderkrippe und einen Kindergarten, eine Schule und ein medizinisches Zentrum. Nach nur drei Jahren Bauzeit ragte auf dem neuen Dorfplatz, der den Namen Marx-Engels-Platz bekam, ein gewaltiges Kulturhaus in den Himmel. +Helmut Krenz und seine Frau Elsbeth zogen Anfang der 60er-Jahre nach Mestlin und waren begeistert von der Stimmung im Ort. "Das war 'ne Kinderfabrik, junge Leute wohin man sieht. Und an den Sozialismus haben wir auch geglaubt", erzählt er. Die Arbeiter der LPG "Neues Leben" verdienten nicht viel, aber sie waren Teilhaber eines auf über 400 Menschen angewachsenen Betriebs. Sie hatten Anspruch auf Freizeit, Urlaub und Rente.Der Konsum Mestlin verkaufte Fernseher, Kühlschränke, Waschmaschinen, Motorräder und Mopeds. Das Dorf wuchs auf mehr als 1.500 Einwohner. Die Schweriner Volkszeitung schrieb: "Dieses Ereignis ist für das einstmals arme Gutsdorf und heute sozialistische Dorf Mestlin eine Krönung all dessen, was durch unsere Arbeiter- und Bauernmacht in den letzten Jahren geschaffen wurde." Auch Bauer Lorenz sah, dass das ein Fortschritt war. Seit er und sein Vater nicht mehr privat wirtschafteten, arbeitete er als Traktorist in der LPG, die eine der größten in der DDR war. Er wollte ein guter Landwirt sein und sonst nichts. Wenn es etwas auszusetzen gab am Sozialismus oder an der Arbeit in der LPG, hütete er sich, vor den SED-Parteigenossen zu sprechen. Gründe sich zu Ärgern gab es genug: Die Politik gab ihnen ständig steigende Produktionspläne vor, die sie zu erfüllenhatten, aber ohne Fälschereien nicht erfüllen konnten. "Unsere Losung hieß damals: Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein. Doch das stimmte nicht wirklich. Unsere Maschinen waren nicht gut. Die Ernte zog sich in die Länge. Wir brauchten so lange, bis der Regen kam, und dann produzierten wir nicht genug." +Um das Kulturhaus beneideten die umliegenden Dörfer Mestlin. Zweimal in der Woche fanden Kinoabende statt. Freitags feierten die Betriebe rauschende Feste und am Samstag die Jugendlichen. In den Räumen trafen sich die Menschen zu Parteiveranstaltungen, Jugendweihen und Vorträgen mit dem Titel "Kennst du die Sowjetunion?". Bands wie die Amigos und Karat traten auf, es gab ein Dorftheater, eine Bibliothek und ein Fotolabor. Aus dem ganzen Kreisgebiet strömten die Menschen zu ihnen ins Dorf. Noch heute schwärmen sie in Mestlin von den Festen, die sie damals feierten. "Kulturhaus voll bis unde die Dägge. Erntefest, Schnaps, Musik. Dann geht dat ab hier, näh! ", erzählt ein Landarbeiter. Die Energiekrise 1979/80 warf die LPG "Neues Leben" zurück. Statt bessere Maschinen zu bekommen, mussten die Arbeiter wieder mehr mit der Hand anpacken. "Mehr produzieren, besser wirtschaften, billiger verkaufen", solche Parolen müssen damals geklungen haben wie Hohn. Es war eine Zeit der Mangelwirtschaft. Wenn Bauer Lorenz Baustoffe oder Heizungen kaufen wollte, ging er nicht ins Geschäft, weil ihn das nicht weiterbrachte. Er machte es wie alle. Er "organisierte", bestach die Händler einfach mit Ziegeln oder Dung. +Als er in die Sowjetunion in den Urlaub fuhr, war Bauer Lorenz irritiert. "Die Arbeitsmoral war so sehr im Keller, das konnte nicht mehr so weitergehen." In Sotschi entdeckte er ein Geschäft, vor dem sich Hunderte Menschen in Fünferreihen anstellten. Er betrat den Raum und sah, dass es um nichts als Alkohol ging. Dass Bauer Lorenz nicht mit allem zufrieden war, fiel offenbar niemandem auf. Insbesondere der Stasi nicht. Als er ohne größere Hoffnung einen Reiseantrag stellte, um mit seiner Mutter die Verwandten im Westen zu besuchen, wurde es ihm überraschenderweise erlaubt. Im Westen organisierten seine Verwandten eine Tour über die Höfe in der Umgebung. Für Bauer Lorenz war es eine Studienreise, er sah das erste Mal, auf welchem technologischen Stand das kapitalistische Ausland war. Er sagt, da habe er gewusst, "dass es bei uns bald knallen wird". Als es 1989 in vielen Städten Proteste gab, waren die Mestliner rein räumlich gesehen weit davon entfernt. Aber sie erfuhren aus dem Fernsehen, dass ihr Staat ins Wanken geriet. Bauer Lorenz war überzeugt davon, dass er nun eingezogen würde. Er dachte, er müsste im Bruderkrieg auf die anderen Deutschen schießn. Doch die Wende verlief friedlich in Mestlin. Eine Handvoll Menschen demonstrierte auf dem Marx-Engels-Platz für einen besseren Sozialismus. Viel mehr passierte nicht. Dass nun Veränderungen anstanden, war auch hier, im mecklenburgischen Hinterland, allen klar. Doch keiner von ihnen hatte damals geglaubt, dass Mestlin den Weg nicht nach weiter vorne, sondern zurückgehen wird. +Wie es mit dem Dorf Mestlin nach der Revolution weiterging, lest ihr auf Seite 5 des zweiten Teils. diff --git a/fluter/kein-stich.txt b/fluter/kein-stich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/kein-verstaendnis-dafuer.txt b/fluter/kein-verstaendnis-dafuer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d96042bdce5045024faa19fb0569415073a4f407 --- /dev/null +++ b/fluter/kein-verstaendnis-dafuer.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Simone König leidet an Dyskalkulie, auch Rechenstörung oder Zahlenblindheit genannt. Das ist eine Teilleistungsstörung wie Legasthenie. Mathe kommt Dyskalkulikern vor wie eine Fremdsprache. Ihnen fällt es schwer, Zahlen im Kopf zu rechnen und Mengen einzuschätzen. Was für die meisten Menschen im wahrsten Sinne des Wortes "das kleine Einmaleins" ist, bereitet Dyskalkulikern große Schwierigkeiten. Sie gehen irrtümlich von der Vorstellung eines "Zahlenalphabets" aus. Addition und Subtraktion begreifen sie entsprechend als Aufforderung zum Vorwärts- und Rückwärtszählen. Rechenschwache Kinder interpretieren daher den Lernstoff in der Schule von Anfang an falsch. Grund dafür ist keine allgemein schwache Intelligenz, sondern eine Minderaktivität bestimmter Gehirnareale. +Wie viele Perlen sich in einem Glas befinden, kann Simone König nicht einschätzen. Eine einfache Aufgabe wie sieben plus fünf kann sie nicht im Kopf ausrechnen. Sie zählt sie an den Fingern ab. Die Fünfer- und Zweierreihe hingegen funktionieren ganz gut. Und Zahlenreihen wie Telefonnummern merkt sich Simone wie eine Eins. +Wer Simone trifft, kann sich kaum vorstellen, dass sie in irgendetwas langsam sein könnte. Die sportliche Mutter mit rot gefärbten Haaren flitzt gerade in Freising mit dem Auto zwischen den Nachmittagsprogrammen ihrer zwei Kinder hin und her. Sie redet viel und schnell – und schafft es, neben der Kindererziehung 26 Wochenstunden zu arbeiten. Wieso sie beim Rechnen versagt, wusste Simone ihr halbes Leben lang nicht. Erst mit über 20 erfuhr sie von dem Phänomen Dyskalkulie, recherchierte und stellte fest: Das ist genau mein Problem. Da war es bereits zu spät, um zurück in die Schule zu gehen. Simone absolvierte eine Ausbildung zur Geflügelzüchterin. +Die Rechenschwäche, so erinnert sie sich, verursachte bei ihr heftige Angstzustände. Ihre Leistungen nahmen auch in anderen Fächern ab. Während sie auf dem Pausenhof frei von der Leber weg quasselte, verstummte sie, sobald sie das Klassenzimmer betrat. +Derzeit arbeitet Simone als Produzentin für Autoschilder, für sie "eine langweilige Arbeit". Am Ende ihrer Schicht muss sie eine Abrechnung erledigen, die sie enorm anstrengt – trotz Taschenrechner. "Ich rechne immer fünfmal nach, weil ich so unsicher bin", sagt sie. +Dyskalkulie ist bisher vergleichsweise wenig erforscht. Auch wenn sie eher häufiger auftritt als Legasthenie und bereits seit den 1970er-Jahren von der Weltgesundheitsorganisation als Entwicklungsstörung klassifiziert ist. Teil der Lehrerausbildung ist sie nicht. Laut dem Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie (BVL) sind etwa drei bis sieben Prozent der Kinder und Erwachsenen betroffen. Also ungefähr ein Schüler pro Klasse. In manchen Familien tritt Dyskalkulie gehäuft auf, die Krankheit hat also genetische Gründe. Allerdings spielen auch Umweltfaktoren eine große Rolle, damit sich die Krankheit überhaupt manifestiert. +Gerd Schulte-Körne, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Klinikum der Universität München, möchte herausfinden, wie man die Rechenschwäche wegtrainieren kann. Individuelles Training kann die Störung gut kompensieren helfen, wie Schulte-Körnes Untersuchungen zeigen. Man müsse genau hinschauen: Manche Kinder könnten die Wertigkeit von einem 50- und einem 20-Euro-Schein nicht unterscheiden, andere hätten Probleme damit, Mengenangaben wie einen Liter abzuschätzen. Mit gezieltem Einzeltraining würden die entsprechenden Hirnareale besser aktiviert. Bestenfalls müsste man im Kindergarten vorsorgen, dann würden sich Rechenschwächen weit weniger herausbilden. +Bis dahin ist es noch ein weiter Weg: Nur sieben Bundesländer gewähren bisher eine spezielle Förderung von Kindern mit Dyskalkulie – Berlin, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachen und Schleswig-Holstein – und auch nur bis zum vierten Schuljahr. An den meisten Schulen liegt es im Ermessen des Lehrers, ob und wie er reagiert. "Das geht an der Realität vorbei", sagt Annette Höinghaus, Sprecherin des BVL. Sie kämpft mit ihrem Verband seit vielen Jahren dafür, dass Dyskalkulie in allen Bundesländern anerkannt wird und Lehrer für den richtigen Umgang damit ausgebildet werden. In manchen Ländern, wie etwa in Bayern, wo Dyskalkulie nicht in der Volksschulordnung erwähnt wird, können betroffene Schüler einen Nachteilsausgleich bekommen, etwa mehr Zeit beim Lösen der Aufgaben. +Simones Tochter Cecilia (10) hat es leichter als ihre Mutter. Sie geht in die vierte Klasse und erhält in Mathe Sonderaufgaben auf dem Niveau einer Zweitklässlerin. Auch bei ihr wurde vor zwei Jahren Dyskalkulie festgestellt. Als ihrer Mutter auffiel, dass Cecilia immer die Punkte auf dem Würfel zählte, machte sie mit ihr einen Test bei der Caritas. Dann dauerte es über sechs Wochen, bis das Jugendamt einwilligte, als sogenannte "Eingliederungshilfe" Nachhilfestunden für Cecilia zu bezahlen. +Cecilia sitzt mit Lerntherapeutin Barbara Michalsky-Hasenstab an einem kleinen Tisch. Es ist bereits später Nachmittag. Sie üben mit Buntstiften dividieren; 20 durch 2, 5 durch 5. Sachte führt die Lerntherapeutin Cecilia an schwierigere Aufgaben heran. "Als Erstes stärken wir das Selbstvertrauen", sagt Michalsky-Hasenstab. "Anschließend wagen wir uns an die Grundrechenarten." +Michalsky-Hasenstab beobachtet an ihren Schülern, wie sich die Leistungen in allen Fächern verbessern, sobald jemand Mathe besser versteht. Gleichzeitig müsse man realistisch bleiben. "Man wird die Rechenschwäche nicht ganz wegkriegen", sagt sie. 45 Stunden hat sie bereits mit Cecilia geübt. 65 Stunden bezahlt das Jugendamt. Danach ist Schluss. +Nächstes Jahr kommt Cecilia trotzdem nur auf die Mittelschule, die in Bayern die Hauptschule ersetzt hat. Die Noten reichen nicht, und die Realschule würde für sie zu viel Druck und Frustration bedeuten, sagt Simone. Da hilft es ihr auch nicht, dass Cecilia in Sport die Schnellste ist. Immerhin ist ihre Tochter im Rechnen bereits besser als Simone. Nach der ersten Nachhilfestunde lief Cecilia ihrer Mutter entgegen und rief: "Mama, Mathe macht Spaß!" Simone weinte vor Freude. +Caroline von Eichhornist freie Journalistin, Autorin und Gestalterin in München. Sie arbeitet unter anderem für den Bayerischen Rundfunk, die Süddeutsche Zeitung und das Bayerische Jugendfilmfestival Jufinale  – und sie hat beim fluter.de-Workshop für Jugendliche auf der Berlinale mitgewirkt. diff --git a/fluter/keine-alternative-gesellschaftspolitik-erdogan.txt b/fluter/keine-alternative-gesellschaftspolitik-erdogan.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..13b19fe9ec7960b5f17cc387c359bb0f03da06ce --- /dev/null +++ b/fluter/keine-alternative-gesellschaftspolitik-erdogan.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Erdoğans Gegenkandidat Kemal Kılıçdaroğlu von der republikanischen Volkspartei CHP hat für die Parlamentswahl sechs Oppositionsparteien zusammengebracht. Es ist kein progressives Bündnis, auch ehemalige AKP-Politiker:innen sind dabei. Doch sie wollen zur Rechtsstaatlichkeit zurückkehren und das Parlament stärken. Kılıçdaroğlu werden auch deswegen gute Chancen auf einen Sieg eingeräumt, weil die prokurdische HDP keinen eigenen Kandidaten aufgestellt hat. Nun könnten viele von ihnen für Kılıçdaroğlu stimmen, der eher leise und integrierend auftritt. +Gesellschafts- und familienpolitisch verfolgen Erdoğan und seine Partei, die AKP, dabei einen islamisch-konservativen Kurs, der sich im Laufe seiner Amtszeiten verschärft hat. 2002 stand die AKP in den Augen vieler noch für Demokratisierung und europäische Werte. Heute wird sie mit religiösen Beschränkungen der Meinungsfreiheit und einer religiös dominierten Justiz, aber auch mit verpflichtetem Religionsunterricht und weitreichenden "Jugendschutz"-Maßnahmen assoziiert. Wie geht es Türk:innen mit Lebensentwürfen, die diesen Moralvorstellungen nicht entsprechen oder entsprechen wollen? Und mit welchen Erwartungen und Hoffnungen schauen sie auf die Wahl? Wir haben drei von ihnen gefragt. + +Es gibt in der Türkei zu viele Tabuthemen, findet Hazal. Und um darüber zu sprechen, startete sie 2019 eine Sendung bei einem Radiosender in Istanbul. Schnell kristallisierte sich ein zentrales Tabu heraus: Sexualität. Doch weil die Rundfunkregulierungsbehörde Begriffe wie "Vulva" und "Penis" zensierte, macht die heute 31-Jährige aus ihrer Idee einen Podcast, den sie in Eigenregie hostet. +In "Mental Klitoris"spricht Hazal mit Gäst:innen über Sex, sexuelle Gesundheit, Gender und vieles mehr. Ihr Ziel: Aufklärung. "Ich habe mir die 15-jährige Hazal vorgestellt. Welches Wissen hätte sie gebraucht?" Für eine türkische Teenagerin ohne Englischkenntnisse gab es in den Nullerjahren kaum zugängliche Informationen über Sex, Masturbation und all das oder Antworten auf Fragen, wie man mit Nacktheit und Scham umgehen kann und wie man Gynäkologen begegnet, die sich als Moralpolizei aufspielen. Und daran hat sich leider auch wenig geändert. "Wenn Männer uns zum Beispiel auf der Straße belästigen – wie sollen wir verstehen, dass das sexualisierte Gewalt ist, wenn wir die Konzepte nicht kennen?" +Die türkische Gesellschaft sei immer patriarchal gewesen, sagt Hazal. Aber in den letzten Jahren sei es härter geworden. "Die AKP-Regierung hat den Zugang zu Informationen über sexuelle Gesundheit eingeschränkt und Abtreibungen stark erschwert." Recep Tayyip Erdoğan selbst lehnt Geschlechtergleichheit ab. Auch ist die Türkei im Jahr 2021 aus der internationalen Istanbul-Konvention ausgetreten, die Gewalt gegen Frauen bekämpfen soll. Dabei nimmt genau diese zu, in der Türkei wird statistisch täglich mindestens eine Frau von einem Mann getötet. "Falls die Opposition die Wahl gewinnt, wird es sicher besser werden", sagt Hazal. "Aber wie viel besser?" + +Seit 2007 legt Çağlar auf, erst in Istanbuler Clubs, heuteals Mx. Sürin halb Europa. Çağlar identifiziert sich als queere Person, nutzt als Pronomen they/them. They ist multidisziplinäre Künstler:in, produziert auch Musik und hat ein queeres Labelkollektiv gegründet. "Die queere Musikcommunity hier ist so talentiert, es war noch nie so gut", sagt Çağlar stolz. "Das ist das Positive an dieser queerfeindlichen Regierung: Wir leben in großer Solidarität zueinander, und so entstehen neue Ausdrucksformen und viel Kreativität." +Çağlar ist 38 und kann sich noch an den Beginn von Erdoğans Regierungszeit 2003 erinnern. Anfangs war es okay: Damals versprach er noch als Ministerpräsident, die Rechte von LGBTQ-Personen zu schützen. "Wir wussten zwar, das sind Islamisten, aber wenigstens die Wirtschaft lief." Doch nach und nach kamen die Einschränkungen, etwa ein nächtliches Alkoholverkaufsverbot, Internetzensur und dann, 2013: Gezi. Ursprünglich wollten die Tausenden Demonstrierenden den Istanbuler Gezi-Park vor einer dort geplanten Mall retten. Doch dannging es schnell um den Rücktritt der autoritären Regierung. Erdoğan ließ den Park am Ende gewaltsam räumen. +"Nach Gezi wurde es schlimmer", sagt Çağlar. Mehr und mehr machte Erdoğans Regierung auch die LGBTQ-Szene als Ziel aus. Vor allem jetzt im Wahlkampf: Sie seien Perverse und Terroristen, man werde die Bewegung bekämpfen, weil sie die Familienwerte angreife. "Es ist furchtbar", sagt Çağlar. "Ich bin privilegiert, weil ich männlich gelesen werde und das Land immer mal wieder verlassen kann. Aber für viele andere gilt das nicht." +Über Erdoğans Gegenkandidat Kılıçdaroğlu sagt they: "Er ist nicht unbedingt pro-queer, aber immerhin erwähnt er uns in seinen Reden. Seine Politik wird weniger diskriminierend sein." Doch egal, wie die Wahl ausgeht, die wirtschaftliche Krise wird erst mal bleiben. "Die Lebensmittelpreise steigen jeden Tag!" Und so wird für Çağlar die Wahl auch persönlich entscheidend sein. "Wenn er wiedergewählt wird, bin ich weg, so schnell es geht. Es ist einfach zu viel."Ziel dann: Berlin. + +AlsZehra Ömeroğluerfährt, dass der Staat sie angeklagt hat, fühlt sie nichts. "Ich war geschockt", sagt die 38-jährige Cartoonistin. Sie habe zwar befürchtet, dass eine ihrer Zeichnungen ihr einmal Ärger einbringen könnte. Eine von den islamkritischen vielleicht, eine, in der sie das Kopftuch thematisiert. Aber dieses harmlose Bild? "Absurd." +Der Cartoon aus dem Jahr 2020trägt den Titel "Pandemie-Sex" und zeigt ein kaum bekleidetes Pärchen. Er vergräbt seine Nase in ihrem Hintern und sagt erleichtert, er habe den Geruchssinn nicht verloren. Spontan gezeichnet für einen schnellen Witz zum damals neuen Pandemie-Lebensgefühl, nicht weiter bedenkenswert, bis zwei Jahre später die Anklage kommt. Straftatbestand Obszönität, bis zu drei Jahre Gefängnisstrafe möglich. "So viel zum Zustand der Meinungsfreiheit in der Türkei", sagt Zehra. Im weltweitenPressefreiheits-Ranking von Reporter ohne Grenzenliegt die Türkei auf Platz 165 von 180. Nach dem Wahlsieg der AKP 2002 war es immerhin noch Platz 99. +Zehra zeichnet für zwei Istanbuler Satiremagazine, deren kritische Inhalte Erdoğans Regierung nicht immer gefallen. "Wenn sie dich aber für einen politischen Cartoon anklagen, erzeugt es Lärm. Damit machen sie dich eher zur Heldin", erklärt Zehra. "Für so ein lächerliches Bild – das interessiert niemanden." Drei Tage vor der Gerichtsverhandlung, bei der Zehra das Urteil erwartet,bebt dann die Erde in der Südosttürkei, was alles verändert. Der Prozess wird verschoben auf den 23. Mai. Falls die Opposition gewinnt, hofft Zehra, wird ihre Situation weniger aussichtslos sein. diff --git a/fluter/keine-angst-vor-der-islandisierung.txt b/fluter/keine-angst-vor-der-islandisierung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0d710025d58aa1bc5ebd3270a381f98bf319a771 --- /dev/null +++ b/fluter/keine-angst-vor-der-islandisierung.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Wie Aki Kaurismäki seit Jahrzehnten erzählt: zurückhaltend, melancholisch, mit dem Temperament eines Leguans in Winterstarre. Seine Bilder sind sorgsam aufgebaut, es gibt keine schnellen Schnitte, keine verrückten Perspektiven, keine "originellen" Einfälle. Das Bitterernste und das Urkomische liegen dicht beieinander. Und alle rauchen. Dauernd. + +Kaurismäkis Film ist ein schon fast naiver Appell an die Menschlichkeit: Es gibt böse Menschen, aber es gibt eben auch gute, und die helfen den Schwachen. Dazu braucht es nämlich nicht viele Worte. + +Schon die zweite ist unheimlich komisch: Wikström steht mit einem Aktenkoffer in der Tür. Er geht zu seiner Frau am Küchentisch, legt ihr den Ehering hin und geht raus. Die Frau legt den Ring in den Aschenbecher, drückt ihre Zigarette aus und schenkt sich einen Wodka ein. Natürlich wird kein Wort gesprochen. + +Den gab es von Aki Kaurismäki bei der Pressekonferenz: "In Europa gab es vor 60 Jahren 60 Millionen Flüchtlinge. Denen haben wir geholfen, heute sehen wir in ihnen Feinde. Wo zum Teufel ist die Menschlichkeit geblieben?" Und auf die Frage, ob es eine Islamisierung Europas gebe: "Islandisierung Europas? Nur weil Island einmal gut im Fußball ist, haben wir doch keine Islandisierung." + +Die Mimik von Wikström-Darsteller Sakari Kuosmanen. Jede millimeterweite Hebung seiner Mundwinkel oder Augenbrauen ist ein Ereignis. + +Gedreht wurde der Film ganz klassisch auf 35-Millimeter-Filmmaterial. Es ist der einzige nichtdigitale Film im diesjährigen Wettbewerb der Berlinale. + +Alle, die klassisches Kino lieben. Dieser Film ist ein Bärenkandidat. + +"Toivon tuolla puolen" ("Die andere Seite der Hoffnung"),Finnland/Deutschland 2017; Regie, Drehbuch: Aki Kaurismäki; mit Sherwan Haji, Sakari Kuosmanen, Janne Hyytiäinen, Ilkka Koivula, Nuppu Koivu, Simon Hussein Al Bazoon; 98 Min. diff --git a/fluter/keine-bange.txt b/fluter/keine-bange.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..951fbfb43759b4dab89a372b6aac66056d29e27b --- /dev/null +++ b/fluter/keine-bange.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +In Wahrheit ist ein Leben ohne Angst fürchterlich. Denn Angst schützt uns davor, über eine Autobahn zu laufen, sie hält uns davon ab, mit Feuer zu spielen, ein Wildschwein zu streicheln oder unser ganzes Geld in Spielcasinos zu tragen. Das alles ist für uns so selbstverständlich, dass wir unser Verhalten kaum noch mit Furcht in Verbindung bringen. Wir nennen es Vorsicht – und meinen doch erlernte Angst. +Doch oft versteht man Mechanismen erst, wenn sie nicht mehr funktionieren. Schließlich gucken wir meist auch erst dann unter eine Motorhaube, wenn das Auto nicht mehr fährt. Gerade deshalb kann uns die Patientin S. M. so viel lehren. Und weil dieser Fall, dass ein Mensch keine Angst empfinden kann, so unglaublich selten ist, ist S. M. für die Forscher enorm viel wert. Sie gilt, wenn man so will, als ein Star unter Neurowissenschaftlern. +Als man S. M.s Gehirn zum ersten Mal scannte, war sie Anfang 20. Schon damals fiel den Ärzten auf, dass sich in einem kleinen, aber wichtigen Teil ihres Gehirns Kalk abgelagert hatte: in der Amygdala. Evolutionär gesehen gehört sie zu den ältesten Teilen des Gehirns. Die Amygdala ist ein Organ aus Nervenzellen mit zwei Hälften, aufgeteilt in kleine Stücke in der Form einer Mandel – daher auch der Name, denn Amygdala heißt auf Deutsch "Mandel". Zieht man eine Linie zwischen Ohr und Schläfe, liegen die Amygdala-Hälften genau dazwischen. +Man kann sie sich – vereinfacht gesagt – wie eine große Karteikartensammlung vorstellen: Sobald ein Reiz von außen ankommt, wühlt die Amygdala im Archiv. Ist ein solcher Reiz schon mal vorgekommen? Und was ist danach passiert? Ein Mensch, der von einem Hund gebissen wird, verknüpft die Erinnerung "Hund gestreichelt" mit Schmerz. Die Amygdala setzt dann ihren Stempel auf die Erinnerung. Und weil ein Lebe­wesen Schmerz vermeiden will, wird der gebissene Mensch vorerst nur angsterfüllt Hunde streicheln können. +In solchen Fällen sendet die Amygdala Botenstoffe – die sogenannten Neurotransmitter – an wichtige Nerven und das Stammhirn, den ältesten Teil des Gehirns. Von dort wird vor allem über Hormone die körperliche Reaktion ausgelöst: Die Augen werden aufgerissen, um besser sehen zu können. Die Atmung wird schneller, um mehr Sauerstoff ins Blut zu bringen. Und die Verdauung wird verlangsamt, um Ressourcen zu sparen. Kurz: Der Körper richtet sich darauf ein, sich zu verteidigen oder auch zu fliehen. Aber nicht sofort – Angst lässt uns zunächst erstarren, weil Raubtiere auf Be­wegung reagieren. +S. M. hat diese Schutzmechanismen nicht. Ein Besuch in der Zoohandlung, den die Forscher mit ihr unternahmen, war also nicht ganz ungefährlich. Fünfzehn Mal musste ihr der Verkäufer den Wunsch abschlagen, auch die großen, gefähr­licheren Schlangen anzufassen. Die Forscher mussten sie auch davon abhalten, in das Terrarium mit der Tarantel zu greifen. Neurobiologisch gesehen ist nämlich nicht Mut das Gegenstück zur Angst, sondern Neugier. S. M. verhält sich in diesem Sinne wie ein Kleinkind. Zeigt man einem Säugling Bilder von bedrohlich wirkenden und von niedlichen Tieren, will es nach allem greifen. Angst empfindet es vor allem bei lauten Geräuschen. +Erst im Laufe der Jahre erfahren Kinder, dass etwa Kakteen zu berühren keine gute Idee ist. Dabei muss ein Kind nicht selbst Kakteen anfassen – es genügt, wenn es das schmerzverzerrte Gesicht eines anderen sieht. Das Gleiche gilt für Erwachsene: Wer im Krimi ein furchtverzerrtes Gesicht sieht, ängstigt sich mit. So kann sich die Furcht eines Einzelnen auf Millionen von Menschen übertragen, ohne dass wir selbst in Gefahr wären. +Ängste sind also erlernbar. Und so, wie man sie erlernen kann, kann man sie oft auch wieder abtrainieren. In dieser Hinsicht ist Neugier der Muskel und Angst der Muskelkater. Allerdings ist die Fähigkeit, Furcht vor Raubkatzen oder Spinnen zu entwickeln, größer, als Angst vor einem Stuhl zu haben. Zwei Millionen Jahre menschliche Evolution haben uns so beeinflusst, dass wir biologisch einfacher zwischen echten und scheinbaren Gefahren unterscheiden können. +S. M. hat keine unnützen Ängste. Sie hat aber auch keine nützlichen. Als sie 30 Jahre alt war, spazierte sie eines Abends an einem Park vorbei. Die Sonne war längst untergegangen, der Park dunkel und menschenleer. Nur ein zugedröhnter Mann lümmelte sich auf einer Bank. Der Junkie rief zu ihr rüber, und S. M. ging tatsächlich zu ihm. Als sie nahe genug war, stand der Mann auf, riss sie an ihrem T-Shirt auf die Bank, hielt ihr ein Messer an den Hals und drohte ihr, sie "aufzuschlitzen". S. M. blieb ruhig und sagte: "Wenn du mich töten willst, musst du erst an meinen Schutzengeln vorbei." Der Mann, offenbar verdattert, ließ von ihr ab. S. M. rannte aber nicht nach Hause: Sie ging. +Ein geistig gesunder Mensch, der so einen Überfall erlebt hat, hätte danach gewiss Angst vorm Dunkeln, zumindest für die nächsten Wochen. Wer so etwas erlebt, würde auf jeden Fall den Park meiden, vielleicht auch Drogenabhängige. Selbst der Anblick einer Bank könnte eine Panikattacke auslösen. Nicht so bei S. M. Sie ging am nächsten Tag wieder am selben Park vorbei, als wäre nichts gewesen. Sie erinnert sich zwar sehr gut an den Vorfall, aber ihr Gehirn verknüpft die Erinnerung nicht mit Angst. +Gibt es also nichts auf der Welt, vor dem sie sich fürchtet? Im Jahr 2012 begannen Forscher einen erneuten Versuch, S. M., mittlerweile Mitte 40, zu ängstigen. Ihr und einer Kontrollgruppe setzte man Atemmasken auf und ließ sie 35-prozentiges Kohlendioxid einatmen. Die Verbindung ist geruchlos – und doch reagierte S. M. Und wie. Kaum strömten die Gase, griff sie panisch nach der Maske und rief um Hilfe. 30 Sekunden lang blieb ihr Körper starr, fest hielt sie den Arm des Forschers umklammert, die Augen weit aufgerissen. Nie, sagte sie später, habe sie eine solche Panik verspürt. Von den Gesunden aber reagierte nur jeder vierte so panisch. Wie kann das sein? +Kohlendioxid ist schwerer als Luft. Ein Mensch, der in einen tiefen Brunnen fällt, verbraucht so lange Sauerstoff und gibt CO2 wieder ab, bis ihn keine Atemluft mehr umgibt und er erstickt. Jedes Lebewesen, das Sauerstoff zum Leben braucht, hat deshalb Angst vor CO2. Menschen können gefährliche Tiger zähmen, ihre Atmung aber kaum. Offenbar ist diese Furcht so grundlegend und entwicklungsgeschichtlich so alt, dass auch Menschen mit kranker Amygdala reagieren. Vermutlich ist das Organ für diese Art von Angst gar nicht zuständig. Die Amygdala scheint eher eine Art Mischpult zu sein, das Angst vor äußeren Gefahren hervorrufen und Panik bei inneren herunterregeln kann. +Aber ließ sich der Effekt tatsächlich wiederholen? Noch einmal wurde der Versuch angesetzt, noch einmal wurden die Atemmasken vorbereitet. Den gesunden Probanden klopfte schon das Herz, als sie die Ärzte sahen, Schweiß bildete sich auf ihrer Haut, drei von ihnen hatten zuvor ja eine Panikattacke bekommen. Nur S. M. saß seelenruhig da. Wovor sollte sie auch Angst haben +Jan Ludwigs Amygdala wird vor allem dann aktiv, wenn einer seiner Texte kurz vor der Veröffentlichung steht. Spinnen und Schlangen fürchtet er nicht. Angst machen ihm Faktenfehler. diff --git a/fluter/keine-ehrliche-haut.txt b/fluter/keine-ehrliche-haut.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8bba89746a6d3173523f8415501e03a93ec9454f --- /dev/null +++ b/fluter/keine-ehrliche-haut.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +In der Soziologie wird das, was Rachel Dolezal tat, "Passing" genannt. Der Begriff bezeichnet Vorgänge, bei denen die ethnische, körperliche, soziale oder sexuelle Identität von Außenstehenden nicht mehr dekodiert werden kann. Es gibt viele dokumentierte Fälle von "Passing" (und sicher noch sehr viel mehr undokumentierte), aber die meisten handeln von Schwarzen, die sich dafür entschieden, als Weiße zu leben, um der Diskriminierung zu entgehen. Der Arzt Albert Johnston und seine Frau waren zum Beispiel Afroamerikaner mit relativ heller Haut. Ihre Geschichte ähnelt der, die der Autor Philip Roth in seinem Roman "Der menschliche Makel" beschrieb. Als Johnston 1929 als Schwarzer keine Arbeit in Chicago fand, zogen sie nach New Hampshire und erzählten dort einfach niemandem mehr von ihrer Abstammung (nicht einmal ihre Kinder wussten es). Die Johnstons fuhren gut damit. Sie hatten das bürgerliche und erfolgreiche Leben, das ihnen als Afroamerikanern verwehrt geblieben war. +Rachel Dolezals Geschichte ist jedoch komplizierter als die der Johnstons. Ihre Motive liegen noch immer weitgehend im Dunkeln. Selbst ihre größten Fans können die Widersprüche ihrer Person kaum leugnen. Dolezal zeigte zum Beispiel 2002 ihre Universität wegen Rassendiskriminierung an. Damals hatte sie ihr "Passing" offenbar noch nicht vollzogen, denn sie behauptete, sie werde als Weiße gegenüber Schwarzen diskriminiert. +Nach allem, was man aus der Klatschpresse erfährt, soll Dolezal heute als Friseurin mit Spezialgebiet Afro- Flechtfrisuren arbeiten und vor einigen Monaten einen Sohn geboren haben, dessen Name eine Hommage an zwei Helden der afroamerikanischen Kultur ist. Sie hat durch den Skandal viele Freunde verloren und wurde heftig angefeindet. Für 2017 hat sie nun ein Buch angekündigt, in dem sie sich ein für alle Mal rechtfertigen will. Was sie vorab schrieb, klang schon mal interessant. Hautfarbe sei ihrer Meinung nach eben keine biologische Tatsache, sondern ein soziales Konstrukt. diff --git a/fluter/keine-gnade-den-sprayern.txt b/fluter/keine-gnade-den-sprayern.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..64734e2ac465dcc03d79306c39b726c4096946ae --- /dev/null +++ b/fluter/keine-gnade-den-sprayern.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +In Leipzig kostete die Beseitigung illegaler Graffiti zuletzt zwei Millionen Euro im Jahr. Die Zahl kommt vom Ordnungsamt, und es ist noch nicht lange her, da war diese Zahl wesentlich kleiner. Das war vor knapp zehn Jahren. Damals, 2003, beschloss die Stadt Leipzig, die weit und breit größte Fläche für legale Graffiti am Karl-Heine-Kanal zu sperren. Von einem Tag auf den anderen gingen mehr als 1.000 Quadratmeter für die Sprüher verloren, die ohne Angst vor der Polizei Kunst machen wollten. +Die Entscheidung gegen die legale Fläche fiel in eine Zeit, in der die Null-Toleranz-Politik gegenüber Graffiti in Mode kam. Ende der 1990er gab es in so gut wie jedem Dorf einen besprühten Stromkasten oder eine getaggte Bushaltestelle. Das Phänomen Graffiti habe sich über ganz Deutschland ausgebreitet, sagt Sascha Kittel, Vorstandsmitglied des Graffitivereins Leipzig. Graffiti habe einen schlechten Ruf gehabt und viele Politiker hätten darauf gesetzt, diese Kunstform so weit wie möglich einzuschränken – egal ob legal oder illegal. +Ein Grund für die restriktive Politik in Deutschland war der Erfolg der Broken-Windows-Theorie, die zwei US-amerikanische Kriminologen im Jahr 1982 aufgestellt hatten. Nach ihrer Theorie reicht ein eingeschlagenes Fenster – das namensgebende "Broken Window" – aus, um weitere Zerstörung anzuziehen. Genauso verhalte es sich mit einem Graffito, das nicht entfernt werde. Jedes Tag sei ein Zeichen dafür, dass sich niemand in der Nachbarschaft um das Viertel kümmere. So kommt ein Tag zum nächsten, mehr Fenster werden zerbrochen, mehr Müllbeutel auf die Straße gestellt. Irgendwann entdeckten dann Drogendealer und Autoknacker das Viertel für sich. Kurz: Es geht den Bach runter. Natürlich gab und gibt es Experten, die an der Theorie zweifeln. +"In Leipzig hat die Null-Toleranz-Politik genau das Gegenteil dessen bewirkt, was sich die Politiker gewünscht haben", sagt Sascha Kittel. 2004, ein Jahr nach der Sperrung der Freifläche, habe die Zahl illegaler Graffiti in der Stadt um 30 Prozent zugenommen, im Jahr darauf noch einmal um 15 Prozent. Geändert habe sich trotzdem nichts, bis heute gebe es kaum Flächen, die legal besprüht werden dürfen. Dafür ist die sächsische Großstadt in Sachen Graffiti zur Nummer zwei in Ostdeutschland geworden, mehr illegale Bilder werden nur in Berlin registriert. +Trotzdem merkt Sascha Kittel, dass die Leute toleranter gegenüber Graffiti geworden sind. 1998 fing er beim Graffitiverein an, seither, sagt er, habe sich der Blick auf die Wandbilder geschärft. Für die Leute seien Graffiti nicht mehr nur Schmierereien. Das gelte übrigens auch für die Politiker. +In Freiburg im Breisgau hat sich 2007 eine Lobby gegen Graffiti formiert. Bürgervereine, Polizei und Malerinnung sind Teil des sogenannten Anti-Graffiti-Solidarmodels, das der VereinSicheres Freiburgentwickelt hat. Das Modell setzt einerseits auf die Aufklärung von Jugendlichen, andererseits auf Beseitigung illegaler Graffiti in der Stadt. +Beate Hauser ist Geschäftsführerin des VereinsSicheres Freiburg. Sie sagt: "Wir wollen ein Signal setzen, den Leuten klarmachen: illegale Graffiti sind Straftaten." Dazu gehen Unterstützer der Aktion in Schulen und Jugendzentren und erklären, dass illegale Schmierereien teuer werden können und strafrechtlich verfolgt werden. In Einzelfällen sprechen sie auch mit Eltern von Sprühern, die nicht weiterwissen. "Aufklärung ist eine kontinuierliche Arbeit, die man immer wieder leisten muss", sagt Beate Hauser. +Dass die Arbeit ihres Vereins etwas bewirkt, kann sie nicht mit Zahlen belegen. Bei Graffiti sei die Dunkelziffer sehr hoch, weil viele gar nicht angezeigt würden, sagt Beate Hauser. Trotzdem ist sie sicher, dass ihr Einsatz etwas bringt. Wichtig sei allein schon, die Bewohner aufzufordern: Kümmert euch um eure Stadt. +Immer im Frühling gibt es in Freiburg Aktionswochen, in denen illegale Graffiti entfernt werden. Jedes Mal steht ein anderer Stadtteil auf der Putzliste. Bevor die Maler kommen und die passende Fassadenfarbe anmischen, muss geklärt werden, wer die Eigentümer der besprühten Gebäude sind. Von ihnen brauche man eine schriftliche Genehmigung, um die Graffiti zu übermalen, sagt Beate Hauser. Sonst sei das Sachbeschädigung. +Wo man auch hinsieht: Es gibt überall verschiedene Ansätze mit dem Phänomen Graffiti umzugehen. Inzwischen ist es Konsens Graffiti im Allgemeinen als Kunstform anzuerkennen und den Dialog mit den Sprühern zu suchen. Aber auch hier gibt es Extreme. Es gibt die Sprayer, die gar nicht über legale Flächen verhandeln wollen. Sie wollen malen, wann und wo sie Lust haben. Alles andere ist kein Graffiti. Anderen wiederum geht es um Kunstfreiheit. Und der letzten Gruppe um ihre ganz persönliche Freiheit? +Alexander Krex ist freier Journalist und Autor. Nach dem Geschichtsstudium war er Werbetexter, dann absolvierte er die Deutsche Journalistenschule in München. Er kommt aus Berlin. diff --git a/fluter/keine-heldenerzaehlung.txt b/fluter/keine-heldenerzaehlung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..023bfbe234831a473041a4b326343b3b8a71dc85 --- /dev/null +++ b/fluter/keine-heldenerzaehlung.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Es sind solche Momente, die während der Lektüre immer wieder zu Schockstarre und Verwirrung führen, viel stärker als die realistischen Beschreibungen von Leichen, deren Haut sich in der Sonne löst, von verbranntem Fleisch, das wie Steak riecht, und von der testosteronbefeuerten Soldatenwelt, in der es um die eigene Härte, Alkohol und Nutten geht. Durch die bohrenden Fragen nach dem Sinn oder nach der Sinnlosigkeit des Krieges – nicht nur des Irak-Krieges – erreicht Klays Buch universelle Bedeutung, unabhängig davon, dass hier allein die Sicht von US-Soldaten verarbeitet wird. Damit steht das Buch in einer Reihe mit Klassikern wie Tim O'Briens "Was sie trugen" über den Vietnam-Krieg oder auch Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues". +In den Kurzgeschichten begleitet der Leser Marines nicht nur in das Grauen des Krieges, sondern folgt ihnen auch auf dem Weg zurück nach Hause. Dort treffen sie auf ihre Frauen, die nichts mehr von ihnen wissen wollen, auf Freunde, vor die sich die Kriegserfahrung wie eine Wand geschoben hat. Im vielleicht besten Stück des Buches, das in den USA für den National Book Award nominiert ist, erzählt ein Ex-Marine einer Kommilitonin, die als Kriegsgegnerin zunächst nichts von ihm wissen will, von seiner Zeit im Irak, von seinen schmerzhaften Erfahrungen, von albtraumhaften Bildern, von seiner Verzweiflung. Es ist keine Heldenerzählung. In einer weiteren Geschichte folgt der Leser einem Soldaten der Abteilung für Wiederaufbau, der immer wieder an Inkompetenzen und Abstrusitäten scheitert und der von einem Kongressmitglied gezwungen wird, den Irakern die Demokratie mit Hilfe von Baseball näher zu bringen. +Klays Buch lebt nicht von actiongeladenen, bluttriefenden Szenen, sondern von fein konstruierten Handlungen, die dem Alltag des Krieges in all seinen Dimensionen wohl sehr nahe kommen. Sein bissiger Humor, seine schnörkellose Sprache, seine Fähigkeit, das schwarze Geschwür des Krieges wie ein Chirurg offenzulegen, sind meisterhaft und erstaunlich für einen so jungen Autoren. Eine leichte Lektüre ist dieses Buch sicher nicht. Nein, es ist sogar eine erschreckende Lektüre. Aber eine äußerst gewinnende, wenn man bereit ist, Fragen über den Krieg, über seinen Sinn, über seine Zerstörungswut zuzulassen, die nicht nach dem üblichen Schwarz-Weiß-Schema konstruiert sind. Und wenn man darauf vorbereitet ist, nicht auf all diese Fragen eine Antwort zu bekommen. diff --git a/fluter/keine-macht-fuer-niemand.txt b/fluter/keine-macht-fuer-niemand.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/keine-toleranz-fuer-die-intoleranz.txt b/fluter/keine-toleranz-fuer-die-intoleranz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5551d89e5029442efdbc4c018c7232ca49cc4f69 --- /dev/null +++ b/fluter/keine-toleranz-fuer-die-intoleranz.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Seit November 2011 versuchen nun mehrere Hundert Polizisten und Verfassungsschützer mit Hochdruck, sowohl die Taten des NSU aufzuklären als auch die Versäumnisse aus den Vorjahren. Die Terroristen waren ja schon Ende der 90er-Jahre als Bombenbastler polizeibekannt gewesen – aber die Thüringer Behörden versäumten damals ihre Festnahme. Danach befassten sich im Laufe der Jahre rund 30 verschiedene Behörden mit dem Fall: Mehrfach wurden in verschiedenen Bundesländern Überwachungsmaßnahmen abgebrochen oder Ergebnisse nicht oder nur langsam an Kollegen anderswo weitergeleitet. V-Leute – also bezahlte Informanten aus der Nazi-Szene – tricksten den Verfassungsschutz aus, ohne dass der das merkte. Im Jahr 2003 wurde die Suche nach den Terroristen ganz eingestellt. Drei Jahre später wurde beim Bundesamt für Verfassungsschutz die eigenständige Fachabteilung für Rechtsextremismus aufgelöst. +Mittlerweile gibt es diese Abteilung wieder. Nach dem Schock vom November trafen sich die Justizministerin und der Innenminister in Berlin zu einer Sonderkonferenz. Die Thüringer Landesregierung, in deren Bundesland die Nazi-Gefahr besonders unterschätzt worden war, veranstaltete ein großes Konzert gegen Rechts. Die Sicherheitsbehörden gründeten ein "Gemeinsames Abwehrzentrum gegen Rechts" und eine zentrale Computerdatei für Nazi-Gewalttäter. Im Januar sprachen die Familienministerin und der Innenminister mit Bürgerinitiativen, die seit Jahren gegen Rechtsextremismus aktiv sind – aber die zwei Millionen Euro, die der Bundestag im November zusätzlich bewilligt hatte, gehen nicht an diese Gruppen, sondern in den Aufbau eines staatlichen Info-Zentrums. Zudem wurden einige Kommissionen eingerichtet. Zum Thema Rechtsterrorismus gibt es inzwischen fünf verschiedene. Die erste stellte der Bundesinnenminister gleich Ende November vor – aber bis Februar hatte sie sich noch nicht getroffen. Daneben berief der Innenminister in Thüringen eine Kommission, der dortige Landtag bildete einen Untersuchungsausschuss, ebenso der Bundestag. Als Letztes startete im Februar eine "Bund-Länder-Kommission". Schon hat ein Tauziehen darum begonnen, wer wann welche Akten einsehen und welche Sicherheitsbeamte als Zeugen vernehmen darf. Im Februar schließlich sprach Bundeskanzlerin Merkel auf einer Gedenkfeier für die Opfer des NSU, an der auch Angehörige der Ermordeten teilnahmen, und bat sie um Verzeihung, dass sie zu ihrem Leid auch noch falschen Anschuldigungen ausgesetzt waren. Man kann das als klaren Auftrag an die Behörden sehen, aus der Vergangenheit zu lernen. diff --git a/fluter/ken-jebsen-podcast-verschwoerungsmythen-rezension.txt b/fluter/ken-jebsen-podcast-verschwoerungsmythen-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a4db0bb2f31b039ad97359921d432852a011c5d6 --- /dev/null +++ b/fluter/ken-jebsen-podcast-verschwoerungsmythen-rezension.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +… alle, die nicht nur wissen wollen, was zur Hölle denn nun mit diesem Ken Jebsen passiert ist, sondern die sich zum Beispiel auch noch fragen: Wer sinddie Teilnehmenden der "Hygienedemos", und wieso sollte irgendwer ernsthaft glauben, Bill Gates stecke hinter dem Coronavirus? + +"Cui Bono" ist alles andere als ein Laberformat, sondern erinnert an aufwändige US-amerikanische Podcasts wie "Serial" (an manchen Stellen ein bisschen sehr sogar). Das liegt einmal an der eigens produzierten Musik und den O-Tönen zeitgeschichtlicher Ereignisse – etwa von den rechtsextremistischen Ausschreitungen inChemnitzim Jahr 2018. Und dann natürlich an den Reportageelementen: So folgt man dem Journalisten Khesrau Behroz zum Beispiel bei seinen Recherchen auf eine "Hygienedemo". Behroz moderiert auf bemerkenswert angenehme Weise durch die verschiedenen Stationen von Jebsens Leben, man bekommt immer wieder Ausschnitte aus seinen Shows und Videos zu hören, und es werden ehemalige Arbeitskollegen und Mitstreiter interviewt. +Eine entscheidende Rolle bei dem Aufstieg von Verschwörungsmythen spielte ein Algorithmus, den YouTube 2012 einführte: Seitdem werden nicht mehr die Videos bevorzugt, die oft geklickt werden, sondern diejenigen, die sich Nutzer*innen besonders lange ansehen. Deswegen werden uns heute eher weniger sekundenkurze Katzenvideos empfohlen und mehr zehnminütige Monologe über Chemtrails und Reptiloide. + +"Cui bono: WTF happened to Ken Jebsen?" ist nicht nur unheimlich gut recherchiert, zugute muss man den Macher*innen auch ihre Wertfreiheit halten: Ken Jebsen wird nicht einfach ein Stempel aufgedrückt – dass er Antisemit sei zum Beispiel –, stattdessen wird seine Person in all ihrer Ambivalenz und Komplexität dargestellt. +Genauso geht der Podcast mit den verschwörungsideologischen Bewegungen um, die er porträtiert. Es sind eben nicht (nur) völlig paranoide Typen, die neben Konservenvorräten für Tag X im Panikraum sitzen und Aluhut tragen, sondern wie vielleicht manche Hörer*innen aus eigener Erfahrung wissen: auch ansonsten halbwegs "normale" Elternteile, unauffällige Biologiestudentinnen oder liebenswürdige Busfahrer, die mit Verschwörungsmythen liebäugeln. Viele von ihnen radikalisieren sich Clip à Clip durch das breite Angebot auf Plattformen wie der Jebsens und durch sogartige Algorithmen, die immer neue Verschwörungen vorpredigen. So informationsdicht das nun klingen mag, "Cui Bono" schafft es, niedrigschwellig und unterhaltsam zu bleiben. Die 30 bis 40 Minuten jeder Episode gehen um, ehe man"Die BRD-GmbH ist kein souveräner Staat"ausgesprochen hat. + +"Cui Bono: WTF happened to Ken Jebsen" ist unter anderem in derAudiothek der ARDoder auf Spotify zu hören. + diff --git a/fluter/kennst-du-den.txt b/fluter/kennst-du-den.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d058941367ce02ede667f65202bd030aec0e8c4e --- /dev/null +++ b/fluter/kennst-du-den.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Die befinden sich für ihn in seinem wirtschaftswissenschaftlichen Studium, seinem Sportverein oder beim Praktikum in einer renommierten Unternehmensberatung. Dort betreibt er stets lächelnd Networking, bejammert die Macht der Gewerkschaften und macht sich auf die Suche nach einem adäquaten Lebenspartner: am besten aus gutem Hause.Freiheit ist ... "die ungehinderte Entfaltung der Kräfte des Marktes"Die Vorbilder: Thomas Middelhoff und Uli Hoeneß +Jeden Tag verlässt er sein Sofa zur selben Zeit, um für ein paar Schachpartien in den Park zu gehen. Nicht dass ihn dort jemand erwarten würde. Es ist vielmehr so, dass genau in diesem Moment die Sonne hinter dem gegenüberliegenden Dachgiebel verschwindet und das Sofa im Schatten liegt. Und wenn sein stets unabgeschlossenes Fahrrad wieder einmal geklaut wurde, erfüllt ihn das nicht mit Wut. Er denkt, dass es jemand dringender brauchte. Er wird schon wieder jemanden finden, der ihm im Austausch gegen Schachunterricht ein anderes Fahrrad überlässt. Zum Essen lädt er sich gern bei Freunden ein, die ihm dafür vom stressigen Leben zwischen Vorlesung und Nebenjob vorjammern dürfen. Sein eigenes Philosophiestudium ruht seit geraumer Zeit, der Bedürfnislose lernt lieber Tai-Chi oder Jonglieren.Freiheit ist ... "etwas, das man nicht beschreiben kann, ohne Gefahr zu laufen, es genau durch diesen Definitionsprozess aufs Spiel zu setzen"Die Vorbilder: Diogenes und der Typ aus der Gauloises-Werbung +Der Superglobale +Die Freunde des Superglobalen zitterten zu Jahresbeginn vor der Textiloffensive aus China - jetzt wo die Importquoten gefallen seien. Der Superglobale öffnete hingegen eine Flasche Champagner, um den "glorreichen Sieg des ökonomischen Weltgeistes gegen kleinmütiges Bezirksdenken" würdig zu feiern. Sein Diplom kommt aus der Schweiz, sein Sportwagen aus den USA, seine Freundin aus Spanien. Wenn ihn jemand nach seiner Nationalität fragt, antwortet er "Europäer" oder "Kosmopolit". Der Gedanke, sich einem Land, einer Nation zugehörig zu fühlen, lässt kalten Schweiß auf seiner Stirn erscheinen. Dass er weder weiß, wie das Bundesland heißt, in dem er wohnt, noch, was der Unterschied zwischen Teutoburger Wald und Schwarzwald ist, betrachtet er nicht als Nachlässigkeit, sondern als eine seiner größten Errungenschaften.Freiheit ist ... "Fakes von amerikanischen Sneakern auf der chinesischen eBay-Seite zu einem Spottpreis zu schießen"Die Vorbilder: Rupert Murdoch und Mickymaus +Der Guerillakämpfer +Frauen in Highheels - von Männern zur Erfüllung von Schönheitsidealen gezwungene Dinger. Jugendliche Kleingangster - Produkte der Ellenbogengesellschaft. Die Welt des Guerillakämpfers ist schwarz-weiß, die Schuld trifft immer das System. Freiwillig werden "die da oben" nie von ihren subtilen Unterdrückungsmechanismen lassen, die den Menschen an der Entfaltung hindern. Ihre wichtigste Waffe: das Fernsehen. Um dessen Macht zu verstehen, zappt der Guerillakämpfer ziellos durch die Kanäle. Seinen Freunden erzählt er, "bald was zu planen". Leider kommt ihm sein Vater dazwischen, der ihm aus erzieherischen Gründen die Zahlung der Kfz-Versicherung für seinen Jeep streicht. Woraufhin dem Guerillakämpfer nichts anderes übrig bleibt, als vor dem Freiheitskampf erst einmal die Ausbildung zu beenden. Denn wer startet die Revolution schon aus dem Linienbus?Freiheit ist ... "die Beendigung von Unterdrückung durch Kampf"Die Vorbilder: Che Guevara und der Sänger von Rage Against The Machine +Der Surfer +Im Grunde ist das Leben ganz einfach: Man braucht nur einen Strand, Sonne, ein Surfbrett, gute Wellen. Sieht man von Fernreisen, extravagantem Surfmaterial und sauteuren Originalteilen für den VW-Campingbus ab. Um sich das Geld für die Freiheit zu besorgen, arbeitet er während seines Sportstudiums an den Wochenenden als Promoter oder bespannt Tennisschläger neu und wird nach dem Studium verbeamteter Lehrer. Häufig fällt er schon während des Referendariats durch Realitätsflucht negativ auf. Immer wieder versinkt er minutenlang in Tagträumen. Mit zunehmendem Alter fällt ihm mit seinen langen Dreadlocks, der sich ewig pellenden Haut und seiner Beach-Mentalität die Integration in den Alltag immer schwerer.Freiheit ist ... "eins zu werden mit der großen Welle"Die Vorbilder: Patrick Swayze in "Gefährliche Brandung" und Tony Hawk +Der Intellektuelle +Um seine Gedanken aufs Wesentliche zu konzentrieren und seiner Bedürfnislosigkeit Ausdruck zu verleihen, rasiert er sich die Haare mit einem Langhaarschneider. Er trägt schwarze Rollkragenpullover und hat den Fernseher aus seinem Apartment verbannt. Wenn er nicht in einem Seminar Dozenten mit Sinnfragen nervt, sitzt er in seiner Kammer vor einer Schreibmaschine, blättert ziellos in den Klassikern der Philosophiegeschichte und trinkt einen Espresso. Oft setzt er sein Literaturstudium auf dem Bett fort. Dabei erscheinen ihm die Zeilen des Sartre-Werks "Das Sein und das Nichts" doppelt, er macht ein Nickerchen. Nicht schlimm, dass es erst vormittags ist: Schlafend ist er dem Wesentlichen viel näher - der Französin Olivia. Die hat er beim Schüleraustausch kennen gelernt, in einem Café in Paris.Freiheit ist ... "die Willensfreiheit des Subjekts im Sosein als Antwort auf seine Existenz im dem ihn umgebenden Dasein"Die Vorbilder: Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir diff --git a/fluter/kiki-luigi.txt b/fluter/kiki-luigi.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/kim-jiyoung-geboren-1982-rezension.txt b/fluter/kim-jiyoung-geboren-1982-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..37a8f9ba1450331d0546c3d7f9e6c22d0b37fe2b --- /dev/null +++ b/fluter/kim-jiyoung-geboren-1982-rezension.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Vielmehr beschreibt die Autorin Choo Nam-Joo, selbst geboren im Jahr 1978, in einem fast schon emotionslos nüchternen Ton die Biografie einer Durchschnittsfrau in Südkorea: Kim Jiyoung wird als zweites Kind eines Beamten und einer Hausfrau in Seoul geboren, geht zur Schule, studiert, arbeitet, heiratet, bekommt ein Kind – so weit, so gewöhnlich. Bereits am Anfang des Buches erfährt man allerdings, dass Jiyoung sich mit Anfang 30 zunehmend alles andere als gewöhnlich verhält: Kurz nach der Geburt ihrer Tochter scheint sich ihre Persönlichkeit aufzuspalten: Immer wieder übernehmen Frauen aus ihrer Vergangenheit Besitz von ihr, zuerst eine Freundin aus Studienzeiten, dann die eigene Mutter. +Ihr Therapeut, aus dessen Sicht ein Teil des Romans erzählt ist, geht zunächst von einer postnatalen psychischen Störung aus. Nachdem man als Leser aber mehr und mehr über Kim Jiyoung erfährt, kommt man zu einem ganz anderen Schluss: Kim Jiyoungs Leiden beruht darauf, dass sie – wie Millionen südkoreanische Frauen – ein Leben führt, in dem Unterdrückung, Sexismus, Gewalt und Ungerechtigkeit zum Alltag gehören. +In vier Epochenabschnitten von 1982 bis 2015 zeichnet die Autorin exemplarisch das Bild einer Frau, die von der Gesellschaft trotz bestem Willen ihrerseits permanent niedergerungen wird. Zugleich erzählt der Roman von der Geschichte Südkoreas: vom Hochgeschwindigkeitsaufbruch des Landes in eine kapitalistische Leistungsgesellschaft. Eine aus westlicher Perspektive immer wieder gefeierte Entwicklung, die aber nicht zuletzt auf dem Rücken der südkoreanischen Frauen ausgetragen wurde (im Gender-Gap-Report des Weltwirtschaftsforums von 2020belegt Südkorea den 108. von 153 Plätzen). +Das beginnt bereits bei Jiyoungs Geburt: Cho Nam-Joo beschreibt eine Mutter, die sich vor der ganzen Familie für ihr "Versagen" rechtfertigen muss, keinen Sohn geboren zu haben. Als Jiyoungs Mutter nach ihr wieder mit einem Mädchen schwanger ist, entschließt sie sich zur Abtreibung. Der darauf folgende Sohn wird von den Eltern verhätschelt wie ein Prinz, bekommt als Erster ein eigenes Zimmer, später müssen seine beiden Schwestern arbeiten, um ihm das Studium zu finanzieren. +Bei der Jobsuche muss Jiyoung sich sexuelle Anspielungen in Bewerbungsgesprächen gefallen lassen, später dann dabei zusehen, wie die männlichen Kollegen befördert werden, während die Frauen mit ihrem "Schwangerschaftsrisiko" auf der Strecke bleiben. +Dem gegenüber stehen die Männer, die in diesem Buch nur selten als bewusst feindselig auftreten, aber den Alltag ihrer Töchter, Frauen und Kolleginnen, die sexuellen Belästigungen und himmelschreienden Ungerechtigkeiten ratlos bis gleichgültig hinnehmen. Besonders deutlich wird das bei Jiyoungs Ehemann Daehyon, der seine Frau zwar vor den Erwartungen seiner Eltern in Schutz nimmt, letztendlich aber doch auf Kinder drängt, obwohl er weiß, dass ein Baby in der südkoreanischen Gesellschaft für eine Frau mit großer Wahrscheinlichkeit das Ende ihrer Karriere bedeutet. +Wohl um dem Vorwurf zu begegnen, hier ein allzu düsteres, realitätsfernes Bild zu zeichnen, verwebt die Autorin Jiyoungs Geschichte mit Fakten aus Studien inklusive Belegen in Form von Fußnoten. So erfahren wir etwa, dass im Jahr 2014, als Jiyoung wegen ihres Kindes ihren Job aufgibt, jede fünfte Frau einen ähnlichen Schritt machte. Cho Nam-Joo will ihr Buch explizit nicht nur als Kunstwerk, sondern als einen Debattenanstoß verstanden wissen. "Kim Jiyoung, geboren 1982" erschien 2016 in Südkorea, im selben Jahr, in dem der frauenfeindlich motivierte Mord an einer 34-Jährigen für Empörung sorgte. Der Roman, der sich im Land mehr als 1,3 Millionen Mal verkaufte, wurde Teil einer Art südkoreanischen #MeToo-Bewegung – inklusive antifeministischer Gegenreaktionen wie die eingangs erwähnten Anfeindungen gegen den K-Pop-Star Irene. +Interessant ist hierbei auch, dass Cho Nam-Joo in ihrem Buch nicht nur nüchtern das Leid der Frauen thematisiert, sondern auch deren Verknüpfung mit den Ansprüchen einer Volkswirtschaft,die im Zuge ihres rasanten Wachstums das Kapitel "Sozialstaat" übersprungen zu haben scheint. Und in der die Einbindung der Frauen als Arbeitskräfte nur bedingt emanzipatorisch motiviert war: Nicht nur althergebrachte Rollenbilder und Familientraditionen lasten auf den südkoreanischen Frauen, sondern auch die wirtschaftliche Not, als Hausfrau mit Nebenjobs Geld verdienen zu müssen. Oder als Schwangere bis kurz vor der Entbindung zu arbeiten, nur um in der U-Bahn auf der Fahrt zum Büro als Rabenmutter beleidigt zu werden. +Die Ungerechtigkeit steckt in "Kim Jiyoung, geboren 1982" immer auf beiden Seiten, sowohl in der alten als auch in der neuen, vermeintlich fortschrittlicheren Welt. Alltägliche Abgründe, die sich mit individueller Psychotherapie allein nicht zuschütten lassen. Und an denen Frauen weiterhin tagtäglich zerbrechen. Nicht nur in Südkorea. + +Titelbild: Jun Michael Park/laif diff --git a/fluter/kinofilm-wir-waren-kumpel.txt b/fluter/kinofilm-wir-waren-kumpel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..46b8e481a7f4c14f6ee6dfd574cabffe0f46cdee --- /dev/null +++ b/fluter/kinofilm-wir-waren-kumpel.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Um die Frage, was Arbeit für Menschen bedeuten kann – und die Erkenntnis, dass sie sich manchmal so tief in die eigene Identität eingräbt, dass man ohne sie nicht mehr weiß, wer man eigentlich ist. "Wir waren Kumpel" stellt insgesamt fünf Protagonist:innen vor, diein der Steinkohleförderung gearbeitet haben. Da sind die Bergleute Wolfgang, genannt Locke, und Marco, genannt Langer. "Die meisten sind nur Kollegen", sagt Langer einmal. "Locke und ich sind ein Herz und eine Seele." Langer arbeitet nach der Schließung der Zeche als Busfahrer und ist stolz auf seinen neuen Job, der ihm sinnvoller vorkommt als seine Tätigkeit als Bergmann. Locke nutzt seine freie Zeit, um sich mit sich selbst und der sich stetig verändernden Welt um ihn herum zu beschäftigen. +Dann ist dadie trans FrauMartina, die laut den Filmemachern als einzige Frau in Deutschland im Steinkohlebergbau gearbeitet hat und mittlerweile im Salzbergbau tätig ist. Dabei wäre sie ursprünglich viel lieber Make-up-Artistin oder Friseurin geworden. "Wäre ich damals bei meinen Eltern damit um die Ecke gekommen, die hätten gesagt: ‚Hast du einen am Sträußchen?' Es musste ein Männerberuf sein." Und so habe sie jahrelang die Rolle des harten Kumpels gespielt. "Aber mittlerweile ist der Bergbau ein Teil von mir. Deswegen habe ich in den Salzbergbau gewechselt." +Der Werklokführer Kirishantan wiederum, genannt Kiri, floh als Jugendlicher vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka nach Deutschland. Für ihn war die Zeche so etwas wie ein zweites Zuhause. Er erleidet nach seinem Jobverlust einen Herzinfarkt, weswegen er nicht mehr schwer körperlich arbeiten soll. Stattdessen bringt er Kindern seine Muttersprache Tamilisch bei. Und schließlich ist da Thomas, der sich bisher um die Bergmannskleidung der Besuchergruppen gekümmert hat und nun noch mehr Zeit mit seiner Mutter verbringt, mit der er zusammenlebt. + +Der Film kommt ohne Erzähler:in aus und lässt nur seine Protagonist:innen sprechen. Das ermöglicht einen tiefen Einblick in das Leben der ehemaligen Bergleute. Es ist erstaunlich, wie nahe sie die Filmemacher an sich heranlassen. So begleitet die Kamera Locke und Langer unter die Dusche, wo sie sich nicht nur die Kohle aus dem Gesicht waschen, sondern sich auch gegenseitig den Rücken schrubben. Auch der familiäre Alltag nach der Zechenschließung in den eigenen vier Wänden wird gezeigt. In einer Szene ist Locke mit seiner Tochter zu sehen. Als diese früher nach Hause kommt als erwartet, vermutet ihr Vater, dass sie schwänzt. Es kommt zum Konflikt, an dessen Ende die Tochter ihn anschreit: "Such dir einen Job!" Locke fällt es sichtlich schwer, sich daran zu gewöhnen, im Ruhestand so viel Zeit zu Hause zu verbringen. Kiri geht der Verlust des Arbeitsortes besonders nahe. An seinem letzten Arbeitstag kommen ihm die Tränen. Es sind diese intimen Momente, die den Film auszeichnen. + +Kiri, der nach der Schließung der Zeche sagt: "Ich habe mich jahrelang nicht gefragt, wo ich hingehöre. Es war immer alles klar. Jetzt auf einmal kommen diese ganzen alten Gedanken in meinen Kopf. Alte Träume, wo ich mein Haus, Freunde, Heimat verlassen musste. Alles, was tief in meinem Herzen drinsteckt, kommt wieder hoch." + +Unbedingt! "Wir waren Kumpel" zeigt,wie Menschen vom Umbau der Wirtschaft betroffen sind. Der Film schafft es, Empathie für jene zu erzeugen, die die Auswirkungen dieser Umbrüche jetzt unmittelbar zu spüren bekommen. + +"Wir waren Kumpel" läuft ab dem 29. Februar im Kino. +Fotos: Filmperlen diff --git a/fluter/klare-botschaft.txt b/fluter/klare-botschaft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e399bfed4b394e9eacbc4d92cc88deb6c176f61e --- /dev/null +++ b/fluter/klare-botschaft.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Deutschland wollte nicht ganz so weit gehen. Es wies den libyschen Botschafter nicht aus, Außenminister Guido Westerwelle bestellte ihn in Berlin ins Auswärtige Amt ein. Er bekam dort von einem deutschen Diplomaten gleichen Ranges einen Brief überreicht, eine sogenannte Verbalnote, in der Deutschland seine Sorge über das Verhalten der Gaddafis ausdrückte. Auch der syrische Botschafter wurde ins Berliner Außenministerium zitiert und zwar mehrfach, weil sein Herrscher daheim die Demonstranten niederknüppeln ließ. Auch für ihn gab es Protestworte zur Weiterleitung an seine Regierung. Und wie immer, wenn ein Land gegen irgendetwas protestiert, wurde das auch diesmal öffentlich verkündet. Das soll zeigen: Wir kümmern uns, wir machen Druck. +Doch wie dieser Druck aufgebaut wird, ist international nicht geregelt. Das viel zitierte Völkerrecht ist nämlich kein Gesetzbuch, sondern lediglich ein Überbegriff für alle einzelnen überstaatlichen Vereinbarungen – bis hin zur Charta der Vereinten Nationen. Darin gibt es den formalen Protest zwar als Mittel. Aber jeder Staat kann selbst entscheiden, ob und wie scharf oder milde er protestieren will. Es gibt keine allgemeingültige Eskalationsleiter, die ein Staat mit wachsender Empörung Stufe um Stufe hochklettern könnte. Traditionell beginnt der Protest jedoch auf der Ebene der Botschaften. Es gibt aber nicht einmal da Regeln, ob nun schriftlich oder mündlich protestiert wird. So kann es schon Protest sein, wenn der deutsche Botschafter in Minsk oder Moskau einen russischen Menschenrechtler empfängt. +Woher nehmen sich Staaten das Recht, überhaupt gegen andere zu protestieren? Sie dürfen das dem Völkerrecht nach, wenn sie die Menschenrechte oder den Frieden gefährdet sehen. Und Staaten können immer protestieren, wenn sie sich direkt bedroht fühlen; wenn ihr Volk angegriffen oder die Grenze verletzt wurde. Als Truppen des Warschauer Pakts 1968 den sogenannten Prager Frühling niederwalzten, war die Protestnote die einzige, verzweifelte Gegenwehr: "Die Regierung der Tschechoslowakei protestiert auf das Entschiedenste gegen diesen Akt." Mehr konnte sie nicht tun. Über 20 Jahre später, im Wendejahr 1989, protestierte die Bundesrepublik Deutschland gegen die Tschechoslowakei. Tausende DDR-Bürger suchten Zuflucht in der bundesdeutschen Botschaft in Prag. Tschechische Polizisten versuchten sie aufzuhalten: "Deutsche Staatsangehörige am Betreten der Botschaft zu hindern ist für die Bundesregierung inakzeptabel", hieß es in der Bonner Protestnote. Sie zeigte Wirkung: Außenminister Genscher konnte den Tausenden Botschaftsflüchtlingen später vom Botschaftsbalkon aus verkünden, "dass ihre Ausreise genehmigt ist". +Als 1961 die Mauer gebaut wurde, hieß es in einer amerikanischen Protestnote an Moskau: "Die Regierung der Vereinigten Staaten protestiert feierlich gegen die Maßnahmen, für die sie die sowjetische Regierung verantwortlich macht. Die Regierung der Vereinigten Staaten erwartet, dass die sowjetische Regierung diesen illegalen Maßnahmen ein Ende setzt." Schwächer hätte ein Protest nicht klingen können, während ein Teil eines Volkes eingemauert wurde. Die USA hatten tatsächlich nur pro forma protestiert. Sie zogen es vor, den Frieden mit der Sowjetunion zu wahren. +Als wie stark ein Protest empfunden wird, hängt immer von den Beziehungen zwischen den jeweiligen Ländern ab. So hat der König von Saudi-Arabien kürzlich im arabischen Fernsehen gesagt: "Was in Syrien stattfi ndet, ist inakzeptabel." Er rief seine Nachbarregierung dazu auf, "die Todesmaschinerie zu stoppen und das Blutvergießen zu beenden". Ähnliches hatten europäische Politiker längst gesagt, doch wenn der mächtigste Monarch Arabiens zu den direkten Nachbarn so spricht, gilt sein Protest als viel schärfer. +Um mit dem Protest hinterher nicht allein in der Pfl icht zu stehen, starken Worten auch Taten folgen zu lassen, protestieren Staaten gern gemeinsam. Das nennt man dann Protest auf multilateraler Ebene. Auf Gipfeltreff en zu ganz anderen Th emen geben Staaten zuweilen eine gemeinsame Erklärung ab gegen Vorgänge in einem anderen Land, die ihnen nicht passen. So hat die Arabische Liga Libyen und Syrien ermahnt. Die EU hat das auf ihren letzten Gipfeltreff en auch getan. Selbst auf Wirtschaft sgipfeln wird protestiert, etwa gegen die Weigerung Irans, Atominspekteure ins Land zu lassen. Dann wird sogar gedroht: Wenn ihr unseren Protest nicht ernst nehmt, werden wir Sanktionen aussprechen und mit euch nicht mehr handeln! Im Rahmen der Vereinten Nationen, etwa im Menschenrechtsrat, kann Protest zur Sprache gebracht werden in Statements und eigens einberufenen Sitzungen. Sind sich alle einig in ihrem Protest, kann auch eine Resolution der UN-Generalversammlung verabschiedet werden. Zeigt auch dieser Protest im Namen der ganzen Welt keine Wirkung gegen ein Land, dann kann das heft igste staatliche Protestmittel die Folge sein: Krieg. diff --git a/fluter/klarkommen.txt b/fluter/klarkommen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9fbdc2d39a95dacd4f9a5fa6b5ac5afb4a1a825a --- /dev/null +++ b/fluter/klarkommen.txt @@ -0,0 +1,36 @@ +"Ritzen ist eklig. Das habe ich nie gemacht." Er ist auch 13 und der zweite Junge aus Deutschland, der zurzeit bei Holger Kott und dessen Frau Tova Hultqvist in Vallbo lebt. Pascal kam schon vor einem halben Jahr an, als sich die Nächte noch ausdehnten und die Tage zu hellen Streifen zusammenschrumpften, die Temperaturen langsam in den zweistelligen Minusbereich sanken und die Leute in Schneemobilen oder Hundeschlitten durch die Gegend brausten. Er hat das pausbäckige Gesicht eines Kleinkindes und die gedrungene Körperhaltung eines Schwergewichtsboxers. Deckung oben, Muskeln angespannt. In ständiger Erwartung des nächsten Schlags. Pascal betont immer wieder, dass er "der Geilste" sei, schafft es aber in der Praxis augenscheinlich nicht einmal, alleine aufzustehen, seine Kleidung zu wechseln oder Geschirr abzuspülen. In Deutschland ist er aus so vielen Heimen und Wohngruppen weggelaufen, dass er Mühe hat, sie alle aufzuzählen. Er hat geklaut und auch mal ein kleines Feuer in einer Hilfseinrichtung entfacht. Bevor ihn das Jugendamt nach Schweden brachte, schlug er sich in Nordrhein-Westfalen als Obdachloser durch. "Auf der Straße zu leben ist einfach", sagt er. "Du brauchst nur 'ne Bande, ein paar Ältere, dann geht das schon klar."Auf seinem Oberarm sieht man noch ein paar kleine weiße Narben. Ein Souvenir aus seiner Zeit in der geschlossenen Jugendpsychiatrie. Als er dort lebte, waren die Fenster vergittert und die Betten, Tische und Stühle am Boden festgeschraubt. Sie haben ihm alle scharfen und spitzen Gegenstände abgenommen, aber auch das hielt ihn nicht auf. Er zerbrach eine CD- Hülle und schnitt sich damit in die Haut. Pascal schaut angewidert zu Marek.Für Jugendschützer muss das hier allerdings so etwas wie das Paradies auf Erden sein. Härterer Alkohol wird im gesamten Land nur in staatlichen Geschäften verkauft. Drogen sind eine Rarität und die Nachbarn unendlich tolerant (selbst wenn mal ein Jugendlicher im Überschwang bei ihnen einbricht und ihr Geld stiehlt, rasten sie nicht gleich aus). Weglaufen würde auch nicht viel bringen. Die nächste größere Stadt ist 100 Kilometer entfernt. Anders sei es hier, spannend, sagt Marek. Allein diese komische Sprache: Wenn die Leute miteinander reden, versteht man ja kein Wort. +Im Jugendamt befürchteten sie, dass er, wenn er so weitermacht, früher oder später auf den Strich geht oder vergewaltigt wird. Pascals Probleme, das sieht man in seiner Akte, sind keine neuen Probleme, sondern alte Probleme aus der Vergangenheit. Das Genogramm, eine Art Schaltplan der Familie, zeigt: Jede Generation übertrug ihr Unglück auf die folgende. Drogen, Alkohol, Mord und mangelnde Bindungsfähigkeit. Pascals Mutter wurde von ihrer eigenen Mutter nicht angenommen. Sie wuchs bei Pflegeeltern auf, bekam fünf Kinder von drei Männern und gab sie alle ins Heim. Pascal hasst sie und seinen Vater, sich selbst wahrscheinlich auch. +Seine Betreuerin im Jugendamt spricht davon, dass er durchaus intelligent sei. Sie sagt, sie sei überzeugt, dass aus dem Jungen noch was werden kann. Schweden ist für Pascal vielleicht die letzte große Chance, dem Kreislauf zu entkommen. 13 ist ein gutes Alter. 13 bedeutet, dass man noch ein bisschen Kind sein kann und niemand von einem verlangt, ein vollständiger Erwachsener zu sein. 13 bedeutet aber auch: Die Zeit des Scheißebauens sollte langsam mal zu Ende gehen. Nur noch ein paar Monate bis zur Strafmündigkeit. +Im Kern geht es um die Frage aller Fragen in der Sozialarbeit: ob und wie man einen Menschen noch verändern kann. Nachdem, angefangen mit den eigenen Familien, so gut wie alle Institutionen in Deutschland an Pascal und Marek gescheitert waren, gruben ihre jeweiligen Jugendämter sie wie verkümmerte Bäumchen aus der Erde und pflanzten sie weit weg von zu Hause wieder ein. Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung im Ausland nennt sich das offiziell. Und es geschieht nur, wenn die Jugendlichen und ihre Sorgeberechtigten es auch wollen. +Wie Gänseküken watscheln Pascal und Marek nun hinter Holger Kott her durch dieses Land. Er ist der, den sie toll finden sollen, den sie aber auch tatsächlich toll finden, weil sie ihm vertrauen können und er sie durch die Fremde navigiert. Weit weg von ihren Familien, dem Heim, den Problemen und dem Ärger, den es in Deutschland so gegeben hat. Reißende Wildwasserbäche, Seen so groß wie Meere, Spuren von Rentieren, Braunbären und Vielfraßen im Schnee. Die Sonne wandert schräg und ständig blendend wie in Superzeitlupe über den Himmel und tropft erst tief in der Nacht als goldener Schleim herab. Zum Abendessen gibt es selbst gepflückte +Preiselbeeren und vom Nachbarn frisch geschossenen Elch. Selbst die banalsten Alltagshandlungen werden hier zum Abenteuer. Marek kauft sich von seinem Taschengeld eine Cola in einem kleinen Laden im Nachbardorf. +Was heißt: Eine Cola bitte, Holger? Snälla kan jag få en cola? +Aaah! Das schaff ich ja nie! Und auf Englisch? +Can I have a coke, please? +Coke, please. Okay. +Vor der Kassiererin stellt er die Cola auf den Tresen. "Twenty", sagt sie. Erschrocken dreht er ihr den Rücken zu, schaut sich hilfesuchend um nach Holger Kott. +Was heißt das denn jetzt, Holger? Zehn? +Holger Kott hat weiche, freundliche Gesichtszüge, er sieht deutlich jünger aus als 50, seine Haut ist vom Wetter gegerbt. Er trägt rot-blaue Karohemden und Gummistiefel, seine Muskeln hat er nicht aus dem Fitnessstudio, sondern von der Arbeit im Freien. Holzhacken, Hämmern, Pferdedung wegschippen. Das, was hier draußen eben so nötig ist. Er weiß, welche Pflanzen man essen kann und welche nicht, wo die Fische zu welcher Jahreszeit stehen und wie man zur Not auch mit der Hand eine Forelle fangen kann. +"Mach die lose Rinde ab, die taugt als Zunder", ruft er Marek zu, als sie durch den Wald stapfen. Der schlägt mit einer kleinen Axt auf den Baum. An einer Birke irgendwo im Unterholz bleiben sie stehen. +"Da oben sind welche", ruft Kott und deutet auf einen schwarzen, porösen Wulst. "Das ist Chaga. Der Pilz lebt mit dem Baum und verschließt seine Wunde. Daraus kochen wir uns Tee." Pascal setzt eine Säge am Rand des Pilzes an und treibt die Zähne in den Stamm. Erst zittrig, dann immer fester und tiefer, bis der Chaga auf den Boden fällt. Der Junge keucht und röchelt bei der Arbeit. Pascal hat mit acht Jahren zu rauchen begonnen, eine Schachtel pro Tag, erst hier in Schweden hat er damit aufgehört. +Schon mit 19 wusste Holger Kott, dass er in der Wildnis leben will. Er wanderte erst nach Kanada aus, um sich eine Blockhütte im Indianerreservat zu bauen, und zog später in den Norden Schwedens. Am Anfang arbeitete er als Tischler und Bergführer. Dann wurde er Erzieher, weil er merkte, dass er anderen helfen will. Holger Kott sagt: "Ich erkenne mich manchmal schon wieder in den Jugendlichen. Still sitzen und in die Schule gehen, das habe ich auch nicht so gerne gemocht." +Als das Feuer knistert, die Würste auf den Holzspießen platzen und der ChagaTee in der Kanne kocht, kommt wieder diese unbeschreibliche Wut über Pascal. Ein Gefühl, das heranbrandet wie eine Flutwelle und alles mit sich reißt. Die Mütze tief ins Gesicht gezogen, sitzt er auf einem Holzstamm und starrt in die Glut. Im Hintergrund rauscht ein Fluss unter tauendem Eis, die Sonne wärmt den Boden. Um ihn herum: Kiefern und Birken und Moos. +"Der Scheißbehinderterkackwind", knurrt er, "weht mir den Rauch ins Gesicht." Wie von einem Dämon besessen springt er auf, brüllt in seiner schrillen Kinderstimme: +"Ich hau dir in die Fresse, ey!" Fünf Minuten später verfolgt er Marek zum Plumpsklo und versucht, ihn dort einzusperren. Obwohl er betont, auch mal laut werden zu können, erträgt Holger Kott die ihn an schlechten Tagen von frühmorgens bis spät in die Nacht wie ein Stechmückenschwarm umkreisenden Dramen, Streitereien und Provokationen mit geradezu mönchischer Gelassenheit. "Warum musst du so durchdrehen? Fahr doch mal runter. Wie geht es dir jetzt?", redet er auf Pascal ein. "Scheißebauen ist witzig", antwortet der. +Jeden Morgen nach dem Frühstück holen sie die Aktenordner der Fernschule aus dem Regal. Sie lernen, solange es die Konzentration der Jugendlichen zulässt. Manchmal eine Stunde. Manchmal nur 20 Minuten lang. Manchmal überhaupt nicht. Aber irgendwann, wenn es gut läuft, ergibt das trotzdem einen Abschluss. Hauptschule oder mittlere Reife. Gemessen an der Ausgangslage ein Riesenerfolg. Holger Kott erzählt, ein Mädchen, das früher mal heroinsüchtig war und dann nach Vallbo kam, habe sogar das Abitur und danach ein Studium in Schweden geschafft. +Was ist acht mal acht, Pascal? +81! Voll langweilig, Mann. +Was ist 2.000 mal 50? +25.000! +Denk noch mal nach! +Boah, is mir egal. Is langweilig! +Das Trampolin: Marek und Pascal lassen sich im Garten in den Himmel katapultieren und sausen wie Kometen zur Erde zurück. Salto, Arschbombe, Freistilkombinationen, stundenlang. Ruhigstellende Medikamente nehmen sie nicht mehr. Sie berühren sich an den Armen und zucken lachend zurück. Elektrischer Strom von Haut zu Haut. Ein kleiner unsichtbarer Blitz. +Lärm hallt durch das Dorf. Sie hämmern ein paar Planken ins Baumhaus, raufen ein bisschen, beschuldigen sich irgendwelcher abstrusen Sachen, der hätte dies und das von seinem häuslichen Pflichtenkatalog nicht erfüllt, dieses oder jenes sei furchtbar ungerecht. Dann ziehen sie sich wieder gemeinsam in die Fernsehhütte neben der Pferdekoppel zurück. Fläzen sich in die Sessel und machen irgendeinen Schrottsender aus Deutschland an. Privatdetektive im Einsatz. Shopping Queen. Der Knastarzt. Nachts auch mal heimlich Gayboys live. Softporno im Werbeblock. +Manchmal, sagt Holger Kott, bessere sich ewig nichts, und dann gehe auf einmal alles ganz schnell. Das Zur-Ruhe-Kommen und Sich-auf-sich-selbst-Konzentrieren dauere bei jedem unterschiedlich lang. "Wir sind keine Autowerkstatt. Wir tauschen keine Teile aus. Die Vergangenheit wird immer da sein, aber vielleicht lernen sie hier, mit ihr umzugehen." +Die einen kriegen Heimweh und brechen ihren Aufenthalt in Vallbo nach ein paar Monaten ab. Andere machen Randale und werden von Holger Kott nach Deutschland oder in ein anderes Auslandsprojekt geschickt. Wiederum andere fahren nach zwei oder drei Jahren mit einem Schulabschluss zurück. Einige bleiben auch für immer, lernen Schwedisch, finden eine Frau oder einen Mann und fangen hier irgendwo zu arbeiten an. +Wie es auch kommt: Das hier ist die Reise ihres Lebens, nur wissen sie es im Moment noch nicht. Vielleicht, das machen viele, kommen Pascal und Marek später ja als Erwachsene im Urlaub noch mal an diesen Ort zurück. Sagen Holger und Tova Hallo, fangen Fische, laufen Ski, reiten und klettern auf den Berg. Erinnerungen an den Geruch des Waldes. Das Plätschern des Wassers. Die Sonne verläuft noch immer beinahe parallel zum Horizont. +"Ich will besser werden, mich besser fühlen", sagt Marek. +"Ich will ein ganz normales Leben wie alle anderen auch. Keine Kinder, denselben Fehler wie meine Mutter mache ich nicht", sagt Pascal. +In den Jugendämtern träumen sie von glücklichen und selbstständigen Menschen, aber sie wissen natürlich, dass man sich die nicht backen kann. Die wahren Ziele sind meistens bescheidener: Hauptsache, der Junge kackt uns nicht wieder ab. + +*Marek und Pascal heißen natürlich in Wirklichkeit anders. Auch auf Ortsangaben aus ihrer Heimat wurde von der Redaktion verzichtet. Wäre ja blöd, wenn irgendwer in zehn oder 20 Jahren im Internet ihre Namen in Zusammenhang mit dieser Reise liest. diff --git a/fluter/klarna-bezahldienste-schuldenfalle.txt b/fluter/klarna-bezahldienste-schuldenfalle.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..89835c2ced9d098c51b3c31d7739a4f9a80daef7 --- /dev/null +++ b/fluter/klarna-bezahldienste-schuldenfalle.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Kein Wunder. Der schwedische Finanzdienstleister macht das Onlineshopping schnell und einfach. Waren von mehr als 500.000 Händlern weltweit lassen sich bequem per App bestellen. Egal ob nagelneues Smartphone oder Secondhand-Designermode-Fundstück: Bezahlen muss man die Sachen erst später oder in Raten. Buy Now, Pay Later (BNPL) heißt das Modell. Jetzt kaufen, später bezahlen. Auch PayPal, Affirm oder Apple bieten es an. Dabei strecken Klarna & Co. das Geld für die bestellte Ware beim Händler vor und holen es sich dann vom Kunden zurück. Für diesen Service verlangen die BNPL-Anbieter Gebühren bei den Händlern. Das Schöne für die Kunden: Sie kaufen ihre Ware auf Pump – ohne dafür zur Bank rennen zu müssen. Zudem können sie die Produkte erst in Ruhe zu Hause testen, bevor sie sich endgültig für den Kauf entscheiden. +Die Bezahlmethode ist vor allem bei Jüngeren beliebt. Bei den 20- bis 24-Jährigen ist die Zahl der Kleinkredite, also Kredite unter 1.000 Euro, in Deutschland laut Schufa wegen Klarna & Co. zuletzt um fast 60 Prozent angestiegen – so stark wie in keiner anderen Altersgruppe.Laut einer bundesweiten Umfragedes Vergleichsportals Verivox hat inzwischen jeder Dritte zwischen 18 und 39 Jahren seine Einkäufe schon mindestens einmal über einem BNPL-Anbieter getätigt. +Von den Folgen hörte Josefa Fernandez in zahlreichen Gesprächen. Seit mehr als 20 Jahren berät die Sozialarbeiterin im Auftrag der Caritas Menschen, die sich verschuldet haben. In ihrem Büro in Berlin-Mitte suchen mehrere Tausend Menschen im Jahr Hilfe, auch viele junge. Fernandez beobachtet, dass Anbieter wie Klarna bei Verschuldungen eine immer größere Rolle spielen. +"Diese Dienste können eine Falle werden", sagt Fernandez. Vielen Kunden sei gar nicht bewusst, dass sie über einen BNPL-Anbieter einen richtigen Kredit aufnehmen. Einen, der bei Problemen mit der Rückzahlung ganz schnell teuer wird und aucheinen Schufa-Eintragzur Folge haben kann. Damit gelten die Kunden in Zukunft als weniger kreditwürdig. "Der Aha-Effekt kommt dann oft sehr spät." Manche kämen in die Beratung, weil siewegen ihres niedrigen Schufa-Scores keine neue Wohnung bekommen. Die meisten kommen aber, weil ihnen die Schulden über den Kopf wachsen. +Nach Fernandez' Erfahrung können auch kleinere Beträge schnell zu einem Schuldenberg führen. "Wir machen die Erfahrung, dass manche Kundinnen und Kunden schnell den Überblick verlieren. Sie haben vielleicht vier, fünf Produkte auf Raten gekauft, und wenn sie die Forderungen nicht rechtzeitig bedienen, kommen schnell Mahngebühren oder Kosten durch ein Inkassounternehmen drauf." Dann seien in ein paar Monaten auch Schulden über mehrere Tausend Euro möglich. +Um da wieder rauszukommen, müssten die Betroffenen erst mal alle Forderungen sortieren und einen Plan erstellen, was sie in welcher Reihenfolge zurückzahlen können. In ihrer Sprechstunde sei das gemeinsame Sortieren von Briefen oft der erste Schritt. Mit der Unterstützung von Fernandez und ihrem Team schaffen es viele Betroffene, ihre Schulden langsam, aber sicher zu begleichen. Wer seine Finanzen nicht wieder in den Griff bekommt, dem droht ein Insolvenzverfahren und letztlichdie Pfändung von Einkommen, Vermögen und Wertgegenständen. +Wie groß die Gefahr ist, sich beim Onlineshopping zu verschulden, zeigt ein TikTok-Trend: Unterdem Hashtag #Klarnaschuldenposten junge Menschen einen Screenshot von ihrem Kontostand und prahlen mit ihren Schulden. Eine Userin, die behauptet, fast 60.000 Euro im Minus zu sein, bemerkt sarkastisch: "Ich zahle einfach nach 30 Tagen mit Klarna, was soll schon passieren?" Die Antwort darauf findet sich auchim aktuellen "SchuldnerAtlas Deutschland 2023"des Finanzdienstleisters Creditreform: Erstmals seit 2013 haben in der jüngsten Alterskohorte bis 29 Jahre die Überschuldungsfälle wieder zugenommen. Das deckt sich mit einer Studie aus den USA. Demnach geraten Millennials oder die Gen Z beim Einkauf mit BNPL-Anbietern fünfmal häufiger in Zahlungsverzug als Boomer. +Verbraucherzentralen warnen vor den versteckten Kosten solcher Angebote. Allen voran bei der Option, in Raten zu bezahlen. Denn da verlangen PayPal & Co. im Gegensatz zu einer einmaligen späteren Zahlung oft hohe Zinsen. Bei Klarna beispielsweise liegt der effektive Jahreszins bei Ratenzahlungen bei fast 13 Prozent und damit zum Teil deutlich höher als bei einer Hausbank. Durch weitere Gebühren kann die Zinslast sogar noch höher ausfallen. +PayPal verlangt bei Ratenzahlungen je nach Laufzeit zwischen 11 und 12 Prozent Zinsen. Testkäufe im Netz zeigen, wie teuer die bequeme Ratenzahlung den Kunden kommt: Wer einen Laptop für 2.236 Euro in einer Laufzeit von zwei Jahren abstottert, musste bei Klarna zum Zeitpunkt des Tests im November 2023 309 Euro an Zinsen berappen, bei PayPal immerhin noch 251 Euro. +Marco Rauter empfiehlt deshalb, die Ratenzahlung nach Möglichkeit ganz zu meiden. Der Jurist leitet die Schuldner- und Insolvenzberatung im Berliner Stadtteil Neukölln. Er und sein Team von der Arbeiterwohlfahrt (AWO) beobachten schon lange: Wer nicht zu Hause lernt, mit Geld umzugehen, geht auch schnell Kostenfallen wie Klarna & Co. auf den Leim. +Dass die Apps trotzdem immer beliebter werden, sieht er aber auch als gesellschaftliches Versäumnis. "Wir müssen Jugendliche schon in der Schule viel stärker auf solche Risiken vorbereiten." Vor allem, weil in der Altersgruppe ohnehin häufig so eine Art Gruppenzwang bestehe. "Wenn alle anderen in der Clique mit dieser einen App zahlen, macht man das natürlich auch", sagt Rauter. Das sei so ähnlich wie bei Modetrends oder Musikgeschmack: Die Peergroup ist entscheidend. +Rauter empfiehlt, in den Fächern Wirtschaft oder Sozialkunde stärker über die Vor- und Nachteile verschiedener Kreditformen aufzuklären. Er sieht jedoch auch die Politik in der Pflicht. "Wir hören oft, dass auch Jugendliche Klarna nutzen, obwohl sie eigentlich volljährig sein müssen." Da könnte die Politik vorschreiben, dass die entsprechenden Anbieter von ihren Usern einen verlässlichen Altersnachweis erhalten müssen. +Positiv bewertet er jedoch die neuen Vorgaben der Europäischen Union. Künftig müssen Klarna & Co. auch bei Bestellwerten unter 200 Euro eine Bonitätsprüfung durchführen. Ist ein Kunde unzuverlässig bei Rückzahlungen, kann ihm der Kauf auf Pump verweigert werden. Damit, so Rauter, würde sich die Branche aber möglicherweise ins eigene Fleisch schneiden. Er vermutet, dass die Anbieter es nicht so genau mit der Kundenprüfung nehmen, solange das Geschäftsmodell insgesamt aufgeht: "Wie sonst lässt sich erklären, dass ein einzelner Kunde Schulden im fünfstelligen Bereich anhäufen kann?" Das Geschäftsmodell jedenfalls boomt. Klarna beispielsweise hat seinen Bruttogewinn im Jahr 2023 um 60 Prozent gesteigert und ein Plus von 11,7 Milliarden schwedischen Kronen eingefahren – rund eine Milliarde Euro. +Von dem fetten Kuchen wollen auch andere was abhaben. Inzwischen bieten auch Visa oder Mastercard an, Einkäufe in flexiblen Raten zu bezahlen. + diff --git a/fluter/klarsfeld-nazijaeger-comic-rezension.txt b/fluter/klarsfeld-nazijaeger-comic-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..991e54146ebb05cafb1b9ea5220562b037688c7a --- /dev/null +++ b/fluter/klarsfeld-nazijaeger-comic-rezension.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Beate und Serge lernen sich 1960 in Paris kennen. Sie, schwarzer Pagenschnitt und viel eleganter gekleidet, als es dem Klischee einer Rebellin entspricht, ist als deutsches Au-pair nach Frankreich gekommen. Er, Lockenkopf und dicke Brille, ist Jude und hat den Holocaust in Frankreich als Kind in Verstecken überlebt. Sein Vater wurde imKonzentrationslager Auschwitzermordet. Unerträglich ist es für das Paar, dass viele der Nationalsozialisten nie verurteilt wurden, darunter Männer wie Kurt Lischka, der als ehemaliger Gestapo-Kommandeur in Paris für den Tod und die Deportation Tausender Menschen mitverantwortlich ist. Einige der Täter setzten sich ins Ausland ab, andere schlüpften durch das Netz der Prozesse und Entnazifizierungsmaßnahmen der Alliierten, und letztlich scheint es der Gesellschaft im Nachkriegs-Westdeutschland auch gar nicht so drängend damit, jedes Detail nachhaltig aufzuklären. Zu viele Leute stecken selbst mit drin. +Die Klarsfelds nehmen die Sache deswegen selbst in die Hand. In den frühen 1970ern gehen sie in Archive und sammeln Beweise, sie machen Zeug:innen ausfindig und dokumentieren deren Aussagen, sie lassen Fotografien analysieren, bearbeiten Staatsanwälte, machen politischen Druck, schaffen Öffentlichkeit. Immer wieder erleiden sie Rückschläge, werden aus rechten Kreisen sogar mit dem Tode bedroht, doch immer machen sie weiter. Und überschreiten dabei auch Grenzen: Mit einigen Verbündeten versuchen sie 1971, den besagten Kurt Lischka auf offener Straße bewusstlos zu schlagen und ihn nach Frankreich zu entführen, damit ihm dort der Prozess gemacht werden kann. Dieser Plan scheiterte. Erst ein 1975 ratifiziertes Zusatzabkommen ermöglichte es, Lischka in Deutschland anzuklagen. 1980 wurde der mittlerweile 70-Jährige zu zehn Jahren Haft verurteilt. +Die Legitimation für solche Formen der Selbstjustiz wird im Comic nicht infrage gestellt – hier geht es nur um die Jagd nach NS-Verbrechern, für die aus Sicht der handelnden Figuren mitunter auch Gewalt und Gesetzesbruch angebracht zu sein scheinen. +Einen besonderen Schwerpunkt im Leben der Klarsfelds und auch in "Die Nazijäger" nimmt die Suche nach Klaus Barbie ein. Der Lyoner Gestapo-Chef Barbie wurde "Schlächter von Lyon" genannt, er war berüchtigt für seine brutalen Foltermethoden und während der deutschen Besatzung Frankreichs verantwortlich für mehrere Massaker und Deportationen, unter anderem von mehr als 40 jüdischen Waisenkindern. Nach dem Zweiten Weltkrieg emigrierte er unter falschem Namen nach Bolivien, wo ihn die Klarfelds 1971 aufspüren. Mehr als elf Jahre dauert es danach noch, bis Barbie ausgeliefert und in Frankreich vor ein Gericht gestellt wird. Seine Verurteilung 1987, an der Serge Klarsfeld als Anwalt mitbeteiligt ist, zählt zu den größten Erfolgen des Ehepaars. + + +Autor Pascal Bresson hat genau diesen Klaus-Barbie-Prozess als 19-Jähriger in den französischen Medien gespannt mitverfolgt. Für "Die Nazijäger" hat er das Ehepaar Klarsfeld, das, heute 82 und 85 Jahre alt, noch immer in Paris lebt, ein halbes Jahr lang jede Woche getroffen und sich ihr Leben erzählen lassen. Das alles anschließend zu einem spannenden Comic zu formen ist eine große Aufgabe, die Bresson ziemlich gut gelöst hat, indem er das Material beinahe wie einen Agententhriller arrangiert: Mit vielen Rückblenden und Ortswechseln, bei denen die Helden mal in Frankreich, mal in Deutschland, mal in Südamerika Aufträge erfüllen. +Unterstützt wird diese Dynamik von der tollen Arbeit des Zeichners Sylvain Dorange, der Perspektiven, Bildgrößen und Erzähltempo immer wieder variiert. Speziell die von ihm gewählte Kolorierung ist überragend: Eine erdig-warme Farbpalette wie aus einem Guss, die ideal zum Stil der 1960er- und 70er-Jahre passt. Auch der Inneneinrichtungs- und Kleidungsstil der damaligen Zeit wird von Dorange mit viel Liebe zum Detail eingefangen, genau wie die Accessoires, seien es die aufwendigen Tonbandgerätschaften der Radiojournalisten oder die Paulchen-Panther-Puppe von Klarsfeld-Tochter Lida. +Die Einzelheiten in der Ermittlungsarbeit hingegen bekommt Pascal Bresson mal besser, mal schlechter vermittelt: Das grundsätzliche Vorgehen lässt sich gut nachvollziehen, mitunter verliert man sich aber auch im Dauerfeuer der vielen Namen und Organisationen. Und dabei wurden große Teile des Wirkens der Klarsfelds sogar noch ausgespart – sie hätten den Rahmen eines Comics gleich mehrfach gesprengt. +"Beate und Serge Klarsfeld: Die Nazijäger" ist im Carlsen-Verlag erschienen und kostet 28 Euro. diff --git a/fluter/klasse-gesundheit-lebenserwartung.txt b/fluter/klasse-gesundheit-lebenserwartung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d3b839b2bd4c4f629b05cb6f0f63bc4899a9f186 --- /dev/null +++ b/fluter/klasse-gesundheit-lebenserwartung.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Der Zusammenhang zwischen Klassenzugehörigkeit und Gesundheit ist in einer Vielzahl bedeutender Studien nachgewiesen, die zu eindeutigen Er­gebnissen kommen: So verlängert ein Abizeugnis das Leben gleich um mehrere Jahre. Wer in Stadtteilen mit Sozial­bauten wohnt, lebt im Schnitt zehn Jahre kürzer als jemand aus einem wohlhabenden Be­zirk. Oft sind ärmere Men­schen im Beruf – von der Fabrikarbeit bis zum Bergbau – erheblichen Gesundheitsri­siken ausgesetzt und wohnen in Ballungsgebieten mit deut­lich stärkerer Luftverschmut­zung und Lärmbelastung. Beides sind Faktoren, die die Gesundheit nachweislich negativ beeinflussen. +"Es ist eine Ungleichheit, die, in gewisser Weise un­sichtbar, fast ein gesellschaftliches Tabu ist. Wir haben nicht einmal einen richtigen Begriff dafür, während die Be­zeichnung vital inequality im Englischen zumindest sachlich treffender ist", sagt Silke van Dyk, Soziologin mit Schwer­punkt Demografie und Ungleichheitsforschung, und weist darauf hin, dass die Betroffenen oft selbst verantwortlich gemacht oder sogar stigmatisiert wür­den. So werde die geringere Lebens­erwartung in öffentlichen Debatten sehr stark auf gesundheitsschädigendes Verhalten ärmerer Personen zurück­geführt.Das Klischee von der ketten­rauchenden, Chips essenden Couch­ Potato im Plattenbau ist weit verbreitet. +Dabei ist ungesundes Essverhalten nicht das Produkt mangelnder Selbst­kontrolle. Darum greife es auch zu kurz, dieses Problem mit Aufklärungskam­pagnen und Wissensvermittlung über gesundes Verhalten beheben zu wollen, meint der Bildungsforscher Werner Friedrichs von der Universität Bamberg. "Wir müssen von der Oberfläche der Sozialstatistiken in die ganz konkrete Lebenswelt der Menschen eintauchen. Rauchern fehlt es ja nicht an Wissen über die Giftstoffe in einer Zigarette." +Irreführend ist die Betonung eines vermeintlich ungesunden Lebensstils auch deswegen, weil es entscheidende Faktoren, wie gesundheitsgefährdende Wohn-­ und Arbeitsorte, höhere Unfallrisiken, Ungleichbehandlung im Ge­sundheitssystem, Existenzängste oder Diskriminierungserfahrungen, in den Hintergrund drängt. +Darum setzt sich in der Forschung zunehmend die Erkenntnis durch, dass man für eine gerechter verteilte Lebens­erwartung nicht am individuellen Ver­halten, sondern an den Verhältnissen selbst ansetzen müsste. Das betrifft auch den Zugang zu medizinischer Ver­sorgung. Während man früher davon ausging, dass medizinisch­technologi­sche Fortschritte allen zugutekommen, gilt es mittlerweile als bewiesen, dass gut vernetzte und besser gebildete Men­schen sich stets früher und leichter Zugang zu neuen Gesundheitsleistungen verschaffen können. Ein weiteres Bei­spiel für handfeste Unterschiede zwischen den sozialen Klassenist das Rentensystem.Für alle Menschen gilt ein gemeinsames Eintrittsalter, obwohl viele Berufe körperlich so anstrengend sind, dass eine deutlich kürzere Lebenserwartung belegt ist. Silke van Dyk nennt das eine "substanzielle Umver­teilung von unten nach oben. Früh Sterbende finanzieren die Renten der Besserverdienenden". In Studien wird darum die Möglichkeit von Ausnahmen diskutiert. Bereits heute dürfen Men­schen, die langjährig im Bergbau beschäftigt waren, ihre Rente in Deutsch­land schon mit 60 Jahren antreten. + diff --git a/fluter/klasse-interview-andreas-reckwitz.txt b/fluter/klasse-interview-andreas-reckwitz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..296e644c93d586da19f4623bc84ab21fa854f700 --- /dev/null +++ b/fluter/klasse-interview-andreas-reckwitz.txt @@ -0,0 +1,40 @@ +Aber heute ist der Klassenbegriff wieder in aller Munde. Warum? +Wenn man heute von Klasse spricht, geht es nicht nur um ökonomische Fragen, sondern auch um verschiedene Lebens­stile und symbolisches Prestige. In der Soziologie ist seit den 1980er­Jahren der Klassenbegriff kaum mehr verwendet worden. Man erkannte vielmehr eine Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile. Diese erschienen im Prinzip gleichberechtigt. +Davon kann man heute nicht mehr sprechen. Der Lebensstil von Ärmeren wird oft abgewertet. Für die Ausgrenzung wegen der sozialen Herkunft gibt es den Begriff "Klassismus". +Man sieht heute, dass es eben nicht nur Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe, der sexuellen Orientierung oder des Geschlechts gibt, sondern auch aufgrund des Lebensstils und seines sozialkulturellen Status.Es kommt zum Beispiel häufig vor, dass Menschen aus der sogenannten Unterschicht in den Medien als defizitär dargestellt werden,als Menschen, denen angeblich Kompetenzen fehlen. Plakativ gesagt: die sich nicht um ihre Kinder kümmern können, die Chips essend auf dem Sofa sitzen, anstatt sich zu bewegen. +In den USA ist die Gefahr, aus der Mittelschicht abzusteigen, ziemlich groß – unter anderem, weil soziale Sicherungssysteme wie in Deutschland fehlen. In San Francisco kostet zudem eine Einzimmerwohnung schon mal 3.000 Dollar im Monat – auch, weil hier viele gut verdienende Mitarbeiter der Techfirmen im Silicon Valley wohnen. +Warum hat dasVersprechen der Bildungsgerechtigkeiteigentlich nicht für alle funktioniert? +Es gibt in der Gesellschaft eine Kluft zwischen Bildungsgewinnern und Bildungsverlierern. Das Abitur und der Hoch­schulabschluss sind fast zu einer neuen Norm geworden. Wer "nur" Mittlere Reife oder einen Hauptschulabschluss hat, nimmt sich häufig als Verlierer wahr. Gleichzeitig hat die Anzahl der Akademikerhaushalte zugenommen. Mehr Bil­dungschancen und Aufstiegschancen zu schaffen ist zweifel­los immer gut. Das löst aber nicht das Problem des häufig mangelnden gesellschaftlichen Ansehens von jenen, die in derservice classbeschäftigt sind.Das sind die, die schlecht bezahlte Dienstleistungen erbringen.Für die Gesellschaft ergibt sich das Problem, dass sie am Ende nichtakademische Tätigkeiten, die auch gesellschaftlich nötig sind, nicht mehr besetzen kann. Wenn diese Tätigkeiten aber gesellschaftlich defizitär erscheinen, als Berufe von Menschen, die "es nicht geschafft haben" im Leben, ist das kein Wunder. +Früher gab es die Vorstellung von einer "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" – das heißt, dass alle am wachsenden Wohlstand teilhaben und es im Grunde keine großen Unterschiede gibt.War das Selbstbetrug? +Von den 1950er-­Jahren bis in die 1970er­-Jahre stimmte das mit Abstrichen. Es gab selbstverständlich keine totale sozia­le Gleichheit, aber die materiellen Unterschiede waren weni­ger stark und auch weniger sichtbar als heute. Auto, passable Wohnung oder Haus, Jahresurlaub – das Mittelschichtsleben der damaligen Zeit wurde fast allen geboten. Der Soziologe Ulrich Beck hat dafür das Bild vom Aufzug benutzt, in dem alle nach oben fahren. In der damaligen klassischen Mittelstandsgesellschaft sind tatsächlich viele nach oben gefahren, wenn man sich die Einkommen anschaut und die Optionen, die sich dadurch ergaben. Aber auch im Aufzug gab es natür­lich soziale Unterschiede, nicht alle fahren in derselben Etage los. Hinzu kommt: Die Mittelstandsgesellschaft war auch kulturell recht homogen und nivelliert. Natürlich gab es politische Differenzen,aber deutliche kulturelle Unter­schiede der Werte und Alltagspraktiken zeigen die Milieu­studien erst seit den 1980er­Jahren. +Es gibt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die inzwischen von einer Abstiegsgesellschaft sprechen. Beschreibt das die heutige Situation besser? +Dass es einen gesamtgesellschaftlichen Abstieg quasi für alle gibt, sehe ich nicht. Es gibt vielmehr eine Gleichzeitigkeit von Ab-­ und Aufstieg. Gerade das ist aber besonders brisant. Wir befinden uns nicht mehr in einem gewöhnlichen Fahr­stuhl, sondern in einem Paternoster, in dem es gleichzeitig für manche aufwärts-­ und für andere abwärtsgeht. +Die Mittelschicht in Deutschland ist brüchig: Zwischen 1995 und 2018 sank der Anteil derjenigen, die zur Mitte gehören, von 70 Prozent auf nur noch 64 Prozent. Davon sind fünf Prozent in die untere Einkommensschicht abgestiegen. Das ist das Ergebnis einer Studie der OECD und der Bertelsmann Stiftung. Die Forscher zählen zum Beispiel Paare mit zwei Kindern zur breiten Mitte, die monatlich zwischen 3.000 und 8.000 Euro zur Verfügung haben. Besonders junge Menschen haben zunehmend Probleme, nach ihrer Ausbildung in der Mittelschicht zu landen. Ihr Anteil an der Mitte sank um zehn Prozent. +Wer fährt denn gerade nach oben? +Neben der neuen Oberklasse mit ihrem hohen Vermögen ist das jene neue Mittelklasse, die durch die Akademisierung an kulturellem Kapital, an Bildungskapital gewonnen hat. Wenn man in zukunftsorientierten Berufen der Wissensöko­nomie arbeitet, kann man sich als Teil des Modernisierungs­prozesses sehen. Häufig lebt man hier auch in den Metropol­regionen, die prosperieren. "Nach oben fahren" heißt in dieser Gruppe übrigens nicht, dass man im historischen Vergleich unbedingt an Einkommen gewonnen hat. +Gibt es in der Mitte auch Verlierer? +Der traditionellen oder alten Mittelklasse geht es materiell häufig noch recht gut. Aber man sieht sich kulturell und in den Zukunftsaussichten häufig in der Defensive: Die Digita­lisierung und der Ausstieg aus fossilen Rohstoffen bedrohen manche Berufe. Jenseits der Metropolregionen dünnt sich das öffentliche Leben häufig aus. Die jungen Akademiker ziehen zum Teil von dort weg. Traditionelle Mittelschichts­werte wie die klassische Familie, Disziplin oder auch Heimatverbundenheit sind heute keine unstrittigen gesellschaftlichen Werte mehr, sodass man Einflussverluste erleidet. Man spürt, dass das Wertesystem, für das man steht, nicht mehr modern ist. Das Ergebnis kann Verbitterung sein. +Wie kann Politik da versöhnend wirken? +Die Politik kann da nur begrenzt agieren. Die Veränderungen der Sozialstruktur und der Alltagskultur sind ja Prozesse, die seit Jahrzehnten stattfinden und mit Entindustrialisierung, Wertewandel und Bildungsexpansion zu tun haben. Das kann man nicht einfach zurückdrehen. Industriejobs verschwinden, Akademiker werden mehr,Wissen wird wichtiger,die Gesell­schaft liberaler. Aber natürlich kann man politisch versuchen, an bestimmten Stellschrauben zu drehen. +Lassen Sie uns über den Niedriglohnsektor sprechen. Hat die Coronapandemie dazu beigetragen, Menschen ins Licht zu rücken, die für wenig Geld wichtige Jobs erledigen? +Der Niedriglohnsektor ist ein Be­reich, in dem die Politik tatsächlich wirken kann. Vielleicht war die Pan­demie da für manche ein Augen­öffner: Man hat gesehen, dass es ohne die Menschen, die in derservice classkörperlich arbeiten, gar nicht geht.Ohne die Pflegerinnen, die rund um die Uhr arbeiten, die Lkw­ Fahrer,die Regalbefüller.Man hat gemerkt, wie notwendig sie für das Funktionieren der Gesellschaft sind. +Aber außer Applaus haben sie nichts bekommen ... +Vielleicht kommt da ja noch mehr. Die Erhöhung des Mindestlohns oder auch Verhandlungen im Pfle­gebereich stehen ja an. Ein Problem ist, dass dieses Dienstleistungspro­letariat politisch nicht so artikuliert ist und keinen Druck ausübt. Dabei sind sie eigentlich die Erben der Arbeiterschaft von gestern, das heißt: die Erben der einstmals gro­ßen Gruppe, die von körperlicher Arbeit lebte. +"Ich bin Bergmann, wer ist mehr?" So hieß es früher, worin sich das Selbstbewusstsein der Arbeiterschaft ausdrückte. Wo ist dieser Arbeiterstolz geblieben? +Das Proletariat hatte sich im Laufe der Zeit politisch organisiert und ein großes Selbstbewusstsein entwickelt. Viele sind auch aufgrund der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften in die Mittelklasse aufgestiegen. "Wir sind das Fundament der Gesellschaft, ohne uns läuft hier nix" – diese Gewissheit ist durch die Entindustrialisierung in den westlichen Gesellschaften verschwunden. Drei Viertel der Arbeitsplätze sind heute im Dienstleistungssektor angesiedelt, ein Teil davon ist die Wissensökonomie der Hochqualifizierten, ein anderer aber eben dieservice class. Sie hat nicht an das Selbstbewusstsein der früheren Arbeiterklasse angeschlossen. Wenn es unter ihnen ein Klassenbewusstsein gibt, ist es eher ein negatives. Man gehört zu den Marginalisierten, macht die Drecksarbeit und wünscht seinen Kindern, dass sie aus der eigenen Klasse aufsteigen. +Ist das Selbstbewusstsein dieser unterschätzten Arbeitskräfte während der Corona-Pandemie gestiegen? +Vielleicht ändert sich da gerade was. Wenn man sich den Pflegebereich anschaut, merken die Menschen dort, wie wich­tig sie für die Gesellschaft sind. +Ein Beispiel dafür ist auch der Streik an der Charité. +Möglicherweise ist das bezeichnend. Es kann aber auch sein, dass der Markt für mehr Anerkennung und höhere Löhne sorgt. In England sieht man, was ohne Lkw-­Fahrer passiert, die man nun dringend sucht. Da steigen auch die Löhne. +Die Bilder der deutschen Fotografin Jana Sophia Nolle zeigen Menschen, die vor Kurzem noch Arbeit und Wohnung hatten – und nun ein Leben auf der Straße beginnen müssen. +Die Unterklasse hat sich verändert, die Mittelklasse hat sich aufgeteilt, aber auch die Oberklasse ist nicht mehr die von früher. Statt Vermögen, die über lange Zeit erwirtschaftet werden, gibt es mittlerweile viele Superreiche, die in kurzer Zeit über Start-ups oder Börsengewinne aufsteigen. +Analog zur Mittelklasse gibt es auch eine alte und eine neue Oberklasse. In der neuen Oberklasse gibt es oft ein extrem hohes Arbeitseinkommen, mit dem sich dann zugleich ein entsprechendes Vermögen aufbauen lässt.Gerade im Start­up­-Bereich spielt dann auch gesellschaftliches Engagement eine Rolle. +Wenn früher jemand mit Flip-Flops und kurzen Hosen in ein Nobelhotel gekommen wäre, hätte man ihn vermutlich rausgeschmissen. Heute denkt das Personal schon mal, dass es ein IT-Milliardär sein muss. +Der Lebensstil der neuen Oberklasse orientiert sich offenbar nicht mehr so einfach an den Statussymbolen von gestern. Die Gesundheit, der Körper, die psychische Ausgeglichenheit können dann zu wichtigeren Zielen werden. Auch das kann einiges ökonomisches Kapital erfordern. +Sie meinen: Man kann eine Ayurveda-Kur für 1.000, aber auch für 20.000 Euro machen? +Zum Beispiel. Gerade physische und psychische Assistenz – Personal Trainer, Coaches, Therapeutinnen –, überhaupt die Inanspruchnahme hochqualifizierter Dienste, kann sehr kostspielig sein. Dienste –zum Beispiel auch Privatschulenoder -universitäten, private Ärzte – werden hier teilweise wichtiger als materielle Güter. Wobei das Interessante ist, dass kulturelle Innovationen wie gesunde Ernährung, Selbst­erfahrungen oder bestimmte Kleidungsstile eher aus dem jungen kreativen, urbanen Mittelstandsmilieu kommen und von der Oberklasse übernommen und ins Luxuriöse weiter­ entwickelt werden. Auf der kulturellen Ebene gibt es also zwischen neuer Mittel-­ und Ober­klasse durchaus Gemeinsamkeiten, aber die finanziellen Möglichkeiten sind eben andere. +Wie kommt es eigentlich, dass Unterschichtsmerkmale wie Tätowierungen oder Jogginghosen von höheren Schichten übernommen werden? +Es gibt in der neuen Mittelklasse und der neuen Oberklasse – durchaus im Gegensatz zur alten Mittelklasse und alten Oberklasse – eine Tendenz zur Informalisierung, zum Unprätentiö­sen. An der Oberfläche scheinen sich die Klassendifferenzen so aufzulösen. Aber natürlich ist das nur die Ober­fläche. Man ist hier ja nicht auf Adi­letten, Rap und Tattoos festgelegt. Die Mitglieder der modernen Mittel­klasse oder der Oberklasse haben vielmehr meist ein breiteres kultu­relles Repertoire: Man schaut Netflix­-Serien, kann aber auch über Literatur reden oder ins klassische Konzert gehen. Man trägt Jeans und Sneakers, blamiert sich aber beim formalen Dinner nicht. Die Unterklasse hat dieses Repertoire nicht, so könnte man urteilen. Und damit wären wir wieder beim Thema Klassismus ... +Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander.In den USA hat das oberste eine Prozent mehr Vermögen als die 60 Prozent,die als Mittelklasse eingestuft werden. Weltweit hat die Zahl der Milliardäre im vergangenen Jahr deutlich zugenommen. Was passiert in einer Gesellschaft, in der die einen immer reicher werden und die anderen zunehmend Abstiegsängste haben? +Ich denke, dass es auf zwei Ebenen ein Legitimationsproblem mit dem sehr hohen Reichtum geben kann: Wenn Reiche dank ihres Vermögens politisch enorm einflussreich werden wie zum Beispiel in den USA, dann unterminiert das den demo­kratischen Prozess. Und wenn das Vermögen vor allem durch Erbschaft zustande kommt oder durch Gewinne auf dem Finanzmarkt, dann widerspricht das dem modernen Leistungs­ethos, dem zufolge sich Einkommen und Status ja aus der eigenen Arbeitsleistung ergeben sollen. Wenn sich in der Gesellschaft der Eindruck festsetzt, dass dies nicht mehr un­bedingt zählt, dann ist das zweifellos ein Problem. +Unser Gesprächspartner, Andreas Reckwitz, gehört eindeutig der Klasse der Intellektuellen an. Er ist Professor an der Hum­boldt­ Uni Berlin und hat u.a. das Buch "Das Ende der Illusionen" geschrieben (Suhrkamp Verlag) diff --git a/fluter/klasse-sprache-klassismus.txt b/fluter/klasse-sprache-klassismus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6553ef7cc6e56e5bd1b00afc6cc8ab0bc449db52 --- /dev/null +++ b/fluter/klasse-sprache-klassismus.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Wenn es um Rassismus und Sexismus geht, wächst das Bewusstsein für die Diskriminierung durch Sprache allmählich, beim Klassismus – also der Benachteiligung und Ausgrenzung aufgrund der sozialen Herkunft – fehlt es noch an Sensibilität. Dabei gehen die verschiedenen Formen von Diskriminierung oft Hand in Hand: Je häufiger zum Beispiel Medien Schulen mit einem hohen Migrationsanteil als "Brennpunkte" bezeichnen, desto eher werden Kinder mit Migrationshintergrund als ungebildet und problematisch wahrgenommen und entsprechend benachteiligt.Wer weiß, wie das Wort "Asoziale" einst benutzt wurde, gebraucht es eh nicht mehr so leicht."Asoziale" wurden im Nationalsozialismus verfolgt, viele kamen ins KZ und wurden ermordet.Darunter waren obdachlose oder verarmte Menschen, aber auch kinderreiche Familien aus unteren Schichten und Prostituierte. Dagegen ist "Proll" von Proletariat abgeleitet, also der Arbeiterschaft des 19. Jahrhunderts. Heute bezeichnet es eher Menschen ohne Manieren. +Klassenunterschiede äußern sich also nicht nur durch Einkommen oder Lebensstil, sondern auch durch Sprache. In der Schule wird die sogenannte Standardsprache gelehrt, Hochdeutsch, akzentfrei und grammatikalisch einwandfrei. Jede Abweichung davon enthüllt vermeintlich einen Klassenunterschied. Wer sich in einer Situation nicht "richtig" artikulieren kann, fällt auf.Beim Abendbrot eines Professorenpaares wird anders gesprochenals in der Mittagspause auf der Baustelle. Selbst wer versucht, sich sprachlich anderen Klassen anzunähern, wird meist enttarnt. Wer zu korrekt spricht, lässt seine Unbeholfenheit erkennen. Wer immer hochgestochen gesprochen hat, wird Schwierigkeiten haben, sich zwangloser auszudrücken. +Falsch verwendete Ausdrücke oder starke Dialekte können sogar den sozialen Aufstieg erschweren oder verhindern. "Kiezdeutsch" gehörte einst dazu. Bei der urbanen Jugendsprache vermischensich deutsche und vor allem aus dem Türkischenund Arabischen stammende Wörter. Wer es spricht, galt einst als aggressiv und ungebildet. Da sich darin auch Identität und Abgrenzung ausdrücken, hat das "Kiezdeutsch" Eingang in die Popkultur gefunden. Längst ist es nicht mehr ungewöhnlich, dass sich auch Jugendliche ohne Migrationshintergrund solche Ausdrucksweisen aneignen. +Sprache bildet die Zustände der Gesellschaft ab. Sie offenbart, wie tief Ungleichheiten verwurzelt sind und wie wir diese durch unsere Ausdrucksweise zementieren: Du bist, was du sprichst. Aber genauso gilt: Durch Sprache haben wir die Möglichkeit, soziale Unterschiede einzuebnen. Und nicht mehr so "assi" zu sein. diff --git a/fluter/klassentrennung.txt b/fluter/klassentrennung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8e0bb61acce2f84d55db1d7eb69c4372b1885dbd --- /dev/null +++ b/fluter/klassentrennung.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Die Apartheid bedeutete Rassentrennung auf allen Ebenen: am Strand, im Büro, im Bus und auch im Bildungssektor. Der Bantu Education Act hatte zum Ziel, die schwarze Bevölkerung auf einem niedrigen Bildungsstand zu halten und sie als Niedriglöhnerheer für die Weißen arbeiten zu lassen. +Erst nach der Abschaffung der Apartheid 1994 fanden erstmals demokratische Wahlen statt, aus denen der Freiheitsheld Nelson Mandela und der lange verbotene African National Congress als Sieger hervorgingen. Nicht nur Braamfontein wurde in der Folge ein Sinnbild des Aufschwungs, als weiteres Symbol errichtete man in der Stadt eine große Stahlbrücke, die man nach Mandela benannte. + +Sinayo Mkhize kam vor acht Jahren nach Johannesburg, seitdem kann sie sich von ihrem Balkon im fünften Stock eines älteren Apartmenthauses aus die Veränderungen ansehen. Wie so viele Südafrikaner ist sie vom Land in die Großstadt gezogen, um hier ein besseres Leben zu finden, ein Leben mit einem Job, der ihr Spaß macht, und bescheidenen Wohlstand. Und wie bei so vielen Südafrikanern ist daraus nichts geworden. +"Das Leben ist sehr schnell hier", sagt die 25-Jährige, die in einer großen Familie in der Provinz KwaZulu-Natal aufwuchs. 2008 schloss sie dort die Highschool ab, dann zog sie nach Johannesburg, das in der isiZulu-Sprache eGoli heißt: goldener Ort. +Den gibt es auch, es sind wohl die Straßen, an denen die modernen Wolkenkratzer aus Stahl und Glas stehen, aber es gibt auch die Orte, die nicht glänzen. Heruntergekommene Viertel und eben die Townships, einst Symbol für die Härten der Rassentrennung, heute für die Ungleichheit im Land am Kap: Von den über 54 Millionen Südafrikanern leben heute immer noch viele in Armut – trotz des Rohstoffreichtums und einer Volkswirtschaft, die nach Nigeria die zweitgrößte des Kontinents ist. Rund 25 Prozent der jungen Südafrikaner haben keine Arbeit, viele werden im täglichen Überlebenskampf kriminell. Über 17.000 Menschen wurden 2015 ermordet, dazu kamen rund 130.000 Raubüberfälle. Damit ist Südafrika eines der gefährlichsten Länder der Welt. + +"Unsere Politiker haben keine Ahnung, wie man eine junge Generation in die Zukunft führt", sagt Tessa Dooms, Leiterin des Youth Lab, eines Thinktanks, der sich um die junge Generation kümmert. "Die Regierung besteuert zum Beispiel Unternehmen, die keine jungen Menschen anstellen, aber das Pro-blem sind eher die Löhne. Die sind so gering, dass ein großer Teil davon schon für den Weg zur Arbeit ausgegeben wird." +Ein anderes Problem ist nach wie vor der Zugang zu Bildung, der früheren Generationen schlichtweg verwehrt wurde. So arbeitete Sinayos Großmutter als junge Frau für eine deutsche Einwandererfamilie – als Dienstmädchen. Ihre Mutter konnte immerhin die Highschool besuchen und ergriff anschließend einen der wenigen Ausbildungsberufe, die Schwarzen erlaubt waren: Sie wurde Lehrerin. Mit dem Einkommen ihres Mannes, der in einem Township einen kleinen Lebensmittelladen hatte, kam die Familie ganz gut über die Runden. Sie konnten ihre Kinder zur Schule schicken, und als Südafrika endlich die Apartheid hinter sich ließ, ermutigten sie sie, ihre Träume wahr werden zu lassen. Sinayos Traum war es, zu studieren und PR-Managerin zu werden. +Acht Jahre später ist der Traum noch immer nicht Wirklichkeit geworden. Weil ihre Eltern früh starben, zog sie zu einem Onkel. Als Älteste musste sie dazuverdienen, um wenigstens ihren jüngeren Cousins und Cousinen die Uni zu ermöglichen. "Ich musste mich opfern", sagt sie. "Es tat weh, aber ich habe es verstanden." +Sie selbst fing auch mit ihrem Studium an, doch weil sie nebenher arbeiten musste, zog es sich in die Länge. "Eigentlich dauert es drei Jahre, aber ich bin schon seit sechs Jahren dabei und immer noch nicht fertig", sagt sie. Momentan kann sie die jährliche Gebühr von 2.000 Euro nicht mehr bezahlen. +Damit ist sie nicht die Einzige. Im Oktober vergangenen Jahres gingen Tausende Studenten auf die Straße, um gegen die Erhöhung der Studiengebühren zu demonstrieren. Sie marschierten zum Sitz des regierenden ANC in Pretoria, einige stürmten sogar das Parlament. Die Protestbewegung unter dem Motto #FeesMustFall erinnerte an die großen Studentenunruhen von 1976, als Afrikaans, die Sprache der Buren, an den Unis verbindliche Unterrichtssprache werden sollte. Zu der Zeit investierte die Regierung in die Bildung eines weißen Kindes 16-mal mehr als in die eines schwarzen. +Heute sind immerhin sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Bildung reserviert, das sind rund 17 Milliarden Euro. Viel Geld, aber nicht, wenn es immer noch darum geht, aus Lehmhäusern richtige Schulgebäude zu machen, alte Bücher aus Zeiten der Apartheid zu ersetzen und mehr Lehrer einzustellen. Um das alles zu finanzieren, will die Regierung an den Studiengebühren festhalten, weswegen es weiterhin Proteste geben wird. Zur angespannten Lage trägt auch bei, dass gegen viele ANC-Mitglieder wegen des Verdachts der Korruption und Steuerhinterziehung ermittelt wird. Staatspräsident Jacob Zuma werfen  Kritiker vor, die Ideale des Befreiungskampfes der Gier nach persönlichem Reichtum geopfert zu haben. "Es gibt ganz offensichtlich zwei Südafrikas", sagt Tessa Dooms vom Youth Lab. "In dem einen leben eine weiße Minderheit und eine schwarze Elite gut versorgt, in dem anderen ist eine schwarze Mehrheit zur Armut verdammt." +Sinayo hat die Hoffnung aufgegeben, dass sich ihr Leben durch politische Maßnahmen zum Besseren wendet. Sie will nun Geld sparen, um von Johannesburg nach Pretoria zu ziehen und dort an der einjährigen Lehrerausbildung teilnehmen. "Man muss dranbleiben", sagt sie. "Denn wenn man aufgibt, ist niemand da, der sich um einen kümmert." diff --git a/fluter/kleiderei-koeln-nachhaltiger-modekonsum-selbstversuch.txt b/fluter/kleiderei-koeln-nachhaltiger-modekonsum-selbstversuch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..978083fb8eef873520af3f4ca03fd596d652db75 --- /dev/null +++ b/fluter/kleiderei-koeln-nachhaltiger-modekonsum-selbstversuch.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Die Kleiderei ist in Deutschland das erste und bis jetzt einzige Fashion-Sharing-Konzept dieser Art. Lena will andere ermutigen, ihre eigene Kleiderei zu eröffnen. Und es scheint zu funktionieren: Seit Anfang 2019 gibt es einen zweiten Laden in Freiburg. Dieses Jahr war eine weitere Eröffnung in Berlin geplant, die wegen derPandemieallerdings auf 2021 verschoben wird. +Die Kleiderei ist keine Kleidertauschbörse. Es gibt Blumen, Neonschriftzüge und eine Backsteinwand, im Hintergrund läuft NTS, ein Online-Radiosender aus London. Auf den ersten Blick ist die Marken- und Qualitätsrange an den Kleiderstangen breit, sie reicht von gespendeter H&M-Mode bis hin zu qualitativ hochwertigen Marken. Darüber hinaus bietet die Kleiderei Neuware von fairen Modelabels an. "Damit man merkt, was Qualität für einen Unterschied machen kann", sagt Lena. Für 29 Euro im Monat kann man sich bis zu vier Teile gleichzeitig leihen: Darunter fallen neben Kleidung auch Accessoires wie Schmuck, Taschen oder Hüte. Das Geliehene darf man grundsätzlich so lange behalten, wie man möchte, und nach eigenem Bedarf tauschen. Einen Mantel den ganzen Winter leihen? Ein Kleid nur für die Hochzeit am Wochenende? Kein Problem. Man kauft nichts neu und kann seinen Kleiderschrank um die Dinge erweitern, die man wirklich braucht. Im Optimalfall gibt man die Kleidung gewaschen zurück. Falls man das nicht schafft, wird sie von der Kleiderei gereinigt. +Die Kleiderei arbeitet mit der Deutschen Kleiderstiftung zusammen. Sie nimmtKleiderspenden von Privatleutenan und sortiert aus, was sie nicht für den Verleih nutzt, um es an Upcycling-Labels weiterzugeben – oder an die Stiftung, die es für humanitäre Projekte verwendet. +Ich schließe ein dreimonatiges Probe-Abo ab. Ganz im Geiste der "Slow Fashion" lasse ich mir bei der Auswahl meiner vier Stücke Zeit, probiere an und um. Schließlich entscheide ich mich für eine leichte Übergangsjacke, die brauche ich genauso wie eine kurze Sporthose. Außerdem wähle ich eine ärmellose Bluse, die mir für einen Kauf zu verträumt wäre. Als Letztes scannt die Kleiderei-Mitarbeiterin Hannah den QR-Code im Kragen eines gestreiften Leinenhemdes, das ich einfach schön finde. Kurz muss ich an eine Bibliotheksausleihe denken. +Der Unterschied zur Bibliothek: Jedes Teil, das hier hängt, kann man kaufen und trägt zum Gewinn des Ladens bei. Das Konzept bedenkt auf diese Weise, dass wir alle in einer materialistischen Gesellschaft aufgewachsen sind, die Kleidung als Besitzgegenstand zählt. Und seien wir ehrlich: Das Hemd aus der Boutique in Paris, der Rock aus Tanger oder der Pullover der verstorbenen Oma – Kleidungsstücke sind nicht nur Nutzgegenstände, sondern auch Erinnerungsspeicher. +"Der Vorteil zum Secondhandshop ist, dass man Fehlkäufe vermeiden kann", sagt Lena. Da man alles ausprobieren kann, bevor man es kauft, ist im Vorfeld absehbar, ob es zum Rest der eigenen Garderobe passt und ob man es wirklich braucht. Andererseits: Ein Teil, auf das man kurzfristig Lust hat und das man sich sonst vielleicht verbieten würde, kann man sich ohne Probleme "gönnen". Ist ja nicht für immer. +Als ich den Laden verlasse, habe ich so gute Laune wie nach einem erfolgreichen Shoppingtag mit 14. Und eine Ahnung, warum ich bislang nicht hier war: Das Konzept geht einen Schritt weiter als Secondhand und hinterfragt Modekonsum auf eine Art, die auch für vorgeblich nachhaltige Mindsets wie meins neu und ungewohnt ist. Während der nächsten Wochen trage ich die Teile regelmäßig. Weil ich jetzt weiß, dass ich die Sachen theoretisch auch kaufen könnte, fühlt es sich bald nicht mehr nach etwas Geliehenem an – sondern eher wie eine ausgiebige Anprobe. Ich stelle fest: Die Sporthose kneift beim Joggen, das wirklich schöne Leinenhemd ziehe ich selten an, weil ich es nicht kombinieren kann. Und wer hätte es gedacht: Die ärmellose Bluse würde ich – Stand jetzt – gerne behalten. + diff --git a/fluter/kleine-chronik-des-mauerfalls.txt b/fluter/kleine-chronik-des-mauerfalls.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/kleine-gemeinden-und-gefluechtete.txt b/fluter/kleine-gemeinden-und-gefluechtete.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4f23380d4706b7e78bad15b9f87db316118263be --- /dev/null +++ b/fluter/kleine-gemeinden-und-gefluechtete.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Und wie sieht es aus in Brandenburg oder dem ländlichen Niedersachsen? Oder in den Dörfern in Baden-Württemberg? Da denkt man eher an Sportvereine, Rinder und Seen, die Landkultur blieb lange weiß. Das zeigt sich auch wenige Kilometer von Gmünd entfernt in Rechberg. Der katholische Wallfahrtsort hat 1.300 Einwohner, die Alteingesessenen bleiben eher unter sich. Die türkischen, albanischen, polnischen und französischen Nachbarn sind nicht Teil der Dorfidentität und werden kaum wahrgenommen. Bis Zugezogene wirklich dazugehören, kann es schon mal drei Generationen dauern, und das galt schon für weiße, deutsche Kriegsflüchtlinge nach 1945. Die Aufregung war daher groß, als Rechberg im Jahr 2016 eine zehnköpfige Flüchtlingsfamilie zugewiesen wurde. +Zugewiesen heißt, dass die Stadt Gmünd eine Wohnung anmietete und das Integrationsamt die Familie dort einquartierte. Die Ortsvorsteherin von Rechberg hatte die Vermieterin der Wohnung dazu motiviert und einige Nachbarn versammelt, um die Familie in den kommenden Monaten zu begleiten. Den Mitgliedern bei Gängen auf Ämter zu helfen, bei Schulanmeldungen oder ihnen die deutsche Mülltrennung zu vermitteln. Die Familie kommt aus Syrien, die Kinder waren zwischen zwei und 20 Jahren alt. Der Vater fand eine halbe Zugstunde von Schwäbisch Gmünd entfernt eine Arbeitsstelle. Die ganze Familie profitiert bis heute stark von der nachbarschaftlichen Hilfe – ebenso wie die Menschen, die sie unterstützen. Sie sind selbst meist Zugezogene, die eine eher randständige Position im Dorf innehaben und bisher nur wenig untereinander vernetzt waren. Nun trinken plötzlich Menschen gemeinsam Kaffee, die jahrzehntelang nebeneinanderher gewohnt haben. Und ein stilles Ehepaar im Rentenalter wurde zum Knotenpunkt der Nachbarschaftshilfe. Nicht nur die Geflüchteten, auch Rechberg hat davon profitiert, dass Menschen mit Migrationshintergrund verstärkt in den ländlichen Raum zogen. +Bereits in den 1990ern wurden kleinen westdeutschen Gemeinden Russlanddeutsche und jüdische Kontingentflüchtlinge zugewiesen. Allerdings unterschieden sich die neuen Bewohner in ihrer Hautfarbe nicht von den Alteingesessenen. Das ist heute anders, hinzu kommt die Sprachbarriere. In der märkischen Schweiz, östlich von Berlin, hört man jetzt nicht nur Deutsch, sondern auch Arabisch. Immigration nach Europa hat den ländlichen Raum erreicht. Und die neuen Bundesländer. +Dazu gehört auch die Gemeinde Golzow im Oderbruch. Der Strukturwandel und die demografischen Veränderungen bedrohen das Dorf: Von den 850 Einwohnern ziehen immer mehr weg, der Milchbetrieb musste vergangenes Jahr schließen, weitere 30 Arbeitsplätze gingen dadurch verloren. Junge Leute verlassen das Dorf, es gibt immer weniger Kinder. 2015 sah es so aus, als ob die erste Klasse in der Golzower Grundschule nicht mehr zustande käme – es fehlten zwei Anmeldungen. Deshalb bat Bürgermeister Frank Schütz die Behörden, Familien mit Kindern nach Golzow zu schicken – und wenige Wochen später wurde die erste von drei Familien im Dorf mit einem Blumenstrauß begrüßt. Zu Beginn des Schuljahres waren vier ihrer Kinder in der Schule, eines in der Kita – und die erste Klasse war gerettet. Die Ausweglosigkeit der Situation überzeugte zweifelndes Schulpersonal ebenso wie Eltern, die "als Kinder schon mal Hakenkreuze an die Bushaltestelle geschmiert haben", berichtet die Schulleiterin Gabriela Thomas. Auch hier: eine Win-win- Situation, denn die Geflüchteten stammten selbst aus Dörfern. In Golzow konnten sie bei den Nachbarn im Garten mithelfen, bis sie selbst Schrebergärten anmieteten. +Auch die Gemeinde Amt Neuhaus in Niedersachsen hat mit den großen Entfernungen zu den Städten und dem Mangel an Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten zu kämpfen. Schon seit Jahren lebten immer wieder Geflüchtete in Amt Neuhaus, doch aufgrund der schlechten Chancen, einen Job zu finden, zog selbst die am besten verwurzelte Familie wieder weg. Heute kämen nur noch Selbstständige oder Rentner – Menschen mit einem gesicherten Lebensunterhalt, erzählt Bürgermeisterin Grit Richter. +Doch im Herbst 2015 wurde in einem Dorf der Gemeinde Amt Neuhaus eine Notunterkunft für bis zu 750 Geflüchtete eingerichtet – bisher hatten in dem Ort nur 102 Menschen gelebt. Das traf auf massiven Widerstand. Obwohl auf einer Bürgerversammlung große Ängste und Vorurteile geäußert wurden, setzte das niedersächsische Innenministerium das Vorhaben durch. Doch innerhalb weniger Monate konnte die schlechte Stimmung im Ort zum Positiven gewendet werden. Der Leiter der Unterkunft, die Bürgermeisterin und Ehrenamtliche forcierten die systematische Einbindung der Alteingesessenen und Geflüchteten, und es entstanden persönliche Kontakte. Als die Notunterkunft nach zwölf Monaten planmäßig geschlossen wurde, zogen fast alle Geflüchteten wieder weg – zum Bedauern vieler Einwohner."Die Gemeinde ist jetzt wieder in ihren Dornröschenschlaf zurückgefallen", bedauert die Bürgermeisterin. Während Golzow es durch eine gute Bahnverbindung schaffte, Geflüchtete über einen längeren Zeitraum zu halten, fehlte in Amt Neuhaus schlicht die Infrastruktur. Dörfer ohne Busverbindung, Einkaufs- möglichkeiten oder Schulen laden nicht zum Bleiben ein. +Allerdings ist Amt Neuhaus in anderer Hinsicht exemplarisch. Die Gemeinde macht vor, wie durch eine intensive Zusammenarbeit persönliche Beziehungen aufgebaut werden können: Der Leiter der Flüchtlingsunterkunft, die Bürgermeisterin und viele Ehrenamtliche veränderten durch ihre Arbeit die abweisende Stimmung im Ort. Und die örtliche Zivilgesellschaft – Vereine, Kirchengemeinden und Lehrer – zog mit. Die Gemeinden haben gezeigt, dass Geflüchtete kein Fremdkörper bleiben müssen. Im Gegenteil: Die aussterbenden Dörfer können durch einen arbeitsreichen Prozess der gegenseitigen Öffnung vernetzt und am Leben erhalten werden. Die Voraussetzung dafür ist, dass ein Bus fährt und dass man neuen Bewohnern das Gefühl gibt, erwünscht zu sein. Denn wer würde schon in ein Dorf ziehen, in dem sich niemand für einen interessiert? diff --git a/fluter/klezmer-auf-wanderschaft.txt b/fluter/klezmer-auf-wanderschaft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e370f9b82df70168bee8b4a958697aeb89cf9278 --- /dev/null +++ b/fluter/klezmer-auf-wanderschaft.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +So auch Jaakov, der den Talmud zwar auswendig kennt, ihn aber, wie die Tradition es gebietet, auch gern immer wieder hinterfragt. Um Gott zu provozieren, stiehlt er den Mantel seines Lehrers und wird prompt von der Jeschiwa verwiesen. Damit fängt für ihn eine Reise ins Ungewisse an – vor dem Hintergrund der Pogrome, die im christlich-orthodoxen Russland der Jahrhundertwende gegen die jüdische Minderheit verübt wurden. Jene Welle von antisemitischer Gewalt wurde durch die politische Instabilität begünstigt, die Russland 1881 nach dem Mord an Zar Alexander II. erfasste. Damals lebten noch um die acht Millionen Juden in Russland, vor allem im Westen des Zarenreiches. Bei dessen Ende 1917 waren es nur noch fünf Millionen Juden – viele waren in die USA, aber auch nach Frankreich, England und Palästina emigriert. +Auf seiner Wanderung trifft Jaakov auf verschiedene Schicksalsgenossen, wie etwa Vincenzo, der ebenfalls von seiner Jeschiwa verstoßen wurde, weil er Äpfel klaute; den Roma Tchokola, dessen Familie von Kosaken umgebracht wurde; den unergründlichen Klezmer-Musiker Noah Davidovitch, dessen Orchester rivalisierenden Musikern zum Opfer fiel; und die hübsche Chava, die aus ihrem Dorf floh, um nicht zu heiraten. +Wie der Zufall so spielt, entpuppt sich Vincenzo als virtuoser Geiger. Und Chava kennt all die Klezmer-Lieder, die das jüdische Gemeinschaftsleben heraufbeschwören und bei Volksfesten auch Nichtjuden zum Tanzen bringen. So tun sich die fünf Gebeutelten als Klezmer-Band zusammen und lassen, begleitet durch Joann Sfars nur scheinbar schludrigen Strich, die Welt des osteuropäischen Schtetls vom Anfang des 20. Jahrhunderts wieder zum Leben erwachen. Sfar wechselt seine Zeichentechnik oft unmittelbar, mal malt er wild mit Aquarell, mal kritzelt er grob mit Blei- und Buntstiften. +Noch während der Arbeit an seiner fünfbändigen "Klezmer"-Reihe veröffentlichte Sfar außerdem den Band "Chagall in Russland", den Jugendjahren des russisch-jüdischen Malers gewidmet. Angesiedelt in Chagalls Geburtsstadt Witebsk im heutigen Weißrussland, zu Zeiten des Bürgerkriegs um die Oktoberrevolution 1917, kommunizieren und überschneiden sich beide Werke auf zahlreichen Ebenen. Wieder gilt Sfars Interesse dem jüdischen Leben und dem gesonderten Platz des Künstlers in der dörflichen Gemeinde vor dem Hintergrund historischer Umbrüche. Die allgegenwärtige Gewalt konterkariert Sfar hier mit verspielten, wesentlich detaillierteren Referenzen an Chagalls Tiersymbolik und erzeugt eine ebenso unheimliche Untergangsstimmung wie mit seiner skizzenhaften Visualisierung der leidenschaftlichen Klezmer-Klänge. +Dabei sieht Sfars Chagall dem jungen Jaakov verblüffend ähnlich. Und so verwundert es auch kaum, als plötzlich Vincenzo hinter einer Hütte auftaucht und darauf beharrt, Chagall mit "Herr Jaakov" anzusprechen. Im Redefluss verrät Vincenzo, wo die Geschichte in dem in Deutschland noch nicht erschienenen finalen "Klezmer"-Band hinführt: nach Chişinău. Das lässt nichts Gutes erahnen. 1903 kam es in der moldawischen Stadt zu einem massiven Pogrom. diff --git a/fluter/klicktipps-zur-wahl-in-grossbritannien-2017.txt b/fluter/klicktipps-zur-wahl-in-grossbritannien-2017.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ba2e6ad52ef673b2659cee8e4ae57c391c1c1a0a --- /dev/null +++ b/fluter/klicktipps-zur-wahl-in-grossbritannien-2017.txt @@ -0,0 +1,37 @@ +Grey Britain +In der Zwischenzeit ist jedoch viel passiert, nach den Anschlägen von London und Manchester hat sich zum Brexit noch der Terror als bestimmendes, womöglich wahlentscheidendes Thema gesellt. Die Briten erleben derzeit eine sensible Phase und dürften genau darauf achten, welche Politiker die richtigen Antworten finden und wie nahbar sie dabei bleiben. Wer die folgenden Bilder von der Mahnwache in London sieht, könnte jedenfalls zu dem Schluss gelangen, dass in diesem Wahlkampf am Ende die leisen Töne die wichtigeren sein könnten: +Huck: Londoners hold an emotional tribute to those killed by terror + +Ein Duell, das keines war +Theresa Mays Vorsprung ist den Demoskopen zufolge jedenfalls deutlich geschrumpft –aktuelle Umfragewerte hier–, auch weil sie ein direktes TV-Duell mit Corbyn scheute und im indirekten Vergleich dann nicht so recht überzeugen konnte. Eine kommentierte Zusammenfassung gibt eshier bei den Kollegen vom ZDF, die gesamte Aufzeichnung ist auf Youtube zu sehen (anderthalb Stunden, englisch): + + + +Dritte Wahl +Liberale Kommentatoren finden an Corbyn jedoch auch nicht mehr Gefallen als an May. Beide wollten "die Zugbrücke hochziehen" – mit düsteren Folgen. Der Autor dieser Zeilen würde daher weder Labour noch Tories wählen, sondern die Liberal Democrats. Die seien ehrlicher als die einen, vernünftiger als die anderen. Allein: Selbst wenn dem so sein sollte, bei dieser Wahl werden "Lib Dems" keine Schnitte haben. +The Economist: The middle has fallen out of British politics + +Wer wirklich wählen geht +Bei den jungen Wählern hat Corbyn übrigens klar die Nase vorn – allerdings müssten die dann auch wirklich ihre Stimme abgeben. Das ist längst nicht ausgemacht, wie diese Grafiken zeigen: +The Telegraph: A million young people register to vote in month since election called + +Jeremy rennt +Erinnert sich noch jemand an das Schulz-Zug-Spiel? … Okay, war auch nicht so dolle. Die Labour-Variante heißt "CorbynRun". Darin jagt der Spitzenkandidat Banker und Tories, während Theresa May ihren Anhängern Champagnerflaschen aus einem Helikopter zuwirft. Je erfolgreicher der Spieler sich in Corbyns Rolle schlägt, desto größer wird sein "Movement" – junge Menschen schließen sich ihm an, Fahrradkuriere, Studenten. So geht das also. + +Play#CorbynRunnow - Gather People Power, Build a Movement - Together We Can Win#GE2017!#ForTheManyhttps://t.co/mCmffyaibr + +Plötzlich ein zweiter Bernie? +Wahlentscheidend? Wohl eher nicht. Mehr Erfolg verspricht da der Support von MCs wie JME, Stormzy und anderen, die sich unter dem Hashtag #grime4corbyn für den Labour-Kandidaten aussprachen und ihrerseits eine kleine Bewegung lostraten. Grime ist eine ziemlich aggressive Musikrichtung, entstanden im Londoner East End – die Street Credibility hat Corbyn jetzt also sicher. In diesem Text erscheint er sogar fast wie ein britischer Bernie Sanders: +NME: #grime4corbyn: inside the movement that seeks to be "a form of political resistance" + +Das ging dann doch zu weit +Sorry, jetzt gibt es doch keinen limitierten Banksy-Druck für all jene, die nicht für die Tories stimmen. Das hat der (angeblich) in Bristol lebende Street-Art-Künstler bekannt gemacht. Ursprünglich wollte er nämlich Wähler in und um Bristol belohnen, die nachweislich ihre Stimme nicht an Theresa May geben. Auf Druck der Wahlkommission hat er sein Vorhaben aber abgebrochen. +The Guardian: Banksy forced to withdraw offer to send free artwork to non-Tory voters +Politische Interventionen sind bei Banksy Tagesgeschäft. Auch der Brexit beschäftigte ihn in letzter Zeit. In der Küstenstadt Dover malte er ein riesiges Wandbild, auf dem ein Handwerker einen Stern aus der europäischen Flagge rausmeißelt. +The New York Times: Banksy's View of 'Brexit'? It's in the Stars + +Gewohnt zuverlässig +Einen guten Überblick am Wahltag bieten, wie schon in den vergangenen Tagen, der Liveblog des "Guardian" sowie dessen "Election Daily"-Podcast. Bei letzterem ist zwar Youtuber Owen Jones mit von der Partie, der eher Aktivist ist als Analyst, doch hier wird er von interessanten Gästen und Journalisten flankiert. Spannende Debatten! +Guardian: Round the clock general election coverage +Guardian: Election Daily + diff --git a/fluter/klimagesetz-frankreich-protest-etienne.txt b/fluter/klimagesetz-frankreich-protest-etienne.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fe4f3c5b78f76787b2f49f2c5cba0ad9c158d9bc --- /dev/null +++ b/fluter/klimagesetz-frankreich-protest-etienne.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +Deswegen gibt es große Kritik: NGOs und Wissenschaftler*innen warnen, dass das Gesetz die Pariser Klimaziele in weite Ferne rücke, Frankreichs wohl bekannteste Umweltaktivistin Camille Étienne rief zum Protest auf. Über 100.000 Menschen sind ihr trotz der dritten Welle derCorona-Pandemiegefolgt, auch dieses Wochenende wird protestiert. +fluter: Umweltministerin Barbara Pompili hat gesagt, Frankreich betrete mit dem neuen Klimagesetz "die Ära der Ökologie". Folgst du ihr, Camille? +Camille Étienne: Wir müssen tatsächlich in eine ökologische Ära eintreten. Aber die französische Klimapolitik zeigt das nicht. Das sage nicht nur ich als Aktivistin, sondern auch die Wissenschaft. Der Klimabeirat(Anm. d. Red.: ein Gremium aus Wissenschaftler/-innen)warnt, dass wir nicht genug tun. Frankreich will seine CO2-Emissionen in den kommenden Jahren halbieren, aber die angekündigten gesetzlichen Maßnahmen machen uns keine Hoffnung, dass wir das schaffen. +Auch der Bürgerkonvent, der von Präsident Macron einberufen wurde, um Vorschläge zum neuen Klimagesetz auszuarbeiten, ist unzufrieden. Er hält den Entwurf zum neuen Klimagesetz für mangelhaft. +Emmanuel Macron hatte versprochen, die Vorschläge des Konvents ungefiltert zur Abstimmung zu übernehmen. Dieses Versprechen hat er gebrochen. Wohl auch, weil die Wirtschaftslobby das neue Gesetz sabotiert, wie Investigativrecherchenzeigen. Aber nicht nur der Präsident, sondern auch die Abgeordneten im Parlament haben die Vorschläge des Konvents geschwächt. + + +Zum Beispiel? +Der Klimakonvent wollte Inlandsflüge abschaffen für alle Strecken, die mit dem Schnellzug in unter vier Stunden zu schaffen sind. Im Gesetzentwurf gilt das Verbot plötzlich nur noch für Zugverbindungen unter zweieinhalb Stunden. Ein anderes Beispiel ist das vorgeschlagene Werbeverbot: Der Konvent wollte, dass klimaschädliche Produkte künftig nicht mehr beworben werden dürfen. Der Gesetzentwurf enthält zwar ein Werbeverbot, allerdings gilt das nur für fossile Energien. Dieses Verbot geht völlig an der Realität vorbei: Diese Unternehmen schalten ohnehin kaum Werbung. Es gibt viele weitere solcher Schlupflöcher im Entwurf. Ich kann die Enttäuschung des Bürgerkonvents verstehen. +Was das Bürgerkonvent noch vorgeschlagen hat +ein Verkaufsverbot der "umweltschädlichsten Fahrzeuge" ab 2025 (laut Gesetzentwurf sollen Fahrzeuge mit "hohem CO2-Ausstoß" ab 2030 verboten sein) +ein Bauverbot für neue Öl- und Kohleheizungen (im Entwurf nicht vorgesehen) +ein Verbot vonEinwegplastikab 2023 (laut Entwurf ab 2040) +eine Prüfung der klimatischen und gesundheitlichen Folgen des neuen5G-Netzes– bevor es weiter ausgebaut wird (im Entwurf gestrichen) +Alle Vorschläge des Klimakonvents findet ihrhier(leider nur auf Französisch) +Vielleicht waren seine Vorschläge einfach zu ambitioniert. +Auf keinen Fall. Der Bürgerkonvent hat gemacht, wozu ihn die Regierung beauftragt hat: Maßnahmen formulieren, die die Emissionen drastisch senken. So überambitioniert können sie kaum gewesen sein: Selbst mit allen vorgeschlagenen Maßnahmen des Konvents würde Frankreichdas 1,5-Grad-Ziel aus dem Pariser Klimaabkommenwohl verfehlen. +In Deutschland kostet eine Tonne CO2 seit diesem Jahr 25 Euro. Der Preis soll schrittweise ansteigen. In Frankreich ist er schon jetzt fast doppelt so hoch. Das Land scheint auf einem vergleichsweise guten Weg zu sein. +Das sollte man von einem wirtschaftlich so starken Land auch erwarten können. In anderen Bereichen blockiert Frankreich aber eine klimabewusste Politik. Emmanuel Macron hat sich als Klimapräsident inszeniert, den Slogan "Make the planet great again" gewählt. Viele Französinnen und Franzosen hatten große Hoffnung. Weil wenig passiert, ist die Enttäuschung jetzt immens. Wir sehen, dass Macron vor allem den Interessen seiner alten Kumpels aus der Wirtschaft nachkommt. Die Frage nach sozialer und ökologischer Gerechtigkeit hat er in seiner Amtszeit total vernachlässigt. +Ganz zahnlos wäre das neue Klimagesetz aber auch nicht. Das erste Mal wurde beispielsweise der Begriff "Ökozid" gesetzlich verankert. Genauso wie es gesetzlich verboten ist, jemanden zu töten, wäre es dann auch verboten, die Umwelt massiv zu beschädigen. +Das ist eine wichtige Ergänzung. Aber: Den Ökozid kann man juristisch als Vergehen oder als Straftat definieren. Das französische Parlament hat sich fürs Vergehen entschieden. Dadurch sind mögliche Strafen deutlich milder. +Mitten in der dritten Corona-Welle sind über 100.000 Menschen für mehr Klimaschutz auf die Straße gegangen – kurz vor der Parlamentsdebatte zum Klimagesetz. Wie ist der Protest seitdem weitergegangen? +Wir haben ab dem ersten Tag vor dem Parlament Kundgebungen organisiert. Jeden Tag kamen mehr Menschen dazu. Auch Abgeordnete haben mit uns diskutiert. Aber wir waren zu erfolgreich. Macrons Parteifreunde im Parlament wollten uns diesen Erfolg nicht gönnen. Obwohl wir ganz in Ruhe auf dem Vorplatz des Parlaments mit Politiker*innen diskutiert haben, haben die örtlichen Behörden in Paris ein Demonstrationsverbot ausgesprochen. Jetzt dürfen wir uns nicht mehr versammeln. Das ist ganz klar eine politische Entscheidung.(Anm. d. Red.: Kurz nach dem Gespräch mit Camille Etienne hat ein Pariser Gericht das Demoverbot für rechtswidrig erklärt.) +DieGelbwesten-Protestehaben 2018 gezeigt, dass viele Menschen zu viel Klimapolitik kritisch sehen, weil dann beispielsweise der Sprit teurer würde, den sie brauchen, um zur Arbeit zu kommen. Bei einer zu radikalen Energiewende könnten Unternehmen außerdem massiv Jobs streichen. Führt strikterer Klimaschutz nicht unmittelbar in eine soziale Krise? +Die ist doch jetzt schon da. Wir wollen sie nur nicht wahrhaben. Ein Beispiel: Amazon, das sehr von der Corona-Pandemie profitiert hat, muss in Frankreich kaum Steuern zahlen. Das neue Klimagesetz macht den großen Onlinehändlern kaum Auflagen. Gleichzeitig kämpfen lokale Betriebe ums Überleben, und wir bezahlen die Landwirte nicht vernünftig, die unsere Gesellschaft am Laufen halten. Wir sind überzeugt: Wenn der Staat seiner Verantwortung nachkommt und eine echte ökologische Wende anstößt, schafft die auch viele neue Arbeitsplätze. Desto später wir damit beginnen, umso dramatischer werden die sozialen Verwerfungen. + +Titelbild: CHRISTOPHE ARCHAMBAULT/Getty images diff --git a/fluter/klimaklage-gegen-die-bundesregierung.txt b/fluter/klimaklage-gegen-die-bundesregierung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d25ed2936761cdc2ef5c9b52b5b64d5e4a365ae1 --- /dev/null +++ b/fluter/klimaklage-gegen-die-bundesregierung.txt @@ -0,0 +1,32 @@ + + +Zwischen dem, was Lütke Schwienhorst sieht, und dem, was er nicht sieht, gibt es einen Zusammenhang: denKlimawandel. Lütke Schwienhorst kommen allmählich Zweifel an den grasenden Kühen, der eigenen Käserei und dem Hofladen, Zweifel an seinem Lebensentwurf. + + +Bis zu 20 Kilogramm Trockenfutter frisst jedes seiner Tiere täglich. Bei einer Herde von 130 Tieren sind das täglich 2,6 Tonnen. Ein Großteil des alten Ritterguts, auf dem die Familie seit 1991 lebt, wird ausschließlich für die Futterproduktion genutzt. Normalerweise reicht das, um den ganzen Stall satt zu bekommen. Ein Puffer ist dabei schon einkalkuliert. Nur war das Erntejahr 2018 eben alles andere als normal. +"Dreimal hatte es seit Mai ergiebig geregnet. Jeweils 30 Liter Anfang Juni, Mitte Juli und Ende September", erzählt Lütke Schwienhorst. Es klingt, als erinnere er sich an die  Geburtstagsfeiern guter Freunde. Dazu kamen die hohen Temperaturen, "viele, viele Tage über 35 Grad". Bei den Tieren sorgten diese beidenKlimaextremefür Stress, bei den Landwirten für erhebliche Ertragseinbußen. Lütke Schwienhorst brauchte die Futtervorräte des Vorjahres auf und musste trotzdem Heu zukaufen. Da auch andere Regionen mit der außergewöhnlichen Dürre zu kämpfen hatten, stieg der Heupreis. Knapp 15.000 Euro zahlte Lütke Schwienhorst drauf. Werden solche Einbußen zur Regel, geht es für ihn um die Existenz. + + +Lütke Schwienhorst hat deswegen gegen die Bundesregierung geklagt. Im Oktober 2018 reichte er gemeinsam mit zwei weiteren Landwirten und Greenpeace eine Klage ein. Nun prüft das Berliner Verwaltungsgericht, ob die Bundesregierung genug gegen den Klimawandel unternimmt. "Fehlende Umsetzungsabsicht" heißt das im Fachjargon. Denn die Bundesregierung wird ihreselbst gesteckten Klimaziele 2020vermutlich verfehlen. +Eine Fehlplanung, die für die drei Landwirte laut Anklage zum Verhängnis wird. "Die Nutzungsmöglichkeiten ihres Eigentums werden durch den Klimawandel erheblich eingeschränkt", heißt es. "Sie sind insgesamt in einer Situation, in der entweder Klimaschutz effektiv betrieben wird oder sie im Hinblick auf die Zukunft ihrer Betriebe fürchten müssen, diese langfristig nicht wirtschaftlich betreiben zu können." Dabei geht es Lütke Schwienhorst weniger um finanzielle Entschädigung als vielmehr darum, dass die Bundesregierung das Klima ambitionierter schützt. +Mit ihrer Klage wurden die Landwirte um Lütke Schwienhorst Teil einer Bewegung: Weltweit versuchen Privatpersonen, dem drohenden Klimawandel juristisch zu begegnen, indem sie ihre Regierungen undauch die EU per Urteil zu mehr Klimaschutz verpflichtenwollen. Vor 2015 gab es solche Klagen lediglich in den USA. + + +In Kolumbien erzielten 25 junge Menscheneinen juristischen Sieg gegen die Regierung, da diese nicht genug gegen die Abholzung des Regenwaldes unternahm. In Pakistan sah der Jurastudent und Landwirt Ashgar Leghari durch die immer häufiger auftretenden Überschwemmungen und Dürren die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Wasser gefährdet. Er verklagte die Regierung auf entsprechende Klimaschutzmaßnahmen –und gewann. Zuletzt verbuchte die Umweltschutzorganisation Urgenda in den Niederlanden einen Erfolg: Die Richterverpflichtetendie niederländische Regierung zur drastischen Reduktion des Ausstoßes von Treibhausgasen. +"Es gibt derzeit einen riesengroßen Abstand zwischen wissenschaftlicher Realität und Handlungsnotwendigkeit und den Maßnahmen beziehungsweise Plänen der Regierungen", erklärt Roda Verheyen die jüngsten Klagen. Die Hamburger Anwältin gilt als eine der profiliertesten Umweltjuristinnen in Deutschland und wird auch Lütke Schwienhorst vertreten. + + +Dass die Politik sich dem Klimawandel mit der notwendigen Konsequenz entgegenstellt –  viele Menschen glauben daran laut Verheyen nicht mehr. Dass die Regierungen zu langsam, zu zögerlich arbeiten, sollen nun die Gerichte geraderücken. "Sie sind im Rahmen der Gewaltenteilung Akteure, die in der Lage sind, zu verobjektivieren – sie können objektiv bewerten, was erforderlich ist", sagt Verheyen. +Beachtung brachte ihr zuletzt der derzeit vor dem Oberlandesgericht Hamm laufende Prozess des peruanischen Landwirts Saúl Lliuya ein. Er verklagt den deutschen Energiegiganten RWE. Auch hier geht es um die Frage, ob einzelne Institutionen, im Falle von RWE ein Unternehmen, für fehlenden Klimaschutz haftbar gemacht werden können. Das Gericht ließ die Klage zu, startete die Beweisaufnahme. + + +Können deutsche Landwirte schärfere Klimagesetze einklagen? Viele Juristen winken da ab. In Deutschland gebe es für Privatpersonen im Unterschied zu anderen Ländern keine eigene Umweltgerichtsbarkeit, nuranerkannte Verbände. In dieser Hinsicht hinkt die rechtliche Durchsetzung des Umweltschutzes in Deutschland noch hinterher. Ein Klagebündnis vom Solarenergie-Förderverein Deutschland e.V. (SFV), dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und vielen Einzelklägern hatte im November 2018 wegen der deutschen Klimapolitik vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt – es war die erste Klage dieser Art in Deutschland. +Ihr Ziel ist es, gesetzliche Grundlagen zu schaffen, die die Menschen vor dem Klimawandel schützen. Die Verfassungsbeschwerde argumentiert, dass es für Klimaschutz ein Parlamentsgesetz geben müsse. In Deutschland gibt es aber kein Gesetz, das diesen allgemeinen Anspruch erfüllt, stattdessen fortlaufende Klimaschutzpläne. Die, fordert die Klage, müssten dann verbindlich sein. + + +Verheyen geht vor dem Verwaltungsgericht einen anderen Weg: Sie argumentiert, dass die deutsche Regierung mit dem Aufgeben des Klimaziels 2020 bereits rechtsverbindliche Vereinbarungen gekippt hat. "Da mehrere Bundesregierungen dieses Ziel bestätigt haben, wurde hier ein Vertrauenstatbestand geschaffen", sagt Verheyen. Demnach wäre der Abschied von diesen Zielen justiziabel, die Familien hätten einen konkreten Rechtsanspruch. +Einen Erfolg vor Gericht garantiert diese Interpretation nicht. Derzeit warten Lütke Schwienhorst und seine Mitkläger darauf, dass das Verwaltungsgericht den Prozess terminiert – und die Klage somit anerkennt. "Wir betreten mit diesen Klagen Neuland", erklärt Verheyen. "Deshalb sind sie aber nicht weniger gerechtfertigt." + +Update: Ende Oktober 2019 wies das Berliner Verwaltungsgericht die Klimaklage gegen die Bundesregierung zurück. Das Gericht warb dafür,"die Handlungsspielräume der Exekutive zu respektieren", ließ aber die Möglichkeit offen, dass die Kläger Berufung einlegen können. + +Titelbild: Gordon Welters/laif diff --git a/fluter/klimaklagen-ngo-vs-unternehmen.txt b/fluter/klimaklagen-ngo-vs-unternehmen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..36ca0ae074a96f4e020ba237dd8856f90446b142 --- /dev/null +++ b/fluter/klimaklagen-ngo-vs-unternehmen.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Wie wirksam die Entscheidung des Gerichts ist, muss sich aber ohnehin noch zeigen. Shell ist in Berufung gegangen, und ob das Urteil in zweiter Instanz Bestand haben wird, ist alles andere als sicher: Shell argumentiert unter anderem, es sei nicht gerecht, als einziges Unternehmen herausgegriffen zu werden, und dass es keine gesetzliche Grundlage dafür gäbe, dass Gerichte gegen Privatunternehmen in Sachen Klimaschutz urteilen dürfen. +Anfang 2022 hat Shell seinen Firmensitz komplett nach London verlegt, davor war das Unternehmen sowohl in Großbritannien als auch in den Niederlanden ansässig. Dieser Umzug verkompliziert den Vollzug des Den Haager Urteils, weil sich Shell nun außerhalb des Gebiets der niederländischen Jurisdiktion befindet. Ein britisches Gericht müsste das Urteil aus den Niederlanden aufrechterhalten, erklärt die auf Klimagerechtigkeit spezialisierte Juristin Iva Lea Aurer. Alternativ könnten die Niederlande und Großbritannien ein Abkommen vereinbaren, "das das Gerichtsurteil transferiert", um den Prozess zu vereinfachen. "Das wurde aber durch den Brexit erschwert." +Und selbst wenn das gelänge, könnte Shell sich immer noch dafür entscheiden, seine Emissionen nicht um 45 Prozent zu reduzieren: Das Unternehmen müsste dann aller Voraussicht nach "lediglich" Strafzahlungen leisten. Wie hoch die wären? Steht noch gar nicht fest. Gut möglich, dass die Summe nicht hoch genug sein wird, um Shell wirklich zu schaden und zu einer Kursänderung zu bewegen – und die Strafzahlungen müssten auch erst wieder eingeklagt werden. +Trotzdem hat das Den Haager Urteil einen Präzedenzfall geschaffen. Das erste Mal wurde ein multinationales Unternehmen gerichtlich dazu verpflichtet, die Geschäftspläne am Pariser Klimaabkommen auszurichten. Dieses Beispiel macht Schule. + + +So hat beispielsweise in Deutschland 2021 die Deutsche Umwelthilfe (DUH) gegen Mercedes-Benz, BMW und den Mineralölkonzern DEA geklagt, unter anderem mit der Forderung, dass die Autohersteller bis 2030 die Produktion von Verbrennerneuwagen stoppen sollen. Im Fall von Mercedes hat das Landgericht Stuttgart die Klage im September 2022 abgewiesen, nun zieht die DUH in die nächste Instanz vor das Oberlandesgericht. Gegen einen weiteren deutschen Autohersteller, Volkswagen, hat 2021der Landwirt Ulf Allhoff-Cramer aus Ostwestfalen-Lippe geklagt, unterstützt von Greenpeace. Durch die Folgen des Klimawandels, an dem die Autos von VW ihren Anteil haben, würden seine Erträge zurückgehen, so Allhoff-Cramer. +In Großbritannien kündigte die Umweltorganisation ClientEarth im März an, gegen Shell juristisch vorgehen zu wollen, weil dessen Umweltstrategie nicht mit dem Pariser Klimaabkommen kompatibel sei. Das Besondere an diesem Fall: ClientEarth klagt nicht gegen das Unternehmen Shell, sondern möchte die Verwaltungsrät:innen persönlich haftbar machen. Momentan wartet ClientEarth noch auf eine Reaktion des Verwaltungsrats. Dabei, so die Juristin Iva Lea Aurer, gebe das Den Haager Urteil dem Fall in Großbritannien sicher Rückenwind – auch wenn das Rechtssystem natürlich ein ganz anderes sei. +Ein weiteres Ölunternehmen, das französische TotalEnergies, wurde von sechs NGOs in Frankreich verklagt. Die Kläger argumentieren, dass Total durch ein Ölprojekt in Tansania und Uganda die Menschenrechte der dortigen Bevölkerung und die Umwelt massiv gefährden würde – was sich nicht mit der französischen Sorgfaltspflicht von Unternehmen vereinbaren lässt. Nach einigem juristischen Hickhack um die Frage, welches Gericht eigentlich zuständig ist, ist der Fall seit Dezember 2021 vor dem Gerichtshof in Nanterre hängig. +Laut dem britischen Thinktank Chatham House wurden zwischen 2020 und 2022weltweit über 500 Klimaklagen eingereicht. Sie richten sich gegen Unternehmen wie Shell,aber auch gegen Regierungen. Auch hier waren die Niederlande Vorreiter: Im Jahr 2015 verurteilte dasselbe Den Haager Bezirksgericht die niederländische Regierung dazu, ihre Treibhausgasemissionen bis Ende 2020 auf mindestens ein Viertel weniger als den Wert von 1990 zu reduzieren – ein bis dahin auf der Welt einmaliger Vorgang. +Geklagt hatte die Urgenda-Stiftung, eine NGO, die gesammelt die Interessen von rund 900 Niederländer:innen repräsentiert. Nach zwei Berufungsklagen bestätigte der Höchste Gerichtshof der Niederlande 2019 das Urteil, welches damit ein historischer Sieg für Klimagerechtigkeit wurde. Die Urgenda-Anwält:innen argumentierten, dass die Menschenrechte von jetzigen und die Fairness gegenüber zukünftigen niederländischen Bürger:innen in Gefahr wären, falls die Niederlande ihre Minimalziele im Klimaschutz nicht erreichen würden. +Weiterzocken +Von der Tiefsee bis in die Nachrichtenredaktion:Diese fünf Games beschäftigen sich mit der Erderhitzung – und sind weniger deprimierend als gedacht +Eine entscheidende Rolle könnte hierbei – und bei zukünftigen Urteilen – ein Begriff spielen, der in den letzten Jahren in der Rechtstheorie neu aufgekommen ist: das Minimum Principle. Dahinter steht die Überzeugung, dass auch kommende Generationen juristisch repräsentiert werden können, um vorausschauend ihr Grundrecht auf ein gutes Leben zu schützen. +Doch dabei gibt es einige Probleme, wie Laura Burgers, Forscherin am Zentrum für transformatives Privatrecht in Amsterdam, erklärt. Zum einen das sogenannte Pluralitätsproblem: "Kommende Generationen werden, so wie die heutige auch, plurale Gesellschaften mit diversen politischen Ideen formen. Es ist also unmöglich, einen gemeinsamen Standpunkt in ihrem Namen zu formulieren." Das zweite Problem sei eine juristische Genauigkeit, genannt das Ermächtigungsproblem – da zukünftige Generationen ja noch nicht da sind, könnten sie auch niemanden dazu ermächtigen, für ihre Rechte und Interessen einzustehen. +Doch könnten aus den Folgen der Klimakrise Menschenrechtsverletzungen resultieren, vor allem gegen das Recht auf Leben und das Recht auf ein Zuhause. Und diese Menschenrechte "garantieren ein absolutes Minimum, welches Menschen brauchen, um als freie Bürger:innen zu leben, wie in Artikel 2 und Artikel 8 der EuropäischenMenschenrechtskonventionausgelegt", erklärt Burgers. Und dies wiege schwerer als die beiden genannten Probleme. +Sowohl das Den Haager Gericht im Shell-Prozess als auch das Höchste Gericht im Urgenda-Prozess seien dieser Argumentation gefolgt und bestätigten, dass nach dem Minimum Principle weder das Pluralitäts- noch das Ermächtigungsproblem eine Hürde darstelle. Schließlich, so Laura Burgers, werden "zukünftige Generationen das Minimum genauso brauchen wie wir heute". diff --git a/fluter/klimakonflikte-krieg-beispiel-regionen.txt b/fluter/klimakonflikte-krieg-beispiel-regionen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ea402fbcf70d63504b55236cc006651370a339cd --- /dev/null +++ b/fluter/klimakonflikte-krieg-beispiel-regionen.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Alexander De Juan, heute Professor an der Universität Osnabrück, hat untersucht, wie Umweltbedingungen den Konflikt beeinflusst haben. SeinErgebnis: Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen der Wahrscheinlichkeit und Intensität von Gewaltausbrüchen und der Verfügbarkeit von Wasser und fruchtbarem Land. Sind Wasser und Ackerland knapp, fliehen oder migrieren Menschen – womit die Wahrscheinlichkeit steigt, dass verschiedene ethnische Gruppen aufeinandertreffen und um Ressourcen konkurrieren. Dieses Muster lässt sich auch in Mali beobachten, wo zuletzt der Konflikt zwischen den halbnomadischen Fulani und den Bauern der Dogon eskalierte. Auch weil beide Gruppen ihre langjährigen Routen und Routinen an klimatische Veränderungen anpassen mussten. + +Weiterschauen +Sebastian Backhaus will Menschen zwingen, sich die Kriegsrealität vor Augen zu halten. Das zehrt auch an seinen Kräften.Ein Videoporträt +2011 brach in Syrien einBürgerkriegaus, dem eine vierjährige Extremdürre vorausging. Geringe Niederschlagsmengen, schlechtes Management und ein Schadpilz führten zu großen Ernteeinbußen, die Landwirte flüchteten in die großen Städte des Landes. Dort fanden sie oft nur Feindseligkeit und die Arbeitslosigkeit. Der Unmut der Landwirte trug zur allgemeinen Unzufriedenheit mit dem regierenden Assad-Regime bei – und brachte immer mehr Menschen auf die Straße. Bis die Demonstrationen im Sommer 2011 in einen gewaltvollen Bürgerkrieg umschlugen. +Um dem Klimawandel eine Mitschuld an der Situation in Syrien zu geben, fehlt vielen ein klarer Beweis, dass die Dürreperiode tatsächlich eine Folge des Klimawandels war. Den versuchten Wissenschaftler der University of California und der Columbia University zu erbringen. +Aufgrund verschiedener Daten und Klimamodellberechnungen gehen sie davon aus, dass dermenschengemachte Klimawandeldie Dürre zwei- bis dreimal wahrscheinlicher gemacht hat. + + +Viele Konflikte entzünden sich am Thema Wasser. Zum Beispiel im Himalaya: Im Gebirge entspringen Flüsse, die Milliarden Menschen in Asien mit Wasser versorgen. Einer ist der Brahmaputra. Er entspringt in Tibet, das aus Sicht der chinesischen Regierung zu China gehört, und fließt durch Indien und Bangladesch. Nun befürchten beide Länder, China könne ihnen das Wasser abdrehen. Die Volksrepublik plant einen riesigen Staudamm im tibetanischen Hochplateau. Bis zu 60 Gigawatt Energie sollen dort laut chinesischen Staatsmedien durch Wasserkraft erzeugt werden – womit in Tibet das leistungsstärkste Wasserkraftwerk der Welt stünde und ein zentraler Baustein in Chinas Plan, mit erneuerbaren Energien bis 2060 klimaneutral zu werden. + + +Gleichzeitig wäre der Staudamm auch ein diplomatisches Instrument: China würde den Weiterfluss nach Indien und Bangladesch kontrollieren. Und so im schlimmsten Fall sowohl für Wasserknappheit als auch für Überflutungen am Unterlauf des Flusses sorgen. Der indische Sicherheitsexperte S. P. Sinha sieht das als reale Bedrohung. In einemInterviewmit dem Fernsehsender India Today sprach er von einer "gefährlichen Waffe, die China zu jeder Zeit einsetzen kann". +Der geplante Staudamm belastet das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen den zweiAtommächtenChina und Indien. Erst im vergangenen Sommer waren Grenzstreitigkeiten im Hochgebirge von Ladakh eskaliert, bei denen es unter anderem um Wasser ging. Dabei starben mindestens 20 Soldaten. + +In der Arktis legt die Erderwärmung Ressourcen frei – und damit Geld und Konfliktpotenzial. Die Region ist reich an Rohstoffen wie Erdöl, Erdgas und zahlreichen Mineralien. Laut dem Geologischen Dienst der USA sind rund 22 Prozent der noch unentdeckten, technisch förderbaren Öl- und Gasressourcen der Welt in der Arktis zu finden.Je mehr Eis dort durch den Klimawandel abschmilzt, desto leichter lassen sich die Rohstoffe erschließen. Die acht Staaten des Arktischen Rats, USA, Kanada, Russland, Island, Norwegen, Dänemark, Schweden und Finnland, warten schon länger darauf, teilweise wird auch schon gefördert. Aber auch Deutschland sieht genau hin: Die deutsche Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) unternimmt regelmäßig Expeditionen in die Arktis, um deren Rohstoffpotenziale zu bewerten. Gleichzeitig heißt es in den Leitlinien deutscher Arktispolitik(zum PDF): "Mehrere Staaten sichern ihre Interessen in der Arktis zunehmend auch militärisch ab. Dies könnte zu einer Rüstungsspirale führen." + +Weiterlesen +Allgemein gilt: Die einen produzieren die Klimakatastrophe, die anderen baden sie aus.Ist der Klimawandel rassistisch? +Wem die Landflächen in der Arktis gehören, ist bis auf wenige kleine Inseln geklärt. Die Nutzung des Meeres(bodens) ist über das Seerechtsübereinkommen der UN geregelt: Was jenseits nationaler Hoheitsgebiete liegt, genießt als "gemeinsames Erbe der Menschheit" besonderen Status und Schutz. Trotzdem befestigte Russland 2007 demonstrativ eine Nationalflagge aus Titan auf dem Meeresboden, mittlerweile sind russische Luftabwehrraketen in der Arktis stationiert. Aufgrund der geostrategischen Bedeutung versuchte der ehemalige US-Präsident Donald Trump 2019 vergeblich, den Dänen Grönland abzukaufen. + +Gibt es auch in Europa Konflikte, die durch die Klimakrise verschärft werden? "Zumindest keine bewaffneten Auseinandersetzungen, wie wir sie aus anderen Weltregionen kennen", sagt Lukas Rüttinger, Politologe im Thinktank adelphi. +Das liege vor allem an Europas Resilienz, also der Fähigkeit, mit Wasserknappheit, Dürren oder anderen klimabedingten Katastrophen friedlich umzugehen. Länder mit stabilen Wirtschaften und stabilen Regierungen seien da besser aufgestellt, sagt Rüttinger. +Andererseits könnte man die These aufstellen, dass die Klimakrise auch in Europa Opfer fordert:Laut Statistasind bislang mehr als 20.000 Geflüchtete im Mittelmeer ertrunken. Die Ursache ihrer Flucht ist natürlich nicht bei allen bekannt, und bei der Migration greifen immer verschiedene Motive und Zwänge ineinander. Aber: Der Klimawandel führt häufig zu lebensbedrohlichen Extremwetterereignissen, zerstört Ernten oder verknappt Ressourcen, undschon jetzt fliehen mehr Menschen vor Klimafolgen als vor Kriegen. Die Vereinten Nationen befürchten, dass bis 2050 weltweit mehr als 200 Millionen Menschen infolge des Klimawandels aus ihrer Heimat vertrieben werden. Das wird – auch wenn Klimamigration vor allem innerhalb von Landesgrenzen oder in angrenzende Länder führt – bald auch Europa noch stärker spüren. + diff --git a/fluter/klimaneutral-fliegen-technologien.txt b/fluter/klimaneutral-fliegen-technologien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4fecdc576ebf3fd23f8441d8f2534c803df9bbee --- /dev/null +++ b/fluter/klimaneutral-fliegen-technologien.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Einige Airlines und Anbieter versprechen, das schlechte Gewissen ließe sich mit einer Spende für Klimaschutzprojekte ausgleichen. Leiderfunktionieren solche CO₂-Kompensationen nur bedingt. Vor allem aber: So viele Bäume kann man gar nicht pflanzen oder nicht abholzen, damit alle Fluggäste gleichzeitig kompensieren können. +Eine andere Möglichkeit: Das Fliegen selbst sollte mehr kosten, durch Energiesteuern auf Kerosin zum Beispiel. Während in Deutschland pro Liter Autobenzin 65 Cent Energiesteuern erhoben werden, sind es beim Flugbenzin: null. Diese Steuerpolitik gilt in der gesamten EU und auf internationalen Flügen. Sie ist ein Relikt des "Chicagoer Abkommens" von 1944, das die damals winzige internationale Luftfahrt fördern sollte. Hebt man die Steuern und den Flugpreis allerdings in einem Maße an, dass das Klima weniger belastet wird, könnten sich nur noch Reiche Flüge leisten. Die Menschheit müsste sich also von etwas verabschieden, das wortwörtlich den Horizont erweitert und die Welt zusammenbringt. Gibt es keine klimaneutralen Lösungen fürs Fliegen? +An denen sitzen Forschende seit Jahren. Die technischen Möglichkeiten haben sie bereits entdeckt. Bis die flächendeckend umgesetzt werden können, wird es aber lange dauern. Aktuell gibt es vier realistische Wege, irgendwann klimaneutral zu fliegen. + +Elektrizität +Die DHL hat bereits zwölf E-Frachtflugzeuge bestellt, von denen die ersten 2027 geliefert werden sollen. Und ab 2028 will Air Canada 30 kleinere Elektro-Hybrid-Flugzeuge einsetzen. Weit kommt man mit denen nicht – irgendwie logisch, wenn schon E-Autos Probleme mit der Akkulaufzeit haben. Das Zauberwort lautet "Energiedichte", also im konkreten Fall Flugkilometer pro Gewicht. Da ist Benzin (und somit auch Kerosin) beinahe unschlagbar. Es bringt einen mehr als 50-mal weiter als eine gleich schwere Batterie. Die Akkus, die ein Mittel- oder Langstreckenflug verlangt, würden einfach zu viel wiegen. +Wasserstoff +Der erlebt einen Hype, manche sehen ihnals Allzweckwaffe für den klimaneutralen Umbau von Industrie und Gesellschaft. Flüssiger Wasserstoff ist sogar energieeffizienter als Kerosin – das ist gut zum Fliegen. Damit er flüssig ist, muss er aber auf minus 253 Grad gekühlt werden, in Flugzeugen bräuchte es dafür große und schwere Spezialtanks – das ist nicht gut zum Fliegen. Außerdem ist die Herstellung (Wasser wird mithilfe von Elektrizität in Sauerstoff und Wasserstoff gespalten) aufwendig. Solange das so bleibt, wird Wasserstoff wegen seiner hohen Energiedichte in anderen Bereichen dringender gebraucht, etwa bei der Stahlherstellung. + + +Synthetisches Kerosin +Das ist chemisch fast wie herkömmliches Kerosin, wird aber nicht aus fossilem Öl gewonnen, sondern mit chemischen Prozessen aus Wasser und bereits vorhandenem CO₂. Mindestens 144 Projekte, 20 davon in Deutschland, forschen weltweit an solchen "E-Fuels". Es braucht viel Strom, um sie herzustellen. Hier gilt, wie beim Wasserstoff: Wenn der Strom nicht aus erneuerbaren Energien stammt, ist der Klimaeffekt schon verpufft. Berechnungen aus 2021 zeigten, dass alle Solar- und Windkraftanlagen zusammen nur ein Drittel des damaligen globalen Kerosinbedarfs decken konnten. Und grüner Strom wird in vielen Bereichen benötigt, um sie klimaneutral zu machen, in Autos, Zügen, Wärmepumpen, Rechenzentren, im Bausektor und, und, und ... +Biokerosin +Womit wir in Bristol wären. Dorthaben sie einen Weg gefunden, um aus Klärschlamm – der in den meisten Fällen ohnehin verbrannt werden muss – Kerosin herzustellen. Altes Speiseöl geht auch. Die Biomasse wird dabei so stark verdichtet, dass in kürzester Zeit der Prozess abläuft, der sonst Millionen Jahre braucht. Nur gibt es leider gar nicht so viel Bioabfall, wie man für den weltweiten Flugverkehr bräuchte. Und extra dafür Pflanzen anbauen? Diese Flächen brauchen wir dringender für Nahrungsmittel oder als Lebensraum für Tiere und Pflanzen. Stichwort Biodiversität,Stichwort Artensterben. + +Unter diesen vier Technologien haben E- und Biokerosin einen großen Vorteil: Sie funktionieren in den heutigen Flugzeugmotoren, könnten dem herkömmlichen Treibstoff also einfach beigemischt werden. Ein fliegender Technologiewechsel, der bereits begonnen hat. Die EU hat entschieden, dass ab 2025 mindestens zwei Prozent des in Europa getankten Kerosins nachhaltig sein sollen. Selbst dieser geringe Wert wird, Stand jetzt, wohl verfehlt. +Ein Nachteil des E- und zum Teil auch des Biokerosins: Es gäbe weiterhin die Kondensstreifen am Himmel. Sie entstehen, wenn sich Eiskristalle an den winzigen Rußpartikeln aus den Abgasen bilden. Und sie tragen zur Erderwärmung bei. Die Streifen bleiben mehrere Stunden bestehen oder werden zu Wolken und verhindern so, dass Wärme zurück ins Weltall strahlt. Das verstärktden Treibhauseffekt. +Weitere Forschung gibt es im Kleinen. Von der aerodynamischen Form der Flugzeuge über glattere Oberflächen bis zu gebogenen Flügelspitzen finden sich einige Wege, den Kerosinverbrauch zu reduzieren. Klappen wird es nur, wenn man alle Ansätze kombiniert: effizienterer Flugzeugbau, ausgebaute Bio- und E-Kerosinherstellung, Wasserstoffantriebe für Langstreckenflüge, Elektroflugzeuge wiederum eher für kurze Verbindungen, auf denen Züge keine Option sind, etwa in Inselstaaten. +Dieser Text istim fluter Nr. 92 "Verkehr"erschienen +Bis 2050 will die Flugindustrie klimaneutral sein. Dass sie das schafft, ist unwahrscheinlich. Das zeigt auch der jüngste Bericht des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag. Außer es kommt noch eine revolutionäre Idee in der Batterietechnik oder beim Synthetisieren von Wasserstoff. Ungünstig, dass viele Länder wenig Geld für Grundlagenforschung ausgeben. Deutschland hat die Fördermittel für nachhaltige Antriebstechnologien in der Luftfahrt für die kommenden Jahre sogar gekürzt – von 3,3 Milliarden Euro auf recht bodenständige 505 Millionen. + +Titelbild: Luciana L. Schütz – Ira Grünberger/Connected Archives diff --git a/fluter/klimanotstand-konstanz-bilanz.txt b/fluter/klimanotstand-konstanz-bilanz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ae9490544fa17db7d89a330a32bc546c6bfd1940 --- /dev/null +++ b/fluter/klimanotstand-konstanz-bilanz.txt @@ -0,0 +1,17 @@ ++++ PRESSEMITTEILUNG +++Konstanz ruft den Klimanotstand ausGemeinderat erklärt Klimaschutz zur höchsten Priorität + +Draußen vor dem Rathaus von Konstanz standen an jenem 2. Mai 2019 Hunderte Mitdemonstrant:innenvon Fridays for Futureund feierten. Erst seit knapp drei Monaten gingen sie damals in Konstanz fürs Klima auf die Straße. Und schon hatten sie die Stadt dazu gebracht, als erste deutsche Kommune den Klimanotstand auszurufen. Der symbolische Ausruf des Klimanotstands ist ein Zeichen der Stadt, ab jetzt auf Klimaschutz zu achten. +Die große Ansage des Gemeinderats lautete: Der Klimawandel ist Ernst, also machen wir ernst mit Klimaschutz. Wenn schon nicht in der Welt, dann in Konstanz. Autos stehen lassen, Häuser sanieren, Strom und Wärme umstellen. Nun hat sich der Klimanotstand in Konstanz zum fünften Mal gejährt. Was hat er in der Stadt verändert? +März 2024, sechs Wochen vor dem Jahrestag. Die Stadt Konstanz hat zum Klimaschutz-Infoabend geladen, es ist der erste seit zwei Jahren. Vor der Bühne im Bodenseeforum stehen Stühle für 300 Gäst:innen, sie reichen nicht aus. Es geht um dieWärmewende. Also darum, so zu heizen, dass dabei möglichst wenig Treibhausgasemissionen entstehen. Die Stadt heizt noch zu 90 Prozent fossil, daran hat sich seit der Ausrufung des Klimanotstands fast nichts geändert. Aber wird es bald, versprechen die Redner:innen aus Verwaltung und Stadtwerken auf der Bühne. In Zukunft soll die Stadt bis zur Hälfte mit Wärmenetzen geheizt werden, eine Art Heizkörper für ganze Stadtviertel. Statt durch Gas und Öl soll Wärme dann aus dem Rücklauf der Kläranlage, dem Bodensee oder der Müllverbrennung gewonnen werden. Ein wichtiger Schritt, um Konstanz klimaneutral zu machen, der aber auch jahrelange und teure Bauarbeiten bedeutet. +Weit hinten im Saal steht Manuel Oestringer. Er ist 28 Jahre alt, promoviert mittlerweile in Chemie und ist noch immer bei Fridays for Future Konstanz aktiv. Als die Moderatorin dazu aufruft, online Fragen zu stellen, tippt Oestringer in sein Smartphone: "Wie passt die Verbrennung von Müll mit Klimaschutz zusammen?" +Oestringer, die Aktivist:innen und die Stadt und scheinen auf den ersten Blick gegeneinander zu arbeiten. Doch sie schalten sich alle ein bis zwei Monate online zusammen und sprechen darüber, was sie für den Klimaschutz in Konstanz tun können – per Du. "Die Treffen sind gut, weil wir so nah dran sind an den Entwicklungen und Ideen einbringen können", sagt Oestringer. "Oft gehe ich aber frustriert heraus, wenn es wieder hieß, dass aus diesen und jenen Gründen alles länger dauert, als nötig wäre." +"Der Müll fällt leider so oder so an, also nutzen wir doch lieber die Wärme aus der Verbrennung, anstatt sie in die Luft zu pusten", antwortet Lorenz Heublein auf der Bühne im Bodenseeforum. Seit mehr als acht Jahren ist er in der Stadtverwaltung für den Klimaschutz zuständig. Wie auch die Redner:innen vor ihm spricht er über Technik und Kosten und darüber, dass Konstanz mit seiner Wärmeplanung zwar gut aufgestellt sei, aber noch über 90 Prozent der Wärme fossil erzeugt werden und daher ein Umsteuern notwendig ist. Mit jedem Vortrag wird der Applaus ein bisschen lauter. +Konstanz auf Kurs – die Zahlen bestätigen das nicht so ganz. Nach dem Ausruf des Klimanotstands setzte sich Konstanz das Ziel, bis 2035 "weitgehend klimaneutral" zu sein. Die Stadt wollte so ihren Beitragzum Pariser Klimaziel leisten, die Erderwärmung auf "deutlich unter 2 Grad Celsius" zu begrenzen. Für dieses Ziel hätten die Treibhausgasemissionen in Konstanz bereits deutlich fallen müssen, Jahr für Jahr. Doch sie sinken viel langsamer als notwendig: von 2019 bis 2022 um 42.000 Tonnen statt um rund 109.000 Tonnen. +Am Morgen nach der Infoveranstaltung sitzt Lorenz Heublein an einem Tisch im Ratssaal der Stadt, wo damals alles begann. "In den vergangenen fünf Jahren haben wir erst einmal viel Grundlagenarbeit machen müssen", sagt er. 61 Maßnahmen hätten sie erarbeitet, von der Wärmewende zu mehr regionalem Essen, mehr ÖPNV und weniger Parkplätzen für Autos, auch ein Klimaschutzamt wurde eingerichtet. Sie hätten Studien erstellt und Pläne entworfen. All das verringert aber noch keine Emissionen. So stark wie nötig geht es bisher nurbeim Ausbau der Solarenergiein der Stadt voran, zeigen die halbjährlichen Berichte von Lorenz Heublein. Ist die Euphorie verpufft und Konstanz dabei, an seinen Zielen zu scheitern? +Heublein widerspricht. Zentral sei, dass sich das Bewusstsein der Bürger:innen verändert habe – und auch das der Verwaltung. Vor fünf Jahren sei er noch Einzelkämpfer gewesen, mittlerweile gebe es das Klimaschutzamt, das mit mehreren Mitarbeiter:innen die Ideen und Maßnahmen der anderen Ämter, der Stadtwerke und der städtischen Wohnungsbaugesellschaft koordiniert. Die Struktur ist aufgebaut, die Aufholjagd auf die "weitgehende Klimaneutralität", wie die Stadt das offiziell nennt, kann beginnen. Heublein ist überzeugt, dass sie für Konstanz erreichbar ist. +Mit der Ausrufung des Klimanotstands trat Konstanz am 2. Mai 2019 eine Bewegung los. In den Wochen und Monaten danach folgten andere Kommunen: Heidelberg, Ludwigslust, Kiel, Tönisvorst, Herford. Später Köln, Berlin, München. Bis Ende des Jahres 2019 waren es Dutzende Städte mit zusammen vielen Millionen Einwohner:innen. +Markus Groth vom Climate Service Center Germany (GERICS) des Helmholtz-Zentrums hereon hat die Entwicklung der Klimanotstände beobachtet. "Die Klimanotstände waren rechtlich völlig unverbindlich, haben aber gesellschaftlich eine Grundlage für Klimaschutz gelegt, die sich in diesen Kommunen nicht mehr zurücknehmen lässt", sagt er. +Trotzdem fällt die Stadt hinter ihre Ziele zurück. Die Pandemie undder Krieg in der Ukrainenahmen dem Klimaschutz die Bühne und der Bewegung den Schwung. Im Hintergrund aber seien in vielen Kommunen konkrete Ziele und Maßnahmen entwickelt worden, so Groth. Das Dilemma der Kommunen sei nur oft, dass sie sich durchschlängeln müssen zwischen dem, was der Bund, das Land und die eigene Bevölkerung verlangen. Denn das widerspreche sich oft. "Im Zweifelsfall versucht eine Verwaltung deshalb, eher behutsam und möglichst wenig konfrontativ zu handeln", sagt Groth. +Manchmal passiert auch genau deshalb nichts, wie in Konstanz die mehr als 7.000 Quadratmeter Asphalt des Stephanplatzes zeigen. Wo Dutzende Autos parken, sollten eigentlich Bäume und Wasserfontänen stehen. Seit 2009 ist geplant, dass der Platz autofrei werden soll, im Mai sollten die Parkplätze nun endlich weichen. Doch Anwohner:innen, Geschäftsinhaber:innen und bürgerlich-konservative Politiker:innen protestierten dagegen, wie man in der Lokalzeitung lesen konnte, weil so die Parkplätze für Anwohner:innen wegfallen – und die hohen Einnahmen aus den Parkgebühren für Tourist:innen. Also ruderte die Verwaltung zurück. Die Parkplätze bleiben erst mal. +"Das hier", sagt Oestringer und gestikuliert in Richtung der Autos, "ist so etwas wie ein Kristallisationspunkt für alles, was in Konstanz im Klimaschutz schiefläuft." Dafür, dass die vergleichsweise schnellen und einfachen Möglichkeiten, Klimaschutz in der Stadt umzusetzen, nicht genutzt würden. Dafür, dass die Stadt bei Gegenwind einknickt, sagt Oestringer. +Eine Handvoll Aktivist:innen von Fridays for Future Konstanz kandidiert deshalb für den Gemeinderat und den Kreistag. Sie hoffen, dort mehr Tempo in die Klimapolitik bringen zu können. Anfang Juni wird gewählt. Daran, dass die Klimaneutralität und damit auch der Klimanotstand scheitern könnten, will in Konstanz niemand denken. Heute so wenig wie vor fünf Jahren. diff --git a/fluter/klimaproteste-wirkung-forschung.txt b/fluter/klimaproteste-wirkung-forschung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..93545f46bd07d761f8d9cba1c34d0a67cf367fe7 --- /dev/null +++ b/fluter/klimaproteste-wirkung-forschung.txt @@ -0,0 +1,36 @@ +Und? Findet die Öffentlichkeit die Klimaproteste legitim? +Grundsätzlich glaube ich, dass dieDringlichkeit der Klimakrisein der breiten Öffentlichkeit angekommen ist. Den meisten ist bewusst, dass konsequenter Klimaschutz immer wichtiger wird, während wir weit von der Umsetzung notwendiger Maßnahmen entfernt sind. Je länger wir warten,desto wahrscheinlicher werden Kipppunkte innerhalb der Klimakrise, und es kommt zu unumkehrbaren Entwicklungen, die unser alltägliches Leben enorm verändern werden. So gesehen ist die Klimakrise für sehr viele Menschen ein legitimer Grund, mit Protesten zu stören. +Also respektiert die Mehrheit das Anliegen der Proteste, aber nicht die Formen, zu denen die Aktivistinnen und Aktivisten dabei greifen? +Das hängt stark von der jeweiligen Aktion ab: Der Protest gegen das Abbaggern eines Dorfes für den Kohlebergbau wird anders wahrgenommen als die Blockade einer Hauptverkehrsader. Das liegt auch an den transportierten Bildern. In Lützerath haben wir ein hartes Eingreifen der Polizei gesehen und im Hintergrund übergroße Bagger. Der Protest gegen diese wortwörtlich schmutzige Technologie und die Durchsetzung einer strittigen politischen Entscheidung mit Polizeigewalt ist nachvollziehbar. Bei den Straßenblockaden dagegen wird ihr eigentlicher Grund nicht auf den ersten Blick deutlich. Angesprochen werden die Bundesregierung und Konzerne, im Stau stehen aber andere. +Wäre es denn effektiver, wenn sich die Protestierenden vor Konzern- oder Parteizentralen versammeln, statt eine Hauptverkehrsader lahmzulegen? +Es gab und gibt etliche Proteste vor den Zentralen von Energiekonzernen oder vor dem Kanzleramt. Die werden allerdings kaum wahrgenommen und haben auch keine größeren Veränderungen angestoßen. Deshalb ist die Suche nach neuen Wegen nur logisch. Dazu kommt die Vielschichtigkeit des Themas. Die Klimakrise braucht einUmdenken im Verkehrssektor, in der Nahrungsproduktion, neue Ansätze beim Wohnungsbau und eine veränderte Energiepolitik– um nur ein paar Bereiche zu nennen. Diese Botschaft wollen viele Klimaprotestierende vermitteln und gehen deshalb in möglichst viele Bereiche unseres täglichen Lebens. Das regt viele Menschen auf. +Radikalisiert sich die Klimabewegung bei dem Versuch, mehr Druck auszuüben? +Ich halte den Begriff der "Radikalisierung" so, wie er genutzt wird, für unangemessen. Der Protest sucht nach den wunden Punkten der Gesellschaft, sei es der Autoverkehr oder ein Kulturgut, aber er hat klare Grenzen. Wir sehen keine Gewalt gegenüber Menschen, keine Entführungen von Politikern oder Industrievertretern. Ich beobachte eher eine Differenzierung innerhalb der Klimabewegung. Die Letzte Generation geht neue Wege, um die Dringlichkeit des Handelns sichtbarer zu machen. Ihre Aktionen erzeugen starke Bilder und große Aufmerksamkeit. Daneben sind aber Fridays for Future weiterhin aktiv, genauso klassische Umweltorganisationen wie Greenpeace oder der BUND. Mittlerweile engagieren sich auch Gewerkschaften und Kirchen. Gleichzeitig schließen sich die verschiedenen Akteure der Klimabewegung zusammen, wie wir es zum Beispiel bei den Protesten in Lützerath erlebt haben. Die Bewegung erzeugt einen ständigen Strom an Klimastreiks, Vorträgen, an Austausch, sei es, um den öffentlichen Nahverkehr auszubauen oder um dielokale Artenvielfaltzu schützen. Nur findet eben das meiste davon weniger Aufmerksamkeit. + + + + +Die Gretchenfrage ist gerade, ob medial präsentere Aktionen wie das Beschmieren von Kunstwerken, wenn auch hinter Glas, wirklich die nötige Aufmerksamkeit für die Klimakrise und das Handeln der Politik erzeugen. Gibt es dazu Studien? +Ja, aber die Studienlage ist nicht eindeutig. Relativ klar scheint, dass solche Aktionen nicht dazu führen, dass die Menschen nichts mehr mit Klimapolitik zu tun haben wollen. Manche Erhebungen zeigen einen schwachen Effekt, dass Menschen nach den Aktionen selbst aktiv werden wollen. Das trifft aber vor allem auf Menschen zu,die sich ohnehin um die Folgen der Klimakrise sorgen. Auf jeden Fall lässt sich auch an den Studien ablesen, dass die Proteste polarisieren. +Diskutiert wird ein "Radical Flank Effect". +Der beschreibt, dass durch die radikalen Aktionen eines Teils der Bewegung die moderaten Stimmen als Ansprechpartner attraktiver werden. Der Effekt war zum Beispiel auch bei der Bürgerrechtsbewegung in den USA zu sehen: Die radikalen Black Panther sorgten dafür, dass die Regierung in einen Dialog mit gemäßigten Bürgerrechtlern trat und die rechtliche Lage schwarzer Bürger verbesserte. Ich sehe den Effekt bei den Klimaprotesten aber allenfalls schwach, weil Fridays for Future und die Letzte Generation in einem ähnlichen Rahmen agieren. Beide setzen auf zivilen Ungehorsam. +Weiterschauen +Die Doku "Vergiss Meyn nicht" erzählt die Geschichte des Klima-Aktivisten Steffen Meyn, der im Hambacher Forst verunglückte. Hier sehr ihr unser100 Sekunden-Interview mit Regisseur Jens Mühlhoff +Sie sprechen die Bürgerrechtsbewegung an. Kann die Klimabewegung von früheren Protestbewegungen lernen? +Die Klimabewegung zehrt von diesen Erfahrungen. Ganz konkret etwa bei der Organisation von Besetzungen wie in Lützerath oder in der Öffentlichkeitsarbeit. Da beginnt die Bewegung nicht bei null, weil erfahrene Aktivist:innen ihr Wissen weitergeben. Das heißt aber nicht, dass es Patentrezepte für Protest gibt. Dafür verändert sich zu viel. Ein einfaches Beispiel: Für die Antiatomkraftbewegung war eine Titelgeschichte in einem Wochenmagazin wichtig, um Aufmerksamkeit zu bekommen.Heute kann man über eigene Social-Media-Kanäle den Filter der großen Medien umgehen. +Kein noch so breiter Protest wird alle Menschen überzeugen. Müssen wir die Spaltung der Gesellschaft akzeptieren? +Die Funktion von Protesten ist es, Konflikte sichtbar und damit verhandelbar zu machen. Ausgangspunkt dafür ist eine Minderheit, die ein Problem früh erkennt, versucht, es in den Fokus zu rücken, und dabei auch in Kauf nimmt, die Mehrheit gegen sich aufzubringen. Der Letzten Generation ist doch klar, dass sich die Menschen im Stau empören. Damit lenkt sie aber zugleich den Blick darauf, dass diese Menschen selten dieselbe Leidenschaft aufbringen, um sich mit der Klimakatastrophe auseinanderzusetzen oder mit denen, die eine wirksame Klimapolitik ausbremsen. Die Annahme, man könnte mit einer Protestform allein und sofort die Mehrheit überzeugen und einen Wandel ohne Konflikte anschieben, ist absurd. Protest bedeutet immer, in den Konflikt zu gehen. +Der Wandel wird also dauern, der Protest muss zäh sein? +Die Umweltbewegung als Vorläufer der Klimabewegung hat nach langen Auseinandersetzungen immer wieder Teilerfolge erzielt, zum Beispiel den Atomausstieg. Das Problem ist:Die Klimabewegung hat keine Zeit. Es braucht sehr schnell einen tiefgreifenden politischen Wandel. +Gibt es eine Art Kipppunkt der Zustimmung, an dem ein gesellschaftlicher Wandel wahrscheinlicher wird? +Es gibt keine goldene Formel. Aber Rahmenbedingungen, die einen Wandel wahrscheinlicher machen. Im Fall der Klimakrise bräuchte es zum einen eine breite gesellschaftliche Zustimmung für effiziente, also tendenziell auch unbequeme Maßnahmen gegen die Erderhitzung und zum anderenEntscheidungsträger, die entsprechende Maßnahmen durchsetzen. Aber auch mit beiden Bedingungen ist ein positiver Wandel nicht garantiert: Viele gesellschaftliche Interessen und nicht zuletzt Lobbygruppen arbeiten gegen diese Transformation. Trotz wachsender Zustimmung ist der Wandel in der Klimafrage deutlich schwieriger als bei anderen, "kleineren" Themen, weil es um viele Politikfelder gleichzeitig geht. +Eine wichtige Frage zum Schluss: Manche Politiker ordnen die Klimaproteste als kriminell oder gar terroristisch ein, sie fordern Haftstrafen oder das Verbot der Bewegung. Das Bundesamt für Verfassungsschutz untersuchte, ob es die Klimaschutzaktivisten der "Letzten Generation" beobachten muss – und kam zu demSchluss, dass es dafür aktuell keine hinreichenden Belege gibt. Was bedeuten diese Vorwürfe für die Klimabewegung? +Aus meiner Sicht sind die Forderung nach einer Verfassungsschutzbeobachtung und der Begriff "Klimaterroristen" nicht mehr als Versuche, Klimaaktivismus für illegitim zu erklären. Diese Debatten sprechen vor allem die Kreise an, die dem menschgemachten Klimawandel und der Letzten Generation ohnehin skeptisch gegenüberstehen. Mit der Realität hat das wenig zu tun. Gewalt gegen Personen ist in der Klimabewegung eine deutliche rote Linie, und die Bewegung appelliert glasklar auf der Basis des Grundgesetzes und bestehender Verträge an die zuständigen Institutionen. +Trotzdem hat die Debatte spürbare Folgen. +Sie polarisiert und hat mittelbar dazu geführt, dass die Auseinandersetzungen bei Straßenblockaden deutlich aggressiver geworden sind. Es gibt jetzt Menschen, die es als legitim ansehen, Protestierende selbst wegzuzerren und anzugreifen. Auch die Polizei geht die Aktivisten deutlich heftiger an als zuvor. +Besteht aus Ihrer Sicht in Zukunft die Gefahr eines Klimaterrorismus? +Die Klimaaktivisten in Deutschland nerven vielleicht einige, aber trotz der katastrophalen Klimalage sind ihre Aktionen moderat und das Konfliktniveau im historischen Vergleich gering. Aber: Wenn die Frustration angesichts einer blockierten Klimapolitik steigt, kann sich das sehr wohl ändern. + + +Simon Teune ist Soziologe. An der Freien Universität Berlin erforscht er unter anderem, wie Medien Protestanliegen darstellen – wenn Teune dazu kommt: Als Protestforscher ist er seit Wochen ein gefragter Interviewpartner. (Foto: Chris Grodotzki) + diff --git a/fluter/klimawandel-aktivismus-naher-osten.txt b/fluter/klimawandel-aktivismus-naher-osten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ce49cfe4f5c2e3e8da62b4b9eb553a9aa8bd4aeb --- /dev/null +++ b/fluter/klimawandel-aktivismus-naher-osten.txt @@ -0,0 +1,34 @@ + +Elsy Milan, 25, ist eine der bekanntesten Klimaaktivistinnen aus dem Libanon. Aktuell arbeitet sie in Bonn für eine internationale Organisation für erneuerbare Energien. +"Wenn ich an meine Kindheit im Libanon denke, dann denke ich an wunderschöne Landschaften: den Strand, die Berge und die Zedern, für die der Libanon seit jeher bekannt ist. Je älter ich wurde, desto bewusster wurde mir, dass es die unberührte Heimat längst nicht mehr gibt. 2015 war unsere Abfallkrise weltweit in den Nachrichten. Im Libanon gibt es bis heute kein staatlich organisiertes Recyclingsystem. +Während die Müllhaufen wachsen, verschwindet unsere Artenvielfalt. Und weil immer mehr Hitzewellen den Libanon überrollen, verlieren wir unsere Zedern. Ein weiteres großes Problem ist die Energieversorgung. Bis heute verlässt sich der Libanon beinahe ausschließlich auf fossile Brennstoffe. Unsere Fabriken sind veraltet und stoßen Unmengen an CO₂ aus. +Im Kampf gegen den Klimawandel sehe mich als Brückenbauerin. Ich trete international auf, tausche mich aus, lerne. Uns Libanesen betrachtet die Welt wahrscheinlich eher als Menschen, die unterwirtschaftlichen Problemenleiden. Warum, höre ich manchmal, redet ihr nun auch noch über den Klimawandel? +Auch im Libanon ist diese Denkweise verbreitet. Viele Menschen schieben das Thema beiseite. Dabei ist alles miteinander verbunden. Ein paar Menschen sind sich dessen bewusst und auf Solarenergie umgestiegen, um unabhängig zu sein. Aber das sind individuelle Bemühungen. Für das Regime haben erneuerbare Energien keine Priorität. +Ich liebe meine Heimat und wünsche mir eine bessere Zukunft für das Land. Ich will grüne Täler sehen und Fabriken, die durch Solar- und Wasserkraft angetrieben werden. Ich sehe eine Zukunft, in der wir Kerzen anzünden, um zu feiern und zu beten. Nicht, um uns ohne Strom im Dunkeln zurechtfinden zu können." + + +Neeshad Shafi, 33, aus Katar ist einer der Gründer der Organisation "Arab Youth Climate Movement Qatar". Er kämpft dafür, dass der Klimawandel in Katar zum Mainstream-Thema wird. +"Als ich 2015zum Klimagipfel in Parisreiste, stand ich als junger Mensch aus der arabischen Welt ganz alleine da. In dem Moment beschloss ich, dass ich etwas tun muss. Klimaaktivistinnen und -aktivisten aus dem Nahen Osten verdienen einen Platz auf der internationalen Bühne, sie müssen gehört werden. Nach meiner Rückkehr haben wir deshalb die Organisation "Arab Youth Climate Movement Qatar" gegründet. In den darauffolgenden Jahren hat sich viel getan, unsere Bewegung ist gewachsen. Aber es gibt nach wie vor viel zu wenige Aktivisten, die sich ernsthaft für eine Veränderung einsetzen. Zum Beispiel, indem sie für klimafreundliche Gesetze kämpfen. Das ist tragisch. +Wie viele andere Länder im Nahen Osten erwärmt sich Katar doppelt so schnell wie der globale Durchschnitt. Wenn es so weitergeht, wird die Region noch bis Ende des Jahrhunderts buchstäblich unbewohnbar sein. Schlicht und einfach, weil es spätestens dann zu heiß sein und uns das Wasser bis zum Hals stehen wird. In der Region werden junge Menschen häufig belächelt. Nur wenige trauen uns zu, dass wir wirklich zur Lösung der Klimakrise beitragen können. Gemeinnützige Organisationen stehen vor großen Hindernissen. Die meisten von ihnen werden nicht richtig verstanden oder anerkannt; es gibt keinen Rahmen für die Gründung von NGOs. In der Öffentlichkeit herrscht die Auffassung, dass allein die Regierung für das Wohlergehen ihrer Bevölkerung verantwortlich ist. All das hindert die Organisationen daran, ihr volles Potenzial zu entfalten. Die semiautoritären Regierungen der meisten arabischen Länder verstärken diese Tendenz zusätzlich. +Was der globale Norden tun kann, um uns zu unterstützen? Der Jugend aus der arabischen Welt Raum geben. Im Moment steht der globale Norden im Rampenlicht. Ich bin ein großer Befürworter der Jugendbewegung überall. Aber Aktivisten und Aktivistinnen aus dem globalen Norden wissen,dass ihre Stimmen gehört werden, sie können zum Beispiel im nationalen Fernsehen und Radio oder in Zeitungen zu Wort kommen. In der arabischen Welt können wir das kaum erreichen. Die globalen Medien sollten der Jugend aus der arabischen Region einen festen Platz einräumen und ihren Aktivismus fördern. Die internationale Klimabewegung braucht mehr Vielfalt und Inklusion." + + +Amina Bin-Talib, 28, hat im Jemen das landesweit erste Plastikrecycling-Projekt gegründet. Als Klimaaktivistin und Feministin tritt sie international auf. Aktuell lebt sie in Großbritannien. +"Im Jemen hat das Thema Klimawandel für die meisten Menschen aktuell keine Priorität. Seit neun Jahren leidet das Land unter Krieg und Konflikten. Die Bevölkerung ringt ums Überleben, um ihre Gesundheitsversorgung, um Nahrungsmittel und Wasser. Letztlich sind aber all diese Herausforderungen auch mit dem Klimawandel verbunden. Die extremen Wetterereignisse nehmen zu, vor allem Sturzfluten und Überschwemmungen. Das Wasser zerstört Häuser, die zum Teil Hunderte Jahre alt waren. +Die Katastrophen rütteln aber viele Menschen wach. Wenn das eigene Auto in den Fluten versinkt oder sogar das eigene Kind in den Fluten ertrinkt, merkt man: Der Klimawandel ist real und passiert jetzt. Wir können nicht warten, bis der Krieg zu Ende ist. Wir müssen jetzt sofort handeln. +Als ich 2019 begann, mich für das Klima einzusetzen, habe ich mich damit allein gefühlt. Niemand hat sich für meine Ideen interessiert. Viele Unternehmen wollten nicht mal mit mir sprechen, weil ich eine Frau bin. Ich wollte aus recyceltem Plastik Backsteine herstellen. In Kenia wird das schon seit einigen Jahren gemacht. Mit den Plastiksteinen können wir das Land wieder aufbauen und Arbeitsplätze schaffen. Zugleich entlasten wir die Umwelt. +Seit ein paar Monaten habe ich das Gefühl, dass sich im Jemen langsam etwas bewegt. Internationale Organisationen setzen sich vor Ort für die Umwelt ein, ein paar lokale Initiativen haben sich ihnen angeschlossen. Ich hoffe, dass der Jemen bald wieder zur Ruhe kommt. Dann kann ich zurückkehren und dabei helfen, das Land wieder aufzubauen." + + +Matai Ben Aharon, 34, aus Israel setzt sich seit mehr als zehn Jahren für das Klima ein. Aktuell arbeitet er an der "University of Peace" in Costa Rica an seiner Masterarbeit mit dem Schwerpunkt Klimaschutzpolitik. +"Ich bin in einem kleinen Kibbuz im Norden Israels aufgewachsen. In meiner Arbeit mit der "Greenline Initiative" verfolge ich die langfristige Vision eines "Peace Parks". Die Idee basiert auf dem "Open Land"-Prinzip, das im Modellder "Land for All"-Vereinigungverankert ist [Anmerkung der Redaktion: Die "Open Land"-Vision sieht vor, dass sich die Einwohner Israels und Palästinas im gesamten Gebiet frei bewegen und leben können]. +In einem unserer Pilotprojekte geht es darum, einheimische Bäume entlang der israelisch-palästinensischen Grenze zu pflanzen. So wollen wir das Bewusstsein für den Klima- und Umweltnotstand schärfen und zugleich die katastrophale politische Lage verbessern. +Die politische Lage in meiner Heimat ist aktuell so angespannt wie schon lange nicht mehr. Dennoch glaube ich, dass eine langfristige Vision und Graswurzelbewegungen etwas verändern können. Im Nahen Osten müssen wir dringend zusammenarbeiten, sowohl auf lokaler als auch auf regionaler Ebene. Kollaboration ist ein wichtiger Schlüssel, um den Klimanotstand in der Region bewältigen zu können. Das Thema kann neue Wege der Zusammenarbeit schaffen und Brücken bauen." + + +Beisan AlSharif, 34, aus Jordanien hat gemeinsam mit ihrem Tauchpartner Seif Al Madanat die Initiative "Project Sea" gegründet: Gemeinsam mit Freiwilligen holen sie Müll aus dem Roten Meer. +"Ich war nicht immer so klimabewusst wie heute. Im Gegenteil: Ich arbeite hauptberuflich in der Frachtverschiffung, einem Sektor, der in besonderem Maße zur Meeresverschmutzung beiträgt. Die Pandemie hat für mich alles verändert. Damals sind die Unternehmen und die Gastronomie in Jordanien komplett auf Einwegplastik umgestiegen. Als ich gemeinsam mit meinem Kumpel im Roten Meer im Süden des Landes tauchen ging, fanden wir die Überreste auf dem Meeresgrund: Wohin wir auch schauten, lagen Plastikbecher, Besteck und Flaschen herum. +Die Riffe vor unserer Küste geben Forscher und Forscherinnen weltweit Hoffnung. Denn die Korallen im Golf von Akaba sind außergewöhnlich hitzebeständig. Studien zeigen, dass sie einen Temperaturanstieg von 5 bis 6 Grad verkraften können. In anderen Teilen der Welt bleichen Korallen bereits bei einem Anstieg von 1 bis 2 Grad aus. Doch selbst die widerstandsfähigsten Riffe sind nicht immun gegen andere menschengemachte Stressfaktoren –zum Beispiel die Plastikflut. Mit dem Müll gelangen Bakterien ins Wasser, die das sensible Ökosystem krank machen können. +Mein Tauchpartner Seif und ich organisieren seit zwei Jahren Clean-up-Tauchgänge im Golf von Akaba. Zusammen mit Freiwilligen haben wir bereits sieben Tonnen Müll aus dem Roten Meer geholt. Und wir besuchen Schulen und sprechen mit Kindern über den Klimawandel. Das Umweltbewusstsein der jüngeren Generationen lässt uns immer wieder staunen und hoffen. Viele Schüler erzählen uns später, dass ihre Familien inzwischen auf Plastiktüten und Strohhalme verzichten. +Seif und ich nutzen unsere Stimmen und haben das Gefühl, dass wir über die Grenzen Jordaniens hinaus gehört werden. Aber es kommt auf die scheinbar kleinen Schritte an. Mein Rat an die Kinder lautet immer: Fangt einfach bei euch selbst an. Verzichtet auf Einwegplastik, Wasserflaschen und Tüten, und ihr werdet sehen, wie sich alles um euch herum verändert. Wir können vielleicht nicht die ganze Welt retten. Aber wir alle können zur Veränderung beitragen." + diff --git a/fluter/klimawandel-besser-verstehen-links.txt b/fluter/klimawandel-besser-verstehen-links.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..67bb3d1bf4fe0275381a3c69b9f27bbd83706fd8 --- /dev/null +++ b/fluter/klimawandel-besser-verstehen-links.txt @@ -0,0 +1,40 @@ + +Aktuelle Forschung +Die "Warming Stripes" des britischen Klimaforschers Ed Hawkins erinnern an ein abstraktes Kunstwerk. Aber die Grafik mit den blauen und roten Streifen zeigt, wie stark die jährlichen Durchschnittstemperaturen im vergangenen Jahrzehnt angestiegen sind (ihr ahnt es). Zu sehen ist sie auf Hawkins' Blog "Climate Lab Book". Dort veröffentlicht er außerdem Beiträge zu aktuellen Forschungsergebnissen und Infografiken, die so gut sind, dass er damit Preise gewonnen hat. + +Wenn das Zuhause untergeht +Das Leben der Menschen auf den Marshallinseln im Pazifik ist durch den steigenden Meeresspiegel bedroht.Viele Bewohner fliehen, um sich an einem Ort, der nicht so bald im Meer versinken wird, ein neues Leben aufzubauen. Wieso ihr Ziel ausgerechnet Springdale in Michigan ist und was die Atombombe damit zu tun hat, erzählen Jan Hendrik Hinzel, Coleen Jose und Kim Wallin ihrer Multimedia-Reportage "Exodus"für die "Süddeutsche Zeitung". + +Wie fing alles an? +Unser heutiger Lebensstil verstärkt den Klimawandel, aber schon viele Generationen vor uns wurde CO2 in die Atmosphäre geblasen. Die 300-jährige Geschichte fossiler Brennstoffe fasst ein300-sekündiges Video des amerikanischen Thinktanks Post Carbon Institutezusammen. + + +Hollywood-Style +Leonardo DiCaprio hatte als Kind ein dreiteiliges Bild von Hieronymus Bosch überm Bett hängen: "Der Garten der Lüste" zeigt unter anderem eine von den Menschen zerstörte Erde. Das Bild ist der Ausgangspunkt der Doku "Before the Flood" (zu sehen bei Netflix), in der DiCaprio um die Welt reist, um die Folgen des Klimawandels zu erforschen. Die Doku ist manchmal recht dick aufgetragen, aber insgesamt informativ. Etwas befremdlich nur, dass DiCaprio mit Flugzeug und Hubschrauber herumfliegt, um über den Klimawandel zu berichten – aber immerhin hat das Produktionsteam nach eigenen Angaben den CO2-Ausstoß der Reisen kompensiert. + + +Klimawandel ist keine Glaubensfrage +Verrückt, dass in der Öffentlichkeit immer noch darüber gestritten wird, ob die Erderwärmung menschengemacht ist oder nicht, findet John Oliver, Host der US-amerikanischen Late-Night-Show "Last week tonight". Er sagt: Beim Thema Klimawandel geht es nicht darum, was irgendwelche Leute glauben, sondern um Fakten. Um zu beweisen, wie erdrückend die Faktenlage ist, hat er eine "statistisch repräsentative Debatte" organisiert,bei der sich drei Klimawandel-Leugner und 97 Wissenschaftler mit ihren Forschungsergebnissen gegenüberstehen. Erkenntnis: Wer den Klimawandel jetzt noch verleugnet, kann genauso gut an der Flachheit der Erde festhalten. + + +GegenStammtisch-Argumente +Für den Fall, dass man gerade keine 97 Wissenschaftler zur Seite hat, wenn ein Gegenüber am Klimawandel zweifelt: Das Video "13 Misconceptions about Global Warming" des kanadischen Wissenschafts-Youtubers Derek Muller liefert Argumente, die auch auf einen Spickzettel passen. + + + +Crashkurs +Aus welcher Perspektive jemand auf den Klimawandel schaut und welche Interessen er verfolgt, beeinflusst natürlich, wie er sich für Klimaschutz einsetzt (oder nicht) und über das Thema informiert (oder nicht). In der Serie "Crashkurs Klima" des Hessischen Rundfunks wird das Thema darum aus vier Blickwinkeln betrachtet: Wissenschaft, Medien, Gesellschaft, Politik. + + +Klima-Häppchen +Bereits über 30 Folgen zählt der "Climate Cast" des US-amerikanischen Hörfunknetzwerks NPR. Die meisten sind zwischen vier und zehn Minuten lang. Die bisher ausgestrahlten Episoden handeln von den Kosten des Klimawandels, der Speicherung erneuerbarer Energien, von Aktivismus, Wasser, Elektromobilität, dem Umgang der Medien mit dem Klimawandel und vielem mehr. + +Eichhörnchen-Orakel +Schon 2013 erschien die Episode "Hot in my Backyard" des US-Podcasts "This American Life". Es geht darin um Menschen, die den Klimawandel in dem Moment begriffen haben, als er in ihrem Alltag angekommen ist – etwa in Form von überfahrenen Eichhörnchen –, und darum, wie schwierig die Diskussion über das Thema immer noch ist. + +Fakten, Fakten, Fakten +Welche Folgen hatte der Dürre-Sommer? Wie häufig wurde 2018 in Talkshows über das Klima diskutiert? Und was kommt bei einem Abgleich der Positionen der Parteien zum Klimawandel mit dem Stand der Forschung heraus? All das sowie Links zu fundierten Artikeln, Bilanzen, Faktenchecks und mehr gibt es auf demTwitter-Account des Infoportals klimafakten.de. + +Gute Wut +Seit August demonstriert die 16-jährige Schwedin Greta Thunberg regelmäßig vor dem Parlament in Stockholm dafür, dass ihr Land die Ziele des Pariser Klimaabkommens erfüllt. Ihr "Schulstreik fürs Klima" hat Menschen weltweit inspiriert, vor allem freitags schließen sich immer mehr Kinder, Jugendliche und Erwachsene unter dem Motto "Fridays for Future" dem Protest an.Wer Greta auf Twitter folgt, kann an ihren Aktionen, ihrer Meinung und auch an ihrer Wut teilhaben und sich vielleicht sogar zu eigenem Engagement inspirieren lassen. + diff --git a/fluter/klimawandel-inseln-verschwinden.txt b/fluter/klimawandel-inseln-verschwinden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bddd738f0827436a8a3cfb58e2c8503d1a94809f --- /dev/null +++ b/fluter/klimawandel-inseln-verschwinden.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Das liegt womöglich auch an der tiefen Religiosität der Bewohner. Beeinflusst von Jahrhunderten der Isolation hat sich auf Tangier eine streng konservativ-christliche Kultur entwickelt. Dass Menschen überhaupt einen Einfluss auf das gottgemachte Klima haben können, erscheint manchen einfach nicht nachvollziehbar. + +Von den ursprünglich 300 Hektar sind mittlerweile nur noch etwa 33 bewohnbar. Von "Klimaflucht" will hier aber niemand reden + +Einer von ihnen ist Tangiers Bürgermeister, der Krabbenfischer James Eskridge. 2017 sorgte er für Aufsehen, als er sich in einer Fernsehdiskussion zu Wort meldete und seinen Zweifel am steigenden Meeresspiegel verkündete. Im selben Jahr noch warnten Klima-Aktivisten der konservativen Initiative "republicEn" das Städtchen vor dem steigenden Meeresspiegel und davor, dass die Insel früher oder später ganz aufgegeben werden müsse. +Die Menschen von Tangier Island wollen bleiben. Bürgermeister Eskridge sieht die Lösung in einer Art Schutzwall, einer die Insel umschließenden Mauer. Eine vage Unterstützung bei diesem Vorhaben sprach ihm sogar Präsident Trump persönlich zu, für den bei der Präsidentschaftswahl 87 Prozent der Einwohner*innen gestimmt hatten – und der den menschengemachten Klimawandel offen leugnet. Ob eine Mauer die Insel auf Dauer vor dem Untergang bewahren kann? Die Bewohner hoffen jedenfalls auf einen Baubeginn in diesem Jahr. + +In dem Sumpfgebiet, das die Stadt Tangier umschließt, errichten die Einwohner*innen mannesgroße Kruzifixe mit religiösen Botschaften. Das Städtchen hat zwar keine Tausend Einwohner, aber zwei Kirchen +Fußballspielen? Auf Tangier Island schwierig. Aber plantschen geht jederzeit +Krabben statt Schnecken im Vorgarten: Diese Exemplare hier heißen Blaukrabben und sind schon seit Jahrhunderten eine wichtige Einnahmequelle der Menschen aus Tangier. Ihr zartes Fleisch wird von Gastronomen im ganzen Land geschätzt +Tommy, 40, ist Krabbenfischer und Imbissbetreiber. Wenn er nicht grad draußen auf dem Meer ist, serviert er den Jugendlichen Tangiers Eis und Milkshakes. Den Namen des Präsidenten trägt er stolz auf der Brust – auch wenn der bis jetzt noch nicht wirklich viel für die Gemeinde unternommen hat + +Am Anlegesteg von Bürgermeister Eskridge hängt ein Zeitungsbericht über die Amtseinführung Donald Trumps. In einem Interview mit dem US-amerikanischen Nachrichtensender CNN sagte Eskridge mal, er liebe Donald Trump "wie seinen eigenen Sohn" +"Mama, ich nehm' das Boot zur Schule!" Die beiden Teenagerinnen stehen auf dem Vorplatz der Grund- und Oberschule Tangiers. Hier lernen ungefähr 60 Schüler*innen, verteilt auf alle Klassenstufen +Schon im Kindergarten spielt das Christentum eine zentrale Rolle. Vielen fällt es später schwer, den Klimawandel als etwas Menschengemachtes zu begreifen – viel eher akzeptieren sie ihr Dilemma als ein göttliches Schicksal +Jeden Morgen steuert Bürgermeister Eskridge sein Boot in die Chesapeake Bay um Krabben zu fangen. Trumps pro-israelische Haltung war für ihn Grund genug ihn 2016 zu wählen, denn ... +... viele gläubige Einwohner Tangiers sehen es als ihre Pflicht, das "Volk Israels" zu unterstützen. Gegründet wurde die Stadt als Kolonie strenggläubiger Methodisten +Da kommt Freude auf: Während die Erwachsenen in der Andacht sitzen, klärt ein älteres Kirchenmitglied die Jugendlichen in Sachen Beziehung und (bloß nicht!) vorehelichen Sex auf +Auch eine Strategie, um trockenen Fußes von A nach B zu kommen: im Fahrradkorb +Der 75-jährige Ray Cooper ist zwar offiziell im Ruhestand, aufs Meer muss er aber trotzdem noch mehrmals die Woche. Von seiner Rente allein kann er nicht leben – auch nicht im Wohnmobil diff --git a/fluter/klimawandel-ist-ungerecht-verteilt.txt b/fluter/klimawandel-ist-ungerecht-verteilt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2bb6b41cc0c816a6f530ac68c9e20edd399298bf --- /dev/null +++ b/fluter/klimawandel-ist-ungerecht-verteilt.txt @@ -0,0 +1,14 @@ + +In den Küstenregion Bangladeschs zerstören durch den Klimawandel verursachte Zyklone regelmäßig ganze Dörfer. Um sie wieder aufzubauen, verarbeiten die Einwohner alte Ziegelsteine zu neuem Baumaterial +Auch Einkommensschwache sind stärker von Umweltrisiken betroffen: Sie sind beispielsweise 1,3-mal so vielFeinstaubausgesetzt wie Menschen oberhalb der Armutsgrenze. Wenn also von Umweltrassismus die Rede ist, sind meist Klassenunterschiede mitgemeint. Die Phänomene gehen Hand in Hand – und das nicht nur in den USA: Auch in Deutschland zeigen aktuelle Studien, dass ein niedriger sozialer Stand mit einer höheren Umweltbelastung einhergeht. +Während Greta Thunberg in aller Munde ist, wird jungenAktivist*innen of Colorvon den Medien kaum Aufmerksamkeit geschenkt –dabei gäbe es da so einige. Die zwölfjährige Amariyanna Copeny zum Beispiel, Spitzname "Little Miss Flint". Das Trinkwasser ihrer Heimatstadt Flint in Michigan wurde durch Blei verunreinigt. Seit 2014 wurden 100.000 Menschen Giftstoffen ausgesetzt, mehr als die Hälfte von ihnen sind PoC. In deutschsprachige Medien hat es "Little Miss Flint" aber bisher noch nicht geschafft. +Die globale Wirtschaft schafft soziale Ungleichheiten, die oft entlang ehemalskolonialer Linienverlaufen: Westliche Firmen produzieren billig in Ländern, die früher kolonialistisch ausgebeutet wurden und heute fragile staatliche Strukturen haben. Sie nutzen die dort oft niedrigeren Umweltschutzstandards, verunreinigen mitunter die Natur und ignorieren dabei nicht selten die Bedürfnisse der Betroffenen. So war es zum Beispiel in einer Thermometerfabrik von Unilever im Süden Indiens. Dort wurden von 1984 bis 2001 giftige Quecksilberabfälle in den Boden abgegeben. 45 Fabrikarbeiter*innen sollen an den Folgen der Gifte gestorben sein. Andere litten unter Nierenbeschwerden, Gedächtnisverlust und Fehlgeburten. Es dauerte 15 Jahre, bis der Konzern den Forderungen der 591 Betroffenen nachkam und sie entschädigte; die genaue Summe ist nicht bekannt +Ursprünglich ging es bei der Diskussion um Umweltrassismus um die Frage, welche Menschen in ihrer direkten Umgebung Umweltrisiken ausgesetzt werden und welche nicht. Der Klimawandel hat dem Ganzen nun eine neue Dimension verliehen, weil seine Ursachen und Folgen ungleich über den Planeten verteilt sind: Manche Länder, zum Beispiel Honduras, Haiti oder Myanmar sind viel stärker von den Auswirkungen des Klimawandels – Naturkatastrophen, Wasserknappheit, Ernteausfälle, demsteigenden Meeresspiegeletc. – betroffen, obwohl sie nur einen Bruchteil der weltweitenCO2-Emissionen erzeugen. + +Forscher warnen davor, dass Bangladesch aufgrund des steigenden Meeresspiegels zehn Prozent seiner Landmasse verlieren könnte – und 18 Millionen Menschen ihr Zuhause + +Viele Länder dessogenannten globalen Südenssind besonders stark von der Landwirtschaft abhängig und verfügen oft über eine vergleichsweise schlechte Infrastruktur. Das macht sie verwundbar, wenn es um drohende Klimafolgen geht. Außerdem gibt es dort wenig Geld, um den Auswirkungen des Klimawandels entgegenzuwirken. Die Folge:Sie müssen fliehen. +Schon 2017 gab es schätzungsweise rund dreimal mehr Klima- als Kriegsgeflüchtete. Die Zahlen variieren, weil das Problem komplex ist und es noch keine einheitlichen Erhebungsverfahren gibt. Die Hilfsorganisation Oxfam zum Beispiel rechnet mit jährlich 20 Millionen Flüchtenden, das Flüchtlingshilfswerk der UN (UNHCR) mit 25 Millionen. In einem aber stimmen alle Schätzungen überein: In den nächsten 20, 30 Jahren werden sich die Zahlen vervielfachen. +Natürlich profitieren nicht alle Menschen in hochindustrialisierten Ländern gleichermaßen von der Ausbeutung von Ressourcen. Und in weniger gut entwickelten Ländern sind nicht alle automatisch Leidtragende der Klimakrise. Grundsätzlich aber gilt: Je höher das Einkommen, desto höher sind laut Umweltbundesamt auch die verursachten Umweltbelastungen – zum Beispiel durchhäufigere Flugreisenoder eigene Pkw. Spricht man also von Klimarassismus, meint man genauso wie beim Umweltrassismus eine ungerechte Verteilung von Risiken: Diejenigen, die für sie verantwortlich sind, leiden am wenigsten unter den Folgen – jetzt eben auch in einem globalen Rahmen. + +Fotos: Andrea Frazzetta/INSTITUTE diff --git a/fluter/klimawandel-klage-gegen-eu.txt b/fluter/klimawandel-klage-gegen-eu.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..80e2c67a4dae554bb611ee30830165a2ec74fae5 --- /dev/null +++ b/fluter/klimawandel-klage-gegen-eu.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Gemeinsam betreiben die beiden ein Hotel und ein Restaurant, nur ein paar Dutzend Meter vom Strand entfernt thront ihr "Seekrug" in den Dünen von Langeoog. Nun wird Langeoog so schnell nicht untergehen. Aber dass bei den herbstlichen Sturmfluten das Wasser immer höher aufläuft, ist eine reale Gefahr für die natürlichen Süßwasserreserven Langeoogs. Die befinden sich, wie bei allen Ostfriesischen Inseln, im Sandsockel der Insel, gespeist vom Regenwasser, das im Boden versickert und sich dort über dem schwereren Salzwasser des Meeres hält. Würde dieser Vorrat, etwa durch eine heftige Sturmflut, von oben verunreinigt, gäbe es große Probleme. +Bereits jetzt werden viele Millionen Euro in den Küstenschutz Langeoogs investiert: Seit Jahren wird regelmäßig mit Pipelines und Spezialschiffen Sand aufgespült, um Strand und Dünen zu stabilisieren. "Das muss man sich ein wenig vorstellen, wie man das aus Dubai kennt, wo sie diese Palmeninseln ins Meer schütten", sagt Michael Recktenwald. +Aufgrund dieserreellen Gefahr, die auch für die anderen Ostfriesischen Inseln besteht, wollte die NGO Protect the Planet beim People's Climate Case auch eine Inselgemeinde mit ins Boot holen. Die fand sich nicht, aber Langeoogs Bürgermeister vermittelte sie gleich an die Recktenwalds weiter, die neben dem "Seekrug" auch das einzige Biohotel Langeoogs betreiben. "Wir wussten vorher gar nicht, dass man die EU verklagen kann", so Recktenwald. "Wir haben es dann im Familienrat besprochen und waren schnell dabei." +Um den juristischen Hebel im Sinne des EU-Rechts ansetzen zu können, ist in ihrem Fall die "Bedrohung der Berufsfreiheit" das Argument: Ohne Süßwasservorrat kein Tourismus. Zwar könnte Trinkwasser auch mit einer Leitung vom Festland kommen – Wangerooge und Baltrum werden so versorgt. "Aber das ist ja nicht übermorgen fertig", sagt Recktenwald. "Und eine Saison ohne Tourismus, da muss man sich nix vormachen: Dann wäre für uns Ende." +Letztlich ist die Berufsfreiheit aber nur ein Mittel zum Zweck, es geht den Recktenwalds um den Klimaschutz – und, im Sinne der Klage, um ihren 17-jährigen Sohn: Der soll sein Leben auch auf Langeoog verbringen können. Während sie warten, ob die Klage Erfolg haben wird, betreiben sie schon Klimaschutz im Kleinen, servieren zum Beispiel Lebensmittel aus ökologischem Landbau, nutzen Ökostrom und haben den Fleischanteil beim Mitarbeiteressen radikal reduziert. Warmwasser gewinnen sie durch Sonnenenergie vom Dach, und mit "Fotovoltaik wollen wir in den nächsten zwei Jahren auch mehr machen". +Ein finanzielles Risiko geht die Familie mit der Klage nicht ein. Das Einzige, was sie investieren muss, ist Zeit. "Die Masse der Medienanfragen hat uns von den Füßen gehauen", sagt Michael Recktenwald. Das zeige, wie wichtig das Thema den Menschen ist – "anscheinend wichtiger als den Politikern". + +Von Tanja Mokosch +Wenn die Kinder der Familie Guyo am Morgen durch die Steppe zur Schule laufen, trägt jedes ein Stöckchen in der einen Hand und einen Kanister in der anderen. Je älter das Kind, desto größer der Kanister. Wasser und Feuerholz sind die Währung, in der Familie Guyo die Schulgebühren begleicht. Doch wenn man sich ansieht, wie an manchen Stellen im lehmigen Boden unter den blanken Füßen der Kinder immer mehr Spalten aufklaffen, weil kein Tropfen Flüssigkeit mehr die Erde zusammenhält, dann ahnt man, dass sich die Familie dieses "Schulgeld" irgendwann nicht mehr wird leisten können. Weil es einfach nicht mehr da sein wird. +Die Guyos leben in einem kleinen Dorf im Norden Kenias, nahe der Grenze zu Äthiopien. Die nächste geteerte Straße liegt mehr als 60 Kilometer entfernt. Die Familie hütet Ziegen, Kühe und Kamele. Ihre eigenen Tiere, aber auch die von Nachbarn aus umliegenden Dörfern für ein wenig Geld. Seit Generationen bestreitet die Familie so ihren Alltag. Sie braucht fast nichts, und lange reichte das. Doch jetzt verklagt die Familie Guyo die Europäische Union im People's Climate Case. +Denn der Regen kommt immer seltener. Und wenn er kommt, dann zu früh oder zu spät – und umso heftiger. Im vergangenen Jahr ist der 14-jährige Sohn der Familie gestorben, ertrunken, weil heftiger Regen die staubtrockenen Flussläufe in kürzester Zeit zu reißenden Strömen gemacht hat. Das berichtet Markus Raschke von der NGOProtect the Planet,die den People's Climate Case mitorganisiert. Raschke hat die Guyos schon mehrfach besucht. Wie und wann es in ihrem Dorf regnet, hat sich als Folge der "Klimaüberhitzung" – so nennt es Raschke – verändert. Die sogenannte "lange Regenzeit", die im März beginnt, dauert normalerweise bis Mai. Doch sie wird immer kürzer. An den wenigen Stellen, an denen sich das Wasser nach dem Regen noch in Kuhlen zu kleinen Tümpeln sammelt, versiegt es schnell. Schneller als früher, sagen die Guyos. +Inzwischen kann es im Dorf bis zu 40 Grad heiß werden, Raschke hat das selbst gemessen. Die Wasserstellen liegen oft kilometerweit weg vom Dorf und werden von Mensch und Tier geteilt. Wo eine Kuh nach dem langen Marsch ihr Geschäft verrichtet, schöpft wenige Meter weiter ein Kind einen Kanister voll und nimmt einen großen Schluck daraus, erzählt Raschke.Weil vom Regen in der kenianischen Steppe ihr Überleben abhängt, klagen die Guyos unter anderem ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit ein. Auch ihr Recht auf Schutz des Eigentums wollen sie erstreiten: Wenn ihre Tiere nichts zu trinken haben, verdursten sie. +Roba Wako Guyo will, dass jemand entscheidet, ob das, was ihm und seiner Familie gerade widerfährt, gerecht ist. Doch selbst wenn die Klage erfolgreich sein sollte: Mehr wird das Wasser so bald nicht, das weiß Familie Guyo. Ihr Ziel ist es, jedes Mal aufs Neue, die nächste Trockenheit zu überstehen. Und ihre Hoffnung ist es, dass auch ihre Kinder und die nachfolgenden Generationen noch in der nordkenianischen Steppe werden leben können. + +Was ist der People's Climate Case? +Das Volk gegen die Europäische Union: So funktioniert der "People's Climate Case". Das Volk, das sind sieben Familien aus Europa, eine aus Kenia und eine von den Fidschi-Inseln sowie eine schwedische Jugendorganisation. Sie werfen der EU vor, mit ihrer aktuellen Klimapolitik gegen ihre Grundrechte zu verstoßen. Denn die festgelegten Klimaziele bis 2030 seien nicht weitreichend genug: Statt der geplanten CO2-Reduktion um 40 Prozent im Vergleich zu 1990 müssten es zwischen 50 und 60 Prozent sein, um unter zwei Grad Erderwärmung zu bleiben. Die Kläger fühlen sich von Dürren, Wassermangel, einem Anstieg des Meeresspiegels oder extremem Wetter in ihren Grundrechten bedroht oder spüren ihre Folgen schon jetzt. Deshalb haben sie beim Gericht der Europäischen Union (EuG) eine Klage gegen den Europäischen Rat und das Europäische Parlament eingereicht. Initiiert hat die Klage die Nichtregierungsorganisation Protect the Planet, die auch die damit verbundenen Kosten trägt. Ein Netzwerk von NGOs hat mögliche Klägerparteien ausfindig gemacht und Anwälte beauftragt. Die EU hatte gefordert, die Klage wegen Unzulässigkeit abzuweisen, worauf die Kläger eine Erwiderung eingereicht haben. +Jetzt muss das EuG beurteilen, ob die Klage zulässig ist – dafür müssten nämlich alle Kläger von den Folgen des Klimawandels "unmittelbar und individuell" betroffen sein. Es kann also nicht etwa eine ganze Dorfgemeinschaft klagen, weil sich das Wetter verändert hat. Deswegen hat jede Klagepartei einen spezifischen Grund angegeben: Der Lavendelbauer in Südfrankreich erntet weniger Lavendel und hat dadurch finanzielle Einbußen. Die Mitglieder des schwedischen Jugendverbands züchten Rentiere, die im Winter nicht mehr genug zu fressen finden. Das gefährdet ihre indigene Tradition. Wenn die EU ihre Klimaziele nicht verbessert, verstoße das unter anderem gegen das Recht auf Leben und Gesundheit oder auf Eigentum und Berufsfreiheit. +Die Kläger fordern keine Geldentschädigungen. Sie fordern nicht mehr und nicht weniger, als dass die EU das tut, was sie für möglich halten, um den Klimawandel zu stoppen. + diff --git a/fluter/klimawandel-kommunikation.txt b/fluter/klimawandel-kommunikation.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..965152a90f389fcaf24e78556afdb461e22fae29 --- /dev/null +++ b/fluter/klimawandel-kommunikation.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Eigentlich muss Deutschland in spätestens 23 Jahren gänzlich klimaneutral sein. Daher gelten für jeden Wirtschaftssektor – ob Energie, Industrie, Gebäude, Abfall, Landwirtschaft oder Verkehr – verbindliche Obergrenzen für Emissionen und Vorgaben zur jährlichen Minderung. Bislang sieht es nicht so aus, als wäre das zu schaffen. Aber nicht nur in Deutschland passiert zu wenig: Eine Studie der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) kam sogar jüngst zu dem Ergebnis, dass die Grenze von 1,5 Grad womöglich schon in den nächsten fünf Jahren überschritten wird. Was nutzt diese Zahl also noch, und wie könnte es gelingen, diese entscheidende planetare Grenze besser zu kommunizieren? +Die Bilder des Artikels zeigen, wie Forschende den Klimawandel messen: Vom Schrumpfen der Gletscher über das Absterben der Korallenriffe bis hin zum Anstieg der Meeresspiegel gibt es viele Indikatoren dafür, wie weit die Erderwärmung fortgeschritten ist +Was Medien und Politik in der Coronapandemie streckenweise gut gelungen sei – das Manövrieren durch eine Krisemit Hilfe von Kennzahlen(Inzidenzen nach Altersgruppen und Regionen, Hospitalisierungsrate, Auslastung der Intensivbetten) –, fehle im Umgang mit der Klimaerwärmung bislang in weiten Teilen, sagt Michael Brüggemann, Professor für Klimakommunikation an der Universität Hamburg. +"Die Zahl 1,5 Grad sagt lediglich, dass sich alles massiv ändern muss, doch niemand bekommt eine Vorstellung, welche Maßnahmen genau heute getroffen werden müssten, um irgendein Ziel im Jahr 2100 zu erreichen." Zahlen rund um das Klima seien zwar genügend da – schmelzendes Eis, steigender Meeresspiegel, Hitzerekorde –, doch sie ließen den Menschen und auch die Politik oft hilflos und überfordert zurück, so Brüggemann. Zusammen mit seinem Team untersucht er, welches Wissen über den Klimawandel in der breiten Gesellschaft tatsächlich vorliegt und inwiefern viele Erkenntnisse schnell in Vergessenheit geraten. Die Berichterstattung rund um die Klimakrise sei zwar präsent, verwandle sich aber nur selten in greifbares, längerfristiges Wissen, so das bisherige Fazit. +Die Neurowissenschaftlerin und Medienpsychologin Maren Urner wiederum hat festgestellt, dass der Unterschied von einem halben Grad Klimaerwärmung oft als nicht so schlimm wahrgenommen werde. Was zu der weitverbreiteten Fehlannahme geführt habe, dass "2 Grad Erwärmung zwar schlimm sind, aber alles darunter noch okay ist", so Urner. Dabei ist in diesem halben Grad viel Platz für sogenannte Kipppunkte im globalen Klimasystem: So mehrten sich zuletzt die Vorzeichen, dass Grönlands Eisschild bereits bei 1,6 Grad komplett schmelzen könnte, was einen dramatischen Anstieg des Meeresspiegels um sieben Meter zur Folge hätte. Der Unterschied zwischen 1,5 und 1,6 Grad bestünde darin, dass ganze Länder wie Bangladesch, Inselstaaten im Südpazifik, aber auch zahlreiche Metropolen wie Shanghai, New York oder Hamburg im Meer versinken oder nicht. Dieses Risiko könne den blanken Zahlen – 1,5 und 2 Grad – jedoch niemand ansehen, sagt Urner. +Längst machen sich weltweit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Gedanken darüber, wie man mehr Menschen dazu bekommt, ihr Verhalten zu ändern. Zu diesem Thema findet im Herbst in Zürich ein großer Kongress statt, an dem auch Maren Urner als Hauptrednerin teilnimmt. Ihre Arbeit kann unter anderem zeigen, wie sich die Verhaltensmuster der Menschen im Laufe der Coronapandemie änderten – unter anderem durch das Kommunizieren von Zahlen, die mal sehr fern waren (das "chinesische" Virus) und mal ganz nah an uns dran. Davon kön- ne die Politik im Kampf gegen den Klimawandel lernen, so Urner. +Tatsächlich lassen sich die Erwärmung und die Konsequenzen, die für uns mit der Überschreitung der 1,5-Grad-Grenze einhergehen würden, ziemlich konkret beschreiben.So geht die Anzahl der Hitzetoten in Deutschland seit Jahren steil nach oben. Ein Temperaturanstieg um 0,5 Grad mehr (also auf 2 Grad) würde zudem gleich doppelt so viele Wirbeltier- und Pflanzenarten weltweit bedrohen. Bei den Insekten sind es sogar dreimal so viele, die von dem halben Grad Erwärmung mehr betroffen wären. "Zahlen müssen einen greifbaren Schaden sichtbar machen und die Perspektive eröffnen, diesen abzuwenden. Abstrakte und ferne Daten sind dagegen nicht geeignet, politisches und privates Handeln anzuleiten", sagt Klimakommunikationsexperte Brüggemann. +Auch Mirjam Jenny will verstehen, welche Zahlen rund um das Klima die Menschen wirklich bewegen und welche sie kalt lassen. Jenny ist Psychologin mit Schwerpunkt auf Risiko- und Gesundheitskommunikation im Kontext der Klimakrise und berät u. a. die Weltgesundheitsorganisation WHO. "Verstehen wir den Verursacher und einzig möglichen Bekämpfer der Klimakrise psychologisch besser, lassen sich aktuelle Zahlen rund um die Erwärmung des Planeten auch wirksamer verbreiten", sagt sie. Krisenkommunikation verpuffe, wenn sie auf der Vorstellung beruhe, dass die Gesellschaft nur mehr Fakten über das Klima benötige, um dann schon angemessen handeln zu können. So zentral die 1,5-Grad-Grenze zweifelsohne sei, so wenig helfe sie weiter, wenn ihre mediale und politische Vermittlung nicht von der menschlichen Psyche her gedacht werde. +In einem sind sich die Forschenden rund um die Frage einer wirksameren Klimakommunikation ziemlich einig: Wer immer nur Katastrophen an die Wand malt, stößt schneller auf taube Ohren. Sinnvoller wäre es, den Menschen nicht nur klarzumachen, was sie alles verlieren – sondern auch, was es zu gewinnen gibt. Aus einem "Wogegen" würde so ein "Wofür". Nicht nur gegen Hitze, Dürre und Extremwetter, sondern für ein gesünderes Leben auf einem lebenswerten Planeten Erde. Das wäre dann quasi das Gesunde-Welt-Ziel. + +Titelbild: Thorsten Klapsch diff --git a/fluter/klimawandel-meer-folgen-gefahren.txt b/fluter/klimawandel-meer-folgen-gefahren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e7655bcb1386d61f3c99192ea133b9f817ebedc0 --- /dev/null +++ b/fluter/klimawandel-meer-folgen-gefahren.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Doch was passiert, wenn es wärmer wird?Wegen des Klimawandelswird Meereis weniger intensiv ausgebildet, es schmilzt schneller. So gelangt mehr Licht in die obersten Meeresschichten, und die Phytoplanktonblüte beginnt in einigen Gebieten früher. Es kann sein, dass der Höhepunkt der Blüte schon vorbei ist, wenn der Ruderfußkrebs nach Nahrung sucht. Die Folge könnte sein: Die Ruderfußkrebse werden weniger, Fischlarven von Hering und Kabeljau, die sich von ihnen ernähren, haben weniger zu fressen. Und letztlich auch der Mensch. +Dieser Zusammenhang zwischen den kleinen Krebstieren und dem Überleben anderer Lebewesen ist nur ein Beispiel für das sensible Gleichgewicht in den Meeren, das vom Klimawandel extrem bedroht ist. Darum muss der Lebensraum Meer geschützt werden, so fordern es seit 2015 die Vereinten Nationen in den Sustainable Development Goals. Unter Ziel 14 – "Leben unter Wasser" – heißt es: "Wie wir mit dieser lebenswichtigen Ressource umgehen, ist von entscheidender Bedeutung für die Menschheit als Ganzes und zum Ausgleich der Auswirkungen des Klimawandels." +Trotz der Zielsetzung der UN sieht es momentan nicht gut aus für die Meere: Die Erwärmung der Ozeane hat sich in den letzten Jahrzehnten noch beschleunigt, wodurch es häufiger zu sogenannten marinen Hitzewellen kommt, die obendrein intensiver werden. Darüber hinaus verringert sich durch die vermehrte Aufnahme von Kohlendioxid der pH-Wert des Meerwassers; der Säuregehalt der Ozeanoberfläche steigt an. Zudem geht der Sauerstoffgehalt bis in eine Tiefe von 1.000 Metern zurück, wodurch sich die Lebensbedingungen für viele Arten verschlechtern. Auch in diesem Fall sind – wie beim Ruderfußkrebs – ganze Nahrungsketten betroffen. +Hinzu kommt der Anstieg des Meeresspiegels. Das Meerwasser dehnt sich vor allem durch die Erwärmung aus, schmelzende Gletscher und Eisschilde in Grönland und der Antarktis füllen die Ozeane mit zusätzlichem Wasser. Bereits im Zeitraum von 1901 bis 2010 ist der globale mittlere Meeresspiegel um etwa 19 Zentimeter angestiegen, in den vergangenen 20 Jahren hat sich diese Entwicklung beschleunigt – mit Folgen für das Leben auf der Erde. 250 Millionen Menschen leben zurzeit in Küstenregionen, die weniger als einen Meter über dem Meeresspiegel liegen – und sind damit potenziell in Gefahr. +Wirbelstürme, extreme Niederschläge, Tsunamis, Überflutungen und die Erosion von Landflächen könnten ihnen ihr Zuhause nehmen.Wenn der Meeresspiegel bis Ende des Jahrhunderts um einen Meter ansteigt, wie manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler befürchten, würden ganze Länder und Küstenstädte untergehen – und die Zahl der Klimaflüchtenden in die Höhe schnellen. Der Südseestaat Kiribati könnte laut Prognosen der UN sogar schon in 30 Jahren versunken sein. +Während es an vielen Orten wärmer wird, könnte es einer anderen Theorie nach in manchen Teilen Europas sogar kälter werden. Das wiederum liegt am Golfstrom, der warmes Wasser vom Golf von Mexiko in den Norden Europas transportiert und dort für ein gemäßigtes Klima sorgt. Dazu braucht es einen Sog, der durch absinkendes schweres Salzwasser entsteht. Schmilzt das Eis in Grönland, so verringert das geschmolzene Süßwasser den Salzgehalt des Meeres. Das Wasser ist also weniger schwer, sinkt weniger stark ab – wodurch der Golfstrom ganz zum Erliegen kommen könnte und es in Nordeuropa kälter würde. diff --git a/fluter/klimawandel-risiken-deutschland.txt b/fluter/klimawandel-risiken-deutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d2a808c31db6e3b40a3cadd6adeda2f6c1b6db48 --- /dev/null +++ b/fluter/klimawandel-risiken-deutschland.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Noch direkter wirkt sich der Klimawandel durch die zu erwartenden Hitzewellen auf unsere Gesundheit aus. Bei der Hitzewelle von 2003 starben europaweit bis zu 70.000 Menschen zusätzlich. Vorerkrankte, Alte und Kinder leiden besonders darunter, gerade, wenn sie in der Stadt leben. Hier kann es nämlich um die 10 Grad heißer werden, was sich zusammen mit schlechter Luftqualität bei Herz-Kreislauf- und Lungenerkrankten fatal auswirken kann. So starben während einer Hitzewelle 1994 in einigen Bezirken Berlins bis zu 70 Prozent mehr Menschen als sonst im Zeitraum üblich. +Abgesehen von Winzern hierzulande,die von höheren Temperaturen profitieren, weil sie Reifegrad und Qualität ihrer Weine zugutekommen,werden Landwirte voraussichtlich ebenfalls mit Widrigkeiten zu kämpfen haben. Extremwetterlagen wie Spätfrost, Dürre und Hagel können die Ernte zerstören. So führte die Dürre 2018 im Getreideanbau zu enormen Ernteeinbußen, die deutschlandweit einem Schaden von 770 Millionen Euro entsprachen. +Anderswo,insbesondere in Ländern des globalen Südens, birgt der Klimawandel noch weitaus verheerendere Konsequenzen, die schon heute spürbar sind.Auch das wird einen Effekt auf Deutschland haben, nicht zuletzt durch die vielen Menschen, die ihre Heimat aus Not verlassen: Es gibt Prognosen, nach denen bis 2050 über 140 Millionen Menschenwegen des Klimas auf der Flucht sein sollen. +Als wäre das nicht schon genug, werden Stadtmenschen stärker von Hochwasser betroffen sein, denn bei Starkniederschlag kann das Regenwasser durch asphaltierte Straßen und Bürgersteige nur schlecht versickern. Auch an der Küste kann es vermehrt zu Hochwasser kommen. Laut Umweltbundesamt könnten hohe Sturm­flutwasserstände in Zukunft häufiger auftreten. + diff --git a/fluter/klimawandel-stoppen-klimamodelle-podcast.txt b/fluter/klimawandel-stoppen-klimamodelle-podcast.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5c789faafc4a06f0bdef399f9244eef9f8ede181 --- /dev/null +++ b/fluter/klimawandel-stoppen-klimamodelle-podcast.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Ihr habt Lob, Kritik oder eigene große Fragen, die wir in der Pause beantworten sollen?Schreibt uns an post@fluter.de. + +0:16 MinutenAllgemeines Hallo. Der Moderator hat vom Klima keine Ahnung, Jessica gute Laune: Mittagspause! +2:15Kann man den Klimawandel überhaupt noch "stoppen"? +3:25Machen 1,5 oder 2 Grad Erderwärmung denn wirklich so einen Unterschied? +6:00Haben "Klimaskeptiker*innen" haltbare Argumente? +7:15Sind wir so gelähmt, wie es sich anfühlt – oder tut sich was beim Klimaschutz? +8:38Klimaschutz als Chance sehen +10:40Ist der CO2-Preis eine gute Idee? +12:05Warum es eigentlich gar nicht ums Klima geht +12:35Was kann ich als Einzelne*r tun? +13:45Jessica fällt Klimaschutz auch manchmal schwer +14:20Was wir aus der Pause mitnehmen + + +Moderation: Paul HofmannSound und Schnitt: Niklas PrenzelMusik: Max LangeCover: Jan Q. Maschinski diff --git a/fluter/klimawandel-stoppen-mit-geoengineering.txt b/fluter/klimawandel-stoppen-mit-geoengineering.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1d9aa518ff7d55609cecdcab4441faf732fb1cfc --- /dev/null +++ b/fluter/klimawandel-stoppen-mit-geoengineering.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Bereits heute bremsen die Ozeane den Klimawandel, sie speichern Wärme und binden jede Menge Kohlendioxid. Nun gibt es die Idee, da noch etwas nachzuhelfen, indem man das Oberflächenwasser der Meere mit fein verteiltem Eisensulfat düngt. Dadurch würde das Wachstum von Algen drastisch angeregt, und diese könnten über die Fotosynthese große Mengen Kohlendioxid aufnehmen. Was das für langfristige Folgen für die maritime Nahrungskette hätte, ist aber kaum bekannt. Forscher vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven testeten das Verfahren im Südatlantik mit zwei Projekten. Dabei wurden jeweils etwa sechs Tonnen Eisensulfat in einem 300 Quadratkilometer großen Gebiet verteilt. Tatsächlich nahm in den oberen Wasserschichten kurzfristig das Algenwachstum zu. Doch insgesamt waren die Resultate ernüchternd. So förderten absterbende Algen die Bildung von Zooplankton, winzigen tierischen Organismen. Diese fraßen die zusätzlichen Algen. Eisendüngung bietet also nur einen kurzfristigen, aber keinen nachhaltigen Effekt zur CO₂-Bindung. Weitere Versuche sind erst mal nicht geplant. Allgemein ist zu beachten, dass die Biodiversitätskonvention Geoengineering verbietet, wenn darunter die biologische Vielfalt der Arten in einem Ökosystem leidet. +Aus der Luft gegriffen +Mit Kohle und Erdgas befeuerte Kraftwerke pusten Unmengen an Kohlendioxid in die Atmosphäre. Doch das Treibhausgas lässt sich teilweise von den übrigen Abgasen – etwa Schwefel- und Stickoxiden – abtrennen und herausfiltern. Das verdichtete CO₂ kann in das poröse Gestein geleerter Erdöl- und Erdgaslagerstätten gepresst und dort dauerhaft gespeichert werden. Nach einigen Jahrhunderten bis Jahrtausenden können sich sogar feste Karbonate bilden. Diese Idee des "carbon dioxide capture and storage" – kurz CCS – wurde bereits in einigen Pilotkraftwerken getestet. In Island etwa konnten im Rahmen der CarbFix-Projekte einige Hundert Tonnen CO₂ in 500 bis 750 Metern Tiefe verpresst werden. Dank der besonders dazu geeigneten Basalte im isländischen Boden mineralisierte das Gas sogar in extrem kurzer Zeit. Alle verfügbaren CCS-Techniken stecken noch in der Entwicklung, der technische und finanzielle Aufwand für die gigantischen Anlagen wäre immens: Kohlekraftwerke müssten mit teuren Filtern ausgestattet werden, grob geschätzt würden sich die heutigen Kosten von Strom aus Braunkohle etwa verdoppeln. Schwer absehbar sind dabei mögliche Umweltschäden: Das verpresste CO₂ könnte Schadstoffe im Boden freisetzen oder salziges Grundwasser nach oben drängen. Dort könnte es das trinkbare Grundwasser oder landwirtschaftlich genutzte Böden versalzen. + +Tanz auf dem Vulkan +Als vor 73.500 Jahren der Vulkan Toba ausbrach, sorgte er auf der gesamten Erde über mehrere Jahre für bis zu fünf Grad tiefere Durchschnittstemperaturen. Der Ausbruch des philippinischen Pinatubo im Jahr 1991 ließ die globale Temperatur immerhin um ein halbes Grad fallen. Verantwortlich dafür ist das Gas Schwefeldioxid, das in 15 bis 50 Kilometern Höhe zu Sulfaten oxidiert und sogenannte Aerosole bildet, die Sonnenlicht reflektieren. Denn, logisch: Wenn weniger Sonnenstrahlung die untere Atmosphäre erreicht, verringert sich auch die globale Erwärmung. Diesen Effekt könnten Menschen simulieren, indem sie, zum Beispiel mit Heißluftballons, große Schwefelmengen in die Stratosphäre bringen und sie dort verbrennen. Doch die Folgen für die komplexen Prozesse in der Atmosphäre wären unabsehbar. Die entstehenden Sulfate können sich in Wasser lösen und zu schwefelsaurem Regen führen. Auch können Sulfate die Ozonschicht schädigen. Und nicht zuletzt könnten sich die Niederschlagszonen auf der Erde verschieben. Mögliche Folgen wären Überschwemmungen und Dürren. So sieht heute kein seriöser Wissenschaftler in einem "künstlichen Vulkanausbruch" eine sinnvolle Maßnahme gegen den Klimawandel. +Griechisches Weiß +Die Bewohner griechischer Inseln wissen: Helle Flächen reflektieren Sonnenlicht besser und wärmen sich weniger auf als dunkle. So bleiben ihre landestypisch weiß gestrichenen Häuser im Sommer angenehm kühl. Das sollte doch auch anderswo funktionieren. In ersten Pilotversuchen wurden bereits Hausdächer und städtische Infrastruktur in hellen Farben gestrichen – so etwa im Jahr 2017, als in Los Angeles Straßen mit einem reflektierenden hellgrauen Spezialbelag beschichtet wurden. Eine weitere Idee: Helle Erntereste sollten auf Feldern länger liegen gelassen werden, anstatt unter die dunkle Erde gepflügt zu werden. In aufwendig berechneten Klimamodellen konnten Forscher den Effekt der gesteigerten Lichtreflexion abschätzen. Das Ergebnis: Global gesehen zeigt diese Maßnahme keinen nennenswerten Vorteil, die Wärme wird nur in höhere Luftschichten verlagert. Doch lokal können die Temperaturen in einem heißen Sommer durchaus um einige Grad sinken. Vor allem in dicht besiedelten Städten ließe sich so ein Hitzestau im Sommer lindern, in der Folge würde der Stromverbrauch Abertausender Klimaanlagen sinken, fossil befeuerte Kraftwerke könnten ihre Leistung drosseln. So liefert dieses einfach umsetzbare Strahlungsmanagement immerhin einen kleinen Beitrag zum Klimaschutz – zumindest wenn bei der Herstellung der Spezialfarben nicht mehr Energie verbraucht wird, als man durch ihren Einsatz einspart. diff --git a/fluter/klimawandel-stoppen-staatliche-verordnung-oder-persoenliche-massnahmen.txt b/fluter/klimawandel-stoppen-staatliche-verordnung-oder-persoenliche-massnahmen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..378e510d63e447ac065eb2eb7d12ab7f25a15862 --- /dev/null +++ b/fluter/klimawandel-stoppen-staatliche-verordnung-oder-persoenliche-massnahmen.txt @@ -0,0 +1,31 @@ +Wenn ich darüber nachdenke, fallen mir viele Dinge ein, zu denen ich heute oder gerne bereits gestern "Nein danke!" gesagt hätte. Denn mal ehrlich: Niemand hat mich je dazu gezwungen, in ein Flugzeug zu steigen. +Von Zeit zu Zeit gibt es politische Persönlichkeiten oder Gesetze, die es schaffen, Gesellschaft im Kern zu wandeln. Die Einführung des BAföG 1971 öffnete einer ganzen Schicht die Tore zu den Universitäten. In der Regel aber vermag Politik nur das umzusetzen, was in einer kritischen Masse von Köpfen und Herzen schon angekommen ist. Das galt für den Atomausstieg wie für die Ehe für alle. +Ich glaube: Nur wer einmal freiwillig und aufrichtig versucht hat, sein Leben klimagerecht umzugestalten, wird auch Gesetze von Parteien akzeptieren, die unsere Gewohnheiten verändern wollen, wirdPostwachstumsökonomen wie Prof. Niko Paechzuhören oder sogar selbst Innovationen erdenken, die ein Leben ohne Raubbau ermöglichen. +Zu glauben, man könne mit Steuern oder höheren Preisen ausreichend viel bewirken, ist dagegen irrwitzig. Seit derFinanzkrisesind unsere Volkswirtschaftenmit billigem Geld geflutet. So wird sich immer jemand finden, der höhere Preise für fossile Rohstoffe bezahlt. Diese Rohstoffe müssen aber unter der Erde bleiben, um das in Paris gesetzte Ziel von einer maximalen Erwärmung von zwei Grad zu schaffen. Höhere Preise treffen hauptsächlich die Armen und befördern einen gesellschaftlichen Unmut, wie auch dieGelbwesten-Bewegungzeigt. Auf reiche Klimasünder haben hohe Preise einen ähnlichen Effekt wie Punkte in Flensburg auf Diplomaten: nämlich gar keinen! +Um ins politische Umsetzen zu kommen, braucht es Menschen, die lösungsorientiert vorangehen und sich der besinnungslosen Betriebsamkeit eines vermeintlichen Fortschritts entziehen. Menschen, die sich trauen, sich ihre Klimaschulden vor Augen zu führen, indem sie zum Beispiel über ihren persönlich verursachten CO₂-Ausstoß Buch führen. Apps und Seiten wiechangers.com,atmosfair.deoderklimaktiv.dekönnen dabei helfen, so ein CO₂-Konto anzulegen. Bei mir sind seit 1998 26 Flugstrecken verbucht – 33 Tonnen CO₂, für die ich mich in der Verantwortung sehe. +Damit wir in Deutschland von knapp zehn Tonnen CO₂ auf die angestrebten unter zwei Tonnen pro Kopf für das Pariser Klimaziel kommen, brauchen wir eine kulturelle Schubumkehr, die nur in jedem Einzelnen beginnen kann. Ein guter Anfang ist, vermeintliche Alternativlosigkeit zu hinterfragen. Fliegen? Der Early Adopter antwortet: "Nein danke! Ich habe den Nachtzug schon gebucht." Fleisch? "Nein danke! Es gibt auch andere leckere Sachen." Pendeln? "Nein danke! Wozu gibt es Homeoffice oder Coworking-Spaces?" +Dieses "Nein danke!" muss keine Spaßbremse sein. Man kann jede Menge klimaneutralen Spaß haben, der in unserer von Öl beschleunigten Gesellschaft unter die Räder gekommen ist. So hatten die Menschen in den 1970er- bis 1990er-Jahren zwar keine Selfies aus Schanghai und New York vorzuzeigen, dafür aber deutlich mehr Sex und Sexpartner als wir heute –das ergab zumindest eine Studie der International Academy of Sex Research für die USA. Auch vegetarische Grill- und Trinkabende mit Freunden sind nicht gerade ein Grund, Trübsal zu blasen. Welchen Wert haben klimaschädliche Aktivitäten im Hier und Jetzt, wenn es für die Menschheit kein Morgen mehr gibt? +Unsere größte Herausforderung ist nicht mehr die Bewältigung eines Mangels, sondern der Gier des Überflusses zu widerstehen. Mein Tipp: Setzt euch ein eigenes CO₂-Budget. Fangt mit sechs Tonnen pro Jahr an und versucht, innerhalb dieses Budgets so viel Spaß zu haben wie eben geht. Wer an die Grenzen seiner sechs Tonnen stößt, wird im Alltag viele Lösungen entdecken. Das eigene Denken verändert sich: Plötzlich ist man bereit, anderen Geld zu geben, wenn sie für einen Treibhausgase einsparen. Und man entdeckt vielleicht, dass manches, das wie Verzicht wirkte, sich tatsächlich wie eine Befreiung anfühlt. +Ich habe gelernt, dass Zeitkompression – also mehr Dinge in immer weniger Zeit zu tun – der größte Feind und Zeitwohlstand der größte Freund eines klimaneutralen Lebens ist. Dass mehr Einkommen mit mehr Energieverbrauch einhergeht. Dass Menschen, diearbeitslossind, im Moment wohl mehr für das Klima tun als jene, die arbeiten gehen. Und dass Omas Hackenporsche – Einkaufstrolley – als Low-Tech-Solution jedes E-Auto in der Klimabilanz schlägt. Solche Erkenntnisse mögen irritieren, aber da muss man durch. Wenn man am Rande eines Abgrundes steht, ist es klug, am "Fortschritt" zu zweifeln. Zumindest sollte man vor dem Weitergehen die Richtung ändern. Wer den Mut dafür aufbringt, merkt schnell, dass einiges anders werden muss. Aber auch: dass ein gutes klimaneutrales Leben möglich ist. + + +Patrick Held arbeitet für eine Ökobank. Er ist überzeugt, dass ein gutes klimaneutrales Leben möglich ist. Wie er das macht? Einkäufe im Bioladen, Teilzeitleben imTiny House, Ablehnung von Fleisch, Flügen, Berufspendeln oder Vollzeitstellen. + +Collagen: Renke Brandt +von Martin Thaler +"Reisen? Nur was für die Elite", "Zurück ins Mittelalter" und "Politiker wollen uns die Flügel stutzen!" – So stelle ich sie mir vor, die wütenden Überschriften in den deutschen Zeitungen, sollte die Bundesregierung eine CO₂-Abgabe für den Luftverkehr einführen. 50 Euro pauschal auf jeden Flug – das dürfte für große öffentliche Entrüstung sorgen. Denn für viele scheint der 29-Euro-Wochenendtrip nach Mallorca oder London ein Grundrecht zu sein, genauso schützenswert wie Meinungs- oder Berufsfreiheit. +Wir Deutschen sind zu einem Vielflieger-Volk geworden. Allein im ersten Halbjahr 2018 zählten die großen Flughäfen im Land insgesamt 56,5 Millionen Passagiere. Über elf Millionen davon waren innerhalb von Deutschland unterwegs – auf Strecken, die auch per Bahn innerhalb weniger Stunden zurückgelegt werden könnten. +Dass wir mit unserer Fliegerei der Umwelt vors Schienbein treten, ist kein Geheimnis. Trotzdem entscheiden wir uns dafür. Warum? Weil es billig ist. Denn während die Airlines ihr Kerosin nicht versteuern müssen, wird bei der Bahn eine Stromsteuer fällig. +Für jemanden mit Flugangst wie mich stellt es natürlich kein großes Opfer dar, eine CO₂-Steuer aufs Fliegen zu fordern. Ich finde aber: Eine striktere Reglementierung klimaschädlichen Verhaltens ist auch auf dem Boden notwendig. Da, wo es auch mir wehtut. +Als jemand, der in Niedersachen aufgewachsen ist, in Sicht- beziehungsweise Riechweite zumdeutschen Güllegürtel, greife ich gerne zu Schnitzel und Bratwurst. Damit bin ich nicht allein: Der Durchschnittsdeutsche aß im Jahr 2016 insgesamt 59 Kilo Fleisch – Huhn, Schaf, Reh, Rind und Schwein zusammengezählt. Und auch hier wissen wir längst: Gut für die Umwelt ist unsere Kalbshaxe sicher nicht. +Laut Berechnungen derUN-Landwirtschaftsorganisation FAOstammen 14,5 Prozent der weltweit von Menschen verursachtenTreibhausgasemissionen aus der Haltung sowie Verarbeitung von Tieren. Trotzdem lassen wir uns das Pfund Putenschnitzel für 2,99 Euro schmecken. +Dabei entstehen bei der Fleischproduktion oder dem Charterflug nach Mailand sehr wohl hohe Kosten. Nur werden diese nicht auf den Kunden, sondern auf die Allgemeinheit umgelegt. Das billige Schnitzel geht auf Kosten der Tiere, der schlecht bezahlten Arbeiter im Schlachthof sowie der Umwelt. Und auch beim Charterflug nach Mailand werden Mensch und Natur zur Kasse gebeten: Flughäfen zerstören Grünflächen, Fluglärm macht Anwohner krank, und die Abgase schaden dem Klima. +Ich fände es großartig, wenn wir aus eigenem Antrieb klima- und umweltfreundlichere Lösungen entwickeln würden. Viele tun das auch, ersetzen den USA-Urlaub durch eine Fahrradtour durch den Harz, reduzieren ihren Plastikverbrauch oder lassen das Auto am Wochenende einfach mal stehen. +Doch die guten Taten Einzelner reichen nicht, um das Klima zu retten. Bei weitem nicht. Und wo der Einzelne an seine Grenze gelangt, muss die Gesellschaft in Aktion treten. Besser gesagt: der Staat. +Dieser hat die Aufgabe, Menschen vor gefährlichem Verhalten zu schützen. Das macht er bereits an anderen Stellen, beispielsweise im Straßenverkehr: Nicht die Verkehrsteilnehmer entscheiden, welches Fahrtempo einer Spielstraße angemessen ist, ob sie mit uralten Dieseln durch die Gegend fahren dürfen oder auf dem Motorrad der Helm getragen wird. Der Staat setzt die Regeln fest, die ein notwendiges Maß an Sicherheit garantieren. +Das gleiche Prinzip sollte auch beim Klimaschutz gelten. Notwendige Schritte im Tausch für mehr Sicherheit. Auch wenn es dann für die Bürger teurer wird. Nur wenn sich die hohen Kosten, die wir mit unserem Konsumverhalten verursachen, in unserem eigenen Portemonnaie bemerkbar machen, ist ein konsequenter Verhaltenswandel denkbar. Die Uhr tickt: Wollen wir dieZiele des Pariser Klima-Abkommensbis Ende des Jahrhunderts erreichen und damit den Klimawandel halbwegs unter Kontrolle halten, müssen die Pro-Kopf-Emissionen deutlich unter zwei Tonnen sinken. In Deutschland sind sie mit rund 9,6 Tonnen derzeit ungefähr doppelt so hoch wie der internationale Durchschnitt. +Im Kampf um den Klimawandel brauchen wir keine lange Leine. Im Gegenteil: Hier ist ausnahmsweise mal weniger Beinfreiheit gefragt. + + +Martin Thaler versucht, seinen ökologischen Fußabdruck zu verkleinern, scheitert dabei aber häufig an seiner Bequemlichkeit. Statt nach London zu fliegen, fährt er dieses Jahr mit dem Zug nach Breslau. Da soll's ja auch schön sein. + diff --git a/fluter/klimawandel-und-flucht-roman-vom-ende-an-megan-hunter.txt b/fluter/klimawandel-und-flucht-roman-vom-ende-an-megan-hunter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f720248f10adc49ce0b67729c9c9834a8f96fff3 --- /dev/null +++ b/fluter/klimawandel-und-flucht-roman-vom-ende-an-megan-hunter.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Reale Ereignisse, die zeitlich parallel ablaufen. In den Köpfen gehören sie nicht unbedingt zusammen. Noch nicht. Megan Hunters Debütroman "Vom Ende an" – eine "Ecofiction" – denkt voraus. Dort sind die beiden Ereignisse aufs Engste miteinander verknüpft. +Die junge Mutter, aus deren Perspektive Hunter in flüchtigen Bildern und in so poetischen wie fragmentarischen Absätzen erzählt, stammt nicht aus Kamerun. Sie ist Engländerin. Und es ist Großbritannien, das überflutet wird und damit nicht nur im Wasser, sondern auch im Ausnahmezustand versinkt. Es gibt kein "könnte" mehr, wenn vom steigenden Meeresspiegel die Rede ist, nur noch unmittelbare Realität: unbewohnbare Häuser, die schnellstmöglich zu verlassen sind, Nahrungsmittelknappheit, Verteilungskämpfe, Auffanglager, Verrohung, Misstrauen, Ungewissheit, zähes Ausharren, Flucht und Tod. Die Katastrophe ist da, obwohl sie nie direkt beschrieben wird. +Megan Hunter: "Vom Ende an". Aus dem Englischen von Karen Nölle. C.H. Beck, München 2017, 160 Seiten, 16 Euro +Was Hunter gelingt, ist ein zur Stunde bitter nötiger Roman. Zum einen, weil die Autorin mit ihrer Dystopie deutlich macht, dass Flucht auch Europa betrifft und Europäerinnen und Europäer Solidarität mit Geflüchteten oft vermissen lassen. Zum anderen, weil sie zu denken wagt, was viele Menschen gerne in eine unbestimmte Zukunft schieben: dass Europa die Auswirkungen "des Klimawandels" drastisch zu spüren bekommen wird, ein Szenario, das laut einer besorgniserregenden und deshalbviel beachteten Recherche im "New York Magazine"nicht unwahrscheinlich ist. +Das aber ist nur eine Ebene dieses vielschichtigen Erstlingswerks. Die Wahrheit, die unter alldem liegt, ist die der absurden und zugleich ungemein organischen Parallelität: Ein Kind wird geboren, während die Welt untergeht. +Geburt und Apokalypse. Ende und Neubeginn. Näher am Leben geht eigentlich nicht. Eine Verbindung, die häufig aus dem Alltag verbannt wird. +Was so sichtbar wird, ist der universelle und deshalb durchaus philosophische Kreislauf, der durch Leben und Sterben entsteht. "Z" tauft die Protagonistin ihr Kind – mehr als Anfangsbuchstaben gesteht die Autorin ihren Figuren nicht zu. Der letzte Buchstabe im Alphabet, das Ende ist der Neubeginn. Und so beschreibt auch die Geschichte, die die junge britische Lyrikerin mehr in kurzen Szenen, Bildern und Gedanken als in einer durchgängigen Handlung erzählt, einen Kreis. +Nichts bleibt. Alles ist beweglich, in Veränderung. Und auch die schlimmste Katastrophe wird eines Tages vorübergehen, lautet die versöhnliche Botschaft. Nur wer am Alten festhalten und die Veränderung nicht akzeptieren will, leidet unter dem, was geschieht. Wer sich der Veränderung hingibt, bei sich bleibt, nur auf das Unmittelbarste blickt – ein Kind zum Beispiel, dessen zarter Flaum hinterm Ohr so unwiderstehlich riecht –, wird auch das Schlimmste überstehen. + diff --git a/fluter/klimawandel-und-verkehrswende.txt b/fluter/klimawandel-und-verkehrswende.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..02cc429817931af68bfcdf3de9bcba5475092b24 --- /dev/null +++ b/fluter/klimawandel-und-verkehrswende.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Umsteigen auf den ÖPNV? Der funktioniert oft nicht reibungslos, und teuer sind die Tickets meistens auch. +Wir haben die Einführung eines umlagefinanzierten fahrscheinlosen ÖPNV diskutiert, bei dem möglichst viele Bürger und Bürgerinnen einen gewissen Betrag ihres Einkommens dafür aufbringen müssten und im Gegenzug kostenlos fahren. So bekäme der ÖPNV eine zukunftsfähige Finanzierung und würde viele neue Kunden gewinnen. +Das mag in der Großstadt funktionieren. Aber auf dem Land ist man ohne eigenes Auto schnell abgehängt. +Dort kann Shared Mobility die Rolle des "Lückenfüllers" zwischen Individualverkehr und öffentlichem Verkehr spielen. Das müssen gar keine kommerziellen Sharing-Angebote sein, sondern es kann durch nachbarschaftliche Hilfe und unterstützt durch Apps ablaufen. Auch E-Bikes können helfen. Im ländlichen Raum werden sie häufig zum Bike and Ride genutzt, also als Zubringer zur Bahn. +Als Familie das Auto mit den Nachbarn teilen und in den 20 Kilometer entfernten Supermarkt öfter mal mit dem E-Bike fahren? Haben solche Konzepte nicht die Tendenz, Lösungen nur für urbane Mittelschichten zu schaffen? +In den meisten ländlichen Gebieten sollte die Entfernung zum nächsten kleineren Supermarkt deutlich unter 20 Kilometern liegen und ein E-Bike deshalb zumindest kleinere Einkäufe ermöglichen. Wann es Geschäftsmodelle gibt, die kommerzielle Shared Mobility auch auf dem Land ermöglichen, bleibt abzuwarten. Insofern ist ein privater Pkw für Familien dort weiterhin oft nötig. Dies schließt Fahrgemeinschaften aber nicht aus. Wenn die Politik Kostenstrukturen schafft, die zu weniger Nutzung eines privaten Pkw führen, dann fördert dies auch Ridesharing. Dennoch sollte die Verkehrswende in den Städten und verstädterten Räumen beginnen. Da dort auch die meisten Menschen wohnen, hätte dies entsprechende Klimaschutzeffekte. +Die wenigen Autos, die es in Ihrer Vision noch gibt, sollen elektrisch betrieben sein. Wo soll der ganze Strom dafür herkommen? +Man könnte die komplette Elektrifizierung des Personenverkehrs bis 2035 durch erneuerbare Energien decken, wenn wir diese beschleunigt ausbauen. +Auch die Herstellung von Autobatterien verursacht viel CO₂ und schadet der Umwelt bei der Lithiumförderung. Ab wann zahlt sich der Wechsel für das weltweite Klima denn aus? +Die Mehrzahl der Studien besagt, dass das Elektroauto auf seinen Lebenszyklus bezogen schon heute einen geringeren CO₂-Fußabdruck hat als ein Verbrenner. Je länger man ein E-Auto nutzt, desto besser. Und je mehr erneuerbare Energien wir künftig in der Produktion verwenden, desto geringer wird auch die CO₂-Belastung. + +Dr.-Ing. Frederic Rudolph ist Projektleiter für Energie-, Verkehrs- und Klimapolitik am Wuppertal Institut. diff --git a/fluter/knives-and-skin-berlinale-rezension.txt b/fluter/knives-and-skin-berlinale-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3362ac107480f790ec69edf46fde2410de9c43f6 --- /dev/null +++ b/fluter/knives-and-skin-berlinale-rezension.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Wie wird's erzählt? +Erst mal denkt man an die 90er-Jahre-Serie "Twin Peaks". Regisseurin Jennifer Reeder arbeitet in ihrem Film mit sphärischer Musik,Film-noir-Elementen, Horrorfilm-Einflüssen und absurden Szenen, in denen T-Shirts zu sprechen beginnen. Dabei taucht sie ihre Darstellerinnen immerzu in pinkfarbenes und grünes Licht. Sofort ist klar: Das hier ist kein typischer Highschool-Film. +Was soll uns das zeigen? +"Knives and Skin" zeigt zwar die bekannten Cliquenkonstellationen: die Footballspieler, die Cheerleader, die aus der Schulband und die Nerds. Doch statt eine platte Liebesgeschichte zu zeigen, macht die Regisseurin wichtige feministische Statements zu sexueller Selbstbestimmung, "Nein heißt Nein" und Diversity. Sie lässt ihre Protagonistinnen langsam erstarken, sich solidarisieren und handeln – in einer Welt, in der ihnen selbstbezogene Eltern keinen Halt bieten und viele Männer immer noch Macht demonstrieren wollen. +Good Job +Wie der Film durch Musik eine emotionale Verbindung zwischen den einzelnen Protagonistinnen herstellt, die sich in der Schule eher aus dem Weg gehen. In mehreren Szenen singen Joanna, Charlotte, Laurel und Colleen im Schulchor zusammen alte Popsongs. Auch Carolyns Mutter ist da, sie leitet den Chor. Durch die Songtexte wird deutlich, welche Sorgen und Wünsche die Anwesenden teilen. +Beste Szene +Laurel überreicht ihrem Freund, von dem sie sich gerade getrennt hat, seine Footballjacke, die er unbedingt zurückhaben will. Sie lächelt. Er zieht sie an, geht weg, und auf seinem Rücken ist in großen, glitzernden Lettern zu lesen: "I treat girls like shit". So viel sei verraten: Damit rächt sie nicht nur sich selbst. +Schwierig +Manchmal wirken die Dialoge und einige Szenen etwas aufgesetzt, was, in der Tradition von "Twin Peaks", aber wohl Absicht ist. Das ist nicht unbedingt schlecht, aber darauf muss man sich einlassen. +Ideal für … +… alle, die sich im letzten Jahr über weitere Highschool-Filme mit feministischer Message und tollen weiblichen Hauptcharakteren gefreut haben. Darunter zum Beispiel "Sierra Burgess is a Loser" oder "To all the boys I've loved before". + + diff --git a/fluter/koalitionsvertrag-ausbildungsgarantie-bafoeg.txt b/fluter/koalitionsvertrag-ausbildungsgarantie-bafoeg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c1c67f62cd2e0f6364d26b2175f536003009999d --- /dev/null +++ b/fluter/koalitionsvertrag-ausbildungsgarantie-bafoeg.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Die Berufsausbildung feierte zuletzt traurige Rekorde: Die Zahl der angebotenen Ausbildungsplätze sank 2020 im Vergleich zum Vorjahr drastisch, die Zahl der Bewerber:innen und der abgeschlossenen Azubi-Verträge ebenso. Gleichzeitig blieben so viele Ausbildungsstellen wie nie unbesetzt: knapp 60.000. Und 78.000 Jugendliche blieben ohne Ausbildungsplatz. 2021 haben sich die Zahlen zum Teil sogar noch verschlechtert. Da kommt die Ausbildungsgarantie der Ampel gerade recht. Sie soll jungen Menschen zu einer Ausbildung verhelfen, die keinen Platz in einem Betrieb finden. Ganz neu ist die Idee zwar nicht – auch die GroKo hat sie in ihren beiden Koalitionsverträgen 2013 und 2018 jeweils als Ziel formuliert. Die Ampel will nun aber Nägel mit Köpfen machen – ob das passiert, bleibt abzuwarten. +Wie die Ausbildungsgarantie aussehen könnte, ließ die zuständige Staatssekretärin Leonie Gebers bei einer Veranstaltung Ende Januar durchblicken. Das Bundesarbeitsministerium werde sich bei der Umsetzung am Nachbarland Österreich orientieren, kündigte Gebers an. Dort gibt es bereits seit 2017 eine Ausbildungsgarantie für junge Menschen bis 25 Jahre. Rund acht Prozent der Lehrlinge werden nun vom Staat ausgebildet und bis zu zwei Drittel der fertig Ausgebildeten in Betriebe vermittelt. Bis zu 20.000 zusätzliche Fachkräfte könnte Deutschland durch eine Ausbildungsgarantie im Jahr gewinnen, schätzt die Bertelsmann-Stiftung anhand der Daten aus Österreich. Das Problem: Die deutsche Wirtschaft hält größtenteils wenig von dem Plan. Aus ihrer Sicht gibt es ausreichend Ausbildungsplätze und Förderinstrumente für benachteiligte Jugendliche – eine staatliche Ausbildungsgarantie führe nur zu einem vermehrten Run auf "wenige Wunschberufe", für die es keinen Bedarf gibt. Ein weiterer Kritikpunkt bei der Umsetzung: Sie ist rechtlich heikel, weil mit einer Ausbildungsgarantie ein Rechtsanspruch einhergeht – was in anderen Fällen (Kitaplatz, Ganztag) über mehrere Jahre vorbereitet werden musste. Für diejenigen, die die staatlich garantierten Ausbildungsplätze heute dringend gebrauchen könnten, kommt das Ampelvorhaben womöglich zu spät. + + +"Das BAföG wollen wir reformieren und dabei elternunabhängiger machen." (S. 97) + +Wieder mal eine BAföG-Reform! Seit seiner Schaffung vor über 50 Jahren wurde das Bundesausbildungsförderungsgesetz, wie das BAföG offiziell heißt, sage und schreibe 26-mal angepasst. Nun soll noch vor dem Wintersemester die 27. Novelle erfolgen. Einen entsprechenden Gesetzentwurf der neuen Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger von der FDP hat das Kabinett Anfang April beschlossen. Damit die Änderungen rechtzeitig vor dem Wintersemester in Kraft treten können, müssten noch Bundestag und Bundesrat zustimmen. Die Gründe für die neuerliche Reform: Der Anteil der BAföG-Empfänger:innen ist seit Jahren im Sinkflug. Laut Statistischem Bundesamt ist die Zahl der geförderten Schüler:innen und Studierenden seit 1991 um über ein Viertel geschrumpft. Auch die jüngste BAföG-Reform von 2019 halten Expert:innen für nicht ausreichend, um die versprochene "Trendwende" herbeizuführen. Die jetzigen Regierungsparteien hatten zuletzt selbst moniert,dass das BAföG wegen der stark steigenden Miet- und Lebenshaltungskostenin den Städten nicht zum Leben reiche– und dass der Kreis der BAföG-Berechtigten zu klein sei. +Die Ampelregierung erhöht deshalb die monatlichen Bedarfssätze für Studierende (von 427 auf 449 Euro) und die Wohnpauschale (von 325 auf 360 Euro, wenn man nicht mehr zu Hause wohnt). Für Studierende,die in einer WG wohnenund zudem nicht bei den Eltern krankenversichert sind, liegt der Höchstsatz künftig bei 931 statt bislang 861 Euro. Auch Schüler:innen, Auszubildende und Studierende mit Kindern sollen mehr Geld erhalten. Außerdem sollen künftig Personen bis zum 45. Lebensjahr BAföG beziehen können – bisher endete die staatliche Ausbildungsförderung in der Regel bei 30 Jahren. Auch die Vermögens- und Einkommensfreibeträge sollen angehoben werden. +Weitere Versprechen aus dem Koalitionsvertrag fehlen in dem Entwurf jedoch: Zum Beispiel wollte die Ampel eine Studienstarthilfe für Menschen aus einkommensschwachen Familien auflegen und den Anteil am BAföG reduzieren, den die Empfänger:innen nach dem Studium zurückzahlen müssen. Bislang müssen in der Regel 50 Prozent der Fördersumme – maximal 10.000 Euro – zurückgezahlt werden. Auch die Grundsicherung, die das BAföG elternunabhängiger machen soll, fehlt bislang. + diff --git a/fluter/koalitionsvertrag-fahren-ab-16-altersvorsoge.txt b/fluter/koalitionsvertrag-fahren-ab-16-altersvorsoge.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ad76c2462a578bde47d0f7d40304ae2a0109c7e0 --- /dev/null +++ b/fluter/koalitionsvertrag-fahren-ab-16-altersvorsoge.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Mit diesem Vorhaben will die Ampel das aktuelle Modell weiter ausbauen: das begleitete Fahren ab 17. Zwischen 2004 und 2008 haben es alle Bundesländer eingeführt, seit 2011 ist es auch auf Bundesebene gesetzlich verankert. Etwa jede:r dritte Fahranfänger:in macht vom "Führerschein auf Probe" Gebrauch. Laut dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat verringert das begleitete Fahren ab 17 die Beteiligung an Verkehrsunfällen im ersten Jahr des selbstständigen Fahrens um 23 Prozent. Viele Expert:innen rechnen dies der oft längeren Zeit hinter dem Steuer zu. Nach rund 500 Kilometern in der Fahrschule sammeln die Jugendlichen im Schnitt noch weitere 2.500 Kilometer Fahrpraxis, bis sie alleine ins Auto steigen. +Trotzdem bleiben Fahranfänger:innen immer noch die mit Abstand gefährdetste Gruppe im Straßenverkehr. Die Idee, das begleitete Fahren zu verlängern und die Fahrroutine somit zu erhöhen, liegt da nahe. Schon 2018 sprachen sich die Verkehrsminister:innen von Bund und Ländern deshalb dafür aus, den Start für das begleitete Fahren von 17 auf 16 Jahre zu senken. Entscheiden können sie darüber nicht – die Altersfrage beim Führerschein fällt ins EU-Recht. Laut der geltenden Richtlinie können EU-Staaten das Mindestalter beim Pkw-Führerschein nicht niedriger als auf 17 Jahre setzen. Will die Ampelregierung das Fahren ab 16 wirklich einführen, muss sie sich bei der EU-Kommission für eine Neufassung einsetzen. Eine "umfassende Reform" für Fahranfänger:innen soll es aber in jedem Fall geben. Darauf einigte sich die Verkehrsministerkonferenz im Dezember. Im Gespräch ist unter anderem, die Probezeit von zwei auf drei Jahre zu verlängern. Statt früher Freiheit am Steuer sieht es derzeit eher nach verschärfter Kontrolle aus. + + +"Wir werden daher die gesetzliche Rente stärken und das Mindestrentenniveau von 48 Prozent […] dauerhaft sichern." (Seite 73,Koalitionsvertrag) + +Wie sehr der demografische Wandel junge Menschen beunruhigen muss, zeigt folgende Hochrechnung des Statistischen Bundesamtes: Aktuell kommen auf 100 Erwachsene im erwerbsfähigen Alter 37 Menschen, die 65 Jahre oder älter sind. 2030 werden es schon 47 sein, 2040 dann 54. Wenn ein heute 29-Jähriger 2060 regulär in Rente geht, wird die Quote der Alten schon bei 60 liegen. Heißt:Die Zahl derer, die in die Rentenkasse einzahlen, wird im Vergleich zu denen, die daraus bezahlt werden, immer kleiner.Dennoch verspricht die Ampel, das aktuelle Rentenniveau von 48 Prozent dauerhaft zu sichern. Und das, obwohl die Rentenbeiträge in dieser Legislaturperiode auf maximal 20 Prozent des Bruttolohns (aktuell 18,6 Prozent) steigen sollen – und die Ampel das Renteneintrittsalter nicht erhöhen möchte. +Das Geld muss also woanders herkommen – etwa aus Aktiengeschäften. Für die sogenannte "kapitalgedeckte Rente" soll die Deutsche Rentenversicherung noch in diesem Jahr zehn Milliarden Euro erhalten – und gewinnbringend anlegen. Um das Rentenniveau auf diese Art zu stabilisieren, seien jedoch Beträge in dreistelliger Milliardenhöhe nötig, sagen Experten vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Andere Ideen – wie ein öffentlich verwalteter Rentenfonds, in den ein Teil der Rentenbeiträge fließt – hat die Ampel vorerst verworfen. Die Milliarden, mit denen die Bundesregierung die Renten stabil halten will, müssen folglich über den Bundeshaushalt finanziert werden. Da SPD, Grüne und FDP Steuererhöhungen ausschließen und ab 2023 wieder die Schuldenbremse einhalten möchten, wird das Geld wohl an anderer Stelle wieder gestrichen werden. + diff --git a/fluter/koennen-diese-augen-luegen.txt b/fluter/koennen-diese-augen-luegen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8f3da6b0ac343f3667f3cf1e0cc845935642e3b9 --- /dev/null +++ b/fluter/koennen-diese-augen-luegen.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Statt aus Fleisch und Blut besteht Eugene aus Einsen und Nullen. Er ist ein Computerprogramm, entwickelt, um Menschen vorzugaukeln, er sei einer von ihnen. Ausgerechnet diese Täuschung gilt in der Forschung als ein Beweis für künstliche Intelligenz. Der MathematikerAlan Turingentwarf bereits 1950 einen Test dafür, bestehend aus einem Fragesteller und zwei Gesprächspartnern – einer menschlich und einer maschinell. Die Aufgabe des Fragenden ist es herauszufinden, wer nur vorgibt, ein Mensch zu sein. Nach Auffassung vieler Wissenschaftler ist der Test bestanden, wenn mehr als 50 Prozent der Probanden davon überzeugt sind, dass es sich auch beim Computerprogramm um einen Menschen handelt. +Klingt eigentlich gar nicht so kompliziert, doch die Aufgabe gilt auch 64 Jahre nach ihrem ersten Durchlauf als nicht befriedigend gelöst. "Den Maschinen fehlen einfach die Emotionen und die Empathie", erklärt Raúl Rojas, Robotik-Experte, Professor für künstliche Intelligenz an derFreien Universität Berlinund momentan Visiting Fellow an derPrinceton University. +Und Emotionen braucht man, um lügen zu können. Denn genauer betrachtet ist die Lüge eine der höchsten kognitiven Herausforderungen überhaupt. Zum Erfolg braucht es nicht nur eine gute Geschichte. Sie muss auch an den Informationsstand und den kritischen Geist des Gegenübers angepasst sein. So brauchen wir Menschen einige Lehrzeit, bis wir es schaffen, problemlos zu lügen. Kinder beginnen zwar schon im Alter von zwei Jahren, spielerisch zu flunkern, allerdings vor allem, weil sie Fantasie und Wirklichkeit noch nicht richtig auseinanderhalten können. Erst mit etwa fünf Jahren ist das kindliche Bewusstsein so weit entwickelt, dass der Nachwuchs gezielt ausprobiert, ob er mit Lügen Erfolg hat. +Der Hauptgrund für diese "schleppende" Entwicklung: Um sich in einer Situation zwischen Lüge und Wahrheit zu entscheiden, braucht es eine Vorstellung über die Erwartungen des Gegenübers. Wissenschaftler sprechen dabei von der"Theory of Mind". Die Möglichkeit, sich in jemand anderen hineinzuversetzen, haben laut gängiger Lehrmeinung nur Menschen und einige Menschenaffenarten. Maschinen hingegen überhaupt nicht. "Sprache in Worte umsetzen, Gesichter erkennen oder Fahrzeuge steuern, das alles ist für Maschinen halbwegs lösbar. Bei Emotionen und zwischenmenschlichen Beziehungen stößt die künstliche Intelligenz dagegen schnell an ihre Grenzen", erklärt Rojas. +Ein kleiner Lichtblick: Wenigstens den Lug und Trug des Tierreichs können Roboter schon nachahmen. In der Natur ist Täuschen allgegenwärtig. Vor allem Fresskonkurrenz, Beute und Sexualpartner werden gerne hinters Licht geführt. Eichhörnchenarten schützen zum Beispiel ihre Nussvorräte durch Scheinverstecke. Forscher der Wilkes-Universität in Philadelphia beobachteten Grauhörnchen dabei, wie sie Löcher gruben und anschließend nur so taten, als würden sie eine Nuss hineinschieben. Besonders häufig zeige sich dieses trügerische Verhalten, wenn Artgenossen in der Nähe sind, schreiben Michael Steele und Kollegen im Fachjournal"Animal Behaviour". +Der Robotik-Forscher Ronald Arkin vomGeorgia Institute of Technologykonnte dieses Verhalten mit Maschinen nachahmen. Zusammen mit seinem Team ließ er zwei autonome Roboter gegeneinander antreten. Der erste sammelte fleißig Pappscheiben-Futter und brachte es in seine Verstecke. Wie sein Grauhörnchen-Vorbild ließ er einige leer. Nach dem Verstecken bewachte er die Beute und fuhr zwischen den Vorräten hin und her. Der zweite Roboter irrte zunächst zufällig auf dem Spielfeld herum, bis er den Sammler entdeckte – und diesem dann gezielt zu den Verstecken folgte. Der "Sammler" begann daraufhin, ganz wie das Grauhörnchen, Scheinverstecke anzusteuern, den Räuber immer im Schlepptau. Der erfolglose Räuber verliert sein Interesse. Kein betrügerisches Meisterstück, trotzdem in seiner Entwicklung mathematisch hochkomplex. Anders ausgedrückt: Mit Hilfe von Interaktionsmatrizen aus der Spieltheorie berechnen die Roboter alle möglichen Reaktionen des Gegenübers im Voraus. +So bleibt der lügende Roboter vorerst eine Utopie, vielleicht auch zum Glück. Die grundlegende Beschäftigung mit der Unehrlichkeit von Maschinen ist jedoch nur konsequent. "Für eine Lüge muss man sich perfekt in sein Gegenüber hineinversetzen können. Genau das wäre für die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine äußerst erstrebenswert", erklärt Rojas. Ein Beispiel dafür ist das "Verständnis" von Emotionen. Seit Jahren versuchen Wissenschaftler, dem Computer die Emotionen von Menschen verständlich zu machen. Zum Beispiel durch die Interpretation der Augenbrauen-Stellung oder des Tonfalls der Stimme. Wir Menschen erkennen meistens schnell, wenn unser Gesprächspartner schlechte Laune hat oder müde ist, und können darauf reagieren. Service-Roboter, mechanische Pflegekräfte oder automatische Hotline-Systeme würden von solchen Fähigkeiten profitieren.Laut Prognose des VDMA- Fachverbandes Robotik + Automationverspricht der Markt für solche Systeme in den nächsten Jahren ein immenses Wachstum. In Japan wirken ersteRoboter in Pflegeheimenmit, und Nestlé plant, Roboter als Verkäufer einzusetzen. +Aus der Sicht von Rojas bleibt auf dem Weg zum empathischen Gegenüber aus Nullen und Einsen eine große, kaum überwindbare Hürde. Die Roboter müssten für ein tieferes Verständnis Emotionen fühlen. Unglück oder Trauer ließen sich schließlich nur verstehen, wenn man selbst in der Lage ist, solche Gefühle zu empfinden. "Doch genau das können und brauchen Maschinen nicht. Sie müssen keine Angst vor dem Tod oder einer Trennung haben. Ihr System wird neu gestartet", sagt der Robotik-Forscher. +Birk Grüling ist einer, der es lieber mit der Wahrheit hält. Er ist im niedersächsischen Niemandsland aufgewachsen, hat Kultur-Journalismus studiert und schreibt als freier Journalist unter anderem für die "Zeit", die "taz", jetzt.de und Spiegel Online. 2014 wurde er vom Medium Magazin unter die Top 30 der Nachwuchsjournalisten gewählt. diff --git a/fluter/koerper-als-politische-waffe.txt b/fluter/koerper-als-politische-waffe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7b4a24cd4cad2c7007f4f0db1af0ffe1de467405 --- /dev/null +++ b/fluter/koerper-als-politische-waffe.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Es waren nur noch wenige Meter bis zu seinem Ziel. Abdullah al-Asiri, ein Saudi Anfang 20, wartete im August 2009 in einer Schlange in der saudischen Hafenstadt Dschidda, um dem Vize-Innenminister die Hand zu schütteln. Mit einer List hatte sich al-Asiri eine Audienz bei dem saudischen Prinzen verschafft. Doch was keiner der Umstehenden wusste: In al-Asiris Enddarm steckte ein halbes Kilo Sprengstoff. Er war gekommen, um sich im Auftrag von al-Qaida in die Luft zu sprengen. Der Vize-Innenminister sollte sterben. Die Waffe des Selbstmordattentäters ist die Bombe, der Waffenträger sein Körper. Er wirft sein Leben weg, um andere zu ermorden. Im Fall von al-Asiri starb aber nur er selbst. Der Attentäter zündete seine tödliche Fracht, vermutlich mit einem Handy. Die Detonation riss ihm tödliche innere Wunden. Die Zielperson aber, der saudische Prinz, wurde nur leicht verletzt. Der Körper des Selbstmordattentäters hatte ihm das Leben gerettet. +Bei seinem Kampf für die Unabhängigkeit Indiens von der britischen Kolonialmacht setzte Mahatma Gandhi bewusst auf Gewaltfreiheit. Ein Mittel, das er nutzte, war das sogenannte Protestfasten. Mit einem Hungerstreik, den er am 20. September 1932 begann, wollte er die Briten dazu bringen, das Land nicht nach Religionszugehörigkeit zu ordnen, zudem stritt er damit für das Wahlrecht der Kastenlosen, die zudem nach der Beendigung von Gandhis Hungerstreik, sechs Tage später, erstmals hinduistische Tempel besuchen durften. 58 Tage dauerte 1974 der Hunger- streik des RAF-Terroristen Holger Meins in der JVA Wittlich. Bei einer Größe von 1,83 Meter wog er am Schluss keine 40 Kilogramm. Mit 400 Kilokalorien hat man ihn zuletzt zwangsernährt. Mit seinem Hungern wollte Meins erreichen, mit den anderen RAF-Häftlingen zusammengelegt zu werden. "Wir haben zwei sehr starke Waffen", schrieb Meins zu Beginn seines Hungerstreiks, "unseren Grips und unser Leben." Ausgemergelt und aufgebahrt, mit langem Bart und langen Haaren, sah er zuletzt aus wie eine Christusfigur. Durch seinen Hungertod wurde Meins zum Märtyrer der RAF- Sympathisanten. Den Tod fanden auch zehn Häftlinge der nordirischen Befreiungsbewegungen IRA und INLA, die 1981 im Kampf für die Unabhängigkeit Nordirlands gegen die als Besatzer empfundenen Briten im Gefängnis in den Hungerstreik traten. +Man muss mit dem Körper gar nichts Besonderes anstellen, um unbequem zu sein. Es reicht, wenn man ihn dem Gegner einfach in den Weg stellt. Mit sogenannten Sitzblockaden versuchen Demonstranten seit jeher, auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen. Ob es um die Räumung besetzter Häuser geht oder um das Aufhalten eines Atomtransports – eine sitzende Menschenmenge kann es der Polizei mitunter recht schwer machen, ihre Autorität durchzusetzen. Manchmal gelingt es auch erst nach Stunden, weil sich die Demonstranten nicht nur hingesetzt, sondern sogar angekettet haben. Bei den Castor-Transporten etwa mussten immer wieder Vertreter der Anti-AKW- Bewegung mit Schweißgeräten, Meißeln und Sägen von Betonpyramiden und Gleisen gelöst werden. diff --git a/fluter/koerperwelten.txt b/fluter/koerperwelten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..93a987789ace7d4b0e9375ca142a1ab974b563b4 --- /dev/null +++ b/fluter/koerperwelten.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Maja Rosic flüstert Sätze, die geschrien werden müssten: "Für die Zukunft ist gerade keine Zeit." Wie sie aussah nach jenem Tag im April? "Wie eine Mondlandschaft." "Löcher überall." Sie hatte es schön haben wollen für die Kinder, es wurde doch Frühling, endlich. Maja Rosic ging durch den Garten und wischte die Ecken im Gartenhaus. Sie reckte sich nach den Spinnweben, bis es sie müde machte. Richtig müde. Dann war sie wohl eingeschlafen. Sie griff nach den Zigaretten, als sie wach wurde. Sie roch Gas. Sie dachte: Die Propangasflaschen. Es klickte. Explodierte. Sie rannte. Raus. Feuer. Wasser. Sie löschte. Sie brannte. Sie fiel. +Maja Rosics Nägel sind jetzt verkrustet, die Lider hängen, ihre Haut ist wie Leder, rot, blau, adrig, die blonden Haare, sie trug sie schulterlang, sind jetzt dunkel und kurz. Ihre linke Hand ist eingewickelt, größer als ein Kuchenteller. Auf Station B2, Unfallkrankenhaus Berlin, nimmt Simon Kuepper, ihr Arzt, der Oberarzt, den Verband ab und befühlt den Schwamm darunter. "Durch den thermischen Schaden", er zeigt auf ihre rechte Hand – die unoperierte, gekrümmte –, "ist die Handinnenfläche verbrannt. Die Narbenstränge ziehen die Finger in eine solche Stellung. Aber schauen Sie, fühlen Sie", er nimmt die operierte Hand, die in dem Schwamm: "Die ist schon ganz anders." Beweglich und ein wenig weicher. Daran, dass Maja Rosic wieder "einen Griff ausführen" kann, arbeiten sie. +41 ist Maja Rosic. Sie wirkte immer jünger als ihre Schwester, die Ende 20 ist. Nun krallt sie ihr Smartphone, scrollt mit Fingerresten durch Erinnerungen. Das da war sie: glattes Gesicht, feine Züge. Aber nun ist es so: "Was passiert, passiert", und auch wenn sie weint: Sie freut sich auf zu Hause, sie will wieder Familie, ein eigenes Zimmer, eigenes Essen. Karten spielen. +Als er in der Vorlesung hörte, dass sich aus Zehen Hände wiederherstellen lassen, wusste Simon Kuepper, dass er plastischer Chirurg werden will +Simon Kuepper, der Oberarzt, hat einen Hang zum Extremsport. Er fährt Motocross, Snowboard, Wakeboard und hat erst den Schockraum gezeigt, in den Brandverletzte eingeliefert werden, wenn sie im Unfallkrankenhaus ankommen. Helikopter. Rettungsstelle. Liege. Übergabe. Im Schockraum klebt die Hose, als steige man in Kambodscha aus dem Flugzeug: 28 Grad, 80 Prozent Luftfeuchtigkeit. Die Patienten dürfen nicht auskühlen, während hier beatmet wird, Ruß und Schmutz müssen von der Haut entfernt, die Blasen gereinigt werden. Vielleicht schneiden sie schon – dort, wo der Schorf die Wunden schließt. "Escharotomie" heißt das: Im Zickzack wird er durchtrennt, um dem inneren Gewebedruck nachzugeben. Es heißt, man könne sich das vorstellen wie bei einem Braten, von dem man ein Stück Schwarte abschneidet. +Kuepper ist 40 und wusste, er würde plastischer Chirurg, Unfallchirurg, als er in einer Vorlesung hörte, dass sich mit Zehen Hände wiederherstellen lassen. Er ist jetzt "eingeschleust" in E0, hat seine weißen Kleider gegen mintgrüne getauscht, eine Haube auf, er steht in der Intensivstation des Schwerbrand-verletztenzentrums und zählt Schicksale auf. 277 im vergan-genen Jahr. Kriegsopfer aus Syrien. Selbstmordattentäter aus Libyen. Ein Kind, das auf einen Zugwaggon geklettert ist und dort einen Stromschlag erlitten hat, 15.000 Volt. +Er bindet sich den Mundschutz um und tritt durch die Schiebetür in eine "Box": einen Behandlungsraum, in dem, wie jeden Vormittag, über grob drei Stunden der Verband eines Schwerverletzten gewechselt wird. "Hoher Sturz", sagt Kuepper, es riecht nach Sagrotan, das Tuch auf der Brust des Mannes färbt sich dunkel, "… Geräte für Kreislauf", "… für Urinausscheidung", "… Creme, die Jod enthält", rechts auf dem Regal steht ein gerahmtes Familienfoto. "Monitor für Herzfrequenz." "Widerstände in den Gefäßen." "Ernährungsschlauch." "Geht's?" – "Der Entzug von den Medikamenten. Letztendlich sind das Drogen." Bei dem Eingelieferten sind beide Lungen kollabiert, es gibt Frakturen der Wirbelsäule, 35 Prozent verbrannte Körperoberfläche. Im Radio läuft "Love Is a Battlefield". +Von "Entbehrung" redet Simon Kuepper, als er ausgeschleust ist, wieder einen weißen Kittel trägt, von "Belastung" und den Silvesternächten. Davon, dass "die Dummheit des Menschen schier grenzenlos" sein kann, und er sich manchmal fragt, wie lange er das noch macht. Nein, er schlafe nicht genug. Um 14 Uhr ist er erneut eingeschleust, er hat sich "eingewaschen" und operiert. Ein Raum, der außerirdisch scheint, mit den Strahlern, die von der Decke ragen, den Maschinen, Schläuchen, Drähten und Steckdosen, den Latexhandschuhen, die man aus Schachteln an der Wand ziehen kann. Das Telefon klingelt. "Na toll. Da spritzt's", sagt eine der Ärztinnen, die um den Operationstisch stehen; auf fleckigem Linoleumboden und vor einem Patienten, der auf dem Bauch liegt – "Spalthauttransplantation": Ihm wird Haut vom Rücken geschabt, die auf seine Schenkel soll. "MS-Patient", sagt Kuepper, "Multiple Sklerose." Seine Freunde haben ihm ein Benzinfeuerzeug geschenkt, ein Zippo, kennen Sie? "Die haben keinen Verschluss. Es ist ihm in den Schoß gefallen." +Mit einem Messer wird die Haut abgetragen. Rote Rinnsale fließen über Poren und Haare, bis Tücher alles Flüssige aufsaugen, sich Stoff mit Blut tränkt. Dünne Hautfetzen landen in Silberschalen neben Scheren und Pinzetten. "Die Fetzen müssen gedehnt und durch die Walze gedreht werden, vergleichbar mit einer Nudelmaschine. Die Bilder, die man an diesen Orten aufhängt: Wüstenlandschaften und Nahaufnahmen von Insekten. Bilder gegen die Bilder in den Köpfen. Bilder, die beruhigen. +Annabelle Seubert, Jahrgang 1985, hat an der Berliner Akademie der Künste Kulturjournalismus studiert und arbeitet seit 2011 bei der taz. diff --git a/fluter/kokabauer-gylphosat-kolumbien.txt b/fluter/kokabauer-gylphosat-kolumbien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..333c7bb6e7a4ff63b7d21ceb45c203dbc5162985 --- /dev/null +++ b/fluter/kokabauer-gylphosat-kolumbien.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Fünf Jahre sind seit der Unterschrift des Friedensvertrages vergangen. Er ist eines der ausgefeiltesten Friedensabkommen der modernen Geschichte, brachte dem damaligen Präsidenten Juan Manuel Santos den Friedensnobelpreis ein und Kolumbien internationalen Applaus.Ein jahrzehntelanger bewaffneter Konflikt zwischen Regierung und Guerillasollten damit zu Ende gehen. Fünf Jahre, das ist ein Drittel der vorgesehenen 15 Jahre, die für die Umsetzung der Vertragsziele vorgesehen sind. Die Regierung unter Präsident Iván Duque singt heute ein Loblied auf die Erfolge der freiwilligen Kokasubstitution – und plant gleichzeitig, erneut Glyphosat mit Flugzeugen aus der Luft zu sprühen. Eine Taktik, die 2017 vom kolumbianischen Verfassungsgericht wegen gesundheitlicher Bedenken mit einer Reihe von Auflagen belegt und damit de facto ausgesetzt wurde. Die Regierung sät damit weiteres Misstrauen unter den Kokabauern, von denen viele ohnehin kaum noch Vertrauen in den Staat haben. + +Paste aus der Pampa: Camilo Ospinas Kokafinca liegt inmitten eines nur schwer zugänglichen Urwaldes + +Ospina etwa glaubt nicht mehr daran, dass sich für ihn noch etwas ändert. Er hatte sich für das Substitutionsprogramm der Regierung angemeldet und alle seine Kokapflanzen aus dem Boden gerissen. Aber von den versprochenen Hilfen sei nur ein kleiner Teil angekommen. Bloß zwei Monate lang habe er jeweils eine Million Pesos erhalten – insgesamt rund 500 Euro. Eine Summe die knapp über dem Mindestlohn liegt. Statt der versprochenen rund 2700 Euro finanzielle Unterstützung im ersten Jahr sowie Saatgut für Lebensmittel im Wert von rund 4000 Euro. "Die Regierung hat uns betrogen", sagt Ospina. Und er sei drauf reingefallen. +Die offiziellen Zahlen der Regierung spiegeln Ospinas Schicksal indes nicht wider. Laut Jahresbericht des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung UNODC, der auf Zahlen der Regierung beruht, haben Kokabauern in Kolumbien seit dem Friedensvertrag rund 40.000 Hektar Kokapflanzen freiwillig vernichtet. Und weniger als ein Prozent der Bauern soll demnach zum Kokaanbau zurückgekehrt sein. "Wir tun alles Nötige, um die im Vertrag vereinbarten Ziele einzuhalten", sagt Emilio Archila, Regierungberater für die Stabilisierung und Konsolidierung des Friedens. +In Villagarzón bekommt man davon nicht viel zu spüren. Die Gemeinde ist etwa drei Autostunden von der ecuadorianischen Grenze entfernt und die Stadt, die am nächsten an Ospinas Kokafeld dran ist. In einem Saal des Gemeindehauses sitzt Jorge Hernán Gaviria* auf einem Plastikstuhl. Gaviria hat früher selbst Koka angebaut. Heute setzt er sich für die Kokabauern in der Region ein: "Von den 400 Familien, die hier Koka anbauen, ist derzeit keine Teil eines Substitutionsprogrammes", sagt er. Es habe zwar Versuche gegeben, aber die hätten nicht gefruchtet: "Teilweise kamen die versprochenen Finanzhilfen nicht an, teilweise war das Saatgut schlecht", erzählt er. Die größten Probleme aber seien nach wie vor der Transport und die Verarbeitung der Ernte. "Kochbananen, Yucca, Chontaduros – all diese Lebensmittel wiegen viel. Es gibt aber keine gepflasterten Straßen, sodass die Bauern die Ernte per Pferd oder auf dem Rücken transportieren müssen." Das koste Zeit und bringe wenig Geld. Für 14 Kilo Chontaduro etwa, die kleine orange Frucht der Pfirsichpalme, gebe es hier 30.000 Pesos, rund sieben Euro. Ein Kilo Kokapaste bringe hingegen zwei Millionen Pesos, etwa 500 Euro. + + +Und die Gemeinde in Putumayo ist kein Einzelfall. Mehrere internationale Medien berichten inzwischen über den Konflikt mit den Kokabauern. Für Williams Jimenez-Garcia ist das keine Überraschung. Er forscht seit Jahren zum Drogenhandel in Kolumbien: "Die Informationen über den Erfolg der staatlichen Maßnahmen kommen vom Staat selbst. Was wirklich in diesen Zonen passiert, spiegelt sich in den Statistiken wohl kaum wider." Vielleicht lässt sich so auch erklären, dass die Statistiken über den Kokaanbau in Kolumbien sich teils widersprechen. So geben Zahlen des kolumbianischen Staates an, dass sich die Anbaufläche im Jahr 2020 um sieben Prozent reduziert habe, von 154.000 Hektar im Jahr 2019 auf 143.000 Hektar. Das Büro für nationale Drogenkontrollpolitik des Weißen Hauses (ONDCP) spricht hingegen von einem Anstieg der Anbauflächen um beinahe 15 Prozent für das Jahr 2020. In einer Pressemitteilung vom Juni 2021 gab die Duque-Regierung bekannt, dass beide statistischen Teams die Zahlen nun überprüfen würden, um die Messungen in Zukunft zu "harmonisieren". +Bleibt außerdem die Frage, warum die Regierung künftig wieder das potenziell gesundheitsgefährdende Totalherbizid Glyphosat aus der Luft einsetzen will, wenn doch die Substitutionsprogramme große Erfolge zeigten. Diego Molano, Kolumbiens Verteidigungsminister und einer der lautesten Befürworter des Glyphosateinsatzes aus der Luft, ließ eine Interviewanfrage innerhalb einer Frist von zwei Wochen unbeantwortet. +Kokabauer Ospina steht unter einer Plastikplane im Wald, nahe an seiner Plantage. Neben ihm ein Fass mit Kokaresten. Im Hintergrund: Benzinkanister, Batteriesäure, Kalk.Die Zutaten für die Produktion der Kokapaste, der Vorstufe des Kokains.Vor einigen Tagen hat er in diesem provisorischen Labor die letzte Fuhre Kokapaste produziert. Für Ospina sind die neusten Glyphosat-Pläne nur eine weitere Bestätigung, dass der Staat nicht wirklich daran interessiert sei, den Kokabauern zu helfen. "Sie nennen uns Narco-Terroristen, sie greifen uns an, sie lügen. Hilfe hingegen gibt's keine." + + +Dass Hilfen noch nicht in alle Gegenden Kolumbiens vorgedrungen seien, sei dem Zeitplan entsprechend normal, sagt Emilio Archila. "Der Friedensprozess ist auf 15 Jahre ausgelegt, nicht auf fünf. Das kann man langsam finden, aber wer seriös analysiert, für den ist das schnell." +Forscher Williams Jimenez-Garcia hingegen glaubt nicht daran, dass mehr Zeit die Lösung des Problems ist. "Das Vertrauen der Leute schwindet. In weiteren fünf Jahren werden wir mit anderen Dingen beschäftigt sein und bald haben wir eine weitere Generation an den Drogenanbau verloren. Und damit an die Gewalt, denn der Drogenhandel ist der Motor für den bewaffneten Konflikt im Land." +Für Ospina jedenfalls ist es zu spät. Selbst wenn ein neues Substitutionsangebot aufgelegt würde, er würde nicht mehr mitmachen. "Lieber lebe ich in Angst, als mich noch einmal von dieser Regierung reinlegen zu lassen", sagt er. Seine Entscheidung steht. Nur, wenn bei den Wahlen in diesem Jahr eine komplett andere Regierung an die Macht käme, würde er es sich vielleicht nochmal überlegen. + +*Die Namen wurden geändert, um die Personen zu schützen. Sie sind der Redaktion bekannt. diff --git a/fluter/kolbar-irak-iran-fotos-bahrami.txt b/fluter/kolbar-irak-iran-fotos-bahrami.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a6f60860ef04d46223185e2f91892b1972c8b238 --- /dev/null +++ b/fluter/kolbar-irak-iran-fotos-bahrami.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Risikoreiche Arbeit: die verschneiten Berggipfel überqueren die Kolbar ohne Ausrüstung, meist nur in Alltagsklamotten +Verschnaufpause: Fernseher, Matratzen und sonstige Schmuggelwaren, die die Kolbar auf ihren Rücken tragen, sind nicht gerade leicht +Die Kolbar müssen nicht nur Abstürze und Erfrierungen fürchten, sondern auch iranische Grenzsoldaten, die schon etliche von ihnen verletzt oder getötet haben diff --git a/fluter/kolumbien-farc-rebellen-partei-entwaffnung.txt b/fluter/kolumbien-farc-rebellen-partei-entwaffnung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c9f3ebaac10c7cd6d9614e3eb4b40807c9a7b245 --- /dev/null +++ b/fluter/kolumbien-farc-rebellen-partei-entwaffnung.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +Kolumbien befindet sich seit über 50 Jahren in einem bewaffneten Konflikt, der mehr als 200.000 Menschenleben gefordert hat.Die beiden Hauptakteure – die linke Guerillagruppe Farc und die kolumbianische Regierung – haben im August 2016 einen Waffenstillstand vereinbart und im September einen ersten Friedensvertrag unterzeichnet. Überraschend wurde dieser Vertrag in einem Referendum von der kolumbianischen Bevölkerung mit einer knappen Mehrheit abgelehnt. Regierung und Rebellen einigten sich daraufhin auf eine Überarbeitung des Dokumentes, dabei wurden allerdings keine größeren Veränderungen vorgenommen. Der neue Vertrag wurde im November vom Parlament angenommen und von den Vertretern der Farc und der Regierung unterzeichnet. Am 15. August 2017 erklärte Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos den Konflikt mit der Farc-Guerilla für beendet, nachdem diese wie geplant Waffen und Sprengstoff an UN-Vertreter abgegeben hatte. +Der 23-Jährige ist Mitglied der ältesten Guerillagruppe Lateinamerikas – und womöglich bald einer ihrer ersten Politiker. Heute, am 27. August, trifft sich Guevara in der Hauptstadt Bogotá mit 1.000 anderen Delegierten der Farc-Rebellen und 200 internationalen Gästen, um eine politische Partei zu gründen. Während der nächsten fünf Tage wird Guevara über ihren Namen abstimmen, an politischen Zielen und am Parteistatut mitschreiben. Nehmen die Delegierten Programm und Statut an, dürfen die Ex-KämpferInnen im kommenden Jahr erstmals bei Parlamentswahlen antreten. So sieht es der Friedensvertrag vor, den die Regierung von Juan Manuel Santos und die Farc im November 2016 unterzeichnet haben. +Zwischen 2018 und 2026 haben die Ex-Guerilleros zehn Parlamentssitze sicher, fünf im Abgeordnetenhaus und fünf im Senat. Das entsprechende Gesetz hat das Parlament im April verabschiedet. "Jetzt geht der Klassenkampf im Parlament weiter", sagt Guevara. Weitere zentrale Punkte des Abkommens sind neben der politischen Teilhabe der Farc die Amnestie für ihre Mitglieder, die sich in 26 Übergangszonen entwaffnen und auf ihre Rückkehr ins zivile Leben vorbereiten, die Opferentschädigung mit Hilfe von Farc-Vermögen sowie eine Landreform, von der 800.000 Familien profitieren sollen. Ende Juni erklärte die UN-Beobachtermission in Kolumbien, dass die 6800 Rebellen alle 7132 registrierten Waffen abgegeben haben. +Kann die 61 Thesen der Rebellen auch im Schlaf aufsagen: Alejandro Guevara, 23-jähriges Mitglied der Farc – und vielleicht schon bald einer ihrer ersten Politiker +In der Entwaffnungszone "Georgina Ortiz", zwölf Autostunden südlich von Bogotá, klingt Guevaras politische Vision weit entfernt. Der schmächtige Mann mit Hornbrille und Kapuzenpulli sitzt auf einer krummen Holzbank, hinter ihm wuchert grünes Dickicht. Während des jahrzehntelangen Bürgerkriegs zwischen Staat, Paramilitärs und Guerilleros habe der Staat hier fast ausschließlich mit seinen Streitkräften Präsenz gezeigt, statt sich um seine Pflichten zu kümmern. Und die verdächtigten die Bauern schnell, die bestehende soziale Ordnung umstürzen zu wollen, meint Guevara. "Viele traten aus Angst vor paramilitärischen Gruppen in die Farc ein. Oberstes Ziel der Farc war aber immer die politische Teilhabe", sagt er und tippt zur Bestätigung auf ein braunes Heftchen, das vor ihm auf dem Plastiktisch liegt. Darin hat die Farc-Spitze 61 politische Grundsätze niedergeschrieben, die die Delegierten auf dem Kongress Ende August diskutieren sollen: die Krise des Kapitalismus, die marxistisch-leninistische Ausrichtung der Partei, der Sozialismus auf Kuba, der als Vorbild dienen soll. + + + +Mit anderen Rebellengruppen wie der "Nationalen Befreiungsarmee" ELN oder rechten Paramilitärs gibt es noch keinen Friedensvertrag. Angekündigte Verhandlungen zwischen Regierung und ELN haben sich bis jetzt nicht konkretisiert. Auch sie kämpfen um Einfluss, politische Teilhabe und Landbesitz. +Anders als viele seiner KameradInnen habe ihn, berichtet Guevara, nicht die Angst vor Gewalt und Vertreibung zur Farc gebracht – oder Armut und Alternativlosigkeit –, sondern seine politische Überzeugung. "Ich habe mich früh mit der russischen, dann mit der Geschichte meines eigenen Landes beschäftigt und festgestellt: Die Farc kämpft für dieselben Ziele wie ich." Und dann zählt der Marxist auf, wie Kolumbien seiner Ansicht nach gerechter und produktiver würde: radikale Landreform, Planwirtschaft, kostenlose Bildung, höhere Steuerlast für ausländische Unternehmen sowie Anreize für die heimische Industrie. "Durch den Friedensprozess haben wir die einmalige Chance, den Kolumbianern eine alternative Politik anzubieten", glaubt Guevara. + + + +Dem Studenten Nicolás Ordóñez Ruiz geht die Amnestie zu weit. Ginge es nach ihm, säßen die Farc-Anführer hinter Gittern – zumindest eine Weile lang +Wo der junge Guerillero ins Träumen kommt, verzieht so manch Gleichaltriger schmerzverzerrt das Gesicht. Nicolás Ordóñez Ruiz ist Student und Mitglied der rechtskonservativen Partei Centro Democrático des Ex-Präsidenten Álvaro Uribe, einem der einflussreichsten Gegner des Friedensvertrages. Dass die KolumbianerInnen bei dem Referendum über den ersten Friedensvertrag im Oktober 2016 knapp für "Nein" gestimmt haben, wird auch Uribes Kampagne zugeschrieben: Straffreiheit für Mörder, Proteste, Gewalt und Instabilität wie im sozialistisch regierten Venezuela sowie das Aus für die ausschließliche Ehe zwischen Mann und Frau befürchtete der Senator aufgrund des Vertragstextes – kommt doch das Wort "Gender" 144-mal darin vor. Auch Ordóñez, der gerade ein Praktikum in Uribes Büro macht, zeigt sich alarmiert, wenn er vom Frieden spricht: "Wenn die größten Verbrecher der kolumbianischen Geschichte zehn Parlamentssitze erhalten, ohne sich je einer Wahl gestellt zu haben, ermutigen wir andere kriminelle Banden, ihre politischen Ziele mit Terror erreichen zu wollen." +Dabei, so stellt Nicolás Ordóñez klar, sei er nicht gegen den Frieden mit der Farc. Ihm gehe nur die ausgehandelte Amnestie zu weit. "Ich finde, dass die Farc-Anführer zumindest für ein paar Jahre ins Gefängnis sollten." Zwar müssen sich alle Ex-KämpferInnen vor dem "Tribunal für den Frieden" verantworten, mögliche Strafen dürfen sie aber in den Entwaffnungszonen absitzen, die eher kleinen Siedlungen als Gefängnissen ähneln. Dass von den rund 3400 inhaftierten Farc-KämpferInnen bis Mitte Juli erst 837 entlassen wurden, lässt Ordóñez nicht gelten. "Jeder, der Frauen entführt, Coca anpflanzt oder Bomben legt, muss die harte Hand der Justiz spüren." Von klein auf kenne er die Farc nur als gefährlichen Feind. Sein Vater war Oberst der kolumbianischen Streitkräfte, wochenlang war dieser in den Konfliktgegenden im Einsatz. "Wir wussten nie, ob er lebend zurückkommt", sagt Ordóñez. Über 220.000 Menschen starben im kolumbianischen Bürgerkrieg, rund 80 Prozent waren Zivilisten. Die meisten Opfer wurden paramilitärischen Gruppen zugerechnet – und ungefähr ein Sechstel den linken Guerilla-Organisationen Farc und ELN. +Melissa Rodríguez, 22, ist nicht nur Wirtschaftsstudentin, sondern auch eine offizielle "Friedensstifterin": Sie versucht, Beteiligte des Konflikts an einen Tisch zu bringen – ohne Kalaschnikow +Auf das Verzeihen wird es ankommen, glauben viele KolumbianerInnen. Als die UN-MitarbeiterInnen Ende Mai die Abgabe von 7132 Farc-Waffen bestätigten, kursierten in den sozialen Netzwerken unter dem Hashtag #DejacionDeArmas Wortspiele, die nach der erfolgten Waffenabgabe zu einer "Hassabgabe" aufriefen. +Eine Idee, wie die Versöhnung gelingen könnte, hat Melissa Rodríguez. Die 22-jährige Wirtschaftsstudentin hat sich dieses Jahr offiziell zur "Friedensstifterin" ausbilden lassen. Die kolumbianische Regierung bietet das kostenlose Diplom an, um BürgerInnen zur Entwicklung konkreter Friedensprojekte anzuregen. Rodríguez' Vorschlag: unbeteiligte, Opfer und auch Täter des bewaffneten Konflikts zusammenführen. So, schwärmt Rodríguez, könne man Zeitzeugen Gehör verschaffen und gleichzeitig Arbeitsplätze in Regionen erzeugen, die man jahrzehntelang kaum bereisen konnte. "Putumayo, Magdalena oder Chocó sind wunderschöne Regionen. Dank des Friedens kann man jetzt endlich dorthin reisen." +Der bewaffnete Konflikt hat zu einem erheblichen Teil mit den großen sozialen Missverhältnissen und der damit verbundenen extrem ungleichen Verteilung des Landbesitzes zu tun: Kolumbien ist weltweit eines der Länder mit der tiefsten Kluft zwischen Arm und Reich; laut UNDP steht es auf Platz 12 von 168. Ein weiterer zentraler Grund ist der Machtkampf zwischen den zwei dominierenden politischen Parteien: den Liberalen und den Konservativen. +Die erste Tagestour, die Rodríguez' Organisation "Orígen de Paz" anbietet, ist keine Stunde von Bogotá entfernt – und landschaftlich wie historisch bestens für das Projekt geeignet. "Erst sprechen wir mit Bauern über die Erfahrungen der vielen gewaltsamen Vertreibungen in der Gegend. Danach wandern wir zu dem höchsten Wasserfall Kolumbiens", fasst Rodríguez den Ausflug zusammen. Mittlerweile unterstützen die kolumbianische Handelskammer und die internationale Studenteninitiative AIESEC das Projekt. Auch Melissa Rodríguez ist überzeugt: "Zum Frieden gehört Verzeihen." +Diana Marcela Gómez Correal hofft auf Anerkennung und Wiedergutmachung für die Opfer des Konflikts. Gómez' Vater, ein linker Menschenrechtsaktivist, wurde 2006 unter noch ungeklärten Umständen ermordert +Wie schwer das ist, weiß Diana Marcela Gómez Correal. Ihr Vater, ein linker Menschenrechtsaktivist, wurde 2006 in Bogotá entführt und ermordet. Gómez, die an der Universidad de los Andes in Bogotá Geschichte lehrt, hält neben der Täterschaft der Paramilitärs auch die Beteiligung des Staates an dem Verbrechen für möglich. Beweise dafür hat sie nicht. Wie tausende weitere Opfer-Angehörige kann sie nur mutmaßen, wer für den Tod ihres Vaters verantwortlich ist. +Die als "La Violencia" bezeichnete Auseinandersetzung (spanisch für "Die Gewalt") begann 1948 und dauerte fast ein Jahrzehnt. Während dieser Zeit bildeten sich zahlreiche Selbstverteidigungsmilizen und Guerillaeinheiten – aus ihnen ging 1964 schließlich auch die Farc hervor. Der Krieg zwischen der liberalen und der konservativen Partei endete 1957, als sich die beiden Parteien auf eine strikte Machtteilung einigten. Doch selbst danach wurden Oppositionelle bedroht und ermordet, darunter mehrere Präsidentschaftskandidaten. Die linke Partei Unión Patriótica wurde in den 1980er-Jahren nahezu komplett ausgelöscht. +Zwischen 1986 und 2016 wurden nach Angaben der staatlichen Behörde Unidad de Víctimas 268.000 Menschen ermordet. Weitere 46.000 gelten wie Gómez' Vater als "verschwunden". Das Rote Kreuz schätzt die "desaparecidos" – wie man in ganz Lateinamerika die Opfer von Staatsterror oder bewaffneten Akteuren nennt – sogar auf 79.000. Die exakte Zahl soll nun während des Friedensprozesses ermittelt werden. Für Gómez ist der Frieden mit der Farc deshalb ein Schritt, der ihr Hoffnung gibt. "Das Recht der Opfer auf Anerkennung und Wiedergutmachung ist eines der Hauptziele im Friedensvertrag. Es ist aber ein weiter Weg." +Kolumbien ist noch weit vom Frieden entfernt, in dem Punkt sind sich die meisten Beteiligten einig. Im Juni entführte die zweitgrößte Guerillagruppe im Land, die ELN, vorübergehend zwei niederländische Journalisten. Und laut der Nichtregierungsorganisation "Somos Defensores" wurden in diesem Jahr bislang schon 40 Menschenrechtsaktivisten ermordet – vermutlich von Paramilitärs. +Das größte Hindernis für den Friedensvertrag in Kolumbien könnte jedoch die Präsidentschaftswahl 2018 sein. Derzeit werden dem rechten Kandidaten Germán Vargas Lleras – ein erklärter Kritiker des Vertrages – die besten Chancen zugerechnet, Präsident Santos im Amt nachzufolgen. Die Opposition hat bereits angekündigt, den Friedensvertrag im Falle eines Wahlsieges "in Stücke zu zerreißen". +Um das zu verhindern, hat die Farc-Führung beschlossen, 2018 keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten ins Rennen zu schicken. Welchem linken Gegenkandidaten potenzielle Farc-WählerInnen dann ihre Stimme schenken sollen, müssen jetzt Alejandro Guevara und die anderen Delegierten noch festlegen. + diff --git a/fluter/komisches-gefuehl.txt b/fluter/komisches-gefuehl.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ec7292217de0ad75975566cecd19d24fc53655c1 --- /dev/null +++ b/fluter/komisches-gefuehl.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Auch Aufträge hat Volmerhaus. Vor allem Büroumbauten gehören dazu und auch ein Mehrgenerationenhaus in Spandau. Sein bislang größtes selbstständiges Projekt war die Sanierung eines Bürogebäudes der Agentur für Arbeit in Berlin-Lichtenberg. Wie zum Beweis geht der großgewachsene Mann aus dem Raum und kommt mit einer Tafel zurück. Darauf zu sehen ist ein lang gezogenes Bürogebäude mit bunter Glasfassade. Freundlich sieht das aus. Kein Anblick, den man jeden Tag sieht. Trotzdem wird Volmerhaus das Gefühl nicht los, dass andere in seiner Branche an ihm vorbeigezogen sind. +Dabei lief anfangs alles nach Plan. Volmerhaus ist Architekt in dritter Generation. "Ich war schon als Kleinkind auf der Baustelle", erinnert er sich. Zum Studium zog er 1985 nach Berlin. "Mir ist das unheimlich leicht gefallen", erinnert er sich. "Ich war zwar nie ein guter Schüler, aber dann ein guter Student." +Er hatte seine Diplomarbeit noch nicht abgeschlossen, da bekam er schon das erste Jobangebot von einem Architekturbüro. Nach einem Jahr leitete er das erste Projekt: ein Wohnkomplex mit 80 Wohnungen. Auch seine zweite Stelle war vielversprechend. Nach nur drei Jahren heuerte Volmerhaus bei einem anderen großen Büro an – 200 Mitarbeiter und sechs Standorte weltweit. Kurze Zeit später übernahm er die Projektleitung für den Bau des Presse- und Informationsamtes der Bundes­regierung in Berlin. Projektvolumen: 180 Millionen Euro. +Mitte 30 war er da und arbeitete täglich 12 bis 14 Stunden, um das vor­gegebene Pensum erfüllen zu können. Seine Beziehung ging darüber in die Brüche. "Ich habe damals alles meiner Karriere geopfert", sagt er rückblickend. Wäre er noch heute in diesem Büro, er könnte sich wohl mit weiteren Prestigeprojekten schmücken. Denn das Büro plante in den darauffolgenden Jahren auch große internationale Bauten. Doch nach dem Bau des Bundespresseamtes war Schluss. +"Egal wie erfolgreich man ist", sagt Volmerhaus nachdenklich, "man merkt irgendwann, dass es Kollegen gibt, die noch mehr Fleiß an den Tag legen. Die Luft wird dünn da oben." Ein Jahr blieb er noch, nachdem das Projekt abgeschlossen war, dann wechselte der Geschäftsführer im Berliner Büro. Bei der Neuvergabe der erhofften Büroleiter­stelle ging er leer aus. Das Angebot, nach Köln zu wechseln, schlug er wegen seiner kleinen Tochter aus. "Dann war klar, dass meine Karriere dort zu Ende ist." +Das war 2002. Ein Krisenjahr auch in der Architekturbranche. Volmerhaus wagte dennoch den Schritt in die Selbstständigkeit. Dass er heute – zwölf Jahre später, wieder verheiratet und mittlerweile Vater von drei Töchtern – bisweilen Albträume hat, liegt auch daran, dass er selbst ein anderer geworden ist. +"Früher, als ich noch für die großen Büros arbeitete, war ich ein viel oberflächlicherer Mensch", sagt er. Ein Anrennen nach oben sei das gewesen. "Damals habe ich Leute einfach so entlassen", erinnert er sich. "Heute will ich, dass wir hier alle wie eine Familie zu­sammenarbeiten." Das zeige auch sein Firmenname. "Tectur" hat er seinen Betrieb getauft und damit anders als viele andere Architekturbüros auf seinen Namen in der Bezeichnung verzichtet. +"Alle, die bei mir arbeiten, sind fest angestellt", sagt Volmerhaus. Bei großen Büros sei das oft anders. Dort arbeiten freischaffende Architekten in der Regel projektgebunden. Auch sind junge Architekten oft bereit, sich für einen bekannten Büronamen ausbeuten zu lassen. Gibt es keine Aufträge, müssen sie gehen – und kosten nichts weiter. +"Ich übernehme die Verantwortung für meine Leute, auch wenn sich ein Projekt in die Länge zieht und deshalb nichts einbringt oder der Bauherr nicht zahlt." Das kann manchmal eine gedankliche Abwärtsspirale in Gang setzen: Ich habe mich mit dem Projekt übernommen, mag der erste Impuls lauten. Was danach folgt, wird immer nur noch schlimmer: Mein Erspartes wird nicht reichen, um den Engpass auszugleichen; ich werde Leute entlassen müssen; meine Kunden merken, dass ich in Schwierigkeiten bin; ich bekomme keine neuen Aufträge mehr. O Gott, ich lande in der Gosse! "Ängste sind ja völlig irrational", sagt Volmerhaus. Um ihnen vorzubeugen, denkt und handelt er, was das Geschäftliche betrifft, konservativ. Das heißt: An großen Ausschreibungen für öffentliche Gebäude teilzunehmen ist in dieser Lage schwierig. Gleichwohl sind es aber diese Architekturwettbewerbe, die dem Gewinner Ruhm und Ehre versprechen. "Im Grunde müsste ich einen weiteren Architekten beschäftigen, der sich nur um solche Wettbewerbe kümmert", erklärt er, "denn so was gewinnt man nicht gleich beim ersten Mal. Da muss man schon bei ein paar mitmachen, um in der Liga der ganz Großen mitzuspielen." Ein Ziel, das Volmerhaus noch erreichen will – irgendwann. +Marlene Halser ist Mitarbeiterin der taz und freie Autorin. Mit Vorliebe schreibt sie über Randphänomene, die sich etwas abseits des politischen Hauptgeschehens abspielen. diff --git a/fluter/komm-in-die-gaenge.txt b/fluter/komm-in-die-gaenge.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5b9067f8533ef11724a89184aea984cc83c4b6ac --- /dev/null +++ b/fluter/komm-in-die-gaenge.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Und dann geschah auch etwas: 2008 verkaufte die Stadt Hamburg das Gros des Gängeviertels an den niederländischen Investor Hanzevast. Der hatte große Pläne, in denen die alten Häuser jedoch nur eine kleine Rolle spielten. Bis auf einige Fassaden wollte Hanzevast den größten Teil des Gängeviertels abreißen und durch Neubauten aus Glas und Stahl ersetzen. +Nicht allen gefiel das: Im August 2009 besetzten rund 200 Künstler und Aktivisten die Häuser und gründeten einen Verein, um das Gängeviertel zu retten. Sie wollten die Politiker im Rathaus dazu bewegen, die Häuser zu erhalten, zu sanieren, günstige Mieten für Wohnungen und Ateliers zu ermöglichen sowie Kultur zu fördern. Prominente wie der Regisseur Fatih Akin, die Band Fettes Brot und der Maler Daniel Richter unterstützten das Projekt. Mit Erfolg: Die Stadt kaufte das Gelände vom Investor zurück und schloss 2011 mit dem Verein und der inzwischen gegründeten Gängeviertel-Genossenschafteine Vereinbarung, die als Grundlage dient, um das Quartier gemeinsam zu entwickeln und die Altbauten zu erhalten. +So wurde das Gängeviertel weit über die Grenzen ­Hamburgs hinaus zu einem Symbol für Mitbestimmung im Städtebau. In anderen deutschen Städten gibt es mittlerweile ähnliche Initiativen. In Berlin etwa dieGenossenschaft Holzmarkt, gegründet von den Machern der ehemaligen Clubs "Bar 25" und "Kater Holzig", die zurzeit eine Brachfläche am Spreeufer entwickeln, auf der ursprünglich ein Bürogebäudekomplex gebaut werden sollte. Stattdessen sollen dort nun unter anderem Studentenwohnungen und ein Künstlerdorf entstehen. +Seit 2013 saniert das private Unternehmen "steg" im Auftrag der Stadt Hamburg die ersten Häuser im Gängeviertel für insgesamt gut 20 Millionen Euro aus öffentlichen Mitteln. Vor Kurzem sind die ersten Mieter in die sanierten Häuser eingezogen – zu Mietpreisen, die weit unter dem Hamburger Schnitt liegen. Ist also alles gut? Eher nicht. +"Eine Frechheit, wie die Stadt mit uns umgeht.""Das ist nicht fair.""Wir wollen wissen, wie es jetzt weitergeht. Die Zukunft ist nicht gesichert." +Das sagt Christine Ebeling, Kunstschmiedin, Bildhauerin und so etwas wie die Stimme des Gängeviertels. Ebeling sitzt mit ihrem Laptop in einem der noch unsanierten Gebäude, in dem eine Galerie untergebracht ist. Sie ist eine Frau der ersten Stunde der Bewegung und in diesen Tagen auf die Stadt Hamburg schlecht zu sprechen. Lange war nicht klar, wie die Genossenschaft nach der Sanierung die Gebäude selbst verwalten soll. Inzwischen ist ein Generalmiet- und Verwaltungsvertrag ausgehandelt worden, der die wichtigsten Ziele beinhaltet: Vor allem die Frage der Selbstverwaltung ist für die Aktivisten im Gängeviertel entscheidend. Sie wollen mitbestimmen, wer in die Wohnungen im Gängeviertel einzieht. Sie möchten sicherstellen, dass in die für Gastronomie, Handel und Kultur vorgesehenen Teile des Geländes niemand kommt, der die Ziele des Gängeviertels nicht teilt. Sie wollen einen Raum im Stadtzentrum schaffen, der nicht vom Streben nach Profit bestimmt ist. +Doch wie das wirklich umgesetzt werden kann, ist momentan nicht klar. Kauft die Genossenschaft die Gebäude? Schließt sie einen Mietvertrag über viele Jahrzehnte mit der Stadt? Offenbar ist es deutlich einfacher, ein Stadtviertel vor dem Abriss zu retten, als es dauerhaft zu entwickeln. Im Gängeviertel hat sich anstelle der Euphorie der Anfangszeit Ernüchterung breitgemacht. +Auch mit der bisherigen Sanierung sind die Aktivisten unzufrieden. Viel zu wenig von der über hundertjährigen Baugeschichte der Häuser sei nach der Sanierung der ersten Gebäude noch übrig, kritisiert Ebeling. Zu oft hätte man sich für Standardlösungen entschieden, statt sich individuell etwas einfallen zu lassen. Es geht dabei um Details wie entfernte Altbautüren und neue Rigipswände. +Von der Stadt will auch auf mehrmalige Anfragen hin niemand über das Gängeviertel sprechen. Dafür redet Hans-Joachim Rösner, Geschäftsführer der steg, jener Firma, die die Stadt Hamburg beauftragt hat, das Gängeviertel gemeinsam mit den Aktivisten zu entwickeln. "Es geht hier um öffentliches Geld. Die Stadt saniert das Gängeviertel auf eigene Kosten und muss sich an die Regeln halten, die für solche Projekte gelten", erklärt Rösner. Man könne nicht immer die schönste, aufwendigste und teuerste Lösung wählen. +Und noch etwas störe ihn: dass er mit den ­Aktivisten aus dem Gängeviertel nie auf eine vertrauensvolle Arbeitsebene gekommen sei, obwohl sie nun schon seit Jahren an einem gemeinsamen Projekt arbeiten. Die Vertreter des Viertels fühlten sich bevormundet und vor vollendete Tatsachen gestellt, einige vertrauten ihm aber auch aus Prinzip nicht, sagt Rösner. Einmal sei er bei einer Sitzung sogar des Raumes verwiesen worden. Natürlich werde man weiter zusammenarbeiten. Doch auch hier: Ernüchterung statt Euphorie. +Am Beispiel des Gängeviertels offenbart sich die Konfliktlinie, wenn es um Mitbestimmung in der Stadtentwicklung geht: Jeder hat andere Prioritäten und Vorstellungen, wie so ein Projekt zu stemmen ist. Wie dieser Konflikt ausgeht und ob am Ende alle zufrieden oder enttäuscht sind, lässt sich heute noch nicht sagen. Vielleicht ist es manchmal besser, auch die finanzielle Verantwortung für ein Projekt gleich selbst zu übernehmen, statt ständig darauf zu warten, dass alle Partner sich genau so verhalten, wie man es gern hätte. Zumindest sieht das der Architekt Joachim Reinig so, der seit einigen Jahren die Sanierung eines Gebäude­ensembles für Künstler betreibt. +"Bisher war ja die Losung: ‚Wir haben die Häuser gerettet, jetzt soll die Stadt zahlen.' Aber vielleicht ist es viel sinnvoller, sich auf eigene Kräfte zu stützen und die Häuser so schnell wie möglich zu kaufen", meint Reinig. So hätten die Aktivisten mehr Verantwortung, aber auch mehr Freiraum für eigene Entscheidungen. Diese müssten zudem einige ihrer idealistischen Positionen überdenken, sollten versuchen, mit ihrer Arbeit im Viertel auch Geld zu erwirtschaften, fordert Reinig. +Klar ist: Um einen Kaufplan umzusetzen, bräuchten Christine Ebeling und ihre Mitstreiter viel Geld und viel öffentliche Unterstützung – wahrscheinlich noch viel mehr als bei der Rettung der Häuser vor sechs Jahren. +Trotz aller Schwierigkeiten wollen die Gängeviertel-Aktivisten weitermachen. Dass die ganze Sache noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird, ahnt auch Ebeling. "Das hier ist ein Lebensprojekt", sagt sie, während sie den Blick schon wieder auf ihren Laptop richtet. Denn es warten noch unendlich viele Dinge, die zu organisieren, zu verhandeln, zu erledigen sind. Angekommen ist das Gängeviertel noch lange nicht. +Fotos: Franziska Holz, Henning Bode/laif diff --git a/fluter/komm-in-die-poette.txt b/fluter/komm-in-die-poette.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7999698fa7d818694f7f3eaadca236186ec1a104 --- /dev/null +++ b/fluter/komm-in-die-poette.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Mach mal Dampf: Hier kommen sich Isländer in einem heißen Naturpool näher +Eines schönen Morgens vor ein paar Jahren setzte sich ein amerikanischer Tourist in ebendiesem Schwimmbad in einen der vor sich hin dampfenden Hot Pots und kam direkt mit seiner Sitznachbarin ins Gespräch. "Was machen Sie beruflich?", fragte er irgendwann. "Ich bin Präsidentin", antwortete sie. "Aha, und von welcher Firma?" – "Von Island." Der US-Amerikaner war sprachlos. +"Der Arme ist rot angelaufen", erinnert sich die mittlerweile ehemalige Präsidentin Vigdís Finnbogadóttir an diese Begegnung. Ich kenne die 84-Jährige, und das nicht nur durch die Interviews, die ich mit ihr geführt habe. Immer mal wieder begegnet man sich in Reykjavík zufällig, und so wie alle anderen duzt man ebenfalls Präsidenten. Sie erzählte, dass sie selbst zu Amtszeiten nicht auf die Hot-Pot-Besuche verzichten wollte. "Ich hatte nie einen Leibwächter", sagt Vigdís. "Island hat Mängel wie jedes andere Land, doch wir schauen auf niemanden herab – aber wir schauen auch zu niemandem auf." +Wer die Isländer also hautnah kennenlernen möchte, der setzt sich einfach mit ihnen in eine heiße Quelle: 38 bis 44 Grad Celsius warm sind die Pötte, die Whirlpools ähneln. Es gibt sie wie in Vesturbæjarlaug neben Schwimmbecken im Freibad, in den Vorgärten der Wohn- und Sommerhäuser oder verstreut als natürliche Quellen in den einsamen Landschaften der Insel. +Hot Pots sind ein wichtiges Kulturgut, quasi das Café oder die Bar der Isländer: Seit jeher tauschen sie hier den neuesten Tratsch aus und diskutieren über die aktuelle Lage der Nation. Und das zu jeder Jahreszeit – selbst im Winter, wenn bei eisigen Außentemperaturen die Schneeflocken in der Luft tanzen. +Doch Vorsicht: Wo jeder jeden um zwei Ecken kennt, muss man aufpassen, dass man sich im Hot Pot nicht ins Fettnäpfchen setzt. Auch Touristen müssen immer bedenken, dass die meisten Isländer Englisch verstehen – etliche ebenfalls Deutsch. Der unscheinbare Mann neben einem könnte der Polizeidirektor, ein Reporter oder der Außenminister sein. Schließlich sehen in der Badehose alle gleich aus. +Nicht ohne Seife waschen: Eine Tafel mahnt zur Sauberkeit +Überhaupt nehmen die Isländer Ruhm nicht so ernst, denn in dieser kleinen Gesellschaft ist jeder "einer der Besten" in irgendetwas – und sei es eben einer der besten Handwerker, Köche oder Erzähler. Promis werden hier prinzipiell in Ruhe gelassen. Das lockt auch viele Weltstars wie Harrison Ford und zahlreiche Könige auf die Insel. +Anfangs ist es schon komisch, so dicht gedrängt mit fremden Menschen zusammenzusitzen. Doch bald wird es ganz normal, mit einem zackigen "Góðan daginn", also "Guten Tag", in die Pötte zu steigen und sich der Situation hinzugeben. Ebenso wie man sich erst komplett nackt duschen muss, bevor man ins Schwimmbad gehen darf. Damit ja nichts vergessen wird bei der Körperreinigung, hängt in den Umkleiden neben der Dusche eine große Tafel mit detaillierter Anleitung: Überdimensional große Flecken markieren die zu waschenden Stellen. +Für etliche Touristen ist es eine Überwindung, sich sogar nur vor den eigenen Geschlechtsgenossen zu entblößen. Sie gehen lieber in Einzelkabinen oder ziehen sich kompliziert in Handtücher eingewickelt um. Die Isländer finden diese Verschämtheit niedlich und laufen entspannt nackig durch die Umkleide – die 20-Jährige mit der super Figur ebenso wie der faltige 80-Jährige. +"Im Schwimmbad seifen wir uns unter der Dusche vor aller Augen ein. Das macht einen bescheidener", sagt Jón Gnarr, der bis vor wenigen Wochen Bürgermeister von Reykjavík war. Der Komiker gründete kurz nach Beginn der Finanzkrise mit Freunden "Besti flokkurinn" ("Die Beste Partei"). Die Partei versprach, offen korrupt zu sein, ein drogenfreies Parlament bis 2020 und kostenlose Handtücher fürs Schwimmbad. Und Jón Gnarr kündigte an, alle seine Versprechen wieder zu brechen. Anfangs war der Wahlkampf nur eine Persiflage, doch Ende Mai 2010 wurde Besti flokkurinn tatsächlich zur stärksten Partei gewählt. Plötzlich regierten die Künstler in einer Koalition mit den Sozialdemokraten. +"Es sind die Schwimmbäder, die uns zu einer Nation zusammenschweißen. Mehr als alles andere", findet der 47-Jährige. In seinem Buch "Hören Sie gut zu und wiederholen Sie!!!" (Tropen Verlag) schreibt er ebenfalls über das geheime Band zwischen den Isländern und den Finnen, das seiner Meinung nach mit der Saunakultur zu tun hat. "Die Finnen sind nämlich, genau wie wir, ein nacktes Volk. Auch in Finnland ist es die natürlichste Sache der Welt, vor wildfremden Leuten splitternackt herumzulaufen, ohne sich für seinen Körper – oder für den der anderen – zu schämen." +Ist ein Land demokratischer, in dem die Bürger einander nackt kennen? "Das ist eine interessante Frage", sagt Päivi Lipponen und überlegt einen Moment. Die 47-Jährige ist Abgeordnete des Parlaments. Ihr Mann Paavo war viele Jahre Premierminister von Finnland. Wir sitzen in der kleinen Schwitzhütte des Rajasaari Sauna Club in Helsinki. Da es ein gemischter Club ist, relaxen hier, anders als in öffentlichen Saunen, die Männer und Frauen zusammen. Deshalb gilt das Tragen von Badesachen als Pflicht. In der schwach beleuchteten Sauna kann man ohnehin kaum jemanden erkennen. Als dann noch ein Finne Wasser auf die heißen Steine gießt, wird die Hütte zusätzlich vernebelt. +"Es stimmt schon. Hier in der Sauna sind wir alle gleich – sei es nun nackt oder im Badeanzug und in der Badehose", sagt Päivi. (In Finnland duzen sich ebenfalls die meisten.) "Wir haben ohnehin flachere Hierarchien als andere Nationen." Der nordeuropäische Staat ist noch recht jung, erst 1917 wurde er nach jahrhundertelanger Fremdherrschaft von den Schweden und Russen unabhängig. +Und natürlich sind sowohl Island als auch Finnland kleine Gesellschaften. Dort leben 5,4 Millionen Menschen auf einer Fläche so groß wie Deutschland, angeblich gibt es bis zu zwei Millionen Saunen – in Privatclubs, in den Wohnungen, nahe den Sommerhäusern am See und sogar in Ski-Gondeln. Seit einiger Zeit sind besonders die öffentlichen Saunen wieder populär: Dort treffen sich die Nachbarschaft und Touristen ebenso wie bekannte Künstlerinnen oder Politikerinnen. +Haste mal ne´ Sauna: Diese Finnen finden immer einen Weg zu schwitzen +Einmal hatte Päivi in der gemischten Sauna eine überraschende Begegnung. Ein Mann neben ihr sagte unvermittelt: "Paavo Lipponen ist in letzter Zeit depressiv." Er referierte lang und breit, wie schlecht es dem ehemaligen Premierminister angeblich ginge. "Das stimmt nicht", sagte Päivi. Doch der Mann ließ sich nicht umstimmen, unbeeindruckt redete er weiter. Sie versuchte noch mal, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Dann blaffte er sie an: "Woher willst du das denn wissen?" – Sie antwortete: "Weil ich seine Ehefrau bin." Daraufhin wurde der Mann kleinlaut und sagte erst mal nichts mehr. +Bevor die Politikerin am Abend wieder in ihren gemütlichen Jogginganzug schlüpft, sagt sie: "Die Sauna ist auf jeden Fall ein demokratischer Ort." Sogar im finnischen Parlament gibt es zwei Saunen – eine für Frauen und eine für Männer. Als die Männer noch die Politik dominierten, trafen sie sich dort, um interne Absprachen zu treffen. "Doch die Zeiten sind vorbei." +Dass die Hot Pots in Island für Politiker weiterhin ein wichtiger Ort sind, sieht man daran, dass im beliebten Schwimmbad Vesturbæjarlaug trotz klammer Haushaltskassen ein riesiger, mehrfach unterteilter Hot Pot gebaut wurde. Zur Einweihung in diesem Frühjahr kamen sogar führende Politiker, unter ihnen Dagur B. Eggertsson von den Sozialdemokraten. Seit vier Wochen ist er der neue Bürgermeister von Reykjavík – das Bad in der Menge, in Island nehmen sie das wirklich wörtlich. +Alva Gehrmann ist freie Journalistin aus Berlin, sie berichtet viel über Nordeuropa und schrieb das Buch "Alles ganz Isi – Isländische Lebenskunst für Anfänger und Fortgeschrittene" (dtv). Dieses Jahr tauscht sie den Hot Pot gelegentlich mit einer Sauna, um noch intensiver in die finnische Kultur einzutauchen. Finnland ist im Oktober Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. diff --git a/fluter/kommen-und-gehen.txt b/fluter/kommen-und-gehen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e11f1a8f40f70c1141cb7740b0da1a5b86b8c684 --- /dev/null +++ b/fluter/kommen-und-gehen.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Die Ayi ist in China eine Institution, mehr als nur Haushälterin und Nanny, nämlich auch heimliches Familienmitglied und die gute Seele des Hauses. In Schanghai, der reichsten Stadt Chinas, wo die Leute Geld haben, aber keine Zeit, arbeiten Hunderttausende Ayis. Die meisten sind mittleren Alters und kommen wie Hu aus dem Landesinneren, aus entlegenen Dörfern. Sie wuchs in einem Bergkessel in der Provinz Anhui auf, 460 Kilometer westlich von Schanghai – und doch Licht­jahre entfernt. Das Haus der Familie war eine Baracke, zu siebt teilten sich die Kinder zwei Betten. Statt Reis gab es bloß getrocknete Süßkartoffeln. Als sie 13 ­wurde, konnten die Eltern das Schulgeld nicht mehr zahlen, also folgte Hu ihrer drittältesten Schwester in die Provinzhauptstadt, um Fahrräder zu reparieren. Als die Kommunistische Partei die Wirtschaft Stück für Stück liberalisierte, strömten Bauernkinder, angelockt vom Aufschwung, in die Großstadt. Hu arbeitete in Restaurants, Hotels, auf dem Gemüsemarkt, in Friseursalons und auf dem Bau. Dazwischen kehrte sie heim, heiratete und bekam einen Sohn. Damit er einmal ein besseres Leben führen wird als sie, ließ sie ihn und ihren Mann 2008 zurück und zog allein nach Schanghai. +Hu heuerte erst bei einem jungen Designerpärchen aus Hongkong an, später bei Schanghaier Ärzten, amerikanischen Managern, deutschen Ingenieuren und italienischen Architekten. Sie lernte Schanghainesische Schweinerippchen und Spaghetti Bolognese zu kochen, Hemden zu bügeln und Wein zu kühlen. Ihre Kunden nennen sie "Hu Ayi" und zahlen ihr 30 Yuan pro Stunde, umgerechnet 4,20 Euro. In guten Monaten verdient sie 7.000 Yuan, etwa 1.000 Euro. Das ist kein schlechtes Gehalt: etwa so viel wie ein junger Uni-Absolvent im Durchschnitt und viermal so viel, wie ihr Mann als öffentlicher Angestellter in ihrem Heimatort verdient. +Zwei Drittel des Geldes legt Hu jeden Monat zurück. Sie hat kein Smartphone, sie geht nie ins Restaurant und schneidet sich ihre Haare selbst. Abends schaut sie in ihrem Zimmer fern oder telefoniert mit ­ihrem Sohn. Acht war er, als sie nach Schanghai ging, heute ist er 15. Hu hat die meisten seiner Geburtstage verpasst, sie kennt weder seine Lehrer noch den Namen seiner Freundin. "Zehn Jahre, das war mein Ziel", sagt Hu, so lange wird sie in Schanghai bleiben. Wenn sie endlich das Geld hat, die 500.000 Yuan, wird sie ihre Sporttasche packen und nach Anhui zurückkehren. Das Geld wird sie in die Zukunft ihres Sohnes investieren, in das Ingenieurstudium, von dem er träumt. Später, das hofft sie, wird auch er einmal in einem Loft wohnen, Auto fahren, um die Welt reisen und mit teuren Smartphones telefonieren. Vielleicht wird er sich sogar eine eigene Ayi leisten können. diff --git a/fluter/kontinentaldrift.txt b/fluter/kontinentaldrift.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..afbe510706ae77d768a2d266be904564a04af353 --- /dev/null +++ b/fluter/kontinentaldrift.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Das "Reina" ist ein Club, es ist der Club überhaupt in Istanbul, in der Türkei, Politiker, Schauspieler, Models, Sportstars, altes Geld und neues Geld – all das trifft sich in diesem Ort am Bosporus, der ein Restaurant ist und eine Disco und irgendwie auch ein kleiner Hafen mit einem Schiff.Vor der Tür stehen jeden Abend Paparazzi und warten auf ihre Beute, und wenn die Beute sehr groß ist und vom "Reina" flüchtet, wird sie von den Paparazzi gejagt. Eine Stunde vor dem "Reina" ist wie Kino, meist wie ein Film ab 18, das liegt vor allem an den Darstellern: knappe Kleider, große Brüste, Gesichter wie bestellt und abgeholt, daneben Männer, die offenbar nicht Auto fahren können, denn die Autos (Porsche, Mercedes, BMW, Bentley etc.) fahren die Frauen. Parken müssen sie nicht, das erledigen die Clubangestellten. Das Treiben vor dem "Reina" erinnert an ein Theaterstück, die Rollen sind klar verteilt und irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass das Stück am Ende eine Komödie ist. Drinnen spielt der DJ in einer Stunde zweimal Love Generation. +ZWEITER TAGGibt es ein Geheimnis dafür, dass die Stadt funktioniert? Dass die Menschen, bei all dem Wahnsinn, der Größe, dem Trubel, nicht ausflippen? Donnerstagmorgen, acht Uhr am Taksim-Platz, so etwas wie der Mittelpunkt Istanbuls, wenn so eine Stadt überhaupt einen Mittelpunkt haben kann. Hier fährt die Metro in zwei Richtungen, sie bringt die, die arbeiten, in die Geschäftsviertel, und die, die nicht arbeiten, schließt sie aus. Die Metro ist sauber, kein Müll, keine Graffiti, am Eingang werden die Taschen der Fahrgäste durchleuchtet. Hier ist Istanbul auf dem Weg in seinen Tag, hier sieht man weder das Religiöse von Fatih noch die Kraft der Jugend von Beyoglu – hier sieht man Männer in Anzügen und Frauen in Businesskostümen, aber ein paar Meter weiter, an der Oberfläche, da sieht man wieder die Schaufenster der Geschäfte, die an Osteuropa erinnern, und man sieht einen alten, halbnackten Mann, der auf der Straße liegt und bettelt. Und irgendwann, wenn man einen Vormittag lang durch die Straßen von Istanbul läuft, dann weiß man überhaupt nicht mehr, wo man eigentlich ist.Vielleicht kann es einem Mercan Dede erklären.Mercan Dede ist DJ und Musiker, er kam aus einem kleinen anatolischen Dorf zum Studieren nach Istanbul, vor mehr als zwanzig Jahren, nach vier Jahren zog er nach Kanada und jetzt lebt er die Hälfte des Jahres dort und die andere Hälfte in Istanbul, eigentlich lebt er aber im Flugzeug und in den Nachtclubs dieser Welt. Mercan Dedes Wohnung hat eine wunderschöne Sicht auf den Bosporus, auf den asiatischen Teil der Stadt. Istanbul liegt Mercan Dede zu Füßen, was auch daran liegt, dass er hier ein Superstar ist.Wir fragen ihn, ob er uns bitte Istanbul erklären könne. Er sagt: "In Istanbul geht das Gute mit dem Bösen Hand in Hand, es ist eine Stadt der Gegensätze: manches extrem hübsch – manches extrem hässlich; manches extrem modern – manches extrem traditionell. Jeder, der nach Istanbul kommt, kann seine eigene Reise machen. Egal, was man sucht – in Istanbul kann man es finden." Hört sich das nicht zu leicht, zu einfach, zu gut an? Mercan Dede sagt, dass man natürlich einen Preis dafür zahle, wenn man in Istanbul lebt. Er spricht über den Verkehr, den man nicht mehr in den Griff bekommt, er spricht von der Vernichtung der Natur: "Sie holzen die Wälder ab, um Wohnungen zu bauen. +Niemand weiß, wie viele Menschen in Istanbul leben, aber jeder weiß, dass es immer mehr werden." Offiziell hat Istanbul 14 Millionen Einwohner, wahrscheinlich sind es 16 Millionen. "In den Siebziger-, Achtzigerjahren war Istanbul für viele Türken ein Versprechen – hier sei das Leben so wie in New York, im Westen, vieles sei aus Gold. Dann kamen sie nach Istanbul und stellten fest, dass hier wenig aus Gold ist, und wenn doch, dann war es nicht für sie bestimmt, denn sie kamen arm und ungebildet in diese Stadt. Sie waren Bauern, aber für Bauern gibt es in Istanbul nichts zu tun." Mercan Dede sagt aber auch, dass hier in Istanbul die Menschen in Harmonie zusammenleben könnten, und erzählt von einem Garten, an dem eine Moschee, eine Synagoge und eine Kirche stehen – und die Menschen dort teilen sich diesen Garten. Er sagt, dass viele Menschen im Bosporus die Grenze zwischen Europa und Asien sehen – er sieht, dass der Bosporus Europa und Asien zusammenhält, und deshalb sei der Bosporus der schönste Platz in Istanbul. Und wenn wir wissen wollten, wie er das meint, dann müssten wir nur einmal hinuntergehen zum Wasser, zum Bosporus, dann würden wir ihn vielleicht verstehen, und dann würden wir vielleicht auch Istanbul verstehen. +DRITTER TAGDer Bosporus. Freitagmorgen, halb acht.Wir fahren ein paarmal mit der Fähre hin und her vom europäischen Teil zum asiatischen und wieder zurück und dann noch einmal.Wenige fahren von Europa Richtung Asien, viele fahren von Asien Richtung Europa, diese Fähren sind meistens voll: hübsche Frauen, Männer in Anzügen, die meisten haben die Kopfhörer ihres iPods in den Ohren, sie sind auf dem Weg zur Arbeit, in die Geschäftsviertel des europäischen Teils.Wir bleiben in Asien und entdecken neben der Anlegestelle für die Fähren den Stand einer angeblich humanitären Organisation. Ihr Anliegen: den armen Menschen im Libanon und in den palästinensischen Gebieten zu helfen. Der Feind: Israel, die USA. Die Männer, die den Stand betreuen, reden mit uns, sie erklären uns ihre Sache, bald steht auch ein Koran-Lehrer dabei, der sagt, dass das Übel der Welt im Kapitalismus liege. +Der Koran-Lehrer fragt uns, ob die Bilder, die hinter uns auf einem Fernseher laufen, auch in Deutschland gezeigt werden. Denn das seien die wahren Bilder des Krieges. Die Wahrheit ist demnach ein totes libanesisches Baby mit einem Bauchschuss. Als wir gehen, gibt uns einer der Männer seine Visitenkarte. Er ist Mitglied in der Partei des Ministerpräsidenten Erdogan. Wir verlassen den asiatischen Teil der Stadt. Unser Ziel ist eines der sogenannten Gecekondu-Viertel, in denen die wohnen, die wenig bis gar nichts haben, übersetzt bedeutet "Gecekondu": "über Nacht hingestellt". Nach altem osmanischem Recht darf ein Haus, das über Nacht gebaut wurde, nicht wieder abgerissen werden – und so sehen die meisten Häuser bis heute auch aus. Es sind Schandflecke im Bild des modernen Istanbul, in den vergangenen Jahren gab es viele Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den Bewohnern der Gecekondus, die geräumt werden sollen, weil Firmen das Land gekauft haben, um eine Fabrik oder ein Einkaufszentrum zu bauen. Und es gibt Gecekondu-Viertel, in denen lässt sich die Polizei seit Jahren nicht mehr blicken. Eines dieser Viertel liegt eine halbe Stunde Autofahrt von Fatih, dem religiösen Viertel, entfernt. Hier leben Menschen, die in der Türkei "Cingeni" genannt werden, entsprechend etwa dem deutschen "Zigeuner". Doch wenn es nach den Behörden geht, leben sie da bald nicht mehr, denn in ein paar Wochen sollen Bulldozer kommen und alles zerstören. Eine Firma hat das Land gekauft und die Bulldozer werden keine Mühe haben, denn die Häuser sind Baracken und die Straßen sind Schotterwege.Wir sitzen in einem Raum, den die Männer als Café nutzen, aber es gibt hier nicht viel mehr als ein paar Tische und ein paar Stühle. +Zwanzig Männer stehen um unseren Tisch, alle reden durcheinander, sie wollen wissen, was wir suchen, und sie wollen uns ihre Geschichte erzählen, die Geschichte der Cingeni von Istanbul, die hier seit Generationen leben, hier geboren werden und sterben und nie etwas anderes sehen als diesen Slum. Sie können weder lesen noch schreiben, sie sagen, dass die meisten von ihnen als Träger auf dem Basar arbeiten, viele haben Knasttätowierungen. Einer der Männer sagt, er sei 47 – er sieht zwanzig Jahre älter aus, hat keine Zähne, seine Augen sind erloschen, er schwitzt. An den Oberarmen hat erWunden, die aussehen, als würde er sich mit der Rasierklinge in die Haut ritzen. Es gibt zwei Gründe dafür, sich die Oberarme aufzuritzen:Wenn man nicht mal mehr Geld für Nadeln hat, dann ritzt man sich die Haut blutig, um das Heroin irgendwie in die Blutbahn zu kriegen. Das ist die eine Möglichkeit. Die andere Möglichkeit ist, dass man sich körperlichen Schmerz zufügt, um einen anderen Schmerz nicht mehr zu fühlen. Wenn sie jetzt das, was sie Heimat nennen, auch noch verlieren, werden die Schmerzen unerträglich – das sagt der, dem das Café gehört. "Wir sollen woanders leben, aber wir haben noch nie woanders gelebt, wir wollen auch nicht woanders leben, wir leben hier schon seit Jahrzehnten. Die Stadt will uns Geld geben und neue Wohnungen.Aber wir wollen nur unsere Würde behalten." Er sagt, dass alle, die hier wohnen, nur dieses Leben kennen; und ihr Leben vererben sie weiter an ihre Kinder und Enkelkinder, weil sie sonst nichts haben, was sie vererben könnten.Ortswechsel. In der Nähe des Großen Bazars, da, wo die Touristen sind und wo sich die Stadt Fremden am liebsten zeigt, treffen wir Betül, Aynur und Zeynep in einem Café, wo man Tee trinkt und Wasserpfeife raucht. Die drei Mädchen sind Mitte zwanzig, genau wollen sie es nicht sagen, sie kokettieren damit, sie flirten auch ein wenig, wenn sie an ihrer Wasserpfeife ziehen, denn sie wissen, dass sie hübsch sind, das macht sie stolz und arrogant. Alle drei tragen ein Kopftuch. Eine von ihnen, Aynur, ist verheiratet, wenn sie redet, Fragen beantwortet, dann verdreht sie die Augen, es hat etwas Schnippisches. Aynur war gerade länger in Schanghai und irgendwann will sie mal nach Italien, aber nicht nach Rom oder Mailand, denn sie mag westliche Großstädte nicht besonders. Sie trägt Jeans, offene Schuhe und sie sagt: "Istanbul ist ein Traum." Ihre Freundin Zeynep sagt: "Wir müssen diesen Traum beschützen." Sie sagen nicht, wovor. +Betül spricht englisch, sie hat Geschichte studiert, denn wenn man die Geschichte versteht, dann versteht man auch die Gegenwart und vielleicht auch die Zukunft. Betül sagt, dass der Islam die wichtigste Rolle in ihrem Leben spielt. Deshalb trage sie auch ein Kopftuch. Wie sieht dann also ihr Leben aus? Sie sagt, eigentlich gehören ihr Leben und der Islam zusammen, man könne das gar nicht so genau trennen. Manchmal, sagt sie, sei es aber schwer. Warum? "Ich habe böse Gedanken." +Wir fragen die drei, ob sie sich selbst als moderne Frauen bezeichnen würden. "Nein", sagen sie da, sie seien nur sie selbst, nicht mehr, nicht weniger, ohne irgendeine Definition. Welche Erwartungen haben sie an ihr Leben? Aynur, die verheiratet ist, sagt, dass sie keine Erwartungen habe, sie sei schon zu oft enttäuscht worden. Sie sagt nicht, was das für Enttäuschungen waren, sie will jetzt gar nichts mehr sagen. Jetzt will sie wissen, was wir über sie denken. Es ist ein seltsames Gespräch zwischen jungen Menschen an einem Freitagabend. Es ist, als ob man sich kennen lernt und doch weiß, dass man sich fremd bleibt. Zum Abschied reichen wir uns die Hände. +Mitarbeit: Dirk Schönlebe, Selcuk Sahil diff --git a/fluter/kontrolle-der-macht-usa-wie-donald-trump-mit-dekreten-regiert.txt b/fluter/kontrolle-der-macht-usa-wie-donald-trump-mit-dekreten-regiert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9e3b2ecaa5a0f83fe51084f0529b087a8b939754 --- /dev/null +++ b/fluter/kontrolle-der-macht-usa-wie-donald-trump-mit-dekreten-regiert.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Aktuell geht es um denEinreisestopp für Menschen aus sieben Ländern, in denen mehrheitlich Muslime leben. Es gibt Klagen und Proteste, sowohl von der Bevölkerung als auch aus dem politischen Washington. +Die USA haben ohnehin eine harte Einreisepolitik mit strengen Prüfverfahren. Es ist wichtig zu wissen, dass auch andere Präsidenten die Einreise für Menschen aus bestimmten Staaten aus Sicherheitsgründen zeitweise eingeschränkt hatten. Der Grund ist natürlich, dass sich diese Staaten in Bürgerkriegssituationen befanden und fragil waren. Trumps Erlass aber kam nun so plötzlich, dass chaotische Situationen entstanden sind. Auch die Botschaften wissen nicht, wie sie die neuen Regeln umsetzen sollen. Außerdem ist kaum ersichtlich, warum beispielsweise Saudi-Arabien nicht auf der Liste steht, obwohl viele Terroristen auch von dort kommen, beispielsweise die meisten der 9/11-Attentäter, andere Staaten aber schon. Der Erlass wird definitiv präzisiert werden müssen, es wird Ausnahmen geben. Es kann aber sein, dass die derzeit erzeugte Situation der Verhandlungsstrategie dient. +Also Eskalation mit Ansage? +Wenn die Gegner des Erlasses am Ende Ausnahmen erkämpfen, aber der Erlass im Grundsatz erhalten bleibt, werden alle Seiten Teilerfolge feiern können. Und Trump wird eine seiner wichtigsten Forderungen aus dem Wahlkampf umgesetzt haben. +Aber sollten die Demonstrationen in zahlreichen US-Städten ihn nicht auch nervös machen? +Ja, Trumps Gegner formieren sich. Aber seinen Anhängern dürften sowohl seine Maßnahmen gefallen als auch die Art und Weise, wie er im politischen Washington aneckt. +Ja, auch wenn Trump das Fort Knox mit einem Namensschild versehen würde - über die dort lagernden Goldreserven der USA kann er nicht im Alleingang entscheiden. Generell kann der Präsident nicht alle seine politischen Ideen per Dekret durchsetzen. Für Entscheidungen, die Kosten verursachen, braucht er die Zustimmung des Kongresses +Das Verhältnis des neuen Präsidenten zu seiner Partei war noch nie ein leichtes. Nur: Braucht Trump die Republikaner überhaupt? +Die meisten seiner Ideen betreffen die Innenpolitik und kosten Geld, er kann sie also nicht einfach am Parlament vorbei umsetzen. Ob Steuersenkungen, ein Infrastrukturprogramm oder der Grenzschutz zu Mexiko: Überall braucht es finanzielle Mittel – und damit die Zustimmung des republikanisch dominierten Kongresses. Bei der Republikanischen Partei gibt es auch Fiskalkonservative, die beispielsweise einer allzu großzügigen Anhebung der Schuldenobergrenze kritisch gegenüberstehen. Ganz kann Trump auf die Zustimmung seiner Partei nicht verzichten. +Bei der Mauer zu Mexiko beispielsweise haben die Republikaner aber schon angekündigt, die Mittel zu bewilligen. +Henning Riecke ist seit 2009 Leiter des Programms USA/Transatlantische Beziehungen bei der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik +Die meisten Republikaner sind handzahm. Aber auch sie könnten aufbegehren, wenn Trump so weitermacht. Wenn er den Rechtsstaat bekämpft oder kritische Beamte feuert, hat das den Charakter einer politischen Säuberung. Das hat es so in den USA noch nicht gegeben. Er stellt damit das Funktionieren des Rechtsstaates in Frage. +Trump hat gerade erst die kommissarische Justizministerin Sally Yates gefeuert, weil sie sich gegen seine Einreise-Anordnung gestellt hatte. Er sprach von "Verrat". +Sein Umgang mit Spitzenbeamten ist ein großes Thema. Sowohl mit denen, die in Ungnade fallen, als auch mit seinen Vertrauten. Trump hat seinen Chefstrategen, den RechtsnationalistenStephen Bannon, und seinen Stabschef Reince Priebus in den Nationalen Sicherheitsrat berufen. Das ist ein Gremium, das für die US-Außenpolitik von großer Bedeutung ist. Damit ändert er zwar nicht formell die Spielregeln im politischen Washington, er legt sie aber sehr anders aus als seine Vorgänger. Trump verschafft seinen engen Beratern damit eine große Machtfülle. +Angesichts teilweise chaotischer Zustände träumen manche von Trumps Gegnern bereits von einer Absetzung des Präsidenten. Wie realistisch ist ein Amtsenthebungsverfahren? +Eine solche Frage ist zu diesem Zeitpunkt hochspekulativ. Wenn es Beweise für einen eklatanten Rechtsbruch geben würde, beispielsweise eine unerlaubt enge Zusammenarbeit mit Russland im Wahlkampf, könnte das ein Thema werden. Aber solche Beweise gibt es momentan nicht. Und beim Spekulieren darüber sollte man aufpassen, um nicht selbst die so oft Trumps Seite zugeschriebenen Fake News zu produzieren. +Mehr über das politische System der USA und wie sich dort die demokratischen Institutionen gegenseitig kontrollieren, erfährst du bei derBundeszentrale für politische Bildung. diff --git a/fluter/konzentration-bitte.txt b/fluter/konzentration-bitte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..333fc516cd481e68f61406f7abe8ce22f28a8edc --- /dev/null +++ b/fluter/konzentration-bitte.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Der Umsatz mit Provigil stieg in den USA zwischen 2002 und 2008 von 196 Millionen auf 988 Millionen Dollar. Von einer globalen Narkolepsie- Epidemie hat man aber gar nichts gehört, und so liegt der Verdacht nahe, dass die Steigerung vor allem durch den sogenannten Off-Label-Use zustande kommt, den nicht angezeigten Gebrauch, und das, obwohl die langfristigen Folgen des Provigil- Konsums nicht ausreichend untersucht sind und die Krankenversicherung nicht zahlt. Die erhöhte Nachfrage entsteht durch gesunde Menschen, die sicherstellen wollen, dass sie in der Welt auch funktionieren – ehrgeizige Eltern, die ihren Kindern durch eine Top-Ausbildung zu einem Maximum an Lebenschancen verhelfen wollen, oder gestresste Führungskräfte, die drei Deals gleichzeitig managen müssen. +Das Wissenschaftsmagazin "Nature" veröffentlichte im April 2008 eine Umfrage unter seinen Lesern. Danach gaben mehr als 20 Prozent der Befragten an, bereits "Drogen für nicht-medizinische Zwecke genommen zu haben, um Konzentration, Das Wissenschaftsmagazin "Nature" veröffentlichte im April 2008 eine Umfrage unter seinen Lesern. Danach gaben mehr als 20 Prozent der Befragten an, bereits "Drogen für nicht-medizinische Zwecke genommen zu haben, um Konzentration, Fokus und Erinnerungsfähigkeit zu steigern". Und der deutsche Psychiater Klaus Lieb, der an der Universität Mainz forscht und das Buch "Hirn-Doping" geschrieben hat, ist durch eine Studie unter 1.500 deutschen Schülern und Studenten zu dem Schluss gekommen, dass zwar nur rund vier Prozent Erfahrungen mit solchen "Neuro- Enhancern" (Enhancement steht für Steigerung) gemacht haben – dass aber mehr als 80 Prozent gerne mal so eine Pille einnehmen würden. +Eine einfache Internet-Suche mit den Begriffen "Modafinil" und "Mail-Order" ergibt mehr als 150.000 Treffer: Ich stoße auf unzählige Internet- Apotheken mit klingenden Namen, die ihren Firmensitz vermutlich auf karibischen Inseln haben und denen die Farbe der Kreditkarte wichtiger ist als ein Stempel auf dem Rezept. Eine Packung mit 100 Pillen à 200 Milligramm kostet hier rund 100 Dollar. Lieferzeit 8 bis 14 Tage. Credit card required. Modafinil (in Deutschland: Vigil) kann man sich aber auch von seinem Hausarzt verschreiben lassen. Während der Hersteller Cephalon das Medikament zu Beginn nur für Narkolepsie-Patienten produzierte, so hat er nun den Anwendungsbereich und die Zielgruppe erweitert, sodass jetzt auch Schlafstörungen, hervorgerufen durch Jetlag und Schichtarbeit, damit behandelt werden. Da ich regelmäßig in den USA arbeite und viel im Flugzeug sitze, ist es kein Problem, ein Rezept zu erhalten. Spektakulär, denke ich mir, als ich zur Apotheke gehe und für 80 Euro eine blau-weiße Schachtel mit 20 Tabletten à 100 Milligramm erstehe, mein Arbeitsleben ist von strengen Behörden wie der amerikanischen Food and Drug Administration als Krankheitsbild anerkannt. Wo ist die Gewerkschaft, wenn man sie braucht? +Ich lese den Beipackzettel: Herzrasen, Leberfunktionsanomalien, epileptische Anfälle, Angst. Klingt schlimm, solange man den Waschzettel von Allerweltsmedikamenten wie Aspirin noch nicht gelesen hat. Die Pille liegt wie ein weißes Tic-Tac vor mir auf dem Schreibtisch. Schnell schlucke ich sie hinunter. Ich stelle mir vor, wie sich die Pille im Magen auflöst, wie die Moleküle mit hoher Geschwindigkeit durch die engen Gefäße rasen, bis sie irgendwann die Blut-Hirn-Schranke überschreiten – eine kleine Armee von Roboter-Molekülen, die da oben mal so richtig aufräumen. +Die Modedroge der achtziger Jahre war Kokain, das zu dem Größenwahn und der Gier der Wall-Street-Banker passte und mit dem sich auch der letzte Verlierer als Master of the Universe fühlen konnte. Die Neunziger waren ohne Grund und mit ziemlich viel Ecstasy vergleichsweise gut gelaunt. Im frühen 21. Jahrhundert aber geht es nicht mehr darum, die Wahrnehmung zu verändern oder in eine andere Wirklichkeit zu fliehen, sondern mithilfe gewisser Substanzen in der realen Welt wirksamer zu werden. Modafinil ist die Droge der Workaholics. "Go-Pille" heißt Modafinil bei den Jetpiloten der US Air Force. Seit Jahren empfiehlt das US-Militär seinen Soldaten, die Droge vor langwierigen und stressigen Einsätzen einzunehmen. Und haben die Angestellten der Unternehmen der High-Tech- und High-Speed-Branche des 21. Jahrhunderts nicht eine ähnliche Arbeitsintensität wie Fighter-Piloten? Das Fachmagazin "Techcrunch" bezeichnete Modafinil schon 2008 als die beliebteste Droge des Silicon Valley, mit der die Unternehmer ihre 20-Stunden-Arbeitstage durchstehen. Wir sind alle Jetpiloten! +15 Minuten nach der Einnahme des Medikaments merke ich, dass ich nichts merke – das heißt: Irgendetwas ist da doch. Ein leises Kribbeln hinter der Netzhaut, ein leichtes Ziehen in der Gesichtshaut und im Kiefer. Ich bin nicht betäubt und auch nicht druff, aber ich bin ganz sicher anders – nicht high, sondern eher: "into it". Ich bemerke, dass sich meine Finger auf der Tastatur schneller und zielgerichteter bewegen. Das künstliche Klack, Klack, Klack, das den Maschinenlärm, das Hämmern und Schnaufen als Sound der Weltwirtschaft ersetzt hat. Ja, fast könnte man sagen, ich fühle mich ein wenig aggressiv. Ich fühle einen diffusen Tatendrang. In meinem Leben gibt es oft Arbeitstage, an denen ich bis 12 oder 13 Uhr nichts mache außer E-Mails zu schreiben, Politik-Blogs zu lesen und den europäischen Fußball-Transfermarkt in Echtzeit zu beobachten. Auf Modafinil ist dies anders: In vier Stunden blicke ich kaum einmal zur Seite und schreibe ein zehnseitiges Konzeptpapier. Als ich am nächsten Tag das Konzept noch mal lese, kann ich keine Spuren von drogeninduzierter Euphorie oder Hybris erkennen. Das hat alles Hand und Fuß. Genial ist es jedoch auch nicht. +Modafinil hält Menschen nicht nur länger wach, sondern macht sie angeblich auch schlauer und schneller. In einer Studie, die im Jahr 2002 an der Universität Cambridge durchgeführt wurde, gaben Neuropsychologen ihren ausgeschlafenen Testpersonen eine Dosis der Droge. Die Probanden mussten zum Beispiel eine Reihe von visuellen Mustern erkennen, die auf einem Computerbildschirm angezeigt wurden. Die Teilnehmer mit Psychopharmakon-Unterstützung schlugen sich wesentlich besser als die nüchterne Vergleichsgruppe. 2006 kamen kalifornische Forscher in einer ähnlichen Studie zu dem Ergebnis, dass Modafinil nachweislich "Aufmerksamkeit, kognitive Kontrolle und Kurzzeitgedächtnis bei einer beliebigen Aufgabe verbessert". +Der IQ allerdings steigt nicht. Die Substanz, so scheint mir, ermöglicht einen stetigen, kontinuierlichen, verlässlichen Output und Workflow. Allerdings, das merke ich an Tag zwei der Testreihe, sollte man auf jeden Fall auch den Willen aufbringen, eine Aufgabe zu lösen. Sonst verbringt man die Nacht damit, seine CD-Sammlung auf eine ziemlich spezielle Art und Weise zu ordnen. Von A bis Z statt nach Genre. Denn, auch das eine Beobachtung, unter Modafinil-Einfluss liegt mir schematisches, roboterhaftes Arbeiten mehr denn konzeptionelles Denken und ergebnisoffene Experimente. Ich neige dazu, mich in Quellen zu verlieren, und für einen Gedanken, den man in einem Absatz formulieren könnte, eine ganze Seite Text aufzuwenden. Ich betrachte die Welt durch einen Tunnel. +Kein Wunder, dass ich gewisse Querverbindungen und Abkürzungen übersehe. Die Smart Pills machen den Menschen nicht klüger. Wenn die Wirkung nachlässt, bleiben keine neuen Synapsenverbindungen und schnelle Gedanken-Highways – höchstens ein leises Sehnen nach dem nächsten Energieschub und der Klarheit des Tunnels (die Frage nach der Suchtgefahr ist übrigens nicht abschließend geklärt). Aber vielleicht sollte man eher sagen: Noch leisten die Neuro-Enhancer das nicht. In den Laboren arbeitet man längst an der nächsten Generation der Smart Pills. Große Hoffnungen setzt man auf sogenannte Ampakine und Cholinesterase- Hemmer, die als Medikament gegen degenerative Hirnerkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson eingesetzt werden. +Die Verbreitung von Neuro-Enhancern scheint durch den liberalisierten Medikamentenmarkt und den Leistungsdruck der Wissensgesellschaft kaum mehr aufzuhalten. Die Neuropsychologin Prof. Barbara Sahakian von der Cambridge University, die sich seit Jahren mit dem Phänomen auseinandersetzt, meint: "Der Drang, mit Medikamenten sein Hirn zu stärken, ist möglicherweise noch stärker als der, seiner Schönheit oder der Potenz künstlich nachzuhelfen." Nach Botox, Viagra und Prozac wird Modafinil womöglich zum nächsten pharmakologischen Beststeller – obwohl Experten bereits warnen, dass die Langzeitschädigungen denen von Speed und Koks gleichkommen könnten. Die Entscheidung, ob man das Risiko eingeht, ein nicht zugelassenes Medikament zu nehmen, liegt beim sogenannten aufgeklärten Konsumenten unserer Zeit. +Neben dem "individuellen Risiko" haben die Smart Pills natürlich auch Auswirkungen auf die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt. Studenten beschweren sich, dass ihre Kommilitonen vor der Klausur eine Pille nehmen und so bessere Noten schreiben. Und was soll ein Arbeitnehmer sagen, der bemerkt, dass ein Kollege mithilfe von Smart Pills eine 18-Stunden-Schicht nach der anderen schiebt, während er selbst sich vom Chef fragen lassen muss, warum seine Produktivität dagegen so abfällt? Entsteht so nicht ein Druck, ebenfalls mit den Substanzen zu experimentieren, auch wenn man das gar nicht will? Führt das nicht zu einem neurochemischen Rüstungswettlauf unter den Arbeitnehmern? Bevor nun aber die Ersten nach einem Verbot der Neuro-Enhancer und Smart Pills schreien, sollte man sich lieber Gedanken machen, was im frühen 21. Jahrhundert so von Schülern, Arbeitnehmern und Durchschnittspersonen erwartet wird. +Die klaren Tage sind vorbei. 20 Tabletten. 20 Tage. Ein leerer Schreibtisch. Und doch ist da ein gewisses Gefühl der Enttäuschung. Von Smart Pills erwartet man, dass man komplizierte Materie durchdringt, neue Zusammenhänge herstellt oder zumindest aufhört, immer die wichtigsten Informationen zu vergessen. Nichts von alldem leisten diese Substanzen (und man kann sich nicht einmal beschweren, man verwendet sie ja "off label"). Modafinil erhöht nicht die Qualität des Denkens, sondern die Quantität. Die Smart Pills sind in Wahrheit so etwas wie Work-Pills. Am Ende enthüllt das Neuro-Enhancement-Experiment einen recht unromantischen Blick auf das menschliche Denken, der in unserer Gesellschaft die Regel geworden ist und in dem es nicht um kreative Ideen oder gar Erkenntnis geht, sondern darum, ein Maximum an Lebenszeit in Geld zu verwandeln. Keine Ahnung, ob das ein besonders brillanter Gedanke ist, aber eines ist sicher: Diesen letzten Satz schreibe ich nüchtern und clean. diff --git a/fluter/kopfsache-0.txt b/fluter/kopfsache-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..46bdb39d5225bdd6bfe906b8e3190cdec68c247e --- /dev/null +++ b/fluter/kopfsache-0.txt @@ -0,0 +1 @@ +Und so sind all die Fotos, die stolz die wachsende Haarpracht präsentieren, mehr als ein banaler, schnelllebiger Modetrend. Sie sind Teil eines Aufstandes: gegen die Ideale der Werbung, der Kosmetikindustrie, gegen (post-)koloniale Schönheitsbilder. diff --git a/fluter/kopfsache.txt b/fluter/kopfsache.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/kopfschuss-oder-todesshooting.txt b/fluter/kopfschuss-oder-todesshooting.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7afccf23b447c9a3425d528da64c0553975dd984 --- /dev/null +++ b/fluter/kopfschuss-oder-todesshooting.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Dass das Bild Anfang September 1936 entstanden ist, gilt Experten zufolge als gesichert. Die Schlacht in Cerro Muriano hatte aber schon im August 1936 stattgefunden, zu einem Zeitpunkt, als Robert Capa noch in Barcelona weilte. Susperregui glaubt, dass Capa das Foto in Espejo aufnahm – etwa 50 Kilometer von der Frontlinie entfernt. Der Ort Espejo aber befand sich Anfang September 1936 in den Händen der linken Republikaner, und es sind weder Berichte von Kampfhandlungen noch Meldungen von Toten an diesem Ort in diesem Zeitraum überliefert. Daher kommt der spanische Professor zu der Vermutung, dass der Milizionär auf dem Foto in Wirklichkeit gar nicht tödlich getroffen wurde. Vielmehr ist anzunehmen, dass sein Tod wie bei einem Fotoshooting inszeniert wurde. +Dass Capa einige der verbliebenen Freiheitskämpfer posieren ließ, bestätigt auch sein Biograf Richard Whelan. Allerdings schreibt er, dass ein Scharfschütze der Faschisten den "loyalistischen Soldaten" wirklich erschossen habe. +Im Dezember 2007 sorgte dann der Sensationsfund des "Mexican Suitcase" für Aufregung in der Fotografieszene: Ein alter Koffer mit 4.500 Negativen von Capa, Gerda Taro und Chim (David Seymour) war in Mexiko aufgetaucht, und kurz hoffte man auf die Klärung der Frage nach der Authentizität des fallenden Soldaten. Doch leider vergebens. Das dazugehörige Negativ war nicht mit im Koffer. +So bleibt bis heute nur eines sicher: Robert Capa hat mit seinen Bildern vom Spanischen Bürgerkrieg, von der Landung der Alliierten an der Küste der Normandie im Zweiten Weltkrieg, aus Nordafrika und Israel Fotogeschichte geschrieben. Sein letzter Auftrag führte ihn 1954 nach Indochina. In Ausübung seiner Berufung trat er dort auf eine Landmine und starb noch auf dem Weg ins Krankenhaus. +Tobias Krusereist seit vielen Jahren mit der Kamera durch die Welt und ist Mitglied der Fotoagentur Ostkreuz. Aus eigener Erfahrung kann er sagen, dass es in der Praxis ziemlich schwer ist, die Grenze zwischen Dokumentation und Inszenierung zu ziehen – denn oft verändert allein die Anwesenheit des Fotografen die Wirklichkeit. diff --git a/fluter/kost-aus-germany.txt b/fluter/kost-aus-germany.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6826486c72d902a8acaed232de7915a20a2d05ce --- /dev/null +++ b/fluter/kost-aus-germany.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Aufgezeichnet von Karen Naundorf +Lieblingsessen: Ugali (pappiger Maisbrei, geschmacksneutral), Tee (mit viel Milch und viiiiiel Zucker) +Nein, so ein Brot hat Joseph Kimilu noch nie gesehen.Vorsichtig stochert er mit dem Messer an dem leicht zusammenklebenden Pumpernickel herum, bis sich eine Scheibe löst. "Toast ist leichter zu essen, schmeckt aber lange nicht so gut", ist er sich nach der ersten Schnitte sicher. Einen Hauch von Geräuchertem, Fleisch oder Speck, will Joseph herausschmecken, oder ist da vielleicht doch etwas im streng vegetarischen Tomatenaufstrich? "Auf jeden Fall superlecker, das werde ich mal meinen Sohn probieren lassen." Dass auf dem Aufstrich, der Tüten-Kartoffelsuppe und dem Pumpernickel ein Bio-Siegel prangt, überrascht Joseph, der auf seiner Farm in Machakos selbst Gemüse und Mais anbaut. Es dauert ein bisschen, bis er das Konzept versteht: "Du meinst also eigentlich, Bio in Deutschland ist so, wie wir hier in Kenia alles anbauen, richtig?" Richtig. Dann noch etwas Süßes zum Dessert: Kräftig beißt Joseph in eine Lakritzschnecke. "Ich dachte, das wäre Schokolade?", wundert er sich. Und ist dann doch zufrieden: "Das schmeckt auch gut, es erinnert mich an Briakol, eine bei uns zu Hause wachsende Heilpflanze." Die Fruchtgummis finden noch größere Zustimmung beim siebenfachen Vater, der seinen Tee morgens mit fünf Esslöffeln Zucker süßt. "Süß ist immer gut, so hält der Tee lange vor, manchmal bis zum Abendessen." +Aufgezeichnet von Marc Engelhardt +Lieblingsessen: Erbsensuppe, Gemüseeintöpfe, asiatische Gewürze +Es ist diesig, der Novemberabend in der belarussischen Hauptstadt schimmert im Schein der Straßenlaternen orange. Auf dem Herd kocht der deutsche Apfelrotkohl. "So was esst ihr bei euch?", fragt Hanna, nachdem sie einen Löffel probiert hat. "Rotkohl mit Äpfeln? Lasst die Äpfel weg. Dann ist es nicht schlecht." Im Haushalt der beiden Musiker sind gerade Bioessen, frisches Gemüse und qualitativ hochwertige Produkte en vogue. Ab und zu fahren die beiden nach Vilnius, um dort einzukaufen. "Gute Produkte sind bei uns schwer zu bekommen", sagt Hanna. "Außerdem ist die eigentliche belarussische und russisch-sowjetische Küche nicht besonders gesund. Viel Kartoffeln, viel Fleisch, Wurst, fettig, deftig, wenig Abwechslung. Das kennt ihr doch auch in Deutschland, oder?" Lavon lobt die Salami, den Pumpernickel mit der Bio-Tomaten-Paste. "Toll! Schmeckt richtig nach Tomate." Tochter Adela hat sich derweil über die Süßigkeiten hergemacht. Bei Fruchtgummi hebt sie den Daumen, beim Lebkuchen verzieht sie das Gesicht. "Igitt. Was ist denn da drin?" Dann die Schweinskopfsülze mit Gurkenstückchen, die es in einer Abwandlung auch in der belarussischen Küche gibt. Sie findet einhellige Zustimmung. Und zum Schluss die Dose Bier. "Wie das schmeckt?", ruft Lavon. "Was für eine Frage. Natürlich gut!" +Aufgezeichnet von Ingo Petz +Lieblingsessen: guter japanischer Reis, Sushi, Sashimi +"Kann ich das letzte Stück Wurst haben?" Bevor jemand antworten kann, pikst der zehnjährige Gen das halbe Frankfurter Würstchen auf seine Gabel. "Die sind wirklich klasse, besser als die japanischen", meint der Junge, "aber dieses Pumpernickel-Brot ist schrecklich." Seine kleine Schwester Aya hingegen mag das dunkle Brot und bestreicht es dick mit der Biotomatenpaste. Dafür mag sie den Rotkohl "überhaupt nicht". Ihre Eltern nehmen sich mehrfach davon nach und Mutter Jun lobt zudem die Wurst: "Ich finde, deutsche Wurst ist wirklich lecker." Yuki-san, eine Bekannte, stimmt ihr zu: "Mir schmeckt eigentlich alles sehr gut." Die Kinder sind schon beim Nachtisch angekommen. Während ihnen die Fruchtgummis als "zu hart" vorkommen, finden die Spekulatius-Kekse bei allen Gefallen. Auch Naoko Murozono schmeckt es, "obwohl einiges doch irgendwie einen sauren Geschmack hat: der Rotkohl, die Bratwürste und auch das Pumpernickel-Brot." Dann nimmt er einen kräftigen Schluck vom deutschen Bier: "Das ist o.k., aber japanisches Bier ist das beste überhaupt". +Aufgezeichnet von Hilja Müller diff --git a/fluter/krabbenfischer-nordpazifik-fotostrecke.txt b/fluter/krabbenfischer-nordpazifik-fotostrecke.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ae5870e8da29c5a77d30612b5486666fca66c30e --- /dev/null +++ b/fluter/krabbenfischer-nordpazifik-fotostrecke.txt @@ -0,0 +1 @@ +Mit seinen Bildern macht er auf einen schützenswerten Lebensraum aufmerksam und zeigt zugleich den Stolz der hartgesottenen Fischer, zu deren Arbeitsethos auch gehört, dass sie nachhaltig fischen. Also nicht mit Schleppnetzen, die den Meeresboden umpflügen, sondern mit Käfigen, in die die Krabben, nun ja: krabbeln. Corey Arnolds Welt ist ein Gegenmodell zur industriellen Fischerei, die Bestände bis zum Aussterben dezimiert und die Natur zerstört. diff --git a/fluter/kraftwerk.txt b/fluter/kraftwerk.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/kreativer-protest-autoritaere-regime.txt b/fluter/kreativer-protest-autoritaere-regime.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7c93958db643b710dfaee4dbc7cb7b5dbb0cc945 --- /dev/null +++ b/fluter/kreativer-protest-autoritaere-regime.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +In einigen Provinzen lag die Wahlbeteiligung bei über 100 Prozent, in manchem Wahllokal waren die Wahlurnen schon vor der Öffnung gefüllt worden, anderswo verschwanden Wahlzettel. Die Wiederwahl des Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad konnte keine legitime gewesen sein, da waren sich Hunderttausende Iraner im Juni 2009 einig. Und protestierten wochenlang gegen Ahmadinedschads zweite Amtszeit. +Die iranischen Sicherheitskräfte setzten Schlagstöcke und Tränengas ein. Amnesty International schätzt, dass bis Ende 2009 etwa 5.000 Demonstranten verhaftet wurden, Dutzende starben. Als das Regime später das Internet abschaltete, schufen die Iraner kurzerhand ihr eigenes Massenmedium. Sie schrieben regimekritische Slogans auf Geldscheine. "Das iranische Volk wird Gerechtigkeit erfahren, egal wie" zum Beispiel oder "Lang lebe die Freiheit". +Die Regierung war hilflos: Geld lässt sich schlecht verbieten. Die Protestform war so effektiv, dass sie später von Klimaaktivisten in Brasilien kopiert wurde. Sie stempelten Flammen auf Geldscheine, um auf Waldbrände im Amazonas aufmerksam zu machen. + + +Als sein Plan aufging, saß Ahmed Zaino in einem Gefängnis in Damaskus. Am Tag zuvor war er bei einer Demonstration gegen den syrischen Diktator Baschar al-Assad festgenommen worden. Währenddes Arabischen Frühlingshatte es Tausende wie Zaino auf die Straßen getrieben. Assad ließ die Demonstrationen niederschlagen. Wie sollten Zaino und seine Freunde dagegen ankommen? +Ihr Plan: 80 Megafone und 80 MP3-Player, die sie in der ganzen Stadt versteckten, auf Dächern und Bäumen, in Mülleimern und Abwasserkanälen. An einem Morgen im Dezember hörte man plötzlich überall in Damaskus denselben Song in Schleife:das Widerstandslied "Mawtini"("Meine Heimat"). Assads Sicherheitskräfte mussten im Müll wühlen, um den Protest zu beenden. +Zaino und andere Oppositionelle übten weiter Widerstand: Sie färbten das Brunnenwasser in Damaskus mit Lebensmittelfarbe rot. Sie hängten Parolen an Luftballons und ließen sie steigen. Sie bedruckten Tausende Tischtennisbälle mit Wörtern wie "Freiheit" und ließen sie von einem Hügel rollen. 2012 floh Zaino nach Frankreich, wo er bis heute lebt. "Wenn du nicht mit Waffen sprechen willst, musst du eine andere Sprache finden",sagte er einem Magazin. + + +Sie waren nur wenige Zentimeter groß und genau deshalb ein Problem für die russische Polizei: Kurz vor den Präsidentschaftswahlen 2012 tauchten in der sibirischen Stadt Barnaul plötzlich Dutzende Lego-Menschen, Teddybären, Sammelfiguren der Serie "South Park" und andere Spielzeugwesen auf. In ihren Plastikhänden und Stoffpfoten hielten sie kleine Schilder. "Ich bin für saubere Wahlen". Oder: "Diebe gehören ins Gefängnis, nicht in den Kreml". +Aktivisten hatten sie wie bei einer echten Demo aufgestellt. Weil ihnen die Regierung das Protestieren verbot. Die Polizisten wussten nicht, wie sie mit den kleinen Männchen umgehen sollten – und dokumentierten den Protest erst mal akribisch.Fotos der Minidemo gingen um die Weltund fanden Nachahmer in anderen russischen Städten. Schließlich sprach der Kreml ein Versammlungsverbot für unbelebte Gegenstände aus. +Wenige Wochen später gewann Wladimir Putin die Präsidentschaftswahlen. Laut den Wahlbeobachtern der OSZE gab es bei der Stimmenauszählung in jedem dritten Wahllokal Unstimmigkeiten. + + +Wie kämpft man gemeinsam für Demokratie, wenn einen Hunderte Kilometer trennen? Aktivisten aus Hongkong, Thailand und Taiwan taten das mit: Memes. +Aber von vorn. China ist ein Einparteienstaat. Die Medien werden zentral gesteuert, Websites zensiert, auf Kritik an der Regierung droht eine Gefängnisstrafe. Hongkong soll als Sonderverwaltungszone eigentlich "weitgehend" unabhängig vom Zugriff der chinesischen Führung sein, seit Jahren werden die Freiheiten dort aber immer stärker eingeschränkt. Dagegen gingen die Menschenin Hongkong 2019 und 2020 massenhaft auf die Straße. Angespannte Beziehungen mit China kennt auch Taiwan gut, das von China als "abtrünnige Provinz" angesehen wird. In Thailand wiederum begehrten 2020 junge Menschen gegen die dortige Militärregierung undgegen das Königshausauf. +Als chinesische Trolle im April 2020 einen beliebten thailändischen Schauspieler mit Hass überzogen (weil der ein Foto gelikt hatte, das Hongkong als eigenes Land bezeichnet), holten junge Menschen aus den drei Ländern zum Gegenschlag aus. Sie überzogen die Accounts der chinesischen Regierung mit Witzen und Memes. Die Aktivisten begannen, sich abzustimmen, um voneinander Protest zu lernen. Für diesen Zusammenhalt stand vor allem ein Meme: Drei Hände halten jeweils ein Getränk – Milchtee für Hongkong, Eistee für Thailand und Bubble Tea für Taiwan – in die Höhe und prosten sich zu. Die "Milk Tea Alliance" war geboren. Inzwischen haben sich Aktivisten aus Ländern wie Myanmar, den Philippinen und Belarus angeschlossen. + + +Und in China selbst? Dort sagt ein leeres Blatt Papier mitunter mehr als tausend Worte. Was damit begann, dass Präsident Xi Jingping den Ausnahmezustand in der Corona-Pandemie nutzte, um die Bevölkerung noch strenger zu überwachen und zu zensieren. So erhielt die Polizei direkten Zugriff auf die Daten der "Gesundheits-App", die lange für jeden Chinesen verpflichtend war: ohne grünen Code kam man in kein Geschäft und keinen Bus. Die Regierung konnte so den Alltag ihrer Bürger regulieren, Regimekritikern wurde gern mal die App kurzerhand auf "Rot" gestellt. +Zudem gab es immer wieder wochenlange strenge Lockdowns. Als Ende November 2022 bei einem Hochhausbrand in der Provinz Xinjiang mehrere Menschen starben, vermuteten viele in China, dass die Bewohner wegen der rigiden Corona-Maßnahmen nicht rechtzeitig gerettet werden konnten. Die schwelende Unzufriedenheit der Bevölkerung entlud sich plötzlich offen. Es waren die größten Demonstrationen, seit die Armee 1989Studentenproteste um den Tian'anmen-Platzniedergeschlagen und, je nach Quelle, Hunderte oder gar Tausende Menschen ermordet hatte. +Auch jetzt demonstrierten die Menschen wieder gegen Zensur und für Demokratie. Ihre Methode aber hat sich geändert: In der Hoffnung, Festnahmen zu entgehen, hielten sie einfach weiße Blätter in die Luft. "Das weiße Papier symbolisiert alles, was wir sagen wollen, aber nicht sagen dürfen", sagte ein Demonstrant der Nachrichtenagentur Reuters. Viele solidarisierten sich mit dem Hashtag #A4Revolution. Zwar schaffte es das Regime, die Proteste schnell einzudämmen. Gewirkt haben die anscheinend trotzdem: Am Wochenende hat die Regierungviele Corona-Maßnahmen gelockert. + + +Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Jazz, Blues oder Rock 'n' Roll, die Musikgenres aus dem Westen, in der gesamten Sowjetunion verboten. In den Läden gab es keine Tonträger zu kaufen, der Schmuggel über die Landesgrenzen war gefährlich. Dann kam Ruslan Bogoslowskij – und mit ihm der "Rock auf den Knochen". Tagsüber arbeitete Bogoslowskij in einem Zirkus, nachts tüftelte er an Erfindungen. 1947 schaffte er es, ein Aufnahmegerät zu bauen, das Musik direkt auf Schallplatten übertragen konnte. Das Problem: Es gab kein Material, um die Schallplatten zu pressen. +Im Archiv des Sankt Petersburger Krankenhauses (damals Leningrad) lagerten zu der Zeit Tausende alte Röntgenaufnahmen, die die Leitung unbedingt loswerden wollte: Brandgefahr! Bogoslowskij und seine Freunde nahmen das Material gern. Sie schnitten kreisrunde Löcher aus den Aufnahmen und spielten die Musik auf die Aufnahmen von gebrochenen Rippen und Schädelhöhlen. +Bogoslowskijs Erfindung verbreitete sich rasend schnell. Die Hochzeit der Röntgenplatten dauerte etwa 15 Jahre, während derer Bogoslowskij drei Mal für je drei Jahre in Haft saß – und trotzdem weitermachte. Damit die, die wollten, auch in der Sowjetunion Chuck Berry oder Elvis hören konnten. + diff --git a/fluter/kreislaeufe.txt b/fluter/kreislaeufe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1ed0ef1f5c9abb85e3fb083215c402bdc57eb8ec --- /dev/null +++ b/fluter/kreislaeufe.txt @@ -0,0 +1 @@ +Jetzt war klar: Auch nach der von Korruptionsskandalen und Vetternwirtschaft geprägten Ära von Juan Antonio Samaranch als IOC-Präsident halten alte IOC-Mitglieder zusammen, Eindringlinge werden so gestoppt. Denn die alten Seilschaften existieren noch. 81 der aktuell 110 IOC-Mitglieder sind während der Amtsperiode von Rogges Vorgänger Mitglied geworden. Außer Baseball und Softball wurde seit 1936 (damals Polo) keine Sportart mehr ausgeschlossen. Hinter diesen Entscheidungen stehen finanzielle Interessen: Kleine Sportverbände in den jeweiligen Ländern sind von Zuschüssen des IOC abhängig, und diese Verbände sollen geschützt werden.Als Erfolg wird die Aufnahme von BMX als Disziplin des Radsports gefeiert. Doch so einfach ist es nicht immer: Im Sommer 2007 war vermeldet worden, man habe eine weitere Einigung erzielt: 2012 in London sei auch das Skateboarden olympisch. Und dies ebenfalls unter dem Dach des Internationalen Radsportverbandes (UCI). Die Reformer im IOC hatten es mit einem Trick versucht. Wenn Skateboarden nicht als Sportart, sondern nur als Disziplin einer Sportart gilt, dann kann das Exekutivkomitee des IOC allein über die Aufnahme entscheiden, eine Abstimmung in der Vollversammlung wäre dann nicht nötig. Jacques Rogge hätte relativ leichtes Spiel gehabt.Doch mittlerweile liegen die Pläne aus ganz anderen Gründen schon wieder auf Eis. Das IOC sagt: "Wir brauchen mehr Zeit, um zu planen." Schon der Bau geeigneter Sportstätten sei in der gegebenen Zeit kaum möglich gewesen. Tatsächlich? Bis 2012 soll es nicht möglich sein, ein paar Rampen zu bauen?In Wahrheit scheiterte es an der Haltung der Skateboarder. "Olympia braucht uns mehr als wir Olympia", sagt Nils Gebbers, Präsident des Europäischen Skateboardverbandes (ESA). Also forderten sie unter anderem: keine Trikots, keine Trainer, Wertungsrichter aus der Szene. Das Ziel war, den Charakter des Sports, der immer noch in der jugendlichen Subkultur verhaftet ist, zu bewahren. "Aber als die gemerkt haben, wir meinen es ernst mit den Forderungen, haben sie die Verhandlungen abgebrochen. Und wir sind jetzt eigentlich sehr glücklich damit." Die Skateboarder wissen, dass sie nur dafür sorgen sollen, die Spiele besser vermarktbar zu machen. Viele Skater wären auch gar nicht nach London gefahren. Einer der besten Deutschen zum Beispiel, Kilian Heuberger: "Für eine Veranstaltung, bei der es nur darum geht, für ein paar alte Männer Geld zu verdienen, gebe ich mich nicht her. Die interessieren sich doch gar nicht fürs Skaten." diff --git a/fluter/kreuz-und-quer.txt b/fluter/kreuz-und-quer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1b2d692d2402b5159c368b7bff4877656220e118 --- /dev/null +++ b/fluter/kreuz-und-quer.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Europa ist durchzogen von unsichtbaren Strömen: Menschen reisen ein, schuften, reisen wieder aus. Hunderttausende Männer und Frauen verlassen regelmäßig ihre Heimat in Osteuropa, um irgendwo weiter westlich als Pflegekraft, Erntehelfer oder Bauarbeiter Geld zu verdienen. Manche kommen nach ein paar Monaten wieder nach Hause, andere sind jahrelang im Ausland. Zurück bleiben die Kinder – in meist ärmlichen, manchmal auch schwierigen sozialen Verhältnissen. Denn nicht alle von ihnen haben das Glück, von einer funktionierenden Großfamilie betreut zu werden, während die Eltern im Ausland sind. +Das Kinderhilfswerk Unicef schätzt, dass es allein in der Ukraine rund 100.000 Straßenkinder gibt. Weitere 100.000 wohnen in staatlichen Heimen, obwohl ihre Eltern leben. Noch schlimmer ist die Situation der Kinder in der Republik Moldau. Dort wachsen schätzungsweise 250.000 Kinder als sogenannte Sozialwaisen auf. Sie haben zwar Eltern, aber die sind nicht da. +Viele davon arbeiten in Deutschland – nicht nur als Saisonarbeiter in den Weinbergen oder auf den Spargelfeldern, sondern auch als Betreuer: Weil die deutsche Bevölkerung stark altert, gibt es einen massiven Pflegenotstand. Wer seinen dementen oder bettlägerigen Verwandten nicht ins Heim geben will, braucht zu Hause eine 24-Stunden-Betreuung. Die aber ist für viele unbezahlbar. +Ein Ausweg ist oft, eine freundliche Polin zu engagieren, eine Rumänin, eine Bulgarin, eine Frau aus der Republik Moldau, die meist nicht mal 1.000 Euro im Monat verdient. Häufig ist sie nicht sozialversichert, ihr Arbeitsverhältnis vielfach illegal. Manchmal muss sie noch viel Geld für dubiose Arbeitsvermittler zahlen. +"Da ist ein riesiger Schwarzmarkt entstanden", sagt Gernot Krauß, Osteuropa-Referent von Caritas international. Die Hilfsorganisation geht davon aus, dass mittlerweile 150.000 Osteuropäerinnen zumeist illegal in Deutschland als Pflegekräfte arbeiten. "Die meisten gehen in die private 24-Stunden-Pflege." Dabei ist dies eine physisch und psychisch anstrengende Arbeit, sie dauert Tag und Nacht, über viele Monate hinweg. +Bei einer 92-jährigen Dortmunderin, deren Familie auch lieber keine Details nennen möchte, wohnen die wechselnden polnischen Pflegerinnen zusammen mit der alten Dame in einer beengten 50-Quadratmeter-Wohnung. "Wenn man aus einer ländlichen Region kommt, wo es nichts gibt, keinerlei Möglichkeit Geld zu verdienen", so Caritas-Mann Krauß, sei "quasi jede Arbeit lukrativ". +Doch die Arbeitsmigration hat in den Herkunftsländern der Menschen nicht nur negative Seiten. Zwar hinterlassen vor allem die Frauen große Lücken, weil sie sich zu Hause nicht um ihre Kinder und ihre eigenen alten Verwandten kümmern können, aber es fließen auch große Summen zurück, die zur Lebensqualität beitragen. Die Wissenschaftlerin Anastasiya Ryabchuk von der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie hat das am Beispiel eines Dorfes in den Karpaten im Westen der Ukraine untersucht: Obwohl die Region wirtschaftlich nur schwach entwickelt ist, leben viele Frauen und Kinder in relativem Wohlstand. Sie wohnen in eigenen Häusern, kaufen Möbel, besitzen Autos. Finanziert wird das von abwesenden Vätern, die ihre Familien oft nur drei-, viermal im Jahr besuchen. +"In vielen Regionen der Welt sind die Einkünfte der Arbeitsmigranten die einzige Einnahmequelle", sagt Katharina Bluhm, Professorin für Soziologie am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Die Migration zwischen Ost- und Westeuropa sei dabei nur ein kleines Puzzlestück einer viel größeren Bewegung. "Das ist ein globales Phänomen." Wissenschaftlich gut erforscht sind vor allem die "Global Care Chains", die globalen Kinderbetreuungsketten: Wenn etwa Mütter von den Philippinen ihre Kinder zurücklassen, um den Nachwuchs der englischen Oberschicht zu betreuen. Damit wiederum diese Mütter, die meist zur hochqualifizierten Elite gehören, weiterhin voll berufstätig sein können. +Durch die verbesserten Reise- und Kommunikationsmöglichkeiten sind manche Härten der weltweiten Arbeitsmigration in den letzten Jahrzehnten abgemildert worden. Über Skype können Familien zu den Kosten einer Internetverbindung zumindest Kontakt halten, Billigflüge ersetzen teils tagelange Zugfahrten und erleichtern zudem einen Wechsel des Arbeitsplatzes – je nachdem, wo es etwas zu tun gibt. "Früher ließen sich die Menschen meist für längere Zeit in einem fremden Land nieder, gingen oft erst nach Eintritt ins Rentenalter zurück in die Heimat", sagt Soziologieprofessorin Bluhm. Heute gäbe es eine Art "Länderhopping". Die sogenannten Transmigranten pendeln weltweit. Wenn es in einem Land keine Arbeit mehr gibt, gehen sie woandershin. +Beispiele dafür finden sich auch in Europa: Viele Rumänen zog es lange Zeit vor allem nach Spanien und Italien mit ihren bereits liberalisierten Arbeitsmärkten. Seit die südeuropäischen Länder selbst mit hoher Arbeitslosigkeit und schweren Wirtschaftskrisen zu kämpfen haben, kommen Osteuropäer vermehrt nach Deutschland. 194.000 rumänische Saisonarbeiter verzeichnet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in seinem Migrationsbericht 2011. +Hajnalka Mátéffy kennt einige davon. Die 38-jährige Sozialarbeiterin leitet ein Bildungs- und Begegnungszentrum in der rumänischen Kleinstadt Cristuru Secuiesc in Siebenbürgen. "Die Frauen gehen meistens nur für einen oder zwei Monate, die Männer länger, bis zu sieben Monate." Das Fehlen der Männer wird von den Familien als das kleinere Übel betrachtet; die Mütter sind traditionell die wichtigeren familiären Bezugspersonen. Zudem entspricht es in vielen osteuropäischen Ländern nicht dem klassischen Rollenverständnis, dass Frauen allein ins Ausland gehen. Aus Kroatien, Slowenien, Ungarn und Bosnien-Herzegowina kommen laut Statistik des Migrationsberichts daher deutlich mehr Männer als Frauen zum Arbeiten nach Deutschland. Nur bei den Zuzügen aus der Ukraine und aus Russland sind die Frauen in der Mehrzahl. +"Bei uns müssen die Frauen noch nicht auswandern", sagt Mátéffy. Ob das so bleiben wird, weiß sie nicht. In Rumänien stagnieren die Löhne, während die Lebenshaltungskosten steigen. Ein Bekannter von ihr, Vater von fünf Kindern, fährt deshalb im Winter in Rumänien Taxi, den Rest des Jahres verdient er sein Geld im Westen in der Landwirtschaft. "Alle, die das machen, erzählen, dass das eine sehr harte Arbeit ist", sagt Mátéffy. "Nach einigen Tagen tut einem alles weh." Die Männer und Frauen halten trotzdem durch. "Sie wollen das Geld." +Vor allem aber wollen sie zurück in ihre Dörfer, um dort die Zukunft der Familie zu sichern. Denn bei aller wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit denken die Wenigsten an eine endgültige Umsiedlung. Wenn die Erntehelfer zurückkämen, so erzählt Mátéffy, dann erzählten sie Geschichten von mit Gift gespritztem und mit Farbstoffen nachbehandeltem Gemüse, das sie für deutsche Supermarktketten geerntet hätten. "Hier holen wir unsere Gurken aus dem Garten." Für ihre Kinder kann sie sich keine andere Umgebung vorstellen: "Schöne Landschaft, nette Menschen, sehr gutes Essen." In Deutschland, davon ist sie überzeugt, kann man lange nicht so gut leben. diff --git a/fluter/kreuzfahrt-industrie-inhaca.txt b/fluter/kreuzfahrt-industrie-inhaca.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/krimtatarisch-ist-eine-bedrohte-sprache.txt b/fluter/krimtatarisch-ist-eine-bedrohte-sprache.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7399a97156180ab4771d6d82d45174ec2fec96fc --- /dev/null +++ b/fluter/krimtatarisch-ist-eine-bedrohte-sprache.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Der russische Einfluss in der Region war durch die Dominanz und Expansion des Zarenreiches bereits seit Langem groß, was sich auch sprachlich niedergeschlagen hat: Das Krimtatarische wurde durch die russische Sprache auf der Krim immer weiter verdrängt. Nach den Deportationen von 1944 wurde Russisch dann vollends zur dominierenden Alltagssprache der verbliebenen Krimbewohner. Für Jahrzehnte sollte zwischen Armjansk und Jalta kaum noch ein Wort Krimtatarisch erklingen. Und auch die nach Usbekistan, Sibirien und Kasachstan Verbannten pflegten ihre Muttersprache immer weniger. Sie mussten sich sprachlich in ihre neue Umgebung einfügen, in den Schulen wurde Russisch oder Usbekisch gelehrt, krimtatarische Publikationen wurden verboten. +Ende der 1980er-Jahre, im Zuge der Öffnung der Sowjetunion für Reformen, durften dann viele Krimtataren in ihre Heimat zurückkehren. Was jedoch nicht automatisch bedeutete, dass ihre Sprache wieder auflebte. In vielen Familien wurde zwar noch etwas Krimtatarisch gesprochen, aber meist nur zu Hause und vorwiegend unter den Älteren. Auch als 1990 die Sowjetunion zerfiel und die Krim 1992 den Status einer autonomen Republik innerhalb der unabhängigen Ukraine erhielt, änderte das nicht viel. Zwar wurde Krimtatarisch neben Ukrainisch und Russisch zur dritten offiziellen Sprache der Region erklärt, doch im Alltag und sogar in den Behörden sprachen die Menschen weiter überwiegend Russisch. Nicht selten musste die zurückgekehrte Minderheit Diskriminierungen ertragen und wurde von den Menschen, die inzwischen in ihren früheren Siedlungsgebieten lebten, oft auch angefeindet. Trotzdem kamen bis um die Jahrtausendwende rund 266.000 Krimtataren zurück. +Erst allmählich wurden krimtatarische Kultureinrichtungen wiedereröffnet, wurde Krimtatarisch auf die Lehrpläne gesetzt und wuchs zumindest bei einem Teil der jungen Krimtataren der Wunsch, ihre kulturelle Identität zu bewahren. Beispielsweise unter dem Dach der Jugendorganisation "Bizim Kirim" (Unsere Krim) in Simferopol büffelten sie die Sprache und Traditionen ihrer Großeltern. Doch als Russlanddie Krim 2014 annektierte, war das ein Rückschlag auch für die Kultur der Krimtataren. Trotz gegenteiliger Bekundungen der russischen Führung sah sich die Minderheit bald wieder Repressionen ausgesetzt. In großer Zahl flohen die Krimtataren auf das ukrainische Festland. +Die Regierung der Ukraine hat derweil eine digitale Strategie zur Förderung der krimtatarischen Sprache aufgelegt: Zunächst soll eine elektronische Datenbank mit verschiedensten Texten erstellt werden. Auf dieser Basis können dann nicht nur mehr Menschen, sondern auch die Künstliche Intelligenz von Onlineübersetzern die Sprache lernen. Soll das Krimtatarische eine Zukunft haben, so die Überzeugung, muss es digitalisiert werden – umso mehr, da die Zukunft der Krim unwägbar ist. diff --git a/fluter/krise-libanon-ngo.txt b/fluter/krise-libanon-ngo.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cac934f03018a425a2700cf01648e6b0d0097e31 --- /dev/null +++ b/fluter/krise-libanon-ngo.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Deswegen bildet sich vor den Wellblechhäuschen von Hay al Tanak eine wütende Menschenmenge. Wer bestimmt, welche Familien die Boxen mit Lebensmitteln bekommen? Eine ältere Frau mit Kopftuch und ausgelatschten Sandalen verlangt nach Antworten, schimpft, wedelt mit dem Zeigefinger, ballt die Fäuste gen Himmel. +Nour, Hussein und ihre Freunde von Minteshreen haben gut 20 Kartons geliefert, in ihnen Nudeln, Reis, Linsen, Dosen mit Tomaten, Fisch und manches mehr. "Genug, um eine vierköpfige Familie eine Woche zu ernähren", sagt Nour. +Die 29-Jährige arbeitet normalerweise für ein Mode-Start-up, ihr ein Jahr älterer Verlobter Hussein ist Rechtsanwalt. Aufgewachsen sind Nour und Hussein in der Hauptstadt Beirut. Dort bekamen sie die Massenaufstände seit Oktober 2019 vor der eigenen Haustür mit. Die Libanesen nennen sie "Thawra", Revolution. +1.500 solcher Carepakete haben die Minteshreen-Aktivisten mittlerweile ausgefahren … +… Nour und Hussein (2. und 3. von links) müssen sich oft rechtfertigen, wem sie Lebensmittel liefern +Die Wut großer Teile der Bevölkerung galt nicht nur dem mittlerweile zurückgetretenen Regierungschef Saad Hariri, sondern einem System der Eliten, die Macht und Geld nach Religions- und Parteizugehörigkeit verteilen. Viele im Land hatten die staatlicheKorruption, Vetternwirtschaft und die horrenden Preise im öffentlichen Dienst satt. +"Manche, denen wir helfen, zählen uns auch zur alten Machtelite oder denken, wir seien eine aus dem Ausland finanzierte NGO", erklärt Hussein. Dabei ist Minteshreen – der Name bedeutet so viel wie "verteilen" – unabhängig und lokal entstanden. In den Nächten der Revolution trafen sich die Freunde in einer Wohnung im zentralen Beiruter Stadtteil Gemmayze. Wegen der Straßenblockaden blieben einige von ihnen nächtelang. "Nour und ich haben dann angefangen, Sandwiches zu besorgen", erzählt Hussein. "Wir holten sie von Freunden, denen Restaurants gehören. Am Ende waren es 8.000 Stück." +Die damals noch namenlose Gruppe organisierte einen Protest vor der Zentrale des Elektrizitätsversorgers, eine Lichtshow am Unabhängigkeitstag und eine Diskussion mit führenden Ökonomen. "Die Revolution", sagt Hussein, "war genau der Schock, den das libanesische Volk gebraucht hat." +Erst während dieser Herbsttage des vergangenen Jahres zeigte sich für viele junge Libanesen, wie schlimm es um ihr Land steht. Sie erfuhren vom Finanzsystem, das die libanesische Wirtschaft seit dem Ende des Bürgerkriegs trug, aber auf gewaltigen Schulden fußt undnun krachend zusammenbrach. Für viele war das paradoxerweise ein Grund zu hoffen. "Vor der Revolution", sagt Hussein, "waren wir sicher, dass sich nichts ändern wird." Nour und er überlegten, nach Kanada auszuwandern. "Aber durch die Revolution wuchsen unsere Erwartungen an das Leben hier plötzlich in den Himmel." +In den folgenden Monaten schrumpften die Aussichten auf einen schnellen Wandel. Der Staat mobilisierte seine Sicherheitstruppen gegen die Demonstranten, eine neue Regierung dämpfte den Aufstand. "Und dann hat uns Corona voll erwischt", sagt Hussein. +Minteshreen hatte gerade einen Dreimonatsplan aufgestellt, um eine Partei zu gründen, beschloss aber nun, sich zunächst auf die Nothilfe zu konzentrieren. Denn mit dem Lockdown meldeten sich immer mehr Menschen aus den Revolutionscamps, die Hunger litten. Die Wirtschaft im Land stütze sich auf kleine Selbstständige ohne größere Reserven, sagt Hussein, auf Taxifahrer, Kellnerinnen und Bauarbeiter. Mit der Quarantäne Anfang Märzverloren viele von ihnen auf einen Schlag ihre Existenzgrundlage. Das Sozialministeriumschätzt, dass mittlerweile 75 Prozent der Bevölkerung Hilfe vom Staat benötigen. "Aber es ist kein Geld mehr da, das man verteilen könnte", sagt Hussein. +Minteshreen begann, Spenden von Libanesen im In- und Ausland zu sammeln, und organisierte Essensboxen von Supermarktketten. Die Kartons lagerten zunächst im Flur von Nours Wohnhaus in Beirut. "Nachdem wir die ersten Boxen ausgefahren hatten, stand unser WhatsApp nicht mehr still. Wir versuchen, jedem zu helfen, der sich meldet, egal welche Region oder Religion. Wir verfolgen keine Ideologie", sagt Hussein. "Es geht nur darum, wann man anruft und wie der Standort in unsere Routen passt." Bis Anfang Mai haben die Minteshreen-Aktivisten schon 1.500 Boxen ausgefahren. +Da werden sie geholfen: Jugendliche im Viertel Hay al Tanake in Tripoli +Nour und Hussein wollen einen gerechten Libanon. Aber erst mal geht es darum, dass niemand hungert +NGOs wie Minteshreen entstehen mittlerweile überall im Libanon. Manche liefern Essen aus, andere sammeln Kleiderspenden, helfen beim Schreiben von Bewerbungen, klären zu Covid-19 auf oder beschaffen Unterkünfte für medizinisches Personal. +Die Menschen brauchen Hilfe, aber die Motivation der Helfer ist nicht immer klar: Auf den Straßen sieht man Helfer der Progressiven Sozialistischen Partei, die als ideologisch flexibel gilt, weil sie sich vor allem für die drusische Minderheit und das hinter der Partei stehende Wirtschaftsimperium einsetzt. Auch dieHisbollahverteilt Essensboxen, desinfiziert Gotteshäuser und behandelt Covid-19-Infizierte in eigenen Kliniken. Die islamistisch-schiitische Miliz wurde in Deutschland gerade erst als Terrororganisation eingestuft und verboten. Mit der Corona-Krise scheint auch derKlientelismusim Libanon wieder voll zu erstarken, gegen den sich die Revolution ursprünglich gerichtet hatte. +Den tatsächlichen Einfluss dieser neuen Zivilgesellschaft könne man schwer beziffern, sagt Dr. Dany Ghsoub von der Notre-Dame-Universität bei Beirut. Es gebe einfach zu wenig verlässliche Daten im Libanon. Natürlich fehlt es den NGOs noch an Infrastruktur und Mitteln, um das Versagen des Staates von einem Tag auf den anderen aufzufangen oder um es mit den traditionellen Parteien aufzunehmen. Ihr Ziel sei aber ohnehin ein anderes, glaubt Ghsoub: Sie wollen das Vertrauen aufbauen, dass es Gegenentwürfe zur alten politischen Führung gibt. "Wir brauchen eine Alternative zu dem primitiven, irrationalen System, das die libanesische Gesellschaft bisher entlang regionaler und religiöser Grenzen organisiert hat." +Die mittlerweile 21 Minteshreen-Mitglieder aus allen Teilen des Landes eine der Wille, den Libanon zu einem gerechteren Land zu machen, sagt Hussein. Minteshreen will dabei künftig nicht nur mit Lebensmittelboxen helfen. Hussein und seine Leute lassen Gesichtsmasken von zuvor arbeitslosen Schneidern produzieren und denken über eine Initiative zum Anbau von Obst und Gemüse auf Hausdächern nach. So könnten sich arme Familien irgendwann womöglich wieder selbst versorgen. diff --git a/fluter/kritik-an-tierwohl-labels.txt b/fluter/kritik-an-tierwohl-labels.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cf8a329f853994b6af51965eaa588be95903f85d --- /dev/null +++ b/fluter/kritik-an-tierwohl-labels.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Einziger Haken: Über die Herkunft und Vorgeschichte des Fleisches haben die Verbraucher im Supermarkt bisher fast nur beiBioproduktenetwas erfahren – sie konnten sich sonst höchstens am Preis orientieren. Und auch dass einige große Supermarktketten ihre Produkte seit Mitte des Jahres freiwillig mit eigenen mehrstufigen Tierwohl-Labels kennzeichnen, hat die Situation nach Einschätzung vieler Experten nicht grundlegend verbessert. Die Labels unterscheiden sich je nach Discounter, basieren aber alle auf einem ähnlichen Stufenprinzip: +Die Stufe 1 entspricht der Massentierhaltung nach gesetzlichem Mindeststandard – viele Tiere auf engstem Raum, abgeschnittene Ringelschwänze, kein Sonnenlicht. Betonböden statt Stroh. Stufe 2 bietet für Schweine immerhin etwas mehr Platz – etwa die Abmessung eines DIN-A4-Blattes zusätzlich. Erst Stufe 3 sieht den Tierschützern zufolge nicht nur annehmbar viel Platz vor, sondern auch Stroh und Beschäftigungsmöglichkeiten für die Tiere. Die vierte und höchste Stufe entspricht Bioqualität. Ein ausgewachsenes Schwein hat nun bis zu 1,5 Quadratmeter Platz im Stall und ständigen Zugang zum Auslauf. Das Futter muss Bioqualität haben undgentechnikfreisein. Kastrationen dürfen nur unter Betäubung durchgeführt werden. Stroh und Spielzeug zur Beschäftigung sind ebenfalls Pflicht. +So sehen zum Beispiel die Labels von Lidl aus – der Discounter führte als erster ein 4-Stufen-Modell ein +Bisher beteiligen sich Lidl, Aldi, Netto, Penny und Kaufland an der Kennzeichnung der Haltungsbedingungen, Rewe und Edeka denken über ähnliche Siegel nach. +"Grundsätzlich ist die Initiative des Handels lobenswert", sagt Jutta Jaksche, Referentin für Lebensmittelpolitik beim Bundesverband der Verbraucherzentralen. Allerdings falle es dem Verbraucher schwer, auf einen Blick das System zu verstehen und die einzelnen Stufen richtig einzuschätzen. Eine Verbesserung für die Tierhaltung bringen die Kennzeichnungen keinesfalls, denn die Etiketten sind erst mal nur der Versuch, die Realität abzubilden. Eine Realität, die manch einem Konsumenten den Appetit verdirbt: Über 90 Prozent des Fleisches in deutschen Supermärkten stammen aus Massentierhaltung, kostensparend produziert, ohne Rücksicht auf das "Wohl der Tiere". Biofleisch hingegen bleibt eine Nische und ist deutlich teurer. Produkte zwischen diesen Extremen gibt es nur wenige, in vielen Läden sucht man Fleisch der Stufe 3 vergeblich. + +Verbraucherschützerin Jaksche hat eine Erklärung dafür: "Der Handel denkt in erster Linie wirtschaftlich. Nischen machen Arbeit und kosten mehr Geld." Doch einige Discounter haben inzwischen angekündigt, die Mindeststandards für ihre Partnerbetriebe anheben und mehr Geld für Fleisch aus besserer Haltung ausgeben zu wollen. Der Haken: Die Einhaltung dieser Standards soll nicht etwa vom Staat, sondern von den Supermärkten und durch von ihnen beauftragte Prüfunternehmen kontrolliert werden. +Aus Sicht von Jaksche wäre ein offizielles und staatlich kontrolliertes Label der deutlich bessere Weg. Bei Eiern habe man damit bereits gute Erfahrungen gemacht. Die müssen in der Europäischen Union seit zwölf Jahren mit Ziffern von 0 bis 3 gekennzeichnet werden: 0 steht für Bio, die Hühner haben Auslauf und Platz zum Scharren – 3 entspricht Massentierhaltung im engen Käfig. Von einem solchen System ist man beim Fleisch noch recht weit entfernt. Frühestens 2020 wird mit einem Tierwohl-Label aus dem Bundeslandwirtschaftsministerium gerechnet +Im Mai dieses Jahres hat Bundesagrarministerin Julia Klöckner erste Eckpunkte vorgestellt. Die Kennzeichnung soll demnach drei Stufen haben, wobei die Eingangsstufe über den heutigen Mindeststandards läge – genaue Kriterien sind noch nicht bekannt. Kritik von Tierschützern und Verbraucherverbänden gibt es trotzdem schon: etwa daran, dass die Teilnahme am Label für die Landwirte freiwillig sein soll. Betriebe, die weiterhin nur die Mindeststandards einhalten und auf Massentierhaltung setzen wollen, könnten das ohne Probleme tun. Durch die Freiwilligkeit des staatlichen Tierwohl-Labels stehe das hochwertigere und damit auch teure Fleisch weiter in Konkurrenz zum Billigfleisch und habe weniger Chancen am Markt, befürchtet Angela Dinter, Nutztier-Referentin bei Provieh. Nur ein verpflichtendes Kennzeichnungssystem führe aus ihrer Sicht zu fairen Wettbewerbsbedingungen und damit auch zu ehrlichen Anreizen für Bauern, die ihre Tierhaltung verbessern wollen. Genau das habe das Beispiel der Eier deutlich gezeigt. +Das deutsche staatliche Bio-Siegel (links) und das europäische (rechts) darf nur verwenden, wer nachweislich bestimmte Standards einhält + +Im Landwirtschaftsministerium verweist man dagegen auf die Erfolge des ebenfalls freiwilligen Biosiegels. "Wir können auch ein Mehr an Tierwohl sichtbarer machen und den Verbrauchern eine verlässliche Orientierung geben, wie viel Tierwohl in den Produkten steckt", so Klöckner. "Und das, ohne diejenigen zu diskriminieren, die sich zwar gesetzeskonform verhalten, aber lediglich die vorgeschriebenen Mindeststandards bei der Tierhaltung einhalten." Die Verbraucher könnten selbst an der Kasse entscheiden, was ihnen Tierwohl wert sei. Auch für die Bauern will die Ministerin das Label möglichst attraktiv machen, zum Beispiel durch staatliche Förderungen beim Stallumbau. +Nach dem gesetzlichen Mindeststandard steht einem über 100 Kilo schweren Mastschwein kaum mehr Platz zu, als es auch in einer Telefonzelle finden würde. Die Enge sorgt für Stress bei den Tieren, und um Verletzungen zu vermeiden, werden ihnen oft die Eckzähne gezogen und der Schwanz abgeschnitten – obwohl das in der Europäischen Union nur in Einzelfällen erlaubt ist. Vollspaltböden aus Beton sind weiterhin erlaubt, Stroh und Heu sind keine Pflicht. Ähnlich schlecht steht es um die Mindeststandards bei Geflügel und Rindern. Und selbst diese niedrigen Standards werden von Landwirten regelmäßig unterlaufen, prangern Tierschützer an. "Es gibt viel zu wenig staatliche Kontrollen. Ob sich das mit dem neuen Label ändert, ist fraglich", sagt Dinter von Provieh. In vielen Bundesländern bekommen Landwirte nur selten Besuch von Kontrolleuren. In Thüringen im Schnitt nur alle 10 Jahre, in Brandenburg alle 16 Jahre und in Hessen sogar nur alle 24 Jahre. diff --git a/fluter/kritik-identitaetspolitik-alt-right.txt b/fluter/kritik-identitaetspolitik-alt-right.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fb59d2909b553f4da2fee5738869c4c39424dce0 --- /dev/null +++ b/fluter/kritik-identitaetspolitik-alt-right.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Unter dem SammelbegriffAlt-Right(Abkürzung von Alternative Right, dt.: Alternative Rechte) werden diverse Ideologien am rechten politischen Rand bezeichnet.Kern der Alt-Right-Weltanschauung ist Rassismus. Die Vertreter haben das Ziel, die Identität der weißen Bevölkerung vor Multikulturalismus, Gleichberechtigung und politischer Korrektheit zu schützen. Deshalb wird der Begriff auch immer wieder als Euphemismus für Neonazis kritisiert. AlsErfinder der Alt-Rightgilt der rechtsextreme Aktivist Richard Spencer. +Sie kritisieren insbesondere "linke" Identitätspolitiken. Glauben Sie, dass eine Politik, die sich für Belange unterschiedlicher Gruppen einsetzt, automatisch ein Problem ist? +Nein, es gibt auch viele Identitätsbewegungen aus der Vergangenheit, die ich sehr bewundere. Nehmen wir die irische Befreiungsbewegung, das war letztlich eine Identitätsbewegung. Um sich von der britischen Herrschaft losreißen zu können, mussten sich die Leute als eine Gruppe, als eine Identität definieren. Die allerwenigsten Bewegungen sind von etwas Abstraktem inspiriert, die allermeisten kreieren zunächst einmal eine kollektive Identität, über die sie dann mobilisieren können. Deshalb glaube ich nicht, dass Identitätsbewegungen per se problematisch sind. Aber momentan sorgen die Linken in der westlichen Welt dafür, dass sich zu viele ausgeschlossen fühlen. +In Ihrem Buch "Kill All Normies" machen Sie diese linken Politiken für den Aufstieg der Alt-Right-Bewegung in den USA mitverantwortlich. Sie behaupten, "die Linke" präsentiere sich dabei als hypersensibel und zugleich extrem autoritär. Sie beschreiben ein "akademisch-pedantes Gelüste, der Erste zu sein, der einen Fehler entdeckt". Was ist falsch an einer Kultur, in der Rassismus oder Sexismus direkt angesprochen werden? +Na ja, was haben wir denn dadurch erreicht? Hat es die Welt bislang verbessert? Einerseits kommandieren viele Linke die Leute in Online-Foren herum und akzeptieren keine Widerrede. Andererseits tun sie so, als wären sie die alleinigen Opfer. Ein gutes Beispiel dafür sind Trigger-Warnungen: Es soll autoritär bestimmt werden, welche Literatur gelesen wird, welche Worte benutzt werden dürfen. Nur weil irgendjemand sich immer angegriffen fühlen kann. Es ist diese sehr amerikanische Version von Politik, nach der wir die Sprache verändern müssen, um die Welt zu verbessern. So müssen wir uns nicht mehr um die ökonomischen Problemursachen kümmern. Wenn die Linke auf ökonomischer Ebene versagt, kommt der Punkt, an dem sie von Sprache besessen wird. Mein Problem mit Identitätspolitik ist nicht, dass sie zu radikal, sondern dass sie erfolglos ist. +AlsSafe Spaces(dt.: Sichere Räume) werden Orte bezeichnet, an denen sich die Menschen darauf verlassen können, keine Diskriminierung zu erfahren. Safe Spaces sind für Angehörige marginalisierter Gruppen gedacht, zum Beispiel für Transpersonen oder People of Color. Das Konzept etablierte sich in den Vereinigten Staaten während der Frauenrechtsbewegung der 60er-Jahre und wird seitdem vor allem an Universitäten praktiziert. +Wir sind mittendrin in der Diskussion: Funktioniert diese Gegenüberstellung von kulturellen und ökonomischen Politikzielen überhaupt? +In der Praxis sehen wir bei den Linken jedenfalls zwei verschiedene Strategien: Die eine ist mehr an materiellen Fragen interessiert. Die andere an kulturellen Identitätsfragen. Und ich glaube, die zweite fühlt sich auch in der Leitungsetage von Google und im liberalen Establishment ganz wohl. Identitätspolitik, wie wir sie derzeit erleben, fordert die Machtstrukturen nicht heraus. Denn die Machtstrukturen ändern sich nicht, solange die ökonomischen Verhältnisse unangetastet bleiben. +Es ist also eine fadenscheinige Kritik? +Sie ist einfach, fühlt sich gut an, es gibt wenig Widerstand. Auf Social Media kann man sich Identitätspolitik locker zu eigen machen. Du kannst dich als Frau positionieren, und deine Meinung wird direkt aufgewertet, einfach nur, weil du eine Frau bist. Das führt dann zuweilen dazu, dass wohlhabende Frauen sozial schwachen Männern vorwerfen, privilegiert zu sein. +Muss man die zwei vermeintlich widersprüchlichen Ansätze nicht zusammendenken? Um ein Beispiel zu nennen: Wenn eine Gesellschaft ihre Geschlechterrollen kritisch reflektiert, können sich dadurch die ökonomischen Bedingungen von Frauen verbessern. +Klar, das kann funktionieren. Ihr Beispiel weitergedacht: Die rechten Traditionalisten sagen, dass Frauen zurück an den Herd sollen. Und viele Liberale sagen, dass Frauen in den gleichen Berufen zu gleichen Bedingungen wie Männer arbeiten sollen. Doch diese Antwort ist zu einfach. Die Politik muss darauf eingehen, dass die Bedingungen eben nicht gleich sind. Nur Frauen gebären Kinder. Die bessere Antwort wäre also, die Arbeitssituation der Frauen zu verbessern, ihnen mehr Zeit zu geben, ohne sie zu benachteiligen. +Unter dem BegriffTriggerwarnungversteht man eine Anmerkung, die davor warnen soll, dass beleidigender oder erschütternder Inhalt folgen kann. Triggerwarnungen werden beispielsweise bestimmten Filmen oder Büchern vorausgeschickt. So soll verhindert werden, dass beim Publikum oder Gesprächspartner ungewollte Erinnerungen und damit verbundene Angst oder Panik ausgelöst werden. +Zu viel politische Korrektheit, sagen Sie, ist kontraproduktiv. Brauchen wir also grenzenlose freie Rede? +Nein, es muss Grenzen geben. Und wir sollten es nicht dem Staat überlassen, sie zu ziehen. Wir sollten diese Kultur selbst herstellen, und zwar durch fortlaufendes Debattieren und Verhandeln. Übertreibt man es mit den Regeln und Manieren allerdings, gibt es eine Gegenreaktion. Und diese Gegenreaktion findet gerade statt. Auf deren Welle konnte zum Beispiel Trump sehr gut reiten. +Kritiker zitieren oftmals negative Einzelfälle, um ganze Forschungsfelder ins Lächerliche zu ziehen. Ein extremer Fall von Sensibilität an der Uni – und gleich ist das Konzept Safe Space oder Triggerwarnung nutzlos. Ist das nicht viel zu einfach? +Ja, das ist es. Kritik dieser Art ist unehrlich. Und wir müssen auch anerkennen, dass es linke Aktivisten sind, die Social Justice Warriors, die seit Jahren vom Aufstieg der Alt-Right warnen. Sie haben recht behalten. +Die Social Justice Warriors haben die Alt-Right also vorhergesehen und sind gleichzeitig schuld an ihrem Aufstieg? +Ich beschuldige sie nicht. Aber ich glaube, es gibt eine Symbiose. Warum fühlt sich eine große Zahl junger Menschen von rechts angezogen? Es hat auch damit zu tun, dass sich die linke Welt als humorlos, autoritär und beleidigend präsentiert hat. Beide Lager bezeichnen sich gegenseitig als Faschisten, sie verschanzen sich immer mehr. Wenn, dann beschuldige ich die Linke dafür, dass sie diese Verbindung zwischen ihrem eigenen dogmatischen Auftreten und dem Aufstieg der Alt-Right nicht sieht. + +Angela Nagle ist eine irische Autorin und Kommunikationswissenschaftlerin. Ihr Buch "Kill All Normies" (2017) sorgte für viel Aufsehen in den USA. Es ist bislang nur auf Englisch erschienen. +Titelbild: JOSH EDELSON/AFP/Getty Images diff --git a/fluter/kritik-oscars-check.txt b/fluter/kritik-oscars-check.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b94c87e5f78bbc04cbac04b5aacdcac6e9d4d84c --- /dev/null +++ b/fluter/kritik-oscars-check.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Die Academy hat heute knapp 9.500 Mitglieder. Nebenbei bemerkt: Ob die sich wirklich alle Filme anschauen, bevor sie ihre Kreuze für die Preisvergabe machen, wird nicht überprüft – und von einigen angezweifelt. Wer mit auswählen darf, ist streng reguliert. Und wie so oft in Hollywood dreht sich auch hier alles um Kontakte. Wer dabei sein will, muss mindestens zwei "Sponsors" innerhalb der Academy haben – oder man wird für einen Oscar nominiert und dadurch für eine Mitgliedschaft in Betracht gezogen. Die Academy mag also nicht gerade aus selbstlosen Motiven entstanden sein, ihre Zusammensetzung aber ist durchaus transparent. Allerdings auch sehr homogen. (Was uns zum nächsten Vorwurf bringt.) + +Bis vor knapp zehn Jahren sah die Academy laut einer Studie der "Los Angeles Times" so aus: 94 Prozent weiß, 77 Prozent männlich und durchschnittlich 62 Jahre alt. Diese Zusammensetzung war wohl ein entscheidender Grund dafür, dass 90 Jahre vergehen mussten, bis zum ersten Mal eine Frau in der Kategorie "beste Kamera" nominiert wurde. Oder dass in den vergangenen zehn Jahren zusammengerechnet so viele People of Color für Oscars nominiert wurden wie weiße Personen teils in einem einzelnen Jahr (um die 70). +Erst seit die Autorin April Reign 2015 die Bewegung #OscarsSoWhite über Twitter gestartet hat, tut sich etwas. Tausende neue Personen wurden seitdem in die Academy eingeladen, um sie vielfältiger zu machen. 2020 war sie bereits zu rund 33 Prozent weiblich und bestand zu 19 Prozent aus nichtweißen Personen. Diese Zahlen spiegeln immer noch nicht annähernd die Zusammensetzung der US-amerikanischen Bevölkerung wider, haben aber die Dynamik innerhalb des verstaubten Academy-Vereins verändert –und auch eine Veränderung bei den Preisträger*innen bewirkt. +Zwischen 2011 und 2020 wurden häufiger Lateinamerikaner*innen und Schwarze Personen für Oscars nominiert als je zuvor. 2020 gingen erstmals mehr Oscars an nichtweiße Personen als an weiße. +Die größte aller Veränderungen steht den Oscars aber noch bevor: Ab 2024 müssen Bewerbungen für den besten Film mindestens zwei "Vielfaltsstandards" erfüllen. Dabei geht es zum Beispiel um die Besetzung, die Inhalte, von denen der Film erzählt, oder die Zusammensetzung des Produktionsteams. Die Oscars verändern sich also. Ob sie dabei mit gesellschaftlichen Veränderungen Schritt halten, ist aber umstritten. Und das nicht nur beim Thema Diversität. + +Hollywood konnte sich lange auf seinem weltweiten Kinomonopol ausruhen. Aber die Zeiten sind nicht mehr das, was sie mal waren: Streamingplattformen gewinnen seit Jahren an Einfluss, und immer häufiger sind auch Filme international erfolgreich, die nicht aus den USA kommen. Deshalb schien es vielen zunehmend absurd, Filme von Netflix oder Amazon aus dem Oscar-Rennen auszuschließen und alles, was nicht in den USA produziert worden ist, in die Kategorie "International Film" zu quetschen – als handele es sich dabei um ein einzelnes Genre. +In den vergangenen Jahren gab es einige wackelige Versuche der Academy, mit der Entwicklung mitzuhalten. So werden Filme, die nur bei Streaminganbietern laufen, heute nicht mehr ausgeschlossen. Das war ursprünglich eine temporärecoronabedingteSonderregelung. Nun ist Netflix zum dritten Jahr in Folge das Unternehmen mit den meisten Oscarnominierungen. In letzter Zeit wurden außerdem immer mehr internationale Produktionen nominiert, 2020 gewann mit demsüdkoreanischen Film "Parasite"sogar eine davon den bedeutendsten Oscar für den besten Film. Ein wichtiger, aber intransparenter Schritt. Schließlich ist unklar, welche Anforderungen ein Film erfüllen muss, um es aus der Rubrik "Internationaler Film" herauszuschaffen – und die Kategorie selbst wirkt für viele zunehmend überholt. Übrigens auch, weil der Auswahlprozess dafür fragwürdig ist. Die Länder entscheiden selbst, welchen Film sie ins Rennen schicken. So können autokratische Regime wie Russland oder China an ihrer Selbstinszenierung feilen und kritische Produktionen ausschließen. + +All die Kritik schlägt sich auch in Form sinkender Einschaltquoten nieder: Die Verleihung 2021 sahen so wenige Menschen wie nie zuvor. Für die diesjährigen Oscars wurden deshalb drei große Änderungen beschlossen: Nach drei Jahren ohne offiziellen Host werden am 27. März gleich drei weibliche Comedians – Regina Hall, Wanda Sykes und Amy Schumer – die Show moderieren. Es wurde außerdem ein Publikumspreis eingeführt, bei dem über Twitter oder die Oscars-Website abgestimmt werden kann. Und die Show wurde zeitlich gestrafft, indem die Verleihung von acht weniger populären Preisen wie "Schnitt" oder "animierter Kurzfilm" vor der Liveübertragung  stattfinden wird – zum großen Ärger von Menschen, die in den entsprechenden Sparten und Genres arbeiten. + +Lohnt sich angesichts all der Kontroversen ein Oscargewinn überhaupt noch? Die Unsummen, die Firmen für sogenannte "Oscar Campaigns" ausgeben, sprechen jedenfalls dafür. Sie liegen zum Teil im zweistelligen Millionenbereich. Es ist eine Form von Wahlkampf: Viel PR soll dafür sorgen, dass Academy und Presse bestimmten Filmen besonders viel Aufmerksamkeit und Wohlwollen schenken. +Für Filmschaffende selbst lohnt sich eine Nominierung allein schon wegen der Goodie Bags einer Product-Placement-Marketingfirma. Die haben 2020 Geschenke im Wert von rund 225.000 Dollar enthalten, darunter eine Kreuzfahrt und ein goldener Vape-Pen. Für den Oscargewinn selbst gibt es kein Geld, spiegelt sich aber häufig in besserer Bezahlung wider, dem sogenannten "Oscar Bump". +Auch hier gibt es allerdings einenGender Pay Gap, wie 2010 eine Studie zeigte: Männliche Darsteller verdienten nach einem Oscargewinn im Schnitt 3,9 Millionen US-Dollar mehr, Schauspielerinnen nur 500.000 US-Dollar. Ein Oscar gilt auch nach wie vor als Boost für Kinobesuche – und seit Neuestem auch Streams. Die Oscars sind trotz viel Kritik und sinkendem Interesse also weit entfernt von der Irrelevanz. Ob Totgesagte wirklich länger leben, müssen sie aber jetzt beweisen. + diff --git a/fluter/kritik-zwischen-mir-und-der-welt.txt b/fluter/kritik-zwischen-mir-und-der-welt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e6815e276931cc164f7f08a7390b76939f202f25 --- /dev/null +++ b/fluter/kritik-zwischen-mir-und-der-welt.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Jede Großmacht, schreibt Coates, beruhe auf der Ausbeutung fremder Körper. Er nennt diese Einsicht "banal" und betont, dass insbesondere die USA mit dem Banalen nichts zu tun haben wollen. "Amerika" halte sich für außergewöhnlich, für die "größte und edelste Nation ..., Stadt der Demokratie, den Terroristen, Despoten, Barbaren und anderen Feinden der Zivilisation trotzend". Außergewöhnlich, edel? Die unschöne Wahrheit sieht Coates' Meinung nach so aus: Es waren "Menschen", afroamerikanische Sklaven, "die für die Maschine Amerika in Treibstoff verwandelt wurden". Seinen Sohn mahnt er, gut aufzupassen: "In Amerika ist es Tradition, den schwarzen Körper zu zerstören.". +Er schreibt: "Wir sind das Unten. Das galt 1776 [im Jahr der Unabhängigkeitserklärung, Anm. d. Red.]. Das gilt auch heute." Der hartnäckig beschworene American Dream erscheint gleich in doppelter Hinsicht als verlogener, weil Geschichte und Gegenwart verleugnender Erfolgsmythos der weißen amerikanischen Mehrheitsgesellschaft. +Der lange Schatten: Diese Aufnahme aus dem Jahr 1930 - über ein halbes Jahrhundert nach der formellen Abschaffung der Sklaverei - zeigt einen ehemaligen Sklaven, der an einem Pfosten angekettet auf einen Job wartet +Wer Vater ist, hat Angst um seine Kinder, liebt in ständiger Sorge. Erster Adressat der Angst ist deshalb Samori, der Sohn des Autors. Allzu leicht werden schwarze Jugendliche, von der permanenten Gang-Gewalt in vielen Vierteln einmal abgesehen, Opfer polizeilicher Gewalt. Coates hat Angst um den Körper seines Sohnes, vor den Schlägen und tödlichen Kugeln unerfahrener oder rassistischer Polizisten. +Seine Angst ist biografisch geerdet: Coates, der mit seiner Familie inzwischen in New York lebt, schaut zurück in die 90er und sieht sich und die Jungs seines Viertels in West-Baltimore, sieht ihre Angst, die sie allesamt im Griff hat. Er betrachtet ihre Angst als psychohistorisches Erbe der Sklaverei und Lynchjustiz. Er erkennt sie in ihren hypermännlichen Posen, in "ihren dicken Jacken und bodenlangen Ledermänteln mit Pelzkragen", ihren "Rüstungen gegen die Welt". Die Straße ist gewalttätig, mit entsprechenden Codes, fest einstudierten Verhaltensweisen und sprachlichen Wendungen – "Yeah, nigger, what's up now?" – schützt man seinen Körper. Die Gewalt in den schwarzen Familien damals erscheint Coates heute nicht zuletzt als Akt körperlicher Strenge, der sich aus der elterlichen Sorge um das gefährdete Leben der Kinder erklärt. Doch war es vermutlich nicht diese Strenge, die Coates am eigenen Leib erfahren musste, die ihn vor dem Gefängnis oder Schlimmerem rettete. Viel Glück wahrscheinlich, aber auch dies: Coates ist ein stiller, neugieriger, zurückgezogen lebender Junge, seine Eltern sind gebildet, er gehört keiner Gang an und kommt schon bald mit den großen schwarzen Intellektuellen und Aktivisten, mit Malcolm X oder James Baldwin, in Berührung. Später geht er auf die historisch afroamerikanische Washingtoner Howard School, wo er Gleichgesinnte findet, Selbstbewusstsein entwickelt und begreift, dass die Lösung nicht darin bestehen kann, der weißen Geschichtsschreibung von oben eine schwarze von unten entgegenzusetzen: Es gibt nur eine gemeinsame Geschichte. Aber sie wurde nie geschrieben. Stattdessen ängstlich verdrängt. +Man kann "Zwischen mir und der Welt" als kämpferisches Manifest lesen, als scharf gewetztes, eindringlich geschriebenes Aufklärungsinstrument im bis heute andauernden Kampf gegen den Rassismus in einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft. Zu dieser Aufklärung gehört auch die Einsicht, dass "Schwarze ihre Befreiung", etwa die von der Sklaverei im Süden, "nicht allein durch eigene Bemühungen erreicht haben". Große historische Ereignisse seien stets der individuellen Kontrolle entzogen. Doch wenngleich die Geschichte "nicht vollständig in unserer Hand liegt", schreibt Coates weiter, "sind wir zum Kampf aufgerufen, nicht weil er uns den Sieg bescheren wird, sondern ein ehrenvolles und gesundes Leben". Über die Form des Kampfes sagt Coates nahezu nichts. Und mehr als einmal gewinnt man den Eindruck, er glaube tatsächlich keineswegs an einen Sieg gegen den Rassismus. Trotzdem oder gerade deshalb hat er seinen Sohn Samori genannt. Samori bedeutet Krieger. +Polizeigewalt ist kein neues Thema. Diese Aufnahme stammt aus dem Jahr 1965 und entstand bei Unruhen in Los Angeles +"Ich schreibe dir in deinem fünfzehnten Lebensjahr. Ich schreibe dir jetzt, denn dies ist das Jahr, in dem du gesehen hast, wie Eric Garner erwürgt wurde, weil er Zigaretten verkaufte, in dem du erlebt hast, dass Renisha McBride erschossen wurde, weil sie Hilfe holen wollte, und dass John Crawford erschossen wurde, weil er durch ein Kaufhaus schlenderte." Coates notiert diese Sätze im Jahr 2014. Die Reihe durch Polizisten getöteter Schwarzer hat sich seitdem weiter fortgesetzt. Samori soll sich unbedingt merken, "dass die Polizeireviere des Landes mit der Befugnis ausgestattet sind, deinen Körper zu zerstören". Egal ob Überreaktion oder Missverständnis oder Folge einer "albernen Vorschrift": Die Möglichkeit dieser Zerstörung sei real und allgegenwärtig. An Polizeireformen, Sensitivitätstraining und Körperkameras mag Coates nicht recht glauben, obgleich er ihre unmittelbare Nützlichkeit nicht in Frage stellt. +Das Grundproblem sei jedoch komplexer, tiefer gelagert: "In Wahrheit ist es so, dass die Polizei ein Spiegel Amerikas mit all seinen Wünschen und Ängsten ist." Das Strafrecht und sein extremer Missbrauch – die "wuchernde Gefängnislandschaft", die "wahllose Festnahme von Schwarzen" – seien nicht von einer repressiven Minderheit durchgedrückt worden, sondern das Produkt eines demokratischen Willens. Was man durchaus in Frage stellen kann: Steht denn die Polizei tatsächlich für den Durchschnitt der US-Bürger? Ist die boomende Gefängnisindustrie nicht eine Folge neoliberalen Regierens und Wirtschaftens? +Coates insistiert auf Körperlichkeit, Begriffe wie "race relations", "racial justice", "racial profiling" oder "white privilege" verschleierten lediglich, worum es in Wirklichkeit gehe: "dass Rassismus eine zutiefst körperliche Erfahrung ist, dass er das Hirn erschüttert, die Atemwege blockiert, Muskeln zerreißt, Organe entfernt, Knochen bricht, Zähne zerschlägt". Äußerst brutal zugerichtete schwarze Körper waren die der ersten afrikanischen Sklaven, die 1619 mit Gewalt nach Virginia verschleppt, vergewaltigt, gefoltert, verkauft, weiterverkauft wurden. Heute tragen schwarze Körper Hoodies und Baggies. Aber was heißt das überhaupt: "schwarz"? Auch Coates kommt um die Farbe "Schwarz" nicht herum, gleichwohl weiß er genau, dass diese dem Rassismus zugrunde liegende Kategorisierung grundfalsch ist: "Schwarzes Blut war auch nicht schwarz; nicht einmal schwarze Haut war schwarz." Klare Grenzen zwischen den sogenannten Rassen existieren ohnehin nur im Kopf. Ein großer Teil der Schwarzen, schreibt Coates, sei längst beige, nur ändere das überhaupt nichts am Rassismus. +Die deutsche Version des Buches teilt sich in einen Hauptteil, den titelgebenden Großessay, und einen kürzeren zweiten, der den Titel "Plädoyer für Reparationen" trägt. Hierbei handelt es sich um einen heftig diskutierten Artikel aus der Zeitschrift "Atlantic Monthly", in dem Coates sich leidenschaftlich für die Aufarbeitung der Sklaverei einsetzt.Ta-Nehisi Coates: "Zwischen mir und der Welt". Hanser Berlin, 2016, 240 Seiten, 19,90 Euro diff --git a/fluter/kritische-masse.txt b/fluter/kritische-masse.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/kuechenhilfe-im-eu-parlament.txt b/fluter/kuechenhilfe-im-eu-parlament.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d3d8ed8a64c710d226b9485d7d78dd571f97ac0d --- /dev/null +++ b/fluter/kuechenhilfe-im-eu-parlament.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Mein Dienst beginnt um 6.30 Uhr. Am Morgen kommen für jedes Gericht, das wir am Mittag servieren werden, Listen mit sämtlichen Aufgaben und Mengenangaben. Die Rezepte hat der Küchenchef zusammen mit einer Ernährungsberaterin ausgearbeitet. Ich bereite als Erstes meinen Arbeitsplatz vor, indem ich die benötigten Gewürze hole. Dann suche ich im Kühlraum die benötigten Waren. Das Gemüse bestellt der Küchenchef in der Gemüseabteilung, wo große Industriemaschinen es in die gewünschte Größe schneiden. Dann bereite ich das Gericht, für das ich eingeteilt bin, zu – also koche zum Beispiel Gemüsecurry in großen Pfannen oder bereite Steaks mit Gemüsebeilage und Kartoffeln zu. +Im Restaurant, in dem die Abgeordneten essen, habe ich auch schon gearbeitet. Dort ist die Arbeitsatmosphäre viel angenehmer: Es arbeitet dort auch eine Köchin, während in der Kantinenküche alle Köche Männer sind. Außerdem ist es in der Küche des Abgeordnetenrestaurants interessanter, weil man ein richtiges Gericht zubereitet. Man hat das Gefühl, in einem klassischen Restaurant zu arbeiten. Ich bin ausgebildete Köchin und habe über ein Jahr lang in einem traditionellen Restaurant gearbeitet. In der Kantinenküche verbringe ich auch mal zwei Stunden damit, Steaks auf Brote zu legen oder Pommes zu frittieren. +Bevor in der Kantine zur Mittagszeit die Essensausgabe beginnt, zeigt uns der Küchenchef oder sein Sous-Chef (Stellvertreter) einen idealtypischen Teller. Also zum Beispiel beim Fischgericht, mit wie viel Soße und mit welchen Beilagen in welcher Menge der Fisch angerichtet wird. Die Gäste haben die Auswahl aus acht verschiedenen Gerichten, die meist an der französischen Küche orientiert sind. Es gibt immer ein vegetarisches Gericht, dann Fleischgerichte wie Entrecôte oder Frikadellen, ein Nudelgericht. Ein koscheres oder halal Essen ist nicht dabei. Bier und Wein dagegen gibt es. Für ein warmes Gericht zahlt man zwischen sechs und 16 Euro. +Unser Küchenteam besteht überwiegend aus schwarzen und arabischsprachigen Menschen. Die Küchenmanager sind alle weiße Franzosen, die nach dem Dienst nur unter sich essen. Viele machen sich nicht die Mühe, uns mit Namen anzusprechen. Hier will ich nicht mehr unbedingt weiterarbeiten. +Wenn das Parlament geschlossen ist, arbeite ich unter anderem in der Mensa der Straßburger Universität. Dort bin ich sehr gerne, weil auch Studierende mit kleinen Verträgen Teil des Teams sind. Sie kommen aus der ganzen Welt, und ich habe das Gefühl, dass sich alle gegenseitig bereichern. diff --git a/fluter/kuehlen-kopf-bewahren-0.txt b/fluter/kuehlen-kopf-bewahren-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b62767f84b15e2ff230afb7bb9473a4bd2bab9a6 --- /dev/null +++ b/fluter/kuehlen-kopf-bewahren-0.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Dass Bundesbürger schon eine Steueridentifikationsnummer bekommen, noch bevor sie laufen können, hat auch damit zu tun, dass jeder in Deutschland gemeldete Mensch vom ersten Tag seines Lebens an Teil des Generationenvertrages ist. Denn Vater Staat rechnet damit, dass das Baby eines Tages arbeiten wird und Steuern zahlt und so seinen Anteil am Generationenvertrag erfüllt, der vorsieht, dass die Jungen mit ihren Steuern die Renten der Alten sichern. +So gesehen sind die Milliarden, die der Staat jedes Jahr für Familien ausgibt, eine gute Investition. Dennoch wird die Familienpolitik, die eigentlich nichts anderes im Sinn hat, als Familien zu unterstützen, immer wieder heftig kritisiert: Unübersichtlich und widersprüchlich sei sie, und außerdem wenig effizient. Die Geburtenrate sei viel zu niedrig, und es gebe noch immer zu viele Kinder, die im reichen Deutschland unterhalb der Armutsgrenze leben. Die Frage, die über allem steht, heißt: "Sie fließen in 156 verschiedene Leistungen, die nur zu einem relativ geringen Teil direkt an Familien mit Kindern ausgezahlt werden", sagt Martin Bujard vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden. Der Großteil des Geldes wird nicht etwa für Kindergeld ausgegeben, sondern fließt beispielsweise ins Steuer- oder Rentensystem, in die Krankenversicherung oder die Wohnraumförderung. Bujard hat ausgerechnet, dass die Ausgaben für Kinder eigentlich nur bei insgesamt 86,3 Milliarden Euro liegen, wenn man ehebezogene und Sozialversicherungsleistungen abzieht. Immer noch reichlich Geld, sollte man meinen. Tatsächlich gehen davon pro Jahr 39,2 Milliarden für Kindergeld weg, das monatlich für mehr als 14 Millionen Kinder ausgezahlt wird. +Etwa genauso viel Geld wird für die Renten von Witwen und Witwern ausgegeben, auch das ist Familienpolitik. Oder dass Paare, die gar keine Kinder haben, durch das Ehegattensplitting Steuern sparen. Knapp 20 Milliarden Euro pro Jahr kostet das Ehegattensplitting, viermal so viel wie die Ausgaben für das sogenannte Elterngeld, mit dem erwerbstätige Eltern gelockt werden, ein paar Monate zu Hause bei ihren Kindern zu bleiben. Auch wegen des Ehegattensplittings wird die deutsche Familienpolitik von vielen kritisiert. Sie fördere die Falschen, und die, die wirklich Kinder großzögen, sähen viel zu wenig von all dem Geld. +Welche Ziele für die Familienpolitik definiert werden, hängt ganz davon ab, wer sie festschreibt. "Traditionell sind beispielsweise die Arbeitgeberverbände daran interessiert, dass Mütter dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Kirchliche Verbände dagegen setzen sich oft für Armutsbekämpfung oder eine bessere Bildung ein", sagt Martin Bujard. "Man kann beobachten, dass Arbeitgeber häufig eine stärkere Lobby haben als klassische Familienverbände. Aber primär hat die Familienpolitik die ökonomische Sicherung der Familien, die Stärkung des Wohlbefindens der Kinder und die Wahlfreiheit der Eltern als Ziel." +Auch deshalb fördert der Staat mit seinen Leistungen ganz verschiedene Lebensmodelle: So investiert er zum einen massiv in den Ausbau von Kindertagesbetreuung, zum anderen unterstützt er mit dem Betreuungsgeld Eltern, die ihre Kleinkinder zu Hause erziehen möchten. Gesellschaftliche Veränderungen und staatliche Fördermaßnahmen beeinflussen sich dabei gegenseitig: Wenn immer mehr Eltern arbeiten gehen wollen, brauchen sie Kindertagesstätten, in denen ihre Kinder gut aufgehoben sind. Wenn Vater Staat dann Geld in den Kita-Ausbau steckt, überlegen sich vielleicht noch mehr Eltern, arbeiten zu gehen. Und seitdem es das Elterngeld gibt, das in voller Höhe nur dann ausbezahlt wird, wenn beide Elternteile einige Monate zu Hause bei ihrem Baby bleiben, nehmen auch viel mehr Väter Elternzeit. +Dass die Mutter das Essen kocht und abends auf den Tisch stellt, war für viele lange Zeit selbstverständlich. Bis Mitte 1977 war das "bürgerliche Familienmodell", in dem der Vater arbeitet und die Mutter sich um Haushalt und Kinder kümmert, sogar im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert. Und erst seit diesem Jahr hat der Staat anerkannt, dass man nicht verheiratet sein muss, um mit dem gemeinsamen Kind "in sozial-familiärer Gemeinschaft" zu leben und eine im Sinne des Grundgesetzes "geschützte Familie" zu bilden. Auch kämpfen Väter im Falle einer Trennung – mittlerweile mit einigem Erfolg – schon seit einigen Jahren dafür, dieselben Rechte zu haben wie Mütter. +Solche gesetzlichen Änderungen sind auch deshalb so wichtig, weil Ehe und Familie besonderen staatlichen Schutz genießen, garantiert durch Artikel 6 des Grundgesetzes. Wer als Familie anerkannt wird, genießt nicht nur im Steuersystem besondere Privilegien, sondern ist auch vor Übergriffen des Staates in die Erziehung bis zu einem gewissen Punkt geschützt. Erst wenn das Wohlergehen der Kinder in Gefahr ist, haben einige Institutionen das Recht, in den Familienalltag einzugreifen. Dann schickt das Jugendamt professionelle Helfer oder nimmt im Ausnahmefall auch einmal Kinder aus den Familien heraus (siehe Reportage auf Seite 28). +Der Staat hat ein ureigenes Interesse daran, Familien zu unterstützen. Familien leisten mit der Kindererziehung nicht nur einen Beitrag für das Funktionieren des staatlichen Gefüges, der kaum zu überschätzenist, sie spielen darüberhinaus für viele Politikfelder schon deshalb eine große Rolle,weil es in Deutschland über acht Millionen Familien mit minderjährigen Kindern im Haushalt gibt. +Das wirkt sich auch auf die Entscheidungsfindung der Politiker aus, hat Martin Bujard beobachtet: "Für familienpolitische Maßnahmen gibt es schneller Mehrheiten im Politikbetrieb als für die meisten anderen Entscheidungen. Mit ihnen werden ganz einfach oft viele Interessen getroffen, und es bilden sich Interessenkoalitionen, die auf anderen Feldern kaum denkbar wären." +Die Ziele der Familienpolitik überschneiden sich beispielsweise mit Zielen der Arbeitsmarkt- oder auch der Bildungspolitik. Auch deshalb ist sie eine Querschnittspolitik, deren Maßnahmen sehr heterogen und über verschiedene Ministerien verteilt sind. +Direkt nach der Geburt sendet Vater Staat seinem neugeborenen Mitglied also nicht nur den Brief mit der Steueridentifikationsnummer. Er schickt auch das Mutterschaftsgeld aufs elterliche Konto, das Elterngeld und das erste Kindergeld. Für das übrigens nicht das Familienministerium zuständig ist, sondern das Finanzministerium. diff --git a/fluter/kuehlen-kopf-bewahren.txt b/fluter/kuehlen-kopf-bewahren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8d0dacca69d7853295c68e7e04a8096dfcab4184 --- /dev/null +++ b/fluter/kuehlen-kopf-bewahren.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +fluter.de: Sie benutzen ökonomische Methoden und Perspektiven, um auf das Thema Unsicherheit zu schauen. Dann bilanzieren Sie doch mal: Gibt es ein Missverhältnis zwischen dem gesellschaftlichen Umgang mit der Terrorgefahr und der statistischen Bedrohung? +Tilman Brück: Seit dem 11. September 2001 gibt es auch in Deutschland eine tiefe Angst vor dem globalen Terror, die aber nichts mit der tatsächlichen Anzahl von Anschlägen in Deutschland zu tun hat. 2007 habe ich am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung im Rahmen einer Studie gefragt, worüber sich die Deutschen die größten Sorgen machen. Kriminalität? Umweltschutz? Die eigene wirtschaftliche Situation? Die eigene Gesundheit? Terrorismus? Damals, vor dem Beginn der Finanzkrise, gab es keine größere Sorge als den globalen Terror. Das hat sogar mich als Terrorexperten überrascht. +Was sagen die Zahlen: Wer hat die größte Angst vor Terror in Deutschland? +Insbesondere alte Frauen, die auf dem Land leben und weniger gebildet sind, machen sich der Umfrage zufolge die meisten Sorgen über einen möglichen Terroranschlag in Deutschland. Dabei sind das diejenigen, die sich am wenigsten Sorgen machen müssten, denn Anschläge werden im Allgemeinen eher in großen Städten an Orten mit vielen Menschen verübt, wie an Flughäfen, Bahnhöfen oder Stadien. Dort pendeln vor allem viele jüngere und gut ausgebildete Menschen. Die machen sich aber weniger Sorgen um ihre Bedrohung. +Ist das wirklich verwunderlich? Angst ist nun einmal etwas sehr Subjektives. Die Leute richten sich dabei doch nicht nach Zahlen und Statistiken. +Klar, Vernunft und Gefühl können manchmal ganz schön auseinander klaffen. Und selbst wenn alle Anschläge in Deutschland erfolgreich verhindert werden können, gibt es natürlich noch immer eine latente Bedrohung. +Und wenn doch was passieren sollte? Wie kann uns die nüchterne ökonomische Sicht der Dinge dann helfen? +Wenn Terrorattacken stattfinden, sollten wir versuchen, so rational wie möglich damit umzugehen, damit die Terroristen nicht den von ihnen gewünschten Erfolg haben. Ökonomen sind gut darin zu analysieren, welcher Akteur welches Ziel verfolgt. Für Terroristen ist Mord ein Mittel zum Zweck. Sie wollen Aufmerksamkeit und eine Polarisierung in der Politik erreichen. +Bringen wir noch ein paar Zahlen ins Spiel. Das Institute of Economics and Peace verzeichnet aktuell in seinem "Global Terrorism Index" für Deutschland 0,0 Terroranschläge und 0,0 Tote durch Terror. Das Bundesinnenministerium schreibt hingegen auf seiner Website von einer "großen Bedrohung". Nutzen Politiker die Angst vor Terror aus? +Es ist nicht meine Aufgabe zu sagen, ob Politik sich an Zahlen oder an Gefühlen der Bürger orientieren sollte. Tatsächlich üben Medien einen gewissen Druck auf die Politik aus, nach einem Anschlag irgendetwas zu tun. Ebenso gibt es Politiker, die vor dem Hintergrund eines Anschlags eigene Interessen durchsetzen. Nach jedem Anschlag gibt es ein kurzes Zeitfenster, um zuvor strittige Fragen der Sicherheitspolitik durchzusetzen. +Investieren wir Deutschen zu viel in Terrorschutz? +Tatsächlich ist eine klassische ökonomische Frage, wofür wir unser Geld ausgeben. Umweltschutz? Kindertagesstätten? Krankenhäuser? Das Gefühl der Sicherheit? Daher sollten wir uns drei Fragen stellen: Wo ist die Bedrohung? Was kostet der Schutz vor dieser Bedrohung? Und was bringt uns das? Das Problem dabei ist, dass uns zu diesen Themen Zahlen fehlen. In der Rentenpolitik wissen wir, wie alt Menschen durchschnittlich werden, wie viel die Renten kosten und wie viel Geld überhaupt da ist. Zur Arbeitslosigkeit haben wir auch Zahlen. Sicherheitspolitik hingegen wird eher emotional oder ideologisch gemacht. Daher arbeite ich an Methoden, um diese Zahlen schaffen zu können. Doch Bedrohung, Risikowahrnehmung und Schutzbedürfnis sind nur schwer zu messen. Wir müssen uns diesen Zahlen also annähern, so gut es geht. +Tilman Brück, 44, wurde in Glasgow und Oxford zum Entwicklungsökonomen ausgebildet und forscht seit vielen Jahren zu den Themen Sicherheit, Krieg und Frieden. Er ist Gründer und Direktor des International Security and Development Center (ISDC) in Berlin, Gastprofessor an der London School of Economics and Political Science (LSE), forscht am Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) und am Institut für Sozialwissenschaften der Universität von Lissabon. Zuvor war er Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin und Abteilungsleiter am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). + diff --git a/fluter/kuestenerosion-togo-klimawandel-film.txt b/fluter/kuestenerosion-togo-klimawandel-film.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/kulturhauptstadt.txt b/fluter/kulturhauptstadt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/kunststueck-minenraeumen.txt b/fluter/kunststueck-minenraeumen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b2eca44387717a897de4b8005acd907d98835cc8 --- /dev/null +++ b/fluter/kunststueck-minenraeumen.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Massoud Hassani studierte Design, vielleicht, weil jemand, der so viel Grausamkeit erlebt hat, die Welt ein bisschen schöner machen will. Aber der Gedanke an die zerstörerischen Landminen ließ ihn nicht los. Er erinnerte sich daran, wie er und seine Freunde sich in der Kindheit Spielzeuge bastelten, weil sie sonst nichts hatten. Dazu gehörten auch Kugeln aus Papier, die sie vom Wind über die Wüstenfelder treiben ließen. Aus dieser Idee entwickelte er seine"Mine Kafon". "Kafon" heißt in seiner Muttersprache Dari "Explosion". +Das Ergebnis ist in etwa so hoch und schwer wie ein ausgewachsener Mann. Der Kern des Räumungsgerätes ist ein Gehäuse aus Eisen. Davon gehen Dutzende "Beine" aus Bambus ab, jeweils mit "Füßen" aus Plastik. Diese sind gefedert, so dass das gesamte Gebilde, vom Wind angetrieben, sich über das Gelände bewegt. Wenn die "Mine Kafon" dann auf eine Mine tritt, verliert sie mit jeder Explosion nur einige Beine und kann weiterrollen. Bis zu vier Minen kann sie so pro Einsatz zum Explodieren bringen. +Auf Minenfeldern in Marokko hat Massoud Hassani sein Produkt bereits unter realen Bedingungen getestet. "Wir sind schneller, sicherer und viel billiger als herkömmliche Methoden", sagt er. Vor allem der letzte Punkt ist wichtig. Denn die hohen Kosten sind die größte Hürde im weltweiten Kampf gegen Minen. Die Mine selbst kostet oft unter drei Euro –  ihre Beseitigung aber bis zu knapp 800 Euro. Massoud Hassani sagt, sein Gerät würde in Massenproduktion nur 40 Euro pro Stück kosten. Und es könnte jeder vor Ort selbst zusammenbauen. Die Konstruktionsanleitung würde der Designer im Internet frei zur Verfügung stellen. +Bisher ist die "Mine Kafon" aber nur auf Kunstausstellungen – zum Beispiel im London Design Museum – zu sehen anstatt auf Waffenmessen. Experten sind skeptisch. Wilfried Jordan bildet an der Dresdner Sprengschule Minenräumer aus. Von der "Mine Kafon" hält er nicht viel. Sie könne nur auf flachen Feldern zum Einsatz kommen und würde bei Explosionen stecken bleiben, sagt Jordan. "Ein Minenfeld freizugeben, nur weil dieses Gerät unkontrolliert vom Wind angetrieben darüber gelaufen ist, wäre unverantwortlich." +Massoud Hassani lässt sich davon nicht beirren. Natürlich stecke sein Projekt noch in der Entwicklung, sagt er. Viele würden aber sein neues Projekt auch gar nicht so gern auf dem Markt sehen, darin vermutet er sogar eine kleine Verschwörung. "Eine minenfreie Welt würde vielen NGOs die Existenzberechtigung nehmen, da gingen viele Arbeitsplätze verloren. Und die Firmen, die Räumungsgeräte herstellen, wollen auch nicht, dass sie billiger werden." Genau das aber ist Hassanis Plan, weshalb er zusammen mit seinem Bruder Mahmud das Projekt "Mine Kafon" mit aller Kraft vorantreibt. +Ein Fulltime-Job für die beiden. Die Suche nach alternativen Investitionsquellen hat auch schon erste Erfolge gezeitigt. Per Crowdfunding sammelten die Brüder 150.000 Euro ein, so dass sie nun schon das nächste Ziel, eine technische Überarbeitung, anpeilen: ein steuerbares Räumungsgerät, das statt bisher 200.000 nur 20.000 Euro kosten soll. Und eine Plattform im Internet, auf der alle Daten über Minen gesammelt werden und die für jeden einsehbar ist. Die Mission ist klar. "Jede entfernte Mine bedeutet ein potenziell gerettetes Leben. Und jedes Leben zählt." +Constantin Wißmann arbeitet als freier Journalist und Autor in Berlin. Mit Waffen scheint er kein Talent zu haben, beim Wehrdienst brachte er seine Vorgesetzten in Rage, weil er oft auf die falsche Zielscheibe schoss. diff --git a/fluter/kupfer-regenwald.txt b/fluter/kupfer-regenwald.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ee20a5dd0f4543b3de33b204876070e94a8a81bd --- /dev/null +++ b/fluter/kupfer-regenwald.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Grima und ihre Freunde wollen in der Hauptstadt vor dem Bergbauministerium demonstrieren – nicht gegen die Mine, sondern dafür. Auf einem ihrer Transparente steht: "Für einen nachhaltigen Bergbau! Wir unterstützen Codelco!" Codelco ist das Bergbauunternehmen, das im Intag-Tal eine Mine von der Größe einer Kleinstadt bauen will. Kupfer ist eng mitInnovationen verknüpft, die die Welt grüner machen sollen:E-Mobilität, Windkraft und Solarenergie. Fast überall, wo Strom fließt, ist Kupfer das Leitmaterial, auch in Handys und Laptops. In einemElektroautoist sogar drei- bis viermal so viel Kupfer verbaut wie in einem Benziner, dazu kommen die Ladestationen und Kabel. Bis 2030 könnte der Kupferbedarf weltweit um 28 Prozent ansteigen. Um den künftigen Bedarf zu decken, dringen Minenunternehmen in artenreiche Regionen vor. Es ist ein Dilemma: Das, was dazu beitragen soll, die Erde zu retten, droht sie in manchen Gegenden zu zerstören. +Im Regenwald des Intag-Tals leben viele bedrohte Tier- und Pflanzenarten. Dass das chilenische Staatsunternehmen Codelco ausgerechnet hier ein großes Kupfervorkommen erschließen will, sorgt seit Jahren für Proteste. Codelco betreibt unter anderem in der chilenischen Atacamawüste eine der größten Kupferminen der Welt. In einer Studie des Umweltbundesamtes wurde bereits 2014 über Schäden für Menschen und Umwelt berichtet. Der Wasserspiegel sank beträchtlich, einige Arbeiter bekamen eine Staublunge. + + +Im Intag-Tal hat Codelco bereits mit dem Bau von Straßen begonnen, man hat Bürogebäude und Lagerhallen errichtet und rund 100 Probelöcher gebohrt. Grima und ihre Freunde haben davon profitiert. Manche arbeiteten auf den Baustellen, Grima selbst in einem Restaurant, das plötzlich viel mehr Kundschaft hatte. Doch seit 2018 ruhen die Arbeiten, weil es illegale Abholzungen und Wasserverschmutzungen gegeben haben soll. Auch die Umweltverträglichkeitsstudie ist noch nicht abgeschlossen. Erst wenn die vorliegt, kann das Kupfer abgebaut werden. Davon werde dann die ganze Region profitieren, hofft Grima. Es würde weitere Straßen geben, Schulen, Krankenhäuser, Internet und Autos. Und vielleicht verdiene sie ja irgendwann sogar so viel, dass sie sich eine Fernreise leisten könne. +Rund 17.000 Menschen leben in der Region, die flächenmäßig anderthalbmal so groß ist wie Berlin – ein Gebiet voller Regenwald und kleiner Plantagen, auf denen vor allemKaffee,Kakao und Bananen wachsen. Grima glaubt nicht, dass der Bergbau die Natur zerstören würde: "Sie machen Untersuchungen mit der Technologie von heute", sagt sie. Ihr Lieblingsplatz ist ein schattiger Flecken am Rio Magdalena, einem der vielen Flüsse, die den Intag wie ein Adernetz durchziehen. "Hauptsache, sie vergiften nicht unser Wasser und unsere Flüsse." +Azul und Kevin sind aus der Hauptstadt Quito in das Intag-Tal gezogen, um sich den Protesten gegen die Mine anzuschließen +Während Grima nach Quito fährt, um für die Mine zu demonstrieren, sind Azul und Kevin, 18 und 19 Jahre alt, den umgekehrten Weg gegangen. Das junge Paar ist gerade aus der Hauptstadt in Grimas Dorf Chontal gezogen, in ein Häuschen, zusammengezimmert aus Holzbrettern und einem Wellblechdach. Kevins Vater ist einer der Koordinatoren im Widerstand gegen den Bergbau, Azuls Familie gehört zu den Cofán, einer der ältesten indigenen Gruppen im ecuadorianischen Amazonasgebiet, die seit langer Zeit gegen Öl- und Bergbaufirmen kämpfen. "Unsere Kinder sollen eine gesunde und saubere Umwelt haben,keine vergifteten Flüsse", sagt Azul. +Carlos Zorrilla war von Anfang an im Widerstand dabei. Zweimal habe er untertauchen müssen, weil von den Firmen angeheuerte Paramilitärs nach ihm suchten. Zusammen mit Kevins Vater arbeitet er für die Umweltschutzorganisation "Decoin" (Defensa y Conservación Ecológica de Intag), die für den Erhalt des Regenwaldes Flächen ankauft und die Bevölkerung über Naturschutz aufklärt. In ecuadorianischen Behördenpapieren wird Decoin nur als "sogenannte Umweltorganisation" bezeichnet. +Rückblende: Im Sommer 2019 fliegt Carlos Zorrilla nach Deutschland – zu einem Treffen mit Managern von BMW. Der deutsche Autokonzern setzt wie die Konkurrenz verstärkt auf E-Mobilität und benötigt für die Umsetzung seiner Vorhaben Rohstoffe. 2018 startete BMW zusammen mit Codelco eine Initiative für nachhaltiges Kupfer. +Zorrilla hat sich für die Reise den weißen Bart getrimmt und sein bestes Hemd angezogen. Drei Stunden spricht er mit den Automanagern über seine Heimat, den Regenwald, die bedrohten Arten und das Kupfer. Danach geht er mit einem guten Gefühl in einen Münchner Biergarten und trinkt ein Helles. +"BMW hat auf mich einen verantwortungsvollen Eindruck gemacht", erinnert er sich. "All diese Firmen wollen jetzt der Welt zeigen,dass sie an diese Rohstoffe kommen, ohne Menschenrechte zu verletzenoder die Umwelt zu zerstören. Sie sind schon besorgt, welche Auswirkungen die riesige Nachfrage nach solchen Produkten haben wird." Doch das gute Gefühl hat Zorrilla inzwischen verlassen. Er hätte sich gewünscht, dass die deutschen Autobauer Codelco von dem Vorhaben im Intag-Tal abbringen. "Dann hätte Codelco verstanden, dass es das nicht wert ist, dafür die Verbindung mit BMW zu riskieren." +In Deutschland muss bislang nicht offengelegt werden, woher die Rohstoffe eines Unternehmens stammen und wie sie abgebaut wurden. Es gibt bislang auch keine gesetzliche Regelung für Menschenrechte oder Umweltschutz in den Lieferketten von Zulieferern aus dem Ausland – doch das könnte sich ändern. Im März hat das Kabinett den Entwurf eines Lieferkettengesetzes beschlossen. Deutsche Unternehmen sollen damit zur Einhaltung von Menschenrechten und Umweltvorgaben in ihren weltweiten Lieferketten verpflichtet werden. Auch auf EU-Ebene soll es noch in diesem Frühjahr die Vorlage für ein entsprechendes Gesetz geben. +Carlos Zorrilla hingegen fürchtet die Zerstörung der Natur. Er wurde sogar schon von Paramilitärs verfolgt, die von einer Bergbaufirma angeheuert wurden, um die Proteste zu beenden +BMW engagiert sich inzwischen vor allem in der Rohstoffinitiative IRMA, die zusammen mit Zivilgesellschaften weltweit verantwortungsvolle Bergbaustandards entwickelt. Johanna Sydow von der NGO Germanwatch war 2019 mit Zorrilla in München und berät die Politikzum Thema Rohstoffe.Von IRMA hält sie viel, von der Copper-Mark-Initiative hingegen wenig – weil sie die betroffenen Menschen vor Ort kaum einbinde und vor allem die Unternehmensseite berücksichtige. Dass bis heute noch kein Lieferkettengesetz verabschiedet wurde, findet sie verantwortungslos. Und den aktuellen Entwurf zu zahnlos. +In Ecuador haben der sinkende Ölpreis unddie Corona-Pandemie derweil die Staatsschulden steigen und die Wirtschaft dramatisch einbrechen lassen.Der kleine Andenstaat steht vor der größten Krise seit seiner Gründung. Die Rohstoffe in der Erde wären eine gute Möglichkeit, den Haushalt zu entlasten. Ob das wirklich passiert, hängt auch vom Ausgang der Präsidentschaftswahl ab. Nach dem ersten Wahlgang liegt Andrés Arauz knapp vorn. Er war Minister unter Rafael Correa und gilt als dessen Zögling. Unter Correa wurde Codelco die Erlaubnis für den Bergbau erteilt, er selbst wegen Korruption verurteilt. Im belgischen Exil entzieht er sich einer Haftstrafe und übt weiter politischen Einfluss aus. +Arauz muss im April in einer Stichwahl antreten – womöglich gegen Yaku Pérez, eine Führungsfigur der indigenen Bewegung Ecuadors und ein erklärter Bergbaugegner. Das Ergebnis der Stichwahl wird wohl auch über die Zukunft des Intag-Tals entscheiden. Wird es eine neue Umweltverträglichkeitsstudie geben? Wie geht sie aus? Und stoppt ein Gerichtsurteil die Mine im Nebelregenwald? +Kevin und Azul rechnen noch mit einem längeren Protest und richten sich in ihrem neuen Zuhause im Dschungel wohnlicher ein. "Es wird nicht einfach", sagt Kevins Vater, "aber ich hoffe, dass die beiden durchhalten." +Grima würde am liebsten nach Spanien fliegen, wenn sie irgendwann einmal eine Fernreise machen könnte. Da sei nämlich ihr Vater, und schön solle es da ja auch sein. Wenn die Mine nicht genehmigt wird, will sie vielleicht einfach dortbleiben. + +Die Geschichte wurde vom Netzwerk Recherche e.V. und Radio Utopistan e.V. gefördert diff --git a/fluter/kurz-vorm-konsum-burnout.txt b/fluter/kurz-vorm-konsum-burnout.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..60029de8f1ba1b11e2722f28fd785fbd468ef494 --- /dev/null +++ b/fluter/kurz-vorm-konsum-burnout.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Fluter: Wenn ich zurzeit durch die großen Shopping-Malls laufe, habe ich erstmal gar nicht den Eindruck, dass da viele Leute kurz vor dem Konsum-Burnout stehen. Wo sehen Sie Anzeichen dafür? +Niko Paech: Heroinsüchtige sehen auch nicht so aus, als hätten sie etwas gegen den Stoff einzuwenden, sie betteln sogar darum. Menschen kaufen Dinge wegen ihrer emotionalen, vor allem auch symbolischen Funktionen, zuweilen sogar aus defensiven Erwägungen: Wenn mein Dresscode oder Smartphone nicht dem Standard meiner Arbeitskollegen entspricht, stehe ich wie ein Freak da. Wenn ich meinen Kindern keine hinreichende Konsumausstattung gewähre, gelte ich als asozial, reaktionär oder prekär. Der damit erzeugte Stress untergräbt unsere psychische Gesundheit, was an vielen Symptomen abzulesen ist. +Sie sprechen von einem zunehmenden "Konsum-Burnout in der modernen Bequemokratie". +Ich benutze diesen Begriff als Metapher für eine Situation, in der die psychischen Ressourcen nicht mehr ausreichen, jene Dinge stressfrei zu verarbeiten, die wir uns kaufen. Menschliche Ressourcen, die zur Verarbeitung von Information und zum Genuss vonnöten sind, speisen sich aus Zeit. Aber Zeit wird mit zunehmender materieller und terminlicher Überhäufung immer knapper. Jede Information, jeder Reiz und jede bewusste Handlung verschlingt ein Quantum der nicht vermehrbaren Zeit, weil Menschen nicht multitaskingfähig sind. Das endet in einer Paradoxie: Wir werden rechnerisch immer reicher, während wir innerlich veröden. Schauen Sie sich den phänomenalen Zuwachs an Antidepressiva-Verschreibungen an. +Aber das hat doch vermutlich nicht zuerst mit Konsumdruck, sondern mit dem heutzutage allgemein hohen Zeit- und Leistungsdruck zu tun. +Der allgemeine Leistungsdruck kommt erschwerend hinzu. Insbesondere der Mobilitäts- und Kommunikationszwang sowie das, was das Arbeitsleben abverlangt. Die Grenze zwischen privater und beruflicher Sphäre wird zusehends nebulös, vor allem aufgrund ortsungebundener Handlungen mit Hilfe von digitalen Medien. +Warum glauben Sie, dass die Menschen durch das große Angebot unter Druck geraten? Jeder kann sich doch ein paar wenige Dinge rauspicken. +Neben der sozialen Funktion des Konsums gibt es eine emotionale Dimension: Es geht hier oft um Kompensation –  sich durch kurzfristige, oft blitzartige Kauferlebnisse einen Kick zu geben, der von einer zunehmenden Orientierungslosigkeit ablenkt. Wie bei einer Droge oder einem Schiffbrüchigen, der seinen Durst mit Salzwasser stillen will, wird das Problem damit aber nur verschärft, und die nötige Dosis nimmt zu. +Wie reagieren die Menschen auf den steigenden Konsumdruck? +Die Reaktionsmuster sind unterschiedlich. Sie reichen von der Konsumverweigerung, die nur eine Minderheit praktiziert, bis zur bequemen Konstruktion von Ausreden, für die sogar nach wissenschaftlichen Grundlagen gesucht wird. Schauen Sie sich jene Medien- und Erziehungswissenschaftler an, die nicht nur begründen, warum jeder Fünfjährige ein Tablet haben sollte, sondern sogar darlegen, warum Computerspiele hinsichtlich ihrer Wirkung auf Kinder differenziert zu sehen und gar nicht unbedingt abzulehnen seien. Vor allem wird jede konsumkritische Diskussion als freiheits- und fortschrittsfeindlich gebrandmarkt – gerade von den Intellektuellen. +Der Anbieter von persönlichen Events und Extremsporterlebnissen "Jochen Schweizer" wirbt mit dem Slogan: "Du bist, was du erlebst". Gibt es die Angst, aus Erlebnismangel nichts mehr zu gelten? +Märkte und Menschen offenbaren materielle Sättigungsgrenzen. Deshalb lässt sich die Konsumdynamik nur fortsetzen, wenn es regelmäßig zu sprunghaften Neuerungen kommt. Was materielle Güter zur Identitätsbildung beizutragen vermögen, ist in modernen Konsumdemokratien weitgehend ausgeschöpft. Die darauf folgende Steigerungsstufe besteht dann eben darin, den individuellen Aktionsradius auszuweiten, um mehr aus sich rauszuholen im Sinne des Konsums von Erlebnissen. +Ich selbst als über 40-Jähriger finde mich in Ihrer These durchaus wieder. Aber junge Menschen empfinden das doch meist ganz anders und sind noch nicht so gesättigt. +Wissen Sie, es bedarf einer Fortschrittsgläubigkeit, die ich nicht habe, um sich über die Begrenztheit psychischer Ressourcen hinwegsetzen zu wollen. Die jungen Leute sind einer historisch nie dagewesenen Reizüberflutung und Optionenvielfalt ausgesetzt. Zugleich konnte die Evolution nicht schnell genug nachrüsten, das heißt, der heutige Mensch hat keine signifikant höhere Hirnleistung als ein Steinzeitmensch. Dies nicht einsehen zu wollen hat einen Preis, den wir noch gar nicht abschätzen können. Je mehr digitales Spielzeug, konsumtiven Komfort, Mobilität und Reizdröhnungen wir jungen Menschen angedeihen lassen, desto mehr verkümmern bestimmte Fähigkeiten. Zudem entbrennt eine Verwendungskonkurrenz um knappe, niemals vermehrbare Aufmerksamkeit. Konkret: Was ich an Aufmerksamkeit dem Smartphone widme, steht nicht mehr für das Lernen schulischer Inhalte zur Verfügung. Das Resultat ist eine Mischung aus Verblödung und langsamer Senkung der Ansprüche unseres Bildungssystems, das ja darauf beruht, immer mehr Menschen zu Akademikern werden zu lassen. Das wiederum senkt die Leistungsfähigkeit der späteren Arbeitnehmer und somit die Produktivität der Wirtschaft. +Sollten wir nicht froh sein, dass wir in materiellem Wohlstand leben und diese Konsummöglichkeiten haben? Viele Menschen in weniger wohlhabenden Ländern beneiden uns darum. +Gegenfrage: Wer gibt uns das Recht auf diesen Wohlstand, von dem jeder weiß, dass er ökologisch verantwortungslos ist und nicht das Resultat eigener physischer Arbeit sein kann? +Werden die Menschen so weiterkonsumieren, oder erwarten Sie einen gesellschaftlichen Wandel hin zum Konsumverzicht? +Beides findet parallel statt. Es gibt gleichzeitig rücksichtslose Egomanen und postwachstumstauglich lebende Zeitgenossen. Letztere nehmen eine sehr wahrscheinliche Zukunft vorweg. An diesen Pionieren können sich andere orientieren, wenn der Laden, so wie in Griechenland, zusammenkracht. +Was ist für Sie Lebensqualität? +Gefühltes Wohlergehen bei gleichzeitigem Bewusstsein, nicht über die materiellen Verhältnisse zu leben. +Niko Paech ist Volkswirt und hat seit 2010 eine Gastprofessur am Lehrstuhl für Produktion und Umwelt ("PUM") an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Schwerpunktmäßig forscht er in den Bereichen Umweltökologie, Ökologische Ökonomie und Nachhaltigkeitsforschung. Sozusagen: Alles im grünen Bereich bei ihm. diff --git a/fluter/kurze-geschichte-der-finanzkrisen.txt b/fluter/kurze-geschichte-der-finanzkrisen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4908a4a9ae40bee88f1d2d290c6566117b4e2962 --- /dev/null +++ b/fluter/kurze-geschichte-der-finanzkrisen.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Seit der Eurokrise denkt man bei dem Wort "Schulden" sogleich an Griechenland. Dabei galt lange Zeit ein ganz anderes Land als Paradebeispiel für den Pleitestaat: Österreich.Zu Beginn des 19. Jahrhunderts schwelgt die Habsburgermonarchie im Überfluss. Während Napoleon auf seinem Siegeszug durch Europa ist, sorgt man sich in Österreich so gar nicht um das liebe Geld. Die Kriegskonjunktur lässt die Geschäfte florieren. Kaiserin Maria Ludovica gibt sogar in Auftrag, "exotische Gemächer" in der Hofburg zu erbauen – 1808 eröffnet der Apollosaal, ein Ort des Vergnügens. Doch als Wien 1809 von Napoleon besetzt wird, löst sich der einstige Wohlstand in Luft auf. Der Staatsbankrott folgt zwei Jahre später. +Finanzkrisen gehörten bei den Habsburgern jahrhundertelang dazu: Allein die spanische Linie der Dynastie musste von 1557 bis 1700 sechsmal einen Zahlungsausfall verkünden. Fünfmal gerieten die Wiener Habsburger im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Zahlungsschwierigkeiten. +Die Niederlande im 17. Jahrhundert: Gegenstand der für Finanzkrisen typischen Spekulationsblase waren Tulpen. Sie waren damals in Mitteleuropa kaum bekannt und wegen ihrer leuchtenden Farben und ihrer Seltenheit zum Statussymbol geworden. Vom Handel mit den Tulpenzwiebeln versprachen sich viele das schnelle Geld. Da die Zwiebeln rar waren, handelte man aber nicht mit Tulpenzwiebeln, die man tatsächlich besaß, sondern mit dem Anrecht auf ihren Besitz – wie es heute auch an der Börse üblich ist. In den 1630er-Jahren erreichten die Preise für Tulpenzwiebeln ihren Höchststand. Einige Historiker gehen davon aus, dass eine Zwiebel bis zu 5.000 Gulden kostete – für das Geld bekam man damals ein gut ausgestattetes Eigenheim. Das war irgendwann selbst den Reichen zu teuer – im Februar 1637 platzte die Blase: Käufer blieben aus, die Preise fielen schneller, als sie gestiegen waren. +Die Goldenen Zwanziger bescherten der Wirtschaft einen Aufschwung und damit einen Optimismus, von dem die Menschen sich zur Spekulation hinreißen ließen. Der angestrebte Lebensstandard – jeder wollte etwa ein Auto oder ein Radio besitzen – wuchs rasant. Die Einkommen stiegen jedoch nicht schnell genug, um diese Bedürfnisse zu befriedigen. So versuchten auch weniger Wohlhabende ihr Glück mit den großzügigen Krediten der Banken. An der Börse kaufte man auf Pump, Spekulanten trieben den Aktienpreis immer weiter in die Höhe. Doch mit einem einsetzenden Konjunkturabschwung fielen Kursgewinne aus, Wertpapiere wurden nicht mehr nachgefragt. +Am 24. Oktober 1929 brachen die Kurse ein, und der US-Aktienmarkt verlor über 50 Prozent seines Wertes. Beginnend mit diesem sogenannten "Schwarzen Donnerstag" geriet die US-Wirtschaft für rund ein Jahrzehnt in eine starke Abwärtsspirale – die "Große Depression". Deflation, Bankenkrisen, Massenarbeitslosigkeit sowie soziale und politische Unruhen waren die Folge. Und nicht nur die Vereinigten Staaten hatten darunter zu leiden, sondern auch die Länder, die volkswirtschaftlich eng mit den USA verbunden waren. +Zwischen 1929 und 1933 ging infolge des Börsencrashs fast jede zweite amerikanische Bank pleite. Auch in Europa bedeutete dies das Aus für zahlreiche Banken. Als dort 1930 der Konsum einbrach, gleichzeitig die Arbeitslosigkeit stieg und die Steuereinnahmen zurückgingen, war die Krise auch in Europa angekommen. +Die Erfahrung zeigt: Die Welt hat schon viel mehr als einen Crash erlebt. Denn Finanzkrisen sindTeil unseres Wirtschaftssystems– und sie können sich auch in Zukunft wieder ereignen. + + diff --git a/fluter/kuscheln-bis-das-blut-spritzt.txt b/fluter/kuscheln-bis-das-blut-spritzt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d7431127abbe090742f4e3ca03d725718d9e73f6 --- /dev/null +++ b/fluter/kuscheln-bis-das-blut-spritzt.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Andy Fetscher: Das erste Mal richtig Angst hatte ich bei "Alien", den habe ich mit sechs Jahren gesehen, weil mein äl­terer Bruder mich gezwungen hat. +Hat es dir dennoch gefallen? +Die erste Stunde war fürchterlich, aber danach war ich einfach nur gefesselt. Es gibt eine faszinierende Szene, in der der Android mit einem Feuerlöscher in Stücke geschlagen wird und das weiße Blut aus ihm rausspritzt. +Was ist eigentlich das Tolle daran, sich durch Filme Angst einjagen zu lassen? +Ich finde das Horror-Genre deswegen so wichtig, weil es eine reinigende Wirkung auf uns Zuschauer hat. Es ist wie eine Achterbahnfahrt. Wenn du nach oben fährst, fängt dein Herz an zu klopfen und du weißt: Jetzt kommt der schlimmste Moment deines Lebens. Aber danach bist du unglaublich erleichtert, weil du diese wahnsinnige Tortur überstanden hast. +Filme, die Angst machen, tun den Menschen also gut? +Ein Freund von mir hat seiner Freundin zumindest spontan einen Heiratsantrag gemacht, nachdem die beiden "The Sixth Sense" im Kino gesehen hatten. Es hat mich beeindruckt, dass ein Film so was auslösen kann. Nicht umsonst suchen sich viele amerikanische Teenager bevorzugt Horrorfilme im Kino aus, weil man sich da so schön aneinanderkuscheln kann. +Der Horrorfilm-Regisseur George A. Romero verarbeitete in "Die Nacht der lebenden Toten" angeblich die Rassen- und Studentenunruhen während des Vietnamkriegs. Versteckst du auch politische Botschaften in deinen Filmen? +Horrorgeschichten waren schon immer prädestiniert dazu, auf eine parabelartige Weise politische Botschaften zu vermitteln. Romero ist da der Klassiker. Aber ich will mit meinen Filmen einfach nur unterhalten, eine politische Message habe ich nicht. +Warum gibt es hierzulande so wenige Regisseure, die Horrorfilme drehen? +Das Genre ist verpönt. Auch ich hatte da schnell meinen Stempel weg. Die meisten Horrorfilmregisseure führen ein Schattendasein, weil die Filmförderungsanstalten in Deutschland Angst haben, solche Filme zu unterstützen. Es gibt im Grunde keinen Weg, einen Horrorfilm zu machen – außer man finanziert ihn privat. +Reagieren Menschen auf der ganzen Welt gleich auf Horrorfilme? +Jedes Land hat seinen eigenen Code für Horror und Angst. Im asiatischen Horrorfilm sind zum Beispiel öfter lange, schwarze Haare oder Wasser zu sehen. Das sind Sachen, die den Menschen dort eiskalte Schauer über den Rücken laufen lassen. Bei uns spielt dagegen eher das Thema der Schuld eine große Rolle. +Müssen denn Horrorfilme immer so wahnsinnig brutal sein? +Nein, Angst kann auch sehr diffus erzeugt werden indem man mit dem Unter­bewusstsein spielt. In den besten Horrorfilmen sieht man ja auch nicht viel. Ich finde aber, dass man an ein, zwei Stellen in einem Film doch etwas zeigen sollte. +In deinem Film "Urban Explorer" wird eine der Hauptpersonen gehäutet … +Ich hatte gar nicht geplant, so wahnsinnig brutal zu werden. Aber das ist eben der Brocken Fleisch, den ich dem Zuschauer hinwerfen wollte. +Trotzdem ganz schön heftig … +Na ja. Im "Tatort" habe ich mal gesehen, wie ein Mörder fünf oder sechs Mal mit dem Jeep über eine Frau gefahren ist, und die hat immer noch gelebt. Das war wesentlich schlimmer als in manchen Filmen, die eine Altersfreigabe ab 18 bekommen. +Fabian Dietrich ist nicht so der schreckhafte Typ. Der Journalist (u.a. Fluter, Dummy) fürchtet sich aber sehr bei Filmen von Lars von Trier, Michael Haneke und Gaspar Noé. diff --git a/fluter/l-word-generation-q-fortsetzung-serie.txt b/fluter/l-word-generation-q-fortsetzung-serie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e68c5345fb921a803f0dd1efc4ddf41c4d369b07 --- /dev/null +++ b/fluter/l-word-generation-q-fortsetzung-serie.txt @@ -0,0 +1,34 @@ + + +Sophya, 24 +"Ich habe die Serie mit 19 gesehen, ein Jahr nach meinemOuting. Meine damalige Freundin wollte gar nicht glauben, dass ich die Serie nicht kenne – so ziemlich jede lesbische Frau hatte sie geschaut. Ich dann also auch. +Ich konnte mich gleich mit Bette identifizieren. Es gibt viele Parallelen zwischen ihrem Charakter und mir. Wir beide arbeiten in einer Galerie,sind mit einer bisexuellen Frau zusammenund People of Color mit einem schwarzen Elternteil. +Ich bin aber froh, dass ich ‚The L Word' nicht in meiner Pubertät geschaut habe – sonst hätte mir der kritische Blick gefehlt. Die Show macht viel richtig, aber auch vieles falsch:Transpersonenwerden nicht gut dargestellt, die Serie kommt ziemlich bi-feindlich rüber, People of Color sind superwild, aufbrausend und haben am meisten Sex. +Die neue Staffel habe ich bereits gesuchtet. Es gibt einfach zu wenige Filme und Serien, in denen lesbisches Leben repräsentiert wird, vor allem im Mainstream. Bei aller gerechtfertigten Kritik wünsche ich mir deshalb auch, dass möglichst viele Menschen die Serie anschauen. Und dass ich viele weitere Staffeln sehen kann." + +Rosalie, 29 +"Als ich ‚The L Word' geschaut habe, war ich 22 und mit einem Mann zusammen. Ich stand kurz vor meinem Outing, über das ich im konservativen Erlangen mit niemandem sprechen konnte. Die Serie hat mich also durch eine Zeit begleitet, die wirklich schwer war. +Ich habe Homosexualität nie für unnormal gehalten. Aber ich war verwirrt und wollte den Mann, mit dem ich in einer Beziehung war, nicht verletzen. ‚The L Word' hat mir vermittelt, dass es völlig in Ordnung ist, dass mir mein Outing schwerfällt und dass ich mir Zeit lasse. Außerdem hat mir die Serie gezeigt, dass auch Lesben Eltern werden können. +Die erste Staffel von 2004 schaue ich gerade mit meiner Freundin – und muss sagen: Ich finde sie immer noch gut. Die Fortsetzung ‚Generation Q' sehe ich mir auf jeden Fall an. Ich hoffe, dass sie mehr Themen abseits von Homo- und Heterosexualität abbildet." + +Fiona, 24 +"Nach queeren Inhalten habe ich zum ersten Mal mit 13 gegoogelt. So kam ich auf ‚The L Word', das ich mir heimlich im Kinderzimmer angeschaut habe. Damals wusste ich, dass ich weder homo- noch heterosexuell bin; heute weiß ich, dass ich bisexuell bin. +Teenager, die ihre Sexualität infrage stellen, fühlen sich merkwürdig. Queerness in den Medien zu zeigen kann das ein bisschen ändern. ‚The L Word' hat mir gezeigt,dass es mehr als die eine heteronormative Gesellschaft gibt, so richtig identifizieren konnte ich mich aber mit keinem Charakter. Kein Wunder: Der Schauplatz Los Angeles war ganz anders als meine Realität in Neuss, wo ich aufgewachsen bin, und Bisexualität war in der Show immer eher der Running Gag: Die einzige Bisexuelle wurde geshamt. +Die Neuauflage schaue ich mir auf jeden Fall an. Ich bin gespannt, wie die Themen heute behandelt werden und wie die queere Szene gezeichnet wird. Ich schätze, für viele problematische Inhalte der alten Staffeln gab es damals einfach zu wenig Aufmerksamkeit – in den vergangenen Jahren hat sich aber viel getan." + + + + + + +von Eva Tepest +Im Mittelpunkt der "Generation Q" stehen drei altbekannte Gesichter: Alice (Leisha Hailey) hostet eine "Ellen"-ähnliche Talkshow, Shane (Katherine Moennig) hadert immer noch mit Anspruch (glückliche Ehe) und Realität (betrunkener Sex mit Angestellter) ihres Liebeslebens und Bette (Jennifer Beals) kandidiert als Bürgermeisterin von Los Angeles. So weit, so konsistent. +Immerhin: Die "Generation Q" lebt und liebt nicht mehr im alten LGBTI-Szeneviertel West Hollywood, sondern im Hipsterstadtteil Silver Lake und wird dort von einem halben Dutzend neuer Charaktere aufgemischt. +Und obwohl die Fortsetzung Filmbusiness gegenLatinx Communityeintauscht und schicke Boutiquen gegen Kunstgalerien: Silver Lake ist teuer. Und ultragentrifiziert. Das haben Reboot und Original gemein: Die meisten Charaktere im "The L Word"-Universum sind wohlhabend oder zumindest Mittelschicht. Es war und bleibt eine Serie, bei der selbst diejenigen am unteren Ende der Einkommensleiter Zugang zu einem Swimmingpool haben. +Das Reboot ist der "Generation Q" gewidmet, aber so ganz abgemeldet ist die Generation L (von links: Alice, Shane und Bette) noch nicht + +Pluspunkte sammelt "Generation Q" auf einem anderen Gebiet: Diversität. So ist Transmann Micah (Leo Sheng) anders als Max (Daniela Sea) im Original nicht zu ewigem Leid verdammt, sondern ein halbwegs ausgestalteter Charakter. In einer Nebenrolle gibt es zumindest eine Transfrau (gespielt von "Sense8"-Star Jamie Clayton), und insgesamt sind so viele nichtweiße Darsteller*innen vertreten wie wahrscheinlich in allen sechs Staffeln des Originals zusammen. +DieDiversitätsbemühungenzeigen sich auch im Plot der Show:Opioidkrise?Check! Religion und Queerness? Check!ObdachloseLGBTI-Jugendliche? Check! Vor lauter angestrengter Themenvielfalt kommt nur leider die Entwicklung der Charaktere zu kurz. +Das liegt auch daran, dass Shane, Bette und Alice die Fixsterne des Reboots darstellen – nicht zuletzt, weil sie die Vorgesetzten der neuen Hauptfiguren sind. Diese Hierarchie lässt sich vielleicht erklären – die Altvorderen Beals, Moennig und Hailey haben "Generation Q" mitproduziert –, lähmt aber den Spannungsaufbau. Eine Serie, deren Qualitätsmerkmal es ist, eine lesbisch-queere Serie zu sein, hätte durchaus die Gelegenheit gehabt,Generationenkonflikte mehr herauszuarbeiten: Was bedeutet es, wenn sich immer weniger Personen als lesbisch identifizieren? Wie geht die Community mit dem Erbe von Bi- und Transfeindlichkeit um? In solchen Konflikten gerät "Generation Q" wesentlich uninteressanter als die Sky-Serie "Work in Progress", in der Butch Abby einen wesentlich jüngeren Transmann datet, oder die Webserie "Her Story" über das lesbische Coming-out der Transfrau Violet (Jen Richards). +Seit "The L Word" 2004 Premiere feierte, hat sich zum Glück einiges getan auf den Bildschirmen. Serien wie "Pose" und "Transparent" haben komplexe queere Charaktere in den Mittelpunkt gerückt, das ziemlich lesbische "Orange Is The New Black" ist eine der meistgesehenenNetflix-Serien. Trotzdem ist sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in Serien und Filmen immer noch dramatisch unterrepräsentiert. Allein aus diesem Grund ist es erfreulich, dass "Generation Q" bereits für eine zweite Staffel verlängert wurde. Bleibt zu hoffen, dass die Showrunner ein paar aufmüpfigere Storys liefern. +"The L Word – Generation Q" läuft ab 15. April auf Sky und Sky Ticket. Alle sechs Staffeln "The L Word" seht ihr bei Amazon Prime. diff --git a/fluter/la-mif-film-rezension-berlinale.txt b/fluter/la-mif-film-rezension-berlinale.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1efee09591aedbb8ce8abcf082933b7c4798c008 --- /dev/null +++ b/fluter/la-mif-film-rezension-berlinale.txt @@ -0,0 +1,8 @@ + +"Mif" bedeutet "Familie" in der französischen Jugendsprache "Verlan", die so funktioniert, dass sie die Silben einzelner Worte umdreht. Die Frage, was eineFamilieeigentlich ausmacht und was passiert, wenn man sich in der eigenen nicht geliebt oder geschützt fühlt, zieht sich durch den gesamten Film. Regisseur Fred Baillif, der mit "La Mif" bei der Berlinale den Großen Preis der Internationalen Jury für den besten Film im Wettbewerb 14plus gewonnen hat, spart darin auch unangenehme Themen nicht aus: Es geht umEinsamkeit,Suizidgedankenund immer wieder umsexuellen Missbrauch. In einem Interview erklärte Baillif, was ihm dabei besonders wichtig war: "Ich habe gelernt", sagte erdem US-amerikanischen Magazin "Variety", "dass das Problem bei sexuellem Missbrauch nicht nur der Täter ist. Das Hauptproblem sind die Komplizen, die nichts wissen und nichts tun. Die Mutter, die Großmutter, der Onkel, wer auch immer es ist. Denn es geschieht meist innerhalb der Familie." +Baillif, der selbst Sozialarbeit studiert hat, arbeitete für seinen Film mit Laiendarstellerinnen. Über zwei Jahre tauschte er sich mit den Mädchen, die in "La Mif" zu sehen sind, über deren Leben aus, ihre realen Geschichten flossen in die Handlung ein, und auch die Dialoge sind zum Großteil improvisiert. Das Filmmaterial arrangierte Baillif anschließend in Kapiteln, in denen jeweils eine der Hauptfiguren (nur einmal sind es zwei) im Mittelpunkt steht. Da so die einzelnen Handlungsstränge nacheinander erzählt werden, obwohl sie eigentlich parallel stattfinden und zum Teil ineinander verwoben sind, ist es zu Beginn nicht leicht, den Überblick zu behalten. Doch nach und nach setzt sich die Geschichte wie ein Puzzle zusammen. Durch den ständigen Perspektivwechsel ist der Film – trotz der teils schweren Themen – unterhaltsam und zeigt viele unterschiedliche Facetten des Jugendheim-Alltags. Gleichzeitig bleiben die einzelnen Geschichten dadurch etwas oberflächlich. Es gibt nur wenig Entwicklung bei den Charakteren, der Film zeigt eher eine Momentaufnahme. + +"Sexualität ist kein Verbrechen. Sie muss beigebracht werden." Das sagt Heimleiterin Lora, als sie sich vor einem Ausschuss verantworten muss, nachdem die 17-jährige Audrey mit einem 14-Jährigen Sex hatte. Das ist in der Schweiz nicht per se strafbar, aufgrund des Altersunterschiedes muss es aber genauer geprüft werden. Die Szene verdeutlicht, dass die verantwortlichen Behörden die Bewohnerinnen eher als Kriminelle denn als Schutzbedürftige wahrnehmen. Aber auch, wie stark einzelne Sozialarbeiterinnen für ihre Bewohnerinnen einstehen, ungeachtet möglicher Konsequenzen. +"La Mif" ist nah dran. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Die Kamera ist mittendrin im Geschehen, folgt den jungen Protagonistinnen auf Schritt und Tritt. Dass die Bilder dabei auch mal unscharf oder verwackelt sind, lässt die Handlung, bei der ja ohnehin schon die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen, noch authentischer wirken. Auch wenn manche Szenen etwas klischeehaft erscheinen, zum Beispiel wenn sich Alison und Caroline mit einem älteren Mann sehr krawallig wegen einer Zigarette streiten oder die "I don't give a fuck"-Socken eines der Mädchen präsent vor der Kamera platziert werden, ist der Film dennoch eindrücklich. Denn "La Mif" macht deutlich, wie schutzlos sich viele junge Menschen in ihrem eigenen Zuhause fühlen. Und dass es an jedem von uns liegt, genau hinzusehen – auch in der eigenen Familie. + +"La Mif" läuft am 12. und 14. Juni auf demBerlinale Summer Special. diff --git a/fluter/la-nina-wetterphaenomen-hunger.txt b/fluter/la-nina-wetterphaenomen-hunger.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/laeuft-ja-bombig.txt b/fluter/laeuft-ja-bombig.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d1717bbff3f37597c4f94d06162fcb09393d348a --- /dev/null +++ b/fluter/laeuft-ja-bombig.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Die Marshallinseln haben ein berechtigtes Interesse an Abrüstung. Nach dem Zweiten Weltkrieg führten die USA 67 Atomwaffentests auf den Marshallinseln durch. Die Konsequenzen für die Gesundheit der Bewohner und die Umwelt waren katastrophal. Die indigene Bevölkerung des Bikini-Atolls wurde zwangsumgesiedelt und ist bis heute nicht auf die Inselgruppe zurückgekehrt. Auch andere Atolle in der Region wurden bei Atomtests verstrahlt. Nach der Zündung der Wasserstoffbombe "Castle Bravo", der größten jemals von den USA eingesetzten Bombe mit einer Sprengkraft von 1000 Hiroshima-Bomben, berichteten Anwohner von Fehlgeburten, Missbildungen bei Babys sowie Krebserkrankungen. Abseits des Inselstaats ist das Interesse an der Abrüstung von Atomwaffen derzeit aber eher klein. +Tatsächlich gibt es auf der Welt immer weniger Atomwaffen. Die Sowjetunion besaß Mitte der 1980er-Jahre allein etwa 40.000 nukleare Sprengköpfe, die USA rund 23.000. Im Kalten Krieg von 1947 bis 1989 lieferten sich beide Supermächte einen Rüstungswettlauf, der zwar in einige Stellvertreterkriege mündete, etwa in Vietnam und Afghanistan. Die massenhafte Produktion von Atombomben sollte dabei zum einen militärische Macht demonstrieren und zum anderen abschrecken: Greifst du mich an, schieße ich aus vollem Rohr zurück – und dann bleibt kein Stein mehr auf dem anderen. Ein Angriff mit Atomwaffen wurde aber letztlich nie befohlen, auch wenn es zum Beispiel während der Kuba-Krise 1962 fast dazu gekommen wäre.2009 war das Thema noch hochaktuell. Barack Obama war frisch gewählter US-Präsident, und Menschen auf der ganzen Welt lag sein "Yes, we can" in den Ohren. Das beeindruckte auch das norwegische Nobelkomitee, das Obama auszeichnete "für seine außergewöhnlichen Bemühungen zur Stärkung der internationalen Diplomatie und zur Zusammenarbeit zwischen den Völkern". Damit meinten sie vor allem Obamas Vision einer "Welt ohne Atomwaffen". Was ist also daraus geworden? +Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 1990er-Jahre war dann die massenhafte Rüstung nicht mehr entscheidend. 2010 konnten Obama und der damalige russische Präsident Medwedew auch im Rahmen eines neuen START-Vertrages vereinbaren, ihre Atomwaffenarsenale auf unter 1.550 Sprengköpfe zu senken. Im Juni 2013 kündigte Obama sogar an, dass die USA ihr Arsenal auf etwa 1.000 Stück reduzieren könnten. +Trotzdem arbeiten alle Atommächte emsig daran, ihre Waffen "intelligenter" zu machen: Gemeint ist damit, dass die Atomsprengköpfe besser lenkbar und flexibler einsetzbar sein sollen. Wenn man bessere Waffen hat, braucht man davon auch nicht mehr so viele.Die Verkleinerung der Arsenale bedeutet aber nicht, dass die Atommächte den Nuklearwaffen grundsätzlich abgeschworen hätten. Tatsächlich geht mit der Reduzierung der Zahl auch eine Modernisierung des Waffenarsenals einher. Neben den USA und Russland haben seit den 1950er- beziehungsweise 1960er-Jahren auch Großbritannien, Frankreich und China die Atombombe. Diese fünf Staaten sind auch ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats und haben den Atomwaffensperrvertrag initiiert, der die weitere Verbreitung von Atomwaffen verhindern soll. Später kamen zu den Atommächten noch Indien, Pakistan und Nordkorea hinzu, die zusammen mit Israel derzeit die einzigen Länder sind, die den Atomwaffensperrvertrag aktuell nicht unterzeichnet haben. Doch auch Israel besitzt Atomwaffen: Der Nukleartechniker Mordechai Vanunu deckte Mitte der 1980er Jahre das Atomprogramm des Landes auf, und auch Ministerpräsident Olmert stellte Israel schon in eine Reihe mit anderen Atommächten. Offiziell räumt das Land aber den Besitz von Atomwaffen nicht ein. Überwacht wird die Einhaltung des Sperrvertrages von der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO). Die UN-Konferenz für Abrüstung (UNCD) hat das Ziel, Abrüstungsabkommen auszuhandeln. +So kann man davon ausgehen, dass eine gänzlich atomwaffenfreie Welt erst einmal nicht realistisch ist. Denn der Besitz solch mächtiger Waffen bedeutet einen großen Verhandlungsvorteil in der Außenpolitik. Daher wollen auch andere Staaten ein Stück des nuklearen Kuchens. Dem Iran wird seit Jahren vorgeworfen, eine Atombombe entwickeln zu wollen. Außerdem befürchten viele Staaten, dass Atomwaffen in die Hände von Terroristen fallen könnten. In Pakistan etwa haben islamistische Extremisten schon mehrfach erfolglos nukleare Anlagen des Staates angegriffen. Aber auch in anderen Ländern könnten Terroristen theoretisch versuchen, Atombomben zu erbeuten. +Das sei heutzutage angesichts der Ukraine-Krise wieder ein wichtiges Abschreckungsmittel, betonen einige Verteidigungspolitiker. Vor Ort fordern die Aktivisten der Bürgerinitiative "atomwaffenfrei. Jetzt" allerdings seit Jahren nachdrücklich, die Bomben in die USA zurückzuverlegen. Die Lagerung sei teuer, umweltschädlich und unethisch. Stattdessen werden aber wohl auch die Sprengköpfe in Büchel modernisiert. So liegen sie, ausgestattet mit neuen Lenksystemen, in rheinland-pfälzischen Bunkern und warten darauf, im Ernstfall verwendet zu werden.Das betrifft auch Deutschland. Im Koalitionsvertrag einigten sich die Koalitionäre im letzten Jahr darauf, sich für den Abzug von Atomwaffen aus Deutschland und Europa einzusetzen. Nach dem Prinzip der sogenannten nuklearen Teilhabe sollen alle Mitgliedsstaaten der NATO, also auch Deutschland, das den Atomwaffensperrvertrag unterschrieben hat, durch die Bomben der anderen Mitglieder geschützt werden. Im Gegenzug sollen Piloten und Flugzeuge nicht nuklearer NATO-Staaten im Kriegsfall gegen Länder mit Massenvernichtungswaffen US-Atomwaffen einsetzen können. Und deshalb gibt es hierzulande noch immer taktische Atomwaffen: Am Fliegerhorst Büchel in der Eifel liegen bis zu 20 US-Nuklearwaffen, die der NATO zur Verfügung stehen. Im Notfall, also etwa bei einem kriegerischen Angriff auf Westeuropa, könnten diese dann von deutschen Piloten mit Tornado-Kampfflugzeugen über Feindesland abgeworfen werden. +Auch die Marshallinseln kämpfen weiter für eine Abrüstung. Im nächsten Jahr soll sich deshalb zum Beispiel Großbritannien zum ersten Mal wegen seiner Atomwaffenpolitik vor dem Internationalen Gerichtshof verantworten. Aber selbst eine Verurteilung der Atommächte wird vermutlich nichts ändern. Indien hat bereits erklärt, dass es den Gerichtshof in Den Haag nicht für zuständig hält. Und die größte Atommacht der Welt, die USA, erkennt eine übergeordnete Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshof überhaupt nicht an. +Arne Semsrott ist freier Journalist und lebt in Berlin. Bei einer Reise in den Irak richtete ein Freund von ihm einmal eine Banane auf einen Soldaten und rief "Peng". Der Soldat fand es zum Glück lustig. + +Titelbild: Stock Montage/Getty Images diff --git a/fluter/lage-fluechtender-menschen-in-bosnien.txt b/fluter/lage-fluechtender-menschen-in-bosnien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f3e38c4754a6fc8c706cc46fcc1982f0e30c8a43 --- /dev/null +++ b/fluter/lage-fluechtender-menschen-in-bosnien.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Die EU-Staaten haben sich darauf geeinigt, dass man auch an der Außengrenze schnelle Asylverfahren beantragen kann. Das Recht auf Asyl ist fest in EU-Regelwerken verankert. Die Realität an den GrenzenBosnien-Herzegowinassieht jedoch anders aus. Die Flüchtenden haben de facto kaum eine Möglichkeit, einen Asylantrag in der EU zu stellen – und hängen fest. +Verschärft hat sich die Lage mit dem Brand im Camp Lipa kurz vor Weihnachten. Zwar haben die Behörden Bosnien-Herzegowinas versucht, neue Camps zu errichten und bestehende leere zu reaktivieren. Dies scheiterte aber am Widerstand der Kommunen. Auch die EU-Mitgliedstaaten konnten sich trotz der Alarmsignale zahlreicher Menschenrechtsorganisationen nicht dazu durchringen, den Flüchtenden eine sichere Einreise zu gewähren und eine Prüfung ihrer Asylgesuche zu garantieren. Das Camp Lipa, das ursprünglich nur für den Sommer während der Pandemie genutzt werden sollte, war schnell überfüllt. Und es ist für den Winter mit Minustemperaturen absolut ungeeignet. Rund 1.000 Menschen, darunter auch viele Jugendliche, leben nun in dem Camp ohne Dach, ausreichend Lebensmittel, Kleidung und medizinische Versorgung. Hinzu kommt, dass viele Hundert Menschen in den Ruinen und Wäldern rund um die beiden Städte Bihać und Velika Kladuša ausharren. Wir haben mit sechs Flüchtenden gesprochen: + +Das Erste woran ich denke, wenn ich morgens aufwache, ist, dass ich einen Asylantrag in Belgien stellen will. Ich hoffe, irgendwann meine Familie in Pakistan unterstützen zu können. +Befarwa Musafer, 19 Jahre, aus Pakistan +In den letzten acht Monaten habe ich viermal versucht, über die kroatische Grenze in die Europäische Union zu flüchten. Erfolglos. Die kroatische Grenzpolizei hat wahllos mit Schlagstöcken auf uns eingeschlagen, Pfefferspray gesprüht und uns wieder zurück an die bosnische Grenze gebracht. Einer hat mir mit seiner bloßen Faust ins Gesicht geschlagen. Wenn ich sehe, dass sie anfangen, uns zu schlagen, versuche ich, mein Gesicht und meinen Körper zu schützen. Ich wehre mich nicht, damit die Polizisten nicht noch wütender werden. Mein Cousin wurde von vier Personen gleichzeitig verprügelt, sie haben ihm die Nase gebrochen. Sein Gesicht war so geschwollen, dass er seine Augen tagelang nicht richtig öffnen konnte. Anschließend nahmen sie uns die Rucksäcke, die Schlafsäcke, die Handys, unsere Powerbanks, unser Geld, die meiste Kleidung und unsere Schuhe ab. Ich weiß nicht, was sie mit den Handys und dem Geld gemacht haben, aber den Rest haben sie in der Nähe des Grenzübergangs in ein Loch geschmissen und verbrannt. Danach haben sie uns in der Nähe eines bosnischen Grenzübergangs aus dem Auto geschmissen. + +Asheaq, 26 Jahre, aus Kaschmir +Ich bin 26 Jahre alt und habe in Pakistan Medizin studiert. Hier in Bosnien habe ich keine Unterkunft, keine medizinische Versorgung, keine Möglichkeit, mich zu waschen. Die Situation ist katastrophal, und die Temperaturen liegen unter dem Gefrierpunkt. Wir organisieren uns in kleinen Solidargemeinschaften, weil hier niemand dazu in der Lage wäre, alleine zu überleben. Dabei kümmern wir uns um das Notwendigste und teilen unsere Ressourcen untereinander auf. +Ich weiß nicht, was mit uns passieren soll, wie viele Tage wir es hier noch aushalten. Es gibt keinen anderen Ort, an dem wir unterkommen, an den wir gehen könnten. Wenn wir versuchen, über die kroatische Grenze in die Europäische Union zu flüchten, werden wir zurückgedrängt. Die kroatische Polizei geht dabei sehr gewalttätig vor. Mein Freund wurde letzten Monat in Kroatien aufgegriffen. Sie haben ihn verprügelt und zurück an die bosnische Grenze gebracht. Er ist dann barfuß 75 Kilometer zurück ins Camp Lipa gelaufen. 75 Kilometer barfuß und ohne warme Kleidung! Das ist die Situation, mit der wir zu kämpfen haben. Wir sind auf uns gestellt. +Mohammed Han, 21 Jahre, aus Pakistan +Vor drei Jahren bin ich aus Pakistan geflüchtet. Nun bin ich seit zwei Jahren in Bosnien und habe inzwischen ungefähr 15-mal versucht, über die kroatische Grenze in die Europäische Union zu flüchten. Als die lokalen Behörden das Camp in Bihać letztes Jahr geschlossen haben, wussten wir nicht, wo wir hingehen sollen. Deswegen haben wir uns, eine Gruppe von zwölf Personen, entschieden, in die Ruine einer alten Fabrik zu ziehen. Dort gab es immer wieder Ärger mit zwei bosnischen Polizeibeamten, die mehrmals zu uns kamen und uns unsere Sachen abgenommen haben. Das war ein großes Problem, da wir beispielsweise ohne Handy keinen Kontakt zu unseren Familien oder zu freiwilligen Helfer*innen aufnehmen können. Sich hier ein neues Handy zu besorgen kostet zirka 130 Euro. Davon kann eine pakistanische Familie ungefähr einen Monat lang leben. Deshalb haben wir uns entschlossen, in dieses ausgebrannte abgelegene alte Haus umzuziehen. Hier versuchen wir jetzt, keine Aufmerksamkeit zu erregen und uns tagsüber so wenig wie möglich auf offener Straße aufzuhalten. +Haseeb Malik, 24 Jahre, aus Kaschmir +InKaschmirhabe ich Ingenieurwesen studiert und für die UN gearbeitet. Wir haben Schulen gebaut. In der Grenzregion, in der wir gearbeitet haben, gab es immer wieder terroristische Anschläge der pakistanischen Taliban. Eines Tages ist ein Sprengsatz in dem Gebäude explodiert, in dem wir gerade gearbeitet haben. Mein Vorgesetzter wurde dabei getötet, und ich bin schwer verletzt aus dem Gebäude entkommen. Als ich zurück nach Hause kam, sagte mein Vater zu mir, dass ich durch meine Tätigkeit für die UN nicht mehr sicher sei und das Land verlassen müsse. Also bin ich gegangen. Ich bin nun seit zwei Jahren unterwegs und seit fünf Monaten in Bosnien. Ich lebe in diesem leer stehenden Haus mit ungefähr 120 anderen Flüchtenden. Wir müssen uns vor der Polizei verstecken und sind vollkommen auf die Nahrungsmittel und Sachspenden von freiwilligen Helfer*innen angewiesen. Heute Morgen habe ich mit meiner Mutter telefoniert. Sie hat mich daran erinnert, dass morgen mein 25. Geburtstag ist. + +Muhammed Javed, 21, aus Afghanistan +Der Krieg hat inAfghanistanalles zerstört. Es gab für mich keine Möglichkeit, zu studieren oder einen Job zu finden. Also habe ich mich vor drei Jahren auf den Weg in die Europäische Union gemacht. Ich war ein Jahr in der Türkei, um dort zu arbeiten und mich auf die Weiterreise vorzubereiten. Dann bin ich über Griechenland, Mazedonien und Serbien nach Bosnien gekommen. Hier bin ich nun seit drei Monaten. Die Bevölkerung will uns nicht hier haben und respektiert uns nicht. Da es keine Möglichkeit gibt, irgendwo vernünftig unterzukommen, haben wir uns entschlossen, in diesem selbst gebauten Camp im Wald zu leben. Wir warten jetzt auf besseres Wetter, um vielleicht im März einen neuen Versuch zu unternehmen, über die kroatische Grenze zu kommen. Ich wünsche mir so sehr, dass ich in ein europäisches Land gehen kann, um dort studieren zu können und eine sichere Zukunft zu haben. + + +Ziaullah Zaheer, 26 Jahre, aus Afghanistan +Letzte Nacht [Anm. der Redaktion: 31. Dezember 2020] haben die Bewohner des Camps die Entscheidung getroffen, in einen Hungerstreik zu treten, da wir die Zustände, unter denen wir hier leben müssen, nicht länger akzeptieren wollen. Seit Monaten wird uns versprochen, eine Lösung zu finden oder dass sich die lebensgefährliche Situation hier verbessern wird. Bisher ist nichts passiert. Deshalb demonstrieren wir heute und werden zusammen für unsere Rechte kämpfen! Seit das Camp vor mehr als 10 Tagen abgebrannt ist, waren keine unabhängigen Beobachter*innen hier. Mit dieser Protestform bitten wir alle Menschenrechtsorganisationen eindrücklich, hierher zu kommen und sich mit der Situation all dieser Flüchtenden hier auseinanderzusetzen. Die Europäische Union muss sich endlich dafür einsetzen, eine sichere Flucht in ihre Mitgliedstaaten zu ermöglichen. Dieser Protest wird solange anhalten, bis wir nicht mehr wie Tiere behandelt werden und eine Lösung für uns gefunden wird! diff --git a/fluter/lagerung-von-radioaktivem-muell.txt b/fluter/lagerung-von-radioaktivem-muell.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1cef8781b31750209137aa8eaa742336f8250530 --- /dev/null +++ b/fluter/lagerung-von-radioaktivem-muell.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Das sind Zeiträume, die die menschliche Vorstellungskraft sprengen. Doch der Fairness halber sollten auch die Lebewesen, die in 24.000 Jahren die Erde bevölkern, noch über die atomare Gefahr Bescheid wissen. Es gab allerdings in der menschlichen Geschichte noch nie etwas, das einen derart langen Zeitraum überdauert hat. Zum Vergleich: Die Hieroglyphen der alten Ägypter, die zu den ältesten Schriftsystemen der Menschheit gehören, waren vor nicht mal 5.000 Jahren aktuell – heute jedoch versteht nur noch eine Handvoll Spezialisten, was uns die ägyptischen Schriftgelehrten sagen wollten. Und die Hieroglyphen-Warnungen vom angeblichen Fluch der Pharaonen haben kaum je einen Grabräuber oder Archäologen davon abgehalten, mal in den Pyramiden nachzusehen, ob sich da nicht etwas holen lässt. +In 16 Millionen Jahren – oder auch nur in 1.000 oder 10.000 Jahren – könnten Naturkatastrophen die Erde grundlegend verändert haben, doch auch die Menschen werden sich weiterentwickelt haben. Sie sind dann vielleicht so verschieden von uns wie wir von Neandertalern. Welche Sprachen werden diese Wesen dann sprechen, welche Form von Schriftzeichen werden sie verwenden? Werden sie überhaupt welche verwenden? Wie werden sie dann unsere Warnbotschaften verstehen? Das alles ist quasi unmöglich vorherzusagen. Trotzdem tüfteln Experten rund um die Welt an Kommunikationssystemen, die vor dem fast ewig strahlenden Müll warnen. Zwar schlugen einige Atomsemiotiker vor, die Endlager am besten gar nicht zu kennzeichnen. Die meisten Experten aber sind sich einig, dass wir glaubhafte Warnbotschaften in die Zukunft senden müssen. "Keine Kultur hat je bewusst und wissenschaftlich fundiert versucht, ein Symbol zu entwerfen, das 10.000 Jahre überdauert und immer noch verständlich ist", gibt der US-Anthropologe David B. Givens zu bedenken, der selbst an solchen Warnsystemen werkelt. +Dabei gibt es vor allem zwei Ansätze. Die eine Schule setzt zur dauerhaften Abschreckung auf massive Bauten mit wehrhaften Wällen. Darauf warnen comichafte Darstellungen oder Totenköpfe vor dem Strahlentod. Während diese Bollwerke abseits stehen sollen, pocht die andere Schule darauf, dass die Endlager möglichst in die Gesellschaft integriert werden. Nur so könnten die Informationen darüber, wie gefährlich diese Orte sind, von Generation zu Generation weitergereicht werden. Dabei sollten Regierungsbeiräte und Kommissionen über die Gefahren wachen und Warnungen oder Betriebsanleitungen regelmäßig in neue Sprachen übersetzen lassen. Schließlich zerfallen Informationen im Laufe der Zeit, ganz ähnlich wie radioaktive Stoffe. +Den vielleicht radikalsten Ansatz schlug der US-amerikanische Semiotikprofessor Thomas Sebeok vor: Er fabulierte Anfang der 1980er von einer "Atompriesterschaft", die ihre Mitglieder unter den besten Wissenschaftlern ihrer Zeit selbst auswählt. Die Mitglieder dieser Kaste sollten das Wissen um die reale Gefahr intern weitergeben – und nach außen Gruselgeschichten darüber verbreiten, unterfüttert von Mythen und ausgedachten Ritualen. So sollen die Menschen per Aberglauben vom Müll ferngehalten werden. diff --git a/fluter/lagos-comic-john-onajin-rezension.txt b/fluter/lagos-comic-john-onajin-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..049bb7bcc9dc884483e3d639715c88c84238b8eb --- /dev/null +++ b/fluter/lagos-comic-john-onajin-rezension.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Im Stil einer Telenovela – kurze dialogreiche Szenen in knalligen Farben treiben die Handlung voran, meist bleiben die Protagonist:innen dabei in einem Setting. Und wie es sich für eine Telenovela gehört, geht es vor allem um Zwischenmenschliches und jede Menge Drama: Tochter Keturah hat heimlich einen Freund und wird zugleich von einem jungen Pastor umworben, der für ihren Vater arbeitet. Ihr Bruder Godstime hat gleich zwei ungewollte Verehrerinnen und Stress mit seinem besten Freund, weil er zum Studieren nach Deutschland will. Patriarch Akpoborie wiederum zankt sich mit den Nachbarn über Lärmbelästigung, sein Bruder will sich Geld für zwielichtige Geschäfte leihen, und nebenbei müssen noch ein paar Laiendarsteller für das nächste "Wunder" in seiner Kirche organisiert werden. + + +Schon im ersten Drittel des Buches blitzen ernstere gesellschaftliche Entwicklungen auf, beispielsweise unterhalten sich zwei Frauen beim Friseur über ein Gesetz, das gleichgeschlechtliche Ehen und Liebesbeziehungen unter Strafe stellt. Und je tiefer der Comic ins Leben der Akpobories vordringt, desto tiefer blickt man als Leser:in in die Risse, die sich hinter der scheinbar heilen Vorstadtexistenz der Familie verbergen, in Tabus und Verbrechen. Am Ende geht es nicht mehr um kleine Dramen, sondern um große: um verbotene Liebe, um Missbrauch, Depressionen und Suizid. Weil Reverend Akpoborie bei alldem eine ziemlich schlechte Figur abgibt, ist "Lagos" auch eine deutliche Kritik an der Doppelmoral der Kirche – und außerdem an derhomophoben Stimmungin der nigerianischen Gesellschaft. + +Englisch ist in Nigeria offizielle Amtssprache, wird aber nicht von allen Menschen dort fließend gesprochen. Dazu gibt es mehr als 500 weitere Sprachen, im Großraum Lagos ist vor allem Yoruba verbreitet. Pidgin-Sprachen, eine Art vereinfachtes Englisch, dienen zur gegenseitigen Verständigung. Wer dabei was spricht – oder auch bewusst nicht spricht –, ist unter anderem Ausdruck der sozialen Schicht, ein Umstand, der auch im Comic abgebildet wird: Mutter Akpoborie etwa verbietet es ihrem Hausmädchen und ihren Kindern, Pidgin zu sprechen. In der deutschen Fassung von "Lagos" bleiben die vereinzelt auftretenden Pidgin-Sätze unübersetzt. An Dialoge wie "Ah Kyauta, long time. Ich dachte, du kommst nie mehr zurück. – My mama no well, deswegen" oder "Una hear say, das Homo-Gesetz ist jetzt durch? – Hmm I hear am o. Gestern im Radio" muss man sich erst mal kurz gewöhnen, dann verleihen sie dem Comic jedoch eine weitere Dimension. + + +Das Vermischen von Gesellschaftskritik und Alltagsgeschichte kann schnell sperrig und ungelenk wirken. Tut es hier aber nicht dank der sauberen handwerklichen Arbeit von Autor Elnathan John, dessen Erzählkonzept auch sonst voll aufgeht: Wie von einer guten Telenovela ist man von "Lagos" schnell gefangen und will unbedingt wissen, wie es weitergeht. Dass sich die Abgründe in und um Familie Akpoborie dabei erst nach und nach auftun, sorgt dafür, dass alles organisch wirkt. Dazu trägt auch der unaufgeregte Stil von Zeichner Àlàbá Ònájin bei, der die Straßen, Restaurants, Wohnräume und Busbahnhöfe von Lagos detailreich in Szene setzt und die Gesichter der Protagonist:innen so ausdrucksstark zeichnet, dass sich jede Gefühlsregung sofort überträgt. Durch die starke Dialoglastigkeit der Geschichte kann Ònájin allerdings die visuellen Möglichkeiten des Mediums Comic nur bedingt ausreizen. + +Alle Leute, dieimmer noch ein Bild von Afrika als Krisenkontinent ohne Mittel- und Oberschicht im Kopfhaben. Und zwar ganz gleich, ob man von einer afrikanischen Mittelschicht noch nie zuvor gehört hat oder ob man zwar theoretisch davon weiß, aber praktisch dann doch sehr überrascht ist, wenn manmit Bildern von ihr konfrontiertwird. Umso besser und wichtiger ist es, wenn es auch in Deutschland mehr Bilder, mehr Geschichten, mehr Anschauungsmaterial gibt, um solche Vorurteile nach und nach zu zerstreuen. + +"Lagos – Leben in Suburbia" von Elnathan John und Zeichner Àlàbá Ònájin ist im Avant Verlag erschienen. diff --git a/fluter/land-angedickt-mit-induschtrie.txt b/fluter/land-angedickt-mit-induschtrie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a185a06fb02a2d40c4ca1827b8451ddfdffece9b --- /dev/null +++ b/fluter/land-angedickt-mit-induschtrie.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +In BaWü ist das Land angedickt mit viel Induschtrie. So viel, dass ein jeder Arbeit ndet, der Arbeit nden will. In Bad Waldsee sitzt der Wohnmobilhersteller Hymer, im Nachbarka Aulendorf hat der Konkurrent Carthago gleich eine eigene "City" aus dem Boden gezogen, in der sich Wohnmobile wie römische Legionäre zu Hunderten in Schildkrötenformationen zusammenschließen. Drum herum fette Gewerbegebiete voller hässlicher Konsumbaracken, die Land fressen und Arbeitsplätze schaffen. +Fragen, die sich ein Landkind in Baden-Württemberg stellt: Wieso sollte ich weg, wenn ich hier alles habe? WG-Zimmer bezahlen, wenn ich auch eine ganze Wohnung bekommen kann? Und wenn ich in die Stadt will, dann bin ich in 20 Minuten in Ravensburg oder Biberach. Und wenn ich nach Neuseeland will, dann fahr ich eben zum Flughafen und fliege nach Neuseeland. +Notiz an mich selbst: Diese Landkinder haben dein Leben – und das Land! Es ist zehn Uhr morgens, und doch hat es schon zwanzig Grad. Ich stehe zusammen mit der Guten Beth in einem schlauchförmigen Gang. Sie hat ihre Augen halb geschlossen, ihr zarter Körper ist geronnen und zur Skulptur erstarrt. Daneben ein Bittbuch, in dem landfromme Pilger ihre Bittbuchpoesie niedergeschrieben haben: "Liebe Gute Beth, schick Nina u. Benny bald Nachwuchs. Sie wären so wundervolle Eltern. Danke." "Liebe Gute Beth, ich bitte dich um Heilung meiner Melancholie. Auch bitte ich um Beistand für meinen lieben Sohn in der Prüfungszeit. Danke" +"Ich bitte dich fon Heilung for ADHS. Noah" Auf dem Land ist der Glaube noch groß, das merkt man gleich, wenn man ins Bittbuch der Guten Beth schaut, einer Wunderheilerin aus dem 15. Jahrhundert, der im Kloster Reute gehuldigt wird. +Drei Nonnen sitzen im Schatten des Sonnenschirms, alle drei mit Brille, schwarzen Gewändern, die gescheitelten Haare unter hüftlangen Schleiern. Klara, 33, Leonie, 36, und Elisa, 38, sind die Jüngsten aus dem Konvent. "Land ist, als würde jemand kräftig auf deine inneren Bremsen treten. Land ist Reizarmut, der Zwang, dich mit dir selbst zu beschäftigen und dem, was du wirklich glaubst", sagt Elisa. Aus demselben Grund haben Mönche und Nonnen schon vor tausend Jahren angefangen, ihre Klöster aufs Land zu bauen, wo man tiefer, inniger, ehrlicher glauben kann als irgendwo sonst. Und wo wir gerade am Puls der Zeit fühlen, sprechen wir über Heimat, wie es ja derzeit ziemlich in Mode ist, und Elisa sagt: "Heimat ist Glaube angereichert mit Menschen." diff --git a/fluter/landflucht-mongolei-fotostrecke.txt b/fluter/landflucht-mongolei-fotostrecke.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3220dc18dc34ea9db506998c80db47a99a9e6013 --- /dev/null +++ b/fluter/landflucht-mongolei-fotostrecke.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Es sind aber nicht allein die (möglichen) Folgen des Klimawandels, was die Landbevölkerung in die Städte treibt. In den riesigen Arealen, die einst Steppe und Zuhause der Nomaden waren, werden heute Bodenschätze wie Kohle oder Kupfer abgebaut, manche nennen die Mongolei schon das "neue Katar". Zusätzlich lockt der Staat die neuen Bewohner seit einigen Jahren in die Hauptstadt: Jeder Familie stehen am Stadtrand bis zu 700 Quadratmeter Land zu, kostenlos. Das Gesetz durfte das Parlament verabschieden, nachdem es zugestimmt hatte, dass die mongolischen Zechen für ausländische Investoren geöffnet werden. +Weil die Bevölkerung von Ulan-Bator rasant wächst, werden Wohnblöcke gebaut. Viele wollen ihre Jurte aber gar nicht verlassen. +So erstrecken sich am Stadtrand die "Ger"-Viertel. + +Noch keine Stadtkinder: Diese drei wohnen in der Wüste Gobi und wollen Wasser für ihre Familie holen. Doch der Fluss, der das Gebiet versorgt, wurde für eine neue Kohlemine umgeleitet. +In der mongolischen Steppe misst man Reichtum in Vieh. Der Klimawandel hat katastrophale Folgen für die Hirten: Dürre und die "Dsuds", besonders harte Winter, treten häufiger auf, Tiere können nicht genug grasen und sterben. + +Brechen die Zelte ab: Lebte 1999 noch die Hälfte aller Mongolen als Nomaden in der Steppe, ist es heute nur noch ein Viertel. +Jährlich ziehen bis zu 70.000 Hirten vom Land in die Hauptstadt. Neue Wohnviertel, wie "Dreamland", werden gebaut, um mit dem Bevölkerungsboom mitzuhalten. +Junge Mongolen posieren für ein Hochzeitfoto vor einer Kublai Khan Statue. +Dyun Erdene ist einer der vielen Hirten, die in der Stadt ihr Glück suchen. Vor drei Jahren zog er her, nachdem er während harter Winter Dutzende Kamele, Ziegen und Schafe verlor. + +Früher Steppe, heute Zeche: Die Tavan-Tolgoi-Mine in der Wüste Gobi hat eines der größten Koks- und Kohlevorkommen der Welt. + +China, der Nachbarstaat im Süden, ist der größte Abnehmer der mongolischen Rohstoffe – mehr als 90 Prozent der Exporte gehen dorthin. Unweit der Mine hat ein Restaurant für ausländische Geschäftsleute eröffnet. +Locker vom Höcker: Battsetseg hilft seinem Vater, eine Kamelherde zur nächsten Futterstelle zu führen. +Mit Hab und "Ger" nach Ulan-Bator: Eine weitere Familie lässt das Nomadendasein hinter sich. + +Auch Marmandakh, 30, zog nach Ulan-Bator. Ob ihr Kind hier später zur Schule gehen kann, ist nicht sicher: Die Plätze an den Schulen sind rar. +Die Mongolei erlebt einen wahren Minenboom: Das Land gilt wegen seiner Bodenschätze als "nächstes Katar". Die Verlierer dieser Entwicklung: die Menschen und Tiere der Steppe. diff --git a/fluter/landgrabbing-aethiopien-dokumentation-das-gruene-gold.txt b/fluter/landgrabbing-aethiopien-dokumentation-das-gruene-gold.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0af7ba8ba4a32855cca33598cd37f339ee0be2a0 --- /dev/null +++ b/fluter/landgrabbing-aethiopien-dokumentation-das-gruene-gold.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Was soll uns das zeigen? +Wie komplex die Auswüchse des sogenanntenLandgrabbingssind. Das heißt in diesem Fall: Ausländische Investoren kaufen günstig große Flächen Land vom Staat Äthiopien, gehen ihren Geschäften nach, nehmen aber auf die Bedürfnisse der Bevölkerung nicht unbedingt Rücksicht. Anfang der Nullerjahre wird Landgrabbing zum Phänomen. Damals beginnen die Preise von Grundnahrungsmitteln zu steigen. Seit 2008 investieren Pensionsfonds, Versicherungen und Hedgefonds auch massiv in den Agrarmarkt. Ein globaler Wettlauf um fruchtbaren Boden entwickelt sich. Dieser findet besonders in den ärmsten und für Investoren günstigsten Ländern der Welt statt, wie eben Äthiopien. In der Hauptstadt herrscht Goldgräberstimmung, überall wird gebaut, Devisen kommen ins Land, viele davon von internationalen Agrarinvestoren. Auf dem Land dagegen häufen sich die Probleme für die Bevölkerung und die Umwelt: Vertreibungen, gefährliche Arbeitsbedingungen oder struktureller Hunger, den niemand beseitigt. Eine Spirale der Gewalt setzt sich in Bewegung. +Wie wird's erzählt? +Am Beispiel des jungen äthiopischen Journalisten Argaw Ashine. Der reist in die Gambela-Region im Westen des Landes. Dort baut die Firma Saudi Star auf 10.000 Hektar Basmatireis an. Für die Anuak, die lokale Bevölkerung, ist der zu teuer, außerdem waren sie im Weg. Sie lebten in dem Wald, der gerodet wurde, um den Reis anzubauen. Damit haben sie aber auch ihre Lebensgrundlage verloren. Viele fliehen nach Südsudan, andere greifen die Plantagen an, die von Soldaten geschützt werden. Darüber kann Ashine jedoch schon nicht mehr berichten. Er muss aus Äthiopien fliehen, da er bedroht wird. +Beste Nebenrolle +Eine Band. Die drei Musiker tauchen zweimal im Film auf, ein bisschen wie ein Chor in einer griechischen Tragödie, und singen traurig bis satirisch über die Situation der Kleinbauern in ihrem Land. +Starker Satz +"Tote Esel fürchten keine Hyänen." Das sagt ein ehemaliger Angestellter des Gambela-Nationalparks. Erst flieht er aus der Region, weil er politische Repressionen fürchtet, dann kommt er doch zurück, um sich für die vertriebenen Anuak einzusetzen. Am Ende der Doku erfahren wir, dass er zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Der Vorwurf: Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. +Good Job! +Die richtigen Bilder zu finden für ein sperriges Thema wie Landgrabbing ist schwierig. Demmer gelingt das über weite Strecken erstaunlich gut. Die Erzählstimme aus dem Off kennt man aus dem Fernsehen. Sie stammt von Jörg Hartmann, der im Dortmunder "Tatort" ermittelt. +Ideal für … +... alle, die sich für Landwirtschaft und Landgrabbing interessieren, für Afrika, aber auch für profunde Recherchen und einen filmisch stark umgesetzten Dokumentarfilm. + +"Das grüne Gold", Schweden, Deutschland, Finnland 2017; Regie: Joakim Demmer; 84 Min. diff --git a/fluter/landliebe.txt b/fluter/landliebe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/landschaubildquellen.txt b/fluter/landschaubildquellen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..608eb44c251a9021a2a9f9824c792f2ff957c966 --- /dev/null +++ b/fluter/landschaubildquellen.txt @@ -0,0 +1,73 @@ + +Du kannst mit dieser Fläche in Deutschland pro Jahr 560 g Kartoffeln oder 69 g Spargel produzieren. +https://de.statista.com/statistik/daten/studie/28985/umfrage/hektarertrag-fuer-kartoffeln-in-ausgewaehlten-laendern-der-eu/ +https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2017/07/PD17_248_412pdf.pdf?__blob=publicationFile + +Diese Fläche bevölkern in Bayern durchschnittlich 15 Regenwürmer. +https://www.lfl.bayern.de/iab/boden/100745/index.php + +Diese Fläche reicht einem Mastschwein nicht. Es braucht den sechsfachen Platz. +https://www.bmel.de/DE/Tier/Nutztierhaltung/Schweine/schweine_node.html + +Oder mach doch
 43 g Weizen, +https://de.statista.com/statistik/daten/studie/226127/umfrage/hektarertrag-von-getreide-in-deutschland-seit-1960/ +56 g Reis, +https://de.statista.com/statistik/daten/studie/226127/umfrage/hektarertrag-von-getreide-in-deutschland-seit-1960/ +920 g Zuckerrüben bzw. 166 g Zucker, +http://www.suedzucker.de/de/FAQ/Rohstoff-Ruebe/ +https://de.statista.com/statistik/daten/studie/283526/umfrage/ruebenertrag-je-hektar-anbauflaeche-in-deutschland/ +103 g Erdbeeren, +https://de.statista.com/statistik/daten/studie/161467/umfrage/ernteertrag-von-spargel-und-erdbeeren-in-deutschland/ +4,5 g Rindfleisch +https://www.wwf.de/fileadmin/fm-wwf/Publikationen-PDF/WWF_Fleischkonsum_web.pdf + +688 ml Rinder-Gülle verträgt dieser Boden pro Jahr maximal +https://www.landwirtschaftskammer.de/landwirtschaft/ackerbau/gruenland/guelleduengung-pdf.pdf + +Du bekämst pro Jahr mindestens 0,3 Cent Landwirtschafts-Subventionen von der EU. +https://ec.europa.eu/germany/eu60/landwirte_de +Wenn auf deiner Fläche ein Windrad gebaut wird, kannst du pro Jahr bis zu 2,50 Euro Pacht einnehmen. +https://www.hna.de/politik/pachten-windrad-standorte-erzielen-grundbesitzer-ueppige-einkuenfte-3829406.html +http://www.windkraftscout.de/flaeche-benoetigt-windrad-windenergieanlage/ + +Als Ackerland kostet diese Fläche0,79 Euro in den Niederlanden +https://www.lko.at/eurostat-bodenpreise-sind-in-den-niederlanden-am-h%C3%B6hsten+2500+2716460 +0,65 Euro in Bayern +https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Preise/Baupreise/KaufwerteLandwirtschaftlicheGrundstuecke2030240167004.pdf?__blob=publicationFile +0,13 Euro in Brandenburg +https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Preise/Baupreise/KaufwerteLandwirtschaftlicheGrundstuecke2030240167004.pdf?__blob=publicationFile +0,03 Euro in Rumänien +https://www.lko.at/eurostat-bodenpreise-sind-in-den-niederlanden-am-h%C3%B6hsten+2500+2716460 + +Weil Ackerfläche weltweit knapp wird, investieren immer mehr Unternehmen und Staaten in fruchtbare Böden. Kritiker nennen das "Landgrabbing" (Landnahme). 40 Prozent der Ackerfläche Rumäniens gehören zum Beispiel internationalen Investoren. Die Republik Kongo ist das freigiebigste Land: eine Fläche so groß wie Thüringen und Baden-Württemberg zusammen hat es an ausländische Investoren verpachtet oder verkauft. Weltweit wechselten seit dem Jahr 2000 Ackerflächen insgesamt etwa von der Größe Spaniens ihren Besitzer. +https://www.weltagrarbericht.de/fileadmin/pics/weltagrarbericht/EU_GRUENE_Landgrab_web.pdf +http://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/Branchen/branchencheck,t=branchencheck-rumaenien-november-2017,did=1832848.html +https://www.theguardian.com/global-development/2015/jun/05/uk-development-finance-arm-accused-bankrolling-agro-colonialism-in-congo +http://www.landmatrix.org/en/get-the-idea/web-transnational-deals/ +https://de.statista.com/statistik/daten/studie/154868/umfrage/flaeche-der-deutschen-bundeslaender/ +https://de.wikipedia.org/wiki/Demokratische_Republik_Kongo#Landwirtschaft +https://knoema.de/atlas/Demokratische-Republik-Kongo/Landwirtschaftliche-Nutzfl%C3%A4che-percent-der-Gesamtfl%C3%A4che +https://www.dandc.eu/de/article/im-kongo-leiden-viele-nahrungsmangel-dabei-hat-das-land-ideale-voraussetzungen-fuer-eine +https://reset.org/blog/land-matrix-initiative-mehr-transparenz-internationalen-landtransaktionen-03222017 +https://www.leibniz-gemeinschaft.de/medien/aktuelles/news-details/article/weltweite_landnahmen_100002692/ + +15 Mal diese Fläche brauchst du, um eine Portion Nudeln mit Tomatensauce ...100 Mal diese Fläche brauchst du, um Schweinebraten mit Rotkohl und Kartoffelklößen ...... für vier Personen zu kochen +https://mobil.wwf.de/fileadmin/fm-wwf/Publikationen-PDF/WWF_Fleischkonsum_web.pdf(S.60) + +15.680 Doppelseiten nebeneinandergelegt (1960 m2) – so viel Ackerland gab es 2015 für jeden Menschen auf der Erde. Das ist jedoch ungleich verteilt: In den USA
gibt es pro Einwohner mehr als doppelt so viel, nämlich fast 38.000 Mal diese Fläche. In den Vereinigten Arabischen Emiraten muss jeder Einwohner mit 320 Doppelseiten Ackerfläche auskommen. Deswegen kaufen sich viele Länder im Ausland Ackerland hinzu, wenn sie nicht nur vom Import abhängig sein wollen +http://www.deutschlandfunkkultur.de/weltacker-experiment-wie-viel-anbauflaeche-braucht-ein.976.de.html?dram:article_id=333459 +https://data.worldbank.org/indicator/AG.LND.ARBL.HA.PC + +Diese Fläche hat ein Huhn 
in Bodenhaltung zum Leben +http://www.deutsche-eier.info/die-henne/haltungsformen/ + +Wäre diese Fläche baureifes Bauland, würde sie 262 Euro in München +https://www.merkur.de/bayern/bauland-preise-in-region-muenchen-und-oberbayern-so-stark-stiegen-sie-2016-an-8777063.htmlhttps://www.statistikdaten.bayern.de/genesis/online/data?operation=abruftabelleBearbeiten&levelindex=2&levelid=1527147332987&auswahloperation=abruftabelleAuspraegungAuswaehlen&auswahlverzeichnis=ordnungsstruktur&auswahlziel=werteabruf&selectionname=61511-144z&auswahltext=%23SGSTAT1-BAULAND01%23Z-01.01.2016&werteabruf=Werteabruf +und 7,20 Euro in Gera kosten. +https://statistik.thueringen.de/webshop/pdf/2016/12103_2016_00.pdf + +8 Millisekunden – So viel Zeit braucht die Sahara, um im Senegal diese Fläche an Wüste dazuzugewinnen. Desertifikation, die Verwüstung des Bodens, ist in großen Teilen der Welt ein Problem. +https://www.mdr.de/lexi-tv/wueste_ausbreitung100.html + +0,0000009 Cent ($) – so viel kostete die USA 1/8 Quadratmeter von Louisiana. Napoleon verkaufte ihnen die Kolonie 1803, um seine Kriege zu finanzieren. Der Landdeal zwischen USA und Frankreich gilt als einer der größten der Geschichte. Heute wäre diese Fläche etwa 8 Cent ($) bzw. das 8,9-Millionenfache wert. +https://www.investopedia.com/financial-edge/1012/3-of-the-most-lucrative-land-deals-in-history.aspx diff --git a/fluter/lass-es-dir-schmecken.txt b/fluter/lass-es-dir-schmecken.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4d4b4c444761f153f45b514bec54301d2ebdec32 --- /dev/null +++ b/fluter/lass-es-dir-schmecken.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Wovon hängt es ab, was ich in der Schule zu essen bekomme? +Für die Schulen sind Länder und Kommunen zuständig. Und die lassen die Schulen oft allein mit der Entscheidung, welches Essen sie anbieten. Zwar hat die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) 2007 Qualitätsstandards für die Schulverpflegung festgelegt, doch sind die nicht bindend. Und so kommt es, dass jede Schule ihr eigenes Süppchen kocht. Die einen beziehen Tiefkühlkost von einer großen Catering-Kette, andere warm gehaltenes Essen auf Rädern. Mal liefert den Lunch der Metzger im Ort, mal stellen sich Eltern ehrenamtlich in die Küche. Und manchmal bietet der Hausmeister in seinem Kiosk Frikadellen und Pommes an, um sein Gehalt ein wenig aufzubessern. Es ist derzeit also reine Glückssache, was man in der Schule als Mittagessen bekommt. +Wie gut schmeckt das Essen? +Mehrere regionale Studien alarmieren: Das Essen schmecke nicht, komme kalt oder zerkocht bei den Kindern an, enthalte kaum Vitamine, dafür umso mehr Konservierungsstoffe. Tatsächlich sind die wenigsten Großküchen auf den Geschmack von Kindern eingestellt und die meisten Schulen mit der Organisation überfordert. Dabei ist das Ziel so klar wie bürokratisch formuliert! In einer Broschüre der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) heißt es: "Die Schulverpflegung ist generell so zu gestalten, dass eine gesundheitsfördernde Lebensmittelauswahl realisiert werden kann. Dieses Prinzip gilt sowohl für die Mittags- als auch für die Zwischenverpflegung. Salz sollte möglichst sparsam verwendet werden, generell sind Produkte ohne Geschmacksverstärker zu bevorzugen. Es sollen möglichst täglich gemischte, abwechslungsreiche Salate angeboten werden und Desserts vorzugsweise auf Milchbasis oder als Obst. Die Hauptbestandteile einer Mahlzeit sollten Gemüse (roh und gegart) sowie Stärkebeilagen sein. Es wird empfohlen, Eiweißkomponenten wie Fleisch und Fisch nur einmal, maximal zweimal pro Woche zu verzehren. Mindestens zweimal, besser dreimal sollten vegetarische Speisen auf den Plan kommen. Zudem sollten Stärkebeilagen wie Nudeln oder Reis öfter als Vollkornvariante angeboten werden. Garverfahren mit wenig Fett sind zu bevorzugen." An alles scheint gedacht zu sein. Und noch an mehr: Aus religiösen Gründen soll es immer eine Alternative zu Schweinefleisch geben, auch für Allergiker muss das Angebot taugen. Zu trinken: am besten Wasser oder Fruchtsäfte und bloß keine "künstlichen" Limonaden oder gar Energy-Drinks. Ob die Vision vitaler Schulspeisung fruchten wird? Noch hat sie für jeden, der in der Schule isst, einen absolut utopischen Sound. +Wie wichtig ist denn gutes Essen in der Schule? +Experiment eines Fernsehsenders: Um herauszufinden, wie sich ein Mittagessen auf die Leistungsfähigkeit von Schülern auswirkt, bekocht ein Bio-Caterer 30 Schüler an zwei aufeinanderfolgenden Tagen. Am ersten Tag bekamen die Jugendlichen Fast Food – Schnitzel, Pommes und Kartoffelkroketten aus der Friteuse. Am zweiten Tag gab es Bio-Essen: Vollkornlasagne, Couscous mit Gemüse, Gemüsesticks und Obstsalat. Nach beiden Mahlzeiten galt es, jeweils einen mit der Universität Ulm ausgearbeiteten Lern- und Gedächtnistest zu absolvieren, mit vergleichbaren Aufgaben. Lagen die Gedächtnisleistungen am Fast-Food-Tag bei 42 Prozent, erreichten die Kinder am Tag der Bio-Kost 61 Prozent. Die Konzentrationsfähigkeit stieg sogar von 33 auf 79 Prozent. Auch wenn da ein Placeboeffekt mitschwingen kann, macht sich allmählich eine neue Vorstellung von Essen und Schule breit: So spekuliert Antje Gahl von der DGE: "Wer als Schüler lernt, was gut für den Körper ist, verliert diese Essgewohnheiten später hoffentlich nicht völlig." Dazu muss die Schule aber auch für unsere Ernährungsgewohnheiten zum Lernort werden. +Was kostet gutes Schulessen? +Ein Schulmittagessen kostet im Durchschnitt knapp 2,50 Euro. Zum Leben zu viel und zum Sterben zu wenig. Volker Peinelt, Ernährungswissenschaftler an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach, erklärt das Dilemma: "Bei diesem Preis kann man nicht genügend qualifizierte Kräfte beschäftigen, kein vernünftiges Hygienekonzept entwickeln oder den notwendigen Schulungsaufwand betreiben. Es wird oft an der falschen Stelle gespart und deshalb machen auch die Caterer Fehler, obwohl sie eigentlich als Profis davor gefeit sein sollten." Um einen Auftrag zu erhalten, müsse der Caterer ein günstiges Angebot machen, also auf billige Lebensmittel wie fette Wurst zurückgreifen, statt mageres Fleisch zu verwenden, von Bioprodukten ganz zu schweigen. Weil die Teilnahme am Mittagessen freiwillig ist, besteht die Gefahr der Klassengesellschaft in Ganztagsschulen: Ganz oben diejenigen, die ein warmes Mittagessen erhalten, daneben die, die von ihren Eltern eine Lunchbox mitbekommen, und schließlich die Kinder, die den ganzen Schultag ohne Essen bleiben, weil sich die Eltern die Kantine nicht leisten können. Deswegen gibt es in den meisten Kommunen Zuschüsse für das Schulessen, ein einheitliches Konzept aber nicht. Eine grundsätzliche Frage ist, ob alle Eltern den gleichen Zuschuss erhalten sollen, oder ob er nur an bedürftige Kinder ausgezahlt wird (in Bayern gilt das für Kinder von Hartz-IV-Empfängern, von Wohngeld-Beziehern und aus überschuldeten Familien). +Was ist das beste Verpflegungssystem? +Das Frischkostsystem:An der Gesamtschule Hamburg-Fischbek kochen die Hausmeisterin und eine Mutter für 100 Schüler. Das funktioniert so gut, dass sie beim Schulkantinen-Test, den das "Hamburger Abendblatt" veranstaltete, mit einem "mehr geht nicht" abschnitten. Die Speisen werden vor Ort frisch zubereitet. Nährstoffverlust durch lange Transportwege fällt flach, es kann auf die Wünsche von Schülern, Eltern und Lehrern und die Ansprüche der Schule Rücksicht genommen werden. Doch für das Frischkostsystem braucht man qualifiziertes Personal vor Ort. Außerdem ist eine komplette Schulküche nötig, mit allen Gerätschaften für einen Großküchenbetrieb, Lagerräume und Arbeitsflächen.Das Warmverpflegungssystem:Weil es den geringsten Aufwand verspricht, setzen die meisten Schulen auf diese Variante. Ein externer Verpfleger bringt warmes Mittagessen an die Schule, dort wird es bei 70 Grad Celsius heiß gehalten und an die Schüler verteilt. Doch die Warmverpflegung hat ihre Tücken. Der Lieferant muss oft knapp kalkulieren und ist gezwungen, viele Schulen mit einer Lieferung anzufahren. Deshalb wird vorgekocht. Ein Essen, das um 12 Uhr ausgegeben wird, wurde unter Umständen schon um 7 Uhr zubereitet. Eine lange Reise für eine warme Mahlzeit. Bis der letzte Teller leer ist, ist das Essen schon fünf bis sieben Stunden alt. Ja, das schmeckt man, und auch hitzeempfindlichen Vitaminen macht der Caterer so komplett den Garaus. Die DGE hält eine Warmhaltezeit von maximal drei Stunden für o.k.Das Mischküchensystem:Ein Kompromiss zwischen den beiden vorigen Systemen, der Vorteile, aber auch Nachteile verbindet. Hier werden Hauptspeisen gekühlt oder tiefgekühlt angeliefert und kurz vor der Ausgabe erhitzt. Zu den Hauptkomponenten werden die Beilagen entweder vor Ort frisch zubereitet oder ebenfalls vorgefertigt bezogen. Wie beim Frischkostsystem braucht die Schule eine geeignete Küche und Leute, die sie richtig zu benutzen wissen. Bei den angelieferten Komponenten ist es wieder Glückssache: Ist der Caterer auf Kindernahrung eingestellt – auf Geschmack und Nährstoffe? Wie sieht es mit den Warmhaltezeiten aus? Das kann also gut sein – muss aber nicht."Cook and Chill" oder "Cook and Freeze":Der große Vorteil dieser Systeme ist, dass die Zeit kaum noch eine Rolle spielt. Bei der Variante "Kochen und Kühlen" werden die Speisen nach exakt definierten Rezepten und einem ausgeklügelten Produktionsplan zunächst herkömmlich gegart und dann sofort in sogenannten Chillern auf 0 bis 3 Grad abgekühlt. So kann das Essen 72 Stunden ohne Qualitätsverlust gelagert werden. Bei der Freeze Variante werden die Speisen direkt nach der Zubereitung luftdicht verpackt und für eine längere Haltbarkeit auf unter minus 30 Grad gefrostet. In den Schulküchen braucht man dann nur wenig Platz und Personal, aber Schockkühler zu 3000 bis 4000 Euro. Für Ernährungswissenschaftler Volker Peinelt liegt im "Cook and Chill"-Modell die Zukunft. Er hat errechnet, dass mit diesem Verfahren das Essen flächendeckend nicht mehr als 4,50 Euro kosten würde. Das sei zwar höher als die 2,50 Euro aktuell. Die spiegelten aber auch nur einen Teil der wahren Kosten wider, die aufgrund mangelnder Kompetenz und Organisation bei einigen Kommunen auch mal 8 Euro betrügen. +Was kann ich tun, um das Essen an meiner Schule besser zu machen? +Viel. Die Diskussion um die Schulkantinen rückt langsam ins öffentliche Bewusstsein. Viele Schulen suchen noch nach dem passenden System. Also einfach mitreden! Unterschriftenaktionen brachten Schulen auch schon zum Catererwechsel. Und wenn Schulen trotz guter Gründe uneinsichtig sind, können Betroffene darauf drängen, das Angebot von unabhängigen Experten prüfen zu lassen. So hat die Hochschule Niederrhein ein Gütesiegel für Schulverpflegung entwickelt, das Produzenten und Schulen anhand von 200 Fragen abklopft (www.ag-schulverpflegung.de). Aus einer privaten Initiative ist die Berliner "Vernetzungsstelle Schulverpflegung" entstanden. Inzwischen wurden dank des nationalen Aktionsplans "In Form" für jedes Bundesland solche Ansprechstellen eingerichtet, die die Schulen bei der Umsetzung der DEG-Qualitätsstandards unterstützen sollen. Informationen über diese und andere Initiativen der Bundesregierung und die Qualitätsstandards zum Herunterladen auf: www.schuleplusessen.de. diff --git a/fluter/lasst-uns-doch-in-ruhe-arbeiten.txt b/fluter/lasst-uns-doch-in-ruhe-arbeiten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..eabc47aa21ef85a246d60262449e7612130f8f3f --- /dev/null +++ b/fluter/lasst-uns-doch-in-ruhe-arbeiten.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Das ist die eine Seite. Es gibt aber noch eine andere: Zu der gehören arbeitende Kinder in Asien, Afrika und Lateinamerika, die sich organisieren und gegen gut gemeinte Gesetze sträuben: "Eure Verbote helfen uns nicht", sagen sie und fordern Sicherheit am Arbeitsplatz, eine Krankenversicherung, schulkompatible Arbeitszeiten. Man kann sagen: Sie kämpfen für ihr Recht auf Arbeit. Guido schüttelt den Kopf: "Meine Mutter ist eine gute Mutter. Verbietet doch zuerst den Hunger und die Armut, danach die Kinderarbeit!" Er stammt von den Aymara-Indianern im Hochland Boliviens ab. Seit Evo Morales 2006 zum Staatspräsidenten von Bolivien gewählt wurde, sind die Aymara stolz. Der Präsident ist einer von ihnen. Auch Morales hat als Kind gearbeitet. In der Kultur der indigenen Völker Boliviens übernehmen Kinder früh Verantwortung, gelten von Anfang an als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft. Ein 11-Jähriger wurde Bürgermeister einer 5000-Einwohner-Gemeinde. +Guido hat sich den NATs angeschlossen, das sind die Niños, Niñas y Adolescentes Trabajadores, arbeitende Kinder und Jugendliche. Schon seit Ende der siebziger Jahre organisieren sich Kinder in Lateinamerika; mittlerweile gibt es Zusammenschlüsse arbeitender Kinder in weltweit mehr als 30 Ländern. In Gambia, Senegal, Burkina Faso, Mexiko, Niger, der Mongolei – überall treffen sich die Kinder und stellen Forderungen. In Lateinamerika ist die Bewegung besonders stark, in Peru gehören etwa 14000 Kinder verschiedenen NATs-Gruppen an. In Indien managen Straßenkinder sogar eine von einer Hilfsorganisation initiierte Kinderbank. Damit auch ein Kind, das auf der Straße lebt, ein Konto haben und Geld sparen kann für die Zukunft. +"Schau, acht Bolivianos hab ich schon", ruft Guido nach etwas mehr als einer Stunde. Er strahlt, zeigt die leichten, silbermatt glänzenden Münzen in der offenen Handfläche, ein Kilo Hühnchen gibt es für 12 Bolivianos (circa 1,30 Euro), Busfahren kostet einen. "Das geb ich alles meiner Mama!" "Fast alles", hätte er sagen sollen. Denn bevor es nach Hause geht, wirft er 50 Centavos in einen der Automaten der Spielothek am Platz. Eine Runde Video-Fußball, das muss sein. Die internationale Arbeitsorganisation ILO, die sich weltweit gegen Kinderarbeit einsetzt, kümmert sich vor allem um abhängig beschäftigte Kinder. Angestellte, sozusagen. Aber das ist nur ein kleiner Teil der arbeitenden Kinder. Die meisten sind "selbstständig", so wie Guido. Sein Vater ist vor acht Jahren gestorben, seitdem ist er der Mann im Haus. Die Mutter hilft einer Freundin bei Schneiderarbeiten, dafür gibt es Essen, aber kein Bargeld. Das braucht sie dringend, seit Monaten hat sie grässliche Bauchschmerzen, kann sich keinen Arztbesuch leisten. Das Neun-Quadratmeter- Zimmer in einem halbfertigen Haus, in dem Guido, seine Mutter und die Schwester wohnen, kostet nichts, weil die Familie den Rohbau bewacht. Doch bald soll das Haus verkauft werden. Dann muss Geld für Miete her. Guido arbeitet auch noch bei einem Schreiner, schmirgelt Tischbeine ab. Wenn der keine Aufträge hat, geht er wie heute zur Plaza und ruft die Bushaltestellen aus. Bei Unicef oder der ILO spricht man nicht gern über die Forderungen der Kinder. Zur ILO-Konferenz im Mai in Den Haag kamen mehr als 450 Experten, aber kein arbeitendes Kind. Dabei widerspricht das der UN-Kinderrechtskonvention, Artikel 12: "Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife." +"Es ist ein Fehler, für die Kinder zu entscheiden, ohne sie anzuhören", sagt Elizabeth Patiño, ehemals Vize-Ministerin für Kinder, Jugendliche und ältere Menschen in Bolivien, heute Vertreterin von Terre des Hommes. "So lange die Eltern nicht genug verdienen, arbeiten die Kinder. Vernünftige Löhne für die Erwachsenen, das wäre ein erster Schritt. Wir wollen Ausbeutung verhindern, aber den arbeitenden Kindern keine Steine in den Weg legen. Die Programme zur Abschaffung der Kinderarbeit erreichten gerade mal zwei Prozent der arbeitenden Kinder. Und von diesen zwei Prozent haben viele heimlich weiter gearbeitet. Schulbücher kann man nicht essen." Auch die Kinder greifen die internationalen Organisationen an: "Die verstehen uns nicht", sagt Mónica, wie Guido Mitglied der Kinderbewegung in El Alto. "Wir sind doch auch gegen Ausbeutung von Kindern, aber gegen die können wir nicht kämpfen, so lange wir in die Illegalität gedrängt werden." +Es ist ein stiller Krieg zwischen den Kindern und der ILO. Still, weil die Kinder nicht gehört werden, in internationalen Gremien haben sie keine Stimme. Viele Staaten haben die Abkommen über ein Verbot von Kinderarbeit mit der ILO längst unterzeichnet. Ein Experte für Kinderarbeit der ILO, im Rahmen dieses Artikels angefragt, hatte keine Zeit für ein Interview. Vielleicht war es ihm unangenehm, über die neuen Entwicklungen in Bolivien zu sprechen. Mónica spricht leise und legt die langen braunen Haare mit dem Finger hinter die Ohren. Sie will keine Angeberin sein. Mag schon sein, dass es etwas Besonderes ist, mit zwölf Jahren die Verfassung eines Landes geändert zu haben, das gibt sie zu. Aber das hätte doch jedes Kind gemacht, sagt die heute 14-jährige Bolivianerin, es war ja höchste Zeit. Die Mutter schneidert Röcke, davon kann sie die fünf Kinder kaum ernähren, der Vater hat sich vor Jahren nach Argentinien abgesetzt. Mónica knüpft Armbändchen und Taschen aus bunter Wolle, verkauft sie, hilft der Mutter. Die Brüder arbeiten wie Guido als Ausrufer in den Bussen. +Als Evo Morales 2006 eine neue Verfassung plante, stand im ersten Entwurf: "Kinderarbeit ist verboten". Mónica und ihre Freunde konnten es nicht fassen: "Wir helfen doch nur unseren Eltern. Und das soll verboten sein?" Zusammen sprachen sie bei mehreren Abgeordneten vor. Die meisten sagten "ja ja, schön schön". Doch dann empfing der Außenminister die Freunde. "Es ist unrealistisch, Kinderarbeit zu verbieten", erklärte ihm Mónica. "Wir müssen arbeiten, sonst essen wir nicht!" Dann dröselte sie es logisch auf: Wenn Kinderarbeit verboten ist, müssen sich die arbeitenden Kinder verstecken. Und dann wird alles nur schlimmer. Sie werden schlecht bezahlt und ausgebeutet. Arbeiten viele Stunden, müssen gefährliche Jobs machen, und das Schlimmste: Sie können böse Arbeitgeber nirgendwo anzeigen. "Wenn Kinderarbeit nicht mehr verboten ist, können wir für würdige Bedingungen kämpfen und gegen die Ausbeutung", sagte Mónica, und der Minister nickte. Er brachte sie zur verfassungsgebenden Versammlung, dort wiederholte Mónica ihre Ansprache. +"Danach passierte ein kleines Wunder", sagt sie. "Das Verbot von Kinderarbeit wurde gestrichen." Der Artikel 61 Absatz zwei der bolivianischen Verfassung lautet nun: "Zwangsarbeit und Ausbeutung von Kindern sind verboten. Aktivitäten, die Kinder im familiären und sozialen Rahmen ausüben, dienen ihrer integralen Entwicklung als Bürgerinnen und Bürger und haben eine bildende Funktion." Mónica und ihre Freunde jubelten und riefen die anderen Kinder zusammen. "Wir erklärten allen, dass wir nun keine Verbrecher mehr sind", sagt Mónica. "Aber die Verfassung alleine reicht nicht, sie ist nur die Grundlage. Was fehlt, sind neue Gesetze. Damit wir uns in Zukunft wirklich gegen Ausbeuter wehren können." + +Kinderarbeit +Bisins 20. Jahrhundert hinein war es in Europa ganz normal, Kinder als Arbeitskräfte in Landwirtschaft und Fabriken einzusetzen. Heute ist Kinderarbeit verboten, weil sie die körperliche und geistige Entwicklung stark beschränken kann. Dennoch arbeiten in Deutschland viele Jugendliche, um sich ihr Taschengeld aufzubessern: Mit Ausnahmen dürfen 13- bis 14-Jährige montags bis freitags kleinere Tätigkeiten wie Babysitten oder Zeitungen austragen übernehmen, und das maximal zwei Stunden am Tag zwischen 8 und 18 Uhr. Ferienjobs sind erst ab 15 Jahren für maximal vier Wochen im Jahr erlaubt. diff --git a/fluter/lastenausgleich.txt b/fluter/lastenausgleich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/laufen-lernen-nach-querschnittslaehmung.txt b/fluter/laufen-lernen-nach-querschnittslaehmung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..58a381d298e037130f8a8e8ebba28304d122d9fa --- /dev/null +++ b/fluter/laufen-lernen-nach-querschnittslaehmung.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Während der Therapiestunde in der Schön Klinik erkundigt sich der Therapeut bei seiner Patientin, ob ihr auch nicht mehr schwindlig ist. "Bereit", antwortet Tina Schmidt und beißt die Zähne zusammen. Das Geräusch der Motoren, wenn sie die Gelenke des Gehroboters in Bewegung bringen, erinnert an eine Ziehharmonika. Frau Schmidt setzt einen Fuß nach vorne. Das Exoskelett registriert, wenn sie das Becken kippt, und merkt daran, dass sie den nächsten Schritt machen möchte. Aber es ist nicht so, als müsste die Patientin selbst nichts mehr leisten: "Ich muss selbst das Gleichgewicht halten und meine ganze Konzentration aufwenden, damit sich meine Hüfte mit dem Skelett mitbewegt. Das ist schon sehr anstrengend." +Professor Gordon Cheng, Inhaber des Lehrstuhls "Kognitive Systeme" an der TU München, vergleicht die Exoskelett-Therapie mit dem Laufenlernen eines Kleinkindes. "Die Patienten lernen mit einem Exoskelett nicht automatisch wieder laufen, aber sie können das Laufenlernen wieder lernen", sagt Cheng. Er forscht gemeinsam mit seinem Team an speziellen Exoskeletten, die die Bewegungsimpulse im Gehirn des Patienten aufnehmen und mit der Muskelbewegung des Körpers verknüpfen. Der Patient bekommt für diese Methode ein Gel auf die Kopfhaut aufgetragen und eine Kappe mit Elektroden aufgesetzt, die mit dem Exoskelett verbunden ist. "Wenn Sie etwas denken, entstehen im Gehirn elektrische Signale. Wir können sie für das Exoskelett übersetzen und an den Muskel senden." +Das Exoskelett, an dem sein Team arbeitet, hat eine Hülle, die aussieht wie aus riesigen Bienenwaben. In jeder dieser Waben befinden sich winzige Motoren. Wenn der Mensch mit dem Fuß den Boden berührt, spürt er im Gehirn eine kleine Reaktion darauf und lernt damit, seine Bewegungen besser zu steuern. "Die meisten Exoskelette geben kein sensorisches Feedback, das ist Gegenstand unserer Forschung", sagt Cheng. Im Jahr 2016 hat das "Walk Again"- Team eine Langzeitstudie veröffentlicht, die nachwies, dass Patienten, die bis zu 14 Monate mithilfe des Skeletts trainiert hatten, auch ohne dieses wieder Muskeln kontrahieren konnten. "Wir haben ehrlich gesagt gar nicht mit diesem Ergebnis gerechnet", sagt Cheng "es hat uns selbst verblüfft." +Tina Schmidt hat im Gegensatz zu vielen anderen Patienten noch Sensibilität in den Beinen, sie spürt den Boden unter ihren Füßen oder Berührungen an ihren Beinen. "Aber die zugehörige Motorik ist nicht mehr da", sagt sie. "Natürlich kann mich das Gerät nicht sofort dazu bringen, dass ich alleine gehen kann. Aber mein Ziel ist, dass ich so viel Wiederholung in den Bewegungen habe, dass mein Körper weiß, welche Bewegungsabläufe ich machen will, und dass die Nerven dann irgendwann wieder intuitiv reagieren." +Bisher gibt es die Exoskelette nicht in Serie, also nicht für den Privatgebrauch. Das ist Professor Chengs Traum. "Wir haben ja schon fast die ganze Technologie, jetzt müssen wir nur noch die Kosten reduzieren. Und gerade ist es so, dass das Exoskelett allein nicht ausreicht. Man braucht Therapeuten, Ärzte, Pfleger. Aber meine Idealvorstellung ist, dass ein gelähmter Mensch in 50 Jahren einfach eine bestimmte Kleidung anzieht, zum Beispiel einen Trainingsanzug. Und der ist dann das Exoskelett." +Im Sommer 2016 hatte ein querschnittsgelähmter Patient vor dem Sozialgericht Speyer geklagt, weil die Krankenkasse ihm kein Exoskelett finanzieren wollte. Die Begründung: Es gebe noch keine langfristigen Studien dazu. Der Patient konnte sich vor Gericht jedoch durchsetzen. Anfang Februar dieses Jahres hat der Verbund der gesetzlichen Krankenkassen das Exoskelett daraufhin in sein Hilfsmittelverzeichnis aufgenommen. Bis die Änderung für die Patienten spürbar wird, dürfte es allerdings einige Zeit dauern. +Wegen des Preises von circa 120.000 Euro haben bis jetzt nur eine Handvoll Rehakliniken in Deutschland ein Exoskelett angeschafft. In der Schön Klinik Bad Aibling können sowohl privat als auch gesetzlich versicherte Patienten die Therapie in Anspruch nehmen. Es stimme zwar, dass es noch keine langfristigen Studien zur Therapie mit Exoskeletten gebe, sagt Dr. Müller in der Schön Klinik, aber der psychologische Effekt des Trainings mit dem Exoskelett sei enorm. "Es ist nicht realistisch, dass ein Patient nach der Therapie wieder laufen kann wie vor der Lähmung. Trotzdem haben wir gesehen, dass selbst ein behindertes Gehen für jemanden, der bisher im Rollstuhl saß, ein riesiger Fortschritt ist. Selbst ins Bett zu kommen, selbst auf die Toilette zu gehen, das ist für Menschen mit Lähmung eine Verbesserung der Lebensqualität, die sich ein gesunder Mensch gar nicht vorstellen kann." +"Den Gedanken ‚Ich kann nie wieder laufen', den hatte ich nie", erzählt Tina Schmidt. Für ihren Job als Instruktorin im Fahrtraining bei BMW ist sie auf ihre Beinarbeit angewiesen. Das Exoskelett beweist ihr, dass sie wieder Schritte machen kann – kleine Schritte, aber große Fortschritte. "Ich war ja schon so stolz, als ich das erste Mal mithilfe des Trainingsgerätes wieder stehen konnte", erinnert sie sich. "Es ist eine Erleichterung, mal aus der Körperhaltung, die man im Rollstuhl hat, rauszukommen. Aber dieses Gefühl, wenn sich nach einer Lähmung das erste Mal die Beine wieder unter einem bewegen. Das kann ich nicht beschreiben. Ich hab so weinen müssen." diff --git a/fluter/law-clinics-rechtsberatung.txt b/fluter/law-clinics-rechtsberatung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d2bc88a8f5b265c3f3b442eeb874a3f24e21d47b --- /dev/null +++ b/fluter/law-clinics-rechtsberatung.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Sie beraten Menschen wie Adil, die nicht mehr wissen, an wen sie sich wenden sollen, die sich nicht trauen, sich an staatliche Stellen zu wenden, oder denen das Geld für einen Anwalt fehlt, erzählt Hannah. Sie studiert im sechsten Semester, nahm sich Adils Fall gemeinsam mit einer Teamkollegin vor. Tatsächlich entdeckten sie noch eine Möglichkeit: Würde Adil etwa nach Brandenburg umziehen, könnte das neue rechtliche Möglichkeiten für Dayan eröffnen. Einige Bundesländer haben spezielle Aufnahmeprogramme für Syrer, die den Familiennachzug für Geschwister, Enkel oder Großeltern vorsehen. +Allerdings hätte Adil Auflagen erfüllen müssen: Sein "Lebensmittelpunkt", wie es in der Landesaufnahmeordnung heißt, müsste beispielsweise seit mindestens einem Jahr in Brandenburg liegen. "Für Adil", sagt Hannah, "wäre das ein langfristiger Umzug ins Unbekannte gewesen – ohne Garantie, dass Dayan dann wirklich kommen darf." Denn ob die Bedingungen als erfüllt angesehen werden, läge im Ermessen der Behörde. +Hannah schüttelt den Kopf, als sie Adils Geschichte erzählt. Sie sitzt in einem kleinen Raum im Dachgeschoss der Jura-Fakultät der Universität Münster, dem Treffpunkt des Law-Clinic-Teams. Hinter ihr stehen leere Bier- und Limokästen, daneben ein kleiner Kühlschrank. Die Abende in der LCM können schon mal länger werden. An der Wand hängen Fotos vom jährlichen Teamausflug. Mehr als 40 Menschen lächeln in die Kamera. Die Münsteraner Law Clinic ist eine der größeren in Deutschland. "Manchmal beschäftigen wir uns wochenlang mit einem Fall, sind in engem Kontakt mit den Betroffenen, besuchen sie sogar zu Hause", erzählt Hannah. Die Law Clinic arbeitet mit Hilfsorganisationen zusammen, die Menschen an sie vermitteln. +Vielen fehle es an Geld oder Sprachkenntnissen, um den Rechtsweg zu gehen, erzählt Hannah. Manche schämen sich, dass sie selbst nicht weiterwissen, manche wissen gar nicht, dass eine Rechtsberatung gerade sinnvoll wäre, wieder andere trauen sich nicht zu einer Behörde, weil die seit Jahren ihre Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert hat. Dazu kommt, dass sich nur wenige Anwältinnen und Anwälte auf Migrationsrecht spezialisieren – zu wenige auf jeden Fall, um den hohen Bedarf zu decken. +Law Clinicsgibt es an vielen deutschen Universitäten. In der Realität, sagt Hannah, brauche es aber oft eine Portion Glück, damit die Menschen die Law Clinics überhaupt finden – und damit die den Fall dann auch annehmen. Die Clinics dürfen nicht alles, es gibt klare Regeln, die teils im Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) festgehalten sind. Die Studierenden dürfen zum Beispiel niemanden vor Gericht vertreten, sondern nur außergerichtlich beraten. Laut RDG muss immer eine voll ausgebildete Juristin oder ein Jurist die Beratung "anleiten", also bei Fragen bereitstehen und helfen. Der Fall darf in der Regel nicht strafrechtlich relevant sein. Und die Beratung darf nichts kosten. Viele Law Clinics legen zusätzlich eine Obergrenze für den Streitwert fest. In Münster liegt die bei 5.000 Euro. +"Vor der Beratung prüfen wir also immer, ob wir den Fall überhaupt annehmen können", sagt Albert. Er ist ein Kommilitone von Hannah und berät ebenfalls in der LCM. Die Nachfrage ist groß: Mehr als 80 Fälle hat allein die Gruppe aus Münster vergangenes Jahr bearbeitet, 15 musste sie ablehnen. Die meisten Fälle kamen aus dem Sozialrecht – Fragen zum Bürger- oder Elterngeld oder Auseinandersetzungen mit dem Arbeitsamt –und dem Asylrecht: Bei der LCM geht es oft um drohende Abschiebungen, die Arbeitserlaubnis oder eben einen Familiennachzug. +Eigentlich hat die Justiz hierzulande einen guten Ruf: Die Organisation World Justice Project zählt Deutschland zu den führenden Ländern, was Rechtsstaatlichkeit angeht, unter 140 untersuchten Staatenbelegt die Bundesrepublik den sechsten Platz. +Solche Statistiken können täuschen, sagt Michael Wrase. Er ist Professor für Öffentliches Recht an der Stiftung Universität Hildesheim, ein Schwerpunkt seiner Forschung ist der Zugang zum Recht. Dass der deutsche Rechtsstaat zu funktionieren scheint, die Law Clinics aber trotzdem gut zu tun haben, erklärt Wrase mit einer Lücke zwischen dem "law on paper" und dem "law in action": Von außen sieht das Rechtssystem gut aus, denn theoretisch stehen allen die gleichen Rechtswege offen. Ob aber auch in der Praxis alle zu ihrem Recht kommen, dazu gebe es kaum Daten, sagt Wrase. "Wir wissen einfach nicht, wie groß die Probleme in Deutschland sind." Andere Länder seien da fortschrittlicher. +Wrase untersucht gerade mit einer Forschungsgruppe am Beispiel Berlins, wie es um den Zugang zum eigenen Recht steht. Das Team durchforstet Tausende Fälle aus dem Miet- und Verbraucherrecht, führt Interviews mit Mitgliedern des Justizapparates und Hilfsorganisationen, erzählt Wrase. Ein erster Zwischenbericht liegt vor. Er gibt Hinweise, dass es für arme und zugewanderte Menschen schwerer ist, ihre Rechte wahrzunehmen. Ob man Recht bekommt, hängt laut Wrase auch von Einkommen und Herkunft ab. Rechtsschutzversicherungen oder staatliche Angebote wie Beratungsstellen oder Prozesskostenhilfe seien dagegen keine Allheilmittel. +Wer zum Beispiel Prozesskostenhilfe braucht, weil er sich die Gerichts- und Anwaltskosten nicht leisten kann, muss einen Antrag stellen. Dazu muss man schon vorher belegen, dass eine gewisse Chance auf Erfolg besteht, und im zuständigen Zivilgericht den Antrag ausfüllen. Der sei aufwendig, sagt Wrase, und so kompliziert, dass man schon beim Ausfüllen die Hilfe eines Anwalts oder einer Anwältin bräuchte. "Wenn man kein Deutsch spricht, ist das kaum zu schaffen." Übersetzungen gebe es keine, sagt Wrase. +Für Hannah und Albert von der LCM ist ein weiterer Punkt entscheidend. "Im Jurastudium lernen wir, dass Gesetze vor staatlicher Willkür schützen. Wir sprechen immer von Ansprüchen und Abwehrrechten", sagt Albert. Für die Menschen, die zu ihnen kommen, seien Gesetze aber oft genau das Gegenteil. "Sie wollen am liebsten so wenig wie möglich mit dem Staat zu tun haben", sagt Albert. Langfristig sei das auch für die Demokratie gefährlich, sagt Hannah: "Ein Staat, der nicht glaubhaft alle gleich schützt, riskiert seine Legitimität." +Adil und Dayan konnte sie am Ende nicht helfen. Gerade lebt Dayan mit einem Touristenvisum in einem Golfstaat. "Menschen wie Dayan, die eigentlich gute Chancen auf eine Aufenthaltserlaubnis haben, kommen oft gar nicht bis hierher", sagt Hannah. Die Behörden würden ihnen kaum Besuchervisa ausschreiben, weil sie davon ausgehen, dass die "Rückkehrbereitschaft" fehlt. +Die rechtliche Lage erklären – und die Motivation des Staats dahinter: Mehr können Hannah und Albert oft nicht tun. Das kann unbefriedigend sein. Und trotzdem wichtig, sagt Albert. "Schlechte Nachrichten sind leichter zu akzeptieren, wenn man wenigstens die Gründe versteht." +* Namen geändert +Illustration:Bureau Chateau / Jannis Pätzold diff --git a/fluter/lea-murawiec-comic-aufmerksamkeit.txt b/fluter/lea-murawiec-comic-aufmerksamkeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a9598e6c2d6be36245f96a1cb4056ce643d63e9d --- /dev/null +++ b/fluter/lea-murawiec-comic-aufmerksamkeit.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +In der Geschichte begleiten wir Manel Naher. Sie ist vielleicht Mitte 20, hat langes dunkles Haar und liebt Bücher. So sehr, dass sie den ganzen Buchladen ihres Freundes Patrick schon zweimal leer gelesen hat. Eher aus Verzweiflung wirft sie einen Blick in das Zeitungsregal und entdeckt, dass ihr Name auf allen Titelseiten steht. Es ist Manels Namensdoppelgängerin, die einen riesigen Hitsong gelandet hat. Der Titel: "Mein Name ist in aller Munde". Unsere Manel denkt sich erst nichts dabei, doch Patrick, einer ihrer nur zwei Freunde, ahnt Schlimmes. + + +Denn in ihrer Welt dreht sich alles nur um eins:Aufmerksamkeit. Du existierst nur, wenn du im Kopf deiner Mitmenschen existierst. Sobald nicht mehr genug Menschen an dich denken, stirbst du. Bist du berühmt, bist du unsterblich. +Die ganze Gesellschaft hat sich um diese Gegebenheit herum organisiert. Die Menschen haben sich in einer enormen, namenlosen Großstadt zusammengerottet, eine Art Schanghai auf Steroiden. Die Betontürme scheinen endlos in die Höhe zu wachsen, die Bewohner zwängen sich in Minizimmer. Vor den Fenstern hängen ihre Namen in großen Leuchtreklamen. +Die Tristesse spiegelt sich auch in Murawiecs Zeichenstil wider: Ihre Figuren sind simpel, haben aber trotzdem viel Ausdruck. Manels Welt ist meist in düsterem Blau gehalten, wenn es um das hektische Großstadtleben geht, mischt sich Rot dazu. +Manel verdient ihr Geld in einer Art Aufmerksamkeitsfabrik. Sie betrachtet den ganzen Tag die Namen von einsamen Menschen, die auf Zetteln vor ihr liegen und an Plakaten über ihr hängen. Ohne Manels Aufmerksamkeit würden sie sterben. Und dann, als Manel am nächsten Tag wieder in Patricks Buchladen kommt, verschwindet plötzlich die Farbe aus ihren Augen. Sie greift sich an die Brust. Ihr Herz setzt aus. + + +Kurze Zeit später wacht sie im Krankenhaus auf. Ihr Zustand sei immer noch kritisch, sagt eine Ärztin. Die Menschen verbänden ihren Namen nun mit dem Gesicht der anderen Manel Naher. Es sei selten, dass jemand in ihrem Alter so wenig Präsenz habe. Ein Wunder, dass sie überhaupt noch am Leben sei. Die Ärztin verschreibt Manel deshalb eine Intensivbehandlung. Mindestens vier Mal in einen Club, fünf Mal zum Kaffeetrinken und Wer-bin-ich-Spielen – pro Woche. Manel will nicht. Manel will raus aus dieser Stadt. +Gemeinsam mit ihrem anderen Freund Ali will sie in etwas, das alle nur "Die große Leere" nennen. Es ist außerhalb der Stadt, außerhalb der brutalen Aufmerksamkeitsökonomie. Niemand soll je daraus zurückgekommen sein. Für die beiden klingt das wie das Paradies. +Natürlich ist die Geschichte von Manel vor allem die Geschichte einer von (sozialen) Medien aufgedopten Vergleichsgesellschaft.Aufmerksamkeit heißt Endorphine heißt Glück, ein menschliches Grundbedürfnis. Nur: Von welcher Qualität ist diese Aufmerksamkeit?Wie langfristig befriedigen Likes und Bekanntheit? Letzen Endes tauscht Léa Murawiec nur die Verben zur tatsächlichen Gegenwart aus. Jeder kann heute gesehen werden. In "Die große Leere" muss jeder gesehen werden. +Murawiec zeigt damit sehr gut die Funktionsweisen und die damit einhergehende Tristesse von sozialen Medien, indem sie die Dynamiken aus der digitalen in die analoge Welt bringt. Manel wird im Verlauf des Comics von diesen Dynamiken verschluckt. Sie wird berühmt und unsterblich, vergisst Freunde, Familie, sich selbst. Und bekommt am Ende – Achtung: Spoiler – doch noch einmal die Chance, alldem zu entfliehen. Nach einer Art Erweckungserlebnis bricht sie aus der Stadt aus, hinein in die Natur. "Die große Leere", da ist sie. + +Als Manel durch die Wälder streift, entdeckt sie eine kleine, friedlich wirkende Siedlung. Sie ist genau da, wo sie hinwollte, in ihrem Paradies. Sie zögert ein paar Momente. Dann dreht sie sich um, zurück zur Stadt. +Und genau das ist dieses Ende, das ich nicht verstehe. Sowohl die Bildsprache als auch die Moral, die der Geschichte zugrunde liegt, laufen auf das "Happy End" in der Leere hinaus. Warum wendet sich Manel davon ab? Weil man sozialen Medien nicht entkommen kann? Weil wir lieber berühmt als glücklich sind? Weil viele von uns überhaupt gar nicht glücklich sein können? Oder sind wir einfach zu feige für Neues? +Doch gerade weil "Die große Leere" dieses Ende hat, finde ich den Comic so gut. Er bleibt in Erinnerung. + +"Die große Leere" von Léa Murawiec, übersetzt aus dem Französischen von Christoph Schuler, ist beim Verlag Edition Moderne erschienen. diff --git a/fluter/leben-auf-daechern-von-jerusalem.txt b/fluter/leben-auf-daechern-von-jerusalem.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ca6e683c867fed4123dbd107b0ba44e794d304e4 --- /dev/null +++ b/fluter/leben-auf-daechern-von-jerusalem.txt @@ -0,0 +1,43 @@ +Es ist Freitagnachmittag, kurz vor Sonnenuntergang. Gleich beginnt der Sabbat, der jüdische Ruhetag. Als Vorbereitung auf den besonderen Wochentag singen zwei chassidische Juden Psalme auf einem Dach + +Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan rief Mitte Dezember einen Sondergipfel der Organisation für Islamische Kooperation (OIC) ein, um über eine gemeinsame Antwort auf Trumps Statement zu beratschlagen. Staats- und Regierungschefs von mindestens 20 islamischen Ländern beschlossen auf Erdoğans Vorschlag, Ost-Jerusalem fortan als Hauptstadt Palästinas anzuerkennen. Außerdem sprachen sie den USA jedes weitere Recht auf eine Vermittlerrolle im Nahostkonflikt ab. + +Ein palästinensischer Junge springt geschickt von einem Dach zum nächsten. Freitags und Sonntags trifft sich eine Gruppe junger Athleten, um kunstvolle Parcours auf den Dächern zu üben + +Auch in Kairo, Amman, Beirut und Bagdad wurde nach dem Freitagsgebet am 8. Dezember lautstark gegen Trumps Entscheidung protestiert. In Deutschland fanden ebenfalls propalästinensische, aber auch antiisraelische und antisemitische Proteste statt. Merkel kritisierte die Entscheidung Trumps. +Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini betonte, dass die Europäische Union eine noch stärkere Vermittlerrolle zwischen den Konfliktparteien einnehmen wird. Und erst gestern hat dieUN-Vollversammlung eine Resolution angenommen, die Donald Trumps Entscheidung über Jerusalem verurteilt und die USA dazu auffordert, die Entscheidung zurückzunehmen. + +Der Blick auf den östlichen Teil der Jerusalemer Altstadt. Wo die goldene Kuppel thront, kommen heilige Orte dreier Weltreligionen zusammen + +Während weltweit Proteste tobten, war der Fotograf Eugenio Grosso auf den Dächern Jerusalems unterwegs, die fast alle alten Stadtteile miteinander verbinden. Zwischen dem 1. und dem 12. Dezember hat er dort oben Bilder von Menschen gemacht, die ihrem alltäglichen Leben nachgehen: chassidische Juden, die an fußballspielenden, palästinensischen Jungs vorbeigehen, Liebespaare, Touristen, deren Wege sich mit Soldaten kreuzen. + +Spielen palästinensische Jungs so gerne wie wahrscheinlich alle Kinder auf dieser Welt: Verstecken. Nur eben halt hoch oben über der Stadt + +Die Dächer Jerusalems sind ein zu weiten Teilen neutraler Ort, wo sich die oft voneinander getrennten Communitys treffen, begegnen – oder zumindest über den Weg laufen. Sie seien "ein Ort, wo Politik und Separation vor der zeitlosen Schönheit der Stadt verblassen", sagt der Fotograf und zitiert auf seiner Website aus einem Buch des 1970 verstorbenen hebräischen Literaturnobelpreisträgers Samuel Agnon: +"Häuser berühren Häuser und Dächer berühren Dächer. Eine Person kann über die Dächer von einem Ende Jerusalems ans andere Ende gehen, es ist eine Stadt, die miteinander verbunden ist, sagte Avigdor in Anspielung auf die Psalme und seufzte tief. Jerusalem ist durch seine Häuser verbunden und durch seine Bewohner geteilt." + +Und jetzt alle zusammen: Cheese! Um einen Besuch in Jerusalem festzuhalten, gehören Aufnahmen auf und von den Dächern zum Pflichtprogramm + + +Auch Modestrecken lassen sich auf den Dächern in Szene setzen. In der Pause eines Fototermins schaut ein Model auf ihr Smartphone. Ob sie nachsieht, was unten passiert? + + +In Israel sind Männer und Frauen zum Wehrdienst verpflichtet. Für einen Geschichtsunterricht über die Altstadt gehen israelische Soldatinnen schon mal auf die Dächer + + +Oben verschachtelt, unten ein Labyrinth: Die vier Viertel der Jerusalemer Altstadt wurden zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannt + + +Brauchen auch mal eine Pause: Zwei Polizisten verschnaufen für ein paar Minuten auf einem Dach + + +Wer schon einmal in Jerusalem war, weiß: Eine allein umherstreunende Katze ist ein eher seltenes Bild. Oft laufen die Tiere gleich im Rudel herum + + +Manchmal sind die Dächer ausladend genug, um zu einem Fußballplatz umfunktioniert zu werden. Hier kickt eine Gruppe palästinensischer Kinder + + +Bloß nicht stören lassen! + + +Ein palästinensischer Taubenzüchter schaut zu, wie seine Vögel gen Abendhimmel fliegen. Sowohl im Islam als auch im Juden- und im Christentum haben Tauben große symbolische Bedeutung. Spätestens seit dem Weltfriedenskongress 1949 in Paris stehen sie – meist weiß auf blauem Grund – für Frieden diff --git a/fluter/leben-im-auto-im-winter.txt b/fluter/leben-im-auto-im-winter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b89147fbb4f072fb273e297357754ce27e34f25d --- /dev/null +++ b/fluter/leben-im-auto-im-winter.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Nachts stelle ich mich mit dem Wagen dann in eine ruhigere Seitenstraße hier in Virginia, nicht weit von Washington D. C. Man sieht, die Scheiben sind heute früh von innen beschlagen.Draußen haben wir Minusgrade, es war wieder eine kalte Nacht. Mir fehlen mein Bett, die Wärme und der Komfort, meine Beine ausstrecken zu können, ohne dass meine Füße kalt werden. Ich würde ja gerne auf dem Rücksitz schlafen, das wäre bequemer, aber da ist alles voll mit meinen Sachen. Deshalb liege ich immer quer ausgestreckt über dem Fahrer- und Beifahrersitz mit zwei Decken und zwei Schlafsäcken. + +Alles im Kleinwagen: Nachts streckt sich Elisabeth Raabe über die beiden Vordersitze aus + +Wenn ich nachts wach liege, denke ich oft an meine Katze Miss Kitty. Sie lebt jetzt in einem Tierheim, wo ich sie möglichst oft besuche. Meine Mutter ist 2012 gestorben, mein Vater im vergangenen August. Er war Lutheraner, hat mehr als 60 Jahre als Pastor gearbeitet und mir gesagt, dass ich meinen Glauben benutzen soll, um aus Krisen wieder herauszukommen. Ich habe natürlich gezweifelt und mich gefragt: Warum ich, was habe ich bloß getan, dass mich dieses Schicksal ereilt? +Kurz vor der Räumung meiner letzten Wohnung haben mir Freunde geholfen, einige meiner Möbel in einem Mietcontainer einzulagern. Ich habe ein paar Ersparnisse, aber das Leben ist auch ohne Obdach teuer, weil ich noch Steuerschulden und ausstehende Kreditkartenrechnungen begleichen muss. Zum Glück kann ich in einer christlichen Einrichtung für Obdachlose essen, duschen und meine Kleidung waschen. Auch eine Krankenschwester gibt es da und einen Sachbearbeiter, der einem bei der Jobsuche hilft. Zwischendurch lade ich dort mein Mobiltelefon und mein Tablet auf. Natürlich hilft es für die Jobsuche auch, zumindest noch ein Auto zu haben. Ich kann zu Vorstellungsgesprächen fahren und muss mich nicht auföffentliche Verkehrsmittelverlassen. +Ich könnte auch in einem Obdachlosenheim unterkommen. Als Frau fühle ich mich dort aber nicht sicher, also bleibe ich lieber in meinem Auto. Am Anfang hat die Polizei immer mal wieder an mein Fenster geklopft. Sie haben gefragt, ob ich eine Wasserflasche oder eine Decke bräuchte. Später haben sie mich in Ruhe gelassen, waren aber immer freundlich zu mir. +Was ich besonders vermisse? Einen Fernseher, Elektrizität, fließend Wasser, die Heizung im Winter. In einer idealen Welt habe ich bald wieder einen Job und finde ein Zuhause für mich und meine Katze. + diff --git a/fluter/leben-im-matriarchat-brasilien.txt b/fluter/leben-im-matriarchat-brasilien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..95615f5291cc52af6aeaec634372fac2c015625b --- /dev/null +++ b/fluter/leben-im-matriarchat-brasilien.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Homo- und heterosexuelle Beziehungen sind im Dorf gleichermaßen akzeptiert, genau wie geschiedene und alleinstehende Frauen. Noiva do Cordeiro ist ein kleines Matriarchat mitten in einem Land,das mit Jair Bolsonaro gerade ein Mann regiert,der mal über eine Abgeordnete sagte, sie habe es nicht verdient, vergewaltigt zu werden. Weil sie sehr hässlich sei.Ein Mann, der einmal in einem Interview gesagt hat, er hätte lieber "einen toten Sohn als einen schwulen". + +Die Gesellschaft im Dorf ist wesentlich weniger verstaubt als die Straße, die zu ihr führt +Mutter Delina hat die Hosen an in Noiva do Cordeiro. Die Bewohnerinnen nennen sie "Mãe" (Mutter) + +Das einzige explizite Verbot in Noiva do Cordeiro: Die Frauen dürfen keine Priester ins Dorf bringen. Die Kirche hat hier keinen Platz – und das hat seine Gründe. Einer davon hat seinen Ursprung Ende des 19. Jahrhunderts. Damals wird die Farmerstochter Maria Senhorinha de Lima mit einem reichen Bauern verheiratet. Maria aber verliebt sich in einen anderen Mann. Als Maria von ihm schwanger wird, verstoßen die Eltern sie. Die kleine Familie flieht an einen entlegenen Ort – das heutige Noiva do Cordeiro. Sie bekommen acht weitere Kinder und leben in großer Armut und abgeschnitten vom Rest der Gesellschaft. Denn auch die katholische Kirche verstößt die Ehebrecherin: Maria und alle ihre Nachkommen bis in die vierte Generation werden exkommuniziert. +Delina Fernandes ist einer dieser Nachkommen, eine Enkeltocher Marias. Sie ist heute das Oberhaupt der Kommune, die Matriarchin. Viele der Bewohnerinnen nennen sie einfach "Mutter". Delina Fernandes – und das ist der zweite Grund für das Priesterverbot – hat ihre eigenen Erfahrungen mit der Kirche gemacht: Anfang der 50er-Jahre kommt ein evangelischer Priester ins Dorf der verstoßenen Familie. Er missioniert viele der Bewohnerinnen und Bewohner, errichtet eine eigene Kirche und hält um die Hand der 16-jährigen Delina an. Die beiden heiraten. 40 Jahre lang leben Delina und der Rest der Dorfgemeinschaft unter dem strengen Regime des neuen Priesters: Die Frauen werden unterdrückt, sie dürfen nur lange Haare und Röcke tragen. Radio, Fernsehen und Tanzen sind verboten. +Mitte der 90er-Jahre haben die Frauen im Dorf genug. Sie vertreiben den Priester, reißen die Kirche ab und ernennen Delina zu ihrem Oberhaupt. Delina, so erzählte sie dem "Spiegel", verkündet damals: "Wir leben in Zukunft nach unseren eigenen Regeln." + +Schon in der Dämmerung bauen die Frauen eine kleine rote Chili-Schote an. Deren Ernte kann die Dorfbewohnerinnen finanziell versorgen, nur wach macht sie nicht +Denkmalpflege: Das Bild zeigt den Teenager Delina mit ihrem Exmann, Priester Anizio Perreira. Vor 25 Jahren rebellierten die Frauen gegen sein Regime und vertrieben ihn aus der Gemeinde +Wahlverwandtschaft: In Noiva do Cordeiro wachsen alle wie Geschwister auf. Luana und Larisa kennen sich seit Geburt, da ist es doch egal, ob sie blutsverwandt sind oder nicht + +Schwamm drüber: Zum Putzdienst muss jede*r im Dorf mal antreten. Dieses mal hat es Renatinho und Sandinho getroffen, sie schrubben das Casa Mãe +Fußball ist Frauensache. Er läuft ständig auf den Fernsehern in Noiva. Viele Alternativen scheint es eh nicht zu geben: Laut Mãe Delina bestehen die meisten anderen Programme "nur aus Lügen" +Schminken darf sich hier jede*r. Ein Besucher des Dorfes meinte mal, er hätte noch nie einen Ort gesehen, an dem Homosexualität selbstverständlicher ist +Auch eine Lady Gaga wohnt im Dorf: Keila, die jüngste Tochter von Delina, covert die Sängerin. Mittlerweile tritt sie damit im brasilianischen Fernsehen auf +Die Alten von Noiva sind top gestylt. Jeden Tag hilft ihnen dabei eine andere Dorfbewohnerin +Nach dem Baden im nahe gelegenen Wasserfall wird erst mal nachgeschminkt +Selbst im Matriarchat wird's mal dunkel: Noiva do Cordeiro in der Abenddämmerung + diff --git a/fluter/leben-in-brasilien-mit-behinderung.txt b/fluter/leben-in-brasilien-mit-behinderung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b6624ef38d6c79747b2b522fe0760645a280d09a --- /dev/null +++ b/fluter/leben-in-brasilien-mit-behinderung.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Er reiht sich ein in die Straßenverkäufer-Promenade, nimmt seinen Platz gleich neben dem U-Bahn-Lüftungsschacht ein, rechts von ihm die Handyhüllen-Frau, die auch gebrannte CDs für 9,99 Reais und grellfarbene Kinderröcke verkauft. Links der Maiskolben-Mann, gegenüber ein Matratzen-Outlet, und daneben hat gerade ein McDonald's-Eisladen aufgemacht, an dem die Leute an heißen Tagen kleben wie Stubenfliegen an einer Leimfalle. Sie stehen Spalier, wenn die Passanten morgens vom U-Bahn-Eingang eingesaugt und abends – viele vom Tag gezeichnet – wieder ausgespuckt werden. +Tagaus, tagein lief ich am Mann ohne Beine vorbei, manchmal nickte ich kurz zum Gruß. Ich hatte Mitleid mit ihm, wie er dasaß, immer an derselben Stelle, stundenlang vor sich hin arbeitete, während die Welt an ihm vorüberrannte. Im Geist hatte ich mir längst seine Biografie zusammengezimmert. Der Mann ohne Beine musste ein trauriger Mann sein – in einem Land, in dem Körper stets auch Tempel waren; dessen Fußballer so erfolgreich sind, weil sie ihre Beine besser, schneller, filigraner bewegen können als viele andere. Dessen Töchter die Copacabana zum Synonym für einen Traumstrand mit Bikinischönheiten gemacht haben. Es gibt keine hässlichen Menschen, nur arme Menschen, so lautet ein brasilianisches Sprichwort. Ich musste mit dem Mann reden. +An einem Sommermorgen im Januar kaufte ich deshalb zwei Becher Orangensaft und eine Tüte Esfihas, dreieckige Teigtaschen gefüllt mit Hackfleisch. Sollte ich stehen oder knien oder mich gleich danebensetzen? Was sollte ich sagen? Hallo, ich bin Bartholomäus aus Deutschland und wollte wissen, wie das so ist, ein Leben ohne Beine im Land der Beine. Und bitte schön, hier ein Becher Orangensaft – das klang ja wohl reichlich belämmert. +Aber weil mir nichts Besseres einfiel, sagte ich genau das und stand ein bisschen da wie ein Fünftklässler am ersten Tag in der neuen Schule. Der Mann guckte mich an, lächelte schüchtern, streckte mir die Hand hin und sagte: Wie nett von dir, ich bin Ailton Matias Pontes, setz dich doch. Er schob mir eine weitere Hartgummiplatte hin, die er normalerweise benutzte, um alte Schuhe neu zu besohlen. +Bist du traurig, Ailton, weil, du weißt schon …? +Ich bin nie traurig, sagte Ailton. +Das Traurigsein habe ich mir vor langer Zeit abgewöhnt. +Dann erzählte er eine Das-ist-eine-lange-Geschichte- Geschichte: +Ich bin 1957 geboren als neuntes von zehn Kindern. Als ich zehn Jahre alt war, starb mein Vater an einer schweren Krankheit und einen Monat später meine Mutter am Kummer. Das war der Tag, an dem ich beschloss, nie mehr traurig zu sein. Wir zogen zu meiner Schwester und mussten fortan arbeiten: erst in einer Mehlfabrik, dann in einer Bäckerei, irgendwann hat uns unser Onkel gezeigt, wie man Schuhe repariert. Da, wo ich herkomme, haben die Kinder keine Zeit zum Träumen, weil sie zu beschäftigt mit dem Leben sind. Das Einzige, was ich mir damals wünschte, war, einmal eine Familie zu haben, vielleicht ein eigenes Haus. +Trotz seiner Behinderung ist Ailton nur selten auf Hilfe angewiesen. Er hat ein eigenes Auto und eine Wohnung in einer Favela +Dann kam der 20. August 1979, ich war tanzen gewesen. Auf dem Heimweg ging ich an den Schienen entlang, es war 0 Uhr 25, den Zug bemerkte ich zu spät. Ich wurde in den Acker geschleudert, und am nächsten Morgen wachte ich im Krankenhaus auf. Der Arzt machte ein ernstes Gesicht: Herr Pontes, ich habe schlechte Nachrichten für Sie, wir müssen Ihnen beide Beine amputieren. Meine Schwester brach in Tränen aus. Da habe ich sie in den Arm genommen und gesagt, sie soll nicht traurig sein. +Weil ich nicht genügend Geld hatte für eine Physiotherapie, hat meine Schwester mir die Beinstümpfe mit einer Kräutermischung eingerieben, und meine Brüder haben mich gefüttert, weil auch mein Arm gebrochen war. Ich habe mich gefühlt wie ein Kleinkind, das allen eine Riesenlast ist. Seitdem hatte ich immer nur einen Wunsch: unabhängig zu sein. Deshalb bin ich nach meiner Genesung nach Rio, um in der großen Stadt Arbeit zu finden. +Ich kaufte mir einen Rucksack und verkaufte Süßigkeiten. Die ersten Jahre waren hart, ich schlief unter Zeltverschlägen, hatte kaum Geld. Dann erinnerte ich mich an die Lektionen im Schustern. Und nun sitze ich hier seit 15 Jahren und repariere Schuhe, ausgerechnet. Ich bin glücklich, ich liebe die Menschen, ich liebe meine Arbeit, verdiene ein bisschen, sodass es zum Leben reicht. Und mehr brauche ich nicht. +Ailton nahm einen schwarzen Stöckelschuh vom Haufen, die mag er am liebsten, weil so ein Stöckelschuh für ihn immer auch eine warme Erinnerung an die gute Zeit ist, in der er auch mal verliebt war. Zwischendurch hob er immer mal wieder die Hand und winkte und lächelte, um einen Bekannten zu grüßen. Die meisten Menschen am Largo do Machado kennen Ailton, sie mögen ihn. Aber natürlich gibt es auch solche, die es auf ihn abgesehen haben. Kinder, die ihm die Zunge rausstrecken, ihn antippen und davonrennen. Und erst letzte Woche hat ihm einer den Stoffbeutel gestohlen, in dem er immer sein Portemonnaie hatte, aber diese armen Jungen, die nicht so viel Glück hatten im Leben wie ich, die machen das ja nicht aus Spaß, sagte Ailton. +Rund 46 Millionen Brasilianer haben eine Behinderung. Wer weniger als ein Viertel des Mindestlohns verdient, bekommt finanzielle Unterstützung vom Staat in Höhe des monatlichen Mindestlohns +An einem Sommerabend Ende Januar, es war mein vorletzter Tag in Brasilien, lud mich Ailton zu sich nach Hause ein. Wir stiegen ins Auto, fuhren hinauf in die Favela Santo Cristo, wo er lebt, stiegen drei Stockwerke hoch, bis wir auf seinem Balkon standen. Ailton stellte mir Dulcinéia Gomas vor, seit 20 Jahren seine Begleiterin, so nennt er sie, mit der er zusammenwohnt. Eine schöne Frau, spindeldürr, faltig, die mit Eleganz Billigzigaretten durch eine schwarze Zigarettenspitze rauchte, als stünde sie nicht auf dem Balkon in einer Favela, in der oft tagelang kein Wasser aus den Hähnen fließt, sondern auf dem Dach eines der Luxushotels an der Copacabana. Auch Dulcinéias Enkelin Manoely war da, 16 Jahre alt, sie nennt Ailton liebevoll Opa. Im Zimmer lief wie immer in Brasilien irgendeine Telenovela, neben dem Fernseher hatte Ailton einen Vogelkäfig aufgestellt, in dem ein kleiner gelber Kanarienvogel schlief. +Draußen ging gerade die Sonne unter, stumm und friedvoll lag die Stadt vor uns, dort unten der Hafen, das Fußballsta dion, die Arenen, durch die die Sambaschulen in ihren prunkvoll aufgemotzten Motivwagen ziehen. Zum Karneval hatte Ailton immer mitgetanzt. Ailton schaute glücklich und auch ein bisschen stolz auf diese Stadt. Wie einer, der auf ein erfülltes Leben zurückblickt und das verbleibende in jeder Sekunde genießt. Er hat zwar kein Haus, aber immerhin eine eigene Wohnung und eine Familie, die keine leibliche ist, aber was macht das schon. +Ailton, wo würdest du hinreisen, wenn du es dir aussuchen könntest? +Ich würde gerne nach Amazonien fahren oder nach Portugal, da habe ich viel drüber gelesen. +Und macht es dich nicht traurig, dass dieser Wunsch niemals in Erfüllung gehen wird? +Nein, sagte Ailton. Es macht mich glücklich zu wissen, dass es Portugal gibt. + diff --git a/fluter/leben-mit-assistenzhund.txt b/fluter/leben-mit-assistenzhund.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d5e53abe066f916385ae99022c4e9a47d00efba1 --- /dev/null +++ b/fluter/leben-mit-assistenzhund.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +An den ersten Besuch bei Vita kann sich Frieda Krieger noch gut erinnern: "Es war furchtbar. Wir kamen rein, und zehn junge Hunde rannten auf mich zu. Ich bin fast aus dem Rollstuhl gekippt!" Heute kann sie darüber lachen. "Mir wurde klar: Fellow wird mir nichts tun, und meine Angst vor Hunden war irgendwann weg. Als er dann mit uns nach Hause kam, mussten wir uns natürlich erst mal kennenlernen und Rituale festlegen. Heute hilft er mir jeden Abend beim Ausziehen." +Die Ausbildung eines Assistenzhundes ist aufwendig: Das erste Lebensjahr verbringen die Hunde in einer Patenfamilie, um sich an den menschlichen Alltag zu gewöhnen. Nach der ca. 15-monatigen Patenzeit beginnt im Trainingszentrum die Ausbildung. Und schließlich lernen sich Hund und Familie kennen und wohnen dann gemeinsam sechs Wochen lang im Ausbildungszentrum wie in einer großen WG mit anderen Familien und deren Hunden. +Meist vermittelt Vita Golden oder Labrador Retriever. Diese Rassen verstehen es als eine Art Spiel, Aufgaben für Menschen zu erledigen. Für Frieda Krieger, die nicht gut greifen kann, hebt Fellow immer wieder Dinge vom Fußboden auf. "Er kann auch die Tür aufmachen, mir meine Socken und Jacke ausziehen, Schubladen öffnen und den Einkaufskorb tragen. Sogar die Waschmaschine kann Fellow ausräumen." Die Schülerin revanchiert sich mit Streicheln und Bürsten, was wiederum ihre Motorik fördert. +Ein ausgebildeter Assistenzhund kostet im Durchschnitt 25.000 Euro – eine Summe, die kaum eine Familie aufbringen kann. Anders als bei Blindenführhunden bezuschussen Krankenkassen Assistenzhunde nicht standardmäßig. Bei jedem Einzelfall wird entschieden, ob ein Assistenzhund notwendig ist. Meistens ist ein technisches Gerät aber kostengünstiger, und die Kriterien, wann ein Assistenzhund notwendig ist, sind nicht genau definiert. +Frieda Krieger sagt heute: "Fellow hat mein Leben komplett verändert. Ich musste Verantwortung übernehmen, mich kümmern und vor die Tür mit ihm. Plötzlich konnte ich mich nicht mehr verkriechen, wenn mich Selbstmitleid überkam und ich am liebsten tagelang nicht aus dem Bett wollte." Der Hund spüre immer, was er tun muss. Ist sie traurig, tröstet er sie. Nicht mit Worten, sondern mit Blicken. Er versucht sie abzulenken, indem er Spielsachen anschleppt oder die Leine, um sie zu einem Spaziergang zu motivieren. Und er hält viel aus. "Fellow ist eher ein ruhiger Typ, ich bin sehr temperamentvoll, da wird es schon mal laut." Stur seien sie beide. +Die Idee der Assistenzhunde kommt aus den USA, wo die Tieretraumatisierte Kriegsveteranen begleiten. Blindenführhunde werden schon seit dem Ersten Weltkrieg eingesetzt, zunächst für Kriegsblinde, später als Begleithunde für Rollstuhlfahrer. Andere Hunde warnen Epileptiker vor einem Anfall oder stupsen Diabetiker an, wenn ihr Blutzuckerspiegel schwankt. Auch in der Demenztherapie oder bei posttraumatischen Belastungsstörungen werden sie eingesetzt. In allen Fällen kommunizieren Mensch und Tier miteinander – auf einer Ebene, auf der die Krankheit des Menschen keine Rolle spielt. +"Man lernt sich selbst neu kennen. Ohne ihn wäre ich nicht die, die ich heute bin", weiß Frieda Krieger. Sie sitzt selbstbewusst in ihrem Rollstuhl, erzählt mit kräftiger Stimme, lacht viel. Nächstes Jahr wird sie Abitur machen, sie möchte Erzieherin werden. Auf der Kommode im Wohnzimmer steht ein Foto, darauf umarmt ein kleines blondes Mädchen einen ebenso blonden, ebenso kleinen Hund. "Das war noch im Ausbildungszentrum." Da war sie neun, Fellow zwei. Zehn Jahre später ist er längst ein Hunde­opa. "Fellow war immer ein großes Geschenk. Und jetzt muss ich ihm das zurückgeben. Ich will für ihn da sein, so wie er es für mich war – ein Hundeleben lang." diff --git a/fluter/leben-mit-dem-monster.txt b/fluter/leben-mit-dem-monster.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/leben-mit-der-erbkrankheit-chorea-huntington.txt b/fluter/leben-mit-der-erbkrankheit-chorea-huntington.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f9d69fb8839e5006502660479a1c35e9b1e60719 --- /dev/null +++ b/fluter/leben-mit-der-erbkrankheit-chorea-huntington.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Ein Unfall, eine folgenreiche Verletzung, Krebs: Viele Menschen ereilt im Lauf ihres Lebens ein Schicksalsschlag. Doch eine Erkrankung wie Chorea Huntington, die von Geburt an feststeht, lastet bis zu ihrem Ausbruch wie ein Fluch auf dem Betroffenen. Etwa 10.000 Menschen sind laut der Deutschen Huntington-Hilfe hierzulande von dem Leiden betroffen. Wer daran erkrankt, verliert nach und nach die Kontrolle über seine Bewegungen, sein Verhalten, seine Sprache. +Schuld ist ein Gendefekt auf Chromosom 4. Die Nervenzellen sterben ab, das Gehirn verkümmert, 15 bis 20 Jahre nach dem Ausbruch der Krankheit stirbt der Patient unweigerlich. Ist ein Elternteil betroffen, stehen die Chancen 50 zu 50, dass das Kind den Gendefekt erbt. Ein Test kann bei einem Verdacht Gewissheit geben. Aber es ist eine schreckliche Gewissheit, wenn er positiv ausfällt. +Wenn Jakob seine Mutter Bettina* ansieht, wirft er auch einen Blick in die eigene Zukunft. Sie leidet an der Huntington- Krankheit. Bettina, 38, ergrautes Haar, hat Mühe, deutlich zu sprechen, ihre Zunge ist ihr im Weg. Vieles fällt ihr schwer, auch langes Laufen geht nicht mehr. Für die Strecke in die Stadt brauchte sie vor ein paar Jahren nur eine halbe Stunde. "Inzwischen dauert das eine Stunde", sagt sie. Vor der Tür ihrer Erdgeschosswohnung steht ein Rollator, ohne ihn schafft sie es nicht mehr zum nahe gelegenen Supermarkt. "Ich muss sie manchmal stützen, weil sie plötzlich anfängt zu schwanken", sagt Jakob. Die Einkaufsliste und die Entschuldigungen für die Schule schreibt er inzwischen selbst, weil seine Mutter die Hand beim Schreiben nicht mehr ruhig halten kann. +Bei den meisten Betroffenen macht sich Huntington im Alter zwischen 30 und 50 Jahren bemerkbar. Bei Bettina ging es um die 30 los. Zuerst zuckten Beine und Hände unwillkürlich, ihr Gedächtnis ließ immer stärker nach, sie bekam depressive Schübe – ob als Teil der Krankheit oder Resultat der Diagnose, das wissen die Ärzte nicht. Alltägliches wie Anziehen und Kochen fiel ihr immer schwerer, ihren Job als Putzfrau musste sie bereits aufgeben. Irgendwann wird sie nicht mehr richtig schlucken können, viele Betroffene ersticken beim Essen. Bettina wird eine Rundum-Betreuung brauchen. "Ich weiß schon, in welches Heim ich gehe", sagt sie. "Aber ein paar Jährchen habe ich ja noch." +Einen so offenen Umgang mit der Krankheit gab es bei ihren Eltern und Großeltern nicht. "Damit wollte sich in meiner Familie niemand auseinandersetzen", erzählt Bettina. Obwohl schon die Großmutter an Huntington litt, wollte sich ihr Vater nicht damit beschäftigen – bis er selbst mit Ende 40 die Diagnose bekam. Von diesem Moment an wusste Bettina, dass auch sie betroffen sein könnte, und ließ sich testen. "Positiv. Das war ein Schock", sagt sie, "damals hatte ich ja schon zwei Kinder." Jakob war sechs Jahre alt, seine Schwester sieben, sie ging schon in die Schule. Bettina fasste einen Entschluss: Ihre Kinder sollten von Anfang an wissen, welches Risiko für sie besteht. Denn in extrem seltenen Fällen bricht Huntington schon im Kindesalter aus. Den Anstoß für Jakobs Gentest gab ein Tic. Der Junge war im vergangenen Jahr in einem Heim untergebracht, weil seine Mutter in dieser Zeit zu sehr mit ihrer Krankheit zu tun hatte. Zu seinem Vater hat Jakob kaum Kontakt, die Eltern trennten sich, als er noch klein war. In der Einrichtung fiel Jakobs Betreuern auf, dass der Junge seinen Kopf immer ruckartig über die Schulter kippte; die Betreuer wussten von der Krankheit der Mutter und deuteten dies als mögliches erstes Anzeichen. Der Kinderarzt schickte daraufhin eine Blutprobe ins Labor, sechs Wochen musste die Familie auf das Ergebnis warten. "Eine komische Zeit", sagt Jakob, "ich wollte doch wissen, wie es mit meinem Leben weitergeht." Dann der Befund: positiv. Erst Schweigen, dann Tränen. +Ausgebrochen ist die Krankheit bei Jakob offenbar noch nicht. Das Kopfzucken war wohl die Folge psychischer Belastungen, vermutet sein Psychologe. Ein Fehlalarm, doch der Gentest lässt sich nun nicht mehr rückgängig machen. Er teilt Jakobs Leben in ein Davor und ein Danach. Er weiß, dass er wie seine Mutter an Huntington erkranken wird, vielleicht in 15, vielleicht in 30 Jahren. Jedes Mal, wenn er sich jetzt verschluckt oder wenn er mal etwas vergisst, fragt er sich, ob dies schon der Anfang vom Ende sein könnte. +Ein gutes halbes Jahr nach der Diagnose gibt sich Jakob heute überraschend unbeeindruckt. Er will nicht die ganze Zeit über seine Krankheit nachdenken. "Ich schaffe das", sagt er, "ich bin ja noch jung. Und wenn es ausbricht, mache ich mir nichts daraus." Es klingt ziemlich abgeklärt für einen Teenager, der noch so viel vor sich hat, aber bereits weiß, dass er weniger Zeit für seine Pläne hat als seine Freunde. Ob es tief in ihm anders aussieht? Vielleicht schützt er sich, indem er versucht, nicht panisch zu werden. Möglicherweise ist Schicksalsergebenheit eine gute Strategie. Hilfe holt er sich im Austausch mit anderen Betroffenen, außerdem will er an einer Studie teilnehmen. Auch die Beziehung zwischen Jakob und seiner Mutter ist seit der Diagnose noch enger geworden. Inzwischen lebt er wieder bei ihr. +Keine Reise nach Neuseeland, kein Fallschirmsprung: Spektakuläre Aktionen hat Jakob bislang nicht geplant, er will nicht überstürzt etwas verwirklichen, wozu er in ein paar Jahren vielleicht nicht mehr in der Lage sein wird. Mittlerweile gibt ihm der Islam Halt. "Ich habe das Gefühl, ich kann mit Allah über alles sprechen", sagt er, "auch über die Krankheit." Mit seinen Freunden redet er hingegen kaum über das Testergebnis, ohnehin wissen nur sehr wenige davon. Jakob will kein Mitleid. +Dabei ist das Ergebnis des Gentests eine große Bürde, natürlich beeinflusst das Wissen um die Krankheit alle weiteren Entscheidungen. Elke Holinski-Feder, die das Medizinisch Genetische Zentrum in München leitet, sagt: "Gerade für junge Menschen kann die Gewissheit eine große Belastung sein." Sie rät genetisch vorbelasteten Menschen, sich erst dann testen zu lassen, wenn eine Lebensentscheidung ansteht, etwa die Familiengründung oder eine aufwendige Berufsausbildung. "Ich schicke manche wieder nach Hause und sage, sie sollen wiederkommen, wenn konkrete Gründe vorliegen." Jakobs Schwester hat im Gegensatz zu ihrem Bruder entschieden, dass sie nicht wissen möchte, ob Huntington auch in ihr schlummert. +Für Jakob steht bereits fest, dass er später keine eigenen Kinder haben möchte. "Das Risiko ist zu hoch, ich würde ihnen das nicht antun wollen", sagt er. Dabei sieht er seine Mutter an, die ihm auf dem braunen Sofa gegenübersitzt und die Zigarette zwischen Mittel- und Zeigefinger zusammenpresst, damit die unruhige Hand sie nicht fallen lässt. "Ich kann ihn verstehen", sagt Bettina später. Sie hätte auf keinen Fall Kinder bekommen, wenn sie von ihrer Krankheit gewusst hätte. +Die Anlage für die Krankheit ließe sich schon vor der Geburt feststellen. Doch eine solche Untersuchung ist in Deutschland verboten. Getestet werden dürfen nur schwere Erbkrankheiten, die sich bereits im Kindesalter zeigen. Das ist bei Huntington in aller Regel nicht der Fall. Für den Gentest müssen Betroffene ins Ausland reisen. Möglich ist es aber, im Rahmen einer künstlichen Befruchtung Eizellen auf Huntington zu testen, bevor sie einer Frau übertragen werden. +Jakob setzt seine ganze Hoffnung nun in die medizinische Forschung. Er ist davon überzeugt, dass es in einigen Jahren gelingen wird, die Krankheit zu heilen. Und er lernt fleißig, damit er von der Sekundarschule auf das Gymnasium wechseln kann. Schließlich will er später Neurologe werden. Jakob hat den Wettlauf gegen die ablaufende Zeit aufgenommen. Die Krankheit, sie hat ihn nicht besiegt, aber sie hat seinen Ehrgeiz geweckt. diff --git a/fluter/leben-umkrempeln-job-beziehung-kinder.txt b/fluter/leben-umkrempeln-job-beziehung-kinder.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..692bfc9f6fb0461a8cb40000779abcb76bf02472 --- /dev/null +++ b/fluter/leben-umkrempeln-job-beziehung-kinder.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Ich kündigte also meine gut bezahlte unbefristete Stelle im Dentallabor und fand schließlich einen Ausbildungsplatz bei einem großen Marzipanproduzenten. Fast zeitgleich heirateten mein Freund und ich, obwohl wir schon seit Längerem ziemlich verschiedene Vorstellungen vom Leben hatten. +Während er weiterhin eine Familie gründen wollte, träumte ich nicht von Kindern, sondern von der Selbstständigkeit. Lange hielt die Beziehung nicht. Wir trennten uns, und ich ließ mit einem Kloß im Hals mein ganzes altes Leben hinter mir. +Zum Glück machten mir meine Eltern keine Vorwürfe, dass ich einen sicheren Job aufgegeben hatte, sondern unterstützten mich sogar finanziell. Die Ausbildung zog ich in zwei statt drei Jahren durch – so viel Energie hatte ich. Ich fühlte mich wieder jung und lebendig. Ich wohnte auch nicht mehr am ruhigen Stadtrand, sondern direkt über einer Kneipe inmitten der Lübecker Altstadt. +Im Anschluss an meine Gesellenprüfung machte ich dann meinen Meister. Ich fand einen Job in einem Café, für das ich eigene Kuchenkreationen backte. Plötzlich hatte ich so viel Freiraum, dass ich nebenher an meiner Geschäftsidee arbeiten konnte: ein Onlineshop für Torten. Nachdem der Name und das Konzept standen, erstellte ich eine Facebook-Seite, über die gleich viele Anfragen kamen. Irgendwann war klar, dass ich einen eigenen Laden mit Küche anmieten musste. Doch auch der war schnell zu klein. Ich suchte mir einen größeren, da im alten die Kühlkapazitäten nicht mehr ausreichten. Es ist schon verrückt, dass ich mich damals scheiden ließ, um heute Torten für Hochzeiten anderer zu backen. Aber ich bin endlich angekommen. + +Zivilcourage beweisen, seine Träume verfolgen oder Ängste bezwingen – ein bisschen Risiko kann sich lohnen. In unserer Reihe berichteten neben MonjazweiweitereMenschen vom Wagnis ihres Lebens. + diff --git a/fluter/leben-von-kokain-bauern-in-kolumbien.txt b/fluter/leben-von-kokain-bauern-in-kolumbien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6c814c7ed66ff41e74b8fe696d48abd84baf5e05 --- /dev/null +++ b/fluter/leben-von-kokain-bauern-in-kolumbien.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Kommando Koks: Da lokale Nutzpflanzen wie Bananen, Maniok, Mais, Reis oder Kakao geringe Preise erzielen, werden viele Landwirte im Süden Kolumbiens zu "Cocaleros" + +Er und seine Arbeiterpflücken die Blätter und verarbeiten sie zur Basispaste für Kokain. Schon als Fünfjähriger spielt Daniel im Labor, während um ihn herum mit giftigen Chemikalien hantiert wird. Er lernt das Handwerk von klein auf. "Für mich war der Anbau von Koka immer ganz normal, so wie für andere Bauern Kaffee oder Mais", sagt Daniel. +Als er sechs ist, zeigt ihm sein Stiefvater, wo das Geld versteckt ist. Nur für den Fall, dass ihm eines Tages etwas zustoßen sollte. Mit jedem Jahr produziert die Familie mehr, über ein Dutzend Arbeiter helfen bei der Ernte. Der Stiefvater betreibt auch eine Billardkneipe im Dorf. Hier wissen alle, warum es der Region so gut geht, aber keiner spricht darüber. + +Immer den Nasen nach:Wie Tonnen Kokain nach Europa geschmuggelt werden +Neugierige Fragen stellt Daniel im Labor. Was aus den Kokapflanzen wird? Nach sieben Monaten die erste Ernte, sagen die Arbeiter. Dann ein weißes Pulver. Wohin das Pulver geht? Die Arbeiter lachen. Das sei für die Gringos. Daniel stellt sich die Blonden vor, wie sie das Pulver ziehen und ihr Gringo-Geld rüberreichen. Auf der Straße zahle man 2.200 Pesos(Anm. d. Red.: umgerechnet 60 Cent)für ein Gramm. +Die großen Pesos aber, sagen die Erwachsenen, die werden woanders gemacht. Und dass Daniel sich nie etwas vom Pulver nehmen dürfe, weil er sonst umgebracht werde. Und dass er nie mit der Polizei reden solle. Schweigen sei wichtig, wenn Daniel seiner Familie keinen Schaden zufügen will. +Der Schaden fällt Jahre später vom Himmel. Daniel ist zehn, als der "Plan Colombia", ein US-finanziertes Drogenbekämpfungsprogramm der kolumbianischen Regierung, die Finca der Familie zum ersten Mal trifft. Aus Helikoptern wird Glyphosat versprüht,ein Herbizid, das im Verdacht steht, krebserregend zu sein. Vermummte Soldaten richten ihre Waffen auf die Feldarbeiter, während der weiße Nebel das Grundstück einhüllt. "Bedeck dein Gesicht", ruft seine Mutter. Daniel rennt. +Am nächsten Tag ist alles anders. Vom Glyphosat sind die Kokapflanzen ganz gelb geworden. Die Ernten sind zerstört. +Ein Pflücker erntet elf bis zwölf Kilo Kokablätter am Tag + +Damit die Familie künftig auf den Kokaanbau verzichtet, erhielt sie vom Staat ein paar Kühe und Werkzeuge, erinnert sich Daniel. Doch die reichen nicht: Ohne den illegalen Anbau verschwinden die Arbeiter, Nachbarn ziehen weg, mancher Kokabauer versucht sich als Taxifahrer. Ein paar wenige hätten es damals geschafft, sagt Daniel, sich mit Mais und Reis selbst zu versorgen. "Aber wer ist schon damit zufrieden, nicht zu verhungern, wenn er vorher einen anderen Lebensstandard hatte?" +Über 50 Jahre führten die kolumbianische Regierung, Guerillas wie FARC oderELNund paramilitärische rechte Gruppeneinen Bürgerkrieg, der mindestens 220.000 Todesopfer forderte. Der Konflikt war eng mit den Drogen verbunden: Guerillas und Paramilitärs finanzierten ihre Kämpfe unter anderem über den Kokainhandel und die Kontrolle der Anbaugebiete – und tun das zum Teil bis heute.Seit 2016 herrscht Frieden zwischen FARC und Staat, allerdings nur auf dem Papier: Der Rückzug der FARC hat in etlichen Regionen Kolumbiens ein Machtvakuum erzeugt, das FARC-Abtrünnige, Paramilitärs und Guerillas gewaltsam füllen wollen. Der Frieden in Kolumbien ist dementsprechend labil. +2012, zweieinhalb Jahre nach dem ersten Glyphosatangriff, wachsen auf den Feldern der Familie wieder Kokapflanzen. Der Staat reagiert unentschlossen: Alle paar Wochen kommen kolumbianische Militärs auf die Finca. Wenn Daniels Familie Glück hat, hören die Soldaten auf ihre Bitten, zerstören nur wenige Kokapflanzen, machen Fotos vom Anbau und ziehen wieder ab. Sie wissen, dass der Staat die Bauern zu wenig unterstützt, um vom Drogenanbau loszukommen. Währenddessen spitzt sich der Bürgerkrieg zwischen derlinken FARC-Guerillaund der kolumbianischen Regierung zu. +Daniel schließt die Dorfschule mit der neunten Klasse ab. Auf junge Männer wie ihn wartet das zerstrittene Land: Paramilitärs, die kolumbianische Armee und die FARC wollen ihn rekrutieren. Für seine Zukunft sieht Daniel drei Optionen: Er schließt sich einer der bewaffneten Gruppen an. Er erntet weiter Koka. Oder er zieht ins Internat, um Abitur zu machen. "Wofür willst du studieren, wenn es Kokain gibt?", fragen seine Freunde. Doch Daniel fürchtet die Gewalt. Er zieht ins Internat. +An der Schule versteht er sich gut mit einer Sozialarbeiterin, die von der Universität von Antioquia in Medellín schwärmt. Daniel ist sofort begeistert: Das Internat war die richtige Entscheidung, warum sollte er es nicht an der Uni probieren? 2010 macht er sein Abitur und besteht im dritten Anlauf den Aufnahmetest. +Aus erster Hand: Die Ernte hinterlässt auch ohne Glyphosat-Angriff ihre Spuren + +Im Dorf galt: Wer am meisten hat, wird am meisten respektiert. In der Zweieinhalb-Millionen-Metropole Medellín gilt: Wer am meisten hat, muss ein Narco sein. Daniel verschweigt die Finca, die Felder, die Arbeit seiner Eltern. "Dabei hatte ich früher nie das Gefühl, etwas Schlechtes zu machen. Es war gut, weil wir gut davon leben konnten", sagt er. Dank des Kokageldes konnte Daniel schließlich Abitur machen und studieren. +Diesen Konflikt der Menschen in den Kokaregionen will Daniel deutlich machen. Er war einer der Gründe, Film zu studieren. Daniels Abschlussfilm zeigt, wie selbstverständlich er mitten in einer Drogenfabrikation aufwuchs. Und wie schwierig es für die Menschen in Putumayo ist, Alternativen zum Koka zu finden. +Daniel hat den Film bislang nur in der Uni gezeigt und auf kleinen Festivals. Aber nicht bei sich zu Hause, im Dorf. Verändert hat sich dort nichts, seine Familie baut heute noch mehr Koka an als früher. Und Daniels fünfjähriger Neffe hat vor kurzem angefangen, bei der Ernte zu helfen. + +* Unsere Autor*innen lernten Daniel bei einem Auslandssemester in Medellín kennen. In den Koka-Dörfern sind Aussteiger selten – und nicht von allen gern gesehen. Deshalb haben wir Daniels Namen auf seinen Wunsch hin geändert. + diff --git a/fluter/lebenslaenglich.txt b/fluter/lebenslaenglich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/lebenslaeufe.txt b/fluter/lebenslaeufe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..eb0bc9a7a0a35a2339fd785505b7db1a8723a09e --- /dev/null +++ b/fluter/lebenslaeufe.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +...durch ein Video im Internet inspiriert"Ich habe Parkour Anfang 2005 über das Internet kennengelernt. Damals hatte ich kaum Kontakt zu anderen Menschen, weil ich den ganzen Tag lang Computer gespielt habe. Parkour hat mich von einem auf den anderen Tag da weggeholt. Ich habe einfach den Rechner ausgemacht und bin rausgegangen. Parkour, das ist die Kunst der effizienten Fortbewegung ganz ohne Hilfsmittel. Der Sportler heißt Traceur. Er versucht, so schnell wie möglich vor ihm liegende Hindernisse zu überwinden, zum Beispiel Mauern und Zäune. Ein Freund und ich waren die Ersten, die das in Berlin trainiert haben. Später sind wir auf zwei weitere Traceurs gestoßen und haben unser Team gegründet. Trotzdem verstehe ich Parkour nicht als Gruppensport. Wenn ich vor einem Sprung stehe, der mir Angst macht, dann kann mir niemand dabei helfen. Heute versuche ich, vier- bis fünfmal in der Woche rauszugehen. Dann trainiere ich meistens direkt vor meiner Haustür im Wald, gehe laufen und mache Krafttraining, übe Sprünge an Bäumen und verbessere meine Technik. Zweimal pro Woche treffe ich mich mit den Jungs, zum Beispiel beim Velodrom in Berlin. Wir suchen uns oft öffentliche Plätze für die Übungen. Es kam aber auch schon vor, dass wir auf Privatgrundstücken trainiert haben, ohne es zu wissen, zum Beispiel an Bäumen vor einer Reihenhaussiedlung. Wenn die Bewohner sich gestört fühlen, dann respektieren wir das und ziehen weiter. Beim Training laufen wir bis zu sechs Stunden lang durch unsere Gebiete und inspirieren uns gegen-seitig zu neuen Sprungtechniken. Die Belastungen für den Körper sind enorm. Deshalb ist es wichtig, viele Muskeln aufzubauen, um die Gelenke zu unterstützen. Prellungen und Schürfungen kommen schon mal vor. Wenn man das Training ernst nimmt, ist Parkour aber weniger gefährlich als Fußball. Der Körper steht im Mittelpunkt. Daher rauche und trinke ich nicht und ernähre mich vernünftig. Parkour ist für mich auch eine Art Lebensphilosophie. Der Sport hilft mir, im Alltag rational an Probleme ranzugehen und ruhig zu bleiben. Ich versuche Gefahren genauso abzuschätzen wie vor einem Sprung. Auch wenn wir heute in Shows und Werbefilmen auftreten: Das ist nur ein netter Nebenerwerb. Parkour ist viel mehr – ein way of life." +...durch Trainer im Schulsport entdeckt"Ich habe zurzeit ein ganz großes Ziel vor Augen: die Olympischen Spiele in China. Als eine von fünf Springerinnen habe ich die Chance, mich noch für die deutsche Mannschaft zu qualifizieren und im August in Peking dabei zu sein. Stabhochsprung mache ich schon seit der Schulzeit. Kurz nach meiner Einschulung im pfälzischen Zweibrücken haben uns zwei Trainer vom örtlichen Verein im Sportunterricht besucht, um nach Talenten Ausschau zu halten. Mit zwölf Jahren wurde ich zum Training eingeladen, und Stabhochsprung hat mir direkt Spaß gemacht, auch wenn ich bis heute nicht ganz schwindelfrei bin. Die Mischung aus den Disziplinen Laufen und Springen hat mich gereizt. Außerdem war die Sportart damals für Frauen noch ziemlich neu. Mit 14 habe ich an den ersten Wettkämpfen teilgenommen, mit 17 bin ich aber in ein sportliches Tief gerutscht. Damals stand ich kurz vor dem Abitur, und mir waren Verabredungen mit Freunden wichtiger als Wettkämpfe. Da fehlte mir die nötige Motivation. Vor vier Jahren habe ich aber einen neuen Trainer bekommen. Dann bin ich 4,10 Meter gesprungen, zwanzig Zentimeter höher als mein alter Rekord, und das trotz der zweijährigen Pause. Seitdem bin ich wieder vorn dabei und trainiere sechs- bis achtmal in der Woche, jeweils zwei bis drei Stunden. Durch meine Leistungen bekommen mein Verein und ich Fördergelder vom Deutschen Leichtathletik-Verband. Der Sport ist zu meinem Nebenjob geworden, mit dem ich mir mein Lehramtsstudium in Kaiserslautern finanziere. Beides zu kombinieren ist kein großes Problem, die Dozenten nehmen Rücksicht, wenn ich wegen Wettkämpfen häufiger als erlaubt in der Uni fehle. Allerdings wird mein Studium dadurch länger dauern als normal. Ich bin fast jedes Wochenende mit dem Stabhochsprung unterwegs. Mein neuer Sprungrekord sind 4,50 Meter. Mit dieser Höhe habe ich eine Bedingung erfüllt, um bei den Olympischen Spielen antreten zu dürfen. Ob mein Traum in Erfüllung geht, entscheidet sich aber erst bei den Deutschen Meisterschaften Anfang Juli. Da müsste ich mindestens Dritte werden. Der Druck, dort nicht zu versagen, ist hoch. Was danach passiert, darüber möchte ich mir heute noch keine Gedanken machen. Ich sehe mich in der ferneren Zukunft allerdings eher als Lehrerin, weniger als Profisportlerin. Die körperliche Belastung beim Stabhochsprung wäre mir auf die Dauer doch zu groß." +...durch den Anruf eines Journalisten"Angefangen hat alles mit den Paralympics 2004. Damals wurde Blindenfußball im Fernsehen gezeigt. Dann riefen beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband, wo ich Referent bin, Journalisten an und wollten wissen, was Blindenfußball genau ist – das wussten wir damals selbst nicht. Zwei Jahre später haben wir einen Workshop organisiert. Am dritten Tag gab es das erste Spiel. Sportlich gesehen, war das der schönste Moment in meinem Leben – dazustehen und zu wissen: Das ist das erste Blindenfußballspiel in Deutschland, und du bist dabei. Viele Menschen können sich gar nicht vorstellen, wie das gehen soll, ohne dass man den Ball oder das Tor sehen kann. Wir spielen mit einem rasselnden Ball, die Verteidiger müssen voy rufen, also spanisch für ,ich gehe', bevor sie den ballführenden Spieler angreifen. Koordination und Verständigung auf dem Feld sind eine Herausforderung, aber gerade deshalb stärkt das Spiel mein Selbstbewusstsein: Es gibt sonst keine Situation, wo man als Blinder einfach mal drauflosläuft, ganz ohne Hilfsmittel. Diese Bewegungsfreiheit gibt mir ein anderes Lebensgefühl. Auch wenn uns Blindenfußballer einiges verbindet und jeder jeden kennt, geht es auf dem Feld zur Sache. Blindenfußball ist körperbetont, und es gibt genauso viele Fouls wie bei den Sehenden. International ist Deutschland aber noch Blindenfußballentwicklungsland. Bei der EM sind wir Siebter geworden – von sieben. Ich selbst bin kein Nationalspieler, ich wäre es gern. Aber dafür müsste ich viel mehr trainieren und auf Lehrgänge fahren. Ich bin verheiratet und habe drei Kinder. Der Preis wäre wohl, dass ich irgendwann mit einer Medaille in der Hand nach Hause komme – und der Schlüssel passt nicht mehr ins Schloss." +...durch Mama, die ihre Tochter jeden Tag zum Training fuhr"Wenn man in Garmisch-Partenkirchen geboren ist, liegt es nahe, dass einen die Eltern auf Ski stellen, da wird man auch gar nicht groß gefragt. Ich war mit zwei Jahren das erste Mal auf Skiern. Irgendwo stand mal, dass ich das Bewegungstalent von meinem Papa geerbt hätte. Ganz falsch ist das nicht, das skifahrerische Können habe ich aber eher von meiner Mama, weil das kann der Papa nicht so gut. Was mich von Anfang an fasziniert hat, war, dass man den Sport in der Natur ausübt. Ich bin sowieso der totale Bergfan. Wenn wir um sechs Uhr früh auf dem Gletscher sind – im Sommer müssen wir so früh trainieren, weil durch die Temperatur der Schnee schnell weich wird –, das ist für mich das Größte. Die Sonne geht auf, die halbe Welt schläft noch – ein Traum. Beim Skifahren selbst ist es natürlich auch die Geschwindigkeit, die Spaß macht. Bei Abfahrtsläufen und beim Super-G muss man ja auch einen Hang zur Geschwindigkeit haben. Mit Leistungssport hat man aber von Kind auf eine Doppelbelastung. Meine Schwester und ich sind früher von der Mama an der Schule abgeholt worden, haben dann im Auto während der Fahrt die Skiklamotten angezogen, schnell was gegessen – und rauf auf den Berg. Zwischendurch hatte ich schon mal den Gedanken, dass ich aufhöre – nicht mit dem Skifahren, mit der Schule natürlich, das war in der elften Klasse. Aber meine Eltern und mein Trainer haben mich umgestimmt, zum Glück, und dann hab ich das Abitur doch noch durchgezogen. Gefördert wurde ich in jungen Jahren vom Skiclub Partenkirchen, dann war ich drei Jahre in einer Gaumannschaft, danach, so ab 14, wurde ich in den Nationalnachwuchskader aufgenommen. Jetzt bin ich im Zoll Ski Team, wegen der beruflichen Absicherung und wegen der Versicherung. Ich hatte auch schon innerhalb eines Jahres zwei Kreuzbandrisse, theoretisch kann es jeden Tag vorbei sein. Doch auch wenn ich wegen meines Sports auf vieles verzichten musste, kann ich sagen: Genau das ist das perfekte Leben für mich." diff --git a/fluter/lebensmittel-grenzwerte-pestizide.txt b/fluter/lebensmittel-grenzwerte-pestizide.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b938749f94e816ae43e870156521375444e46710 --- /dev/null +++ b/fluter/lebensmittel-grenzwerte-pestizide.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Das Beispiel der Erdbeere zeigt, dass eine Antwort nicht leicht ist: Für die süßen Früchte sind Stand März 2022 etwa in Bayern 37 Fungizide, 22 Insektizide und 15 Herbizide zugelassen. Über die Zulassung entscheidet die EU-Kommission. Dafür stellen die Pestizidproduzenten einen Antrag auf Genehmigung eines neuen Produkts in der EU. Hierzu müssen zahlreiche Studien vorliegen, die die Gefährlichkeit des Stoffes in Tierversuchen, der Anbaupraxis und im Endprodukt untersuchen. +Was auf den ersten Blick nachvollziehbar klingt, wird schnell kompliziert. Das zeigt der Fall Flutianil. Das Fungizid wird eingesetzt, um Erdbeerpflanzen vor Pilzbefall durch Mehltau zu schützen. In der EU ist der Wirkstoff seit 2019 genehmigt, verwendet wird er bisher nur in Italien, Portugal und Deutschland – hierzulande allerdings nur als Produkt für Zierpflanzen in Gewächshäusern. +Im März gab die EU-Kommission bekannt, dass sie den Importgrenzwert für das Fungizid anheben wolle: Äpfel, Süßkirschen, Gurken, Zucchini und, ja, auch Erdbeeren aus den USA sollten künftig ein Vielfaches an Flutianil enthalten dürfen. Das japanische Unternehmen OAT Agrio Co. Ltd., das in den USA gute Geschäfte mit dem Fungizid macht, hatte den Antrag dafür gestellt. Nun soll mit der Anhebung der EU-Werte für Produkte aus den USA ein erster Schritt dahin gemacht werden, dass das Fungizid den europäischen Markt erobert. Die EU-Kommission spricht von der "Vermeidung von Handelshemmnissen". Das bedeutet, dass der Verkauf von Waren zwischen den USA und der EU vereinfacht wird, wovon die Wirtschaft auf beiden Seiten profitieren soll. +Zwar wäre die in Europa zulässige Menge immer noch sehr gering – 0,3 Milligramm Flutianil pro einem Kilo US- Erdbeeren, bisher waren es 0,01 Milligramm –, allerdings hat der Stoff den Ruf, auch schon in geringen Mengen gesundheitsschädlich zu sein: Studien zeigen, dass sich Flutianil bereits in sehr kleinen Dosen auf das Hormonsystem von Lebewesen auswirken kann. Zudem wurde das Fungizid zwischenzeitlich als krebserregend, fortpflanzungshemmend und hormonell wirksam eingestuft. Diese Einstufung wurde 2016 trotz Kritik rückgängig gemacht, sodass der Stoff 2019 schließlich für die EU zugelassen wurde. Die diesjährige Ankündigung, den Grenzwert nun sogar noch erhöhen zu wollen, lehnte der Umweltausschuss des EU-Parlaments zunächst ab. Mehrere Parlamentarier hatten zudem Einspruch gegen den Vorstoß der Kommission eingelegt, allen voran die Pharmazeutin Jutta Paulus von den Grünen. "Die erste Frage, die sich aufdrängt, ist doch: Wie wichtig ist es wirklich, Erdbeeren aus den USA in die EU zu importieren?", sagt sie. Den Parlamentariern würden immer wieder Grenzwertanhebungen für Pestizide vorgelegt mit der Begründung, dass man damit Handelshemmnisse beseitige. Dabei seien die USA nicht einmal unter den wichtigsten sechs Erdbeer-Lieferländern für Deutschland. + +Weiterlesen: +Es geht auch anders:Diese Landwirtinnen bestellen ihr Feld nachhaltig, ohne jegliche Pestizide +Paulus und einige andere EU-Abgeordnete kritisieren, dass neue Studien, die die Anhebung des Grenzwerts für unproblematisch erklären, nur geschwärzt zur Verfügung gestellt würden. Dadurch sollen die Geschäftsgeheimnisse des Antragstellers gehütet werden. "Wenn es um die Gesundheit von Menschen geht, darf das kein Geschäftsgeheimnis sein. Denn mit geschwärzten Studien ist es schwierig nachzuvollziehen, ob das Risiko tatsächlich niedriger ist", sagt Paulus. +Das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL), das an der Zulassung von Pestiziden in Deutschland mitwirkt, merkt an, dass das EU-Genehmigungsverfahren für einen Wirkstoff wie Flutianil sehr komplex sei. Den offenen Fragen wie der nach der hormonellen Wirkung des Stoffes gingen eine Vielzahl von Bewertungsberichten von Expertengremien ausführlich nach. +"Diese Prozesse dauern einige Jahre, das passiert nicht von heute auf morgen", erklärt die Lebensmittelchemikerin Marina Rusch vom BVL. Auch wenn die abschließende Bewertung der endokrinen Wirkung von Flutianil noch ausstehe, gelte bis dahin, dass eine Erhöhung beantragt werden dürfe, wenn der Wirkstoff in der EU zugelassen ist. "Alles andere wäre gegen das EU-Recht", so Rusch. +Über die Grenzwertanhebung von Flutianil stimmte am 24. März 2022 das EU-Parlament ab und lehnte den Einwand der Parlamentarier um Paulus knapp ab. Das heißt: Aus den USA importierte Erdbeeren dürfen ab sofort die 30-fache Menge Flutianil enthalten. Ähnliches gilt für Äpfel, Süßkirschen und in geringerer Menge auch für Gurken und Zucchini. Diese Entscheidung bedeutet auch: Sobald es ein entsprechendes Produkt auf dem EU-Markt gibt, gilt dieser höhere Grenzwert auch dafür. +Ist die Anhebung der Werte für Importware also eine Hintertür für neue und mehr Pestizide auf dem Acker? Sicher ist, dass Importgrenzwerte ein kritischer Punkt sind. Nicht nur, weil man in eingeführten Produkten immer wieder Rückstände von Pestiziden nachweisen konnte, die in Europa nicht mehr zugelassen sind oder nie zugelassen waren. Sondern auch, weil diese Werte in Krisenzeiten schnell fallen gelassen werden. +So beschloss die EU-Kommission im März 2022, dass die Mitgliedstaaten eigene, zeitlich befristete Regeln für die Menge an Pestizidrückständen in importierten Pflanzen festlegen können, weil viele EU-Länder angesichts des Ukrainekrieges eine Getreidefutterknappheit für ihren Viehbestand befürchteten. Spanien lockerte daraufhin die Einfuhrnormen für Futtermais aus Brasilien und Argentinien, wodurch unter anderem zwei in der EU verbotene Pestizide die festgelegten Grenzwerte überschreiten, die die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) noch als sicher für die Konsumenten bewertet – und nun dennoch auch auf unseren Tellern landen könnten. diff --git a/fluter/lebensmittel-label-klimaneutral-test.txt b/fluter/lebensmittel-label-klimaneutral-test.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..732ab09c21563a7dfda8e37ac5d47323d9ee2a62 --- /dev/null +++ b/fluter/lebensmittel-label-klimaneutral-test.txt @@ -0,0 +1,30 @@ +Ein Beispiel: Aldi kennzeichnet seit Ende 2020 Kuhmilch der Eigenmarke "Fair&Gut" als "klimaneutral". Dafür hat Aldi CO₂-Zertifikate von ClimatePartner gekauft. Das runde blaue Label des Zertifikatehändlers ist seitlich am Etikett angebracht und enthält eine Tracking-ID. Diese kann man auf der Webseite von ClimatePartner eingeben und erfährt dann:Fast 61.000 Tonnen CO₂-Äquivalentehat Aldi bis Ende 2022 für die Milch kompensiert. +Dafür hat der Discounter CO₂-Zertifikate von Projekten erworben, die anderswo die Emissionen einsparen, die er selbst ausstößt: Aufforstung in Uruguay, eine Fotovoltaikanlage in Indien, saubere Kochöfen in Malawi. DieDatenbank von ClimatePartnerhat etwas von einemrabbit hole: Man klickt sich immer weiter durch die Projekte und findet viele Details. Aber eine zentrale Frage geht in all der Transparenz unter, sie steht ganz zu Beginn der Emissionskette: Wie viele Emissionen entstehen eigentlich bei der Herstellung dieser Milch? +Kuhmilch – das ist bekannt – ist kein klimafreundliches Produkt. Die Herstellung eines Liters ist im Durchschnitt in etwa so klimaschädlich wie ein für den Autoverkehr verbrauchter Liter Benzin.Das sagt das Aldi-Management selbst. Fair enough. LautRecherchender NGO Foodwatch aber hat Aldi nicht genau erhoben, wie viel CO₂ bei den Betrieben anfällt, die die Milch produzieren. Im Umkehrschluss könne der Discounter nicht wissen, wie viel Emissionen er ausgleichen oder wo er – wesentlich sinnvoller – Emissionen verhindern könne. +Weiterhören +Wie lange bleibt uns, um den Klimawandel zu stoppen?Im fluter-Podcast rechnet die Klimatologin Jessica Strefler vor +Eigentlich klar: Wer das Klima schützen möchte, sollte versuchen, eigene Emissionen zu reduzieren, statt sie nur zu kompensieren. Entsprechend werben die Anbieter von Klimaneutral-Labels damit, Unternehmen auch bei der Vermeidung und Reduktion von CO₂-Emissionen zu beraten. Verschiedene Recherchen zeigen aber, dass das nicht der Fokus der Händler ist. Als Redakteurinnen der "Zeit"versuchten, ein Klimaneutral-Label für einen erfundenen Blumenladen zu erhalten, wurden sie weder von ClimatePartner noch vom Konkurrenten myclimate auf Reduktionsmaßnahmen angesprochen. Schlimmer noch: Sie erhielten von beiden Händlern das angefragte Label – dabei war der Blumenladen ausgedacht und alle Angaben, die sie zur Berechnung machen mussten, geschätzt. Das Fazit der Redakteurinnen: "Offenbar geht es vielen Anbietern von Klimazertifikaten weniger ums Klima, sondern eher um das Geld, das sich mit Labels verdienen lässt." +Neben Climate Partner und myclimate gibt es weitere Unternehmen, die Klimalabels anbieten. Die Labels sehen alle unterschiedlich aus und sind – anders als etwa beim Bio-Siegel – gesetzlich nicht geregelt. Aber dazu später mehr. Denn zunächst mal sind diese Labels: ein großes Geschäft. +Nichtstaatliche CO₂-Kompensation geht in der Regel so: Ein Unternehmen möchte die Emissionen ausgleichen, die bei der Herstellung eines Produkts (oder für das ganze Unternehmen) anfallen. Dafür wird an anderer Stelle CO₂ eingespart. Entweder wird dort eine Emission verhindert – oder CO₂, das bereits in die Atmosphäre entwichen ist, wieder gebunden. Das geschieht in Klimaschutzprojekten überall auf der Welt, vor allem im globalen Süden. Eigentlich sollte das Geld der Unternehmen direkt hierher fließen, in den Klimaschutz. An dem Deal sind aber in der Regel vier Parteien beteiligt. + +1 – Die KäuferUnternehmen wie Volkswagen wollen sich über den Kauf von CO₂-Zertifikaten von ihren Klimaschäden freikaufen. (Und das auch potenziellen Kundinnen und Kunden zeigen, um umweltbewusst zu wirken.) +2 – Die HändlerDie Zertifikate werden meist von Start-ups oder Beraterfirmen vermittelt. Sie sind die Anlaufstelle für Unternehmen, die klimaneutral werden wollen. Und verdienen damit viel Geld. ClimatePartner wirbt mit mehr als 5.000 Kunden in über 60 Ländern. Foodwatch hat überschlagen, dass ClimatePartner 2022 mit gerade mal elf dieser Kunden etwa 1,2 Millionen Euro eingenommen hat. +3 – Die ProjektbetreiberSie sorgen dafür, dass überhaupt Zertifikate auf den Markt kommen – indem CO₂ eingespart wird, weil zum Beispiel ein Stück Regenwald nicht wie geplant abgeholzt wird. Auch sie verdienen an dem Deal. +4 – Die ZertifiziererSie stehen über allen, weil sie entscheiden, wie viele Zertifikate sich die Klimaprojekte anrechnen dürfen. In drei von vier Fällen weltweit übernimmt diese Aufgabe Verra. + +Die Zertifizierungs-NGO Verra reguliert also einen milliardenschweren Markt. Eine kürzlich erschieneneRecherche(wieder von der "Zeit") zeigt, dass viele Verra-Zertifikate wertlos sind, vor allem die für Waldschutzprojekte. +Bei Waldschutzprojekten gehen viele davon aus, dass neue Bäume gepflanzt werden, um CO₂ zu kompensieren. Dabei schützen die meisten dieser Projekte Bäume, die sonst gefällt worden wären. Woher die Projekte wissen, dass diese Bäume ohne das Schutzprojekt gefällt worden wären? Die Antwort ist so kurz wie verblüffend: Sie schätzen. +Natürlich greift Verra auf Daten zu, etwa von vergleichbaren Waldstücken. Aber genau lässt sich nie prognostizieren, wie viel CO₂ eingespart wird, wenn jemand ein Waldstück schützt. Zumal bei Wäldern erschwerend hinzukommt, dass sie abbrennen können – und das angerechnete CO₂ so plötzlich wieder in die Atmosphäre entweicht. Trotz all dieser Variablen machen Waldschutzprojekte 40 Prozent der Verra-Zertifikate aus. Laut den Daten der "Zeit" sind mindestens neun von zehn dieser Zertifikate wertlos. Das Unternehmen widerspricht. In einerGegendarstellungbetont es, seine Projekte seien durch jahrzehntelange Forschung von Wissenschaftler:innen, Naturschutzgruppen, grüne Unternehmen und verschiedene UN-Gremien entwickelt worden. +Es gibt mindestens drei weitere Fragen, die Klimalabels im Supermarkt aufwerfen: + +Erstens: Wäre das CO₂ nicht eh eingespart worden?Damit direkte CO₂-Kompensation funktioniert, muss sicher sein, dass es wirklich das Geld eines Unternehmens wie Aldi ist, von dem am Ende in Uruguay Eukalyptusbäume gepflanzt werden. Aber das ist nicht einfach zu belegen. Im Fall von Aldi zweifelt Foodwatch. Die NGOschreibt, der Betreiber der Eukalyptusplantage unterhalte in der Region weitere Aufforstungsprojekte, in die kein Geld aus dem Zertifikatehandel fließe. +Zweitens: Wurde das gesparte CO₂ bereits von anderen eingeplant?Mit dem momentanen System können CO₂-Einsparungen doppelt gerechnet werden. Wenn die Regierung Uruguays zum Beispiel die Aufforstung bereits in ihrer nationalen Klimabilanz verrechnet, wäre das Aldi-Zertifikat nichtig. Laut Foodwatch schließen die Vermittlungsagenturen solche doppelten Anrechnungen nicht effektiv aus. +Drittens: Ist der Schaden durch das CO₂ eingepreist?Zuletzt ist auch fragwürdig, ob die Preise für die CO₂-Zertifikate angemessen sind. 2021 kosteten Zertifikate im Schnitt rund 3,50 Euro pro Tonne CO₂. Die Klimaschäden einer ausgestoßenen Tonne CO₂ lagen im selben Zeitraum aberbei 201 Euro– laut Umweltbundesamt, das eher zurückhaltend schätzt. + +Das System hat klare Schwächen, die allen beteiligten Akteuren bekannt sind – mit Ausnahme der Endkund:innen, die sich im Supermarkt womöglich zu viel vom Label versprechen und eher zur "klimaneutralen" Milch greifen als zur Konkurrenz. +Auch der Staat lässt das – noch – einfach geschehen: Die freiwillige CO₂-Kompensation von Unternehmen wird aktuell weder durch Gesetze reguliert noch durch den Staat geprüft. Ob auf einer Verpackung "klimaneutral" stehen darf, müssen jetzt Einzelfälle vor Gericht zeigen. Gerade hat die Verbraucherschutzorganisation Deutsche Umwelthilfe ein Verfahren gegen TotalEnergies gewonnen. Das Energieunternehmen hatte sein Heizöl (!) als klimaneutral beworben.* Das Landgericht Düsseldorf war Monate mit dem Fall beschäftigt,auch für die Gerichte ist das Thema neu. +Sie müssen erst festlegen, auf Basis welcher existierenden Rechtsvorschriften sie diese Fälle überhaupt entscheiden können. "Für uns ist das Verfahren eine totale Gutachtenschlacht", sagt Agnes Sauter, die bei der Deutschen Umwelthilfe die ökologische Marktüberwachung leitet. Sie versuchen, Präzedenzfälle zu schaffen, in denen die Werbung mit "Klimaneutralität" verboten wird. +Das ist es auch, was die Deutsche Umwelthilfe, Foodwatch und die Verbraucherzentralen von der Politik fordern: ein Werbeverbot für "Klimaneutralität". Andere halten selbst ein Verbot für zu kurz gegriffen. Gut vorstellbar, dass Hersteller "vorteilhaft für das Klima" auf ihr Produkt schreiben, wenn "klimaneutral" und "klimapositiv" verboten sind. In Frankreich gilt seit Januar, dass Unternehmen ein Produkt nur als "klimaneutral" bewerben dürfen, wenn sie eine CO₂-Bilanz seines gesamten Lebenszyklus vorlegen – von der Herstellung bis zur Entsorgung. + +* Anmerkung, 29. März: Wir haben diesen Teil nach dem Urteil des Landgerichts Düsseldorfaktualisiert. + diff --git a/fluter/lebensmittelampel-nutri-score-faq.txt b/fluter/lebensmittelampel-nutri-score-faq.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c1122c324ef4f9333c6a488c1a5dfec3d13e959e --- /dev/null +++ b/fluter/lebensmittelampel-nutri-score-faq.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Bislang führen Lebensmittelverpackungen oft in die Irre: Joghurts zeigen Früchte, Müsliriegel Haferähren, Schokoladenriegel frische Milch. Das suggeriert, dass das entsprechende Produkt auch gesund ist. Wer im Supermarkt aber eine Packung Chips oder eine Tiefkühlpizza in die Hand nimmt, soll erkennen können, woran er wirklich ist. +Jein. Seit Ende 2016 müssen Lebensmittelhersteller EU-weit umfangreich auf der Verpackung über ihre Produkte informieren. Dazu gehört die Auflistung sämtlicher Zutaten (sortiert nach dem Anteil am Gesamtgewicht, inklusive Farb- und Aromastoffen) sowie eine Nährwerttabelle, in der der Gehalt an Energie, Fett, Kohlenhydraten mit Zucker, Ballaststoffen, Eiweiß und Salz eines Produktes aufgeschlüsselt wird. So sollen Kunden erkennen können, dass in 100 Gramm Spaghetti vor allem Kohlenhydrate,in einer Tafel Schokolade vor allem Zucker und Fette stecken. Das Problem bei der Nährwerttabelle: Die Kunden müssen sich die Mühe machen, die oft klein gedruckten Tabellen auf der Verpackungsrückseite genau zu studieren. Das neue Label soll Lebensmittel leichter vergleichbar machen. Zudem soll es gut sichtbar auf der Vorderseite der jeweiligen Verpackung platziert werden. +Gewonnen hat mit demNutri-Scoredas wohl eingängigste Label, eine in Frankreich, Belgien und Spanien verbreitete Lebensmittelampel mit fünf Farbstufen von Dunkelgrün bis Rot. Im Gegensatz zu komplexeren Modellen gibt der Nutri-Score eine Gesamtbewertung ab. NebenZucker-, Fett- und Salzgehaltwerden aber auch empfehlenswerte Bestandteile wie Ballaststoffe oder Proteine bewertet. Der Nutri-Score zeigt also an, wie ausgewogen ein Produkt ist. Auch andere EU-Länder wie Luxemburg und Portugal planen, den Nutri-Score einzuführen. Ein Nachteil: Er berechnet nicht alle Stoffe mit ein. Gesunde Vitamine bleiben genauso außen vor wie ungesunde Süßstoffe. Und: Wer zum Beispiel nur auf Salz verzichten möchte, der muss weiter auf die Nährwerttabelle auf der Rückseite schauen. +Auch unter die Top 4 des Landwirtschaftsministeriums geschafft hat es ein in mehreren nordeuropäischen Ländern verbreitete Logo namensKeyhole. Auf ihm ist ein weißes Schlüsselloch auf grünem Grund zu sehen. Die Kriterien für das Logo setzen sich je nach Lebensmittelgruppe unterschiedlich zusammen. Nachteil: Das Keyhole ist ein reines Positivzeichen. Das heißt, dass nur die "gesunden" Produkte es tragen dürfen. Fehlt es, weiß der Kunde nicht, ob der Hersteller nicht mitmacht, das Produkt den Grenzwert knapp verpasst hat oder als besonders ungesund bewertet wurde. +Das dritte infrage kommende Nährwertlogo war das in diesem Jahr entwickelteBLL-Modellder deutschen Lebensmittelwirtschaft. Es erinnert an den Geometrieunterricht, der verantwortliche Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL) (heute: Lebensmittelverband Deutschland) spricht selbst vom Torten-Modell. In fünf nebeneinanderliegenden Kreisen wird der Anteil an Kalorien, Fett, gesättigten Fettsäuren, Zucker und Salz pro 100 Gramm des Produkts am täglichen Bedarf eines durchschnittlichen Erwachsenen angezeigt. Das Modell liefert viele Informationen. Der Nachteil: Es dürfte vielen zu komplex für eine schnelle Einkaufsentscheidung sein. +Ebenfalls erst vor wenigen Monaten entstanden: der vom staatlichen Max Rubner-Institut (MRI) erarbeiteteWegweiser Ernährung, auch "Waben-Modell" genannt. Laut den beteiligten Wissenschaftlern soll es die Stärken verschiedener Modelle verbinden. So zeigt es neben einer Gesamtbewertung aus maximal fünf Sternen den Gehalt an Kalorien, Zucker, Fett, gesättigten Fettsäuren und Salz pro 100 Gramm in separaten Waben an. Ist ein Wert niedrig, wird die Wabe grünblau unterlegt. Sind viele Waben unterlegt, steigt die Zahl der Sterne. +Während einige medizinische Fachorganisationen den Nutri-Score als verständlichstes Label befürworten, lehnt es der Branchenverband der deutschen Lebensmittelindustrie entschieden ab: Eine Ampel, so kritisierte der damalige BLL-Chef Stephan Nießner im April, würde eine Kaufempfehlung suggerieren. Trotz ihrer früheren Skepsis will die Bundeslandwirtschaftsministerin Klöckner das Umfrageergebnis respektieren und den Nutri-Score 2020 einführen. Allerdings: Das Label ist freiwillig. Nur wenn es europaweit eingeführt wird, muss es auch verpflichtend auf Verpackungen gedruckt werden. Verbraucherschützer fordern die Landwirtschaftsministerin auf, sich nun auf europäischer Ebene dafür starkzumachen. + +Titelbild: Kirill Golovchenko / Agentur Focus diff --git a/fluter/lebensversicherung.txt b/fluter/lebensversicherung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/lebenswandel.txt b/fluter/lebenswandel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..63afb92c6fa835a76ea44005ad2d44fc9e782e27 --- /dev/null +++ b/fluter/lebenswandel.txt @@ -0,0 +1 @@ +Leo Hickman, 35, ist Journalist und Autor des Buches "Fast nackt". Er lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Cornwall.Ins Büro fährt er nur alle zwei Wochen, natürlich mit dem Zug. diff --git a/fluter/leere-koerper.txt b/fluter/leere-koerper.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..33649346934a2ee0c418b5b8e06a8284a4f74d08 --- /dev/null +++ b/fluter/leere-koerper.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Am Stadtrand von El-Arisch gehen wir zu einem Massengrab vor der Mauer des Friedhofs. Ungefähr 500 Leichen unbekannter Flüchtlinge – zumeist aus Eritrea und dem Sudan – liegen dort im Sand unter dem Müll eines angrenzenden Slums. Die Menschen starben in den Händen der Menschenhändler im Sinai, die meisten durch Folter, andere verdursteten oder verhungerten. Einigen seien lebenswichtige Organe gestohlen worden, sagt Hamdy al-Azazy. Er sammelt Knochen auf, die von den Hunden ausgegraben wurden, gibt sie einer Gruppe kleiner Kinder, die sie für ein paar Cent wieder eingraben. "Viele der Körper habe ich selber in der Wüste gefunden. Einige ohne Organe." Das Problem ist: Außer ihm hat die mobilen Kliniken nie jemand gesehen. Als Beweis hat er nur die Bilder der Leichen. Viele NGOs, sowohl in Israel als auch in Ägypten, sind sich nicht sicher, ob es die mobilen Kliniken wirklich gibt. +Am illegalen Organhandel in Ägypten aber besteht kein Zweifel. Nach langem Zögern ist ein ranghoher General der Armee, der seinen Namen nicht in den Medien lesen will, bereit, über das Thema zu sprechen. Es sei die Clique eines Kairoer Arztes gewesen, die vor einigen Jahren erstmals begonnen habe, Operationen im Sinai durchzuführen. Danach wurden die Organe in Gefrierkühltruhen nach Kairo gebracht. Vereinzelt auch nach Israel, was sich auf der anderen Seite der Grenze allerdings nicht belegen lässt. Laut dem General betraf der Diebstahl aber bei Weitem nicht nur afrikanische Flüchtlinge. Auch Ägypter seien entführt worden, um ihnen ihre Organe zu entnehmen. Usama Emam, beim Geheimdienst verantwortlich für Terrorismus und internationale Schmugglerringe, bestätigt die Kenntnis des Militärs vom Organraub im Sinai. "Auch das Militär hat Körper ohne Organe gefunden." "Man muss nicht in den Sinai schauen, wenn man Organe sucht", sagt der General zum Abschied. Der Hauptumschlagplatz für Organe sei der Sinai nie gewesen. Der Ort, an dem viele Flüchtlinge ihre Organe verkaufen müssen oder sie ihnen schlicht gestohlen würden, sei Kairo – eines der größten städtischen Flüchtlingsballungsgebiete weltweit. +Seit 1976 die erste Niere in Ägypten transplantiert wurde, gibt es keine Organisation, die die Transplantationen reguliert. Der illegale Handel ließ nicht lange auf sich warten. Nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen werden in Ägypten 500 bis 1.000 Nieren im Jahr transplantiert. Legal, zumindest im ägyptischen Sinne. 80 bis 90 Prozent davon sind bezahlte Organe, keine altruistischen Spenden. Circa 200 Transplantationen finden komplett illegal statt, so schätzt Dr. Hamdy Sayed, Vorsitzender des ägyptischen Ärzteverbandes. Dass es bis vor einigen Jahren verboten war, Organe verstorbener Spender zu transplantieren, befeuerte den Schwarzmarkt zusätzlich. +Die in Washington und Kairo ansässige "Coalition for Organ-Failure Solutions" (COFS) betreute im letzten Jahr in Kairo 57 überlebende Opfer von Organhandel aus dem Sudan und Hunderte aus Ägypten. Die Organisation geht von wesentlich mehr Opfern aus, die ihren Weg als Flüchtlinge nach Ägypten fanden und in die Fänge der Organhändler gerieten. Die Gesamtzahl derer, die in der Vergangenheit Opfer von Organdiebstahl wurden, sieht Debra Budiani-Saberi, Gründerin der Organisation, bei mehreren Tausend. Das Wadi-El-Neel- Krankenhaus in Kairo gilt laut COFS dabei als wichtiger Umschlagplatz. Neben den immer populärer werdenden Behelfs-OP-Sälen in gemieteten Apartments. +Amr Mostafa sitzt im Kairoer Außenbezirk Heliopolis mit einem Kaffee und einem Laptop voller Videos vor sich. Er ist bei der COFS dafür zuständig, die Opfer des Organhandels aufzuspüren. Mostafa redet von den Spendern für den Organhandel, macht eine Pause, sucht ein besseres Wort – dann sagt er lieber: Opfer. Am häufigsten treibe die Geldnot die Menschen dazu, sich ausschlachten zu lassen, manchmal würden die Organe aber auch erpresst oder schlicht geraubt. Die am meisten betroffene Flüchtlingsgruppe kommt aus dem Sudan, andere Opfer kommen aus Somalia, aus Eritrea, Äthiopien, Irak und Syrien. "Die Empfänger sind häufig Ägypter, in letzter Zeit aber auch sogenannte Organ- Touristen, hauptsächlich aus den wohlhabenden Golfstaaten", sagt Amr Mostafa. Auf dem Bildschirm laufen jetzt Videos. Männer und Frauen erzählen von ihren Qualen, die Gesichter sind verpixelt, die Gespräche fanden an neutralen Orten statt. Die meisten Opfer wurden erst in Ägypten von sogenannten "Brokern" kontaktiert – Mittelsmänner, die potenzielle Spender an Ärzte vermitteln. Einige berichten aber auch, dass sie gezielt im Sudan angesprochen wurden. Man hatte ihnen Arbeit und Unterkunft in Ägypten versprochen und schmuggelte sie dann gen Norden. "Der Vermittler, der uns nach Ägypten zu fliehen half und uns Arbeit versprochen hatte, ließ uns dann bei sich wohnen. Arbeit bekamen wir nicht, sodass wir keine Miete zahlen konnten. Nach ein paar Monaten forderte er das Geld und bot mir als Ausweg an, eine meiner Nieren zu verkaufen. Was sollte ich machen?", erzählt einer. Das Geld, das ihnen versprochen wird, zwischen 5.000 und 40.000 Dollar, wird so gut wie nie voll gezahlt. +Noch perfider funktioniert der Organdiebstahl. Die vermeintlichen Gastgeber sorgen dafür, dass die Flüchtlinge krank werden, schicken sie dann zu einem Arzt, der unter einem Vorwand Gewebeproben entnimmt, um zu schauen, zu welchem Empfänger das Organ passt. Wie es weitergeht, erzählt ein schmaler, kränklich klingender Mann in einem anderen Video: "Eines Tages rief mein Gastgeber den Arzt, um mir eine Spritze gegen meine Schmerzen zu geben. Als ich wieder aufwachte, war ich in einem Krankenhaus, wo man mir sagte, man werde schauen, ob man mir Gallensteine entfernen müsse." Als er das nächste Mal aufwachte, hatte man ihm eine Niere entfernt. +Amr Mostafa schüttelt traurig den Kopf vor seinem Laptop. Kürzlich hat er der Polizei wieder eine provisorische Klinik gemeldet. Ein Apartment mit einem OP-Zimmer. Dass unter solchen Umständen auch Menschen sterben, sei nicht verwunderlich. "Zahlen, wie viele im Laufe von Transplantationsoperationen sterben, gibt es aber natürlich nicht", sagt Amr Mostafa noch und verabschiedet sich ins Kairoer Verkehrschaos. In einer Wohnung im Stadtteil El-Manial trifft man Dr. Fakhry Saleh, ehemaliger Chef der Kairoer Rechtsmedizin. Seit ein paar Jahren ist er pensioniert, das alte Regime ist lange weg. Er hat nun das Gefühl, dass er reden kann. In seinem dunklen Wohnzimmer überlegt er kurz, dann sagt er: "Im Laufe meiner Karriere, seit den Achtzigern, habe ich mit Sicherheit weit über 1.000 Leichen gesehen, denen die Organe fehlten." Er sagt es ohne besondere Gefühlsregung – denn es ist nichts Außergewöhnliches in Ägypten. "Und in der Phase, in der sich das Land jetzt befindet", so Fakhry Saleh, "wird das bestimmt nicht besser werden." diff --git a/fluter/leere-orte.txt b/fluter/leere-orte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5315dbeb57aa2133db7e5e5260f46ece4fcf8b14 --- /dev/null +++ b/fluter/leere-orte.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Aus den Pulten, in denen früher die Musiktechnik untergebracht war, ragen noch immer ein paar Kabel. Kaputtes Glas liegt auf dem Boden. "Guck mal hier, ha ha", knurrt Michael-Günther Bölsche, der Lokaljournalist, der früher einmal im Kulturhaus arbeitete. An der Wand eines kleinen Raumes im ersten Stock lehnt ein verstaubter Bilderrahmen mit einem Poster darin: "Der Weg ins neue Leben – 40 Jahre DDR". In der Ecke steht ein zerschlissenes, auf Holzplatten aufgebrachtes Modell des Dorfes. Nach der Wende haben sie Münchener Architekten viel Geld gezahlt, damit sie eine Zukunftsvision für Mestlin entwickeln. Die Utopie ist auf dem ramponierten Brett kaum noch zu kennen. Am Rand des Dorfes sollte es Golf- und Tennisplätze geben, auch ein halb überdachtes Schwimmbad war irgendwann einmal geplant. Es gibt kein Schwimmbad und keinen Golfplatz – und Einwohner gibt es auch viel weniger als früher: Etwa ein Viertel der Häuer steht leer. Mittlerweile leben nur noch 823 Menschen in Mestlin, viele von ihnen sind arbeitslos. Von den einigen Hundert Arbeitern auf der LPG sind nur noch 16 übrig. Nach der Wende wurden alle unprofitablen Betriebszweige eingestellt und neue, moderne Maschinen wie ein Melkkarussell angeschafft, die die Arbeit von zehn Arbeitern übernahmen. Dennoch lassen sie im Dorf nichts auf ihre LPG kommen. Sie sind stolz, dass es sie noch gibt und dass sie nach der Wende nicht auf die westlichen Berater gehörthaben, die ihnen rieten, den Betrieb ganz einzustellen. Die wenigen, die noch bei der LPG arbeiten, sind nicht reich, aber sie sind konkurrenzfähig. Und das ist es doch, was im Kapitalismus zählt. +Der Familie Lorenz geht es verhältnismäßig gut. Sie trat nach der Wende aus der LPG aus. Stefan Lorenz, der 16-jährige Enkel von Bauer Lorenz, wird den Betrieb bald übernehmen und 600 Hektar bewirtschaften. Er sagt, in seiner Schulklasse seien nur die Jungen geblieben. Von den Mädchen sind schon zehn von zwölf woanders hingezogen. Die Kinder einer Mestliner-Generation, in der fast alle auf der LPG gearbeitet haben, wandern nach Hamburg oder Schwerin ab, wo sie Lehrstellen finden und Arbeit. "Ich geh nicht weg. Brauch ich nicht. Was soll ich da?", sagt Felix Lappe, ein sechzehn Jahre alter Lehrling auf der LPG. Er wird bleiben, selbst wenn Mestlin irgendwann eine Geisterstadt ist. Schon alsKind ging er am liebsten auf den Hof und schaute den Arbeitern zu, wie sie auf die Felder fuhren und die Kälber tränkten. Jetzt macht er das, was ihm am meisten Spaß macht. In seinem grünen LPGOverall mistet er mit einem Radlader den Stall aus, dann holt er mit einem alten DDR-Traktor frisches Heu für die Tiere. +Der Ort ist so stark verschuldet, dass sie nicht einmal einen kleinen Eigenanteil zahlen könnten, wenn doch irgendjemand Geld für die Sanierung des Kulturhauses bereitstellen würde. Vor ein paar Jahren wurde Mestlin auch noch der Status als ländlicher Zentralort aberkannt, was nicht nur weniger Prestige, sondern auch weniger Geld bedeutet hat. Der Bürgermeister sagt, er fühle sich im Stich gelassen von allen. Die Landespolitiker kämennur noch vorbei, wenn Wahlkampf ist. Sie meiden Mestlin, weil es hier ohne großen Einsatz nichts zu gewinnen gibt. Das Dorf hat eine ansteckende Krankheit namens Erfolglosigkeit. In der für viel Geld sanierten Kita, in der es früher über Hundert Kinder gab, sind nur noch 18 untergebracht. Momentan überlegen die Mestliner, ob es überhauptnoch Sinn macht, weiterhin eine Grundschule zu betreiben. Dass Mestlin tot ist, oder zumindest stirbt, sagen sie einem hier an jeder Ecke. Und auch, dass man froh sein soll, im Winter da zu sein, weil man sonst auch noch die kaputten Straßen sehen würde. Ein paar Kinder haben sich hinter dem Marx- Engels-Platz ein kleines Iglu gebaut. "Was sollenwir denn hier noch machen?", fragen sie. +Im Jugendzentrum von Mestlin liegen die Tischtennisschläger fein säuberlich aufgereiht neben der Platte. Der Fernseher und der DVD-Player sind aus. Es gibt einen aus Pappe gebastelten Kummerkasten, in dem kein einziger Zettel steckt. Seit vergangenem Sommer sind die Räume geschlossen. Das Arbeitsamt genehmigt keinen Ein-Euro-Job für die Betreuung der Jugendlichen mehr. Es gibt noch die freiwillige Feuerwehr und den Fußballverein. Doch weil sie so wenige sind, bekommen sie keine Mannschaft mehr für die Jugendlichen zusammen. Eine Art Ersatzjugendzentrum sind Parkplätze oder das Bushäuschen, das in Mecklenburg-Vorpommern liebevoll "die Busse" genannt wird. Einnach Schnaps riechender Achtzehnjähriger grüsst vorbeifahrende Autos und Radfahrer mit Hitlergruß und murmelt "Heil". Obwohl, wie er sagt, das alles nur ein Spaß und er gar nicht so richtig rechts sei. Er erzählt von Hansa Rostock, von Schlägereien, bei denen sich zwei wegen einer 49 Cent teuren Bierflasche den Schädel einhauen, von seinem Plan, nicht mehr ins Gefängnis zu gehen und seinen Schulabschluss zu machen. Sein großerTraum: abhauen und das Leben auf die Reihe kriegen. Egal wen man fragt in Mestlin, sie alle hängen an den alten Tagen – als sie trotz fehlender Technik die Felder für die LPG bestellten, als sie alle zusammenhielten und im Kulturhaus feierten. Die Jugendlichen sagen, sie interssieren sich nicht für die Vergangenheit, sondern für die Gegenwart. Aber natürlich sei es besser gewesen in der DDR. So erzählen es ihnen ihre Eltern jedenfalls. Soll doch mal einer nach Mestlin kommen und ihnen beweisen, dass es anders gewesen ist. +Wie Mestlin einst zum Musterdorf der DDR wurde, lest ihr auf Seite 18 des Heftes. diff --git a/fluter/leere-veranstaltungskalender-nerven.txt b/fluter/leere-veranstaltungskalender-nerven.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b7535c535a0b59180178a2c374ce837e7fb6a664 --- /dev/null +++ b/fluter/leere-veranstaltungskalender-nerven.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Nach Planungstreffen mit dem Jugendparlament war klar: Damit das Festival eine Chance hat, musste der Weilheimer Stadtrat einer Ausfallbürgschaft über 20.000 Euro zustimmen. Im Falle eines Scheiterns wären dann nicht die Jugendlichen die Schuldner, sondern die Stadt müsste bürgen. "Ich dachte erst: Jetzt können wir das vergessen", berichtet Sebastian, der durch seine Tätigkeit im Jugendparlament hauptsächlich für die Stadtratssitzung zuständig war.Einige Stadträte fanden zwar die Idee des Festivals gut, wollten jedoch nicht für die Ausfallbürgschaft ihre Hand ins Feuer legen. Daher standen Treffen mit Vertretern der Stadt an. Und es klappte. "In der entscheidenden Sitzung haben sich einige der Verantwortlichen stark für uns eingesetzt", freut sich Sebastian. Die Zustimmung des Stadtrats haben sie jetzt in der Tasche. +Das Festival rückt näher, der Arbeitsberg wächst: Daniel verbringt mindestens zwei Stunden täglich mit der Organisation. Wenn Sebastian nach Hause kommt, führt sein erster Weg vor den Computer: "Meine Freundin dreht schon durch. Ich beschäftigte mich gerade mehr mit dem Festival als mit ihr." Ein Open-Air-Festival planen bedeutet eben mehr als eine Bühne aufzustellen, Bands einzuladen und Besucher/innen zu werben.Zurzeit geht es um den Kleinkram. Dazu gehört es, Bauzäune zu bestellen, sich um die Wasser- und Stromversorgung zu kümmern, Sanitäranlagen heranzuschaffen und für die Verkehrsanbindung zu sorgen. Außerdem: "Ich muss zig Ämter der Stadt abklappern. Die müssen zufrieden sein", berichtet Sebastian. Er war schon beim Amt für Emissionsschutz, das sich wegen der hohen Lautstärke sorgt. Das Gesundheitsamt will eine Bescheinigung für keimfreies Wasser. Und jeder, der hinter der Bar steht, muss ein Gesundheitszeugnis vorweisen. Dann kommt noch das Umweltamt mit solchen Nachfragen: Welche Vögel nisten am Festivalplatz? Welche Pflanzen dürfen keinesfalls zerstört werden? +Um nicht komplett in Arbeit zu versinken, haben die Veranstalter das "Volunteers-Programm" ins Leben gerufen. Freiwillige Helfer können sich melden und beim Mithelfen einen Einblick in die Festival-Organisation bekommen. Doch auch das reicht nicht. "Fast 40 Leute aus dem Freundeskreis unterstützen uns. Da wurden alle eingespannt, die nicht schnell genug weglaufen konnten", sagt Daniel mit einem Grinsen.Die Ziele des Festivals sind klar: "Das Wichtigste ist, dass finanziell am Schluss alles stimmt und der Stadt keine Kosten entstehen", meint Sebastian. Dann gibt es eine Chance, dass dasHammerrockfestival auch nächstes Jahr stattfindet. Auch ganz wichtig: die Sicherheit; es sollte keine Schlägereien geben. "Wir wünschen uns, dass die Besucher nach Hause gehen und sagen: Das war toll. Nächstes Jahr kommen wir wieder", meint Daniel. Was von den 20 Euro Eintritt pro Besucher/in übrig bleibt, fließt übrigens in den Bau eines städtischen Jugendzentrums. Auch das ist ein guter Plan für die Zukunft.Jennifer Hertlein (16) ist Schülerin und schreibt für verschiedene Print- und Onlinemedien. diff --git a/fluter/lehrer-islamismus-unterricht.txt b/fluter/lehrer-islamismus-unterricht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..87e589177fe37b0d527880d8d01943a69b4ceb0e --- /dev/null +++ b/fluter/lehrer-islamismus-unterricht.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Wie reagieren Sie? +Ich schaffe einen geschützten Raum, wo diese Aussagen zunächst unkommentiert stehen bleiben können. Die Schüler und Schülerinnen sollen sich ernst genommen, nicht bevormundet fühlen. Dafür bilden wir einen Stuhlkreis, ich setze mich dazu, doziere nicht von oben herab. Meine Meinung ist erst einmal nicht mehr wert als die der anderen. Erst dann steuere ich dagegen. Wir suchen zum Beispiel gemeinsame Werte der Religionen. +Das klappt? +Ja, weil ich in meiner Klasse zu so etwas wie einem großen Bruder werde. Meine Schüler, die ich von der Siebten bis zur Zehnten betreue, vertrauen mir, erkennen meine Meinung an. In ihrem Kopf entsteht dann ein Widerspruch zwischen ihrer bisherigen Sichtweise und meiner Perspektive. So kann ich einen Lernprozess anregen, etwas verändern. Natürlich kann ich nicht nachvollziehen, ob das bei jedem Einzelnen funktioniert. Aber Beziehungsarbeit ist essenziell. Meine Meinung wird geprüft, akzeptiert – und im Idealfall übernommen. + +Religion & Staat +In früheren Jahrhunderten war die Weltanschauung der Menschen auch in Deutschland stark an die Religion und die Kirche gebunden. Deren Gebote und Verbote schrieben vor, wie die Menschen zu leben hatten. Erst als die geistige Bewegung der Aufklärung Ende des 17. Jahrhunderts in Europa entstand, setzte eine "Verweltlichung", eine Abwendung von Religion und Kirche ein. Die Aufklärung erklärte, dass die Menschen sich bei ihrem Handeln vor allem von der Vernunft leiten lassen sollten und nicht so sehr von den Gesetzen der Religion. +Die heutige Trennung von Kirche und Staat wurde erstmals in der Weimarer Verfassung festgeschrieben. Einige Paragrafen finden sich noch heute im Grundgesetz. So sind die staatsbürgerlichen Rechte unabhängig vom religiösen Bekenntnis – und niemand darf zur "Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden". Der Staat ist zur weltanschaulichen Neutralität verpflichtet und darf sich mit keiner Religionsgemeinschaft identifizieren. +Wie würden Sie reagieren, wenn Ihnen jemand mit Enthauptung droht, wie es einer Lehrerin an einer Berliner Schule passiert ist? +Auch in schwierigen Situationen suche ich den Dialog. Die meisten Aussagen spiegeln nicht die Meinungen der Schülerinnen und Schüler wider, sie werden von ihrem Umfeld, u. a. der Familie übernommen. Bei uns gab es eine Schülerin, die sich geweigert hat, an der Schweigeminute für den ermordeten Lehrer in Frankreich teilzunehmen. Darüber haben wir anschließend sehr differenziert diskutiert. Meine Schüler kritisierten, dass in Frankreich häufig nicht zwischen Islamismus und Islam unterschieden wird, dass dem Islam terroristische Inhalte zugeschrieben werden. Sie haben aber auch deutlich gesagt, dass der Mörder nicht im Rahmen des Islam gehandelt hat, und die Sure zitiert: Wenn man einen Menschen tötet, ist das, als würde man die ganze Menschheit töten. +Was sind die Ursachen für die einfachen Wahrheiten, die unsere Meinungsvielfalt bedrohen? +Die Grenze des Sagbaren verschiebt sich. Das merke ich auch bei meinen Schülern. Sie entgegnen mir immer öfter: Das sagen doch auch die von der AfD – und das ist eine gewählte Partei. Schule findet im gesellschaftlichen Rahmen statt, und in der ganzen Gesellschaft breitet sich die Haltung "Das wird man ja noch sagen dürfen" aus. +Erleben Sie manchmal einen Konflikt zwischen Religions- und Meinungsfreiheit? +Sowohl die Religions- als auch die Meinungsfreiheit ist im Grundgesetz verankert. Ich kann nicht eines absolut setzen, sondern muss immer in diesem Rahmen, zwischen diesen beiden Polen im Gespräch bleiben. +Im Koran gibt es ein paar Stellen, die antisemitisch interpretiert werden können. Wie gehen Sie darauf ein? +Schülern, die solche Zitate vorbringen, entgegne ich, dass eine wortwörtliche Lesart des Korans meiner Meinung nach nicht zeitgemäß ist. Ich erkenne aber auch an, dass im Koran wichtige Werte zu finden sind. Die heiklen Stellen, die es übrigens auch im Alten Testament, also in der Bibel und in der Thora gibt, nehme ich dann als Grundlage für eine Diskussion. Ich frage: Was heißt das heute? Was ist der Kern? Ich wähle also einen klassisch aufklärerischen Ansatz – und erlebe Aha-Momente bei meiner Klasse. +Wie sieht so ein Aha-Moment aus? +Unsere Schule kooperiert mit dem Jüdischen Museum, wir veranstalten Workshops, docken mit den Inhalten aus dem Rahmenlehrplan an dem an, was dort geboten wird. Allein wenn Schülerinnen und Schüler, die normalerweise nie in das Museum gehen würden, dort Jüdinnen und Juden begegnen, setzt ein Aha-Moment ein, im Sinne eines humanistischen Bildungsideals. Sie erleben, dass das auch Menschen sind. Normalerweise reden die meisten nur über Juden. Das Miteinander verändert. +Nicht in allen Fächern können Lehrer offene Diskus­sionen führen. Was raten Sie Kolleginnen und Kollegen im Umgang mit schwierigen Aussagen? +Allgemeine Handlungsanweisungen gibt es nicht, jede Situation muss neu verhandelt werden. Wenn sich jemand an mich wendet, biete ich an, dass ich mit ihm gemeinsam da­rüber im Unterricht spreche. Als Lehrer muss ich Zweifel und Zweideutigkeiten aushalten können. Dafür bedarf es eines bestimmten Bildes von mir selbst und von der Rolle des Lehrenden. +Was erwarten Sie von anderen? +Unser Schulsystem muss grundsätzlich verändert werden, es muss gerechter, weniger hierarchisch werden. Und wir müssen Vorurteile unter uns Lehrern abbauen, um den Unterricht noch sensibler zu gestalten. Unsere eigenen Ressentiments dürfen wir nicht in Aufgabenstellungen reproduzieren, Sachtexte müssen wir kritisch auswählen. Wenn ein junger Mensch Rassismus erfährt und das Gefühl hat, darüber nicht sprechen zu können, entsteht ein Nährboden für Radikalisierung. Wir müssen das tun, was ich mit meinen Schülern mache: im Gespräch bleiben. + diff --git a/fluter/lehrermangel-die-jungen-sollens-richten.txt b/fluter/lehrermangel-die-jungen-sollens-richten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..663b23deacaa4af92e6661402568a9f9ee182fd1 --- /dev/null +++ b/fluter/lehrermangel-die-jungen-sollens-richten.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Keine günstige Kombination für die Ministerien. Sie müssen improvisieren, um den Unterricht gewährleisten zu können. Sie verschicken Briefe an Pensionäre, stellen Quereinsteigern die Verbeamtung in Aussicht, locken Lehrkräfte mit Zulagen in unterversorgte Regionen oder heben die Gehälter an – und verschaffen sich damit einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Bundesländern. Besonders kreativ ist Sachsen-Anhalt: Die Landesregierung in Magdeburg setzt Headhunter auf ausländische Lehrkräfte an, erprobt an zwölf Modellschulen ein 4-plus-1-Modell, bei dem Schüler nur noch an vier Tagen Präsenzunterricht haben – undwirbt verstärkt um Studierende, um die Lücken in den Klassenzimmern zu füllen. Wer mindestens vier Fachsemester Lehramt hinter sich hat, darf eigenständig unterrichten. Gut bezahlt, versteht sich. Würde Erik Allner am Gymnasium Zerbst Vollzeit – also 26 Stunden die Woche – unterrichten, stünde ihm ein Einstiegsgehalt von mehr als 3.400 Euro brutto zu. "Wenn man das Studentenleben gewohnt ist", so Allner, "ist das viel Geld." +Die Aussicht auf das erste Lehrergehalt hat Allner die Entscheidung leicht gemacht. Nun kann er sich eine Dreizimmerwohnung in seiner Heimatstadt Dessau, 20 Autominuten von Zerbst, leisten. Das Francisceum kennt der Student bereits von einem Pflichtpraktikum. "Ich habe mich damals an der Schule sofort wohlgefühlt", erinnert er sich. Nach dem Praktikum hat er bereits beim jährlichen Sommercamp ausgeholfen. Als die Schulleiterin ihn dann fragte, ob er nicht als Vertretungslehrkraft für einen pensionierten Sportlehrer einspringen könne, musste er nicht lange überlegen. "Für mich war das eine super Gelegenheit, Unterrichtserfahrung zu sammeln – und dafür sogar noch bezahlt zu werden." +Auch für das Francisceum ist die Vertretung ein Glücksfall, erzählt Schulleiterin Kerstin Görner. "Auf dem Land ist es schwer, genügend Lehrkräfte zu finden." Aktuell sind sechs Stellen unbesetzt. Die unteren Klassen erhalten deshalb in Englisch, Ethik, Erdkunde, Religion, Musik und Sport eine Stunde weniger, als es der Stundenplan vorsieht. Ohne Allner sähe es noch düsterer aus. Dass ihr neuer Sportlehrer sehr jung ist, stört die Schulleiterin nicht. "Das Alter ist nicht entscheidend, ob jemand guten Unterricht macht oder nicht", sagt sie. Das sehe sie auch jedes Mal bei neuen Quereinsteigern. Manchmal klappe es super, manchmal weniger gut. Ihrer Meinung nach sei das Unterrichten ohnehin weniger ein Beruf als eine Berufung. "Und wer die hat, kann auch schon mit Anfang oder Mitte 20 vor der Klasse stehen." +Weiterlesen... +Viele Lehramtsstudierende gehen nicht zur Psychotherapie – denn sie fürchten, später nicht verbeamtet zu werden. Ist die Angst begründet? +Wie viele Lehramtsstudierende bereits an Schulen unterrichten, kann nur geschätzt werden. Die Ministerien wissen teils selbst nicht, wie viele Studierende unter ihren Vertretungslehrkräften sind. Dass es aber immer mehr werden, daran besteht für Till-Sebastian Idel kein Zweifel. Der Erziehungswissenschaftler leitet das Institut für Pädagogik an der Uni Oldenburg. Seit fast 20 Jahren bildet Idel angehende Lehrerinnen und Lehrer aus. Dass Studierende bereits während des Studiums als vollwertige Lehrkräfte eingesetzt werden, sieht er skeptisch: "Es ist völlig unklar, ob und wie die Studierenden an der jeweiligen Schule betreut werden", so Idel. "Wenn Lehramtsstudierende in Schulen als Aushilfslehrkräfte tätig sind, müssten sie durch geeignete Reflexionsangebote in der Schule und von der Uni begleitet werden." +Aber selbst wenn die Schulen das gut hinbekämen, sei der frühe Einsatz in der Klasse aus seiner Sicht ungünstig. "Ich kann sehr gut verstehen, warum Studierende so ein Angebot nutzen", sagt der Professor. "Aber es konterkariert die gesamte Lehramtsausbildung, wenn Studierende parallel zur Uni nochon the jobin der Schule ausgebildet werden." Dafür gäbe es schließlich das Referendariat, und dort sei eine enge Betreuung durch Fach- und Seminarleiter sichergestellt. Bei Vertretungslehrern hingegen nicht: "Es sitzt ja in der Regel kein Kollege mit im Unterricht, der sich die Stunden anguckt." Im schlimmsten Fall schleiften sich in der Vertretungszeit didaktische Fehler ein, die im Anschluss schwer zu beheben seien. +Wie wenig sich manche Schulen um die jungen Kollegen kümmern, kann Henry König berichten. An dem Gymnasium, an dem der 29-jährige Lehramtsstudent im vergangenen Herbst eigentlich sein Praxissemester machen wollte, fiel kurzfristig die einzige Ethiklehrerin der Schule aus. Burn-out. Die Betreuungslehrkraft stellte König vor die Wahl: Entweder er unterrichte selbst – oder er müsse seine Pflichtstunden anderweitig organisieren. König entschied sich für die Vertretung, um die Erfahrung mitzunehmen – bezahlt wurde er nicht. Sechs Wochen lang unterrichtete er Ethik in den neunten Klassen. Heute blickt er mit gemischten Gefühlen auf die Erfahrung. "Ich glaube, ich habe es ganz gut gemacht", sagt König. Die Schüler jedenfalls hätten ihm ein gutes Feedback gegeben. Gleichzeitig habe er sich von der Schule etwas alleingelassen gefühlt. Eine fachliche Betreuung war wegen der ausgefallenen Kollegin ja von vornherein nicht möglich. Und sein Ansprechpartner im Kollegium sei ihm keine große Hilfe gewesen. +Auch deshalb lehnte König das Angebot ab, die Kollegin auch nach Ende des Praxissemesters weiter zu vertreten. Stattdessen heuerte er an einer nichtstaatlichen Schule an, bei der die Kinder selbst entscheiden sollen, was und wie sie lernen. Zwanzig Stunden die Woche unterrichtet er dort. Nebenher schreibt er seine Masterarbeit über Burn-out im Schulsystem. Für einen kompletten Lehrer hält sich König aber trotz seiner Erfahrung vor der Klasse noch nicht: "Ich sehe, dass andere bei der Auswahl und Anwendung didaktischer Methoden viel sicherer sind." Eine Fertigkeit, die er sich vom Referendariat erwartet – wenn er denn überhaupt je an eine staatliche Schule geht. "Ich bin gerade unsicher, ob ich das wirklich möchte." Seine bisherigen Erfahrungen hätten ihm gezeigt, dass sich Lehrkräfte, die ihren Job gut machen wollen, in diesem System aufreiben. Der akute Lehrermangel und der Umgang damit mache wenig Mut, dass sich daran so bald etwas ändert. +Sportlehrer Erik Allner hingegen hat das Unterrichten am Gymnasium Zerbst in seiner Berufswahl bestätigt. Der Einstieg sei aber auch für ihn hart gewesen, räumt er ein: "Am Anfang konnte ich den Schülern nicht in die Augen schauen, da musste ich mich voll auf meine vorbereitete Stunde konzentrieren." Was es nicht unbedingt leichter macht: Allner ist, wie er selbst sagt, relativ klein und sieht selbst für seine 26 Jahre jung aus. "Da testen die Schüler natürlich gerne, wie weit sie gehen können." Mittlerweile aber fühle er sich deutlich sicherer – auch weil er gut unterstützt werde vom Kollegium. Und so probiert Allner jetzt auch schon ein paar Dinge aus. Zum Beispiel, ob Jungs in der sechsten Klasse Spaß an Tanzchoreografien haben können. Erster Eindruck: können sie. "Die, die erst am meisten geschrien haben, basteln jetzt an ihrer eigenen Choreo." Bis zum Ende des Schuljahres kann sich Allner weiter ausprobieren, dann endet sein Vertrag. Dann muss er zurück an die Uni, sein Studium abschließen und danach sein Referendariat. Und das Gymnasium Zerbst muss sich wieder einen neuen Sportlehrer suchen. + + +Collage: Renke Brandt diff --git a/fluter/leichte-sprache-erklaert.txt b/fluter/leichte-sprache-erklaert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..609bacdcf640d36697cb0f1785f2cdeef4c8b573 --- /dev/null +++ b/fluter/leichte-sprache-erklaert.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Es gibt feste Regeln für Leichte Sprache:Die Sätze sind kurz.In jedem Satz steht nur eine Information.Es gibt fast keine Neben·sätze.Fremd·wörter und Fach·begriffe werden erklärt.Oder sie werden durch leichtere Wörter ausgetauscht. +Man benutzt lieber kurze Wörter als lange Wörter.Und lange Wörter trennt man mit dem Medio·punkt.Zum Beispiel so: barriere·frei.So kann man sie leichter lesen.Außerdem gibt es in der Leichten Sprache fast keine Abkürzungen. + +Die Idee zu Leichter Sprache hatten zuerst Menschen mit Lern·schwierigkeiten.Sie gehörten zum Verein "People First"."People First" ist Englisch.So spricht man es aus: piepl först.Auf Deutsch heißt das: Mensch zuerst. + +Wer braucht Leichte Sprache? +– Menschen mit Lern · schwierigkeiten– Menschen, die Deutsch lernen–Menschen mit Schwierigkeiten beim Lesen– Menschen mit der Krankheit Demenz.[Menschen mit dieser Krankheit vergessen viele Dinge.] + +Leichte Sprache entsteht in Teams.Eine Person übersetzt Texte.Und mindestens 2 Personen prüfen die Texte dann.Sie probieren aus:Kann ich alles in dem Text gut verstehen?Sind noch schwierige Wörter im Text?Oder: Sind die Sätze kurz genug? +Meistens arbeiten die Prüfer und Prüferinnen ineiner Werkstatt für Menschen mit Behinderung.Dann bekommen sie nur sehr wenig Geld für ihre Arbeit.Obwohl diese Arbeit sehr wichtig ist.Und obwohl Menschen mit Lern·schwierigkeiten gut in dieser Arbeit sind. + +In Deutschland gibt es verschiedene Gesetze und Regeln.Zum Beispieldas Grund·gesetz.Darin steht:Alle Menschen haben die gleichen Rechte und Chancen.Niemand soll aus·geschlossen werden. +Das bedeutet auch:Alle Menschen müssen wichtige Informationen bekommen.Und sie müssen sie auch verstehen können.Nur dann wissen sie:Was passiert gerade in Deutschland?Und sie können entscheiden: Wie denke ich darüber?Ohne Informationen kann man nicht mit·reden und mit·bestimmen. + +Manchmal gibt es auch Bücher in Leichter Sprache. Oder Wand·texte in Ausstellungen.Man kann in Leichter Sprache lesen:Welcher Handy·vertrag ist der richtige für mich?Oder: Was steht in einem Miet·vertrag? +Viele Parteien übersetzen ihre Wahl·programme in Leichte Sprache.Und seit 2014 müssen Bundes·behörden auf ihren Internet·seiten Informationen in Leichter Sprache haben.[Bundes·behörden sind zum Beispiel das Bundes·kanzler·amt oder das Arbeits·amt.] + + +Dieser Text istim fluter Nr. 90 "Barrieren"erschienen +Aber: Klare Regeln zum Thema Leichte Sprache gibt es noch nicht.Wer muss was in Leichte Sprache übersetzen?Das wird meistens ohne die Menschen entschieden, die Leichte Sprache brauchen.Und: Es gibt gute und schlechte Texte in Leichter Sprache. + +Viele Menschen hoffen:Vielleicht kannkünstliche Intelligenzbald in Leichte Sprache übersetzen.Dann wird die Übersetzung von einem Computer gemacht.Aber bis jetzt geht das noch nicht.Computer können noch nicht erkennen:Warum versteht man einen Text in schwerer Sprache oft nicht? +Das bedeutet:Leichte Sprache geht nur zusammen mit Prüfern und Prüferinnen. + +Anmerkung, 9. April 2024: Wir haben nachträglich die Überschrift dieses Textes aus dem fluter-Heft ("Deutsch light") geändert – und eine eingesetzt, die nicht impliziert, Texte in Leichter Sprache seien weniger gehaltvoll oder ungleichwertig. diff --git a/fluter/leider-wollen-eltern-immer-nur-das-beste.txt b/fluter/leider-wollen-eltern-immer-nur-das-beste.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..de7326defcbb63581f9fbc41bb483388ed68832c --- /dev/null +++ b/fluter/leider-wollen-eltern-immer-nur-das-beste.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Warum hast du dann nicht ein Buch übers Gymnasium geschrieben, sondern über die Grundschule? +Weil die Klasse auf dem Gymnasium schon deutlich weniger interessant gemischt war. Da hatte es sich schon klarer nach der sozialen und ethnischen Herkunft der Schüler getrennt. +Wie viele Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache, also ndH, wie es ja offiziell heißt, waren denn damals in deiner Grundschulklasse? +Etwa die Hälfte unserer Klasse kam aus Migrantenfamilien. An vielen Stellen deines Buches hat man beim Lesen das Gefühl, dass das Schicksal deiner Mitschüler schon festgeschrieben war, bevor sie eingeschult wurden. +Wie viel Einfluss hat die Schule eigentlich auf den Weg der Menschen? +Schule kann im Zweifel viel kaputt machen, aber leider wenig aufbauen, wenn gar nichts vorhanden ist. Bei meinem ehemaligen Mitschüler Sven würde ich zum Beispiel sagen, war schon früh klar, wohin sein Weg geht. Seine Eltern sind Deutsche, trotzdem ist er heute am wenigsten in die Umgebung integriert, in der er lebt. Der wurde immer nur durchgereicht und hängt heute Bier trinkend und auf Bio-Lebensmittel schimpfend in einer totsanierten Markthalle rum. Entweder man hat Glück und bekommt von den Eltern so viele Voraussetzungen mit, dass man in der Schule keine Probleme hat, sich das anzueignen, was auf dem Lehrplan steht. Oder, und so ging es leider vielen Mitschülern, man kommt in der Schule nicht mal bei den Grundlagen mit. +Beim Joggen im Park wurdest du von einem ehemaligen Mitschüler angesprochen, der dir Drogen verkaufen wollte … +Ja, von Ahmed. Ich war einfach neugierig, was die Leute in den letzten 20 Jahren eigentlich gemacht und erlebt haben. Erst mit der Zeit kristallisierte sich raus, welche übergeordneten Themen für das Buch eine Rolle spielten. Ich war zum Beispiel überrascht, wie viele meiner ehemaligen Mitschüler noch oder wieder zu Hause wohnen. Immerhin sind die ja jetzt auch Ende zwanzig. Die Verdrängung aus dem Viertel durch hohe Mieten war bei fast allen ein Thema, weil die meisten bis heute überzeugte Kreuzberger sind. +Wie war es denn, an deine alte Schule zurückzukehren? War es wirklich so finster, wie du es beschreibst? +Ich war überrascht, dass meine Schule so ein gruseliger Klotz ist. So hatte ich es eigentlich gar nicht in Erinnerung. Ich hatte sofort Beklemmungen, als ich da drin war. Interessant war, dass so viele Lehrer immer noch unterrichten, weil sie zu meiner Zeit sehr jung waren. Die haben diese gesamtgesellschaftliche Entwicklung, die unsere Schulen gemacht haben, verwalten müssen und mit angesehen, wie der Anteil der Schüler aus Migrantenfamilien und sozial benachteiligten Familien stetig gestiegen ist, während die Kinder aus Akademikerfamilien in anderen Vierteln eingeschult wurden. +Zugespitzt gefragt: Sind Lehrer eher Täter oder Opfer eines schlechten Bildungssystems? +Opfer. Die Lehrer wurden alleingelassen. Passiv wurden sie oft zu Tätern gemacht, weil sie nicht anders konnten, als dieses Aussieben der Schüler mitzumachen. Ich habe aber auch sehr hoffnungsvolle Begegnungen erlebt. Die aktuelle Rektorin meiner Schule sagt zum Beispiel: "Mir ist es egal, wo die Kinder herkommen, ich will ihnen einfach eine gute Schulzeit ermöglichen." Das halte ich eigentlich für eine ganz erfrischende Haltung in diesem Wettbewerb der Grundschulen um die besten Schüler und die besten Eltern, den es mittlerweile leider gibt. Da wollte sie einfach nicht mitmachen. +Einer deiner ehemaligen Mitschüler, ein Deutsch-Iraner namens Julian, sagte dir, Iraner seien "leistungsorientierter" als Araber oder Türken. Spielen Nationalitäten denn eine Rolle dafür, wie gut oder schlecht jemand lernt? +Wenn man genau hinschaut, merkt man, dass vieles am Elternhaus liegt. Iranische Einwanderer waren meistens Akademiker, politische Flüchtlinge mit einem höheren Bildungsanspruch. Die klassischen Gastarbeiter aus der Türkei waren eben sozial benachteiligt, verdienten weniger und hatten auch oft weniger Zeit, sich um die Schulbildung ihrer Kinder zu kümmern. +Neigen Eltern zu Rassismus, wenn es um die Auswahl der Schule für ihre Kinder geht? +Ja, total. Das kommt leider daher, dass Eltern immer nur das Beste für ihr Kind wollen. Die Fürsorge ist oft stärker als die politische Vernunft. Es hat mich zum Beispiel schockiert, als ich erfahren habe, dass ein Bekannter von mir, der als Journalist arbeitet und sich für sehr weltoffen hält, die vermeintlich ausländischen Schüler auf Klassenfotos zählte, weil die Schule, auf die sein Kind gehen sollte, ihm keine Statistik über nichtdeutsche Kinder geben wollte. +Würdest du denn deinen eigenen Sohn auf die Rütli-Schule gehen lassen? +Wahrscheinlich schon. Die ist mittlerweile vermutlich eine der Schulen mit der besten Ausstattung Berlins! Aber auch wenn ich es ablehne, Schulen nach der Herkunft der Eltern auszuwählen, würde ich mein Kind nicht auf eine Schule schicken, an der es Probleme gibt, weil es eine schlechte soziale Mischung der Schüler gibt. Ich bin der Meinung, dass sich am System etwas ändern muss. +Und zwar was? +In Rheinland-Pfalz und anderen Bundesländern gibt es zum Beispiel einen ganz klaren Schlüssel. Dort, wo man wohnt, bringt man sein Kind auch zur Schule. Punkt. Wenn es in Berlin auch so wäre, hätten die meisten Schulen viel geringere Probleme. Die Freiheit zur Wahl wurde in Berlin in den letzten Jahren sogar noch gelockert. Das hat dazu geführt, dass die Eltern sich regelrecht um die Plätze an den "noch guten Schulen" im Stadtgebiet bekriegen. Aber wie man in Hamburg beim gescheiterten Volksentscheid für eine Schulreform gesehen hat, gibt es leider eine starke politische Lobby aus der Mittelschicht, die Angst hat, dass ihre Kinder gemeinsam mit den Verliererkindern lernen müssen. Ich hoffe, dass es in Zukunft keine Schulen mehr bei uns gibt, die so schlecht sind, dass niemand sein Kind draufschicken will. + +Aus Patrick Bauer ist auch was geworden: Ab Herbst leitet er die Zeitschrift "NEON". Sein Buch heißt "Die Parallelklasse. Ahmed, ich und die anderen – Die Lüge von der Chancengleichheit" und ist bei Luchterhand erschienen; 14,90 Eu diff --git a/fluter/leitfaden-fuer-die-invasion.txt b/fluter/leitfaden-fuer-die-invasion.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..509ecfe1f851112befe7862dd1d785c847cba457 --- /dev/null +++ b/fluter/leitfaden-fuer-die-invasion.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Die Angst vor dem russischen Großmachtstreben ist groß: Das litauische Verteidigungsministerium gab kürzlich sogar eine Broschüre heraus, die Bürger auf eine Invasion vorbereiten soll. Mit Streiks, Blockaden und Hackerangriffen solle sich die Bevölkerung bei einer möglichen Aggression wehren, dabei aber stets ruhig und bedacht handeln. +Die Nato, deren Mitglied die baltischen Staaten seit 2004 sind, schickte bereits Kampfflugzeuge zur Luftüber- wachung in die Region, die russische Seite wiederum flog mehrfach Scheinangriffe auf den Nato-Luftraum. Die Wirtschaftssanktionen, die wegen der Ukraine-Krise von der EU gegen Russland verhängt wurden, treffen Litauen besonders hart: Russland ist für das kleine Land der wichtigste Exportmarkt. diff --git a/fluter/lern-doch-was-randstaendiges.txt b/fluter/lern-doch-was-randstaendiges.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/lernen-von-karl-marx-bedingungsloses-grundeinkommen-digitalisierung-rechtspopulismus.txt b/fluter/lernen-von-karl-marx-bedingungsloses-grundeinkommen-digitalisierung-rechtspopulismus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7bd0b405fe9fc7bd322535bf2c31bea25448b6d5 --- /dev/null +++ b/fluter/lernen-von-karl-marx-bedingungsloses-grundeinkommen-digitalisierung-rechtspopulismus.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Selbstlernende Maschinen übernehmen die Produktion, sogar die Gedankenarbeit hochqualifizierter Menschen soll in Zukunft von Algorithmen und künstlicher Intelligenz erledigt werden: Glaubt man manchen Technikvisionären, stehen wir kurz vor einer neuen industriellen Revolution. Sind das nicht ganz andere Bedingungen als noch zu Marx' Zeiten? "Wenn geistige Arbeit immer stärker automatisiert wird, liegt darin sicher ein gewaltiger Schub. Aber die Automatisierung an sich ist ein Wesensmerkmal des Kapitalismus und wäre für Marx nichts Neues", sagt Greffrath. Marx würde laut Greffrath darauf hinweisen, dass mit der Digitalisierung nicht nur Arbeit, sondern auch Macht verschoben wird –hin zu den Besitzern der intelligenten Maschinen. Hin zu den Unternehmern, den Monopolen, den Investmentfonds und den Anlegern. Hin zum Kapital also. +Greffrath hat vor einigen Jahren ein Forschungsinstitut besucht, das einen Algorithmus für die Herstellung von Kloschüsseln programmiert hat: Das Erfahrungswissen, das Brennmeister in Generationen entwickelt haben, steckt nun in einer Steuerungsprozedur für den Industrieroboter. Nur dass es nun als Software zum Privateigentum geworden ist. + +Wo von der Digitalisierung gesprochen wird, ist schnell auch von der Wissensökonomie die Rede. Der Begriff meint, dass unser Wirtschaftssystem heute ein grundsätzlich anderes ist: eines, das nicht auf Stahl und Muskelkraft fußt, sondern auf Know-how, auf Kreativität, auf Einfallsreichtum und Expertise – der Kapitalismus ist keine Frage der Hardware mehr, sondern vor allem eine der Software. Das Wissen wird zum bestimmenden Produktionsfaktor. +Zu Marx' Zeiten führten Ökonomen den Wohlstand einer Volkswirtschaft auf drei klassische Faktoren zurück: Boden, Kapital und Arbeit. Alle drei Produktionsfaktoren werfen wiederum ein spezifisches Einkommen ab. Der Grundeigentümer verdient die Pacht, indem er anderen sein Land überlässt – zum Beispiel dem Fabrikbesitzer. Der Fabrikbesitzer macht Profit, indem er mit seinen Maschinen Waren herstellen lässt – von den Arbeitern. Der Arbeiter erhält den Lohn für seiner Hände Werk. +Für Marx war dieses Drei-Faktoren-Modell jedoch ein typisches Beispiel für das, was er "Vulgärökonomie" schimpfte: eine Vorstellung von Wirtschaft, die nicht hinter die Dinge schaut. Marx geht davon aus, dass der Wohlstand nicht aus drei verschiedenen Produktionsfaktoren stammt, sondern letztlich nur aus einem: der Arbeit. Der Profit des Kapitalisten ist in Wahrheit nichtbezahlte Arbeit. Die Pacht des Grundbesitzers wiederum ein Teil des Profits – und damit am Ende ebenfalls nichtbezahlte Arbeit. +Wer behauptet, die Wertschöpfung beruhe heute vor allem auf dem Wissen als einem neuen, vierten Produktionsfaktor, wäre in Marx' Augen wohl ein Vulgärökonom. "Wissen und Arbeit sind bei Marx nicht voneinander zu trennen", sagt Greffrath. + +Wenn die Maschinen die Arbeit übernehmen, wovon lebt dann der Mensch? Eine neue Utopie macht seit einiger Zeit die Runde: Ein jeder soll künftig ein festes Salär vom Staat erhalten, egal ob er arbeitet oder nicht. +Mancher findet am Grundeinkommen Gefallen – und meint, sich auf Marx berufen zu können, der ja vor der entfremdeten Arbeit im Kapitalismus gewarnt hatte. Der Mensch, argumentieren sie, müsste sich mit einem bedingungslosen Grundeinkommen nicht länger stumpfen, fremdbestimmten Tätigkeiten hingeben, sondern könnte sich ganz seinen Herzensdingen widmen. Auch Manager aus dem Silicon Valley trommeln für das Grundeinkommen. +Aber ist es wirklich ein Zukunftskonzept in Marx' Sinne? "Für Marx wäre das Grundeinkommen ein Menschheitsverbrechen", glaubt Mathias Greffrath. Die versprochene Freiheit könnte sich als Trugschluss erweisen: Wahre Selbstverwirklichung kann der Mensch nach Marx nur erfahren, wenn er eine Tätigkeit ausübt, die eine Bedeutung für die Gesellschaft hat, eine echte und keine simulierte. "Wenn eine Tätigkeit gesellschaftlich sinnvoll ist, warum wird sie dann nicht wie Arbeit bezahlt?", fragt Greffrath. Das Grundeinkommen wäre für Marx wohl eher eine Stilllegeprämie, die das Gefühl von Nutzlosigkeit eher verschärft als beendet. +Marx würde Greffrath zufolge für einen anderen Ansatz plädieren: die stumpfsinnige Arbeit abschaffen, die Arbeitszeit verkürzen und die verbleibenden anspruchsvollen und erfüllenden Tätigkeiten so umverteilen, dass jeder an ihnen teilhat. + +Was wir heute als Globalisierung bezeichnen, hatte Marx bereits im Blick – auch wenn der Begriff erst sehr viel später gängig wurde. Im "Kommunistischen Manifest" beschreiben er und Friedrich Engels, wie der Kapitalismus nach und nach die ganze Welt umspannt. Insofern, meint Greffrath, würde Marx sich wahrscheinlich gar nicht so sehr widerlegt sehen, wenn er eine Zeitreise ins heutige Europa unternehmen würde: in dem das ausbeuterische Wirtschaftssystem, das er einst beschrieb, relativ gesittet wirkt. Zwar würde er überrascht über den weit verbreiteten Wohlstand, den Mittelstand und das Ausbleiben des Klassenkampfs sein, mit Blick auf globale Produktionsketten die alten Mechanismen der Ausbeutung jedoch wiedererkennen, so Greffrath. "Den Kapitalismus in Reinform würde Marx in den Industriestaaten so sicher nicht mehr antreffen", sagt Greffrath. "Im Weltmaßstab gesehen ist er dafür umso lebendiger." +Die Geschundenen, aus denen Konzerne den letzten Rest Arbeitskraft pressen, leben heute nicht mehr unbedingt in den Proletarierquartieren in London oder Berlin. Dafür schuften sie zum Beispiel in den Textilfabriken in Bangladesch oder in den Kobaltminen im Kongo. +Im 19. Jahrhundert strömten die Menschen vom Land in die Städte, nach London, nach Berlin, in die Industriehochburgen. Dass neben Kriegen auch die weltweite Ungleichheit und Armut im 21. Jahrhundert viele Menschen den Weg nach Europa antreten lassen – für Marx wäre dies eine nachvollziehbare Deutung. + + +Die Globalisierung produziert auch Verlierer in den westlichen Staaten: Unternehmen können ihre Produktion an Standorte verlagern, an denen die Lohnkosten niedriger sind. Neuerdings sind es allerdings auch die rechtspopulistischen Parteien, die mit am lautesten um die Stimmen derer werben, die ihre Jobs bedroht sehen. Warum kommt der Aufstand gegen den Kapitalismus nicht so von links, wie Marx es sich erhofft hatte? +"Ein globaler Markt, der nicht zu krassen Spaltungen führen soll, bräuchte als Korrektiv eine Art Weltregierung", sagt Greffrath. "Weil es die aber nicht gibt, ist es durchaus rational, mehr Schutz vom Nationalstaat zu verlangen. Das ist an sich nicht reaktionär, wird aber vom Rechtspopulismus genutzt, um fremdenfeindliche Ressentiments zu schüren." Wahrscheinlich hat auch Marx nicht richtig voraussehen können, wie schwer der Kapitalismus jenseits des Nationalstaates zu bezwingen ist. +Und sonst? Gibt es etwas, das Marx in seinem Denken erschüttern würde, wenn er mit uns heute an einem Tisch säße? "Analytisch würde ihn wahrscheinlich gar nichts überraschen", sagt Greffrath. Aber eine Sache könnte ihn vielleicht erstaunen: wie sehr der Mensch des 21. Jahrhunderts sich mit dem Kapitalismus arrangiert hat. Wie viel stumpfsinnige Arbeit er erträgt, um sich die vermeintlichen Segnungen des Konsums leisten zu können, und sei es nur die Wahl zwischen acht verschiedenen Arten Toilettenpapier. Ist es das wert? "Marx hätte den Menschen für störrischer gehalten." + diff --git a/fluter/lets-meat.txt b/fluter/lets-meat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6e5206295095452c280b98f2df589d17cb5d0d8d --- /dev/null +++ b/fluter/lets-meat.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +In dieser Region im Nordwesten Deutschlands, in den Landkreisen Cloppenburg und Vechta, leben mehr als zwei Millionen Schweine. Mehr als irgendwo sonst in Deutschland. Romantische Vorstellungen von einem Bauern und seiner Schweineherde hat hier niemand. Das Schwein ist vor allem ein Produkt, mit dem man Geld verdienen kann. Viel Geld. Denn überall auf der Welt wollen die Menschen immer mehr Schweinefleisch essen. In Deutschland isst jeder Bürger rund 39 Kilogramm pro Jahr, in seinem Leben rund 49 Schweine. Das ist fast dreimal so viel wie im Jahr 1950. Im Rest der westlichen Welt sieht es ähnlich aus. Und viele Menschen in anderen Ländern sind jetzt erst so richtig auf den Geschmack gekommen. Bis 2022 wird der Verbrauch pro Person etwa in Russland von 19,7 auf 24,2 Kilogramm steigen, in China von 29,2 auf 34,1 Kilogramm. Diese Zahlen hat die Heinrich Böll Stiftung in ihrem "Fleischatlas 2014" veröffentlicht. +Deutschland ist hinter den USA und China zum drittgrößten Schweinefleischexporteur der Welt geworden. In Deutschland ist die Mehrheit der Menschen trotz des Medienhypes um Bio-Produkte kaum bereit, mehr als einen Euro für ein Kotelett zu bezahlen. Sie haben sich an die niedrigen Preise der Supermärkte gewöhnt. Höhere Margen versprechen da die Schwellen- und Entwicklungsländer. Der Preis, den andere für diese Entwicklung zahlen, ist weit höher. "Zu hoch" sagen Organisationen wie Misereor, BUND oder Brot für die Welt. Bezahlen müssten ihn vor allem die Menschen, die eh nicht so viel haben. Denn der Import von Soja als Futtermittel trage zur Vernichtung des Regenwaldes in Südamerika bei. Und der Export von Schweinefleisch nach Afrika zerstöre dort die Märkte. +Soja als Tierfutter? Eigentlich kennt man es ja von der Soße beim Chinarestaurant oder als Milch für Leute, die keine tierischen Produkte mögen oder vertragen. Warum es immer mehr an Tiere verfüttert wird, hat mit der Rinderwahnkrise Anfang des Jahrtausends zu tun. Damit sie möglichst schnell möglichst viel wachsen können, brauchen Tiere viele Proteine. Deshalb wurde ihnen lange das aus Fleischresten gewonnene Tiermehl ins Futter gemischt. Seit Ende 2000 ist das aber verboten. In der europäischen Landwirtschaft gibt es seitdem eine sogenannte Eiweißlücke. Und keine Pflanze eignet sich so gut, diese zu füllen, wie Soja oder genauer das Sojaschrot. Auf dem Weltmarkt ist Soja so billig, dass es zu 40 Prozent niedrigeren Kosten denselben Energiegehalt liefert wie Getreide. +Bis zu 20 Prozent des herkömmlichen Tierfutters macht Soja heute deswegen aus. Es in unseren Lagen anzubauen ist aber sehr schwierig. Zum einen benötigt es viel Wärme und kurze Tage. Und andererseits fehlen hier die nötigen Flächen. Deswegen stieg der Import von Sojaschrot nach Deutschland rasant an, allein von 2002 bis 2012 von 1,3 auf 1,7 Millionen Tonnen. Immer häufiger kommt es aus Südamerika, wo klimatisch und flächentechnisch ideale Bedingungen für den Anbau herrschen. In Brasilien etwa sind die Produktionsmengen in den vergangenen 30 Jahren von 18,3 auf etwa 80 Millionen Tonnen gestiegen, was rund 30 Prozent der Weltproduktion entspricht. Neben den USA ist Brasilien heute der wichtigste Sojaproduzent. Der Bundesstaat Mato Grosso im Zentrum Brasiliens besteht fast nur noch aus Sojafeldern und Straßen. Auf rund 8,5 Millionen Hektar werden die Bohnen hier angebaut, das entspricht der Fläche Bayerns und Schleswig- Holsteins. Warum auch nicht, sagen die brasilianische Regierung und europäische Landwirtschaftsverbände. Bäume des kostbaren Regenwaldes müssen dort nicht gefällt werden. Dürfen sie auch gar nicht, denn importiertes Soja muss die Nachhaltigkeitskriterien der EU erfüllen, und ein Kriterium ist, dass für den Anbau kein Wald gerodet wird. +Für Maureen Santos von der Heinrich Böll Stiftung in Rio de Janeiro ist das zu kurz gedacht. Tatsächlich seien die Flächen schon in den 70er-Jahren gerodet worden, hauptsächlich, um Weideflächen für Rinder zu schaffen. "Durch den Sojaanbau hat sich nun eine Verschiebung ergeben", sagt Santos. Weil Soja so lukrativ ist, würde es nun dort angebaut, wo vorher Rinder weideten. Für die Rinder aber würden neue Weideflächen im Regenwald gerodet. Das Ergebnis: Zwar hat sich das Tempo der Entwaldung in Brasilien insgesamt verlangsamt, seitdem es 2004 mit 28.000 Quadratkilometern einen historischen Höhepunkt erreicht hatte. Doch zuletzt hat es wieder angezogen. Zwischen August 2012 und Juli 2013 wurden laut Nationalem Institut für Luftüberwachung mehr als 2.000 Quadratkilometer Amazonaswald abgeholzt – eine Fläche, fünfmal so groß wie das Bundesland Bremen – und ein Anstieg von 35 Prozent zum Vergleichszeitraum im Jahr davor. +Trotzdem weisen Landwirte hierzulande die Schuld von sich. Sie wollen ja nur das Schrot für ihre Tiere, den "Kuchen" vom Soja, sagen sie, und der sei ja nur ein Abfallprodukt des aus der Pflanze gewonnenen Öls. Tatsächlich aber ist der Erlös aus den Futtermittelverkäufen ausschlaggebend für die steigende Sojaproduktion weltweit. +Das aus Südamerika importierte Soja trägt also seinen Teil zur Effizienz der deutschen Schweinefleischproduktion bei. Und die so erzielten Überschüsse gehen vermehrt auch nach Afrika. Noch im Jahr 2000 waren es 250 Tonnen. Zwölf Jahre später 33.000. Das hat für den Markt dort, vor allem in Westafrika, verheerende Folgen, beklagen zahlreiche deutsche Nichtregierungsorganisationen. +Francisco Marí von "Brot für die Welt" hat diese Region mehrfach besucht. "Das Schweinefleisch aus der EU und aus Deutschland hat die Länder überschwemmt", sagt Marí. Vor allem Schweinefüße aus Europa – hier eher selten auf den Tellern zu finden und deswegen hauptsächlich Exportware – würden in Westafrika zu Preisen von weniger als der Hälfte der einheimischen Produktion angeboten. Was zu Verhältnissen wie in der Elfenbeinküste führe. "In der Hauptstadt Abidjan gab es früher mehrere Märkte für einheimisches Schweinefleisch. Jetzt gibt es nur noch einen." Auch habe es in dem Land vor Jahren noch eine eigene stattliche Wurstindustrie gegeben. "Die ist aber völlig zusammengebrochen. Dafür gibt's in den Supermärkten jetzt Wurst aus Deutschland." +Lange Zeit konnten europäische Produzenten ihre Ware in Afrika sogar zu regelrechten Dumpingpreisen anbieten. Die Subventionen für den Schweinefleischexport der EU machten es möglich. 2009 erhielten europäische Exporteure 92 Millionen Euro. Mittlerweile sind die Subventionen größtenteils abgeschafft. Für Marí aber kein Grund zu jubeln. "Mittlerweile sind die Agrar-Ausfuhren der EU einfach so billig, dass sie ohne die Zuschüsse aus Brüssel auskommen." Das liege an der Handelspolitik. Seit dem Jahr 2002 verhandelt die EU Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) mit den sogenannten AKP-Staaten (Afrika, Karibik, Pazifik). Mit zahlreichen afrikanischen Ländern wurden bereits Vorverträge geschlossen. Diese WPA verlangen von den Partnern, ihre Märkte umfassend für europäische Exporte zu öffnen – im Gegenzug für den Zugang zum EU-Markt. Mit der Folge, dass Entwicklungsländer der überlegenen europäischen Konkurrenz in Sachen Schweinefleisch Tor und Tür öffnen. Davon, ihr Fleisch selbst in die EU zu exportieren, sind sie weit entfernt. +Sind also die deutschen Schweinezüchter, -mäster und -schlachter schuld am Sterben des Regenwalds und des afrikanischen Marktes? Hubertus Berges widerspricht da auf dem "Fachforum Schwein" vehement. "Wir müssen schließlich auch unser Geld verdienen. Und wenn nun die brasilianische Regierung die Rodung des Regenwaldes nicht in den Griff bekommt, was sollen wir da machen?" Berges, 44, ein großer Mann mit Nickelbrille, ist Vorsitzender des "Kreislandvolkverbands Cloppenburg" – und hält selbst 3.600 Mastschweine auf seinem Hof. Sein Hof sieht so aus, wie man es von früher kennt. Hinein geht es durch ein großes Tor, die Gebäude sind aus Backstein und Fachwerk. Die Chronik der Landwirtfamilie Berges geht bis ins 15. Jahrhundert zurück. "Das kann man doch durchaus nachhaltig nennen", sagt Berges schmunzelnd. Doch die Technik in den Ställen ist hochmodern: Ein Computer wacht darüber, dass die Schweine ihrem jeweiligen Alter gerechtes Futter bekommen, ein weiterer regelt automatisch die Temperatur. +Zwölf bis 15 Schweine stehen meist zusammen in einer Bucht, einem Stallabschnitt. Und sollen vor allem fressen. Berges kauft Ferkel. In nur vier Monaten vervierfachen sie ihr Gewicht, wachsen von knapp 30 auf 110 bis 120 Kilo. Und werden dann zum Schlachter gebracht. 9.000 Schweine gehen bei Berges pro Jahr durch diesen Zyklus, pro Schwein macht er rund zehn Euro Gewinn. Er plant für die Zukunft, gerade baut er einen weiteren Stall an. Einer seiner Söhne soll den Hof übernehmen, "aber meine Tochter hat mir gesagt, wenn die es nicht machen, kann ich auf sie zählen." Was mit dem Fleisch der Tiere passiert, nachdem sie seinen Hof verlassen haben, interessiert ihn weniger. "Obwohl meine Frau und ich uns manchmal beim Essen fragen, ob das Kotelett vielleicht von uns stammt." Im globalen Schweinefleischmarkt eher unwahrscheinlich. diff --git a/fluter/lets-talk-straight-video-rap-juden-araber.txt b/fluter/lets-talk-straight-video-rap-juden-araber.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e0172d1a60330c5d87f6e32257e968128010b27d --- /dev/null +++ b/fluter/lets-talk-straight-video-rap-juden-araber.txt @@ -0,0 +1,28 @@ + +fluter.de: Die Geschichte von "Let's Talk Straight" beginnt vor drei Jahren, im Juni 2018. Da hast du, Uriya, das Musikvideo zu Joyner Lucas' Song"I'm Not Racist"entdeckt. Was hat dich daran fasziniert? +Uriya: Joyner hat einen sehr kreativen Weg gefunden, um den Rassismus zu skizzieren, der die amerikanische Gesellschaft durchzieht. In seinem Video sind zwei Menschen zu sehen, die sich ihre jeweiligen Wahrheiten ohne jeglichepolitische Korrektheitins Gesicht sagen. Das Modell hat mich inspiriert. Ich wollte mich dem jüdisch-arabischen Konflikt widmen, weil das der Konflikt innerhalb Israels ist, der mich in meinem Leben am meisten beschäftigt hat. Als ich allerdings anfing zu schreiben, habe ich schnell gemerkt, dass ich viel zu wenig über beide Perspektiven und die Argumente ihrer radikalen Vertreter wusste. +Deshalb bist du für einige Zeit durch Israel gereist und hast mit vielen Menschen aus den arabischen und jüdischen Communitys gesprochen. +Uriya: Ich habe ihnen sehr konkrete Fragen gestellt, sie mit Argumenten der Gegenseite konfrontiert und alles aufgeschrieben, was sie mir erzählt haben. Das Ergebnis waren seitenweise Hass und rassistische Bemerkungen – die Grundlage für "Let's Talk Straight". Zuerst habe ich versucht, beide Perspektiven abzubilden. Aber ich habe gemerkt, dass ich einen arabischen Partner auf der Gegenseite brauche, um das Projekt wirklich authentisch zu machen. Dann hat mir ein Freund Sameh vorgestellt, und wir haben uns getroffen – in einer Bar in Jaffa. + +Das wird man wohl noch abonnieren dürfen: Mit unseremNewsletterbekommst du alle zwei Wochen fünf Highlights aus der fluter-Redaktion +Sameh: Mir ist schon beim ersten Treffen klar geworden, dass Uriya ein ehrlicher, aufrichtiger Kerl ist. Außerdem ist er – und das, obwohl er eigentlich kein Rapper ist – besser als die meisten Songtexter, die ich in Israel kenne. Wir haben schnell Vertrauen aufgebaut und sind Freunde geworden. Anfangs dachte ich "Ah, schon wieder ein jüdischer Israeli, der mich für irgendein Friedensprojekt anwirbt, weil er einen Araber braucht", aber da lag ich falsch. Das ist am Ende auch die Message unseres Projekts: Nimm die Maske ab und sprich mit mir als Mensch, nicht mit mir als Jude oder mit mir als Araber. +Wie habt ihr den gemeinsamen Schreibprozess erlebt? +Sameh: Wir haben viel diskutiert, aber zu jeder Zeit sehr respektvoll. +Uriya: Natürlich sind viele Themen emotional belastet. Nehmen wir folgendes Beispiel: Was für jüdische Israeli der Unabhängigkeitstag ist,ist für die Palästinenser die Nakba. Allein dieses Wort sorgt in Israel für negative Vibes. Ich kannte lange Zeit nur die Sichtweise meiner Großeltern – Menschen, die zum Teilden Holocaust überlebt, den Schutzraum Israel mit aufgebaut und mich dazu erzogen haben, Israel und das jüdische Volk zu lieben. Samehs Familie, von der ich viel gelernt habe, hat eine andere Perspektive – sie wurde am Nakba-Tag von einem Kommandanten aus ihrem Haus vertrieben und zum Umzug gezwungen. +Gerade nach solchen Gesprächen dürfte es euch schwergefallen sein, in derart radikale Rollen zu schlüpfen, oder? +Uriya: Als wir das Video gedreht haben, haben wir versucht, uns in diesem Moment zu hassen. Wir haben allerdings schon unterschiedliche Rollen übernommen. Ich habe viele rassistische Narrative aufgegriffen und eine Person verkörpert, mit der ich in Wahrheit nicht viel zu tun habe. Samehs Aussagen sind wesentlich gemäßigter und seine Rolle deshalb viel näher dran an seiner echten Person. + + + +Inwieweit hattet ihr die Vorurteile, die ihr in eurem Song von euch gebt, vorher selbst verinnerlicht? +Sameh: Wir versuchen, auch wenn wir uns oft über die politische Situation in Israel aufregen, niemals auf Stereotype oder Gehirnwäsche hereinzufallen. Es war mir wichtig, die Leute darauf aufmerksam zu machen, dass sie häufig in Vorurteilen denken, auch in Momenten, in denen es ihnen vielleicht gar nicht bewusst ist. +Uriya: Es gibt schon eine Menge Rassismus auf der israelischen und eine Menge Hass auf der arabischen Seite. Und komplexerweise passieren viele Dinge, die ich im Song anspreche, ja wirklich. Der Vorwurf, dass dort, wo Araber sind, Bombenanschläge passieren, kommt nicht von ungefähr – es sind echte Busse explodiert, und dabei sind echte Israelis gestorben. Der Rassismus basiert also auf realen Problemen, Fakten und Ängsten. Und trotzdem ist es falsch, wegen einem oder ein paar Vorfällen auf die gesamte Gesellschaft oder eine komplette Bevölkerungsgruppe zu schließen. +Was muss eurer Meinung nach passieren, damit diese Vorurteile abgebaut werden und ein friedliches Zusammenleben zwischen arabischen und jüdischen Menschen in Israel zustande kommen kann? +Sameh: Es war nicht das Ziel unseres Projekts, Lösungsvorschläge anzubieten. Wir wollten Bewusstsein schaffen und dafür plädieren, den Umgang miteinander zu verändern. Dieser Konflikt ist 73 Jahre alt und zu komplex für einfache Lösungen. Ein guter Anfang wäre, wenn die Leute auf beiden Seiten ihre Angst davor überwinden würden, Dinge zu hören, die sie nicht gerne hören. Sie müssen aufeinander zugehen, sich mehr öffnen – das passiert zum Beispiel, wenn sie sich mit den Sprachen anderer Kulturen auseinandersetzen und in der Lage sind, miteinander zu kommunizieren. Die meisten Araber in Israel sprechen Hebräisch, die meisten jüdischen Israelis können aber kein Arabisch. Das muss sich ändern, und deshalb versuche ich, Uriya Stück für Stück Arabisch beizubringen. +Uriya: Wir bräuchten eine junge Regierung in Israel, die das Gewicht des gesprochenen Wortes versteht und langfristig denkt. Wie Sameh richtig sagt, müssen jüdische Israelis endlich Arabisch lernen. Es ist eine Schande, dass ich es bis jetzt nicht kann. Und dann bräuchten wir mehr Araber in den Medien und in der Regierung. +In einem anderen Interview habt ihr erzählt, dass "Let's Talk Straight" nicht euer letztes gemeinsames Projekt sein wird. +Uriya: Das Video ist – und das ohne jegliche bezahlte Werbung oder PR – sehr gut angekommen. Sehr viele israelische, aber auch internationale Fernsehsender und Zeitungen haben sich für unser Projekt interessiert, kürzlich sogar die "New York Times". Aktuell bekommen wir viele Angebote, die wir sorgfältig filtern müssen – schließlich geht es uns um Bildung und langfristige Annäherungsprozesse. Außerdem werden wir einen weiteren Song schreiben, allerdings aus einer etwas anderen Perspektive und in Verbindung mit einer Reise, die wir eventuell dokumentieren werden. +Am Ende eures Videos beginnt ihr zu essen, was zwischen euch auf dem Tisch steht, teilt euch eine Cola, ein Brot und eine Schale Hummus. Wie kamt ihr eigentlich auf die Idee? +Uriya: In Joyners Video umarmen sich die beiden Schauspieler am Ende. Das wollten wir nicht machen, weil das die Realität nicht widergespiegelt hätte. Wir wollten uns aber auch nicht mit Fäusten ins Gesicht schlagen. Deshalb endet unser Video damit, dass wir in die Normalität, die tägliche Routine zurückkehren. +Sameh: Das soll auch die Frustration repräsentieren, die auf beiden Seiten vorhanden ist und lähmt. Und Hummus ist ein wichtiger Bestandteil beider Kulturen – das essen alle hier. + diff --git a/fluter/lgbt-ranking-schulen-polen.txt b/fluter/lgbt-ranking-schulen-polen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d6fd31a68391a913255a9ae3b8a772cde8ca853c --- /dev/null +++ b/fluter/lgbt-ranking-schulen-polen.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Zusammen mit der NGO "Kampagne gegen Homophobie" (kph) erarbeitete er ein Ranking, das zeigen soll, wie offen Gymnasien für LGBT+-Anliegen sind. "Es unterstützt queere Schüler*innen dabei, sich für eine Schule zu entscheiden, an der sie sich wohlfühlen und sie selbst sein können", sagt Kuc. 2019 haben rund 6.000 Warschauer Schüler*innen an der Befragung teilgenommen. Mehr als ein Drittel der Schulen kommt in dem Ranking gut weg. Trotzdem habe die Mehrheit der Gymnasien Probleme mit Homophobie. Abfällige Witze seien an der Tagesordnung, sagt Kuc, und manche Schulen würden ihren Schüler*innen verbieten, gleichgeschlechtliche Partner*innen zum Abschlussball mitzubringen. +Seit der ersten Auflage von Kucs Ranking vor zwei Jahren wird die Homphobie in Polen immer offener zur Schau getragen. 2019 machte die rechtsnationale Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS)Wahlkampf mit LGBT-Hetzeund brachte einen Gesetzentwurf mit dem Namen "Stop pedofilii" (Stop Pädophilie) ein. Der soll sexuelle Aufklärung an Schulen unter Strafe stellen – angeblich, um Kinder vor Frühsexualisierung zu schützen. Schon jetzt gehört Sexualkunde nicht unbedingt zum Unterricht.Sollte sie aber, findet Kuc. "Es geht dabei ja nicht nur um Sex, sondern auch um Prävention und die Aufklärung über Krankheiten", sagt er. +Es ist eher unwahrscheinlich, dass Polens Schulen das in nächster Zeit anerkennen. Seit Mitte Oktober ist Przemysław Czarnek von der PiS-Partei Bildungsminister. Statt Sexualkunde will er "Bildung fürs Familienleben" in die Lehrpläne schreiben. Czarnek ist der Meinung, dass Frauen möglichst früh und möglichst viele Kinder gebären sollten und daneben vor allem für das "heimische Kaminfeuer" zu sorgen hätten. LGBT+-Personen sind da nicht vorgesehen: Sie seien normalen Menschen nicht gleichwertig, sagt Czarnek. +Diese offenen Feindseligkeiten stacheln Dominik Kuc eher an.Aus der LGBT-Community erhält er viel Lob für sein Projekt. Auch Warschaus Bürgermeister Rafał Trzaskowski, ein liberaler Gegenspieler der konservativen Regierung, unterstützt ihn. Die polnische Ausgabe des "Forbes"-Magazins zeichnete Kuc für sein Engagement als eine der "25 unter 25" einflussreichsten Personen im Land aus. 2021 möchte Kuc das Ranking gern in ganz Polen durchführen. "Gerade Schulen auf dem Land sind bei dem Thema oft noch weniger sensibel", sagt er. "Wenn ich höre, dass mein Ranking nur einem Teenager hilft, gibt mir das die Motivation weiterzumachen." + +Titelbild: Mikołaj Maluchnik diff --git a/fluter/lgbtiq-in-der-ukraine-unsere-community-waechst.txt b/fluter/lgbtiq-in-der-ukraine-unsere-community-waechst.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e66a130ff4fb5a301f17bb61651dd230681eb0d4 --- /dev/null +++ b/fluter/lgbtiq-in-der-ukraine-unsere-community-waechst.txt @@ -0,0 +1,33 @@ +In der Ukraine machen Rechtsradikale mit sogenannten Safaris Jagd auf Demonstrant*innen von LGBTIQ+, die Polizei schützt sie laut Beobachter*innen nur mäßig und auf dem Event an sich. Davor und danach bleibt es für Besuchende gefährlich: Jedes Jahr kommt es am Rande derPride-Veranstaltungen zu Hassverbrechen, die meist ohne Konsequenzen für die Täter*innen bleiben. +Vernetzt sind die Angreifer*innen vor allem in Telegram-Gruppen. Hier setzen sie Aktivist*innen wie die Ärztin Daryna Dmytriievska auf schwarze Listen, oft inklusive Foto, Adresse und der Aufforderung zu Vergewaltigung oder gar Mord, wie Daryna erzählt. "Davon lasse ich mich nicht beirren", sagt sie. Öffentlichkeit sei eine Form von Schutz und die gesamte LGBTIQ+-Community ihr Schutzschild. Sie organisiert Workshops, um Mediziner*innen mit LGBTIQ+-Themen vertrauter zu machen. +Neben rechtsradikalen Gruppen gelten viele Kirchen als Gegenspielerinnen der LGBTIQ+-Bewegung. "Sie sind ultrakonservativ, politisch einflussreich und in allen Belangen gegen unsere Anliegen", sagt Andrii Kravchuk, Co-Gründer der Organisation Nash Mir. +Aber er sagt auch, in manchen Bevölkerungsgruppen wachse die Unterstützung. Beim letzten Pride March 2019 zum Beispiel hätten 8.000 Menschen teilgenommen. Und jedes Jahr würden es mehr. +Fünf Protagonist*innen aus der LGBTIQ+-Bewegung geben Einblicke in ihr Leben und den Status quo. + +Edward Reese, 35, Projektassistenz bei der NGO KyivPride +Im Januar 2019 verließ ich meinengewalttätigen Partnernach über zwölf Jahren Beziehung und floh nach Kiew. Als ich ging, nahm ich nur Geld und ein paar Sachen, sprang in den Nachtzug und in ein neues Leben. Hier in der Hauptstadt habe ich viele Freunde. Wir nennen uns "Klub der Verlierer", inspiriert von Stephen Kings Roman "Es". Mit ihnen fühle ich mich frei und glücklich. Sie geben mir das Gefühl von Geborgenheit. +Heute kämpfe ich für die Rechte von Nichtbinären, Transmenschen und gegen häusliche Gewalt. Unter anderem mit meinem TikTok-Kanal. Er hat schon 20.000 Follower*innen. Das ist keine große Zahl auf der Plattform, aber eine große Zahl für mich: Der Kanal ist mein persönlicher Ort, an dem ich kleine Lehrvideos zu Queerness, unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen veröffentliche. +Rechtsradikale kommentieren meine Posts mit Morddrohungen. Diese Leute sind eine konstante und ernsthafte Bedrohung: nicht nur bei den Pride-Märschen, sondern auch in unserem täglichen Leben. Die Opfer neigen jedoch dazu, Vorfälle nicht bei der Polizei zu melden, da sie nicht strafrechtlich verfolgt werden. +Ich schätze, dass es noch 10 bis 20 Jahre dauern wird, bis wir in LGBTIQ+-Angelegenheiten EU-Standards erreichen. Und doch bin ich zuversichtlich: Unsere Community wächst und wird stärker. + + +Viktor Pylypenko, 34, Linguist und ehemaliger Soldat, Gründer der NGO LGBT Military +Geboren wurde ich in der Stadt Riwne, im Nordwesten der Ukraine. Als ich zehn Jahre alt war, zogen wir nach Kiew. Die Zeiten in den 80er- und 90er-Jahren, als die Sowjetunion stagnierte und sich schließlich auflöste, waren geprägt von der Nuklearkatastrophe vonTschernobyl. Es war sehr hart, die Menschen litten auf allen Ebenen. Noch heute erinnert sich meine Mutter manchmal daran, dass sie zum Beispiel für uns Kinder keine Milch bekommen konnte. Das Hauptthema zu dieser Zeit war, das Überleben zu sichern. Über Sexualität wurde nicht gesprochen, das Wort "Sex" war verboten. Über Homosexualität machten sich die Leute lustig mit schwulenfeindlichen Sowjet-Anekdoten und Gefängniswitzen. +2009 habe ich mich zum ersten Mal verliebt. Leider war mein Schwarm heterosexuell und lehnte mich ab. Das war sehr hart für mich. Ich bin durch meine BA-Prüfungen gerasselt, habe mich für meine Gefühle verurteilt und eine Art innere Homophobie entwickelt. +Als ich zurArmeekam, entschied ich, mich zu "korrigieren" und die Liebe zum gleichen Geschlecht loszuwerden. Geklappt hat das natürlich nicht. Durch das Militär habe ich aber viel gelernt: unter anderem, wie man in Zeiten von Stress oder innerer Wut ruhig bleibt. Das hat mir geholfen, nicht nur andere zu respektieren, sondern auch mich selbst und meine Gefühle. Nach einem Dienstjahr ging ich zurück zur Universität, schloss meinen Bachelor ab und machte meinen MA. Jetzt studiere ich online 3-D-Modellierung. Den Rest meiner Zeit widme ich meiner Gruppe von LGBTIQ+-Soldat*innen. Eines unserer Ziele ist es, das Recht auf Eheschließung zu erreichen und sichtbar zu machen, wie weit unsere Post-Maidan-Gesellschaft fortgeschritten ist: Die radikal Rechten werden vom überwiegenden Teil der Bevölkerung nicht unterstützt und haben im Gegensatz zu Deutschland keine Sitze im Parlament. + + +Inna Iryskina, 43, IT-Spezialistin und Trans-Programm-Koordinatorin bei der LGBTIQ+-NGO Insight +Schon in der Pubertät wurde mir klar, dass ich kein Junge bin. Aber ich hatte damals kein Wort dafür. In den frühen Neunzigern entdeckte meine Mutter, dass ich heimlich ihre Kleider trug, wenn sie nicht zu Hause war. Sie sagte mir, ich solle damit aufhören. Lange habe ich versucht, nicht darüber nachzudenken, aber meine Gefühle kehrten immer zurück. +Als das Internet kam, war es eine große Befreiung: Im Jahr 2000 entdeckte ich eine Community von Transfrauen* online. Die Gründerin der Gruppe lebte in Kiew. Weil ich mir so viele Gedanken machte über meine Weiblichkeit und wie ich sie leben kann, sagte sie mir später, sie habe schon bei unserem ersten Treffen geahnt, dass ich trans bin. Beziehungsweise: eine Transsexuelle, wie man damals sagte. Ich war mir jedoch selbst noch nicht ganz sicher, da meine Familie mich nicht akzeptiert hatte. Auch nachdem meine Mutter gestorben war, dauerte meine Selbstfindung an. 2006 beschloss ich, mich nicht mehr zu verstecken und meine Transition zu starten. Ich ließ meine Gesichtsbehaarung entfernen und begann mit der Hormontherapie. Die ukrainischen Ärzt*innen waren zu dieser Zeit in der Trans-Gesundheitsfürsorge sehr schlecht qualifiziert. Also habe ich die Hormonbehandlung selbst durchgeführt und mich von einer anderen Transperson beraten lassen. Heute arbeite ich zum Glück mit einem Endokrinologen. +Eineinhalb Jahre nach Beginn der Therapie, am Frauentag, ging ich zum ersten Mal offiziell als mein wahres Ich zur Arbeit. Die Reaktion meines Arbeitgebers und meiner Kolleg*innen war sehr unterstützend. + + +Anna Dovgopol, 39, Gender-Expertin und Gender-Programm-Koordinatorin bei der Heinrich-Böll-Stiftung in der Ukraine +Bis ich 21 war, dachte ich, ich sei hetero. Doch als ich eine Freundin mit ihrer Partnerin beobachtete, spürte ich, dass sich deren Zärtlichkeit auch für mich viel natürlicher anfühlt. In der Ukraine gibt es in der Schule kaum sexuelle Aufklärung. In Kirgistan, wo ich vier Jahre gelebt habe, baute ich zusammen mit anderen Frauen* die Organisation Labrys auf. 2004 waren wir die erste Gruppe, die Lesben und Transmenschen in Zentralasien vertrat. Heute ist sie dort die größte LGBTIQ+-Organisation. +Mein LGBTIQ+-Leben unterscheidet sich nicht von dem anderer: Meine Freundin und ich gehen einkaufen, wir kochen, wir füttern unsere Katze. Es gibt jedoch einen Unterschied in unserem täglichen Leben: Wenn wir in der Öffentlichkeit sind, halten wir normalerweise nicht Händchen. Manche Leute schauen mich wegen meiner Haare komisch an. Selbst im Jahr 2021 ist es nicht üblich, als Frau eine Kurzhaarfrisur zu tragen. In gewisser Weise müssen wir immer auf der Hut sein: zum Beispiel, wenn wir mit Menschen sprechen, die wir noch nicht kennen, und das Gespräch übergeht auf persönlichere Themen wie das Familienleben. Ich selbst wurde zwar noch nie angegriffen, aber man kann das Risikopotenzial in allen Aspekten des Alltags spüren. + + +Liudmyla Yutskevych, 31, Ingenieurin und Programmdirektorin bei Gay Alliance Ukraine +In Smila, wo ich herkomme, dachte ich immer, dass etwas mit mir nicht stimmt. Mit 17 ging ich nach Kiew. Dort fand ich nicht nur gleichgesinnte Freund*innen, sondern entdeckte auch, dass ich genau so richtig bin, wie ich bin. Es interessiert hier niemanden, ob ich meine Haare blau oder rosa färbe und ob ich eine Glitzerjacke trage. Diese gelebte Vielfalt der verschiedenen Menschen schätze ich sehr. +Ich habe eine Weile gebraucht, um zu verstehen, dass ich mich zu Frauen* und Männern gleichermaßen hingezogen fühle. Meine Englischkenntnisse haben mir bei meiner Selbstfindung sehr geholfen, da ich die meisten Informationen über Bisexualität auf nichtukrainischen Websites gelesen habe. In meinem alten Job als Ingenieurin fühlte ich mich ausgebrannt. Ich dem männerdominierten Bereich konnte ich meine Karriere nicht in meinem Sinn gestalten: Mehrmals wurde mir gesagt, dass ich als Frau keine Chance habe, Chefingenieurin zu werden. Seit Februar arbeite ich bei Gay Alliance Ukraine als Programmdirektorin. Das Reisen war ein weiterer Faktor, mich zu öffnen und meine eigene Lebensweise mit anderen zu vergleichen. Der größte Gamechanger für unsere LGBTIQ+-Community wäre Akzeptanz seitens der Gesellschaft. Die Leute müssten nur verstehen, dass es egal ist, wen man liebt: Lasst die Menschen einfach ihr Leben führen. diff --git a/fluter/liberte-naja.txt b/fluter/liberte-naja.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8b0af0f894050e539c96bd5d438666428eddfa84 --- /dev/null +++ b/fluter/liberte-naja.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Statt "Colonies Françaises d'Afrique" heißt CFA jetzt "Coopération Financière en Afrique" beziehungsweise "Communauté Financière d'Afrique", aber im Grunde hat sich nichts geändert. Der CFA-Franc als gemeinsame Währung von 14 Ländern in Afrika war früher an den französischen Franc gekoppelt, heute an den Euro. Die Währungsreserven der afrikanischen CFA-Staaten lagerten früher komplett bei Frankreichs Zentralbank in Paris, heute sind es immer noch 50 Prozent. Die Zentralbanken der beiden CFA-Zonen in West- und Zentralafrika können bis heute ohne den Segen von Paris kein Geld drucken und keine eigene Finanzpolitik betreiben. Frankreich hat es auch vermieden, die Kontrolle darüber an die EU zu delegieren: Frankreichs Afrika-Imperium ist auf europäischer Ebene Privatangelegenheit geblieben. +Viele Afrikaner in den ehemaligen französichen Kolonien sind damit schon längst nicht mehr einverstanden. Vor allem seit es so gut wie unmöglich ist, ein Visum für Frankreich zu bekommen, wenden sich junge Afrikaner von der einstigen Kolonialmacht ab. Das Afrika des 21. Jahrhunderts hat sich mental von Frankreich weitgehend gelöst. Auch wenn staatliche französische TV- und Radiosender noch immer die Hauptquelle der Nachrichten über den Rest der Welt sind, die Flugverbindungen nach Paris oft verlässlicher als die ins Nachbarland und französische Schulbücher und Lehrpläne Vorbild in der Bildung. Immerhin lernen afrikanische Schulkinder nicht mehr, wie früher, dass ihre Vorfahren Gallier waren. diff --git a/fluter/liebe-der-einheit-ost-west-paare.txt b/fluter/liebe-der-einheit-ost-west-paare.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3010c412485dcfee16638010fe8d8cab555b5553 --- /dev/null +++ b/fluter/liebe-der-einheit-ost-west-paare.txt @@ -0,0 +1,42 @@ +Dominik: Mein Großvater väterlicherseits kommt ursprünglich aus Sachsen, aber meine Eltern haben darüber nie geredet. Als ich Caro kennengelernt habe, wurde ich das erste Mal mit den extremen Vorurteilen meiner Eltern konfrontiert: "Die Leute im Osten sind alle dumm und ungebildet, die hatten ein indoktriniertes Schulsystem" oder "Die sind alle nicht familiär, weil die Mutter nicht zu Hause ist, um sich um die Kinder zu kümmern". Dass war dann auch das Erste, was mir aufgefallen ist, als ich bei Caros Eltern zu Besuch war: dass ihre Mutter arbeiten ging. Das kannte ich vorher nicht. +Carolin: Ja, bei mir waren beide Eltern im Schichtbetrieb. Ich hatte anfangs immer das Gefühl, dass Dominik sehr unselbstständig war, und habe das auch darauf geschoben, dass seine Mutti immer zu Hause war. +Dominik: Du warst damals schon zu 150 Prozent selbstständig. Davon war ich sogar ein bisschen eingeschüchtert. Von deinen Eltern hast du auch diese bodenständige Denk- und Lebensweise. +Carolin: Ja, das ist etwas, was ich an mir sehr ostdeutsch finde: meinen Pragmatismus. Ich rede nicht lange über Sachen, sondern mache einfach. Was aber auch auf einem Vorurteil basiert: Meine Eltern haben oft gesagt, dass "die Wessis immer nur reden" und dass sie das 13. Schuljahr dafür haben, um besserschauspielernzu lernen. So dumme Witze halt, die man als Kind gehört hat und die sich im Gedächtnis eingebrannt haben. +fluter.de: Wie hat euer Umfeld auf eure Beziehung reagiert? +Carolin: Meine Eltern waren, glaube ich, relativ froh, als ich mit Dominik zusammenkam, weil ich vorher mit zwei sächsischen Jungs zusammen war, die beide eher aus dem Bildungsbürgertum kamen. Dominik kommt wie ich auseiner Arbeiterfamilie.Ich glaube, das war ihnen näher. + +Weiche Gefühle, harte Fakten:Der Soziologe Daniel Loishat zu Ost-West-Paaren geforscht +Dominik: Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich meiner damals besten Freundin erzählt habe: "Ich bin jetzt mit einer aus Dresden zusammen" und ihre erste Reaktion war: "Die ist aber hoffentlich keinNazi!" Meine Kollegen oder Mitschüler an der Berufsschule machen da auch heute manchmal noch dumme Witze drüber. Da herrscht immer noch Schubladendenken. + +Ihr habt erst gemeinsam im Osten gewohnt, jetzt gemeinsam im Westen. Welche Unterschiede sind euch aufgefallen? +Dominik: Ich war anfangs massiv irritiert, wie wenig Menschen ich in Dresden gesehen habe, die dem Aussehen nach vielleicht einer anderen Kultur angehören. In Mülheim an der Ruhr bin ich mit vielen Kindern aufgewachsen, die aus türkischen Gastarbeiterfamilien kamen, aus Russland,Kasachstan, dem ehemaligen Jugoslawien. +Carolin: Die Entscheidung, wieder aus Dresden wegzuziehen, war zum Teil … na ja, "politisch bedingt" ist zu viel gesagt, aber es war eben genau zu der Zeit,als Pegida sehr stark war. Ich war damals in der linken Szene unterwegs, und da herrschte die Meinung, dass man diesen Leuten die Stadt überlässt, wenn man wegzieht. Es war schwer für mich, einen Umgang damit zu finden. Ich habe auch immer noch den Impuls, den Osten verteidigen zu wollen, gerade wenn es umdie ganze Neonazi-Sachegeht. Ich kenne einfach sehr viele Leute, die vor Ort viele gute Sachen machen. Denen gegenüber ist das Schimpfen auf den Osten sehr unfair – aber andererseits sehe ich auch, dass viele Vorurteile nicht unbegründet sind … + +Wollt ihr in Zukunft eher im Westen oder im Osten leben? +Carolin: Wir überlegen gerade, welche Regionen wir uns noch angucken wollen, bevor wir uns irgendwann permanent niederlassen. Ich finde es schön, dass wir beide kein "festes Nest" haben, in das wir unbedingt zurückwollen, und dass ich mit jemandem zusammen bin, der nicht aus derselben Region kommt wie ich. +Dominik: Ja, dadurch sind wir sehr flexibel. Und ich attestiere es ein bisschen dem Osten und der Entscheidung, zu Caro gezogen zu sein, dass ich mich so entwickelt habe, wie ich mich entwickelt habe. + +******************************************************************************************** + +Anna-Lena Hoffmann, 32, Juristin aus der Nähe von Koblenz (RLP), und Hannes Fromm, 29, Industriedesigner aus der Nähe von Chemnitz (Sachsen), sind seit fünf Jahren ein Paar. Sie kennen sich aus Halle/Saale, wo sie beide studiert haben, und leben heute gemeinsam in Aachen. +Hannes: Ich weiß nicht, was an mirtypisch "ostdeutsch"sein soll. Ich denke nicht in solchen Kategorien, für mich war das also auch kein Thema, als ich Lena kennengelernt habe. Aber ich glaube, bei einigen unserer Freunde ist das anders. Wenn ich erzählt habe, woher meine Freundin kommt, haben ein paar gesagt: "Ah, aus dem Westen!" +Anna-Lena: Manche haben auch mit Unverständnis darauf reagiert, als wir "in den Westen" gezogen sind. Andersrum war es für manche meiner Verwandten ein größeres Ding, als ich nach der Schule nach Halle gezogen bin. Und an der Jura-Fakultät in Halle waren dann auch kaum Leute aus den alten Bundesländern, das war schon etwas Besonderes. +Hannes: Ich fand es schon immer normal, dass jemand für den Job oder das Studium woanders hinzieht. Die Mobilität in meiner Familie ist größer als in deiner. Wir sind überall verteilt. +Anna-Lena: Ja, ich glaube, das ist auch ein regionaler und historischer Unterschied. Bei uns fehlt diese Mobilität, weil es nicht notwendig war: Es war immer eine Selbstverständlichkeit, dass man im Umkreis von maximal einer Stunde Arbeit findet. + +Wenn ihr euer Aufwachsen vergleicht: Seht ihr Unterschiede, die mit "Ost" und "West" zu tun haben? +Anna-Lena: Ja, Hannes' Mutter hat mit Kind studiert. +Hannes: Wir haben damals in einem Mutter-Kind-Internat gewohnt, und später war ich immer lange im Kindergarten, weil meine Mutter gearbeitet hat. Das war ganz normal. Als meine Mutter noch mal geheiratet und zwei Kinder bekommen hat, hat sich das ein bisschen geändert, da war sie mehr zu Hause. Aber sie hat dann irgendwann wieder angefangen,Teilzeit zu arbeiten. +Anna-Lena: Meine Mutter hat auch immer gearbeitet. Aber mit einer berufstätigen Mutter war ich in meinem "westdeutschen" Freundeskreis eher die Ausnahme. +Du, Anna-Lena, warst auf einem katholischen Gymnasium, während Hannes konfessionslos ist – findet ihr das typisch? +Anna-Lena: Ja, als Hannes zum Beispiel zu Hochzeiten oder zu einer Kommunion mit in Gottesdienste musste, war das schon ein größeres Thema. +Hannes: Es ist jetzt nicht so, dass ich vorher noch nie was von Religion gehört habe und nie in der Kirche war aber die Kinderkommunion hat mich schon geschockt. Dass die Kleinen da gefragt werden: "Entsagt ihr dem Teufel?" und sie antworten: "Ja, wir entsagen dem Teufel." +Habt ihr durch eure unterschiedliche Herkunft irgendwas Bestimmtes voneinander gelernt? +Anna-Lena: Wenn ich darüber nachdenken würde, würde ich bloß anfangen, Klischees auf Hannes zu übertragen. +Hannes:Ich glaube, dass Ossis von Haus aus ein bisschen erfinderischer sind.Die basteln sich einfach irgendwas. +Anna-Lena:(lacht)Stimmt, das ist ein krasses Grundvertrauen, das ich in dich habe. Dass du einfach immer Probleme lösen kannst, weil du so praktisch veranlagt bist. +Hannes: Master of Improvisation. +Anna-Lena: Ich habe neulich übrigens gelesen, dass zum 20-jährigen Einheitsjubiläum hundert Ost-West-Paare von Wolfgang Tiefensee(SPD, damals Beauftragter für die neuen Bundesländer und Bundesverkehrsminister, Anm. d. Red.)nach Berlin eingeladen wurden. Er hat gesagt, dass sie einVorbild für das zusammenwachsende Deutschlandseien. Diese großen Worte fand ich irgendwie lustig. Natürlich ist mir bewusst, dass wir ohne die Wiedervereinigung keine Beziehung führen würden, und klar sind wir ein Ost-West-Paar, aber … +Hannes: … wir sind vor allem Menschen, die sich gerne mögen. + + diff --git a/fluter/liebe-popmusik-songtexte.txt b/fluter/liebe-popmusik-songtexte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/liebe-zwischen-ost-west-soziologie.txt b/fluter/liebe-zwischen-ost-west-soziologie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..217b2bb4532622211ce0dde9627f56cf420a923b --- /dev/null +++ b/fluter/liebe-zwischen-ost-west-soziologie.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Und wie sieht Lois' Forschung im Alltag aus?Wir haben Ost-West-Paare gefragt +Wie erklären Sie sich das? +In der ersten Phase nach der Wende sind vor allem ostdeutsche Frauen in die alten Bundesländer emigriert, weil es dort bessere Jobchancen gab. Dadurch haben wir ja bis heutein den neuen Bundesländern einen Männerüberschuss. Ansonsten kann es natürlich auch sein, dass Präferenzen in der Partnerwahl eine Rolle spielen und manche Konstellationen begünstigen. Dazu gibt es aber bisher keine Studien. +Ihre Studie besagt, dass Ost-West-Paare, die im Westen leben, eher heiraten als die, die im Osten leben. Warum? +Die kindorientierte Eheschließung ist in den alten Bundesländern stärker verbreitet, in den neuen Bundesländern gibt es traditionell mehr nicht-eheliche Geburten. Wenn der westdeutsche Partner dieses Muster im Kopf hat, wird er vielleicht darauf hinwirken, dass man heiratet. Und wenn das Paar im Westen lebt, kommt womöglich eine größere Erwartungshaltung im sozialen Umfeld dazu, weil die Freunde ebenfalls heiraten. +Einer der größten Unterschiede zwischen den Partnern ist das Verhältnis zu Religion und Glaube. +Ja, das war zu erwarten, weil es in der DDR ja eine Art erzwungene Säkularisierung gab. Aber schon vor der Entstehung der DDR war der Nordosten eher protestantisch oder konfessionslos, der Südwesten eher katholisch. Religiösität ist außerdem ein Merkmal, das träge ist. Wenn jemand mit einem Partner zusammenlebt, der eine andere Religion hat, kann es zwar sein,dass er irgendwann konvertiert,aber das kommt relativ selten vor. + + +Auch Geschlechterollen unterscheiden sich. Was haben Sie da herausgefunden? +Das typische West-West-Paar ist am "traditionellsten": Das sogenannte "Hinzuverdienerpaar" ist relativ häufig,bei dem der Mann Vollzeit arbeitet und die Frau Teilzeit. Vergleicht man das mit den Ost-West-Paaren, sieht man, dass sie, wenn sie die in den alten Bundesländern leben, egalitärer sind als West-West-Paare – und wenn sie in den neuen Bundesländern leben, noch mehr. +Warum? +Zum einen wirkt die DDR-Familien- und Arbeitsmarktpolitik noch nach, bei der die erwerbstätige Mutter im Mittelpunkt stand und das Arbeiten mit Kind gefördert wurde. Die ostdeutsch sozialisierte Frau hat das also so gelernt, und es wurde auch nach der Wiedervereinigung noch häufig weitergegeben. Dass die Ost-West-Paare im Osten egalitärer sind als die im Westen, hat sicherlich auch damit zu tun, dass die Kinderbetreuungsmöglichkeiten in den neuen Bundesländern besser sind. +Sie haben auch die Arbeitsteilung im privaten Bereich untersucht. +Die außerhäusliche Arbeitsteilung ist natürlich beeinflusst von infrastrukturellen Elementen wie Kitas und gibt nicht so richtig Auskunft über die Präferenzen der Personen. Die Idee war also, mal zu schauen, wer sich wie stark an Dingen wie Aufräumen, Abwaschen und Kinderbetreuung beteiligt –und zwar auch am Wochenende, an dem man die Erwerbstätigkeit ausblenden kann. + + +Daniel Lois veröffentlichte zwei Untersuchungen zu Ost-West-Paaren. Für die erste wurden zwischen 1990 und 2009 insgesamt 16.396 Paare (zwischen 17 und 95 Jahren) befragt – 974 davon waren Ost-West-Paare. Eine Folgestudie wurde zwischen 2008 und 2013 an 9.098 Paaren (zwischen 16 und 42 Jahren) erhoben, davon 838 Ost-West-Konstellationen. +Was haben Sie herausgefunden? +Das rein ostdeutsche Paar ist egalitärer als andere Konstellationen, weil ostdeutsche Männer statistisch gesehen etwas mehr im Haushalt machen als westdeutsche. Die Ost-West-Paare untereinander haben sich nicht signifikant unterschieden. Wir haben die Paare auch verschiedene Aussagen bewerten lassen, zum Beispiel "Frauen sollten sich stärker um die Familie kümmern als um ihre Karriere" oder "Ein Kind unter sechs Jahren wird darunter leiden, wenn seine Mutter arbeitet". Wieder kam heraus, dass Westpaare am traditionellsten sind, die Ostpaare am liberalsten und dass die Ost-West-Paare dazwischenliegen. +In den alten Bundesländern leben sie dadurch Trends vor, die wir dort auch gesamtgesellschaftlich immer stärker sehen: geringere Heiratsneigung und egalitärere Ausrichtung zwischen Mann und Frau. Man muss dabei aber auch bedenken, dass die Ost-West-Paare keinen Querschnitt der Bevölkerung bilden: Ihre Beziehungen setzen Binnenmigration voraus, und Binnenmigranten sind in der Regel hochgebildete Personen, vor allem die Frauen haben eine höhere Berufs- und Erwerbsorientierung als der Durchschnitt. Ost-West-Paare sind also insgesamt relativ modern. +Was glauben Sie, wie stark diese Ost-West-Effekte in Zukunft noch wirken werden? +Ich denke, dass sich die Unterschiede zwischen den alten und neuen Bundesländern auch in nächster Zeit nicht vollständig nivellieren. Sie werden vielleicht kleiner – aber gewisse Werte und Normen bleiben über längere Zeit stabil und werden weitergegeben, auch wenn sich äußerliche Rahmenbedingungen angleichen. Hinzu kommt, dass es ja auch strukturell keine vollständige Ost-West-Angleichung gibt,zum Beispiel ist die Einkommenssituation im Osten immer noch schlechter. Im ökonomischen Bereich gibt es einen weiteren wichtigen Faktor, der lange wirkt:Erbschaften. Da ist das Niveau in den alten Bundesländern viel höher als in den "neuen", weil im Westen über Jahrzehnte Wohlstand angesammelt werden konnte, während dieser Prozess in der DDR unterbrochen wurde. Hinzu kommt, dass die politische Situation im Osten wie im Westen gerade sehr polarisierend ist – es können also jederzeit neue Konfliktlinien entstehen. + +Prof. Dr. phil. habil. Daniel Lois, 41, ist Soziologe an der Universität der Bundeswehr in München. Auch außerhalb der Uni beschäftigt er sich eingehend mit Ost-West-Paaren: Lois kommt aus der Nähe von Aachen, seine Frau aus Chemnitz. + diff --git a/fluter/lieber-kunde-als-niete.txt b/fluter/lieber-kunde-als-niete.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..54397b3ea83029e8602ae11283e976d0295596c0 --- /dev/null +++ b/fluter/lieber-kunde-als-niete.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Aber bei der sozialistischen Mode gab es, wie auch bei den Fünfjahresplänen der Staatswirtschaft, große Unterschiede zwischen Theorie und Praxis. Auch in der DDR war Kleidung nicht nur dazu da, sich im Winter möglichst dick und im Sommer möglichst luftig zu kleiden. Mit Hosen, Jacken, Hemden, Kleidern, Schuhen und Taschen konnte man sich nicht nur ein individuelleres Äußeres geben. Man konnte, zum Beispiel mit Klamotten aus dem Westen oder Selbstgeschneidertem, geradezu ein modisches Bekenntnis ablegen – gegen den Staat und seine Mode von der Stange. +Als ich 14 Jahre alt war, musste ich mir überlegen, was ich zu meiner Jugendweihe tragen wollte. Bei der Jugendweihe gaben Jugendliche ein Gelöbnis auf die Verteidigung des Sozialismus ab und wurden in die Reihen der Erwachsenen aufgenommen. Und da wollte ich, bis auf die Schuhe, keinesfalls was aus einem "Centrum Warenhaus" tragen. +Was tun? Meine Mutter wusste mit ihrer alten Singer-Nähmaschine mit Fußpedal ganz wunderbar umzugehen. Klar, dass Mutti mir einen blauen Rock nähen würde, der zu der blau-weiß bestickten ungarischen Folklorebluse passte, die ich bereits ausgewählt hatte. Das Wichtigste an dieser Kombination war der blau-weiße Kreuzstich, mit dem ich die Taschen des Rockes verzierte, auch den Gürtel bestickte ich blau-weiß. Als meine Klasse schließlich Aufstellung für ein Gruppenfoto nahm, kam ich mir inmitten all der Warenhaus-Einheitskleidung sehr individuell vor mit meinem braven Kreuzstich. +Selbst ein Blueser braucht mal eine Pause. Hauptsache, die Levis sitzt +Kurze Zeit später entdeckte ichdie Szene der "Kunden" oder "Blueser". So wurden junge, meist langhaarige Männer und Frauen genannt, die zu Blueskonzerten fuhren und sich speziell kleideten. Besonders wichtig war es, an eine original Levi's-Jeans zu kommen, die das Nonplusultra darstellte. Dagegen kamen die Nietenhosen, die in der DDR hergestellt wurden und die "Wisent" oder "Boxer" hießen, gar nicht in Frage. Zum Glück hatte ich eine Tante, die von ihrer Westverwandtschaft regelmäßig Klamotten geschickt bekam und mir meine erste Levi's schenkte. +Dazu trug ich sogenannte Tramper oder Klettis, Wanderschuhe aus braunem Wildleder, die oftmals nur zu haben waren, wenn man Beziehungen hatte. Im Sommer wurden die Treter abgelöst von Jesuslatschen, auch "Römersandalen" genannt. Für diese schlichten flachen Riemensandalen brauchte man ebenfalls Vitamin B. Zu diesem Outfit wurden gern blaue Fleischerhemden mit weiß-grauen Streifen getragen, wobei ich nicht weiß, warum gerade diese Arbeitskleidung so beliebt war. +Weil es in meiner Familie keinen Fleischer gab, half mir Mutti auch hier. Sie machte ein blau-weiß gestreiftes Oberhemd meines Vaters etwas enger und arbeitete den Hemd- in einen Stehkragen um, sodass es einem Fleischerhemd nahekam. Über den Schultern der "Kunden" hingen übrigens meist selbst gemachte Umhängetaschen, die früher einmal Sofakissen oder Wandgobelins gewesen waren – vorzugsweise mit einem röhrenden Hirsch als Motiv. +Miniröcke wider die sozialistische Moral +Mit 17, 18 Jahren fand ich dann auch alte Nachthemden aus Omas Zeiten sehr gut geeignet, um mich vom Einheits-Chic abzuheben. Mutti schneiderte ein altes Nachthemd um – das heißt, sie kürzte es auf mein Drängen so stark, dass es den Namen Minikleid verdient hatte. Zum Einsatz kamen auch violette Färbetabletten. Ich kann mich noch lebhaft daran erinnern, als ich das Nachthemd-Kleid zum ersten Mal in der Öffentlichkeit trug. Da war ich gerade aus dem Dorf in Sachsen, in dem ich aufgewachsen bin, nach Leipzig gezogen. Vor dem Studium arbeitete ich für ein Jahr in der Personalabteilung der Karl-Marx-Universität. Da gab es einmal in der Woche Publikumsverkehr, und genau an so einem Publikumstag trug ich das ultrakurze Kleid. Ich wollte ja, dass das Teil von möglichst vielen Mitbürgern wahrgenommen wurde. +Meine Arbeitskollegen waren nicht nur bedeutend älter als ich, sondern auch treue Mitglieder der Partei, auch meine Chefin war eine vollüberzeugte 150-Prozentige. So ließ der Protest nicht lange auf sich warten. Wenige Minuten nachdem mich die Chefin auf dem Flur gesehen hatte, zitierte sie mich in ihr Büro. Sie hielt mir einen Vortrag über sozialistische Moral und schickte mich mit dem Auftrag nach Hause, mich sofort umzuziehen. Der Aufforderung kam ich nur widerwillig nach. Aber die Genugtuung, die ich in der kurzen Zeit des Minikleid-Tragens empfunden hatte, war die Standpauke allemal wert gewesen. +Barbara Bollwahn, Jahrgang 1964, trägt am liebsten Schürzen, Kleider und Mäntel aus den 1950er-, 1960er- und manchmal auch 1970er-Jahren. Ob sie aus dem Osten oder Westen sind, ist egal. Hauptsache: Baumwolle. +In der Ausstellung"Alltag Einheit. Porträt einer Übergangsgesellschaft"im Deutschen Historischen Museum in Berlin erzählt sie in einem Zeitzeugen-Video davon, wie sie nach dem Ende der DDR im Westen einen neuen Beruf fand. Barbara Bollwahn hat zudem für den Katalog der Ausstellung einen Text geschrieben – und darin spielt auch Mode eine Rolle. Denn in der Wendezeit liebäugelte Bollwahn, nach Jobs für ein Weingeschäft und eine Arzneimittelfirma, auch mit dem Gedanken, "Model für Katalogmode" zu werden. Dazu ließ sie professionelle Fotos bei einem Fotografen machen: +"Ich posierte im romantischen Kleid mit Strohhut, im Hosenrock und flotter Matrosenbluse, die meine Schwester, eine Damenmaßschneiderin, genäht hatte, in Sportkleidung und in Sachen, die ich mir als Businesskleidung im Westen vorstellte. Nach einer Weile servierte der Fotograf Sekt – und Kleidungsstücke aus seinem Fundus. Er bat mich, einen roten Body und irrsinnig hochhackige knallrote Schuhe anzuziehen. Und obwohl der Body viel zu kurz und die Schuhe viel zu klein waren, zwängte ich mich tatsächlich hinein. Meine Versuche, lasziv in die Kamera zu schauen, schlugen grandios fehl." +Einige Bilder der Session sind auch im Ausstellungskatalog zu sehen. Die Fotos mit dem roten Body allerdings, so Bollwahn, blieben "in meiner ganz persönlichen Wiedervereinigungsschachtel". diff --git a/fluter/lieber-thomas-brasch-film-rezension.txt b/fluter/lieber-thomas-brasch-film-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f596bc98f3b08c10a6151ca7a39ca9a38187334d --- /dev/null +++ b/fluter/lieber-thomas-brasch-film-rezension.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Brasch, geboren 1945, war Sohn jüdischer Emigranten, die vor dem Nationalsozialismus nach England fliehen mussten und nach dem Zweiten Weltkrieg in die DDR übersiedelten. Braschs Vater Horst, ein überzeugter Sozialist, machte Karrierein der SED-, der Staatspartei der DDR, aber der Sohn Thomas wollte so gar nicht ins System passen. Er hasste das Militärinternat der Nationalen Volksarmee, auf das man ihn schickte, wurde von zwei Studiengängen ausgeschlossen, kam wegen einer Protestaktion gegen denEinmarsch sowjetischer Truppen in Prag 1968ins Gefängnis (verraten vom eigenen Vater), schrieb unliebsame Texte, von denen in der DDR kaum welche gedruckt werden durften, und reiste schließlich 1976 nach Westdeutschland aus, wo er zwar die Freiheit hatte, zu veröffentlichen, was er wollte, die Auswüchse des Kapitalismus aber als eine andere Form der Unfreiheit wahrnahm. +"Lieber Thomas" erzählt all diese Lebensstationen, als Künstlerbiografie setzt der Film sich aber auch mit Braschs Kunst auseinander. Regisseur Andreas Kleinert hat den Film in Kapitel eingeteilt, die jeweils nach einer Strophe von Braschs wohl bekanntestem Gedicht benannt sind: "Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber/wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber/die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber/die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber/wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber/wo ich sterbe, da will ich nicht hin:/Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin". Auch sonst tut Kleinert einiges, um Brüche zu erzeugen und zu verfremden: "Lieber Thomas" ist in Schwarz-Weiß gedreht, zwischen die Spielfilmszenen mischen sich kurze Schnipsel historischer Aufnahmen, und immer wieder kippt das Reale ins Fantastische. Zum Beispiel, wenn Brasch plötzlich zwei junge Frauen auf deren Wunsch hin erschießt, ein Gedankenspiel, wie sich herausstellt, mit dem Brasch sich in den "Mädchenmörder" Karl Brunke hineinversetzt, über den er schreibt. +Diese auf den ersten Blick sperrige Form fühlt sich bald ganz natürlich an, passend zu der sperrigen Figur, die der Film porträtiert. Was an "Lieber Thomas" aber nachhaltig stört, sind die hölzernen Dialoge, gerade in der ersten Filmhälfte, wenn Brasch alsjugendlicher Rebelldargestellt werden soll, der Autoritäten gegen sich aufbringt und ansonsten eine gefühlte Ewigkeit durch die Betten der Ostberlinerinnen vagabundiert. Einmal hält eine Geliebte doch allen Ernstes mitten im Sex inne und fragt Brasch, ob er vom Schreiben leben kann, worauf der erwidert, er könne nicht ohne Schreiben leben. Zum Glück spielt Albrecht Schuch den Brasch so wach und verletzlich, dass auch solche Floskeln erträglich werden. Und als irgendwann Jella Haase in der Rolle der Schauspielerin und Brasch-Lebenspartnerin Katharina Thalbach dazukommt – endlich eine eigenständige, interessante Frauenfigur –, erwacht der Film endgültig zum Leben. + + + +Mit Thalbach wird Brasch in den Westen gehen, obwohl er viel lieber in der DDR geblieben wäre. Schließlich glaubt er wie sein Vater an die Idee einer sozialistischen Gesellschaft, nur soll die anders aussehen als das repressive System der DDR. Von solchen Zerrissenheiten erzählt "Lieber Thomas" sehr gut. Der Vater Horst zum Beispiel wird nicht als Bösewicht dargestellt: Indem er seinen Sohn verrät, will er vor allem verhindern, dass der Rest der Familie in Sippenhaft gerät. Und er glaubt nach der Verfolgung im Nationalsozialismus so sehr an die Utopie einer gerechteren Welt, dass er die Ungerechtigkeiten in der Gegenwart, die sein Sohn anprangert, ausblendet – was sein soll, ist wichtiger als das, was ist. +"Lieber Thomas" ist ein Film darüber, wie die Zwänge der deutsch-deutschen Nachkriegsordnung Biografien geformt haben. Im Westen fühlt Brasch sich nicht befreit, sondern in die Rolle des Dissidenten gedrängt, die von Verlegern und Journalisten zu Geld gemacht werden soll, ohne dass sich irgendwer wirklich für seine Kunst zu interessieren scheint. "Jetzt sind wir mit dem Kopf durch die Wand", sagt Katharina, als die beiden, gerade aus Ostberlin ausgereist, über die hell erleuchtete Westberliner Einkaufsmeile Ku'damm gehen. "Und stehen in der Nachbarzelle", ergänzt Brasch. Wenn "Lieber Thomas" bei allen Uneindeutigkeiten, von denen er erzählt, etwas eindeutig zeigt, dann das: wie unterschiedlich unglücklich man in den beiden deutschen Staaten sein konnte – und wie Menschen gegen dieses Unglück angekämpft haben. + +"Lieber Thomas" läuft seit dem 11. November im Kino. + +Titelbild: Zeitsprung Pictures / Wild Bunch Germany (Foto: Peter Hartwig) diff --git a/fluter/lieferengpaesse-corona-gruende.txt b/fluter/lieferengpaesse-corona-gruende.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cacec519060b6f402c2c122d3b1da1cf678864dd --- /dev/null +++ b/fluter/lieferengpaesse-corona-gruende.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Ein Phänomen, das man sonst vor allem von neuen Supreme-Kollektionen kennt, ist jetzt auch in der Konsolenwelt real: die "Drops", also der Verkaufsstart einer Ware, die dann rasend schnell wieder ausverkauft ist. Die Playstation 5 ist so begehrt, dass man auf neue Kontingente in Onlineversand und Elektrofachmärkten warten muss. Dabei ist die Sony-Konsole schon im November 2020 erschienen. +Die Produktion stockt, weil es an Halbleitern mangelt, also Mikrochips, die in allen Smartphones, neueren Autos oder eben Spielekonsolen stecken. Sie sind knapp, weil die Nachfrage nach Elektrogeräten durch Homeoffice und Lockdowns immens gestiegen ist. Und weil Chips überwiegend in Asien hergestellt werden, zum Beispiel in Taiwan, wo mit TSMC der weltgrößte Chiphersteller ansässig ist. Wie viele andere musste auch TSMC in der Corona-Pandemie immer wieder Produktionsstätten schließen. Sony hat daraus jetzt seine Lehren gezogen: Der japanische Konzern baut zusammen mit TSMC ein Chipwerk in Japan. So will sich Sony auf dem Halbleitermarkt selbst versorgen. Schon 2024 soll die Fabrik anlaufen – auch weil die japanische Regierung das Projekt großzügig fördert. Neben 1.500 Arbeitsplätzen sollen laut Medienberichten "Japan first"-Klauseln zugesichert worden sein: Werden Chips eines Tages wieder knapp, würden japanische Kunden zuerst beliefert. + + +Schlechte Nachrichten für Sneakerheads – und alle anderen, die sich gerade gern mit einem neuen Paar Turnschuhe namhafter Hersteller ausstatten würden. Sowohl der Onlinehandel als auch niedergelassene Schuhgeschäfte haben momentan Probleme, ihre Lager zu füllen. Schuld ist die Delta-Variante desCoronavirus, die in Asien schon im Frühjahr aufkam. Im Sommer explodierten in vielen Ländern die Infektionszahlen, sogar in Vietnam, das dank strikter Maßnahmen lange als Vorzeigeland in der Pandemiebekämpfung galt. Große Fabriken mussten wochenlang schließen, darunter auch die, die für die großen Sportartikelhersteller produzieren. Von denen gibt es viele in Vietnam: Das Land gehört neben Indonesien und China zu den führenden Produktionsstandorten der Sportschuhindustrie. So berichtet etwa Adidas auf fluter-Nachfrage über "erhebliche coronabedingte Einschränkungen" nicht nur in der Produktion, sondern auch beim Transport wegen vieler geschlossener Häfen. "Wir arbeiten daran, die Auswirkungen abzumildern." Beispielsweise indem Adidas zeitweilig in anderen Ländern produzieren lässt und die Produktion in Vietnam schrittweise wieder hochfährt. + + + +Papier ist knapp. Auch imPapierproduktionsland Deutschland. Schon im Herbst berichteten Verlage, dass ihren Druckereien der Vorrat ausgehe. Im Weihnachtsgeschäft, der Hochsaison in der Buchbranche, waren einige Titel dann vergriffen oder nur mit wochenlangen Wartezeiten zu bekommen. +Das hat mehrere Gründe: Zunächst haben vor allem zu Pandemiebeginn viele Unternehmen aus Kostengründen darauf verzichtet, Werbeanzeigen in Zeitungen zu schalten. Die Zeitungen wurden also dünner. Weil dazu viel weniger Flyer, Plakate und Kataloge gedruckt wurden, sank die Menge an Altpapier. Das wiederum ist der wichtigste Rohstoff für die Produktion von sogenanntem grafischem Altpapier, das vor allem zum Bedrucken hergestellt wird. Zum anderen haben die Papiermühlen sofort reagiert, als der Abverkauf stockte. Wer brauchte nun, ungetrübt von den Corona-Lockdowns, immer noch Papier?Die großen Versandhändler wie Zalando und Amazon. Also wurden die Maschinen auf Packpapier, Wellpappe und Karton für den riesigen Bedarf im E-Commerce umgestellt. +Weil nicht nur das Altpapier knapper und teurer ist, sondern auch die Energiekosten bei der Produktion gestiegen sind, warnt der Papiergroßhandel: Wann und wie viel Nachschub kommt, sei unklar. Damit lückenhafte Regale nicht normal werden, rechnen Branchenverbände damit, dass die Verlage Bücher und Druckerzeugnisse jetzt auch für Kunden teurer machen müssen. + + +Nudeln schmecken, sind schnell zubereitet und billig. So billig, dass vielen Verbrauchern gar nicht auffallen dürfte, wenn sie teurer sind. Genau das wird bald passieren: Die Preise für Hartweizen, der Hauptzutat der meisten westlichen Nudelsorten, sind geradezu explodiert. Am Großmarkt in Bologna kostete eine Tonne Hartweizen im November 2020 durchschnittlich 280 Euro, ein Jahr später lag der Preis bei 540 Euro. Das liegt daran, dass mit Kanada das wichtigste Exportland für Hartweizen von der schwersten Dürre seit Jahrzehnten betroffen war. Die Ernte fiel 2021 entsprechend mickrig aus. In deutschen Supermärkten ist das laut deutschem Verband der Getreide-, Mühlen- und Stärkewirtschaft (VGMS) noch nicht zu merken, weil viele Nudelhersteller langfristige Verträge mit den Mühlen abschließen. So können sie ihnen über mehrere Monate das Getreide zu einem gesicherten Preis abnehmen. Der Verband warnt allerdings, dass die Mühlen die Preisausschläge bald nicht mehr auffangen können. Dann wird die Dürre in Kanada mit einem halben Jahr Verspätung auch hier zu spüren sein. + + +Wer heute ein Regal, einen Tisch oder sogar eine Küche kauft, wartet selten auf eine Lieferung, sondern packt das Mobiliar im Zweifel direkt in den Kofferraum. Aber auch hier hat die Pandemie für eine enorme Nachfrage gesorgt – und das Angebot verknappt. "Wir beobachten, dass unsere Kunden seit Beginn der Pandemie ein gesteigertes Interesse an der Neueinrichtung und Umgestaltung ihres Zuhauses haben", erklärt zum Beispiel eine Ikea-Sprecherin auf fluter-Anfrage. Anfangs seien vor allem Möbel für dasHomeofficeund Garten oder Balkon nachgefragt worden. +Weiterlesen +Welche Möbel wir kaufen, spiegelt immer auch den Zeitgeist.Eine kleine Einrichtungskunde +Dieser Bedarf setzt die weltweiten Lieferketten unter Druck: Nachdem in China einzelne Hafenterminals wegen Corona-Fällen geschlossen wurden, gab es im Sommer 2021 gigantische Schiffsstaus vor den Hafengewässern. Die Preise für Frachtcontainer explodierten. Der Rückstau löst sich langsam, ist aber immer noch spürbar: Es fehlen Komponenten. +Was genau, ändert sich ständig. Lange gab es beispielsweise kaum pneumatische Federn, die in Drehstühlen oder manchen Küchenschränken verbaut werden. Der Verband der Deutschen Möbelindustrie (VDM) berichtet außerdem von mangelnden Komponenten wie Polsterschaum oder Holzwerkstoffen. +Letztere sind wegen des weltweiten Bau- und Umbaubooms in der Pandemie knapp. Ebenso wie Bauholz. Das kam bisher zu einem großen Teil aus Kanada, konnte aber wegen der Dürre, vieler Waldbrände und einer Borkenkäferplage nicht im gewohnten Maß exportiert werden. Die USA, einer der größten Abnehmer kanadischen Holzes, kaufen daher aktuell auch in Deutschland ein – und sorgen mit dafür, dass hierzulande das Holz knapp und teuer wird. Wann sich die Lage bessert, vermag in der Möbelbranche niemand zu sagen. Ikea rät seinen Kunden jedenfalls, die Verfügbarkeit der Produkte rechtzeitig zu prüfen. Und im Zweifel alte Möbel umzurüsten. + +GIFs: Renke Brandt diff --git a/fluter/lieferkettengesetz-beispiel-kaffee.txt b/fluter/lieferkettengesetz-beispiel-kaffee.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e40cff72e9ac3092e96532d6535f9b74b5566aec --- /dev/null +++ b/fluter/lieferkettengesetz-beispiel-kaffee.txt @@ -0,0 +1,39 @@ +Anfang Juni hat der Bundestag dem Lieferkettengesetz zugestimmt, ab 2023 sind damit rund 600 große Unternehmen (mehr als 3.000 Mitarbeiter) an das Gesetz gebunden, ab 2024 liegt die Grenze bei 1.000 Mitarbeitern. Damit gilt das Lieferkettengesetz ab 2024 für knapp 3.000 Unternehmen in Deutschland. +Für viele von ihnen sind verbindliche Sozial- und Umweltschutzkriterien Neuland. Andere verordnen sich schon lange freiwillig sogenannte Corporate-Social-Responsibility-Regeln, die manchmal auch faire Lieferketten einschließen, oder bemühen sich um Nachhaltigkeits- und Fair-Trade-Siegel für ihre Produkte. Wird das ab 2023 alles überflüssig? Kann man Großunternehmen aus Deutschland dann blind vertrauen, weil das Lieferkettengesetz für faire, nachhaltige Standards sorgt? Schon am Beispiel der Produktionsschritte für ein Paket Kaffee sieht man: So einfach ist es leider nicht. + + +Wer Kaffeebohnen anbauen will, tut das am besten auf dem sogenannten Kaffeegürtel. Rund um den Äquator, zum Beispiel in Brasilien, herrschen ideale klimatische Bedingungen. Bei den Arbeitsbedingungen sieht das anders aus: Laut einer Studie von Fairtrade Deutschland arbeiten Familien, die Kaffee anbauen und pflücken,oft unter prekären Bedingungen und beziehen Löhne, die bis zu 40 Prozent unter dem Lohn liegen, der im jeweiligen Land als existenzsichernd gilt. Auf manchen Plantagen arbeiten Kinder. Sobald das Lieferkettengesetz in Kraft tritt, dürfen deutsche Unternehmen solche Missstände nicht mehr ignorieren oder tolerieren. Sie müssen ihre Lieferkette genau kennen, Risiken, mögliche Verstöße und auch ihre Schutzmaßnahmen dokumentieren. Am Ende des Geschäftsjahrs muss jedes Unternehmen dazu einen frei zugänglichen Bericht veröffentlichen. + +Kaffeekirschen müssen innerhalb weniger Stunden nach der Ernte verarbeitet werden. Deshalb startet die Kaffeeproduktion direkt an der Plantage oder bei einer nahegelegenen Kooperative, also einem genossenschaftlichen Zusammenschluss von Kleinbauern. Die Kirschen werden dabei häufig nassaufbereitet: Eine Maschine trennt Fruchtfleisch und Bohnen, die anschließend in Wasser gären, bevor sie in Heißluft trocknen. Das verbraucht Strom und viel Wasser. Hier kann das Lieferkettengesetz einiges ändern: Denn Unternehmen müssen auch Umweltrisiken verhindern, die zu Menschenrechtsverletzungen führen können. Kaffeebauern können ihr Abwasser also nicht länger einfach in einen Fluss leiten und so das Trinkwasser verschmutzen, sondern müssen es ordentlich entsorgen. + + + +Nur sehr hochwertiger Kaffee lagert in Säcken auf den Containerschiffen, rund 80 Prozent kommen als loses Schüttgut in die Importländer. Etwa drei Wochen lang schippert der Kaffee dann zum Beispiel von Südamerika nach Hamburg oder Bremen. Auch hier gilt künftig: Die Arbeiter auf dem Schiff müssen unter Bedingungen arbeiten, die nicht die Menschenrechte verletzen.  Das ist nicht immer der Fall –wie Menschenrechtsorganisationenund Journalistenberichten. + +Wenn der Kaffee in einem deutschen Hafen ankommt, geht er nach einer Qualitätsprobe entweder direkt an den jeweiligen Kaffeehersteller, zum Großhändler oder in ein Zwischenlager. Das Lieferkettengesetz greift auch, wenn ein Kaffeeunternehmen den Kaffee nicht direkt vom Bauern, sondern bei einem Zwischenhändler kauft. Es muss dann dafür sorgen, dass die Zwischenhändler sich ebenfalls an das Lieferkettengesetz halten – und zwar unabhängig davon, wie viele Mitarbeiter der Zwischenhändler beschäftigt. Das Gesetz lässt sich also nicht mit kleinen Subunternehmern umgehen. Trotzdem hat es Lücken(siehe Infokasten zur Kritik am Gesetz): Die Neumann Kaffee Gruppe (NKG) etwa muss sich mit ihren 2.600 Mitarbeitern erst ab 2024 an das Lieferkettengesetz halten – dabei vertreibt die NKG als weltweit größter Rohkaffeedienstleister rund zehn Prozent des weltweit verkauften Kaffees. +Für Unternehmen in Deutschland, die über solche Händler einkaufen, ist das ein Problem: Sie müssen sicherstellen, dass sich der Händler schon jetzt ans Gesetz hält, obwohl er das eigentlich noch nicht müsste. "Unter das Gesetz fallende deutsche Konzerne werden künftig Verträge mit kleineren Lieferanten schließen müssen, in denen diese sich verpflichten, sich an das Lieferkettengesetz zu halten", sagt Friedel Hütz-Adams von Südwind, einem Verein für Weltwirtschaftsfragen, der ein solches Lieferkettengesetz seit langem fordert. + +Viele Expert/-innen, Verbände und auch Unternehmen halten das Gesetz für wirtschaftsfreundlich und fordern Nachschärfungen. Kritisiert wird vor allem, dass +– die Vorschriften nicht sofort und nicht für Unternehmen aller Größen gelten; +– das Gesetz für direkte Zulieferer gilt, nicht für die gesamte Wertschöpfungskette (bei indirekten Zulieferern, also Firmen, die für die Zulieferer arbeiten, müssen Unternehmen erst ermitteln, wenn ein "begründeter Verdacht" besteht, dass Schäden an Umwelt oder Menschen entstanden sind); +– Unternehmen nicht zivilrechtlich haften. Opfer von Menschenrechtsverletzungen können somit höchstens über NGOs oder Gewerkschaften vor deutschen Gerichten klagen (was in der Praxis oft scheitert); +– die Umwelt kein eigenständiges Schutzgut ist. Das Gesetz greift zwar, wenn Menschen durch Umweltzerstörung gesundheitliche Schäden erleiden oder die internationalen Übereinkommen zur Quecksilbergewinnung (Minamata) und persistenten organischen Schadstoffen (POP-Konvention) verletzt werden. Großfaktoren wie das Klima, den Regenwald oder die Biodiversität schützt das Gesetz aber nicht explizit. +Glaubt man manchen Wirtschaftsvertreter/-innen, hat die Bundesregierung mit dem Lieferkettengesetz so kurz vor der Bundestagswahl im September einen Fehler gemacht. "Unternehmen dürfen nicht Pflichten auferlegt werden, die selbst von Staaten nicht durchgesetzt werden können", schreibt etwa der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Und Anton Börner, Präsident des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen bezeichnet das Lieferkettengesetz als "immense Belastung für die kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland". Auch das Bundesarbeitsministerium, das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und das Bundeswirtschaftsministerium habe lange gestritten, ob unternehmerische Verantwortung juristisch durchgesetzt werden darf. +Tatsache ist aber: Wenige Unternehmen bessern freiwillig nach. EineUmfrageim Auftrag der Bundesregierung zeigte 2020, dass höchstens 17 Prozent der Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern in ihrer Lieferkette auf die Einhaltung der Menschenrechte achten; nur 12 Prozent waren "auf einem guten Weg" dahin. Das Lieferkettengesetz soll diese Zahlen nach oben korrigieren. +Auch die EU arbeitet gerade an einem Lieferkettengesetz – das deutlich strenger werden könnte als das deutsche. Im März forderte das EU-Parlament unter anderem, dass die EU-Regelung +– für alle Unternehmen gelten soll, die ihre Produkte im EU-Binnenmarkt verkaufen; +– die komplette Lieferkette umfassen soll, also auch indirekte Zulieferer; +– Betroffenen die Chance geben müsse, direkt zu klagen; +– den Import von Produkten verbieten muss, die mit Zwangsarbeit in Verbindung stehen. + +Ein Gesetzentwurf war für Juni angekündigt, wurde aber auf den Herbst vertagt. Bis das Gesetz kommt, wird es vermutlich noch Jahre dauern. Wenn die EU-Regelungen dann immer noch weitreichender sind als die deutschen, müsste das hiesige Lieferkettengesetz die EU-Richtlinien übernehmen. +Selbst große deutsche Firmen rösten in Hamburg, Berlin oder München und nicht im billigeren Ausland. Denn die Röstung ist essenziell für den Geschmack und geht auf langen Transportwegen verloren. Auch die vielen kleinen Manufakturen, die sich in den vergangenen Jahren vor allem in Großstädten niedergelassen haben, rösten ihren Kaffee selbst. Zum Beispiel die Kölner Kaffeerösterei Van Dyck, die ihren Fairtrade-Bio-Kaffee von Kooperativen bezieht, in eigenen Hallen röstet und sich mit ihren 25 Mitarbeitern nicht ans Lieferkettengesetz halten muss. Verlieren solche kleine Röstereien ihren Wettbewerbsvorteil, wenn die Big Player bald auch mit einer fairen Lieferkette werben können? Martin Keß, der Inhaber von Van Dyck, glaubt das nicht. "Erstens halten wir uns an weitaus strengere Richtlinien als die bald gesetzlich vorgegebenen", sagt er. "Zweitens wird unser Kaffee auch weiterhin teurer sein als der von konventionellen Kaffeeherstellern. Das sind zwei ganz unterschiedliche Marktsegmente." Heißt für den Trinker: Wenn beim kleinen lokalen Röster keine Siegel wie Bio oder Fairtrade auf der Kaffeepackung sind, muss er im Zweifel selbst nachhaken, unter welchen Bedingungen der Kaffee produziert wird. + +Weiterlesen + + +Mit dem Lieferkettengesetz müssen sich deutsche Unternehmen auch ihre Produktionsstandorte in der chinesischen Provinz Xinjiang genauer ansehen –wo Hunderttausende Uiguren eingesperrt und als Zwangsarbeiter eingesetzt werden +Kaffee ist seit Jahren das Lieblingsgetränk der Deutschen. 2020 ist der Konsum trotz coronageschlossener Cafés und Restaurants noch mal gestiegen, auf 168 Liter pro Kopf. Das sind rund 1,5 Prozent mehr als im Vorjahr. Viel Geld geben die Deutschen aber nicht aus für ihr Lieblingsgetränk – und sind damit nicht allein. Aktuell wird ein Kilo Kaffee an der Börse für weniger als drei Euro gehandelt. Unter dem niedrigen Weltmarktpreis leiden letztlich die Kaffeebauern. Das Lieferkettengesetz käme in erster Linie ihnen zugute – aber auch den Unternehmen, die sich bereits freiwillig an strenge Nachhaltigkeitskriterien halten und deshalb höhere Preise verlangen mussten. Kein Wunder, dass sich auch 42 Unternehmen für das Gesetz eingesetzt haben. Darunter Tchibo, einer der größten deutschen Kaffeehersteller, der sich seit 14 Jahren für Nachhaltigkeit in der Lieferkette einsetzt. +"Das Lieferkettengesetz kann Wettbewerbsverzerrungen beheben", sagt Julia Thimm, Leiterin der Menschenrechtsabteilung von Tchibo, "sodass Unternehmen, die die Rechte ihrer Produzenten schützen, nicht mehr im Nachteil sind." Das heißt nicht, dass sich solche Unternehmen jetzt zurücklehnen können: Ihnen fällt die Einhaltung des Lieferkettengesetzes möglicherweise leichter, an die Stelle selbstauferlegter Regeln tritt aber nun ein Gesetz, statt interner Reportings werden öffentliche Berichte fällig. Fehltritte wären nicht länger ein reiner Imageschaden, sondern strafbar. + + diff --git a/fluter/like-den-lehrer.txt b/fluter/like-den-lehrer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4db7fbf86c750bd4d5915c56d1e18cf702456f9c --- /dev/null +++ b/fluter/like-den-lehrer.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Ich arbeite nun schon seit zwölf Jahren als Lehrerin in Hamburg. Meine Schüler sind hauptsächlich Jugendliche zwischen 10 und 18 Jahren. Seit ungefähr sechs Jahren bin ich bei Facebook registriert und kommuniziere dort auch mit einigen Schülern. +Ich habe mir seitdem eigentlich nie die Frage gestellt, ob ich womöglich die nötige Distanz zu meinen Schülern aufgebe, wenn ich mit ihnen auf Facebook befreundet oder über WhatsApp mit ihnen in Kontakt bin. Wahrscheinlich liegt das daran, dass ich mit manchen meiner Schüler mehr Zeit verbringe als deren Eltern. +Natürlich weiß ich um die Kritik, die es an Facebook gibt. Das thematisieren wir auch in der Medienerziehung an unserer Schule und halten die Schüler dazu an, sich gut zu überlegen, was sie auf Facebook an persönlichen Details über sich bekannt geben. Aber es wäre auch weltfremd, Jugendlichen heute die Benutzung der großen sozialen Netzwerke ausreden zu wollen. Wenn ich mit ihnen dort kommuniziere und eine behutsame Nutzung vorlebe, erreiche ich mehr. +Da ich viele Projekte mit Schülern koordiniere, etwa Filmprojekte, Malaktionen und eine Schülerfirma, die Caterings veranstaltet, sind Facebook oder WhatsApp schon sehr praktische Hilfsmittel, um Informationen möglichst schnell weiterzuleiten. Innerhalb der geschlossenen Gruppen können dann Fragen und Wünsche ausgetauscht werden, und man muss nicht jeden einzeln anrufen oder in der Schule suchen und ansprechen. Zudem bietet Facebook sich an, wenn es um Werbung für eine Veranstaltung oder für unsere Schülerfirma geht. Man erreicht über diese Medien viel mehr Menschen und kann sich die Kosten für Flyer sparen. +Ich persönlich habe noch nie die Erfahrung gemacht, dass Schüler die Gelegenheit nutzen, via Facebook Böses über mich zu veröffentlichen oder mich in meiner Freizeit zu belästigen. Ohnehin bin ich dem ja nicht wehrlos ausgeliefert: Ich kann selbst entscheiden, was ich von mir persönlich preisgebe. Ich kann Kontakte löschen, wenn ich kein gutes Gefühl bei der Sache habe. Und ich bin selbst dafür verantwortlich, wie oft ich meinen Computer oder mein Handy nach Nachrichten überprüfe. Ich bin eben nur dann erreichbar, wenn ich erreichbar sein will. +Meine Schüler wissen alle, dass ich ein Privatleben habe. Veröffentliche ich wirklich mal Bilder von der Familie oder von privaten Erlebnissen, interessiert sie das kaum – zumindest haben sie mich noch nie darauf angesprochen oder derartige Postings kommentiert. Wahrscheinlich ist es auch weniger interessant, da ich kein Geheimnis aus meinem Leben mache. +Wozu auch, ich bin weder besonders wichtig, noch habe ich brisante Informationen. Da ich glaube, über einen gesunden Menschenverstand zu verfügen, ist mir klar, dass ich nur ausgewählte Bilder oder Informationen verbreiten kann, aber dabei geht es mir weniger um meine Schüler als um die Tatsache, dass diese Informationen im Netz gespeichert bleiben. +Um die Frage nach Nähe oder Distanz von Lehrern und Schülern wird meines Erachtens zu viel Aufhebens gemacht. Da sich die Lehrerrolle sowieso stetig verändert, man heute nicht mehr der reine Wissensvermittler ist, sondern Begleiter und oft auch Bezugsperson, gibt es meiner Meinung nach immer weniger Lehrer, die ihren Job nur im Schulgebäude erledigen und danach ein anderer Mensch sind. Die meisten meiner Kollegen engagieren sich zusätzlich zum Unterricht und versuchen, Schülern den Spaß an Schule und Lernen neu zu vermitteln. Insbesondere schwierige Schüler brauchen da starke und konstante Beziehungsarbeit. Und dafür eignen sich unter anderem die sozialen Netzwerke, da sie die Kommunikation einfach machen. +Dass sich Schüler gezwungen fühlen könnten, diese Medien zu nutzen, da sie sonst von bestimmten Informationsgruppen ausgeschlossen werden könnten, habe ich bisher auch nicht erlebt. Ab und zu gibt es Schüler, die sich dem aus Datenschutzgründen verweigern. Die rufe ich dann eben persönlich an oder spreche mit ihnen in der Schule. Ein Verbot finde ich unsinnig, da man mit seinen Schülern ohnehin in irgendeiner Form in Kontakt steht. Und wer eben gerne kumpelhaft ist, soll das doch bitte sein dürfen. Was ist so schlimm daran, wenn man ein entspanntes Verhältnis zu den Menschen hat, die einen täglich umgeben. +Deswegen muss nicht gleich der Respekt verloren gehen. Autorität geht nicht durch Nähe oder eine größere Vertrautheit verloren, im Gegenteil. Je mehr Beziehungsarbeit ich leiste, umso respektvoller und verständnisvoller sind die Schüler mir gegenüber. Das nennt man die "Neue Autorität", und die wird als Schulkonzept mittlerweile an vielen Schulen umgesetzt. Es geht hierbei nicht um "Pseudofreundschaften", sondern um eine neue Umgangsweise miteinander. +Wen das stört, der kann sich dem ja entziehen, indem er oder sie sich distanziert – und auch den sozialen Netzwerken eine Absage erteilt. +Dorothea Kleffner (43) arbeitet an der Kurt-Tucholsky-Stadtteilschule in Hamburg Altona. Sie unterrichtet Deutsch, Gesellschaftskunde und Kunst. Zusätzlich bietet sie Film-, Mal- und Theaterprojekte an und organisiert eine Schülerfirma. Sie ist Mutter von drei Kindern und hat eine Vollzeitstelle. +Wenn schon Schüler-Lehrer-Kommunikation, dann bitte seriös, findet Schülerin Lia Friedrichs. Für sie heißt das: Gesunde Distanz wahren, sich auf dem Flur oder per Mail austauschen – aber bitte nicht bei Facebook auf "Freunde" machen. Das wolle doch am Ende eh keiner. +Ist mir ja auch klar: An sozialen Netzwerken kommt man nicht mehr vorbei. Und obwohl Facebook über die Jahre immer mehr Konkurrenz bekommen hat, ist es doch die Nummer eins geblieben. Nun stellt sich die Frage, ob auch Schüler und Lehrer auf Facebook befreundet sein und mittels Facebook kommunizieren sollten – über Schulisches und eventuell auch über Privates. Das ist inzwischen so umstritten, dass in manchen Bundesländern schon die Interaktion von Lehrern und Schülern via Facebook verboten wurde. +Ich als Schülerin bin nicht so begeistert von der digitalen Kumpelei zwischen Lehrern und Schülern. Gegen Schüler-Lehrer-Kommunikation außerhalb des Unterrichts habe ich generell nichts einzuwenden – wenn es nicht gerade Facebook als soziales Netzwerk ist. Ich war noch nie ein besonders großer Fan davon, ständig jeden wissen zu lassen, was ich am Wochenende gemacht habe. Ein anderer Punkt, weswegen ich mich Facebook seit Jahren verweigere, ist der Datenschutz. Ich habe keine Lust, den blauen Datenriesen mit meinen persönlichen Informationen zu füttern, die er dann speichert und weiterverarbeitet. +Auch aus diesem Grund hat das baden-württembergische Ministerium für Kultus, Jugend und Sport entschieden, die "Verwendung von sozialen Netzwerken für die dienstliche Verarbeitung personenbezogener Daten" generell zu verbieten. Warum sollte man ein Netzwerk wie dieses also ausgerechnet als Unterrichtshilfsmittel verwenden? +Viele Schüler haben generell nichts dagegen. Sie finden: Lehrer sollten so einfach wie möglich für sie erreichbar sein, etwa für Fragen zu den Hausaufgaben. Darauf kann ich verzichten. Schon aus rein organisatorischen Gründen: Wurde die Aufgabenstellung im Unterricht gut erklärt, habe ich eigentlich selten Probleme mit dem Lösen – und wenn doch, kann ich immer noch Mitschüler fragen, die wahrscheinlich eher als der Lehrer erreichbar sind. +Und außerdem: Ich würde im Unterricht auch nicht mehr hinhören, wenn ich im Nachhinein eh noch mal alles besprechen kann. Wenn ich mich jetzt noch in die Lage meiner Lehrer hineinversetze, macht das die Sache auch nicht besser: Wollen die wirklich nach Feierabend von zu Hause aus immer noch Facebook-Nachrichten von uns Schülern beantworten, weil wir es nicht geschafft haben, ihnen richtig zuzuhören? +Zumal Schüler ohne Facebook-Account deutlich im Nachteil wären. Sie wären gezwungen, sich einen solchen anzulegen, um dieselben Vorteile wie ihre Mitschüler zu genießen und auch in Gruppenchats mitreden zu können. Will man auf diese Weise im Ernst noch mehr Jugendliche auf eine Social-Media-Plattform treiben, die einen zweifelhaften Umgang mit persönlichen Daten praktiziert? Das sollte auf keinen Fall Voraussetzung für den Schulalltag werden. +Außerdem: Wer möchte schon mit seinen Lehrern befreundet sein? Eine Bedingung für Facebook-Messaging ist eine bestätigte Freundschaftsanfrage. Eine "Freundschaft" auf Facebook aber lenkt doch vom eigentlichen Zweck der Sache ab, nämlich einer digitalen Hilfestellung für die Lehrer-Schüler-Kommunikation. Stattdessen erfahren wir dank Facebook plötzlich mehr über unsere Lehrer, als wir vielleicht wissen wollen – und umgekehrt. Fotos, mit wem sie befreundet sind, wo sie sich aufhalten und was sie gerade machen. Alles, was man auch mit echten Freunden und seiner Familie teilt. Natürlich gibt es die Privatsphäre-Einstellung. Aber jetzt mal ehrlich: Wer macht davon schon konsequent Gebrauch? +Eine offene Atmosphäre ist durchaus angenehm, außerhalb der Schule sollten aber beide Seiten auf ihre Privatsphäre achten – die Lehrer, um eine autoritäre Distanz zu wahren, und die Schüler, weil sie es später vielleicht doch einmal bereuen werden, ihre Partyfotos für alle sichtbar gepostet zu haben. Auch für ihre Lehrer. +Ein bisschen digitale Unterstützung für die Kommunikation von Lehrern und Schülern und die Organisation des Unterrichts – dagegen habe ich ja gar nichts. Nur bitte ohne die gesamte Pseudo-Freundschaft und unter Wahrung einer gesunden Distanz, die durch Facebook verloren gehen würde. Man sollte dafür kein Netzwerk nutzen, dessen Daseinszweck es ist, dass Freunde digitalen Kontakt halten und dabei möglichst viel Persönliches offenbaren. +Seriösere Alternativen stehen ja zur Verfügung. Inzwischen gibt es sogar schon spezielle Programme für die Lehrer-Schüler-Kommunikation, mit denen Lehrer einfache Erinnerungs-SMS schicken und Schüler im Gruppenchat antworten können. Oder man schickt halt eine ganz altmodische E-Mail, das hat für mich bis jetzt immer funktioniert. +Da die meisten meiner Lehrer es kaum schaffen, mit elektronischen Wandtafeln umzugehen, bezweifle ich ohnehin, dass sie es mit mehr als einer simplen Messenger-App aufnehmen könnten. +Lia Friderichs (16) ist gerade von ihrem Auslandsjahr aus den USA zurückgekommen und geht jetzt wieder auf ein Berliner Gymnasium. Mit ihren amerikanischen Lehrern hat sie immer über eine eigens für die Schule konzipierte App kommuniziert. Das habe besser funktioniert, als es mit Facebook je könnte, sagt sie. diff --git a/fluter/lil-nas-x-montero-rezension.txt b/fluter/lil-nas-x-montero-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..13c25ec7375a1beef7b8fdb655bfcf68d52ca8e1 --- /dev/null +++ b/fluter/lil-nas-x-montero-rezension.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Es gab bisher wohl wenige Musiker, die ihre Homosexualität so offen zelebriert haben wie Lil Nas X. Allein in den vergangenen Wochen knutschte er mit einem seiner Tänzer bei den BET Awards und räkelte sich bei den MTV Music Video Awards zwischen halb nackten Männern auf der Bühne. Damit sorgte er für Shitstorms vonseiten konservativer US-Amerikaner:innen und ließ wohl Millionen queerer Herzen höher schlagen. +Lil Nas X ist nicht der erste schwule Rapper, der die homofeindliche Hip-Hop-Szene aufmischt. Neben ihm stehen auch Musiker wie Frank Ocean, Tyler the Creator, Zebra Katz oder Mykki Blanco offen zu ihrer sexuellen Orientierung. Der aus Georgia stammende Lil Nas X provoziert christliche Fundamentalist:innen und konservative US-Amerikaner:innen aber wie kein anderer: Im Musikvideo zu seiner ersten Singleauskopplung "Montero (Call me by your name)" rutscht er als fallender Engel an einer Poledance-Stange in die Hölle, verführt Satan auf dessen Thron, nur um ihm anschließend das Genick zu brechen. Der Song ist eine Hymne an dieSelbstakzeptanzqueerer Menschen. +Das Album "Montero" umfasst nun insgesamt 15 Songs und Kollaborationen mit Popgrößen wie Miley Cyrus, Megan Thee Stallion, Doja Cat und sogar Sir Elton John. Lil Nas X nimmt seine Fans darauf mit auf eine Reise zu sich selbst, singt über Liebe, Komplexe, Suizidgedanken und seinen Weg zum Ruhm. Dabei überrascht "Montero" mit Gitarrensounds und einem Mix verschiedener Genres. In der düsteren Rockballade "Life after Salem" singt Lil Nas X zu verzerrter Gitarre über eine zerbrochene Liebe, und Lieder wie "Void" und "Lost in the Citadel" klingen mehr nach 2005er-Indie-Rock als nach Hip-Hop. Dazwischen gibt es mit "Dead Right Now" und "Scoop" tanzbare Popsongs. Auch die Uptempo-Nummer "That's what I want" sorgt für gute Laune und ist der wohl radiotauglichste Titel des Albums. + + +Ein Thema, auf das Lil Nas X im Video zu "That's what I want" und in anderen Songs des Albums anspielt, ist die Tatsache, dass er beim Sex gerne bottom ist. Dass ein schwuler Musiker seine sexuelle Vorliebe so offen thematisiert, kommt einer kleinen Revolution gleich. Denn selbst in der queeren Community werden häufig frauenfeindliche Strukturen reproduziert, und mit den unterschiedlichen Rollen, die Männer im Bett einnehmen, werden verschiedene Eigenschaften assoziiert. Tops gelten als aktiver und maskuliner, Bottoms als passiver und femininer. Lil Nas X kehrt dieses Klischee um, indem er sich als "Power Bottom" inszeniert, der die Kontrolle übernimmt, statt diese abzugeben. Damit provoziert er nicht nur in derheteronormativ dominierten Musikbranche, sondern bricht auch mit Vorurteilen innerhalb der queeren Community. +In der queeren Community bezeichnen sich viele je nach sexueller Vorliebe als "top", "bottom" oder "versatile". Im Deutschen spricht man häufig auch von "aktiv", "passiv" oder "vers". In der schwulen Community sind "Tops" diejenigen, die beim Sex den "Bottom" penetrieren, während Personen, die sich als "vers" bezeichnen, beide Rollen gerne einnehmen +Die Shitstorms, die Lil Nas X durch solche Tabubrüche heraufbeschwört, scheinen dank seiner lässigen Reaktionen einfach an ihm abzuprallen. Er ist schließlich im Internet groß geworden und weiß es für seine Zwecke zu nutzen. Damit erscheint Lil Nas X wie das ideale Vorbild für eine neue Generation queerer Menschen. Und wer weiß, womöglich hat der Rapper Kid Cudi sogar recht mit der Prophezeiung, die er kürzlichin einem Interviewgemacht hat: Lil Nas X könnte der Musiker sein, der die "homofeindliche Wolke", die über dem Hip-Hop schwebt, endgültig verscheucht. +Titelbild: NINA WESTERVELT/NYT/Redux/laif diff --git a/fluter/lina-attalah-aegypten.txt b/fluter/lina-attalah-aegypten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..45af97d70a2e38e753046059a222e47b94abbfb6 --- /dev/null +++ b/fluter/lina-attalah-aegypten.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Auch in Ägypten fanden die Proteste des Arabischen Frühlings statt, die zwar zu zahlreichen Regierungswechseln führten – aber nicht immer zu mehr Demokratie. In Ägypten war der 25. Januar 2011, der "Tag des Zorns", ein ausschlaggebender Moment: Geschätzt Zehntausende Menschen, darunter viele Jugendliche und Studierende, protestierten in Kairo für die Absetzung des Langzeitpräsidenten Hosni Mubarak. Nach seinem Rücktritt hofften viele auf mehr Freiheit und bessere Lebensbedingungen. Doch bei der Parlamentswahl gewann der Kandidat der Muslimbrüder, die Ägyptenin einen islamistischen Staatverwandeln wollten. Erneut kam es zu gewalttätigen Protesten, die mit einem Militärputsch endeten, angeführt von Abdel Fattah al-Sisi. Ein Jahr später wurde er zum Präsidenten gewählt. +Seitdem wurde gegen zahlreiche Menschenrechte verstoßen. Der Staat lässt politische Gefangene foltern und hinrichten,die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten wurde zunehmend schwerer.Auf der aktuellen Rangliste der Pressefreiheit 2021 der Nichtregierungsorganisation (NGO) Reporter ohne Grenzen liegt Ägypten von 180 Ländern auf Platz 166. Aktuell sind 32 Journalisten in Haft. +Als auch die Zeitung "Egypt Independent", bei der Attalah leitende Redakteurin war, kurz vor dem Staatsstreich 2013 schließen musste, gründete sie gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen "Mada Masr". "Gerade damals war Journalismus besonders wichtig, und ich hatte keine Lust darauf, arbeitslos zu sein", erinnert sie sich. "Mada Masr" berichtet über den Kampf der Opposition, über die Unterdrückungsmaßnahmen und über verbotene Themen wie dieLGBTQ-Community.2017 führte das zur Sperrung der Seite. Wer in Ägypten lebt, erreicht "Mada Masr" nur über ein VPN-Programm, das den Datenverkehr über das Ausland lenkt. Nicht nur "Mada Masr" ist von der Zensur betroffen. Der Nachrichtenkanal "Al Jazeera" und die arabische Seite der "Huffington Post" sind wie Hunderte andere journalistische Angebote nicht mehr aufrufbar. +Trotz der ständigen Rückschläge setzen sich die Redakteurinnen und Redakteure von "Mada Masr" weiterhin für die Pressefreiheit in ihrem Land ein. "Jede Geschichte, die wir veröffentlichen, soll zu Gesprächen führen", sagt Attalah. "Gerade jetzt gibt es hier nicht genügend kritische Diskurse. Das ist es, was uns antreibt – trotz aller Probleme." diff --git a/fluter/linderung-fuer-athen.txt b/fluter/linderung-fuer-athen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d3e357c018f17c619e8413eb68b7407f66d6aead --- /dev/null +++ b/fluter/linderung-fuer-athen.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Dann hat sie jemand auf die Sozialpraxis Elliniko aufmerksam gemacht. Seit zwei Jahren kommt Maria Hristidou nun hierher. Hier wird sie kostenlos behandelt, und auch die Medikamente, die ihre zwei Jungen gegen ihre epileptischen Anfälle brauchen, erhält sie hier umsonst. "Zum Glück gibt es dieses Angebot", sagt sie. Auf die Frage, was sie andernfalls täte, weiß sie keine Antwort. In Griechenland gibt es im Anschluss an das Arbeitslosengeld, das maximal ein Jahr lang gezahlt wird, keine soziale Grundsicherung, wie das in Deutschland mit Hartz IV der Fall ist. Dass die Familie nicht auf der Straße gelandet ist, verdankt sie den Eltern von Maria Hristidou, die mit ihrer gekürzten Rente aushelfen. Was das bedeutet, fasst die Frau in einem einzigen Satz zusammen. "Es ist schwierig, wenn es fürs Nötigste nicht reicht." Ihre Stimme ist farblos, ihr Blick unbeteiligt, ihre Sätze sind kurz. Wenn es an allem fehlt, gibt es nicht viel zu sagen. + + +Maria Hristidous Geschichte ist so individuell, wie sie typisch ist. Die Krise hat das Leben unzähliger Menschen in Griechenland auf den Kopf gestellt. Sechs von zehn Griechen leben an oder unterhalb der Armutsgrenze,reguläre Medizin kann sich nur noch leisten, wer bar bezahlt. Allein die Unversicherten werden auf über drei Millionen geschätzt. Denn zu den vielen, die ihre Arbeit und damit ihre Krankenversicherung verloren haben, kommen die mitversicherten Familienmitglieder, die nun ebenfalls in der Luft hängen. +Typische Fälle in der Sozialpraxis: Diabetes-Patienten ohne Insulin, Kranke, die seit Tagen keine warme Mahlzeit mehr zu sich genommen hatten, Schwangere kurz vor der Entbindung, die noch keine einzige Vorsorgeuntersuchung gemacht hatten +Der Kardiologe Giorgos Vichas hat das früh erkannt und bereits Ende 2011 die Sozialpraxis Elliniko ins Leben gerufen. Heute arbeiten hier 280 Ärzte und Helfer auf freiwilliger Basis, mehr als 50.000 Patienten wurden seit der Gründung betreut. Auch heute ist das Wartezimmer wieder voll. Das Telefon klingelt ohne Unterlass, allein am Empfang arbeiten fünf Personen. Die Sozialklinik verfügt außerdem über eine große Apotheke. Rund die Hälfte der Medikamente kommt aus Deutschland. In Hamburg hat sich sogar ein Verein gegründet, um Medikamenteneinkäufe zu organisieren, denn die Sozialpraxis akzeptiert aus Prinzip nur Sachspenden. + +Vor allem in der Anfangszeit haben die Ärzte Dinge gesehen, die sie in Europa nicht für möglich gehalten hätten: Tumore, die außer Kontrolle geraten waren, weil sie monatelang unbehandelt blieben, Diabetes-Patienten ohne Insulin, Kranke, die seit Tagen keine warme Mahlzeit mehr zu sich genommen hatten, Schwangere kurz vor der Entbindung, die noch keine einzige Vorsorgeuntersuchung gemacht hatten, und andere, die nicht wussten, wo sie entbinden sollten, sie hatten ja keinen Zugang mehr zum öffentlichen Gesundheitssystem. Das Team der Sozialpraxis musste dann Ad-hoc-Lösungen finden. Andere Male haben sie vermittelt, wenn Krankenhäuser Neugeborene als Unterpfand behalten haben, bis die frischgebackenen, aber unversicherten Mütter das Geld für die Entbindung aufgetrieben hatten. Ein Vorgehen, das für so viel Aufruhr gesorgt hat, dass es alsbald wieder eingestellt wurde. +Die Sozialklinik verfügt über eine große Apotheke. Rund die Hälfte der Medikamente kommt aus Deutschland. In Hamburg hat sich sogar ein Verein gegründet, um Medikamenteneinkäufe zu organisieren +"Heute sehen wir solche Situationen nicht mehr", sagt Giorgos Vichas, "denn es gibt mittlerweile ein bürgerschaftlich organisiertes Hilfsnetz." Das sei begrüßenswert, doch es bleibe ein bitterer Nachgeschmack. "Wir fangen an, uns mit einer Situation zu arrangieren, die eigentlich eine Ausnahme darstellen sollte." Der Arzt holt eine zweiseitige Liste hervor, die sie zusammengestellt haben, sie hängt auch im Wartezimmer aus. "All das sind Adressen in Athen, wo Mittellose eine warme Mahlzeit bekommen", erklärt er. Ohne solche Hilfsangebote von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen und Bürgerinitiativen hätte Griechenland vermutlich längst den Notstand ausrufen müssen. Auch deshalb haben sie damals "Nein" gesagt, als das EU-Parlament die Praxis mit dem Europäischen Bürgerpreis würdigen wollte. "Das EU-Parlament mag keine Entscheidungsgewalt haben", sagt Giorgos Vichas, "aber es ist ein offizielles Organ der Europäischen Union." Und es habe dieAusteritätspolitik, die die Sozialpraxis erst nötig gemacht habe, stumm geduldet. "Es wäre ein Hohn gewesen, den Preis anzunehmen", sagt der Arzt mit Nachdruck. "Auch unseren Patienten gegenüber." +Seit wenigen Wochen ist in Griechenland immerhin ein Gesetz in Kraft, das unversicherten Bürgern den Zugang zur öffentlichen Krankenversorgung sichern soll, ein Wahlkampfversprechen von Syriza. Die Details müssen noch ausgearbeitet werden, doch Giorgos Vichas ist skeptisch, ob es die erhoffte Entspannung bringen wird. Schon die Zuzahlungen, im griechischen Gesundheitssystem an der Tagesordnung, würden sich die Unversicherten und Mittellosen nicht leisten können. Hinzu kommt, dass die öffentliche Gesundheitsversorgung schon längst an ihre Grenzen gelangt ist. Es fehlt an Personal, und das Budget wurde seit Ausbruch der Krise um mehr als 40 Prozent gekürzt. Immer wieder kommt es in Krankenhäusern zu Versorgungsengpässen, und nicht selten fragt man dann in der Sozialklinik Elliniko an. Aber es gibt noch etwas, das den Arzt nachdenklich stimmt: Seit längerem schon haben sie in Elliniko eine neue Kategorie von Patienten, sie nennen sie die "nur auf dem Papier Versicherten". Giorgos Vichas trifft sie auch im Krankenhaus, in dem er tagsüber arbeitet. "Oft bitten mich Patienten, ihnen dieses oder jenes Medikament gar nicht erst aufzuschreiben, weil ihnen das Geld für die Rezeptgebühr fehlt." Das kann dann bedeuten, dass ein Patient das blutdrucksenkende Medikament nimmt, aber am cholesterinsenkenden spart. Oder andersherum. + + +Die Sprechstundenhilfe klopft an und fragt, ob er noch einen Notfall behandeln könne, ein Mädchen mit Ohrenschmerzen. Eigentlich wollte Giorgos Vichas heim zu seiner Familie, die er viel zu wenig sieht, denn an den Wochenenden hilft das Team nun auch in den Flüchtlingsunterkünften rund um Athen aus. Seine Augen sind rot vor Müdigkeit. Schlimmer als die körperliche sei aber die seelische Erschöpfung. "Früher haben wir nach Feierabend unsere Freunde getroffen, das hat uns eine gewisse Normalität garantiert." Je länger die Krise aber dauere, desto mehr zögen sich die Menschen in sich zurück. "Und leider ist kein Ende in Sicht." Wie lange sie noch durchhalten werden? Giorgos Vichas holt tief Luft, öffnet die Tür und bittet das kranke Mädchen herein. "So lange, wie wir gebraucht werden." + +Alkyone Karamanolis ist Mitglied des Journalistennetzwerkes "Weltreporter" und berichtet viel aus Griechenland. Sie hat Wahlen kommentiert, während der Waldbrände aktuelle Lageberichte abgegeben, auf Lesbos Flüchtlingsschicksale dokumentiert und in Nordgriechenland schweigsame Seidenraupenzüchter bei ihrem Tagwerk begleitet. Ihre Reportagen beleuchten die leisen Veränderungen in der griechischen Gesellschaft, und das nicht erst seit der Krise. diff --git a/fluter/linke-jugendliche-grossbritannien-leftists.txt b/fluter/linke-jugendliche-grossbritannien-leftists.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9f70b549e917d0b41e2e7e08d30e3729bf5c6dfe --- /dev/null +++ b/fluter/linke-jugendliche-grossbritannien-leftists.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Eine von ihnen ist die 23-jährige Anthropologiestudentin Roshni Chauhoun aus Milton Keynes, 80 Kilometer nordwestlich von London. Ihre Familie habe traditionell Labour gewählt, erzählt Roshni. Dazu hätte die Partei wichtige Dinge versprochen, darunter die Abschaffung der hohen britischen Studiengebühren und das Ende der Privatisierung des Gesundheitssystems. +Roshni Chauhoun +Für viele junge Menschen in Großbritannien scheint die Wahl der Labour Party aber nicht genug zu sein. Das zumindest suggeriert diekürzlich veröffentlichte Studie "Left Turn Ahead"der britischen Denkfabrik Institute of Economic Affairs (IEA). Bis zu 78 Prozent aller Brit:innen unter 40 machen demnach den Kapitalismus für verschiedene Missstände wie Klimaprobleme, Rassismus oderWohnungsnotverantwortlich. +Sie glauben: Der Kapitalismus diene lediglich Eigennutz, Gier und Materialismus. 75 Prozent der Befragten glaubten, der Sozialismus sei eine gute Idee,die in bisherigen Versuchen schlichtweg schlecht umgesetzt worden sei. +Laut Professor Bobby Duffy vom Policy Institute des Londoner King's College hat das Interesse der jüngeren britischen Generationen für linke Politik seit dem Brexit-Referendum besonders stark zugenommen. In seinem letzten Buch "The Generation Myth" untersucht Duffy,inwiefern Generationszugehörigkeiten politische Orientierungen bestimmen. Der Brexit sei nicht der Auslöser des neuen politischen Engagements gewesen, sondern hätte Unterschiede deutlicher gemacht. "Beim Brexit ging es größtenteils um Haltungen zu Themen wie Einwanderung, Integration, Nationalstolz und britische Tradition. Während sich ältere Britinnen und Briten eher im die Vergangenheit hochpreisenden Pro-Brexit-Lager verschanzten, siedelten sich jüngere, weltoffenere Generation im Remain-Lager an." +Thea Hine +Sind Menschen unter 40, allen voran die Gen Z, in Großbritannien also dem Sozialismus verfallen? Laut Duffy nicht ganz, denn die derzeitigen jüngeren Generationen unterschieden sich von vorherigen noch in weiteren Bereichen: "Jüngere Menschen sind heute selbstverantwortlicher. Sie glauben weniger daran, dass der Staat sie mit Arbeitslosenhilfe unterhalten muss." Das erinnert – mit Blick auf Deutschland – eher an die Idee der "sozialen Marktwirtschaft" als an Sozialismus, der hierzulande auch mit politischen Eliten, Machtmissbrauch und eingeschränkten Grundrechten assoziiert wird. +Die 19 Jahre alte Londoner Geografiestudentin Thea Hine zum Beispiel sieht keinen Widerspruch zwischen klaren Aufgaben für den Staat und wirtschaftlicher Eigenverantwortung. Menschenrechte, Chancengleichheit, Gesundheitsversorgung, Sozialfürsorge und Bildung – solche Dinge müsse die Regierung gewährleisten, meint sie. Dabei gebe es aber auch Grenzen: "Für mich ist die Frage, wo diese Hilfe endet. Wenn du Leuten zu viel Unterstützung gibst, fehlt ihnen jeglicher Grund, sich anzustrengen." +Alistair Duffey +Alistair Duffey, Promotionsstudent in der Umweltforschung glaubt, ein Blick nach Skandinavien könne helfen. Dort führen höhere Steuern zu besserer Sozialfürsorge. Doch mehr staatliche Gelder allein reichten nicht, sagt der 24-Jährige. Manchmal könne dieser Weg Probleme sogar verschlimmern. Bestes Beispiel: die kürzliche Abschaffung der britischen Grundsteuer für den Hauskauf. Die half am Ende nicht denen, für die sie gedacht war – jüngeren Brit:innen, die sich ihre erste Wohnung kaufen wollen –, sondern den großen Bauunternehmen. +Einer derer, diemit dem Begriff"Sozialismus" keine Probleme haben, ist der 16-jährige Aden Harris aus dem westenglischen Bristol. Auf den letzten Labour-Parteitagen traute er sich zum ersten Mal ans Redner:innenpult und plädierte dort für einen "radikalen, internationalen, sozialistischenGreen New Deal". +Harris nennt seine Gründe: Um sich das College leisten zu können, müsse er Geschirr spülen, während er sich eigentlich auf seine Ausbildung konzentrieren sollte – und das für jemanden, der viel mehr habe als er und davon profitiere. Er meint damit den Inhaber des kleinen Restaurants, in dem er arbeitet. Und jemanden daten, der seine Ansichten nicht teilt? Swipe left, please. +Professor Duffy überraschen solche Statements nicht. Die Polarisierung im Vereinigten Königreich sei zwar lange nicht so ausgeprägt wie etwain den USA, wo es regelrechte Kulturkämpfe gebe.Dennoch siedelten sich zu den Brexit-Identitäten, also der Frage, ob man für "remain" oder "leave" gestimmt hat, immer weitere Interessen an. Am Ende werde so aus einer politischen Haltung eine ganze kulturelle Identität, erklärt Duffy. +Die britischen Konservativen versuchten zwar, mit Aufbauprogrammen in strukturschwachen Regionen und Investitionen ins Gesundheitssystem auch soziale Themen zu setzen, um jüngere Generationen anzusprechen. "Wenn sie weiter den Nationalstolz betonen und ein Großbritannien der Vergangenheit beschwören, passen diese politischen Ideale aber nicht ins Weltbild der meisten in den jüngeren Generationen", so Duffy. Diesen antikonservativen Ruck würden auch soziale Medien verstärken. "Likes heben extremere Haltungen hervor. Das kann am Ende zu einer derartigen Kluft führen, dass Menschen nicht mehr nur verschiedener politischer Meinung sind, sondern die anderen für schlichtweg diabolisch halten." +Nathan Paley +Der Londoner Nathan Paley, 20, studiert Kunstgeschichte. Er glaubt, bereits die Grenzen linker Solidarität unter Gleichaltrigen erfahren zu haben. "Es gibt Leute aus dem linken Flügel, die stets betonen, dass für sie alle Menschen okay sind – und dann stößt du plötzlich auf ihre antisemitischen Narrative, etwa dass angeblich alle Unternehmen von Zionisten und Israel gelenkt werden. Wer zu weit in die eine oder andere politische Richtung schreitet, endet beim Totalitarismus." diff --git a/fluter/lithiumabbau-in-bolivien.txt b/fluter/lithiumabbau-in-bolivien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3b42c145a4474c614a6ba80fa2e245f6aec8d9e3 --- /dev/null +++ b/fluter/lithiumabbau-in-bolivien.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +In Bolivien, einem der ärmsten Länder Südamerikas, lagern die wohl größten Lithiumvorkommen der Welt unter dem Salzsee Salar de Uyuni. "Wir wollen kein zweites Potosí", erklärte Evo Morales, Boliviens indigener Präsident und ehemaliger Kokabauer. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit hatte er die Gasvorkommen verstaatlicht und die Gewinne in Sozialprogramme umverteilt. Beim Lithiumabbau möchte Morales nun nicht weniger als mit den Asymmetrien globaler Weltwirtschaft brechen. Das heißt, er will den Rohstoff nicht nur exportieren, sondern eigene Batterien herstellen. +Ein großer Schritt in diese Richtung soll der im Dezember geschlossene Vertrag zwischen dem bolivianischen Staatsunternehmen Yacimientos de Litio Bolivianos und dem deutschen Unternehmen ACI Systems Alemania (ACISA) sein. Er regelt die Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens, das das Recht zum Abbau der Lithiumvorkommen für insgesamt 70 Jahre erhält – eine außergewöhnlich lange Laufzeit. +Eigentlich wollte die bolivianische Regierung den Schatz allein heben und investierte in die Entwicklung einer eigenen Lithiumindustrie. Am Salar de Uyuni stehen bereits eine Pilotfabrik für die Förderung und Weiterverarbeitung des Lithiums und eine kleine Batteriefabrik. Doch dann zeichnete sich ab, dass die staatliche Bergbaugesellschaft auf ausländische Unterstützung angewiesen sein würde – es fehlt vor allem an Technik und Know-how. Schnell fanden sich zahlreiche Interessenten: chinesische, russische, iranische, koreanische, französische – und das deutsche Unternehmen ACISA. +Um den Deal einzufädeln, hatte die Bundesregierung über Jahre Beziehungen nach Bolivien aufgebaut. Und auch ACISA beschreibt die Zusammenarbeit als große Mission: "Deutschland erhält nun erstmals nach Jahrzehnten wieder direkten Zugang zu nicht heimischen Rohstoffen", erklärt das Unternehmen. Der deutschen Automobilindustrie sei ein Coup für die Zukunft gelungen, so die deutsche Lesart des Lithiumdeals. Bislang hat der bolivianische Staat in die Forschung und Erschließung der Vorkommen fast eine Milliarde US-Dollar investiert, nun sollen im Gemeinschaftsprojekt mit ACISA weitere 300 Millionen Euro folgen. Davon trägt ACISA knapp die Hälfte – und bekommt den Zugriff auf die womöglich größten Lithiumvorräte der Welt zum Schnäppchenpreis. +Bolivien +Bolivien hat knapp über 11 Mil­lionen Einwohner (die 37 Sprachen sprechen) und ist neben Paraguay der einzige Binnenstaat Südamerikas. Da sich die Anden in einem Bogen durch den Westen des Landes ziehen, gibt es hier so ziemlich alle Klimazonen – von arktisch im Hochgebirge bis tropisch in den östlichen Tiefebenen, die zum Amazonasbecken gehören. +Werden bolivianische Rohstoffe also letztlich doch wieder vor allem im Interesse anderer gefördert? Die Regierung Morales sieht das anders. Mit 51 Prozent der Aktien verbleibe die Kontrolle über das Gemeinschaftsunternehmen und damit über die Ressource in Bolivien. Wesentlich skeptischer ist da der Leiter des bolivianischen Informationszentrums CEDIB. "Die Entscheidungsstruktur des Unternehmens spiegelt nicht wirklich die Mehrheitsverhältnisse wider", kritisiert Oscar Campanini. Tatsächlich hat sich ACISA als Aktionär mit nur 49 Prozent erstaunliche Rechte gesichert. So müssen bei Entscheidungen im Aufsichtsrat vier von fünf Mitgliedern zustimmen. Es kann also in Bolivien keinen Beschluss ohne den deutschen Partner geben. +"Die bolivianische Regierung hat sich mit ACISA einen Partner gesucht, der bisher überhaupt keine Erfahrung im Bereich Lithium hat", sagt Epifanio Mamani, ehemaliger Vizebergbauminister von Bolivien, heute Dozent an der Universidad Autónoma in Potosí. Außerdem glaubt Mamani nicht, dass sich das bolivianische Lithium international behaupten wird. Denn das Lithium im Salar de Uyuni hat einen recht niedrigen Reinheitsgrad, außerdem erschwert die dreimonatige Regenzeit den Abbau. +Der Ressourcenexperte Campanini macht sich eher um das fragile Ökosystem des Salzsees Sorgen. Wie in Chile oder Argentinien geschehen, könnte der Grundwasserspiegel durch den Lithiumabbau sinken. Das könnte der Landwirtschaft ebenso wie dem immer wichtiger werdenden Tourismus am Salar de Uyuni schaden. Und auch wenn die Region recht bevölkerungsarm ist, sieht Campanini das Recht der lokalen indigenen Bevölkerung auf Konsulta­tion bisher nicht gewahrt. ACISA Systems widerspricht: Die ansässige Bevölkerung sei nicht nur frühzeitig informiert worden, sie solle auch "bei flankierenden Aufgaben rund um die Lithiumproduktion eingebunden werden". Auch die Umweltbedenken kann das Unternehmen nicht nachvollziehen. Man habe einen weltweit einzigartigen Prozess entwickelt, der trotz des immensen Wasserverbrauchs bei der Lithiumproduktion "eine neutrale bis positive Wasserbilanz aufweist". Noch ist nicht sicher, ob tatsächlich weitere Batteriefabriken im Salzsee entstehen; bisher gibt es dazu nur Absichtserklärungen der Vertragspartner. Deutschland und Frankreich verkündeten kürzlich, ein Batterieprojekt beider Länder mit 1,2 Milliarden Euro zu fördern. 2020 soll eine erste Pilotfabrik in Europa entstehen. +Simón Bolívar +Bis heute wird Simón Bolívar in Südamerika als der Freiheitskämpfer schlechthin verehrt: "El Libertador". Als Sohn einer reichen Familie 1783 in Caracas geboren, kam er auf Europareisen mit liberalen politischen Ideen in Berührung. Er schloss sich der Unabhängigkeitsbewegung an und kämpfte gegen die Sklaverei. In langen militärischen und politischen Kämpfen half er, die spanischen Truppen zu vertreiben. Kurz vor seinem Tod ernannte sich der Freiheitskämpfer zum Diktator. +Ist Bolivien also doch nicht auf dem Weg zu einer neuen, eigenständi­gen Industrialisierung? Koloniale Verhältnisse spiegeln sich nicht nur im Zugang zu Märkten, sondern auch im verfügbaren Investitionskapital und dem Zugang zu Know-how wider.Das Konzept des "vivir bien", des "guten Lebens", das Evo Morales zum Verfassungsprinzip erhoben hat, stellt dagegen den Schutz der Natur über industrielles Wachstum. Doch selbst Kritiker Campanini lehnt den Abbau nicht gänzlich ab: "Die Ressourcen sind Teil unseres Lebens. Die Frage ist nicht, ob wir sie abbauen, sondern ob wir einen Weg finden, bei dem die lokale Bevölkerung an erster Stelle steht." +Selbst wenn das bolivianische Lithiumprojekt ein Erfolg für Bolivien wird, die Region Potosí soll bisher gerade einmal mit drei Prozent der Einnahmen beteiligt werden. Nach wie vor ist Potosí das ärmste Departamento Boliviens. Und Uyuni die ärmste Region Potosís. Es braucht noch viele Schritte, damit der Fluch der Geschichte gebrochen wird. diff --git a/fluter/liv-stroemquist-ursprung-der-liebe-rezension.txt b/fluter/liv-stroemquist-ursprung-der-liebe-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..aaef115ecd78f2edc80ec3cbf8f99b4bdbfff818 --- /dev/null +++ b/fluter/liv-stroemquist-ursprung-der-liebe-rezension.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Liv Strömquist hat bereits im letzten Jahr mit "Der Ursprung der Welt", einer "Kulturgeschichte der Vulva", ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, komplexe kulturhistorische und feministische Fragestellungen auf ziemlich coole und pointierte Art grafisch umzusetzen. In "Der Ursprung der Liebe" versammelt sie nach derselben Methode eine Reihe von Sachcomics, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven des Themas Liebe annehmen, sich dabei manchmal aufeinander beziehen, aber in sich jeweils abgeschlossen sind. Der kürzeste Comic ist gleich der erste; er besteht aus nur einer Seite und fasst in vier Bildern die grundlegende Fragestellung sehr lakonisch zusammen: Prinz Charles, so wird gezeigt, wird nach seiner Verlobung mit Lady Diana auf einer Pressekonferenz (!) gefragt, ob er verliebt sei. Nach einem Moment der Stille (ist ja verständlich) antwortet er: "Yes." Und fügt dann hinzu: "Whatever love is." Arme Diana. Armer Charles. + + +Was die Liebe genau ist, werden wir am Ende von Liv Strömquists Comicalbum zwar immer noch nicht wissen. Aber wir werden oft ein bisschen ertappt in uns hineingegrinst haben, wenn uns vorgeführt wurde, welche Fallen wir uns mit unseren Erwartungen an Liebe selbst stellen. Natürlich: Diese Comics sind in jeder Hinsicht schwarz-weiß gezeichnet. Die Autorin nutzt ihr Medium, um die Dinge zugespitzt darzustellen. Wenn sie aufzeigt, welch grundverschiedene Rollenmuster Frauen und Männer in einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft auferlegt werden, möchte die eine oder der andere zwar gern glauben, dass es bei einer/m selbst anders ist, erkennt aber in den vorgeführten Klischees doch bekannte Muster problemlos wieder. +Locker streut Strömquist zwischendurch Ergebnisse diverser Studien ein, beispielsweise: "Die Studie zeigte, dass die meisten Männer das Wort ‚Gefahr' mit einem Bild verbanden, das einen Mann und eine Frau in einer Beziehung zeigte." Dazu soll nicht zuletzt erwähnt werden, dass dieses Comicalbum einen insgesamt dezidiert feministischen Standpunkt einnimmt – und Frauen anhand zahlreicher Fallbeispiele verdeutlicht, wie absurd es ist, sich emotional von einem Mann abhängig zu machen, der seine Partnerin womöglich auch noch schlecht behandelt. +Liv Strömquist: "Der Ursprung der Liebe". Aus dem Schwedischen von Katharina Erben. avant-verlag, Berlin 2018, 136 Seiten, 20 Euro +Liebe und Hass, so erfahren wir des Weiteren, werden übrigens durch Aktivität in genau derselben Hirnregion repräsentiert. Interessant sind auch jene Geschichten, die die unterschiedlichen Auffassungen von Liebe und sexuellen Beziehungen im historischen Vergleich aufdecken. Dass die Liebesheirat eine Erfindung der Neuzeit – genauer: des industriellen Zeitalters – ist, wussten wir ja schon. Aber dass die Heirat aus Liebe eben auch für das sexuelle Besitzstandsdenken verantwortlich ist, darüber könnte man bei Gelegenheit mal nachdenken. +Und genau so funktioniert dieses Comicbuch: Es stößt Gedanken an, ohne Lösungen frei Haus zu liefern. Männer kommen insgesamt nicht sehr gut weg und werden wiederholt aufgefordert, Dinge zu tun, zu lassen oder in Zukunft besser zu machen – zum Beispiel wie folgt formuliert: "Hier ein Tipp für Typen, die das Patriarchat ein bisschen aufmischen wollen: Schenken Sie irgendeiner Frau Zuneigung und Fürsorge! Z.B. einmal täglich." Darunter steht ganz klein: "Schneiden Sie diesen Merkzettel aus und legen Sie ihn in Ihr Portemonnaie!" +Ja, dies ist ein ungehemmt feministisches Buch, in dem die immer noch gültige patriarchale Gesellschaftsordnung als Quelle jener unseligen stereotypen Voreinstellungen identifiziert wird, die Liebesbeziehungen scheitern lassen. Das ist einerseits sicher nicht ganz falsch. Andererseits reduziert diese Sichtweise, wenn sie so verwendet wird wie hier, das Liebesproblem ausschließlich auf Beziehungen zwischen Frauen und Männern. Das ist dann doch ein bisschen zu flach gebohrt. Denn was ist mit den anderen? Funktionieren gleichgeschlechtliche Beziehungen etwa so anders? Um dieser Frage auszuweichen, kommen Frau-Frau- und Mann-Mann-Liebesbeziehungen in diesem Buch schlichtweg nicht vor. +Klar, Liv Strömquist ist keine Soziologin (sondern sie hat Politologie studiert). Und es ist prinzipiell ja richtig, daran zu erinnern, dass unsere westlichen Gesellschaften immer noch an ihrer patriarchalen Grundstruktur kranken. Aber so ein klein wenig zu einfach hat die Autorin es sich letztlich doch gemacht. Trotzdem: vielen Dank für die gute Unterhaltung und das Gedankenfutter! diff --git a/fluter/livische-sprache-stribt-aus.txt b/fluter/livische-sprache-stribt-aus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c2739b900ba4249beb7d08965ebaaeded5ff204b --- /dev/null +++ b/fluter/livische-sprache-stribt-aus.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Livisch gehört zur finnougrischen Sprachfamilie. Hauptsächlich wurde es in der lettischen Region Kurland in kleinen Fischerdörfern an der sogenannten livischen Küste gesprochen. Es ist dem Estnischen sehr ähnlich. Livisch verfügt über 23 Konsonaten, 8 Vokale und 12 Doppelvokale. Der Einfluss des Lettischen und auch Deutschen war sehr stark, was man sowohl an typischen Familiennamen als auch an Lehnwörtern wie tsukkõr (Zucker) erkennen kann. Durch die weitgehende Isolation an der Küste und das einfache Leben vom Fischfang war Livisch meist nur gesprochene und nur selten Schriftsprache. Nach der Angliederung Lettlands an die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg geriet die Sprache immer mehr ins Hintertreffen. Vor allem die Deklaration der Küste zum Sperrgebiet und der dadurch vielen Orten fehlende Zugang zum Meer sowie die Organisation der Fischerei in Kolchosen, die den Liven den freien Fischfang verbot, sorgten für eine Abwanderung ins Landesinnere, die auch die Sprache marginalisierte. Die letzte Muttersprachlerin, Grizelda Kristiņa, starb 2013 mit 103 Jahren in Kanada. +Die 71-Jährige stapft durch knöcheltiefen Schnee, der noch im März im Garten vor dem kleinen Fischerhaus liegt. Als Kind verbrachte sie hier, in Kolka, an der Küste der Rigaer Bucht, ihre Sommer. In einem kleinen Waldstück neben dem Haus reihen sich die Kiefern. Dahinter versperrt eine schneebedeckte Düne den Blick auf die Ostsee. Šuvcāne zog es von Riga hierher, weil es ihre Wurzeln seien, wie sie sagt, die mit diesem schneebedeckten Garten untrennbar vereint sind. +"Ich erinnere mich noch an den Klang, diese Harmonie der Worte, die hier am Gartenzaun ausgetauscht wurden", sagt sie. "Ich habe sie danach kaum noch in dieser Schönheit gehört." Seit fünf Jahren nun ist sicher, dass sie dies auch nie wieder wird. Šuvcāne ist Livin. Livisch war an der westlichen Küste Lettlands lange verbreitet. In den bewegten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts war die Sprache permanent vom Aussterben bedroht. Vor fünf Jahren starb die letzte Muttersprachlerin. +Šuvcāne kennt ihre Geschichte. Sie hat mehrere Bücher über die livische Küste und die "letzten Liven" geschrieben. Nun leitet sie den kleinen livischen Kulturverein mit angrenzendem Museum, das eigentlich nur ein Raum mit wild zusammengewürfelten Alltagsgegenständen der letzten 150 Jahre ist. Vieles davon hat Bezug zur Fischerei. In der Ecke steht die grün-weiß-blaue Fahne der Liven, die symbolisiert, was Fischer auf ihrer Fahrt zurück an Land sahen: das Blau des Meeres, den weißen Strand, die grünen Kiefernwälder. Die Liven waren seit jeher mit dem Meer verbunden. Nachdem die sowjetische Administration das Fischen in der Ostsee außerhalb der Kolchosen verboten hatte, beschleunigte sich der Abstieg des Livischen. Was davon übrig blieb, dokumentiert Šuvcāne. Sie selbst spricht die Sprache kaum. +Einer, der das noch tut, wohnt im 160 Kilometer entfernten Riga. Valts Ernštreits ist das sprachliche Gedächtnis der Liven. Jahrelang hat der Linguist die Sprache studiert. Niemand versteht Livisch besser als der 43-Jährige. Das livische Vermächtnis ist für Ernštreits zur Mission geworden. Seit über zwei Jahrzehnten widmet er sich vor allem dem Livischen, besuchte die letzten Muttersprachler, dokumentierte ihren Wortschatz. An der Universität Tartu im Nachbarland Estland gibt er Kurse in livischer Sprache. Auch in Lettland war es noch bis vor einigen Jahren möglich, die Sprachkurse vor allem an der Uni zu belegen. Livisch wurde zudem ins nationale Sprachengesetz und in die Verfassung aufgenommen. Im Zuge der weltweiten Finanzkrise Ende der Nullerjahre wurden die meisten Angebote gestrichen. Die Nachfrage ist seither nicht wieder gestiegen. Die Sprache, die klingt, wie wenn ein Russe versucht, stark affektiertes Finnisch zu sprechen, ist schwer zu lernen und noch schwieriger zu beherrschen. Und wenn man es doch auf ein passables Niveau geschafft hat, wird man feststellen, dass sie kaum anwendbar ist. Literatur ist Mangelware. Halbwegs passable Sprecher findet man selbst auf Smalltalk-Niveau neben Ernštreits kaum. Hinzu kommt, dass die Sprache im Prozess ihres Verschwindens kaum neues Vokabular aufbaute. +Valts Ernštreits setzt auf die Technik. Seine Mission: Livisch retten. +Wie erklärt man Probleme mit seinem Breitbandkabelanschluss, wenn es nicht mal mehr ein annähernd ähnliches Wort dafür gibt? Ernštreits versucht, den Wortschatz an moderne Wirklichkeiten anzupassen – mit Gedichtbänden. Mittlerweile gibt es einige Veröffentlichungen in livischer Sprache. Trotzdem: Ernštreits hat den Kampf für den Fortbestand der Sprache – zumindest der gesprochenen – längst verloren. "Es ist nicht wichtig, warum das Livische verschwunden ist. Viel interessanter ist, wie es die Sprache überhaupt so lange schaffen konnte", sagt er. Er setzt auf neue Technologien, Online-Datenbanken, ein digitales, unsterbliches Sprachgedächtnis. "Kleine Sprachen haben Zukunft, weil sie ein einzigartiges Mittel zur Selbstentfaltung sind, allein schon deshalb, weil sie nicht institutionalisiert sind", sagt er. Doch in einer globalisierten Welt, in der laut UNESCO bereits jetzt jede zweite Sprache als gefährdet gilt und bis zum Ende des Jahrhunderts ein Großteil von ihnen verschwunden sein wird, hat es das Livische nicht gerade einfach. +Noch erklären etwa 250 Menschen von knapp zwei Millionen Einwohnern in Lettland, offiziell Liven zu sein. Maximal 15 vor ihnen engagieren sich aktiv für den Erhalt von Sprache und Kultur, drei davon sind Poeten. Es gibt eine livische Facebook-Seite. Im etwa 20 Kilometer von Riga entfernten Salaspils probt regelmäßig der Chor Lōja, der auch mit traditionellen livischen Liedern im ganzen Land auftritt. Daneben bekennen sich viele Letten zu ihren livischen Wurzeln, die sich oft nur noch aus Nachnamen ableiten lassen. Dass das kleine Lettland im 100. Jahr seines Bestehens nach Identität und Stabilität sucht, weil es in seiner Geschichte meist fremdregiert wurde und nun 28 Jahre nach der erneuten Unabhängigkeit erst einmal das Lettische mit Leben zu füllen versucht, ist vielleicht auch die letzte Chance für die livische Sprache. +Eine Identität retten – das birgt die Gefahr, andere auszugrenzen. In Riga gibt es deshalb auch teils verstörende Stimmen, wie die von Dāvis Stalts. Der 36-Jährige sieht sich selbst als so etwas wie den letzten Liven, saß für die nationalkonservative Partei JKP im lettischen Parlament und führt heute eine kleine Bar, die sich ihres internationalen Publikums rühmt. Vor wenigen Jahren forderte Stalts eine livische Nation, die es historisch nie gab. +Baiba Šuvcāne stapft weiter durch den Schnee, vorbei am kleinen Gemeindehaus in Kolka, vor dem die Flagge der Liven weht. Sie sei nun mal Livin, sagt Šuvcāne, keine Lettin. Trotzdem: Baiba Šuvcāne könne mit all dem, was etwa Stalts proklamierte, nichts anfangen, sagt sie, während sie ihre selbst gestrickte Mütze in den livischen Farben und mit den zwei weißen Bommeln zurechtrückt. Ihre Herkunft, sagt sie, ihre Identität und Geschichte seien livisch, aber das ist doch Kultur, etwas Verbindendes, das nicht ausschließen soll. Das sei der Grund, warum sie einst von Riga an den Ort ihrer Kindheitserinnerungen zog, in die Nähe des Gartenzauns, an dem bis heute diese einzigartige Harmonie der Sprache für sie nachhallt, die nun aber wohl für immer stumm bleiben wird. + +Fotos: Antje Binder diff --git a/fluter/liz-interview-rap-einfluesse.txt b/fluter/liz-interview-rap-einfluesse.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c3c440699fe8c008b21272ae3457497a581dea53 --- /dev/null +++ b/fluter/liz-interview-rap-einfluesse.txt @@ -0,0 +1,29 @@ + +fluter.de: LIZ, wann ist Hip-Hop in dein Leben gekommen? +LIZ: Der war vor mir da: Meine Mutter war und ist großer Rap-Fan. Als sie mit mir in den Wehen lag, hat sie Songs von Moses Pelham gehört. Als ich ein Mädchen war, liefen bei uns zu Hause die frühen Alben von Azad und Bushido. Irgendwann habe ich die Texte verstanden, stand tagtäglich vor dem Spiegel, um mitzurappen. Dann hab ich erste eigene Texte geschrieben … Es hat sich immer so angefühlt, als wäre Rap in mir drin. Es gab irgendwie gar nicht die Option, selbst keinen Rap zu machen. +Warst du damit eine Außenseiterin? +Überhaupt nicht. Rap hat in meiner Gegend eine extrem große Rolle gespielt. Der war für uns viel relevanter als der Mainstream im Radio. Wenn ich an meine Jugend zurückdenke, schießen mir Lieder von Celo & Abdi durch den Kopf. Die liefen ständig, überall, bei den älteren und jüngeren Leuten. +In der Hinsicht ist deine Heimatstadt Frankfurt am Main sicher besonders. Es wirkt immer, als stünde die ganze Region wie eine Mauer hinter ihren Rapper*innen. Und man muss sagen, dass sie Deutschrap wirklich ihren Stempel aufgedrückt haben. +Es hat ewig gedauert, bis ich überhaupt bemerkt habe, dass in anderen Städten auch gute Rapper unterwegs sind. Ich bin mit der Gewissheit aufgewachsen, dass Frankfurter Rap der beste und wichtigste ist, den es in Deutschland gibt. Und würde immer noch behaupten, dass er eine zentrale Rolle spielt, vor allem für Menschen mit Migrationshintergrund. Leute wie Azad oder Haftbefehl haben mit ihrer abgehackten Aussprache und ihrem Sprachencocktail einen komplett neuen Slang erfunden. Daneben hat Frankfurter Rap für mich einen eigenen Vibe: Hier wird offen über Emotionen gesprochen, keiner verstellt sich. Ich finde, Rapper aus anderen Städten wollen meist einem Bild gerecht werden, die Frankfurter hauptsächlich sich selbst. +Wer so tief im Hip-Hop-Kosmos seiner Stadt verwurzelt ist, beschäftigt sich vermutlich nicht allzu intensiv mit den Ursprüngen der Kultur in den USA? +Mir war immer bewusst, dass es mehrere Generationen gab, die sich gegenseitig beeinflusst und aufeinander aufgebaut haben. Aber für mich begann die Hip-Hop-Geschichte lange in Frankfurt. Ich bin zum Beispiel generell kunstinteressiert, beschäftige mich erst seit ein paar Jahren mit Graffiti. Irgendwann habe ich kapiert, dass Graffitis nichts anderes sind als Straßengemälde, die zu jeder Uhrzeit für jede und jeden sichtbar sind. Den Gedanken finde ich inspirierend. Mittlerweile habe ich Tattoos, die stilistisch an Graffiti angelehnt sind. +Ziemlich Hip-Hop. +Ja. Aber viele der Roots habe ich wirklich erst nachgeholt, als ich selbst angefangen habe, Musik zu veröffentlichen. +Wie das? +Wenn dir die Leute zuhören, hast du eine Verantwortung. Rap steht aber oft für egoistisches Verhalten – und das ist nichts, was ich vorleben will. Die Auseinandersetzung mit denursprünglichen Werten der Hip-Hop-Kulturhat mir gezeigt, dass Rap und Egoismus eigentlich gar nicht zusammengehen. +Leider suggeriert Rap immer noch oft,dass Arschlochverhalten am Ende zum Erfolg führt. +Mich hat es immer mehr abgeholt, wenn Leute in ihrer Musik Schwäche gezeigt haben. Wenn deutlich wurde, dass das Menschen mit Fehlern sind. Solche Acts haben mich aufgebaut, mir geholfen zu reflektieren, sogar in den schweren Phasen meines Lebens. Wenn jemand immer nur erzählt, wie krass er ist, ist mir das ziemlich egal. +Old Generation +Anfang der 80er sah ein kleiner Junge in Minden seine ersten Breakdancer.Deutschrap-Legende Curse blickt für uns zurück +Gibt es etwas, das Rap kann und andere Genres nicht? +Rap lebt von einer Ernsthaftigkeit, die Pop- oder Schlagermusik einfach nicht haben. Es gibt keine Kunstform, in der du so auf deinen Sprachgebrauch achten musst. Und keine, in der du dich so gut erklären kannst. Das Verrückte ist ja: Es gibt so krasse Rapper da draußen, von denen du, wenn du sie auf der Straße siehst, niemals denken würdest, dass die sich so gut artikulieren können. Ich glaube, in anderen Genres wäre für solche Leute kein Platz. +Gibt es heute noch eine Hip-Hop-Szene? +Klar! Echter Rap erkennt und respektiert sich. Es gibt immer noch Leute, die rappen, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Auf der anderen Seite ist die Kultur halt gewachsen,Mainstream. Heute ist Hip-Hop alle Genres – und alle Genres sind irgendwie Hip-Hop. Ich kann verstehen, dass das für Leute, die damals in den kleinen Szenen aktiv waren, schwer nachzuvollziehen ist. +Hip-Hop ist gerade 50 geworden. Wie würdest du euer aktuelles Verhältnis beschreiben? +Ich habe Hip-Hop vieles zu verdanken, vielleicht mein ganzes Leben. Früher hat er mir als Hörerin Halt gegeben, heute ist Songschreiben wie Therapie für mich. Rap hat mir viel beigebracht. +Welche war die wichtigste Lehre? +Dass ich nicht der einzige Mensch mit Komplexen und Problemen bin. +Was wünschst du Hip-Hop für die Zukunft? +Vielleicht, dass er sich traut, in die Vergangenheit zurückzureisen. Zumindest wünsche ich ihm das jeden Freitag, wenn die neuen Singles rauskommen. Da bin ich meist schockiert, wie sich Rap entwickelt. Es gibt immer weniger Leute, die mit tiefen Themen erfolgreich sind. Dieses ganze "Was hab ich, was du nicht hast"-Gepose langweilt mich. Als ich mit 15 nach Identifikation gesucht habe, hätten mir die meisten der heutigen Songs vermutlich nichts gegeben. + +Titelbild: Paul Broeker /CC BY-SA 4.0 diff --git a/fluter/lkw-fahrer-protokoll.txt b/fluter/lkw-fahrer-protokoll.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..95f1e3f3a01692ac3b9e68e232b2105421a66608 --- /dev/null +++ b/fluter/lkw-fahrer-protokoll.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Als ich in den 80er-Jahren angefangen habe, waren die Bedingungen noch völlig andere. Körperlich war es beschwerlicher, du musstest beim Abladen mehr anpacken, Reifen selbst wechseln, wenn du unterwegs einen Platten hattest, und beim Fahren half dir noch nicht die ganze Automatik. Aber du wurdest besser behandelt. Es gab nicht diesen enormen Zeitdruck, und an den Rasthöfen hast du ein anständiges Menü zu fairen Preisen bekommen. +Auch unter den Fahrern war es ein anderes Miteinander. Da hast du angehalten, wenn vor dir einer eine Panne hatte. Du konntest über den CB-Funk in der Kabine einen anderen Lkw in der Nähe anfunken. Da hast du im Hauptkanal gefragt, ob der Kollege von der Spedition Meier auf Sendung ist. Wenn eine Antwort kam, konnte man zum Quatschen auf eine leere Frequenz wechseln. Wenn dich ein anderer Lkw überholt, blendest du eigentlich zweifach auf, um zu zeigen, dass er jetzt vorbei ist und wieder einscheren kann. Normalerweise bedankt sich der Kollege dann mit Blinker links-rechts-links. Aber das sieht man heute immer seltener. +Das hört sich jetzt viel nach "Früher war alles besser" an, aber für unseren Berufsstand sind das Tatsachen. Greifbar wird das bei der Infrastruktur an derAutobahnund auf den Rasthöfen, die ist eine Katastrophe. Deutschland ist mit seiner Lage das am stärksten befahrene Transitland der EU: Bis zu 750.000 Lkw sind hier täglich auf den Straßen unterwegs. Die Autohöfe sind proppenvoll, teilweise hast du keine Chance, einen freien Platz zu finden. Wenn du Pech hast, verbringst du die Ruhezeit auf einem Autobahnrastplatz, das sind die mit den versifften Toiletten irgendwo im Nichts. Du kannst nach so vielen Stunden hinterm Steuer nicht duschen, und zu essen bleibt dir nur, was der Lkw-Kühlschrank noch hergibt. +Doch die Autohöfe sind nicht viel besser. Das ist heute nur noch Abzocke, alles ist durchkommerzialisiert. Sogar das Pinkeln kostet einen Euro, und für einen schlechten Automatenkaffee zahlst du vier Euro. Und das dann über Wochen. Die Speditionen können neben dem Lohn steuerfrei Spesen bezahlen. Wenn du länger als 24 Stunden in Deutschland unterwegs bist, 30 Euro pro Tag. Aber sie müssen nicht, dementsprechend zahlen viele die teuren Raststätten-Preise aus eigener Tasche. +Berufskraftfahrer arbeiten in einer Fünftagewoche: neun Stunden Fahrzeit pro Tag, aber zweimal in der Woche dürfen zehn Stunden gefahren werden. Jeweils nach 4,5 Stunden ist der Fahrer verpflichtet, 45 Minuten Pause zu machen. Schon 2017 hat der Europäische Gerichtshof zum Schutz der Fahrer geurteilt, dass die vorgeschriebene wöchentliche Ruhezeit von mindestens 45 Stunden nicht in der Kabine verbracht werden darf. Ich bin immer noch ständig auf Rasthöfen unterwegs, und da siehst du: Daran hält sich kaum einer. +Die Arbeitgeber können sich zu leicht darum drücken, die Fahrer in Hotels unterzubringen. Denn wenn ein Fahrer in der Pause auf dem Rastplatz steht, dürfen die Kontrolleure von ihm nur die Tagesauswertung vom Fahrtenschreiber verlangen. Für das Gesamtprotokoll müssten sie nach der Pause wiederkommen, weil das Arbeitszeit ist – das ist komplett realitätsfern. Für die Fahrer hat sich nichts verbessert. +Der Lohn an sich ist die größte Baustelle in der Branche. Du schlägst die Hände über dem Kopf zusammen, wenn du siehst, was Fahrer in Polen, Bulgarien oder Rumänien verdienen. Das sind wahrscheinlich 600 bis 800 Euro brutto. Wer in Deutschland angestellt ist, verdient brutto dagegen etwa 2.500 bis 2.600 Euro, rund 400 Euro über dem Mindestlohn. +Ich kann mit dem Gerede von "kritischer Infrastruktur" und"systemrelevant"wenig anfangen. Jeder Beruf ist wichtig. Mir geht es darum, dass du als Fahrer deine Familie ernähren und einmal im Jahr normal in den Urlaub fahren kannst. Aber Fahrer haben wenig Möglichkeiten, für bessere Löhne zu streiken. Schätzungsweise sind weniger als 80 Prozent der Fahrer organisiert. Das liegt daran, dass sichGewerkschaftenlange nicht um den Berufsstand gekümmert haben. Mittlerweile ist Verdi da mehr hinterher. Ich bin in der Gewerkschaft und kann es nur jedem empfehlen, vor allem wegen der Rechtsberatung, die dir zusteht, wenn du gegen Arbeitsbedingungen in der eigenen Firma vorgehen willst. + diff --git a/fluter/lohnt-sich-umstellung-auf-biobauernhof.txt b/fluter/lohnt-sich-umstellung-auf-biobauernhof.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..27006d3c6972744c4e32a1913da4a7fc2024d95b --- /dev/null +++ b/fluter/lohnt-sich-umstellung-auf-biobauernhof.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Wir sind in Berndorf, einem kleinen Dorf eine Stunde entfernt von Kassel. Hier im Norden von Hessen sieht die Landschaft unter den Frühlingswolken aus wie ein Modelleisenbahn-Deutschland: sanft an- und absteigende Hügel, dazwischen Dörfer, grün-gelb-braune Felder. Der Hof der Dietzels ist der einzige Biobetrieb im Ort. Vater und Sohn sind erst seit relativ kurzer Zeit Biobauern. Erst vor zwei Jahren haben sie begonnen, ihren 90 Hektar großen Betrieb von konventioneller auf öko- logische Landwirtschaft umzustellen. Keine leichte Aufgabe. Immer wieder hört man von Biobauern, die ihren Hof aufgeben oder wieder auf konventionelle Landwirtschaft umstellen. Unter welchen Umständen lohnt sich denn Bio für den Bauern überhaupt? +Christoph Dietzel steht hinter der Umstellung auf biologische Landwirtschaft +"Wir hätten das viel früher machen sollen", sagt Christoph Dietzel. "Alle Biobauern, mit denen wir gesprochen haben, haben gesagt: Ihr habt zu lange gewartet." Seit Jahren schon boomt der Markt. Und obwohl in Deutschland noch nie so viele Biolebensmittel gekauft wurden wie heute, ist das wirtschaftliche Risiko einer Umstellung immer noch hoch: Erst nach 20 Monaten darf ein Landwirt für seine Tiere die höheren Preise für Biofleisch verlangen. Diese Umstellungszeit kostet Geld und erfordert zudem einen aufwendigen Umbau der Ställe. Zwar bekommt man dreimal so viel für ein Bioschwein wie für eins aus konventionellen Mastanlagen – man muss ihm aber auch dreimal so viel Platz geben. +Früher gab es im Stall der Familie Dietzel bis zu 1.500 Schweine, heute sind es weniger als 500. Sie stehen nicht auf einem Betonboden mit Ritzen, durch die der Kot fallen kann, sondern auf Stroh. Außerdem ist die Haltung von trächtigen oder säugenden Muttertieren in engen Kastenständen verboten. Sie säugen ihre Ferkel mindestens sechs statt nur drei Wochen. Und alle Schweine – egal ob Ferkel oder Mastschwein – können sich drinnen oder draußen aufhalten. All das sind Auflagen des Anbauverbandes Bioland, dem die Dietzels angehören. "In einem konventionellen Schweinestall hast du weder Tageslicht noch frische Luft. Darauf hatte ich keine Lust mehr", sagt Dietzel. +Bio ist aber nicht gleich Bio. Neben dem Siegel von Bioland gibt es noch welche von den Verbänden Demeter und Naturland, das deutsche Bio-Siegel und das EU-Bio-Logo. Die Anforderungen unterscheiden sich zum Teil stark. Ein Beispiel: Während bei den deutschen Bioverbänden Kühe ausdrücklich nicht mit Stromschlägen erzogen werden dürfen, ist dies durch die EG-Öko-Verordnung nicht geregelt. + +Christoph Dietzel kümmert sich gerne um seine Schweine. Um der artgerechten Haltung genüge zu tun, reduzierten sie von 1.500 auf 500 Tiere + +Christoph Dietzel sagt, ihm mache die Arbeit jetzt mehr Freude: "Ich sehe, wie die Schweine mit dem Stroh spielen. Man merkt, dass sie sich deutlich wohler fühlen." Auch der Ackerbau sei viel interessanter: "In der konventionellen Landwirtschaft ist das eigentlich nur wie Malen nach Zahlen. Man bekommt vom landwirtschaftlichen Berater seine Mittel. Die bringt man nach genauer Anleitung aus. Schritt eins, zwei, drei – und dann stimmt der Ertrag. Ohne Dünger und Pflanzenschutzmittel muss ich mir jetzt schon ein bisschen mehr Mühe geben mit der Fruchtfolge und dem Klee, mit dem wir Stickstoff im Boden anreichern." +Christoph Dietzel hebt den hechelnden Barnie auf die Ladefläche seines Pick-ups. Er will auf den Feldern nach dem Rechten schauen. Im aufgewirbelten Staub des Feldwegs entsteht ein kurzer Cowboy-Moment: Country Life im Hessischen. Auf dem Acker fährt Christophs Vater Traktor. Bernd Dietzel, 62, ist ein freundlicher, ernster Mann, der wie sein Sohn die Hände beim Gespräch gern tief in die Hosentaschen schiebt. Seit 1978 arbeitet er auf dem Bauernhof, den er einst von seinen Schwiegereltern übernommen hat und den sein Sohn nun weiterführt. +Die Umstellung auf Bio war eine gemeinsame Entscheidung, auch wenn der Sohn die treibende Kraft war. Der Gedanke sei auch durch seine Frau Dorothee gekommen, die er während ihres Studiums in Münster oft besuchte: "Dort waren die Studenten eher ökologisch eingestellt. Als konventioneller Bauer, gerade wenn man wie ich damit aufgewachsen ist, muss man sich erst mal daran gewöhnen." Er selbst hat klassische Agrarwirtschaft in Soest studiert. "Man bekommt im Studium beigebracht, dass Dinge wie der Spaltenboden die einzig gescheite Lösung sind, und man denkt, das sei schon okay, was man da macht." +Damit meint er auch die Manipulation am Körper der Tiere: das Beschneiden der Ringelschwänze etwa, damit die Tiere sich nicht aus Langeweile oderaufgrund der engen Haltunggegenseitig anfressen. Eigentlich ist das durch eine EU-Richtlinie nur in Einzelfällen erlaubt, aber nach Schätzungen schneiden konventionelle Landwirte in neun von zehn Fällen den Schwanz ab – ohne Betäubung. In Biobetrieben hingegen ist das Beschneiden der Schwänze verboten, bei der Ferkelkastration ist eine Narkose und/oder Schmerzbehandlung Pflicht. Ob die erst wenige Tage alten Tiere beim Abschneiden Schmerzen haben, ist nicht vollständig geklärt. +"Es existieren viele Vorurteile gegenüber der Biohaltung. Dass die Schweine im Dreck stehen und sich schneller mit Krankheiten anstecken etwa. Doch das ändert sich langsam. Auch ich habe irgendwann das eigene Wirtschaften infrage gestellt", sagt Christoph Dietzel. Tatsächlich räumt selbst der Dachverband der ökologi- schen Landwirtschaftsverbände ein, dass bei Biolandwirtschaft besonders auf die Hygiene geachtet werden muss – sonst kommt es zu Parasiten und Krankheiten. +Bei Dietzels sieht es so aus, wie man sich eine Landwirtschaftsidylle vorstellt +Und was sagt Vater Dietzel zum Schwenk auf Bio? "Die Frage, ob ich den Tieren mit konventioneller Haltung gerecht werde, beschäftigt mich schon lange. Bloß dachte ich immer, für uns als Schweinebetrieb sei eine Umstellung wirtschaftlich problematisch." Denn obwohl die Fleischproduktion von 1994 bis 2014 um fast 50 Prozent gesteigert wurde, ist der Markt für Bioschweine vergleichsweise klein. Weniger als ein Prozent der in Deutschland geschlachteten Tiere stammt aus ökologischer Landwirtschaft. Denn während Gemüse aus Bioproduktion meist kaum teurer als konventionelle Ware ist, kostet Fleisch oft das Mehrfache. +Insgesamt wächst aber die Nachfrage nach Bioprodukten seit Jahren. Im aktuellen, vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft in Auftrag gegebenen Ökobarometer gaben zwei Drittel der Befragten an, häufig oder immer Biolebensmittel zu kaufen. 2017 überschritt der Umsatz der Branche erstmals zehn Milliarden Euro. Damit ist Deutschland der größte Markt für Biolebensmittel in Europa. Mit der steigenden Nachfrage drängen auch Produzenten auf den Markt, die immer weniger mit den ursprünglichen Ideen gemein haben. Viele Biowaren kommen zudem aus dem Ausland, wo nicht selten die im Vergleich eher anspruchslose EU-Bio-Verordnung gilt. Ist der Markt nicht mittlerweile viel zu umkämpft? +"Für kleine Betriebe, die keinem Verband angehören, ist es schwer", sagt der Sohn, und der Vater nickt zustimmend. Diese Betriebe haben kein offizielles Bioverbandssiegel und damit auch keine zusätzlichen Kosten für bestimmte Auflagen. Aber: "Sie haben eine unsicherere Vermarktungslage und sind schwankenden Marktpreisen viel stärker ausgeliefert. Wir haben das Glück, für unsere Schweine vertraglich festgelegte Preise zu bekommen", sagt Dietzel. Den Großteil ihrer Schweine verkaufen die Dietzels über eine Erzeugergemeinschaft an eine Regionalgesellschaft der Edeka-Gruppe. Ihre Tiere landen als zertifiziertes Biofleisch in Supermärkten in Dortmund und Münster, Bielefeld und Düsseldorf. "Ökologische Ernährungsweisen sind in den Städten viel ausgeprägter. Dort sind unsere Absatzmärkte. Ohne diese Kaufkraft wäre die Biowirtschaft so gar nicht möglich." +Hier auf dem Land bekomme man beim Bier an der Theke schon mal einen dummen Spruch zu hören: "Du gehörst ja jetzt zu den Guten." Alles in allem seien die Nachbarn aber interessiert."Unter unseren Freunden hier finden es alle gut", erzählt Christophs Frau Dorothee. "Das heißt aber nicht unbedingt, dass sie auch Bioprodukte kaufen." diff --git a/fluter/lootboxen-videogames.txt b/fluter/lootboxen-videogames.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2b71b2a3562b772bd7444e7027e185a69096391b --- /dev/null +++ b/fluter/lootboxen-videogames.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Diese Summen gehen für sogenannte In-Game-Käufe drauf. Wer schneller Fortschritte machen will, muss während des Spiels Geld lockermachen, indem er notwendige Ressourcen kauft, anstatt sie zeitaufwendig zu "farmen". Pay2Progress oder auch Pay2Win nennt man dieses Geschäftsmodell. "Mich frustriert es, zu viel Zeit für Videospiele zu verwenden. Deshalb zahle ich lieber für die Ressourcen und konzentriere mich auf den strategischen Teil des Spiels", begründet Rafaell seine Käufe. +Manchmal sind die benötigten Ressourcen oder die Ausstattung aber gar nicht direkt kaufbar, sondern befinden sich in Lootboxen, also in Schatztruhen beziehungsweise digitalen Paketen, die vermeintlich per Zufallsgenerator mit virtuellen Gegenständen gefüllt sind. Man muss sie erst kaufen und öffnen, bevor man erfährt, ob der benötigte Gegenstand tatsächlich drin ist. Das ist vor allem beim "CoC"-Schwesterspiel "Clash Royale" der Fall. Andere bekannte Spiele, die Lootboxen enthalten, sind "Call of Duty", "FIFA","Fortnite"* oder "NBA 2K". +Die Diskussion um Lootboxen flammt in Deutschland häufig dann auf, wenn ein neuer bekannter Titel auf das umstrittene Geschäftsmodell setzt. Im März dieses Jahres sorgte ein österreichisches Gerichtsurteil für neuen Schwung in der Debatte. Lootboxen, wie sie bei "FIFA" vorkommen, seien als Glücksspiel einzustufen und in der Form illegal, entschied das Bezirksgericht Hermagor. Aus dem gleichen Grund hatte bereits Belgien Lootboxen verboten, und im Januar forderte auch das EU-Parlament die Kommission auf, eine strengere Regulierung von Lootboxen und Pay2Win-Modellen zu prüfen. + +Dieser Text ist in fluter Nr. 87 "Spiele" erschienen. Das Heftfindet ihr hier. +"Glücksspiel unterliegt zwar der nationalen Gesetzgebung, doch das Urteil in Österreich könnte auch in Deutschland, wo die Gesetze zum Glücksspiel ähnlich sind, einiges bewegen", glaubt Sabrina Wagner, die für den Verbraucherzentrale Bundesverband den digitalen Markt beobachtet. +Wagner kann die Argumentation des Gerichts gegen "FIFA" nachvollziehen. User können dort mit Spielewährungen, die sie erspielen oder aber auch mit echtem Geld kaufen können, sogenannte "FIFA"-Packs erstehen, deren genauen Inhalt sie vor dem Kauf nicht kennen und die laut Gerichtsurteil dem Zufall unterliegen und entsprechend mit unterschiedlich guten Spielern gefüllt sind. Diese werden in die eigene Mannschaft integriert, die wiederum gegen Geld auf dem Zweitmarkt weiterverkauft werden kann. +"Die wichtigsten Kriterien von Glücksspiel – die Zahlung eines Geldbetrags für die Möglichkeit zufälliger Gewinne, die wiederum monetarisiert werden können – sind erfüllt", sagt Wagner. Da Sony, über dessen PlayStation Store die Kaufverträge abgeschlossen wurden, keine Glücksspielkonzession besitzt, wurde das Unternehmen von dem österreichischen Gericht zur Rückerstattung von 338,26 Euro verurteilt, die ein Kunde für die "FIFA"-Packs aufgewendet hatte. Ein Präzedenzfall für künftige Klagen. +Während für das Gericht die fehlende Konzession im Vordergrund steht, treibt Eltern und Jugendschützer eine andere Frage um: Findet unter dem Deckmantel eines harmlosen Videospiels Glücksspiel seinen Weg in die Kinderzimmer? Gewinne im Glücksspiel – oder eben der richtige Gegenstand in der Lootbox – lösen im Gehirn einen Dopaminrausch aus. Dopamin ist der Botenstoff, der das Belohnungssystem aktiviert. Durch die erwartete Belohnung, die in Wirklichkeit aber ungewiss bleibt, wird irgendwann das Spielen an sich "belohnt". So kann eine Glücksspielsucht beginnen. In den vergangenen Jahren haben Studien eine Korrelation zwischen dem Gebrauch von Lootboxen und Problemen mit Glücksspiel bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen festgestellt. +Alexander Wahl, Jurist beim Europäischen Verbraucherzentrum Deutschland, warnt jedoch davor, die Problematik von Lootboxen und In-Game-Käufen allein an der rechtlichen Einstufung als Glücksspiel festzumachen. Pay2Win-Mechaniken und virtuelle In-Game-Währungen, die die tatsächlichen Kosten von Lootboxen verschleiern sollen und häufig sehr aufdringlich im Spiel eingebunden – und auch für junge Spielerinnen und Spieler mühelos bedienbar – sind, seien an sich zweifelhaft und erwiesen sich oft als Kostenfalle. "Uns erreichen immer wieder Anfragen von Verbraucherinnen und Verbrauchern, die hohe vier- bis fünfstellige Beträge ausgegeben haben", berichtet Wahl. +So schützt du dich besser vor unübersichtlichen Spielkosten: +• Prüfe vor dem Kauf oder der Installation, ob ein Spiel mit Pay2Win-Modellen arbeitet. Dabei helfen die Alterskennzeichnung oder Kundenbewertungen. +• Je nach Betriebssystem oder Spielgerät gibt es die Möglichkeit, In-Game-Käufe einzuschränken oder komplett zu blockieren. +• Nutze für Game-Shops möglichst Prepaidkarten. So behältst du leichter den Überblick über die Kosten. +Eine positive Entwicklung ist für ihn deshalb, dass die bekannten Alterskennzeichen der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK), die in Deutschland für die gesetzliche Altersfreigabe zuständig ist, seit Januar 2023 nicht mehr nur vor jugendschutzrelevanten Inhalten warnen, sondern bei neu eingereichten Spielen auch vor anderen Onlinerisiken wie eben In-Game-Käufen, Lootboxen oder Chatfunktionen, über die Hass verbreitet werden kann. Ob Spiele wie "FIFA" wie bisher ohne Altersbeschränkung freigegeben würden, ist fraglich. +Für die Hersteller lohnt sich das Geschäftsmodell allemal. Mit In-Game-Käufen wurden in Deutschland 2022 insgesamt 4,5 Milliarden Euro erwirtschaftet. Dagegen nimmt sich der Umsatz von 1,1 Milliarden Euro aus reinen Spiele-Einzelverkäufen mickrig aus. "Clash of Clans", das scheinbar kostenlose Handyspiel, generierte 2022 weltweit einen In-Game-Umsatz von nahezu einer halben Milliarde Dollar. +Auch bei den Gamerinnen und Gamern sorgen Lootboxen für Unmut – allerdings weniger wegen ihres Glücksspielcharakters: "Wenn du weißt, du kannst nur mit Geld, aber nicht mit deinen Fähigkeiten gewinnen, zerstört das den Spaß am Spiel", sagt Aria, der seit Jahren "FIFA" spielt. EA Sports verteidigt das Pay2Win-Konzept: "Die Fans lieben es, dass das Spiel die realen Herausforderungen und die Strategien, ein Team aufzubauen und zu managen, widerspiegelt." Zumindest in diesem Punkt gibt Aria den Herstellern recht. "Es ist wie im echten Fußball. Du musst Geld haben, um ganz oben mitzuspielen." + +* Hinweis, 28. Juni: Wir wurden nach Erscheinen des Artikels darauf hingewiesen, dass die Lootboxen in "Fortnite" seit einer Weiletransparent sind. Heißt: Spielerinnen und Spieler können die Inhalte der sogenannten "X-Ray-Lamas" vor dem Kauf einsehen. + diff --git a/fluter/lost-in-music.txt b/fluter/lost-in-music.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c9424eb2ec0a0c396bb67f17cc04a868db6dc8d8 --- /dev/null +++ b/fluter/lost-in-music.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Auch wenn die "Härte gegen Punk"-Episode den Höhepunkt staatlicher Repression gegen Jugendliche darstellte, war das Misstrauen der DDRFührung chronisch gegenüber allen, die anders sein wollten. Insbesondere, wenn man die bürgerliche Dekadenz des Westens dahinter witterte. Schon Rock 'n' Roll roch nach Ärger. Walter Ulbricht sah im hüftenschwingenden Elvis ein gefährliches Geschütz im Kalten Krieg. Die Beatles galten im Kulturministerium   als Motor der imperialistischen Propagandamaschinerie, die langhaarigen Hippies als maskierte Klassenfeinde. Wann immer neue Jugendbewegungen entstanden, versuchte man sie mit aller Macht zu unterdrücken. Scheiterte dies, was in der Regel der Fall war, probierte man sie zu vereinnahmen und erfand eigene Musikrichtungen, die sich an die Westimporte anlehnten: Da man Rock nicht verbieten konnte, wurde Anfang der 70er-Jahre mit dem Wechsel von Ulbricht zu Honecker das "Komitee für Unterhaltungskunst" eingerichtet, eine Koordinierungsstelle zwischen Kulturministerium und Bands. Ein enormer Behördenapparat kümmerte sich fortan um die planwirtschaftliche Produktion von Musik, die nach ideologischen Maßstäben organisiert wurde. Mit Bands wie den "Puhdys" sollte ein genuiner Ost-Rock geschaffen werden, um die Wünsche der Jugend zu befriedigen. Die Tauwetterperiode währte indes nicht lang. 1975 wurde die Gruppe Renft verboten, 1976 der kritische Liedermacher Wolf Biermann ausgebürgert. Von der Strategie der Umarmung ließ man dennoch nicht ganz ab. In einem Positionspapier hieß es noch 1984: "Rockmusik ist geeignet, die Schönheiten des Lebens in Frieden und Sozialismus zu propagieren, den Lebensmut zu stärken, Stolz auf Erreichtes zu zeugen, staatsbürgerliche Haltung und Aktivität zu fördern und auch Widersprüche transparent zu machen und mit ihren Mitteln Partei zu nehmen in den Kämpfen unserer Zeit." Selbst als Anfang der 80er-Jahre die neue deutsche Welle mit Spaßkanonen vom Schlage eines Markus ("Ich will Spaß") vom Westen in die DDR schwappte, wurden flugs eigene Bands gegründet. +Den Punkbands war diese Vereinnahmung reichlich egal. Sie wollten von der DDR nichts wissen und bemühten sich weder um eine offizielle Spielerlaubnis, genannt "Pappe", noch um Plattenaufnahmen bei dem staatseigenen Label Amiga. Sangen Bands der ersten Punkgeneration wie "Planlos" oder "Schleimkeim" noch über politische Missstände, etwa über Stasi-Bespitzelung und Zensur, distanzierte sich die zweite Generation von allzu Politischem und baute auf die Macht des Rätselhaften, Unentschlüsselbaren, was für die kontrollwütigen Behörden fast der größere Affront war. "Eigene Netzwerke aufzubauen war unsere Reaktion auf den Staat", sagt Robert Lippok. Seine Band "Ornament & Verbrechen" war nie eine ganz normale Band, eher etwas Flüchtiges, ein Gerücht aus verfallenen Kellern und Hinterhöfen des Prenzlauer Bergs, wo die Künstler und Querdenker wohnten. Die Besetzungen schwankten, der Sound auch. Er konnte von Samba bis Industrial gehen. "Der Stil war uns egal", sagt Ronald Lippok. "Das hatte damit zu tun, wer gerade mitgemacht hat." +Wichtig war den Musikern vor allem die Intensität. 1988 fand das erste Acid-House-Konzert in der DDR statt – in der Kunsthochschule Berlin- Weißensee. Ein Commodore 64 sorgte für die Sounds. Statt ihre kommunistische Persönlichkeit in Jugendklubs oder staatlichen Kulturhäusern zu entwickeln, spielten die Bands in Galerien und Wohnungen, Kirchen und Ateliers, experimentierten mit Radios und selbst gebauten Instrumenten und nahmen in nächtlichen Jamsessions Kassetten auf, die in 30er-Auflagen im Sympathisantenkreis die Runde machten. Unterhalb des Radars der staatlichen Kontrolle entstand so eine Kommunikationsguerilla, die immer neue Nischen für Auftritte und Aktionen fand. Die Punkforderung "Do it yourself" wurde wohl nirgends konsequenter umgesetzt als in ostdeutschen Hinterhöfen – und die Umsetzung hat womöglich nirgendwo mehr Spaß gemacht. Bands wie "Feeling B", aus denen später "Rammstein " hervorging, "AG. Geige" oder "Herbst in Peking" waren das Gegenteil des ausgeprägten Ordnungswunsches der DDR-Obrigkeit. Und die reagierte mit Zuckerbrot und Peitsche: In manche Bands schleuste die Stasi sogar IMs ein, etwa in "Die Firma" oder "Wutanfall". Wieder andere Bands erhielten Genehmigungen für Auftritte, Plattenaufnahmen und sogar Auslandsreisen. So spielte "Feeling B" ausgerechnet am 9. November 1989 in Westberlin. +In den späten 80er-Jahren regierte auch in der Kulturpolitik das Chaos. "In der DDR musste man eigentlich immer für etwas sein", erinnert sich Monika Bloss, die bis 1985 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Komitee für Unterhaltungskunst arbeitete. "In den 80er-Jahren organisierte das Komitee mit der FDJ ein Festival. Im Westen hießen solche Veranstaltungen immer Rock against Racism oder so. In der DDR konnte man sich dann auf Rock für den Frieden einigen." Das jährliche Festival war der letzte große Versuch, die Jugendlichen mit staatlichen Kulturprodukten zu erreichen. "Offizielle " Bands wie "Silly" und "Karat" wurden angehalten, Songs dafür zu schreiben. Doch selbst in der Mangelwirtschaft ließen sich diese Platten bald nicht mehr verkaufen. Die jungen Leute hatten sich längst ihre eigenen Nischen geschaffen, und die ministeriellen Instanzen waren ziemlich verwundert, dass sich da junge Leute mit Stolz und Arroganz den offiziellen Kanälen verweigerten. +Oder sie unterwanderten – wie Ronald Galenza. "Der Alltag in der DDR war unfassbar langweilig. Wir waren erfüllt von Musik, die nirgends stattfand. " Die Musik, das war das, was man heimlich bei John Peel im britischen Truppensender BFBS hörte. Doch tanzen konnte man dazu nirgends, bis Galenza und ein paar Punkfreunde den FDJ-Kreisjugendklub Pablo Neruda auf der Insel der Jugend in Treptow kaperten und dort mit "X-MAL!" die erste DDR-Indie-Disco aufzogen. "Die machten da Filmabende und Töpfernachmittage, also öde Komplettbetreuung", erinnert sich Galenza – mehr als 15 Besucher kamen selten zu den braven FDJ-Veranstaltungen. Einer seiner Freunde hatte beim Jugendklub eine Anstellung bekommen und konnte das Kollektiv überreden, ihr Programm zu erweitern. "Wir wollten Discoabende machen. Dafür brauchte man einen Discoschein und eine Prüfung seitens der Kulturämter. Dann gab es noch die 40-zu-60-Regel. Die besagte, dass 60 Prozent der Musik aus dem sozialistischen Lager kommen musste. Unsere Quote war konstant null." Weil die Partys von Anfang an knallvoll waren, lies sie die FDJ gewähren. +Die Musik kam von Kassetten, die aus dem (West-)Radio aufgenommen waren, am Ende der Stücke redete immer Moderator John Peel rein, aber das störte niemanden. Platten fanden nicht den Weg in die Disco, auch wenn Galenza dank seiner Westoma einige hatte. "Das waren Kultobjekte, die hätte ich nie mitgebracht." "Punk war der Soundtrack zum Untergang der DDR", da ist sich Ronald Galenza sicher. Hier machte sich ein Individualismus breit in einer Gesellschaft, die einen hohen Konformitätsdruck ausübte. Anders auszusehen war eine gehörige Provokation in einem Staat, dem man nirgends entkam. Die Punks haben das System nicht gestürzt. Doch sie lehrten den Staat das Fürchten. diff --git a/fluter/lost-in-translation.txt b/fluter/lost-in-translation.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..df580b02544b1af3e6b7c8542563a8fd170aaec9 --- /dev/null +++ b/fluter/lost-in-translation.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Simultandolmetscher müssen sich in komplizierte Sachverhalte einarbeiten können, brauchen Einfühlungsvermögen, Menschenkenntnis und gute Nerven. Laut Weltgesundheitsorganisation gehört Dolmetscher zu den stressigsten Berufen überhaupt – gleich nach Jetpilot und Fluglotse. Katharina hat sich den schmalen, schwarzen Kopfhörer so aufs blonde Haar gesetzt, dass ein Ohr frei bleibt. So kann sie gleichzeitig die Stimme des Redners und ihre eigene hören – das ist ungefähr so, als würde man bei einer starken Rückkopplung unbeirrt weiter in sein Handy sprechen. Während die Dolmetscherin auf Deutsch formuliert, muss sie gleichzeitig dem Redefluss weiter folgen – die Zeitverzögerung beträgt nur wenige Sekunden. +Hörfehler und Missverständnisse sind der Albtraum jedes Berufsanfängers. Die meisten sammeln im Lauf der Jahre einen ganzen Schatz an Horrorgeschichten. Ferenc Robinek aus der ungarischen Kabine erzählt, wie sein Kollege einmal ganz kurz auf die Toilette musste. Als er zurückkam, wurde in der Sitzung viel von "Profit" gesprochen, was aber weder zum Tagungsthema noch in den Gedankenfluss des französischen Redners hineinpasste. Dennoch übersetzte der Ungar weiter tapfer und sprach über "die Würde des Profits" und "die Bedeutung des Profits für den Islam". Erst hinterher wurde ihm klar, dass die ganze Zeit von Mohammed die Rede war – auf Französisch "le prophète" und nicht "le profit". Genauso unangenehm dürfte es werden, wenn Staatsmänner losschimpfen – wie etwa der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi, der einen deutschen Europaabgeordneten mit einem SS-Schergen verglich. In solchen Fällen gibt es in den Dolmetscherkabinen Schweißausbrüche. +Auf der Tischplatte in Katharina Schmids Kabine liegen Gesetzentwürfe in mehreren Sprachen, außerdem hat jede Dolmetscherin einen kleinen Computer vor sich stehen, um im Internet unbekannte Begriffe nachschlagen zu können, die aus allen möglichen Bereichen stammen können – von Tierschutz über das Gesundheitswesen bis zur Landwirtschaft. Heute treffen sich unterhalb von Katharinas Kabine Bildungsfachleute aus allen 27 Mitgliedsstaaten, um über Mindeststandards für die Ausbildung von Ärzten und Zahnärzten zu reden. Bei den technischen Fachbegriffen und Abkürzungen, die auf Griechisch, Portugiesisch oder Slowakisch durch den Raum schwirren, kann auch ein geübter Dolmetscher schnell ins Stolpern geraten. +Auf dem Kabinenplan, den jeder der 18 heute anwesenden Dolmetscher vor Sitzungsbeginn bekommen hat, kann Schmid die Sprachverteilung sehen. Sie selbst überträgt aus dem Englischen, Französischen und Portugiesischen ins Deutsche. Derzeit lernt sie noch Italienisch als vierte Sprache dazu. Doch schon jetzt ist ihr Mix für die Bedürfnisse der Europäischen Institutionen, die die weltweit größten Dolmetscher- und Übersetzerdienste betreiben, ziemlich ideal, denn häufig wird in der EU-Kommission und im Rat der Regierungen nur auf Deutsch, Englisch und Französisch verhan- delt. Portugiesisch wird eher selten genutzt – damit füllt Katharina Schmid, die 2004 an der Kölner FH ein Dolmetscherdiplom gemacht hat, zusätzlich eine Marktlücke. Die portugiesische Expertin, die unten im Saal das Wort ergreift, kann also in ihrer Muttersprache reden, anstatt sich mit dem komplizierten Fachvokabular auf Französisch oder Englisch abzuquälen. Allerdings gibt es heute niemanden, der aus dem Portugiesischen ins Slowakische übersetzen kann – doch einer der drei anwesenden slowakischen Dolmetscher versteht Deutsch. So holt er sich per Knopfdruck Katharina Schmids Stimme auf den Kopfhörer, um dann aus dem Deutschen ins Slowakische weiter zu übertragen. So eine Dolmetscherschleife nennt man "Relais-Übersetzung". +"Wenn bei einer Sitzung alle 23 EU-Sprachen angeboten werden, dann wird es schwierig, den Kabinenplan zu lesen", sagt Katharina Schmid. Das Konferenzzentrum, in dem sie heute arbeitet, wurde Ende der siebziger Jahre gebaut, daher kann das nicht passieren. Damals gehörten der Europäischen Gemeinschaft nur neun Ländern an, weshalb man in die Sitzungssäle maximal neun Dolmetscherkabinen baute – eine Erweiterung auf 27 Mitgliedsstaaten konnte sich damals schlichtweg niemand vorstellen. Bis in die sechziger Jahre hinein war zudem "konsekutiv" gedolmetscht worden – nach jedem Abschnitt machte der Redner eine Pause und ließ den Dolmetscher zu Wort kommen, was einen doppelten Zeitaufwand bedeutete. Doch inzwischen haben sich die EU-Politiker längst an den Luxus gewöhnt, im Sitzungssaal zu den Kopfhörern zu greifen und ihre Muttersprache zu hören. "Damit die Kosten nicht explodieren, haben wir 2004 das ‚Demand and pay'-System eingeführt", erklärt Ian Andersen von der Generaldirektion Dolmetschen, dem für das Dolmetschen und die Organisation von Konferenzen zuständigen Dienst der Europäischen Kommission. Seither bietet seine Abteilung nur noch die wichtigsten Sitzungen in allen 23 Sprachen an. Wer zusätzlichen Sitzungen in seiner Muttersprache folgen möchte, muss bezahlen. Bei vielen Ländern ging die Nachfrage daraufhin spürbar zurück, sie schauten genau, bei welchen Sitzungen sie sparen konnten. "Allmählich steigt die Nachfrage aber wieder, weil die Regierungen gemerkt haben, dass es billiger sein kann, in Dolmetscher zu investieren, als seine politische Botschaft nicht präzise rüberzubringen", sagt Andersen. +Beim Europaparlament in Straßburg mit rund 750 Abgeordneten hat sich die Nachfrage nach Dolmetschern durch die letzte Erweiterungsrunde fast verdoppelt. "Wir können uns nicht wie die EU-Kommission und der Rat der Regierungen am Bedarf jeder einzelnen Sitzung orientieren", erklärt Olga Cosmidou, die den Dolmetscherdienst des Europäischen Parlaments leitet. "Jeder europäische Bürger hat ein Anrecht darauf, jede beliebige Sitzung per Webstream in seiner Muttersprache verfolgen zu können. Deshalb werden neunzig Prozent unserer Treffen in mehrere EU-Sprachen übertragen – das bedeutet 110.000 Dolmetschertage pro Jahr." Der am 1. Dezember 2009 in Kraft getretene Lissabonvertrag hat den Übersetzern und Dolmetschern noch einmal mehr Arbeit beschert, denn seither ist das EU-Parlament in Straßburg bei fast allen EU-Gesetzesvorhaben mit dem Ministerrat gleichberechtigter Mitgesetzgeber. Übersetzungen müssen fristgerecht vorliegen, Verhandlungsführer bekommen ihren persönlichen Dolmetscher zur Seite gestellt. "Der Ratsvertreter ist vielleicht aus Ungarn und spricht außerdem Englisch", so Cosmidou, "unser Verhandlungsführer ist Italiener und kann sich auch auf Französisch verständigen – wie sollen die beiden ohne Dolmetscher miteinander reden?" +Während Ian Andersen sein Bezahlsystem am Standort Brüssel als "smart solution" preist und fest überzeugt ist, dass auch das EU-Parlament in Straßburg und Brüssel mit weniger Übersetzungsaufwand auskommen könnte, eint beide eine Sorge: Der Nachwuchs fehlt. Auf der Facebookseite Interpreting-for-Europe wirbt die EU daher für einen abwechslungsreichen, kreativen, gut bezahlten Beruf, der mit vielen Reisen verbunden ist. Nach der letzten Erweiterungsrunde waren es vor allem die kleinen Sprachen, für die qualifizierte Dolmetscher fehlten. In den baltischen Staaten wurden zum Beispiel unter der russischen Besatzung jahrzehntelang die Landessprachen systematisch verdrängt. Von der Insel Malta mit ihren gut 400.000 Einwohnern sind bis heute nicht genug Dolmetscher nach Brüssel gekommen. Doch man muss keine "exotischen" Sprachen wie Lettisch, Maltesisch oder Irisch-Gälisch beherrschen, um in Straßburg und Brüssel gute Aussichten auf einen Job zu haben. Das Durchschnittsalter in den deutschen Sprachkabinen liegt bei 50 Jahren, viele der Dolmetscher gehen demnächst in Rente. "In welchem anderen Job ist man dabei, wenn Geschichte geschrieben wird?", fragt Cosmidou. Und Susanne Altenberg, Chefin der deutschen Sprachabteilung, ergänzt: "Ich lese gerade Tony Blairs Memoiren. Als er im Europaparlament seine berühmte Rede hielt, war ich seine deutsche Stimme." +Unsere Autorin Daniela Weingärtner hat in der Schule auch Latein gelernt, was man in Brüssel nicht wirklich brauchen kann. 1999 hatte sie allerdings ihre große Stunde: Als die Finnen erstmalig den Rat der Regierungen leiteteten, publizierten sie ihre Webseite auf Latein. diff --git a/fluter/lost.txt b/fluter/lost.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7d72bef88c1e15f715e0632c670813b6f10d683a --- /dev/null +++ b/fluter/lost.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Vor allem in den 1960er-Jahren entstanden rund um die französischen Großstädte große Hochhaussiedlungen, in denen Einwanderer aus den ehemaligen französischen Kolonien wie Senegal, Mali oder der Elfenbeinküste unterkamen. Viele stammten auch aus Algerien, das erst nach einem verlustreichen Befreiungskrieg 1962 unabhängig geworden war. Dieser Krieg, für den sich Frankreich nie offiziell entschuldigt hat, spielt in vielen algerischstämmigen Familien immer noch eine große Rolle. Der alltägliche Rassismus, dem viele Nordafrikaner ausgesetzt sind, hat den Hass auf die neue Heimat bis heute genährt. +Das macht es radikalen Islamisten leicht, in den sozialen Brennpunkten Mitkämpfer für den Heiligen Krieg zu finden. Die desillusionierten Jugendlichen sind für sie eine leichte Beute. Aus keinem anderen -europäischen Land kämpfen so viele von ihnen an der Seite des sogenannten IS in Syrien. Und sowohl beim Anschlag auf die Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" als auch bei der Attentatsserie in Paris im November 2015 hatten einige der Terroristen algerische Wurzeln. In manchen Banlieues seien der Druck des Islamismus und die Regeln des Islam allgegenwärtig, sagt der französische Islamwissenschaftler Gilles Kepel. Die Kinder aus Einwande-rerfamilien seien empfänglich für die radikalen Parolen der Hassprediger, weil sie kaum berufliche Aufstiegschancen hätten. "Jeder weiß, dass es in der Banlieue Waffenlager gibt", sagte Hassen Chalghoumi neulich dem "Spiegel". "Aber aus falsch verstandener Toleranz lässt der Staat die Arme hängen." Chalghoumi ist Imam von Drancy, einer weiteren Vorstadt von Paris. Weil er einen liberalen Islam predigt, wird er ständig von Leibwächtern begleitet. + +Banlieue heißt eigentlich nur Vorstadt, und die kann reich und arm sein. Mittlerweile steht der Begriff aber vor allem für die Problemviertel rund um die großen Städte, in denen hohe Arbeitslosigkeit herrscht +Frankreich ist ein Land, das zur Bildung von Eliten neigt. Schon das Schulsystem ist auf Ungleichheit angelegt, der Erfolg der Schüler hängt stark mit deren Herkunft zusammen. "Wer bei der Bewerbung im Lebenslauf eine schlecht angesehene Banlieue als Wohnort angibt und dann noch einen ausländisch klingenden Namen hat, wird sofort aussortiert", sagt Tithrith Kasdi vom Verein CPCV, der sich um die soziale und berufliche Eingliederung junger Menschen in sozialen Brennpunkten kümmert. +Zumindest in Clichy-sous-Bois soll sich nun etwas ändern: Marode Beton-burgen werden durch schönere Häuser ersetzt, es gibt nun eine Polizeiwache, ein Arbeitsamt und ein Schwimmbad – all das ist tatsächlich neu. "Die Menschen wissen, dass wir daran arbeiten, die Dinge zu verbessern", sagt Bürgermeister Olivier Klein. "Aber sie wollen heute besser leben, nicht erst in zehn Jahren." diff --git a/fluter/love-storm-training-gegen-hatespeech.txt b/fluter/love-storm-training-gegen-hatespeech.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8adc1e518a70f36e3a784502f294f3356808e826 --- /dev/null +++ b/fluter/love-storm-training-gegen-hatespeech.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +"Die meisten Menschen fühlen sich zu sicher oder zu unsicher, um bei Hatespeech einzugreifen", erklärt mir Björn Kunter dieses Verhalten. Er ist der Gründer von Love-Storm. Hier kann man mithilfe eines E-Learning-Tools und Online-Trainings lernen, gegen Hass im Netz aktiv zu werden. Und da ich offensichtlich Nachhilfe nötig habe, schaue ich mir das mal an. Obwohl sich 16 Menschen angemeldet haben, tauchen nur sieben an diesem Freitagabend zum Onlinekurs auf. Das sei öfter so, erklärt der Trainer. Klar, denke ich mir, an einem Freitagabend würde ich auch lieber entspannt ins Wochenende starten, als mich mit Trollen undRassistenverbal zu prügeln. + + +Doch um Wortgefechte geht es nicht. Das lerne ich schnell. Ein Love-Storm, wie wir ihn hier lernen sollen, hat drei Ziele: Angegriffene schützen und stärken, Zuschauende mobilisieren und den Angreifenden gewaltfrei, also ohne zurückzupöbeln, Grenzen setzen. Dass das einfach klingt, aber nicht ist, merke ich schon im ersten Rollenspiel. Wir teilen uns in vier Gruppen: Angegriffene, Zuschauer*in, Hasskommentator*in und Eingreifende. Ich bin diejenige, die angegriffen wird. +Das Szenario: In einer Stadt wird eine Unterkunft für Geflüchtete eingerichtet, es soll ein Willkommensfest geben. Unter einem Posting von mir, in dem ich zum Fest einlade, sammeln sich rasch Trolle,die die klassischen Stammtischparolen gegen Geflüchtete raushauen. Es wird schnell konkreter: "Wir kommen auch vorbei und zeigen euch, wie willkommen ihr seid!" Die Trolle werden von zwei anderen Teilnehmenden gemimt, während eine Person versucht, mir zur Seite zu springen – allerdings wenig erfolgreich.Bei den Anschuldigungen werde ich schnell wütend, fühle mich persönlich angegriffen und ungerecht behandelt. Vor allem aber fühle ich mich alleingelassen, weil die Hassfraktion in der klaren Mehrheit zu sein scheint. Dabei ist es tatsächlich nur das: Schein. "Der Großteil der Hasskommentare geht von rund fünf Prozent der Nutzer*innen aus", erklärt der Trainer nachher. "Die Angegriffenen sind weniger von den Hasskommentaren verletzt als davon, dass die meisten schweigend zuschauen." +Wenn Menschen abgewertet, angegriffen oder mit Hass oder Gewalt bedroht werden, spricht man von Hatespeech ("Hassrede"). Oft sind es rassistische, antisemitische oder sexistische Kommentare, die bestimmte Menschen oder Gruppen als Zielscheibe haben. Hatespeech ist damit ein Oberbegriff für das Phänomen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit oder Volksverhetzung in Social Media. +Nach dem Rollenspiel kurze gemeinsame Reflexion. Die anderen hatten ähnliche Probleme wie ich: Es fällt schwer, besonnene Gegenrede zu formulieren, wenn von Seiten der Trolle im Minutentakt gehetzt wird. Bei den Zuschauenden siegt schnell die Unsicherheit und damit: das Wegschauen. Daher will Love-Storm vor allem eines: die Gemeinschaft aktivieren. Niemand soll mit Hassrede alleingelassen werden, und niemand soll sich allein gegen sie einsetzen müssen. + + +In der zweiten Simulation klappt dieses Prinzip schon besser: Diesmal lädt eine muslimische Journalistin zu einer Lesung von ihr ein. Jetzt muss ich die Angreifende spielen, was mir sehr unangenehm ist – und erschreckend leichtfällt. Meine Statements gegen die Journalistin speisen sich aus Dingen, die ich nie im Leben sagen würde, die sich aber durch all die Hasskommentare, denen ich schon begegnet bin, in meinem Kopf festgesetzt haben. Diesmal funktioniert das Entwaffnen besser: Die Eingreifenden sprechen die Angegriffene aktiv an, mobilisieren für das Event und ignorieren mich Troll weitgehend.Es fällt schwer zu hetzen, wenn einem niemand Futter gibt. Die Angegriffene resümiert: "Ich habe die Angriffe nicht so persönlich genommen, weil ich das Gefühl hatte, dass diese Meinung in der Minderheit war und wenig Fundament hatte." +Zum Abschluss des 90-minütigen Trainings werden wir Teilnehmer*innen in eine Trainingsgruppe aufgenommen. Fallen uns in Zukunft Hasskommentare auf, können wir unsere Love-Storm-Mitstreiter*innen aktivieren und gemeinsam eine Gegenrede-Aktion starten. Eine Love-Storm-Trollarmee ist eine schöne Idee. "Leider ist es aber sehr selten, dass wirklich mal eine Aktion gestartet wird", sagt Kunter. Dabei haben er und sein Team inzwischen 2.000 Menschen trainiert. "Den meisten fällt es schwer zu entscheiden, wann sie Leute für eine Aktion zur Hilfe rufen und wann nicht", sagt er. +In den ersten Tagen nach dem Training bin ich auch ratlos: Was fange ich mit den gewonnenen Kompetenzen an? Werde ich nun wirklich allen Angegriffenen im Netz zu Hilfe eilen? Ich scanne meine Social-Media-Feeds aufmerksamer nach Hatespeech. Es macht mich wütend, welche zu finden, aber ich schreite nicht ein. Warum? Die Pöbeleien und Hasskommentare sammeln sich unter Posts von Prominenten. Leute aus meinem näheren Umkreis sind nicht betroffen. Ich finde nur dumpfe, pauschale Äußerungen über Gruppen von Menschen, keine persönlichen Beleidigungen, niemand wird direkt verbal angegriffen. Oder ist das nur eine Ausrede, die ich mir zurechtlege? Es fällt mir zwar schwer, das einzugestehen, aber aus meiner Passivität komme ich noch nicht heraus. Ich habe keinen Nerv, bei jedem Post einzuschreiten. Vielleicht brauche ich noch weitere Love-Storm-Trainings, damit ich nicht nur dann aktiv werde, wenn es meine Freund*innen trifft. + + +Diese drei Strategien empfiehlt Love-Storm gegen Hass im Netz +1. Angreifende schützen und stärkenAm besten gelingt das, indem man Position für die angegriffene Person bezieht und sie direkt anspricht: Was ist deine Perspektive? Wie kann ich dich unterstützen? Dabei ist es essenziell, Solidarität zu bekunden – selbst wenn man die Meinung der Person gar nicht teilt. Es geht nicht um Meinungen, sondern darum, sich klar gegen Hetze, Hass und Beleidigungen zu positionieren. Die angegriffene Person soll das Gefühl bekommen, dass sie nicht allein ist. +2. Zuschauende mobilisierenWie das geht? Mit gutem Beispiel vorangehen und deutlich Position gegen Menschenverachtendes beziehen. Wer Menschen direkt anspricht und zu einer Diskussion anregt, kann ihnen die Angst und Unsicherheit nehmen. +3. Angreifer*innen gewaltfrei Grenzen setzenWichtigste Strategie im Kampf gegen Hass im Netz: sich nicht auf das Niveau der Trolle begeben. Also immer schön sachlich und gewaltfrei auftreten und argumentieren. Was hilft: Diskussionsregeln einfordern. Humor sollte nicht herablassend eingesetzt werden, das könnte eher noch mehr Hass erzeugen. Sind Trolle diskussionsbereit, kann man stichfeste Argumente einfordern und Beweggründe abklären. Auch hier gilt: Menschenverachtende Äußerungen klar kennzeichnen, melden, Gegendarstellung bringen, immer beim Thema bleiben. Wenn gar nichts hilft: Ignorieren nimmt vielen Hetzer*innen das Feuer. + + diff --git a/fluter/love-sucks-serie-zdf-verbotene-vampirliebe.txt b/fluter/love-sucks-serie-zdf-verbotene-vampirliebe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cb6f17611d0136a8c00acdf834946202f89dd7ae --- /dev/null +++ b/fluter/love-sucks-serie-zdf-verbotene-vampirliebe.txt @@ -0,0 +1,8 @@ + + +In Literatur und Film waren Vampire schon immer gleichzeitig unheimlich und verführerisch und eine Projektionsfläche für alles Mögliche. InBram Stokers Roman "Dracula" von 1897wurden unter anderem die Auseinandersetzung mit Rassismus undHomosexualität oder Warnungen vor Promiskuität, Gleichberechtigung und technischem Fortschritt hineininterpretiert, in die Vampirfilme der 1980er-Jahre die Angst vor Aids. Bis heute symbolisieren Vampire die dunkle Seite im Menschen. In Literatur und Film sind es meistens junge Frauen, die sich durch die Annäherung an einen Vampir dem Bösen in der Welt stellen. Das sah man unter anderem bei "Buffy – Im Bann der Dämonen" mit einer Vampirjägerin als Hauptfigur und in den "Twilight"-Büchern und -Filmen. Ein Machtgefälle gibt es auch in der ZDF-Serie "Love sucks" – theoretisch. Zelda gleicht es von Anfang an aus durch ihre toughe, abgeklärte Art. Gleich in der ersten Folge boxt sie Ben k.o., und auch seine Familie sieht sie nicht als Bedrohung. Sie muss nicht gerettet werden, sondern rettet sich selbst. +Serienschöpfer Marc O. Seng hat schon mit der Serie "Dark" und dem Superheldenfilm "Freaks" (beide Netflix) Erfahrung mit Mystery und Fantasy gesammelt. Die Autorin Julia Penner hat mit den Serien "37 Sekunden" (ARD) und "Wir" (ZDF) Einfühlungsvermögen bewiesen und der Drehbuchautor Thorsten Wettcke etliche Fernsehkrimis (u.a. "Tatort") geschrieben. Co-Regisseur Andreas Prochaska hat den düsteren Alpenwestern "Das finstere Tal" inszeniert und seine Kollegin Lea Becker das Schuldrama "Flügel aus Beton". "Love sucks" vereint ihre Stärken: Die Serie nimmt alle Figuren und ihre Bedürfnisse ernst. Zeldas und Bens Liebesgeschichte ist leidenschaftlich erzählt. Es gibt neben etlichen Vampirsymbolen – Sonnenlicht und Holzpflöcke sind auch 2024 noch tödlich – einige Referenzen an Shakespeares "Romeo und Julia". Im Kontrast dazu stehen echte Horrormomente, zum Beispiel bei einer Orgie in der Villa der von Greifensteins oder wenn die Vampire im Blutrausch und mit glühenden Augen ihre Zähne fletschen. Die Bilder (Kamera: Carmen Treichl, Julian Krubasik) sind sinnlich und finster, besonders beeindruckend ist der Kontrast zwischen kühler Großstadt und der grellen Rummelplatzwelt. Im deutschen Fernsehen ist man es gewohnt, dass die Motive der Figuren und die Handlung genau auserzählt werden. "Love sucks" traut dem Publikum da mehr zu und entwickelt schnell Spannung und einen großen Sog. +Als Bens Mutter Zelda zum ersten Mal sieht und mustert, kommentiert sie trocken: "Wir bringen doch kein Essen von der Straße mit nach Hause." +Bens Cousine Xandra (Lotte Engels) ist schon als Kind zum Vampir geworden, körperlich ist sie seitdem nicht gealtert, geistig aber schon. Sie raucht, trinkt Alkohol, redet vulgär daher – und tötet, ohne mit der Wimper zu zucken. Der Effekt ist aus Horrorfilmen bekannt: Kleine Mädchen sind immer am unheimlichsten! +"Love sucks" läuft ab 11. Oktober in der ZDF-Mediathek und ab 31. Oktober auf ZDFneo. +Fotos: ZDF/Frank Dicks diff --git a/fluter/ludologe-jens-koenig-spielen.txt b/fluter/ludologe-jens-koenig-spielen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..561e035c528dfbe34732e75465a133826169caa8 --- /dev/null +++ b/fluter/ludologe-jens-koenig-spielen.txt @@ -0,0 +1,50 @@ +"Der Mensch (...) ist nur da ganz Mensch, wo er spielt", wusste schon Friedrich Schiller. Erlischt dieser angeborene Spieltrieb irgendwann? +Nein, nein, das Spiel endet erst mit dem Tod. +Deadlines, Einkaufslisten und Rechnungen: Erwachsene haben häufig andere Dinge im Kopf als Spiele. +Ich muss vor einem zu engen Verständnis von Spielen warnen. Nehmen Sie Berufstätige, die im Büro so viel sitzen, dass sie sich abends eben nicht dem Videospiel, sondern dem Bewegungsspiel im Fitnessstudio widmen. Manche gehen fürs Schauspiel ins Kino, andere lesen fremder Leute Gedankenspiele in einem Comic. Das Spielen ist eine der wenigen anthropologischen Konstanten, wir können gar nicht ohne. Das ganze Leben ist ein Spiel! + + +Wirklich? Das ganze Leben? +Ist so. Der Begriff stammt aus dem Mittelalter: "Spil" steht im Althochdeutschen für Tanz, für Bewegung. So verwenden wir ihn im Deutschen bis heute, denken Sie an das Spiel der Wolken oder Wellen. Alles, was in Bewegung und Veränderung ist, ist ein spielerischer Prozess. +Viele denken bei Spielen weit weniger philosophisch: an Regeln, an ein Spielfeld, ans Gewinnen. +Das Englische unterscheidet immerhin noch zwischen play und game. Play beschreibt das kindliche, erkundende, freie Spiel, game dessen regelbasierte Variante. Die kann sehr viel mehr Facetten haben als Regeln. Zum Beispiel Ambivalenz: Jedes Fußballspiel lebt von der Spannung, dass wir nicht wissen, wie es ausgeht. Spiele haben oft Feedbacksysteme: Wer hat wie viele Punkte, wer das höhere Level? Oder das Symbolhandeln, ein chronisch unterschätztes Merkmal vieler Spiele: Wir tun so, als ob ... +... ist ja nur ein Spiel. +Eben: unernst. Aber kein Kinderspiel! Wir üben dabei andere Rollen, Muster und Normen, wir werden variabler. Spielen ist eine Methode: Mit den künstlichen Herausforderungen des Spiels machen wir die realen begreifbar, um verschiedene Strategien auszuprobieren. Für Gewohnheitstiere wie den Menschen ist das elementar. +Weil? +Es bequemer ist, mit dem, was wir uns einmal draufgeschafft haben, immer durchzukommen. Da wird, frei nach dem Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick, die Lösung schnell zum Problem. Schauen Sie nur auf die Klimakrise: Wir brauchen nichts dringender als Ideen, wie wir in wenigen Jahren kein CO2 mehr ausstoßen. Alle sind gefragt,ihr Konsumverhalten zu ändern. Ob ich das kann, hängt von meiner Spielbiografie ab: Bin ich offen für neue Lösungen? Finde ich selber welche? Vertrage ich Regeländerungen und Verluste, oder schmeiß ich dann das Spielbrett um? +Mit Spielen denken wir Gesellschaft anders. Das war schon beim "Skat" so. +Als "Skat" im frühen 19. Jahrhundert erfunden wurde, war das eine Revolution, weil das Spiel den Adel absetzte: Der König hat nichts mehr zu melden, der Bauer gibt Trumpf an. Diese Machtumkehr ist wesentlich für viele Spiele, da müssen Sie gar nicht bis in die Aufklärung zurück. Sie sehen das bei jedem Kind, das seine Eltern im "Memory" schlägt. Kinderhirne sind visuell viel leistungsstärker als die durchverdrahteten Gehirne der Eltern, die schon an den Einkauf oder das nächste Meeting denken. Und plötzlich erfahren Kinder Selbstwirksamkeit: Moment, ich schlage gerade den, der mir immer sagt, was ich zu tun und zu lassen habe. Da dreht sich das Machtverhältnis innerhalb der Familie. + +Gab es Epochen, in denen das Spiel eine ganz andere Bedeutung hatte als heute? +Es gab immer wieder dunkle Zeiten für Spiele. Im Mittelalter zum Beispiel war die katholische Kirche eine Spielverderberin sondergleichen. Die hat das Spielen verteufelt: Gottes großer Plan, seine Wahrheit sollte nicht durch eigene Regeln infrage gestellt werden. Da sind selbst ernannte "Retter des christlichen Abendlandes" losgezogen, um auf den Marktplätzen Kartenspiele und Würfel zu verbrennen. Andererseits haben Religionen Spiele lange als Propagandainstrumente genutzt. +Haben Sie dafür ein Beispiel? +Das, was wir heute als "Mensch ärgere dich nicht" kennen, entsprang einem Spiel, das ein britischer Kolonialherr aus Indien mitgebracht hat: "Pachisi". Der Gedanke: Das Leben ist Mist, wir erleben Rückschläge und Schmerzen, sterben und werden wiedergeboren, immer mit dem Ziel, im schmerzfreien Nirwana anzukommen. Heute denkt kein Mensch mehr beim "Mensch ärgere dich nicht" ans Sterben. Spiele können ihre Funktion verlieren und in anderen gesellschaftlichen Kontexten als Kulturgut weiterexistieren. +Spielen Menschenin anderen Kulturräumen anders? +Absolut. Studien zeigen, dass sich die kulturellen Merkmale einer Gesellschaft in ihren Spielen ausdrücken. In tendenziell egalitären sogenannten Wir-Gesellschaften zum Beispiel wird schon im Kindesalter eher kooperativ, also miteinander gespielt als in wettbewerbsorientierten Gesellschaften. +In Deutschland gilt immer noch "Siedler" als Institution. +Wir sind eine Sicherheitskultur. Der Rasen gehört auf Länge, das Geld zur Sparkasse, und auch auf dem Spielbrett soll's hübsch ordentlich zugehen. Wir wollen aufbauen, konstruieren, vorwärts, aufwärts, weiter, und dafür bitte dauernd vom Spiel belohnt werden. US-Amerikaner dagegen kultivieren das Risiko, da irritieren Chaos, Verlust und Zufall weniger. Das gesetzlose"SimCity" gilt als Sehnsuchtsort, alles andere darf Godzilla abreißen. +Ist Spielen immer kreativ, oder kann es auch ins Gegenteil umschlagen? +Wenn ich mich derart einfangen lasse,dass ich süchtig werde, ist das für einen kreativen Umgang mit Herausforderungen eher hinderlich. Dann schadet mir das Spielen. + + +Sie sind dereinst von der Realschule geflogen, weil Sie zu viel gespielt haben. +Ich saß in der letzten Reihe und habe Comics gezeichnet. Oder "Fix und Foxi" gelesen. Bis mir meine Deutschlehrerin das Heft abnahm und es vor der Klasse zerriss. So ein Schund gehöre nicht in die Schule, sagte sie. +Mit solchem Kulturdünkel haben Spiele bis heute zu kämpfen. Vielen gilt das Wegsuchten selbst mittelmäßigster Fernsehserien als rege Teilhabe am Kulturleben – während sie das Spielen komplexer Games mit mitleidigen Blicken quittieren. +Wer Games heute als trivial und Zeitverschwendung bezeichnet, hat keine Ahnung von ihrer Vielfalt. Als das Radio kam, dachte man auch, die Zeitung geht unter, und als es Fernsehen gab, hielt man Grabreden aufs Radio. Das ist Mediengeschichte. +Was empfehlen Sie? +Die eigenen Spiele hartnäckig verteidigen und vor allem nicht denkfaul sein: Alle diese Kulturformen können nebeneinanderstehen und sich ergänzen. Meinegeliebten Comicshaben es aus der Nische geschafft. Graphic Novels werden heute die neunte Kunst genannt. +Warum braucht das Spielen mit der Ludologie einen eigenen Forschungszweig? +Die Wissenschaft verharrt zu sehr in ihren Disziplinen: Psychologie, Pädagogik, Soziologie, Anthropologie, Wirtschaftswissenschaften, Informatik, die schauen sich das Spielen alle für sich an. Die Ludologie könnte als transdisziplinäres Fach auf die Zusammenhänge schauen. Bislang ist das alles private Initiative. Wir haben eine Sammlung in Altenburg aufgebaut: 42.000 Brettspiele, 25.000 Kartenspiele, ein paar wissenschaftliche Mitarbeiter. Ich will daraus eine staatlich finanzierte Lehr- und Forschungssammlung machen, die dem Thema Spiel als Kulturgut gerecht wird. +Zumal man den Eindruck haben könnte, wir spielen mehr als je zuvor? +Die These würde ich unterschreiben. Arbeitsteilung und Globalisierung haben uns auf ein Wohlstandsniveau gebracht, das es uns erlaubt, viel zu spielen. Spielen trägt nicht unmittelbar zu unserer Existenzerhaltung bei. +Spielen ist Luxus? +Wir müssen sicher sein und satt, diesen Freiraum braucht das Spiel. +Wissen wir eigentlich immer, dass wir spielen? +Schauen Sie sich Staatsverschuldungen an. Oder die weltweite Geldmenge. Die meisten Menschen leben im Glauben, dass dieses Geld irgendwas wert sei, dass es einen Gegenwert habe. Aber das globale Finanzsystem ist eine Konstruktion, nichts als ein großes Glücksspiel, von dem wir tagtäglich hoffen müssen, dass sich alle an die Regeln halten. Wir leben in vielen solcher Spielfelder, ohne uns dieser ausgedachten Ordnungen dauerhaft bewusst zu sein. +Die Einsicht, dass viele der Ordnungen um mich herum erfunden sind und damit veränderlich, könnte entspannen. Muss man das Leben spielerischer nehmen? +Bitte! Wer zu sehr auf der Unveränderlichkeit der Dinge besteht, kann andere sogar gefährden. Manche halten – meinetwegen in bester Absicht – so viel auf ihre Normen, Einstellungen und Werte, dass sie andere Menschen ablehnen, wenn die sie nicht teilen. Die werden über ihrer Spiel- und Regeltreue unmenschlich. Ich rate also sehr dazu, sich immer mal wieder zu fragen: Welches Spiel spielen wir hier eigentlich gerade? Und sich nicht zu sehr an die Regeln zu binden. +Ist Schummeln erlaubt? +Natürlich, das gehört zu jedem Spiel dazu. + + +Jens Junge ist Verlagskaufmann und Comiczeichner. Er hat schon Onlinegames entworfen, als das Internet noch in den Kinderschuhen steckte, und ist irgendwann in die Spielwissenschaft gegangen. Nun ist er Direktor des Instituts für Ludologie an der SRH Berlin University of Applied Sciences. (Foto: Justus Junge) diff --git a/fluter/luegen-wie-gedruckt.txt b/fluter/luegen-wie-gedruckt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f84dd2c2a917679b79b0209118fc268a4d67f72d --- /dev/null +++ b/fluter/luegen-wie-gedruckt.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +1983 verkaufte der Kunstmaler Konrad Kujau dem Magazin "Stern" für 9,3 Millionen Mark Adolf Hitlers geheime Tagebücher, die angeblich aus einem abgestürzten Flugzeug geborgen worden waren. Am 28.4. 1983 veröffentlichte der "Stern", bei dem offenbar sämtliche redaktionellen Kontrollmechanismen versagt hatten, seine vermeintlich "historische Weltsensation ". Am 6. Mai entlarvte das Bundesarchiv die Fälschung und stürzte das Magazin in eine tiefe Krise +In Kriegszeiten wurden Medien schon immer mit Falschmeldungen versorgt, um Niederlagen zu Siegen und andere Länder zu Feinden zu machen. Vor dem Beginn des Zweiten Golfkriegs stand 1990 zum Beispiel eine aufgewühlte junge Kuwaiterin vor dem Menschenrechtsausschuss des USKongresses und berichtete von unfassbaren Gräueltaten. Irakische Soldaten hätten in einem kuwaitischen Krankenhaus Babys aus Brutkästen gerissen und auf dem Boden sterben lassen. Erst nach dem Einmarsch der Amerikaner kam he raus, dass der Auftritt der Frau von der PRAgentur Hill & Knowlton inszeniert worden war. +Der berühmteste PrintFälscher des deutschen Sprachraums verdient heute sein Geld mit PaddleTennisstunden in L. A. Zumindest behauptet er das. Was nicht besonders viel heißt. Denn Tom Kummer hat Zeitungen und Magazine auch noch mit Lügengeschichten versorgt, als er schon längst aufgefl ogen war. Tom Kummer verwurstete Groschenromane zu abenteuerlichen Reportagen, seine Spezialität aber waren fi ktive Prominentengeschichten. Für das "SZMagazin " und andere Medien fabrizierte er Interviews mit Sharon Stone, Brad Pitt, Kim Basinger und vielen anderen. Courtney Love "verriet" ihm einmal: "Ich spiele mit meinen Brüsten, um so eine Art Ekel zu demonstrieren, nicht um zu protzen." +Michael Born hatte immer den heißesten Stoff für Magazine wie "Spiegel TV" und "Stern TV" auf Lager: Menschen mit angeklebten Bärten, die Katzen jagen. Ein geheimes KuKluxKlanTreffen in der Eifel. Drogenpartys mit Kröten zum Ablecken. Die Szenen spielten Freunde und Bekannte, seine Mutter nähte die Kostüme. 1996 verurteilte ein Gericht Michael Born zu vier Jahren Haft – nicht wegen Medienfälschung, sondern unter anderem wegen Volksverhetzung und Vortäuschen einer Straftat. Der damalige SternTVChefredakteur Günther Jauch behauptete, er sei "im Grunde noch nie in einem Schneideraum gewesen" und kam ohne Verurteilung davon. +Es war 1996, als das ARDBoulevardMagazin "Brisant" einen Beitrag über eine Gruppe von Jugendlichen ausstrahlte, die offenbar ein schwer destruktives Sozialverhalten entwickelt hatten: Statt in die Schule zu gehen, kauften sie in einem Supermarkt Bowle und betranken sich gemeinsam auf dem Berliner Alexanderplatz. Dazu hörte man den Sprecher: "Zielstrebig geht es in die nächste Kaufhalle, denn hier fi nden sie das, was sie brauchen, um die nächste Stunde zu überstehen: Alkohol." Erst als die Eltern der Jugendlichen bei der "taz" anriefen, kam heraus, dass das Kamerateam ihnen den Alkohol besorgt und sie mit 50 Mark bestochen hatte. +Im Jahr 2008 fiel das ARD-Zeitgeist-Magazin "Polylux" auf einen Schauspieler herein, der vorgab, mithilfe der Droge Speed abnehmen zu wollen. Ein paar Tage später tauchte im Internet ein entfernt an islamistische Bekennervideos erinnernder Clip auf, in dem vermummte Aktivisten der "Hedonistischen Internationalen" sich zu der Fälschung bekannten und verkündeten: "Erschreckend, wie einfach es ist, selbst gewählte Inhalte in Massenmedien zu platzieren und so gesellschaftliche Realität werden zu lassen." diff --git a/fluter/ma-raineys-black-bottom-boseman-rezension.txt b/fluter/ma-raineys-black-bottom-boseman-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d8ec539b4be42c1249f46c1f1344e883a8eb1dd6 --- /dev/null +++ b/fluter/ma-raineys-black-bottom-boseman-rezension.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Der Film setzt ein in dem Moment, als Ma Rainey und ihre Band, die bisher nur Liveshows gespielt haben, zur Aufnahme einer Platte in ein Chicagoer Studio geladen werden. Weil Ma Rainey, die alsbisexuellgalt, lieber mit einer Tänzerin im Hotel ausschläft, proben die Combo-Mitglieder erst einmal für sich im Keller des Studios – wobei sie mehr diskutieren, als dass sie Musik machen. Beginnt der Film noch mit aufwendigen Außenaufnahmen eines nachgestellten Chicagos des Jahres 1927, wird der Zuschauer bald in eine intime Kammerspielatmosphäre zurückgeworfen. Was ziemlich schade ist: Weniger Theateranleihen, ausufernde Dialoge und Überdeutlichkeit der Emotionen hätten dem Film gutgetan. + + +Geht es bei den Diskussionen zunächst noch um künstlerische Unstimmigkeiten zwischen Levee und dem Pianisten Toledo (Glynn Turman), wird schnell deutlich, dass zwischen den Noten ganz andere Konflikte lauern. Toledo glaubt, dass sich die Bevölkerungsgruppe der Schwarzen US-Amerikaner – zu der alle in der Band gehören – in Zeitender sogenannten "Rassentrennung"in einem organisierten Akt für ihre Rechte einsetzen sollte. Doch in den Augen Toledos würden die meisten stattdessen, genau wie seine Bandkollegen, in ihrem "Pisstopf-Leben" nur eine vermeintlich "gute Zeit" als Entertainer haben wollen. +Levee hingegen will den individuellen Weg gehen: Die Aufnahmen mit Ma Rainey sind für ihn nur ein Sprungbrett, ihrer Musik fühlt er sich längst entwachsen. Er will sich mit einem völlig neuen, tanzbaren Stil unabhängig machen, ein Star werden und dann eines Tages von oben auf die Weißen in den Chefetagen herabblicken. In einem berührenden Monolog, der durchaus zu einem posthumen Oscar für Boseman beitragen könnte, erklärt Levee seine Lust auf Rache mit einem Trauma seiner Kindheit, ein Ergeignis, in dem er angesichts der Gewalt der Weißen völlig auf sich gestellt war, während die Rufe der Mutter nach Gottes Beistand verhallten. +Auch die später doch noch eintreffende Ma Rainey ist nicht aus reiner Arroganz zur Diva geworden. Sie ist sich von Anfang an bewusst, dass die weißen Plattenbosse ihrTalent maximal ausbeutenwollen, um sie dann fallen zu lassen, sobald ihr Schatz, ihre Stimme, einmal eingefangen ist. Daher soll wenigstens bis dahin alles so laufen, wie Ma Rainey will – selbst wenn das bedeutet, dass ihr stotternder Neffe das Intro zur Platte spricht, was für die beiden Vertreter des Labels Hunderte scheiternde Aufnahmeversuche bedeutet. +Bei all dem Misstrauen vonseiten der Band tun die beiden manchmal fast leid. Man fragt sich, ob sie – eben mit den Mitteln der gerade in Fahrt kommenden Plattenindustrie – nicht doch einfach das Beste für die aufstrebenden Künstler wollen. Bis die Schlusspointe verdeutlicht, was den beiden die Menschen hinter der Kunst und der Schwarze Ursprung des Blues wert sind: nichts. + +"Ma Rainey's Black Bottom" läuft bei Netflix. diff --git a/fluter/mach-doch-mal-bis-naechstes-jahr-eine-million-kuehe-ohne-hoerner.txt b/fluter/mach-doch-mal-bis-naechstes-jahr-eine-million-kuehe-ohne-hoerner.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5d03b2069953742be50225641edb2d3653c34f64 --- /dev/null +++ b/fluter/mach-doch-mal-bis-naechstes-jahr-eine-million-kuehe-ohne-hoerner.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit sieht den Konsum von geklonten Tieren skeptisch. Bisher gebe es nur wenige Studien, um die Wirkungen sicher beurteilen zu können. Aber schon heute beobachte man, dass viele geklonte Tiere früher sterben als ihre normal gezeugten Artgenossen. Andere würden Immunschwächen und Schäden an den Organen aufweisen. Besonders heftig kritisiert Yi das chinesische Unternehmen Boya-Life, das Ende vergangenen Jahres bekannt gab, in der nordöstlichen Stadt Tianjin eine Klonfabrik für Nutztiere zu bauen, für umgerechnet knapp 29 Millionen Euro (200 Millionen Yuan). Dort sollen vor allem Rinder produziert werden, pro Jahr 100.000 Kälber in "Topqualität", wie Unternehmenschef Xu Xiaochun verspricht. Später sollen es bis zu einer Million werden. +China hat eine lange Geschichte von Lebensmittelskandalen. Mal ging es um in Wasserstoffperoxid marinierte Hühnerfüße, mal um Gammelfleisch, das noch zu Zeiten von Mao verpackt worden war. Die Standards für Lebensmittelsicherheit sind niedrig. Entsprechend alarmiert sind manche Chinesen angesichts der Nachrichten über Klon-Tiere. Zwar versucht Peking die Bevölkerung über die Staatsmedien zu beruhigen, und deklariert das Fleisch als sicher. Auf Weibo, dem chinesischen Facebook, protestieren dennoch viele Nutzer. Einer hat folgenden Vorschlag: "Lasst die Politiker das Fleisch zuerst probieren." diff --git a/fluter/mach-mal-langsam.txt b/fluter/mach-mal-langsam.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e90a52e667da57eb4f40c5490b21297c864810cf --- /dev/null +++ b/fluter/mach-mal-langsam.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Van Bo Le-Mentzelist schwer einzuordnen: Er ist Architekt, Designer, Uni-Gastprofessor und sozialer Unternehmer. Selbsterklärtes Ziel seiner Umtriebigkeit ist es, die Welt ein Stück besser zu machen. Im Jahr 2010 entwarf er Designermöbel, die jeder günstig nachbauen konnte. Er nannte sieHartz-IV-Möbelund veröffentlichte die Bauanleitung im Internet. 2012 folgte das ProjektKarma Chakhs. Vor einigen Jahren hat der Konzern Nike, der schon oft wegen seiner unfairen Bezahlung, des Einsatzes von giftigen Chemikalien und der miserablen Arbeitsbedingungen in sogenannten Billiglohnländern in die Kritik geraten ist, Converse aufgekauft. Le-Mentzel hatte, wie er sagt, "keine Lust darauf, mir von Nike diktieren zu lassen, wie die Chucks produziert werden". Er kopierte den Chuck Taylor All Star von Converse, sammelte viaCrowdfundingGeld und ließ den Schuh in Indien, Pakistan und Sri Lanka produzieren. Ohne den bekannten Stern als Logo, dafür aber, so Le-Mentzel, fair und mit gutem Karma, also laut seinen Angaben unter besseren Arbeitsbedingungen und mit höheren Löhnen hergestellt, bekam jeder, der jeweils 69 Euro eingezahlt hatte, ein paar Karma Chakhs nach Hause geliefert. +Kleiderkreiselist die größte deutschsprachige Online-Tauschbörse für Kleidung. Auf dieser Internetplattform kann man gebrauchte Kleidung verkaufen, tauschen oder verschenken. Das Konzept wurde von Justas Janauskas in Litauen erfunden, sein Startup heißtVinted. 2008 landeten Susanne Richter und Sophie Utikal per Couchsurfing zufällig in Justas Wohnung in Vilnius, lernten seine Idee kennen und gründeten bereits wenig später den deutschen Ableger Kleiderkreisel.de. Das Motto des Unternehmens: "Mach mit und kämpfe stilvoll gegen Verschwendung." Martin Huber, einer der Mitbegründer, der heute allerdings ebenso wie Richter und Utikal nicht mehr im Unternehmen ist, drückte es in einem Interview mal so aus: "Alles, was wir brauchen, ist schon da. Wir sind nicht gegen Konsum, aber wir wünschen uns, dass für das Gefühl, etwas Neues zu haben, nicht extra etwas Neues produziert werden muss." Anstatt zu besitzen und zu horten, so Huber, gehe der Trend hin zum Benutzen und Teilen. Hehre Worte. Kein Wunder, dass sich die Plattform einen regelrechtenShitstormeinfing, als 2014 Gebühren für dasKleiderkreisel-Bezahlsystemeingeführt wurden. +Viel besser als wegwerfen: Beim Upcycling veredeln Designer ausrangierte Kleidung und Stoffe zu neuer Mode. Laut Statistischem Bundesamt entstehen durch deutsche Haushalte jährlich etwa 100.000 Tonnen Bekleidungsabfall. Hinzu kommen Unmengen an Stoffresten und Verschnitten, die bei der Produktion neuer Kollektionen in der Textilindustrie anfallen. An diesem Punkt setzt zum Beispiel das Upcycling-LabelAlucein: Für seine Hemden, Blusenkleider und Tops verwendet das Designer-Team Abfallreste aus der Textilindustrie. Auf ihrer Webseite schreiben sie: "Industrielle Überproduktion ist ein großes Problem für die Umwelt. Ist es wirklich sinnvoll, neue Stoffe herzustellen, solange riesige Mengen an Abfall aus der Textilindustrie jeden Tag auf der Müllkippe landen oder verbrannt werden?" Noch etwas radikaler sind die Designer der Trashion-Bewegung: Bei ihnen entsteht Mode aus weggeworfenen Fahrradschläuchen, Regenschirmen, Duschvorhängen oder Plastikflaschen. Die "Schrott-Prêt-à-porter" oder "Müllmode" möchte, wie die Betreiber derTrashion Fashion Show auf ihrer Webseite sowie beiInstagramerklären, "den Abfall neu erfinden". +Der Begriff"Slow Fashion"stammt aus Großbritannien, ausgerechnet aus dem Mutterland der Industrialisierung, dessen Textilfabriken einst eine globale Vormachtstellung innehatten. Geprägt wurde der Begriff 2007 von der Forscherin, Autorin und Design-AktivistinKate Fletcher. "Die ,Fast Fashion'", kritisiert sie, "wird von der Gier nach schnellem Profit bestimmt." Die "Slow Fashion" setze dagegen auf Entschleunigung, Qualität, Nachhaltigkeit und Fairness. Unter diesem Begriff sind heute verschiedenste alternative Modebewegungen unterwegs. Sie fordern eine neue Modekultur, einen bewussteren Umgang mit Kleidung. Dazu zählen beispielsweise Kleidung, die aus Biostoffen oder recycelten Materialien hergestellt wird, gebrauchte Sachen, Produkte von kleineren Labels, kurze lokale Vertriebswege, ethische Arbeitsbedingungen, faire Löhne und ein schonender Umgang mit der Natur. Kate Fletcher schreibt hierzu: "Slow Fashion ist ein Blick in eine andere, nachhaltigere Zukunft der Textilindustrie." Und diese Zukunft sei, durch den fortschreitenden Bewusstseinswandel der Menschen, "nur noch ein Kleidungsstück weit entfernt". Für diese optimistische Prognose gibt es allerdings keine wissenschaftlichen Belege, denn bisher wurde der Marktanteil von nachhaltiger Mode nicht erhoben, weder für Deutschland, noch für Europa, noch weltweit. Kirsten Brodde, die einen Blog über nachhaltige Mode betreibt, vermutet, dass der Anteil der grünen Mode, ebenso wie bei anderen grünen Segmenten,unter fünf Prozentliegt. Auch in einem Gutachten im Auftrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen wird eine Studie zitiert, wonach sich der Anteil von Öko-Textilien am Gesamtmarkt auf3,5 Prozentbeläuft. Angesichts dieser doch eher ernüchternden Zahlen stellt sich die Frage, ob alleine ein Bewusstseinswandel ausreicht, um die Modebranche nachhaltig zu verändern. Müsste hier nicht die Politik mit strengeren ökologischen und sozial ausgehandelten globalen Rahmenbedingungen für eine andere, also für eine sozial gerechte und ökologisch nachhaltige Entwicklung in der Textilindustrie sorgen? +Alem Grabovac lebt als freier Autor und Journalist in Berlin. Als vorpubertierender Jüngling im Alter von elf oder zwölf Jahren sah er zu viele Cowboyfilme. Sein Kleidung bestand in jenen Tagen aus bunt karierten Cowboyhemden, Gürteln mit riesigen Longhorn-Schnallen und braunen Cowboylederstiefeln. Er erinnert sich nur äußerst ungern an jene grausige und unheilvolle Modephase in seinem Leben. diff --git a/fluter/mach-ne-muecke.txt b/fluter/mach-ne-muecke.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f72827c55c25965789c3fe7ba451166e32694bca --- /dev/null +++ b/fluter/mach-ne-muecke.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Die Idee ist an sich nicht neu – doch ist die Umsetzung der Methode in großem Stil erst möglich, seit mit der sogenannten CRISPR/-Cas-Methode (siehe auch Heft-pdf Seite 40) Abschnitte im Genom präzise herausgetrennt und ersetzt werden können. Laborexperimente an Fruchtfliegen, Hefe und Moskitos sind schon gelaufen. +"Manipuliere einen Organismus im Labor, lass ihn frei, warte genügend Generationen ab, und die gesamte Spezies wird manipuliert sein", beschreibt der Biochemiker Kevin Esvelt vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) die Methode. Der 33-Jährige hat "Gene Drive" mitentwickelt und leitet am MIT eine Forschungsgruppe mit dem vielsagenden Namen "Sculpting Evolution" – die Evolution formen. +Der Name ist Programm, denn "Gene Drive" spornt Wissenschaftler in aller Welt zur Forschung an und weckt große Hoffnungen: Plötzlich ist nicht nur vom Ende der Malaria die Rede, sondern von der wirksamen Bekämpfung des Denguefiebers, des Zika-Virus oder vom Ende der in Europa durch Zecken verbreiteten Lyme-Borreliose. In Australien könnten die von Menschenhand manipulierten Gene die Ausbreitung der eingeschleppten Aga-Kröte stoppen, die dem Ökosystem dort zu schaffen macht. +"Gene Drive" weckt aber auch Ängste. Denn welche Folgen die Erbgutveränderung einer ganzen Spezies auf die Umwelt haben könnte, ist nicht klar. Ist eine Veränderung von Millionen Anopheles-Mücken tatsächlich ungefährlich? Könnten die veränderten Gene sich nicht auch auf andere Arten ausbreiten? Und was ist, wenn die Methode umgekehrt wird und Krankheitserreger verbreitet werden? +Gewissheiten gibt es in der schönen neuen Welt des "Gene Drive" kaum. Oder zumindest: noch nicht genug. Ein hochrangiges Wissenschaftskomitee forderte deshalb nun in den USA, dass vor einer Anwendung der neuen Methode außerhalb des Labors noch viel geforscht werden müsse. Und MIT-Forscher Esvelt ist intensiv darum bemüht, eine öffentliche Debatte darüber anzustoßen, wie in Zukunft mit der Methode umgegangen werden soll. Im renommierten Wissenschaftsmagazin "Nature" fordert er deshalb, in Bezug auf "Gene Drive" einen offenen Forschungsansatz zu verfolgen: Weil die Methode so weitreichende Eingriffe ermögliche, hätten Wissenschaftler, die daran forschen, die "Verpflichtung, ihre Pläne offen zu teilen" und die Ergebnisse frühestmöglich zu veröffentlichen. Esvelt will seinen Teil dazu beitragen und hat das Onlineportal "Responsive Science" gegründet, auf dem er einen solch offenen Austausch über "Gene Drive" etablieren will. diff --git a/fluter/machen-soziale-medien-suechtig.txt b/fluter/machen-soziale-medien-suechtig.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f70b737c7a1f7f0b1affdd8a125ccb0fefd65917 --- /dev/null +++ b/fluter/machen-soziale-medien-suechtig.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Diese Gedanken hat sich Ute Kreutzer auch schon gemacht. Doch von all den Regeln, die sie einst zum Schutz ihrer Kinder aufgestellt hat, ist nur noch eine einzige in Kraft: Jeden Abend Punkt 23 Uhr müssen Felix und Johanna ihre Smartphones vor ihr Zimmer legen –über Nacht sind die Geräte für die beiden Teenager tabu.Alles andere kann Kreutzer bei ihrem bald 17-jährigen Sohn und der 14-jährigen Tochter nicht mehr durchsetzen: nicht den bildschirmfreien Tag in der Woche, nicht die zeitliche Begrenzung bestimmter Apps. Die mütterliche Kontrolle über Posts und Follower gehört auch der Vergangenheit an. "Es ist total aus dem Ruder gelaufen", sagt Kreutzer. "Nach der Schule sind die beiden eigentlich ständig an den Geräten." +Und damit sind Felix und Johanna ziemlich normale Jugendliche. Laut der jüngsten Studie "Jugend, Information, Medien" (JIM) von 2021 sind 12- bis 19-Jährige im Schnitt jeden Tag gut vier Stunden im Netz unterwegs. Je nach Alter und Geschlecht eher auf Whats-App, Instagram, YouTube, Snapchat oder TikTok. Felix zockt gern und chattet mit seinen Schulfreunden auf der Gamerplattform Discord. "Das können schon mal fünfeinhalb Stunden am Tag sein", sagt er.Johanna guckt sich vor allem TikTok-Videosan oder ist auf Instagram oder Snapchat. "Ich weiß, dass das nicht die sinnvollste Freizeitbeschäftigung ist", sagt sie. "Aber es macht Spaß." Die Geschwister haben seit ihrem zehnten Geburtstag ein eigenes Smartphone – wie mittlerweile 94 Prozent der Jugendlichen in ihrem Alter. Beide beteuern aber: Süchtig seien sie nicht. +Welche Folgen das ständige Onlinesein für junge Menschen hat – darüber sind sich Wissenschaftler uneins. Klar ist: Beim Posten, Liken und Geliktwerden wird im Gehirn das Belohnungszentrum aktiviert wie sonst beim Essen, Trinken, Sex und Geld – oder beim Drogenkonsum. Daher warnen manche vor den Gefahren übermäßiger Mediennutzung. So wie die Autoren der BLIKK-Studie, die die Bundesregierung in Auftrag gegeben hat. Kinder- und Jugendärzte haben dafür rund 5.500 Eltern und deren Kinder befragt. Ihr Ergebnis: Teenager, die viel am Smartphone oder Tablet hängen, leiden häufig an Hyperaktivität, Übergewicht und Konzentrationsstörungen. Mehr als jeder sechste Jugendliche habe zudem Probleme, die eigene Internetnutzung zu kontrollieren – ein Anzeichen für ein klassisches Suchtverhalten. Als die Studie herauskam, lauteten die Schlagzeilen: "Zu viel Smartphone macht Kinder krank", "Übermäßiger Medienkonsum gefährdet Gesundheit von Kindern und Jugendlichen" oder: "Schon Kitakinder spielen täglich auf dem Smartphone – mit Folgen". +Das stimmt so aber nicht, sagt die Gegenseite – und verweist auf die Methodik. Tatsächlich arbeitet die BLIKK-Studie mit Korrelationen, nicht mit Kausalitäten. Anders formuliert: Die Studie stellt statistische Zusammenhänge fest. Dass das ständige Onlinesein wirklich die Ursache dafür ist, dass Jugendliche dick oder mediensüchtig werden, ist nicht erwiesen. Möglich ist, dass eine Vielzahl von Faktoren dafür verantwortlich ist. Etwa ob sich Eltern um ihre Kinder kümmern. Auch gibt es Kritik an Studien, die beispielsweise die Zunahme von Depressionen oder Suizidgedanken bei Jugendlichen auf die Nutzung von Social Media zurückführen. +Doch wie lassen sich dann all die psychischen Probleme erklären, die es ja offensichtlich gibt? Nach einer Studie von Suchtexperten am Universitäts­klinikum Hamburg-Eppendorf ist in Deutschland derzeit fast jeder Zwanzigste (4,6 Prozent) im Alter zwischen 10 und 17 Jahren im Umgang mit Sozialen Medien suchtgefährdet – ein deutlicher Anstieg zu Vorpandemiezeiten. Auch die Zahl der Jugendlichen mit "riskantem" Nutzungsverhalten ist gestiegen: Mehr als jeder zehnte ist mittlerweile betroffen. Rechnet man beide Gruppen zusammen, kommt man auf rund 800.000 Kinder und Jugendliche, die ihren Medienkonsum nicht im Griff haben. Suchtforscher verstehen darunter vor allem, dass die Kinder und Jugendlichen immer länger vor dem Bildschirm hängen – bis sie nicht mehr davon loskommen. Eine Gefahr, die sich aus ihrer Sicht in Lockdownzeiten noch erhöht. Warnsignale seien, wenn Kinder ihre sonstigen Hobbys oder schulischen Pflichten vernachlässigen, Kontakt zu Eltern und Freunden meiden – und ihr eigenes Nutzungsverhalten nicht realistisch einschätzen können. +Für die meisten Social-Media-Apps muss man in Deutschland mindestens 13 Jahre alt sein. Dass Kinder die Altersbeschränkung umgehen, scheint die Konzerne nicht zu stören. Dabei sind ihnen die Gefahren, die von ihren Produkten ausgehen, offenbar sehr wohl bekannt. Nachden Enthüllungen der Whistleblowerin Frances Haugensoll Meta aus internen Studien wissen, wie problematisch Instagram für das Selbstwertgefühl von Mädchen ist. Rückschlüsse, wie etwa die Notwendigkeit verschärfter Alterskon­trollen, hat Meta daraus nicht gezogen. Immerhin: Die Pläne einer eigenen Instagram-Plattform für Kinder unter 13, die auf viel Kritik gestoßen sind, hat der Konzern vorerst auf Eis gelegt. +"Klar umgehen viele junge Nutzer die Jugendschutzeinstellungen", sagt die Berliner Medienpädagogin Julia Behr. Trotzdem rät sie Eltern von pauschalen Verboten ab. "Dann schließt man das Kind nur sozial aus und setzt es ungewollt einer anderen psychischen Belastung aus." Besser schützen könne man die Kinder, wenn sich die Eltern selbst mit den Plattformen beschäftigen und dann mit den Kindern über Probleme sprechen. Wenn Jugendliche TikTok-Videos drehen, sei das auch kreativ. Viele Erwachsene würden das aber gar nicht so wahrnehmen. Eltern empfiehlt sie deshalb, zuzuhören, auf Warnsignale zu achten – und die Kinder lieber früher als später zum reflektierten Umgang mit den Sozialen Medien zu erziehen. +Auch Ute Kreutzer hat sich das vorgenommen. Gerade bei ihrer Tochter war ihr wichtig: keine Adressen veröffentlichen, Vorsicht beim Posten von Fotos. Gefahren, die Johanna ernst nimmt und an die sie ihr Verhalten anpasst. Seit einiger Zeit aber beobachtet Kreutzer, wie sehr ihre Tochter plötzlich auf ihre Ernährung achtet. Kreutzer glaubt, dass das mit den Schönheitsidealen bei TikTok & Co. zu tun hat. Wie stark dort Äußerlichkeiten bewertet werden, fällt auch Johanna auf. "Man sieht überall Kommentare zum Körper, dass jemand zu dick oder hässlich ist." Sie selbst wurde bisher nicht zur Zielscheibe. Vielleicht weil sie sich mit Vorsicht im Netz bewegt. "Ich kommentiere generell nicht." Sie sucht vor allem Backrezepte – und seit Neuestemauch Empfehlungen für feministische Literatur.Vor Kurzem hat sie ihr erstes Buch bestellt – und mit dem Lesen begonnen. "Das hat sie früher nie inte­ressiert", staunt ihre Mutter. +Für den Psychologen Christian Bosau ist das ein gutes Beispiel dafür, warum er wenig von pauschalen Verteufelungen von Sozialen Medien hält. "Einerseits gibt es die Gefahren, keine Frage." Gleichzeitig lernen Jugendliche dort ein Stück weit die Welt kennen, entdecken dort neue Hobbys und treffen vor allem Gleichaltrige. "Für die meisten Jugendlichen erfüllen Social Media ein Grundbedürfnis nach sozialem Kontakt", so Bosau. Die Herausforderung sei, ein gesundes Maß zu finden. Das aber werde durch die entsprechenden Unternehmen bewusst erschwert: "Die Smartphones sind so konzipiert, dass sie unser soziales Bedürfnis ständig bedienen." Etwa indem sie bei jeder eintreffenden Nachricht ein Geräusch von sich geben. Die 14-jährige Paula sagt: "Wenn ich am Tag nicht mit mindestens zehn Leuten schreibe, fühle ich mich einsam." +Deshalb sei das Suchtpotenzial von Social Media nicht von der Hand zu weisen, sagt Bosau. Wie alltäglich diese Abhängigkeit ist, hat er mit seinen Studierenden an der Rheinischen Fachhochschule Köln untersucht. In einem Experiment wurde zwei Gruppen dieselbe Aufgabe gestellt – einer jedoch unter einem Vorwand die Telefone abgenommen. Das Ergebnis: War das Gerät nicht im Raum, lagen Konzen­tration und Leistung deutlich höher. "Man könnte sagen, die Smartphones konditionieren unser Nutzungsverhalten", so Bosau. +Wie sehr das Smartphone seinen Alltag diktiert, stellt auch Moritz fest. Der 16-Jährige kommuniziert in sehr vielen Chatgruppen: Freundeskreise, Sportverein, Jugendradio. Manchmal erhält er 60 Nachrichten in einer halben Stunde. Jedes Mal blinkt und vibriert sein Telefon. "Es sind kleine Glücksmomente", sagt Moritz. Und stellt dann aber fest: Er verspürt den Drang, immer sofort darauf zu reagieren – aus Angst, etwas zu verpassen. Fear of Missing Out, kurz FOMO, nennen Psychologen das Phänomen. +Laut JIM-Studie hat fast jeder zweite Jugendliche dieses Gefühl, wenn sein Telefon ausgeschaltet ist. Genauso viele gaben aber auch an, von den vielen Nachrichten auf dem Handy genervt zu sein. So geht es auch Moritz: Vor Kurzem hat er deshalb die Pushnachrichten von seinem Smartphone ausgestellt. "Ich reagiere jetzt nicht mehr immer sofort." Sein Umgang mit WhatsApp & Co. sei dadurch deutlich bewusster. Der soziale Druck, ständig erreichbar zu sein, ist bei ihm weniger geworden. +Auch Psychologe Christian Bosau empfiehlt, das Smartphone mal ganz bewusst wegzulegen. Allein um zu kontrollieren, wie gut man es ohne aushält. Klar sei aber: Wer schon ein suchtartiges Verhalten entwickelt habe, der wird ohne fremde Hilfe nicht einfach auf einen bewussten Umgang umstellen können. Entscheidend sei dann das soziale Umfeld: also Eltern und Freunde. Der 14-jährigen Paula beispielsweise helfen die Treffen mit einer Freundin, der es ebenfalls schwerfällt, von TikTok loszukommen. Immer samstags verbringen sie einen – möglichst analogen – Tag miteinander. +Für Ute Kreutzer ist der Gradmesser: Haben ihre Kinder noch Hobbys außerhalb der virtuellen Welt? Bei beiden Kindern ist sie dann doch beruhigt. Felix macht an zwei Abenden die Woche Sport. Und Johanna backt gern und liest neuerdings Bücher. diff --git a/fluter/machen.txt b/fluter/machen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ef9fc878cab6ea2e6bb6933c5bc4e37090254c29 --- /dev/null +++ b/fluter/machen.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Laut Businessplan brauchte er 50.000 Euro von der Bank, aber 13 von 15 Geld­instituten, denen er sein Konzept schickte, winkten sofort ab. Die Gespräche bei den beiden anderen waren nach 15 Minuten beendet. Doch Sebastian blieb hartnäckig und fand schließlich doch noch eine Bank – zu Hause in seinem Heimatort. Auch von seinen Eltern wurde er bestärkt, obwohl sie selbst kein Geld beisteuern konnten. "Mach das mal, du schaffst das schon" – so in etwa sah ihre Starthilfe aus, und diese Worte waren für Sebastian genauso wichtig wie das Geld der Bank. +Und dann ging es tatsächlich los: Sebastian mietete ein Büro, ließ zwei Bücher übersetzen, auf die er bei seinen Recherchen gestoßen war (eins aus Finnland, eins aus Weißrussland), kümmerte sich um eine schöne Gestaltung und ließ jeweils 2.000 Exemplare drucken. Dann schickte er eine Verlagsvorschau an die Buchhändler und wartete auf Bestellungen. "Als erst einmal gar nichts passierte, habe ich gedacht: O Gott, was ist, wenn niemand die Bücher will?" Aber schon als der erste Karton aus der Druckerei eintraf, waren die Bedenken verflogen. Er packte die frisch gedruckten Bücher aus, seine Bücher, die es ohne ihn nie gegeben hätte. "Schon für diesen Moment hatte es sich gelohnt", sagt Sebastian, "selbst wenn ich kein einziges verkauft hätte." +Doch dann kamen auch die Bestellungen, und zwar mehr als gedacht. Sebastian hatte Glück, dass Finnland das Partnerland der jüngsten Frankfurter Buchmesse war. Plötzlich war er der Verleger, der den einzigen finnischen Literaturnobelpreisträger im Programm hatte. Das finnische Fernsehen kam vorbei, und in den Zeitungen erschienen Lobeshymnen auf ihn, den mutigen Jungverleger. +Insgesamt hat Sebastian seine Kosten schon fast wieder drin. Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, korrigiert er aber noch nebenbei Artikel für Zeitschriften. Das macht ihm nichts aus, denn mit den nächsten Büchern könnte er schon in die Gewinnzone kommen. Oder Pleite machen. "Die Möglichkeit des Scheiterns gibt es immer", sagt er, "aber wenn man kein Risiko eingeht, läuft ja gar nichts." diff --git a/fluter/macht-euch-doch-bloss-nicht-so-verrueckt.txt b/fluter/macht-euch-doch-bloss-nicht-so-verrueckt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..259befa1a5ed72056ee75a7f7122a0dd12ed0e53 --- /dev/null +++ b/fluter/macht-euch-doch-bloss-nicht-so-verrueckt.txt @@ -0,0 +1,45 @@ +Ptak: Ich habe nach meiner Rückkehr von den Reisen erst als Hilfsarbeiter gearbeitet und dann eine Ausbildung zum Maschinenschlosser absolviert. Während meiner Tätigkeit als Facharbeiter wurde ich in den Betriebsrat gewählt. Dort habe ich mich um die Ausbildungsplätze gekümmert. Wir haben sehr darauf geachtet, dass wir auch Jugendliche ausbilden, die ein wenig schwieriger sind. Das hat mit allen gut geklappt. Und ich habe gelernt: Jede und jeder braucht mehr oder weniger seinen eigenen Weg und sein eigenes Tempo. +Und dann hatten Sie keine Lust mehr, so früh aufzustehen, und sind noch mal an die Uni ... +Durch meine Tätigkeit als Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat hatte ich Interesse an wirtschaftlichen Fragen bekommen. Das hat mir viel Spaß gemacht, und dann habe ich mit 30 gedacht: Warum studierst du nicht Wirtschaftswissenschaft? Dass ich nicht mehr so früh aufstehen musste, war eine schöne Nebenerscheinung. +Wieso durften Sie denn überhaupt studieren? Sie hatten doch gar kein Abi. +Wenn man genug Arbeitserfahrung und eine Berufsausbildung hat, geht das ja an einigen Unis. Ich habe dann sehr schnell mein Diplom gemacht und gleich im Anschluss meine Doktorarbeit, weil ich wusste: Das will ich. +So viel Zeit, sich auszuprobieren, haben heute die wenigsten. +Das stimmt. Es ist nicht zuletzt eine Geldfrage. Ich habe damals ein komfortables Stipendium bekommen und musste mir um Miete und Lebensunterhalt wenig Sorgen machen. Heute fehlt vielen diese finanzielle Unterstützung, die Freiheit erst ermöglicht. Heute sollen die Schule und das Studium schneller durchgezogen werden, um sich möglichst ohne Zeitverlust auf dem Arbeitsmarkt zu bewähren. +Warum diese Eile? +Weil man Kosten sparen und die Produktivität des Einzelnen erhöhen will. Die Politiker haben sich vor Jahren gedacht, dass die Jugendlichen zu lange in der Schule sind, dann zu lange studieren und erst mit 28 zur Volkswirtschaft beitragen. Durch eine frühere Einschulung, die Verkürzung des Abis und die Einführung der Bachelorstudiengänge versucht man, mehrere Jahre rauszuholen. +Aber heute gibt es viele Unternehmen, die sich über den schnellen Nachwuchs beklagen und dessen fehlende Substanz bemängeln. Ist die Bologna-Reform also ein Schuss in den Ofen? +Mittlerweile melden sich prominente Kritiker zu Wort. Für seine Kritik am System wäre der Bildungsminister von Mecklenburg-Vorpommern noch vor wenigen Jahren als Modernisierungsverweigerer beschimpft worden – heute denken viele so. Ich selbst finde es schade, dass sich durch die Verkürzung und Formalisierung auch die Beziehung der Lehrenden zu den Studierenden verändert hat. Viele sitzen im Hörsaal und empfinden Diskussionen als störend, obwohl gerade das Abschweifen sehr erhellend sein kann. Aber im Vordergrund steht die Jagd nach den Credits. Es ist eine wenig kreative, sehr technokratische Lehr-Lern-Beziehung geworden. +War es denn nicht immer so, dass man in Schule und Uni wenig Muße hatte? Schon Nietzsche bezeichnete die Schulen als "Anstalten der Lebensnot", an denen man für den Kampf um Arbeitsplätze vorbereitet wird. Und eben nicht als Orte, an denen man sich mit Zeit der Literatur oder Wissenschaft widmet. +Das hat Nietzsche schön gesagt. Klar hatte Bildung schon immer eine ökonomische Funktion. So wurde während der Industrialisierung das allgemeine Schulsystem eingeführt, weil man Arbeitskräfte benötigte, die schreiben und rechnen konnten. Das war ja auch eine Forderung der Arbeiterbewegung: Aufstieg durch Bildung. + + +Kann denn heute noch jeder durch Bildung aufsteigen? +Leider nicht. Die Bildungschancen hängen in Deutschland so stark wie in kaum einem anderen wirtschaftlich vergleichbaren Land von der sozialen Herkunft ab. Kinder von Akademikern haben eine wesentlich höhere Wahrscheinlichkeit, selbst zu studieren, als andere. Diese extrem niedrige soziale Mobilität ist in Europa einzigartig. Das kritisiert auch die OECD, also der Zusammenschluss der wirtschaftlich stärksten Länder. Sie empfiehlt Deutschland, das mehrgliedrige Schulsystem aus Haupt- und Realschule und Gymnasium aufzulockern und Schwächeren mehr Chancen zu geben. Gerade wenn man seine Zukunft als "Bildungsrepublik" sieht, wie es Politiker seit Jahren predigen. +Was ist damit gemeint? +Es geht auf der einen Seite darum, dass Wissen als Wettbewerbsfaktor wichtiger wird, wenn sich im Kontext der Globalisierung die Wertschöpfungsketten ändern, also die Produktion von Gütern nicht mehr bei uns, sondern auf verlängerten Werkbänken in den Schwellenländern stattfindet. Nach der Industriegesellschaft kommt, so heißt es, die sogenannte Wissensgesellschaft. Das heißt: Wir müssen nicht mehr die Kühlschränke produzieren, sondern mehr immaterielle Werte wie Ingenieurleistungen oder Erfindungen. +Verdanken wir aber nicht unseren momentanen Wohlstand vor allem dem ungeheuren Export von Autos oder Maschinen? +Es ist bemerkenswert, dass die Rede von der Wissensgesellschaft durch die starke Bedeutung der alten Industrien konterkariert wird. Die haben uns ja die letzten Krisen überstehen lassen. Die Aneignung von Wissen hat ja auch direkt mit der klassischen Industrie zu tun. Vor der Produktion steht schließlich die Innovation. Auf jeden Fall werden die Anforderungen größer. Man muss mehr wissen, mehr leisten. Auch in der Schule erhöht sich der Druck, in kürzerer Zeit mehr Input in den Kopf zu tun. +Werden die, die das Tempo nicht mitgehen können, abgehängt? +Wenn der Weg in die Wissensgesellschaft Sinn machen soll, müsste man etwa über höhere Unternehmens- und Vermögenssteuern mehr investieren, um Chancengleichheit zu bekommen. Sonst werden beträchtliche Teile der Bevölkerung abgehängt. Vor allem, wenn Bildungspolitik plötzlich die bessere Sozialpolitik sein soll. Das heißt: Vor dem Hintergrund von Euro-Krise und Staatsverschuldung wird an der Sozialpolitik gespart; stattdessen soll die Bildung über die Zukunftschancen junger Menschen und deren späteren Wohlstand entscheiden. +Nach dem Motto: Wer genügend lernt, muss sich keine Sorgen machen zu verarmen. +Es geht um eine weitere Individualisierung der sozialen Frage. Die Botschaft lautet: Jeder muss sich um sich selbst kümmern. Am Anfang einer Erwerbsbiografie muss ich die Chance ergreifen, durch Bildung meine Startchance zu erhöhen. Da wir aber keine Chancengleichheit haben, läuft das auf eine weitere Spaltung der Gesellschaft hinaus. +Wird denn mehr in die Bildung investiert, wenn es in Zukunft derart auf sie ankommt? +Leider nein. Die Bildung ist chronisch unterfinanziert. Allein die öffentlichen Bildungsausgaben fielen von 4,1 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt im Jahre 1995 auf 3,7 Prozent in 2008, wobei sie trotz PISA-Schock weiter reduziert wurden. Um das Niveau von 1995 wiederzuerlangen, müssten wir 10,3 Milliarden Euro pro Jahr mehr ausgeben – gemessen an 1975 sogar über 35 Milliarden. +Die Hans-Böckler-Stiftung schätzt den Bedarf auf circa 40 Milliarden Euro pro Jahr. +Damit wären wir im Mittelfeld der OECD-Länder. Dass aber eher gespart wird, liegt auch am föderalen System, denn die Bildung ist eines der wenigen Politikfelder, bei dem die Landesregierungen Finanzhoheit haben. Daher wird dort gern gespart. Dem Bund ist es sogar verboten, die Länder zu unterstützen. Dabei müsste er zum Beispiel bei vielen Universitäten massiv Hilfestellung leisten. Wenn man sieht, dass die Bildungspolitik neben der Sozialpolitik der größte Topf ist, bei dem die Länder sparen können, ist der Druck auf diese Bereiche sehr groß. Dieses Problem wird sich durch die Schuldenbremse weiter verstärken. +Aber das ist doch schizophren. Man deklariert die Bildung zum großen Zukunftsprojekt und spart in der Gegenwart daran. +Die Lücke zwischen erhöhten Anforderungen an die Bildung bei gleichzeitigem Sparen sollen private Akteure auf neuen Bildungsmärkten schließen. Bisher war Bildung ein öffentliches Gut und nicht abhängig vom Portemonnaie des Einzelnen. Wenn die öffentliche Hand aber nicht mehr in der Lage ist, dieses Gut in ausreichender Qualität bereitzustellen, muss ich es mir woanders besorgen. Daher steigt zum Beispiel die Anzahl der Privatschulen dramatisch. Auch das Volumen der Schülernachhilfe hat enorm zugenommen. Das ist ein Riesenmarkt, ungefähr zweieinhalb Milliarden Euro pro Jahr. Auch in den öffentlichen Schulen selbst halten marktwirtschaftliche Mechanismen Einzug: Schulen sollen in Wettbewerb miteinander treten, über Sponsoring eigene Mittel einwerben und wie Unternehmen geführt und gesteuert werden. Nach dieser Logik ist der Rektor in Zukunft nicht mehr ein Lehrer unter vielen, sondern eine Art Manager mit betriebswirtschaftlicher Kompetenz, der ein eigenes Budget verwaltet und seine Kollegen "leistungsbezogen" entlohnen soll. Bei den Unis haben wir ja bereits eine entsprechende Besoldung der Professoren. Und man bekommt kaum noch einen Job, wenn man nicht ausreichend selbst eingeworbene Finanzmittel mitbringt. Die Frage ist, ob wir Schulen und Unis tatsächlich wie ein Wirtschaftsunternehmen behandeln wollen oder ob wir aufgrund der gesellschaftlichen und sozialen Auswirkungen von Bildung ihren spezifischen öffentlichen Charakter weiterhin anerkennen. Aber darüber gibt es leider keine öffentliche Debatte. + + +Müssten wir auch allgemein darüber reden, was der Zweck der Bildung ist? +Absolut. Momentan haben wir mit dieser ökonomischen Zurichtung der Bildung eine gefährliche Einengung. Unter Bildung verstehen wir zunehmend Ausbildung. Bildung hat aber auch den Zweck, uns zu mündigen Bürgern einer Demokratie zu machen. Im Humboldtschen Sinne zur Persönlichkeitsentfaltung beizutragen. Bildung muss auch dazu dienen, sich schöne Dinge anzueignen, ein Bild zu interpretieren, ein Musikstück zu spüren. Oder auch nur dazu, sich bei einem Bier gut zu unterhalten und sich auf kommunikative Weise ein Bild von der Welt zu machen. Und sich nicht mit den iPhones gegenüberzusitzen und sich anzuschweigen. +Gerade Deutschland steht doch auch in einer großen Bildungstradition mit seinen Schriftstellern, Wissenschaftlern und Erfindern. +Eben. Andere Länder beneiden uns ja um diese humanistischen Wurzeln: um die Literatur, die Technik, auch die Sozialwissenschaften. Wir haben herausragende, international hoch geschätzte Intellektuelle und Wissenschaftler wie etwa Karl Marx hervorgebracht, aber heute kaum Lehrstühle, die diese Traditionen zeitgemäß fortsetzen und weiterentwickeln, wie es etwa in Japan oder Südkorea geschieht. Wir haben so eine Vielfalt und konzentrieren uns nur auf Schmalspurwelten. Wir nehmen uns die Möglichkeit, an einen großen Schatz anzuknüpfen, weil wir die Bildungspolitik nicht nach ihrer intellektuellen Tradition ausrichten, sondern durchökonomisieren. +Gibt es aber nicht jenseits der Bildungspolitik auch positive Signale der Bürger? So sind die Anmeldezahlen bei geisteswissenschaftlichen Fächern so hoch wie lange nicht, und das bloße ökonomische Wachstum gilt auch gerade bei Jüngeren nicht mehr als das allein Seligmachende. +Auf der Ebene individueller Verweigerungshaltungen gibt es Bewegung, und die hängt mit der Diskussion zusammen, was wichtig ist und wertvoll. Ob es ein großes Auto ist oder mehr Zeit für Freunde und Familie. Aber auch das ist eine soziale Polarisierung. Die Reflexion können nur die leisten, die das entsprechende Bildungsniveau haben. Um die anderen mache ich mir Sorgen. +Wie sähe denn Ihrer Meinung nach eine vernünftige Wissensgesellschaft aus? +Wir müssen die Bildungspolitik vernünftig ausstatten und besser koordinieren. Es kann nicht sein, dass jedes Bundesland seine eigene Politik macht. Die negativen Erfahrungen zeigen auch, dass der Bologna-Prozess in Europa dringend reformiert werden muss. Und dann müssen wir die Politikfelder, in die Bildung eingebettet ist, zusammendenken: Das betrifft auch die Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik. Und dann sollten wir damit aufhören, ständig mit den Chinesen oder wem auch immer konkurrieren zu wollen, anstatt uns auf Kooperationsfähigkeit und unser Freidenkertum zu besinnen. +Müssen wir überhaupt alle Akademiker werden? Es heißt doch immer, dass händeringend Facharbeiter gesucht werden? +Der Fachkräftemangel trifft auf bestimmte Berufsgruppen zu – etwa bei Ingenieuren oder in sozialen Berufen. Wir benötigen beispielsweise dringend Altenpfleger, aber das will kaum jemand werden, weil man schlecht verdient und die Ausbildung sogar noch selbst finanzieren muss. In Skandinavien sind soziale Berufe viel anerkannter. Da müssen wir zu einer Neubewertung kommen. Und dann jammern viele Unternehmen, dass ihnen der Nachwuchs fehlt, andererseits investieren sie aber immer weniger in Ausbildung und holen stattdessen schon ausgebildete Kräfte aus dem Ausland, wo sie dann fehlen. Wir haben mit der dualen Berufsausbildung mit Betrieb und Berufsschule ein weltweit vorbildliches Modell, das wir weiterentwickeln sollten, indem wir Wege suchen, wie wir auch die schwächeren Jugendlichen mitnehmen können, statt es der kurzfristigen Kostenlogik zu opfern. +Sehen Sie denn gar nichts Positives? +Doch. Es gibt an allen Ecken kleine Veränderungen, gewissermaßen Experimentierstuben des Neuen: Wenn etwa staatliche Regelschulen reformpädagogische Konzepte übernehmen, die die individuellen Fähigkeiten in den Vordergrund stellen, oder wenn sich selbst der Bundestag Gedanken darüber macht, ob ein bloßer Wachstumsfetisch noch für die Zukunft taugt. Viele Menschen nehmen Nachhaltigkeit ernst und verabschieden sich von der Geiz-ist-geil-Ideologie. Das Wissen, wie man es besser macht, ist prinzipiell da. Auch das ist ja eine Art Bildungserfolg. diff --git a/fluter/macht-von-marken-mode-interview.txt b/fluter/macht-von-marken-mode-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c073fece90925876c277e56686689b75bb9b96f3 --- /dev/null +++ b/fluter/macht-von-marken-mode-interview.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Was ist daran bemerkenswert? +Hier sieht man, wie pluralistisch die Modewelt geworden ist. An Mode konnte man lange Unterschiede ablesen – eine Trennung der Klassen zum Beispiel oder der Geschlechter. Diese Grenzen lösen sich in der Mode immer mehr auf. Es ist ja auch nicht mehr so klar, dass derjenige, der eine Luxusmarke trägt oder einen Mercedes fährt, auch in einer Luxuswohnung wohnt. +Aber wie kommt es, dass Luxusmarken bei Jugendlichen präsenter zu werden scheinen? +Luxusmarken fingen bereits in den Achtzigerjahren an, auch für Kinder und Jugendliche zu produzieren. Die Kinder der Luxuskundin sollten später auch mal dieselbe Marke kaufen wie ihre Mutter. Das ist eine gängige Strategie: Alteingesessene Männermodehäuser zum Beispiel haben irgendwann Frauenmode produziert, um sich neue Zielgruppen zu erschließen. Und nun halten die Jugend und ihr Streetstyle endgültig Einzug in die Luxusmode. +Was will diese neue Kundschaft? +Heranwachsende sind von Statussymbolen fasziniert, aber das ist nicht neu. Jugendkulturen drücken ihr Lebensgefühl über Musik und Mode aus und verändern sich ständig. In der Bronx trug man zum Beispiel zu Beginn der Hip-Hop-Bewegung Schuhe ohne Schnürsenkel und eine Hose ohne Gürtel – die Baggy Pants – aus Solidarität zu den Kumpels, die im Gefängnis saßen. Denen wurden dort die Gürtel und die Schnürsenkel abgenommen, um Suizide zu vermeiden. Später ist eine ganze Industrie daraus entstanden. +Das hat mit der heutigen Hip-Hop-Szene nicht mehr viel zu tun, oder? +Die Bewegung hat sich ins Gegenteil verkehrt. Kanye West zum Beispiel macht Hip-Hop und Klamotten. Die werden unter anderem vom Designer Virgil Abloh entworfen, dessen Label Off-White bei jungen Leuten gerade sehr angesagt ist. Abloh ist mittlerweile auch Chefdesigner für die Männerlinie von Louis Vuitton. Damit ist es offiziell: Streetstyle gehört zur Luxusmode. +Da stimmt doch was nicht: Die Bilder, die hier zu sehen sind, stammen vom schottischen GraphikdesignerHey Reilly, der für sein Projekt "brandalising" berühmte Markenlogos miteinander vermischt +In Deutschland rappt zum Beispiel Veysel über Schuhe der Luxusmarke Balenciaga. Dessen Chefdesigner, Demna Gvasalia, hat mit seinem Label Vetements vor ein paar Jahren ein gelbes T-Shirt mit rotem DHL-Schriftzug rausgebracht. Preis: 245 Euro. Was ist da passiert? +Hier hat eine sogenannte Kontextüberschreitung stattgefunden. Der Begriff stammt aus der Kunst. Marcel Duchamp hat 1917 ein handelsübliches Urinal ausgestellt und zur Kunst erklärt, also den eigentlichen Kontext des Objekts überschritten. Die Kontextüberschreitung hat auch längst in der Mode Einzug gehalten. Streng genommen war ja schon der Sakkoanzug mit Hemd und Krawatte für die Frau eine solche: Ein Outfit, das über Jahrzehnte nur der geschlossenen Welt der Geschäftsmänner vorbehalten war, wurde plötzlich von einer ganz neuen Bevölkerungsgruppe getragen. Bei dem DHL-Shirt wurde mit dieser Strategie etwas Banales ins Luxuriöse gehoben und damit kommerzialisiert. +Glauben Sie, die Leute, die das T-Shirt tragen, verstehen das? +Parallel zu der Verschiebung vom Gegenständlichen ins Abstrakte in der Kunst haben wir bei der Mode auch eine Verschiebung vom einfach Erklärbaren zu Entwürfen, die dechiffriert – also entschlüsselt – werden müssen. Ich fürchte, viele wissen nicht, was sie da tragen. Ihnen geht es nicht ums Dechiffrieren, sondern sie wollen es einfach haben, weil es cool und angesagt ist, und fertig. +Da wir gerade beim Dechiffrieren sind: Kann man auch den Bildungshintergrund an der Klamotte ablesen? +Geschmack und Stil können sich im wahrsten Sinn des Wortes bilden. Aber wer sich nur mit teuren Luxusmarken zuhängt, ist noch lange nicht stilvoll gekleidet oder gar gebildet. Es gibt im Gegenteil die These: Je gebildeter, desto zurückhaltender im Stil. Ich denke, das stimmt häufig. Wobei zurückhaltend nicht bedeutet, nicht an Luxusmode teilzunehmen. Es bedeutet nur, sich nicht das totale Bling-Bling auszusuchen. +Man könnte sich ja theoretisch auch eine Welt vorstellen, in der Marken keine Bedeutung mehr haben. Wäre die besser? +Marken sind ja nicht per se schlecht. VW hat beispielsweise den Käfer produziert, ein demokratisches Auto, und den Porsche, ein Luxusauto. Eine Marke muss also nicht gleich Luxus bedeuten. Es wird wohl keine Welt mehr ohne Marken geben. Zumindest dann nicht, wenn Marken mit Qualitätsbewusstsein einhergehen. +Nun wird ja gerade gesellschaftlich auch viel über Klimaschutz,Minimalismus und Konsumverzichtdiskutiert. Wie passt das mit dem Interesse an Luxusmarken zusammen? +Klimaschutz und Minimalismus, beispielsweise in Form der Ordnungsratgeber von Marie Kondo, sind eine große Bewegung unserer Zeit, aber nicht die einzige. Stile,Trendsund Lebensführungen sind heute so pluralistisch wie nie. Nicht jeder mistet ja aus und lebt dann minimalistisch. Manche misten auch nur deshalb aus, um Neues zu kaufen. +Kann man denn ökologisch bewusst leben und an Luxusmode teilhaben? +Dazu muss man die "Angebermarken" – für mich zum Beispiel Philipp Plein – von den Marken unterscheiden, die ich die "stillen" Marken nenne. Die pflegen eher ein Understatement, und hier kann ein Mantel auch 20 Jahre halten, weil er qualitativ hochwertig in Material und Herstellung und zeitlos im Stil ist. In der Luxusmode gibt es zudem längst auch wirklich nachhaltige Labels, wie beispielsweise Stella McCartney, Gabriela Hearst oder aus München Allude, die in ihrer Cashmere-Klinik Pullover reparieren. +Hat die Lust am Luxus eigentlich auch etwas mit den gesellschaftspolitischen Umständen zu tun, in denen die Menschen leben? +Die Autorin Silvia Bovenschen hat bereits in den Achtzigerjahren geschrieben: Mode ist ein Krisenthema. Das heißt, wir fangen wieder mehr an, über Mode zu sprechen, wenn wir uns in Krisen- und Umbruchzeiten befinden. Das Glamouröse in der Mode am Ende der 1920er-Jahre etwa lässt sich mit einer "Jetzt erst recht"-Haltung erklären. Das bildet derzeit die Serie "Babylon Berlin" übrigens gut ab, in der die Grundstimmung ja aus Fatalismus und Feiern besteht. Ich beobachte so etwas in der Art heute auch. Klimawandel, Pandemie, neu aufkommender Nationalismus – unsere Zeit ist von großen Herausforderungen geprägt. Und die Jugendlichen in den YouTube-Videos sind mit ihren Luxusmarken vielleicht auch ein Anzeichen dafür. + + +Sabine Resch ist Professorin für Modejournalismus an der Akademie Mode und Design in München. diff --git a/fluter/macht-was-ihr-wollt-aber-bitte-achtet-darauf-ob-ihr-es-wollt.txt b/fluter/macht-was-ihr-wollt-aber-bitte-achtet-darauf-ob-ihr-es-wollt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..eff862015ccc6057123de7757d16badd8794d903 --- /dev/null +++ b/fluter/macht-was-ihr-wollt-aber-bitte-achtet-darauf-ob-ihr-es-wollt.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +Silja Matthiesen: Man kann das an verschiedenen Faktoren aufhängen: Fangen die Teenager früher an? Haben sie wahllos Sex mit verschiedenen Partnern, und leidet darunter die Aufmerksamkeit für die Verhütung? Die Antworten darauf finden sich in deutschen und internationalen Studien und zeigen, dass das so nicht stimmt. Das Alter beim ersten Geschlechtsverkehr liegt zwischen 16 und 17 Jahren und ist seit den 70er-Jahren fast gleich geblieben. Immer mehr Sex haben die Jugendlichen auch nicht, im Gegenteil: Im Wesentlichen suchen Jugendliche Sexualität in festen Beziehungen. Da unterscheiden sie sich gar nicht so sehr von Erwachsenen oder von Jugendlichen früher. +Woher kommt dann der Widerspruch zwischen dem Vorurteil und der Realität? +Vor der Aufregung um die pornosüchtige Jugend gab es ja die Aufregung um ungewollte Teenagerschwangerschaften. Auch da zeigen sehr solide Daten, dass es überhaupt keine Zunahme gegeben hat, im Gegenteil. Früher gab es auch mal die Sorge um zu viel Masturbation, das ist quasi ein Vorläufer der heutigen Debatten. Dass sich Erwachsene um Jugendsexualität Sorgen machen, ist eine kontinuierliche Erscheinung. +Ist diese Sorge um die Jugend nicht scheinheilig? Angesichts der Lust, mit der sich einige Medien über Jugendsexualität auslassen, wirkt manche Schlagzeile schon fast wie das Wunschdenken notgeiler Erwachsener. +Die Rolle der Medien ist da in der Tat fragwürdig. Aber warum ohne Grundlage von einer "Generation Porno" oder ungewollten Schwangerschaften berichtet wird, ist ja klar: Das verkauft sich gut. "Jugendschwangerschaften in Deutschland nehmen seit zehn Jahren leicht, aber kontinuierlich ab" – mit so einer Schlagzeile verkauft sich keine Zeitung. +Statt einer übersexualisierten Jugend zeigen Studien eher das Bild von kuscheligen Teenagern, die häufig sogar romantische Ideale haben. Liegt das vielleicht daran, dass vielen Jugendlichen von den Eltern Patchworkverhältnisse mit wechselnden "Lebensabschnittsgefährten" vorgelebt werden und sie sich in Abgrenzung dazu ein kleinbürgerliches Ideal wünschen? +Man muss anerkennen, dass sich Jugendliche Sexualität vor allem in Liebesbeziehungen wünschen. Das ist ja nicht kleinbürgerlich. Diese Wünsche werden nicht in einer Langzeitpartnerschaft, sondern in seriellen Beziehungen gelebt – also in kurzen, festen Beziehungen hintereinander. Man verliebt sich ja eher selten mit 15 und ist dann vier Jahre zusammen. In der Lebensphase von 13 bis 18 haben Jugendliche im Durchschnitt zwei bis drei feste Beziehungen hintereinander. Tendenziell werden die Beziehungen mit zunehmendem Alter länger. +Wie gehen die Jugendlichen damit um, dass sich Ältere zunehmend jugendlich und sexy inszenieren? Wenn sie also mit Müttern konfrontiert sind, die sich die Schamhaare rasieren, Tätowierungen und hohe Stiefel tragen. Will man als Kind nicht immer vermeiden, mit dem Sex der Eltern konfrontiert zu werden? +Nicht mehr so stark wie früher, als das Entwickeln einer eigenen Sexualität noch stark zur Loslösung von der Familie gehörte. Damals fand der Sex heimlich und in Abgrenzung zu den Eltern statt. Mittlerweile ist Jugendsexualität ziemlich eingebettet in einen familiären Kontext. Den ersten Sex erleben viele Jugendliche heute zu Hause. Da sind sie mit ihrer Partnerin oder ihrem Partner im Bett, und die Eltern wissen und tolerieren das. Das entlastet von Heimlichkeiten, was auch gut für die Verhütung ist. Denn wenn Jugendliche heimlich und spontan Sex haben, ist sichere Verhütung schlechter zu managen, als wenn es ganz entspannt und planbar zugeht. Eine neue Frage ist, wie man sich abgrenzt von den Eltern und wie man seine Privatheit organisiert. Dass der eigene Freund morgens der Mutter im Bad begegnet, will man vielleicht doch nicht. +Gilt das auch für Jugendliche mit Migrationshintergrund? +Es kommt darauf an, wie traditionell das Elternhaus ist. Aber sicher können zum Beispiel viele muslimische Jugendliche ihre Sexualität nicht so locker vor den Augen der Eltern ausleben. Viele Kulturkreise verbieten den Frauen ja auch Sex vor der Ehe, das hat für deutsche Jugendliche gar kein Gewicht mehr. In solchen Familien steht der Sex nach wie vor im Kontext von Heimlichkeit. Man muss sich ja nur fragen, was die Schwangerschaft für eine junge Frau bedeutet, die ihren Eltern gar nicht sagen kann, dass sie Sex hat. +Wie sieht es eigentlich mit der Verhütung aus? +Grundsätzlich verhüten Jugendliche so gut wie nie zuvor, und auch im internationalen Vergleich steht Deutschland sehr gut da. Viele Jugendliche benutzen ein Kondom, die Pille oder andere hormonelle Verhütungsmittel. Daher sind auch die Raten der Jugendschwangerschaften niedrig und leicht rückläufig. Jugendschwangerschaften hängen übrigens stark mit sozialen Faktoren zusammen. Das Risiko einer Hauptschülerin, ungewollt schwanger zu werden, ist tatsächlich fünfmal so hoch wie das einer Gymnasiastin. +Jugendliche wissen heute viel über Verhütung, sie wollen eher keine One-Night-Stands, sondern romantische Liebesbeziehungen. Woher kommt diese Vernunft? +Der Zugang zu Sexualität und die Aufklärung finden über viele Wege statt. Man kann entspannt mit den Eltern reden, es gibt Jugendmedien, das Internet, die Schule, viele Möglichkeiten also und wenig Verbote. Sexualität ist nicht mehr so stark im Feld von Rebellion und Aufbegehren verhaftet. Stattdessen gibt es eine Botschaft für Jugendliche: "Macht, was ihr wollt, aber achtet darauf, ob ihr es wirklich wollt." Gerade beim One-Night-Stand denken viele: Kann man machen, meine Erfahrung oder Vermutung ist aber, dass es so toll nicht ist. +Kann man sagen, dass sich Jugendliche heute Sex aus Liebe wünschen? +"Ich wünsche mir Liebe, weil ich die Vermutung habe, dass der Sex dann schöner ist." Das ist das Leitmotiv bei vielen. Im Gegensatz dazu zeigt ein Porno Sex ohne Gefühle. Das hat auch mal was, das reizt die Neugier. Aber der Sex mit Gefühl, also mit einem Partner, in den man verliebt ist, ist gehaltvoller, vertrauensvoller, schöner. Die Jugendlichen merken, dass sie die Wahl haben: Entweder gehen sie auf die Party und stürzen mit jemandem ab, oder sie warten lieber. +Es heißt ja immer, dass Jungs, die viel Pornografie schauen, vieles im Bett nachspielen wollen. Stimmt das? +Die Medienwirkungsforschung weiß ja schon länger, dass diese Nachahmungstheorie zu simpel ist, egal ob es um Ballerspiele oder Pornos geht. Jugendliche bringen heute mehr Medienkompetenz mit. Sie wissen sehr genau, dass in den Medien Dinge gezeigt werden, die im echten Leben so nicht sind. Der Einfluss von Pornografie ist auch viel komplexer. Viele Eltern, die sich Sorgen machen, sind da weniger kompetent als ihre Kinder. Gerade Mütter von adoleszenten Jugendlichen haben oftmals keinerlei Erfahrungen mit Internetpornografie und wissen manchmal gar nicht, worüber sie sprechen. Das schürt natürlich Ängste. Vielleicht sollten sie erst einmal selber gucken. +Männer wissen aber doch Bescheid? +Erwachsene Männer konsumieren in der Tat Pornografie. Seltsamerweise wird in der gegenwärtigen Debatte oft so getan, als hätten Erwachsene damit nichts zu tun. +Wird durch das Übermaß an verfügbarer Pornografie mehr onaniert? +Könnte man vermuten, dem ist aber nicht so. Geändert hat sich, dass sich Jugendliche heute unbelasteter von Schuldgefühlen selbst befriedigen. Es gibt aber beim Thema Masturbation große Geschlechtsunterschiede: Fast alle Jungen masturbieren regelmäßig, auch häufig, aber nicht einmal die Hälfte der Mädchen. Und selbst die, die darin erfahren sind, machen es nicht so regelmäßig. Für viele Mädchen ist auch die Vorstellung abwegig, man könnte Pornos anschauen und das erregend finden. +In einer Konsumgesellschaft wird auch der Körper immer als etwas Begehrliches inszeniert. Lassen sich Jugendliche von den Idealbildern in der Werbung anstecken? +Das ist auf jeden Fall etwas, das sich zur Identifizierung eignet und falsche Leitbilder entstehen lässt. Auch Fernsehsendungen wie "Germany's next Topmodel" – da bekomme ich schon mehr Bauchschmerzen als bei Pornos. Viele wollen ja Model werden, aber niemand sagt: Oh, Pornodarsteller, das will ich auch. +Wodurch wird unser Sexualleben eigentlich geprägt? Gibt es so etwas wie Veranlagungen? +Es gibt biografisch früh verankerte Skripte, die so etwas wie die Blaupause des individuellen Sexuallebens darstellen. Was für Menschen sexuell begehrenswert ist, ist ja sehr unterschiedlich. Manche bevorzugen gleichgeschlechtliche Partner, andere haben ethnische Vorlieben oder einen Fetisch. Vieles von dem, was unsere Sexualität prägt, speist sich aus nichtsexuellen Bereichen. Wie ich später meinen Sex lebe, hängt davon ab, welche Erfahrungen ich als Kind gemacht habe: Wie wurde mit meinen Bedürfnissen umgegangen? Konnte ich meine Wünsche äußern, wurden die befriedigt, oder wurde ich immer enttäuscht? Welche Erfahrungen habe ich mit Bindungen und Beziehungen gemacht? Das wirkt sich alles auf die spätere Bindungsfähigkeit aus oder auf die Frage, ob ich mich auf etwas einlasse, etwas riskiere. Dann geht es um das Thema Körper: Wie ist als Kind mit dem Körper umgegangen worden? Manchen Kindern wird ja schon verboten, sich selbst anzufassen. Dann spielt die Erfahrung mit der eigenen Weiblichkeit oder Männlichkeit eine große Rolle. Das alles bildet eine Art Landkarte für das Begehren. +Ist das der Grund für das recht vernünftige Verhältnis zur Sexualität: dass viele Jugendliche den Umgang mit Themen wie Körperlichkeit und Emanzipation in der Familie unverklemmter und moderner erleben als die Nachkriegsgeneration? +Ich würde auf jeden Fall sagen, dass relativ viele Jugendliche ihr Sexualleben so gut organisieren können, weil sie relativ gute Erfahrungen gemacht haben mit ihrer Geschlechtlichkeit, ihrer Körperlichkeit und ihren Bedürfnissen. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir aus den Augen verlieren sollten, dass es auch Jugendliche gibt, deren Wünsche nach Geborgenheit, Respekt und Selbstachtung schon früh, nämlich in ihrer Herkunftsfamilie, enttäuscht wurden. Diese eher kleine Gruppe von Jugendlichen aus sozial und familiär prekären Verhältnissen braucht besondere Unterstützung. diff --git a/fluter/machtwechsel-in-simbabwe.txt b/fluter/machtwechsel-in-simbabwe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9f5527ebe0248050a006681faa898b66ca77b965 --- /dev/null +++ b/fluter/machtwechsel-in-simbabwe.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +Musa Kika: Es hat sich nichts verändert in Simbabwe. Es gibt keinen Regierungs- oder Systemwechsel. Nur der Präsident, das Gesicht des Regimes, wurde ausgetauscht. Dieselben Leute, die sich 37 Jahre lang um Robert Mugabe versammelt haben, versammeln sich jetzt um den neuen Präsidenten Emmerson Mnangagwa. +Mnangagwa ist alles andere als ein politischer Neuling. Wie nahe steht er Mugabe? +Mnangagwa war Mugabes politischer Ziehsohn. Man kann nicht von Mugabes 37-jähriger Herrschaft sprechen, ohne Mnangagwa zu erwähnen. Während des Unabhängigkeitskriegs in den 1970er-Jahren war er Mugabes persönlicher Assistent. In den 1980er-Jahren befahl er das Massaker an Oppositionellen im Matabeleland. Er war mehr als 30 Jahre lang Minister. 2005 und 2008 organisierte er die Wahlen – und den Wahlbetrug – für Mugabe. Wann immer Mugabe seine Macht festigte, war Mnangagwa an seiner Seite. Das hat zwei Gründe: Einerseits stimmt Mnangagwa mit Mugabe grundsätzlich überein. Andererseits wollte er immer schon selbst Präsident werden. Er hat also Mugabes Macht gestärkt mit der Überzeugung, dass er als Nächstes dran ist. +Die Menschen bejubeln und fordern den politischen Wechsel +Die Bevölkerung hat den Wechsel an der Spitze trotzdem gefeiert. +Die Mehrheit, auch ich, feierte. Aber nicht den Beginn einer neuen Ära, sondern dass Mugabe nach 37 Jahren endlich nicht mehr Präsident ist. Das hat Euphorie und Erleichterung ausgelöst. +Mnangagwa war zwar die rechte Hand Mugabes, aber es ist möglich, dass er sich anders verhalten wird. Einerseits hat er miterlebt, wie sich Armee und die Bevölkerung erheben können. Er könnte also seine Macht durchaus mit einer gewissen Angst, entmachtet zu werden, ausüben. Andererseits dürfte er daran interessiert sein, ein besseres Vermächtnis zu hinterlassen als Mugabe. +Mnangagwa hat in seiner Antrittsrede unter anderem versprochen, die vertriebenen weißen Farmer zu entschädigen. Wie glaubwürdig ist das? +Er sprach auch davon, das Land für ausländische Investoren zu öffnen und wirtschaftliche Reformen einzuleiten. Mnangagwas Rede war schon mal eine Abweichung von Mugabes radikaler Politik. Dass er seine Versprechen ernst nimmt, ist fraglich. +Sie wurden stark untergraben durch die Wahl seines Kabinetts. Mugabe hat jahrzehntelang dieselben Minister recycelt, und auch Mnangagwa hat sich aus der alten Riege bedient. Leute, die in Korruption verstrickt sind und ihre Macht missbraucht haben. Zudem gab es Kontroversen, weil er Entscheidungen getroffen hat, die gleich mehrfach verfassungswidrig waren. In einem Versuch, das Problem zu lösen, hat er zwei Tage später sein Kabinett geändert. Aber nach wie vor gibt es verfassungswidrige Entscheidungen: Er hat aktive Militärkommandanten ins Kabinett geholt. Das widerspricht seiner versprochenen Agenda des Wandels. Aber vielleicht werden Mnangagwas Minister bei einer Änderung seiner Haltung gezwungen sein, sich anders zu verhalten als in der Vergangenheit. +Die Mehrheit der Simbabwer ist unter 35 Jahre alt, sie hat nie einen anderen Präsidenten außer Mugabe erlebt. Wie sieht sie die Veränderung? +Für uns unter 35-Jährige ist die Situation tatsächlich neu. Mehr als 90 Prozent der Simbabwer sind arbeitslos. Radikale Veränderungen oder neue Jobs erwarten wir nicht. Es gibt aber die Hoffnung, dass ein neuer Präsident eine andere Politik verfolgt. +Robert Mugabe (93) war 37 Jahre im Amt, für viele war er lange der personifizierte Staat + +Wie politisch ist Simbabwes Jugend? +Die Jugend, insbesondere die Studenten, waren mal politisch sehr aktiv. Die meisten Politiker der Opposition, vor allem in der MDC (Movement for Democratic Change), haben ihre politische Karriere als Aktivisten in Studentenbewegungen begonnen. Aber die Dinge haben sich seit Beginn der Nullerjahre verändert. Die Repression an Unis hat zugenommen, Proteste wurden niedergeschlagen. Der Aktivismus ist im Wesentlichen tot. Es ist beunruhigend, wie wenig sich die Jugend politisch engagiert, besonders im Vergleich zu Südafrika, wo ich lange gelebt habe. Es gibt sehr viel Apathie nach 37 Jahren des Mugabe-Regimes. +Ändert sich das gerade durch den Abgang Mugabes? +Das scheint sich seit vergangenem Jahr zu ändern, da gab es die#ThisFlag-Bewegung. Ein junger Pastor postete ein Video auf Twitter und Facebook, in dem er sich über die Regierung aufregte. Junge Leute gingen daraufhin auf die Straße, wurden politisiert. Seitdem wird an Unis wieder über demokratische Teilnahme und politische Prozesse gesprochen. Und es gibt eine Zahl an politisch unabhängigen jungen Kandidaten für die Parlamentswahl nächstes Jahr. Bei Mugabes Abgang demonstrierten junge Leute selbstorganisiert und aus freiem Willen, in Simbabwe, aber auch weltweit, in der Diaspora, vor Botschaften. Das macht Hoffnung. +Simbabwe hat 2013 eine neue Verfassung bekommen – als Resultat einer Einheitsregierung aus Mugabes ZANU-PF und der MDC. Was hat sich verändert? +Musa Kika, 27, studierte Jura in Kapstadt und Harvard. Er ist Referent für Konstitutionalismus und Regierungsführung und arbeitet seit September für die Organisation Zimbabwe Lawyers for Human Rights. +Eine Menge. Die Verfassung ist vergleichbar mit progressiven Verfassungen wie in Südafrika oder Namibia. Zum ersten Mal sind umfassende politische, sozioökonomische und kulturelle Rechte festgeschrieben. Der Präsident hat weniger Macht, die Judikative ist unabhängiger, zumindest auf dem Papier. Das Problem ist die Umsetzung. Die neue Verfassung wurde 2013 verabschiedet, am Ende der gemeinsamen Regierung von ZANU-PF und MDC. Danach regierte ZANU-PF wieder alleine. Es fehlt der politische Wille, die Verfassung durchzusetzen. +Wie geht es der MDC, der Haupt-Oppositionspartei? +Die MDC ist im schwächsten Zustand seit ihrer Gründung 1999. Morgan Tsvangirai, der die Partei seit damals führt, ist krank. Er scheint aber hartnäckig an der Spitze bleiben zu wollen und zu glauben, dass es ohne ihn keine Partei gibt. MDC-Mitglieder haben sich abgespalten und kleinere Parteien gegründet, die keine Wurzeln schlagen konnten. In den Jahren 2009 bis 2013 war die MDC an der Regierung der nationalen Einheit beteiligt. Natürlich war ihre Handlungsmacht durch die ZANU-PF eingeschränkt. Aber einige führende MDC-Politiker sind durch Korruption aufgefallen. Die Partei hat viele Unterstützer verloren. Sie ist heute pleite. Nächstes Jahr finden Wahlen statt, aber der MDC fehlen die Ressourcen für eine Wahlkampagne. +Simbabwe war in den vergangenen Jahren international isoliert. Wird sich das ändern? +Das hoffen wir. Die Machtübernahme war ein klarer Coup, aber keiner unser internationalen Partner hat sie so bezeichnet. Vielmehr gratulierten viele Staaten, darunter die USA und Großbritannien. Der internationalen Gemeinschaft scheint es weniger darum zu gehen, wer an der Macht ist, sondern darum, dass eine politische Umgebung geschaffen wird, die es ihr ermöglicht, wieder Gespräche aufzunehmen. + +Fotos: Belal Khaled / picture-alliance / newscom diff --git a/fluter/made-in-germany-serie-ard-rezension.txt b/fluter/made-in-germany-serie-ard-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2b2daba1c4a9bbb720e60b6bb92e0ff671f9b8bc --- /dev/null +++ b/fluter/made-in-germany-serie-ard-rezension.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Dabei hat die Serie aus der Fülle an noch wenig erzähltenpostmigrantischenGeschichten – also Geschichten über die Zeit nach einer Migrationsbewegung – eine gute Auswahl getroffen. Den Auftakt macht Ani (Maria Mai Rohmann), die aufgrund der Wohnungsnot in der Hauptstadt zu ihrem Vater in eine Plattenbausiedlung in einem Außenbezirk zieht. Anis Vater kam einst ausVietnam in die DDR. Beide verstehen einander zunächst nicht, bis es zu einem rassistischen Vorfall kommt. Coumba (Vanessa Yeboah) muss sich wiederum entscheiden, ob sie als Schwarze Frau mit Hidschab Teil einer Diversity-Kampagne und dadurch ein Vorbild für Frauen wie sie sein will. Ihr Bruder befürchtet hingegen, dass das Unternehmen mit Coumba sein Image aufbessern will und vorgibt, sich für Vielfalt zu engagieren, ohne dies tatsächlich zu tun. Coumbas beste Freundin Zehra (Beritan Balci) möchte sich indessen endlich gegenüber ihrem alevitischen Vater als lesbisch outen. Und Nikki (Daniil Kremkin) lernt die US-amerikanische Jüdin Maya kennen, die beim Sex verblüfft feststellt, dass er nicht beschnitten ist. Sein Verhältnis mit Maya lässt den Sohn belarussischer Einwanderer hinterfragen, inwiefern er jüdisch sein kann, ohne religiös zu sein. +Die sechs Charaktere sind allesamt vielschichtig angelegt. Zwar spielen die eigenen Eltern und deren Herkunft oft eine wesentliche Rolle, dennoch geht es auch viel um Freundschaft und Dating, wie etwa bei Jamila, die von Ben im Museum angequatscht wird. Als sie versteht, dass seine Ex-Freundin auch Schwarz ist, bekommt sie den Verdacht, Ben interessiere sich nur deshalb für sie. Ihre weiße Mutter wiederum erklärt ihr, dass sie Jamilas jamaikanischen Vater auch wegen seiner Hautfarbe toll fand. So wird deutlich, wie allgegenwärtig Diskriminierung und Vorurteile im Leben der Hauptfiguren sind. Was auffällt, ist, dass eine Nebenfigur ohneRassismuserfahrung, die Sensibilität für die Lebensrealität der Hauptfiguren entwickelt, in der Serie fehlt. Dabei hätte das interessant sein können – nicht, um Diskriminierung auszublenden, sondern um auch hier Vorbilder zu zeigen. +Bei der Konzeption stehen Formate wie "Made in Germany" vor einer besonderen Herausforderung: Denn wenn die eigene Repräsentationhäufig klischeehaft und lückenhaftist, kommt es umso mehr darauf an, möglichst viele Aspekte abzudecken, um die komplexe Realität abzubilden. Doch wer viel erzählen will, braucht auch Zeit, und von dieser hat die Serie mit durchschnittlich 35 Minuten pro Folge zu wenig bekommen. Gängige Episodenlängen von 50 oder 60 Minuten wären wichtig gewesen, um mehr Raum für Gefühle und Dialoge zu haben. So wirken die Folgen stellenweise überladen mit Themen, Figuren und Schauplätzen. Das ist umso bedauerlicher, als "Made in Germany" mit einem starken Bewusstsein für die Bedeutung von Erfahrungen und Perspektiven angelegt wurde. Das gelingt, indem das Autor:innen-Team, die Regie und die Darsteller:innen aus den Communitys kommen, über die erzählt wird. Zwei der sechs Hauptdarsteller:innen arbeiteten vor der Serie nicht als professionelle Schauspieler:innen, sondern wurden in "Community-Castings" ausgewählt. +Auch beim Szenenbild zeigt sich, mit welcher kulturellen Sensibilität gearbeitet wurde. Besonders bemerkenswert sind die detailreich eingerichteten elterlichen Wohnungen. Sie wirken nicht wie Filmsets, sondern wie lebendige Orte. Außerdem bringt die Serie ganz nebenbei auch die Vielfalt der gesprochenen Sprachen in Deutschland zum Ausdruck. In den Familien wird überwiegend die jeweilige Muttersprache gesprochen, wobei die Hauptfiguren oft auch auf Deutsch antworten. Eine filmisch wichtige Entscheidung, den Menschen ihre Sprache und damit ihre Stimme zu lassen. +Kurzum: "Made in Germany" ist eine vielseitige Sammlung von Geschichten aus Deutschland, die hoffentlich in einer zweiten Staffel fortgesetzt wird. Dann aber bitte mit mehr Sendezeit. + +"Made in Germany" läuft ab dem 4. Oktober in der ARD-Mediathek und am 11. Oktober ab 22.30 Uhr auf ONE. + +Regie: Anta Helena Recke, Đức Ngô Ngọc, Ozan Mermer, Raquel Stern; Drehbuch: Anta Helena Recke, Bahar Bektas, Đức Ngô Ngọc, Duc-Thi Bui, Naomi Bechert, Ozan Mermer, Raquel Stern, Sharon Ryba-Kahn + +Titelbild: ARD Degeto/Studio Zentral/Iga Drobisz diff --git a/fluter/made-in-germany.txt b/fluter/made-in-germany.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/made-in-italy.txt b/fluter/made-in-italy.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4ba64263eba986ff6058450ee62d43bf8f0b3f5d --- /dev/null +++ b/fluter/made-in-italy.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Die Stoffherstellung hat in Prato eine lange Tradition. Schon seit dem Mittelalter prägt sie das Wirtschaftsleben der toskanischen Provinzhauptstadt. In den 1990er-Jahren wurde die Produktion zu teuer, um gegen die internationale Konkurrenz bestehen zu können. Als die Betriebe schlossen oder ins Ausland gingen, übernahmen Chinesen das Geschäft. Sie mieteten sich in die leer stehenden Fabriken ein und organisierten die Textilproduktion nach ihren Regeln. Zu den Kunden zählen Modeunternehmen aus der ganzen Welt. +Zwei Milliarden Euro Jahresumsatz erwirtschaften diese Firmen laut Schätzungen. Mindestens die Hälfte davon, so hat es die italienische Journalistin Silvia Pieraccini recherchiert, kommt durch Schwarzarbeit zustande. Pieraccini hat ein Buch über Pratos chinesische Textil-Exklave geschrieben: "L'Assedio Cinese" (Die chinesische Belagerung). Die Arbeitsbedingungen in den Fabriken, so kritisieren auch italienische Gewerkschaften, würden Sweatshops gleichen: Schichten bis zu 18 Stunden täglich an sieben Tagen die Woche. Dafür gibt es monatlich 300 Euro brutto, berichten ehemalige Arbeiter. +Jordis Antonia Schlösser, geboren 1967 in Göttingen, ist Mitglied der Fotografenagentur OSTKREUZ. Sie fotografierte in nahezu allen Teilen der Welt für Magazine wie Geo, Stern, National Geographic und Spiegel. 1998 wurde sie in die Word Press Masterclass aufgenommen. Für ihre Arbeiten erhielt sie mehrere internationale Fotopreise, etwa den "Yann Geoffroy Competition" und den "World Press Photo Award". Sie lebt und arbeitet in Berlin. +Via Pistoiese, die Hauptstraße von Pratos Chinatown +In einem Sweatshop. Hier arbeiten, essen und schlafen die chinesischen Einwanderer +Großhandel eines Pronto Moda-Geschäfts +Stellenanzeigen an einer Hauswand im Chinatown von Prato +Eine Razzia in einem chinesischen Sweatshop +Religionsunterricht in einer chinesischen Schule +Eine Näherin in einem Pronto Moda-Sweatshop +Zwei Chinesen beobachten eine Demonstration am Tag der Arbeit +Ein chinesisches Paar in einer Strechlimosine auf dem Weg zur Hochzeit +Der Imbisswagen im Industriegebiet von Prato öffnet abends, um die nachts tätigen Arbeiter mit Essen zu versorgen +Auch abseits der Arbeit in einer Parallelgesellschaft: junge Chinesinnen in der Disko +Der Showroom von Pronto Moda im Industriegebiet von Prato diff --git a/fluter/maedchen-junge-mathe-vorurteil.txt b/fluter/maedchen-junge-mathe-vorurteil.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fba08826679f1a4593a79f450fefc7e6e5f5c135 --- /dev/null +++ b/fluter/maedchen-junge-mathe-vorurteil.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Hier könnte also einer der Gründe für das immer noch verbreitete Klischee der mathematikbegabteren Jungen liegen: Mädchen trauen sich in Mathematik weniger zu – und schneiden dann tatsächlich schlechter ab, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung also. Denn ohne Selbstvertrauen kein Erfolg. +In Bildungsstudien anderer Länder schnitten Mädchen in Mathematik genauso gut oder besser ab als die Jungen – allein das zeigt bereits, dass Jungen nicht von Natur aus besser mit Zahlen umgehen können als Mädchen. Hinter den Leistungsunterschieden zwischen Jungen und Mädchen steckt wahrscheinlich vielmehr die Sozialisation – also die Einflüsse von außen, mit denen Kinder aufwachsen. Wenn einem kleinen Kind entweder ein Bagger oder eine Puppe geschenkt wird, wenn Jungen im Kindergarten eher in die Bauecke geschickt werden und die Mädchen zu den Bügelperlen, dann bilden sich stereotype Rollenmuster heraus. +Stevie Schmiedel arbeitet für "Pinkstinks". Die Organisation setzt sich für Geschlechtergerechtigkeit und gegen Sexismus ein."Gender-Marketing für Kinderhat sich in den vergangenen 20 Jahren immer weiter intensiviert. Es setzt auf niedlich, Glitzer, häuslich und Beauty für Mädchen. Und auf Action, Technik und Eroberung für Jungen", sagt Schmiedel. Wenn Mädchen wie Jungen schon früh an technisch herausforderndes Lego oder andere Bausätze herangeführt würden, hätten sie auch ein besseres räumliches Denken. +Zu welchem Geschlecht gehöre ich? Dafür entwickeln Kinder bereits im Kindergartenalter ein Gefühl, wobei gesellschaftliche Erwartungen eine große Rolle spielen. Wer statt eines Baukastens eine Puppe geschenkt bekommt, wird damit auch spielen. Später in der Schule, das zeigen die bereits erwähnten Studien, bekennen sich Mädchen bewusst und offensiv zu ihrem angeblichen "Mathedefizit" – weil ihnen seit Jahren von Bezugspersonen wie Eltern, Lehrkräften und Erziehern und Erzieherinnen vermittelt wurde, dass Mathe und Naturwissenschaften nicht ihr Ding seien. +Kleinere Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen, die von Eltern, Lehrkräften und anderen Bezugspersonen immer wieder betont werden, können so zu Gräben werden. Dazu forscht Inge Schwank. Sie ist Professorin für Mathematik und deren Didaktik an der Universität zu Köln und untersucht seit vielen Jahren, wie Jungen und Mädchen in der Grundschule an mathematische Probleme herangehen. Eine Aufgabe aus Schwanks Studien: "Im Zirkus Knobelix sitzen 224 Zuschauer. Es sind 38 Erwachsene mehr als Jungen und 6 Jungen mehr als Mädchen. Wie viele Mädchen, Jungen und Erwachsene sitzen auf den Zuschauerbänken?" Um Aufgaben wie diese lösen zu können, ist funktional-logisches Denken gefragt – hierbei geht es um die gedankliche Konstruktion von Prozessen. Darin sind Jungen, das zeigen Schwanks Forschungen, stärker als Mädchen. Mädchen neigen eher zum sogenannten prädikativ-logischen Denken. Das heißt: Sie denken eher in Beziehungen als in Funktionsweisen. Um aber den mathematischen Stoff der Grundschule gut zu bewältigen, ist laut Inge Schwank fast ausschließlich funktional-logisches Denken gefragt. Es sei also nicht auszuschließen, dass schon in der Grundschule die Weichen dafür gestellt werden, dass später mehr Jungen den Weg in den MINT-Bereich fänden. +"Lehrkräfte müssen so ausgebildet werden, dass ihnen die unterschiedlichen Herangehensweisen von Mädchen und Jungen bewusst sind und sie Jungen und Mädchen gleichermaßen je nach ihren Bedürfnissen und Talenten fördern können", so Schwank. So könnten Mädchen im Unterricht ermutigt werden, durch Ausprobieren einer Lösung näher zu kommen. Zudem würden sie von angeleiteter Gruppenarbeit und kooperativem Erarbeiten von Lösungen profitieren. +Aber warum sind in manchen Ländern Mädchen genauso gut in Mathe wie Jungen? In China und anderen asiatischen Ländern liegt es daran, dass die Kinder einfach geschlechterübergreifend gedrillt werden. +In Skandinavien wiederum sieht man, dass der Stand der Gleichberechtigung einen Einfluss auf die Matheleistung hat. Kurz gesagt: je weniger Benachteiligung der Frauen, desto bessere Matheleistungen der Mädchen. Aber auch Vorbilder sind wichtig. Hier hat sich in den vergangenen Jahren schon einiges getan,etwa im Fernsehen und in den Sozialen Medien– wo junge Frauen Mathe oder auch die Relativitätstheorie erklären. Durch solche Vorbilder ändert sich das gesellschaftliche Bewusstsein. Und wenn die Rechnung aufgeht, könnte das "In Mathe bin ich Deko"- T-Shirt in Zukunft nur noch Kopfschütteln auslösen. + +Titelbild: Hakotowi diff --git a/fluter/magic-river.txt b/fluter/magic-river.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4ee3fe034114e4c93486d1fe2c613a3573a8b98f --- /dev/null +++ b/fluter/magic-river.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Bei der Nutzung des Nils beruft sich Ägypten, aber auch der Sudan, auf Verträge, die 1929 mit der britischen (Ex-)Kolonialmacht abgeschlossen wurden. Seitdem steht Ägypten der Großteil des Nilwassers zu. Außerdem hat die Regierung theoretisch ein Vetorecht gegen Bauvorhaben am Oberlauf des Flusses. Nach dem Militärputsch vom Sommer 2013 hat Ägypten die historischen Wassernutzungsrechte sogar in seine neue Verfassung aufgenommen. Bei einer Bedrohung der Wasserversorgung durch andere Staaten ist die Armee autorisiert, sofort zu intervenieren, ohne die Zustimmung des Parlaments einholen zu müssen. +Doch die Machtverhältnisse am Nil verschieben sich. Die Aufstände in der arabischen Welt haben Ägyptens Vormachtstellung in der Region ins Wanken gebracht. Die Abspaltung des Südsudan vom Sudan brachte einen weiteren Nilanrainer auf die Landkarte. Gleichzeitig stieg Äthiopien zur neuen Ordnungsmacht auf. Das Land weist seit Jahren hohe Wirtschaftswachstumsraten auf und erhält als strategischer Partner des Westens Milliarden an Entwicklungs-, Nahrungsmittel- und Militärhilfe. Die US-Armee schickt von Äthiopien aus Drohnen nach Somalia. +Mit rund 100 Millionen Menschen ist Äthiopien nach Nigeria das zweitbevölkerungsreichste Land Afrikas, bis 2050 könnte sich die Zahl sogar annähernd verdoppeln. Alles Menschen, die Nahrung und Energie benötigen, und dafür soll auch der Nil sorgen. "Äthiopiens neue Stärke ist gleichbedeutend mit dem Ende der ägyptischen Vormachtstellung in der Nilwasserfrage", sagt Tobias von Lossow, der am Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit zum Nil-Konflikt arbeitet. +Die äthiopische Regierung will die Landwirtschaft ausweiten und benötigt dafür das Wasser des Nils. Das lässt in Ägypten besorgte Fragen aufkommen: Was, wenn die Länder am Oberlauf dem Nil mehr Wasser entnehmen als bisher? Oder in Äthiopien Staudämme entstehen, die Ägypten buchstäblich den Hahn abdrehen könnten? +Dieses Szenario nimmt derzeit Gestalt an. Durch den wirtschaftlichen Aufschwung kann Äthiopien Projekte umsetzen, für die lange kein Geld vorhanden war – zum Beispiel den Bau von zwei Riesen-Staudämmen: dem Gilgel-Gibe-III-Damm und dem Grand-Ethiopian-Renaissance-Damm – dem größten Wasserkraftprojekt Afrikas. Allein die Staumauer soll 150 Meter hoch werden, die Turbinen könnten vom nächsten Jahr an 6.000 Megawatt Strom liefern, so viel wie fünf Atomkraftwerke. Dabei wäre diese Strommenge viel größer als der äthiopische Bedarf, ein Teil könnte also zum Beispiel in den Sudan, nach Tansania oder Ägypten exportiert werden. Eine bessere Stromversorgung könnte außerdem bedeuten, dass weniger Bäume für Feuerholz gefällt würden. Das wiederum würde die Erosion der Böden verlangsamen und die Ernten verbessern. Aber das alles würde auch am Selbstbewusstsein der Ägypter kratzen, die sich weder von Nahrungsmittel- noch von Energieimporten abhängig machen wollen. +Vor einem Jahr trafen sich die Staatsoberhäupter Ägyptens, Sudans und Äthiopiens und verabschiedeten eine Grundsatzerklärung über die friedliche Nutzung des Nils. Ein Fortschritt, nachdem jahrelang kriegerische Töne aus Kairo kamen. Mal fragten Abgeordnete im Parlament, warum man die Dämme Äthiopiens nicht bombardiere, dann wieder wurde der Geheimdienst beauftragt, mögliche Sprengungen zu prüfen. Momentan sieht es so aus, als kämen alle Seiten zu der Einsicht, dass eine Zusammenarbeit in Fragen des Nils allen nützen könnte, zumal im riesigen Auffangsee des ägyptischen Assuan-Staudamms jedes Jahr unglaublich große Mengen an Wasser verdunsten, weil er mitten in einer Wüste liegt. Würde der Nil bereits im äthiopischen Hochland gestaut, ließen sich die Anbauflächen in Äthiopien erheblich vergrößern. Auch bei der Stromproduktion könnten die Flussanrainer zusammenarbeiten. Während das Gefälle des Nils in Ägypten eher gering ist, gibt es im äthiopischen Hochland ein großes Potenzial, Wasserkraft zu nutzen. +Das Nilwasser werde einfach nicht effizient eingesetzt, sagt Nilexperte Tobias von Lossow. Ägypten nutze das Wasser bislang vielerorts zum Anbau von Baumwolle, was zwar viel Gewinn bringt, aber äußerst wasserintensiv ist und die Produktion von Nahrungsmitteln verdrängt. Vernünftig wäre es zudem, so von Lossow, wenn Staaten wie Äthiopien, die aufgrund der natürlichen Gegebenheiten für die Nahrungsmittelproduktion geeigneter sind, mehr Getreide exportierten. +Tatsächlich investieren ägyptische Unternehmen bereits in äthiopisches Ackerland. Die Ernte wird zum Teil exportiert und ernährt so auch Ägyptens wachsende Bevölkerung. Das Ziel: ein Nil, der die Länder verbindet, statt sie zu entzweien. diff --git a/fluter/mal-was-anderes.txt b/fluter/mal-was-anderes.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/malen-nach-zahlen.txt b/fluter/malen-nach-zahlen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0857cdf4fd10daea03a9f3d7a103c1d61fed5c17 --- /dev/null +++ b/fluter/malen-nach-zahlen.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Gerätselt wird über Zahlen, seit Menschen zählen können. Aus Höhe und Breite der eher eckigen Pyramide von Gizeh beispielsweise lässt sich eine Formel ableiten, mit der man die Kreiszahl Pi bis zur achten Stelle nach dem Komma berechnen kann. Skeptiker halten dagegen, dass man auch bei einer Klobürste oder einem Kaktus auf die legendäre Kreiszahl stoße, wenn man nur lange genug danach suche. Überhaupt lässt sich alles Gegebene in Zahlen ausdrücken. Es liegt am Menschen, diese Zahlen mit Sinn aufzuladen. +Regelrecht abzählen lässt sich das in den langen Jahrhunderten spiritueller Kunst, in der sich die symbolische Bedeutung von Zahlen aus ihren mathematischen Eigenschaften ableitete. So steht die Eins in monotheistischen Religionen für das Unteilbare und damit Göttliche, die Einheit, aus der alles hervorgeht. Schon mit der Ziffer 2 fangen die Komplikationen an. Sie gilt als "weibliche Zahl" und enthält bereits die Idee der Vielheit. In der jüdischen Zahlenmystik beginnt erst mit der Zwei die eigentliche Schöpfung, weil sie den Gegensatz repräsentiert, gerne auch dargestellt als Gut und Böse. Auf rund 3.500 Jahre alten Orakelknochen aus China finden sich Yin und Yang als symbolische Darstellung desselben Dualismus – und damit die vielleicht erste Verarbeitung einer Zahl in der bildenden Kunst. +In der Literatur begegnen uns schon früh Zahlen über Zahlen, so auch in der Bibel. Aller guten Dinge sind drei, so etwa die drei göttlichen Tugenden (Glaube, Liebe, Hoffnung), die Dreifaltigkeit (Vater, Sohn, Heiliger Geist), drei Erzengel oder die Heiligen Drei Könige. Und wie ein Veilchen für die Jungfräulichkeit von Maria stand, dachte jeder Betrachter im Mittelalter bei vier sofort an die vier Evangelisten, je nach Zusammenhang auch an die vier Reiter der Apokalypse, zumal die Vier in Anlehnung an die Himmelsrichtungen stets das Weltumspannende mitmeinte. Auf diese Weise könnte man quer durch alle Kulturen immer weiterzählen, im Christentum etwa bis zu 666, dem "Namen des Tieres". +Kein Wunder also, dass die Zahl in den Künsten schon immer die Menschen faszinierte – als drücke sich in ihr so etwas wie eine unsichtbare Matrix der Dinge aus. So tritt im Choralvorspiel von "Dies sind die heiligen zehn Gebote" von Johann Sebastian Bach das Fugenthema genau zehn Mal auf. Ein noch berühmteres Beispiel ist das musikalische Thema der h-Moll-Messe, das genau 14 Noten enthält und verschlüsselt auf Bach verweist, der seinen eigenen Namen in das Stück hineinkomponierte: B = 2, A = 1, C = 3, H = 8. Von hier verläuft eine direkte Linie zur Zwölftonmusik, die ohne Rechenschieber kaum denkbar ist, und zur seriellen Musik, die auf Intervallen basiert. In der populären Musik haben bereits Kraftwerk mit einem Songtext ("Nummern, Zahlen, Handel, Leute, Computerwelt") auf den Punkt gebracht, was zeitgenössische Musiker unserer Tage längst in hoch abstrakte Fraktale aufgelöst haben – Strukturen also, die sich in immer kleinerem Maßstab jeweils selbst enthalten. +Mit dem Siegeszug der Naturwissenschaften und der damit einhergehenden "Vermessung der Welt" sind die Zahlen auch in der bildenden Kunst aus dem Hintergrund auf die Oberflächen gewandert. Dabei büßten sie an symbolischer und religiöser Bedeutung ein, was sie allgemein an Komplexität hinzugewannen. Unser komplettes Zeitalter der Moderne – von der Technik bis zur Wirtschaft – ruht auf Zahlen wie auf Säulen, von Börsenwerten bis zu Klimatabellen, von Wirtschaftsdaten bis zur Quantentheorie. Modernste Architektur ist ohne die Hilfe von Computermodellen, die ihre abenteuerliche Statik berechnen, nicht mehr denkbar. +Der Künstler On Kawara malte jahrelang jeden Tag ein Bild mit dem jeweiligen Datum – um sein "Ich zu verlieren". Dafür handelte er sich andere Probleme ein: zum Beispiel diese Plagiateure hier – COPY ART 46, On Kawara, 3,50 EURO +In der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts allerdings tauchen Zahlen vor allem im Zusammenhang mit dem größten aller Mysterien auf – der Messung der Zeit. Ihr widmeten sich drei wichtige Vertreter der sogenannten Konzeptkunst. Das gemeinsame Konzept von Hanne Darboven (1941–2009), On Kawara (1933 –2014) oder Roman Opalka (1931–2011) bestand vor allem darin, die Zeit nicht zu messen, sondern sichtbar zu machen. Alle haben sie zeitlebens kaum etwas anderes gezeichnet oder gemalt als – Zahlen. Allein Roman Opalka reihte in 46 Jahren täglich 400 Zahlen aneinander, ganz monoton, und hatte am Ende 233 Leinwände mit rund 5,5 Millionen Ziffern beschrieben. Ausgelöst hatte dieses Unternehmen eine Standuhr in der elterlichen Wohnung, deren Pendel eines Tages stehen blieb – und der Junge dachte, er selbst habe damit die Zeit angehalten. +Hanne Darboven erkannte mit 25, "dass alles bereits gemalt ist", und gab die Beschäftigung mit Farben und Formen auf. Stattdessen malte sie bis zu ihrem Tod akribisch winzige Ziffern in tabellarischer oder kalendarischer Form auf Millimeterpapier. Und On Kawara malte unter anderem an jedem Tag seines Lebens ein Bild mit nichts als dem jeweiligen Datum darauf. Dies bezeichnete er als nützliche Übung, "um sein Ich zu verlieren". Der Sinn der einzelnen Zahlen bleibt nicht einfach im Dunkeln, er stellt sich nicht einmal. +Immerhin löst sich das Rätsel um die Berliner Sechs, wenn man den Künstler zufällig bei der Arbeit beobachtet. Rainer Brendel fährt mit dem Fahrrad durch die Stadt, an den Lenkern die Farbeimer und in der Hand einen langen Pinsel. Die Zahl malt er meistens im Vorbeifahren und deshalb in sanft fließendem Schwung. Und dabei kann keine andere Zahl herauskommen als eben die Sechs. +Arno Frank ist arbeitet als Korrespondent der "taz" und schreibt als freier Kulturjournalist unter anderem für die "Zeit", "Spiegel Online" und "Neon". diff --git a/fluter/man-kann-nicht-nicht-gekleidet-sein.txt b/fluter/man-kann-nicht-nicht-gekleidet-sein.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4b78fe59b2ec824e7e106b09031f9ec67cbeb590 --- /dev/null +++ b/fluter/man-kann-nicht-nicht-gekleidet-sein.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Auf den ersten Blick ist "Women in Clothes" allerdings erst mal die reine Überforderung: Mehr als 500 Seiten mit verschiedensten Textformen, Bildstrecken und Illustrationen. Ist es ein Moderatgeber? Ein Kunstband? Eine Essay- oder Interview-Sammlung? Irgendwie ist es alles auf einmal. Hier haben sich zwei Autorinnen (Sheila Heti, Heidi Julavits) und eine Autorin und Künstlerin (Leanne Shapton, in Deutschland u.a. bekannt durch den autobiografischen Erzählband "Bahnen ziehen") zusammengetan, die viel zu kreativ sind, um einfach bestehende Formen mit Inhalten zu füllen. Sie haben ein Buch gemacht, das möglichst viele Facetten von (explizit weiblicher) Mode beleuchten soll, von der Kleidung an sich bis hin zum Körper oder zu Geschlechterrollen. +Mehr als 30 Interviews mit Personen aus verschiedensten Kontexten bilden dabei eine Art wissenschaftlichen und theoretischen Überbau, sie leuchten die Metaebenen und Wirkungsbereiche von Mode aus. Ein Kunsthistoriker erklärt, dass sich vor allem in Epochen mit vielen Umbrüchen und Spannungen, wie den 20er- oder den 60er-Jahren, ein eigener modischer Stil entwickelt hat – und die heutige Zeit wenig Neues hervorbringt ("Hipsters are archivists of past styles"). Eine Geruchswissenschaftlerin spricht über die modische Relevanz von Parfüms und darüber, dass der Duft eines Parfüms weniger vom Produkt selbst als vom Ölgehalt und der Bakterienzusammensetzung unserer Haut abhängig ist. Zu den Gesprächen gehört aber zum Beispiel auch das mit einer Fernsehmoderatorin, von der man erfährt, dass sie jedes ihrer Outfits mit einem Zettel markieren muss, auf dem das Datum steht, an dem sie es zuletzt getragen hat – damit sie es nicht zu bald wieder trägt und das den Zuschauern auffällt. +Die anderen Formate geben vor allem subjektive Eindrücke wieder, die zeigen, wie unterschiedlich Körper und Geschmäcker sind und wie ähnlich dennoch die Sorgen, Nöte und Freuden, die Frauen damit haben. In den "Surveys" zum Beispiel gibt es O-Ton-Sammlungen zu ganz allgemeinen Themen wie "Farbe" ("I think it's important to have one red detail: a purse, a hair bow, shoes") oder "Brüste" ("I never let a button-up shirt bulge around my boobs") oder der Frage, wann man sich am attraktivsten fühlt ("Covered in salt, after a day swimming in the ocean"). Ein weiteres dieser subjektiven Formate ist "Wear Areas", eine Silhouette, an der jeweils jemand bestimmte Körperpartien markiert hat und etwas darüber erzählt – was daran schön oder nicht schön, problematisch oder lustig ist. +Das Erzählen ist es auch, was "Women in Clothes" von anderen Publikationen über Mode unterscheidet: Die Autorinnen gehen davon aus, dass Mode Geschichten erzählt. Dass sie eine Kommunikationsform ist. "I love stories", schreibt Heidi Julavits, "and women in clothes tell stories. For years I watched other women to learn how I might someday be a women with a story." Wie man eine solche Frau wird, dafür werden allerdings keine Regeln aufgestellt. Das ist der zweite große Unterschied: Ob "Das kleine Buch der Mode" von Christian Dior oder "How To Be Parisian Wherever You Are" – in Modebüchern werden Begriffe erklärt, die man angeblich kennen muss, und Regeln definiert, an die man sich angeblich zu halten hat, um stilsicher und modisch zu sein. +Die einzige Regel aber, die sich aus "Women in Clothes" extrahieren ließe, ist, so platt das auch klingen mag: Sei einfach du selbst; finde dich, dann findest du auch deinen Stil. Und ohne dass der Begriff "Feminismus" fallen muss, schwingt er dabei immer mit. Als moderner, ausgeruhter Feminismus der 2010er-Jahre. Der es Frauen erlaubt, sich auch im weitesten Sinne "zurechtzumachen", ohne damit zum Objekt zu werden. +Als letztes Argument der Muffel bliebe jetzt wohl noch, dass all das trotzdem nur Oberfläche sei, weil sich das Buch anscheinend nur mit schicken Frauen aus Industrieländern auseinandersetzt. Und die Globalisierung der Modeindustrie, die Ausbeutung in Entwicklungsländern, ignoriere. Kann man aber gleich entkräften, dieses Argument, denn die Autorinnen haben auch immer wieder in diese Richtung gedacht. Eine Journalistin aus Phnom Penh zum Beispiel hat für "Women in Clothes" kambodschanische Textilarbeiterinnen interviewt. Die Frauen sprechen über ihr Leben und ihren Job – und darüber, was sie selbst tragen. +Das ist sehr bewegend, weil deutlich wird, wie groß die Diskrepanz zwischen der teuer verkauften Kleidung ist, die sie für den europäischen und amerikanischen Markt nähen, und der Ware, die sie sich selbst gerade so leisten können. Auch diese Frauen machen sich Gedanken darüber, was sie tragen. Was ihnen steht und was sich gut anfühlt auf der Haut. +Weil Kleidung eben mehr ist als Kleidung. Weil sie Kommunikation ist und schützende Hülle. Weil sie uns Persönlichkeit geben kann und nicht zuletzt: Würde. +Nadja Schlüterist Redakteurin bei jetzt.de. diff --git a/fluter/man-muss-den-leuten-folgen-um-sie-zu-fuehren-0.txt b/fluter/man-muss-den-leuten-folgen-um-sie-zu-fuehren-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..652641a67e9f04f44d7b079b6208a2863b0e248b --- /dev/null +++ b/fluter/man-muss-den-leuten-folgen-um-sie-zu-fuehren-0.txt @@ -0,0 +1,55 @@ +Manche Gesellschaften müssen erst ihren Weg dahin finden. Es nützt nichts, wenn ich demokratische Strukturen habe, ich brauche auch eine demokratische Kultur, die hat man nicht über Nacht, die muss gelernt werden, die muss wachsen. +Was macht eine Demokratie aus? Ist zum Beispiel der Iran nicht auch eine – immerhin darf man dort wählen. +Nein, denn allein freie Wahlen machen keine Demokratie aus. Das ist zwar in manchen Staaten ein Riesenfortschritt, aber da muss noch mehr dazukommen: Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte, die gegenüber dem Staat einklagbar sind, eine freie Presse, Gewaltenteilung. Gucken Sie sich die Gesellschaftsmodelle der letzten 2000 Jahre an: Es ist die offene Gesellschaft, die Lernprozesse institutionalisiert hat, die Menschen die Chance bietet, maximal zu lernen. +In Russland werden Homosexuelle nun per Gesetz diskriminiert. Entspräche es nicht unserer demokratischen Gesinnung, dass wir intervenieren? +In Russland ist die Unterdrückung von Schwulen und Lesben ein klares Zeichen, dass wir es nicht mit einer freien demokratischen Ordnung zu tun haben. Aber mehr als das laute Einfordern von Menschenrechten können diplomatische Beziehungen dazu beitragen, das dortige Wertesystem zu ändern. Man muss in Kontakt bleiben, um Lernprozesse anzustoßen, im besten Fall eine freiheitliche Ordnung und demokratische Werte zu vermitteln. +Im Falle von Russland scheint das aber keinen Effekt zu haben. Als "lupenreinen Demokraten" hat ein ehemaliger Bundeskanzler Ministerpräsident Putin bezeichnet. Das scheint heute noch weniger treffend zu sein als damals. +Das stimmt. Und dennoch: Solange ein Land abgeschottet ist, wird kein Wandel eintreten. Man sieht das ja an Nordkorea. Das mag sich mit neuen Technologien wie dem Internet etwas geändert haben, aber auch das kann man ja kappen. Es ist immer eine Gratwanderung: Bis zu welchem Punkt gehen wir mit undemokratischen Staaten um, und wo ist Schluss? +In der Finanzkrise wurden auch bei uns diskriminierende Reflexe wach – etwa, als Südeuropäer für faul erklärt wurden. Wie gefestigt ist unsere Demokratie? +Man darf niemals sagen, dass die Demokratie genügend gefestigt ist. Sie muss immer wieder erkämpft und weitergegeben werden. Es müssen genügend Menschen da sein, die dafür kämpfen. +In der Weimarer Republik waren es nicht genügend. +Genau. Obwohl es damals Grundrechte gab, eine prinzipiell gute Verfassung und Parteien. Aber es war eine Demokratie ohne Demokraten. Die politische Kultur war nicht so entwickelt, dass die demokratische Struktur gefüllt wurde. Und als die Demokratie unter Druck geriet, haben zu wenige hingeguckt. Es muss gar keine radikale Mehrheit geben, es reichen fünf oder zehn Prozent entschlossene Antidemokraten und dazu 50 Prozent, denen die Entwicklung egal ist. +Kaiserzeit, Weimarer Republik, Drittes Reich – muss man im Falle von Deutschland nicht von einem Wunder sprechen, dass unsere Demokratie so stark ist? +Der Grund, warum es gelungen ist, in relativ kurzer Frist in Westdeutschland eine stabile parlamentarische Demokratie zu errichten, war der wirtschaftliche Erfolg, das sogenannte Wirtschaftswunder. Bis dahin hatten die Menschen die Demokratie nie als Erfolg erfahren. Sie hatten den grässlichen Niedergang der Weimarer Republik erlebt, die Schrecken des Totalitarismus und des Krieges. Danach waren viele apolitisch, sie hatten die Nase voll. Deswegen war die Wahlbeteiligung 1949 auch sehr niedrig. Das änderte sich, als es den Menschen besser ging und sie Frieden und Wohlstand erlebten. Da haben sie gemerkt, dass die parlamentarische Demokratie das Verfahren ist, das friedliches Wohlergehen sichert. +Heute geht es den meisten Menschen gut, und dennoch hadern sie oft mit dem politischen System. Passt das zusammen? +Die Demokratie funktioniert viel besser, als es oft in der öffentlichen Wahrnehmung rüberkommt. Die Fernsehsender schwenken über leere Bänke im Bundestag, Zeitungen berichten über faule Abgeordnete, die bei Abstimmungen fehlen. Oft ist doch schon in Kinderserien wie Benjamin Blümchen der Bürgermeister der Böse. Durch Klischees in den Medien bekommen die Bürger einen ganz falschen Maßstab, an dem sie Politik messen. +Dabei sollen die Medien als die vierte Gewalt im Staat die Demokratie stärken. +Mittlerweile sind sie oft daran schuld, dass Politiker nur noch darauf achten, wie sie in den Schlagzeilen rüberkommen, anstatt vernünftige Sachpolitik zu betreiben. Ich sehe das mit großer Besorgnis, weil es Langzeitfolgen hat. Der Verdruss führt dazu, dass immer weniger Menschen in die Parteien gehen. Dabei sind Parteien als Organisationsform unverzichtbar, weil sie den Bürger davon entlasten, sich intensiv mit Politik befassen zu müssen. Er erhält von den Parteien Bündel von Politikangeboten und weiß im Großen und Ganzen, wofür die einzelnen Parteien stehen und ob das seinen Interessen entspricht. +Vielen Wählern ist das Profil aber oft nicht scharf genug. +Weil große Parteien, die 30 oder 40 Prozent der Wähler erreichen wollen, Kompromisse eingehen müssen. Wenn ich nur fünf oder zehn Prozent der Wähler erreichen will, kann ich natürlich viel radikaler sein. Eine Mehrheit erreiche ich so nicht. +Aber sind die Parteien dann noch unterscheidbar? +Die Gesellschaft hat sich eben geändert. Vor 30 Jahren wusste ich als Arbeiterkind oder als strenggläubiger Katholik noch genau, was ich zu wählen habe. Heute gibt es so viele unterschiedliche Lebensphasen, dass ich meine aktuellen Interessen immer wieder mit den Parteien abgleichen muss. Wenn man sich die Programme anschaut, entdeckt man Unterschiede. Man muss sich nur die Mühe machen, sie zu lesen. Die Politiker haben nicht nur eine Bringschuld, sondern der Wähler auch eine Holschuld. +Oft hat man den Eindruck, dass in der Politik wenig geschieht, weil ständig Wahlen anstehen und die Politiker Angst vor unpopulären Entscheidungen haben. +Dieser Eindruck entsteht vor allem, weil das politische Alltagsgeschäft kaum zur Kenntnis genommen wird. 90 Prozent von dem, was der Bundestag oder die Regierung tun, kommt in den Medien kaum vor. Das ist die mühselige Kleinarbeit, aus der Politik besteht. Man müsste mal den Alltag eines Abgeordneten zeigen, die Arbeit in den Ausschüssen, die Spezialisierung auf einige Themen. Die meisten sind irre engagiert. +Was halten Sie von direkteren Formen der Demokratie, zum Beispiel Abstimmungen auf Bundesebene? +Was spricht denn dafür? +Dass die Menschen ein besseres Gespür für die Themen bekommen und sich mehr mit Politik beschäftigen. +Das würde ja bedeuten, dass das schlechte Image von Abgeordneten und Parlamenten rationale Gründe hätte. Die gibt es aber meistens nicht. Also wird sich das gefühlte schlechte Image auch nicht ändern, wenn die Menschen selbst mitspielen dürfen. Wenn Sie in die Schweiz schauen oder in die deutschen Bundesländer, wo es ja Volksabstimmungen gibt, dann sieht man, dass die Leute nicht massenhaft an die Urnen gehen. Es gehen vor allem die hin, die sich schon vorher stark engagieren und über finanzielle und intellektuelle Ressourcen verfügen. Das ist die gebildete Mittelschicht. Nehmen Sie die Abstimmung in Hamburg, wo darüber entschieden wurde, ob Schüler länger gemeinsam lernen sollen. Da hat man sich für den Erhalt des alten Systems entschieden. +Wahrt ein Plebiszit also den Status quo? +Es ist kein Instrument, das vorwärts gewandt ist, das eine Modernisierung bringt oder die bislang Benachteiligten, etwa mit Migrationshintergrund oder Hauptschulabschluss, aus der sozialen Ungleichheit führt. Es hilft vor allem denen, die daran interessiert sind, dass alles bleibt, wie es ist. Und da sehen Sie den Zauber von repräsentativer Demokratie. Da geht es eben nicht nur darum, spezielle Einzel- und Gruppeninteressen zu vertreten, sondern die Abgeordneten kümmern sich auch um das Gemeinwohl. Sie müssen die verschiedenen Interessen abwägen und in einem schwierigen Prozess von Konflikt und Kompromiss zum Ausgleich bringen. Das bekommen Sie mit Volksentscheiden nicht in derselben Qualität hin. +Das heißt: Als Politiker muss ich mich um alle kümmern. +Sie müssen eine Mehrheit beschaffen, das ist die zentrale Kunst der Politik. One person, one vote. Jeder Einzelne zählt mit seiner Meinung. Deswegen sind Professoren in der Politik selten erfolgreich – weil sie in ihrem Beruf daran gewöhnt sind, alles besser zu wissen und eben nicht lernen mussten, um Mehrheiten zu verhandeln und Kompromisse zu schließen. Als Politiker muss ich aber noch den letzten Skeptiker überzeugen. Auch wenn ich mich selbst für genial und die anderen für Deppen halte, muss ich die Deppen dennoch überzeugen. +Und was ist, wenn die Deppen in der Mehrheit sind? Ist das dann die Diktatur der dummen Masse? +Sie wollen wohl Wissenstests vor der Wahl einführen? Es muss nicht jeder, der wählen geht, über Sachfragen Bescheid wissen. Wenn ich es ernst meine mit der repräsentativen Demokratie, ist das nicht nötig. Es geht darum, ob die Richtung stimmt, ob die Partei im Großen und Ganzen für meine Interessen steht. Im Moment ist mir vielleicht wichtig, ob ich als Homosexueller heiraten kann oder Ehegattensplitting bekomme. In zehn Jahren steht wahrscheinlich etwas anderes im Vordergrund. Es gibt einen Kern, und wenn der stimmt, muss ich den Rest nicht unbedingt kennen. +Die Parteien haben Nachwuchsprobleme. Wie kommt das? +Die Parteien können eine Reihe von Mechanismen aktivieren, damit sie attraktiver werden. Gerade die jungen Menschen werden nicht mehr so autoritär erzogen wie früher, sie sind es gewohnt, mehr mitzubestimmen, legen Wert auf Partizipation, auf Teilhabe. Das ist ein Demokratisierungsprozess, der auch die Parteien zwingt, ihre Strukturen zu ändern. Aber das nützt nichts, solange das medial verbreitete Image so schlecht ist. +Oft schreckt einen ja schon das Vokabular ab: Da gibt es Parteivorsitzende, Generalsekretäre … hört sich schon an wie in einer Diktatur. +Stimmt. Aber neben neuen Begriffen benötigen wir offenere Willensbildungsprozesse. Es gibt ja viele Menschen, die sich engagieren wollen. Zum Beispiel Frauen, deren Kinder aus dem Haus sind. Die wollen mit 50 oft ehrenamtlich arbeiten – dafür muss man Strukturen schaffen. +Wie kann man die Demokratie verbessern? +Die Medien haben über die Jahre ein falsches Bild von der Politik transportiert und dafür gesorgt, dass die Bürger falsche Maßstäbe anlegen. Das kann man vor allem durch politische Bildung korrigieren. Man sollte schon Kindern zeigen, wie viel Spaß es macht, mitzuwirken, sich einzumischen. Und vor allem: nicht nur für die eigenen Interessen zu kämpfen, sondern auch für andere. Ein Gemeinwesen kann nicht funktionieren, wenn es nur mir gut geht. Das kann man auch in Schulen lehren. +Da sieht es ja mit der Mitsprache oft nicht so gut aus. +Dabei ginge das Einüben von Demokratie gerade im Unterricht. Wenn Sie über eine Klassenfahrt diskutieren, können Sie das zu einem kleinen Lehrstück darüber machen, wie parlamentarische Demokratie funktioniert. Wenn Sie das gut machen, haben Sie mehr geschafft, als es Ihnen in jahrelangem Politikunterricht gelingt. Das Einüben des Streits, des Kompromisses, des Spezialisierens. Es geht um das Gespür, dass Politik ein Mannschaftsspiel ist. +Manchmal scheint der Bürgerwille einer Modernisierung entgegenzustehen – wenn zum Beispiel die für die Energiewende dringend notwendigen Stromtrassen nicht gebaut werden können, weil es überall Bürgerinitiativen dagegen gibt. Gibt es auch ein Zuviel an Mitsprache? +Wir wollen doch, dass Menschen sich einmischen, kümmern, politische Verantwortung übernehmen. Eine pluralistische Gesellschaft muss einerseits eine Vielfalt von Interessen zulassen, auf der anderen Seite brauchen wir Entscheidungen, bei denen man nicht immer alle Interessen gleichermaßen berücksichtigen kann. Da geht es um politische Führung: Politiker müssen die Meinungen ihrer Wähler aufgreifen, aber gleichzeitig auch vorangehen. Ein britischer Politiker hat mal sehr treffend gesagt: I must follow them, I am their leader. Die Kunst demokratischer Politik und von Repräsentation ist es, genau den richtigen Abstand zu finden. Wenn ich zu weit voranschreite, dreh' ich mich um, und da ist niemand mehr, der mir folgt. Wenn ich zu langsam bin, sind die anderen schon weiter. Das muss man austarieren. Sie müssen immer den Mut haben, auch mal etwas Unpopuläres zu tun, das ist erfolgreiche Politik. +Wie kann man die parlamentarische Demokratie stärken? +Eine Demokratie ist nichts Selbstverständliches. Sie muss permanent erhalten, angepasst und erneuert werden. Der Bundestag ist in vielem vorbildlich – vor allem, was die Rechte der Minderheit, der Opposition angeht. Es gibt das Untersuchungsrecht, Enquete-Kommissionen, Informationsund Fragerechte. Man sollte aber die gesamte Aktivitätsbreite des Parlaments nach außen tragen und damit die Politik transparenter, insofern auch interessanter und nachvollziehbarer für die Bürger machen. +Müsste man dafür nicht die Ausschüsse öffentlich machen, schließlich wird dort der Großteil der Arbeit erledigt? +Ich bin absolut dafür. Dann würde endlich auch ein realistischeres Parlamentsbild erzeugt. +Sollte man auch das Wahlalter senken? +In vieler Hinsicht sind die Teenager von heute weiter als frühere Generationen, aber in anderer Hinsicht nicht. Es gibt aufgeklärte Sechzehnjährige, aber auch Mittzwanziger, die immer noch bei den Eltern wohnen. Die Diskussion über das Wahlalter halte ich für überflüssig. +Funktioniert unsere Gewaltenteilung eigentlich gut? +Ja, aber viele haben ein altes Bild von Gewaltenteilung im Kopf. Das Parlament als Legislative, die die Regierung als Exekutive kontrolliert. Das ist Quatsch. Die Regierung entsteht doch aus dem Parlament, sie ist Fleisch vom Fleische der Mehrheit, die gewählt worden ist. Die Mehrheit des Parlaments plus ihre Regierung ist die eine Seite, auf der anderen Seite steht die Opposition: Das ist das wirkliche Gegenüber im Parlamentarismus. Die Regierungsmehrheit im Parlament gegen die nicht-regierungstragenden Fraktionen. Wenn das Parlament es nicht schafft, aus den eigenen Reihen eine Regierung ins Amt zu bringen und dort vier Jahre lang handlungsfähig zu halten, dann versäumt es seine wichtigste Funktion. +Warum ist diese Aufgabenverteilung vielen Bürgern so unklar? +Das hat auch mit der parlamentarischen Architektur zu tun. Bedauerlicherweise wollen die Abgeordneten in Deutschland alle ihren festen Sitz im Parlament haben, das macht die Sache sehr statisch. Gucken Sie sich mal das britische Unterhaus an. Auf der einen Seite sitzt die Regierung auf einer Bank, und dahinter verschiedene Abgeordnete, die der Regierung den Rücken stärken – die sogenannten Backbencher, die Hinterbänkler. Was ja bei uns dummerweise eher ein Schimpfwort ist. Auf der anderen Seite sitzt die Frontbench der Opposition, dahinter deren Backbencher. Dann findet ein inhaltlicher Schlagabtausch statt, und die Wähler sehen sofort das Schattenkabinett, also die Politiker der Opposition, die regieren wollen. Das ist eine großartige politische Kultur. +Bei uns findet der Schlagabtausch eher in den Talkshows statt. +Na, das ist eine maßlose Verflachung und Skandalisierung von Politik. Da würde ich mir wünschen, dass alle seriösen Politiker sagen: "Da gehe ich nicht hin." diff --git a/fluter/man-muss-den-leuten-folgen-um-sie-zu-fuehren.txt b/fluter/man-muss-den-leuten-folgen-um-sie-zu-fuehren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d6793e149bdb643fab59f1d943ab6e53625f4fdc --- /dev/null +++ b/fluter/man-muss-den-leuten-folgen-um-sie-zu-fuehren.txt @@ -0,0 +1,57 @@ +Manche Gesellschaften müssen erst ihren Weg dahin finden. Es nützt nichts, wenn ich demokratische Strukturen habe, ich brauche auch eine demokratische Kultur, die hat man nicht über Nacht, die muss gelernt werden, die muss wachsen. +Was macht eine Demokratie aus? Ist zum Beispiel der Iran nicht auch eine – immerhin darf man dort wählen. +Nein, denn allein freie Wahlen machen keine Demokratie aus. Das ist zwar in manchen Staaten ein Riesenfortschritt, aber da muss noch mehr dazukommen: Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte, die gegenüber dem Staat einklagbar sind, eine freie Presse, Gewaltenteilung. Gucken Sie sich die Gesellschaftsmodelle der letzten 2000 Jahre an: Es ist die offene Gesellschaft, die Lernprozesse institutionalisiert hat, die Menschen die Chance bietet, maximal zu lernen. +In Russland werden Homosexuelle nun per Gesetz diskriminiert. Entspräche es nicht unserer demokratischen Gesinnung, dass wir intervenieren? +In Russland ist die Unterdrückung von Schwulen und Lesben ein klares Zeichen, dass wir es nicht mit einer freien demokratischen Ordnung zu tun haben. Aber mehr als das laute Einfordern von Menschenrechten können diplomatische Beziehungen dazu beitragen, das dortige Wertesystem zu ändern. Man muss in Kontakt bleiben, um Lernprozesse anzustoßen, im besten Fall eine freiheitliche Ordnung und demokratische Werte zu vermitteln. +Im Falle von Russland scheint das aber keinen Effekt zu haben. Als "lupenreinen Demokraten" hat ein ehemaliger Bundeskanzler Ministerpräsident Putin bezeichnet. Das scheint heute noch weniger treffend zu sein als damals. +Das stimmt. Und dennoch: Solange ein Land abgeschottet ist, wird kein Wandel eintreten. Man sieht das ja an Nordkorea. Das mag sich mit neuen Technologien wie dem Internet etwas geändert haben, aber auch das kann man ja kappen. Es ist immer eine Gratwanderung: Bis zu welchem Punkt gehen wir mit undemokratischen Staaten um, und wo ist Schluss? +In der Finanzkrise wurden auch bei uns diskriminierende Reflexe wach – etwa, als Südeuropäer für faul erklärt wurden. Wie gefestigt ist unsere Demokratie? +Man darf niemals sagen, dass die Demokratie genügend gefestigt ist. Sie muss immer wieder erkämpft und weitergegeben werden. Es müssen genügend Menschen da sein, die dafür kämpfen. +In der Weimarer Republik waren es nicht genügend. +Genau. Obwohl es damals Grundrechte gab, eine prinzipiell gute Verfassung und Parteien. Aber es war eine Demokratie ohne Demokraten. Die politische Kultur war nicht so entwickelt, dass die demokratische Struktur gefüllt wurde. Und als die Demokratie unter Druck geriet, haben zu wenige hingeguckt. Es muss gar keine radikale Mehrheit geben, es reichen fünf oder zehn Prozent entschlossene Antidemokraten und dazu 50 Prozent, denen die Entwicklung egal ist. +Kaiserzeit, Weimarer Republik, Drittes Reich – muss man im Falle von Deutschland nicht von einem Wunder sprechen, dass unsere Demokratie so stark ist? +Der Grund, warum es gelungen ist, in relativ kurzer Frist in Westdeutschland eine stabile parlamentarische Demokratie zu errichten, war der wirtschaftliche Erfolg, das sogenannte Wirtschaftswunder. Bis dahin hatten die Menschen die Demokratie nie als Erfolg erfahren. Sie hatten den grässlichen Niedergang der Weimarer Republik erlebt, die Schrecken des Totalitarismus und des Krieges. Danach waren viele apolitisch, sie hatten die Nase voll. Deswegen war die Wahlbeteiligung 1949 auch sehr niedrig. Das änderte sich, als es den Menschen besser ging und sie Frieden und Wohlstand erlebten. Da haben sie gemerkt, dass die parlamentarische Demokratie das Verfahren ist, das friedliches Wohlergehen sichert. +Heute geht es den meisten Menschen gut, und dennoch hadern sie oft mit dem politischen System. Passt das zusammen? +Die Demokratie funktioniert viel besser, als es oft in der öffentlichen Wahrnehmung rüberkommt. Die Fernsehsender schwenken über leere Bänke im Bundestag, Zeitungen berichten über faule Abgeordnete, die bei Abstimmungen fehlen. Oft ist doch schon in Kinderserien wie Benjamin Blümchen der Bürgermeister der Böse. Durch Klischees in den Medien bekommen die Bürger einen ganz falschen Maßstab, an dem sie Politik messen. +Dabei sollen die Medien als die vierte Gewalt im Staat die Demokratie stärken. +Mittlerweile sind sie oft daran schuld, dass Politiker nur noch darauf achten, wie sie in den Schlagzeilen rüberkommen, anstatt vernünftige Sachpolitik zu betreiben. Ich sehe das mit großer Besorgnis, weil es Langzeitfolgen hat. Der Verdruss führt dazu, dass immer weniger Menschen in die Parteien gehen. Dabei sind Parteien als Organisationsform unverzichtbar, weil sie den Bürger davon entlasten, sich intensiv mit Politik befassen zu müssen. Er erhält von den Parteien Bündel von Politikangeboten und weiß im Großen und Ganzen, wofür die einzelnen Parteien stehen und ob das seinen Interessen entspricht. +Vielen Wählern ist das Profil aber oft nicht scharf genug. +Weil große Parteien, die 30 oder 40 Prozent der Wähler erreichen wollen, Kompromisse eingehen müssen. Wenn ich nur fünf oder zehn Prozent der Wähler erreichen will, kann ich natürlich viel radikaler sein. Eine Mehrheit erreiche ich so nicht. +Aber sind die Parteien dann noch unterscheidbar? +Die Gesellschaft hat sich eben geändert. Vor 30 Jahren wusste ich als Arbeiterkind oder als strenggläubiger Katholik noch genau, was ich zu wählen habe. Heute gibt es so viele unterschiedliche Lebensphasen, dass ich meine aktuellen Interessen immer wieder mit den Parteien abgleichen muss. Wenn man sich die Programme anschaut, entdeckt man Unterschiede. Man muss sich nur die Mühe machen, sie zu lesen. Die Politiker haben nicht nur eine Bringschuld, sondern der Wähler auch eine Holschuld. +Oft hat man den Eindruck, dass in der Politik wenig geschieht, weil ständig Wahlen anstehen und die Politiker Angst vor unpopulären Entscheidungen haben. +Dieser Eindruck entsteht vor allem, weil das politische Alltagsgeschäft kaum zur Kenntnis genommen wird. 90 Prozent von dem, was der Bundestag oder die Regierung tun, kommt in den Medien kaum vor. Das ist die mühselige Kleinarbeit, aus der Politik besteht. Man müsste mal den Alltag eines Abgeordneten zeigen, die Arbeit in den Ausschüssen, die Spezialisierung auf einige Themen. Die meisten sind irre engagiert. +Was halten Sie von direkteren Formen der Demokratie, zum Beispiel Abstimmungen auf Bundesebene? +Was spricht denn dafür? +Dass die Menschen ein besseres Gespür für die Themen bekommen und sich mehr mit Politik beschäftigen. +Das würde ja bedeuten, dass das schlechte Image von Abgeordneten und Parlamenten rationale Gründe hätte. Die gibt es aber meistens nicht. Also wird sich das gefühlte schlechte Image auch nicht ändern, wenn die Menschen selbst mitspielen dürfen. Wenn Sie in die Schweiz schauen oder in die deutschen Bundesländer, wo es ja Volksabstimmungen gibt, dann sieht man, dass die Leute nicht massenhaft an die Urnen gehen. Es gehen vor allem die hin, die sich schon vorher stark engagieren und über finanzielle und intellektuelle Ressourcen verfügen. Das ist die gebildete Mittelschicht. Nehmen Sie die Abstimmung in Hamburg, wo darüber entschieden wurde, ob Schüler länger gemeinsam lernen sollen. Da hat man sich für den Erhalt des alten Systems entschieden. +Wahrt ein Plebiszit also den Status quo? +Es ist kein Instrument, das vorwärts gewandt ist, das eine Modernisierung bringt oder die bislang Benachteiligten, etwa mit Migrationshintergrund oder Hauptschulabschluss, aus der sozialen Ungleichheit führt. Es hilft vor allem denen, die daran interessiert sind, dass alles bleibt, wie es ist. Und da sehen Sie den Zauber von repräsentativer Demokratie. Da geht es eben nicht nur darum, spezielle Einzel- und Gruppeninteressen zu vertreten, sondern die Abgeordneten kümmern sich auch um das Gemeinwohl. Sie müssen die verschiedenen Interessen abwägen und in einem schwierigen Prozess von Konflikt und Kompromiss zum Ausgleich bringen. Das bekommen Sie mit Volksentscheiden nicht in derselben Qualität hin. +Das heißt: Als Politiker muss ich mich um alle kümmern. +Sie müssen eine Mehrheit beschaffen, das ist die zentrale Kunst der Politik. One person, one vote. Jeder Einzelne zählt mit seiner Meinung. Deswegen sind Professoren in der Politik selten erfolgreich – weil sie in ihrem Beruf daran gewöhnt sind, alles besser zu wissen und eben nicht lernen mussten, um Mehrheiten zu verhandeln und Kompromisse zu schließen. Als Politiker muss ich aber noch den letzten Skeptiker überzeugen. Auch wenn ich mich selbst für genial und die anderen für Deppen halte, muss ich die Deppen dennoch überzeugen. +Und was ist, wenn die Deppen in der Mehrheit sind? Ist das dann die Diktatur der dummen Masse? +Sie wollen wohl Wissenstests vor der Wahl einführen? Es muss nicht jeder, der wählen geht, über Sachfragen Bescheid wissen. Wenn ich es ernst meine mit der repräsentativen Demokratie, ist das nicht nötig. Es geht darum, ob die Richtung stimmt, ob die Partei im Großen und Ganzen für meine Interessen steht. Im Moment ist mir vielleicht wichtig, ob ich als Homosexueller heiraten kann oder Ehegattensplitting bekomme. In zehn Jahren steht wahrscheinlich etwas anderes im Vordergrund. Es gibt einen Kern, und wenn der stimmt, muss ich den Rest nicht unbedingt kennen. +Die Parteien haben Nachwuchsprobleme. Wie kommt das? +Die Parteien können eine Reihe von Mechanismen aktivieren, damit sie attraktiver werden. Gerade die jungen Menschen werden nicht mehr so autoritär erzogen wie früher, sie sind es gewohnt, mehr mitzubestimmen, legen Wert auf Partizipation, auf Teilhabe. Das ist ein Demokratisierungsprozess, der auch die Parteien zwingt, ihre Strukturen zu ändern. Aber das nützt nichts, solange das medial verbreitete Image so schlecht ist. +Oft schreckt einen ja schon das Vokabular ab: Da gibt es Parteivorsitzende, Generalsekretäre … hört sich schon an wie in einer Diktatur. +Stimmt. Aber neben neuen Begriffen benötigen wir offenere Willensbildungsprozesse. Es gibt ja viele Menschen, die sich engagieren wollen. Zum Beispiel Frauen, deren Kinder aus dem Haus sind. Die wollen mit 50 oft ehrenamtlich arbeiten – dafür muss man Strukturen schaffen. +Wie kann man die Demokratie verbessern? +Die Medien haben über die Jahre ein falsches Bild von der Politik transportiert und dafür gesorgt, dass die Bürger falsche Maßstäbe anlegen. Das kann man vor allem durch politische Bildung korrigieren. Man sollte schon Kindern zeigen, wie viel Spaß es macht, mitzuwirken, sich einzumischen. Und vor allem: nicht nur für die eigenen Interessen zu kämpfen, sondern auch für andere. Ein Gemeinwesen kann nicht funktionieren, wenn es nur mir gut geht. Das kann man auch in Schulen lehren. +Da sieht es ja mit der Mitsprache oft nicht so gut aus. +Dabei ginge das Einüben von Demokratie gerade im Unterricht. Wenn Sie über eine Klassenfahrt diskutieren, können Sie das zu einem kleinen Lehrstück darüber machen, wie parlamentarische Demokratie funktioniert. Wenn Sie das gut machen, haben Sie mehr geschafft, als es Ihnen in jahrelangem Politikunterricht gelingt. Das Einüben des Streits, des Kompromisses, des Spezialisierens. Es geht um das Gespür, dass Politik ein Mannschaftsspiel ist. +Talkshows sind eine maßlose Verflachung von Politik +Manchmal scheint der Bürgerwille einer Modernisierung entgegenzustehen – wenn zum Beispiel die für die Energiewende dringend notwendigen Stromtrassen nicht gebaut werden können, weil es überall Bürgerinitiativen dagegen gibt. +Gibt es auch ein Zuviel an Mitsprache? +Wir wollen doch, dass Menschen sich einmischen, kümmern, politische Verantwortung übernehmen. Eine pluralistische Gesellschaft muss einerseits eine Vielfalt von Interessen zulassen, auf der anderen Seite brauchen wir Entscheidungen, bei denen man nicht immer alle Interessen gleichermaßen berücksichtigen kann. Da geht es um politische Führung: Politiker müssen die Meinungen ihrer Wähler aufgreifen, aber gleichzeitig auch vorangehen. Ein britischer Politiker hat mal sehr treffend gesagt: I must follow them, I am their leader. Die Kunst demokratischer Politik und von Repräsentation ist es, genau den richtigen Abstand zu finden. Wenn ich zu weit voranschreite, dreh' ich mich um, und da ist niemand mehr, der mir folgt. Wenn ich zu langsam bin, sind die anderen schon weiter. Das muss man austarieren. Sie müssen immer den Mut haben, auch mal etwas Unpopuläres zu tun, das ist erfolgreiche Politik. +Wie kann man die parlamentarische Demokratie stärken? +Eine Demokratie ist nichts Selbstverständliches. Sie muss permanent erhalten, angepasst und erneuert werden. Der Bundestag ist in vielem vorbildlich – vor allem, was die Rechte der Minderheit, der Opposition angeht. Es gibt das Untersuchungsrecht, Enquete-Kommissionen, Informationsund Fragerechte. Man sollte aber die gesamte Aktivitätsbreite des Parlaments nach außen tragen und damit die Politik transparenter, insofern auch interessanter und nachvollziehbarer für die Bürger machen. +Müsste man dafür nicht die Ausschüsse öffentlich machen, schließlich wird dort der Großteil der Arbeit erledigt? +Ich bin absolut dafür. Dann würde endlich auch ein realistischeres Parlamentsbild erzeugt. +Sollte man auch das Wahlalter senken? +In vieler Hinsicht sind die Teenager von heute weiter als frühere Generationen, aber in anderer Hinsicht nicht. Es gibt aufgeklärte Sechzehnjährige, aber auch Mittzwanziger, die immer noch bei den Eltern wohnen. Die Diskussion über das Wahlalter halte ich für überflüssig. +Funktioniert unsere Gewaltenteilung eigentlich gut? +Ja, aber viele haben ein altes Bild von Gewaltenteilung im Kopf. Das Parlament als Legislative, die die Regierung als Exekutive kontrolliert. Das ist Quatsch. Die Regierung entsteht doch aus dem Parlament, sie ist Fleisch vom Fleische der Mehrheit, die gewählt worden ist. Die Mehrheit des Parlaments plus ihre Regierung ist die eine Seite, auf der anderen Seite steht die Opposition: Das ist das wirkliche Gegenüber im Parlamentarismus. Die Regierungsmehrheit im Parlament gegen die nicht-regierungstragenden Fraktionen. Wenn das Parlament es nicht schafft, aus den eigenen Reihen eine Regierung ins Amt zu bringen und dort vier Jahre lang handlungsfähig zu halten, dann versäumt es seine wichtigste Funktion. +Warum ist diese Aufgabenverteilung vielen Bürgern so unklar? +Das hat auch mit der parlamentarischen Architektur zu tun. Bedauerlicherweise wollen die Abgeordneten in Deutschland alle ihren festen Sitz im Parlament haben, das macht die Sache sehr statisch. Gucken Sie sich mal das britische Unterhaus an. Auf der einen Seite sitzt die Regierung auf einer Bank, und dahinter verschiedene Abgeordnete, die der Regierung den Rücken stärken – die sogenannten Backbencher, die Hinterbänkler. Was ja bei uns dummerweise eher ein Schimpfwort ist. Auf der anderen Seite sitzt die Frontbench der Opposition, dahinter deren Backbencher. Dann findet ein inhaltlicher Schlagabtausch statt, und die Wähler sehen sofort das Schattenkabinett, also die Politiker der Opposition, die regieren wollen. Das ist eine großartige politische Kultur. +Bei uns findet der Schlagabtausch eher in den Talkshows statt. +Na, das ist eine maßlose Verflachung und Skandalisierung von Politik. Da würde ich mir wünschen, dass alle seriösen Politiker sagen: "Da gehe ich nicht hin." diff --git a/fluter/man-muss-nur-rollen.txt b/fluter/man-muss-nur-rollen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0006745799b1d2e69a69cde7deeabdd892a076e7 --- /dev/null +++ b/fluter/man-muss-nur-rollen.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Skater und die Stadt, das ist in der Regel eine echte Hassliebe. Skater brauchen die Stadt, also den urbanen Raum, seine Architektur, Beton, Asphalt, Marmor, Granit – sonst könnten sie kaum ihrer Leidenschaft nachgehen. Doch die Stadt macht es den Skatern oft schwer: Sie stellt Verbotsschilder auf, verhängt Bußgelder, macht aufregendes Terrain mit Hubbeln und Huckeln unbefahrbar. Wenn die Stadt den Skatern dann doch mal etwas Gutes will, entpuppt sich dies nicht selten als Flop: Dann gibt es für den örtlichen Skatepark Ruhezeiten, die Rampen entsprechen nicht den Anforderungen der Zielgruppe, oder das Ganze ­ähnelt eher einem Kinderspielplatz. +Als sich Oskar vor bald zehn Jahren erstmals dafür interessierte, auf einem Brett mit vier Rollen durch die Straßen zu fahren, hatte Malmö gerade einen der besten Skateparks Europas bauen lassen, mitten im auf­gemöbelten Westhafen-Viertel: eine rund zwei Millionen Euro teure, 3.000 Quadratmeter große Be­tonlandschaft mit schier unendlich vielen "Lines" und wunderbar glatten Rundungen. Dort übte der damals neunjährige Oskar nicht selten acht Stunden am Tag seine Tricks. +Verantwortlich für den Park ist die lokale Skateboard-Organisation Bryggeriet, die seit 1998 eine besondere Zusammenarbeit mit der Stadt pflegt. Bryggeriet fungiert als Bindeglied zwischen Skatern und der Politik, plant Skateparks, organisiert Veranstaltungen und betreibt sogar ein Gymnasium, in dem Skateboarding auf dem Lehrplan steht. "Unser Ziel ist es, Malmö zur bestmöglichen Skateboard-Stadt zu machen", sagt Nils Svensson, eine der treibenden Kräfte hinter Bryggeriet. Die Bilanz ist bemerkenswert: Malmö ist mittlerweile international bekannt für seine sechs Skateparks, mehrere Wettbewerbe und seine "Do it yourself"-Bewegung. Es gehört nämlich zur Politik der Stadt, selbst gebaute Rampen und Skaten im öffentlichen Raum zu dulden, teils sogar zu fördern. Um ungenutzte Flächen zu beleben, baut die Stadt schon mal nach Skater-Wünschen – mit glattem Boden und haltbaren Materialien, um Lärm und Schäden in Grenzen zu halten. +"Skateboarding gehört zur Marke Malmö und hebt uns von anderen europäischen Städten ab", erklärt Gustav Svanborg Edén, Projektmanager für Skateboard-Entwicklung bei der Stadt. Neben Tausenden Menschen, die das jährlich anziehe, gehe es dabei vor allem um soziale Aspekte: Parks und "Spots" seien Plattformen, um Gleichgesinnte zu treffen – ganz unabhängig von Alter, Geschlecht und sozialem Milieu. Und da die Skater stets eingebunden werden, mitentscheiden und beim Bau selbst Hand anlegen dürfen, werden diese Orte von allen Skatern respektiert. Graffiti oder Müll sucht man dort vergebens. +"Das ist einfach ein gutes Umfeld, jeder hat das gleiche Interesse", sagt Oskar, der auf dem besten Weg zum Profiskater ist. Doch ohne Bryggeriet würde er heute wohl nicht mehr skaten, denkt er. Ehrgeiz und Talent allein reichen eben nicht, auch das Drumherum muss stimmen – und in Malmö stimmt es. +Als unser Autor Lukas Wohner noch regelmäßiger auf dem Skateboard stand, ist er selbst mehrmals in Malmö gewesen. Wenn er jetzt die Bilder vom jungen Oskar sieht, juckt es ihn in den Füßen. diff --git a/fluter/manchmal-fehlt-sie-so.txt b/fluter/manchmal-fehlt-sie-so.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..43ef9c5518f21c2790f6354af9ec37a28ff4062b --- /dev/null +++ b/fluter/manchmal-fehlt-sie-so.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Dem Rausch der Massenkundgebung folgt allerdings auch bald der Kater. Als die amerikanische Sektion des Autorenverbandes PEN "Charlie Hebdo" einige Monate später mit einem Preis für Meinungsfreiheit auszeichnet, empört sich eine Reihe renommierter Schriftsteller: "Charlie Hebdo" beleidige mit seinen islamkritischen Beiträgen einen Teil der französischen Gesellschaft, der ohnehin an den Rand gedrängt werde. +Keiner dieser klugen Köpfe schrie nach Zensur. Aber doch ging es um die Frage, was in welcher Form veröffentlicht werden darf – oder eben nicht. Aber: Worüber reden wir eigentlich, wenn wir über die Freiheit der Presse reden? +Nicht viele Begriffe finden sich in der 1948 verfasstenAllgemeinen Erklärung der Menschenrechteund in dem ein Jahr später formuliertenGrundgesetzso oft wie die Begriffe "frei" und "Freiheit". Und in beiden Dokumenten wird explizit die Freiheit der Meinung und die der Medien beziehungsweise Presse festgeschrieben. +Der Konflikt um freie Meinungsäußerung und ihre Reglementierung, sprich Zensur, ist jahrtausendealt. Nicht selten, so wie bei "Charlie Hebdo", ging es dabei um Religionskritik hier und religiöse Verletztheit dort. Manchmal werden die Kritiker mundtot gemacht. Das geht mit physischer Gewalt. Es geht aber auch mit juristischer. +Im Griechenland der Antike, der Wiege der Demokratie, gab es Redefreiheit, nun ja, nicht für Frauen, nicht für Sklaven, aber immerhin für männliche Bürger. Im 5. Jahrhundert vor Christus allerdings wurde in Athen ein Verbot blasphemischer Werke eingeführt – und durchgesetzt. 411 v. Chr. entschied der Areopag als oberste Gerichtsbarkeit, die Bücher des Sophisten Protagoras zu verbrennen und den Autor zu verbannen. Der Philosoph war zu der Einsicht gekommen, er könne unmöglich wissen, ob die Götter existieren oder nicht. +Gut 2.000 Jahre später, im Jahr 1644, nahm der britische Dichter und Denker John Milton auf ebendiesen Fall von Zensur Bezug, als er mit seiner Rede "Areopagitica" einen heute als wegweisend geltenden Appell für die Pressefreiheit formulierte. Seinerzeit ging es darum, die sogenannte Vorzensur abzuschaffen, die der Staat ausübte, indem er Presseerzeugnisse gar nicht erst zuließ. Milton hatte nicht unmittelbar Erfolg, es dauerte noch ein halbes Jahrhundert, bis die "Licensing Order" nicht mehr erneuert und somit dieses Instrument der Kontrolle abgeschafft wurde. +Fast ein Jahrhundert später schrieb Frankreich im Zuge der Revolution und der Erklärung der Menschenrechte von 1789 die Freiheit der Presse explizit fest. Auch in den Vereinigten Staaten wurde 1791 im Ersten Zusatzartikel zur Verfassung ausdrücklich formuliert, dass jegliche Gesetzgebung verboten ist, die die Pressefreiheit einschränkt. +Im deutschen Sprachraum begann mit der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert das Kräftemessen zwischen denen, die zensieren – in diesem Falle Kirche und Krone –, und denen, die ihre Meinungen und Erkenntnisse verbreiten wollten. Je mehr in den folgenden Jahrhunderten gedruckt und je mobiler die Gesellschaft samt einem expandierenden Postverkehr wurde, desto schwieriger gestaltete sich die Kontrolle der Druckerzeugnisse. Die Kleinstaaterei im Deutschen Bund machte es andererseits auch nicht eben einfacher, die Pressefreiheit verbindlich festzuschreiben. Erst nachdem es mit dem Deutschen Reich ein stabiles nationalstaatliches Gebilde gab, wurde 1874 die Pressefreiheit im Reichspressegesetz formuliert. Doch die Staatsmacht behielt sich vor, restriktiv einzugreifen. +Die Weimarer Republik garantierte in ihrer Verfassung die Pressefreiheit, aber in der Praxis blieben die alten obrigkeitsgläubigen Tendenzen. Was sich unter anderem in einem auch international für Aufsehen sorgenden Prozess gegen das Wochenblatt"Weltbühne"und seinen Herausgeber Carl von Ossietzky zeigte. Dabei ging es um den Vorwurf des Landesverrats und des Verrats militärischer Geheimnisse. Nach 1933 machten die Nationalsozialisten mit der Gleichschaltung der Gesellschaft im Ganzen auch jeglicher Pressefreiheit den Garaus. +In der Bundesrepublik wurde die Pressefreiheit 1949 im Grundgesetz verankert. In der DDR gab es de facto Zensur. Die hieß zwar nicht so, aber Veröffentlichungen waren nur mit Lizenzen und Druckgenehmigungen möglich, die von staatlichen Instanzen erteilt wurden. +In Artikel 5 des Grundgesetzes steht: "Eine Zensur findet nicht statt." Doch eine staatliche Gewalt, die sich angegriffen fühlt, der eine Veröffentlichung nicht passt, hat andere Möglichkeiten, ihre Muskeln spielen zu lassen. Zum Beispiel mit dem Vorwurf des Landes- oder Geheimnisverrats, wie es in der Bundesrepublik bei den Affären um das Magazin"Der Spiegel"1962 sowie das Magazin"Cicero"gut vier Jahrzehnte später der Fall war. +Pressefreiheit ist ein Recht. Aber auch eine Pflicht. Wer Informationen und Meinungen verbreitet, muss sich fragen, wie gewissenhaft er seiner Arbeit nachgeht. Was ist, wenn man als Journalist von einem Skandal weiß, aber überzeugt ist, dass der Verantwortliche Gutes im Sinn hat, und man ihn nicht zu Fall bringen will? Was, wenn man – wie die Zeichner von "Charlie Hebdo" – sich selbst mit einer Veröffentlichung in Gefahr bringt? Zensur ist auch etwas, das jeder in seinem Kopf hat – als vorauseilenden Gehorsam. +Und Freiheit ist eine Zumutung, die man aushalten muss. Die Voltaire-Biografin Evelyn Beatrice Hall hat eine Maxime des französischen Aufklärers einmal so zusammengefasst: "Ich bin nicht einverstanden mit dem, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tod alles dafür geben, dass Sie es sagen dürfen." +Pressefreiheit fängt ganz klein an, das hat Katrin Weber-Klüver während ihres Volontariats bei einer Regionalzeitung erfahren. Sie schrieb eine Glosse über ein Richtfest, die einen Anzeigenboykott des Bauunternehmens nach sich zog. Was der sehr alte Chefredakteur mit dem sehr trockenen Hinweis kommentierte, sie solle einfach ihre Arbeit weitermachen, die würden schon wieder ankommen. Und so war es dann auch. diff --git a/fluter/manifesta-pristina-kosovo-reportage.txt b/fluter/manifesta-pristina-kosovo-reportage.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..39acee0ee9d78617589642338947ae151ca339ce --- /dev/null +++ b/fluter/manifesta-pristina-kosovo-reportage.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Seit dem 22. Juli läuft die Manifesta, es ist das bisher größte Kunstevent in der Geschichte des jüngsten Landes Europas. Die Biennale markiert den vorläufigen Gipfel einer überaus positiven Entwicklung der kosovarischen Kulturszene:Der Film "Hive"gewann das Sundance Festival 2021, das Dokumentar- und Kurzfilmfestival in Prizren wird international immer relevanter. Das Highlight aber ist "Sunny Hill", das Musikfestival des kosovo-albanischstämmigen Popstars Dua Lipa. Nur zwei Wochen nach der Manifesta-Eröffnung spielten dort Stars wie Skepta und J. Balvin und brachten damit den passenden Soundtrack ins junge Land: Die Hälfte der Bevölkerung im Kosovo ist unter 31. +Nun also die internationale Kunstausstellung. Die Erwartungen sind riesig, nicht nur bei Edona Kryeziu, selbst der Taxifahrer, der sie zum nächsten Fotogeschäft fährt, sagt: "Wenn alles gut geht, komme ich mit meiner gesamten Familie zur Eröffnung. Inshallah!" Eng mit der Bevölkerung zusammenzuarbeiten ist seit ein paar Jahren ein erklärtes Ziel der Manifesta: Die Ausstellungen sollen aus dem internationalen Kunstjetset ausbrechen, der sich alle zwei Wochen woanders trifft. Ein Besuch der Manifesta ist kostenlos, das Festival finanziert sich durch Investitionen der jeweiligen Austragungsorte und Sponsoren- und Fördergelder. In Pristina beträgt das Budget etwa fünf Millionen Euro. Ziel ist es immer auch, die Probleme der gastgebenden Städte zu adressieren und sie nachhaltig zu verbessern. Oder wie Hedwig Fijen, die Direktorin der Manifesta, sagt: "Wir konnten hier keine Millionenbeträge für Kunst ausgeben, die am Ende bloß an der Wand hängt. Wir mussten verstehen, was der Stadt langfristig guttut." +Deshalb verpflichtet die Manifesta nicht nur Kurator:innen, sondern auch Architekt:innen. Nach Winy Maas bei der Ausgabe 2020 in Marseille ist es nun der Italiener Carlo Ratti, der baut, vor allem aberüber Smart Cities nachdenkt. Ratti schickte Teams los, die mit Bürger:innen sprachen, um ihre Bedürfnisse zu verstehen. Die sind sehr unterschiedlich: In manchen Stadtteilenleben Albaner:innen, Bosniak:innen, Rom:nja, Serb:innen, Türk:innen und andere Minderheiten nebeneinander, also alle der in den Sternen auf der Landesflagge repräsentierten Ethnien. Andere Mitarbeiter:innen des Architekten Ratti und des MIT Senseable City Lab vermaßen Pristina mit Kameras, um mittels künstlicher Intelligenz zu erforschen, wie man die Stadt besser organisieren könnte. +Womöglich hätte natürliche Intelligenz genügt, um festzustellen, dass in Pristina jeder freie Quadratmeter dem Autoverkehr gehört. Und es viele geschichtsträchtige Gebäude gibt, die wiederbelebt werden könnten. Wie die Hivzi-Sylejmani-Bibliothek, die für einen Teil der Ausstellung frisch renoviert und begrünt wurde. Nach dem Ende der Manifesta im November wird sie ein Nachbarschaftstreff mit Bibliothek. + + +Andere Eingriffe in die Stadt sind derzeit noch Andeutungen: Rattis Team hat einen guten Kilometer einer stillgelegten und zugemüllten Bahntrasse freigelegt. Derzeit ist der "Green Corridor" noch arg staubig, aber die gelben Designmöbel und Pflanztröge versprechen schon den Pop-up-Park, der hier entstehen soll. Unweit davon hält ein Berliner Architekturkollektiv Summer Schools in einer alten Ziegelfabrik ab. Unter der Hand gilt die Fabrik als Kandidatin für das nationale Kunstmuseum, das gebaut werden soll. Aber eine Befragung ergab, dass sich die Nachbarschaft im eng bebauten Pristina bei hochsommerlicher Hitze etwas anderes wünscht. Also entsteht dort während der Summer Schools ein temporärer Pool. +Das Herzstück der Manifesta ist aber das ehemals jugoslawische Grand Hotel Pristina, das mitten im Stadtzentrum steht. Anstelle der alten Leuchtschrift auf dem Dach prangt nun ein Schriftzug des Künstlers Petrit Halilaj. "Wenn die Sonne untergeht, malen wir den Himmel an", steht dort in großen Lettern auf Albanisch. Drinnen erinnern tannengrüne Korridore und schwere Holzvertäfelungen an den Charme, den der im Auftrag des alten Staatspräsidenten und Autokraten Tito errichtete Prestigebau mal gehabt haben muss. Früher galt das Hotel als ein soziales Zentrum der Stadt, heute ist es ein Sanierungsprojekt: Ein Teil ist entkernt, hier sind vom sozialistischen Palast nur rohe Betonwände übrig. +In diesem Teil des Hotels stellt Edona Kryeziu aus. Zur Eröffnung sitzt alles, das Folienproblem hat sie gelöst: Statt die Leuchtstoffröhren abzudunkeln, lässt Kryeziu sie einfach von der Decke baumeln. Dazwischen stapeln sich meterhoch Pakete. Kryeziu hat sie für ihre Installation von ein paar der mittlerweile 266.000 Kosovar:innen eingesammelt, die im EU-Ausland leben. Mit solchen von Busunternehmen transportierten Paketen wollen sie Kontaktin die Heimat halten, die weitestgehend isoliert ist:Wer Freund:innen und Familie im Ausland besuchen, verreisen oder woanders studieren will, muss kostenpflichtige Termine bei der Botschaft bekommen, hohe Geldsummen, Bürgschaften und Einladungsbriefe vorweisen, monatelang warten und verzweifelt am Ende nicht selten an der Bürokratie. Viele im Land frustriert das. Der Kosovo ist das einzige Land des Westbalkans, dessen Bürger:innen ein Visum brauchen, um in die Staaten des Schengenraums einzureisen. +Zwar hat das Land 2018 alle Bedingungen für eine Visaliberalisierung erfüllt, die wird aber bis heute nicht umgesetzt. Denn einige Staaten, darunter fünf EU-Mitglieder, erkennen den Kosovo nicht als Staat an, sondern halten ihn für Staatsgebiet Serbiens.Die Nachbarländer haben sich gerade auf Reisefreiheit geeinigt, tragen seit dem Ende der Sowjetunion aber fast durchgehend Konflikte aus, die 1998 im Kosovokrieg eskalierten. +Je später es wird, desto voller ist die Servis Bar, einer der wenigen Läden, die die Sperrstunde um Mitternacht etwas großzügiger auslegen. Hier treffen sich junge Künstler:innen. Wie die Gruppe NewGrand, die ein paar Räume weiter von Edona Kryeziu im Grand Hotel ausstellt und gerade gegen die laute Musik anbrüllend die Frage diskutiert, wer eigentlich auf der Manifesta ausstellen darf. Laut den Veranstaltern ist das Konzept "radikal lokal", 60 Prozent der 103 Künstler:innen stammen aus dem Westbalkan. Aber woher genau, macht hier im Kosovo eben einen riesigen Unterschied. Von der NewGrand-Gruppe leben manche im Kosovo, andere Künstler:innen wie Kryeziu in Deutschland. +Redon Kika ist 20 und im Kosovo geboren. Er hatte früh die Gelegenheit zu reisen, seine Freunde nicht. Also filmte er sie und ließ sie über ihre Sehnsüchte nach Ferne und Reisen reflektieren. Sein Kurzfilm "I have never been on an airplane" beschreibt die Isolation der kosovarischen Jugend, die im, wie Manifesta-Direktorin Hedwig Fijen es nennt, "größten Gefängnis Europas lebt". Kika versucht, darin auch Positives zu sehen. Der Frust über die fehlende Freiheit könne neue Kräfte hervorbringen, sagt er. "Außerdem inspiriert es uns Junge, dass immer mehr Menschen aus dem Westen sich für die Kultur hier im Kosovo interessieren." +Das findet auch Përparim Rama, der Bürgermeister von Pristina. Er meint, der Kosovo solle weniger um die Aufmerksamkeit Europas betteln. "Wir drehen den Spieß um und zeigen, dass wir nicht mehr der Krieg von 1999 sind, sondern die Kunst von 2022." diff --git a/fluter/manipulieren-hersteller-die-lebensdauer-von-elektrogeraeten.txt b/fluter/manipulieren-hersteller-die-lebensdauer-von-elektrogeraeten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..064314e975e6c026c7681f602a32dd900a03d4de --- /dev/null +++ b/fluter/manipulieren-hersteller-die-lebensdauer-von-elektrogeraeten.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Ist es so schlimm, wenn wir unsere Elektrogeräte so schnell entsorgen? Die Nachfolgemodelle sind meistens energiesparender. +Früher war das vielleicht so. Inzwischen sind die Fortschritte in der Energieeffizienz längst nicht mehr so groß. Das, was in der Nutzung an Energie eingespart wird, kann den Ressourcenverbrauch bei der Herstellung kaum kompensieren. Es ist darum – mit wenigen Ausnahmen – fast immer ökologischer, ein funktionierendes Gerät weiter zu nutzen, anstatt es durch ein Nachfolgemodell zu ersetzen. +Seit einiger Zeit kursiert der Verdacht, dass Hersteller ihre Produkte so manipulieren, dass sie nach kurzer Zeit nicht mehr brauchbar sind und wir neue kaufen müssen. Man spricht von "geplanter Obsoleszenz". Haben Sie dafür Anhaltspunkte gefunden? +Dieser Verdacht geistert immer wieder durch die Debatte. Dabei ist es eine gängige Praxis, die Produktlebensdauer zu planen. Dahinter stehen unterschiedliche Zielsetzungen der Unternehmen. Für Manipulationen finden wir allerdings keinen Hinweis. Es werden in Produkten keine Schaltuhren implementiert, die zu einem Zeitpunkt eine Art Selbstzerstörung einleiten. +Viele Handynutzer ärgern sich, dass der Akku ihres Smartphones nicht austauschbar ist. Wenn der also hinüber ist, müssen sie das ganze Gerät wegwerfen. Erschwert man den Kundinnen und Kunden bewusst die Reparatur? +Die Hersteller behaupten, dass es durchaus technische und ökonomische Gründe gibt, warum sie Akkus fest verbauen – etwa um Wackelkontakte zu vermeiden. Das ist ein Teil ihrer Produktplanung. Dabei kalkulieren sie selbstverständlich mit einer bestimmten Lebensdauer. Bei einem durchschnittlichen Nutzer hält der Akku vielleicht länger – bei einem Intensivnutzer ist er dagegen vorzeitig hinüber, und das ganze Gerät ist nicht mehr brauchbar. Aus Reparatursicht ist es ein großes Problem. + + +Der Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie sieht sich durch Ihre Untersuchung sogleich entlastet, weil Sie keinen Nachweis für gezielt eingebaute Schwachstellen finden. +Moment, das heißt nicht, dass es keinen Änderungsbedarf gibt. Um beim Beispiel der Handyakkus zu bleiben: Ein Akku ist ein Verschleißteil, das die Lebensdauer eines Gerätes limitiert. Ein solches Teil sollte grundsätzlich austauschbar sein. Nur weil der Hersteller sich an Durchschnittskunden orientiert, bei denen der Akku nicht vorzeitig kaputtgeht, heißt das nicht, dass man die Reparatur auch allen anderen erschweren muss. Und nur weil wir keinen Betrug nachweisen konnten: Die Lebensdauer eines Produkts wird natürlich geplant – und zwar nicht so lange wie möglich, sondern so lange, wie es dem Unternehmen nötig erscheint. Und das ist zu kurz. +Wie berechnen Hersteller die Lebensdauer ihrer Geräte? +Es gibt verschiedene Parameter, an denen sich die Unternehmen beim Produktdesign orientieren. Wie verläuft der technische Fortschritt, und wie schnell bringt die Konkurrenz neue Entwicklungen auf den Markt? Oft versuchen die Hersteller bei der Produktplanung die Verbraucherbedürfnisse zu antizipieren: Wie schnell ändern sich die Wünsche der Kundinnen und Kunden, wie lange wird es also dauern, bis sie ein neues Smartphone mit neuen Funktionen oder einen noch höher auflösenden Flachbildfernseher möchten? +Die Industrie freut sich auch deswegen über Ihre Studie, weil Sie den Verbraucher und seinen Wunsch nach ständig neuen Geräten für die Wegwerfkultur verantwortlich machen. +Auch das ist ein Missverständnis. Unsere Botschaft ist: Der Verbraucher hat eine Mitverantwortung. Das heißt aber nicht, dass wir ihm die komplette Schuld in die Schuhe schieben. Denn natürlich trägt auch die Industrie dazu bei, dass neue Wünsche und Bedürfnisse geweckt werden – etwa durch Billiggeräte, Werbung oder Rabattaktionen, bei denen den Kunden zu einem Mobilfunkvertrag alle paar Jahre ein neues Telefon angeboten wird. +Was muss passieren, damit nicht noch mehr Elektrogeräte so schnell auf dem Müll landen? +In Frankreich gibt es seit einiger Zeit ein Gesetz, das geplante Obsoleszenz unter hohe Strafen stellt. Aber das ist eher von symbolischem Wert. In der Praxis dürfte sich der Betrug kaum nachweisen lassen, weil es immer auch technische oder ökonomische Gründe für eine kurze Lebensdauer gibt. Das zeigt ja das Beispiel des Handyakkus. Wir müssen also die Reparaturmöglichkeiten verbessern. Außerdem prüfen wir gerade im Auftrag des Umweltbundesamtes, ob man Hersteller zu einer Angabe über die Lebensdauer ihrer Produkte verpflichten und die Gewährleistungsfristen ausdehnen kann. Der Anreiz zu immer kurzlebigeren Produkten verringert sich, wenn Unternehmen länger als bislang für Mängel haften müssen. Wenn die Politik die Gesetze ändert und die Verbraucher zeigen, dass sie den Trend zu immer kurzlebigeren Geräten nicht mitmachen, dann muss auch die Industrie umdenken. +Siddharth Prakash ist Forscher am Öko-Institut in Freiburg. Für das Umweltbundesamt haben er und seine Kollegen unter anderem untersucht, ob Unternehmen Elektro- und Elektronikgeräte so manipulieren, dass sie schnell den Geist aufgeben. +Fotos:Chris Jordan diff --git a/fluter/mann-der-seine-haut-verkaufte-film-rezension.txt b/fluter/mann-der-seine-haut-verkaufte-film-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..32f9170bc97e65a99eef472754dbba86140e4e2a --- /dev/null +++ b/fluter/mann-der-seine-haut-verkaufte-film-rezension.txt @@ -0,0 +1,12 @@ + +Die tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania stellt in ihrem Film Fragen zu den Themen Flucht, Kapitalismus und Kunst: Welchen Wert hat ein Menschenleben? Warum zirkulieren Waren mehr oder weniger frei,während viele Personen in ihrer Reisefreiheit eingeschränkt sind?Undinwiefern müssen sich Kunstschaffende – und Menschen, die Kunst konsumieren oder kaufen – an ethische Grundsätze halten?Apropos Kunst: Hania ließ sich für ihren Film vom belgischen Konzeptkünstler Wim Delvoye inspirieren. Der bezahlte den Schweizer Tim Steiner dafür, sich den Rücken tätowieren zu lassen, sich auszustellen und die eigene Haut samt Tattoo nach seinem Tod einem Sammler zu überlassen. + + +"Der Mann, der seine Haut verkaufte" verwebt Liebesgeschichte und Dramaelemente, vor allem aber will der Film eine politische Satire sein. Entsprechend überspitzt stellt Hania die beiden Weltendes Bürgerkriegsflüchtlingsund des geltungssüchtigen Kunststars gegenüber. Zum Beispiel in der Szene, in der Jeffrey einem Filmemacher, der das Kunstprojekt dokumentarisch begleitet, großspurig von seiner künstlerischen Botschaft erzählt, während der frisch tätowierte Sam im Hintergrund zusammengekauert zuhört und gegen das Gefühl ankämpft, zum Objekt degradiert worden zu sein. +Dabei wird "Der Mann, der seine Haut verkaufte" getragen von einem strengen visuellen Konzept. Jedes Detail ist durchkomponiert, millimetergenau. Hania inszeniert Bilder, aus denen mal Verletzlichkeit spricht, etwa wenn Sam in Unterhose mit dem Rücken zur Kamera erwacht. Mal transportieren sie Lebensmut und Neugier, zum Beispiel, wenn Sam mit wehendem Seidenkimono zu Streichmusik durch ein Museum stolziert und sich in einer Art Limbotanz unter den Lichtstrahlen einer Kunstinstallation entlangschlängelt. + +… kommt vom Künstlerego Jeffrey himself. Während einer Veranstaltung bei einem süffisanten Kunstsammler schiebt er in einem Interview sämtliche Verantwortung für die Konsequenzen seines Kunstprojekts von sich: "In Indien kostet ein Baby 40 Euro. In Thailand eine Leihmutter 1.200 Euro. Der Kopf von Bin Laden? 25 Millionen Dollar. Ich bin nicht zynisch, unsere Welt ist es." + +"Der Mann, der seine Haut verkaufte" lebt von seinen wuchtigen Bildern, dem facettenreichen Spiel von Yahya Mahayni und der würdevollen Schlagfertigkeit seiner Figur Sam. Vor allem aber zeigt der Film,in welchem Ausmaß nationale Grenzen oder Binnengrenzen wie die des Schengen-Raums das Leben von Einzelnen bestimmen können– und je nach Staatsangehörigkeit mal Privileg, mal kaum überwindbare Hürde sind. + +"Der Mann, der seine Haut verkaufte" läuft ab dem 24. Februar in den deutschen Kinos. diff --git a/fluter/manosphere-influencer-misogynie.txt b/fluter/manosphere-influencer-misogynie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..646dec22ccc0eebfa119076042c88ab6a7696a12 --- /dev/null +++ b/fluter/manosphere-influencer-misogynie.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Spulen wir vor zum Sommer 2022: Derselbe Freund teilt in seiner Instagram-Story Videos von Andrew Tate, dem "King of Toxic Masculinity". Tate istwohl der bekannteste Vertretereines bestimmten Typus von Influencer, von dem es mittlerweile etliche gibt: gut gebaute Kerle, die gerne in engen Anzügen auftreten und Disziplin und Männlichkeit predigen, irgendwo zwischen Fitness-YouTuber und Businesscoach. + + +Weiterlesen +Disziplin und Marschieren, aber auch Verletzlichkeit und Yoga stehen auf dem Lehrplan der Chrysalis Academy in Kapstadt.Macht das die Schüler zu besseren Männern? +Das wäre erst mal kein Problem, würde dieser Typus nicht in erster Linie durchantifeministische bis frauenverachtende Aussagenauf sich aufmerksam machen. Frauen seien dumm, Frauen seien nach der Heirat das Eigentum der Männer, einen Mädelsurlaub der Freundin könne man als Mann nicht tolerieren – so unter anderem der Wortlaut. Das alles spielt sich aber nicht mehr länger in dubiosen Internetforen ab, sondern in den Social-Media-Feeds von Abermillionen jungen Männern. +"Wie kann man diesen Typen nur feiern?", frage ich meinen alten Schulfreund, als er mir bei einem Glas Çay gegenübersitzt. Wir haben uns an diesem Abend unweit seines Start-up-Büros zusammengefunden, gerade erst hat er Feierabend gemacht. "Ich denke, es ist dieser Kontrast aus einem extravaganten Lifestyle und gleichzeitiger Selbstkontrolle – man hat das Gefühl, der hat sein Leben total im Griff." +Das habe nichts mit Incels zu tun, sagt mein Freund. Dass Frauen bei Männern nur nach Status gehen, glaube er nicht, und von Strategien, wie man am besten bei ihnen ankommt, halte er erst recht nichts. +Auch ich spüre, dass sich diese typischen Männlichkeitsvideos gewandelt haben. Das Ideal des "Alphas", einem von Frauen verehrten Socialite und Playboy, scheint einem neuen Bild gewichen zu sein: Die Influencer geben sich diszipliniert und weniger sozial, sie predigen eher Enthaltsamkeit als Hedonismus. Feiern gehen, Frauen anmachen und Pornos gucken sind out, stattdessen sind durchgetaktete Tagespläne, kaltes Duschen und sogar Religiosität angesagt. Das neue Idealnennen manche "Sigma-Male"und das dazugehörige Credo "Sigma-Grindset", was bedeutet: 24/7 "hustlen" für den finanziellen Erfolg. +Mit den vulgär frauenverachtenden Aussagen geht mein Freund also nicht mit, räumt aber ein, dass er traditionelle Geschlechterrollen mit dem Mann als Versorger und der Frau zu Hause als das "vernünftigere" Modell betrachtet. Männer seien seiner Intuition nach das rationalere, Frauen das empathischere Wesen. "Vielleicht hat es auch was Gutes, wenn diese Rollen aufbrechen. Aber eigentlich bin ich da konservativer. Ich glaube, das könnte auch den Verfall unserer Gesellschaft bedeuten." +Dass dieses Bedrohungsszenario im Mainstream angekommen ist, bereitet Ann-Kathrin Rothermel Sorgen. Sieforscht an der Universität Bernzu Antifeminismus und Radikalisierung und setzt sich intensiv mit der sogenannten Manosphere auseinander. Darunter versteht sie eine digitale Gemeinschaft, in der in aller Regel frauenverachtende und antifeministische Ansichten vertreten werden. +"Gerade in Bezug auf Genderthemen gibt es dieses Narrativ, die Gesellschaft sei bedroht und wir müssten sie wiederherstellen", sagt sie. Es sei halt einfacher zu proklamieren, wie man lebe, sei bedroht, als sich eine alternative Gesellschaft vorzustellen oder sogar für diese einzustehen. "Die Manosphere lässt sich nicht als ein abgeschlossener Mikrokosmos von irren Extremisten verstehen, der nichts mit dem Rest der Gesellschaft zu tun hat", erklärt Rothermel, "aber auch nicht nur als Einstiegsdroge zum Rechtsextremismus, wie gerne behauptet wird." Hinter beidem stecke der Gedanke, dass die Menschen in der Mitte der Gesellschaft damit nichts zu tun hätten. Dabei könne die Manosphere gerade im Mainstream an Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit anknüpfen und sie zu etwas Extremem hochschaukeln. +Forschende machen in der Manosphere ganz unterschiedliche Gruppen aus: Neben den Incels und den Influencern sind das zum Beispiel Pick-up Artists oder traditionelle Männerrechtsaktivisten. Auch wenn sie ihre Differenzen haben, eint sie doch die Idee der "Male Supremacy", der männlichen Überlegenheit oder Vorherrschaft. So wird ihre Ideologie von manchen Forschenden genannt. "Ich finde diesen Begriff gut, weil er das Systemische hervorhebt, statt Misogynie auf etwas Individuelles zu reduzieren", sagt Rothermel. Wenn sich jemand zum Frauenhasser erkläre, basiere das eben nicht auf einer rein individuellen Entscheidung, sondern greife gesellschaftlich tief verankerte Vorstellungen von männlicher Überlegenheit auf. +Selbst wenn viele der Influencer beteuern, dass es ihnen darum ginge, Frauen zu "ehren", ergäbe sich aus dem Überlegenheitsgedanken und der daraus resultierenden Rollenvorstellung automatisch Misogynie, betont Rothermel. Wenn Männlichkeit überlegen sein soll, muss "das Andere", in diesem Fall Weiblichkeit, ja zwangsläufig abgewertet werden. "Misogynie ist nichts anderes als die Bestrafung von Menschen, die von starren Geschlechterrollen abweichen. Es trifft Frauen, weil sie das in unserer momentanen Gesellschaft oft tun." +Auch nachdem wir das zweite Glas Tee getrunken haben, kann ich meinen Freund nicht dazu bewegen, die Influencer der Manosphere für ihre frauenverachtenden Aussagen abzulehnen – "dafür geben die mir Dinge mit, die ich zu wichtig finde", sagt er. "Die Prämisse ist Eigenverantwortung, das gefällt mir einfach. Das ist eine Mentalität, die befähigt." Allerdings gibt er zu, dass seine Sympathie nicht ganz rational sei: "Vielleicht spielt es eine Rolle, dass ich in meinem Leben nie eine männliche Vorbildfigur hatte, und ich kompensiere das mit jemandem, der das im Extremen repräsentiert." +Zu Hause angekommen, gucke ich ein Motivationsvideo, in dem verschiedene Clips von Tate zusammengeschnitten sind: "FIX YOUR MIND" heißt es und hat 5,3 Millionen Views, mittlerweile ist es gelöscht. Die Message: Das Einzige, worüber man im Leben wahrlich Kontrolle habe, sei die eigene Geisteshaltung. Disziplin sei demnach eine Entscheidung – man müsse auch arbeiten, wenn man sich nicht danach fühle. Ganz ehrlich, auch wenn ich diesen Typen ablehne, kann ich in diesem Moment den Reiz, den solche Videos auf meinen Freund ausüben, besser nachvollziehen. Auch mich spornt das irgendwie an, härter zu arbeiten – zum Beispiel an diesem Text. +Ann-Kathrin Rothermel findet es gut, dass ich meinem Freund auf einer persönlichen Ebene begegnet bin, um seine Haltung zu verstehen. Gesellschaftlich müsse man jedoch klarer Stellung beziehen, statt dem Narrativ einer "Krise der Männlichkeit" nachzugeben, wonach Männer Unterstützung bräuchten. Diese Krise werde nämlich immer wieder diagnostiziert, sobald die Gesellschaft etwas gleichberechtigter werde – selbst schon, nachdemdas Frauenwahlrecht eingeführt worden sei."So werden nur immer wieder alte Strukturen verfestigt", meint sie. "Was dabei total verloren geht, ist, dass es auch für Männer befreiend sein kann,wenn sie nicht alle Alpha-Macker sein müssen." +Seitdem Tate von Instagram und TikTok gebannt wurde und er wegen Vergewaltigung, sexueller Ausbeutung, Menschenhandel und Bildung einer kriminellen Vereinigungangeklagt wurde, ist sein Content nicht mehr so allgegenwärtig. Er liefert aber die Blaupause für andere Internetpersönlichkeiten, die in seine Fußstapfen treten und teilweise noch extremere Botschaften in die Welt tragen. Wie der ehemalige YouTuber Sneako, der mit harmlosen Umfragevideos und Vlogs bekannt wurde und jetzt Hass gegen Frauen, Schwule und auch Juden schürt. +Es scheint eine Kombination aus reaktionären Geschlechterrollen und Hyperindividualismus zu sein, die die Männlichkeitsinfluencer à la Tate boomen lässt. Ihr ganzer Kosmos funktioniert nach der Vorstellung, dass gesellschaftliche Unterschiede und Erfolg sich allein daraus ergeben würden, wer konsequenter früh aufsteht, seine Bedürfnisse und Gefühle hintanstellt und stattdessen unerlässlich ackert. Es verwundert nicht, dass dieser Teil der Manosphere mainstreamfähiger ist als die fatalistischen Incels – wir lieben doch alle eine gute Tellerwäscher-zum-Millionär-Story. +Im Endeffekt tun Männlichkeitsinfluencer dasselbe wie viele andere, die Hass verbreiten: Sie liefern einfache Antworten auf eine komplexe Welt und vermitteln ihren Jüngern ein Selbstwertgefühl, das auf der Abwertung anderer basiert. Ein historisch erprobtes Erfolgsrezept, das gerade in krisenhaften Zeiten funktioniert. + +Titelbild: Matt Cardy/Getty Images – Vadim Ghirda/picture alliance / ASSOCIATED PRESS diff --git a/fluter/marki-zay-ungarn-opposition-wahl.txt b/fluter/marki-zay-ungarn-opposition-wahl.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..09f0967023a84ea12a633ed7049acc094a041523 --- /dev/null +++ b/fluter/marki-zay-ungarn-opposition-wahl.txt @@ -0,0 +1,30 @@ +So zumindest in der Theorie: Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) befürchtet, dass die Wahl manipuliert werden könnte. Auch aufgrund eines neuen Gesetzes, das es erleichtert, sich mit fiktiven Adressen als Wähler registrieren zu lassen.Sie lässt die Wahl daher genau beobachten. Sie empfahl, 200 Wahlbeobachter nach Ungarn zu entsenden. Üblicherweise schickt die OSZE zu Wahlen in EU-Staaten nur Teams aus rund einem Dutzend Beobachtern. +Das Amt hat seit 2010 Viktor Orbán inne. Dass er noch mal darum bangen muss, hielten viele für unwahrscheinlich: Während derPandemieregierte Orbán teilweise per Dekret, also ohne Beteiligung des Parlaments. Diese Sondervollmacht endete zwar im Sommer 2020, zeitgleich wurde aber ein Gesetz über die sogenannte "medizinische Gefahrenlage" verabschiedet: Die kann jetzt die Regierung auf Vorschlag der obersten Amtsärztin Ungarns ausrufen, jederzeit und eigenmächtig, um dann wieder ohne Parlament zu regieren. Viele Ungar:innen halten Orbán für einen Autokraten, die Opposition hält die Wahl am Sonntag für eine über das "Schicksal" des Landes. +Dabei könnte sie dem Premier Orbán und seiner Regierungspartei Fidesz zum ersten Mal seit Jahren wieder ein ernst zu nehmender Gegner sein. Die Opposition hat sich verbündet: Als Egységben Magyarországért (Vereint für Ungarn) treten sechs zum Teil sehr unterschiedliche Parteien gemeinsam an, von sozialistisch, grün-linksliberal über zentristisch bis hin zu rechtspopulistisch. An der Spitze des Bündnisses steht nach mehreren Vorwahlen: Péter Márki-Zay. +Der 49-Jährige ist der Bürgermeister der Stadt Hódmezővásárhely. Dass Márki-Zay dort 2018 nach dem Tod des amtierenden Bürgermeisters die Ersatzwahlen gewann, war eine Überraschung: Die Stadt im Südosten Ungarns war über Jahrzehnte eine Fidesz-Hochburg. Márki-Zay, auf der Straße oft nur "MZP" genannt, galt als Politiker "von unten", als vielversprechender Newcomer. Vor den Wahlen in Hódmezővásárhely hatten aber die wenigsten Ungarn je von ihm gehört. +Márki-Zay ist Volkswirt. Ein paar Jahre arbeitete er in Marketingpositionen in den USA und Kanada. Aber 2009 kam Márki-Zay zurück, mit seiner Frau und den sieben Kindern, und blieb nicht wie viele junge, gut ausgebildete Ungarn im Ausland. Expert:innen vermuten, dass viele Ungarn sich im gläubigen Katholiken Márki-Zay wiedererkennen. Und dass er konservative Werte vorlebe, die auch unentschiedene oder sogar der Fidesz zugeneigte Wähler:innen überzeugen könnten. +Die sechs Parteien im Oppositionsbündnis + +- Demokratikus Koalíció (DK), sozialliberal +– Jobbik, früher rechtsextrem, gibt sich heute Mitte-rechts +– Magyarország Zöld Pártja (LMP), grün und proeuropäisch +– Magyar Szocialista Párt (MSZP), sozialdemokratisch +– Momentum Mozgalom (MM), liberal und proeuropäisch +– Párbeszéd (PM), grün +Wie 2018 zur Wahl in Hódmezővásárhely wird Márki-Zay als Parteiloser antreten, diesmal als offizieller Kandidat der vereinten Opposition. Statt weiter Kandidat:innen verschiedener Oppositionsparteien zu nominieren, die sich gegenseitig Stimmen kosten, soll, so die Strategie, künftig nur noch die Person für die Opposition antreten, die die besten Chancen hat. Diese Idee der "taktischen Wahl" geht nicht überall im Land auf. Aber bei den Kommunalwahlen 2019 zeigte sie erste Erfolge: In Miskolc und Pécs, viert- und fünftgrößte Stadt des Landes, lösten Oppositionelle die Fidesz-Bürgermeister ab. +Heute tritt die Opposition – zumindest nach außen – als Bündnis auf und will die neue Einigkeit auch fernab der Städte bis in die Dörfer umsetzen. In der Sachpolitik gestaltet sich das oft schwer. Neben sozialistischen und liberalen Parteien ist auch die teils rechtsextreme Jobbik im Bündnis. Die Oppositionspartner setzen also nicht nur verschiedene politische Schwerpunkte, sondern dürften auch in manchen Menschenrechtsfragen unterschiedlicher Auffassung sein. +"Was Viktor Orbán in einer Person zu verkörpern versucht – eine Koalition aus Liberalen, Kommunisten, Konservativen und Faschisten – vertreten wir im Bündnis getrennt voneinander", kommentiert Márki-Zay diese Differenzen. "Als vernünftiger Mensch kann jeder seine eigene Weltsicht, seine eigene Position behalten." Wie sich diese grundverschiedenen Positionen in einer parlamentarischen Zusammenarbeit äußern würden? Ob das Bündnis eine geschlossene Haltung zu Menschenrechtsfragen finden könnte? Solche Fragen bleiben offen. Viele Beobachter:innen zweifeln jedenfalls an der neuen Einigkeit der Opposition. +Auch im Volk galt die Opposition seit 2006 als zerrissen. Damals gab es einen großen Knall: Bei einer Klausurtagung seiner Partei DK (Demokratische Koalition) hielt der damalige ungarische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány eine Brandrede. "Wir haben es verkackt", hob er an. Dann zählt er all die Versäumnisse seiner Regierung auf, die zur schlechten Haushaltslage Ungarns geführt hätten. Gyurcsány schloss mit seinem berühmtesten Satz: "Wir haben morgens, nachts, abends gelogen." Eigentlich wollte er seine Partei in der nichtöffentlichen Sitzung zur Ordnung rufen. Aber Unbekannte schnitten die Rede mit und veröffentlichten sie. Viele Wähler:innen fühlten sich betrogen. Wochenlang kam es in Budapest zu Protesten, Ausschreitungen und Polizeigewalt. Orbán wusste Gyurcsánys Rede noch Jahre später zu nutzen: Er gewann die Parlamentswahlen 2010 mit großer Mehrheit und regiert seither. +Heute ist Gyurcsánys Partei DK Teil des Oppositionsbündnisses, das Márki-Zay unterstützt. Die Fidesz versucht, das zu nutzen. Im Wahlkampf spielt sie immer wieder auf die berüchtigte Rede an, die mehr als 15 Jahre zurückliegt. +Márki-Zay als Marionette Gyurcsánys zu diskreditieren passt in den populistischen Wahlkampf Orbáns. Gyurcsány ist bei vielen Ungar:innen nach wie vor unbeliebt, Márki-Zay dagegen hat möglicherweise das Potenzial, der Fidesz Wähler:innen abzuwerben. Inseiner Neujahrsansprachehat Orbán Gyurcsánys Namen zwölfmal genannt, Márki-Zays dagegen nicht einmal. +Weiterlesen + + +Die Fidesz-Regierung hat Corona für Gesetzesänderungen genutzt.trans Personen etwa sollen im neuen Ungarn keinen Platz mehr haben +Umgekehrt spricht Márki-Zay viel über Orbán. Im Falle eines Wahlsiegs der Opposition sollen viele von Orbáns Verfassungsänderungen zurückgedreht werden. Ungarn soll wieder ein Rechtsstaat, die Korruption bekämpft, Justiz und öffentlich-rechtliche Medien unabhängig werden, heißt es. Das soll auch die Beziehungen zur Europäischen Union entspannen. Die Opposition will "Europa nach Ungarn holen", damit junge Leute für europäische Werte nicht das Land verlassen müssen, und votiert für einen Eintritt Ungarns in dieEuropäische Staatsanwaltschaft, eine unabhängige EU-Stelle, die unter anderem gegen Betrug, Korruption und Geldwäsche vorgeht. +Außerdem will sie gegen soziale Ungleichheit angehen (etwa indem sie dieRoma-Minderheitstärken will) und für eine nachhaltigere Umweltpolitik eintreten (etwa indem sie die mit einem russischen Kredit geplante Erweiterung des Atommeilers Paks verhindert). Die Opposition fordert bessere Löhne für Lehrer:innen (die in Ungarn gerade in Massen streiken) und Beschäftigte des Gesundheitssystems. +Sie kritisiert auch den Regierungskurs zuRusslands Angriffskrieg in der Ukraine: Orbán hatte zwar humanitäre Hilfe versprochen, aber Waffenlieferungen aus Ungarn und über ungarisches Gebiet verboten. Auf EU-Ebene stimmte Orbán für Sanktionen gegen Russland, die schmerzhaften gegen den russischen Energiesektor will er aber nicht unterstützen. Die Fidesz wolle den Wirtschaftspartner Russland nicht vergraulen, um kurz vor der Wahl den Bezug von Gas und Öl zu sichern, sagt das Oppositionsbündnis. +Doch auch Márki-Zay vertritt umstrittene Ansichten. Er plädiert für eine menschlicheFlüchtlingspolitik, will aber den Grenzzaun zu Serbien stehenlassen, den Orbán 2015 bauen ließ. Abtreibung ist für Márki-Zay Mord, seine Kinder mit Gewalt zu maßregeln sei in Ordnung, sich scheiden zu lassen aber nicht. Für queere Menschen dagegen stehe er nicht nur ein, er könne sie sogar vor der LGBT-feindlichen Politik der Fidesz "retten". Mal argumentiert Márki-Zay erzkonservativ und regressiv, dann wieder modern und zukunftsweisend. Manche finden diese Flexibilität legitim, vertritt Márki-Zay doch sechs Oppositionspartner, die teils grundverschiedene Politik machen wollen; andere finden Márki-Zay inkonsequent. +"Ich freue mich ehrlich gesagt, wenn der Sonntag vorbei ist", schreibt mein Kumpel Zoltán noch im Chat. Wie die Wahl ausgeht? "Ich glaube, MZP hat Chancen." Vielleicht könne er Orbán zumindest um seine Zweidrittelmehrheit bringen. "Aber zu viele Illusionen mache ich mir nicht." + +Titelbild: Akos Stiller/NYT/Redux/laif - Akos Stiller/Bloomberg/Getty Images diff --git a/fluter/markierung.txt b/fluter/markierung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/massarbeit.txt b/fluter/massarbeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/masseinheiten-andere-laender.txt b/fluter/masseinheiten-andere-laender.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/material-der-bpb-zur-bundestagswahl.txt b/fluter/material-der-bpb-zur-bundestagswahl.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..86b129b87cc4d2fedf601bc05919898a1ef0bf93 --- /dev/null +++ b/fluter/material-der-bpb-zur-bundestagswahl.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl 2017--------------------------------------------------Schon gespielt? Welche Parteien treten zur Bundestagswahl 2017 an? Was sind ihre Positionen – und was Eure?Mit dem Wahl-O-Mat findet Ihr es heraus +Wer steht zur Wahl?--------------------------------------------------Zur Bundestagswahl 2017 treten insgesamt 34 Parteien mit Landeslisten an. Aber wofür stehen sie so?Hier findet Ihr zu jeder Partei ein Kurzprofil. +Wahlkabine – der bpb-Podcast--------------------------------------------------Wahlkabine ist der Podcast der bpb zur Bundestagswahl 2017.In jeder Folge bitten wir Expertinnen und Experten vor das Mikro und sprechen mit ihnen über Parteien, den Wahlkampf, Wahlrecht und mehr. +Wahlbingo für Nichtwähler*innen--------------------------------------------------Kein Bullshit-, sondern ein Wahlbingo:Das Toolzeigt, welche Argumente es für das Nichtwählen gibt – und wie sie sich kontern lassen. +euro|topics-Presseschau: Deutschland wählt--------------------------------------------------Die Bundestagswahl ist auch bei unseren Nachbarn Thema. Was die europäischen Medien über die deutsche Wahl schreiben:Die euro|topics-Presseschau fasst es zusammen. +Webvideo-Formate zur BTW17--------------------------------------------------re:sponsive, Space Cabin und #erstewahl2017 – die bpb hat für ihreWebvideo-Reihen zur Bundestagswahlbei Youtubern wie den Space Frogs, Silvi Carlsson, Malternativ und Raúl Krauthausen angedockt. Von Wahl-Challenges bis zu sprechenden Politiker-Sockenhandpuppen sind so eine Menge bunte Videos entstanden. Es geht natürlich um das Wählen, aber auch um aktuelle Debatten und die Positionen der Parteien. +------------------------------------------------------------------------------------------Wahlhilfe-ToolWer zum ersten Mal wählt, findet das manchmal schwierig.Das Wahlhilfe-Tool in quietschgelber Optikführt deshalb Schritt für Schritt durch die Wahl.------------------------------------------------------------------------------------------ + +Aus Politik und Zeitgeschichte: Bundestagswahl 2017:Beiträge zur Bundestagswahl--------------------------------------------------Wie positionieren sich die Parteien auf den Feldern Steuerpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Integrationspolitik, Familienpolitik und innere Sicherheit?Diese APuZ-Sonderausgabebringt's in gewohnt wissenschaftlicher Manier auf den Punkt. Die Ausgabe gibt es nicht nur als PDF, sondern auch als EPUB. +Informationen zur politischen Bildung – aktuell:Bundestagswahl 2017--------------------------------------------------Einmal alles, bitte: Prinzipien und Ablauf der Wahl, ein Rückblick auf die vergangene Legislaturperiode und eine Analyse der Ausgangslage vor der Wahl,all das befindet sich in der auch online verfügbaren Info aktuell. +Spicker Politik Nr. 6: Bundestagswahl kurzgefasst--------------------------------------------------Spicken mit der bpb: Ohne Wahlen gäbe es keine Demokratie in Deutschland – so viel ist klar. Doch wie genau laufen Bundestagswahlen ab, was sind die Voraussetzungen, und was passiert nach der Stimmabgabe? Kurz und knapp erklärt der Spickerauf einer faltbaren A4-Seitedie wichtigsten Grundsätze zur kommenden Bundestagswahl. +Plakat in einfacher Sprache: einfach POLITIK: Bundestagswahl 2017--------------------------------------------------Übersichtlich und in einfacher Sprachezeigt das Plakat: Das sind die Aufgaben des Bundestages! So kann ich wählen! Das sind gute Gründe, an der Wahl teilzunehmen! + +Aktionen: Du hast die Wahl!--------------------------------------------------Aktionen der bpb zur Bundestagswahl 2017 in 32 Niedrigwahlbereichen – vielleicht auch bei Euch!Hier geht's zur Übersicht. +Workshop: Miteinander reden--------------------------------------------------20.09.2017 | DemminHingehen, hinschauen, hinhören: Miteinander, nicht übereinander reden – das ist der Leitgedankedes Dialogprojekts. Redakteure der "ZEIT" und der lokalen Presse diskutieren mit Demmin über Politik im Wahljahr, die Unterschiede zwischen Stadt und Land und wie eine Kommune tickt. +Wahl-O-Mat zum Aufkleben--------------------------------------------------Der"Wahl-O-Mat zum Aufkleben"geht auf Tour: Zusammen mit elf Landeszentralen für politische Bildung bringt die bpb den Wahl-O-Mat auf die Straßen, Plätze und in die Schulen der Bundesrepublik. diff --git a/fluter/mathe-bachelor-erfahrung.txt b/fluter/mathe-bachelor-erfahrung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f4aa8e4e3732d8c938f8184538f89c119a90ad0d --- /dev/null +++ b/fluter/mathe-bachelor-erfahrung.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Mathe ist hart, da gab es längst keine Zweifel mehr. Und diese Härte hat Folgen: 58 Prozent der Studierenden brechen ihr Bachelorstudium an Universitäten vorzeitig ab. Warum also tat ich mir das überhaupt an? +Eigentlich begann die Geschichte harmlos: Weil ichMathe als Jugendlicherweniger schlimm fand als andere Fächer, entschied ich mich für den Leistungskurs. Und nachdem ich auch dort keine größeren Probleme hatte, landete ich an der Marburger Philipps- Universität: Mathematik und Philosophie auf Gymnasiallehramt. Am Anfang meiner persönlichen Mathefunktion stand also jugendliche Intuition. +Das Studium veränderte mein Denken. In meinem Kopf ging es mitunter äußerst abstrakt zu: Überall sah ich Formen und Formeln. Oft rechnete ich Beträge beim Einkauf schneller aus als die Kasse. Ich lernte, Probleme zu lösen, indem ich alle möglichen Sachverhalte in die Sprache der Mathematik übersetzte. Das heißt: Man verallgemeinert und vergleicht, man klassifiziert und konkretisiert. Ja, ich wurde zum Freak. +Weiterlesen: +Viele Kommilitoninnen hatte unser Autor wahrscheinlich nicht.Warum ist das so? Und woher kommt das Klischee Mathematik sei nichts für Frauen? +Ich versuchte sogar, mein Umfeld mit dem Mathevirus zu infizieren, vergebens. Wurde ich auf Unipartys gefragt, was ich denn studiere, verschwieg ich das mit den Zahlen irgendwann lieber – einfach um einen schönen Abend zu haben. Schließlich gilt man schnell als Nerd. +Der große Universalgelehrte Galileo Galilei glaubte, dass "das Universum in der Sprache der Mathematik geschrieben" sei. Ich habe während meines Studiums unzählige Stunden mit den Fibonacci-Zahlen, der ebenso magischen Kreiszahl Pi oder dem Umgang der Mathematik mit der Unendlichkeit verbracht. Bei alledem tauchte immer wieder die Frage auf: Hatte Galilei recht – oder ist die Mathematik doch nur eine Kopfgeburt, wenngleich eine sehr ausgefuchste? +Solch spannende philosophische Fragen aber wurden im Mathestudium nicht diskutiert – man kann dabei schließlich weder rechnen noch etwas beweisen. Für mich blieb die Mathematik daher leider in ihrem eigenen System gefangen. Besser aufgehoben war ich in meinem anderen Studienfach. Auch dafür ist Logik wichtig – und doch ist Philosophie so viel mehr: Sie stellt sich selbst infrage und kommt aphoristisch daher, sie ist politisch, kreativ – und lässt den Studierenden Freiheiten. +Je mehr mich die Philosophie faszinierte, desto schwieriger war es, mich für Mathe zu begeistern. Meinen Abschluss habe ich nach einigen Semestern Unipause dennoch gemacht. Am Ende war es weniger meine Faszination als mein Ehrgeiz, der mich dorthin brachte – aber nicht weiter. Nach dem Studium bin ich weder Lehrer geworden, noch habe ich mich weiter mit Mathe befasst. Vielmehr bin ich endlich meiner Leidenschaft gefolgt. Irgendwann muss eine jugendliche Entscheidung ja auch mal ein Ende finden. Nach echten Punkten, konkaven Vielecken und Fibonacci-Zahlen freilich halte ich noch immer Ausschau. diff --git a/fluter/mathe-musik-zusammenhang.txt b/fluter/mathe-musik-zusammenhang.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c6c554377bc72458f8777c168113e385f4abb739 --- /dev/null +++ b/fluter/mathe-musik-zusammenhang.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Auch andere Kulturen musizieren mit einem Tonsystem aus Grundtönen und als harmonisch empfundenen Abständen, die sich in den Einzelheiten aber stark unterscheiden: Während sich die europäische Oktave in zwölf Halbtonschritte unterteilt, besteht die arabische wahlweise aus 17, 19 oder 24 ungleichmäßigen Intervallen. Diese Vierteltöne erscheinen uns in Europa fremd. Noch anders funktioniert es in chinesischen, indischen oder afrikanischen Tonsystemen südlich der Sahara. +Musiker sind Mathematiker, manchmal ohne es zu wissen. Sie bauen komplexe Strukturen aus Melodien und Harmonien, Takten und Tonarten. Denkt man sich in ihre Systematik hinein, ist Musik eine Anordnung von Zahlenreihen, Zählweisen und proportionalen Verhältnissen. Je nachdem, wie lang ein Ton gespielt wird, gibt es wie beim Bruchrechnen in der Schule ganze, halbe, Viertel-, Achtel- und Sechzehntelnoten. Und je nachdem, wie groß die Abstände zwischen den einzelnen Tönen auf einer Tonleiter sind (oder genauer: wie viele Halbtöne zwischen einem Dreiklang liegen), klingt ein Stück hell, klar und fröhlich (Dur) oder eher dunkel und traurig (Moll). +Daraus ergeben sich sehr, sehr viele Kombinationsmöglichkeiten. Dass die Songs im Radio dennoch oft ziemlich gleich klingen, hat damit zu tun, dass sich ganz gut berechnen lässt, welche Formeln und Muster uns an Musik berühren. Forscherinnen und Forscher haben einige Akkordfolgen identifiziert, die die Basis vieler Songs sind, die zu Hits wurden. Lenas "Satellite" oder Helene Fischers "Atemlos" folgen dem "Four-Chord"-Schema C-Dur / G-Dur / a-Moll / F-Dur. Auch die Beatles setzten schon auf dessen Ohrwurmqualität. +Nichts verpassen? Mit unseremNewsletterbekommst du alle zwei Wochen fünf fluter-Highlights +Berührend kann aber auch ein plötzlicher Lautstärkewechsel sein. Oder sogenannte Synkopen, wie sie oft in Jazz, Funk und Reggae vorkommen: Diese Musik empfinden wir nur deswegen als schwungvoller und weniger mechanisch, weil der Rhythmus anders als beim starren Viervierteltakt der Marschmusik leicht verschoben ist – beziehungsweise die Betonung zwischen den Taktschwerpunkten liegt. Es wird also einfach anders gezählt. Mit der Disco- und elektronischen Tanzmusik erlebte aber der gleichmäßig betonte Rhythmus als "4-to-the-floor" ab den Siebzigern ein Revival. +Wichtig ist natürlich auch, wie schnell oder langsam ein Song ist. Wer sich von Musik antreiben lassen will – beim Joggen oder auf einer Dubstep-Party –, hört am besten 140 Beats per minute, kurz BPM. Härterer Techno in den Clubs ist mit 160 BPM etwas schneller. Herzmassagen funktionieren mit dem Rhythmus von Songs mit einem Tempo von 100 bis 120 BPM besonders gut, also etwa mit "Stayin' Alive" von den Bee Gees oder "Dancing Queen" von Abba. +Zwischen 2012 und 2017 wurden die meisten Popsongs immer langsamer: Das durchschnittliche Tempo der 25 erfolgreichsten Tracks auf Spotify ging von 113,5 auf 90,5 BPM zurück.Erklären kann man das unter anderem mit der kulturellen Dominanz von Hip-Hop,der schon immer langsamer war als andere Genres. Zudem wurden zwischenzeitlich viel mehr Songs in Moll- als in Dur-Tonarten geschrieben als zum Beispiel in den Sechzigern. +Mittlerweile scheint sich der Trend aber wieder umzukehren: Heute liegt das durchschnittliche Tempo von erfolgreichen Songs auf Spotify wieder bei 122 BPM. Die Vermutung ist, dass härtere Zeiten auch dazu führen können, dass wir uns mit positiven, schnellen Songs ablenken wollen. +Auch außerhalb der Musiklehre spielen Zahlen in der Popmusik eine große Rolle, weil technische Veränderungen sie stets genauso prägten wie die kreativen Entscheidungen der Musiker. Dass die meisten Popsongs um die drei Minuten dauern, ist kein Zufall: Song- und Albumlängen (und damit auch ihr Aufbau) veränderten sich mit den Speichermedien. Auf eine Schallplatte passte früher eben nur eine begrenzte Länge: zum Beispiel rund viereinhalb Minuten auf eine Sieben-Inch-Single bei 45 Umdrehungen pro Minute. Mit der Weiterentwicklung der Tonträger wurden Popsongs bis in die Neunziger immer länger und mit üppigeren Intros und Bridges ausgestattet. Seit ein paar Jahren – mit dem Erfolg von Spotify undTikTok– werden sie wieder viel kürzer. Etwa 80 Prozent der meistgestreamten Songs sind heute unter vier Minuten lang.Wer nicht geskippt werden will, muss schnell zum Punkt kommen. + +Titelbild: Elina-Alem Kent diff --git a/fluter/mathe-nachhilfe-mathematricks-scherer.txt b/fluter/mathe-nachhilfe-mathematricks-scherer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..32582fa6fd59b304735dee6ffe3e2160808d41d6 --- /dev/null +++ b/fluter/mathe-nachhilfe-mathematricks-scherer.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Wie ließe sich denn Mathe lebensnäher vermitteln? +Eine Möglichkeit wäre, Leute vom Fach in die Schule einzuladen. Input aus der Realität würde den Schülern zeigen, wofür sie Mathe später brauchen. Ich könnte mir zum Beispiel einen Vortrag von einem Steuerberater gut vorstellen, das kommt in der Schule zu kurz. +Das ist ja auch eine häufige Kritik am Matheunterricht. Statt sich lebensnah mit der Steuererklärung auseinanderzusetzen, muss man zum Beispiel Vektoren lernen. Braucht man das später im Leben überhaupt noch mal? +Kann schon sein. Tatsächlich hat mich neulich eine Freundin angerufen, die sich von mir die Vektorenrechnung erklären ließ. Sie brauchte diese für eine Arbeit in Psychologie. In einem Kommentar unter meinem Video stand mal: "Von allem, was man lernt, braucht man irgendwann nur noch 20 Prozent. Aber man weiß jetzt nicht, welche 20 Prozent." +Welche Rückmeldungen bekommst du, was Schülerinnen und Schüler am Matheunterricht in der Schule stört? +Meist liegt das Problem gar nicht am Thema, sondern an den Grundlagen. Die wenigsten können zum Beispiel so etwas wie ein halb plus ein Drittel im Kopf rechnen. Oft erzählen mir die Leute, dass die Lehrer die Basics nicht noch einmal erklären. Lehrkräfte sollten jedoch nicht voraussetzen, dass jemand das Wissen aus der fünften Klasse in der zehnten Klasse noch beherrscht. Das geht einfach verloren, und das ist normal. +Siehst du darin auch einen Grund, warum so viele Angst vor Mathe haben? +Wer Mathe gut kann, gilt als intelligent. Ist das nicht der Fall, wird man schnell als dumm abgestempelt. Ich glaube, das hemmt viele, Fragen zu stellen. Gleichzeitig ist Mathe ein abstraktes Fach, das oft wenig mit unserem Alltag zu tun hat. Viele fragen sich: "Wozu soll ich das machen?" Sie fühlen sich gefangen in diesem System und müssen da irgendwie durch. Besonders fehlt vielen derBezug zur Realität im Matheunterricht. +Was versuchst du, in deinen Videos besser zu machen? +Ich versuche, alles sehr ausführlich Schritt für Schritt zu erklären. Außerdem spreche ich langsam, damit alle mitkommen. Einer hat einmal geschrieben: "Du erklärst es so, als wäre man ein bisschen dumm, aber das ist perfekt." Die Wortwahl, die ich benutze, ist nicht besonders wissenschaftlich, denn Leute können sich unter einer "Hochzahl" viel mehr vorstellen als unter einem Exponenten. Mir ist es wichtig, dass ich mit meiner Sprache niemanden abschrecke. Ich merke auch, dass Matherätsel vielen Spaß machen. Sie können knobeln, lernen nebenbei noch viel Mathematik und merken es gar nicht. Es ist wie ein Exit-Game, bei dem man den Satz des Pythagoras braucht oder Primzahlen wissen muss. diff --git a/fluter/matt-green-fussgaenger-new-york.txt b/fluter/matt-green-fussgaenger-new-york.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..370e718acb4cf3d93645ae3d37bbc27dc3010469 --- /dev/null +++ b/fluter/matt-green-fussgaenger-new-york.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Dieser Text istim fluter Nr. 92 "Verkehr"erschienen +Green hat es nicht eilig: Er interessiert sich für fast alles: Gullydeckel, Hydranten, Friseursalons, Fassaden und Gedenktafeln, auch für die Müllwerker und Gassigängerinnen, die ihm unterwegs begegnen. "So viele Dinge sind unsichtbar für die Menschen, die nicht zu Fuß gehen", sagte er in einem Dokumentarfilm, der 2018 über ihn erschien. Weil Green diese Dinge akribisch fotografiert, aufschreibt undin seinem Blog "I'm Just Walkin'"dokumentiert, ist er seinem Zeitplan um einiges hinterher. +In diesen Tagen wird er fertig mit seiner Stadttour. Über 16.000 Kilometer wird er abgespult haben, 3.000 mehr als geplant. Denn mit einem hatte Green nicht gerechnet: dass New York jeden Tag größer wird. + +Titelbild: Jens Umbach/laif – Matt Green diff --git a/fluter/matthias-gnehm-salzhunger-comic-wirtschaft.txt b/fluter/matthias-gnehm-salzhunger-comic-wirtschaft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cbbe9e007f5de626553dfad0bad3c67a19f695fd --- /dev/null +++ b/fluter/matthias-gnehm-salzhunger-comic-wirtschaft.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Mitten in seinem Tief erreicht ihn ein Jobangebot: Die NGO "Erzfeind" will Beder für eine konspirative Aktion in Nigeria gewinnen. In Lagos wird ein Schiff des internationalen Rohstoffkonzerns Boromondo erwartet, an Bord: irgendwelche Ökoschweinereien. Benzinschlacke, Giftmüll, man weiß es nicht genau, aber das Zeug soll im Ölförderland Nigeria unauffällig beseitigt werden. Erzfeind will die Lieferung mit einem kleinen Team dokumentieren und damit dann viral gehen.Umweltaktivismusim Zeitalter der Aufmerksamkeitsökonomie. +Der Titel "Salzhunger" ist dabei minimal irreführend. Um Salz geht es nicht in dieser Graphic Novel, oder noch besser: in diesem Graphic Wirtschaftsthriller, wohl aber – und deswegen nur "minimal" – um die vernichtende Gier nach Rohstoffen. Und wie diese dazu beiträgt, dass westliche Konzerne auch im postkolonialen Zeitalter noch den globalen Südenausbeuten. + +Dicke Striche, dicke Probleme: Auszug aus dem Comic "Salzhunger" + +Seit mehr als 60 Jahren wird im Nigerdelta im Süden Nigerias Erdöl gefördert, das Land gehört zu den zehn größten Exportnationen der Welt. Doch von diesem Reichtum profitieren internationale Konzerne wie Shell und Exxon mehr als die nigerianische Bevölkerung, von der etwa 70 Prozent unter der Armutsgrenze leben. Die Ölförderung führt zudem zumassiver Umweltverschmutzung, etwa in den Mangrovenwäldern des Deltas, zur Vertreibung der dort lebenden Bevölkerung und zu bewaffneten Konflikten. Weil es in Nigeria zu wenige Raffinerien gibt, muss Benzin sogar importiert werden – von den Ölkonzernen. +Vor diesem Hintergrund spielt "Salzhunger" und ist damit natürlich hochpolitisch, ohne ein didaktischer Aufklärungscomic zu sein. Von einer tatsächlich ungelenken, recht erklärbärigen Sequenz abgesehen werden die genannten Zusammenhänge nicht groß ausgeführt, sie sind einfach Realität. Wie der Protest gegen das Neubauprojekt, für das ein ganzes Stadtviertel von Lagos plattgemacht wurde. Die vertriebenen Bewohner besetzen die Baustelle, ihr Widerstand wird von der Polizei mit Schusswaffen bekämpft. +Matthias Gnehm: "Salzhunger", Edition Moderne, 224 Seiten +Dem Storytelling tut dieser nichtdidaktische Weg sehr gut. Wobei "Salzhunger", so wie jeder gute Wirtschaftsthriller, anfangs mit zahlreichen Personen und Handlungssträngen verwirrt, die erst nach und nach zueinander finden. (Vorteil eines Comics: Wenn man den Überblick verliert, kann man einfach noch mal zurückblättern.) Mit dabei sind die obligatorischen skrupellosen Konzernmitarbeiter und korrupten Polizisten, doch ist – und da wird das Ganze interessant – die NGO nicht viel besser: Bei Erzfeind wird ein Machtkampf ausgetragen, denn auch bei den Guten zählen Effizienz und Erfolg, die man mittels Intrigen und Verrat erreichen kann. Das wird spätestens klar, als herauskommt, dass in den Reihen von Erzfeind ein Maulwurf operiert, der mit Boromondo zusammenarbeitet. Da nimmt die Geschichte so Fahrt auf, dass man leicht zu schnell blättert und die Zeichnungen von Matthias Gnehm nicht angemessen würdigt. +Was schade wäre. Vor allem seine Darstellungen von Infrastrukturprojekten, von verstopften Straßen, von Industriegebieten und anderen Nichtorten sind oft seitenfüllend inszeniert und grandios. Gnehms präziser Blick auf das Urbane hat sich in einem Architekturstudium geschult, gleichzeitig haben seine ruppigen, dicken Striche und die düstersatte Kolorierung mit Pastellkreide einen ungeschlachten, expressionistischen Touch. Das verstärkt die zunehmende Drastik der Handlung. +Die bleibt vielschichtig und dicht – auch weil Gnehm sich bis zum Schluss den Abgründen von Arno Beders Seele widmet. + +Matthias Gnehm: "Salzhunger". Edition Moderne, Zürich 2019, 224 Seiten, 32 Euro diff --git a/fluter/mbuki-mvuki.txt b/fluter/mbuki-mvuki.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5e63666b6b346507c249b3b323adf24939cf49e5 --- /dev/null +++ b/fluter/mbuki-mvuki.txt @@ -0,0 +1 @@ +Natürlich muss man sich fragen, inwieweit Sprache rassistisch ist oder soziale Konstruktionen verstärkt. Von Weißen und Schwarzen zu sprechen ist schon komisch, denn richtig schwarz oder weiß ist ja niemand. Diese Kategorisierung ist wissenschaftlich untragbar und diskriminierend. Meist gibt es auch überhaupt keinen Grund, zu sagen, ob ein Mensch weiß oder schwarz ist. Da es in diesem Heft aber u.a. um Rassismus, unterschiedliche Sozialisationen und Erfahrungen geht, spielt es hier eben doch eine Rolle. Deshalb benutzen wir an manchen Stellen die Wörter schwarz und weiß. Der Lesbarkeit wegen schreiben wir sie klein – wohl wissend, dass diskutiert wird, sie groß zu schreiben, um zu zeigen, dass es keine biologischen Begriffe sind. diff --git a/fluter/medizin-studieren-im-ausland.txt b/fluter/medizin-studieren-im-ausland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3699ce74fbe2d8777938afe6cb58f0749ff5d6d5 --- /dev/null +++ b/fluter/medizin-studieren-im-ausland.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Dabei fehlen in Deutschland Mediziner:innen. Um das jetzige Niveau an medizinischer Versorgung aufrechtzuerhalten, bräuchte es bis 2040 rund 50.000 zusätzliche Ärzt:innen. Das hat das Zentralinstitut für kassenärztliche Versorgung (Zi) berechnet. Die Bevölkerung wird immer älter, zugleich arbeiten immer mehr Ärzt:innen in Teilzeit oder gehen in den Ruhestand. Und: In den vergangenen Jahren wurden zu wenig Fachkräfte ausgebildet. +FürKinder aus Nicht-Akademikerhaushaltensind die Hürden für ein Medizinstudium in Deutschland besonders hoch. Bei Medizinstudierenden haben im Vergleich zu anderen Studienfächern besonders häufig beide Elternteile einen Uniabschluss, 45 Prozent der befragten Medizinstudierenden geben das an. Bei 74 Prozent der Zahn- und Humanmedizinstudierenden hat demnach mindestens ein Elternteil einen Hochschulabschluss. Ungefähr 12.000 zulassungsbeschränkte Studienplätze in Allgemeinmedizin gibt es pro Jahr in Deutschland. Darauf bewerben sich 50.000 Menschen. Viele Studierende wie Chiara zieht es daher ins Ausland, wo es keinen NC gibt. Nach Angaben der Bundesregierung sind aktuell 7.700 Medizinstudierende im Ausland eingeschrieben. Dass es so wenige Medizinstudienplätze gibt, liegt laut Bildungsforscher Gero Federkeil vom Centrum für Hochschulentwicklung auch daran, dass sie zu den teuersten gehören. Neben den Studienplätzen an Hochschulen braucht es zudem auch Kapazitäten in Krankenhäusern, wo ein großer Teil der praktischen Ausbildung stattfindet. +Seit 2019 wurden 960 zusätzliche Studienplätze geschaffen, neue Medizinfakultäten wie in Oldenburg oder Bielefeld sind im Aufbau. Trotzdem zeigen Prognosen, dass die Zahl der Absolvent:innen in den nächsten Jahren weiter nicht ausreichen wird, um den Bedarf an Ärzt:innen zu decken, sagt Federkeil – selbst, wenn man Auslandsstudierende dazurechnet. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach fordert die Länder auf, 5.000 neue Medizinstudienplätze zu schaffen. Bis wann ist allerdings unklar. Und auch diese Plätze würden nicht ganz ausreichen, um das Fachkräfte-Problem aufzufangen, sagt Federkeil, zumal viele Absolvemnt:innen nach dem Abschluss nicht als Ärzt:innen in Deutschland arbeiteten. +Bei den Auswahlverfahren hat sich in den vergangenen Jahren hingegen ein wenig getan: Über die sogenannte Landarztquote können auch Menschen ohne Abitur Medizin studieren – wenn sie sich für zehn Jahre verpflichten, in einer besonders unterversorgten Region zu arbeiten. Seit 2020 werden über die "zusätzliche Eignungsquote" zehn Prozent der Studienplätze unabhängig von den Schulnoten vergeben. Zur Eignung zählen dabei etwa ein Medizinertest oder bestimmte Berufserfahrungen. Generell seien die Fakultäten offener geworden, die Auswahlverfahren zum Beispiel stärker an die sozialen Kompetenzen der Bewerber:innen zu knüpfen, sagt Attila Altiner, Vorstandsvorsitzender der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung. Trotzdem ist der Großteil der staatlichen Medizinstudienplätze noch immer an schulische Leistungen gebunden. +"Es war schon lange mein Traum, Medizin zu studieren", erzählt Chiara Kölblin bei einem Rundgang über den Campus der Uni in Varna. Seit einemFreiwilligen Sozialen Jahrim Krankenhaus und einem Praktikum in der Neugeborenenstation kann sie sich nichts anderes mehr vorstellen, als Ärztin zu werden. Mit einem Abi-Schnitt von 1,7 blieb ihr damals nur eins: ewig warten – oder im Ausland studieren. Ein Studium an einer Privatuni in Deutschland wäre finanziell nicht stemmbar gewesen. Die Preise variieren, zwischen 10.000 und 30.000 Euro pro Jahr müssen viele Studierende dafür hinblättern. +Das Studium in Varna hingegen kostet Chiara jährlich etwa 8.000 Euro, dazu kommen Kosten für Wohnung und Essen. Andere Medizinstudiengänge im Ausland, etwa in Ungarn oder Österreich, sind teurer. Viele Eltern der deutschen Studierenden sind Ärzt:innen, Chiaras Eltern beide Beamte. Trotzdem hätten sie sich das Studium ihrer Tochter ohne ein Stipendium nicht leisten können, sagt sie. Bildungsforscher Gero Federkeil erklärt: "Die Politik lagert beim Auslandsstudium die teuren Ausbildungskosten auf die Studierenden aus." In der Tat spart Deutschland über die gesamte Ausbildungszeit mehr als 200.000 Euro pro Studienplatz, wenn Medizinstudierende auf eigene Faust ins Ausland gehen. +Mit dem Stipendium, einem Nebenjob und Unterstützung ihrer Eltern kommt Chiara gerade über die Runden. In Bulgarien ist der Lebensunterhalt vergleichsweise günstig: 290 Euro im Monat zahlt sie für ein Zimmer in einer Dreier-WG, für Essen und Trinken gibt sie im Monat etwa 150 Euro aus. Die zumindest vergleichsweise geringeren Kosten sind neben der modernen Ausstattung der Uni ein Grund für viele Studierende, sich für den Studiengang in Varna zu entscheiden. Ein weiterer glitzert direkt neben Chiara und ihrem Iced Latte für 2,50 Euro im Strandcafé. Türkisblau funkelt das Wasser des Schwarzen Meers in der Sonne. "Der Strand ist der Wahnsinn", sagt Chiara etwas wehmütig. Sie wechselt nach dem Sommer ins Praxissemester in Deutschland und in der Schweiz. +Doch trotz der schönen Seiten Varnas wären Chiara und ihre Kommiliton:innen am liebsten schon früher nach Deutschland zurückgekehrt – oder gar nicht erst hergekommen. Das ständige Hin- und Her zwischen Deutschland und Bulgarien, um Familie und Freunde zu sehen, kostet enorm viel Kraft und Geld. Gerade der Winter sei trist, sagt Chiara, und ihr biete die Stadt zu wenig Abwechslung. Der Kontakt mit Patient:innen im Universitätskrankenhaus sei durch die Sprachbarriere auch schwierig, selbst wenn die Medizinstudierenden während der ersten drei Jahre Bulgarisch-Unterricht bekommen. Mit den bulgarischen Medizinstudierenden gebe es wenig Austausch, aber auch keine Probleme. +"Ich habe bisher nur gute Erfahrungen mit deutschen Studierenden gemacht", sagt Kristyjana, eine bulgarische Medizinstudentin aus Varna. Sie würde sich nur mehr Kontakt wünschen, die Deutschen seien viel unter sich. Konkurrenzdenken gebe es jedoch nicht, sagt Kristyjana: Sie studieren im englischen Studiengang, der viel teurer ist als der bulgarische – damit finanzierten die internationalen Studierenden die Bulgar:innen mit. Das ist eine Hochschulpolitik, die Bulgarien schon seit dem Jahr nach seinem EU-Beitritt gezielt verfolgt. Doch: Ärzt:innenmangel gibt es auch in Bulgarien, deshalb zieht es viele Bulgar:innen nach Westeuropa– aus finanziellen Gründen, aber auch, weil die Plätze für die Facharztausbildung knapp sind. +Am bulgarischen Goldstrand feiern die Studierenden ihre letzten Tage am Meer. Erste Tränen fließen, Party-Stimmung mischt sich mit Abschiedsschmerz. Sogar Chiara ist dabei, die den Goldstrand eigentlich nicht mag. Aber heute feiert sie mit, schließlich hat sie ihre Prüfung bestanden. Und obwohl sie sich auf Deutschland freue, sagt sie: "Varna wird mir fehlen." + +Illustration: Alexander Glandien diff --git a/fluter/meer-grenzen-staaten-streit.txt b/fluter/meer-grenzen-staaten-streit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c025b5dbcd2eaa53364204d1bf21f063596be5e1 --- /dev/null +++ b/fluter/meer-grenzen-staaten-streit.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Wer Meere kontrolliert,kontrolliert Handelsrouten. Besonders verletzlich sind sie an Meerengen. Das wissen auch die Anrainer. So betreibt etwa der Iran gern Außenpolitik mit der Drohung, die für den weltweiten Öltransport zentrale Straße von Hormus im Persischen Golf zu blockieren. Eigentlich regelt das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1982 sehr präzise, wann Staaten welche Nutzungsrechte am Meer und seinen darin- beziehungsweise darunterliegenden Rohstoffen haben. Dass dennoch immer wieder Streitigkeiten über Hoheitsrechte und Meeresgrenzen ausbrechen, liegt auch daran, dass nicht alle Staaten das Abkommen unterzeichnet haben. +Die Türkeibeispielsweise beansprucht einen Teil des östlichen Mittelmeers, unter dem vor ein paar Jahren gewaltige Erdgasvorkommen entdeckt worden sind, für sich – obwohl das Gebiet laut UN-Recht in Teilen den griechischen Inseln zuzurechnen wäre. Wegen der Förderrechte ist sogar eine militärische Konfrontation zwischen Athen und Ankara denkbar,also zwischen zwei NATO-Partnern. +In vielen Streitfällen geht es jedoch um mehr als um die Sicherung von Fischgründen oder den Zugang zu Rohstoffreserven unter dem Meer. Zum Beispiel im Südchinesischen Meer, auf das China zu weiten Teilen den alleinigen Anspruch erhebt. Ein Blick auf die Landkarte verdeutlicht das geostrategische Interesse Pekings: Die meisten Nachbarn im Südchinesischen Meer sind Verbündete der USA, also potenziell feindlich gesinnte Staaten, die Chinas freien Zugang zu den Weiten des Pazifiks einschränken. +Bei den Spratly-Inseln streitet sich China daher auch mit Ländern wie Vietnam, den Philippinen, Taiwan, Malaysia und Brunei um die Hoheitsrechte. Einen Schiedsspruch aus Den Haag, der Chinas Anspruch auf die Spratly-Inseln zurückweist, erkennt Peking nicht an. Die USA wiederum betrachten den Pazifik seit dem Zweiten Weltkrieg als eine Art Hinterhof, in dem sie wichtige Seewege schützen und mit Ländern wie Australien, Japan und Südkorea wirtschaftlich und militärisch verbunden sind. +Nach Einschätzung des renommierten Thinktanks Council on Foreign Relations gibt es weltweit aktuell nur fünf weitere Konflikte, die die Supermacht USA so herausfordern wie Chinas Expansionskurs im Südchinesischen Meer. Einer davon ist der Krieg in der Ukraine. Womit wir wieder bei Russlands geostrategischen Zielen in der Schwarzmeerregion wären. Nach Mariupol und Cherson will Putin auch noch die dritte wichtige ukrainische Hafenstadt Odessa einnehmen. 65 Prozent aller ukrainischen Exporte und Importe laufen über die Region Odessa, davon viel Getreide, das essenziell für die weltweite Ernährungssicherheit ist. Auch hier gilt: Wer die Hafenstädte beherrscht, hat große Macht. diff --git a/fluter/meer-handel-container-offshore.txt b/fluter/meer-handel-container-offshore.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c1f63c0d25516c5e0349ea2b1e66a9da2897b17f --- /dev/null +++ b/fluter/meer-handel-container-offshore.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Der Seeweg ist mit Abstand der billigste, um Waren zu transportieren. Mit einer Besatzung von gerade mal 20 Personen kann ein Schiff bedient werden, das über eine Ladekapazität von mehreren Tausend Lkw verfügt. Das gleicht aus, dass Frachtschiffe nicht die Schnellsten sind: Um den Atlantik zu überqueren, brauchen sie eine knappe Woche, die Strecke von Nordchina in die Nordsee kann schon mal 50 Tage und länger dauern. Doch dafür müssen eben keine Autobahnen gebaut, keine Schienen verlegt, kein Gebirge überwunden werden – das Meer ist wie eine gigantische Straße, die die Hafenstädte miteinander verbindet. Was im Umkehrschluss auch bedeutet: Wer keinen Meereszugang hat, ist von diesen billigen Warenflüssen abgeschnitten und hat wirtschaftliche Nachteile. Nur 45 der nach UN-Zählung weltweit 193 Staaten sind Binnenländer, aber sieben der zehn ärmsten Staaten. +Allerdings limitieren Meerengen Schiffe auf ihrer Reise. Zu den bedeutendsten gehören, neben dem Suezkanal, der ebenfalls menschengemachte Panamakanal, der Schiffen auf dem Weg vom Atlantik in den Pazifik eine 15.000 Kilometer lange Umfahrung von Südamerika erspart, sowie die Straße von Malakka vor Singapur. Die Abmessungen der Hafenbecken und der Meerengen begrenzen die Schiffe bei ihrem Wachstum, vor allem der Tiefgang der Schiffe spielt hier eine Rolle. Doch im Zweifel werden diese Zufahrtswege eben verbreitert oder tiefer ausgebaggert, wie schon diverse Male mit der Elbe zwischen der Nordsee und dem Hamburger Hafen geschehen. +So hat sich das Seefrachtaufkommen allein zwischen 1970 und 2020 vervierfacht. Das aktuell größte Schiff der Welt, die im Juni 2022 vom Stapel gelaufene "Ever Alot", kann 24.004 Zwanzig-Fuß-Container (TEU) laden. Trotz solch riesiger Schiffe ist die Transportbranche nicht einmal der umsatzstärkste maritime Wirtschaftszweig. Von den rund 1,7 Billionen Dollar, die weltweit jährlich auf und mit den Meeren verdient werden, entfällt fast die Hälfte auf die Offshore-Förderung von Öl und Gas mithilfe von gigantischen Bohrplattformen. Um die 200 dieser Inseln schwimmen oder stehen aktuell in den Ozeanen und holen fossile Brennstoffe aus dem Meeresboden, meist aus dem Tiefwasserbereich von mehr als 400 Metern – insgesamt circa ein Drittel der weltweiten Gesamtfördermenge. Neben demBeitrag zur Erderwärmung, der durch die Verbrennung von Öl und Gas entsteht, sind diese Offshore-Förderanlagen auch sonst ein Umweltproblem: Gibt es ein Leck bei der Förderung, strömt Öl direkt ins Meer, mitunter viele Millionen Liter. +Und das Öl treibt auch die Frachtschiffe an. Die sind damit für annähernd drei Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich. Rechnet man die Emissionen allerdings auf CO2-Ausstoß pro Kilometer, den eine Tonne Fracht zurücklegt, stehen Schiffe mit acht Gramm CO2 deutlich besser da als Flugzeuge (665 Gramm), Lkw (110) oder sogar Bahnen (35). Allerdings lassen sich die Ozeanriesen, anders als Autos und Züge, für längere Fahrten absehbar noch nicht auf einen Elektroantrieb umstellen. Vielversprechend sind daher auch Studien zu großen Frachtseglern, die ihre Ladung windgetrieben übers Meer transportieren sollen. diff --git a/fluter/meeresrausch.txt b/fluter/meeresrausch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/megalager.txt b/fluter/megalager.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..334c723cc397b08fb1b21aeb4f3716b8a90215b3 --- /dev/null +++ b/fluter/megalager.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Anders als in Dadaab: Das Flüchtlingslager im Osten Kenias hat sich seit 1992 gewandelt, von einer provisorischen Zeltstadt, gedacht für nicht einmal 100.000 Menschen, zu einer Großstadt, in der zeitweise mehr als eine halbe Million Menschen leben. Dadaab verfügt neben Hütten über befestigte Häuser, Geschäfte, Werkstätten, sogar einen Busbahnhof. Koordiniert vom UN-Flüchtlingshilfswerk und mehreren Camp-Managern, die so etwas sind wie die Bürgermeister der Stadt, arbeiten in Dadaab derzeit 25 Hilfsorganisationen. So kümmerte sich die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) um medizinische Untersuchungen in der Aufnahmestelle des Camps, CARE verteilte Lebensmittel, die Internationale Orga-nisation für Migration (IOM) transportierte die Flüchtlinge von der somalischen Grenze ins Lager. Trotz der bitteren Armut sollen die dortigen Krankenhäuser und Schulen besser sein als in manch anderer kenianischen Stadt. Die Kritik der internationalen Hilfsorganisationen an der geplanten Schließung war deshalb auch groß, nun soll es ein "freiwilliges" Rückführungsprogramm geben. Aktuell bespricht die UN mit der somalischen Regierung, wie ein solches Programm aussehen könnte. Bei einem Testlauf, der im Dezember begann, konnten bislang allerdings erst 2.000 Menschen nach Somalia zurück-gebracht werden. +Aber eins steht fest: Zurück wollen die wenigsten – zumal nicht wenige in Dadaab geboren wurden und nichts anderes kennen als die Lagerstadt. diff --git a/fluter/mehr-rechte-fuer-tiere.txt b/fluter/mehr-rechte-fuer-tiere.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e6558c5cd54dfc9946875067c8014db0c3df11ab --- /dev/null +++ b/fluter/mehr-rechte-fuer-tiere.txt @@ -0,0 +1,33 @@ +Ist das Haustier also auch nur ein Nutztier, das dem Menschen einen Dienst erweist? +Schon, obwohl die Vorstellung vom Tier als Familienmitglied populärer wird. Aber auch in einer Familie gibt es ja Ungleichheit, Egoismus und Instrumentalisierung. Allerdings war der soziale Status von Haustieren nie so hoch wie heute. +Zweck des Tierschutzgesetzes ist es, "aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen". Wird dieses Gesetz nicht täglich gebrochen? +Hier spitzt sich die Ambivalenz zu. Wenn man die Regelungen für das Halten von Hunden und Schweinen vergleicht, könnten die unterschiedlicher nicht sein. Beim Hund überwiegt die Sicherstellung einer hohen Lebensqualität, das kann man beim Schwein wirklich nicht behaupten. Aber diese vermeintliche Schizophrenie ist keine kollektive Charakterschwäche, sondern das Resultat von Aushandlungsprozessen, die permanent stattfinden. Auf der einen Seite will man dem Tier nicht so schwer schaden, dass es unsere Identität als zivilisierte, moderne Menschen infrage stellt, auf der anderen Seite stehen die Vorteile der gegenwärtigen Fleischproduk­tion. Kurz gesagt geht es darum, die Preise niedrig zu halten. +Es gibt zunehmend mehr Menschen, die kein Fleisch essen, und dennoch produzierte Deutschland auch auf Kosten der Umwelt im ersten Halbjahr 2019 3,9 Millionen Tonnen Fleisch. +Es gibt eine mächtige Agrarlobby und große Exportmärkte, zum Beispiel China oder Indien, wo man mit zunehmendem Wohlstand einen westlichen Lebensstil pflegt. Bei uns hingegen werden die Probleme der Massentierhaltung von vielen wahrgenommen. Die Gesellschaft stellt zunehmend die Gerechtigkeitsfrage, und es gibt ein großes Unbehagen über die diversen Arten von Mensch-Tier-Beziehungen. Eine Unterscheidung von Nutz- und Haustieren funktioniert nicht mehr, um die Ungleichbehandlung von Tieren zu legitimieren. Dass es sich um einen grundlegenden Wandel und nicht nur um einen kurzfristigen Veggie-Trend handelt, merkt man auch daran, wie massiv die Fleischindustrie versucht, den Markt für vegetarische Produkte für sich zu erobern. In den Firmen sitzen ja nicht plötzlich Tierfreunde, die moralisch oder ethisch getrieben sind, sondern Manager, die Zukunftsmärkte in den Blick nehmen. +Was sind die wesentlichen Faktoren des Umdenkens? +Entscheidend ist der Diskurs über tierethische Fragen, der an Überzeugungskraft gewinnt. Dabei spielen die neuen Medien, die Informationen schnell verbreiten und das Leid der Tiere sichtbar machen, eine große Rolle. Außerdem wird die Tierschutz- und Tierrechtsbewegung immer größer und professioneller. +Welche Rolle spielt der Klimawandel? +Das ist ein Thema, das das Umdenken massiv beeinflusst. Plötzlich machen ja sogar konservative Politiker weitreichende Vorschläge zum Umweltschutz, weil der einen großen Teil der Bevölkerung bewegt. Ähnliches kann aber auch beim Tierschutz passieren. Wenn Sie auf der Straße fragen, ob Tierschutz ein wichtiges Thema ist, dann stimmen 90 Prozent zu. Auch sind die meisten dafür, dass mehr fürs Tierwohl getan werden müsste. Es mangelt bisher aber noch an der praktischen Umsetzung. +Könnte eine Massenbewegung wie Fridays for Future für den Tierschutz etwas ändern? +Das hängt davon ab, wie sich Fridays for Future oder auch die Bewegung für Klimagerechtigkeit im Ganzen entwickelt. Bisher spielen die Themen Energieproduktion und Mobilität/Verkehr die dominante Rolle. Ohne Agrarwende ist der Klimawandel aber kaum abzuschwächen, weil die Klimabilanz der landwirtschaftlichen Tierhaltung so katastrophal ist. Die Klimabewegung müsste also auch das Ende der massenhaften Tierhaltung in der Landwirtschaft als Forderung aufgreifen. Das Motiv wäre dann zwar nicht in erster Linie Tierschutz, aber der Effekt für Tiere und Klima wäre riesig. +In der Vorbereitung zu diesem Heft habe ich gemerkt, dass sich mein Verhalten gegenüber Tieren verändert. Ich klatsche nicht mehr selbstverständlich jede Fliege tot, die mich nervt, und esse bewusst weniger Fleisch. +Menschen haben diverse Gründe, warum kulturelle Ideen verändert werden, dazu gehören Emotionalität oder ein vernünftiger Diskurs. Bei Ihnen war der Auslöser vielleicht etwas Rationales, ein überzeugendes Argument, bei anderen sind es die abschreckenden Bilder aus der Massentierhaltung. Wichtig ist: Beim Mensch-Tier-Verhältnis geht es um uns alle, weil jeder diese Beziehung hat – ob das Tier nun tot oder lebendig ist, ob es ein Haustier ist, ein Steak oder die Mücke, die mich sticht. Deshalb kann sich auch jeder in diese Debatte einklinken. +Aber ist die Beziehung zu lebenden Tieren nicht eher weniger intensiv geworden? Früher haben mehr Menschen mit Tieren zusammengelebt. Heute kennen viele ein Schwein nur noch in Wurstform. Das Tier, auch sein Sterben, wird verbannt. +Ich würde eher sagen: Es gibt einen Wandel der Anwesenheit von Tieren. Also davon, welche Tiere in welcher Form anwesend sind. Im Zuge der Industrialisierung ist die praktische Erfahrung, mit lebenden Tieren zusammenzuleben, die keine Haustiere sind, enorm reduziert worden. Die Entfremdung von landwirtschaftlichen Produktionsprozessen ist ein zentrales Element moderner Gesellschaften. +Entstand mit der Industrialisierung auch die Idee, Tiere millionenfach zu züchten und zu töten? +Es wurden die technischen Möglichkeiten dafür geschaffen. Parallel entstand im Zuge der Urbanisierung eine von der Landwirtschaft entkoppelte wohlhabende Gesellschaftsschicht, die mehr konsumierte. Man kann das auch ganz konkret an Zeiten und Orten festmachen: Mitte des 19. Jahrhunderts werden zum Beispiel die Schlachthöfe von Chicago gebaut. Die Tiere werden aus dem Mittleren Westen über neu entstandene Eisenbahnverbindungen dorthin transportiert und dann in bisher ungeahnten Ausmaßen und systematisch getötet. Dazu kommen technische Innovationen wie Kühlwagen oder die Konservierung. So wird das Fleisch in wenigen Jahrzehnten vom klassischen Sonntagsessen zum alltäglichen Konsumgut. + + +War es nicht noch vor wenigen Jahrzehnten gang und gäbe, dass man nur sonntags – oder zumindest nicht jeden Tag – Fleisch aß? +Es gab nach dem Zweiten Weltkrieg eine weitere Zäsur – als Klassenunterschiede durch den Wohlfahrtsstaat langsam reduziert wurden. Mit dem Wirtschaftswachstum setzte sich auch die Massentierhaltung durch. Es gab in den 1950er-Jahren sowohl bei der Viehhaltung als auch bei der Fleischproduktion eine enorme Senkung der Kosten, dadurch stiegen die Gewinne und die Verfügbarkeit der Produkte – schließlich bis zu dem Maße, wie wir es heute kennen. +Welche Rolle spielt im Mensch-Tier-Verhältnis eigentlich die Religion? In der Bibel steht zum Beispiel, dass Furcht und Schrecken vor dem Menschen über alle Tiere kommen sollen. Ist schon im Christentum angelegt, dass das Tier nie ein Mitgeschöpf, sondern immer Untertan war? +Der Einfluss der jüdisch-christlichen Religion auf unser Verhältnis zu Tieren ist groß. In monotheistischen Religionen ist die Unterordnung von Natur und Tieren angelegt. Aber auch hier stoßen wir auf Widersprüche: Einerseits gibt es den Herrschaftsauftrag, aber auch Fürsorge, Barmherzigkeit und Mitleid gegenüber der gesamten Schöpfung. Es gibt das Ziel, ein prinzipientreuer, aufrechter Mensch zu sein, gleichzeitig findet man immer Wege, das zu umgehen. +Gehört zu den Methoden dieses Umgehens auch die Wissenschaft beziehungsweise der unbedingte Wille, den Menschen wissenschaftlich vom Tier abzugrenzen und damit die Ungleichheit zu rechtfertigen? +Das war lange Zeit so, aber momentan spielt die Wissenschaft eher in die Hände derer, die die strikte Trennung zwischen Mensch und Tier auflösen wollen. Die Disziplinen, die sich mit Tieren beschäftigen, bringen dem Menschen derzeit immer neue narzisstische Kränkungen bei, weil sie herausfinden, dass auch manche Tiere hochgradig intelligent sind oder hochkomplexe soziale Beziehungen haben – was ja beides lange dem Menschen vorbehalten schien. +Bleibt als Unterscheidungsmerkmal nur noch die Vernunft? +Marcel Sebastian arbeitet an der Universität Hamburg im Fachbereich Soziologie im Bereich der Human-Animal Studies, für die sich Wissenschaftler aus den Bereichen Kunstwissenschaft, Biologie, Veterinärmedizin, Politikwissenschaft, Philosophie oder Geschichte austauschen. +Mit diesem Argument wurde der Mensch in der Aufklärung zum Mittelpunkt des Geschehens – und die Vernunft zu einer Alternative zur kirchlichen Doktrin, um lebensweltliche Fragen zu beantworten. Damit lag es nah, sich von Tieren abzugrenzen. +Welchen Umgang haben andere Kulturen als unsere westliche mit Tieren entwickelt? +In fast allen Kulturen der Erde werden Tiere genutzt und gegessen. Allerdings gibt es starke Unterschiede bei der Frage, welche Tiere aus welchen Gründen genutzt werden dürfen. Während bei uns ein kulturelles Verzehrtabu für Hundefleisch gilt, ist im Islam das Essen von Schweinen verpönt. Im Hinduismus gilt die Kuh als heilig. Mit der Globalisierung verschwimmen Kulturen aber zunehmend und beeinflussen sich gegenseitig. Yoga und Meditation liegen in Europa voll im Trend. Gleichzeitig setzt sich die ambivalente Beziehung westlicher Kulturen zu Tieren global durch. Das heißt, dass beispielsweise in China der Fleischkonsum massiv steigt, sich gleichzeitig aber auch Tierrechtsorganisationen zunehmend engagieren. +Sollten Tiere mehr Rechte bekommen? +Wenn Tiere den Status eines Rechtssubjekts bekommen, würde das vieles verändern.Manche wollen ja sogar eine Art Staatsbürgerschaft für Tiere; die wäre mit der gewaltsamen Nutzung von Tieren nicht zu vereinen. Aber jenseits von Rechtsfragen: Als Soziologe bin ich fasziniert davon, dass sich in so kurzer Zeit die althergebrachte Sicht auf Natur und Umwelt verändert. Uns als Gesellschaft in Deutschland erscheint die Situation zunehmend als Widerspruch, irgendwie nicht stimmig. Und das ist nicht mehr die Position einer gesellschaftlichen Minderheit, die sich im Tierschutz engagiert, sondern mittlerweile Common Sense. Das wird dazu führen, dass Tierrechte ausgeweitet werden und das Wohlwollen gegenüber Nutztieren steigt. Die Kategorien von Nutz- und Haustier lösen sich gerade auf – und zwar in Echtzeit. diff --git a/fluter/mehr-respekt-fuer-ostdeutsche-nach-mauerfall.txt b/fluter/mehr-respekt-fuer-ostdeutsche-nach-mauerfall.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..902f02ba4373bd8c66a3f99fa7335280f266e226 --- /dev/null +++ b/fluter/mehr-respekt-fuer-ostdeutsche-nach-mauerfall.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +Eine Woche nach den Chemnitzer Ausschreitungen veröffentlichte die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping ihr Buch "Integriert doch erst mal uns". Diesen Satz hatten ihr Pegida-Demonstranten in Dresden zugerufen. Er machte sie stutzig. +Zwei Jahre lang reiste sie durch Sachsen und sprach mit den Menschen. Schnell wurde ihr klar: Es geht vielen von ihnen nicht in erster Linie um Hass oder die Angst vor Geflüchteten. Es geht auch um den Konflikt Ost gegen West. "Fast alle Gespräche endeten mit den persönlichen Erlebnissen der Menschen während der Nachwendezeit", schreibt sie in ihrem Buch. Dass sie beispielsweise heute zu wenig Rente bekommen oder auf Zulagen, die ihnen im Rentensystem der DDR zugestanden hätten, im wiedervereinigten Deutschland verzichten müssen. +"Sie fühlen sich als die Generation, die den Osten für Gesamtdeutschland aufgebaut hat. Und dann sind knapp 30 Jahre vergangen, und sie bekommen ihre Rentenbescheide in die Hand. Und erhalten nicht selten eine Rente, von der sie nicht leben können", sagte Köpping imInterview mit dem Fernsehsender Arte. +Zwei von drei Sachsen gaben im Januar letzten Jahres in einer Umfrage an, sich heute als "Bürger zweiter Klasse" zu fühlen. Es finden sich viele Zahlen aus dem Wirtschaftsbereich, die das Gefühl der ostdeutschen Befragten untermauern: +Ein westdeutscher Haushalt hat im Durchschnitt einNettovermögen von etwa 246.000 Euro, ein ostdeutscher 96.000 Euro. +Ein Vollbeschäftigter im Osten hat monatlich im Schnitt739 Euro brutto wenigerals einer aus dem Westen. +Kein einziges der30 DAX-Unternehmen ist in Ostdeutschland beheimatet. +Die Treuhandanstalt sollte im Rahmen der Wiedervereinigung die ostdeutsche Wirtschaft umstrukturieren. Die ehemaligen DDR-Betriebe wurden privatisiert:Nur sechs Prozent des DDR-Produktionsvermögens gingen an einstige DDR-Bürger, 80 Prozent übernahmen Westdeutsche und den Rest Ausländer. + +Viele der ehemaligen DDR-Bürger hatten nach der Wende das Gefühl: Die Westdeutschen müssen sich nur an neue Postleitzahlen und neue Ampelmännchen gewöhnen. Für sie selbst, die Ostdeutschen, änderte sich hingegen nahezu jeder gesellschaftliche Lebensbereich. Oft ging es um die Existenz: Zwischen 1989 und 1991 verloren mehr als 2,5 Millionen Menschen ihre Arbeit. Bei einer niedrigen Produktivitätsrate hatte in der DDR offiziell Vollbeschäftigung geherrscht, Arbeitslosigkeit wurde verdeckt. Drei Jahre nach dem Mauerfall existierten 40 Prozent der Arbeitsplätze nicht mehr. Ostdeutsche Eliten wurden durch neue Führungskräfte aus dem Westen ausgetauscht. + +Reality Check: nach der Wende mussten sich die DDR-Bürger an weniger soziale Sicherheit gewöhnen. So wohl auch diese beiden Magdeburger, die im Jahr 2004 gegen die Hartz-IV-Reformen demonstrierten + +Der Soziologe Raj Kollmorgen arbeitete zu Wendezeiten an der Universität in Jena. "Westdeutsche Kollegen und Kolleginnen wurden zu Beratungszwecken an die Universitäten in die neuen Bundesländer geschickt. Aber das mündete schnell in Belehrung", erzählt er. Nicht nur in den Hochschulen wurden Ostdeutsche systematisch in die zweite, dritte oder vierte Reihe gespült. +77 Prozent der Führungskräfte in den neuen Bundesländernkommen aus Westdeutschland oder dem Ausland. +75 Prozent der Abteilungsleiter in ostdeutschen Ministerienstammen aus dem Westen. +94 Prozent der vorsitzenden Richteran den obersten Gerichten in der ehemaligen DDR sind Westdeutsche. + +"Berufliche Erfahrungen ostdeutscher Bürger sind radikal entwertet worden. Das war für viele eine Ohnmachtserfahrung. Man kam in eine Situation, als wäre man wieder 18 oder 20 Jahre alt und würde sich noch mal auf eine Ausbildung bewerben", sagt Kollmorgen. "Es war ein stetiger Kampf um Anerkennung." +Wilhelm Heitmeyer ist Soziologe. Er untersucht seit mehr als 15 Jahren, wie sich in Deutschland die Vorurteile gegenüber Minderheiten entwickeln – und hat einen wichtigen Begriff geprägt:die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Darunter versteht er abwertende Einstellungen gegenüber Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. +Den letzten Erhebungen zufolge sind Fremdenfeindlichkeit, Muslimfeindlichkeit, die Abwertung von Sinti und Roma, asylsuchenden und wohnungslosen Menschen im Osten stärker ausgeprägt. +Heitmeyer hat dafür verschiedene Erklärungsansätze: Die meisten Ostdeutschen leben in Dörfern und Kleinstädten, wo ein hohes Maß an sozialer Homogenität und Konformitätsdruck herrsche. +Gleichzeitig seien durch die Transformationsprozesse nach der Wende viele Menschen von einem "Individualisierungs-Aufprall" betroffen gewesen. In der DDR hätten sie viel soziale Sicherheit und wenig Freiheit gehabt. Angekommen in der Bundesrepublik, hieß es plötzlich: "Mehr Freiheit, dafür weniger Sicherheit". Das Gefühl, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren, mache Menschen anfällig für populistische Einstellungen. +Und zuletzt ist Respekt ein Grund für die stärker verbreitete gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit: "Kein Mensch kann ohne Anerkennung leben. Wenn ich mich anerkannt fühle, bin ich eher in der Lage, andere anzuerkennen." Das heißt im Umkehrschluss: "Wer sich benachteiligt fühlt, wehrt andere ab, um sich selbst aufzuwerten", so Heitmeyer. +Der Blick in die Welt zeigt: Das trifft nicht nur auf Ostdeutschland zu. Fehlende Anerkennung kann ein guter Nährboden für Populismus und Rassismus sein – wenn auch nicht der alleinige. So war auch ein spezieller Wählertypus am Brexit oder an der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten beteiligt: Menschen aus Regionen, die negativ von der Globalisierung betroffen sind; die sich den wirtschaftlichen Umbrüchen nicht gewachsen fühlen; die zusehen mussten, wie ihre Arbeitsplätze innerhalb weniger Jahrzehnte verschwanden. Und damit die Anerkennung für die eigenen Lebensleistungen. +Wer wenig Respekt und Anerkennung erfährt, neigt zu rassistischen und populistischen Einstellungen. Diese Formel ist sicher zu knapp, um menschenverachtende Abwertungen gänzlich zu erklären. Sie ist aber ein wichtiges Puzzleteil. +Petra Köpping, die sächsische Integrationsministerin, forderte vor zwei Jahren: "Die Nachwendezeit muss wieder auf den Tisch!" Im kommenden Herbst feiert die friedliche Revolution ihren 30. Geburtstag. Bei den Festakten wird auch über den Respekt für die Ostdeutschen gesprochen werden. Eine Debatte über die 90er-Jahre, über den Umgang Westdeutscher mit Ostdeutschen, täte Deutschlands Demokratie, gerade in Zeiten eines zunehmenden Rechtsrucks, gut. + +Titelbild: Cigdem Ucuncu/NarPhotos/laif diff --git a/fluter/mehr-schulden-weniger-zukunft.txt b/fluter/mehr-schulden-weniger-zukunft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..75ea1682bd6a6442a8346c77b9055fcb4cf85e5f --- /dev/null +++ b/fluter/mehr-schulden-weniger-zukunft.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Erstens ist es keineswegs sicher, dass die Nachfrage wirklich zunimmt, wenn der Staat mehr Geld ausgibt oder Steuern senkt. Bisherige Erfahrungen zeigen: In Situationen, in denen die Staatsverschuldung bereits sehr hoch ist, sorgen weitere Schulden bei Konsumenten und Investoren für weitere Verunsicherung, weil sie wissen, dass der Staat irgendwann seine Defizite abbauen muss. Höhere Schulden heute bedeuten also höhere Steuern morgen. Daher schränken viele ihre Ausgaben ein und sparen lieber. +Zweitens besteht die Gefahr, dass eine neuerliche Ausweitung der Verschuldung die Zinsen auf Staatsschulden ansteigen lässt. Es kann auch dazu kommen, dass die Banken in den Krisenstaaten höhere Zinsen zahlen müssen, um sich zu refinanzieren, weil die Bonität der Banken stark von der finanziellen Lage der Staaten abhängt, in denen sie ihren Sitz haben. Das liegt daran, dass Banken, wenn sie in finanzielle Schwierigkeiten geraten, davon abhängig sind, von ihren Regierungen finanzielle Unterstützung zu erhalten. Steigende Finanzierungskosten für Banken würden bedeuten, dass sich Kredite für Unternehmen und Konsumenten ebenfalls verteuern. Auch das würde zu einem Rückgang der privaten Nachfrage führen, was den positiven Konjunktureffekt höherer Staatsnachfrage zunichtemachen könnte. +Kreditfinanzierte staatliche Konjunkturprogramme können dann sinnvoll sein, wenn es einen vorübergehenden wirtschaftlichen Einbruch gibt, Staatsausgaben und Staatseinnahmen aber auf lange Sicht ausgeglichen sind. Die hoch verschuldeten Volkswirtschaften in Südeuropa sind aber eindeutig überschuldet – sie haben über ihre Verhältnisse gelebt. Kein Weg führt daran vorbei, den Gürtel dauerhaft enger zu schnallen. +Die hohe Verschuldung ist nicht das einzige Problem. Hinzu kommt, dass Löhne und Preise in Südeuropa infolge des kreditfinanzierten Wirtschaftsbooms vor der Krise so weit angestiegen sind, dass die Unternehmen in diesen Ländern nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Damit die Wirtschaft sich erholen kann, müssen Löhne und Preise sinken. Diese Anpassung kann verzögert werden, wenn der Staat kreditfinanzierte Konjunkturprogramme auflegt. +Außerdem könnten einige der Krisenstaaten in Europa sich nur dann höher verschulden, wenn andere Staaten für sie bürgen. Damit müssten die Steuerzahler anderer Staaten zusätzliche Risiken auf sich nehmen. Schon heute sind hohe Kredite und Bürgschaften für die Krisenstaaten bereitgestellt worden. Zu einer weiteren Ausdehnung werden die Steuerzahler in Staaten wie Deutschland kaum bereit sein. Dadurch, dass die Staaten im Norden der Währungsunion zunehmend zu Gläubigern der Krisenstaaten im Süden werden, entsteht außerdem Potenzial für politische Konflikte. Es ist absehbar, dass die Schuldnerstaaten über kurz oder lang einen Schuldenerlass fordern werden. Die Steuerzahler in den Gläubigerstaaten würden dann Verluste erleiden. Deshalb wäre es nicht nur aus ökonomischen, sondern auch aus politischen Gründen falsch, den finanzpolitischen Sparkurs in Europa aufzugeben. + +Clemens Fuest ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) sowie Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates beim Bundesministerium der Finanzen. diff --git a/fluter/mein-Vater-meine-Gene-und-ich.txt b/fluter/mein-Vater-meine-Gene-und-ich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..344e2a84fda52ee0c964038107db14a1405a5b42 --- /dev/null +++ b/fluter/mein-Vater-meine-Gene-und-ich.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Als Rebeccas leiblicher Vater nach 11 Jahren das erste Mal kam, kam er gleich mit Gedichten von Heine. Aber sie war noch zu klein für seine Liebesangelegenheiten +Und tatsächlich, meine Beleidigung schlug ein wie eine Bombe. Erstaunt sah ich, dass mein Stiefvater sich an den Tisch setzte und sein Gesicht in den Händen verbarg. Das hatte ich nicht gewollt, was hatte ich eigentlich gesagt? Noch Wochen danach konnte mich mein Stiefvater nicht in den Arm nehmen. +Ich war elf Jahre alt, da kam er mich besuchen, mein "richtiger Vater". Ich war so aufgeregt, dass ich schon Stunden vorher an der Straße vor unserer Einfahrt stand. Hier wird er ankommen, hier wird er langgehen, dachte ich. Als er dann kam, versteckte ich mich im Garten und beobachtete von dort aus, wie er aus seinem Auto ausstieg und zu unserer Haustür ging. Mein Vater – das stellte ich mit Erstaunen fest – sah mir ähnlich. Das war ein komisches Gefühl, denn mein Stiefvater und meine Schwester sahen wirklich ganz anders aus als ich. +Nachdem meine Mutter, mein Stiefvater, meine Schwester und ich mit ihm Tee getrunken hatten, ließen sie mich mit meinem Vater allein. Er bemühte sich um mich, und das erstaunte mich, denn meine Mutter hatte immer behauptet, mein Vater würde sich nicht für mich interessieren. Er hatte mir einen Kassettenrecorder mitgebracht und spielte mir Gedichte von Heinrich Heine vor: "Sie liebten sich beide, doch keiner / Wollt' es dem andern gestehn; / Sie sahen sich an so feindlich, / Und wollten vor Liebe vergehn." Nach jeder Strophe stoppte er die Kassette und fragte mich, ob mir das denn gefalle und ob ich verstanden habe, was der Dichter damit meine. Ich war noch zu klein für Heine und seine Liebesangelegenheiten und schämte mich furchtbar beim Zuhören. Wie erleichtert war ich, als meine Mutter ins Zimmer kam und uns vorschlug, spazieren zu gehen. +Auf diesem Spaziergang haben sich mein Vater und meine Mutter dann gestritten. Sie hatten sich mehr als zehn Jahre nicht gesehen, aber es war ihnen offensichtlich leichtgefallen, an damals geführte Gespräche wieder anzuknüpfen. Mir wandte sich mein Vater erst vor der Haustür wieder zu – um sich zu verabschieden. Ein weiterer Besuch wurde nicht erwähnt. Als er gegangen war, nahm meine Mutter mir den Kassettenrecorder weg mit den Worten: "Dein Vater denkt, damit könne er sich bei dir einschleimen, nachdem er sich fast elf Jahre nicht hat blicken lassen. Entsetzlich, dass du darauf reinfällst." +Nach diesem Besuch hörte ich nichts mehr von meinem Vater. Er hatte zwar noch mehrmals angerufen, aber meine Mutter hatte mich nie mit ihm sprechen lassen. Er hatte ohnehin kein Recht mehr, Kontakt mit mir aufzunehmen, seitdem mein Stiefvater mich adoptiert hatte. +Inzwischen weiß ich vieles, auch, dass ich Glück gehabt habe, bei meinem Stiefvater aufgewachsen zu sein, denn mein Vater kann sich um niemanden kümmern und hat es ja auch nie getan. Er hat meine Mutter mit dem Baby einfach alleingelassen und ist im weiteren Verlauf seines Lebens vor jeder Verantwortung geflohen. +Trotzdem habe ich ihn und nicht meine Eltern angerufen, als ich aus einem Seminar an der Uni kam und völlig verzweifelt war. Es war mir nämlich in diesem Seminar klargeworden, dass auch das fünfte Studium nicht das war, wonach ich gesucht hatte. Weinend stand ich in einer Telefonzelle und fragte ihn, ob ich weiter studieren solle oder nicht. Mein Vater sagte, dass er darüber nachdenken wolle, dass ich aber wissen müsse, ganz gleich, wie ich mich entscheide, dass er und ich nicht für ein Biedermeierleben gemacht seien. Ein Biedermeierleben. Er und ich. Er hatte das ganz selbstverständlich gesagt, ohne jede Spur von Zweifel. "Ich bitte dich um eins, Rebecca: Frag die anderen nicht, was du tun sollst. Sie sehen diese Dinge anders als wir." Mit den anderen meinte er meine Freunde und vor allen Dingen meine Familie. +Die Sehnsucht zu wissen, wer man ist und woher man kommt, ist eine der stärksten Sehnsüchte überhaupt, stärker noch als die Sehnsucht nach Liebe. Ich hatte die Liebe meiner Eltern riskiert, als ich gleich nach meinem 18. Geburtstag nach München gefahren bin, um meinen Vater zu besuchen. Dass ich mit ihm Kontakt haben wollte, haben mir meine Mutter und mein Stiefvater lange übel genommen. Am Abend in München angekommen, gab mir seine damalige Freundin die Adresse eines großen Biergartens, in dem er kellnerte. Ich betrat den Biergarten und erkannte den Mann, den ich vor sieben Jahren nur ein einziges Mal gesehen hatte. Es war ganz leicht, es war der Mann, der sich am anderen Ende des Biergartens im Kellneroutfit mit nur einer Pobacke auf einen Stuhl setzte – so wie ich immer. Meine Mutter und mein Stiefvater haben dafür gesorgt, dass ich meine Hausaufgaben mache und mir die Zähne putze, sie haben Ausflüge und Reisen mit mir gemacht, mit mir geschimpft und gelacht. Durch meinen Vater fand ich zu mir selbst. +In der Gegenwart ihres Vaters fielen auch Rebeccas Hemmungen ab. Ihr Vater lacht wie sie und fragt nie, ob das nicht auch leiser gehe +In der Gegenwart meines Vaters fielen meine Hemmungen ab, denn mein Vater lacht wie ich – und fragt nicht, wie meine Mutter, ob ich nicht leiser lachen könnte. Mein Vater hat immer Lust, zu erzählen und etwas erzählt zu bekommen, nie höre ich von ihm, ob ich nicht still sein könne. So still wie meine Schwester. Mein Vater liebt kalten Kaffee, bekommt leicht Schluckauf und ist ungeduldig  – wie ich. +Vor ein paar Jahren war er in Berlin, eine befreundete Filmproduzentin hatte ihn zu einer Filmpremiere eingeladen. Doch schon um 21 Uhr stand er in seinem Anzug vor meiner Tür, er war aus dem Kinosaal geflohen und fragte mich, ob ich mit ihm essen gehen würde. +Bei Hummus und Tee gestand er mir, dass er einen seltsamen Tick habe, über den er noch nie mit jemandem gesprochen habe. Er könne keine neuen Filme sehen, denn er fürchte sich davor, dass ihm der Film nicht gefallen könnte. Der Tick sei so stark, dass er praktisch nie mehr ins Kino gehe. +"Glaubst du, ich bin nicht normal, Rebecca?", fragte mich mein Vater. +"Dann wäre ich es auch nicht", sagte ich ihm, "denn mir geht es ganz genauso." +Mein Stiefvater hat das getan, was ein Vater tun sollte. Er ist ein besserer Mensch als mein Vater, ich habe mehr Zeit mit ihm verbracht, er kennt mich. Umso mehr schäme ich mich, dass ich in der Gegenwart meines Vaters eine viel größere Vertrautheit spüre. Eine Vertrautheit, die ich in meiner Kindheit immer vermisst habe. +Rebecca Niazi-Shahabi lebt in Berlin und stammt aus einer deutsch-iranisch-israelischen Familie. Sie ist Schriftstellerin und Werbetexterin. + +Titelbild:Jon Uriarte +In seiner Fotoarbeit "Album" widmet sich der Fotograf Jon Uriarte einem Thema, das die Fotografie schon seit ihren Anfängen beschäftigt, das aber lange den Amateuren überlassen wurde: Familienalben. Allerdings ist er dabei etwas kopflos vorgegangen – und hat den Personen die Schädel wegretuschiert. So möchte er alltägliche Bilder ihrer Selbstverständlichkeit berauben und uns mit einer neuen visuellen Dimension vertraut machen: der gesichtslosen Erinnerung an die eigene Vergangenheit. diff --git a/fluter/mein-erster-Job.txt b/fluter/mein-erster-Job.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5af88a9e524aa634047a8a98849b43c1b1dd7a55 --- /dev/null +++ b/fluter/mein-erster-Job.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Umso größer ist die Freude und Erleichterung bei jenen, die endlich einen Job gefunden haben. Einige haben für ihn ihren Heimatort oder sogar ihr Heimatland verlassen. Viele nehmen eine schlechte Bezahlung, Überstunden und Raubbau an der Freizeit in Kauf. Sie hoffen, dass die Beschäftigung nur eine Durchgangsstation zu einer besseren Zukunft ist. Manchen ist der erste Job allerdings auch zugeflogen. Gabriele Galimberti hat zwölf junge Berufseinsteiger fotografiert und nach ihren Erfahrungen befragt. +Rio de Janeiro, Brasilien – Silberth Ferrera, 26Silberth ist im Bundesstaat Minas Gerais aufgewachsen, dem zentralen Teil Brasiliens. Mit 15 Jahren zog er nach Rio, um einen Job zu finden. "Ich komme aus einer wirklich armen Familie. Wir haben immer in einer Favela gelebt [Portugiesisch: Slum in südamerikanischen Großstädten] und hier in Rio lebe ich immer noch in einer Favela. Mein Haus ist wirklich sehr klein, aber ich habe eine schöne Aussicht auf Ipanema", sagte er. Ein paar Wochen nach seiner Ankunft in Rio fing Silberth an, Caipirinha-Cocktails am Strand zu verkaufen. Das macht er nun an jedem Tag seit über zehn Jahren. "Das ist kein legaler Job, aber es ist mein erster und einziger Job", sagte er. Er arbeitet sieben Tage die Woche von zehn Uhr morgens bis zum Sonnenuntergang. Er verkauft im durchschnitt 25 Caipirinhas am Tag zu einem Preis von 20 brasilianischen Reales oder ungefähr fünf Euro pro Stück +Puerto Viejo, Costa Rica – Maria José Alvarez Blanco, 20Maria kommt aus Alajuela, wo sie ein Jahr lang Biologie studierte. Länger brauchte sie nicht, um zu realisieren, dass sie lieber mit Tieren arbeiten wollte. Sie zog nach Puerto Viejo und arbeitete dort als Freiwillige in einer Tierklinik. Schnell spezialisierte sie sich auf die Rettung von Papageien und Affen und bekam nach sechs Monaten einen Arbeitsvertrag angeboten. "Ich liebe es, hier zu arbeiten. Es ist ein magischer Ort. Jeden Tag kommen viele Leute hierher und bringen uns verletzte Tiere, die sie auf der Straße gefunden haben. Wir retten sie und wenn sie bereit sind, lassen wir sie im Wald wieder frei." Maria arbeitet acht Stunden pro Tag, fünf Tage die Woche. Pro Woche verdient sie umgerechnet ungefähr 130 Euro, bekommt zusätzlich aber viel Trinkgeld von Touristen, die die Tierklinik besichtigen. Darüber hinaus erhält sie freie Mahlzeiten und kann in einem Haus auf dem Klinikgelände leben +Mountain View, Kalifornien (USA) – Lord Osei-Ofori, 24, und Rayman Aryani, 24Lord ist in Ghana aufgewachsen, Rayman im Jemen. Beide kamen zum Studieren in die USA und hatten zwei Monate nach Ende des Studiums ein Vorstellungsgespräch bei Google. "Das war sehr seltsam. Sie haben nichts über die Arbeit gefragt oder danach, was wir studiert haben. Sie haben Sachen gefragt wie: ‚Erkläre mir ein komplexes Konzept in einfachen Worten' (...). und andere Dinge in der Richtung." Seit fast zwei Jahren arbeiten Lord und Rayman im selben Büro. Sie arbeiten acht Stunden am Tag, fünf Tage die Woche. Gemäß ihres Vertrags mit Google dürfen sie nicht verraten, wie viel sie verdienen +Fihalhohi, Malediven – Umar Hashim, 20Umar ist auf Ga. Dhandhoo geboren, einer sehr kleinen Insel im Süd-Malé-Atoll. Er hat die ersten 17 Jahre seines Lebens dort verbracht, bevor er nach Filahohi, eine andere kleine Insel, zog, auf der es nur ein Urlaubsresort gibt. Dort hat er seinen ersten Job gefunden, als Reinigungskraft. "Ich mag diesen Job nicht, aber bisher ist es der einzige, den ich gefunden habe. Ich mache immer die gleichen Sachen. Erst muss ich die Kühlschränke checken, um zu sehen, ob die Gäste irgendetwas gegessen oder getrunken haben, dann beziehe ich die Betten neu und am Ende putze ich den Raum. Es ist langweilig!" Umar träumt davon, sein eigenes Gästehaus zu eröffnen. Aber vorher muss er eine Menge Geld sparen. Er arbeitet an sieben Tagen pro Woche acht und manchmal auch mehr Stunden. Nur drei Tage pro Monat hat er frei. Er verdient 8.000 Rufiyaa im Monat, das sind ungefähr 460 Euro +Las Vegas, Nevada, USA – Berenice Hernandez, 20, und Iris, 9Berenice ist 20. Als sie drei Jahre alt war, ist sie mit ihrer Familie von Mexiko nach Las Vegas gezogen. Zusammen mit ihrem Bruder und ihrer Schwester lebt sie immer noch bei den Eltern. Als Berenice 14 Jahre alt war, wurde sie von einem Jungen aus ihrer Klasse geschlagen. Das war der Zeitpunkt, an dem sie beschloss, mit dem Boxen anzufangen. "Ich wollte fähig sein, mich selbst zu verteidigen", sagt sie. Mit 17 wurde sie Boxchampion der unter 18-jährigen Mädchen in Nevada. Sie studiert noch, aber hat vor vier Monaten ihren ersten Job angenommen. Sie arbeitet als Boxtrainerin für Kinder in einem kleinen Fitnessstudio in der Stadt North Las Vegas – vier Stunden pro Tag, drei Tage in der Woche. Pro Stunde bekommt sie 10 US-Dollar, also umgerechnet etwa 9 Euro +Berlin, Deutschland – Jonas Hartlieb, 25Vor vier Jahren zog Jonas von Rügen, wo er aufgewachsen ist, nach Berlin, wo er auf Lehramt studierte. Er will Grundschullehrer werden, aber dafür muss er noch fünf Jahre studieren. Er hat sich ein Jahr Auszeit von der Uni genommen und arbeitet im Moment in einem privaten Kindergarten – an jedem Werktag von 8 Uhr bis 17 Uhr. Jeden Tag bringt er die Kinder zum Spielen nach draußen, auch wenn es mal etwas kälter ist. Pro Monat verdient Jonas 1.400 Euro +San-Blas-Inseln, Panama – anonym, 19Sie verkauft Handarbeiten an Touristen auf einer der San-Blas-Inseln. Dort leben viele Angehörige der indigenen Bevölkerung der Kuna, zu der auch sie gehört. Sie arbeitet etwa zwölf Stunden täglich und bezieht kein festes Gehalt. "Manchmal kriege ich fünf Dollar [etwa 4,50 Euro] pro Tag und ein anderes Mal kriege ich 100 Dollar [etwa 90 Euro]. Das kommt ganz auf die Zahl der Touristen an, die hierherkommen", sagt sie +Dubai, Vereinigte Arabische Emirate – Al Emran, Mohdmehdi, Shanhin und KobirAl Emran, Mohdmehdi, Shanhin und Kobir sind alle 24 Jahre alt und kommen aus Bangladesch. Sie kamen vor vier Jahren nach Dubai, weil sie in Bangladesch arbeitslos waren. "Wir sind hierhergekommen, weil wir einen Job in einer Firma gefunden haben, die einem Iraner gehört. Wir verbringen den ganzen Tag im Parkhaus der Mall of the Emirates, einem der luxuriösesten Shopping Center im Land. Wir reinigen die Autos der Menschen, die zum Shoppen herkommen. Wir nehmen 18 Dirham pro Auto [etwa 4,40 Euro]. All unsere Einnahmen geben wir der Firma und erhalten dafür ein monatliches Gehalt von 1.900 Dirham [ungefähr 460 Euro]. Zusätzlich verdienen wir zwischen 200 und 300 Dirham [etwa 50 bis 70 Euro] an Trinkgeldern im Monat. Wir arbeiten acht Stunden am Tag an sechs Tagen pro Woche. Wir teilen uns alle ein Haus – zusammen mit zwei anderen Freunden. Insgesamt sind wir zu sechst in dem Haus, aber nur so können wir uns die Miete leisten." +Portland, Oregon (USA) – Vanessa, 24"Mit 18 habe ich das erste Mal in meinem Leben gearbeitet. Eine Freundin hat mich zu einem Club gebracht, in dem sie als exotische Tänzerin auftrat. Schon an meinem ersten Arbeitstag habe ich in der Nacht auf der Bühne getanzt. Ein paar Minuten nach meinem Auftritt kam ein Mann auf mich zu. Er hat mir vorgeschlagen, dass wir einen Monat zusammen verbringen. Er hat mir eine Menge Geld geboten. Ich akzeptierte. Tatsächlich war er ein netter Mann. Am Ende habe ich mehr als zwei Monate mit ihm verbracht. Er hat mir wirklich gutes Geld gezahlt und mir viele Sachen gekauft, aber seltsamerweise hatten wir niemals Sex. Nach dieser positiven Erfahrung bin ich bei diesem Job geblieben. Seit sechs Jahren arbeite ich als Hostess. Jetzt ist es anders. Mit einigen meiner Klienten verbringe ich eine Stunde, nur für Sex, mit anderen ein ganzes Wochenende oder sogar eine Woche." Vanessa hat keine geregelten Arbeitzeiten. Sie verlangt von ihren Kunden 200 US-Dollar für die Stunde [etwa 180 Euro], 1.200 US-Dollar pro Tag [etwa 1100 Euro] oder 2.000 US-Dollar für ein Wochenende [etwa 1800 Euro] +Taipeh, Taiwan – Eva Prasiska, 24Eva kommt aus Indonesien, aus einer kleinen Stadt im südlichen Teil der Insel Sumatra. Bis zu ihrem 20. Lebensjahr lebte sie dort, dann zog sie auf der Suche nach ihrem ersten Job nach Tawain. "In Indonesien war es für mich unmöglich einen Job zu finden", sagt sie. In Taiwan arbeitet sie nun als Altenpflegerin. Derzeit kümmert sie sich um eine alte Frau, die seit einem Jahr nicht mehr laufen kann. Eva lebt mit der Frau zusammen und ist 24 Stunden am Tag für sie da. Freie Tage sind nicht vorgesehen. Alle zehn Tage bittet sie um einen freien Tag. Die alte Frau bleibt dann solange bei ihrer jüngeren Schwester. Eva träumt davon, eines Tages nach Indonesien zurückzukehren. Sie verdient 15.000 Taiwan-Dollar im Monat, das sind ungefähr 430 Euro +Neu-Taipeh, Taiwan – Chen Yun Bin, 17Chen Yun Bin ist in Neu-Taipeh geboren und aufgewachsen. Schon als Kind war es sein Traum, Friseur zu werden. "Hier in Taiwan brauchst du eine Lizenz, um den Job ausüben zu können. Dafür musst du drei Jahre lang eine Friseurschule besuchen", sagt er. Chen Yun hat gerade sein zweites Jahr an der Schule beendet. Nun steht ein Praxisjahr in einem Friseursalon an. Vor vier Monaten hat er damit angefangen, inzwischen arbeitet er täglich zwischen acht und neun Stunden, auch am Wochenende. Aber er kann einen Tag freikriegen, wenn er erschöpft ist und den Besitzer des Salons darum bittet. Am Ende des Jahres würde er gerne, falls er dazu in der Lage ist, seinen eigenen Friseursalon aufmachen. Sein Gehalt liegt bei 20.000 Taiwan-Dollar im Monat. Das sind etwa 570 Euro +Bogotá, Kolumbien – Juan Carlos Salazan, 19Juan Carlos ist im Randgebiet von Bogotá geboren und aufgewachsen, wo er auch heute noch lebt. Bis zu seinem 18. Lebensjahr ging er zur Schule, dann fand er, dass es genug war und machte sich auf die Suche nach einem Job. Vor fast einem Jahr hat er eine Anstellung in einer kleinen Apotheke im nördlichen Teil Bogotás gefunden, dem reichsten Viertel der Stadt. Er arbeitet als Lieferjunge und bringt mit dem Fahrrad Medikamente zu den Kunden nach Hause. Er arbeitet zwölf Stunden am Tag und erledigt in der Zeit durchschnittlich 35 Lieferungen. Das macht er an sechs Tagen die Woche und verdient pro Tag 32.000 kolumbianische Pesos, ungefähr 10 Euro. Im Moment gefällt Juan Carlos sein Job, aber er träumt davon, zur Luftwaffe zu gehen +Mitarbeit: Sinah Grotefels diff --git a/fluter/mein-erstes-mal.txt b/fluter/mein-erstes-mal.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/mein-wille-geschehe.txt b/fluter/mein-wille-geschehe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/meine-behinderung-gehoert-nicht-mir-alleine.txt b/fluter/meine-behinderung-gehoert-nicht-mir-alleine.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c6bcb093c45c7a6b1c5afc9a35b1d10d619568ff --- /dev/null +++ b/fluter/meine-behinderung-gehoert-nicht-mir-alleine.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Meine Behinderung ist für viele Menschen ungewohnt, außergewöhnlich, vielleicht ist sie ihnen sogar unangenehm. Leider habe ich wenig Hoffnung, dass diese Anmaßungen und Diskriminierungen irgendwann aufhören werden. Die Sprüche werden so lange bleiben, wie Behinderte aus der gesellschaftlichen Mitte ausgeschlossen werden und so den ganzen Nichtbehinderten keine Chance gegeben wird, sie als normales Bild im öffentlichen Alltag zu erleben. Laut Statistik ist fast jeder Zehnte in Deutschland schwerbehindert, aber wenn ich mir überlege, wer denn in meinem direkten Umfeld, Bekanntenkreis, bei der Arbeit, im Supermarkt oder bei meiner Frauenärztin sonst noch mit einer Behinderung herumläuft, dann ist das eine verdammt magere Ausbeute. Wie können solche Sprüche, die Berührungsängste und Vorurteile vieler Menschen widerspiegeln, vermieden werden, wenn Menschen mit Behinderung in Heimen wohnen und in Werkstätten arbeiten, abgeschottet vom Rest der Welt? Wenn sie in einer Parallelwelt leben, die sie vom Alltag der anderen separiert? +Durch meinen Alltag zieht sich systematische Ausgrenzung. Durch bauliche Barrieren, durch Gesetze, die mich nicht gleichstellen mit allen anderen. Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung auf eine staatlich finanzierte Assistenz angewiesen sind, dürfen in Deutschland bisher nicht mehr als 2.600 Euro ansparen. Alles, was darüber hinausgeht, wird vom Staat eingezogen, um die Assistenz zu bezahlen. Das Ansparen auf ein Auto, einen Laptop oder die Altersrente wird somit schwierig oder ist für viele unmöglich. Ab 2017 soll der Betrag endlich auf 25.000 Euro erhöht werden. +Ich erwähne das, weil es meine und die Realität vieler anderer Behinderter in Deutschland ist, nicht weil ich meckere, sondern weil es sich lohnt, über das Folgende einmal nachzudenken: Meine Behinderung gehört nicht nur mir allein, meine Behinderung wird von all denen mitverursacht, die mich und meinen Alltag so behindern, dass ich ihn nicht selbstverständlich leben kann. +Meine Behinderung ist für mich selbstverständlich. Der Umgang und das Leben mit ihr wurden zu meiner Normalität. Und damit diese Normalität nicht nur bei mir selbst bleibt, brauche ich Gesetze, die mich teilhaben lassen. Und das Verständnis, dass auch ich mit meiner Identität, zu der meine Behinderung ganz natürlich gehört, die Gesellschaft mitgestalte. diff --git a/fluter/meine-schwester-die-serienmoerderin.txt b/fluter/meine-schwester-die-serienmoerderin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..58b2e3a76c06c666b765407da75b260c74ca3d11 --- /dev/null +++ b/fluter/meine-schwester-die-serienmoerderin.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Mit ihrem düster-komischen Debütroman landete die nigerianische Schriftstellerin Oyinkan Braithwaite einen Hit. Er wurde von positiven Kritiken überhäuft und für den Booker-Preis nominiert, den wichtigsten britischen Literaturpreis. Hinter dem schnell erzählten Thrillerplot lauert ein komplexes gesellschaftliches Panoramaaus dem heutigen Nigeria. Denn der Zusammenhalt der beiden Schwestern speist sich aus einer gewalttätigen Vergangenheit: Ihr Vater machte nicht nur krumme Geschäfte, sondern verprügelte auch regelmäßig seine Frau, und die Töchter gleich mit. Insofern ist Korede nicht nur neidisch auf Ayoola, sie ist auch gleichzeitig ihre Beschützerin. Jedenfalls bis Tade auftaucht, der schicke Oberarzt, den sich Korede ausgeguckt hat. Blöderweise verfällt auch der dem Zauber Ayoolas. Und stürzt Korede in ein Dilemma: Soll sie ihn warnen? Und damit ihre Schwester verraten? +"Meine Schwester, die Serienmörderin" ist Oyinkan Braithwaites erster Roman, 240 Seiten lang und im März im Blumenbar-Verlag erschienen. +Männer sind in Oyinkan Braithwaites feministischem Familienthriller entweder tot, dem Tode geweiht oder liegen im Koma. Wie Muhtar, den Korede täglich in seinem Krankenzimmer besucht und dem sie von ihrer serienmordenden Schwester erzählt. Jemand anderen zum Zuhören hat sie nicht. Doch Muhtar, obgleich ihn seine Familie schon aufgegeben hat, wacht eines Tages wider Erwarten aus dem Koma auf – und langsam, langsam beginnt er, sich zu erinnern, was Korede ihm so alles erzählt hat. +Bei aller Spannung kommen die feministischen Tendenzen im Roman nicht zu kurz. Denn einerseits dreht er eine uralte Erzählkonvention um: In vielen Büchern sind es ja die Frauen, die sterben. Wie wusste schon der Meistererzähler Edgar Allan Poe, der ja auch die Detektivgeschichte erfand: Es gibt kein poetischeres Thema als den Tod einer schönen Frau. In "Meine Schwester, die Serienmörderin" sorgt die Frau hingegen für viele Tote. Andererseits leben Korede und Ayoola in einerzutiefst patriarchalischen Gesellschaft– in der Väter über die Heirat der Töchter entscheiden, Stammeshäuptlingen Frauen zugesichert werden, Männer Frauen ganz selbstverständlich mit Stöcken züchtigen. Doch die jungen Frauen finden in diesem Roman ihre Wege, sich zu befreien. Und die sind manchmal blutig. +Titelfoto: Hannah Assouline/Opale/Leemage/laif diff --git a/fluter/meinungsforschung.txt b/fluter/meinungsforschung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f9d9474b741442b108f1fb8cb53a294dc79e92b7 --- /dev/null +++ b/fluter/meinungsforschung.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Luisa 89, auf fluter.de"Wenn ich an Natur denke, denke ich zuerst an Farben: an Grün, Blau und Sonnengelb. Dann an Gerüche: an das Moos im Wald, die Brise an der Nordsee und den Duft einer frisch gemähten Wiese. " +Oleg, auf fluter.de"Ich will in der Natur leben. Wo, weiß ich noch nicht, aber ganz sicher werde ich in der Stadt nicht alt." +Claudi, 26, Studentin aus Friedrichshafen"Ich bin gern in der Natur, am liebsten gehe ich bergwandern. Ich mag die Anstrengung, die frische Luft, den Geruch der Pflanzen und die Aussicht." +Wolke7, auf fluter.de"Ich möchte so viel wie möglich tun, um die Natur zu schonen. Trotzdem fühle ich mich dadurch nicht wirklich eingeschränkt. Und an die vielen doofen Kommentare von Mitschülern hab ich mich schon gewöhnt." +Judi, auf fluter.de"Der Apfelbaum im Garten meiner Oma." +Christina, 29, Musikerin aus Graz"Wenn man wie ich aus Graz kommt, wo die Belastung mit Feinstaub sehr hoch ist, dann schätzt man die Natur ganz anders. Aber für mich ist so ein Park eigentlich schon genug Natur." +Max-P, auf fluter.de"Man sollte sich mehr Gedanken über die Zukunft unseres Planeten machen." +Nelson, 15, Schüler aus Berlin"Ich mag es in der Natur nicht so besonders gern, mir ist es da meistens viel zu ruhig. Ich bin nun mal ein Stadtkind, ich mag es, wenn was los ist." +Natascha, 21, Studentin aus Stuttgart"Ich mag die Luft in der Natur, ich mag, wenn es nach Kuhweide riecht. Und ich liege gern auf Wiesen." +Thömi, auf fluter.de"So richtig verstehe ich nicht, warum das Thema Natur nicht mehr Aufmerksamkeit in den Medien geschenkt bekommt, da die Umwelt bald das Hauptproblem der Menschheit sein wird." +Florian, 21, Azubi aus Blankenfelde"Ich mag gutes, frisches Wetter. Meine Mutter ist total verrückt nach Natur, wir haben auch ein Wildschwein als Haustier. Ich selbst habe nicht das Bedürfnis, in den Wald zu gehen, um mich frei zu fühlen." +JuliaM, auf fluter.de"Natur ist der Ursprung allen Lebens. Ich bewundere alle sogenannten ‚unterentwickelten' Völker, die heute noch versuchen, in Einklang mit der Natur zu leben. Würden wir alle das tun, bräuchten wir uns um unsere Zukunft weniger Sorgen zu machen." +Valentina, 23, Au-pair aus Viterbo, Italien"In Italien lebe ich auf dem Land, aber ich bin wirklich sehr gern in der Stadt unterwegs. Hier gibt es auch viel Grün, und das reicht mir eigentlich." +Marc_G, auf fluter.de"Ich fühle mich bedroht dadurch, dass es den meisten Menschen total egal ist, wie viel sie Auto fahren, wie viele Bäume für ihr tolles weißes Papier gefällt werden mussten oder wie sie durch ihren Fleischkonsum den Regenwald mit abholzen. " +Eva, auf fluter.de"Umweltschutz lässt sich nicht tausendprozentig durchziehen. Es sind kleine Schritte und häufiges Nachdenken, was hilft, und nicht der Versuch, die ganze Zeit politisch korrekt zu sein. Denn das kann niemand wirklich auf Dauer schaffen." +Schneider, auf fluter.de"Natur und moderne Zivilisation sind nicht miteinander vereinbar. Natürlich kann man was verbessern, aber das sind alles Tropfen auf heiße Steine. Egal, wie wir es machen, am Ende geht es den Bach runter." +Melissa, 21, Schülerin aus Damerow"Ich mag das Gefühl der Freiheit, ich mag es, alleine draußen zu sein und nachzudenken." +Marcel, 18, zurzeit arbeitslos, aus Berlin"Ich bin gern draußen, vor allem im Sommer. Aber eigentlich bedeutet mir Natur nicht so viel." +Umfrage: Daniel Erk diff --git a/fluter/meister-prepper.txt b/fluter/meister-prepper.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..36b5ca08dbb90b242754639a13491ee1d2577dde --- /dev/null +++ b/fluter/meister-prepper.txt @@ -0,0 +1,44 @@ +Die meisten Prepper gibt es in den USA, dem Mutterland der Vorsorger. Verlässliche Zahlen, wie viele in Deutschland Prepper sind, gibt es nicht. Laut Blum sorgen fast eine Million Deutsche vor. +Den Rucksack, den er packt, hat er immer griffbereit – entweder in der Wohnung oder im Auto. Er nenn das sein "everyday carry" +fluter.de: Eine dieser Herausforderungen, auf die Sie sich laut Ihrer Webseite vorbereiten, heißt "Überleben im Winter". Wie überlebt man im Winter? Ich würde meinen: Man geht nach Hause und macht die Heizung an. Zumal wenn der Winter so mild ist wie dieser. +Bastian Blum: Und was passiert, wenn über einen längeren Zeitraum der Strom ausfällt? +Sagen Sie es uns. +Bei null Grad kann es in der Wohnung schon nach ein paar Stunden kritisch werden, wenn das Gas ausbleibt oder der Strom ausfällt und die Heizung nicht mehr funktioniert. Wir diskutieren: Wie hält man sich dann warm? +Und? +In der Prepper-Szene werden schwere Wolldecken bevorzugt. Das Zweite sindTeelichtheizungen. Ein Teelicht hat ungefähr 35 Watt Energieleistung. Eine Teelichtheizung bindet die abgestrahlte Energie. Daran kann man die Hände wärmen oder Getränke erhitzen. +Machen wir es konkret. Beunruhigt Sie der Konflikt in der Ukraine? +Wir machen uns Gedanken über mögliche Folgen. Zum Beispiel: Was passiert, wenn der Gaspreis steigt? +Anderes Beispiel: Ebola. +Bei Ebola haben wir mit zwei Mann die Nachrichten im Auge behalten. Und diskutiert, was wir tun, falls Ebola hier ausbricht. Wie man sich mit Desinfektionsmitteln, Masken und Handschuhen schützen kann. +Epidemien, Kriege, Terrorismus. Es lauern ja überall Gefahren. Leben Prepper in ständiger Angst? +Man tauscht sich zwar viel über Gefahren aus, aber man hat nicht mehr Angst. Im Gegenteil. Man lebt leichter. Wenn man vorbereitet ist, dann genießt man sein Leben. +Ihre Frau macht das alles mit? +Meine Frau weiß genau, was ich da mache und was wo ist. Die Bevorratung nimmt sehr viel Platz im Keller weg. +Was lagern Sie denn im Keller? +Verschiedenste Nahrungsmittel, die lange haltbar sind. Wasser, Wasserfilter. Toilettenpapier, Hygieneartikel, Zahnpasta, Zahnbürsten, Seifen, Desinfektionsmittel, Erste-Hilfe-Material,  Medikamente, fiebersenkende Mittel, Kohletabletten, Schmerzmittel. Decken. Verschiedene Kerzen. Batterien, Akkus, Ladegeräte. Ein Kurbelradio, damit man immer weiß, was los ist. Transportrucksäcke, damit man fliehen kann. Stabile Kleidung, Seile, Messer, eine Armbrust. +Was sagen Sie, wenn man Ihnen vorwirft, dass Sie übertreiben? +Dann stellt sich in Gesprächen oft raus, dass es sinnvoll ist, was ich tue. Und dass es eher peinlich ist, wenn man sich noch gar nicht damit befasst hat, was alles passieren kann. +Sie empfinden diejenigen, die nicht vorsorgen, als leichtsinnig. +Ich persönlich nicht, andere mit Sicherheit. Es ist letztendlich die Entscheidung des Einzelnen und oft auch eine Frage des Geldes. +In Amerika haben viele Prepper Waffen, um sich zu verteidigen. Betrachten Sie das als problematisch? +Verteidigung spielt für Prepper eine große Rolle. Weil es im Notfall Menschen geben wird, die in Chaos verfallen. Aufgrund der Gesetze in Deutschland ist es nicht möglich, sich stark zu bewaffnen. Was auch gut ist. In den USA rüsten sich Prepper hoch. Immer mit der Angst, dass der andere besser bewaffnet ist als man selber. Da gibt es Prepper mit 10, 15 Sturmgewehren, 20 Pistolen. 20.000 bis 40.000 Schuss Munition. Das sehe ich kritisch. +Sie selbst haben ja die Armbrust. +Die ist für den Notfall, wenn ich mal rausmuss zum Jagen oder ein Seil über einen Fluss schießen will. +Warum betreiben Prepper eigentlich privaten Katastrophenschutz? Sie könnten sich ja stattdessen bei der Feuerwehr oder dem THW für die Allgemeinheit engagieren. +Das machen ja viele Prepper zusätzlich. Bei mir ist es eine Frage der Prioritäten. Mir ist in erster Linie wichtig, meine Familie zu beschützen. Wenn ich im Katastrophenfall für  eine  Behörde oder Organisation  unterwegs bin, kann mir niemand garantieren, dass sich jemand währenddessen um meine Familie kümmert. +Auf Ihrer Internetseite distanzieren Sie sich von politisch Radikalen. Besteht die Gefahr der Unterwanderung? +Leider Gottes ja. Es gibt einige Radikale, Gesellschaftsfeinde, die sind enttäuscht von der Politik oder ihrem eigenen Leben, und solche Menschen beschäftigen sich auch mit dem Thema Prepper. Man erkennt sie schnell an ihren Formulierungen. Wir wollen offen sein für Menschen jedweder Herkunft, jedweder Religion. Ich bin davon überzeugt, dass man große Krisen nur friedlich, weitsichtig und  gemeinsam meistern kann. +Wenn man sich ständig auf den Notfall vorbereitet, fängt man dann irgendwann an zu hoffen, dass er eintritt? +Es wird Prepper geben, die sich das wünschen, die jungen, die unerfahrenen. Ich nicht. Denn wenn man weiß, was man zu verlieren hat, dann will man es auch nicht verlieren und wünscht sich auch keinen Eintritt einer Krisensituation. +Felix Dachsel, 28, studiert am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Er hat das Gefühl, weder auf die kleinen (Steuererklärung) noch auf die großen Katastrophen des Lebens (Hochwasser) gut vorbereitet zu sein. +Ein Kurbelradio, das durch Muskelkraft funktioniert – falls der Strom ausfällt +Den Rucksack, den er packt, hat er immer griffbereit – entweder in der Wohnung oder im Auto. Er nenn das sein "everyday carry" +Mit einer Art Wetzstahl entfacht Bastian Blum Funken, die ein Wattepad schnell zum Brennen bringen – optimal, um mit Zunder und Holz schnell ein Feuer zu entfachen +Eine Petroleum-Lampe, die wegen ihrer hohen Heizleistung zugleich schön wärmt +Die Häsin fühlt sich bei ihm scheinbar so sicher und wohl, dass sie auch aus dem offenen Käfig nicht flieht +Früher arbeitete Bastian Blum als Sanitäter und beim Technischen Hilfswerk (THW), heute bei der freiwilligen Feuerwehr +Da die Nudeln über die Jahre der Lagerung im Keller langsam die Raumfeuchtigkeit ziehen würden, lagert Blum sie im Kühlschrank, luftdicht verschlossen. +Die Notration im Kellerregal +Auch sonst gut ausgestattet – die Armbrust möchte er aber nur zum Jagen und Seilschießen einsetzen, beteuert er +Das Tarnmuster seiner Jacke sei ein ganz spezielles, sagt er. Es habe besonders gute Tarneigenschaften und wird deshalb in vielen Ländern verwendet +Immer griffbereit, immer dabei: sein "everyday carry" diff --git a/fluter/memory-box-berlinale-film-rezension.txt b/fluter/memory-box-berlinale-film-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e891ef256e13c823b108f6986c5b8731d296aae3 --- /dev/null +++ b/fluter/memory-box-berlinale-film-rezension.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +DieCorona-Pandemiehat auch die Berlinale durcheinandergebracht. Es gibt sie dieses Jahr zweiteilig: Vom 1. bis zum 5. März findet ein virtuelles Festival statt, bei dem nur Filmbranchenvertreter/-innen und Journalist/-innen die Filme des diesjährigen Programms anschauen können. Parallel dazu trifft sich die Filmindustrie – ebenfalls digital ­– beim "European Film Market", um über Rechte zu verhandeln und sich zu vernetzen. Vom 9. bis zum 20. Juni sollen alle Filme dann noch einmal für die breite Öffentlichkeit in den Berliner Kinos gezeigt werden. +Die Regisseur:innen Joana Hadjithomas und Khalil Joreige stammen selbst aus dem Libanon, haben den dortigen Bürgerkrieg als junge Menschen erlebt und vermischen in "Memory Box" die fiktive Geschichte von Alex und Maia mit autobiografischem Archivmaterial. Auf diese Weise gehen sie der Frage nach, welche Rolle das Erinnern für uns spielt undwelche Auswirkungen Kriegstraumata auf Menschen, Familien und ganze Gesellschaften haben können. Das ThemaErinnernzieht sich wie ein roter Faden durch den Film, etwa wenn Alex und ihre Familie am Weihnachtsabend Bilder von dem verstorbenen Onkel und Großvater aufstellen, um "mit den Toten und den Geistern zu essen". Oder wenn in der Rückschau gezeigt wird, wie Mutter Maia als Jugendliche im Bürgerkrieg Angst davor hat, ihren bei einem Attentat getöteten Bruder eines Tages zu vergessen, während ihre Eltern an den Erinnerungen an den geliebten Sohn zu zerbrechen scheinen. + +Auf zwei Zeitachsen: Einmal ist da Alex, die im heutigen Montreal mithilfe der "Erinnerungskiste" die Jugend ihrer Mutter nachempfindet. Und dann Maia, die während des libanesischen Bürgerkriegs in Beirut erwachsen wird. Beide Handlungsstränge, die geschickt miteinander verwoben sind, erzählen einfühlsam und sehr persönlich aus dem Leben der beiden Frauen. Obwohl der Film die Schrecken des Bürgerkriegs mit Bombardierungen, Angst und Tod nicht ausklammert – so hört man beispielsweise immer wieder Schüsse und Explosionen im Hintergrund –,  feiert er auch das Leben, das Überleben.Wer in einem Kriegsgebiet aufwächst, das versteht man, wenn man "Memory Box" guckt, hat eben auch ganz "alltägliche" Teenagergedanken und -probleme. +"Memory Box" ist auf dem Berlinale Summer Specialam 11., 12. und 18. Juniin Berlin zu sehen. Ein deutscher Kinostart steht leider noch nicht fest. +So kommt der Film auch mal albern daher, etwa wenn Maia als Jugendliche ihrer Freundin von einer Evakuierung berichtet, bei der ihr Nachbar in seinen Shorts keinen besonders schönen Anblick bot. So zeigt "Memory Box" auch einfach die Sehnsüchte eines jungen Menschen: Wie Maia von ihrer ersten großen Liebe Raja erzählt oder von ihrem Traum, eines Tages den Bürgerkrieg hinter sich zu lassen und Fotografin zu werden. + +"Es gibt keine Zeit für uns, es gibt keinen Raum für uns", steht auf einer der Kassetten, die Maia damals für ihre Jugendfreundin aufgenommen hat. +Der Satz bezieht sich auf ihre heimliche Beziehung zu ihrem ersten Freund Raja. Maias Eltern verbieten den Kontakt zwischen den beiden, weil Raja zu einer Milizgruppe gehört, die – so sehen es die Eltern – für den Tod ihres Sohnes verantwortlich ist. Der Satz könnte aber auch für alle Menschen stehen, die während des Bürgerkriegs wie Maias Familie inBeirutausharren und deren Leben durch die Bombardierungen und Konflikte im Land in einem zermürbenden Stillstand gefangen zu sein scheinen. + +Besonders beeindruckt, wie geschickt Joana Hadjithomas und Khalil Joreige ihr eigenes Archivmaterial aus der Zeit des libanesischen Bürgerkriegs mit der fiktiven Geschichte von Alex und Maia zu einer packenden Erzählung verbinden. Alex' Sicht erzählen die Filmemacher:innen außerdem mit Social-Media-Elementen, beispielsweise wenn sie mit ihren Freund:innen in einem Gruppenchat über ihre Recherche schreibt. Auf diese Weise werden die Erinnerungen der Mutter wiedererweckt und in unsere heutige Zeit überführt. So lässt einen "Memory Box" vor allem mit einer Erkenntnis zurück: wie schnell wir uns selbst verlieren können, wenn wir unsere eigenen Erinnerungen nicht zulassen. + diff --git a/fluter/menschen-leben-auf-friedhof-in-manila.txt b/fluter/menschen-leben-auf-friedhof-in-manila.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..09461ea688ca077883f2ab9dabe5bcc1beb6cf44 --- /dev/null +++ b/fluter/menschen-leben-auf-friedhof-in-manila.txt @@ -0,0 +1,33 @@ + +Ganz in Ruhe lernen: Mittlerweile gibt es auf dem Friedhof sogar einen Kindergarten mit Vorschule + +In kaum einer Stadt leben Menschen so dicht gedrängt wie in Manila. Schätzungsweise tummeln sich mehr als 20 Millionen Menschen in der Metropolregion der philippinischen Hauptstadt auf einer Fläche, die deutlich kleiner ist als Hamburg. Aus den häufig perspektivlosen ländlichen Regionen zieht es die Menschen seit Jahren in die Metropole, im Gepäck oft nicht mehr als die Hoffnung auf ein besseres Leben. Häufig haben sie keine andere Wahl, als in einem der Slums unterzukommen, die selten Platz für Neuankömmlinge bieten. +So weichen manche auf den Friedhof im Norden der Stadt aus. Statt in klapprigen, aus Wellblech, Plastik und Planen zusammengeflickten Hütten können sie in einem Mausoleum wohnen. Die klotzigen Betonbauten bieten Schutz vor Wind und Wetter, zudem ist die Miete günstig (0 Euro). Denn meist sind die Bewohner gleichzeitig für die Pflege der Mausoleen verantwortlich und werden daher von den Besitzern toleriert. +An die marmornen Grabmäler, die im Schlaf- und Wohnzimmer aus dem Boden ragen, haben sich die Menschen längst gewöhnt und sie zu Betten umfunktioniert.Was für manchen Besucher makaber wirken kann, ist für sie Normalität; verständlich, wenn man, wie einige, sein ganzes Leben hier verbracht hat. Denn schon seit den 1950er-Jahren wird der Friedhof von lebenden Menschen besiedelt. +Auch wenn sich der North Cemetery seitdem zum Wohnviertel entwickelte, die Lebensbedingungen bleiben weit unter akzeptablen Standards. Fließendes Wasser gibt es nicht, lediglich eine Handvoll öffentlicher Brunnen. Eines der größten Probleme:das fehlende Abwassersystem. Toiletten sind auf dem Friedhof daher nicht vorhanden. + +Glotze muss sein: Trotz erschwerten Zugangs zu Strom – Leitungen werden angezapft oder selbst provisorisch angelegt – besitzen fast alle Familien einen Fernseher +Totenruhe geht anders, aber bei Geburtstagen darf Karaoke auf den Philippinen nicht fehlen. Für die Feier der dreijährigen Natasha hat die Familie extra ein Gerät besorgt +Inmitten der Grabmäler boomt der "informelle Wirtschaftssektor". Viele ziehen ihre eigenen kleinen Geschäfte auf, so gibt es neben Kiosken auch Eisverkäufer, kleine Fastfood-Läden und ... +... ein Internetcafé. Hier surfen die Jugendlichen im Netz, schauen Youtube-Videos oder checken ihre Facebook-Accounts +Täglich finden 50 bis 100 Begräbnisse auf dem Cemetery del Norte statt, und so durchkreuzen regelmäßig Trauerzüge das Wohnviertel +Berufliches und Privates trennen? Grabpfleger Bernard macht es sich zusammen mit seinem Sohn Kyren in der gemeinsamen Wohnung gemütlich. Die Gräber im Zimmer stören ihn nicht – er benutzt sie als Regal +Wie überall in Südostasien singen die Leute gerne Karaoke, wie fast überall auf der Welt spielen Kinder Videospiele und surfen im Netz. Den Strom dafür liefern meist angezapfte Leitungen. Zwischen Gräbern trällern die Menschen in provisorischen Karaokebars, während die Jugendlichen im Internetcafé des Friedhofs hocken undYouTube schauen. +Kambal hingegen züchtet Renntauben, ein beliebter Zeitvertreib auf den Philippinen. "Die Tauben sind unsere Quelle des Glücks, besonders wenn es Rennen gibt", sagt er und führt stolz die Flügel seiner Lieblingstaube vor. Bei diesen Rennen legen die Brieftauben auf dem Weg nach Hause Hunderte Kilometer zurück. Mit bis zu 10.000 Pesos (rund 170 Euro) Einsatz wetten die Züchter darauf, dass eine ihrer Tauben als Erste ankommt. Wenn er gewinnt, kauft Kambal als Erstes Futter für seine Zöglinge. +Kambal Cabaña züchtet Renntauben. Die Rasse, die ursprünglich in Belgien und England entwickelt wurde, wird heute auf der ganzen Welt eingesetzt um Rennen zu fliegen + +Bis heute ist der Friedhof für die Bewohner Hauptarbeitgeber. "Gäbe es keinen Tod, könnten wir nicht überleben", sagt Grabpfleger Zasho, der seit seiner frühen Kindheit hier lebt. Für das Bewachen, Säubern und Anstreichen bekommt er im Jahr umgerechnet drei bis sechs Euro pro Grab. Wenn Familien nach Ablauf eines Fünfjahresvertrages die Kosten nicht mehr tragen können, werden die Gräber ausgehoben und die Gebeine den Angehörigen überreicht. +Er scheint zufrieden mit dem Leben auf dem Friedhof, nur sei das Einkommen nie gewiss. Womit er hingegen fest rechnen kann, ist Allerheiligen, für ihn die beste Zeit im Jahr. Der Feiertag wird auf den Philippinen als Tag der Toten gefeiert, und so statten viele Familien ihren Verstorbenen einen Besuch ab. Das bedeutet für Zasho: Arbeit und Einkommen, denn dann bitten ihn besonders viele Hinterbliebene, das Grab zu säubern und zu pflegen. +Seit seiner Kindheit lebt Zasho auf dem Friedhof. Auch er ist, wie die meisten Bewohner, Grabpfleger … +… und Besitzer eines Fernsehers. Auf seinem läuft gerade eine Reklame für Reinigungsmittel. Hygiene ist tatsächlich eines der größten Probleme der Friedhofsbewohner +Auf dem Friedhof gibt es weder Toiletten noch Sanitäranlagen oder fließend Wasser +Essen auf Gräbern: Richard bereitet die Mahlzeit für seine Familie im Mausoleum vor. Dort lebt er mit seiner Frau, seinen Schwiegereltern und seinen zwei Kindern +Eine andere Beschäftigung in den Mausoleen: gemeinschaftliche Bibelstunden. Die Philippinen sind neben Osttimor das einzige mehrheitlich katholische Land in Asien +Netflix & Chill auf dem Babyfriedhof: Diese Grabpfleger können sich gerade eine Pause gönnen. Sie sind auf die Aufträge der Hinterbliebenen angewiesen und haben im November am meisten zu tun. Denn dann sollen die Gräber für den katholischen Feiertag Allerheiligen hergerichtet werden +Ihr Leben mit den Toten wird lediglich toleriert, legal ist es nicht, und so müssen sie stets mit Zwangsräumungen rechnen. Der North Cemetery ist ein öffentlicher Friedhof und wird von der Stadt verwaltet. Immer wieder hat sie Vorstöße unternommen, um die Bewohner umzusiedeln. Doch diese berufen sich auf ihre "Grabpflege-Verträge", die sie mit den Familien geschlossen haben und die das Wohnen auf den Gräbern erlauben. Hätten die Bewohner die Möglichkeit, wären viele wohl schon längst freiwillig weggezogen. + +Seit ein paar Jahren lebt Christian offen schwul, was nicht immer leicht für ihn ist. Er träumt davon, seine Familie aus der Armut zu holen + +Auch Christian, 15 Jahre alt, möchte weg: "Nachts denke ich immer darüber nach, wie wir dem Nordfriedhof entkommen können", erzählt er. Er versucht, einen besonders guten Schulabschluss zu schaffen, und schuftet nebenbei hart. Die frühen Morgenstunden vor dem Unterricht verbringt er mit Putzen und Wasserholen, um die Familie finanziell zu unterstützen. Wegkommen, der Misere und den Toten für immer den Rücken kehren – davon träumen viele. Vor über 20 Jahren appellierten die Bewohner an den Bürgermeister, eine staatliche Schule, Sanitäranlagen und eine Kirche zu errichten. Auf eine Antwort warten sie bis heute. + + diff --git a/fluter/menschenrechte-70-jahre-quiz.txt b/fluter/menschenrechte-70-jahre-quiz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1e8e2c74b2c0bab387d86eb6ac4f73eae6f45064 --- /dev/null +++ b/fluter/menschenrechte-70-jahre-quiz.txt @@ -0,0 +1,12 @@ + +Das Recht auf Freizügigkeit ist in Artikel 13 der AEMR geregelt und findet sich auch in Artikel 11 des deutschen Grundgesetzes wieder: "Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet." Weiter heißt es in Artikel 13 der UN-Menschenrechtscharta: "Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren." Es gibt hier also ein Menschenrecht auf Auswanderung (das beispielsweise die DDR nicht eingehalten hat) – aber nicht auf Einwanderung. +Artikel 23 der AEMR behandelt das Recht auf Arbeit und eine gerechte Entlohnung: "Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit. Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit." Gerade der letzte Satz zeigt, dass die Menschenrechte auch in Deutschland noch nicht komplett umgesetzt sind – in Deutschland gibt es etwa einen deutlichen Gender Pay Gap zwischen Männern und Frauen. +Okay, das war einfach. Diese Zeile stammt nicht von den Vereinten Nationen, sondern ist aus dem Jahr 1986 – und dem gleichnamigen Song der Beastie Boys. Der findet sich allerdings indirekt auch in der AEMR wieder: "Jeder hat das Recht auf Erholung und Freizeit, auf eine vernünftige Begrenzung der Arbeitszeit und auf bezahlten Urlaub", heißt es in Artikel 24. Ob die Freizeit nun mit Party oder anderen Dingen gefüllt wird, bleibt den Menschen selbst überlassen. +Sondern Artikel 6a der Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam, die 1990 von der Islamischen Konferenz beschlossen wurde. Sie ist auch als Ausdruck der Kritik zu verstehen, die der UN-Menschenrechtscharta aus der islamischen Welt entgegengebracht wird: Bemängelt wird die fehlende Berücksichtigung der Religion und Kultur nichtwestlicher Länder. Die Kairoer Erklärung beruft sich in vielen Punkten auf die Scharia und ähnelt der UN-Menschenrechtscharta in vielen Punkten, ist aber eben doch anders zu lesen, wie etwa der anschließende Artikel 6b zeigt: "Der Ehemann ist für den Fortbestand und das Wohlergehen der Familie verantwortlich." +Das Briefgeheimnis ist in Artikel 10 des Grundgesetzes festgelegt, die Idee dahinter findet sich aber auch in der AEMR. In Artikel 12 heißt es: "Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden. Jeder hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen." +Hierbei handelt es sich um einen Teil von Artikel 17 der AEMR. Weiter heißt es: "Niemand darf willkürlich seines Eigentums beraubt werden." Das schützt die Menschen nicht generell vor Enteignungen von staatlicher Seite, da diese eben lediglich nicht "willkürlich" durchgeführt werden dürfen. +Hierbei handelt es sich um Paragraf 9 des deutschen Arbeitszeitgesetzes. Eine Sonntagsruhe würde als allgemeingültiges Menschenrecht wenig Sinn ergeben, weil der Sonntag als "freier Tag" auf Konventionen beruht und vor allem für den christlich geprägten Teil der Welt gilt. Gleichwohl finden sich auch in der Menschenrechtserklärung Absätze, die Arbeitnehmern Pausen zugestehen: "Jeder hat das Recht auf Erholung und Freizeit und insbesondere auf eine vernünftige Begrenzung der Arbeitszeit und regelmäßigen bezahlten Urlaub" steht in Artikel 24, auf den schon die Beastie Boys hinwiesen (siehe Frage 3). +Der Satz steht in Artikel 16 der AEMR. Weiter heißt es: "Heiratsfähige Frauen und Männer haben ohne Beschränkung auf Grund der Rasse, der Staatsangehörigkeit oder der Religion das Recht zu heiraten und eine Familie zu gründen. Sie haben bei der Eheschließung, während der Ehe und bei deren Auflösung gleiche Rechte. Eine Ehe darf nur bei freier und uneingeschränkter Willenseinigung der künftigen Ehegatten geschlossen werden." +Die Aussage stammt aus einem Interview mit dem Medizinrechtsanwalt Wolfgang Putz. Putz vertritt mehrere Ärzte, die vor dem Bundesverfassungsgericht Beschwerde gegen die Neuregelung des Paragrafen 217 StGB zur Sterbehilfe eingereicht haben. Bis vor etwas mehr als 20 Jahren ging man einzig in der Schweiz liberal mit dem Thema um, inzwischen haben die Beneluxstaaten, Kanada, Kolumbien und mehrere US-Staaten Gesetze, die eine aktive Sterbehilfe regeln. Leute wie Putz werben dafür, dass sie unter gewissen Bedingungen auch in Deutschland legalisiert wird, während die Gegner darauf verweisen, dass Menschen dadurch in den Tod gedrängt werden könnten. Eine ethische Debatte, die schon seit Jahrzehnten geführt wird. Ob es irgendwann auch ein "Menschenrecht auf Suizid" geben wird, ist nicht abzusehen. + + diff --git a/fluter/menschenrechte-dafuer-lohnt-es-sich-zu-kaempfen.txt b/fluter/menschenrechte-dafuer-lohnt-es-sich-zu-kaempfen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f1bd28575b6aec788df222d4a22b3ddaf9053df7 --- /dev/null +++ b/fluter/menschenrechte-dafuer-lohnt-es-sich-zu-kaempfen.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Menschenrechte sind aber immer auch prekär. Nichts ist so leicht, wie solche Grundrechte im Allgemeinen anzuerkennen und im Konkreten zu verletzen. Unter Vorwänden, die gerade für die Mächtigen immer wohlfeil sind. Und vollends wird ihnen die Grundlage entzogen, wenn auch der Westen Menschenrechtsverletzungen im Namen der Menschenrechte begeht. +60 Jahre nach der Verabschiedung der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist die Bilanz durchwachsen. Und die Aussichten auf Besserung sind vage, aber es gibt sie. fluter hat das zum Anlass genommen, die Artikel der Deklaration von 1948 mit Beiträgen zu ihrer konkreten Wirklichkeit heute zu konfrontieren. Es ist ein Kaleidoskop der Widersprüche und eine Aufforderung, sich nicht auf den vermeintlichen Automatismus des geltenden Rechts zu verlassen. Denn sobald dieses Recht abstrakt bleibt, wird es schon unterlaufen. diff --git a/fluter/methoden-um-drohnen-abzuwehren.txt b/fluter/methoden-um-drohnen-abzuwehren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..be4d944f96a626d1cc4276e7c9c52dc000ad8d45 --- /dev/null +++ b/fluter/methoden-um-drohnen-abzuwehren.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Um eine Drohne abzuwehren, muss man sie erst einmal erkennen. Bei Dunkelheit ist es nahezu unmöglich, den Himmel über einem Gelände mit bloßem Auge zu überwachen. Firmen wie das Kasseler Start-up Dedrone entwickeln deshalb UAV-Detektoren ("unmanned aerial vehicle", englisch für "unbemanntes Luftfahrzeug"). Die Sensoren seines "DroneTrackers" erkennen Drohnen automatisch, analysieren die hochfrequenten Geräusche der Motorsteuerung, der Funkwellen der Fernsteuerung und der Videoverbindung. Ist eine Drohne im Anflug, schlägt der "DroneTracker" Alarm. Die schwierig zu lösende Abwehr des Eindringlings überlässt das Start-up bewusst anderen Firmen. + +Einige Firmen bieten die Abwehr der Drohnen gleich mit an und zielen dafür auf deren Funkverbindungen. Das Start-upSkysafezum Beispiel will Spielzeugdrohnen per Funk hacken und sicher landen können – verrät aber bisher nicht, wie.Das Richtfunk-Gewehr eines US-amerikanischen Forschungsinstitutsstört die GPS-Lokalisierung und die Fernsteuerung. Auf dieselbe Weise funktioniert auch einAbwehrsystem von Airbus Defence. +Wenn Copter ihr Signal verlieren, stürzen sie normalerweise nicht ab, sondern leiten eine Notlandung ein. Sofern ihre Satellitenortung noch funktioniert, kehren sie gar zu ihrem Startpunkt zurück. Vor gefährlichen Bruchlandungen muss man sich also nicht fürchten. Das Funk-"Jamming" hat jedoch einen entscheidenden Nachteil: Es unterbricht auch alle Mobilfunk- und Wi-Fi-Verbindungen in der Nähe. + +Eine andereUS-Firma verkauft spezielle "Drone Munition"für die Schrotflinte. Der Hersteller bewirbt die Jagd- und Selbstverteidigungsmunition mit dem Slogan "Prepare for the Drone Apocalypse!". +Es geht aber noch eine Spur futuristischer und gruseliger: Der Überlinger RüstungskonzernDiehl Defence stört die Bordelektronik von Drohnenmit einer Mikrowellenkanone. Damit lassen sich selbst Autos außer Gefecht setzen. Die Airbus-Tochter MBDA, ein führender Hersteller von Raketen, baut eineLaserkanone mit bis zu 2,5 Kilometer Reichweite.Eine ähnliche hat auch Boeing entwickelt. Einmal getroffen, fallen anvisierte Ziele brennend zu Boden. Über einem ausverkauften Fußballstadion kein wirklich beruhigendes Szenario. + +Andere Abwehr-Firmen werfen Netze aus, um Drohnen vom Himmel zu holen. Die kompakte "NetGun" einer Schweizer Firma schießt mit Luftdruck ein Fangnetz 20 Meter hoch in die Lüfte – und ist auch geeignet, um entlaufene Hunde einzufangen. EineNetz-Bazooka aus Großbritanniendagegen wirkt zum Tierefangen zu martialisch. Dafür erreicht sie aber auch Drohnen in einer Höhe von bis zu 100 Metern. + +Ein Pariser Unternehmen hat eine spezielle Abfangdrohne entwickelt: einen riesigen Hexacopter, der schneller und stärker als handelsübliche Drohnen und mit einem Netz ausgestattet ist. Damit fängt er andere Copter ein und transportiert sie anschließend aus der Gefahrenzone. Auch dieDrohnenabwehr-Einheit der Polizei in Tokionutzt solche fliegenden Copter-Käscher. + +Noch können Drohnen nicht autonom auf Abfangjagd gehen. Um Eindringlinge per Netz abzuwehren, werden für viel Geld ausgebildete Piloten benötigt, die Tag und Nacht einsatzbereit sind. Dabei würde das Tierreich für diesen Job prädestinierte Experten bieten, findet eine niederländische Firma. Sie bildet eine viel beachteteAdler-Abwehreinheitaus. Die Raubvögel seien mit ihren scharfen Augen und ihrem Jagdinstinkt die perfekten Drohnenjäger. Bei den bisherigen Tests mit kleineren Drohnen schnitten die Vögel gut ab. Ob sie auch leistungsfähige Copter apportieren können,bezweifeln Kritiker jedoch. + +Die wohl eleganteste Lösung, Gebiete vor Drohnen zu schützen, ist wahrscheinlich, sie erst gar nicht in diese hineinzulassen: Immer mehr Mittelklasse-Spielzeugcopter enthalten "Geofences": einprogrammierte Flugverbotszonen, die bei jedem Update von zentralen Datenbanken wie der vonNoFlyZone.orgaktualisiert werden. Das sind zum Beispiel Flughäfen, Innenstädte oder Stadien. Ein Start oder Flug in diesen Gegenden ist den Coptern dann erst mal unmöglich – es sei denn natürlich, sie werden gehackt. diff --git a/fluter/mexiko-femizide-protest.txt b/fluter/mexiko-femizide-protest.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1c4fc70dcf8db71d27cfe9018c94e4d23cec054d --- /dev/null +++ b/fluter/mexiko-femizide-protest.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +In Mexiko nimmt die Gewalt gegen Frauen seit Jahren zu. Allein zwischen 2015 und 2019 stieg die Zahl der Frauenmorde um 137 Prozent. Täglich werden in Mexiko etwa 94 Menschen ermordet. Im Jahr 2021 wurden insgesamt 34.312 Morde verübt;ein großer Teil davon ist kriminellen Banden zuzuordnen.Im Schnitt gehören täglich auch zehn Frauen zu den Opfern. Dass auch staatliche Sicherheitskräfte tödliche Gewalt anwenden, ist keine Seltenheit. Nur ein Viertel der Frauenmorde wird offiziellen Angaben zufolge als Femizid anerkannt, also als Mord, der aufgrund des Geschlechts verübt wird. Das liegt auch an der Haltung der Regierung: Der mexikanische Präsident selbst diskreditierte pauschal alle Proteste der Frauen, weil es dabei in der Vergangenheit auch gewaltsame Ausschreitungen gab. Die hohe Mordrate an Frauen spielte er herunter – und nur ein Bruchteil der Morde wird von den Behörden aufgeklärt. + + +"Mein komplettes Leben dreht sich um den 9. November", sagt Wendy. Weil es keine Konsequenzen für die Polizisten gab, fühle sie sich seit dem Vorfall noch unsicherer auf der Straße als zuvor. Nach Sonnenuntergang gehe sie kaum noch vor die Tür und wenn doch, schreibt sie ihren Freund:innen vorher, wo sie hingeht. Nachts habe sie häufig Albträume und tagsüber noch immer Beschwerden wegen der Schussverletzungen. "Früher bin ich viel Fahrrad gefahren, das kann ich mittlerweile nicht mehr so wie früher", sagt Wendy. Sie nehme noch immer drei Schmerztabletten täglich, sagt sie Mitte Februar beim Interview in Cancún. +Laut Tania Turner von der mexikanischen Frauenrechtsorganisation Fondo Semillas mache ein Mix aus verschiedenen Faktoren das Leben für Frauen in Mexiko so gefährlich. Dieser Mix bestehe zum einen aus der wachsenden wirtschaftlichen Ungleichheit sowie der Drogenkriminalität, die das Land nicht unter Kontrolle bekomme. Zum anderen trage auch die sogenannte Machismo-Kultur zur Gewalt gegen Frauen bei. "Viele Menschen in Mexiko sind nach wie vor der Meinung, dass Frauen weniger wert sind, dass sie ihr Leben nach ihren Männern auszurichtenund sich zu Hause um Haushalt und Kinder zu kümmern haben", erklärt Turner. +Viele seien zudem mit Gewalt aufgewachsen, mussten dabei zusehen, wie ihre Mütter von ihren Vätern misshandelt wurden. "Deswegen glaubten viele Frauen über Jahrzehnte,dass Gewalt ganz normal und Teil ihres Lebens sei", sagt Turner. Doch diese Haltung habe sich in den letzten Jahren geändert. +"Die Frauenrechtsbewegung hat unglaublich an Fahrt aufgenommen", sagt Turner. Die junge Generation verbünde sich mit alteingesessenen Feministinnen und kämpfe gemeinsam auf der Straße gegen das Unrecht, das Frauen in Mexiko widerfahre. Doch nicht nur die zunehmende Gewalt habe dazu beigetragen: "Viele Frauen hierzulande haben durch den weltweiten Austausch mit Feministinnen online gemerkt, dass Gewalt alles andere als normal ist und sie ihre Stimme erheben und aktiv werden können." +Während Wendy sich schon früh gegen zugeschriebene Geschlechterrollen ihrer religiösen Eltern einsetzte, widersetzten sich ihre beiden Schwestern nicht. "Sie sind der Meinung, dass Frauen keinen Ärger bereiten und ihre Stimme nicht gegen die Regierung erheben sollen", sagt sie. Die konservative Familie könne den politischen Einsatz von Wendy nicht nachvollziehen. Wendys Mutter habe ihr nach dem Vorfall bei der Demonstration nur Vorwürfe gemacht. "Wir sprechen seitdem nicht mehr miteinander", sagt Wendy. + + +Der Kampf um Gleichberechtigung führt nicht nur zu innerfamiliären Konflikten wie bei Wendy. Laut Turner trägt er auch dazu bei, dass die Gewalt gegen Frauen noch zunimmt. "Viele Männer kommen nicht damit klar, dass Frauen mittlerweile sichtbarer sind und ihre Stimme erheben, statt zu Hause die Rolle der hörigen Hausfrau zu erfüllen." Durch Gewalt würden sie versuchen, Frauen auf ihre angestammten Plätze in der Gesellschaft zurückzudrängen. +Um sich gegen ebenjene geschlechtsspezifische Gewalt wehren zu können, bietet Ana Moreno von der NGO Círculo Feminista de Análisis Jurídico anderen Frauen in Mexiko Rechtsberatungen an. Die 33-Jährige ist eine der Mitbegründerinnen der Organisation. "In Workshops bringen wir Nichtjuristinnen bei, wie sie sich mithilfe des Rechtssystems gegen Sexismus wehren können", erklärt Ana. Als am Weltfrauentag am 8. März in Mexiko-Stadt Demonstrationen stattfanden, erklärte Ana anderen Frauen vorab, welche Rechte sie bei einer solchen Veranstaltung haben und was sie tun müssen, sollten sie unrechtmäßig in Gewahrsam genommen werden. +Die Idee für die Gründung kam Ana durch den Austausch über feministische Themen mit anderen Frauen. "Ich habe gemerkt, wie hilfreich mein Beruf für andere sein kann." Doch auch die eigenen Erfahrungen mit geschlechtsspezifischer Diskriminierung haben zu Anas Werdegang beigetragen. "In Mexico City wurde ich immer wieder von Männern belästigt.Die Belästigungen reichten von sexistischen Kommentaren bis hin zu sexuellen Übergriffen in der Öffentlichkeit." Aus Selbstschutz, wie sie sagt, habe sie irgendwann angefangen, sich anders zu kleiden: "Statt Röcken und Kleidern habe ich, selbst wenn es warm war, angefangen, lange Hosen zu tragen." Solche Ansätze sind unter Feministinnen umstritten, da sie nicht die Täter in die Verantwortung nehmen, sondern die Frauen. Doch am Ende gewinnt eben oft die pragmatische Lösung: Für Ana hat diese Entscheidung den Alltag erleichtert. +Mit dem Círculo Feminista hilft sie seit 2017 nun anderen Frauen, die sich gemeinsam gegen diesen Sexismus und sexualisierte Gewalt wehren wollen. Der Kampf von Frauen wie Wendy und Ana, sowohl auf den Straßen als auch in Organisationen, macht Tania Turner von Fondo Semillas Hoffnung. "Die Feministinnen in diesem Land leisten wunderbare Arbeit", sagt sie. Tania hofft, dass dieser Kampf der nächsten Generation ein anderes Land hinterlassen wird. Ein Land, in dem Frauen und Mädchen sich frei bewegen und sein können, wer sie wollen. Dazu braucht es aber auch einen Staat, der konsequenter handelt, um Frauen vor Gewalt zu schützen. Und Männer, die bereit sind, ihr Verhalten zu verändern. + +Im Titelbild links zu sehen ist die Narbe vom Streifschuss, den Wendy am 9. November abbekommen hat. diff --git a/fluter/mexiko-trinkwasser-reportage.txt b/fluter/mexiko-trinkwasser-reportage.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ccc6dcef9da57f3c01615e36c7a37e4895d00c0f --- /dev/null +++ b/fluter/mexiko-trinkwasser-reportage.txt @@ -0,0 +1,16 @@ + + +Mexiko kämpft schon seit Jahren mit einem immer größer werdenden Wasserproblem. Bis zu 15 Millionen Menschen im Land haben keinen Zugang zu Trinkwasser. Eine Tatsache, die die ohnehin schon starke soziale Ungleichheit noch verstärkt. In der Hauptstadt mit ihren knapp 22 Millionen Einwohner:innen zeigt sich das Problem am deutlichsten: Während die einen das Wasser nur so verschwenden, bleiben rund 1,3 Millionen Menschen in der Megacity ganz ohne Wasseranschluss. Selbst in vielen Haushalten, die ans reguläre Wassernetz angeschlossen sind, fließt das Wasser an manchen Tagen nicht – oder es kommt nur braune Flüssigkeit aus dem Hahn. Das Wasser ungefiltert zu trinken ist oft gefährlich. Viele Millionen Mexikaner:innen sind bereits von den Folgen der schlechten Wasserqualität betroffen. Das Wasser enthält oft unter anderem Fluorid und Arsen. Eine Studie aus dem Jahr 2017 zeigt, dass mehr als drei Millionen Mexikaner:innen Wasser mit einem zu hohen Fluorid- und weitere 8,8 Millionen Menschen Wasser mit einem zu hohen Arsengehalt ausgesetzt sind. Der Konsum dieses Wassers kann Wachstumsstörungen oder Knochendeformationen verursachen und zu Krebs führen. +"Ich bin ständig nervös; jeden Tag mache ich mir Gedanken darüber, wie wir an sauberes Wasser kommen", sagt Maria. In dem Viertel, in dem sie schon seit ihrer Geburt lebt, gibt es keine Wasserleitungen, ihre Familie ist deshalb auf staatliche Wasserlieferungen angewiesen. Meistens einmal am Tag – manchmal aber auch mitten in der Nacht, manchmal ohne Ankündigung drei Tage hintereinander gar nicht – fährt ein Wagen mit einem großen Wassertank vor und befüllt Wasserkanister in der Nachbarschaft. +Expert:innen warnen bereits seit Jahren, dass es unmöglich sei, eine Stadt dieser Größenordnung dauerhaft und umweltverträglich mit Wasser zu versorgen. Da die Hauptstadt auf einer Hochebene fernab von Gewässern liegt, werden täglich Millionen Liter Wasser zum Teil über Distanzen von mehr als 100 Kilometern in die Stadt geleitet oder aus den Grundwasserspeichern unter der Stadt gepumpt. Unter anderem deshalb ist Mexiko-Stadt in den letzten 100 Jahren um mehr als zehn Meter abgesackt. Das Leitungssystem ist so marode, dass Schätzungen zufolge 40 Prozent des Wassers gleich wieder versickern. Weniger als 15 Prozent des Abwassers werden wieder in den Wasserkreislauf zurückgeführt. + + +Da die erwachsenen Mitglieder von Marias Familie unter der Woche arbeiten gehen, stellt sich Maria meistens alleine in die Warteschlange und trägt nacheinander bis zu zehn 20-Liter-Kanister Wasser ins Haus – entweder einen steilen Berg hinauf oder hinunter, je nachdem, wo die Wasserlieferung ankommt. "Mein Arzt hat mir gesagt, dass ich keine schweren Sachen tragen soll", sagt Maria. Der Hausfrau wurde erst vor einem Jahr ein Tumor entfernt. "Ich mache es trotzdem", sagt sie. Schließlich braucht die Familie Wasser. +200 Liter am Tag stehen der Familie so zur Verfügung, also 28,5 Liter pro Person und damit nicht einmal ein Zehntel des Pro-Kopf-Verbrauchs der Stadt – und umgerechnet etwa drei Toilettenspülungen in Deutschland. +Da es für die staatlichen Wasserlieferungen eine lange Warteliste gibt, sind viele Einwohner:innen zusätzlich auf private Unternehmen angewiesen, die Wasser teuer verkaufen. In Mexiko-Stadt hatsich eine ganze Branche entwickelt, die in den Vierteln der Megacity trinkbares Wasser aus dem Tankwagen vertreibt. Diese Unternehmen nutzen die Not der Menschen und schlagen daraus Profit. Weil auch Maria und ihre Familie sich nicht immer auf die staatlichen Lieferungen verlassen können, sparen sie Wasser, wann immer es geht. In dem kleinen Vorgarten vor dem Haus stehen zusätzlich zahlreiche Eimer: "Die benutze ich, um Regenwasser aufzufangen, und sammele darin das Wasser aus der Waschmaschine." Maria und ihr Ehemann duschen nur alle drei Tage, damit der Rest der Familie sich jeden Morgen waschen kann. Das Wasser aus der Waschmaschine nutze Maria, um den Boden zu putzen. "Das haben wir früher auch immer mit dem Wasser gemacht, mit dem wir unsere Töpfe und Teller gewaschen haben", sagt Maria. "Aber das machen wir mittlerweile nur noch, wenn das Wasser nicht zu schmutzig ist." + + +Mögliche Lösungsansätze sind bekannt: etwa der Bau von Kläranlagen, die Reparatur der Leitungen oder höhere Wasserpreise, um der verschwenderischen Nutzung mancher Mexikaner:innen entgegenzutreten, bei denen das Wasser wie selbstverständlich aus der Leitung fließt. Politik und Verwaltung streiten sich aber seit Jahren über Privatisierung und scheuen große Investitionen, die es so dringend bräuchte. Umweltschützer:innen und Wissenschaftler:innen kritisieren den Umgang der Politik mit dem Problem als unzureichend. +So haben sich mittlerweile Hilfsorganisationen gebildet, um dem Problem entgegenzutreten. Isla Urbana etwa, die ein nachhaltiges System zur Gewinnung von Wasser entwickelt hat. Dazu installiert die NGO große Wassertanks, in denen Regenwasser gesammelt, gefiltert und für den privaten Gebrauch nutzbar gemacht wird – Wasser, das sonst im Abwasserkanal landen würde. "In Mexiko leben so viele Menschen ohne Zugang zu Wasser, und gleichzeitig haben wir während der Regenzeit einen Überschuss an Wasser, der für Überschwemmungen sorgt", sagt Sol García. Sie arbeitet seit sieben Jahren für die Hilfsorganisation: "Regenwasser ist eine wirklich wichtige und vitale Ressource." +Die Systeme von Isla Urbana seien im Vergleich dazu, was viele mexikanische Familien sonst für Wasser zahlen, nicht teuer, sagt García. Familien in ärmeren Teilen des Landes zahlten außerdem nichts für die Systeme; die NGO finanziere diese Projekte auf andere Weise, beispielsweise durch Spenden. Mittlerweile profitieren bereits 22.000 Mexikaner:innen von einem Wassersystem der NGO. +Vor etwa einem Jahr wurde auch bei Maria und ihrer Familie ein Regenwassersystem von Isla Urbana installiert. Seitdem steht ein riesiger Tank im Garten der Familie, in dem Regenwasser gesammelt wird. Das erleichtert ihr Leben, sagt Maria: "Wir sind für mindestens fünf Monate im Jahr weniger auf die unzuverlässigen staatlichen Wasserlieferungen angewiesen." diff --git a/fluter/microtargeting-wahlkampf-gefahr.txt b/fluter/microtargeting-wahlkampf-gefahr.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..53fc26a63f31bb5d7477081c3ddb830d97366d75 --- /dev/null +++ b/fluter/microtargeting-wahlkampf-gefahr.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Etwa seit Mitte der 2000er-Jahre wurde Wahlwerbung in den USA individuell an Nachbarschaften angepasst – damals mithilfe von Kreditkartendaten und öffentlichen Registern. Spätestens seit 2008 ist es in den USA üblich, bis zu 500 Informationsdetails pro Person aus dem Netz zu extrahieren. So hatte das Team von Barack Obama vor den Wahlen 2012 ein Computerprogramm entwickelt, mit dessen Hilfe Daten aus verschiedenen Speichern zusammengeführt wurden. Damit konnten die Wahlhelfer*innen durch Stadtviertel gehen und wussten, in welchen Häusern die Unentschlossenen wohnen. Bei eingefleischten Republikaner*innen wurde dann gar nicht erst geklingelt. Spätestens seit Donald Trump auf der Bildfläche erschien, wurde in den USA auch die zielgerichtete Stimmungsmache durch mit gezielt aus dem Kontext gerissenen Negativinformationen als Teil von Microtargeting-Strategien bespielt. Sein Wahlkampfteam hat 2016 etwa 44 Millionen Dollar für sechs Millionen unterschiedliche Anzeigen auf Facebook ausgegeben – viele davon gezielte Kampagnen gegen seine Konkurrentin Hillary Clinton.Er hatte die Firma Cambridge Analytica für seinen digitalen Wahlkampf engagiert.Das Unternehmen hatte unrechtmäßig Daten von schätzungsweise bis zu 87 Millionen Facebook-Usern als Grundlage für seine Analysen verwendet. Die Firma meldete 2018 Insolvenz an, Facebook-Chef Zuckerberg musste sich vor dem US-Kongress rechtfertigen. +Durch Microtargeting können Botschaften entstehen, die am allgemeinen Publikum vorbei nur an ganz spezifische Zielgruppen kommuniziert werden. Das nennt man auch "dog whistle politics", in Anlehnung an Hundepfeifen mit einer bestimmten Frequenz, die nur für die Tiere hörbar ist. Wie erfolgreich die Methode ist und ob man hier tatsächlich von Manipulation sprechen kann, ist unklar – das Thema ist kaum erforscht. Ob sich die Rentnerin in Florida tatsächlich wegen einerpersonalisierten Mail von Joe Bidenentscheidet, ihn auch zu wählen, ist fraglich. +Die Politsoziologin Isabel Kusche hat sich viel mit Microtargeting befasst. Sie befürchtet, dass die Furcht vor der Manipulation in die falsche Richtung geht und wir dabei das weitaus größere Problem übersehen: "Natürlich gab es immer schon die Idee, dass man den Rentnern was anderes versprechen muss als den Studierenden. Das ist nichts Neues. Aber es war früher immerhin für alle sichtbar, wenn das passierte." Heute können Parteien im Verborgenen den verschiedenen Wählergruppen unzählige spezifische Versprechungen machen, die für alle anderen gar nicht wahrnehmbar sind – dasselbe Prinzip wie bei der Hundepfeife. So können ganz unterschiedliche Erwartungen entstehen, denen die Politik unmöglich gerecht werden kann. Die Folge: Die allgemeine politische Öffentlichkeit zersplittert, und es wird schwieriger, über Wahlkämpfe zu berichten – weil es kaum Einblick in die relevanten Datenberge gibt. +In Deutschland und der EU ist Microtargeting, anders als in den USA oder in Großbritannien, noch keine vergleichbar gängige Methode. "Es gibt Microtargeting in Deutschland in dem Sinne, dass man bestimmte Zielgruppen anspricht. Aber es hat wenig damit zu tun, wie es beispielsweise in den USA betrieben wird", sagt Dr. Isabel Kusche. Das liegt vor allem an den strengen Datenschutzbestimmungen, aber auch daran, dass die Methode in Deutschland einfach nicht so viel Erfolg verspricht. "Das Ganze funktioniert zum Beispiel nur, wenn es viele Personen gibt, die sich vorwiegend auf Social Media bewegen", erklärt Kusche. "In Deutschland wird auch weiterhin viel Fernsehen geschaut, denn Deutschland ist demografisch ein altes Land." 2018 haben Social-Media-Plattformen und das EU-Parlament zudem einen"Code of Practice on Disinformation"beschlossen. Darin wurden Maßnahmen für mehr Transparenz bei politischer Werbung auf Social Media beschlossen. Seitdem gibt es bei Facebook, Google und Twitter Archive, in denen Werbung aufgelistet ist. +Intransparent bleibt jedoch nach wie vor, welche Targetingstrategien jeweils hinter diesen Werbepostings stehen. Abhilfe könnte bald ein neues Gesetz auf EU-Ebene schaffen, das klare Vorschriften für politische Werbung auf Social Media definiert. Es soll rechtzeitig zu den EU-Wahlen im Mai 2024 gelten und verspricht ein Kräftemessen zwischen Plattformen und Regierungen zu werden. Isabel Kusche hält das für essenziell: einerseits um zu verstehen, wie Wahlkampf heute funktioniert, andererseits um das Misstrauen in die Politik nicht weiter zu befeuern. +Im Rahmen des Möglichen machen die großen Parteien, die dieses Jahr zur Bundestagswahl antreten, bereits von Microtargeting auf Social Media Gebrauch. Das legen aktuelle Untersuchungen der Medienanstalten verschiedener Bundesländer nahe. Auch der datengestützte Haustürwahlkampf ist in Deutschland angekommen. +Bis es zu verpflichtenden Regelungen für mehr Transparenz kommt, geben einige Parteien vor der Bundestagswahl nun diesbezügliche Selbstverpflichtungserklärungen ab. Manche Parteien sagen, dass sie das Targeting nutzen, beschränkt auf die Merkmale Alter, Ort, Geschlecht und Interessen. Andere wollen ihre Kampagnen lediglich "auf soziodemografische Merkmale, insbesondere Geschlecht, Sprach- und Alterseinstellungen sowie Beruf und Interessen" zuschneiden. Viele Parteien haben bislang noch gar keine Erklärungen formuliert. Aber: Das Einhalten von Versprechungen wie diesen bleibt unüberprüfbar, solange Parteien und Plattformen nicht zu Transparenz verpflichtet werden. Bis dahin gilt es, wachsam durch die Feeds zu scrollen. + diff --git a/fluter/midgardsblot-festival-neue-heiden.txt b/fluter/midgardsblot-festival-neue-heiden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e79dd140695781d3223bdadf36c0a5de702b8bbb --- /dev/null +++ b/fluter/midgardsblot-festival-neue-heiden.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Viele der Besucher des Midgardsblot haben den weiten Weg aus den USA auf sich genommen. Wie um eine lang verschüttete Traditionslinie fortzusetzen, vergraben manche Thorshammer-Amulette undRunenanhängerin der "heiligen Erde" ihrer Vorfahren. Wenn das Festival vorbei ist, werden die Mitarbeiter des angrenzenden Museums das Gelände wie jedes Jahr danach absuchen und die auf Amazon, Etsy oder dem Wikinger-Online-Shop "Grimfrost" gekauften Artefakte wieder einsammeln. +"Es findet eine Exotisierung der eigenen Vergangenheit statt. Die neuheidnische Identität ist jedoch keine Wiederentdeckung, sondern zum großen Teil ein Konstrukt", sagt Jane Skjoldli, die an der Universität Stavanger im Fachbereich Cultural Studies zum Neuheiden-Phänomen forscht. Skandinavische Wurzeln, die in Foren gerne mit DNA-Tests von Anbietern wie Ancestry belegt werden, gelten für viele als Nachweis für "Wikingerblut". "Gerade in den USA haben solche Fragen der DNA die Tendenz, schnell an rassische Ideen geknüpft zu werden", sagt Fredrik Gregorius, Experte für altnordische Religion an der Universität Linköping. Zusammen mit Skjoldli beleuchtet er in einer Forschungskooperation, wie altnordische Riten an Orten wie dem Midgardsblot eine Renaissance erfahren. Insgesamt nehmen beide die Heidenszene im Gegensatz zu früheren Wellen des New-Age-Paganismus, also des Heidentums, als weltoffen wahr. "Es ist aber nicht auszuschließen, dass alte Modelle von Ethnizität und Volksseele nebenbei gepusht werden." Auch in völkischen und rechtsextremen Kreisen spielen mythenumrankte Vorfahren eine wichtige Rolle. Das Dritte Reich stützte seine Weltanschauung auf zurechtgebogene Überlieferungen einer nordgermanischen Kriegerrasse. Schon vor der Machtergreifung hatten ariosophische Gruppen wie die "Thule-Gesellschaft" einen Übermenschen der Vorgeschichte herbeifantasiert, der vom Christentum verweichlicht worden war, aber in einer neuen Ideologie von Blut und Boden seiner Wiederbelebung entgegensah. Runen und runenähnliche Zeichen sind heute nicht nur bei Neuheiden, sondern auch bei Neonazis ein Bindeglied zu einer irgendwie edleren Vergangenheit.Während der NS-Zeithatte es die SS-Siegrune sogar auf die Tastaturen deutscher Schreibmaschinen geschafft. + + +Von rechten Ideologien distanzieren sich die "Ritual Folk"-Bands heute häufig entweder explizit oder indem sie sich als unpolitisch bezeichnen. Heilung und Wardruna, die beiden bekanntesten Bands, geben sich gar ökologisch, feministisch, antirassistisch. "Vergesst nicht, dass wir alle Brüder sind", lautet die erste Zeile einer Beschwörungsformel, die Heilung vor jedem ihrer Auftritte Hand in Hand aufsagen. Ihr Konzert beim Midgardsblot im Jahr 2022 gilt bei vielen Fans als legendär. In Foren und unter YouTube-Videos finden sich unzählige Kommentare, die die Liverituale der beiden Gruppen als spirituelle Erfahrung beschreiben. Und so ist das auch von den Künstlern intendiert. Wardruna spielten auch im vorigen Jahr auf dem Festival. Ein Traum-Line-up, dessen Rückkehr viele herbeisehnen. Ihre Idee ist, dass der Mensch, inspiriert von ihrer Musik, zum Animismus, laut einer Theorie die "Urreligion", zurückfindet. +Der zufolge habe jedes lebende Wesen, wie auch jedes unbelebte Objekt, eine Seele. Heilung beziehen sich dabei auch auf die Theorien des US-Anthropologen Michael Harner, der schrieb, dass alle Kulturen der Welt den gleichen spirituellen Kern haben, der durch schamanische Praktiken wie Trommelmusik wachgerufen werden kann. Dabei suchen die Neuheiden auch den Schulterschluss mit indigenen Kulturen, bei denen sie Ideale vom Leben im Einklang mit der Natur noch immer verwirklicht sehen. Doch statt bei den indigenen Völkern Feldforschung zu betreiben, wie es die Neoschamanen der 60er- und 70er-Jahre taten, sagen die europäischen Geistheiler, also neuheidnische Schamanen: Wir müssen nicht in die Ferne schweifen. Es gibt lokale Überlieferungen, auf die wir uns berufen können. Wenn es sich ergibt, gehen Heilung mit Angehörigen indigener Gemeinschaften auf die Bühne, so geschehen zum Beispiel mit Aborigines in Sydney. Das sei jedoch vor allem ein Ausdruck gegenseitiger Wertschätzung – "Cultural Appreciation" statt "Cultural Appropriation", sagt Kai Uwe Faust, der konzeptuelle Vordenker und Gründungsmitglied von Heilung. "Wir wollen den Indigenen nicht das Feuer stehlen. Wir leihen uns nur eine Flamme, um unser eigenes Feuer wieder zu entzünden." +Für das diesjährige Midgardsblot-Festival waren gleich mehrere indigene Künstler gebucht, darunter dieSami-Sängerin Mari Boine und der US-Amerikaner Jon Krieger, der unter dem Namen Blackbraid extremen Black Metal mit Legenden der Native Americans paart. Der Headliner Blackbraid kreischt breitbeinig auf der Folkvangr-Stage mit verschmierter Kriegsbemalung im Gesicht. Es wirkt, als sei er gerade von einem blutigen Schlachtfeld ans Mikrofon getaumelt. Zwischen den Gitarrenattacken seiner Band erntet er mit einem meditativen Solo auf der traditionellen Holzflöte Szenenapplaus. +Krieger war schon vor seiner Karriere regelmäßiger Besucher des Midgardsblot. Er schätzt die Inklusivität des Festivals. Als Adoptivkind weißer Eltern möchte er in beiden Welten zu Hause sein. In Interviews mit Medien wie der "Times Union" erläuterte er, dass die Native Americans und die europäischen Neuheiden gleichermaßen Opfer seien. "Die heidnischen Religionen in Skandinavien wurden einst von den Christen unterdrückt, die Menschen vergewaltigt und ermordet. Die meisten amerikanischen Indigenen, die ich kenne, würden sagen, dass sie die gleiche Behandlung durch weiße Christen erfahren haben." Religionsexperte Gregorius weiß: "Heiden in Europa und den USA, die sich ja selbst als Äquivalent einer indigenen Kultur begreifen, hören es gerne, wenn indigene oder Schwarze Menschen sagen: Wir haben einen gemeinsamen Feind." Die kolonialen Verbrechen würden so weniger schwer auf den Schultern wiegen, auch wenn die Heimatländer der mehrheitlich weißen Heiden noch immer vom kolonialen Erbe profitieren würden. "Diese vereinfachende Sichtweise lässt auch außer Acht, dass indigene Kulturen fast überall auf der Welt zu Minderheiten dezimiert wurden und im Gegensatz zu den westlichen Neuheiden heute noch immer ganz real Unterdrückung und strukturelle Diskriminierung aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit erfahren." +Gerade in Europa würden indigene Menschen noch immer romantisiert, erklärt Kim TallBear, Professorin für Native Studies an der Universität von Alberta. Dabei würde oft außer Acht gelassen, dass es sich um komplexe lebendige Gemeinschaften handelt "und nicht nur um Knochen in der Erde". Die Wissenschaftlerin hat sich auf Fragen der DNA und den Begriff der Indigenität spezialisiert, von dem sie sagt, dass er zunehmend ausgehöhlt werde. Dass Neuheiden sich plötzlich in enger Verwandtschaft mit indigenen Kulturen meinen, wundert TallBear nicht, auch angesichts des in Nordamerika um sich greifenden Phänomens der sogenannten "Pretendians" – Menschen, die vortäuschen, indigene Wurzeln zu haben, und dann für die indigene Bevölkerung sprechen. "Solche Leute sehen, dass indigene Völker heute mehr Anerkennung und Rechte erhalten und dass sie moralische Ansprüche stellen. Davon wollen sie etwas abhaben." +Wie oberflächlich die Empathie für indigene Lebenswirklichkeiten ist, zeigt sich dann auch beim Midgardsblot. Am letzten Festivaltag postet Jon Krieger alias Blackbraid auf Instagram, dass seine Band von Security Guards und einigen Besuchern des Festivals rassistisch beleidigt worden sei. Die Diskussion, die daraufhin auf den Social-Media-Kanälen der Community entbrennt, dreht sich fast ausschließlich darum, dass Krieger und seine Bandkollegen betrunken gewesen seien und die strengen norwegischen Alkoholgesetze missachtet hätten. Einige werfen ihm vor, die "Rassenkarte" zu spielen. Norwegen sei aber nicht Amerika. Hautfarbe spiele keine Rolle, solange man sich an die Regeln halte. "Die Besucher des Midgardsblot erklären gerne, dass Sexismus, Rassismus und Homophobie in der Szene kaum verbreitet sind. Diese Menschen fühlten sich auf eine Art betrogen, als Blackbraid dann doch nicht ganz in dieses Narrativ einstimmte", resümiert Gregorius. Auch hier zeigt sich ein Grundproblem der heidnischen Verbrüderung mit indigenen Gemeinschaften. Wer nie selbst Ziel rassistischer Angriffe wurde, kommt schneller zu der Schlussfolgerung: Alles halb so schlimm. Das macht diese Menschen nicht gleich zu Rassisten. Aber allemal zu schlechten Geschwistern. + diff --git a/fluter/midterm-elections-usa-2018.txt b/fluter/midterm-elections-usa-2018.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..27d9fbfe0665695bbb8bf6008cedacdf72d190e6 --- /dev/null +++ b/fluter/midterm-elections-usa-2018.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Durch die "Midterm Elections" wird zwei Jahre nach der Präsidentschaftswahl das Repräsentantenhaus neu zusammengesetzt. Außerdem werden die Gouverneure von drei Dutzend Staaten und ein Drittel des Senats neu gewählt. Die Wahlen gelten als Referendumüber seine Arbeit. Trump müsse deshalb mit einem Denkzettel rechnen, sind sich die Expertinnen und Experten in den liberalen Medien des Landes einig. Trumps kalkulierte Brüche mit so ziemlich allen politischen Normen haben den Effekt, dass es oft mehr um Stil als um Inhalte zu gehen scheint. Die Medien in Washington echauffieren sich eifrig darüber, was der Präsident in den frühen Morgenstunden twittert, während die Sachthemen offenbar in den Hintergrund rücken. +Doch nicht überall ist das so. Fairfax County in Virginia, eine Woche vor dem eigentlichen Wahltag. Wer am 6. November verhindert ist, konnte hier vorab sein Kreuz machen, wie auch Rachel Cronin, 26. Kongresswahlen haben normalerweise eine geringere Wahlbeteiligung als Präsidentschaftswahlen, in diesem Jahr sei das Interesse aber vergleichsweise hoch gewesen, sagte der Wahlleiter des Bezirks. Cronin ist Lehrerin und in ihrer Mittagspause hier, um abzustimmen. Sie sagt, die Wahl sei schließlich wichtig. Auf die Frage, welche Themen ihre Entscheidung beeinflussen, fängt die junge Frau an, von Steuern und Ausgaben und Schulbudgets zu erzählen, die in Virginia zur Debatte stehen. Sie redet nicht von Trump, sondern über Lokalpolitik. +"Unter Präsident Obama habe ich 303 Dollar im Monat für meine Krankenversicherung bezahlt", erzählt John Curtin. "Dann hat er den ‚Affordable Care Act' eingeführt. Seitdem ist meine monatliche Zahlung auf knapp 1.300 Dollar angestiegen." Cortin besuchte das Wahllokal in Fairfax County am selben Tag wie Rachel Cronin, die junge Lehrerin. Nur gab er im Gegensatz zu ihr den Republikanern seine Stimme. Obamas Gesundheitsreform würde er gern rückgängig machen, so wie Trump. "Für mich sind wirtschaftliche Themen ausschlaggebend", sagt der Anwalt. "Ich wähle nach meinem Geldbeutel." +Anfang Oktober. In Pennsylvania genoss Beck Dorey-Stein einen der letzten prallen Sommertage. Sie ist eine Frau Anfang 30, die gern bunte Kleider trägt und ein ansteckendes Lachen hat. Sechs Jahre lang hat sie den mächtigsten Mann der Welt auf Schritt und Tritt begleitet. Bis Anfang 2017 war sie Stenografin im Weißen Haus. Nach drei Monaten Zusammenarbeit mit Trump kündigte sie. "Es ist sehr leicht, als Präsident den Blick auf die Realität zu verlieren, wenn man sich mit Leuten umgibt, die einem ständig sagen, dass alles super läuft", sagt Dorey-Stein. +Sie wundert sich nicht, dass unter Trump derart viele peinliche Geschichten aus dem Oval Office in die Öffentlichkeit gelangen. "Es ist schwierig, Loyalität einzufordern, wenn man selbst keinen Sinn dafür hat. Es gibt über Obama keins dieser reißerischen Bücher, weil er seine Angestellten respektiert hat und die ihn, von Tag eins an. Trump schmeißt die Leute raus und twittert anschließend noch abfällig über sie." +Der Präsident hat die Republikaner zu seiner Partei geformt und beide Parteienlager ideologisch noch weiter auseinandergetrieben. Seine Stammwählerschaft hat er dabei umgarnt wie sonst niemanden. "Die meisten Politiker hätten nicht getan, was Trump getan hat. Man kann das durchaus ein großes politisches Wagnis nennen", sagt Dan Balz, der seit 1978 für die "Washington Post" über Politik berichtet. +Er sitzt wenige Tage vor der Wahl in einem Café gegenüber von seinem Büro und erklärt, wie Trump die Republikaner dazu gebracht hat, mit ihm zusammenzuarbeiten: "Er hat es geschafft, diesen Zusammenschluss aus Konservativen um sich zu scharen. Leute, die ihn anfangs nicht mochten, jetzt aber die Agenda bekommen, die ihnen gefällt." +Starke Präsidenten, sagt Balz, hätten die Gabe, ihre Partei zu formen. Wie Bill Clinton 1992, George W. Bush 2001 und eben Trump jetzt. "Er hätte natürlich die Hand ausstrecken können, um neue Wähler zu gewinnen. Aber wir befinden uns in einer Zeit, in der Intensität alles ist. Also setzt er voll auf Konfrontation statt auf Versöhnung." +50 zu 48 Stimmen reichten Brett Kavanaugh Anfang Oktober, um vom Senat als Richter am Supreme Court of the United States (Oberster Gerichtshof der Vereinigten Staaten) bestätigt zu werden. DieAnschuldigungen durch Christine Blasey Ford wegen sexueller Belästigungstehen nach wie vor im Raum. Präsident Trump scheint das wenig zu stören – im Gegenteil, er entschuldigte sich bei einer Zeremonie im Weißen Haus noch einmal ausdrücklich bei Kavanaugh für das, was er in den vergangenen Wochen durchgemacht habe. +Armer weißer Mann, der jetzt auf Lebzeiten eine Stelle am obersten Gerichtshof des Landes innehat! Das denken sich Linda, Camille und Sue, die wie Hunderte andere Frauen kurz nach seiner Bestätigung vorm Senatsgebäude die Woche damit verbrachten, gegen Kavanaughs Ernennung zu protestieren. Die drei Endfünfzigerinnen trugen selbst gebastelte Schilder, auf ihren T-Shirts stand "I believe the victims", Ich glaube den Opfern. +Christine Blasey Fords emotionale Aussage vor dem Justizausschuss hatte ihr Ziel verfehlt, aber statt niedergeschlagen zu sein, versprühen die drei Frauen Tatendrang. "Das ist nicht das Ende unseres Kampfes, im Gegenteil, das ist erst der Anfang", sagt Sue. Falls die Republikaner bei den Kongresswahlen tatsächlich ein Debakel erleben sollten, dann wohl auch wegen Frauen wie Sue. Und die will dafür sorgen, dass all ihre Töchter und Freundinnen am 6. November ebenso wählen gehen. + + +Titelbild: Sarah Silbiger diff --git a/fluter/mieser-sound.txt b/fluter/mieser-sound.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..26bc4a7768cbc5fc284423c0daab7908941ff5c0 --- /dev/null +++ b/fluter/mieser-sound.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Noch hat das deutsche Urheberrecht mit der digitalen Welt große Schwierigkeiten. Die Neuformulierung von Gesetzen hält mit den technischen Möglichkeiten kaum Schritt. Bisher kannte das Copyright nur physische Medien wie Schallplatten, Bücher und Filmrollen. Nun wird das Recht auf die digitale Welt angewandt, mit teils bizarren Ergebnissen: Das Urheberrecht behandelt Tauschbörsennutzer, als ob sie ganze Lastwagen voller CDs entwenden und mit dem Raubgut weltweit umherfahren würden, um damit zu handeln. In den Anwaltsschreiben ist deshalb oft von besonders schweren Vergehen die Rede – und das soll auch ein besonders hartes Vorgehen gegen die Internetpiraten rechtfertigen. Laut einer Erhebung der Netzaktivisten der "Abmahnwahn-Dreipage" und von "gulli.com" war das Jahr 2010 ein voller Erfolg für die Anwälte. Nach der Schätzung sind im vergangenen Jahr rund 576.000 Abmahnungen versandt worden. Insgesamt ging es um Forderungen von über 400 Millionen Euro. +Kommen so die armen Künstler zu ihrem Recht, die sonst nie Geld sähen für ihre Einfälle, für ihr kreatives Schaffen? So einfach ist es leider nicht. Es gebe viele missbräuchliche Abmahnungen, sagt Lina Ehrig. Viele Internetnutzer bekämen völlig überzogene Rechtsanwaltsgebühren berechnet, spezialisierte Kanzleien hätten im Abmahngeschäft eine lukrative Einnahmequelle entdeckt und konstruierten aus jedem banalen Verstoß einen schweren Fall von Internetkriminalität. Oft lägen allein die Anwaltsgebühren bei 2.000 bis 5.000 Euro. "Es ist zu einem Massengeschäft von Anwälten geworden", sagt die Expertin, zu einer massenhaften Kriminalisierung von Bürgern. "Und oft zahlen die Leute aus Angst vor noch höheren Kosten." Es geht ja auch um ein lukratives Geschäft – nicht nur für die Anwälte: Die Anwaltskanzleien sind auf die Zuarbeit von spezialisierten Firmen angewiesen, die die Computerdaten der Nutzer ermitteln. Mit diesen IP-Adressen beantragen die Anwälte mithilfe von Gerichten bei den Providern wie etwa der Telekom die Herausgabe der Adressen der Nutzer – das Abmahnen kann beginnen. 2,4 Millionen Adressen müsse allein die Telekom jährlich herausgeben, so eine Telekom- Sprecherin. +Bei den zuständigen Gerichten führt die Klagewelle bereits zur Überlastung: Allein das Kölner Landgericht bearbeitet pro Monat rund 1.000 Verfahren und hat daher zusätzliche Richter angestellt. "Es geht um Hunderttausende Betroffene pro Monat", erklärt Dirk Eßer, Sprecher des Gerichts. Nach Ansicht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, Peter Schaar, ist die heimliche Erhebung der IP-Adressen von Tauschbörsenteilnehmern klärungsbedürftig. Die massenhafte Erhebung der Daten sei nicht verhältnismäßig. Man habe mittlerweile deutliche Zweifel an der datenschutzrechtlichen Zulässigkeit einer solchen Praxis, sagte eine Sprecherin Schaars. +Zudem mehren sich die Hinweise, dass viele Internetnutzer zu Unrecht abgemahnt werden. Denn nicht immer arbeitet die Software der IP-Ermittler-Firmen zuverlässig. In einem Beschluss des Landgerichts Köln heißt es, dass in einzelnen Verfahren über die Hälfte der ermittelten IP-Adressen gar nicht zuzuordnen waren, in einem speziellen Fall waren es sogar mehr als neunzig Prozent. Arbeitet die Spezialsoftware ungenau, werden unschuldige User schnell des Gesetzesbruchs bezichtigt. Und die haben es oft schwer, ihre Unschuld zu beweisen. Denn anders als in einem strafrechtlichen Verfahren, in dem die Unschuldsvermutung gilt, muss der Abgemahnte in einem zivilrechtlichen Verfahren selbst seine Unschuld beweisen. Und das ist praktisch unmöglich: Kein Gutachter kann mit hundertprozentiger Sicherheit beweisen, dass die Abmahnanwälte falsch liegen. So kann sich die gebeutelte Musikindustrie weiterhin über ihr neues Geschäftsfeld freuen. In dem sich sogar mit so manchem Flop mehr Geld machen lässt als im Verkauf. Neulich bekam eine Frau aus Bayern, die auf ihrem Computer nicht mal ein Filesharing-Programm installiert hatte, einen Abmahnbrief. Die Beschuldigung: sie habe einen Pornofilm mit dem Titel "Ohne Höschen Vol. 19" in einer Internet-Tauschbörse illegal verbreitet. Als Abmahngebühr erhob die Kanzlei aus Baden-Württemberg einen Betrag von 650 Euro für einen Streitwert von 30.000 Euro. +Im Internet gibt es Unmengen von Musik, die frei verwendet werden kann. Diese Musik ist allerdings nicht urheberrechtsfrei, sondern liegt unter einer Lizenz, die dem Verwender gestattet, die Musik herunterzuladen und Dritten anzubieten. Die berühmteste freie Li- zenz ist die Creative Commons Lizenz. Aktuelle Musik aus den Charts wird allerdings praktisch nie unter dieser Lizenz angeboten. Generell sind alle Downloads erlaubt, solange das Material nicht offensichtlich rechtswidrig im Internet verbreitet wird. Erlaubt ist etwa das Betrachten von Youtube-Videos und Herunterladen von Musikstücken, die von Bands kostenlos ins Internet gestellt werden. Auch das kostenlose Mitschneiden von Online-Radios mit der Software Radio.fx ist legal. Ebenso erlaubt ist der Austausch von MP3-Files im Freundeskreis. Generell kann als Faustregel gelten, solange man keine Musik zum Upload anderen zur Verfügung stellt, sondern sich nur Musik herunterlädt, ist dies erlaubt. Doch Achtung: Wenn offensichtlich ist, dass Musikstücke illegal angeboten werden, dann dürft ihr euch diese Musik nicht mehr herunterladen. Unter Juristen ist derzeit aber umstritten, wann für den Laien ein Angebot offensichtlich illegal ist. Verboten ist das Verteilen von MP3-Files an viele Personen gleichzeitig, etwa durch Hochladen auf eine Website oder im sozialen Netzwerk Facebook. Auch massenhafte E-Mails mit Musikdateien an andere zu verschicken wäre demnach illegal. Streng verboten ist das Runter- und Hochladen von Musik bei Tauschbörsen oder Plattformen wie Rapidshare. +Auch bei Filmen im Internet ist Vorsicht geboten. Angebote wie www.kino.to, wo fast jeder Film kostenlos bereitgestellt wird, sind aus Sicht von Juristen auf jeden Fall rechtswidrig. Doch weil die Betreiber im Ausland registriert sind, sind die Verantwortlichen nur schwer zu belangen. Damit ist aber noch nicht geklärt, ob sich auch die Konsumenten strafbar machen. Solange Internetnutzer die Filme nur anschauen, ohne eine Kopie auf ihrer Festplatte zu speichern, sind sie eventuell noch im legalen Bereich. Aber sobald gespeichert wird, sieht es anders aus. Es gibt auch Juristen, die bereits die temporäre Speicherung zur Wiedergabe des Films im RAM-Speicher des Benutzers als illegale Kopie werten. Abgemahnt und angeklagt werden könnten Nutzer in jedem Fall, sobald ein Filmproduzent seine Rechte durchsetzen will. Noch heikler wird es bei den Livestreams im Internet, etwa von Bundesligaspielen. Diese Angebote funktionierten wie Tauschbörsen. Sie werden fast immer peer-to-peer übertragen und sind damit in höchstem Maße illegal. Zum Glück der Nutzer verfolgt bislang noch kein Rechte-Inhaber der Bundesliga seine Interessen mit Abmahnungen. Doch es ist nicht ausgeschlossen, dass bald auch damit begonnen wird. diff --git a/fluter/mieterhoehung-mobbing-mieter-berlin.txt b/fluter/mieterhoehung-mobbing-mieter-berlin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..aa777d0fea3e92d6d9ccabe39b0d826db4491f36 --- /dev/null +++ b/fluter/mieterhoehung-mobbing-mieter-berlin.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Seit Jahren steigen in ganz Deutschland die Mieten.Die Gründe sind oft dieselben: Immobilienspekulation, Wohnungsmangel, Airbnb-Tourismus.In Deutschland zahlte man 1990 beim Erstbezug einer Wohnung im Schnitt 6,79 Euro für den Quadratmeter, im Jahr 2018 11,79 Euro – also 73,6 Prozent mehr. Mit Immobilien kann man gut verdienen, zumal die Zinsen nicht aus ihrem Dauertief herauskommen und Kredite für den Wohnungskauf billig zu haben sind.Berlin ist bei den Investoren besonders begehrt.Viele Gebäude sind lange nicht renoviert worden, die Modernisierungskosten können die Eigentümer auf die Mieter abwälzen. Oder sie versuchen, sie gleich ganz aus dem Haus zu bekommen. Denn dann können sie die modernisierte Wohnung noch teurer an neue Mieter vermieten oder sie für viel Geld verkaufen. Das war auch die Idee in der Kopenhagener Straße 46. Aber da hatten die neuen Eigentümer ohne Sven Fischer gerechnet. +Fischer ist 50 Jahre alt,in der DDR groß gewordenund kurz nach der Wende in dieses Haus gezogen. "Dem früheren Vermieter war schnuppe, wer hier wohnt, Hauptsache, die Miete wurde gezahlt", sagt er. Dem Vermieter sei aber auch schnuppe gewesen, in welchem Zustand die Wohnung war. Also baute die WG, in der Fischer damals wohnte, auf eigene Kosten Bad und Gasetagenheizung ein. Dafür gab es eine garantierte feste Miete – damals im oberen Bereich des Mietspiegels –, per Handschlag.Das Haus verwaltete sich im Grunde selbst. Man kannte sich, die Türen standen offen."Es war kein Bullerbü, aber man hielt zusammen, half sich gegenseitig", sagt Fischer. +Das ging lange gut, bis 2013 die Erben des verstorbenen Eigentümers an ein großes Immobilienunternehmen verkauften. Eines Tages, als die WG beim Essen saß, kam ein Bote mit einer ganzen Tasche voller Kündigungen – für jede Wohnung eine. "Die wollten das Haus leer haben, da waren wir im Weg. Wir sollten entsorgt werden wie ein altes Sofa", erzählt Fischer. Politisch sei er eigentlich nie gewesen, "aber hier bin ich durch meine eigene Betroffenheit aus meinem Dornröschenschlaf erwacht". Mehr als 80 Prozent der 1,9 Millionen Wohnungen in Berlin sind Mietwohnungen. Während 70 Prozent von Privatleuten oder Unternehmen vermietet werden, sind rund 18 Prozent in der Hand städtischer Wohnungsbaugesellschaften und 11 Prozent im Besitz von Genossenschaften. Besonders den großen Unternehmen geht es bei dem Geschäft hauptsächlich um den Umsatz. Dagegen bildete sich Widerstand: 2018 wurde ein Volksbegehren gestartet, um die börsennotierte Wohnungsgesellschaft "Deutsche Wohnen" und alle Immobilienbesitzer mit mehr als 3.000 Wohnungen zu enteignen. + +In Berlin-Prenzlauer Berg entstehen gerade viele schicke Eigentumswohnungen. +Hinter dieser Fassade befindet sich aber noch eine unsanierte: die von Fischer halt. + +In Fischers Fall waren nach anderthalb Jahren alle anderen 30 Parteien ausgezogen. Die junge Mutter etwa, die monatelang eine blickdichte Plane vor dem Fenster hatte. Dann riss man die Fallrohre von der Regenrinne ab, Wasser lief in die Wohnung, Schimmel bildete sich. Am Ende war ihr die Gesundheit des Babys wichtiger, sie kapitulierte. Einen Tag nachdem sie ihren Auszug unterschrieben hatte, waren die Rohre wieder anmontiert. Bei Fischer selbst war eines Tages das Badezimmerfenster zugemauert, ein anderes Mal rissen Bauarbeiter im Dachgeschoss den Schornstein ein und deckten das Loch im Boden mit Brettern zu – ohne den Mietern vorher Bescheid gesagt zu haben. Von einem Tag auf den anderen konnte niemand mehr heizen. +Sven Fischer organisierte sogar ein Treffen mit dem damaligen Justizminister Heiko Maas, der ihm bescheinigte: "Das erkennt ein Blinder, um was es hier geht. Der Eigentümer will über exorbitante Mietpreissteigerungen die Bude leer kriegen." +Für Fischer wurde der Wohnungskampf phasenweise zum Vollzeitjob, seine Arbeit als Caterer wurde zur Nebensache: An zwei bis drei Verhandlungen pro Woche nahm er teil, dazu kamen Interviews und die Vernetzung mit anderen Mietern. Manchmal klingt es, als wäre Fischer jahrelang an der Front gewesen, im Krieg. "Guerillakampf" nennt er das, wenn er darüber wachte, dass kein Handwerker seine Wohnung "aus Versehen" unbewohnbar machte. +155.000 Euro sollte seine Wohnung kosten, angesichts der explodierenden Immobilienpreise in Berlin war das nicht mal übermäßig viel für rund 40 Quadratmeter. Der Makler ließ potenzielle Käufer in der Annonce wissen, dass sie ein "dickes Fell" bräuchten, bis sie die Wohnung selbst nutzen könnten, dafür aber die Möglichkeit bekämen, im Rahmen der Wohnungsbesichtigung mit Fischer "ein authentisches Exemplar des Prenzelbergers live zu erleben". +gibt es in Deutschland. Etwa jede fünfte Person lebt allein. In 58 Prozent der Haushalte (24 Millionen) leben zwei oder mehr Personen. Jeder Einwohner hat in Deutschland im Durchschnitt 46,5 Quadratmeter Wohnfläche. +Dass er nun als renitenter Mieter gilt, findet Fischer gar nicht so schlecht, es bringt ihm noch mehr Schlagzeilen. Die Annonce für seine Wohnung ist inzwischen offline. "Es hat gerade keinen Sinn", sagt der Makler am Telefon. Der Besitzer will sich auf Anfrage nicht zu der ganzen Geschichte äußern. Fischer hat derweil aber nicht nur seinen persönlichen Krieg gewonnen, seine Prozesse haben sogar zu Gesetzesänderungen geführt. Luxussanierungen zum Zweck der Entmietung sind mittlerweile eine Ordnungswidrigkeit, Vermietern droht eine Geldbuße von bis zu 100.000 Euro, und Mieter haben Anspruch auf Schadenersatz. Zudem dürfen Modernisierungskosten nur in Höhe von acht statt elf Prozent pro Jahr auf die Mieter umgelegt werden. +Fischer hat all die Ordner mit den Dokumenten aus sechs Jahren in den Keller verfrachtet. Auf dem Bett liegt gerade nur noch ein kleiner Stapel Papiere, es geht um einen Fahrstuhl, der kürzlich in der Nebenkostenabrechnung auftauchte, den es aber gar nicht gibt. Fischer winkt ab. Eine Lappalie. Er zahlt jetzt doppelt so viel Miete wie vorher, aber auch nur 280 Euro netto. Vor allem ist das erste Mal seit Langem Ruhe eingekehrt. Und sollte seine Wohnung doch noch verkauft werden, könnte der neue Eigentümer ihm zwar wegen Eigenbedarfs kündigen –aber wegen des sogenannten Milieuschutzes erst in zwölf Jahren. + diff --git a/fluter/mikroalgen-als-rohstoff.txt b/fluter/mikroalgen-als-rohstoff.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3df879c9165cc426f969e9adafb6d8270a4ea83f --- /dev/null +++ b/fluter/mikroalgen-als-rohstoff.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Kruse und sein Team wollen herausfinden, wie man diese Mikroalgen für medizinische und kosmetische Zwecke nutzbar machen kann. "Wir bringen den Algen bei, das Enzym herzustellen, das wir für bestimmte Medikamente brauchen." Das Prinzip sei ähnlich wie bei den neuen mRNA-Impfstoffen: "Wir klauen die genetische Information bei einer Pflanze, die das Enzym herstellen kann, und setzen sie in die Alge." Produkte, die man so herstellen könnte, seien zum Beispiel Blutdrucksenker oder Medikamente zur Krebsbekämpfung. Für die Kosmetik ist es Kruse und seinem Team bereits gelungen, die Mikroalgen dazu zu bringen, einen Patschuliduftstoff herzustellen, der sonst nur aus dem Öl der namengebenden indischen Pflanze kommt. +Wie die sichtbaren Makroalgen können auch die Mikroalgen Fotosynthese betreiben. Das macht die Produktion so nachhaltig. "Sie brauchen Licht, Kohlenstoffdioxid, Wasser und einige wenige Mineralien", sagt Kruse. Selbst Treibstoffe kann man mit den Mikroalgen herstellen. Doch das ist leider nicht ganz günstig, weshalb sich die deutsche Automobilindustrie von der Idee wieder verabschiedet habe, so Kruse. In Japan – zum Beispiel bei Mazda – laufen Forschungen an einem nachhaltigen Mikroalgenkraftstoff aber noch. +Um die Mikroalgen gibt es aktuell noch einen anderen Hype. Als Pulver in Smoothies oder Kapseln versprechen Nahrungsergänzungsmittel ein jugendliches Aussehen, tolle Abwehrkräfte und sogar ein geringeres Krebsrisiko. Die Wirksamkeit dieser Mittelchen ist aber wissenschaftlich nicht hinreichend belegt. Vielversprechender könnte dieses Anwendungsgebiet sein: An der Universität Tübingen erforscht der 32-jährige Moritz Koch eine Art von Mikroalgen, aus der man abbaubares Bioplastik gewinnen kann. Damit das Plastik in brauchbaren Mengen produziert werden könnte, bräuchte es aber riesige Anlagen, in denen die Mikroalgen unter besten Bedingungen ihre Arbeit machen können. "Wir haben nur gezeigt, wozu die Mikroalgen imstande sind", sagt Koch, "es ist noch keine Plastiktüte vom Band gegangen."Aber Plastiktüten will man ja eh nicht mehr. diff --git a/fluter/militaercamp-fuer-touristen-in-israel.txt b/fluter/militaercamp-fuer-touristen-in-israel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..23bf568bf9a13da060de6a7c9346802e3ec73f76 --- /dev/null +++ b/fluter/militaercamp-fuer-touristen-in-israel.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Eitan ist zufrieden, er vergibt lobende Rückenklopfer. Seine Hände sind rau und voller Schwielen, der Nacken verbrannt, das Haar kurz rasiert. Er hat stets ein Springmesser, eine verspiegelte Sonnenbrille und jede Menge Werkzeug bei sich, das nach Überlebenskampf aussieht und die Frage aufwirft: Wo will der denn heute noch hin? Und wo ist eigentlich der Feind? +Bilder aus einer Grauzone zwischen Theater und Kriegsrealität +Wer schießen will, muss vorher auch etwas für seine körperliche Fitness tun + +Nach drei Runden im Zirkeltraining hat man das Recht auf einen Schuss – oder auch mehrere. Manchen ist das zu laut +Die Antwort: Nirgendwo. Eitan Cohen brüstet sich damit, seit 20 Jahren im Feld zu sein. Eigentlich ist der 42-Jährige seit vier Jahren aber nur noch in einer Grauzone zwischen Realität und Theater im Einsatz, wobei seine olivgrüne Ausrüstung fast genau wie die Uniform der israelischen Streitkräfte aussieht. Er ist Lehrer, Soldat, Bühnenstar. Nach fünf Minuten Autofahrt über die gewundene Straße 3157 erreicht man die sogenannte Antiterror-Akademie namens "Caliber 3" im Westjordanland. Auf halber Strecke zwischen Jerusalem und Hebron bieten hier israelische Ex-Soldaten und Reservisten seit 2003 Sicherheits- und Waffentrainings für Security-Profis aus aller Welt an, aber auch eine All-inclusive-Kriegserfahrung für Touristen – zwischen diversen Schießständen und vielen jungen Männern in Uniform, die aussehen wie israelisches Militär. +Dieser Militärtourismus boomt, im ganzen Land gibt es ein Dutzend ähnlicher Einrichtungen. Caliber 3 empfängt etwa 20.000 Besucher pro Jahr. Erst geht es an einen gläsernen und mit über 1.000 leeren Patronenhülsen gefüllten Empfangstisch, um die Formalitäten zu erledigen, dann robben die Besucher für rund 200 Dollar am Tag mit Maschinengewehr auf dem Rücken durch den Sand, drei koschere Mahlzeiten inklusive. Die Erfahrung sei die beste Dosis Adrenalin und solle Ausländern den Nahostkonflikt näherbringen, heißt es auf der Website von Caliber 3. Für die einen befremdlich, für die anderen augenöffnend, zertifiziert von der israelischen Regierung. +Campgründer Sharon Gat auf dem Hindernisparcours + +Ein Hund namens Zeus soll den Teilnehmern zeigen, was Disziplin und Präzision im Kampf bedeuten – und Treue + +"Wenn du kannst, mach das ganze Kaliber leer", sagt Trainer und Ex-Elitesoldat Eitan Cohen +"Ich glaube an eure Vision", meldet ein Besucher ungefragt aus der ersten Reihe. Er komme aus den USA und habe dort schon viel von Caliber 3 gehört. "Ich möchte mich solidarisch bekennen. Ich stehe hinter eurer Sache", sagt der Vorzeigeschüler. "Na, dann los", antwortet Eitan. "Dann packen wir jetzt die Gewehre, gehen rüber ins nächste palästinensische Dorf und räumen da mal auf. Ist es das, was du dir vorstellst?" – er erntet erstaunte Blicke. "Ja, es ist nicht so einfach. Ich lehre euch hier den nötigen Respekt vor der ganzen Angelegenheit." Eitan macht eine dramatische Pause. "Und vor Waffen. Denn Waffen töten, das ist ihre einzige Aufgabe." +Mittlerweile sind zwei Busladungen Touristen auf den Schießständen 4, 5 und 6 verteilt worden. Unter das Geknalle mischt sich Hundebellen: Drei Schäferhunde zerren an ihren Ketten. "Nun zeigen wir euch, was Disziplin im Kampf bedeutet", kündigt Eitan an und macht eines der Tiere los. Der Hund hört auf den Namen Zeus und steht sofort bei Fuß. Er weicht auch nicht von Eitans Seite, als ein Mann mit Schutzhelm und rostbraunem Schaumstoffanzug aus einem Container tritt. Ein kurzer Fingerzeig von Eitan ändert das: Knurrend schießt Zeus los und stürzt sich auf den Mann. Beide gehen zu Boden. "Präzision und Treue, das braucht man im Feld", kommentiert Eitan das Geschehen. Der Soldat stöhnt. Schäferhund-Speichel fliegt durch die Luft. "Genug", sagt Eitan, und das Spektakel ist beendet. +An manchen Tagen fahren vor dem Camp, das in einem Industriegebiet bei Efrat gelegen ist, ganze Busladungen vor + +Nach vielen scharfen Schüssen dann noch ein Schnappschuss: eine Gruppe von Teilnehmern, die das "Shooting Adventure" gerade hinter sich haben + +Auch Siedler von der West Bank kommen gelegentlich ins Camp, um sich über Waffen zu informieren oder auch um welche zu kaufen +Die Umgebung von Caliber 3 ist eine Idylle mit einer Prise Absurdität. Hinter dem Stacheldraht zur nächsten Siedlung stapft eine Hirschkuh durch das Unterholz. Das Camp liegt im Westjordanland, im israelischen Siedlungsblock Gush Etzion. Durch die Senke schallt im stetigen Rhythmus das Gewehrfeuer. Auf der nächsten Anhöhe thront ein palästinensisches Dorf. Dort fühlen sich manche von den Geräuschen der Gewehre bedroht, auch wenn Eitan versichert, die Nachbarn hätten sich mittlerweile an diese Ruhestörung gewöhnt. "Wenn mir jemand die Hand reicht, gehe ich nicht mit der Faust voran", sagt er, und man ahnt, dass er diesen Satz für seine tägliche Ansprache auswendig gelernt hat. Das Ethos ist klar: Nach Diaspora und Holocaust greifen die Juden zur Waffe. Immer wieder tönen die Worte: "Nie wieder, nie wieder." Caliber 3 wurde aus Sensationslust und Trauma geboren. Bilder von KZ-Häftlingen hängen an den Wänden, in der Mittagspause wird das Gedicht einer Shoah-Überlebenden vorgelesen. +"Wir, als Nation, hatten 2.000 Jahre lang kein eigenes Land. Und niemanden, der uns beschützt", sagt Caliber-3-Gründer Sharon Gat mit einer Stimme, die weder Widerspruch erlaubt noch Angst vor Pathos hat. Jetzt gibt es sogar eine Akademie, an der Juden aus aller Welt trainieren, sich zu verteidigen, sagt Gat, der sich selbst als Visionär und Restaurateur der Geschichtsschreibung sieht. Nicht jeder Israeli teilt seine Ansichten: Die linksliberale Tageszeitung "Haaretz" hat sich oft kritisch zum Militärcamp geäußert, und als der jüdisch-amerikanische Stand-up-Comedian Jerry Seinfeld nach seinem letzten Auftritt in Israel Caliber 3 einen Besuch abstattete, ging ein Aufschrei durch die israelischen Medien. +Währenddessen geht Eitan in die finale Phase seines Parcours. Beim letzten Zirkeltraining wird zum Soundtrack von "Rocky Balboa" geschossen. "Ich bin ein israelischer Mistkerl", schreit Eitan, "ein verdammter Badass! Und mein Name ist – Rocky! Kämpft, kämpft!" diff --git a/fluter/mina-richman-grown-up-album-interview.txt b/fluter/mina-richman-grown-up-album-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a2abf118eff99fb0b12d33d12e63535b442c258d --- /dev/null +++ b/fluter/mina-richman-grown-up-album-interview.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +"Baba Said" ist schon vor anderthalb Jahren entstanden, kurz nachdem dieFreiheitskämpfer_innen im Iran im Herbst 2022 erstmals auf die Straße gegangen sind. Anlass war der Mord an der KurdinJina Mahsa Amini. Wie hast du den Ausbruch der Proteste damals erlebt? +Ich habe Hoffnung verspürt, weil es die größten Proteste im Iran seit langer Zeit waren. Natürlich hatte ich auch Angst um meine Familie vor Ort. Wochenlang habe ich permanent auf mein Handy geschaut und Nachrichten gehört. Den jungen Menschen dort, besonders den Frauen, wird so viel geraubt. Die mutigen Frauen im Iran riskieren ihr Leben, um Freiheit zu fordern. Ich kann hier frei sein, Musik machen, mich anziehen und lieben, wie und wen ich möchte. Meine Wut über diese Ungerechtigkeit und die Unterdrückung musste irgendwohin. Daraus entstand "Baba Said". +Jetzt veröffentlichst du den Song erneut, dieses Mal als Teil deines Albums "Grown Up". Hat sich die Bedeutung des Songs verändert? +Als ich "Baba Said" geschrieben habe, war das Thema neu für viele Personen in Deutschland. In den darauffolgenden Monaten haben viele verfolgt, was im Iran passiert. Heute spiele ich den Song, um an die Menschen im Iran zu erinnern, die immer noch kämpfen, auch wenn die internationale Aufmerksamkeit abgeflacht ist. Wir dürfen nicht aufhören, darüber zu sprechen und zu berichten. Deswegen werde ich den Song so lange spielen, bis das Regime gestürzt ist. + +Auch über die sozialen Medien teilst du Nachrichten aus dem Iran und politische Inhalte. Wie wichtig ist aus deiner Sicht die internationale Aufmerksamkeit für die Menschen vor Ort? +Während der Proteste ist noch mal sehr deutlich geworden, wie fragil die Kommunikationswege innerhalb des Irans sind. Die Regierung kann das Internet abschalten, Webseiten blockieren und Leute verfolgen, wenn sie sich über soziale Medien regierungskritisch äußern. Deswegen ist es essenziell, dass wir hier außerhalb des Irans laut sind. Sogar Instagram-Storys zu teilen bewegt mehr, als wir denken. Leider soll der Algorithmus die Reichweite von politischen Inhalten limitieren. Deshalb binde ich Politisches in meine Musik ein, so soll es meine Hörer_innen auf jeden Fall erreichen. +Gefährden deine Veröffentlichungen deine Familie im Iran? +Meine Familie im Iran ist sicher. Unsere Namen unterscheiden sich stark, weil ich den Namen meiner Mutter trage und meine Musik noch einmal unter einem anderen Namen veröffentliche. Aber mein Vater zum Beispiel wollte in dem Musikvideo zu "Grow Up" sein Gesicht nicht zeigen – aus Angst vor negativen Konsequenzen bei der Einreise in sein Heimatland. +Der Song, von dem du sprichst, "Grow Up", ist der erste und einzige, in dem du rappst. Welchen Effekt wolltest du damit erzielen? +Ich glaube, wenn die Melodie und die Verschnörkelung aus der Stimme herausgenommen werden, achten Leute mehr auf die Texte. In dem Song geht es um das Erwachsenwerden und wie die Gesellschaft mit weiblich gelesenen Körpern umgeht. Ich rappe diese Passagen, um bewusst nichts zu beschönigen. +Was heißt Erwachsenwerden für dich? +Erwachsenwerden heißt für mich reflektieren, alten Schmerz verarbeiten, loslassen, sich besser kennenlernen und sich die eigenen Schwächen – und Stärken – einzugestehen. Dafür musste ich lernen, um Hilfe zu bitten. Ich wollte immer alles allein schaffen, was unrealistisch und oft gar nicht notwendig ist. Die Menschen in meinem Umfeld um Unterstützung zu bitten und zu verstehen, dass ich dadurch nicht schwach bin oder versage, war ein richtiger Gamechanger. +Du thematisierst auch dein politisches Erwachen, die Scheidung deiner Eltern, Selbstliebe, Sexualität und persönliche Grenzen. Wie gehst du beim Songschreiben vor? +Meine Texte sind mir sehr wichtig. Die Leute sollen zuhören und die Geschichten verstehen, verschiedene Stimmlagen oder Techniken wie Rappen oder sogar Schreien können Aufmerksamkeit auf bestimmte Textpassagen lenken. Trotzdem schreibe ich meine Lyrics fast nie vor. Sie kommen mir beim Jammen mit meiner Band. Vor meinen Augen entstehen dann oft Bilder, oder ich fühle Emotionen und schreibe die Geschichten dazu. Songs sind also wie Container, in denen ich alles verwahren kann, was mich in verschiedenen Phasen meines Lebens beschäftigt – und das sind sowohl persönliche als auch politische Themen. +Du beendest dein Album mit dem Song "The Woman I Am Now" (englisch für "Die Frau, die ich jetzt bin", Anm. d. Red.) und blickst stolz auf die Person, die aus den Kämpfen der vorherigen Songs hervorgeht. Was hoffst du, durch deine Musik zu bewegen? +Die Songs auf "Grown Up" erzählen meine Geschichte sehr ehrlich. Ich hoffe, dass Leute durch diese Ehrlichkeit die Situationen nachfühlen können, ihre eigenen Geschichten in meiner Musik erkennen und sich weniger allein fühlen. + +Bilder: Jan Haller diff --git a/fluter/mir-schaffet-des.txt b/fluter/mir-schaffet-des.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b3e3f2b7e34e6146c402d5cf7605bac6c45f0f35 --- /dev/null +++ b/fluter/mir-schaffet-des.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Das Welcome Center am Charlottenplatz ist die Pforte zu einer Stadt, die für ihre Integrationspolitik berühmt ist: Zurzeit leben in Stuttgart 602.300 Menschen, davon haben mehr als 42 Prozent einen Migrationshintergrund. Unter Kindern und Jugendlichen sind es sogar 60 Prozent. Einen höheren Anteil gibt es unter den Städten vergleichbarer Größe nur in Frankfurt am Main. +Im Jahr 2001 erklärte der damalige Oberbürgermeister Wolfgang Schuster Integration zur Chefsache. Er schuf dafür eine eigene Stabsstelle in der Stadtverwaltung, mit großer Gestaltungsfreiheit und kurzen Dienstwegen. Diese "Abteilung Integration" widmet sich in etlichen Projekten der Chancengleichheit, dem Abbau von Diskriminierung und dem friedlichen Zusammenleben. Kulturelle Vielfalt soll als Vorteil und nicht als Problem verstanden werden. + + +"Wie wir die Leute bei ihrer Ankunft behandeln, bestimmt auch darüber, wie sie und ihre Kinder sich später in der Gesellschaft verhalten", sagt Suzana Hofmann. Sie selbst stammt aus Mazedonien und ist ihrem deutschen Ehemann nach Stuttgart gefolgt. Die deutsche Bürokratie sei ein Dschungel, in den sich viele gar nicht erst hineinwagten. "Früher sind zu viele durchs Raster gefallen und bestenfalls Taxifahrer geworden", sagt Hofmann. Gleichzeitig werde die Liste der Berufe mit freien Stellen immer länger. "Es liegt in unserem Interesse, dass noch viel mehr Leute zu uns nach Stuttgart kommen." +Die Stadt vereint vieles, was als typisch deutsch gilt. Hier herrschen Wohlstand, Sauberkeit und Ordnung. Die Konzerne Daimler, Porsche und Bosch exportieren Autos und Maschinen made in Germany; schwäbische Vermieter legen größten Wert auf die Einhaltung der Kehrwoche – das sind eherne Regeln, wer wann was zu fegen und zu schrubben hat. Klingt nicht gerade nach einer Umgebung, in die sich Menschen aus anderen Kulturen leicht einfügen – doch es scheint zu klappen. +"Natürlich haben wir es mit der Integration in Stuttgart leichter als anderswo", sagt Martha Aykut von der Abteilung Integration. "Wir leben in einer wirtschaftlich blühenden Region." Und auch wenn die Schwaben anfangs vielleicht skeptisch gegenüber Fremdem seien: Mit harter Arbeit könne man sie immer überzeugen. +Hier feiert Manfred Rommel mit seiner Frau die Wahl zum Oberbürgermeister. Wenn es darum ging, die Kulturen zu vereinen, konnte er aber auch anders – wunderbar stur +Die Erfolgsgeschichte des Stuttgarter Integrationsmodells begann schon mit dem Oberbürgermeister Manfred Rommel, der die Stadt von 1974 bis 1996 regierte. Der CDU-Mann konnte wunderbar stur sein, vor allem wenn es darum ging, die Kulturen zu vereinen. Als viele noch dachten, dass die Gastarbeiter bald wieder heimkehren würden, wurde im Stuttgarter Sozialamt eine Stelle für einen Ausländerbeauftragten geschaffen. 1983 wurde auf Initiative des Oberbürgermeisters ein Ausländerausschuss gewählt – bundesweit einer der ersten zur Beteiligung ausländischer Einwohner im Gemeinderat. "Wir sind alle Stuttgarter" lautete Rommels Devise. Als in den Achtzigern ein Afrikaner zwei Polizisten tötete, stellte er sich vor die wütenden Bürger und sagte: "Es hätte auch ein Schwabe sein können." +Statt Gettos sollte in Stuttgart ein Miteinander entstehen. Man achtete darauf, dass die Stadtteile ethnisch durchmischt waren. Wenn Vereine einer bestimmten Volksgruppe bei der Stadt um finanzielle Unterstützung baten, mussten sie ihre Veranstaltungen für alle Bürger öffnen. In den Neunzigern setzte sich Rommel außerdem stark für die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft ein – zum Ärger vieler Parteigenossen. +Bis heute wurde die Integrationsarbeit stetig weiterentwickelt: Unter dem Dach des "Forums der Kulturen Stuttgart" haben sich seit 1998 mehr als 100 Migrantenvereine zusammengefunden, die einmal im Jahr ein großes Sommerfestival ausrichten. Und dank des Programms "Deine Stadt – deine Zukunft" haben mittlerweile immerhin 40 Prozent der Auszubildenden bei der Stadt Stutt
gart einen Migrationshintergrund. Weil Sprachkurse die Basis für ein Leben in der deutschen Gesellschaft bilden, kann in Stuttgart mittlerweile jeder Neuankömmling einen besuchen – selbst Asylsuchende, deren Anerkennung aussichtslos ist, schließlich kann eine Ablehnung Jahre auf sich warten lassen. +Für die Gastarbeiter gab es viele Jobs, etwa in der Autoindustrie +Und im Projekt "Mama lernt Deutsch" werden speziell Frauen ermutigt, sich am Schulleben ihrer Kinder zu beteiligen. Solche Kurse gibt Sevdije Demaj seit mittlerweile 14 Jahren an der Martin-Luther-Schule im Stadtteil Bad Cannstatt. Sie kennt die Situation der Frauen gut, weil sie selbst als Flüchtling aus dem Kosovo kam und kein Wort Deutsch sprach. "Die Frauen müssen sich selbst etwas wert sein. Wenn sie selbstlos sind, nützen sie auch der Gesellschaft nichts", sagt Demaj. Es ist neun Uhr morgens. Allmählich trudeln die Frauen ein, die meisten stammen aus Osteuropa, andere aus dem Irak, Afghanistan, Eritrea oder Griechenland. Manche haben außer ihren Schulkindern noch Kleinkinder, die im Klassenzimmer nebenan betreut werden. +Thema heute: Wie kann ich mein Kind beim Lernen unterstützen? Ein Kurs dauert 300 Stunden. Demaj hat mittlerweile Tausende Frauen beim Deutschlernen begleitet: "Wenn sie einmal hier sind, ziehen sie den Kurs auch durch", sagt sie. "Es sei denn, sie finden in der Zwischenzeit einen Job. Und das ist dann auch ein Erfolg für uns." Natürlich ist auch in Stuttgart nicht alles perfekt. So warten Flüchtlinge oft monatelang, um einen Termin bei der überlasteten Ausländerbehörde zu bekommen. Auch Wohnungen und Plätze in Sammelunterkünften sind chronisch knapp. Dafür ist der Rückhalt in der Bevölkerung groß: Die Abteilung für Integration koordiniert rund 3.000 ehrenamtliche Flüchtlingshelfer. Rentner hel
fen Hauptschülern beim Übergang in den Beruf, und bei "A˘gabey-Abla" ("großer Bruder – große Schwester") lernen türkischstämmige Gymnasiasten und Studenten mit jüngeren türkischstämmigen Schülern. +Integration funktioniert in Stuttgart auch, weil in jedem Stadtteil Orte der Begegnung entstanden sind: Jugendzentren, Generationen- und Familienhäuser haben sich zu interkulturellen Treffpunkten entwickelt. Das Generationenhaus Heslach ist einer davon. In den oberen Stockwerken gibt es eine Kinderbetreuung sowie eine Pflegestation für junge Patienten mit Multipler Sklerose oder anderen schweren neurologischen Erkrankungen. Darunter treffen sich Kulturvereine der Albaner, der Ägypter oder der Bangladescher. Im Erdgeschoss steht das "Café Nachbarschafft" allen offen. + + +Ein paar Senioren sitzen dort neben einer jungen MS-Patientin mit Rollstuhl. Feixende Jugendliche mit schwarzen Haaren und Baseballjacken stürmen herein, während an der Theke eine Frau aushilft, die aus dem Iran geflüchtet ist. Kaffee und Tee gibt es gegen eine Spende. +Jeden Abend um 17 Uhr findet hier das sogenannte Flüchtlingscafé statt. An einem Tisch warten schon Mohammed und Rashid, zwei junge Männer aus Syrien, die Deutsch üben wollen. Die letzten Monate haben sie in Ostdeutschland verbracht. Mit weiten Augen zählt Mohammed all die Orte auf, an denen sie gelandet waren: "Prenzlau, Eisenhüttenstadt, Frankfurt (Oder) …" Überall dort sei es unmöglich gewesen, Kontakt zu den Einheimischen aufzunehmen. "Die Menschen haben uns nicht mal angeschaut", sagt er. Stuttgart sei für beide wie eine andere Welt. Rashid nickt lächelnd und streckt beide Daumen in die Luft. Dann setzt sich ein blonder Teenager zu ihnen an den Tisch und diktiert den beiden neuen Stuttgartern ein paar deutsche Sätze in ihre Notizblöcke. diff --git a/fluter/missbrauch-in-der-kirche-suedamerika.txt b/fluter/missbrauch-in-der-kirche-suedamerika.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c4e0ad07eb3b52115bc5c23bdfe9780ac6740330 --- /dev/null +++ b/fluter/missbrauch-in-der-kirche-suedamerika.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Chile +Chile erstreckt sich über 4.200 Kilometer von Kap Hoorn bis nach Peru –mit der entsprechenden Vielfalt an Klima- und Vegetationszonen. Die Gipfel der Anden erreichen hier fast 7.000 Meter. Besonders hoch sind in Chile auch das Pro-Kopf-Einkommen und die Lebenserwartung der Menschen, jedenfalls im südamerikanischen Vergleich. +Eines der ersten Urteile, die ein weltliches Gericht gegen einen Geistlichen verhängte, fiel in Argentinien. 2002 strahlte ein Fernsehsender einen Bericht über Julio César Grassi aus, in dem er beschuldigt wurde, fünf Kinder missbraucht zu haben. Grassi war damals der vielleicht berühmteste katholische Priester in Argentinien. Im Fernsehen warb er für Spenden für seine Waisenkinderstiftung. Der heutige Papst Franziskus, damals noch Kardinal Jorge Bergoglio, verteidigte Grassi vehement. Jahre später kam heraus, dass er sogar eine Studie in Auftrag gegeben hatte, die Grassi entlastete. 2013 kam Grassi nach einem langen Prozess für 15 Jahre ins Gefängnis. +Heute gibt es in ArgentinienMissbrauchsvorwürfegegen 80 Geistliche. Einige stechen heraus wie diejenigen rund um das Institut Próvolo, ein Internat für gehörlose Jugendliche. Bei den Ermittlungen kam heraus, dass viele der Täter italienische Priester waren, gegen die es bereits in Italien Missbrauchsvorwürfe gegeben hatte. Sie waren wegen der Vorwürfe nach Lateinamerika versetzt worden. Einer der Priester sagte einem Journalisten, dass zu seiner Zeit am Internat zehn Geistliche Kinder und Jugendliche missbrauchten. Die Organisation "Bishop Accountability" – ein Netzwerk von Betroffenen aus den USA – glaubt, dass die 80 beschuldigten Geistlichen in Argentinien nur die Spitze des Eisbergs sind. +Besonders hart schlug der Missbrauchsskandal in Chile ein, das als eines der konservativsten Länder Südamerikas gilt. Bis vor wenigen Jahrzehnten zählte das Wort eines Bischofs dort mindestens so viel wie das eines Abgeordneten oder eines Ministers. Die Kirche hatte die Macht, Gesetze auszubremsen, die ihr nicht passten. Sie boykottierte auch Anti-Aids-Kampagnen, die dazu rieten,beim Sex Kondome zu benutzen. Doch diese Macht hat die Kirche nun eingebüßt. +Im Jahr 2010 machten drei Opfer des Priesters Fernando Karadima den von ihnen erlittenen Missbrauch öffentlich. Karadima ist ein erzkonservativer Pfarrer, der zum inneren Zirkel um den Diktator Pinochet gehörte. Pinochet regierte Chile von 1973 bis 1990 und war verantwortlich für Tausende Tote. Die Chilenen waren empört, in der Folge gingen weitere Opfer an die Öffentlichkeit. Die Vorwürfe richteten sich gegen fast alle Bistümer und Orden des Landes. 1995 gaben 74 Prozent der Chilenen an, katholisch zu sein, bis 2018 ist die Zahl auf 45 Prozent gefallen. +Die Auswirkungen waren besonders deutlich beim Besuch des Papstes im Januar 2018 zu spüren. Die chilenischen Katholiken empfingen Franziskus mit einer Kälte, die niemand vorhergesehen hatte. Seine letzten öffentlichen Gottesdienste blieben halb leer. +Drei Monate später vertiefte sich der Bruch zwischen Kirche und Gesellschaft weiter, als die Generalstaatsanwaltschaft anfing, gegen Geistliche zu ermitteln. Dafür stieg sie unter anderem in die Archive eines der größten Bistümer des Landes. Im März 2019 ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen insgesamt 219 Geistliche und katholische Laien wegen sexuellen Missbrauchs. Die Mehrheit der 241 Opfer war zum Zeitpunkt der Tat noch keine 18 Jahre alt. +Der Missbrauchsskandal in Chile beunruhigt den Vatikan, weil er Auswirkungen auf die gesamte Region haben könnte. In vielen Ländern gibt es zwar ähnliche Vorwürfe, aber sie haben bis jetzt nicht annähernd so viel Aufmerksamkeit bekommen wie in Chile. In Peru etwa erhob der Journalist Pedro Salinas in seinem Buch "Halb Mönche, halb Soldaten" im Jahr 2015 Vorwürfe gegen die Mitglieder des "Sodalicio de Vida Cristiana", einer lokalen und sehr konservativen katholischen Bewegung. Dort beschreibt Salinas, wie der Anführer Fernando Figari seine Macht nutzte, um Jugendliche zu manipulieren und sexuell zu missbrauchen. Salinas wurde später wegen Verleumdung verurteilt, geklagt hatte ein Bischof, der der Bewegung nahesteht. Vor wenigen Wochen zog der Bischof die Klage schließlich zurück – der öffentliche Druck war zu groß. +In Chile wie in Peru stammen die Betroffenen, die den erlittenen Missbrauch öffentlich machten, aus der Oberschicht. Sie hatten es schwer, gehört zu werden in dermaßen katholischen Gesellschaften, in denen Priester und Bischöfe bis heute sehr viel Macht haben. Und doch war es einfacher für sie als für die große Mehrheit der Betroffenen, die nicht so viel Geld, Einfluss und Kontakte haben. Papst Johannes Paul II. nannte Lateinamerika einst den "Kontinent der Hoffnung". Die Hoffnung für die Missbrauchsopfer besteht wohl darin, erzählen zu können, wie die Kirche ihr Leben in Wahrheit verändert hat. + diff --git a/fluter/mission-impossible.txt b/fluter/mission-impossible.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..91285a1448505569d84bba26a7213825586a2dba --- /dev/null +++ b/fluter/mission-impossible.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Im Internet suche ich nach plastikfreien Zahnbürsten. Eine Holzzahnbürste mit Naturborsten kostet rund sechs Euro. Ich dusche und nehme Kernseife statt Duschgel. Ich gehe mit Kopfschmerzen zum Bäcker und bestelle ein Frühstück: Brötchen, Wurst und Käse werden auf einem Teller serviert. Der Teller steht auf einem Plastiktablett. Ich nehme den Teller und lasse das Tablett stehen. Das, was ich esse, war auf jeden Fall in einer Plastikverpackung, bevor es auf meinen Teller landete. Geht streng genommen also auch nicht. Ich lasse die Butter liegen, weil die Verpackung mit Kunststoff beschichtet ist. +Abends bin ich mit Freunden zum Grillen verabredet. Wir gehen einkaufen. Mein Freund sagt, dass wir laufen müssen, wenn ich es ernst meine mit dem Experiment. Denn der Bus ist voll mit Plastik: die Griffe, die Sitze, die Armatur. Wir laufen zum Supermarkt. Ich kaufe Bier und Mineralwasser in Glasflaschen und merke erst beim Herausgehen, dass die Deckel entweder komplett oder teilweise aus Kunststoff sind. Wieder eine Ausnahme. Wir finden eine Metzgerei, die uns das Fleisch komplett plastikfrei einpackt. Nachmittags bekomme ich Magenschmerzen. Ich gehe in die Apotheke und kaufe ein Pulver, das in Papierröhrchen verpackt ist. Diese Röhrchen sind mit Plastik beschichtet. Wieder eine Ausnahme. Am Ende des ersten Tages habe ich bewusst fünf Ausnahmen gemacht und unbewusst viel mehr. +Am zweiten Tag putze ich meine Zähne, ohne die Plastikzahnbürste zu benutzen, und dusche wieder mit Kernseife. Beim Anziehen fällt mir das Schuhproblem auf: Die Sohlen sind aus Gummi und Kunststoff. Eigentlich müsste ich barfuß gehen. Im Internet entdecke ich einen neuen Konflikt, der sich ergibt, wenn man auf Schuhe ohne Kunststoff ausweicht. Er heißt: Plastik versus Leder. Ist Leder so viel besser? Vegetarier und Veganer sagen: Nein. +Am zweiten Tag mache ich mir über die Sinnhaftigkeit meines Versuchs Gedanken. Streng genommen müsste ich jeden Kontakt mit Plastik vermeiden. Wie müsste eine Welt aussehen, in der das möglich wäre? Eine Holzhütte in der Einöde, fernab der Plastikzivilisation. Da wäre das möglich. Ich beschließe, dass es ausreicht, wenn ich kein neues Plastik anschaffe. Drei Tage lang geht das problemlos. Aber länger? +Am dritten Tag mache ich fünf Ausnahmen: Ich nehme mein Handy in die Hand, weil jemand anruft. Ich trage Schuhe mit Kunststoffsohlen. Ich gehe über einen PVC-Boden. Ich fahre Bus und halte mich an einem Kunststoffgriff fest. Und ich spiele auf einem Kunststoffboden Fußball, der Ball ist auch aus Plastik . Abends lese ich von der vietnamesischen Insel Cu Lao Cham. Ihre Bewohner haben vor einiger Zeit beschlossen, auf Plastiktüten zu verzichten und Körbe zum Einkaufen mitzunehmen. Das ist doch ein kleiner, guter Anfang. Ich werde mich den Bewohnern von Cu Lao Cham anschließen.Nicht mal im Biomarkt kann man einkaufen, ohne neues Plastik anzuschaffen. Warum eigentlich nicht? Ich gehe in den Biomarkt und frage nach. Der Verkäufer zuckt mit den Schultern. "Keine Ahnung", sagt er. Wahrscheinlich konzentrieren wir uns, wenn überhaupt, immer nur auf eine Strategie: entweder auf Bio oder Fair-trade oder eben auf plastikfreies Einkaufen. Und wenn man versucht, dem einen Problem auszuweichen, gerät man an das nächste. Und dann fragt man sich, ob Baumwolle besser ist als Polyester oder Leder besser als Kunststoff. +Felix Dachsel scheiterte nicht nur beim Plastikverzicht, sondern auch bei der Beendigung eines Studiums. Im dritten Versuch soll es jetzt in Leipzig klappen, auch wenn er weiterhin parallel als freier Journalist arbeitet. diff --git a/fluter/mit-15-war-diskriminierung-fuer-mich-normalitaet.txt b/fluter/mit-15-war-diskriminierung-fuer-mich-normalitaet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/mit-der-Bedrohung-aus-nordkorea-leben.txt b/fluter/mit-der-Bedrohung-aus-nordkorea-leben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e68efd762811f37e3d62ee59e558ac273f723186 --- /dev/null +++ b/fluter/mit-der-Bedrohung-aus-nordkorea-leben.txt @@ -0,0 +1,19 @@ + + +In Seoul angekommen, fühlt sich die Bedrohung aus Nordkorea ganz real an. Um die Metropolregion mit ihren rund 25 Millionen Einwohnern in Schutt und Asche zu legen, braucht es nämlich gar keine Atombombe – konventionelle Artilleriegeschütze würden reichen. Und die sind schon jetzt in nur 50 Kilometer Entfernung an der Grenze zu Nordkorea stationiert. In einigen Schulen bereiten Lehrkräfte ihre Schulklassen auf Notfallsituationen vor, zum Erntedankfest werden erstmals auch Survival Kits verschenkt, und vor Feiertagen gehen einzelne Videos viral, in denen Vlogger vor laufender Kamera ihre Notfallrucksäcke packen. Als ich an meinem ersten Arbeitstag meinen Chef frage, ob ich mir für Notfälle eine lokale SIM-Karte zulegen soll, winkt er ab: Im Krisenfall gäbe es sowieso kein Netz. Stattdessen soll ich auf die "Shelter"-Aufkleber achten, die viele U-Bahn-Stationen als bombensichere Bunker ausweisen. Regelmäßig gibt es stadtweite Notfallübungen, bei denen der Verkehr zum Erliegen kommt und die Bevölkerung die Bunker aufsuchen soll. +In den deutschen Medien findet der Atomkonflikt meist nur statt, wenn es eine neue Eskalation gibt. In Südkorea wird dagegen jede Presseerklärung aus dem Weißen Haus und jeder einzelne Tweet Trumps aufmerksam verfolgt. Eine Kriegserklärung per Nachrichtendienst? Nicht mehr undenkbar. Die Recherche zur nordkoreanischen Seite der Geschichte gestaltet sich deutlich schwieriger: Als Quelle gibt es nur die Staatsnachrichten. Außerdem sind viele der nordkoreanischen Internetseiten in Südkorea geblockt, um "die öffentliche Ordnung nicht zu gefährden". +Tunnelblick in der U-Bahn: Die Menschen in Südkorea legen angesichts des Säbelrasselns aus dem Norden eine betonte Gelassenheit an den Tag +Eine ausgiebige Presseschau wird zu meinem Morgenritual: Beim Kaffee starte ich mit der englischsprachigen Tageszeitung "Korea Times". Gemeinsame Militärübungen von US-Truppen und südkoreanischen Streitkräften. Ein Journalist bezeichnet sie als provokantes Angriffstraining. In der U-Bahn höre ich Podcasts aus Deutschland und filtere die Beiträge zu Asien heraus. Parteitag in China. Es wird über Xi Jinpings dreistündige Rede diskutiert. Noch vor Wochen hat China vor weiteren Eskalationen im Atomstreit gewarnt. Zähneknirschend hat die traditionelle Schutzmacht und der wichtigste Handelspartner Nordkoreas die Sanktionen gegenüber Pjöngjang verschärft. Auf Drängen der USA, so scheint es, deren Einfluss man vor der eigenen Haustür nur ungern akzeptiert. +Kurz vor meiner Ankunft im Büro auch noch ein Beitrag zu den Wahlen in Japan: Regierungschef Abe ist wiedergewählt. Hat er mit dem Wahlsieg nun genügend Unterstützung für eine geplante Aufrüstung, um Nordkorea abzuschrecken? Die Logik kommt mir bekannt vor, denke ich noch, als ich das Büro betrete. Den Computer hochgefahren, checke ich als Erstes die englischsprachige Presse. Die "New York Times" beobachtet: Trump hält sich seit Tagen zurück. Anfang November soll er aber nach Seoul kommen, eine mögliche Pressekonferenz an der Grenze zu Nordkorea bereitet Sorgen. Mein eigentlicher Arbeitstag beginnt schließlich mit der Auswertung von Hintergrundberichten, wobei sich die immer gleichen Fragen zu wiederholen scheinen: Was passiert, wenn Kims Rakete einen der amerikanischen Militärstützpunkte auf der Südseeinsel Guam oder im japanischen Okinawa trifft? Tragen die neuen Sanktionsforderungen aus Europa zu einer Beilegung des Konflikts bei? Die Vermittlungsangebote von Angela Merkel werden als wichtiges Signal gewertet, das in Washington aber kaum Beachtung findet. + + +"Wo bleibt Südkorea?", frage ich mich bei alldem immer wieder. Präsident Moon Jae-in, erst seit Mai im Amt, findet mit Forderungen nach Verhandlungen wenig Gehör – im Zweifel kann er sich einer Entscheidung aus Washington nicht verweigern. Südkorea wirkt in dieser Zeit eher als Spielball internationaler Politik, dessen Schicksal abhängig ist von den Launen der Staatsführer in Washington und Pjöngjang. +Spreche ich Einwohner auf die Bedrohung an, reagieren die meisten betont gelassen, aber in knappen Worten. Niemand will sich zu lange mit dem unliebsamen Thema beschäftigen, im Alltag wird es nur selten diskutiert, und wenn, dann dominieren Sarkasmus und Ironie. "Kim hat uns am Wochenende schon wieder ein Geschenk gemacht" ist eine Bemerkung, die ich nach dem Wasserstoffbombentest aufschnappe. Sie steht für mich sinnbildlich für den südkoreanischen Umgang mit der ständigen Bedrohung. Und als Mitte Oktober der amerikanische Außenminister erklärt, dass man so lange mit Nordkorea verhandeln wolle, "bis die erste Bombe fällt", wird dieser Hoffnungsschimmer auf eine friedliche Lösung ebenso achselzuckend zur Kenntnis genommen wie zuvor jegliche Kriegsrhetorik. + + +"Seoul ist ohnehin eine der sichersten Städte der Welt", behauptet ein Student. Er besteht darauf, dass die rund 24.000 in Südkorea stationierten US-Soldaten ein unbeschwertes Leben in Seoul garantieren würden. Tatsächlich laufen in den vollgestopften U-Bahnen auf allen Smartphones Telenovelas und Videospiele. Die Shopping-Malls sind zu jeder Tages- und Nachtzeit gut gefüllt, Bars und Clubs an den Wochenenden gerammelt voll. Es ist ein sonniger Herbst, und die Leute verbringen ihre Freizeit in den Parks und am Han River. Südkorea sei eben eine Spaßgesellschaft und fordere sorgenfreie Unterhaltung ein, erklärt mir ein südkoreanischer Wissenschaftler am Rande einer Konferenz. +Auch nach zwei Monaten in Seoul frage ich mich noch, woher die äußere Gelassenheit der meisten Menschen hier kommt. Liegt es am strengen koreanischen Bildungssystem, das nicht gerade dazu ermutigt, sich öffentlich in politischen Fragen zu positionieren? Ist es der harte Arbeitsalltag, die rare Freizeit, in der man keine Sorgen austauschen möchte? Und welchen Einfluss haben die gesellschaftlichen Hierarchien, die wenig Raum für Kritik lassen? +Ein Unternehmensberater erklärt mir, man lebe schon so lange mit dem Auf und Ab der Krise, dass man sich einfach daran gewöhnt habe. Es sei wie auf der Autobahn: Wenn man das Tempo nur lange genug auf 180 hält, kommt es einem irgendwann nicht mehr schnell vor, sondern nur noch ermüdend. Sorgenloses Fahren ohne Tempolimit also, im Vertrauen darauf, dass es nicht zum Unfall kommt – hoffentlich. + +Arne Cremer, 26, studiert Politikwissenschaft in Bonn. Seit September absolviert er ein dreimonatiges Praktikum im Büro Korea der Friedrich-Ebert-Stiftung. +Titelbild:  ED JONES/AFP/Getty Images diff --git a/fluter/mit-diesen-werkzeugen-arbeitet-tierzucht-massentierhaltung.txt b/fluter/mit-diesen-werkzeugen-arbeitet-tierzucht-massentierhaltung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a8271622474a90a8a669658961ee72a063810da1 --- /dev/null +++ b/fluter/mit-diesen-werkzeugen-arbeitet-tierzucht-massentierhaltung.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +Die zum Hoden eines Bullen führende Ader wird mit der Kastrierzange gequetscht, bis die Hoden wegen fehlender Blutzufuhr verkümmern. Das ist schmerzhaft und verändert den Hormonhaushalt der Tiere. Jungtiere unter vier Wochen dürfen ohne Betäubung kastriert werden. +Saugentwöhner: Kälber werden früh von ihren Müttern getrennt, damit deren Milch an Molkereien verkauft werden kann. Die Kälber versuchen oft an den Eutern anderer Kühe zu saugen. Um das zu unterbinden, bekommen sie einen Ring an der Nase befestigt, die Zacken nach Außen gerichtet. + +Die Eckzähne von Ferkeln dürfen bis zum achten Lebenstag ohne Betäubung abgeschliffen werden. Das soll die Zitzen der Muttersäue schützen, die in Abferkelboxen nicht genug Bewegungsfreiheit haben, um sich zeitweise von den Ferkeln abzuwenden. +Ferkeln dürfen bis zum vierten Lebenstag die Schwänze mit der erhitzten Klinge des Kupiergerätes abgetrennt werden, damit sie sich die Ringelschwänze nicht blutig beißen. Dieser Kannibalismus entsteht aus der permanenten Langeweile und hohen Besatzdichte in der Gruppenhaltung. Betäubt werden die Ferkel für das Kupieren nicht. +Dank der 6.000 Volt in diesem Viehtreiber gehorcht die Sau aufs Wort. Schlachthöfe setzen die Stromschläge ein, wenn die oft verängstigten Tiere nicht freiwillig weitergehen. +Viehtreiber dürfen nur beim Verladen der Tiere und an bestimmten Körperteilen angewendet werden. Nicht selten wird dagegen verstoßen – und über sensible Körperstellen wie Augen, Euter oder Vulva getrieben. +Rinder ohne Horn können auf kleinerem Stallraum gehalten werden. Deshalb wird mit einem heißen Brennstab die Hornanlage zerstört. Bei Kälbern unter sechs Wochen dürfen Viehwirte betäubungslos enthornen. +Weil sie fast ohne Umweltreize aufwachsen, entwickeln viele Puten Verhaltensstörungen. Um zu verhindern, dass sie einander zum Beispiel die Federn auspicken, gibt es Zangen, mit denen die Schnabelspitze gekürzt wird. Große Brütereien nutzen dazu einen Infrarotstrahl. + +Was Tierschützer gruselt, ist für viele Tierwirte Alltag. Zwischen Preisdruck,Marktnormenund Existenzängsten bleibt oft wenig Platz für Tierwohl. Um "das Produkt" Tier zu verbessern und das Zusammenleben auf engem Raum zu erleichtern, sind Eingriffe mit bleibenden Folgen üblich. +Nehmen wir das Schwein: Weil das Fleisch von Ebern ab der Geschlechtsreife einen unangenehmen Geruch und Geschmack entwickeln kann, werden männliche Ferkel in der Regel wenige Tage nach der Geburt kastriert. Der Schweinezüchter greift sich das Ferkel und schneidet ihm mit einem Skalpell die Hoden ab.Per Gesetzist die betäubungslose Kastration nur bis zum achten Lebenstag erlaubt, auf vielen Schweinefarmen aber ist sie auch später noch Routine. +Der Tierschutz steht im Grundgesetz, bereits 2008erklärtenBauern- und Einzelhandelsverbände, "baldmöglichst" auf die betäubungslose Kastration verzichten zu wollen, und 2013 wurde der Ausstieg aus der Praxis im Tierschutzgesetz beschlossen. Getan hat sich seitdem nicht viel: Im November 2018 wurde die betäubungslose Ferkelkastration erneut bis Ende 2020für zulässig erklärt. Danach sollen Ferkel nur dann kastriert werden, wenn die Schmerzen wirksam ausgeschaltet werden können. +Auf die Frage, warum sich dieser Beschluss so lange hinzog, verwies der Bundestag auf einen Mangel an "praktischen Alternativmethoden". Nichts ist so schnell und so preiswert wie der Schnitt mit einem Skalpell. Alternativ könnten die Landwirte ihre Ferkel … +… unter Vollnarkose kastrieren. Doch das ist bislang nur Tierärzten erlaubt. Außerdem ist das Verfahren aufwendig, und die Gerätschaften sind teuer. +… gegen den Geruch impfen. Die Impfung dürfen Landwirte zwar selbst durchführen, sie befürchten aber, dass geimpftes Fleisch beim Verbraucher schlechter ankommt. +… ohne Kastration oder Impfung mästen. Bei der sogenannten Ebermast bleiben die Tiere körperlich unversehrt und haben keinen Behandlungsstress. Allerdings ist Eberfleisch beim Handel weniger akzeptiert, und die Gefahr ist groß, dass die Tiere sich mit Eintritt der Geschlechtsreife in den engen Ställen bei Machtkämpfen verletzen. Um das zu verhindern, müssten sie vor der Geschlechtsreife geschlachtet werden – und würden damit weniger Profit abwerfen. +… mit lokaler Betäubung kastrieren. Dieser sogenannte "vierte Weg" würde den geringsten Aufwand bedeuten, weshalb Landwirte und die Industrie ihn mehrheitlich favorisieren. Allerdings sind die Betäubungsmittel dafür noch nicht zugelassen, sie schalten den Schmerz nicht verlässlich aus, und Tierärzte und -schützer zweifeln, ob den Züchtern die korrekte Injektion zuzutrauen ist. +Umsetzbar sind alle diese Verfahren. Welches sich durchsetzt, ist unklar. Bis mindestens Ende 2020 wird das Skalpell weiter im Werkzeugkoffer der industriellen Schweinezüchter bleiben. + +Mit solchen Spritzen werden Schweinen u.a. Hormone, Impfstoffe und Antibiotika injiziert, damit sie trotz der unpassenden Haltung leistungsfähig bleiben. Der Leistungsfähigkeit der Konsumenten ist Antibiotikafleisch eher abträglich. +Die Kastrationszange wird auch "Emaskulator" genannt: Sie quetscht und durchtrennt die Samenstränge von Rindern, Schafen oder Ziegen. +Wie die Soko Tierschutz aufdeckte, wurde diese Drahtbürste eingesetzt, um Schweine in einen Schlachthof zu treiben: Die Drahtborsten wurden über die Genitalien gezogen, damit die Gewalteinwirkung später nicht am Fleisch zu sehen ist. +Um sie sicher führen zu können, wird Zuchtbullen spätestens nach zwölf Monaten ein Nasenring eingezogen. Eine Betäubung ist dabei unüblich. Der Ring durchtrennt die Nasenscheidewand und verursacht Schmerzen bei ruckhaften Kopfbewegungen. + +Die kleinen goldfarbenen Bolzen werden mit diesem Gerät in den Schädel geschossen. Sie sollen die Schlachttiere betäuben, nicht töten. Jährlich werden aber über 300.000 Rinder und 7,5 Millionen Schweine fehlbetäubt – laut offiziellen Zahlen. Die Dunkelziffer ist vermutlich deutlich höher. +Stopfleber oder Foie gras gilt als Delikatesse. Für die Zubereitung müssen die Gänse- oder Entenlebern auf das Zehnfache ihres Normalgewichts anschwellen. Also werden täglich 800 bis 1.000 Gramm hochkalorischer Maisbrei durch solche Füllschläuche in den Hals der Tiere gestoßen. Das ist, als würde man einen Menschen zwingen, 14 Kilo Spaghetti zu essen. Diese Zwangsfütterung verstößt gegen das deutsche Tierschutzgesetz, der Import von Stopfleberprodukten aus anderen EU-Ländern ist jedoch erlaubt. Deutschland importierte im Jahr 2016 knapp 64 Tonnen solcher Produkte. diff --git a/fluter/mit-eigenem-kopf.txt b/fluter/mit-eigenem-kopf.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a2b4ef1f36f59c5b11eb870d7ca9a7cf8f1d5355 --- /dev/null +++ b/fluter/mit-eigenem-kopf.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Wer Coco Chanel tatsächlich war, wusste sie vielleicht nicht einmal selbst, schon zu ihrem Namen kam sie auf verschlungenen Pfaden: Geboren wurde sie 1883 als Gabrielle, uneheliches Kind des Hausierers Henri-Albert Chasnel – nicht Chanel – und der Wäscherin Eugénie Jeanne Devolle, in einem Armenhaus in Saumur an der Loire. Der Spitzname Coco könnte aus dem Grand Café in Moulins stammen, wo Gabrielle in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts abends Chansons vortrug – darunter bevorzugt die Lieder "Qui qu'a vu Coco?" und "Ko-Ko-Ri-Ko". Coco Chanel hingegen gibt an, dass sie den Spitznamen direkt von ihrem Vater erhalten habe. +Was stimmt nun? Um Coco Chanel ranken sich viele Legenden, eine Ausstellung im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe wollte 2014 gar den "Mythos Chanel" ergründen. Jüngere Filme wie "Coco avant Chanel" von 2009 oder Jan Kounens "Coco Chanel & Igor Stravinsky" aus dem gleichen Jahr zeichnen das Bild einer starken Persönlichkeit, die sich über jede Konvention hinwegsetzt. +Demgegenüber stehen die Vorwürfe, die der US-amerikanische Journalist Hal Vaughan 2011 in seinem Enthüllungsbuch "Coco Chanel – Der schwarze Engel: Ein Leben als Nazi-Agentin" aufstellte: Unter anderem sollte sie 1944 als Teil der "Operation Modellhut" Churchill zu Gesprächen mit den Deutschen über einen "Separatfrieden zwischen Deutschland und Großbritannien" überreden. Inwiefern derartige Kollaborationsvorwürfe der Wahrheit entsprechen und welchen konkreten Hintergrund sie hatten – so wird auch behauptet, allein die Haftentlassung ihres Neffen André Palasse sei Motivation ihres Handelns gewesen –, lässt sich bis heute nicht eindeutig nachweisen. +Sie würden aber nicht verwundern, denn zu Coco Chanels Stärken zählte zweifellos das Talent, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein und die Möglichkeiten, die sich ihr dadurch boten, zu ergreifen – wenngleich ihre Motive nicht unbedingt politischer Natur gewesen sein müssen. Die Filmbiografie "Coco avant Chanel" entgeht hier einer Positionierung, da sie sich auf die frühen Jahre Coco Chanels konzentriert, auf den "Beginn einer Leidenschaft", so der Filmtitel in der deutschen Übersetzung. Die große Karriere beginnt erst nach dem Abspann. +Uns bleiben heute die Früchte ihrer Fähigkeiten. Das Korsett hat sie zwar gar nicht abgeschafft – das war bereits die Lebensreformbewegung um 1900, die dem freien Körperkult huldigte, und wenig später der Pariser Designer Paul Poiret, der Kleidung schuf, die sich ohne Korsett tragen ließ und Frauen sogar das Radfahren ermöglichte. Doch spürte Coco Chanel früh, dass die Dame der Gesellschaft als ausstaffiertes Accessoire am Arm eines Mannes nicht länger zeitgemäß war. +Sie wusste, dass körpereinschnürende Kleidung, aufwendiger Dekor und ausladende Hutmoden nicht mehr in eine Zeit passten, in der Frauen ihre gesellschaftlichen Möglichkeiten erweiterten und erprobten – und sie verstand es, diese Erkenntnis in eine neue Art des Kleidens zu transformieren: klare Schnitte, luftige Stoffe für mehr Bewegungsfreiheit, schlichte Eleganz, die Frauen zu jeder Gelegenheit korrekt gekleidet erscheinen ließ. +Als Paradiesvogel der Pariser haute société konnte Chanel sich ihr eigensinniges Auftreten leisten. Ihr Privileg war die Freiheit, einen eigenen Kopf zu haben, weil ihr keiner durch ihre Herkunft aufgesetzt worden war. Damit konnte sie vorleben, was andere Frauen ihrer Zeit nur erträumten. Sie konnte Wege ebnen, von denen Frauen bis heute profitieren. +Inwiefern Coco Chanel tatsächlich politische Kleidung entwarf, also eine, welche die erstarkende politische Macht der Frauen demonstrierte, oder ob sie auf der Suche war nach einer Mode, die ihr Freiheitsstreben überhaupt erst ermöglichte, ist wie die Frage nach dem Huhn und dem Ei. Wenn sich Audrey Tautou als Coco in Hosen auf ein Pferd schwingt, das nicht, wie für diese Zeit üblich, mit einem Damen-, sondern mit einem Herrensattel ausgestattet ist, dann mag man vor allem Letzteres annehmen. +Mahret Kupkaist Kuratorin für Mode, Körper und Performatives am Museum Angewandte Kunst in Frankfurt. Davor war sie in Berlin als freie Autorin, Bloggerin und Dozentin für Modetheorie tätig. Sie promovierte über Modeblogs und die Revolutionierung der Mode. diff --git a/fluter/mit-haut-und-haaren.txt b/fluter/mit-haut-und-haaren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/mit-ki-ueber-wahlen-informieren.txt b/fluter/mit-ki-ueber-wahlen-informieren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0258aae221ae07f734b9ab960f98916c4c64d9c0 --- /dev/null +++ b/fluter/mit-ki-ueber-wahlen-informieren.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Das ist nicht nötig, aber man muss wissen, was die KI leisten kann. "Den größten Vorteil sehe ich darin, dass künstliche Intelligenz Wahlinformationen zusammenfassen und so ausspielen kann, dass es für die nachfragende Person verständlich ist", sagt die Medienethikerin Jessica Heesen von der Eberhard Karls Universität Tübingen. Mit KIs können sich Nutzer:innen einen ersten Überblick verschaffen. Der muss aber unbedingt in einem zweiten Schritt selbstständig überprüft werden. Die KI kann zum Beispielseitenlange Wahlprogramme zusammenfassen, inleichter oder einfacher Spracheerklären, Erklärungen für Kinder geben oder Übersetzungen in viele Sprachen anfertigen. +In einem zweiten Schritt ist es dann aber wichtig, die Antworten der KI noch mal mit anderen Quellen zu überprüfen. Bei einem in Stichworten zusammengefassten Wahlprogramm können die einzelnen Punkte auf der Webseite der Parteien noch mal eingegeben werden, um zu vergleichen, ob diese Punkte tatsächlich im Wahlprogramm vorkommen. Bei angeblichen aktuellen Ereignissen oder angeblichen Aussagen von Politiker:innen sollten Nutzer:innen am besten prüfen, ob große bekannte Medien auch davon berichten. Sollte der KI-Chatbot Quellen für die erfragten Informationen angeben, wie es zum Beispiel Perplexity AI macht, ist es wichtig, die Links anzuklicken, um zu checken, ob sie auf eine seriöse Webseite führen. Denn manchmal erfinden Chatbots auch Quellenangaben oder verweisen auf unseriöse Webseiten, sodass man ihnen nicht ungeprüft vertrauen kann. +Neben den bekannten Chatbots gibt es auch mehrere KI-Bots speziell für die Bundestagswahl.WahlweiseoderWahl.chatsind zwei Beispiele dafür. Das Tool Wahl.chat haben fünf Studierende einer KI-Forschungsgruppe an der LMU München und der Universität Cambridge entwickelt. In ihren Leitlinien für den KI-Bot geben sie an: "Alle Parteipositionen sollen neutral und ohne Wertung wiedergegeben werden." In den Antworten wird jeweils die entsprechende Seite des Partei-Wahlprogramms als Quelle verlinkt. Aber auch hier warnen die Entwickler, dass der Bot Fehlinformationen geben könnte. Das Risiko könne nicht ganz ausgeschlossen werden. +Besondere Sorgen bereiten Behörden und Expert:innen sogenannteDeepfakes. Das sind mithilfe von KI erstellte Bilder, Videos oder Tonaufnahmen, die täuschend echt wirken können. Sie können Wähler:innen in die Irre führen oder falsch informieren. Deepfakes sind bereits in verschiedenen Ländern und Wahlkämpfen aufgetaucht: In den USA erhielten Wähler:innen zum Beispiel Anrufe mit der gefälschten Stimme von Joe Biden, der ihnen davon abriet, bei den Vorwahlen wählen zu gehen.In der Slowakei verbreitete sich 2023 zwei Tage vor den Parlamentswahlen eine gefälschte Audioaufnahme von Kandidat Michal Šimečka, der über vermeintlich gekaufte Stimmen und Pläne für höhere Bierpreise sprach. Seine Partei, die zuvor in Umfragen geführt hatte, erreichte am Wahltag nur Platz zwei. +In Deutschland kursierte zu Beginn des Bundestagswahlkampfs ein Deepfake-Video, das den CDU-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz zeigte. Im Hintergrund des Videos lief die Nationalhymne, Merz sagte mit KI-generierter Stimme in die Kamera: "Die CDU/CSU verachtet Sie." Bisher habe ihr Team aber noch keine groß angelegten Kampagnen mit Deepfakes im Bundestagswahlkampf beobachten können, sagt Lea Frühwirth, Psychologin und Senior Researcher für Desinformation beim Thinktank CeMAS (Center für Monitoring, Analyse und Strategie). +Die KI-Verordnung der Europäischen Union verpflichtet zu einer Kennzeichnung von KI-Inhalten. Allerdings gilt sie allgemein erst ab August 2026, damit die Unternehmen genügend Zeit zur Anpassung haben. Wenn gefälschte Bilder und Videos von Politiker:innen verbreitet werden, kann das aber schon jetzt strafrechtlich verfolgt werden. "Eine speziell auf Deepfakes zugeschnittene Vorschrift zum Persönlichkeitsschutz existiert derzeit im Strafgesetzbuch noch nicht", so die Organisation AlgorithmWatch. +Expert:innen kritisieren die Art und Weise, wie die großen Social-Media-Plattformen funktionieren, weil sie Desinformation begünstigen. Die Haupteinnahmequelle von Plattformen wie Facebook oder X ist Werbung, die Nutzer:innen sollen also möglichst lange auf der Plattform bleiben, damit sie viel davon sehen. Angsterzeugende, empörende Inhalte können diese Aufmerksamkeit anziehen und binden. "Das sind natürlich auch typische Merkmale von Desinformationen, die oft reißerisch und dramatisch formuliert sind", sagt Frühwirth. KI könne hier als eine Art Beschleuniger wirken, ergänzt Medienethikerin Jessica Heesen. "Social-Media-Algorithmen laufen immer stärker mit künstlicher Intelligenz, und sie verstärken immer die Inhalte, für die ich mich interessiere. Es kann sein, dass die Algorithmen so noch stärker personalisieren." Theoretisch sei aber auch das Gegenteil möglich: KI könne auch zu mehr Ausgewogenheit führen. Es wäre denkbar, dass Nutzer:innen, die sich zum Beispiel nur Inhalte einer Partei anschauen, vom Algorithmus die Frage gestellt wird, ob sie nicht auch Inhalte anderer Parteien sehen wollen. +Bei Videos können Nutzer:innen mithilfe einer Bilder-Rückwärtssuche recherchieren, ob das Motiv zuvor schon anderswo aufgetaucht ist oder ältere Aufnahmen manipuliert wurden. Außerdem sollten die Mundbewegungen zu der Tonspur passen. Ruckartige Bewegungen, seltsames oder fehlendes Blinzeln sowie plötzlich im Hintergrund auftauchende oder verschwindende Objekte können ein Hinweis auf einDeepfake-Videosein. + diff --git a/fluter/mit-schmackes.txt b/fluter/mit-schmackes.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b070768d0d13dfe461ecfc8bcd0504203b5b4fb5 --- /dev/null +++ b/fluter/mit-schmackes.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Es dauert, bis Reno in dieser hypertrophen Stadt ein paar Freunde findet. Das sind dann vor allem dekadente, gebildete, zynische, geschmackvolle Menschen aus dem Kulturbetrieb – unter ihnen Sandro, Spross einer italienischen Reifen- und Motorraddynastie, der vor seinem latent düsteren Familienerbe geflohen ist. Ein zerrissener Schwerenöter, den der Hang zum Heimatlosen leider auch in seinen Liebesbeziehungen überkommt. +Abgesehen von kleinen Ausflügen (etwa in den Ersten Weltkrieg, in dem einer von Sandros Vorfahren einem deutschen Soldaten den Schädel stilecht mit einem Motorradscheinwerfer einschlägt) spielt "Flammenwerfer" in den politisch turbulenten 70er-Jahren: Während in Italien die Arbeiter streiken und die Terrororganisation "Rote Brigaden" Industrielle entführt, treiben in New York nicht weniger kapitalismuskritische Performancekünstler ihren Schabernack. Durch ihre Bekanntschaft mit Sandro wird Reno in all die politischen Zeitläufte hineingezogen. Hier geben alle immerzu Vollgas, auch die Geschichte. +Das Hadern mit der eigenen Herkunft, die diabolische Attraktivität der futuristischen Idee, der Charme der Bourgeoisie, die Solidarität mit den Ausgebeuteten, die Erfahrung von Lug und Betrug: Das alles macht aus der hinreißenden Reno einen noch hinreißenderen Menschen und aus Rachel Kushners Roman ein Buch, das so viel Schmackes hat wie nur wenige. diff --git a/fluter/mithu-sanyal-frauen-patriarchat.txt b/fluter/mithu-sanyal-frauen-patriarchat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fcc69efafe1617961d9f68ef8619fb4690102725 --- /dev/null +++ b/fluter/mithu-sanyal-frauen-patriarchat.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Und wie sind wirtschaftliche Fragen mit dem Patriarchat verknüpft? +Ich glaube, dass der Kapitalismus ohne Patriarchat funktionieren könnte. Ich höre häufig, dass wir mehr Frauen in Vorständen von DAX-Unternehmen brauchen. Das interessiert mich überhaupt nicht. Ich möchte grundsätzlich die Existenz von DAX-Vorständen hinterfragen. Warum brauchen wir überhaupt eine so stark durchhierarchisierte Gesellschaft mit so unglaublich unterschiedlich bezahlten Jobs?Den Gender-Pay-Gap gibt es.Aber: Eine Putzfrau verdient immer noch viel weniger als ich. Es gibt so viele andere Pay-Gaps, die wir nicht im Blick haben. Darüber müssen wir auch reden. +Brauchen wir Frauenquoten? +Wir haben ganz lange auf Selbstverpflichtung gesetzt, gerade in der Wirtschaft. Selbstverpflichtungen funktionieren aber einfach nicht, während Quoten Menschen dazu zwingen, in anderen Bahnen zu denken. Außerdem geht es um Repräsentation: Wenn du durch eine Quote eine andere Repräsentation erwirbst, werden vielleicht mehr Menschen eine Ausbildung zu einem bestimmten Beruf machen. Weil sie wissen: Dort habe ich auch eine Chance. Und trotzdem ist die Quote ein Instrument, das viele Haken hat. Oft ist es so, dass bei einer Geschlechterquote erst einmal mehr weiße Frauen eingestellt werden oder Frauen derselben Schicht. Es wird nicht alles automatisch viel diverser. Ich finde außerdem, man sollte Quoten nicht nur bei Topjobs einführen, sondern auch dort, wo Männer total unterrepräsentiert sind. Dann eben Männerquoten. +Welche Rolle spielen Jungs und Männer im Kampf gegen Ungleichbehandlungen? +Es gibt eine tolle Definition, dass im Patriarchat die Arbeit und die geistige Leistung von Frauen unterbewertet werden, sowiedie Gefühle von Männern. Verglichen mit der Gesellschaft vor 20 Jahren hat man bei der Bewertung der geistigen Leistung von Frauen Quantensprünge gemacht, auch wenn es da noch viel zu tun gibt. Bei Männern sind wir da noch nicht so weit, da heißt es immer noch: Sei ein Mann!Es gibt Studien dazu, dass Eltern ihre Jungs seltener in den Arm nehmen und trösten,dass sie sogar weniger mit Jungs reden und eine weniger blumige Sprache verwenden. Hier müssen wir ran, weil das natürlich Folgen hat, auch für das Geschlechterverhältnis. Wenn du Jungs abtrainierst, Empathie für sich selbst zu haben, wie sollen sie tiefe Empathie für ihre Freundinnen haben? Das ist die eine Seite. +Und die andere? +Männer leben im Patriarchat kürzer als Frauen. Sie gehören zu den Hochverdienern, aber es gibt auch mehr obdachlose Männer, Männer haben mehr Verkehrsunfälle, werden öfter Opfer von Gewaltverbrechen, sie werden auch häufiger Täter. Männer sind nicht das egoistische Geschlecht. Deswegen muss sich strukturell etwas ändern. +Du hast mit der Journalistin Gunda Windmüllerdie Petition ins Leben gerufen, dass im Duden statt Schamlippen Vulvalippen stehen soll. Warum ist das wichtig? +Es ist ein riesiges Problem, dass wir über Genitalien als Scham-Teile reden. Als müssten die versteckt werden. Das galt historisch für alle Genitalien und heute vor allem für die Vulva. Gleichzeitig wollen wir aber auch gegen den Boom der sogenannten ästhetischen Chirurgie vorgehen. Die hat sich nämlich eine Krankheit ausgedacht: Labienhypertrophie, also vergrößerte innere Vulvalippen. Das gibt es aber nicht als Krankheit. Es gibt keine Vulva, die so groß ist, dass man die Straße nicht langgehen kann. Ganz lange war die Vulva unsichtbar. Also ich wusste nicht, wie eine Vulva aussieht. Aber an dem Punkt, wo sie sichtbar wurde, war ganz klar, wie eine "richtige" auszusehen hat. Der Gedanke, dass die äußeren Vulvalippen größer sein müssten als die inneren, ist anatomisch totaler Quatsch. Aber die eine Form gilt gesellschaftlich als die richtige, und die anderen gelten als Abweichung. Es wird suggeriert, dass man sich dann dafür schämen muss. +Nach deinem ersten Buch "Vulva" hast du ein Buch über Vergewaltigung geschrieben. Warum wird in unserer Gesellschaft vergewaltigt? +Vergewaltigungen hängen stark mit Hierarchien und Machtverhältnissen zusammen. Es ist kein Zufall, dass es im Gefängnis zu mehr Vergewaltigungen kommt als außerhalb, dass es im Militär mehr Vergewaltigungen gibt als in der Zivilbevölkerung. Die meisten patriarchalen Staaten zeichnen sich durch eine sehr große Durchhierarchisierung aus. Deshalb gibt es natürlich Berührungspunkte. Ganz lange wurden in der Gesellschaft nur Frauen als Opfer von Vergewaltigung anerkannt, weil die Ehre historisch je nach Mann oder Frau an unterschiedliche Sachen geknüpft war. Bei der Frau ging es um ihren Körper, der Mann hingegen hatte seine Ehre auf dem Schlachtfeld zu verteidigen. Es konnte nach diesem Denken nur Frauen durch eine Vergewaltigung ihre Ehre gestohlen werden. +Unter Feminist*innengibt es oft auch Streit. Manche kritisieren zum Beispiel, dass Transfrauen in ihre Schutzräume eindringen, oder empfinden sich in Diskussionen benachteiligt, wenn es um mehrere Geschlechter geht und nicht mehr um die Frau allein. Beschneidet die Aufspaltung in viele Identitäten gegenüber binären Geschlechtervorstellungen den Kampf der Frauen? +Ich glaube, da geht gerade ganz viel durcheinander. Feministinnen, die Transfrauen nicht in Frauenräumen wollen, argumentieren damit, dass Menschen, die mit einem Penis geboren wurden, bedrohlich sind. Und das ist natürlich Unsinn. Doch Menschen, die sich bedroht fühlen, zu sagen: "Du musst offen sein", funktioniert einfach nicht. Ich wünsche mir sehr, dass wir einen Weg finden, das zu lösen. Wir haben das ja auch mit anderen Gruppen geschafft.Als Women of Color gesagt haben, wir fühlen uns von eurem Feminismus nicht wirklich repräsentiert.Oder Alleinerziehende. In feministischen Kreisen ist es so wie in jeder Gruppe, erst mal setzt sich die Norm durch, und dann müssen andere Leute sagen: "Halt, uns und unsere Bedürfnisse gibt es auch noch." Und im besten Fall kann man das produktiv aushandeln, und es werden mehr Werte berücksichtigt. Aber wir müssen über die unterschiedlichen Bedürfnisse auch im politischen Kampf reden. Wir müssen in einer Gesellschaft bestimmen können, welche Gruppen es gibt, damit wir uns für deren Rechte einsetzen können. +Wenn es um Kritik am Islam geht, entdecken plötzlich konservative Politiker*innen ihr Herz für Frauenrechte. Umgekehrt scheinen Linke ihre Solidarität mit der Frauenbewegung einem unkritischen Blick auf den Islam zu opfern. +Das ist ein riesiges Thema, das ja gerade an den Debatten über die Revolution im Iran deutlich wird. Ich glaube, alle sind sich einig, gegen den Kopftuchzwang zu sein. +Aber? +Manchmal wird es so dargestellt, als wärendie Frauen im Irangegen das Kopftuch. Nein, sie sind gegen den Zwang! Das Problem an den Kopftuchdebatten, wie sie häufig in Deutschland geführt werden, ist, dass sie einen kolonialen Beigeschmack haben. Der Gedanke dahinter ist: Nur wir wissen, was wirkliche Frauenbefreiung ist. Ich weiß von vielen Frauen, die von Pakistan nach Deutschland gekommen sind und schockiert darüber waren, wie sexistisch die Gesellschaft hier ist. Abgesehen davon hatten Indien und Pakistan lange vor Deutschland Ministerpräsidentinnen. Das eine heißt aber nicht, dass es nicht auch Probleme gibt, die man sich angucken muss. Aber zu sagen, dass eine Frau mit Kopftuch keine Feministin sein kann, ist genauso Blödsinn wie die Aussage, dass eine Frau mit hochhackigen Schuhen keine sein kann. + +Gender, Sex undKlasse: Mithu Sanyal hat dazu mehrere Bücher geschrieben, darunter "Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts", "Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens" und zuletzt "Identitti", ihren ersten Roman. + diff --git a/fluter/mittendrin-statt-nur-dabei-0.txt b/fluter/mittendrin-statt-nur-dabei-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f5d422b0f6cf08c9f16fa7e892004cd058c5cee8 --- /dev/null +++ b/fluter/mittendrin-statt-nur-dabei-0.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Der Dortmunder Politikwissenschaftler Thomas Meyer hat gerade ein ähnlich kritisches Pamphlet verfasst – weniger scharf als die Verschwörungstheoretiker, allerdings mit einer noch weiter gehenden These. Für ihn stehen Journalisten nicht nur zu nah an den Mächtigen, für ihn sind sie die eigentlich Mächtigen. Eine Handvoll sogenannter "Alphajournalisten" agiere, als "hätten sie ein privilegiertes politisches Mandat". Meyer nennt sie "Ko-Politiker". Durch ihr Veröffentlichungsmonopol bestimmten sie, welche Themen wann wie erzählt würden, welche Politiker gehypet oder gehasst würden. Damit, so Meyer, hätten sie sich einen Status erschrieben, der sie Richtern oder kirchlichen Würdenträgern ähneln ließe – den der "Unbelangbaren". +Meyer stützt seine Thesen vor allem auf zwei Episoden aus dem Bundestagswahlkampf 2013: das "Spiegel"-Porträt "Ansichten eines Clowns" über den SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück und ein Interview von Marietta Slomka mit dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel im "heute-journal". In beiden hätten die Journalisten Grenzen überschritten: "Spiegel"-Autor Dirk Kurbjuweit habe sich die Funktion eines Psychotherapeuten "angemaßt", Steinbrücks Verhalten "gnadenlos" protokolliert, seine Schwächen "genüsslich" beschrieben – und ihn damit systematisch vernichtet. +Weniger bösartig, dafür eine "minutenlange unsinnige Drangsalierung" sei das "heute-journal"-Interview gewesen. Es ging darin um den Mitgliederentscheid, mit dem die SPD über die Bildung einer Großen Koalition abstimmen lassen wollte. Marietta Slomka fragte immer wieder, ob dies verfassungskonform sei, bis Gabriel schließlich sagte: "Lassen Sie uns diesen Quatsch beenden." +Das Interview war tatsächlich keine Glanzstunde des Journalismus, auch branchenintern wurde es kontrovers diskutiert. Doch dass Meyer ausgerechnet diese beiden Beispiele zitiert, hat ein Geschmäckle: Er selbst ist SPD-Mitglied, sogar stellvertretender Vorsitzender der Grundwertekommission. So lesen sich die beiden Beispiele auch eher wie die Abrechnung eines eingeschnappten Genossen statt wie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einer Branche, die man durchaus kritisieren kann. +Denn Meyer trifft mit seiner These zweifellos einen Punkt, wie das Beispiel des CDU-Politikers Christian Wulff zeigt. Angestachelt von dem Privatkredit, den der damalige Bundespräsident versucht hatte zu verschleiern, verbissen sich einige Medien damals in einer regelrechten Recherchejagd auf Wulff – bis selbst das Bobbycar seines Sohnes in Frage gestellt wurde. +Verdächtigungen, Unwahrheiten und Übertreibungen steigerten sich zu einer rudelhaften Hysterie, der sich kaum ein Journalist entgegenstellte. Erst als die Staatsanwaltschaft die Vorwürfe auf ein Minimum zusammenschnurren ließ, gaben sich die Leitartikler geläutert: Vom"Stern"über die"Süddeutsche Zeitung"bis hin zur"Zeit"verurteilten die, die kurz vorher noch gebrüllt hatten, den "Spießrutenlauf", die "einzigartige Jagd" auf Wulff und forderten ein selbstkritisches Nachdenken der Branche. Wenngleich in ihrer Dimension bisher einzigartig, unterfüttert die Affäre natürlich Meyers These. +Drei Mechanismen macht Meyer für diese Verschärfung des Tons aus: die Inszenierung der Politik, die verstärkte Personalisierung und die mangelnde Selbstkritik unter Journalisten. Vor allem in der politischen Talkshow würde Politik inszeniert wie ein Familienstreit, in dem es eher um Intrigen und das Ringen um Positionen als um Inhalte und komplexe Zusammenhänge gehe. Den Journalisten, so liest sich Meyers Buch an dieser Stelle, fehle also der Respekt vor und das Verständnis für die harte Arbeit der Politiker – womit der Autor zugleich aber jegliche Verantwortung von den Politikern nimmt. +Denn dass Politik inszeniert und personalisiert wird, liegt auch an ihnen selbst. Gerade Christian Wulff hat davon profitiert. Seinen Aufstieg als Ministerpräsident von Niedersachsen hat er auch seinem guten Verhältnis zur "Bild"-Zeitung zu verdanken: Wulff öffnete den "Bild"-Reportern seine Tür für Homestorys, ließ sie 2008 bei der"Traumhochzeit im Märchenschloss"dabei sein. Die "Bild" erklärte wiederum seine Frau Bettina zur"Stil-Ikone"und hob das Paar in den Himmel. +Wenn Journalisten die drei genannten Mechanismen aber nicht aufdecken, sondern gar noch forcieren, führen sie die Leser und Zuschauer in die Irre, schreibt Meyer. Denn die Medien seien ihr einziger Zugang zum politischen Geschehen, sie seien nicht in der Lage zu differenzieren, was journalistische Inszenierung und was Realität sei. Dazu komme, dass die Medien ihre Fähigkeit zur Selbstkritik und Auseinandersetzung verloren hätten – was vor allem an der wirtschaftlichen Krise der Printmedien liege: Wenn ständig Zeitungen schließen, zusammengelegt oder verkleinert würden, könne heute kein Redakteur mehr wissen, wo er morgen lande. Um es sich also nicht mit den potenziellen zukünftigen Kollegen zu versauen, traue sich keiner mehr, sich gegen den medialen Mainstream zu stellen. Dadurch entstehe ein postideologischer Einheitsbrei, dem sich die Leser nicht verwehren könnten. +Mit dieser Behauptung unterschätzt Meyer jedoch die Leser. Es stimmt, dass sie zu einem gewissen Grad auf die Berichterstattung der großen Medien angewiesen sind. Allerdings blendet Meyer jegliche Form der Gegenöffentlichkeit aus. Zwar erwähnt er am Ende seines Büchleins kurz die "Hoffnung Netz", fügt aber an, dass das Internet eher ein "Chaos der großen Diskursfetzen, emotionalen Bekundungen und anonymen Beleidigungen" sei. Auf die großen Medien hätte es keinen Einfluss. Was aber nicht stimmt: Immerhin waren es Netznutzer und Digitaljournalisten, die die Doktorarbeit von Karl-Theodor zu Guttenberg als Plagiat enttarnt haben, die mitLobbyPlaggezeigt haben, welchen Einfluss Lobbyverbände auf die europäische Politik haben. +Welchen Einfluss Netzdebatten mittlerweile auf Journalisten und Qualitätsmedien ausüben, hat zuletzt der Absturz der Germanwings-Maschine gezeigt. Als viele Medien sich darin überboten, die meisten persönlichen Details über den Kopiloten herauszubekommen, gab es in sozialen Medien eine Welle der Entrüstung, die so weit ging, dass sich die "Alphajournalisten" von der "FAZ" und der "Bild"erklärenmussten: Sie schrieben Kommentare, warum sie es für angebracht hielten, den Namen schon früh in der Berichterstattung zu veröffentlichen. +Das führt aber nicht dazu, die Leserschaft zu besänftigen, im Gegenteil: Nie gab es so viele Beschwerden beim Presserat wie nach dem Flugzeugabsturz. Die Leser sind also längst nicht jene naive Masse, für die Meyer sie hält. +Anne Fromm, 28, arbeitet als Medienredakteurin für die taz diff --git a/fluter/mittendrin-statt-nur-dabei.txt b/fluter/mittendrin-statt-nur-dabei.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fcb6a57a39786a7fb7379eb6ba15c56eead608a7 --- /dev/null +++ b/fluter/mittendrin-statt-nur-dabei.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Meyer stützt seine Thesen vor allem auf zwei Episoden aus dem Bundestagswahlkampf 2013: das "Spiegel"-Porträt "Ansichten eines Clowns" über den SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück und ein Interview von Marietta Slomka mit dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel im "heute-journal". In beiden hätten die Journalisten Grenzen überschritten: "Spiegel"-Autor Dirk Kurbjuweit habe sich die Funktion eines Psychotherapeuten "angemaßt", Steinbrücks Verhalten "gnadenlos" protokolliert, seine Schwächen "genüsslich" beschrieben – und ihn damit systematisch vernichtet. +Weniger bösartig, dafür eine "minutenlange unsinnige Drangsalierung" sei das "heute-journal"-Interview gewesen. Es ging darin um den Mitgliederentscheid, mit dem die SPD über die Bildung einer Großen Koalition abstimmen lassen wollte. Marietta Slomka fragte immer wieder, ob dies verfassungskonform sei, bis Gabriel schließlich sagte: "Lassen Sie uns diesen Quatsch beenden." +Das Interview war tatsächlich keine Glanzstunde des Journalismus, auch branchenintern wurde es kontrovers diskutiert. Doch dass Meyer ausgerechnet diese beiden Beispiele zitiert, hat ein Geschmäckle: Er selbst ist SPD-Mitglied, sogar stellvertretender Vorsitzender der Grundwertekommission. So lesen sich die beiden Beispiele auch eher wie die Abrechnung eines eingeschnappten Genossen statt wie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einer Branche, die man durchaus kritisieren kann. +Denn Meyer trifft mit seiner These zweifellos einen Punkt, wie das Beispiel des CDU-Politikers Christian Wulff zeigt. Angestachelt von dem Privatkredit, den der damalige Bundespräsident versucht hatte zu verschleiern, verbissen sich einige Medien damals in einer regelrechten Recherchejagd auf Wulff – bis selbst das Bobbycar seines Sohnes in Frage gestellt wurde. +Verdächtigungen, Unwahrheiten und Übertreibungen steigerten sich zu einer rudelhaften Hysterie, der sich kaum ein Journalist entgegenstellte. Erst als die Staatsanwaltschaft die Vorwürfe auf ein Minimum zusammenschnurren ließ, gaben sich die Leitartikler geläutert: Vom "Stern" über die "Süddeutsche Zeitung" bis hin zur "Zeit" verurteilten die, die kurz vorher noch gebrüllt hatten, den "Spießrutenlauf", die "einzigartige Jagd" auf Wulff und forderten ein selbstkritisches Nachdenken der Branche. Wenngleich in ihrer Dimension bisher einzigartig, unterfüttert die Affäre natürlich Meyers These. +Drei Mechanismen macht Meyer für diese Verschärfung des Tons aus: die Inszenierung der Politik, die verstärkte Personalisierung und die mangelnde Selbstkritik unter Journalisten. Vor allem in der politischen Talkshow würde Politik inszeniert wie ein Familienstreit, in dem es eher um Intrigen und das Ringen um Positionen als um Inhalte und komplexe Zusammenhänge gehe. Den Journalisten, so liest sich Meyers Buch an dieser Stelle, fehle also der Respekt vor und das Verständnis für die harte Arbeit der Politiker – womit der Autor zugleich aber jegliche Verantwortung von den Politikern nimmt. +Denn dass Politik inszeniert und personalisiert wird, liegt auch an ihnen selbst. Gerade Christian Wulff hat davon profitiert. Seinen Aufstieg als Ministerpräsident von Niedersachsen hat er auch seinem guten Verhältnis zur "Bild"-Zeitung zu verdanken: Wulff öffnete den "Bild"-Reportern seine Tür für Homestorys, ließ sie 2008 bei der "Traumhochzeit im Märchenschloss" dabei sein. Die "Bild" erklärte wiederum seine Frau Bettina zur "Stil-Ikone" und hob das Paar in den Himmel. +Wenn Journalisten die drei genannten Mechanismen aber nicht aufdecken, sondern gar noch forcieren, führen sie die Leser und Zuschauer in die Irre, schreibt Meyer. Denn die Medien seien ihr einziger Zugang zum politischen Geschehen, sie seien nicht in der Lage zu differenzieren, was journalistische Inszenierung und was Realität sei. Dazu komme, dass die Medien ihre Fähigkeit zur Selbstkritik und Auseinandersetzung verloren hätten – was vor allem an der wirtschaftlichen Krise der Printmedien liege: Wenn ständig Zeitungen schließen, zusammengelegt oder verkleinert würden, könne heute kein Redakteur mehr wissen, wo er morgen lande. Um es sich also nicht mit den potenziellen zukünftigen Kollegen zu versauen, traue sich keiner mehr, sich gegen den medialen Mainstream zu stellen. Dadurch entstehe ein postideologischer Einheitsbrei, dem sich die Leser nicht verwehren könnten. +Mit dieser Behauptung unterschätzt Meyer jedoch die Leser. Es stimmt, dass sie zu einem gewissen Grad auf die Berichterstattung der großen Medien angewiesen sind. Allerdings blendet Meyer jegliche Form der Gegenöffentlichkeit aus. Zwar erwähnt er am Ende seines Büchleins kurz die "Hoffnung Netz", fügt aber an, dass das Internet eher ein "Chaos der großen Diskursfetzen, emotionalen Bekundungen und anonymen Beleidigungen" sei. Auf die großen Medien hätte es keinen Einfluss. Was aber nicht stimmt: Immerhin waren es Netznutzer und Digitaljournalisten, die die Doktorarbeit von Karl-Theodor zu Guttenberg als Plagiat enttarnt haben, die mit LobbyPlag gezeigt haben, welchen Einfluss Lobbyverbände auf die europäische Politik haben. +Welchen Einfluss Netzdebatten mittlerweile auf Journalisten und Qualitätsmedien ausüben, hat zuletzt der Absturz der Germanwings-Maschine gezeigt. Als viele Medien sich darin überboten, die meisten persönlichen Details über den Kopiloten herauszubekommen, gab es in sozialen Medien eine Welle der Entrüstung, die so weit ging, dass sich die "Alphajournalisten" von der "FAZ" und der "Bild" erklärenmussten: Sie schrieben Kommentare, warum sie es für angebracht hielten, den Namen schon früh in der Berichterstattung zu veröffentlichen. +Das führt aber nicht dazu, die Leserschaft zu besänftigen, im Gegenteil: Nie gab es so viele Beschwerden beim Presserat wie nach dem Flugzeugabsturz. Die Leser sind also längst nicht jene naive Masse, für die Meyer sie hält. +Die Autorin Anne Fromm, 28, arbeitet als Medienredakteurin für die taz diff --git a/fluter/miyawaki-tiny-forrest-jordanien.txt b/fluter/miyawaki-tiny-forrest-jordanien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..990080e1e148e2db7ae11150cbe259502cc04195 --- /dev/null +++ b/fluter/miyawaki-tiny-forrest-jordanien.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Miyawaki-Befürworter behaupten, dass die Methode das Wachstum der Bäume um das Zehnfache beschleunigen kann. Anders ausgedrückt: In nur zehn Jahren entsteht ein vermeintlich hundert Jahre alter Wald. Miyawaki hatte die Methode bereits in den 1970er-Jahren erfunden. Nun, wo die Welt nach schnellenLösungen für den Klimawandelsucht, wächst die Zahl seiner Anhänger fast so rasant wie die Bäume selbst. + + +Von Lateinamerika bis nach Kanada, von Südostasien bis nach Europa: Weltweit schießen "Tiny Forests" in die Höhe. Auch in Deutschland. In und um Hamburg etwa pflanztder Verein Citizens ForestsMiniwälder. Die sollen Vögeln, Kleinsäugern und Insekten eine Heimat geben, CO₂ binden und so die Klimakrise mildern. Warum warten, fragen Befürworter, wenn man das Wachstum beschleunigen kann? Worauf Kritiker wie der Umweltschützer Yellappa Reddy entgegnen: "Es ist keine gute Idee, Pflanzen zu einer derart schnellen Fotosynthese zu zwingen." Seine Heimat Indien ist inzwischen eine Miyawaki-Hochburg. +In der arabischen Welt trat Deema Assaf 2018 als Kleinwald-Pionierin an. In einem privaten Garten in Amman pflanzte sie den ersten "Tiny Forest" der Region. Skeptiker erwarteten, dass sie im trockenen Jordanien scheitert. Schließlich sei die Miyawaki-Methode für das eher feuchte Klima Japans entwickelt worden. Assaf ließ sich davon nicht beirren. Sie setzt auf Versuch und Irrtum, gepaart mit Zuversicht. So hat es auch Miyawaki selbst getan. In seinem Essay "A Call to Plant Trees" schrieb er: "Jeder, der es ernst meint mit diesem Vorhaben, kann jederzeit und überall damit beginnen." Entscheidend sei der Fokus auf einheimische Spezies. Ein Miyawaki-Wald ist also immer quasi ein Urwald. "Kein anderer künstlich geschaffener Wald ist so natürlich", sagt Assaf. Ihr geht es nicht nur um schnelles Wachstum. Miyawaki, das bedeutet für sie vor allem die Rückkehr zu ihren Wurzeln. +Jordanien ist eines der trockensten Länder der Welt. Der Baumbestand istlaut Global Forest Watchmit 0,03 Prozent der gesamten Landfläche verschwindend gering. Doch wo sich heute vor allem Wüste ausbreitet, haben früher Elefanten oder Asiatische Löwen in dichten Wäldern gelebt. Assaf erfuhr davon, als sie an Architekturprojekten in Nationalparks arbeitete. Kurz darauf sah sieeinen TED-Talk des indischen Ingenieurs Shubhendu Sharma. Der Titel: "Wie man einen Wald in seinem Hinterhof anlegt". +Für Assaf war es ein Schlüsselmoment. Sie habe sich schon immer für grüne Architektur interessiert, sagt sie. "Aber von den Miniwäldern war ich von dem Moment an richtig besessen." Sie reiste nach Indien, nahm an einem Kurs von Sharma teil. Von ihm lernte sie, wie man die Erde mit natürlichen Nährstoffen und Mikroben anreichert und die richtigen Spezies für den Wald auswählt. Und wie man ihn in verschiedene Stockwerke aufteilt, sodass jede Pflanze und jeder Baum überleben kann – trotz des Wettbewerbs um Wasser und Sonnenlicht. Alle Bausteine seien wichtig für die Miyawaki-Gemeinschaft, sagt Assaf: von den winzigen Mikroben in der Erde bis hin zu den großen Mutterbäumen, die Sämlinge über ein Pilz- und Wurzelgeflecht mit Nährstoffen versorgen. "Bäume sind kluge Wesen", sagt sie. + + +Auf dem Weg zum nächsten ihrer Wälder erzählt Assaf von ihrer Kindheit in Amman. Damals kam ihr die jordanische Hauptstadt vor wie ein Dorf. Ketten wie Starbucks und McDonald's gab es noch nicht, immer wieder mussten Autofahrer abbremsen, weil Schafherden durch die Straßen zogen. Nun lenkt sie ihren Mercedes durch den dicht bebauten Osten der Stadt. "Beton und Asphalt, das ist Amman heute", sagt sie. Am Ziel angekommen, lächelt sie. Omar Sharif lächelt zurück und öffnet das Tor zu einem Park. Seit mehr als zwanzig Jahren arbeitet er hier. Als sie vor zwei Jahren den Miyawaki-Wald gepflanzt haben, erzählt er, habe sich sein Arbeitsort verwandelt. Mit dem Grün kamen die Vögel, Insekten und Tiere zurück. Sogar eine Fuchsfamilie hat Sharif in den vergangenen Wochen gesehen. "Es war wie Magie", sagt Sharif. +In den Niederlanden haben Wissenschaftler ähnliche Beobachtungen gemacht. Ein Jahr lang haben siedie Artenvielfaltin zwei Miyawaki-Wäldern dokumentiert und sie mit Kontrollwäldern in der Umgebung verglichen. Ihr Ergebnis: In den Miyawaki-Wäldern war die Artenvielfalt durchschnittlich 18-mal größer. Zudem wandeln sie CO₂ um. Laut Berechnungen der belgischen Organisation Urban Forests können 100 Quadratmeter Miyawaki-Wald die jährlichen Kohlenstoffemissionen eines durchschnittlichen Europäers speichern. + + +Viel zu wenig, um etwas gegen den Klimawandel auszurichten, sagen Kritiker. Überhaupt sei das wissenschaftliche Fundament noch zu schwach, zu viele Fragen unbeantwortet. Zum Beispiel: Welchen Effekt hat das beschleunigte Wachstum langfristig auf die Gesundheit und Qualität der Bäume? Können sie tatsächlich Regen begünstigen, so wie andere Wälder? Wie wirkt sich die Konkurrenz auf die Vielfalt der Miniwälder aus? Assaf weiß um diese Wissenslücken. Statt sich davon abschrecken zu lassen, sammelt sie neue Erkenntnisse. Fünf "Tiny Forests" hat ihr Team bislang gepflanzt. Bei jedem Mal haben sie dazugelernt. Versuch, Irrtum, Zuversicht. +In einem Gewächshaus am Rande Ammans lagert das Erbgut für die Kleinwälder. Die Samen stammen aus der Wildnis Jordaniens, nun wachsen sie in Hunderten Töpfen zu Setzlingen heran. Gemeinsam mit der Agraringenieurin Fadwa Al-Madmouj begutachtet Deema Assaf an diesem Vormittag ihren Fortschritt. Handbücher oder wissenschaftliche Daten zur Aufzucht der Ur-Spezies gibt es in Jordanien nicht. Assafs Team sammelt und teilt das neu gewonnene Wissen. "Mein großer Wunsch ist, dass Miyawaki zum Mainstream wird", sagt sie. +Vor einigen Tagen hat sie ein Bekannter angerufen, er pflanzt mit Freiwilligen Miniwälder im nahen Libanon. "Das Land versinkt in Schwierigkeiten und Chaos, aber sie lassen sich davon nicht aufhalten", sagt Assaf. Für sie ist das eine der größten Stärken der Miyawaki-Wälder: Sie halten selbst den größten Krisen stand. diff --git a/fluter/mobbing-in-schulen.txt b/fluter/mobbing-in-schulen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..744768fdaac4330bf239855329d4f2ba4abbac74 --- /dev/null +++ b/fluter/mobbing-in-schulen.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Andere jüdische Schulkinder erlebten Ähnliches: An einem Gymnasium in Wedding lobte eine Mitschülerin Hitler, weil dieser viele Juden umgebracht habe. Und an der renommierten bilingualen John-F.-Kennedy-Schule in Zehlendorf klebten Neuntklässler ihrem jüdischen Mitschüler Zettel mit Hakenkreuzen auf den Rücken und wünschten ihm, er solle "ab nach Auschwitz" fahren. Mit dem Güterzug. +Wie ist es möglich, dass sich der Hass gegen Juden heute wieder so unverhohlen äußert? Allein in Berlin kommt es jeden Tag im Schnitt zu fast drei antisemitischen Vorfällen: Kippaträger werden auf offener Straße angegriffen, im Netz lassen Antisemiten ihrem Hass auf Juden zunehmend freien Lauf, wie eine aktuelle Studie der TU Berlin zeigt. Und Lehrer berichten, dass "Jude" auf den Pausenhöfen ein geläufiges Schimpfwort ist. Genau wie "Spast", "Schoko" oder "Kartoffel". +Familienministerin Franziska Giffey (SPD) kündigte vor ein paar Monaten an, mehr als 170 Antimobbing-Teams an jene Schulen schicken zu wollen, die Probleme haben. Diese sollen mit Jugendlichen über gegenseitigen Respekt reden: dass es nicht okay ist, jüdische oder nichtgläubige, schwule oder lesbische, geistig oder körperlich behinderte Mitschüler abzuwerten. Denn so viel ist klar: Mobbing kann jeden treffen. Nadine, weil sie eine Brille trägt, Jonas, weil er stottert, Fatimah, weil sie sich ein Kopftuch umbindet. Es beginnt mit Hänseleien im Klassenzimmer und endet oft mit körperlicher Gewalt – oder in unsichtbarer wie beim Cybermobbing. Dann ist nicht die Faust die Waffe, sondern das Smartphone. Und damit wird das Mobbing räumlich und zeitlich ausgedehnt. Nach der Schule geht es dann erst richtig los. +Wie traumatisch das für die Betroffenen sein kann, weiß Uwe Jacobs. Der Schulleiter des Berliner Marie-Curie-Gymnasiums hatte vor Kurzem zum ersten Mal mit Cybermobbing zu tun. Eine Achtklässlerin war von mehreren Mitschülerinnen über Wochen in sozialen Netzwerken bloßgestellt worden. Jacobs merkte, wie schwer es dem Mädchen fiel, über das Vorgefallene zu sprechen. Und wie unsicher er und seine Kollegen im Umgang damit waren. Jacobs hat sich und seinem Kollegium deshalb gerade eine Anti-Mobbing-Fortbildung aufgebrummt. +Wie häufig es tatsächlich an Schulen zu Mobbing kommt, kann nur geschätzt werden. Systematisch wird das bislang nirgends erfasst. Die meisten Bundesländer schreiben den Schulen zwar vor, Gewalttaten zu melden sowie bei strafrechtlich relevanten Vorfällen die Polizei zu informieren, Mobbing fällt aber nicht unter diese Pflicht. Umfragen legen jedoch nahe, dass es weit verbreitet an deutschen Schulen ist: In der PISA-Studie 2015 gab jeder Sechste an, regelmäßig gemobbt zu werden. In Berlin wären demnach also mehr als 50.000 Jugendliche betroffen. Dem Berliner Senat wurden 2015 pro Halbjahr aber nur 50 Mobbingfälle gemeldet. Das soll sich nun ändern. Ab kommendem Schuljahr müssen Berliner Schulen zumindest antisemitische Vorfälle melden. +Viele Lehrkräfte seien gar nicht darin ausgebildet, Mobbing zu erkennen und professionell zu begleiten, erklärt Marina Chernivsky. Seit 15 Jahren berät die Psychologin Schulen, Ämter und Familien bundesweit bei Antisemitismus- und Mobbingfällen. "In keinem Bundesland ist der Umgang damit ein verpflichtender Bestandteil der Lehramtsausbildung. Das muss sich dringend ändern." Und dann gibt es noch ein anderes Problem, weiß Chernivsky aus ihrer Beratungstätigkeit: die Angst der Schule, in der Öffentlichkeit schlecht dazustehen. Die Mehrzahl der Betroffenen, die sich wegen eines Mobbingfalls an sie wendeten, hätten sich von der Schulleitung nicht ausreichend gehört gefühlt, erzählt Chernivsky. In einigen Fällen haben Eltern ihr Kind lieber von der Schule genommen. So auch Wenzel Michalski. "Man wollte uns weismachen, dass das Verhalten der muslimischen Kinder nichts mit Judenhass, sondern mit dem Nahostkonflikt zu tun habe." +Die Erklärung fällt immer wieder, wenn es um antisemitische Einstellungen geht. Vor allem bei muslimischen Jugendlichen spiele die Wahrnehmung des Staates Israel eine große Rolle, beobachtet Ender Cetin. In ihrem Umfeld hören sie, dass Muslime und Juden Feinde seien. Um diese Sichtweise infrage zu stellen, geht der islamische Theologe regelmäßig an Schulen und wirbt für Respekt zwischen den Religionen. Was kann jemand in Berlin dafür, dass sich Israelis und Palästinenser um Jerusalem streiten? Mit solchen Fragen will Cetin die Teenager zum Nachdenken bringen. Begleitet wird er dabei in der Regel von einem Rabbiner; "meet2respect" heißt das Projekt. +Auch beim Mobbing gegen Michalskis Sohn an der Friedenauer Gemeinschaftsschule habe der Israel-Palästina-Konflikt eine Rolle gespielt, sagt Schulleiter Uwe Runkel. Einer der Täter habe in dem Konflikt seinen palästinensischen Großvater verloren. Damit wolle er die Vorfälle aber keineswegs verharmlosen. "Sie sind eindeutig antisemitisch." Den Vorfall mit der Pistole hat die Schule zur Anzeige gebracht. Es habe auch Gespräche mit allen beteiligten Eltern und Schülern gegeben. Offenbar, räumt Runkel ein, habe die Schule aber nicht genug gemacht, um das Vertrauen der Eltern zu halten. Dem Vorwurf, das Mobbing nicht ernst genommen zu haben, widerspricht der Schulleiter. +Die Michalskis sehen das anders – und sich nicht wirklich ernst genommen. Als kürzlich die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung die Schule besuchte, um über Diskriminierungserfahrungen an der Schule zu sprechen, waren die Michalskis nicht eingeladen. diff --git a/fluter/mobbing-schulen-protokolle.txt b/fluter/mobbing-schulen-protokolle.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0727f41bf62ef42b6e4769dbc6f25f15797166cf --- /dev/null +++ b/fluter/mobbing-schulen-protokolle.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +"Als ich gemobbt wurde, hab ich's erst gar nicht bemerkt. Ein paar Mädchen aus meiner damaligen Klasse waren die Süßesten, die man sich vorstellen kann – bis die Schule nachmittags vorbei war. Dann haben sie gar nicht mehr mit mir gesprochen und mich bei WhatsApp komplett geghostet. Um dann wiederum die ganze Nacht hindurch im Minutentakt Nachrichten zu schicken. Ein ständiges On-Off, das hat mich irre gemacht. Ich wollte zu ihnen gehören, hatte aber gleichzeitig null Vertrauen. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, was ich falsch gemacht haben könnte. Schlimm ist, dass ich bis heute Panik schiebe, wenn mal jemand länger nicht antwortet. Da krieg ich Flashbacks, dabei hat der andere vielleicht einfach gerade keinen Akku. In Serien oder den Fällen, die wir im Ethikunterricht besprochen haben, bekommt man ein falsches Bild von Mobbing. Da sind das meist offensichtliche Angriffevon Small-Dick-Energy-Typen, die sich nur selbst fühlen, wenn sie andere abfucken und bedrohen." + +"Bei mir fing das Mobbing klassisch an: Ich wurde vor versammelter Klasse beleidigt, sie haben mich nachgeäfft und sind in den Pausen immer weitergegangen, wenn ich mich zu einer Gruppe dazustellen wollte. Wenn ich morgens in die Schule kam, wusste ich schon, dass irgendwann was passieren wird. Wann, wie, warum, keine Ahnung, aber ich werde mich wieder wie der letzte Vollidiot fühlen. Das ging alles von einem Mitschüler aus, der beweisen wollte, dass er damit davonkommt. Der hat die ganze Klasse hinter sich versammelt. Irgendwann hat er nachts bei uns angerufen und immer gleich aufgelegt, da haben meine Eltern etwas davon mitbekommen. Die haben mir glücklicherweise zugehört und waren für mich da. Aber in der Schule haben sie getan, als hätte ich einen Streit mit dem Typen. Wir saßen ständig bei der Schulleiterin im Büro, und es hieß: ‚Jetzt vertragt euch mal.' Das war aber kein Streit mit zwei Seiten, es gab ihn, den Täter, und mich, sein Opfer. Alle haben so lange so getan, als müssten wir uns zusammennehmen und die Hände geben, dass ich selbst irgendwann unsicher war, ob ich ihm einen Grund gegeben hatte, mich zu mobben." + +"Erfahrungsgemäß schlagen sich nur ganz wenige Schülerinnen und Schüler auf die Seite des Täters oder des Opfers. Der Großteil schaut zu. Wir Pädagogen nennen die Bystander: Sie greifen nicht ein und sagen niemandem Bescheid, obwohl sie verstehen, dass gerade ein Mitschüler leidet. Es gibt eine Hemmschwelle, einzugreifen. Gerade in den unsicheren Jahren der Pubertät orientiert man sich eher an anderen: Greift niemand ein, ist die Situation anscheinend nicht so schlimm. Greife ich ein, werde ich womöglich selbst angegriffen. Dass Mobbing von allein aufhört, habe ich noch nie erlebt.Das löst du am besten, indem die Gruppe selbst interveniert. Man muss Kinder und Jugendliche ermutigen, hinzusehen und einzugreifen. Dazu gehört viel Selbstbewusstsein, das muss man richtig trainieren. Dafür brauchen die Lehrkräfte und wir Sozialassistenten die Kapazitäten." + +"Ich war mal richtig dick. Das ist Jahre her, und heute bin ich ganz zufrieden mit meinem Körper. Ich hab bei Insta viele geblockt, fettfeindliche Nachrichten kriege ich eigentlich nur noch von Fremden unter alten Fotos. Aber manche meiner Mitschüler machen bis heute ‚Witze'. Die schicken mir Fotos von der Wurstauslage im Supermarkt oder wenn es in der Mensa Schnitzel gibt. Und manche setzen bei Nachrichten ein Emoji dahinter, das mit Essen zu tun hat: die Pizza, Messer und Gabel oder das Stück Torte. Es sind immer dieselben Emojis. Manchmal bin ich trotzdem unsicher, ob das überhaupt beleidigend gemeint ist. Selbst wenn: Solange sie michfür einen Körper shamenmüssen, den ich nicht mehr habe, scheine ich nicht viel falsch zu machen." + +"Mit dem Smartphone und den sozialen Medienhat sich Mobbing radikal verändert. In der Beratung hören wir immer weniger von Schülern, die geschlagen oder angespuckt werden. Stattdessen ist Onlinemobbing ein Riesenproblem: Das Mobbing über digitale Medien hört nicht mit Schulschluss auf.Die Täter sind enthemmt, weil sie ihren Opfern nicht mal mehr gegenübertreten müssen, um sie zu schikanieren. Viele Schulen verweigern die Unterstützung, weil Taten außerhalb der Schulzeit nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fallen würden. Vor allem aber wohl, weil sie gar nicht wissen, wie sie das Onlineverhalten ihrer Schüler regulieren sollen." + + +Dieser Text istim fluter Nr. 91 "Streiten"erschienen +"Ich muss leider sagen, dass bei uns vor allem die Mädchen richtig gut darin sind, andere runterzumachen. Die erzählen ausgedachte Geschichten oder posten schlechte Fotos von anderen. Wir hatten auch schon Fälle, in denen Fotos oder peinliche Nachrichten mit Photoshop gefakt wurden. Mir ist das zu dumm, und ich hab auch gar kein Smartphone mehr. Bei meiner Cousine an der Schule gingen Nude-Apps rum. Da lädt man Fotos von Mitschülerinnen hoch, und dann sieht es aus, als hätten die sich ausgezogen oder in einem Porno mitgemacht. Solche Pics rumzuschicken ist illegal. Aber was bringt dir das, wenn die einmal im Umlauf sind? Wer weiß, wer die alles sieht." + +"An meiner Schule tun alle, als wäre Mobbing kein Problem, weil kaum jemand beweisen kann, dass er oder von wem er gemobbt wird. Es ist einfach: Du entfolgst jemanden oder schreibst harte Nachrichten und sagst dann, dass dein Account gehackt wurde. Du legst immer wieder neue Accounts an und übergießt Leute mit Hass, bis sie dich nicht mehr blockieren, sondern es einfach fressen. Oder alle verlassen gleichzeitig den Gruppenchat, damit das Mobbingopfer dort allein ist. Bei uns wurde auch schon damit angegeben, in einem besonders exklusiven Gruppenchat zu sein. Den gab es gar nicht, aber das ist egal: Schon das Gefühl, nicht dabei zu sein, ist scheiße." + +Titelbild: Simon Gerlinger diff --git a/fluter/mobilitaet-provinz-jugend-125er.txt b/fluter/mobilitaet-provinz-jugend-125er.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3e25b38e2cc44f8c8ef2368e6207f86b206b4af8 --- /dev/null +++ b/fluter/mobilitaet-provinz-jugend-125er.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Klaras Dorf hat gut 650 Einwohnerinnen und Einwohner. Unter den dreien hat sie "die Arschkarte". "Mein Dorf liegt noch mal abgeschiedener, und die anderen wohnen näher beieinander." Klara hat zwei jüngere Schwestern, 15 und 13 Jahre alt. Sie selbst spielt Tennis im Verein, besucht in der Schule zusätzlich die Technik-AG. Entsprechend viel fahren ihre Eltern rum. "Die waren sofort einverstanden, als ich mit fünfzehneinhalb den Führerschein für die 125er machen wollte." Bei Maxime war es ähnlich. Lyas Eltern haben sich dagegen entschieden: die Kosten. Für Führerschein und Motorrad muss man mindestens 3.000 Euro einplanen. "Und es war ja klar, dass ich mit 16mit dem Autoführerschein anfange", sagt Lya. Auch der kostet um die 3.000 Euro. + +Was ist denn hier los? Nicht viel. Und ohne Führerschein noch weniger + +Inzwischen sind Lya und Maxime in der Fahrschule angemeldet, Klara hat schon die Theorieprüfung für den Pkw bestanden. "Wir kennen niemanden, der nicht seinen Autoführerschein machen will." 2022 wurden rund 740.700 Fahrerlaubnisse für Krafträder und Pkw an unter 25-Jährige erteilt. Die Zahl ist laut Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) seit Jahren stabil. +Die Klimakrise und die Debatten um die Klimapolitik haben die Verkehrsentwicklung kaum verändert. Die Menschen sind mehr unterwegs, in den Städten wie auf dem Land, und dabei wächst der Bestand an Pkw. Anfang 2024 waren nach KBA-Angabengut 49 Millionen Pkw gemeldet. +"Das Auto bietet immer noch die größte Flexibilität", erklärt Melanie Schade. "Und wenn keine anderen entsprechenden Angebote da sind, wird das Auto das Mittel der Wahl bleiben." Schade leitet die Projektgruppe Kompetenzzentrum für Ländliche Mobilität im Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung. Und betont: "Die Verkehrswende ist nicht nur ein städtisches Unterfangen, auch wenn sie dort meist leichter gelingt." +In der Stadt sind neue Mobilitätsangebote einfacher einzubringen als auf dem Land. Ein wesentlicher Grund ist die geringere Bevölkerungsdichte dort: Flächendeckende Angebote lohnen sich wirtschaftlich einfach nicht. Ein öffentlicher Nahverkehr (ÖPNV),der bezahlbar istund regelmäßig fährt, ist für viele Kommunen nicht zu finanzieren. +ÖPNV heißt für Maxime, Klara und Lya: Schulbus fahren. Und der fährt – wie es der Name vermuten lässt – im Takt der Schule. Morgens zur ersten Stunde hin und nachmittags nach der sechsten, siebten oder neunten Stunde zurück. Wenn sie mal später zur Schule müssen, eher Schluss oder eine AG haben: Pech gehabt. +Oder eben eine 125er. Das Leichtkraftrad darf man schon mit 16 fahren. Während Mopeds und klassische Roller höchstens auf 45 km/h kommen, sind auf einer 125er schon mal 110 km/h drin. "Von der Schule brauche ich mit dem Bus 45 Minuten nach Hause, mit dem Motorrad 20 Minuten", sagt Klara. "Seit ich selbst zum Handballtraining fahre, kann ich mich danach noch spontan mit anderen treffen", sagt Maxime. Und Lya? Fährt die zehn Kilometer zum Volleyballtraining weiter mit dem Fahrrad, bis sie ihren Führerschein hat. +"Gerade Jugendliche und Senioren sind vulnerable Gruppen, für die es unbedingt entsprechende Mobilitätsangebote braucht", sagt Melanie Schade. "Nicht nur angesichtsder nötigen Verkehrswende, sondern vor allem als wichtiger Baustein für gute Lebensbedingungen auf dem Land." Wenn man die ernst nimmt, hieße das, dass es allen Menschen, unabhängig von ihrem Wohnort, auch ohne eigenes Auto möglich sein muss, ihrem Alltag nachzugehen. +Für Maxime, Lya und Klara würden dazu auch Angebote gehören, die nachts fahren. Wenn sie feiern gehen und was trinken wollen, ist die 125er keine Option. Nachts allein mit dem Fahrrad zurückfahren erlauben ihre Eltern nicht. Von Nachtbussen oder Taxis, die extra am Wochenende für Jugendliche für wenig Geld fahren, haben sie in ihrer Region noch nichts gehört. Also heißt es wieder: Elterntaxi. Natürlich wollen alle Eltern lieber hinbringen als nachts abholen. Wirkliche Diskussionen gebe es aber nicht. Es ist einer der Generationenverträge auf dem Land. Ohne Auto geht hier nichts. Alle wissen es, alle handeln danach. Die Fahrgemeinschaften sind also schnell organisiert. + +Was hier privat läuft, ist ein Vorbild für die Verkehrswende im ländlichen Raum. Täglich fahren Millionen Pkw über die Landstraßen – aber nur mit durchschnittlich etwas mehr als einer Person pro Fahrzeug und Weg. Heißt: Zwei bis drei Sitzplätze fahren leer herum. +Es gibt Ideen, um das vorhandene Angebot an Pkw auf dem Land besser zu nutzen. Von Apps, die Fahrerinnen und Mitfahrer zusammenbringen, über verschiedene Formen des Carsharings bis hin zu Portalen speziell für Pendelnde. In ländlichen Räumen sei es dabei noch wichtiger, den genauen Bedarf zu ermitteln, sagt Melanie Schade, und entsprechend passgenaue Angebote zu machen. Wichtig sei auch, dass die Angebote Bestand haben: "Die Menschen vor Ort müssen sich darauf verlassen können." +Dieser Text istim fluter Nr. 90 "Barrieren"erschienen +Lya, Klara und Maxime verlassen sich vor allem auf sich. Gefeiert wird lieber auf Homepartys als in der nächstgrößeren Stadt, geschlafen immer bei der Person, die am nächsten dran wohnt. +In der Ferne hupt es, kurz darauf kommt Klara wieder angefahren. "Ich wollte eigentlich blinken, aber dann hab ich aus Versehen die Hupe gedrückt. Die sitzt an deiner Maschine anders." +Sie tauschen sich noch kurz über ihre 125er aus. Ist Klaras durchgehende Sitzbank nun besser als Maximes zweigeteilte? "Ach, egal jetzt", die beiden müssen nach Hause, morgen ist Schule. Ein aktuelles Thema im Erdkundeunterricht: Wirtschaftsregionen im Wandel – die Automobilindustrie. diff --git a/fluter/mode-der-maechtigen-politik.txt b/fluter/mode-der-maechtigen-politik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ce8470c10d599d2abee03157fa69d1ebf1e8505a --- /dev/null +++ b/fluter/mode-der-maechtigen-politik.txt @@ -0,0 +1,30 @@ +Noch heute inszenieren sich Staatschefs – auch ein Nachfolger Ludwigs,der französische Staatspräsident Emmanuel Macron. Auf seinem offiziellen Foto begegnet uns Macron an seinem Schreibtisch und auf Augenhöhe. Wenn auch der klassische dunkle Anzug des Präsidenten gewöhnlicher erscheint als die pompösen Kleider Ludwigs. +Aber auch wenn sich die Kleidung im Laufe der Zeit völlig verändert hat: Sie spricht immer die Sprache der Macht. Zeit also für einen Vergleich der Mode der beiden Staatschefs, von Kopf bis Fuß. + +Ludwig XIV. +Auf Rigauds Gemälde trägt Ludwig XIV. eine schwarze, gelockte und hochgesteckte Perücke, die zu dieser Zeit vor allem Männer trugen. Die hatte gleich zwei Vorteile: Zum einen machte sie ihn größer. (Der König war mit 1,60 Meter vergleichsweise klein.) Zum anderen versteckte sie Ludwigs Glatze, die er schon seit einer Erkrankung in seiner Jugend hatte. Nach Ludwigs Regierungsantritt waren Perücken in der adeligen Gesellschaft generell en vogue. Sie dienten als Statussymbol: Echthaarperücken waren teuer. Bis heute ist aber umstritten, ob Ludwig denTrendausgelöst hat oder ihm nur folgte. + +Macron +Heute wie damals legen viele Menschen Wert auf ihre Frisur.Manche färben ihre Haare oder legen sie so, dass Haarausfall verdeckt wird. Von britischen Gerichten abgesehen, an denen Richter und Anwälte in Strafprozessen immer noch gelockte weiße Perücken tragen, ist Haarersatz kein modisches Statement mehr. Macron trägt eine staatstragende Kurzhaarfrisur – wie sie bei Männern seit rund 150 Jahren Standard ist. + +Ludwig XIV. +Ludwig XIV. ist nicht zu beneiden: Die Stoffmengen seines Krönungsmantels müssen so schwer gewesen sein, dass er sich darin kaum noch bewegen konnte. Für den Alltag kann der Mantel kaum geeignet gewesen sein. Zumal das Futter mit kostbarem Hermelin besetzt und der Mantel selbst aus blauem Samt gefertigt war, bestickt mit goldenen Lilien. Die waren das Zeichen der Bourbonen – der Familie, aus der auch Ludwig XIV. stammte. +Macron +Weniger repräsentativ, aber ungleich praktikabler ist da der Anzug Macrons.Seit der Französischen Revolution 1789ist die Männermode in Europa immer sachlicher geworden. Wie die Frisur steht der Anzug für Vertreter des Bürgertums. Die müssen morgens zur Arbeit und bevorzugen deshalb Kleidung, die leicht und zweckmäßig ist – und mit den Textilfabriken des 19. Jahrhunderts immer preiswerter wurde. Modische Standards setzte dabei das Großbürgertum. In dessen Vorstellung konzentrierte der Mann sich ganz auf den beruflichen Erfolg,während die Ehefrau unbezahlt Haushalt und Kinder versorgte.Kleider waren ab sofort nicht mehr Männer-, sondern Frauensache. + +Ludwig XIV. +Nicht nur der Mantel scheint Ludwig XIV. fast zu schlucken, auch das Hemd versteckt seinen Körper nahezu völlig. Am Kragen (als sogenannte Rüschenkrawatte) und an den Ärmeln (Manschetten) sind große Mengen teurer Spitze vernäht. Die Luxusprodukte für Hemd und Mantel wurden ursprünglich nach Frankreich importiert: Spitze aus Italien und Seide aus dem Orient. Doch Ludwig ließ beides bald auch in Frankreich selbst produzieren, Bedarf war durch den Adel schließlich immer vorhanden. +Macron +Bei Macron regiert im Vergleich wieder das Prinzip Unauffälligkeit: einfaches weißes Hemd und Krawatte, die Werkseinstellung für Männer in Verantwortung.Wer da Fliege statt Krawatte trägt, T-Shirt unter dem Jackett oder eine Farbe jenseits des uniformen Grau-Blau-Schwarz, gilt schnell als Exzentriker.Das kann unter anderem Barack Obama bezeugen. Der frühere US-Präsident wagte sich mal in einem beigefarbenen Anzug auf eine Pressekonferenz – und hört sich bis heute an, er kleide sich wie sein Großvater an einem Sommersonntag. Seit Ende des 18. Jahrhunderts tragen "westliche" Männer normalerweise nur noch wenige strenge Farben. Da lässt die heutige Frauenmode schon mehr zu. An die farbigen Blazer von Bundeskanzlerin Angela Merkel werden sich manche erinnern – gerade weil die auf Fotos bei Gipfeltreffen unter vielen dunklen Herrensakkos besonders auffallen. + +Ludwig XIV. +Lange Hosen, wie wir sie heute kennen, wurden erst nach der Französischen Revolution 1789 populär. Zur Zeit Ludwigs XIV. begnügte sich das "einfache" Volk mit eng geschnittenen Hosen aus Filz oder Wollstoff; teure Stoffe wie Seide, Brokat und Samt standen ausschließlich Adeligen zu. Aus exklusivem Material ist auch die kurze Hose, genannt Culotte, die unter Ludwigs Mantel hervorblitzt. Unter der trägt der König weiße Seidenstrümpfe, ebenfalls ein Vorrecht des Adels. Gehalten werden die Strümpfe von Strumpfbändern knapp unter den Knien. +Macron +Mit der Französischen Revolution, also ein knappes Jahrhundert nachdem Rigaud das Bild Ludwigs gemalt hatte, übernahm statt der adeligen langsam die bürgerliche Kleidung in Europa die Stilherrschaft. Damit verschwanden auch die Culottes. Um sich vom Adel abzugrenzen nannten sich die Revolutionäre sogar "Sansculottes" ("Ohne Hosen"), was ursprünglich ein Schmähwort war für das "einfache" Volk, das keine feinen Kniehosen trug. Sie bevorzugten Pantalons – lange Arbeitshosen, wie wir und Emmanuel Macron sie bis heute tragen. + +Ludwig XIV. +Schuhe mit großer Schleife waren zur Zeit Ludwigs XIV. das Ding. Adelige setzten sich durch rote Absätze und silberne Schnallen vom Bürgertum ab, das diese nicht tragen durfte. Ludwig dürfte diese Schuhe aber aus einem weiteren Grund geliebt haben: Die hohen Absätze machten ihn größer. +Macron +Das Porträt Macrons reicht nur bis zur Hüfte, seine Schuhe sind nicht zu sehen. Von offiziellen Auftritten weiß man aber: Macron bevorzugt statt offenen Schuhen und Schleifchen lederne Halbschuhe. Sneaker sorgen an Politikerinnen und Politikern bis heute für Diskussionen und werden oft als Botschaft gelesen. Kein Wunder: Turnschuhe sind seit jeherAusdruck verschiedener Jugend- und Subkulturen– womit besiegelt war, dass sie an den Füßen von Menschen mit Verantwortung auch politische Strahlkraft haben würden. Unvergessen sind Joschka Fischers weiße Nike-High Tops, die ihn 1985 zur Vereidigung als erster grüner Minister in der Landesregierung Hessens trugen. Sie waren nicht nur ein Statement gegen die Modeetikette des Politikbetriebs, sondern auch ein Ausdruck der Grünen als Lifestyle-Partei.Die neue Vizepräsidentin der USA, Kamala Harris,macht das noch subversiver. Harris trägt oft klassische Chucks. Die waren ursprünglich die Schuhe des traditionell schwarzen Basketballsports und haben einen kerndemokratischen Gedanken: Von Hippies, Punks und Hardrockern über Grunge bis hin zum Normalo gibt es kaum eine (Gegen-)Kultur, die nicht irgendwann Chucks getragen hat. + +Collagen: Bureau Chateau / Jannis Pätzold diff --git a/fluter/mode-muslimische-maenner-vorurteile.txt b/fluter/mode-muslimische-maenner-vorurteile.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d0c31d9ca499f590927581e2d4fb621412b89e52 --- /dev/null +++ b/fluter/mode-muslimische-maenner-vorurteile.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Nicht nur mir, sondern auch vielenGeflüchteten, die in den vergangenen Jahren nach Deutschland oder Österreich gekommen sind, ist ihr Erscheinungsbild wichtig. Sie wollen gut und gepflegt aussehen und das auch zeigen: einerseits den Menschen in der neuen Heimat, von denen sie ohnehin oft kritisch beäugt werden; andererseits den Verwandten im fernen Ausland. Immerhin hat es nicht jeder nach Europa geschafft. +Wenn Menschen andere Menschen"muslimisch" lesen, ist damit gemeint, dass sie von Aussehen oder sonstigen äußeren Merkmalen (z.B. Kleidung) auf eine ethnische oder religiöse Zugehörigkeit schließen – egal ob das stimmt oder nicht. +Doch egal, was man als muslimisch gelesener Mann anzieht, ständig wird man abgestempelt. Formell und schick? Da kann etwas nicht stimmen. Locker, leger und in Jogginghose? Arbeitsloser Sozialschmarotzer! In Deutschland berichten rund die Hälfte der Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund von Diskriminierungen. Das ergab eine Studie des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration 2018.Besonders betroffen sind demnach Musliminnenund Türkinnen. Kein Wunder: Zur erwähnten Sichtbarkeit gehört eben auch die Kleidung, in ihrem Fall: das Kopftuch. +… trägt er Peran Tumban, wird ihm hingegen mangelnder Integrationswille unterstellt + +Zugegeben, es passiert nicht oft, aber manchmal lege ich mir meine afghanische Tracht, den Peran Tumban (wortwörtlich übersetzt: Kleid und Pluderhose), an. Während ethnic clothes in Metropolen wie London oder New York zum Alltag gehören und Sikhs und Muslime sogar ihre religiösen Kopfbedeckungen während des Polizeidienstes tragen dürfen, sind derartige Szenen in Deutschland eine Ausnahme und teilweise sogar gesetzlich verboten. Ich trage Peran Tumban nur zu besonderen Anlässen, zu religiösen Feiertagen, Hochzeiten oder Volksfesten. Meist trägt man dazu eine Weste und Sandalen. Wer es auf die Spitze treiben will, setzt sich noch einen Pakol-Hut oder einen Turban auf. +Natürlich gibt es viele Menschen, die solch eine Kleidung schön finden. Allerdings nur in einem gewissen Maße: Wer es mit Pluderhose und Turban übertreibt, gilt als nicht integriert. Das oftmals weiße Gegenüber hat sich schon längst sein eigenes Bild gemacht, bevor man überhaupt den Mund aufmacht: Parallelgesellschaft, religiöser Extremismus,Taliban. Es gab Situationen, in denen ich mit meinem Peran Tumban Supermärkte und Tankstellen betrat und nicht nur skeptisch, sondern auch feindselig angestarrt wurde – bis ich den Mund aufmachte und man mein akzentfreies Deutsch hören konnte. Abgesehen vom Äußeren ist die Sprache ein wichtiger Aspekt, der zu Diskriminierung und rassistischem Verhalten führen kann.Wer akzentfrei spricht oder gar einen lokalen Dialekt wie ich, hat meist weniger zu befürchten als jene, die das nicht tun. +Ironischerweise könnte ich auch in Kabul den Peran Tumban nicht tragen, ohne anzuecken. Dort hat es Tradition, dass sich urbane Eliten durch ihre Kleidung vom "einfachen Volk" abgrenzen. In den 1970er-Jahren trug mein Vater in Kabul ausschließlich westliche Kleidung. Auch heute noch versuchenviele junge Afghanen, sich durch westliche Mode "aufzuwerten". In vielen postkolonialen Staaten ist das so. Die Wurzel des Ganzen sitzt tief: In den 1920er-Jahren versuchte der afghanische König Amanullah Khan das Land zu modernisieren, indem er der Bevölkerung nach seinen Reisen in Europa unter anderem westliche Kleidung aufzwang. Wer Peran Tumban trug, galt als rückständig. Bei politischen Versammlungen mussten alle Teilnehmer ihre afghanische Tracht ablegen. Stattdessen ordnete der König Anzug und Krawatte an. Das Ganze nahm kein gutes Ende für Amanullah Khan. Er wurde gestürzt und verjagt. +Was der König nicht verstanden hatte und viele bis heute nicht einsehen wollen: Progressivität hat wenig bis gar nichts mit dem Kleidungsstil von Menschen zu tun. Afghanische Trachten bedeuten nicht automatisch, dass ihr Träger rückständig ist. Genauso wenig stehen westliche Modeerscheinungen für die einzig wahre, moderne und aufgeklärte Erleuchtung. Doch solange derartige Konstrukte in den Köpfen vieler Menschen bestehen bleiben, werde ich wohl weiter vor meinem Kleiderschrank verzweifeln. diff --git a/fluter/mode-nachhaltige-materialien-zukunft.txt b/fluter/mode-nachhaltige-materialien-zukunft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0d2d96fa82daac581f5fb58ff021ad43b711e3bf --- /dev/null +++ b/fluter/mode-nachhaltige-materialien-zukunft.txt @@ -0,0 +1,10 @@ + +#2 Ananas +Ananas könnte die beste vegane Lederalternative werden. Zur Rohstoffgewinnung werden die Blätter der Pflanze genutzt, die bei der Fruchternte bisher als Abfall anfallen. Piñatex heißt das aus deren Fasern entstehende Ledersubstitut, dessen Grundstoff weder weitere Pestizide noch zusätzliche Bewässerung braucht. Der soziale Aspekt kommt hier ebenfalls nicht zu kurz, denn die Bauern haben eine weitere Einkommensquelle aus einem Produkt, das bereits abgeerntet wurde. Aus dem fertigen veganen Leder wer­den Handtaschen, Schuhe sowie viele weitere herkömmliche Lederwaren hergestellt. Genau wie Tierleder ist Piñatex strapazierfähig und haltbar, dabei fühlt es sich sogar weicher an. + +#3 Algen +Algen gehören zu den am schnellsten wachsenden Organismen. Dazu absorbieren sie CO₂ als "Nahrung", wandeln es in Sauerstoff um undmachen somit auch das Leben für andere Meeresbewohner gesünder. Um aus Algen Textilien herzustellen, muss man sie trocknen, zerkleinern, mahlen und mit Zellulosefasern verbinden, die dann weiterverarbeitet werden. Es gibt somit keine Textilien, die nur aus Algen bestehen. Dieses Herstellungsverfahren wird für die SeaCell genannte Faser des Start-ups Smartfiber angewandt. SeaCell zählt zu den smarten Fasern und kann zum Beispiel bei Schuppenflechte und Neurodermitis lindernd wirken. + +#4 Flaschen +Aus recycelten PET-Flaschen lässt sich ein Garn herstellen, das für Kleidung und andere Textilien genutzt wird. Die Flaschen werden gewaschen und geschreddert. Dann werden die Plastikschnipsel zu einem Garn geschmolzen. Aus acht PET-Flaschen kann man ein Kilo Garn herstellen. Das dänische Unternehmen Knowledge Cotton Apparel fertigt beispielsweise eine Jacke aus 25 alten PET-Flaschen. Recyceltes Polyester ist qualitativ fast gleichwertig mit neuem, benötigt für die Herstellung jedoch weniger als die Hälfte an Energie und produziert rund ein Drittel weniger CO₂-Emissionen. Allerdings wirdkritisiert, dass dasSammeln und Verwerten der Flaschenviel Energie verbraucht. + diff --git a/fluter/mode-politisch-fluter-vorwort.txt b/fluter/mode-politisch-fluter-vorwort.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f02f5f2835cb6015fb9161b8ac0f41574819ce81 --- /dev/null +++ b/fluter/mode-politisch-fluter-vorwort.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +So können Milliarden Menschen sich den kulturellen Traum des eigenen Stils, der äußeren Schönheit im Alltag erfüllen. Die Hürden dazu sind so gering wie nie. Und die Zyklen des neuen Schönen werden immer kürzer – mit der "Fast Fashion" lernen wir die beschleunigte Dynamik der Märkte am eigenen Leib kennen: Der Wunsch erlischt im kurzen Glücksmoment der Erfüllung und wird sofort neu geweckt. Schon der Kauf und das erste Tragen der neuen Kleider mischt den vorzeigbaren Stolz aufs Erworbene mit der nervösen Ahnung, dass da noch was fehlt, es das doch nicht gewesen sein kann. Die Wunschmaschinen der Modeindustrien machen aus unserer Verunsicherung eine massenhafte strukturelle Neurose und aus der steten Nachfrage nach Neuem ein profitables Geschäftsmodell. Aus unseren enttäuschten Träumen von heute wird der Müll und der nächste Trend von morgen. +Dagegen gibt es auch politische Bewegungen – die Lieferketten werden langsam härter reguliert, die Rechte der Arbeiterinnen zumindest thematisiert, die Ökobilanz des Ganzen kommt ebenso in den Blick, wie die Suche nach technischen und kulturellen Alternativen Fahrt aufgenommen hat. Die modischen Weltanschauungen und Haltungen sind so in die Kämpfe um den Wertewandel eingebunden, der weltweit ansteht. Wie werden wir uns in einer gerechteren und nachhaltigeren Welt wohl kleiden wollen? Oder müssen wir sehen, was übrig bleibt, wenn wir so weitermachen, und haben dann ganz andere Sorgen? diff --git a/fluter/mode-politisch-interview-diana-weis.txt b/fluter/mode-politisch-interview-diana-weis.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c0aeda1209c6bdd28828eb6c529abac8dfeca379 --- /dev/null +++ b/fluter/mode-politisch-interview-diana-weis.txt @@ -0,0 +1,67 @@ +Zieht man sich für die anderen an? +Das kann man nicht trennen. Wir sind soziale Wesen, wir gucken andere Leute an und bilden uns eine Meinung über sie. Es gilt zwar als oberflächlich, Menschen als Erstes aufgrund ihres Aussehens zu bewerten, aber so sind Menschen nun mal. Und es ist ja auch eine Form der Höflichkeit, gepflegt aufzutreten. Man kann nicht einfach ignorieren, was die anderen Menschen denken. +Seit der Corona-Pandemie arbeiten viele im Homeoffice und fühlen sich in der Jogginghose am wohlsten. Wird das bleiben? +Die Umsätze von bequemer Kleidung sind enorm gestiegen, während bei anderen Modeunternehmen die Umsätze massiv einbrechen. Aber hoffentlich kann man die Jogginghosen bald wieder ausziehen, wenn ein normales Leben wieder möglich ist. +Dennoch: Zum deutschen Klischee gehört, dass man sich eher vernünftig als schick kleidet. +Die Deutschen lieben ja Funktionskleidung, wobei die Funktion auch oft als Entschuldigung dafür herhalten muss, dass man viel Geld ausgibt. Nach dem Motto: Die Jacke war zwar teuer, aber die bietet dieses und jenes Feature und ist aus Hightechmaterial. Wenn ich aber einfach nur sage: "Ich finde die Jacke schön, und sie steht mir gut", wird die Investition gleich kritischer gesehen. +Noch mal ein paar Jahrhunderte zurück: War die Mode früher nur etwas für den Adel und die Königshäuser? +Ja, das waren diejenigen, die schöne Kleider und Schmuck trugen und die geglänzt haben. Die hatten ja nicht die besseren Gene, die sie besser aussehen ließen, das war schon der Reichtum. +Die Fotoreportage von Stefan Ruiz zeigt die "Cholombians" im mexikanischen Monterrey. Sie verband zunächst nur die kolumbianische Cumbia-Musik, die sie gemeinsam auf der Straße hörten +Doch dann kam der Spaß an den Outfits dazu, die viele Styles verbanden: die Baggy Jeans der US-Hip-Hopper, die viel zu kleinen Basecaps, die übergroßen Hemden, die wie Ponchos getragen werden + +Inwieweit hat Kleidung in einer ständischen Gesellschaft eine Rangordnung verdeutlicht? +In der Ständegesellschaft wurde der Wert eines Menschen durch seine Geburt bestimmt. Eine Vorstellung von Individualität im heutigen Sinne gab es nicht. Aber gerade deshalb war es für die herrschende Klasse so wichtig, schon auf den ersten Blick unerreichbar strahlend und prächtig zu wirken. Das verdeutlichte den Abstand zum Fußvolk und diente so mit als Machtlegitimation. +Gab es eigentlich auch mal Kleiderverbote? +Immer wieder. Das fing schon in der Antike an und setzte sich im europäischen Mittelalter fort. Dabei ging es meistens um Status, Geschlechter- oder Religionszugehörigkeit. Aber auch um das revolutionäre Potenzial von Kleidung: Nach Erscheinen von Goethes "Die Leiden des jungen Werther" wurde zum Beispiel Ende des 18. Jahrhunderts die "Wertherkleidung" in einigen deutschen Städten verboten. Heute haben wir dieDiskussion um das sogenannte "Burka-Verbot" oder um das Kopftuchtragen. Historisch kann man aber sagen, dass solche Verbote sich nie für längere Zeit durchsetzen konnten, und das ist auch gut so. +Auch schick +Eigentlich erstaunlich, wie selten Männer luftige Frauensachen tragen –und was passiert, wenn sie es tun +Gibt es heute noch einen Dresscode für die Oberschicht? +Schwierig. Natürlich weiß jeder, welche Designer Stars und Prominente tragen, und viele versuchen, diesen Look nachzuahmen. Aber die echte Oberschicht, also Menschen, deren Familien seit Generationen über Reichtum und politischen Einfluss verfügen, kleiden sich eher unauffällig. +Früher haben sich der Adel und die Königshäuser sehr extrovertiert gekleidet: mit Perücken, mit pompösen Kleidern, zierlichen Schuhen. Wann kam da eigentlich der Bruch? +Den gab es am Ende des 18. Jahrhunderts, als das Modeverhalten genutzt wurde, um politisch Stimmung gegen den Adel zu machen. Plötzlich galten die parfümierten, Perücken tragenden Höflinge als verdorben. Das Gegenbild dazu war der echte, unverstellte Bürger. Als das Bürgertum erwachte, wurden also auch neue Körperbilder und Geschlechterideale geschaffen. +Für beide Geschlechter? +Vor allem für den Mann.Die Frau steckt ja in gewissem Sinne bis heute im höfischen Zeremoniell fest– zumindest wenn man sich das Schaulaufen bei festlichen Events ansieht, bei denen etwa Schauspielerinnen ihre aufwendigen Kleider präsentieren. Für den Mann hat sich der Anzug durchgesetzt als überindividuelles Kleidungsstück, mit dem man tatsächlich keine nähere Aussage über sich trifft – außer dass man eben ein Mann ist und einen gewissen Status hat. Der Mann hat jetzt 250 Jahre darauf verzichtet, sich zu schmücken. +Da klingt Enttäuschung durch. Möchten Sie Perücken im Bundestag? +Warum nicht? Natürlich müssen Berufsgruppen, die viel Verantwortung tragen wie Politiker und Politikerinnen, den Eindruck vermeiden, zu viel Zeit und Energie auf ihr Äußeres zu verwenden. Grundsätzlich würde ich mir aber wünschen, dass das Sich-schön-Machen weniger belächelt, sondern als kreative Arbeit am Selbst anerkannt wird. +Können Sie sich vorstellen, dass es mal normal wird,dass Männer Kleider tragen? +Ich würde es mir wünschen. Als der Schauspieler Billy Porter in einem Smokingkleid zur Oscarverleihung kam oder Jared Leto im Gucci-Kleid zu einer Gala, dachte ich: Jetzt ist es so weit, dass Männer diesen Black-Tie-Code aufbrechen. Leider war es im Jahr darauf schon wieder vorbei. Es wäre schön, wenn möglichst viele Männer merken würden, dass sie sich der Möglichkeiten berauben, sich mal anders zu zeigen. +Hat das auch damit zu tun, dass es eine Art symbolischen Machtzuwachs bedeutet, wenn Frauen Männerkleidung tragen, während Männer in Frauenkleidern vermeintlich eher Schwäche zeigen? +Bestimmt. Aber genau da muss sich was ändern. Das ist auch meine Kritik an bestimmten feministischen Positionen. Ich finde nicht, dass Frauen unbedingt Männersachen tragen müssen, um mehr Gleichberechtigung zu erlangen – oder dass es unfeministisch ist, sich mit Mode zu befassen, wie es mir schon oft vorgeworfen wurde. Das sind auch wieder nur Stereotype. +Wäre es nicht erstrebenswert, sich vom Modegeschmack zu emanzipieren? Wie findet man seinen eigenen Stil? +So etwas wie persönlichen Geschmack gibt es nur ganz bedingt. Die persönlichen Präferenzen sind immer ein Ergebnis von dem, womit wir den ganzen Tag berieselt werden. Es kommt ja zum Beispiel vor, dass man etwas beim ersten Sehen komisch findet, wenn man es dann aber zum hundertsten Mal sieht, hat man sich schon daran gewöhnt und findet es vielleicht gar nicht so schlecht. +Aber kommt denn mit zunehmendem Alter kein eigener Stil zustande? +Zumindest hat man mit zunehmendem Alter schon vieles mitgemacht und weiß eher, was einem steht und was nicht. Deswegen ist diese Käufergruppe für die Unternehmen auch eher uninteressant, weil sie nicht mehr so leicht zu überreden ist. Die Trends werden für jüngere Leute gemacht, wobei die Zielgruppe zwischen 25 und 29 die spannendste ist. +Die ist ja in Deutschland nicht allzu groß angesichts der zunehmenden Überalterung der Gesellschaft … +Richtig. Deswegen gibt es viele Sachen, die auf den Geschmack junger Millenials weltweit zugeschnitten sind. Das ist die umsatzstärkste Zielgruppe. Ein anderer Effekt des Fokussierens auf junge Kunden ist, dass ständig alles wiederkommt, sich also ein Revival ans nächste reiht. Da machen viele Ältere nicht mehr mit, weil die das alles schon mal im Original erlebt haben. + +Kann man denn überhaupt noch was Neues erfinden? Es war doch irgendwie alles schon mal da: Schlaghose, Minirock, High Waist, Low Waist … +Ich glaube, man kann sich immer etwas ausdenken, was noch nie da war. Das eigentlich Neue liegt aber heute darin, dass viele Stile nebeneinander existieren und viel mehr Menschen die Möglichkeit haben, an Mode teilzuhaben. Klar ist es befremdlich, wenn bei Primark die Shirts nur ein paar Euro kosten – aber durch billige modische Kleidung ist für viele Menschen, die nicht so viel Geld haben, ein Stigma weggefallen. Allerdings ging die Demokratisierung der Mode leiderHand in Hand mit Fast Fashion. +Andererseits haben durch dieCorona-Kriseviele Menschen gemerkt, dass man gar nicht ständig kaufen muss. +Absolut,weil viele zu Hause ausgemistet und gemerkt haben, was da alles im Schrank hängtund wie viel man mal wieder tragen könnte. Auch bei Portalen wie Kleiderkreisel, wo getragene Sachen gehandelt werden, ist das Angebot extrem groß geworden. +Seit einiger Zeit sind unförmige Turnschuhe oder klobige Sandalen beliebt. Was wollen die uns sagen? +Es geht immer um Codes und die Frage: Wer kennt sie, wer kennt sie nicht? Eine goldene Rolex ist ein Code, den jeder versteht. Jeder weiß, dass die teuer ist. Aber dann gibt es eben raffiniertere Codes, die man nicht gleich versteht, die eben nur was für Eingeweihte sind. So war es auch bei den Ugly Sneakern. +Spielt auch eine Rolle, dass man quasi über denMut zur Hässlichkeiteine Avantgarde bilden kann, von der viele sagen: "Das ist mir echt zu krass"? +Das ist natürlich ein Privileg der Jugend und junger Körper. Dass man so selbstbewusst ist und sagt: "Ich sehe auch in hässlichen Sachen noch gut aus." Zum anderen geht es auch um Ironie. Die Hipster haben damit angefangen, ironische Kleidung zu popularisieren. Sie haben T-Shirts von Bands getragen, deren Musik sie gar nicht gut fanden. Früher hingegen waren Band-Shirts ein Kleidungsstück, mit dem man sich extrem identifiziert hat. Es war wichtig, welche Band auf dem T-Shirt stand. Heute ist das egal, wenn man das Logo schick findet. +Wer macht die Codes, von denen Sie sprechen? +Klassisch fand das vor allem innerhalb der Jugendkulturen statt. Man sah halt andere, die sich in einer bestimmten Art kleideten, und ahmte es nach. Klar gab es auch Reize von außen, von Magazinen oder Plattencovern, aber es war schwieriger als heute, dieses Wissen zu haben und sich dann die Kleidung zu besorgen. Heute werden die Codes vor allem vonInfluencern in Sozialen Mediengesetzt, die dafür bezahlt werden. Lustig finde ich, dass ausgerechnet Authentizität ein Lieblingswort auf Instagram ist. +Auch schick +Für die Tonne? Unsere Autorin ist ihrer Kleiderspendehinterhergereist +Mode war immer auch politisch. Das Outfit der Punks sollte brave Bürger provozieren, Anfang der Achtziger zogen sich Jugendliche Anzüge, Blazer mit Schulterpolstern und Krawatten an, um sich von den Hippies der Sechziger und Siebziger abzugrenzen. Wie ist das heute? +Das war in den Achtzigern eine Hinwendung zum Materialismus. Heute haben wir etwas Ähnliches. Jugendliche, die aus eher liberalen, auch konsumkritischen Elternhäusern kommen, legen plötzlich sehr viel Wert auf Markenklamotten, auf Brands. Es ist ja auch schwer, sich von den Eltern abzugrenzen, wenn der Vater seine alten Punkplatten hört und die Mutter in Skinny Jeans herumläuft. Es sei denn durch Hedonismus und Materialismus. +Aber die Eltern sind doch oft auch materialistisch. +Das ist ein guter Punkt. Wenn es heißt, die Jugend sei so materialistisch, frage ich mich immer, wer es ihnen vorlebt. Wo sind denn die Eltern, die bewusst konsumieren? Die sehe ich auch nicht in so großer Zahl. +Es gibt aber auch Jugendliche, die eher konsumkritisch eingestellt sind und sich extra "normal" kleiden. +Ja, es gibt auch viele, die sich engagieren und die das extrem Konsumorientierte in der Mode ablehnen. Auch darin steckt ja was Rebellisches: Wenn man sich die sogenannte Normcore-Bewegung ansieht, ist das eine Absage an das Postulat von Individualität und dem Besonderen. Da sagen junge Menschen ganz bewusst, dass sie lieber aussehen wollen wie alle. +Zumindest die körperliche Individualität scheint mittlerweile höher geschätzt zu werden. +Man hat lange über das Outfit geredet, aber wenig darüber, welche Menschen überhaupt darin stecken. Durch die Netzkultur ist ein offenerer Blick auf den Körper entstanden. Es wird eine größere Vielfalt von Körpern gezeigt, seien es nun People of Color oder Menschen, die nicht in Größe 36 oder 38 passen. Wenn die nun Skinny Jeans tragen, ist das ja auch ein politisches Statement, nämlich gegen diese extremen Schönheitsideale, die es über Jahrzehnte gab. +Momentan hat man den Eindruck,dass große Konzerne einfach den Schalter umlegen und verstärkt Werbung mit People of Color machen. Wie glaubwürdig ist das? +Wenn Konzerne jetzt auf mehr Diversität oder Nachhaltigkeit setzen, machen sie das meist, weil sie Umsatzverluste befürchten. Sie springen auf den Zug auf und tun so, als wären sie schon immer megadivers orientiert. Ich kann die Kritik daran verstehen. Andererseits sehe ich das eher positiv, denn es ist ja auch ein Zeichen eines gesellschaftlichen Umdenkens, dass diese Unternehmen merken, dass sie nicht schon wieder fünf große blonde Frauen in Bikinis stecken können. Selbst wenn sie es nur machen, weil sie Angst haben, kritisiert zu werden. Hauptsache, sie machen es. +Wie vertrauenswürdig ist es denn, wenn es plötzlich ein angeblich aus ökologischer Baumwolle und unter fairen Bedingungen produziertes Kleid für 19 Euro gibt? +In den meisten Fällen kann man sich nicht darauf verlassen, was die Konzerne sagen. Es gibt ja eine verwirrende Vielzahl von Siegeln, die Unbedenklichkeit signalisieren, und keiner blickt durch. Wenn man wirklich sichergehen möchte, keine Sachen zu kaufen, die Umweltschäden undMenschenrechtsverletzungen verursachen, muss man sich schon intensiv damit beschäftigen. Aber viele Leute schrecken davor zurück, weil sie ihre Konsumgewohnheiten gar nicht wirklich ändern möchten. Und wenn auf dem Label "Organic Cotton" steht, fühlt man sich halt gut. +Wie könnte man denn wirklich etwas an den ökologischen und sozialen Kosten der Mode ändern? +Ich bin für eine politische Regulierung. Das wäre wahrscheinlich das Einzige, was nützen würde. Denn die Macht kritischer Konsumenten ist begrenzt, da sehe ich die Verantwortung eher bei der Politik. Solange T-Shirts für fünf Euro angeboten werden, wird es auch jemanden geben, der sie kauft. +Zumal global gesehen viele Menschen gern zum Lifestyle westlicher Kulturen aufschließen wollen … +Wir betrachten das aus einer sehr privilegierten Situation heraus. Wir haben eigentlich alles, und jetzt schränken wir uns zum ersten Mal ein und vergessen dabei, dass Milliarden von Menschen noch nie den Lebensstandard hatten, der uns schon langweilt. Die wollen da erst noch hin. + +Dr. Diana Weis ist Professorin für Modejournalismus an der BSP Business School Berlin. Neben textilen Modephänomenen interessiert sie sich für Körpermoden und Schönheitsnormen. Im März 2020 erschien ihr neues Buch "Modebilder". + diff --git a/fluter/modeindustrie-trend-diversit%C3%A4t.txt b/fluter/modeindustrie-trend-diversit%C3%A4t.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..42208906b8c273de965c5d71504f0a77db5ac093 --- /dev/null +++ b/fluter/modeindustrie-trend-diversit%C3%A4t.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Seit circa zwei Jahren bekommt sie mehr Anfragen. Einerseits weil sie jetzt besser vernetzt ist, aber auch weil die Branche diverser sein will. Vor allem Models of Color, insbesondere Schwarze, sind in den letzten Jahren stärker gefragt. Das hängt auch mit der Black-Lives-Matter-Bewegung zusammen, die in den letzten Jahren immer lauter geworden ist. Während auf den Laufstegen der New York Fashion Week im Herbst 2015 nur 22,6 Prozent Models of Color waren, hat sich deren Zahl in der Herbstsaison 2020 fast verdoppelt auf 43,6 Prozent. Das zeigt der "Diversity Report" der US-amerikanischen Internetplattform The Fashion Spot. + + +Die Casting-Direktorin Dominique Booker sucht für ihre Kunden weltweit nach den passenden Models. Dafür bekommt sie vor jedem Auftrag ein Briefing, in dem steht, wie alt das gewünschte Model sein soll, welches Geschlecht und – oft auch – welche Herkunft es haben soll. Booker, die selbst Schwarz ist, beobachtet das steigende Interesse an Schwarzen Models kritisch. Sie befürchtet, dass Firmen und Labels die Models nicht immer aus echtem Inte­resse wählen, sondern weil sich Diversität gerade so gut vermarkten lässt: "Es ist kein Fortschritt, Schwarze Menschen plötzlich unreflektiert auf alle Cover zu setzen." Vielmehr müsse sich die Branche ernsthaft damit auseinandersetzen, was Diversität bedeutet. Der Begriff kommt aus dem Lateinischen und bedeutet Vielfalt. Im sozialwissenschaftlichen Diskurs bezieht sich das auf verschiedene Kategorien wie Alter, Hautfarbe, Geschlecht, ethnische Herkunft, Religion, sexuelle Orientierungen oder auch Behinderungen. Gesellschaftliche Diversität ist also weitaus mehr als Hautfarbe. +Forderungen, dass die Modeindustrie vielfältiger werden soll, gibt es schon lange. Denn sie beeinflusst, was wir als schön oder auch "normal" empfinden. Wie umstritten diese normativen Schönheitsideale sind, zeigen die öffentlichen Debatten zu "Plus Size", Genderrollen und kultureller Vielfalt in der Modebranche. +Booker stört auch, wie stereotyp Diversität häufig noch dargestellt wird, beispielsweise wenn Schwarze Models speziell für Sportwerbung gefragt sind.Dies führe dazu, dass Rollenbilder immer wieder reproduziert werden, wie etwa das Stereotyp des stets sportlichen Schwarzen Menschen. Zwar kann sie ihren Kunden zusätzliche Vorschläge machen, von denen sie denkt, dass sie passender sein könnten, allerdings passiert das nur in Ausnahmefällen. Gerade Werbekunden haben oft sehr gefestigte, an ihr Konzept gelehnte Vorstellungen. Nicht selten ist das für Booker sehr frus­trierend. Ihrer Meinung nach darf Diversität nicht nur im Vordergrund ein Thema sein, sondern muss auch hinter den Kulissen verstärkt eine Rolle spielen. Es sei nicht ausreichend, diverse Models zu casten, auch der Aufbau der Teams und Firmen sei maßgeblich für eine Veränderung. +Sadé hat inzwischen ihren eigenen Weg gefunden. Obwohl sie viele Anfragen bekommt, modelt sie weiter nur nebenberuflich, damit sie sich bewusst die Jobs aussuchen kann, bei denen sie für den Kunden nicht nur ein "diverses" Aushängeschild ist. Außerdem hat sie zusammen mit zwei Freundinnen die Agentur Blackhead Concepts gegründet, die Künstlern mit verschiedenen Hintergründen eine Plattform bietet. Die Agentur setzt Kampagnen und Castings um und will Aufklärungsarbeit zu Rassismus und Diversität in der Modebranche leisten. Sadé hofft, so die Welt der Mode mitzugestalten: "Unsere Generation ist laut. Wir sehen, dass die Gesellschaft vielfältig ist, und das soll auch in der Mode repräsentiert werden." +Repräsentation ist ein zentrales Stichwort in der Debatte um Diversität. Dahinter steckt der Wunsch, dass sich die verschiedenen Menschen unserer Gesellschaft auch in der Mode vertreten fühlen. Das erreicht man jedoch nicht, indem man sich nur auf eine Gruppe fokussiert, weil das gerade Trend ist. Es geht auch nicht darum, in jede Modekampagne möglichst viele diverse Menschen zu packen, um sich abzusichern und sich dann nicht mehr kritisch hinterfragen zu müssen. Diversität ist kein Ablasshandel. Stattdessen lohnt es vielleicht, in der hitzigen Debatte einmal innezuhalten und den betroffenen Menschen selbst eine Stimme zu geben. So hat beispielsweise die deutsche "Vogue" 2019 eine Onlineserie gestartet, in der unter anderem Models, Designer, Stylisten und Fotografen of Color über ihre Rassismuserfahrungen berichten. Und in diesem Jahr zeigte Imane Ayissi als erster Designer aus Subsahara-Afrika seine Entwürfe bei der renommierten Haute-Couture-Woche in Paris. Er ist übrigens erst der dritteModeschöpfer aus Afrika, der seine Kollektion dort vorstellen durfte. + diff --git a/fluter/modelabels-fuer-menschen-mit-behinderung.txt b/fluter/modelabels-fuer-menschen-mit-behinderung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6d9d35874a13c95428265cda756fc827587b549a --- /dev/null +++ b/fluter/modelabels-fuer-menschen-mit-behinderung.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Vergangenes Jahr gab es in Hamburg eine "Diversity Fashion Show", auf der die Veranstalterin verkündete: "Ich möchte nicht mehr von Mut sprechen, wenn wir Menschen jenseits der Konfektionsgröße 38 auf dem Laufsteg sehen. Ich möchte vom Leben sprechen, von Normalität, von Realität. Ich möchteMenschen aller Hautfarbenund sexueller Orientierungen auf den Laufstegen sehen, Menschen jeden Alters, Menschen mit Handicap oder ohne." +Auf der Fashion Show präsentierten sich dann allerdings fast ausschließlich Plus-Size-Modelabels. Dabei ist körperliche Diversität viel umfassender. Welche Ansprüche haben Menschen mit Rollstuhl, Kleinwüchsigkeit oder Sehschwäche an ihre Kleidung? Und wer bietet Lösungen jenseits der funktionalen Rehamode in Seniorenoptik? + +Kleinwüchsige Menschenhaben mit ihrer Körpergröße und -form die Wahl: teure Maßschneiderei oder Konfektionskleidung aus der Kinderabteilung. Das Problem: Kinderkleidung passt in der Breite meistens nicht. Ihr Kauf ist daher mit aufwendigen Änderungen verbunden. "Kann doch nicht sein!", dachte sich die Designerin Sema Gedik (deren Cousine kleinwüchsig ist) und entwickelte in umfangreichen Messungen, Berechnungen und Entwürfen Konfektionsgrößen für kleinwüchsige Menschen. Ihr Berliner Label heißt Auf Augenhöhe und bietet Kleidung "ready to wear" in vielen Größenvarianten – schließlich ist auch kleinwüchsig nicht gleich kleinwüchsig. + + +Menschen im Rollstuhlhaben häufig das Problem, dass gängig geschnittene Hosen und Oberteile im Sitzen rutschen. Um dies zu verhindern, sollte die Kleidung am Rücken höher bzw. länger sein. Das hat nicht nur einen praktischen Nutzen, sondern auch einen ästhetischen: Sind Shirts vorne lang, sehen sie schnell aus wie Nachthemden. Auch konventionelle Jacketts und Blusen können unpraktisch sein, da sie kaum Armfreiheit zum Bewegen des Rollstuhls lassen. Ein weiter Schnitt im Schulterbereich schenkt mehr Bewegungsfreiheit. +Die Ärmel hingegen sollten kürzer oder enger geschnitten sein, da sie sonst ständig in Kontakt mit den Rollstuhlrädern geraten und schnell abnutzen. Ein weiteres Problem sind seitliche Hosentaschen, im Sitzen rutschen Smartphone oder Portemonnaie leicht heraus. In mittig angebrachte Taschen auf den Oberschenkeln kann man hingegen leichter Hineinfassen – und schwerer Dinge verlieren, weil sie nicht herausfallen. +Hier rutscht auch im Sitzen nichts: Hose mit Oberschenkeltaschen +Jacken mit Magnetverschluss lassen sich auch einhändig schnell öffnen + +Ein Wiener Label denkt auch ans An- und Auskleiden: Mode ohne Barrieren (MOB) verwendet Magnetverschlüsse, damit Menschen dabei weniger oder überhaupt keine Hilfe brauchen. Noch sportlicher ausgerichtet ist Kinetic Balance, das seine Kleidung selbstbewusst mit "People stare, make it worth it" bewirbt. Lisa Schmidt, die mit ihrem Rollstuhl in Halfpipes und Bowls skatet und in dieser Disziplin international Erfolg hat, ist Markenbotschafterin für das Label aus Den Haag. Elegantere Kleidung wie Abendkleider bietet die Engländerin Samanta Bullock mit ihrem gleichnamigen Label an, die als Rollstuhlfahrerin die typischen Bekleidungsprobleme und als Model den Fashion-Markt gut kennt. Sie weiß, dass Abendkleider einen ganz anderen Schnitt brauchen, um nicht in die Speichen zu geraten. + +Auch Prothesenträger*innen profitieren von Klett- und Reißverschlüssen oder Magnetknöpfen: Konventionelle Knöpfe bedeuten bei eingeschränkter Motorik einen erhöhten körperlichen Einsatz und mentalen Stress. Die einhändige Bedienbarkeit fördert dagegen die Selbstständigkeit. Für Fußprothesen sind weite Hosenbeinöffnungen wichtig. All dies berücksichtigt sogar ein großes Label: Tommy Hilfiger. Die Linie Adaptive Fashion ist nicht teurer als andere Kollektionen und wird genauso professionell beworben – natürlich von Models mit körperlicher Behinderung. + + +Menschen, die blind oder stark sehbehindert sind, stehen schon mal vor dem Problem, dass sie dieGröße und Pflegehinweise von Kleidungsstücken nicht lesen können. Dafür hat Anna Sophia Flemmer aus Hannover eine Lösung: Ihre Kollektion SAME:SAME macht die Hinweise in Brailleschrift lesbar oder stanzt sie in Korketiketten. Für ihre Stoffe sind der Designerin nicht nur Farbe, sondern Haptik, Struktur und Klang wichtig. Vorne und hinten sind bei den Pullovern übrigens keine Kategorie: Sie sind beliebig wendbar. + +Titelbild: MOB Industries diff --git a/fluter/modellierungen-prognosen-zukunft-mathematik.txt b/fluter/modellierungen-prognosen-zukunft-mathematik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..da5c155daf933b849058c6ff22e2a59af8ad8a18 --- /dev/null +++ b/fluter/modellierungen-prognosen-zukunft-mathematik.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +"Wir versuchen zu verstehen, wie sich der Druck und die Flüsse in einem so großen Netz verändern", sagt Sara Grundel. "Und dabei ist die Frage: Schaffen wir es, ein derartig dynamisches System im Minutenbereich aufzulösen?" Sprich: zu modellieren, wie sich einzelne Einspeisungen unmittelbar auswirken, und das möglichst schnell. "Denn das ist im operativen Bereich von einem Gasnetz ja relevant. Wenn ich die Entscheidung treffen muss, welchen Regler ich in den nächsten 15 Minuten bediene, aber das Ergebnis meiner Simulation kommt erst in einer Woche bei mir an – dann bringt mir das nichts." Deswegen beschäftigen sich Grundel und ihr Team mit sogenannten Modellreduktionsmethoden: Werkzeuge, mit denen solch umfangreiche Simulationen schneller hinzubekommen sind. +Im Alltag modellieren wir im Prinzip auch immer mal wieder. Wenn wir zum Beispiel für ein Sommerfest den Einkauf planen, dann rufen wir nicht einzeln jede eingeladene Person an und fragen nach, was sie möchte. Wir nehmen die Zahl der Gäste und überschlagen, wie viel jeder isst und trinkt. Vielleicht berücksichtigen wir, wer vegetarisch isst und dass Schweinesülze und Knoblauchsoße nicht jedermanns Sache sind. Und außerdem, wie viele Kinder kommen. Der Verbrauch alkoholischer Getränke dürfte höher liegen, wenn die Feier abends steigt. Und auch die Wettervorhersage – ganz nebenbei gesagt: ebenfalls eine riesige Modellierung, vielleicht die bekannteste – beeinflusst unsere Rechnung. Ist Regen angesagt, wird kein Grillgut eingekauft, bei 30 Grad mehr Eis. Welche dieser Gedanken wir am Ende wie sehr berücksichtigen, ist Typfrage. Aber am Ende steht die Liste. +Gästezahl, Wetteraussichten, Uhrzeit, Sülze: Das sind Variablen, die sich noch mit Stift und Papier beherrschen lassen. Vieles auf der Welt ist komplexer. Wie verhalten sich 50.000 Menschen, die ein Fußballspiel besuchen: Wie viele kommen aus welcher Richtung, und wie lassen sich Engpässe verhindern? Wie hoch ist der Gesamtschaden, wenn ein Herbststurm über Norddeutschland zieht?Wie entwickeln sich Lieferketten?Oder die Rentenkassen? +Manche Modelle operieren im Minutenbereich, andere, wie die von Klimaforscherinnen und Klimaforschern, nehmen Jahrhunderte und Jahrtausende in den Blick. Aber immer stellen sich die gleichen Fragen: Was passiert, wenn? Und wie viele dieser "Wenns" können berücksichtigt werden? +Weiterlesen: +Was prognostizieren die Modelle von KlimaforscherInnen eigentlich für Deutschland?Wir haben das Wichtigste gesammelt +Weil Computer immer schneller und leistungsstärker werden, können Modelle immer genauer und komplexer sein. Und doch bleiben sie stets eine Vereinfachung, eine Reduktion der Wirklichkeit. "Es sind letztlich drei Schritte", beschreibt Sara Grundel: "Es gibt die echte Welt, von der abstrahiere ich erst mal. Was soll das Modell aussagen? Was sind die Annahmen, die hineinfließen? Und was sagt es eben nicht aus, was wird nicht berücksichtigt? Denn ich kann die Realität nie zu 100 Prozent mit allem und jedem abbilden. Daraus baue dann ich die mathematischen Formulierungen, die ein Computer auch versteht. Und am Ende muss es mir der Computer noch ausrechnen, und ich muss die Daten richtig interpretieren." +Diejenigen, die diese Modelle bauen, sind in der Regel Mathematikerinnen und Mathematiker. Die Modellinhalte kommen aber aus ganz verschiedenen Fachgebieten, und so gehört es zu Sara Grundels Aufgabe, mit Expertinnen und Experten zu sprechen, sich die Sachverhalte erklären zu lassen und die Mechanismen hinter den Dingen zu verstehen, um sie dann in die Sprache der Mathematik zu übersetzen. Besonders gut funktioniere das in den Naturwissenschaften, sagt Grundel, oder wenn es darum geht, physikalisch-technische Prozesse abzubilden, sowie in einigen Bereichen der Medizin. Komplexer wird es, wenn Menschen mit im Spiel sind. Denn die handeln weniger vorhersehbar als Erdgas und halten sich nicht immer an die Regeln. +In Sara Grundels Berufsalltag krachte der Faktor Mensch im Frühjahr 2020 mit Wucht – mit dem Beginn der Coronapandemie. +Sie selbst stürzte sich in die vielen neuen Zahlen und Daten, auch weil sie ihr Halt gaben und die komplett neue Situation erfassbar machten. Früh erzählte Grundel im Freundeskreis, dass die Ausgangsbeschränkungen aus anderen europäischen Ländern sehr bald bei uns kommen würden. Und sie begann, ein eigenes Modell zu bauen, erst privat, dann auch beruflich. "Dabei ging es am Anfang um die Frage: Wie können wir die Tests am besten einsetzen?", erinnert sich Grundel. "Also PCR-Tests in Kombination mit Kontaktbeschränkungen – andere Steuermöglichkeiten hatten wir damals ja noch nicht. Und da wurde dann ganz schnell klar, dass die Testkapazitäten bei Weitem nicht ausreichen würden, um auf Kontaktbeschränkungen zu verzichten." +Mit der Zeit wurde das Modell immer weiter verbessert und verfeinert: Erkenntnisse aus neueren Studien, etwa über Inkubationszeiten oder Ansteckungswahrscheinlichkeiten, wurden eingepflegt, Schnelltests kamen dazu und irgendwann die Impfungen. Und, wie gesagt, der Faktor Mensch. Denn natürlich kann man berechnen, was es bringt, wenn alle ihre Maske korrekt tragen – nur tun das eben nicht alle Menschen, manche absichtlich, manche eher versehentlich. Und um es noch komplexer zu machen, ändert sich ihr Anteil im Laufe der Zeit, wenn Vorsicht und Geduld nachlassen. In die Modelle sollen solche Unwägbarkeiten mit einfließen, deswegen hat Sara Grundel unter anderem mit einem Public-Health-Experten gesprochen, der viel Erfahrung in der Aidsprävention hat – eine andere Krankheit, für die es gute Methoden gibt, ihre Verbreitung einzudämmen, sofern die Leute informiert sind und auch mitmachen. +Nicht nur Sara Grundels Themenschwerpunkt änderte sich mit der Pandemie, sondern auch der öffentliche Blick auf ihre Arbeit: Auf einmal waren Zahlen ein ständiger Begleiter und ihre Bedeutung relevant für alltägliche Entscheidungen. Auf einmal waren Modelliererinnen und Modellierer gefragte Leute. Auf einmal stellten ihnen die Menschen Fragen. "Es ist natürlich ein schönes Gefühl, wenn so ein Interesse da ist. Sonst war die Reaktion, wenn man sagt: Ich bin Mathematikerin, oft ja eher: Ähem, Mathe ... das fand ich schon in der Schule doof", sagt Grundel und lacht. +Ihr selbst fiel der Umgang mit Zahlen als Kind leicht. Dass es vielen Leuten anders geht, das musste sie sich während der Pandemie hin und wieder vergegenwärtigen. Und dass viele mit Latenzzeiten oder Wahrscheinlichkeiten ihre Schwierigkeiten hatten und von Erkrankungen oder Nichterkrankungen in ihrem direkten Umfeld auch gern mal auf den allgemeinen Pandemieverlauf schlossen, daran ist sie manchmal auch ein wenig verzweifelt. "Ich weiß nicht, ob man da schon früher ansetzen und mehr Leute mitnehmen könnte, vielleicht schon in der Grundschulbildung – denn man macht ja keine Mathematik in der Grundschule. Man rechnet", sagt sie. +Gehört wurde Grundel in der Pandemie nicht immer. Als es um die Priorisierung der Impfungen ging, kam sie zu dem Ergebnis, dass es am effektivsten sei, zunächst die mittelalte Bevölkerungsgruppe zu immunisieren, die das Virus am häufigsten weitertrage – und erst danach ältere und vorerkrankte Menschen. Gemacht wurde es andersherum. +Grundel steht zu ihren Ergebnissen, versteht aber auch die Entscheidungen der Politik. "Klar kommt in der Wirklichkeit immer noch eine psychologische Komponente mit hinzu. Ich denke, die Vulnerablen waren auch verunsichert, und man musste ihnen zeigen, dass sie gehört und gesehen werden – was ja auch gesamtgesellschaftlich ganz wichtig ist." Weil Modelle immer nur einen Teil der Wirklichkeit abbilden, liefern sie keine alleinige Antwort auf die komplexen Fragen, die eine Pandemie eben mit sich bringt. Sondern nur eine Hilfestellung für die Politik, um zu Entscheidungen zu kommen. "Ich denke, man sollte die Zahlen verstehen, die Modelle und was sie aussagen – aber dann eine menschliche Entscheidung treffen", sagt Grundel. +Noch ist die Coronapandemie nicht vorüber, doch aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwindet sie immer weiter. Epidemiologen und Mathematikerinnen sind nur noch selten Talkshowgäste. Auch Sara Grundel kümmert sich jetzt wieder hauptsächlich um die Simulation der Erdgasnetze – einen Themenkomplex, der auf einmal ebenfalls im Zentrum der Aufmerksamkeit steht.Diesmal, wenn es um die Frage der Abhängigkeit von russischem Erdgas geht,den Füllstand deutscher Gasspeicher und die Versorgungssicherheit. +Eine gesteigerte Dringlichkeit seitens der Betreiber spürt auch Grundel. Aber muss sie ihr Modell jetzt noch einmal von vorne bauen? "Nein", sagt sie. "Wir machen ja Grundlagenforschung." Und wenn der russische Gashahn wirklich zugedreht würde? "Das ist für das Modell egal. Das Gerüst bleibt das gleiche. Da mache ich einfach an dieser Stelle eine Null dran – und fertig." diff --git a/fluter/moerderische-landpartie.txt b/fluter/moerderische-landpartie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7f03afcef8d6b56629752028fa218989589c3430 --- /dev/null +++ b/fluter/moerderische-landpartie.txt @@ -0,0 +1,13 @@ + +Ein gänzlich anderes Bild der Wildnis etablierte sich ab den 1970er-Jahren im amerikanischen Unterhaltungskino. Zu einer Zeit, als die Nation von traumatischen Krisen – etwa dem Desaster des Vietnamkrieges – erschüttert wurde. Im sogenannten Backwood-Horrorfilm erwies sich der Weg in die Natur nicht mehr als berauschend, sondern als lebensgefährlich. Das Erzählmuster ist dabei oft ähnlich: Unbedarfte und hochmütige Protagonisten treffen in entlegenen Landstrichen – Wäldern, aber auch Wüsten und anderen unwirtlichen Regionen – auf brutale Einheimische und lassen auf blutige Weise ihr Leben. +Besonders beachtenswert ist rückblickend Tobe Hoopers Terrorstreifen "The Texas Chainsaw Massacre" (1974). Fünf junge Menschen geraten darin in die Fänge einer inzestuösen Hinterwäldler-Familie, deren Vollstrecker "Leatherface" die Opfer mit einer Kettensäge malträtiert. Auch wenn Hoopers Film häufig als Geburtsstunde des Backwood-Horrors gefeiert wird, lässt sich Alfred Hitchcocks Meisterwerk "Psycho" (1960) als ein Vorläufer des Subgenres ansehen. Nicht nur, weil dessen Protagonistin in einem einsam gelegenen Motel mit einer großen, scharfkantigen Waffe – einem Messer – ermordet wird. Sondern auch, weil Hitchcock die für den Backwood-Film charakteristischen Elemente der Identitäts- und Sexualstörung prominent in seine Geschichte einbettet. + + +Ein Wegbereiter des Hinterwäldler-Kinos war auch John Boormans Romanverfilmung "Beim Sterben ist jeder der Erste" (1972). Eine Abenteuergeschichte mit Thriller-Anleihen, in der Zivilisation und Wildnis, ähnlich wie im Western, gewaltsam aufeinanderprallen: Vier Städter wollen für kurze Zeit aus ihrem Alltagstrott ausbrechen und sich bei einer Kanutour als echte Kerle beweisen, unterschätzen dabei aber die Natur und ihre Bewohner. Im Hinterland sind die Normen und Gesetze der Gesellschaft außer Kraft gesetzt. Stattdessen dominiert eine archaische Gewalt, die in Gestalt von zwei sadistischen Einheimischen über die Gruppe hereinbricht. Nach einer Vergewaltigung müssen die Protagonisten, besonders der sanftmütige Ed, ihre wilden Triebe freilegen. Denn nur so können sie letztlich überleben. +Noch drastischer inszeniert "The Texas Chainsaw Massacre" die Konfrontation mit den ungezügelten ruralen Kräften, wobei der Film durch schnelle Schnitte und eine hysterische Klangkulisse Gewaltakte suggeriert, die im Bild überhaupt nicht auftauchen. Interessant sind vor allem die politischen Untertöne, die Hooper in seinen Terrorfilm einfließen lässt. So erfahren wir, dass die Mitglieder der Sippe früher im örtlichen Schlachthof gearbeitet, ihre Anstellung aber durch Rationalisierungsmaßnahmen verloren haben. Das blutige Treiben lässt sich folglich auch als Rache der vom Kapitalismus abgehängten Menschen lesen. +Spannende Anspielungen tauchen ebenso in Wes Cravens Wüsten-Alptraum "Hügel der blutigen Augen" (1977) auf. Hier muss sich eine amerikanische Durchschnittsfamilie eines Kannibalenclans erwehren. Der wurde von einem Kind gegründet, das wahrscheinlich bei Atomtests, die in der Gegend von der Air Force durchgeführt wurden, zahlreiche Missbildungen erlitten hat. Der Clan kann symbolisch für die Angst der Mehrheitsgesellschaft vor benachteiligten Minderheiten stehen. Kritik am Überlegenheitsdenken im Allgemeinen und am Vietnamkrieg im Besonderen übt der Actionthriller "Die letzten Amerikaner" (1981), in dem es bei einer Reserveübung der Nationalgarde zu einem tödlichen Missverständnis zwischen Soldaten und den in den Louisiana-Sümpfen lebenden Cajuns kommt. +Leider bringt das seit den 1970er-Jahren unaufhörlich gedeihende Subgenre immer wieder Beiträge hervor, die lediglich bestehende Muster kopieren und sich nicht um politische Zwischentöne scheren. Ein Beispiel ist die bislang sechsteilige Filmreihe "Wrong Turn", die den Backwood-Gedanken eher uninspiriert ausschlachtet. Streifen wie diese haben eine Abnutzung vorangetrieben, die bereits in parodistischen Einlagen aufgegriffen wurde. Etwa in Drew Goddards Meta-Horror-Überraschung "The Cabin in the Woods" (2012) oder im clever-unterhaltsamen "Tucker & Dale vs. Evil" (2010), wo zwei harmlose Hinterwäldler mit vorurteilsbeladenen Stadtmenschen zusammenstoßen. + + +Dass trotz ausgelutschter Erzählmuster neue Impulse möglich sind, beweist Debra Graniks Romanadaption "Winter's Bone" (2010), die ein Backwood-Setting raffiniert mit Western-, Drama- und Noir-Elementen kombiniert. In die Wildnis, so muss man die anhaltende Popularität des Genres wohl verstehen, kann man ziemlich viele Ängste projizieren. +Christopher Diekhaus arbeitet als freier Autor in Köln und hat schon zahlreiche Backwood-Thriller verschlungen, schnuppert aber trotzdem gerne Landluft. diff --git a/fluter/momento-moria-podcast-spotify-migrationspolitik.txt b/fluter/momento-moria-podcast-spotify-migrationspolitik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..26c106f8012386a174c08a70005503756c2e0fa6 --- /dev/null +++ b/fluter/momento-moria-podcast-spotify-migrationspolitik.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Um die großen Fragen hinter der Migrationspolitik. Das Team rund um die Hostin Sham Jaff und die Reporterin Franziska Grillmeier erklärt den Hörer:innen, wie europäisches Asylrecht geregelt ist, wie das Dublin-Verfahren funktioniert und warum derEU-Türkei-Dealzwar eine gute Idee war, aber am Ende wohl zu einem Anstieg von Menschenrechtsverletzungen geführt hat. Dabei ist der Podcast auch eine Anklage an die EU und Politiker:innen, die es seit Jahren nicht schaffen, eine menschenwürdige Migrationspolitik durchzusetzen. Wie kann es sein, fragen die Podcastmacher:innen, dass Geflüchtete bei sogenannten"Pushbacks" völkerrechtswidrig an den EU-Grenzen zurückgedrängtwerden? Und sind die schlechten Zustände in Lagern wie Moria womöglich eine politische Strategie, um Menschen von der Flucht nach Europa abzuschrecken? + +Sehr persönlich und kritisch. Jaff adressiert die Hörer:innen direkt und verspricht schon in der ersten Folge, man werde "danach einen ganz anderen Blick auf Europa haben". Die Journalistin nimmt die Hörer:innen mit auf ihre Recherchen, sodass man das Gefühl hat, der Podcast entstehe erst in diesem Moment, in dem man ihn hört. Immer wieder werden Sprachnachrichten von Reporterinnen und Betroffenen eingespielt, Sätze wie "Ich verstehe das einfach nicht" oder "Das lässt mich alles nicht los" machen dabei auch Jaffs eigene Gefühlswelt transparent. Als sie nach Lesbos und Athen reist und mit ihrer Kollegin Franziska Grillmeier die Orte besucht, anhand derer sich die europäische Migrationspolitik verstehen lassen soll, fühlt es sich so an, als würde man mit auf der Rückbank sitzen. Gemeinsam mit Grillmeier und Jaff blickt man auf die Überreste von Moria, steht fassungslos vor einem der Friedhöfe, auf dem Geflüchtete liegen, und spürt die stetige Überwachung im neuen, hochgesicherten "Vorzeigecamp"auf der Insel Samos. Die Reise führt wie ein roter Faden durch den Podcast. Immer wieder steht auch die Frage im Raum: Warum gelingt mit Geflüchteten aus der Ukraine ein besserer, menschenwürdigerer Umgang als mit Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea? Zwischendurch gibt Jaff die Erzählung ab – an Grillmeier, die sich beispielsweise mit Milad trifft, einem ehemaligen Geflüchteten, der von seiner Zeit vor, während und nach Moria erzählt. Zu Wort kommen auch: der Migrationsforscher Gerald Knaus, der die Idee zum EU-Türkei-Deal hatte, die Campleiter von Moria und dem Nachfolgecamp Mavrovouni und ein Seenotretter, der auf Lesbos verhaftet wurde und dem jetzt bis zu 25 Jahre Haft drohen. + +Menschen, die die komplexen Zusammenhänge der europäischen Migrationspolitik besser verstehen wollen, ohne dabei mit Paragrafen und Politikfloskeln gelangweilt zu werden. "Memento Moria" macht klar, wie viele Akteur:innen an der EU-Migrationspolitik beteiligt sind und dass jeder und jede von ihnenEinfluss darauf nehmen kann, ob und wie Menschen in Europa Zuflucht erhalten. + +Trotz des anklagenden Tonfalls, der teils ein wenig zu stark daherkommt, schafft es "Memento Moria", ein kompliziertes und umstrittenes Thema sehr nah und persönlich zu erzählen, ohne dabei emotional zu überwältigen. Obgleich die Meinung der Journalistinnen deutlich wird, kommen auch Gegenstimmen zu Wort, die die europäische Migrationspolitik verteidigen. In einer Zeit, in der vor allem auf ukrainische Geflüchtete geblickt wird, hat das Team ein Thema wieder auf die Agenda gerückt, das seit Monaten kaum noch in den Medien präsent war. Und das, obwohl in diesem Jahr nach Angaben der International Organization for Migration schon etwa 850 Menschen im Mittelmeer ertrunken sind. + +Die ersten sechs Episoden von "Memento Moria – Was heute an Europas Grenzen passiert" gibt esauf Spotify.Zwei weitere sollen noch folgen und jeweils donnerstags erscheinen. + diff --git a/fluter/moneyboys-film-prostitution-china-interview.txt b/fluter/moneyboys-film-prostitution-china-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c275140ab4d1efb2b8544ecb10a8a03fb2df326d --- /dev/null +++ b/fluter/moneyboys-film-prostitution-china-interview.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Auch Fei, die Hauptfigur von "Moneyboys", stammt aus einem Dorf. In der Stadt prostituiert er sich gegenüber Männern, um Geld zu verdienen. +Natürlich gibt es zum Thema Migration viele tragische Geschichten über Leute, die dann etwa in Gasthäusern oder auf Baustellen arbeiten. Sexarbeit aber, vor allem männliche, ist ein Thema, über das in dem Zusammenhang bisher weniger erzählt oder diskutiert worden ist. +Wie ist denn eigentlich die rechtliche Lage in China, was Prostitution angeht? +Prostitution ist in Chinaillegal, insofern gibt es sie eigentlich offiziell nicht. Sie ist ein Tabuthema, und von daher finde ich erst recht, dass mehr Geschichten wie diese erzählt werden müssen. +Wenn Prostitution so ein Tabuthema ist, wie liefen die Dreharbeiten ab? +Wir haben "Moneyboys" 2019in Taiwangedreht, auch wenn das nicht so geplant war. Wir hatten vorher schon zwei Jahre lang in China gecastet. Doch es wurde immer schwieriger, als ausländisches Team in China zu drehen, gleichzeitig haben uns einige Schauspieler abgesagt. Sie wären sehr gerne dabei gewesen, aber ihre Manager haben an sie appelliert, besser nicht in einem LGBT-Film mitzuspielen. Das sei vielleicht nicht so gut für ihre zukünftige Karriere. + + + +In China steht Homosexualität nicht unter Strafe, der Film macht aber klar, dass es vor allem auf dem Land für viele schwierig sein kann, geoutet zu sein. Umso überraschter war ich darüber, dass die Familie der Hauptfigur Fei nicht nur weiß, dass er schwul ist, sondern auch, womit er sein Geld verdient. Bleibt das nicht im Normalfall im Verborgenen? +Solche Fälle habe ich schon erlebt. Während der Recherche für den Film habe ich natürlich einige Männer kennengelernt. Es gab auch einen Wissenschaftler, Ge Tong, der etwa 2000 Moneyboys interviewt hat. +2000!? +Mehr als 2000. Das war schon in den Nullerjahren. Daraus ist ein Buch geworden, und der Autor hat mich dann auch in dieses Milieu eingeführt. Die meisten dieser Männer arbeiten nicht lange als Moneyboys, einige wollen nur schnell Geld verdienen, damit sie woanders vorankommen. Und dann gibt es wiederum andere, die immer weiter und weiter von ihrer Familie ausgebeutet werden. Denn natürlich sind einige der Moneyboys auch tatsächlich homosexuell. Von denen wurden viele sicherlich von klein auf mit Schuldgefühlen beladen – und versuchen dann, so war mein Eindruck, sich mit dem verdienten Geld die Liebe und Anerkennung ihrer Familie zu kaufen. So etwas kann ja zu einer lebenslangen Aufgabe werden. +Moment, Sie sagen, dass einige von ihnen homosexuell seien. Das heißt, die meisten sind es dann offensichtlich nicht? +Ja, das hat mich damals auch erstaunt. Die arbeiten dann eindeutig aus einer finanziellen Notlage – meistens, um ihre Familie zu unterstützen. Ich habe die Vermutung, dass es in europäischen, den westlichen Ländern mehr Sexworker gibt, die für sich selber arbeiten. Während es in China, als ich mit den Recherchen für den Film begonnen habe – das war so 2009, 2010 –, schon mehr Sexworker gab, die es wegen der finanziellen Not ihrer Familie gemacht haben. Das hängt, glaube ich, auch vom Reichtum des Landes ab. Dazu gibt es innerhalb Chinas auch Unterschiede, woher man stammt. Die aus den ländlichen Gegenden sind eher traditioneller als die aus den Großstädten. Bei Letzteren habe ich tatsächlich auch Studenten kennengelernt, die sich prostituieren, weil sie sich zum Beispiel ein iPhone kaufen wollten. +In einer Szene müssen Fei und sein Geliebter, ebenfalls ein Moneyboy, mit einem Kunden Dumplings machen und halb nackt in der Küche stehen, während sie die Teigtaschen füllen – eine unterschwellige Form der Erniedrigung. Generell müssen die Moneyboys ganz schön was aushalten in dem Film, einmal wird Fei von einem Kunden körperlich brutal zugerichtet. +Ja. Aber es gibt natürlich nicht nur gewalttätige Kunden, es gibt auch nette. Im Film etwa diesen älteren Herrn, der noch nie in seinem Leben einen Mann geküsst hat und sehr vorsichtig ist. Ich habe versucht, aus verschiedenen Lebenserfahrungen und Welten die Schichten zusammenzufügen. Aber das ist nur eine Auswahl, und ich wollte auch nicht zu extrem werden und die voyeuristische Begierde, die in uns steckt, nicht zu sehr verwöhnen. Ich denke mir, wenn man in das Thema reinkommt, dann kann man sich eh vorstellen, was es da alles für Grauslichkeiten und Machtausübung gibt. +Ich habe gelesen, dass Sie zunächst überlegt hatten, das Ganze als dokumentarischen Film anzulegen, diese Idee aber wieder verworfen haben. +Ja. Als Filmemacher hat man immer die Verantwortung für die, die man auf die Leinwand bringt. Und man weiß nie, was danach passiert. Obwohl – hier kann ich es mir sogar vorstellen. Dann würden die Familien der Protagonisten es ganz bestimmt erfahren, und dem wollte ich die Protagonisten nicht aussetzen. +Wird der Film denn in China zu sehen sein? +Momentan sieht es leider so aus, als würde der Film nicht nach China kommen. Aber es gibt immer Möglichkeiten für das chinesische Publikum, an Filme zu kommen, meistens über das Internet. Also, wer "Moneyboys" unbedingt sehen will, wird ihn auch sehen. + +"Moneyboys" läuft ab dem 28. Juli in den deutschen Kinos. + +Titelbild: Salzgeber & Co. Medien diff --git a/fluter/moonlight-filmkritik.txt b/fluter/moonlight-filmkritik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a0b993108805aaecdeba7ba3b58277ae2ba24481 --- /dev/null +++ b/fluter/moonlight-filmkritik.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Chiron und Kevin wachsen dort in den 1980er-Jahren auf. Nachts, wenn Chirons drogenabhängige Mutter ihn aus dem Haus wirft, um Freier zu empfangen, flieht er ans Meer, seinen Rückzugsort. Und hier kommen sich er und sein Klassenkamerad Kevin näher. Er wird der erste und einzige Mann sein, den Chiron je lieben wird. +In "Moonlight" erzählt Regisseur Barry Jenkins die berührende Geschichte von Chirons Heranwachsen, aufgeteilt in drei Kapitel. Wir begegnen Chiron zuerst als schüchternem, in sich gekehrten Zehnjährigen, der von seinen Mitschülern gehänselt und verächtlich "Little" genannt wird. Ausgerechnet der in der Nachbarschaft gefürchtete Drogendealer Juan avanciert zu seinem Ziehvater. Er schenkt dem Jungen die Aufmerksamkeit und Geborgenheit, die Chiron zu Hause schon lange nicht mehr bekommt, und zeigt ihm, was Vertrauen bedeutet: zu anderen und in sich selbst. In einer wunderbaren Schlüsselszene des Films, wieder am Ozean, bringt er dem kleinen Chiron einfühlsam das Schwimmen bei. Für seine Verkörperung des vielschichtigen Juan hat Schauspieler Mahershala Ali gerade, neben vielen weiteren Auszeichnungen, einen Oscar erhalten. +"Ein Freund sagte mal zu mir: Ein schwarzer Drogendealer ist nur ein schwarzer Drogendealer. Doch da, wo ich groß wurde, stimmt das nicht", erzählt Regisseur Jenkins, der selbst in den 80ern in Liberty City aufgewachsen ist. "Bei uns waren Drogendealer Väter, Freunde, Cousins." +Diese Erfahrung machte auch Tarell McCraney, der nur wenige Straßen von Regisseur Jenkins entfernt groß wurde. McCraney ist der Autor des autobiografischen Theaterstücks "In Moonlight Black Boys Look Blue", das Jenkins als Vorlage für sein Drehbuch diente. Wie Chiron wurde McCraney vom lokalen Drogenhändler in Obhut genommen, während sich seine drogensüchtige Mutter kaum noch um ihn kümmerte. Und so sehen wir Dealer Juan in "Moonlight" nicht als stereotypen "Bad Boy", wie ihn wohl viele andere Filme darstellen würden, sondern zart und menschlich. +Genau solche feinfühligen Charakterdarstellungen zeichnen "Moonlight" aus. Egal welchen Hintergrund wir als Zuschauer haben, wir blicken nicht einfach nur auf ein uns fremdes Leben, sondern wir identifizieren uns. Wir spüren Chirons Einsamkeit, sein Suchen nach Halt und erfahren unmittelbar, was es heißt, seine Homosexualität zu entdecken – in einem Umfeld, in dem Schwulsein tabu ist. +In starken Armen: Regisseur Barry Jenkins hat "Moonlight" für die Verfilmung um ein Kapitel erweitert, das vom erwachsenen Chiron erzählt. Aus dem schmächtigen Jungen ist der aufgepumpte "Black" geworden +Regisseur Jenkins erweiterte McCraneys Geschichte für die Verfilmung um ein drittes Kapitel, in dem Chiron als erwachsener Mann zu sehen ist, der jetzt nur noch "Black" genannt wird. Während der zehnjährige "Little" aus dem ersten und der jugendliche Chiron aus dem zweiten Kapitel schmächtig sind, hat sich "Black" eine steinharte Hülle antrainiert. Er ist in die Fußstapfen Juans getreten und dealt in Atlanta mit Drogen. Doch hinter seinen lächerlich großen Muskeln und den goldenen Grillz verbirgt sich noch immer der junge Chiron. Der Außenseiter, der seine Sexualität und Persönlichkeit verstecken und in einer Welt klarkommen muss, die sein Anderssein nicht akzeptiert. Erst ein Anruf aus der Vergangenheit befördert endlich sein spätes, befreiendes Coming-out – und lässt "Moonlight" mit dem Rauschen des Meeres enden. Ein Rauschen, so pur und bewegend wie der Film. +"Moonlight" ist ein wichtiger Film in einer Zeit des politischen Umbruchs in den USA – und hat jetzt schon Geschichte geschrieben. Als erster LGBT-Film wurde "Moonlight" mit einem Oscar als bester Film ausgezeichnet, Mahershala Ali ist der erste Muslim in der Geschichte der Academy Awards, der den Preis erhalten hat. Die Auszeichnungen sind auch ein deutliches Statement aus Hollywood zur Politik Donald Trumps, der nach seinem Amtsantritt sofort die Unterseite der LGBT-Community von der Webseite des Weißen Hauses entfernen ließ und Menschen aus mehreren muslimischen Ländern aus den USA verbannen will. Barry Jenkins rief bei seiner Dankesrede: "Wir werden euch nicht im Stich lassen. Wir werden euch nicht vergessen." +"Moonlight"; Regie und Drehbuch: Barry Jenkins, mit: Mahershala Ali, Ashton Sanders, Janelle Monáe, 111 Min. diff --git a/fluter/moral-kann-man-lernen.txt b/fluter/moral-kann-man-lernen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/movements-and-moments-comic-rezension.txt b/fluter/movements-and-moments-comic-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ac797a6aa8266a9271e81a0ad71f446773b6093b --- /dev/null +++ b/fluter/movements-and-moments-comic-rezension.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Das Projekt "Movements and Moments" will Biografien wie die von Dolores Cacuango bekannter machen und wählte dafür das Medium Comic.Gestartet wurde das Projekt 2019 vom Goethe-Institut in Jakarta, Indonesien, mit einem Open Call, der sich explizit an Künstler:innen aus dem Gobalen Süden wandte. 218 Projekte aus 42 Ländern wurden eingesendet, 16 Geschichten wurden ausgesucht.Diese Auswahl ist online verfügbar (in der jeweiligen Landessprache und zum Teil auch auf Englisch oder Spanisch), zehn der Geschichten gibt es nun außerdem als deutschsprachigen Comicband. + + +Da geht es um den Widerstand der Mapuchegegen ein Staudammprojekt in Chile, das ihren Lebensraum am Fluss Pilmaiquén bedroht, um die Reise einer indischen trans Frau und Künstlerin nach San Francisco oder um eine Vietnamesin, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die musikalischen Traditionen der Ê-đê-Volksgruppe am Leben zu erhalten. +Beeindruckend ist die zeichnerische Vielfalt der Comics. Das reicht vom eingängigen Mangastil von Supitcha Senarak, in dem die Geschichte von Nong Air aus Thailand erzählt wird, die als Trainerin an einer "Women School" – einer Bildungs- und Beratungseinrichtung – andere indigene Frauen betreut, bis zu Taís Koshinos getuschten, stark abstrahierten Knubbelfiguren, die die Biografien von zwei brasilianischen indigenen LGBTQIA+-Aktivistinnen ausleuchten. +Der Umgang mit Perspektiven, Seitenlayouts und optischen Gimmicks ist fantasievoll und sehr abwechslungsreich, oft wird mit kraftvollen Farben gearbeitet. Ein besonderes Highlight ist die Geschichte über eine anarchistische Gewerkschaftsbewegung der bolivianischen "Cholas", die in den 1930ern als Dienstmädchen, Marktfrauen oder Köchinnen kaum Arbeiterinnenrechte hatten: Vanessa Peñuelas und César Vargas' schnörkellosen Zeichnungen im Ligne-claire-Stil (den kennt man zum Beispiel von "Tim und Struppi") und die gedeckte Farbpalette sind wie aus einem Guss. + + +So originell und abwechslungsreich ist "Movements und Moments" allerdings nicht, wenn es um das Erzählerische geht. Klar, die Lebensgeschichten sind wichtig und empowernd. Aber so aneinandergereiht wie in diesem Comicband ergibt sich ein recht gleichförmiges Erzählmuster nach dem Motto: "Schaut, da sind Frauen, die sich nicht unterkriegen lassen – von der Oberschicht, den Männern, der Regierung, den ausländischen Konzernenoder allen zusammen– und mutig ihren Weg gehen!" Das Ganze wird dann mit spezifischen Hintergründen und Fakten verwoben – oder manchmal leider auch überfrachtet. Das mit allen Fußnoten zu lesen fühlt sich mitunter wie Arbeit an. Andererseits: In Nicht-Comicform wäre das Ganze wohl noch deutlich weniger zugänglich. +So gesehen funktioniert die Idee der Herausgeber:innen, denen es ja ohnehin vor allem darum geht, die "Herstorys", wie sie sie nennen, zu verbreiten und Künstler:innen eine Bühne zu bieten, die sie in Deutschland sonst nicht haben. +Eine Leerstelle hat das Album übrigens, auch zum Bedauern der Herausgeberinnen: Afrika. Von diesem Kontinent gab es weniger Einsendungen, die meisten davon passten thematisch nicht ganz ins Konzept indigener feministischer Aktivismen – und die eine, die es in die Auswahl geschafft hatte, zogen die Autorinnen aus Angst vor Repressionen wieder zurück. So bleibt es bei Geschichten aus Chile, Peru, Ecuador, Bolivien, Brasilien, Thailand, Vietnam, Nepal, Indien und von den Philippinen. Dabei kann man sehr viel lernen und erfahren – und vielleicht ist Dolores Cacuango bald hierzulande so bekannt, dass sie auch einen deutschsprachigen Wikipedia-Artikel hat. + +"Movements and Moments" (316 Seiten, 27 Euro) ist im Jaja Verlag erschienen. diff --git a/fluter/mrs-america-serie-rezension.txt b/fluter/mrs-america-serie-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0d112d5b3da20e1aad69c63bc6d804f3d8726dfd --- /dev/null +++ b/fluter/mrs-america-serie-rezension.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +1972 nimmt die historische Schlafly als republikanische Aktivistin den Kampf gegen das Equal Rights Amendment (ERA) auf. Das ERA soll Geschlechterdiskriminierung durch die Verfassung verbieten und gilt als überparteiliches Projekt der Frauenbewegung. Obwohl im Kongress nur 15 weibliche Abgeordnete sitzen, unterstützt eine große Mehrheit das ERA – auch Präsident Nixon. Doch ein Verfassungszusatz muss in den USA von drei Viertel der Bundesstaaten – damals 38 – ratifiziert werden. Dieser Prozess gerät ins Stocken, als Schlafly unter dem Banner "Stop ERA" eine unterschätzte politische Kraft mobilisiert: weiße Hausfrauen aus den Vorstädten. + +Die Serie zeichnet Schlafly als konservative Katholikin, die im Diskurs um traditionelle Rollenbilder auch das Potenzial für einen Rechtsruck ihrer Partei erkennt. Der Protestkampagne verpasst sie ein positives Framing: pro life und pro family. Auftritte beginnt sie mit der Punchline: "Ich danke meinem Mann, dass ich hier sein darf – weil es die Liberalen so verrückt macht." Aber Schlafly, Mutter von sechs Kindern, hat selbst höchste berufliche Ambitionen: Kongresskandidatin, Bestsellerautorin, Expertin für nationale Sicherheit. Schwarze Hausangestellte und ihre Schwägerin halten ihr den Rücken frei, während sie für ihre Kampagnen durchs Land reist. Blanchett spießt diese Widersprüche nicht satirisch auf, sondern spielt sie mit einfühlsamer Präzision. Das ist stellenweise schmerzhaft anzuschauen, zum Beispiel wenn Schlafly für ihrenschwulen Sohn zur Beichtegeht oder widerwillig ihren Mann beim Sex gewähren lässt."No Means No"scheint in ihrer Ehe nicht zu gelten. +Die Dramaturgie von "Mrs. America" prägen ständige Perspektivenwechsel. Neben Schlafly kommt pro Folge auch jeweils eine der wichtigsten Feministinnen der Ära in den Blick: Gloria Steinem etwa, Gründerin des Magazins Ms., Shirley Chisholm, die erste afroamerikanische Präsidentschaftskandidatin, oder die Autorin Betty Friedan. Die zahlreichen Schauplätze sorgen dafür, dass in dieser Diskursserie nicht bloß Talkshows und Konferenzräume, sondern verschiedene repräsentative Lebenswelten zu sehen sind. Manche Figuren sprechen etwas nah am Jargon von heute, aber die wesentlichen Erzählstränge sind historisch akkurat. Intersektionalität, also die Überschneidung verschiedener Diskriminierungskategorien, war schon damals ein Streitpunkt in der Bewegung, auch wenn der Begriff erst später auftauchte. Dass im Versuch, die Mehrheitsgesellschaft zu erreichen, die Anliegen von Schwarzen und lesbischen Frauen ignoriert oder sogar bekämpft wurden, ist die größte Kritik, die die Serie an der zweiten feministischen Welle durchscheinen lässt. +Kein Wunder, dass sich nun beide Seiten, Feministinnen wie Steinem genauso wie Konservative, über "Mrs. America" aufregen. Denn die Hochphase der Frauenbewegung erscheint hier zwar als Aufbruch, aber auch als Beginn eines folgenreichen Backlash. Tatsächlich war das Scheitern des Equal Rights Amendment eine schwere Niederlage der US-Liberalen. Besiegelt ist sie noch nicht: Fast 40 Jahre nach der Deadline hat Virginia im Januar als 38. Bundesstaat den Vorschlag ratifiziert. Ob das zählt, müssen nun die Gerichte entscheiden. Die Wiederauflage der Debatte ist zu erwarten. + +"Mrs. America" läuft dienstags um 21 Uhr bei Fox und im Anschluss an die lineare Ausstrahlung unter anderem bei Sky und Magenta TV. diff --git a/fluter/mueller.txt b/fluter/mueller.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4bb8c15ccf4bbddcf27d9087dff88b0c43ad14ae --- /dev/null +++ b/fluter/mueller.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Seine Kinder sind welche, auf die er stolz sein kann, längst ausgezogen und versorgt: Steffen und Stefanie. +Seine Frau ist eine, auf die er zählt, Sabine – seit 33 Jahren seine. Gemeinsam haben sie dieses Grundstück gesucht und diese Familie gegründet, eine Dynamik füreinander gefunden, die passt. Fragt sie, neben ihm auf dem Sofa in der "Stube": "Wie wär's mal mit Italien? Die Landschaft genießen, die Hügel?" Fragt er zurück: "Was interessiert mich eine Zypressenallee in der Toskana?" +Samstagmorgen, draußen wächst ihr Spinat, steht ihr Mercedes C-Klasse. Frank Müller sitzt auf der Couch, die Hausschuhe an, noch bleibt Zeit, bis seine Schicht beginnt. Gegen 15.30 Uhr wird er eine Latzhose überziehen und die elf Kilometer ins Bowlingcenter nach Magdeburg fahren. "Chefmechaniker seit 1. November 1996" ist er dort, die "Bowling World" sein Büro. Gegen 16 Uhr wird er in einer Industrielandschaft parken und durch ein Gebäude mit Casino und Cinestar laufen, an Billardtischen, Dartscheiben und Greifautomaten vorbei. Ein paar teppichgedämpfte Schritte wird er gehen, in seiner Werkstatt nach dem Rechten sehen und hinter den Bowlingbahnen nach Störungen suchen, reparieren, wenn eine Maschine hängt. Sobald sie die Kegel nicht mehr hochzieht und aufrichtet, "sich etwas verkeilt oder reißt oder hakt", legt er los – gut 50 Mal am Tag, sagt Frank Müller. Meist braucht er eine halbe Minute für die Lösung eines Problems. Er mag, dass er den Spaßbetrieb am Laufen hält. Dass "immer was los ist". Überhaupt – "Strike!": wie die Bowlingkugeln dort auf den Bahnen landen, die Pins übereinanderfallen. Bäm, klack-klackklack. +11 Uhr, Frank Müller öffnet eine Box und legt Erinnerungen auf den Glastisch, neben seinen Kaffee und die Untersetzer und die Etagere mit den Keksen. Ein Tütchen holt er raus, darin die erste blonde Locke, die ihm seine Mutter abgeschnitten hat. Alte DDR-Schulzeugnisse blättert er durch, Hammer und Sichel auf jeden Einband gedruckt; Müller liest aus ersten Deutschdiktaten vor: Karl und Karla kaufen für Mutti im Konsum ein. Die Soldaten bewachen unser Land. +"Da ging die Propaganda los", sagt er und dass sein Protest trotz allem kurz gewesen sei. Mit 14, 15 habe sich etwas Rebellisches in ihm geregt – und direkt wieder verflüchtigt. Aus einem Ohnmachtsgefühl heraus; aus Einflusslosigkeit, darum. "Du wurdest sowieso in eine Richtung geschoben", sagt Frank Müller, seine krakelige Schrift von 1967 vor sich, die immer gleichen Sätze einer Strafarbeit: Ich soll nicht mit Steinen werfen. Ich soll nicht mit Steinen werfen. Er klappt das Heft zu, sagt: "Ich war Durchschnitt. Ein ganz Normaler." +Die zehnte Klasse: "um die 2,0" abgeschlossen. Die Lehre: beim Werk für Rundfunk- und Fernsehtechnik in Staßfurt gemacht. Seine Sabine: das erste Mal "an der Küste" getroffen, in Trassenheide auf Usedom. Angestellte des Technikwerks durften dort günstig Zelturlaub machen – und Angestellte waren sie beide. Sabine half in der Küche des Campingplatzes aus, er hatte sich im Anreisedatum geirrt und war einen Tag früher als die Kollegen hochgefahren, angekommen im Morgengrauen, bei "Scheißwetter". Durchnässt und hungrig stand er im Frühstücksraum, wusste nicht, wohin. Sabine, die "Mitleid hatte", stellte ihm einen Teller hin. +Das Leben lief. So weit. Und dann? +11.40 Uhr, Müllers gehen essen. Am "höchsten Punkt von Wolmirstedt", hinter den Wohnblocks und dem Gymnasium der Kinder, in "Auerbachs Mühle". Bestellen "zwei Mal den Mühlentopf", Fleisch und Kartoffeln und Gemüse. Und dann? +"Hieß es arbeiten, das war meins", Frank Müller legt den Arm um Sabine. Am Fließband stellten sie Fernseher her, Colortron und Colorlux, setzten Leiterplatten und Bildröhren in Geräte ein. Es gab eine Stechuhr und Brigaden, Müller wurde Teamleiter, wurde Meister; am Abend ging es ins Kino oder zum Tanz. Und allgemein recht schnell: zunächst in eine Anderthalbzimmerwohnung "oben unters Dach", für zwölf Ostmark im Monat. "Wie es da durch die Fenster gezogen hat, herrlich!" Altbau, Kohleofen. "Schöne Zeit, ja. Da sind die Kinder entstanden." +Später wurden die Kinder hochgetragen in eine geräumigere Wohnung, in den sechsten Stock eines Plattenbaus. 99 Stufen bis zu ihrer Etage, 105 von ihrer Etage in den Keller. "Am Tierpark", haben sie gelebt, "da hast du die Wölfe heulen und die Affen schreien hören". Ende der Achtziger hat Frank Müller doch noch mal der Protest gepackt, da lief er bei den Montagsdemos mit, vor die Sankt-Petri-Kirche in Staßfurt. Als die Mauer schließlich fiel, saß er vorm Fernseher und weinte, weckte Sabine. ",Ist mir egal', hat die gemurmelt! Hat doch echt die Wende verschlafen." +Beide verloren sie später ihre Jobs. Fuhren zu viert im Trabi – "einem beigen Kombi, ,Gustav'" – nach Braunschweig, für das Begrüßungsgeld und das erste Mal Westgeruch. "Die teuersten Sachen" kauften sie, Kaffee, Joghurt und Kakao. +"Allzu lange arbeitslos war ich nicht", sagt Frank Müller, "dann Chefmechaniker im Bowlingcenter." Er kratzt sich am Ohr, das macht er öfter, oder er starrt so in den Raum, dann dauert es, bis er zum Thema zurückfindet. Wie von einer inneren Reise kehrt er dann heim, sagt: "Ging schon, alles. Ich hab ja eine Abfindung gekriegt." Oder dass es Probleme zu lösen gilt. Dass Sabine Hörgeräteakustikerin geworden, Steffen nach Berlin gegangen – und Stefanie wieder schwanger ist. Was soll er noch wollen oder können? Eine zweite Fremdsprache? +Etwa Englisch? Hat er nicht gewählt, neben Russisch, damals in der Schule. "Ich bin lieber baden gegangen", sagt er, kurz vor 16 Uhr ist es da, die Latzhose übergezogen – und er unterwegs zur Bowling World. Bis nach Syrien ist er einmal, um eine Bowlingmaschine wieder in Gang zu bringen, dort hat er sich auch so verständigt. "Jahre her", der Businesstrip. Damaskus war noch heil. +Müller parkt und läuft in das Gebäude, vor dem ein Acker liegt. Wo innen Bowlingschuhe verliehen werden und gerade ein Gehörlosenturnier stattfindet, die Männer vor den Bahnen lungern und aus Strohhalmen trinken, eine große Fanta oder Spezi. Manch einer steht wie ein Eiskunstläufer auf der Bahn, wenn er seiner Kugel beim Rollen hinterhersieht, dem Moment nachhängt, ein Bein noch angewinkelt, ein Arm in der Luft. Bald geht die Nebelkanone an und das Schwarzlicht. Ein DJ spielt dann Musik. "Dann ist hier Disco", sagt Frank Müller – und er bei seinen Maschinen. Oder in der Werkstatt, wo schon an der Tür ein Aufkleber Behaglichkeit verspricht: "Spaß auf 6 m²". Alles ist dann wie immer. diff --git a/fluter/muelltrennen-japan.txt b/fluter/muelltrennen-japan.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d0d3c85f68e7303304bfa43cea79316b4af9038f --- /dev/null +++ b/fluter/muelltrennen-japan.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +So kompliziert das alles ist, erstaunlicherweise funktioniert es ziemlich gut. An den Abenden vor der jeweiligen Abholung türmen sich draußen regelmäßig die Mülltüten, die dann am nächsten Morgen verschwunden sind. Überhaupt ist es auf den Straßen im Großraum Tokio, dem mit rund 37 Millionen Menschen größten Ballungsgebiet der Welt, erstaunlich sauber. +Dass das Mülltrennen besser klappt als in vielen anderen Ländern, hat möglicherweise auch kulturelle Gründe. Die Urreligion Shintō, nach der jeder Person und jedem Gegenstand etwas Göttliches und Schätzenswertes innewohnt, legt großen Wert auf Reinlichkeit. Und das japanische Wort für schön, "kirei", bedeutet zugleich: sauber. Hinzu kommt, dass Regeln in Japan tendenziell stärker respektiert werden als in westlichen Ländern. Auch lästige Notwendigkeiten werden eher beherzigt, zumal dann, wenn sie dem Allgemeinwohl dienen. Das hat man auch während der Pandemie gesehen. Kaum jemand kam auf die Idee, keine Maske zum Schutz der Mitmenschen zu tragen. +Allerdings hat die Neigung zur Sauberkeit auch ihre Schattenseiten. Wer einen japanischen Supermarkt betritt, sieht in Schaumstoff verpacktes Obst, frisches Essen in Plastikboxen oder Kekspackungen, in denen noch einmal jeder Keks einzeln verpackt ist. Auf diese Weise produziert Japan laut einem Vergleich der internationalen Umweltorganisation UN Environment weltweit den zweitmeisten Plastikmüll pro Kopf hinter den USA. +Einen Großteil des Mülltrennens könnte man sich also sparen, wenn nicht so viel davon produziert würde. Zudem es am Ende nur begrenzt dem Ziel der Kreislaufwirtschaft dient. Nach offiziellen Zahlen werdenzwar rund 86 Prozent des Mülls recycelt,jedoch besteht dieses Recycling bei mehr als der Hälfte davon in der sogenannten thermischen Verwertung – der Müll wird also einfach verbrannt, um Energie zu gewinnen. +Dass es in Zukunft mehr um Müllvermeidung als um Recycling gehen muss, hat auch die Regierung auf dem Zettel – und neue Gesetze erlassen. So dürfen Supermärkte nun keine Gratisplastiktüten mehr an ihre Kunden ausgeben. Und auch Unternehmen müssen bald ihren Müll trennen. Die sind darin bisher nämlich weniger vorbildlich als die privaten Haushalte. +Und dann gibt es noch traditionelle Ideale wie "Wabi Sabi", das Imperfektion zur Schönheit erklärt und viele Japaner Gegenstände wie alte und selbst unansehnliche Teekannen wertschätzen lässt. Der Ausdruck "mottainai", der häufig verwendet wird, bedeutet zudem so etwas wie "zu schade zum Wegschmeißen" und erzieht zur Sparsamkeit mit Ressourcen. In Sachen Müllvermeidung gibt die japanische Kultur also noch einiges her. +Titelbild: Kyodo News Stills via Getty Images diff --git a/fluter/muetter-migrationshintergrund-arbeit-bonn-projekt.txt b/fluter/muetter-migrationshintergrund-arbeit-bonn-projekt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dab44b83b8d999464af7ae0fef4826001e457706 --- /dev/null +++ b/fluter/muetter-migrationshintergrund-arbeit-bonn-projekt.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Knapp neun Jahre später, an einem warmen Juniabend 2021, steigt Sazia Pinno an einer Landstraße etwas außerhalb von Bonn aus dem Bus. Ihre bunte Tunika flattert im Wind, die glitzernden Armreifen schwingen hin und her. Sie läuft an Feldern vorbei zum Haus ihrer Patientin, die sie über Nacht betreuen wird. Von der Verzweiflung merkt man ihr inzwischen nichts mehr an. Im Gegenteil: Sie ist jetzt 48 und eine Frau, die weiß, was sie will. Sie wirkt größer als die 1,55 Meter, die in ihrem Ausweis stehen, und gestikuliert viel. Ihre langen schwarzen Haare trägt sie oft hochgesteckt mit einer Blumenspange. Sie ist in Deutschland geblieben. +Als ihr nach der Trennung klar wurde, dass sie einen Job brauchte, der sie finanziell unabhängig macht, wusste Sazia Pinno nicht, wo sie anfangen sollte. Die Sprache war nicht das Problem. Sie und ihr Mann hatten zu Hause immer Deutsch gesprochen – nur Zertifikate, die das belegten, hatte sie nicht. Und die sind für viele Ausbildungen hierzulande verpflichtend. Sie versuchte es mit Minijobs: als Verkäuferin im Schreibwarenladen, beim Putzen und mit Gartenarbeit. "Aber das war keine Lösung", sagt sie. "Ich habe gemerkt, dass ich einen Beruf brauche." Beim Arbeitsamt schlug die Mitarbeiterin ihr ein Studium vor, aber Sazia Pinno lehnte ab. "Das hätte zu lange gedauert. Ich wollte möglichst schnell in einen Beruf." Die Mitarbeiterin schickte sie zur Anerkennungsstelle in Köln. Vielleicht könnte sie doch noch ihren Abschluss aus Bangladesch anerkennen lassen? Dort traf sie 2015 auf Heidemarie Jeep vom Projekt"Mütter mit Migrationshintergrund steigen ein"des Bonner Vereins für Pflege- und Gesundheitsberufe. Das richtet sich – wie der Name verrät – an Mütter mit Migrationshintergrund, die einen Beruf erlernen und eigenes Geld verdienen wollen. + +Heidemarie Jeep lud sie ein, sich das Projekt in Bonn anzuschauen. "Das war ein Klick-Moment", sagt Sazia Pinno. "Sofort habe ich gesehen: Die Frauen sind genau wie ich. Mein Alter, die gleiche Geschichte." Mithilfe des Projekts können Frauen bei Bedarf vor der Ausbildung Deutsch- oder Fachsprachkurse belegen, den Hauptschulabschluss nachholen, falls nötig, und anschließend Berufe wie Altenpflegerin und Erzieherin erlernen. Während der Unterrichtszeiten gibt es eine Kinderbetreuung. Es ist der Versuch, Frauen, die es mit Kindern und Migrationshintergrund auf dem Arbeitsmarkt besonders schwer haben und sich für diese Berufsperspektiven interessieren, zu unterstützen. +Von bisher 280 Teilnehmerinnen haben zwei Drittel heute eine Arbeit oder absolvieren Ausbildungen. Wenn Heidemarie Jeep das Projekt auf Fachtagungen vorstellt, kommt es schon mal vor, dass sie sich rechtfertigen muss: Warum sollen ausgerechnet Migrantinnen diese – schlecht bezahlten – Jobs machen? Wichtig ist ihr deshalb zu betonen: "Man kann Menschen nicht einfach so in diese Berufe zuweisen. Die Ausbildungen sind anspruchsvoll." Wer gar keine Freude daran habe, meint Jeep, werde scheitern. Viele der Frauen kämen mit dem konkreten Wunsch, einen Pflegeberuf zu erlernen, in das Projekt. Die Teilnehmerinnen schätzen auch eine Chance auf einen sicheren Arbeitsplatz in Bereichen, wo Personal händeringend gesucht wird. Heidemarie Jeep ist auch Anerkennungsberaterin. Wenn Frauen einen Studienabschluss oder eine Ausbildung aus dem Ausland anerkennen lassen wollen, hilft sie dabei. + + +Sazia Pinno entschied sich bewusst für die Ausbildung und gegen die Anerkennung ihres Studienabschlusses. Ihr waren Pflegeberufe nicht fremd, ihre Mutter arbeitete in Bangladesch als Oberkrankenschwester. In ihrer Kindheit wohnten sie oft in Dienstwohnungen auf dem Krankenhausgelände. Die Ausbildung bot ihr die Möglichkeit, in kurzer Zeit einen Beruf mit sicheren Jobaussichten zu erlernen, statt langwierig ein Studium mit unklaren Perspektiven anerkennen zu lassen. +Doch warum finden Frauen wie Pinno nicht auch alleine in diese Berufe? Heidemarie Jeep sieht das Problem vor allem bei starren Voraussetzungen. Bei vielen seien es fehlende Zertifikate, obwohl das nichts über die Sprachkompetenzen aussage. "Aber dann heißt es: Hat kein B2 oder macht Rechtschreibfehler, die nehmen wir nicht." Viele wüssten aber auch schlicht nicht, wie man sich richtig bewirbt. +Nach einem B1-Deutschkurs und einem Praktikum fühlte sich Sazia Pinno 2015 sicher genug für die dreijährige Ausbildung zur Altenpflegerin – und erfüllte auch die formalen Voraussetzungen. Trootzdem stieß sie oft an ihre Grenzen. Schwierige Klausuren, immer wieder die lähmende Angst, es nicht zu schaffen, und gleichzeitig die Kinder mit ihren Schulproblemen.Ihr Ex-Mann unterstützte sie und nahm die Kinder in schwierigen Phasen zu sich, damit sie in Ruhe lernen konnte.Im Februar 2019 bestand sie die Abschlussprüfung. Auf Facebook hat sie Fotos der Abschlussfeier veröffentlicht: In der einen Hand hält sie ihr Zeugnis, in der anderen eine Rose. Ihr Ex-Mann und die Kinder, mittlerweile 14 und 16 Jahre alt, sitzen im Publikum. Sie bekommt sofort nach dem Abschluss eine feste Vollzeitstelle. +Die Ausbildung und der Beruf haben sie verändert, sagt sie heute. Sie ist unabhängig, finanziell sicher und weiß, dass sie auch allein klarkommt. Ab und zu verreist sie mit den Kindern. In London und Paris waren sie schon. Etwas von der Welt sehen, das ist jetzt ihr Traum. Reich wird sie mit dem Job nicht. "Wir Pflegekräfte werden schlecht bezahlt. Das kann schon traurig machen.Hätten wir nicht ein Recht auf bessere Bezahlung, bei dem, was wir für die Gesellschaft tun?", fragt sie. Glücklich macht Sazia Pinno, ein Vorbild für ihre Kinder zu sein. "Meine Tochter sagt immer: ‚Mama du bist so stark, ich habe nie eine so starke Frau gesehen. Du bist in diesem Alter, kommst aus einem anderen Land, sprichst eine andere Sprache, aber du hast gekämpft.' Das sollen die Kinder auch von mir mitnehmen: Mama gibt nicht auf." +Sazia Pinno ist am Haus ihrer Patientin angekommen. Die Haustür steht offen, im Vorgarten schneidet der Ehemann Blumen. Sie haben sich ein paar Tage nicht gesehen, Sazia Pinno hatte frei. Sie unterhalten sich, lachen. "Ich bin jetzt schon zwei Jahre hier bei Ihnen. Vielleicht kennen Sie meine Geschichte nicht, aber mein Weg war nicht so leicht. Die Journalistin hier schreibt einen Text darüber", sagt Sazia, lächelt und fasst die letzten Jahre in wenigen Sätzen zusammen. So wie sie es sagt, klingt es leicht und logisch. Ausbildung, dann Beruf. Nebenbei Kinder, klarkommen in Deutschland. +Dann geht Sazia Pinno, 48 und zweifache Mutter, seit zwei Jahren Intensivpflegerin in Vollzeit, ins Haus zur Arbeit. Es war ein langer Weg. + diff --git a/fluter/munich-games-serie-sky-attentat-olympia.txt b/fluter/munich-games-serie-sky-attentat-olympia.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9582f78f9ed35a952cef7ad053f3d557948675b5 --- /dev/null +++ b/fluter/munich-games-serie-sky-attentat-olympia.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Am 5. September 1972, während derOlympischen Spielein München, nehmen palästinensische Terroristen – wie sich später herausstellte, bei der Vorbereitung unterstützt von deutschen Neonazis – die israelische Olympiamannschaft als Geiseln. Die Terrorgruppe, die sich selbst "Schwarzer September" nennt, fordert die Freilassung von in Israel inhaftierten Palästinensern und der RAF-Terroristen Andreas Baader und Ulrike Meinhof aus deutscher Haft. Die Befreiungsaktion der Polizei scheitert, insgesamt elf Sportler, fünf Terroristen und ein Polizist werden dabei getötet. Die Olympischen Spiele werden nach einem Tag Unterbrechung fortgesetzt. Erstmals 2021 in Tokio gibt es während der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele eine Gedenkminute für die israelischen Opfer. + +Um die Frage, was das Aufeinandertreffen unterschiedlicher kultureller Identitäten heute noch auslösen kann. Oren wird von einer Gruppe Jugendlicher verprügelt, nachdem sie ihn Hebräisch sprechen hören. Die Bewohner:innen des Geflüchtetencamps, in dem Marias Informant Monir (Roger Azar) gewohnt hat, werden aufgrund ihres islamischen Glaubens verdächtigt. Maria selbst bewegt sich als im Libanon geborene Christin, die einen deutschen Mann und eine Affäre mit Monir hat, zwischen den Kulturen. "Munich Games" beschäftigt sich mitVorurteilen,AntisemitismusundRadikalisierung– und denjenigen, die von einer gespaltenen Gesellschaft profitieren, weil sie damit Politik machen. Nicht zuletzt geht es auch um das Misstrauen, das einzelne Behörden, aber auch Nationen untereinander hegen und das letztlich allen schadet: Die schleppende Kooperation der deutschen Behörden mit den israelischen im Jahr 1972 wurde im Nachhinein kritisiert – in der Fiktion läuft es 50 Jahre später nicht viel besser. + +Die israelische Serienschöpferin Michal Aviram ("Fauda"), die das Drehbuch mit Martin Behnke ("Berlin Alexanderplatz") geschrieben hat, und Regisseur Philipp Kadelbach ("Wir Kinder vom Bahnhof Zoo", "Parfum") haben sich für die Darstellung der arabischen Perspektive extern beraten lassen. Besonders die Vielsprachigkeit sorgt für Authentizität: "Munich Games" wurde auf Deutsch, Hebräisch, Arabisch und Englisch gedreht, beim Streamen kann man zwischen der Originalversion mit deutschen Untertiteln und einer synchronisierten Fassung wählen. Die Serie versucht gar nicht erst, die komplexen historischen Ereignisse aufzurollen (dafür gibt es begleitend auf Sky das Doku-Drama "1972 – Münchens schwarzer September", in dem das Münchner Olympia-Attentat abwechselnd aus Sicht der Opfer, der Polizei und der Attentäter rekonstruiert wird). Stattdessen macht die Serie die Hilflosigkeit der einzelnen Figuren spürbar, die nicht nur an der terroristischen Bedrohung verzweifeln, sondern auch an den Vorurteilen und Vorbehalten ihrer Vorgesetzten und Kolleg:innen. + +"Munich Games" ist komplex und verzeiht keine Unaufmerksamkeit. Oft geht es um Details, und die vielen beteiligten Behörden und Figuren machen es manchmal schwer, den Überblick zu behalten. Viele Figuren hätte man gerne näher kennengelernt, ihre Geschichten und Motive bleiben unklar. Dennoch ist "Munich Games" spannend und wendungsreich erzählt, sehr gut gespielt (insbesondere von der Hauptdarstellerin Saleh und Hauptdarsteller Sweid) und entwickelt schnell einen starken Sog. + +"Munich Games" läuft ab 2. September auf Sky Q und WOW, ab 4. September auf Sky One. + +Titelbild: Amusement Park Film/Sky Studios diff --git a/fluter/musikbranche-gewalt-sexismus-bauhus.txt b/fluter/musikbranche-gewalt-sexismus-bauhus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..404883b92b5b3e4eece9ed0a257e125e04e705b0 --- /dev/null +++ b/fluter/musikbranche-gewalt-sexismus-bauhus.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Welche Strukturen in der Musikbranche bedingen Machtmissbrauch? +Das Problem beginnt schon damit, dass die Musikindustrie ein Business ist, das sehr auf Spaß angelegt ist, was viele Menschen anlockt, die bereit sind, für wenig oder gar kein Geld Teil davon zu werden. Das Business funktioniert nur, indem es ganz viele Menschen ausbeutet. Auf der anderen Seite sind sich viele Bands ihrer Verantwortung nicht bewusst. Das fängt schon ganz früh an, sagen wir bei einer kleinen Band, die erste Erfahrungen auf einer Bühne sammelt. Je größer, je bekannter diese Band wird, je länger sie auf Bühnen steht, desto größer wird auch der Einfluss auf die Menschen, die sich das angucken. Und desto größer wird auch die Macht, die sie über diese Menschen hat. Am Anfang ist es völlig normal, Friends und Family mit in den Backstagebereich zu nehmen. Aber der Übergang zum Machtmissbrauch ist fließend, weil das Gefälle wächst und weil es dann eben nicht mehr nur Freunde sind. Deswegen rate ich Bands, von Anfang an darauf zu achten, keine Fans mit in den Backstagebereich zu nehmen. Das ist einfach eine Grenze, die man nicht überschreiten sollte, egal wie gut man es meint. +Spielt auch eine Rolle, dass es potenziell Betroffenen an Bewusstsein für Grenzüberschreitungen fehlt? +Das ist ein wichtiges Thema. Aber auch ein leidiges, weil man so schnell bei einer Täter-Opfer-Umkehr landet. Was muss eine Frau wissen? Muss sie wissen, dass Übergriffe im Backstagebereich passieren können? Muss sie sich selbst verteidigen können? Ist das ihre Verantwortung? Ich finde, nein. Aber natürlich ist es wichtig, Frauen ein Bewusstsein dafür zu vermitteln, welche Sachen nicht okay sind. +Hast du ein Beispiel? +Auf einem Festival kam letztens eine Frau zu mir und sagte: Ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht. Ich bin breit lächelnd auf den Securitymann am Einlass zugelaufen, der hat das als Einladung aufgefasst und angefangen, mit mir zu flirten und mich abzutasten. Sie hat das wirklich geglaubt: dass der Fehler bei ihr liegt, dass sie zu viel gelächelt hat. Das muss man sich mal vorstellen. Ich glaube, was wir als Erstes in den Köpfen verankern müssen, ist, dass die Person, die in dem Machtgefälle weiter unten ist, nie Schuld hat. Wir müssen weg von diesem: So läuft das eben. Nein, tut es nicht! +Es wird in diesem Zusammenhang auch darüber diskutiert, welche Rollesexistische oder gewaltverherrlichende Songtextespielen. +Meiner Meinung nach ist es sehr problematisch, welche Verhaltensmuster in Songtexten teilweise reproduziert werden. Ich sage schon seit Jahren, dass viele der Songtexte von Rammstein und andere Veröffentlichungen von Till Lindemann nicht okay sind, weil sie Gewalt normalisieren und auch romantisieren. Verbieten kann man das natürlich nicht, aber man kann dafür sorgen, dass es gesellschaftlicher Konsens wird, das scheiße zu finden. Das gilt fürs Publikum, aber zuallererst für die Akteur:innen der Industrie: Labels, Verlage, Konzertveranstalter:innen, auch andere Künstler:innen, die in den gleichen Line-ups und auf den gleichen Labels auftauchen. Also alle, die in der Prozesskette damit Geld verdienen oder aus dem gleichen Topf finanziert werden. Natürlich gilt die Kunstfreiheit. Aber die Meinungsfreiheit eben genauso. All diese Leute haben die Macht, Nein dazu zu sagen und Ismen abzubauen, anstatt sie zu reproduzieren. +Laut einerStudie der Malisa-Stiftung aus dem Jahr 2022ziemlich ungleich: Im Zeitraum von 2010 bis 2019 sei die Branche "nahezu unverändert in hohem Maße männlich dominiert" gewesen. In den Bereichen Songwriting, Charts, GEMA-Mitgliedschaft, den dort angemeldeten Songs oderauf Festivalbühnenhabe der Frauenanteil jeweils deutlich unter 20 Prozent gelegen. Nichtbinäre Menschen und andere Geschlechtsidentitäten hätten so gut wie gar nicht identifiziert werden können. In den deutschen Wochencharts seien beispielsweise mehr als 85 Prozent der Lieder von Männern komponiert worden. +Eine leichte Verbesserung habe es beim durchschnittlichen Frauenanteil auf Festivalbühnen gegeben – von etwa 7 Prozent 2010 auf 16 Prozent 2022. Doch auch hier galt die Regel: Je größer das Festival, desto weniger Musikerinnen traten dort auf. +Diese Probleme gibt es ja nicht erst seit gestern. Warum gab es in den vergangenen Jahren kein richtiges #MeToo in der deutschen Musikindustrie? +Bisher gab es nur2021 eine #MeToo-Debatte im Deutschrap, wo Gewaltandrohung und besonders krasse Beleidigungen ja besonders verbreitet sind. Seit diesem Juni gibt es #MusicMeToo, eine Initiative, die wir[die Awareness-Agentur Safe the Dance – Anm. d. Red.]zusammen mit anderen Akteur:innen gegründet haben, um Gewalt und Machtmissbrauch in der deutschen Musikbranche sichtbar zu machen. Ich glaube, was bisher gefehlt hat, um genug Aufmerksamkeit zu generieren, war ein Zugpferd, ein Negativbeispiel mit genug "Strahlkraft". Das viel größere Problem ist aber, dass – selbst wenn solche Vorfälle ans Licht kommen – oft nichts Relevantes passiert, wie zuletzt beim Fall Marilyn Manson. Es gibt eine noch unveröffentlichte Studie von Act Aware, die von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gefördert wurde. Da wurden über 5.000 Menschen auf Großveranstaltungen befragt. Die größte Studie, die je in Europa zu dem Thema im Veranstaltungskontext gemacht wurde. Ich habe die Zahlen vorab von meinem Kollegen Daniel Brunsch bekommen. +Und? +Von allen Personen, die zwischen 2016 und 2021 auf Großevents Erfahrungen mit Sexismus gemacht haben, haben sich danach nur zehn Prozent an offizielle Stellen gewandt. Antwort Nummer eins auf die Frage "Warum?" war die Annahme, keine ausreichenden Beweise zu haben. Und kurz dahinter das Gefühl, dass es eh nichts ändern würde. +Welche Maßnahmen bräuchte es, damit sich wirklich was tut? +Ein wichtiger erster Schritt wäre es, Awareness-Arbeit zu reglementieren und zu einem Ausbildungsberuf zu machen. So, dass man, wenn man eine Veranstaltung plant, auch ein Awareness-Konzept vorlegen muss – genauso wie man die Brandschutzordnung einhalten muss und ein Sicherheitskonzept braucht. Und das Awareness-Team muss genauso viel Macht haben wie etwa die Securitymenschen. Oder sogar mehr. Ich musste bei Festivals schon Security des Platzesverweisen, die ihre Machtposition ausgenutzt hat. Allerdings ist es schwer, Awareness-Konzepte von außen aufzustülpen. Es bringt nichts, sich als Veranstalter einfach ein Team für einen Abend dazuzubuchen. Das muss von innen wachsen. +Hilft es, wenn mehr Frauen in Machtpositionen rücken würden? +Das ist ein wichtiger Punkt: Diversität und Awareness bedingen sich gegenseitig. Je homogener dein Team ist, desto weniger wirst du Barrieren abbauen können. Eine Status-quo-Analyse, um sich der Diskriminierung bewusst zu werden, ist immer der erste Schritt. Du brauchst Frauen oder People of Color, um Sexismus oder Rassismus überhaupt wahrnehmen zu können. + +Johanna Bauhus ist Veranstalterin, Musikmanagerin und Expertin für Awareness und Diversity in der Musikindustrie. 2016 gründete sie das feministische Musiklabel Ladies & Ladys. Sie ist Mitgründerin der Inklusionsagentur Safe The Dance, die Workshops für Safer Spaces veranstaltet. (Foto: Rudi Dinkela) + + diff --git a/fluter/musikdolmetscherin-gebaerdensprache.txt b/fluter/musikdolmetscherin-gebaerdensprache.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c2d20bfc4d90ce50d85c5361b02e4d656453f90b --- /dev/null +++ b/fluter/musikdolmetscherin-gebaerdensprache.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Laura Maaß hat lange Musik in Gebärdensprache übersetzt. Sie war auf Tour mit Seeed und Peter Maffay, stand beim Lollapalooza in Berlin auf der Bühne, gebärdete Metal beim Wacken-Festival und Orchestermusik in Babelsberg. +Über die Jahre entwickelte Maaß eine eigene Technik. Bei hohen Tönen stellt sie sich auf die Zehenspitzen, bei tiefen duckt sie sich in die Knie, je nachdem, wie die Melodie verläuft. Die Füße werden oft zum Schlagzeug, zu dem, was in den Magen fährt. Vor dem Dolmetschen muss sie sich warm machen: Maaß bewegt sich viel. Denn der Text, sagt sie damals in Interviews, der sei wichtig, der gehört dazu, aber Musik ist eben immer noch Musik, sie dolmetsche schließlich nicht die "Tagesschau". +Diese – ihre – Technik machte Laura Maaß bekannt in der Szene der Musikdolmetscherinnen und Musikdolmetscher. Ihre Karriere nahm schnell Fahrt auf und endete schnell: in einem Shitstorm. +Diese Karriere begann geradlinig und fast ein bisschen kitschig: Als Kind hat Laura Maaß einen besten Freund, Edi. Als er sein Gehör verliert, erfinden die beiden eine Geheimsprache, um sich zu verständigen: Maaß' Einstieg in die Gebärdensprache. Später studiert sie Gebärdensprachdolmetschen, besteht 2012 die Prüfung zur staatlich geprüften Gebärdensprachdolmetscherin. Im Jahr zuvor übersetzt sie zum ersten Mal ein Musikvideo. Das sieht die Rockband Keimzeit und fragt an, ob Maaß mit auf Tour wolle. Sie wollte. Und hört für Jahre gar nicht mehr auf zu touren. +Anfang 2019 gründet Maaß die Gruppe #DieMitDenHändenTanzen, ein Kollektiv aus hörenden und gehörlosen Musikdolmetschenden. Fast ein Jahr sind sie im ganzen Land unterwegs. +An einem Abend im September 2019 steht Maaß mit Kolleginnen im grünen Scheinwerferlicht des SO36 in Berlin-Kreuzberg. Sie übersetzen die Punkband Metzer 58, als mehrere Personen die Bühne stürmen. Sie stellen sich an den Bühnenrand und recken Schilder in die Luft. +"Hat jemand uns gefragt, wie wir Musik verstehen wollen?" +"Wir wollen keine Vermarktung unserer Muttersprache!" +"Weg mit postkolonialistischem Verhalten,Gebärdensprache ist unsere Muttersprache!" +Sie nennen sich #DeafPerformanceNow, eine Aktionsgruppe von Gehörlosen, die, wie sie auf ihrer Website schreiben, "die Schieflage rund um das ‚inklusive Musikdolmetschen'" stört. Sie wollen, dass Laura Maaß und andere hörende Dolmetschende von den Bühnen verschwinden. Weil sie es falsch finden, dass Hörende Musik für Gehörlose übersetzen. +Warum, kann man heute nur auf ihrer Website nachlesen, die Gruppe ist nicht mehr aktiv. Doch Elisabeth Kaufmann, die sich als Vizepräsidentin des Deutschen Gehörlosen-Bunds für die Rechte von Gehörlosen in der Kultur einsetzt, erklärt die Kritik in einem Videotelefonat. +Einmal, sagt Kaufmann, sei da die kulturelle Aneignung. Gebärdensprache habe lange als minderwertige Sprache gegolten. Erst seit 2002 ist sie mit Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes offiziell als eigenständige Sprache anerkannt. Dabei sind laut Gehörlosen-Bund mindestens 80.000 Menschen in Deutschland auf Gebärdensprache angewiesen. In Schulen sei es zeitweise verboten gewesen, zu gebärden, erzählt Kaufmann. Und plötzlich stünden dann Hörende auf der Bühne, gebärden im Rampenlicht und bekommen dafür Applaus, Ruhm und Honorare. +Für viele Gehörlose sei ein anderes Problem noch entscheidender, sagt Kaufmann: die Bevormundung. "Lange wurde Musik als etwas gedacht, das nur Hörenden zusteht." Mit der Zeit wurdeaus dem Nischenthema Inklusion eine gesellschaftliche Aufgabe. So wuchs die Idee, dass zu richtiger Inklusion gehöre, dass Gehörlose Musik verstehen. Kurzerhand hätten Veranstalter hörende Musikdolmetschende auf die Bühnen gestellt, um auf ihrer To-do-Liste einen Haken hinter Inklusion machen zu können. +"Dabei haben Gehörlose schon vorher Musik genossen, aber eben anders: auf ihre Art", sagt Kaufmann. In Clubs beispielsweise sei die Musik oft so laut, dass sie als Gehörlose die Vibration des Bodens spüren könne. Auch Musikvideos sind Produkte des Zeitgeistes und der Popkultur, ob nun mit Ton oder ohne. Doch plötzlich herrschte eine Norm, wie Gehörlose Musik verstehen sollten. Unddiese Norm orientierte sich nur an Hörenden, sagt Kaufmann. "Uns wurde gesagt, wie wir zu inkludieren seien." +Laura Maaß äußert sich nicht mehr zu solchen Vorwürfen, sie lässt mehrere Anfragen unbeantwortet. In Interviews sagte sie damals, sie habe Leute im Publikum mitgebärden gesehen. Was einem Mitsingen gleichkäme und dafür spräche, dass verstanden wurde, was Maaß übersetzt hat. Sie erzählte auch, die Leute seien nach Konzerten zu ihr gekommen und begeistert gewesen. Man könnte es angesichts solcher Erfahrungen genau andersherum formulieren als Kaufmann: Hörende, die Musik dolmetschen, nötigen Gehörlosen keine Idee von Musik auf. Sondern verschaffen Gehörlosen Zugänge zu dem Musikerlebnis, das sie als Hörende haben. Sie inkludieren also. +So eine Vorstellung könne man nur als Hörender haben, findet Kaufmann. Sie sei bevormundend: Viele sind von Geburt an gehörlos, haben nie gehört, wie eine Trompete klingt oder eine Gitarrensaite schwingt. Was bringt es ihnen, wenn Laura Maaß mit den Fingern die Trompeten von Seeed imitiert? Wenn sie Zwischentöne übersetzt für ein Publikum, das gar nicht weiß, dass ein Ton oder Instrument hoch, tief, dumpf, schrill, weich oder hart klingen kann? "Viele Gehörlose verstehen hörende Musikdolmetscher gar nicht", sagt Kaufmann. + +Dieser Text istim fluter Nr. 90 "Barrieren"erschienen +Sie kennt das von eigenen Konzertbesuchen. Für sie als Gehörlose sei Musik Text auf Rhythmus. Kaufmann klopft mit dem Finger im Takt auf den Handrücken, wie ein Metronom. "Das könnten gehörlose Dolmetscherinnen genauso übersetzen: Sie sprechen vorher mit der Band, lernen den Text auswendig und bringen die Emotionen dann durch Gestik rüber." +Für den Deutschen Gehörlosen-Bund arbeitet Kaufmann daran, dass auf deutschen Bühnen mehr gehörlose Dolmetscher oder zumindest Tandems aus hörenden und gehörlosen Dolmetschenden stehen. #DieMitDenHändenTanzen haben sich nach dem Protest von #DeafPerformanceNow zurückgezogen. In den Sozialen Medien brach ein Shitstorm gegen Maaß und ihre Kolleginnen los, beide Gruppen erklärten ihre Version der Geschichte. 2020 löste sich #DieMitDenHändenTanzen auf. Laura Maaß will keine Musik mehr dolmetschen. +Eine ehemalige Kollegin von ihr geht ans Telefon. Für sie als hörende Dolmetscherin habe sich viel geändert, erzählt sie. Wenn nach einer Rede, die sie dolmetscht, Musik läuft oder ein Chor singt, lehne sie es mittlerweile ab, die Musik zu dolmetschen. Sie gehe dann vorsichtshalber von der Bühne. diff --git a/fluter/muslime-impfung-dr-hatun-instagram.txt b/fluter/muslime-impfung-dr-hatun-instagram.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..586d7ff54a8c1443cef556c802ad26a4ece06ac6 --- /dev/null +++ b/fluter/muslime-impfung-dr-hatun-instagram.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Auch Ihr Vater hat sich infiziert. +Er wäre der klassische Patient mit schwerem Verlauf gewesen, hat es dank der Impfung aber gut weggesteckt. +Mussten Sie ihn von der Impfung überzeugen? +Mein Vater war schnell einverstanden. Aber meine Mutter musste ich bearbeiten.(lacht)Sie hat gesagt: Gott ist groß und er schützt mich. Das mag ja stimmen, aber man vertraut erst auf Gott, nachdem man selbst alles versucht hat, was er uns zur Verfügung stellt. Das bringt unsere Religion uns bei. +Als meine Eltern trotz ImpfungCovidbekamen, haben sie gemerkt, dass die Impfung geholfen hat. Vor ein paar Tagen hat mein Vater mich gefragt, ob ich ihm einen Termin zum Boostern machen kann. +Wie haben Sie als Ärztin die Pandemie bislang erlebt? +Wir sehen im Krankenhaus viele Schicksalsschläge, sehr traurige Fälle von Menschen, die alleine sterben. Geradezu Beginn wurden die Verstorbenen einfach in den Sarg gelegt und mitgenommen, ohne dass sich die Familien verabschieden konnten. Durch die Mutationen sind nun mehr junge Menschen betroffen, bei der Delta-Variante auch viele Schwangere. Sie können schwere Verläufe haben, zum Teil lebensgefährliche für sie und das ungeborene Kind. Viele Fälle könnte man durch medizinische Aufklärung vermeiden – die viele migrantische und muslimische Communitys nicht erhalten. +Also kam Ihnen die Idee, Ihr Wissen über Instagram zu teilen. +Mir als Ärztin ist es wichtig, dass jeder eine Krankheit versteht und weiß, welche Schutzmöglichkeiten es gibt. Warum gibt es noch keine Covid-Medikamente? Was sind Mutationen? Müssen wir uns jetzt alle paar Monate impfen? Ich möchte, dass die Leute diese Dinge verstehen. Aber wo sollen sich migrantische und muslimische Communitys informieren? Es gibt nur wenige Ärzte, die aus medizinischer und religiöser Perspektive aufklären. Als ich als Dr. Hatun bei Instagram angefangen habe, gab es Frauen mit Kopftuch, die über Beauty-Themen gesprochen haben. Aber wenige Lehrerinnen, Rechtsanwältinnen oder eben Ärztinnen. Mittlerweile merke ich, dass ich für viele meiner Follower ein Vorbild geworden bin. +Sind Migrant/-innen besonders impfskeptisch? +Aktuell gibt eskeine Belege, dass die Impfskepsis unter Menschen mit Migrationshintergrund verbreiteter ist. Im Gegenteil: EinBlick auf die Bundesländerzeigt in kulturell weniger diversen Ländern niedrige Impfquoten. Auch Expert/-innen widersprechen solchen Pauschalisierungen – weisen aber (wie auch Hatun Karakaş) darauf hin, dass Migrant/-innen der Zugang zu Gesundheitsversorgung und seriösen Informationen oft erschwert wird. +Beobachten Sie bei Ihren Followern besondere Sorgen oder Bedürfnisse in der Pandemie? Immer wieder vermuten ja Politiker, dass Menschen mit Migrationshintergrund dem Impfen skeptischer gegenüberstehen. +In unserer Community sind viele anfällig fürVerschwörungstheorien. Das liegt oft an Unwissenheit, häufig aber auch an der Angst von Menschen, die schlechte Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem machen: Sie fühlen sich wie Menschen zweiter Klasse behandelt, weil sie anders aussehen oder eine andere Sprache sprechen. Man schenkt ihnen weniger Zeit. Wenn der Hausarzt, der sich sonst nie kümmert, plötzlich zum Impfen drängt, kommt das nicht gut an. Solche Erlebnisse werden schnell auf das gesamte Gesundheitssystem projiziert. Mir scheinen da viele mehr zu vertrauen. +Tut die Bundesregierung genug, um migrantische Communitys zu erreichen? +Es gibt Initiativen und Kampagnen. Aber warum kamen die nicht früher? Ich glaube, man hat sich zu spät Gedanken darüber gemacht, wie man Menschen auf der Straße oder in Flüchtlingsheimen erreichen kann. Wenn ich in der NotaufnahmeUngeimpftebehandle, frage ich immer, warum sie sich nicht geimpft sind. Die meisten sagen, dass sie Angst haben. Man muss mehr Geld in die Aufklärung investieren. Ich erreiche über soziale Medien viele Menschen, aber was ist mit älteren Personen? Die haben höchstens ihre Hausärzte. Aber die haben selten Zeit, Patienten richtig aufzuklären. +Immer wieder schreiben Menschen, dass sie sich wegen Ihrer Aufklärung nun doch impfen lassen. Haben Sie ein Geheimnis? +Ich poste viele dieser Nachrichten. Und zwar nicht, um mir auf die Schulter zu klopfen, sondern um zu zeigen, dass die Impfung für viele gut funktioniert. Und ich versuche in meinen Storys, eine einfache Sprache zu benutzen. Viele Menschen – auch jenseits unserer Community – verstehen die Sprache von Medizinern nicht und können deshalb die Gründe für gewisse Maßnahmen auch nicht nachvollziehen. +Was sagt der Islam zum Impfen? +Überwiegend Ja. Über 90 Prozent der Fatwas, also der religiösen Rechtsgutachten, sprechen sich für die Impfungen aus. Einige wenige denken, dass in der Impfung Giftstoffe enthalten sind, die unser Glaube verbietet. Manche reden den Gläubigen ein schlechtes Gewissen ein. Ich habe extra einen Post dazu gemacht, weil es traurig ist, dass da die mehrheitliche Gelehrtenmeinung einfach ignoriert wird. Unserer Religion geht es um die Gemeinschaft, nicht um Einzelne. +Haben Sie sonst noch einen Tipp, wie wir gesund durch den Winter kommen? +Schwarzkümmelöl. Jeden Morgen einen Teelöffel. Das stärkt das Immunsystem. + diff --git a/fluter/muslimisches-leben-in-der-ddr.txt b/fluter/muslimisches-leben-in-der-ddr.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..86fe4ce669e8d8ed1b5897484c291e2bd9b3bd43 --- /dev/null +++ b/fluter/muslimisches-leben-in-der-ddr.txt @@ -0,0 +1,44 @@ +Ich landete erst mal in der BRD und verliebte mich sofort in die deutsche Sprache und das geordnete Land. Leider wurde ich zurückgeschickt wegen bürokratischer Formalitäten. Um zu Hause nicht in Untätigkeit zu versinken, wurde ich der Assistent eines Künstlers. In der Zeit habe ich mit der Kamera meines Bruders, einer "Praktica" aus der DDR, Fotos gemacht. Die Bilder hat mein Chef gesehen und motivierte mich, mich noch mal für ein Studium zu bewerben. Er setzte sich dafür ein, dass ich in die DDR gehen kann. Es klappte, und so kam ich im September 1981 nach Leipzig. Für mich war die DDR ein absoluter Volltreffer. +Warum? +Ich hatte sehr viel Glück, mir ging es da sehr gut. Seit ich in Leipzig ankam, bin ich hier nie wieder weggezogen. Und in der DDR habe ich mich als Palästinenser verstanden gefühlt, denn die Menschen verstanden, wenn ich von der Trennung meines Volkes sprach. Als Palästinenser im Libanon war ich es schon gewohnt, nicht richtig dazuzugehören. Ein bisschen so war es auch in der DDR. Im Libanon war ich ein Bürger zweiter oder sogar dritter Klasse. Das war in der DDR zwar nicht ganz so, aber ich war dennoch für viele erst mal ein Exot. + +Studentinnen aus dem Jemen und Palästina im Hof der Humboldt-Universität +Selbstportrait im Studentenwohnheim in Leipzig +Schauspiel-Student im Café Corso in Leipzig +Studenten am Markt in Leipzig + +Gab es offene Anfeindungen? +Kaum, aber wie überall gab es Idioten. Richtig angefeindet wurde ich tatsächlich sehr selten. Einmal hat mich jemand als "Kameltreiber" beschimpft. Aber so etwas habe ich nicht zu nah an mich herangelassen. Die Menschen wollten mich oft einfach über mein altes Leben im Libanon ausfragen, viele wollten wissen, wie ich aufgewachsen bin und wie es ist, Muslim zu sein. +Klingt fast so, als sei es damals recht einfach gewesen. +Nicht alles war gut, aber ich hatte ein schönes Leben. Meine deutschen Freunde luden mich oft zu sich ein, ich lernte ihre Familien kennen und verbrachte sogar Weihnachten mal in Dresden. Auch als Fotograf ging es mir meistens gut, die Menschen waren recht offen zu mir. Doch es gab auch Situationen, in denen die Polizei mich davon abhielt, Ereignisse zu fotografieren. Das erste Mal ist mir das bei einer Demonstration am 1. Mai 1986 oder vielleicht auch 87 passiert. Als dann später zum Mauerfall hin die großen Proteste in Leipzig losgingen, hatte ich große Angst. Es fühlte sich alles an wie ein verrückter Film. Ich habe mich nicht getraut, das zu fotografieren, die Angst, erwischt und abgeschoben zu werden, war zu groß. So erging es vielen Fotografen. +Wie konnten Sie Ihren Glauben ausleben? +Moscheen gab es nicht, ich betete in meinem Zimmer. Ich kannte nur wenige andere Muslime. Manchmal trafen wir uns in Wohnzimmern zum Beten. Aber es gab keine große muslimische Gemeinschaft. Deswegen wurden wir wahrscheinlich auch akzeptiert. Damals wurde der Islam noch nicht als etwas Unheilbringendes dargestellt, wie das heute manchmal der Fall ist. +Auch wenn der Staat misstrauisch war und manchmal Arabistikstudenten schickte, die sich dann mit uns anfreundeten – und uns wahrscheinlich auch überwachten. Ich wurde aber immer in Ruhe gelassen. + +Eine Physiotherapeutin und ein Medizin-Student in Leipzig + +Kunst-Student in Berlin +Jura-Student in Leipzig +Musikgruppe bei der Probe + +Sie leben noch immer in Leipzig. Wie ist das muslimische Leben dort heute? +Wenn das muslimische Leben floriert, bekommen die Leute Angst. Früher war Leipzig eine viel offenere Stadt, vor allem gegenüber Muslimen ändert sich der Ton. +Vermissen Sie etwas aus der DDR? +Früher konnte ich sehr frei fotografieren, wenn es um Menschen außerhalb politischer oder öffentlicher Veranstaltungen ging. Kaum jemand hatte etwas dagegen. Ich vermisse diese Wärme. +Die obligatorische Frage zum Schluss: Wo waren Sie, als die Mauer fiel? +Ich war dabei in der Bornholmer Straße und bin mit über die Brücke. Wir haben alle geweint, waren so glücklich. Und ich habe mich gefragt, wann uns Palästinensern das passieren wird, dass wir Türen öffnen und über Brücken gehen dürfen. Es war unbeschreiblich, aber ich konnte nichts von alldem fotografieren. Denn ich war wie gelähmt. Noch heute schäme ich mich, dass ich das nicht festgehalten habe mit der Kamera. + +Medizin-Studenten in Leipzig + +Ein fröhlicher Arbeitseinsatz +Der Billard Tournee-Sieger in der Moritzbastei, Leipzig +Abwaschen muss man auch in Berlin + + + + +Jura-Student in Leipzig vor seinem Auto +Student in der Humboldt-Universität in Berlin + + + diff --git a/fluter/muss-das-sein.txt b/fluter/muss-das-sein.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cd56473ddb4371487b8f7ef79f79f137ef98eb48 --- /dev/null +++ b/fluter/muss-das-sein.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Die meisten armen Länder befinden sich in Afrika, wobei nicht alle Teile Afrikas arm sind. So ist Südafrika in seiner Entwicklung wesentlich weiter als zum Beispiel der Tschad oder Mauretanien. Der Oxford-Professor und ehemalige Leiter der Forschungsabteilung der Weltbank, Paul Collier, schlägt als Bezeichnung für die ärmsten Länder der Welt das Kürzel "Afrika+" vor, wobei das Plus für Länder wie Haiti, Bolivien, Laos, Kambodscha, Myanmar, Jemen und Nordkorea steht. Laut Weltentwicklungsbericht der Vereinten Nationen (Human Development Report 2011) befindet sich unter den 20 ärmsten Ländern der Welt mit Afghanistan tatsächlich nur ein einziges, das nicht in Afrika liegt. +Wenn ein Land keinen Zugang zu den Weltmeeren hat, ist es in seiner Entwicklung gehemmt – vor allem, wenn dieses Land von Nachbarn umgeben ist, die ebenfalls eine schlechte Infrastruktur haben. Darüber sind sich die Experten einig. In Afrika gibt es einige Länder, auf die das zutrifft. Allgemein gilt auch ein extremes Klima als Armutsfaktor. Manche Historiker sind der Auffassung, dass die Armut mancher Länder mit der Kolonialisierung zusammenhängt. Tatsächlich zerstörte die imperiale Politik westlicher Staaten in vielen Ländern das soziale Leben: Die Urbevölkerung wurde versklavt oder ausgerottet, das bestehende Wirtschaftssystem durch ein System ersetzt, das vor allem den europäischen Nationen nützte. Durch willkürliche Grenzziehungen kam es nach der Unabhängigkeit in vielen Ländern zu Kriegen. Dauerhaft geschwächt werden Staaten auch durch Tropenkrankheiten. "Malaria hält ein Land in der Armut fest", schreibt Paul Collier. "Der potenzielle Markt eines armen Landes wiederum ist für Pharmaunternehmen nicht attraktiv genug." +Unter "Dutch Disease" – Holländische Krankheit – versteht man das Paradox, dass manche Länder gerade aufgrund ihrer reichen Bodenschätze verarmen (vor der holländischen Küste waren 1960 große Erdgasvorkommen entdeckt worden), da insbesondere arme Länder dazu neigen, ihre Wirtschaft ausschließlich auf den Export dieser Rohstoffe auszurichten und dabei den Aufbau anderer Industriezweige vernachlässigen. Sinken die Weltmarktpreise für die Rohstoffe, geraten die Staaten in eine Schuldenfalle. +Ein anderer Grund für den Abstieg von rohstoffreichen Ländern liegt in der Gefahr, dass um die Bodenschätze Kriege geführt werden und die Erlöse aus deren Verkauf die Konflikte verlängern. So wurde der Bürgerkrieg in Angola auf beiden Seiten durch den Verkauf sogenannter Blutdiamanten finanziert. Ein anderes Beispiel ist die Demokratische Republik Kongo, die über große Coltanreserven verfügt. Der Kampf um diesen für die Handyproduktion wichtigen Rohstoff ist ein Treiber des dortigen Bürgerkrieges, der bisher mehr als fünf Millionen Opfer gefordert hat. Je stabiler die Regierungen sind, desto eher tragen Bodenschätze zum Wachstum bei: Die Golfstaaten, aber auch Norwegen gehören wegen ihres Öls zu den reichsten Ländern der Erde. +Das kommt darauf an, welche Weltregion man betrachtet. So sind manche ehemals sehr arme Länder Gewinner der Globalisierung, weil sie aufgrund der niedrigen Lohnkosten produktionsintensive Industrien angezogen haben. Sportartikelhersteller oder auch Computerfirmen lassen billig in Südostasien produzieren, wodurch es dort einen Aufschwung gab – auch wenn es berechtigte Kritik an den Arbeitsbedingungen gibt. "Die Globalisierung hat die Zahl der in extremer Armut lebenden Menschen seit 1990 in Indien um 200 Millionen und in China um 400 Millionen verringert", schreibt der US-amerikanische Wirtschaftsprofessor Jeffrey Sachs, der auch die UN berät. Die Entwicklung in Asien hat aber auch dazu geführt, dass manche Länder in Afrika noch weniger Chancen haben, der Armut zu entkommen, da sich die Investitionen weltweiter Unternehmen und Banken auf andere Länder konzentrieren. +Auch, dass Kapital so mobil wie nie zuvor ist, gereicht den armen Ländern eher zum Nachteil: So werden Vermögen eher dort investiert, wo man schnell hohe Renditen erzielen kann. Anstatt dringend benötigtes Privatkapital zu bekommen, fließt das Geld aus armen Ländern sogar ab. So befand sich bereits 1990 mehr als ein Drittel der Privatvermögen Afrikas im nichtafrikanischen Ausland. +Von absoluter Armut spricht man, wenn ein Mensch kaum genug hat, um zu existieren. Das betrifft den Zugang zu Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsvorsorge. Die Weltbank nennt als Grenze für absolute Armut die Summe von 1,25 Dollar pro Tag. Das trifft auf 1,2 Milliarden Menschen zu, von denen die meisten wesentlich weniger als einen Dollar haben. Diese Form der Armut gibt es in Deutschland nicht. Hier und in anderen entwickelten Ländern spricht man von relativer Armut. Sie bezeichnet das Einkommen und den sozialen Status eines Menschen im Verhältnis zu seinem Umfeld. Die relative Armut sagt wenig über den Lebensstandard aus: So kann ein Bürger mit seinem Einkommen in dem einen Land als arm eingestuft werden und in einem anderen zur Mittelschicht gehören. +Manchmal wird in politischen Debatten der Verdacht laut, arme Menschen wollten aus ihrer Situation gar nicht mehr heraus. Ausgestattet mit Hartz IV, Bier und Zigaretten habe sich die Unterschicht vor dem Flatscreen eingerichtet. Dieses Milieu, so die Annahme, verfüge mittlerweile über ein ganzes System von Denk- und Handlungsmustern, das von Generation zu Generation weitergegeben werde: Man ist disziplinlos, träge und faul. Sogar sozialdarwinistisch geprägte Erklärungen, wonach die angeborene Intelligenz eines Menschen darüber bestimmt, ob er arm bleibt oder reich wird, haben Konjunktur. Thilo Sarrazin knüpfte mit seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" an diese Tradition ebenso an wie der US-amerikanische Politologe Charles Murray in "The Bell Curve". Deren Gegner verweisen auf strukturelle Probleme, für die die Armen nicht verantwortlich sind. Gründe also, die man nur durch gesellschaftliche Veränderungen beheben kann (siehe Seite 36). +Gemeinnützige Organisationen empfehlen auch Familienschulungen, Beratungen und Sozialarbeit, die schon bei der Erziehung ansetzen. Um die Kinder bereits in der Schule so zu fördern, dass sie gar nicht erst in die gleichen Verhaltensmuster verfallen wie die Elterngeneration. Denn das schränkt die Kinder später erheblich ein in ihrer Möglichkeit, den ärmlichen Lebensverhältnissen zu entkommen. Auch für Erwachsene gilt: Sind die Lebensverhältnisse durch Verarmung erst einmal finanziell, psychisch und räumlich beengt, kann sich niemand mehr so einfach dafür "entscheiden", sein Leben zu ändern. +Die seit 2001 veröffentlichten Armutsberichte der Bundesregierung dokumentieren, dass es für diejenigen, die einmal in Armut geraten sind, immer schwieriger wird, sich wieder daraus zu befreien. Dazu passt, was Soziologen wie Robert K. Merton und Mario Rainer Lepsius und auch der Ethnologe Oscar Lewis als "Teufelskreis der Armut" beschrieben haben: Arme Menschen machen fortgesetzt die Erfahrung, dass ihre Mittel, den eigenen sozialen Aufstieg voranzutreiben, begrenzt sind. Sie verfallen in Resignation und Fatalismus, was zu immer noch größerer Armut führt. In reichen Gesellschaften liegt ein wichtiger Grund wohl auch in dem Schamgefühl, das arme Menschen empfinden – und in der subtilen Diskriminierung, der sie ausgesetzt sind. +Nach Einschätzung des französischen Soziologen Pierre Bourdieu geschieht die Ausgrenzung heute zwar nicht mehr so direkt wie früher (als in Stellenanzeigen schon mal zu lesen war: "Bewerbungen von Arbeiterkindern zwecklos"). Die Mitglieder der unteren Schichten werden eher indirekt und aufgrund ihrer äußeren Erscheinung, ihres Verhaltens, ihrer Kleidung und Sprache benachteiligt. Langfristig kann aus solchen wiederholt negativen Erfahrungen im Bemühen um sozialen Aufstieg und Anerkennung eine Einstellung entstehen, die der Psychologe Martin Seligman als "erlernte Hilflosigkeit" bezeichnet. Je stärker sich die Lebensumstände eines Menschen in Armut verfestigen, desto mehr neigt er dazu, eigene Entscheidungen und Initiativen als wirkungslos wahrzunehmen. Dieses Gefühl wird immer stärker – bis der Ehrgeiz und die Motivation auf dem Nullpunkt ankommen. +Strategien zur Bekämpfung der Armut hängen davon ab, wo Parteien und politische Akteure jeweils die Armutsgrenze ansetzen und wo sie die Ursachen der Armut vermuten. Ob sie mangelnde Aufstiegsbemühungen als eine Folge der Armut betrachten oder Armut als eine Folge geringer Aufstiegsbemühungen. Bei Letzterem steht finanzielle Unterstützung im Verdacht, die Menschen nur immer noch weiter in ihre problematischen Verhaltensweisen hineinzutreiben. So argumentierte zum Beispiel der Historiker Paul Nolte (siehe auch Seite 16), als er die Formulierung "fürsorgliche Vernachlässigung der Unterschicht" prägte und forderte, man müsse den Menschen statt Geld wieder kulturelle Leitbilder und Standards vermitteln. Ein anderes Schlagwort ist die sogenannte Hilfe zur Selbsthilfe. Damit ist gemeint, dass bei manchen Menschen am unteren Rand der Gesellschaft konkrete Kompetenzen gefördert werden sollten, die man benötigt, um am gesellschaftlichen Leben wieder teilhaben zu können: sparsam mit Geld umgehen, Bewerbungen schreiben, den Kindern bei den Hausaufgaben helfen und so weiter. +Allerdings sind Parteien, die die Armen traditionell eher als Opfer denn als Schuldige sehen, weniger skeptisch gegenüber finanziellen Zuwendungen. Sie teilen nicht die Bedenken, ein zu großzügiger Sozialstaat leiste der Entstehung einer Unterschichtkultur Vorschub. Sie argumentieren ungefähr so: In dieser Gesellschaft, in der Konsum einen hohen Stellenwert hat, ist eben auch Geld Teil der Voraussetzung, wieder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Demnach muss man den Menschen eine ausreichende finanzielle Mindestsicherung bewilligen, wenn sie nicht noch weiter in die Armut abrutschen sollen. Es müsse daher darum gehen, beide Instrumente – die finanzielle und die soziale Förderung – sinnvoll zu kombinieren. diff --git a/fluter/muss-man-sprache-schuetzen-podcast-duden.txt b/fluter/muss-man-sprache-schuetzen-podcast-duden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6fe1d377bc8af37c479bc947277472b052d24cc3 --- /dev/null +++ b/fluter/muss-man-sprache-schuetzen-podcast-duden.txt @@ -0,0 +1,2 @@ + +Moderation: Paul HofmannRedaktion: Luise Checchin und Paul HofmannSchnitt: Paul HofmannMusik: Max LangeCover: Jan Q. Maschinski diff --git a/fluter/mutter-oder-jungfrau.txt b/fluter/mutter-oder-jungfrau.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e7d7120b2fc29eb651f6acdba5ff1908f7a72c15 --- /dev/null +++ b/fluter/mutter-oder-jungfrau.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Das ist trotz der zitierten Passagen gar nicht so einfach zu beantworten, denn die Bibel bietet sowohl Argumente für das Patriarchat als auch für die Emanzipation der Frauen. Aber als das "Wort Gottes" wurde sie eben immer wieder gern von den Mächtigen genutzt, um Privilegien zu sichern – und die Mächtigen waren in der Kirchengeschichte meist Männer. +So sieht das zumindest Claudia Janssen, Studienleiterin am Studienzentrum für Genderfragen der evangelischen Kirche. "Im Neuen Testament werden fast alle Aufbruchsbewegungen anfangs von Frauen und Männern gemeinsam getragen. Im Gegensatz zu denen, die in Politik und Gesellschaft etwas zu sagen hatten. Die waren heteronormativ-männlich, frei und Römer oder gehörten der Oberschicht an", so Janssen. "Wann immer sich feste Strukturen etablierten, etwa als im vierten Jahrhundert unter Kaiser Konstantin das Christentum Staatsreligion wurde, wurden Frauen an die Seite gedrängt." +Diese Zurückdrängung wurde mit Zitaten aus der Bibel legitimiert. Zu den zentralen Ungleichheits-Argumenten gehören die zitierten Paulusbriefe an die Korinther. Darin wird auch die Verschleierung der Frau gefordert: "Eine Frau aber entehrt ihr Haupt, wenn sie betet oder prophetisch redet und dabei ihr Haupt nicht verhüllt". So heißt es in der Einheitsbibel – eine weit verbreitete Übersetzung, die in Deutschland in der römisch-katholischen Kirche genutzt wird. In der evangelischen Kirche ist die Lutherbibel das Standardwerk. Dass Bibel nicht gleich Bibel ist und sich Auslegungen je nach Entstehungs- und Lesezeitraum fundamental unterscheiden, ist wichtig für jeden, der sich mit Geschlechterfragen theologisch auseinandersetzt. +In den letzten Jahren nahm etwa die gleichheitsbetonte Bibelauslegung Fahrt auf. Sie stützt sich zum Beispiel auf das erste Kapitel Genesis, in dem es heißt: "Gott schuf den Menschen nach seinem Bild männlich und weiblich." Im Neuen Testament gibt es eine ähnlich gewichtige Passage: "Es gibt nicht mehr Juden noch Griechen, nicht mehr Sklaven noch Freie, nicht mehr männlich noch weiblich; denn ihr seid alle einer in Christus Jesus." Die Forschung entdeckt starke Frauen in der Bibel: Debora, die Richterin aus dem Buch der Richter, Mirjam und Hulda, beide Prophetinnen, die Jüngerin Tabitha. Auch Adams Rippe ist nicht mehr nur eine Rippe: "Die Schöpfung aus der Seite sieht man heute als eine Gleichwertigkeit an", sagt Agnethe Siquans, katholische Theologin vom Institut für Bibelwissenschaft an der Uni Wien. +Auf solchen Sichtweisen basieren die Übersetzungen der "Bibel in gerechter Sprache", die Bibelwissenschaftlerinnen und Bibelwissenschaftler im deutschsprachigen Raum vor rund zehn Jahren entwickelt haben. In den Messen der Masse sind diese Lesarten nicht angekommen. "In der Kirche kommen ganz unterschiedliche Menschen zusammen. Es gibt fundamentalistische Evangelikale, die sie ablehnen, und Progressive, die sagen, sie gehen nicht weit genug", sagt Janssen. Die Bibel spiele zwar an der ein oder anderen Stelle mit Geschlechtsidentitäten, gehe aber nicht nennenswert über Zweigeschlechtlichkeit und eine heterosexuell orientierte Gesellschaft hinaus, sagt auch Siquans. Zudem werden Frauen immer noch an vielen Stellen über ihren Körper definiert, darüber, ob sie Mütter oder aber Jungfrauen sind. +Einerseits werden alte Rollenbilder immer wieder von religiösen Menschen oder in kirchlichen Strukturen hinterfragt – ein Teil der Frauenbewegung in der DDR organisierte sich beispielsweise unter dem Dach der Kirche. Wer heute aber im Netz nach Gender und Kirche sucht, stößt nicht nur auf Studienzentren und Gleichstellungsbeauftragte, sondern auch auf eine Menge Artikel und Bücher auf christlichen Seiten, die vor der "Gender-Ideologie" warnen. +Darunter sind auch die Soziologin Gabriele Kuby mit "Gender – eine neue Ideologie zerstört die Familie" sowie Birgit Kelle mit "GenderGaga: Wie eine absurde Ideologie unseren Alltag erobern will". Beide sprechen als Christinnen und haben mit ihren Büchern ein großes -Medienecho erzeugt. Sie publizieren auf christlichen Portalen und vertreten ihre Positionen in Talkshows. Heute wie damals ringen die Gläubigen und Kirchen darum, was Geschlecht für sie bedeutet. Absurd, anzunehmen, dass man ihre Diskussionen – oder die anderer Glaubensgemeinschaften – auf eine einzige Position runterbrechen könnte. +Illustrationen: scorpion dagger diff --git a/fluter/my-big-fat-edding.txt b/fluter/my-big-fat-edding.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1f35859db619ee0f95443f54b2d4858d116ea700 --- /dev/null +++ b/fluter/my-big-fat-edding.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Ihr Kampf gegen Rechtsextremismus mit Reinigungsmitteln, Filzstiften und Teppichmesser ist längst zu ihrem Lebensinhalt geworden. Er hat die früh verrentete Heilpädagogin schon gestärkt, als sie sich Mitte der 90er-Jahre einer Krebsoperation unterziehen musste. Und er verschafft ihr Anerkennung: Inzwischen ist sie selbst von ausländischen Medien entdeckt worden. So widmete ihr die italienische Zeitung "La Repubblica" im Januar 2011 einen langen Artikel. 2005 wäre sie um ein Haar von einem Motorradfahrer angefahren worden. Sie sagt, er sei auf sie zugerast, als sie einen NPD-Aufkleber von einem Laternenpfahl abreißen wollte. Frau Mensah-Schramm, bitte kommen: Da hat sich schon wieder einer auf der Symbolebene ausgetobt. Doch nicht nur mit Neonazis gerät sie aneinander. Als sie in der S-Bahn ein "Sieg Heil!" mit einem Edding unkenntlich machen wollte, wurde sie von einem Kontrolleur wegen Sachbeschädigung angezeigt. Es war nicht die erste Anzeige, aber alle blieben folgenlos. Warum, hat ihr ein Polizist einmal so erklärt: "Beschädigte Sachen kann man nicht beschädigen." +Von Skins bedroht, von Anwohnern beschimpft, von der Polizei nicht ernst genommen: Man braucht ein starkes Ego, um gegen den Strom zu schwimmen. Irmela Mensah-Schramm sagt: "Wenn ich es nicht tue, wer tut es dann?" Damals, Ende der 70er-Jahre, war sie in der Friedens- und Umweltbewegung aktiv. Sie sagt, rechtsextreme Aufkleber abzuknibbeln sei befriedigender, als sich in eine Lichterkette gegen Ausländerfeindlichkeit einzureihen. "Man fühlt sich hinterher einfach besser." diff --git a/fluter/myanmar-putsch-protest-erfahrung.txt b/fluter/myanmar-putsch-protest-erfahrung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b1407e5b26614f5f6bf599732faa52b20817d085 --- /dev/null +++ b/fluter/myanmar-putsch-protest-erfahrung.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Am 1. Februar hat das Militär die eigentliche Regierung des südostasiatischen Landes gestürzt, weil sie bei der Wahl im November 2020 betrogen haben soll. Die Militärregierung verhängte einen einjährigen Ausnahmezustand und in vielen Gebieten Ausgangssperren, sie nahm demokratisch gewählte Politiker/-innen fest und drosselte landesweit das mobile Internet. Die britische Organisation Netblocks schreibt sogar von einem "landesweiten Internet-Blackout": Durch Einschränkungen für Netzanbieter und Stromsperren sei das Datenvolumen zwischenzeitlich auf wenige Prozent des Normalwertes gefallen. +Nach dem Putsch blieben die meisten mehrere Tage lang zu Hause und verfolgten die Nachrichten. Am 5. Februar schaltete das Militärregime dann gleich für eineinhalb Tage das Internet ab. Damit begannen die Proteste. Zuerst waren es vor allem junge Leute, die gegen die Internetsperre protestierten. Junge Menschen sind in Myanmar wie überall auf der ganzen Welt: immer online. Dass ihnen einfach genommen wird, was so selbstverständlich ist und ihren Alltag bestimmt, hat viele verärgert. +Als das Netz wieder lief, wurden über die sozialen Medien Proteste organisiert. Immer mehr traten den Gruppen und Veranstaltungen bei. Sie forderten, dass die demokratische Regierung zurückkehrt, dass alle inhaftierten Demonstrierenden freigelassen werden. Daraufhin blockierte das Militär Facebook, Twitter und Instagram. +Ich selbst habe auch protestiert. Einmal waren wir gerade eine halbe Stunde auf der Straße, als Sicherheitspersonal anrückte und das Gebiet um uns herum abriegelte. Wir versteckten uns in umliegenden Häusern, ich blieb die ganze Nacht. Das war am 8. März, dem Internationalen Frauentag. Bei diesem Protest hatte ich das erste Mal Angst. Es war bis heute mein letzter. +Viele Protestierende werden verhaftet, manche sogar erschossen. Bislang sollen mehrere Hundert ums Leben gekommen sein. Nachts führt das Militär Razzien in Privatwohnungen durch. Manchmal verhaften sie Menschen allein aufgrund des Verdachts, dass sie mit der Protestbewegung sympathisieren. Vor ein paar Tagen hat das Sicherheitspersonal meinen Nachbarn geholt. Sicher fühlt sich hier niemand mehr. + + +Produktiv bin ich gerade nicht. Das will ich auch nicht sein, allein schon, um diese Ausnahmesituation nicht als neue Normalität hinzunehmen. Ich saß für Wochen nur zu Hause rum und hab mich gefragt, was ich noch für Myanmar tun kann, jetzt, wo Protestieren zu gefährlich ist. +Ich arbeite wissenschaftlich zu Gewalt gegen Frauen, ein paar meiner Projekte haben zu einem Entwurf für ein großes Gesetz geführt. Es sollte Gewalt gegen Frauen in Myanmar endlich unter Strafe stellen. Durch den Putsch liegt das Gesetz komplett auf Eis. Dafür versuche ich jetzt, Übergriffe gegen Protestlerinnen zu dokumentieren. Manche werden von Sicherheitskräften brutal verprügelt oder sexuell belästigt. +Seit Februar protestieren Zehntausende – überwiegend junge – Menschen gegen die Militärregierung. Die will die Proteste mit massiver Gewalt unterbinden und setzt dabei auch Panzer und Militärhubschrauber ein. Sicherheitskräfte haben laut der Gefangenenhilfsorganisation AAPP bislang knapp 800 Menschen bei Demonstrationen getötet und mehr als 5.000 festgenommen. Viele würden gefoltert und ohne Prozess verurteilt. Aber auch Menschen, die nicht protestieren, sind betroffen: Die Lieferketten in Myanmar liegen lahm: Die Preise für Lebensmittel und Energie steigen, Bargeld gibt es kaum noch, Überweisungen sind fast unmöglich. UN-Vertreter/-innen warnen, die Lage im Land drohe außer Kontrolle zu geraten. +Die "Regierung der nationalen Einheit" (NGU) ruft seit Wochen zum bewaffneten Widerstand auf. Der Untergrundregierung gehören unter anderem Abgeordnete der abgesetzten zivilen Regierung, Anführer/-innen der Protestbewegung und Vertreter/-innen ethnischer Minderheiten an. Vor kurzem gab die NGU bekannt, eine neue Verfassung für Myanmar ausarbeiten und eine Streitkraft zur Volksverteidigung aufstellen zu wollen. Die Militärregierung ordnet die NGU deshalb jetzt als "terroristische Organisation" ein, meldete das Staatsfernsehen in Myanmar. So kann künftig jede/-r, der mit der NGU kooperiert oder nur kommuniziert (also auch Journalist/-innen), auf Grundlage der Antiterrorgesetze hart bestraft werden. +Angeführt wird die NGU von Aung San Suu Kyi, die von 2016 bis zum Putsch Regierungschefin Myanmars war. Bei der Parlamentswahl Ende 2020 erreichte Kyis Partei, die Nationale Liga für Demokratie, amtlichen Angaben zufolge die absolute Mehrheit. Nach dem Putsch wurde sie festgenommen. Kyi bekam 1991 einen Friedensnobelpreis, ist aber umstritten: Der Internationale Gerichtshof ermittelt seit 2019, weil sie mitverantwortlich für denVölkermord an den Rohingyasein soll, der in ihre Amtszeit fiel. +Gerade haben die Vereinten Nationen gewarnt, Myanmar könne zumfailed statewerden. Uns droht ein Bürgerkrieg, aber das ist schon seit Jahrzehnten so. Wir haben 135 anerkannte ethnische Minderheiten in Myanmar, ich selbst gehöre zu den Rakhine. Die Konflikte zwischen Militär und Zivilisten eskalieren vor allem dort, wo viele ethnische Minderheiten leben. Die jungen Menschen in Myanmar glauben kaum daran, dass das alles ein gutes Ende nimmt. Sie sind hoffnungslos, glauben nicht mehr an internationale Unterstützung. Die Vereinten Nationen haben Worte für uns, aber sie tun nicht genug. + +Aye Thiri Kyaw hat Gesundheitswissenschaft studiert undsetzt sich für Frauenrechte ein. Sie lebt in Yangon, der größten Stadt Myanmars diff --git a/fluter/nach-dem-spiel-ist-vor-dem-spiel.txt b/fluter/nach-dem-spiel-ist-vor-dem-spiel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/nach-der-letzten-kugel-ist-es-nicht-vorbei.txt b/fluter/nach-der-letzten-kugel-ist-es-nicht-vorbei.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7c0aeb4a7aac8aa20ae26a81c3717d9c5fd8cdd5 --- /dev/null +++ b/fluter/nach-der-letzten-kugel-ist-es-nicht-vorbei.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +2011 kamen wegen des Bürgerkriegs an der Elfenbeinküste Zehntausende Flüchtlinge nach Liberia, darunter viele vergewaltigte Frauen und Mädchen. Was haben sie erzählt? +Die Frauen werden vergewaltigt oder mit Gegenständen gefoltert, manchmal von ganzen Rebellengruppen. Ihre Ehemänner müssen dabei zuschauen und werden dann umgebracht. Brüder werden gezwungen, ihre Schwestern zu vergewaltigen. Frauen bekommen mit, wie ihre Töchter vergewaltigt werden. +Sie sind gerade zurück aus Liberia, wo nach Angaben der UN im Bürgerkrieg eine Million Frauen vergewaltigt wurden. Also zwei von drei. Wie sind solche Zahlen möglich? +Das hat viel mit dem grundlegenden Verhältnis der Geschlechter zu tun, mit der Machtausübung des Mannes gegenüber der Frau. In Liberia war Gewalt gegen Frauen auch vor dem Bürgerkrieg verbreitet. In Kriegen pervertiert die sexualisierte Gewalt. +Wie verändert sich der Alltag in einem Land, in dem so viele Menschen so brutale Gewalt erfahren haben? +Das hat man ja auch in Deutschland gesehen nach dem Zweiten Weltkrieg. Die traumatischen Kriegserfahrungen der Männer und Frauen haben in der Nachkriegszeit zu einer großen Gefühllosigkeit geführt, die sich wiederum in der Erziehung der Kinder niederschlug. Die Männer wollten nicht darüber sprechen, die Frauen konnten nicht – gerade wenn sie vergewaltigt wurden. Sexualisierte Gewalt ist ein großes Tabuthema, überall. Oft wird ja auch noch die Frau beschuldigt, die Männer gereizt zu haben. Die Scham haftet auf der ganzen Familie. +Im Zweiten Weltkrieg gab es Vergewaltigungslager und KZ-Bordelle. Ist Ihnen so was auch heute bekannt? +In der Demokratischen Republik Kongo werden Frauen, wie schon in Liberia und Sierra Leone, zu sogenannten Camp Followers. Das sind zwar keine Bordelle, aber die Frauen werden von den Rebellentrupps mitgeschleppt – als Sexsklavinnen, Wäscherinnen, Köchinnen, zum Tragen der Munition, manchmal zum Kämpfen. +Wo überall erleiden Frauen heute Kriegsvergewaltigungen? +Wir haben momentan über 30 bewaffnete Konflikte. Vergewaltigungen stehen dort überall auf der Tagesordnung. Die Demokratische Republik Kongo steht im Moment an der Spitze, was Vergewaltigungen angeht. In Afghanistan ist die häusliche Gewalt extrem hoch, auch in Liberia haben wir es derzeit viel mit Nachkriegsvergewaltigungen und häuslicher Gewalt zu tun. Jedes Land hat seine eigenen Perversitäten. +Worauf wird es zukünftig im Kampf gegen sexuelle Gewalt in Krisengebieten ankommen? +Die Frau zu stützen, ihr Zugang zu geben zu Gesundheitsversorgung, Rechtsbeistand, psychologischer Beratung. Man muss im Familiensystem arbeiten, andere Bilder von Mann und Frau und Gemeinsamkeit schaffen. Die internationale Gemeinschaft muss Regierungen zwingen, Gesetze zu machen. Denn wenn Friedensverträge geschlossen sind, heißt das noch lange nicht, dass der Frieden auch für die Frauen einkehrt. Der Krieg ist für sie mit der letzten Kugel noch nicht vorbei. diff --git a/fluter/nachbarn-film-rezension-syrien.txt b/fluter/nachbarn-film-rezension-syrien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..70e8a81797bcef23d7ed565b6bc961c9ce003305 --- /dev/null +++ b/fluter/nachbarn-film-rezension-syrien.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Trotz der Schwere der Thematik zeigt der Film auch immer wieder Momente der Leichtigkeit. So begleiten die Zuschauer:innen Sero nicht nur dabei, wie sein Leben vom Nationalismus vereinnahmt wird, sondern auch dabei, wie er mit seinen Freund:innen Streiche spielt oder bei seinen jüdischen Nachbar:innen am Ruhetag Sabbat dafür verantwortlich ist, die Kerzen anzuzünden. Doch es sind vor allem die tragischen Momente – von denen hat der Film einige zu bieten –, die in Erinnerung bleiben und den Film auszeichnen. +Spätestens seit dem Kriegsausbruch in Syrien und der anschließenden Fluchtbewegungdürfte das Land den meisten Menschen in Deutschland etwas sagen. Aber was geschah dort eigentlich vor 2011? Das erklärt der Film selbstverständlich nicht in Gänze, doch er zeigt anschaulich, wie Hafis al-Assad, der Vater des aktuellen syrischen Machthabers Baschar al-Assad, das Land in den 1970er- und 1980er-Jahren zu einer Diktatur umwandelte. Die Strategien der Unterdrückung, Willkür und Gewalt, die er dabei gegen das eigene Volk anwendete, sind dieselben, die sein Sohn Jahrzehnte später bei der Niederschlagung des Arabischen Frühlings und allem, was darauf folgte, einsetzte. +… stammt von Seros Großvater, der dessen Lehrer fragt: "Herr Lehrer, was wäre Ihr Leben ohne den Feind Israel?" +Auf jeden Fall. Wer "Nachbarn" schaut, lernt nicht nur viel über die Geschichte Syriens, sondern bekommt auch sehr berührende Szenen zu sehen. Als sich etwa Seros Familie, die durch die türkisch-syrische Grenze getrennt ist, nach langer Zeit wieder am Stacheldrahtzaun treffen darf, werden sie von linientreuen Soldaten kurzerhand auseinandergerissen. Der Grund: Die Wachleute auf beiden Seiten verbieten ihnen, Kurdisch zu sprechen. Doch Kurdisch ist die einzige Sprache, die sowohl die Familienmitglieder auf der türkischen als auch auf der syrischen Seite verstehen. Eindrücklicher kann man wohl kaum zeigen, wie zerstörerisch sich Nationalismus auf das Leben Einzelner auswirkt. + +"Nachbarn" läuft ab dem 13. Oktober in den deutschen Kinos. + diff --git a/fluter/nachhaltige-etf-investieren.txt b/fluter/nachhaltige-etf-investieren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..79024920b9389e29ba1fb51620e66eb96ed59bcb --- /dev/null +++ b/fluter/nachhaltige-etf-investieren.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Noch heute, ein paar Jahre später, habe ich vieles davon beibehalten. Einzig die biologisch abbaubaren Mülltüten mussten aufgrund des Risikos, dass sie noch im Mülleimer ihren Zersetzungsvorgang beginnen und mich damit in den Wahnsinn treiben, wieder weichen. +Hinzu kam der Beschluss, nur noch einmal im Jahr zu fliegen – wenn überhaupt. Ich mache all dies aus Überzeugung, doch darum soll es hier nicht gehen. Vielmehr um die Sache, um die ich mich lang gedrückt hatte: die Sache mit meinem Geld. Denn der Großteil meines Geldes liegt auf Konten bei der Bank. +Jeden Monat investiere ich einen bestimmten Betrag und lege ihn inExchange Traded Funds (kurz: ETFs)an. Die Fonds bilden Indizes nach, indem sie Wertpapiere aller Unternehmen, die in dem jeweiligen Index enthalten sind, kaufen. Es gibt zum Beispiel ETFs, die den Deutschen Aktienindex (DAX) nachbilden. Deren Wert entwickelt sich genauso wie der DAX. Der Vorteil solcher ETFs ist, dass sie nicht aktiv von jemandem gemanagt werden müssen und deshalb weniger Kosten anfallen. Sie eignen sich zum "passiven" Investieren, etwawenn man wenig Zeit hat, aber trotzdem Geld anlegen möchte – so wie ich für meine Altersvorsorge. Für mich war wichtig, dabei auf Nachhaltigkeit zu achten: Ich wollte mit meinem Geld keine Unternehmen unterstützen, die beispielsweise mit fossilen Brennstoffen und Ausbeutung von Arbeitnehmerinnen ihr Geld verdienen, während ich davon profitiere. +So ergaben sich zwei Punkte auf meiner zugegeben kurzen To-do-Liste. Erstens: der Wechsel zu einer nachhaltigen Bank. Zweitens: das Ergrünen meines Portfolios – oder schlicht gesagt: eine nachhaltige Umschichtung meiner Geldanlagen, denn nichts anderes listet ein Portfolio auf. Zunächst widmete ich mich dem Bankwechsel, dann war mein Portfolio dran. +Glücklicherweise hatte ich bereits ein Depot, also einen digitalen Lagerort für meine Geldanlagen, über das ich seit einigen Monaten fleißig in meinen ETF-Sparplan investierte. Wie beim Bankwechsel musste ich auch hier ins laufende Geschehen eingreifen – und dachte, mit ein bisschen Orientierung und Empfehlung funktioniert das schon. +Finanzbloggerinnen im Internet empfehlen, einen Blick auf die Kriterien und Anlagekonzepte der ETFs zu werfen. Dabei helfen können zwei Abkürzungen, auf die man bei der Onlinesuche nach nachhaltigen Investments schnell trifft: "SRI" und "ESG". Beide stehen allgemein für nachhaltiges Investieren, wobei SRI für "Socially Responsible Investment" steht, während ESG Umwelt (Environmental), Soziales (Social) und Unternehmensführung (Governance) bedeutet. +Doch das Problem ist, dass es keine einheitlichen Vorgaben für SRI, ESG und die Frage, was eigentlich als nachhaltig gilt, gibt. Im Fall von "grünen" ETFs scheiden bei der Zusammenstellung manchmal nur die offensichtlich kontroversen Unternehmen aus, wie zum Beispiel jene aus der Waffenindustrie. Was aber etwa die CO2-Emissionen von Unternehmen angeht und wie viel sie für den Klimaschutz tun, wird nicht immer einbezogen oder überhaupt bewertet. Oft werden auch diejenigen, die zwar für sich stehend schlecht, aber immer noch als beste ihrer Branche abschneiden, aufgenommen. Das nennt sich "Best-in-Class"-Prinzip. So schaffen es dann auch Konzerne aus der Öl- und Kohleindustrie in einen als "nachhaltig" gekennzeichneten ETF.  Einige Expertinnen werfen den Anbieterinnen solch nachhaltiger ETFs daherGreenwashingvor. +Ob ein ETF unter "SRI"- oder "ESG"-Kriterien zusammengestellt wurde, verrät sein Name. Neben dem Anbieter werden darin auch der Name des Index, den der ETF nachbildet, sowie einige regulatorische Merkmale erwähnt. Auch die Abkürzungen "ESG" oder "SRI" werden in den Namen aufgenommen. Aber einfach nur auf ESG und SRI in Namen eines ETF zu achten, das funktioniert eben nicht. +Mein Portfolio sollte so grün und nachhaltig wie möglich sein. Kein einfaches Vorhaben, denn dafür musste ich auch die Unternehmens- und Nachhaltigkeitsberichte der einzelnen Unternehmen eines ETFs anschauen und begriff: Ich musste mir selbst erst mal klar werden, was "grün und nachhaltig" für mich eigentlich bedeutet ­– und wo ich Abstriche machen will. Ich will keine Kinderarbeit, Verstöße gegen die Menschenrechte und Waffen unterstützen, sondern Klimaschutz, faire Arbeitsbedingungen und ethische Forschungsprinzipien. Doch ich hatte mich so sehr darauf versteift, "grün" investieren zu wollen, dass es mich schließlich über Monate daran hinderte, überhaupt auch nur ein bisschen nachhaltiger anzulegen. Stattdessen hielt ich alles, was ich las, für nicht nachhaltig genug, um meine Geldanlagen in konventionellen ETFs endlich umzuschichten. +Schließlich schrieb ich eine Liste mit Kriterien, die mir persönlich am wichtigsten waren. Nicht mehr zu investieren war und ist für mich keine Option. Stattdessen las ich denTest der Stiftung Warentest zu nachhaltigen Fondsund verglich auf mehreren Websites, unter anderem "JustETF", "Forum Nachhaltige Geldanlagen" und "Faire Fonds", die Infos und Bewertungen meiner Favoriten-ETFs. Demnach bestand mein Favorit zu 4,73 Prozent aus kontroversen Unternehmen, wobei das vor allem den Bereich Klimaschutz betraf. Also doch noch ein bisschen Zahnschmerzen, aber für mich persönlich aushaltbar. Und so schichtete ich endlich um. +Mein neues Portfolio ist immer noch nicht maximal grün, aber hoffentlich ein wenig nachhaltiger als früher. Hätte ich noch mehr Zeit investieren müssen? Vermutlich. Hätte ich die Muße dazu gehabt? Eher nicht. Nach wochenlanger Recherche bin ich überzeugt, dass es für die meisten Verbraucherinnen sehr schwer sein dürfte, ohne Hilfe wirklich nachhaltig anzulegen. +Helfen kann da nur eine verbindliche Definition, was "nachhaltig" bedeutet. Und es müssten Indizes geschaffen werden, die nach eindeutigen Kriterien auswählen, welche Firmen nachhaltig genug sind, um sie einzuschließen, und unabhängige Kontrollen und Kontrollinstanzen, um deren Einhaltung zu garantieren. Die Firmen, die in solchen Indizes berücksichtigt werden, müssen außerdem ein gewisses Gewicht an der Börse haben. Und damit sich ein Investment in einen ETF auf Basis eines solches Index auch lohnt, sollten eben viele verschiedene Unternehmen aus verschiedenen Branchen im Index dabei sein. Die Fondsgesellschaften, in deren ETFs man investiert, können außerdem einen Einfluss auf die Unternehmen im ETF haben. Sie besuchen zum Beispiel deren Hauptversammlungen und könnten dort in Abstimmungen Einfluss ausüben, um die Firmen nachhaltiger zu machen. +Trotzdem hat die Auseinandersetzung mit dem Thema mein Bewusstsein gestärkt, auf Nachhaltigkeit und ethisches Verhalten zu achten. Und auch wenn mein Portfolio längst nicht so kraftvoll dunkelgrün ist, wie ich es gerne hätte, so ist ein bisschen Nachhaltigkeit besser als gar keine. + diff --git a/fluter/nachhaltige-landwirtschaft.txt b/fluter/nachhaltige-landwirtschaft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2a40b3afc387283c154dbe3f36e66bb045cfc938 --- /dev/null +++ b/fluter/nachhaltige-landwirtschaft.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Bio, das bedeutet in dem jungen Betrieb vor allem: mehr Arbeit und viel Geduld. Auf einem Teil der 16 Hektar Acker zwischen Wiesen und Wald baut das Kollektiv seit vergangenem Jahr Gemüse an, das in Kisten gepackt wöchentlich mehr als 30 Haushalte in der Region versorgt. Solawi – solidarische Landwirtschaft – bedeutet, dass die Mitglieder einen Betrag zahlen (ca. 80 bis 100 Euro im Monat), unabhängig vom Ergebnis der Ernte. Im Gegensatz zu konventionellen Bauern, die oft auf maximal drei Monokulturen setzen, achten die Landwirtinnen hier auf Vielfalt auf den Feldern. Mehr als 60 Pflanzenarten wachsen auf ihrem Acker. Sie alle haben unterschiedliche Ansprüche an den Boden, das Klima und ihre Umgebung. Das hat den Vorteil, dass bei Dürreperioden, Kartoffelkäferplagen oder Dauerregen nicht gleich die gesamte Ernte verloren ist. + +Zurück in die Zukunft: Es mag einigen mittelalterlich vorkommen, aber wenn Gabriele mit Pferd pflügt, schützt das die Erde + +Hinter Sonia treibt Gabriele, 54, zwei kräftige Kaltblüter über das Feld. Die Pferde sind noch in der Ausbildung. Eingespannt in ein Geschirr ziehen sie einen Pflug, der tiefe Furchen im Boden hinterlässt. Vor dem hohen Himmel wirkt die Szene romantisch. Aber aus jedem ruckartigen Zug der Pferde, aus jedem Schritt der Bäuerinnen über das holprige Gelände spricht die Anstrengung dieser kleinteiligen Arbeit. Ein harter Kontrast zu den direkten Nachbarn. Die bauen vor allem Maisund Getreidean, ihre riesigen Felder liegen wie Teppiche in der flachen Landschaft. "Auf wirtschaftlicher Ebene sind wir ein lächerlich kleiner Betrieb", sagt Sonia, "aber trotzdem haben wir mit den Großbetrieben einiges gemeinsam. Egal ob bio oder konventionell – wir alle stehen vor den gleichen Herausforderungen:harte Arbeit, wenig Geldund kaum Wertschätzung." +Obwohl in den letzten Monaten vermehrt Bauern mit ihren Traktoren in den Großstädten für bessere Arbeitsbedingungen demonstrierten, ist das Problem nicht neu. Es ist sogar älter als Sonia selbst: Mit der Öffnung der europäischen Agrarmärkte in den 1990er-Jahren verloren lokale Produkte an Wert, der Wettbewerb trieb viele Kleinbauern in den Ruin. 1994 wurden Einfuhrzölle auf Agrarerzeugnisse gesenkt und Ausfuhrbeihilfen reduziert. Man wollte dadurch die Überproduktion etwa von Milch in der Europäischen Gemeinschaft eindämmen und stellte nun die direkte Einkommensstützung der Bauern in den Vordergrund. Wer konnte, stellte auf Monokulturen und ertragreiche Produkte um. Während 1900 noch 62 Prozent der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft arbeiteten, sind es heute nur noch 1,3 Prozent. Dafür versorgt ein Betrieb heute mehr als 14-mal so viele Menschen wie damals. +Die Zahl der Bauernhöfe nimmt ab – nicht mal die Hälfte derer aus dem Jahr 1990 hat überlebt –, die Nachfrage an Lebensmitteln aber nicht. Immer weniger Menschen müssen also immer mehr produzieren. Der Konkurrenzdruck untereinander, aber auch der durch importierte Produkte steigt, wobei die deutsche Landwirtschaft auch viel exportiert. Es lohnt sich einfach nicht mehr, eine Vielfalt an Pflanzen anzubauen. Oft müssen sich Betriebe spezialisieren: Mais, Getreide, Rinderzuchtund Milch.In vielen Sparten herrscht ein Überangebot, das zum Beispiel Discounter nutzen, um die Preise zu drücken. Und selbst mit Subventionen reicht es oft gerade zum Überleben, und das, obwohl mehr als ein Drittel des EU-Haushalts in die Landwirtschaft fließt. 2019 waren das in Deutschland über sechs Milliarden Euro. + +Unter einseitigen Subventionen und strengen Saatgutregulierungen leiden vor allem die Landwirte und Landwirtinnen, die Artenvielfalt und das Klima. Gut die Hälfte Deutschlands ist heute Agrarfläche. Viele Streuobstwiesen, Knicks und offene Grünflächen wichen und weichen Monokulturen. Dadurch sindTausende Pflanzen- und Tierarten gefährdet.Der Biodiversitätsverlustzeigt sich vor allem bei Ackerwildkräutern. 31 Prozent der 582 gelisteten Arten sind mittlerweile selten oder bedroht. Der breite Einsatz von Pestiziden hat Schädlinge resistent gemacht. Die Masse der Fluginsekten sank in den letzten 27 Jahren um drei Viertel. Das Ziel der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt, in Deutschland bis 2020 mindestens zwei Prozent der Landfläche der Verwilderung zu überlassen, wurde verfehlt – derzeit liegt der Anteil bei 0,6 Prozent. +Experten und Expertinnen stufen den ökologischen Landbau als vielversprechende Lösung ein, um Artenvielfalt und Biodiversität zu fördern. Das sieht auch die Politik inzwischen so: So wurde vom Bundesumwelt- und Bundeslandwirtschaftsminsterium im Februar ein Insektenschutzgesetz auf den Weg gebracht, durch das Biotope wie Streuobstwiesen und artenreiches Grünland für Insekten als Lebensräume erhalten bleiben sollen. + +Dabei muss nicht unbedingt alles bio sein. Vor allem müssten die Felder schrumpfen und vielfältiger werden. Gibt es zwischen zwei Monokulturen zum Beispiel einen großen Feldweg, können sich die Ökosysteme viel schlechter verbinden und austauschen als durch viele kleine Pfade zwischen vielen verschiedenen Pflanzen. +Beim Mittagessen im Garten diskutieren die Landwirtinnen in Neuendorf, wie es anders gehen könnte. Es gibt Gemüseauflauf, direkt vom Feld. "Das Problem ist schon die Ausbildung", sagt Susi, 30, die Ökolandbau und Vermarktung in Eberswalde studiert hat. Dort befindet sich eine der zwei Hochschulen in Deutschland, die ökologischen Landbau als eigenen Studiengang mit Bachelorabschluss lehren. "Es gibt wenig Inspiration für alternative Modelle, selbst dort wird die Landwirtschaft immer ganz groß gedacht." Da lernte sie vor allem: Ein Großteil der Arbeit findet nicht auf dem Feld, sondernam Computerstatt. Subventionen und Prämien beantragen, Abrechnungen, Steuer, Jahresplanung. Über jede Pflanze muss penibel Rechenschaft abgelegt werden, besonders im Biolandbau. "Den Gemüseacker planen wir auf den Quadratmeter genau, sonst kann es Strafen geben", sagt Judith. Die Bürokratie ist bei Großbetrieben ein eigener Job. Ein kleiner Hof wie der in Neuendorf kann sich keinen Sekretär leisten. Oft verbringen die Landwirtinnen den Abend nach der Arbeit auf dem Feld noch am Schreibtisch. "Wie sollen wir unseren eigentlichen Job machen, wenn wir damit beschäftigt sind, Anträge dafür zu schreiben, ihn ausführen zu können?", fragt Katharina, 26. + + +Mit ihrem solidarischen Modell haben sie sich ein kleines Stück vomErtragszwang befreit. Trotzdem bleibt der Anbau von den strengen Regeln des Agrarsystems abhängig. Sie müsen sich an das europäische Sortenschutzgesetzhalten, das Eigentumsrechte an Pflanzenzüchtungen regelt, und von vielen Sorten jedes Jahr wieder extern Saatgut kaufen. Ohne staatliche Zuschüsse können sie in den Startjahren noch nicht wirtschaften. Ein Großteil der Subventionen berechnet sich nach Fläche. Großbetriebe haben dadurch finanzielle Vorteile. Das könnte dazu verführen, mehr von einer Pflanzensorte anzubauen, als man tatsächlich loswerden kann. "Das ist ungerecht", sagt Katharina, "kleine Betriebe haben viel höhere Kosten pro Quadratmeter." Sie findet, ökologische Kriterien sollten ebenfalls beachtet werden. Und auch konventionelle Landwirte müssten Anreize finden, umzudenken. +Der Klimawandel,der von der kommerziellen Landwirtschaft mit vorangetrieben wird, trifft die Landwirte am Ende wie ein Bumerang. In Ostbrandenburg gelten die alten Bauernregeln nicht mehr. Der Boden wird immer trockener, dann wieder regnet es stark. Die Landwirtinnen der "Lawine" versuchen deshalb, selbst ein "Kleinklima" für ihr Feld zu schaffen. Naturhecken und Blühstreifen säumen die Felder. Hier siedeln sich Insekten, Spinnen und andere Pflanzen an, wodurch auch größere Nager und Fressfeinde angezogen werden, die das Miniökosystem aufrechterhalten. Schädlinge werden in den Grünstreifen abgefangen, von anderen Tieren gefressen und zerstören so weniger Pflanzen, ganz ohne Pestizide. "Als wir im letzten Sommer mit einem Insektenbuch auf dem Feld standen, waren wir überrascht, wie viele unterschiedliche Arten wir bestimmen konnten", erzählt Judith, 31. Sechs Tage in der Woche arbeiten die Landwirtinnen. Trotzdem konnten sie sich im letzten Jahr keinen Lohn auszahlen. "Das geht natürlich nur in der Gründungsphase", sagt Katharina. "Langfristig möchten wir für uns stabile ökonomische Grundlagen schaffen, unabhängig von Subventionen." Wenn sie inmitten ihrer Gemüsekisten zwischen Feldsalat, verbogenen Karotten und sandigen Lauchstangen stehen, sind sich alle einig, das Richtige zu tun. Und das dauert eben. Auf lange Sicht sollen die Weideflächen für die Pferde, Naturschutzflächen, Blühflächen und Baumpflanzungen weiter ausgebaut werden. Dieses Jahr sollen Ziegen dazukommen. Die Landwirtinnen träumen von einer Region, in der sie mit ihrer Vision nicht allein sind. +Der Bauer nebenan arbeitet bereits seit ein paar Jahren daran, alternative Wirtschaftszweige in seinen Großbetrieb zu integrieren. Ein anderer verzichtet auf Pestizide auf angrenzenden Feldern zum Biobetrieb. Immer mehr Menschen melden sich für die Solawi-Mitgliedschaft an. In Brandenburg, wo es viel Leerstand gibt, sprießen momentan neue kleine Landwirtschaftsbetriebe aus dem Boden. Um zu überleben, müssen sie sein wie ihr Feind auf dem Acker. Die Quecke. Die Bedeutung des Namens passt zur Einstellung der Landwirtinnen: "zäh und unverwüstlich". diff --git a/fluter/nachhaltigkeit-in-der-musikbranche.txt b/fluter/nachhaltigkeit-in-der-musikbranche.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..53a255b4e232f1c20dbd4c9c8a12e9075c460715 --- /dev/null +++ b/fluter/nachhaltigkeit-in-der-musikbranche.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +In der Musikindustrie sind unterschiedlichste Bereiche miteinander verwoben – vom Streaming über die Merchandise- und Tonträgerproduktion bis zum Tournee- und Konzertgeschäft. Derökologische Fußabdruckdieser interdisziplinären Branche als Ganzes ist bisher nicht bekannt. Durch Messungen, die Bands wie Radiohead oder We Invented Paris selbst anhand ihrer Tourneen durchführten, und eine wissenschaftliche Erhebung, die die Band Massive Attack in Auftrag gegeben hat, vermutet man immerhin: Die wichtigsten Stellschrauben für die klimagerechte Transformation im Livegeschäft sind die Stromversorgung, die Energieeffizienz der Veranstaltungsstätten sowie die Anreise von Band und Publikum. Mehr als zwei Drittel der Gesamtemissionen bei Konzerten und Festivals entstehen durch die Anreise der Besuchenden. +Was müsste sich also verändern in der Branche? Wie kann die Musikindustrie dazu beitragen, dass Deutschland sein erklärtes Ziel erreicht,bis 2045 klimaneutral zu sein? +Das wollten auch Sarah Lüngen und Katrin Wipper wissen und entschieden, die Frage an einem konkreten Beispiel durchzuspielen. Für ihr Abschlussprojekt im Rahmen einer Weiterbildung im Bereich Umwelt- und Nachhaltigkeitsmanagement schrieben sie ein Nachhaltigkeitskonzept für fünf Konzerte der Band Seeed in der Berliner Wuhlheide im August 2022. Band und Management fanden das Konzept überzeugend, und Lüngen und Wipper gründeten eine eigene Agentur, The Changency, um es zu realisieren. +Gemeinsam mit dem Studiengang Theater- und Veranstaltungstechnik und -management der Berliner Hochschule für Technik setzten sie die Maßnahmen um: einen bewachten kostenlosen Fahrradparkplatz, das Verteilen von Taschenaschenbechern, das Anbringen von Klimabilanzen an den Essensständen oder das Aufstellen eines Wasserspenders im Backstagebereich. Anschließend untersuchten sie die Wirkung der verschiedenen Handlungsfelder. +Die Ergebnisse des Projekts, das unter anderem von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) gefördert wurde,veröffentlichten sie in einer Studie. Demnach konnten beispielsweise 3,25 Millionen Liter Wasser vor Verschmutzung bewahrt werden, weil etwa 3.250 Zigarettenkippen statt auf dem Boden in eigens dafür bereitgestellten Sammelbehältern landeten. Die Fahrrad-Garderobe war gut frequentiert (fast jede*r zehnte Besuchende reiste mit dem Rad an), und durch das vegan-vegetarische Catering für Crew und Künstler*innen konnten 1,18 Tonnen CO2 eingespart werden. +Im Grunde ist das Thema Nachhaltigkeit für die Musikindustrie nichts Neues. Jacob Bilabel, der lange bei Universal Music gearbeitet hat und seit 2020 das ebenso von der BKM geförderte Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit in Kultur und Medien leitet, hat bereits 2008 die Green Music Initiative gegründet. Die hat inzwischen mit rund 150 europäischen Festivals an der Umsetzung von Reduktionsstrategien gearbeitet, vor allem in den drei Bereichen Energie, Mobilität und Kreislaufwirtschaft. Aber auch Bilabel ist der Meinung, dass "der Schritt vom Wissen zum Handeln" noch nicht von genug Menschen in der Branche gegangen wird. Was für einen systemischen Wandel fehle, seien Rahmenbedingungen von politischer Seite. "Im Augenblick gibt es Pionier*innen auf dem Gebiet, die freiwillig auf eigene Rechnung Mehraufwand betreiben. Und das machen die natürlich nur bis zu einem bestimmten Punkt mit", erklärt Bilabel. +Damit der aktuelle Mehraufwand zu einer lohnenden Investition werde, brauche es Regularien. Solange man zum Beispiel nicht wisse, ob man ein teuer zum Festivalacker verlegtes Stromkabel dort für das Festival im nächsten Jahr liegen lassen könne oder ob man es wieder ausbuddeln müsse, greife man lieber auf die klimaschädlichen, aber bewährten Dieselgeneratoren zurück. Für einen tatsächlich transformativen Prozess müssten außerdem klimaschädliche Subventionen gestoppt werden: "Solange man Diesel und Lkw-Diesel, die sehr niedrig besteuert werden, in die Generatoren kippen kann, wird der dreckigste Kraftstoff natürlich auch verwendet." +Auch Katrin Wipper wünscht sich Regularien, durch die man "mehr Verantwortung für klimaschädliches Verhalten übernehmen muss und auf der anderen Seite für klimafreundliches Verhalten belohnt wird". Außerdem fände sie ein allgemeingültiges Regelwerk sinnvoll, durch das Klimabilanzen einheitlich erhoben und ausgewiesen werden, damit die Zahlen wirklich glaubwürdig sind. Auch eine einheitliche Definition des Begriffs "klimaneutral" wäre aus ihrer Sicht wichtig. "Im Augenblickkann man sich das Label ,klimaneutral' durch Kompensationen erkaufen. Dadurch ist es superleicht, nichts am eigenen Verhalten zu ändern." +Natürlich passiere von politischer Seite schon etwas, da sind sich alle einig. Nur passiere zu wenig und zu langsam – und vor allem sei einfach zu lange nichts passiert. Staatsministerin Claudia Roth – die aktuelle Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien – hat im April 2022 eigens ein Referat für Kultur und Nachhaltigkeit gegründet. Dieses Referat soll nun vor allem die im Koalitionsvertrag vereinbarte "Anlaufstelle Green Culture" auf den Weg bringen: ein Kompetenzzentrum, das Wissen und Daten zur ökologischen und klimagerechten Transformation bündeln und Kultureinrichtungen dabei helfen soll, das Klimaneutralitätsziel der Bundesregierung zu erreichen. Außerdem fördert Claudia Roth die Erarbeitung eines Handbuchs für eine nachhaltige Veranstaltungspraxis, unterstützt die Entwicklung von CO2-Bilanzierungsstandards für Kultureinrichtungen und wird dieses Jahr mehrere Green-Culture-Konferenzen durchführen, wie ein Sprecher der Kulturstaatsministerin erklärt. Grundsätzlich könne die Politik der Musikindustrie ihre Verantwortung aber nicht abnehmen, am dringend erforderlichen Transformationsprozess mitzuwirken. +Für Milky Chance hat Mariko Zimmer nachhaltiges Merchandise und Kollaborationen mit NGOs organisiert und dafür gesorgt, dass ein Betrag pro Ticket der Europe Tour 2022 für den Schutz von Urwaldflächen gespendet wird. "Aber man kommt schnell an den Punkt, an dem Dinge einfach nicht umsetzbar sind. Klar wäre es mega, wenn wir einen Tourbus hätten, der mit Solarenergie fährt, aber so etwas gibt es halt nicht." +Auch auf die Frage, ob der Veranstaltungsort Ökostrom bezieht oder welche Anreisemöglichkeiten das Publikum hat, hätten Künstler*innen keinen Einfluss. "Deswegen denke ich, die größte Stellschraube, die eine Band hat, ist, auf das Thema aufmerksam zu machen." Das sieht auch Katrin Wipper so: "Ich denke, dass Musiker*innen den Wandel hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft näher zu den Leuten bringen können als Politiker*innen. Irgendwo habe ich mal dieses Zitat gehört: ‚Nobody has a favorite politician, but everybody has a favorite musician'". + +Titelbild: Jan Q. Maschinski diff --git a/fluter/nachtarbeit-gesundheit-sozialleben-reportage.txt b/fluter/nachtarbeit-gesundheit-sozialleben-reportage.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..76bbc57a8493bd7e32467808ae313553d47fa273 --- /dev/null +++ b/fluter/nachtarbeit-gesundheit-sozialleben-reportage.txt @@ -0,0 +1,39 @@ +Die Mehrheit der Deutschen arbeitet tagsüber, zwischen 7 Uhr morgens und 19 Uhr abends. Nur rund ein Fünftel arbeitet außerhalb dieser Zeiten, zumeist in Wechselschichten oder sogar ausschließlich nachts. Das geht aus dem "Arbeitszeitreport Deutschland" der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) hervor. Von Nachtarbeit spricht man zwischen 23 und 6 Uhr. Zu den klassischen Nachtberufen gehören Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst. Krankenhäuser sind immer geöffnet, auch in der Industrie geht nach Sonnenuntergang oft der Betrieb weiter. Busfahrer:innen sind in der Nacht ebenso auf den Beinen wieMitarbeiter:innen von Logistikunternehmen. +Auch Paula Eberhard und Marc* arbeiten nachts. Paula ist 28 Jahre alt und Pflegerin auf der Onkologiestation der Charité in Berlin-Steglitz-Zehlendorf. Sie hatwie die meisten Pflegerinnenin Krankenhäusern Wechselschichten: Früh-, Spät- und Nachtdienste. Marc ist 33 Jahre alt und Busfahrer. Er arbeitet im Schichtdienst, meistens aber nachts. +23.30 Uhr: Auf der Station beginnt Paula ihre Runde. Die Krebspatient:innen bekommen Antibiotika, Schmerzmittel oder etwas gegen Übelkeit. Vielen ist schlecht von der Chemotherapie, andere fiebern. In der Regel seien sie nachts zu zweit und verantwortlich für 42 Patient:innen. "Es gibt Nächte, in denen ich durchrenne, weil es klingelt und klingelt", sagt sie. +Nach der Versorgung der Patient:innen muss Paula auch noch Medikamente für die Frühschicht aufziehen, Blutproben beschriften und Kurvenblätter ausfüllen. Unter den Diagrammen zu Puls, Temperatur und Blutdruck notiert sie Medikation und Schmerzen. Dann hat sie Zeit für eine Pause. Eine halbe Stunde am Stück ist es selbst an ruhigen Tagen selten. Irgendjemand klingelt immer.Die Arbeitsbelastung sei hoch, mehr als drei Nachtschichten in Folge schaffe sie nicht. "Danach brauche ich ewig, um mich zu erholen", sagt Paula. + + + +Wer nachts und in Wechselschicht arbeitet, lebt ständig gegen den zirkadianen Rhythmus, die sogenannte "innere Uhr". Das Bundesverfassungsgericht stellte 1992 fest, dass Schichtarbeit mit regelmäßigem Nachteinsatz grundsätzlich für jeden Menschen schädlich sei. Wissenschaftliche Studien bestätigen das. Schlafstörungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Magenkrankheiten, Diabetes sowie psychische Erkrankungen könnten Folgen von Nachtarbeit sein, sagt der Arbeitszeitexperte Nils Backhaus von der BAuA. +1. Arbeitgeber sind verpflichtet, sich an gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu Nacht- und Schichtarbeit zu orientieren. +2. Die tägliche Arbeitszeit für Nachtarbeitnehmer darf acht Stunden nicht überschreiten. Sie darf auf zehn Stunden verlängert werden, allerdings nur, wenn sie im monatlichen Durchschnitt nicht acht Stunden täglich überschreitet. +3. Nachtarbeitende haben alle drei Jahre Anspruch auf eine arbeitsmedizinische Untersuchung; nach dem 50. Lebensjahr jährlich. +4. Nachtarbeitende haben das Recht, sich auf einen Tagarbeitsplatz versetzen zu lassen, wenn ihre Gesundheit gefährdet ist, sie ein Kind betreuen oder Angehörige pflegen. +5. Als Ausgleich für Nachtarbeit gibt es bezahlte freie Tage oder Zuschläge, sofern keine anderen tariflichen Regelungen existieren. +6. Arbeitgeber müssen sicherstellen, dass Nachtarbeiter die gleichen Weiterbildungs- und Aufstiegschancen haben wie die übrigen Arbeitnehmer. + +0.12 Uhr: Marc lenkt den Bus mit der Nummer 296 auf den Betriebshof Lichtenberg. Das Fenster steht offen, so hält er sich wach. An der Pforte brennt noch Licht, dahinter stehen die gelben Busse verlassen im Dunkeln. Er stoppt den Motor, greift nach einem Ledermäppchen und wirft einen Blick auf den Zettel, der darin liegt. Darauf steht, dass er in 18 Minuten den Nachtbus N50 fahren soll. Die Zettel, die Linie, Haltestellen und Pausenzeiten angeben, zieht Marc zu Schichtbeginn am Terminal. Ein Automat spuckt den Zettel mit allen Haltestellen und Wartezeiten aus. Je nach Schicht fährt Marc eine andere Linie. Welche Schichten er hat, erfährt er erst eine Woche vorher. +Das macht Marcs Alltag schwer planbar. Dabei ist Planbarkeit gerade für Nacht- und Schichtarbeiter:innen besonders wichtig. Sie leben gegen den in unserer Gesellschaft vorherrschenden sozialen Rhythmus: Tagsüber wird gearbeitet, Zeit für Freizeit ist am Abend und am Wochenende. Wer als Nachtarbeiter:in an Familienfeiern teilnehmen, Freund:innen treffen oder zu Ärzt:innen oder Amt will, muss das im Vorfeld organisieren, sich freinehmen oder Ersatz suchen. Besonders schwierig wird es, wenn noch Partner:innen und Kind mitgedacht werden müssen. +Seine Freundin sei oft traurig, wenn er an Geburtstagen oder Weihnachten arbeiten müsse, sagt Marc. Damit überhaupt Zeit für gemeinsame Aktivitäten bleibt, arbeitet er Teilzeit. Anders würden sich die beiden kaum sehen. +Auch Anja und Paula habenTeilzeitstellen, denn nachts zu arbeiten ist anstrengender als tagsüber. "Fünf Nachtschichten nacheinander sind nicht zu schaffen", sagt Anja. Sie kämpft wie viele Menschen, die nachts arbeiten, mit Schlafproblemen und Müdigkeit. Um sich wach zu halten, trinkt sie viel Kaffee. "Ich bin ein Koffein-Junkie", sagt sie. +Damit die Nachtarbeit nicht zu einer Gefahr für die Gesundheit wird, berechtigt das Arbeitszeitgesetz Nachtarbeiter:innen zu regelmäßigen arbeitsmedizinischen Untersuchungen. Bis zum vollendeten 50. Lebensjahr alle drei Jahre, danach sogar jährlich. Die Untersuchungen sind freiwillig, die Kosten müssen Arbeitgeber:innen übernehmen. Bei den Untersuchungen bekommen die Schichtarbeiter:innen Tipps, auf welche Ernährung sie achten müssen, um besser mit der Nachtarbeit klarzukommen, oder was sie gegen Schlafstörungen tun können. +Stellt sich heraus, dass die Nachtarbeit die Gesundheit der Arbeitnehmer:innen gefährdet, sind Arbeitgeber:innen verpflichtet, sie auf einen geeigneten Tagesarbeitsplatz zu versetzen. Das gilt auch, wenn die Arbeitnehmer:innen Kinder unter zwölf Jahren oder schwer pflegebedürftige Angehörige haben, die anders nicht betreut werden könnten. +Arbeitgeber:innen sind laut Arbeitszeitgesetz dazu verpflichtet, Schichtpläne nach "gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen" zu gestalten. Das BAuA hat entsprechende Richtlinien für Arbeitgeber:innen entwickelt. Darin heißt es, die Anzahl der aufeinanderfolgenden Nachtschichten sollte möglichst gering, die Ruhepausen danach so lang wie möglich sein – mindestens 24 Stunden. Ob sich alle Unternehmen an die Richtlinien halten, ist fraglich. Spezielle arbeitsrechtlich verankerte Präventionsmaßnahmen für psychische Erkrankungen gibt es nicht. +Bei Paula, Anja und Marc kommen die Pausen oft zu kurz. Nicht nur Paula wird auf der Onkologie durch ein Klingeln aus der Pause gerissen. Auch Anja springt vom Pausentisch auf, sobald ein Gast ein neues Bier bestellt. Und auch Marcs Pausen sind wegen des Fahrplans oft zerstückelt. Ist er wegen eines Unfalls oder Bauarbeiten später dran als geplant, geht das von seiner Pause ab. +Nachtarbeit sei nicht nur körperlich, sondern auch psychisch anstrengend, erzählt Paula. Viele ihrer Kolleg:innen, die schon länger in der Pflege arbeiten, fühlen sich deshalb ausgebrannt. Sie will es so weit nicht kommen lassen. Direkt nach ihrer Ausbildung reduzierte sie auf 80 Prozent, auch wenn das heißt, dass sie weniger verdient. "Das Geld wiegt in keinster Weise die gesundheitliche und mentale Belastung auf", sagt sie. Es gehe dabei nicht nur um ihr Wohl, sondern auch um das ihrer Patient:innen. Je höher die Arbeitsbelastung sei, desto weniger könnten sie sich auf die Patient:innen einlassen. Viele ihrer Kolleg:innen seien bereits abgestumpft. +DieBundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin(BAuA) empfiehlt: + +1. Die Anzahl der aufeinanderfolgenden Nachtschichten sollte möglichst gering sein. +2. Nach Nachtschichtphasen sollten möglichst lange Ruhephasen folgen. Sie sollten nicht weniger als 24 Stunden betragen. Außerdem gilt: Mehrere freie Tage am Stück wie Wochenenden bringen mehr Erholung als einzelne freie Tage. Und: Schichtarbeitende sollten bestenfalls mehr freie Tage im Jahr haben als Tagarbeitende. +3. Ungünstige Schichtfolgen sollten vermieden werden, die Frühschicht sollte nicht zu früh beginnen, die Nachtschicht möglichst früh enden. Schichtpläne sollen vorhersagbar und überschaubar sein. +Um 6.30 Uhr haben die drei Feierabend. +Marc fährt den Nachtbus auf den Betriebshof. +Paula schwingt sich vor der Klinik aufs Rad. +Anja verlässt ihren Platz hinterm Tresen und steigt in die S-Bahn nach Hause. +"Da kiek ich noch ein bisschen in die Glotze, zock vielleicht mit dem Handy", sagt Anja. Dann geht es ins Bett. Länger als fünf Stunden schläft sie selten. Spätestens um 14.30 Uhr klingelt der Wecker. Der Alltag wartet. Dann heißt es: Wäsche waschen, einkaufen und kochen. Anja hat einen Mann und eine 16-jährige Tochter, einen Hund und eine Katze. "Die haben auch Ansprüche", sagt Anja und lacht. Der Tag ist schnell vorbei. Um 22 Uhr muss sie schon wieder in der Kneipe sein. +Trotzdem liebt Anja ihre Arbeit, etwas anderes machen will sie nicht. Und auch Paula ist gerne Pflegerin. Nachtarbeit gehört für beide dazu. Doch muss sich die Arbeitsbelastung reduzieren, da sind sie sich einig. Sie wünschen sich bessere Bezahlung, mehr Personal und längere Erholungsphasen, damit sie ihre Jobs noch lange ausüben können. +Marc hat sich mittlerweile auf einen Bürojob beworben. Er will klassisch am Schreibtisch arbeiten, nachmittags fertig sein, damit er mehr Zeit für seine Freundin und die gemeinsamen Haustiere hat. Und vor allem: nicht mehr die Nacht zum Tag machen muss. + +*Anja und Marc möchten ihren vollen Namen hier nicht lesen. +Titelbild: Aliona Kardash/laif diff --git a/fluter/nachtbuergermeister-in-mannheim.txt b/fluter/nachtbuergermeister-in-mannheim.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f8dc32c87c8b94918a2238793b74317cd59c06fe --- /dev/null +++ b/fluter/nachtbuergermeister-in-mannheim.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Während in Berlin ein Nachtbürgermeister in Friedrichshain-Kreuzberg angedacht, aber bislang nicht eingeführt wurde, ging in Mannheim alles ganz schnell. Ausschreibung, Abstimmung, Amtsantritt ab August. In Amsterdam gibt es seit 2012 einen "Nachtburgemeester". Damals war es Mirik Milan, der versuchte, im Vergnügungsviertel Rembrandt die Interessen der Club- und Barbetreiber einerseits und der Anwohner andererseits auszugleichen. Neben dem Einsatz von Sozialarbeitern führte Milan längere Öffnungszeiten ein, damit die Besucherströme sich entzerren können. Der Plan ging auf. +Metropolen wie New York, London oder Paris folgten der Idee mit dem Nachbürgermeister – mit Erfolg. Es gebe weniger Beschwerden von Anwohnern und die Probleme der Szene seien besser zu identifizieren. In Mannheim soll nun Hendrik Meier 50 Stunden im Monat aufwenden, um neben der Vermittlerfunktion seinen Ideen nachzugehen, die teils schon in anderen deutschen Städten praktiziert werden: Vergünstigte Nachttickets für den Nahverkehr einführen, kulturelle Freiräume weiter ausbauen, Kisten für Pfandflaschen an Laternen hängen, kostenloses Trinkwasser in allen Bars anbieten oder die Kampagne "Luisa ist hier!", ein Hilfsangebot für belästigte Frauen in der Partyszene, unterstützen. Außerdem ist ein Stammtisch geplant, an dem alle Akteure des Nachtlebens und Vertreter von Anwohnern zusammensitzen können. +Bezahlt wird Meier, der nebenher noch als freier Veranstalter und Booker arbeitet, mit einem monatlichen Honorar von 1190 Euro. Das Geld kommt, anders als in Amsterdam, wo das Gehalt durch die Stadt und durch Spenden finanziert wird, ausschließlich aus Mitteln des stadteigenen Gründungszentrums Startup Mannheim, das auch die Stelle zum "Night Mayor der Stadt Mannheim" ausgeschrieben hatte. Das ist im Vergleich zu New York, wo die dortige Nachtbürgermeisterin ein jährliches Grundgehalt von 130.000 Dollar bekommt, wenig. Aber im Vergleich zu Berlin, wo dieser Posten als rein ehrenamtlich angedacht war, viel. Außerdem bekommt der neue Nachtbürgermeister ein Mobiltelefon, einen Laptop und Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt. Bis Ende 2019. Dann endet die erste Amtszeit. +"Ich werde alles tun, dass wir eine coole Sache daraus machen", sagt Hendrik Meier, der ursprünglich aus Nürnberg kommt, kurz nach der Wahl, die durch das Publikum und eine achtköpfige Fachjury mit Vertretern der Stadt, der Clubs und Gastronomie entschieden wurde. Er will als Schnittstelle zwischen allen Beteiligten des Nachtlebens agieren. Doch zuerst müsse der Dialog her. "Ich werde zu jedem Besitzer, in jede Bar gehen und mich persönlich vorstellen" – sobald er seine Masterarbeit an der Popakademie Baden-Württemberg abgegeben hat. Thema: Die Veranstaltungswirtschaft in der Metropolregion Rhein-Neckar. Abgabedatum: 6. August. +Nach der Wahl lässt sich Hendrik Meier noch am Wasserturm, dem Wahrzeichen von Mannheim, ablichten. Dann geht er mit seiner besten Freundin auf ein Bier in den "Jungbusch", dem Problemkiez der Stadt – und sein neuer Arbeitsplatz als Nachtbürgermeister. + + diff --git a/fluter/nachtleben-rassismus-film.txt b/fluter/nachtleben-rassismus-film.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/nachwende-roman-oder-florida-christian-bangel.txt b/fluter/nachwende-roman-oder-florida-christian-bangel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6b8fa663112679ecccb53e15830d5a1addd7ba40 --- /dev/null +++ b/fluter/nachwende-roman-oder-florida-christian-bangel.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Christian Bangel: "Oder Florida". Piper Verlag, München 2017, 352 Seiten, 18 Euro +Matthias' Freund Fliege jedenfalls sprudelt nur so vor Ideen. Ursprünglich Hausbesetzer, jetzt Unternehmer, will Fliege in die Politik. Er organisiert einen Masseneintritt in die SPD und plant, den größten Investor der Stadt, Günther Franziskus, zum SPD-Kandidaten für die Bürgermeisterwahl aufzubauen. Matthias fällt der Posten des Pressesprechers zu. Leider ist Herr Franziskus als Großkapitalist nicht wirklich SPD-kompatibel und bestreitet seinen Wahlkampf vorwiegend mit Wählerbeschimpfung, denn er hält seine Landsleute für faul und wehleidig. +Das gilt eigentlich auch für Matthias. Trotzdem bietet der Investor dem jungen Mann nach verlorener Wahl einen verlockenden Deal an: Matthias soll ihm helfen, in Florida einen großen Heimtiermarkt zu eröffnen. Dazu muss er zuerst nach Westdeutschland und das Business von der Pike auf lernen. So landet Matthias in Hamburg, obwohl seine große Liebe Nadja doch in Berlin lebt … +Und jetzt ist eine kleine Einschränkung des vorher Behaupteten fällig. Natürlich kann es nicht völlig ohne Nostalgie abgehen, wenn einer einen – vermutlich ziemlich autobiografischen – Roman über verflossene Jugendzeiten schreibt. Besonders das Kapitel, das in Berlin spielt, ist verdammt romantisch geraten. Nadja und Matthias fahren ohne Geld und Gepäck in die große Stadt, wo irgendwelche Irren öffentlich in Friedrichshain kopulieren, wo Matthias in einem supergeheimen Club in ekstatischen Tanz- und vielleicht Drogenrausch gerät, wo ein Baukran am Potsdamer Platz erklommen werden muss, um das Lebensgefühl der gefährlichen Großstadt zu erspüren. +Das ist alles dick aufgetragen, aber nun ja, schließlich geht es hier auch mal um echte Gefühle, denn Nadja ist Matthias' große Liebe, und dass sie unerreichbar, weil ohne Handy, ausgerechnet in Berlin lebt, macht sie umso begehrenswerter. Matthias aber ist einer, der seine eigene Richtung noch nicht gefunden hat, der sich mitziehen lässt von den anderen, die wissen, wo es langgeht, oder die halt einfach so den Weg bestimmen. Alle sind freundlich satirisch überzeichnet, Besserwessi-Autonome, Ossi-Kapitalisten, Nazi-Dumpfbacken, und nicht zuletzt Matthias' Wendeverlierer-Eltern mit ihren miesen Nachwendejobs, wobei zumindest die Mutter im Callcenter das Beste daraus zu machen versucht. Was für eine merkwürdige Zeit das damals doch war in den 1990er-Jahren in Frankfurt/Oder und anderswo. + +Titelbild: Michael Trippel/laif diff --git a/fluter/nahost-konflikt-was-sind-die-siedlungen.txt b/fluter/nahost-konflikt-was-sind-die-siedlungen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ddba0143eef9f3434096819205519d9eb0dc1bf2 --- /dev/null +++ b/fluter/nahost-konflikt-was-sind-die-siedlungen.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +In Ostjerusalem leben rund 500.000, im Westjordanland rund drei Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser. Obwohl auch Ostjerusalem annektiert wurde, sind die dort lebenden Palästinenser keine israelischen Staatsbürger und haben deshalb nicht die gleichen Bürgerrechte. Das ist das eine Problem, das andere: Durch den Siedlungsbau schrumpft das Land, das im Falle einer Zweistaatenlösung einen arabischen Staat Palästina ausmachen würde. +Aktuell leben zwischen 600.000 und 700.000 jüdische Israelis in mehr als 300 Siedlungen und Outposts im Westjordanland und Ostjerusalem. Die Siedlungen sind dabei teils groß wie Trabantenstädte, verbunden durch ein Netz aus Schnellstraßen und Buslinien mit dem israelischen Kernland. Nach israelischem Recht sind die Siedlungen im Westjordanland grundsätzlich legal. Ausnahme sind sogenannte Outposts − Containerdörfer am Rand der offiziell genehmigten Siedlungen. Etwa 191 Siedlungen sind auch nach israelischem Recht illegale Outposts, einige werden aber dennoch nicht geräumt. +Nach Angaben desIsrael Policy Forum, einem israelischen Thinktank, gehört ein Drittel der Bewohner zu den Haredim, also ultraorthodoxen Juden, die aus religiösen Gründen im Westjordanland leben. Ein weiteres Drittel lebt im Westjordanland aus wirtschaftlichen Gründen − die Wohnungen dort sind in der Regel günstiger als in Israel, auch weil sie staatlich subventioniert werden. Ohnehin sind die meisten Siedler finanziell abhängig von Israel − sei es, weil sie in Israel arbeiten oder Unterstützung, zum Beispiel in Form von Sozialhilfen oder Subventionen für das Wohnen in einer Siedlung, vom Staat beziehen. Der übrige Teil siedelt sich aus einer religiös-nationalen Ideologie an. +Diese sogenannten Neozionisten stehen für eine wachsende Gruppe in Israel und werden vertreten vonnational-rechten Parteien wie dem Likud, der Partei des Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Mit Netanjahu regiert der Likud mit kurzen Unterbrechungen seit mehr als 15 Jahren. Die Entwicklung innerhalb der Siedlerbewegung spiegelt sich auch in der Agenda des Likud wider. Wiederholt hat sich Netanjahu gegen einen palästinensischen Staat ausgesprochen. +Die meisten Siedlungen befinden sich im C-Bereich des Westjordanlands, auf einer Fläche etwas größer als das Saarland. Die Einteilung in die A-, B- und C-Gebiete erfolgte im Rahmen des zweiten Osloer Abkommens 1995, dem einzigen Versuch eines Friedensprozesses zwischen Israelis und Palästinensern. +Im Rahmen des Oslo-Abkommens II aus dem Jahr 1995 wurde das von Israel besetzte Westjordanland in drei Gebiete – A, B und C – aufgeteilt. Damit sollte erreicht werden, dass die Palästinenser schrittweise die Kontrolle über das Westjordanland erlangen und Israel sich aus den Gebieten zurückzieht − also seine Armee abzieht und die israelischen Siedlungen auflöst. Das erklärte Ziel war eine Zweistaatenlösung, tatsächlich aber führte der Plan zu einer zusätzlichen Fragmentierung des Westjordanlands. +Das A-Gebiet bezeichnet das Gebiet, das vollständig von der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in Ramallah verwaltet und kontrolliert wird. Es umfasst 18 Prozent der Fläche des Westjordanlands, dazu gehören die größeren Städte wie Ramallah, Nablus, Jenin und Jericho. Israelischen Bürgern ist der Zutritt verboten. Tatsächlich aber führt die israelische Armee regelmäßig Razzien und Einsätze durch, etwa um palästinensische Terroristen aufzuspüren. +Die PA verfügt im A-Gebiet über einen sogenannten Sicherheitsdienst, der de facto die Polizei- und Militärautorität der Autonomiebehörde ist. Auch das wurde in den Osloer Abkommen geregelt. Zudem kooperierte die PA in der Vergangenheit mit Israels Geheimdiensten und der Armee im Kampf gegen radikale Palästinenser, etwa Kämpfer der mit der Fatah rivalisierenden Terrororganisation Hamas, die eine Gefahr für Israel, aber auch für die Fatah als Regierungspartei der PA darstellt. +Innerhalb des B-Gebiets, das 22 Prozent des Westjordanlands ausmacht, hat die PA die administrative Kontrolle, militärisch wird das Gebiet aber von Israel kontrolliert. Fragen der inneren Sicherheit unterliegen also anders als bei den A-Gebieten nicht vorrangig der palästinensischen Kontrolle. Das B-Gebiet setzt sich vor allem aus kleinen Gemeinden und Dörfern zusammen. +Das mit Abstand größte C-Gebiet umfasst 60 Prozent des Westjordanlands. Hier hat Israel die Zivil- und Polizeikontrolle. Dieses Gebiet ist ländlich geprägt, aber auch alle israelischen Siedlungen befinden sich dort, etwa 400.000 israelische Siedler leben im C-Gebiet, außerdem rund 300.000 Palästinenser. Diese haben aber keinen Zutritt zu den Siedlungen − Ausnahmen sind palästinensische Arbeitskräfte, die nur mit Genehmigungen die Siedlungen betreten dürfen. Während für israelische Siedler das israelische Zivilrecht gilt, fallen die Palästinenser unter israelisches Militärrecht. Die PA übernimmt für die palästinensische Bevölkerung Aufgaben wie die medizinische Versorgung und die Schulbildung. +30 Jahre nach dem Osloer Abkommen ist das C-Gebiet durchzogen von modernen Schnellstraßen, die die Siedlungen mit Israels Staatsgebiet verbinden. Die palästinensischen Dörfer, sofern sie nicht auf der Route der Straße liegen, sind allerdings nicht unmittelbar angebunden. +Eine Ausnahme der Gebietsregelung gilt in Hebron − die einzige Stadt im Westjordanland, in deren historischem Zentrum jüdische Siedler leben, bewacht von der israelischen Armee. Formal liegt Hebron im A-Gebiet. Aber nur 80 Prozent der Stadt sind offiziell unter palästinensischer Kontrolle. Die übrigen 20 Prozent, mitsamt fast der gesamten Altstadt von Hebron, stehen unter israelischer Militärkontrolle. +Im Februar vor einem Jahr erlangte die palästinensische Kleinstadt Huwara, die teilweise im C- und teilweise im B-Bereich liegt, traurige Berühmtheit: Etwa 400 radikale jüdische Siedler griffen den Ort an, setzten Häuser und Autos in Brand. Die Männer wollten sich für den Mord an zwei Israelis rächen, die aus dem Auto heraus auf der Durchfahrt durch Huwara von einem radikalen Palästinenser erschossen worden waren. +Die israelischen Soldaten vor Ort ließen die Angreifer gewähren, verstärkten das Gefühl, das Westjordanland sei ein rechtsfreier Raum − mit Selbstjustiz als legitimer Form der Gewalt. Denn bis heute befinden sich die Siedlungen in einem rechtlichen Graubereich. Das Gebiet ist besetzt, nicht annektiert. Das heißt, dort gilt Israels Militärrecht, die Armee ist für die Sicherheit zuständig, nicht die israelische Polizei. Die Siedler sind israelische Staatsbürger, gleichzeitig hat etwa das Oberste Gericht in Jerusalem kaum Zugriff auf die Durchsetzung der Grundrechte, da das Westjordanland kein Staatsgebiet, sondern besetztes Gebiet ist. Deshalb greift für die Siedler nur das Zivilrecht, während die Palästinenser unter Militärrecht fallen. Damit lassen sich israelische Rechtsstaatsprinzipien in den Siedlungen nicht garantieren – wovon die radikalen Siedler profitieren. Das hat eine Art der Siedlermentalität unter den Bewohnenden geschaffen. Der Angriff auf Huwara aber rüttelte die Bevölkerung in Israel auf: In den Wochen danach demonstrierten in Tel Aviv viele Israelis gegen die wachsende Siedlergewalt. +Aktuelle Umfragen aber zeigen eine wachsende Radikalisierung innerhalb der israelischen und palästinensischen Gesellschaft. + + diff --git a/fluter/nahost.txt b/fluter/nahost.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d3642d219faa643730847692ef7beff016790a6a --- /dev/null +++ b/fluter/nahost.txt @@ -0,0 +1,13 @@ + +Zwei Millionen Palästinenser leben im Gazastreifen, seit dem 7. Oktober ist er Kriegsgebiet. Ein Blick auf seine Geschichte. + + +Die Terrororganisation kontrolliert den Gazastreifen und will einen islamischen Staat Palästina errichten. Ihr bisher tödlichster Angriff auf Israel erfolgte am 7. Oktober 2023 – seitdem herrscht Krieg. + + +Israelis und Palästinenser erheben Anspruch auf dasselbe Territorium. Die Frage, wo die Grenzen verlaufen sollen, führt immer wieder zu Konflikten. Wir verschaffen einen Überblick. +In der Debatte um den Nahost-Konflikt, der am 7. Oktober zum Krieg wurde, sind sie ein großer Streitpunkt: Wie die israelischen Siedlungen entstanden und wer dort lebt + +Als möglicher Ausweg aus dem Konflikt zwischen Israel und Palästina wird oft die Zweistaatenlösung genannt. Woher kommt die Idee und wie realistisch ist sie heute? +Als erstes arabisches Land erkannte Ägypten 1979 den Staat Israel an. Heute ist es mit seiner direkten Grenze zum Gazastreifen und zu Israel unmittelbar vom Krieg betroffen. + diff --git a/fluter/nahrungsergaenzungsmittel-fuer-sportler.txt b/fluter/nahrungsergaenzungsmittel-fuer-sportler.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/name-aendern-integration.txt b/fluter/name-aendern-integration.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..348e63d2db25750ef4c00b379f11a69fdf98cc09 --- /dev/null +++ b/fluter/name-aendern-integration.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +"Viele Bewohner von Tunbridge sind fremdenfeindlich und rassistisch", sagt Maciej heute.Als Maciej die Versetzung ins nächste Jahr nicht schaffte, riet eine Lehrerin gleich, die Schule ganz zu verlassen.Maciej ist sich heute sicher, dass das mit der polnischen Herkunft zusammenhängt. Es sind diese Erfahrungen, die Maciej schließlich dazu brachten, zumindest ein bisschen mehr wie die britischen Jugendlichen sein zu wollen. Dafür war Maciej auch bereit, einen Teil der alten Identität aufzugeben. Aus dem polnischen Maciej wurde das britische Matt. Ein Name als Schutzschild, hinter dem Maciej das Polnischsein versteckte, in der Hoffnung, es so einfacher zu haben in England. Von nun an stellte Maciej sich mit "Matt" vor. Die Lehrer kannten den echten Namen, nutzten ihn aber nicht; der Großteil der Mitschüler wusste nicht, dass es Maciej je gegeben hatte. Der Name existierte nur noch zu Hause bei der Mutter und bei der Familie in Polen. +Nach der Schule fing Matt an, in Restaurants und Cafés zu kellnern. Auf der Personalkarte stand "Matt". Erst mit dem Umzug nach London für ein Studium der bildenden Kunst und Fotografie an der Universität der Künste dachte Matt wieder über den alten Namen Maciej nach. Umgeben von Menschen aus unterschiedlichsten Städten, Ländern, Nationen und Ethnien fühlte sich Matt freier. "Ich hatte weniger Angst davor, ich selbst zu sein." Im Bekanntenkreis blieb Matt zunächst bei diesem Namen, aber verheimlichte Maciej nicht mehr, und ein paar Dozenten und Professoren nutzten den polnischen Namen bereits. +Aus Prag zurück in London, musste sich Matt wegen derCorona-Einreiseregeln in Quarantäne begeben. Zwei Wochen, von denen Matt die meiste Zeit im Bett verbrachte und in denen Matt eine Frage nicht mehr losließ: Wie war Matt überhaupt entstanden? An einem der Quarantäne-Abende im Oktober sah Matt auf Instagram ein Video der niederländisch-iranischen Sängerin Sevdaliza, in dem sie ihr Lied "Gole Bi Goldoon" auf Farsi performt – der persischen Sprache, die im Iran Amtssprache ist. Unter dem Post stand: "Dieses Lied ist für das Erbe, das mir all die Gnade und Weisheit gibt, mich durch diese turbulente Welt zu bewegen." Matt las die Worte, hörte das Lied und merkte mit einem Mal: "Fuck Matt. Ich will zurück zu meinem echten Namen." +Kurz darauf öffnete Matt seine Instagram-Story und schrieb hinein, wie schön es war, Matt gewesen zu sein. Aber dass Maciej sich zugleich nicht mehr hinter dem Namen verstecken wolle. "Für jetzt (und für immer), ciao, Matt. Liebe, Maciej", stand am Ende der Nachricht. Mit dem Absenden der Story kam sofort die Angst hoch – Angst vor der Reaktion von Freunden und Bekannten. Unbegründete Angst. Die Reaktionen, teils von Leuten, mit denen Maciej bisher kaum ein Wort gewechselt hatte, waren durchweg positiv. Die meisten schrieben, dass sie beeindruckt seien von der Entscheidung und dem Mut, Bedürfnisse zu äußern und einzufordern. In der Story hatte Maciej geschrieben: "Ich sollte keinen anderen Namen als Kompromiss nutzen müssen, um weniger kompliziert zu sein, nur damit andere meinen Namen richtig aussprechen können." Heute ist es Maciej wichtig, dass sich andere Mühe geben, den Namen zu lernen. +Der Plan ging auf: In den kommenden Wochen fragten Freunde und Bekannte nach der richtigen Betonung des Namens. Vor Jahren war es Maciej peinlich, wenn der Name falsch ausgesprochen wurde, heute amüsiert Maciej sich darüber. "Egal wie perfekt jemand meinen Namen heute ausspricht, ein bisschen anders als zu Hause in Polen ist es immer, und ich mag das." + diff --git a/fluter/namibia-sodomiegesetz-lgbt-rechte.txt b/fluter/namibia-sodomiegesetz-lgbt-rechte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2c05ea1e851a8c123b2416066ff6fbfc815d0a40 --- /dev/null +++ b/fluter/namibia-sodomiegesetz-lgbt-rechte.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Die SWAPO übernahm die Regierungals Namibia vor mehr als 30 Jahren unabhängig wurde, und hat sie seitdem nicht abgegeben. In der Frage, ob die Rechte queerer Menschen gestärkt werden sollten, ist die Partei gespalten. Die Führung vermeidet Bekenntnisse für oder gegen die Minderheiten, einzelne Parteiflügel, darunter auch die Jugendorganisation und der Ältestenrat, erklären ihre rechtliche Gleichstellung öffentlich für falsch. Immer wieder behaupten SWAPO-Vertreter:innen, Homosexualität sei illegal, krank, satanisch. +Mit solchen Aussagen kann die Regierungspartei bei vielen Menschen punkten: Das Land hat schwer mit der HIV-Epidemie zu tun. Die HIV-Rate in Namibia ist eine der höchsten weltweit, 8,3 Prozent der Bevölkerung leben mit dem Virus. Die Prävention ist in vielen Teilen des dünn besiedelten Landes nicht einfach, in anderen aber auch nicht konsequent. Das zeigt ein Ort besonders: Seit Jahren weigern sich die Behörden, Kondome an Männer in Gefängnissen zu verteilen. Die gelten als HIV-Hotspots. Man wolle aber, so die namibischen Behörden, gleichgeschlechtlichen Sex zwischen Insassen nicht fördern. Der ist in Namibia noch immer illegal. +Weiterlesen +Sascha Kazanzewa klärt in den sozialen Medien über queere Themen auf. Wie lange sie das noch darf, ist unklar:"Informelle Bildung" steht in Russland unter staatlicher Kontrolle +Das sogenannte Sodomiegesetz kriminalisiert Männer, die Sex mit anderen Männern haben(der früher abwertend "Sodomie" genannt wurde, Anm. d. Red.).Grundsätzlich ist Homosexualität nicht verboten, Analsex aber schon. In der namibischen Strafprozessordnung ist schwuler Sex ein ähnlich schweres Vergehen wie Mord, Vergewaltigung oder Landesverrat. Deshalb dürfen Polizist:innen sogar töten, wenn sie zwei Männer festnehmen, die vermutlich Sex miteinander hatten, auch ohne Haftbefehl. +Aktivist:innen wehren sich gegen das Gesetz und kritisieren es als homofeindlich. Die SWAPO aber sah bislang keinen Anlass, das Verbot abzuschaffen. Politiker:innen behaupten, das Gesetz werde heute kaum noch angewendet – obwohl zwischen 2003 und 2019 64 Festnahmen im Zusammenhang mit dem "Sodomiegesetz" gemeldet wurden und das Gesetz leicht missbraucht werden kann, um schwule Männer zu erpressen. +Die Diskussion um das "Sodomiegesetz" fällt in eine Zeit, in der immer mehr queere Menschen gegen ihre Ungleichbehandlung juristisch vorgehen. Und es damit bis vor die höchsten Gerichte des Landes schaffen. So auch mehrere Fälle des Namibiers Phillip Lühl und des Mexikaners Guillermo Delgado. +Die beiden sind verheiratet und haben mittlerweile drei Kinder, die von einer Leihmutter in Südafrika ausgetragen wurden. Anders als bei heterosexuellen Paaren verweigerten die Behörden ihren Kindern jedoch die namibische Staatsbürgerschaft – und den Zwillingen Maya und Paula Delgado-Lühl nach der Geburt sogar für Monate die Einreise nach Namibia. Die Behörden verlangten einen Beweis, dass Phillip der leibliche Vater der Zwillinge sei. Dabei definiert weder das namibische Gesetz noch die Verfassung Abstammung durch genetische Verbindung. +Phillip und Guillermo fühlen sich vom Staat diskriminiert, weil sie ein gleichgeschlechtliches Paar sind, das Kinder hat. "Wir wollten Namibia verlassen, als wir unsere Kinder nicht nach Hause bringen durften", sagt Phillip. Stattdessen hing das Paar für Monate in Gerichtsprozessen fest. +"Die Gesetze dieses Landes verletzen mein persönliches Recht, in Namibia zu existieren", sagt Omar van Reenen. Van Reenen ist 25, Mitglied desNamibia Equal Rights Movement, und gehört zu einer neuen jungen Generation Namibier:innen, die offen zu ihrer sexuellen Orientierung stehen. "Trotzdem ist ein Coming-out für viele queere Menschen in Namibia eine traumatische Erfahrung." Van Reenen hat sich mit Anfang 20 geoutet, während des Studiums in New York. "Es ist schwer, in Namibia queer zu sein, weil wir in einer traumatisierten Gesellschaft leben, die sich nie mit dem Schrecken der Apartheid auseinandergesetzt hat." +Die Geschichte Namibias ist auch eine Geschichte der Fremdbestimmung. 1884 wurde das Gebiet zur deutschen Kolonie Deutsch-Südwestafrika erklärt. 20 Jahre späterschlugen die Kolonialtruppen den Widerstand der Herero und Nama nieder: Der erste deutsche Genozid kostete schätzungsweise 50.000 bis zu 100.000 Menschen das Leben. Sie verdursteten in der Omaheke-Wüste, starben im Kampf oder in Konzentrationslagern. +Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das heutige Namibia Südafrika zugeteilt und konnte erst 1990 – nach mehr als 100 Jahren Fremdbestimmung – seine Unabhängigkeit erklären. Das "Sodomiegesetz" ist eine Hinterlassenschaft dieser Geschichte. Als Namibia 1990 unabhängig wurde, übernahm es die politischen Rahmenbedingungen Südafrikas; also auch dessen "Sodomiegesetz", das auf die niederländischen und britischen Kolonialherren zurückgeht. So kommt es, dass ein 100 Jahre altes Gesetz noch heute für Debatten sorgt. Nicht nur Aktivist:innen wehren sich. Auch ein Komitee der namibischen Regierung empfahl kürzlich, Gesetze, die auf die Kolonialzeit zurückgehen, endgültig abzuschaffen. Unter anderem auch, weil die nicht von demokratisch gewählten Repräsentant:innen Namibias erlassen wurden. +Die Geschichte von Maya und Paula Delgado-Lühl verbreitete sich über die Nachrichten. Omar van Reenen organisierte Demonstrationen. Plötzlich liefen wildfremde Menschen mit Schildern durch Windhuk, auf denen "Bring Paula and Maya home" stand. Im Mai durften die Kinder schließlich per Notfallreisedokument einreisen. Im Oktober entschied der Oberste Gerichtshof, dass auch der erste Sohn der beiden, Yona Delgado-Lühl, der ebenfalls durch eine Leihmutter in Südafrika zur Welt kam, namibischer Staatsbürger werden darf. Das namibische Innenministerium hat dagegen Berufung eingelegt, das Urteil steht aus. Trotzdem wird Yona Delgado-Lühl von der queeren Community als Präzedenzfall gefeiert. +Die wartet jetzt auf die Abschaffung des "Sodomiegesetzes". Auf die anscheinend auch Justizministerin Yvonne Dausab hinarbeitet. Dausab, ebenfalls Mitglied der SWAPO, legte im vergangenen Sommer einen Gesetzentwurf vor. Der braucht jetzt die Zustimmung des Kabinetts und der namibischen Nationalversammlung. Wann sie entscheiden wird, ist unklar. +Dausab sieht derweil schon in den Gerichtsverfahren der Familie Delgado-Lühl einen Wendepunkt für Namibia: Menschen wie Phillip Lühl ziehen für ihre Rechte vor die höchsten Gerichte des Landes, Aktivist:innen wie Omar van Reenen protestieren für ihre Gleichstellung. Von der sind queere Menschen im Land immer noch weit entfernt, rechtlich und gesellschaftlich. Aber mittlerweile verdient die LGBT-Bewegung in Namibia ihren Namen. Sie kommt voran. + diff --git a/fluter/narcas-frauen-in-drogenkartelle-interview.txt b/fluter/narcas-frauen-in-drogenkartelle-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..17deaf9d158d1b588027d85de1e1bf9e655fccce --- /dev/null +++ b/fluter/narcas-frauen-in-drogenkartelle-interview.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Deborah Bonello: Ich glaube, es ist die berauschende Mischung aus Macht, Risiko, Rebellion, Bereicherung, Sex, Glamour und Gewalt, die die Drogenkartelle darstellen. Drogenbosse sind einerseits Außenseiter, die sich nicht an die Regeln halten, gleichzeitig Kapitalisten, die ohne Rücksicht auf menschliche Verluste nach Profit streben. Aber das, was wir von der kriminellen Unterwelt in der Popkultur sehen, ist oft eher auf das Publikum zugeschnitten als auf die Realität. Die Erzählungen sind vereinfacht, oft frauenfeindlich und nicht nuanciert genug. +Sie haben selbst ein Buch über Frauen in Drogenkartellen geschrieben. Wie werden diese Frauen dargestellt, und was ist ihre Rolle in der Realität? +Die Erzählungen über den Drogenhandel werden von Männern dominiert. Es gibt die Legenden von Pablo Escobar oder "El Chapo". Ein gängiges Klischee über Frauen in den Kartellen ist das der Frau als Trophäe oder als Killerin mit dem goldenen Colt. Ich habe mich gefragt: Ist das wirklich so? Bei meinen Recherchen fand ich viele Fälle von Frauen, die hochrangige Mitglieder der Kartelle waren. Sie nehmen tragende Rollen in den Kartellen ein, von der Entscheidungsfindung bis zum Tagesgeschäft sind sie in alle Prozesse involviert. +Wie haben Sie diese Frauen gefunden und ihr Vertrauen gewonnen? +Die erste Frau, auf die ich stieß, war Digna Valle, die Matriarchin des Valle-Kartells, wichtige Kokaintransporteure in Honduras. Von Strafverteidigern und Einwanderungsanwälten wurde ich auf andere Frauen aufmerksam gemacht. Während des Chapo-Prozesses in den USA las ich in den Prozessakten den Namen von Guadalupe Fernández Valencia. Sie war Chapos obersteGeldwäscherinund die ranghöchste Frau im Sinaloa-Kartell in Mexiko. So habe ich mich von Name zu Name gehangelt. Viele Frauen haben nicht persönlich mit mir gesprochen. Einige aber schon: Marixa Lemus konnte ich im Gefängnis treffen, weil ich mich mit einer NGO eingeschlichen hatte. Yaneth Vergara Hernández, eine Kolumbianerin, habe ich in den USA im Gefängnis besucht. Bei den Nachbarn und Freunden von Digna Valle bin ich zusammen mit dem Bischof aufgetaucht, er machte mich mit ihrer Familie bekannt. Die katholische Kirche wirkt auf mich dort wie eine Art Schiedsrichter zwischen Kartellen und Zivilgesellschaft. Die Priester haben manchmal eine besondere Stellung und können mit den Drogenbossen reden, weil einige von ihnen sehr religiös sind. Digna selbst habe ich dann per Videoanruf gesprochen. +Gelangen Frauen auf dieselbe Art in die Kartelle und Gangs wie Männer? +Viele werden von ihren Familien reingebracht, genau wie die Männer. Die Chapitos sind zum Beispiel nur wegen ihres Vaters Chapo Gúzman im Geschäft, nicht wegen besonderer Fähigkeiten oder Talente. Der Bruder von Guadalupe Fernández Valencia arbeitete mit ihnen zusammen, als er verhaftet wurde, übernahm sie seine Position. Digna Valle wurde in das Kartell hineingeboren. Sie war die älteste von 13 Geschwistern, und ihre gesamte Familie war im Kokaingeschäft. +Oft herrscht das Geschlechterklischee: Männer als Täter und Frauen als Ehefrauen oder Opfer. +Als ich an die Grenze zwischen Honduras und Guatemala fuhr, um mit Nachbarn und Mitarbeitern von Digna Valle zu sprechen, erzählten sie mir, wie großartig Digna sei, dass sie eine Kirche bauen ließ und alle sie liebten. Ich dachte mir: Vielleicht war sie die Gute des Kartells, weniger gewalttätig. Aber dann habe ich mit Asylbewerbern in den USA gesprochen, die aus dem Ort kamen. Sie erzählten, dass Digna Leute ermorden ließ, die mit den Behörden kollaborierten. Ihre Brüder entführten junge Mädchen aus dem Ort und vergewaltigten sie. Digna wusste davon und tat nichts dagegen, weil sie verstand, dass dies Teil der Strategie war, Angst zu erzeugen und die Menschen dazu zu bringen, mit ihrer Familie zu kooperieren. +Gehört Gewalt ganz selbstverständlich zum Kartellalltag? +Marixa Lemus gehörte zu einem Familienclan von Drogenhändlern. Sie soll drei Attentate auf den Bürgermeister angeordnet und befohlen haben, Leute zu entführen oder töten zu lassen. Als ich sie in Guatemala im Gefängnis traf, erzählte sie mir ganz offen davon, ohne Scham. Menschen, die in eine bestimmte sozioökonomische Realität hineingeboren werden, vor allem in den ländlichen Gebieten Lateinamerikas, sind von Anfang an mit Gewalt konfrontiert. Ein Menschenleben ist wenig wert, innerfamiliäre Gewalt sehr verbreitet. Die Frauen lernen früh, dass Gewalt ein Weg zur Selbstbestimmung ist. Es ist dann nicht so abwegig, sie selbst anzuwenden und sie an die eigenen Bedürfnisse anzupassen, ob in der eigenen Familie oder in einer größeren Organisation. Unser Verständnis vonGeschlechtund den damit verbundenen Stereotypen macht uns in gewisser Weise blind dafür. Digna Valle, Marixa Lemus – alle teilen diese Biografie. +Wie sieht diese Biografie aus? +Im Mittelamerika der 70er- und 80er-Jahre bot der einsetzende Kokainhandel für viele eine Gelegenheit, um Geld zu verdienen und aufzusteigen. Die Valles zum Beispiel, Dignas Familie, verdienten ihr Geld, indem sie Zigaretten und Vieh über die Grenze schmuggelten. Später stiegen sie dann auf denDrogenhandelum. Wenn man Kokain über die Grenze bringt, verdient man bis zu 800.000 US-Dollar pro Tonne. Die Menschen ergreifen die Chancen, wenn sie sie bekommen. +Inwiefern ist Frausein in den Kartellen von Vorteil? +Ich glaube, dass Frauen als zuverlässig und vertrauenswürdig angesehen werden, was nützlich für die Korruptionsnetze ist – und ihnen eine besondere Stellung einbringt. Für Frauen in dem Geschäft ist das ein Vorteil und eine große Macht. +Hilft dieses Wissen, um den Drogenhandel besser zu bekämpfen? +In unserer Region ist der Drogenhandel sehr clan-, sehr familienbasiert. Frauen als diejenigen abzutun, die in der Küche stehen und die Soße umrühren, während die Männer über die Geschäfte reden, halte ich für eine gravierende Unterschätzung. Es ist ein Missverständnis der Art und Weise, wie der Drogenhandel funktioniert. Frauen sind in jeder Phase des Prozesses beteiligt – vom Anbau über den Vertrieb bis hin zu Entführungen und Morden. Wenn wir das verstehen, könnten wir uns in der Antidrogenpolitik von der sogenannten Kingpin-Strategie, also dem Ansatz, vor allem die großen Kartellbosse festzunehmen, lösen und endlich zu einem präventiven Ansatz gelangen. Es bringt nichts, nur die Bosse festzunehmen. Das hat in fünf Jahrzehnten des Drogenkriegs in Lateinamerika weder zu einer Verringerung der Drogentoten oder Schmuggelmenge noch zu einem Rückgang der Gewalt geführt. Die Drogenindustrie bietet vielen Familien auf der ganzen Welt Arbeit und Einkommen. Wenn wir die Zahl der Drogentoten senken wollen, dann müssen wir Dinge anders machen. + +Deborah Bonella ist investigate Journalistin und Autorin. Sie wurde in Malta geboren, wuchs in Großbritannien auf und lebt und arbeitet heute in Mexiko Stadt.Ihr Buch"Narcas: The Secret Rise of Women in Latin America's Cartels"erschien im Juli 2023. diff --git a/fluter/nation-building-in-kasachstan.txt b/fluter/nation-building-in-kasachstan.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4f05735924d3d01f248e956ef9fa3480ea33a77a --- /dev/null +++ b/fluter/nation-building-in-kasachstan.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Muss Kasachstan überhaupt Demokratie vorspielen, schließlich wird es meistens als autoritär geführtes Land wahrgenommen? +Edda: Kasachstan hat großes Interesse daran, außenpolitisch als moderne Demokratie wahrgenommen zu werden. Dafür werden immer wieder große imagebildende Maßnahmen wie etwa die Expo 2017 in der Hauptstadt Astana initiiert. Die Umbenennung einer der großen Prachtstraßen in Almaty ist ein Weiteres. Bis vor kurzem hieß sie noch "Furmanow-Straße". 2017 wurde sie aber nach dem kasachischen Präsidenten in "Nasarbajew-Prospekt" umbenannt. Ähnlich verhält es sich mit der geplanten Umstellung des Alphabets von kyrillischen auf lateinische Schriftzeichen. So etwas wird nicht öffentlich diskutiert. Es wird beschlossen und als vom Volk gewollt dargestellt. +Othmara: Kasachstan ist im Nation Branding sehr aktiv. Es achtet stark darauf, wie es sich nach außen verkauft. Dabei geht es nicht nur um Großereignisse. Die Astana-Friedensgespräche zu Syrien zwischen Moskau, Teheran und Ankara fallen sicher ebenso darunter. Auch konnte sich Präsident Nursultan Nasarbajew als internationaler Vermittler präsentieren, als das Land zu Jahresbeginn die Präsidentschaft im UN-Sicherheitsrat übernahm. Zuvor hatte Kasachstan 2010 bereits den OSZE-Vorsitz inne. Nicht zuletzt ist Kasachstan durch seine Rohstoffe ein attraktiver Partner und kann sich natürlich dadurch auch nach innen Legitimität verschaffen – indem die Regierung den Kasachen sagt: "Hier, schaut mal: Die USA, Deutschland und andere europäische Staaten wollen mit uns zusammenarbeiten." Das Interesse westlicher Demokratien wird so für sich genutzt. +Beobachterorganisationen wie Reporter ohne Grenzen oder Amnesty International berichten wiederholt darüber, dass Journalisten und Menschenrechtsaktivisten mit Schikanen und Gefängnis rechnen müssen. Wie wirkt sich dieses Klima auf eure Arbeit aus? +Othmara: Es gibt manche Themen, über die hier anders berichtet wird als bei uns. Manchmal muss ich dann eine andere Perspektive einnehmen, andere Aspekte in den Vordergrund stellen oder auch darauf verzichten. Das ist ein Lernprozess. +Edda: Ich bin sicher, in Kasachstan besteht ein gewisses Interesse daran, dass internationale Medien über das Land berichten. Und wenn Journalisten ausgewiesen würden, würde das ein schlechtes Licht auf das Land werfen. Ich persönlich lasse die Themen Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in meine Arbeit einfließen, aber berichte auch über positive Wenden wie zum Beispiel Fortschritte bei der Wiederherrichtung des Aralsees. +Othmara Glas (26), seit Herbst 2017 ifa-Redakteurin der "Deutschen Allgemeinen Zeitung" (DAZ) in Almaty, der Zeitung der deutschen Minderheit Kasachstans und Edda Schlager (46), freie Auslandskorrespondentin für Zentralasien. Sie lebt seit 2005 in Almaty, Kasachstan +Man spricht häufig von einer Region namens "Zentralasien". Dabei gibt es hier wenig Institutionen regionaler Integration und staatenübergreifender Zusammenarbeit. Ist der Begriff verfehlt? +Edda: Wenn man sich die letzten 30 Jahre anschaut, mag das durchaus sein. Alle fünf Länder (Anm. d. Red.: Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan) waren vor allem mit eigener Identitätsfindung und Nation Building beschäftigt. Aber zu Sowjetzeiten war die Region schon deutlich verzahnter. So gibt es nach wie vor auch einige Verbindungen. Und die Menschen freuen sich, dass es in diese Richtung einige Veränderungen gibt. Vielleicht wäre es nicht schlecht, so eine Art zentralasiatisches Bündnis einzugehen. +Gibt es Pläne dafür? +Othmara: Es gibt Bestrebungen, dass alle fünf Länder wieder zusammenkommen. Im März gab es den Gipfel in Astana, auf dem sich die vier Präsidenten Kasachstans, Kirgisistans, Tadschikistans und Usbekistans und zumindest eine turkmenische Delegation trafen. Der turkmenische Präsident Gurbanguly Berdimuhamedow selbst ist nicht angereist. +Und es gibt noch verschiedene Kooperationsformate wie zum Beispiel die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) oder das russische Militärbündnis, die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS). +Beobachter sehen in genau diesen von Moskau dominierten Organisationen Parallelstrukturen, die die Bemühungen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) konterkarieren. +Othmara: Im Fall von Kasachstan kann man nicht pauschal sagen, dass sich das Land von Moskau komplett einspannen lässt. Man will sowohl mit Russland, mit der EU, mit den USA als auch mit China zusammenarbeiten. Diesen Konkurrenzkampf zwischen den Ländern und Organisationen weiß Kasachstan für sich zu nutzen. +Edda: Kasachstan verfolgt da eine sogenannte Multivektor-Politik (Anm. d. Red.: Bestreben, durch Bündnisse mit verschiedenen Partnern eigenständig zu bleiben). Die Frage ist: Wer definiert eigentlich Zentralasien als eine Region? Es ist nicht naturgegeben, dass man immer noch dem Einflussgebiet der früheren Sowjetunion angehört. Die Länder wollen sich emanzipieren, und das geschieht in unterschiedlichem Tempo und entsprechend mit unterschiedlichen Interessen in den fünf zentralasiatischen Staaten. Ich glaube, dass gerade die Präsidenten der beiden großen Staaten, Nasarbajew und Mirsijojew, eine regionale Zusammenarbeit als identitätsstiftend und vorteilhaft ansehen. +Das führt uns zur Frage nach der Verkehrssprache in der Region. In welcher Sprache arbeitet ihr hier? +Edda: Ich habe ja nun mittlerweile Russisch gelernt. Allerdings sprechen die Menschen im Süden von Kasachstan oder teilweise in Tadschikistan zunehmend weniger oder nur noch ganz schlecht Russisch. Da die Beherrschung des Russischen ein Bildungskriterium ist, verlassen viele Zentralasiaten, die Russisch als Muttersprache oder Fremdsprache beherrschen, ihre abgelegene Heimat, weil sie mit diesen Kenntnissen woanders bessere Perspektiven haben. +Othmara: Ich arbeite für ein deutsch- und russischsprachiges Medium. Dementsprechend sind meine Kommunikationssprachen Deutsch und Russisch, manchmal aber auch Englisch. Ich bin auch immer wieder überrascht, wie viele Menschen im postsowjetischen Raum Deutsch als zweite Fremdsprache gelernt haben. Und die freuen sich häufig, wenn Deutsche kommen und sie ihre Kenntnisse anwenden können. +Zentralasien ist islamisch geprägt und befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu Afghanistan. Wie sieht es hier sicherheitspolitisch aus? +Edda: Zunächst einmal: Alle zentralasiatischen Staaten sind bis heute säkular. Der Kampf gegen Terrorismus und Extremismus wird hier immer wieder missbraucht, um missliebige Gruppierungen oder Aktivisten auszuschalten. In Usbekistan unter Karimow beispielsweise hatte das System. Die Leute kamen auf schwarze Listen potenzieller Extremisten, wenn sie sich nur gegen die Regierung geäußert hatten, selbst wenn dies gar nichts mit Religion zu tun hatte. Gleichzeitig ist das religiöse Leben in den vergangenen Jahren stärker und sichtbarer geworden. Aber diese Wahrnehmung, die man im Westen häufig hat, dass Zentralasien eine Keimzelle für Islamisten sei, ist so nicht ganz richtig. Es sind vor allem die Arbeitsemigranten aus Zentralasien in Russland, die dafür besonders anfällig zu sein scheinen. Aber sie radikalisieren sich meist nicht hier in Zentralasien, sondern im Ausland. Der besonders enge Familienverband, der den Menschen hier Halt gibt, wird durch die Arbeitsmigration zerrissen. Und entsprechend verlieren sie ihren sozialen Halt. Diese Zusammenhänge sollte man differenzierter recherchieren und darstellen. +Bleibt ihr dieser Region treu? +Othmara: Zentralasien ist sehr spannend, und es gibt so viel zu berichten. Ich kann mir hier eine wichtige Nischenkompetenz aneignen. Aber ich bin noch jung und kann nicht mit Sicherheit sagen, ob ich auch in fünf Jahren noch hier sein werde. +Edda: Zentralasien ist journalistisch so reich, obwohl es auch gerade für Journalisten eine schwierige Region ist. Die Offenheit der Menschen und ihr Interesse an uns Fremden finde ich toll. Eine der witzigsten Fragen, die ich hier jemals gestellt bekommen habe, war: Stimmt es, dass in Deutschland Männer und Frauen zusammen nackt in die Sauna gehen? Die Antwort hat Fassungslosigkeit, aber auch viele weitere Nachfragen ausgelöst. Insofern sind wir Journalisten nicht nur als Zentralasien-Erklärer in Deutschland unterwegs, sondern auch umgekehrt als Botschafter Deutschlands in dieser Region. + +Titelbild: Taylor Weidman/Bloomberg via Getty Images diff --git a/fluter/nationalmannschaft.txt b/fluter/nationalmannschaft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4c78dddec613064049cf550671749f6eafc98b83 --- /dev/null +++ b/fluter/nationalmannschaft.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Ibrahim Tatlises +Es war einmal ein armer kurdischer Junge, geboren am Neujahrstag 1952 in einer Höhle im anatolischen Urfa, weil sich die Familie kein Haus leisten konnte. Der Junge hat sieben Geschwister und einen Vater, der Kebab verkauft und früh stirbt. Zur Schule kann der Junge nicht gehen, stattdessen verdient er mit Geld, indem er Sesamkringel verkauft oder auf Baustellen arbeitet. Auf einer dieser Baustellen singt er beim Steineklopfen vor sich hin, als ihn ein vorüberschlendernder Nachtclubbesitzer entdecket und ihn für einen Auftritt engagiert – und alles wird anders. Aus dem Jungen, der zunächst auf Hochzeiten und Familienfesten auftritt, wird İbrahim Tatlıses, Ibrahim "süße Stimme" – so soll er sich zugetragen haben, der Werdegang des bekanntesten Sängers der Türkei. Bis heute hat der sogenannte "König des Arabesk" – ein Musikmix aus türkischem Blues und orientalischem Pop – mehr als zwanzig Alben veröffentlicht, er ist Hauptdarsteller einer Vorabendserie, hat mehrere Kinofilme gedreht, moderiert seine eigene TV-Show, besitzt unter anderem Hotels, Busunternehmen, Tankstellen, eine Käse- und Joghurtfabrik und eine Art türkischen McDonalds: die Fast-Food-Kette Lahmacun. Trotzdem ist er ein Mann des Volkes geblieben, das ihn "Ibo" nennt. Dazu tragen seine schnulzigen Lieder, die ideal zur Entspannung nach einem Arbeitstag sind, ebenso bei wie sein Machoimage und die Rolle, die er bei "Türkiye Superstar" spielt: Er sitzt in der Jury und macht sich über Bewerber lustig, eine Art Dieter Bohlen mit Schnauzbart also. Am guten Image haben bisher weder der Vorwurf, er habe sich eine Zeit lang als Vorzeige-Kurde von der Regierung instrumentalisieren lassen etwas ändern können noch Geschichten, in denen Tatslises im Zusammenhang mit Begriffen wie "Mafia", "Killer", "Drogenbesitz" oder "Schlägerei" genannt wird. Was wahr ist und was nicht, ist nicht zu klären. Sicher scheint, dass Tatlises unverheiratet ist, drei Kinder hat und seinen Status als Kultfigur der einfachen Leute behalten wird. +Türkischer Honig (Lokum) +"Etwas, das den Hals beruhigt", bedeutet Lokum übersetzt. Das Zucker-Stärke-Konfekt wird, je nach Geschmack, mit Pistazien, Rosinen, Mandeln, Kokosraspeln, Nüssen, Zimt, Rosenaroma, Kaffee und Früchten angereichert. Lokum gehört zu den beliebtesten Süßigkeiten in der Türkei, oft wird es zum Tee gereicht. Erfunden hat es der Legende nach der Konditor Haci Bekir im 17. Jahrhundert. Er hatte den Auftrag, etwas zu kreieren, mit dem der Sultan die Damen seines Harem verwöhnen und seine eigene Manneskraft stärken konnte. Ein britischer Reisender soll Lokum im 18. Jahrhundert erstmals nach Europa gebracht haben. Pablo Picasso wird nachgesagt, er habe Lokum genossen, um seine Konzentration zu verbessern. Napoleon und Winston Churchill mochten am liebsten Pistazien-Lokum. +Tuincay Sanli +Ist der derzeit wohl populärste türkische Fußballer. Der 24-jährige Angreifer von Fenerbahce Istanbul wurde mit dem Club 2004 türkischer Meister. Berühmt wurde er, als er beim 3-0 Sieg Fenerbahces in der Champions League gegen Manchester United alle drei Tore erzielte. Beim entscheidenden WM-Qualifikations-Spiel der Türkei gegen die Schweiz, das trotz des 4-2-Sieges der Türkei mit dem Ausscheiden der Türkei und schweren Ausschreitungen endete, erzielte er drei Tore. +Tee (Çay) +Çay ('tschai' gesprochen) wird zu jeder Gelegenheit angeboten und getrunken. Beim Handel im Basar ebenso wie beim Friseur, im Teehaus oder einfach zu Hause. Im osmanischen Reich war noch Kaffee das Nationalgetränk gewesen. Mit der Zerschlagung des Reichs verlor die Türkei den Jemen billigen Kaffeelieferanten. Abgelöst wurde er vom Tee, der am Schwarzen Meer angebaut wird, vor allem in den Anbaugebieten Rize und Trabzon. Nach China, Indien, Sri Lanka und Kenia ist die Türkei der weltweit fünftgrößte Teeproduzent. +Süreyya Yalcin +Die 21-Jährige zeichnet sich bisher vor allem durch ihre Verwandten aus: Ihr Vater hat als Bauunternehmer Milliarden verdient, ihr Cousin ist der Präsident des Fußballclubs Fenerbahce Istanbul, ihr Mann der Sohn des verstorbenen ehemaligen Präsidenten des Fußballclubs Galatasary Istanbul. Süreyya lebt eigentlich in Miami, kam in diesem Sommer jedoch für vier Wochen nach Bodrum in der Südwesttürkei und dabei fast jeden Tag auf die Titelseiten der Zeitungen. Die nennen Süreyya inzwischen "Adana Hilton", da ihre Familie aus Adana kommt. Mit der amerikanischen Hotelerbein möchte Süreyya jedoch nicht verglichen werden, schließlich bekomme sie monatlich nur 10.000 Dollar von ihrer Familie überweisen – und davon spare sie auch noch einen Teil. +Sesamkringel (Simit) +Ringförmige, in Sesam gewendete Semmeln, die aus nichts anderem als Hefe, Wasser, Mehl, Butter und Salz gemacht werde. Gibt es in der Türkei an fast jeder Straßenecke zu kaufen, meist von mobilen Händlern. Zum Simit schmecken Tee, Schafskäse und Oliven. Als Jugendlicher war der derzeitige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan Simit-Verkäufer. +Raki +Etwa 45-prozentiger, klarer Anisschnaps, der mit Wasser verdünnt oder pur getrunken wird. Beim Mischen mit Wasser oder durch starkes Kühlen bekommt der Rakı sein typisches milchiges Aussehen, daher sein Spitzname "Löwenmilch". Der Grund: Rakı enthält ätherische Öle, die im Alkohol löslich sind, kaum jedoch in Wasser. Durch das Wasser bilden sich schlagartig Öltröpfchen. An den Grenzen zwischen diesen Tröpfchen und dem Wasser wird das Licht gestreut und der Rakı erscheint weißlich. 70 Prozent aller in der Türkei verkauften Alkoholika sind Rakı, die bekannteste Marke ist der Yeni Rakı. diff --git a/fluter/native-americans-durch-bisonjagd-ausgerottet.txt b/fluter/native-americans-durch-bisonjagd-ausgerottet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..59a0b74bbd0ff46cdf806b43cf5868c447585a0f --- /dev/null +++ b/fluter/native-americans-durch-bisonjagd-ausgerottet.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Manche professionellen Jäger brachten es auch durch das Aufkommen neuer Gewehre auf mehrere Dutzend Abschüsse am Tag. Den erlegten Bisons zogen sie noch vor Ort das Fell ab, um es im großen Stil zu exportieren. "Wäre ein Plains-Indianer im Jahr 1869 (…) in Tiefschlaf gefallen und erst zwei Jahrzehnte später wieder aufgewacht, hätte er die ihm einst so vertraute Welt nicht mehr erkannt", schreibt der Historiker Aram Mattioli in seinem Buch "Verlorene Welten". "Wo zuvor Bisons, Gabelböcke und Wildpferde herumgeschweift waren, weideten nun auf mit Stacheldraht umzäunten Weiden Rinder-, Schweine- und Schafherden." +Schon bevor das große Schlachten begann, war die Vertreibung der Native Americans in vollem Gang, die großen Gebiete im Westen der damals noch jungen USA sollten schließlich für weiße christliche Siedler erschlossen werden. Im Zuge des "Homestead Act" vergab die Regierung in Washington großzügig Land, das ihr gar nicht gehörte. Für die Ureinwohner wiederum war der Umzug in kleine Reservate vorgesehen, wenn sie nicht vorher schon durch eingeschleppte Krankheiten oder bei Massakern der Kavallerie ein schreckliches Ende gefunden hatten – oder schlichtweg verhungert waren. +Mit der exzessiven Bisonjagd hatte man den Plains-Stämmen die Lebensgrundlage entzogen, obwohl die auch nicht gerade zimperlich mit den Tieren umgegangen waren und ganze Herden in den Abgrund getrieben hatten. Traditionell wurde von den Ureinwohnern aber nicht nur das Fleisch gegessen, man verwertete das ganze Tier. Sie handelten mit Fellen und fertigten aus den Knochen, Zähnen und Sehnen Waffen, Schmuck oder Werkzeuge. +Die Fast-Ausrottung der Bisons erwies sich so als effektives Mittel bei der Vertreibung der Menschen. Selbst als die US-Regierung überlegte, nach dem millionenfachen Tod der Bisons einige Exemplare für die Nachwelt zu erhalten, drängte General Philip Sheridan, von dem auch der Spruch "Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer" stammt, auf die Ermordung der letzten Tiere, um "die Indianer ruhigzustellen". +In Europa wurde derweil der Überlebenskampf von Tieren und Menschen zur Shownummer. Der berühmte Bisontöter William Frederick Cody – bekannt geworden als Buffalo Bill – zog, nachdem es keine Bisons zum Schießen mehr gab, als Entertainer durch die Welt. Allein in München kamen rund 200.000 Schaulustige im Frühjahr 1890 zur Theresienwiese und staunten über Bisonjagden mit wagemutigen Cowboys und den inszenierten Überfall auf eine Postkutsche. + +Früher war alles besser: als noch große Bisonherden friedlich über die Ebenen der Prärie zogen + +Dass es heute überhaupt noch Bisons gibt, ist der Gründung des Yellowstone-Nationalparks 1872 zu verdanken, der den letzten Exemplaren einen Rückzugsort bot – und dem damaligen US-Präsidenten Theodore Roosevelt, der eine Kavallerie in den Yellowstone schickte, um die dortigen Wilderer zu stoppen. Dabei dachte er jedoch weniger an den Tierschutz, denn die Bisons waren ein Symbol für die Macht und Männlichkeit Amerikas – deshalb sollten sie nicht ganz verschwinden. Heute schätzt man die Zahl der auf öffentlichem Grund in Schutzherden wild lebenden Tiere auf gut 20.000 Exemplare. Im Mai 2016 hatte Barack Obama den Bison zum Nationaltier der USA erklärt. +Viele Native Americans vergleichen das Schicksal der Bisons auch heute noch mit ihrem eigenen. "Sie müssen wie wir in einem Reservat leben und dürfen außerhalb des Yellowstone nicht weiden, sonst werden sie erschossen", sagt der ehemalige Marine und Aktivist Catcher Cuts the Rope, der im Reservat Fort Belknap in Montana lebt, das wie viele andere Reservate von großer Armut geprägt ist. Unter den knapp 3.500 Einwohnern gibt es viele Arbeitslose, laut Gesundheitsverwaltung des Reservats hat sich die Zahl der Crystal-Meth-Abhängigen in den letzten Jahren verdreifacht. Ein Lichtblick für die Bewohner war 2012 die Erlaubnis, einen Teil der Bisonherde aus dem Yellowstone-Nationalpark hier anzusiedeln. "Der wilde Bison ist eine Ikone und das Wissen um die eigene Kultur für das Selbstbewusstsein junger Menschen wichtig", sagt Catcher Cuts the Rope. Unterstützt von Lehrern, die mit einem Abschluss der "Native American Studies" aus größeren US-Städten zurückkommen, lernen die Kinder wieder ihre indigene Sprache und entwickeln ein neues kulturelles Selbstbewusstsein, das sich in Musik, Sub- und Protestkultur ausdrückt. +Zur Wiederentdeckung kultureller Identität gehört auch der Kampf für Naturschutzanliegen, wie sich nicht nur im Einsatz für die Bisons zeigt. Ursprünglich galt das Land, auf dem die Reservate eingerichtet worden waren, als wertlos, bis man dort wertvolle Rohstoffe entdeckte, darunter Öl und Uran. Gegen die Ausbeutung dieser Vorkommen ohne Rücksicht auf die Umwelt und die dort lebenden Menschen formiert sich zunehmend Widerstand. So stoppte der Havasupai-Stamm erfolgreich den geplanten Uranabbau am Grand Canyon, und die sogenannten Standing-Rock-Proteste trugen 2016 dazu bei, dass die Weltöffentlichkeit vom größten Pipelineprojekt der US-Geschichte erfuhr. Das 3,7 Milliarden US-Dollar teure Dakota Access Pipeline Project sah vor, Rohöl von Fracking-Bohrstellen von North Dakota in den Süden zu leiten, ohne die Erlaubnis der dort heimischen Sioux. +Bei all diesen Projekten sind neue Allianzen zwischen Natives und Umweltschützern entstanden – auch beim Versuch einer größeren Rücksiedlung des Bisons. Naturschützer leasen mittlerweile Grünflächen, ähnlich wie Viehzüchter für ihre Rinder. 2014 trafen sich zudem elf indigene Stämme aus Kanada und den USA, um den ersten grenzüberschreitenden indigenen Vertrag zu unterschreiben: den "Buffalo Treaty", eine Allianz, um Bisons neue Weideflächen zu bieten und sie auf 2,5 Millionen Hektar Land zwischen Kanada und den USA neu anzusiedeln. "In Wirklichkeit hat uns nicht der Bison verlassen", sagt Catcher Cuts the Rope, "sondern wir haben den Bison verlassen, also müssen wir ihn wieder zurückholen." + diff --git a/fluter/nato-einfach-erklaert-faq.txt b/fluter/nato-einfach-erklaert-faq.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..16e979255e97b0b3d09cb3b8ca0960ad4ed5228b --- /dev/null +++ b/fluter/nato-einfach-erklaert-faq.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Als 1989 die Mauer fiel und 1991 der Warschauer Pakt aufgelöst wurde, wandelte sich die NATO: Aus einem reinen Verteidigungsbündnis wurde eine Organisation zur Krisenbewältigung im euro-atlantischen Raum –und nach den Anschlägen vom 11. September 2001teilweise auch darüber hinaus. + +Die Hauptaufgabe der NATO ist bis heute die gemeinsame Sicherheitspolitik: Indem die Mitglieder im Notfall zusammenstehen, verfügen sie zusammen über ein großes Militär mit abschreckender Wirkung. Die Mittel der NATO sind heute aber auch diplomatische. Das Bündnis will nach eigener Aussage zu einer "gerechten und dauerhaften Friedensordnung" im euro-atlantischen Raum beitragen. Dafür wurden ab 1992 auch Soldat*innen in Out-of-Area-Einsätze,etwa nach Bosnien-Herzegowina, Kosovo oder Afghanistan entsendet, teils ohne UN-Mandat. Dieser ausgedehnte Sicherheitsanspruch und der Wandel der NATO hin zu einer global eingreifenden Ordnungsmacht ist unter den Mitgliedstaaten umstritten. + +Zu den 30 Mitgliedstaaten der NATO zählen derzeit: das Vereinigte Königreich, die USA, Belgien, Kanada, Dänemark, Frankreich, Island, Luxemburg, Niederlande, Italien, Norwegen, Portugal, Griechenland, Türkei, Deutschland, Spanien, Ungarn, Polen, Tschechien, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Albanien, Kroatien, Montenegro und Nordmazedonien. Prinzipiell kann jedes europäische Land aufgenommen werden, das ein funktionierendes demokratisches System auf Grundlage einer tragfähigen Marktwirtschaft unterhält, sich der friedlichen Beilegung von Konflikten verpflichtet, Minderheiten fair behandelt und in der Lage und willens ist, einen militärischen Beitrag zu NATO-Operationen zu leisten. Neue Mitglieder werden eingeladen, durchlaufen einen Beitrittsprozess und müssen dann einstimmig von allen NATO-Mitgliedern aufgenommen werden. + +Einige westeuropäische Länder sind nicht Mitglied, arbeiten aber eng mit dem Bündnis zusammen. Irland, Malta, Österreich und die Schweiz wie auch einige osteuropäische Staaten kooperieren mit der NATO im Programm "Partnerschaft für den Frieden" und tragen auch zu militärischen Operationen bei. Dasselbe galt bislang auch für Finnland und Schweden, die allerdings im Mai 2022 die NATO-Aufnahme beantragt haben. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Kooperationsprogramme, die das erweiterte Netzwerk der NATO ausmachen. Auch Russland steht der Beitritt zu diesen Partnerschaften theoretisch offen. + + +Die NATO finanziert sich mit "direkten" und "indirekten" Zahlungen. "Direkte" Zahlungen decken die laufenden Kosten der NATO-Einrichtungen (etwa die Finanzierung des NATO-Hauptquartiers in Brüssel und die Löhne der NATO-Bediensteten) und werden mit einem festen Verteilungsschlüssel errechnet. Deutschland übernahm 2021 etwa 425 Millionen Euro (16,34 Prozent des Gesamtbudgets von rund 2,6 Milliarden Euro) – genauso viel wie die USA. Die "indirekte" Finanzierung ist ein freiwilliger Beitrag der Verbündeten zu Militäraktionen der NATO. Die Mitglieder haben sich 2014 verständigt, dass jedes NATO-Land bis 2024 Verteidigungsausgaben in Höhe von zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) anstreben soll. Die deutschen Verteidigungsausgaben im Jahr 2020 entsprachen NATO-Kalkulationen zufolge aber nur einem Anteil am BIP von 1,57 Prozent. Ende Februar 2022, kurz nach dem Beginndes Angriffskrieges gegen die Ukraine, erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz, dass Deutschland zukünftig das Zwei-Prozent-Ziel der NATO erfüllen wolle – und stellte kurzerhand 100 Milliarden Euro mehr für die Bundeswehr zur Verfügung. + +Kommt darauf an, wen man fragt. Der Streit darüber, wer welche Lasten in der NATO tragen muss, ist so alt wie die Organisation selbst. In den vergangenen Jahren haben speziell die USA mehr Geld für die "indirekte" Finanzierung gefordert. Die NATO-Kalkulationen rechnen Ausgaben für zivile Friedenssicherung nicht in diesen Etat mit ein. Zählt man aber nicht nur Panzer und Drohnen, sondern auch Maßnahmen der zivilen Friedenssicherung hinzu, investiert Deutschland heute schon 1,96 Prozent seines BIP. Insgesamt betrugen die Militärausgaben des NATO-Bündnisses im Jahr 2021 geschätzt gut 1,17 Billionen US-Dollar. Davon entfielen 811 Milliarden auf die USA und 364 Milliarden auf die übrigen NATO-Staaten. + +Im Jahr 2022 umfassen die Streitkräfte der NATO-Mitglieder 3,36 Millionen aktive Soldat*innen. Die meisten davon (1,39 Millionen) gehören zur US-Armee. Die deutsche Armee verfügte über 184.000 Soldat*innen. Zum Vergleich: Die größte Armee der Welt ist die chinesische mit zwei Millionen Soldat*innen. Russland hat eine aktive Truppenstärke von 850.000 Soldat*innen. Die NATO kann allerdings nicht frei über die Soldat*innen ihrer Mitglieder verfügen. Die Mitglieder stellen das Material und die Truppen zur Verfügung, die sie für den Einsatz als notwendig erachten. Damit bleiben die einzelnen Staaten souverän – selbst bei einem Bündnisfall. + +Bisher wurde dieser Fall, der in Artikel 5 des Nordatlantikvertrags geregelt ist, einmal ausgerufen: Am Tag nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 beschloss der NATO-Rat, dass ein Bündnisfall vorliege, sobald zweifelsfrei feststehe, dass die Anschläge auf die USA vom Ausland ausgeführt worden seien. Die USA legten am 2. Oktober 2001 Beweise vor, dass das radikalislamistische Netzwerk al-Qaida für den Angriff verantwortlich war. Deren Rückzugsort war damals Afghanistan. Der NATO-Rat beschloss daraufhin am 4. Oktober 2001 den Bündnisfall, am 7.Oktober 2001 begann die Operation "Enduring Freedom", in der US-amerikanische und britische Truppen in Afghanistan einmarschierten, später auch deutsche. Die Sicherheits- und Wiederaufbaumissionen, die auf die Einnahme des Landes und die militärisch erzwungene Entmachtung der Taliban folgten, liefen bis zum Sommer 2021. + +Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unterzeichneten die NATO und Russland 1997 die sogenannte "Grundakte". In der wurden unter anderem der Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegeneinander und die Achtung der Souveränität, der Unabhängigkeit und der territorialen Unversehrtheit aller Staaten festgehalten. Daraus gingen 2002 der NATO-Russland-Rat und mehrere militärische Kooperationen hervor. Nachdem Russland im Frühjahr 2014 die ukrainische Halbinsel Krim annektiert hatte, wurde die Zusammenarbeit zwischen NATO und Russland jedoch praktisch eingestellt. Die aktuelle russische Militärdoktrin definiert die NATO als größte militärische Gefahrenquelle. Eine mögliche Annäherung durch erneute Gespräche zwischen Russland und der NATO Anfang 2022kam durch den russischen Angriffskriegauf die Ukraine zu einem abrupten Ende. + +Die NATO hat in den vergangenen Jahrzehnten Länder aus dem Baltikum und Osteuropa aufgenommen, die früher zur Sowjetunion und zum Warschauer Pakt gehörten. Vertreter aus verschiedenen osteuropäischen Staaten drängten bereits kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auf einen schnellen NATO-Beitritt. Diesem Wunsch erteilten die USA zunächst eine Absage, auch Russland sprach sich nach ersten Verständnisbekundungen gegen eine NATO-Osterweiterung aus. Aber bereits im Juli 1997 wurden Tschechien, Ungarn und Polen zu Beitrittsverhandlungen eingeladen und im März 1999 in die NATO aufgenommen. 2004 schlossen sich Estland, Lettland, Litauen, die Slowakei, Slowenien, Bulgarien und Rumänien der NATO an, 2009 Albanien und Kroatien, 2017 Montenegro und 2020 Nordmazedonien. + +Darüber wird diskutiert. Fest steht: Russland lehnt die Osterweiterung der NATO ab und sieht dadurch seine Sicherheitsinteressen verletzt. Der russische Präsident Wladimir Putin erklärte in einer Rede vom 21. Februar 2022, die USA hätten 1990 mündlich zugesichert, dass die Wiedervereinigung Deutschlands nicht zu einer Ausweitung der militärischen Organisation der NATO nach Osten führen würde. Im "Zwei-plus-vier-Vertrag", mit dem 1990 die Wiedervereinigung Deutschlands auf den Weg gebracht wurde, wurde die NATO-Osterweiterung nicht ausgeschlossen. Allerdings gibt es Berichte von mündlichen Aussagen (etwa des deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher und des US-Amtskollegen James Baker), die diese Einschränkung nahelegen. Ob sich diese Grenzzusagen nur auf das Gebiet der ehemaligen DDR bezogen oder auf ganz Europa, ist umstritten. Die NATO argumentiert heute mit der Bündnisfreiheit souveräner Staaten und lehnt es ab, einen zukünftigen Beitritt weiterer ehemaliger Sowjetrepubliken auszuschließen. + +Die Ukraine strebt seit Jahren eine Mitgliedschaft an. Seit 1997 besteht zwischen der Ukraine und der NATO ein militärischer Partnerschaftsvertrag. Bereits 2008 waren Georgien und der Ukraine ein zeitlich nicht näher definierter NATO-Beitritt in Aussicht gestellt worden. Allerdings sprachen sich damals vor allem Frankreich und Deutschland gegen einen konkreten Beitrittsprozess aus, weil sie befürchteten, dass er Russland provozieren könnte. Solange ein offener Konflikt besteht, wie momentan der Angriffskrieg auf die Ukraine, ist eine Aufnahme in die NATO ohnehin nicht möglich. + diff --git a/fluter/natuerlich-unnatuerlich.txt b/fluter/natuerlich-unnatuerlich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..480dcef0fe0d991aa6dd8ea7b3a62b6a0a4a5c7c --- /dev/null +++ b/fluter/natuerlich-unnatuerlich.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Dabei kam die Aga-Kröte eigentlich nach Australien, um zu helfen, wie Fred Pearce in seinem Buch "Die neuen Wilden" schreibt. In den 1930er-Jahren wurden 60.000 Exemplare des aus Südamerika stammenden Tiers nach Australien verschifft, um einen dort heimischen Käfer zu fressen, der die Zuckerrohrfelder im Bundesland Queensland zerstörte. Allerdings fraß die fremde Kröte bald selbst das Zuckerrohr und vermehrte sich gut 50 Jahre nach ihrer Ankunft in Australien plötzlich so sprunghaft, dass die Regierung die heimische Artenvielfalt bedroht sah. Um eine weitere Ausbreitung zu verhindern, gab sie 20 Millionen Dollar aus. +Global gesehen gibt es so einige Aga-Kröten. Invasive Arten werden die genannt in der Biologie. Schon im Begriff "invasiv", abgeleitet vom lateinischen Wort für "eindringen", steckt das ganze Misstrauen, das ihnen entgegengebracht wird. Eindringlinge sind längst nicht nur Tiere, sondern auch Pflanzen, die oft weite Reisen in neue Ökosysteme unternehmen. Ob Riesenknöterich, Wasserhyazinthe oder Schwarzkopfruderente – all diese Arten haben eine komplexe Migrationsgeschichte, bei der meist der Mensch und oft die globale Erwärmung eine Rolle spielt. Fassen sie in der Fremde Fuß, werden schon mal aufwendige Vernichtungsprogramme gestartet – die bisweilen den heimischen Arten ebenso schaden wie den Neuankömmlingen. Der Naturschutz kennt da keine Willkommenskultur. +Ein großer Fehler sei diese "grüne Xenophobie", findet Fred Pearce. Wenn es so etwas wie einen internationalen Star im Umweltjournalismus gibt, dann ist das der 65-jährige Engländer. Seine Bücher über Landgrabbing oder die globale Wasserknappheit wurden in viele Sprachen übersetzt und mit Preisen ausgezeichnet. In "Die neuen Wilden" dreht Pearce das gängige Paradigma des Umweltschutzes um: Die sogenannten invasiven Arten seien keine Gefahr für die Umwelt – sondern im Gegenteil: ein Garant für Biodiversität in Zeiten der globalen Erwärmung. +Auch er hat einen Migrationshintergrund: Der Waschbär kommt eigentlich aus Amerika, fühlt sich in Deutschland aber ziemlich wohl. Nicht allen gefällt das +Das klingt alles wahnsinnig nerdig? Ist es aber nicht. Selbst wer sich nicht für Bisamratte, Bärenklau, Waschbär & Co. interessiert, wird "Die neuen Wilden" mit Spannung lesen. Das Sachbuch liest sich in weiten Teilen wie ein Naturschutzkrimi. Pearce ist kein stoffeliger Biolehrer, sondern ein guter Erzähler. Immer wieder gibt es Reportage-Passagen, die in entlegene Winkel dieser Welt führen. Außerdem lernt man Erstaunliches über die globale Vernetzung. Die Qualle namens Mnemiopsis leidyi etwa, die das Schwarze Meer Ende der 1980er-Jahre in eine glibberige Masse zu verwandeln drohte, kam eigentlich von der amerikanischen Ostküste. Von dort schipperte sie im Ballastwasser eines Frachters über den Atlantik. In diesem Ballastwasser, das die Schiffe tanken, wenn sie nicht voll belanden sind, reisen bis zu 7.000 Arten als blinde Passagiere mit. +Was ist heimisch? Was ist fremd? Für Fred Pearce sind diese Gegenüberstellungen, nach denen der Naturschutz unterscheidet, zunehmend irrelevant. "In der Natur gibt es nur noch sehr wenig, was wirklich natürlich ist", schreibt er. Zu schnell werden neue Arten in der Fremde heimisch und entwickeln sich weiter. Gleichzeitig werde der Schaden, den sie angeblich anrichten, auf sehr wackeliger Datenbasis errechnet. +Auch das kann man bei Pearce lernen: wie ein guter Wissenschaftsjournalist arbeitet. Pearce recherchiert so ziemlich jeder Zahl hinterher, die die Bedrohung durch invasive Arten belegen soll. Und es ist durchaus erstaunlich, wer von wem zitiert, ohne die Zahl mal kritisch zu hinterfragen. Selbst die UN übernahmen die Aussage, dass an 40 Prozent des Artensterbens in den letzten 400 Jahren invasive Spezies beteiligt gewesen seien. Dabei muss die wohl eher als Schätzung denn als belastbares Material verstanden werden, die sich zudem lediglich auf Hawaii bezog. +Nach den knapp 330 Seiten sieht man die Natur, den Umweltschutz – und ein bisschen auch die Welt – mit anderen Augen. Die Normalität in der Natur ist die Veränderung, schreibt Pearce. Ökosysteme seien eigentlich nie stabil. Wir sollten uns vor den Neuen also nicht fürchten, sondern sie akzeptieren. +Selbst die hässliche Aga-Kröte hat sich nicht zum dominierenden Lebewesen entwickelt, wie es ein australischer Naturschützer etwas paranoid formulierte, als die ganze Nation den Krötenalarm ausrief. Vögel und Nager sind offenbar mittlerweile immun gegen ihr Gift. Andere Tiere haben gelernt, wie man den Lurch attackiert. So hat die schleimige Kröte natürliche Fressfeinde, was ihre massenhafte Ausbreitung stoppte – und sie hat sogar ein paar neue Freunde: Das Rugby-Team von Queensland hat sich nach dem zähen Zuzügler benannt. +Fred Pearce: "Die neuen Wilden. Wie es fremden Tieren und Pflanzen gelingt, die Natur zu retten". Aus dem Englischen von Gabriele Gockel und Barbara Steckhan. Oekom-Verlag, München 2016, 330 Seiten, 22,50 Euro +Felix Denk, Kultur-Redakteur bei fluter.de, wünscht der Aga-Kröte eine ähnliche Popularität wie dem Axoltl. diff --git a/fluter/naturbelassen.txt b/fluter/naturbelassen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..072d14facd12de6b7a9b80235134ee4162ace18c --- /dev/null +++ b/fluter/naturbelassen.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Filz- und Haarläuse sterben aus. Diese Insekten sind vollständig von ihrem Wirt, dem Menschen, abhängig. Es gibt zahlreiche solcher Tiere, die ohne den Menschen keine Chance haben zu überleben: Hunde würden sich gegen Wölfe oder Kojoten nicht durchsetzen, Haus- und Wanderratten ohne unseren Müll verhungern. Ohne Heizungen erfrieren im Winter die Kakerlaken in Europa oder Nordamerika. Nur Hauskatzen und Pferde haben bewiesen, dass sie auch in der freien Natur überleben können. Sie sind immer wilde Tiere geblieben. +New Yorks U-Bahn würde unter Wasser stehen: Sie liegt unter dem Meeresspiegel, und mehr als 750 Pumpen halten die Schächte trocken. Sonst würden jeden Tag 50 Millionen Liter Wasser eindringen. Sind die Schächte geflutet, fangen die Stahlträger an zu rosten, auf denen Straßen und Wolkenkratzer stehen. In einigen Jahrzehnten würden die Tunnel einbrechen, in einigen Jahrhunderten die Hochhäuser. Vielleicht würden sie bei einem Hurrikan wie Bäume umstürzen und andere Hochhäuser mit sich reißen. +Der Reaktorkern eines Atomkraftwerks muss ständig mit Wasser gekühlt werden. Wenn es aber keine Menschen mehr gibt, um diesen Kreislauf aufrechtzuerhalten, wird sich der Kern erhitzen. Zwar haben die meisten Atomkraftwerke Notstromaggregate, aber auch deren Energie ist schnell aufgebraucht. Ich habe das neueste Atomkraftwerk der Vereinigten Staaten besucht, in dem mir ein Mitarbeiter erklärte, dass das Notstromaggregat sieben Tage läuft. Was danach passieren würde, weiß keiner. Es gibt rund 440 Atomkraftwerke auf der Welt, alle würden nach einigen Tagen explodieren oder ihr Reaktorkern schmelzen. Viele Gegenden würden radioaktiv verseucht werden. Trotzdem glaube ich, dass die Natur diese Katastrophe überstehen würde. Im Atomkraftwerk Tschernobyl schmolz 1986 der Kern, woraufhin das Kraftwerk Feuer fing. Heute leben wieder Mäuse, Vögel und Wölfe in der Gegend. Sie sind zwar krank und sterben schneller als ihre Artgenossen − aber sie leben. +Ohne Straßenreiniger würde im Herbst in den Städten eine Schicht aus Blättern ent-stehen, die verrotten und als Nährboden für Pflanzen dienen. Im Winter würden sich Risse im Asphalt bilden, in denen im Frühling Pflanzen Wurzeln schlagen. Bäume würden anfangen, aus den Spalten zu wachsen. +In den Häuserdächern entstehen allmählich Löcher. Wie lange das dauert, hängt natürlich von den Materialien und der Bauweise ab. Stein- und Ziegelhäuser halten länger als solche aus Holz. Aber selbst wenn die Dächer mit Schiefer, einem robusten Stein, bedeckt sind, sind die Platten mit Nägeln befestigt, die rosten. Irgendwann dringt Wasser ein, zum Beispiel am Kamin. Wenn der Dachstuhl sich mit Wasser voll saugt, vermodert das Holz. Der Mörtel, der Steine und Ziegel zusammenhält, wird weich und bröckelt. Ein normales Holzhaus hält bestenfalls hundert Jahre. +Der Panamakanal, der Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut wurde, ist eine der beeindruckendsten Leistungen der Menschheit. Fast 30 000 Arbeiter sind gestorben, um ihn zu errichten. Ein Teil des Kanals besteht aus einem See, der aus einem gestauten Fluss entstanden ist. Ohne Menschen, die die Dämme warten und reparieren, würde der Fluss sie durchbrechen und sich wieder seinen natürlichen Weg suchen. In zwanzig Jahren könnte die Lücke zwischen Nord- und Südamerika wieder geschlossen sein. +Experten haben einmal vorhergesagt, dass sich das Ozonloch 2060 wieder schließen werde. Ich halte das für eine sehr optimistische Voraussage. Zwar gibt es mittlerweile Abkommen, die den Gebrauch der sogenannten Fluorchlorkohlenwasserstoffe oder FCKWs, die die Ozonschicht zerstören, begrenzen. Aber ich bezweifle, dass sich alle Länder an dieses Abkommen halten. Außerdem lagern überall auf der Welt noch Kühlschränke, Sprühdosen und anderer Schrott, aus dem FCKW entweicht, wenn man ihn nicht sorgfältig entsorgt. Es gibt auch andere Stoffe, die der Ozonschicht schaden – zum Beispiel Methylbromid, ein Schädlingsbekämpfungsmittel, das in den Vereinigten Staaten nach wie vor verwendet wird. +Es gibt rund 30 000 nukleare Sprengköpfe auf der Erde. In 5000 Jahren könnte ihre Metallhülle durchrosten. Das radioaktive Material würde zwar nicht explodieren, aber strahlen. Waffenfähiges Plutonium-239 hat zum Beispiel eine Halbwertszeit von 24 110 Jahren. Halbwertszeit heißt: In dieser Zeit hat sich die radioaktive Strahlung halbiert. Bis sie ganz abgebaut ist und sich in der natürlichen Hintergrundstrahlung der Erde verliert, würden rund 250 000 Jahre vergehen. Uran-235 hat sogar eine Halbwertszeit von etwa 704 Millionen Jahren. +Blei gehört zu den Schwermetallen, mit denen die Menschheit den Boden verseucht. Blei war zum Beispiel früher im Benzin und steckt heute noch in Autobatterien. Es gilt als hoch giftig und schädigt das Gehirn, das Gehör und das Nervensystem. Forscher haben herausgefunden, dass ein Teil des Düngers, den man im Ackerbau verwendet, damit verseucht ist. Der Regen könnte es in 35 000 Jahren auswaschen. Doch Blei ist nicht das einzige Metall, das der Mensch freigesetzt hat. Zink, eine Futterbeigabe für Kühe und Schafe, würde 3700 Jahre brauchen, um aus dem Boden zu verschwinden. Kadmium, das in Kunstdünger steckt, benötigt 7500 Jahre, und Chrom, das hartnäckigste Metall, 70 000 Jahre. +Der Erderwärmung ist heute das wichtigste Umweltthema überhaupt. Sie entsteht, weil wir Kohlenstoff, der zum Beispiel im Öl oder in der Kohle steckt, freisetzen. Der Kohlenstoff reagiert zu Kohlendioxid, das dafür sorgt, dass sich die Atmosphäre erwärmt. Wenn der Mensch verschwunden wäre, würde der Gehalt von Kohlendioxid in der Luft nach 100 000 Jahren wieder auf den Stand vor dem Entstehen des Menschen sinken. Vor allem das Meer würde viel Kohlendioxid binden. Der Ozean nimmt das Molekül über seine Oberfläche auf, bis diese damit gesättigt ist. Langsam würde sich das Meerwasser umwälzen, das gesättigte Wasser würde absinken und neues, ungesättigtes Wasser an die Oberfläche steigen und beginnen, neues Kohlendioxid aufzunehmen. Stürme verlangsamen den Abbau allerdings, und es ist sehr wahrscheinlich, dass die Erde durch den Klimawandel mehr Stürme erleben wird. +Vor 60 Jahren hat die Menschheit angefangen, Kunststoff für den Massenmarkt herzustellen. Weltweit werden jedes Jahr 225 Millionen Tonnen Plastik produziert. Es lagert auf Müllkippen oder gelangt über Flüsse in die Meere, wo es weitertreibt und sich in Strudeln sammelt. Ich habe einen dieser Strudel im Pazifik besichtigt. Er ist so groß wie Mitteleuropa. Es gibt heute kein Lebewesen, das diese Kunststoffe verwerten kann. Ein Forscher hat mir gesagt, dass Mikroorganismen es vielleicht in einigen hunderttausend Jahren schaffen könnten, Kunststoff abzubauen. Als vor 350 Millionen Jahren Bäume auf der Erde entstanden, haben die Mikroorganismen es auch geschafft, sie zu zersetzen – und das, obwohl Bäume aus komplizierten Molekülen wie Lignin und Zellulose zusammengesetzt sind. Bis dahin werden noch viele Tiere an Plastiktüten, -flaschen und anderen Kunststoffteilen verenden. +Die Cheopspyramide in Ägypten ist eines der langlebigsten Bauwerke des Menschen, aber in einer Million Jahren wird sie vollständig verschwunden sein. Das Insektenschutzmittel DDT, der Weichmacher, polychlorierte Biphenyle und andere Chemikalien werden die Pyramiden lange überdauern. Es gibt derzeit kein Anzeichen dafür, dass die Natur irgendwann Wege finden wird, diese Umweltgifte abzubauen. +Alan Weisman, 61, ist ein vielfach ausgezeichneter amerikanischer Journalist, der unter anderem für das "New York Times Magazine" und "Atlantic Monthly" schreibt. Sein Bestseller "Die Welt ohne uns" wurde in rund 30 Sprachen übersetzt und ist in Deutschland im Piper Verlag erschienen. diff --git a/fluter/naturheilkunde.txt b/fluter/naturheilkunde.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..91c87f9f50d271cc082c9a38c394bc1553455117 --- /dev/null +++ b/fluter/naturheilkunde.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Ob per Kopfhörer oder am Strand – das Rauschen des Meeres hat eine beruhigende Wirkung. Nicht umsonst ist auf CD gebranntes Heranrollen und Brechen der Wellen seit Jahren ein Verkaufsschlager. Aber warum rauscht das Meer? Wissenschaftler vom Scripps-Institut für Ozeanographie im kalifornischen San Diego haben die Ursache entschlüsselt: Kleine, im Meerwasser gelöste Luftblasen sorgen für das typische Geräusch. Durch den Überschlag der Wasserwand werden Milliarden winziger Luftbläschen unter Wasser gedrückt und zum Schwingen gebracht. Sein tosendes Geräusch bekommt das Meeresrauschen, wenn die Blasen von der Wucht der Wellen in noch kleinere Bläschen zerschlagen werden oder an der Oberfläche platzen. Hinzu kommt, dass Sand und Kiesel sich im Rhythmus der Brandung aneinander reiben.Je nach Windverhältnissen und Küstengestalt können diese Brandungsgeräusche mehr als 100 Dezibel erreichen. Das hat Presslufthammer-Qualität – auch wenn das Tosen des Meeres optisch und akustisch viel angenehmer ist. Übrigens: Nebenbei ziehen die Luftblasen Kohlendioxid (CO2) aus der Erdatmosphäre und geben es an die Ozeane ab. Seit Beginn der Industrialisierung, so schätzen Wissenschaftler, haben die Weltmeere die Hälfte des vom Menschen ausgestoßenen CO2 aufgenommen. Was eine gute Nachricht für die Entwicklung des Treibhauseffekts ist, ist ein ernstes Problem für den Lebensraum Ozean. Weil die Meere immer mehr CO2 aufnehmen, beobachten Forscher eine zunehmende Versauerung der Ozeane. +Mehr als 20 Jahre liegt es nun schon zurück, dass ganz Deutschland an Heiligabend unter einer Schneedecke lag. Zu allem Ärger sind da noch Opa und Oma, die felsenfest behaupten: Früher war das viel öfter so. Glaubt man den Statistiken des Deutschen Wetterdienstes, stimmt das aber nicht: Schnee an Weihnachten war schon imer eine Rarität. Erlogen ist der Schnee der Großeltern dennoch nicht ganz: Die Jahre zwischen 1960 und 1970 waren überdurchschnittlich kalt - und weiß. +1980 hieß es noch: Das Erdöl reicht 30 Jahre. Im Jahr 2000 schätzte die Erdöl-Vereinigung (EV), der Verband der schweizerischen Erdölwirtschaft, die Reichweite nur noch auf 40 Jahre, um 2006 bekannt zu geben, die Ressource reiche noch fast ein halbes Jahrhundert. Verlass ist auf derartige Schätzungen kaum, denn zu viele Wackelfaktoren bestimmen die Rechnung. Erstens ist die Menge der Reserven schwer zu bestimmen. Nicht alle Vorkommnisse kann man zudem tatsächlich fördern – oft sind durch Zeit, Geld und Technik Grenzen gesetzt. Schließlich "werden die Erdöl fördernden Länder ihre Zahlen wohl kaum kleinrechnen", sagt Viktor Wesselak, Professor für Regenerative Energietechnik. Dass es überhaupt zu Fehleinschätzungen kam, liegt unter anderem an den großen Erdölfunden der vergangenen Jahre, vor allem in Afrika.Mit neuen Ölfeldern sei nun aber nicht mehr zu rechnen, davon ist Wesselak überzeugt. Weil Länder wie China oder Indien immer mehr Erdöl verbrauchen und zugleich das Angebot sinken wird, sieht der Experte bereits in zehn Jahren eine gravierende Versorgungslücke. Wegen der zu erwartenden Preisexplosion werde es allerdings gar nicht mehr darum gehen, wie lange das Erdöl noch reicht. "Schon in fünf Jahren werden die steigenden Kosten für sozialen Brennstoff sorgen", sagt Wesselak. "Leisten kann es sich dann sowieso kaum noch jemand." Übrigens werden alle anderen Ressourcen ebenfalls knapp. "Die Atomkraftkarte zu ziehen nutzt auch nichts", sagt Wesselak. "Denn auch das Uran wird uns nur noch 70 Jahre zur Verfügung stehen, dann ist Schluss." +"Es geht darum, unsere Haut zu retten" – so betitelte der "Spiegel" einen Artikel über die Zerstörung der Ozonschicht. Das war 1988. Das Loch am Südpol, das sich jedes Jahr neu bildet und wieder schließt, ist immer noch da, aber seine durchschnittliche Größe hat sich 2007 verringert. Auf die Reduzierung des ozonschädlichen FCKW ist dies aber nicht zurückzuführen. Natürliche Schwankungen von Temperatur und Winden sollen dafür verantwortlich sein. Die Ausmaße des Ozonlochs sind noch immer gewaltig: Im vergangenen Sommer war es in etwa so groß wie Nordamerika. Dennoch geht der niederländische Nobelpreisträger Paul Crutzen davon aus, dass sich die Ozonschicht bis zum Jahr 2060 erholt haben könnte. Der Grund: Einmal freigesetzt, hat FCKW eine Lebensdauer von 50 bis 100 Jahren. +Im Jahr 2007 wurde in Brasilien mehr Regenwald zerstört als jemals zuvor. Allein zwischen August und Dezember verschwanden etwa 7000 Quadratkilometer. Die meisten Rodungen und Abholzungen werden aus Platzgründen durchgeführt, vor allem um Raum für Rinder, Soja oder Zuckerrohr zu schaffen. Auf Borneo verschwanden zwischen 1985 und 2001 um die 56 Prozent aller Bäume, dieselbe Quote erreichte Nigeria in nur sechs Jahren, zwischen 2000 und 2005. Vom Jahr 1950 an gemessen, ist mehr als die Hälfte des weltweiten Regenwaldes zerstört worden. Dabei wird schon lange nicht mehr nur Regenwald abgeholzt. Auch die Wälder in Russland und Mexiko fallen neuen Äckern und Plantagen zum Opfer. +In den Achtzigerjahren war das Waldsterben eines der großen Medienthemen. Man glaubte damals, dass der "saure Regen" und das darin enthaltene Schwefeldioxid (SO2) dafür verantwortlich seien, dass der deutsche Wald sterbe. Dann kam der "saure Nebel" hinzu, der die Bäume sogar noch stärker angreife. Dabei ist der Begriff "saurer Regen" eigentlich irreführend. Damit war die generelle Luftverschmutzung gemeint, denn das Regenwasser nimmt lediglich die in der Luft vorhandenen Schadstoffe auf. Der "saure Regen" ist auch niemals allein schuld daran, wenn Bäume krank werden. Zu Beginn der Achtzigerjahre waren Magnesiummangel und sogenannter "Witterungsstress" maßgeblich beteiligt. Der Gehalt an SO2 in der Luft wurde seit Ende der Siebzigerjahre stark reduziert, vor allem durch strengere Auflagen für die Industrie. Und zwischen 1990 und 2005 sank der SO2-Gehalt noch einmal um 89,5 Prozent. Zu diesem erfreulichen Ergebnis hat auch die Schließung vieler Kohlekraftwerke der ehemaligen DDR beigetragen. Das große Waldsterben blieb also aus, doch krank sind viele Bäume leider immer noch; laut Waldzustands-bericht 2007 zum Beispiel 28 Prozent der Fichten und sogar 49 Prozent der Eichen. +Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ist im Juni 1986 gegründet worden – fünf Wochen nachdem im ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl eine Kernschmelze eine der schlimmsten Atomkatastrophen der Geschichte auslöste. 2007 standen dem Ministerium 844 Millionen Euro zur Verfügung. Nicht nur der Bund, sondern auch die Länder haben eigene Umweltministerien und investieren in den Schutz der Umwelt. Allein die Bundesministerien und die staatliche KfW Bankengruppe mit ihren Krediten haben im vergangenen Jahr 7,8 Milliarden Euro für den Umweltschutz ausgegeben. Ein Teil dieser Gelder fließt in die Öffentlichkeitsarbeit. So hat das Ministerium 2007 die Naturallianz gegründet. Dahinter verbirgt sich eine Kampagne für die biologische Vielfalt, die auch Prominente wie Samy Deluxe und Christiane Paul unterstützen und die die UN-Naturschutzkonferenz vorbereitet, die am 19. Mai in Bonn beginnt (www.naturallianz.de). Kinder, Jugendliche und Schulen können mit dem Multimediaprojekt "Naturdetektive" die Natur erforschen (www.naturdetektive.de). Das Umweltbundesamt bietet Broschüren an, die zeigen, wie wir umweltschonender leben können (www.umweltbundesamt.de). +Eine Nachricht aus den USA sorgte Anfang 2007 für Aufsehen: 600 000 von etwa 2,4 Millionen Bienenvölkern waren plötzlich spurlos verschwunden. Vermutungen gab es viele: Handymasten könnten schuld sein oder vielleicht doch der Klimawandel? Sicher war nur: Sollten die Bienen aussterben, dann hätte das erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Flora und Fauna – Pflanzen werden dann nicht mehr bestäubt, Nahrungsketten brechen zusammen. Forscher gaben dem unheimlichen Sterben den Namen CCD – für "Colony Collapse Disorder". Mittler-weile scheint die Ursache allerdings gefunden zu sein: Ein Virus, der sich dank der sogenannten Varroa-Milbe besonders erfolgreich ausbreiten konnte. Den Virus gibt's in Deutschland noch nicht, die Milbe dagegen schon. Weil sie durch mildes Wetter begünstigt wird, starben im vergangenen Winter auch in Europa mehr Bienen als gewöhnlich. Ein komplettes Aussterben der Honigbiene ist deshalb jedoch nicht zu erwarten. diff --git a/fluter/nava-ebrahimi-sechzehn-woerter-roman-iran-sexualitaet.txt b/fluter/nava-ebrahimi-sechzehn-woerter-roman-iran-sexualitaet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..36ad17ca15e3d6dd81016557c8de86be7ba820df --- /dev/null +++ b/fluter/nava-ebrahimi-sechzehn-woerter-roman-iran-sexualitaet.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +Nava Ebrahimi: Ich fand immer das persische Wort für Kreuzung am faszinierendsten: "Tschahar-Rah". Übersetzt heißt das: "Vierweg". Im Deutschen treffen sich zwei Straßen, das ist relativ technisch. Im Persischen betont man dagegen, dass das ein Ort ist, an dem man vier Möglichkeiten weiterzugehen hat. Perser kommen besser mit Mehrdeutigkeiten zurecht. +Sie sind in Teheran geboren, Ihre Eltern sind mit Ihnen nach Deutschland gekommen, als Sie noch klein waren. Haben Sie mit ihnen in Deutschland persisch gesprochen? +Ja, aber wir haben schnell angefangen, deutsch zu reden. Die ersten persischen Wörter, die ich noch vor dem Roman ohne Ziel aufzuschreiben begonnen habe, sind autobiografisch geprägt gewesen. Aber als ich die Handlung entwickelt habe, ist die zweite Hälfte der Wörtersammlung aus der Notwendigkeit der Handlung entstanden. +Darunter ist auch das Wort "Kos", das Fotze bedeutet. +Ich habe mich noch nicht mal getraut, so ein Wort zu googeln. Es ist deswegen im Buch auf Persisch falsch geschrieben. Ich habe meiner Babysitterin, die auch persisch schreiben kann, alle Wörter vorgelegt, um die Schreibweise zu überprüfen, aber bei "Kos" habe ich mich nicht getraut. +In Deutschland haben viele vom Iran das Bild eines sehr konservativen Landes, in dem die Frauen gezwungen werden, in der Öffentlichkeit Kopftuch zu tragen. Die Großmutter Ihrer Protagonistin Mona spricht jedoch sehr offen über Sexualität. +Nava Ebrahimi: "Sechzehn Wörter". Bbt, München 2017, 320 Seiten, 18 Euro +Es herrscht dort ein ganz anderer Umgang mit Sexualität, Körperlichkeit und Sinnlichkeit. Ich bin schon von klein auf damit konfrontiert worden, dass an dem Ort, wo ich herkomme, alles düster und lustfeindlich sei. Ich dachte immer nur: Nein, das stimmt nicht! Ihr solltet mal meine Oma erleben, die hat mehr Spaß als eine Clique von siebzehnjährigen Mädchen auf dem Weg zur Disco. +Wie äußert sich das? +Als ich das erste Mal im Iran war, gab es jeden Abend Party. Weil sich die gesamte Familie wegen des Besuchs versammelt. Manchmal kommen nur Frauen, weil es ein, zwei Frauen in der Familie gibt, die ihr Kopftuch nicht so gern vor anderen Männern abnehmen. Bei einer solchen Frauenparty habe ich erlebt, wie alle tanzen und irgendwann die ersten eine Art Striptease machten. Die Sprüche der Oma aus meinem Buch stammen allesamt von meiner Großmutter. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Beziehung Monas zu ihrem Vater. Es ist typisch für das Leben im Exil, dass die Kinder besser ankommen und ihren Weg gehen und die Eltern dabei zurücklassen müssen, was sehr traurig ist. + +Das ist eine Geschichte, mit der sich viele Menschen in Deutschland heute identifizieren können. +Ja, vor allem aber die Iraner, die in den 1980er-Jahren nach Deutschland gekommen sind. Das waren anfangs die eher gut Ausgebildeten. Viele, nicht nur die Väter, oft auch die Mütter, hatten studiert und gute Jobs im Iran. In Deutschland war diese Ausbildung aber nichts wert, und so mussten die Kinder dabei zusehen, wie die Eltern in einem Loch aus Traurigkeit und Bedeutungslosigkeit verschwanden. +Ist das ein großes Problem für diese Generation? +Ich kenne viele solcher Geschichten. Heute bemüht man sich in Deutschland mehr darum, die Abschlüsse von Menschen anzuerkennen, die ins Land kommen, und sie zu integrieren. Das war damals noch anders. Viele Iraner haben Restaurants aufgemacht, einen Kiosk, ein Teppichgeschäft oder wurden Taxifahrer. +Die Großmutter aber ist neben Mona die zentrale Figur des Romans. Sie ist sehr liberal und macht sich über ihre Enkelin Mona lustig: Warum hat sie nur einen Verehrer? Sie lebt doch in "Azadi". Was heißt "Azadi" genau? +Freiheit. Der Westen ist für die Großmutter gleich Freiheit. Iraner denken oft, im Westen hätten alle ständig Sex. Gerade was die Sexualität angeht, ist der Iran wie ein Topf mit einem geschlossenen Deckel. Darin brodelt es. Die Iraner können sich nicht vorstellen, wie es ist, ohne diesen Deckel zu leben. Ich war zwei Monate lang selbst in einem iranischen Mädchenpensionat. Ich wurde ständig gefragt: "Wie sind die deutschen Männer?" Es dreht sich alles um dieses Thema. +"Azadi" ist auch ein politischer Begriff, der sich gegen das theokratische autoritäre Regime im Iran richtet: Da meint er Freiheit als bürgerliche Freiheit. +Das Wort ist für viele Iraner inzwischen mit einer großen Bitterkeit belegt. Nach den enttäuschenden Amtszeiten der reformorientierten Präsidenten Khatami und jetzt Rohani, nach der Niederschlagung der Grünen Bewegung im Jahr 2009, nach all dem Leid und Chaos, das der Arabische Frühling gebracht hat, verheißt "Azadi" nicht mehr dasselbe wie noch vor zehn Jahren. Die Iraner, die jetzt auf die Straße gegangen sind, streben nicht nach "Azadi", sie haben viel existenziellere Nöte. Sie verlangen, ihre Kinder und sich selbst einigermaßen würdevoll versorgen zu können. Das Projekt "Freiheit" ist auf unabsehbare Zeit verschoben. +Nava Ebrahimi +Mona hat einen deutschen Freund. Er ist ordentlich, aber kein Mensch, der in vollen Zügen lebt. +Er ist ein bisschen übersättigt, ja. Er zeigt eine Gleichgültigkeit, die verhindert, etwas zu wagen, sich für etwas ins Zeug zu legen. Es gibt eine Szene im Buch, in der Mona ihren Freund zum ersten Mal mit nach Hause nimmt. Er schläft auf dem Sofa ein, nachdem er sich den Wecker gestellt hat, weil er morgens ins Fitnessstudio gehen will. Das würde kein Iraner verstehen, dass es so etwas geben kann. +Ein Pendant zu Monas Freund ist die Mutter einer Freundin der noch kleinen Mona. Sie glaubt, dass es im Iran ein "hinterwäldlerisches" Frauenbild gibt. Sie ist selbst zwar aufgeklärt, aber in Wirklichkeit auch ziemlich verklemmt. +Ich war mir beim Schreiben gar nicht bewusst, dass diese Stelle so gelesen werden kann, wie das oft beim Schreiben ist. Aber es stimmt schon, das kann man so sehen. Der Iran ist auch in dieser Hinsicht paradox. Die Großmutter sagt immer zu Mona: "Wenn die Kos etwas zum Herzeigen wäre, dann wäre sie nicht zwischen den Beinen versteckt, sondern auf der Stirn." Das erzählt Mona ihrer Freundin. Deren Mutter ist Feministin und verbietet der Tochter fortan den Umgang mit Mona, weil dieser Spruch frauenfeindlich sei. Der deutsche Umgang mit Sex ist sehr rational, dadurch auch sehr humorlos und unsinnlich. Praktisch und bürokratisch. +Die Reaktion dieser Mutter scheint mir typisch zu sein: Man sieht nur die Oberfläche, aber nicht das, was hinter den Türen passiert. Und man sieht natürlich seine eigenen blinden Flecken nie. +Man muss aber auch sagen: Der sehr freizügige Umgang der Großmutter mit Sexualität hat auch etwas Bigottes. Die Oma scheut sich nicht, deftig zu sein. Das ist aber nur das Recht der Älteren, Verheirateten. Und die Situation ändert sich sofort, sobald ein Mann im Raum ist. Man kann den Orient nicht verstehen, wenn man sich nur auf einzelne Aspekte konzentriert. Man muss ihn als Ganzes verstehen. +Titelfoto: Nazanin Tabatabaee Yazdi/Polaris/laif diff --git a/fluter/nawalny-dokumentation-rezension.txt b/fluter/nawalny-dokumentation-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..23a9d582c3cdb28ff5f9fa9774abbddcb7be1acf --- /dev/null +++ b/fluter/nawalny-dokumentation-rezension.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Im Stil eines Politthrillers mit vielen spektakulären Momenten. Einer der wichtigsten Protagonisten neben Nawalny ist der Datenjournalist Christo Grozev. Er deckte mit seiner aufwendigen Recherche auf, dass Nawalny wohl von Mitarbeitern des russischen Geheimdienstes FSB vergiftet worden ist. Grozev gelang es mithilfe von Datenbanken im Darknet, an Namen, Fotos und Telefonnummern zu kommen und so das Rätsel um Nawalnys Vergiftung Stück für Stück zu lösen. So zeigt die Dokumentation auch, in welchem russischen Labor Nowitschok mutmaßlich hergestellt wird und wer die Wissenschaftler sind, die daran und vermutlich an der Herstellung anderer chemischer Giftstoffe arbeiten. Daneben gibt es Interviews mit Nawalny, seinen Vertrauten und Angehörigen, aber auch Rückblenden und Archivaufnahmen. Zwischendurch sieht man Nawalny als liebevollen Familienmenschen (er hat eine Frau zwei Kinder) und charismatischen Aktivisten, der stets zum Scherzen aufgelegt ist. Zum Beispiel in der Szene, in der er eine Reportage in Sibirien dreht und gerade mit einer Moderation anfangen will, als jemand direkt hinter ihm an eine Wand tritt und pinkelt. Kameramann: "Da pinkelt jemand, warten wir noch." Nawalny: "Das passt doch perfekt!" und beginnt mit dem Aufsager für die Reportage: "Willkommen im russischen Ghetto!" Bei alldem ist Nawalny ganz klar der Held der Geschichte, was allerdings kaum verwundert, denn der Film wurde von einer engen Mitarbeiterin Nawalnys mitproduziert. Kritische Töne kommen selten vor. + + +Im Dokumentarfilm erzählt Nawalny, dass er schon in seiner frühen Jugend etwas in Russland verändern wollte. Dieser Drang sei entstanden, nachdem ihm sein Vater, der 1986 in der Nähe von Tschernobyl wohnte, berichtet habe, dass die sowjetische Regierung die Nuklearkatastrophe vertuschte. Interessant sind auch die Fernsehausschnitte verschiedener kremlnaher Medien, die Roher in der Dokumentation zeigt. In ihnen wird behauptet, dass Nawalny am Abend vor dem Giftanschlag selbst gebrannten Schnaps getrunken habe, dass er (wie angeblich viele Oppositionelle) Antidepressiva aus den USA nehme, Kokain konsumiere und homosexuelle Orgien feiere. Damit erklärten die russischen Medien und Politiker den beinahe tödlichen Zusammenbruch von Nawalny im Flugzeug. Von einem Giftanschlag war nie die Rede. DurchPropaganda wie diese erhält ein Großteil der russischen Bevölkerung ein verzerrtes Bilddes Oppositionellen – ganz ähnlich wie derzeit beimrussischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Auf der anderen Seitegab und gibt es etliche Russen, die andere Medien konsumieren und Nawalny unterstützen– auch wenn es ihnen durch die staatliche Unterdrückung immer schwerer gemacht wird, dies offen zu tun. +… stammt aus einer Analyse der Reporterin Clarissa Ward im US-amerikanischen Sender CNN, die Roher zitiert: "Wenn das ein Hollywoodfilm wäre, würde man sagen, die Geschichte sei viel zu übertrieben. Aber sie ist real. Und sie wirft das Narrativ des Kreml über den Haufen." +Es gibt etliche Momente in "Nawalny", die berühren: etwa wenn seine 21-jährige Tochter sagt, ihr Vater solle weiterkämpfen, weil er das Richtige tue. Obwohl sie sich der Gefahr bewusst ist, dass er dabei sterben könnte. Oder die Bilder von Hunderten Menschen, die sich 2021 bei Nawalnys Rückkehr am Flughafen in Moskau versammelten, um ein Zeichen für Freiheit in Russland zu setzen – trotz der ständigen Gefahr, bei solchen Protesten verhaftet zu werden. + +Titelbild: DCM Cabel News Network Inc. diff --git a/fluter/nazi-freunde-ostdeutschland-daniel-schulz.txt b/fluter/nazi-freunde-ostdeutschland-daniel-schulz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1cf84efbcf3ff2249e92e3aaab25b0fe24747859 --- /dev/null +++ b/fluter/nazi-freunde-ostdeutschland-daniel-schulz.txt @@ -0,0 +1,38 @@ +Ist da noch Platz für die Erzählungen der Neunzigerjahre aus der Sicht derjenigen, die beim Fall der Mauer zu alt waren, um nichts von der Vergangenheit mitbekommen zu haben, aber zu jung, um mitzureden, wie die Zukunft aussehen sollte? Über das Jahrzehnt, in dem auch die Menschen aufgewachsen sind,die heute den Hitlergruß zeigen und brüllen? +Wann fängt man also eine Geschichte über damals an? Für mich begann es nicht 1989. Für mich begann es in der DDR. In der zweiten Klasse malt Ricardo mit dem Bleistift ein Hakenkreuz auf die Schulbank. An sich nichts Besonderes, auch ich habe das schon gemacht. Hakenkreuze malen ist das Verbotenste, was ich mir vorstellen kann. Die Kunst ist, aus dem Hakenkreuz gleich wieder ein kleines Fenster zu machen, bevor einen jemand sieht. +Auf dem Nachhauseweg von der Schule erzählen wir Jungs uns Judenwitze. Woher wir die hatten, weiß ich nicht mehr. Es hätte sie gar nicht geben dürfen. In der Verfassung der DDR stand, das Volk sei vom Faschismus befreit. Und weil es nun einmal befreit war, durfte der Faschismus nicht existieren. Die Staatssicherheit nannte Hakenkreuze auf jüdischen Friedhöfen und Neonazis, die andere Menschen zusammenschlugen, "Rowdytum" und tat so, als gäbe es keinen politischen Hintergrund. Punks und alle, die anders aussahen, als sich die sozialistische Elite ihre Bürger vorstellte, verfolgten Geheimdienst und Polizei dagegen hart als Auswüchse einer Dekadenz, die nur aus dem Westen kommen konnte. +"Wir zeigen unsere freundschaftliche Verbundenheit mit dem Sowjetvolk", schreibe ich am 8. Mai in meinen Heimatkundehefter. Aber wir sehen sie kaum, obwohl viele Kasernen gar nicht so weit weg sind. Manchmal marschiert ein Trupp mit Kalaschnikows auf dem Rücken an unserem Kindergarten vorbei, und wir drücken uns an den Zaun und sehen ihnen nach. "Scheißrussen", sagt ein Junge neben mir, und als ich ihn frage, warum, sagt er: "Wenn der blöde Hitler unsere Wehrmacht nicht kaputt gemacht hätte, wären die jetzt nicht hier." Das hatte ihm jedenfalls sein Vater erzählt. +Wir wussten nicht, wer die Juden waren. Wir wussten nicht, wer die Russen waren. Wer die Nazis waren, wussten wir. Der Nazi war einer, der aus dem Westen kam. Der Kapitalismus galt als Vorstufe des Faschismus, und tatsächlich saßen ja noch alte Nazi-Eliten auf genügend Machtpositionen im Westen, um die als Beweis dafür zu präsentieren. +Der Fall der Mauer brach mir das Herz. Ich hatte Angst vor dem Westen, vor den Faschisten, einfach davor, dass alles, was ich kannte, kaputt gehen könnte. Die Erwachsenen rührten keinen Finger. Sie saßen vor dem Fernseher und sahen sich Demonstrationen an. Sie unterrichteten uns weiter in der Schule, als sei alles völlig normal. Dass wir wirtschaftlich keine Chance hatten, war mir ja klar, jeder Junge, der wusste, wo die Matchbox-Autos herkamen, begriff das. Aber mein Vater war Oberstleutnant der verdammten Nationalen Volksarmee, er hatte mal 30 Panzer kommandiert, wo waren die denn jetzt? +Ich wollte eine chinesische Lösung, ich wollteTiananmen-Platzin Berlin und Leipzig. Als mein Vater, der Feigling, nicht loszog, um die Irren da draußen zu stoppen, überlegte ich, wie ich ihm seine Makarow-Dienstpistole klauen könnte. Mein Plan war, in Westberlin ein paar Leute zu erschießen und einen Krieg zu provozieren. Denn den, da war ich mir sicher, den würden wir gewinnen. +Der Zerfall beginnt im Fernsehen. Ich sehe weinende Menschen, starre Menschen, graue Menschen, meistens vor irgendwelchen Schornsteinen oder Werktoren, und immer macht irgendetwas zu. Dann zerfallen die Männer auf dem Dorf. Wenn ich von der Schule komme, sitzen sie vor den Garagen. Sie haben früher Kräne gefahren, große russische Traktoren und Mähdrescher. Jetzt erzählen sie sich Witze über ihre Frauen, die mit irgendwelchen Putzjobs oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen versuchen, die Familien über Wasser zu halten. Sie sagen: "Die Alte nervt." Dann trinken sie noch einen Schnaps. Oft reden sie gar nicht. +In den Zeitungen, im Radio, im Fernsehen lesen, hören und sehen wir die passenden Botschaften dazu. Ostdeutsche sind zu doof, sich in der neuen Welt zurechtzufinden. Ostdeutsche sind faul. Ostdeutsche sind betrunken. Erst schäme ich mich noch, dann schaue ich der geworfenen Scheiße belustigt beim Fliegen zu, und noch später bin ich stolz darauf, dass "wir" härter sind als die so leicht zu schockierenden Wessis, die ihr ganzes Leben als Kausalzusammenhang erzählen können, in dem es für alles einen guten Grund und keine dunklen Flecken gibt. Es kann auf eine dämonische Art befreiend sein, wenn von dir und den Leuten um dich herum nur noch das Schlechteste erwartet wird. + +Schrottplatz der Geschichte: Nach dem politischen Umschwung 1989/90 entstanden im Osten Deutschlands rechtsfreie Räume, die die Jugend prägten + +Im Fernsehen sieht man Häuser brennen, in denen ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter leben. Man sieht Männer, die mit Gehwegplatten auf Menschen werfen. Ich sehe, wie die Polizisten verloren vor der Meute stehen. Ich sehe, wie sie zurückweichen. +Bis Ende der Neunzigerjahre weicht dieser neue Staat zurück – in den Kleinstädten und Dörfern. Viele Menschen, die so alt sind wie ich, rechnen nicht mehr mit ihm. Wir sehen alle dasselbe:Es kommen keine Polizisten, wenn 30 Kahlrasierte vor einem Jugendklub auftauchen und Leute vermöbeln, oder sie kommen nur zu zweit und bleiben dann in ihren Autos sitzen. Was sollen sie machen? Selbst verdroschen werden? Das passiert manchmal auch. +Neue Regeln. Ich hätte sie gern gelernt, wenn ich denn welche begriffen hätte. Ist es besser, den Bus zu nehmen, aus dem man nicht mehr rauskommt, wenn Glatzen einsteigen? Oder besser laufen oder Fahrrad fahren? Aber dann bist du zu langsam, wenn sie dich mit dem Auto jagen. +Viele Glatzen kamen aus großen Familien, die lebten in ihren Häusern inmitten von Hitlerbüsten und Reichskriegsflaggen. Die Clansöhne mit den Namen, die man fürchten musste, waren vier bis acht Jahre älter als ich. Mit ihren tiefergelegten Golfs oder zu Fuß patrouillierten sie durch die Stadt. Wen sie verschonten und wen sie sich vornahmen, folgte einem Kodex, den vor allem sie selbst verstanden. Wenn sie jemanden aus DDR-Zeiten kannten, aus der Schule, konnte das gut sein. Oder eben besonders schlecht, wenn sie ihn schon damals nicht mochten. Bunte Haare waren scheiße, lange auch. +Ich sitze im Bus, drei Glatzen steigen ein, ohne zu bezahlen. Sie laufen nach hinten durch, ich tue so, als würde ich lesen. Sie gehen an mir vorbei, plötzlich ist es nass in meinem Gesicht. Einer hat mir ins Gesicht gespuckt. Bevor ich das kapiere, drückt mir der kleinste der Typen seinen Daumen in die linke Wange und reibt kräftig, bis mir die Zähne wehtun. "Du musst dich doch sauber machen", sagt er mit hoher Stimme. "Muss Mutti dir erst bis in den Bus nachlaufen, hm?" Wahrscheinlich sehe ich aus wie ein Reh im Scheinwerferlicht eines Autos, die drei bepissen sich fast vor Lachen. Die Hand des Kleinen riecht nach Tabak. +Als Kind war ich noch klein und dick, aber in der Pubertät schieße ich in die Höhe. Genetisch bin ich Nazi, fast 1,90 Meter groß, blond, graublaue Augen. Ich trainiere mit Hanteln. Aber mir fehlt das Schläger-Gen, die Lust am Blut der anderen, ich sehe den Hunger in den Augen der Clan-Söhne und ihrer Handlanger, und ich weiß, ich bin Beute. Also versuche ich zu verschwinden, ich trage Grau, ich bin ein Mäuschen. Gott, wenn ich doch nur kleiner wäre. +Hatte ich nicht erst gestern noch alles über Ernst Thälmann und seine Genossen gelesen? Wie sie gestorben waren im Kampf gegen den Faschismus? Ich will nicht sterben, ich will nur in Ruhe gelassen werden. Ich schäme mich. Wir schämen uns alle. Jeder hat seinen eigenen Grund dafür. Der eine wird gefeuert und findet nie wieder Arbeit, der Nächste steht hinter der Gardine und freut sich heimlich, weil das Asylbewerberheim brennt, und ich, ich bin eben ein Feigling. +Ab der siebten Klasse, im Herbst 1991, gehe ich aufs Gymnasium. Meine Freunde vom Dorf treffe ich nur noch selten, ich bin jetzt etwas Besseres, zumindest sehen sie das so, oder ich denke, dass sie es denken. Ich ziehe mich zurück. Ich habe früher schon gern gelesen, jetzt lese ich eben noch mehr. Kurz vor der Wende sind wir in einen anderen Block gezogen, ich habe ein eigenes Zimmer und muss nicht mehr mit meinem Vater und meiner Mutter in einem Bett schlafen. Das macht es einfacher, mich zu verstecken. Als ich 16 Jahre alt bin, kaufen meine Eltern einen Computer, und ich spiele Eishockeymanager. Diese Welten sind vom Draußen unberührt und kontrollierbar. Ab und an gehe ich raus, tauche auf wie ein U-Boot nach langer Fahrt. Die Nachrichten von der Oberfläche sind über Jahre die gleichen: Entweder es gibt Stress, oder einer erzählt, wie es Stress gab. +"Der hat seine Freundin gezwungen, als Nutte zu arbeiten, und die dann mit dem Kabel erwürgt." +"Neulich haben sie den einen an der Havel fast kaltgemacht." +"Die sind mit der Axt in den Jugendklub rein. Die hinter der Tür hat es gleich erwischt. Die Bullen waren wieder bloß zu zweit da." +Freunde habe ich wenige. Ich bin ein Trottel vom Dorf. Meine Mutter hat mir zwar nach langer Bettelei eine Levi's gekauft, aber an meinem dicken Hintern sieht die Jeans so aus, als versuchte jemand, meinen Arsch zu zwei Würsten zu kneten. Tragen muss ich sie trotzdem, die Hose war teuer. Im Schulbus lachen sie über mich. Ich bin oft allein, also ein Ziel, und deshalb gehe ich noch weniger raus. +Nach drei Jahren Gymnasium finde ich andere Freunde. Dabei sind: ein kleiner Dünner, der oft lächelt und der mich mit dem Auto nach Hause fährt, wenn es spät wird. Er sagt: Schon mein Vater war ein Rechter. Dafür hatte er Ärger mit den Scheißkommunisten. +Ein anderer aus der Clique schaut oft finster, aber kitzelt einen ab, wenn es in der Schule scheiße gelaufen ist. Er findet die NPD gut. Außerdem: der Sohn eines Polizisten, der immer laut ist, immer Faxen macht, großzügig mit allen teilt und der "Kanaken" scheiße findet. +Dann einer, der immer ganz ruhig ist, obwohl ihm seine Mutter Stress macht, er dürfe nicht absacken, nicht versagen, nicht untergehen in dieser neuen Welt. Er hört zu Hause CDs von Bands wie Zyklon B und Zillertaler Türkenjäger. Auf der Heckscheibe seines Autos prangt in Fraktur der Schriftzug "Euthanasie". Die Band heißt eigentlich "Oithanasie", aber er findet es damals ein lustiges Wortspiel, den Namen so zu schreiben. +Wir durchstreifen das Land im Konvoi. Zum nächsten McDonald's an der Autobahn, an die Ostsee, nach Tschechien, nach Dänemark. Je mehr wir sind, desto größer wird unsere Landkarte. Zwei Autos sind gut, vier Autos sind besser. Im Schwarm schrecken wir andere ab. Ich entdecke, wie geil es sein kann, jemandem Schiss zu machen, statt selbst der Schisser zu sein. Ich pinkle einem Wessi auf die Motorhaube. +"Rechts" und "links", das ist eine Sache der Klamotten, der Frisur und der "inneren Einstellung", wie wir das damals nennen. Die Mode der harten Nazis verbreitet sich in Molekülen auch an den Gymnasien, die grünen Bomberjacken mit dem orangefarbenen Innenfutter tragen viele. Ich habe lange Haare, ich habe "nichts gegen Ausländer", ich finde es scheiße, sie zu jagen und zu verprügeln. Das sage ich manchmal auch, und dann streiten wir uns. Ich muss vor Nazis wegrennen. Also bin ich links. +In der Nahrungskette der Jungsgruppen stehen wir nicht weit oben. Wenn die Tighten aus der Muckibude anrücken, die tätowierten Riesenbrocken mit Kampfsport oder Knast im Lebenslauf, und keiner der anderen hat irgendeine Beziehung zu jemandem, der jemanden kennt, dann machen wir uns klein oder lösen uns in Luft auf. +Der Soundtrack dieser Zeit kam von den Böhsen Onkelz. Ich hasste diese Band, bei ihren weinerlichen Liedern für gefallene Jungs dachte ich an die saufenden Männer vor den Garagen. Ein Lied der Onkelz ist allerdings bis heute in meinem Kopf: "Wir waren mehr als Freunde / Wir war'n wie Brüder / Viele Jahre sangen wir / Die gleichen Lieder." Es heißt "Nur die Besten sterben jung", und ich mochte es, vielleicht, weil ich die blöden Jungpioniere vermisste, die Zeit, als wir lieber Papier und Flaschen gesammelt haben, anstatt uns gegenseitig das Leben zur Hölle zu machen, und weil ich dachte: Ja, sterben kannst du ja wirklich. +Manche Erinnerungen reißt man sich ein wie Splitter, und sie schmerzen noch Jahre danach. Der türkische Freund, den ich erfunden habe, ist so ein Splitter. Wir sind nach Ungarn gefahren, das letzte Mal zusammen. Wir liegen am Balaton, spielen Fußball. Wir reißen die Türen unserer Klos auf und fotografieren uns gegenseitig beim Kacken, wir rasieren einander die Brusthaare. Und dann, wir sitzen in einem Café, ich lese Zeitung, vielleicht habe ich da etwas über einen Überfall gelesen, ich weiß es nicht mehr. Ein Freund sagt irgendetwas über "blöde Kanaken" und dass sie es verdient hätten, und ich bin sofort auf hundertachtzig. Ich schreie, ich hätte einen türkischen Freund, und der läge in Berlin im Krankenhaus, "wegen Leuten wie dir". Es ist ein kurzer Moment, wenige Sekunden nur, und sofort fühle ich mich mies. +Weil ich gelogen habe, ich habe keine türkischen Freunde und auch keine mit türkischem Namen, woher auch? Es gab an unserer Schule den Sohn eines Ingenieurs aus Angola oder Mosambik, der war nicht weiß. Selbst die Frauen im Dönerimbiss, die ich kannte, waren in der Kreisstadt oder in einem der Dörfer geboren. Ich schäme mich auch, weil ich weiß: Es gibt Menschen, die sind wirklich verbrannt oder wurden zu Tode getreten. Und ich erfinde einen. Gleichzeitig habe ich Angst, dass jetzt unsere Freundschaft vorbei ist. +Das gehört auch zur Wahrheit jener Jahre, viele kannten die Rechten, die Rechtsradikalen, die Neonazis nicht nur von Weitem. Wir waren mit ihnen befreundet, wir mochten manche von ihnen, wir profitierten von ihrem Schutz. +Für meinen Zivildienst gehe ich nach Berlin. Ab 1999 studiere ich in Leipzig. Ich treffe gute Leute aus dem Westen und dem Osten. Wenn ich mich in den richtigen Bezirken aufhalte, treffe ich keine Glatzen. In der Kleinstadt, in der ich zur Schule ging, leben heute auch Frauen mit Kopftüchern, die ihren Söhnen auf Russisch hinterherbrüllen, sie sollen gefälligst auf sie warten. In den Cafés bedienen Menschen,deren Eltern aus Vietnamund der Türkei kamen. Der Freund, auf dessen Heckscheibe "Euthanasie" stand und den ich für diesen Text wiedergetroffen habe, sagt, er sei mit "Kurden, Türken, Russen, Vietnamesen" befreundet. Er findet aber, man solle die Leute verstehen, die lieber nicht mit so vielen Ausländern zusammenleben wollen. Als ich ihn frage, ob er auch so leben will, sagt er: "Ach, ich weiß es doch auch nicht." +Ich habe nicht gekämpft und schon gar nicht gewonnen.Ich bin einfach gegangen. + +Dieser Text erschien in einerlängeren Version in der taz. Wir danken für die Genehmigung, ihn hier noch mal veröffentlichen zu dürfen. diff --git a/fluter/nazis-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-haben.txt b/fluter/nazis-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-haben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/nazis-in-computerspielen-wolfenstein-youngblood.txt b/fluter/nazis-in-computerspielen-wolfenstein-youngblood.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4592699aef0809b439f2b9ac54d26ce80df6d0d1 --- /dev/null +++ b/fluter/nazis-in-computerspielen-wolfenstein-youngblood.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Dabei ist diese Debatte eigentlich schon geführt worden.Hakenkreuze sind in Deutschland nur dann erlaubt, wenn sie in einem künstlerischen oder dokumentarischen Zusammenhang gezeigt werden. Und bis kürzlich wurde diskutiert, obVideospiele einen künstlerischen Zusammenhang darstellen können– ob das Attribut "Kunst" erst einmal verdient werden muss. + + + + + +Nicht nur die Nazis fehlen, auch die Titelcharaktere haben durch eine etwas farblose Übersetzung ins Deutsche viel verloren. Dabei sind sie eigentlich das Beste am Spiel. Soph und Jess sind die Töchter von B. J. Blazkowicz, dem amerikanisch-jüdischen Videospielagenten, der seit den 1990er-Jahren in Wolfenstein-Spielen Nazis erschießt. Nach einem Reboot, einem Prequel und einer Fortsetzung erscheint mit "Youngblood" nun ein Spin-off-Titel. Längst hat sich der Plot verirrt, es geht um jüdische Geheimorganisationen mit quasimagischen Fähigkeiten, um tatsächliche Supermenschen, um Dimensionssprünge. Das hat mit den historischen Nazis bis auf den Hang zu Verschwörungstheorien wenig zu tun. Es steht nicht in einer Tradition des Erinnerns – es steht eher in der popkulturellen Tradition, Nazis als Allzweck-Bösewichte einzusetzen. +"Youngblood" wirkt so, als würden die Autoren ihre Geschichte auch nicht mehr ernst nehmen. Soph und Jess sind in diesen alternativen 1980er-Jahren irgendwo zwischen "Bill & Ted" und "Beavis & Butthead" angesiedelt; sie rotzen und röhren durch das Spiel. Vom Verschwinden ihres Vaters, vom drohenden Tod engster Freunde und von apokalyptischen Gefahren lassen sie sich nicht die Laune verderben. Ganz am Anfang, als sie ihren ersten Menschen erschießen, halten sie schockiert inne, eine der beiden übergibt sich. Das war's dann aber mit der menschlichen Reaktion auf exzessive Gewalt. Ab da werden die Schergen zu Aberhunderten umgelegt, und die Schwestern jubeln einander zu, als wäre das hier ein Abenteuerurlaub. +Nazis sind in diesem Spiel durch und durch böse, ihre Ziele stets größenwahnsinnig. Wer sich in ihren Reihen menschliche Züge leistet, der wird dafür entsetzlich bestraft. Nazis erscheinen in der Folge kaum noch als Menschen, sondern als Karikaturen, die aus dem Weg geräumt werden müssen. Das ist Antifaschismus auf der Diskurshöhe eines "Nazis schlachten"-Graffiti. Nur kurz zeigen die spät enthüllten Antagonisten so etwas wie die Banalität des Bösen – da offenbaren sie plötzlich ihre sehr gewöhnlichen Sehnsüchte. Erst mit der Andeutung, dass auch die Gegner nur Menschen sind, gewinnt der Schrecken eine realistische Dimension. +Die Szene ist schnell vergessen. "Youngblood" ist ein unterhaltsames Actionspiel, mehr will es offenbar gar nicht sein. Es ist kein Beitrag zu einer irgendwie gearteten Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Das ist schade, denn der Vorgängertitel "Wolfenstein 2" hatte das mit einigen überraschenden Szenen zur Geschichte des Helden noch geschafft; in Flashbacks wurde etwa erzählt, wie die Mutter, eine polnische Jüdin, vom rassistischen Vater misshandelt und dann an die Nazis verraten wurde. "Youngblood" liefert dagegen höchstens ein paar Schenkelklopfer über die absurde Dimension menschlicher Allmachtsträume. Es ist eine Art B-Movie und ein nicht eben zwingender Versuch, die verworrene Geschichte weiterzuspinnen. +Auf diese Art bagatellisiert "Youngblood" seine Bösewichte, auch wenn es antifaschistisch ist. Wie der Nationalsozialismus in einem Spiel nicht nur als Kanonenfutter, sondern auch als Thema taugt, das zeigen neben "Wolfenstein 2" auch andere: "Attentat 1942" ist ein intelligentes Adventure über den gelungenen Anschlag auf den hochrangigen Nazi Reinhard Heydrich. Und "Through the Darkest of Times" will später in diesem Jahr von dem Widerstand gegen die Naziherrschaft in Berlin erzählen. +"Wolfenstein: Youngblood" ist für 40 Euro für PC, PS4, Switch und Xbox One erhältlich. diff --git a/fluter/neapel-scampia-armut.txt b/fluter/neapel-scampia-armut.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1712610855eb4417e3bb8fbbdf52399ff239dafe --- /dev/null +++ b/fluter/neapel-scampia-armut.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Camilla ergreift das Wort: "Wir leben hier, wie Menschen an allen Orten auf der Welt leben, die vom Staat verlassen wurden." Die Frauen nicken. Vor neun Jahren starb Camillas Mann an Krebs, seither ist sie alleine mit den drei Söhnen. "Mein Mann hat sein Leben lang schwarzgearbeitet. Eine Witwenrente bekomme ich nicht." Um die Familie durchzubekommen, suchte sie nach einem Job und fand in Vomero, einem der wohlhabenden Viertel in Neapel, eine Vollzeitstelle als Verkäuferin bei einer Supermarktkette. Dort bezahlte man ihr 480 Euro bar auf die Hand, erzählt sie. Für die Schulbesuche ihrer Kinder, Arztrechnungen und generell zum Leben reichte das Geld nicht. Sie kündigte und lebte ab 2019 vom italienischen Bürgergeld, dem "reddito di cittadinanza". Bis vor ein paar Monaten. +Camillas Erfahrung teilen viele im Kreis. Die Arbeitslosenquote in Scampia liegt bei 65 Prozent. In Neapel und im Süden Italiens gibt es kaum legale Arbeit. Wer überleben will, hat oft keine andere Wahl,als schwarzzuarbeiten. So berichten es Betroffene und Sozialarbeiter in Scampia. Schwarzarbeit ist in der Region Kampanien, zu der Neapel gehört, fest etabliert, sie liegt bei rund 18 Prozent. +Alle anwesenden Frauen arbeiteten, um ihre Familien durchzubekommen, in Schwarzarbeit oder tun es immer noch – meist für 10, höchstens 20 Euro am Tag. Die Mehrheit von ihnen hatte noch nie einen offiziell angemeldeten Job, so einer gilt als Utopie im Viertel. Seit 2019 lebten viele, wie auch Camilla, zusätzlich vom Bürgergeld, das die italienische Regierung Arbeitslosen und Menschen mit geringem Einkommen bezahlte. "Wir hatten vier Jahre lang Geld für Ausgaben, die wir uns vorher nicht leisten konnten. 3.000 Euro pro Zahnspange für meine drei Söhne, das wäre ohne Bürgergeld unmöglich gewesen." Die Auswirkungen waren gerade zu Pandemiezeiten weitreichend: Laut dem italienischen Statistikamt bewahrte das Bürgergeld, das unter Ministerpräsident Conte eingeführt wurde, eine Million Menschen davor, in die absolute Armut zu rutschen. + + +Zum 1. Januar 2024 wurde dieses von der italienischen Regierungunter Ministerpräsidentin Giorgia Meloniendgültig gestrichen. Schon im Wahlkampf hatte Meloni eine strikte Haltung bei sozialpolitischen und gesellschaftlichen Fragen eingenommen, bei Wahlveranstaltungen erklärte sie immer wieder, dass "ein gerechter Staat Menschen, die arbeiten könnten, nicht auf eine Stufe mit wirklich Bedürftigen stellen sollte". Die italienische Staatschefin und ihre Regierung erhoffen sich, dadurch Milliarden zu sparen und die Arbeitslosenquote zu senken, weil wieder mehr Menschen eine Anstellung suchen. +Im Jahr 2023 lebten landesweit 5,7 Millionen Menschen in absoluter Armut, das heißt, dass ihre Grundbedürfnisse von Essen, Kleidung oder medizinischer Versorgung nicht gesichert waren. Rund 1,2 Millionen Menschen davon erhielten die Grundsicherung. +Im Mai 2023 kündigte die italienische Regierung an, das Bürgergeld zu streichen. Im Juli verschickte die Sozialbehörde eine SMS an diejenigen Bürgergeldempfänger:innen, die als arbeitsfähig gelten, um sie darüber zu informieren, dass sie ab sofort keine weiteren Zahlungen bekommen würden. Menschen zwischen 18 und 59 Jahren, die nicht in einem Haushalt mit mindestens einer minderjährigen, behinderten oder älteren Person über 60 lebten, fielen in diese Kategorie. +Ab dem 1. Januar wurde auch allen anderen, die zunächst keine SMS bekommen hatten, die Leistung gestrichen. Sie konnten seither ein Eingliederungsgeld, das "assegno di inclusione", beantragen. Dieses fällt geringer aus als das Bürgergeld. Familien berichten, dass sie mit diesem etwa die Hälfte von dem bekommen, was sie vorher hatten. Abhängig ist der genaue Betrag, den eine Familie bekommt, von der Anzahl der Familienmitglieder, deren Alter und ob es Menschen mit Behinderung im Haushalt gibt. Die Leistung wird monatlich für einen Zeitraum von 18 Monaten gezahlt und kann um ein Jahr verlängert werden. Nach Ablauf der Verlängerungszeiträume wird die Leistung jedoch immer für einen Monat ausgesetzt. Eine Unterstützung von bis zu 280 Euro im Monat für die Miete gibt es weiterhin. Wer an einer Qualifizierungsmaßnahme teilnimmt, bekommt außerdem ein Jahr lang 350 Euro im Monat. +Seit das Bürgergeld abgeschafft wurde, sei die "paura del domani", die Angst vor dem Morgen, zurück, so beschreiben es die Frauen im Stuhlkreis. Carmela erzählt, dass sie als Lehrerin an einer Privatschule eingestellt wurde. 400 Euro habe sie dort bekommen – auch Schwarzarbeit. "Manchmal gab es Kontrollen, dann musste ich mich verstecken." Sie bekam erst mal keine SMS und somit weiter Geld vom Staat bis zum neuen Jahr. Doch schon im September habe sie damit begonnen, Waschmittel und Toilettenpapier zu kaufen, aus Angst, sich dieses ohne das Bürgergeld nicht mehr leisten zu können. Seit Januar nimmt sie die Hilfe der Kirche in Anspruch, bekommt an Essensausgaben Lebensmittel. Ihre Mutter unterstützt sie, indem sie ihre Tochter und die Enkelinnen häufiger zu sich zum Essen einlädt. +Die Soziologin und Co-Autorin der wissenschaftlichen Zeitschrift "Armut und Reichtum in Italien", Enrica Morlicchio, sieht in dem Vorgehen der Regierung einen Angriff auf arme Menschen. Für sie ist die Nachricht, die hinter der Entscheidung steckt, deutlich: "Menschen sollen egal welche Arbeit zu egal welchen Bedingungen annehmen." + + +Das Rathaus und lokale Hilfseinrichtungen seien nach der Streichung wochenlang von Menschen geflutet worden. Viele von ihnen mussten aufgrund des großen Andrangs direkt abgewiesen werden. So erzählt es der Bürgermeister von Scampia, Nicola Nardella. Die Entscheidung der Regierung habe wie "eine soziale Bombe" gewirkt und dem Viertel "Zerstörung" gebracht. "Viele Familien konnten sich von einem auf den anderen Tag nicht mehr mit dem Nötigsten versorgen." +Er befürchtet als Konsequenz der fehlenden Hilfeleistung einen Anstieg der Kriminalität, die in den letzten Jahren zurückgegangen war. So berichten es Nardella und Sozialarbeiter in Scampia. Auch glaubt er, dass mit dem Ende des Bürgergeldes das Vertrauen der Bürger:innen gegenüber den Institutionen des Staates gebrochen wurde. Freiwillige, sagt er, können nicht unbegrenzt helfen, es brauche eine Zusammenarbeit aus Organisationen, Institutionen und Bürgerkomitees. "Der Stadtverwaltung fehlen die Mittel, um wirklich etwas zu bewegen." In ganz Scampia gebe es nur sieben Sozialarbeiter, die bei der Stadt angestellt seien. Die meisten würden ehrenamtlich helfen, ohne sie befänden sich viele Menschen auf der Straße. +Barbara Pierro ist Anwältin – und eine freiwillige Sozialarbeiterin. Das Bürgergeld nennt sie "reddito di dignità", Bürgergeld der Würde, weil es den Menschen diese wiedergegeben habe. In Scampia leitet sie eine Organisation mit 30 Ehrenamtlichen, die Familien im Alltag unterstützt. Teil der Organisation ist das Restaurant "Chikù", das eröffnet wurde, um Frauen eine Arbeit zu geben – vier sind in Festanstellung. Außerdem bietet der Ort mit seiner großen Terrasse einen Treffpunkt, den Frauen in Scampia sonst nirgendwo finden. "Viele von ihnen haben nie das Viertel verlassen. Wir ermutigen sie dazu, sich auch anderes vorzustellen", sagt Barbara Pierro. Viele, häufig junge Frauen seien einsam, ihre Männer starben während der Fehden von Scampia in den Jahren 2004 und 2005 oder sitzen deshalb im Gefängnis. Die Organisation bietet auch eine Kinderbetreuung und Lernhilfegruppe an, denn die Schulabbrecherquote lag 2020 in Neapel bei 22,1 Prozent. +Gegen Mittag, die Sonne steht nun hoch oben am Himmel und erhitzt die kleine Rasenfläche vor "Le Vele", löst sich der Stuhlkreis der Frauen auf der Rasenfläche langsam auf. Eine nach der anderen verabschiedet sich, um ihre Kinder von der Schule abzuholen, Essen für sich zuzubereiten oder dieses an Menschen zu verteilen. Patrizia, die Gruppenleiterin, bleibt bis zum Schluss. +Sie erzählt, dass sie zusammen mit den Frauen vor ein paar Monaten in Rom war, um ihrer Wut Luft zu machen. Sie protestierten dagegen, dass das Budget, das für den Abriss und Neubau von Sozialbauten wie "Le Vele" vorgesehen war, eingestellt werden sollte. Ihre Stimmen wurden gehört – im Viertel laufen inzwischen Bauarbeiten für ein neues Wohnhaus. Bevor auch Patrizia sich zum Gehen wendet, sagt sie: "Wir kämpfen für unser Recht auf ein Zuhause, auf eine anständige Arbeit. Und das tun wir gemeinsam." diff --git a/fluter/neapel-vesuv-katastrophenschutz.txt b/fluter/neapel-vesuv-katastrophenschutz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4a02ae7f1e90eed65877a5409ab3cdb3d552dce5 --- /dev/null +++ b/fluter/neapel-vesuv-katastrophenschutz.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Wer lieber den Pfad der Wissenschaft einschlägt – hier ein paar Hard Facts: Neapel und seine gut 900.000 Einwohner:innen befinden sich zwischen zwei Vulkanen, einem sichtbaren und einem unsichtbaren. Östlich beherrscht der Vesuv das Panorama der Stadt mit seinen gut 1.200 Metern Höhe. Westlich der Stadt liegen die Phlegräischen Felder (altgriechisch für "brennend"): eine Ansammlung von rund 40 Vulkanen, die insgesamt eine flache, bewohnte Fläche von rund 150 Quadratkilometern bedecken. Zusammen bilden sie eine Art Supervulkan. +Beide Vulkane sind aktiv: Unter der Erde bewegen sie Gase, noch tiefer unter den Gasen bewegt sich Magma. Die Frage ist nicht, ob es zu einem Ausbruch kommt. Die Frage ist, wann, darin sind sich die Expert:innen einig. Wie bereitet sich eine Stadt auf die nahende Katastrophe vor? + + +Neapel stützt sich auf nationale Notfallpläne. Einen für den Ausbruch des Vesuvs, einen für den des Supervulkans. Das Ergebnis beider Pläne: Evakuierung. Sollte der Vesuv-Notfallplan aktiviert werden, müssten rund 700.000 Menschen ihre Häuser verlassen. Denn sie leben in der sogenannten roten Zone, in der bei einem Vulkanausbruch offiziell Lebensgefahr besteht. Das Gebiet umfasst viele kleinere Städte und Gemeinden außerhalb von Neapel. In der Stadt selbst müssten Anwohner:innen aus den östlichen Vierteln evakuiert werden: diejenigen, die in der gelben Zone leben, einem Risikogebiet, auf das bei einem Vulkanausbruch Asche und glühende Steine fallen würden. Gefährlich, aber keine unmittelbare Lebensgefahr, so die Einschätzung der Zivilschutzbehörde. +Viel gefährlicher für Neapel und Umgebung könnte ein Ausbruch der Phlegräischen Felder werden. Sie könnten laut Experten mit bis zu 80-facher Kraft des Vesuvs ausbrechen. Wie beim Vesuv geht man aber bei der Erstellung des Notfallplans nur von einem Ausbruch mittlerer Intensität aus. Nach Angaben des Zivilschutzes leben eine halbe Million Menschen in der roten Zone. Mehrere Stadtteile Neapels liegen darin. 800.000 weitere Bewohner:innen leben in der gelben Zone. +Die Evakuierungen würden gemäß den Plänen innerhalb von 72 Stunden stattfinden. Drei Tage vor einem Ausbruch, mit so viel Vorbereitungszeit rechnen die Behörden. Sie verlassen sich auf die Vorhersagen des Osservatorio Vesuviano, der lokalen Abteilung des italienischen Nationalen Instituts für Geophysik und Vulkanologie. Über 100 Mitarbeiter:innen beobachten die Aktivität der Vulkane. Der Hauptsitz des Osservatorio liegt inmitten der Phlegräischen Felder, der Kontrollraum ist rund um die Uhr besetzt. Ständig werten die Wissenschaftler:innen Gas- und Steinproben aus den Vulkanen, Daten von Messinstrumenten vor Ort sowie Satellitenbilder aus. Daraus berechnen sie die Gefahr, die von den Vulkanen ausgeht. Beim Vesuv ist die Lage ruhig. Die Phlegräischen Felder werden hingegen seit 2012 intensiver überwacht. Seit die Aktivitätssignale des Supervulkans zunehmen. + + +Das spüren auch die Menschen vor Ort inzwischen deutlich. Auf italienischen Nachrichtenportalen und in den sozialen Medien kursieren Fotos von Bauschutt und beschädigten Häuserfassaden. Videos von Anwohner:innen, die nachts auf der Straße stehen, weil sie sich in ihren Wohnungen unsicher fühlen. Seit Monaten erschüttern kleinere Erdbeben die Region von den Phlegräischen Feldern bis nach Neapel. Im September erreichte eines eine Stärke von 4,2 auf der Richterskala. Zu schwach, um Gebäude einstürzen zu lassen, stark genug, um sie zu schädigen und die Bewohner:innen nervös zu machen. +Grund für die Beben ist das Phänomen des Bradyseismos (griechisch für "langsame Bewegung"). Gase unter den Phlegräischen Feldern bahnen sich ihren Weg an die Erdoberfläche, lassen dabei den Boden vibrieren und heben ihn an. Ganze eineinhalb Zentimeter pro Monat. Als wäre das Gebiet ein Soufflé im Ofen. +Auch Giuseppe Mastrolorenzo wurde kürzlich mitten in der Nacht von einem Beben geweckt, seine Wohnung liegt im Westen Neapels, in der gelben Zone um die Phlegräischen Felder. Er arbeitet seit über 30 Jahren als Vulkanologe am Osservatorio Vesuviano. Mastrolorenzo kritisiert den Notfallplan: "Die Vorhersage eines Vulkanausbruchs ist nicht wie die Vorhersage eines Gewitters", sagt er. EinNaturphänomen wie Regentritt häufig auf, es gibt viele wissenschaftliche Daten darüber, und es ist viel einfacher zu beobachten als das, was unter der Erde passiert. Deshalbermögliche die Erforschung von Wetterphänomenen präzise Vorhersagen. Hingegen gebe es keine solide wissenschaftliche Grundlage dafür, dass er und seine Kolleg:innen einen Ausbruch des Supervulkans rechtzeitig vorhersagen können. +Der letzte Ausbruch der Phlegräischen Felder war im Jahr 1538, damals gab es noch keine Messungen. Laut Mastrolorenzo gebe es deshalb keine aussagekräftigen Vergleichsdaten. Man könne nicht mit Sicherheit sagen, wie sich der Supervulkan beim Ausbruch verhält. Schieße das Magma ohne Vorwarnung schnell nach oben, würde die Stadt unvorbereitet getroffen. +Neapel und seine Umgebung sind weltweit einzigartig: "Es gibt kein anderes Gebiet, in dem sich zwei Vulkane mit einer solchen Ausbruchskraft befinden", sagt Mastrolorenzo. Auch wenn man zum Beispiel nach Papua-Neuguinea auf den Vulkan Tavurvur schaue, der von der Ausbruchskraft her mit den Phlegräischen Feldern vergleichbar sei, könne man die Gefahr nicht vergleichen, sagt er: Dort leben in der nächsten Kleinstadt einige Tausend Menschen, viel weniger als in Neapel und viel weiter vom Vulkan entfernt. + + +Mastrolorenzo plädiert dafür, einen neuen Notfallplan zu entwickeln, der keine Pufferzeit vorsieht, sondern eine schnelle Evakuierung auch während des Ausbruchs. Panikmache, sagen die Befürworter:innen des aktuellen Notfallplans. Darunter auch einige seiner Kolleg:innen vom Osservatorio Vesuviano, die durch die ständige Überwachung des Supervulkans an eine sichere Vorhersage des Ausbruchs glauben. Die Aufgabe des Osservatorio Vesuviano besteht darin, die Ergebnisse dieser Überwachung an das Ministerium für Zivilschutz weiterzuleiten, wo das daraus entstehende Risiko bewertet wird. +Mal angenommen, die Bürger:innen bekommen drei Tage vor dem Vulkanausbruch eine Alarm-SMS auf ihr Handy, die sie über den Beginn des Evakuierungsplans informiert: Ist der aktuelle Plan überhaupt durchführbar? +Diese Frage soll eine inzwischen mehr als vier Jahre alte Evakuierungsübung beantworten: An einem Tag im Jahr 2019 wurde eine begrenzte Anzahl von Häusern evakuiert, die vom Zivilschutz zufällig ausgewählt worden waren und deren Bewohner sich dazu bereit erklärt hatten. Viel weniger Menschen als im realen Szenario mussten dafür ihr Zuhause verlassen – und sie waren mehr als drei Tage vorher darüber informiert. Damals immerhin hat alles gut geklappt. +An der Aussagekraft dieses Testszenarios zweifelt man offenbar auch in Rom: Zivilschutzminister Nello Musumeci hat inzwischen angekündigt, an einem neuen Notfallplan zu arbeiten, der noch in diesem Jahr fertiggestellt werden soll. + +Titelbild: Clement Mahoudeau/Riva Press/laif diff --git a/fluter/negativer-schufa-eintrag.txt b/fluter/negativer-schufa-eintrag.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c026271a0ae17af226cb14ad5319c5ca40d1096a --- /dev/null +++ b/fluter/negativer-schufa-eintrag.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Das sei auch okay so, denn es sei ihr Geschäftsgeheimnis, urteilte der Bundesgerichtshof. Die neue Datenschutzgrundverordnung könnte das aber vielleicht ändern. Denn bei automatisierten Entscheidungen müssen Unternehmen jetzt erklären, wie sie zustande kommen – nur so lasse sich nachvollziehen, ob die Entscheidung korrekt war. Ob das auch für die Schufa gilt, ist unter Experten umstritten. +Wie schlecht es um mich steht, erfahre ich erst, als ich einige Monate später im kargen gläsernen Büro einer Postbank sitze, bei der man eine Schufa-Auskunft erhalten kann. Die brauche ich, weil mir eine Wohnungsgesellschaft eine 1,5-Zimmer-Wohnung angeboten hat. Sie braucht aber noch meine Schufa-Auskunft. Auf den angespannten Wohnungsmärkten der Großstädte überbieten sich mittlerweile Mieter mit Vertrauensbeweisen: eindrucksvolle Gehaltsnachweise, vorbildliche Lebensläufe und – fast das Wichtigste – positive Schufa-Auskünfte. +Als der Mitarbeiter der Postbank zum Drucker geht, pfeift er. Er hat gute Laune, weil wir uns beim Warten auf die Schufa-Daten Witze erzählt haben. Dann blättert er die frisch ausgedruckten Seiten durch. Wie ein Arzt, der dem Patienten den nahen Tod verkündet, sagt er: "Sehr kritisches Risiko. Das tut mir leid." Tatsächlich: Der Algorithmus der Schufa sieht in mir einen unzuverlässigen Geschäftspartner. Angeblich schulde ich einem Unternehmen 103,63 Euro. "Zahlungsausfall" – so steht es in meiner Akte. +Hatte ich wirklich Briefe mit Mahnungen übersehen? Hatte jemand online meine Identität geklaut? Den Abend nutze ich, um mich gedanklich von meiner neuen Wohnung zu verabschieden – und mich über die Schufa zu informieren. Ich lese von Daten- und Verbraucherschützern, die einen Algorithmen-TÜV und bessere staatliche Prüfverfahren fordern. Ich lese über die "OpenSchufa"-Initiative, der man seine Schufa-Daten spenden soll, damit sie den Algorithmus rekonstruieren kann. +"Wir schaffen Vertrauen" – das ist der Slogan der Schufa. Mein Vertrauen ist jedoch erschüttert. Die Gutachten von Universitäten, die den Algorithmus beurteilen sollen, werden oft nicht von staatlichen Datenschutzbehörden beauftragt, sondern von der Schufa selbst. Eher beunruhigt lese ich, dass laut einer Studie der schleswig-holsteinischen Datenschutzbehörde etwa jeder dritte Befragte die eigene Schufa-Auskunft als fehlerhaft bewertet. Und immer mal wieder bekommt der Schufa-Algorithmus falsche Informationen gemeldet, oder er verwechselt zwei Namensvetter miteinander. Das sind aber Ausnahmen. Ansonsten scheint die Schufa vollkommen gesetzeskonform zu handeln – im Rahmen des Datenschutzes. +Ich sitze in meinem WG-Zimmer und denke an die mehr als sechs Millionen anderen, die ebenfalls einen negativen Schufa-Eintrag haben. Und dass es ja eigentlich gut ist, dass jemand für Vertrauen zwischen Geschäftspartnern sorgt. Aber auch komisch ist, dass es ein Unternehmen gibt, das viele für eine Behörde halten und das eine so große Macht über das Schicksal zahlreicher Menschen hat. +Am Ende tue ich das, was man auch im Jahr 2018 immer noch macht, wenn es ernst wird: Ich schreibe Briefe. Der erste geht an die Open-Schufa-Initiative, der ich eine Kopie meiner Schufa-Auskunft spende. Im zweiten flehe ich: Mein angeblicher Gläubiger, ein großes Inkassounternehmen, soll mir sagen, wofür ich ihm 103 Euro schulde. Ich zahle gern. Wenn nur der Eintrag aus meiner Schufa-Akte gelöscht wird. +Eine Woche später meldet sich das Inkassounternehmen zurück. Es habe meine Adresse falsch ermittelt, daher hätten mich die Mahnungen nicht erreicht. Es tue ihnen leid. Selbstverständlich würden sie den Eintrag bei der Schufa löschen lassen. Die Kosten dafür müsse ich auch nicht tragen. Die Forderung hatte sich aus rund 100 Euro für die Rechtsanwälte und Mahnungen sowie 3,63 Euro Forderung einer Drogerie zusammengesetzt. Die konnten damals, im Mai in Köln, nicht abgebucht werden. Warum? Das war wiederum mein Fehler: Ich hatte aus Routine mit der EC-Karte gezahlt, die zu dem Konto gehörte, das ich wenige Tage nach dem Drogerieeinkauf kündigte. Der Schufa-Algorithmus glaubte wohl, dass ich die 3,63 Euro mit einer falschen EC-Karte bezahlt hatte. +Ich hatte Glück. Ein Fehler, den man entdeckt und nachweisen kann, wird schnell gelöscht. Bei einem berechtigten Eintrag vergisst die Schufa erst drei Jahre nach dem Begleichen der Schulden. Einige Tage danach unterschreibe ich den Mietvertrag für die neue Wohnung, obwohl ich noch gar keinen neuen Schufa-Score vorzeigen kann. Die Hausverwalterin hat früher in einer Bank gearbeitet und kennt sich mit diesen Auskünften aus. Sie findet, dass mein Schufa-Eintrag nicht der Rede wert sei. "Das kann ja jedem mal passieren", sagt sie. + +Du möchtest wissen, welche Auskunfteien Daten von dir gespeichert haben? Hier kannst dudie Daten kostenlos abfragen + diff --git a/fluter/nele-willfurth-lokalpolitik-junge-menschen.txt b/fluter/nele-willfurth-lokalpolitik-junge-menschen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d085080da1d735d761d770f9a0464da5940ec31f --- /dev/null +++ b/fluter/nele-willfurth-lokalpolitik-junge-menschen.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Nele Willfurth ist 22 und Studentin. Der Schnauber ist 70 und besitzt eine Praxis für Allgemeinmedizin. +Im Kreistag Calw sitzen 40 Männer und acht Frauen, viele Ärzt:innen, Landwirte, Bürgermeister. Altersdurchschnitt: 59 Jahre. Die größte Fraktion ist die CDU, gefolgt von der Freien Wählervereinigung, SPD, Grünen, AfD und FDP. +Nele sagt, dass bei allen Kreistagsmitgliedern mal jemand lacht oder mit einem Kommentar unterbricht. In dieser Sitzung passiert das nur ihr. +Dreieinhalb Jahre zuvor, Herbst 2019, wieder im großen Sitzungssaal. Neles zweite Kreistagssitzung ist die erste, in der sie sich zu Wort meldet. Stellvertretend für die Grünen-Fraktion reicht sie einen Antrag ein: Ratsmitglieder sollen künftig wählen dürfen, ob sie mit dem Zug oder dem Flugzeug zu Veranstaltungen reisen. Und der Saal? Applaudiert. Nele wird das nicht vergessen: Der Antrag seibasicgewesen, sagt sie, den Applaus habe sie also für ihr Alter bekommen. Heute passiere das nicht mehr. Darüber ist Nele froh, sie will nicht bevorzugt behandelt werden. +Das 2.000-Einwohner-Dorf Egenhausen liegt auf einer Anhöhe im Norden des Schwarzwalds. Nele spaziert vorbei an der Kirche, in die sie sonntags mit ihren Eltern zum Gottesdienst ging, über den Schulhof ihrer Grundschule und zum Grundstück ihrer Familie mit dem alten Apfelbaum. +Ohne Sorgen draußen spielen, jeden im Dorf kennen, das Kind Nele empfindet Egenhausen als große Freiheit. Die Jugendliche fühlte sich eingesperrt. Der Bus fährt nur alle zwei Stunden, und auch nur bis zur nächsten Kleinstadt. +In der Oberstufe interessiert sich Nele für Geografie. Sie will Gemeinschaftskundeunterricht als Hauptfach wählen. Religion wäre auch nicht schlecht. Alle drei Fächer werden nicht angeboten. Die Schule ist klein,es fehlt an Lehrkräften. +Nele fragt sich: Nur weil sie auf dem Land aufwächst und ein kleines Gymnasium besucht, soll sie nicht die Wahl haben? +2017 tritt Nele den Grünen bei. Auf ihrer ersten Parteiveranstaltung gibt es Schweineschnitzel. So ist das auf dem Land, denkt Nele. 2019 kandidiert sie auf Listenplatz sechs von sieben bei der Kreistagswahl. +Tag der Entscheidung, Mai 2019. Nele, seit ein paar Tagen volljährig, steht im Calwer Landratsamt, Blick auf den Bildschirm, über den in Dauerschleife die Wahlergebnisse laufen. Hinter ihrem Namen steht ein "g". Nele kneift die Augen zusammen, schaut ein zweites Mal. Dann ruft sie ihre Eltern an. Neles Vater sagt, er glaubt es erst, wenn es in der Zeitung steht. +Am nächsten Tagsteht im "Schwarzwälder Boten", die Grünen hätten ihre Mandate von bisher fünf auf sieben gesteigert. "Eines davon ging an die jüngste Calwer Kreisrätin: die 18-jährige Nele Willfurth." +Der Anfang ist schwer. Ratsmitglieder halten sie für die Tochter oder gar Enkelin ihrer Fraktionskolleg:innen. Vor Ausschüssen und Sitzungen ist Nele nervös, manche Kolleg:innen haben Jahrzehnte Lokalpolitik hinter sich. Die ersten Monate muss sie sich Mut zureden: "Die Menschen haben dich gewählt. Es ist dein Recht hier zu sein, mitzureden, deine Meinung zu vertreten." +In der Kreistagssitzung im April 2023 setzt Nele zum zweiten Wortbeitrag an. Das Notizbuch liegt noch immer vor ihr, aber diesmal redet sie frei. Es geht um den spärlichen öffentlichen Nahverkehr in der Region. Nele weiß, wovon sie spricht. Diesmal hören die Kreisräte zu. Nach fünf Stunden Sitzung fährt Nele eine gute Stunde mit dem Zug nach Karlsruhe. Sie studiert im Master: Mobilitätsmanagement. +Ihre Woche teilt sich in Politik und Uni. Von sieben bis neun Uhr liest sie Sitzungsvorlagen, schreibt Anträge, telefoniert mit Fraktionskolleg:innen. Ab zehn Uhr dann Vorlesung, Mittagessen mit den Kommiliton:innen, kurze Pausen zu Hause. An den Abenden und Wochenenden: wieder Politik. +Eine beliebige Woche im März 2023 sieht dann so aus: Montag: Fraktionssitzung in Pforzheim. Dienstag: Sitzung des Vorstands der Grünen Jugend Baden-Württemberg, in den Nele vor einem Jahr gewählt wurde. Freitag: Planungstreffen zu den Kommunalwahlen 2024. Samstag: Landesvorstandssitzung der Grünen Jugend in Stuttgart. +Nele ist vorbereitet. In den Fraktionssitzungen gehört sie zu denjenigen, die Unterlagen genau gelesen haben und Fragen beantworten können. Fraktionsmitglieder loben, Nele sei der Beweis, dass die Änderung des Kommunalwahlrechts funktioniert: Im März stimmte der Landtag in Baden-Württemberg für eine Änderung des Wahlrechts: Ab 2024 dürfen 16-Jährige in kommunale Gremien – also Gemeinde-, Stadt- oder Kreisräte – und 18-Jährige ins Bürgermeisteramt gewählt werden. Die Regelung ist einmalig in Deutschland. +Manchmal hat Nele Angst, falsche Prioritäten zu setzen. Viele in ihrem Alter sind in der Klimabewegung aktiv, die meisten außerhalb der Parteipolitik. "Viele wollen direkt die Welt retten", sagt Nele. "Die sind laut. Was gut ist für die Aufmerksamkeit." Einige aus diesen Kreisen wundern sich, wie sehr sie sich über kleine Fortschritte in der Kommunalpolitik freuen könne. Zum Beispiel, dass alle Menschen im Landkreis Calw für ein Jahr am Wochenende kostenlos Bus fahren konnten. Neles Fraktion hat das ermöglicht, darauf ist sie stolz. Es können ja nicht alle auf Bundes- und Europapolitik schauen. diff --git a/fluter/nelly-nadine-film-interview-gertten.txt b/fluter/nelly-nadine-film-interview-gertten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f95a3590d948ddafb00594a27e428de64bb8a0e9 --- /dev/null +++ b/fluter/nelly-nadine-film-interview-gertten.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Magnus Gertten: Ich habe 2007 einen alten Wochenschaubeitrag gesehen. Er erzählt die Geschichte einer Mission des Schwedischen Roten Kreuzes, das Häftlinge vor dem Ende des Krieges aus Konzentrationslagern evakuierte. In dem Beitrag sieht man, wie die Überlebenden in Schweden ankommen. Die Gesichter der Befreiten haben mich sofort in ihren Bann gezogen – unter anderem das Gesicht von Nadine. Wir konnten einige der Menschen aus dem Beitrag identifizieren. Insgesamt haben wir drei Dokumentarfilme über diese Überlebenden gedreht. Dabei hatte ich nie vor, dass eine Trilogie daraus wird. Nach dem Screening des zweiten Films "Every Face Has a Name" in Paris hat mich eine Frau kontaktiert, die mir am Telefon sagte, dass sie mir etwas zeigen müsse. +Wie ging es dann weiter? +Die Frau am Telefon war Sylvie Bianchi. Wir haben uns in einer Weinbar getroffen, und sie sagte mir, dass sie die Enkelin von Nelly sei und dass Nelly früher mit Nadine zusammengelebt habe. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich über eine riesige Liebesgeschichte gestolpert bin. Mir war klar, dass ich einen Film darüber drehen muss. Doch Sylvie wollte anfangs gar kein Teil des Drehs sein. Nach ein paar Gesprächen kam sie zu der Erkenntnis, dass sie sich den Geheimnissen ihrer Familie stellen muss und dass sie herausfinden will, wer ihre Großmutter wirklich war – und wer diese Frau war, mit der Nelly bis an ihr Lebensende zusammengelebt hat. +Sylvie wusste also gar nicht, dass Nadine die Partnerin ihrer Großmutter war? +Die Familie hat nie darüber gesprochen. Weder über die Zeit im Konzentrationslager noch über die Beziehung zwischen Nelly und Nadine. Sie wusste zwar, dass die beiden zusammengelebt haben, und wusste wohl auch, dass sie ein Paar waren. Was sie aber nicht wusste, ist, wie intensiv und leidenschaftlich die Beziehung zwischen den beiden war. Wir begleiten Sylvie dabei, wie sie all diese Sachen mithilfe der Hinterlassenschaften von Nelly und Nadine nach und nach herausfindet. +Während des Nationalsozialismus (1933–1945) wurden homosexuelle Menschen verfolgt, ab 1935 wurden alle sexuellen Handlungen zwischen Männern nach dem verschärften Paragrafen 175 StGB strafbar. Mindestens 10.000 kamen in Konzentrationslager, Tausende überlebten die Gefangenschaft nicht. Homosexuelle Handlungen zwischen Frauen waren zwar nicht verboten. Frauen, die wegen anderer Delikte angezeigt wurden, konnten jedoch erhebliche Nachteile drohen, wenn ihnen ein solches Verhalten nachgewiesen wurde. Nach wie vor bestehen erhebliche Forschungslücken in Bezug auf die Verfolgung von lesbisch gelesenen Frauen während der NS-Zeit. Aus heutiger Sicht reflektieren die Zuschreibungen aus der NS-Zeit außerdem nicht zwingend die tatsächlichen Identitäten der Betroffenen. +Sylvie hat sich also erst im erwachsenen Alter die Hinterlassenschaften ihrer Großmutter angeschaut. Wieso hat sie so lange damit gewartet? +Wie gesagt, sie wuchs in einer Familie auf, in der nicht über die Kriegserfahrungen der Großmutter gesprochen wurde –das ist nicht untypisch für Überlebende des Holocaust. Trotzdem hatte Sylvie eine enge Bindung zu Nelly. Ich habe absolutes Verständnis dafür, dass sie Angst davor hatte, mit dem Horror konfrontiert zu werden, den ihre Großmutter im Konzentrationslager durchleben musste. + + + +Nelly und Nadine haben sich im Konzentrationslager Ravensbrück kennengelernt. Wie war es für die beiden möglich, dort eine Beziehung zu führen? +Normalerweise mussten sich im KZ mehrere Häftlinge ein Bett teilen. Wir wissen aber dank der Tagebucheinträge, dass Nadine ein eigenes Bett im KZ hatte. Dort konnten die beiden wohl gemeinsam Zeit verbringen. Genauere Informationen finden sich dazu in den Tagebüchern nicht. Aber irgendwie haben diese Frauen es wohl geschafft, miteinander zu reden, eine Verbindung und letztendlich eine Beziehung zueinander aufzubauen. +Ab 1939 ließ die Schutzstaffel (SS) in Ravensbrück das größte Konzentrationslager für Frauen auf deutschem Gebiet errichten. 1941 kam ein Männerlager, 1942 ein Jugendschutzlager für junge Frauen und Mädchen hinzu. Im KZ und in den daneben errichteten Werkshallen der Firma Siemens & Halske wurden die Insassinnen zur Zwangsarbeit herangezogen. Zwischen 1939 und 1945 wurden etwa 120.000 Frauen und Kinder, 20.000 Männer und 1.200 weibliche Jugendliche in Ravensbrück registriert. Zehntausende wurden ermordet oder starben an Hunger, Krankheiten oder durch medizinische Experimente. +Sie haben es schon erwähnt: "Nelly & Nadine" ist Teil einer Film-Trilogie, die Geschichten von Überlebenden des Holocaust erzählt. Warum ist es so wichtig, diese individuellen Erfahrungen zu zeigen? +Bevor ich die Filme gedreht habe, wusste ich, was die meisten Menschen über den Krieg wissen – zum Beispiel, dass sechs Millionen Jüd*innen ermordet wurden. Vor den Dreharbeiten war diese Zahl für mich jedoch ziemlich abstrakt. Durch die Filme wird einem bewusst, dass das alles Menschen waren – so wie du und ich. Deshalb ist es so wichtig, diese Geschichten zu erzählen. Für mich geht es in "Nelly & Nadine" aber nicht nur um den Holocaust oder den Zweiten Weltkrieg, sondern vordergründig um die Kraft der Liebe. Die Liebe zueinander hat Nelly und Nadine die Schrecken der Konzentrationslager überleben lassen. Das sollte uns ins Bewusstsein rufen, dass Liebe wirklich Großartiges leisten lässt. + +"Nelly & Nadine" läuft ab dem 24. November in den deutschen Kinos. + diff --git a/fluter/nenn-mich-bloss-nicht-touri.txt b/fluter/nenn-mich-bloss-nicht-touri.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5843e3a26483ebce35890f5c8581ed1028c6182f --- /dev/null +++ b/fluter/nenn-mich-bloss-nicht-touri.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Haben die Deutschen Langeweile oder Fernweh? Oder ist das gar ein Zeichen von Dekadenz? +Schon wieder große Worte! Erst einmal ist Deutschland ein ziemlich reiches Land. Hier können sich relativ viele Leute das Reisen leisten, so wie sich auch relativ viele Leute eine gute Ernährung leisten können. +Die Deutschen verreisen also schlicht deshalb so viel, weil sie es können? +Das kann man so sagen: Ich reise, also bin ich. Reisen und darüber reden können, das bedeutet Zugehörigkeit und hat auch in weiterer Hinsicht etwas Demonstratives: Durch die jeweilige Art des Reisens übt man sich in sozialer Abgrenzung. Das Spektrum reicht vom banalen Konsumprodukt des Pauschaltourismus bis hin zu sogenannten Bildungsreisen und Luxusprodukten. Man denke etwa an einen exklusiven Cruise vor Feuerland mit nur acht Gästen an Bord, bei dem man sich die Pinguine zum Fotografieren reservieren lässt. +Bleiben wir mal beim Normaltouristen – was ist denn eher dessen Motiv: die Sehnsucht nach der Welt oder die Flucht vor dem Alltag, also Eskapismus? +Weltsehnsucht – das ist mir zu wolkig. Eskapismus, das hat schon eher Sinn. Und da zitiere ich gern Hans Magnus Enzensberger, der schon 1958 in seinem Essay "Eine Theorie des Tourismus" vom industriellen, genormten Produkt sprach. Und der ausführte, dass es hier um das Sozialprestige, aber auch um die Fluchtfunktion geht: nämlich der Entfremdung zu entkommen, den krank machenden, frustrierenden Arbeitsbedingungen. Enzensberger beschrieb einen Fluchtversuch, der letztlich vergeblich bleiben muss. +Klingt mehr nach Frust als nach Lust. +Touristen lassen sich nicht nur als Opfer einer Selbsttäuschung betrachten. Sie werden aktiv, um sich Genuss, andere Eindrücke, ja Bereicherung zu verschaffen. Es kommen die Menschen ja durchaus erholt, ausgeglichen, lebendig aus ihrem Urlaub zurück. +Moderne Touristen-Resorts garantieren einen reibungslosen Urlaubsalltag ohne Kontakt zu einheimischer Bevölkerung und Kultur. Verschwindet da nicht der Sinn, durch das Verreisen Fremdes zu entdecken? +Über solche abgeschotteten Orte, die sich über die Länge der Wasserrutschen und der Buffets definieren, kann man lange nachdenken. Neben dem Schnäppchenpreis mag für manche gerade die Abwesenheit von Überraschungen der Reiz sein. +Kann es eigentlich zur Völkerverständigung, gar zum Weltfrieden beitragen, wenn viele Millionen Menschen sich gegenseitig besuchen? +Das kann es schon. Eine gewisse Offenheit ist schön, der Blick über den Tellerrand lohnt ja meistens. Doch zu viel erwarten sollte man in Sachen Völkerverständigung nicht. Jede nette Begegnung oder jede menschliche Enttäuschung gleich zu verallgemeinern hilft auch nicht unbedingt weiter. Und wer seine Vorurteile pflegt, der wird sich davon auch auf Reisen kaum abhalten lassen. +Warum sind viele Touristen so leicht als solche erkennbar? +Sie meinen Shorts, Blümchenhemden, Sandalen? Jenseits ästhetischer Werturteile lässt sich sagen, dass der Tourist in eine andere Rolle schlüpft, er bewegt sich sowohl außerhalb seines Alltags als auch außerhalb des Alltags der umgebenden Bevölkerung. Dieser Rolle entspricht in gewisser Weise auch die Kleidung, die dann meist Freizeit- und Funktionskleidung ist. Auch Gruppenzwänge spielen eine Rolle. +Und warum wollen manche Leute gerade nicht als Touristen erkannt werden? +Früher mag es Leute gegeben haben, die glaubten, dass sie ohne die Touristen-Uniform nicht so leicht von windigen Geschäftemachern betrogen werden können. Heute, so denke ich, geht es eher um Distinktion. Manche Reisende wollen sich einfach von der Masse der Touristen abgrenzen. Und bloß nicht der Klischee-Teutone sein. +Woher kommt der Affekt, Touristen, die uns in unserer Heimat besuchen, abzulehnen? So wie es zum Beispiel die sogenannten Touristenhasser in Berlin tun, die sich von einer Rollkoffer-Invasion überrannt fühlen. +Das mit den Touristenhassern und der Kieznostalgie in Berlin scheint mir auch ein Phänomen zu sein, in das die Medien verliebt sind. Ich sage es mal so: Davon hat man hier in Bayern noch nie gehört! Was nicht heißt, dass es nicht immer wieder zu Aufwallungen dieser speziellen Variante der Fremden- angst kommen kann. Gerade, wenn noch besonders solvente Fremde als Touristen auftauchen. Da fallen mir aber auch Vokabeln wie Revierverteidigung und heile Welt ein. +Mal global betrachtet: Ist der weltweite Tourismus eher eine Erfolgsgeschichte oder eine Katastrophe? +Unter ökonomischem Blickwinkel ist die Entwicklung dieser Industrie eine enorme Erfolgsgeschichte. Ganz anders sieht es aus, wenn man auf die Verteilung des so erwirtschafteten Wohlstands sowie die ökologischen Folgewirkungen schaut. Da gibt es katastrophale Entwicklungen. Zwar verbreitet sich seit Längerem durchaus die Einsicht, dass es einen gerechteren und ökologischeren Tourismus bräuchte – doch von der Einsicht bis zur Verhaltensänderung ist es ein weiter Weg. diff --git a/fluter/neoliberalismus-geschichte.txt b/fluter/neoliberalismus-geschichte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..213c6f78cfe9df5af79f8fe3855ca38a0ae1a052 --- /dev/null +++ b/fluter/neoliberalismus-geschichte.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Neben dem Wirtschaftsliberalismus, um den es in diesem Text geht, gibt es noch den politischen Liberalismus, der bestrebt ist, dass der Staat die Freiheit des Einzelnen so wenig wie möglich begrenzen sollte – nur dort, wo ansonsten die Freiheit anderer bedroht wäre. Mehr dazukönnt ihr hier lesen. +"Neo", das bedeutet neu. "Liberalis" bedeutet freiheitlich. Und Liberalismus, das ist im wirtschaftlichen Sinne die Idee, dass Märkte frei sind und sich selbst regulieren. Der Staat soll möglichst wenig Vorschriften und Vorgaben machen, zum Beispiel zum Arbeitsrecht oder Umweltschutz. +Der radikalen Version dieser Idee zufolge braucht der Staat keine Sozialhilfe zu zahlen oder kostenlose Universitäten bereitzustellen. Der gesellschaftliche Wohlstand soll viel mehr durch freien Wettbewerb und Privateigentum geschaffen werden. +Im 19. Jahrhundert ist diese radikale Auslegung des Liberalismus, der sogenannte Manchester-Liberalismus (oderlaissez-faire-Liberalismus), weit verbreitet. Doch sie verliert an Bedeutung, unter anderem, weil die wachsende Zahl der Fabrikarbeiter sich in Gewerkschaften organisiert und Rechte wie ein Verbot der Kinderarbeit oder die Einführung einer gesetzlichen Krankenversicherung erkämpft. +Durchdie große Weltwirtschaftskrise von 1929gerät der Liberalismus noch weiter unter Druck. Der britische ÖkonomJohn Maynard Keynesschlägt vor, in Krisenzeiten massive Staatsausgaben zu tätigen, um den Konsum anzukurbeln und Arbeitsplätze zu schaffen. Das kann der Staat machen, indem er selbst als Auftraggeber Jobs schafft und zum Beispiel Straßen bauen lässt oder indem er Löhne übernimmt, obwohl Menschen weniger arbeiten (heute heißt das Kurzarbeitergeld).  In den USA setzt Präsident Franklin D. Roosevelt ab 1932/33mit dem "New Deal"ein wirtschafts- und sozialpolitisches Reformprogramm um, das teils erheblich in den Markt eingreift. Gleichzeitig gibt es Anfang der 1930er-Jahre in Europa immer mehr Diktaturen, in Deutschland (Hitler), Italien (Mussolini), der Sowjetunion (Stalin) oder auch Spanien (Franco), die ebenfalls eher auf eine staatliche Lenkung der Wirtschaft setzen. +Eine kleine Gruppe von liberalen Denkern fragt sich deshalb, was sie tun kann, um den Liberalismus wiederzubeleben – zur Überwindung des Totalitarismus und um den Keynesianismus einzudämmen, oder garsozialistische Ideen. Diese Gruppe trifft sich 1938 in Paris und entwickelt die Idee eines neuen Liberalismus – der Begriff "Neoliberalismus" ist geboren. Dessen Idee: Der Staat soll sich nicht mehr komplett aus der Wirtschaft raushalten, sondern einen gewissen Rahmen geben. Man ist sich unter anderem einig, dass der Staat aktiv den Wettbewerb fördern soll. Das Ziel ist, Wohlstand und unternehmerische wie individuelle Freiheit zu schaffen und gleichzeitig aus den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise von 1929 zu lernen und Massenarbeitslosigkeit und damit einhergehendes Leid zu verhindern. +Dann bricht der Zweite Weltkrieg aus, der Kontakt der Gruppe verläuft sich. Doch nach dem Krieg, 1947, wird die Idee des Neoliberalismus bei einem Treffen in der Nähe des Schweizer Berges Mont Pèlerin noch mal aufgegriffen und weiterentwickelt – mit einem dringlichen Tonfall. In der Abschlusserklärung heißt es: "Die zentralen Werte der Zivilisation sind in Gefahr." Denn für den Gründervater Friedrich August von Hayek führen wirtschaftliche Eingriffe durch den Staat auf lange Sicht in die Diktatur. Es brauche den neuen Liberalismus, um die individuelle Freiheit zu retten, so die Position der Teilnehmenden. Die Mont Pèlerin Society (MPS) gilt als das entscheidende Denkkollektiv, das die neoliberale Idee prägte und verbreitete. Hayek gilt bis heute als eine der Schlüsselfiguren in der Entwicklung des Neoliberalismus. +Doch nur weil eine Gruppe von Menschen überzeugt von einer Idee ist, setzt sich diese noch lange nicht in der Politik und der breiten Gesellschaft durch. Bis in die 1960er- und 1970er-Jahre dominieren in den USA und großen Teilen Europas noch die Ideen von Keynes und spiegeln sich auch in der Wirtschaftspolitik der Regierungen wider: Die Nachkriegszeit war in vielen europäischen Ländern geprägt von starken Sozialstaaten und einer engen Einbindung von Gewerkschaften in die Politik. +Dies ändert sich in den 1970er-Jahren, als in vielen westlichen Industriestaaten die Inflation steigt und gleichzeitig das Wirtschaftswachstum sinkt. Verantwortlich dafür gemacht wird die keynesianische Politik – und nun öffnet sich das Möglichkeitsfenster des Neoliberalismus. 1979 wird Margaret Thatcher britische Premierministerin, kurz zuvor übernahm Deng Xiaoping die Führung der Kommunistischen Partei in China, und 1980 gewinnt Ronald Reagan die Wahl zum US-Präsidenten. Xiaoping, Thatcher und Reagan fördern in ihren Ländern Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung – was man als den Dreiklang neoliberaler Politikinstrumente bezeichnen kann. +In China war der Bruch am heftigsten. Bis 1978 kontrollierte die Kommunistische Partei die Produktion in den Fabriken, bestimmte die Preise und teilte die Arbeitsplätze zu. Mit Xiaoping beginnt eineLiberalisierungder Industrie und des Handels: In einer liberalisierten Wirtschaft bestimmt nicht der Staat die Preise, sondern die Unternehmen selbst bzw. der Markt über Angebot und Nachfrage. Außerdem wird die Wirtschaft Schritt für Schritt geöffnet und der Handel mit anderen Ländern ermöglicht, Zölle werden reduziert oder abgeschafft. +Die Liberalisierung der Wirtschaft geht oftmals mit derPrivatisierungeinher. Beispielsweise wurden in Großbritannien seit 1984 zuvor staatliche Unternehmen wie British Telecom, British Gas, British Airways und British Steel verkauft und damit privatisiert. Nach neoliberaler Vorstellung wird Wohlstand durch private Unternehmen erlangt, die im Wettbewerb zueinander stehen. +Deshalb soll der Staat auch möglichst wenige Regeln, etwa in Bezug auf Arbeitsrechte oder Umweltschutz, festlegen – das ist dieDeregulierung. Zusätzlich wurden Gewerkschaften in den USA und Großbritannien stark bekämpft. Zum Symbol wurde der lange Kampf zwischen den Bergarbeitern und Margaret Thatcher in Großbritannien. Die Gewerkschaften verloren schlussendlich an Einfluss. +Die privaten Unternehmen und die Bevölkerung sollen nach neoliberaler Vorstellung möglichst wenig durch Steuern belastet werden. In seiner Amtszeit senkt Reagan den Spitzensteuersatz in den USA um mehr als die Hälfte. Gleichzeitig werden im Sozialstaatsbereich starke Kürzungen durchgesetzt, die zum Teil mit rassistischen Stigmatisierungen begründet werden – die Rhetorik Reagans richtet sich vor allem gegen alleinerziehende Schwarze Frauen. +In den 1990er-Jahren wird es zum Anliegen der Neoliberalen, einen supranationalen gesetzlichen Rahmen zu schaffen, also einen Rahmen über nationale Grenzen hinweg. Dieser soll Privateigentum vor demokratischen Entscheidungen und Umverteilung schützen. Dieses Mal ergibt sich das Möglichkeitsfenster aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Das Scheitern des real existierenden Sozialismus – der besonders viel Staatslenkung und wenig freie Märkte als Ideal hatte – wirkt wie ein Signal, dass der marktfreundliche Neoliberalismus der richtige Weg sein müsse. +1995 wird die Welthandelsorganisation (WTO) gegründet. Die WTO ist eine internationale Organisation, die Regeln für den globalen Handel festlegt. Ihr Ideal ist es, einen freien internationalen Markt über Grenzen hinweg zu schaffen, an dem alle Länder nach den gleichen Spielregeln teilnehmen können. Handelsschranken wie Zölle oder Subventionen sollen abgebaut werden, um globalen Wettbewerb zu fördern. Doch das Problem ist: Die WTO schafft damit einen rechtlichen Rahmen, der ökonomische Ziele verankert und dabei unabhängig von demokratischen Entscheidungen der Bevölkerung ist. Die WTO kann als Symbol der zentralen neoliberalen Idee gesehen werden. +Die Befürworterinnen und Befürworter argumentieren, dass die neoliberalen Reformen der Weltwirtschaft ab den 1980ern einen immensen Wachstumsschub verschafft hätten. Ihrer Auffassung nach seien die Entscheidungen von Unternehmen und Individuen viel effizienter und besser informiert als Staaten. Doch gibt es dagegen auch einen großen zivilgesellschaftlichen Widerstand. 1999 gehen Zehntausende Globalisierungskritiker auf die Straße, und die WTO-Konferenz in Seattle muss aufgrund der Proteste abgesagt werden. +Trotzdem sind die 2000er-Jahre geprägt von Regierungen, die neoliberale Politik umsetzen. In Deutschland wird in dieser Zeit ein großes Reformpaket mit dem Titel "Agenda 2010" umgesetzt, um die damals hohen Arbeitslosenzahlen zu senken – wobei eine Maßnahme ist, Unternehmen steuerlich zu entlasten. Tatsächlich sinken die Arbeitslosenzahlen in der Folge, allerdings geht mit der Agenda 2010 auch ein Anstieg unsicherer und schlecht bezahlter Arbeitsverhältnisse einher. Zudem stehen niedrige Regelsätze und strenge Sanktionen für Arbeitslose in der Kritik. +Auchdie aktuell im Grundgesetz verankerte Schuldenbremsekann als ein neoliberales Politikinstrument verstanden werden. Sie ist ein gesetzlicher wirtschaftspolitischer Rahmen, der nur mit großem Aufwand demokratisch veränderbar ist und die Politik zu weniger Ausgaben lenkt. +Der Neoliberalismus startet in den 1930er-Jahren. Ende der 1970er ist neoliberales Denken in der Politik und Gesellschaft angekommen. Eine weltumspannende wirtschaftspolitische Denkrichtung, in der Freiheit vor allem die Freiheit des Privateigentums bedeutet. Jede und jeder ist Teil eines Wettbewerbssystems. Der Staat soll nach neoliberaler Vorstellung kein fürsorglicher, kein Wohlfahrtsstaat sein und ist kein guter Unternehmer – Schulen, Wohnraum, Krankenhäuser werden privatisiert. +Doch in der Krise wird der Staat sehr wohl zu Hilfe gerufen. Sei esin der Finanzkrise 2008/2009oder beiden Staatshilfen während der Corona-Pandemie 2020/2021. Es braucht den Staat im Neoliberalismus, um den Markt, den Wettbewerb und das Privateigentum zu schützen. Bis heute. + diff --git a/fluter/netflix-der-wei%25C3%259Fe-tiger-rezension.txt b/fluter/netflix-der-wei%25C3%259Fe-tiger-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7dfe10c097f65418622ce5014743404bcf2b260b --- /dev/null +++ b/fluter/netflix-der-wei%25C3%259Fe-tiger-rezension.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Dass Gorman kurz nach dem Sturm auf das Kapitol genau dort nun sehr versöhnliche Verse vorgetragen hat, ist an sich schon symbolträchtig. Im Gespräch mit NBC sagte die 22-Jährige: "Ich wollte mit meinen Worten die Idee der Vereinigten Staaten wieder heiligen, die wir durch Gewalt so befleckt gesehen haben". Dabei arbeitet Gorman gern mit Metaphern und Alliterationen ("We've braved the belly of the beast", dt.: Wir haben dem Bauch der Bestie getrotzt) und spielt mit Zufällen, etwa indem sie die Begriffe "Waffen" und "Arme", die im Englischen gleich lauten, in einem Vers verbindet: "We lay down our arms, so we can reach out our arms to one another" (dt.: Wir legen unsere Waffen nieder, damit wir uns gegenseitig die Arme reichen können). +Bei ihrem Auftritt trug sie einen Ring mit einem Vogel in einem Käfig als Hommage an die verstorbene US-amerikanische Schriftstellerin Maya Angelou, die 1993 bei der Amtseinführung von Bill Clinton ebenfalls ein Gedicht vorgetragen hatte. Angelou gilt als Ikone der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung und ist unter anderem für ihr autobiografisches Werk "Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt" bekannt. Darin schreibt sie über Identität und Rassismus in den USA. +Gormans Outfit kam allerdings nicht bei allen gut an: Die "Neue Zürcher Zeitung" äußerte Kritik an ihrem auffällig gelben Prada-Mantel, der für eine als Stimme des Volkes inszenierte Person zu elitär sei. Gorman selbst sagt, sie wolle mit dem Kleidungsstück ihre Bewunderung für die feministische Haltung der Designerin Miuccia Prada ausdrücken. + + +Wer Gormans Auftritt gesehen hat, den:die dürfte wundern, dass sie noch bis vor ein paar Jahren wegen eines Sprachfehlers Angst hatte, frei zu sprechen. Gedichte laut vorzutragen habe ihr dabei geholfen, sagt sie heute.In einem TED-Talkerzählte Gorman 2018, dass die Entscheidung, die eigene Stimme zu erheben, immer auch eine politische sei. Poesie könne wie eine tote Kunstform für weiße Männer erscheinen, doch tatsächlich sei sie "die Sprache des Volkes" – offen für alle und mit dem Potenzial, Veränderung anzustoßen: "Poesie ist immer am Puls der gefährlichsten und kühnsten Fragen, denen sich eine Nation oder eine Welt stellen kann." +Die 22-Jährige ist mit Abstand die jüngste Dichterin, die jemals bei der Amtseinführung eines neuen US-Präsidenten sprechen durfte. 2017 wurde sie als erste Jugendpoetin der USA ("National Youth Poet Laureate") ausgezeichnet. Sie steht für einen Neuanfang, für eine Generation, die daszerrissene Landwieder einen möchte. In ihrem Text blickt sie selbstbewusst in eine bessere Zukunft: "Lasst uns also ein Land hinterlassen, das besser ist als das, das uns hinterlassen wurde." Der ehemalige US-Präsident Barack Obama twitterte, dass junge Menschen wie Gorman Beweis dafür seien, dass es immer Licht im Dunkeln gebe, wenn man nur mutig genug sei, es zu erkennen und zuzulassen – ein Zitat aus Gormans Gedicht. +Gorman erzählt von sich selbst. Sie beschreibt sich als "dünnes Schwarzes Mädchen, das von Sklaven abstammt und von einer alleinerziehenden Mutter aufgezogen wurde". Wie wichtig der 22-Jährigen ihre Herkunft ist, wird auch an dem Mantra deutlich, dass sie sich vor jedem Auftritt laut aufsagt: "Ich bin die Tochter von Schwarzen Schriftstellern, die von Freiheitskämpfern abstammen. Die ihre Ketten sprengten und die Welt veränderten. Sie rufen mich." Dass Gorman trotz ihrer Biografie und ihres Sprachfehlers an der Spitzenuniversität Harvard studiert hat und nun bei Bidens Amtseinführung sprechen durfte, macht sie für viele zum Sinnbild des "American Dream". Nach dieser Vorstellung kann jede:r in den USA erfolgreich sein, solange er:sie nur hart genug dafür arbeitet. +Die Kulturjournalistin Azadê Peşmen sieht darin allerdings auch die Gefahr der Instrumentalisierung. Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk sagte sie, man müsse aufpassen, dass Gorman im Diskurs um Chancengleichheit nicht "ein bisschen vorgeschoben wird: ‚Hier, sie hat es geschafft, warum schaffst du es nicht auch?'" Amanda Gorman hat sich übrigens ein weiteres Ziel gesteckt: Bereits 2017 erzählte sie der "New York Times", dass sie 2036 gerne als Präsidentschaftskandidatin antreten möchte. Ob sie dann wohl mit Gedichten Wahlkampf machen wird? + +Titelbild: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Patrick Semansky diff --git a/fluter/netflix-der-wei%C3%9Fe-tiger-rezension.txt b/fluter/netflix-der-wei%C3%9Fe-tiger-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..81d492338bcefad1158edd0c8c209177e3fdda20 --- /dev/null +++ b/fluter/netflix-der-wei%C3%9Fe-tiger-rezension.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Die Chance auf ein besseres Leben eröffnet sich für Balram, als er als Fahrer bei dem wohlhabenden Geschäftsmann Ashok (Rajkummar Rao) und dessen Ehefrau Pinky (Priyanka Chopra) anheuert, die gerade aus den USA nach Indien zurückgezogen sind. Ashoks zutiefst korrupte Familie residiert in einem Palast hinter einem schmiedeeisernen Tor und verdankt ihren Wohlstand ebenjener schmutzigen Kohle, die Balram und sein Bruder seit Kindheitstagengegen einen Hungerlohnzerstückeln mussten. Für rund 16 Euro Monatslohn zieht Balram mit seinem "Master"nach Delhi: Ashok und Pinky in eine voll möblierte Wohnung, die ihnen "zu sehr glänzt", Balram in einen Verschlag in der Tiefgarage, den er sich mit Kakerlaken teilt. + +Ashok und "Pinky Madam", wie Balram sie nennt, sind ein auf den ersten Blick freundliches Paar, das krampfhaft an seinem importierten amerikanischen Wertekompass festhalten möchte. Besonders empören sich die beiden über die Misshandlung von Bediensteten. Doch es bleibt bei der Empörung: Balram wird gedemütigt, ausgenutzt und ausgebeutet. Er lässt alles mit dackeltreuem Blick über sich ergehen – bis er ersetzt werden soll und Balram klar wird, dass ihn ein Lebensabend im Slum erwartet. Er beschließt, Rache zu nehmen – und dann, um wirtschaftlich aufzusteigen, ebenso moralisch fragwürdige Methoden anzuwenden wie sein ehemaliger Chef. +Adarsh Gourav spielt Balrams Reise vom Geknechteten zum Knechter wunderbar: Aus seinem Blick spricht mal naive Hoffnung, mal tiefer Schmerz, mal abgeklärte, kalte Arroganz. Auch Rajkummar Rao und Priyanka Chopra verkörpern die Ambivalenz ihrer Charaktere mehr als glaubhaft. Beim Spannungsbogen verspielt "Der weiße Tiger" jedoch Potenzial. Bis zum filmischen Höhepunkt des Racheakts plätschert der fast zweistündige Film mitunter recht ziellos vor sich hin. Dann geht plötzlich alles viel zu schnell. Ehe man sich's versieht, hat sich die Geschichte um 180 Grad gedreht. Das wirkt in etwa so, als hätte Claude Monet am Ende Strichmännchen in seine impressionistischen Mohnfelder gekritzelt. +Als wäre das nicht ärgerlich genug, bedient sich das Drama allzu holzschnittartiger Gegenüberstellungen, um zu verbildlichen, wie tief das moderne Indien in Arm und Reich gespalten ist: hier der überfüllte rostige Bus neben der klimatisierten Luxuskarosse; da die staubigen, lauten Märkte neben sterilen Neubauten. Ein paar Nuancen hätte man den Zuschauer:innen zutrauen können. Spätestens beim Abspann drängt sich der Gedanke auf: Wäre Bahranis Film ein Tiger, wäre sein Fell eher orange. + +"Der weiße Tiger" läuft ab sofort bei Netflix. + diff --git a/fluter/netflix-doku-sommer-der-krueppelbewegung.txt b/fluter/netflix-doku-sommer-der-krueppelbewegung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1a9c77e2dd89bbb9f8ac0b77189ca8fe10164149 --- /dev/null +++ b/fluter/netflix-doku-sommer-der-krueppelbewegung.txt @@ -0,0 +1,11 @@ + +Judy Heumann im Crip Camp + +Die heute 72-Jährige ist eine der Erzähler*innen der Netflix-Dokumentation "Sommer der Krüppelbewegung", die von dem ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama und dessen Frau Michelle mitproduziert wurde. Der Film nimmt einen mit in eine Zeit, in der Menschen mit Behinderungen in vielen Bereichen der US-amerikanischen Gesellschaft diskriminiert wurden – sei es durch fehlende Rampen in Bibliotheken, Aufzüge in U-Bahn-Stationen, Zugänge zu Ausbildung und Arbeit oder Zeichensprache in TV-Nachrichten. Auch James "Jim" LeBrecht, der für die Dokumentation gemeinsam mit Nicole Newnham das Drehbuch geschrieben und Regie geführt hat, hatte frühzeitig mit solchen Hindernissen zu kämpfen. Er hat einen offenen Rücken und sitzt seit seiner Kindheit in einem Rollstuhl. "Ich musste mich immer anpassen. Ich musste in eine Welt passen, die nicht für mich gemacht war." +Jahre später kamen die einstigen Camper*innen wieder zusammen. Und zwar an der University of California in Berkeley. Dort gründeten Studierende mit Behinderungen das "Center for Independent Living", eine Art Beratungs- und Selbsthilfeangebot. Im Zuge der Demonstrationen gegen denVietnamkriegformierte sich dann bei ihnen Protest. Der Grund: Die US-Administration weigerte sich, den "Rehabilitation Act" umzusetzen, der die Gleichstellung und Antidiskriminierung von Menschen mit Behinderung sicherstellen sollte: Erst legte Präsident Nixon gegen den Gesetzentwurf ein Veto ein, da es ihm zu teuer erschien, alle öffentlichen Einrichtungenbarrierefreiumzugestalten. Und dann weigerte sich Gesundheitsminister Joseph Califano unter Präsident Carter, das Gesetz zu unterschreiben. + + + +Die Bürgerrechtsbewegung rund umseineSprecherin Judy organisierte Besetzungen, Straßenproteste, Hungerstreiks und Auseinandersetzungen mit Kongressabgeordneten. Das Ziel der ehemaligen Camper*innen: endlich als gleichberechtigte Individuen an der Gesellschaft teilnehmen. Es wurde ein jahrzehntelanger Kampf, der auch unter der Reagan- und Bush-Senior-Präsidentschaft weiterging. Der deutsche Titel des Films "Sommer der Krüppelbewegung" ist daher auch etwas irreführend: Ein Großteil der 108 Minuten dauernden Dokumentation beschäftigt sich schließlich mit den Folgen des Camps, der Bürgerrechtsbewegung von Menschen mit Behinderungen in den USA. +Der Film zeigt diese Reise der Aktivist*innen vom Camp bis auf die Straße in Form von Archivmaterial, musikalisch untermalt durch die Klänge der damaligen Zeit: Bob Dylan, Richie Havens, Buffalo Springfield. Der Film macht Spaß, teilweise wütend, aber zugleich auch Mut. "Sommer der Krüppelbewegung" schafft es nicht nur, Menschen mit Behinderungen eine Stimme zu geben, sondern auch, sie als willensstarke Menschen darzustellen, die unverfälscht abgebildet werden. Zu Recht gewann der Film den Publikumspreis beim diesjährigen Sundance Film Festival – er würdigt eine bemerkenswerte Community, die gezeigt hat, was Zusammenhalt und Hartnäckigkeit bewirken können. Vielleicht motiviert er damit gar andere Menschen mit Diskriminierungserfahrungen, sich zusammenzuschließen und für mehr Gleichstellung einzustehen. +"Sommer der Krüppelbewegung" (Originaltitel: "Crip Camp", 2020)läuft auf Netflix. diff --git a/fluter/netflix-serie-alias-grace.txt b/fluter/netflix-serie-alias-grace.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9e1fda12e3d2846fe9cf9f8cf86a6ab81abcd53a --- /dev/null +++ b/fluter/netflix-serie-alias-grace.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Etliche der zentralen Serien- bzw. Romancharaktere sind rein fiktional, darunter auch die männliche Hauptfigur: Der junge Arzt Dr. Jordan (Edward Holcroft), der sich auf "Krankheiten der Seele" spezialisiert hat, wird von einem Bürgerkomitee, das für Grace Marks (Sarah Gadon) nach 16 Jahren Gefängnis eine Begnadigung erwirken will, gebeten, ein für die Gefangene günstiges Gutachten zu erstellen. Dr. Jordan nimmt seine Aufgabe sehr ernst und will sich keinesfalls beeinflussen lassen. Täglich besucht er die junge Frau im Haus des Gouverneurs, wo Grace unter Aufsicht als Dienstmädchen arbeitet, und lässt sich ihre Sicht der Dinge erzählen. +Gegen seinen Willen verfällt er ihrem zurückhaltenden Charme. Grace hat, obwohl sie nur die erste Hälfte ihres Lebens in Freiheit verbringen konnte, viel zu berichten, angefangen bei der höllischen Überfahrt aus Irland über den Atlantik, bei der ihre Mutter stirbt. Angekommen in Kanada, geht sie früh arbeiten, um ihrem trunksüchtigen Vater zu entkommen, und findet in ihrer Zimmergenossin eine beste Freundin: Mary Whitney (Rebecca Liddiard), ein mitreißend temperamentvolles junges Mädchen, das von einer besseren Zukunft träumt. Ihre Träume enden auf grausame Weise, als Mary vom Sohn des Hauses schwanger wird und nach einer Abtreibung stirbt. Grace erleidet einen schweren Schock. +Die Stärke der Serie zeigt sich in Szenen wie jener kurz nach Marys Tod, als Grace zum ersten Mal eine Stimme in ihrem Kopf hört. Es ist die Stimme Marys, die sagt: "Let me in!" Erschrocken öffnet Grace das Fenster. Doch da ist es schon zu spät … +Es deutet sich hier bereits eine mögliche Erklärung für Dinge an, die später in Grace' Leben passieren. Aber so ergreifend die Szene ist, so wenig verfällt die Inszenierung der Versuchung, das Geschehen in die eine oder andere Richtung zu deuten. Ob man an die Anwesenheit eines Geistes in der Story glauben will oder eine beginnende Schizophrenie diagnostiziert, ist den Zuschauern selbst überlassen. Auch später bleibt es bei Andeutungen. Jemand erzählt, dass Grace häufig mit sich selbst spreche. Sie selbst berichtet dem Arzt von Träumen und Schlafwandeln. Der Mord und was davor und danach geschah, werden in verschiedenen Erzählvarianten vorgeführt. +Mit unserem heutigen Wissen können wir am Ende annähernd sicher sein, wie es gewesen sein muss (zumindest in dieser fiktionalen Variante der Geschichte). Im Viktorianischen Zeitalter dagegen war es naheliegender, an Geister zu glauben, als eine Identitätsstörung zu akzeptieren. Selbst der Arzt, der angetreten ist, Grace' Geisteszustand objektiv zu beurteilen, verzweifelt an der schockierenden Verwandlung, die eine Hypnose bei Grace zutage treten lässt. Letztlich leidet er selbst an einer Art Persönlichkeitsspaltung: jener zwischen dem rationalen Wissenschaftler, der zu sein er eigentlich entschlossen ist, und dem geborenen Romantiker, der sich rettungslos in die sanfte Schönheit einer Frau verliebt hat und rohe menschliche Triebe auch bei sich selbst nicht recht wahrhaben will. +Diese Ambivalenz, die praktisch alles und alle durchzieht, macht "Alias Grace" so fesselnd. Gut und Böse gibt es hier nicht, jedenfalls können sie nicht klar voneinander getrennt werden. Echte Güte ist nur schwer von vorgetäuschter zu unterscheiden und kann schnell wieder verfliegen. Auf der anderen Seite sind auch die vermeintlich größten Schufte sehr oft durch äußere Umstände dazu geworden. Wir fühlen mit Grace, werden aber im Laufe der Serie immer unsicherer, ob ihren Erzählungen zu trauen ist. +Diese grundlegende Verunsicherung ist gruselig genug, zusätzliches Gothic-Brimborium braucht es hier nicht. Ganz im Gegenteil: Die Serie konterkariert die Düsterkeit der Erzählung mit der visuell größtmöglichen Klarheit und Helligkeit. Die Bilder sind lichtdurchflutet, die Farben leuchten, die Menschen sind schön. Die ganze gefilmte Zeit hindurch herrscht Sommer; fast meint man, Blumenduft zu riechen. Das viele vergossene Blut wird dagegen kaum gezeigt. Nur hier und da zerreißt brutale Gewalt die ästhetische viktorianische Kulisse. diff --git a/fluter/netflix-serie-end-of-the-fucking-world.txt b/fluter/netflix-serie-end-of-the-fucking-world.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5e016a70bd8329340b9fd78a9ff2d802b8e51c89 --- /dev/null +++ b/fluter/netflix-serie-end-of-the-fucking-world.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Allzu viel Mitleid muss man mit James jedoch nicht entwickeln, da er die Situation auf seine ganz eigene Art verarbeitet: Er tötet Tiere. Zunächst Hamster, Vögel, dann Kaninchen und schließlich die Katze des Nachbarn. Irgendwann reicht ihm das nicht mehr, er plant den Mord an etwas Größerem – einem Menschen.Alyssa plagen derweil ganz andere Sorgen. Während James von seinem aufgedrehten Vater nicht in Ruhe gelassen wird, erfährt sie von ihrer Mutter wenig bis gar keine Beachtung. Zu sehr beschäftigt ist diese mit den beiden kleinen Zwillingen, die sie mit Alyssas Stiefvater hat. Der trägt mit anzüglichen Gesten und Sprüchen seinen Teil zu Alyssas Hass auf die Familiensituation bei. Sie will endlich die Aufmerksamkeit und Zuneigung, die ihr zusteht. Darum kämpft sie verbittert – sie beleidigt, pöbelt, flucht, verführt, sucht sich Regeln, um sie zu brechen. Die vorhersehbaren empörten Reaktionen der spießigen Erwachsenen langweilen sie – nur der völlig gefühlskalte James, der offenbar mit seinem Umfeld genauso wenig anfangen kann wie sie, interessiert Alyssa. +Ohne es zu wissen, befinden die beiden sich in der gleichen Situation: Sie hassen ihr Leben. Und so sitzen sie bald in dem teuren Auto, das James seinem Vater klaut. Alyssa will bloß weg, James soll sie begleiten. Er willigt ein – und beginnt, seinen ersten Mord zu planen. +Nicht umsonst ist die Serie erst für Zuschauer ab 16 freigegeben. Zwischen den schnellen Schnitten blitzt mal eine blutverschmierte Messerklinge auf, die von James getöteten Tiere, dann spritzt dunkles Blut, viel davon – das ist nichts für zarte Gemüter. Doch "The end of the f***ing world" ist keine billige Splatter-Horror-Produktion, sondern eine vielschichtige Coming-of-Age-Story zweier besonderer Menschen, die gegen die Dämonen ihrer Kindheit kämpfen, der sie gerade erst entwachsen. +Dabei prallen immer wieder Kontraste aufeinander: düstere Bilder, Blut, Gewalt und dann zwei Teenager, die im honigfarbenen Sonnenlicht durch den Wald streifen, die sich betrinken und zu alten Schallplatten tanzen. James, gefühlskalt, Alyssa, abwechselnd wütend, verzweifelt, genervt, überschwänglich (beide genial gespielt von Alex Lawther und Jessica Barden). Und bei aller Düsterkeit hat, wer den britischen Humor mag, durchaus was zu lachen. +Das gelingt der Serie mit einem erzählerischen Kniff: Was unter der kalten glatten Oberfläche von James und der aufsässig-trotzigen Fassade von Alyssa brodelt, offenbaren sie nur den Zuschauern, die ihre Gedanken hören können. Und während sich dieses unkonventionelle Paar auf den Weg an die englischeKüste macht, ist schon längst klar, dass James und Alyssa eigentlich nur eines wollen: jemanden an ihrer Seite, jemanden, der bleibt. +"The end of the f***ing world" läuft bei Netflix. diff --git a/fluter/netflix-serie-godless-feministischer-western.txt b/fluter/netflix-serie-godless-feministischer-western.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..392eb76461fe689a257c2827b937e0bc36de5253 --- /dev/null +++ b/fluter/netflix-serie-godless-feministischer-western.txt @@ -0,0 +1,9 @@ + +Die Siedlung La Belle ist um eine Silbermine herum entstanden, in deren Bergwerk es zu einem schrecklichen Unglück gekommen ist. Seitdem leben fast nur Frauen in dem Ort, abgesehen von einigen wenigen Männern, darunter Sheriff Bill McNue (Scoot McNairy) und sein Deputy Whitey Winn (Thomas Brodie-Sangster). McNue kann nicht mehr schießen, da er allmählich blind wird, und Whitey ist ein guter Junge, aber nicht sehr helle im Kopf. Die Schwester des Sheriffs, Maggie (Merritt Wever), die nach dem Tod ihres Mannes dessen Kleidung trägt und eine Frau liebt, übt im Ort faktisch das Amt der Bürgermeisterin aus. Die Frauen zimmern emsig an einem großen Baugerüst, das eines Tages ihre Kirche werden soll, und warten schon lange vergeblich auf den versprochenen Pfarrer. +Von "God's own country", der patriotischen Selbstbezeichnung Amerikas, fehlt auch sonst jede Spur. In "Godless" gilt neben dem Recht des Stärkeren keinerlei gerechte höhere Ordnung. Zivilisatorische Bemühungen konnten jederzeit von jeder Moral fernen Bösewichten zunichtegemacht werden. Die Menschen sind auf sich allein gestellt, wodurch die individuelle Stärke der Einzelnen umso mehr hervortritt. +Auf einem einsam gelegenen Hof in der Nähe von La Belle, der von der Witwe Alice (Michelle Dockery) mit ihrem Sohn und ihrer indianischen Schwiegermutter (Tantoo Cardinal) bewohnt wird, strandet derweil ein gesuchter Räuber. Roy Goode (Jack O'Connell) hat sich gegen seinen Räuberhauptmann Frank Griffin aufgelehnt und wird nun von dessen Bande gejagt. Als ein skrupelloser Journalist spitzkriegt, dass Goode sich in La Belle aufhält, veröffentlicht er einen Artikel, mit dem er den Ort und seine Bewohnerinnen der sicheren Vernichtung preisgibt. Denn Griffin und seine Bande haben wegen Roy Goode bereits eine andere Stadt in Schutt und Asche gelegt und fast alle ihre Bewohner massakriert. +Die Handlung ist, dieser Abriss lässt es erkennen,absolutelytextbook: ein traditioneller Westernplot, in dem es einen Helden, einen Schurken, einen Sheriff und vielleicht auch noch eine schöne Frau als Hauptfiguren gibt. Durch das Serien-Format öffnet sich allerdings ein Erzählhorizont weit über die engen Grenzen des Genres hinaus. Während das Bedrohungsszenario sich über sieben Folgen hin zum großen Showdown entwickelt, bleibt Zeit, die handelnden Personen kennenzulernen. Auf die Vorgeschichte Roy Goodes (der Name ist Programm), des elternlosen Pferdeflüsterers, der als Junge zum Räuber wurde und sich selbst aus den Fängen des Bösen befreite, wird viel erzählerische Sorgfalt verwendet. Etwas kürzer kommen die schöne Alice und Sheriff Bill McNue weg, die auf ihre Weise beide die menschliche Würde inmitten von antizivilisatorischen Bedrohungen verkörpern. Die beiden anderen stärksten Charaktere des Ortes sind Maggie McNue und ihre sehr freigeistige Geliebte, die als Hure reich wurde und nun Kindern das Lesen und Schreiben beibringt. Als Person eher geheimnisvoll bleibt der Schurke: Der so charismatische wie grausame Griffin (sensationell gespielt von einem graubärtigen Jeff Daniels) trägt einen Priesterkragen und führt seine Bande wie eine Sekte. + +Was "Godless" von anderen Western unterscheidet, ist die Darstellung der Gewalt. Sie wird, einerseits, nicht nur von ferne gezeigt. Theaterblut fließt reichlich, tote Körper pflastern gegen Ende den Bildschirm. Aber anders als etwa in den Italo-Western Sergio Leones dient die detaillierte Darstellung menschlicher Verletzlichkeit hier nicht einer von Faszination gespeisten Ästhetisierung, sondern eher einer um Realismus bemühten Annäherung an das echte Grauen von Mord und Totschlag. Ein finstererrunning gagist in diesem Zusammenhang der Arm, der Griffin zu Beginn amputiert werden muss. Der Bandenführer wird ihn die ganze Serie über als eine Art Orakel mit sich herumschleppen, obwohl das faulige, stinkende Gewebe Unmengen Ungeziefer anzieht. +Diese Art schwarzen Humors durchsprenkelt hier und da die zahlreichen Erzählschichten von "Godless"; ein bisschen so, wie Schokosplitter einem köstlichen Kuchen den letzten Kick geben. In einer dieser Schichten, einer der obersten sogar, steckt eine ordentliche Prise Feminismus. Aber letztlich sind es viele verschiedene Zutaten, die hier eine bewährte Form in neuer Kombination ausfüllen. Es bleibt, was es ist: ein Western. +"Godless" läuft auf Netflix diff --git a/fluter/netflix-serie-wermut.txt b/fluter/netflix-serie-wermut.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e9bfdbc1695d233901f9ef6793bb4aadd6a67c05 --- /dev/null +++ b/fluter/netflix-serie-wermut.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Damit hätte die Sache beendet sein können. War sie aber nicht. Im Gegenteil. Ob es nun ein Unfall war, ein Suizid, wie die CIA behauptet, oder doch Mord, wie die Familie vermutet, das ist bis heute unklar. Man spoilert nicht, wenn man verrät, dass auch die Netflix-Doku-Serie "Wermut" keine Antwort auf das Rätsel liefert, auch wenn Regisseur Errol Morris durchaus ein Investigativspezialist ist und schon die unrechtmäßige Verhaftung eines zum Tode Verurteilten aufgedeckt hat (im Film "The Thin Blue Line", 1988). +Sein virtuoser Sechsteiler ist auch so spannend – und verstörend. Er erzählt von der obsessiven Suche nach der Wahrheit in Zeiten von Fake News, alternativen Fakten und allerorts erblühenden Verschwörungstheorien. Im Zentrum der Serie steht Frank Olsons Sohn Eric, der mit seinen Nachforschungen nicht lockerlässt, während seine Mutter ihren Schmerz im Alkohol ertränkt. +Eric findet Hinweise, die darauf hindeuten, dass sein Vater bei der CIA aussteigen wollte, für die er an biologischen Kampfstoffen forschte. Ihm fällt ein CIA-Handbuch aus dem Jahre 1953 in die Hände, in dem der Fenstersturz als "bevorzugtes Mittel der Ermordung" beschrieben wird. Und er trifft den zwielichtigen Ex-CIA-Mann Sidney Gottlieb, der Giftmord-Anschläge gegen Patrice Lumumba und Fidel Castro plante. Der erste demokratisch gewählte Präsident des Kongo sollte mit vergifteter Zahnpasta aus dem Verkehr gezogen werden, der Máximo Líder Castro mit einer präparierten Zigarre. Und Gottlieb leitete auch das MKUltra-Programm. +Olsons Zweifel an der Version der CIA gehen irgendwann so weit, dass er die Leiche des Vaters exhumieren und von Forensikern untersuchen lässt. 41 Jahre nach seinem Tod. Dabei tauchen weitere Ungereimtheiten auf. Etwa dass dieser vor dem Fenstersturz einen harten Schlag auf den Kopf bekam. +Für Olson ist klar: Sein Vater wurde für die CIA zur Gefahr. Er wusste viel und galt als labil. Sein Tod kam dem Geheimdienst so gelegen, dass es schon ein riesiger Zufall sein müsste, wenn er nicht nachgeholfen hätte. +Einer Verschwörungstheorie mangelt es ja selten an Logik. Und Eric Olson, ein Harvard-promovierter Psychologe, erweist sich in "Wermut" als Meister der kriminalistischen Logik. Doch sie hilft ihm nicht. Die meisten Akten sind illegal vernichtet worden, die damaligen Entscheider gestorben, der Fall juristisch verjährt, die Wahrheit wird wohl nicht mehr ans Licht kommen. +Olsons Zerrissenheit stellt Morris virtuos in seinen mit vielen Kameras gedrehten Interviews dar. Mit Splitscreens und Close-ups porträtiert er in langen Interviewsequenzen einen Mann, der komplett ausgezehrt ist von der Suche nach der Wahrheit dieser New Yorker Novembernacht im Jahr 1953. Dazwischen montiert Morris Film-noir-inspirierte Erzählpassagen, die die Ereignisse bis zum Tod Olsons zeigen – soweit sie denn bekannt sind. Zusammen mit viel dokumentarischem Material ergibt das eine komplexe, beziehungsreiche Collage, die die Paranoia des Kalten Krieges bisweilen ziemlich gegenwärtig aussehen lässt. +Sie zeigt eine Vertrauenskrise in einem Staat, der seine eigenen Angestellten, wenn sie ihm gefährlich werden, notfalls über die Klinge springen lässt. Oder auch nicht. Das weiß man am Ende eben nicht. Sicherlich aber kippte die CIA ihnen schon mal LSD in die Drinks. Beunruhigend genug. +"Wermut" (Errol Morris) läuft auf Netflix. diff --git a/fluter/netzwerk.txt b/fluter/netzwerk.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/netzwerkstoerung.txt b/fluter/netzwerkstoerung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/neue-buslinie-nahverkehr.txt b/fluter/neue-buslinie-nahverkehr.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0dc1f661d3c5f4568a07c22ee8e1a884bd1c7675 --- /dev/null +++ b/fluter/neue-buslinie-nahverkehr.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Zwei Jahre tüftelte Ben in seiner Freizeit an der Buslinie, befragte Anwohner zu ihren Mobilitätsbedürfnissen, studierte die lokalen Linienpläne. Heute referiert er im Bushäuschen vor der Dorfkirche über die Probleme der Massenmotorisierung und über intermodale Mobilitätskonzepte, als wäre er studierter Experte. Bleibt eine Frage: Warum tut er sich so etwas an? +Ben lächelt. Er habe durchaus normale Hobbys: Gitarrespielen, Skaten,sein 125er-Motorrad.Aber da sei auch ein Interesse an Politik und daran, Dinge zum Besseren zu verändern. "Ich finde, viel zu viele Leute meckern nur, ob alt oder jung." +Schildow hat Busverbindungen in die Hauptstadt. Aber die enden irgendwo in den Außenbezirken. Bens X26 dagegen würde bis zum S-Bahnhof Tegel durchfahren, einem Knotenpunkt. "Die Verbindung nach Tegel ist hier sehr gewünscht", sagt er. Das hätten ihm viele Anwohner gesagt. +Die Bestätigung folgte an einem Samstag im Juni. Mithilfe der Nachbargemeinde Glienicke/Nordbahn konnte Ben eine Probefahrt organisieren: von Schildow nach Tegel, also über Landesgrenzen hinweg, mit einem Doppeldeckerbus der Berliner Verkehrsbetriebe. Mit Flyern machte Ben wochenlang auf das Experiment aufmerksam. "Genießen Sie eine schöne Fahrt im modernen Doppeldecker von Traditionsbus Berlin, ein Erlebnis für die ganze Familie", stand darauf. Am Tag der Probefahrt kamen so viele an die Haltestellen, dass der Busfahrer gar nicht alle Wartenden mitnehmen konnte. Bei TikTok istein Video über die Probefahrt1,5 Millionen Mal aufgerufen worden, einPost von rbb24 auf Instagramwurde tausendfach gelikt. Bens neue Buslinie war ein voller Erfolg. + +Diese Resonanz beweist, wie wichtig den Menschen gute Mobilitätsangebote jenseits des privaten Pkw sind. Weil sich viele tagtäglich mit dem öffentlichen Nahverkehr rumärgern. Oder sich mit ihren Fahrzeugen durch die wenigen Nadelöhre Richtung Hauptstadt quetschen. Stau ist im Berufsverkehr der Normalzustand, auch in anderen Ballungsräumen um München, Hamburg oder im Ruhrgebiet. +Tut die Politik hier – immer noch – zu wenig? Zumindest in Schildow und Umgebung versucht man schon länger gegenzusteuern. Die benachbarte Gemeinde Glienicke/Nordbahn setzte 2019 einen "Kiezbus" ein. Er bringt die Menschen bis zum nächstgelegenen S-Bahnhof Berlin-Frohnau. Drei Jahre finanzierte die Gemeinde den Bus, inzwischen habe die Oberhavel Verkehrsgesellschaft (OVG) die Linie in den Nahverkehrsplan übernommen, sagt ein Gemeindesprecher. Glienicke/Nordbahn leidet wie viele andere Gemeinden im Berliner Speckgürtel unter den Pendlermassen. +Logisch, dass man sich hier für das Experiment von Ben interessiert. Ende August lud ihn der Vorstandsvorsitzende der OVG ein, um sich den X26 erläutern zu lassen. Mitgenommen hat Ben nur sein Notebook, auf dem er seine Pläne und Excel-Tabellen zur Buslinie gespeichert hat. Sein X26 hat einen großen Vorteil: Ben erfand keine neue Linie, die viel bürokratischen Aufwand und hohe Kosten bedeuten würde. Der X26 soll die bestehende Route des 806er-Busses fahren – nur eben verlängert bis zum S-Bahnhof Tegel. Und das besonders fix, weil er weniger Stationen anfährt. "Dafür wären statt aktuell drei Fahrzeugen vier nötig – also nur ein Fahrzeug mehr", sagt Ben. + +Dieser Text istim fluter Nr. 92 "Verkehr"erschienen +Dem Gymnasiasten könnte so aus seinem Jugendzimmer gelingen, was in Amtsstuben mitunter Jahre dauert oder nie realisiert wird: niederschwellige Alternativen zum Auto zu schaffen. Rund um die Stadtgrenzen dränge die Zeit, sagt ein Sprecher des Brandenburger Infrastrukturministeriums, mehr als sechs Millionen Menschen lebten im Metropolraum Berlin-Brandenburg. Er verweist auf das Mobilitätsgesetz, das Brandenburg zu Jahresbeginn beschloss, um als erstes deutsches Flächenlanddie Verkehrswende zu schaffen. Ein "landesweites Netz von Bahn und Bus und aus Radverkehrsverbindungen" soll die ländlichen Räume besser anbinden. Anfang 2024 gab es allerdings 1,48 Millionen zugelassene Pkw in Brandenburg, ein neuer Höchststand. Laut Prognosen soll die Zahl der Pendler erheblich steigen. +Vielleicht braucht das Land mehr Nachwuchstalente, nicht nur im Fußball oder beim Film, sondern auch in vermeintlich drögen Bereichenwie der Verkehrsplanung. Auf kommunaler Ebene sei der Wille durchaus da, sagt Ben. Entscheiden müssten über seine Buslinie aber die Verkehrsbetriebe beziehungsweise Landkreis und Berliner Senat. Bei Verkehrsprojekten zählt, wie in anderen Bereichen auch, das Geld. Eine neue Bus- oder Bahnlinie muss sich rechnen, wird in der Regel argumentiert, durch eine ausreichende Zahl an Fahrgästen zum Beispiel. Die einzelne Linie ist immer defizitär, sagen dagegen Kritiker. Einen Nutzen hat sie erst im Zusammenspiel mit anderen, als Verkehrssystem. +Gerade ist Ben 17 geworden, er darf den Pkw-Führerschein machen.Ein eigenes Autokomme für ihn aber nicht infrage, "aus Prinzip nicht". Da wartet er lieber auf den Bus. diff --git a/fluter/neue-deutsche-welle.txt b/fluter/neue-deutsche-welle.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5e365ec372f2bf34cdb170472d13148be810676b --- /dev/null +++ b/fluter/neue-deutsche-welle.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +1987 standen der 15-jährige Sven und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Rouven während eines Familienurlaubs auf der dänischen Insel Bornholm zum ersten Mal auf einem Surfboard. Sie waren so begeistert, dass sie im Wellenbad ihrer westfälischen Heimatstadt Melle weitersurfen wollten. Weil es keine Bretter für den niedrigen Wellengang gab, bauten und testeten sie aus Baumarkt-Materialien eigene Modelle. Dabei reifte ihr Traum: das perfekte Surfboard zu entwickeln. +Der Traum ist Realität: Bufo Boards sind leichter, flexibler und – dank einer bionischen Konstruktion, bei der die Außenhaut des Bretts und der hohle Surfbrettkörper wie verwachsen sind – deutlich stabiler als Konkurrenzprodukte. Mit Preisen ab 655 Euro sind sie zudem erschwinglich. Die beiden haben zahlreiche Auszeichnungen bekommen, unter anderem den hoch angesehenen Concept Award auf dem Internationalen Forum Design. Surflegenden wie Tom Curren oder Robbie Page schwören auf die Bretter der Brauers. Page war der erste Weltklassesurfer, den die beiden überzeugten. Nach Testfahrten war er so begeistert, dass er vor Foto-grafen der einflussreichen Zeitschrift Surf Europe auf einem Bufo Board herumsprang, um die hervorragenden Eigenschaften zu demonstrieren. Eine Seite waren die Bilder der Zeitschrift 2001 wert und machten Bufo Boards in der Surfszene bekannt. +Selbstbewusst gingen Sven und Rouven daher 2001 zu einem Patentanwalt, um ihre Konstruktionsweise schützen zu lassen. "Ganz grün im Gesicht" verließen sie sein Büro wieder: Gut 180 000 Euro sollte der weltweite Patentschutz kosten. Ein innovatives Produkt zu entwerfen war das eine, es erfolgreich auf den Markt zu bringen aber etwas anderes. +An unzähligen Businessplan-Wettbewerben hat Sven Brauers seither teilgenommen und so ihren Businessplan perfektioniert. Er hat sich einen Überblick über den Dschungel von rund 700 deutschen Wirtschaftsförderungsprogrammen verschafft, nicht ohne Erfolge: Das Erfinderzentrum Norddeutschland, eine staatliche Förderungsgesellschaft für junge Gründer, lieh ihnen 75 Prozent der Patentkosten. Die Wolfsburg AG, eine 50-prozentige Tochter der VW AG, stufte sie als "High Potential Start Up" ein, stellte ihnen Räume auf dem Wolfsburger InnovationsCampus und Zugriff auf das Wissen der VW-Fach-leute zur Verfügung. Eltern und Freunde beteiligten sich mit Geld am Unternehmen und retteten es in kritischen Phasen. +Mittlerweile könnte die Bufo Boards GmbH mit derzeit sechs festen Mitarbeitern und zwei Praktikanten allein überleben und langsam wachsen, aber die Zeit drängt. Noch ha-ben sie mit ihrer Innovation einen Vorsprung von rund vier Jahren vor der Konkurrenz, schätzt Sven, doch die "schläft nicht". Zudem rentieren sich die hohen Investitionen für den Patentschutz vor allem, wenn man sie auf 
einen großen Umsatz verteilt. Um das Tempo zu erhöhen, brauchen die Brauers Geld: für Messestände, für mehr Angestellte in der Produktion und im Marketing, für Werbung und Vertrieb. Zwei Millionen Euro insgesamt, sagt Sven, "je mehr, umso höher unser Tempo". Auf etlichen "Venture Capital"- oder "Business Angels"-Veranstaltungen, auf denen jun-
ge Gründer möglichen Investoren ihre Geschäftsmodelle vortragen, war er schon. Immer waren alle begeistert von dem Unternehmen, dem Geschäftsmodell, dem Produkt, den Brauers. Doch dann spielten sich häufig ähnliche Szenen ab: Unfähige Consultants, von denen es, so Sven, "in Deutschland mehr gibt als eigentliche Gründer", boten ihre Hilfe gegen horrende Gebühren an. Investoren ließen sich individuelle Businesspläne erstellen und meldeten sich nie wieder. +Wesentliche Gründe: das Produkt und die Branche, gepaart mit generellen Vorurteilen. "Erfinder gelten als durchgeknallt. Surfer können eh nicht mit Geld umgehen. Und Gründer haben keine Ahnung von irgendwas", fasst Sven zusammen. Zudem verstehen wenige etwas vom Wellenreiten, und Investoren investieren am liebsten in Branchen, die sie kennen. Sven erinnert sich an Banker, die nach einem dreistündigen Vortrag über Bufo Boards und den Wellenreitmarkt fragten: "Und wo befestigen Sie jetzt das Segel?" +"Beim Thema Geld rutscht den meisten das Herz in die Hose", sagt Sven. Die Mehrheit der Investoren folge lieber Trends, als der 
eigenen Begeisterung zu trauen: Geld für ein Start-up im Bereich Web 2.0 zu bekommen ist leichter. "Wir sind die Braut, die alle sexy finden, bei der aber alle Angst kriegen, wenn es dann ernst wird", sagt Sven. "Alle sagen dir, die Welt stecke voller Investoren. Wenn man endlich erkennt, dass das nicht stimmt, dann bleibt vielen Gründern nicht mehr 
die Zeit, um aus eigener Kraft zu wachsen." +Die Brauers haben diese Phase hinter sich gelassen. Sie haben einen Partner eingestellt, der für die Finanzen zuständig ist. Sie werden nicht müde, Kontakte zu knüpfen und ihre Geschichte zum hundertsten Mal zu wiederholen. Zwei ernsthafte Interessenten gibt es momentan. Träumten die Brauers anfangs davon, ein Board für die besten Surfer der Welt zu entwickeln, hoffen sie nun, dass sie einen Investor finden, der das jetzt serienreife Produkt mit ihnen auf den Weltmarkt bringt und Verständnis hat für den Markt, in dem sich die Bufo Boards GmbH bewegt. Einer, auf dem man Sven und Rouven Brauers schon sehnsüchtig erwartet. diff --git a/fluter/neue-deutsche-wellen.txt b/fluter/neue-deutsche-wellen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..320b95768433a84524869ce004b114e036b814e5 --- /dev/null +++ b/fluter/neue-deutsche-wellen.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Ich wurde in dem norwegischen Keller etwas wacher. Überall entlang der Nordsee gibt es Pegel. Meterstangen im Boden, die messen, wie hoch die Flut steigt und wie tief die Ebbe fällt. Diese Daten an den Pegeln werden aufgezeichnet – seit etlichen Jahrzehnten. In Folianten mit Tinte und Blei, in Tabellen in Häfen, in Wachbüchern an Schleusen. Die Daten werden sorgfältig und gewissenhaft notiert. Sie sind wichtig für die Menschen an der Küste. Sie sichern ihr Leben, sie bestimmen die Höhe und Stärke der Deiche. Ich brauche die Daten der Pegel. +Direkt nach meiner Rückkehr nach Deutschland machte ich mich an die Arbeit. Gemeinsam mit meinen Kollegen vom Recherchezentrum correctiv.org besorgte ich die Daten aller Pegel an der Nordsee bei derPegeldatenbank der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes(WSV). Einige Daten gibt es nicht, sie sind in den Kriegen verschwunden. Andere sind noch nicht aus den Büchern in digitale Tabellen überführt. Ein paar Pegel sind verschwunden, andere hinzugekommen. Schließlich aber, nach wochenlangem Hin und Her, konnten wir 32 Messstellen entlang der deutschen Küste auswerten – mehr als drei Millionen Datensätze. Die ältesten mehr als 100 Jahre alt, die frischesten wenige Monate. Genug für uns. +Um anhand der Daten langfristige Trends zu beobachten, haben wir Mittelwerte aus den höchsten Wasserständen jeder Flut über ein Jahr beziehungsweise fünf Jahre gebildet. Natürlich können wir auf diese Art und Weise nicht genau den durchschnittlichen Anstieg des mittleren Meeresspiegels bestimmen. Aber das wollten wir auch nicht. Wir wollten nur erkennen, ob man einen kontinuierlichen Anstieg des Wassers entlang der gesamten Nordseeküste sichtbar machen kann. Genau für diese Betrachtung war unsere Methode geeignet. +Die Kurven auf unseren Rechnern waren eindeutig: Der Meeresspiegel in der Nordsee steigt seit mehr als 100 Jahren. Seit Ende der 70er-Jahre beschleunigt sich der Anstieg noch mal deutlich. Am Pegel Hörnum auf Sylt stieg das Wasser zum Beispiel von etwa 5,80 Meter im Jahr 1951 auf über 6 Meter im Jahr 2014; am Pegel Mellumplate von 6,25 Meter im Jahr 1971 auf 6,47 im Jahr 2014; am Pegel Norderney Riffgat von 6,08 im Jahr 1971 auf 6,23 im Jahr 2014. +Professor Jürgen Jensen, Leiter des Lehrstuhls für Hydromechanik der Universität Siegen, sagt: "Wir beobachten derzeit einen beschleunigten Anstieg des Trends." In einerStudie, die Jensen mit Kollegen 2011 veröffentlicht hat, schreibt er: "Die zuletzt aufgezeichneten Steigerungsraten des Meeresspiegels sind die höchsten, die je beobachtet wurden." Jensen warnt allerdings vor voreiligen Schlüssen. "Wir wissen auch, dass es früher ähnliche Phasen gab. Wir können deswegen noch nicht sagen, ob es sich aktuell schon um die Beschleunigung des Meeresspiegelanstiegs handelt, die Klimaforscher für das 21. Jahrhundert erwarten." Derzeit schätzt der Wissenschaftler, dass rund 50 Prozent des beobachteten Anstiegs bereits auf den von Menschen gemachten Klimawandel zurückzuführen sind. Wie sehr sich die Entwicklung aufgrund der steigenden Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre verstärken wird, ist noch offen, sagt Jensen: "Wir wissen, dass der Anstieg des Meeresspiegels zeitlich verzögert zu Klimaänderungen auf der Erde einsetzt. Er hat einen gewissen Nachlauf." Was der Wissenschaftler sagt, heißt übersetzt: Es kann alles noch viel heftiger werden. Und das ist wahrscheinlicher, als dass es glimpflich abgeht.Ich habe danach bei Wissenschaftlern angerufen und Studien gelesen. Es ist überall auf der Welt das Gleiche. Das Meer kommt. Es steigt. Unaufhaltsam. Die Mengen an Wasser, die bewegt werden, sind gigantisch. Milliarden Tonnen Eis schmelzen ab. Sie werden zu Wellen und stürzen auf unsere Deiche. Tragen Dünen ab und Sandbänke, brechen unsere Küsten. Jacobus Hofstede, Wissenschaftler im Umweltministerium Schleswig-Holstein, sagt: "Über alle Messpunkte betrachtet ist ein Anstieg des Meeresspiegels zu beobachten." Diese Aussage treffe für alle Pegel an der Ost- und Nordsee zu. Auf ein Jahr gerechnet sei der Anstieg mit weniger als drei Millimetern gering. In den kommenden Jahrzehnten rechnet Hofstede allerdings mit einem Anstieg von bis zu 50 Zentimetern. Sein Bundesland kämpft um die Deiche. Erhöht, was zu erhöhen ist. Auf über 150 Kilometern wird gearbeitet. Stein um Stein. Immer gegen das Meer. +Jacobus Hofstede vom Umweltministerium Schleswig-Holstein schreibtin seiner Studie: "Hinsichtlich des Küstenschutzes ist die Situation ernst". Sollte sich der Anstieg auf drei oder gar fünf Millimeter pro Jahr verstärken, "muss spätestens in einigen Jahrzehnten mit verstärktem Küstenabbruch gerechnet werden." Sollte der Anstieg noch heftiger ausfallen, würde das Wattenmeer Schaden nehmen. Die gesamte deutsche Küste würde sich verändern. Einfacher gesagt: Halligen tauchen unter. Inseln wie Langeoog und Borkum werden überflutet. Manche Inseln verschwinden vielleicht sogar völlig und mit ihnen die Städte und Dörfer darauf. Wie damalsdie Stadt Rungholtim Sturm auf der Insel Strand, die mit unterging. +Nach unserer Recherche schaue ich mir die Daten immer mal wieder an. Und gehe mit dem Mauszeiger über die Kurven: Nackte Zahlen. Nackte Daten. Nackte Beweise. Für eine ungeheure Gewalt, die niemand kontrollieren kann. Für ein Meer, das auf der ganzen Welt, überall in jedem Ozean, an jeder Küste über die Ufer tritt. In der Nordsee, in der Karibik, im Mississippi-Delta, im Kongo, in Kalkutta, in Vietnam, am Mekong. Überall. Wir müssen aus unserem Wissen Konsequenzen ziehen. Dann kann alles noch gut werden. Wenn wir bessere Deiche bauen, höhere Flutwehre und unser Wissen teilen. Und möglichst viel gegen den Klimawandel unternehmen. diff --git a/fluter/neue-heimat.txt b/fluter/neue-heimat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..07f129d55658740bc1a95e45235f1881c7a4de39 --- /dev/null +++ b/fluter/neue-heimat.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Genaue Zahlen kennt allerdings niemand, da sich viele dieser Transaktionen in Grauzonen abspielen. So ist es Nutzern von "World of Warcraft" verboten, sich mit Geld Vorteile zu erkaufen. Wer die im Spiel verwendete Goldwährung in die Hände bekommen will, muss sich in Kämpfen und mit Heldentaten bewähren. Alles andere gilt als Schummeln. Doch auf Webseiten von Drittanbietern gibt es nicht nur World-of-Warcraft-Gold, sondern auch ganze Spielerprofile mit zahlreichen fortgeschrittenen Fähigkeiten zu kaufen. Wer auf derartigen Schwarzmärkten Währungen oder Ausrüstungsgegenstände ersteht, trifft sich nach Geschäftsabschluss mit dem Händler zur Übergabe im Spiel. Second-Life-Betreiber Linden Lab bietet dagegen eine ganz offizielle Umtauschmöglichkeit für die eigene Währung an. Die Firma übernimmt dabei die Funktion einer Art Online-Wechselstube, die auf den An- und Verkauf der Second-Life-Währung spezialisiert ist. Wer sich das in der virtuellen Welt verdiente Geld auszahlen lassen will, bekommt von der Firma je nach Wechselkurs für rund 270 Linden-Dollar einen US-Dollar. Im Gegensatz zu den meisten anderen Betreibern besteht Linden Lab auch nicht darauf, der Alleinbesitzer der 
virtuellen Welt zu sein. "Ende 2003 krempelten wir die Ökonomie völlig um", erklärt Catherine Smith dazu. "Wir gaben unseren Nutzern Eigentums- und Urheberrechte. Das war für den Markt ein Durchbruch." +Sony wählte für sein Spiel "Everquest 2" einen Mittelweg. Die Firma startete Mitte 2005 eine eigene Auktionsplattform, die auf zwei Server des Spiels begrenzt ist. Spieler können damit selbst entscheiden, ob sie in einer Abenteuerwelt mit oder ohne Kreditkarten-Magie antreten wollen. Sony nutzte die eigene Handelsplattform zudem für eine Studie, um mehr über die spielerischen Handelsbeziehungen zu erfahren. Dabei stellte die Firma fest, dass der Durchschnittsspieler pro Jahr rund 110 Euro für virtuelle Gegenwerte ausgibt. Begehrte Spielfiguren brachten ihren Verkäufern auch schon bis zu 1500 Euro ein. Die Nutzung eines solchen virtuellen Marktes ist offenbar je nach Alter unterschiedlich. Die meisten Verkäufer sind Anfang zwanzig, Käufer im Durchschnitt Mitte dreißig. Anders gesagt: Studenten mit viel Freizeit erarbeiten sich online Dinge, die sie an berufstätige und etwas ältere Spieler weiterverkaufen. +Sonys Handelsplattform ist auf US-Nutzer beschränkt. Der graue Markt der inoffiziellen Spielauktionen folgt jedoch den gleichen Ge-setzen der Globalisierung, die auch diesseits des Bildschirms gelten. Wenn Spieler in Europa oder den USA Gold für ihre World-of-Warcraft-Figur kaufen, dann stammt dies mit hoher Wahrscheinlichkeit aus Ländern wie China, Vietnam oder den Philippinen. Immer mehr Unternehmer verlagern die arbeitsintensiven Aspekte der Spielökonomie in derartige Niedriglohnländer. So gibt es Berichte von virtuellen Sweatshops in China, in denen Angestellte zehn Stunden am Tag für gerade mal 43 Eurocent pro Stunde Onlinegold schürfen. In den letzten Monaten haben immer mehr große Konzerne virtuelle Welten für sich entdeckt. So werben Mercedes-Benz, IBM und Dell in Second Life für ihre Produkte. Der Axel-Springer-Konzern hat sogar mit dem Vertrieb einer digitalen Second-Life-Klatschzeitschrift begonnen. Ausbeutung wird von den Betreibern derartiger Spiele angesichts dieses Booms nur ungern thematisiert. Doch Niedriglöhne sind nicht die einzige Schattenseite virtueller Ökonomien. Linden Lab unterhält mittlerweile 4000 Server, um dem Ansturm der Nutzer standzuhalten. Ein US-Wirtschaftsexperte ermittelte im Dezember, dass der durchschnittliche Second-Life-Charakter damit nahezu genauso viel Strom verbraucht wie ein lebendiger Bewohner Brasiliens. +Schließlich gilt in virtuellen Märkten wie in der realen Welt: Reich werden damit nur die wenigsten. Zwar verkündete die Frankfurter Online-Unternehmerin Ailin Gräf im November, mehr als eine Million Dollar mit Landspekulationen in Second Life eingenommen zu haben. Doch von den knapp vier Millionen Second-Life-Bewohnern verdienen nur rund 100 mehr als 5000 US-Dollar pro Monat. Viele Nutzer haben dagegen mit denselben Problemen zu kämpfen wie Pasqual, dessen Boutique meistens gähnend leer ist. "Das Geschäft läuft schlecht", berichtet der Franzose leicht resigniert. "Aber von irgendwas muss man hier ja leben." diff --git a/fluter/neue-podcasts-blogs-corona-krise.txt b/fluter/neue-podcasts-blogs-corona-krise.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6549bcbd9e9adca6e11ba709ff1e61fd0b34dfb0 --- /dev/null +++ b/fluter/neue-podcasts-blogs-corona-krise.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Zum Twitchkanal "Shurjoka" + +Gerade während der ersten Pandemiewochen verfielen viele von uns zwangsläufig in einen Modus des Rückzugs und der Selbstreflexion. In der Kombination aus Vereinzelung und allumgreifender Ausnahmesituation, zwischen Dokumentationswillen und dem Drang nach Aufarbeitung lag es nicht fern, das zu tun, wozu im sonst hektischen Alltag oft keine Zeit oder Muße ist: Es wurde Corona-Tagebuch geführt. Während sich viele dieser Onlineprojekte retrospektiv hauptsächlich um eigene Befindlichkeiten drehen, ist das kollektive Tagebuch "Soziale Distanz" des Feuilletonblogs "54books" nach wie vor eine spannende Lektüre. Wenn man möchte, kann man die Einträge als junge Zeitdokumente beziehungsweise eklektisches Archiv des flüchtigen Echos in den sozialen Medien zu Beginn der Corona-Pandemie lesen. Insgesamt 29 Autor*innen – unter anderem Andrea Geier, Johannes Franzen oder Berit Glanz – sammelten über Wochen ihre Eindrücke in Form von kürzeren Gedankenfragmenten sowie eigener und fremder Tweets. Das Ziel: festhalten, wie das Virus unser Leben, unsereVorstellungen von Gesellschaftoder die Sprache verändert. Die Texte über soziale Distanz und sozialmediale Nähe sind mittlerweile auchals vollständige Leseversion zugänglich. +Zum Blog "Soziale Distanz" + +Das Nachtleben leidet. Clubbetreiber*innen, Konzertveranstalter*innen, Musiker*innen und DJs sind diejenigen, die die Krise am härtesten trifft und vermutlich noch am längsten treffen wird. Im März und April keimte daher die Idee, Künstler*innen und Veranstalter*innen zu unterstützen, indem DJ-Sets oder Konzerte aus den Clubs live in die WG-Küchen und Wohnzimmer gestreamt werden. In Deutschland ging als größte Aktion "United We Stream" hervor, eine Zusammenarbeit der Clubcommission Berlin e.V. und Reclaim Club Culture sowie Arte, die vor allem DJ-Sets aus bekannten Berliner Clubs wie dem Watergate oder der Griessmuehle sendeten. Während der Streams können Zusehende über eine Fundraising-Plattform einen beliebigen Betrag für Berliner Clubs spenden. +Zeitweise schlossen sich auch andere Städte in Deutschland und der ganzen Welt an. Im Sommer entstand das "United We Stream Festival" mit Streams aus außergewöhnlichen Locations wie dem Berliner Botanischen Garten. So rühmlich die Idee des "größten virtuellen Clubs der Welt" ist – eine Party oder ein Konzert lebt vor allem durch die Interaktion mit dem Publikum, die Atmosphäre und das Erlebnis. Das wurde dabei klarer denn je. Die Boilerroomisierung der Clubkultur und ein*e einsame*r DJ hinterm Pult sind auf Dauer leider noch trauriger als gar kein Abendprogramm. +Zu "United We Stream" + +Rein definitorisch umfasst sie nicht mehr als drei Sekunden. Allerdings ist das, was unsere Gegenwart ausmacht, nicht nur ein Thema der Naturwissenschaften. Auch Kunst und Literatur arbeiten sich stetig am Versuch der ästhetischen Darstellung eines wie immer gearteten "Jetzt" ab. Die "Zeit"-Redakteur*innen Nina Pauer, Lars Weisbrod und Ijoma Mangold sind im Juli eingestiegen und widmen sich der Gegenwartsfrage seitdem von feuilletonistischer Warte. In zweiwöchigem Rhythmus und wechselnder Zusammensetzung besprechen sie nicht nur Literatur, Filme, Musik oder Serien in puncto ex- und impliziter Gegenwartsschwingungen. Sie werfen einen ganzheitlichen und zeitweise unterhaltenden Blick auf das, was das Jetzt ausmacht. Während jede Folge unter einem bestimmten Thema steht, tauschen die Hosts in der am Anfang stehenden Rubrik "Gegenwartscheck" Ausdrücke, Praktiken oder Trends aus, die etwas über die Gegenwart aussagen könnten: Es geht ums Fermentieren, Wokeness, Trekkingsandalen oder kleine Schreibtische. Das Ganze ist locker gehalten und erfrischend konfrontativ. Nur manchmal rutscht es meiner Meinung nach ins Biedere, etwa wenn die Kritik anIntersektionalitätwenig fundiert ist oder das Wort "nice" als charakteristische Gegenwartsvokabel der Anmut festgelegt wird. Zumindest niemand, den ich kenne und der unter 30 ist, verwendet seit 2017 "nice" als Ausdruck von echter Anmut, sondern wenn, dann als postironischenBoomerkommentar oder emotionsloses Füllwort. +Zum Podcast "Die sogenannte Gegenwart" + diff --git a/fluter/neue-schiffswege-durch-arktisschmelze.txt b/fluter/neue-schiffswege-durch-arktisschmelze.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..715d9983ac5cc6b5ce51cdf252e337a7febe931d --- /dev/null +++ b/fluter/neue-schiffswege-durch-arktisschmelze.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +"Manche Leute zweifeln Chinas Mitwirkung in der Arktis an und sorgen sich, dass wir nur Rohstoffe ausbeuten und die Umwelt schädigen werden. Ich denke, solche Bedenken sind völlig unnötig." + +Titelbild: Christian Åslund diff --git a/fluter/neue-seidenstrasse-china.txt b/fluter/neue-seidenstrasse-china.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cedfbb33990a031d01c7258d63f03a821160d77d --- /dev/null +++ b/fluter/neue-seidenstrasse-china.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Dabei beruft sich diese Neue Seidenstraße mit ihrem Namen auf eine alte: Von der Antike bis ins 15. Jahrhundert umfasste die alte Seidenstraße ein Netz von Karawanenstraßen, welches das Mittelmeer mit Zentralasien und Ostasien verband – sie war für viele Menschen nicht nur ein Symbol des blühenden Handels, sondern auch der Ausbeutung und Entrechtung. Zahlreiche Sklavinnen und Sklaven wurden die Seidenstraße entlang verschleppt. Erst als sich China auf den Seehandel konzentrierte, aber auch als neue Märkte in Südostasien entstanden und sich in arabischen Ländern dadurch der Zoll erhöhte, erlebte die alte Seidenstraße einen Niedergang. +Die aufstrebende Weltmacht China sucht schon seit Ende der 1970er-Jahre erneut den globalen Handel. Mit den vielen neuen Straßen, Gleisen und Häfen, die in den letzten Jahrzehnten gebaut wurden, verbreitet China weltweit auch die eigenen Standards und Technologien, die Kontakte überhaupt nehmen zu. Das Forschungsprojekt"China Standards 2035"empfiehlt der Regierung, eine nationale Normierungsstrategie zu entwickeln und diese Normen möglichst überall entlang der Seidenstraße durchzusetzen – sei es durch bilaterale Abkommen oder durch das Besetzen von Positionen in internationalen Standardisierungsinstitutionen. Dadurch dass sich so möglichst viele Staaten nach den chinesischen Standards richten müssten, hofft China mit seinen Technologien international Einfluss zu gewinnen. +In Duisburg jedenfalls hat das Rathaus ein China-Referat, mehrere Gymnasien bieten Chinesisch an, Restaurants haben authentische chinesische Küche auf der Karte, und Studierende aus China ziehen an die Ruhr – alles eine Folge der BRI, der Belt and Road Initiative. "Belt" (Gürtel) steht dabei für das nördlich gelegene Landwegenetz, während mit "Road" (Straße) die südlicheren Wasserwege des Projekts gemeint sind. +Mit dem sich aufbauenden Verkehrswegenetz zu Land und zu Wasser wächst auch Chinas Einfluss. Die politische Führung in Peking will das Land unabhängiger von anderen Ländern machen und im Gegenzug die Länder abhängiger von China. Das heißt, andere Länder sollen sich möglichst wenig auf dem chinesischen Binnenmarkt und in die chinesische Innenpolitik einmischen, während China durch umfangreiche Investitionen im Ausland auch politisch immer stärker mitgedacht wird und mitreden möchte – immerhin will kaum ein Staat riskieren, dass große chinesische Investoren abspringen oder wichtige Warenströme aus China plötzlich ausbleiben. +Die bisherige Außenpolitik unter Xi Jinping verfolgt in Teilen auch das Prinzip eines Rechts des Stärkeren. Bei Territorialkonflikten, etwa mit Japan und den Philippinen, setzt China auf die Überlegenheit seiner Streitkräfte und demonstriert sie zuweilen. Und auch gegenüberTaiwansendet die regierende Partei Chinas immer wieder Signale aus, dass man dem Inselstaat, der sich gegen den Willen Chinas als unabhängig versteht, auch militärisch begegnen könne. So befürchten unter anderem die USA und die EU, dass China auch über den Ausbau dieses europäisch-asiatischen Wirtschaftsraums Politik betreibt. + + +Piräus, der größte Hafen Griechenlands, wird in großen Teilen von chinesischen Investoren kontrolliert. Im Zuge der Finanzkrise sicherten sie sich Managementrechte, übernahmen 2016 zunächst 51 Prozent und fünf Jahre später weitere 16 Prozent der Hafen-Betreibergesellschaft. Für Piräus bedeutete das einen Boost – das Land allein hätte es finanziell nicht vermocht, den Hafen auf internationales Wettbewerbsniveau zu heben. Mit der Hilfe Chinas aber gelang genau dies. Ein Jahr später blockierte die griechische Regierung die Einbringung einer kritischen Stellungnahme der EU-Gruppe bei den Vereinten Nationen zur Menschenrechtslage in China. Ein Zusammenhang ist nicht nachweisbar, wird aber von vielen vermutet. +Über 100 Länder sind am BRI beteiligt. Ein internationales Forscherteam warnte im Fachmagazin "Current Biology" vor der Einschleppung gebietsfremder Arten durch den Handel. Wenn nämlich Menschen und Fracht reisen, sind auch oft ungewollte Wirbeltiere an Bord. Diese können die Biodiversität in für sie neuen Regionen bedrohen, so die Forscher, da sie zuweilen auf keine natürlichen Feinde stoßen und sich ausbreiten und andere Arten verdrängen.Biodiversität ist aber von enormer Bedeutungfür das Gleichgewicht in der Natur; eine Beeinträchtigung könnte denKlimawandelbeschleunigen. Die Forscher haben weltweit 14 sogenannte Invasionsbrennpunkte ausgemacht. Diese betreffen unter anderem die gesamte Mittelmeerregion, die Ostküste Afrikas sowie die Westküste Südamerikas. +Der Ausbau der BRI benötigt hohe Investitionen in Bauarbeiten, für die chinesische Geldinstitute oft die Kredite bereitstellen. Häufig sind diese Darlehenszusagen an die Bedingung geknüpft, dass chinesische Firmen bei Ausschreibungen dazu den Vorrang erhalten. Tausende von chinesischen Arbeitern haben etwa in Osteuropa oder in Ostafrika Autotrassen gebaut; Jobs in der lokalen Bevölkerung wurden dadurch kaum geschaffen. Auch wird bemängelt, dass bei den Arbeiten Umwelt- und Sozialstandards keine ausreichende Rolle spielten. Es ist nicht immer klar, wohin die Geldströme bei den Infrastrukturarbeiten genau fließen. +Der Verdacht steht im Raum, dass zum Beispiel auch Schmiergelder an Behördenvertreter in Montenegro und Pakistan gezahlt werden. China profitiert im Gegenzug davon, dass es Überkapazitäten etwa in der Stahl- und Zementindustrie abbaut. Doch gerade in ärmeren Ländern drohen die Kredite für solche Infrastrukturinvestitionen anderes Regierungshandeln zu lähmen. Da die Projekte in der Regel große Dimensionen haben, drücken die daraus entstehenden Schulden auf die Staatshaushalte. Überschuldung kann dann zu Abhängigkeiten führen. Als beispielsweise Sri Lanka seine Schulden bei chinesischen Kreditgebern nicht mehr bedienen konnte, wurde der Seidenstraßenhafen Hambantota für 99 Jahre an ein chinesisches Staatsunternehmen vermietet. Nach Angaben des Center for Global Development, einer US-Denkfabrik, sind acht Länder durch die Schuldenfrage besonders betroffen: In Asien sind es Pakistan, Tadschikistan, Kirgisistan, die Mongolei, Laos und die Malediven, in Europa Montenegro und in Afrika Dschibuti. +Andere Institute, auch aus den USA, weisen hingegen darauf hin, dass Umschuldungsverhandlungen im Rahmen von BRI-Projekten oft positiv für die Kreditnehmer ausfallen würden. Auch hebt die britische Organisation "Debt Justice" hervor, dass die afrikanischen Auslandsschulden bei westlichen privaten Kreditgebern dreimal so hoch seien wie bei chinesischen Banken – und dies zu rund doppelt so hohen Zinsen. +Zurück nach Duisburg. Noch immer rollen Züge aus China an, doch bedeutend weniger als etwa im Jahr 2021, als pandemiebedingt besonders viele Waren aufs Gleis verlegt wurden. Der Krieg in der Ukraine belastet die Verbindung, da viele Logistiker dazu neigen, Russland zu umfahren – und andere Routen als die nach Duisburg nehmen. Doch langfristig gibt sich die Ruhrstadt optimistisch, noch mehr von der Seidenstraße zu profitieren. Markus Bangen, Vorstandsvorsitzender der Duisburger Hafen AG, formulierte es zum Jahreswechsel so: "Die Seidenstraße ist lebendiger denn je." + +Titelbild: China Road&Bridge Corporation Xi / eyevine / laif diff --git a/fluter/neues-deutschland.txt b/fluter/neues-deutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4381efe47fa0c905885ac44199e47e6cca012516 --- /dev/null +++ b/fluter/neues-deutschland.txt @@ -0,0 +1,31 @@ +Was ist überhaupt die Gesellschaft, in die man sich integrieren soll? +Die gibt es eigentlich auch nicht. Es müsste viel stärker betont werden, dass Menschen an unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft teilhaben und dass das nicht immer mit der gleichen Geschwindigkeit passiert. Manche sind zum Beispiel wunderbar am Arbeitsplatz integriert, haben aber in ihrer Freizeit keinen Kontakt zu Einheimischen. So jemand ist in einen Teil der Gesellschaft integriert, in einen anderen nicht. +Oft ist auch die Rede von einer Parallelgesellschaft, in der Migranten leben. +Unter diesen Begriff könnte man auch Millionäre fassen – mit ihrem Lebensstil, den ja nur wenige teilen. Es gibt die falsche Vorstellung, dass die deutsche Gesellschaft sehr einheitlich ist und alles, was von außen kommt, ein Problem ist. +Kann Integration in kurzer Zeit gelingen? +Dieses Ankommen und Akzeptiertwerden ist ein sehr langer Prozess, der Jahre dauert, oft sogar Jahrzehnte. Die erste Einwanderergeneration hat meist große Schwierigkeiten anzukommen. Die Menschen müssen schlechtere Jobs machen als in den Ländern, aus denen sie kommen. Ihre Bildungsabschlüsse werden nicht anerkannt, es kommt zur sogenannten Dequalifikation. Bei ihren Kindern sieht das anders aus, schon weil sie die Bildungseinrichtungen durchlaufen. +Sind wir ein Einwanderungsland? +Schon lange. Es gab nur so eine Art bewusstes Beschweigen – auch aus der Angst heraus, Wähler zu vergraulen, wenn man darüber spricht. Jahrzehntelang hieß es deswegen: Deutschland ist kein Einwanderungsland. Deswegen mussten wir nicht darüber reden, was es heißt, wenn man doch eins ist. Als die Gastarbeiter ab den 1950ern kamen, war man sich einig, dass die wieder gehen, und deswegen bestand keine Notwendigkeit, über Integration nachzudenken. Erst 2005 wurde der Bund mit dem Zuwanderungsgesetz aktiv. Bis dahin wurde Integrationspolitik auf kommunaler Ebene gemacht. Große Städte wie München oder Stuttgart haben schon Anfang der 1970er-Jahre Pläne dafür gemacht, Stellen geschaffen, Büros eingerichtet. Der Bund kam erst 30 Jahre später dahin. Da hatte Stuttgart schon längst das Label Integrationsstadt (siehe auch Seite 18). +Nun ist Stuttgart eine wirtschaftlich starke Region. Hat der Zuzug zum Wohlstand beigetragen, oder ist es eher so, dass die Integration dort gut funktioniert, wo Arbeitsplätze sind? +Das bedingt sich gegenseitig sehr stark. Auch wenn es immer schwierig ist, die wirtschaftliche Potenz von Migration zu messen. Nach der Gründung der Bundesrepublik hat die Zuwanderung das sogenannte Wirtschaftswunder forciert. Bis 1949 waren mehr als zehn Millionen Flüchtlinge und Vertriebene gekommen, bis zum Mauerbau 1961 kamen noch rund drei Millionen DDR-Flüchtlinge dazu. Das waren zu einem Großteil Menschen mit Ambition. Sie haben früh erkannt, dass sie sich anstrengen müssen, um wieder in eine Position zu kommen, die sie mal hatten. Im Kontext von Migration sehen wir immer wieder, dass ich mich bemühen und vielleicht auch Jobs übernehmen muss, die Einheimische nicht übernehmen wollen. Diese spezifische Motivation trägt dazu bei, dass ein Land Vorteile durch diese Menschen hat. +Wie viele Menschen, die einwandern, bleiben eigentlich langfristig? +Zwischen den 1950er-Jahren und 1973 sind rund 14 Millionen ausländische Arbeitskräfte gekommen, von denen 11 Millionen wieder zurückgegangen sind. Und selbst bei denen, die geblieben sind, war es in vielen Fällen so, dass die Rückkehr immer wieder aufgeschoben wurde und man sich nie entschied, endgültig zu bleiben. Wenn meine Zukunft aber nicht hier liegt, sind die Bemühungen, an den Entwicklungen des neuen Landes teilzuhaben oder Kontakte zu knüpfen, häufig nur halbherzig. Wenn ich jedoch weiß, dass ich hierbleibe, ist die Motivation eine ganz andere. +2014 sind knapp 1,5 Millionen Menschen nach Deutschland gekommen … +Und fast eine Million ist gegangen. Migration ist oft ein ständiges Hin und Her. Wir dürfen uns die Entwicklung nicht linear vor
stellen, die Realität ist Dynamik und Bewegung. Man muss auch immer damit rechnen, dass Menschen Integrationsprozesse abbrechen. Es gibt Teilhabe an der Gesellschaft, dann wieder ein Herausfallen, es gibt Rückwanderung, dann wieder Rückkehr. Das alles gehört dazu, wenn man über Integration spricht. Der Prozess ist ergebnisoffen, das müssen wir akzeptieren. +Ist es nicht genau diese Unsicherheit, die den Menschen Angst macht und Fremdenfeindlichkeit bei uns schafft? +Das ist ja nichts spezifisch Deutsches. Migration wird von vielen als Problemthema verstanden, als Ergebnis von Katastrophen oder wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Dabei sprechen wir nie über das große Ganze, sondern immer nur über einzelne Phänomene, gerade zum Beispiel über "die" muslimischen Männer aus Syrien oder Nordafrika. Ende der 90er-Jahre wurde über "die" Albaner gesprochen, vorher über "die" Türken. Das große Bild der Migration wird gar nicht wahrgenommen. Es gibt heute in Deutschland zum Beispiel 600.000 Menschen polnischer Herkunft, die meisten sind in den vergangenen Jahren gekommen. Aber niemand spricht darüber. +Welche Möglichkeiten hat die Politik, Integration zu fördern? +Ich bin eher skeptisch, was Integrationspolitik angeht. Natürlich muss der Staat einen rechtlichen Rahmen bieten, etwa den Aufenthaltsstatus klären oder Sprachkurse fördern. Aber gerade vom Sprachenlernen wissen wir, dass letztlich die Praxis zählt. Da reichen nicht 600 Stunden am Stück, sondern die Menschen müssen in ihrem Alltag reden, am besten bei der Arbeit, in der Nachbarschaft, in Vereinen. Integration wird vor Ort ausgehandelt. Wenn ich die heutige Diskussion mit der in den 90er-Jahren vergleiche, als viele Flüchtlinge vom Balkan kamen, ist mehr Offenheit da, mehr Bereitschaft, auf Zuwanderer zuzugehen, sie im Alltag zu unterstützen. Wir sind auf dem Weg in eine Gesellschaft, die Migration als Normalfall der Existenz anerkennt. Wir können zumindest in Westdeutschland auf Jahrzehnte zurückblicken, in denen Vielfalt gewachsen ist. Dazu kommen unsere eigenen Fremdheitserfahrungen, die man über Reisen oder Auslandsaufenthalte zum Arbeiten oder Studieren macht. Das hat mit zur Öffnung beigetragen. Auch dass die deutsche Fußballnationalmannschaft mit vielen Einwandererkindern die WM gewonnen hat, hat vielen Menschen positive Effekte von Migration vor Augen geführt. +Wie wichtig sind die islamischen Verbände bei der Integration der vielen Muslime, die nun kommen? +Das sind aus meiner Sicht regelrechte Integrationsagenturen. Wenn etwa bei der Islamkonferenz Vertreter der islamischen Verbände dabei sind, dann ist das bis zum letzten Mitglied der Gemeinde ein Zeichen der Anerkennung. Das heißt für sie: Wir sitzen mit am Tisch und gehören dazu. +Das hört sich ja ganz so an, als sei Deutschland ein vorbildliches Einwanderungsland. +Es gab schon in den 90er-Jahren Untersuchungen, wie Deutschland im Vergleich etwa zu den Niederlanden, Frankreich oder Belgien dasteht. Im Ergebnis schnitt Deutschland ziemlich gut ab. Integrationsmaßnahmen in den Kommunen waren erfolgreicher als die zentral gesteuerten Programme. Und viele 
deutsche Kommunen haben sehr früh nachgedacht. Frankreich schnitt deutlich schlechter ab, weil eine gewisse nationale Integrationsidee zu einer Homogenitätsvorstellung führte, die der Integration anderer Menschen nicht zuträglich ist. Gerade weil viele Menschen in Deutschland viel kritischer über das Deutschsein nachdenken und Patriotismus eher verpönt war, ist hier vieles besser gelaufen, als wir lange gedacht haben. Ende der 90er-Jahre haben dann auch andere Länder über das "deutsche Modell" nachgedacht. Also über das Kommunale, das Dezentrale und das Bürgerschaftliche. +Gibt es weltweit Vorbilder für gelungene Integration, nach denen man sich richten kann? In die USA wanderten in den letzten 50 Jahren offiziell 16 Millionen Mexikaner ein. +Klassische Einwanderungsländer wie die USA haben eine ganz andere Vorstellung von Gesellschaft. Sie verstehen sich als heterogene Migrationsgesellschaften, in denen etliche Lebensentwürfe akzeptiert werden. Es gibt einen gewissen Common Sense 
über Werte und Gesetze, aber es ist selbstverständlich, dass die Einwanderer ihre kulturellen Vorstellungen und Herkunftsgemeinschaften pflegen. Da wird ja bei uns schnell von einem Getto gesprochen. Das sind aber oft Schutzräume, in denen das Herkunftskollektiv zusammenlebt und es dennoch gute Verbindungen zur Umgebung gibt, zu Schulen oder Arbeitsstätten. In den USA wird niemand nach seiner Herkunft gefragt. Hier passiert das selbst Menschen, deren Familien seit drei Generationen hier leben. Warum? Da kommt der berühmte Migrationshintergrund ins Spiel, den man selbst dann hat, wenn die Vorfahren schon 1950 nach Deutschland gekommen sind. In Deutschland wird man diesen Status nicht los. In den USA würde niemand auf die Idee kommen, jemanden, dessen Großeltern eingewandert sind, als Migrant zu bezeichnen. Dabei ist dieser Begriff mit bester Absicht erfunden worden, um von dem Gerede vom Ausländer wegzukommen. Jetzt haben wir aber das Problem, dass dieses Label ein lästiges Gepäck ist, das über Generationen vererbt wird. +Können die Flüchtlinge, die nun kommen, die Überalterung unserer Gesellschaft aufhalten? +Da bin ich skeptisch. Demografen haben ausgerechnet, dass bis 2040 rund 150 Millionen Menschen kommen müssten, um die demografische Lücke zu schließen, da man eben davon ausgeht, dass zwei Drittel eh wieder in ihre Heimat gehen. Da fragt man sich schon, woher die alle kommen sollen und wie man überhaupt mit so vielen Einwanderern umgehen kann. 1997 lebten 330.000 Flüchtlinge aus Bosnien hier, 2003 waren davon noch zehn Prozent in Deutschland. Von der Asylzuwanderung der 1990er-Jahre ist so gut wie nichts erhalten geblieben. Nein, die Flüchtlinge werden den Prozess der Alterung nicht aufhalten. Daher benötigen wir eine Diskussion über die Sozialsysteme. Die wurde lange nicht geführt, obwohl wir doch wissen, dass wir Veränderungen brauchen. +Ist es nicht ohnehin so, dass nun angesichts des Zuzugs viele Probleme, die lange nicht angegangen wurden, zur Sprache kommen – etwa der soziale Wohnungsbau oder Frauenrechte? +Ja, da ist die Situation fast so eine Art Katalysator. Nun finden all diese Debatten statt, und das ist ein notwendiger Prozess. Ich finde es wichtig, dass derzeit so intensiv und kontrovers mit-einander gesprochen wird. Woher sollen Gesellschaften sonst Kompetenzen bekommen, wenn nicht durch eine intensive Debatte. Wenn man nicht über die Probleme spricht, passiert gar nichts. +Wie ist Ihr Ausblick für die nächsten Jahre? Schauen wir 2026 zufrieden zurück auf diese Zeit, in der so viele neue Menschen zu uns kamen? +Das Problem ist, dass wir nicht wissen, wie viele Menschen kommen, wie viele wieder gehen, wie viele gehen müssen. Weil sich aber die Gesellschaft geöffnet hat und wir es absehbar mit einer guten wirtschaftlichen Situation zu tun haben, denke ich, dass es weniger Probleme geben wird, als viele erwarten. Dazu trägt auch bei, dass wir es mit sehr jungen Menschen zu tun haben, und derzeit steigt auch die Zahl von Frauen und Kindern. Das heißt: Die viel diskutierten Familienzusammenführungen finden bereits statt. Und das ist auch wichtig. Wenn die Familie zusammen ist, richtet sich der Blick der Menschen nicht mehr so sehr auf das Herkunftsland. Von daher bin ich relativ optimistisch. Auch wenn es Tendenzen der Abwehr und der Ausgrenzung gibt, habe ich den Eindruck, dass am Ende der auf Integration zielende Teil der Gesellschaft groß genug ist. +Auch ein Job mit Zukunft: Prof. Dr. Jochen Oltmer ist 
einer von wenigen Migrationsforschern in Deutschland. Er lehrt 
als Professor am Institut für Migrationsforschung 
und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück diff --git a/fluter/neues-gesetz-gefaehrdet-ngos-in-polen.txt b/fluter/neues-gesetz-gefaehrdet-ngos-in-polen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..769a843723e18cf77532330407cef805d4a08379 --- /dev/null +++ b/fluter/neues-gesetz-gefaehrdet-ngos-in-polen.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Nach zwei Jahren Regierungszeit der rechtspopulistischen Partei PiS, nach Eingriffen in die öffentlich-rechtlichen Medien und das Justizwesen und einer Schulreform erwartet nun auch diejenigen eine Veränderung von oben, die eigentlich außerhalb der politischen Einflussnahme stehen sollten: die Nichtregierungsorganisationen. Seit Ende Oktober ist ein Gesetz in Kraft, das von der ehemaligen nationalkonservativen Premierministerin Beata Szydło im vergangenen Jahr initiiert wurde, weil, so sagte sie, "falsche Organisationen" zu viele Gelder bekämen. Das neue "Nationale Institut der Freiheit" soll die Verteilung der Gelder für die NGOs in Zukunft regeln. Verabschiedet wurde es, ohne sich mit den NGOs zu beraten. Nun fürchten Organisationen, die nicht auf Regierungskurs fahren, um staatliche Zuwendungen. +Lukasz Domagała, Vorsitzender der "Polnischen Föderation der Nichtregierungsorganisationen" (OFOP) hatte vergeblich versucht, auf die Gestaltung des "Nationalen Instituts der Freiheit" Einfluss zu nehmen. Der 37-Jährige sitzt in Trainingsjacke in der Küche seines Altbau-Büros im Warschauer Arbeiterviertel Praga. Der Tagungsraum wird gerade von Frauen eines Antidiskriminierungstheaters benutzt. Domagała fürchtet eine tendenziöse Politisierung durch das "Nationale Institut der Freiheit", das allein durch ein politisches Komitee aus Politikern der Regierungspartei kontrolliert wird. Besonders die Präambel des Gesetzes sorgte für Kontroversen: "Der polnische Staat unterstützt die freiheitlichen und christlichen Ideale seiner Bürger und der lokalen Gemeinschaften, die die unabhängigen, nationalen, religiösen, sozialistischen und folkloristischen Traditionen umfassen", heißt es dort. Domagała befürchtet, dass NGOs "politisch klassifiziert" werden könnten, dass sie durch eine ideologische Brille betrachtet und politische Streitigkeiten in die Welt der Nichtregierungsorganisationen hineingetragen würden. Bislang hätten sich die Parteien aus dem Non-Profit-Bereich herausgehalten. +Nun bangen NGOs um Geld aus sogenannten Fonds, staatliche Mittel, die für bestimmte – zum Beispiel soziale oder kulturelle – Zwecke vorgesehen sind. Auch der von polnischen Geldern gespeiste "Fonds Staatsbürgerlicher Initiativen" soll aufgelöst werden, der den Non-Profit-Bereich mit 60 Millionen Zloty, rund 14 Millionen Euro, jährlich stützte. Bislang ist unklar, ob er ersetzt wird. Sogar Fonds der Kommunen, mit denen projektbezogen Gelder vergeben werden, können künftig theoretisch durch das "Nationale Institut der Freiheit" kontrolliert werden. +Auch die EU kommt ins Spiel: Auf Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds könnte das Regierungsinstitut rein rechtlich gesehen Einfluss nehmen. Das steht aber bislang nicht zur Diskussion. Nur rund 20 Prozent der NGOs erhielten Finanzmittel von EU-Fonds, die Norway Grants sind hier nicht mitgerechnet. Im Falle der Gelder der Norway Grants geht es vermutlich gut aus für die NGOs. Norwegen zahlt durch diesen Fonds ärmeren Ländern der EU viel Geld, darunter Polen, um etwa in Sachen Innovation und Umwelt Fortschritte zu erzielen und besser am Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) teilnehmen zu können. Das nordeuropäische Land setzte aber Ende Oktober in den Verhandlungen gegenüber Polen durch, dass die 53 Millionen Euro bis 2021 an die Interessierten und Berechtigten der rund 100.000 polnischen NGOs unabhängig von dem "Nationalen Institut der Freiheit" verteilt werden können. +Domagała beruhigt das nicht. Er fürchtet die Medien im Land, die hinter der Regierung stehen. Auch sie fordern, dass man Geldflüsse aus dem Ausland an ungeliebte Organisationen stoppen solle. Viele sind eng mit den PiS-Politikern verflochten, die sich immer ablehnender zur EU äußern. Wie sehr die Regierung in Warschau einigen Non-Profit-Organisationen gegenüber abgeneigt ist, zeigte sich am 4. Oktober, als das Innenministerium in vier Städten in den Büros von zwei Frauenrechtsorganisationen Razzien veranstaltet und die Computer beschlagnahmt hat. Kulturminister Piotr Gliński, der das "Nationale Institut der Freiheit" verantwortet, hat bereits anklingen lassen, dass Frauenrechtsbewegungen und LGBT-Organisationen nicht mit Unterstützung von staatlich kontrollierten Fonds rechnen können. +Von Überlegungen aus Deutschland und Frankreich, Polen verschiedene Fondsgelder zu kürzen, hält Lukasz Domagała nichts. Junge Leute in ost- wie in westeuropäischen Ländern würden sich ohnehin schon zunehmend von der Demokratie abwenden. Die Streichungen könnten zu einer noch größeren EU-Aversion in Polen führen, meint er. Vielmehr, sagt Domagała, müsse die EU Mittel bereitstellen, um das Demokratiebewusstsein zu stärken und zu wecken. +Genau das will die Theater-NGO "Stop-Klatka": ein Bewusstsein dafür wecken, was Demokratie bedeutet, und mit kurzen Stücken gegen die Diskriminierung von Fremden ankämpfen. Dafür sind die Frauen zum Beispiel in Schulen unterwegs. An der Notwendigkeit des Projekts, bei dem insgesamt sieben Frauen hauptberuflich arbeiten, hat die Trainerin und Vorsitzende, Małgorzata Winiarek-Kołucka, keine Zweifel: "Die Fremdenfeindlichkeit hat in Polen in den letzten Jahren stark zugenommen." Die Zahl der Vorfälle mit rassistischem Hintergrund hat sich seit dem Jahr 2000 verzehnfacht. +Um Geldausfällen vorzubeugen, denken derzeit viele NGOs über neue Quellen nach: Crowdfunding, Fundraising oder ganz einfach das Bitten um Privatspenden. "Projekt: Polska", der Gastgeber der NGO-Konferenz, hat sich mit einer Kneipe abgesichert. Die meisten Angestellten arbeiten dort in der Küche oder als Kellner. + + diff --git a/fluter/neues-land.txt b/fluter/neues-land.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..712fe97374c76e641e833a19d5aef940550e5dbb --- /dev/null +++ b/fluter/neues-land.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Dieses Unrecht versuchte der deutsche Staat nach dem Krieg wiedergutzumachen, indem er einen Artikel in das Grundgesetz schrieb, dass "frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge" auf Antrag wieder einzubürgern sind. Doch nur wenige Juden machten von diesem Recht Gebrauch. Kaum jemand wollte Bürger eines Landes werden, in dem das jüdische Leben quasi ausgelöscht worden war. In vielen jüdischen Familien, deren Angehörige in den KZ umgebracht wurden, blieb Deutschland über Jahrzehnte verhasst. +So gingen laut Auswärtigem Amt in den vergangenen Jahren gerade mal etwa 25 Anträge pro Jahr in der deutschen Botschaft in London ein, doch seit dem Brexit haben sich die Verfahren auf derzeit geschätzte 350 bis 400 laufende Anträge vervielfacht. "Die deutsche Staatsbürgerschaft neben der britischen ist für mich eine Option, eine Versicherung. Sie würde bedeuten, dass mir die EU offensteht. Ich könnte dort leben und arbeiten, wie ich will. Das ist nichts, was ich heute oder in drei Monaten tun will, aber ich könnte es jederzeit tun", sagt Rachela Gepperts Urenkel Michael Newman. Auch die Londoner Reformrabbinerin Julia Baroness Neuberger will die deutsche Staatsbürgerschaft. "Ich bin Britin, war aber niemals Engländerin, bin permanent Europäerin, mit deutschen Wurzeln und einem Grundstück in Irland", verkündet sie auf einer Konferenz zum 75-jährigen Jubiläum der AJR. +Nicht nur der Brexit hat das einst Unvorstellbare zur Option gemacht. Dass es in Berlin mittlerweile wieder eine rege jüdische Szene gibt und viele junge Israelis in die Stadt ziehen, hat wohl genauso zu einem positiveren Deutschlandbild beigetragen wie die vergleichsweise liberale Flüchtlingspolitik und die hiesige Diskussion, ob sich ein Nationenbegriff in Zukunft mehr am Bekenntnis zu demokratischen Werten als an der Abstammung orientieren sollte (siehe Interview im Heft auf Seite 14). +Doch längst nicht alle Mitglieder der jüdischen Gemeinde in London sehen den Andrang bei der deutschen Botschaft positiv. "Diese Leute sollten ihren Kopf untersuchen lassen", zitiert der "Guardian" den Überlebenden Harry Heber, der die Annexion Österreichs durch Nazideutschland erlebt hat und 1938 nach England floh. "Die Vorstellung, ausgerechnet dort Zuflucht zu suchen, wo man meine Verwandten ermordet hat, finde ich entsetzlich." diff --git a/fluter/neues-leben.txt b/fluter/neues-leben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d47655bbaf9ddcb236a30645b769c2c0badb4536 --- /dev/null +++ b/fluter/neues-leben.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Im Jahr 2002 erregte ein von der NASA beauftragtes Experiment großes Aufsehen. Die Forscher züchteten Fischzellen in Petrischalen und spekulierten über die Möglichkeit von artifiziellen Fischfilets, die Astronauten auf der langen Reise zum Mars mit Proteinen versorgen könnten. Aber auch auf der Erde wird mit Hochdruck an In-vitro-Fleisch geforscht. Organisationen mit Namen wie New Harvest (Neue Ernte) oder The In Vitro Meat Consortium werben um Forschungsgelder und Unterstützung in der Öffentlichkeit. Biologen an der Universität Utrecht haben ein Projekt gestartet, das von der niederländischen Regierung mit fünf Millionen Euro unterstützt wurde, und sind nun in der Lage, wenige Gramm Muskelgewebe herzustellen, das auf Stammzellen von Schweinen basiert. Selbst die Vereinten Nationen diskutieren das Thema ernsthaft. Schließlich werden im Jahr 2050 neun Milliarden Menschen auf der Erde leben. Der Fleischkonsum wird sich bis dahin verdoppeln. "Wir müssen uns damit beschäftigen, wie wir die ganzen Menschen auf dem Planeten ernähren wollen", sagt Anthony Bennett von der Food and Agricultural Organization (FAO) der Vereinten Nationen. +Ein Steak oder Schweinekotelett, das auf dem Teller so ganz und natürlich aussieht, zerfällt unter dem Mikroskop in viele kleine Teile. "Fleisch besteht im Wesentlichen aus Muskeln, Fett und Bindegewebe", sagt Bernard Roelen, Molekularbiologe an der Universität Utrecht, "wenn man diese Zellen im Labor heranzüchtet und im richtigen Verhältnis zusammenführt, dann ist man schon sehr weit." Die In-vitro Fleisch-Forscher, erklärt Achim Kohler, profitieren dabei vor allem von den Erfahrungen der Humanmedizin, der es seit Jahren gelingt, Haut- und Knorpelzellen in Petrischalen zu züchten. +Und so sieht der Prozess aus: Im Labor werden Stammzellen in eine nährstoffreiche Lösung gegeben, die sich dann in einem speziellen Gefäß (dem Bioreaktor) vermehren. Die Millionen von Zellen werden später auf eine geriffelte Silikonfläche aufgetragen, die als Trägermedium fungiert. Indem man das Silikongerüst regelmäßig dehnt und staucht, werden die Zellen dazu angeregt, sich aneinanderzureihen und später zu Muskelfasern zu verbinden. Am Ende erhält man ein flaches, dünnes Gewebestück von einer maximalen Stärke von 0,5 Zentimetern und wenigen Gramm (das zurzeit 60.000 Euro kostet). Die Forscher geben gerne zu, dass das weiche, farblose Gewebe zurzeit noch wenig appetitlich aussieht. Ein Filet Mignon oder ein Stück des berühmten Kobe Beefs aus Japan wird man auch in Zukunft nicht im Labor gewinnen. Denn um Muskelstränge und dicke Fleischstücke herzustellen, müsste man in der Lage sein, Adern und Gefäße zu konstruieren, die die Nährstoffversorgung der Zellen im Inneren sicherstellen. "Das wird noch lange Zeit dauern", sagt Achim Kohler. In-vitro-Fleisch könnte aber in einer gehackten oder gemahlenen Form bereitgestellt und für Burger, Wiener Würste oder Chicken Nuggets verwendet werden. +Achim Kohler ist kein Vegetarier, er schätzt die naturverbundene Landwirtschaft von Norwegen, und "isst gerne ein Stück Rentier oder einen Lachs. Aber es läuft ja nicht überall so natürlich wie hier". In-vitro- Fleisch, meint er, könnte die negativen Seiten der industriellen Fleischproduktion ausgleichen: "Unsere Massentierhaltung ist teuer, umweltschädlich und gesundheitsgefährdend." In-vitro-Fleisch würde in einer kontrollierten Umgebung hergestellt, sagt Kohler. Da wären kein BSE, keine Salmonellen und keine Vogel-Schweine-Hasen-Grippe. Laut FAO sind die Massentierhaltung und Farmfabriken – vor allem für die Rinder unter den 56 Milliarden Nutztieren – für fast ein Fünftel der Treibhausgase verantwortlich – das ist ein höherer Anteil als der des globalen Verkehrs. Allein der jährliche Rindfleischkonsum eines Durchschnittsamerikaners, berichtet der Scientific American, verursache so viel CO2- Emissionen wie eine 3.000-Kilometer-Spritztour. +Die Produktion von In-vitro-Fleisch würde nur einen Bruchteil der Energie verbrauchen. Das Kunstfleisch wäre, vermutlich nur sprichwörtlich, grün. Noch ist es offiziell nicht erlaubt, Testessen mit den Zellhaufen zu veranstalten. Aber Jason Matheny, der Gründer der Kunstfleisch-Lobbyorganisation New Harvest, erzählt, dass es Forscher gibt, "die nach ein paar Bier gerne zugeben, schon mal probiert zu haben". Eklig findet Matheny das nicht. "Da weiß man wenigstens, was drin ist." Auch Achim Kohler ist von den Vorteilen der Methode überzeugt. "Man könnte die gesundheitsschädlichen Fettsäuren aus den tierischen Proteinen entfernen", sagt er, und so vielleicht einen Burger mit dem Nährwert eines Lachssteaks oder einer Avocado herstellen. Wem das zu sehr nach Industrienahrung klingt, für den hat Jason Matheny eine klare Antwort: "Wenn man die gegenwärtige Fleischproduktion anschaut, bei der Hühner mit Hormonen vollgepumpt werden, bis sie drei Mal so schnell wie normal wachsen, und dann zu Zehntausenden in Drahtkäfige eingesperrt werden, um in ihrem eigenen Unrat zu leben, dann klingt das doch auch nicht nach einer natürlichen und sicheren Methode." +Auch deshalb bringt die Idee vom Kunstfleisch seltsame Allianzen hervor, da reden Genforscher plötzlich mit Umweltschützern, und Hardcore- Veganer verbünden sich mit Lebensmittelchemikern. Die Tierschutzorganisation PETA hat vergangenes Jahr sogar einen millionenschweren Forschungspreis für das Team ausgeschrieben, das es vor 2012 schafft, eine marktfähige Technologie für die Hühnerfleischproduktion zu entwickeln entwickeln – und den Fleischkonsum zu einer gewaltlosen Angelegenheit machen würde. +Im Jahr 1932 schrieb Winston Churchill einen Aufsatz über die Zukunft. "In 50 Jahren werden wir der Absurdität entkommen, ein ganzes Huhn aufzuziehen, nur um die Brust oder Flügel zu essen, und stattdessen dieses Teil separat in einem passenden Medium herstellen." Der spätere britische Premier war zwar ein wenig optimistisch, was den Zeitrahmen angeht, aber er hatte eine korrekte Vorstellung von der Vorgehensweise. Das "passende Medium" aus Vitaminen, Aminosäuren, Salzen und Zucker, in dem das Kunstfleisch in großem Stil herangezogen werden könnte, suchen die Wissenschaftler in Norwegen und Holland aber immer noch. Die Flüssigkeit, mit der man an der Universität Utrecht arbeitet, ist nicht nur teuer, sondern basiert auch auf Rinderblut. Die Forscher experimentieren – ganz vegetarisch – mit Algen und Pilzen, und wollen in den nächsten fünf bis zehn Jahren eine erste Testanlage entwickeln, um die Wirtschaftlichkeit und Machbarkeit der Technologie zu beweisen. In 20 Jahren könnte dann In-vitro Fleisch tatsächlich in den Supermarktregalen liegen. "Die Konsumenten interessieren sich nicht dafür, woher ein Produkt kommt", sagt Jason Matheny von New Harvest, der Erfolg von Analogkäse und Fast Food sei dafür der Beweis. "In-vitro-Fleisch wird billig sein und macht kein schlechtes Gewissen." Allerdings sollte sich New Harvest noch einen besseren Namen einfallen lassen. "In-vitro" klingt zu sehr nach Labor, weißen Kitteln und künstlicher Befruchtung. Aber das Marketing kommt nach der Grundlagenforschung. +Tobias Moorstedt hat sich riesig gefreut, dass er sich endlich mal mit In-vitro-Fleisch beschäftigen durfte. Bald erscheint sein neues Buch, "Das Jetzikon – 50 Kultobjekte der Nullerjahre", bei Rowohlt (gemeinsam mit Jakob Schrenk). diff --git a/fluter/neues-lorde-album-solar-power.txt b/fluter/neues-lorde-album-solar-power.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..463e14966556fb9a883cc1852583c7765bf09722 --- /dev/null +++ b/fluter/neues-lorde-album-solar-power.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Warum aber sollte sich gerade dieses Album so intensiv mit dem Klima auseinandersetzen? Es gab, wie gesagt, einige Hinweise. Erstens: Der Titel lautet "Solar Power", und Solarenergie gilt bekanntermaßen als nachhaltig. Zweitens: Lordes Reise in die Antarktis, ein Lebenstraum, den sie sich Ende des vergangenen Jahres erfüllt hat und nach der sie die Staatschefs weltweit aufrief, etwas gegen die Klimakrise zu unternehmen. Und drittens: die nicht vorhandene CD. Das Album ist ein "discless product", eine Neuheit. Das heißt: Es gibt zwar eine Hülle, die sogenannte "Music Box", aber in dieser Hülle ist keine CD. Stattdessen ist die Box mit Poster, exklusivem Lorde-Briefchen, dem Booklet und einem Downloadlink erhältlich. Denn, so schreibt sie auf ihrer Website, es sei ihr wichtig gewesen, eine umweltfreundliche, vorwärtsdenkende Alternative zu CDs zu bieten, die überwiegend aus Polycarbonat bestehen, was schwer zu recyceln ist. Als Platte ist das Album aber sehr wohl bestellbar (und auch Vinyl aka Polyvinylchlorid aka PVC ist kein umweltfreundlicher Stoff). Und jetzt kommt's:Selbst Musikstreamen ist natürlich nicht klimaneutral.Das Betreiben der dafür nötigen Serverfarmen setzt laut einer Untersuchung in den USA jährlich zwischen 200.000 und 350.000 Tonnen Treibhausgase frei. Streamen und dann noch die Musikbox bestellen, die einen nicht CO2-freien Weg beim Versand zurücklegt, scheinen also klimatechnisch nicht gerade die gescheiteste Variante zu sein, dieses Album zu genießen. Auch wenn die Box aus einem biologisch abbaubaren Material sein soll. + +"Solar Power" ist also kein Klima-Album. Es ist ein Album über das Erwachsenwerden und die (privilegierten) Struggles junger Frauen, die zum Yoga und nach Bali rennen und sich trotzdem nicht "spüren". Ein Album, das der eigenen Teeniezeit nachtrauert, inhaltlich mit Lines wie "all the music you loved at 16 you grew out of" und musikalisch mit klaren Liebesbekenntnissen zu Stars der Nullerjahre wie Nelly Furtado, Natalie Imbruglia und SClub7, gepaart mit Achtzigeranleihen von Fleetwood Mac und Crowded House. Die Gitarre, die in "Solar Power" zu hören ist, haben Lorde und Produzent Jack Antonoff angeblich sogar im Studio des Crowded-House-Sängers Neil Finn gefunden. Hippie-Dippie-Poppy-Gitarren-Melancholie: Sollte das spanische Primavera-Sound-Festival mit Lorde als Headliner im nächsten Jahr tatsächlich stattfinden – es wird wohl kein Bauchnabel bedeckt bleiben. +Dieses leicht-schwere Glücksgefühl, das jedes Lorde-Album erzeugt, wird diesmal unter anderem mit Zikadenzirpen erreicht. Neben dem 2000er-Sound wolle das Album nämlich auch die Natur feiern, sagte Lorde dem "Guardian", "das tiefe, transzendente Gefühl, das ich habe, wenn ich draußen bin". Das klingt esoterisch, aber der Mix aus Käferzirpen, super harmonierenden Chören (ein Lorde-Must) und Gitarren funktioniert. Da macht einen etwas glücklich. Alle Türen auf, let the sunshine it. Im Becoming-of-Age-Track "Secrets from a Girl (who knows it all)" zum Beispiel – und jetzt bitte noch mal schnell die Seatbelts fasten! Denn da wartet ein Gruß aus den Konichiwa-Records-Headquarters. Super foxiest female ever herself, Robyn, bereitet unsdiesmal nicht auf ein Crash-and-Burn-Szenario, sondern die weichste und wärmste Landung aller Zeiten vor. "Welcome to Sadness" ertönt ihre Stimme für ein kleines Solo, das mit diesen Worten endet: "I'll be outside, and we can go look at the sunrise by euphoria mixed with existential vertigo. Cool?" Supercool! +Es ist bekannt, dass Lorde eine Form der synästhetischen Wahrnehmung hat, bei der sie Musik als Farbe sieht. Sie selbst sagt, ihr erstes Album "Pure Heroine" sei für sie grün, das zweite, "Melodrama", violett. Das dritte Album, "Solar Power", sei golden. Einverstanden. Nur die grün anmutende Verpackung hätte man sich sparen können. +"Solar Power" ist am 20. August bei Universal erschienen. + +Titelbild: Lloyd Bishop/NBC/NBCU Photo Bank via Getty Images diff --git a/fluter/neukaledonien-als-kolonie-frankreichs.txt b/fluter/neukaledonien-als-kolonie-frankreichs.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..30745733550c5a16f01feb68f2a1ffd567ddc8ce --- /dev/null +++ b/fluter/neukaledonien-als-kolonie-frankreichs.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +1998 wurde mit der Regierung in Paris vereinbart, dass spätestens 2018 ein Referendum über den Status der Insel entscheiden soll: Bleibt Neukaledonien mit seinen rund 275.000 Einwohnern französisch? Oder löst es sich von Paris, um als eine der letzten Kolonien ein unabhängiger Staat zu werden? Doch bis heute gibt es kein konkretes Datum für den Volksentscheid. Und erst recht kein politisches Programm, wie die Zukunft gestaltet werden könnte – mit oder ohne Frankreich. +An einigen Amtsgebäuden hängen bereits zwei Flaggen: die französische und die von "Kanaky", wie die Inselgruppe bei den Anhängern der Unabhängigkeit heißt. Bei der UNO läuft der Antrag auf die "Dekolonisation" Neukaledoniens bereits seit Mitte der 1980er-Jahre, aber als der französische Statthalter, wie immer in einer makellos weißen Uniform mit bunten Orden, im Januar dieses Jahres seine Neujahrsansprache hielt, erwähnte er das Referendum mit keinem einzigen Wort. +"Frankreich beutet Neukaledonien seit jeher für strategische Zwecke aus", sagt Gérard Reignier von der Unabhängigkeitspartei Union Calédonienne. Erst sei es um die Nickelminen gegangen, heute gehe es um wertvolle Rohstoffe, die auf dem Meeresboden schlummern. "Wir sollten uns lieber mit anderen pazifischen Völkern verbinden", so Reignier. +"Mein Heimatland ist Neukaledonien. Aber wenn Paris uns hilft, was soll daran falsch sein?", fragt hingegen Nicolas Metzdorf, ein 28 Jahre alter Loyalist – so nennen sich die Anhänger eines französischen Neukaledoniens –, dessen Vorfahren 1897 aus Flandern auf die Insel kamen. "Die große Mehrheit hier will französisch bleiben. Und es herrscht nun mal Demokratie." +Tatsächlich geht es den Neukaledoniern verglichen mit anderen Inselstaaten im Südpazifik recht gut. Touristen, die aus Europa um die halbe Welt fliegen, entdecken östlich von Australien eine 400 Kilometer lange zigarrenförmige Trauminsel: Im Großraum Nouméa im Süden, Heimat von zwei Dritteln der Einwohner, pulsiert das Leben zwischen dem kolonialen Zentrum und den von Palmen gesäumten Strandbuchten, als wäre man an der Côte d'Azur. Der weite Norden bietet tropische Natur und das zweitgrößte Korallenriff der Erde. Die Kanak pflegen auf den Ländereien, die ihnen rückübertragen wurden, ihre melanesischen Traditionen: Sie pflanzen Jamswurzel, ernten Mangos, handeln mit Langusten und betreiben erfolgreich eine große Nickelmine. Die medizinische Versorgung ist auf dem Niveau Frankreichs, das Angebot in den Supermärkten auch. +Während sogenannte Übersee-Départements wie Guadeloupe in der Karibik oder Mayotte vor der Ostküste Afrikas vollständig von Paris aus regiert werden, hat sich die sogenannte Collectivité sui generis im Pazifik eine besondere Autonomie erkämpft: Der französische Statthalter wacht über die Verteidigung, die innere Sicherheit, die Finanzen und die Justiz. Sämtliche anderen Belange werden von der neukaledonischen Regierung reguliert – vom Schulsektor bis zum "Sénat Coutumier", der sich um kanakische Kultur kümmert. Aus Frankreich flossen 2015 rund 1,3 Milliarden Euro in den Inselhaushalt, das waren über 17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und damit mehr als die Einnahmen aus den Nickelminen. "Klingt nach einem guten Deal", sagt Emmanuelle Eriale. "Leider profitieren nicht alle davon." +Tatsächlich bilden Kanak und Französischstämmige eine bunte, multikulturelle Gesellschaft. Alle besuchen dieselben Schulen, arbeiten zusammen und schätzen es gleichermaßen, mit großen Pick-ups rumzukurven und am Wochenende jagen zu gehen, um den Kühlschrank zu füllen. Andererseits bleiben vor allem im bevölkerungsreichen Süden die Weißen auf den Chefposten in Wirtschaft und Verwaltung ziemlich unter sich. Auch geheiratet wird zwischen den beiden Volksgruppen eher selten. Die Kanak stimmen eher für linke Parteien, die Unabhängigkeit fordern und ihre eigene Flagge hissen. Die anderen unterstützen konservative Loyalisten, die sich treu an Frankreich binden. Dabei nimmt die Zahl der Loyalisten seit 1969 stetig zu, auch durch Zuzüge aus anderen französischen Überseegebieten. 2014 betrug der Anteil der Kanak an der Bevölkerung nur noch 39 Prozent. +Aber was passiert, wenn die nach Unabhängigkeit strebenden Kanak bei einer Volksbefragung überstimmt werden? Manche fürchten, dass sich die "évènements", die "Ereignisse", der 1980er-Jahre wiederholen könnten. Damals fingen radikalisierte Unabhängigkeitskämpfer und Loyalisten fast einen Bürgerkrieg an. Im Mai 1988, auf dem Höhepunkt der Krise, entführten melanesische Extremisten eine Gruppe französischer Militärs, woraufhin Spezialeinheiten ein Blutbad anrichteten, bei dem 19 Kanak und zwei Soldaten starben. Schließlich gelang es dem kanakischen Volkshelden Jean-Marie Tjibaou zusammen mit dem französischen Staatspräsidenten François Mitterrand und dem Vertreter der Loyalisten, ein Friedensabkommen zu initiieren. +"Besonders Neukaledonien erlaubt uns eine Präsenz in der Welt, die der Großartigkeit unseres Landes entspricht", sagte der Premierminister Manuel Valls noch bei einem Besuch in Nouméa im vergangenen Jahr. Mit Präsenz in der Welt ist wohl auch eine gute Position im Kampf um Rohstoffe und Märkte gemeint. So lagern 25 Prozent der globalen Nickelressourcen in Neukaledonien, zudem exportiert Frankreich im Jahr Waren im Wert von 560 Millionen Euro Richtung Pazifik. Abgesehen davon besitzt das Archipel eine riesige Sonderwirtschaftszone mit einer Größe von 1,7 Millionen Quadratkilometern – und fungiert als französischer Stützpunkt nach ganz Ozeanien. Was das Referendum anbelangt, setzt Frankreich nun auf eine Doppelstrategie: Während es offiziell die Wählerlisten zusammenstellt, forschen Völkerrechtler fieberhaft nach Kompromissen zwischen dem heutigen Status und einem harten Ausstieg. Ob Emmanuelle Eriale jemals ihr Museum auf der Île Nou eröffnen kann, ist derzeit genauso offen wie die Frage, welche Flagge nach 2018 über der Hauptstadt Nouméa weht: Die französische? Die von Kanaky? Beide? Oder vielleicht eine ganz neue? + +Titelbild: CLAUDE BEAUDEMOULIN/AFP/Getty Images diff --git a/fluter/neukoelln-armutsbeauftragter.txt b/fluter/neukoelln-armutsbeauftragter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8929763278bc787f3e681b4bea157f4fb45e3ed2 --- /dev/null +++ b/fluter/neukoelln-armutsbeauftragter.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +De Vachroi, 63 Jahre alt, ist der erste und einzige deutsche "Armutsbeauftragte". Seine Stelle teilen sich die evangelische Kirchengemeinde und das Diakoniewerk Simeon, das auch die Tee- und Wärmestube betreibt. Weil Armut so real wie übersehen ist, soll er ihr Gesicht und ihre Stimme sein. Jetzt steht er gerade vor der Teestube und grüßt in alle Richtungen. Hallo, hallo. Alles gut? Muss ja, muss ja. "Ich lebe streng nach Psalm 23!", ruft ihm ein Stammgast zu. "Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln." Sehr viele Menschen kommen hierher, um zu essen. "Am Sonntag mussten sie hier zumachen wegen Überfüllung", sagt de Vachroi. "Die haben die Einrichtung gestürmt. Vor lauter Hunger!" +De Vachroi findet es schlimm, wenn Ärzte Obdachlose abweisen, weil sie stinken würden. "Ja, warum stinken sie denn?", fragt er und gibt gleich die Antwort: "Weil sie sich nirgends waschen können. Weil die Gesellschaft wegschaut. Dabei haben sie das Recht, mit Würde behandelt zu werden." +Er sieht sich als eine Art Botschafter der Armen. Für ihre Anliegen spricht er mit Behörden und Menschen, die helfen können. Er springt von einer Sitzung im Rathaus zum Sommerfest eines Kirchenordens und zu einem Plausch mit Politikern. Manchmal führt er Fernsehteams durch Neukölln, um auf die Missstände aufmerksam zu machen. "Es geht mir darum, dass die Armut sichtbar bleibt." +Dieser Text istim fluter Nr. 88 "Neukölln"erschienen +Er möchte, dass die Politik mehr Geld für die Armen ausgibt. Denn ohne Ehrenamtliche gehe schon jetzt nichts mehr: "Man muss immer betteln gehen." Entsprechend kennt er keinen Feierabend und netzwerkt bis spätabends. So ist er in der Tee- und Wärmestube zwar nur für die Außenwirkung zuständig, bindet sich aber trotzdem einmal im Monat die Kochschürze um und macht Kartoffelsalat und Buletten. Jetzt spricht er aber erst mal über die Gentrifizierung in manchen Kiezen und dass die Teestube nach 40 Jahren rausmuss, weil der Vertrag bald ausläuft und sie sich die neue Miete nicht mehr leisten kann. Aber er hat schon einen Plan: Eine Folgeeinrichtung soll eine Ecke weiter entstehen, auf einem Kirchengrundstück. Mit großer Kleiderkammer, Umkleiden, Duschen und Apartments. Ein bisschen Spenden sammeln muss er dafür noch, aber damit kennt er sich ja aus. +Bis 2030 soll niemand mehr auf der Straße leben, das ist das Ziel der EU. "Ich weiß gar nicht, wie das funktionieren soll", sagt de Vachroi, der sich einen Armutsbeauftragten für die ganze Hauptstadt wünscht. Momentan sieht es allerdings eher so aus, als würde Berlin noch ärmer: Die Stadt muss sparen, underste Streichlisten kursieren. In Neukölln trifft das wahrscheinlich auch die, denen man eigentlich gar nichts mehr wegnehmen kann: die Obdachlosen. + +Titelbild: Bastian Thiery diff --git a/fluter/neukoelln-fluter-interview.txt b/fluter/neukoelln-fluter-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..812f9b0a36709498686eca07b2b5142f56fe1bec --- /dev/null +++ b/fluter/neukoelln-fluter-interview.txt @@ -0,0 +1,129 @@ +Mustafa:Wie geht's dir, Boris? +Boris:Gut geht's! Worüber sprecht ihr? +fluter:Über Neukölln. +Boris: (begeistert)Ihr redet über Neukölln! Da habe ich gleich eine schöne Geschichte. Mustafa ist ein bindendes Glied für Neukölln. Früher haben sich viele Nachbarn einfach nur gegrüßt und sind weitergegangen. Heute sitzen sie hier gern abends zusammen, trinken ein Bier und quatschen. +fluter:Seit wann wohnst du hier im Haus? +Boris:Seit 20 Jahren. Ich bin einer der ältesten Mieter hier. +fluter:Insgesamt hat sich dieser Bezirk ja sehr verändert. Wie nimmst du das wahr? +Boris:Sehr positiv. Mit einem Mal gibt es eine Hauscommunity – die Leute kennen sich, sie duzen sich. Mustafa fragt sogar, ob er einem schwere Taschen in die Wohnung hochtragen soll. +Die Frage war ganz klar auf den größeren Kontext des Bezirks gemünzt, aber Boris kommt aus dem Abfeiern von Mustafa gar nicht mehr raus. Eine Frau mittleren Alters nähert sich dem Tisch. Sie trägt ein beschriftetes T-Shirt: "Unser Block bleibt!" Es ist Susanne, die sich gegen Gentrifizierung engagiert. Zusammen mit seiner Mitarbeiterin Céline stellt Mustafa jetzt Sonnenschirme auf. Ein heißer Neukölln-Tag lässt jetzt, gegen 11 Uhr, schon mal seine Muskeln spielen.Sonne und Beton. +fluter:Neukölln ist seit ein paar Jahren ziemlich hip. Es gibt jede Menge neue Bars, Läden, Clubs und Restaurants und viel Zuzug. Hat diese neue Dynamik auch eine Kehrseite? +Susanne:Absolut. Da sinddie steigenden Mieten und die Verdrängung von Einkommensschwachen. Die Aufwertung der Quartiere bis zu dem Punkt, an dem sich viele das Leben hier nicht mehr leisten können, ist ein massives Problem. Wir haben mit mehreren Anwohnenden die Initiative "Unser Block bleibt!" gegründet, weil die Häuser und Wohnungen unseres Straßenzugs verkauft werden sollen. Es wurden Planungen erstellt für die Edel-Sanierung, für den Edel-Ausbau von Dachgeschossen und für die Nachverdichtung unserer Hinterhöfe durch neue Wohnungen. Da werden für 70 Quadratmeter schon mal 3.000 Euro Miete aufgerufen. +fluter:Auch in Berlin gilt ein Mietspiegel, und es gibt Milieuschutzgesetze, die einen solchen Anstieg des Mietniveaus verhindern sollen. +Susanne:Ja, aber es gibt auch viele Tricks, wie das umgangen wird. Zum Beispiel indem Wohnungen möbliert und nur temporär vermietet werden, dafür aber mit Full Service. Da wird dann auch täglich geputzt und der Kühlschrank aufgefüllt. Mit dem Zuzug großer Tech-Unternehmen nach Berlin gibt es immer mehr Menschen, die sich solche Mieten leisten können. Auch der neue Eigentümer unseres Hauses, der das Thema Wohnen offenbar rein renditeorientiert betrachtet, kommt aus der Digitalbranche. Es wird auf Dauer schwer sein, diesen mächtigen Playern etwas entgegenzusetzen. Aber wir haben mit unserer Initiative zumindest mal erwirkt, dass einige der Zugezogenen gegen die überhöhten Mieten geklagt und gewonnen haben. + +Mustafa Uyar ist gelernter Frisör und betreibt seit Januar 2023 seinen beliebten Späti in der Anzengruberstraße +Anja Dix leitet ein Jugendschutzteam der Polizei, das sich um Gewaltfälle an Schulen im Ortsteil Gropiusstadt kümmert +Mona Hamed hat vergangenes Jahr an einem Neuköllner Gymnasium ihr Abitur gemacht und möchte nun studieren + +fluter:Ist es überhaupt möglich, die Dynamik eines solchen Bezirks an einem bestimmten Punkt einzufrieren, ohne die positiven Seiten der Veränderung einzubüßen? +Susanne:Was sind denn die positiven Seiten? Neue Bars, Läden und Clubs – schön und gut. Aber ich finde diese Veränderungen schon auch schwierig. Durch den Partytourismus ist es hier mittlerweile total überlaufen und vermüllt. Und es wird sehr kommerziell. In letzter Zeit kommen vor allem Burgerläden und Foodketten. +Ein älterer grauhaariger Herr stößt dazu und begrüßt die Runde mit einem vergnügten "Hallo, ich bin der Helmut vom Sandmann". Das ist Helmut Graeber, ein gebürtiger Neuköllner und langjähriger Gastwirt. +Helmut:Ich habe die ersten Jahre mit meinen Eltern hier in der Anzengruberstraße gewohnt. Statt Spielplätzen gab es damals Kohlenplätze, wo Briketts zum Heizen verkauft wurden. Und es gab noch Trümmergrundstücke aus dem Zweiten Weltkrieg, auf denen wir als Kinder herumgeklettert sind. Neukölln war damals noch ein richtiger Arbeiterbezirk. +fluter:DerZuzug von türkischen Menschen, die später das Bild von Neukölln mitprägten, begann in den 1970er-Jahren. Wie hast du das erlebt? +Helmut:Wir hatten schon in den Sechzigern einen türkischen Nachbarn im Haus. Ich habe ihn vor ein paar Jahren wiedergetroffen, er konnte sich noch dunkel an mich erinnern. Ein netter, zurückhaltender Kerl, der damals noch wenig Deutsch sprach. +fluter:In den 1990er-Jahren haben sich viele Zugewanderte aus arabischen Ländern in Neukölln angesiedelt. Wie war das Verhältnis zu diesen Menschen? +Helmut:In den Sandmann kamen sie nicht. Mir ist aufgefallen, dass viele der jungen Männer immer so mit breiter Brust über die Gehwege liefen, dass man sich regelrecht an ihnen vorbeischlängeln oder die Straßenseite wechseln musste. Platz haben sie jedenfalls nicht gemacht. Das hat sich in den letzten Jahren durch die vielen Hipster wieder gebessert. Es ist jetzt durchmischter, was vermutlich gerade auch für die Frauen positiv ist. +Boris:Ich erlebe die Araber insgesamt als sehr nette Menschen. Nur ein Beispiel: Als mein Auto mal nicht ansprang, hat das so ein arabischer Ladenbesitzer mitgekriegt. Und was macht er? Er hält mir direkt seinen Autoschlüssel hin und sagt: Hier, nimm mein Auto! Hä? Ich kannte den überhaupt nicht. Das würden die meisten Deutschen doch nicht machen. Allerdings muss ich sagen: Eine negative Erfahrung habe ich auch. Man hat mich mal mit einer Waffe bedroht! Vielleicht lag es an meinem auffälligen Auto, einem Oldtimer. Jedenfalls kam von hinten ein Wagen, hielt neben uns, die Scheibe wurde runtergekurbelt, und dieser Typ hält mir seine Waffe ins Gesicht. Die Heidi, meine Frau, saß neben mir und schrie: Fahr los, fahr los! Keine Ahnung, warum die das gemacht haben. Ich denke, es waren irgendwelche pubertierenden Jungs. +Helmut:Vielleicht so ähnlich wie die Kerle, die neulich im Columbiabad ziemlich Rabatz gemacht haben. +Im Frühsommer hat Neukölln mit Prügeleien im Freibadfür Schlagzeilen gesorgt. Die Badeanstalt am Columbiadamm war danach erst mal für einige Tage geschlossen. Die gestressten Angestellten hatten sich in großer Zahl krankgemeldet. +Mustafa:Einerseits wird Neukölln nach und nach so bürgerlich wie Prenzlauer Berg, andererseits ist auch neue Gewalt hinzugekommen. Früher gab es viel Taschendiebstahl und so was. Aber seit viele Menschen vor Kriegen hierhin geflüchtet sind, kommt es nach meiner Beobachtung öfter zu harter Gewalt – Messerstechereien und so. Das sind so 20-jährige Jungs, die im Krieg ziemlich durchgedreht sind. Wer hier aufgewachsen ist, weiß, was am Ende passiert, wenn man Gewalt anwendet. Dann kriegst du eine Strafe. Aber die Leute, die da jetzt aus dem Krieg kommen, denen ist es vielleicht egal, ob die von der Polizei mitgenommen werden. + + + +Mustafas Diskussionsbeitrag sorgt bei anderen am Tisch sichtlich für Skepsis. Es meldet sich eine weitere Person zu Wort, die erst vor ein paar Minuten dazugestoßen ist und mit der wir eigentlich über ein ganz anderes Thema sprechen wollten: Antke Engel vom Verein Gender/Queer e. V. +Antke:Ich schalte mich einfach schon mal ein, wenn es okay ist. Ich kann das in Bezug auf geflüchtete Menschen nicht so genau beurteilen. Mit Sicherheit sind das nicht alles "traumatisierte Gewalttäter". Viele sind sicher sehr friedfertige Menschen. Aber es stimmt, dass Traumatisierung etwas mit dir macht. Meines Wissens gibt es für Menschen, die viel Gewalt erfahren haben, vor allem zwei Möglichkeiten: Sie richten sie gegen sich selber oder reproduzieren die Gewalt nach außen. Außerdem möchte ich bitte ergänzen: Ich finde es sehr schwierig, wenn verallgemeinernd gesprochen wird. Oder wenn aus einzelnen Beispielen etwas angeblich "Typisches" einer ganzen Bevölkerungsgruppe abgeleitet wird. Oder wenn überhaupt Bevölkerungsgruppen wie "die Schwulen", "die Araber" benannt werden, als seien dies einheitliche Gruppen. +fluter:Laut Artikeln in Medien und Polizeiberichten gibt es eine Zunahme von Übergriffen auf queere Menschen. Kannst du das bestätigen? +Antke:Ich denke, dass es auch früher viele Vorfälle gab, die aber gar nicht erhoben wurden. Und dass es je nach Stadtteil unterschiedlich ist, ob Menschen Vorfälle der Polizei melden. Oder auch umgekehrt: wo die Polizei proaktiv eingreift. Was am Ende in Statistiken zu sehen ist, ist immer auch Ausdruck von gesellschaftlichen Hierarchien und Spannungsverhältnissen, die auch medial beeinflusst sind. Die Frage ist auch: Wo fängt Gewalt an? Viele fiese Vorurteile gegenüber Schwulen, Lesben und Transpersonen gibt es eher in gutbürgerlichen Wohnquartieren. Aber ich will hier auch keine Gewalt kleinreden. Es gibt natürlich Übergriffe, und Menschen wurden sogar zusammengeschlagen. Das ist großer Mist. Aber es gibt hier auch queere Supportstrukturen. Menschen, die gemeinsam dafür sorgen, dass im Falle von Diskriminierung und Übergriffen darauf reagiert wird. +Unter den Sonnenschirmen vor dem Anzen-Späti macht sich zunehmend Talkshow-Atmosphäre breit. Wären da nicht immer wieder diese krassen Lärmbelästigungen. In diesem Moment lässt ein vorbeifahrendes Motorrad den Motor derartig im obersten Drehzahlbereich kreischen, dass es für einige Sekunden den Neuköllner Gesamtlärm komplett übertönt. +fluter:Ziehen queere Personen wegen dieser Neuköllner Offenheit gezielt hierher, Antke? +Antke:Ja, aber es geht auch schlicht um die Frage, wo findest du Lover_ innen? Wo gibt es mehr als nur eine Person, die du begehren könntest? Da müsste ich jetzt wahrscheinlich auf dem Dorf ganz schön suchen. Hierhabe ich viele Orte, wo das möglich ist. +fluter:Wie ist die Akzeptanz vonseiten migrantischer Milieus für euer gesellschaftspolitisches Anliegen? +Antke:Teile der migrantischen Community sind auch Teil unseres Projektes. Migrantische Communitys sind ja sehr heterogen. Da gibt es schwule, lesbische und trans Personen und von radikal rechts bis radikal links auch das ganze politische Spektrum. Auch innerhalb der queeren Community kommt es zu Rassismus undAbleismus. Aber abgesehen von diesen Problemen sehen wir in der Vielfalt der Perspektiven, die es hier in Neukölln gibt und die sich auch aneinander reiben, ein erhebliches Potenzial: Man kann gemeinsam überlegen, wie das konstruktiv genutzt werden kann. Und das funktioniert hier in Neukölln vergleichsweise gut. Es gibt da so eine Konfliktfreude. Zum Beispiel ist es doch auch super, wenn sich Leute wie in Susannes Block zusammenschließen und etwas gegen die Verdrängung tun. +Boris:Es gibt noch etwas, woran man sieht, wie viel so eine Gemeinschaft erreichen kann. Das Tempelhofer Feldist doch das beste Beispiel. Der Senat dachte: Kein Problem, das kriegen wir hin mit der Teilbebauung. Aber dann ist dieser massive Protest entstanden. Das war eine tolle Stimmung nach diesem Volksentscheid, der die Bebauung des Flugfeldes unterbunden hat. Wie viele Menschen da auf den Beinen waren und gejubelt haben! + +Susanne wehrt sich im hippen Reuterkiez mit der Initiative "Unser Block bleibt!" gegen Gentrifizierung +Antke Engel engagiert sich mit dem Verein Gender / Queer e. V. für die Gleichberechtigung queerer Menschen +Boris Baberkoff lebt seit vielen Jahren in der Anzengruberstraße. Er liebt Neukölln und beobachtet die Veränderungen hier aufmerksam +Nun ist erst mal Mittagspause. Eine Stunde später, Mustafa richtet gerade noch die Sonnenschirme neu aus, nähert sich auch schon eine blonde Frau dem Tisch. Es ist die Polizistin Anja Dix, die überpünktlich zum Treffen erschienen ist. Also fangen wir das Gespräch gleich an. +fluter:Du bist Präventionsbeauftragte der Polizei. Was macht man da genau? +Anja:Wir gehen in Schulen und reden mit den Kindern in Informationsveranstaltungen darüber, wie man ohne Gewalt Konflikte löst. Wir beantworten auch Fragen wie: Was hat es auf sich mit dem Recht am eigenen Bild? Oder: Wie sieht es mit dem Versenden von Nacktfotos aus? +Anja Dix ist in Zivil gekommen, aber auch so strahlt sie eine gewisse polizeiliche Autorität aus. Man kann sich gut vorstellen, wie sich in Schulklassen alle zusammenreißen und plötzlich Ruhe herrscht, wenn sie den Raum betritt. +fluter:Auf deinem Abschnitt habt ihr ein Jugendschutzteam eingeführt. Wie kam es dazu? +Anja:Wir haben schon vor der Pandemie festgestellt, dass die Gewalt an den Schulen intensiver wird. Die Fälle waren teilweise so heftig, dass wir uns nicht erklären konnten, wie Kinder und Jugendliche sich so etwas antun können. Das Team besteht aus drei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die an die Schulen gehen und normenverdeutlichende Gespräche mit den tatverdächtigen Kindern oder Jugendlichen führen – also Gespräche, die den Beteiligten vor Augen halten, nach welchen Werten diese Gesellschaft funktioniert und welche Regeln für das Zusammenleben wichtig sind. Wenn die Polizei ihnen dies noch einmal klar vor Augen hält, dann macht das schon Eindruck. Für diese Einsätze braucht man geeignete Kolleginnen und Kollegen, die Lust darauf haben, mit den Kids zu arbeiten. Hinzugekommen ist, dass wir die Eltern nun gleich mit ins Boot holen. Gerade Eltern von Kindern, die herausforderndes Verhalten zeigen, sind häufig nicht greifbar für die Schule. Wenn die Schule aber sagt: "Die Polizei ist hier und will mit Ihrem Kind reden", dann kommen sie. +fluter:Was ist anders geworden an der Gewalt in Schulen, wie hat sie sich in den letzten Jahren verändert? +Anja:Nach unserer Beobachtung ist sie nicht nur mehr, sondern teilweise auch brutaler geworden – und die Tatverdächtigen werden immer jünger. Letzte Woche haben wir von einer Lehrerin ein Video zugeschickt bekommen, in dem ein Zehnjähriger seine kleine Katze quält, das Ganze aufgenommen und in den Klassen-Chat geschickt hat. Auf Instagram gibt es einen richtigen Wettbewerb, da will man sich dann gegenseitig überbieten, noch eine Stufe härter sein. +fluter:In manchen Medien wird ein Zusammenhang zwischen Migrationsbiografie und Straffälligkeit hergestellt. Wie siehst du das aus deiner Perspektive als Leiterin des Jugendschutzteams? +Anja:Das kann ich schlecht sagen, wir haben ja sehr viele Schulen, an denen annähernd hundert Prozent der Kinder eine Migrationsgeschichte haben. Wie soll ich da beurteilen, ob die dortige Gewalt etwas damit zu tun hat? Es wird auch häufig vergessen, dass auch die Opfer eine Migrationsgeschichte haben. +fluter:Spielt denn die Kultur der Familie eine Rolle, etwa wenn Mädchen sehr streng religiös erzogen werden? +Anja:Wir haben mit Menschen zu tun, wo ganz klar ist, dass manche Ansichten in den Familien zu Konflikten führen. Wir haben zum Beispiel immer wieder Fälle, wo Mädchen, weil sie meinen, verliebt zu sein, Nacktfotos von sich verschicken, und der Junge, der die erhält, damit droht, sie dem Vater des Mädchens zu zeigen, wenn sie nicht mit ihm Sex hat. Nach so einer sexuellen Nötigung haben wir einmal eine Veranstaltung mit Zehntklässlerinnen gemacht und darüber gesprochen, wie es ihnen in den Familien geht und wie frei sie sich in Beziehungsfragen entscheiden können. Viele der Mädchen haben gesagt, ihre Eltern und Brüder gucken schon, was sie machen, und sie dürfen nicht mit jedem Jungen reden oder eine Beziehung eingehen. +Der Bürgersteig dient dem Späti als Terrasse. Wenn Bedarf ist, werden schnell Tische und Stühle aufgestellt +Ein junger Mann in blau-schwarzem Hemd kommt schnellen Schrittes an den Tisch. Er ist spät dran. Es ist der Schauspieler Hassan Akkouch, der in Neukölln groß geworden ist.Der Dokumentarfilm "Neukölln Unlimited"begleitete seine Familie, nachdem sie rechtswidrig abgeschoben wurde, drei Jahre lang. Mittlerweile ist er bekannt durch Serienwie "4 Blocks". +fluter:Anja hat gerade erzählt, dass die Gewalt an Schulen steigt. Hassan, du bist hier in Neukölln zur Schule gegangen, war das damals auch schon so? +Hassan:In der Grundschule habe ich das nicht bemerkt. Auf der höheren Schule gab es zwar mal Auseinandersetzungen, aber die kann ich an einer Hand abzählen. Ich war aber auch auf einer Schule, die stark gefördert und subventioniert wurde. Bei meinem kleinen Bruder war es anders, der ist oft von der Schule geflogen. Der ist aber aus einer anderen Generation. Er ist Jahrgang 94, ich bin Jahrgang 88. +Anja:Ja, von Generation zu Generation wird es gefühlt immer schlimmer. +fluter:Warum nimmt die Gewalt denn eigentlich zu? +Anja:Die Frage kann ich nicht in einem Satz beantworten, darüber müsste man eine wissenschaftliche Studie machen. Ich habe nur die Vermutung, dass das Internet wie ein Brennglas wirkt. +Hassan:Also Cybermobbing auf der einen Seite, und auf der anderen machen die das für den Fame? +Anja:Wir haben mit richtigen Demütigungsvideos zu tun. Da wird zum Beispiel ein Junge gezwungen, aus der Toilette zu trinken, und dabei die ganze Zeit sein Gesicht gefilmt. Zwischendurch bekommt er immer wieder Schläge. Manche nutzen Gewaltvideos, um ihre Brutalität öffentlich darzustellen. +In der Runde herrscht für ein paar Sekunden betretenes Schweigen. +fluter:Hassan, für Leserinnen und Leser, die die Doku "Neukölln Unlimited" nicht gesehen haben: Wie war die Situation deiner Familie damals? +Hassan:Meine Eltern sind 1990 als Schiiten aus dem Libanon geflohen. Zwölf Jahre später lief ein Verfahren, weil wir gegen die Entscheidung, uns abzuschieben, Widerspruch eingelegt hatten. Bis zur Gerichtsentscheidung hätten wir also nicht abgeschoben werden dürfen, wurden es aber trotzdem. Als wir am Tag der Abschiebung, der auch noch der Geburtstag meines Bruders war, die Polizisten gefragt haben, warum wir Deutschland verlassen müssen, haben die geantwortet: "Die Flüge waren günstig." Als wir dann nach sechs Wochen aus dem Libanon über verschiedene Länder zurückkamen, war die Duldung immer noch gültig. Meine Mutter ist einfach in die Ausländerbehörde gegangen und hat sie verlängert. +fluter:Wie hat denn die Schule reagiert, als ihr zurückgekommen seid? +Hassan:Die Schule meiner Schwester wusste, dass wir abgeschoben wurden, und hat sogar Demos dagegen organisiert. Meiner Schule hat die Ausländerbehörde erzählt, dass wir während der Schulzeit bei einer Tante in Dortmund Urlaub machen. Als ich in den Unterricht gegangen bin, hat meine Lehrerin gesagt:(macht einen strengen Ton nach)"Na, wo warst du die sechs Wochen?" Als ich ihr gesagt habe, wir wurden in den Libanon abgeschoben, hat sie geantwortet: "Du lügst, du warst schön Urlaub machen in Dortmund. Setz dich hin." +fluter:Du hast als Jugendlicher die ganzen Behördengänge gemacht, warst Schülersprecher, ehrenamtlich tätig und hast auch noch als Tänzer gearbeitet. Wie hast du das alles geschafft? +Hassan:Ich war schon immer ein ambitioniertes Kind. Erst habe ich Fußball gespielt, später mit Breakdance angefangen und auch meine Geschwister mitgenommen. Bei mir gab es immer eine Veranlagung für das Künstlerische. Bei meinem kleinen Bruder ist es anders gelaufen. Den hat die Abschiebung an seinem Geburtstag richtig aus der Bahn geworfen. Aber jetzt ist er Rettungssanitäter. Bei jedem von uns hat sich diese Erfahrung anders ausgewirkt: Meine Schwester hatte Bulimie, und ich war jahrelang fast apathisch und habe nur funktioniert. +fluter:Es war für eure Familie der Normalzustand, dass man sichvon einer Duldung zur nächsten hangelt? +Hassan:Genau, diese sogenannte Kettenduldung. Ich habe immer das Gefühl gehabt, es wurde uns megaschwer gemacht. Während des Ramadan haben wir mal von 9 Uhr morgens bis 18 Uhr in der Ausländerbehörde gesessen und haben dort auf dem Boden das Fasten gebrochen. So wurde mit einem umgegangen. +fluter:Was bedeutet für dichder Begriff "Integration"? +Hassan:Früher wurde mir immer beigebracht, Integration sei, die deutsche Sprache zu lernen und sich anzupassen. Ich finde, das kann doch alles nebeneinanderlaufen. Ich muss nicht verheimlichen, dass ich Arabisch spreche oder mich gerne traditionell anziehe, um hier in der Gesellschaft akzeptiert zu werden. Integration ist für mich: Man hält sich an die Gesetze hier, man spricht die Sprache, man ist ein Teil des Systems. Bestenfalls ist man irgendwie engagiert. Ich musste mein ganzes Leben beweisen, dass ich hierhergehöre. Das war eine alte Idee von Integration. +Die Abiturientin Mona Hamed und Lehrer Simon Klippert stehen nun vor dem Anzen-Späti. "Tachchen", sagt Simon, "wir wollen euch nicht unterbrechen." Der SpäGi macht trotzdem eine kleine Pause für eine letzte Vorstellungsrunde. +Mona:Ich heiße Mona, habe letztes Jahr hieran einer Schule in Neuköllnmein Abitur gemacht und chille gerade. +Simon:Mein Name ist Simon, und ich arbeite seit zehn Jahren an einer Neuköllner Schule als Lehrer. Ich habe auch 15 Jahre in Neukölln gewohnt, aber ich dachte, ich bekenne mich heute, ich bin vor zwei Jahren umgezogen. (Er zeigt dabei auf sein T-Shirt, auf dem "Krzbrg" steht) +Hassan Akkouch ist als Schauspieler bekannt aus "4 Blocks". Er hat eine bewegte Kindheit und Jugend in Neukölln verlebt +Helmut Graeber ist kurz nach dem Krieg in Neukölln geboren worden und hat hier viele Jahre eine beliebte Kneipe bewirtschaftet +Simon Klippert ist Lehrer an einer Neuköllner Schule und engagiert sich mit der Initiative "related" für Bildungsgerechtigkeit + +fluter:Neukölln ist in den letzten Jahrenein Medienphänomen geworden. Ist man als Ur-Neuköllner mittlerweile auch ein bisschen stolz, dass die Republik auf Neukölln guckt? +Mona nickt sofort. +Mona:Ich find's schon cool, dass mein Bezirk in Filmen gezeigt wird. Aber wie er präsentiert wird, finde ich schwierig. Oft kommt das Klischee auf, dass Neuköllnnur durch Gangs geprägt ist. +fluter:Ist dein Freundeskreis so divers, wie man es im Neuköllner Stadtbild sieht? +Mona:Mein Freundeskreis ist wirklich bunt durchmischt. Ich habe thailändische Freunde, arabische Freunde, türkische Freunde und deutsche Freunde ... Die meisten meiner Freundschaften sind in der Schule entstanden. Auf meiner Schule haben aber auch 90 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund. +fluter:Wie stark sind eurer Meinung nach die Themen Integration und Bildungsgerechtigkeit miteinander verknüpft? +Simon:Sehr stark! Die Aufgabe, die Jugendliche in Neukölln haben, um in der Schule erfolgreich zu sein, ist viel größer als für viele andere. Wir Lehrkräfte können aber schauen: Was bringen die Kids mit? Wenn die Leute noch eine andere Sprache als Deutsch sprechen, kann man das auch nutzbar machen. Bei uns an der Schule gibt es deswegen Türkisch, Kurdisch und Arabisch als Angebote. +Mona:Ich habe Arabisch gehabt und möchte jetzt International Business Management studieren. Aber die Voraussetzungen waren, dass ich außer Englisch noch Spanisch oder Französisch können muss. Ich muss jetzt noch einen Sprachkurs in einer der Sprachen machen, damit ich mich nächstes Semester bewerben kann. Arabisch wurde nicht anerkannt. +fluter:Was sind die größten Hindernisse, um hier gute Bildungsarbeit leisten zu können? +Simon:Einmal sind es strukturelle Dinge wie Gebäude, Ausstattung und Personal. Und das Zweite ist meiner Meinung nach die Haltung. Wenn man als Lehrkraft in Neukölln schon mit einer gewissen Vorstellung in die Klasse geht und dabei seine Rassismen und Sexismen eins zu eins an die Kinder weitergibt, dann hat man nicht verstanden, dass man erst mal seine eigene, meist privilegierte Rolle checken muss. Anders funktioniert das hier mit Sicherheit nicht. +fluter:Wie gehst du stattdessen an die Aufgabe ran? +Simon:Kinder brauchen die Schule auch als sozialen Ort, der ihre Interessen und Bedürfnisse sieht. Bei uns ist zum Beispiel der Nahostkonflikt für ganz viele Familien ein sehr persönliches Thema. Wir bieten deswegen einen zweijährigen Kurs dazu an und fahren am Ende auch dorthin. +Simon zeigt auf die Zigarettenschachtel, die auf dem Tisch liegt: Kann ich eine nehmen? (lacht) +Mustafa:Ja, klar.(reicht ihm die Schachtel) +Mona:Meine alte Klassenlehrerin war für mich wie eine zweite Mutter, weil ich mit ihr über viele Dinge reden konnte. Wenn ich meinen Freunden von anderen Schulen davon erzählt habe, meinten die immer, so etwas kennen sie nicht. +fluter:Man hört auch davon, dass es an den Schulen teilweise Probleme mit Jugendlichen gibt, die von anderen Seiten, etwa Moscheevereinen, indoktriniert werden. Mit Ansichten, die problematisch sind im Schulalltag. Kannst du das bestätigen? Hast du solche Dinge erlebt? +Simon:Dass wir in Neukölln auch menschenfeindliche Positionen finden, die sich auf den Islam berufen, ist ja wenig verwunderlich – hier leben einfach viele Muslime. Das kommt natürlich auch von Moscheegemeinden, aber ich denke, Social Media ist noch viel wirkmächtiger. Aus meiner Sicht ist es aber kein strukturelles Problem. Trotzdem verstehe ich es als meinen Auftrag, als Pädagoge da ins Gespräch zu gehen. +fluter:Nach den Silvesterkrawallen, bei denen auch Feuerwehrleute mit Böllern beschossen wurden, hat man in den Medien viel über die Gewaltbereitschaft der Neuköllner Jugend gesprochen. Wie habt ihr die Berichterstattung wahrgenommen? +Die Runde schweigt erst mal. +fluter:Hassan, willst du was sagen? +Hassan:Du meinst, weil ich so lange nichts mehr gesagt habe?(lacht)Da kam dann das alte, negative Image von Neukölln wieder zurück. Die Menschen, die ich aus Neukölln kenne, haben sich über die Berichterstattung aufgeregt. Es gab nämlich auch andere Leute, wie den Besitzer des Restaurants City Chicken. Die haben zwei Tage lang ein riesiges "Heldenmenü" für einen Euro an Rettungskräfte verkauft. Feuerwehrleute und die ganzen Polizisten kamen und haben zwei Tage lang dort gegessen. Die Reaktion aus der Community heraus hat mich gefreut. +Guter Blick auf den Gipfel: Die Nachbarin von gegenüber schaute uns wohlwollend beim Diskutieren zu + +fluter:Ein großer Aufreger daran war die Verknüpfung mit der Frage nach der Herkunft. Würdest du das so sagen? +Hassan:Für Menschen, die hier leben mit einem sogenannten Migrationshintergrund, ist das natürlich ein großer Aufreger. Als das Attentat in New York 2001 passiert ist, stand ich im Bus und wurde dumm angeguckt, und ältere Damen haben ihre Handtasche auf der Rolltreppe festgehalten. Damals war ich vielleicht zwölf Jahre alt. Man hat immer Angst, dass gewisse Sachen auf einen zurückfallen. +fluter:Was wäre denn aus eurer Sicht eine adäquate Debatte über diese Silvesterkrawalle gewesen? +Simon:Ich denke, man hätte da differenzierter fragen können: Warum haben die Leute das gemacht? Warum sind die übergriffig gegenüber der Feuerwehr und der Polizei? Welche Rolle spielt die Gruppendynamik in so einer Gruppe von jungen Männern? Welche Rolle spielt Männlichkeit? Warum sind die Leute so wütend? Natürlich macht es einen Unterschied, woher jemand kommt, aber das sollte nicht die erste Frage sein. +Anja:Ich bin da total bei dir. +fluter:Das waren zum Teil Jugendliche, die auch eure Mitschülerinnen und Mitschüler hätten sein können. Wie habt ihr diese Ereignisse an eurer Schule aufgearbeitet? +Simon:Am 2. Januar ging die Schule wieder los, und das Erste, was wir gemacht haben, war, darüber zu reden. Ein paar Leute, die selbst schon Probleme mit der Polizei hatten, haben gesagt: "Ja, die Polizei ist ja auch nicht immer nur nett und so." Aber niemand hat gesagt, dass das gerechtfertigt war, was da passiert ist. +Anja:Ich habe von einer Schule leider die Rückmeldung bekommen, dass die Silvesternacht später noch gefeiert wurde. +Simon:Das tut mir leid. Das find ich richtig daneben. +Anja:Das war schon echt schlimm. Sechs meiner Kolleginnen und Kollegen sind zum Teil schwer verletzt worden. Die sind unter anderem mit großen Sprengsätzen beworfen worden. Vom Gefühl her muss das lebensbedrohlich für sie gewesen sein. Zum Glück ist nichts Schlimmeres passiert. Man muss aber klar sagen, das war natürlich nicht die breite Masse, die das später gefeiert hat. +fluter:Es sind nicht alle, und trotzdem spricht ganz Deutschland über die Jugendlichen in Neukölln. Mona, wie war es für dich, dass über euch so gesprochen wurde? +Mona:Über uns wird ja nicht nur wegen dieser Nacht gesprochen. Über uns wird die ganze Zeit gesprochen. Manche stellen diese Sachen an, die absolut nicht okay sind, aber alle werden in eine Schublade gesteckt. +Dieser Text istim fluter Nr. 88 "Neukölln"erschienen +fluter:Nach dem Negativen – was gefällt euch denn gut in Neukölln? +Anja:Ich habe hier wahnsinnig viele tolle, engagierte Menschen kennengelernt, das ist auch ein Grund, warum ich die Präventionsarbeit so liebe. +Mona:Neukölln ist mein Zuhause, und ich liebe es, weil ich hier aufgewachsen bin. Die Leute sind hier einfach extrem offen und nett, man fühlt sich überall willkommen. +Simon:Ich würde sagen, Neukölln steht für mich für Veränderung, für Energie – hier ist was los. Für irgendwie Miteinander-Klarkommen, auch wenn's nicht immer so einfach ist. Und das mag ich. +fluter:Was kann Deutschland von Neukölln lernen? +Mona:Ich würde sagen: Diversität. Wenn ganz Deutschland genauso eingestimmt wäre wie die Welt hier in Berlin, dann wäre alles in Deutschland ein bisschen besser. +Hassan:Mit all den Leuten, die hier aus Neukölln gekommen sind, die auch schon viel geleistet haben für diese Gesellschaft, sieht man einfach, dass hier auch ein Boden ist, um gut wachsen zu können, und nicht nur Sumpf. diff --git a/fluter/neukoelln-kneipe-gentrifizierung.txt b/fluter/neukoelln-kneipe-gentrifizierung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..14929d48ff43a00c122b01363c8f5b7a9079436b --- /dev/null +++ b/fluter/neukoelln-kneipe-gentrifizierung.txt @@ -0,0 +1,33 @@ +Von links dreht sich ein hagerer Mann mit langen grauen Haaren zu Hans. Bisher hatten sie schweigend nebeneinandergesessen. Der Hagere zieht an der Zigarette, die er sich zwischen die steifen Finger seiner linken Hand geklemmt hat, und atmet aus. "Wir sind 'ne Familie", sagt er. "Aber manche ... sind sehr eigen." Der Hagere und Hans (eher kleiner, rahmenlose Brille, Scheißegal-Frisur) schütteln gemeinsam den Kopf. Langsam, fast unmerklich tun sie das. Dann heben sie ihre Gläser. +Dieser Text istim fluter Nr. 88 "Neukölln"erschienen +Für nicht wenige hier ist diese Kneipe ein zweites Wohnzimmer, und die Menschen hier ein Familienersatz. Es muss schon weit nach Mitternacht sein im Bierbaum 3. Draußen auf der Schillerpromenade ist es still. Keine Uber rollen mehr über das Kopfsteinpflaster, keine Kinder schreien auf dem Spielplatz nebenan. Alle sind sie zu Hause, nichts hat mehr auf. Nur im Bierbaum 3 brennt noch Licht. Im Bierbaum 3 brennt immer Licht. +Es gab mal eine Zeit, da war Berlin die Stadt mit der höchsten Kneipendichte der Welt. Im Jahr 1905 kam auf 157 Berliner eine Kneipe. Heute ist es eine auf 4.000. Und es werden immer weniger. Im Februar musste die Kindl-Klause in der Nähe des U-Bahnhofs Karl-Marx-Straße, keine zwei Kilometer vom Bierbaum 3 entfernt, zumachen. Obwohl sich ein Politiker für sie einsetzte, trotz Gerichtsverhandlungen,war nach fast 40 Jahren Schluss. Die Eigentümer des Hauses hatten "andere Pläne". +Andere Straße, ähnliches Schicksal: Das Abenteuerland, um die Ecke vom Neuköllner Rathaus, machte irgendwann nach Corona einfach nicht mehr auf. Früher lief hier samstags die Bundesliga, die Spiele von Hertha BSC gab's sowieso immer live. Heute steht das Lokal leer. +Mit jeder dieser Kneipen verschwindet ein sozialer Raum, der für manche Menschen Heimat bedeutet, für Menschen wie Hans. +Hans kam 1981 aus München nach Berlin, um nicht zur Bundeswehr zu müssen. Ein Jahr später zog er nach Neukölln, studierte Informatik und Mathematik. Hans lächelt kurz, wenn er davon erzählt. Sein Spezialgebiet sei Compilerbau gewesen (ein Programm, das den Quellcode einer Programmiersprache in Maschinencode übersetzt), das habe er gerne gemacht. Doch dann wurde er Ende der 1980er schwer krank, mehr will er nicht sagen. Und als er ein paar Jahre später wieder arbeiten konnte, gab es Heimcomputer, neue Programmiersprachen, Hans hielt nicht mehr mit. Er hebt sein Glas an. Das ADHS habe auch nicht gerade geholfen, sagt er und stürzt den letzten Spuckeschluck hinunter. + +Billiges Bier für Menschen mit wenig Geld: Solche Orte werden weniger + +Sofort steht die Barfrau da, er reicht ihr sein Glas. "Mit Gemüse?", fragt sie. Hans: "Is' ja für umsonst." Ein paar Sekunden später hat Hans ein neues Bier vor sich. In der Schaumkrone schwimmt eine Zitronenscheibe. Seit 2001 wohnt Hans im Schillerkiez. Die Mieten waren billig, es gab viel Leerstand,denn der Flughafen war noch in Betrieb, und Hans' Wohnung lag in der nördlichen Einflugschneise. "Früher war Berlin eine Stadt, wo sie einen in Ruhe gelassen haben", sagt Hans. Dass sich jemand umdreht und guckt, da müsse man schon was Besonderes bringen. Berlin sei immer tolerant gewesen. Man könne es auch "gleichgültig" nennen, sagt Hans. +Ihm war auch gleichgültig, als im Jahr 2003 schräg gegenüber seiner Wohnung eine Kneipe eröffnete, in der viele Rocker herumhingen, der Bierbaum 3. Hans ging hin. Sie ließen ihn in Ruhe sein Bier trinken, außerdem gab es ein unschlagbares Frühstücksangebot: Schinken, Wurst, Käse, Salami, Marmelade, Frischkäse, ein Stück Gurke, Tomate, zwei Brötchen und ein gekochtes Ei kosteten nur EINEN Euro. Das Angebot ist inzwischen von der Karte. Hans ist noch immer hier. Genau wie das Motorradmodell, das neben der Eingangstür hängt. Links und rechts davon stehen die Preise auf großen Tafeln. +Futschi (Cola und Weinbrand gemischt): ab 2 € +Schnäpse: ab 1,30 € +Cocktails: ab 5 € +Einen Pott Kaffee kriegt man für 1,50 €. Eine Molle, so nennen Berliner ihr Bier, kostet 3,90 € (0,5 l). +Der Bierbaum 3 besteht aus zwei spärlich beleuchteten Räumen. Vorne steht links die Bar. Zwischen den Hockern steht ein Baum aus Plastik. Manchmal lehnt ein Betrunkener daran und schläft. Die Krone reicht bis unter die Decke, wo Dutzende kleine Motorräder wie Sterne aufgehängt sind. Im hinteren Raum steht der Billardtisch. An den Wänden hängen Hunderte Fotos, wie ein Familienalbum der vergangenen Jahre. Sie zeigen Abdul, den Wirt. Sie zeigen Stammkunden. Sie lachen und liegen sich in den Armen. +Das Highlight im Bierbaum 3 ist die Jukebox – wenn sie nicht gerade außer Betrieb ist. Für zwei Euro bekommt man zwölf Lieder und manchmal wundervolle Szenen. Zum Beispiel, als am frühen Abend ein paar Studierende "Girlfriend" von Avril Lavigne ballern. Plötzlich schreckt der Hagere neben Hans auf, er hatte nur mal ein wenig gedöst. Jetzt grinst er breit und breiter und setzt zur Luftgitarre an. 30 Jahre sei er Musiker gewesen, erzählt er später. Dann Schlaganfall Nummer 1. Dann Nummer 2. Dann Schlaganfall 3. Seitdem sind seine Finger fast nur noch zum Zigarettenhalten gut. Trotzdem luftgitarrt der Hagere den ganzen Song durch, sogar sein Girlfriend neben ihm wippt mit. Sie sieht ähnlich verlebt aus wie er. Er nennt sie "meine Süße". +Die Berliner Kneipenkultur ist weltweit fast einzigartig. Das sagt der Schriftsteller Clemens Füsers, und der muss es wissen. Drei Bücher hat er bereits über sie geschrieben. Die klassische Eckkneipe gebe es nur in Berlin, um den Hamburger Hafen und im Ruhrgebiet. München, zum Beispiel, sei einfach nicht proletarisch genug gewesen. +Was meint er damit? Kurzer Rewind ins Jahr 1870, das Zeitalter der Industrialisierung. In Berlin schossen die Fabriken wie Pilze aus dem Boden, die Fabriken brauchten Arbeiter, die Arbeiter brauchten Wohnraum, den sie nur in räudigen Mietskasernen fanden, in denen sie mit ihrer ganzen Familie hausten. Teilweise zu zehnt in einem Zimmer, wie die Tiere, sagt Füsers. Die Kneipe sei also gebraucht worden, zur Erholung. +Also gut, aber was macht eine klassische Berliner Kneipe aus? +Füsers zählt auf: +– Das Bier muss fließen. Im Prinzip sollte der Hahn nie trocken werden. +– Der Wirt muss eigen sein, rau, aber herzlich. +– Nett mögen es die Berliner nicht. +– Hell auch nicht unbedingt. +– Rauchen: Tendenz zu ja. +– Optional: Auf dem Tresen steht ein Glas mit Soleiern. +Das Wichtigste aber sei: Die Berliner Kneipe ist ein Ort für jeden, man dürfe darin sein, wie man will. +Das Kneipensterben sei kein neues Phänomen, Kneipen würden in Berlin schon seit den 1950ern sterben, sagt Füsers. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Mietskasernen passé. Die Leute hatten plötzlich eigene Schlafzimmer, eigene Wohnzimmer, eigene Fernseher, sie mussten die Erholung nicht mehr in die Kneipe outsourcen. Deutschland wurde zur Wohlstandsgesellschaft, und wer Wohlstand hat, der braucht kein billiges Bier mehr, keine Soleier, keine Vitamine aus der Bier-Zitrone. Wen die Wohlstandsgesellschaft aber vergessen hat, der schon. +Hans ist gern still, oft scheint er nicht gefragt zu werden, was aber nicht heißt, dass er nichts zu sagen hat. Er kann stundenlang über ChatGPT reden ("Nicht mehr als ein stochastischer Wortpapagei"), über Medienkritik ("Der fluter wird nur Klischees verbreiten, die in die bürgerliche Ideologie passen") und am liebsten überKarl Marx und den Kapitalismus("Den Preis der ‚Freiheit' zahlen die Armen – egal, ob hier oder in Billiglohnländern"). +Die Berliner Kneipen sterben, weil billiges Bier für Menschen mit wenig Geld den Wirten kaum die Miete zahlt, weil die Mieten zudem steigen, weil Immobilien zum Spekulationsobjekt werden. Das alles sagt auch Clemens Füsers. Er schlägt deshalb vor, die Berliner Kneipen zum Weltkulturerbe zu erklären. Bevor sie ganz weg sind. +Noch aber kommen sie alle im Bierbaum 3 zusammen. Neben den Stammgästen tauchen inzwischen auch Studierende im Bierbaum auf, sagt Hans, und sogar Touristen. Aber sollen sie doch kommen, sagt Hans. Sitzen bleiben werde er sowieso. Er kann nirgendwo anders mehr hin. Er hat einen alten Mietvertrag. diff --git a/fluter/neukoelln-rudow-wohngegend.txt b/fluter/neukoelln-rudow-wohngegend.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a52b958885f979857bbf7756e0b7d5e91936ced2 --- /dev/null +++ b/fluter/neukoelln-rudow-wohngegend.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Neukölln ist geteilt, und diese Teilung wird – wie in ganz Berlin – auch durch den öffentlichen Nahverkehr markiert. Innerhalb des S-Bahn-Rings, der die Berliner Innenstadt auf einer Gesamtstrecke von 37 Kilometern umkreist, findet sich alles das, was das Image der Hauptstadt ausmacht: volle Clubs, große Museen, andere Sehenswürdigkeiten und mittendrin ein irres Gewusel aus Menschen. Jenseits des S-Bahn-Rings sind die Aussichten und Ansichten oft andere. Über den Plan einer autofreien Stadt z. B. konnten viele, die weit weg von der Innenstadt leben, nur den Kopf schütteln. Bei der wiederholten Berlin-Wahl im Frühjahr 2023 zeigte sich die Spaltungdann auch bei den Ergebnissen. Während in einigen Neuköllner Wahlkreisen an der Grenze zu Kreuzberg rund 40 Prozent grün wählten und unter 10 Prozent CDU, waren es im Süden Neuköllns an vielen Orten nicht mal 8 Prozent grün und gut 45 Prozent CDU. Wahlsieger in ganz Neukölln wurde die CDU. +In den vergangenen Jahren sind dabei immer mehr Familien mit Zuwanderungsgeschichte nach Rudow, Buckow und Britz gezogen – Viertel, die als vergleichsweise bürgerlich gelten. +Die U-Bahn fährt zwar auch bis nach Rudow, aber die zwei hier trampen lieber, um in die Innenstadt zu kommen +Kazım Erdoğan ist schon 1994 gekommen. Der heute 70-Jährige, der vor 50 Jahren zum Studieren aus Anatolien nach Deutschland zog, ist in Neukölln ziemlich bekannt. Als Vorstanddes Vereins Aufbruch Neuköllnhat der Psychologe und Soziologe zahlreiche Projekte initiiert. Darunter eine Gesprächsgruppe, in der türkischstämmige Männer lernen, über Gefühle und Konflikte zu sprechen. Über Gewalt, Toleranz oder Sexualität. Kazım Erdoğan, eigentlich schon in Rente, kämpft unermüdlich gegen soziale Ungerechtigkeiten, für mehr Wirgefühl. Dafür bekam er 2012 sogar das Bundesverdienstkreuz. +Warum zieht einer, der auch "Kalif von Neukölln" genannt wird, nach Rudow? +"DieMigranten und Migrantinnen der ersten und zweiten Generationliebäugelten immer mit der Rückkehr in ihr Herkunftsland. Das betraf auch unsere Familie", erzählt er bei schwarzem Tee und türkischem Honig im Vereinsraum von Aufbruch Neukölln. "Aber Anfang der 1990er-Jahre haben wir uns entschieden: Berlin ist unsere Heimat." Und sei die Entscheidung, hierzubleiben, gefallen, dann bringe das eben mit sich, was viele Menschen umtreibe – den Traum vom Häuschen im Grünen. "Wenn Bekannte uns damals im Rudower Garten besucht und mit uns gegrillt haben – die verliebten sich regelrecht in diese idyllische Atmosphäre", sagt Kazım Erdoğan. "Damals hatten aber viele nicht die Möglichkeiten, auch wir mussten uns verschulden. Aber wenn man 20, 30 Jahre arbeitet und spart – dann sieht es anders aus." +Dass es heute anders aussieht, weiß auch die Immobilienmaklerin Melanie Frank. "Von zehn Häusern, die frei werden, verkaufe ich neun an Familien mit Migrationshintergrund", sagt sie. "Arabisch, türkisch, asiatisch oder indisch: Die Menschen ziehen von Nord-Neukölln nach Rudow und Buckow. DieKinder der Gastarbeitersind erwachsen geworden, haben selbst Kinder gekriegt und wünschen sich ein Eigenheim." +Viel scheint sich dadurch nicht verändert zu haben im Neuköllner Süden, zumindest nicht außerhalb der Gartenzäune. Die Restaurants heißen hier "Kleines Landhaus" und "Zum alten Krug". Im Glaskasten vor dem Vereinsgebäude der Rudower Eigenheim- und Grundbesitzer in der Neuköllner Straße hängen ein Aushang der Kleintierzüchtergruppe und ein Hinweis auf die Berliner Imkerfreunde. Vor jedem Zaun liegt der gelbe Müllsack zur Abholung bereit. +Doch manche Ur-Rudower machen die Entwicklungen nervös, Vorurteile wachsen. Seit acht, neun Jahren würden nur noch türkisch- oder arabischstämmige Familien herziehen, klagt eine Frau, die mit ihrem Hund Gassi geht. Sie ist in Rudow geboren, war nie weg und schimpft nun über steigende Kriminalität und zu laute Gartenpartys. "Sind doch viel mehr Araber hier!", ruft sie zu einer Bekannten rüber. "Und auch mehr Müll, oder?" Natürlich gebe es auch nette Leute. Ein Nachbar zum Beispiel, ein türkischer Taxiunternehmer, der sei "deutscher als deutsch". +Manchmal bleibt es nicht bei Vorurteilen. Rechtsextremismus ist leider auch in Rudow ein bekanntes Problem. Ende der 1990er-Jahre und Anfang der Nullerjahre sind die "Spinne-Bomber", eine gewaltbereite Gruppe von Nazis, dauerpräsent an der Rudower Spinne. 2008 brennt dann der Gartenpavillon einer türkischen Familie im Rudower Blumenviertel. Heinz Ostermann, der in seinem Buchladen Leporello regelmäßig Lesungen und Diskussionen gegen rechts veranstaltet, wird gleich dreimal zum Ziel von Attacken: 2016 schmeißt man ihm die Scheiben ein, dann brennt sein Auto – und 2018 das zweite. Am selben Abend steht auch das Auto des heutigen Linken-Abgeordneten Ferat Koçak in Flammen – das Feuer erfasst beinahe das Haus seiner Eltern, bei denen er übernachtete. +Die Liste ließe sich lange weiterführen. Bis heute ungeklärt ist der Mord an Burak Bektaş. Im Jahr 2012 ist der damals 22-Jährige mit Freunden in der Rudower Straße unterwegs, als sich ein Mann im Kapuzenpulli der Gruppe nähert und schießt. Wortlos, mehrfach. Zwei Freunde überleben schwer verletzt, Burak stirbt. Seine Angehörigen vermuten ein rassistisches Motiv hinter der Tat. +Kazım Erdoğan hat Verständnis für Alteingesessene, die sich vor Fremden fürchten +Auch Kazım Erdoğan hat in Rudow Anfeindungen erlebt. Die NPD druckte den Namen seiner Familie auf Flugblätter, erzählt er. Vom Multikulti in der Innenstadt schwärmen, aber selbst in den ruhigen Süden ziehen, so der Tenor der Hetze. Erdoğans Töchter hatten große Angst in dieser Zeit. Trotzdem, sagt der 70-Jährige, der heute in Buckow lebt, habe seine Familie 24 sehr schöne Jahre in Rudow verbracht. Auch seine Kinder. Deren Zukunft, sagt er, sei anfangs auch ein Grund für den Umzug in den ruhigeren Teil Neuköllns gewesen: die besseren Schulen und weniger Gewalt. +Wobei Erdoğan glaubt, dass der Ruf der Innenstadt schlechter ist als die Realität. Die Berichterstattung über das großstädtische Neukölln sei geprägt von "defizitorientiertem Denken". Das Glas sei immer halb leer. Dabei müsse man doch nur mal die Karl-Marx-Straße bis zum Hermannplatz runterlaufen. "Da findet man 150 praktizierende Ärztinnen und Ärzte, die eine türkische Zuwanderungsgeschichte haben. Wer redet davon? Wer sagt: Das sind alles Kinder der Gastarbeiter der ersten und zweiten Generation? Die trennenden Wände werden immer hoch gebaut, aber das Wirgefühl kommt zu kurz", sagt er und schwärmt von den Sprachen, den Gesichtern, der Schönheit von Sitten und Bräuchen. +An der Spinne, wo früher die Nazis ihr Bier tranken, steht Abir, 33. Mit der Einkaufstasche über der Schulter, einem leuchtend grünen Kopftuch und einem strahlenden Lächeln wartet sie an der Fußgängerampel und sagt: "Ich werde nie hier wegziehen!" Zwei Ecken weiter auf dem Spielplatz beobachten Deborah, 32, und Desiree, 35, ihre Kinder und loben die fast schon ländliche Ruhe. Ihr Schwiegervater, sagt Deborah, sei Lehrer in Nord-Neukölln. "Der ist eigentlich längst pensioniert – aber er macht weiter. Keine Ahnung, wie der das schafft." +Und dann sind da noch Ayesha, 36, und Gulzar, 41, die mit ihren zwei kleinen Kindern über den Alt-Rudower Gehsteig laufen. Sie kommen aus Indien, arbeiten im Digital Marketing und Crypto Gaming, haben schon in Rumänien und Polen gelebt. Als sie in Berlin-Mitte lebten, fehlten ihnen die Parks, in Charlottenburg wünschten sie sich dann mehr Ruhe. Und jetzt, in Rudow? "It has all that!" Sie schwärmen von ihrem schönen Haus, ihren "lovely neighbours" aus der Türkei und aus dem Libanon. Trotzdem werden sie Deutschland bald in Richtung Australien verlassen. Zu verschnarcht die Bürokratie, zu langsam die Digitalisierung. Aber Rudow sei "so friendly – compared to EVERY other place in Berlin!" Just in diesem Moment schimpft eine ältere Passantin, man würde ja, "mitten im Weg, den ganzen Gehsteig blockieren". +Kazım Erdoğan findet selbst für diese Aggressivität sanfte Worte. "Die Ängste der dort lebenden älteren Menschen sind stärker geworden. Das ist verständlich. Wenn man ein Haus hat und rundrum leben fünf Familien mit Zuwanderungsgeschichte, dann denkt man: Ich bin hier nicht mehr zu Hause. Solche Eindrücke entstehen." Zudem spreche man zu wenig miteinander. "So entstehen Vorurteile." +Die Immobilienmaklerin Melanie Frank hat noch eine andere Erklärung für den Zuzug von Familien mit Zuwanderungsgeschichte. Wenn ältere Menschen versterben, sagt sie, gäbe es oft weder Sohn noch Tochter, die das Haus übernehmen möchten. "Leute, die nach der Jugend weggezogen sind, die kommen nicht wieder." So weit sei es noch nicht mit der Attraktivität von Rudow. Auch deshalb stiegen die Chancen für Anwärter aus Nord-Neukölln. Für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, die auch öfter mal in der Familie Geld zusammenlegten, um sich ein Eigenheim zu leisten. +Vorteile auf dem Häusermarkt durch stärkere Familienbande? Kazım Erdoğan ist da vorsichtig. "Ich selbst habe von meiner Familie nichts bekommen – sondern die vermeintlich knauserigen Deutschen haben mir Geld geliehen, aus meinem Kollegenkreis." +Pauschalisierungen, sagt er, sollte man grundsätzlich vermeiden. Sowohl was Menschen betrifft als auch Ortsteile. Hier der Norden, wo Krieg herrscht – da der friedliche Süden, das sei zu einfach. Das führe doch wieder nur zu Spaltung. "Nord-Neukölln, Rudow, Buckow, Britz: Das alles ist Neukölln. Neukölln mit all seinen sonnigen und dunklen, seinen hellen und finsteren Seiten." + +Dieser Text ist im fluter Nr. 89 "Liebe" erschienen.Das ganze Heftfindet ihr hier. diff --git a/fluter/neukoelln-umrundung-reportage.txt b/fluter/neukoelln-umrundung-reportage.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c2aa0242fa50ef40f65061a8de114f265bfe4583 --- /dev/null +++ b/fluter/neukoelln-umrundung-reportage.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Und damit kennt man sich hier aus, denn vor rund 20 Jahren fing es gleich um die Ecke an mit der Eroberung Neuköllns durch Studierende, Kreative, Hipster: Von Kreuzberg aus schwappte die Gentrifizierungswelle über die Bezirksgrenze Kottbusser Damm. Längst sind die Altbauquartiere auf beiden Seiten beliebt und teuer – nur die Straße dazwischen hat davon wenig abbekommen. Ich zähle: 13 Döner- und Köfteläden,zehn Spätis, sieben Handyshops, mehrere Nagelstudios, Wettcafés und Spielotheken. Am Landwehrkanal biege ich dann rechts ab. Das Ufer hier ist bekannt für den "Türkenmarkt", der zweimal die Woche stattfindet und in keinem Fernsehbeitrag über Multikulti-Berlin fehlen darf. Später wird es unspektakulär, eine Wohngegend, wo der "Trödel Dödel 2" noch zu den aufregenderen Geschäften gehört. Der Hermannplatz ist hier weit weg. + +Die Autobahn ist schon da, aber noch nutzt sie niemand. Nicht mal Markierungen finden sich auf den leeren Asphaltbahnen unter mir. Hier wird mitten in der Stadt die Stadtautobahn verlängert, und der Großteil der 3,2 Kilometer führt durch Neukölln, Kosten: ungefähr 720 Millionen Euro, pro Meter macht das kaum vorstellbare 225.000 Euro. +Von hier geht es eine Ausfallstraße entlang, an ihren Rändern keine Häuser, stattdessen Werbetafeln, Kleingartenanlagen, auch mal ein Haufen Müllsäcke. Nach gut einem Kilometer knickt die Bezirksgrenze nach rechts weg und ist nun ein Bach voller Entengrütze. Daneben ein Trampelpfad, junge Birken und eine geschwungene Asphaltbahn, der Mauerradweg: ein Ort für Radfahrer und Jogger. Für manche stehen motivierende Worte auf dem Boden: Jörn go! Andreas go! Marcel + Fabian only RUN'n'Roll! +Ich überquere die Sonnenallee, die hier nichts mehr mit der lärmenden, von arabischen Geschäften geprägten Straße an ihrem Beginn zu tun hat. Dafür hat sie architektonisch etwas zu bieten: die High-Deck-Siedlung, ein futuristisch anmutender Komplex für 6.000 Bewohner, entstanden in den 1970er- und 1980er-Jahren. In der Mitte jeder Straße steht ein großer Hochweg aus Beton – deswegen "High Deck" –, der nur zu Fuß zu erreichen ist. Von hier geht es über kleine Brücken zu den Hauseingängen. Unten leben die Autos, oben leben die Menschen – an sich eine gute Idee, aberwie viele vergleichbare Stadtrand-Betonsiedlungenträgt auch diese heute den Stempel "sozialer Brennpunkt". Inder Neukölln-Serie "4 Blocks"wird in den Garagen der Siedlung mit Drogen gehandelt, und im echten Leben fand hier ein Teil der deutschlandweit diskutierten Krawalle in der Silvesternacht 2022/2023 statt. +Und heute? Fährt unten tatsächlich ein Polizeiwagen Streife, während oben ein kleiner Junge auf einem Bobbycar mit Mercedesstern sitzt. Er ist eins von knapp zwei Dutzend spielenden Kindern, insofern geht das Konzept der autofreien High Decks auf. Einige Frauen, die meisten tragen Kopftuch, sitzen auf Campingstühlen am Rand und behalten die Sache im Blick. Aus einem Haus kommt ein Mann mit Kaftan, überhaupt sind Männer nur im Unterwegs-Modus zu sehen. Auch ich mache mich wieder auf den Weg. + +Chris Gueffroy wurde nur 20 Jahre alt. Er starb durch einen Schuss ins Herz, abgefeuert von einem DDR-Grenzsoldaten, der seine Flucht durch den Britzer Verbindungskanal in den Westen verhindern wollte. Das war im Februar 1989, nur neun Monate vor dem Mauerfall. Von den mehr als 100 Menschen,die an der Berliner Mauer ihr Leben verlorenhaben – darunter auch Kinder –, war Gueffroy der letzte, was ihm eine traurige Prominenz verliehen hat. An der Stelle, wo er starb, wurde eine Straße nach ihm benannt, eine Kurzbiografie steht auf einer Gedenktafel. Es ist bei Weitem nicht die einzige dieser Art an der Bezirksgrenze, und viele sind nicht mehr im besten Zustand. +Der Kanal mündet in eine imponierende Wasserkreuzung, über die sich eine Autobahn spannt. Dieser Abschnitt der A 113 wurde erst nach der Wende gebaut, er verkürzt den Weg von Neukölln nach Dresden, Cottbus, Frankfurt (Oder). Schnurgerade zieht sich der Weg kilometerweit zwischen einer mit Graffiti verzierten Lärmschutzwand und dem von Brombeersträuchern und Pappeln gesäumten Teltowkanal entlang, ein Highway für Fahrradberufspendler und Freizeitsportler. Wer sich fragt, ob es eigentlich noch Inlineskater gibt: Ja, hier. Gemeinsam mit der Autobahn überquere ich den Kanal in Richtung Süden, oben auf der Brücke steht in großen roten Graffitibuchstaben "FCU", für den 1. FC Union Berlin, und deutlich kleiner: "Hertha BSC". Die frühere Ost-West-Grenze ist heute eine Battlezone der Fans der beiden großen Berliner Fußballvereine, und wie auf dem Rasen hat der Osten (Union) aktuell die Nase vorn. +Auf der anderen Seite finde ich ein kleines Stück original erhaltene Grenzmauer, das mittlerweile von einem massiven Metallzaun umgeben ist, damit es niemand bemalt oder gar klaut. Und wieder kommt ein langer Abschnitt auf einem autofreien Grünstreifen, dieser nennt sich Landschaftspark Rudow-Altglienicke. Er ist deutlich sorg- und vielfältiger angelegt als die bisherigen Grünstreifen, selbst die Mauergedenktafeln sind hier neuer und besser in Schuss. Auf einer von ihnen lerne ich, dass unter mir in den 1950ern mal ein unterirdischer Spionagetunnel verlief, durch den die US-Amerikaner Ostberliner Telefonleitungen angezapft haben. Heute weidet in unmittelbarer Nähe eine Gruppe Wasserbüffel. Auch das ist Neukölln. + +Ab hier ist die Neuköllner Grenze auch die Berliner Stadtgrenze: Unmittelbar links neben mir beginnen Brandenburger Felder, und Pferde traben umher. Auf einigen Schildern wird Honig angeboten aus eigener Imkerei. +Nun geht es hinauf zum südlichsten und zugleich höchsten Punkt von Neukölln, knapp 86 Meter hoch. Wie fast alle Hügel in Berlin ist auch dieser ein künstlicher: Erst wurden Trümmer aus dem Zweiten Weltkrieg aufgeschüttet, später war hier eine Müllkippe. Bis 1975 der "Müllvertrag" in Kraft trat. Das war ein wortwörtlich schmutziger Deal, durch den Westberliner Abfall, auch aus Neukölln, für viel Westgeld in der DDR entsorgt wurde. Aus der Müllkippe wurde ein Park, der "Neuköllner Dörferblick". Und der Blick ist wirklich fantastisch! Unter mir starten die Flugzeuge vom Flughafen BER, auf der anderen Seite kann ich ganz Neukölln überblicken. +Wieder unten, lande ich dort, where the streets have no names, sondern einfach Straße 223 oder Straße 230 heißen. Sie führendurch Reihen von gleichförmigen Einfamilienhäusern. Gelbe Säcke hängen in Reih und Glied überm Jägerzaun, grüne Plastikmännchen mahnen am Straßenrand, auf Schulkinder zu achten. Stadtrand-Kleinsiedlungen wie diese wurden in Deutschland seit den 1920ern gebaut, um die überfüllten Innenstädte zu entlasten. Die Nationalsozialisten intensivierten das noch, auch die Siedlung am Zwickauer Damm wurde 1939 fertiggestellt. Auf Aushängen in Glaskästen erfahre ich das Wichtigste aus dem Alltag der "lieben Siedler und Siedlerinnen", wie sie in den Schreiben angesprochen werden: Bei der jährlichen Begehung wurde u. a. festgestellt, dass auf einigen Grundstücken die zulässige Heckenhöhe überschritten wurde! Der Weg verläuft nun kurz zwischen Büschen entlang, und plötzlich stehe ich vor einem Hochhaus: Hier beginnt die Gropiusstadt, die Mutter des sozialen Wohnungsbaus, entstanden zwischen 1962 und 1975 mit rund 19.000 Wohneinheiten. Dagegen ist die High-Deck-Siedlung ein Dorf. + +Ständig verläuft nun die Grenze zwischen Privatgrundstücken, also fahre ich im Zickzack durchs tiefste Westberlin und lande schließlich in der "Dauerkleingartenanlage Guter Wille". Schnurgerade Wege, Maschendrahtzaun, dahinter Deutschlandfahnen, bunte Blumen und erntereife Apfelbäume. Im Vereinsheim stehen auf der Karte u. a. Tintenfischringe mit Aioli (8,90 Euro) – leider hat die Küche heute nicht geöffnet. Über 9.300 Kleingartenparzellen gibt es in Neukölln. Gerade im früheren Westberlin waren die Kleingärten wichtige Rückzugsorte – ins Umland fahren konnte man wegen der Mauer ja nicht. Insgesamt gibt es heute in ganz Berlin noch mehr als 70.000 Parzellen. Ihre Existenz ist auch eine politische Frage, denn hier wird im Kleinen verhandelt, wie eine Stadt genutzt werden sollte. Als unversiegelte Grünflächen sind sie wichtig für das Stadtklima, sagen die einen. Es kann nicht sein, dass in Zeiten von Wohnungsknappheit Platz auf diese Weise verschwendet wird, sagen die anderen. +Beliebt sind die Kleingärten auf jeden Fall. Die Wartelisten der Vereine sind voll. Hier an der Grenze von Neukölln gehen die Anlagen nahtlos ineinander über, auf "Guter Wille" folgen "Ostelbien II" und die "Kolonie Sorgenfrei", und auf einmal stehe ich in einem riesigen Industriegebiet. Ein Mann fuhrwerkt mit einem Laubbläser herum, er trägt Ganzkörperanzug und Sichtschutz, und als er mich sieht, hebt er die Hand zum Gruß. Als wäre er ein Außerirdischer. Oder bin ich einer? +Weiter geht es, vorbei an einem Friedhof, einem Autohaus und einem Swingerclub. Erst jetzt wird es wieder urbaner, und kurze Zeit später bin ich schon am S-Bahn-Ring. Plötzlich riecht es nach Keksen. Aus dem Bahlsen-Werk weht süßer Duft herüber. Und vor mir plötzlich: nichts. Kilometerweit reicht der Blick überden ehemaligen Flughafen Tempelhof. Beim Überqueren des Feldes komme ich an einem Bike-Polo-Turnier undeiner Gemeinschaftsgartenanlagevorbei, einem zugewucherten Labyrinth aus selbst gezimmerten Hochbeeten und Sitzgelegenheiten. Von Weitem sehe ich jemanden, der beim Joggen einen großen weißen Hund trägt. Auch ich würde jetzt gern getragen werden, nach rund 40 Kilometern Fahrt. Aber die letzten zwei Kilometer zurück zum Hermannplatz schaffe ich dann auch noch so. + +Dieser Text ist im fluter Nr. 88 "Neukölln" erschienen.Das ganze Heftfindet ihr hier. diff --git a/fluter/new-kids-on-the-blog.txt b/fluter/new-kids-on-the-blog.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b03127b973584ca889124508c100f9fe146d5f57 --- /dev/null +++ b/fluter/new-kids-on-the-blog.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Im Jahr 1999 blubberte die Dotcom-Blase, Yahoo war noch eine wichtige Suchmaschine und Al Gore machte einen Fehler. In einem Fernsehinterview sagte der damalige Vize-Präsident der Vereinigten Staaten: "Ich habe bei der Erschaffung des Internets die Initiative ergriffen." Innerhalb kürzester Zeit bahnte sich der Satz durch sämtliche Medien und wurde auf dem Weg gleichbedeutend mit: Gore behaupte, er hätte das Internet erfunden, Gore sei überheblich und wisse generell und speziell nicht, wovon er spreche. Heute gilt Gore als Hausgott des Klimaschutzes, doch "I invented the Internet" ist nach wie vor der beliebteste Running Gag, wenn es um ihn geht. Nur in den USA kann ein Streit um das Internet zum Wahlkampfthema werden.8 comments +21. September 2008, Von Meredith Haaf +Amerika ist die Netz-Nation Nummer eins. Mehr als 70 Prozent der Bevölkerung benutzt regelmäßig das Internet. Vor allem mit dem Aufkommen des Web 2.0 und all seinen neuen Spielplätzen – Blogs, Wikis oder Social-Networking-Seiten – sind nicht nur die Kommunikations- und Selbstdarstellungsmöglichkeiten der Bürger gewachsen, der Medienkonsum der Amerikaner selbst hat sich stark verändert. "Es besteht Anlass, sich Sorgen um die klassischen Medien zu machen", sagt Dan Gillmor, Medienwissenschaftler aus San Francisco und Autor von "We, the Media", einem Buch über Bürgerjournalismus. Die Betroffenen selbst sprechen von einer tiefen Krise: Sinkende Abonnentenzahlen und Einschaltquoten haben zu einem massiven Stellenabbau bei Zeitungen und Fernsehanstalten geführt. Die Amerikaner verbringen immer mehr Zeit vor dem Computer als vor der Glotze, und knapp die Hälfte aller Nutzer hält das Internet für eine ebenso sichere Informationsquelle wie alle anderen Medien – was weniger über die Qualität der Netzinhalte sagt, als über den Zustand, in den sich Presse und Fernsehen im Lauf des Jahrzehnts gebracht haben."Die Krise ist intellektuell und technologisch-kommerziell", sagt Ken Layne, der die politische Klatsch-Website wonkette.com leitet. "Intellektuell gesehen haben die Menschen ihr Interesse an ernsten Nachrichten verloren, seien es internationale, nationale oder lokalpolitische Themen. In den Mainstreammedien hat sich eine Mob-Mentalität durchgesetzt, sodass jedes dämliche, sensationelle Thema verfolgt wird." In den Fernsehprogrammen, wo Paris Hilton in den Abendnachrichten auftaucht und Moderatoren von Polit-Sendungen Outfits von Politikerinnen diskutieren, verschwimmt die Grenze zwischen Unterhaltung und Aufklärung. Vor allem der Irak-Krieg und die Tatsache, dass die "News Media", wie die kommerziellen Informationshäuser genannt werden, sehr lange brauchten, um diesen kritisch zu beurteilen, hat bei vielen für Desillusionierung gesorgt. Gerade die Printmedien reagierten zudem erst spät auf die Anforderungen des Internet. "Informationsriesen wie CNN oder die New York Times waren schnell genug, um sich auf die neue Situation einzustellen", sagt Layne. "Die werden die Entwicklung überleben. Aber die vielen Medienunternehmen, die nur gierig sind und nichts investieren, merken jetzt, dass sie keine treue Leserschaft haben und keine Autorität." Zunehmend übernehmen Blogs die Funktion der Informationsstammtische. Und was früher oft eher die Sache freiwilliger Technik-Freaks oder Hobbyjournalisten war, ist mittlerweile eine ziemlich professionelle Angelegenheit. Nicht nur die politischen Seiten wie Daily Kos und Wonkette haben feste Besucher. Das Technik-Blog boingboing.net ist eine Art Markenname im Netz. Und dann gibt es noch das Gawker-Media-Netzwerk, das aus zwölf Blogs besteht. Eines der beliebtesten ist Jezebel.com, eine Art feministisches Unterhaltungsmagazin.16 comments +24. September 2008, Von Meredith Haaf +Gegründet wurde Gawker Media von dem Dotcom-Millionär Nick Denton und es ist eines der wenigen profitablen Medienunternehmen, die ausschließlich aus Blogs bestehen. "Denton wollte, dass wir eine "girlige" Klatschseite aufbauen", erzählt Maureen "Moe" Tkacik. Sie war einige Zeit Redakteurin bei Jezebel und ist mittlerweile zum Mutterblog Gawker.com gewechselt. Mit ihren Kolleginnen startete sie einen Angriff auf konventionelle Frauenzeitschriften. "Diese Magazine sind das Böse, sie sind eine Beleidigung weiblicher Intelligenz", sagt Moe, die für ihre cholerischen Textanfälle von ihren Lesern geliebt wird. Im Mai 2007 ging die Seite online und erreichte innerhalb kürzester Zeit wegen der hohen Qualität der Textbeiträge, dem sardonischen Humor der Bloggerinnen und nicht zuletzt der engagierten Community – sie nennen sich "Jezzies" – große Beliebtheit. Eine Handvoll fester Redakteurinnen und mehrere freie Mitarbeiterinnen beschäftigt Denton für die Seite. "Wir bekommen ein ganz normales Gehalt", sagt Moe, "ich weiß aber nicht, ob die Seite mittlerweile profitabel ist. Sie soll es auf jeden Fall werden." Ein wirtschaftlich erfolgreiches Blog zu bauen und dabei noch berühmt zu werden – dafür ist Arianna Huffington das Paradebeispiel. Die liberale Aktivistin, Millionärin und Exfrau eines Republikaners, gründete im Jahr 2005 die Huffington Post und ließ dort zunächst politisch liberale Promis wie George Clooney oder Gwyneth Paltrow ehrenamtlich bloggen. Huffingtons erklärtes Ziel war es, ein Forum für all diejenigen zu schaffen, die gegen den Irak-Krieg sind, gegen die gegenwärtige Regierung und eigentlich gegen die Republikaner im Allgemeinen.Was anfangs als nettes Hobby einer reichen Frau belächelt wurde, ist heute eines der meistbesuchten amerikanischen Blogs und wird auf etwa 100 Millionen Dollar Wert geschätzt. "Wir sind die Zukunft der Medien", sagt Arianna Huffington, die heute regelmäßig in politischen Fernsehrunden als Expertin sitzt. Amerikas Politiker habe längst die Konsequenzen gezogen. Für einen Präsidentschaftskandidaten ist es im Jahr 2008 genauso wichtig, einen eigenen Youtube-Kanal und ein Soziales Netzwerk zu haben, wie einen vorzeigbaren Ehepartner. +26. September 2008, Von Meredith Haaf +"Das Internet stellt den Leuten ein Ventil für all ihre negativen Gefühle zur Verfügung", sagt ein Medienanalyst der deutschen Botschaft in Washington. "Sie besuchen Blogs, die ihrer politischen Meinung entsprechen und holen sich dort die Informationen, die in ihrer Aufmachung ihren Erwartungen entsprechen." Tkacik sieht das Internet als Feuchtbiotop für Extremisten, seien sie Anhänger der Demokraten oder der Republikaner: "Da bilden sich Paralleluniversen, in denen sich die Leute gegenseitig ihre Meinungen bestätigen und immer weiter hochschaukeln." Man könnte aber auch sagen, dass sich wichtige Foren für den Austausch unter Bloggenden und Kommentierenden bilden. Dass der politische Diskurs wieder zu dem wird, was er idealerweise sein sollte – eine Diskussion unter allen Akteuren. So wie Dan Gillmor, der seit Jahren den Leitspruch "Nachrichten sind Gespräche zwischen Journalist und Publikum", vertritt. Bleibt nur zu fragen, wie lange Konversationsbedarf besteht. Oder wie Moe von Gawker es ausdrückt: "Ich mag die Art, wie man im Netz schreiben kann. Aber ehrlich gesagt hängt es mir manchmal zum Hals raus, mich mit meinen Lesern zu unterhalten."comments are closedhttp://jezebel.com/http://www.huffingtonpost.com/theblog/http://www.drudgeblog.com /http://www.talkingpointsmemo.com/http://www.dailykos.com/ diff --git a/fluter/nft-einfach-erklaert-beispiele.txt b/fluter/nft-einfach-erklaert-beispiele.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0b2fb65239a4be65fa86b0863d00544333821c79 --- /dev/null +++ b/fluter/nft-einfach-erklaert-beispiele.txt @@ -0,0 +1,25 @@ + +Die "Merriam-Webster"-Definition wurde im Mai 2021 für 15 Ether (eine Kryptowährung, damals etwa 45.000 Euro)versteigert. Der Käufer erhielt so etwas wie eine virtuelle Besitzurkunde, dieauf einer Blockchain– einer Art öffentlichen, dezentralen Datenbank – registriert ist. Er wird jetzt auf der Website des Wörterbuchs unter der oben zitierten Definition als Besitzer genannt. Das geistige Eigentum behält jedoch die Redaktion. Die Frage, was ein NFT ist, zieht also viele weitere Fragen nach sich: Können NFT den Eigentumsbegriff revolutionieren und Digitalkünstler:innen zu sicherem Einkommen verhelfen? Oder ist der neue Kryptohandel eine elitäre Blase, die bald platzen wird? + + +Lange war der Kunstmarkt für Digitalkunstschaffende ein hartes Pflaster. Nutzer:innen des World Wide Web haben sich längst an die barrierefreien Vervielfältigungsmöglichkeiten und die kostenlose Verfügbarkeit von Bildern, Videos und Songs gewöhnt – schlechte Voraussetzungen für einen Markt, auf dem Exklusivität zählt. Wer Kunst kauft, will das Original. Viele schienen sich schon damit abgefunden zu haben, dass man mit digitaler Kunst kaum Geld verdient – bis zum März 2021. + + +Da nämlich schrieb der US-Grafikkünstler Beeple, bürgerlich Mike Winkelmann, mit ein paar Tausend Pixeln Kunstgeschichte. Beeples Bilder reichen von düsteren Cyberpunk-Stadtszenen bis hin zu Tom Hanks, der ein Coronavirus verprügelt. Sein Sammelwerk "Everydays: The First 5000 Days" wurde dieses Frühjahr als NFT bei Christie's, einem der renommiertesten Kunstauktionshäuser, für 69,3 Millionen US-Dollar versteigert. Das Bild, eine JPEG-Datei, ist damit das drittteuerste Werk eines lebenden Künstlers überhaupt. Auch weniger bekannte Digitalkünstler:innen können dank NFT inzwischen ihren Lebensunterhalt sichern. Gegen eine Gebühr bieten sie ihre Werke auf Krypto-Plattformen wie OpenSea an. Bei jedem Weiterverkauf erhalten sie eine Gewinnbeteiligung. Und Wertschätzung. + + +Nyan Cat hatte ihre besten Tage schon hinter sich, als sie im Februar 2021 von ihrem Schöpfer für 300 Ether (damals knapp 600.000 US-Dollar) verkauft wurde. 2011 als GIF geschaffen, ist sie eines jener Memes, die keine Pointe brauchen: Eine Katze, die zur Hälfte aus einem Pop-Tart-Törtchen besteht, fliegt durchs All und hinterlässt Regenbogenausscheidungen. Es gibt unzählige Kopien, Adaptionen und Parodien – und obwohl das Tier als NFT jetzt einen Besitzer hat, bleibt es im Internet unverändert bestehen. +Wie kann man besitzen, was frei im Internet herumschwirrt? + +Für den Betrachter,etwa auf YouTube, ist kein Unterschied erkennbar. Nyan Cat ist ja kein Gemälde in einem Museum, das man als Besitzer:in abhängen könnte. Darin liegt eine der großen Paradoxien, mit denen Kritiker:innen sich schwertun: Wie kann man etwas besitzen, das man im anarchisch angelegten Internet faktisch gar nicht "haben" kann? NFT-Befürworter:innen sagen, es gehe eben um die emotionale Verbindung zu dem digitalen Kunstwerk. + + +Musikfans waren schon immer Sammler, die die Emotionen, die sie mit ihren Stars verbinden, auf die Dingwelt übertragen. Mit Elvis-Autogrammen beispielsweise lässt sich ein Vermögen verdienen, allerdings sind sie auch leicht fälschbar. NFT-Transfers dagegen gelten als unhackbar, weil sie mithilfe der Blockchain dezentral verzeichnet werden. +Kings of Leon sind die erste Band, die diese Kombination aus Authentizität und Einzigartigkeit genutzt hat. Ihr jüngstes Album "When You See Yourself" veröffentlichten sie neben den regulären Vertriebswegen auch als NFT, zum Beispiel als animiertes Albumcover. Davon erhofften sie sich neue Einnahmequellen abseits von Streamingdiensten wie Spotify, die Künstlern weniger als einen Cent pro Stream zahlen. +Ist das nun die Zukunft des Rock 'n' Roll? Wohl eher nicht, zumindest nicht ausschließlich. Kings of Leon haben ihre NFT-Aktion jedenfalls so angelegt, dass auch diesentimentale, haptische Seite des Musikfansbefriedigt wird: Wer ein NFT ihres Albums kauft, erhält eine Vinylplatte dazu. + + +Ein Pixel, mehr nicht, und dann auch noch durchsichtig: Der "Single Transparent Pixel" von Max Haarich ist bislang noch nicht verkauft. Aber darum geht es dem Münchner Künstler auch nicht. Haarich will den NFT-Hype selbst kritisieren. "NFT sollten ja das Copyright im digitalen Raum durchsetzen", sagte erin einem Interview. "De facto geschieht das Gegenteil: NFT hebeln das Copyright im analogen Raum aus. Ein Foto von Rembrandts ‚Nachtwache' wurde als NFT verkauft, und niemand weiß, wie man damit umgehen soll." +Andere Künstler, etwa der Brite Memo Akten, kritisieren die miserable CO2-Bilanz von Blockchains. Weil sie auf viele Tausende Computer aufgeteilt sind, beanspruchen sie Unmengen an Strom. Laut einer Schätzung der WebsiteDigiconomistverbraucht das Ethereum-Netzwerk jährlich fast so viel Energie wie Portugal. Auch das "Schürfen" (mining), also die Verifizierung neuer Kryptowährungseinheiten, die durch das Lösen komplizierter numerischer Puzzles zustande kommt, ist wegen der hohen Rechenleistung energieintensiv. +Haarich betont, der Markt sei bislang ohnehin nur "eine Spielwiese für elitäre Spekulanten". Tatsächlich ist, wie bei allen Märkten, die auf nicht staatlich regulierte Kryptowährungen setzen, die Gefahr der platzenden Blase nicht von der Hand zu weisen. Möglich also, dass Nyan Cat zur Katze im Sack wird. Der Rekordkäufer von Beeples "5000 Days"hält dagegen: Er sei überzeugt, seine JPEG-Datei werde eines Tages milliardenschwer sein. +Darüber kann man streiten. Eines aber hat auch die traditionelle Kunst mit dem NFT-Prinzip gemeinsam: Damit sie funktionieren kann, braucht es ein wenig Fantasie. Ohne wird sie buchstäblich wertlos. diff --git a/fluter/nicaraguanische-studenten-fordern-ende-der-gewalt.txt b/fluter/nicaraguanische-studenten-fordern-ende-der-gewalt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8051b097cfc6ec3ef7e55f6cea1f55dfe5de90a2 --- /dev/null +++ b/fluter/nicaraguanische-studenten-fordern-ende-der-gewalt.txt @@ -0,0 +1,12 @@ + +Die Gewalt eskalierte auch zwischen Demonstranten und Gegendemonstranten und forderte Opfer auf beiden Seiten. Unter den Toten befinden sich ebenfalls Polizisten und Zuschauer. Nicht alle Quellen lassen sich überprüfen, und unabhängige Zahlen sind schwer zu finden. Die Regierung gibt wesentlich weniger Tote an. Was nicaraguanische Journalisten, Menschenrechtler, Geistliche und einfache Bürger dieser Tage jedoch dokumentieren, verdichtet sich zu einer scharfen Anklage gegen die Regierung des früheren Guerilleros Daniel Ortega, der sich als Regierungschef zum Autokraten wandelte und für seinen Machterhalt keine Rücksicht auf Menschenleben zu nehmen scheint. Ortega selbst nennt die Demonstranten "kriminelle Banden". Unter ihnen finden sich Menschen aus allen Teilen der Bevölkerung, auch Bauern und Unternehmer demonstrieren. +Für ihren Hilferuf haben sich Sergio Rakotozafy und nicaraguanische Studierendeam Brandenburger Tor in Berlin verabredet. Am Sonntag werden sie dort die Namen ihrer toten Kommilitonen aus Managua, Bluefields, Jinotepe oder Masaya vorlesen. Rund 300, schätzt Rakotozafy, werden insgesamt kommen. Aus Berlin, aber auch aus Köln, Hamburg, Leipzig, Halle und Frankfurt. Sie alle eint das Ohnmachtsgefühl, ihrem Land von Deutschland aus nicht helfen zu können. "Das Einzige, was uns bleibt, ist, unsere Stimme gegen das Unrecht zu erheben", sagt Rakotozafy. Nur einen kurzen Moment – wenn die Luftballons gen Himmel steigen – soll es still sein. Danach wollen sie lautstark jene Forderungen wiederholen, die seit anderthalb Monaten auf den Straßen Nicaraguas zu hören sind: das sofortige Ende der staatlichen Unterdrückung, ihre unabhängige juristische Aufarbeitung sowie vorgezogene Neuwahlen. An die europäischen Regierungen stellen sie keine Forderungen. + +Präsident Daniel Ortega hat indes trotz harter Kritik aus dem In- und Ausland bereits klargemacht: Er will im Amt bleiben, bis 2021. Der einstige Guerillero mit dem Schnauzbart, der vor knapp 40 Jahren mithalf, den damaligen Diktator Anastasio Somoza Debayle zu stürzen und aus der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN) eine politische Partei zu machen,klammert sich heute selbst mit allen Mitteln an die Macht. Nachdem er von 1985 bis 1990 schon einmal gewählter Staatspräsident war, ist er nun seit elfeinhalb Jahren ununterbrochen an der Spitze. Um eine dritte Amtszeit in Folge regieren zu dürfen, was laut Verfassung illegal ist, setzte er mithilfe der Gerichte am Parlament vorbei seine Kandidatur für die Wiederwahl durch. Mittlerweile ist er in seiner vierten Amtszeit. Seine Ehefrau hat er zur Vizepräsidentin gemacht. Sie kontrolliert – mithilfe ihrer Söhne – einen Großteil der Fernseh- und Radiosender. Kritiker werfen Ortega vor, eine Dynastie aufzubauen, unabhängige Stimmen einzuschüchtern und sich selbst zu bereichern. Die Regierung bestreitet das. +Die Missachtung demokratischer Spielregeln ist ein Grund dafür, warum sich der Protest so schnell ausbreitete, glaubt Michelle Chávez. "Die Leute sind müde von Ortega und seiner Herrscherclique." Die 29-Jährige studiert Politikwissenschaft in Deutschland, vorher hat sie in Nicaragua Jura studiert. "Ich bin mit einem positiven Bild von der sandinistischen Revolution groß geworden", sagt Chávez. "Aber als ich im Studium von Menschenrechten und der Idee des Rechtsstaats gehört habe, hat sich mein Bild geändert." Auch Chávez ist in der Gruppe SOSNicaragua aktiv. Anfangs war sie nur fassungslos über die Gewalt von Polizisten und Regierungsanhängern, mittlerweile ist die Studentin "enorm wütend" über die Doppelzüngigkeit des Regimes. + + +"Stell dir vor, der Präsident spricht an einem Ende der Stadt von Liebe, während er seine Polizisten am anderen Ende auf Mütter, Kinder und Alte schießen lässt." Am Día de las Madres, dem Muttertag am 30. Mai, marschierten die "Mütter der Opfer der Repression" durch die Hauptstadt Managua, um Gerechtigkeit für ihre getöteten Kinder zu fordern. An dem Abend, an dem sich Ortega von seinen Anhängern feiern ließ, starben im ganzen Land mindestens 15 Menschen, 79 wurden verletzt. Das Schlimmste sei, dass die Regierung auch noch zu verschweigen versuche, was im Land vorgeht: Am 19. April, einen Tag nach Ausbruch der Proteste, nahm Ortega die beiden verbliebenen unabhängigen Fernsehkanäle vom Netz. Zwei Wochen später steckten Regierungsanhänger einen Radiosender in Brand – angeführt von einem Abgeordneten der Regierungspartei FSLN. Der Besitzer des Radiosenders spricht von Staatsterrorismus. +Obwohl die Regierung die Rentenreform inzwischen zurückgezogen hat, dauern die Proteste auf der Straße an. Es gibt Stimmen, die Präsident Ortega verteidigen. Sie scheinen jedoch immer weniger zu werden. Vor allem Anhänger der regierungsnahen Sandinistischen Jugend machen gegen die Demonstranten mobil, zum Teil auch mit Gewalt. Vergangenes Wochenende forderte der Chef der mächtigen nicaraguanischen Wirtschaftskammer COSEP den Präsidenten auf, sein Amt "so schnell wie möglich niederzulegen" und 2019 Neuwahlen zuzulassen. "Ortega ist isoliert", sagt Sergio Rakotozafy. Dass ein Dialog stattfinden wird, bezweifelt er aber. Dazu haben schon Menschenrechtsgruppen, Nachbarstaaten und zuletzt der Papst aufgerufen – ohne Erfolg. "Das Einzige, was die Gewalt beenden kann, ist ein landesweiter Nationalstreik", glaubt Rakotozafy. Wenn Ortega nicht zur Vernunft kommt, drohe Nicaragua eine zweite jahrzehntelange Diktatur – und möglicherweise eine zweite blutige Revolution. + +Titelbild:  INTI OCON/AFP/Getty Images diff --git a/fluter/nicht-die-karriereleiter.txt b/fluter/nicht-die-karriereleiter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7e34778c53c86089e617041c9a4ee8013e095544 --- /dev/null +++ b/fluter/nicht-die-karriereleiter.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Etwas Gutes tun, das wollen viele. Gleichzeitig die Welt bereisen, exotische Orte erkunden, neue Kulturen kennenlernen, das klingt vielversprechend – die Liste der Projektländer von Ingenieure ohne Grenzen liest sich wie eine Aneinanderreihung von Sehnsuchtszielen für Backpacker: Nicaragua, Tansania, Haiti, Nepal. Diese Orte verheißen Abenteuer weit weg von Bettenburgen und Touristenströmen. Aber es sind eben auch Länder, in denen es an Vielem fehlt. Die Infrastruktur funktioniert oft nicht richtig,  breiten Teilen der Bevölkerung mangelt es am Notwendigsten, etwa der Versorgung mit Wasser und Energie. Die Teilnehmer von Ingenieure ohne Grenzen möchten Abhilfe schaffen und vor Ort helfen. Aber flugs die Koffer packen und hinreisen – so einfach ist das nicht. +Auch Duc übernahm zunächst organisatorische Aufgaben, verfasste Beiträge für den internen Blog und schrieb Rundmails. "Ich hatte Glück und stieß zu einer Umbruchzeit zur Leipziger Regionalgruppe dazu", erzählt er. Das letzte Projekt in Gambia, wo die Mitarbeiter der Hilfsorganisation einen Brunnen und neue Toiletten für eine Schule errichtet hatten, war gerade abgeschlossen, die Zeit für ein neues Projekt gekommen. Nun hieß es Konzepte begutachten, Kontakte knüpfen, Treffen organisieren. Schreibtischarbeit, die seit der Gründung des Vereins vor zwölf Jahren einen Großteil der Aufgaben dort ausmacht. +In Ingenieurskreisen ist der Verein, der in Entwicklungsländern ingenieurwissenschaftliche Projekte im Low-Tech-Bereich durchführt, bereits eine Institution. Etwa 1.000 Menschen engagieren sich aktiv in ihm, sowohl Studenten als auch Berufstätige, hinzu kommen fast 3.000 Fördermitglieder. Die Ingenieure sind in der Überzahl, doch auch Wirtschaftswissenschaftler, Physiker, Geotechnologen und Geisteswissenschaftler sind Teil des deutschlandweiten Netzwerkes. Etwa 40 Prozent davon sind Frauen. Und eines haben alle gemeinsam: Sie investieren ihr vielleicht kostbarstes Gut: ihre Zeit. +So auch Duc. Aber als verlorene Stunden betrachtet er sein Engagement nicht. "Das Ehrenamt passt zu mir wie die Faust aufs Auge", sagt er, hier kann er sein Wissen einbringen und gleichzeitig helfen – für ihn die perfekte Kombination. "Und je mehr Menschen man begegnet, desto eher lernt man auch was über sich selbst." Duc ist in Vietnam geboren. Sein Vater arbeitete in der DDR als Vertragsarbeiter, mit fünf Jahren zogen Duc, seine Mutter und seine Schwester hinterher. "Wären wir in Vietnam geblieben, wäre es vielleicht auch für mich schwer geworden." Denn die Auswahlverfahren für einen Studienplatz in Vietnam seien streng. +Es war einfach an der Zeit, etwas zurückzugeben, fand Duc. Dass er bereits ein Jahr nach seinem Beitritt für Ingenieure ohne Grenzen ins Ausland reisen konnte, war Zufall. "Zwei, die infrage kamen, hatten gerade Kinder bekommen und wollten nicht fahren, so rückte ich nach." Sein erster Auslandseinsatz führte ihn und seinen Kollegen Falk Weinhold in das kleine Dorf Tomegbé im hügeligen Westen Togos. Eine aufregende Reise, "aber kein Kulturschock." Denn Armut ist Duc nicht fremd, "das Dorf, in dem meine Familie in Vietnam lebt, hatte vor ein paar Jahren auch noch keinen hohen Standard, Plumpsklos und offene Feuerstellen waren Alltag." +Hier fließt für Ingenieure nicht das große Geld – aber frisches Wasser für Kinder. Das ist auch erstmal sehr befriedigend +Zwischen tropischen Papayabäumen und Kakaoplantagen erkundeten die zwei angehenden Ingenieure das Terrain, sprachen mit den Dorfbewohnern und nahmen Wasserproben. "In Tomegbé gibt es einen Kindergarten, der dringend eine neue Wasserversorgung braucht." Zwar gebe es zwei Flüsse und mehrere Brunnen, doch die Flüsse seien weit entfernt, das Wasser verunreinigt. Aus einem Brunnen schöpften die Menschen zwar sauberes, aber von ausgeflocktem Eisen rot gefärbtes Wasser, dem sie nicht trauten. Viele Kinder im Dorf leiden an Durchfall. Nun soll der Kindergarten eine eigene Zisterne bekommen. Ingenieure ohne Grenzen stellt den größten Teil des Geldes dafür zur Verfügung, plant und berechnet den Bau, "aber auch die Menschen in Tomegbé müssen ihren Teil beisteuern, sie übernehmen die Projektplanung vor Ort." Die Zisterne errichten lokale Maurer und Tischler. +Doch die Hoffnungen, die mit einem Besuch aus Europa verbunden werden, sind hoch. "Die Menschen vertrauen uns, umso wichtiger ist es, ehrlich zu sein, zu sagen, was wir leisten können und was nicht." Für die Instandhaltung der Zisterne werden die Menschen im Dorf selbst verantwortlich sein, ebenso wie für den Bau weiterer Zisternen. "Wir liefern ihnen das gesamte Know-how, führen Schulungen durch und geben ihnen eine ausführliche Projektdokumentation an die Hand." Hilfe zur Selbsthilfe lautet das Credo des Vereins. +Seit Ducs erster Reise nach Togo sind zwei Jahre vergangen. Der 28-jährige Leipziger arbeitet mittlerweile als Ingenieur und zeichnet Elektropläne. Auf eine 30-Stunden-Woche wollte sich sein Unternehmen zwar nicht einlassen, "aber meine Chefs sicherten mir flexible Arbeitszeiten zu." Nach Feierabend investiert Duc jede Woche acht Stunden in den Verein. Ohne finanzielle Gegenleistung. +Das ist keinesfalls selbstverständlich. Gerade der Einstieg in die berufliche Karriere ist für Ingenieure oft mit Überstunden verbunden, Geschäftsreisen ins Ausland, Arbeit am Wochenende. Die Freizeit wird zum kostbaren Gut, viel Zeit, um das üppige Gehalt auszugeben, bleibt nicht. Duc zuckt mit den Schultern, ans Aufhören denkt er nicht. +Im Februar wird er unbezahlten Urlaub nehmen und einen Monat nach Togo reisen, um beim Bau der Zisterne dabei zu sein. Es werden spannende Wochen für die Ingenieure; Drei Jahre lang haben sie an dem Projekt gearbeitet, ungezählte Stunden investiert – aber auch etwas zurückbekommen. "Früher war ich eher ein introvertierter Mensch", sagt Duc, "aber ich bin gereift, offener geworden und habe das Ungezwungene der Togoer mitgenommen." diff --git a/fluter/nicht-doof.txt b/fluter/nicht-doof.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..17a0ae5c75d4fd1a4f8b0d394098332eda41fe4d --- /dev/null +++ b/fluter/nicht-doof.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Intelligent, nachhaltig, vernetzt – so lauten einige gängige Übersetzungen des recht schwammigen Begriffs, der seit einigen Jahren immer häufiger in schicken Broschüren von Städten und großen Konzernen auftaucht. Sie werben mit Verkehrsleitsystemen, die Staus verhindern und die Parkplatzsuche erleichtern, oder mit Stromnetzen, die Energiespeicher einbinden können. Insgesamt soll unser Leben sicherer und besser werden, auch wenn zunehmend mehr Menschen zum Leben und Arbeiten in die Städte strömen. +Weltweit gibt es viele Beispiele dafür, was eine Smart City ausmachen kann: Auf Radwegen in Kopenhagen leiten grüne LED-Lämpchen und Zeitangaben an Leuchttafeln die Fahrer, damit sie nicht so oft an roten Ampeln halten müssen und schneller vorankommen. In der nordspanischen Stadt Santandermelden Sensoren den städtischen Betrieben, wo Pflanzen zu trocken sind und Mülleimer überquellen. Und in Rio de Janeiro wird das öffentliche Leben seit knapp fünf Jahren in einer Zentrale kontrolliert, die so aussieht, als ginge es um eine Weltraummission der NASA: Auf einer riesigen ­Monitorwand laufen Wetter- und Verkehrsinformationen ein sowie Echtzeitbilder von 800 Überwachungskameras, die überall in der Stadt verteilt sind. Hunderte Mitarbeiter werten die Daten 24 Stunden am Tag aus. Die Behörden erhoffen sich davon, direkter auf Verkehrsinfarkte, Naturkatastrophen oder auch Unruhen reagieren zu können. +Wie Köln bereitet sich auch Wien auf Wachstum vor. In 20 Jahren werden in der österreichischen Hauptstadt mehr als zwei Millionen Menschen leben, 300.000 mehr als heute. Stadtplanerin Ina Homeier macht sich deswegen keine Sorgen. Sie leitet das Projekt "Smart City Wien" und hat an einer Strategie mitgearbeitet, die die Stadt auf den Bevölkerungsboom einstellen und dabei helfen soll, die Klimaziele der Europäischen Union zu erfüllen. +"Einige Vorhaben greifen schon jetzt", betont Homeier. So versucht die Stadt konsequent, ihren Bürgern das Auto abzugewöhnen. Die Jahreskarte für den ­öffentlichen Nahverkehr kostet gerade mal 365 Euro, ein Schnäppchen im Vergleich zu anderen westeuropäischen Städten. Auch das etablierte Car- und Bike-Sharing zählt dazu, wenn es darum geht, eine Smart City zu etablieren. "Äußerlich wird sich Wien nicht sehr stark verändern", versichert die Stadtplanerin. Sie denkt auch an Dinge wie Nachbarschaften, die sich selbst organisieren. Statt umständlich in die Shopping-Mall zu fahren, sollen die Menschen alles in ihren Wohnbezirken finden – auch mithilfe von Smartphones und sozialen Netzwerken, die lokale Anbieter und Konsumenten miteinander verbinden. +Die vermeintlich schlaue Stadt ist nicht nur ein Lieblingskind vieler Stadtplaner, es ist auch ein Milliardengeschäft, das von der Politik durch Fördermittel angeheizt wird. Bis 2020 wird die Industrie weltweit ein Marktpotenzial von etwa 1,5 Billionen US-Dollar mit Technologien und Dienstleistungen für Smart Citys erschließen können, prognostiziert die Beratungsfirma Frost & Sullivan. "Es gibt einen großen Hype um das Thema", sagt Martin Powell, der das Geschäftsfeld bei ­Siemens von London aus leitet. "Tatsache ist aber, dass die Nutzung großer Datenmengen, vernetzter Technologien und von Automatisierungen die Infrastruktur in Städten weltweit verändert." +Neben den beiden US-Unternehmen IBM und Cisco zählt der Münchner Konzern zu den größten Technikanbietern weltweit. Entsprechend selbstbewusst sind die Prognosen und Versprechen, die Siemens verkündet. "Verbunden mit guter Politik in den Städten kann Technologie alle Formen von Verkehrsstaus, Energieausfällen und Umweltverschmutzungen lösen", sagt Powell. +Eher als in Köln oder Wien lassen sich solch kühne Visionen derzeit beispielsweise in New Songdo Citynachvollziehen, 40 Kilometer südwestlich von Südkoreas Hauptstadt Seoul gelegen. Wo noch vor wenigen Jahren Wasservögel in Ruhe nisteten, stehen jetzt Hochhäuser, die vollgepackt sind mit Technologie. Energie, Müll, Transport – all das wird von Supercomputern gesteuert und von den eher wohlhabenden Bewohnern mit Chipkarten bedient. Bis 2020 sollen etwa 400.000 Menschen in dieser Modellstadt leben und arbeiten, 2013 waren es 67.000 Bewohner. +Kritiker wie der US-amerikanische Autor Adam Greenfield warnen davor, solche städtebaulichen Vorstellungen auf Städte zu übertragen, die nicht am Reißbrett, sondern über viele Jahre und Jahrhunderte entstanden sind. In seinem Pamphlet "Against the Smart City" wirft er Unternehmen vor, ihre Ideen in hochtrabender Marketing­sprache dort zu verkaufen, wo sie nicht gebraucht werden und nicht funktionieren. Die Stadt als Spielwiese der Industrie. Für Jens Libbe vom unabhängigen Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) geht dieser Vorwurf etwas zu weit. "Ich sehe im gegenwärtigen technologischen Sprung durchaus eine Chance. Wir müssen aber aufpassen, dass die Städte und ihre Bürger nicht fremdbestimmt werden. Geschätzte 30 Prozent der Bevölkerung kommen mit der rasanten Entwicklung nicht mehr mit." Libbe befürchtet Nachteile vor allem für ältere Menschen, von denen einige beispielsweise schon mit modernen Fahrkartenautomaten Schwierigkeiten hätten. Was wird aus ihnen, wenn sie plötzlich von Computern mit ungewohnten Benutzeroberflächen umzingelt werden? +Umstritten ist auch die Frage, wie sicher all die Daten, die Sensoren und Kameras in den Schlaustädten rund um die Uhr sammeln, vor Hacker-Angriffen sind – und wie leicht sie von Unternehmen zweckentfremdet werden können. "Es könnte zum Problem werden, dass immer mehr Daten privatisiert werden, wenn sie von den unterschiedlichsten Anbietern eingesammelt werden, die auf den Markt drängen", sagt Difu-Experte Libbe. +Datenschützer warnen, dass die unterschiedlichen Unternehmen zu viele private Informationen ihrer Kunden erhalten und sie für kommerzielle Zwecke ­nutzen. In den USA, Kanada und Großbritannien kämpfen seit einiger Zeit Initiativen gegen sogenannte Smart Meter: Stromzähler, die die Energieversorger jederzeit über das ­Nutzerverhalten der Verbraucher informieren. Die helfen zwar beim Stromsparen, allerdings können Unternehmen im Extremfall sogar erkennen, welche Fernsehprogramme die Nutzer schauen. diff --git a/fluter/nicht-jacke-wie-hose.txt b/fluter/nicht-jacke-wie-hose.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ea9b683139f87ace6f995e2a40c0a7bead792dc8 --- /dev/null +++ b/fluter/nicht-jacke-wie-hose.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Früher, zu Beginn der Industrialisierung, bedeutete Armsein hungern. Heute sind die Unterschiede zwischen den Bevölkerungsschichten immer noch riesig, aber sie äußern sich oft subtiler: im Lebensstil, im Musikgeschmack, in der Art zu sprechen oder sich zu kleiden. In der Entscheidung zwischen dünnem Mantel und gefütterter Jacke. Die Angehörigen der unteren Klassen, schrieb der französische Soziologe Pierre Bourdieu, wollen bei der Kleidung "für ihr Geld auch etwas Ordentliches in den Händen" halten und "entscheiden sich für das ‚Zweckmäßige'". Im Hartz-IV-Regelsatz sind für Bekleidung 31,42 Euro im Monat veranschlagt. Vielleicht ist es eine Errungenschaft, wenn man Menschen ihr Budget nicht mehr an Hemd und Hose ablesen kann. Aber was ist der Preis dafür? 200 Euro Schüler-Bafög bekommt Constanze im Monat. Für Mode kann sie vielleicht 100 Euro ausgeben, alle paar Monate einmal, wenn ihre Eltern Geld dazugeben. "Da kommt so etwas wie Primark natürlich wie gerufen", sagt Constanze. Sie schwärmt von den Ohrringen, die sie gekauft hat, die nur Modeschmuck sind, aber leuchten wie echtes Gold. Als Erzieherin wird Constanze später wohl nicht zu den Topverdienerinnen gehören. +Auch Barbara kauft bei Primark. Sie kennt die Preise: Vier Euro hat die alleinerziehende Mutter vor einem Jahr für eine Jogginghose bezahlt, die sie für ihre Tochter kaufte. Dieses Jahr kostet dieselbe Hose schon fünf Euro. "Ein Euro mehr in einem Jahr! Ich habe nur gedacht: Wow." Ein Euro in einem Jahr – so etwas dürfte wohl niemandem auffallen, der es nicht gewohnt ist, aufs Geld zu achten. Knapp unter 700 Euro im Monat verdient Barbara mit ihrer Halbtagsstelle, dazu kommen noch 209 Euro Unterstützung vom Arbeitsamt. Damit muss sie für sich und ihre Tochter Miete, Strom, Essen bezahlen. "Für mich bleiben dann am Monatsende vielleicht noch 20 Euro übrig. Aber ich bin ja kein Modefritze, der sich jede Woche eine teure Hose kaufen muss." +Barbara ist nicht nur eine typische Kundin, sondern auch eine Mitarbeiterin von Primark. Sie arbeitet in der Frankfurter Filiale. Deswegen möchte sie nicht mit ihrem richtigen Namen in die Öffentlichkeit: Zu groß ist die Sorge, dass ihr Arbeitgeber Ärger macht, wenn sie über die anstrengende Arbeit in dem rappelvollen Laden und das wenige Geld auf ihrem Konto spricht. Sie sagt: Viele der Mitarbeiter bei Primark würden gerne, so wie sie, mehr arbeiten. Doch statt ihnen volle Stellen zu geben, die einigermaßen zum Leben reichen, würde Primark auf Teilzeitkräfte setzen, deren Löhne dann das Arbeitsamt aufstocken muss, mit dem Steuergeld aller. Einer anderen Kollegin bleiben bei einer 25-Stunden- Woche rund 1.500 Euro brutto. "Mein Mann ist Handwerker und verdient ebenfalls. Wir haben Glück, dass wir so eine günstige Wohnung haben. Alleine könnte ich von dem Geld nicht leben", sagt sie. +"Bei Primark fällt der hohe Anteil der Teilzeit- und 400-Euro-Kräfte auf", sagt Klaus-Peter Grawunder, der bei der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi in Frankfurt am Main für den Handel zuständig ist. Dazu komme: Primark bezahle die Mitarbeiter nicht nach dem Tarifvertrag für die Branche. Selbst wer eine der wenigen Vollzeitstellen hat, verdient Grawunder zufolge bis zu 680 Euro weniger als ein Beschäftigter in einem Laden, der nach Tarif zahlt. Es ist paradox: Die Armen, deren Leben Primark schicker machen will, bringen Unternehmen wie Primark selbst hervor. Auf die Frage nach der unterdurchschnittlichen Bezahlung lässt Primark über eine PR-Agentur dennoch mitteilen, dass man "den Richtlinien der Tarifvereinbarung folgt". Zudem zeige das "jüngste Mitarbeiter-Feedback, dass unsere Mitarbeiter Primark als einen fairen Arbeitgeber" sähen. +Auf der Unternehmens-Homepage finden sich Beteuerungen, dass Primark ein ethisch und sozial verantwortliches Unternehmen sei. "Unser Geschäft trägt direkt zur Beschäftigung von mehr als 700.000 Arbeitern auf drei Kontinenten bei. Sicherzustellen, dass deren Rechte geachtet werden, ist zentral für unser weiteres Wachstum", schreibt die Modekette. "Primark ist entschlossen, seinen Kunden den bestmöglichen Wert zu bieten, aber nicht auf Kosten der Menschen, die unsere Produkte herstellen." Das klingt gut. Zu gut? Manchmal, wenn Barbara im Laden steht, kommen die Kunden mit solchen Fragen zu ihr: Wie kann es sein, dass man für eine Jeans bei Primark weniger als zehn Euro bezahlt? Dass ein Paar Schuhe drei Euro kostet? "Ich wiederhole dann die Sätze, die unsere Chefs vorher gesagt haben." Dass Primark seine Waren in großen Mengen und daher besonders günstig einkaufen kann. Dass man kaum Geld für Werbung ausgebe. "Aber ich glaube einfach nicht, dass das so glatt läuft." +Ein großer Teil der Ware, die Primark und andere Textilhändler anbieten, stammt aus Bangladesch: Für rund drei Milliarden Euro bezog allein Deutschland im vergangenen Jahr Kleidung aus dem Land. Nur aus China und der Türkei hat Deutschland für noch mehr Geld Textilien importiert. Eine Studie der Unternehmensberatung McKinsey hat vor einem Jahr ergeben, dass die Modehäuser in Zukunft noch stärker in Bangladesch produzieren lassen wollen. Vor allem die Discounter setzten auf das Land – fast nirgends sind Hosen, Hemden und Schuhe günstiger zu bekommen. Viele Menschen dort sind bereit, für wenig Geld zu arbeiten: Rund 53 Millionen, ein Drittel der Bevölkerung, leben dort in absoluter Armut. +Die britische Anti-Armuts-Organisation War On Want hatte schon 2006 – und 2009 noch einmal – untersucht, zu welchen Bedingungen Primark und seine beiden Mitbewerber Asda und Tesco ihre Waren in Bangladesch produzieren lassen. Primark hat einen Verhaltenskodex aufgestellt, an den sich die Produzenten halten sollen: Die Löhne sollen "existenzsichernd" sein, Kinderarbeit ist verboten, ebenso übermäßige Arbeitszeiten, Diskriminierung und "harsche oder unmenschliche Behandlung". Der Bericht zeichnet ein anderes Bild von der Wirklichkeit in Bangladeschs Textilfabriken. Arbeiter bekämen Löhne, die nicht zum Leben reichen. Bis zu 80 Stunden müssten sie dafür in den Fabriken schuften – obwohl das Gesetz im äußersten Fall höchstens 60 Stunden erlaubt. "Ich kann meinen Kindern keine drei Mahlzeiten am Tag geben mit meinen Einkünften. Das ist mein Schicksal", klagt in dem Report eine Näherin, die angibt, Primark-Textilien zu fertigen. Auf die Frage, wie sich solche Arbeitsbedingungen mit dem Verhaltenskodex vereinbaren lassen, lässt Primark über seine PR-Agentur ausrichten: "Wir haben uns diesen Bericht angeschaut und können keine Referenz zu Primark finden. Darüber hinaus hat uns die Kampagne für saubere Kleidung nie hierzu kontaktiert." +Anfang des Jahres hat die deutsche "Kampagne für saubere Kleidung", hinter der verschiedene Organisationen, Vereine und Verbände stehen, einen Report über die Arbeitsbedingungen in Fabriken vorgestellt, in denen die Discounter Aldi, Kik und Lidl produzieren lassen. In einer der untersuchten Fabriken lässt nach Informationen der Kampagne auch Primark fertigen. Die Bedingungen dort sind nicht besser als anderswo im Land: Die Mehrzahl der Arbeiterinnen berichtete, dass sie sieben Tage die Woche arbeiten müssten, inklusive Nachtschicht. Das Tagessoll könne nur mit Überstunden zu erreichen sein. Ein Monatslohn liegt umgerechnet zwischen 28 und 65 Euro. Khorshed Alam von der "Alternative Movement for Resources and Freedom Society" hat die Untersuchungen durchgeführt. Sein Fazit ist bitter: "Primark respektiert seinen eigenen Verhaltenskodex nicht." Schlimmer noch: Das Unternehmen würde seinen Kunden damit bewusst Sand in die Augen streuen. Alam hat mit den Näherinnen gesprochen, sie zu Hause besucht in den Slums, in den engen Wohnungen, die sie sich mit vielen anderen teilen. In den Fabriken, sagt Alam, traue sich niemand, offen zu sprechen. +Es ist immer wieder dieselbe Geschichte, die die Näherinnen ihm erzählen. Es sind Frauen vom Land, die kaum lesen und schreiben gelernt haben, eines Tages von ihren Männern verlassen wurden und dann allein mit den Kindern ihr Glück in der Stadt suchten. Im Gedränge der 13-Millionen- Hauptstadt Dhaka, in den Textilfabriken, die dort teils in alten Wohnetagen eingerichtet worden sind. "In der Bekleidungsindustrie zu arbeiten ist die letzte Wahl für die Menschen hier", sagt Alam. Es ist seltsam: Die relativ Armen in Europa halten die absolut Armen in Bangladesch arm. Und trotzdem will Alam ihnen keinen Vorwurf daraus machen. Es sind die Unternehmen, sagt er, die auf ihren Profit schielen und damit ihre eigenen Verhaltensregeln zwangsläufig ins Absurde führen. "Die Verbraucher sind nicht verantwortlich dafür." +Eine Handtasche für zwölf, ein paar Schuhe für drei Euro. Constanze fragt sich ebenfalls, wer den Preis für so günstige Kleidung zahlt. "Wenn ich das Geld hätte", sagt die Berufsschülerin, "könnte ich mir natürlich teurere Klamotten kaufen." Es ist ein großes Wenn, auf das ein ebenso großes Aber folgt: "Wer garantiert mir dann, dass die nicht nur teurer, sondern auch zu besseren Bedingungen hergestellt werden? diff --git a/fluter/nicht-mehr-ganz-dicht.txt b/fluter/nicht-mehr-ganz-dicht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d96f7e017ce291ce70d7d06fb519cdde976d2956 --- /dev/null +++ b/fluter/nicht-mehr-ganz-dicht.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Aus dem Radio knistert "Auferstanden aus Ruinen", die DDR-Nationalhymne, dann unterbricht Nicolas Niggemeyer via Funk die Zeitreise abrupt. "Willkommen in Honeckers Albtraum!", tönt es durch die Lautsprecher. Wer hier wieder rauswill, muss sich durch eine Kombination aus Rätseln und Denkspielen knobeln. Er muss Hinweise finden und richtig zusammensetzen. Wer binnen einer Stunde den Schlüssel für die Tür findet, darf ausreisen. Wer im Dunkeln tappt, kriegt über ein Walkie-Talkie ein paar hilfreiche Tipps. Denn in der Tradition von Horch und Guck haben Niggemeyer und seine Mitarbeiter per Überwachungskamera an der Zimmerdecke alles im Blick. +Ein Raum, ein Rätsel, ein Countdown. Was früher die Adventure-Gamer an den Heim-PC gebannt hat und bis heute unter den Browserspielen und Apps beliebt ist, wird zurzeit auch als analoger Zeitvertreib populär. Die Leute lassen sich freiwillig in Räume, Bunker und Tunnel einschließen und zahlen für das prickelnde Unbehagen, ihrer Freiheit beraubt zu werden. Die ersten dieser so genannten Escape Challenges gab es ab Mitte der Nullerjahre in Japan, dann verbreiteten sie sich in anderen asiatischen Ländern, in den USA und in Europa. +Ganz so plump wie läuft die Suche nach versteckten Hinweisen auch nicht ab +In Leipzig war Nicolas Niggemeyer der Erste, der sich diesen Real Life Escape Games gewidmet hat. "Ich konnte von den Spielen auf dem Smartphone einfach nicht genug kriegen", erzählt der gebürtige Paderborner in seiner Überwachungszentrale. "Ganze Nächte habe ich mit Rätselraten verbracht. Und dann dachte ich mir: Wieso ist der Spaß eigentlich auf Computerspiele beschränkt?" Also hat Niggemeyer mit seinem Bruder im August vergangenen Jahres ein paar Räume angemietet und eingerichtet. +Das war im August 2014, als es außer der Room Escape Challenge Leipzig nur zwei andere Angebote dieser Art in Deutschland gab. Inzwischen sind es schon über 100. Die Lust am Klaustrophobischen lässt die Branche nun auch in Deutschland boomen. +Und tatsächlich: Die Ausweglosigkeit hat etwas. Sie fühlt sich zunächst spannend an. Bald jedoch fällt mir das ungewohnte Um-die-Ecke-Grübeln schwer. Vielleicht ist meine Geduldsschwelle durch die heutige Google-Routine auch schon zu niedrig zum Rätseln. Ich starre auf die Hinweise, die zu Schlüsseln führen sollen, mit denen man die Fächer öffnen kann, die weitere Rätsel verbergen. Ich finde aber keine Schlüssel, und allmählich macht sich galgenhumorige Verzweiflung breit. In Omas Sofa versunken, verfliegen die Minuten. Schweres Nachdenken ist schon etwas anderes als das Anpusten von Zierbommeln an einer Stehlampe, hat Max Goldt einst gesagt. Dann plötzlich der Einfall, einfach das zu tun, was man im Film nie und im Computerspiel nur versehentlich tut: Ich durchsuche dieselbe Stelle zweimal  – und der entscheidende Hinweis ploppt auf, als die Zeit des Rekordhalters längst verstrichen ist. +Nette Spielchen, aber trotzdem muss man sich da nicht wirklich einen Kopf machen +Wertvolle historische Erkenntnisse über die DDR treten dabei gleichwohl nicht zutage. Das mehr oder weniger stimmige Ambiente bildet nur den atmosphärischen Hintergrund für Knobeleien, die auch in einem ganz anderen Kontext stehen könnten. "Wir haben am Anfang versucht, in die Rätsel historische Fakten mit Bezug zur DDR einzubinden", sagt Niggemeyer. "Aber da fehlte jüngeren Besuchern und Touristen aus dem Westen oft das nötige Hintergrundwissen. Deshalb haben wir das wieder verallgemeinert." Man muss es den verschiedensten Menschen recht machen, denn die Zielgruppe ist laut dem Betreiber denkbar buntscheckig – von Schulklassen über Firmenfeiern bis zu Junggesellenabschieden und Rentnerreisegruppen aus ganz Deutschland. +Seit Niggemeyer die Room Escape Challenge Leipzig eröffnete, haben sich trotz Preisen von 40 (2 Personen) bis 80 Euro (6 Personen) pro Raum Tausende Gäste an den Rätseln versucht. Bei Tripadvisor liegen diese kleinen Fluchten aus der Langeweile inzwischen auf Platz eins in der Freizeitsparte der Stadt. Und deshalb expandiert auch Niggemeyer. "Es läuft gerade ziemlich gut, also basteln wir einfach an neuen Ideen", sagt er. Vielleicht initiiert er bald ein Rätsel quer durch die Stadt. So eine Art Schnitzeljagd. Oder er baut Rätsel in unterbuchte Hotelzimmer ein. Vorerst bleibt Niggemeyer aber seiner ursprünglichen Idee treu. Leerstand in Fabrikhallen gibt es in Leipzig schließlich genug, Restbestände alter DDR-Möbel ebenso. Der neueste Escape-Raum nennt sich "Honeckers Rache". +Philipp Brandstädter ist freier Journalist in Berlin und großer Fan von Freiraum. Er erwischt sich oft dabei, Belanglosigkeiten im Internet zu suchen, anstatt sich dem Reiz des Denkens hinzugeben. diff --git a/fluter/nicht-mit-mir.txt b/fluter/nicht-mit-mir.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..364c58a38a2e501e71aa323124c7105322774a44 --- /dev/null +++ b/fluter/nicht-mit-mir.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Alexander Hemker war von Mitschülern als "Spasti" und "Missgeburt" beleidigt worden, beklaut und mit Schlägen bedroht. Mit 14 Jahren hatte er dann genug Mut gesammelt. Das Schuljahr ging zu Ende, und er fasste zwei Entschlüsse: die Schule, an der er gemobbt wurde und an der er keine Hilfe fand, zu wechseln und anderen, denen es wie ihm erging, zu helfen. Er begann mit einem Chat. 2007 brachte er dann mit Hilfe eines Freundes, der sich ein bisschen mit Webprogrammierung auskannte, seine Websiteschueler-gegen-mobbing.deheraus. +Ihr Kernstück ist bis heute das Forum. Hier können sich Eltern und Lehrer Rat holen; vor allem aber ist die Plattform ein Angebot für Betroffene, von sich zu erzählen, und von Menschen mit gleichen Erfahrungen Unterstützung zu erhalten. Und zwar anonym, ohne Gefahr zu laufen, gleich dafür gedisst zu werden, dass man sich zu seinem Problem bekennt. Abertausende Einträge gibt es unter verschiedenen Stichworten, mehr als 20 Millionen Mal sind die Forumseiten schon aufgerufen worden. +Das ist einerseits ein Erfolg, andererseits ein alarmierender Hinweis darauf, wie verbreitet Mobbing ist und wie tabuisiert. Obwohl das Thema inzwischen oft in den Medien aufgegriffen wird. Allerdings sollte man aufpassen, den Begriff nicht inflationär und für alle möglichen Konflikte zu verwenden. Auch wenn das englische Wort "mob" als Substantiv Pöbel und als Verb pöbeln bedeutet und damit auf fast jeden Streit anwendbar wäre. Aber nicht jeder Konflikt ist gleich Mobbing, sagt Hemker und definiert auf seiner Website: "Mobbing ist eine Gruppenaktion, die durch systematische, anhaltende, konsequente und geplante Aktionen einer großen Gruppe auf ein Opfer ausgetragen wird. Dabei werden psychische und physische Angriffe gegen den Gemobbten verwendet." +Als Hemker seine Website startete, war eines noch kein allzu großes Thema: Cybermobbing. Das hat sich inzwischen dramatisch verändert und hat zu einem neuen Dilemma für die Opfer geführt, das Hemker besonders betont: Beim Cybermobbing gibt es kein Entrinnen mehr. Den Mobbern selbst kann der Gepeinigte zumindest vorübergehend aus dem Weg gehen, wenn die Schule vorbei ist, im Internet aber wird er auch zuhause noch verfolgt. +Mobbende Gruppen kann man sich so vorstellen: vorneweg die Anführer, die den miesen Ton vorgeben, dahinter die Mitläufer, die sich oft fügen, um selbst nicht zum Gemobbten zu werden. Am Rande gibt es noch diejenigen, die zusehen und sich nicht einmischen. Und ihnen allen gegenüber, ganz alleine, steht das Opfer. Hemker weiß: "Zum Opfer werden kann jeder." Vielleicht, weil er verschlossen ist oder verschroben, vielleicht ein bisschen linkisch oder einfach eigenwillig, vielleicht weil er bloß schlauer als die anderen ist. Oder, oder, oder …. "Ich kann jemanden nicht mögen, aber ich muss die Person deswegen nicht fertigmachen", plädiert Hemker für Toleranz und schiebt gleich eine Ausnahme hinterher: die Mobber selbst. "Keine Toleranz bei Intoleranz!" +Zurzeit studiert Hemker Wirtschaftswissenschaften in Frankreich, im kommenden Jahr, so ist der Plan, wird er mit zwei Masterabschlüssen auf Arbeitsuche gehen. Um die Website kümmert er sich zwar noch, aber das Forum wird schon von anderen Moderatoren betreut, und die persönliche Beratung, die Hemker neun Jahre lang leistete, hat er in diesem Sommer aufgegeben. 1.800 persönliche Gespräche mit Betroffenen, Eltern und Lehrern hat er gezählt. So wichtig das sei, sagt er, ihm fehle die Zeit, diese ehrenamtliche Arbeit weiter zu leisten. Und aus dem Angebot ein Geschäft zu machen kommt für ihn nicht in Frage. Weil er aber nun mal eine Menge Wissen angesammelt hat und ihm das Thema sehr am Herzen liegt, arbeitet Alexander Hemker gerade an einem Buch über Mobbing in der Schule. +Die Autorin Katrin-Weber Klüver fragt sich, wie die Mobber als Erwachsene über ihr Handeln denken werden. Wenn sie denn überhaupt darüber nachdenken. diff --git a/fluter/nicht-schon-wieder-robbe.txt b/fluter/nicht-schon-wieder-robbe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3fe0390a53c98c8b94557bb178fc97d7886978a0 --- /dev/null +++ b/fluter/nicht-schon-wieder-robbe.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Schließlich ist es kein Wunder, dasskörperliche Abneigung gerade dort am größten ist, wo wir unserem Körper körperfremde Substanzen organischen Ursprungs zuführen: beim Essen. Ekel und Genuss sind eben sehr, sehr seltsame Brüder. Beide haben ihren Ursprung buchstäblich in unserem Kopf, im Temporallappen, wie Mediziner sagen. Dieser Kernbereich unseres Gehirns verarbeitet externe Impulse und leitet vegetative Reaktionen ein, also solche, gegen die wir uns kaum wehren können. Er spielt eine wesentliche Rolle bei jeder Form von Wahrnehmung, sei sie nun lustbetont oder Ekel erregend. Wir reagieren auf diese Wahrnehmung nicht instinktiv, das wäre genetisch bedingt, sondern affektiv. Also genau so, wie es uns in unserem Kulturkreis anerzogen worden, wie es diesem Kulturkreis gemäß ist. Dabei ist es also nur eine Frage der Prägung, ob mir vor den Eiern von Hühnern graust – oder vor denen von Krokodilen. +Kompliziert wird die Sache, wenn sich die Kulturen überschneiden, wenn sie Kolonien bilden und Tür an Tür miteinander existieren. Wie der evolutionsbiologisch sinnvolle Ekel sich in Zeiten der Globalisierung in eine Form von futterneidischer Fremdenfeindlichkeit verwandeln konnte, das hat der US-amerikanische Ernährungspsychologe Paul Rozin einmal so beschrieben: "Ein Mechanismus zur Vermeidung von Schäden für den Körper wurde zu einem Mechanismus zur Vermeidung von Schäden für die Seele. Die Ekelauslöser könnten sich so vervielfältigt haben bis zu dem Punkt, dass ihre einzige Gemeinsamkeit darin besteht, dass anständige Leute damit nichts zu tun haben wollen. Auf dieser Ebene wird Ekel zu einer moralischen Emotion und einer machtvollen Form von negativer Sozialisation." +In der Not, heißt es, frisst der Teufel Fliegen. Und der Teufel, das ist immer der andere, das Fremde. Seltsam kalt lassen uns krude Essgewohnheiten immer dann, wenn sie aus dem eigenen Kulturkreis stammen. Auf den Färöern gelten gekochte Schafsköpfe als Genuss, in Schweden liebt man vergorenen Fisch, in Frankreich futtern Genießer die Schenkel von Fröschen und auf Sardinien Schafskäse mit lebendigen Maden. In Thüringen gilt ein Käse als Spezialität, der durch den Speichel von Milben, also Spinnentieren, fermentiert wird. Und aus dem nördlichen Hessen sind aus den Zwanzigerjahren noch Rezepte für Maikäfersuppe erhalten. Das sind allesamt kulinarische Kuriositäten, lokale europäische Spinnereien, die uns höchstens ein Kopfschütteln entlocken – während es uns regelrecht auf die Barrikaden bringt und gelegentlich sogar zu diplomatischen Verwicklungen führt, dass in Japan manchmal so entzückende Kreaturen wie Delfine und in China bisweilen sogar Hunde auf dem Speiseplan stehen. Einen festen Standpunkt gibt es nicht: Reptilien zu verspeisen, wie es in manchen asiatischen Ländern üblich ist, verstößt in der westlichen Welt gegen ein kategorisches Nahrungstabu – das aber auch nur so irrational ist wie das Tabu in hinduistischen Kulturen, Kühe zu schlachten. Und leuchtet der asiatische Standpunkt nicht ein, bei Käse handele es sich um "verschimmelte Milch"? +Der Genuss von frittierten Heuschrecken, gekochten Raupen oder kandierten Kakerlaken etwa wird hierzulande in TV-Sendungen gerne als "Mutprobe" zelebriert. Dabei handelt es sich in Wahrheit weniger um Mut oder das Überwinden von Ekel – sondern um eine unterhaltsame Form, sich symbolisch von einer fremden und "falschen" Esskultur zu distanzieren, um damit die "Richtigkeit" der eigenen zu demonstrieren. Daran wird auf absehbare Zeit auch ein gemeinsamer Weltmarkt nichts ändern. Deshalb hat die Europäische Union eine "Verordnung für neuartige Lebensmittel" erlassen (EG-Verordnung Nr. 258/97), um dem Import kulturfremder Nahrungsmittel mit einer Art bürokratischem Immunsystem zu begegnen. Es ist nicht mehr undenkbar, Würmer oder Walrosse zu verspeisen. Nur zulassungspflichtig. Das Prinzip lautet demnach: "Ekele dich vor den Dingen, die in der Gesellschaft, in der du lebst, als ekelhaft gelten." Ansonsten sollte, gerade zu Zeiten der Globalisierung, wenn die Gesellschaften sich kaleidoskopisch auffächern und ineinander greifen, dieses Prinzip um einen unaufgeregten Zusatz erweitert werden: essen und essen lassen. +Unser Autor Arno Frank (38) regt sich jedes Mal auf, wenn jemand über Chinesen lästert, die Hunde oder Affen essen. Ehrlicherweise muss man aber sagen, dass er bislang weder Robbe noch Heuschrecken gegessen hat. diff --git a/fluter/nicht-untergegangen.txt b/fluter/nicht-untergegangen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e22770b16f8a7b14d046dfb0bdc41a404c66d1d7 --- /dev/null +++ b/fluter/nicht-untergegangen.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Während andere Länder vom Bankrott bedrohte Banken mit Steuergeldern retteten, ging Island einen anderen Weg. Man ließ sie einfach pleitegehen und weigerte sich, die Gläubiger mit Steuergeld zu entschädigen. Island gründete stattdessen neue Banken, in die alle isländischen Geschäfte überführt wurden, der Rest der Gläubiger im Ausland musste einen Großteil seiner Forderungen abschreiben. Kostenlos war diese Rettung der anderen Art jedoch nicht. Da die Banken auch im Inlandsgeschäft zu viele Kredite vergeben hatten, musste der Staat doch noch einspringen und sich an den – nun komplett verstaatlichten – Banken mit mehreren Milliarden Euro beteiligen. +Somit stand auch Island vor dem Problem, vor dem fast alle europäischen Staaten stehen: Auch Staaten können nur so viel Geld ausgeben, wie sie einnehmen. Reichen die Einnahmen nicht aus, müssen sich die Staaten Geld leihen. Zum Glück konnte Island auf internationale Hilfe zählen. Neben dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und den vier anderen skandinavischen Ländern stellten auch Polen und die kleinen Färöer-Inseln finanzielle Unterstützung zur Verfügung. Aus Deutschland kam keine Hilfe. Großbritannien und die Niederlande verklagten Island sogar vor den internationalen Gerichten. +Während Länder wie Spanien oder Griechenland auf Geheiß der EU-Kommission eisern sparen müssen, kürzte Island seine Staatsausgaben in der Krise nicht, sondern nahm zusätzliches Geld in die Hand, um die Folgen der Krise abzufedern. Das Ergebnis dieser Politik war erstaunlich: Während in anderen Staaten Europas die Wirtschaft einbrach, kam sie in Island wieder in Schwung. Die Arbeitslosigkeit geht zurück, durch die gute Konjunktur kann Island seine Schulden abbauen. Während im Rest Europas die Banker nach wie vor die Politik mitbestimmen, wurden in Island mehr als 80 Banker rechtskräftig verurteilt. Heute hat Island nur noch vergleichsweise kleine Banken, die dem Staat gehören und ihrer eigentlichen Aufgabe nachgehen. +Auch in Sachen Demokratie ging Island seinen ganz eigenen Weg. Die Isländer setzten Neuwahlen an und wagten sogar ein bislang einmaliges Experiment: Sie ließen nämlich von den Bürgern selbst eine neue Verfassung nach dem Crowdsourcing-Prinzip schreiben. Doch der politische Frühling währte nur kurz. +Die Reformer, die den isländischen Weg aus der Krise prägten, kassierten Ende April bei den isländischen Parlamentswahlen eine krachende Niederlage. Sieger der Wahlen waren ausgerechnet die Parteien, die vor der Krise für die Liberalisierung und Deregulierung des Finanzsektors verantwortlich waren. Auch die neue "Volksverfassung" liegt nun bereits seit drei Jahren beschlussfertig in den Schubladen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie je verabschiedet wird, ist heute geringer denn je. Die Revolution frisst ihre Kinder. +Zudem gibt es über zehn Jahre nach der großen Krise schon wieder Anzeichen für eine neue Immobilienblase. So anders Island ist, womöglich hat es mit den anderen Ländern doch eins gemein: Es lernt offenbar zu wenig aus den Fehlern der Vergangenheit. diff --git a/fluter/nicht-von-schlechten-eltern.txt b/fluter/nicht-von-schlechten-eltern.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..67b459854b17496a3dfb1ca9f74aa2fde20f0889 --- /dev/null +++ b/fluter/nicht-von-schlechten-eltern.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Von all dem ahnt Arne Grahm, heute Kommunikationswirt und freier Texter, lange Jahre nichts. Er wächst auf in Berlin-Treptow. In einer Neubausiedlung aus den 50er Jahren, dreistöckige Häuser, viel Grün dazwischen, die Mutter ist Lehrerin, der Vater Herstellungsleiter bei einem Verlag. Die Mauer ist gleich um die Ecke. Hin und wieder werfen Schulfreunde einen Tennisball rüber. Zurück kommt nie etwas. Westfernsehen ist zu Hause tabu. Unter der Bettdecke hört er heimlich Westradio. Es wirkt wie eine normale Kindheit unter den Vorzeichen des real existierenden Sozialismus. +Und doch ist alles anders. Auf der anderen Seite der Mauer, im Westen, kämpft eine junge Frau einen verzweifelten Kampf. Sie stellt Anträge an Jugendämter, engagiert Anwälte, ringt mit Bundesbehörden, schreibt an den "Spiegel" und das ZDF, an Helmut Kohl und Jimmy Carter, sie stürmt mit Flugblättern das Bundeshaus in Bonn, organisiert Hungerstreiks und Mahnwachen, zum Beispiel 1975 in Helsinki während einer Konferenz, bei der die teilnehmenden Staaten unter anderem über Menschenrechtsfragen diskutieren. Dazu könnte sie einiges sagen. +Arne Grahm kommt als Aristoteles Alexander Demitrios Püschel zur Welt. Sein Vater ist ein griechischer Austauschstudent in West-Berlin, der im Ostteil der Stadt eine junge Frau kennenlernt, Gabriele Püschel. Bald darauf wird Aristoteles geboren – und der Vater verhaftet. Der Vorwurf: Er spioniere im Autrag der CIA. Für sieben Jahre muss er in Ost-Berlin ins Gefängnis. Gabriele Püschel fürchtet auch für sich politische Konsequenzen und flieht aus der DDR. Ihren Sohn gibt sie in die Obhut der Großeltern, in der Hoffnung, ihn durch eine sogenannte Familienzusammenführung in den Westen holen zu können. Seit 1963, kurz nach dem Mauerbau, wurde das vielfach praktiziert. Nicht aber bei Gabriele Püschel. +Als sie 1968 in West-Berlin ankommt, wendet sie sich gleich wegen der Familienzusammenführung an das Jugendamt. Doch sie wird immer wieder vertröstet. In der Zwischenzeit ist ihr Sohn bei ihrer Freundin Gisela untergebracht. Die Großeltern – als Rentner haben sie Reisefreiheit – kehren nach einem Besuch in West-Berlin nicht mehr zurück in die DDR. +Polizei und Jugendhilfe holen Aristoteles schließlich bei dieser Freundin ab. Nach einem kurzen Aufenthalt im Kinderheim kommt er zu Pflegeeltern, dem Ehepaar Grahm. Ihnen sagt man, dass es sich um das zurückgelassene Kind einer "Republikflüchtigen" handelt. Gabriele Püschel, die mittlerweile im Westen geheiratet hat und jetzt Yonan heißt, weiß nun nicht mehr, wo ihr Kind ist. Sie bekommt 1971 einen Brief vom Jugendamt Neukölln, dass sie den Ost-Behörden die Einwilligung zum Entzug des Sorgerechts geben soll. Empört lehnt sie ab. Schließlich wird ihr Sohn gegen ihren Willen zur Adoption freigegeben. +Wie viele politisch motivierte Zwangsadoptionen es gab, ist bis heute unklar. Bekannt ist hingegen, dass die DDR-Behörden gezielt davon Gebrauch machten, um ideologisch unzuverlässige Eltern zu brechen. +Katrin Behr sammelt solche Fälle, über 1.400 hat sie mit ihrer Beratungsstelle dokumentiert. Sie ist selbst Betroffene. Als sie vier Jahre alt war, wurde ihre Mutter unter Verweis auf Paragraf 249 StGB verhaftet, einem extrem dehnbaren Passus, im Volksmund "Assifalle" genannt. Wer die öffentliche Ordnung gefährdete, und sei es nur mit einer kritischen Haltung, der hatte mit Konsequenzen zu rechnen. Vor allem galten solche Personen aus Sicht der Behörden als außerstande, ihre Kinder "zu aktiven Erbauern des Sozialismus" zu erziehen. 130.000 Verurteilungen gab es nach dem sogenannten Asozialenparagrafen. Was wurde aus diesen Kindern? +Als Teenager fährt Arne Grahm oft die sieben S-Bahn-Stationen vom Baumschulenweg zum Alexanderplatz. Da treffen sich in Ost-Berlin alle, die anders als die anderen sind. Punks und Skater, Breakdancer und Popper. Mal mehr, mal weniger drangsaliert von den Volkspolizisten und IMs. Mittendrin Arne Grahm, ein unangepasster Jugendlicher, der illegale Konzerte organisiert, sowjetische Uniformen nach West-Berlin vertickt und an der "piefigen Diktatur des Durchschnitts" leidet, als die er die DDR empfindet. "Leute mit komischen Frisuren oder Pazifisten wurden behandelt wie äußere Feinde", erzählt er. Er will raus. Dass er ein Adoptivkind ist, weiß er da schon. +Am Anfang ist da die Erinnerung an Tante Gisela, aber es gibt keine Tante Gisela in der neuen Verwandtschaft, irgendwann nennt ihn dann ein Junge auf dem Schulhof "Heimkind", er muss die Geschichte aus der Westpresse erfahren haben, die ausführlich über den Fall berichtet, und als Arne Grahm schließlich einen Personalausweis beantragt, stehen da diese drei griechischen Vornamen auf seiner Geburtsurkunde. Die Eltern erzählen ihm, dass ihn seine Mutter verlassen habe, als er ein Kleinkind war. +Mehr weiß er nicht über die Umstände seiner Adoption, als er beginnt, seine Flucht aus der DDR zu planen. Auch nicht, dass seine leibliche Mutter in West-Berlin wohnt und ihn mit allen Mitteln zu sich holen will. Davon erzählt ihm erst die Schwester seines Adoptivvaters, die selbst in West-Berlin wohnt und ihm bei der Flucht helfen soll. Von ihr erfährt Arne die ganze Geschichte – und nutzt sie schließlich als Druckmittel gegen den Staat. +Er stellt einen Ausreiseantrag – und droht, die Geschichte bei Kirchen- und Umweltverbänden publik zu machen. Damit trifft er einen Nerv. Eines Nachts stehen zwei Mitarbeiter des Innenministeriums vor seiner Tür und versprechen, dass er bald raus könne. Er solle aber auf keinen Fall Aufsehen erregen. Nach nur einem halben Jahr reist er 1987 legal nach West-Berlin aus. Sogar seine Freundin kann er mitnehmen. +Hier könnte jetzt eine heile Familiengeschichte anfangen. Tut sie aber nicht. Arne Grahm zieht auf ihren Wunsch zu seiner leiblichen Mutter und ihrem zweiten Sohn David, der mit 12 Jahren schon in der Philharmonie auftritt und auf dem Weg zu einer großen Geiger-Karriere ist. Nach nur zehn Tagen zieht er wieder aus. "Ich hatte nicht das Gefühl, als Person willkommen zu sein, sondern als Rechtfertigung." Mutter und Sohn bleiben sich fremd. Ihnen fehlt ein gemeinsamer Alltag. Und das, was sie verbindet, die Geschichte der Zwangsadoption, entwickelt sich immer mehr zu etwas Trennendem. +Er beginnt zu studieren, was ihm in der DDR verwehrt war, und hält Kontakt zu seinen Adoptiveltern. Als am 9.11.1989 die Mauer fällt, fährt er zu ihnen – seine leibliche Mutter sei davon wenig begeistert gewesen, sagt Arne heute. Für sie seien sie Repräsentanten jenes Systems gewesen, das ihr das Kind wegnahm. Und ihr Sohn der lebende Beweis für das Unrecht, gegen das sie all die Jahre gekämpft hatte. +Wenig später macht ein Aktenfund Furore: Ein Bezirksstadtrat kann nachweisen, dass es sich bei Zwangsadoptionen um eine politisch motivierte Praxis handelte. Darunter der Fall Grahm. Plötzlich reißt sich die Weltpresse um die Geschichte. Washington Post, CNN, Oprah Winfrey, BBC, Spiegel – überall taucht der Fall auf, illustriert er doch ähnlich prägnant wie die Mauerschützen, wie grausam die DDR-Diktatur gegen die eigenen Bürger vorgehen konnte. +Wieder zerren eine ganze Menge Kräfte an Arne Grahm. Er bekommt allmählich das Gefühl, für ein bestimmtes Geschichtsbild instrumentalisiert zu werden. "Es gibt in unserer Gesellschaft offenbar einen irrsinnigen Bedarf, sich an wenigen moralisierenden Dingen festzuhalten; und das, obwohl gerade die Politik überwiegend amoralisch handelt. Eine Gesellschaft braucht Moralkeulen – gegen Links bietet sich die Diktatur in der DDR an." Selbst seine leibliche Mutter sagt der Presse, dass das DDR-System ihren Sohn verdorben hätte. Arne Grahm sitzt zwischen den Stühlen: "Ich will nichts relativieren, nichts beschwichtigen, aber ich weigere mich, die mir zugedachte Opferrolle anzunehmen." +"Meine Mutter bekam Briefe von Helmut Kohl, in denen steht, er werde sich persönlich für den Fall einsetzen, wenn er an die Macht kommt", sagt Arne Grahm. Im Einigungsvertrag, der 1990 geschlossen wird, passiert hingegen etwas anderes: Die Zwangsadoptionen werden wie viele andere Rechtsbeugungen auch stillschweigend legalisiert. So besteht kaum eine Chance, Geschichten wie die von Arne Grahm umfassend aufzuklären. Für Eltern, denen ihre Kinder entzogen wurden, gilt eine Akten-Sperrfrist von 50 Jahren. Kinder haben nur ein Recht auf "Teileinsicht". +Für ihn selbst hätte es schlimmer kommen können, sagt Arne Grahm. Er leidet an keinen Traumata, hat einen interessanten Job, lebt in einer langjährigen Beziehung, hat eine Tochter. Wenn sie die Großeltern besuchen, fahren sie zu den Adoptiveltern. Mit seinem Halbbruder hat er Kontakt, mit seiner leiblichen Mutter nicht. +Es ist ihm gerade lieber so. diff --git a/fluter/nicht-zu-viel-sagen-0.txt b/fluter/nicht-zu-viel-sagen-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c238bfa19cbd4c1d779671b6c469def4eb4535a4 --- /dev/null +++ b/fluter/nicht-zu-viel-sagen-0.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Es ist das Jahr 1991. Die schüchterne, aber furchtlose Jing wächst in einem kleinen Provinznest auf, das Chinas Reform- und Öffnungspolitik noch nicht ganz erreicht hat. In dem Mikrokosmos kennt jeder jeden, Männer spielen in der Mittagspause Mahjong, und die wenig kompetente, aber umso korruptere Polizei hat das Sagen. +Bis im Schilf am See plötzlich eine Frauenleiche auftaucht, vergewaltigt und verstümmelt: Auf dem Oberschenkel prangt ein Kreuz, tief ins Fleisch geritzt – die Signatur eines Serienmörders. Denn: Es wird nicht die letzte Leiche gewesen sein, die das Dorf in Unruhe versetzt. +Manchmal düster und bedrückend, dazwischen leichtfüßig und gewitzt spannt sich der Thriller immer weiter auf. Stets mittendrin: die junge Jing (Su Xiaotong), deren ermittelnder Vater Qu (Guo Xiao) eifrig Tatorte abknipst und Spuren untersucht – ganz im Gegensatz zu seinen Kollegen, die lieber Pornoheftchen gucken und gelegentlich foltern, um an Geständnisse zu kommen; winkt doch dem eine Beförderung, der den Täter am schnellsten hinter Gitter bringt. +Nachts schleicht sich Jing in die Dunkelkammer ihres Vaters, um heimlich die Tatortfotos zu studieren. Wer könnte der Vergewaltiger sein? Was genau ist da passiert? Und überhaupt – was hat es mit diesem Sex eigentlich auf sich? Weil sie weder in der Schule Antworten findet (der Sexualkundeunterricht beschränkt sich auf ein paar Seiten menschliche Anatomie) noch von den Eltern (die sie lieber verstecken als aufklären würden), muss sich Jing alleine durch Verwirrung und Widersprüche schlagen. +cms-image-000048305.jpg +Der chinesische Film "What's in the Darkness" ist eine originelle Mischung aus Thriller und Coming of Age. Subtil dokumentiert er den Aufbruch Chinas in eine neue Zeit. Und spricht dabei auch heikle Themen an +"What's in the Darkness" ist Wang Yichuns Filmdebüt. Mit dem Coming-of-Age-Thriller thematisiert die 38-jährige Regisseurin nicht nur den Übergang vom Kindsein zum Erwachsensein, sondern auch vom Kommunismus zum Kapitalismus. Sie zeigt ein bescheidenes China, in dem Monatsbinden zum Trocknen auf Wäscheleinen hängen und in dem es die Armut ist, die die großen Entscheidungen des Lebens trifft: Jings Mutter heiratete ihren Mann nicht aus Liebe, sondern weil er schlau war – ihre Reisschüssel wäre so sicher immer gut gefüllt. "Deine Generation hat es leicht. Schau dir an, wie viele Eier in deinem Essen sind! Vor 30 Jahren hätte man für diese Mahlzeit getötet", hält Qu seiner Tochter vor, als diese trotzig ihre Stäbchen weglegt. +Die Beziehungen im Film sind – ganz konfuzianische Hierarchie – vertikal geordnet: oben Eltern, unten Kind. Oben Lehrer, unten Schüler. Oben wichtiger Polizist, unten weniger wichtiger Polizist. Doch das System wackelt, und hier und da bricht es auf. Nicht nur Jing ist sich unsicher. Auch ihre Eltern wissen nicht so recht, wie sie mit ihren Gefühlen umgehen sollen. Einmal zeigen sie ihre Liebe durch Strenge, ein andermal demonstrieren sie Überlegenheit durch harte Worte: "Hätte ich gewusst, dass du so ein dummes Mädchen wirst, hätte ich dich als Baby getötet", schimpft Qu. Hätte er sich doch mal an die Einkindpolitik gehalten und sich mit ihrem großen Bruder zufriedengegeben. Doch selbst der harsche Ton kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Qu seine Tochter aufopferungsvoll liebt: "Wenn es auf der Welt nur noch eine einzige Mahlzeit gäbe, wem würde ich die geben?", fragt er seine Tochter. "Na, mir", weiß die unbeeindruckt. +Am Sonntag feierte "What's in the Darkness" in Berlin seine Weltpremiere. Wann der Film in China zu sehen sein wird, ist noch nicht klar – erst vergangene Woche erhielt Wang Yichun die Lizenz für die Ausstrahlung. China ist zwar ein rasant wachsender Filmmarkt, aber kein einfacher. Dass Wang Korruption thematisiert, dürfte die Zensurbehörden nicht begeistert haben: "I was told this was a very sensitive topic. I was told not to talk too much", antwortet die zierliche Regisseurin nach der Vorstellung auf eine Frage eines Zuschauers. Sie hofft, dass der Film es auch wirklich auf die chinesischen Leinwände schafft – am liebsten noch in diesem Jahr. +"What's in the Darkness", Volksrepublik China 2015; Regie: Wang Yichun, mit Su Xiaotong, Lu Qiwei, Jiang Xueming, Guo Xiao, Zhou Kui, Liu Dan, Wu Juejin; 99 Minuten +Läuft noch: Freitag, 19.02. um 11.30 Uhr diff --git a/fluter/nicht-zu-viel-sagen.txt b/fluter/nicht-zu-viel-sagen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a27a5b2733dc2fc8b99d3cdd330c97348899902d --- /dev/null +++ b/fluter/nicht-zu-viel-sagen.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Der Kriminalbeamte Qu will seine Tochter Jing beeindrucken. Mit forensischem Blick analysiert er die Schweinekeulen auf einem kleinen Marktplatz irgendwo im Norden Chinas. "Wann hast du die Tiere geschlachtet?", fragt er den Metzger skeptisch. Keine Antwort. "Okay, wann sind sie verendet?", rudert er seine Ansprüche zurück. Wieder keine Antwort. "Dann sag mir zumindest, woran sie gestorben sind!" Eine lauschende Kundin rümpft die Nase, der Metzger spuckt verärgert auf den Boden, und Jing schämt sich ihres Vaters. Teenager eben. +Es ist das Jahr 1991. Die schüchterne, aber furchtlose Jing wächst in einem kleinen Provinznest auf, das Chinas Reform- und Öffnungspolitik noch nicht ganz erreicht hat. In dem Mikrokosmos kennt jeder jeden, Männer spielen in der Mittagspause Mahjong, und die wenig kompetente, aber umso korruptere Polizei hat das Sagen. +Bis im Schilf am See plötzlich eine Frauenleiche auftaucht, vergewaltigt und verstümmelt: Auf dem Oberschenkel prangt ein Kreuz, tief ins Fleisch geritzt – die Signatur eines Serienmörders. Denn: Es wird nicht die letzte Leiche gewesen sein, die das Dorf in Unruhe versetzt. + + +Manchmal düster und bedrückend, dazwischen leichtfüßig und gewitzt spannt sich der Thriller immer weiter auf. Stets mittendrin: die junge Jing (Su Xiaotong), deren ermittelnder Vater Qu (Guo Xiao) eifrig Tatorte abknipst und Spuren untersucht – ganz im Gegensatz zu seinen Kollegen, die lieber Pornoheftchen gucken und gelegentlich foltern, um an Geständnisse zu kommen; winkt doch dem eine Beförderung, der den Täter am schnellsten hinter Gitter bringt. +Nachts schleicht sich Jing in die Dunkelkammer ihres Vaters, um heimlich die Tatortfotos zu studieren. Wer könnte der Vergewaltiger sein? Was genau ist da passiert? Und überhaupt – was hat es mit diesem Sex eigentlich auf sich? Weil sie weder in der Schule Antworten findet (der Sexualkundeunterricht beschränkt sich auf ein paar Seiten menschliche Anatomie) noch von den Eltern (die sie lieber verstecken als aufklären würden), muss sich Jing alleine durch Verwirrung und Widersprüche schlagen. + + +Die Beziehungen im Film sind – ganz konfuzianische Hierarchie – vertikal geordnet: oben Eltern, unten Kind. Oben Lehrer, unten Schüler. Oben wichtiger Polizist, unten weniger wichtiger Polizist. Doch das System wackelt, und hier und da bricht es auf. Nicht nur Jing ist sich unsicher. Auch ihre Eltern wissen nicht so recht, wie sie mit ihren Gefühlen umgehen sollen. Einmal zeigen sie ihre Liebe durch Strenge, ein andermal demonstrieren sie Überlegenheit durch harte Worte: "Hätte ich gewusst, dass du so ein dummes Mädchen wirst, hätte ich dich als Baby getötet", schimpft Qu. Hätte er sich doch mal an die Einkindpolitik gehalten und sich mit ihrem großen Bruder zufriedengegeben. Doch selbst der harsche Ton kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Qu seine Tochter aufopferungsvoll liebt: "Wenn es auf der Welt nur noch eine einzige Mahlzeit gäbe, wem würde ich die geben?", fragt er seine Tochter. "Na, mir", weiß die unbeeindruckt."What's in the Darkness" ist Wang Yichuns Filmdebüt. Mit dem Coming-of-Age-Thriller thematisiert die 38-jährige Regisseurin nicht nur den Übergang vom Kindsein zum Erwachsensein, sondern auch vom Kommunismus zum Kapitalismus. Sie zeigt ein bescheidenes China, in dem Monatsbinden zum Trocknen auf Wäscheleinen hängen und in dem es die Armut ist, die die großen Entscheidungen des Lebens trifft: Jings Mutter heiratete ihren Mann nicht aus Liebe, sondern weil er schlau war – ihre Reisschüssel wäre so sicher immer gut gefüllt. "Deine Generation hat es leicht. Schau dir an, wie viele Eier in deinem Essen sind! Vor 30 Jahren hätte man für diese Mahlzeit getötet", hält Qu seiner Tochter vor, als diese trotzig ihre Stäbchen weglegt. +Am Sonntag feierte "What's in the Darkness" in Berlin seine Weltpremiere. Wann der Film in China zu sehen sein wird, ist noch nicht klar – erst vergangene Woche erhielt Wang Yichun die Lizenz für die Ausstrahlung. China ist zwar ein rasant wachsender Filmmarkt, aber kein einfacher. Dass Wang Korruption thematisiert, dürfte die Zensurbehörden nicht begeistert haben: "I was told this was a very sensitive topic. I was told not to talk too much", antwortet die zierliche Regisseurin nach der Vorstellung auf eine Frage eines Zuschauers. Sie hofft, dass der Film es auch wirklich auf die chinesischen Leinwände schafft – am liebsten noch in diesem Jahr. +"What's in the Darkness", Volksrepublik China 2015; Regie: Wang Yichun, mit Su Xiaotong, Lu Qiwei, Jiang Xueming, Guo Xiao, Zhou Kui, Liu Dan, Wu Juejin; 99 Minuten diff --git a/fluter/nichts-bieten-lassen.txt b/fluter/nichts-bieten-lassen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cf74cb0d84473e9d8db5bd639b9a636d01cd118c --- /dev/null +++ b/fluter/nichts-bieten-lassen.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Dass Ebay meine Daten allerdings nicht nur mir zuliebe in seinen riesigen Serverfarmen in den USA speichert, steht – wenn auch recht vage – im Kleingedruckten. Dort ist viel von "Dienstleistern" und "Drittanbietern" die Rede. Außerdem habe ich bereits mit der Anmeldung mein Okay gegeben, dass Ebay in bestimmten Fällen bestimmte Infos über mich sogar an "Strafverfolgungs- oder andere Behörden oder Dritte" weitergeben kann. +Bis Ende Oktober 2010 hieß es an derselben Stelle noch konkreter, dass meine personenbezogenen Daten "soweit erforderlich,… zur Abwehr von Gefahren für die staatliche und öffentliche Sicherheit" übermittelt werden können. Da denkt inzwischen wohl jeder an die NSA. Doch ob meine Ebay-Daten wirklich beim US-Geheimdienst landen, ist umstritten. Ein Interview mit Peter Schaar, bis Mitte Dezember 2013 Datenschutzbeauftragter der Bundesregierung, wurde im vergangenen Jahr so interpretiert; Ebay-Chef Devin Wenig dementierte jedoch wenig später vehement. Als Tatsache gelten kann, dass die NSA in der Vergangenheit mit Ebay-Daten sogar deutschen Behörden bei der Terrorabwehr geholfen hat. Immerhin: Bei Ebay heißt es am Ende der langen, langen Datenschutzklauseln: "Diese Einwilligungserklärung kann ich jederzeit… hier widerrufen." Klickt man hier, kommt man allerdings auf die Seite "Ebay-Konto kündigen". +Ich will jetzt aber lieber erst mal meinen Neoprenanzug verkaufen. Und da ist, zwei Stunden vor Auktionsende, auch schon das erste Gebot: ein Euro, was sonst? Der Bieter, nennen wir ihn bello321*, hat seit 2012 weit über 100 Bewertungen eingesammelt: "Schnelle Zahlung. Gerne wieder." Das Übliche. Von Ebay erfahre ich außerdem, dass bello321 aus Salzgitter kommt, mit eigenen Verkäufen – vor allem Hundebücher, aber auch Plastikefeu und Reitzubehör – bislang 436,66 Euro verdient hat und laut Artikelbeschreibung in einem "Nichtraucher-Hundehaushalt" lebt, wo der Kleiderschrank "aus allen Nähten" platzt. Deshalb also wohl die vielen aktuell angebotenen T-Shirts in Größe M mit "sehr süßen" Aufdrucken und BHs in Körbchengröße 75/80 C. +Als ich gerade anfange, mir wie ein Stalker vorzukommen, beruhigt mich Ebay: "Die meisten Ebay-Mitglieder lesen das Bewertungsprofil anderer Mitglieder, bevor sie mit diesen handeln." Keine Ahnung, ob sich die meisten Ebay-Mitglieder mit den Profilinfos dann auch bei Google und Facebook umschauen. Ebay verbietet das quasi. Trotzdem könnte ich mir nach einer kurzen Online-Suche fast sicher sein, zu wissen, um wen genau es sich bei bello321 handelt (inklusive Familienstand, Wohnadresse, Handynummer, Hobbys usw.). Doch bevor ich mir ein noch umfassenderes Bild des zukünftigen Besitzers meines Surfershortys machen kann, wird bello321 überboten. Den Zuschlag, 2,17 Euro, erhält drei Sekunden vor Auktionsende eine Pädagogin aus Mecklenburg-Vorpommern, die 2010 mit ihrem Lebensgefährten an der christlichen Schule, an der sie arbeitet, ein Kinderprojekt ins Leben gerufen hat, bei dem… Doch halt: Auch das darf ich, im Gegensatz zu Ebay, ja eigentlich alles gar nicht wissen. Aber mir ist das ja auch egal. +*) Name geändert diff --git a/fluter/nichts-da.txt b/fluter/nichts-da.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d4f21deb1ac057e061cf3eddde340d94058f41c5 --- /dev/null +++ b/fluter/nichts-da.txt @@ -0,0 +1 @@ +Immer wieder berichten die Münchener Zeitungen über Rentner, die sich ihre Wohnungen nicht mehr leisten können, weil die Mieten wie in jeder Großstadt seit Jahren stark steigen. Bernhard W. könnte aus seiner Wohnung ausziehen, in der er seit 30 Jahren wohnt. Schon häufiger wurde ihm geraten, in die neuen Bundesländer zu gehen, die Wohnungen dort seien billiger. Doch wer will in dem Alter schon ein neues Leben beginnen, wo man niemanden kennt? Er schafft es nicht alleine, aber Bernhard kommt dennoch über die Runden – dafür sorgt der Verein Lichtblick. Vor zehn Jahren gegründet, unterstützt er arme alte Menschen in ganz Deutschland. Der Verein stellt Gutscheine für Monatstickets aus, verschenkt Lebensmittel und ersetzt den Bedürftigen Elektrogeräte oder andere Haushaltswaren, wenn diese kaputtgehen. Hin und wieder unternehmen die Senioren gemeinsam kurze Busreisen, gehen ins Konzert oder ins Theater. Vor allem aber bringt der Verein jene zusammen, die sich sonst womöglich aufgegeben hätten. "Ein Großteil der alten Menschen hat resigniert", sagt Dorothea Wiepcke, Mitarbeiterin bei Lichtblick. "Wer arm ist, hat meistens keine Energie, Kontakt mit anderen aufzunehmen." diff --git a/fluter/nichts-kaufen-konsumfasten-challenge.txt b/fluter/nichts-kaufen-konsumfasten-challenge.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..726a2cae2012dadda75cc67ec41e4deda27104a2 --- /dev/null +++ b/fluter/nichts-kaufen-konsumfasten-challenge.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Für die Umsetzung hast du dir ein Spiel überlegt. +Genau, das Projekt wurde zu einem Gemeinschaftsspiel, zu einer Online-Challenge. Die Regeln: Ein Jahr keine Konsumgüter kaufen. Joker pro Person: zwei. Austauschen kann man sich in einer Facebook-Gruppe. +Auf welche Hürden bist du gestoßen? +Zum Beispiel bei technologischen Geräten, die ich beruflich brauche und für die es irgendwann einfach keine Software-Updates mehr gibt. Auch muss ich bei meiner Arbeit öfters mal schick aussehen, und da kann es schon ein Problem sein, wenn man merkt: Diese kaputten Schuhe oder Hosen gehen gar nicht mehr klar; du kannst das nicht noch ein halbes Jahr rauszögern oder zum zehnten Mal nähen. Es ist auch nicht immer einfach, den Freundeskreis davon zu überzeugen, dass ein Geburtstagsgruppengeschenk kein Zeug sein muss. Für viele Fälle finden sich aber schnell Alternativen. +Wofür hast du deine Joker eingesetzt? +Für einen gebrauchten Laptop, einen Secondhand-Föhn, ein Paar Secondhand-Businessschuhe und ein Buch. +Das sind aber mehr als zwei Sachen. +Ich stecke mittlerweile auch schon im sechsten Jahr Konsumstreik. Manche Regeln habe ich aber etwas aufgeweicht, zum Beispiel wenn ich Reparaturmaterial wie Garn brauche. +Warum hast du nicht wie geplant nach einem Jahr aufgehört? +Wenn man sieht, dass es geht, kommt man schlecht wieder raus. Wer schon mal eine Zeit lang aus seinem Rucksack gelebt hat, merkt auch,was er wirklich braucht. Viel Zeug, das bei einem zu Hause rumliegt, vergisst man auf Reisen sogar. +Christiane Schwausch, 35, ist Pressesprecherin der Alice Salomon Hochschule Berlin, Vorstandsvorsitzende des genug e.V. und freiberuflich in der Kampagnenarbeit tätig +Apropos Garn: Hast du viel repariert? +Ja, seit der Challenge mache ich vieles selber – zum Beispiel nähe ich jetzt. Hätte ich die ganze Zeit nur konsumiert, hätte ich mir das nie beigebracht. So schätzt man dann auch schnell, wie viel Arbeit in der Produktion steckt. Es ist einfach unmöglich, dass Hosen so billig sind – man sitzt schon beim Ändern der Hosenbeine richtig lange! Und da sind Arbeitsschritte wie Baumwollanbau, Weben, Färben etc. noch nicht eingerechnet. Außerdem wurde mein Blick geschärft: Was ist ordentlich verarbeitet, und welches Material ist gut? Ich erkenne die Qualität eines Gegenstands jetzt viel besser. +Wie war denn dein Konsumverhalten vor der Challenge? +Ich war nicht die ganze Zeit shoppen, aber schon eine typische Person der 1990er, die gern einkaufen geht. Und dann noch aus der DDR – plötzlich gab es so viele Sachen. Heute frage ich mich vor einer Konsumentscheidung: Brauch ich das wirklich? +Dein Ansatz, weniger zu konsumieren, geht in die Richtung der Degrowth-Bewegung, die eine Abkehr vom ständigen Wirtschaftswachstum fordert? +Die vielen Initiativen unter dem Schirm "Degrowth-Bewegung" zeigen für mich einen Diskurs auf, der längst überfällig ist. Bisher geht Wachstum mit der Übernutzung natürlicher Ressourcen und Umweltzerstörung einher. DieKritik am Wachstum als Nonplusultra-Lebensqualitätsindikatorund das Aufzeigen von Alternativen will ich auch mit meinem Vereingenug e.V.vorantreiben. Der ist aus der Konsum-Challenge entstanden. +Das klingt alles löblich, aber ist es manchmal nicht auch einfach schön, sich etwas Neues zu gönnen, sich zu belohnen? Was machst du stattdessen? +Ich geh dann immer einen trinken. Nein, im Ernst: Ich belohne mich nicht mehr mit neuen Klamotten oder Gadgets,aber konsumiere qualitätsorientierter. +Sparst du denn viel Geld durch das Nichts-Kaufen? +Einige Teilnehmer in unserer Facebook-Gruppe haben ungefähr 300 Euro im Monat gespart. Ich selbst gebe gleich viel aus – aber für anderes. Für gute Lebensmittel und Erlebnisse wie Konzerte und Kultur zum Beispiel. Und für Bahnreisen –Fliegen wäre meist viel günstiger, aber das will ich vermeiden. +Hat die Challenge dein Sozialleben verändert? +Ja, allein schon, weil ich mir öfters was von Freunden oder Nachbarn ausleihe. Wir haben jetzt im Hauseingang auch einTauschregal, und jeder weiß, wer eine Säge hat oder eine Fahrradpumpe. Man trinkt dann auch mal einen Kaffee miteinander. Es ist wichtig, das Tauschen und Teilen im Freundeskreis einfach offen anzubieten. Würde ich jetzt nicht öfter altes Holz auf der Straße finden und daraus etwas bauen, wäre ich nicht dauernd bei meinem Kumpel, der eine Schleifmaschine hat. Natürlich hätten wir auch so etwas miteinander zu tun, aber vielleicht nicht so intensiv. + diff --git a/fluter/nie-mehr-die-kontrolle-verlieren.txt b/fluter/nie-mehr-die-kontrolle-verlieren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c04cdff31c5132f8edaa20a2828aad64fd687694 --- /dev/null +++ b/fluter/nie-mehr-die-kontrolle-verlieren.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Aufgewachsen ist er in Berlin-Kreuzberg. Als seine Eltern sich trennten, wurde er zur Großmutter gegeben, die im selben Haus wohnte. So richtig gekümmert hat sich niemand um ihn. Bis auf den Bekannten seiner Mutter, ein verheirateter Mann um die 60, der ein kleines Fotogeschäft hatte. Dorthin ist er oft gegangen. Der hatte Zeit und interessierte sich für ihn. Fock half beim Aufräumen, bekam mal zehn Mark geschenkt oder einen Fotoapparat, und dann passierten die Sachen, die sich falsch anfühlten. Fock zählt sie schnell auf, als wolle er sie rasch hinter sich lassen: Streicheln, Küssen, Oralverkehr, Analverkehr. Ingo Fock wurde herumgereicht. Wie viele Male er missbraucht wurde? "Irgendwann bei 50" hat er aufgehört zu zählen. Männer gingen mit ihm in die Schwimmhalle oder ins Strandbad, der Bekannte seiner Mutter nahm ihn mit zum Bahnhof Zoo, wo es einen Kinderstrich gab. "Er fand es witzig, uns Kindern beim Sex zuzugucken." Fock sagt, dass er abgestumpft war. Er ritzte sich die Unterarme, hielt sich ein Feuerzeug an die Haut oder schlief nicht, um sich zu spüren. Als er 13 Jahre alt war, war er den Männern zu alt. +Er hat versucht, mit seiner Mutter über das Erlittene zu reden. Aber er fand nicht die richtigen Worte, und die Mutter wollte es offenbar nicht wissen. Heute ist sie für ihn eine Persona non grata, zu der er keinen Kontakt hat, weil sie ihre Mitschuld nicht anerkennen will. +Nachdem Fock mit der Schule fertig war, entdeckte er seine Liebe zu Pferden. Statt Menschen zu vertrauen, suchte er die Nähe von Tieren. Sie konnten seine Gefühle nicht verletzen oder ihn enttäuschen. Auf einem Reiterhof machte er eine Lehre als Pferdewirt. Und dann begann seine zweite Odyssee. Fock lief vor seiner Vergangenheit weg. Mit 18 Jahren zog er aus Berlin fort, arbeitete als Reitlehrer in Schleswig-Holstein und anderen Bundesländern, einige Zeit lebte er auch in den USA. Die genauen Stationen will oder kann er nicht nennen – wegen der Kontrolle, die er behalten will, und wegen der vielen verdrängten Erlebnisse. Immer wenn ihm Menschen zu nahe kamen, packte er seine Koffer und schleppte auch die imaginäre Kiste mit. "Vertrauen, Freundschaft, Nähe waren mir zu heavy." Seit 2001 wohnt er, ohne Unterbrechung, in Göttingen. Heute weiß er, dass niemand vor seiner Vergangenheit weglaufen kann. +Mit Anfang 30 bekam er das schmerzhaft zu spüren. Er hatte sich in eine Frau verliebt, der etwas Ähnliches widerfahren war wie ihm. Sie war von ihrem Vater als Kind missbraucht worden. Da machte es bei ihm "Buff!". Fock hebt den Arm und lässt ihn auf den Tisch fallen. "Das war, wie aus 3.000 Meter Höhe im freien Fall auf die Bordsteinkante zu knallen." Seine mühsam errichtete Schutzmauer fiel durch die schlimmen Erfahrungen eines anderen Menschen zusammen. Aber so hat er gemerkt, dass er nicht alleine ist, und begann eine Therapie. Er hatte Glück und fand schnell einen Platz. Sechs Jahre lang hat er sich dem Missbrauch gestellt und gelernt, dass er eine Wahl hat: "Gibt man den Tätern von damals noch so viel Macht, dass sie in das heutige Leben reinpfuschen, oder sagt man, man kann die Vergangenheit nicht ändern, und die Täter haben keine Kontrolle mehr?" Wer das verinnerlicht habe, sagt er, habe damit abgeschlossen. Nach einer kurzen Pause schiebt er drei Wörter hinterher. "In gewisser Weise." Er ist in Habachtstellung. +"Wenn man einen Welpen jeden Tag prügelt, dann denkt er, es sei normal" +Mit seiner damaligen Freundin gründete er vor über neun Jahren den Verein Gegen-Missbrauch e. V., dessen erster Vorsitzender er ist und der heute 400 Mitglieder hat. Fock berät Betroffene am Telefon, chattet mit ihnen im Forum, begleitet sie zur Polizei, Staatsanwaltschaft und Krankenkasse, wenn es Probleme bei der Übernahme von Therapiekosten gibt. Fock arbeitet "tatortunabhängig", er hat mit Missbrauch in der katholischen und evangelischen Kirche zu tun, in Heimen und Familien. Sitz des Vereins ist seine Wohnung, in der er auch als selbstständiger Webdesigner arbeitet, seitdem er sich bei einem Reitunfall beide Sprunggelenke gebrochen hat und berufsunfähig ist. Wenn er abends grillt und das Telefon klingelt, müssen die Würste warten. Es hilft ihm, anderen zu helfen, und er hat "viele wunderbare Menschen" kennengelernt, wie er sagt. +Seit März dieses Jahres sitzt Fock neben drei weiteren Betroffenen im Fachbeirat des "Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs" der Bundesregierung und fährt regelmäßig zum Jour fixe nach Berlin. Fock hat Kritik an der Stelle als solcher, weil sie nur Empfehlungen aussprechen kann. Daher fordert er eine Verbesserung des Opferentschädigungsgesetzes, Opferschutzgesetze statt Täterschutzgesetze solle es geben, eine Diskussion über eine Verlängerung der Verjährungsfristen und unbürokratische Unterstützung bei Therapien. Bei der Zahl der Betroffenen zitiert er die Polizeiliche Kriminalstatistik von 2011, die 12.444 Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern aufführt. "Auf jeden angezeigten Fall kommen 15 bis 17 unangezeigte Fälle", sagt er. "Sie alle brauchen ein funktionierendes Hilfesystem." Die Folgen von sexueller Gewalt, sagt er, halten lebenslang an. Deshalb müsse die Stelle des Missbrauchsbeauftragten, dessen Amtszeit Ende 2013 ausläuft, bestehen bleiben. Die Täter, das weiß er, hören nicht auf. +Fock wird von seiner Vergangenheit immer wieder eingeholt, in Form von "Gedankenflashs". Er überlegt lange, bevor er ein Beispiel nennt. Der Blick seiner graublauen Augen geht in die Ferne, während er an einer Zigarette zieht. Als Kind war er einmal mit seiner Oma im Urlaub, und sie hat ihn am Abend ins Bett gebracht. "Ich habe ihr einen Zungenkuss gegeben." Der Satz hängt wie eine bedrohlich dunkle, schwere Wolke über dem Tisch. Nach quälend langen Sekunden gelingt es Fock mit einem Vergleich, die Wolke zur Seite zu schieben. "Wenn man einen Welpen jeden Tag prügelt, dann denkt er, es sei normal." diff --git a/fluter/nie-mehr-nordkorea.txt b/fluter/nie-mehr-nordkorea.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cffd59e9497e55278a7d59fecdebb826ca91a246 --- /dev/null +++ b/fluter/nie-mehr-nordkorea.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Mitten in der Nacht schwamm Lucia Jang durch den eiskalten Tumen-Fluss über die nordkoreanisch-chinesische Grenze, mit ihrem kranken Sohn Taebum in einer selbst gemachten Plastiktasche. Zweimal war sie zuvor bereits auf ihrer Flucht nach und durch China gefangen genommen worden. Dieser Versuch aber glückte, über Umwege kam sie nach Südkorea. +Die kanadische Autorin und Journalistin Susan McClelland hat Jangs Lebensbericht aufgeschrieben. Und was für ein Leben: Lucia Jang wurde vergewaltigt, verkauft, im Straflager gefoltert, hat ihr erstes Kind verloren und das zweite beinahe ebenfalls. Die deutsche Übersetzung "Ich bat den Himmel um ein Leben" erscheint Anfang August. +Bis zu der Nacht am Tumen-Fluss vor rund zehn Jahren liegt noch ein langer Weg vor Jang. Sie wächst in den 80er- und 90er-Jahren in einer Siedlung unweit der chinesischen Grenze auf. Von ländlicher Idylle ist dort wenig zu spüren, das Leben ist rau, und die Menschen stehen unter ständiger Kontrolle. +In Sicherheit: Lucia Jang heute +Es ist das Nordkorea von Kim Il-sung, der das Land bis zu seinem Tod im Jahr 1994 fast 50 Jahre lang als Diktator beherrscht hat und bis heute als Staatsoberhaupt de jure gehandelt wird. Kims Staatsführung hat die Bevölkerung Nordkoreas in eine Art Kastensystem der Regimetreue unterteilt, und wer am unteren Ende steht, muss sich auf kleine Rationen und schlechtere Chancen auf dem Heiratsmarkt einstellen. Dies ist auch das Schicksal von Jangs Familie, seit Verwandte Jahre zuvor nach Südkorea geflohen sind. Lange kann Lucia nicht zur Schule gehen. +Über Politik wird in ihrem Umfeld jenseits der Großtaten des "Großen Führers" nur selten gesprochen. Dennoch ist das Hadern mit dem System allgegenwärtig: Hunger, Misswirtschaft und Lebensmittelrationen, die nie reichen, sind immer wieder Teil des Alltags. +Jangs Leben ist lange durchzogen von dem Wunsch, eine gute Schwester, eine gute Gattin, eine gute Genossin zu sein: "Morgens, wenn unsere Klassensprecherin nach vorne ging, um uns bei unserem Treueeid gegenüber unserem Ewigen Präsidenten zu leiten, war ich entschlossen, strammer dazustehen als alle anderen." Mit Armut und Demütigungen arrangiert sie sich. Ihre erste große Liebe kann sie nicht heiraten, weil die Familie des Mannes mit der Partei bessergestellt ist als ihre. Der Mann, den sie stattdessen heiratet, trinkt und verprügelt sie. Und als die Armut zu groß wird, verkauft er mit Hilfe von Lucia Jangs Mutter den gemeinsamen Sohn Sungmin. +Dieser Verlust lässt Lucia Jang nie wieder los. Zugleich bricht eine schlimme Hungersnot über das Land herein, sie nimmt "Unkraut als Hauptnahrung zu sich". Schließlich hört Jang vom florierenden illegalen Grenzhandel in China: Leicht zu beschaffendes Essen wie Pilze oder Fische lassen sich dort gegen Reis und andere Lebensmittel eintauschen. So durchschwimmt Jang zum ersten Mal den Tumen-Fluss. Anfangs geht alles glatt. "In Nordkorea musst du dich dumm stellen, um zu überleben. In China ist genau das Gegenteil der Fall. Du musst so tun, als hättest du Macht", sagt Jang mal zu einer Frau, die in derselben Situation ist wie sie. Viele nordkoreanische Frauen werden in China selbst zur Ware, ein Schicksal, das auch Lucia Jang ereilt. Doch sie überlebt Menschenhandel, Zwangsheirat und auch die Aufenthalte im Straflager in Nordkorea. Bei ihrer zweiten Gefangenschaft ist sie mit Taebum schwanger. +Immer weiter bricht die Konformität in Jangs Leben auf. Angefangen mit der Suche nach zusätzlichen Nahrungsmitteln in ihrer Kindheit, um die Rationen aufzustocken, über den Großvater, der ihr ein Lied singt über "das koreanische Volk, das unter der japanischen Besatzung verfolgt wurde und Anlass zur Hoffnung hat", bis zum ersten illegalen Handel in China. Es ist ein subtiler Prozess, der zwischen ihren Beschreibungen manchmal verloren geht und besser hätte ausgearbeitet werden können. Bis zum Ende des Buches ist nicht ganz klar, welche Gefühle Jang heute für ihr Land hegt. +Für viele ist das Leben hart, doch die wenigsten schaffen eine Flucht: nordkoreanische Mutter im Jahr 1992 +Überhaupt bleiben ihre Schilderungen oft oberflächlich, deskriptiv. Selten reflektiert Jang das Geschehene oder beurteilt es aus ihrer heutigen Perspektive. Auch die Figuren bleiben blass, und bei so manchen einförmigen Satzkonstruktionen scheint bei der Übersetzung etwas verloren gegangen zu sein. Gerade der erste Teil des Buches, die Kindheit, wird so schnell redundant und zäh. Diese stilistische Schwäche spiegelt andererseits auch gesellschaftliche Verhältnisse wieder: In den wiedergegebenen Dialogen spielen Ärger und Kritik ebenfalls kaum eine Rolle. Fremde Erwartungen und Autoritäten werden nicht laut hinterfragt, politische Entscheidungen erst recht nicht, denn Denunzianten lauern an jeder Ecke. +Trotz des deskriptiven Tons berührt die Geschichte von Lucia Jang und regt zum Nachdenken an. Das Buch ist eines der wenigen Zeugnisse vom Leben auf dem nordkoreanischen Land Ende des 20. Jahrhunderts, erzählt aus der Perspektive einer Frau, die trotz Benachteiligungen und Gewalt nicht gebrochen wurde und immer wieder nach Auswegen gesucht hat. Es wird klar, dass hier eine Frau für viele andere spricht. +Heute lebt Lucia Jang mit Taebum und einem weiteren Sohn in Toronto. Sungmin hat sie nie wiedergesehen. +Sabrina Gaisbauer ist Referentin bei der Bundeszentrale für politische Bildung. diff --git a/fluter/niederlaendische-ingenieure-gegen-den-anstieg-des-meeresspiegels.txt b/fluter/niederlaendische-ingenieure-gegen-den-anstieg-des-meeresspiegels.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9df5e67a2a2374f2be73e2fbe0080e07010ac97f --- /dev/null +++ b/fluter/niederlaendische-ingenieure-gegen-den-anstieg-des-meeresspiegels.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Als das Wasser aus der Stadt war, sollte Arcadis einen Schutzpanzer um New Orleans errichten. Mit zehn Leuten fingen die Niederländer an, bald waren es weit über 300. Kilometerlang bauten sie Deiche, Schutzmauern, Fluttore. Und die größte Pumpstation der Welt mit elf dieselbetriebenen Pumpen, die in weniger als vier Sekunden so viel Wasser aus der Stadt schaffen können, wie in ein Olympia-Schwimmbecken passt. Ein Mammutprojekt, von dem man dachte, dass man dafür 20 Jahre brauchen werde, realisierten die Niederländer in rund fünf. +Auch andere Städte und Länder buchten Dircke und sein Team: San Francisco, New York, Dhaka, Schanghai, Thailand, Indonesien und viele weitere. Dirckes Dienstsitz verlagerte sich von Rotterdam ins Flugzeug. Vor ein paar Monaten, er war gerade auf dem Rückflug von Houston, kam der Pilot zu ihm an den Platz und gratulierte zur millionsten Flugmeile. +Kaum eine Nation hat so viel Erfahrung im Umgang mit Hochwasserschutz, Gezeiten und Überschwemmungen wie die Niederlande. Verheerende Sturmfluten wie die von 1953, als über 1.800 Menschen starben, sind im kollektiven Gedächtnis verankert. Ein Viertel des Landes liegt unterhalb des Meeresspiegels. Über Jahrhunderte haben die Niederländer es den Fluten abgerungen. Sie haben Deiche aufgeschüttet, Sperren errichtet, Kanäle und Grachten gegraben. Ihre berühmten Windmühlen dienten nicht wie fast überall sonst in Europa zum Mahlen von Korn – sie trieben in Zeiten, als es noch keinen Strom gab, Pumpen an, um das Wasser wegzubekommen. +Und jetzt, da der Klimawandel das Meer steigen lässt, herrscht bei manchen Aufbruchstimmung: Niederländer wie Piet Dircke sehen sich als diejenigen, die die Technik für die Zukunft haben. Sie wollen jetzt die Deichbauer der Welt werden. +Dircke sitzt im Café des Hotels "New York" in Rotterdam, ein Art-déco-Bau an der Spitze einer Landzunge, eingerahmt von modernen Hochhäusern. Er klappt den Laptop auf und klickt sich durch eine Präsentation, die er vor ein paar Wochen in Honolulu gehalten hat. Den Hawaiianern hat er gezeigt, wie die Niederländer inzwischen Deiche bauen, das Projekt "Dakpark" hier in Rotterdam zum Beispiel. Nicht irgendein Deich sei das. "Das ist ein multifunktionales System!", ruft er. In dem Damm gegen das Wasser haben die Niederländer Läden und ein Parkhaus untergebracht und obendrauf einen Park, der sich allmählich zur Stadt hin absenkt. +Ein paar Meter von Dirckes Hotel entfernt hat Johan Verlinde sein Büro, im 16. Stockwerk eines gläsernen Büroturms. Er arbeitet für das Klimaanpassungsprogramm der Stadt – mit so cleveren Ideen, dass sich inzwischen die ganze Welt dafür interessiert. Wenn man sehen will, wie Rotterdam dem Klimawandel trotzt, folgt man ihm am besten direkt in die Stadt, natürlich auf den dienstfietsen, den Dienstfahrrädern, die in der Garage der Stadtverwaltung parken. +Über die Erasmusbrücke geht es über die Nieuwe Maas, einen der breiten Ströme, die das Rhein-Maas-Delta bilden. Nach der Brücke fällt das Treten leichter, und Verlinde dreht sich um und ruft: "Jetzt geht es unter den Meeresspiegel!" Die Straße, auf der wir fahren, war einmal ein Kanal, erklärt er. Ab 1913 wurde er aufgefüllt und in eine Straße für den zunehmenden Verkehr verwandelt, so wie fast alle anderen Kanäle der Stadt. +Aus heutiger Sicht war das keine gute Idee, sagt Verlinde. Wo der Boden asphaltiert und versiegelt ist, kann das Wasser nicht weg – eine gefährliche Situation für eine Stadt, die sich zu über 80 Prozent unter dem Meeresspiegel befindet und in der infolge des Klimawandels immer mehr Starkregen vom Himmel kommt. Das Wasser droht sich zu sammeln wie in einem Topf, in dem Hunderttausende Menschen leben. +Wir erreichen den Benthemplein, ein Platz nördlich des Bahnhofs mit ausgeklügeltem Wassermanagement. Stufen führen hinunter zu einer Skatebahn mit blauen Markierungen. An einer anderen Stelle ist ein Basketballfeld in den Boden eingelassen. Die Sportplätze sind aber nicht der eigentliche Zweck der tiefergelegten Flächen: Sie dienen als Becken. Regnet es, fließt das Wasser von den Dächern der umliegenden Gebäude durch kleine Rinnen im Boden hinein. Früher, vor dem Umbau, war der Platz regelmäßig überschwemmt. Heute können die Becken 1,7 Millionen Liter auffangen – in etwa die Menge, die an einem starken Sommerregentag auf den Benthemplein niederprasselt, sagt Johan Verlinde. +Er geht die fünf Stufen hinunter auf die Skatebahn. An ihrem Rand ist ein kleiner Schlitz in den Boden eingelassen, wie in einem Schwimmbad. Durch ihn fließt das Wasser weiter in ein unterirdisches Reservoir. Dies, erklärt Verlinde, hat einen porösen Boden, "so als ob es mit Getränkekisten gepflastert wurde". Durch diese Löcher kann das Wasser versickern. Denn das niederländische Wassermanagement setzt längst nicht nur auf "harten Küstenschutz" in Form von immer höheren Deichen, sondern auch auf Maßnahmen, die das Wasser besser verteilen und ableiten. +Von Wasserplätzen wie dem Benthemplein gibt es inzwischen einige in der Stadt. Und dazu den größten unterirdischen Wasserspeicher der Niederlande mit einem Fassungsvermögen von zehn Millionen Litern – gut versteckt unter einem Parkhaus. In Rotterdam leben fast 2.000 Menschen pro Quadratkilometer. Der Raum ist begrenzt, also ist man erfinderisch geworden. Aber die Niederländer sind nicht nur clever darin, das Wasser auf Abstand zu halten. Inzwischen nutzen sie es sogar als Baugrund. +Amsterdam, knapp 60 Kilometer nördlich von Rotterdam: Der Immobilienentwickler Ton van Namen führt durch IJburg, ein neu geschaffenes Stadtviertel dort, wo vor 20 Jahren nur Wasser war. Es wurden Inseln und Dämme aufgeschüttet und Häuser und Straßen daraufgesetzt. Das größte Experiment aber sind die schwimmenden Häuser, die van Namen entwickelt hat: grau-weiße Kästen mit Fenstern, drei Geschosse, in einer Werft gefertigt, mit Schiffen hierhergezogen und an Stegen verankert. An den Terrassen liegen Boote, Schwimmleitern führen ins Wasser. Gut 90 Häuser sind bereits fertig, etwa 70 weitere sollen noch dazukommen. +Über Stege geht van Namen zwischen den Häusern entlang. Rettungsringe hängen am Geländer, Fahrräder sind angelehnt, die Bewohner haben an den Seiten Blumenkübel aufgestellt. Van Namen deutet aber auf ein anderes Detail: Ein kleiner roter Hahn lugt von der Unterseite des Steges hervor. Ein brandkraan. Ein Hydrant. +Das zeigt, zu welch absurden Situationen es führen kann, wenn man auf dem Wasser baut, aber sich an Regeln halten muss, die noch für Häuser auf festem Grund erdacht wurden. Der Brandschutz, sagt van Namen, lege fest, dass ein Feuer in Amsterdam mit Leitungswasser gelöscht werden müsse. "Es gab einmal einen kleinen Brand in einer der Küchen", erinnert er sich. Als die Feuerwehrleute kamen, haben sie selbstverständlich lieber schnell eine Pumpe ins IJmeer geworfen. +Könnte man denn auch einen Wolkenkratzer aufs Wasser setzen? Sicher, bestätigt van Namen. Wenn es tief genug ist. "Kreuzfahrtschiffe sind im Prinzip schwimmende Hochhäuser." Man müsste allerdings viel Technik aufbieten, um sie in der Ba­lance zu halten. Sonst werden die Bewohner sofort seekrank. Manchen Interessenten, sagt van Namen, habe das auch vom Kauf eines der schwimmenden Eigenheime abgehalten: Die Häuser bewegen sich. Wenn sie ein Bücherregal verschieben, berichteten Bewohner, kippe das ganze Gebäude. Minimal vielleicht nur, aber man merke es daran, dass sich plötzlich Schubladen öffnen oder das Wasser in der Dusche den Abfluss nicht mehr findet. Ein paar Probleme haben eben auch die niederländischen Zukunftsplaner noch zu lösen. + +Schätzungsweise leben mehr als 200 Millionen Menschen in Küstengebieten, die weniger als fünf Meter über dem Meeresspiegel liegen. Diese Zahl soll sich bis 2100 mehr als verdoppeln – speziell Megametropolen in Küstennähe und an Flussdeltas wachsen rasant. Weniger als 20 Meter über dem Meeresspiegel leben heute sogar schon eine Milliarde Menschen: 127 Millionen davon in China, auch in Indien, Bangladesch, Indonesien und Vietnam sind jeweils über 40 Millionen Menschen betroffen. In den Niederlanden sind es fast zehn Millionen Menschen – das sind knapp 60 Prozent der Bevölkerung. diff --git a/fluter/niederlande-wahlparty-in-berlin.txt b/fluter/niederlande-wahlparty-in-berlin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5d8e773617b4d39e58e094b8e2f6f1207cb85bd4 --- /dev/null +++ b/fluter/niederlande-wahlparty-in-berlin.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Skeptischer Blick: Der Theaterregisseur Ivar hat für eine linke Partei gestimmt und wirkt wenig zufrieden mit dem Wahlergebnis +"Wir bleiben ein normales Land", sagt Martin. Er ist Holländer, Mitte 40, lebt seit 15 Jahren in Berlin und fährt sich mit einer Hand über seinen kahl geschorenen Kopf. "Ich bin sehr froh, dass Wilders nicht gewonnen hat." Martin selbst hat die sozialdemokratische PvdA gewählt. Vielleicht wirkt er deshalb nicht sehr froh, denn seine Partei – bisher als Koalitionspartner in der Regierung – hat dramatisch verloren und kommt nur noch auf neun Sitze. "Die meisten erinnern sich wohl nicht, wie schlecht die Wirtschaft vor vier Jahren lief", sagt Martin, "die Menschen haben ein kurzes Gedächtnis." +Wäre die Niederlande-Wahl in diesem schummrig beleuchteten Café im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg abgehalten worden, das Ergebnis hätte sich stark vom wirklichen Resultat unterschieden. Für Wilders ist hier niemand, zumindest äußert sich niemand so, für Wahlsieger Rutte sind nur wenige Menschen, dafür sympathisieren viele mit den abgeschlagenen Sozialdemokraten, oder mit einer der zahlreichen Kleinparteien, die ins Parlament einziehen werden. + + +"Ich habe die Tierschutzpartei gewählt", erklärt Ally. Die 24-Jährige stammt aus Groningen, sie studiert Kunstgeschichte und macht gerade Urlaub in Berlin. "Es war schon ein bisschen eine Protestwahl, aber mir liegt das Wohl von Tieren auch wirklich am Herzen." Viele Menschen in ihrer Heimatregion würden die Politik mittlerweile als Ganzes ablehnen. "Die Leute sind wirklich wütend", sagt Ally und wirkt selbst vor allem besorgt. "Ich glaube auch, dass es bei uns ein Problem gibt mit Kriminalität und mit der Integration. Nur glaube ich nicht, dass Wilders die Lösung ist." +Auch eine Nichtwählerin ist bei der Wahlparty. Die 23-jährige Tina ist vor zwei Monaten aus Haarlem nach Berlin gezogen. "Ich habe es im ganzen Stress einfach nicht geschafft zu wählen", sagt sie. Tina sitzt neben einem Kamin, hinter ihr zeigen Wandteller mit Windmühlen-Motiven eine klischeehaft gemütliche Niederlande, dieses "Holland", das manche nun zu vermissen scheinen. Tina empfindet ihre Heimat aber ohnehin nicht mehr so. "Ich bin mit einem Jahr mit meinen Eltern nach Holland gekommen. Es war lange egal, dass ich Schwarz bin. Aber die ganzen Debatten der vergangenen Jahre haben mich gezwungen, in solchen Kategorien wie Weiß und Schwarz zu denken. Ich will das nicht!" +Erst Trump, jetzt Wilders? Davor hatten viele Angst. Warm anziehen müssen sie sich für die kommende Legislaturperiode jetzt doch nicht +Warum sich das gesellschaftliche Klima in den einst als liberales Musterland gepriesenen Niederlanden gedreht hat, weiß Tina auch nicht. Sie vermutet aber, dass "die viele Medienberichterstattung über Migration und Flüchtlinge" ein wichtiger Grund dafür sei. Auch von anderen Niederländern ist an diesem Abend auf Fragen nach dem Aufstieg von Rechtspopulist Wilders oder nach der Intensität der Immigrationsdebatte diese Antwort zu hören: die Medien hätten eine Mitschuld, die Berichterstattung sei zu viel, zu zugespitzt. +Die einzigen Erwachsenen, die mit ihren Kindern zur Wahlparty gekommen sind, sind die beiden Theaterregisseure Ivar und Maaike. "Es macht mir Angst, wie schnell es in den vergangenen Jahren abwärts gegangen ist mit dem gesellschaftlichen Klima", sagt Ivar. Wie seine Frau auch hat er eine linke Partei gewählt. Maaike sagt nachdenklich: "Es war ein anderes Land früher. Sogar die Kulturlandschaft hat es heute schwieriger." Ihre beiden Kinder im Kindergartenalter wollen nach Hause, schauen müde. So müde wie viele Erwachsene an diesem Abend, die diese Wahl trotz einer deutlichen Niederlage von Geert Wilders eher nachdenklich statt erleichtert hinterlassen hat. + + +Stand: 16.3.2017, früher Morgen, nach Auszählung von mehr als 95 Prozent der abgegebenen Stimmen + diff --git a/fluter/niemals-einer-meinung.txt b/fluter/niemals-einer-meinung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..647f90f40bae9aaa21520d4517d04dacd21af55a --- /dev/null +++ b/fluter/niemals-einer-meinung.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Der Name der Organisation geht auf Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zurück: "Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten." Article 19 kämpft weltweit für Menschen, die ihre Stimmen erheben, und gegen Praktiken, die sie zum Schweigen bringen. Auf politischer Ebene entwickelt Article 19 Vorschläge für die Verbesserung von Gesetzen und Leitlinien und fordert Regierungen zu Transparenz auf. Journalisten und Medien werden mit Schulungen und Beratungen sowie juristisch unterstützt. Article 19 arbeitet mit den UN, der OSZE und Amnesty International zusammen und kann viele erfolgreiche Kampagnen vorweisen, wie etwa zum Schutz des Autors Salman Rushdie oder die Arbeit mit der Regierung in Bangladesch zur Informationen über Umweltthemen. In Mexiko, einem der gefährlichsten Länder für Journalisten, bietet Article 19 Sicherheitstrainings an und macht Druck auf die Regierung, Verbrechen an Journalisten aufzuklären. +Das Committee to Protect Journalists (CPJ) hilft Journalisten, ohne Angst vor Repressalien zu berichten. "Wenn Journalisten eines Landes zum Schweigen gebracht werden, werden die Menschen zum Schweigen gebracht." Durch den Schutz von  Journalisten, Bloggern und Autoren, schütze CPJ "Meinungsfreiheit und Demokratie", schreibt die Organisation auf ihrer Website. Gerade läuft eine große Kampagne für einen malaysischen Cartoonisten, dem "Aufwiegelung" vorgeworfen wird. CPJ dokumentiert jedes Jahr Hunderte von Angriffen auf die Pressefreiheit und veröffentlicht Zahlen und Fakten zu Journalisten, die ermordet oder inhaftiert wurden, vermisst sind oder sich im Exil aufhalten. Die erste erfolgreiche Kampagne gab es schon bald nach der Gründung: 1982 kamen drei britische Journalisten frei, die während des Falkland-Krieges in Argentinien verhaftet worden waren. Seit einigen Jahren kämpft CPJ unter dem Titel "Speak out for Justice" gegen die mangelnde strafrechtliche Verfolgung von Verbrechen an Journalisten. Außerdem vergibt die Organisation jedes Jahr die CPJ International Press Freedom Awards. +IFEX ist ein internationales Netzwerk von 95 Organisationen in mehr als 60 Ländern zur Verteidigung der Meinungsfreiheit. Global und lokal zugleich – das ist die Kernstärke von IFEX: Alle Mitglieder bringen ihre individuellen Stärken ein und das Netzwerk verschafft ihnen weltweite Aufmerksamkeit. IFEX vertritt nach eigenen Angaben "jedermanns Recht", also auch das von Bürgerjournalisten, politischen Aktivisten und Internet-Nutzern. Das Netzwerk  befasst sich mit Themen wie Internetrestriktionen, etwa bei Twitter oder den Rechten von Whistleblowern. Zudem  betreibt IFEX einen Arbeitsbereich "Digital Rights". Neben Publikationen, Berichten und gemeinsamen Erklärungen bietet die Organisation auch Konferenzen, Workshops und Infomaterialien an. Eine wichtige Aktion ist der 2011 ins Leben gerufene InternationaleTag zum Ende der Straflosigkeit. Damit wird kritisiert, dass Verbrechen gegen Journalisten oftmals nicht verfolgt werden. Eine große Kampagne von IFEX war die "Tunisia Monitoring Group", ein Zusammenschluss von mehr als 20 Organisationen gegen die Zensur in Tunesien. +Die Freedom of the Press Foundation (FPF) engagiert sich nach eigenen Angaben für die "Pressefreiheit des 21. Jahrhunderts". Die Stiftung, die sich unter anderem über Crowdfunding finanziert, konzentriert sich auf  "Misswirtschaft, Korruption und Rechtsbruch durch Regierungen". Enthüllungsjournalismus geschehe nicht einfach: "Es erfordert hartnäckige Arbeit von Journalisten und oft den Mut von Informanten [...], um sicherzustellen, dass die Öffentlichkeit erfährt, worauf sie ein Recht hat", heißt es auf der Website der Organisation. Zum Vorstand gehört der legendäre US-Publizist und Whistleblower Daniel Ellsberg der wegen seiner Enthüllungen zum Vietnamkrieg bekannt wurde und 2006 den alternativen Nobelpreis erhielt. Im Vorstand sitzt neuerdings auch NSA-Whistleblower Edward Snowden. Beim Prozess gegen die Whistleblowerin Chelsea Manning finanzierte FPF einen Stenografen, der das Verfahren für die Öffentlichkeit dokumentierte, da viele Journalisten ausgeschlossen wurden. Manning hatte 2010 geheime US-Dokumente zum Krieg im Irak und in Afghanistan an die Enthüllungsplattform WikiLeaks weitergegeben und wurde zu einer Haftstrafe von 35 Jahren verurteilt. Zu den Partnern von FPF gehören die Enthüllungsplattform WikiLeaks, die britische Journalisten-Initiative Bureau of Investigative Journalism, das Rechercheprojekt Center for Public Integrity sowie die unabhängige Nachrichten- und Meinungsplattform Thruthout. FPF unterstützt auch Verschlüsselungs-Tools für Journalisten und Whistleblower zum Schutz ihrer digitalen Kommunikation ("SecureDrop"). +Meinungsfreiheit im Internet, Datenschutz  und der Kampf gegen illegale Überwachung  sind die wichtigsten Themen der Electronic Frontier Foundation. Die Nichtregierungsorganisation verteidigt laut ihrem Motto die "bürgerliche Freiheit in der digitalen Welt". Bei EFF-arbeiten Aktivisten, Anwälte und Techniker gemeinsam. EFF engagiert sich vor Gericht für Freiheitsrechte, veröffentlicht politische Analysen und vergibt Preise an "Pioniere" der Internetfreiheit. Sie setzt sich zudem für die Rechte der Internet-Nutzer auf Privatsphäre ein und  betreibt  Softwareentwicklung und Technologieforschung zur Internetsicherheit. Aktuell führt EFF eine Kampagne gegen das "illegale Massenüberwachungsprogramm" des US-Geheimdienstes NSA. diff --git a/fluter/niemand-hat-die-absicht-eine-firewall-zu-errichten.txt b/fluter/niemand-hat-die-absicht-eine-firewall-zu-errichten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3cbfe1e8b85a4466b3b15cdb8408406613e9f088 --- /dev/null +++ b/fluter/niemand-hat-die-absicht-eine-firewall-zu-errichten.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Strafbar machen sich die Firmen zwar nicht – der Export von Überwachungssystemen nach Syrien ist in der EU erst seit einem Embargo 2012 illegal –, trotzdem sind sie mitschuldig an der Unterdrückung. Denn die Technologie, die Unternehmen wie Utimaco als Sicherheitssysteme anpreisen, die bei der Verfolgung "krimineller Aktivitäten und Terrorismus" helfen, gefährden in der Praxis Regimegegner und politische Aktivisten. Die Technologie hilft den autoritären Regimen, die Kommunikation von Oppositionellen zu überwachen und einzuschränken. Es kann sogar noch schlimmer kommen: Das zeigte sich etwa am Beispiel des bahrainischen Menschenrechtsaktivisten Abdulghani al-Chanjar, der 2010 von den Sicherheitskräften festgenommen und gefoltert wurde. Während seiner Verhöre wurden ihm Auszüge aus verschiedenen SMS vorgelegt, die laut Aussage der bahrainischen Regulierungsbehörde nur dank Überwachungssoftware aus Deutschland abgefangen werden konnten. +Zwar sind offiziell Exporte von Militärtechnologie verboten, wenn sie Menschenrechte gefährden. Können diese Produkte allerdings auch nichtmilitärisch genutzt werden (Dual-Use-Güter), dürfen sie ausgeführt werden. So werden die Diktaturen dieser Welt auch weiterhin ihre Bürger überwachen – mithilfe von Unternehmen aus demokratischen Staaten. diff --git a/fluter/niemand-hat-die-absicht-sich-zu-ergeben.txt b/fluter/niemand-hat-die-absicht-sich-zu-ergeben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..37ecdb937302ba972c73e89425cdafd3348b912a --- /dev/null +++ b/fluter/niemand-hat-die-absicht-sich-zu-ergeben.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Nun zeichnen sich gute Schriftsteller auch dadurch aus, dass sie ein feines Gespür für bevorstehende Umwälzungen haben. Als Zhadan kürzlich zur Vorstellung der deutschen Fassung seines umwerfend guten neuen Romans "Mesopotamien" in Berlin war, sagte er: "Eigentlich sind meine Bücher recht unpolitisch. Aber sie haben immer das Pech, von der Politik eingeholt zu werden." +In einer Episode von "Mesopotamien" träumt ein junger, von sich überzeugter Icherzähler davon, dass die Dame, bei der er vorübergehend eingezogen ist, sich ihm leidenschaftlich hingibt. Die Geschichte nimmt im Verlauf eine ungeahnte Wendung, der Junge wird melancholisch und am Ende stehen folgende Sätze: "Außerdem sagte sie, dass auf der Straße wieder geschossen werde, dass der Krieg weitergehe und niemand die Absicht habe, sich zu ergeben. All das wird weitergehen, solange wir lieben, erläuterte sie wie auf etwas anspielend. Die Liebe wird für alle reichen, fügte sie hinzu." +Seit über einem Jahr befindet sich der ukrainische Staat in einem tragischen Krieg mit separatistischen Milizen, die mit der Unterstützung Russlands die ostukrainischen Städte Donezk und Luhansk an sich gebracht und dort Volksrepubliken ausgerufen haben. Man kommt nicht umhin, in die oben stehenden Zeilen eine düstere Vorahnung hineinzulesen – denn fertiggestellt hatte Zhadan sein Buch schon 2013, vor dem Krieg und auch vor den Demonstrationen auf dem Kiewer Maidan. +Natürlich hat Serhij Zhadan den Krieg nicht vorausgesagt. "Es macht überhaupt keinen Sinn, in dem Buch irgendwelche Hinweise auf die aktuelle Situation in meinem Land zu suchen", sagt er. Dennoch geht es in dem Roman um schleichende Übergänge und Wandlungen, die mitunter ein Gefühl des Unheils hervorrufen. Zhadan beschreibt diese Transitionsmomente in neun Episoden und einem Kapitel mit Gedichten, die in ihrem elegischen Ton und ihrer ausladenden Poesie an die Dichtkunst persischer Autoren erinnern. In ihnen geht es um das Leben und den Tod, um Liebe und Hass, um die Realität und das Abdriften in teilweise mystische Regionen. +Was macht das Leben in Charkiw aus? Die Antworten auf diese Frage entspinnt der Autor kunstvoll vor dem Hintergrund seiner Heimatstadt, die unweit der russischen Grenze im Osten der Ukraine liegt. Es ist eine alte, dynamische Handelsstadt zwischen zwei Flüssen (deswegen die Anspielung auf das historische Zweistromland Mesopotamien), in der verschiedene Kulturen miteinander auskommen und wo sich die bunten, quirligen Geschichten der Einwohner zu einem Feuerwerk des Lebens verbinden. +Zhadan nutzt die Kunst der lyrischen Überhöhung orientalischer Autoren, um dieses Feuerwerk in den schönsten Farben auszumalen und somit das Leben in Charkiw literarisch zum Lodern zu bringen. Es ist eine Freude, Zhadans Figuren auf ihrer wilden Suche nach Liebe und Leben zu begleiten. +"Mesopotamien" ist zweifellos Zhadans reifstes, tiefsinnigstes und poetischstes Buch geworden. Das mag daran liegen, dass der Autor, im vergangenen Jahr 40 geworden, sich selbst in einer Zeit des Übergangs befindet. Nur noch am Rande erinnert sein neues Buch an die jugendlich-feurigen Geschichten von "Anarchy in the UKR", "Hymne der demokratischen Jugend" oder "Die Erfindung des Jazz im Donbass", in denen Zhadan Gangster, Loser, Kleinunternehmer und Jugendliche in den stürmischen Wendezeiten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion beschreibt. Mit diesen Büchern hatte er sich als Teil einer neuen ukrainischen Literatengeneration in die Herzen vor allem junger Leser geschrieben, die daran glauben wollten, dass das Leben in der Ukraine mehr zu bieten hat als die Korruption, die Ausweglosigkeit und die Dumpfheit des postsowjetischen Lebens. +Trotz ihres scharfen, zum Teil ironischen Realismus lebt die Literatur Zhadans auch von dem Willen zur Romantik. Es braucht Romantik, um angesichts von Zynismus und Starrköpfigkeit an Veränderungen glauben zu können. Deswegen gilt Serhij Zhadan vielen, die an eine demokratische Ukraine glauben wollen, auch als politisches und zivilgesellschaftliches Vorbild. Immer wieder äußert er sich kritisch gegen Putin, gegen die reformunwillige ukrainische Regierung, gegen die Korruption in seinem Land – in Interviews, in Beiträgen für ukrainische und internationale Zeitungen undauf seiner Facebook-Seite. Anfang März 2014, als die Krim durch Russland annektiert wurde und sich auch in Charkiw die Stimmung erhitzte, besetzte Zhadan mit anderen Euromaidan-Aktivisten ein regionales Regierungsgebäude. Prorussische Demonstranten eroberten das Gebäude zurück,wobei Zhadan krankenhausreif geschlagen wurde. +Der Mensch Serhij Zhadan ist zweifelsohne anders als die Helden seiner Bücher, die abseits der Politik ihren Weg zu machen suchen und dabei immer wieder auf einer Straße gen Nirgendwo landen. In "Anarchy in the UKR" heißt es: "Vergiss die Politik, lies keine Zeitung, geh nicht ins Netz." Zhadan ist kein Politiker, aber er weiß um die Verantwortung, die er als Bürger hat. Auf die Frage, welche Lösung er sehe, wenn die Leute wie die Protagonisten seiner Romane nicht an die Politik und an die Medien glauben würden,erwiderte er: "Glaubt aneinander und geht auf die Straße." +Ingo Petz, 41, schreibt seit 15 Jahren aus und über Osteuropa, mit besonderem Schwerpunkt auf Weißrussland. Bei der Fußball-EM 2012 war er in Charkiw zu Gast bei Serhij Zhadan diff --git a/fluter/nimm-dich-in-acht.txt b/fluter/nimm-dich-in-acht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e68b9fcea2bf86f5d5da9f123960fb2f8844749e --- /dev/null +++ b/fluter/nimm-dich-in-acht.txt @@ -0,0 +1,32 @@ +fluter.de: Herr Professor, lieben Sie Zahlen? +Albrecht Beutelspacher: Liebe ist das falsche Wort. Liebe ist etwas, das auf einen Respons angelegt ist. In meinem Verhältnis zu Zahlen ist es aber so, dass ich der deutlich aktivere Part bin. Ich zitiere immer Heinemann, den ehemaligen Bundespräsidenten. Als der gefragt wurde, ob er Deutschland liebe, da sagte er: Ich liebe meine Frau. +Aber Sie haben eine Lieblingszahl. +Ja. Die Zahl Acht. Aus zwei Gründen. Acht ist zwei mal zwei mal zwei. Die Zwei ist die Zahl der Symmetrie und der polaren Gegensätze: Heiß und kalt, Tag und Nacht, Mann und Frau. Der andere Grund ist, dass fünf plus drei gleich acht ist. Fünf plus drei ist eine sehr gute Annäherung an den Goldenen Schnitt, das Maß für Schönheit. +Ich war in meinem Abi-Zeugnis in Mathe konfrontiert mit der Zahl Null. Auch eine besondere Zahl. +Die Null ist eine ganz besondere Zahl. Sie wurde erst sehr spät erfunden. In der griechischen Antike gab es keine Null, obwohl es schon super Mathematik gab damals. Erst die Inder haben im Jahr 600 bis 700 nach Christus die Null erfunden. Und damit das schriftliche Rechnen. Eine unglaubliche Demokratisierung des Rechnens. +Trotzdem ist die Null umgangssprachlich negativ konnotiert. Wenn jemand schlecht in Mathe ist, dann ist er eine Mathe-Null. So war das bei mir. +So was kenne ich aus der eigenen Familie. Ich habe einen Bruder, der hatte schon in der Grundschule unglaubliche Schwierigkeiten. Meine Mutter hat damals Nachmittage damit verbracht, ihm beizubringen, was sieben plus drei ergibt. Es ist aber trotzdem was aus ihm geworden. +Eigentlich unfair, dass mathematische Fähigkeiten so unterschiedlich verteilt sind. Meine Mutter ist Mathelehrerin. Für mich sind Zahlen oft wie chinesische Schriftzeichen. +Wenn ich Sie beruhigen darf: Das geht auch vielen Menschen so, die gute Noten in Mathe haben. Sie bekommen zwar gute Noten, sagen aber oft: "Verstanden habe ich gar nichts!" +Woher kommt dieses Gefühl? +Am Matheunterricht ändert sich zwar gerade einiges, aber traditionell wird im Schulunterricht viel Wert darauf gelegt, die Verfahren formal zu beherrschen. Meine Generation musste schriftlich multiplizieren, schriftlich dividieren, prozentrechnen. Wir mussten einüben, einüben, einüben. Dabei ist etwas dramatisch zu kurz gekommen: die Vorstellung und das selbständige Denken. Schüler und Studierende müssen das Bewusstsein entwickeln, dass sie etwas rausbekommen, indem sie selbst denken. +Und dann macht Mathe glücklich? +Genau. Wenn wir merken, dass etwas klappt. Und wenn wir nur ein Sudoku lösen. +Die Mathematik hat in Deutschland keinen leichten Stand. Es ist hierzulande akzeptiert, öffentlich mit der eigenen Matheschwäche zu kokettieren. +Die Aussage "In Mathe war ich schlecht" höre ich immer wieder. Beispielsweise von Politikern, die sagen: "Bei mir hat es nur zum Juristen gereicht, Mathematik habe ich nie verstanden." +Ärgert Sie das eigentlich? Ein Politiker würde ja kaum öffentlich zugeben, dass er keine Ahnung von Deutsch hat ... +... und wenn er einen Anglisten-Kongress eröffnet, dann hat er ein Shakespeare-Zitat parat. Viele meiner Kollegen ärgert das. Ich empfinde das als Ansporn, noch besser zu vermitteln, was Mathe eigentlich ist. +Mathe abzulehnen – ist das etwas sehr Deutsches? +In vielen Ländern ist das ähnlich, in den angelsächsischen Ländern und in Italien. In Frankreich ist das anders. Da spielt Mathe eine wichtige Rolle in der Schule. Ich war mal bei einer Ausstellungseröffnung mit dem französischen Botschafter. Der hat nicht gesagt "In Mathe war ich immer schlecht", sondern hat große französische Mathematiker zitiert. Und das ohne Manuskript. +Wie lässt sich diese Kluft schließen zwischen der Mehrheit und der Mathematik? +Wir müssen in der Schule Gelegenheiten schaffen, bei denen sich Schüler mit Mathematik identifizieren können. Mein Beispiel ist immer der Deutschunterricht. Da gibt es auch Phasen, die langweilig sind. Rechtschreibung und solche Sachen. Aber dann lesen wir mit 14, 15 Jahren Hermann Hesse und denken: Genauso geht es mir auch. +Wie kann man sich mit Zahlen identifizieren? +Was wir mit Grundschülern machen, ist, durch die Stadt zu gehen und zu gucken: Wo sehen wir hier Mathe? Es ist unglaublich, wie einem da die Augen aufgehen. Man sieht einen Fensterrahmen: Rechteck. Man sieht ein Stoppschild: ein Achteck. Man sieht runde Dinge, man sieht eckige Dinge, man sieht Parallelen. +In der Schule entwickeln sich im Matheunterricht oft verschiedene Geschwindigkeiten. Mein Mathelehrer hat mir in der Oberstufe erlaubt, während der Stunde Zeitung zu lesen. Weil er wusste: Ich verstehe eh nichts. +Das ist zwar persönlich sympathisch, aber natürlich eine Kapitulationserklärung des Lehrers. Das Problem ist oft der lineare Aufbau des Matheunterrichts. Ich habe im elften Schuljahr keine Chance mehr mitzukommen, wenn ich am Bruchrechnen scheitere. Das könnte man anders machen. Lernen bedeutet, das schon vorhandene Netz des Wissens zu erweitern – das sagen heute die Lernforscher. Man sollte also immer wieder an ganz unterschiedlichen Stellen anknüpfen. +Sie sind ein Mathematiker mit einer Faszination für die Vermittlung von Mathematik. Das fehlt vielleicht anderen. +In der Tat habe ich eine Leidenschaft für die Vermittlung. Man darf aber nicht zu viel wollen. Manche meiner Kollegen im Mathematikum sagen: Die Kinder sind gerade so begeistert, jetzt wäre doch die Gelegenheit, ihnen noch die dazugehörige Differenzialgleichung zu erklären. Ich denke: Es ist ganz wichtig, den richtigen Moment zu finden, um aufzuhören. +Ich bin neulich am Mathematikum in Gießen vorbeigekommen. Und ich habe kurz überlegt, ob ich reingehe. Aber die Angst, an die Schule erinnert zu werden, war zu groß. +Sie werden bei uns keine Formel sehen und kaum Zahlen. Man muss nicht schreiben, es gibt keine Tafel. Wir vermeiden jeden Geruch nach Schule. +Eine Mathe-Ass scheint der 1979 in Spanien geborene Fotograf Alejandro Guijarro auch nicht zu sein. Auf die Tafelbilder von Mathematikern und Physikern hat er jedenfalls einen eher ungewöhnlichen Blick: Die Zahlen, Gleichungen und Symbole, mit denen die Wissenschaftler eigentlich sehr exakte Beschreibungen der Welt liefern, sieht er als abstrakte Gemälde. Um diese Kunstwerke festzuhalten und vor dem Schwamm zu retten, hat er die Akademiker an Topuniversitäten weltweit besucht und ihre Kritzeleien abgelichtet.www.alejandroguijarro.com +Felix Dachsel arbeitet als freier Journalist und versucht gerade im dritten Anlauf, sein Studium zu beenden. Das hat aber nichts mit seiner Matheschwäche zu tun, sondern liegt wohl eher daran, dass er als Autor so gefragt ist und immer zu viel zu tun hat. diff --git a/fluter/nischt-zu-tun-und-leicht-einen-sitzen.txt b/fluter/nischt-zu-tun-und-leicht-einen-sitzen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dd9489812893bb3860ad126974f9c6a3badf6fb7 --- /dev/null +++ b/fluter/nischt-zu-tun-und-leicht-einen-sitzen.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Hein ist geblieben und Tommi und Tommis Bruder Jesse und Paul. "Wennde willst, findeste hier Arbeit", sagt Hein. "Wennde keine Ansprüche hast." Er hat das KuT vor 20 Jahren mit erschaffen. Außer dem KuT gibt's in Gadebusch nur mehr einen Rewe und eine Aral-Tanke, vor der sich die Jugendlichen betrinken, seit die Hafenbar dichtgemacht hat. "Wenn ich Langeweile hab, kann ich immer ins KuT kommen, und jemand ist da", sagt Tommi, der als Trockenbauer arbeitet. "Nischt zu tun und leicht einen sitzen – und das am besten noch in Gadebusch", sagt sein kleiner Bruder Jesse und kloppt ihm auf die Schulter. +"Wo nichts ist", sagt Paul, Facharbeiter für Lagerlogistik, "da kannste Neues erschaffen, wennde die richtigen Leute dazu hast." Er, der wegen seines kaputten Knies selbst nicht mehr spielen kann, hat im Nachbarkaff Brüsewitz eine neue Fußballmannschaft zusammengestellt. Und obendrein eine Ultra-Gruppe geschaffen, die jedes Spiel mit 20 Mann begleitet. Es ist so, wie Flori aus Sachsen-Anhalt es erzählt: Für die jungen Ossis ist der Osten mehr als ein brauner Matsch aus Nazis, Arbeits- und Perspektivlosigkeit, sondern vielmehr fruchtbare Erde, die Möglichkeit auf Neuanfang. +Und doch bekomme ich in Gadebusch wieder so ein Gefühl, das mich meine komplette Reise von Bayern bis an die Ostsee begleitet: Land ist etwas zutiefst Maskulines. Von denen, die fortgehen, kommen nur die Männer zurück. Es sind die Männer, die erben, die Männer, die sich kloppen, die Männer, die Fußbällen hinterhergrölen, die Männer, die saufen, als wäre das eine olympische Disziplin. Frauen? "Die haben sich nach dem Abschluss alle verpisst", sagt Paul. "Die sind alle in die Stadt, wollten was aus sich machen." Dann verabschiedet er sich. Brüsewitz spielt morgen Mittag gegen den Poeler SV – und Paul muss früh raus, die Torlinien kreiden. diff --git a/fluter/no-peace-no-pussy.txt b/fluter/no-peace-no-pussy.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5fc08cf0374ab1b23a7de837ad28748f7c7857ed --- /dev/null +++ b/fluter/no-peace-no-pussy.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Spike Lee macht wieder ernst. Es wurde auch Zeit. Auf "Bamboozled" (2000), seiner bösen Farce über den Rassismus in der US-amerikanischen Unterhaltungsbranche, hat er keinen Film mehr folgen lassen, der es mit der Schärfe seiner öffentlichen Auftritte aufnehmen konnte. Und davon hatte er zuletzt ja einige in der #OscarSoWhite-Debatte. Jetzt also "Chi-Raq". Schon der Titel, zusammengesetzt aus den Worten "Chicago" und "Irak", brachte den Bürgermeister der Millionenmetropole auf die Palme. Lee diskreditiere Chicago als Herd der Gewalt, kritisierte der. Dabei stammte der Titel nicht einmal von Lee. +Im Hip-Hop ist die Bezeichnung Chiraq längst ein geflügeltes Wort, ebenso wie der Name Killadelphia für die murder capital an der Ostküste. Sie erinnern daran, dass auf amerikanischen Straßen heute mehr Jugendliche, und insbesondere junge Afroamerikaner, an Schussverletzungen sterben als während der US-Militäreinsätze in Afghanistan und dem Irak. Darum ist die Eröffnungssequenz von "Chi-Raq" wie eine Todesanzeige in schlichtem Schwarz gehalten. Darüber läuft ein Hip-Hop-Stück, halb Klagelied, halb Moritat. Vor dem schwarzen Hintergrund leuchten in roter Schrift Textzeilen auf: "Just released from jail and try to stay out" oder "Too much hate in my city but I got faith in my city". + + +Dem Titelstück sind noch einige Statistiken angehängt, denen der Film seinen Titel – und Chicago seinen Spitznamen – verdankt, während aus dem Off eine männliche Stimme (Pastor Michael Pfleger von der St. Sabina-Gemeinde in der berüchtigten South Side von Chicago) die skandalöse Realität verkündet: Jeden Tag töten junge Schwarze auf amerikanischen Straßen andere junge Schwarze. Wie kann die Gewaltspirale in den afroamerikanischen Communities, mit der die Jugendlichen aufwachsen, gestoppt werden? Spike Lee hat die Antwort in der antiken Literatur gefunden, in der griechischen Komödie "Lysistrata" von Aristophanes aus dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Das revolutionäre Stück handelt vom Aufstand einer Gruppe Frauen, die während des Peloponnesischen Krieges die Akropolis besetzen und öffentlich ihre "ehelichen Pflichten" verweigern, bis die Männer von Athen und Sparta einen Waffenstillstand ausgehandelt haben. +In "Chi-Raq" klingt die Forderung noch etwas expliziter: "No Peace, no Pussy" proklamieren die jungen Afroamerikanerinnen unter Anführung von Lysistrata (Teyonah Parris, bekannt aus "Mad Men"), die mit Hot Pants und Riesenafro die Nachfolge von Blaxploitation-Heldin Foxy Brown antritt. Lysistratas Boyfriend ist der Gangsterrapper Chiraq (Nick Cannon), für den Sex und Gewalt eine Frage des Images als harter Homeboy sind. Der "Sexstreik" seines Mädchens trifft ihn an seiner empfindlichsten Stelle. Und nicht nur ihn. Die halbe männliche Bevölkerung von Chicago leidet zunehmend unter einem Hormonstau, als die Protestbewegung von Lysistrata und ihren Freundinnen Fahrt aufzunehmen beginnt. Bald marschieren Frauen von Sao Paulo bis Tokio in den Straßen und skandieren "No Peace, no Pussy". + + +Filmfans mit eingeschliffenen Sehgewohnheiten könnten die krude Mischung aus Popkulturzitaten, amerikanischer Geschichte und Gesellschaftskritik als ästhetische Zumutung empfinden, aber wie schon in "Bamboozled" erzeugt das stilistische Potpourri einen fast schon musikalischen Stakkato-Rhythmus. An "Chi-Raq" ist weder die Form noch die Botschaft gefällig. Ausgerechnet John Cusack, dem einzigen weißen Darsteller in einem afroamerikanischen Ensemble, legt Lee in der Rolle des Michael Pfleger nachempfundenen Priesters eine Brandrede in den Mund, die eher nach Flugblatt als nach Leitartikel klingt. In seiner achtminütigen Predigt auf einer Totenfeier, dem Herzstück des Films, bezeichnet Cusack unter anderem die US-Justiz mit ihrer Gefängnisindustrie als eine moderne Variante der amerikanischen Rassentrennungsgesetze. +Mit dieser politischen Linie ist "Chi-Raq" absolut kompromisslos, viele Dialoge im Film erinnern – ähnlich dem Martin-Luther-King-Biopic "Selma" – an Diskussionsbeiträge zur aktuellen Situation in den USA. Vorgetragen allerdings in einem klassisch anmutenden Versmaß, das dem Rassismus-Diskurs einen theatralischen Flow verleiht. +So aberwitzig die Umsetzung in der Theorie auch klingt (der Auftritt von Wesley Snipes als Chiraqs einäugiger Widersacher Cyclops ist wirklich grenzdebil), so konsequent erweist sich das Genre-Crossover, das Stilmittel afroamerikanischer Musik (die Sample-Technik des Hip-Hop, das Call-and-Response des Gospel) mit Bertolt Brechts Idee eines volkstümlichen und gleichzeitig experimentiellen Theaters verbindet. Samuel L. Jacksons Dolmedes, eine Mischung aus griechischem Ein-Mann-Chor und afroamerikanischer Trickster-Figur, ist in "Chi-Raq" der Dreh- und Angelpunkt. Seine Kommentare sind für sich genommen kleine böse Varieténummern, aus ihm spricht aber auch der Regisseur selbst – und das direkt in die Kamera. Weiße Rassisten (ein weißhaariger General darf in Stars-and-Stripes-Unterhose eine Kanone reiten) bekommen ebenso ihr Fett weg wie die Polizei und der archaische Männlichkeitskult unter afroamerikanischen Jugendlichen. +"Chi-Raq" plädiert für einen neuen Gesellschaftsvertrag. Denn die Zukunft eines kulturell zunehmend vielfältigen Amerikas liegt in den Händen der schwarzen Gemeinden und ihrer Solidarität. Es ist das versöhnliche Fazit eines unversöhnlichen Films. +"Chi-Raq", USA 2015; Regie: Spike Lee, Drehbuch: Spike Lee, Kevin Willmott, mit Tayonah Parris, Angela Bassett, Nick Cannon, Samuel L. Jackson, John Cusack, 127 Minuten diff --git a/fluter/no-thank-you-for-the-music.txt b/fluter/no-thank-you-for-the-music.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6a904e9f2dab0f622b77d5a5551f2f6d49ab5f2e --- /dev/null +++ b/fluter/no-thank-you-for-the-music.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Über das Leben auf Tour existieren ja viele, viele Geschichten ... +Für die Städte eine hübsche Sache: Die Festivals machen sich gut im Stadtmarketing und werten die Stadt als Kulturstandort auf. Für Musiker oft ein Minusgeschäft: In einer Zeit, in der CDs und Platten keine Monatsmieten mehr finanzieren und selbst Bands wie Portishead über Spotify nur lächerliche Beträge einfahren, sind Livekonzerte die wichtigste Einnahmequelle. Schon problematisch, wenn man für die nichts bekommt, aber vielleicht einen Proberaum zahlen muss und obendrein mal wieder ein Album aufnehmen will. +Trotzdem funktionieren diese Veranstaltungen. Was wohl daran liegt, dass dort größtenteils Künstler auftreten, denen gerne das Etikett "Subkultur" aufgeklebt wird. Jene blutleere Bezeichnung, die nicht mehr viel mit Protest und Gegenkultur zu tun hat. Sondern heute eher Bands bezeichnet, die keine fünfstelligen Verkaufszahlen schreiben und sich nicht aussuchen können, bei welchen Festivals sie spielen. Bands, denen manche Veranstalter mit einem fragwürdigen Argument begegnen: dass es schließlich Promotion sei, bei einem Festival vor soundso viel Leuten aufzutreten. Wozu also angemessen bezahlen? +... eher selten geht es darum um die trostlosen Backstageräume ... +Tatsächlich sind Festivals immer noch ein Gradmesser für Erfolg. Wer im Sommer seine Verstärker nicht auf Open-Air-Bühnen schleppt, hat mit seiner Platte im Jahr davor anscheinend kaum Hörer gefunden. +Nun könnte man meinen, dass sich das Gagenproblem recht einfach lösen ließe: die Ticketpreise erhöhen. Oder überhaupt Eintritt verlangen. Das kommt aber beim Publikum nicht sonderlich gut an. Man könnte freilich auch lamentieren, dass die staatliche und die kommunale Pop-Förderung in Deutschland ein Witz sind. Gerade wenn man bedenkt, wie viele Fantastilliarden in Theater- und Opernhäuser fließen. Nur ist dieser heulsusige Refrain allmählich durchgenudelt. +Man könnte stattdessen ehrlich sein: Der Pop lässt es mit sich machen. Kein Orchestermusiker würde sein Instrument in die Hand nehmen für die Gagen, für die Popmusiker durch die Clubs ziehen. Und wo sonst wird es zur Credibility verklärt, wenn Bands sich wochenlang in einen viel zu kleinen Tourbus quetschen und in Punk-Rock-WGs auf hygienisch zweifelhaften Matratzen übernachten? +... und erst recht nicht um den wirtschaftlichen Druck, den das Touren für die Musiker bedeutet +In kaum einem anderen Kreativbereich gehört der Hang zur Selbstausbeutung so sehr zum Berufsbild wie im Pop. Zumindest unter Künstlern, die im Subkultur-Fach stecken. Die anfällig sind für das Promotion-Argument und solche Umsonst-Festivals mittragen. Denn auch wenn ein Act sich weigert, für nichts oder ein paar Pro-forma-Euros zu spielen: Es kostet die Veranstalter keine zwei Mails, Ersatz zu finden. +Bleibt nicht viel zu sagen. Nur dieses: Ich werde nie verstehen, wieso die Getränke bei diesen Veranstaltungen Geld kosten. Wenn die Gäste allesamt mit der gleichen Biermarke über das Gelände laufen – ist doch Promo. diff --git a/fluter/noch-fragen-ein-tag-beim-mieterverein.txt b/fluter/noch-fragen-ein-tag-beim-mieterverein.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3e32fccda455fe3b0218109f577ce8a680628bfb --- /dev/null +++ b/fluter/noch-fragen-ein-tag-beim-mieterverein.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +In ganz Deutschland gibt es Orte, an denen Mieter und Mieterinnen Antworten und Ratschläge bekommen, etwa wenn auf der Nebenkostenabrechnung Beträge stehen, die sie nicht nachvollziehen können, wenn der Vermieter das Dach nicht reparieren lässt oder der Mietpreis viel höher ist als die Mieten in der Umgebung. Es gibt rund 300 Mietervereine, die dem Deutschen Mieterbund angehören. +Um kurz nach 15 Uhr tritt ein junger Mann mit langen Haaren und Vollbart ein. Er beschwert sich über laute Musik und laute Gespräche vor seiner Wohnung und darüber, dass er nach jedem Wochenende in Kotze trete. Katja Adler sagt, was sie allen erst mal rät: "Schreiben Sie Ihrem Vermieter." Und fügt hinzu: "Schicken Sie ihm ein Lärmprotokoll. Wenn es nicht besser wird, haben Sie Anrecht auf Mietminderung." +In den Gesprächen in Adlers Büro geht es hauptsächlich um Betriebskosten, Wohnungsmängel oder steigende Mieten. Doch viele Menschen erzählen auch von Ex-Partnern, von Krankheit und Tod, von dem Wunsch nach einem Hund und von Kälte und Einsamkeit –sie erzählen ein Stück Leben. +"Wie lange haben Sie denn für mich Zeit?", fragt ein Mieter, der wütend ist, sein Handy zückt, um den "katastrophalen Zustand" seiner Wohnung zu zeigen. "So lange, wie wir brauchen", sagt Adler, während der Mann berichtet, dass die Rohre einfrieren und ein Wasserrohrbruch seit Wochen nicht behoben worden sei. +Als Katja Adler die Tür ihres Büros hinter sich zuzieht, sagt sie: "Heute war ein guter Tag." In zwei Stunden hat sie acht Personen geholfen. Eine Frau freut sich darüber, sich einen Hund anschaffen zu dürfen, ein junger Mensch hofft, bald nicht mehr frieren zu müssen, und ein aufgebrachter Mann glaubt, an dem Ort bleiben zu können, den er seit 23 Jahren sein Zuhause nennt. diff --git a/fluter/nord-stream-2-konflikt.txt b/fluter/nord-stream-2-konflikt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cbf0bc4b2bf34ac0566518d6d067126ce1804110 --- /dev/null +++ b/fluter/nord-stream-2-konflikt.txt @@ -0,0 +1,39 @@ +Nord Stream 2 aus Sicht … +1. Russlands2. des Energiesektors3. der USA4. der EU5. des Klimas6. Deutschlands +Zwei Rohre machen Weltpolitik. Eigentlich soll die Pipeline Nord Stream 2 einfach nur Erdgas zwischen dem russischen Ust-Luga und Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern transportieren. Aber seit 2018 das erste Teilstück in der Ostsee versenkt wurde, ist das 1.224 Kilometer lange Bauprojekt so umstritten wie kaum ein anderes. +Heute ist Nord Stream 2 zu 94 Prozent fertig. Ob die Pipeline jemals in Betrieb gehen wird, bleibt trotzdem offen. Wer will sie? Und wem schadet sie? Sechs Stopps auf der Pipeline + + +Im nordwestrussischen Ust-Luga zwischen Sankt Petersburg und der estländischen Grenze nimmt das Projekt Nord Stream 2 seinen Anfang. Warum Russland Deutschland und andere europäische Länder mit Erdgas versorgen will, liegt auf der Hand: Es gehört zu den Ländern mit den größten Erdgasreserven weltweit, allein 2019 hat Russland 679 Milliarden Kubikmeter Erdgas gefördert. Das entspricht einem Marktanteil von 17 Prozent und macht Russland zum zweitbedeutendsten Erdgasproduzenten hinter den USA. "Der Export von Energie ist wesentlich für den russischen Staatshaushalt", sagt Sarah Pagung, Russland-Expertin bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. +Bislang leiten mehrere Pipelines russisches Erdgas nach Europa: Neben der 2011 fertiggestellten Ostseepipeline Nord Stream 1 gehören dazu auch Soyuz, Brotherhood oder Transgas – also Verbindungen durch andere Länder wie Belarus, Polen oder die Ukraine. Da war doch was: Vor sieben Jahren besetzte Russland die ukrainische Halbinsel Krim. Bis heute wurde die Annexion international nicht anerkannt. DerKrieg zwischen Separatisten und Anhängern der Russischen Föderationhält an. +Was das mit den Gasrohren zu tun hat? Ohne die Ostseeröhren braucht Russland die Ukraine als wichtiges Transitland, musste also zwangsläufig mit dem verfeindeten Nachbarland zusammenarbeiten. Zudem verdiente die Ukraine am Transport mit. "Mithilfe von Nord Stream 2 kann Russland die Ukraine umgehen", sagt Pagung. "Das ist der Kern der russischen Interessen." + + + +Die Bundesregierung betont seit Jahren, dass die Pipeline zwischen Russland und Deutschland ein "rein wirtschaftliches Projekt" sei. Allerdings gehört die Nord Stream 2 AG, die das Projekt plant, baut und später betreiben soll, komplett dem russischen Energiekonzern Gazprom. "Diesen Konzern", sagt Sarah Pagung, "kann man nicht mit anderen Energieunternehmen wie Shell, Total oder ExxonMobil vergleichen, weil er zur Hälfte im Staatsbesitz ist und immer wieder auch politisch instrumentalisiert wurde." So hat Gazprom der Ukraine schon mehrfach das Gasabgedreht(das den Gasdurchfluss seinerseits aber auch schon blockiert hat). +Es steckt aber nicht nur russisches Geld in den wohl rund zehn Milliarden Euro teuren Gasrohren. Zu den Investoren gehören neben dem Energieversorger Engie aus Frankreich, dem österreichischen Öl- und Gaskonzern OMV und dem britisch-niederländischen Mineralölkonzern Shell auch zwei Energieunternehmen mit Sitz in Deutschland: Uniper und Wintershall DEA. Die mitteleuropäischen Konzerne tragen zusammen rund die Hälfte der Kosten. Platzt das Projekt Nord Stream 2, wäre ihr Geld weg. +Die Unternehmen könnten in diesem Fall auf Schadensersatz klagen. Dass sie vor einem Gericht recht bekommen, bezweifeltClaudia Kemfert, Energieexpertin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). "Nord Stream 2 war von Beginn an ein betriebswirtschaftlich höchst fragwürdiges Investitionsprojekt", sagt Kemfert. Sie verweist aufStudien des DIW, nach denen es in Deutschland langfristig weniger Bedarf an Gas geben wird – und somit keinen zwingenden Grund, eine weitere Pipeline in Betrieb zu nehmen. Die beteiligten Unternehmen wie Uniper betonen dagegen, es brauche die Pipeline, um Europa sicher und kostengünstig mit Erdgas zu versorgen. + + +Barack Obama und Donald Trump mögen sichin wenigen Punkten einig gewesen sein. Wenn es um Nord Stream 2 ging, vertraten beide Ex-US-Präsidenten aber stets dieselbe Ansicht: Sie waren gegen die Pipeline, genau wie ihr seit Januar amtierender Nachfolger Joe Biden. Schließlich machen sich Europa und insbesondere Deutschland durch Nord Stream 2 viel zu abhängig von Russland und russischem Erdgas – so die offizielle Argumentation der USA. +Trump hatte während seiner Amtszeit bereits mit Sanktionen gegen am Bau beteiligte Unternehmen gedroht und diese Drohungen teilweise umgesetzt. Daran scheint sich unter Biden nicht viel zu ändern: Er hält Nord Stream 2 für einen "schlechten Deal für Europa". +Die Sorge um Europas Energiesicherheit hält Robert Sperfeld für ein "vorgeschobenes Argument" der US-Regierung. Er ist Referent bei der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung und sieht das Bauprojekt ebenfalls kritisch. Sperfeld sagt aber auch: "Die USA haben kommerzielle Interessen: Sie möchten ihr eigenes Gas verkaufen." Tatsächlich hat die EU zuletzt immer mehr Flüssigerdgas, auch LNG genannt, aus den USA importiert und dafür eigens Hafenterminals bauen lassen. Insgesamt 36 gibt es bislang, in Deutschland ist ein erstes Terminal in Planung. Europäische Staaten könnten ihr LNG künftig nicht nur aus den USA, sondern auch aus Katar, Algerien oder Nigeria beziehen. "Insofern haben sie viele Alternativen, sollte Russland damit drohen, den Gashahn abzudrehen", sagt Sperfeld. +Neben diesen energiepolitischen Erwägungen hinterließ auch ein Ereignis aus dem vergangenen Sommer seine Spuren in der Bauwirtschaft: der Anschlag auf Alexej Nawalny. Der russische Oppositionspolitiker wurde vergiftet, viele verdächtigen die russische Regierung. Unter Biden haben die USA deshalb Sanktionen gegen Russland verhängt. Mittlerweile haben sich mindestens 18 europäische Unternehmen aus dem Bauprojekt zurückgezogen, um möglichen US-Sanktionen zu entgehen. + + + +Bis im Oktober 2019 Rohre südöstlich der zu Dänemark gehörenden Insel Bornholm verlegt werden durften, musste sich die Projektgesellschaft hinter Nord Stream 2 mehr als anderthalb Jahre gedulden: Die dänische Regierung zögerte unter anderem wegen der Auswirkungen für die Ukraine, aber auch wegen sicherheitspolitischer Bedenken. +Damit ist Dänemark längst nicht das einzige Land in Europa, das das Bauprojekt misstrauisch beobachtet oder gar offen ablehnt. Die EU-Kommission hat sich bereits 2017 gegen das Projekt ausgesprochen. Auch Polen und die baltischen Staaten sind dagegen. "Sie befürchten mehr russischen Einfluss", sagt Pagung. Für Polen fielen darüber hinaus noch Transitgebühren weg. Das gilt auch für die Ukraine – in besonderem Maße: Sie würde nicht nurTransitgelder in Milliardenhöhe verlieren, sondern auch eine Sicherheit gegenüber Russland, das sein Gas nicht mehr im großen Umfang durchs Nachbarland leiten müsste. "Dadurch fiele für die Ukraine ein Druckmittel weg, weiterhin relativ sicher und günstig Gas aus Russland zu erhalten", sagt Pagung. +Viele andere EU-Staaten hielten sich beim Thema Nord Stream 2 bedeckt. Bis zum Anschlag auf Alexej Nawalny. Danach sprach sich eine Mehrheit im EU-Parlament für einen Baustopp von Nord Stream 2 aus. + + + + +Im Mai 2018 entdeckten Spaziergänger pinkfarbene Fettklumpen im westlichen Greifswalder Bodden, einer Bucht zwischen Rügen, Greifswald und Usedom. Kurz darauf wurde bekannt, dass ein Leck an einem Baggerschiff von Nord Stream 2 die Verschmutzung verursacht hatte. Der Naturschutzbund Deutschland versuchte, vor Gericht einen Baustopp zu erwirken. Vergeblich. "Nord Stream 2 ist ein schwerwiegender Eingriff in sensibleMeeresökosysteme", sagt Sperfeld von der Heinrich-Böll-Stiftung. +Es sind nicht nur solche unmittelbaren Schäden an der Natur, dieKlimaschützer wie "Fridays for Future"anprangern. Sie kritisieren vor allem, dass Erdgas keine klimafreundliche Alternative zur Kohle sei, sondern selbst "ein fossiler und somit klimaschädlicher Energieträger". Die DIW-Forscherin Claudia Kemfert denkt das auch. Sie zitiertStudien, die zeigen, dass bei Erdgasförderung und -transport dessen Hauptbestandteil Methan entweiche – womit Erdgas "kaum klimafreundlicher" wäre als Kohle. Methan-Emissionen sind rund 25-mal klimaschädlicher als CO2-Ausstöße. + + +Ob im Bundestag, bei EU-Treffen in Brüssel oder Staatsbesuchen: Bundeskanzlerin Angela Merkel sagt seit Jahren, dass es Nord Stream 2 brauche,damit Deutschland seine Klimaziele erreicht. Wer aus der Kohle rauswolle, brauche Erdgas. +Den Bundestag wusste sie dabei hinter sich: Über Parteigrenzen hinweg befürworteten die meisten Abgeordneten die neue Pipeline, bis auf die Grünen. Seit dem Giftanschlag gegen Nawalny hat sich das geändert: Auch FDP-Politiker sprechen sich seither für einen Baustopp aus, in der CDU/CSU gibt es Stimmen, die ein Moratorium, also einen Aufschub der Bauarbeiten, fordern. Die Fraktionen der SPD, der AfD und der Linken hingegen befürworten Nord Stream 2, zumindest aktuell. +"Es gibt jetzt keinen einfachen Weg mehr raus aus Nord Stream 2", sagt Sperfeld. Die Bundesregierung steckt in der Zwickmühle: Zieht Deutschland das Projekt durch, ist Ärger mit den USA und anderen europäischen Staaten vorprogrammiert. Zieht es sich zurück, verlieren mehrere – auch deutsche – Großunternehmen sehr viel Geld und dürften klagen. "Um nicht in Teufels Küche zu kommen, kann es gut sein, dass die Bundesregierung das Projekt nicht stoppt und auf Zeit spielt, zumindest bis zur Bundestagswahl", sagt Pagung. Sollten die USA bis September weitere Sanktionen gegen Bauunternehmen androhen oder verhängen und sich diese daraufhin zurückziehen, könnte sich Nord Stream 2 von selbst erledigen, mutmaßt Pagung. "Und die Bundesregierung wäre fein raus." + diff --git a/fluter/nord-und-suedkorea-gemeinsames-eishockey-team.txt b/fluter/nord-und-suedkorea-gemeinsames-eishockey-team.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5605d346d2501e82c378561fc3f50fa7ddb5e22c --- /dev/null +++ b/fluter/nord-und-suedkorea-gemeinsames-eishockey-team.txt @@ -0,0 +1,27 @@ + +Seitdem ist viel passiert, aber wenig Gutes. Bis einen Monat vor den Olympischen Spielen waren die Beziehungen angespannter denn je. Seit 2008 sind die Grenzen komplett geschlossen. 2016 wurde auch die gemeinsame Sonderindustriezone in Kaesong dichtgemacht, wo zuvor rund 50.000 nordkoreanische Arbeiter südkoreanische Produkte herstellten. Die fortgesetzten Atomtests des seit 2011 im Norden amtierenden Machthabers Kim Jong-un sind ein besonders gefährliches, aber nur das jüngste Kapitel einer Konfrontation, die nach dem brutalen Koreakrieg zwischen 1950 und 1953 nur mit einem Waffenstillstand, aber nie mit einem Friedensabkommen beendet wurde und deren Konflikte seither mehrere hundert Leben kosteten. +Anfang Januar überraschte Kim Jong-un mit einem unerwarteten kommunikativen U-Turn, als er die Teilnahme des Nordens an den Spielen im Süden verkündete. Da alle Zulassungsfristen längst abgelaufen waren, konnten nur durch Sondergenehmigungen des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) noch nordkoreanische Skifahrer, Shorttracker, Langläufer und Eiskunstläufer an den Wettkämpfen teilnehmen. Erstmals seit den Spielen in Turin 2006 lief zur Eröffnungsfeier wieder ein gemeinsames koreanisches Team ein. +Zum Herzstück der Annäherung in Trainingshosen avancierte jedoch die Zustimmung zu einem Projekt, das der internationale Eishockeyverband seit Jahren hinter den Kulissen angeschoben hatte: ein gemeinsames Team der Frauen. +Ein starkes Symbol – über das anfangs nicht alle begeistert waren. Dass der amerikanische Sportartikelgigant Nike wegen der Sanktionen gegen Nordkorea nicht mehr die Teamkleidung stellen konnte, war dabei das geringste Problem. Für die südkoreanischen Spielerinnen und ihre amerikanische Trainerin Sarah Murray brach dagegen fast eine Welt zusammen. +Als Gastgeber erstmals für Olympische Spiele qualifiziert, steckten sie am Ende einer vierjährigen Vorbereitung. Innerhalb von zehn Tagen sollten nun zwölf Nordkoreanerinnen eingebaut werden, um die das IOC per Sondergenehmigung den Kader aufstocken ließ. Mindestens drei mussten nach der Abmachung in jedem Match zum Einsatz kommen. + +Sicher war dieser Trubel den Leistungen der Sportlerinnen nicht zuträglich, aber es wäre unfair zu behaupten, dass die Südkoreanerinnen ohne die Spielerinnen aus dem Norden gewonnen hätten. Sowohl in Nord- als auch in Südkorea steht Profi-Eishockey noch ganz am Anfang, besonders bei den Frauen. Auch gegen Schweden war das Team zum Abschluss erneut chancenlos. Immerhin gelang beim 1:6 noch mal ein Tor, das zweite im Turnierverlauf. +Als sich alle Spielerinnen vom Publikum verabschieden, kullern Tränen über Murrays Wangen, und als sie danach vor den Reportern steht, zieht sie ein ergreifendes Resümee. "Ich habe den Spielerinnen gesagt, dass sie wirklich stolz auf sich sein können. Wir haben definitiv den Druck gespürt. Die Politik hat eine Entscheidung getroffen, und wir waren diejenigen, die sie umsetzen mussten." Murray spricht von Freundschaften zwischen den Spielerinnen, davon, dass es ein trauriger Abschied voneinander sein wird und dass man hoffe, sich künftig wenigstens für Testspiele wiederzusehen. "Ich hätte mir nie vorstellen können, dass das Team so gut miteinander klarkommt. Der Sport bringt Menschen zusammen, er bricht Barrieren." +Stolz haben sie die Rolle also letztlich angenommen, als Botschafterinnen der "Spiele des Friedens", wie Südkoreas Präsident Moon das Winterspektakel definierte. In den ersten Tagen empfing er eine nordkoreanische Delegation, zu der auch Kim Jong-uns Schwester und enge Vertraute Kim Yo-jong zählte – es war das erste Mal überhaupt, dass ein Familienmitglied der Erbdiktatur seinen Fuß auf südkoreanischen Boden setzte. In freundlicher Gesprächsatmosphäre und vor einem gemeinsamen Besuch bei einem Auftritt einer nordkoreanischen Theatergruppe in Seoul überbrachte sie Moon eine Einladung ihres Bruders zu einem Gipfeltreffen in Pjöngjang. + +Trainerin Sarah Murray im Einsatz – vergeblich + +Moon, der seit Mai 2017 amtiert, gilt als linksliberal und überlässt die Rolle des Hardliners im aktuellen Atomstreit gern den USA. Für das Verständnis seiner Politik ist aber auch seine Biografie entscheidend. Seine Eltern waren Nordkoreaner und flohen mit 14.000 Flüchtlingen auf einem einzigen amerikanischen Schiff – das sogenannte "Weihnachtswunder" – während des Koreakriegs auf die südkoreanische Insel Geoje. Dort wurde er 1953 geboren. Wie Moon wurden rund zehn Millionen Koreaner durch die folgende Teilung des Landes von ihren Verwandten abgeschnitten. +In der Hockeyhalle hat allenfalls jeder zweite Besucher die angebotene gemeinsame Fahne akzeptiert. Drinnen gab die "Cheerleading Union" zwar alles: Einpeitscher in blauen Sweatshirts mit einer Abbildung von Gesamtkorea choreografierten unter ihren Claqueuren immer wieder den Schlachtruf "Wir sind eins". Aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Meinungen unter den Zuschauern geteilt sind. Wie in ganz Korea. +"Das ist eine komplizierte Angelegenheit" – damit beginnen viele Erklärungen der wenigen Leute, die hier überhaupt Englisch sprechen. Der Olympia-Austragungsort Pyeongchang ist südkoreanische Provinz und auch in dieser Hinsicht weit entfernt vom trendsetzenden Seoul, in dessen Ballungsraum rund die Hälfte aller Koreaner leben. Der entscheidende Unterschied freilich verläuft nicht entlang der Grenze von Orten, sondern von Generationen. + + +Kim Hyong-hon ist einer derjenigen, die sich eine Fahne geben ließen. Der 56-Jährige aus Gangneung hat seine Großeltern und die übrige Familie väterlicherseits nie kennengelernt. "Es ist traurig und kein natürlicher Zustand", sagt er über die Teilung – seine Tochter dolmetscht. "Ich hoffe, das Hockeyteam hat dazu beigetragen, das Problem zu verbessern. Und ich hoffe, auch die jungen Leute verstehen das." +Für die jungen Koreaner ist ein vereinigtes Korea nur noch Geschichte und die Teilung Realität. 1953 bis 2018, das sind 65 Jahre, 25 mehr, als die zwei deutschen Staaten überdauert haben (1949 bis 1989). "Ich will überhaupt nicht sagen, dass ich das mit dem gemeinsamen Team falsch finde", sagt Park Sun-mi, die mit ihren Freundinnen und Südkorea-Flagge zum Spiel gegangen ist. "Aber diese Sehnsucht nach der Vergangenheit ist ein Problem unserer alten Politiker. Wir haben ganz andere Probleme: Jobs, Bildung und so weiter. Ich würde mich freuen, wenn es den Nordkoreanern besser geht. Aber an eine Vereinigung glaube ich nicht." Eines gibt Park nach der Partie allerdings zu: "Die Cheerleader hätte ich schon gern gesehen. Ich habe ja noch nie in meinem Leben mit Leuten aus Nordkorea zu tun gehabt." +Um kurz beim Vergleich mit Deutschland zu bleiben: Dort wurde schon nach 40 Jahren diagnostiziert, dass sich die Menschen in beiden Teilen auseinandergelebt hätten. Der kulturelle Graben zwischen dem amerikaorientierten Wirtschaftswunderland Südkorea und dem ultrakommunistischen, rigide abgeschotteten Norden dürfte das noch um ein Vielfaches übertreffen. Die älteren Besucher etwa mochten sich vielleicht über manche der alten Volkslieder gefreut haben, die die Cheerleader in der Halle sangen, die jüngeren kannten diese Lieder gar nicht mehr. Und aus der Eishockeymannschaft wurden zunächst erhebliche Kommunikationsprobleme gemeldet. Die englischen Fachausdrücke der Sportart hatten die Nordkoreanerinnen noch nie gehört. + + +Wer die Tanzmädchen unter allenfalls schüchternen Blicken auf die übrigen Besucher stur ihre Show abziehen sah oder die Spielerin Jung Su Yuon bei einer beachtlichen Pressekonferenz – normalerweise sprechen nordkoreanische Sportler nicht mit ausländischen Medien – devot ihre Führer loben hörte, der konnte erschaudern bei dem Eindruck, wie tief die Propaganda in den Nordkoreanern verankert zu sein scheint. Ob es da eine wirkliche Entspannungspolitik geben kann, vielleicht sogar mit nachhaltigerem Erfolg als um 2000, als erstmals nord- und südkoreanische Sportler unter gemeinsamer Flagge bei der Eröffnungsfeier einliefen? Alles liegt an Nordkorea, und das ist so unkalkulierbar, dass die letztliche Olympiaannäherung selbst die Experten überraschte. Präsident Moon jedenfalls plant vorerst nicht, die Einladung nach Pjöngjang anzunehmen, dazu fehle noch viel. Und selbst Kim Hyong-hon, der Vereinigungsfan in der Hockeyhalle, ist skeptisch: "Nicht mal ich glaube an eine Demokratisierung des Nordens." +Während das IOC-Mitglied Angela Ruggiero, eine ehemalige Eishockeyspielerin, das gemeinsame Team für den Friedensnobelpreis vorschlug, reisen die Nordkoreanerinnen jetzt wieder ab. Zurück in ihre Welt der Isolation und der Sanktionen. Die Schläger, die sie für die Spiele bekommen haben, müssen sie vorher abgeben. + +Titelbild:  The Asahi Shimbun via Getty Images diff --git a/fluter/nordirland-konflikt-brexit-einfach-erkl%C3%A4rt.txt b/fluter/nordirland-konflikt-brexit-einfach-erkl%C3%A4rt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..09b3919c5ebc85a705a61eb1312545dd5b8dd8d8 --- /dev/null +++ b/fluter/nordirland-konflikt-brexit-einfach-erkl%C3%A4rt.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Das protestantisch geprägte Nordirland blieb Teil des Vereinigten Königreichs, die irische Republik im Süden, in der vor allem Katholiken lebten, war wieder ein eigenständiger Staat. Während die Minderheit der katholischen Nationalisten in Nordirland weiterhin die Wiedervereinigung der Insel forderte, wollte die Mehrheit der protestantischen Loyalisten Teil des Vereinigten Königreichs bleiben. Der Konflikt ist also nicht nur ein religiöser, sondern auch ein politischer. +DieTroubles, wie der Konflikt im Volksmund heißt, begannen Ende der 1960er-Jahre. In Nordirland entstand damals eine Bürgerrechtsbewegung, die kritisierte, dass Katholiken systematisch benachteiligt würden. Als Beispiel gilt dafür die Stadt Derry. Beziehungsweise: Londonderry. +Ein Namenszwist mit politischer Tragweite: Der erste Name kam bei den katholischen Nationalisten gut an, die die Unabhängigkeit von Großbritannien wollten, während der zweite von den protestantischen Unionisten (oder auch Loyalisten) bevorzugt wurde – die sich dafür einsetzten, dass Nordirland britisch bleibt. +In Derry/Londonderry wohnten vor allem Katholiken, aber im Stadtparlament waren mehr Protestanten vertreten. Warum? Weil die Wahlbezirksgrenzen zum Vorteil der Protestanten gezogen worden waren. Deshalb gab es ab 1968 in ganz Nordirland immer wieder zu Ausschreitungen zwischen protestantischer und katholischer Bevölkerung, auch in Derry/Londonderry. Dort kam es am 12. August 1969 zumBattle of the Bogside, heftigen Straßenschlachten zwischen beiden Lagern und der Polizei. +Dem folgten monatelang und vielerorts Straßenkämpfe. Deshalb beschloss die britische Regierung, Truppen zu schicken, die für Ruhe sorgen sollten. Einige Katholiken hießen die Soldaten zunächst willkommen, erkannten sie dann aber als parteiisch und ihnen gegenüber feindselig gesinnt. Die 1969/1970 von katholischen Nationalisten gegründete Vorläufige Irische Republikanische Armee (Provisional IRA) kämpfte nun ihrerseits gegen die britische Armee. Paramilitärische Gruppen der Protestanten reagierten darauf wiederum mit Gewalt, auch gegen katholische Zivilisten. Als die Situation immer weiter eskalierte, wurde das nordirische Parlament aufgelöst, London übernahm die direkte Herrschaftsgewalt und schufein Nordirland-Ministerium. +DieTroublesliefen während der gesamten 70er-, 80er- und frühen 90er-Jahre. Sie kosteten mehr als 3.000 Menschen das Leben. + + +Der Name Irische Republikanische Armee wurde im Laufe des vergangenen Jahrhunderts von verschiedenen paramilitärischen Gruppierungen verwendet. Alle vereint die Forderung nach einer Wiedervereinigung Irlands und seine Loslösung von der britischen Gesetzgebung. Die Ursprungs-IRA, gegründet 1919, rekrutierte sich in erster Linie aus Freiwilligen, die während des Ersten Weltkriegs den Dienst in der britischen Armee verweigert hatten. +Sie kämpfte im irischen Unabhängigkeitskrieg (1919–1921) gegen die britischen Besatzer und wurde 1921 von der ersten irischen Regierung offiziell als Armee der Republik anerkannt. Die "Vorläufige IRA" (Provisional IRA, oder einfach IRA), gegründet 1969 aus einer Splittergruppe der alten IRA, sah sich als einzige legitime Fortsetzung der "Old IRA". Ihre Forderungen versuchten sie mittels Raub, Geiselnahmen, Attentaten und Bombenanschlägen durchzusetzen. +Die Mitglieder dieser verbotenen Terrororganisation ermordeten 1.800 Menschen in Nordirland, der Republik Irland, Großbritannien und auf dem europäischen Festland. 1997 verkündete die IRA einen endgültigen Waffenstillstand, im Sommer 2005 erklärte sie ihren bewaffneten Kampf für beendet, zwei Jahre später wurde sie entwaffnet. +Am 10. April 1998 fand der Nordirland-Konflikt mit dem Karfreitagsabkommen (Belfast-Abkommen) sein Ende. Der Waffenstillstand, ausgehandelt unter Führung der irischen und britischen Regierung, hatte den Konfliktparteien (Unionisten vs. Nationalisten) Gelegenheit zur Annäherung gegeben. +Ein Künstler aus Berlin will zeigen, dass Frieden anfängt, wo Mauern aufhören –und tapeziert die Peace Walls in Belfast mit Mauern aus aller Welt +In dem Abkommen vereinbarten beide Seiten, dass die nordirische Regierung ihre Macht zum Vorteil aller ausüben sollte. Beide Konfliktparteien sollten sich zudem künftig an der Regierung beteiligen und Konflikte durch Verhandlungen und Kompromisse beilegen. Dieses Prinzip nennt man auch Konkordanzdemokratie. +Fortan teilten sich Unionisten und Nationalisten die Macht. Beide Seiten sollten im neu gegründeten Nordirischen Zusammenschluss (Northern Ireland Assembly) zusammenarbeiten. Eine Kopie des Karfreitagsabkommens wurde an alle Haushalte in Nordirland und in der Republik verschickt. Im Mai stimmten die Bürger in einem Referendum für das Abkommen, das damit offiziell in Kraft trat, und der Nordirische Zusammenschluss nahm seine Arbeit auf. +Derzeit gibt es zwischen Irland und Nordirland eine "weiche Grenze". Das heißt, dass seit der Einführung des EU-Binnenmarktes 1993 keine Güterkontrollen stattfinden. Auch die Checkpoints der britischen Armee wurden nach dem Karfreitagsabkommen endgültig abgeschafft. Während derBrexit-Verhandlungensah es lange so aus, als würde der britische EU-Austritt zu einer "harten Grenze" führen: Zwischen Irland, weiterhin ein EU-Mitglied, und Nordirland wäre dann über Nacht eine 499 Kilometer lange EU-Außengrenze entstanden, an Land wie zur See. +An dieser Grenze eine Regelung zu schaffen, ist die wichtigste Voraussetzung für einen geordneten Brexit und um das Konfliktpotenzial auf der irischen Insel kleinzuhalten. In einemKompromisshaben Großbritannien und die EU mittlerweile beschlossen, dass Großbritannien und Nordirland weiter reibungslos Waren austauschen können und die Grenze zwischen Nordirland und der Republik offen bleibt. Alle vier Jahre soll in Nordirland über die Sonderrolle des Landes abgestimmt werden. + diff --git a/fluter/nothilfe.txt b/fluter/nothilfe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..17c2daa699d64b2fa05acbc55ce8f25f0dae2451 --- /dev/null +++ b/fluter/nothilfe.txt @@ -0,0 +1,30 @@ +fluter.de: Herr Mardini, wie kann man sich Ihre Arbeit vorstellen? +Amar Mardini: Wir arbeiten mit zwei Teams mit je drei Leuten in zwei Krankenhäusern in Zentral-Gaza. Ich wurde bisher hauptsächlich im Al-Aqsa-Krankenhaus eingesetzt. Ich helfe bei der Versorgung von Schwerverwundeten, vor allem, wenn nach israelischen Luftangriffen bis zu 40 Personen auf einmal Hilfe brauchen. Das kann mehrmals am Tag passieren. Außerdem verletzen sich Menschen ja auch noch bei alltäglichen Dingen: Weil es kaum Strom gibt, hantieren viele zum Beispiel mit Gasflaschen. Und die explodieren schon mal. +Wie kommen die Verletzten zu Ihnen? +Oft fahren Angehörige verletzte Familienmitglieder mit dem Auto vor die Notaufnahme. Auch stellt der Palästinensische Rote Halbmond einige Rettungswagen zur Verfügung. Die werden allerdings bei Angriffen immer wieder getroffen. Die Rettungssanitäter:innen, die die Verletzten transportieren, riskieren bei jeder Fahrt ihr Leben. +Am7. Oktober 2023überfielen Terrorkommandos der islamistischenHamasIsrael, töteten mindestens 1.200 Menschen und entführten mehr als 240 Menschen. Israel reagierte mit einem Militäreinsatz in dem von der Hamas kontrollierten Gazastreifen. Der Krieg dauert immer noch an und hat nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums auf palästinensischer Seite zu mehr als 40.000 Toten geführt. Unabhängig überprüfen lassen sich die Zahlen nicht. +Können Sie sich ausreichend um die vielen Verwundeten kümmern? +Das Al-Aqsa ist eines der letzten noch funktionierenden Krankenhäuser in Gaza, und selbst hier ist eine adäquate Versorgung nicht mehr möglich. Das Gesundheitssystem ist größtenteils zusammengebrochen und massiv überlastet. Wir sind unterbesetzt, auch wenn einige Ärzt:innen aus anderen zerstörten Krankenhäusern zu uns gewechselt sind. Viele Kolleg:innen mussten fliehen oder müssen sich um ihre Familien kümmern. Die hygienischen Bedingungen sind zudem katastrophal. Chirurg:innen müssen oft ohne sterile Kittel operieren. Es fehlt einfach an allem. +Woran konkret? +Es fehlen etwa Medikamente für chronisch kranke Patient:innen. Immer wieder werden Menschen ins Krankenhaus gebracht, die Diabetes haben und ins Koma gefallen sind. Sie haben entweder kein Insulin mehr oder keine Möglichkeit, es richtig zu lagern. Auch für Krebskranke sieht es in Gaza düster aus. Sie haben kaum eine Chance, eine Chemotherapie zu bekommen oder ihre Behandlung weiterzuführen, weil nicht genügend Medikamente da sind. Es gibt nicht einmal ausreichend Schmerzmittel. Immerhin konnten wir kürzlich dabei helfen, 85 schwerkranke Patient:innen und ihre Angehörigen in die Vereinigten Arabischen Emirate zu evakuieren. +Welche Folgen haben der Mangel an medizinischer Ausstattung und die schlechten hygienischen Zustände? +Verheerende. Verwundete Menschen kommen zwar in ein Krankenhaus, aber ihnen kann dort oft nicht mehr geholfen werden. Es gibt bei uns im Krankenhaus eine strikte Regel: Patient:innen, bei denen der Verbrennungsgrad über 50 Prozent der Körperoberfläche beträgt, dürfen nicht mehr auf die Intensivstation aufgenommen werden – weil klar ist, dass sie selbst dort im Verlauf an einer Infektion sterben würden. Sie würden, und es ist schlimm, das zu sagen, Kapazitäten binden. Es gibt auch Patient:innen, die wegen der mangelnden Versorgung und schlechten hygienischen Bedingungen ihre Arme oder Beine verlieren. Viele Erkrankungen, die ich hier sehe, könnte man in Deutschland gut behandeln. Aber in Gaza sterben die Menschen daran. Das ist eine menschengemachte Katastrophe. +Wie schaffen Sie und Ihre Kolleg:innen es, die vielen Kranken trotzdem zu versorgen? +Es ist eine Herausforderung. Wir haben drei Liegen im Schockraum. Meistens halten sich dort aber acht Patient:innen auf, sie liegen auf Teppichen auf dem Boden. Wir müssen dann versuchen, so zu arbeiten. Oft müssen die Angehörigen mit anpacken. Wir haben nur wenige Beatmungsgeräte in der Klinik, die reichen nicht immer. Einmal war ich dabei, als eine Mutter ihren dreijährigen Jungen mit einem Beatmungsbeutel beatmen musste. Zwei Stunden lang versuchte sie, Sauerstoff in die Lungen ihres Kindes zu pumpen, aber es ist dann in ihren Armen gestorben. + + +Sie waren vorher schon als Arzt in Kriegsgebieten, etwa in derUkraine. Was ist in Gaza besonders? +Hier sind fast die Hälfte der Bevölkerung Kinder. Von unseren Patient:innen sind etwa 30 bis 40 Prozent Kinder. Bei ihnen kann schon eine Verletzung durch einen kleinen Granatsplitter schwere Schäden anrichten. Die Brustwand ist nicht so stabil wie bei Erwachsenen. +Aus medizinischer Sicht: Welche Verletzungen sind am schlimmsten? +Die Verbrennungen. Ich habe noch nie derart schwere Verbrennungen gesehen. Vor ein paar Tagen wurde ein Kind eingeliefert, dessen gesamte Körperoberfläche verbrannt war. Wir waren drei Stunden damit beschäftigt, die Haut von diesem Kind abzuziehen, um es dann mit Cremes und Verbandsmaterial zu versorgen. Wir wussten während dieser drei Stunden, dass das Kind sehr wahrscheinlich nicht überleben wird. Bei den schlechten Bedingungen, die hier herrschen, lag die Überlebenswahrscheinlichkeit bei unter einem Prozent. Wir haben es trotzdem versucht. Aber das Kind ist gestorben. +Wie verarbeiten Sie das Leid, das Sie jeden Tag sehen? +Wir besprechen jeden Abend mit der Gruppe, was wir am Tag gemacht und erlebt haben. Oft sitzen wir im Anschluss noch zusammen und reden, manchmal spielen wir dabei Karten. Der Austausch mit dem Team hilft. Und der Austausch mit unseren palästinensischen Kolleg:innen. Uns wird eine unglaubliche Dankbarkeit entgegengebracht, manchmal auch nur dafür, dass wir ihnen zuhören, wenn sie von ihren Sorgen berichten. Trotz all dem Leid gibt es auch schöne Momente. Ich versuche, mich darauf zu konzentrieren. +Wie geht es den palästinensischen Ärzt:innen in dieser Lage? +Sie arbeiten zum Teil 24 Stunden, machen im Krankenhaus ein kurzes Nickerchen, gucken dann bei ihren Familien in den Zelten vorbei, ob alles in Ordnung ist und fangen wieder die nächste Schicht an. Sie sind völlig erschöpft. Ich bin erst seit ein paar Wochen hier und finde es bereits anstrengend. Ich weiß nicht, wie die Kolleg:innen das seit zehn Monaten durchstehen. Die palästinensischen Ärzt:innen und Pfleger:innen arbeiten die ganze Nacht durch und begrüßen mich am Morgen mit einem Tee und einem Lächeln. Sie sind für mich Held:innen. Aber lange werden sie dieses Pensum nicht mehr durchhalten. +Wie bereiten Sie sich auf derart schwierige Einsätze vor? +Vor jedem Einsatz absolvieren die Teammitglieder ein mehrtägiges Krisentraining. Dort werden Notfallszenarien simuliert, bei denen eine große Anzahl von Verletzten versorgt werden muss. Wir lernen dabei, wie wir mit solchen Situationen umgehen und als Team zusammenarbeiten. Außerdem werden wir in Sicherheitsmaßnahmen geschult und lernen, wie wir uns in einem Kriegsgebiet verhalten. Mir hat das Training vor dem Einsatz in Gaza klargemacht, dass es hier auf jeden Einzelnen ankommt. Selbst kleine Fehler können fatale Folgen für das gesamte Team haben. +Auch Krankenhäuser wie das Al-Aqsa-Krankenhaus geraten immer wieder unter Beschuss. Haben Sie Sorge, dass Sie selbst getroffen werden könnten? +Wir befinden uns in einem Gebiet, das Israel als sogenannte humanitäre Zone deklariert hat. Wenn wir uns morgens von unserer Unterkunft zum Krankenhaus aufmachen, geben wir der israelischen Seite Bescheid. Das Gleiche machen wir, wenn wir am Abend wieder zurückfahren. Das ist aber keine Garantie dafür, dass nichts passiert. Sollte sich die Sicherheitslage verschlechtern, müsste das Krankenhaus seinen Betrieb einstellen. Mit dieser Sorge leben wir als Ärzt:innen jeden Tag. + +Amar Mardini, 34 Jahre alt, ist ein deutscher Arzt. Mardini gehört zum Team der Berliner Hilfsorganisation Cadus, die seit Februar unter dem Schirm der Weltgesundheitsorganisation in Gaza im Einsatz ist. Die Helfer:innen unterstützen die palästinensischen Ärzt:innen und Krankenpfleger:innen bei der Versorgung von Notfällen. + diff --git a/fluter/nsu-opfer-werden-zu-taetern-gemacht.txt b/fluter/nsu-opfer-werden-zu-taetern-gemacht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..719767df067b8769142b5ea23287a9f4f6f2704c --- /dev/null +++ b/fluter/nsu-opfer-werden-zu-taetern-gemacht.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Enver Şimşek, Abdul Kerims Vater, war ein erfolgreicher Geschäftsmann. 15 Jahre vor seiner Ermordung war er nach Deutschland gekommen, arbeitete unter der Woche am Fließband und am Wochenende in Putzkolonnen. Er hatte sich hochgearbeitet und besaß wenige Jahre später einen Blumengroßhandel, einen Blumenladen und mobile Verkaufsstände. Jeden Montag fuhr er in die Niederlande, um neue Ware zu ersteigern. Meist arbeitete er von 5 bis 21 Uhr. Weil er deshalb kaum Zeit für die Familie hatte, beschloss er wenige Monate vor seinem Tod, den Großhandel zu verkaufen. Dann hätte er nicht nur in den Sommerferien etwas mit seinen Kindern Semiya und Abdul Kerim unternehmen können. +Das Titelbild zeigt einen Anschlag des NSU, der oft vergessen wird: Am 9. Juni 2004 explodierte in der Kölner Keupstraße mit vielen türkischen Geschäften eine Nagelbombe. 22 Menschen wurden teils schwer verletzt. Getötet wurde niemand. +Am Samstag, dem 9. September 2000, vertrat Enver Şimşek einen Angestellten, der den Spätsommer in der Türkei verbrachte. Der Blumenstand war an dem Tag an einer viel befahrenen Ausfallstraße von Nürnberg aufgebaut. Als er im Inneren seines Wagens Blumen band, tauchten plötzlich zwei Männer in Radlerkleidung auf und zogen ihre Waffen. Mit acht Schüssen richteten sie Enver Şimşek hin. Als die Männer flohen, lebte er noch. Zwei Tage später erlag er im Krankenhaus seinen Verletzungen. +Heute steht in der Parkbucht an der Stelle des Tatorts ein kleines Schild. Es erinnert an Enver Şimşek, das erste Mordopfer der Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund". Dass die Tafel schon mindestens 100-mal mit Hakenkreuzen beschmiert oder beschädigt wurde, sagt Abdul Kerim, nehme er mittlerweile nicht mehr persönlich. Er sitzt im Wohnzimmer seines kleinen Hauses im hessischen Friedberg und schaut in die Webcam seines Laptops. In manchen Wochen, wenn er viel zu tun hat, denke er kaum an das, was erst seinem Vater und dann seiner Familie angetan wurde. Nur wenn seine Tochter nach ihrem Opa fragt, komme alles wieder hoch. Dann denkt er daran, wie die Ermittler seine Mutter, seine Schwester und ihn viele Male auf die Wache bestellten. +Noch während sein Vater im Sterben lag, musste seine Mutter mit den Polizisten aufs Revier, um auszusagen. Sie fragten, ob ihr Mann in kriminelle Machenschaften verwickelt sei, eine Affäre oder Feinde gehabt habe. Bei 70 Prozent der Mordfälle kennen sich Täter und Opfer. Daher ermittelt die Kriminalpolizei meist im Umfeld des Opfers und bewegt sich dabei auf schmalem Grat: Die Beamten müssen die Angehörigen trauern lassen und ihnen gleichzeitig unangenehme Fragen stellen. Hört man Abdul Kerim jedoch zu, bekommt man das Gefühl, die Ermittler wandelten nicht auf einem Grat, sondern schossen eine steile Abfahrt in ein Tal aus Verdächtigungen hinunter, elf Jahre lang. +Sein Vater war das erste Opfer des NSU: Abdul Kerim +Der damalige bayerische Innenminister Günther Beckstein kannte Şimşeks Blumenstand, weil er in der Nachbarschaft wohnte. Als die Nachricht über den Mord auf seinem Schreibtisch lag, notierte er: "Ist ausländerfeindlicher Hintergrund denkbar?" Doch die Ermittler nahmen an, dass man die Mörder in der Drogen- oder Mafiaszene finden würde, Rechte hätten ihrer Auffassung nach ein Bekennerschreiben hinterlassen. +Abdul Kerim erinnert sich, wie die Wohnung seiner Familie mit Drogenhunden durchsucht und er auf der Wache ausgefragt wurde. Die Polizei verwanzte ihre Telefone und den Blumentransporter, um endlich die heiße Spur zu bekommen, die die Ermittlungshypothese beweisen würde. Doch die Ermittler tappten im Dunkeln – und machten somit die Opfer zu Tätern +"Keine Sekunde habe ich an meinem Vater gezweifelt", sagt Abdul Kerim. Als im darauffolgenden Sommer 2001 mit derselben Pistole der Schneider Abdurrahim Özüdoğru in Nürnberg, dann die Gemüsehändler Süleyman Taşköprü in Hamburg und Habil Kılıç in München ermordet werden, hofft Familie Şimşek, dass organisierte Kriminalität als Motiv endlich ausgeschlossen wird. Doch das Gegenteil tritt ein: Die Ermittler gehen erst von Drogenkriminalität, dann von einem Konflikt zwischen verfeindeten türkischen Gruppen aus. Alle Angehörigen erleben nun in ähnlicher Weise das, was die Şimşeks seit ein paar Monaten durchmachen. Nach jedem Mord fragt die Sonderkommission "Bosporus" die Familien nach kriminellen Machenschaften, Drogen, heimlichen Affären. Einige Angehörige weisen darauf hin, dass es vielleicht "Türkenhasser" oder Nazis waren. Doch in diese Richtung wird kaum oder gar nicht ermittelt. + + +Was du über den NSU-Prozess wissen musst +Abdul Kerim gewöhnt sich daran, zu verschweigen, dass sein Vater ermordet wurde. Die Leute hätten immer nach demselben Schema reagiert: "Irgendwas muss dein Vater doch angestellt haben." In der Schule rufen ihm Mitschüler hinterher: "Mafiajunge! Das ist der Sohn des Drogendealers." Als zwei Morde in Dönerimbissen geschehen, erfindet ein Redakteur der "Nürnberger Nachrichten" das Wort "Döner-Morde". Es macht eine traurige Karriere und wird von allen großen Medien aufgegriffen. "Das ist menschenverachtend: Mein Vater war kein Döner, er war ein Mensch", sagt Abdul Kerim. +Spätestens nachdem im April 2006 erst Mehmet Kubaşık in seinem Kiosk in Dortmund und zwei Tage später Halit Yozgat in seinem Kasseler Internetcafé ermordet werden, ist für viele Menschen mit Migrationshintergrund klar, dass es sich um eine rassistische Mordserie handeln muss. Tausende Menschen ziehen durch Kassel. "Wir haben gefordert: ‚Kein zehntes Opfer!'", erinnert sich Abdul Kerim. Die Menschen am Straßenrand hätten den Trauermarsch kaum beachtet. "Da hat uns immer noch keiner geglaubt, dass es Rechtsextreme waren." +Am 4. November 2011 fliegt der NSU auf, am 11. hört Abdul Kerim im Radio, dass die Waffe gefunden wurde, und fährt sofort zu seiner Schwester. Gemeinsam schauen sie Nachrichten. "Endlich konnte ich sagen: Nazis haben ihn umgebracht." Elf Jahre musste er auf diese Gewissheit warten. "Von einem auf den anderen Tag konnten wirOpfersein." Die Journalisten stehen Tag und Nacht vor seiner Haustür. Die meisten wollen Interviews, manche sich für ihre Berichte entschuldigen. Im Februar 2012 lädt die Bundeskanzlerin alle Angehörigen zu einer Trauerfeier ein und sagt: "Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken …" +"Vollständig aufgeklärt wurde nicht", sagt Abdul Kerim, auf eine offizielle Entschuldigung der Ermittlungsbehörden warte er immer noch. Mehrere parlamentarische Untersuchungsausschüsse und einer der größten Prozesse der Bundesrepublik hätten die Mordserie nicht aufklären können. Dass die Täter so lange morden konnten, nannte Bayerns ehemaliger Innenminister Beckstein "die größte Niederlage des Rechtsstaats der letzten Jahrzehnte". Der NSU habe nicht nur aus dem Kerntrio bestanden, sagt Abdul Kerim. Es gebe Hinweise, dass Helfer vor Ort mögliche Ziele ausgekundschaftet hätten. Er würde gerne wissen, wie die Opfer ausgewählt worden seien. Warum versagten die Sicherheitsbehörden – vom Verfassungsschutz bis zum Militärischen Abschirmdienst –, die mehr als 40 V-Leute im Umfeld des Trios platziert hatten? Wenn Abdul Kerim darüber spricht, klingt es so, als habe er keinen Bachelor in Medizintechnik, sondern eine Doktorarbeit über den NSU-Komplex abgeschlossen. +"Man konnte sich damals einfach nicht vorstellen, dass Neonazis mordend durchs Land ziehen", sagt Abdul Kerim. Heute sieht das anders aus: die Ermordung des Regierungspräsidenten Walter Lübcke, die Attentate in Halle und Hanau. Nachdem in der hessischen Stadt einRechtsterrorist zehn Menschen erschossenhatte, fuhr Abdul Kerim täglich nach Hanau und traf sich mit Angehörigen. Dann erzählt er von seiner Anwältin Seda Başay-Yıldız, die Todesdrohungen erhalten habe, unterschrieben mit "NSU 2.0". +Abdul Kerim ist vor Kurzem in die Türkei geflogen, um seine Mutter und seine Schwester zu besuchen. Sie leben in dem Ort, wo Enver Şimşek alt werden wollte und heute begraben liegt. Auf dem Rückflug saß Abdul Kerim in einem Charter-Ferienflieger: "90 Prozent deutsche Rentner darin", schätzt er. Als sie in Frankfurt landeten, hätten die Beamten diese nicht kontrolliert. Er und andere Passagiere mussten ihr Gepäck aber öffnen. Also Menschen, die wie Abdul Kerim anders aussehen –in den Augen ihrer Betrachter. + +Titelbild: dpa/picture alliance diff --git a/fluter/nur-fussball-zu-spielen-ist-mir-zu-langweilig.txt b/fluter/nur-fussball-zu-spielen-ist-mir-zu-langweilig.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/nur-gemuese-im-kopf.txt b/fluter/nur-gemuese-im-kopf.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5954007a4158de29cb87b99eca18052ff69f1328 --- /dev/null +++ b/fluter/nur-gemuese-im-kopf.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Doch für viele ist Bio mehr als striktes Regelwerk. Sie leben mit "Bio" ihre Idee von der Welt und unserem Platz darin, sie pflegen – als Bauern, Verarbeiter, Konsumenten – eine Mission. Anbauverbände wie demeter, Bioland oder Naturland haben sich wesentlich strengere Regeln auferlegt als das EU-Bio-Siegel verlangt. Dabei geht es neben artgerechter Tierhaltung, sozialen Arbeitsbedingungen und dem Verzicht auf Agrarchemie vor allem um geschlossene Betriebskreisläufe: Das Futter der Tiere sollte nach Möglichkeit vom Hof stammen, die Felder mit dem gedüngt werden, was hinterher rauskommt. Halbes Bio gibt es bei diesen Anbauverbänden nicht, auch keine Kompromisse beim Futter, das beim EU-Siegel auch konventionell angebautes Soja aus Brasilien sein darf. Bei sogenannten Mischbetrieben erlaubt die EU konventionellen Bauern eine kleine Bio-Ecke neben der Normalproduktion. Bei demeter, Bioland & Co geht nur ganz oder gar nicht. +Deutsche kaufen Bio-Lebensmittel,weil sie sich einen gesundheitlichenMehrwert versprechen, haben Umfragen ergeben. Dazu kommen Motive wie Tierschutz, Umweltbewusstsein oder Genuss. Das immer wiederkehrende Argument der Bio-Kritiker lautet: Bis heute gäbe es keine zuverlässige Studie, die nachweist, dass es gesünder ist, sich von Bio-Lebensmitteln zu ernähren. So eine Studie dürfte es auch in den nächsten hundert Jahren kaum geben. Ein wissenschaftlich unbestreitbarer Nachweis dieser Art ließe sich nur erzielen, wenn zwei hinreichend große Gruppen von Menschen mit exakt denselben körperlichen Voraussetzungen sich über Jahre hinweg unter medizinischer Kontrolle ausschliesslich Bio oder (zum Vergleich) ausschließlich konventionell ernähren würden. Echte Vergleichbarkeit bietet dagegen eher der Blick auf das, was in den Lebensmitteln drin ist. +Konventionell erzeugte Lebensmittel dürfen über 300 verschiedene Zusatzstoffe mit teils zweifelhaften Wirkungen für unseren Organismus enthalten – Füllstoffe, Farbstoffe, Konservierungsmittel, Geschmacksverstärker. Seit Jahren steigt die Zahl ernährungsbedingter Krankheiten in Deutschland dramatisch. Für Bio-Lebensmittel sind nach EU-Ökonorm 47 mögliche Zusatzstoffe erlaubt, beim "Super-Bio" der deutschen Anbauverbände nur rund zwanzig. +Für die Überlegenheit ökologisch erzeugter Lebensmittel sprechen zahlreiche Untersuchungen. Eine Zehnjahresstudie der University of California wies in Bio-Tomaten einen doppelt so hohen Anteil von Pflanzenfarbstoffen nach, die den Blutdruck senken und Krebsrisiken mindern können. Niederländische Forscher stellten fest, dass die Babys von Müttern, die Bio-Milch trinken, ein deutlich verringertes Allergierisiko tragen. Das Gleiche gilt für Asthma und Neurodermitis bei Kindern, die Bio-Lebensmittel essen. Bio-Milch weist einen doppelt so hohen Vitamin- E-Gehalt auf, mehr als zweimal so viele essenzielle Omega-3-Fettsäuren sowie 75 Prozent mehr Beta-Carotin als die Alternative aus der Melkfabrik, haben dänische Wissenschaftler errechnet. +Bio-Kopfsalat aus dem Freilandanbau enthält erheblich weniger Nitrat als konventionell angebauter, dafür – wie anderes Bio-Gemüse auch – einen um zehn bis 50 Prozent höheren Gehalt an Vitaminen und sekundären Stoffwechselprodukten. Bio-Rindfleisch enthält weniger Wasser, mehr Omega-3-Fettsäuren, mehr Eisen, BVitamine und Zink. "Bio ist besser", erklärt Maria Roth vom Chemischen und Veterinäruntersuchungsamt Stuttgart, die seit Jahren Bio-Produkte untersucht. Dass sich vereinzelt Bio-Waren aus China oder der Türkei als konventionell angebaut erweisen, habe mehr mit der kriminellen Energie einiger Lebensmittelhändler als mit mangelnden Kontrollen zu tun. "Wir finden seltenwas." Und wenn, scheinen die Selbstreinigungsmechanismen zu greifen. So haben sich die großen Produzenten von Bio-Geflügel gerade erst darauf verständigt, die unangekündigten Kontrollen für ihre Betriebe zu intensivieren, nachdem herauskam, dass der größte deutsche Bio-Puten-Anbieter Berthold Franzsander, seine Tiere unerlaubterweise mit konventionellem Futter versorgt hatte. +Aber es geht nicht nur um Nährwerte und Gesundheit. Bio ist auch eine ethische und soziale Frage. Jährlich entstehen in der ökologischen Landwirtschaft laut Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft e. V. 20.000 neue Arbeitsplätze. Die Tiere haben, vor allem bei den Höfen der Öko-Anbauverbände, mehr Auslauf als in der konventionellen Fleischfabrik. Milch, die nicht das Bio-Siegel trägt, stammt oft von Kühen, die ihr ganzes Leben lang nie das Tageslicht sehen. Konventionell erzeugtes Schweinefleisch kommt häufig von künstlich gemästeten Tieren, die beim Schlachten noch ihre Milchzähne im Maul haben. +Doch auch die Tierhaltung der Ökos ist nicht frei von Problemen. Parasitenbefall und damit verbundene Probleme mit der Leber sind bei einigen hochempfindlichen Schweinerassen aufgetreten, die die Umstellung auf ein natürlicheres Umfeld nicht verkraftet haben. Die Betriebseinheiten in der ökologischen Landwirtschaft werden tendenziell immer größer. Legehühnerarmeen von mehr als 30.000 Hennen (allerdings auf mehrere Ställe verteilt) sind auch in der Bio-Branche beinahe schon die Regel. Als problematisch für die Böden wird der Einsatz des Schwermetalls Kupfer gesehen, das auch die Bio-Bauern zur Schädlingsbekämpfung etwa beim Kartoffelanbau verwenden. Bei demeter ist der Einsatz reglementiert, und auch bei anderen Bio-Anbauverbänden liegt die erlaubte Menge deutlich unter der konventionellen Landwirtschaft. Rund 56.000 Produkte tragen heute das deutsche Bio-Gütesiegel. Doch wie "Bio" ist zum Beispiel ein Bio-Citrus-Ananas-Getränk, das ohne einen Tropfen Ananas oder Zitrone hergestellt wird? (Sondern mit natürlichen, aromatisierenden Bakterienund Pilzkulturen.) Fazit: Bio ist aus vielen Gründen besser, aber nicht immer so gut, wie Bio sein könnte. +In hoch entwickelten Ländern brauchen Bio-Höfe für die gleiche Ernte ein Drittel mehr Anbaufläche. "Wir müssten die Wälder abholzen, um die Menschen ernähren zu können", zitiert die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" den Gießener Agrar- Ökonom Michael Schmitz. Doch Agrarwissenschaftler, die die Wirtschaftlichkeit des Ökolandbaus weltweit untersucht haben, gelangen zu erstaunlichen Ergebnissen. Eine gerade erschienene Studie der Deutschen Bank besagt, dass der Ökolandbau gerade in Afrika dem konventionellen an Produktivität mindestens ebenbürtig und an Kosten weit überlegen ist. Externe Kosten für die Beseitigung von Schäden durch Erosion, Wasserverbrauch, den Erhalt von Arten etc. liegen wesentlich niedriger. Gleichzeitig holt der Ökolandbau wesentlich mehr aus den Böden heraus, weil er sie vor Übersäuerung und Erosion schützt. Nach einer Vergleichsstudie der University of Essex liegt der Ertrag nach der Umstellung auf nachhaltige Landwirtschaft mittelfristig um bis zu 80 Prozent höher. +Bis heute ist in Entwicklungsländern kein Fall nachgewiesen, bei dem der Umstieg auf ökologische Landwirtschaft die Ernteerträge und die Lebensbedingungen der Bauern und ihrer Familien verschlechtert hätte. Im Gegenteil: Die Preise für synthetischen Dünger und Saatgut sind in den vergangenen Jahren drastisch gestiegen. In Indien haben sich die Preise für Düngemittel in wenigen Jahren vervierfacht, die für Saatgut sind für einige Sorten um 300 Prozent gestiegen. +Und dann ist da ja noch der Klimaschutz: Laut der Welternährungsorganisation FAO trägt die Fleischproduktion 18 Prozent zum globalen Ausstoß von Treibhausgasen bei – mehr als der Autoverkehr. Jährlich werden 90 Millionen Tonnen Erdöl oder Erdgas zu Stickstoffdünger verarbeitet, der in der konventionellen Landwirtschaft zum Großeinsatz kommt. Das entspricht einer CO²- Emission von 250 Millionen Tonnen – die Komplettbilanz von 25 Millionen Deutschen. Dank der Bauern, die auf Öko-Landbau umgestellt haben, landen jährlich knapp 230 Tonnen Düngemittel sowie zwei Tonnen Pflanzenschutzmittel weniger auf deutschen Feldern. Gleichzeitig "arbeiten" die Öko-Böden aktiv für den Klimaschutz. Die humusreichen Böden binden bis zu 15 Prozent mehr Kohlenstoff und speichern Wasser besser. Das Bio-Futter in der Ökofleischzucht verursacht deutlich weniger klimaschädliche Methangase. Bei gleichen Erträgen kommen Bio-Höfe mit 30 Prozent weniger Energie aus, hat eine Untersuchung aus den USA ergeben. Alles in allem, so schätzt Professor Ulrich Köpke von der Universität Bonn, beläuft sich das generelle Einsparpotenzial für CO²- Emissionen durch den Umstieg auf ökologische Landwirtschaft auf bis zu 50 Prozent. +Bleibt ein letztes "entscheidendes" Argument, das Bio-Kritiker immer wieder ins Feld führen: Bio ist zu teuer. Tatsächlich kosten Öko-Möhren oder -Kartoffeln nur noch geringfügig mehr als konventionell erzeugte. Bei Molkereiprodukten liegt der Preisunterschied zwischen 15 und 25 Prozent. Stark ins Gewicht fallen die hohen Preise für Bio-Fleisch. Mit Grund. Tiere auf ökologisch bewirtschafteten Höfen leben mindestens doppelt so lange wie ihre traurigen Artgenossen in der Fleischfabrik. Entsprechend höher ist der Aufwand für Pflege und Futter. Dazu kommt, dass ein Bio-Rind beim Schlachten deutlich weniger Fleisch bringt, weil es nicht künstlich hochgepäppelt wird. ÖkologischeLandwirtschaft ist arbeitsintensiv. Im Schnitt wird ein Drittel mehr Personal benötigt. Da man Unkraut oder Schädlinge nicht einfach mit der Chemiekeule bekämpft, braucht man viel Handarbeit und Zeit. Die Kontrollen der Öko-Zertifizierer sind teuer, erfordern einen hohen bürokratischen Aufwand und müssen von den Bio-Bauern selbst bezahlt werden. +Was bei den günstigen Preisen für konventionell erzeugte Lebensmittel oft vergessen wird, sind die indirekten Kosten. Wir finanzieren die Folgen der konventionellen Landwirtschaft – ruinierte Böden, verseuchte Grundwässer, zerstörte Ökosysteme, hohe Subventionen für Agrarfabriken – mit unseren Steuern, ohne dass sie auf den Preisschildern im Supermarkt auftauchen. +Fred Grimm (43) ist Experte für Öko-Themen. Er schreibt eine Kolumne in "Schrot & Korn" und für das Magazin "Emma". Außerdem hat er das Buch "Shopping hilft die Welt verbessern" geschrieben – eine Anleitung zum sinnvolleren Einkaufen. diff --git a/fluter/nur-mut.txt b/fluter/nur-mut.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..04cb0ae60567ac5203241bb596f18bb35d19b962 --- /dev/null +++ b/fluter/nur-mut.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Natürlich hat es während der letzten drei Jahre immer wieder Repressionen gegeben, besonders für Frauen wurde es mit der Zeit immer gefährlicher, zu den Demonstrationen zu gehen. Es gab mehr und mehr Fälle von sexueller Belästigung und sogar Massenvergewaltigungen am Tahrir-Platz. Klar hat man Angst davor, aber gleichzeitig möchte man sich wehren und zeigen, dass man sich eben nicht einschüchtern lässt. Dass die eigene Angst weniger wird, dabei helfen permanente Informationen. In welchen Straßen gibt es Zusammenstöße? An welchen Orten ist es besonders gefährlich für Frauen? Wo versprüht die Polizei giftiges Atemgas? Wir haben uns die ganze Zeit informiert und auch über Facebook und Twitter kommuniziert."Wir haben Mauern der Angst durchbrochen" – das war einer unserer Slogans Anfang 2011, als wir gegen das ägyptische Regime auf die Straße gingen. Plötzlich hatten wir keine Angst mehr, den Mund aufzumachen, unsere Meinung zu sagen, zu demonstrieren. +Als wir mitbekamen, dass die Proteste in Tune­sien dazu geführt haben, Diktator Ben Ali zu stürzen, hat uns das Mut gemacht – ja, auch das hilft, Angst abzubauen, nämlich zu sehen: Die anderen haben es schon geschafft. Für unsere Eltern war das schwer zu verstehen, die sind schließlich in einer ganz anderen Welt aufgewachsen. Alle Medien waren in Ägypten bis 2000 gleichgeschaltet. Demonstrieren hieß für unsere Elterngeneration, im Gefängnis zu landen. +Die Nacht am 29. November 2013 war die letzte, in der ich durchgeschlafen habe. Es war die Nacht vor der Nacht, in der die Stimmung am Maidan in Kiew kippte. Von totaler Hoffnung und ­Euphorie in Angst. Es war die Nacht, bevor Tausende Polizisten gegen friedliche Demonstranten vorgingen, sie durch die Straßen jagten, sie zusammenschlugen. Obwohl die Stimmung kippte, haben wir den ganzen Winter über jeden Tag auf dem Maidan gestanden, haben Essen organisiert, aufeinander aufgepasst. Es fühlte sich an wie ein Job neben dem regulären Job – ein Job, der notwendig ist, um eine neue Ukraine zu formen, eine demokratischere, eine freiere. +Bis zu den blutigen Ausschreitungen Anfang 2014, bei denen immer wieder auch scharf auf Demonstranten geschossen wurde, hat mich meine Großmutter jeden Tag angerufen: Kind, du musst auf den Maidan! Es half, auf den Maidan zu gehen, um die Angst vor den Sicherheitskräften oder regimetreuen Protestgegnern zu überwinden. Denn paradoxerweise hatten wir mehr Angst zu Hause als in der Menge. Die Menschenmassen geben einem das Gefühl, sicher zu sein, obwohl das ja nicht stimmt.Schließlich starben bei den Protesten Dutzende Menschen. Selbstverständlich hatten wir immer wieder auch Angst bei den Demonstrationen, aber für uns gab es kein Zurück mehr. Sich von der Angst leiten zu lassen und nicht mehr zu den Protesten zu gehen hätte bedeutet, einen zu hohen Preis zu zahlen. +Zwei Jahre, zwei Monate und fünf Tage saß ich im Gefängnis — weil ich laut einem syrischen Militärgericht die Einheit des Landes gefährde. Ich hatte 2007 über die Luftwaffe im Irak-Iran-Krieg geschrieben. Grund genug für den syrischen Geheimdienst, mein Zimmer zu durchsuchen, meinen Laptop zu konfiszieren, mich zu verhaften. Damals schrieb ich unter einem Pseudonym – das war aber auch die einzige Sicherheitsmaßnahme. Im Grunde hatte ich volles Vertrauen, in meine Umwelt, in mich. Keine Angst zu haben lieferte mich ihnen aus. Ich war wochenlang in Einzelhaft, wurde verhört und gequält. Trotzdem wollte ich nicht aufhören, gegen diese Ungerechtigkeit aufzubegehren. +Wenige Monate nachdem ich wieder freikam, gingen in Syrien die Proteste los. Ein paar Menschen organisierten sich. Bis ins kleinste Detail bereiteten wir alles vor. Niemand sollte die Namen der Mitglieder erfahren. Diese wahnsinnige Angst vor dem syrischen Geheimdienst, zu wissen, mit welchen Methoden das Regime arbeitet, hat mir beigebracht, hier zu überleben. Wenn man in so einer Situation ist, ist man oft aber auch sehr allein. Auf der einen Seite sprechen die Menschen um einen herum nicht mehr mit dir, weil sie Angst vor Repressionen haben. Auf der anderen Seite – wenn sich dann doch jemand mit dir unterhält – wirst du selbst paranoid, denkst, du bist umgeben von Leuten, die dir etwas antun wollen. +Letztes Jahr konnte ich den Druck nicht mehr aushalten, nicht nur der syrische Geheimdienst war hinter mir her, auch die Ex­tremisten des "Islamischen Staates". Ich bin über die Grenze geflohen und von der Türkei weiter nach Deutschland. Jetzt möchte ich von hier aus weiter­machen. Eines weiß ich: Hätte ich keine Angst gehabt, wäre ich heute vermutlich nicht mehr am Leben. +Marion Bacher volontiert bei der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) im Fachbereich Multimedia. diff --git a/fluter/nur-noch-krim-krams.txt b/fluter/nur-noch-krim-krams.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..17faf1f6ef707cdba9af0d8f9eb12ae8f92b1879 --- /dev/null +++ b/fluter/nur-noch-krim-krams.txt @@ -0,0 +1,9 @@ + +Die Halbinsel im Schwarzen Meer, vormals eine autonome Republik der Ukraine, wurde im Frühling 2014 annektiert – durch den Einsatz russischer Streitkräfte und mit Hilfe eines umstrittenen Referendums. Die russische Regierung spricht übrigens von "Wiedervereinigung", Angela Merkel und andere europäische Regierungschefs hingegen von "Annexion". Sukzessive wird die Krim seither dem russischen Rechtssystem angepasst. +Das bedeutet auch: Wer offen die neuen Autoritäten unter Regierungschef Sergei Aksjonow, das Russland Putins oder die Annexion der Krim kritisiert, lebt gefährlich. Der Filmregisseur Oleh Senzow etwa, Einwohner der Krim mit ukrainischem Pass, wurde im August 2015 von einem russischen Gericht zu 20 Jahren Haft verurteilt. Die offizielle Begründung: Terrorismus. Amnesty International kritisierte den Prozess als "offenkundig unfaires Verfahren, das von glaubwürdigen Foltervorwürfen überschattet wurde". Menschenrechts- und Journalistenorganisationen vermelden immer wieder unrechtmäßige Verhaftungen von Journalisten und Aktivisten auf der Krim. +Viele unabhängige Medien wie auch zahlreiche ukrainische Banken und Firmen sowie internationale Unternehmen haben die Halbinsel inzwischen verlassen. Aus Angst vor Repressionen, aus Protest gegen die Annexion, wegen der internationalen Sanktionen, die gegen Russland und die Krim verhängt wurden, und weil sie eine Enteignung befürchten müssen. Zahlreiche ukrainische Firmen wurden bereits verstaatlicht. +Besondershart trifft es die Krimtataren, ein Sammelbegriff für eine Kulturgruppe, deren Vorfahren über die mongolische Welteroberung im 13. Jahrhundert auf der Krim gelandet waren und die dem sunnitischen Islam anhängen. Zwischen 10.000 und 15.000 von ihnen sollen ihre Heimat seit der Annexion verlassen haben. Ihrem politischen Führer, Mustafa Dschemilew, wurde ein Einreiseverbot erteilt, Aktivisten wie Achtem Chijgoz wurden unter fadenscheinigen Gründen zu Gefängnisstrafen verurteilt. Um auf ihre Not aufmerksam zu machen, haben die Tataren seit September die Wareneinfuhr an den wenigen verbliebenen Grenzübergängen zur Ukraine blockiert. Als – vermutlich – krimtatarische Aktivisten und Mitglieder des ukrainischen ultranationalistischen "Rechten Sektors" Ende November 2015 Strommasten und Leitungen sprengten und damit zeitweilig die Stromversorgung auf der Krim unterbrachen, erhielt die Region denn auch noch einmal etwas mehr Medienaufmerksamkeit. +Die Annexion der Krim produziert viele Verlierer. Mehr als die Hälfte aller Einwohner der Halbinsel hat früher ihr Geld im Tourismus verdient. Seitdem die Ukrainer aber nicht mehr kommen, fehlen in der Saison rund zwei Millionen Urlauber. Den Menschen auf der Krim geht das Geld aus – während die Lebensmittel immer teurer werden. Die Preise für Früchte oder Mehl sind, weil sie umständlich aus Russland und teuer aus der Ukraine eingeführt werden müssen, seit 2014 teilweise um mehr als 50 Prozent gestiegen. Kartoffeln aus der Ukraine kosteten vor der Annexion rund 30 Rubel das Kilogramm, im April 2015 waren es 80 Rubel, umgerechnet 1,22 Euro. Beamte und Rentner allerdings profitieren finanziell. Ihre Besoldungen und Renten wurden dem fast doppelt so hohen Niveau in Russland angepasst. Trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten scheinen die meisten Bewohner der Krim, die die Halbinsel nicht verlassen haben, hinter der neuen Regierung und Russland zu stehen. +Russland selbst kommt die Annexion bislang durchaus teuer zu stehen, zumindest finanziell. Moskau zahlt bereits heute 75 Prozent des Krim-Haushaltes. Und um den Güter- und Reiseverkehr zwischen der Krim und Russland zu erleichtern, soll eine 19 Kilometer lange Brücke über die Straße von Kertsch errichtet werden. Ein patriotisches Prestigeprojekt für geschätzte 3,5 Milliarden Euro (228 Milliarden Rubel). Ob sich diese Investition tatsächlich rechnet, bleibt abzuwarten. +Aus den Schlagzeilen ist das Thema Krim indessen erst einmal wieder weitgehend verschwunden. Syrien, die Flüchtlingskrise, der Terror undDaeshbeschäftigen die internationale Medienöffentlichkeit zurzeit mehr. Was nicht bedeutet, dass die internationale Staatengemeinschaft untätig bleibt. Die US-Regierung verschärfte im Dezember ihre Strafmaßnahmen gegen Russland, und auch die EU hat ihre Sanktionen verlängert. NachEinschätzung von Expertenist dennoch kaum zu erwarten, dass sich die russische Führung den Forderungen nach einer Rückgabe der Krim an die Ukraine in naher Zukunft beugen wird. +Die Firma Coca-Cola hat es in dem andauernden Konflikt um die Krim geschafft, sowohl Ukrainer als auch Russen zu verärgern. Zum neuen Jahr veröffentlichte Coca-Cola eine Grußkarte im beliebtesten sozialen Netzwerk Russlands. Darauf zu sehen: eine Karte der Russischen Föderation – ohne die Krim. Nach vielfachen Beschwerden änderte Coca-Cola die Karte. In der neuen Version gehörte die Krim zu Russland, woraufhin nun ukrainische Internetnutzer protestierten und zum Boykott aufriefen. Eine hausgemachte Krim-Krise – mit einer einfachen Lösung: Um nicht länger zwischen den Fronten zu stehen, entschied sich der Softdrink-Konzern, die Karte zu löschen. Der Konflikt um die echte Krim wird sich nicht ganz so einfach beenden lassen. diff --git a/fluter/nura-habib-omer-im-interview.txt b/fluter/nura-habib-omer-im-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..743e7105c4d9f75fe670144c8b91419c016ff6e3 --- /dev/null +++ b/fluter/nura-habib-omer-im-interview.txt @@ -0,0 +1,34 @@ + +fluter.de: In deinem Buch erfährt man, dass du als Teenager ein großer Nu-Metal-Fan warst und eher wenig Kontakt mit Hip Hop hattest. Deine Mutter wiederum war von Nu Metal wenig begeistert. War das auch ein bisschen die Absicht dabei? +Nura Habib Omer: Na ja, also zunächst einmal fand ich die Musik einfach gut. Meine Mutter verbot mir dann aber, sie zu hören. Sie sagte immer, dass sie ihr in den Ohren wehtäte und mir schaden würde. Meine Geschwister haben mehr Hip-Hop und R&B gehört. Das fand sie in Ordnung, weil es softer klang. Dabei war das textlich natürlich viel heftiger, was Themen wie Frauen, Sex, Drogen betrifft. Linkin Park haben ja eigentlich total sensible Texte. Aber meine Mutter konnte eben nicht so gut Englisch, im Gegensatz zu mir. Ich hatte mir die Sprache schon zu Grundschulzeiten einigermaßen selbst beigebracht. Da war ich noch ein richtiges Streberkind. +Deine Mutter sagt im Buch, dass du und deine Geschwister euch als Einwanderer in der Schule immer doppelt anstrengen sollt, damit ihr in Deutschland irgendwann als vollwertige Bürger akzeptiert werdet. War das für dich im Nachhinein ein guter Ratschlag? +Das war ein absolut guter Ratschlag. +Hast du nicht auch irgendwann mal gesagt:Warum werde ich mit einem anderen Maß gemessen? +Nein, denn egal, ob man diese Realität nun gut fand oder nicht: Sie hatte an sich ja vollkommen recht damit. + +Als sie klein war, sei sie ein "richtiges Streberkind" gewesen, sagt Nura Habib Omer. Hier feiert sie ihren fünften Geburtstag + +Du beschreibst deine Grundschulzeit als sehr idyllisch. Erst auf der Gesamtschule gibt es Probleme – so viele, dass du irgendwann keine Lust mehr hast, überhaupt hinzugehen. Was war passiert? +Ich glaube, der große Unterschied war, dass ich auf der Grundschule noch ein Kind war und auch so wahrgenommen wurde. Auf der Gesamtschule wurde ich plötzlich sexualisiert und objektifiziert als weiblich, als Schwarz. Das war eine sehr kritische Phase, man musste ja gerade selbst mit seinem sich langsam verändernden Körper klarkommen, und dann kamen noch Leute von außen, die einen bewerteten und aburteilten. +In der Beschreibung einzelner Personen bist du sehr konkret im Buch. Einen deiner Brüder nennst du einen "Teufel", den anderen einen "Trottel". Sind die glücklich damit? +Bei meinen Brüdern ist natürlich alles, was ich über sie sage, immer mit einem Augenzwinkern zu verstehen. Wobei mein einer Bruder eben tatsächlich ein Teufel war, der sich permanent mit meiner Mutter angelegt hat. Und mein anderer Bruder ist ja längst kein Trottel mehr, sondern hat beruflich die krasseste Erfolgsgeschichte von uns allen hingelegt: vom Knast zum Hotelfachmann mit Frau und Hund. Das Buch ist aus Interviews entstanden, die Jan Wehn mit mir, meiner Mutter, meinen Brüdern und anderen geführt hat. Insofern durften die eh alle auch ihre Perspektive einbringen. +Es tauchen im Buch immer wieder einzelne Menschen auf, die deinem Leben entscheidende Impulse gegeben haben: deine Musiklehrerin zum Beispiel oder die Talkshow-Moderatorin Arabella Kiesbauer. Siehst du dich mittlerweile auch selbst als eine solche Figur für andere, die zu dir aufschauen? +Ich hoffe, dass ich das sein kann. Früher dachte ich: Fernsehen, Showbiz, das können Schwarze Menschen in Deutschland nicht machen. Bis ich Arabella Kiesbauer gesehen habe. Da dachte ich dann: Krass, die sieht aus wie ich und hat eine eigene Show! Das könnte ich sein! Solche Identifikationsfiguren sind unglaublich wichtig. +Deine eigene Geschichte liest sich im Buch trotz Schulproblemen, Schwierigkeiten mit der Ausländerbehörde und privaten Schicksalsschlägen wie eine harmonische Erfolgsstory. Jeder Rückschlag scheint dich stärker zu machen. Fielen dir rückblickend wirklich keine Momente ein, bei denen du dachtest: Das war ein Riesenfehler? +Nein, solche Momente gab es tatsächlich nicht. Ich kann echt guten Gewissens sagen, dass wirklich alles, was ich erlebt habe, mir irgendwo weitergeholfen hat. +Was ist mit der Tatsache, dass du schon seit Jahrzehnten in Deutschland lebst und trotzdem nur eine Niederlassungserlaubnis hast, weil du für den deutschen Pass erst nachweisen musst, dass du acht Jahre hier Steuern gezahlt hast: Inwiefern hilft dir so eine Erfahrung weiter? +Natürlich war ich immer sauer, wenn mir Steine in den Weg gelegt wurden. Ich finde schon, dass man das im Buch auch merkt, wenn ich etwa die Abläufe in der Ausländerbehörde beschreibe, diese ewige Bürokratie. Vielleicht bin ich aber einfach nicht so nachtragend wie andere. + + + + +Du sprichst in deinem Buch auch über Depressionen: In deiner ersten eigenen Wohnung in Wuppertal liegst du wochenlang bei zugezogenen Vorhängen im Bett. Ein paar Seiten später bist du glücklich in Berlin, machst Musik und stehst kurz vor dem Riesenerfolg mit SXTN. Wie kam es zu diesem Wandel? +Ich glaube, so banal das klingt, dass Berlin da den Unterschied gemacht hat. Ich habe mir hier ein völlig neues Selbstbewusstsein aufbauen können, unter neuen Leuten, die mich erst einmal herzlich aufnahmen und bei denen ich nur über meine Vergangenheit reden musste, wenn ich das wirklich wollte. Das war ein richtiger Neustart, wobei es auch dort natürlich noch depressive Momente gab. +Solo bist du nun sehr politisch unterwegs, setzt dich etwa für Sea Watch oder Black Lives Matter ein. War dieser Aktivismus zu SXTN-Zeiten bei dir früher auch schon da, aber noch nicht so sichtbar? +Privat war das schon immer da. Ich habe lustigerweise gerade erst neulich von Facebook eine Erinnerung bekommen, so einen Archiv-Post von 2013, wo ich zu einer Gegendemo zu einem Nazi-Aufmarsch in Kreuzberg aufgerufen habe. Mittlerweile habe ich natürlich eine viel größere Reichweite. Und dadurch, dass ich nun solo unterwegs bin, kann ich auch ganz frei für mich sprechen und muss mich bei politischen Botschaften nicht mit anderen koordinieren. +In einer Szene des Buches kommt deine gläubige Mutter mit dir zu einer queer-feministischen Party nach Berlin – und findet diese Welt total faszinierend. Du beschreibst, wie du in dem Moment merkst, dass ihr euch und euren Lebensstil nach Jahren der Auseinandersetzungen endlich respektiert. Ist das wirklich ein Prozess, der nun abgeschlossen ist? +Nein, der Prozess dauert natürlich weiter an. Meine Mutter versteht oder mag noch längst nicht alles, was ich so tue oder sage. Aber mittlerweile haben wir eine Art der Kommunikation gefunden, bei der ich ihr Dinge, die sie nicht versteht oder ablehnt, erklären kann. Das ist das Entscheidende. + + +"Weißt du, was ich meine?" (208 Seiten, 15,99 Euro) ist im Ullstein-Verlag erschienen. + diff --git a/fluter/oben-und-unten.txt b/fluter/oben-und-unten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b4ca41237c89faa90e378529387d693e48f1dd7e --- /dev/null +++ b/fluter/oben-und-unten.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Nicht einer der multinationalen Konzerne, die das Kupfer fördern, ist in sambischer Hand. Der Bergbausektor des Landes wurde Ende der 1990er-Jahre privatisiert. Die Weltbank stellt diesen Privatisierungsprozess – weltweit einer der schnellsten – als den erfolgreichsten im südlichen Afrika dar. Das Staatsunternehmen Zambia Consolidated Copper Mines wurde unter strenger Aufsicht von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) aufgespalten. Eine der zwei Konzessionen wurde für die Mine in Mufulira vergeben. An den Stacheldrahtzäunen, die das Minengelände umgeben, klettern Kinder auf den Rohren herum. In weißer Farbe steht auf ihnen geschrieben: "Nicht auf den Pipelines laufen, nicht daraufsetzen!" Die Leitungen enthalten ein flüssiges Gemisch aus dem Kupferabbau. Abraumhalden, aufgeschichtet aus den Sedimenten der Mine, verdecken stellenweise den Blick auf die Förderanlagen. Auf dem Gipfel dieser kleinen schwarzen Gebirge stehen bewaffnete Wachposten. Lastwagen fahren heraus, beladen mit Kupferplatten. Andere sind mit einem silberfarbenen Tank ausgestattet, darauf die Warnung: "Vorsicht! Säure!" +In Kankoyo, jenem Stadtteil von Mufulira, der unmittelbar an das Bergbaugelände grenzt und mehr als 30.000 Einwohner hat, wird der Minenkomplex noch sichtbarer. Bläulicher, weißer und schwarzer Rauch steigt aus einem unglaublichen Wirrwarr gigantischer Rohre, Leitungen und Trichter auf. Die Luft brennt beim Einatmen, der Geschmack im Mund ist metallisch und unangenehm. "Centa" heißt das giftige Gas in Kankoyo, das aus den Anlagen strömt: Schwefeldioxid. Das Husten lässt sich nicht unterdrücken, beim Einatmen schmerzt der Brustkorb. Christophers Haus besteht aus zwei Räumen unter einem rostzerfressenen Blechdach. Alle Dächer des Viertels sind in diesem Zustand. Alle sind vom sauren Regen gezeichnet. Im Kontakt mit Wasser verwandelt sich Schwefeldioxid in Schwefelsäure. Das macht aus den Regenfällen eine echte Bedrohung, die Böden werden unfruchtbar. +Christopher hat sieben Kinder mit seiner Frau, die nur "Mutter von Junior" genannt wird – so heißt der älteste Sohn, der zwölf ist. Cleopatra, mit 17 Jahren die älteste Tochter, hat gerade ihr nur wenige Monate altes Baby verloren. Vor zwei Wochen hat sie es beerdigt. Doch richtig kann sie das immer noch nicht begreifen. "Mein Kind ist nicht an einer Krankheit gestorben", sagt sie. Zwischen Dezember 2008 und Juni 2009 kam es in der Mopani- Mine zu Massenentlassungen. Etwa 3.000 Bergleute mussten gehen. Die Hälfte der Arbeiter sind Leiharbeiter, sie waren als Erste dran. Ihr Lohn ist nur halb so hoch wie der von fest angestellten Kollegen – bei gleicher Arbeit. Auch Christopher bekam als Leiharbeiter seine Kündigung. Seitdem fehlt ihm das Geld für Essen und Strom. Den bekommen die Bergbauunternehmen, die den größten Teil der im Land erzeugten Elektrizität verbrauchen, zum Vorzugstarif. +Wütend betritt Christopher mal wieder den Social Club. Es ist elf Uhr vormittags, und viele Gäste sind schon jetzt völlig betrunken. Christopher deutet mit dem Arm in die Runde: "Wer arbeitet hier? Niemand. Ich bin arbeitslos, weil Mopani sagt, dass sie keine Gewinne machen …" "Du, pass auf, dich wird man festnehmen und einsperren", droht ihm ein Wachposten der Mine. 1964 erlangt Sambia die Unabhängigkeit. Es verstaatlicht in den folgenden Jahren seine Minen, erwirtschaftet damit Gewinne und ermöglicht seiner Bevölkerung den Zugang zum Bildungs- und Gesundheitswesen. 1975 ist sein Bruttoinlandsprodukt auf dem Stand von Portugal. Doch dann fallen infolge der Erdölkrise die Rohstoffpreise, ohne dass die noch junge afrikanische Volkswirtschaft die Zeit hatte, sich zu diversifizieren. Die Einnahmen aus dem Kupferexport schmelzen dahin. Auf Anraten von IWF und Weltbank nimmt Sambia Kredite auf. Doch Anfang der 1980er-Jahre folgt die zweite Katastrophe: Die US-Zentralbank erhöht die Zinsen, die europäischen Banken ziehen nach, und Sambia muss von einem Tag auf den anderen um das Dreifache gestiegene Zinsen zahlen. Im Juli 1989 fordern die Gläubiger schließlich die sofortige Rückzahlung der Schulden, falls die Reformen von Weltbank und IWF nicht umgesetzt werden. Zu denen gehören die Zerschlagung des öffentlichen Dienstes und die Privatisierung der Minen. IWF und Weltbank raten Sambia, Investoren ins Land zu holen. Der Minenbetrieb durch multinationale Konzerne soll alle Probleme lösen. +Im Jahr 2000 werden die Minen verkauft – Kritiker sagen: zu Schleuderpreisen. Entgegen allen Studien von IWF und Weltbank schnellen ab 2004 die Kupferpreise wieder in die Höhe. Doch für Sambia kommt dieser Aufschwung zu spät, denn dem Land gehört fast nichts mehr von seinen Bodenschätzen. Savior Mwambwa sitzt hinter einem Aktenstapel. Wir sind in einem der besseren Viertel von Lusaka, der Hauptstadt Sambias. "Glaubt man den Worten von Mopani, so machen sie niemals Gewinne, sondern verlieren ständig Geld. Und sie entlassen, ohne dass wir etwas dagegen sagen können, denn das liegt an der Krise … Die Bergbauindustrie nutzt Entlassungen als Druckmittel gegen die Regierung. Und das funktioniert: Unser neues Steuergesetz, das bedeutende Staatseinnahmen ermöglicht hätte, wurde fallen gelassen." Der studierte Volkswirt Savior ist Aktivist. Er leitet das Zentrum für Handels- und Entwicklungspolitik, eine sambische Nichtregierungsorganisation, die in Afrika die Kapitalflucht anprangert. Er ist davon überzeugt, dass Sambia seine Entwicklung selbst finanzieren könnte, wenn die Rohstoffkonzerne das zahlen würden, was sie ihrem Gastland schulden. +Savior hat schon einiges erreicht: Nach jahrelanger Geheimhaltung wurden die zwischen der Regierung Sambias und den Minengesellschaften geschlossenen Privatisierungsverträge 2007 veröffentlicht. Sie legen fest, dass Sambia auf Jahre hinaus kaum von seinen Rohstoffen profitiert. Es geht darin um Stellenabbau, hundertprozentige steuerliche Abschreibungen, Befreiung von Importzöllen für Maschinen. Die Laufzeit der im Jahr 2000 abgeschlossenen Verträge beträgt 20 Jahre. Als die Verträge dank Savior an die Öffentlichkeit kamen, lösten sie einen Skandal aus. Erstmals erkannten die Sambier die Ursachen für ihre Armut. Über die Hälfte des sambischen Kupfers wird laut Savior in die Schweiz exportiert, die achtmal mehr sambisches Kupfer kaufe als China. Natürlich benötigt die Schweiz so viel Kupfer nicht, es gibt eine andere Erklärung: Mopani gehört Glencore, einem der weltgrößten Rohstoffkonzerne, mit Sitz im schweizerischen Baar. "Unternehmen wie Glencore verbuchen die Gewinne in extra dafür in Steuerparadiesen angesiedelten, verbundenen Unternehmen. Und diese verkaufen das Kupfer innerhalb des Konzerns weiter. Man weiß nie, zu welchem Preis, aber offenbar machen die Minen dabei Verluste. Sie haben die besten Anwälte und Buchhalter der Welt. Sie machen, was sie wollen", sagt Savior. +In Norwegen fließen rund 70 Prozent der Gewinne aus den Erdölexporten in die Staatskasse. In Sambia liegt dieser Anteil unter fünf Prozent. Von den zwölf in Sambia operierenden multinationalen Konzernen hat 2009 nur ein einziger in seiner Steuererklärung Gewinne angegeben. Doch dem Land entgeht nicht nur das Geld, es bekommt zusätzlich immense Umweltprobleme aufgebürdet. "Das Kupfer wird mit Säure herausgelöst, anschließend in Reservoirs gespeichert und dann an die Oberfläche gepumpt", erklärt ein Glencore- Berater die neu entwickelte, effektive Fördermethode. Dabei gelangen täglich große Mengen Schwefelsäure direkt in die unteren Bodenschichten. Diese Technik verursacht verheerende Umweltschäden, doch sie ist rentabel: Man kann das Kupfer schneller und mit weitaus weniger Arbeitskräften fördern. Unterhalb der Lagerstätten, in die täglich Hunderte Liter Schwefelsäure gespritzt werden, befindet sich das Trinkwasserreservoir der städtischen Gesellschaft Mulonga Water. Ein Pumpensystem sollte eigentlich verhindern, dass dort Säure eindringt. Weil eine Pumpe ausfiel, vergifteten sich im Januar 2008 über 800 Personen mit dem Trinkwasser. Einer davon war Junior, Christophers ältester Sohn. +Im Kampf gegen diese Machenschaften wurde Christopher zu Saviors wichtigstem Verbündeten, als Sprecher für die Opfer der Massenvergiftung und Gründer der Organisation "Green and Justice". "Wir wollen für diejenigen sprechen, die keine Stimme haben, und das anprangern, was hier in unserer Gemeinde passiert", sagt Christopher, und Savior ergänzt: "Mopani nimmt unser Kupfer, verseucht unsere Umwelt und zahlt kaum Steuern. Wir können sie verklagen. Das ist möglich, kostet aber Zeit …" Niemand in Mufulira wurde für die Vergiftung entschädigt. Mopani hat ein Bußgeld von etwa 100 Dollar gezahlt und weiter mit Schwefelsäure gefördert. Charles Mwandila, Verwaltungschef der Gemeinde Mufulira, zeigt eine Wasseranalyse. "Man spricht von ,Emissionen', in Wirklichkeit handelt es sich aber um Vergiftung." Seit 2000 halte sich Mopani nicht an die in Sambia geltenden Normen für den Ausstoß von Schwefeldioxid in die Atmosphäre. Im Juli 2009 habe der Schwefeldioxidanteil 72-mal über den sambischen Grenzwerten gelegen. Mopanis Konzernmutter Glencore erklärte im November 2011, dass man die Schwefeldioxidemissionen schon jetzt um die Hälfte auffange und bis Ende 2013 auf 97 Prozent kommen wolle. +Auch in und um die Pipelines herum befinden sich Abfälle von Mopani, ein Gemisch aus Chemikalien, Wasser und Sand. Sie durchlaufen keinen einzigen Filter und ergießen sich in der Regenzeit in einen Nebenfluss des Butondo, der ein paar Kilometer weiter in das wichtigste Wasserreservoir des Landes mündet. Im Juni 2007 wurde Mopani bereits angeklagt, den Luanshimbo- Bach verschmutzt zu haben. Die Untersuchungsbehörde bekam keinen Zugang zur Mine, und Mopani gab an, die Lizenz zur Einleitung ihrer Abwässer in den Bach erhalten zu haben. Doch in Kankoyo sind alle zuversichtlich, dass sich bald etwas ändert. "Green and Justice" hat Zeugenaussagen gesammelt. Es wird ein langwieriges, kompliziertes Verfahren werden, doch die Opfer im Süden Afrikas wollen sich nichts mehr gefallen lassen. Im kleinen Wohnzimmer von Christopher werden ein paar Gläser geleert, es wird Rumba getanzt. Die "Mutter von Junior" lacht das erste Mal. Endlich erfährt man ihren Vornamen: Maevis. Nur Christopher ist weg. Wenn er glücklich ist, gönnt er sich eine Runde Billard. +Mehr zum Thema gibt´s bei der "Erklärung von Bern" (www.evb.ch), einer Schweizer NGO, die sich für eine gerechtere Globalisierung einsetzt und unter anderem dieses Buch herausgegeben hat: "Rohstoff – Das gefährlichste Geschäft der Schweiz", Salis Verlag Zürich diff --git a/fluter/oberflaechlich-und-ein-bisschen-bloed.txt b/fluter/oberflaechlich-und-ein-bisschen-bloed.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2935129db6313053cbb97f03baebbc5032409b59 --- /dev/null +++ b/fluter/oberflaechlich-und-ein-bisschen-bloed.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Trotzdem liegt für Sie ein Dreh- und Angelpunkt der Modegeschichte im späten 18. Jahrhundert. Warum? +Was wir heute unter Mode verstehen, hängt mit einer bestimmten Struktur zusammen, die um die Französische Revolution herum entstand. Damals fand ein Wechsel der Hauptoppositionen statt: Während die Mode vorher die Stände voneinander abgrenzte – den Adel vom Klerus und diesen von den Bürgern und Bauern –, haben wir seit der Revolution, während derer alle Menschen Brüder wurden, eine Mode, die vor allem die Geschlechter trennt. Die Opposition männlich-weiblich und ihre Zersetzung bestimmt bis heute die Dynamik dessen, was wir als Mode verstehen. +Mode – ein Laster der Frauen? In diesem Fall eher nicht +Relativ neu ist der schnelle Rhythmus, in dem heute neue Mode auf den Markt kommt. Bei H&M oder Zara hängen alle zwei Wochen neue Kleider. +Der erste Modedesigner, der sich einen Namen machte, war im Zweiten Kaiserreich der Engländer Charles Frederick Worth mit seinem Modehaus in Paris. Schon zu seiner Zeit wurden feste Termine für die Modenschauen eingeführt. Die Haute Couture, also die hohe Schneiderkunst, schreibt den Modehäusern vor, dass sie zwei Kollektionen im Jahr mit je 35 Kleidern machen müssen – früher waren es lediglich fünf Kleider. Nach dem Ersten Weltkrieg kamen die sogenannten Croisière- oder Ressort-Kollektionen dazu, also Zwischenkollektionen von leichten Kleidern für Kreuzfahrten in warme Gefilde, die am Anfang und am Ende des Winters unternommen werden. +Folgt die Industrie damit einem Bedürfnis der Kunden oder hat sie dieses erst geschaffen? +Das Ganze folgt, wie schon Emile Zola in seinem Roman "Das Paradies der Damen" illustriert, schlicht und einfach einem kapitalistischen Gesetz: je schneller der Warenumschlag, desto höher der Umsatz, desto spektakulärer der Gewinn. Interessant daran ist: Indem die Mode den Kapitalismus mit ihrem Hunger nach dem immer Neuen vorantreibt, hebelt er wiederum ihre zeitliche Struktur aus. Wenn das Angebot alle 14 Tage ausgetauscht wird, kann von Kollektionen ja keine Rede mehr sein. Der Rhythmus geht verloren. Insofern kann man fast von einem neuen strukturellen Umbruch sprechen. +Was sagt dieses System über uns als Gesellschaft aus? +Diese Art von Modeindustrie verkörpert alles, was falsch läuft in der Welt: gedankenloses Konsumieren, das auf einem Wohlstandsgefälle zwischen der westlichen und der restlichen Welt basiert, die Schere zwischen Arm und Reich, Raubbau an der Natur, die Ausbeutung von Arbeitern in Schwellenländern. Und jedes Mal, wenn jemand ein T-Shirt für zwei Euro kauft, ist das außerdem eine massive Missachtung des Gegenstandes. Sobald man ihn hat, ist man fast schon wieder angeekelt davon. So ein Verhalten kann man geradezu bulimisch nennen – eine Störung. +Bulimischer Konsum? Die Primark-Tüte wird dafür gern als Symbol genommen +Wird das irgendwann enden? +Die Frage ist, wie lange die Menschen in Entwicklungsländern noch bereit sind, zu diesen Bedingungen zu arbeiten. Ich halte die jetzige Situation für ein Übergangsphänomen, das keinen Bestand haben kann. Das wird juristisch geklärt werden. Im März 1911 starben bei einem Brand in der New Yorker Triangle Shirtwaist Factory 146 Menschen, meist junge Frauen. Danach wurden rigoros neue Brand- und Arbeitsschutzgesetze erlassen. Das Äquivalent dazu ist der Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch im Jahr 2013 mit mehr als 1100 Toten. Wenn ein Unternehmen wie Primark Millionen an die Opfer dieses Unglücks zahlen muss, ist das ein Anzeichen des Wandels in die richtige Richtung. +Ist es nicht merkwürdig, dass manche Leute Kleidung von Primark tragen und gleichzeitig sehr genau darauf achten, dass sie nur Bio-Lebensmittel kaufen? +Ich glaube, das liegt daran, dass unser Verhältnis zu unserer zweiten Haut nicht intim genug ist. Wir sind dickhäutig gegenüber dem, was wir tragen, wir halten Mode für etwas Äußerliches. Dagegen ist das Nachdenken darüber, was wir uns einverleiben, fast zur Religion geworden. Hierzulande gelten das Nachdenken und das Bescheidwissen über Mode als oberflächlich und ein bisschen blöd. Und es wird meist den Frauen überlassen. +Es war nicht immer so, dass Mode als weiblich besetztes Feld galt, das Männer nicht so sehr zu interessieren hat – oder nur, wenn sie schwul sind. +Lange Zeit waren die Männer das schönere, das prunkendere, das herausgeputztere Geschlecht. Schauen Sie sich zum Beispiel den Film "Flucht nach Varennes" an. Dort tritt als Inbegriff des Ancien Régimes Casanova extrem aufwendig zurechtgemacht auf: von Kopf bis Fuß in hautengen cremefarbenen Kleidern, geschminkt mit Rouge und roten Lippen, Schönheitspflästerchen und gepuderten Haaren. Mit der Französischen Revolution ändert sich das. Anders als dem Adel geht es dem Bürger nicht mehr darum, zu repräsentieren, sondern darum, zu leisten. Wenn man aber leisten muss, muss man so aussehen, als ob man keinen Gedanken mehr an seine Äußerlichkeiten verschwände. Die Aristokratie schreibt sich in den bourgeoisen Frauen fort, die ja nicht denken, handeln oder Ämter bekleiden müssen oder dürfen. Sie sind ab dato diejenigen, die in Erscheinung treten und repräsentieren. +Die Uniform des leistenden Bürgers ist der Anzug. +Der Anzug wird das ikonische Kleidungsstück des Mannes der Moderne, ein globaler Erfolg. Darin sehen alle mehr oder weniger gleich aus, man ist funktional gekleidet, der Körper tritt zurück. Man tritt stattdessen durch Leistung und Intellekt in Erscheinung. +Und weil Mode in die Sphäre der Frau übergetreten ist, wird sie heute als etwas Oberflächliches und Banales angesehen? +So ist es. Mode gilt als der eitle und frivole Schein der Oberfläche, als Spielplatz der Frauen. Die werden dafür aus allem herausgehalten, was den bürgerlichen Mann definiert – Amt, Leistung, Gelderwerb, Autorität, Macht. Wie der französische Philosoph Edmond Goblot sagt: "Die Bourgeoisie ist eine Klasse, die ihre Frauen nicht arbeiten lässt." +Wie deuten Sie es, wenn Männer auf einmal Dutt tragen oder Gucci und Burberry in ihren Sommerkollektionen für das nächste Jahr Spitzenhemden für den Mann zeigen? +Diese Anleihen geschehen im Zeichen der Mode und daher immer im Zeichen des Weibisch-Weiblichen. Die Mode geht den Weg zurück zum modischen Mann. Angefangen hat das kurz nach der Jahrtausendwende mit Hedi Slimanes schmalen Anzügen für Dior Homme. Die wirken wie das kleine Schwarze für den Mann: enganliegend und die Schlankheit des Körpers betonend. Insofern arbeitet die Mode hier massiv an der Dekonstruktion des Anzuges als der Ikone der Moderne. Gott sei Dank! +Warum macht Sie das so froh? +Ich finde diese in Reformation und Aufklärung zementierte Opposition deprimierend, die männlichen Geist gegen weibliches Fleisch, männlichen Geist gegen weiblich frivole Oberfläche setzt. Deswegen finde ich es gut, wenn die Mode Unordung in die Geschlechterordnung, das Andere wieder auf die Bühne bringt und sich davon befreit, ein "Laster der Frauen" zu sein. +Barbara Vinkenist Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Romanische Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und unterrichtete zuletzt in New York, Paris und Chicago. Die "glamouröseste Professorin Deutschlands", wie sie die Kunstzeitschrift "Monopol" einmal nannte, schreibt für "Die Zeit", "NZZ" und "Cicero" und ist häufig im Fernsehen zu Gast. 2013 wurde ihr Buch "Angezogen" für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. +Die Berliner JournalistinAnne Waakist großer Fan des modischen Spiels mit den Geschlechtern. Sie hält den David Bowie der 70er Jahre für den schönsten Mann der Welt. diff --git a/fluter/oberth-mellem-erfindung-des-countdown-interview.txt b/fluter/oberth-mellem-erfindung-des-countdown-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a8184997bd1aef904fe88f93d7706f7df50378de --- /dev/null +++ b/fluter/oberth-mellem-erfindung-des-countdown-interview.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +fluter.de: Du hast 2016 in Physik promoviert und danach das Deutsche Literaturinstitut Leipzig besucht. Wann bist du zum ersten Mal auf Hermann Oberth gestoßen? +Daniel Mellem: Ich kannte Oberth lange nicht. Das klingt wahrscheinlich überraschend, weil ich Physik studiert habe. Vor fünf Jahren bin ich dann über den Film "Frau im Mond" von Fritz Lang auf ihn gestoßen und war sofort fasziniert von seinem Leben, das voller Sehnsüchte und Verfehlungen steckt. Oberth war ein Getriebener, ein Eigenbrötler, ein prähistorischer Nerd – und eine streitbare Figur der Zeitgeschichte. +Der Regisseur Fritz Lang hatte Oberth 1928 als Berater für die wissenschaftliche Richtigkeit der Raumfahrtszenen engagiert, außerdem sollte er für Werbezwecke zur Filmpremiere eine Rakete bauen, was aber misslang. Nur einer von vielen Momenten, in denen der Traum des Physikers vor seinen Augen platzt. Warum hast du dem Scheitern so viel Raum gegeben? +Oberth hat ein sehr unstetes Leben geführt, ist ständig umgezogen, hat seiner Vision von der Raumfahrt alles andere untergeordnet. Darüber hat er unter anderem auch seinen Job als Lehrer in Siebenbürgen verloren, weil er nach Geldgebern in Deutschland gesucht hat. Das Scheitern ist zentral für sein Leben. Er ist gescheitert, weil die Umstände ihn haben scheitern lassen – aber eben auch an sich selbst. Für mich ist das Faszinierende an dieser Figur, dass Oberth sich trotz vieler Enttäuschungen nicht von seinem großen Traum abhalten ließ. Und am Ende ein Utopist war, der die Erfüllung seiner Utopie – die Mondlandung – doch noch miterleben durfte. +Vorher tötete die von ihm mitkonstruierte "V2"-Rakete im Zweiten Weltkrieg zwischen 8.000 und 12.000 Zivilisten, 20.000 Zwangsarbeiter kamen beim Bau unter unmenschlichen Bedingungen ums Leben. Hat Oberth seine Verantwortung als Wissenschaftler der Erfüllung seines Lebenstraums untergeordnet? +Um sein Handeln zu verstehen, hilft es, glaube ich, sich seine Biografie anzuschauen: Oberth hatte imErsten Weltkriegseinen Bruder verloren. Ich denke, die Rakete war aus seiner Sicht eine Möglichkeit, nie wieder einen solchen Krieg führen zu müssen – weil sie den Feind abschreckt. Wenn man ihn selbst damals gefragt hätte, hätte er vermutlich geantwortet: Einer Rakete würden weniger Menschen zum Opfer fallen als durch den Stellungskrieg im Ersten Weltkrieg. Das ist eine fatale Denkweise, aber das war seine Logik – nachzulesen ist das in seinem Werk "Wege zur Raumschifffahrt" von 1929. +Seit 1939 entwickelte ein Team deutscher Ingenieure unter der Leitung von Wernher von Braun in Peenemünde auf Usedom die Flüssigkeitsrakete "A4". Die "A4" – von Propagandachef Joseph Goebbels "Vergeltungswaffe 2" (V2) getauft – sollte eine Antwort auf die Luftangriffe der Alliierten sein, vor allem aber auch den Durchhaltewillen der deutschen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg stärken. Die "A4" war so konstruiert, dass sie Sprengstoff mithilfe eines per Flüssigtreibstoff befeuerten Triebwerks über mehrere Hundert Kilometer weit transportieren konnte. Damit war sie die erste Rakete, die die Grenzen des Weltraums streifte. Im Oktober 1942 erreichte die "V2" bei ihrem ersten erfolgreichen Flug eine Höhe von 84,5 Kilometern; nach 295 Sekunden stürzte sie knapp 200 Kilometer östlich von Peenemünde in die Ostsee. Ab September 1944 wurde die Waffe erstmals im Krieg eingesetzt: Obwohl ihre Treffsicherheit gering war, tötete sie vor allem in London und Antwerpen zwischen 8.000 und 12.000 Zivilist*innen. Etwa doppelt so viele Menschen kamen bei der Montage der Waffe ums Leben: 20.000 KZ-Häftlinge starben in den Bergwerksstollen des "KZ Mittelbau-Dora", wo die Rakete ab 1943 produziert wurde, an Hunger, Krankheit oder Erschöpfung. Heute geht man davon aus, dass die Rakete keinen Einfluss auf den Kriegsverlauf hatte. Einige Jahre nach Kriegsende, als Russland im Oktober 1957 den ersten Satelliten und im April 1961 den ersten Menschen ins Weltall geschossen hatte, griffen die Amerikaner auf das Team von Wernher von Braun zurück und ließen die "V2" zu einer Mondrakete weiterentwickeln. 1969 fand mit der "Apollo 11" die erste bemannte Raumfahrtmission mit einer Mondlandung statt. + +Diese fast schon kindlich-naive Vision kollidiert erheblich mit folgendem Satz, den Oberth in einer Rede 1962 gesagt haben soll: "Ich hatte gehofft, eine Raketenwaffe zu finden, die den Schandvertrag von Versailles hätte zerschlagen können. Das ist mir nicht gelungen." +Mit solchen Zitaten umzugehen war eine Herausforderung. Natürlich habe ich mich gefragt: Kann ich eine Aussage vom alten Oberth dem jungen Oberth in Rechnung stellen? Eine abschließende Antwort konnte ich nicht finden. Auf jeden Fall aber verdeutlichen Zitate wie dieses für mich, wie sehr die Rakete als Waffe in Oberths Gedanken eine Rolle gespielt hat – er wollte den Krieg zwar verhindern, aber eben in dem Sinne, dass die Deutschen den Frieden erzwingen können. Als ich begann, den Roman zu schreiben, wünschte ich mir, dass Oberth ein idealtypischer Wissenschaftler ist. Diese Sicht musste ich aufgeben, weil Wissenschaft nun mal von Menschen gemacht wird, die sich auch in politischen Kontexten bewegen. Es ist ein Irrglaube, dass Technologie immeretwas Progressives in sichträgt. Technologie kann man für jede Ideologie missbrauchen – auch für eine menschenverachtende wie die imNationalsozialismus. Das zeigt das Leben von Hermann Oberth. +Als Rumäniendeutscher macht "Hermann", wie du Oberth in deinem Roman nennst, permanentDiskriminierungserfahrungenin Deutschland. Trotzdem nimmt er Kontakt zu Hitler auf und arbeitet für den SS-Sturmbannführer Wernher von Braun. Wie lässt sich das erklären? +Oberth war ein Mensch voller Widersprüche. Die Rakete war etwas, worüber er sich profilieren und sich als nationalistisch denkender "Volksdeutscher" zeigen konnte. Ich habe mir seine Verstrickungen im Nationalsozialismus erst nach und nach erschlossen und musste mit Schrecken feststellen, dass er mit dem nationalsozialistischen Deutschland sympathisiert hat. Wegweisend war eine Publikation des kanadischen Historikers Michael J. Neufeld, in der beschrieben wird, dass Oberth unter anderem einen Brief an Hitler persönlich geschrieben habe, um für die Waffe zu werben. So gesehen war er einer, der von der Zukunft träumte und selbst ganz verhaftet war in seiner nationalsozialistischen Gegenwart. +Gegen Ende des Romans schilderst du einen Ehestreit, bei dem Oberths Frau Tilla ihn für eine rechtsextreme Publikation in einer Broschüre kritisiert. Im echten Leben trat Oberth 1965 in die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) ein und schrieb den Text "Der Mut zur Wahrheit. Mein Weg zur NPD". War er ein Nazi? +Ohne die Kenntnisse biografischer Details ist es verführerisch, Oberths NPD-Mitgliedschaft als Altersverirrung zu deuten. Ich glaube, auch diesbezüglich spielt die nationale Identität wieder eine Rolle. Die NPD war eine Partei, die ihn, der aus Siebenbürgen kam, als "ganzen" Deutschen anerkannt und sogar als Galionsfigur genutzt hat. Ich könnte mir vorstellen, dass ihm das geschmeichelt hat. Auch war Oberth vom Naturell her jemand, der von einer Überzeugung nur schwer lassen konnte. Das merkt man auch in Bezug auf seine politischen Positionen. +Im Nachwort schreibst du, dass sich Oberth auch antisemitisch geäußert habe. Warum sparst du dieses Thema in der Erzählung aus? +Ein schwieriges Thema, das mich sehr beschäftigt hat. Es gab mal ein allgemeines Gutachten eines Historikers zu Oberth, in dem es heißt, er sei "trotz vermutlicher NS-Sympathien kaum belastet". Tatsächlich war Oberth nach meiner Recherche wohl nicht in der NSDAP, aber laut eigener Aussage doch immerhin Mitglied der nationalsozialistischen Selbsthilfe in Rumänien. Antisemitische Äußerungen habe ich zum Beispiel in der Fußnote eines Aufsatzes von 1932 gefunden – und in Oberths Briefen aus dieser Zeit. Man kann sich fragen: Ist das jetzt Opportunismus, weil er zu der Zeit unbedingt nach Deutschland möchte, oder ist es tatsächlich seine ideologische Überzeugung? Eine Frage, die ich als Schriftsteller nicht beantworten kann. +Entziehst du dich damit nicht der eigenen Verantwortung für deinen Protagonisten? +Als Autor sehe ich mich dreifach in der Verantwortung. Zum einen wollte ich die historische Person gerecht behandeln – das habe ich gespürt, als ich vor Oberths Grab stand. Ich wollte nicht urteilen, wo ich nicht urteilen kann. Zweitens trage ich auch eine Verantwortung gegenüber seiner Lebenswelt, in der seine Verfehlungen Schreckliches nach sich gezogen haben. Und drittens bin ich verantwortlich für die literarische Erzählung, die in sich schlüssig sein muss. Auch nachdem ich den Text abgeschlossen habe, stelle ich mir noch viele Fragen. +Daniel Mellem, Jahrgang 1987, lebt in Hamburg. Sein Roman "Die Erfindung des Countdowns" ist bei dtv erschienen und kostet 23 Euro. +Titelbild: Karoly Forgacs/ullstein bild via Getty Images diff --git a/fluter/oeffentliche-verkehrsmittel-meiden.txt b/fluter/oeffentliche-verkehrsmittel-meiden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ac4a717e89fb13dafb9a35b330c3bc9323b31f42 --- /dev/null +++ b/fluter/oeffentliche-verkehrsmittel-meiden.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Schon wieder ein Anschlag in Istanbul.47 Tote am Flughafen, darunter die drei Attentäter und 239 Verletzte. Das Sandwich, das ich in der Hand habe, schmeckt auf einmal nicht mehr so richtig. Ich bin aber auch nicht traurig oder wütend oder verzweifelt. Ich bin auf der Suche nach der passenden Emotion, aber ich finde nichts. Es sei denn, man betrachtet Bauchschmerzen als eine Emotion. +Ich habe im letzten Semester in Istanbul an der Galatasaray-Universität Politische Theorie und Philosophie studiert. Bevor ich losgefahren bin, hat mich die Erasmus-Koordinatorin meiner Uni in Deutschland noch mal in ihr Büro bestellt und gesagt: "Sie müssen nicht fahren, und Sie können sich jederzeit umentscheiden und werden keine Nachteile haben." Das war kurz nach den Anschlägen auf dem Sultan-Ahmed-Platz auf die deutsche Reisegruppe am 12. Januar 2016. Ich bin trotzdem gefahren. +Auf der Webseite des Auswärtigen Amtes steht, man solle Menschenansammlungen, insbesondere vor touristischen Attraktionen und auf öffentlichen Plätzen meiden, die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel auf das Notwendigste beschränken und die kurdischen Gebiete im Osten möglichst nicht bereisen. Außerdem wird zu besonderer Vorsicht geraten bei Reisen über Land. Dass mir diese Ratschläge im Alltag in Istanbul nicht helfen werden, ist schnell klar. +Laut TurkStat, dem Statistikamt der Türkei, lebten hier 2015 über 14,6 MillionenMenschen. Also viermal Berlin plus einmal Hannover – mindestens! Die Liste der Warnhinweise liest sich daher eher wie eine Beschreibung meines Tagesablaufes: morgens über den öffentlichen Platz durch große Menschenansammlung zu den öffentlichen Verkehrsmitteln laufen und nach der Uni mit Freunden aus Deutschland die touristischen Attraktionen besichtigen, etwa den Großen Basar oder die Hagia Sophia. +Am 18. März, einen Tag vor dem Anschlag auf derİstiklâl Caddesi, einer der großen Einkaufsstraßen Istanbuls, die den Taksim-Platz mit dem Galata-Turm verbindet, gehe ich mit Freunden aus. Es ist kurz vor Nouruz, dem kurdischen Neujahrsfest, und in der ganzen Türkei gilt eine Terrorwarnung. Wir treffen uns bei Nesli und Vahid in der Wohnung in der Nähe des Taksim-Platzes, hören Techno, trinken Rotwein und unterhalten uns über die Anschläge in der Türkei. Später wollen wir noch ausgehen. +Nach einer durchgetanzten Nacht laufen wir über dieİstiklâl zum Bus. Die Sonne geht auf, und wir reden wieder über die Terrorwarnungen, darüber, warum Terrorismus als politisches Mittel so erfolgreich ist und wie die Angst vor Anschlägen von der politischen Rhetorik mobilisiert wird. Als ich am 19. März aufstehe und meinen Facebook-Account checke, sehe ich Bilder von der Straße, über die ich ein paar Stunden vorher gelaufen bin. Es gab einen Anschlag, vermutlich durchDaesh– es hat fünf Tote und über 30 Verletzte gegeben. +Obwohl ich in Istanbul viel näher an den Anschlägen war, habe ich durch dieselben Medien wie in Deutschland von ihnen erfahren: Facebook, Twitter, Spiegel Online und für die Hintergründe die "taz" und den "Guardian". Einerseits war ich viel näher dran, aber andererseits genauso weit weg wie zu meiner Zeit als Student an der Uni in Witten. Deswegen ist es für mich so schwer, dazu ein Gefühl zu entwickeln. +Streetlife Istanbul: Wenn es im Grunde überall passieren kann, dann sehen viele Menschen auch wieder keinen Sinn darin, sich in ihren Häusern zu verkriechen +Klar, manchmal hatte ich schon Angst und habe auch überlegt abzubrechen. Paradoxerweise waren es vor allem die Sicherheitsmaßnahmen, die mich verunsichert haben, weil sie mir das Risiko ins Bewusstsein gerufen haben: +Polizisten mit Maschinengewehren, die meine Tasche kontrollieren, auf der Fähre, oder die die Warnhinweise der deutschen Botschaft aus Ankara in meinem E-Mail-Postfach. Es hilft auch nicht, ständig die Nachrichten zu checken, denn wenn es etwas zu berichten gibt, ist man entweder schon betroffen oder sowieso in Sicherheit. Und Anschläge passieren nicht nur in Istanbul, sondern auch in Paris und in Brüssel. Niemand weiß, wo die Terroristen morgen zuschlagen werden. +Erasmus-Semester in Istanbul? Ich würde mich wieder dafür entscheiden. "Amazing" ist sicher nicht das richtige Wort für diese Stadt, aber wie wäre es mit "spannend"? Auch wenn es ausgelutscht klingt, Istanbul ist die Schwelle zwischen dem Nahen Osten und Europa. In dieser Stadt stoßen Kulturen aufeinander, diese Stadt konfrontiert dich mit der Realität, und sie ist immer in Bewegung. Wenn du kommst, erwartet Istanbul dich nicht, und wenn du gehst, vermisst dich Istanbul nicht. Ich werde Istanbul vermissen, und ich werde wiederkommen. diff --git a/fluter/oekodorf-sieben-linden-reportage.txt b/fluter/oekodorf-sieben-linden-reportage.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..da00a0f2a6ea264ff0f72df8fd76453138407dda --- /dev/null +++ b/fluter/oekodorf-sieben-linden-reportage.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +An einem ähnlich ungemütlichen Novembertag im Jahr 1996 stand Felkl selbst zum ersten Mal hier im Schlamm. "Einige von uns hatten sich ihr Ökodorf am Strand vorgestellt oder zumindest an einem Fluss", erzählt sie. Was sie stattdessen fanden: ein Stück altmärkischer Kiefernwald und ein Bauernhaus mit zerfallenem Stall. Das Ziel der Gruppe: ein Leben in Gemeinschaft undmit einem möglichst kleinen CO2-Fußabdruck.Acht Jahre dauerte es von der Idee bis zum Einzug der ersten Sieben- Lindner:innen. Heute wohnen etwa 140 Menschen im Ökodorf, 40 davon Kinder und Jugendliche. Auf dem Gelände stehen elf Wohnhäuser, die die Genossenschaft selbst gebaut hat, und einige Bauwagen. Es gibt Büros, Künstlerateliers, eine Unterkunft für Besucher:innen, einen Waldkindergarten und verschiedene Werkstätten. Insgesamt umfasst das Dorf über 100 Hektar Land, dazu gehören Bauland, verpachtetes Ackerland und selbst bewirtschaftete Gemüsegärten für die Lebensmittelversorgung sowie Waldfläche für Holz zum Heizen. Irgendwann sollen hier 300 Menschen leben, so die Vision. + + +Die Besucher:innen sind vor einem Haus zum Stehen gekommen, das aussieht wie ein gewöhnlicher Neubau in einer Wohnsiedlung am Stadtrand. Auf dem Balkon dreht sich ein kleines Windrädchen. Doch es ist kein gewöhnlicher Neubau: Der Putz ist aus Lehm, die Wände mit Stroh gedämmt. Fast alle Materialien für den Hausbau stammen aus der näheren Umgebung und sind ökologisch abbaubar.Der Bau verbrauchte so besonders wenig Energie.Gleichzeitig muss dank der effizienten Strohdämmung wenig geheizt werden. Einige der Häuser im Ökodorf verfügen sogar über ein Solardach und produzieren so rund 65 Prozent des Stroms, den sie verbrauchen. Insgesamt ist der CO2-Fußabdruck der Sieben-Lindner:innen um zwei Drittel kleiner als der der Durchschnittsdeutschen. +Felkl läuft weiter durch den Schlamm, bis sie haltmacht vor zwei Holzschuppen. Rampen für Schubkarren führen zu einer Öffnung in der Wand. Auf diesem Kompost werden die Fäkalien der Bewohner:innen und Besucher:innen entsorgt. In Sieben Linden wird zum Klospülen kein Wasser verwendet. Jedes Klo ist eine sogenannte "Trocken-Trenn-Toilette", bei der Urin und Fäkalien separiert werden. Das Abwasser aus dem Dorf, inklusive Urin, wird in der Pflanzenkläranlage gereinigt. Die Fäkalien werden im Holzschuppen deponiert und teilweise als Dünger verwendet. +Nach der Führung sitzt Eva Stützel, Dorfmitbegründerin, im Besucherzentrum beim Mittagessen. Es gibt Curry, Bulgur, Kartoffelsalat und Kraut. "Früher sagten wir: Wir wollen zeigen, dass ein gutes Leben mit wenig Geld möglich ist. Diesen Satz haben wir mittlerweile aus unserem Vokabular gestrichen", sagt sie. Es ist wohl der größte Widerspruch des Projekts: Jeder und jede, die sich ein ökologisches Leben in Gemeinschaft wünscht, darf nach Sieben Linden kommen. Aber für eine Aufnahme im Ökodorf brauchen Anwärter:innen 25.000 Euro Eigenkapital für Genossenschaftsanteile. Beim Auszug werden die zwar zurückgezahlt, aber man muss sie eben erst einmal aufbringen. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum nach Sieben Linden mehr Akademiker:innen als Nichtakademiker:innen ziehen. "Wenn jemand herziehen will, aber zu wenig Geld hat, finden wir eine Lösung", sagt Stützel. So gebe es etwa solidarische Genossenschaftsmitglieder, die für andere zahlen, ohne selbst im Dorf zu wohnen. Manche bekämen auch Unterstützung aus dem Freundeskreis oder von der Familie. Aber: Der hohe Betrag schrecke wohl trotzdem einige Leute ab. + +Sieben Linden soll keine Insel sein, das betonen die Sieben-Lindner:innen oft. Doch das war nicht immer so: Zu Beginn war es den Pionier:innen ein Anliegen, eine räumliche Distanz zum nächsten Dorf Poppau zu wahren. "Wir wollten hier unser Ding machen, ohne dass wir mit Nachbarn über die Gestaltung der Vorgärten diskutieren müssen", sagt Eva Stützel. Heute sitzt sie als Einzige aus dem Dorf im Gemeinderat. Stützel rät in ihren Seminaren zum Gemeinschaftsaufbau, lieber in bereits bestehende Infrastruktur zu investieren, statt neue zu bauen. "Nur weil wir hier draußen unser Dorf aufgebaut haben, musste die Busfahrtgesellschaft ein neues Stück Boden versiegeln für die Haltestelle", seufzt Stützel. Das ökologische Leben ist ein ständiges Abwägen zwischen Kosten und Nutzen, zwischen Utopie und Realismus – ein Leben mit Kompromissen. + +Auch innerhalb der Dorfbevölkerung müssen Kompromisse eingegangen werden. Es gibt Alte und Junge. Leute, die im Dorf angestellt sind, und solche, die außerhalb arbeiten. Veganer und Fleischesserinnen. An diesem Konflikt wäre die Dorfgemeinschaft einmal fast zerbrochen: Die einen wollten Nutztiere halten, Eier und Milch im Dorf verarbeiten. Die anderen wollten eine komplett vegane Ernährung auf dem Gelände. Der Kompromiss war: Auf dem Gelände werden keine Nutztiere gehalten, außer den Alpakas für Dünger. Dafür besorgen sich diejenigen, die das wollen, ihre Eier und Kuhmilch woanders. +Solche Entscheidungen werden im Dorf in den sogenannten Räten getroffen. Dort wird gerne mal stundenlang debattiert. Das Gemeinschaftsleben erfordert Sitzfleisch. Die Corona-Pandemie war nach der Tierhaltung die zweite Zerreißprobe der jüngeren Vergangenheit. +Nichts verpassen? Mit unseremNewsletterbekommst du alle zwei Wochen fünf fluter-Highlights +Das Dorf bildet das gesamte Meinungsspektrum in Bezug auf die Pandemie ab: Einige kommen nicht mehr zu gemeinschaftlichen Veranstaltungen, aus Angst, sich zu infizieren. Andere demonstrieren neben Querdenkern gegen die Maßnahmen der Regierung. +Jonas Duhme haben die Corona-Diskussionen an die Schmerzgrenze gebracht. Der 32-Jährige sitzt mit einer Tasse Tee in der Raucherecke, einer überdachten Holzlounge hinter dem Besucherzentrum, und sagt: "Mit ein paar wenigen Leute hier rede ich darüber nicht mehr."Besonders geärgert habe ihn ein Prospekt, der Falschinformationen verbreitete,den jemand im Dorf ausgelegt hatte. +Duhme kam vor drei Jahren nach Sieben Linden, als er für ein Buch, ein Verzeichnis von Ökodörfern, recherchierte. Während der Arbeit meldete sich bei ihm auch eine rechtsextreme völkische Siedlung, die ins Verzeichnis aufgenommen werden wollte. Duhme lehnte ab. Doch fortan beschäftigten ihn die "grünen Braunen" – und Duhme blieb im Ökodorf. Seither ist Sieben Linden im lokalen Bündnis gegen Rechts und grenzt sich klar von völkischen Ökobewegungen ab +Bisher gelang es den Sieben-Lindner:innen, ihre Konflikte zu lösen oder beiseitezuschieben – um in anderen Bereichen an der gemeinsamen Utopie weiterzubauen. Beim Thema Corona sei das besonders schwierig, sagt Duhme. "Ich habe gelernt, mit diesen Widersprüchen umzugehen. Und akzeptiert, dass ich die anderen Menschen nicht ändern kann. Wir müssen nicht in jedem Bereich Gemeinschaft sein", sagt Duhme. diff --git a/fluter/oelpreis-aktienmarkt-einfach-erkl%C3%A4rt.txt b/fluter/oelpreis-aktienmarkt-einfach-erkl%C3%A4rt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b5f7ba1fffadda2a4eb2fe8aa726b859c8804f20 --- /dev/null +++ b/fluter/oelpreis-aktienmarkt-einfach-erkl%C3%A4rt.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +"Ich habe drei Nächte kaum geschlafen",sagteShah der Nachrichtenagentur Bloomberg. "Ich hatte das Gefühl, dass mir alles genommen würde." Was war passiert? Und warum hat der Ölpreis Auswirkungen auf die ganze Welt? + +Wie für jedes andere Produkt gilt auch für Öl grundsätzlich: Der Preis entsteht durch Angebot und Nachfrage. Ein Preissturz entsteht also durch ein extremes Überangebot oder einen Einbruch der Nachfrage. +Dass der Ölpreis fällt, ließ sich bis vor kurzem noch mit einem Blick aus dem Fenster erklären: Weniger Autos auf den Straßen bedeuten weniger Ölverbrauch. Mit denCorona-Ausgangsbeschränkungenging der Verkehr weltweit enorm zurück: Wo sonst 60 Prozent des geförderten Erdöls Autos, Lkws, Schiffe und Flugzeuge antreiben, wurde global rund ein Drittel weniger Öl gebraucht. Die Folge: Es gab mehr Rohöl als benötigt, der Preis fiel historisch tief. +Seit Maisteigt der Preisder zwei wichtigsten Ölsorten, West Texas Intermediate (WTI) und Brent, wieder langsam: auf heute 39,99 US-Dollar bzw. 42,19 US-Dollar pro Barrel (159 Liter). Am 20. April konnte der Preis aber kurzzeitig sogar ins Negative rutschen (bis zu -40 US-Dollar für WTI), weil die Öllager übervoll waren. Händler*innen wie Syed Shah mussten nun dafür zahlen, dass ihnen das Rohöl abgenommen wird. "Solange die Lager so voll sind, kann das immer wieder passieren. Der Negativpreis hat nichts mit dem eigentlichen Wert des Öls zu tun", sagt Dora Borbély, Rohstoffanalystin bei der DekaBank. "Das Problem ist, dass es kurzfristig Lagerengpässe gibt." +Plötzliche Preisveränderungen haben also nur indirekt mit dem Wert eines Rohstoffs zu tun. Sie sind hauptsächlich das Produkt besonderer Handelstätigkeiten. Denn Rohöl wird nicht nur physisch gehandelt wie Kartoffeln auf dem Wochenmarkt. Öllieferungen brauchen Vorlauf: Man kauft heute ein Fass und wird erst in ein paar Wochen beliefert. In der Zwischenzeit kann viel passieren. Darauf baut der Handel mit sogenannten "Futures" oder "Terminverträgen": Ein*e Verkäufer*in verpflichtet sich damit, den Käufer*innen eine bestimmte Menge Öl zu einem bestimmten Termin und Preis zu liefern. +Händler*innen wie Syed Shah besitzen kein physisches Öl und wollen auch gar keins haben. Ihr Geschäftsmodell ist es, Verträge günstig einzukaufen und später zu einem besseren Preis wieder zu verkaufen. Bei diesem Handel kann jeder mitspielen, der ein Aktiendepot hat – und keine Angst vor dem Totalverlust. +Shahs Ölvermögen besteht nur auf dem Papier – bis zum Stichtag. Jeden Monat gibt es einen Zeitpunkt, an dem die Verträge auslaufen und tatsächlich Öl geliefert werden muss. Für Syed Shah, der sich im Schnäppchenrausch mehr als 200.000 Barrel Öl gesichert hatte, wurde am Stichtag im April aus einer Spekulation ein neun Millionen US-Dollar schweres Problem. Normalerweise verkaufen die Händler*innen ihre Verträge an diesem Tag an "echte" Ölgroßhändler, die den physischen Rohstoff lagern oder nutzen können. Weil es aber keine Nachfrage nach Öl gab und die Lager der Großhändler randvoll waren, ließen sie Spekulant*innen wie Shah stehen. Das führte zu der einmaligen Situation, dass der Ölpreis ins Negative fiel und die Spekulant*innen draufzahlen mussten, um ihre Ölpapiere loszuwerden. +Die Frage dabei ist: Welcher ist der "echte" Ölpreis? Der kurzfristige, der vom Bauchgefühl der Händler*innen bestimmt wird, oder der langfristige, der sich an den Absatzmärkten der Industrie orientiert? +"Wir sehen viele kurzfristige Schwankungen des Ölpreises, weil der von der Stimmung der Händler abhängig ist", sagt die Analystin Borbély. Glauben die Händler*innen an den Aufschwung der Weltwirtschaft? Für wie schlimm halten sie die wirtschaftlichen Einbußen durch die Krise? Befürchten sie einen zweiten Lockdown? All diese Einschätzungen beeinflussen, wie der Rohstoff Öl gehandelt wird. +Die Großhändler würden sich zwar an den kurzfristigen Preisen orientieren, weil sie eine Signalwirkung haben, sagt Borbély. Langfristig aber bestimme sich der Preis darüber, wie viel Erdöl gefördert wird und wie wichtig es in der Welt ist. "Solange wir den Rohstoff brauchen, um Personen und Waren zu transportieren, um Energie zu erzeugen, um die chemische Industrie am Laufen zu halten, stabilisiert sich der Preis nach jedem Absturz wieder." Das beobachten wir gerade: In den vergangenen Wochen ist der Ölpreis schon wieder moderat gestiegen. +Weil sich kein Erdölstaat eine Blöße geben will. Zur Erinnerung: Je weniger Öl auf dem Markt, desto höher der Preis. Warum die erdölfördernden Staaten ihre Produktion nicht sofort gedrosselt haben, als wahrscheinlich wurde, dass die Nachfrage durch die Corona-Krise einbricht? Weil der Erdölmarkt eine Art Mutprobe ist: Wer die Produktion zuerst drosselt, verliert zunächst Geld, weil die anderen Staaten mehr Erdöl verkaufen können. Wer weiterfördert, demonstriert Macht und nimmt trotz des niedrigen Preises relativ am meisten Geld ein – auch auf die Gefahr hin, den Markt dauerhaft zu schädigen. Hinzu kommt, dass sich manche Fördertechniken schwer unterbrechen lassen, wenn das Öl erst mal sprudelt, insbesondere beim Fracking. (Einer Förderungstechnik, bei der mit Druck Gesteinsschichten aufgebrochen werden.) Deswegen wird auf den Weltmeeren auch Öl in riesigen Tankern gelagert. +In den Wochen vor dem Ölcrash wurde sogar verhandelt, wie alle gleichzeitig weniger Öl fördern könnten. Die 13 OPEC-Staaten (ein Zusammenschluss 13 erdölexportierender Länder), angeführt von Saudi-Arabien, saßen mit zehn Nicht-OPEC-Mitgliedern zusammen, darunter Russland. Der weltgrößte Ölproduzent fehlte: Die USA hatten die Ölförderung aufgrund der fallenden Marktpreise schon drosseln müssen. +Russland wollte seine Ölförderung zunächst nicht drosseln. Eine Provokation, auf die Saudi-Arabien mit der Ankündigung reagierte, noch mehr Öl zu fördern als vorher. Expert*innen gehen davon aus, dass Russland darauf gesetzt hatte, die niedrigen Preise länger durchhalten zu können als Saudi-Arabien und so der US-amerikanischen Ölindustrie zu schaden: Der droht die Pleite, wenn der Ölpreis langfristig unter 40 US-Dollar bleibt. +Am Ende einigte sich die Länder, ihre Ölförderung geschlossen zu senken. Ab Anfang Mai sollte für mindestens zwei Monate täglich 9,7 Millionen Barrel weniger gefördert werden, das entspricht rund zehn Prozent der weltweiten Rohölproduktion. Noch im April haben die OPEC-Staaten und Russland trotz des Beschlusses mehr gefördert, schätzt die Analystin Borbély. "Absprachen sind schwer zu beschließen und noch schwerer einzuhalten."Am Ende können nur die Förderdaten für Juni zeigen, ob nicht doch ein Staat die Mutprobe gewinnen will – und die liegen noch nicht vor. +Für die meisten Industrienationen ist ein niedriger Ölpreis eine gute Nachricht, er gilt als Konjunkturpaket. Denn Öl ist nicht nur im Transportwesen gefragt: 40 Prozent werden zum Heizen und als Basisstoff für die chemische Industrie verwendet. Erdöl ist also in fast jeder Firma ein Produktionsfaktor – sei es, um die Firma zu heizen, um die Güter von A nach B zu transportieren oder weil Vorprodukteaus erdölbasierten Kunststoffen gefertigtsind. Erdöl findet sich in Düngemitteln, Medikamenten, Salben, Farben, Kosmetika, Waschmitteln, Matratzen, Schläuchen, elektronischen Geräten, Textilien oder Sneakern. +Weil der Rohstoff so allgegenwärtig ist, steigen mit dem Ölpreis auch die Produktionskosten. Die wälzen viele Hersteller*innen auf die Verkaufspreise und damit auf die Kund*innen ab. Mit steigenden Ölpreisen wird alles teurer – auch wenn die Menschen noch immer gleich verdienen. Diesen Vorgang nennt manInflation, er kann ein ernstes Problem für die Volkswirtschaft werden. Das zeigt: Öl beeinflusst das gesamte Wirtschaftsgeschehen – zumindest solange wir keine Alternativen verwenden. +Länder wieVenezuela, der Irak, Ecuador oder Syrien, die stark von Ölexporten abhängig sind, müssen massive Einbußen befürchten. Bei dauerhaft niedrigen Ölpreisen stünden sie sogar vor dem Staatsbankrott. +Auffällig viele ölreiche Länder sind auch politisch instabil: die vier genannten, aber auch Saudi-Arabien, Iran, Russland oder Libyen. Expert*innen nennen das den Ressourcenfluch: Die Länder können ihre günstige Rohstofflage kaum für einen gesellschaftlichen Aufschwung nutzen, weil die Erdölförderung meist nur einer kleinen Elite dient. Und die hütet sich, ihren Reichtum zugunsten einer vielfältigen Wirtschaft oder gebildeten Bevölkerung einzusetzen. +Übrigens: Auch Donald Trump muss einen dauerhaften Tiefpreis fürchten: In den USA könnten weite Teile der Frackingindustrie pleitegehen, wenn der Preis dauerhaft unten bleibt. Ob die großen Ölunternehmen den US-Präsidenten dann im anstehenden Wahlkampf unterstützen, ist fraglich. Expert*innen glauben aber nicht, dass es so weit kommt. "Die Branche wird von der US-Regierung geschützt, ihr Überleben ist auch ein politisches Anliegen", sagt auch Dora Borbély. +Kurz gesagt: alle, die Öl verbrauchen. In erdölimportierenden Ländern wie Deutschland stärkt der niedrige Preis zum Beispiel den Konsum und die Wirtschaft. Denn niedrigere Treibstoffkosten für Schiffe, Flugzeuge, Lkw und Busse machen meist auch die Produkte im Supermarkt ein bisschen preiswerter. Und dasReisenmit dem Auto sowieso. (Auch wenn man selbst bei einem erneuten Negativpreis für Öl nicht damit rechnen kann, an der Zapfsäule Geld geschenkt zu bekommen: Allein dieEnergiesteuermacht bei Benzin 65 Cent und bei Diesel 47 Cent pro Liter aus.) +Trotzdem kann ein niedriger Ölpreis auch die Verbraucher*innen in Deutschland teuer zu stehen kommen – wenn man die Folgekosten mitdenkt. Jedes Barrel Öl, das aus dem Boden geholt wird, verschärft denKlimawandel: Für die Bohrung werdenWälder gerodet, Menschen umgesiedeltund das arktische Ökosystem zerstört. Und die größte Menge des geförderten Öls wird in Form von Benzin, Diesel und Kerosin verbrannt – was große Mengen Kohlenstoffdioxid freisetzt. +Dieser Teufelskreis aus umweltschädlicher Förderung und klimaschädlicher Nutzung dreht sich weiter, wenn die Menschen weltweit unterwegs sind und konsumieren können. Insofern reduzieren die Reise- und Ausgangsbeschränkungen der Corona-Pandemie auch die CO2-Emmissionen. Die Umsätze der Branche könnten einbrechen wie nie zuvor. ExxonMobile hat, wie viele andere Ölkonzerne, bereits angekündigt, 2020 einige Milliarden Dollar weniger investieren zu wollen. Da es im Moment nicht mal genug Lagerkapazitäten für das vorhandene Billigöl gibt, werden die Konzerne auf große Förderabenteuer in der Arktis oder in der Tiefsee wohl vorerst verzichten. +So rückt die Abkehr von der Ölabhängigkeit unserer Wirtschaft mit der globalen Pandemie plötzlich näher: Noch vergangenes Jahr prognostizierte die Internationale Energie Agentur (IEA), dass der globale Ölverbrauch sich in den kommenden 20 Jahrenum neun Prozent erhöhenwürde. Nach dem coronabedingten Absatzeinbruch werden diese Prognosen neu berechnet werden müssen. Die IEA geht aber vorerst davon aus, dass der niedrige Ölverbrauch die globalen CO2-Emissionen 2020 um acht Prozent senkt. Nicht mal dieFinanzkrise 2008konnte für einen so großen Rückgang sorgen. Für die Umwelt und das Klima heißt das: erst mal aufatmen. + +Und was wurde aus Syed Shah und seinen neun Millionen Dollar Ölschulden? Der 30-Jährige kam glimpflich davon. Das Computersystem von Interactive Brokers, über das er seine Geschäfte tätigte, hatte den Händler*innen nicht nur den falschen Ölpreis angezeigt, sondern sich auch aufgehangen: Die Handelsplattform verweigerte schließlich jeden Ölhandel. Selbst wenn Shah gewollt hätte, hätte er seine Terminverträge also an diesem Tag nicht rechtzeitig verkaufen können. +Die Betreiber der Plattform kündigten an, die Schulden der Händler*innen auf eigene Kosten zu begleichen. Der Gründer, Thomas Peterffy, ist übrigens zigfacher Milliardär. Sein Vermögen hat er an der Börse gemacht. + + diff --git a/fluter/ofer-loewinger-kulturbahnhof-leisnig.txt b/fluter/ofer-loewinger-kulturbahnhof-leisnig.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/offen-fuers-geschaeft.txt b/fluter/offen-fuers-geschaeft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a2d81ddc83409bbcf54844caf40630c2f039ea9f --- /dev/null +++ b/fluter/offen-fuers-geschaeft.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Wenn Kubaner von den cambios sprechen, dann meinen sie damit: Das sozialistisch regierte und weitgehend abgeschottete Kuba öffnet sich zunehmend – für Besucher und fürs Geschäft. Das Land braucht dringend Devisen. Seit die Sowjetunion zusammengebrochen ist und Venezuela – wegen des Ölpreisverfalls und der auch daraus entstandenen Wirtschaftskrise selbst eher knapp bei Kasse – nicht mehr von Hugo Chávez regiert wird, fehlen viele ideologisch nahe Handelspartner. Gleichzeitig entspannt sich dieschwierige Beziehung zum Erzfeind USA. Gerade hat Barack Obama Kuba besucht, als erster amtierender US-Präsident seit 1928. Die Rolling Stones haben zum allerersten Mal ein Konzert auf der Insel gespielt, und durch die Altstadt von Havanna schieben sich so viele Touristen wie durch Rom. + + +Doch auch im eher verschlafenen Morón hat sich das Leben radikal verändert, nachdem Präsident Raúl Castro 2010 Reformen vorstellte, die es den Kubanern erlauben, selbstständig zu arbeiten sowie ihre Immobilien zu verkaufen, die früher nur getauscht werden durften. Davor waren alle Betriebe staatlich, vom Schuhe Putzen bis zu Managerposten in Luxushotels wurden sämtliche Jobs von der Regierung vergeben und kontrolliert. Vor allem im Dienstleistungssektor ist die Privatisierung schnell vorangeschritten. Geschäfte haben die Leute schon vorher gemacht, jetzt ist es auch legal."Im Grunde hat Castro mit den Reformen den Schwarzmarkt legalisiert, der seit dem Ende der Sowjetunion in Kuba entstanden ist", sagt Michael Zeuske. Er ist Professor für iberische und lateinamerikanische Geschichte an der Uni Köln und schreibt gerade am letzten Kapitel seiner "Kleinen Geschichte Kubas". Bald nach derkubanischen Revolutionlebte er in den 60er-Jahren mit seinen Eltern in dem Land und hat es seitdem immer wieder besucht. "Das Straßenbild ist nun überall ein ganz anderes. Früher konnte man kaum einen Kaffee bekommen, jetzt gehen sogar Kubaner ins Restaurant." +Altmodische Kutschen sieht man öfter auf den Straßen Kubas, so wie hier in Sancti Spíritus: "Das ist die einfachste und schnellste Art, hier Geld zu verdienen." +Das stimmt auch für Morón. Um sich einen Restaurantbesuch leisten zu können, sind dort nun viele Einwohner mit Fahrradrikschas und Kutschen unterwegs und bringen Fahrgäste von A nach B. , sagt Reinier*, der auf seinem Kutschbock gerade Pause macht. Der 23-jährige Reinier arbeitet offiziell als Schachlehrer in einer staatlichen Einrichtung für Jugendliche. Dort verdient er 480 kubanische Pesos im Monat, umgerechnet knapp 20 Euro, was etwa dem Durchschnittslohn entspricht. Damit kommt man auch in Kuba nicht weit. Jeder Artikel, der über die Grundversorgung hinausgeht, kostet ähnlich viel und oft sogar erheblich mehr als in Deutschland. + + +Deswegen geht Reinier nicht mehr zu seinem eigentlichen Job, sondern bezahlt einen Strohmann, der das für ihn erledigt. Dafür jemanden zu finden ist nicht schwer. Die Arbeitslosigkeit ist laut Experten gerade unter Jugendlichen weit höher als die offiziellen rund sieben Prozent. Dabei sind die meisten relativ gut ausgebildet. "Auf der Kutsche verdiene ich den Monatslohn in einer Woche, wenn es schlecht läuft", sagt Reinier. Es läuft gut, wenn er einen Touristen fahren kann. Denn die zahlen nicht in kubanischen Pesos, sondern in der begehrten zweiten Währung, dem Peso Convertible. "Hartes Geld", sagt Reinier. Auf Kuba kann man viele Dinge nur mit der "Touristen-Währung" kaufen. +Dinge, die nicht zum Grundbedarf zählen, kann man auf Kuba oft nur mit dem Peso Convertible kaufen. Dafür gibt es Spezialläden wie diesen in Sancti Spíritus. +Eigentlich dürfen Leute wie Reinier, die nicht offiziell im Tourismus arbeiten, nicht mit Ausländern verkehren. Wer dabei erwischt wird und auf schlecht gelaunte und unbestechliche Polizisten trifft, kann dafür ins Gefängnis wandern. Dennoch versucht jeder, irgendwie mit den Touristen ins Geschäft zu kommen. Angeboten wird praktisch alles, hauptsächlich aber Zigarren und Rum. Wenn ein Tourist ein Taxi sucht, kann es passieren, dass ein vollbesetztes Privatauto anhält und die Familie des Fahrers aussteigt, um Platz zu machen. +Es gibt viele, die sich freuen, dass sie nun mehr Geld verdienen können. Einigen macht die Öffnung aber auch Angst. "Wenn es in Kuba wirklich einen freien Markt gibt, dann bleibt für die Kubaner schnell nichts mehr übrig", sagt Ricardo. Der 22-Jährige kommt aus Havanna, studiert aber in Hamburg. Auch Ricardos Familie macht in Tourismus, es läuft so gut, dass sie ihn fürs Studium nach Deutschland schicken konnte. Bis vor kurzem war es für Kubaner noch praktisch unmöglich, legal das Land zu verlassen. Eingeschrieben hat Ricardo sich für BWL. "Zu Hause kennt sich damit niemand aus, die würden von den Amerikanern sofort wieder ausgenommen wie vor der Revolution", sagt er. + + +Für Professor Zeuske liegt genau in dieser Angst das Kalkül der Regierung bei der vorsichtigen Öffnung. Immer noch lägen drei Viertel der Wirtschaft in ihren Händen. Wichtiger als Wachstum sei für sie Kontrolle, und dabei können auch die Reformen helfen. Der Staat habe eine Art Wette abgeschlossen, sagt er. "Wenn die Menschen mehr Geld und Besitz haben, haben sie auch mehr zu verlieren. Und der Staat kann sie beschützen." Gerade die Eigentumsfrage sei dabei entscheidend, denn viel Grund und Boden wurde den geflüchteten Kubanern abgenommen und an die Eliten der Revolution neu verteilt. Das Land wolle nun keiner wieder hergeben.Der Kutscher Reinier erhofft sich von den cambios vor allem einen neuen Untersatz. "In Panama haben sie Fahrradrikschas mit Elektromotor. So eine würde ich gern kaufen, wenn mein Pferd es nicht mehr macht." +* Kritik am Staat kann Kubaner in Bedrängnis bringen. Deswegen werden nur die Vornamen genannt. diff --git a/fluter/oh-boy.txt b/fluter/oh-boy.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..75e2d4e35abcf2e9ee5ac90f439b6e0464ea5bd3 --- /dev/null +++ b/fluter/oh-boy.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Eins ist klar: Männer müssen liefern. Familie, Schule, Freunde und Jobs richten oft gegensätzliche Erwartungen an sie. Männer sollen Verantwortung übernehmen, aber sich nicht vordrängeln. Attraktiv sein, aber auch nicht zu hübsch. In der Schule sollen sie nicht aggressiv sein, aber beim Fußball sitzen sie auf der Bank, wenn sie nicht aggressiv genug verteidigen. Das verunsichert junge und ältere Männer, die die verschiedenen Erwartungen in unterschiedlichen Kontexten nicht miteinander vereinbaren können und von den Veränderungen der Geschlechterrollen überfordert sind. Viele fühlen sich anscheinend bedroht durch selbstbewusste Frauen und den Verlust von gesellschaftlichen Vorteilen, die Männer früher genossen.  Die männliche Identität habe "sich seit Jahrhunderten primär über die Arbeitsleistung bestimmt" und daraus, "für die eigene Familie verantwortlich zu sein", sagt der Soziologe Walter Hollstein, Gutachter des Europarates für Männerfragen. "Bricht dieses Verständnis von Männlichkeit zusammen, brechen auch die Grundfesten von Männlichkeit weg." +Der Mann, das unverstandene Wesen? Dafür spricht, dass laut der neuesten Shell-Jugendstudie mehr als ein Viertel der jungen Männer glaubt, dass man allein genauso glücklich sein kann wie in einer Familie. Bei den jungen Frauen finden dies nur 16 Prozent. +Männerrechtler sprechen bereits von "Genderwahn", dem die Männer zum Opfer fielen, und gezielter Benachteiligung von Jungen – vor allem im Bildungssystem. Von der Kita bis zum Gymnasium – überall verwehre eine Übermacht von weiblichen Lehrpersonen den Jungen ihre Männlichkeit. Manche Bildungsforscher fordern, dass mehr Männer in Kindertagesstätten und Grundschulen unterrichten sollen, um Jungen Vorbilder zu bieten. Kritiker dieses Ansatzes halten dagegen, dass nicht allein mehr männliche Lehrer helfen, sondern mehr Nachdenken über Überforderung und Aggressionen. +Eins ist auffällig: Während viel diskutiert wird über Jungen und wie sie sein sollen, wird eigentlich viel zu selten mit ihnen selbst gesprochen. Also los in den Berliner Stadtteil Wedding, nachmittags auf einigen Schulhöfen herumgefragt: Was ist für euch eigentlich Männlichkeit, Jungs? +Für die Familie sorgen, heißt es dann, cool sein, gut Fußball spielen. Aber Einigkeit herrscht darüber nicht. Für die Familien sollen auch Frauen sorgen, findet ein Elftklässler. Cool sein habe nichts mit Männlichkeit zu tun, sagt ein Neuntklässler, das sei doch was für Macker. Und sein Freund sagt, dass er Fußball nicht mag. Er spiele lieber Tischtennis. +Und dabei wird deutlich: Die Jungen bilden keine einheitliche Gruppe und haben unterschiedliche Bedürfnisse. Ein einziger Bildungsansatz für sie alle greift offensichtlich zu kurz. Aber eins haben sie alle gemeinsam: Den Jungen ist vor allem wichtig, dass sie ernst genommen werden. Sie wollen, dass man ihnen zuhört. diff --git a/fluter/ohne-euro-wird-es-noch-teurer.txt b/fluter/ohne-euro-wird-es-noch-teurer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a3e397e1074c5184d2ca259cf916ed14315ff6e7 --- /dev/null +++ b/fluter/ohne-euro-wird-es-noch-teurer.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +War der Euro denn für Deutschland gut? +Deutschland hat immer in Zeiten fester Wechselkurse profitiert. Volkswirtschaftlich betrachtet liegt das an den realen Abwertungen. Das heißt: Die D-Mark oder der Euro waren zwar nominal fest gegen den Dollar, was ja sowohl die Idee des Bretton- Woods-Systems als auch des Euro war, aber in Deutschland waren die Lohnsteigerungen geringer. Dadurch wurde Deutschland jedes Jahr wettbewerbsfähiger, was man ja an den Exportüberschüssen erkennt. Deutschland war der große Nutznießer sowohl des Bretton-Woods-Systems als auch bei der Einführung des Euro. +Warum steckt der Euro immer wieder in der Krise? +Man hat damals nicht verstanden, welche Dynamik hinter einer Wirtschafts- und Währungsunion steckt. Und keiner hat klar gesagt, welche Konsequenzen der Euro für die Wirtschaftspolitik der Länder hat – auch, weil man die Euro-Kritiker beschwichtigen wollte, die um die Unabhängigkeit der einzelnen Länder fürchteten. Kein Land musste bei der Einführung des Euro seine politischen Strukturen anpacken, jeder hat weitergemacht wie vorher. Man hat sich damals auf eine lockere Vereinbarung mit allen EU-Ländern geeinigt, statt mit den Ländern, die den Euro bekamen, verbindliche Abkommen zu schaffen. Man hätte außerdem von Anfang an eine gemeinsame Finanzpolitik auf den Weg bringen müssen, also eine Fiskalunion. +Warum hat es die nicht von Anfang an gegeben? +Sie war politisch nicht gewollt, weil niemand gern Teile seiner Autarkie einbüßt. Da hatte man teilweise Angst, dass plötzlich die Steuerbehörden eines anderen Landes vor der Tür stehen. Also hat man sich eingeredet, dass niemand eine Fiskalunion brauche, weil sich eh alle an die Vorgaben halten werden. Das war ein Trugschluss. +Warum hängt ein geeintes Europa von einer gemeinsamen Währung ab? +Es kann kein geeintes Europa geben, in dem einige Staaten den Euro haben und andere nicht. Auf dieser Lüge baute der Euro auf, und das rächt sich jetzt. Wenn in Zukunft eine dringend notwendige Fiskalunion entwickelt werden sollte, wird man sich von EU-Ländern ohne Euro wie Großbritannien und Schweden entfernen. Kurz gesagt: Was den Euro rettet, wird die EU in der jetzigen Form zerstören. Denn dann stellt sich die Frage, ob die Nicht-Euro-Länder noch länger in einer Gemeinschaft sein wollen, mit der sie weniger zu tun haben. +Zuletzt wurde der sogenannte Rettungsschirm, der Gläubigern von EU-Ländern die Rückzahlungen absichert, um viel Geld erweitert. Was braucht es noch, um in Zukunft Krisen zu vermeiden? +Ich halte diese Maßnahmen für ungenügend, sie können nur Teil einer Lösung sein. Wir benötigen dringend eine Zentralbank, die als Käufer der letzten Instanz auftritt. Das bedeutet: Wenn es eine Institution gibt, die im wirklich großen Stil Staatsanleihen kaufen kann, verleiht das dem Euro die notwendige Stabilität, weil es andere Käufer beruhigt. Die 170 Milliarden Euro, die die Europäische Zentralbank derzeit hält, sind ja nur ein Bruchteil des Bruttoinlandsproduktes des EU-Währungsraumes. Das beeindruckt niemanden. Außerdem sollte es EU-Anleihen geben, also eine Staatsanleihe, mit der die EU-Länder gemeinsam Schulden am Finanzmarkt aufnehmen können. Mit diesen Eurobonds hätten wir den größten und attraktivsten Bondsmarkt der Welt. +Was ist eigentlich dieser Finanzmarkt? +Das ist keine unheimliche Macht, sondern im Grunde besteht der Finanzmarkt aus Menschen, die Renten anlegen oder auch Spareinlagen. Das sind also Anleger, die das Geld ihrer Kunden vermehren wollen. Ich kann mit den Verschwörungstheorien nichts anfangen. Wenn die Anleger das Vertrauen in eine gewisse Politik verlieren, investieren sie nicht mehr. Sinn macht eine Begrenzung der Bankengröße. Die sollten nur so groß sein, dass ihr Bankrott nicht ganze Volkswirtschaften gefährdet. +Es gibt ja neben den Banken Ratingagenturen, die europäische Staaten ab- und aufwerten. Haben die zu viel Macht? +Die Ratingagenturen werten ja auch Amerika ab. Die taugen nicht für Verschwörungstheorien. Das sind ja nicht nur amerikanische Agenturen, an einer davon sind Franzosen beteiligt. Agenturen sind prozyklisch. Wenn es bergab geht, sind die vornan, und deshalb gehen in der Krise, wenn die Schulden hoch sind, auch alle Ratings runter. Das kann man problematisch finden. +Wie kann man in Zukunft die Bevölkerung mehr einbeziehen? +Das wird kompliziert, aber es ist dringend notwendig. Wir brauchen eine effektive demokratische Kontrolle, und da ist das Europäische Parlament nicht ausreichend, weil es nicht nur die Länder vertritt, die den Euro haben, sondern auch die anderen. Man muss einen Weg finden, die nationalen Parlamente formell einzubeziehen. Es gibt Überlegungen, so ähnlich wie in Deutschland mit Bundestag und Bundesrat eine doppelte Kammer zu bilden. Das Europaparlament wäre in diesem Sinne das Unterhaus, und dann gäbe es noch einen Senat, in dem die Haushaltsausschüsse der entsprechenden Nationen vertreten sind. So käme es zu einer direkten Beteiligung der Parlamente. Es kann ja nicht sein, dass sich immer die Regierungschefs in Brüssel treffen, um etwas zu entscheiden, und dann um vier Uhr morgens aushandeln, was für alle verbindlich ist. Das ist keine richtige Demokratie. Das kann man mal machen, aber das ist einer Wirtschaftspolitik für den zweitgrößten Währungsraum der Welt völlig unangemessen. +Was würde denn passieren, wenn man den Euro wieder abschafft? +In Deutschland würde erst einmal der Wechselkurs hochschießen. Dann wären wir zwar reicher, weil alles billiger würde, aber wir würden massenweise Arbeitsplätze verlieren. Denn die würden in andere Länder ausgelagert, die für Firmen aus dem Ausland günstiger sind. Die ganze Wettbewerbsfähigkeit, die wir uns in der Vergangenheit erarbeitet haben, wäre dahin. Die Wirtschaft würde schwächeln, weil die Menschen wegen der hohen Arbeitslosigkeit unsicherer wären und weniger verbrauchen würden. Auch das Signal an die Welt, dass sich Europa nicht einigt, sondern spaltet, wäre fatal. +*Der Wirtschaftsjournalist Wolfgang Münchau schreibt für die Zeitung "Financal Times" + +Eurorettungsschirm sagt man zu all den Maßnahmen, die die Euro- Länder in letzter Zeit beschlossen haben, um den Euro stabil zu halten. Enthalten sind die Kredite für Griechenland und die beiden Zungenbrecher "Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF)" und "Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM)". Die EFSF ist nur ein vorläufiger Fonds, aus dem schon Portugal und Irland Geld bekommen haben. Der ESM soll in Zukunft überschuldeten Euro-Ländern Hilfskredite auszahlen, damit ihre Krise nicht auf ganz Europa übergreift. Deutschland ist daran mit Garantieleistungen in Höhe von mindestens 123 Milliarden Euro beteiligt. diff --git a/fluter/ohne-froggies-und-krauts.txt b/fluter/ohne-froggies-und-krauts.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b66fd6f045837f6a7310bbb97d7c5113b5bf4201 --- /dev/null +++ b/fluter/ohne-froggies-und-krauts.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Derek hat Grund zu Feiern. Die UKIP hat bei den Kommunalwahlen Anfang Mai Geschichte geschrieben. Keine andere "vierte" Partei (neben den Conservatives, der Labour Party und den Liberal Democrats) hat jemals so viele Wähler erobert auf der Insel: Fast jeder Vierte (23 Prozent) hat die UKIP gewählt. Sie stellt nun 147 Ratsmitglieder, sogenannte "Councillors", in den britischen Kommunen. Die Londoner Elite, wie die UKIP-Funktionäre gern die übrigen Parteien, die BBC und die meisten britischen Zeitungen nennen, versucht krampfhaft , eine Strategie zu finden, die diese neue politische Macht zügeln kann. Vor allem der Conservative Party von Ministerpräsident David Cameron ist das Lachen über die einst als Haufen von Spinnern betrachtete UKIP vergangen. Vorsichtshalber hat man angekündigt, nach der nächsten Wahl eine Volksbefragung zum Verbleib Großbritanniens in der EU abzuhalten. +Im "Wig & Pen" erzählt Derek jetzt lustige Geschichten aus dem Europäischen Parlament in Straßburg, wo er zusammen mit den zehn anderen UKIP-Abgeordneten einmal im Monat hinfahren muss. Für Derek ist das jedes Mal eine Reise zum Hort der Freiheitsberaubung. Voller "Froggies" (Franzosen) und "Krauts" (Deutsche), die anderen das Rauchen im Pub verbieten wollen, die Treibjagd auf Füchse verteufeln oder Fangquoten für Fischer vorschreiben. Ich behaupte, dass es doch trotz Eurokrise vieles gibt, was die EU gut macht. Zum Beispiel die Menschenrechtskonvention. Da kann man doch eigentlich keine Einwände haben. +"Okay, ich wollte es nicht sagen, aber du hast mich dazu gezwungen", sagt Derek entnervt. "Wir haben nicht die Juden verfolgt und umgebracht. In England ist das nie passiert. Ihr braucht die Konvention vielleicht, aber das müsst ihr entscheiden. Wir hatten keine Konzentrationslager, deswegen brauchen wir auch keine Verfassung, die Magna Charta reicht uns." Als Brite weiß ich natürlich, wovon Derek spricht: 1215 vereinbarte der englische König mit dem revoltierenden englischen Adel Freiheitsrechte. +Und ich weiß auch, dass ich keine Lust mehr habe, mit Derek Clark über die EU zu reden. Ich werde es lieber mal mit Fußball versuchen. Gleich, wenn er mit der nächsten Runde London Pride zurückkommt. diff --git a/fluter/ohne-geld-zusammen-haus-kaufen-mietshaeuser-syndikat.txt b/fluter/ohne-geld-zusammen-haus-kaufen-mietshaeuser-syndikat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d570785a164afadc38a1a50c074dece48a76a6df --- /dev/null +++ b/fluter/ohne-geld-zusammen-haus-kaufen-mietshaeuser-syndikat.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Bei der offiziellen Besichtigung gesellten sich dann zu der Studentengruppe noch ein Vertreter der Bank und jemand von der Stiftung Edith Maryon – die den gemeinnützigen Umgang mit Grund und Boden fördert. In manchen Zimmern bröselte der Putz von der Wand, in anderen fehlten Fenster. Die Besuchergruppe stieg über tote Tauben, es regnete durchs Dach. Die vier Häuser hatten weder Heizung noch Strom noch fließend Wasser. Der Mann von der Stiftung schätzte die Kosten für eine Sanierung auf 700 Euro pro Quadratmeter, der Banker kam auf 2.500 Euro und insgesamt 5,5 Millionen für die Sanierung plus eine Million für den Kauf. Flo und seine Freunde lachten nervös. Das waren Summen, die sich keiner auch nur ansatzweise vorstellen konnte. +Die Fragen, die sie hatten, beschäftigen Menschen seit Langem: Wie kann man zusammen ein Haus kaufen, um in Zukunft ohne Angst vor Kündigung, steigenden Mieten oder Gentrifizierung zu leben? Und wie kann man dafür sorgen, dass so etwas Existenzielles wie Wohnraum nicht zum bloßen Spekulationsobjekt verkommt? Diese Fragen stellten sich auch die Gründer des sogenannten Mietshäuser Syndikats, dessen Anfänge 1983 in Freiburg liegen, und das Menschen hilft, Häuser gemeinsam zu erwerben – zum Wohnen, nicht zum Spekulieren. Über 150 Projekte unterstützt das Mietshäuser Syndikat in Deutschland, darunter auch Flo und seine Freunde. +Dass sie die Häuser tatsächlich kaufen konnten, verdanken sie einem ziemlich komplexen Konstrukt: Offiziell gehört das Haus der "SchönerHausen GmbH", die die Gruppe damals gründete. Die GmbH macht Steuererklärungen und muss Buchhaltung führen. Alleinige Gesellschafter der GmbH sind zum einen die Bewohner des Hauses in Form eines Vereins, zum anderen das Mietshäuser Syndikat. Das Grundstück wiederum gehört der Stiftung, die damals auch bei der Besichtigung dabei war. Dass sie es auf 99 Jahre an die SchönerHausen GmbH verpachtet, macht das Ganze zwar noch komplizierter, hat aber neben der Geldersparnis für den Verein einen weiteren Zweck: Die Häuser sollen auf immer und ewig nur der Gemeinschaft gehören. Am Ende haben Kauf und Sanierung rund drei Millionen gekostet, genau kann das keiner wirklich sagen. Nur so viel: Mit der Miete, die alle zahlen, werden die Kredite getilgt. +Und es kommt ja einiges an Miete zusammen: Über 80 Menschen leben nun in den Häusern, wobei die Mischung recht bunt ist: Manche gehen 40 Stunden in der Woche arbeiten, andere leben von Hartz IV oder studieren. +Mit seinen 64 Jahren ist Frank der älteste Bewohner und so etwas wie der Hausmeister. Damit stockt er seine 650 Euro Rente auf. Frank ist irgendwann nach dem Kauf zu dem Hausprojekt dazugestoßen, so genau hat hier keiner mehr die Jahreszahlen im Kopf. Da gab es die zähe Sanierungsphase vor dem Einzug 2017, und der damals arbeitslose Elektriker hatte einfach Lust, mit anzupacken. Er kannte sich aus, weil er früher, als er noch mit seiner Familie zusammenlebte, schon einmal ein Fachwerkhaus saniert hatte. Heute ist dieses Haus für ihn Geschichte, von seiner Frau lebt er getrennt, und die Kinder sind längst weggezogen. Familie, das sei für ihn inzwischen dieses Hausprojekt hier. Als er das sagt, sitzt Frank in der 180 bei der 31-jährigen Anne auf dem Sofa und zieht an seiner E-Zigarette. In einem gewöhnlichen Mietshaus wären die beiden einfach Nachbarn und würden sich im Flur vielleicht mal "Hallo" sagen. Im SchönerHausen aber sind sie Mitbewohner. Wenn Annes Tochter mit ihrer besten Freundin spielen will, geht sie raus aus der Küche über den Balkon und läuft einmal quer durch Franks Wohnung. +Dann erzählt Frank von seinem Sohn. Der lebe in der Start-up-Wolke in Berlin für Tausende Euro Miete, fahre einen Tesla und begreife nicht, was sein Vater hier mache. Warum er sich das antue. Auch Annes Eltern hatten zunächst wenig Verständnis, erzählt sie. Diese riesige Bauruine und die viele Arbeit, nur um am Ende ein Haus zu besitzen, das immer nur der Gemeinschaft gehört. "Bist du dir da auch ganz sicher?", hatten sie damals ungläubig gefragt. +"Vielleicht auch zu Recht", sagt Anne lachend. "Niemand hat damals auch nur im Ansatz begriffen, was das hier für eine krasse Aufgabe sein wird." Drei Jahre lang haben sie gearbeitet, teils im Schichtbetrieb, teils mit Dutzenden Handwerkern gleichzeitig. Sie haben Wände herausgerissen (manchmal auch die falschen) und andere eingezogen, haben Stromleitungen und Wasserrohre verlegt, haben von einem Berliner Kollektiv gelernt, eine Heizung einzubauen, und es nach dem zweiten Haus dann doch lieber richtigen Handwerkern überlassen. Wände mussten trockengelegt, alte Fenster und Türen repariert, Böden gefliest, Steinmauern verputzt, Pilzbefall entfernt werden. Das Dach wurde neu gedeckt und die Fassade gestrichen. Es war eine riesige Baustelle mit Kran, Gerüst und Schuttberg. +In den letzten Jahren gab es auch innerhalb der Hausgemeinschaft viele Umbauten. Aus den Anfängen von SchönerHausen ist kaum noch jemand dabei. So gibt es denn unter Hausprojektlern auch ein Sprichwort: Eine Gruppe kauft, eine baut und eine andere wohnt. "Das sind alles krasse Prozesse", sagt Flo. Beim Kauf habe er sich oft mit den Schulden allein und überfordert gefühlt, in der Bauphase wiederum zehrte das tägliche Arbeiten am Haus an allen. Nicht jeder hatte Zeit und Lust dazu. Und so kommt es, dass Flo heute einer der wenigen ist, die seit dem Kauf vor gut fünf Jahren immer noch dabei sind, der übrig ist aus der Gruppe der Initiatoren. +Aber wenn er so in Bademantel und Schlappen, das Babyfon in der Tasche, einmal quer durch den Garten schlurft, um mit seinen Mitbewohnern in der Wagensauna zu schwitzen, dann bereut er das nicht. + diff --git a/fluter/ohne-wert.txt b/fluter/ohne-wert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..731b78dd0549b3fda798825a4016a34cf5da3917 --- /dev/null +++ b/fluter/ohne-wert.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Für einen Forscher gab es um das Jahr 1910 kaum ein moderneres, zukunftsträchtigeres Betätigungsfeld als die Eugenik. Die technologisch fortschrittlichsten Staaten der Welt, darunter die USA, Deutschland, Großbritannien und Schweden, überboten sich im Wettlauf um Ideen, wie man ihn erschaffen könnte: den neuen, besseren Menschen. Klug, fleißig, rechtschaffen und vor allem frei von Erbkrankheiten sollte er sein. Viele Anhänger dieser menschenverachtenden Ideologie argumentierten damit, nur helfen zu wollen. +Die Geschichte der Eugenik begann mit einer Fahrt auf die Galapagosinseln. Der Engländer Charles Darwin hatte in den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts bei seinen Forschungsreisen und der anschließenden Untersuchung der dabei gesammelten Organismen herausgefunden, dass Arten sich in einem ständigen Kampf ums Überleben befinden. Sie trotzen Schneestürmen und Dürren, Fressfeinden und missliebigen Artgenossen durch Mutation und Selek tion. Die, die am besten angepasst sind – englisch: "the fittest" –, überleben. +Darwins Evolutionstheorie elektrisierte die Intellektuellen seiner Zeit. Auch sein 13 Jahre jüngerer Cousin Francis Galton war von den Ideen seines Vetters begeistert. Galton fand, dass man die Evolutionslehre auch auf den Menschen von heute anwenden könnte – oder besser gesagt: anwenden müsste. Galton glaubte nämlich, dass die menschliche Gesellschaft die Evolution außer Kraft gesetzt habe. In der Tierwelt würden die Schwächsten aussterben, in der Menschenwelt nicht. Im Gegenteil: Die weniger Intelligenten, weniger Reichen bekämen mehr Kinder. +Nach Galton ging es also bergab mit der Menschheit. Wenn Galton damals durch die schmalen Gassen seiner Geburtsstadt Birmingham lief, sah er die aus seiner Sicht düstere Zukunft der Menschheit. In engen, stickigen Wohnungen hausten Arbeiter mit ihren Frauen und sieben oder acht blassen, hustenden Kindern. Draußen trocknete die Wäsche und wurde grau vom Qualm, den die Industrieschlote in die Luft bliesen. Für Galton waren diese Menschen eine Bedrohung der menschlichen Rasse: Sie, die Ungebildeten, Armen, Dreckigen, bekamen einfach zu viele Kinder. +Warum aber sollte nicht auch der Mensch die Verbesserung seiner eigenen Art in die Hand nehmen? Rennpferde werden auf Geschwindigkeit gezüchtet, Kühe auf Milchertrag, Bienen auf Sanftmütigkeit. Galton hielt es deshalb für "ziemlich praktisch, eine hochtalentierte Menschenrasse durch wohlüberlegte Ehen zu züchten". Wie ein Gartenbauer wollte Galton schlechte Triebe abschneiden, um die gesunden besser gedeihen zu lassen. Eugenik war in seinen Augen Dünger für das Volk. +Es braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, was aus einer Unterscheidung zwischen höher- und minderwertigen Menschen werden würde. Galtons wissenschaftliche Schüler gingen sehr bald über seine Vorschläge hinaus. Als erstes Land der Welt führten die USA ein Programm zur Zwangssterilisierung von geistig Behinderten ein – oder solchen, die man damals dafür hielt. Der Bundesstaat Indiana begann 1907, andere folgten, auch einzelne Provinzen in Kanada, Japan und Südkorea. 15 Jahre später schrieb ein Jurist in den USA ein "Modellgesetz für eugenische Sterilisierung". Der Grundgedanke der Eugenik, dass es nicht allen Menschen gleichermaßen zustehe, sich fortzupflanzen, verbreitete sich auch unter europäischen Politikern. In der Schweiz und Dänemark gab es bereits 1928 und 1929 Gesetze zur Zwangssterilisierung, Schweden, Finnland, Norwegen und weitere folgten in den 1930ern. In Schwedens Gesetzgebung blieben eugenische und rassenbiologische Prinzipien trotz Kritik über Jahrzehnte verankert. Erst im Jahr 1976, als ABBA "Dancing Queen" sangen und Hippies Volvo fuhren, wurde die Zwangssterilisation abgeschafft. Mehr als 60.000 Menschen, häufig Insassen in Heilanstalten, aber auch Arbeitslose, "Gemischtrassige" und weitere von der politischen Norm Abweichende, waren bis dahin zeugungsunfähig gemacht worden. Einige gaben ihre Zustimmung dazu mehr oder weniger – meist weniger – freiwillig, andere haben sie nie erteilt. +Einen Schritt weiter ging Alfred Hoche 1920 in seiner Schrift über "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens". Der Freiburger Arzt prägte den Begriff "Ballastexistenzen". Gemeint waren damit bestimmte geistig und körperlich Kranke, etwa Manisch-Depressive. Mit ihrer Einwilligung – nötigenfalls auch ohne – wollte Hoche sie töten lassen. Hoche gilt als geistiger Wegbereiter der organisierten Massenvernichtung von Menschen mit Behinderungen in Nazideutschland. +Denn auch Adolf Hitler träumte von einem gesünderen "Volkskörper". In "Mein Kampf" beschrieb er Mitte der 1920er seine Vorstellung von einer "Rassenhygiene". Im Juli 1933, ein halbes Jahr nach der Machtübernahme der Nationalsozia listen, verabschiedete das Deutsche Reich ein "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses". Nach Schätzungen wurden unter der NSHerrschaft 400.000 Menschen zwangssterilisiert, mit und ohne Krankheiten. Sechs Jahre und mehrere Gesetze später begann dann der Mord an "lebensunwertem Leben" unter dem Namen "Ak tion T4", benannt nach der Zentraldienststelle T4 in der Tiergartenstraße 4 in Berlin. Der Ausdruck Euthanasie wurde als Euphemismus benutzt; er kommt aus dem Griechischen und bedeutet "guter Tod". Innerhalb von zwei Jahren wurden mehr als 70.000 Menschen mit Injektionen totgespritzt oder mit Kohlenmonoxid in Gaskammern erstickt. Es traf Straftäter und Epileptiker, Demente und Schizophrene. Juristen, Ärzte und Pfleger machten mit. Bestraft wurden nach 1945 nur wenige. +Selbst Kinder wurden umgebracht. Wenn die behandelnden Ärzte keinen "Nutzen für die Volksgemeinschaft" feststellen konnten, hatten sie kaum eine Chance. Es genügte, das Downsyndrom oder nur ein Bein zu haben. Mindestens 5.000 Minderjährige wurden zwischen 1939 und 1945 umgebracht. Der Direktor einer Kinderklinik schrieb in seinem Brief an die Eltern einer Ermordeten, das Kind "wäre im Leben sicher niemals ein brauchbarer Mensch geworden". Die systematischen Massenmorde hatten 1945 ein Ende und sind bis heute beispiellos. Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen wäre ohne die Auseinandersetzung mit der sogenannten Euthanasie undenkbar gewesen – und sie dauert an. +Seit einiger Zeit schwindet das offene Bekenntnis zur Eugenik aus den Gesetzbüchern und Debatten. Manche Rechtsextreme und wissenschaftliche Außenseiter berufen sich noch auf die gefährliche Pseudowissenschaft. 2010 landete ein Buch in den deutschen Buchhandlungen, das seine Hauptthese im Titel trägt: "Deutschland schafft sich ab". Sein Autor, der ehemalige Politiker und Bundesbanker Thilo Sarrazin, zitiert darin unter anderem Francis Galton und seine Nachfolger. Vom Eugenik- Begriff distanzierte sich Sarrazin. Doch auch er argumentierte, dass die "Bildungsunfähigen" und all jene, die der Bildung fernstehen, viel zu viele Kinder bekämen. diff --git a/fluter/ohne-worte.txt b/fluter/ohne-worte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..29fe4e850cbecf512bf149dce69d230afe309e6c --- /dev/null +++ b/fluter/ohne-worte.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Resnik schrieb 2011 über die Privatisierung kommunaler Wirtschaftsbetriebe, bei der gehörige Summen in die Taschen von Beamten und Angestellten geflossen sein sollen – laut Resnik wurden dem Staat etwa 80 Milliarden Rubel gestohlen. "Von da an ging es los mit den Drohanrufen", erinnert er sich. "Mein Auto wurde zertrümmert, irgendwer hat unsere Eingangsschlösser verklebt, meine Accounts wurden gehackt, und ich wurde zusammengeschlagen." Einschüchtern ließ sich Resnik nicht, obwohl um ihn herum reihenweise Journalisten mundtot gemacht wurden. Allein zwischen 2009 und 2013 wurden in Rostow mindestens fünf Journalisten strafrechtlich verurteilt. Sogar Todesfälle gab es: Jaroslaw Jaroschenko, Chefredakteur der Monatszeitschrift "Korruptsiya i Prestupnost", starb 2009, nachdem er brutal vor seinem Hauseingang zusammengeschlagen wurde. +Ebenso sein Nachfolger Wiktor Afanasenko. Schon 2006 erregte der Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja international Aufsehen. Auch sie hatte über Korruption in den Behörden berichtet, bevor sie vor ihrer Haustür in Moskau erschossen wurde. "Manchmal habe ich gedacht, dass mein Mann keinen Überlebensinstinkt hat, weil er immer weitermachte", sagt Natalia Resnik. "Aber er war der Meinung, dass es keinen Sinn hat, Angst zu haben. Man muss sich gegen das Unrecht wehren, seine Stimme erheben." Dass er jetzt wieder verurteilt wurde, spreche dafür, dass er etwas richtig gemacht habe. "Sergej Resnik wurde von denselben Menschen vor Gericht gebracht, über die er kritisch berichtet hat", sagt der Geschäftsführer von "Reporter ohne Grenzen", Christian Mihr. +Auch Wladimir Nowitski, der Vorsitzende der Russischen Sektion der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, spricht von einem Willkürprozess und von erheblichen Verfahrensfehlern. Schon allein, dass verschiedene Anklagepunkte in einem Prozess zusammengefasst wurden, wie im ersten Prozess 2013 geschehen, widerspreche geltendem Recht: "Es dient nur dazu, das Erscheinungsbild eines Wiederholungstäters aufzubauen", sagt Rechtsanwalt Nowitski.  "Ich bin ein freier Mensch in einem falschen Land", hat Resnik einmal zu seiner Frau gesagt. Die Hoffnung, dass sein Land zu einem "richtigeren" wird, hat er selbst hinter Gittern nicht aufgegeben. Auch nicht sein Anwalt – der geht in Berufung. +Mitarbeit: Maryna Rakhlei diff --git a/fluter/ohrenkuss.txt b/fluter/ohrenkuss.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fdda642697b5e7f0d06c3836003674cb3d7e3b84 --- /dev/null +++ b/fluter/ohrenkuss.txt @@ -0,0 +1 @@ +Hier erklärt das "Ohrenkuss"-Team politische Begriffe:www.bpb.de/ohrenkuss diff --git a/fluter/olympia-2024-paris-nachhaltigkeit-video.txt b/fluter/olympia-2024-paris-nachhaltigkeit-video.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/olympia-peking-boykott-interview.txt b/fluter/olympia-peking-boykott-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..de54f8b0745e9732bdb98fd2da359281587f531d --- /dev/null +++ b/fluter/olympia-peking-boykott-interview.txt @@ -0,0 +1,33 @@ +fluter.de: Herr Gebauer, Ihnen soll mal jemand gesagt haben: "Sie werden China nach den Olympischen Spielen nicht wiedererkennen." +Gunter Gebauer: Ja, das war 2008, vor den Olympischen Sommerspielen in Peking. Thomas Bach(der Präsident des IOC, 2008 war Bach noch Präsident des Deutschen Olympischen Sportbunds, Anm. d. Red.)hat diesen Satz zu mir gesagt – auf einer Podiumsdiskussion, an der wir beide teilgenommen haben. Er war der Meinung, die Spiele würden China im Hinblick auf Freiheitlichkeit und demokratische Werte beeinflussen. Tatsächlich war 2008 dann eine Art Wendepunkt in China, aber nicht zum Guten. +Wie meinen Sie das? +China hat durch Olympia damals viel Aufmerksamkeit erhalten: Etliche Touristen kamen und Tausende Journalisten, die sich nicht nur für Sport interessiert haben, sondern auch für die Menschenrechtssituation. Darauf hat die Regierung mit den klassischen Methoden einer Autokratie reagiert: Unterdrückung,Überwachung, Einsperren eigener Bürger und Ähnliches. Diese Entwicklung setzte sich nach Olympia fort. Mein Eindruck ist, dass die Staatsführung seit den Spielen 2008 noch mächtiger und autoritärer ist. +Trotzdem bekam Peking 2015 den Zuschlag für die Winterspiele. Wie wurde das entschieden? +Es gibt ein Bewerbergremium des IOC, das die Wettkampfstätten besichtigt und Punkte vergibt. Das trifft dann das IOC-Exekutivkomitee, das bestimmt, welcher Bewerber infrage kommt. Das IOC stellt hohe Anforderungen an die Gastgeberländer, nur eben nicht politisch. Da heißt es nur, dass man sich denMenschenrechtenverpflichtet. Das tut offiziell jedes Land, das hat aber nichts zu bedeuten. Die Anforderungen an mögliche Gastgeber sind also vor allem materieller Art: Wer sich bewirbt, muss Bobbahnen, Skiflugschanzen oder Schlittenbahnen bauen, die den höchsten Standards entsprechen, dazu die Infrastruktur für den IOC. Das können sich nur bestimmte Bewerber leisten. +In traditionsreichen Wintersportorten gibt es diese Infrastruktur schon. +Ja, es gibt eine Menge bekannter Orte, die diese Herausforderungen erfüllen würden, in Deutschland, Österreich, Skandinavien oder Nordamerika. Dahin könnte man die Spiele geben. Aber das IOC will den Wintersport so weit wie möglich verbreiten, China ist da ein idealer Markt. Und es war ja auch der Meinung, 2008 mit Peking beste Erfahrungen gemacht zu haben. +Für diese Spiele gab es am Ende nur noch zwei Bewerber: Peking und die kasachische Stadt Almaty. Warum hat kein anderer Ort seine Bewerbung aufrecht erhalten? +Es gab einige Bewerber, die die Bedingungen hätten stemmen können. Aber das IOC ist in seinem Auftreten sehr fordernd, geradezu herrisch. Deshalb hat sich in demokratischen Bewerberländern meist die Bevölkerung gegen die Bestimmungen des IOC gestellt. In München oder St. Moritz fielen die Bewerbungen durch Volksentscheide, auch in Stockholm war das Publikum vermutlich eher befremdet von Forderungen wie einem Medienzentrum für 10.000 Journalisten oder Luxusunterkünften für die IOC-Funktionäre. Da hatte man das Gefühl: Wir bleiben auf den Kosten sitzen. +Weiterlesen +China unterstützt viele Staaten beim Ausbau ihrer Straßen, Schienen oder Häfen.So hat Montenegro zwar eine wichtige Autobahn bekommen – zahlt dafür aber einen hohen Preis +Was verspricht sich China von den Spielen? Erwarten Sie eine große PR-Show? +Auf jeden Fall. Wir haben 2008 gesehen, dass China in der Lage ist, ein Großereignis für sich zu inszenieren. Auch auf sportlicher Ebene, China wird in einigen Disziplinen sehr erfolgreich sein. All das wirkt nach innen und stärkt die Staatsführung in der Bevölkerung. Das Event wird aber auch in anderen Teilen der Welt für Begeisterung und Bewunderung sorgen. Und in Ländern, die mit China eng verflochten oder von China finanziell abhängig sind, sicher auch für Stolz und Erleichterung, dass man gemeinsam mit diesem Partner in der Welt steht. +Wir sehen also PR für einen Staat, der die Menschenrechte missachtet, auf dem Rücken des Sports. Sollte man das nicht komplett boykottieren? +Nein, einen Boykott kann man den Sportlern nicht mehr zumuten. Für manche ist das der Höhepunkt in ihrem Sportlerleben, den sie jahrelang minutiös vorbereiten. Viele sind auch darauf angewiesen, bei Olympia sichtbar zu sein, die Bekanntheit zu steigern – für ihren Lebensunterhalt.Zum Teil verdienen Olympioniken ganz wenig Geld. +Aber in der Vergangenheit hat es solche Boykotte schon gegeben, auch von Sportlern. +Wenn Sie heute mit denen sprechen, hören Sie immer noch bittere Sätze. 1980 haben die USA und andere westliche Länder die Spiele in Moskau boykottiert. Die sind dann als großes pansowjetisches Fest inszeniert worden, mit Stadionshows und exzellentem Kulturprogramm. Das hatte für die UdSSR und ihre Verbündeten große Wirkung, für die boykottierenden Länder nicht. 1984 in Los Angeles blieben wiederum die UdSSR und die Ostblockstaaten fern, da inszenierten sich dann die USA als Supermacht. Man muss also sagen:Die großen Boykotte hatten politisch keinerlei positive Wirkung. +Wer boykottiert die Winterspiele von Peking? +Bislang haben u.a. die USA, Großbritannien, Japan, Kanada, Neuseeland und Australien diplomatische Boykotte angekündigt, aus der EU folgten Litauen, Belgien und Dänemark. In Deutschland wird es wohl keinen offiziellen Beschluss mehr geben. Außenministerin Annalena Baerbock, die für Sport zuständige Ministerin Nancy Faeser und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier reisen zwar nicht nach Peking, nennen das aber nicht Boykott, sondern eine "persönliche Entscheidung". +Diesmal haben die USA und einige andere Länder beschlossen, keine politischen Vertreter nach Peking zu schicken. Bringt das was? +Ich glaube, dieser diplomatische Boykott wird nichts bewirken, außer dass sich die chinesische Regierung an anderer Stelle irgendwie revanchiert. Für die eigene Hygiene können solche diplomatischen Boykotte aber gut sein: Man kann ja wenigstens zum Ausdruck bringen, dass man es nicht gut findet, dass die Spiele in Peking stattfinden. +Wäre es nicht auch eine Option, zwar zu den Spielen zu fahren, dann aber vor Ort Missstände anzuprangern? +Soweit ich weiß, wurde der Olympiamannschaft mittlerweile auch von Menschenrechtlern geraten, nichts zu sagen. Sich in China hinzustellen und politische Statements loszulassen hat keinen Zweck. Es kann sein, dass die Sportler drangsaliert werden,Probleme mit der Polizei und den Behördenbekommen. +Es hätte übrigens auch vor Ort keinen Effekt: Solche Statements kämen gar nicht zur Bevölkerung durch. Sie können sicher sein, dass überall chinesische Zensoren sitzen und aufpassen, dass niemand etwas Kritisches sagt oder zeigt. +Wenn die Sportler hinfliegen, unterstützen sie indirekt Chinas PR. Bleiben sie fern, hat das für sie fatale Konsequenzen. Könnte man dieses Dilemma künftig vermeiden? +Ich sehe nur einen Weg: Der Widerstand gegen die Gebaren des IOC wird so groß, dass es ernsthafte Überlegungen anstellt, wie man den Vergabeprozess verändert. Die nächsten Winterspiele gehen nach Mailand, die Sommerspiele nach Paris, Los Angeles und Brisbane. Das stimmt mich verhalten optimistisch. +Sie glauben, die Kritik hat schon ein Umdenken angestoßen. +Da haben sich offenbar Leute Gedanken gemacht, wie man die Olympischen Spiele noch retten kann. Ich glaube, dem IOC steht das Wasser bis zum Hals. Die Öffentlichkeit ist bei diesen Themen empfindlicher geworden, auch die Fernsehanstalten lassen sich nicht mehr alles gefallen. Hinzu kommt: Finanziell wird das IOC von einigen wenigen Großsponsoren unterstützt. Darunter sind vor allem nordamerikanische Firmen wie Coca-Cola, die geraten in den USA in die Kritik. Ich nehme an, dass die auch Druck machen. +Der Präsident Thomas Bach verweist bei Kritik gern auf die politische Neutralität des IOC. Woher kommt eigentlich dieser Anspruch, Sport und Politik trennen zu können? +Das ist einMachtinstrument von Sportinstitutionen wie der FIFAoder dem IOC. Die können bestimmte Dinge im Sport für politisch erklären – und das, was sie selber machen, für unpolitisch. Dabei sind sie selbst politische Konstruktionen: Im IOC sitzt für jedes Land ein Delegierter, der seine Interessen vertritt. Und Staaten, die die Olympischen Spiele ausrichten möchten, müssen die Anforderungen des IOC erfüllen. Wenn das nicht politisch ist … + +Das Titelbild von Wolfgang Maria Weber/IMAGO zeigt einen Protest in München lebender Exil-Uiguren auf dem Marienplatz. diff --git a/fluter/omid-ahmadisafa-boxer-refugee-team.txt b/fluter/omid-ahmadisafa-boxer-refugee-team.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d4f27217ad9b65f20808c973ec3726427ac2cb95 --- /dev/null +++ b/fluter/omid-ahmadisafa-boxer-refugee-team.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Der 31-Jährige kommt aus Karadsch, einer Großstadt im Nordwesten des Iran. Er gehört zur Minderheit der aserbaidschanischstämmigen Iraner:innen, von denen mehr als 15 Millionen im Land leben. Deswegen spricht er neben Farsi auch fließend Azeri, das dem Türkischen stark ähnelt. Es hilft ihm dabei, sich zu verständigen, wenn sein Deutsch nicht ausreicht. +Als Teenager habe er mit dem Kickboxen angefangen, um überschüssige Energie abzubauen und sich nicht auf der Straße zu schlagen, erzählt er. Er wurde nicht nur mehrfacher iranischer Champion, sondern sogar Gewinner der Asienspiele und Weltmeister. Nach einer Rückenverletzung durfte er mehrere Monate nicht mit den Beinen kicken und fing deshalb auch mit klassischem Boxen an. In einem seiner ersten Wettkämpfe, so erzählt er, seien alles, was er konnte, die absoluten Standardkombis gewesen, die er noch vom Kickboxen kannte. Trotzdem schaffte er es irgendwie, den ersten Platz zu holen. + + +Ab dann lief es gut für ihn, bis zur Kickbox-Weltmeisterschaft 2021 in Italien. Es gibt verschiedene Versionen der Geschichte, Omid besteht auf seine: Schon länger habe es Konflikte mit dem iranischen Cheftrainer und Sportfunktionären gegeben. Es sei um Forderungen gegangen, denen Omid immer wieder nachkommen sollte – zum Beispiel bei Turnieren plötzlich die Gewichtsklasse oder die Disziplin zu wechseln, um israelische Gegner zu vermeiden. Im Iran ist es geltende Praxis, dass Sportler nicht gegen Israelis antreten sollen. Und es sei um leere Versprechungen, Drohungen und Geld gegangen, das Omid nie ausgezahlt worden sei. +Omid merkte, dass die Situation für ihn brenzlig wurde. Auch Bekannte aus dem Iran warnten ihn vor Ärger nach seiner Rückkehr. In der Nacht vor dem Finale, so erzählt es Omid später, sei er aus seinem Hotel in Italien geflüchtet und in einen Zug Richtung Deutschland gestiegen. Eigentlich sollte es nach einem Stopp bei Verwandten in Köln weiter nach England gehen. Da sein Pass jedoch vom Cheftrainer beschlagnahmt worden war, sah er sich nach einer Polizeikontrolle gezwungen, in Nürnberg zu bleiben und in Deutschland Asyl zu beantragen. +Mit diesem Schicksal ist er nicht allein: Iranische Sportler:innen wie die Taekwondo-Goldmedaillengewinnerin Kimia Alizadeh flüchten aus ähnlichen Gründen immer wieder in andere Länder. Im diesjährigen Refugee Olympic Team stammen 14 von 37 Athlet:innen aus dem Iran. +Weil immer mehr Menschen aufgrund von Flucht und Vertreibung nicht für ihr Heimatland antreten können, hat das Internationale Olympische Komittee (IOC) 2015 ein Refugee-Team ins Leben gerufen, um Geflüchteten die Möglichkeit zu geben, ohne eigene Nationalmannschaft an den Spielen teilzunehmen.In Rio de Janeirotraten sie 2016 zum ersten Mal an. In Paris stehen Omid und sein Team für die mehr als 120 Millionen Menschen, die weltweitauf der Flucht sind. + +In den ersten Monaten in Deutschland habe er sich nicht einsam gefühlt, sagt er, und sei sofort wieder trainieren gegangen. Mit seinen Coaches in Nürnberg, Marie und Harald Retzer, habe er einfach Glück gehabt: "Die beiden haben mich mit offenen Armen empfangen", sagt er. 2022 wurde Omid auf Anhieb Deutscher Meister im Federgewicht. Bald wurde sein Talent auch in Deutschland erkannt, und er kam ins Trainingslager der Nationalmannschaft. +Dort lernte er auch Murat Yildirim kennen. "Mein erster Freund in Deutschland", sagt er und klopft Murat auf die Schulter. "Allah razi olsun", sagt der, Gott segne dich. Trotzdem fehlt Omid mittlerweile seine Familie. Seine Frau konnte er zwar nach Deutschland nachholen, aber er vermisse es, bis in die späten Abendstunden mit Freunden und Verwandten in Karadsch abzuhängen und die herzliche Art der Menschen im Iran. +Wenn Omid vom Heimweh spricht, weicht sein Lächeln einer ernsthaften Miene. Es kommt aber sofort zurück, wenn es wieder ums Boxen geht. Über 200 Kämpfe hat er schon hinter sich. Auch sein Stil sei eher unkonventionell, erzählt er, denn er kämpft mit rechts und links als Schlaghand. Mal aggressiver, mal eher abwartend und konternd. Manchmal sind seine Kämpfe schnell um, wie bei einem Turnier letztes Jahr: Da stürmte er nach dem Klingeln schnurstracks aus seiner Ecke und verpasste dem Gegner einen linken Haken, der ihn direkt auf die Bretter schickte. +Omid Ahmadisafa lebt für seinen Sport. Vielleicht zocke er mal einen Abend "FIFA", aber sein eigentliches Hobby sei eben Boxen. Natürlich würde man manchmal gerne mit Freunden feiern gehen, sagt er später, aber irgendwo müsse man halt Abstriche machen. + + +Jeder Amateurboxer träumt davon, eines Tages bei den Olympischen Spielen teilzunehmen. Und vielleicht sogar eine Medaille zu holen. Omid ist da keine Ausnahme. 2020 trat er unter iranischer Flagge zur Olympiaqualifikation an und unterlag im Viertelfinale dem Goldmedaillengewinner der vorherigen Spiele. Er verpasste nur knapp eine Teilnahme in Tokio. +Nach seinen Erfolgen in Deutschland wurde das IOC auf ihn aufmerksam. Und fragte beim deutschen Boxverband nach, ob Omid das Zeug für Olympia habe. Im Mai wurden jene Mitglieder bekannt gegeben, die nach Paris fahren – und Omid war dabei. Er konnte sein Glück kaum fassen. "Es ist ein unbeschreibliches Gefühl", sagt er. "Ich habe lange darauf hingearbeitet." Dass er in Paris nicht für den Iran antritt, sondern im Refugee-Team kämpft, mache für ihn keinen großen Unterschied: "Ich möchte einfach nur gut boxen und Leistung bringen." +Mitte Juli bricht Omid nach Frankreich auf. Mit den anderen Athlet:innen aus dem Refugee-Team bereitet er sich einige Tage in der Normandie in einem Trainingslager vor. Sein Trainer sagt am Telefon, seine Chancen stünden nicht schlecht, er sei gut, er könne mit den anderen mithalten. +Eine Woche später fährt er weiter nach Paris. Das olympische Dorf beeindruckt ihn ebenso wie die Festlichkeiten in der ganzen Stadt. Am 28. Juli findet sein erster Kampf statt, für den er so lange trainiert hatte: Omid tritt in der ersten Runde gegen Roscoe Hill, den IBA-Vizeweltmeister aus den USA an. Ein schlaksiger Konterkämpfer, so was wie die Gegenthese zu Omids aggressivem Style. Jede Sekunde kämpft Omid unerbittlich, in seinen Ohren die "Omid!"-Rufe des Publikums, aber die Wendigkeit seines Gegners macht es ihm schwer, klare Treffer zu erzielen. Hill kontert immer wieder – und gewinnt. +Natürlich sei Omid jetzt sehr traurig, sagt sein Trainer nach dem Kampf am Telefon, er habe so lange darauf hingearbeitet. "Aber Omid ist ein lebenslustiger Mensch, der schnell wieder auf den Beinen ist." Was Omid trotzdem freut: Nach seiner Niederlage erreichen ihn Hunderte Nachrichten – aus ganz Deutschland und auch aus dem Iran. diff --git a/fluter/onboarding.txt b/fluter/onboarding.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ab185031da33fa9e428c4ab2b0f3453ba79871d2 --- /dev/null +++ b/fluter/onboarding.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Als einer der besten Skateboarder des Landes wurde der 25-Jährige früh von verschiedenen ukrainischen Marken gesponsert. Für Wettbewerbe reiste Yurii quer durch die Ukraine und ins Ausland und sollte sogar bei den Olympischen Spielen antreten. Auch für den Präsidenten Selenskyj durfte er schon skaten. Nebenbei arbeitete er in einer Produktionsfirma, die Werbevideos für internationale Kunden drehte. +Das alles änderte sich, als Anfang 2022 erste ausländische Firmen das Land verließen. Da es für Yurii keine Arbeit mehr gab, packte er das Nötigste und reiste zusammen mit seiner Freundin in die Türkei. Als er in Antalya war, erreichte ihn die Nachricht des ersten russischen Angriffs. +Sofort fuhr das Paar nach Hannover, der Heimatstadt von Yuriis Freundin. Um sich nicht in Trauer und Sorgen zu verlieren, entschied sich Yurii, aktiv zu werden: Mit seinem Netzwerk als professioneller Skater und Produktionsassistent half er, sichere Fluchtrouten zu finden, und organisierte Geld- und Sachspenden, zum Beispiel für kugelsichere Westen. +Heute hilft er mit dem, was er am besten kann: Skaten. Mit der Skatehalle "Gleis-D" und dem gleichnamigen Verein organisiert Yurii Skate-Unterricht, zweimal die Woche, kostenlos, inklusive Mittagessen und Equipment. Finanziert wird das Projekt durch Spenden und Mittel des Vereins. +Yurii +Erika, 12 – Dnipro +Dyma, 15 – Charkiw +Daniel, 17 – Odessa diff --git a/fluter/onlinedating-graphic-novel-ohcupid.txt b/fluter/onlinedating-graphic-novel-ohcupid.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0228411fd7b1524b137145099ecfcd50f1a306b9 --- /dev/null +++ b/fluter/onlinedating-graphic-novel-ohcupid.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Comics vereinen Bild und Text. Das klingt erst mal simpel. Wird aber in der Praxis gar nicht so oft umgesetzt. Viele Comics sind eher ein Neben- als ein Miteinander von Bild und Text. Sie sehen aus wie ein Film-Storyboard, wie eine Reihe von Screenshots, in die man anschließend Sprechblasen und Begleittexte eingebaut hat – am besten noch so, dass sie nicht stören. Das kann dann sehr ästhetisch sein, aber reizt die Möglichkeiten des Mediums bei weitem nicht aus. Helena Baumeister macht es anders. Ihre Bleistiftzeichnungen wirken sperrig, ungeschlacht, skizzenhaft. Die Körperproportionen und Gesichtszüge der Figuren sind fluide und an die Situation und die innere Gefühlslage angepasst; oft hat Baumeister nicht einmal die Linien von im Hintergrund liegenden Dingen wegradiert. +Vor allem aber zeigt sie Dinge, die so nur im Comic gehen. Etwa dass die Beine von Helena und dem Schurrbartmann Gesichter bekommen, als sie sich zum ersten Mal berühren und sagen "Endlich Körperkontakt" – "Eigentlich wollen wir meeeeehr." Oder als Helena einen Ohrring verliert und der Schnurrbartmann und sie ihn gemeinsam finden. "Toll, jetzt hatten wir einen Bonding-Moment", sagt sie, und die Sprechblase umarmt ihn aufdringlich dabei. "Öhm … okay … wenn du meinst", antwortet er, skeptisch blickend – diesmal hat die Sprechblase die Form einer Schere, die die Umarmung schnell wieder zerschneidet. +"Und, ist das autobiografisch?" Immerhin sieht die Comic-Helena der Zeichnerin Helena Baumeister schon recht ähnlich und kommt ebenfalls aus Hamburg. Die Antwort: Ja – und wie! Entstanden sind die Zeichnungen erst mal privat, geplant als Geschenk für den Schnurrbartmann. Leider wurde nichts daraus, und nun sind sie veröffentlicht (der Schnurrbartmann weiß davon). Helena Baumeister macht sich darin wortwörtlich nackig, und das macht ihren Comic noch mal intensiver und lebensnaher. Inzwischen, hat siein einem Interview verraten, nutzt sie aber keine Dating-Apps mehr. +Wer nicht so drin ist im Onlinedating-Game: "oh cupid", der Titel des Bandes, ist eine Anspielung auf die Datingplattform "okcupid". Die wiederum so heißt, weil "cupid" der englische Name des Liebesgottes Amor (der kleine Engel mit den Pfeilen) ist. +Absolut. Eben weil "oh cupid" in Bild wie Text die ganze Awkwardness und das vage Umeinanderherumgetänzel des Kennenlernens so wunderbar einfängt. Unangenehme Small-Talk-Momente, gemeinsames Zähneputzen, ein zufälliger Auftritt des WG-Mitbewohners – es passiert gar nicht viel, aber das ist sehr treffend beobachtet. diff --git a/fluter/onlinedating-risiken-nebenwirkungen.txt b/fluter/onlinedating-risiken-nebenwirkungen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dc5f4b5a01182d6e69396bcc3aefe042e60fcdc8 --- /dev/null +++ b/fluter/onlinedating-risiken-nebenwirkungen.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Sie freut sich auf die erste Person. Die ist tatsächlich auch sympathisch, aber wirkliche Spannung kommt nicht auf. Den nächsten Typ findet sie auf den Fotos ziemlich heiß – nur sieht er in echt ganz anders aus. Aus Höflichkeit gehen sie trotzdem eine Stunde spazieren, bevor sie der unangenehmen Situation entrinnen. +Treffen Nummer drei läuft hingegen vielversprechend. Die Chemie stimmt. "Das war ein geniales Date, das 18 Stunden gedauert hat, und dann hab ich mir viel erhofft." Das Kribbeln bleibt, und Maryam will ihn unbedingt besser kennenlernen. Doch er scheint das Date nicht ganz so genial gefunden zu haben – und antwortet nicht mehr. +Maryam ist frustriert. Dabei hatte sie sich extra auf einer als alternativ geltenden Plattform angemeldet: "Eine gute Freundin hat mir erzählt, dass OkCupid persönlicher sei als Tinder und Co." +Tatsächlich gehören Tinder und OkCupid sowie die meisten großen Dating-Apps zum selben Konzern: der US-amerikanischen Match Group. Andere Anbieter sind Bumble, Badoo oder Lovoo. Die Apps haben alle eine ähnliche Funktionsweise – und die könnte der Grund sein, warum es bei Maryam einfach nicht klappt mit den guten Dates. Schließlich gibt es ein geschäftliches Interesse, die Nutzerinnen und Nutzer möglichst lange auf der Plattform zu halten – und so ist sie auch programmiert. So zeigen Tinder & Co. nicht einfach die besten Matches an, sondern man muss sie sich Stück für Stück "erswipen" – eine Art Spiel, das sogar einen gewissen Suchtfaktor haben kann. +In einer Stadt wie Berlin kann man dabei durch gefühlt unendlich viele Profile wischen. Für Maryam war das eher überfordernd. "Das war wie Menschen konsumieren und selbst konsumiert werden." +Die Sozialpsychologin Johanna Degen von der Europa-Universität Flensburg kennt dieses Phänomen. Sie sagt, dass es durch das riesige Angebot an Partnerinnen und Partnern immer schwieriger werde, sich auf einzelne Personen einzulassen. "Leute berichten mir, dass sie beim Date sitzen und denken: Es ist richtig schön, aber vielleicht geht es ja auch noch besser. Ich habe noch 400 andere Matches." Das führe auch zu einem Leidensdruck, erklärt Degen – und dazu, möglichst wenig Zeit und Geld investieren zu wollen. "Man versucht, sich möglichst wenig vorzubereiten und möglichst mehrere zu treffen. Aber es ist nicht aufregend, wenn ich ständig Dates hab und es mir möglichst einfach mache. Wenn ich zum Beispiel nur jemanden treffe, weil er um die Ecke wohnt und sofort verfügbar ist." +Das hat auch Maryam mittlerweile erkannt. Als sie nach dem aufregenden Date von ihrer neuen Bekanntschaft ignoriert wurde, blieb bei ihr der Eindruck, "dass der nur auf seine eigene Befriedigung aus war". Auch als sie später noch einmal in Kontakt treten, resümiert sie enttäuscht: "Der konnte gar nicht wirklich auf andere Menschen eingehen." +Selbst manche Onlinedating-Anbieter scheinen sich inzwischen Sorgen über diese Entwicklung zu machen. So kündigte der deutsche Anbieter Parship kürzlich an, "nur" noch 60 Kontakte am Tag zu ermöglichen, Copy-and-paste zu verbieten und eine Mindestlänge für Nachrichten von mindestens sieben Wörtern einzuführen. +Aber wie verändert das Onlinedating langfristig unsere Beziehungen? Genau hier liegt Johanna Degens Forschungsschwerpunkt. Sie glaubt, dass die Apps dazu beitragen, dass Beziehungen sich zunehmend einer Marktlogik unterordnen. "Im Mittelpunkt steht vermehrt die Frage: Was bringt mir meine Beziehung? Das betrifft dann verschiedene Sphären: Fühle ich mich besser, als wenn ich allein wäre? Bin ich sexuell befriedigt? Habe ich wirtschaftliche und praktische Vorteile?" In den Hintergrund trete dann die Frage: Was bringe ich dem anderen? +Zudem scheint Onlinedating den Trend weg von der romantischen Zweierbeziehung hin zu pluralen Beziehungsformen zu verstärken: ob offene oder polyamore Beziehungen, Freundschaft plus oder der "Wir wollen dem keinen Namen geben"-Ansatz. Das Onlinedating bringt aber auch eigene Formen hervor. "2er-Beziehung + Tinder" meint, dass es okay ist, wenn man noch ein Tinder-Profil hat und auch etwas mit anderen chattet, sogenannte Mikroaffären. +Weiterlesen: +Auch unser Autor wollte eine offene Beziehung führen.Ging für ihn leider völlig daneben +Die 26-jährige Kira war nach ihrer Trennung gar nicht auf der Suche nach einer neuen Beziehung. Die Studentin landete zunächst nur auf Tinder, um etwas Spaß zu haben. Dann wurde aber bereits aus dem dritten Date etwas Ernsteres, und nun ist Kira seit zweieinhalb Jahren mit ihrem Freund zusammen. Nach einiger Zeit entschieden sich beide, die Beziehung zu öffnen und die App wieder zu nutzen. Für Kira ist das die Möglichkeit der unmittelbaren Bedürfniserfüllung. "Also, ich nutze die App eigentlich vor allem dann, wenn ich noch am gleichen Tag Leute treffen möchte." +Das funktioniert. Zumindest für einige wie Kira. Für die anderen bieten die Apps Bezahlfunktionen an. Wer bei Tinder ein Abo abschließt, wird anderen öfter vorgeschlagen oder kann das eigene Profil für die Leute unsichtbar schalten, die er oder sie nicht gelikt hat. Besonders interessant für heterosexuelle Männer, denn es gibt deutlich weniger Frauen als Männer auf den Plattformen. Wer bereits über 28 ist – ein Nachteil im Datingwettbewerb –, muss bei Tinder höhere Preise für die gleichen Funktionen zahlen. +Was nach Altersdiskriminierung klingt, ist nicht die einzige Schieflage auf dem Attraktivitätsmarkt. Eine Erhebung von OkCupid zeigt: Bei der Bewertung von Profilen durch User spiegeln sich rassistische Muster. Schwarze Frauen oder ostasiatisch aussehende Männer wurden deutlich schlechter bewertet als weiße Menschen. Da der verhaltensbasierte Algorithmus die Präferenzen der User analysiert und dementsprechend Profile vorschlägt, wird die Diskriminierung verstärkt. Gleichzeitig rühmt sich Tinder damit, dass es durch das Programm mehr binationale Hochzeiten als zuvor gebe. Darauf weisen auch die Ergebnisse einer Studie aus den USA hin. +Bei aller Kritik am Digitalen: Offline gibt es manchmal nicht weniger gesellschaftliche Barrieren.So sind Freundeskreise oft ziemlich homogen, was Herkunft oder soziales Milieu betrifft, während es Online-Apps prinzipiell einfacher machen, Menschen abseits von Freundesfreunden kennenzulernen. Und dann kommt noch der Pandemieeffekt hinzu. Wenn Bars geschlossen sind und die Uni nur am Rechner stattfindet, ist die Datingplattform oft die einzige Möglichkeit, neue Leute kennenzulernen. +Und es gibt sogar noch eine andere Statistik, die zeigt, dass das Onlinedating trotz seiner Widersprüche auch so manches Paar erfolgreich zusammenbringt: Jede fünfte Beziehung in Deutschland entsteht bereits durch Onlinedating. +Maryam hat die App mittlerweile wieder installiert, nachdem sie sie zunächst genervt gelöscht hatte. Noch hat sie also nicht aufgegeben. + +Titelbild: Lea Franke diff --git a/fluter/onlineshopping-arbeitsbedingungen-amazon-zalando-otto.txt b/fluter/onlineshopping-arbeitsbedingungen-amazon-zalando-otto.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bfdb66cb5e7a36db5604e2873d429cae2e9623d2 --- /dev/null +++ b/fluter/onlineshopping-arbeitsbedingungen-amazon-zalando-otto.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +BeiAmazongibt es seit 2014 in allen Versandzentren in Deutschland Betriebsräte, gegen einen Tarifvertrag sträubt sich das Unternehmen allerdings. Auf Anfrage von fluter.de heißt es: "Wir als Unternehmen sind der Meinung, dass Gewerkschaften nicht die beste Lösung für unsere Mitarbeiter:innen sind und nur für eine Minderheit stehen". Man setze stattdessen auf die Betriebsräte, um die Interessen der Mitarbeiter:innen zu vertreten. AuchZalandolehnt einen Tarifvertrag ab, hat aber ebenfalls Betriebsräte. In den Tochtergesellschaften, etwa dem Callcenter und mehreren Logistikzentren, gibt es sie schon länger. Bei der Mutter Zalando SE gab es erst im Jahr 2020, also zwölf Jahre nach Gründung, die erste Betriebsratswahl. BeiOttoist es etwas komplizierter. Für die Abwicklung des Versandhandels ist nämlich gar nicht die Otto Group selbst zuständig, sondern die Hermes Fulfilment GmbH. Die gehört zur international tätigen Hermes-Gruppe und diese wiederum zur Otto Group. Die Hermes Fulfilment wickelt für Otto Lager-, Retouren- und Logistikarbeiten ab und hat sowohl einen Betriebsrat als auch einen mit der Gewerkschaft ver.di ausgehandelten Tarifvertrag. +Weil die Stundenlöhne je nach Qualifikation sehr unterschiedlich ausfallen können, werfen wir hier einen Blick auf den Mindesteinstiegslohn der Online-Versandhändler, wie ihn Lagermitarbeiter in der Regel erhalten. Zur besseren Einschätzung: Der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland steigt zum 1. Januar 2022 auf 9,82 Euro. +Amazonzahlt je nach Standort zwischen 12 Euro und 13,84 Euro brutto die Stunde. Ab Herbst 2022 soll das Minimum 12,50 Euro betragen.Zalandowill die Frage von fluter.de zum Einstiegsgehalt nicht konkret beantworten. Man orientiere sich beim Gehalt an branchenüblichen Vergütungen, heißt es lediglich. Jobportale gehen auf Basis von Nutzerangaben aber von einem durchschnittlichen Lageristengehalt von etwas weniger als rund 1.900 Euro im Monat aus. Bei einer 40-Stunden-Woche entspricht das einem Bruttostundenlohn von etwa 12 Euro. +Im Vergleich schneidet Hermes Fulfilment im Dienst fürOttobesser ab. In Haldensleben, Sachsen-Anhalt, steht eines der größten Hermes-Fulfilment-Versandzentren Europas. Dort liegt der tarifliche Bruttoeinstiegslohn bei 12,77 Euro die Stunde, der Durchschnittslohn bei 14 Euro. Die Löhne an anderen Standorten schwanken, da die ausgehandelten Tarife länderspezifisch sind. Am wenigsten bekommen die Beschäftigten im Logistikzentrum Ohrdruf in Thüringen. Dort liegt der tarifliche Einstiegslohn bei 11,58 Euro pro Stunde. + + +Bei dieser Frage hagelt es immer wieder Kritik von Arbeitsrechtler:innen. Ein Anlass: SowohlAmazonals auchZalandosetzen in den Logistikzentren Trackingsoftware ein. Die erfasst zum Beispiel, wie schnell Ware aus den Regalen geholt oder Pakete versandfertig gemacht werden. Gewerkschaften und Arbeitsrechtler:innen sehen darin eine unzulässige Überwachung der Beschäftigten. Immer wieder berichten Medien über Mitarbeiter:innen, die beklagen,nicht mal in Ruhe zur Toilette gehen zu könnenundenormem Leistungsdruck ausgesetzt zu sein. Amazon und Zalando widersprechen den Vorwürfen. Amazon schreibt, die Software diene der operativen Planbarkeit und der Erfassung der Belegschaftsleistung, es komme nicht zur Überwachung durch Vorgesetzte. Zalando argumentiert ebenfalls mit der Personal- und Auftragsverteilung. Bei Hermes Fulfilment, im Auftrag vonOtto, gebe es so eine Software nicht, heißt es auf Nachfrage. Eine Leistungserfassung finde ausschließlich im Rahmen eines Prämienprogramms statt. +Die Pakete der Versandhändler werden nicht von den Unternehmen selbst ausgeliefert, sondern von Paketdienstleistern. Wenig überraschend setztOtto, beziehungsweise die Hermes Fulfilment, auf die Schwestergesellschaft Hermes Germany bei der Paketzustellung.Zalandokooperiert hingegen mit vielen Versandpartnern, darunter DHL, Hermes, DPD und GLS.Amazonversendet mit DHL, Hermes, DPD, PIN und UPS. Zusätzlich verfügt Amazon seit 2018 übereinen eigenen Versanddienst: Amazon Logistics. Der verteilt die Zustellaufträge entweder an Subunternehmer oder an Soloselbstständige, die sich per App Aufträge sichern können. +Wie es um die Arbeitsbedingungen der Amazon-Paketzusteller:innen steht, hat sich die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die der Partei Die Linke nahesteht, im Verteilzentrum Erfurt-Stotternheim angeschaut, gemeinsam mit dem Bildungswerk des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Thüringen.Laut der Studiegibt es Hinweise auf zahlreiche Gesetzesverstöße – zum Beispiel mit Blick auf den Mindestlohn, Sozialversicherungen und das Arbeitszeitgesetz. Unter den Soloselbstständigen soll es außerdem viele Scheinselbstständige geben. Amazon widerspricht den Vorwürfen. Man verpflichte die Vertragspartner:innen dazu, alle geltenden Gesetzen einzuhalten und führe regelmäßig Gespräche und Untersuchungen durch, um dies zu prüfen. +Probleme mit Subunternehmern gibt es aber nicht nur bei Amazon. Auch DHL, Hermes, DPD, GLS und Co. vergeben Aufträge an kleinere Unternehmen. Zusteller:innen, die im Auftrag der Versanddienstleister unterwegs sind, prangern auch immer wieder zu geringe Löhne und zu lange Arbeitszeiten an. Allgemein gilt: Wer direkt angestellt ist, verdient mehr als Mitarbeiter:innen von Subunternehmen. Das liegt auch daran, dass Unternehmen wie Hermes und DHL nach Tarif zahlen, die Subunternehmer das aber nicht tun müssen. + diff --git a/fluter/onlineshopping-nachteile-umwelt.txt b/fluter/onlineshopping-nachteile-umwelt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8cf4e6695319b18ed46caf6d57a910ac26c14e23 --- /dev/null +++ b/fluter/onlineshopping-nachteile-umwelt.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Das Geschäft mit der Mode kam deshalb im Internet lange nicht in Fahrt. Doch dann entwickelte sich die Idee, dass die Käufer die Sachen gratis zurückgeben können – und damit die Möglichkeit, sich sämtliche Größen nach Hause liefern zu lassen und sie dort bei Wohlfühllicht und Lieblingsmusik anzuprobieren. Man behielt die passenden Artikel und schickte den Rest kostenlos zurück. +Beim Online-Modehändler Zalando wird zurzeit die Hälfte der bestellten Artikel zurückgeschickt. Andere Unternehmen geben keine Auskunft zur Rücksendestatistik, aber die Zahlen dürften ähnlich hoch sein. In einer Umfrage gaben 53 Prozent der befragten Deutschen an, schon einmal Waren, die sie online eingekauft hatten, retourniert zu haben. Im europäischen Vergleich liegen die Deutschen damit vorn. +Die Gratisretouren sind ein wichtiger Faktor für den Erfolg des Onlineshoppens. Rund 85 Prozent aller Händler bieten diesen Service an, wer es nicht tut, hat einen Wettbewerbsnachteil. Gleichzeitig sind die Rücksendungen aber auch ein riesiger Kostenfaktor für die Händler und haben zudem eine schlechte Ökobilanz. Denn nicht nur das Hin- und Herschippern der Pakete verursacht massenhaft CO₂-Emissionen. Es werden auch sehr viele der zurückgeschickten Artikel nicht wieder aufgearbeitet, sondern gleich entsorgt. Das ist besonders bei billigen Produkten der Fall, da es sich bei diesen unter Umständen nicht lohnt, sie zu reinigen und neu zu verpacken. Außerdem gibt es Artikel, die zum Zeitpunkt der Rücksendung bereits das Ende ihrer Lebensdauer im schnell rotierenden Fast-Fashion-Zyklus erreicht haben. +Die Retouren sind also ein Wettbewerbsvorteil und ein Wettbewerbsnachteil zugleich. Das Problem beschäftigt auch die Wissenschaft: Seit 2012 hat die Universität Bamberg eine Forschungsgruppe zum Thema Retourenmanagement. Im Dezember vergangenen Jahres publizierte diese Gruppe eine Studie, die besagt, dass sich nach Einschätzung der befragten Personen mit einer Rücksendegebühr von rund drei Euro die Zahl der Retouren um 16 Prozent senken ließe. Damit würden nicht nur rund 80 Millionen Artikel weniger zurückgeschickt und 40.000 Tonnen CO₂ eingespart – die Artikel würden auch günstiger werden, da die Kosten der Retourenlogistik nicht mehr auf die Preise aufgeschlagen werden müssten. +Doch der Bundesverband E-Commerce und Versandhandel Deutschland (BEVH) sieht in einer verpflichtenden Rücksendegebühr einen Eingriff in Markt und Wettbewerb. Außerdem würde sie wichtige Verbraucherrechte einschränken, die aber EU-weit festgeschrieben seien, heißt es vonseiten des BEVH. +Es ist das erklärte Ziel von Online-Modehändlern, die Anzahl der Retouren zu senken. Statt einer Gebühr würde der BEVH zum Beispiel eine Vereinheitlichung der Größenskalen bei den Herstellern begrüßen. Zalando begegnet dem Problem schon mal pragmatisch: Dort probieren Angestellte unzählige Schuhe an, um angeben zu können, ob der Sneaker verhältnismäßig schmal geschnitten oder die von der Firma suggerierte 38 eher einer europäischen 38,5 entspricht. +Es gibt auch Start-ups, die sich auf die Entwicklung von Anprobetechnologien spezialisiert haben. Bei manchen kann man die eigene Garderobe ausmessen, und die App gleicht dann die Maße mit denen bekannter Hersteller ab. Andere wiederum bieten gleich 3-D-Körperscans an, die dann mit dem Sortiment verglichen werden. +Manche Händler versuchen auch, den Einkauf zu personalisieren, sodass das System die genaue Größe der Kundin oder des Kunden erkennt, um spezifischere Angebote unterbreiten zu können. Das Ziel dieses Prozesses ist natürlich nicht nur, die Anzahl der Retouren zu senken, es soll auch einfach mehr verkauft werden. +Und hier sind wir wieder bei der Ökobilanz. Denn selbst wenn die Retouren wegfallen, ist derhemmungslose Konsumdurch stromlinienförmige Verkaufsprozesse nicht nachhaltig. Der globale Handel mit Textilien und Schuhen ist eine richtiggehende CO₂-Schleu­der, und die Arbeitsbedingungen entlang der Wertschöpfungskette sind in den meisten Fällen schlicht unakzeptabel. +Immerhin lassen sich online auch Tauschbörsen finden und Labels, die sich bei ihren Zulieferern für faire Arbeitsbedingungen engagieren. Und wer weiß, vielleicht ist der Nachmieter der Ladenfläche, die durch den Onlinehandel frei geworden ist, in Zukunft mal wieder eine Reparaturwerkstatt oder eine Änderungsschneiderei. Dann müsste man seine Sachen nicht zurückschicken oder wegwerfen, sondern man könnte sie einfach reparieren beziehungsweise ändern lassen. + diff --git a/fluter/onlineshopping-sicherheit-interview.txt b/fluter/onlineshopping-sicherheit-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6813f64af67300458a603a30e0b5c4ddd5bd2007 --- /dev/null +++ b/fluter/onlineshopping-sicherheit-interview.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Woran kann man denn solche Fakeshops erkennen? +Das ist tatsächlich relativ schwierig. Mit einem Baukastensystem ist ein Onlineshop schnell hochgezogen, das können auch Menschen, die nicht allzu technikaffin sind. Es gibt aber ein paar Softmarker, mit denen man sie ganz gut erkennen kann. +Zum Beispiel? +Man sollte immer einen Blick ins Impressum werfen. Ist das überhaupt vorhanden? Und ist es vollständig? Denn da muss nach deutschem Recht genau stehen, wer mein Vertragspartner ist. Also: Wie heißt der Shop, was hat der für eine Gesellschaftsform? Auch eine Adresse und eine Telefonnummer muss man finden. Ein Blick in die Allgemeinen Geschäftsbedingungen kann ebenfalls helfen. Bei vielen Fakeshops sind die erkennbar durch ein Übersetzungsprogramm gelaufen, da ist dann das Deutsch nicht korrekt, es fehlen Sachen, es liest sich einfach nicht gut. Auch eine Widerrufsbelehrung sollte es unbedingt geben. +Angenommen, das ist alles da, aber es sieht schon etwas komisch aus … +Wer ein ungutes Gefühl hat, dem gebe ich immer den Tipp: Einfach mal den Kundenservice anrufen und gucken, was passiert. Wenn man den schon nicht erreicht, wenn man noch kein Problem hat – dann möchte man sich nicht vorstellen, was los ist, wenn man eins hat. +Was bringen Prüfsiegel und Zertifikate? +Sie zeigen an, dass die Internetseite einmal durch einen Test gelaufen ist und sich hat zertifizieren lassen. Auch solche Siegel werden aber gefälscht, und deswegen ist es wichtig, genauer hinzugucken. Ist etwas einfach nur als Bilddatei eingefügt, dann ist das gar kein echtes Siegel. Wenn man draufklickt, muss die Zertifikatsdatei auf der Seite des Prüfsiegel-Anbieters angezeigt werden – da steht dann etwa, wann der Shop geprüft wurde und wie lange das Siegel gültig ist. +Wenn ich jetzt nicht bei Superschuhe123 einkaufe, sondern bei einem bekannten Händler – muss ich das dann auch alles gegenchecken? +Bei den großen Anbietern sehen wir keine Probleme. Da kann man auch darauf vertrauen, dass die sich wirklich hinter ihrem Onlineauftritt oder der passenden App verbergen. +Wie ist es mit Amazon und ähnlichen Marktplätzen? +Viele Verbraucherinnen und Verbraucher denken,wenn sie bei Amazon und Co. etwas bestellen,dann kaufen sie auch direkt bei diesen Anbietern. Aber das ist nur bei einem Teil der Bestellungen der Fall. Diese sogenannten Marktplätze bieten eine große Plattform für ganz, ganz viele kleine Händler an, da muss man schon hinschauen, bei wem man gerade einkauft und wie die Bewertungen des Shops sind. Denn wenn was nicht klappt, muss man sich am Ende mit einem kleinen Anbieter auseinandersetzen und nicht mit dem großen Marktplatz. +Angenommen, ich habe jetzt einen Shop gefunden, dem ich vertraue. Nun soll ich ein Kundenkonto anlegen. Was macht das mit meinen Daten? +Datenmissbrauch nimmt natürlich mit dem Onlineshoppen zu. Es hilft aber nichts – einige Infos brauchen die Händler, um den Kaufvertrag zu erfüllen: wer ich bin, wie ich bezahle, wo er die Ware hinschicken muss. Damit gebe ich einiges von mir preis.Trotzdem sollte man mit seinen Daten so sparsam wie möglich umgehen,und das heißt auch zu schauen: Muss ich wirklich ein Kundenkonto anlegen? Oft kann man auch über einen Gastzugang shoppen, da werden die Daten nur so lange gespeichert, wie sie zur Vertragserfüllung nötig sind. +Wie gehe ich mit Cookies um? +Wenn diese Cookiebanner reinfliegen, ist "Alles akzeptieren" meistens fett unterlegt. Das muss man natürlich gar nicht! Da sind oft Datenerhebungen dabei, die mein persönliches Kaufverhalten analysieren, und das will ich vielleicht nicht. Was man für den Einkauf aber tatsächlich akzeptieren muss, sind die notwendigen oder "essenziellen Cookies". Diese Option findet sich auch immer als Auswahl. +Nächste Station: der Check-out. Mir werden fünf verschiedene Zahlmethoden angeboten. Welche sollte ich wählen? +Aus unserer Sicht sind "Kauf auf Rechnung"-Bezahloptionen die sichersten, denn da muss man erst bezahlen, wenn man die Ware auch tatsächlich in den Händen hält. Umgekehrt raten wir davon ab, Vorkasse zu leisten. Wenn dann die Ware nicht kommt oder kaputt ist, läuft man seinem Anspruch hinterher. +Zahlungsdienstleister wie PayPal oder Klarna machen das Online-Bezahlen sehr einfach … +Wenn alles klappt, ist das sehr bequem. Aber es ist letztendlich eine Art der Vorkasse – und man schaltet noch einen weiteren Vertragspartner dazu. Mit dem Zahlungsdienstleister habe ich dann einen Vertrag darüber, dass ich das zahle, und mit dem Händler einen weiteren Vertrag, dass er mir die Ware liefert. Wenn in diesem Dreiecksverhältnis etwas schiefgeht, führt das oft zu Problemen. +Bleibt noch die Kreditkarte. +Bei der Kreditkartenzahlung sollte man darauf achten, dass sie über eine gesonderte verschlüsselte Seite läuft. Das erkennt man oben in der Browserleiste an diesem kleinen Schloss-Symbol. Abgesehen davon haben wir inzwischen die Zwei-Wege-Authentifizierung. Man muss also die Kreditkartenzahlung immer noch mal bestätigen, zum Beispiel über ein Pin-Tan-Verfahren übers Handy. Somit ist das eine relativ sichere Zahlungsart. Aber: Auch dies ist wieder eine Art der Vorkasse, auch damit ist das Geld dann erst mal beim Anbieter, und es gibt keine sichere Möglichkeit, es zurückzuholen. +Die Sneaker sind bei mir angekommen, aber passen nicht.Kann ich sie zurückschicken? +Ja, denn wer online einkauft, hat im deutschen Recht das gesetzlich verankerte Widerrufsrecht. Innerhalb von 14 Tagen nach Erhalt der Ware kann man entscheiden, ob man die Sachen behält oder zurückgeben will. Wichtig hierbei ist immer: Der Widerruf muss erklärt werden, das reine Rücksenden der Ware reicht nicht aus. Also muss man entweder einen Zettel mit ins Paket legen – "Hiermit widerrufe ich den Kaufvertrag" – oder eine kurze E-Mail an den Anbieter schreiben. +Iwona Husemann ist Juristin und Rechtsreferentin bei der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. Ihr Schwerpunkt liegt auf dem Kaufrecht, wozu auch das Onlineshoppen gehört. + diff --git a/fluter/onlineunterricht-corona-weltweit.txt b/fluter/onlineunterricht-corona-weltweit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a8825041451eb9f02fc064b79fabf6d75afbed65 --- /dev/null +++ b/fluter/onlineunterricht-corona-weltweit.txt @@ -0,0 +1,30 @@ +Luiza (17) aus Osasco, Brasilien +Brasilien ist mit am stärksten von der Pandemie betroffen: Mehr als 160.000 Menschen sind durch das Virus gestorben. Seit April lernt Luiza zuhause, das Haus hat sie von März bis Juni nicht verlassen. Erst Ende Juli gab es Lockerungen und die Geschäfte sind wieder offen. +Seit August gebe ich selbst Onlineunterricht für jüngere Schüler meiner Schule. Für den Test, den ich machen musste, um den Job zu bekommen, war ich seit langem mal wieder draußen. Ich wusste gar nicht mehr, wie ich eine Straße überqueren sollte, ohne von einem Auto überfahren zu werden. +Seit acht Monaten tun wir alles, um sicher zu sein. Tausende sterben an Corona, vor allem im Norden des Landes: in Cuiabá oder Manaus. Brasilien ist kein Erste-Welt-Land,hier kann fast niemand seinen Job im Homeoffice machen. +Mein Alltag ist langweilig: Ich wache auf, mache Hausaufgaben, esse zu Mittag, nachmittags ist Onlineunterricht. Das war's. Ich vermisse es, zur Schule zu gehen. Ich bin da gerne, verbringe normalerweise den größten Teil meines Tages dort. Wir benutzen jetzt Onlineplattformen. Am Anfang waren wir alle unsicher – Lehrer und Schüler: Wie verschicke ich die Aufgaben, wie mute ich das Mikro, wo ist der Chat? Jetzt ist das Routine. +Unsere Familie ist während der Pandemie größer geworden: Meine Schwester wurde Ende Juni geboren. Ich hatte gerade Schule, als meine Mutter mich rief. Ich schaltete den Computer aus und rief meinen Vater an. Nur Leute über 18 durften meine Mutter ins Krankenhaus begleiten – wegen des Virus. + + +Erjon (15) aus Berlin-Neukölln, Deutschland +Wegen der Kontaktbeschränkungen im März wurden Berliner Schüler*innen von heute auf morgen digital unterrichtet. Seit September ist Erjon wieder täglich in der Schule. Gleichzeitig steigt in Berlin die Zahl der Infizierten. +Mitte März kam plötzlich der Direktor in den Unterricht geplatzt und sagte, dass wir keine Schule mehr haben. "Cool!", habe ich gedacht. Aber dann zog es sich in die Länge. Ich wollte einfach wieder hin und mein normales Leben weiterführen. +Die Lehrer haben uns sehr viele Aufgaben in ein Moodle, also eine digitale Lernplattform, gestellt oder per Mail geschickt. Es ist schwieriger voranzukommen, wenn kein Lehrer dabei ist. Sie konnten auf unsere Mails mit Fragen nicht so schnell antworten. Mein Klassenlehrer hat mich auch mal angerufen und gefragt, wie es mir geht und welches Fach besonders schwer ist. Er beantwortet Fragen auch in unserer WhatsApp-Klassengruppe. +In Mathe hatten wir Videounterricht. Das war zuerst ein bisschen chaotisch mit 27 Schülern. Manche hatten kein Zugang zum Internet, manche konnten sich Tablets von der Schule leihen. Man nennt uns "Digital Natives",aber das gilt nur für Social Media.Ich wusste nicht mal, wie man Mails mit Anhang verschickt oder bei Word etwas ändert. Ich hatte ja nur mal ein halbes Jahr Informatik. +In den vergangenen Monaten ist viel Negatives im Internet passiert.Auf TikTok sehe ich viele beleidigende, rassistische Kommentare. Oft schreibe ich den Personen, gegen die sich der Hate richtet. "Hör nicht drauf", baue ich sie auf. Eins meiner TikToks hat schon eine halbe Millionen Klicks. Das motiviert mich, während die Schule gerade eher runterzieht. Seit den Sommerferien sind wir wieder jeden Tag dort. Wir schreiben wöchentlich mehrere Tests, müssen wohl viel nachholen. Dieses Jahr mache ich meinen Mittleren Schulabschluss. Ich habe jetzt drei Mal die Woche Nachhilfe. Dann habe ich erst um 18 Uhr Schluss, das ist richtig viel alles. +Seit Ende Oktober müssen wir überall in der Schule Masken tragen und dürfen nur noch draußen Sport machen. Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Viele Schulen in Berlin sind jetzt wieder geschlossen. Letztens war bei uns der ganze 11. Jahrgang in Quarantäne. + + +Yelin und Yesen (18) aus Schanghai, China +Von Ende März bis Mai hatten die Zwillinge Onlineunterricht. Seitdem gehen sie wieder in die Schule. +Jeden Morgen müssen wir am Schultor unsere Temperatur messen lassen. Aber andere Sicherheitsvorkehrungen sind nicht mehr so streng. Wir müssen zum Beispiel im Unterricht keine Masken mehr tragen. Als im Januar der Lockdown verhängt wurde, waren bei uns gerade Winterferien. Wegen Corona wurden sie verlängert. Von Ende März bis Mai hatten wir dann Onlineunterricht. Einige unserer Klassenkameraden mochten das nicht besonders, aber für uns war es eigentlich positiv. Einsamkeit kam nicht auf, wir haben ja uns. +Beim Onlineunterricht spart man sich den Schulweg. Wir konnten jeden Tag eine halbe Stunde später aufstehen und mit Pyjamas im Bett direkt vorm Computer sitzen. Das einzige Problem ist, dass wir sehr diszipliniert sein mussten. Wenn wir etwas nicht verstanden haben, mussten wir Screenshots machen und den Lehrer hinterher fragen. Denn in den ersten 30 Minuten lief ein Video, das der Lehrer vorher aufgenommen hatte. Erst dann ging er online und erklärte etwas. In der Mittagspause sind wir rausgegangen zum Ballspielen oder Seilspringen. Der Unterricht ging bis vier oder fünf, dann Hausaufgaben. +In den Schulferien haben wir Privatunterricht genommen – in Englisch und Mathe. In China ist das normal. Es ist wie ein kleiner Wettbewerb: Jeder will der Beste sein. Unsere Noten entscheiden darüber, was wir studieren können. Seit September sind wir offiziell Zwölftklässler. Es wird ernst. In der Corona-Zeit gab es in vielen LändernRassismus gegen Asiaten. Deswegen überlegen manche Schüler jetzt, lieber nicht im Ausland zu studieren. Wir wissen es noch nicht. Trotz der Probleme glauben wir, dass die Menschen nach der Pandemie mehr Zusammenhalt zeigen werden, besonders die jungen. Wir sind gespannt darauf, wie die Welt – und nicht nur in China – danach aussieht. + + +Faizah (17) aus Ibadan, Nigeria +Seit Anfang Mai finden Faizahs Seminare an der Uni nur noch online statt. Die Semesterferien sind wegen Corona ausgefallen. +Die Onlinekurse meiner Uni fangen erst um elf Uhr an, aber ich stehe trotzdem um halb sechs auf –für das Morgengebet.Deshalb bin ich tagsüber oft müde und lege mich noch mal hin. Ich schlafe viel in der Corona-Zeit, lese Bücher, gucke Fernsehen und koche. Oft ist mir langweilig. Manchmal spiele ich mit meinen Brüdern, aber häufiger streiten wir. +Obwohl ich erst 17 bin, studiere ich schon Pharmazie. Ich war schnell. Das Fach habe ich gewählt, weil es gute Perspektiven bietet. Aber manches fällt mir nicht leicht, besonders Physik. Die Stunden verfolge ich über mein Smartphone. Den Onlineunterricht mag ich nicht wirklich, weil es schwieriger ist, Fragen zu stellen. +Wegen Corona mache ich mir große Sorgen. Die Zahl der Infizierten steigt von Tag zu Tag.Ich habe Angst, dass die Wirtschaft kollabiert.Und auch, dass ich nicht weiterstudieren kann. Trotz des Lockdowns sind draußen viele Menschen unterwegs. Sie gehen ihren normalen Geschäften und Aktivitäten nach, sie haben keine Wahl. Ich mache mir vor allem Sorgen um meine Großeltern, die in Lagos wohnen. Wir können nicht dorthin fahren, weil man nicht in andere Bundesstaaten reisen darf. +Beunruhigend finde ich neben der Corona-Krise auch andere Entwicklungen auf der Welt. Im Lockdown habe ich die amerikanischen Black-Lives-Matter-Proteste in den Medien verfolgt. Dersteigende Rassismus gegen Schwarzeist ein großes Problem. In diesen Zeiten hilft mir mein Glaube. Ich bete und hoffe das Beste. diff --git a/fluter/operation-bei-gehoerlosigkeit.txt b/fluter/operation-bei-gehoerlosigkeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..75b8211fa70a078d58ec0efd738a84a69e22f927 --- /dev/null +++ b/fluter/operation-bei-gehoerlosigkeit.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Es geht um das Kindeswohl und damit auch um die Frage, ob es einem gehörlosen Kind schlechter geht als einem hörenden. Jährlich kommen in Deutschland 700 bis 1.000 Kinder taub zur Welt. Sollte dem gehörlosen Jungen laut Gerichtsurteil ein CI eingepflanzt werden müssen, würde das bedeuten, dass sein Wohl ohne Implantat nicht garantiert wäre. Ein Präzedenzfall, der das Leben vieler gehörloser Kinder beeinflussen könnte. +Sollten Mediziner und Staat bestimmen können, was für ein Kind richtig ist? Bislang haben Gerichte nur für eine medizinische Behandlung gegen den Willen der Eltern entschieden, wenn Lebensgefahr drohte. "Es gibt Gesetze in Deutschland, die uns Eltern das Recht geben, für unsere Kinder zu entscheiden", sagt die Mutter Jasmina A. "Warum dies bei gehörlosen Eltern nicht gilt, verstehen wir nicht." Tatsächlich steht im Grundgesetz, dass "Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern" sind. +Für viele ist es ein Skandal, dass vor Gericht überhaupt über das, was manche schon als eine "Zwangsimplantation" bezeichnen, verhandelt wird. Einige der Positionen zeigen aber auch, dass viel davon abhängt, wie Hörende über Nichthörende denken. Der erste Impuls der Hörenden scheint zumindest oft: Warum verwehren die Eltern ihrem Kind diese Operation? Warum lassen sie es als behindertes Kind aufwachsen, anstatt ihm zu helfen? +Für Gehörlose wie Jasmina A. sind solche Vorwürfe schwer zu verstehen. Sie hat sich mit ihrem Mann auch gegen das Implantat entschieden, um ihr Kind zu schützen. Es ist nicht garantiert, dass eine Operation gutes Hören verschafft. Die OP erfolgt in Vollnarkose, es wird eine Vertiefung in den Schädel gefräst, und das Kind muss danach jahrelang zur Nachsorge sowie zum täglichen Sprach- und Hörtraining. In Deutschland leben gut 80.000 Gehörlose, davon ist rund die Hälfte mit einem CI versorgt. Nicht allen hilft das Implantat, das zudem Nebenwirkungen wie Infektionen, Kopfschmerzen und den Verlust des Geschmackssinns haben kann. Schätzungen gehen davon aus, dass nur etwa 30 Prozent der Kinder mit CI ein gutes Sprachverständnis erlangen. Sie können dann ungefähr so gut hören wie ein Schwerhöriger. +Außerdem ist Gehörlosigkeit für Jasmina A. und ihren Mann keine Behinderung. Sie fühlen sich weder krank noch eingeschränkt. "Wir leben in der Gehörlosenkultur und benutzen in der Familie ausschließlich Gebärdensprache", sagt die Mutter. "Die meisten hörenden Menschen wissen nichts über Gehörlosenkultur und Gebärdensprache. Wie können sie ohne Wissen über die Art, wie wir leben, unsere Entscheidung verstehen?" Die Unterstützung aus der Gehörlosengemeinschaft sei jedenfalls groß und sie sehr dankbar für "so einen Zusam- menhalt". Ein Cochlea-Implantat kann in dieser Gemeinschaft durchaus auch einen Identitätskonflikt bedeuten, denn durch die Prothese sind Gehörlose weder komplett Teil der einen Welt noch der anderen. +Deutschland hat sich nach der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, die Gebärdensprache als eine gleichberechtigte Sprachform zu achten. Es ist eine eigene Sprache mit einem eigenen Wortschatz. 2010 hatte bereits das Sozialgericht Frankfurt entschieden, dass die Eltern eines gehörlosen Kindes bei Besuch einer Regelschule Anspruch auf einen Gebärdendolmetscher haben und dem Kind nicht ein kostengünstigeres Implantat eingesetzt werden muss. "Ich denke, das Gericht wird für uns entscheiden", sagt Jasmina A. Ansonsten will sie weiter für ihre Entscheidung kämpfen, notfalls bis zum höchsten Bundesgericht. diff --git a/fluter/opfer-des-herdentriebs.txt b/fluter/opfer-des-herdentriebs.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4f465e9d857b62f914c9ee07065e7467075cff9c --- /dev/null +++ b/fluter/opfer-des-herdentriebs.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Die Figuren in "Flocken" sind genau gezeichnet und noch genauer inszeniert. Jede Figur kämpft sichtbar und durchgehend mit ihrem inneren Konflikt. Umso erstaunlicher, da die Schauspieler noch nie vor der Kamera standen.Durch seine offene Erzählperspektive lässt der Film unvoreingenommenen Zuschauern die Möglichkeit, sich auf die Seite jeder einzelnen Figur zu schlagen. Unterschwellig werden die Auswirkungen von Alkoholkonsum und das Ansehen zwischen Arm und Reich aufgezeigt. Außerdem erzählt der Film, welch große gesellschaftliche Rolle die Kirche in Schweden heute noch spielt. +Kameramann Gösta Reiland findet immer den passenden Bildausschnitt für das, was er erzählen will. Auch die Bildgestaltung zeichnet sich durch ihre diversen Stilmittel aus. Oftmals kann man einen stark belichteten Hintergrund und eher im Dunkeln tappende Darsteller beobachten, was die Thematik sehr gut unterstreicht. Die Musik von Lisa Holmqvist begleitet den Film nahezu perfekt mit in eher hohen Frequenzen gelegenen Stücken. +"Flocken", was auf Deutsch so viel wie Herdenbildung bedeutet, kann mit dem 2010 in Frankreich erschienenen Film "Studentin, 19, sucht" mithalten, der ebenfalls von einer Vergewaltigung handelt. Und auch die schwedische Verfilmung der "Millennium"-Trilogie zeigt, dass die Schweden schon lange zu den alten Hasen des Dramas gehören. Sehr typisch ist auch das hohe Maß an Gesellschaftskritik, das schwedische Filme zunehmend auszeichnet. +Der Film ist sehr mitreißend, dennoch würde eine Synchronisation in englischer Sprache weniger von den Bildern ablenken. "Flocken" könnte dennoch auf viele Textpassagen verzichten, da mancher Dialog erzählt, was die Bilder längst vermittelt haben. Das Ende überlässt es jedem Zuschauer, wie er über diese Thematik urteilt. +"Flocken", SWE 2015, Regie: Beata Gardeler, Buch: Emma Broström, Kamera: Gösta Reiland, Schnitt: Linda Jildman, Musik: Lisa Holmqvist, mit: Fatime Azemi, John Risto, Eve mlander, Malin Levanon +Jasmin Fischer, 18 Jahre, kommt aus München und berichtet als Teil des fluter.de-Reporterteams über die Sektion "Generation" der Berlinale diff --git a/fluter/ordinaries-film-linnenbaum-rezension.txt b/fluter/ordinaries-film-linnenbaum-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a14d74273c22386f56a754b07b9edeec8ccf976f --- /dev/null +++ b/fluter/ordinaries-film-linnenbaum-rezension.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Sophie Linnenbaums erster Spielfilm führt die Konstruktionvon sozialer Ordnung, Klasse und Identitätad absurdum – und das auf eine Art und Weise, wie man es bisher noch nicht gesehen hat. Der Film ist, wie mittlerweile klar sein sollte, vor allem eins: ganz schön meta. Großer Witz liegt bereits darin, dass die Hauptfigur des Films an ihren Fähigkeiten zur Hauptfigur zweifelt. Zumindest ihre Herkunft scheint sicher. "Meine Mutter ist eine Nebenfigur, aber mein Vater war eine ganz besondere Hauptfigur", verkündet Paula stolz. Die Betonung liegt auf dem "war": Der Vater ist tot, heißt es, und zu ihrem Kummer hat sie ihn nie kennengelernt. +Um Paula aufzuheitern, hat ihre Freundin Hannah, die selbst aus einer Familie voller Hauptfiguren stammt, in der tagtäglich "glückliche Familienszenen" getanzt und gesungen werden, eine Idee: Sie nimmt Paula mit ins nationale Archiv. Hier lagern Filmschnipsel – oder wie es im Film heißt: "Flashbacks" – aller Hauptfiguren. Als Paula entdeckt, dass der Eintrag zu ihrem Vater fehlt, ahnt sie, dass ihre Version der Geschichte über ihn nicht stimmen kann. Ab diesem Moment fängt auch noch ihr "Herzleser" an zu spinnen, ein kleines metallenes Gerät, das Hauptfiguren an der Brust tragen, damit ihre großen Emotionen von mitreißenden Melodien untermalt werden. Bei Paula gibt das Ding plötzlich nur noch dissonante Töne von sich. + + +Paula macht sich auf die Suche nach der wahren Geschichte über ihren Vater – und schließlich nach sich selbst. Diese Suche führt sie durch die sonderbare und manchmal dystopisch erscheinende Filmwelt. Es wird immer klarer: DerKlassismusund die Ausgrenzungspraktiken, die hier herrschen, sind zwar überspitzt dargestellt. Trotzdem scheint durch, dass sie den gesellschaftlichen Ungleichverhältnissen abseits der Leinwand nicht unähnlich sind, auch wenn die Hierarchien dort subtiler wirken mögen als in "The Ordinaries". +Paula jedenfalls stellt die Verhältnisse und ihre Rolle darin zunächst nicht infrage. Auch sie bringt den ausgegrenzten Outtakes anfänglich Misstrauen entgegen – und erinnert diese sogar an die soziale Ordnung: "Sie sitzen falsch!", weist Paula ein Outtake auf einer Busfahrt an, nachdem die Figur zwischen Hauptfiguren und Nebenfiguren Platz genommen hat. Die Szene erinnert sicher nicht zufällig an eine historische Ungleichbehandlung: die Diskriminierung schwarzer Menschenim Zuge der "Rassentrennung"in den USA. Erst als Paula zu einer Erkenntnis über sich selbst gelangt, beginnen ihre fixen Vorstellungen zu bröckeln. +In der finalen Prüfung offenbart Paula mutig ihren größten Makel, der sie als Hauptfigur eigentlich disqualifiziert. Im Publikum bricht Tumult aus. Aber nach und nach beginnen auch die anderen Figuren, Geheimnisse preiszugeben, die sie in der Logik dieser Welt sozial herabstufen würden: Paulas Lehrer ist bloß animiert, Superman hat Angst vor dem Fliegen, eine weitere Figur offenbart, sie habe "keine Backstory". Es entsteht das euphorische Gefühl, diese reglementierte Gesellschaft verändern zu können. +Wie findet man seinen Platz in der Welt? Davon erzählt "The Ordinaries" mit einer erstaunlichen Leichtigkeit, klugen Dialogen und einer paradoxen Antwort: Indem man öfter aus der Rolle fällt, die für einen bestimmt ist. Denn nur so findet man die eigene Storyline. + +"The Ordinaries" läuft ab sofort in den Kinos. diff --git a/fluter/ort-mit-explosiver-geschichte.txt b/fluter/ort-mit-explosiver-geschichte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4cae4a94ec000e660cc7c771d3285776f0968d23 --- /dev/null +++ b/fluter/ort-mit-explosiver-geschichte.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Dünn besiedelt, aber nah an Hamburg – Geesthacht erschien 1865 als ideale Lage für eine Dynamitfabrik +Geesthacht war damals noch ein Dorf. Nobel, der 1865 nach Hamburg gekommen war, hatte das Gebiet aus guten Gründen ausgewählt. Es war dünn besiedelt, lag unweit der Hansestadt in Flussnähe und schien für die gefährliche Produktion daher ideal. Tatsächlich flog schon 1866 ein Teil der Nobel-Fabrik in die Luft. Denn Nitroglycerin war damals noch fast unkontrollierbar, eine empfindliche Flüssigkeit, die durch den kleinsten Schlag explodierte. Nobel experimentierte mit verschiedenen Beimischungen – der Legende nach auch auf einem Floß auf der Elbe. Mit Kieselgur fand er schließlich den geeigneten Zusatzstoff. Die natürliche pulverförmige Substanz, die hauptsächlich aus den Siliciumdioxidschalen fossiler Kieselalgen besteht, bindet die Flüssigkeit. Als Stabilisator kam noch Natriumcarbonat (Soda) hinzu. Erfunden war das Dynamit, ein technisch handhabbarer Sprengstoff, der den Eisenbahn- und Straßenbau stark beschleunigen sollte. +Nobel errichtete in Europa und den USA rund ein Dutzend weitere Dynamitfabriken. In Krümmel wurden auch andere Erfindungen Nobels hergestellt, etwa die Sprenggelatine, ein wasserfestes Dynamit mit weit stärkerer Wirkung, sowie das Ballistit, ein rauchfreies Schießpulver. Früh war ihm die Gefahr des Missbrauchs des Sprengstoffs zu Kriegszwecken bewusst, doch er kannte auch den Wert für die zivile Nutzung im Industriezeitalter. +Mit seinem Testament verfügte er, dass ein Großteil seines Reichtums in eine Stiftung fließt; aus den Zinsen der angelegten Stiftungsgelder sollten dann verschiedene Preise vergeben werden, darunter auch der Friedensnobelpreis. Ob er dies aus schlechtem Gewissen tat – etwa weil seine Erfindung Ballistit im Krieg verwendet wurde –, ist bis heute umstritten. Nobel, befreundet mit der Pazifistin Bertha von Suttner (1843–1914), hatte sich zu einem solchen Motiv weder öffentlich noch in seinem Testament geäußert. +Bis zum Jahr 1910 entwickelte sich auf dem Nobel-Gelände die größte Sprengstofffabrik Europas mit 600 Arbeitern. Zusammen mit der ebenfalls bei Geesthacht liegenden Pulverfabrik Düneberg sprach man von der "Pulverkammer Deutschlands". Während des Ersten Weltkriegs wuchs das Krümmeler Fabrikgelände auf die vierfache Größe an, die Zahl der Arbeiter stieg auf 2.750. Die Demontage nach dem Krieg sowie die Weltwirtschaftskrise ließen die Fabrik wieder schrumpfen. +Ab 1935 machten dann die Nazis die Fabrik zu einem riesigen Rüstungsbetrieb. Während des Zweiten Weltkriegs standen hier Hunderte Gebäude, umschlossen von einem 7,5 Kilometer langen Zaun. Nun wurden hier unter anderem Granaten und Fliegerbomben hergestellt. Rund 13.000 Zwangsarbeiter aus ganz Europa und Kriegsgefangene schufteten während des Krieges in den beiden Geesthachter Rüstungsfabriken. Im April 1945 wurden die Fabriken von den Alliierten besetzt und nach Kriegsende in großen Teilen demontiert und gesprengt. +In den 1950er-Jahren siedelte sich auf dem Krümmeler Gelände die Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schiffahrt (GKSS) an. Physiker, die für das Atomwaffenprogramm der Nazis gearbeitet hatten, entwickelten das nuklear angetriebene Frachtschiff "Otto Hahn". Das Schiff lief 1964 vom Stapel. Auch entstanden zwei Forschungsreaktoren, die inzwischen aber nicht mehr in Betrieb sind. Ebenfalls in den 1960er-Jahren begannen die Planungen für das Atomkraftwerk Krümmel, das von 1984 bis 2011 in Betrieb war. +Rund 13.000 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene schufteten während des Krieges in den beiden Geesthachter Rüstungsfabriken +Dass nach der Sprengstoff- und Rüstungsindustrie ausgerechnet die Atomindustrie hierherkam, kann man als Ironie der Geschichte betrachten. Mit der Frage, wie und warum das geschehen konnte, sowie mit vielen anderen historischen Hintergründen befasst sich seit 1998 ein Geesthachter Bürgerverein. "Nach Bombardierung und Demontage war Geesthacht, insbesondere der Krümmel, eine riesige Industriebrache, ein großes Notstandsgebiet mit enormer Arbeitslosigkeit. Da wollte man unbedingt Großprojekte gewinnen, und damals herrschte eine heute kaum noch vorstellbare Begeisterung in Sachen Atomenergie", sagt Ulrike Neidhöfer, Vorsitzende des "Förderkreises Industriemuseum Geesthacht e.V.". Diese habe damals als energie- und machtpolitischer "Heilsbringer" gegolten, nicht als Risikotechnologie +Der Verein will die Erinnerung an das explosive industriehistorische Erbe wachhalten und widmet sich unter anderem der Erhaltung der historischen Bausubstanz der früheren Sprengstofffabriken, insbesondere des Wasserturms. Der Förderkreis veranstaltet historische Spaziergänge, Ausstellungen und Vorträge und setzt sich für ein Museum ein, in dem dann auch die NS-Zwangsarbeit thematisiert werden soll. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema begann spät: Erst Ende der 1990er-Jahre unternahm eine junge Hamburger Historikerin Forschungen dazu, ihre Magisterarbeit kam 2001 in der Schriftenreihe des Stadtarchivs heraus. 2005 erschien ein kurzer Aufsatz zu Zwangsarbeitern in der Zeitschrift "Lauenburgische Heimat". +Seit 2013 wird in Geesthacht über ein Denkmal für die Zwangsarbeiter diskutiert.Bislang konnte sich allerdings der Förderkreis Industriemuseum weder mit der Sicherung der denkmalgeschützten Wasserturm-Ruine noch mit der Idee eines eigenen Museums durchsetzen. Beim Wasserturm zog der AKW-Betreiber Vattenfall nicht mit. Und die Stadt Geesthacht belässt es bei erweiterten Themenschwerpunkten zu Nobel in ihrem traditionellen Stadtmuseum. Das ist ein Fachwerkhaus aus dem 18. Jahrhundert, das nicht so recht zur Industriegeschichte passen will. Ein weiteres Museum scheint nicht erwünscht, zumal der Stadtsäckel nach dem Atomausstieg nicht mehr so reich gefüllt ist wie früher. +Hans-Hermann Kotte arbeitet als freier Journalist in Berlin. Als Junge hatte er ein Luftgewehr, später verweigerte er aber den Wehrdienst und arbeitete als Zivi in einer Kirchengemeinde und einem Kindererholungsheim diff --git a/fluter/ostdeutsche-benachteiligung-selbstbewusstsein.txt b/fluter/ostdeutsche-benachteiligung-selbstbewusstsein.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..03012b4d859f45b20a4c37146f37ffebfea2b13c --- /dev/null +++ b/fluter/ostdeutsche-benachteiligung-selbstbewusstsein.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Für viele Menschen in Ostdeutschland war die Wende eine einschneidende Erfahrung: der Verlust der gewohnten gesellschaftlichen Ordnung,des Arbeitsplatzes sowie ein neues politisches und wirtschaftliches System.Der Soziologe Bernd Martens spricht sogar von einer "tiefgehenden wirtschaftlichen und sozialen Anpassungskrise, die im Grad ihrer Auswirkungen auf die ostdeutsche Bevölkerung nur mit der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre vergleichbar ist". +Bis heute beklagen viele Ostdeutsche, für diese gravierenden Erfahrungen und die eigene Lebensleistung keine Wertschätzung erfahren zu haben. "Anerkennung haben sie aus ihrer Sicht nie bekommen: weder für diese Transformationsleistung noch dafür, die Wiedervereinigung durch die friedliche Revolution überhaupt ermöglicht zu haben", schreiben die Autorinnen und Autoren einer Bertelsmann-Studie zum Thema. Für den Soziologen Daniel Kubiak von der Berliner Humboldt-Universität hängt das Gefühl der Benachteiligung auch damit zusammen, wie über den Osten gesprochen und berichtet wird – nämlich häufig negativ, in Zusammenhang mit Rechtsextremismus oder Arbeitslosigkeit. +Davon abgesehen sind es aber auch handfeste Fakten, die zum Gefühl der Benachteiligung beitragen. Während das Netto-Durchschnittsvermögen in Westdeutschland 30 Jahre nach der Wiedervereinigung bei rund 121.000 Euro pro erwachsener Person liegt, beträgt es laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Ostdeutschland nur 55.000 Euro. Im Westen konnten Bürgerinnen und Bürger privates Vermögen in Form von Geld, Aktien oder Immobilien aufbauen, im Osten war dies systembedingt nur stark eingeschränkt möglich. Dazu kamen nach der Wende Arbeitslosigkeit und geringere Löhne als im Westen. Der Gehaltsunterschied ist kleiner geworden – aber immer noch vorhanden: Im Schnitt verdient eine Vollzeitkraft mit Sozialversicherungspflicht im Osten monatlich fast 700 Euro weniger als im Westen. +Unterschiedegibt es auch beim Erben:Menschen in den ostdeutschen Bundesländern erben den DIW-Forschenden zufolge nicht nur seltener als Westdeutsche, sie erben auch deutlich weniger. So wurden von 2002 bis 2017 in Westdeutschland im Schnitt rund 92.000 Euro vererbt, wohingegen es im Osten nur 52.000 Euro waren. Das bedeutet, dass die Vermögensungleichheit von Generation zu Generation weitergegeben wird. Darüber hinaus ist der Anteil der Ostdeutschen an den Top-Elitepositionen in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft äußerst gering: Je nach Studie sind es etwa zwei bis vier Prozent. Und kein einziges DAX-Unternehmen hat seine Zentrale in Ostdeutschland. +Die Benachteiligung spüren auch junge Ostdeutsche, die vor allem aus ländlichen Regionen wegziehen.Viele gehen zum Studieren oder Arbeiten in die ostdeutschen Großstädte oder gleich in den Westen.Die, die zurückbleiben, sind allein mit den Alten. Oft mangelt es zudem an Freizeitmöglichkeiten und an Orten, wo sich junge Menschen treffen können. "Das Gefühl, dass es anderswo schöner und attraktiver ist, jugendlich zu sein, ist im Alltag plastisch spürbar", sagt Frank Greuel vom Deutschen Jugendinstitut in Halle. Vor diesem Hintergrund lässt sich nachvollziehen, warum sich 56 Prozent der befragten 18- bis 34-Jährigen in Ostdeutschland als Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse fühlen. +Zu diesem Ergebnis kam eine Erhebung der Bertelsmann Stiftung, für die Jana Faus die Interviews machte. Die jungen Ostdeutschen erzählten, dass sie sich für ihren Dialekt schämen müssten oder belächelt würden, wenn sie zum Beispiel sagten, dass sie aus Sachsen oder Thüringen kämen. "Sie machen permanent die Erfahrung,dass ihnen eine Rolle zugeschrieben wird – ähnlich wie bei Migranten."Die eigenen negativen Erfahrungen reihen sich in die Nachwende-Geschichten der Familie ein: Eltern erzählen ihren Kindern, Großeltern ihren Enkeln von Erfahrungen der Arbeitslosigkeit, kulturellen Umbrüchen oder nicht anerkannten Bildungsabschlüssen. Viele Kinder und Jugendliche haben auch direkt miterlebt, was die Arbeitslosigkeit nach der Wende mit ihren Eltern machte. Daraus entwickelte sich "ein hoher Grad an Solidarität mit den Biografien der Eltern", sagt Soziologe Kubiak. +Das sogenannte Familiengedächtnis ist laut dem Historiker Jörg Ganzenmüller von der Friedrich-Schiller-Universität Jena für junge Ostdeutsche die Hauptinformationsquelle für historisches Wissen über die späte DDR und die Wende, erst weit dahinter kämen Schule und Medien als Informationsquellen. So wird eine Erzählung über die Wendezeit weitergegeben, die viele junge Ostdeutsche immer im Hinterkopf haben. "Ostdeutsche werden sich noch so lange als Bürger zweiter Klasse fühlen, solange es Benachteiligung und Unterrepräsentation gibt", sagt Ganzenmüller. +Dieser Erzählung will die "Aufbruch Ost"-Initiative etwas entgegensetzen. Dafür führen Philipp Rubach, der bei der Bundestagswahl für die Linke kandidierte, und sein Team viele Gespräche und erzählen auf Podien die Geschichten der Menschen. Zudem unterstützen sie Gewerkschaftsproteste. So fuhren sie nach Wilkau-Haßlau, um dort mit den Mitarbeitenden gegen die Schließung des Haribo-Werks zu protestieren. Oder nach Riesa, um die Streikenden der dortigen Teigwarenfabrik zu unterstützen, die eine Angleichung der Ostlöhne an das Westniveau forderten. "Ich glaube nicht, dass der Westen uns retten wird", sagt Rubach. "Entweder wir machen es selbst, oder niemand tut es." + diff --git a/fluter/outsider-art-diskriminierung-kunst.txt b/fluter/outsider-art-diskriminierung-kunst.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f1736438a2305d4857ce64acf0a291d6d8d41685 --- /dev/null +++ b/fluter/outsider-art-diskriminierung-kunst.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Der Begriff bezeichnet seit knapp 50 Jahren "Außenseiterkunst": Werke, die außerhalb des etablierten Kunstbetriebs entstehen und teils von Menschen mit psychischer Erkrankung oder geistiger Behinderung geschaffen werden. Er wirft aber heute eine große Frage auf: Ist die Trennung zwischen vermeintlich "normaler" und "außenstehender" Kunst inklusorisch angemessen? Oder grenzt sie aus? Schließlich gibt es auch keine Outsider-Literatur, Outsider-Küche oder Outsider-Musik. Was soll Outsider Art unterscheiden von Werken und Künstler*innen, die einfach zeitgenössisch genannt werden? +Thomas Röske will das erklären. Er leitet dieSammlung Prinzhornfür Werke von Menschen mit psychischen Ausnahmeerfahrungen am Uniklinikum Heidelberg. Das Museum versteht sich als wissenschaftliche Einrichtung und ist nicht kommerziell. Hier trug der Kunsthistoriker und Psychiater Hans Prinzhorn während seiner Zeit als Assistenzarzt einen Großteil der Zeichnungen, Textilien, Texte, Gemälde und Skulpturen zusammen. "Outsider Art bezeichnet verblüffend originelle künstlerische Werke, deren Sprache abseits der Hochkunst oder Populärkultur liegt, weil ihre Urheber nicht in den Kunstbetrieb eingebunden sind oder ihre Schöpfungen nicht als künstlerischen Output sehen", so Röske. Er sagt, viele der Künstler*innen verstünden es nicht als Diskriminierung, dass als Außenseiter*innen gelten. + + +Andere sehen das Label kritisch, weil es nicht zwischen Leben und Werk differenziert. "Man muss Kunst über die Qualität der Arbeit vermitteln und nicht über die Biografie des Künstlers", sagt zum Beispiel die Galeristin Susanne Zander. "Deshalb stört mich der Begriff ‚Outsider': Er impliziert, da gibt es ein Schicksal, und deshalb müssen wir alle ganz lieb hingucken." +Wie andere seine Kunst sehen, dürfte Henry Darger völlig gleich gewesen sein. Von dem Hausmeister aus Chicago, dessen Werk erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde, stammen unter anderem eine 5.500-seitige Autobiografie und die viel gerühmte "Story Of The Vivian Girls in What is Known as the Realms of the Unreal, of the Glandico-Angelinian War Storm, Caused by the Slave Child Rebellion". +Auf 15.145 Seiten erzählt Darger von sieben Prinzessinnen, den Vivian Girls, die – wie der Titel schon sagt – mit Kindersklaven gegen ihre Unterdrücker kämpfen. Darger malte in Aquarell und zeichnete mit Buntstift, die Mädchen haben Flügel und männliche Geschlechtsteile. Sie kämpfen und rennen und werden getötet, mal tragen sie Waffen im Kampf mit Dämonen, um auf der nächsten Seite friedlich miteinander zu spielen. +Wie Darger zu diesem immensen Output kam, hat der "Spiegel"rekonstruiert: 1911 verlor Darger einen Zeitungsausschnitt, der ein zehnjähriges Mädchen zeigte, das tot aufgefunden worden war. Darger, ein gläubiger Katholik, flehte zu Gott, ihn bei der Suche nach dem Ausschnitt zu unterstützen. Als das Beten nichts half, drohte er, in seinen Zeichnungen "schreckliche Massaker zu entfesseln". Warum Darger der Ausschnitt so viel bedeutete, ist unklar. +Die Anekdote erklärt die Outsider Art, sagt Thomas Röske. "Die Künstler sehen ihre Werke nicht als Kunst, sondern als Verbindung zur Realität, nachdem ihre alte Realität zerstört wurde. Sie schaffen Beweise oder wollen die Welt magisch beeinflussen." So wie Helga Goetze, eine der bekanntesten deutschen Outsider Artists. Bis zu ihrem Tod 2008saß Goetze fast täglich barfuß vor der Berliner Gedächtniskirche, hielt ein Schild mit der Aufschrift "Ficken ist Frieden" und wollte mit Passanten über Sexualität sprechen. Oder wie der 2014 verstorbene Adelhyd van Bender, der glaubte, seine Arbeit sei ihm von einer höheren Autorität aufgezwungen worden – und von morgens bis abends zeichnete, um diesen Missbrauch vor Gericht beweisen zu können. Seine Werke überließ van Bender der Sammlung Prinzhorn, nachdem seine Wohnung unter deren Last zusammenzubrechen drohte. +Sie wurde eine der bekanntesten Outsider Artists in Deutschland. +Röske nennt auch Melvin Way, der zeitweise als "Melvin Milky Way" arbeitete und mit Kugelschreiber "The Cocaine Files Dossier" zu Papier brachte: komplizierte mathematische Formeln, die wie feine Zeichnungen wirken. Hat Way seine eigene Formel für Kokain entwickelt? In jungen Jahren nahm er Drogen und zeigte Anzeichen einer psychischen Erkrankung, erzählt Röske.Way habe gefürchtet, seine Formeln könnten die Welt zerstören, wenn sie in falsche Hände geraten. +Das Interesse an der Außenseiterkunst nehme zu, sagt Röske. Die Preise steigen, Werke sind in Museen und auf der Biennale zu sehen, und es gibt eine eigene Messe, dieOutsider Art Fair. "Die Menschen haben ein Bedürfnis, sich mit irrationalen Zugängen zur Welt zu befassen", meint Röske. "Die Irrationalität ist ein Teil unserer Welt." In dieser Lage sei Outsider Art besonders hilfreich: Sie könne unseren Blick von starren Kategorien zum Kern künstlerischer Tätigkeiten richten: Fantasie und gestalterische Arbeit. Die Frage, was "normal" ist und was nicht, ist dagegen ziemlich langweilig. + diff --git a/fluter/oware-ghana-spiel.txt b/fluter/oware-ghana-spiel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8094fc3b910ee0d0d226e9e00e6ae372c3a30007 --- /dev/null +++ b/fluter/oware-ghana-spiel.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Doch Oware spielt man nicht nur in Ghana, das Spiel hat Dutzende Namen und Varianten: Ayoayo (Nigeria), Congkak (Indonesien), Nsolo (Sambia), Hawalis (Oman), Kiela (Angola), Togus Kumalak (Kasachstan) und so weiter – in Deutschland ist es als Bohnenspiel bekannt. Der Oberbegriff der Spielefamilie lautet Mancala. Der genaue Ursprung ist unklar, die ältesten bekannten Spielbretter stammen aus dem 4. und 6. oder 7. Jahrhundert und wurden bei Ausgrabungen in Ägypten und Ostafrika entdeckt. +Der Name des ghanaischen Oware bedeutet übrigens so etwas wie "er/sie heiratet". Der Legende nach haben ein Mann und eine Frau so lange miteinander gespielt, dass sie anschließend direkt geheiratet haben. + diff --git a/fluter/paare-gleichberechtigung-carearbeit.txt b/fluter/paare-gleichberechtigung-carearbeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8ce44a296c3fd90b4f1ea05409efe44e242066f4 --- /dev/null +++ b/fluter/paare-gleichberechtigung-carearbeit.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Eine klare Regelung, wie sie ihr Geld aufteilen, gibt es nicht. Auch kein separates Konto. "Das war schon immer eher intuitiv bei uns", sagt Vincent. Gerade zahlt er die Miete der gemeinsamen Wohnung und Theresa den größeren Teil der Lebensmittel. +So läuft es bei vielen Paaren. Mal zahlt der eine, mal die andere. Zuerst geht es nur um kleinere Summen, doch mit der ersten gemeinsamen Wohnung kommen Miete, Möbel und Nebenkosten hinzu. Und das zu einem Zeitpunkt, wo die meisten nicht einmal voneinander wissen, wie viel sie verdienen. In vielen Beziehungen ist Geld immer noch ein Tabuthema. Oftmals fällt es Paaren leichter, über Sex zu sprechen als über Finanzielles. +Dabei ist Reden ein guter Anfang: Schon die Rechnung im Restaurant oder die Frage, wer für die Verhütung zahlt, sei ein erster Belastungstest, sagt die Soziologin und Finanzexpertin Birgit Happel. So würden erste Weichen gestellt, wie fair und wie offen mit Geld in der Beziehung umgegangen wird. Bei der ersten gemeinsamen Wohnung machen dann die meisten halbe-halbe, sagt Happel. Gerecht muss das nicht sein. Zum Beispiel arbeiten Frauen häufiger in Berufen, die schlechter bezahlt werden als etwa die männerdominierten Berufe – zum Beispiel in der Kita, im Krankenhaus oder in sozialen Berufen. Und dann bleiben noch die 18 Prozentdes Gender-Pay-Gaps: So viel weniger verdienen Frauen in Deutschland durchschnittlich als Männer. Je größer die Gehaltsunterschiede, desto wichtiger sei es, das Fifty-fifty-Modell infrage zu stellen, sagt Happel. "Für viele Frauen ist der Anteil an den gemeinsamen Kosten daher die weitaus größere Belastung." Ihnen bliebe weniger eigenes Geld für Hobbys oder zum Sparen. +"Zu entscheiden, sich solidarisch um die gemeinsamen Ausgaben zu kümmern, hat viel mit Vertrauen und Zuneigung zu tun", sagt die Wiener Ökonomin Katharina Mader und empfiehlt das Drei-Konten-Modell. Jeder hat ein eigenes Konto,auf ein weiteres haben beide Zugriff. Denn nicht alles ist beiden gleich wichtig: Der eine möchte vielleicht auf eine Fortbildung sparen, die andere auf ein teures Fahrrad oder ein Zeitungsabo. +Bella (26) und Josi (32) haben das dritte Konto, seit sie in eine gemeinsame Wohnung gezogen sind. Damals studierte Bella noch – der Anteil, den sie auf das gemeinsame Konto überwies, war deswegen geringer als Josis Anteil, die als Förderschullehrerin mit 4.600 Euro brutto schon mehr verdiente. Mittlerweile haben die beiden geheiratet, und Bella hat seit Kurzem einen Job im Immobilienbereich der Deutschen Bahn. Nun verdient sie etwa 3.300 Euro brutto. Beide wollen deswegen jetzt etwa gleich viel auf das Konto einzahlen. "Es ist schon schwer, in einer Beziehung einen gerechten Umgang mit Geld zu finden", sagt Bella. Bevor sie zusammengezogen sind, hatten sie eine Fernbeziehung. "Da kam es vor, dass diejenige, die mehr gereist ist, das Gefühl hatte, mehr ausgeben zu müssen. Deswegen haben wir früh angefangen, über Geld in unserer Beziehung zu sprechen." +Das Fifty-fifty-Modell sei nur dann fair, wenn beide ähnlich verdienten, sagt Katharina Mader. Paare, die sehr unterschiedlich verdienen, sollten ihr zufolge den jeweiligen Anteil an die Einkommenshöhe anpassen: Wer mehr verdient, zahlt prozentual auch mehr ein. Es gibt auch andere Modelle, etwa eines, bei dem beide Einkommen auf ein Gemeinschaftskonto fließen, von dem alle Fixkosten beglichen werden. Zur freien Verfügung gibt es dann für beide eine Art Taschengeld. Wenn einer mal arbeitslos ist oder Stunden reduziert, fällt dieses Taschengeld geringer aus, aber beide bekommen den gleichen Betrag. +Der wohl markanteste und gleichzeitig auch wirtschaftlich stärkste Einschnitt in einer Beziehung kann ein erstes Kind sein. Schauspielerin Stefanie (43) dachte vor fünf Jahren, die Gesellschaft sei längst weiter. +"Aber als Schwangere wirst du bei uns im Schauspiel wie eine Aussätzige behandelt." In der ersten Schwangerschaft sei sie kaum mehr besetzt worden. "Sogar die Rolle einer Schwangeren haben sie mit einer Nichtschwangeren mit Kissen vorm Bauch besetzt", sagt Stefanie. Als sie ihre erste Tochter noch gestillt hat, wollten manche Regisseure kein Baby am Set; trotz des mitreisenden Babysitters. +Stefanie führt seit acht Jahren eine Fernbeziehung, ihr Freund spielt in Norwegen in einer bekannten Rockband. Abgestimmt auf ihre Drehtage und seine Konzerte versuchen sie, die Hälfte der Zeit zu viert zu verbringen. Dengrößten Teil der Care-Arbeitstemmt Stefanie – "auch wenn wir zu viert sind". +Tatsächlich übernehmen Frauen mit durchschnittlich 15 Monaten deutlich mehr Elternzeit als Männer, die laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2021 im Schnitt nur vier Monate beantragt haben. Und während 66 Prozent der erwerbstätigen Mütterin Teilzeit arbeiten, reduzieren nur sieben Prozent der Väter ihre Arbeitszeit. +Dieses Ungleichgewicht sei auch strukturell bedingt und könne langfristig nur politisch behoben werden, sagt die Soziologin Birgit Happel. Der größte Fehlanreiz sei nach wie vor das Ehegattensplitting. Verkürzt gesagt haben Paare, die heiraten, Steuervorteile. Zum einen dadurch, dass sie zusammen veranlagt und für eine gemeinsame Steuererklärung alle Verdienste in einen Topf geworfen werden. Zum anderen kann die Person, die mehr verdient, gering besteuert und das zweite Einkommen, das als Zuverdienst angesehen wird, höher besteuert werden. Dadurch haben Ehepaare Vorteile, wenn eine Person deutlich mehr verdient als die andere. Gerade für Menschen, die nicht so viel verdienen und gleichzeitig noch viel Zeit mit den Kindern verbringen wollen, ist es lukrativer, nur mit einem Minijob wieder einzusteigen – und das sind meistens Frauen. +Die Ökonomin Katharina Mader sieht außerdem die zwei "Partnermonate" beim Elterngeld, die immer mehr Väter nehmen, kritisch. "Eigentlich dürfte der volle Betrag nur ausgezahlt werden, wenn Männer genauso lange zu Hause bleiben", fordert sie. Mader forscht, wie unbezahlte Arbeit volkswirtschaftlich sichtbarer sein kann. "Jegliche Erwerbsarbeit wäre ja ohne unbezahlte oder bezahlte Care-Arbeit nicht möglich." +Die Überzeugung, dass Kinderbetreuung und Haushalt genauso anspruchsvoll sind wie die Arbeit mit Kunden, am Schreibtisch oder in Maschinenhallen, setzt sich immer weiter durch. Auch das Problembewusstsein dafür, dass sich Care-Arbeit bei aller Wertschätzung immer noch schlecht auf die Rente und finanzielle Unabhängigkeit auswirkt. Und dann gibt es noch Konzepte wie "Mental Load", wo man auch die geistige Orga-Arbeit einbezieht, sei es das Schreiben von Einkaufslisten oder Koordinieren von Terminplänen. Ideen für mehr Gerechtigkeit gibt es viele: So könnte die Care-Arbeit eines Partners mit dem Mindestlohn oder auch dem Stundenlohn für ausgebildete Erzieher*innen bezahlt werden. +Beim zweiten Kind will Vincent auch sechs Monate in Elternzeit gehen, damit Theresa sich nach dem Master um ihren Berufseinstieg kümmern kann. Aber sich gegenseitig fürs Füttern, Wickeln und Spielen zu bezahlen, das will Vincent nicht. "Das würde sich für uns irgendwie schräg anfühlen." + +Illustrationen:@momlife_comics(IG)/Mary Catherine Starr diff --git a/fluter/pachinko-japan-gluecksspiel.txt b/fluter/pachinko-japan-gluecksspiel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1d69543a5878633a0aadd731a68e93c8594cca82 --- /dev/null +++ b/fluter/pachinko-japan-gluecksspiel.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Dieser Text ist imfluter Nr. 87 "Spiele"erschienen +Ob mit oder ohne Gewinne, manch einen treiben die Automaten in die Armut. Spielsucht ist auch in Japan nicht unbekannt. Doch sie bahnt sich zunehmend andere Wege. 1994 gab es noch mehr als 18.000 Pachinko-Hallen, Ende 2021 waren es knapp 8.500, Tendenz weiter sinkend. Das liegt neben dem mittlerweile eingeführten Rauchverbot in den Hallen vor allem an der Konkurrenz von Onlinespielen und Apps – und 2029 soll das erste legale Casino in Japan eröffnen. Die große Zeit des Pachinko, sie scheint vergangen. + +Foto: Alexander Schimmeck/Unsplash diff --git a/fluter/pack-mal-mit-an.txt b/fluter/pack-mal-mit-an.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..06eaf98bbebb5dd5dc27242c5f5cebca5ce2c026 --- /dev/null +++ b/fluter/pack-mal-mit-an.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +ueberdentellerrand.org +In Wien hatte die Caritas die gute Idee, ein ehemaliges Altenheim in ein Hotel umzuwandeln, in dem fast alle Angestellten Flüchtlinge sind. Der Rezeptionist im "Hotel Magdas" ist aus Guinea-Bissau, die Küchenhilfe kam aus dem Iran und eine Tschetschenin reinigt das Haus. Insgesamt 20 Flüchtlinge aus 16 Ländern arbeiten hier zusammen. Ein Jobcoach leitet sie an und hilft, wenn es Probleme gibt. Wer im Magdas übernachten will, sollte übrigens im Voraus planen. Das Hotel hat zwar erst im Februar eröffnet, doch es ist schon jetzt oft ausgebucht. +www.magdas-hotel.at +Hämmern, schrauben und sägen – das ist der Job von Ali, Maiga, Saidou, Moussa und Malik aus Westafrika. Bei "Cucula",  einer Flüchtlingsfirma für Handwerk und Design, produzieren die fünf Möbelklassiker des italienischen Designers Enzo Mari, teilweise stammt das Holz von ehemaligen Flüchtlingsbooten. Die Idee für dieses Projekt hatte der Möbeldesigner Sebastian Däschle. Mit dem Verkauf von Möbeln und durch Spenden finanziert Cucula Flüchtlingen eine Ausbildung. +www.cucula.org +"Ich habe viel über die Frage nachgedacht, wie es wäre, wenn die Flüchtlinge eine Möglichkeit hätten, sich zu äußern – darüber, wer sie sind, was sie mitbringen, was sie brauchen, warum sie hergekommen sind und was sie belastet", sagt Addis Mulugeta.  Der regimekritische Journalist floh aus Äthiopien und landete im März 2010 in einer Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber in Würzburg. Dort gründete er das Magazin "Heimfocus", in dem Flüchtlinge über alles schreiben, was ihnen am Herzen liegt. In der aktuellen Ausgabe findet sich neben einer Analyse der Pegida-Bewegung auch die ergreifende Geschichte einer Frau, die als Jugendliche aus Deutschland in den Kosovo abgeschoben wurde. +www.heimfocus.net diff --git a/fluter/pagode-pho-da-umzug-koerperschaft.txt b/fluter/pagode-pho-da-umzug-koerperschaft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1cefbfcf10d3922eeac274f30b7f78d091f7eb1c --- /dev/null +++ b/fluter/pagode-pho-da-umzug-koerperschaft.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Ein paar Hundert Menschen empfing die Phổ Đà zum Neujahrsfest Ende Januar, darunter Kevin Hönicke, Vize-Bezirksbürgermeister und Bezirksstadtrat der Abteilung Stadtentwicklung in Lichtenberg. Seit einiger Zeit wird viel über die Pagode gesprochen, in Lokalsendern, aber auch großen Tageszeitungen. Ob das nerve, dass ständig Leute kämen und Fragen stellen? "Vielleicht", antwortet Van Ly Nguyễn und rückt seine Brille zurecht. Aber dass viele von Phổ Đà erfahren, könnte der Gemeinde nutzen. Sie hat ein Problem: Die Pagode darf nicht bleiben. +Tết ist der wichtigste vietnamesische Feiertag. +Buddhisten haben – im Gegensatz zu christlichen und jüdischen Gemeinden – in Deutschland nicht den Status einer "Körperschaft des öffentlichen Rechts". Aus dem Amtsdeutschen übersetzt heißt das: Die Pagode gilt nicht als Religionsstätte, sondern als Kulturzentrum. Und das habe hier, auf dem Gewerbegebiet an der Marzahner Straße 17, nichts zu suchen, argumentiert zumindest das zuständige Bezirksamt. +Die Pagode zog schon 2006 auf das Gelände des Pacific-Centers, das ehemalige Pförtnerhäuschen hat die Gemeinde selbst renoviert. Seitdem werden dort Gottesdienste, Geburten- und Totenrituale gefeiert. 2010 berief die Gemeinde sogar einen Mönch aus Vietnam als neuen geistigen Führer. Die Betreiberin des Centers, selbst Vietnamesin, nimmt für die Nutzung keine Miete, die Gemeinde zahlt lediglich die Betriebskosten. Und da zunächst nichts gebaut wurde, ging niemand davon aus, dass eine Genehmigung nötig sei. Es hätte aber eine planungsrechtliche Umwidmung gebraucht, sagt das zuständige Bauamt, das laut eigener Aussage erst 2016 von der Existenz der Pagode erfuhr. +Das sind Einrichtungen, die unter Aufsicht des Staates öffentliche Aufgaben übernehmen und meist mitgliedschaftlich organisiert sind. Viele Kommunen sind als Körperschaften organisiert, Hochschulen, Ärztekammern und Berufsgenossenschaften, aber auch Kirchengemeinden. Dass vor allem christliche und jüdische Gemeinden diesen Status haben, liegt daran, dass die Gesetzgebung aus der Weimarer Verfassung beibehalten wurde. Vereinzelt wurde mittlerweile aber auch muslimischen oder hinduistischen Gemeinden der Körperschaftsstatus zuerkannt. +Van Ly Nguyễn und viele andere in der Gemeinde erstaunt das. Die Türen stehen hier offen, viele Gemeindemitglieder gehen im benachbarten Asiamarkt ein und aus. Und im Eröffnungsjahr 2006 begrüßte die Gemeinde auch die damalige Bezirksbürgermeisterin zu einer Zeremonie in der Pagode. 2016 entschloss sich die stark gewachsene Gemeinde anzubauen. Der Antrag wurde abgelehnt: Nicht nur ein Anbau, sondern die ganze Pagode könne auf Gewerbegebiet nicht genehmigt werden. Die Gemeinde baute dennoch. Es dauerte, bis das Bauamt den Schwarzanbau bemerkte. 2019 dann der Schock: Das Amt kündigt an, die Nutzung zu untersagen, Phổ Đà soll den Betrieb einstellen. +Immer wieder wendet sich die Gemeinde an das Bezirksamt, pocht auf Gesetze – in Deutschland gilt Religionsfreiheit, dazu später mehr – und auf Metaphysisches. Nach buddhistischem Glauben wären die Seelen der Verstorbenen aus den Ahnenschreinen verdammt, im Jenseits umherzuirren, wenn die Pagode umziehen muss. Das Amt hält an seiner Entscheidung fest. Die Gemeinde erhält lediglich Fristverlängerungen, um einen neuen Standort zu finden. +Als die letzte Nutzungsuntersagung im Sommer 2022 rausging, sei er gerade krank gewesen, versichert Bezirksstadtrat Hönicke am Telefon. Mittlerweile sei die wieder "eingefangen". Die Berichterstattung und eine Petition der Gemeinde haben dem Amt Druck gemacht, sagt Hönicke. "Wir mussten einsehen, dass sich die Sache nicht nebenbei abfrühstücken lässt." Im Dezember verlängert das Lichtenberger Bauamt die Duldung bis 2026. Glaubt man Hönicke, soll die Pagode an ihrem Standort bleiben. +Das wäre leichter, wenn Phổ Đà nach deutschem Recht eine Kirche wäre. Dass die Nutzungsverordnungfast ausschließlich das Christen- und das Judentum als Religionen anerkennt, nennt Hönicke "einen Wahnsinn". Aus seiner Sicht sei das nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Dort heißt es in Artikel 3: "Niemand darf wegen (…) seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden." +Das letzte Mal wurde in den 1980er-Jahren ein Gotteshaus in Berlin auf behördliche Anordnung abgerissen.In Ostberlin ließ die Staatspartei SED eine Kirche sprengen, sie stand zu nah an der Mauer. Heute gibt es in Berlin-Spandau eine andere buddhistische Gemeinde, die ihre Pagode auf Gewerbegebiet betreibt. Nur eben nicht in einem sogenannten "produktionsgeprägten" Bereich, erklärt Kevin Hönicke. +Produktionsgeprägt. Ein kleiner Zusatz, aber ein großer baurechtlicher Unterschied. Denn selbst wenn die Pagode nach deutschem Recht als Kirche gelten würde, trennen Bauämter Nutzungen klar: Gewerbe zu Gewerbe, Wohnen zu Wohnen, Religion zu Religion. Sie müssen die Folgen ihrer Genehmigungen abschätzen, auch rechtliche: Stört sich eines Tages ein ansässiges Wirtschaftsunternehmen an der Pagode, würde es vor Gericht wohl recht bekommen. +Mit ihrem geschwungenen Dach, den roten Lampions und dem kleinen Hof mit den mannsgroßen Buddhastatuen wirkt die Pagode wie eine Oase inmitten des Gewerbegraus, selbst in der kalten Jahreszeit. Van Ly Nguyễn kehrt gerade den Hof. +Wie viele Gemeindemitglieder kam er als Vertragsarbeiter nach Deutschland, das hier damals noch DDR hieß. Nguyễn machte eine Lehre zum Schweißer. Mittlerweile ist er Rentner, hat Kinder und Enkelkinder, aber so gut wie jeden Sonntag verbringt er in der Pagode. Die vietnamesische Gemeinde ist groß in Berlin, besonders hier in Lichtenberg: Rund 9.000 Vietnamesinnen und Vietnamesen sollen im Bezirk leben. Die Pagode ist auch eine Anlaufstelle für viele Neuankömmlinge, die in ihren ersten Monaten in Deutschland Unterstützung suchen. Es gab Neujahrsfeste, erinnert sich Van Ly Nguyễn bei einer Tasse Tee, da haben sie hinten in der kleinen Küche 500 Portionenbánh chưngzubereitet, mit Bohnen gefüllte Reiskuchen, die es traditionell zum Neujahrsfest gibt. +"Es wäre schön, wenn wir an diesem Ort zusammenbleiben", sagt Van Ly Nguyễn. Er hat sich entschlossen, zuversichtlich zu bleiben. Denn im Endeffekt sei die Pagode natürlich viel mehr als ein Gebäude. "Phổ Đà ist hier", sagt er und tippt auf seine Brust. diff --git a/fluter/para-serie-rezension.txt b/fluter/para-serie-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a4f8e5015d81cd4e5b28f711a70b52db32bfbf57 --- /dev/null +++ b/fluter/para-serie-rezension.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Von ihrem Drogenfund versprechen sich die Freundinnen schnelles Geld, nach der ersten Nacht als Dealerinnen gehen sie erst einmal shoppen. Wie im echten Leben ist Geld in der Serie aber mehr als ein Zahlungsmittel, es teilt die Gesellschaft: in Menschen mit und Menschen ohne Chancen. "Para" verhandelt also ein aktuelles Thema: diewachsende soziale Ungleichheit in Deutschland. Zum Glück doziert die Serie darüber aber nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern erzählt anhand von ganz alltäglichen Beispielen. Fantas Mutter etwa hat zwei Jobs und kann am Ende des Monats entweder die Mahnung für die Stromrechnung zahlen oder Fantas kleinem Bruder eine neue Hose kaufen. +Als wäre das nicht genug, müssen die Protagonistinnen wegen ihrer Armut und ihrer Herkunft aus dem angeblichen"Problemviertel"Wedding immer wieder mit Vorurteilen kämpfen: Hajra wird im Supermarkt vom Inhaber gefilzt, weil er sie grundlos des Ladendiebstahls bezichtigt, Fantas Mutter wird gefeuert, als Geld in der Imbisskasse fehlt. Im Kontrast dazu steht eine Party-Bekanntschaft der Freundinnen: Paula (Anna Platen), eine junge Frau aus dem gediegenen Berliner Grunewald, die mit ihrer Mutter in einer riesigen Villa lebt und alsInfluencerinauch noch Designersachen geschenkt bekommt. "Die, die alles haben, kriegen alles in den Arsch geschoben", sagt Jazz nach dem Besuch bei ihr. "Und die, die nichts haben, kriegen gar nichts." Endlich richtig Para machen ist also der Plan der vier. Einziges Problem: Dem ursprünglichen Besitzer der Drogen fällt bald auf, dass sie verschwunden sind. + + +Sehr nah und unmittelbar. Immer wieder sieht man die Gesichter und Körper der vier Hauptdarstellerinnen in Nahaufnahmen, zum Beispiel wenn sie ausgelassen im Club lachen und schwitzen. So kommt die Serie trotz des ernsten Themas leicht daher. Hinter "Para" steht das Autorentrio "HaRiBo", die Erfinder derNeuköllner Clan-Serie "4 Blocks". In "Para" tauchen einige Nebenfiguren aus "4 Blocks" auf, ansonsten ist die Serie komplett eigenständig. +"Para" zeigt eine andere Lebenswelt als die der gehobenen Mittelschicht, die so häufig im Fernsehen abgebildet wird. Die Serie gibt Protagonistinnen eine Stimme, die sonst meist nicht gehört werden, und erzählt dabei nicht aus der Draufsicht – von außen und oben herab –, sondern authentisch. Das liegt an der diversen Besetzung vor und hinter der Kamera und am hervorragenden Spiel der vier Hauptdarstellerinnen. +Auf einer Straße, wo sonst Drogensüchtige abhängen und es in der Ecke nach Urin stinkt, streiten die Freundinnen, ob sie die Drogen wirklich weiterverkaufen sollen. Hajra vertritt dabei die Position, ihr Leben wäre noch beschissener, hätten sie nicht manchmal etwas "gezockt". "Habt ihr nicht mal Bock auf ein bisschen Gönnung?", fragt sie und hält einen denkwürdigen Monolog. Zu Rasaq sagt sie zum Beispiel: "Dein Vater arbeitet sich den Arsch ab in der Werkstatt – jeden verfickten Tag –, und ihr kommt gerade so durch. Und das soll gerecht sein?" +… alle, denen "4 Blocks" zu männerlastig war. Dort sind die Frauen im Laufe der drei Staffeln zwar aktiver und selbstständiger geworden, aber die meiste Zeit waren sie doch Ehefrau, Schwester oder Stripperin. Die schön ambivalenten Heldinnen in "Para" sind dagegen nur untereinander solidarisch – und ansonsten völlig unabhängig. + +"Para – Wir sind King" läuft ab dem 22. April auf TNT Serie (unter anderem empfangbar über die Anbieter Sky, Vodafone Kabel Deutschland oder Deutsche Telekom) + diff --git a/fluter/paradigmenwechsel-wissenschaft-beispiele.txt b/fluter/paradigmenwechsel-wissenschaft-beispiele.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b4e348d2a2e4d6297855e350fc1509246eec2453 --- /dev/null +++ b/fluter/paradigmenwechsel-wissenschaft-beispiele.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Zunächst blieb die Empörung aus. Aber 1616 wurde Kopernikus' wissenschaftliches Hauptwerk von einer päpstlichen Kommission auf den Index der für Katholiken verbotenen Bücher gesetzt. Und als später Galileo Galilei für das kopernikanische Weltbild eintrat und darauf beharrte, dass es im Widerspruch zu einer wörtlichen Auslegung der Bibel steht, läuteten in Rom die Alarmglocken: Der Vatikan verurteilte den "Heliozentrismus" als ketzerisch. Galilei musste in lebenslangen Hausarrest. +Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis die Deutungshoheit der Kirche durch die Naturwissenschaften immer mehr in Bedrängnis geriet und nach heftigen Auseinandersetzungen schließlich zusammenbrach. Ende des 18. Jahrhunderts wurde die "kopernikanische Wende" zu einem Begriff, der auch im übertragenen Sinne verwendet wird – nämlich immer dann, wenn es in einem Wissensgebiet zu einer neuen Erkenntnis kommt, die zu einem radikalen Perspektivenwechsel führt. (Oliver Geyer) +Die Furcht vor dem "plötzlichen Kindstod" begleitet viele Eltern nach der Geburt. In seltenen Fällen sterben Säuglinge im ersten Lebensjahr im Schlaf, ohne dass klar ist, warum. Das Phänomen ist seit Jahrhunderten bekannt, die genaue Ursache aber immer noch nicht. +Während des Zweiten Weltkriegs beobachteten Ärzte und Krankenschwestern, dass bewusstlose verwundete Soldaten eine höhere Chance zum Überleben hatten, wenn sie auf dem Bauch lagen. Ein ähnlicher Ansatz wird heute bei der "stabilen Seitenlage" angewendet: Bewusstlose können an Erbrochenem ersticken – deshalb legt man sie so, dass der Mund der tiefste Punkt ist. Könnte man so nicht auch schlafende Babys schützen? Seit den 1960ern forderten daher viele Kinderärzte in Europa und in den USA: Legt Kinder auf den Bauch! +Was logisch klang, war ein tödlicher Irrtum. Babys sind keine Erwachsenen. Ihr Körper ist nicht nur deutlich kleiner, er funktioniert in vielem auch anders. In den Jahren danach fiel immer mehr Ärzten auf, wie oft Kinder tot in Bauchlage gefunden wurden. In großen Studien wurde bald klar: Die Schlafposition erhöht das Risiko für den Kindstod enorm. Auf dem Bauch, so die Vermutung, bekommen Babys unter Umständen nicht genug Luft. Schlimmstenfalls führt das zum Ersticken. Nach und nach begannen viele Länder, in groß angelegten Kampagnen Eltern zu überzeugen: Legt euer Kind auf den Rücken! "Back to Sleep" hieß es in den USA, ein Wortspiel mit der Doppelbedeutung von "back" ("zurück" und "Rücken"). +Diese Entscheidung, wissenschaftlich fundiert, rettete Leben. In Ländern wie Schweden, den USA, Neuseeland und Deutschland sank die Säuglingssterblichkeit rapide. Immer weniger Eltern legten ihr Kind zum Schlafen auf den Bauch. Doch der Preis des Irrtums war hoch: Experten schätzen, dass allein in Deutschland mehr als 20.000 Kinder wegen der falschen Empfehlung für die Bauchlage starben. (Jan Ludwig) + + +Ein Leben ohne Stromzähler, weil es unendlich viel Strom gibt: In den 1960er-Jahren war die Atombegeisterung in Deutschland so groß, dass die Risiken der neuen Technologie kaum ins Gewicht fielen – vor allem nicht die Frage, wo denn der radioaktive Abfall hinsoll. So groß wie der Glaube an die neue Art der Stromgewinnung war auch der Glaube daran, dass die Wissenschaft dieses Problem früher oder später in den Griff bekommen würde. So beschwichtigte 1969 selbst der anerkannte Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker die Bürger mit dem Hinweis, dass man den gesamten Atommüll der Bundesrepublik, der bis zum Jahr 2000 anfällt, wohl in einem Kubus von 20 Metern Seitenlänge gut versiegelt in ein Bergwerk stecken werde, um das Problem zu lösen. Ein ziemlich großer Irrtum, wie sich herausstellte. +Mittlerweile steht eine strahlende Menge Abfall, so groß wie über 100 Ein­familienhäuser, in Zwischenlagern herum,ohne dass eine Lösung dafür gefunden worden wäre.In der Zwischen­zeit gab es auf wissenschaftlichem Ge­biet viele Erkenntnisse, die sich als weitere Irrwege herausstellten. So lagerte man in den 1970er-Jahren Atommüll in alte Salz­bergwerke ein, weil man davon aus­ging, dass das Salz sie sicher umschließen würde. "Einpökeln" nannte man dieses Verfahren intern. +Dann aber stellte man fest, dass die Bergwerke so ausgehöhlt waren, dass der Einsturz drohte und eindringendes Wasser im schlimmsten Fall radioaktive Stoffe aus den verroste­ten Fässern lösen könnte, die dann ins Grundwasser gelangen. Die Asse in Niedersachsen ist so ein Bergwerk, in das Tausende Fässer eingelagert wurden, die nun aufwendig herausgeholt werden sollen, weil ein Einsturz droht. Neben dem Salz haben Wissenschaftler in der Vergangenheit auch andere Gesteinsarten als tauglich für die End­lagerung eingestuft, darunter Ton und Granit. Sie gelten weiterhin als möglich, allerdings spielt nicht nur das Gestein eine Rolle, sondern auch die geografische Lage des Standorts – zum Beispiel die Frage, ob er in einem Erdbebengebiet liegt oder ob Was­serzuflüsse zu erwarten sind. Man hat also schon dazugelernt – und wird es noch tun müssen. Wis­senschaftler wie Geologen und Atom­physiker haben noch bis 2050 Zeit, eine passende Antwort zu finden auf die Frage: Wohin mit dem Atommüll? (Oliver Gehrs) + +Es ist gerade mal hundert Jahre her, da diagnostizierten Ärzte den Krankheitsverlauf einer Seuche über den Farbton des Patienten: Ein Rot war völlig in Ordnung, doch schon bei einer violetten Nuance ging es mit dem Menschen bergab. Wenn dann aus dem Pflaumenblau ein Schwarz wurde, das sich von den Händen und Füßen bis zum Oberkörper ausbreitete, war der Patient so gut wie tot. +Mindestens 50 Millionen Menschen, so Schätzungen, raffte die Spanische Grippe von 1918 bis 1920 in drei Wellen dahin: In den schwarz gefärbten Körpern der Opfer hatte die Lunge versagt, sodass das Blut aufgrund des Sau­erstoffmangels blau wurde. Die Symptome der todbringenden Krankheit erkannten die Ärzte, aber ihre Ursache konnte sich niemand erklären. +In heißen Gegenden mutmaßte man, es könne sich um Denguefieber handeln, in anderen Teilen der Welt dachte man an Cholera, Fleckfieber oder gar die Pest. Die fortschrittlichsten unter den Medizinern machten ein neues Bakterium für die Pandemie verantwortlich. Die Existenz von Viren, die um ein Vielfaches kleiner sind, wurde in wissenschaftlichen Kreisen zwar schon seit einiger Zeit vermutet – aber unter dem Lichtmikroskop konnte man sie noch nicht erkennen. +Eine intensive Diskussion entbrannte, doch es dauerte noch viele Jahre, bis sich die Virologie als wissenschaftliche Disziplin etablierte undImpfstoffeentwickelt wurden (den ersten Lebendgrippeimpfstoff produzierte 1936 der Russe A. A. Smorodintsev). Dazu trug auch die Erfindung des Elektronenmikroskops bei, dessen Prototyp die deutschen Wissenschaftler Max Knoll und Ernst Ruska 1931 in Berlin vorstellten. Schließlich, im Jahr 1933, gelang es, das Virus, das die Spanische Grippe auslöste, sichtbar zu machen und später dem Typ A der Influenza zuzuordnen, mit dem Subtyp H1N1,nach denen immer noch Influenzaviren typisiert werden. (Natascha Roshani) + diff --git a/fluter/paramilitaers-und-milizen-in-polen.txt b/fluter/paramilitaers-und-milizen-in-polen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..28409f915e0ddb36b1c26b555d47d8e2365fc994 --- /dev/null +++ b/fluter/paramilitaers-und-milizen-in-polen.txt @@ -0,0 +1,43 @@ +Prüfen, ob der Feind erschossen wurde: Dieser paramilitärische Rekrut ist auf dem Waldboden zusammengesackt, nachdem er mit lauten Peng!-Rufen niedergestreckt wurde. Für Übungsmunition gibt es nicht genug Geld + +Mrozy. Ein Dorf, etwa eine Autostunde östlich von Warschau. Hier kaufen alte Leute samstagmorgens um sieben Wurst in Scheiben beim Metzger, Jugendliche verbringen die Nächte am Wochenende in ihren Autos vor der Pizzeria. Dreißig Männer und Frauen schleichen durch den Wald, in Tarnfarben gehüllt und mit Rucksäcken beladen, die Waffen zum Gefecht bereit. Sie üben, sich als Einheit zu bewegen, auf den Feind zu reagieren. Mögliche Angreifer? Russen. Ukrainer. Islamisten. Angela Merkel. So sagen es die Teilnehmer dieses Lehrgangs. Sie tragen Uniform, doch Soldaten sind sie nicht. Sondern Studenten, Lehrer, Büroangestellte oder Schüler. +"Wir wollen nicht kämpfen", sagt Lewinsky, "wir wollen nicht töten. Aber wir wollen den Feind wissen lassen, dass er es schwer haben wird." "Ich schieße gerne. Ich verbringe viel Zeit damit", sagt einer von ihnen. "Krieg liegt Menschen in den Genen, schon immer", ein anderer. +Richtung Wald zum Kampf-Training: Die paramilitärische Gruppe Strzelec marschiert für ihre militärische Übung durch eine Neubausiedlung in Mrozy + +Überall in Polen gibt es solche paramilitärischen Gruppen, wie viele, weiß niemand so genau. Das Verteidigungsministerium geht von bis zu 90.000 Paramilitärs aus. Zum Vergleich: Für die polnischen Armee arbeiten derzeit 98.000 Soldaten. +Trainerin Gosia Lewinsky ist in dem kleinen Ort Mrozy aufgewachsen und lebt bis heute hier. Sie ist 28 Jahre alt, trägt ihre langen blonden Haare zum Zopf geflochten und eine rahmenlose Brille. Seit fünf Jahren bereitet sie sich darauf vor, für ihr Land zu kämpfen. An diesem Wochenende trainiert sie den Nachwuchs. +Früher war sie mal Verkäuferin in einem Waffengeschäft, heute hat sie einen Bürojob. So genau, sagt sie, darf das nicht in diesem Artikel stehen. So auch nicht ihr richtiger Name. Ihre Chefs sollen von ihrem Hobby nichts wissen. Spione auch nicht. +In einer Grundschule in Mrozy bereiten Trainerin Gosia Lewinsky und ihr Freund das Training im Wald vor + +Martin putzt seine Kalaschnikow. Nach jedem Tag im Feld wird sie auseinandergenommen, vom Schmutz befreit und geölt. In seiner Gruppe ist Martin der Schnellste beim Auseinandernehmen und Zusammensetzen + +In einer Turnhalle gibt es am Abend eine Nachbesprechung der vorangegangenen Übung. Ein regulärer polnischer Soldat vermittelt militärische Theorie und weist auf Fehler hin, die während der Übung gemacht wurden. Doch der zurückliegende anstrengende Tag in Morast, Dreck und Gestrüpp zehrt an der Konzentration + +Lewinsky gehört zur ersten Generation Polens, die nach der politischen Wende 1989 in einem unabhängigen, friedlichen Land erwachsen geworden ist. In einem Land, in dem die Geschichte an Häuserwänden und auf T-Shirts klebt, ein goldgekrönter Adler, das Staatswappen. Tafeln erinnern an die Helden der jüngeren Geschichte, die sich als Widerstand gegen die Wehrmacht organisierten, überall prangt ihr Zeichen, ein geschwungenes W. Es ist aber auch ein Land, in dem Militärkunde in vielen Schulen zum Lehrplan gehört, Camouflage-Kleidung auffällig oft ins Stadtbild und Militärparaden Ereignisse für Familien sind. Mal eine Waffe anfassen. Für ein Foto damit posieren. +Lewinsky gehört eigentlich auch zur Generation Erasmus, die sich durch die Europäische Union und über den Globus hinwegbewegen kann wie durch die eigene Nachbarschaft. Doch Lewinsky sagt: "Polen ist auch schön. Erst schaue ich mir mein eigenes Land an, dann andere." +Bei wichtigen Anlässen tragen die Strzelec eine "Galauniform". Wenn sie sich in der Öffentlichkeit bewegen, wie hier in Warschau, wollen sie einen guten Eindruck hinterlassen + +Der Anfang des Jahres verstorbene Janusz Brochwicz Lewiński (rechts) wird als Kriegsheld verehrt: Er kämpfte im Zweiten Weltkrieg gegen die Deutschen und in der kommunistischen Zeit Polens für die britische Armee. Auch war er Ehrenmitglied der polnischen Spezialeinheit GROM und in der paramilitärischen Einheit von Marek Mroszczyk (links), der den Orden "Polonia Restituta" in seinen Händen hält – eine von unzähligen Auszeichnungen und Ehrungen, die Janusz Brochwicz Lewiński verliehen wurden + +Am "Armed Forces Day" in Warschau schultert ein Junge eine Panzerbüchse russischer Bauart "RPG". An diesem Tag präsentiert die Armee, was sie zu bieten hat, und Paramiltiärs werben um Mitglieder + +Gosia Lewinsky lebt im Haus ihrer Eltern, jeden Tag pendelt sie zur Arbeit nach Warschau, eine Dreiviertelstunde mit dem Regionalzug hin, eine zurück. Sie verdient nicht genug, um sich eine eigene Wohnung zu leisten. Lewinsky ist nicht die Einzige ihrer Generation, die trotz Arbeit weiter von ihrer Familie abhängig ist. Dabei ist Polen heute aus ökonomischer Sicht Musterschüler, das Bruttoinlandsprodukt wächst. Die Regierung baute mit den Fördermilliarden der EU Schulen, Kindergärten und Autobahnen – und privatisierte sie dann. Die Mieten stiegen, die Löhne stagnierten. Die Frustration der Bürger darüber gipfelte 2015 darin, dass sie eine rechtspopulistische Regierung wählten. Hier, am Rande Europas, zerbröselt die Idee, dass die Europäische Union Wohlstand für alle bringt. Stattdessen kehrt die alte Angst zurück, als kleines Land den großen Feinden ausgeliefert zu sein. Die hatten sich schon in der Vergangenheit Polen gegenseitig wie ein Geschenk überreicht. +Das soll nicht wieder passieren, die Paramilitärs wollen vorbereitet sein. Ihr historisches Vorbild: der Kampf der Armia Krajowa – der Heimatarmee –, die im Zweiten Weltkrieg gegen die deutsche Wehrmacht kämpfte. Die Paramilitärs erinnern etwa an den Warschauer Aufstand im Spätsommer 1944. Damals hatte sich das polnische Volk aus dem Untergrund organisiert, 300.000 Menschen hatten sich der Armia Krajowa angeschlossen, allein in Warschau waren es etwa 45.000 Kämpfer: eine der größten Untergrundarmeen, die es je in Europa gegeben hat. Ihr Aufstand begann im Zentrum Warschaus, aus dem sie die Nazis vertreiben wollten. Doch auf ihren Widerstand folgte die totale Zerstörung der Stadt. Die Armia Krajowa unterlag der Wehrmacht, Zehntausende Polen starben. Die sowjetische Armee sah zu und marschierte anschließend ein. Die Untergrundkämpfer flohen ins Exil. Zurück ließen sie den Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmtheit. +Deshalb steht Lewinsky im Wald und brüllt Rekruten an. Sie und ihre Mitstreiter wollen mehr Mitglieder ausbilden. Die Idee: Wenn sie viele sind, kann die Gesellschaft sie nicht länger ignorieren oder, schlimmer noch, ihre Arbeit als kurioses Hobby abtun. Über Kader, die sich bis ins Ministerium vernetzen, wollen sie ihre Idee eines selbstbestimmten Volkes verbreiten. Dafür haben die Paramilitärs eigens eine Art Dachverband gegründet, Obrona Narodowa, Nationale Verteidigung. Und ihr Plan geht auf. +Bevor es in den Wald geht, werden Bewegungsabläufe geübt und Wissen abgefragt. Immer professioneller sollen die Strzelec werden. Freiwillige Polizeiausbilder und Soldaten helfen ihnen dabei + +Wie kann man den Feind besiegen? Mit Flaschendeckeln auf dem Waldboden stellen die Paramilitärs das taktische Vorgehen nach + +Dieser Strzelec hat es nicht leicht: Seine Waffe, eine Bazooka, ist wegen ihres Gewichts und ihrer Unhandlichkeit bei den Teilnehmern unbeliebt + +Im vergangenen Sommer fand in Polen ein gemeinsames Training von Einheiten diverser NATO-Staaten und -Partnerstaaten an der polnisch-russischen Grenze statt. Es ging darum, Taktiken zu üben. Sich als Alliierte gegen den russischen Feind zu verbinden. Sich auszutauschen, voneinander zu lernen. Das Besondere: Zum ersten Mal ließ die rechtspopulistische Regierung auch Paramilitärs zum Training zu. Unter anderem Gosia Lewinsky. "Wir haben dort gezeigt, dass wir auch was können", sagt sie. +Schon die Vorgängerregierung hatte überlegt, wie sie Paramilitärs in die nationale Verteidigungsstrategie einbinden soll. Im Notfall helfen, Häuser zu evakuieren, Lager aufzubauen und Sandsäcke zu stapeln. Die Nachfolgeregierung testet diese Zusammenarbeit weiter, dieses Mal mit dem Ziel, die Paramilitärs auch kämpfen zu lassen. Die ersten paramilitärischen Gruppen haben kürzlich ein zweiwöchiges Basistraining absolviert, sie bekommen – für ein Trainingswochenende pro Monat – einen Sold von rund 120 Euro, dazu die Ausrüstung. Mehr als 800 Millionen Euro will der Staat dafür in den kommenden drei Jahren ausgeben – für bewaffnete Low-Budget-Soldaten. Sie handeln im Auftrag einer Regierung, die die Grundrechte ihrer Bürger einschränkt, die Pressefreiheit beispielsweise oder die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichtshofs. Und niemand weiß so genau, wofür die Paramilitärs politisch stehen. +Jaruslaw ist Gruppenführer einer Einheit der Paramilitärs in Warschau. Gerne trägt er auch privat Tarnfarben und nationalistische T-Shirts. Und er behauptet: So ein Outfit kommt gut bei den Frauen an + +Bei dem NATO-Training war auch eine paramilitärische Einheit aus Krakau dabei. Einer aus dieser Gruppe hatte zuvor eine Flagge der NATO öffentlich verbrannt. "Theater" nennt er solche Militärübungen und "Propaganda". Sein Name ist Michał Prokopowicz. Er ist nicht nur Leiter der paramilitärischen Einheit SJS 2039 Kraków. Früher war er in der prorussischen Partei Zmiana aktiv. Heute ist er auch Mitglied der Organisation Falanga. Sie gilt als faschistisch. Mitglieder dieser Gruppe sollen an der Grenze zur Ukraine Jagd auf Flüchtlinge gemacht haben. Sie brüsten sich damit im Internet. +Prokopowicz sitzt am Schreibtisch eines kleinen Büros, seine Waffe und eine schusssichere Weste liegen auf dem Boden. Die Tür wird von einer Munitionskiste offen gehalten. Das Hauptquartier seiner Einheit. Prokopowicz, er trägt Uniform und die blonden Haare streng gescheitelt, sagt Sätze wie "Polen darf nicht das Afghanistan Europas sein". Seine Einheit ist jung. Er hat sie gegründet, weil er zuvor aus einer anderen rausgeflogen war. Zu politisch war er der Leitung seiner Einheit. Zu radikal. Doch dagegen, dass er Jugendliche nun selbst ausbildet, scheint niemand etwas zu haben. Sie dürfen sogar bei Stadtfesten aufmarschieren. +Das obligatorische Gruppenbild der Strzelec-Einheit am Ende einer Übung – in der Mitte die polnische Flagge. Rechts die Flagge der Woiwodschaft Masowien + +Hier in Polen, sagt er, findet eine neue Form von Kolonialismus statt, die Versklavung der jungen Polen, die nichts besitzen. Durch wen? Durch den Kapitalismus, die Banken, so explizit formuliert er das nicht, Migration ist jedenfalls auch irgendwie schuld an der Misere. Prokopowicz' Gegenstrategie: die Polen militarisieren. Allein im letzten halben Jahr sind sechs seiner Rekruten im Militär aufgenommen worden. +Zu sagen, die Paramilitärs treibe die Angst vor Russland an die Waffen und in die Wälder, wäre zu einfach – und bei Menschen wie Prokopowicz falsch. Viel mehr treibt sie die diffuse Idee, die Familie und die Freunde, die Nachbarschaft, sich selbst beschützen zu wollen. Sie sagen, sie handeln im Sinne ihrer Nation. Ihre Regierung sagt, sie sind eine wertvolle Ressource für die Verteidigung der Nation. Doch was, wenn sie darüber entscheiden wollen, wer zur Nation gehört und wer nicht? +Gosia Lewinsky sagt: "Wir müssen uns daran erinnern, wer wir sind, woher unsere Familien kommen." Michał Prokopowicz ist da deutlicher: "Wenn ich sterbe, dann im Kampf." diff --git a/fluter/parkbank-statt-sofa.txt b/fluter/parkbank-statt-sofa.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fb7fda11cb05d442aef4b959545270436411e532 --- /dev/null +++ b/fluter/parkbank-statt-sofa.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Am Ende verbringe ich eine Nacht auf einer Parkbank in der Innenstadt von Sarajevo. Meinen unruhigen Schlaf stört zwischendurch ein angetrunkener amerikanischer Tourist. "Ey, wenn du keinen Platz in einem Hostel findest, solltest du mal Couchsurfing versuchen", sagt er zu mir. +Arne Semsrott kennt keine Berührungsängste mit anderen Kulturen. Er hat zeitweise in der Türkei studiert und ist ständig unterwegs. Im zweiten Teil von "Abenteuer Couchsurfing" hat er Bekanntschaft mit der estnischen Tierwelt gemacht, im vierten Teil führt ihn seine Reise zu einem spendablen Ölmanager im Nordirak.   / Illustration: Jindrich Novotny diff --git a/fluter/parteien-haben-probleme-nachwuchs-zu-finden.txt b/fluter/parteien-haben-probleme-nachwuchs-zu-finden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..30b32772acd2074c6c95ec63cb0dcd186c5df5c7 --- /dev/null +++ b/fluter/parteien-haben-probleme-nachwuchs-zu-finden.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Der 31-Jährige fungiert als eine Art Botschafter der Stiftung und lädt zum Gespräch ins Betahaus in Kreuzberg ein, den wohl bekanntesten Treff der Berliner Start-up-Szene. Haan trägt seine Haare kurz, dazu Hemd und transparente Acetatbrille und passt auch sonst optisch gut hierher. "Ich glaube an das Prinzip Volkspartei", erklärt Haan, der selbst SPD-Mitglied ist. Wenn eine Neuausrichtung bei einer solch traditionsreichen Partei wie der SPD nicht möglich wäre, "hätten wir alle ein Problem". Denn das würde bedeuten, so meint er, dass die demokratischen Parteien keine wirkliche Zukunft hätten. + +Mach sie frisch: Im Betahaus, wo sich die Berliner Start-up-Szene trifft, haben Yannick Haan und sein Team einen Elf-Punkte-Plan zur Verjüngung von Parteien erarbeitet +Was Haan am meisten stört, ist, wie er es etwas überspitzt nennt, die "Präsenzdiktatur" in den Parteien. Damit meint er beispielsweise das Ortsprinzip: Mitglieder können sich nur dort engagieren, wo sie auch wohnen. "Auf dem Land mag das gut und richtig sein", erklärt Haan. "Aber in der Stadt wäre es besser, einzelne Ortsgruppen würden um Mitglieder konkurrieren." Außerdem gelte es, mehr Diskussionen und Abstimmungen im Internet zu ermöglichen, damit junge Menschen sich dort beteiligen können, wo sie sich eben aufhalten und informieren: im Netz. +Haan betont, dass er "nichts wegnehmen, sondern nur etwas hinzufügen will". Damit meint er, dass er die Debatten in Eckkneipen nicht abschaffen möchte, sondern die digitalen Beteiligungsmöglichkeiten als Ergänzung sieht – und mit ihnen einen nahtlosen Übergang ins digitale Zeitalter zu schaffen hofft. "Wir brauchen Diskussion online und offline. Im Netz läuft die Wortwahl bei manchen nämlich auch schnell mal aus dem Ruder." +Manche Forderungen des Elf-Punkte-Plans werden von der einen oder anderen Partei zum Teil schon umgesetzt. So gibt es bei den Grünen bereits einige Landesverbände, die auf die strenge Ortsbindung verzichten. Punkt 2 fordert eine Zwischenstufe von Mitgliedschaft und Nichtmitgliedschaft, da gerade für junge Menschen der Eintritt in eine Partei eine große Hürde sei. Die Regierungsparteien SPD und Union bieten mittlerweile Probemitgliedschaften an, genauso die anderen Bundestagsparteien. Zumeist dürfen die Probemitglieder an Versammlungen teilnehmen, haben aber kein Stimmrecht. +Einen zentralen Punkt des Elf-Punkte-Plans sieht Haan dagegen noch nicht umgesetzt. Er trägt den etwas populistisch angehauchten Titel "Alle Macht den Mitgliedern". Der Punkt ließe sich zum Beispiel mit Urabstimmungen – dabei dürfen alle Mitglieder einer Partei teilnehmen – zur Ernennung des jeweiligen Kanzlerkandidaten umsetzen. Es wäre sogar möglich, Vorwahlen durchzuführen, bei denen auch Nichtmitglieder ein Stimmrecht haben. "Wer sich heute engagiert, will wirklich mitentscheiden und nicht bloß dasitzen", sagt Haan. +So logisch manche der Punkte auch klingen mögen – es gibt auch Kritik an dem Konzept. Die SPD selbst etwa hält nicht alle Vorschläge für realistisch. Für eine komplette Auflösung des Ortsprinzips zum Beispiel müsste das Parteiengesetz geändert werden, das die Gliederung nach Gebietsverbänden vorgibt. Wieder andere kritisieren – zum Beispiel Teilnehmer dieser TV-Diskussionsrunde, in der Haan zu Gast war –, dass die Punkte nichts bringen würden, solange die junge Generation nicht aus dem Quark komme und sogar zu träge sei, um wählen zu gehen. +Wie wichtig es ist, junge Menschen anzusprechen, zeigt tatsächlich nicht nur ein Blick auf die Parteienmitgliedschaften, sondern auch auf die Menschen, die sie wählen wollen. 48,1 Jahre waren die Menschen alt, die nach Erhebungen im Rahmen der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) zum Jahr 2016 angegeben haben, die Grünen wählen zu wollen – und das war mit Abstand die jüngste Gruppe. Bei den vergangenen Bundestagswahlen war die Wahlbeteiligung bei den 21- bis 24-Jährigen von allen Altersgruppen die niedrigste. Gar nicht auszudenken, wie solche Statistiken in zehn Jahren aussehen werden, falls nicht alle Leser dieses Textes im September wählen gehen – welche Partei auch immer. diff --git a/fluter/parteiverbot-fragen-und-antworten-faq.txt b/fluter/parteiverbot-fragen-und-antworten-faq.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..aaa2c980570b19933987f70fe4de737fd4a020e5 --- /dev/null +++ b/fluter/parteiverbot-fragen-und-antworten-faq.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Die Grundlage für ein Parteiverbot findet sichArtikel 21 des Grundgesetzes. Dort heißt es: "Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig." Doch verfassungsfeindliche Ziele allein reichen noch nicht, um eine Partei zu verbieten. Sie muss laut Bundesverfassungsgericht zusätzlich auch eine "aktiv kämpferische, aggressive Haltung" einnehmen und planvoll die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigen wollen. Außerdem muss plausibel sein, dass sie das Potenzial besitzt, diese Ziele auch zu erreichen. +Ein Verfahren dauert in der Regel zwischen drei und fünf Jahren. Nachdem der Bundestag, der Bundesrat oder die Bundesregierung beschlossen haben, ein Verbot zu beantragen, wird der Antrag vorbereitet. Darin wird begründet, warum eine Partei verboten werden soll und auf welcher rechtlichen Grundlage. Außerdem werden Beweise aufgeführt – das können Parteitagsbeschlüsse, Äußerungen von Parteipolitiker:innen oder auch Erkenntnisse desVerfassungsschutzessein. Dieser Antrag kann mehrere Hundert Seiten lang sein und wird beim Verfassungsgericht eingereicht. Nachdem er beim Gericht eingegangen ist, hat die betreffende Partei die Möglichkeit, Stellung zu nehmen. Zudem prüfen die Richter:innen, ob der Antrag zugelassen oder als unzulässig oder als nicht hinreichend begründet zurückgewiesen wird. Dieser Schritt ist Teil des Vorverfahrens. Wird der Antrag angenommen, kommt es zur mündlichen Verhandlung. Dabei werden Beweise erhoben und Zeugen vernommen. Anschließend entscheiden die Verfassungsrichter:innen des zuständigen Senats per Zweidrittelmehrheit, ob der Verbotsantrag begründet ist. Sie fällen das Urteil, ob eine Partei verfassungswidrig ist und infolgedessen verboten wird. Nach seiner Verkündung kann das Urteil immer noch am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angefochten werden. +Grundsätzlich sind ein Parteiverbotsverfahren und die Einstufung einer Partei vom Bundesamt für Verfassungsschutz zwei voneinander unabhängige Verfahren: Der Verfassungsschutz kann eine Partei als "gesichert extremistisch" einstufen, ohne dass es zu einem Antrag auf ein Parteiverbot kommt. Je nachdem, ob der Verfassungsschutz eine Partei als "Prüffall", als "extremistischen Verdachtsfall" oder sogar als "gesichert extremistische Bestrebung" einstuft, kann er sie unterschiedlich überwachen, um Beweise zu sammeln: Bei einer Einstufung als Verdachtsfall dürfen zum Beispiel V-Leute, also Informanten des Verfassungsschutzes, eingesetzt werden oder mit anderen geheimen nachrichtendienstlichen Mitteln Informationen über die Partei beschafft werden. Eine Mail- oder Telefonüberwachung ist damit allerdings nicht automatisch erlaubt, dafür gelten in Deutschland sehr hohe rechtliche Auflagen. Beweise, die auf diesem Weg gesammelt werden, können später Äußerungen von Parteifunktionär:innen oder Mandatsträger:innen im Vorverfahren oder bei mündlichen Verhandlungen im Parteiverbotsverfahren ergänzen. +In der Geschichte der Bundesrepublik wurden erst zwei Mal Parteien verboten – die Sozialistische Reichspartei (1952) und die Kommunistische Partei Deutschlands (1956). Versuche, Parteien zu verbieten, gab es dagegen schon häufiger. Sie scheiterten aber aus unterschiedlichen Gründen. +Gegen die NPD gab es bereits zwei Parteiverbotsverfahren – beide scheiterten. Zum ersten Mal beantragte die Bundesregierung 2001 ein Verbot der NPD, kurze Zeit später folgten auch der Bundestag und der Bundesrat der Bundesregierung. Zwei Jahre später stellte das Bundesverfassungsgericht das Verfahren jedoch ein. Der Grund dafür war, dass unter den führenden NPD-Parteifunktionär:innenV-Leutewaren. Dies hatten die Behörden dem Gericht erst im laufenden Verfahren mitgeteilt. Das Gericht sah Verfahrenshindernisse, da die Führungsebenen der Partei beobachtet wurden und eventuell sogar damit gerechnet hatten. Außerdem konnte man nicht genau feststellen, welche Äußerungen wirklich der NPD zuzurechnen waren und welche den V-Leuten, die vom Staat bezahlt wurden. Zudem wurde das Beweismaterial im Verfahren von jenen V-Leuten gesammelt, die selbst an Entscheidungen der Partei mitgewirkt hatten. +Das zweite NPD-Verbotsverfahren fand zwischen 2013 und 2017 statt. Nachdem 2011 die Morde der rechtsextremistischenTerrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)bekannt wurden, beschloss 2012 der Bundesrat einen Antrag auf ein Verbotsverfahren. In diesem Verfahren kam das Verfassungsgericht 2017 zwar zu einem Urteil, ein Verbot scheiterte jedoch erneut: Laut denRichter:innensei die NPD zwar erwiesenermaßen verfassungsfeindlich, politisch aber so unbedeutend, dass sie nicht über das nötige Potenzial verfüge, die freiheitlich-demokratische Grundordnung auch zu beseitigen. +Kritiker:innenvon Parteiverboten argumentieren, dass Verbote kleiner Parteien nur eine geringe Wirkung haben. Verbote großer Parteien seien dagegen gesellschaftlich schwer zu vermitteln, weil relevante Anteile der Bevölkerung von der Repräsentation ausgeschlossen würden. Als weitere Risiken gelten die lange Dauer eines Verbotsverfahrens und der ungewisse Ausgang. +Neben dem Parteiverbot gibt es weitere Mittel, wie verfassungsfeindliche Parteien wirksam eingeschränkt werden können. Dazu zählen das Verbot einzelner Landesverbände, der Jugendorganisationen, ein Ausschluss aus der Parteienfinanzierung und die Einschränkung politischer Grundrechte einzelner Politiker:innen. +Bei Verbotsverfahren gegen einzelne besonders extremistische Landesverbände einer Partei kann die entsprechende Landesregierung den Antrag beim Bundesverfassungsgericht stellen. Hier gilt das Verfahren aufgrund des geringeren Umfangs der Beweisprüfung als einfacher durchführbar. +Extremistische Jugendorganisationen von Parteien lassen sich noch einfacher und schneller verbieten. Als Vereine fallen sie nicht unter das Parteiengesetz, das Parteien schützt. Ein Vereinsverbot durch das Innenministerium ist im Gegensatz zu einem Parteiverbot ein einfacher Verwaltungsakt. Die Innenministerin kann einen Jugendverband dann verbieten, wenn Beweise vorliegen, dass er verfassungsfeindlich ist oder sich gegen die Völkerverständigung richtet. +Ein weiteres Mittel ist der Entzug der Parteienfinanzierung. Auf Antrag von Bundestag, Bundesrat oder der Bundesregierung kann das Bundesverfassungsgericht entscheiden, verfassungsfeindliche Parteien von derParteienfinanzierung auszuschließen– auch wenn die Beweise für ein Parteiverbot nicht ausreichen. Weil die Parteiarbeit und die Durchführung von Wahlkämpfen viel Geld kosten, ist der Ausschluss aus der Parteienfinanzierung ein wirksames Mittel. Auch politische Stiftungen, die nicht für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einstehen, können von staatlicher Finanzierung ausgeschlossen werden. +Ein weiterer Ansatz derwehrhaften Demokratieist der Entzug von Grundrechten, zum Beispiel für einzelne Politiker:innen. Artikel 18 des Grundgesetzes besagt, dass wer die Meinungsfreiheit für einen Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung ausnutzt, seine Grundrechte verliert. Beantragen können Bundestag, Bundesregierung und Landesregierungen diesen Entzug der Grundrechte in Karlsruhe. Bisher scheiterten allerdings alle Versuche. + diff --git a/fluter/party-mit-dj-algorithmus.txt b/fluter/party-mit-dj-algorithmus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2a97d3279b757e9bf12237b1ea2c4b4bf9e1a253 --- /dev/null +++ b/fluter/party-mit-dj-algorithmus.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Als letztes Jahr im September an einem Montag mal keine neuen Songs in den Playlists waren, drehten Nutzer in den sozialen Netzwerken durch. Nun fehle dem Montag ja das einzig erfreuliche Erlebnis, so die O-Töne. Das anfängliche Nice-to-Have war längst zur Kernfunktion geworden. Von über 100 Millionen weltweiten Nutzern insgesamt haben 40 Millionen die Playlist bereits fünf Milliarden Mal gestreamt. Der schwedische Streaming-Riese behob das Problem, bevor die Woche endete. +Natürlich ist nicht jeder Track des Mixtapes ein Treffer, aber es sind immer mehrere Treffer dabei, und nur selten liegt "Dein Mix der Woche" völlig daneben. "Discover Weekly" erschien vielen Nutzern von der ersten Sekunde an offensichtlich besser als kuratierte Playlists der Konkurrenz bei Google Play Music und Apple Music. +"Jede unserer Playlisten wurde von Hand zusammengestellt. Daran hat ein Team aus Musikexperten, bestehend aus DJs, Musikern und Musikkritikern, mit größter Sorgfalt gearbeitet", so Elliott Breece, Produktmanager Google Play Music in Googles eigenem Newsblog. Ins gleiche Horn stößt man bei Apple: "Apple hat die talentiertesten Musikexperten von überall auf der Welt angestellt, mit dem Ziel, die perfekten Wiedergabelisten auf Basis der Vorlieben eines Nutzers zu erstellen", hieß es in der zum Start von Apple Music veröffentlichten Pressemitteilung. Und Spotify? Der Streaming-Dienst aus Schweden setzt ausschließlich auf den Algorithmus. Statt "Musikexperten" arbeiten hier Programmierer an der permanenten Verbesserung einer künstlichen Intelligenz, die den Usern wöchentlich neue Songs in die Sammlung spült. +Die Grundlage der künstlichen Intelligenz hinter "Discover Weekly" liefern die Profile der Spotify-Nutzer. Die eigenen Playlisten und das eigene Nutzerverhalten dienen als Indikator für bevorzugte Genres. Die Informationen über eigenes Verhalten beinhalten nicht nur die abgespielten Titel und Künstler, sondern auch Informationen darüber, welche Titel wie lange abgespielt und übersprungen, welche in die eigene Sammlung aufgenommen und gespeichert wurden. In Sachen Genres kennt Spotify nicht nur die üblichen wie Pop, Rock und Hip-Hop, sondern unterteilt in Hunderte Sub-Sub-Genres, deren Namen weder Nutzer noch Musikredakteure kennen. Existent sind sie nur in den Datenbanken von Spotify und Echo Nest, einem Datendienstleister für Musikanbieter, dessen Software auch vom Musiksender MTV und von der Videoplattform VEVO zur Datenanalyse genutzt wird. +Um Gemeinsamkeiten zwischen Künstlern, Titeln und Genres zu ermitteln, werden die Namen von Playlisten, aber auch (Musik-)Blogs und Künstlerbeschreibungen im Internet sprachlich analysiert, "Natural Language Processing" heißt die zugehörige Technik. Auch aus der Tonspur selbst werden Informationen gezogen: Taktraten, Frequenzen, Tonhöhen können eine gemeinsame Basis unterschiedlicher Songs sein. "Deep Learning" nennt sich diese Funktion. +Nun beruhen die 30 Songs der "Discover Weekly"-Playlist aber nicht nur auf dem Geschmack des jeweiligen Nutzers, sondern auf deren Kombination mit den Vorlieben anderer Nutzer. Mögen die Nutzer Michael, Nadine und Sarah zum Beispiel den Song "One Dance" von Drake, aber nur Michael und Nadine hören ihn oft in Kombination mit "Work" von Rihanna, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch Sarah diesen Song von Rihanna mag. Denkt man dieses Beispiel größer – also unter Einbezug aller 100 Millionen Spotify-Nutzer –, verwundert die Treffsicherheit von "Discover Weekly" schon gar nicht mehr so sehr. +Spotify bringt in seinem Algorithmus also mehrere Faktoren zusammen: das eigene Nutzerverhalten, das Verhalten und die Vorlieben aller Nutzer und die Analyse von musikalischen und sprachlichen Inhalten inner- und außerhalb von Spotify mit Unterstützung durch Partner wie Echo Nest. Wie immer bei einem Geheimrezept: Die genaue Gewichtung der jeweiligen Zutaten bleibt ein wohlgehütetes Geheimnis. Was allerdings klar ist: Je mehr Nutzer Spotify nutzen, je intensiver sie ihre "Geschmacksprofile" in Form von Playlisten pflegen, desto genauer wird "Discover Weekly". Es kann also nur besser werden, wenn auch die Daten von möglichst vielen Nutzern genauer erfasst werden. +Und genau das ist auch ein Problem. Denn was den Datenschutz angeht, gerät Spotify immer wieder in die Kritik. Zuletzt, als die Nutzungsbedingungen vergangenen Herbst geändert wurden. Um das Teilen von Musik zu erleichtern, wollte Spotify umfangreichen Zugriff auf Informationen wie Kontakte, Fotos oder Mediendateien. Insbesondere die mobile Anwendung, also die App fürs Handy, forderte weitreichenden Zugriff. Nach massiver Kritik ruderte Spotify-Gründer Daniel Ek persönlich zurück: Man wolle den Nutzern Sprachsteuerung und das Teilen von Fotos ermöglichen, unaufgefordert bediene man sich aber nicht bei den Nutzerdaten. +Wenn du deine Daten schützen, aber trotzdem auf Spotify Musik hören möchtest, solltest du ein paar Dinge beachten. Etwa beim Anmelden keinen Klarnamen angeben und eine spezielle E-Mail-Adresse für den Account einrichten. Nicht über Facebook einloggen. Wer die Funktion "Private Session" klickt, macht seine Playlists nicht öffentlich einsehbar. Wichtig auch: kein Häkchen setzen bei "Meine Personendaten können zu Marketingzwecken weitergegeben werden". Wenn du Spotify auf dem Handy nutzt, den Zugriff auf die Kamera, das Adressbuch und die GPS-Funktion entziehen. Welche Musik du hörst, untersucht Spotify natürlich trotzdem. Und liefert montags die "Discover Weekly"-Liste. diff --git a/fluter/patente-streitigkeiten.txt b/fluter/patente-streitigkeiten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..02cbdd577896a25381a3d90baeee8e71f2280738 --- /dev/null +++ b/fluter/patente-streitigkeiten.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +In den knapp 600 Jahren seit dem ersten schriftlich vermerkten Patent, einem "Lastkahn mit Hebewerk" zum Bau der Kuppel des Doms von Florenz, sind etliche Millionen Ideen patentiert worden. Darunter das Telefon, Post-its, die Achterbahn, Hotdog-Brötchen, diverse Smartphonedesigns und VR-Headsets. Unser Alltag besteht aus Abertausenden Einzelteilen, Materialien, Herstellungsweisen und Anwendungen, für die irgendwann irgendwer ein Patent angemeldet hat. Kein Wunder, dass ständig Streit ausbricht, weil die Konkurrenz eine Erfindung nachahmt oder sogar für sich reklamiert. +Schon 1593 wurde in Nürnberg der erste Prozess wegen der Verletzung eines Patents abgehalten: Der Angeklagte hatte ein Mahlwerk zum Schleifen von Halbedelsteinen plagiiert. Seine Strafe ist nicht überliefert, aber die für ein zweites Verfahren zum selben Patent acht Jahre darauf. Der Straffällige musste zehn Gulden Strafe zahlen, was damals wahrscheinlich mehreren Wochenlöhnen eines Handwerkers entsprach. +Schmerzhaft für den Verurteilten, aber kein Vergleich zu den Dimensionen von Patentstreitigkeiten heute. 2022 gingen am Bundespatentgericht rund 230 große Patentklagen ein. In diesen Fällen wird laut dem Gericht üblicherweise um Patente im Wert von mindestens einer Viertelmillion Euro gestritten. Kläger oder Beklagte sind meist Unternehmen aus Maschinenbau oder Elektrotechnik, Chemie oder Medizin – klassische deutsche Industrien, in denen sich mit einem neuen Ventil oder Medikamentenwirkstoff ein Haufen Geld verdienen lässt. +Prominentes Beispiel: Biontech und Curevac stritten über ein europäisches Patent Curevacs zur Herstellung von mRNA-Impfstoffen. Erst vor einem Landgericht, um zu klären, ob Biontech dieses Patent verletzt hat. Dann vor dem Bundespatentgericht, das verhandelte, ob Curevacs Patent überhaupt hätte erteilt werden dürfen, also gültig ist. Nein, urteilte das Gericht Ende 2023 und erklärte das Patent in Deutschland für "nichtig". Curevac muss für Gericht und Anwälte bis zu zwei Millionen Euro zahlen. +Noch doller wird es in den USA. Wenn Apple, Microsoft oder Intel vor Gericht stehen, fallen auch mal Strafen von mehr als einer Milliarde US-Dollar an. Das hat auch Auswirkungen auf den deutschen Patentmarkt. Erfindungen können weltweit kopiert werden, Patente gelten aber zunächst nur in dem Land, für das sie erteilt werden. Daher werden Patente meist in vielen Ländern angemeldet, zum Beispiel beim Europäischen Patentamt oder in den USA. 2023 wurden in Deutschland fast 59.000 Patente angemeldet, rund 20.000 stammen von ausländischen Unternehmen. Deshalb kann es passieren, dass vor deutschen Gerichten Patentverfahren nichtdeutscher Unternehmen verhandelt werden. Zum Beispiel Netflix gegen Broadcom, ein US-amerikanisches Halbleiterunternehmen. Ein deutsches Landgericht verbot Netflix, eine Videokodierung von Broadcom für Filme in Ultra-HD zu verwenden. Weil Netflix sich nicht gleich daran hielt, verhängte das Gericht eine Geldstrafe von gut sieben Millionen Euro. Oder alternativ 15 Tage Haft für Mitglieder des Netflix-Vorstandes – und zwar für jeden der 47 Tage, an denen Netflix gegen die Unterlassungsverfügung verstoßen hatte. Klingt nach gutem Stoff für eine Serie. +Obwohl es um viel geht, gehören Patentstreitigkeiten zu den langweiligsten Gerichtsverfahren überhaupt. Keine Tränen, kein Publikum, keine überraschenden Wendungen, kein Jubel nach der Urteilsverkündung. Die Anhörung im Gerichtssaal dauert oft nur wenige Stunden: Sie ist die bloße Bilanz dessen, was Gericht und Anwälte monatelang vorbereitet haben. Oft versuchen die Anwälte, sich außergerichtlich auf Schadensersatz oder eine Lizenz zu einigen. So landen die meisten Streitfälle gar nicht erst vor Gericht. Falls doch, betäuben sich die Verhandlungsparteien mit technischen Details oder chemischen Formeln, Patentnummern und Fachwörtern. Das Bundespatentgericht ist neben dem neuen Einheitlichen Patentgericht für die EU-Mitgliedstaaten das einzige Gericht, in dem neben Juristen auch Naturwissenschaftler Urteile fällen, sogenannte technische Richter. +Die kleinen Geschwister des Patents sind die Schutzrechte für Designs, Gebrauchsmusteroder Marken. Im berühmten "Spezi"-Streit zwischen den bayerischen Brauereien Riegele und Paulaner beispielsweise ging es nicht um die Idee, Orangenlimonade in Cola zu kippen, sondern um den Namen für das Gemisch: Den Namen "Spezi" hat sich Riegele ausgedacht, aber Paulaner mit einer Vereinbarung erlaubt, ihr Getränk "Paulaner Spezi" zu nennen. Das ging Jahrzehnte gut. Dann wollte Riegele einen Lizenzvertrag schließen. Heißt: Geld von Paulaner. 2023 entschied ein Gericht, dass die alte Vereinbarung immer noch gilt. Prost, ihr Streithähne. +Dieser Text istim fluter Nr. 91 "Streiten"erschienen +Apropos Orangenlimo: Patente auf herkömmlich – also ohne Gentechnik – gezüchtete Pflanzen und Tiere sind in der EU verboten. Kritikern zufolge habe das Europäische Patentamt wegen juristischer Schlupflöcher allerdings schon rund 300Patente auf herkömmlich gezüchtete Pflanzenund Tiere zugelassen, auf Forellenarten, Brokkoli- und Salatsorten. Oder eben die triploide Citrullus lanatus, die Wassermelone, die aufgrund ihrer ungeraden Chromosomenzahl kernlos ist und buschig wächst, wodurch sie weniger Anbaufläche braucht als andere Sorten. Nunhems, eine BASF-Tochtergesellschaft, behauptet, die Citrullus lanatus sei ihre Entwicklung. 2021 bekam sie ein europäisches Patent auf Pflanze, Saatgut und Früchte erteilt. Patentnummer: EP2814316. +Der Verein "Keine Patente auf Saatgut!" hat dagegen beim Europäischen Patentamt Widerspruch eingelegt. Sowohl der buschige Wuchs als auch die fehlenden Kerne seien natürliche Entwicklungen, das Patent also nicht rechtens. Die fehlenden Kerne seien sehr wohl eine Besonderheit, urteilte das Amt sinngemäß und lehnte den Widerspruch im vergangenen Jahr ab. Viele befürchten, dass Unternehmen zunehmend beeinflussen, welches Obst und Gemüse in Europa angebaut wird und wie viel Verbraucher dafür zahlen sollen. +"Keine Patente auf Saatgut!" beruft sich weiter auf das Verbot, herkömmliche Züchtungen als Patent zuzulassen, und hat Beschwerde beim Europäischen Patentamt eingelegt. Bis zur Entscheidung dürfte es wieder zwei, drei Jahre dauern, schätzt der Verein. Allerspätestens 2041 wird das Patent auf die buschig wachsende Wassermelone ohne Kerne auslaufen: Egal wofür, ein Patent gilt 20 Jahre. + +Titelbild: Mykhailo Palinchak / Alamy Stock Photos / mauritius images diff --git a/fluter/pazifismus-ukraine-philosophie-mueller.txt b/fluter/pazifismus-ukraine-philosophie-mueller.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b290653f9b37e391e2d60508f8e9bce112962db3 --- /dev/null +++ b/fluter/pazifismus-ukraine-philosophie-mueller.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +fluter.de: Sie arbeiten seit knapp 30 Jahren aus philosophischer Perspektive zum Thema Krieg und Frieden. Hat es Sie überrascht, wie schnell Teile der deutschen Gesellschaft ihren Pazifismus nach dem russischen Angriff auf die Ukraine über Bord geworfen haben? +Olaf Müller: Ich glaube nicht, dass unsere Gesellschaft zuvor pazifistisch gewesen ist. Es herrschte lediglich ein weitgehender Konsens darüber, dass wir uns keine großen Sorgen um Krieg und Frieden in Europa zu machen brauchten. Aber das ist noch kein Pazifismus: Pazifismus ist keine Schönwetterveranstaltung, sondern eine Haltung, die wichtig wird, wenn es hart auf hart kommt. +In Ihrem Buch fordern Sie einen "pragmatischen Pazifismus". Was meinen Sie damit? +Wer pragmatisch und nicht starr mit Regeln umgeht, ist im Fall der Fälle bereit, die Regeln an eine bestimmte Situation anzupassen. Beim Blick auf Krieg und Frieden heißt das zum Beispiel, keine scharfe Grenze zwischen Richtig und Falsch, Gut und Böse, Fakten und Wertungen, Krieg und Nichtkrieg zu ziehen. Es läuft darauf hinaus, stattdessen jedes Mal Grautöne zuzulassen. Ein pragmatischer Pazifist ist sich darüber im Klaren, dass bereits in die Konfliktbeschreibungen Wertungen einfließen – er beschreibt Konflikte mit besonderem Augenmerk für friedliche Auswege und ohne Dämonisierung der Gegenseite. Er sagt vorsichtigerweise nur: Je kriegerischer eine Handlung ist, desto schlimmer ist sie aller Voraussicht nach. +Welche anderen Pazifismuskonzepte gibt es? +Es gibt den gesinnungsethischen Pazifismus, der sagt: Komme, was wolle, gegen kriegerische Handlungen müssen wir immer moralischen Einspruch erheben. Also: nein zu Krieg, nein zuWaffenlieferungen, zur Waffenproduktion und zur Forschung im militärischen Bereich. Das ist die Form von Pazifismus, die in der Öffentlichkeit am stärksten wahrgenommen wird. Dann gibt es noch den verantwortungsethischen Pazifismus. Der beruht darauf, dass man die Folgen der Entscheidung über Krieg und Frieden einbezieht: So gut wie jeder Krieg ist demzufolge nicht etwa bloß deshalb falsch, weil er ein Krieg ist, sondern weil die Folgen des fraglichen Kriegs viel schlimmer sind als die Folgen des Verzichts auf Krieg. Diese Haltung setzt eine unerhörte Faktenkenntnis voraus, über die wir normalerweise nicht verfügen. Zwischen diesen beiden Positionen sucht der pragmatische Pazifist einen Mittelweg. +Können Sie konkrete Beispiele geben, wo diese Pazifismusformen eine Rolle gespielt haben? +Gesinnungsethische Pazifisten lehnten etwa den Krieg der Alliierten gegen Nazideutschland ab, obwohl damit das Unrecht der Nazibarbarei beendet werden konnte. Diese Position vertrat in den 1930er-Jahren zum Beispiel der britische Autor Aldous Huxley. Der Philosoph Bertrand Russell dagegen fand, dass man die Folgen von Kriegen im Blick haben muss. Mit Blick auf die Nazibarbarei kam Russell letztlich zu dem Ergebnis, dass der Krieg gegen Nazideutschland richtig war, auch wenn ihm diese Entscheidung nicht leichtgefallen ist. +Ein großer Kritikpunkt an pazifistischen Konzepten lautet: Die "Appeasement-Politik" insbesondere Großbritanniens in den 1930er-Jahren – alsoder Versuch, mit dem nationalsozialistischen Deutschland zu verhandeln– habe den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust überhaupt erst ermöglicht. +Das Appeasement des damaligen britischen Premierministers Chamberlain war zwar nicht pazifistisch motiviert, aber seine Politik war unabhängig von ihrer Motivation allemal ein Fehler. In einem Satz lautet meine pragmatistische Haltung dazu: Fast immer sind kriegerische Handlungen wegen ihrer Folgen moralisch falsch, aber es gibt diese eine Ausnahme. Warum die Ausnahme? Weil es damals darum ging, gegen das schlechthin Böse der Nazibarbarei zu kämpfen, gegen eine einzigartige Form von Verbrechen wider die Menschlichkeit. An diesem Punkt wäre es verrückt gewesen, die Grenzen des Pazifismus zu leugnen. +In so einem Fall ist Krieg also aus Ihrer Sicht legitim? +Ja. Es ist rein theoretisch denkbar, dass diese selbe Form von Barbarei wieder auf uns zukommt. Aber wann ist das denn wirklich der Fall? In weiten Teilen des Westens herrscht Einigkeit, dass die widerwärtige Einzigartigkeit der Nazibarbarei nicht so schnell verglichen werden kann mit anderen schlimmen Kriegsverbrechen, die um Dimensionen davon entfernt sind. Trotzdem müssen wir darauf vorbereitet sein, dass sich eine Barbarei dieses Ausmaßes wiederholt. Wenn es so weit ist, dann müssen wir den Pazifismus auch einmal mehr beiseitelegen. +Sie sprechen sich in Ihrem Buch dafür aus, die Ukraine "militärisch im Stich zu lassen". Wäre die Politik dieser Forderung nachgekommen, gäbe es heute wahrscheinlich keine Ukraine mehr. Wie angemessen ist diese Position in einer Situation, in der Menschen um ihr Überleben kämpfen? +Ich schreibe ganz ausdrücklich, dass mir diese Aussagen nicht leichtfallen. Zum Glück haben wir alle zunächst den völlig richtigen Impuls, denen zu Hilfe zu eilen, die den abartigen Angriffen aggressiver Soldaten ausgesetzt sind. Diesen Impuls habe ich auch, und der macht es mir nicht leicht, trotzdem gegen Waffenlieferungen zu plädieren. Es gibt in Ihrer Frage aber eine gewisse Unschärfe: Eine Sache ist, zu behaupten, dass es die Ukraine als Staat ohne unsere Waffenlieferungen nicht mehr gäbe, eine andere Sache, dass es die Ukrainer als Menschen nicht mehr gäbe. Wenn wir die Ukraine in diesem Krieg im Stich gelassen hätten, dann wären mit einiger Sicherheit die staatlichen Institutionen der Ukraine untergegangen, und das Land wäre unter russisches Diktat gekommen. Ein Territorium zu verlieren ist nicht unbedingt dasselbe, wie Menschen zu verlieren. +Das hieße aber, das ganze Leid, das mit einer Fremdherrschaft einhergegangen wäre, in Kauf zu nehmen. +Ich will das nicht verharmlosen. Unter Fremdherrschaft und Diktatur zu leben ist schlimm. Bei einem verantwortungsethischen Blickwinkel wäre dieses Übel abzuwiegen gegen das Leid, das der Krieg insgesamt mit sich bringt. Die Opferzahlen sind nicht gut dokumentiert, aber es gibt Schätzungen, denen zufolge auf russischer Seite ungefähr 100.000 Soldaten gestorben oder kampfunfähig verletzt sind. Und dieselbe Zahl wird für die ukrainische Armee angesetzt, plus 40.000 getötete Zivilisten. Das Leid, das sich hinter diesen Zahlen verbirgt, ist kaum vorstellbar. Wer die Unverletzlichkeit der menschlichen Person als höchsten Wert ansieht, wird sich gegen einen Verteidigungskrieg mit dermaßen hohem Blutzoll aussprechen. Wir können einigermaßen sicher davon ausgehen, dass die Russen beim ukrainischen Verzicht auf militärische Gegenwehr keine 40.000 Zivilisten getötet hätten. Natürlich kann man meinen, die Eigenstaatlichkeit der Ukraine habe einen so hohen Wert, dass ihre Erhaltung eine große Anzahl von Menschenopfern rechtfertigt. Das respektiere ich, auch wenn ich den Wert von Menschenleben höher einschätze. +Ihrer Meinung nach rechtfertigt die ukrainische Eigenstaatlichkeit den Verteidigungskrieg nicht? +Jede verlorene Eigenstaatlichkeit kann im Lauf der Geschichte auch wieder zurückgewonnen werden; die Toten sind dagegen für immer tot. Zugegeben: Wann eine Fremdherrschaft endet, ist kaum vorherzusehen. Aber es kommt immer wieder vor. Nach einigen Jahrzehnten übler Fremdherrschaft konnten sich die unterdrückten Länder des Ostblocks friedlich aus dem Würgegriff der Sowjetunion befreien. +Sie schreiben, dass Sie sich mit Ihrer Forderung schuldig machen. Schuldig woran? +Schuldig gegenüber Menschen. Ich habe vor längerer Zeit in Krakau gelebt und dort eine Reihe von Ukrainern kennengelernt, von denen ich sehr beeindruckt war. Wir haben uns gut verstanden. Wenn ich mir auch nur vorstelle, ihnen mein Plädoyer gegen militärischen Widerstand ins Gesicht zu sagen, dann fühle ich mich schuldig, und das ist bitter. Ich sehe aber keinen anderen, besseren Weg. Der Weg, den ich vorschlage, ist schlecht. Und der Weg, den die Gegenseite geht, ist meiner Meinung nach noch schlechter. Wir kommen nicht schuldlos aus dieser Sache heraus. Hier haben Sie eine Besonderheit des Pazifismus, für den ich stehe: Er bietet keine Haltung, mit deren Hilfe man garantiert auf der sauberen, sicheren Seite steht. +Wie gehen Sie mit dieser Schuld um? +Ich versuche, meine Position nicht mit derselben Selbstgewissheit zu vertreten, wie man es sonst von Pazifisten gewohnt ist. Ich artikuliere den Zweifel und zeige in aller Ehrlichkeit, dass ich mit meinem Ergebnis hadere. Mehr als das ehrliche Eingeständnis einer Schuld bleibt mir nicht. Und ich versuche, wach dafür zu bleiben, ob die von mir vertretene Position nicht doch in die Verrücktheit umkippen könnte, wie ich sie den Pazifisten der 1930er-Jahre in Großbritannien attestieren würde. Ich bleibe darauf vorbereitet, dass ich falschliegen könnte. + + +Olaf Müller, geboren 1966, ist Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er beschäftigt sich vor allem mit Wissenschaftsphilosophie. diff --git a/fluter/pegelstaende.txt b/fluter/pegelstaende.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..de72d322124caefe2a37a638b308261dd3b5b5f2 --- /dev/null +++ b/fluter/pegelstaende.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Los Angeles, Anfang des 20. Jahrhunderts: Angesichts einer nahenden Dürreperiode stimmen die Bürger der Stadt für ein ehrgeiziges Millionenprojekt. Ein Aquädukt soll Trinkwasser aus dem knapp 400 Kilometer nördlich liegenden Owens Valley herbeibringen. So will die rasant wachsende Stadt dauerhaft dem südkalifornischen Wüstenklima trotzen. So steht es in der Presse, die zu dieser Zeit jedoch fest von korrupten Lokalpolitikern kontrolliert wird. Diese verbreiten so gefälschte Wetterberichte und betreiben Panikmache, um sich die Zustimmung für ihr Wasserprojekt zu sichern. Als 1913 schließlich die ersten Liter in Los Angeles ankommen, werden sie zu landwirtschaftlichen Betrieben umgeleitet, die Förderern der lokalen Politik gehören. Leidtragende sind die Bauern im Owens Valley: Ihre Äcker verwandeln sich in wenigen Jahren in Staubwüsten. 1924 bewaffnen sich einige der Geschädigten mit Dynamit und jagen Teile des Aquädukts in die Luft. Los Angeles schickt bewaffnete Patrouillen mit dem Auftrag, Saboteure zu erschießen. Vor zehn Jahren wurde Los Angeles gerichtlich zur Aufforstung des Owens Valley gezwungen. Seitdem werden dort riesige Bewässerungsanlagen gebaut. Das Wasser dafür bezieht die Millionenstadt aus dem ebenfalls rund 400 Kilometer entfernten Colorado – per Aquädukt.Einwohnerzahl: 301 Mio.Wasserverbrauch pro Person / Tag: 589 lWasserreserven: 3069 km3Zugang i. d. Bev.: 100 % +An Wasser sollte es den Briten nicht mangeln, denkt man, schließlich ist die Insel für ihren Dauerregen bekannt. Und doch ist Wasser für viele Briten mittlerweile ein rares und teures Gut. Hauptgrund dafür ist die radikale Privatisierung der Wasserversorgung unter Premierministerin Margaret Thatcher. Als eine der ersten in Europa splittete ihre Regierung die staatliche Wasserindustrie 1989 in regionale Wasser- und Abwasserunternehmen auf und verkaufte die-se weit unter Marktwert. Die Unternehmen machten zunächst Milliardengewinne, doch die Preise verdoppelten sich. Zugleich blieben erhoffte Investitionen in die Modernisierung des aus viktorianischen Zeiten stammenden Wassersystems aus. Besonders groß ist der Unmut über die Folgen der Privatisierung in London. Durch lecke Leitungsnetze gehen hier täglich fast eine Milliarde Liter Wasser verloren. Hinzu kommt, dass die Insel seit 1995 unter niederschlagsarmen Wintern leidet. Ganze Regionen im Südosten mussten monatelang aus Tankwagen versorgt werden. Weil ärmere Familien die Wasserrechnung nicht mehr zahlen konnten, verdreifachte sich die Zahl hygienebedingter Krankheiten. 1999 schritt die staatliche Aufsichtsbehörde ein und verpflichtete die Unternehmen bis 2010 zu Milliardeninvestitionen in die Rohrnetze, Wasserwerke und Kanäle.Einwohnerzahl: 50,7 Mio.Wasserverbrauch pro Person / Tag: 148 l*Wasserreserven: 160,6 km3*Zugang i. d. Bev.:100 %**Angaben für Großbritannien +Nun soll er gebändigt sein, der "lange Fluss", wie die Chinesen den Jangtse auch nennen. Seit letztem Sommer staut ihn eine 184 Meter hohe Mauer in einem 600 Kilometer langen See. Der Drei-Schluchten-Staudamm, weltgrößter seiner Art, soll die Hochwassergefahr bannen und dem Land umweltfreundlichen Strom liefern. Bis 2008 werden sich voraussichtlich alle 26 Turbinen drehen und 18 Gigawatt Leistung erzeugen. Ziemlich bescheiden im Vergleich zu den 585 Gigawatt, die China bisher schon produziert. Bereits bei Baubeginn im Jahr 1993 gab es Kritik am Mammutprojekt, sie wurde mit den Jahren immer lauter. Im Auftrag des International Rivers Network, eines Zusammenschlusses von Experten und Umweltorganisationen, hat ein langjähriger Beobachter die Probleme dokumentiert, die mit dem Bau zusammenhängen: Mehr als eine Million Menschen mussten für Damm und Stausee ihre Dörfer verlassen. Sie wurden und werden nicht ausreichend entschädigt – das Geld stecken korrupte Beamte ein oder es ist zu wenig, um ein neues Haus zu bauen und ein neues Leben anzufangen. Proteste werden mit Gewalt niedergeschlagen. Auch die Befürchtungen der Umweltaktivisten haben sich bestätigt: Chinesische Wissenschaftler fanden im Stausee Pestizide, Düngemittel und Kloake. Laut dem Jangtse-Wasserschutz-büro kann sich der Fluss nicht mehr selbst regenerieren, weil das Wasser zu langsam fließt, seitdem das Wasserkraftwerk in Betrieb ist – bei 14 Milliarden Tonnen Abwasser, die die Industrie letztes Jahr in den Jangtse leitete, wäre das wohl auch bei schnellerer Strömung schwierig. Seltene Fischarten sind bedroht, der Baiji, ein ausschließlich im Jangtse lebender Flussdelfin, gilt seit Kurzem als ausgestorben. "Großstaudämme bringen gravierende ökologische Folgen mit sich", steht im Bericht der Weltstaudammkommission vom November 2000. Peking plant trotzdem weitere Dämme, die Strom liefern sollen. Ein anderes Großvorhaben am Jangtse ist bereits im Bau. Das "Süd-Nord-Wasserumleitungsprojekt" soll Wasser in den trockenen Norden Chinas bringen. Stimmen jüngste Untersuchungen, wird dort aber nur schmutzige Brühe ankommen.Einwohnerzahl: 1,3 Mrd.Wasserverbrauch pro Person / Tag: 89 lWasserreserven: 2829 km3Zugang i. d. Bev.: 77 % +Wer auf dem Land lebt, kennt seine Nachbarn. Die Bürger des Dörfchens Ellerhoop in Schleswig-Holstein stellten fest, dass das nicht unbedingt ein Nachteil sein muss: Als bekannt wurde, dass die Wasserversorgung des Ortes von einem großen Wasserwerk aus einer der Nachbarstädte übernommen werden sollte, protestierten sie und stimmten in einem Bürgerentscheid mit großer Mehrheit dagegen. Sie fürchteten höhere Kosten und verstanden nicht, warum Ellerhoop mit seinen 1300 Einwohnern an ein Fernnetz angeschlossen werden sollte, obwohl das Dorf über eigene Quellen verfügt: Direkt unter dem Ort verläuft die Ellerbecker Rinne, "eine Gletscherspalte mit Wasser höchster Güte", sagt Hans-Joachim Santen von der Wassergenossenschaft Ellerhoop. Zur Wassergenossenschaft schlossen sich engagierte Bürger im Juni 2003 zusammen, unter ihnen auch Santen. Am Gründungstag zählte die Genossenschaft 45 Mitglieder, zehn Tage später kamen noch 18 hinzu. Gemeinsam kauften sie der Gemeinde das kleine Wasserwerk ab. Die Mitglieder zahlten 500 Euro Einlage, so dass sie das Werk sanieren konnten, ohne einen Kredit aufnehmen zu müssen. Noch im Gründungsjahr bohrten sie einen zweiten Brunnen, heute zählt die Genossenschaft 71 Mitglieder. Inzwischen arbeiten zehn Ellerhooper ehrenamtlich für die Wassergenossenschaft, sie kennen sich nun aus mit der Fließrichtung des Grundwassers und technischen Anlagen zur Wasseraufbereitung. Bald werden 28 neu gebaute Häuser und Wohnungen an das Wassernetz angeschlossen, dann fließt in 127 Haushalte dorfeigenes Wasser. "Wir könnten rund 200 Häuser versorgen, der Kubikmeter kostet momentan 1,31 Euro", sagt Santen. Das liegt deutlich unter dem bundesweiten Durchschnitt von 1,77 Euro. Und die Ellerhooper wissen, woher das Wasser kommt, wenn sie zu Hause den Hahn aufdrehen.Einwohnerzahl: 82 Mio.Wasserverbrauch pro Person / Tag: 127 lWasserreserven: 188 km3Zugang i. d. Bev.: 100 % +Zunächst war niemand überrascht. Regenarme Zeiten hat es in Melbourne immer mal gegeben. Doch dass die Niederschläge so lange ausbleiben, ist neu. Seit zehn Jahren hält die Trockenzeit schon an, und die Situation verschlechtert sich weiter. Im letzten Sommer fielen nur 40 Prozent der üblichen Wassermenge. Zunächst versuchte es die Stadt mit Einschränkungen in der Wassernutzung der Haushalte. Als der Wasserspiegel trotzdem weiter sank, wurden schärfere Restriktionen eingeführt. 140 Polizisten patrouillieren durch die Stadt, kontrollieren verdächtig grüne Gärten inmitten der trockenen Rasenflächen und gehen Hinweisen aus der Bevölkerung nach. Die Regierung fordert dazu auf, Verstöße von Nachbarn oder Bekannten über die Hotline 13WATER zu melden. "Mehr als 50 000 Verwarnungen wurden ausgesprochen", sagt Luke Enright vom Wasserversorger South East Water – die "Höchststrafe" müsse aber nur selten verhängt werden. Bei dreimaligem Vergehen bringen die Wasserpolizisten eine Art Klammer am Hausanschluss an. Die Vorrichtung reduziert die Menge des durchfließenden Wassers auf zwei Liter pro Minute. Ausgiebiges Duschen ist so unmöglich. Sollte der städtische Wasservorrat trotzdem weiter sinken, wird am 1. August Level 4 eingeführt. Dann ist jeglicher Wasserverbrauch außerhalb des Hauses verboten. Luke Enright ist optimistisch: "Es wird wieder Regen fallen, die Vorhersagen sind gut." Aber auch er weiß: Viele Alternativen hat die Stadt nicht mehr. Level 4 ist die letzte Stufe im Aktionsplan.Einwohnerzahl: 20 Mio.Wasserverbrauch pro Person / Tag: 256 lWasserreserven: 398 km3Zugang i. d. Bev.: 100 % +In den Nachrichten wird meist nur von religiösen Fanatikern berichtet, die den Nahostkonflikt anheizen. Doch auch der Mangel an Wasser und dessen ungleiche Verteilung tragen dazu bei. Dabei weisen viele Experten seit Jahren darauf hin: Ein dauerhafter Frieden kann nur erreicht werden, wenn alle Menschen in Nahost genug Wasser haben – für sich selbst, für die Landwirtschaft und die Industrie. Ein Palästinenser hat im Schnitt 55 Liter am Tag zur Verfügung, ein Israeli etwa das Fünffache – das ist das Ergebnis aus vierzig Jahren Auseinandersetzungen um Quellen, Flüsse und Brunnen. Beiden Seiten war immer klar: Dämme und Wasserleitungen sind die wunden Punkte des Gegners. Deshalb wird Israels Wasserversorgung seit den Sechzigerjahren vom Militär überwacht. In den besetzten Gebieten war es den meisten Palästinensern verboten, selbst Brunnen zu bauen, weil so das gemeinsame Grundwasser angezapft würde. Doch selbst in Gebieten, die jetzt von Palästinensern verwaltet werden, gehört das Wasser immer noch Israel. Und wie früher wird das meiste ohnehin schon umgeleitet, bevor es die palästinensi-schen Gebiete erreicht, die Quelle des Jordan und der See Genezareth bei Tiberias sind in israelischer Hand. Gleichzeitig bekommt Israel aber auch importiertes Wasser, über Tanker aus der Türkei, während im Gaza-streifen das Grundwasser absinkt, weil die Menschen dort mehr Wasser verbrauchen, als es nachregnet. Die Vereinten Nationen befürchten, dass der Gazastreifen im Jahr 2015 kein eigenes Trinkwasser mehr haben wird. Jetzt sollen Entsalzungsanlagen gebaut werden, um aus Meerwasser Trinkwasser zu machen – doch das ist teuer. Die Anlagen will Israel mit internationaler Hilfe für die Palästinenser bauen lassen und dafür das preiswertere Wasser aus der West Bank selbst behalten. In jedem Fall bleibt zusätzliches Wasser aus dem Ausland vorerst unerlässlich. Die Türkei hatte 2005 angekündigt, eine Pipeline von Ceyhan nach Haifa in Israel bauen zu wollen, die womöglich auch für Palästina gedacht ist. Die Planungen wurden durch den Krieg im Libanon im Sommer 2006 aber enorm verzögert.Einwohnerzahl: 6,4 Mio.Wasserverbrauch pro Person/Tag: 257 lWasserreserven: 1,7 km3Zugang i.d.Bev.: 100 % diff --git a/fluter/persoenlichkeitstests-mbti-forschung.txt b/fluter/persoenlichkeitstests-mbti-forschung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6f9f23348af6812a5f7ef8e628acd433f31ce78a --- /dev/null +++ b/fluter/persoenlichkeitstests-mbti-forschung.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +Damit zu einer der ältesten Fragen der Menschheit: Wer zum Teufel bin ich? +Das Ich ist etwas Wunderschönes, Wildes, ein massiver Brainfuck. Warum handeln wir, wie wir handeln? Warum denken wir, wie wir denken? Wir können mit unserem Verstand nicht verstehen, wie unser Verstand funktioniert. Dass wir das wissen, unterscheidet uns von allen anderen Lebewesen auf der Erde. Und ist eine elementare Frage, nicht nur für uns selbst, sondern auch für die um uns herum. +Die Vermessung des Ich war schon vor Tausenden von Jahren der Wunsch vieler Menschen. Glaubt zumindest John Rauthmann. Er ist Professor an der Universität Bielefeld. Dort untersucht Rauthmann, was die Persönlichkeit eines Menschen ist und wie sie sich formt. Für ein besseres Miteinander sei es schon immer nötig gewesen, sich und seinen Platz in der Gruppe zu finden, sagt er. Um Allianzen zu schmieden, um sich fortzupflanzen, um zu überleben, vielleicht sogar: um glücklich zu werden. +Carl Gustav Jung hatte das längst erkannt, als er 1921 versuchte, die verschiedenen Persönlichkeiten zu systematisieren. Der Psychoanalytiker veröffentlichte eine Abhandlung,in der er die Menschen in "psychologische Typen" unterteilte. Jung war fasziniert von Mythologie und Übernatürlichem. Es durchsetzt seine ganze Arbeit, weshalb ihn schon Zeitgenossen als unwissenschaftlich kritisierten. Jung beendete seinen Aufsatz mit einem Disclaimer: +"In the foregoing descriptions I have no desire to give my readers the impression that such pure types occur at all frequently in actual practice." +Psychologieprofessor Rauthmann sagt: "Wenn man Jungs Einteilung übernimmt, kann man gleich die Biologie aus dem 13. Jahrhundert übernehmen." +Mehr als 20 Jahre nachdem Jung seine "psychologischen Typen" skizzierte, machten zwei US-Amerikanerinnen genau das. Und formten einen der beliebtesten Persönlichkeitstests der Gegenwart. +Mit dem Myers-Briggs-Typenindikator (MBTI) arbeiten 88 der 100 größten Unternehmen der Welt. Sagt zumindest die Myers-Briggs Company, das Unternehmen hinter dem Test. Der MBTI trägt dazu bei, zu entscheiden, wen sie einstellen, wen sie befördern, wer woran arbeitet, wer zu Teams zusammenkommt. Selbst das US-Militär gilt als treuer Nutzer des MBTI. Ähnlich in Deutschland. Laut einerUmfrageder Ruhr-Universität Bochum verwenden 43 Prozent der 500 größten Unternehmen des Landes den MBTI. +Jedes Jahr machen den Test um die zwei Millionen Menschen. Der Myers-Briggs Company bringt das etwa 20 Millionen Dollar Umsatz pro Jahr: Der Original-MBTI ist kostenpflichtig. Weshalb es mittlerweile viele kostenlose Kopien gibt, die die Persönlichkeitstypen zum Teil anders bezeichnen: +INTJ – oder der "Architekt", +ENFP – oder der "Aktivist" +und so weiter. +Inzwischen packen viele ihren Persönlichkeitscode sogar ins Tinder-Profil. Und tatsächlich kommt das Dating der ursprünglichen Absicht des MBTI noch am nächsten. Die Idee für den Test kam Katharine Cook-Briggs, als sie den späteren Ehemann ihrer Tochter, Isabel Briggs-Myers, kennenlernte. Sie verstanden sich nicht. Also versuchten Mutter (Landwirtschaftsexpertin) und Tochter (Politikstudentin) herauszufinden, warum. +Sie ließen sich von Jungs "Psychologischen Typen" inspirieren und teilten das menschliche Verhalten in vier Dimensionen. Denen wiesen sie je zwei Attribute zu – wer das eine ist, kann nicht gleichzeitig das andere sein. +Dimensioniert wird man beim Original-MBTI und seinen Kopien über einen Bogen mit Entweder-oder-Fragen. In zehn bis fünfzehn Minuten hat man sich durchgeklickt. Der Test, sagt Rauthmann, könne also nur zeigen, wie man sich selbst sieht oder, noch genauer, wie man sich sehen möchte. +Die große Frage nach dem Ich, heruntergebrochen auf ein paar Dutzend Fragen, eine von 16 Buchstabenkombinationen und Beschreibungen mit genau der horoskopischen Prise Mehrdeutigkeit, dank derer sich auch jede und jeder identifizieren kann. +"Aktivisten sind mehr als nur gesellige Publikumslieblinge. Ihre visionäre Natur ermöglicht es ihnen, mit Neugier und Energie zwischen den Zeilen zu lesen." +Mega. Wer kann da etwas dagegen haben, so zu sein? "Barnum-Aussagen" nennt das der Psychologe Rauthmann. Lustige Promi-Vergleiche liefert die Website gleich dazu. Quentin Tarantino zum Beispiel soll auch "Aktivist" sein, oder Spiderman. +Das Prinzip hat viele Nachahmer gefunden. Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. (BDP) rät auf Anfrage grundsätzlich vom MBTI und ähnlichen Tests ab. Die Ergebnisse seien "wissenschaftlich nicht fundiert", C.G. Jungs Typenlehre eine veraltete und empirisch nicht geprüfte Theorie. Etwa die Hälfte der Menschen, die den MBTI machen, haben wenige Wochen später ein anderes Ergebnis. Das zeigten Studien schon in den Siebzigern. +Nur logisch, findet Professor Rauthmann. Die Persönlichkeit sei zwar relativ stabil, ändere sich aber trotzdem ständig. "Die Persönlichkeit ist ein Spektrum", sagt Rauthmann. Sie steht im Austausch mit der Welt, sie ist wie ein Mischpult, auf dem sich die Regler permanent verschieben. +Beispiel. Wir können bei Freunden unglaublich extrovertiert sein, aber im Job stumm in der Ecke sitzen. Wir können rauchen und Medizin studieren. Wie wir sind, kommt auf die Mitmenschen an, auf die Tageszeit, auf die Aufgabe, vor der wir stehen. Wir können eine Entscheidung rational durchdenken und am Ende trotzdem nach dem Bauchgefühl handeln. +Rauthmann spricht deshalb nicht von "einer Persönlichkeit", sondern von "Persönlichkeitszuständen", die unser Ich ausmachen. Und das nicht nur von Situation zu Situation, sondern über das ganze Leben hinweg. Meistens nebenbei, sagt Rauthmann, unterbewusst, bis ins hohe Alter. Wir sind also immer wir selbst, aber immer auf eine andere Weise. Wie gesagt: ein massiver Brainfuck. +Warum also ist die Testerei so beliebt? Woher kommt der Wunsch, sich zu verstehen? +Eine der vielen Antworten: Das Gehirn ist darauf konditioniert, Muster zu finden. Tests wie der MBTI sparen dabei Zeit, sind erschwinglich und treffen (scheinbar) tiefgründige Aussagen. Sie liefern,gerade in Zeiten, in denen eine Vermessung in Zahlen und Kennziffern Rechtmäßigkeit erzeugen soll, nicht nur Entscheidungshilfen – sondern oftmals den Eindruck einer objektiv richtigen Entscheidung. Unternehmen stecken Mitarbeitende in Schubladen und Singles ihre potenziellen Partner:innen ebenso, weil sie die Übersicht behalten und "das Richtige" tun wollen. +Rauthmann: "Die Frage ist eben: Wie groß und differenziert ist diese Schublade? Schnelle Persönlichkeitsselbsttests wie der MBTI arbeiten eben vor allem mit Vorurteilen und Stereotypen." +Auf den ersten Blick tut das nicht weh. Aber vielleicht auf den zweiten. Wenn man deshalb nicht befördert wird zum Beispiel oder die potenzielle Liebe des Lebens wegwischt. In der Liebe, sagt Rauthmann, seien gemeinsame Werte und Interessen sowieso wichtiger als die Persönlichkeit. Als Assessment-Center für die Partner:innenwahl empfiehlt Rauthmann: das erste Date. + diff --git a/fluter/pfarrerin-offene-beziehung.txt b/fluter/pfarrerin-offene-beziehung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..65ac66c72e24d9f5da5ed6e11d2c79ec194d4173 --- /dev/null +++ b/fluter/pfarrerin-offene-beziehung.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Nach dem Theologiestudium wollte ich eigentlich zunächst an der Uni bleiben – ich hatte mehrere Promotionsangebote und den Plan, später mal in der freien Wirtschaft zu arbeiten. Als ich dann aber zu Hause so viel am Schreibtisch rumsaß, habe ich gemerkt: Das macht mir überhaupt keinen Spaß. Mir hat der Kontakt zu Menschen gefehlt. Vor meinem Studium hatte ich bereits ehrenamtlich in meiner Kirchengemeinde mitgearbeitet und gemerkt: Man kann dort die Wirkung, die diese Hilfe auf andere hat, sofort sehen. +Der Pfarrberuf wird aber noch immer sehr mit Frömmigkeit und einem konventionellen Familienbild in Zusammenhang gebracht. Deshalb habe ich lange geglaubt, dieser Erwartungshaltung nicht gerecht werden zu können. Die Ansprüche der Gesellschaft daran, wie eine Pfarrerin zu sein und zu leben hat, haben mir unglaublich Angst gemacht. Man ist nicht nur eine Privatperson, die einen Beruf hat, sondern wird oft ausschließlich als Vertreter:in der Kirche wahrgenommen. So etwas wie Freizeit gibt es als Pfarrperson nicht: Egal ob man einkaufen oder spazieren geht, man steht in der Öffentlichkeit und repräsentiert für die Gemeindemitglieder eine Autorität. +Ich bin mir unsicher, wie die Details meines Privatlebens in der Gemeinde ankommen würden. Die Vorstellung, dass zum Beispiel eine meiner Affären in die Kirche kommt – unvorstellbar. Einerseits will ich nicht damit konfrontiert werden, wie Menschen eventuell reagieren, und habe Angst, dass das Vertrauen bricht. Andererseits habe ich ein starkes Bedürfnis danach, authentisch zu sein: zu zeigen auf welch unterschiedliche Weise man Liebe leben kann. +Jemanden zu einem "richtigen" Lebensmodell zu bekehren, würde ich aber nie wollen – weil es das meines Erachtens ohnehin nicht gibt – weder in der Bibel noch in der Kirche. Als Christin glaube ich in erster Linie an Gott, nicht an die Bibel. Auch wenn mein Lebensmodell in der Bibel nicht vorkommt – sie lehrt uns, verantwortungsvoll zu handeln. Und ebenso, dass es als Mensch okay ist, Fehler zu begehen. Für meine Beziehung heißt das, ehrlich miteinander umzugehen und einander keinen Schaden zuzufügen. +Gerade in der Kirche sind Ehrlichkeit und Authentizität unglaublich wichtig – nicht zuletzt angesichts der jüngsten Debatte um sexuellen Missbrauch, die das Vertrauen in kirchliche Institutionen stark beschädigt hat. Wenn ich heute neue Leute treffe und mich als angehende Pfarrperson "oute", werde ich häufig damit konfrontiert, dass mir die Personen erst mal sagen, was sie alles an der Kirche zu kritisieren haben. Ich habe oft das Gefühl, in eine Schublade gesteckt zu werden. Dabei war Kirche für mich nur ein Interessengebiet von vielen. Ich habe mir auch immer gerne Schmink-Tutorials auf YouTube oder Trash-TV angeschaut. Deswegen habe ich früher oft nicht sofort erzählt, dass ich Theologie studiere. Inzwischen gehe ich aber offen damit um und sage auch, dass ich Pfarrerin werde. +Weiterlesen: +Hier erzählen uns Menschen aus ihrer persönlichen Perspektive:als Arbeitsloser, Bisexuelle oder als Pfandflaschensammler +Sollte doch bekannt werden, dass ich in einer offenen Beziehung lebe, würde ich nicht lügen, sondern versuchen, bei der Wahrheit zu bleiben. Aber ohne ins Details zu gehen. Ich glaube, dass sich Menschen ohnehin immer in so einer Spannung zwischen Lüge und Wahrheit bewegen – ob bewusst oder unbewusst. Menschen erzählen anderen Menschen nie alles über sich – manches behält man einfach gerne für sich. Das gilt für geistliche Personen genauso wie für alle anderen. Etwas zu verschweigen, ein Detail wegzulassen ist für mich nicht gleichzusetzen mit Lügen. Ich kann ja schon über offene Beziehungen als Modell sprechen, ohne offenzulegen, dass ich das selbst lebe. Sowieso sollte es im Pfarrberuf nie in erster Linie um mich und meine Bedürfnisse gehen – denn das hindert mich daran, eine gute Seelsorgerin zu sein. +Bisher wurde in meinerGemeindenicht von mir gefordert, alle Aspekte meines Privatlebens offenzulegen. Ich empfinde die Gemeinschaft untereinander als sehr freundlich und wohlgesonnen. Die Leute nehmen mich so an, wie ich bin. Und: Ich habe sogar eine Kollegin kennengelernt, die ein ähnliches Lebensmodell lebt. Der Austausch mit ihr hat mich sehr in meiner Berufswahl bestärkt. Zugleich merke ich Tag für Tag, wie sehr mich dieser Beruf erfüllt, trotz der Zweifel, die ich manchmal noch habe. Für den Moment fühlt es sich also richtig an, hier zu sein – und das scheint nicht nur mir so zu gehen, sondern auch der Gemeinde. +*Marie ist 28 und heißt eigentlich anders. Ihr Name ist der Redaktion bekannt. + diff --git a/fluter/pferd-mensch-beziehung.txt b/fluter/pferd-mensch-beziehung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d419642019059434372fa2252edf80ec7cb1e454 --- /dev/null +++ b/fluter/pferd-mensch-beziehung.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Wer sie zum ersten Mal gezähmt hat, ist nach wie vor ein Rätsel. Lange dachten Wissenschaftler, dass Menschen der Botai-Kultur im Gebiet des heutigenKasachstanvor rund 5.500 Jahren die Vorfahren unserer heutigen Pferde domestizierten, doch 2018 widerlegte eine Studie diese Theorie, weil sich im Erbgut unserer heutigen domestizierten Pferde so gut wie keine DNA-Spur der Botai-Pferde findet. +Fest steht: Die Zähmung des Wildpferdes, genannt Equus caballus, hat die Geschichte der Menschheit massiv beeinflusst. Durch das neue Transportmittel konnten sich Menschen wesentlich schneller als zu Fuß bewegen, so kam es etwa zu Völkerwanderungen, die DNA und Sprachen beeinflussten. +Die Ausweitung der Grenzen führte unter anderem zu Kriegen, auch diese waren pferdedominiert: In der Bronzezeit kämpften Menschen auf von Pferden gezogenen Streitwagen, in der Eisenzeit wurden die Tiere im Krieg geritten. Nur dank Pferden, die 100 Kilometer am Tag zurücklegten, konnte der mongolische Herrscher Dschingis Khan die Steppen Zen­tralasiens verlassen, bis nach Mitteleuropa vordringen und das größte Reich der Geschichte schaffen. Noch im Zweiten Weltkrieg setzte dieWehrmachtrund 2,75 Millionen Pferde ein: Soldaten ritten sie, sie zogen Geschütze und transportierten Versorgungsmittel. +Auch in friedlichen Zeiten war das Leben der Menschen von Pferden geprägt: Im 19. Jahrhundert zogen sie Straßenbahnen, Ponys und Grubenpferde die Loren in engen Bergwerken. Im Laufe der Geschichte waren Pferde für den Menschen Nahrung, Transportmittel, Zugtiere, Symbole des gesellschaftlichen Aufstiegs. Die Geschichte der Menschheit ist bis zur Hälfte des 20. Jahrhunderts in weiten Teilen eine Geschichte von Menschen und Pferden. +Dass ein Leben Seite an Seite überhaupt möglich war, verdanken wir eher dem Charakter der Tiere als unserem eigenen. Pferde sind nämlich soziale Wesen und äußerst sensibel. Sie können innerhalb weniger Sekunden menschliche Emotionen entschlüsseln, sogar menschliche Gesichtsausdrücke unterscheiden – und verfügen selbst über 17 dokumentierte verschiedene Ausdrücke, vier mehr als Schimpansen. +Sie können ihre Ohren in alle Richtungen drehen, haben einen ausgeprägten Gehör- und Geruchssinn, und bei Dunkelheit sehen sie besser als wir. Und wir haben es Pferden zu verdanken, dass wir so sind, wie wir sind. Vielleicht denken wir also beim nächsten Mal an die Pferde, die den Herrscher trugen, wenn wir über seine Heldentaten lesen. diff --git a/fluter/pflanzen-interview-mancuso.txt b/fluter/pflanzen-interview-mancuso.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..72e7fed248f3632c8764e4782eab3f26a6b9afbf --- /dev/null +++ b/fluter/pflanzen-interview-mancuso.txt @@ -0,0 +1,44 @@ +Augenblick, Pflanzen können sehen? +Manche haben tatsächlich in der Außenhaut Strukturen, die an die menschliche Linse erinnern und optische Impulse in das Innere transportieren. Blind sind eher wir Menschen, wenn es darum geht, Pflanzen zu verstehen. +Momentan merken aber viele, dass wir uns selbst zerstören, wenn wir der Natur weiter zusetzen. Hat das unseren Blick auf Pflanzen verändert? +Der Weg, Pflanzen zu verstehen, geht bei uns nicht über das Herz, sondern über den Intellekt. Doch das Bewusstsein ändert sich seit ein paar Jahren. Sicher gibt es noch viel zu viele Menschen, denen nicht klar ist, wie sie mit ihren Konsumgewohnheiten zur Naturzerstörung beitragen, aber die meisten wissen es. Jetzt müssen wir aber auch handeln. Seit es Menschen gibt, wurden unfassbare 3.000 Milliarden Bäume vernichtet, das ist die Hälfte aller Bäume weltweit. Allein im letzten Jahrhundert waren es 2.000 Milliarden. Nun müssten wir eigentlich – so schnell es geht – 1.000 Milliarden Bäume anpflanzen. +Das ist aber nicht in Sicht. Stattdessen geht das Abholzen doch weiter, oder nicht? +Kommt darauf an, wo. In vielen europäischen Ländern hat man aufgehört, die Wälder aktiv zu zerstören. In Deutschland merkt man ja gerade,dass die Monokulturen aus Nadelbäumen der falsche Weg sind.Die Anzahl der Wälder in Europa steigt sogar wieder, aber Europa ist klein verglichen mit anderen Gegenden. Weltweit betrachtet geht die Zerstörung weiter, etwa in afrikanischen Ländern, in Kambodscha oderin Brasilien, wo der Regenwald gerodet wird.Für mich ist der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro ein Krimineller. +Aber ist es nicht zu einfach, auf diese Länder zu zeigen? In Ecuador etwa gibt esim Regenwald Kupfervorkommen,die auch deutsche Unternehmen nutzen wollen, um Elektroautos zu bauen. Ein großer Teil der Bevölkerung in dieser Gegend ist arm und hofft, damit Geld verdienen zu können. Das kann man ihnen doch nicht verdenken. +Ja, das ist richtig, und mit diesem Dilemma darf man die Länder nicht alleinlassen. Es wäre eine Überlegung, Staaten zu entschädigen, wenn sie die Natur unangetastet lassen. Der frühere ecuadorianische Präsident Rafael Correa hatte das der Staatengemeinschaft angeboten. +Ja, dabei ging es um Ölförderung im Regenwald. Aber wie wirksam ein solches Abkommen sein kann,ist politisch umstritten, und die Staatengemeinschaft ist dann nicht auf den Vorschlag eingegangen. +Nein, aber in Zukunft wird man darüber nachdenken müssen. Mein Vorschlag wäre, dass wir den noch bestehenden Wald auf der Erde zum Menschheitserbe erklären, und wer das zerstört, sollte wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt werden. Ich glaube, irgendwann werden wir sogar dazu gezwungen sein, weil dieErderwärmungso stark wird, dass wir sonst nicht überleben. Die Wälder auf der Erde binden zwischen 400 und 1.200 Milliarden Tonnen CO2. Aber es ist nicht nur die Erwärmung. Eine weitere Gefahr erleben wir gerade mit der Pandemie. Die Coronaviren wurden, nach bisherigen Erkenntnissen, durch Wildtiere auf den Menschen übertragen, weil wir die natürlichen Lebensräume der Tiere immer weiter verringern und sie deshalb den Weg zu uns finden. Ich hoffe, dass uns die Corona-Krise die Augen öffnet.Es ist ja ein Irrglaube, dass wir die Natur retten müssen, wir müssen uns retten.Die Pflanzen werden noch da sein, wenn wir schon lange nicht mehr sind. + +Nach uns die grüne Flut: Die Fotografen Carlos Ayesta und Guillaume Bression haben Fukushima besucht und festgehalten, wie sich die Natur entwickelt, wenn es keinen menschlichen Einfluss mehr gibt. Nach der Nuklearkatas- trophe im März 2011 hatten die Bewohner das Gebiet verlassen. In den Jahren danach legte sich ein Art grünes Tuch über Häuser, Autos und Straßen + +Eines Ihrer Bücher heißt "Pflanzenrevolution". Erheben sich bald die Kakteen und Bäume gegen die Menschen? +So ist es nicht gemeint. Eher so, dass wir unser Leben revolutionieren sollten und es wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, die unseren Blick auf Pflanzen fundamental verändern. Pflanzen sind intelligente Lebewesen. Wir erkennen das nur nicht, weil wir eine Vorstellung von Intelligenz haben, die den Menschen ins Zentrum stellt. Aber Intelligenz ist zunächst mal die Fähigkeit, Probleme zu lösen, und so gesehen sind Pflanzen intelligenter als wir. Das Ziel aller Arten ist das Überleben, da befinden wir uns in Konkurrenz zu Tieren und Pflanzen. Und wir sind die schlechtesten Wettbewerber. Der moderne Mensch ist ungefähr 300.000 Jahre alt, eine relativ junge Art. Die anderen Arten haben teilweise fünf Millionen Jahre hinter sich. Es wirkt recht abwegig, dass der Mensch noch 4,7 Millionen Jahre überlebt. Momentan reden wir davon, wie wir die nächsten 100 Jahre meistern. +Worin zeigt sich die Intelligenz der Pflanzen? +Wir lösen Probleme, indem wir uns bewegen, das können Pflanzen nicht. Aber sie können sich trotzdem verteidigen. Es gibt viele Pflanzen, die bei einer Attacke von Insekten Nektar produzieren, der wiederum Ameisen anlockt, die die anderen Insekten bekämpfen. In diesem Nektar sind neuroaktive Stoffe, die die Ameisen regelrecht abhängig machen. Wenn die Pflanzen aggressivere Ameisen wollen, steuern sie das über diese Stoffe. Andere Pflanzen schließen bei Gefahr die Blätter. +Wie die Mimose ... +Und sie lernt sogar dazu: Die Mimose merkt, wenn die Gefahr gar keine ist. Wir haben eine Mimose in einem Experiment immer wieder aus ein paar Metern Höhe fallen lassen. Erst hat sie sich zusammengezogen, aber als sie nach vier oder fünf Stürzen merkte, dass ihr gar nichts passiert, hat sie es gelassen. Nach 40 Tagen haben wir das Experiment mit derselben Pflanze wiederholt. Und sie konnte sich quasi daran erinnern, dass der Fall ungefährlich war. Viele Insekten können sich gerade mal einen Tag lang erinnern, die erleben alles ständig neu. +Können Pflanzen Schmerz empfinden? +Ich glaube nicht. Manchmal denken wir das, aber nur, weil wir mit unseren Augen und Erfahrungen auf Pflanzen schauen. Für uns ist es der größte Albtraum, gefressen zu werden. Pflanzen haben damit kein Problem, oft wollen sie von Tieren gefressen werden, damit die über ihren Kot den Pflanzensamen verteilen. Da würde Schmerz keinen Sinn machen. Das ist eher was für Tiere, um sie Gefahren erkennen und weglaufen zu lassen. +Was können wir von den Pflanzen für unser eigenes Überleben lernen? +Durch den Lockdown haben wir viel Zeit zu Hause verbrachtund waren fast in einer Art Pflanzensituation, also ohne die Möglichkeit, uns groß zu bewegen. So fängt man an, das direkte Umfeld genauer wahrzunehmen. Wir haben durch die Immobilität eine neue Perspektive eingenommen. Daraus könnte ein neuer Respekt für unsere Umgebung entstehen. Sie finden keine Pflanze, die die Umgebung, von der sie abhängt, zerstört. Der Mensch macht das pausenlos. Lernen können wir auch vom Gemeinsinn der Pflanzen: Wir sind zu individualistisch, für Pflanzen ist Kooperation wichtiger. Sie sind die Besten im Bilden von Gemeinschaften. Das sollten wir kopieren. + + +Mit wem kooperieren Pflanzen denn? +Kennen Sie den Begriff "Wood Wide Web"? Es ist eine treffende Bezeichnung für die Gemeinschaft in den Wäldern. Die Bäume dort sind keine Einzelorganismen, sondern Teil eines großen Netzwerks, über das sie unterirdisch miteinander verbunden sind – durch Wurzeln, Pilze und Bakterien.Darüber wird Flüssigkeit ausgetauscht, Nährstoffe, Hormone, Kohlenstoff und sogar Informationen. +Ist das nicht nur eine Theorie? +Nein, dazu gibt es bereits starke Beweise. Wir haben uns diese Netzwerke mit Kollegen und Kolleginnen aus der ganzen Welt angeschaut und sehen können, dass Signale zwischen den Bäumen hin- und hergehen. Wenn ein Baum zum Beispiel in Alarmbereitschaft ist, gibt er entsprechende Warnungen an die benachbarten Bäume weiter. +Widersprechen diese Erkenntnisse nicht Darwins Theorie vom Überleben des Stärkeren? +Ich sehe da keinen Widerspruch. Darwin stellte sich den Wettbewerb der Arten ja nicht als Gladiatorenkampf vor, das ist nur eine Interpretation. Die Stärke kann in der Fähigkeit liegen, intelligente Lösungen zu finden und dafür Gemeinschaften zu bilden. Wenn ein Baum nicht fähig ist zu überleben, werden die anderen Bäume ihn ringsum versorgen. Und zusammen sind sie viel widerständiger gegen das Klima oder gegen Parasiten. Unter der Erde lebt ein einziger Organismus, im wahrsten Sinne des Wortes eine sharing community. Sogar mit dem Menschen bilden Pflanzen eine Gemeinschaft. +Inwiefern? +Wir neigen dazu, den Pflanzen eine aktive Rolle abzusprechen. Aber versuchen Sie mal, die Welt aus der Perspektive des Weizens zu sehen, den es früher nur im Nahen Osten gab. Um sich über die Welt zu verbreiten, ist er eine Kooperation mit dem besten Transportmittel der Welt eingegangen, dem Menschen. Die Ausbreitung passt also für beide Seiten, nicht nur für den Menschen. +Aber wenn der Mensch den Weizen nicht woanders hätte kultivieren wollen, wäre er doch nicht so weit gekommen? +Meinen Sie? Dann nimmt er halt den Wind, fliegt mit den Vögeln oder reist als blinder Passagier im Laderaum eines Schiffes. Die Kokosnuss braucht nicht mal ein Schiff. Die kann Tausende Kilometer durch den Atlantik schwimmen und sich so an fernen Stränden aussäen. +Meinen Sie diesen Expansionsdrang, wenn Sie davon sprechen, dass Pflanzen mobil sind? +Ja. Pflanzen sind Migrationswunder. Sie kommen in kurzer Zeit von Russland nach Deutschland oder von Skandinavien nach Amerika. Und dafür nutzen sie alle Wege. Wir denken immer viel zu anthropozentrisch, sehen uns als Herrscher der Welt, als die machtvollste Art. Aber das ist völlig falsch. Es ist wichtig, dass wir uns als Teil eines Netzwerks verstehen. +Was Sie erfolgreiche Migration nennen, sind für andere invasive Arten, die ursprüngliche Ökosysteme gefährden können. +Mit dem Begriff "invasiv" kann ich nichts anfangen. Was ist denn überhaupt eine heimische Flora? Wir sind überall umgeben von Pflanzen, die sich irgendwann mal hier angesiedelt haben. Das, was man heute als heimatliche Umgebung bezeichnet, sah vor 100 Jahren völlig anders aus. Wenn man sich die deutsche Flora anschaut, sind 90 Prozent nicht original. Nicht mal die Kartoffel ist deutsch. +Weswegen manche von pflanzlichem Kolonialismus sprechen, weil Arten einfach aus ihren Herkunftsländern importiert wurden. +Das ist Unsinn. Es liegt sozusagen in der Natur der Natur, sich auszubreiten. Die sogenannten invasiven Arten von heute werden die typische Flora von morgen sein. Alles,was heute als italienisch gilt,kommt aus der Fremde: der Weizen für die Spaghetti aus dem Orient, die Tomaten für die Sauce aus Südamerika, das Basilikum aus Indien. +Sie haben eine Verfassung der Pflanzen geschrieben, in der ihre Würde und Rechte festgeschrieben sind. Es gibt Länder wie die Schweiz, wo man Ähnliches tatsächlich in der Bundesverfassung findet. +Das ist ein ganz wichtiger Akt, der vielleicht erst mal komisch wirkt. Aber vor 100 Jahren waren auch noch Rechte für Frauen befremdlich und vor 50 die von Tieren. Die Würde der Pflanzen anzuerkennen ist ein erster Schritt. Sie sind komplexe, intelligente Lebewesen. Der zweite Schritt wird sein, ihnen Rechte zu geben. Das ist die beste Art, uns selbst zu schützen. +Der Pflanzenneurobiologe Stefano Mancuso ist Professor an der Universität Florenz und Gründungsmitglied der "International Society of Plant Signaling and Behavior". Er hat u.a. die Bücher "Pflanzenrevolution" (Verlag Antje Kunstmann) und "Die Pflanzen und ihre Rechte" (Klett-Cotta) geschrieben. diff --git a/fluter/pflanzen-netzwerk-schaubild.txt b/fluter/pflanzen-netzwerk-schaubild.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/pflanzen-stadt-bedeutung.txt b/fluter/pflanzen-stadt-bedeutung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c412ee9d92d7c515391fd72c74ea7057f40ae48b --- /dev/null +++ b/fluter/pflanzen-stadt-bedeutung.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Pflanzen sind genauso Teil des städtischen Raums wie Häuser und Straßen, Parkplätze und Bushaltestellen.Das urbane Grünwurde im 19. und frühen 20. Jahrhundert geschaffen, als die Städte im Zuge der Industrialisierung rasant wuchsen. Um den beengt lebenden Bewohnerinnen und Bewohnern die Möglichkeit zur Naherholung zu geben, pflanzte das Bürgertum Straßenbäume und legte Volksparks an. +Der heute oft verwendete Begriff "Stadtgrün" ist noch weiter gefasst und meint Pflanzen in allen möglichen Formen: privat auf Balkonen oder öffentlich auf den Grünstreifen von Straßen, sorgsam geplant in Blumenbeeten oder als spontaner Wildwuchs in verlassenen Fabriken, auf Friedhöfen und Fußballfeldern, an efeubewachsenen Hausfassaden und S-Bahn-Trassen, an Flussufern oder in Fußgängerzonen. Im kleinteilig zergliederten urbanen Raum leben dabei oft mehr verschiedene Tier- und Pflanzenarten als im unmittelbaren Umland, das von den großflächigen Monokulturen der industriellenLandwirtschaftgeprägt ist. + +Das Titelbild oben hat Lucas Foglia in Singapur aufgenommen. Dort gibt es besonders viele Pflanzen auf Dächern und an Fassaden. Außerdem soll jede Bürgerin und jeder Bürger nicht länger als zehn Minuten zum nächsten Park brauchen. +Doch nicht nur für die Artenvielfalt ist Stadtgrün wichtig, sondern auch für die Gesundheit der menschlichen Bewohner: Es sorgt für bessere Luft, bindet Feinstaub und kühlt. "In Städten ist es fast immer ein paar Grad heißer als im Umland. Das liegt an den vielen versiegelten Flächen: Gebäude, Straßen, Parkplätze heizen sich und ihre Umgebung auf", sagt Michael Richter, der an der HafenCity Universität Hamburg zum Thema "Umweltgerechte Stadt- und Infrastrukturplanung" forscht. Stadtpflanzen verbessern das Klima, weil sie durch das Verdunsten des an ihren Wurzeln aufgenommenen Wassers über ihre Blätter für eine natürliche Kühlung sorgen. So lindern Straßenbäume die kommenden Hitzesommer, unter denen sie selbst leiden. +Das Grün in der Stadt ist aber auch noch für eine weitere Folge desKlimawandelsbedeutsam. In Deutschland nehmen Starkregen zu, doch die Kanalisationssysteme sind nicht für derartige Wassermassen ausgelegt. Regenüberlaufbecken sollen das Abwasser vorübergehend aufnehmen und später zur Kläranlage führen – sind sie aber auch überfüllt, wird es höchstens grob gefiltert in Flüsse und Seen geleitet. "Jahrzehntelang war die Prämisse: Regen muss möglichst schnell raus aus der Stadt, von den Dächern und Straßen direkt in die Kanalisation", sagt Richter. Nun werde umgedacht – und die sogenannte Schwammstadt zu einem neuen Leitbild: Möglichst viel Regen soll gar nicht erst in die Kanalisation gelangen, sondern im Boden versickern, in Becken aufgefangen und von Pflanzen zwischengespeichert werden. Da anschließend mehr Wasser verdunstet, werden Schwammstädte zusätzlich besser gekühlt. +Dafür aber müssen zubetonierte Bereiche wieder geöffnet, Gehwege durchlässiger und mehr Grünflächen eingeplant werden. Weil in den engen Städten wenig Platz ist, wird dabei auch sehr kleinteilig gedacht: So sollen in Zürich "Klimadeckel" an Gullys dafür sorgen, dass Regenwasser im Sommer anstatt in die Kanalisation zu nahen Pflanzen geleitet wird – nicht aber im Winter, wenn es mit Resten von Streusalz belastet ist. Ein anderes Puzzleteil sind größere Baumgruben, die dem Wurzelwerk mehr Platz bieten und mit einem lockeren Schotterbett gefüllt sind, das viel Wasser aufnimmt. +Auch ein Haus kann ein Schwamm sein, wenn man das Dach begrünt. Für die einfachste Variante reicht schon eine zehn Zentimeter dicke Schicht Nährboden. Dort wachsen dann vor allem pflegeleichte Pflanzen wie die Fette Henne, der Mauerpfeffer und andere Vertreter der Gattung Sedum, die mit ihren fleischigen Blättern besonders viel Wasser speichern können. Das nächste Level sindbegehbare Grünanlagen auf den Dächern– oder vertikale Gärten in Form von begrünten Fassaden. "Bei der Dachbegrünung ist Deutschland Vorreiter, damit wurde schon in den 1970er-Jahren begonnen", sagt Michael Richter. "Mittlerweile haben viele Großstädte sie verpflichtend in ihre Bebauungspläne aufgenommen." In Hamburg ist der Anteil der Gründächer in den vergangenen fünf Jahren um rund 20 Hektar gestiegen. In dem eng besiedelten Stadtstaat Singapur gibt es Neubauten, die vom Dschungel überwuchert scheinen, so viel Grün ist in sie integriert. Neu denken müssen Stadtplanerinnen und Stadtplaner aber auch bei vermeintlich einfachen Dingen wie der Auswahl der Bäume für neue Wohnviertel. Für einige heimische Arten dürfte es in der Stadt bald einfach zu heiß und trocken werden, etwa für die Rosskastanie, die zusätzlich durch eingewanderte Miniermotten geschwächt ist und dadurch leicht durch eine bakterielle Infektion abstirbt, die durstige Winterlinde sowie die auch noch unter dem Massaria-Pilz leidende Platane. Stattdessen könnten bald Silberlinden, Morgenländische Platanen und neue Ahornsorten an den Straßen stehen. +Immer mehr Menschen werden auch selbst aktiv, um ihre Städte grün zu halten. Die Urban-Gardening-Bewegung begrünt leer stehende Grundstücke mit selbst gezimmerten Hochbeeten für Blumen und Gemüse und schafft auf diese Weise nachbarschaftliche Begegnungsorte. Anderswo werden Hängebeete an Zäunen montiert, Blumenwiesen für Wildbienen gesät, Insektenhotels und Vogelhäuschen aufgestellt – oder manchmal auch bloß das Stück Erde rund um den Stamm des nächstgelegenen Stadtbaums bepflanzt. Wo früher Hundekot lag, blühen nun Hortensien. +Das Bundesumweltministerium hat 2019 einen Plan für mehr Stadtnatur veröffentlicht. Und Berlin hat seine Initiativen und Programme 2020 unter dem Dach der "Charta für das Berliner Stadtgrün" gebündelt. Zwar ist die Charta nur eine politische Selbstverpflichtung und keine bindende Verordnung. Aber sie soll eine bessere Verhandlungsposition im Sinne der Pflanzen verschaffen. Stadtentwicklung ist nur mit Kompromissen zu machen, und die scheinen manchmal schwer zu erreichen. Weil günstiger Wohnraum in den Städten zunehmend knapper wird, ist die Konkurrenz um Flächen groß. Soll man auf den wenigen Freiflächen lieber bezahlbare Wohnungen bauen oder sie als grüne Oasen erhalten? Beide Seiten argumentieren mit dem Wohl der Menschen. In Berlin löste gerade eine Überlegung,die Wohnungnotzu lindern, heftige Proteste aus: Teile der Schrebergartensiedlungen sollen zu Bauland erklärt werden. diff --git a/fluter/pflanzliche-drogen.txt b/fluter/pflanzliche-drogen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7c4596c3f8a43037bbb64e1eb7f669547bdc6282 --- /dev/null +++ b/fluter/pflanzliche-drogen.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Unter den Azteken waren die Pilze als "Teonanacatl" bekannt, "Fleisch der Götter". Göttlichen Ursprungs ist auch das älteste überlieferte Wort für Droge überhaupt, erstmals aufgeschrieben in Sanskrit in den ältesten religiösen Texten des alten Indien, den Veden. Darin ist die Rede von "Soma" – zugleich Gott, Pflanze und berauschender Saft. Über die Zusammensetzung dieses Saftes rätselt die Wissenschaft bis heute. Vermutet wird, dass die Basis der Fliegenpilz war. +Der Pilz kam aus der Mode, als erste Zivilisationen den Ackerbau kultivierten. In der Folge entdeckten sie fast zwangsläufigden Alkohol,beinahe gleichzeitig im Nahen Osten und Ostasien. Das älteste Rezept ist chinesisch, Brauereien lassen sich auch in Mesopotamien oder dem Sudan nachweisen. In der ägyptischen Mythologie war es Osiris, der den Menschen das Brauen beibrachte. Wobei es da nicht viel beizubringen gab. Gerstenbrei, feucht gelagert, beginnt zu gären. Zum Lohn für die Arbeiter an den Pyramiden gehörte nicht nur Brot, sondern auch Bier.Wegen seiner Wirkungwar das Bier recht schnell Gegenstand sowohl drakonischer Verbote wie auch festlicher Rituale. Wer bei den Sumerern beim Panschen von Bier erwischt wurde, konnte in seinen Fässern ertränkt werden. +An hohen ägyptischen Feiertagen war das gemeinsame Besäufnis ein gesellschaftliches Ereignis. Wer während dieser Exzesse gezeugt wurde, galt künftig als Glückskind. Die Griechen neigten eher zur gärenden Traube und hatten mit Dionysos sogar einen für Rauschzustände zuständigen Gott. Doch auch in Athen diente der Alkohol höheren Zwecken. Im "Symposion" wurde zwar gebechert, mit der gelockerten Zunge aber auch Philosophie betrieben. +In finsteren Zeiten war das Wissen sehr nützlich, wogegen womöglich "ein Kraut gewachsen" war – und wo man es finden konnte. Am Wegesrand wuchsen Helferlein, von der Tollkirsche über "Narrische Schwammerl" bis zum Stechapfel. In den falschen Händen ließ sich damit viel Unheil anrichten. In kundigen Händen dienten die besänftigenden Stoffe der Heilung. Ein Gemisch aus Alraune, Bilsenkraut und Mohn war als "Schlafschwamm" eine gängige Methode zur Narkose. Aus den angeritzten Samenkapseln der Mohnblume wurde schon im Mittelalter eine mächtige Droge gewonnen: das Opium. Der Saft hatte heilende Wirkung, wie schon Hildegard von Bingen notierte: "Und das safft geheltet man." Als eingedickte Paste mit Honig (Latwerge genannt) diente der Schlafmohn betäubenden Zwecken. +Der Einsatz solcher Mittel erfolgte oft unter den argwöhnischen Augen der Kirche, die Krankheiten für eine Strafe Gottes hielt. Wer zu viel wusste, konnte als "Kräuterhexe" schnell auf dem Scheiterhaufen enden. +Schon immer wurden in Südamerika die Blätter desKokastrauchsgekaut. Sie halfen gegen Hunger, Müdigkeit, Kälte und dem Blut bei der Aufnahme von Sauerstoff. Eine Eigenschaft, die dem Kokastrauch zu einer blühenden Karriere auch in den Anden verhalf. Getrunken wurde Koka auch als Tee und gekaut stets mit Zusätzen aus Kalk oder Pflanzenasche. Zusammen mit Speichel aufgetragen wirkte es sogar schmerzlindernd. +Eine erste Wende war die Ankunft der spanischen Eroberer. Bekannt ist, dass viele davon nicht nur Gefallen an Gold und Silber und Tabak fanden, sondern ihre neuen Reiche mit Kokablättern in den Sattel- und Backentaschen eroberten. Die Wirkung der Kokapflanze diente den Ausbeutern beim Ausbeuten. So freute sich ein königlicher Buchhalter in Peru schon im 16. Jahrhundert: "Die Indios in den Minen können 36 Stunden unter Tag bleiben, ohne zu schlafen und zu essen." Später schaffte es der aufputschende Stoff sogar in die ursprüngliche Rezeptur einer weltbekannten US-Limonade. +Eine zweite Wende war die 1859 gelungene Isolierung vonKokainaus den Kokablättern. Aber das ist eine andere Geschichte und hat mit der Pflanze kaum mehr etwas zu tun. +Cannabis, auch Marihuana, Gras, Weed, Pot oder Ganja genannt, ist so etwas wie der Klassiker im Garten der Spezialpflanzen. Schon im chinesischen und indischen Altertum nutzte man Cannabis zu medizinischen oder spirituellen Zwecken. Im Abendland wurde zwar Hanf angebaut, auf den Wirkstoff – Tetrahydrocannabinol, kurz THC – aber lange keinerlei Wert gelegt. In der christlichen Überlieferung galt er als exotisch und gefährlich. Kreuzritter fürchteten sich vor den Meuchelmördern der syrischen Assassinen, "Haschaschinen", was übersetzt so viel wie "Haschischleute" bedeutet – angeblich nutzten die Assassinen die Droge, um ihre Anhänger gefügig zu machen. Was eine Legende sein dürfte. Der Konsum von Gras macht die meisten Menschen antriebslos. Bei manchen löst er auch Psychosen aus. +Karriere im Westen machte Cannabis erstmals in Paris im exklusiven "Klub der Haschischesser". Künstler und Intellektuelle von Victor Hugo über Charles Baudelaire bis zum Maler Eugène Delacroix trafen sich, um das mit Zimt, Nelken, Pistazien und Butter zu einer Paste verarbeitete "Haschisch" zu sich zu nehmen. Ihr Ziel war eine Erweiterung des Bewusstseins, eine Steigerung der Sinneseindrücke – alles Motive, die heute noch Menschen zum Kiffen verleiten. +In den meisten Ländern ist Cannabis verboten, in anderen ist ein Umdenken im Gange, das nicht nur eineLegalisierung von Cannabisermöglicht (etwa in den USA oder Uruguay), sondern auch die medikamentösen Vorzüge der Pflanze in den Blick rückt. In Deutschland sind seit einiger Zeit THC-freie CBD-Tropfen frei erhältlich. Deren Wirkstoff, das Cannabidiol, entspannt auch – berauscht aber nicht. +Du willst mehr zum Thema wissen? Auch über die Gefahren von Drogen?Klar, wir haben auch dazu schon ein fluter-Heft gemacht. +Titelbild:  Benjamin Lowy/Edit by Getty Images diff --git a/fluter/philosophie-liebe.txt b/fluter/philosophie-liebe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ebb660e23b4368fe63a8b9554379153265e12ac9 --- /dev/null +++ b/fluter/philosophie-liebe.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Die bessere Hälfte, jeder Topf findet seinen Deckel, du wirst schon noch den Richtigen finden: Aristophanes' Vorstellung der füreinander bestimmten Teile steckt bis heute in unseren Köpfen. Und in jeder Hollywoodromanze. Sokrates' Ideen taugen weniger zum Blockbuster: In seinen Augen streben Liebende nicht nach Vervollkommnung durch eine verlorene Hälfte, sondern vielmehr nach dem absolut Schönen und Guten. +Das erkennt man meist zuerst im Körper eines anderen – und verguckt sich prompt. So weit, so gut, sagt Sokrates: Nur muss man mit der Zeit begreifen, dass die Schönheit, in die man so vernarrt ist, nicht nur diesem einen, sondern allen Körpern innewohnt. Bis sich der Mensch in seinem Streben nach dem Schönen ganz von Körpern abwendet und stattdessen die Menschen wegen der Schönheit ihrer Seelen liebt, die höheren Wert haben als jedekörperliche Attraktivität. +Bei Sokrates gleicht die Liebe einer Leiter, die Stufe für Stufe zur Erkenntnis führt. Ganz oben erkennen und verstehen die Menschendas Wesen der Schönheit an sich, worin auch immer sie sich zeigt. Und Liebende streben danach, selbst Schönes zu erschaffen: auf körperlicher Ebene durch Nachwuchs, auf höheren Ebenen etwa als Dichter oder als Staatsmann, der Gerechtigkeit schafft. +Platons "Gastmahl" ist Philosophiegeschichte, passt aber nicht mehr ganz zu dem, was sich über Jahrhunderte entwickelte und heute platonische Liebe genannt wird: Beziehungen, in denen Sex keine Rolle spielt. Die klingen eher nach Platons Schüler Aristoteles, der sich lieber mit freundschaftlicher statt leidenschaftlicher Liebe befasste, mit philia statt eros, wie es bei den Griechen hieß. Die wahre philia zeichnet für Aristoteles aus, dass man anderen Gutes wünscht, unabhängig von den eigenen Interessen. Sie ist auch die Kraft, die Gemeinschaften wie Familien, Dörfer oder sogar Staaten zusammen- und widerständig hält. +Auch ein paar zeitgenössische Denker verstehen solches Wohlwollen als Kern der Liebe. Zum Beispiel Harry G. Frankfurt, auf den das "Care-Modell" der Liebe zurückgeht. Ein Begriff, der so schwer übersetzbar wie vielsagend ist: Wer "caret", dem liegt etwas am Herzen, der sorgt sich oder umsorgt das Geliebte. +Frankfurt erklärt das an der Liebe von Eltern. Schließlich sorgen die sich von Geburt an um das Wohl ihrer Kinder, pausenlos, ganz unabhängig von ihren übrigen Wünschen und unabhängig davon, ob das Kind nun klein, groß, hübsch oder schlecht in der Schule ist. Diese bedingungslose Fürsorge, das Einswerden der Interessen der geliebten Person mit den eigenen, war für Frankfurt entscheidend: Man liebt etwas nicht, weil man ihm Wert zuschreibt. Es ist genau andersherum: Was wir lieben, wird allein durch unsere Liebe wertvoll. Eltern fragen sich nicht, ob das eigene Kind die Liebe und Fürsorge wert ist, und echte Fans pilgern auch nach zwei Abstiegen noch zu ihrem Club. +Und am Ende nützt uns diese vermeintlich selbstlose Hingabe doch, dachte Frankfurt: Denn Geliebtes gibt unseren Handlungen "Endzwecke". Unsere Entscheidungen hinterfragen wir ständig: Macht mir die nächste Party wirklich Freude, gibt mir dieser Job oder jene Freundschaft, was ich will? Wahre Liebe dagegen gibt uns Gründe, so Frankfurt, die keiner weiteren Erklärung bedürfen. Und kann so dem Leben Sinn verleihen. +Für die christlichen Geistesgrößen im Mittelalter war natürlich Gott sinnstiftend. Deshalb gibt es neben philia, der Freundesliebe, und eros, der romantischen Liebe, noch einen wichtigen Liebesbegriff: agape entspricht der barmherzigen Liebe Gottes zu den Menschen. Augustinus, ein christlicher Vordenker mit Platon-Faible, versuchte, das mit den Ideen der damals noch nicht ganz so alten Griechen zu vereinbaren: Auch er versteht Liebe als Suche nach Höherem und Gutem – das man letztlich in Gott findet. +Trotzdem wurde der Mann nicht nur von keuschen Bischöfen gelesen:Hannah Arendtpromovierte sogar zu Augustinus' Liebesbegriff. Später prägte die politische Theoretikerin den Begriff amor mundi – die Liebe zur Welt. Aus dieser Weltliebe ergibt sich für sie eine Verpflichtung, die Welt zu gestalten; auch oder gerade dann, wenn die Liebe angesichts von Krieg und Ungerechtigkeit schwerfällt. +Die US-Philosophin Martha Nussbaum geht noch etwas weiter und fordert: Mehr Herz in der Politik! Sie glaubt, unsere Gefühle seien wesentlich von kulturellen Normen und persönlichen Überzeugungen abhängig. Was wiederum heißt: Man kann Einfluss auf sie nehmen. Deshalb gehörten Liebe und Mitgefühl auch in die Politik: Ein liberaler Staat sollte die Ausbildung dieser Gefühle aktiv fördern, findet Nussbaum. Sich auf die rationalen Prinzipien der Aufklärung zu berufen sei zwar gut. Dabei die emotionale Ebene zu vernachlässigen – und Autoritären zu überlassen –, sei jedoch ein Fehler. Und klar: Wer Menschen in Not hilft, tut das vermutlich, weil ihn deren Leid berührt; nicht, weil er gerade das Grundgesetz gelesen hat. +Dieser Text istim fluter Nr. 89 "Liebe"erschienen +Nussbaum übersieht da etwas, meint wiederum die Soziologin Eva Illouz. In liberalen Gesellschaften sei die Liebe nämlich längst allgegenwärtig: als romantisches Liebesideal. Befördert würde dessen Präsenz allerdings durch den Kapitalismus, der den meisten Menschen ermögliche, ganz unabhängig von wirtschaftlichen oder gar familiären Überlegungen zu entscheiden, mit wem sie schlafen oder liiert sein wollen. Gefühle und Sex seien dabei mitkapitalisiert worden, sagt Illouz: Was wir als romantisch oder attraktiv empfinden, prägt die kapitalistische Werbe-, Film- und Musikindustrie. Wir geben Geld für Dates aus,konsumieren Pornografieundriesige Pools an möglichen Partnern in den Dating-Apps. Das wiederum sei der Romantik abträglich: Dass der oder die Nächstbeste immer nur einen Swipe entfernt scheint, erschwere die Festlegung auf einen Partner. +So bleibe es heuteoft bei Unverbindlichkeitenund Gelegenheitssex, obwohl der Traum von lebenslanger romantischer Liebe noch immer als Ideal über allem schwebt. Wobei es ganz so schlecht, wie Illouz denkt, vielleicht gar nicht steht um das klassisch-romantische Ideal: In Deutschland wird weiter munter geheiratet – und die Scheidungsrate ist heute niedriger als vor 20 Jahren. + diff --git a/fluter/philosophie-theorie-mensch-tier.txt b/fluter/philosophie-theorie-mensch-tier.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7aac86bfb94c04a1390de7d44a73ab7213340ef8 --- /dev/null +++ b/fluter/philosophie-theorie-mensch-tier.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Der Kater hießSir John Langbornund gehörte dem britischen PhilosophenJeremy Bentham, dem Begründer des Utilitarismus – der besagt, dass moralisches Handeln nach größtmöglichem Nutzen für alle streben soll. Bentham ließ Sir John Langborn bei Tisch mitessen und erklärte im Hinblick auf die Gemeinsamkeit zwischen Mensch und Tier: "Die Frage ist nicht, ob sie argumentieren oder reden können. Die Frage ist, ob sie leiden können." Und weil Tiere für ihn leidensfähig waren, wollte er sie in unser moralisches Handeln einbeziehen. +Der Hund wiederum trug den alten hinduistischen NamenAtmanund wurde von seinem Herrchen, dem deutschen PhilosophenArthur Schopenhauer, meistensButzgerufen. Als Butz starb, erwarb Schopenhauer einen identischen Pudel, den er wieder Atman beziehungsweise Butz nannte und immer so weiter. Wenn er mit einem Butz schimpfen musste, nannte er ihn "Mensch". "Mitleid mit Tieren hängt mit der Güte des Charakters so genau zusammen, dass man zuversichtlich behaupten darf, wer gegen Tiere grausam ist, könne kein guter Mensch sein", so Schopenhauer. +Beide Denker, der Engländer und der Deutsche, kamen über ihre Haustiere zum Pathozentrismus: Die Erkenntnis, dass nicht nur der Mensch, sondern auch Tiere Leid empfinden können, zwingt seitdem Menschen zu moralischem Handeln zum Nutzen aller Beteiligten. Vorläufer hat diese Auffassung in der Antike, vonPlutarchbisAristoteles. Beide gestanden dem Tier gewisse Empfindungen zu, zogen daraus aber unterschiedliche Schlüsse. Während Plutarch wie Schopenhauer argumentierte, also moralisch, betrachtete Aristoteles das Tier als nicht vernunftfähig – und daher rechtlos. +Von den Stoikern der Antike bis zur frühen Neuzeit überwog die Ansicht, bei Tieren handele es sich um instinktgesteuerte Wesen ohne eigenen Wert. NochImmanuel Kantbetrachtete Tiere als Sachen, doch misshandeln sollte man sie seiner Meinung nach keineswegs – denn so würde man schließlich moralisch abstumpfen und dann auch im Umgang mit Menschen zur Grausamkeit tendieren. +Mit der Moderne kam auch eine Verdrängung der Tiere aus der gemeinsamen Lebenswelt – in die Anonymität der Schlachthöfe mit ihrer industriellen Verarbeitung von Geschöpfen, die unmöglich als eigene Subjekte mit eigenen Rechten angesehen werden konnten. Ernsthafte Debatten darüber gab es erst in den 1970er-Jahren, angestoßen unter anderem von der britischen Tierschutzaktivistin und AutorinRuth Harrisonmit ihrer Kritik an den Grausamkeiten der Massentierhaltung. +Die PhilosophenPeter SingerundTom Reganrepräsentierten bald gegensätzliche Positionen der Debatte. Während Singer in der Nachfolge von Bentham nur selbstbewussten Lebewesen einen Anspruch auf eigene Bedürfnisse zugestand (menschlichen Embryonen beispielsweise nicht, dem Hund aber schon), sprach Regan dem Tier einen eigenen, ihm innewohnenden Wert zu und machte ein "Respektprinzip" geltend, unverhandelbar und vergleichbar mit den Menschenrechten. +Regans Position gilt als Ausgangspunkt einer Tierrechtsbewegung, die sich im frühen 19. Jahrhundert formierte. Die Frage ist heute nicht mehr, ob, sondern wann Tiere als Mitgeschöpfe mit Rechten ausgestattet werden und ob sie dann sogar Bürgerrechte erhalten. Das fordert das PhilosophenpaarSue DonaldsonundWill Kymlicka. Eines Tages, so ihr Gedanke, wird uns unser heutiger Umgang mit dem Tier ähnlich obszön erscheinen wie die Sklaverei oder die Apartheid. diff --git a/fluter/picsforpeace.txt b/fluter/picsforpeace.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fb1c59c1d5345a8b8314072642e9480473a3284b --- /dev/null +++ b/fluter/picsforpeace.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +Alexander Zhezhoma, 23 Jahre +Schon während meiner Ausbildung zum Schweißer und Kfz-Mechaniker habe ich mir eine Kamera gekauft und begonnen, mir selbst das Fotografieren beizubringen. Als Hobby. In Érics Kurs wollte ich gucken, was ich draufhabe, und habe endlich wieder Lust aufs Fotografieren bekommen. Die hatte ich während der langen Zeit der Belagerung der Stadt und ihrer Zerstörung nach dem russischen Überfall im Februar 2022 verloren. +Éric bat uns, überall dort zu fotografieren, wo es in Mariupol Hoffnung gibt. Zugegeben, ich zögerte, die Menschen so zu fotografieren, dass man sie erkennt. Ich wollte sie nicht um Erlaubnis fragen, weil ich befürchtete, dass sie misstrauisch mir gegenüber werden könnten. Stattdessen fotografierte ich Gebäude, kleine Zeichen des Wiederaufbaus und freundliche Gesten wie einen drapierten Gedichtband oder Rosen an einer Hauswand. +Ich wurde Zeuge des Horrors und Chaos des Krieges: Plünderungen, Verletzte, Tote. Ich habe dem Konflikt gegenüber immer eine neutrale Haltung eingenommen. Ich habe weder etwas gegen die Ukraine noch gegen Russland. Ich glaube aber, dass die Politik der ukrainischen Regierung auch zu diesem Konflikt beigetragen hat. Indem ich meine Welt, so wie sie ist, fotografisch festhalte, lerne ich, den Dingen gegenüber eine notwendige Distanz einzunehmen. +Ewelina Wakhnowa, 18 Jahre +In der Schule habe ich einen Fotografiekurs belegt, aber ich hatte keine eigene Kamera, um danach eigenständig weiterzuüben. Diese Chance ergab sich, als Éric uns an der Uni besuchte. Er lieh jedem von uns eine Kamera. +Ich versuchte bereits, die Welt in all ihren Farben zu genießen, aber dieser Workshop hat meinen Horizont erweitert. Ich nahm in meiner Heimatstadt plötzlich ganz andere Dinge wahr. +Zum Glück haben alle meine Verwandten und Freunde überlebt. Einige von ihnen sind in andere Länder gezogen, zum Beispiel nach Deutschland. Andere nach Belgien, Florida, Island und Griechenland. Ich bin froh, dass sie alle noch am Leben sind. Auch wenn es traurig ist, dass sie so weit weg sind, aber emotional sind wir uns immer noch sehr nahe. +Ich jobbe aktuell als Kellnerin, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Und ich studierePsychologie. Damit erfülle ich mir einen Traum. In der Zukunft, mit der psychologischen Ausbildung, kann ich mit Kindern arbeiten. Ich liebe Kinder, und für mich wird das ganz toll. +Olga Agarkowa, 19 Jahre +Ich wurde in Mariupol geboren. Hier studiere ich Rechtswissenschaften. +Ich war am 24. Februar 2022, dem Tag, an dem die russische Offensive begann, in der Stadt. Ich bedaure, dass ich damals keine Kamera hatte, um Fotos von dem zu machen, was während der Bombardierungen passierte. Es gibt keine Worte, um das zu beschreiben. Viele Menschen haben die Geschichten gehört, aber sie haben keine Ahnung, wie es sich anfühlt, das mitzuerleben. Ich glaube, ich hätte den Mut dazu gehabt, es der Welt mit meinen Bildern zu zeigen. +Nachdem ich die Kämpfe überlebt hatte, wollte ich die abgebrannten Häuser, die menschenleeren Straßen, das Fehlen normaler Lebensbedingungen nicht mehr sehen. All das machte mich sehr traurig. Ich dachte, dass es besser wäre, an einen anderen Ort zu ziehen, am besten weiter weg von Mariupol. Ich hatte immerzu Angst, dass die Kämpfe wieder losgehen und wir diesmal die Bombenangriffe nicht überleben würden. Aber meine Mutter bestand darauf, dass wir in der Stadt blieben, und sagte, dass sie wiederaufgebaut würde. +Ich hatte nicht daran geglaubt, aber jeden Tag sehe ich nun, wie die Stadt auflebt: Die Menschen kommen zurück, sie gründen Familien und bekommen Kinder, neue Geschäfte werden eröffnet. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie Baumaßnahmen von solchem Ausmaß gesehen. +Ich habe an dem Workshop von Éric teilgenommen, weil ich es vermisst habe, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen, und weil ich die Fotografie seit meiner Schulzeit liebe. Dank des Workshops habe ich neue Freunde gefunden, mit denen ich bis heute in Kontakt stehe. Nicht nur die Stadt blüht auf, auch ich selbst. Meine Freunde und ich haben viele Hindernisse überwunden, aber wir sind zusammen. Das macht mich glücklich. +Ich bin außerdem unendlich froh, dass alle in meinem Umfeld überlebt haben. Einige Verwandte gingen ins Ausland, um den Folgen des Krieges zu entkommen. Jetzt leben sie in Tschechien. Eine Freundin von mir ist nach Belgien gezogen. Auch ihr geht es gut. Ich hoffe, dass sich in Zukunft niemand mehr auf dem Schlachtfeld wiederfinden wird. Die Hauptsache ist, dass es Frieden gibt. + +Wladislaw Riasanzew, 12 Jahre +Meine Familie und ich sind Russen aus Donezk im Donbass. Als 2014 der Krieg ausbrach, entschieden sich meine Eltern, auf die ukrainische Seite zu flüchten, da sie glaubten, uns so dauerhaft in Sicherheit bringen zu können. Weil mein Vater aber später beschuldigt wurde, Informationen an die Separatisten weitergegeben zu haben, wurde er ein Jahr lang in einem ukrainischen Gefängnis inhaftiert. Seine gesundheitlichen Probleme nach seiner Entlassung machten das Leben für mich und meine vier Geschwister sehr schwer. Er kann bis heute nicht arbeiten. +Wir zogen schließlich nach Mariupol. Die russische Blockade der Stadt im Jahr 2022 ist mir in sehr schlechter Erinnerung geblieben. Zwei Mörsergranaten fielen in unseren Garten. Ein Bombensplitter verletzte eine meiner Schwestern an der Leiste und mich einer im linken Schulterblatt. Mein Bruder Walerij erlitt einen Schock und wurde ohnmächtig. Wir flüchteten drei Wochen lang in den Keller der Eisenbahnverwaltung der Stadt: 160 Personen ohne fließendes Wasser, ohne Licht und mit sehr wenig zu essen. +Ich lernte Éric kennen, als ich mit meinem besten Freund Nikita spielte. Éric schlug mir vor, an seinem Foto-Workshop teilzunehmen, was mir gut gefiel. Auch meine Eltern fanden es schön, dass ich wieder an Aktivitäten außerhalb unseres Hauses teilnahm. +Heute ist das Leben in die Stadt zurückgekehrt. Seit einem Jahr gehe ich in eine neue, moderne Schule. Trotzdem vermisse ich meine alte Schule, die durch die Kämpfe in unserem Viertel in der Nähe des Bahnhofs zerstört wurde. Zu meinem Geburtstag hat mir Éric die Kompaktkamera geschenkt, mit der ich fotografiere. Ich mag sie besonders, weil man damit auch unter Wasser fotografieren und filmen kann. +Michail Kosiniez, 18 Jahre +Als ich vom Foto-Workshop erfuhr, wusste ich sofort, dass ich daran teilnehmen wollte. Und es war wirklich toll! Mit der Kamera in der Hand habe ich ziemlich viel darüber gelernt, wie ich meine Umgebung sehe. Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, dass es wichtig ist, die Spuren der Zerstörungen und gleichzeitig den Wiederaufbauprozess unserer Stadt zu dokumentieren. Auf diese Weise halten wir unsere Geschichte selbst fest. Später, wenn Frieden und Wohlstand zurückkehren, wird uns das helfen. +Wir waren eine Gruppe von Freunden, die an dem Workshop teilnahm. Wir haben zuvor auch schon bei Aktionen mitgemacht, um den Ärmsten der Armen nach dem Krieg zu helfen, oder Theatervorstellungen für Kinder mit Behinderungen organisiert. +Der Workshop begann im ersten Winter, nachdem die Stadt im Sommer von russischen Kräften eingenommen wurde. Das war eine schlimme Zeit: Zwar waren in der ganzen Stadt neue Fenster eingebaut worden, aber Heizungen gab es nicht überall und noch weniger Internet. Das Leben war grausam und ungewiss. Trotz der traumatischen Erlebnisse sind die Dinge heute besser. Ich konnte mein Studium wieder aufnehmen. +Der Foto-Workshop kam für mich genau zum richtigen Zeitpunkt – wie ein Zwischenspiel, ein Reset, um neu zu beginnen. Wenn es einendauerhaften Friedengibt, sehe ich Chancen für meine Zukunft. diff --git a/fluter/pilze-plastik-muell-nachhaltigkeit.txt b/fluter/pilze-plastik-muell-nachhaltigkeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3ecc111328ab18dc991d41e3e0243b59957744cd --- /dev/null +++ b/fluter/pilze-plastik-muell-nachhaltigkeit.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Einst wollte Vera Meyer Astrophysik studieren, dann wurde es aber doch Biotechnologie. Ihr Fachgebiet: Pilze. Anfangs war sie den Pilzen eher auf der Spur, weil sie neue Medikamente finden wollte, die gegen durch Pilze verursach­te Krankheiten helfen. Mittlerweile macht sich Meyer die Pilze zunutze: An der Technischen Universität Berlin entwickelt sie Werkstoffe auf der Basis von Pilzen, die eines Tages etwa Beton ersetzen könnten. +Dabei helfen könnte der Zunder­schwamm – ein Baumpilz, der laut Meyer die besten Voraussetzungen mit­bringt: robust und trotzdem leicht. Der­zeit steht in Frankfurt am Main ein temporäres Pilzgebäude namens MYCOSPACE – eine bewohnbare Skulptur. Wissenschaft­ler, Künstler und Architekten haben zusammengearbeitet, um das Haus aus Holz, Stroh und Pilzen zu kreieren. Se­rientauglich und langfristig ist MYCOSPACE allerdings noch nicht. Wenn es nach Vera Meyer geht, könnte die Vision vom bewohnbaren Pilzhaus allerdings bis 2030 Wirklichkeit werden. +Im Jahr 2011 entdeckten Wissenschaft­ler der Universität Yale, dass eine Pilzart die Fähigkeit besitzt, Kunststoff zu zer­setzen – eine Sensation. Denn anders gesagt bedeutet das: Dieser Pilz namens Pestalotiopsis microspora kann sich von Plastik ernähren – und das sogar im Dunkeln und unter sauerstoffarmen Be­dingungen. Das macht er mithilfe eines bestimmten Enzyms. 2017 wurde auf einer Müllhalde in Pakistan entdeckt, dass auch ein weiterer Pilz mit dem Namen Aspergillus tubingensis den Kunst­stoff Polyurethan in einigen Wochen zersetzen kann – ohne Pilze dauert es mehrere Jahre bis Jahrzehnte. +Dietmar Schlosser vom Helmholtz­ Zentrum für Umweltforschung hofft, dass dies keine einmalige Sensation war, son­dern auch andere Pilze ähnliche Fähig­keiten besitzen: "Ich bin mir sicher: Die Potenziale sind sehr viel größer, als wir bisher wissen." Denn Pilze bilden viele Enzyme – und etliche davon seien sehr robust und so designt, dass sie außerhalb von Organismen klarkommen. +Derzeit erforschen Schlosser und sein Team unter anderem, welche Pilze sich auf begrünten Dächern befinden. Denn auch dort landen durch Regen, Aerosole oder Staubpartikel jede Menge Schadstoffe – und diese könnten ein ge­fundenes Fressen für Pilze sein. +Bisher, so sagen Experten, seien nur ungefähr zehn Prozent aller Pilze der Welt bekannt. Der weitaus größere Teil ist weder bekannt noch untersucht. "Überträgt man solche Verhältnisse auf potenzielle Fähigkeiten zum Schadstoffabbau", so Schlosser, "kann man sich ausmalen, wie wenig wir bisher wissen." + diff --git a/fluter/pimp-my-vita.txt b/fluter/pimp-my-vita.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..caf2515aef938855bf82c3c1a3d734753cc6a798 --- /dev/null +++ b/fluter/pimp-my-vita.txt @@ -0,0 +1 @@ +Wie Sebastian ist auch Masiar Emanuel Nashat bisher ziemlich erfolgreich durchs Leben gegangen. Der 25-Jährige arbeitet seit einem Jahr an einer integrierten Sekundarschule in Berlin, vorher hat er Politik studiert. "Wir haben kein Öl. Wir haben unsere Köpfe, und wir haben Schüler, die irgendwann mal auf eine gute Idee kommen." Masiar will was verändern, zumindest im Kleinen. "Schüler brauchen Vielfalt. Bei uns an der Schule genießen sie die Mischung aus erfahrenen Kollegen, Referendaren und jungen Hochschulabsolventen wie mir." Die Schulleitung setzt ihn dort ein, wo individuelle Förderung notwendig ist. Und hier entstehen die kleinen Erfolgserlebnisse: Wenn das Vokabeltraining Wirkung zeigt oder der Klassenkasper nach einem Gespräch etwas besser zuhört. Masiar und Sebastian wirken nicht so, als wollten sie ihren Lebenslauf noch schnell mit Sozialkompetenz aufpimpen. Sie können sich sogar vorstellen, auch nach den zwei Jahren im Schulbereich zu bleiben. Laut Ulf Matysiak ist das keine Seltenheit. Von den ersten Fellows sei etwa die Hälfte im Bildungssektor geblieben. diff --git a/fluter/pink-elephant-roman-kieser-rezension.txt b/fluter/pink-elephant-roman-kieser-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..102b3b0666582b3363303048fe5e9013823f7d2e --- /dev/null +++ b/fluter/pink-elephant-roman-kieser-rezension.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +"Pink Elephant" behandelt die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den drei und die Frage, wer eigentlich wo dazugehört. Vincent ist für seine neuen Kumpels "so weiß, man sieht ihn nicht in der Sonne". Er will Arabisch lernen, und sein Versuch, seinen neuen Freunden durch Selbstbräuner zu ähneln, geht natürlich schief. In Vincents Verhalten vermischen sich Naivität, Bewunderung und kulturelle Aneignung. Ali wiederum – der eigentlich Alex heißt – ist für Tarek "Mayonnaise", weil sein Vater aus Deutschland stammt. Ali und Tarek erleben immer wieder Alltagsrassismus. Die Figuren ohne Migrationsgeschichte nehmen das entweder wie selbstverständlich hin oder üben ihn selbst aus, etwa Vincents Eltern. Sein Kumpel Tobi würde sogar gerne davon profitieren. Wenn Aussage gegen Aussage stehe, glaube man schon ihnen, so die Hoffnung. Eine Einschätzung, die zutrifft, wie sich später zeigt. Vincent soll der Schulleiterin sagen, wer von beiden – Ali oder Tarek – angefangen habe mit dem Streit. Dass es auch Vincent gewesen sein könnte, kommt ihr offenbar nicht in den Sinn. +Der Autor Luca Kieser verzichtet in seinem zweiten Roman auf eine Chronologie. Stattdessen erzählt er die Geschichte auf zwei Zeitebenen – vor sowie nach Alis Sprung aus dem Fenster –, die teilweise sehr plötzlich innerhalb desselben Kapitels wechseln. Sich zu orientieren fällt da manchmal schwer. Es hat aber auch seinen Reiz, weil sich das Wissen als Leser*innen und das Wissen der Figuren nicht immer decken – so wird erst relativ spät klar, warum genau Ali aus dem Fenster springt. +Luca Kieser zweifelte,so erzählt er es in einem Verlagsinterview, lange daran, ob er als weißer Schriftsteller diese Geschichte überhaupt schreiben kann, darf – und sollte. Auch weil der Roman Beleidigungen und rassistische Zuschreibungen reproduziert. Zwei Personen waren schließlich für ein Sensitivity Reading verantwortlich, haben den Text also aus Betroffenensicht auf Stereotype und Diskriminierung geprüft. Manchmal, an Stellen, an denen es gar nicht um potenziell Rassistisches geht, wirkt die Sprache allerdings etwas unnatürlich: Im Krankenhaus zum Beispiel verlangt Tarek, der eben noch wie so häufig einen Satz mit "ich schwöre" beendet hat, nach "einem Arzt oder einer Ärztin". Ein Teenie, der im Jahr 2006 gendert, wirkt dann doch überkorrekt und unrealistisch. +"Pink Elephant", das sind pinke Zigaretten mit Vanillegeschmack, die Vincent aus Versehen kauft. Für den Autor Luca Kieser ist das unmögliche Tier ein "Bild für das, was Vincent tut, wenn er versucht, durch äußere Merkmale Zugehörigkeit zu erlangen". +Luca Kieser fängt sowohl die Lebensrealität von Vincent, Ali und Tarek als auch die Zeit der Handlung wunderbar ein. Da werden heimlich nachts Pornos geschaut, Playsi gezockt und mit Aldi Talk SMS geschrieben. Die Sympathieverteilung gerät dabei aber stellenweise zu schablonenhaft: Die nichtmigrantischen Deutschen sind ausnahmslos mindestens unterschwellig rassistisch. Die Migrantisierten sind nicht nur sympathischer, sondern auch durchweg Opfer des Systems. Etwas mehr Balance hätte den Roman noch authentischer gemacht. + +Titelbild: Ekkehart Bussenius – Kreuels/laif diff --git a/fluter/pionier-der-selfie-aera.txt b/fluter/pionier-der-selfie-aera.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8c6b163fab7cdc011fb57e43336cfb48e844d746 --- /dev/null +++ b/fluter/pionier-der-selfie-aera.txt @@ -0,0 +1,8 @@ + +Sam Klemke's Time Machine +Wer sich immer schon gefragt hat, was es mit der in sozialen Netzwerken verbreiteten Sucht auf sich hat, von sich selbst Bilder zu machen, findet im Dokumentarfilm "Sam Klemke's Time Machine" aufschlussreiche Antworten. Der Film besteht zu großen Teilen aus Klemkes filmischen Selbstporträts, allerdings hat er die Clips nicht selbst kompiliert, sondern sein gesamtes Archiv dem Australier Matthew Bate zur Verfügung gestellt. Der Filmemacher war einer der 600.000 Menschen, die damals Klemkes YouTube-Video gesehen hatten – heute sind es weit über eine Million. +Das Erstaunliche an den Videos – zunächst mit Super-8-, später mit Video- und schließlich mit Digitalkamera gefilmt – ist, dass Klemke schon Ende der 1970er-Jahre eine Ansprache und ein wiederkehrendes Format wählt, das sehr an heutige Videoblogs erinnert. So zieht er etwa am Ende jedes Jahres Bilanz. Wiederkehrende Themen sind sein Kampf gegen das Übergewicht und sein prekäres Leben als Karikaturist. Es geht aber auch um politische Ereignisse der jeweiligen Jahre. Dabei wendet sich Klemke an ein imaginäres Publikum, obwohl er die Aufnahmen eigentlich nur für sich selbst macht. Er grüßt in die Kamera, bezieht sich auf frühere Folgen und reflektiert sein Projekt, als hätten die Follower seiner Videos ihn angesprochen: "Die Leute fragen mich, warum ich das mache. Zeit fasziniert mich einfach. Ich will all die Veränderungen in meinem Leben einfangen, und zwar in den Momenten, in denen ich sie erlebe." +Der Dokumentarfilmer Matthew Bate reiht diese Aufnahmen nicht bloß aneinander, sondern eröffnet durch eine zweite Ebene einen filmischen Reflexionsraum. Das wirkt zunächst etwas willkürlich: Klemke beginnt sein Videoprojekt 1977, im selben Jahr, in dem die unbemannte Raumsonde "Voyager 1" auf ihre bis heute andauernde Mission geschickt wird. Mit an Bord: die "Voyager Golden Record", eine Greatest-Hits-Platte mit Musik, Geräuschen, Bildern und Grußbotschaften der Menschen für außerirdische Lebensformen, die ja irgendwo im interstellaren Raum auf die "Voyager 1" stoßen könnten. Zwischen Klemkes Clips aus dem Keller seines Elternhauses schneidet Bate also immer wieder essayistische Zwischenspiele, in denen das utopische Bild der Menschheit auf der "Golden Record", bestehend aus Kulturkanon und Friedensbotschaft, seziert wird. +Bei beiden Selbstporträts, beim großen Idealbild der Menschheit wie bei Klemkes Langzeitdokumentation des persönlichen Scheiterns, geht es letztlich – so schlägt der Film vor – kaum um die bloß hypothetischen Adressaten, sondern mehr um eine Art Selbstvergewisserung. Um eine Erinnerung daran, was es heißt, Mensch zu sein. Aber vielleicht erwarten wir von unseren Selfies im digitalen Zeitalter dann doch, dass auch die anderen, die Außerirdischen im Web-Universum, uns das Gefühl geben, dass wir Menschen sind. +Der Film von Matthew Bate ist online beiVimeoverfügbar. +Jan-Philipp Kohlmann ist Volontär im Filmbereich der bpb und arbeitet mit bei kinofenster.de, dem Online-Portal für Filmbildung diff --git a/fluter/plakatkunde-teil-1.txt b/fluter/plakatkunde-teil-1.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/plakatkunde-teil-2.txt b/fluter/plakatkunde-teil-2.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/plakatkunde-teil-3.txt b/fluter/plakatkunde-teil-3.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/planungsreferat.txt b/fluter/planungsreferat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/plastik-im-meer-was-bringt-das-aufraeumen.txt b/fluter/plastik-im-meer-was-bringt-das-aufraeumen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c8575b86cc7330012e3566d7ce96cce422f0badc --- /dev/null +++ b/fluter/plastik-im-meer-was-bringt-das-aufraeumen.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Mit 17 beschloss Boyan beim Tauchen im verdreckten Meer, selbst etwas gegen den Müll zu unternehmen +Auf dem Wasser treiben hochgerechnet wahrscheinlich 269.000 Tonnen Plastik. Vor allem in den fünf besonders großen Müllstrudeln in den Meeren. Sie befinden sich im Atlantik und im Indischen Ozean, alle in der Nähe des Äqua­tors. Der größte ist wohl der "Great Pacific Garbage Patch" mit einer Fläche etwa dreimal so groß wie Frankreich. Erst vor Kurzem verkündete The Ocean Cleanup, hier einen weiterentwickelten Meeresstaubsauger einsetzen zu wollen. +Wie viel Plastik tatsächlich schon im Meer gelandet ist, dazu gibt es bestenfalls Hochrechnungen. Ein Forschungsteam um die Umweltingenieurin Jenna Jambeck hat versucht, die Menge anhand der Plastikproduktion und ­-entsorgung von 192 Ländern zu schätzen. Die Forscher kamen zu dem Ergebnis, dass jedes Jahr rund fünf bis 13 Millionen Tonnen Plastik im Meer landen, Tendenz steigend. +So wenig man über die genaue Menge des Plastikmülls im Meer weiß, so unerforscht sind auch die Auswirkungen des Plastiks auf die Lebewesen im Meer. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Plastikmüll nicht gleich Plastikmüll ist. Deshalb mag ein Stück Plastik für das eine Lebewesen zwar harmlos sein, aber für ein anderes genau das entscheidende, an dem es erstickt oder mit dem es sich vergiftet. Es gibt auch Mikroorganismen, die Plastik als Lebensraum für sich entdeckt haben und sich auf den schwimmenden Plastik­teilen ansiedeln. + +Der Müll, den man auf der Wasseroberfläche sieht, ist nur ein kleiner Teil des Problems. Hier wird er eingesammmelt + +Fakt ist aber, dass viele Vögel und Fische mit Mägen voller Plastik verenden. Bei fast 70 Prozent der Seevogelarten wurde bei einer Untersuchung Plastik im Magen gefunden. Auch Mikroplastik kann Tiere töten und über den Fischfang in den Mägen der Menschen landen. Hinzu kommt, dass es sich zu noch kleineren Partikeln zersetzt, dem sogenannten Nanoplastik. Über dessen Verbreitung und Auswirkungen gibt es praktisch keine Daten. Es ist so klein, dass es sogar die Zellmembran durchdringen kann. +Allerdings weiß man ziemlich genau, woher das Plastik im Meer stammt. Ein vergleichsweise geringer Anteil stammt von Schiffen, der Groß­teil des Plastikabfalls kommt vom Land. Dabei spielen Flüsse eine große Rolle: 2017 fand eine Studie heraus, dass gerade mal zehn Flüsse rund 90 Prozent des Plastikmülls befördern, der über Flüsse in die Ozeane gelangt. Am meis­ten transportiert der Jangtse in China, aber auch der Nil und der Ganges in Indien gehören zu den traurigen Top Ten. +Auf das Problem der Flüsse ist auch The Ocean Cleanup gestoßen: Deshalb arbeiten die Ingenieure des Projekts seit 2015 an einer Lösung für die 1.000 am stärksten verschmutz­ten Flüsse. Mittels Barrieren wird der Müll zu einem Kata­maran gelenkt und durch die Strömung auf ein solarbetrie­benes Transportband befördert, das ihn aus dem Wasser holt. Der Müll sammelt sich automatisch in großen Müllcontainern. Wenn sie voll sind, sendet das Schiff ein Signal, und die Container werden abgeholt. Ziel ist es, den Plastikabfall schon abzufangen, bevor er überhaupt ins Meer gelangen kann. +Vor wenigen Wochen bekam The Ocean Cleanup Unter­stützung: DasAachener Start­up everwavehat im Juli 2021 mit seiner eigens entwickelten Müllsammelplattform einen ersten Feldversuch in der Weser bei Bremen gestartet. "HiveX" nutzt ähnlich wie das System von The Ocean Cleanup die natürliche Strömung der Flüsse, um Plastik zu sammeln, und speichert es ebenfalls, bis der Müll zum Festland ab­ transportiert wird. +Auch der VereinOne Earth – One Oceanhat sich der Säuberung der Ozeane verschrieben und ein Konzept für eine "maritime Müllabfuhr" entwickelt. Mithilfe von Netzen fischt das Reinigungsschiff "SeeKuh" Plastikmüll aus bis zu zwei Metern Tiefe in Küstengebieten und Mündungsregionen, ein weiteres Schiff, der "SeeElefant", sortiert und recycelt das Plastik. Pro Fahrt können so bis zu zwei Tonnen Müll ge­ sammelt werden. Die Maschen des Netzes sind 2,5 Zenti­meter groß, sodass kleine Meereslebewesen durch das Netz passen. Größere können dank der geringen Geschwindigkeit entkommen. Die erste "SeeKuh" war schon in der Ostsee und vor Hongkong im Einsatz. Zukünftig sollen ihre Schwes­terschiffe mit Solar­ und Windenergie betrieben werden. +Wenn es Mülleimer an Land gibt, warum nicht auch im Meer? Diese Frage stand hinter der Erfindung der "Seabins". Die Meeresmülleimer werden in Häfen installiert und saugen dort mithilfe einer Pumpe den Müll aus dem Oberflächen­wasser an. Andere Initiativen animieren Fischer, Plastik aus dem Meer zu fischen, schicken Taucher zum Meeresgrund, um Müll zu sammeln, oder organisieren große Küstenauf­räumaktionen. +Zum Thema Plastik könnte man ganze Hefte füllen. Haben wir auch schon gemacht: Das Plastik-Heftfindet ihr hier. +Können diese Initiativen die Lösung sein? Der Biologe Lars Gutow, der am Alfred­-Wegener-Institut zur Ökologie des Meeresbodens forscht, reagiert zurückhaltend auf die Frage: "Grundsätzlich ist jedes Stück Müll, das aus dem Ozean entnommen wird, gut." Doch es gebe mehrere große "Aber": Der Müll, der am Meeresboden liege, könne nicht entfernt werden, ohne dabei die Ökosysteme zu schädigen. Denn in der Regel würden bei der Reinigung mit Netzen etliche Lebewesen mit heraufgeholt – wie bei den Schlepp­netzen der Fischer. Und auch direkt an der Meeresoberfläche gibt es Leben – das sogenannte Neuston bezeichnet die Gesamtheit der dortigen Organismen, über deren Funktion man noch wenig weiß. "Wenn wir große Mengen an Müll absammeln, dann müssen wir unweigerlich auch große Mengen an Biologie absammeln", sagt Lars Gutow und plädiert für ein verstärktes Müllsammeln in Küstenbereichen oder Flussmündungen. So ließe sich eine Schädigung des Ökosystems begrenzen. +Manche Ökologen und Meeresbiologen warnen ein­ dringlich davor, überstürzt Plastik aus dem Meer zu fischen, weil der Schaden deutlich größer sein könnte als der Nutzen – und sowieso nur ein Bruchteil des Problems gelöst würde: Der Teil, der am Meeresgrund liegt oder als Mikroplastik im Meer schwimmt, ist bei den derzeitigen technischen Möglichkeiten ohnehin unwiederbringlich verloren. Die Lösung liegt also auf der Hand: Statt innovative Projekte zu entwickeln, wie wir den Müll wieder aus dem Meer holen können, sollten wir dringend daran arbeiten, dass er gar nicht erst hineingelangt. + +Titelbild: S. Coskun/Anadolu Agency via Getty Images diff --git a/fluter/plastikverbot-eu-pro-contra.txt b/fluter/plastikverbot-eu-pro-contra.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ed0e8cc591759982d12ce462ad9a496d088ff50e --- /dev/null +++ b/fluter/plastikverbot-eu-pro-contra.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Das Plastikverbot ist so ein Fall. Es will Kleinigkeiten wie Strohhalme oder Wattestäbchen aus Kunststoff verbannen. Als der Plan voriges Jahr bekannt wurde, gab es kaum fundamentale Kritik. Selbst einige Plastikhersteller zeigten Verständnis für den Vorstoß, der ihnen eigentlich den Angstschweiß auf die Stirn hätte treiben sollen. Genau das tat und tut er eben nicht. Der Plan ist: nichts weiter als Symbolpolitik. +Die Europäer erzeugen jedes Jahr 25 Millionen Tonnen Kunststoffabfälle. Doch selbst wenn das neue Verbot streng umgesetzt würde, könnte das kaum etwas ändern, denn Strohhalme und Co. machen nicht einmal ein Prozent des europäischen Plastiks aus! Es sind Verpackungen, die für einen Großteil des Müllproblems sorgen, und das immer stärker, je mehr Fertiggerichte oder Mitnehmprodukte die Supermärkte überfluten. 2018 wurden in der EU allein für Essen und Getränke mehr als eine Billion Verpackungen genutzt. Wollte die Politik wirklich etwas gegen die Plastikflut tun, müsste sie also bei der Verpackungsbranche anfangen. +Die ganz Radikalen könnten jetzt fordern: Macht es so wie andere Länder! Wer in Ruanda Plastiktüten produziert, handelt oder auch nur nutzt, dem drohen seit rund zehn Jahren hohe Geld- oder Gefängnisstrafen. Auch Kenia hat seit 2017 ein solches Gesetz. Es ist aber gar nicht ausgemacht, dass Verbote unser Plastikproblem – oder genauer gesagt: unser Umweltproblem – lösen können. Viele der Materialien, die Kunststoffe ersetzen sollen, stehen selbst in der Kritik – weil ihre Herstellung die Umwelt stark belastet oder weil sie sogar noch schlechter entsorgt werden können. Plastik kann, zumindest theoretisch, leicht wiederverwertet werden. Für vermeintlich ökologische Alternativen wie etwa die beliebten Bambusmischstoffe gilt das nicht. +Was also ist die Lösung? Es geht nicht darum, Plastik komplett zu verbannen. Es sollte vielmehr darum gehen, es effizient zu nutzen,um einen echten Recyclingkreislauf aufzubauen. Aktuell werden nämlich in der EU weniger als ein Drittel der Kunststoffabfälle überhaupt für das Recycling gesammelt.Die Recyclingquoten variieren dann von Land zu Land. +Der Kreislauf könnte auf mehreren Ebenen angeschoben werden. Für Verbraucher könnte Recycling attraktiver werden, wenn das Pfandsystem von Einwegflaschen auf andere Plastikprodukte ausgeweitet wird. Gleichzeitig könnten Hersteller verpflichtet werden, ihr Plastik so zu produzieren, dass es optimal wiederverwertbar ist. Helfen würde auch ein gesetzlicher "Mindestrecyclinganteil", also wie viel Prozent des neuen Plastiks aus Altplastik hergestellt sein müssen. Im Moment sind es in der EU nur sechs Prozent. +Was wir brauchen, ist eine Recycle-Revolution! Der Umstieg wäre nicht einfach, so viel ist klar. Er würde ganze Industrien dazu zwingen, ihre Produktionen zu überdenken, und für viel Widerstand sorgen – wahrscheinlich sogar mehr als ein einfaches Verbot. Mit anderen Worten: Es wäre der wegweisende Schritt, den wir jetzt brauchen. + + +Kristina Antonia Schäfer arbeitet als Redakteurin für Finanzen und Politik beiWirtschaftsWoche Online. + + +von Alina Schadwinkel +Plastik mag oft praktisch sein, doch ehrlich gesagt: Unser Umgang mit ihm ist eine Schande. Jeder Strohhalm, den wir in die Caipirinha stecken, und jeder Plastikteller beim Grillen im Park sollte uns erinnern – an den Müllberg aus Plastik, den wir produzieren, und an die rund zehn Millionen Tonnen Plastik,die jedes Jahr rund um den Globus in den Ozeanen landen. +Das ist nicht nur widerlich, weil es die Umwelt verschmutzt. Plastikteile und Mikroplastik gefährden zudem Tiere und Menschen. Machen wir uns nichts vor:Winzige Kunststoffpartikel enden auch in unseren Lungen und auf unseren Tellern. Welche Auswirkungen das auf die Gesundheit hat, ist bisher unbekannt. +Wie grandios, dass einige Wegwerfprodukte aus Plastik ab 2021 in Europa verboten sind. Europaweit steht damit offiziell fest: Wir haben ein Müllproblem, das außer Kontrolle ist. Ein unbekümmerter Umgang mit Plastik ist nicht länger zu dulden. Wenn in 30 Jahren nicht mehr Plastikteile als Fische in den Meeren schwimmen sollen, muss sich etwas ändern – und zwar so schnell wie möglich. Ein Wegwerfplastik-Verbot ist ein guter Anfang, weil es nicht nur die Flut eindämmen, sondern die Quelle des Übels angehen soll: unser Verhalten. Die Menschheit produziert mehr Plastik, als gut für den Planeten ist, und anstatt die Menge zu reduzieren, kommen jedes Jahr rund 350 Millionen Tonnen Kunststoffe hinzu. +Die Skeptiker*innen mögen nun nörgeln und sagen, dass derEU-Beschluss auf unzähligen Kompromissen basiert und deshalb wirkungslos ist. Doch im Gegenteil: Es gilt, die Richtlinie als historisches Signal und Chance zum Wandel anzuerkennen. Sie liefert die europaweite Basis für künftig zusätzliche, noch strengere Regeln, die die Chance bieten, unser Verhalten grundsätzlich zu ändern. +Und eine weitere Chance bietet die Richtlinie: Bis Mitte 2021 haben die EU-Staaten Zeit, sie in nationales Recht zu gießen. Damit hat jede Regierung die Möglichkeit, mehr Maßnahmen schneller umzusetzen, als auf EU-Ebene beschlussfähig war – hier haben die Mitgliedstaaten großen Spielraum. Ein Beispiel: Bis Ende dieses Jahrzehnts müssen 90 Prozent der Kunststoffflaschen getrennt gesammelt werden und 30 Prozent von ihnen aus Recyclingkunststoff bestehen. Das sind Mindestvereinbarungen der EU. Deutschland sollte die EU-Richtlinie viel strenger umsetzen: mit kürzeren Fristen, höheren Recyclingquoten oder noch mehr Verboten. Zum Beispiel, dass deutscher Müll nicht mehr nach Südostasien verschifft werden darf. +Es ist zu erwarten, dass große Teile der Bevölkerung solche Eingriffe in ihren Alltag sogar unterstützen werden.Viele Deutsche machen sich Sorgen um die Umwelt, wollen sie schützen und sind bereit, etwas zu ändern. Das zeigt nicht zuletzt derZulauf zur Fridays-for-Future-Bewegung. Doch etwas ändern zu wollen und es tatsächlich zu tun, ist dann doch ein Unterschied. Die eigenen Gewohnheiten sind oft träge und resistent: Am Morgen nach der WG-Party Dutzende Teller spülen? Dann doch lieber Plastikgeschirr in den großen Müllsack kippen. +Das Plastikproblem ist zu groß, als dass Politiker*innen noch darauf hoffen sollten, dass jede*r seinen Alltag selbst reguliert. Manchmal braucht es deshalb einen zusätzlichen Anstoß von außen. Das Verbot der EU ist ein solcher Impuls. + + +Alina Schadwinkel ist Wissenschaftsjournalistin und leitet die Redaktion vonspektrum.de. + + +Collagen: Renke Brandt diff --git a/fluter/platz-da.txt b/fluter/platz-da.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c8ab1024d13f962343da99c063f58e9d1e2ee909 --- /dev/null +++ b/fluter/platz-da.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Das Gerangel um die Studienplätze sorgt in vielen Kanzleien für ein rege Nachfrage. Was auch daran liegt, dass sich Fristen und andere Formalien für das termingerechte Einreichen einer Klage von Bundesland zu Bundesland und Uni zu Uni so stark unterscheiden, dass es fast unmöglich ist, ohne Hilfe die nötigen Informationen zu recherchieren. "Bei manchen Universitäten kann man auch schon vor dem Erhalt einer Absage klagen, wenn man weiß, dass man den nötigen NC ohnehin nicht erreichen wird", so ein Fachanwalt. "Eine selbstgestrickte Klage anhand von Asta-Flugblättern ist ungefähr so erfolgversprechend wie ein chirurgischer Eingriff auf Grundlage von Informationen aus Wikipedia." Um ihre Chancen zu erhöhen, mit einem Psychologiestudium starten zu können, hat Katharina auf Rat ihres Rechtsanwalts 20 Universitäten verklagt – und dann gleich mehrmals gewonnen, sodass sie sich plötzlich einen Platz aussuchen konnte. An der Universität Hamburg, an der sie nun studiert, war sie nicht die einzige, die sich in ihr Studium eingeklagt hat: "In meinem Semester sind ungefähr 60 Kläger zugelassen worden", sagt sie, "dadurch ist ein guter Zusammenhalt unter uns entstanden. Und niemand hat getuschelt, als bekannt wurde, dass sich jemand eingeklagt hat." Die Professoren wissen nicht, welche ihrer Studierenden auf dem Rechtsweg zu ihrem Studienplatz gekommen sind. +Das Verfahren ist dabei ein rein administrativer Akt. Katharina musste wie üblich in solchen Fällen keinen einzigen Termin vor Gericht wahrnehmen, das tat ein Verwaltungsrechtler für sie. Auch am Geld muss so eine Klage nicht scheitern, denn wer nachweislich keine Mittel hat, um so ein Verfahren zu bestreiten (das pro Uni schnell um die tausend Euro kosten kann, wenn man verliert), kann beim zuständigen Gericht Prozesskostenhilfe beantragen. Das hört sich aufwendig und kompliziert an, und tatsächlich sollte man einiges an Durchhaltevermögen mitbringen. Aber das hat ja auch schon im Abi geholfen. diff --git a/fluter/platzanweisung.txt b/fluter/platzanweisung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d1834eeaddeb9c67d982f8b29f7bfe4a3b576265 --- /dev/null +++ b/fluter/platzanweisung.txt @@ -0,0 +1 @@ +Fair Play kann also ein politisches Signal setzen. Andererseits: Was hatten die Spieler getan, was nicht selbstverständlich ist für zwei Fußballteams? Die Grundsätze des Fair Play im Sport sind zwar ebenso wie die Definition der Menschenrechte ein Resultat der westlich-abendländischen Kultur, doch sie haben universelle Geltung. Fair Play bleibt, den Wucherungen und dem Wahnsinn des Leistungssports zum Trotz, überall eine Grundlage des Wettstreits – ob es dabei um Fußball oder Curling geht oder um die afghanische Form des Polospiels (bei dem eine tote Ziege ins Tor befördert werden muss). Fair Play ist eine innere Notwendigkeit des Sports.Einer englischen Definition zufolge ist Fair Play in erster Linie ein instinktives Verhalten im Spiel und weniger eine Haltung gegen-über den Regeln. Das klingt nach einer sehr zuversichtlichen Auslegung der menschlichen Natur. Andererseits verzichtet man ja auch im echten Leben nicht bloß deshalb darauf, seinen nervigen Nachbarn zu erschlagen, weil es das Strafgesetzbuch verbietet, sondern weil man ein zivilisierter Mensch ist. Jan Ullrich, mittlerweile moralisch fragwürdig geworden, hat damals instinktiv fair gehandelt, als er 2003 bei der Tour de France auf den unverschuldet gestürzten Konkurrenten Lance Armstrong wartete und dieser dann an ihm vorbeizog. Armstrong gewann die Tour.Selbstredend wird besonders in den Mannschaftssportarten ständig und mutwillig gegen Regeln verstoßen, das bedeutet aber nicht automatisch die Missachtung des Fair-Play-Gedankens. Die meisten Vergehen sind ja harmlose Verstöße. Die üblichen Fouls in Handball oder Fußball, die Rempeleien und auch die Prügeleien im Eishockey oder die Drängeleien im Motorrennsport – das sind Ordnungswidrigkeiten wie etwa das Falschparken, eine einkalkulierte Reibung im System. Hier unterscheiden sich Profi- und Laiensport auch gar nicht so wesentlich. Wenn das tolerable Limit überschritten und Fair Play als ethische Grundlage verletzt wird, dann ist das oftmals eine Frage der Gelegenheit und der spontanen Eingebung. Ein gutes Beispiel ist Diego Maradona, als er bei der WM 1986 im Viertelfinale den Ball mit der Hand ins englische Tor lenkte. Er führte zwar an, als "Hand Gottes" ein Instrument des Allmächtigen gewesen zu sein – doch in Wahrheit wollte er wohl nur den unverhofften Treffer nicht zurückgeben.Zur Verklärung des Themas – nach dem Motto "Früher, als das Fernsehen noch schwarz-weiß sendete und die Profis keine Millionen verdienten, war Sport noch sauber und fair" – gibt es im Übrigen keinen Grund. Es ist keine Frage der Zeit und ihres spezifischen Geistes, sondern vor allem eine Frage des Charakters, ob ein Sportler/Spieler Anstand zeigt und dafür auch bereit ist, auf einen Vorteil zu verzichten. Acht Jahre nach Maradona hat Bayern Münchens Verteidiger Thomas Helmer keinen guten Charakter offenbart, als er durch sein sogenanntes Phantomtor in die Geschichte einging. In der 24. Minute im Spiel gegen Nürnberg hatte Helmer eine Riesenchance verstolpert, er hatte den Ball gegen das Außennetz geschossen. Doch plötzlich brach unter seinen Mitspielern Jubel aus – Schiedsrichter Osmers hatte ein Tor erkannt und wies zum Anstoß. Anstatt zu gestehen, ließ Helmer sich feiern.Ohne ein prinzipiell geachtetes Fair Play, das steht fest, herrscht im Sport Anarchie – und dies nicht im Sinne einer paradiesischen Freiheit von Regeln und Zwängen. Sondern im Sinne von Chaos. diff --git a/fluter/playlist-elektronische-musik-suedamerika-matias-aguayo.txt b/fluter/playlist-elektronische-musik-suedamerika-matias-aguayo.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..da3d41dd0c9765dd2f2044f6dab00413d2d83660 --- /dev/null +++ b/fluter/playlist-elektronische-musik-suedamerika-matias-aguayo.txt @@ -0,0 +1,57 @@ +Mitte der 1980er-Jahre, während der Diktatur Augusto Pinochets in Chile, formierte sich diese Band, die damals im chilenischen Underground sehr umtriebig war und Widerstand in Form von Musik leistete, etwa mit Texten wie in dem Song "La música del general": "Keiner kann zur Musik des Generals tanzen, nichts im Hirn, nichts im Kühlschrank". Als sich die Gefahr für die Band in Santiago zuspitzte, beschloss sie nach einem Auftritt in Buenos Aires, nach Brasilien auszureisen. Leider gibt es nur zwei Aufnahmen von den Pinochet Boys – dennoch schrieben sie (elektronische) Musikgeschichte in Chile und bleiben Referenz, auch weil einige Mitglieder musikalisch aktiv blieben. Miguel Conejeros etwa mit seinem Projekt "Fiat 600", einem der ersten populären chilenischen elektronischen Musikprojekte, oder Sebastián Levine, der unter anderem auch bei der Band Electrodomésticos aktiv war. + + + + + +Die Mamba-Negra-Partys in São Paulo sind ziemlich legendär und werden von dem gleichnamigen Kollektiv veranstaltet. Das ist queer, divers, widerständig und pflegt einen skurrilen Humor.Und sie sehen sich in direkter Opposition zum rechtsextremen Präsidenten Brasiliens, Jair Bolsonaro, und seinen Vorstellungen von weißer, männlicher Hegemonie.Das Kollektiv versteht sich als ein Anlaufpunkt für AktivistInnen, für People of Colour. Aus den Mamba-Negra-Partys erwuchs das Projekt "Teto Preto", das bekannt ist für seine gejammten Auftritte, bei denen die Figur "Carneosso", verkörpert durch Teto-Preto-Mitglied Laura Díaz, eine zentrale performative Rolle spielt. In Brasilien gibt es gerade eine ganze Menge von KünstlerInnen und Kollektiven, die elektronische Musik jenseits von irgendwelchen Genrekriterien produzieren und dabei explizit politisch sind. + + + + + +Mit Avril Ceballos habe ich vor zehn Jahren ein großes Kollektiv gegründet, das zum größten Teil aus lateinamerikanischen KünstlerInnen besteht. Wir vernetzen Szenen aus Santiago, Buenos Aires, Medellín und vielen anderen Städten. Losgelegt haben wir mit Straßenpartys in Buenos Aires und Santiago. In Medellín haben wir Natalia Valencia, Gregorio Gómez (Gladkazuka), Sano, Byron Idarraga (Lord Byron Maiden) und andere lokale MusikerInnen bei den illegalen Raves des Kollektivs "Perro Negro" kennengelernt. Diese Raves sind eine Alternative zu den oft dem Drogenhandel nahestehenden Clubs, die das Geld für die internationalen DJs haben. Der Sound von "Perro Negro" war elektronisch, underground und sehr geprägt von Rhythmen, die offensichtlich nicht aus Europa rüberschwappten, sondern eher so klangen wie eben das Album "Rionegro", das wir dann gemeinsam aufgenommen haben. "Latino Body Music", wie Projektmitglied Sano sagen würde, die eben nicht "for export" produziert wurde. + + + + + +Valentina Montalvo aka Valesuchi kommt aus Santiago de Chile, lebt aber in Rio de Janeiro. Sie tourt gerade erfolgreich in aller Welt herum, ihre Base sind aber Partys in Rio, São Paulo und Santiago, wo sie an der Seite von allerlei queeren und feministischen Dance-Kollektiven die Soundsystems rockt. Für Valesuchi ist das Nachtleben politisch. Sie kritisiert große Festivals wie Dekmantel in den Niederlanden dafür, dass die zwar mit dem Versprechen kulturellen Austauschs zig Franchise-Veranstaltungen in Südamerika über die Bühne gebracht haben, umgekehrt aber keine südamerikanischen KünstlerInnen auf ihr Festival in Europa buchen. Die Kritik gab dem Ärger vieler SüdamerikanerInnen eine Stimme, die die oft unsensible Attitüde europäischer Promoter als eine Fortsetzung kolonialistischer Vorgehensweisen verstehen. Den Track "Nasty Woman" haben wir kurz nach der Wahl Donald Trumps aufgenommen. Darauf ist eine Rede vomWomen's March in Washingtonzu hören, mit dem Frauen einen Tag nach der Amtseinführung gegen den POTUS und seine Regierung protestierten. Den Track haben wir nie veröffentlicht, nur per Mail an befreundete DJs geschickt. Er verbreitete sich dann viral über den Globus, aufgelegt von DJs aller Couleur. + + + + + +Badsista ist eine sehr talentierte junge Producerin und als DJ Teil von "Bandidas", einem Kollektiv von weiblichen DJs, das Partys, Workshops und Gratis-DJ-Kurse veranstaltet – mit Fokus auf Frauen und benachteiligte Communitys. Dabei geht es auch darum, zu lernen, wie man mit wenig Equipment Musik produzieren kann, die richtig gut klingt. Badsista arbeitet gerne mit RapperInnen und Baile-Funk-SängerInnen wie etwa mit der Transgender-Künstlerin Linn Da Quebrada und ist für ihre euphorischen Uptempo-DJ-Sets bekannt. + + + + + +Montevideo ist entspannt, sympathisch und scheint immer ein bisschen leer zu sein. In Uruguay herrschen paradiesische Zustände im Vergleich zu anderen südamerikanischen Ländern, und im Gegensatz zu Chile ist hier das Gesundheits- und Bildungswesen gratis. Auch die sozialen Unterschiede sind weitaus weniger krass. Aus dieser netten Umgebung kommt Lechuga Zafiro, der sich in den letzten Jahren einen Namen in ganz Lateinamerika gemacht hat mit seinem speziellen Sound. + + + + + +Noch mal São Paulo. Hier lebt die Transgender-Künstlerin Linn Da Quebrada. Der in Europa eher als "Baile Funk" bekannte Funk Carioca ist ja normalerweise sehr heteronormativ – wird aber hier mit einer ganz anderen Botschaft unterwandert. Linn gibt sich kämpferisch für die Rechte ihrer Community und ist dabei durch und durch eloquent und poetisch. Was sie von sich gibt, klingt dann auch nicht nach dem üblichen Rap in Funk-Tracks, sondern mehr nach Spoken Word. Es gibt einige Dokumentationen über sie wie "Bixa Travesty", die ich empfehlen kann. + + + +Obwohl sie eigentlich aus Rosario kommt, habe ich mich entschieden, sie hier ein bisschen stellvertretend für das aktuelle Buenos Aires vorzustellen. Neben dem das Nachtleben der argentinischen Hauptstadt dominierenden schwulen DJ-Paar "DJs Pareja" ("DJ-Pärchen" wäre meine Übersetzung ins Deutsche), dem Elektropop-Duo "Ibiza Pareo" oder auch dem von Caro Stegmayr und Ismael Pinkler ins Leben gerufenen adrenalingeladenen Techno-Projekt "Carisma" gehört sie zum festen Bestandteil dieser so lebhaften Szene, die es irgendwie schafft, die permanenten Krisen und den andauernden Aufruhr in Argentinien zu überleben. Sie erfinden sich immer wieder neu, helfen sich gegenseitig beim Produzieren, veranstalten Kostümpartys, spielen auf LGBT-Demos, in Bars oder bei illegalen Raves, begleiten Theaterstücke und Performances musikalisch und sind dabei immer schillernd. Das Nachtleben in Buenos Aires ist Glamour ohne Geld. Geschmack kann man eben nicht kaufen. + + + + + +Carlos Reinoso, auch bekannt als Aye Aye, kommt aus Los Andes und ist eine Underground-Legende in Chile. Mittlerweile hat er einen Namen in ganz Lateinamerika, unter anderem wegen seines Radiopodcasts "La noche de los discos vivientes" (Die Nacht der lebenden Platten), bei dem er Seite an Seite mit seinem Kater Panchito Cabrera durch seine Schellackplattensammlung geht und die lateinamerikanische Musikgeschichte humorvoll neu erzählt. Sein musikalischer Aktivismus begann mit seiner Band "Mostro" und seinem obskuren Kassettenlabel "Horrible Registros". Die Opposition zu allem Etablierten und allen Moden zieht sich wie ein roter Faden durch seine Arbeit und sein Leben. Er zog weg von Santiago in die Hafenstadt Valparaíso, wo er Comics zeichnete, surreale Videos drehte und von präkolonialen Mythen erzählte. Heute lebt er in Mexiko-Stadt, wo er – natürlich begleitet von Panchito Cabrera – regelmäßig auftritt. + + + + + +Wenn es darum geht, in die Tiefen unserer Wahrnehmung zu tauchen, dann fällt mir sofort Lucrecia ein. Ich habe sie zum ersten Mal bei einem Auftritt im Planetarium von Montreal gesehen. Der Ort machte im Kontext ihres Auftritts so viel Sinn, dass ich sie gleich fragen musste, ob sie eigentlich immer in Planetarien spielen würde. Tut sie nicht. Wäre aber toll. Statt um den Kosmos geht es bei ihrer letzten Platte eher um das, was tief unter uns begraben liegt in der Erde. Ihr Hintergrund als Ingenieurin der Geotechnik spielt hier mit sowie die Vorstellung einer nicht linearen Wahrnehmung von Zeit. + + + + diff --git a/fluter/playlist-zum-tag-der-arbeit-klassenkampf-lieder.txt b/fluter/playlist-zum-tag-der-arbeit-klassenkampf-lieder.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cfe8a267289ffb77cd852e19948aae6bac5ef7db --- /dev/null +++ b/fluter/playlist-zum-tag-der-arbeit-klassenkampf-lieder.txt @@ -0,0 +1,59 @@ + + + + +Gunter Gabriel – Hey Boss, ich brauch mehr Geld (1974) +Es fängt scheinmutig an: "Ich hab immer den Mund gehalten, aber heute muss es raus: Hey Boss, ich brauch mehr Geld!" Leider nicht, weil der Arbeitgeber die Belegschaft mit Hungerlöhnen abspeist oder die sich als kämpferische Stimme den guten alten streitsüchtigen Wahl-Hamburger Günther Caspelherr aussuchte, um grundlegende Veränderungen in der Firma durchzusetzen. Nein, Männe selber braucht die Knatze, weil – kein Witz – sein Sohn inzwischen keine Zeitungen mehr austrägt. Und feiern will man ja auch mal wieder. Das lächerlich egoistische Stück ist ein Hohn auf jeden Solidaritätsgedanken in Arbeiterbewegungen. Und damit auch krüppeliger Teil der schlimmen Wahrheit, dass erst das Fressen und dann die Moral kommt. + + + + +The Beatles – A Hard Day's Night (1964) +Die damals schwer schuftende (Frisur, Girls, Karriere) Gruppe mit ihrer Interpretation, warum alles so scheiße am Tag und so geil in der Nacht ist. Zuhause wartet jemand voll sehnender Sucht - und man selber muss draußen arbeiten wie ein Hund: "When I'm home, everything seems to be right", twangtwang. Tja, spießiger kann man es kaum ausdrücken. Erst später haben auch diese vier Talente ihre Freiheit anders definiert und Luft an music and minds gelassen. Übrigens kam sechs Jahre danach Lennon mit dem mächtigen "Working Class Hero" und war so sozialkritisch, wie seither ihn alle erinnern. + + + + +Franz Joseph Degenhardt – Sacco und Vanzetti (1972) +Was oft untergeht: Ennio Morricone hat enorme Musik für viele italienische Arbeiterfilme und Sozialdramen komponiert, in denen die Kraft und das Elend der ausgebeuteten Klasse tränenziehend zusammenkommen. Der Maestro ist sehr gut bei chorälen Liedern oder in Kampfhymnen, die Revolutionen illustrieren. Sein bewegendes, zusammen mit Joan Baez komponiertes "Here's to You" hat Degenhardteingedeutschtund um einen historischen Kommentar erweitert, der dem Original eine erstaunliche Dringlichkeit gibt. Welches Schicksal die beiden amerikanischen Arbeiterführer und Anarchisten Sacco und Vanzetti ereilte, vergisst man dannnie wieder. Die Version von Degenhardt ist leider nicht bei Youtube. Daher hier Joan Baez. + + + + +Dackelblut – Auch Killer müssen waschen gehen (1995) +In dieser prächtigen, viel zu unbekannten Punk-Groteske ist alles drin zum Thema Arbeit: Lohnarbeit vs. Hausarbeit, Reproduktion, Geschlechterverhältnisse, Hymnenchöre. Worum es geht: Als Auftragsmörder ist ihmchen erfolgreich, als Hausmann aber eine faule Niete – der Streit mit der Alten ist da. Sie verlangt mehr: "Du kannst auch zuhause mal was machen, jetzt geht's in den Wäschekeller!" Der Song gibt allen Frauen die goldenen Worte an die gegerbten Hände "60 Grad, 90 Grad, 100 Grad, Pulver rein, Wasserhahn aufgedreht, so einfach kann das alles sein! Auch Killer müssen waschen gehen!" Macht indes auch jedem Typen Mut, wenn einen die Hausarbeit zu entmannen droht. + + + + +Robert Wyatt – Age of Self (1985) +Dieses einsame antikapitalistische Weihelied steht hier für die vielen, tragikschönen englischen Songs aus den 80er-Jahren, in denen die musikalische Linke des Landes die harten Thatcherjahre verarbeitete ("Ghost Town"der Specials,"Flag Day"der Housemartins, Style Council, Billy Bragg, Redskins etc). "Age of Self" wurde vom Sozialisten Wyatt ursprünglich im Jahr 1982 zur Unterstützung der englischen Minenarbeiter aufgenommen. Herauskommt aber zum Glück keine die Arbeiterklasse vereinigende Powerballade mit schlechter Melodie. Sondern eine lyrische Analyse getragen von der einsamsten Stimme der Welt und einer Orgel über einem halbmaschinellen Groove: "And it seems to me if we forget our roots and where we stand/The movement will disintegrate like castles built on sand". Ja, leider. + + + + +Deichkind – Arbeit nervt (2008) +Das moderne"Bella Ciao": Kaum spricht man den Titel aus, hat man den Groove dazu auf der Zunge. Arbeit nervt, dadatdaa, dadatdaa, dadatdaa. Wer heutzutage ermüdend lange vor dem Appelchen sitzen muss, dem geht das moderne Sich-selber-Ausbeuten eh leichter von der Hand, wenn man ab und zu die Deichkind-Säge macht. Alle eiern, alle feiern – sogar den Arbeitshass verlustigt man. Bis man sich selbst aus dem Arbeitskarussell entlässt: "Geh du da mal lieber ma hin für mich!" + + + + +Tennessee Ernie Ford – Sixteen Tons (1955) +Ein sehr gutes Beispiel dafür, wie aus einem kritischen, die Missstände hart anklagenden Realsong ein lockerer Schlager wird. In der ersten Version von Merle Travis, aufgenommen 1946, geht es um die schwere Plackerei in einer amerikanischen Bergbau-Mine. Die Sonne sieht man nicht mehr und für deine abgebauten 16 Tonnen bekommst du nichts als Wertmarken, die du nur ungünstig in den firmeneigenen Geschäften einlösen kannst – die Schuldenspirale beginnt. Tennessee Ernie Ford fügt der Klage durch Fingerschnippen die poppige Note hinzu und landet einen Millionenseller. Inzwischen ist der einst bittere Song in hunderten von Versionen weltweit entfremdet: Vielleicht am irrsten in Deutschland, wo Ralf Bendix 1956 daraus die Kleinkapitänshymne "Sie hieß Mary-Ann" machte. Aus der Grube hinaus auf See: ganz gute Karriere für ein Arbeiterlied. + + + + +Renate Fresow – Brot und Rosen (1978) +"Und wenn ein Leben mehr ist als nur Arbeit, Schweiß und Bauch, wollen wir mehr: gebt uns das Brot, doch gebt die Rosen auch." 20.000 Frauen kämpfen 1912 beim "Brot-und-Rosen-Streik" in Lawrence, Massachusetts für gerechten Lohn (Brot) und menschenwürdige Arbeits- und Lebensumgebung (Rosen). Bis heute ein ikonografischer Song. In internationalen Frauenbewegungen existieren – wie man bei der Recherche von Arbeiterliedern schmerzend erfahren muss – sackviele verkitschte Versionen: Das Genre ist wirklich anfällig für schlimmste Musik. Gefühle kriegen jedes Lied groß, aber auch klein. Eine schöne deutsche Chorversion ist diese hier: + + + + +K.I.Z. – Boom Boom Boom (2015) +Äh, das soll ein Arbeiterlied sein? Allerdings! Das ist "gelebte Volkskultur, die sich immer wieder an die zeitgenössischen Umstände anpasst und damit ständig selbst jung hält" – so lautet nämlich die Beschreibung der Deutschen UNESCO-Kommission für das immaterielle Kulturerbe von Arbeiterliedern. Voll erfüllt. Das Arbeiterlied beschreibe "das Leid aber auch die willensstarke Gegenkraft (...) durch die Zeit". Und wie heißt es bei K.I.Z: "Denkt ihr die Flüchtlinge sind in Partyboote gestiegen/Mit dem großen Traum im Park mit Drogen zu dealen?" + + +Gereon Klug betreibt den Plattenladen Hanseplatte in Hamburg. Er ist ein Großpoet der kleinen Form: Seine lustigen Newsletter haben eine so große Fanschar, dass aus ihnen das Buch"Briefe gegen den Mainstream"geworden ist. + +Titelbild: Homer Sykes/Getty Images diff --git a/fluter/pleasure-film-thyberg-interview-pornografie.txt b/fluter/pleasure-film-thyberg-interview-pornografie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..085bc7db6e28649f3c1e6a22395f7cc377d889ce --- /dev/null +++ b/fluter/pleasure-film-thyberg-interview-pornografie.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Wie genau hast du in "Pleasure" den weiblichen Blick umgesetzt? +Zum Beispiel, indem ich den Blick umkehre. Die Kamera nimmt oft die Perspektive der Hauptfigur Bella ein. Wir sehen den Mann hinter der Kamera, also das, was Bella sieht, wenn sie während eines Pornodrehs Sex hat. Im Porno dagegen sehen wir oft alles durch die Augen des Mannes. Der Zuschauer wird so unwillkürlich zu der Person, die die Frau fickt. Mein Film konzentriert sich dagegen auf weibliche Erfahrungen. Zum Beispiel, was Bella versteckt oder wie sie sich vorbereitet, um den männlichen Fantasien zu entsprechen. + + +Das klingt so, als wolltest du die Protagonistin Bella eigentlich nicht sexualisieren. Aber wie geht das mit einer Figur, die von ihrer Sexualisierung lebt? +Das geht nicht. In der Vorproduktion des Films dachte ich immer, wenn ihr Körper im Bild war: "Oh nein, das ist zu sexualisierend, das ist ein zu männlicher Blick." Irgendwann wurde mir klar, dass es nicht an der Kamera oder dem Licht lag. Ich selbst sexualisierte sie, ich war nicht in der Lage, sie ohne den männlichen Blick im Kopf anzusehen. Hätten wir sie nicht nackt gezeigt, hätten wir den weiblichen Körper zensiert und ihn für den männlichen Blick verantwortlich gemacht. Was der Film stattdessen will, ist, zu zeigen, wie Bella mit ihrer sexuellen Objektifizierung umgeht. Es ist ihre Entscheidung, sie schlüpft in die Rolle, ist gleichzeitig Subjekt und Objekt. Ihre Sexualisierung ist also eine bewusste Strategie – sie hat die Handlungsmacht dabei. +Abgesehen von der Hauptdarstellerin Sofia Kappel arbeitest du nur mit Darstellerinnen aus der Pornobranche. Wie schwer war es, sie für einen Film über das Business und seine Probleme zu finden? +Das war gar nicht schwer. Die Branche ist ja keine Einheit. Viele Menschen wollen die Probleme, die es dort gibt, lösen. Mein Ziel war es außerdem nicht, einzelne Personen zu kritisieren, sondern die Machtstrukturen in der Branche. Die gibt es aber überall. Sie sind bedingt durch Mechanismen wie denKapitalismusunddas Patriarchat. Die sind das Problem, nicht die Tatsache, dass Leute vor der Kamera Sex haben. +Warst du schon immer so liberal in Bezug auf Pornografie? +Nein, meine Einstellung hat sich total verändert. Als Teenager war ich eine Anti-Porno-Aktivistin. Pornografie bedeutete für mich damals nichts anderes als die Ausbeutung von Frauen. Aber ich habe meine Meinung geändert. Ich denke zwar immer noch, dass die meisten Pornos aus einer männlichen Perspektive erzählt sind und sich auf weibliche Unterwerfung und männliche Dominanz konzentrieren. Aber es gibt auchandere Arten von Pornos. Ich hoffe, dass ich künftig noch mehr davon sehe. + + +Was hat denn diesen Sinneswandel bewirkt? +Als Erstes habe ich verstanden, dass man Pornos nicht verbieten kann. Die Leute werden immer Pornos schauen. Ich schaue sie ja selbst. Sexuelle Objektivierung an sich ist außerdem nicht unbedingt schlecht. Wir wollen doch für unsere Partner Sexualobjekte sein. Und auch etwas aus männlicher Sicht zu zeigen ist ja nicht per se schlimm, genauso wenig wie die Darstellung von Dominanz. Das Problem ist eher, wie eindimensional das meist dargestellt wird. Und dass diejenigen, die für Pornos bezahlen, Männer sind und diejenigen, die den größten Teil der Pornos drehen, auch Männer sind. Junge Menschen werden sexuell durch Pornos aufgeklärt, die oft sehr frauenfeindlich sind. Darin sind männliche Dominanz und weibliche Unterwerfung überrepräsentiert. Wenn das alle ständig sehen, hat das natürlich negative Folgen. +Im Film gibt es sehr explizite Sexszenen. Warum war dir das wichtig? +Ich finde nicht, dass der Film explizit ist. "Pleasure" zeigt keinen echten Sex, keine Penetration, wir sehen kaum Vaginas. Aber ich zeige steife Penisse. Mit denen arbeitet die Hauptfigur Bella einfach. Das zu verstecken würde bedeuten, ihrer Geschichte nicht gerecht zu werden. Irgendwie provoziert es mich, dass es so ein großes Ding sein soll, Penisse zu zeigen, aber gleichzeitig sehen wir überall nackte Frauen. Der Film entlarvt das. Es gehört auch zum männlichen Blick, dass wir es nicht gewohnt sind, Männer als Objekte zu betrachten. Wer in ein Kunstmuseum geht, sieht gefühlt zu 90 Prozent nackte Frauen. +Freundschaft spielt eine sehr große Rolle in "Pleasure". Weshalb? +Freundschaft ist die wichtigste Strategie unter Frauen, um mit dem Patriarchat umzugehen. Es geht darum, eigene Netzwerke zu schaffen. Denn genau das ist das Patriarchat – ein sehr effizientes männliches Netzwerk. MitOnlyFansund Social Media verändert sich gerade viel, weil sich immer mehr Darstellerinnen dort selbst vermarkten können. Dazu beigetragen hat auch, dass Pornostudios wegen der Corona-Pandemie wenig gedreht haben. Die Darstellerinnen erwirtschaften den Gewinn vermehrt selbst. Je mehr Macht Frauen bekommen, desto mehr fangen sie an, zusammenzuarbeiten und sich gegenseitig zu helfen. Und es ist eine sehr positive Entwicklung, dass sie, anstatt miteinander zu konkurrieren, sich gegenseitig liken, teilen und empfehlen. + +"Pleasure" ist ab 18 – und läuft ab sofort in den deutschen Kinos. diff --git a/fluter/podcast-ortskontrollfahrt-ostdeutschland.txt b/fluter/podcast-ortskontrollfahrt-ostdeutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3d0db16b7604f62f7a2383213385e7d99ba9e657 --- /dev/null +++ b/fluter/podcast-ortskontrollfahrt-ostdeutschland.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Hört man die sieben Folgen von "OKF – Ortskontrollfahrt", die beim Schreiben dieser Rezension verfügbar waren, stellt sich immer wieder die Frage: Was soll das alles? +"Was ist richtig geil, was nervt, und ist Ostdeutschland wirklich so Lostdeutschland?" Darum soll es im vom rbb-Jugendradio Fritz und der dpa produzierten Podcast gehen, wie Blaudszun und Springfeld im Intro ankündigen. Dafür sprechen sie mit prominenten Gästen aus Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen – vom Fußballspieler Felix Kroos bis zur Streamerin JenNyan – und nehmen sie mit auf eine OKF, eine Ortskontrollfahrt, was so viel heißt wie: einfach ein bisschen durch die Stadt heizen. Mit dem Moped, mit dem getunten Auto, vorbei an den immer gleichen "Hotspots", wo die anderen jungen Menschen abhängen, weil es sonst nichts zu tun gibt. +Die Gäste sprechen also mit Springfeld und Blaudszun über wichtige Orte ihrer Jugend. Großraumdiskos, Fußballplätze, Dönerimbisse. Und schon da fällt auf: Spezifisch ostdeutsch ist an diesen Orten nichts. Die Jugend versammelt sich am Skatepark oder vorm einzigen Kebab-Haus der Stadt im Ruhrgebiet und in Bayern genauso wie im Brandenburger Hinterland. Wo nun die Unterschiede liegen könnten, darüber wird leider kaum gesprochen. +Die beiden Hosts verpassen es, an den richtigen Stellen nachzuhaken. Denn die Geschichten der Gäste haben durchaus das Potenzial, politische Fragen zu verhandeln, die heute nicht nur, aber auch in den neuen Bundesländern wichtig sind. Zum Beispiel, wenn der Pferdeinfluencer Patrick Thomalla kurz sein Aufwachsen als homosexueller Jugendlicher in der ostdeutschen Provinz anreißt oder die Streamerin JenNyan überAlkoholismus im Elternhausspricht. Würde der Podcast seiner Ausgangsfrage treu bleiben, würde er diesen Spuren nachgehen und erforschen: Was daran ist ostdeutsch, was ein gesamtdeutsches Problem, wie ist die Jugend im Osten damit umgegangen? +Doch Blaudszun und Springfeld haben sich in ihrem eigenen Format verrannt. Sie halten sich starr an ihr Skript und fragen stattdessen immer wieder nach Essen, Feiern, Musik und Saufen. Sie schwelgen in Nostalgie und sind, so scheint es, auf der Suche nach lustigen und vor allem positiven Storys von früher. Doch sich "Berentzen Saurer Apfel" reinzusaufen und vor die Dorfdisko zu kotzen ist eben nicht gerade die interessanteste Geschichte. Die beiden Hosts sprechen dann oft über ihre eigenen Suff-Erfahrungen, und schon sind wieder zehn Minuten um, ohne dass inhaltlich viel passiert ist. +Um nicht falsch verstanden zu werden: Der Ansatz,Gegenerzählungen zum Klischee des abgehängten Ostens zu etablieren, ist wichtig. Besonders in einer Zeit, in der das mediale Bild vor allem von negativen Nachrichten bestimmt wird. Aber dieses Konzept geht nur auf, wenn man auch versteht, was diese Geschichten konkret mit Ostdeutschland zu tun haben. Oder mit welchen spezifischen Problemen die Gäste zu kämpfen hatten. Diese Brücke bauen Blaudszun und Springfeld aber viel zu selten. +Die gute Nachricht ist:In der siebten Folgepassiert doch noch was. Die Journalistin Nhi Le erzählt vom Aufwachsen in einer thüringischen Kleinstadt. Ihre Eltern kamenals Vertragsarbeiter:innen aus Vietnam in die DDRund eröffneten nach der Wende aus Mangel an Alternativen ein "China"-Restaurant. Chinesisch deswegen, weil die vietnamesische Küche für Deutsche damals weniger zugänglich schien und es ohnehin schwer war, an die richtigen Zutaten zu kommen. Das sei damals gängige Praxis im gesamten Osten gewesen. Diese Geschichte eröffnet viel: Sie lässt einen nachdenken über Klischees, rassistische Zuschreibungen in Ostdeutschland und den Umgang mit ehemaligen Vertragsarbeiter:innen. Nette nostalgische Geschichten über ihre Zeit als Chorsängerin in Thüringen und Tage mit viel Kiba und Gurkensushi erzählt Nhi Le zusätzlich dann übrigens trotzdem. + +"OKF – Ortskontrollfahrt" ist unter anderem in derARD-Audiothekzu hören. + +Titelbild: rbb/Katharina Behling diff --git a/fluter/podcast-spotify-realitaeterinnen-interview.txt b/fluter/podcast-spotify-realitaeterinnen-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c805a197f096133c061c98fee4e4c33621415e08 --- /dev/null +++ b/fluter/podcast-spotify-realitaeterinnen-interview.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +fluter.de: Seit Februar hostet ihr euren Podcast. Gibt es nicht genug Laberpodcasts? +Lucia: Ja, aber wir machen auch keinen Podcast über Themen, mit denen man sich easy-peasy mal auseinandersetzt – so wie bei "Laberpodcasts", wo man einfach über irgendwas redet. Außerdem stellen wir uns selbst nicht in den Vordergrund und lassen Leute aus ihrer Perspektive erzählen. +Gizem: Wir beschäftigen uns weitgehend mit gesellschaftlichen Themen, meistens aber aus einer Perspektive, die im Mainstream weniger vorkommt. +Von Hip-Hop-Partys zum gesellschaftlich-politischen Podcast. Wie kommt's? +G: Ich komme aus der politischen Bildungsarbeit, habe Politikwissenschaft studiert und mich eh viel mit diesen Themen beschäftigt. Lucia kommt zwar eher aus dem kreativen Bereich, Tanz und Kunst … +L: … aber ich interessiere mich fürstrukturelle Ungleichheiten. Ich schnappe viel auf und komme schnell mit Leuten ins Gespräch. Kürzlich erzählte mir zum Beispiel jemand von Seattle, wo dieObdachlosigkeithoch sei, weil Amazon alles aufgekauft habe. Solchen Storys gehe ich dann gerne auf den Grund. +G: Gespräche dieser Art hatten wir durch unsere Partys mit ganz unterschiedlichen Menschen. Das gibt einem Impulse, sodass man mehr erfahren möchte. So ist die Idee entstanden. +L: Man hört zum Beispiel, jemand ist polyamorös, und fragt: "Wie sieht das aus?" Die Idee, einen Podcast zu machen, war schon da, und genau zur richtigen Zeit kam Spotify auf uns zu. +Es geht euch darum, "marginalisierten Identitäten" eine Plattform zu geben, also gesellschaftlich an den Rand gedrängten Gruppen. Dazu ladet ihr in jeder Folge zwei Gäste ein. Was wollt ihr damit erreichen? +L: Zunächst wollen wir möglichst zugänglich sein und geben daher unser Bestes, die Show so niedrigschwellig wie möglich zu machen. Erst gestern fragte eine Person, was "marginalisiert" eigentlich bedeutet. Das war ein guter Reminder: Wir schmeißen mit solchen Wörtern manchmal zu selbstverständlich um uns. Im Grunde geht es darum, für verschiedene Lebensrealitäten zu sensibilisieren – und zu sehen,dass Randgruppen keine homogene Masse bilden. +G: Angehörige einer Randgruppe werden von der Mehrheitsgesellschaft schnell zu einem Block gemacht, obwohl man auch untereinander ganz unterschiedliche Haltungen vertritt. Mit nur zwei Gästen können wir natürlich nicht repräsentativ sein, weil sie nicht für eine ganze Gruppe sprechen können. Es sind individuelle Perspektiven, aber vielleicht nehmen unsere Gäste unseren Zuhörern die Berührungsängste zu bestimmten Themen und Gruppen. +Nach welchen Kriterien sucht ihr Gäste aus? +G: Wir schauen zuerst in unserem Umfeld: Wen kennen wir, der sich zu diesem oder jenem Thema äußern möchte? Und wer hat eine andere Perspektive und einen empowernden Spin? +Was ist ein "empowernder Spin"? +G: Es ist ein Anspruch, den ich zumindest habe: selbst bei schwierigen Themen nach einem Lichtblick zu schauen, damit wir Zuhörer*innen was mit auf den Weg geben können,wie sie als Einzelne ihr Handeln reflektieren und verbessern können. Das war uns zum Beispiel bei der Sexarbeiter*innen-Folge wichtig. +Zu der Folge habt ihr Sara, ein Erotikmodel, und Noa, eine Person,die gerne und selbstbestimmt mit Sexarbeit Geld verdient, eingeladen. +L: Wir wollten kein Gespräch, das Sexarbeiter*innen nur in einer Opferrolle zeigt. Uns war wichtig: Es gibt Leute, die entscheiden sich für diesen Weg, und deswegen sollten wir sie nicht ausgrenzen oder stigmatisieren. +G: Sexarbeiter*innen werden ja sogar in feministischen Bewegungen ausgegrenzt. Da gibt es die sogenannten SWERFs(Sex Worker Exclusionary Radical Feminists), die der Ansicht sind: Wenn du Sexarbeiterin bist, dann kannst du nicht feministisch sein. +Deutschland hat ein Gesetz, das Prostituierte schützen soll.Tut es aber nicht, sagt Mimi, die Sex für Geld anbietet +Anders als die beiden Gäste verrichtet die große Mehrheit der Frauen Sexarbeit weniger freiwillig und unter prekären Bedingungen. Wäre diese Perspektive nicht wichtiger gewesen? +G: Diesem Narrativ wird schon andernorts viel Raum gegeben. Ich glaube, wenn es diese Perspektive schon zuhauf gibt, ist es umso wichtiger, dass man andere Sichtweisen abbildet. +In eurem Podcastgeht es oft um Identitätsfragen. Ihr fragt: Ist dieMännlichkeitin der Krise? Denkt der Feminismus auchTrans*Frauenmit? Wenn es euch um "marginalisierte Perspektiven" geht, sollten dann nicht auch Menschen, die kein Geld haben, eine größere Rolle spielen? +L: Ja, wir wollen mit noch mehr Leuten reden, die diese Erfahrung machen. +G: Deswegen planen wir eine Folge zu Obdachlosigkeit und wollen mit Menschen reden, die das selbst durchlebt haben. +L: An dem Thema erkennt man übrigens gut, worum es uns geht. Ich glaube, viele ertappen sich selbst dabei, dass sie über Obdachlose denken: "Wie kann man so enden!" Es geht darum, ein bisschen Empathie herzustellen. Wir leben in einer Zeit, in der alle auf sich selbst fokussiert sind. Jeder will was ganz Besonderes sein und was ganz Besonderes machen. Wir wollen das Gefühl herstellen, dass wir eigentlich alle im selben Boot sitzen. Am Ende sind wir alle Menschen, die irgendwie miteinander verbunden sind. + +Der Podcast "Realitäter*innen" ist seit Februarauf Spotify zu hören + +Titelbild: Marlen Stahlhuth diff --git a/fluter/podcast-terror-in-afghanistan.txt b/fluter/podcast-terror-in-afghanistan.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..64f9e5914f1f03e63b6ed9a092180981afe118ff --- /dev/null +++ b/fluter/podcast-terror-in-afghanistan.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +In den sechs Folgen des Podcasts porträtieren Ronja von Wurmb-Seibel und Niklas Schenck Menschen, die diesen Anschlag der Taliban überlebt haben. Da ist zum Beispiel die junge Malerin Faiq Sultanani. Sie ist in den Minuten nach der Explosion wie gelähmt. Denkt, wie viele andere zunächst, der Anschlag sei Teil der Inszenierung. Eine Frau aus dem Sicherheitsteam hatte sie zuvor am Eingang gebeten, ihre kleine Tochter, die das Stück so gerne sehen wollte, mit in den Saal zu nehmen. Doch Sultanani hat das Kind aus den Augen verloren und macht sich schwere Vorwürfe. Bis heute weiß sie nicht, ob das Kind überlebt hat. Während sie ihre Geschichte erzählt, bricht sie immer wieder in Tränen aus. +Gulab Bamik stand am Abend des Anschlags als Schauspieler auf der Bühne. Nach der Tat kann er seinen besten Freund nicht finden. Er rennt zurück in den Saal – gerät in Panik. Als sein Freund seinen schweren Verletzungen kurze Zeit später im Krankenhaus erliegt, erfüllt ihn eine unfassbare Leere. "Alles in meinem Leben ist still geworden. Vor allem mein Leben als Künstler." Bamik hält den Schmerz nicht aus und beschließt, dass er nie wieder Theater spielen will. +Bamik und Sultanani vergessen nach dem Anschlag ständig irgendwas. Sie können sich nicht an Gespräche erinnern, die sie gerade geführt haben. Sie verpassen Verabredungen. Ihr Zeitgefühl gerät durcheinander, und sie haben mit Schwindelanfällen zu kämpfen. +Für die islamistischeTaliban-Bewegungwidersprechen Musik, Theater oder Kunst den Lehren der Scharia. Während ihrer fünfjährigen Terrorherrschaft von 1996 bis 2001 waren Kino, Fernsehen, Theater, Musik und Tanz in Afghanistan verboten. Seit einigen Jahren sind die Taliban erneut auf dem Vormarsch in Afghanistan undgewinnen an Stärke. Derzeit beherrscht die Regierung weniger als die Hälfte der Bezirke des Landes.Etwa ein Drittel sind laut Militärangaben umkämpft. +In der ersten Folge des Podcasts gibt es ungefähr bei der Hälfte der Folgen einen abrupten Szenenwechsel. Nach den dramatischen Schilderungen aus dem Theater sprechen Schenck und Wurmb-Seibel plötzlich über ihre eigene Angst. Die beiden sollten am Abend des Anschlags eigentlich selbst im Publikum sitzen. Sie lebten damals als Auslandskorrespondenten in Kabul. Facettenartig berichten sie im Podcast von ihrer Zeit in Kabul, aber auch von Ängsten, die sie bereits ihr gesamtes Leben begleiten. Von Panikattacken, Bindungsängsten oder der Angst vor dem Tod. Sehr detailliert erzählt Wurmb-Seibel über ihre Angst, so zu werden wie ihre Mutter: "Es gibt eine schwarze Stelle über meinem Herzen, die brennt." +Nach der ersten Intervention der beiden wird man als Zuhörerin kurz stutzig. Rausgerissen aus der Szenerie aus Kabul und rein in die Gedankenwelt zweier Journalisten aus Deutschland. Doch das funktioniert erstaunlicherweise sehr gut. Schenck und Wurmb-Seibel nehmen die Reflexionen ihrer Protagonist*innen um Trauer und Angst zum Anlass, in ihre tiefsten persönlichen Abgründe zu blicken. So spinnen sie eine Geschichte, die schnell über die Schrecken des Terrors hinausgeht und alltägliche Ängste verhandelt. +Die Berichte von Sultanani, Bamik und den anderen Protagonist*innen der Serie sind zum Teil extrem traurig und bedrückend. Doch so viel es um Trauer, um Verlust und Aufarbeitung geht, so viel geht es auch darum, der Angst zu trotzen. Sultanani, die monatelang nicht malen kann, schafft es schließlich, ihre Trauer in ihren Bildern zu verarbeiten, und der Schauspieler Bamik findet eine neue Zukunft als Schauspieler in Deutschland und sagt: "Wenn wir still bleiben, dann sterben wir." +Das Land zu verlassen kommt nicht für alle infrage. Viele der Künstler und Künstlerinnen wollen den Taliban im Land trotzen und weitermachen. Dabei macht die Stimme der berühmten afghanischen Schauspielerin und feministischen Aktivistin Leena Alam Mut. Sie ist bekannt aus etlichen Fernsehfilmen, in denen sie starke, emanzipierte Frauen spielt . Auch sie war am Abend des Attentats im Theater. Für sie war das Theater in Kabul einer der wenigen Orte, an denen sie sich frei fühlt. Und doch macht sie weiter, lässt sich nicht abschrecken von anonymen Anrufen und Hassmails. "Wir sind so eine kleine Community von Theaterschauspielern und Filmemachern in diesem Land", sagt Leena Alam in der dritten Folge, "wenn wir jetzt aufhören, was passiert dann mit dieser Kultur?" +Titelfoto: Haider Yasa / picture alliance / AP Photo diff --git a/fluter/polen-frauen-strajk-kobiet.txt b/fluter/polen-frauen-strajk-kobiet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f88ed2a791f555ad61d0a0c3d208e1822dbf3b43 --- /dev/null +++ b/fluter/polen-frauen-strajk-kobiet.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Das Symbol ihres Kampfes ist ein roter Blitz. Die Mitglieder des "Ogólnopolski Strajk Kobiet", des Netzwerks "Streik aller polnischen Frauen", malen ihn auf ihre Plakate, drucken ihn auf Fahnen und Masken oder zeichnen ihn sich ins Gesicht wie David Bowie. Die Bewegung entstand 2016, als die 2015 an die Macht gekommene PiS-Regierung einen Gesetzentwurf durchbringen wollte,der das Abtreibungsverbot noch weiter verschärft hätte. Fast 100.000 Menschen gingen dagegen auf die Straße, das Parlament ließ den Plan fallen. +Als 2020 Polens Verfassungsgericht urteilte, Schwangerschaftsabbrüche im Falle einer schweren Fehlbildung des Fötus zu verbieten und nur noch nach Vergewaltigung, Inzest oder bei Lebensgefahr für die Schwangere zuzulassen, folgten erneut Demonstrationen. Doch diesmal wurde aus dem Urteil ein Gesetz. Seither haben vor allem die Fälle von sechs Frauen für weitere Proteste gesorgt, denn sie sind mit einem kranken oder toten Fötus im Bauch an Blutvergiftung gestorben. Abtreibungen hätten ihre Leben retten können, doch die Ärzte weigerten sich oder warteten aus Angst vor einer Anzeige ab. Immer wiedertrieben diese Todesfälle Tausende Frauen auf die Straße. +"Was mich antreibt, ist Wut", sagt Anna Maziarska. Als der Protest im Oktober 2020 aufflammte, ging sie noch zur Schule. Tagsüber lernte sie Mathe und Englisch, abends blockierte sie Straßen, sagt sie. Sie trat einer Arbeitsgruppe des "Strajk Kobiet" bei, die die sexuelle und zivilgesellschaftliche Bildung in Polen verbessern will. Zwischen ihren Abi-Klausuren eilte sie zu einer Pressekonferenz, um eine Untersuchung vorzustellen, die zeigt, wie wenig Schüler:innen über ihre Körper, Sex und ihre Rechte lernen. Mit 19 wurde sie als Mitglied für den Frauenrat, der die Stadtregierung von Warschau berät, ausgewählt. + +Erst Demonstrationen auf der Straße, dann feministische Lobbyarbeit: Wie Anna Maziarska selbst hat sich auch der Protest in Polen weiterentwickelt. "2016 und 2020 war der Protest geprägt von wütenden Emotionen", sagt Magdalena Muszel, Soziologin an der Universität in Danzig. Ausdruck dafür seien Slogans wie "Tojestwojna" ("Dies ist Krieg!") oder "Wypierdalać" ("Verpisst euch!") gewesen. "Das trieb den Protest auf der Straße gut an, war aber nicht anschlussfähig genug, um die Breite der Gesellschaft für politische Ziele zu gewinnen." +Was also haben die Frauen des "Strajk Kobiet" verändert, um diese Breite zu erreichen? Ihre Sprache, sagt Magdalena Muszel – weniger Wut, mehr sachliche Aufklärung dazu, dass der Tod von Schwangeren verhindert werden könne und es weiterhin jährlich Abtreibungen gibt, nur eben unter unsicheren Umständen oder im Ausland. "So haben sie versucht, liberale Politiker und Medien, aber auch neutral eingestellte Stiftungen und Forschende auf ihre Seite zu ziehen", sagt Muszel. Mit Erfolg, findet sie. +Grzegorz Makowski ist ebenfalls Soziologe und Mitarbeiter der Stefan-Batory-Stiftung, einer NGO in Warschau. Er hat die Entwicklung der polnischen Zivilgesellschaft über die letzten Jahrzehnte erforscht. "Im kommunistischen Polen gab es keine Proteste und auch danach nur vereinzelt von Polizei, Stahlarbeitern oder Krankenschwestern und fast nur in Großstädten", sagt er. Der Erfolg der Frauen sei es, die konservativ geprägten Mittel- und Kleinstädte mobilisiert zu haben. +Der liberale Spitzenkandidat der Opposition, Donald Tusk, machte reproduktive Rechte zu einem seiner Hauptthemen. Er forderte legale Abtreibungen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche, so wie sie laut einer Umfrage zu diesem Zeitpunkt eine Mehrheit in Polen befürwortete. Hunderttausende folgten seinem Aufruf zur größten Demonstration im Land seit 1989. In den Monaten vor der Parlamentswahl 2023 riefen NGOs gezielt Frauen auf, zur Wahl zu gehen, um die Demokratie zu stärken. +In Umfragen schien das zunächst keinen Effekt zu haben, doch dann kam der Wahltag. 74,7 Prozent der Frauen wählten – mehr als je zuvor seit 1989 und mehr als die Männer mit 73,1 Prozent. Und sie wählten liberaler. Die PiS verlor gegen das oppositionelle Bündnis um Tusk, das ab jetzt regiert. Er versprach 100 Maßnahmen in den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit. +In Polen werden sowohl das Parlament als auch der Präsident in zwei verschiedenen Wahlen direkt vom Volk gewählt. Deshalb kann zwar das Parlament unter Tusk liberal-progressiv sein, Staatspräsident bleibt aber bis zur Präsidentenwahl im Sommer 2025 der rechtskonservative Duda. +Anna Maziarska ist pessimistisch wegen der verfahrenen Situation: Eine Partei der Regierungskoalition unter Tusk, der christlich-konservative "Dritte Weg", ist gegen ein liberales Abtreibungsrecht. Zwar sind nun vier Gesetzesvorschläge in der zweiten Lesung im Parlament. Doch selbst wenn sich die Regierung auf einen Vorschlag einigt, könnte er an Andrzej Duda scheitern. Der Staatspräsident hat schon angekündigt, kein neues Abtreibungsrecht zu unterschreiben. Er hat das Recht, Gesetze zurückzuweisen. Mit einer Dreifünftelmehrheit vom Parlament könnte er allerdings überstimmt werden. +"Die Lage der Frauenrechtsbewegung ist fast schlechter als vor der Wahl", sagt die Soziologin Magdalena Muszel. Es herrsche politischer Stillstand, aber die Frauen haben den Sieg der liberalen Regierung ermöglicht und können sie kaum so attackieren wie die PiS. Doch die Geduld schwindet. Nach dem Tod einer 25-Jährigen nach einer brutalen Vergewaltigung mitten in Warschau begannen im März 2024 wieder Proteste. +Seit den Protesten von Anna Maziarska und den Frauen des "Strajk Kobiet" kam es zu Veränderungen – und zwar von unten. So existieren in Polen mittlerweile 51 Frauenräte, die auch in Kleinstädten und Dörfern versuchen, Einfluss auf die Politik zu nehmen. 2020 waren es noch vier, sagt die Soziologin Muszel. Bei den Kommunalwahlen Anfang April 2024 traten mehr junge Frauen an als je zuvor. Auch Maziarska wurde gefragt, ob sie nicht in die Politik gehen möchte, sie lehnte ab. "Der Kampf um Frauenrechte ist ein Marathon, für den wir eine starke, gebildete Zivilgesellschaft brauchen", sagt sie. Daran wolle sie mitarbeiten. diff --git a/fluter/polen-neue-atomkraftwerke-gruende.txt b/fluter/polen-neue-atomkraftwerke-gruende.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/polen-wahl-pis-2019.txt b/fluter/polen-wahl-pis-2019.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d5a41e3eec1ddf9ef31ea104106df20066fe385d --- /dev/null +++ b/fluter/polen-wahl-pis-2019.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Das führte zu landesweiten Protestenund einem Streit zwischen Polen und der EU-Kommission, die die Unabhängigkeit der polnischen Justiz gefährdet sah und mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen einläutete. Einige der Reformen musste die Regierung in Warschau nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zurücknehmen. Das bedeutet aber nicht, dass die PiS vor weiteren Reformen zurückschreckt: Bei einem Wahlerfolg will sie den – ihrer Ansicht nach notwendigen – "Dobra zmiana" ("Guten Wandel") Polens vollenden. + + +In Polen wie im Ausland wird meist von der PiS-Regierung gesprochen. Das stimmt nicht ganz: Offiziell regiert in Polen ein Bündnis aus der PiS und den kleinen rechtskonservativen Parteien Solidarna Polska (Solidarisches Polen) und Porozumienie (Verständigung). Die dominierende Kraft in diesem Bündnis ist aber die 2001 gegründete PiS. Sie stellt die meisten Minister:innen, den Regierungschef Mateusz Morawiecki und auch den "starken Mann" Polens: PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński. Formal ist der zwar ein gewöhnlicher Abgeordneter, faktisch gibt er jedoch den Kurs der Regierung vor. + + +Vor der Wahl am Sonntaghetzte die Regierung noch einmal kräftig gegen die "LGBT-Ideologie". Doch die queere Szene wehrt sich – wie unser Film aus Polen zeigt. (Du sprichst kein Polnisch? Falls dein Browser den Film in der Originalfassung abspielt: einfach unten rechts auf "Untertitel" klicken!) + +Die wichtigste Oppositionspartei ist die Bürgerplattform (PO), die ebenfalls 2001 gegründet wurde. Ihr bekanntester Politiker ist Donald Tusk,der noch EU-Ratspräsident ist. Bis 2015 regierte die konservative PO gemeinsam mit der Bauernpartei PSL. Bei diesen Wahlen tritt sie in einem Wahlbündnis mit der liberalen Nowoczesna (Moderne) und den Grünen an. +Auch die Linke und die Sozialdemokraten Polens wollen in einem Bündnis ("Lewica") zurück ins Parlament. Es setzt sich zusammen aus der sozialdemokratischen SLD, die seit 1989 selbst mehrmals an der Regierung beteiligt war, der neuen Partei Wiosna (Frühling) sowie der kleinen linken Partei Razem (Gemeinsam). Das wohl bekannteste Gesicht des Bündnisses istRobert Biedroń, der erste polnische Politiker, der sich offen zu seiner Homosexualität bekannte. +Als Außenseiter bei der Wahl gilt die Wahlkoalition aus der Bauernpartei PSL und der Kukiz'15, der Protestpartei des Rockmusikers Paweł Kukiz. Mit der Konfederacja (Konföderation) tritt außerdem eine neue, größtenteilsrechtsradikale*Koalition aus Abtreibungsgegner:innen, Nationalist:innen und Anti-EU-Politiker:innen an. + + +Die Justizreform und der Umbau der öffentlich-rechtlichen Medien haben polarisiert, spielen derzeit aber kaum noch eine Rolle. Die Parteien versuchen, mit sozialen Versprechen zu punkten. Allen voran die PiS: Sie kündigte für die kommende Amtszeit den Ausbau ihres Kindergeldprogramms und die Anhebung des Mindestlohnes auf 4.000 Złoty (umgerechnet rund 1.000 Euro) an. Seit 2015 hat sie bereits das Rentenalter von 67 auf 65 Jahre herabgesetzt und die Einkommenssteuer für Arbeitnehmer unter 26 Jahren abgeschafft. In einem Land, das seine Bürger:innen bis 2015 kaum sozial abgesichert hat, kommen diese Versprechen gut an. Kritiker werfen der PiS allerdings vor, sie kaufe sich mit der Sozialpolitik die Stimmen – und akquiriere so auch Wähler:innen, die sich weltanschaulich gar nicht mit der PiS identifizieren. + + +Laut einer am Donnerstag veröffentlichten Prognose könnte die PiS am Sonntag über 42 Prozent der Stimmen erhalten. Das wären fast doppelt so viele wie für das größte Oppositionsbündnis KO. Die PiS könnte also weiter allein regieren. Gerade der Zuspruch der jungen Wählerinnen und Wähler stimmt die Regierung in Warschau zuversichtlich: Bei den Europawahlen im Mai wurde die PiS mit fast 30 Prozent die stärkste Partei in der Wählergruppe der 18- bis 29-Jährigen. Ernüchternd war deren Wahlbeteiligung von knapp 30 Prozent. Damit hat dieEuropawahleinen Trend in Polen bestätigt: Die Jungen wählen entweder gar nicht oder rechts. Mit 18 Prozent war die rechtsradikale Konföderation damals die drittstärkste Gruppierung unter den jungen Wählerinnen und Wählern in Polen. + +*Wir haben diese Stellen im Text nachträglich korrigiert: Im ersten Absatz war zunächst von den ersten "freien" Wahlen 1989 die Rede –die aber allenfalls halbdemokratische waren(65 Prozent der Sitze waren damals noch der Vereinigten Arbeiterpartei zugesichert). Außerdem wurde die Konfederacja zunächst als "rechtsextrem" bezeichnet. Während einzelne Gruppierungen innerhalb der Koalition rechtsextrem auftreten, ist sie insgesamt alsrechtsradikaleinzuordnen. + diff --git a/fluter/political-correctness-im-kabarett.txt b/fluter/political-correctness-im-kabarett.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0c6f002405c6a5ac865d75f69cb4bb23dec48e16 --- /dev/null +++ b/fluter/political-correctness-im-kabarett.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Meine letzte Show hieß "Über alles". Darin habe ich über alles gesprochen, was mich gerade beschäftigt. Oft sind das Themen, die zwar wichtig sind, aber von der Öffentlichkeit gerne unter den Teppich gekehrt werden. Warum sprechen alle überMissbrauch durch die Terrormiliz IS, aber kaum einer über 500Missbrauchsfälle bei den Regensburger Domspatzen? 500 Kinder, die von Geistlichen geschlagen oder sexuell missbraucht wurden? Das sind so Fragen, die man sich als Comedian halt stellt und dann bespricht. Im besten Fall ist das Ganze lustig, eine große Rolle spielt der sogenannteComic Relief. Wenn ich zum Beispiel sage, man solle pädophile Straftäter kennzeichnen, etwa mit einem Kreuz und einem Priestergewand, dann hat das Lachen darüber unter Umständen eine Art heilende Wirkung. Danach ist es leichter, über die Sache zu reden. +Ich habe keine Angst, Probleme zu verharmlosen, nur weil ich darüber lache. Wer bin ich denn, dass ich diese Macht hätte? Die wahre Gefahr geht meiner Meinung nach von der Gesellschaft aus, die tatsächlich die Würde der Menschen angreift. Der Missstand ist nicht, dass ich über sexuellen Missbrauch Witze mache, sondern dass es sexuellen Missbrauch gibt. Wenn mich mal wieder irgendwer deshalb schimpft, denke ich mir nur: Lasst doch den Komiker in Ruhe, der einen Witz über Dieter Wedel macht, und kritisiert Dieter Wedel selbst! +Am Anfang war es schon hart. Als ich vor zehn Jahren mit Stand-up-Comedy angefangen habe, gab es in Deutschland – anders als in den USA – meines Wissens noch keinen, der seine eigene Biografie und Ansichten als Basis für Stand-ups genutzt hat. Ich bin jüdisch und habe das auf der Bühne thematisiert. Das Publikum war davon oft total irritiert. Ich selbst sah mich nicht als politisch, für die Leute aber war ich ein Politikum. Sie haben tausend Sachen in mich hineininterpretiert, die sicher oft weniger mit mir als mit ihnen selbst zu tun hatten. + +Kleines Päuschen, bevor es im Herbst wieder auf Tour geht. "Der Endgegner" wird das neue Programm heißen und handelt, deep shit, von der Beziehung zu sich selbst + +Dieses Prinzip gilt auch für ganz viele andere Themen. Wenn ich bei einer Show ins Publikum frage "Ist jemand mit Downsyndrom hier?", reagiert es immer auffällig verhalten. Ich spiele mit dieser Scham und hake nach: "Ey, merkt ihr überhaupt, dass ich einfach nur gefragt habe, ob Leute mit Downsyndrom da sind? Warum friert ihr plötzlich ein, wo ist das Problem? Ich dachte, die gehören zu uns!" +Vor kurzem haben Micky Beisenherz und ich eine neue Folge von"Das Lachen der Anderen"herausgebracht. In dem Format begeben wir uns für eine längere Zeit unter Menschen mit einem bestimmten Schicksal und performen dann für sie und über sie einen Stand-up. Diesmal ging es um HIV. Die Zahl der Neuinfizierungen bei Heterosexuellen und Drogenabhängigen in Deutschland steigt ja momentan. Vor ein paar Jahren war ich in einer Beziehung mit einer Frau, die HIV hatte. Erst da habe ich bemerkt:Viele Menschen haben keine Ahnung von HIVund behandeln Infizierte, als hätten sie Lepra. Die Wahrheit ist, dass man mit der richtigen Behandlung sehr gut mit HIV leben kann – besser jedenfalls als mit den Menschen, die wissen, dass du es hast. +Ich habe oft das Gefühl, dass sich viele gesunde weiße Deutsche überhaupt nicht in die Lage von jemandem versetzen können, der sich auf irgendeine Weise von ihnen unterscheidet. Der krank ist oder schwarz, aus Syrien kommt oder an etwas anderes glaubt als sie. Von der Einstellung her ist dieses Land ganz und gar nicht politisch korrekt. Es ist diskriminierend und rassistisch. Die Aufgabe des Komikers ist es, das zu spiegeln. Ein Witz darf ethnische Unterschiede verhandeln, rassistische Vorurteile zementieren darf er nicht. + +Natürlich lässt sich damit nicht alles legitimieren. Jemanden einfach nur zu beleidigen ist plump und falsch. Diesen Spruch von Tucholsky – "Satire darf alles" – kann ich nicht mehr hören. So hat er das auch nie gesagt: Die paar Wörter sind der letzte Satzeines ganzen Pamphlets. Wenn man all das, was davor steht, beachtet – dann darf Satire alles. +Ich bin sehr extrem in meiner Kunst und bin mir bewusst, dass das manchmal auch ein Problem sein kann. Wenn ich zum Beispiel jemanden kennenlerne, einen Spruch ablasse und dann merke, dass die Person davon verletzt ist. Einfach weil sie auf einem ganz anderen Level ist. Weil ich zu routiniert mit Themen umgehe oder vielleicht auch schon etwas abgestumpft bin. Angenommen, ich würde in einem Stand-up über ein großes Tabu sprechen. Und nach der Show würde jemand, der davon betroffen ist, weinend vor mir stehen. Dann würde ich sagen: "Hey, das war doch nur ein Gag! Falls er dich verletzt hat, dann tut mir das leid. Das war nicht meine Intention." Für den Witz selbst würde ich mich aber nicht entschuldigen. +Oliver Polak, 42, ist Stand-up-Comedian, Autor und hat einen Podcast namens "Juwelen im Morast der Langeweile". Letztes Jahr wurde er mit dem Grimme-Preis und dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. Er lebt in Berlin, zusammen mit Arthur, dem Hund +Fotos: Theodor Barth diff --git a/fluter/political-correctness-pro-und-contra.txt b/fluter/political-correctness-pro-und-contra.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6ed07f2c8e20ce7a6c1600a51ebacc8e5b4d05cf --- /dev/null +++ b/fluter/political-correctness-pro-und-contra.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Bei der PC geht es vordergründig um die Frage, was man noch sagen und meinen darf und wo Diskriminierung beginnt. Antworten darauf gibt es bisher keine. Stattdessen wird mit Verve um Bezeichnungen gestritten. Kann man noch "Ausländer" sagen, oder muss man von "Menschen mit Zuwanderungsgeschichte" sprechen? Muss die deutsche Nationalhymne gendergerecht gemacht werden? "Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!", skandieren die Gegner der PC angesichts von solchen Diskussionen und warnen vor Meinungsverboten und der "Tyrannei der Minderheiten". +Vielen von ihnen geht es aber um weit mehr als den Sprachgebrauch: Sie bangen um ihre Machtstellung innerhalb der Gesellschaft. Sie fürchten, dass nun andere das Sagen haben. Dass ihre Meinung nicht mehr die einzige bleibt. Dass die PC auf die Spitze getrieben wird, bis sie in Absurdität gipfelt. Ihre Kritik an der PC ist eine verschleierte Sehnsucht nach einer klar eingeteilten Weltordnung und eine Kampfansage an den Fortschritt. +Denn um den geht es bei der PC. Dass die Gesellschaft bunter und vielfältiger wird, hat große Auswirkungen auf das Miteinander. Frauen sind Männern nicht mehr untergeordnet, Ausländer und Verschiedengläubige sind fester Bestandteil der Bevölkerung und unterschiedliche Sexualität normal. Die PC ist ein Versuch, diesen Veränderungen gerecht zu werden. Denn Begriffe wie "Neger", "Schwuchtel" oder "Weib" sind Überbleibsel einer Zeit, in der Unterschiede nicht respektiert, sondern ausgenutzt wurden, um zu diskriminieren. +Wer glaubt, dass PC die Meinungsfreiheit oder das Recht auf Kritik beschneidet, irrt. Beide werden durch die PC nicht abgeschwächt. Sie stellt lediglich sicher, dass die Diskussion frei von Diskriminierung bleibt. Das will auch das Grundgesetz so. Und das ist ziemlich deutsch und traditionsbewusst. +Political Correctness bedeutet Rücksicht und gelebte Empathie. Das ist ihre Stärke und Berechtigung. Sie verdeutlicht, dass man die Gefühle und Befindlichkeiten anderer ernst nimmt, auch wenn man sie persönlich nicht teilt. Man muss das Gendersternchen nicht unterstützen, um die Gefühle der betroffenen Personen dahinter zu respektieren. +Die Political Correctness ist ein Kraftakt. Sie fordert, dass wir nicht nur unseren Sprachgebrauch, sondern auch unser Weltbild anpassen. Dass man sich in die Rolle einer schwarzen oder intersexuellen Person hineinversetzt. Würde man die Welt als diskriminierend empfinden? Sollten Ungerechtigkeiten akzeptiert werden, weil sie schon lange da sind oder die Mehrheit sie nicht als solche erkennt? Nein. +Es gibt noch viel Klärungsbedarf über das, was gesagt werden darf, selbst unter den Befürwortern der PC. Aber eine Anstrengung dieser Art ist wichtig – als Signal. Eine politisch korrekte Sprache verdeutlicht, dass man die andere Person als ebenbürtig akzeptiert. Statt Meinungsverbote fördert sie so Meinungsaustausch. +Natürlich kann die PC "übertreiben", und sie muss auch die Befindlichkeiten ihrer Gegner respektieren. Nicht jeder PC-Kritiker ist automatisch frauenverachtend, rassistisch, homophob oder allgemein diskriminierend. Die PC hat das Potenzial, gelegentlich über die Stränge zu schlagen, doch das macht ihren Nutzen nicht kaputt. Die Gesellschaft ist stark, sie kann viel aushalten und tolerieren. Diskriminierung im Alltag muss nicht dazugehören. Das wird man ja wohl noch verhindern dürfen. +Der Jorunalist und stolze Luxemburger Max Tholl war Redakteur bei dem Debattenmagazin The European und beim Tagesspiegel. Er ist Mitgründer vonThe Idea Listund schreibt am liebsten darüber, wie und wo Popkultur unsere Gesellschaft verändert. + +Moralische Haltungen sind aus gutem Grund in liberalen Demokratien Privatsache,findet Alexander Grau +"Political Correctness": In den Ohren des aufgeklärten Bürgers westlicher Industrienationen klingt das erst einmal gut und vor allem harmlos. Denn wer möchte schon inkorrekt sein, noch dazu politisch inkorrekt? Aber was ist eigentlich politisch korrekt? Und: Wer bestimmt das?Dass die Beantwortung dieser einfachen Fragen dann doch schwerfällt, liegt an der seltsamen sprachlichen Komposition des Ausdrucks "politisch korrekt". Denn korrekt ist, ausgehend von der lateinischen Grundbedeutung, alles, was korrigiert wurde, dasjenige also, was fehlerfrei ist, richtig oder – im übertragenen Sinne – angemessen. +Doch genau um das politisch Angemessene geht es nicht, wenn man darunter eine Art zivilen Umgang im öffentlichen Miteinander versteht. Und das liegt an dem banalen Attribut "politisch". Das Wort ist hier nämlich ein bewusst schwammiger Platzhalter, der darüber hinwegtäuschen soll, dass es nicht um angemessenes Handeln für das Gemeinwesen geht. Sondern um knallharte Ideologie. Denn "politisch" meint hier die Verdrehung des eigentlichen Wortsinns "moralisch". Das politisch Korrekte ist nach Ansicht seiner insbesondere akademischen Apologeten nichts anderes als das moralisch Korrekte. Und dieses moralisch Korrekte soll für das gesamte Gemeinwesen gelten und mittels gesellschaftlicher Sanktionen – Sprachreglementierungen, Umbenennungen, Entfernen von Kunstwerken aus dem öffentlichen Raum – durchgesetzt werden. Das ist totalitär. Denn mit Ausnahme ganz weniger Handlungen – Verstöße etwa gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung und Eigentum – sind moralische Haltungen aus gutem Grund in liberalen Demokratien Privatsache. Weltanschauung und Religion sind Sache des Einzelnen. Die werden erst dann zum Problem, wenn sich daraus Handlungen ergeben, die nicht zum Strafgesetzbuch passen. +Das höchste Gut in einer liberalen Gesellschaft ist die Meinungsfreiheit. Solange nicht zu einer Straftat aufgerufen wird, hat der Bürger in freiheitlichen Staaten wie Deutschland – mit wenigen Einschränkungen und Abwägungen – das Recht, zu denken und zu sagen, was er will. Auch wenn das manchen nicht passen sollte.Genau dieses Recht auf die freie, unliebsame Meinung wollen die Vertreter der Political Correctness nicht akzeptieren. Ihnen geht es um Umerziehung mittels Sprach- und Symbolpolitik: Die Alltagssprache soll moralisch bereinigt werden, alte Bücher auf unliebsame Formulierungen durchsucht, Straßennamen, Denkmäler, Museumsbestände etc. angepasst werden. +Im Kern geht es um einen Kulturkampf, und der hat mit Moral, mit Minderheitenschutz oder Humanismus wenig zu tun. Den Ideologen der Political Correctness geht es um die Verfolgung einer gesellschaftsrevolutionären Agenda. Der Beginn der systematischen Bewegung hin zu einer "politischen Korrektheit" wird häufig auf die 1980er-Jahre in den USA datiert. Meiner Meinung nach liegen die ideologischen Wurzeln aber wesentlich früher, im Neomarxismus der 1920er-Jahre: Da eine Revolution durch ökonomische Umstände nicht zu erwarten war, setzte man auf die Eroberung der kulturellen Hegemonie, also die Deutungshoheit in der öffentlichen Meinung durch eine gezielte Sprachpolitik und die Einnahme von Schlüsselpositionen im Kultur- und Medienbetrieb. Ziel dieser revolutionären Strategie war die Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft durch Diskreditierung ihrer zentralen Institutionen: Familie, Universität, Kultureinrichtungen. +In den späten 60er-Jahren wurde dieses kulturrevolutionäre Konzept von den Ideologen der 68er-Bewegung aufgegriffen. Der Philosoph Herbert Marcuse etwa empfahl explizit eine "sprachliche Rebellion" und betonte, "dass die Verwirklichung der Toleranz Intoleranz gegenüber den herrschenden politischen Praktiken, Gesinnungen und Meinungen" erfordert. Legitimiert wird diese Strategie durch die Pathologisierung der Gesellschaft. Der durchschnittliche, von heimlichem Groll erfüllte Kleinbürger wird als Patient betrachtet, der durch eine entsprechende Sprachtherapie "geheilt" werden muss. Das ist anmaßend, abstoßend und bizarr. +Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass diese Auseinandersetzung unverkennbare Züge eines Klassenkampfes von oben trägt: Eine kleine akademische Minderheit gut situierter Wohlstandssprösslinge maßt sich an, die angeblich in ihren Stereotypen gefangenen Massen umzuerziehen. Man könnte das als Vermessenheit verhätschelter Wohlstandskinder abtun. Doch so harmlos ist die Sache nicht. Denn zu viele Menschen, die aus gutem Grund etwa für Minderheitenschutz streiten, machen sich zu bereitwilligen Handlangern einer aggressiven Agenda zum Umbau der westlichen Gesellschaften. Doch gegen Political Correctness zu sein bedeutet nicht, Diskriminierungen gut zu finden. Es bedeutet, unsere Freiheit zu verteidigen. +Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er schreibt u.a. für Cicero und vor Kurzem erschien sein Buch "Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung" beim Claudius Verlag München. + +Collagen: Renke Brandt + +Dieser Text wurde veröffentlicht unter der LizenzCC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden. diff --git a/fluter/politik-berufe-jobs-bei-stiftungen-konrad-adenauer-stiftung-paris.txt b/fluter/politik-berufe-jobs-bei-stiftungen-konrad-adenauer-stiftung-paris.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cc2ad8ca17e8d4c0d922d66947372e010a6704c2 --- /dev/null +++ b/fluter/politik-berufe-jobs-bei-stiftungen-konrad-adenauer-stiftung-paris.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Studium der Politischen Wissenschaften oder ähnlicher Fächer. Während des Studiums unbedingt um Praktika oder Studentenjobs in dem Bereich bemühen. Wer für eine politische Stiftung arbeiten möchte, sollte die Werte der Partei teilen. Für Jobs im Ausland sind Fremdsprachenkenntnisse und Auslandspraktika erforderlich. +Was verdiene ich da? +Politische Stiftungen bezahlen nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst, kurz TVöD. Ein Referent bekommt zum Beispiel in der Entgeltgruppe 13 im ersten Berufsjahr etwa 3573 Euro brutto monatlich. Auslandsmitarbeiter werden nach einem Manteltarifvertrag des Auswärtigen Amtes bezahlt. Es gibt, vereinfacht gesagt, je nach Standort und Berufsjahren unterschiedliche Auslandszuschüsse. +Meine offizielle Berufsbezeichnung ist Auslandsmitarbeiter, genauer "Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Paris". Das Auslandsbüro ist eine Repräsentanz der Stiftung in einem anderen Land. Weltweit gibt es rund 80 Auslandsbüros der KAS. Insgesamt betreiben die politischen Stiftungen etwa 250 Auslandsvertretungen. Diese Auslandsvertretungen verstehen sich als Partner der deutschen Außenpolitik. +Meine Aufgabe ist es, die deutsch-französischen Beziehungen im politischen Bereich zu pflegen. Andere Akteure pflegen die Beziehungen in anderen Bereichen: Der DAAD kümmert sich um den internationalen Austausch von Studierenden und Wissenschaftlern, das Goethe-Institut um den Kulturaustausch. Die politischen Stiftungen beschäftigen sich mit dem Dialog und dem inhaltlichen Austausch unter Politikern. Hier in Paris gibt es neben der KAS auch noch Auslandsbüros der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Heinrich-Böll-Stiftung. Wir im KAS-Büro beschäftigen uns vor allem mit dem Austausch von Politikern der bürgerlichen Parteien, also CDU und CSU mit den Républicains. +Wenn deutsche Politiker etwas über die französische Politik wissen wollen oder andersrum, können sie sich an uns wenden. Wenn Fragen an uns herangetragen werden, erstellen wir Studien, schreiben Berichte oder laden Akteure ein, um sie in unterschiedlichen Gesprächsformaten wie Podiumsdiskussionen oder Konferenzen zusammenzuführen. +Aktuell spielt die im Frühjahr 2017 stattfindende Präsidentschaftswahl eine große Rolle. Wir haben für deutsche Politiker und Experten Termine vereinbart mit Nicolas Sarkozy oder François Fillon, aber auch mit verschiedenen Abgeordneten der französischen Nationalversammlung oder mit Bürgermeistern und Regionalräten. +Manchmal werde ich gefragt, wie nah ich an der Macht bin. Da stelle ich gerne die Gegenfrage: Was ist Macht? Ich habe viel mit Leuten zu tun, die in der Verantwortung stehen. Darunter sind viele hochrangige Politiker, das liegt angesichts der engen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich auf der Hand. Vor einiger Zeit haben wir mit Bundestagspräsident Norbert Lammert eine Veranstaltung über die deutsche Flüchtlingspolitik durchgeführt. Wir haben insgesamt viel zu tun mit Abgeordneten aus dem Bundestag und den Landtagen, Ministern oder Staatssekretären und Mitgliedern der Regierung. +Ich habe Politische Wissenschaften und Romanistik studiert und während des Studiums nach einem Praktikum im Bundestag bei einer Abgeordneten gearbeitet. Nach der Doktorarbeit habe ich bei der Konrad-Adenauer-Stiftung angefangen, das hat sich so ergeben und gut gepasst. Zunächst war ich Referent für Grundsatzfragen für internationale Zusammenarbeit, danach habe ich fünf Jahre lang das Vorstandsbüro geleitet. Vor eineinhalb Jahren bin ich als Leiter des Auslandsbüros nach Paris gegangen. Ich habe zwei Mitarbeiterinnen, eine Französin und eine Deutsche. +Bei meiner Arbeit in Paris gab es auch für mich einige Überraschungen. Es gibt zwischen Deutschen und Franzosen zum Beispiel große kommunikative Unterschiede – die musste ich erst einmal selbst erleben. Franzosen sagen ungerne "Nein". Wenn ich einen französischen Kollegen einlade, wird er die Einladung annehmen, dann aber nicht unbedingt kommen. Eine Absage bekomme ich so gut wie nie, der Kollege meldet sich nicht mehr, und wenn man sich dann wieder trifft, ist das auch kein Thema. Zu sagen "Nein, ich kann nicht" gilt als unhöflich. Ein Franzose würde das verstehen. Der Deutsche fühlt sich im Unklaren gelassen. Ich lerne also, anders zu planen. Wenn ich nach zwei Tagen keine Absage habe, ist das eine Absage. +Was ich an der Arbeit für politische Stiftungen sehr interessant finde, ist, dass es Jobs in ganz unterschiedlichen Bereichen gibt. Bei der KAS gibt es beispielsweise einen Archivar, der das Archiv der Partei organisiert, bei der Begabtenförderung hat man viel mit jungen Menschen zu tun, im Bereich "politische Bildung" wird die Öffentlichkeit über aktuelle politische Fragen informiert. +Bei welcher der Stiftungen man arbeitet, hat meist mit der politischen Orientierung zu tun. Eine Parteizugehörigkeit ist keine zwingende Voraussetzung, aber mit den politischen Zielen sollte sich schon jeder identifizieren können. Ich bin selbst Parteimitglied, weil ich das als Ausdruck meiner Zugehörigkeit zu einer politischen Idee verstehe, die ich für unterstützenswert halte. +Nino Galetti leitet das Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Paris. diff --git a/fluter/politik-fuer-junge-menschen-video.txt b/fluter/politik-fuer-junge-menschen-video.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/politische-bildung-faktencheck.txt b/fluter/politische-bildung-faktencheck.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6bb88f801ae22278b06c9f431acf58e77c4e337a --- /dev/null +++ b/fluter/politische-bildung-faktencheck.txt @@ -0,0 +1,17 @@ + +Welche Behauptungen würdet ihr gern mal überprüfen? Schreibt es in die Kommentare oderper Mail +Quellen + + +Quellen + + +Quellen + + +Quellen + + +Quellen + + diff --git a/fluter/politische-gefangene-tuerkei-mesale-tolu-berichtet.txt b/fluter/politische-gefangene-tuerkei-mesale-tolu-berichtet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dec1874c0dfa0916348a959bfac6cc605daf24ec --- /dev/null +++ b/fluter/politische-gefangene-tuerkei-mesale-tolu-berichtet.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Meine Festnahme war Ende April 2017. Ein Jahr zuvor gab es in der Türkei einen Putschversuch, woraufhin im ganzen Land der Ausnahmezustand verhängt wurde. Nur sehr wenige türkische Medien wagten noch, kritisch über den Staat zu berichten. Dazu gehörte auch die Nachrichtenagentur Etha, für die ich damals arbeitete. Viele meiner Kollegen und Kolleginnen wurden eingeschüchtert oder verhaftet. Menschen, die den Staat kritisieren, gelten in der Türkei schnell als Terroristen. Das Antiterrorgesetz ist sehr weit interpretierbar, es reicht schon, wenn man eine staatskritische Meinung auf Facebook teilt oder likt. +In meiner Anklageschrift konnte man mir nichts Verbotenes nachweisen. Ich hatte an vier öffentlichen Veranstaltungen teilgenommen – an manchen als Journalistin, an anderen, wie einer genehmigten Demo für Frauenrechte, als private Person. Zudem lag das alles schon vier Jahre zurück. Für die Anklage gegen mich bezeichnete der Staat die Veranstaltungen im Nachhinein als illegal. +Zwei Monate vor mir wurde der Journalist Deniz Yücel, der damals für die "Welt" berichtete, festgenommen.Einen Monat nach mir der Menschenrechtsaktivist Peter Steudtner und neun seiner Kollegen. Es war der Tiefpunkt der deutsch-türkischen Beziehungen. Deshalb wusste ich auch, dass mir mein deutscher Pass nicht helfen würde, vielleicht sogar eher von Nachteil war. Die Türkei informierte die deutsche Botschaft zunächst auch nicht, dass eine deutsche Staatsbürgerin im Untersuchungsgefängnis sitzt. Ich war bereits zehn Tage in Haft, als die Öffentlichkeit von meinem Fall erfuhr. Und da begann ich natürlich, auf Unterstützung zu hoffen – auch aus Deutschland. +Die Mitarbeiter der deutschen Botschaft berichteten mir von den Demonstrationen, Mahnwachen und Autokorsos, die für mich in Deutschland stattfanden. Das hat gutgetan in der kleinen Welt im Gefängnis. Am Anfang waren meine Familie und meine Freunde zuversichtlich, dass ich sehr bald freigelassen werde. Vor allem, weil ich ein Kind habe und nichts wirklich Relevantes gegen mich vorlag. Aber nach fünfeinhalb Monaten Haft bekamen wir mehr und mehr Angst. Denn wenn – wie in der Türkei – so viele Menschen tagtäglich inhaftiert werden, kannst du im Gefängnis schnell in Vergessenheit geraten. Du bist eben nur eine von Zehntausenden. +Ich habe mir mit etwa 16 bis 18 Frauen eine Zelle geteilt. Als ich erfuhr, dass es meinem Sohn psychisch schlecht ging, entschloss ich mich, ihn zu mir ins Gefängnis zu holen. Ich wollte nicht, dass er ohne seine Mutter aufwächst. Mit Serkan ist die Zeit dann viel schneller vorübergegangen, auch für meine Mitinsassinnen. Kinder sind genau das Gegenteil der Gefängniswelt. Sie sind fröhlich und halten sich nicht an Regeln. +Nach sechs Monaten Haft begann der erste Prozesstag. Mir wurde klar, dass ich nur ein winziger Spielball war und große Mächte über mich entschieden. Die Türkei hat sich ja damit gebrüstet, dass sie drei deutsche Agenten gefasst hatte. In der Zeitung stand auch, dass die Staatsanwaltschaft für mich bis zu 25 Jahre Haft forderte. +Es war ein Schauprozess, der in einem Gerichtssaal auf dem Gefängnisgelände stattfand. Errichtet, um vermeintliche Putschisten zu verurteilen. Ich hatte mich entschieden, eine lange Verteidigungsrede zu halten. Ich wollte das Unrecht anprangern, das mir widerfahren war. Für die Öffentlichkeit, die Presse und auch für mich. Es war ein schmaler Grat: Bin ich jetzt mutig und riskiere es? Oder bin ich eher zurückhaltend und hoffe auf eine Chance? Ich entschied mich fürs Risiko. Weil ich wusste, dass meine Freilassung nicht allein von der Entscheidung der Richter abhing. Zahlreiche Menschen, die sich mit mir solidarisch erklärt hatten, stärkten mir den Rücken. Deshalb wollte ich mich nicht verbiegen. Allerdings gab es auch viele, die sich in den Sozialen Medien negativ über mich äußerten. Die türkische Presse hatte mich tagtäglich als Terroristin und deutsche Agentin beschimpft, und das fand bei vielen regierungstreuen Menschen Gehör. +Mesale Tolu wurde am 18. Dezember 2017 nach dem zweiten Verhandlungstag freigelassen, aber nicht freigesprochen. Seither wird der Prozess immer wieder vertagt. Seit 2017 gab es im Verfahren keine neuen Beweise oder Erkenntnisse. Dennoch könnte das Gericht eine Strafe von bis zu 25 Jahren Haft verhängen. Seit Ende August 2018 lebt Tolu wieder in Neu-Ulm (Bayern), wo sie im Juni 2019 ein crossmediales Volontariat bei der "Schwäbischen Zeitung" begonnen hat. +Bis heute hat sich die politische Situation in der Türkei nicht verbessert. Die Zeit nach dem Putschversuch 2016 war erst der Beginn: Die Regierung verbot viele Medien, nahm Journalisten die Akkreditierung ab, sperrte sie in Gefängnisse und verurteilte sie zu jahrelanger Haft. Die Zahl der inhaftierten Kollegen in der Türkei ist eine der höchsten der Welt. Während meiner siebeneinhalbmonatigen Haft habe ich mir immer wieder bewusst gemacht, dass ich nicht die Einzige bin. Das hat mir sehr geholfen. Zu wissen, dass es Zehntausende Menschen gibt, die mindestens das Gleiche erlebt haben. Ich war mit Frauen inhaftiert, die seit 20 Jahren im Gefängnis sitzen. Vor ihnen über das eigene Schicksal zu klagen hätte mich beschämt. Diese Menschen sind trotz der staatlichen Repressionen und der Gewalt stark geblieben. Das hat mich darin bestärkt, mich nicht kleinmachen und einschüchtern zu lassen. Denn genau das will der Staat. +Natürlich hat mich die Zeit im Gefängnis verändert. Ich bin nicht mehr diese unbekümmerte Frau, die ich mal war. Ich bin selbstbewusster geworden. Und wenn ich heute sehe, dass Unrecht geschieht, mische ich mich ein. + diff --git a/fluter/politische-karikaturen-t%C3%BCrkei-erdogan.txt b/fluter/politische-karikaturen-t%C3%BCrkei-erdogan.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e0780a70fe38d921782c1692bb52c96d24d63a41 --- /dev/null +++ b/fluter/politische-karikaturen-t%C3%BCrkei-erdogan.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Die Dokumentarfilmerin und Journalistin Sabine Küper-Büsch, die in Istanbul lebt und sich seit Jahren mit türkischen Karikaturen beschäftigt, hat nun eine Anthologie über aktuelle Satire aus der Türkei herausgegeben. In "Schluss mit Lustig" hat sie die Arbeiten von 46 Zeichnern zusammengetragen und kommentiert. +Schon im Osmanischen Reich machten sich Satiremagazine über den despotischen Sultan Abdülhamid II. lustig, der heute eines der Vorbilder von Präsident Erdoğans ist. Der Sultan hatte eine große Nase und zensierte aus Angst vor Spott das Wort Nase neben anderen Begriffen wie Freiheit und Brüderlichkeit. Als Reaktion auf diese Zensur gerieten unzählige Zeichnungen von Nasen in Umlauf. Die Nase wurde zum Symbol für despotische Herrscher – und Karikaturen eine subversive Form, die Mächtigen zu kritisieren, indem man über sie lacht. +Frauenrechte, Wahlbetrug, Machtmissbrauch: Die Satiremagazine thematisieren Missstände im Land schonungslos. Ihren Reiz beziehen die bunten Zeitschriften daraus, dass sie ihre Kritik in wenigen Strichen metaphorisch auf den Punkt bringen. Damit stoßen sie den Mächtigen nicht zu sehr vor den Kopf – und die Leser verstehen die Anspielungen trotzdem. Deshalb wurden Satiremagazine über Jahrzehnte hinweg quer durch alle Bevölkerungsschichten gelesen. +In politischen Umbruchzeiten schossen die Verkaufszahlen der Satiremagazine in die Höhe. Nach dem Militärputsch im Jahr 1980 hatte die 1972 gegründete Karikaturzeitschrift Gırgır eine Auflage von einer halben Million und war damit weltweit eines der meist verbreiteten Satiremagazine. In den Jahren nach dem Putsch wurden Kurden, Gewerkschaftler und Linke verhaftet. Tausende Oppositionelle wurden in den Gefängnissen gefoltert oder flohen ins Ausland. Die Karikaturen halfen den Menschen in der Türkei, die Repressionen der Militärjunta gegen Regierungskritiker mit Ironie zu verarbeiten. Ihr letztes Verkaufshoch erlebten Satiremagazine im Jahr 2013 nach denGezi-Protesten, die getragen waren vom Humor einer jungen, neu politisierten Generation. +Penguen, neben Uykusuz und LeMan eines der erfolgreichsten Satiremagazine der Türkei, wurde im Mai wegen sinkender Verkaufszahlen eingestellt +Im andauernden politischen Ausnahmezustand geraten auch die Karikaturisten zunehmend unter Druck. In der polarisierten Gesellschaft nach dem Putschversuch am 15. Juli 2016, in der viele Journalisten, die sich regierungskritisch äußern, als Terroristen verdächtigt werden, arbeiten sie unter äußerster Vorsicht, bis hin zur Selbstzensur, wie Sabine Küper-Büsch im Vorwort des Bandes schreibt. Immerhin sitzen aktuell mehr als 150 Journalisten in der Türkei im Gefängnis – auch der Deutsch-TürkeDeniz Yücel. + +Nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich stehen die türkischen Satire-Magazine unter Druck. Anfang der 1980er-Jahre hatten die erfolgreichsten noch eine Auflage von einer halben Million. Heute sind viele nur noch in den Großstädten Istanbul, Antalya und Izmir zu bekommen. Vertriebe und Kioske verweigern die Zusammenarbeit, wenn die Cover zu bissig sind +Musa Kart, Karikaturist der oppositionellen Tageszeitung Cumhuriyet, wurde im Oktober 2016 zusammen mit seinen Cumhuriyet-Kollegen angeklagt und verhaftet. Ihnen wurde, wie den meisten derzeit inhaftierten Journalisten, die Unterstützung terroristischer Vereinigungen vorgeworfen. Bei seiner Verhaftung sagte Musa Kart: "Im Moment fühle ich mich, als würde ich selbst in einer Karikatur leben. Was wir hier erleben, ist grotesk." Ende Juli wurden sieben von ihnen vorläufig aus der Haft entlassen, darunter auch Kart. Die nächste Anhörung vor Gericht ist auf den 11. September angesetzt. +Sabine Küper-Büsch (Hg.): Schluss mit Lustig. Aktuelle Satire aus der Türkei. 80 Seiten, Hardcover, Avant-Verlag, Berlin 2017, 15 Euro. +Gegen zwei Titelblätter von Uykusuz zum Referendum im April wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet. Penguen, neben Uykusuz und LeMan eines der erfolgreichsten Satiremagazine der Türkei, wurde im Mai wegen sinkender Verkaufszahlen eingestellt. Auch das hat teilweise politische Gründe. Vertriebe und Kioske verweigern schon mal die Zusammenarbeit, besonders dann, wenn bissige Erdoğan-Karikaturen auf dem Cover sind, so Sabine Küper-Büsch. Die Folge: Außerhalb der Großstädte Istanbul, Antalya und Izmir seien die Magazine kaum mehr zu bekommen. Um bis zu 75 Prozent seien die Auflagen zurückgegangen,schreibt Der Spiegel. +Die humorvolle Aufbruchsstimmung der Gezi-Proteste scheint einer tiefen Hoffnungslosigkeit gewichen. diff --git a/fluter/politische-korrektheit.txt b/fluter/politische-korrektheit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5e5828564c33c840bea0e5dcd8ac43f05e12fd0b --- /dev/null +++ b/fluter/politische-korrektheit.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +"Cultural Appropriation", zu Deutsch "kulturelle Aneignung", lautet das Schlagwort zu dieser Debatte. Darunter versteht man unter anderem die Verfälschung anderer Kulturen, etwa durch Nachahmung oder Kommerzialisierung. So ist es an vielen US-Colleges mittlerweile verpönt, sich zu Halloween mit Federschmuck zu verkleiden oder auf einer Tequila-Party mit Sombrero und dickem Schnauzbart als Mexikaner. Auch Rastazöpfe bei Weißen gelten manchen als absolutes No-Go, weil nur echte Rastafaris das Recht hätten, sie zu tragen. +Der Sandwich-Protest von Oberlin schaffte es in viele große Zeitungen in den USA und Europa, auch Fernsehsender berichteten. Auf diese Weise entstand der Eindruck einer überempfindlichen Studentenschaft, die ständig neue Opfer schafft und das Land mit Denk- und Sprechverboten überziehen will. In den USA, wo "Freedom of Speech", also die Redefreiheit, seit jeher zu den Grundpfeilern der Gesellschaft zählt, ein besonders harter Vorwurf. +Tatsächlich waren die liberalen Universitäten in den USA schon in den 1960er- Jahren der Ort, an dem besonders um Minderheitenrechte gekämpft und die Rassendiskriminierung thematisiert wurde. Mitte der Achtziger wehrten sich die Studierenden zudem gegen einen Lehrplan, in dem sich nur die Gedanken "toter europäischer weißer Männer" wiederfanden – damit meinte man in erster Linie die Philosophen der Aufklärung. Stattdessen sollten weibliche Perspektiven und die anderer Kulturkreise Raum finden. +Auch in Deutschland nahm man die Klagen über die Diskriminierung von Minderheiten in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend ernster. Dass das Wort "Schlitzauge" eine Beleidigung darstellt, dürfte mittlerweile jeder wissen, Negerküsse und Zigeunerschnitzel sind vom Speiseplan verschwunden. Man streitet leidenschaftlich darüber, ob es Freunde oder nicht viel mehr Freund_innen heißen muss, um Frauen nicht außen vor zu lassen. An der Berliner Alice Salomon Hochschule, vielleicht so was wie ein deutsches Oberlin, stritt man monatelang über ein Gedicht an einer Häuserwand, in dem es – übersetzt aus dem Spanischen – hieß: "Alleen / Alleen und Blumen / Blumen / Blumen und Frauen / Alleen / Alleen und Frauen / Alleen und Blumen und Frauen und / ein Bewunderer." Einige Studentinnen und Studenten fanden, dass diese Zeilen Frauen auf die Rolle der schönen Muse für männliche Künstler reduzierten, und erreichten schließlich die Entfernung des Gedichts. +"Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden" – so steht es im Grundgesetz, auf das sich auch jene berufen, die die Sicht- und Handlungsweisen einer weißen, wohlhabenden und von Männern dominierten Gesellschaft infrage stellen zugunsten einer bunteren, diskriminierungsfreien Welt. So hat es zum Beispiel die LGBTI-Bewegung geschafft, dass Menschen, die sich nicht als Mann oder Frau fühlen, ernster genommen werden. Im August legte die Bundesregierung einen Gesetzesentwurf vor, der in Dokumenten wie dem Reisepass ein drittes Geschlecht vorsieht ("divers"). +Kritikern und Kritikerinnen der Political Correctness ist dagegen schon der Begriff verhasst, sie benutzen ihn nur noch höhnisch oder mit Spott. Für sie beschreibt PC das Projekt einer arroganten linken Elite, die sich um jede noch so kleine Minderheit kümmert, aber nicht mehr um die Nöte einer großen Mehrheit, der es egal ist, ob es in Zukunft Unisex-Toiletten gibt, sondern die sich stattdessen schlichtweg fragt, wie sie über die Runden kommt. Wie sie einen Job bekommt und die Miete zahlen soll. "Die Fixierung auf Vielfalt (...) hat eine Generation von Liberalen und Progressiven hervorgebracht, die sich auf narzisstische Weise vor den Problemen derer verschließt, die außerhalb ihrer selbst definierten Gruppen stehen", so Mark Lilla, Professor an der New Yorker Columbia University, in einem viel diskutierten Beitrag für die "New York Times". Der amerikanische Liberalismus sei in den vergangenen Jahren von einer Hysterie bezüglich Rasse, Geschlecht und sexueller identität ergriffen worden. +Lillas Worte würde vermutlich auch Donald Trump unterschreiben, der selten eine Gelegenheit auslässt, sich über Menschen lustig zu machen, die in einem falsch belegten Sandwich eine Beleidigung sehen. +Dem "Das darf man nicht mehr sagen" der PC-Bewegung haben ihre Kritiker mittlerweile ein empörtes "Das wird man ja wohl noch sagen dürfen" entgegengesetzt, das selbst dann angestimmt wird, wenn niemand etwas gegen eine Äußerung hat. Manche Beobachter stellen angesichts der teilweise vehementen Kritik an der Political Correctness denn auch die Frage, ob sie nicht absichtlich zum Schreckgespenst aufgebaut werde, um notwendige Schritte in eine diskriminierungsfreie Gesellschaft zu verhindern. "Das Ziel rechter PC- Kritik war es stets, Gruppen, die sich in ihrem Kampf um Anerkennung auf die Grundrechte beziehen, zurück auf ihre vermeintlich angestammten Plätze zu verweisen: dahin, wo sie herkommen – an den Herd (Frauen), in ihre Heimatländer (Migranten und Flüchtlinge), ins Abseits (Schwule, Lesben und andere ‚Perverse')", schreibt der Autor Christian Staas in der "Zeit". +Tatsächlich findet sich das Beispiel von dem verunglückten Baguette seit Jahren in den Medien wieder, die Geschichte ist anscheinend zu schön, als dass sie nicht ein Journalist vom anderen abschreibt. "Dass man die immer gleichen Beispiele über die überbordende Political Correctness wiederholt, zeugt davon, dass es offenbar nicht ständig neue berichtenswerte Vorfälle gibt. Tatsächlich regen sich viele – Studenten wie Professoren – am College über solche Auswüchse von Political Correctness auf", so die Schriftstellerin Tanja Dückers, die am Oberlin College als Gastprofessorin unterrichtet hat. "Es gehört, wie in Deutschland, längst zum guten Ton, sich darüber zu empören. Ich habe keinen Studenten angetroffen, der so etwas verteidigt hätte." +In den Internetforen von Oberlin ergab sich im Übrigen eine muntere und gar nicht biestige Diskussion über das Essen im globalen Kontext. Manche merkten an, dass man in einer normalen Cafeteria nun mal keine authentische Kost erwarten könne, andere meinten, dass das Bemühen der Köche um mehr Internationalität doch sehr löblich sei – und einer wies darauf hin, dass auch das echte Bánh Mì eine lupenrein koloniale Kreation sei. Schließlich hätten die Franzosen das Baguette nach Vietnam gebracht, um es mit den dortigen Gepflogenheiten zu fusionieren. diff --git a/fluter/politische-musikvideos-2016.txt b/fluter/politische-musikvideos-2016.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..279908a11c3695db10e7752e3747a4d3570490f6 --- /dev/null +++ b/fluter/politische-musikvideos-2016.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Einmal mehr verweist die Sängerin auf ihre eigene Biografie: Weitgehend ohne Kontakt zu ihrem Vater, einem tamilischen Aktivisten, hat sie ihre Kindheit mit dem Rest der Familie im vom Bürgerkrieg geprägten Sri Lanka der späten 70er- und frühen 80er-Jahre verlebt. +Die tamilischen Männer im Clip bilden im Gegensatz zur singenden M.I.A. eine gesichtslose Gruppe im Hintergrund. Später ordnen sich Flüchtlingsboote wie Blütenblätter an. Der Refrain von "Borders" ist von der eingängigen Wiederholung der Frage "What's up with that?" geprägt. Grenzen, Politik, Polizeischüsse, Identitäten – "Wie steht's damit?". +Obwohl "Borders" von Fans und Journalisten meist gut aufgenommen wurde, war auch harsche Kritik zu hören: Ein Vorwurf lautete, dass geflüchtete Menschen als Statisten benutzt werden, die durch ihr Schicksal einem Clip Authentizität verleihen, der auch gedreht wurde, um das Stück und das dazugehörige Album zu verkaufen. Ist es glaubwürdig, über Waffen zu singen, die "Türen ins System pusten", und ein "fuck 'em" an ein ominöses Establishment zu richten, wenn man diese Botschaft exklusiv über Apple verbreitet? War das nicht der Konzern, der für geschlossene Kommunikationssysteme und schlechte Arbeitsbedingungen in chinesischen Fabriken steht? Ist dieser Clip propagandistisch, oder verändert er den Blick auf Flüchtlinge? Das müssen die Zuschauerinnen und Zuschauer einmal mehr selbst entscheiden. + +ANOHNI - Drone Bomb Me +Wo M.I.A. eine eindeutige Botschaft vermittelt, spielt Anohni in "Drone bomb me" in der Tradition von afroamerikanischer Soul Music mit Doppeldeutigkeiten. Wer angesichts des Titels dachte, hier werde auf die Praxis des Drohnenkriegs der US-Armee angespielt, wird damit konfrontiert, dass der Text in der Sprache eines Liebeslieds gehalten ist. "Drone bomb me" richtet sich an ein nicht näher definiertes "Du". Es endet mit dem Wunsch, der oder die Auserwählte dieses Du zu sein: "Choose me tonight / Choose me / Let me be the one / The one that you choose tonight" – "Wähle mich heut Nacht / Wähle mich / Lass mich diejenige sein / Die du heut Nacht wählst." Auserwählt zu sein bedeutet hier aber, "vom Berg ins Meer gebombt" zu werden. +Erzählt wird das Ganze im Clip von einer weinenden schwarzen Frau – dem britischen Model Naomi Campbell. Sie sitzt einer Gruppe tanzender schwarzer Männer gegenüber, die am Ende des Stücks zusammenbrechen und auf dem Boden liegen. Durch die Wahl der im Clip agierenden Schauspieler und die Choreografie fügten Regisseur Nabil Elderkin und Artdirector Riccardo Tisci eine dritte Bedeutungsebene hinzu: "Drone bomb me" spielt auch auf die Diskussion um Polizeigewalt gegen schwarze Bürger in den USA an. +Während M.I.A. im "Borders-Video" als einzige Frau unübersehbar und unverwechselbar im Mittelpunkt steht, obwohl sie das Konzept der Identität in Frage stellt, ist Anohni gar nicht zu sehen. Die Schwachen werden anders als bei M.I.A. nicht als potenzielle revolutionäre Masse gezeigt. Sie erscheinen im Film als klar voneinander unterscheidbare Individuen mit individuellen Gesichtern. Sie teilen als Gruppe ein bestimmtes Schicksal, aber austauschbar sind sie nicht. +Anohni selbst hat dazu gesagt, das Stück sei ein Liebeslied aus der Perspektive eines afghanischen Mädchens, dessen Familie einem Drohnenangriff zum Opfer gefallen sei. Sie sei davon so erschüttert, dass sie nur noch selbst Opfer einer Bombe sein wolle. + +Mykki Blanco - High School Never Ends +Mykki Blanco hätte allen Grund, sich als Opfer zu inszenieren. Er ist schwarz, bezeichnet sich als Transgender und ist HIV-positiv. Aber Blanco hat Besseres mit seinem Künstlerleben vor. Schon einige Jahre lang versorgt der Künstler die Welt via Youtube mit seinen spektakulären Videoclips. Im September ist "High School Never Ends" als Vorabsingle zu seinem Debütalbum "Mykki" erschienen. Es ist ein außergewöhnliches Stück, bei dem Blanco mit dem französischen Musiker und Regisseur Woodkid zusammengearbeitet hat. Das Video wurde unter der Regie von Matt Lambert in Ostdeutschland gedreht, unter anderem in der Kleinstadt Freyenstein in der Prignitz. +Die Lyrics von "High School Never Ends" sind aus einer amerikanischen Perspektive geschrieben und handeln von den Unterschieden zwischen Arm und Reich und Leuten, die nicht erwachsen werden wollen: "They blasting Nelly and Missy Elliott like high school never ends." Aber es geht auch um Gefühle von Minderwertigkeit und vor allem um Liebe: "You know what my, you know what my love's about." +Im Videoclip erhält dieses Szenario völlig neue Dimensionen. Denn es geht um die Liebe zwischen Männern, um Rassismus und das alte Shakespeare-Thema von Romeo und Julia, jenen Liebenden, die sich über die Grenzen ihrer verfeindeten Familien hinweg gefunden haben. In Mykki Blancos Video bekriegen sich eine schwarze Anarchistenfamilie und eine weiße Skinheadfamilie bis aufs Blut, während der von Blanco gespielte Charakter und einer der Skins sich schon seit ihrer Kindheit lieben, wie in Rückblenden mit jungen Schauspielern gezeigt wird. +"Frieden. Ich hasse dieses Wort, wie ich die Hölle hasse", sagt einer der Skins auf Deutsch. "There must be other ways than death", sagt der Mykki-Charakter zur Vaterfigur seiner Familie. Der fragt zurück: "What other way?" Der Skinhead später: "Wie ich sie hasse. Wollen sie leben, müssen sie gehen. Wollen sie bleiben, müssen sie sterben." +So verarbeitet "High School Never Ends" auch die Frage, wie Flüchtlinge, "Fremde", "Andere" in Europa und Deutschland behandelt werden. Blanco hat zu Protokoll gegeben, er, der seit einigen Jahren immer wieder Zeit in Deutschland verbracht hat, sei vor Jahren im Glauben nach Europa gekommen, der Kontinent sei sein sicherer Hafen, in dem er nicht unter weißer Vormachtstellung wie in den USA leiden würde. Er habe sich aber geirrt. Unter der Oberfläche der Akzeptanz würden sich Aggressionen verbergen, die man spüren könne, wenn man sich mit seiner braunen Haut in der Öffentlichkeit zeige. Eine Supermarktkassiererin habe ihm gesagt, er solle in sein eigenes Land zurückgehen. "High School Never Ends" handle aber auch davon, dass "die extreme Linke und die extreme Rechte vor nichts zurückschreckten, wenn es darum gehe, an ihren Wahrheiten festzuhalten". + +Jennifer Rostock - Hengstin +Im August, kurz vor der Landtagswahl, verursachte die aus Usedom stammende Band Jennifer Rostock Aufruhr mit einem ironischen Song gegen die AfD. In der Tradition des Protestsongs setzt sich das Lied mit den politischen Positionen der Partei auseinander: "Bist du alleinerziehend und willst nicht, dass der Staat dich unterstützt? Dann wähl die AfD / Willst du 'ne Steuerpolitik, die nur dem Großverdiener nützt? Dann wähl die AfD / Willst du, dass man Sozialleistungen kürzt, und sowieso / Was spricht schon gegen Arbeit unterm Mindestlohnniveau? / Bist du bereit, auch noch mit 67 nicht in Rente zu gehen? Okay / Dann wähl die AfD." +Das in einer Wohnzimmer-Session von Sängerin Jennifer Weist und Keyboarder Johannes Walter live eingespielte Stück wurde viele Millionen Mal geklickt und rief zum Teil harsche Reaktionen hervor. Ende Oktober legten die Rocker mit einem für sie untypischen, an zeitgenössischem Rap orientierten feministischen Song nach, der nicht minder eindeutige Botschaften enthält: "Die Hengstin". Darin rappt Jennifer Weist: "Ich glaube nicht daran, dass mein Geschlecht das schwache ist / Ich glaube nicht, dass mein Körper meine Waffe ist / Ich glaube nicht, dass mein Körper deine Sache ist." +Weist tanzt in verschiedenen Kostümen durch den Clip, bei dem Justin Izumi Regie geführt hat, mal alleine, mal flankiert von einer gemischtgeschlechtlichen Tänzergruppe. Kontrovers wurde diskutiert, dass Weist in einigen Einstellungen nackt zu sehen ist, was manche Kritiker als Bruch zwischen Bild und Ton benannt haben. Kann man eine feministische Botschaft vertreten, wenn man sich im selben Moment nackt zeigt? Wie verhält sich die Nacktheit der Sängerin zur Zeile "Die Waffen einer Frau richten sich gegen sie selbst"? Dieser tatsächliche oder auch nur vermeintliche Gegensatz verkompliziert jedenfalls die unmissverständliche Botschaft des Textes, indem sie Nacktheit nicht als Objektivierung des weiblichen Körpers betrachtet, sondern als selbstbewussten Verweis auf die eigene Entscheidungsfreiheit reklamiert. +Die feministische Botschaft des Stücks wird im Video durch dokumentarische Videoeinspielungen verstärkt, die Sportlerinnen wie die Schwimmerin Britta Steffen, aber auch eine Tätowiererin, eine DJ, eine Moderatorin und andere Frauen zeigen, die erfolgreich in ihren Disziplinen arbeiten. +Auf Facebook schrieb Jennifer Weist aus Anlass der Veröffentlichung: "Liebe Mädchen, liebe Frauen, traut euch was! Tretet nach vorne, sagt, wer ihr seid, und habt keine Angst vor Rückschlägen! Ihr könnt alles erreichen, was ihr wollt, lasst euch von niemandem was anderes erzählen!" + +Ebenfalls visuell spannend und politisch interessant:"Formation"von Beyoncé, in dem die aktuelle Queen of Pop sich mit Black Lives Matter solidarisiert, gegen Polizeigewalt gegen Schwarze protestiert und eine feministischen Botschaft loswird. In"Wedding"von Policia geht es ebenfalls um Polizeigewalt gegen Schwarze und das Phänomen der Militarisierung der Polizei in den USA. PJ Harvey, die Grande Dame des Indie-Rock, hat mit"Community of Hope"ein fast schon dokumentarisches Video gedreht, das die sozialen Misstände in einem Problemviertel Washingtons beleuchtet. Wie ein Amerika unter Trump für Frauen aussehen könnte, darüber haben sich Pussy Riot in ihrem Song"Make America great again"Gedanken gemacht – das Video von Jonas Akerlund macht nicht gerade Lust auf das neue Jahr. Und weil keine Liste über politische Musikvideos komplett wäre ohne Kendrick Lamar, hier noch die Links zu"Alright"und"King Kunta", die beide längst Hymnen der Black Lives Matter-Bewegung sind. diff --git a/fluter/politische-situation-in-suedamerika.txt b/fluter/politische-situation-in-suedamerika.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1a583da43ae80cc70d637d30e6ef788f30b5a0a6 --- /dev/null +++ b/fluter/politische-situation-in-suedamerika.txt @@ -0,0 +1,47 @@ +Viele junge Leute wandern aus – zum Beispiel in die USA. +Eine würdige Arbeit zu finden, also nicht nur zu überleben, sondern zu leben, auch Vorsorge zu treffen bei Krankheit oder für Kinder, das alles ist für einen Großteil der lateinamerikanischen Jugendlichen extrem schwierig. +Woran liegt das? +Die Wirtschaft beruht in vielen lateinamerikanischen Ländern auf Rohstoffen. Öl ist ein klassisches Beispiel, aber auch Gold, Silber, seltene Erden. Das zieht sich durch die lateinamerikanische Geschichte wie ein roter Faden. Im 21. Jahrhundert hat das ein gewisses Maß an Gewinnen geschaffen. Aber dafür braucht es eben kaum Arbeitskraft, weil das meiste mit Maschinen gemacht wird. +Gibt es keine Industrie, keine großen Arbeitgeber? +Früher haben vor allem junge Frauen in Textilunternehmen für den Weltmarkt produziert. Aber in dem Moment, in dem diese Frauen für ihre Rechte und soziale Mindeststandards eingetreten sind, sind die Unternehmen abgewandert, etwa nach Bangladesch. Das internationale Kapital geht dorthin, wo es am schnellsten Gewinn macht. +Anfang der Nullerjahre sahen viele junge Leute Hoffnung in der sogenannten "rosa Welle". In vielen Ländern Südamerikas hat die "neue Linke" versprochen, alles anders zu machen. Was wollte sie erreichen? +Die Hoffnung war, dass die Einnahmen des Staates nicht nur einigen wenigen zugutekommen, sondern der breiten Bevölkerung. Weniger Ungleichheit, mehr Chancen am Arbeitsmarkt, mehr Bildung und ein besseres Gesundheitssystem. Aber man muss stark unterscheiden zwischen den Ansätzen. Unter dem brasilianischen Präsidenten Lula da Silva war das Motto "Hilfe zur Selbsthilfe". Unterstützung war daran geknüpft, dass Kinder zur Schule gingen und später arbeiten konnten. In Venezuela wurde das Geld aus dem Erdöl an die eigenen Anhänger verteilt, damit sich die Leute etwas kaufen konnten. +Das hat funktioniert? +Seit den 1960er-Jahren hieß es in Venezuela: Wir müssen die Einnahmen aus dem Öl nutzen, um ein tragfähiges Entwicklungsmodell zu bauen. Aber niemand hat es gemacht. Jetzt, wo der Preis für Erdöl im Keller ist,lebt die überwiegende Bevölkerung wieder in Armut. Die Eliten, die von dem Boom am meisten profitiert haben, haben ihr Geld ins Ausland gebracht, nach Miami oder Europa. + + + +Jetzt tobt in Venezuela sogar ein Machtkampf. Oppositionsführer Guaidó sieht sich als legitimer neuer Präsident, Präsident Maduro will nicht abtreten. +In Venezuela hat die Opposition die Wahlen zur Nationalversammlung gewonnen, und Präsident Maduro sagt: Dann mache ich eben eine verfassunggebende Versammlung, und das Parlament hat nichts mehr zu sagen. Das ist schlicht undemokratisch, das ist autokratisches Verhalten. +Venezuela ist nicht das einzige Sorgenkind. In Brasilien ist mit Jair Bolsonaro ein Präsident an der Macht, der Folter befürwortet, sich positiv auf die Militärdiktatur bezieht, kein Problem damit hat, die Umwelt zu zerstören, und dem Rechte von Minderheiten egal sind. +Lateinamerika ist gesellschaftspolitisch sehr konservativ. Es gab Fortschritte nach der Jahrtausendwende, aber nun organisiert sich der rechte Widerstand im Windschatten anderer Regionen wie den USA oder Europa. Wenn etwa Donald Trump sagt, dass er Bolsonaro toll findet, dann ist das für die Opposition in Brasilien ein großes Problem. +Gibt es auch Gründe, die in Brasilien selbst liegen? +Solange die strukturellen Probleme wie Armut, Ungleichheit und Diskriminierung nicht ansatzweise bearbeitet sind, ist ein solcher Rückschritt in autokratische Strukturen viel wahrscheinlicher. Die Demokratie ist in vielen Ländern Südamerikas massiv unter Beschuss. Wir sehen Rückschritte in den zentralen Komponenten: freie Wahlen, ein Minimum an Rechtsstaatlichkeit, Presse- und Versammlungsfreiheit, Rechte von Minderheiten. Das ist übrigens kein Links-Rechts-Problem. In vielen Ländern Lateinamerikas herrscht hohe soziale Ungleichheit, es gibt viel Gewalt. Dass in so einem Kontext die einfachen Antworten verfangen, das ist nicht erstaunlich. +Sprechen wir über Gewalt. Südamerika steht immer wieder in der Kritik wegen Menschenrechtsverletzungen. Aktivisten verschwinden oder werden getötet. +Das hat mit Machtpolitik zu tun. Als Demokratie muss ich mich zu gewissen internationalen Verträgen verpflichten, zu den Menschenrechten. Aber dann kommen wirtschaftliche Interessen dazu: Eine Mine soll ausgebeutet, nach Öl gebohrt werden. Die Regierungen kriminalisieren dann vielfach den Protest, die Polizei schießt, und der Konflikt eskaliert. +In einigen Ländern werden die Rechte von Indigenen verletzt, obwohl sie durch Abkommen geschützt sind. +Es stimmt, die meisten Länder Südamerikas haben ein internationales Abkommen unterzeichnet, das die Rechte von Indigenen schützt. Darin steht, dass sie angehört werden müssen, bevor Schürfrechte und Lizenzen vergeben werden. Aber entweder findet das nicht statt, oder die Regierung sagt, das ist nicht bindend, denn die Gemeinden wollen das in der Regel nicht. Oder aber, besonders perfide: Sie sagen, die Bewohner können zwar bestimmen, was auf ihrem Land passiert, aber alles ab einem Meter unter der Erde gehört sowieso dem Staat. +Die Waorani, eine indigene Bevölkerungsgruppe in Ecuador, haben kürzlich per Gerichtsbeschluss Ölbohrungen auf ihrem Gebiet verhindert. +Das zeigt, wie wichtig Rechtsstaatlichkeit und unabhängige Gerichte sind. Nun ist die Frage, ob sich die politischen und wirtschaftlichen Eliten auch daran halten. In Ecuador besteht da momentan Hoffnung, in anderen Ländern nicht zwingend. + + +Welche Rolle spielt die Kolonialzeit, die Zeit der Unterdrückung durch Spanier und Portugiesen, in heutigen Konflikten? +Das ist in fast allen Konflikten ein Thema. Gerade in Chile, das oft als südamerikanisches Musterbeispiel gilt, sieht es da gar nicht gut aus. Chile hat im 19. Jahrhundert die Mapuche im Süden des Landes unterdrückt. Mit der Demokratisierung konnten die sich besser organisieren und ihre Rechte einfordern. Und nun gibt es wieder massive Repression. +Ein grundlegendes Problem, sagen Sie, ist, dass kein nachhaltiges Wirtschaftsmodell für Südamerika existiert. Gibt es denn einzelne Länder, die es anders machen? +Der indigene Präsident Evo Morales ist in Bolivien mit einem breiteren Entwicklungsmodell angetreten. In der Salzwüste Uyuni gibt es große Mengen an Lithium, das für Batterien sehr wichtig ist. Morales wollte das selbst abbauen und nicht internationalen Firmen überlassen, die die Gewinne für sich verbuchen. Aber das ist auch eine Frage von Technologie und Infrastruktur. Das kostet sehr viel Geld und geht auch nicht von heute auf morgen. +Wo noch? +Der vormalige Präsident von Ecuador, Rafael Correa, hat vor einigen Jahren gesagt, dass er das Erdöl im Amazonas im Boden lässt, wenn ihm die internationale Gemeinschaft den finanziellen Ausfall kompensiert. Das wäre gut für die Umwelt gewesen und für die Indigenen, die im Urwald leben. Am Ende haben aber nicht genügend Länder mitgemacht. Da geht es auch um internationale Interessen. Aus Südamerika sollen eben die Rohstoffe kommen. +Können es südamerikanische Staaten dann überhaupt von alleine schaffen? +Es gibt Möglichkeiten. Kolumbien könnte die Kornkammer Südamerikas werden mit ganz unterschiedlichen landwirtschaftlichen Produkten, weil es weltweit eines der Länder mit der höchsten Biodiversität ist. Stattdessen wird für den Export fast nur Palmöl angebaut. +In Südamerika gibt es ganz unterschiedliche Landschaften, hohe Berge, Wüste, Meer, viele kulturelle Schätze. Was ist mit dem Tourismus? +Im Prinzip ja, solange es kein Massentourismus wird. Das wird verheerende Folgen haben, das sehen wir in der Karibik mit den großen Kreuzfahrtschiffen, die vor allem Verschmutzung hinterlassen. Und das Geld bleibt oft bei den internationalen Konzernen. +Welche Zukunft sehen Sie für Südamerika? +Wenn es um politische Entwicklungen in Südamerika geht, gehört Sabine Kurtenbach zu den gefragtesten Gesprächspartnerinnen. Sie arbeitet am Hamburger GIGA Institut für Lateinamerika-Studien. +Das Negativszenario wäre, dass sich autoritäre Politikansätze wie in Venezuela oder Brasilien halten. Dass die Interessen von einigen wenigen über die Menschenrechte gehen. +Und das positive Szenario? +Dass es doch einen Weckruf gibt. Dass sich die politischen Kräfte, die an einem friedlichen, nachhaltigen Wandel interessiert sind, auf zukunftsfähige Entwicklungsmodelle einigen. Das wird nicht von heute auf morgen gehen. Aber es gibt in Südamerika eine relativ starke Zivilgesellschaft. Die hat vielen Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten getrotzt. +Wie kann die sich durchsetzen? +Sie muss sich politisch breit engagieren. Es gibt in Lateinamerika einen tiefen Graben zwischen Zivilgesellschaft und politischem System. Parteien sind sehr schlecht angesehen und werden als korrupt wahrgenommen. In Parlamenten werden aber Entscheidungen getroffen. Wenn die zivilgesellschaftlichen Anliegen dort nicht vertreten sind, sitzen dort nur Kräfte, die so weitermachen wollen wie bisher. +Was können wir von hier aus tun? +Hinschauen. Gerade bei Gewalt nicht sagen: Huch, das war jetzt ein Ausreißer. Man kann Gruppen, die Demokratie und Menschenrechte einfordern, unterstützen. Die Zivilgesellschaft in Deutschland kann bei der Vernetzung helfen. Politik und Wirtschaft können ihre Partner auf die Einhaltung von demokratischen und menschenrechtlichen Mindeststandards verpflichten. Und nicht erst laut schreien, wenn es zu spät ist. + diff --git a/fluter/politischer-kummerkasten.txt b/fluter/politischer-kummerkasten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/politisches-engagement-tipps.txt b/fluter/politisches-engagement-tipps.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/politisches-engagement-von-jugendlichen.txt b/fluter/politisches-engagement-von-jugendlichen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..68737451f73a391192b3a67ac668d22c720ce175 --- /dev/null +++ b/fluter/politisches-engagement-von-jugendlichen.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Der demographische Wandel hat aber nicht nur zur Folge, dass junge Leute weniger Einfluss auf die Zusammensetzung von Parlamenten haben. Die Anliegen junger Menschen spielen bei Wahlen auch eine untergeordnete Rolle: Steuern, Rente oder Innere Sicherheit standen in den Wahlprogrammen der etablierten Parteien 2017 an erster Stelle. Jugendthemen wie Bildung, Umwelt oder Digitalisierung waren hingegen meist Randthemen. +Viele Parteien versuchten sich durch neue Online-Formate der Lebensrealität junger Wähler und Wählerinnen anzunähern: So ließen sich die beiden Spitzenkandidaten Merkel und Schulz im Wahlkampf jeweils von YouTubern befragen. Andere Parteien setzten WhatsApp-Newsletter ein oder warben in täglichen Livestreams um Stimmen. +Eine Idee, wie junge Menschen besser in politische Entscheidungsprozesse eingebunden werden können, ist das Wahlrecht nach Eintragung. Dies wird von der "Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen" gefordert. Kinder und Jugendliche sollen sich selbstständig ins Wahlregister eintragen können, sobald sie wählen wollen und nicht erst, wenn sie volljährig sind. In einigen Bundesländern dürfen Jugendliche bereits ab 16 Jahren bei Kommunalwahlen wählen. In Bremen, Brandenburg, Hamburg und Schleswig-Holstein hat sich die Senkung des Wahlalters mittlerweile auch auf Landesebene durchgesetzt. Eine Studie der Universitäten Osnabrück, Mainz und Frankfurt am Main zu den letzten Landtagswahlen in Schleswig-Holstein, bei denen erstmals ab 16 gewählt wurde, zeigt: Diejenigen, die bereits mit 16 wahlberechtigt sind, sind politisch überdurchschnittlich gut informiert. Zusammen mit der Senkung des Wahlalters bräuchte es aber auch mehr Informationen und Bildungsangebote für Erstwähler und -wählerinnen. Denn die Studie zeigt auch, dass nur knapp über die Hälfte der Befragten mit formal niedriger Bildung angibt, an der Landtagswahl teilgenommen zu haben. Bei den Abiturienten sind es dagegen 87 Prozent. +Politisch engagieren können sich Minderjährige auch jetzt schon. Kinder- und Jugendparlamente vertreten ihre Anliegen in vielen Kommunen, und Parteimitglied kann man auch als Jugendlicher werden – zumindest in den Nachwuchsorganisationen der Parteien. Doch auch hier müssen sich die Parteien neue Strategien einfallen lassen, damit ihnen der Nachwuchs nicht abhanden kommt. Das Durchschnittsalter der Mitglieder, der im Bundestag vertretenen Parteien, lag 2017 bei rund 56 Jahren. diff --git a/fluter/politsatire-parlament-eu.txt b/fluter/politsatire-parlament-eu.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a8f773a0db541877dd85149e9a37ee221230e53e --- /dev/null +++ b/fluter/politsatire-parlament-eu.txt @@ -0,0 +1,21 @@ + +Wie wird's erzählt? +Multilingual, was die Serie nicht nur authentisch, sondern auch besonders charmant macht. Samy und seine Kolleg*innen sprechen vor allem Französisch und Englisch, manchmal auch Deutsch oder eine andere der insgesamt 24 Amtssprachen der EU – manchmal sogar alles auf einmal. Anders als im deutschen Fernsehen üblich, zeigt ARD One die Serie im Original mit deutschen Untertiteln, sodass die sprachlichen Feinheiten erhalten bleiben. +Wie nah ist das an der Realität? +Wie es sich nun mal für Satire gehört, wird auch in "Parlament" überspitzt, was das Zeug hält. Anleihen an die Realität gibt es dabei natürlich, wie die Verordnung zum Thema Finning, um die es in der Serie geht: 2013 haben das Europäische Parlament und der Rat das Abschneiden von Flossen lebender Haie tatsächlichverboten. Einige Figuren haben auch reale Vorbilder. Die Rolle der Politikerin Marianne Nordager erinnert zum Beispiel stark an die Dänin Margrethe Vestager, Vizepräsidentin der EU-Kommission. Sie hatMilliardenstrafen gegen Konzernewie Google und Apple verhängt. Die Drehbuchautoren Daran Johnson und Noé Debré, der unweit vom Europäischen Parlament in Straßburg aufgewachsen ist, haben außerdem auf die Details geachtet. Samy kämpft zum Beispiel mit der Sitzordnung im Plenum und Insiderwitzen, die er nicht versteht (etwa dass es die schlimmste Strafe sei, nach Luxemburg versetzt zu werden). + +Der stärkste Satz +… kommt von Samys Chef Michel: "Ich bin seit drei Jahren hier. Da kann ich jetzt nicht nachfragen, wie das läuft." + +Gelernt +DassLobbyismustatsächlich auf Lobby, Vorhalle, zurückgeht. Dort nämlich warten die Lobbyist*innen auf die Abgeordneten, um sie von ihrenInteressen zu überzeugen. Und dass hinter einem unschuldigen Namen wie "Ocean Preserve Association" auch ein blutrünstiges Fischereikonglomerat stecken kann. + +Lohnt sich das? +Definitiv, schon wegen der liebenswerten Figuren, der gelungenen Dialoge, des schnellen Tempos und der Situationskomik (Regie: Émilie Noblet und Jérémie Sein). Großartig ist etwa die Szene, in der Samys Chef verzweifelt versucht, anderthalb Minuten Sprechzeit im Fischereiausschuss zu füllen (alle anwesenden Gruppen einzeln zu begrüßen dauert nur 21 Sekunden). Schön schwarzhumorig sind auch die Brexit-Spitzen. Die britische Abgeordnete, für die Samys Kollegin Rose arbeitet, feiert etwa immer montags das – aus ihrer Sicht – erfolgreich ausgegangene Referendum zum EU-Ausstieg Großbritanniens mit einer Party (eigentlich fand das Referendum an einem Donnerstag statt, aber wer will schon mit einem Kater ins Wochenende starten, scheint sich die Brexit-Befürworterin zu denken). Anders als Politsatiren wie die ZDF-Produktion "Eichwald, MdB" kommt "Parlament" ohne Altherrenhumor und allzu grobe Plattitüden aus. Das liegt vor allem an den jungen Protagonist*innen, die mitunterverkrustete oder undurchsichtige Hierarchien aufbrechen, anstatt sie nur zu persiflieren. + +Ideal für +… alle, die gern auf Bürokratie und Behördenjargon schimpfen, die Idee eines vereinten Europas aber trotzdem lieben. + + +"Parlament" läuft ab dem 29. September in derARD-Mediathekund ab dem 6. Oktober auf ARD One. +Foto: Jo Voets/WDR diff --git a/fluter/politsound.txt b/fluter/politsound.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5c9f60429b546752c7846fee7d4c8a18be276c14 --- /dev/null +++ b/fluter/politsound.txt @@ -0,0 +1,19 @@ + + + +Die palästinensische Pianistin Danah Hreish spricht über klassische Musik und die gesellschaftliche Kraft des Zuhörens +Zum Video + + + +John Known beobachtet einen Generationenkonflikt und rappt darüber. Aber: Helfen uns Reime und Beats weiter? +Zum Video + + + +Riah Knight ist Singer-Songwriterin, Jazzmusikerin und Romni. Sie wundert sich, dass die Menschen außer Stereotypen oft nichts über Romn*ja und Sinti*zze wissen. +Zum Video + + +Ofer Löwinger ist Maschinenbauingenieur, Multiinstrumentalist und Klezmer-YouTuber. Gerade hat er einen alten Bahnhof gekauft. Warum, erzählt er im fünften Teil unserer Reihe Politsound. +Zum Video diff --git a/fluter/polizei-sinti-roma-rassismus-antiziganismus.txt b/fluter/polizei-sinti-roma-rassismus-antiziganismus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..97064ae0ae2a5bd0d56eea2292f7ef82f1e8a653 --- /dev/null +++ b/fluter/polizei-sinti-roma-rassismus-antiziganismus.txt @@ -0,0 +1,30 @@ +fluter.de: Herr End, Mitte Juni ist in Tschechien der Rom Stanislav Tomáš bei einem Polizeieinsatz gestorben. Aktivisten sehen Parallelen zum Fall von George Floyd. Was löst so eine Nachricht in Ihnen aus? +Markus End: Ich bin schockiert. Andererseits sind solche Fälle immer zu befürchten. Auch in Deutschland gab es in den vergangenen Jahren Polizeigewalt gegen Sinti*ze und Rom*nja, die laut Betroffenen illegitim oder illegal war. In Freiburg wurde beispielsweise ein Familienvater bei einer Auseinandersetzung von einem Polizeihund gebissen. Ihm wurde im Krankenhaus gesagt, dass er gestorben wäre, wenn der Hund an einer etwas anderen Stelle zugebissen hätte. +Ist Antiziganismus ein strukturelles Problem in der deutschen Polizeiarbeit? +Wir können nicht sagen, wie verbreitet das Phänomen ist. Das liegt vor allem daran, dass die Polizei und das Innenministerium kaum Bereitschaft oder Initiative zeigen, das Problem anzugehen. Dabei wäre es wichtig, nicht nur zu fragen, wie verbreitet Sinti*ze und Rom*nja-Stereotype bei einzelnen Polizist*innen sind. Viel wichtiger ist die institutionelle Form des Rassismus. +Das Titelbild +Der Protestslogan "Roma Lives Matter" kommt einem traurig bekannt vor. Am 19. Juni starb der Rom Stanislav Tomáš im tschechischen Teplice nach einer Festnahme. Ein Video zeigt, wie ein Polizeibeamter minutenlang auf den Schultern und im Nacken Tomáš' kniet, der später im Krankenwagen verstarb. Die Polizei erklärte, sie habe Gewalt anwenden müssen, weil Tomáš unter Drogeneinfluss aggressiv geworden sei (Foto: Gabriel Kuchta/Getty Images) +Heißt? +Man muss systematisch und historisch schauen, wie die deutsche Polizei entstanden ist undwelche zentrale Rolle Antiziganismus von Anfang an gespielt hat. Diesem Apparat ging es immer darum, vermeintlich abweichendes Verhalten zu polizieren. Dazu gehörte auch, Menschen, die als umherziehend und vagierend(Anm. d. Red: ein veralteter Begriff für vagabundieren, also beschäftigungslos umherziehen)wahrgenommen wurden, zu bestrafen, einzusperren oder zu vertreiben. Die Bekämpfung eines vermeintlichenZigeuner*-Unwesens war für die Etablierung der deutschen Polizei ein zentrales Moment. +Im neuesten Bericht der Kommission heißt es: "Nach der Niederschlagung desNationalsozialismushaben die Täter ihre Arbeit unmittelbar wieder aufgenommen und die Perspektive auf Sinti*ze und Rom*nja in der BRD geprägt. Bisher gibt es in den Ermittlungsansätzen der Polizei wie in der polizeilichen Praxis wenig Anzeichen dafür, dass mit dieser Perspektive entschieden gebrochen wurde." +In seiner Radikalität und Offenheit hat der Antiziganismus sicher abgenommen. Mit der gesellschaftlichen Liberalisierung, der stärkeren Anerkennung des Völkermordes und derSelbstorganisation von Sinti*ze und Rom*njahat sich das Kräfteverhältnis etwas verschoben. Aber viele Elemente gibt es bis heute: dassystematische Datensammeln, Stammbaumforschung oder eigene Ermittlungsgruppen gegen Trickbetrügereien, deren Mitglieder sich explizit mit Rom*nja auskennen müssen. Bis heute finden sich in Polizeiberichten Hinweise auf die Zugehörigkeit von Tatverdächtigen. Nur heißt es heute nicht mehr "Teil der Sinti und Roma", sondern "umherziehend", "ohne festen Wohnsitz" oder "aus Südosteuropa". +Spricht nicht für ein Problembewusstsein. +Dabei machen der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma und andere Organisationen seit Jahren auf das Problem aufmerksam. Meines Erachtens hat eine demokratisch verfasste Polizei die Aufgabe, solche Vorwürfe selbst aufzuklären und entweder zu entkräften oder zu bestätigen – und dann entsprechende Änderungen einzuleiten. Es kann doch nicht sein, dass der Zentralrat wissenschaftliche Untersuchungen anstrengt – und nebenbei auch bezahlt –, um einer staatlichen Behörde nachzuweisen, dass sie teilweise grundgesetzwidrig arbeitet. + + +Wie äußert sich Antiziganismus denn konkret in der Polizeiarbeit? +Wir machen da drei große Problemfelder aus: Zunächst gibt es die Erlebnisse, die sehr viele Sinti*ze und Rom*nja auf der Straße machen: verdachtsunabhängige Kontrollen, unverhältnismäßiger Einsatz von Gewalt, schnelle Eskalationen. Ein Beispiel zitieren wir im Bericht: Bei einem Kindergeburtstag in Heidelberg wurde vor einigen Jahren wegen der Lautstärke die Polizei gerufen. Der Einsatz ist so eskaliert, dass Dutzende Polizist*innen mit Pfefferspray, Gewehren und Schlagstöcken in die Wohnung stürmten und Leute verletzten. Die betroffene Großmutter des dreijährigen Geburtstagskindes beschreibt das als "Überfallkommando". Daneben gibt es die Sondererfassung von Sinti*ze und Rom*nja, zum Beispiel in polizeilichen Datenbanken, die Menschen als "Landfahrer" oder als Personen mit "häufig wechselndem Aufenthaltsort" registrieren. Solche Verzeichnisse greifen übrigens oft auf ethnologische Wissensbestände zurück, die selbst rassistisch geprägt sind. +Und das dritte Feld? +Die Vermittlung dieses Wissens an die Öffentlichkeit, etwa durch Pressemitteilungen oder Interviews. In denen wird immer wieder auf vermeintliche oder tatsächliche Minderheitenzugehörigkeit hingewiesen, obwohl die formal keine Rolle spielen darf. So trägt Polizeiarbeit oftmals dazu bei, rassistisches Wissen in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten. +Die Polizei argumentiert, man müsse diese Fakten benennen können. +Gibt es einen kausalen Zusammenhang zwischen Minderheitenzugehörigkeit und Kriminalität? Ich sage Nein. Und das ist der Kern unserer Kritik. Dass die Nennung suggeriert, die Zugehörigkeit hätte eine Bedeutung. +Weiterlesen +Schwarze und PoC werden öfter von der Polizei kontrolliert als andere. Nur ist das nicht immer rassistisch,sagt Polizeisoziologe Rafael Behr +Wie könnte sich Polizeiarbeit konkret verändern? +Viele Wissenschaftler*innen sagen, die Polizei sei in dieser Hinsicht nicht reformierbar. Egal wie man dazu steht, ein erster Schritt wäre es, wenn Ministerien und Polizeibehörden die Kritik ernst nehmen. Wenn man öffentlich anerkennt: Wir haben ein Problem. Und zwar kein historisches, sondern hier, heute, in unserer Polizeiarbeit. Bisher wird Kritik meist reflexhaft als Pauschalverdacht gegenüber der Polizei abgewehrt. Das hat angesichts des alltäglichen Generalverdachts gegenüber Sinti*ze und Rom*nja fast komödiantische Züge. +Sie bezweifeln, dass in der Polizei überhaupt ein ernsthaftes Interesse besteht, das Problem anzugehen. Was steht dieser Auseinandersetzung im Weg? +Ich glaube, dassinstitutioneller Rassismus in Deutschlandinsgesamt kaum zur Kenntnis genommen wird. Viele verstehen nicht oder wollen nicht verstehen, dass sich Rassismus nicht gezielt gegen eine bestimmte Person richten muss, sondern subtil wirken kann. Bei manchen Polizist*innen gibt es außerdem eine Betriebsblindheit. Viele denken nicht, dass sie etwas Böses machen. Und es klafft – wie in vielen gesellschaftlichen Bereichen – auch im Polizeialltag eine große Lücke zwischen Theorie und Praxis. Forderungen der Bürgerrechtsarbeit und Erkenntnisse wissenschaftlicher Forschung werden schnell als weltfremd abgeschrieben. +Der jüngste Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus hatte in seiner Urfassung mehr als 800 Seiten. Gibt es Erkenntnisse aus anderen gesellschaftlichen Feldern, die Sie überrascht haben? +Wie stark die Abschiebepolitik gegenüber geflüchteten Sinti*ze und Rom*nja durch Antiziganismus geprägt ist. Unseren Erhebungen nach wird Antiziganismus als Verfolgungsgrund imAsylverfahrensystematisch ausgeblendet. Serbien, Nordmazedonien, Bosnien-Herzegowina oder Kosovo, also Länder, in denen Sinti*ze und Rom*nja bis heute verfolgt werden, sind sichere Herkunftsstaaten geworden. Die Balkanzentren, die vor allem dazu dienen, Asylbewerber*innen aus Südosteuropa so schnell wie möglich abzuschieben, heißen heute Ankerzentren. Das sind antiziganistische Verschärfungen. Bei vielen solcher Alltagsbeispiele hat uns Autor*innen auch überrascht, wie stark die nationalsozialistische Verfolgung bis heute nachwirkt. Wir als Kommission fordern deshalb nicht nur die Anerkennung der Verfolgung von Sinti*ze und Rom*nja zur Zeit des NS, sondern auchWahrheitskommissionen, die das Unrecht aufarbeiten, das ihnen seitdem in der Bundesrepublik widerfahren ist. + +*Der BegriffZigeunerhält sich bis heute im Sprachgebrauch, ist aber eine rassistische Fremdbezeichnung. Um darauf hinzuweisen, streichen viele Medien und wissenschaftliche Veröffentlichungen den Begriff mittlerweile durch. (Weitere wichtige Begriffe und Zusammenhänge rund um Sinti und Roma sammeltunser FAQ.) diff --git a/fluter/polizeiausbildung-usa-gewalt-waffen.txt b/fluter/polizeiausbildung-usa-gewalt-waffen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b6840a96fa40f296dac23ed16113d1331eb1d303 --- /dev/null +++ b/fluter/polizeiausbildung-usa-gewalt-waffen.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Diese Zahl zeigt das Gewaltproblem der US-amerikanischen Polizei. Und sie erzählt von Rassismus: Gemessen am Bevölkerungsanteil werden schwarze US-Amerikaner etwa dreimal so häufig zu Opfern wie weiße – obwohl sie bei den Vorfällen statistisch häufiger unbewaffnet sind als weiße Opfer von Polizeigewalt. "Der Rassismus ist tief in der amerikanischen Polizeikultur verankert", sagt Frank Rudy Cooper, Professor für Strafjustiz an der University of Nevada in Las Vegas. Den Ursprung des modernen Polizeiapparats sieht er in den Sklavenpatrouillen des 18. und 19. Jahrhunderts: bewaffneten Gruppen, die Sklaven und Minderheiten kontrollieren sollten. Diese Rolle gefalle manchen bis heute: Viele Behörden, sagt Cooper, seien durchweiße Nationalistenunterwandert. Was nicht bedeute, dass Rassismus allein das Problem erklärt: Cooper kritisiert auch eine Polizeikultur, die den Einsatz von Gewalt legitimiert. +Seth Stoughton sieht das ähnlich. "In den meisten Fällen tödlicher Gewalt war es sogar so, dass der Cop genau das tat, was ihm beigebracht wurde", sagt Stoughton, der lange Polizist war. Heute forscht er zu Polizeiarbeit mit dem Schwerpunkt Polizeigewalt. Und kritisiert vor allem die offizielle Kommunikation der Polizei, die Täter immer wieder als traurige Einzelfälle präsentiert. Das vertusche geschickt die strukturellen Defizite, sagt Stoughton. Denn die entscheidende Frage ist nicht: War es zufälligerweise ein schlechter Polizist? Sondern: Was macht in den USA eigentlich einen guten Polizisten aus? +Ein Blick auf die Polizeiausbildung gibt alarmierende Antworten. Laut der letztenErhebung des US-Justizministeriumsüben Polizeischüler durchschnittlich 71 Stunden am Schießstand. Lernen 97 Stunden Techniken zur Selbstverteidigung. Und arbeiten 49 Stunden an ihrer körperlichen Fitness. Deeskalation und Kommunikation werden in 21 Stunden abgehandelt. "Emotionale und soziale Intelligenz sind für gute Polizeiarbeit entscheidend", sagt die Kriminologin Maki Haberfeld vom John Jay College of Criminal Justice in New York. "Aber sie werden in den USA einfach nicht gelehrt." +Eine nationale Ausbildungsrichtlinie für Polizisten gibt es nicht. Dauer und Inhalte können sich von Bundesstaat zu Bundesstaat, aber auch von Stadt zu Stadt immens unterscheiden. "Den Einrichtungen wird eine unglaubliche Freiheit in der Ausgestaltung der Lehrpläne überlassen", sagt Seth Stoughton. Dazu kommt: Die durchschnittliche Ausbildung für den Streifendienst dauert gerade mal 21 Wochen. Manche Polizisten sind nach neun Wochen Schulung schon im Dienst. + + + +Quer durch das Land bieten fast 700 verschiedene Akademien und Schulen Trainings an, die auf den Polizeidienst vorbereiten sollen. Fast die Hälfte der Schüler lernt in Einrichtungen, die als "stress-based" eingestuft sind – hier orientieren sich die Form und der Inhalt des Trainings an Militärakademien. In dieses Bild passt, dass viele Soldaten nach Dienstende auf den Streifendienst umsatteln, so wie Derek Chauvin, der mutmaßliche Mörder von George Floyd. +Mitrund 13 Prozententspricht der Anteil schwarzer Polizist/-innen in den USA gerade dem Anteil der schwarzen Bürger/-innen an der US-Bevölkerung. Ob mehr Diversität zu weniger Fällen tödlicher Polizeigewalt gegenüber Minderheiten führt, wird erforscht. Eine neuereStudiezeigt zumindest, dass weiße Polizisten bei einer Notrufsituation in Vierteln, in denen mehrheitlich schwarze Menschen leben, fünfmal häufiger ihre Waffe ziehen als ihre schwarzen Kollegen. +In Deutschland geht es seltener um tödliche Gewalt, als vielmehr umRacial Profiling. Also darum, ob Menschen, die eine Migrationsgeschichte haben oder migrantisch gelesen werden, ohne konkreten Anlass häufiger kontrolliert oder einer Straftat bezichtigt werden. +Zuletzt wurden aber immer wieder Kontakte von Polizeibeamt/-innen in rechtsextreme und militante Netzwerkeaufgedeckt. Und auch in Deutschland sorgen Todesfälle von Menschen in Polizeigewahrsam für Diskussionen – zum Beispiel Oury Jalloh. Der Sierra Leoner verbrannte 2005 unterbis heute ungeklärten Umständenin einer Dessauer Polizeizelle. Ob und wo die deutsche Polizei strukturelle Rassismusprobleme hat, sollte gerade eine große, unabhängige Studie zeigen. Bundesinnenminister Horst Seehofer sagte sie ab – und wurde dafür auch aus Polizeireihenkritisiert. +Natürlich sehen das auch viele Polizisten. Gruppen wie das Police Executive Research Forum (PERF), eine Forschungsgruppe um Führungskräfte der US-Polizei, üben seit Jahren Selbstkritik. Die Expertenwerbenfür eine Polizeikultur, die Deeskalation, Vorsicht und Rücksprache mit Kollegen nicht als Schwäche auslegt. +Für Frank Rudy Cooper erklärt der PERF-Befund genau, warum Polizisten für schwarze US-Amerikaner so oft zur Gefahr werden: Der Imperativ zum schnellen, entschlossenen Handeln bringe im mit deutlicher Mehrheit männlichen Polizeiapparat eine hypermaskuline Dominanzkultur hervor. "Die stößt sich besonders an schwarzen jungen Männern", sagt Cooper, "weil sie für weite Teile der Gesellschaft die sinnbildliche Gefahr sind." Daher müsse Widerspruch und kleinsten Respektlosigkeiten mit Gewalt begegnen, wer als Polizist nicht das Gesicht verlieren will. Wo diese rassistischen Vorurteile auf die antrainierte "Machokultur" treffen, können schon banale Situationen wie eine Verkehrskontrolle leicht eskalieren. + + + + +Dass ein Wandel möglich ist,zeigen einzelne reformwillige New Yorker Polizeibehörden: Dort endeten weniger Einsätze gewaltsam, wenn zuvor beim Training Wert auf Deeskalationsstrategien gelegt wurde. "Ich bin davon überzeugt, dass wir bereits weniger von Polizisten getötete Schwarze beklagen müssten, wenn diese Art der Ausbildung flächendeckend umgesetzt würde", sagt Cooper. +Weiterlesen +Schwarze werden auch in Deutschland öfter von der Polizei kontrolliert als andere. Aber nicht immer muss Rassismus dahinterstecken,sagt der Polizeisoziologe Rafael Behr +Momentan scheint das die kleinteilige Organisation der rund 18.000 Polizeibehörden im Land zu verhindern. Mit dem Slogan "Defund the police" fordern zwar viele Black-Lives-Matter-Demonstranten die Kürzung der Polizeimittel. Die großen Etats verwalten aber vor allem Polizeidirektionen in Städten, nicht die kleinen, lokal finanzierten Dienststellen in ländlichen und strukturschwachen Regionen, die den Großteil des US-Polizeiapparats ausmachen. Ihnen fehlt oft schon das Personal für die Streifenwagen – und dazu die Mittel, um in Aus- und Weiterbildung zu investieren. Wenig überraschend ist die Rate tödlicher Polizeieinsätze in Gemeinden unter 10.000 Einwohnern am höchsten. +Immer wieder kommt es deshalb vor, dass Polizeibehörden mit besonders schlechtem Ruf aufgelöst und in größere Einheiten eingegliedert werden. Nach dem mutmaßlichen Mord an George Floyd droht dieser Schritt auch dem Minneapolis Police Department. Andere lokale Polizeibehörden wie in New York oder Los Angeles haben derweil schon Reformen angestoßen – und beispielsweise den Würgegriff verboten. +Dieses Verbot findet sich auch in einemGesetzentwurf, den das US-Repräsentantenhaus gerade verabschiedet hat. Die darin skizzierte Polizeireform soll neben solchen Griffen auch die Immunität von Polizisten einschränken, um sie nach gewalttätigen Einsätzen leichter juristisch verfolgen zu können, und den Einsatz von Körperkameras bei Polizisten etablieren. Dem Entwurf werden im mehrheitlich republikanischen Senat aber wenig Chancen zugestanden. Und ein Blick auf jüngste Reformen zeigt, dass solche Korrekturen schnell verpuffen, wenn sich an der grundlegenden Polizeikultur nichts ändert. Landesweite verpflichtende Ausbildungsstandards wären eine mögliche Lösung. Die aber hält Maki Haberfeld für politisch nicht gewollt. "Ich und andere Experten plädieren seit über zwanzig Jahren dafür", sagt Haberfeld. "Aber ich glaube nicht, dass das hier jemals passieren wird." + +Die Fotos (Laif) zeigen die New Yorker Polizei. diff --git a/fluter/polizeigewalt-nba-protest.txt b/fluter/polizeigewalt-nba-protest.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..da6203fa944b3c36c5c3b9b925a9276e7fd83f3c --- /dev/null +++ b/fluter/polizeigewalt-nba-protest.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Die Orlando Magic, Gegner der Bucks, schlossen sich dem Protest an. Genauso die anderen NBA-Teams, die an diesem Tag Ende August gespielt hätten. Es folgten boykottierte Spiele in der Profiliga der Basketballerinnen und der Baseball- und Fußballliga der Männer. In New York wurde ein großes Tennisturnier verlegt. Der Profisport in den USA setzte aus. Das maximale Statement für einen Betrieb, der keine Pausen kennt. + + +Der Boykott der Bucks war eine spontane Entscheidung. Dass es unter allen US-Sportlern Basketballer waren, die ihn initiierten, hat aber niemanden überrascht: Kein anderer Sport stellt sich so geschlossen an die Seite derBlack-Lives-Matter-Bewegung. Die Zeiten, in denen ein Megastar und Nike-Werbeträger wie Michael Jordan sich politisch nicht klar positionieren wollte, weil "auch Republikaner Sneaker kaufen", sind lange vorbei. In Orlando, wo weitgehend abgeschottet von der Außenwelt auf dem Disney-World-Gelände die Meisterschaft unter Corona-Hygienemaßnahmen ausgespielt wird, stehen antirassistische Botschaften auf dem Hallenboden und den Trikots. +Läuft vor den Spielen die US-Hymne, knien die Spieler: eine Hommage an Colin Kaepernick, den Footballer, der 2016 während der Hymne in die Knie ging, von Donald Trump "Hurensohn" genannt wurde und keinen neuen Vertrag bekam. Die Teams schienen in diesem Jahr bereit, nicht nur Lippenbekenntnisse abzugeben, sondern notfalls die ganze Saison abzusagen. Damit hätten sie für ihre Sache wahrlich etwas riskiert: Fans, die die Black-Lives-Matter-Bewegung nicht unterstützen, Werbegelder, gewaltige TV-Einnahmen und die Meisterschaft. +Letztlich wurden die Play-offs fortgesetzt. Viele Basketballer hatten in der Play-off-Bubble von Orlando weiter protestieren, andere sich lieber in ihren Heimatstädten gegen Rassismus einsetzen wollen. Nach einer langen Diskussion blieben sie und spielten weiter. Bisspätestens Mitte Oktober der Meister feststeht, behalten sich die Spieler aber neuerliche Boykotte vor – und haben mit der Liga ausgehandelt, dass sie 300 Millionen Dollar an Antirassismus-Initiativen spendet. Ein paar Teams sagten zu, ihre Arenen im November zu Wahlkabinen zu machen, weil man dort leichter auf Abstand gehen kann als etwa in Schulen oder Gemeindezentren. +Die Basketballligen der Frauen und Männer unterstützen den Protest ihrer Spieler*innen mittlerweile offen. Dass eine Liga geschlossen politisch agiert, ist ein Novum in dem Land, in dem bislang vor allem Einzelsportler politisch von sich reden machten: Kaepernick, den die Chefs und Stars der konservativen Footballliga offen anfeindeten, die Sprinter John Carlos und Tommie Smith, die auf dem Olympiapodest 1968 die schwarz behandschuhte Faust reckten, oder der damalige Boxweltmeister Muhammad Ali, der den Kriegsdienst in Vietnam verweigerte. +Jetzt kann die NBA vielleicht gar nicht anders, als ihre Protagonisten zu unterstützen. Die Spieler kämpfen gemeinsam. Die große Mehrheit von ihnen ist Schwarz, viele zählen zu den besten Basketballprofis der Welt. Sie solidarisieren sich wohl auch, weil sie zum Teil selbst Rassismus erfahren. Einer der Bucks-Spieler, die den Boykott begründeten, ist Sterling Brown. Er wurde 2018 von Polizisten mit einem Taser niedergestreckt, nachdem er sein Auto falsch geparkt hatte. Mit LeBron James ist der beste Spieler der Liga seit Jahren Wortführer der Black-Lives Matter-Bewegung. James hat gut 72 Millionen Instagram-Follower, fast dreimal so viele wie alle drei Teams, für die er bislang spielte, zusammen. Er nutzt diese Reichweite nicht nur für Werbung und lustige Videos aus der Kabine. +Die Vehemenz der Basketballer*innen hat viele angesteckt, sogar in Ligen, die nicht im Verdacht standen, das Wort für Minderheiten zu ergreifen: die Footballer der NFL, die Baseballspieler der MLB, selbst die sehr weiße Eishockeyliga NHL setzte ihre Play-offs zwischenzeitlich aus. Zu einigen Tennisspielen der US Open stand in jeder Ecke der Arena groß und breit der Schriftzug "Black Lives Matter". Die Siegerin Naomi Osaka trug vor jedem ihrer sieben Spiele eine Maske mit einem Namen getöteter schwarzer US-Amerikaner*innen. +Der Protest gehört nun zum US-Sport. Wenn die Sportler*innen das Gefühl haben, ihr Sport lenke von den großen gesellschaftlichen Problemen ab oder entwickle aus der Disney-World-Bubble von Orlando nicht genug Strahlkraft, sind weitere Boykotts jederzeit möglich. The games must not go on. diff --git a/fluter/polnische-pflegekraefte.txt b/fluter/polnische-pflegekraefte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dfff3c4d368682cf7a5b46ebf72e83d9a38f9782 --- /dev/null +++ b/fluter/polnische-pflegekraefte.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Ewa zierte sich, ein Fahrrad, fand sie, das sei doch ein allzu großes Geschenk, nicht wahr. Das kann ich nicht annehmen, sagte sie. +Nimm es bitte, Liebes, sagte Frau Matthes. Ich brauche es nicht mehr, das weißt du doch. +Gertrud Matthes wird nie mehr Fahrrad fahren. Seit sie vor drei Jahren einen Schlaganfall erlitten hat, sind ihre Gliedmaßen beinah vollständig gelähmt. Nur die linke Hand kann sie noch schwach bewegen, es reicht gerade, um auf den Knopf zu drücken, mit dem sie das Rückenteil ihres Bettes hochfahren kann. Im Sitzen sieht sie dann den Kirschbaum im Garten und mitunter einen Vogel, der auf einem Zweig hockt. Dieser Ausblick, sagt Frau Matthes, werde ihr niemals langweilig, die Sonne, der Regen, der Schnee, der Zug der Wolken, die Färbung der Blätter, das sich allmählich verändernde Licht, das ist doch herrlich, sagt sie, das habe ich früher nie wahrgenommen. Wenn sie so redet, klingt sie wie jemand, der Glück gehabt hat. +Hätte die Nachbarin, die sie zum Kaffeekränzchen besuchen wollte, sie damals nicht durchs Fenster im Flur liegen sehen, da bei der Telefonbank, wo sie zusammengebrochen war, und hätten die Männer vom Rettungsdienst nicht die Tür eingetreten, sagt Frau Matthes, dann wäre es aus gewesen mit mir, so schnell kann es gehen, dann wäre ich jetzt schon bei meinem Helmut. +Nun ist sie bei Ewa, und Ewa ist bei ihr, das ist das ganze Glück, das sie hat. Liebes, so nennt Frau Matthes ihre polnische Pflegerin, die rund um die Uhr für sie da ist, ihr das Kissen richtet, damit sie den Kirschbaum besser sehen kann, die für sie kocht, sie füttert, wäscht und tröstet, die ihre Lieblingsmusik auflegt von Roger Whittaker und Karel Gott, mit ihr die Vorabendserien schaut, ihr die feine Bluse anzieht, wenn der Hausarzt kommt, und mit ihr betet vor dem Einschlafen. Gertrud Matthes, geboren 1938 in Cloppenburg, und Ewa Sobczak, geboren 1969 in Gliwice, sind eine kleine Familie, die das Schicksal zusammengeführt hat, der sogenannte Pflegenotstand, die Suche nach einem besseren Einkommen und eine Agentur für 24-Stunden-Betreuung. Eine kranke Mutter und ihre bezahlte Tochter. Eine, wenn man so will, moderne Familie. +Experten schätzen, dass zwischen 150.000 bis 300.000 osteuropäische Pflegekräfte in deutschen Privathaushalten arbeiten, viele davon schwarz. Sie betreuen alte Menschen, die nicht im Heim leben möchten, aber auch keine Angehörigen haben, die sich umfassend um sie kümmern könnten oder wollten. Die Zeiten, in denen die Kinder das Haus übernahmen und im Gegenzug die Eltern versorgten, sind längst vorüber. +Auf Gertrud Matthes traf beides zu. Sie hatte niemanden, der sich um sie kümmern konnte, wollte aber auch nicht in ein Seniorenstift ziehen, den Friedhof der Lebenden, wie sie es nennt. Ihr Mann Helmut ist lange tot, er starb 1999 an Lungenkrebs, der Sohn lebt weit entfernt in Süddeutschland, er habe, sagt Frau Matthes, beruflich sehr viel um die Ohren. In einem Heim vor sich hin zu vegetieren, gelähmt, aber bei vollem Bewusstsein, das war für sie schon vor dem Schlaganfall ausgeschlossen. Für den Fall der Fälle hatte sie Informationsbroschüren von Pflegedienstleistern gesammelt. +Der Sohn kannte ihren Wunsch, er reiste an und regelte das Notwendige: die Bewilligung des Pflegegrads 5, den Umbau des Hauses, den Vertrag mit der Agentur, dann übergab er seine Mutter an ihre neue Tochter. Als Gertrud Matthes drei Monate nach ihrem Schlaganfall nach Hause zurückkehrte, war Ewa schon dort. Sie war in das alte Kinderzimmer gezogen, über das Bett hängte sie ein Bild der Schwarzen Madonna von Tschenstochau. +Im Deutschkurs, den sie in Vorbereitung auf ihre Tätigkeit absolvierte, lernte sie die Vokabeln der Pflege, ból heißt Schmerz, glód heißt Hunger, zmeczenie heißt Müdigkeit. Den Rest hat sie beim Zuhören gelernt. Frau Matthes erzählt gern und viel von früher, von ihrem Helmut, der Kaminbauer gewesen sei und viel geraucht habe, ob der Lungenkrebs nun vom Zigarettenkonsum gekommen sei oder vom Kontakt mit dem Asbest, das könne man nicht sagen. Vom guten Leben, das sie einst hatten, vom letzten gemeinsamen Urlaub auf Wangerooge. Von ihrem Sohn – ein ganz heller Kopf –, er sei nach dem Abitur gleich fortgezogen in die große Stadt, das müssten die jungen Leute ja tun, was sollten sie denn hier. Er schreibe ihr regelmäßig. Ewa sitzt neben dem Bett auf einem Hocker, streichelt Frau Matthes' Hand und nickt manchmal. Sie versteht alles und sagt wenig. +Etwa 1.200 Euro netto können polnische Pflegerinnen in Deutschland verdienen, das ist das Doppelte des Gehalts, das Ewa zuvor als Erzieherin in einem Kindergarten in Polen bezog. Dafür hat sie ihr Leben in den Dienst einer fremden Frau gestellt, es ist entsagungsreich und aufopfernd, sechs Tage in der Woche, elf Monate im Jahr, 900 Kilometer von daheim entfernt. Ihre Tochter, sagt sie, studiere Jura in Warschau, der Vater sei fort, lange schon, mehr möchte sie nicht berichten über ihr Leben in Polen, in das sie jetzt nur noch für drei Wochen im August und für ein paar Tage an Weihnachten zurückkehrt. Darauf freue sie sich sehr, aber zugleich falle es ihr schwer, Frau Matthes zurückzulassen. Die Mitarbeiter der Sozialstation kümmern sich in dieser Zeit um sie, aber das ist was anderes, sagt Frau Matthes, das kann man nicht vergleichen. +In dem kleinen Haus, das die beiden seit nun fast drei Jahren gemeinsam bewohnen, riecht es, als hätte jemand auf einer Krankenhausstation Kuchen gebacken. Die Heizungsluft flirrt, ein Harlekin aus Keramik sitzt auf der Fensterbank und beobachtet Frau Matthes, die regungslos im Bett liegt, und Ewa, die sie umkreist und umsorgt und ihr so nah kommt wie ein Mensch sonst nur sich selbst. Liebes, sagt die kranke Mutter, gibst du mir etwas zu trinken, bitte. +Den Großteil ihres Gehalts schicke sie ihrer Tochter, sagt Ewa. Für sich brauche sie kaum etwas, Kost und Logis sind von Vertrags wegen frei. Und wofür soll sie es sonst ausgeben, an den Sonntagen, die sie freihat, in dieser Kleinstadt, die daliegt wie erstochen von der Durchgangsstraße. Manchmal trinkt sie einen Kaffee in der Fußgängerzone, aber der komme ihr, sagt sie, zu teuer vor, und Kuchen backe sie ohnehin lieber selbst. Auch ihre freien Tage verbringt sie inzwischen meistens mit Frau Matthes. +Als sie die Tür des Kinderzimmers hinter sich geschlossen habe, damals, am ersten Abend in Deutschland, sei es ihr vorgekommen wie ein Gefängnis. Gäfänknis, sagt sie, und es klingt für einen kurzen Moment so, wie es tatsächlich gewesen sein muss. Dann lacht sie absichtsvoll, als wollte sie damit etwas zurücknehmen, das sie nicht hätte sagen sollen. Aber jetzt fühle auch sie sich hier daheim, bei Frau Matthes. In den akkurat geschlagenen Scharten der Sofakissen liegen Kuscheltiere, ein Schaf, ein Hund und ein Schimpanse, wie in einem Museum der Gemütlichkeit. In der Küche hängt ein Wandkalender mit Landschaftsaufnahmen aus der Region, herausgegeben von einer örtlichen Tankstelle. Darin stehen die Termine des laufenden Monats auf Polnisch. Lekarz steht da, am Dienstag kommt der Hausarzt, pedikiurzysta, am Mittwoch kommt der Fußpfleger. Einmal in der Woche bringt der Sohn der Nachbarin die Lebensmittel vorbei. Wenn es Frau Matthes gut geht, gehe es ihr auch gut, sagt Ewa. An das Heimweh habe sie sich gewöhnt, neben der Schwarzen Madonna von Tschenstochau hängen nun ein paar Fotos. Auf einem ist eine junge Frau zu sehen, die sich für ein Maifest zurechtgemacht hat, es ist Ewas Tochter, sie heißt Nadia und ist 22 Jahre alt. +Im ehemaligen Schlafzimmer des Ehepaars Matthes, das jetzt einem Arzneimittellager gleicht, steht noch der große Eichenschrank, darin hängen die alten Sonntagskleider. Frau Matthes hat sie Ewa vermacht, erst eins, dann noch eins, schließlich alle, so was, sagt Frau Matthes, trägt man doch heute wieder. Sie stehen dir so gut, Liebes. Sie wünscht sich, dass Ewa einmal zum Schützenfest geht oder zur Kirmes, vielleicht lernt sie dort einen netten Mann kennen, sagt Frau Matthes, es muss doch manchmal recht einsam sein, allein mit mir, nicht wahr, Liebes. Ach nein, es geht, sagt Ewa Sobczak und lächelt. +Das Fahrrad hat sie schließlich doch angenommen. Den Sommer über hat sie abends ein paar Ausflüge gemacht, den Fluss entlang, in die Wiesen, durch den Wald. Vielleicht, sagt sie, werde sie bald einmal eine polnische Kollegin besuchen, die ebenfalls eine alte Frau pflege, in einem Dorf westlich von hier, etwa 20 Kilometer entfernt. diff --git a/fluter/polyamorie-dreierbeziehung-protokoll.txt b/fluter/polyamorie-dreierbeziehung-protokoll.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..18aae795bc3305a0ffec117025e03e4eed053989 --- /dev/null +++ b/fluter/polyamorie-dreierbeziehung-protokoll.txt @@ -0,0 +1,51 @@ +H:"Das Konzept der Exklusivität ist anfällig. Klar kann man sich Treue schwören, und bei einigen klappt es. Aber das Potenzial ist groß, dass Menschen auf Menschen stoßen und man sich berührt." +Polyamorie nennt man damals noch freie Liebe. In den Medien ist sie kaum Thema, auch bei Jim und Daniel nicht. Wohl aber unter Hannas Freundinnen und Freunden. Sie diskutieren die Abkehr von romantischen Konventionenund neue Gesellschaftsformen. +H:"Wer liebt, hat keine Angst, und wer Angst hat, kann nicht richtig lieben. Uns hat bewegt, wie Liebe und Freundschaft zu Kooperation führen, zu einem Miteinander – nicht zu Besitzergreifen." +So viel zur Theorie. In der Praxis treffen sich Hanna und Daniel erst mal heimlich. +H:"Ich hatte monatelang das Gefühl: Nein, ich bin nicht verliebt, ich kann das trennen und bin ja mit Jim zusammen." +D:"Ich war gleich committet, ich habe sie echt vergöttert. Sie war so schön und weise und hatte andere Perspektiven auf das Leben." +H:"Irgendwann habe ich zu Jim gesagt: Ich weiß nicht, wohin das führt, ich merke nur: Ich will das. Ich hab mich in ihn verknallt, dich will ich aber auch nicht verlassen." +J:"Anfangs hatte ich noch die Hoffnung, sie entscheidet sich: entweder er oder ich." +D:"Jim und ich haben uns im Park getroffen. Wie Cowboys zum Duell, aber eben mit zwei Mega-Softies. Ich glaube, wir wollten den jeweils anderen zum Aufgeben überreden. Das Ergebnis war, dass wir uns hinterher eher mehr mochten." +J:"Ich dachte, wenn ich Hanna verlasse, habe ich alles vergrützt. Die Angst vor dem Versagen war größer als die Verletzung. Deshalb bin ich geblieben." +Wenn der Mensch, den man liebt, einen zweiten liebt, kann man einen Weg finden, die eigenen Ängste zu reflektieren, die einem einflüstern, man werde weniger geliebt, wenn noch jemand geliebt wird. Ängste, die einen glauben machen, Liebe sei ein endliches Gut und man könne beim Verteilen zu kurz kommen. +D:"Gefühle sind auch das Ergebnis von Gedanken – besonders in moralischen Fragen. Ich schlafe mit einer Frau, jemand anderes auch: Das ist eine Abweichung von dem, was sich gehört, und deswegen tut es mir weh. Aber welche Vorstellung von Miteinander steckt dahinter, und stimme ich der überhaupt zu? Was soll diese Exklusivität? Die macht wirklich nirgends Sinn – außer man will gleichzeitig etwas unternehmen, das geht eben nicht." +Was unter den dreien verteilt werden muss, das ist die Zeit. +H:"Es ist ein Organisieren und Abwägen – Weihnachten bei der Familie, und dann verbringt man die folgenden Tage mit dem einen und Silvester mit dem anderen. Zu Geburtstagsfeiern habe ich relativ bald beide eingeladen. Läuft nicht immer geschmeidig. Das wäre aber auch zu viel verlangt." +J:"Wir haben eine Regel, die ich sehr schätze: Wenn wir zu dritt sind, ist jeder für sich, dann machen nicht zwei was zusammen, und der Dritte ist außen vor." +D:"Wenn es sich organisieren lässt, schläft jeder für sich. Ich bin da vielleicht einen Moment früher ausgestiegen: Passt schon, schlaft ihr mal zusammen, ich schlaf da drüben. Denn was macht das für einen Unterschied?" +Das sind die Herausforderungen des Alltags – aber was ist in harten Zeiten? Erst bricht Daniels bester Freund und Bandkollege bei einem Konzert zusammen und stirbt Monate später. Dann, vor einigen Jahren, hat Daniel eine Hirnblutung. +H:"Daniel und ich hatten sehr intensive Zeiten zusammen, da fühlte sich Jim schon außen vor. Er war gefordert, sein Ego klein zu klopfen – was ihm echt gelungen ist." +J:"Es ist immer noch Arbeit." +Auch wenn sie von Jahr zu Jahr leichter von der Hand geht. +J:"Ich habe natürlich viel Zeit mit meinen Kindern verbracht und im Job, ich hatte viele Verpflichtungen. Ich wusste, dann sieht sie Daniel. Früher war jede Nacht eine Katastrophe für mich." +D:"Ich habe anfangs viele Songs geschrieben und für sie aufgenommen. Da konnte ich was feedbacken von meinen Erfahrungen. Ich habe im Haus gegenüber gewohnt und konnte sehen, ob jemand bei Hanna im Schlafzimmer war. Das war sinnlose Konfrontationstherapie." +H:"Das Potenzial, dass die Dämonen hochkommen, ist maximal. Ich glaube, nirgends ist man vulnerabler als in der Liebe." +J:"Ich habe mich damit über Wasser gehalten: Ich bin die Nummer eins, das Alphamännchen – und Daniel hintendran, als zweite Beziehung. Das war natürlich eine Illusion. Die Gleichwertigkeit zwischen Daniel und mir zu akzeptieren hat am längsten gedauert." +Der Umgang und das Miteinander entwickeln sich stetig. +J:"Ich war jahrelang ganz strikt: Wenn sie bei Daniel ist, will ich keinen Kontakt." +Dieses Jahr – dem sechzehnten zu dritt – ist diese Regel gebröckelt. Denn dass es einen Weiteren an Hannas Seite gibt, hat sich für Jim mit jedem Jahr weniger bedrohlich angefühlt. Inzwischen hat Jim auch Liebesbeziehungen mit anderen Frauen. Daniel nicht. +D:"Einfach zu viel zu tun. Man kümmert sich doch umeinander im Alltag, und dann hätte ich das alles zweimal. So muss das auch für Hanna sein: viel Verwaltung." +J:"Daniel ist von Anfang an unverkrampfter umgegangen mit der Situation. Vielleicht bin ich auch dramatischer vom Charakter." +Sieben Jahre hat es gedauert, bis Jim Hanna ins Leben seiner Kinder ließ. +J:"Es war nicht leicht für sie, jahrelang getrennt zu sein von diesem Teil meines Lebens. Ich glaube, dass ihr die Beziehung zu Daniel geholfen hat, sich das nicht zu sehr zu Herzen zu nehmen." +Jim wollte keine weiteren Kinder. Und auch Hanna und Daniel haben sich letztlich dagegen entschieden. Sonst, sagt Jim, hätte er sich getrennt. +Auch eine solche Konstellation hat Grenzen – des Ertragbaren, des Machbaren. Zusammenziehen zum Beispiel ist keine Option. Allerdings ist Hanna mittlerweile häufiger bei einem der beiden als in ihrer Hamburger Wohnung. Jim hat vor Jahren ein Haus in Mecklenburg gekauft, Daniel lebt in einem Haus in Niedersachsen, das er und Hanna mit einem gemeinsamen Freund gekauft haben. +J:"Sie haben zusammen ein Haus, sie teilen sich ein Auto. Damit kann ich bis heute nicht gut umgehen. Das ist so manifest, das sticht immer noch. Aber auch das wird vorbeigehen." +H:"Das war eine Zäsur. Ich stecke da Geld rein und Arbeit. Andererseits hat auch Jim sein Haus gekauft, das sollen mal seine Kinder erben, und es könnte ein Alterssitz für deren Mutter sein, wenn sie das möchte." +Darum gehe es, sagt Jim:ein soziales Netz, mit dem man auch abseits der romantischen Liebe glücklich ist. +D:"Was mir an uns guttut, ist, dass ich zwischendurch meine Ruhe habe, ganz automatisch. Wäre Jim nicht, müsste ich mich vielleicht selbst dran erinnern, mich mehr zu distanzieren." +J:"Wenn du mehrere Menschen hast, kannst du viel mehr sein." +Im Umfeld der drei wissen die meisten von ihrer Konstellation. Jims Mutter weiß zumindest von seinen Affären, aber nicht, dass Hanna einen weiteren Partner hat. +J:"Meine Kinder denken, ich bin mit Hanna zusammen und fertig. Das geht sie auch nichts an." +H:"Ich habe meinem Vater erst 2017 erzählt, dass ich seit vielen Jahren mit zwei Männern liiert bin. Es hätte ihn weniger getroffen, wenn ich ihm gestanden hätte, dass ich jemanden getötet habe. Er hat das Gespräch sofort abgebrochen." +Seither sparen Hanna und ihr Vater das Thema weitgehend aus. Seit der Hirnblutung ist Daniel für ihren Vater als Partner gesetzt, Jim ignoriert er. +H:"Kürzlich hat er gefragt, ob das unaussprechlich Grauenhafte noch stattfinde in meinem Leben. Da war ich kurz davor, ihn zum Teufel zu jagen." +Die drei haben ihren Rhythmus gefunden. Jim geht sogar so weit, zu sagen, dass Hanna und er wohl nicht mehr zusammen wären, wenn es Daniel nicht gäbe. +J:"Er macht sein Ding und lässt Hanna ihres finden und machen. Die Beziehung zu mir ist, glaube ich, eine interaktivere, weil wir mehr miteinander sind." +H:"Daniel und Jim sind an unterschiedlichen Stellen sehr klug, ich bekomme da eine ganze Palette an Lebensaspekten, die mich klüger und besonnener machen." +J:"Du kannst in so einer Beziehung den Beweis sehen, dass die Liebe fehlt – oder dass die Liebe besonders stark ist. Es hat viel damit zu tun, was für ein Mensch du sein willst." +H:"Wenn man über die Jahre so aneinander festhält, nicht aus Gewohnheit oder Verlustängsten, sondern weil man es ernst miteinander meint, dann kriegst du irre viel zurück. Das ist Liebe: die Angst zu überwinden und auch mal an die Hand genommen zu werden. Das im Doppelpack ... ist natürlich fett." + +Dieser Text ist imfluter Nr. 89 "Liebe"erschienen.Das ganze Heftfindet ihr hier. + diff --git a/fluter/popstars-bei-amtseinfuerung-us-praesidenten-trump-obama-kennedy-clinton-bush-carter.txt b/fluter/popstars-bei-amtseinfuerung-us-praesidenten-trump-obama-kennedy-clinton-bush-carter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fce1ca0b94643fd70640d36503ed6d275fa92ece --- /dev/null +++ b/fluter/popstars-bei-amtseinfuerung-us-praesidenten-trump-obama-kennedy-clinton-bush-carter.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Seit letztem Freitag ist die Liste raus, wer an Trumps Amtseinführung singen wird. Sagen wir so: Die ganz großen Chartstürmer sind nicht darunter. Oder kann jemand spontan den letzten Hit der Band 3 Doors Down nennen? Die Nationalhymne singt Jackie Evancho, die vor sechs Jahren bei der Casting Show "America's got Talent" den zweiten Platz machte. Jemand vom Kaliber wie Aretha Franklin, Stevie Wonder, Katy Perry, Lady Gaga oder Beyoncé – sie alle spielten für Obama – sucht man vergeblich. + + +Peinlich genug, dass sich trotz händeringender Suche kein einziger A-List-Star fand, der für Trump singen will. Elton John, Andrea Bocelli, Garth Brooks, Céline Dion – alle sagten ab. Und sogar Kanye West. Der besuchte immerhin den "president elect" nach der Wahl und sagte: "Ich habe nicht gewählt. Hätte ich es getan, hätte ich für Trump gestimmt." Aber für ihn singen? Nope. Offenbar fürchten die Stars, dass ihnen das die Fans übel nehmen würden. +Absagen sind keine ganz neue Erfahrung für das Team Trump. Schon während des Wahlkampfesuntersagten zahlreiche Musiker, dass ihre Lieder bei Trump-Veranstaltungen gespielt werden.Ebenso peinlich waren für das Organisationsteam allerdings die ungebetenen Anfragen. Die lustigste kam von Schauspieler Alec Baldwin, der für Saturday Night Live regelmäßig Trump imitiert. Er würde auftreten,twitterte er,aber nur, wenn er "Highway to Hell" zum Besten geben dürfe. +Was bei der feierlichen Amtseinführung eines US-Präsidenten passiert, hat weniger mit der Verfassung zu tun – der Präsident muss einen Amtseid schwören, mehr offizielles Zeremoniell ist nicht vorgesehen – als vielmehr mit Tradition. Die Paraden, Ansprachen und Bälle, die an diesem Tag stattfinden, sind im Laufe der Jahrzehnte zum Ritual geworden. Es ist ein Tag, an dem in Amerika nicht nur ein neuer Präsident, sondern auch die Demokratie gefeiert wird. + + +Und seit gut 50 Jahren ist er auch ein Popkultur-Ereignis. Erstmals kamen sich der Glamour des Showbiz und die Macht der Polit-Elite mit John F. Kennedy ganz nahe, der 1961 als jüngster gewählter Präsident aller Zeiten vereidigt wurde. Damals wirkte Kennedys Freund Frank Sinatra an der Planung des Showprogramms mit, trat selbst auf und brachte gleich halb Hollywood mit. Kennedy nutzte die Symbolkraft des Moments, um sein politisches Programm anzudeuten. In einer Zeit des wirtschaftlichen Wohlstands wollte er den sozialen Wandel vorantreiben. +Immer wieder schärften die künftigen Präsidenten mit dem Musikprogramm ihr Profil. Jimmy Carter, Präsident von 1977 bis 1981, kam aus Georgia. Entsprechend traten die Allman Brothers auf, eine Southern-Rock-Band, was das bodenständige Image des ehemaligen Erdnuss- und Baumwollfarmers unterstreichen sollte. George W. Bush wiederum, der aus Texas stammt und für einen robusten Patriotismus stand, ließ mit Brooks & Dunn und Clint Black Country-Stars auftreten. +Zu den Präsidenten, die selbst auf die Bühne stiegen, zählt neben Bill Clinton, der mit Clarence Clemons von Bruce Springsteens E Street Band ein Saxofon-Duett spielte, auch George H. W. Bush. Er griff 1989 zur Gitarre, um mit Blueslegende B.B. King zu jammen. Möglich, dass das die Schauspielerin und Musicaldarstellerin Idina Menzel zu ihrem polemischen Vorschlag inspirierte, Trump solle einfach selber singen: "Er denkt bestimmt, er hätte eine großartige Stimme". Das allerdings wäre sogar für Trump-Verhältnisse eine Überraschung. + + +Und selbst die, die am 20.1. anreisen, sind gespalten. Der Mormon Tabernacle Choir etwa, der seit 1965 immer wieder bei Inaugurationen sang. Ein Mitglied des 360-Mitglieder-starken Chors aus Salt Lake City trat öffentlichkeitswirksam aus dem Chor aus. Und auch das offizielle Statement klingt eher lauwarm als euphorisch. Mit der Teilnahme wolle sich der Chor für Frieden, Höflichkeit und den friedlichen Übergang der Macht aussprechen, hieß es. In der New Yorker Revuetruppe The Rockettes weigerten sich gleich mehrere Tänzerinnen, nach Washington zu kommen. Das Management überließ es den einzelnen Tänzerinnen, ob sie auftreten oder nicht. Bei einer internen Besprechung sagte der Vorsitzende: "Wir feiern einen neuen Präsidenten, nicht notwendigerweise diesen Präsidenten." +Nicht mal das wollte schließlich die Broadway-Sängerin Jennifer Holliday. Sie sagte zu ­– und nach einem Tsunami der Kritik schnell wieder ab. Ihr sei ein "Fehler in der Beurteilung unterlaufen", ließ sie anschließend wissen. Zwei Tage vor den Feierlichkeiten sagte dafür Sam Moore zu. Mit "Soul Man" hatte der Sänger mit seinem Duo Sam & Dave einen großen Hit. Man müsse Trump eine Chance geben, findet er. + +Titelbild: Marc Beckmann / Ostkreuz (Demonstrant ausserhalb der abgesperrten Parade-Strecke auf der National Mall in Washington D.C. bei der  Amtseinführung von George W. Bush, 2005.) diff --git a/fluter/populismus-gefahr-oder-chance-demokratie.txt b/fluter/populismus-gefahr-oder-chance-demokratie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1863b209f0ccd6dcf646b01bdd15fd3d1292cb6f --- /dev/null +++ b/fluter/populismus-gefahr-oder-chance-demokratie.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +DerBegriff Populismusist aktuell in aller Munde. Deshalb gibt es gute Gründe, ihn mit Vorsicht zu verwenden. Sie alle mit dem Etikett Populisten zu versehen, dürfte zunächst dem Selbstverständnis mancher Populisten selbst widersprechen. Nehmen wir etwa Jeremy Corbyn,der es eher mit Hamas und Hisbollah als mit Donald Trump hält. Auch können wir schnell die Unterschiede zwischen den als "populistisch" bezeichneten Politikerinnen, Parteien und Bewegungen aus den Augen verlieren, wenn wir sie stur an der allgemein akzeptierten Minimaldefinition von Populismus messen. +Die besagt nicht mehr, als dass Populisten einen unauflöslichen Gegensatz beschwören zwischen der korrupten, um sich selbst kreisenden Elite auf der einen Seite und dem "wahren Volk" auf der anderen. Populisten meinen, dass nur sie befugt und in der Lage sind, dieses Volk zu vertreten. +Deshalb widerspricht jeder Populismus im Kern auch demPluralismusunserer Gesellschaft. Er läuft auf den Ausschluss unliebsamer Menschen und Meinungen aus dem beschworenen Kreis des "authentischen Volkes" hinaus. Diese Menschen zählen dann entweder zur Gegenseite der verhassten Elite, so etwakritische Journalisten ("Lügenpresse")oder Politiker konkurrierender Parteien ("Alt-" oder "Establishment-Parteien"). +Oder sie werden als Angehörige von sexuellen, ethnischen oder religiösen Minderheiten ausgeschlossen. Diesen Platz haben in Europa traditionell bestimmte Gruppen eingenommen – Juden etwa oder Geflüchtete. Allein der Blick zurück auf dasmassenmörderische 20. Jahrhundertsollte reichen, um jeder politischen Gruppe gegenüber misstrauisch zu sein, die klare Feinde braucht, um überhaupt ein "Wir" beschwören zu können. +Das gilt nicht nur für Rechtspopulisten. Sondern auch für sich als progressiv oder links verstehende Kräfte, die populistisch gegen den Neoliberalismus oder den aktuellen Rechtsruck vorgehen. Wie die Occupy-Bewegung in den USA oder die neuen linken Parteigründungen wie Podemos in Spanien, Syriza in Griechenland oder La France insoumise in Frankreich. Sie alle waren inspiriert von der Star-Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe.Kürzlich hat Mouffe den Linkspopulisten eine neue Programmschrift vorgelegt: "Für einen linken Populismus". +Mouffes linker Populismus ist an vielen Stellen gar nicht schlecht gedacht. Er verzichtet beispielsweise auf die starren Freund-Feind-Verhältnisse der Rechtspopulisten. Mouffe setzt stattdessen auf die Konkurrenz zwischen politischen Kontrahenten, die sich mit Achtung begegnen. Auch verschweigt sie nicht, dass "das Volk" immer eine Konstruktion ist, die stark vereinfacht. Denn die Individuen, die dieses Volk ergeben, bringen unterschiedliche Argumente und Forderungen vor, keinen von vornherein einheitlichen Volkswillen, der gegen die Eliten verteidigt werden will. +Trotzdem wird auch Mouffe die zentralen Probleme eines jeden sich als nicht rechts verstehenden Populismus nicht los. So bleibt sie etwa die Antwort auf die drängende Frage schuldig, weshalb sich Menschen davon überzeugen lassen, dass sie bei allen kulturellen, religiösen oder anderen Unterschieden ähnliche Interessen verfolgen. Doch vor allem geht Mouffes linkem Populismusdie Empirie ab. Wie geht ihr naiver Glaube an das Volk damit zusammen, dass Pegida-Kundgebungsteilnehmer, die ebenfalls zum Volk gehören, in Dresden im Chor "Absaufen! Absaufen!" schreien? Ist das eine fehlgeleitete Artikulation des Unbehagens am Neoliberalismus? Nein, diese Menschen sollte man in ihren Forderungen ernst nehmen: Sie brüllen, damit Menschen sterben, bevor sie überhaupt den Anspruch erheben, Teil dieses Volkes zu werden. +Mouffe konstruiert das "gute Volk" quasi aus dem sozialen Nichts. Sie denkt: Die Leute werden schon das Richtige wollen. Das ist naiv, denn Gesellschaft ist keine widerspruchsfreie Zone. Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit oder Homophobie sind seit jeher Teil unserer Sozial- und Kulturgeschichte – und kein Monopol der Rechten. Die Menschen, die Mouffe für ihr "Volk" in den Dienst nehmen will, kommen nicht aus dem Setzkasten. Sie bringen eigene, manchmal rassistische oder antisemitische Denkmuster und Affekte mit.Diese Ambivalenz des Volkes lässt sich wunderbar an der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich beobachten. Mouffe aber ignoriert diesen entscheidenden Aspekt einfach – und damit auch die Gefahren, die populistische Sammlungsbewegungen mit sich bringen. +Man sieht: Nicht nur ein dezidiert rechter, sondern auch ein sich als links verstehender Populismus verschärft den politischen Diskurs. Im schlimmsten Fall schafft er die Demokratie so ab. Und ersetzt sie auf Kosten der Minderheiten und einer pluralistischen Gesellschaft durch eine undemokratische Regierungsform. + +Till Schmidt, freier Journalist, findet Populismus nicht nur politisch problematisch, sondern einfach langweilig: Politik ist weit ambivalenter als die erstarrten Volk-vs.-Elite-Reden glauben lassen wollen. + + +Collagen: Renke Brandt +antwortet Paula Diehl +Man vergisst es leicht, aber unsere Demokratie lebt von Spannungen. Schon zwischen ihren zwei Grundprinzipien knistert es. Da wäre zum einen die Volkssouveränität: In der Demokratie hat das Volk die Macht, Politik soll nach seinem Willen geschehen. Da wäre zum anderen das konstitutionelle Prinzip. Also die Regeln, die unser Zusammenleben bestimmen, die politische Ordnung stabilisieren und für alle gelten. +Die Volksmacht hat eine unmittelbare Seite. Wenn das Volk gefragt wird – etwa per Referendum oder Bürgerbeteiligung – können konkrete Positionen der Bürgerinnen ermittelt und der momentane Wille der Mehrheit ausgedrückt werden. Die direkte Ausübung der Volksmacht unterliegt aber Schwankungen. Das, was das Volk will, kann sich schnell ändern –der Brexit lässt grüßen!Die Verfassung aber ist auf Dauer ausgerichtet. Denn Rechtsprinzipien stellen ein Regelwerk parat, das eine Orientierung für zukünftiges Verhalten geben und so die politische Ordnung garantieren soll. +Die Demokratie ist eine Wippe, an deren Enden jeweils eines dieser Prinzipien steht. Neigt sie sich zu sehr auf die Seite des konstitutionellen Prinzips, kann sie kippen. Dann verschwindet das Volk als Akteur der Demokratie. Neigt sie sich sehr zur Seite des momentanen Volkswillens, droht auch ein Ungleichgewicht. Dann wird Politik zum reinen Ausdruck des Volkswillens. Genau das wollen Populisten. +Dieses Ungleichgewicht kann seine Vorzüge haben. Populisten wirken als Korrektiv, wenn die Regierenden etwa nicht mehr in der Lage sind, die Bedürfnisse des Volkes zu ermitteln und zu repräsentieren. Gleichzeitig kann die Demokratie instabil werden, wenn die Volksmacht zu stark überwiegt. Wir sollten uns also nicht fragen, ob, sondern wieviel Populismus gut für die Demokratie ist. +Dazu lohnt es, sich populistische Logik genauer anzusehen: Wie funktioniert Populismus? Wie stellt er den Volkswillen ins Zentrum? +Zunächst trennen Populisten die Gesellschaft in zwei Blöcke: in Volk und Elite. Schon diese Gegenüberstellung kann der Demokratie zugutekommen. Das Bewusstsein, dass Politik nicht nur Elitensache ist, sondern das gesamte Volk betrifft, kann zur Politisierung der Bürgerinnen führen. Oder eine Kritik der Machtverhältnisse ermöglichen, bei der nach demokratischen Korrekturen verlangt wird – immerhin verspricht die Demokratie Gleichheit. Ein Gebot übrigens, das auch begründet, warum sich manche Populismen nie positiv auf die Demokratie auswirken, beispielsweise der Rechtspopulismus. Der geht von einem Volk aus, das kulturell, ethnisch, religiös, manchmal sogar rassistisch als homogen konstruiert wird. Dieser Homogenitätskatalog verletzt das demokratische Prinzip der Gleichheit. Der Rechtspopulismus hat immer einen anti-demokratischen Kern. +Ein problematisches Maß nimmt der Populismus auch an, wenn er die Gesellschaft über den Gegensatz zwischen Volk und Elite unversöhnlich polarisiert. So wird eine konstruktive Auseinandersetzung erst erschwert, letztlich vielleicht verunmöglicht. +Neben der Aufteilung zwischen Volk und Elite gehört zum Populismus auch die Kritik an etablierten Parteien und das Verlangen nach Rechenschaftspflicht und Antwortbereitschaft der Regierenden. Wenn Populisten die repräsentative Demokratie anklagen, das Volk nicht richtig zu repräsentieren, seine Bedürfnisse nicht zu kennen, ja gar nicht erst abzufragen, kann sich die Klage produktiv auf das Verhalten der Regierenden auswirken. Sie können etwa unter Druck geraten, ihre Entscheidungen transparenter zu machen oder ihre Wählerinnen eingehender zu befragen. Gefährlich wird die Kritik an den Regierenden dann, wenn sie zu einer generell antipolitischen Haltung führt: "Das alles nützt nichts, die da oben sind nur korrupt!" +Wir sehen: Eine gesunde Antihaltung gegenüber politischen Institutionen ist immer ein schmaler Grat. Der Populismus pflegt ein ambivalentes Verhältnis zur Demokratie, kann aber im richtigen Maß durchaus positiv wirken. Besonders, weil die Kenntnis der fruchtbaren Eigenschaften des Populismus uns auch im Umgang mit ausgesprochenen Antidemokraten hilft. + + +Während ihrer Gastprofessuren in Paris, Bologna und St. Louis hatte die Politikwissenschaftlerin Paula Diehl Gelegenheit, die internationalen Populisten eingehend zu betrachten. Mittlerweile forscht sie an der Uni Kiel zu Populismus und politischer Symbolik. + diff --git a/fluter/populismus-kurz-erklaert.txt b/fluter/populismus-kurz-erklaert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0fda9e3dee527514f6b70079fc7372a0fbcd2a50 --- /dev/null +++ b/fluter/populismus-kurz-erklaert.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Von Land zu Land sind die Populismen viel zuunterschiedlich und zu dynamisch, um sie in einen Topf zu werfen: Podemos in Spanien, die Labour-Partei unter Corbyn, Trump in den USA, Orbán in Ungarn, die AfD, Erdoğan in der Türkei, Duterte auf den Philippinen oder Maduro in Venezuela – eine allgemein gefasste Definition droht die Eigenheiten und Radikalisierungsdynamiken dieser Bewegungen zu ignorieren. Deshalb plädiert in Deutschland zum Beispiel der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer dafür, die AfD nicht mehr dem Rechtspopulismus zuzurechnen, sondern dem"Autoritären Nationalradikalismus". Kurz: Populismus ist und bleibt schwer zu fassen, ein gründlicher Blick auf die einzelnen Länder lohnt. +Angstschür-GrundkursDie rhetorischen Tricks der Populisten im Video +Populisten haben den Anspruch, einfache Lösungen für komplexe Probleme anzubieten. Diese Vereinfachungen sind für eine erfolgreiche politische Kommunikation zwar sinnvoll, ein Stück weit unvermeidlich und seit jeher verbreitet. Letztlich aber eben: unterkomplex. Außerdem inszenieren sich Populisten nicht als Personen mit einer Meinung unter vielen, die man diskutieren kann. Sondern als Vertreter des "einzig wahren" Volkswillens, den sie rhetorisch scharf gegen die Positionen der vermeintlichen Elite abgrenzen. +Erst mal nichts, dieVolkssouveränität ist ein zentrales Prinzip der Demokratie. Allerdings wollen Populisten oft auch über die Zugehörigkeit zum "wahren Volk" entscheiden. Kritische Journalisten ("Lügenpresse") oder Parlamentarier konkurrierender Parteien ("Altparteien"oder "Kartellparteien") werden wegen unliebsamer Meinungen ausgeschlossen und zu Gegnern erklärt. Das macht den Populismus im Kern antipluralistisch und tendenziell antidemokratisch. Heißt: Für Populisten ist ein dynamischer – und damit auch immer unvorhersehbarer – politischer Prozess gar nicht nötig: Es reicht aus, den vermeintlich "wahren Volkswillen" zu kennen, der nur darauf wartet, umgesetzt zu werden. Ein Wahlslogan des FPÖ-Politikers Heinz-Christian Strache lautet entsprechend: "ER will, was WIR wollen". + +Darauf haben Populisten verschiedene Antworten. Manche tendieren zu einem ethnischen, andere zu einem an der Staatsbürgerschaft orientierten Volksbegriff. Deshalb unterscheiden Politikwissenschaftler zwischen exkludierenden und inkludierenden Formen des Populismus. + + +Die erste will vor allem bestimmte Menschen ausschließen, beispielsweise als "Sozialstaatsschmarotzer" verunglimpfte Immigranten und Asylbewerber oder ethnische Minderheiten. Der inkludierende Populismus will wiederum unterprivilegierte Bevölkerungsschichten einschließen, lateinamerikanische Populisten zum Beispiel die Indigenen. Gleichzeitig erklären auch inkludierende Populisten manchmal Minderheiten zu Feindbildern. Zum Beispiel zeigen sich Teile der britischen Labour-Partei unter Jeremy Corbyn antisemitisch. + +Dieser Flexibilität wegen bezeichnen Forscher den Populismus als "dünne Ideologie": Er geht Verbindungen mit anderen "gastgebenden Ideologien" ein, die vom Konservatismus über libertäre bis hin zu sozialistischen Vorstellungen reichen können. +Die Frage, in welchen Ländern die "Nation" als Bezugspunkt herhält und in welchen die "Klasse", wo also eher Rechts- und wo eher Linkspopulisten Erfolg haben, ist nicht einfach zu beantworten. Sagt zumindest Philip Manow, Politikwissenschaftler an der Universität Bremen: Nationale Arbeitsmärkte, Wohlfahrtsstaaten oder wirtschaftliche Wachstumsmodelle bedingen ganz unterschiedliche Probleme, auf die die Populisten in ihrer "Volk gegen Elite"-Rhetorik reagieren können. Manows Analyse zeigt aber auch, dassPopulisten dort Erfolg haben, wo wirtschaftliche Verteilungskämpfe stattfinden. Problematisch an dieser Argumentation: Sie schließt von politökonomischen Strukturen unvermittelt auf das Wahlverhalten – und übersieht, dass gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit über Jahrzehnte stark verbreitet sein kann und sich erst spät in einem passenden parteipolitischen Angebot äußert. + diff --git a/fluter/pornosucht-sexsucht-xes-graphic-novel.txt b/fluter/pornosucht-sexsucht-xes-graphic-novel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0d0d155252b67fce36651d8aa4210b4a9d0a6af4 --- /dev/null +++ b/fluter/pornosucht-sexsucht-xes-graphic-novel.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Woran erkennt man Sexsucht? +Bei einer Sucht benötigt man eine ständige Dosissteigerung. Ich hatte angefangen mit den "Playboy"-Heften meines Onkels. Also "nur" nackte Frauen. Dann kam irgendwann die Phase, in der ich beschämt in einen Kiosk gegangen bin und selbst Heftchen gekauft habe. Videopornografie gab es damals noch gar nicht. Oder zumindest nicht so verfügbar, dass ich mich getraut hätte, das zu kaufen. Erst als ich allein gelebt habe, mit Anfang 20, habe ich mich zum ersten Mal in einen Sexshop getraut. Ich bin immer abends gegangen, um bloß nicht erkannt zu werden.Mit 30 gingen die Bordellbesuche los.Das war das Beschämendste überhaupt. +Wo hat die Sucht Ihr Leben am stärksten beeinflusst? +Das macht die wohl krasseste Stelle im Buch deutlich: Da sitzt meine Tochter in der Badewanne, und ich sitze im Nebenzimmer am Laptop und gucke Bilder. Diese Szene zeigt, wie die Krankheit dazu führt, dass man den Alltag nicht mehr wahrnimmt, sondern immer nach Lücken sucht. Ich wusste, meine Tochter sitzt jetzt für 20 Minuten im Badezimmer, dann kann ich kurz was angucken. Dieses Lückensuchen hat bei mir die meiste Zeit ausgemacht. Ich habe nicht stundenlang Pornografie geguckt, ich war mehr damit beschäftigt, das zu planen, mich zurückzuziehen, mit Leuten nichts zu tun zu haben und alles andere als tendenziell anstrengend zu empfinden. Total isolierend. Und das hat auch Beziehungen zerstört. +Ihr Protagonist sitzt im Buch öfter mal vor dem Laptop: Welche Rolle hat das Internet bei Ihnen gespielt? +Für Pornosüchtige ist das Internet die Hölle.Da gibt es keine Begrenzung.Ich habe es eine Weile mit Kindersicherungen oder so was versucht. Es hat nicht funktioniert, ich bin noch trickreicher geworden. Da ging es dann schon nicht mehr um das Bild an sich, sondern darum, wie man es schafft, da ranzukommen. +Wie wurde Ihnen selbst klar, dass Ihr Konsum von Pornos und die Häufigkeit der Bordellbesuche nicht mehr "normal" waren? +Das war in einem therapeutischen Gespräch. Das Thema war wieder einmal Sexualität und die Frage: Wieso kriege ich es nicht hin, in einer Beziehung zu leben, obwohl ich das will? Ich kreiste immer wieder um die gleichen Fragen. Irgendwann habe ich gesagt: Ich komme so nicht weiter, ich muss das anders betrachten. Jetzt beurteile ich meine Sexualität als Krankheit. Das war ein harter Schritt. Da kriegt man Angst, wenn das Wort "krankhaft" im Zusammenhang mit "Sexualität" fällt. Aber es war wichtig, denn eine Krankheit kann man heilen. Dann hat der Therapeut eine Broschüre aus der Schublade gezogen und gesagt: "Hier, da gibt es Selbsthilfegruppen." +Und dann? +In den Gruppen machten wir die Arbeit in zwölf Schritten,die man von den Anonymen Alkoholikern kennt. Das wird ja oft belächelt, dieses: "Hi, ich bin soundso und mein Problem ist blablabla." Aber die Leute, die in den Gruppen sitzen, sind alle froh, dass sie da sind. 90 Prozent sagen: "Das hat mein Leben gerettet." Deshalb verstehe ich gar nicht, wieso diese Gruppen so schlecht dastehen in unserer Gesellschaft. +Warum hilft diese spezielle Form von Therapie so vielen Süchtigen? +Die Gemeinschaft ist ein sehr wichtiger Aspekt. Raus aus der Isolation! Und aus dem narzisstischen Glauben, man sei der einzige Mensch, der das hätte. Das ist heilsam. Dann gibt es bei den S.L.A.A. [Anm. d. Red.: Englisch für "Sex and Love Addicts Anonymous", Anonyme Sex- und Liebessüchtige] das zentrale Element der höheren Macht. Da geht es darum, den Willen abzugeben. Ganz viele Menschen merken: "Okay, da ist was komisch." Und dann denken sie: "Jetzt noch einmal, und ab morgen ist alles anders." Das funktioniert aber nicht. Man muss den Willen an eine höhere Macht, eine Art Gott abgeben. Das irritiert viele Leute. Es ist aber kein kirchlicher Gott. Der Gott ist für alle etwas anderes. Für mich war es am ehesten das Gruppengewissen. Als ich mich entschieden habe, der Sucht nicht nachzugeben, sondern stattdessen jemanden aus der Gruppe anzurufen, war das für mich wie ein Wunder. +In Ihrem Buch thematisieren Sie auch den Umgang der Medien mit dem Thema Sexsucht. Mit Boulevardschlagzeilen wie zum Beispiel "Porno-Pfarrer kastriert sich selbst". +Diese Schlagzeilen gab es so nicht, ich wollte das überhöhen. Aber wenn ich etwas in der Richtung gelesen habe, dachte ich immer: "Oh, das sind Leute, die den Absprung nicht geschafft haben." Ob sie tatsächlich süchtig waren, kann ich nicht beurteilen. Ich habe aber oft das Gefühl. +Warum haben Sie dieses Buch gezeichnet? +Das Buch ist für mich ein Genesungsbuch – und Teil des Zwölf-Schritte-Programms. Der vierte Schritt lautet: "Wir machen eine Inventur in unserem Inneren." Alles, was man im Buch sieht und liest, ist meine Sucht- und Genesungsgeschichte. Ich hatte erst nicht vor, das zu veröffentlichen. Das kam später: Der zwölfte Schritt des Programms lautet sinngemäß: "Wir versuchen, unsere Erfahrungen an andere Sex- und Liebessüchtige weiterzugeben." So erreiche ich hoffentlich viele Menschen, die dasselbe Problem haben und dadurch eine Gruppe finden. Und andere werden für das Thema sensibilisiert. + +"XES" von Florian Winter ist im avant-verlag erschienenund kostet 25 Euro. diff --git a/fluter/post-brexit-game-not-tonight.txt b/fluter/post-brexit-game-not-tonight.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..65c7b6e3d48ae96cc5b51f0d75a11c6523d35679 --- /dev/null +++ b/fluter/post-brexit-game-not-tonight.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Die Arbeit beginnt einfach: Vor einem Pub muss man das Alter der Gäste checken. Mit der Zeit kommen immer mehr Merkmale hinzu, außerdem gefälschte Pässe, Schwarzlichtstempel und Körperscanner. Schließlich fragen neue, größere Auftraggeber an – Clubs und Festivalveranstalter –, und es gilt, Dresscodes, VIPs und eine zweite Reihe für Gästelistenplätze im Auge zu behalten, das Ganze natürlich unter Zeitdruck: Nummer 112 hat Mindestquoten zu erfüllen und darf nicht zu viele Fehler machen. Mit Bestechungsgeldern von eigentlich abgewiesenen Gästen und dem Verkauf von Drogen kann man sich etwas Geld dazuverdienen, ruiniert aber seinenSocial Credit Score. Auch das kann zur Abschiebung führen. + +Rein videospieltechnisch ist das Sortieren von Menschen erst mal eher schlicht, wie ein Casual Game aus der Candy-Crush-Liga, aber auch ähnlich suchtfördernd. Die zunehmende Überforderung und das Funktionierenmüssen unter Hochdruck lassen sich als Anspielung auf dieGig-Economy und die prekäre Behandlung von Minijobberninterpretieren. Letztlich aber ist der Action-Teil von "Not Tonight" nur ein Tool, um die Story voranzutreiben. +Die rechtspopulistische Partei "Albion First" liegt mittlerweile in den Wahlumfragen vorne. Ein Arbeitgeber von Nummer 112 wird Opfer eines Brandanschlags, eine Nachbarin offenbart Kontakte zum Widerstand. An einigen Stellen muss man Entscheidungen treffen: Unterstützt sie die Untergrundgruppe, oder passt sie sich lieber den Regeln an, um nicht aufzufallen? +Nach und nach kriegen mehr Nationalitäten pauschales Hausverbot in allen Clubs. Immer wieder schaut bei Nummer 112 ein Polizist vorbei, dessen Verhalten irgendwo zwischen Schikane und Korruption einzuordnen ist. Und die Briten, selbst die wohlmeinenden, behandeln die "Euros", wie sie nur noch genannt werden, als Bürger zweiter Klasse. "Oh, okay, ich muss langsamer sprechen" sagen sie, oder "Ach, ihr Euros, für mich seht ihr alle gleich aus". +Vor fünf Jahren stellte schon einmal ein Indie-Computerspiel die Frage: "Wer darf rein?" In "Papers, please" musste man als Grenzbeamter in einem fiktiven osteuropäischen Land Einreisen genehmigen oder verweigern. Das Spiel wurde zum Überraschungserfolg. So gesehen ist "Not Tonight" nicht wahnsinnig originell. Es funktioniert aber – als Computerspiel wie auch als Statement der britischen Entwickler PanicBarn: gegen Rechtsruck und nationale Abschottung, gegen autoritäre Staaten und Neoliberalismus. +Vor allem durch seine Atmosphäre und seine Liebe zum Detail kann "Not Tonight" punkten. Die üppig ausgestatteten Orte im 16-Bit-Retro-Look, das Sounddesign, die vielen kleinen Extras bis hin zu den diversen Apps auf dem Handy von Nummer 112 – überall gibt es etwas zu entdecken, überall warten Anspielungen. +Vor einer Beachbar zum Beispiel ist die Aufschrift "Continental Breakfast" durchgestrichen. Und weil aus Italien kein Rotwein mehr importiert werden darf, gibt es nun "Dorseto" aus der Grafschaft Dorset. Der schmeckt, Seitenhieb auf das britische Klima, natürlich scheußlich. Was auch immer nach dem Brexit auf die Briten zukommen wird – daran lassen die Spieleentwickler mit "Not Tonight" keinen Zweifel –, ihre Selbstironie werden sie nicht verlieren. +"Not Tonight" ist am 17. August 2018 bei Steam für PC erschienen. Entwickelt hat es das britische Studio PanicBarn, herausgegeben der Indie-Publisher No More Robots. diff --git a/fluter/postost-aktivismus-gegen-antislawismus.txt b/fluter/postost-aktivismus-gegen-antislawismus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2034d2b7a7f4e0534842cf6365c90ee41d774190 --- /dev/null +++ b/fluter/postost-aktivismus-gegen-antislawismus.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Wir treffen uns in einem im Vintagestil eingerichteten Café. Prokopkin, Trainingsjacke, Vollbart, wartet schon. Er ist gerade in Elternzeit, aberseit Russland die Ukraine angreift, kann sich Prokopkin vor Terminen kaum retten. Vor zwei Jahren begann er,bei Instagram überAntislawismuszu informieren. Und spricht offen über Vorurteile, die ihm und anderen begegnen. Klauende Polen, gewaltbereite, dem Wodka zugetane Russen, sexy osteuropäische Frauen, die sich reiche Männer angeln. Prokopkin war genervt. "Ich wollte die Stereotype aufbrechen", sagt er. Und wurde – auch weil Instagram selbst immer aktivistischer genutzt wurde – zum Influencer für PostOst, eine junge Bewegung zur Selbstermächtigung osteuropäischer Communitys. +Immer wieder wird gestritten, ob sich Prokopkin und PostOst gegen eine Form von Rassismus wehren, auch in der Wissenschaft. Betroffene werden meist als weiß gelesen – also wegen anderer Merkmale wie Name, Kleidung, Sprache oder Habitus diskriminiert. Die Migrationsforscher Jannis Panagiotidis und Hans-Christian Petersen raten trotzdem zum Rassismusbegriff. Auch wenn es Menschen hellerer Hautfarbe in der weißen Mehrheitsgesellschaft leichter haben, schließe das den "Kulturrassismus" gegenüber Osteuropäer:innen nicht aus, sagt Panagiotidis in einemInterview. +Auch historisch sei von Rassismus zu sprechen, erklärt Petersen in einemVortrag. Schon in der Aufklärung, die eigentlich für ein Weltbürgertum stand, sei "zwischen den aufgeklärten Westeuropäer:innen und dem rückständigen Osteuropa" unterschieden worden. Osteuropa und die Gebiete bis zum Schwarzen Meer galten großen Teilen der deutschen Bevölkerung als leerer, unzivilisierter Raum, der kulturell besetzt werden sollte. Mit dem aufkommenden Nationalismus steigerte sich laut Petersen Ende des 19. Jahrhunderts diese vermeintlich kulturelle Unterscheidung zum eindeutig biologistischen Rassismus der Nazis, der in einer Besatzungs- und Vernichtungspolitik in der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg gipfelte. +Antislawismus als rassistische Diskriminierungsform anzuerkennen hätte verschiedene Konsequenzen, sagt Sergej Prokopkin. Ein erweiterter Rassismusbegriff könne zum Beispiel das Strafmaß bei antislawistischen Angriffen verändern, aber auch die Mehrheitsgesellschaft für Antislawismus sensibilisieren. Viele Betroffene sind parallel mit anderen Rassismen konfrontiert. Slawischstämmige Muslime, etwa vom Balkan oder aus Tschetschenien, haben zusätzlich zum Antislawismus mitantimuslimischem Rassismuszu kämpfen; dieNachkommen der jüdischen Kontingentflüchtlingemit Antisemitismus;Sinti*zze und Rom*nja mit Antiziganismus; und im westlichen Stereotyp der osteuropäischen Frau trifft Antislawismus oft auf Sexismus. In diesen Mehrfachdiskriminierungen bleibe der Antislawismus häufig unbeachtet, sagt Prokopkin. +Weiterlesen +Aber woher kommst du eigentlich? Unser Autor und unsere Autorin werden oft nach ihrer Herkunft gefragt.Ist das immer daneben? +Dazu tragen auch die Osteuropabilder der westlichen Popkultur bei. Wer einmal darauf achtet, merkt schnell, wie viele Bösewichte osteuropäisch oder russisch sind: von Animationsfilmen wie "Pets 2" über "James Bond" und "Stirb langsam" bis hin zu "The Grand Budapest Hotel". Letzteren inszeniert Wes Anderson in Zubrowka, einem imaginierten osteuropäischen Land von zweifelhafter Identität und mit wenig Elan für die Gesetze der "zivilisierten" Welt. Und natürlich versteckt sich Voldemort, der literarische Superbösewicht der Generationen Y und Z, ausgerechnet in den dunklen Wäldern Albaniens. +In der Mainstreamkultur, so scheint es, hat der Ost-Antagonist den Kalten Krieg überdauert. In wenigen Geschichten erfährt man mehr über ihn als dass er böse ist. +Über Osteuropa-Stereotype in den Medien aufzuklären sei ein Großteil seiner Arbeit, sagt Prokopkin. Das Bewusstsein des Publikums wächst nur langsam. Auch durch den Krieg in der Ukraine, dessentwegen westliche Medien und viele Politiker:innen mehr und genauer auf die Länder im Einflussbereich Russlands schauen. Dabei deckt der Krieg auch die Kenntnislosigkeit undArroganzauf, mit denen allenthalben über osteuropäische Länder und ihre Einwohner:innen gesprochen wird. Manche nennen das "Westsplaining", in Anlehnung an das aus dem Feminismusdiskurs stammende "Mansplaining". Wer westsplaint, tendiert dazu, grundverschieden sozialisierte Menschen zu einem Volksbrei zu machen – und die souveränen osteuropäischen Staaten zu einer großen Knautschzone zwischen Ost und West, über deren Geschicke andere bestimmen. +"Westsplaining" sei auch in Deutschland bekannt, sagt Prokopkin. Es ist keine ungefährliche Haltung:Wladimir Putin versucht seit Jahren, gegen den Westen aufzustacheln, unter anderem mit dem Argument, westliche Staaten fühlten sich überlegen, weshalb eine Orientierung der Osteuropäer:innen am Westen falsch sei. Diese Propagandaerzählung könne man schwächen, sagt Prokopkin, wenn man entschiedener gegen Antislawismus vorgehe, auch in den deutschen Migrationsdebatten. +Die haben den Antislawismus lange übersehen. Besonders Russlanddeutsche gelten oft als "unsichtbare" Migrant*innen, die sich ökonomisch besser integrierten als andere Minderheiten. Dabei sind auch sie vonKlassismusbetroffen. Der Mediendienst Integration weist in einemBerichtauf den schmalen Grat zwischen positiven und negativen Stereotypen hin. Wer erfolgreich ist, gilt als "fleißiger Deutscher", wer nicht, als "saufender Russe". +Sergej Prokopkin erinnert sich an offenen Antislawismus in seiner Jugend. Er habe ständig gefürchtet, verbal angegriffen zu werden. "Ich habe meinen Vater immer gebeten, im Supermarkt kein Russisch zu sprechen." Dass er mit diesen Erfahrungen nicht allein ist und sie als Diskriminierung problematisieren kann, hat Prokopkin erst im Studium verstanden. Mit seiner politischen Arbeit will er Räume schaffen, in denen Erfahrungen geteilt werden können ohne die Vielfältigkeit der Menschen aus den postsowjetischen Communitys zu unterschlagen. + diff --git a/fluter/pr%C3%A4sidentschaftswahlen-mexiko-protokolle-junge-Menschen.txt b/fluter/pr%C3%A4sidentschaftswahlen-mexiko-protokolle-junge-Menschen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1f94279b56790852966c197c663dbe27a85851ba --- /dev/null +++ b/fluter/pr%C3%A4sidentschaftswahlen-mexiko-protokolle-junge-Menschen.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Wir haben junge Wählerinnen und Wähler gefragt, für wen sie sich entscheiden und was sie sich von der neuen Legislaturperiode (sechs Jahre) für sich und ihr Land erhoffen. + + +Elvira, 20, arbeitet in einer internationalen Bank +Ich weiß, wen ich nicht wählen werde: Sheinbaum. Ich bin kein Fan von sozialistischen oder kommunistischen Systemen, außerdem arbeitet ihre Partei sehr intransparent. In den Umfragen liegt Morena weit vorn, weil die Partei ihren Wahlkampf auf alte, arme und arbeitslose Menschen fokussiert. Viele Menschen, die eigentlich am eigenen Leib erfahren haben, dass die Partei das Blaue vom Himmel lügt, wählen sie trotzdem. Morena verspricht Sachen, die sie nicht erfüllen wird und auch gar nicht kann: Unsere Staatsausgaben werden immer mehr, aber unsere Einnahmen nicht. Ich glaube, wir müssten vor allem Arbeitsplätze schaffen. Stattdessen will Morena einfach die Einkommensteuer erhöhen. Ich bin nicht gegen Steuererhöhungen, aber ich will die Auswirkungen davon sehen – am Straßenbau zum Beispiel oder dass mehr Sicherheit herrscht. Die Regierung arbeitet zu ineffizient, und wir haben viele Schulden, dadurch verlieren wir viel Unterstützung von anderen Ländern. Es ist sehr risikoreich, in Mexiko zu investieren, weil unser Land kein sicheres Pflaster ist. +Far, 18, Studentin +Dieses Jahr kann ich zum ersten Mal wählen. Ich werde mein Kreuz bei Sheinbaum setzen, weil sie verspricht, Programme für Kinder zu unterstützen, für alleinerziehende Mütter, für alte und arme Menschen. Viele Omas und Opas haben niemanden, der sich um sie kümmert. Es gibt nicht genügend Einrichtungen oder Freiwillige, die das übernehmen können. Ich selbst bin Pfadfinderin, genau wie meine Großmutter, meine Mutter und mein Onkel es waren. Auch mein Bruder ist Pfadfinder. Wir verbringen viel Zeit in der Natur, wir pflegen sie und räumen Müll weg. Aber wir helfen auch armen Leuten. +Ich persönlich wünsche mir vor allem, dass die Straßen sicherer werden. Ich fühle mich nicht immer wohl, wenn ich unterwegs bin. Fahre ich abends von irgendwo nach Hause, meide ich die U-Bahn und steige lieber aufs Rad. +Liam, 16, Schüler +Noch darf ich ja nicht wählen, aber könnte ich, würde ich wahrscheinlich PAN ankreuzen. Auf jeden Fall nicht die derzeit regierende Morena. Ich mag deren Ideologie nicht und dass sie sich als liberal verkaufen, aber einfach nur opportunistisch sind. Vor ein paar Jahren haben sie richtig viel Geld in eine Benzinraffinerie gesteckt, um schnell Geld zu machen, anstatt mehr in Solarenergie zu investieren. Wir haben auch nur noch wenigWasserin Mexiko. Ein paar meiner Freunde, die im Süden wohnen, haben zu Hause überhaupt keines mehr. Ein Bus bringt ihnen zweimal pro Woche Wasser, damit sie etwas zu trinken haben, kochen können und sich duschen. Wir haben zwar eine grüne Partei, aber meiner Meinung nach machen die nicht viel. Fridays for Future und überhaupt die ganze grüne Bewegung ist hier viel kleiner als in Deutschland. +In Mexico City gehe ich auf eine deutsche Schule, ein Teil meiner Familie hat deutsche Wurzeln. In der zehnten Klasse gab es die Möglichkeit für einen Schüleraustausch, und so habe ich ein Jahr lang in Deutschland gewohnt. Dort ist mir sofort aufgefallen, dass der Unterschied zwischen Arm und Reich viel kleiner ist als bei uns. Hier sind fast alle arm – und die Reichen sind unfassbar reich. Ein anderer riesiger Unterschied natürlich: die Sicherheit. Es ist sehr schwer, die Kartelle zu bekämpfen, ohne dass es dadurch nicht noch mehr Gewalt auf der Straße gibt. +Dillian, 22, studiert Marketing und arbeitet in einer Medienagentur +Ich bin mit keiner der antretenden Kandidatinnen glücklich. Mir kommt es so vor, als würden sie einfach nur eine erwünschte Rolle für die Öffentlichkeit spielen und die tatsächlichen Entscheidungen werden im Hintergrund von einflussreichen Leuten aus ihrer Partei getroffen. Deshalb kann ich nur sagen, wen ich nicht wählen werde. +Die aktuelle Regierung ist Chaos und produziert Chaos. Ich weiß gar nicht mehr, wem ich vertrauen kann, so viel Korruption gibt es. Über viele Bereiche, zum Beispiel die Sicherheit im Land, hat die Regierung die Kontrolle verloren; dieGewaltauf den Straßen wird immer schlimmer. Präsident Amlo versucht gar nicht erst, das Land zu einen. In einer so hohen Position, finde ich, sollte man nicht die ganze Zeit von "die da und wir" reden. Wir mögen unterschiedliche Parteien wählen oder Klassen angehören, aber wir sind ein Staat und müssen unsere Probleme gemeinsam lösen. +Bei mir zu Hause sprechen wir viel über Politik, ich mag die Art, wie meine Eltern denken, und wähle auch ähnlich wie sie. In meinem Freundeskreis reden wir dagegen kaum über Politik. Nicht, weil es uns nicht interessiert, sondern um Streit zu vermeiden. Wir haben sehr unterschiedliche Hintergründe und deshalb auch recht unterschiedliche Blickwinkel. +Mir persönlich ist das Thema Bildung am wichtigsten. Ich finde, dass viele Lehrende qualifiziert sind, aber nicht genug Unterstützung bekommen, um ihre Ideen umzusetzen. An meiner Universität geht es immer nur um Geld. Natürlich ist Geld wichtig. Aber wenn nicht viel da ist, sollte man es umso weiser investieren. Es sollte darum gehen, die beste Bildung für Menschen anzustreben, Universitäten und Schulen sollten mehr miteinander kommunizieren und sich unterstützen. Die nächsten Generationen müssen befähigt werden, neue Wege zu gehen und Synergien zu bilden. +Kevin, 30, Architekt +Mir ist am wichtigsten, dass ich der Person intuitiv vertrauen kann, die unser Land führt. Claudia Sheinbaum hat in meinen Augen bewiesen, dass sie unser Vertrauen verdient: Sie war mal Bürgermeisterin von Mexico City und hat da wirklich einen guten Job gemacht. Während der Corona-Pandemie hat sie schlau agiert und uns durch diese Zeit gebracht. +Ich möchte, dass sich Mexiko technisch und in Sachen Infrastruktur weiterentwickelt, schließlich sind wir flächenmäßig ein echt riesiges Land. Früher hatten wir mal ein recht gutes Zugnetz. Amlo (Anm.: Andrés Manuel López Obrador, der aktuelle Präsident) und seine Morena-Partei setzen sich dafür ein, dass dieses Schienennetz wiederhergestellt und auch ausgebaut wird. Auf manchen Strecken haben sie das auch schon umgesetzt, und jetzt kommt man innerhalb kürzester Zeit von A nach B. Davon profitieren nicht nur Einzelpersonen, sondern zum Beispiel auch der Tourismus und die Wirtschaft. Damit der Ausbau weiterhin klappt, müssen aber unsere Beziehungen zu den USA gepflegt werden. Wir importieren und exportieren nämlich viele Materialien, von Stahl bis Beton. Die Firma, für die ich arbeite, hat auch viele Aufträge aus den USA. Ich habe das Gefühl, dass Mexiko grundsätzlich auf einem guten Weg ist. Die LGBT-Community zum Beispiel, zu der ich gehöre, ist in Städten enorm gewachsen, freier und mutiger geworden. diff --git a/fluter/praesidentschaftswahl-in-brasilien-2018.txt b/fluter/praesidentschaftswahl-in-brasilien-2018.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..04aae6ec45d4c71c8b61848460bcec225799fd97 --- /dev/null +++ b/fluter/praesidentschaftswahl-in-brasilien-2018.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Aufmerksamkeit erregte er durch das Sagen von Unsagbarem. Ein paar Beispiele: + +Sätze, die früher als schäumender Unsinn ignoriert worden wären. Doch am 7. Oktober 2018 hat Bolsonaro im ersten Wahlgang trotz oder gerade wegen solcher Sätze mit 46 Prozent der Stimmenfast die absolute Mehrheit errungen. Er hat gute Chancen, die Stichwahl am 28. Oktober für sich zu gewinnen. + + + +Wie in vielen anderen Ländern, in denen es heute einen starkenRechtspopulismusgibt, schien es auch in Brasilien lange so, als könne er in diesem Land nicht Fuß fassen. Vor zehn Jahren sah es noch aus, als würde sich Brasilien, wie von dem österreichischen Autor Stefan Zweig einst prognostiziert, bald als das Land der Zukunft erweisen. Die Wirtschaft lief, der staatliche Ölkonzern entdeckte vor der Küste ungenutzte Ölreserven, die das Land über Jahrzehnte finanzieren könnten. Der damalige Präsident Lula da Silva holte mit einem "Familienstipendium" Millionen Menschen aus der Armut, und er beendete das Hungerleiden im ländlichen Nordosten. +Doch brachte er diese Programme mit Mitteln durchs Parlament, die ihm später zum Verhängnis werden sollten. Dazu gehörte auch der so betitelte "Mensalão", ein monatliches Schmiergeldgehalt, das Abgeordnete erhielten, wenn sie für die Gesetzesvorschläge der Regierung votierten. Nach acht Jahren durfte Lula nicht noch einmal antreten. +In den 2010er-Jahren kam dieWirtschaftskrisemit etwas Verspätung auch in Brasilien an, und Korruptionsskandale, in die Politiker, Baufirmen und Ölkonzerne verwickelt waren, brachten Hunderttausende Demonstranten auf die Straße. Dilma Roussef, seit 2011 Präsidentin von Brasilien, wurde 2016 des Amtes enthoben. Ob Amtsenthebungsversuch oderPutsch: Je nach politischer Färbung bevorzugt jeder Brasilianer eine dieser beiden Versionen. Resultat war: Mit Michel Temer übernahm ein Interimspräsident, unter dessen Führung das Land weiter abbaute, Menschen in die Armut zurückfielen und der Arbeitnehmerschutz abgebaut wurde. Der Real, die brasilianische Währung, verlor von 2011 bis heute im Verhältnis zum Euro etwa die Hälfte seines Wertes. +In Brasilien breitete sich ein Schnauze-voll-Gefühl aus, das sich auf zwei Weisen Luft machte. Die einen sagten: Lula da Silva muss zurückkommen und das richten. Die anderen: Wir brauchen einen, der mit alldem aufräumt und alles neu macht. Jair Bolsonaro wurde plötzlich, ohne großes eigenes Zutun, als ein solcher Erneuerer gesehen. +In den Umfragen lag nur einer verlässlich vor ihm: Lula da Silva. Doch dann wurde dieser wegen Korruption zu einer Haftstrafe verurteilt. Ein Prozess, den seine Unterstützer als politisch motiviert betrachten – auch hier weiß jeder Brasilianer je nach politischer Überzeugung zu sagen, ob Lula ein Verbrecher oder ein politischer Gefangener ist. + +Die Vertrauenswürdigkeit ins Gesicht beschrieben: Bolsonaro äußert sich gegenüber den Medien +Das Erstarken von Bolsonaro hat indessen viele demokratische Kräfte geweckt und politisch Uninteressierte politisiert – vor allem zwei Gruppen: LGBT und Frauen. Auch weil Bolsonaro sich diese beiden Gruppen mit seinen Aussagen zu seinen Hauptfeinden gemacht hat. +Der Protest gegen Bolsonaro – in den Augen der Unterstützer eine Kampagne für Demokratie und gegen Faschismus – begann auf Twitter mit #elenao. Auf Facebook gründeten sich Hunderte Lokalgruppen mit dem Namen "Vereinte Frauen gegen Bolsonaro", heute haben sie teilweise über 100.000 Mitglieder. Instagram war voller Bilder von selbst gedruckten #elenao-Pins, -T-Shirts und -Bannern. +Nahezu jeder brasilianische Popstar teilte das Hashtag. Ein Aufruf der "Vereinten Frauen" zu einer gemeinsamen #elenao-Demo resultierte im größten Protest gegen einen Präsidentschaftskandidaten in der Geschichte Brasiliens. Der Protest wurde von linken politischen Kräften organisiert, hatte aber auch Unterstützer aus neoliberalen und konservativen politischen Kreisen. In 114 Städten fanden sich über eine Million Menschen zusammen, darunter in New York, London, Lissabon und Paris. Mehrere Wissenschaftlerinnen in Brasilien nannten #elenao den "größten Frauenprotest in der Geschichte Brasiliens". + +Von Bolsonaro-Anhängern wurde der Protest als "linke Demo" bezeichnet. Der neue Bruch, der durch die brasilianische Gesellschaft geht, verläuft entlang von politischen Grenzen, aber noch stärker: entlang von geschlechtlichen. Während Bolsonaro überdurchschnittlich beliebt bei jungen, weißen, religiösen, heterosexuellen und gebildeten Männern ist, sind es in der Mehrheit Frauen, die sich gegen ihn stellen – unterstützt von Homosexuellen, Nichtreligiösen und sozial Benachteiligten. Der größte Unterschied in absoluten Zahlen liegt bei den Wählerstimmen zwischen Männern und Frauen. +Jenen, die gegen Bolsonaro noch lagerübergreifend auf die Straße gingen, bleibt nun im zweiten Wahlgang nur der Kandidat Fernando Haddad, der mit 29 Prozent der Stimmen Zweiter wurde. Haddad, ein Universitätsprofessor und Ex-Bürgermeister aus Lula da Silvas Arbeiterpartei (PT), steht für die Weiterführung von Lulas Politik. Sein Wahlslogan: "Haddad é Lula" – Haddad ist Lula. +Die meisten Menschen, die Lula gewählt hätten, werden wohl zu Haddad wechseln, und andere Wähler aus dem linken Spektrum dürften ihnen dabei folgen. Doch trotz der abstoßenden Aussagen von Bolsonaro über Frauen, Schwarze, Indios, Schwule, Linke, Venezolaner und Dutzende andere Gruppen ist Haddads Arbeiterpartei für viele Brasilianer unwählbar geworden. Der Grund: ihre Verbindung zu all den – realen und überzeichneten – Korruptionsskandalen von Lula da Silva und Dilma Roussef. +Selbst linke und liberale Kandidaten, die im ersten Wahlgang ausgeschieden sind, werben nur zurückhaltend für Haddad. Die Prognosen für den zweiten Wahlgang sehen Bolsonaro leicht vorn, innerhalb des Fehlerkorridors von zwei Prozent. Nun kommt es nicht mehr nur darauf an, ob die Linken Haddad wählen, sondern auch darauf, ob die Rechten und Moderaten den Mann wählen, der als faschistischer Erneuerer gilt, oder den, der für ein korruptes System steht. + +Titelbild: Ariel Subira/Archivolatino/laif diff --git a/fluter/praesidentschaftswahl-in-der-ukraine-poroschenko-selenskyj.txt b/fluter/praesidentschaftswahl-in-der-ukraine-poroschenko-selenskyj.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f9e6c1b95aaba23184cc3a0fac892544823460bc --- /dev/null +++ b/fluter/praesidentschaftswahl-in-der-ukraine-poroschenko-selenskyj.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Nach monatelangenProtesten auf dem Kiewer Majdan vor fünf Jahrenfloh der damalige Präsident Viktor Janukowitsch.Russland annektierte die Krim, und in der Ostukraine begann der Krieg. Als Petro Poroschenko 2014 Präsident wurde, warb er damit, den Krieg schnellstmöglich zu beenden. Doch die Kämpfe halten bis heute an. Nach UN-Schätzungen haben sie bisher über 12.000 Opfer gefordert. +Kateryna Glazunova hat wegen des Kriegs ihre Heimatstadt Donezk verlassen. Sie ist eine entschiedene Gegnerin des Schauspielers und Komikers Wolodymyr Selenskyj. Der verfüge über keine Erfahrungen als Politiker. "Er macht aus dem Wahlkampf eine Show für die sozialen Medien, und außerdem ist er eine Marionette von Kolomojskyj", sagt sie. Ihor Kolomojskyj ist der Besitzer des Fernsehkanals 1+1, der Selenskyj bekannt machte. Viele Anhänger Poroschenkos glauben daher, hinter den politischen Ambitionen des Komikers stünde eigentlich der Oligarch Kolomojskyj, der ein erbitterter Gegner des Präsidenten ist. + + +Die Ukraine erlebte während Poroschenkos Amtszeit eine schwere Wirtschaftskrise. Der Krieg und die Besetzung einiger Teile des Landes ließen zwischen 2014 und 2015 die ukrainische Wirtschaft massiv schrumpfen. Die Währung verlor stark an Wert; die Preise für Strom, Gas und Wasser stiegen. Ein großer Teil der Bevölkerung verarmte. Die Schuld daran geben viele Poroschenko. +"Während die Menschen immer ärmer wurden, wurde der Präsident immer reicher", sagt Wolodymyr Fesenko. Er ist Politologe und Leiter des Zentrums für angewandte Politikwissenschaften "Penta". Als Poroschenko Präsident wurde, versprach er, seine Unternehmen zu verkaufen. Stattdessen zeigten investigative Recherchen wie die zu den Panama Papers, dass er geheime Briefkastenfirmen registrieren ließ. Die Ukraine durchlebe eine beispiellose Vertrauenskrise gegenüber der politischen Elite. "Das ist der Hauptgrund für den Erfolg von Selenskyj", sagt Wolodymyr Fesenko. +Ein weiterer Grund für Selenskyjs Aufstieg in der Politik: Er ist ein bekannter Schauspieler. Seine Paraderolle ist ausgerechnet die des ukrainischen Präsidenten in der beliebten Fernsehserie "Sluga Naroda" (Diener des Volkes), die auf dem Fernsehsender 1+1 läuft. Er spielt einen Geschichtslehrer, der nach einer Wutrede über die politische Lage im Land plötzlich Präsident wird. In der Serie bekämpft er die korrupten Seilschaften in der Politik und vermittelt das Gefühl: Der Kampf gegen die Korruption kann einfach sein. Man müsse nur wollen. "Seine Anhänger übertragen die Handlung dieser Serie in das reale Leben", sagt Fesenko. +Und es ist kein allzu weiter Weg von der Fernsehserie in die Realität: Bei seinem Amtsantritt hatte Poroschenko – dem sein erfolgreiches Süßwarenunternehmen seit den 1990er-Jahren den Spitznamen "Schokoladenkönig" einbrachte – versprochen, gegen die Korruption vorzugehen. Eingelöst hat er dieses Versprechen in den Augen vieler nur bedingt. In seinem Umfeld gab es immer wieder Korruptionsskandale. So soll etwa gebrauchte oder sogar defekte Militärtechnik aus Russland in die Ukraine geschmuggelt worden sein. Technik, die dort anschließend für Unsummen dem Militär verkauft wurde. Den politischen Mythos von Gut gegen Böse, den Selenskyjs Figur in der Serie beschwört, habe er aktiv für seinen Wahlkampf nutzen können, meint Politologe Fesenko. +In Selenskyjs Wahlprogramm finden sich nur wenige konkrete Punkte, etwa ein Referendum über den Beitritt zur NATO oder die Aufhebung der Immunität des Präsidenten und der Abgeordneten. Auch den Krieg in der Ostukraine wolle er beenden. Das Wichtigste seien ein Waffenstillstand und neue Verhandlungen. Denn die sogenannten Minsker Abkommen, in denen bereits mehrfach erfolglos Waffenstillstände vereinbart wurden, funktionierten nicht. + + +Frieden herrscht seit fünf Jahren nicht. Kateryna, die sich in Kiew zum Ausgehen fertig macht, ist skeptisch, ob der Präsident dies hätte ändern können: "Sie verweigern Poroschenko ihre Stimme, weil er den Krieg nicht beendet hat. Das hängt doch nicht nur von ihm ab!" +Andere Wahlversprechen löste er ein. Er ermöglichte den Ukrainern die visafreie Einreise in die Europäische Union und setzte die Dezentralisierungsreform um. Besonders kleine Gemeinden in den ländlichen Regionen haben davon profitiert, wie etwa der Ort Petrykiwka, 400 Kilometer östlich der Hauptstadt. Im Rahmen der von Poroschenko unterstützten Dezentralisierungsreform wurde die 100 Jahre alte Schule renoviert. Sie beherbergt nun ein sogenanntes "Inklusionszentrum". +Doch manche Bewohner sind auch enttäuscht und fürchten um ihre Existenz. So wie die 57 Jahre alte Näherin Olha Droshenko. Den Boden ihres kleinen Hauses hat sie mit dicken Teppichen ausgelegt, im Winter ist es darin bitterkalt. Im Dorf gibt es einen Gasanschluss, doch die Familie kann sich die hohen Preise nicht leisten. Mit den Gehältern von ihr und ihrem Mann kommt die Familie gerade so über die Runden. Milch holt sie beim Nachbarn, die Eier kommen von einigen Hühnern, die durch ihr Gemüsebeet staksen. Ihre Stimme gibt Olha Droshenko am Sonntag Selenskyj. "Vielleicht verändert ein neues Gesicht in der Politik ja was", sagt sie und zuckt mit den Schultern. + + +Titelbild: Brendan Hoffman/Getty Images diff --git a/fluter/pragmatische-rebellen-mit-neigung-zum-weltverbessern.txt b/fluter/pragmatische-rebellen-mit-neigung-zum-weltverbessern.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cde9417d936776f9bd4ecee7bb4ef82b94975b62 --- /dev/null +++ b/fluter/pragmatische-rebellen-mit-neigung-zum-weltverbessern.txt @@ -0,0 +1,55 @@ +Klaus Hurrelmann: Leider nicht viel. Dabei handelt es sich ja eindeutig um kriminelle Handlungen, die den legitimen Protest in ein falsches Licht rücken. Und es Politikern, die nichts an den ungerechten Verhältnissen ändern wollen, leider allzu leicht machen, nichts zu tun. Oder nur kriminalistisch zu reagieren, anstatt die Ursachen der Unzufriedenheit anzupacken. +Führt Gewalt nicht aber doch manchmal zum Erfolg von Protest – wie zum Beispiel in Libyen durch die Militäraktionen? +Während es in Tunesien und Ägypten eine relativ demokratische Protestkultur gibt, ist Libyen ein Sonderfall. Dort sind die staatlichen Strukturen eindeutig diktatorischer und totalitärer gewesen. Die Demos wurden von Anfang an mit polizeilicher und militärischer Gewalt zurückgedrängt. Da gibt es dann keine Möglichkeit mehr, auf dem politischen Weg etwas zu erreichen. Die politisch motivierte Strömung muss sich dann militärisch durchsetzen – in diesem Fall mithilfe von außen. +In den sechziger und siebziger Jahren waren die Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei auch in Deutschland noch wesentlich härter. Hat der Staat daraus gelernt? +Auf jeden Fall. Man kann das gut am 1. Mai in Berlin beobachten, wo es oft nur noch um Krawall geht, und die Polizei dennoch besonnen reagiert. Wie wichtig es ist, keine Märtyrer zu schaffen, sieht man in England. Dort gab es vor der Randale ein Polizeiopfer, und dann hat es sich aufgeschaukelt. Es gab eine gewaltige Solidarisierung. Wir haben solche Eskalationen nicht – auch, weil die Polizei weniger rabiat auftritt, flexibler und geschulter mit Demonstranten umgeht. Die Bundesrepublik kann sich beim Umgang mit solchen Problemen sehen lassen. +Spanien, England, Niederlande – in vielen europäischen Ländern geht die Jugend auf die Straße, nur in Deutschland nicht. Ist die junge Generation hier zu brav? +Die Bereitschaft, seine Unzufriedenheit öffentlich zu zeigen und zu protestieren, hängt immer mit dem Leidensdruck zusammen, den man spürt. In Deutschland gibt es diesen Leidensdruck eher bei den sozial schlecht gestellten Menschen – all jenen ohne Schulabschluss oder Arbeitsplatz. Da sind Menschen drunter, die seit 15 Jahren abgehängt sind und schlichtweg verlernt haben, ihr Elend sichtbar zu machen. +Die leiden eher still vor sich hin, als auf die Straße zu gehen? +Die haben oft nicht mehr die Kraft oder die Fähigkeit, sich politisch auszudrücken. Einige driften vielleicht mal in eine radikale Ecke, ob nun links oder rechts, schließen sich zum Beispiel fremdenfeindlichen Organisationen an. Aber eine für die demokratische Öffentlichkeit oder die Medien sichtbare Protesthaltung gibt es nicht. +Was muss passieren, dass Menschen aufstehen und sagen: so nicht? +Man sieht es ja derzeit in vielen Ländern Europas: Dort, wo sich gerade die jungen Menschen trotz guter Bildung um ihre Zukunft betrogen sehen, kommt es zu Demonstrationen. Das würde bei uns auch passieren, wenn die wirtschaftliche Krise etwa wie in Spanien die Hochgebildeten trifft. Nehmen wir mal an, von den doppelten Abiturjahrgängen bekommt nicht jeder einen Studienplatz. Oder später werden von den doppelten Studienjahrgängen viele arbeitslos. Dann wird sich auch bei uns der Protest formieren. +Viele haben den Eindruck, dass ihr Schicksal von einem weitgehend entfesselten Bankenwesen abhängt, dass durch Rating-Agenturen ganze Staaten durch bloßes Bewerten in den Ruin gestürzt werden können. +Natürlich hängt alles von der Ökonomie ab. Wenn die wirtschaftliche Krise die Jungen bedroht, kann es auch in Deutschland jederzeit zu Protesten kommen, da sollten wir nicht überrascht sein. Derzeit gibt es noch viele Übergangssysteme – das heißt: Hunderttausende stecken in Weiterbildungs- und Ausbildungsmaßnahmen. Die Arbeitslosigkeit ist auch deswegen nicht so hoch, weil sie durch dieses Übergangssystem teilweise geschönt wird. Aber auch das hat ja einen psychologischen Effekt. Sollten aber andere Konstellationen entstehen, muss man mit einer entsprechenden Reaktion rechnen. +Es sieht doch aber so aus, als wären viele Jugendliche manchmal zu sehr mit Smartphone und Laptop beschäftigt, als dass sie Probleme wahrnehmen. Anstatt zum Beispiel gegen den Datenmissbrauch im Internet zu demonstrieren, stellen sie ihr Privatleben auf Facebook aus und demonstrieren damit allenfalls Selbstverliebtheit. +Es ist in der Tat auffällig, dass die Sensibilität für den Datenmissbrauch bei der großen Mehrheit fehlt, weil man eben lieber der Faszination des Datenaustauschs erliegt, statt die Probleme zu sehen. Das könnte sich aber ändern, wenn noch deutlicher wird, was die großen Konzerne mit diesen Daten anstellen. Ich denke, da wird sich das Bewusstsein noch deutlich schärfen. +Was macht Sie da so sicher? +Diese Generation kommt ja aus dem Keller des politischen Interesses. Die Shell-Jugendstudie gibt es seit 1953, und so einen Tiefpunkt wie 2002 hat es noch nie gegeben, nicht nur in Deutschland. Seitdem klettern die Werte aber wieder. Vor acht Jahren war nur ein Drittel der Jugendlichen politisch interessiert, heute sind es schon wieder 40 Prozent. +Ist es nicht ein sehr kleiner Teil, der zum Beispiel für universelle Werte auf die Straße geht? Also etwa die Globalisierungskritiker, die zu den G8- Gipfeln reisen? +Schon. Dazu kann man Attac zählen, die Proteste gegen die Castortransporte oder für eine bessere Umwelt. Es sind grundsätzlich die besser Gebildeten, die sich für die großen, existenziellen Themen interessieren. Das war jahrelang die Umweltzerstörung an erster Stelle, das kann schon bald von der Wirtschaft verdrängt werden. Es geht aber auch um Terror, internationale Spannungen oder die weltweite Armut. Die Globalisierung als solche hat hingegen keinen Schrecken für die Jugend, es geht eher um das Thema Gerechtigkeit. Da haben viele das Gefühl, dass das in den Parteien kein Thema ist, und wenden sich anderen Organisationen zu. +Gibt es daher verhältnismäßig viele Nichtwähler? +Man sollte doch denken, dass die meisten froh sind, endlich mit 18 ihre Stimme abgeben zu können. Das ist auch eine Form des Protests. Die sind ja nicht unbedingt politisch desinteressiert, sondern äußerst skeptisch dem politischen Betrieb gegenüber. Das Interesse und Engagement gilt weniger den etablierten Parteien, sondern einem weniger formalen Sektor – den Menschenrechtsbewegungen etwa oder Bürgerinitiativen. Da machen auch viele punktuell bei Demos mit oder engagieren sich online in Foren. Aber wie gesagt: Die Jugend ist derzeit im Großen und Ganzen zufrieden mit der Situation, solange sie ihre eigenen Aufstiegschancen wahren kann. +Heute haben die Kinder oft Eltern, die gegen alles Mögliche protestiert haben. 68 ging es gegen autoritäre Lehrer und Altnazis, für Geschlechtergleichheit und sexuelle Befreiung. Später für Frieden und gegen Atomkraft. Ist der Protest deswegen ein bisschen unsexy für junge Menschen, weil die großen Schlachten geschlagen sind? +Ich glaube nicht, dass die junge Generation schaut, wie sie sich von den Eltern absetzen kann. Sie nimmt ihren Antrieb aus der eigenen kollektiven Deutung ihrer Chancen. +Dann ist sie doch deutlich lahmer als die eigenen Eltern … +Sie hat ganz klar recht bürgerliche Werte: Die Jungen von heute wollen in die wichtigen gesellschaftlichen Positionen hinein. Die haben ein bürgerliches, ja fast kleinbürgerliches Ideal. Die wollen später eine Familie und einen Arbeitsplatz. +Das klingt aber sehr angepasst. +Ich würde es eher defensiv nennen, ein bisschen zurückhaltend. Man will halt das schaffen, was die Eltern geschafft haben, und merkt, dass das schwer wird. Das ist nicht unpolitisch, sondern eine realistische Deutung der Ausgangslage, die in sich schlüssig und nachvollziehbar ist. Da lauert das Engagement eher unter der Oberfläche und wird aktiviert, wenn diese Generation merkt, dass ihr die Eltern ihre Chancen für einen sozialen Aufstieg nehmen. Solange sie den Eindruck hat, dass sie nicht untergebuttert wird, hält sie still. +Kann man es vielleicht auch so sagen, dass die Jugend früher kürzer war und die Jugendlichen mehr Power hatten und sie heute angesichts der langen Jugend mit ihren Kräften haushalten müssen? +Ja, da ist was dran. In dieser langgestreckten Jugendphase weiß man oft gar nicht, ob man wirklich in einen Beruf kommt, ob man wirklich eine Familie hat. Das sind oft 15 Jahre Ungewissheit. Da bleibt einem nichts anderes übrig, als auch einen Schuss Opportunismus und Egotaktik zu entwickeln. Man kann das nicht mit den Studenten von 1968 vergleichen. Die Zeiten heute sind andere, sie sind viel weniger kalkulierbar. Daher sind auch die Menschen heute weniger leicht entflammbar, sondern eher auf Kosten-und-Nutzendenken ausgerichtet. +Wäre es nicht dennoch wünschenswert, wenn den Jugendlichen das Erbe der Studentenbewegung von 68 bewusster wäre? Immerhin ist damals die liberale Gesellschaft erkämpft worden, in der wir heute noch recht kommod leben. +Das ist sicherlich ein Thema, das zum Beispiel in Schulen mehr Beachtung finden sollte. Dennoch darf man nachrückenden Generationen nicht verübeln, dass sie sich nicht ständig darüber bewusst sind, wer für sie die ganzen gesellschaftlichen Krusten aufgebrochen hat. Die Klügeren werden das jederzeit im Kopf haben. Es ist eh so, dass die Jugendlichen gegenüber der älteren Generation und ihrer Leistung sehr positiv eingestellt sind. +Es war doch aber immer auch Wesen eines widerständigen Geistes, dass man sich in der Jugend von den Eltern absetzt. +Man kann nur jedem wünschen, sich diese Widerstandskraft und die Fähigkeit zur Distanzierung zu bewahren. Aber das ist schwer. Das Elternhaus ist heute oft wohlhabend, liberal und lebendig. Das ist nicht mehr das Gefängnis von früher, sondern vielmehr ein interessanter Aufenthaltsort. Da ist es ganz schön schwer, sich davon zu lösen oder gegen irgendwas zu revoltieren. Eher studiert man die Verhaltensweisen der Eltern, um für das eigene Leben zu lernen: Wie gehen die mit Trennungen um? Wie mit dem Wechsel von Arbeitsplätzen? +Ist die Sehnsucht nach Harmonie größer als die nach Rebellion? +Ja, man sucht einen sicheren Hafen, nach einem festen sozialen Netz. Bei den Eltern scheint so ein schöner Heimathafen zu existieren. Jedenfalls hatten wir seit Langem nicht so eine positive Einschätzung der Eltern und so einen langen Aufenthalt im Elternhaus. +Man sieht immer mehr 50-Jährige auf Demonstrationen – zum Beispiel bei den Demonstrationen gegen Stuttgart 21. Verdrängt der betagte Wutbürger den jungen Rebell? +Da müsste man schon genauer hinsehen, wer da auf der Straße ist. Ich bin sicher, dass prozentual mehr Jugendliche protestieren. Wenn dreihundert 18-Jährige auf die Demo gehen, ist das was anderes, als wenn es dreihundert Rentner sind. Von denen gibt es ja viel mehr. +Die Jugendlichen haben bei den Revolutionen in Nordafrika verstärkt das Internet genutzt. Welche Rolle spielen diese Technologien in Zukunft für den Protest? +Das ist ein Medium, das viele Prozesse beschleunigt. Diese interaktiven Möglichkeiten gestatten neue Formen des Zugriffs auf Informationen, des massenhaften Zusammenkommens und der schnellen Nachrichtenvermittlung. Das wird von jungen Leuten natürlich schlafwandlerisch genutzt. Gleichzeitig gibt es aber auch die ablenkende Komponente. +Sie meinen: Das Internet macht die Schlauen schlauer und die Dummen dümmer? +Das Internet ist ein Transportmedium, das es leichter macht, wenn man politisch ist. Aber wenn man unpolitisch ist, nutzt es auch nicht. Es kann Proteste verstärken, aber es löst sie nicht aus. +Immerhin ist die Beherrschung solcher Technologie endlich mal was, womit man sich von den Eltern absetzen kann. +Das stimmt. Deswegen wird es ja oft mit Sympathie gesehen, wenn etwa Hacker gegen etwas protestieren, indem sie Internetseiten attackieren. Das ist auch die Freude am Kampf David gegen Goliath. +In den Vororten von Paris haben die Jugendlichen im Jahr 2005 und auch danach Autos angezündet und Barrikaden errichtet. Nun gibt es dort soziale Reformen. Ist das ein Erfolg des gewaltsamen Protests? +Das war eine authentische Form, seine Frustration zum Ausdruck zu bringen. Der Protest bediente sich gewalttätiger Formen, damit fiel er auf. Wir haben aber in Deutschland viel mehr Puffer, die solche Eskalationen auffangen. Es gibt nicht eine derartig hohe Jugendarbeitslosigkeit, nicht so viele abgehängte Migranten. Das ist der Unterschied. In Frankreich ist das eine große Gruppe, und die Politik hat gesehen, dass sie an der nicht vorbeigehen kann. +Was macht eigentlich den Erfolg eines Protests aus? +Es geht darum, etwas zur Sprache zu bringen, das einen Nerv trifft, auch andere Gruppen in der Gesellschaft anspricht. Wenn man zum Beispiel gegen die großen Konzerne demonstriert, die ihre Risiken der Gesellschaft aufbürden, ihre Gewinne aber für sich behalten – dann interessiert das ja junge und alte Bürger. Außerdem geht es um Glaubwürdigkeit und Authentizität, beides muss spürbar sein. Und dann kommt es ganz entscheidend darauf an, wie lange man das Thema in der öffentlichen Diskussion halten kann. Die Anti-Atomkraft-Bewegung ist ein hervorragendes Beispiel für Langfristigkeit und den damit einhergehenden Erfolg, der ja in diesem Fall bahnbrechend ist. Diese Zähigkeit, immer wieder neue Generationen für das Thema zu gewinnen – das ist der Schlüssel zum Erfolg. +Auf der einen Seite wird man heute mit allen möglichen Freiheiten groß, auf der anderen Seite scheinen die Menschen immer weniger Einfluss auf die Entwicklung der Welt zu haben: Die Schere zwischen Erster und Dritter Welt wird immer größer, die Klimakatastrophe scheint unabwendbar. Schlummert da Protestpotenzial? +Sobald die Jugendlichen ein bisschen nachdenken, werden sie merken, dass ihre Freiheit eine schale Illusion ist. Weil sie auf Kosten anderer Menschen geht. Unser Konsum geht zu oft auf Kosten derer, die nichts haben. +Ist das bewusste Konsumentenverhalten die Zukunft des Protests? Ein Unternehmen trifft es schließlich mehr, wenn seine Waren nicht gekauft werden, als wenn 1000 Menschen mit Plakaten vor der Zentrale stehen. +Das funktioniert aber nur, wenn es nachhaltig unterfüttert ist mit einer Grundhaltung oder einer Ideologie. Wir sind Menschen, die sich nicht mehr an der Nase herumführen lassen und gesunde Lebensmittel wollen, faire Preise und Arbeitsbedingungen, Geschlechtergleichheit. Das könnte nach der Anti-AKW-Bewegung das Zeug zu einem großen Thema haben. Und die Jugendlichen sind mit ihrer intuitiven Stimmung Trendsetter und Seismografen der Protestgesellschaft. Auch die Parteien sind gut beraten, sich darum zu kümmern. +Aber sind nicht die Jungen ein Abbild der Alten und deren Widersprüchlichkeit? Grün denken und wählen, aber mit Easyjet durch die Welt jetten und in Kinderarbeit hergestellte Laptops kaufen. +Diesen Widerspruch kann man als Jugendlicher aushalten. Ich denke aber, dass die junge Generation nicht immer damit leben wollen wird. Und dann werden diese Widersprüche bearbeitet, dann kommt es zu Boykottaktionen. Aber es gilt auch: Junge Leute suchen nach einer Verbesserung der Lebensqualität, die wollen im Hier und Jetzt leben, fünfe gerade sein lassen, Spaß haben. Auf lange Sicht halte ich sie aber für ansprechbare Weltverbesserer. +Sie sind also optimistisch? +Ich denke, dass wir es mit einer zuweilen erschreckend pragmatischen Generation zu tun haben. Da würde ich mir manchmal mehr politischen Zunder wünschen. Aber wenn es hart auf hart kommt, ist diese Generation da: An der Oberfläche scheinbar unpolitisch, aber auf der Hut, wach und handlungsfähig. Nach kurzer Orientierung kann sie sehr rebellisch sein, wenn sie sich um die Früchte ihrer Ausbildung betrogen sieht. diff --git a/fluter/pralle-post.txt b/fluter/pralle-post.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/pressefreiheit-und-zensur-in-der-tuerkei.txt b/fluter/pressefreiheit-und-zensur-in-der-tuerkei.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..17a33f3977b7b60fd4b8fe5c9857383962771289 --- /dev/null +++ b/fluter/pressefreiheit-und-zensur-in-der-tuerkei.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +Ich möchte nicht jammern, sondern erklären. Lebt man in einem Land, das so kontrovers geführt wird wie die Türkei, muss man als Journalist bereit sein. Jederzeit. Ich mache Überstunden, die nicht bezahlt werden, ich arbeite an Tagen, die eigentlich frei sind, ich habe in den vergangenen drei Jahren keinen Urlaub gemacht. +Trotzdem komme ich kaum über die Runden. Zwei Drittel meines Einkommens gehen für Wohnen und Rechnungen drauf, der Rest ist gerade genug, um zu überleben. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt im Kino oder auf einem Konzert war. +Warum ich weitermache? Warum ich Gesundheit und Freiheit riskiere, um die Menschen zu informieren, was in der Türkei passiert? Ich glaube an Demokratie und an die Meinungsfreiheit. Wir haben es verdient, die Wahrheit zu hören und zu erzählen. Und wer weiß, vielleicht tragen wir, die weitermachen, so dazu bei, dass Journalisten eines Tages wieder ohne politischen Druck arbeiten und würdevoll von ihrem Verdienst leben können." + + +"Der Tod von ‚Milliyet'-Chefredakteur Abdi İpekçi jährte sich im Februar zum vierzigsten Mal. Er war einer der bedeutendsten Journalisten der türkischen Geschichte, warb für Demokratie und Menschenrechte und trat besonders für die Aussöhnung von Griechen und Türken ein. Vier Jahre nach dem Zypernkonflikt ermöglichte er auf einem Kongress erste Treffen zwischen griechischen und türkischen Journalisten. Später wurde İpekçi vor seinem Haus erschossen. +Heute tötet man uns Journalisten nicht. Aber es gibt andere Wege, uns das Leben schwer zu machen. +Ich lebe in einer kleinen Stadt und habe acht Jahre für eine Lokalzeitung gearbeitet. Wegen ‚finanzieller Probleme' wurde ich vergangenen Winter entlassen. Seitdem arbeite ich als freie Journalistin. Davon leben kann ich nicht. Bekannte Kollegen bekommen noch genug Aufträge, eine gewöhnliche Journalistin wie ich leider nicht. Aber ich mache weiter. Journalistin zu sein ist eine Haltung. Ich kann ja schlecht von heute auf morgen aufhören, über das zu sprechen, was um mich herum passiert. +Das hat mich schon bei der Zeitung in Schwierigkeiten gebracht. Über manche Themen, zum Beispiel LGBTI, durfte ich nicht mehr schreiben. DieseZensurkann ich nicht hinnehmen. Noch schlimmer wäre aber, wenn ich mich irgendwann selbst zensieren würde. Das will ich nicht. Deshalb werde ich nicht still sein, auch wenn es einfacher wäre." + + +"Über ein Austauschprogramm war ich gerade für zwei Monate in Deutschland. Dort wurde ich immer wieder gefragt, wie ich so mutig sein könne, weiterhin in der Türkei zu arbeiten, und ob ich schon mal verhaftet worden sei. +Wurde ich nicht. Ich bin auch nicht besonders mutig. Ich mache wie viele andere Kollegen nur meinen Job. Unsere Aufgabe ist es, Menschen zu informieren und zu bilden, damit sie ihre demokratischen Rechte nutzen können. +Ich habe mich als Journalistin auf Gerichtsverfahren spezialisiert. Ich berichte über Menschen, die wegen Terror oder Verleumdung angeklagt werden, obwohl sie nur auf ihre Meinungsfreiheit bestehen. Die meisten Verfahren finden im Çağlayan-Gericht statt und sind offen für die Öffentlichkeit. Um hineinzukommen, muss ich mich trotzdem jedes Mal mit den Sicherheitsleuten anlegen. Es hängt von ihrer Gunst ab, ob ich meine Arbeit machen kann. +Das mag schlimm klingen, ist aber nicht die eigentliche Katastrophe. +Das Schlimmste ist, dass die Mehrheit der Medien dem Staat gehört. Der Rest steht unter finanziellem und juristischem Druck. Es gibt absurd viele Verleumdungsanschuldigungen gegen kritische Medien. Die Autorin und Zeitungskolumnistin Seray Şahiner musste zum Beispiel letztens eine Strafe zahlen, weil sie den Sohn von Präsident Erdoğan ironisch ‚Wunderkind' genannt hatte." + + +"Natürlich ist es in der Türkei nicht verboten, über Ereignisse zu reden und zu schreiben. Aber es birgt Risiken: Diskreditierung, Geld- oder sogar Gefängnisstrafen, Vertreibung. Was die Arbeit erschwert: Stellt man der falschen Person eine kritische Frage, kann sie dich leicht anschmieren. Jeder kann dich verraten, auch du selbst. Selbstzensur ist für viele Journalistinnen ein großes Problem. +Wer weiterarbeitet, muss geschickt sein. Die Sprache so wählen, dass er eine Zensur umgeht, aufmerksame Leser oder Zuschauer aber trotzdem verstehen, was er sagt. Das ist ein Weg, aber keine Lösung. +Ich schreibe heute vor allem über einfache Menschen. Damit will ich zeigen, dass wir alle viel gemeinsam haben, egal woher wir kommen oder woran wir glauben. Viele vertrauen sich mir nur an, wenn ich ihre Ansichten nicht veröffentliche. Viele Geschichten enden auf ‚Das bleibt aber unter uns'. +Die Türkei ist ein vielfältiges, wunderschönes und kultiviertes Land. Ich hoffe, dass nicht nur wir Journalisten bald wieder frei davon erzählen können." + +*Anm. d. Red.: Weil derzeit schon Kleinigkeiten zu Beschuldigungen und Klagen gegen türkische Journalist*innen führen, schreiben alle vier unter Pseudonym. Die Protokolle wurden aus dem Englischen übersetzt. + +Protokolle: Lisa Neal +Das Titelbild von Joris van Gennip/laif zeigt eine Demonstration gegen die Schließung der regierungskritischen Tageszeitung "Cumhuriyet". diff --git a/fluter/privilegien-spiel-lauf-des-lebens.txt b/fluter/privilegien-spiel-lauf-des-lebens.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/pro-contra-kolonial-denkmaeler-abreissen.txt b/fluter/pro-contra-kolonial-denkmaeler-abreissen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..eb6ee6b10125aeba5ee4bf70a46fe84a202788f0 --- /dev/null +++ b/fluter/pro-contra-kolonial-denkmaeler-abreissen.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Denn der tiefgreifende Rassismus sitzt nicht in einer Messingfigur, sondern in unserer politischen Vermittlung, in mangelnder Aufarbeitung, in einem einseitigen Diskurs. Oder auch in der Tatsache, dass die Absichtserklärung Deutschlands, sich bei Namibia für denVölkermord an den Herero und Nama während der Kolonialzeitentschuldigen zu wollen, als gute Nachricht gefeiert wird – während die Bundesregierung echte, finanzielle Entschädigungen seit Jahren ausschließt. +Mir schwirrt da sofort meine Oberschullehrerin durch den Kopf, die uns eine Glückskeksweisheit einhämmerte, die so pathetisch wie richtig ist:Geschichte wird erzählt, damit sie sich nicht wiederholt.Warum zerstören wir etwas, das wir dringend debattieren müssen? Ich glaube, mit Kurzschlüssen wie den Denkmalstürzen gelingt es Deutschland seit Jahrzehnten, seine historischen Amnesien aufrechtzuerhalten.Die deutsche Dekolonialisierung ist ein Thema, das ich in Geschichtsbüchern vermisse,egal wie viele ich durchblättere. +Geschichte erklärt uns die Gegenwart. Die Rassisten, die wir auf Podeste stellen, haben Schwarze Menschen über Jahrhunderte entmenschlicht, ausgegrenzt undbeeinflussen damit ihr Leben in der Bundesrepublik bis heute.Ich bin dafür, dass wir ihre Statuen zum Anlass nehmen, uns "umzuerinnern" – also nachhaltige Strukturen aufzubauen, die die Personen auf den Sockeln,unsere eurozentrische Geschichtsvermittlungund die ideologische Dynamik des Rassismus zu diskutieren. Viele kluge Wissenschaftler*innen tun das bereits, hangeln sich aber seit Jahren von Zuschuss zu Zuschuss – weil es keinen zentralen Ort, kein Institut gibt. Währenddessen kann der Rassismus in vielen Kreisen weiter verinnerlicht und in anderen offen ausgelebt werden, ob mit Statuen oder ohne. Bevor es zu falscher Symbolpolitik kommt, sollten die Statuen einen neuen Ort bekommen. +Natürlich ist dort ihre historische Kontextualisierung wichtig: Die Büste eines vermeintlichen "Afrikaforschers" macht mir auch Bauchschmerzen, wenn nicht klar eingeordnet wird, warum diese Person auf dem Marktplatz steht. Eine Infotafel reicht da übrigens nicht – oder wann hast du das letzte Mal eine gelesen? Eben. Ich würde die Statuen eher in Bestandserhaltungseinrichtungen zeigen. Damit meine ich kein Museum (das wäre dann auch wieder zu viel der Ehre), sondern eine Umgebung, die erläutert, wie es die Herrschaften auf den Sockel geschafft haben und warum das Unbehagen und Geschichtsreflexion auslösen sollte. +Die Gegenwart lauter kleiner Rassismus-Ausstellungen könnte uns täglich daran erinnern, dass Rassismus kein Einzelfall ist und dass wir mittenrein müssen in die Auseinandersetzung, um Rassismus aktiv zu verlernen. Und sie könnten vielerorts zu Diskussionen einladen, wem wir neue Denkmäler setzen. Ich habe schon eine Idee: ein zentrales Denkmal für die Opfer des deutschen Kolonialismus. Das gibt es bislang nämlich nicht. + + +Ciani-Sophia Hoeder schreibt, filmt und gründeteRosaMag, das erste Lifestylemagazin für afrodeutsche Frauen. Mit Denkmälern beschäftigt sich Ciani sonst nicht. Es sei denn, sie muss ihren Hund überzeugen, auf der Gassirunde woanders das Bein zu heben als am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin. + + +Collagen: Renke Brandt +meint Mohamed Amjahid +Denkmäler, die Kolonialisten, Sklavenhändler und die Ausbeutung von nichtweißen Menschen glorifizieren, haben im Jahr 2020 nichts im öffentlichen Raum verloren. Bei diesem einen Satz, auf den sich alle vernünftigen Menschen einigen können sollten, würde ich es hier am liebsten belassen. Da sich aber immer noch sehr viele Menschen sehr eifrig über diese Feststellung aufregen können, erkläre ich sie gern noch mal in Ruhe. +Denkmäler sind Orte, die an bestimmte Personen oder Ereignisse erinnern sollen. Diese Mahnung der Geschichte kann immer noch wichtig sein und zeitgemäß, denkt man etwa an die Mahnmale für die ermordeten Juden*Jüdinnen Europas, die ermordeten Sinti*ze und Rom*nja oder für die queeren Opfer des Nationalsozialismus. Denkmäler können aber nicht nur mahnen, sondern auch feiern oder glorifizieren. +Glorifizierung ist in dieser Debatte ein wichtiger Begriff. Viele Menschen haben etwas geleistet, was heroische Posen verdient: Die Polin Marie Curie hat die Physik revolutioniert,Nelson Mandela hat Südafrika aus der Apartheid geführt, Harvey Milk kämpfte in den USA für queere Rechte und, und, und. Solche Persönlichkeiten müssen wir feiern. Aber welchen Grund soll es geben, bekannte Kolonialisten zu glorifizieren? +Kolonialismus ist für viele Minderheiten in Europa und Völker im sogenannten globalen Süden bis heute allgegenwärtig: Die Ära hat nicht nur massenhaft Menschheitsverbrechen gebracht,sondern das globale Machtgefälle auch nachhaltig zugunsten der weißen Mehrheit verschoben.Den Verantwortlichen jetzt als Statuen zu huldigen, ist grundfalsch und ein Affront gegen jede gründliche Aufarbeitung der Geschichte. +Und wenn nun manche sagen, man könne Geschichte nicht aufarbeiten, wenn man sie einfach abreiße und verstecke? Entschuldigung, aber seit wann sind unsere Parks und Plätze Freilichtmuseen? Denkmäler bieten keine ausreichende Pädagogik, um aus Glorifizierungen Mahnungen zu machen. Die Plakette, die einem vorbeifahrenden Fahrgast im Bus klar macht, dass er gerade ins Gesicht eines Sklavenhändlers schaut, möchte ich mal sehen. Komplizierte Zusammenhänge und Lebensläufe problematischer Figuren sollten wir besser in Büchern, Museen oder Kunstprojekten aufbereiten, also weg mit den Statuen! +Seit Wochen nehmen sich das Aktivist*innen zu Herzen. In Bristol versenkten sie die Statue von Edward Colston im Hafen. Als Sklavenhändler verdiente Colston viel Geld, er war also an der Entmenschlichung Zehntausender Schwarzer Menschen beteiligt. Jahre wurde über seine Statue diskutiert. Ohne Ergebnis, weil sich die Mehrheitsgesellschaft mit allen Mitteln gegen den Abbau der Statue wehrte. Also blieb den rassismusbetroffenen und -sensiblen Bürger*innen der Stadt nur der Akt des zivilen Ungehorsams. +Es ist absurd, dass die, die an rassistischen Statuen oder Straßennamen festhalten und allein durch die Debatte um Denkmalstürme emotional getroffen sind, die Gefühle und Argumente von Rassismusbetroffenen wiederum einfach wegwischen. Sprache oder die Gestaltung des öffentlichen Raums sind nicht statisch, sie verändern sich mit der Zeit. Das ist gut so. Damit irgendwann alle gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben, müssen wir noch viele Übel beseitigen. Die Denkmäler von Menschenfeinden abzureißen, ist dabei doch ein vergleichsweise einfacher Schritt. + + +Mohamed Amjahid ist Journalist und Autor. In seinem Buchdebüt "Unter Weißen" hat er auch über rassistische Straßennamen geschrieben – und beobachtet, dass viele, die auf kolonialrassistischen Straßennamen beharren, sich sehr über eine neue "David-Bowie-Straße" freuen. Mohamed würde ihnen gern die Bowie-Zeilen "There's a terror in knowing what the world is about" vorsingen. diff --git a/fluter/pro-und-kontra-volksentscheide.txt b/fluter/pro-und-kontra-volksentscheide.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..12d270a05aed408454de0a9accdd86c64ff5550c --- /dev/null +++ b/fluter/pro-und-kontra-volksentscheide.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Schon Kinder protestieren, wenn man ihnen Ponchos oder Flötenunterricht aufdrückt, ohne sie nach ihrer Zustimmung zu fragen. Wenn über meinen Kopf hinweg Entscheidungen getroffen werden, die ich nicht gut finde, bin ich mindestens irritiert, bei Wiederholung wütend, bei anhaltendem Muster verdrossen. Manche Menschen werden auch anfällig für Taten, die sie später möglicherweise bereuen. Drei von fünf AfD-Wählern stimmten bei der Bundestagswahl nicht deshalb für die Partei, weil sie von ihrem Programm überzeugt sind. Sie taten es, weil sie auf die Entscheidungen der anderen Parteien einfach keinen Bock mehr hatten. +Wer mitbestimmen darf, wendet sich nicht so schnell ab. Mehr Volksentscheide bedeuten automatisch, dass sich die Bevölkerung weniger bevormundet und mehr einbezogen fühlt. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt: Bürgerbeteiligung stärkt nicht nur das politische Interesse, sondern erhöht auch die Akzeptanz von Politikentscheidungen. Wenn Menschen mit einer Entscheidung inhaltlich nicht einverstanden sind, sind sie eher bereit, sie zu akzeptieren, wenn sie vorher die Möglichkeit hatten, am Prozess teilzuhaben. +Nun warnen Kritiker, das gemeine Volk wäre viel zu doof, viel zu irrational für das alles. Sie deuten nach Großbritannien oder nach Tegel. Ich frage mich dann immer: Ja, aber über das Parlament entscheiden zu lassen geht okay? So zu tun, als wäre die Entscheidung für eine politische Richtung, den Regierungsstil der nächsten Jahre, ja ganze Pakete an Vorhaben weniger folgenschwer als die Entscheidung, ob man einen Flughafen offen hält oder nicht, ist doch seltsam. +Um ganz sicher zu sein, nicht plötzlich außerhalb der EU oder in einem Land mit Burkaverbot aufzuwachen, darf man gerne ein paar Maßnahmen zur Qualitätssicherung einbauen. +Erstens: Aufpassen, dass Volksentscheide nicht von Populisten instrumentalisiert werden.Für Referenden – hier kommt die Initiative und die Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs nicht aus dem Volk, sondern vom Parlament – gilt dasselbe. Anfangen könnte man damit, die Art der Fragestellung von einem unabhängigen Komitee prüfen zu lassen. In Ungarn legte die Regierung ihrem Volk vor einem Jahr die Suggestivfrage vor, ob sie sich von Europa die Ansiedlung fremder Menschen aufzwingen lassen solle. Beim Berliner Volksentscheid über die Zukunft Tegels Ende September wurde die Abstimmung mit dem Satz eingeleitet: "Der Flughafen Berlin-Tegel ‚Otto-Lilienthal' ergänzt und entlastet den geplanten Flughafen Berlin Brandenburg ‚Willy Brandt' (BER)." Da kann man die Bürger gleich fragen, ob sie weniger Feiertage wollen und dafür mehr Steuern zahlen. +Der amerikanische Forscher James Fishkin hat einmal sinngemäß gesagt: Bei einer Umfrage werden die Leute gefragt, was sie denken, wenn sie nicht denken. Als zweite Sicherungsmaßnahme wäre deshalb gut: Nur Informierte abstimmen lassen. Das mag extrem klingen, aber die Führerscheinprüfung darf auch nur antreten, wer im Theorieteil bewiesen hat, die Straßenregeln zu kennen. Uninformierte Wahlentscheidungen können ähnlich gemeingefährlich sein wie ein betrunkenes Kind hinterm Steuer. Auf keinen Fall verwechseln sollte man diesen Vorschlag mit jenem, nur besonders intelligente Menschen wählen zu lassen – das ist Quatsch und hat mit Demokratie nichts zu tun. +Wie kann man dem Urnengang vorgeschaltete Wissenstests gestalten, damit sie fair sind? Wie stellt man sicher, dass nicht nur jene zur Abstimmung kommen, die gebildet und privilegiert sind? Einige schlaue Leute, zum Beispiel der belgische Historiker David Van Reybrouck, haben sich dazu schon Gedanken gemacht. Die Vorschläge reichen von verpflichtenden Abstimmungen per Losverfahren bis zu bezahlter Recherche. +Dass Volksbegehren Land und Demokratie kamikazeartig aus den Angeln heben, braucht man übrigens sowieso nicht zu befürchten: In Deutschland können Anträge auf die Durchführung eines Volksbegehrens vom Bundesverfassungsgericht darauf geprüft werden, ob der vorgelegte Text Grund- und Minderheitenrechte verletzt. Selbst wenn hierzulande Volksentscheide auf Bundesebene möglich wären: Verstößt einer gegen das Grundgesetz, landet er eh in der Tonne. Eine Abstimmung über ein Minarettverbot, wie sie 2009 in der Schweiz durchgeführt wurde, käme in Deutschland zum Beispiel nicht infrage. +Bürger dazu zu bewegen, sich mit komplexen Themen auseinanderzusetzen, anstatt einfach den Politiker zu wählen, der bei letzten TV-Diskussion den schönsten Blazer anhatte, hätte auch noch einen netten Nebeneffekt: Politiker würden dazu gezwungen, faktischer zu diskutieren. Falschinformationen wie die während der Nein-Kampagne der ungarischen Regierung – "Wussten Sie, dass Brüssel eine ganze Stadt voller Flüchtlinge in Ungarn errichten will?" – hätten eine viel kleinere Chance, ernst genommen zu werden. Und sich als Bürger nicht für blöd verkaufen zu lassen – egal ob es nun um eine Volksabstimmung geht oder die nächste Landtagswahl – ist schließlich immer gut. +Angesichts der Verve, mit der Sara Geisler für mehr Volksentscheide eintritt, könnte man meinen, dass sie Schweizerin ist. In Wahrheit kommt sie aber aus Österreich und führt zur Begründung noch an, dass sie eben gerne "ummagschaft'ln mag", wie man bei ihr zuhause sage – also gerne mitmischen möchte. Das tut sie auch als feste Redakteurin in der Berliner fluter-Redaktion. +Veronika Dreßler hält dagegen: Nicht ohne Grund haben wir Abgeordnete im Parlament, die uns repräsentieren und nach eingehender Analyse vernünftige Entscheidungen treffen – und nicht aus dem Bauch heraus +Traditionell trifft sich unser Freundeskreis alle vier Jahre nach der Bundestagswahl in einem unserer Wohnzimmer zur sogenannten Wahlparty. Normalerweise diskutieren wir Mittdreißiger dann eifrig über die ersten Hochrechnungen und backen Wahltorten, dieses Jahr jedoch gab es ein Thema, das die meisten von uns genauso beschäftigte wie die Sitzverteilung im Deutschen Bundestag; die Tegelfrage: Soll der Flughafen geöffnet bleiben oder geschlossen werden? +Mindestens die Hälfte von uns hatte gemeinsam die Schulbank am Carl-von-Ossietzky-Gymnasium in Pankow gedrückt und konnte sich noch lebhaft an die Auswirkungen des Fluglärms erinnern. Wenn im Sommer die Temperaturen stiegen und es in den Klassenräumen, die direkt unter der Einflugschneise lagen, unerträglich heiß wurde, fand der Unterricht ausnahmsweise bei geöffnetem Fenster statt und es herrschte Chaos. Einige Lehrer versuchten angestrengt, den Lärm mit ihrer Stimme zu übertönen, gaben aber spätestens nach der vierten Stunde auf. Andere schwiegen so lange, bis der dröhnende Koloss vorbeigeflogen war, was bedeutete, dass sie ein Drittel des Unterrichts gar nichts sagten. Ganz egal, was sie taten, wir Schüler bekamen kaum etwas vom Stoff mit, waren genervt und mussten oft bis nach dem Klingelzeichen im Klassenraum verbleiben. Doch nicht nur in der Schule, auch im Garten der Großeltern, beim Volleyballspielen oder im Park war der Lärm gegenwärtig. Kurzum: Unsere Lebensqualität war eingeschränkt. +Umso mehr entsetzten uns an diesem Abend die ersten Hochrechnungen des Volksentscheids. Über 50 Prozent stimmten für die Offenhaltung Tegels? Wie konnte das sein? +Meine alten Mitschüler regten sich furchtbar auf, und diejenigen, die noch immer in Pankow leben, fingen an zu fluchen. Alles AfD-Wähler oder zumindest FDP, schimpften sie. Bis Julia, die ursprünglich aus Köln kommt, inzwischen im Friedrichshain wohnt und selten in Pankow war, einwarf: "Also ich habe auch für den Erhalt gestimmt. Das ist halt total praktisch für mich. Mit der Ringbahn bin ich in 20 Minuten da." Verständlich, dass sie für die Offenhaltung gestimmt hat. Für sie ist Tegel einfach: pragmatisch, praktisch, gut. +Menschen treffen Entscheidungen in der Regel nicht auf Grundlage einer systematischen, objektivierbaren Analyse aller Möglichkeiten. Sie wägen nicht immer ab, welche langfristigen Auswirkungen ihr eigener Standpunkt auf das Wohl anderer haben könnte. Sie verhalten sich bei Entscheidungsfindungen vorrangig nach dem heuristischen Prinzip. Mehr als nach ihrer Vernunft urteilen sie nach ihrer momentanen Gefühlslage. +Knapp 300.000 Menschen im Umkreis vom Tegeler Flughafen leben mit Dauerlärm, bei rund 134.00 von ihnen beträgt dieser über 60 Dezibel, was etwa der Lautstärke eines im Abstand weniger Meter vorbeirasenden Pkws entspricht. Die Anrainer in der Einflugschneise sind für die Schließung des Flughafens, weil es sie persönlich betrifft. All diejenigen, deren alltägliches Wohlergehen nicht beeinträchtigt ist, stimmen vermutlich nach ihren eigenen Prioritäten ab. Kann ich den Flughafen leicht erreichen? Ist die Anbindung gut? Oder stimme ich einfach nur deshalb für die Offenhaltung, weil für mich nichts dagegen spricht? +Nicht umsonst haben wir Abgeordnete, die unsere Interessen im Parlament vertreten und Entscheidungen im Sinne des Gemeinwohls treffen sollen. Sie stehen in der Verantwortung, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln, dementsprechend setzen sie sich im Idealfall intensiv mit dem jeweiligen Sachverhalt auseinander und treffen Entscheidungen auf Grundlage einer sorgfältigen Expertise. Auch wenn ein Abgeordneter nicht vollkommen frei von subjektiver Einflussnahme ist, er wird in vielen Fällen objektiver entscheiden als die Bevölkerung. Die Auswirkungen der Entscheidung über den Flughafen Tegel wären überschaubar. +Man stelle sich jedoch einen Volksentscheid über ein Einwanderungsgesetz oder das Aufenthaltsrecht nach Anschlägen in Paris oder Berlin vor. Wenn Populisten an dieser Stelle das Volksbegehren vorantreiben, könnten im Affekt Entscheidungen getroffen werden, die den demokratischen Grundsätzen entgegenwirken. Dazu kommt, dass nachweislich höhere und mittlere Schichten sowie Interessengruppen an Volksentscheiden teilnehmen. Nicht die Meinung des Volkes in seiner Gesamtheit, sondern die Überzeugungen partikularer Gruppen entscheiden in diesem Fall über eine gesamte Bevölkerung. Aus diesem Grund können Volksentscheidungen eine unvorhersehbare Gefahr für die demokratische Gesellschaft darstellen und an dem vorbeigehen, was sie eigentlich beabsichtigen: das Volk zu repräsentieren. + +Anika Dreßler ist freiberufliche Journalistin und hat ihre Kindheit und Jugend im Berliner Bezirk Pankow verbracht. Nach dem Abstimmungsergebnis über den Flughafen Tegel steht sie nach dem Motto "Schlimmer geht immer" Volksentscheiden eher skeptisch gegenüber. + +Collagen: Renke Brandt diff --git a/fluter/probleme-beim-generationenvertrag-durch-ein-kind-politik-chinas.txt b/fluter/probleme-beim-generationenvertrag-durch-ein-kind-politik-chinas.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9ca0bfc89730377ccfb7263a35cf0ba666c72f5f --- /dev/null +++ b/fluter/probleme-beim-generationenvertrag-durch-ein-kind-politik-chinas.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +"Es ist lächerlich, das zu einem Gesetz zu machen. Das ist, als würde man Eheleuten vorschreiben, ein harmonisches Sexleben zu führen", schreibt der Schriftsteller Guo Cheng in seinem Blog. In dem Gesetzestext steht, dass Kinder ihre Eltern, sobald diese 60 Jahre alt sind, "oft" besuchen und finanziell unterstützen müssen. Wie oft genug ist, steht nicht darin. +Gehorsam gegenüber den Eltern galt in China lange Zeit als wichtige Tugend. Noch heute kennt jeder Schüler die "24 Beispiele kindlicher Pietät", die ein Gelehrter der Yuan- Dynastie vor 700 Jahren gesammelt hat. Sie haben vom kleinen Wu Meng gehört, der im Sommer nackt vor dem Bett seiner Eltern schlief, damit die Mückenschwärme nicht ihre Nachtruhe störten. Da ist Frau Tang, die jahrelang ihre zahnlose Schwiegermutter stillte. Und natürlich Yu Qianlou, der zu Diagnosezwecken den Stuhlgang des kranken Vaters kostete (er war süß, wahrscheinlich Diabetes). +Es ist nicht einfach, in China jung zu sein. Eltern können ihre Kinder sogar verklagen, wenn die sie nicht besuchen +Der chinesische Philosoph Konfuzius, der um 500 v. Chr. lebte, bezeichnete den Respekt vor dem Alter als "Wurzel der Menschlichkeit". Solange die Eltern eines Mannes am Leben seien, solle er nicht weit reisen. Es sei Aufgabe der Kinder, die Eltern und Großeltern im Alter zu versorgen. Das in der Mao-Ära eingeführte Hukou-System, eine Art Wohnsitzkontrolle, machte es schließlich auch rechtlich so gut wie unmöglich, vom Land in die Stadt oder in eine andere Provinz zu ziehen: Wer seine Kinder in die Schule schicken oder Zugang zur Gesundheitsversorgung haben will, muss an einem Ort wohnen bleiben – das ist auch heute noch so. Jahrzehntelang hielt sich mehr oder weniger die gesamte Bevölkerung daran. +Mit der Öffnung Chinas änderte sich das. Innerhalb kurzer Zeit wurde aus einem planwirtschaftlichen Agrarstaat die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Weil diese Entwicklung hauptsächlich in den großen Städten passiert, pfeifen Millionen junge Chinesen auf das Melderegister, verzichten auf die damit verbundenen Privilegien und pilgern in die Metropolen. Der ergrauende Papa und die alternde Mama bleiben im Dorf zurück, oft auch der eigene Nachwuchs, Oma und Opa sowieso. +Das Londoner Institut The Economist Intelligence Unit hat untersucht, wo auf der Welt alternde Menschen die beste schmerzlindernde und pflegende Versorgung bekommen. In dem Ranking von 2015, das den klingenden Namen "Quality of Death Index" trägt, landete China auf Platz 71 von 80 – je höher die Zahl, desto schlechter steigen die Betagten aus. Zwar werden in China gerade viele Altersheime eröffnet – 2016 gab es gut 20 Prozent mehr als im Vorjahr –, doch die Wartelisten sind lang. Theoretisch müssten sich 1.000 Senioren 32 Betten teilen. Und es wird noch enger, denn Chinas Bevölkerung altert im Zeitraffer: War 1970 ein Chinese im Schnitt 19 Jahre alt, lag das Durchschnittsalter bei der letzten Zählung vor drei Jahren bei 37 Jahren. 2050 soll es auf 49 Jahre steigen. Damit wächst der Anteil der Alten in China so schnell wie nirgendwo sonst. +Schuld daran ist die sogenannte Ein-Kind-Politik. Eingeführt wurde die Geburtenkontrolle 1979 mit dem Ziel, Hungersnöte zu vermeiden und die Wirtschaft anzukurbeln. Wer nur wenige Mäuler zu stopfen hat, so die Rechnung der Regierung, kann mehr Geld für Konsumgüter ausgeben. +Zwar gab es einige Ausnahmen von der Regel, zum Beispiel für die 55 ethnischen Minderheiten oder in ländlichen Gebieten, wenn der Abstand zum ersten Kind groß genug war. Wurde eine Frau ein zweites Mal schwanger, drohten aber in aller Regel Konsequenzen. Sie reichten von Geldstrafen und Kündigungen bis zu Zwangsabtreibungen und -sterilisation. +Die Ein-Kind-Politik ging auf und das Bevölkerungswachstum extrem zurück. Heute hat China eine der geringsten Geburtenraten der Welt und eine Familienstruktur, die Demografen als "4-2-1"-Modell bezeichnen: Am Ende jeder Kette steht ein Einzelkind, dessen Eltern auch schon Einzelkinder waren. Kritiker spötteln, die Regelung habe ein Heer "kleiner Kaiser" hervorgebracht – verhätschelte Einzelkinder, die nun jeweils sechs alternde Personen zu versorgen hätten. +Seit dem 1. Januar 2016 gilt die Zwei-Kind-Politik. "Zwar erlaubt das Gesetz jetzt ein zweites Kind, aber viele Leute, zumindest 50 Prozent, wollen nach dem ersten gar kein weiteres", sagt Cai Fang. Er ist einer der bekanntesten Demografen Chinas und fordert, Paare finanziell dabei zu unterstützen, zwei oder, noch besser, drei Kinder zu bekommen. +Dass sich die Chinesen längst weniger vermehren, als ihrer Regierung lieb ist, hat viele Gründe. Eine Mixtur aus hohen Mieten, fehlenden Kinderbetreuungsplätzen und einem schwärmenden Blick gen Westen ist ein sehr effektives Verhütungsmittel. + +Die Jugend zwischen den Stühlen: Man sollte sich nicht allzu kritisch über die Regierung äußern, aber bei der Frisurenwahl ist man frei + +In Deutschland denken die viele Menschen an Glückskekse, wenn sie Konfuzius hören. In China ist der Stellenwert seiner Lehre eher mit dem der Zehn Gebote zu vergleichen. Nachdem das chinesische Kaiserreich 221 v. Chr. gegründet wurde, erhob man seine Ideen zur Staatsdoktrin. Die strenge Gesellschaftsordnung, die sich Konfuzius überlegt hatte, schien perfekt, um die nötige Stabilität herzustellen: Der jüngere Bruder musste zum älteren aufsehen, der Sohn zum Vater, der Untertan zum Herrscher. Nur Freunde waren auf einem Level. Als Frau musste man im Laufe eines Lebens gleich mehreren Männern hörig sein: dem Vater, wenn man jung war, dem Ehemann, wenn man verheiratet, und dem erwachsenen Sohn, wenn man verwitwet war. Besteht Harmonie im Kleinen, so dachte Konfuzius, gibt es auch im Großen keinen Streit. +Mit den Plänen der Kommunisten, die Mitte des letzten Jahrhunderts unter Mao Tse-tung die Volksrepublik China ausriefen, passte diese Denkweise überhaupt nicht zusammen. Alles, was mit Konfuzius zu tun hatte, galt als rückständig. Konfuzius war schuld an der Unterdrückung des Volkes. Während der Kulturrevolution der 1960er- und 1970er-Jahre verbrannten die Kommunisten seine Bücher, zerstörten Tempel und verwüsteten Konfuzius' Familiengrab. +Xi Jinping, der jetzige Staatschef Chinas, zitiert Konfuzius in seinen Reden wieder gern. Er besuchte dessen Geburtsort und sprach auf einer Konferenz zu Ehren des Philosophen. Er legt dem Volk die Lektüre der "Gespräche" ans Herz, eine Sammlung, die Konfuzius' Schüler nach dessen Tod aufschrieben. In Schulen werden wieder klassische Gedichte gelernt und in Unis Kurse zur "nationalen Bildung" angeboten und dabei Konfuzius' Gedanken studiert. +Seitdem China eine wachsende Mittelschicht hat, die gut vernetzt ist und immer mehr Rechte einfordert, ist die Kommunistische Partei wieder mehr an Harmonie als an Revolte interessiert. Liberaler Wandel durch liberalen Handel? Will sie lieber nicht. Xi, der auf dem Parteitag im Oktober auf eine Stufe mit Mao gestellt wurde, als Vordenker des "Sozialismus chinesischer Prägung", träumt von der Herrschaft der Partei. Nicht China first, sondern party first. Damit das klappt, wird die Presse zensiert wie seit 30 Jahren nicht mehr. Menschenrechtsaktivisten werden verfolgt und Arbeitsbücher aus Unis verbannt, die "westliche Werte" wie Meinungsfreiheit vermitteln könnten. +Zusätzlich arbeitet der Staat an einem Social-Credit-System, das jeden Chinesen für sein Verhalten belohnt oder bestraft und 2020 fertig sein soll. Du hast einem Mitschüler geholfen, die Eltern besucht, ein E-Auto gekauft? Pluspunkt! Falsch geparkt, die Partei kritisiert, auf eine Demo gegangen? Punktabzug! Wer einen niedrigen Score hat, wird künftig nur noch mit gedrosseltem Internet surfen, keinen Job im öffentlichen Dienst bekommen und auch ganz sicher nicht ins Ausland reisen. +Laut Zhang Yan Feng, einem Pekinger Anwalt, ist das Gesetz zur Achtung der älteren Generation als "erzieherische Nachricht" an das Volk zu verstehen. Als "Erinnerung an die Jungen, sich auf traditionelle Werte zu besinnen", wie es ein Professor der Universität Peking ausdrückte. Am besten zusammengefasst hat die Absicht des Gesetzes aber Konfuzius, nachzulesen in den von Xi Jinping hochgelobten "Gesprächen", Kapitel 1, Vers 2: "Unter denen, die die Alten achten, gibt es selten Menschen, die gegen die Obrigkeit rebellieren." + +Fotos: Julien Hazemann diff --git a/fluter/profi-gamer-jordan-gehalt-alltag.txt b/fluter/profi-gamer-jordan-gehalt-alltag.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..648d5682e9f5dd45d8f8757bf2f9632a9b1c5507 --- /dev/null +++ b/fluter/profi-gamer-jordan-gehalt-alltag.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Wer selbst nicht zockt, dem wird mein Beruf sicherlich erst einmal merkwürdig vorkommen. Manche stellen sich vor, ich sitze den ganzen Tag zu Hause und spiele bis zum Umfallen. Solche Gamer wird es geben, ich starte jedenfalls organisiert in den Tag. Mein Wecker klingelt um 5.30 Uhr. Viermal die Woche geht's dann direkt ins Fitnessstudio, Gewichte stemmen. Danach kaufe ich ein und koche für den Tag. Das muss ich machen: Gesunde Ernährung ist mir wichtig, und ich kann schlecht mitten im Stream offline gehen, um mir etwas zu essen zu machen. +Zwischen 11 Uhr und 14 Uhr starte ich meinen Twitch-Stream und zocke. Meist nicht länger als bis 19 Uhr, um noch Zeit mit meiner Freundin zu haben. Wochenenden gibt es nicht, da finden die großen Turniere statt. +Ich spiele seit fast 20 Jahren. Das zahlt sich heute aus: Ich gehöre zu den acht besten AOE II-Spielern der Welt. Durch das Streaming kann ich vom Gamen leben, das hätte ich früher nicht für möglich gehalten. Ich streame ausschließlich auf Twitch und kassiere Teile der Einnahmen, die meine Zuschauer über Abo-Modelle zahlen. Dazu schenken mir manche während des Streams sogenannte Subs, kleine Spenden von drei Euro oder mehr. Bei Turnieren gibt es Preisgelder zwischen 5.000 Euro und 20.000 Euro. +Dazu bekomme ich ein Gehalt von der GamerLegion, einer E-Sport-Organisation, bei der ich unter Vertrag stehe. Heißt: Ich trete im Namen der GamerLegion bei Turnieren an, muss eine gewisse Zahl an Stunden im Monat streamen und bei Teamevents dabei sein. Preisgelder eingerechnet, verdiene ich zwischen 45.000 Euro und 65.000 Euro im Jahr. Betriebskosten und Steuern muss man davon abziehen: Als Profi-Gamer bin ich selbstständig. +Das birgt natürlich Risiken. Um Geld zu verdienen, muss ich Turniere spielen – und gute Leistung zeigen. Und Trends können meine Einnahmen beeinflussen: Verliert ein Spiel an Popularität, ist es schwierig, Follower zu gewinnen. AOE II ist ein sehr altes Spiel, das Kultstatus genießt, aber Spiele wie "Counter Strike" oder "League of Legends" sind populärer und viel lukrativer. +So ist es, ich zu sein +Hier erzählen Menschen aus ihrer persönlichen Perspektive:als Putzkraft, Bisexuelle oder Flaschensammler +Aber ich bin zufrieden mit meinem Jahresumsatz. Ich mache, was mir Spaß macht, und kann mein Equipment finanzieren, das etwa 2.500 Euro kostet: zwei Monitore, ein leistungsstarker PC, Tastatur, Maus, Webcam, Headset. Den Sessel stellt ein Sponsor. +Ich kann mir nicht vorstellen, was anderes als AOE II zu spielen. Das Spiel ist im Mittelalter angelegt. Man muss mit einer Zivilisation möglichst schnell die gegnerische Zivilisation besiegen. Für eine schlagkräftige Armee braucht es aber eine gute Wirtschaft, und da wird es schon kompliziert. Wer gewinnen will, braucht die richtige Strategie und muss fix entscheiden können. AOE II ist wie eine ultraschnelle Version von Schach. Es fesselt mich, weil es so komplex ist und ich mich ständig verbessern muss. +Nur zocken reicht aber als Profi-Gamer nicht. Würde ich einfach still meine Runden spielen, hätte niemand Interesse, mir über längere Zeit zu folgen. Erfolgreiche Streamer interagieren mit ihrer Community. Wenn im Chat Fragen gestellt werden, antworte ich über das Mikrofon – während ich zocke. Es geht darum, sich auf die Leute einzulassen. Spontan in den Urlaub fahren fällt deshalb auch aus: Jede Pause muss ich vorher mehrfach in meinem Channel ankündigen. Einfach länger offline sein würde meine Follower irritieren, schlimmstenfalls entfolgen sie mir. + diff --git a/fluter/programmieren-lernen-bei-den-rails-girls-erfahrungsbericht.txt b/fluter/programmieren-lernen-bei-den-rails-girls-erfahrungsbericht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dd1c77dfc0992525d2038b7d02559dc8ecf75bb8 --- /dev/null +++ b/fluter/programmieren-lernen-bei-den-rails-girls-erfahrungsbericht.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Dabei ist Technologie heute einer der stärksten Hebel, um die Welt zu verändern. +Den Rails Girls geht es darum, mehr Mädchen und Frauen an diese technologischen Hebel der Macht und der politischen Einflussnahme zu bringen – und damit zugleich die Szene der ProgrammiererInnen mit diverseren Sichtweisen der Welt zu bereichern. "Es macht mir Sorgen, dass diese Veränderungen oder Umwandlungen nur von ein paar kalifornischen Jungs in den frühen Zwanzigern mit einer sehr engen Weltsicht angetrieben werden. Technologie ist die Zukunft, ein Teil der großen Revolution, die vor uns liegt", hat Linda Liukas, eine der Gründerinnen, 2012 dem "Sistermag" gesagt. +Lass mal Algorithmen programmieren +Unser Autor hat Nachhilfe bei zwei Informatik-Studenten genommen und gelernt: Auch einfache Algorithmen basieren auf erstmal schwer verständlichem Code-->Hier kannst du lesen, was er sonst noch gelernt hat +So weit denken wir blutigen Anfängerinnen an diesem Samstag im Seminarraum noch nicht. Wohl die wenigsten haben eine konkrete Idee, was sie mit ihrem neuen Programmiererwissen anfangen wollen – jedenfalls sagen sie es nicht. Erst mal geht es darum, dass wir uns an "Rails", ein sogenanntes Web-Framework, und "Ruby", die Programmiersprache, mit der man im Framework Webapplikationen schreiben kann, herantasten. Und natürlich: Wir sollen uns auch gegenseitig helfen und miteinander vernetzen. Dabei wird uns zunächst einmal eine sehr lange Leine gelassen und zugetraut, dass wir uns selbstständig mit den Programmen vertraut machen – was sich aufgrund der von den Rails Girls erstellten Online-Tutorials recht gut anlässt. +Neben mir sitzt Ariane, Volontärin, Mitte 20. Abwechselnd werfen wir Blicke auf den Bildschirm der anderen, um uns zu versichern, dass wir die Schritte auch wirklich so nachvollziehen wie vom Tutorial vorgegeben. Als Erstes machen wir uns daran, eine einfache Seite mit Unterseiten zu erstellen. Das ist das Ziel für heute. +Wir arbeiten im sogenannten Framework, einer Art Gerüst für die entstehende Applikation, das als Programm wiederverwendbare Strukturen zur Verfügung stellt, die dann das Ergebnis formen. Um diese abzurufen und miteinander zu verknüpfen, geben wir Codes – also Abkürzungen für Befehle – in das eine Fenster ein und betrachten im anderen das Resultat. Wir setzen Schriftzüge ein, verlinken diese, ändern die Schriftarten – alles mittels des Codens, nicht mal eben mit der rechten Maustaste. +Ich gehöre hier zu den Jüngsten. Es kommen Frauen verschiedenen Alters – von 20 bis 60 Jahren – zusammen, deutsch- und englischsprachig. Manche haben konkret nach einem Coding-Workshop gesucht, andere sind ganz zufällig darauf gestoßen oder wurden von Freundinnen auf die Rails Girls aufmerksam gemacht. Die Frauen kommen aus unterschiedlichen Städten und Arbeitsbereichen. Das erzählen wir uns in den Pausen am Kaffeestand und bei kleinen Gruppenvorstellungsrunden. Auch wer keinen eigenen Laptop hat, ist willkommen. +Die Veranstalterinnen legen Wert auf eine möglichst diverse Gruppe und möchten, dass sich alle Teilnehmerinnen auf dem ihnen unbekannten Terrain wohl und sicher fühlen. Wer mitmachen möchte, muss vorher den "Code of Conduct" unterschreiben. Das ist eine Art Verhaltenskodex, der die Erwartungen der Veranstalterinnen an die Teilnehmerinnen beschreibt und der sie zu einem rücksichts- und respektvollen Verhalten anhält. Und auch zu Beginn des Workshops wird an alle appelliert, auf einen bewussten und gerechten Sprachgebrauch zu achten, damit es für alle eine positive Erfahrung wird und eine gute Lernatmosphäre entsteht. +Kommerz lass nach +Im Internet geben Konzerne wie Facebook und Alphabet (besser bekannt als Google) den Ton an. Aber es existiert auch eine Gegenwelt, in der nicht nur der Profit zählt -->mehr darüber erfährst du in diesem Artikel +Mir gegenüber sitzt Beate, eine Bankerin von Mitte 50, die seelenruhig vor sich hin tippt und dabei offenbar auf keinerlei Probleme stößt. Bei mir ist es leider ganz anders: Mal reagiert das Programm nicht auf meine Befehle, mal verliere ich mich in der langen Anleitung. Gut, dass um unsere vierköpfige Gruppe drei internationale TrainerInnen aus Polen, Australien und Spanien herumwuseln, die eine ungemein große Gelassenheit an den Tag legen und uns jederzeit weiterhelfen, wenn es mal ein Problem gibt. +Meine Befürchtung, ich könnte mich hier blockiert fühlen wie früher so oft in Mathe-Nachhilfestunden, war offenbar unbegründet. Obwohl die TrainerInnen alle IT-Profis sind, müssen sie sich oft auch erst einmal untereinander beratschlagen oder selbst mal kurz googeln. Das befürchtete Augenrollen jedenfalls bleibt aus. +Damit unsere auf Hochleistung arbeitenden Köpfe genug Energiezufuhr erhalten, gibt es ein Buffet, zu dem jede Teilnehmerin eingeladen war, etwas beizutragen. Wir stopfen uns mit Nudelsalat, Spinat-Blätterteigtaschen und Baklava voll, schnappen ein wenig frische Luft und lassen uns, erschöpft und elektrisiert zugleich, auf die Plastikstühle fallen. Die gute Lernatmosphäre und Kostenlosigkeit des Workshops – niemand wird für den Workshoptag bezahlt, und niemand muss dafür zahlen, Materialien, Getränke und Räumlichkeiten werden von lokalen Sponsoren finanziert – sind zwei der Anreize, mit denen die Rails Girls Frauen zum Programmieren animieren möchten. +Möchtest du auch? +Die Rails Girls gibt es in über 30 Städten innerhalb und außerhalb Deutschlands. Auf ihrer Website schreiben sie übrigens, dass sich auch Jungen und Männer bewerben können, je nach Kapazitäten Frauen aber Vorrang haben. Wer bei den Rails Girls nicht unterkommt, hat aber noch eine Menge Alternativen: Es gibt es ein großes Spektrum an anderen Netzwerken und Initiativen, zum Beispiel dieCodeWeek, dieOpentechschool, dieClosureBridge. Auchviele Volkshochschulenbieten Programmierkurse auf unterschiedlichen Niveaus und sind meist für Schüler*innen und Student*innen besonders erschwinglich. Eine weitere Möglichkeit, sich ans Coden heranzutasten, sind Online-Tutorials und Foren. Auch die Rails Girls stellen einige Tutorials auf ihrer Website zur Verfügung, man findet sie aber auch bei Youtube und über andere Netzwerke wiedie CodeAcademy oder die CodeSchool. +Und wer es dann richtig wissen will, kann sich auch an ein Studium im Informatik-Bereich heranwagen oder eine Ausbildung zur/m Fachinformatiker*in für Anwendungsentwicklung machen. DieHochschule für Technik und Wirtschaft Berlinbietet übrigens einenBachelorstudiengang zu Informatik und Wirtschaft nur für Frauenan. In Rheinland Pfalz gibt es dasAda-Lovelace-Mentoring-Netzwerkfür Frauen in MINT-Fächern. +Andere sind zum Beispiel, dass die Person, die einst den Grundstein zum Programmieren legte, eine Frau war: die 1815 geborene Ada Lovelace. Oder dass mit der Programmiersprache, die wir nun, am frühen Nachmittag, bereits in den Grundzügen kennen, auch "Twitter" geschrieben wurde. Dies alles erfahren wir nach der Mittagspause in den fünf- bis zehnminütigen "Lightening Talks", die die TrainierInnen geben. Das sind kleine Vorträge, die eine Menge Witze, Emojis und PowerPoint-Effekte beinhalten und Titel wie "How to be a badass" tragen. Da geht es zum Beispiel um die Bandbreite von Programmiersprachen und -tools oder um die Frage, welche Möglichkeiten zur Vernetzung es innerhalb der Community gibt. Und jede Menge Tipps zum Weiterlernen nach dem Seminar. Spätestens jetzt wird klar: Das hier war allerhöchstens ein Reinschnuppern, da jetzt wirklich dranzubleiben wäre eine Menge Arbeit. +Nach den Lightening Talks machen wir uns noch einmal an unsere eigenen Webapplikationen. Am Ende habe ich eine einfache Seite mit weißem Hintergrund erstellt. Sie zeigt eine Übersicht meiner Unterseite mit den verlinkten Kategorien: Name, Beschreibung, Bild. Ich lege spontan die Seiten "Lakritze" mit der Unterschrift "lecker" und "Girl Power" mit der Unterschrift "so cool" an und lade dazu passende Fotos hoch. Zwar sind die Bilder zuerst nicht in der Vorschau zu sehen und erscheinen, wenn man darauf klickt, merkwürdig groß im Vergleich zur kleinen Schrift. Trotzdem platze ich beinahe vor Stolz über meine Programmierleistung! +Am Ende des Tages machen wir mit allen erschöpft dreinblickenden Teilnehmerinnen ein Gruppenfoto. Ich klebe mir einen Rails-Girls-Sticker auf meinen Laptop und muss in der U-Bahn ein wenig kichern bei dem Gedanken, dass die Teilnehmerinnen zu Hause ihre Laptops aufklappen, um anderen Menschen stolz die selbst gemachte Webapplikation zu zeigen. Denen sieht man nun wirklich nicht an, wie viele Stunden Arbeit drinstecken. +Auch ein paar Tage später bin ich noch ganz selig erfüllt vom Workshop, klicke mich durch die bestehenden Netzwerke und nehme auch den Informatik-Frauenstudiengang in Berlin noch mal unter die Lupe. Aber Dranbleiben ist für mich trotzdem kein Thema. Dafür müsste ich mir schon zweifelsfrei zutrauen, dass ich mir diese Dinge auch in Eigenregie weiter erschließen könnte. Ich bin aber davon überzeugt, dass der Workshop bei der einen oder anderen Teilnehmerin ins Schwarze trifft und an jenem Wochenende ein paar Quereinsteigerinnen mehr für das Netzwerk und die IT-Branche gewonnen worden sind. diff --git a/fluter/propaganda-wir-doch-nicht.txt b/fluter/propaganda-wir-doch-nicht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6421bf1ab3edfa971226259e3d7007c4052301d3 --- /dev/null +++ b/fluter/propaganda-wir-doch-nicht.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Abadi bezichtigte in dem Beitrag weiterhin durchaus alle Seiten der Brutalität, also auch Assad. Er kritisierte aber schlussendlich "die absolut einseitige Berichterstattung", die nur den Präsidenten und seine Verbündeten dämonisieren würde. Assads wichtigster Verbündeter ist Russland. Und die wichtigste Waffe von RT Deutsch ist der Zweifel. +Zunächst einmal der Zweifel daran, dass deutsche Medien wahrhaftig und neu tral berichten – und damit auch Zweifel an der Berechtigung jener moralisch erhabenen Position, die der Westen oft gegenüber autokratischen und demokratiefeindlichen Regierungen einnimmt. +Ein kleines Detail, wie in dem Fall Sednaya die unlogisch anmutende, vom ZDF genannte bevorzugte Tatzeit, wird benutzt, um die Glaubwürdigkeit des gesamten Berichts zu unterminieren. Und damit schlussendlich die gesamte Haltung des Westens im Syrienkrieg. +RT Deutsch sendet hierzulande auf der eigenen Website und auf You Tube – und ist der deutsche Ableger des russischen Auslandssenders RT. Bis 2009 funkte der noch unter dem Namen Russia Today. RT gehört zum Medienunternehmen "Russland heute", das die Sicht der russischen Regierung auf das Weltgeschehen präsentiert. Außer auf Deutsch wird auch auf Arabisch, Spanisch, Französisch und vor allem auf Englisch ausgestrahlt. Im Informationskrieg kämpft RT damit für Russland an vorderster Front. +193 Millionen Euro – nach eigenen Angaben – russisches Steuergeld hat der Kreml 2015 in RT gesteckt. Es ist schwierig zu messen, welche Wirkung mit diesem hohen Aufwand erreicht wird. Die vom Sender selbst kolportierte Zahl, wonach RT weltweit 664 Millionen Menschen erreiche, gilt unter Experten als überhöht, sie beschreibt wohl eher die technisch maximal mögliche Reichweite. RT Deutsch jedenfalls hat bei YouTube über 100.000 Abonnenten. Alle internationalen YouTube-Kanäle von RT zusammen hatten nach deren Angabe bis Jahresanfang 2017 vier Milliarden Aufrufe erreicht. +"451" ist ein Medienmagazin und seit Ende 2016 das wichtigste deutschsprachige Format von RT. Wenn Moderator Abadi nicht gerade ZDF-Beiträge auf vermeintlich unlogische Aussagen abtastet, lässt er sein Studio schon einmal dank Special Effects in einer "Polenböller"-Explosion hochgehen, moderiert mit leuchtenden Atomfässern im Hintergrund, lässt das Wort "Dauerkremlsendung" über seinem Kopf einblenden, quatscht lässig mit dem Kameramann oder kündigt Ru briken wie "Das Geschwätz von gestern" an. Vorbei scheinen die Zeiten, als der 2014 gestartete deutsche Ableger von RT bierernst und zugleich wenig professionell agierte. +Für Abadi hat es diese Zeiten so auch nie gegeben. "Ich sehe es nicht als unsere Aufgabe, die Sicht der russischen Regierung wiederzugeben", erklärt der 34-Jährige in der RT-Deutsch-Redaktion in Berlin-Adlershof. Abadi hat ein markantes Gesicht, einen modischen Bart, er trägt weiße Sneaker, schwarze Jeans – versucht sich inhaltlich aber eher an Zwischentönen. "Wir sind ein medienkritisches Magazin, das komplizierte Sachverhalte unterhaltsam wiedergibt", erklärt er in energiegeladenem, leicht aufgekratztem Ton. "Wir sind eine Bereicherung für die demokratische Medienlandschaft." +Über seinen Werdegang will Abadi ebenso wenig ausführlich reden wie über seine politischen Ansichten. Das diene zum einen dem Selbstschutz, und zum anderen möchte er nicht "in Schubladen gesteckt werden". Im Gespräch mit ihm kommt aber heraus, dass er seine Karriere bei den Öffentlich-Rechtlichen begonnen hat, einen familiären Hintergrund in Vorderasien hat – und dass er die neurechten Bewegungen und Parteien nicht besonders mag. Wie er das mit der grundsätzlichen Linie seines Senders verbindet, der schon mal ein knapp 40-minütiges Interview mit der AfD-Frontfrau Frauke Petry sendet, das ohne kritische Fragen auskommt? "Ich habe meine Ansichten und stehe nicht stellvertretend für den ganzen Sender", erklärt Abadi. +Ganz anders klingt es schon, wenn Chefredakteurin Margarita Simonjan über RT spricht. "Wenn Russland Krieg führt, ziehen wir mit in die Schlacht", lautet eines ihrer bekannten Zitate. Als eine Art Er weckungserlebnis beschreibt die Chefredakteurin in Gesprächen und Interviews den Krieg zwischen Russland und Georgien 2008. Damals hätten die meisten westlichen Medien Russland als den Aggressor hingestellt, obwohl Georgien zuerst geschossen habe. Dies sei zwar später auch von einer Kommission der EU bestätigt worden, aber da wäre es schon zu spät gewesen, erklärt Simonjan. Das stimmt zwar, aber derselbe EU-Bericht wirft Russland grobe Provokationen vor. Wie so oft bei RT wird ein Ausschnitt der Wahrheit präsentiert, der die eigene Position stützen soll. Und das, wo man doch gern anderen Medien vorwirft, stets das Wichtigste wegzulassen. +Bei einem Besuch in der Redaktion von RT Deutsch wähnt man sich in einem Berliner Start-up, wo eine internationale Hipster-Schar lässig auf hochwertigen Tastaturen herumtippt. Am Empfang liegt als einzige Zeitung die sehr linke "Junge Welt". Es klingt glaubhaft, wenn Online-Chef Florian Warweg erklärt, viele Mitarbeiter hätten ebenso wie er einen "linksliberalen Hintergrund". Warweg – Brille, Locken, blaues Hemd – spricht leise und mit Bedacht, er wirkt auch nicht wie einer, der gedanklich zu faul ist, sich mit seinem Arbeitgeber auseinanderzusetzen. "Meine Freunde fragen schon mal: Was, du arbeitest für Russia Today?" +Den von außen so ins Auge fallenden Widerspruch zwischen den Zielen von RT und seinen eigenen Ansichten sieht Warweg als nicht so gravierend an. "Es gibt keine Ansagen aus Moskau und auch keine festgelegte Stoßrichtung. Was es gibt, ist ein gewisser kritischer Mindset." Angesprochen auf das Interview mit Frauke Petry, das auch in Analysen als Beweis für die RT-Agenda herhält, sagt Warweg: "Ich hätte mir in dem Fall auch kritischere Fragen gewünscht." Seinen Arbeitgeber sieht er falsch beurteilt, selbst im sogenannten Fall Lisa. Das deutsch-russische 13-jährige Mädchen aus Berlin-Marzahn wurde im Januar 2016 zum Politikum, als es nach einem kurzzeitigen Verschwinden zu Protokoll gab, "Südländer" hätten es entführt und vergewaltigt. Viele Russlanddeutsche gingen danach auf die Straße und demonstrierten gegen angeblich kriminelle Flüchtlinge und Migranten aus muslimischen Ländern. Dabei wurde die explosive Stimmung vom russischen Staatsfernsehen angefacht. Schließlich stellte sich heraus, dass sich das Mädchen die Vorwürfe ausgedacht hatte, doch da war es schon zu diplomatischen Spannungen zwischen Berlin und Moskau gekommen. Der russische Außenminister Sergej Lawrow hatte den deutschen Behörden sogar Vertuschung vorgeworfen. +"Wir haben uns gerade einmal in drei Artikeln mit dem Fall beschäftigt und sind überhaupt erst spät in die Berichterstattung eingestiegen", erklärt dazu RT-Online-Chef Warweg. Der Vorwurf, RT habe das Thema in die Welt gesetzt und wochenlang hochgehalten, halte folglich "keinem ernsthaften Faktencheck stand." +Wer den Wahrheitsgehalt solcher Aussagen überprüft, wird feststellen, dass sie stimmen. Allerdings ist eine Stoßrichtung auf der Website sowie in den Sendungen doch unverkennbar. Die von der russischen Regierung verbreitete Erzählung eines von Flüchtlingen und moralischem Zerfall bedrohten Europas wird dort auch von RT Deutsch genährt. +Wie sich die Zukunft des Kreml- Sprachrohrs entwickelt, wird in Moskau entschieden, allein schon, weil die Regierung das Budget für den Sender beschließt. Die Büros in Adlershof jedenfalls nehmen bislang nur einen kleinen Teil des lagerhallenartigen Gebäudes ein, in dem RT Deutsch untergebracht ist. "Das wurde gekauft, als es große Expansionspläne gab", erklärt Florian Warweg beim Rundgang durch den weitläufigen Komplex. Was mit diesen Plänen ist, weiß er auch nicht. Der Platz für mehr Informationskrieger ist jedenfalls schon einmal vorhanden. +Krieg um Informationen +Nicht nur in Deutschland, auch in anderen Ländern mit russischen oder russischstämmigen Minderheiten, versucht Russland mit Medien Einfluss zu nehmen. In den baltischen Staaten sorgt man sich, dass die Propaganda des Kreml die dortigen russisch (-sprachigen) Bevölkerungsteile gegen die Regierungen aufbringen könnte. Auch im Osten der Ukraine, wo russische Truppen und von Russland unterstützte Milizen – ähnlich wie zuvor auf der Krim – für eine Abspaltung eines Landesteils kämpfen, wird die Bevölkerung durch das russische Staatsfernsehen sehr einseitig informiert. Die westlichen Sicherheitsdienste sorgen sich wiederum vor russischen Hackerangriffen gegen Parteien und Politiker. Das prominenteste Opfer war womöglich die im US-Präsidentschaftswahlkampf unterlegene Hillary Clinton, aus deren Parteispitze interne E-Mails an die Öffentlichkeit gelangten. Auch der neue französische Präsident Emmanuel Macron soll ausspioniert worden sein. "Pawn Storm", auch bekannt als "Cozy Bear", "Fancy Bear" oder "APT 28" sowie "APT 29" – die Angreifer tragen viele Namen, doch stets sollen dahinter Hacker stecken, die im Auftrag der russischen Regierung handeln. Auch BND-Chef Bruno Kahl warnt immer wieder vor Datendieben aus Russland. diff --git a/fluter/protest-der-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt b/fluter/protest-der-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2248583810bc5e5706b11633495f2e16de177cb9 --- /dev/null +++ b/fluter/protest-der-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt @@ -0,0 +1 @@ +Noch eine kuschelige Tiergeschichte im Heft zu haben wäre ja schön gewesen. Und so haben wir uns den Kopf darüber zermartert, wie man noch ein paar possierliche Tiere ins Blatt bekommt: Ein Autor erinnerte uns an den Protest der Boulevardpresse gegen den Umzug der Berliner Reiterstaffel der Polizei nach Brandenburg – oder den von Kampfhundbesitzern, die ihren Hunden wegen eines drohenden Zuchtverbots Davidsterne anstecken wollten – wie im Dritten Reich den Juden. Geschmackloser geht's nicht. Dann schon eher was über Demonstrationen gegen Massentierhaltung oder Tierversuche. Aber, wie gesagt, wir wollten ja eher was Possierliches. Eine Ameisendemo gegen die Mountainbiker im Wald. Ein Goldfi schaufstand für mehr Platz im Glas. Eine Hausbesetzung durch heimatlose Hunde. Ein Katzenhungerstreik für mehr Futter. Ja, ja, wir hören ja schon auf. diff --git a/fluter/protest-russland-krieg-aktivisten.txt b/fluter/protest-russland-krieg-aktivisten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5bce1d46190e00e1d9a8fe3ea19a70ad23771d18 --- /dev/null +++ b/fluter/protest-russland-krieg-aktivisten.txt @@ -0,0 +1,27 @@ + +Lenya ist Straßenkünstlerin und in einem Kunstkollektiv aktiv, das Protestaktionen organisiert. Sie ist noch in St. Petersburg. +Lenya*: Am ersten Kriegstag habe ich Gummihandschuhe mit roter Farbe gefüllt und in die vereiste Fontanka geschmissen. Es sah aus wie ein Fluss aus Blut. Wir müssen kreativ sein, Botschaften gegen den Krieg senden, die die Behörden und Reinigungsdienste nicht so schnell erkennen und entfernen können. Wenn man "Kein Krieg" auf die Innenseite einer Regenrinne schreibt, sieht man die Botschaft zum Beispiel nur aus bestimmten Winkeln. + + +Darja hat Ökologie und Umweltschutz studiert. Sie ist in der "Achten Initiative St. Petersburg" und der "Feminist Anti-War Resistance", die Protest organisieren, Aktivisten vernetzen und Rechtsbeistand vermitteln. Am 6. März floh Darja nach Istanbul. +Früher hat die Polizei uns verfolgt und sogar Mitarbeiterinnen in unsere Bewegung geschleust. Heute gehen die anders vor, wir nennen es Karussell-Inhaftierungen: Eine Aktivistin wird wegen einer Ordnungswidrigkeit verhaftet, sie kommt frei – und wird direkt wegen der nächsten Ordnungswidrigkeit verhaftet. Parallel laufen Verfahren wegen früherer Aktionen. So trifft es manchmal mehrere Tausend Personen an einem Tag. Viele haben Angst, dass Strafverfahren gegen sie aufgenommen werden: Bei zwei Ordnungswidrigkeiten innerhalb eines halben Jahres droht in Russland Haft. + + +Ein Teil meines Kunstkollektivs hat Russland verlassen. Die Aufgaben sind neuerdings verteilt: Alle außerhalb Russlands verbreiten Informationen über den Krieg; alle im Land versuchen, mit Aktionen in St. Petersburg auf den Krieg aufmerksam zu machen. Wer das nicht riskieren kann, weil er zum Beispiel kleine Kinder hat, übernimmt andere Aufgaben. Wir bieten auch eine Hotline an, die Verhafteten rechtlichen Beistand organisiert. +Bislang war die feministische Bewegung in Russland am wenigsten von Repressionen betroffen. Weder der Staat noch die Opposition haben uns ernst genommen. Jetzt ist die russische Opposition zerstreut, und wir sind eine der stärksten Widerstandskräfte. Wir sind Feministinnen, wir kämpfen für Frauenrechte. Aber gerade müssen wir unseren Protestenergie in Einklang  bringen: Unser Ziel ist, dass dieser Krieg aufhört. Trotzdem behalten wir eine feministische Perspektive, sprechen verstärkt über die Fälle von sexueller Gewalt, Menschenhandel oder Zwangsprostitution, die ukrainische Frauen gerade auf der Flucht erleben. +Zu Kriegsbeginn hat die Stadtverwaltung zusätzliche Überwachungskameras angebracht – und ein Maskenverbot auf öffentlichen Plätzen und im Nahverkehr ausgesprochen. So arbeiten die Überwachungssysteme effektiver. Erst gestern haben sie wieder eine Aktivistin in der U-Bahn identifiziert und verhaftet. Wir nutzen sogenannte Partisanenschminke, wie man sie von Widerstandsbewegungen in Syrien kennt.Wir schminken uns geometrische Formen ins Gesicht und verändern unsere Erscheinung, damit die Kameras uns nicht erkennen. +Viele Aktivistinnen können Russland nicht verlassen, weil ihr Reisepass beschlagnahmt wurde oder sie kein Geld haben. Sie wissen, dass die Polizei ihre Adressen kennt, sie sehen die Polizisten neben ihren Häusern. Viele Haustüren werden mit einem "Z" markiert, dem Symbol der Unterstützung für die russische Armee und Regierung. Wer die Türen anmalt, wissen wir nicht. Unter Aktivisten geht die Nachricht um, die russische Anti-Extremismus-Behörde bekomme die Adressen zugespielt und gebe sie an Rechtsradikale weiter, die die Haustüren dann markieren. Das Ziel ist klar: Angst verbreiten. + + +Ich poste Listen mit Menschenrechtsorganisationen wie "Apologia Protesta" oder seriösen Informationsquellen wie dem Telegram-Kanal OVD Info. Das hat nicht die Wirkung eines Straßenprotests, hilft aber vielleicht manchen, die in Schwierigkeiten stecken. +Wirkung zeigen jetzt stille Protestaktionen. Wir als "Feminist Anti-War Resistance" haben gerade eine beendet, die wir uns aus anderen Ländern abgeschaut haben: Frauen gehen mit schwarzer Kleidung und weißen Blumen auf die Straße. Solche Aktionen sind erfolgreich, glaube ich: Der Staat kann wenig dagegen tun und wir erreichen Menschen, die gewöhnlich nicht in der Anti-Kriegs-Bewegung sind. +Die Leute werden vorsichtiger. Sie meiden Demonstrationen, teilen keine Anti-Kriegs-Statements mehr, weil selbst das strafbar ist. Das Wort "Krieg" darf nirgendwo auftauchen.Wir überlegen also: Wie machen wir den Menschen begreiflich, was gerade passiert, ohne es zu benennen? Dafür nutzen wir das "Z", das man hier überall sieht. Aus "Za Putin" (Für Putin) machen wir "Für Putin in Den Haag" – plädieren also für ein internationales Strafverfahren gegen ihn. Die Stadtreinigung reagiert oft zögerlich. Bevor sie es entfernt, haben viele unsere Botschaft gesehen. +Instagram, Twitter und Facebook sind gesperrt. Die meisten umgehen die Sperrungen über das sicherere VPN. Wir nutzen Telegram-Kanäle, auch wenn wir nicht sagen können,welche Informationen Telegram möglicherweise an die Behörden gibt. Der Channel der "Feminist Anti-War Resistance" hat mittlerweile mehr als 20.000 Mitglieder. +Untereinander nutzen wir hier in Russland Signal. Das ist am sichersten. Wir stellen ein, dass sich die Nachrichten nach einer Stunde selbst löschen. Wir speichern kein Beweismaterial auf unseren Handys oder Laptops. +Ich wollte Russland nicht verlassen. Aber nach den ersten Polizeirazzien hat mir mein Vater Flugtickets nach Istanbul gekauft. Hier brauche ich kein Visum und kann Geld abheben. In der Türkei leben viele Russinnen und Russen. Politisch waren die kaum aktiv, jetzt wollen wir hier Proteste organisieren. Trotzdem hoffe ich, dass der Krieg bald zu Ende ist und ich zurück nach Hause kann. Sollte das dauern, versuche ich, in der Türkei eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen und hier zu arbeiten. +* Hinter der Geschichte: Um die Frauen zu schützen, hat die Redaktion ihre Namen geändert. Unsere Autorin hat separat mit beiden gesprochen, per Telefon und in Anwesenheit einer Übersetzerin. Erst danach wurden ihre Antworten so arrangiert wie sie hier zu lesen sind. Nicht alle Informationen lassen sich unabhängig überprüfen. +Ich möchte das Land verlassen, aber gerade geht es nicht: Ich habe kaum Geld, und ohne einen richtigen Plan will ich unsere Wohnung nicht zurücklassen. Solange wir hier in Russland sind, müssen wir unseren Protest sichtbar machen. +Die Propaganda und die Einschüchterungen des Staates wirken. Viele glauben Putins Geschichte, dass Russland das ukrainische Volk von seiner nationalsozialistischen Regierung befreien wolle. Die Menschen müssen wissen, dass Russland der Aggressor ist. Dass das kein Befreiungskrieg ist, sondern ein Angriff. +In St. Petersburg machen die Leute einen schönen Spaziergang, gehen einkaufen, trinken Latte. Nichts in der Stadt deutet auf einen Krieg hin, außer dass internationale Ketten wie McDonald's, H&M oder Ikea geschlossen sind. Wir müssen die russische Bevölkerung in die Realität holen. + + diff --git a/fluter/protestanten-kirche-insel-urk.txt b/fluter/protestanten-kirche-insel-urk.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a158770b3c736968bab4e3ee938abf93dbdf0430 --- /dev/null +++ b/fluter/protestanten-kirche-insel-urk.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Lianne arbeitet seit ihrem Fotografiestudium als Hochzeitsfotografin – auf Urk ein einträgliches Geschäft. Seit 1980 hat sich die Einwohnerzahl der Stadt mehr als verdoppelt, nirgendwo im Land ist die Geburtenrate höher. Das Wohnzimmer im Urker Reihenhaus, in dem die 25-Jährige mit ihrem Mann wohnt, unterscheidet sich kaum von Amsterdamer Hipsterbuden. Die Notizen-App ihres Smartphones schon: Dort führte sie vor ihrer Hochzeit eine Liste über ihre Aussteuer: Haushaltswaren, die junge Frauen für Auszug und Ehe sammeln. Ihre Kommiliton*innen scherzten: "Und unsere größte Sorge ist, was wir heute Abend trinken!" +Zum Ende ihres Studiums beschloss Lianne, sich nicht mehr für ihre Herkunft zu schämen, machte sie sogar zum Thema ihrer Abschlussarbeit: Die Fotos zeigen Liannes modisch gekleidete Schwägerin zwischen Bügelbrett und Haushaltswaren, eine sehr junge Frau mit ihren vier Kindern oder ein lesbisches Paar am Strand. "Wir sparen zwar Aussteuer, aber wir sind auch modern. Wir heiraten früh, aber wir sind offen für andere sexuelle Orientierungen. Wir sind gläubig, aber wir haben Visionen", sagt Lianne. +Ihre Kirchengemeinde gilt für Urker Verhältnisse als liberal: Frauen dürfen nicht predigen, aber in Hosen zum Gottesdienst kommen. Das ist nicht überall so. Heute gibt es rund 20 protestantische Kirchengemeinden – jede mit etwas anderen Regeln. Die Bandbreite reicht von der großen landesweiten protestantischen Kirche bis zu kleinen Freikirchen, die sich an der strengen Lehre des Reformators Calvin orientieren. +Zu den besonders konservativen gehört die Moria-Gemeinde. Peter Morren ist dort Mitglied im Kirchenrat, außerdem Lehrer an einer Schule. Im Biologieraum packt er seine Tasche, eine Echse badet im künstlichen Licht des Terrariums, im Käfig daneben schläft ein Hamster. Für Peter sind sie Teil seiner Faszination für die Schöpfung.Die Evolutionstheorie von Charles Darwinerklärt der 38-Jährige seinen Schülern, weil der Lehrplan es von ihm verlangt. Aber er selbst glaubt nicht daran. "Wenn ich die Bibel öffne, lese ich in der Genesis, dass Adam und Eva die ersten Menschen sind. Ich lese da nichts über Urmenschen." +Die Heilige Schrift ist der Kompass im Leben von Peter Morren, auch der Tag an der Schule beginnt mit einem Blick in die Bibel. Mädchen und Frauen müssen hier Rock oder Kleid tragen. Es geht nach Darstellung der Schulleitung dabei nicht ums Verhüllen, sondern darum, die Geschlechter zu unterscheiden, was die hier gepredigten Rollenbilder festigen soll. Peter ist auch im Kirchenrat für die Jugendarbeit zuständig. Er merkt, dass junge Menschen Fragen haben, dass sie zweifeln. Vor allem in einer Welt, die unübersichtlicher und über soziale Medien auch im Bibelgürtel immer sichtbarer wird. Sie schauen Serien, sie entwickeln eigene Gedanken. Manche schlafen lieber aus, als sonntags früh in die Kirche zu gehen. Das sei lange undenkbar gewesen. +Auf manche Fragen weiß auch die Bibel keine rechte Antwort. Zum Beispiel, warum die Zahl der Jugendlichen, dieexzessiv trinken,auf Urk doppelt so hoch ist wie im Durchschnitt der Provinz. Auch über andere Fragen gibt es Streit: Knapp 90 Prozent der 2009 geborenen niederländischen Schulkinder sind gegen Masern geimpft – auf Urk sind es nur 59,5 Prozent, und immer wieder kommt es zu Ausbrüchen der Krankheit. Auch Peter Morren hat seine sechs Kinder nicht impfen lassen.Er zweifelt an der Wirksamkeit.Vor allem will er Gott nicht ins Handwerk pfuschen. "Wir glauben, dass Krankheit wie auch Wohlstand aus Gottes Hand kommen." Katastrophen, Kriege, dieCorona-Pandemie– das gehört für ihn zur Phase vor der Errichtung des Königreichs Gottes. Himmel, Erde, Menschen und Tiere: Alles werde dann neu erschaffen. +Diese Überzeugungen sind radikal. Trotzdem hat die kleine Gruppe der Strenggläubigen einen festen Platz in der niederländischen Gesellschaft. Sie betreibt Zeitungen, Rundfunkprogramme, Schulen, verschafft sich Gehör über eigene Parteien. So bleibt der Glaube mächtig, auch wenn sich manches wandelt: Viele Urker*innen heiraten jung – und gehen doch wie andere Gleichaltrige oft feiern. In der Corona-Pandemie haben selbst besonders konservative Gemeinden das Internet für sich entdeckt,um Gottesdienste zu streamen. +Salam Kadhim, 28, musste sich an ihre neue Heimat erst gewöhnen. Vor sieben Jahren kam sie der Liebe wegen nach Urk – ihre Freundin ist hier aufgewachsen. Salam ist anders als die Urkerinnen, in vielerlei Hinsicht. Städterin, Lesbe, "Ungläubige". Noch dazu mit Wurzeln in anderen Ländern: der Vater Iraker, die Mutter Halbsurinamesin. Die Zugezogene hat trotzdem einen Weg in die Stadtgesellschaft gefunden – über die Kunst. Sie bemalt Wände von Kinder- und Wohnzimmern. +Zweimal kamen die Ältesten der Kirchengemeinde, in der ihre Partnerin Mitglied ist, zu Besuch – um zu fragen, ob die beiden nicht einfach "nur Freundinnen" sein können. Salam scheut die Diskussion nicht. Den Pfarrer hat sie gefragt: "Wie kann man jemandem die Liebe verwehren?" Sie versteht nicht, warum ihre Lebensgefährtin so wenig an der Kirche zweifelt, obwohl sie selbst von ihr ausgegrenzt wird. Die entgegnet ihr nur: "Du solltest nicht so viele Fragen stellen. Die Dinge sind einfach so." Ein Bruch mit dem Glauben wäre für viele Menschen hier ein Bruch mit der Familie – und die spielt auf Urk eine große Rolle. +Manchmal fühlt Salam sich eingeengt: von immer gleichen Abläufen, von den Röcken, die sie sonntags für den Familienfrieden trägt. Das Paar wird nicht heiraten, auch Kinder möchte die Künstlerin hier nicht großziehen. Dass sie wegziehen, hält sie dennoch für unwahrscheinlich: "Wer auf Urk aufwächst, geht hier nicht weg." + +Titelbild: IMAGO / ANP diff --git a/fluter/proteste-im-irak.txt b/fluter/proteste-im-irak.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4f079abaf67f26a4e1b4319b2cf82396506e0433 --- /dev/null +++ b/fluter/proteste-im-irak.txt @@ -0,0 +1,22 @@ + +"Für uns Iraker ist der Tod so normal, wie Wasser zu trinken: 2006 bis 2009 war der Bürgerkrieg, 2014 kam der Islamische Staat. Ich hatte keine richtige Kindheit und keine Jugend. Ich musste immer um acht Uhr abends zu Hause sein. Jetzt demonstriere ich, weil ich die Kinder, die ich irgendwann haben werde, vor mir sehe: Sie werden keine Zukunft haben. Selbst wer auf der Uni war, findet keinen Job. Er kann noch als Taxifahrer arbeiten. Über uns sagen die Älteren, dass wir die Sponge-Bob-Generation seien, die nur am iPad hängt. Weil wir die 80er-Jahre und die Zeit unter Saddam nicht miterlebt haben. Wir müssen dieses Bild ändern."Bassam Alrubaie, 20, Schüler + +Am 1. Oktober begann eine neue Protestwelle im Irak. Almikdam war einer von Hunderttausenden vor allem jungen Menschen, die auf die Straßen von Bagdad und vielen anderen Städten und Provinzen strömten, um gegen Korruption und für Perspektiven und eine funktionierende Versorgung zu protestieren. Dabei kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften: In den ersten Tagen nach Ausbruch der Demonstrationen am 1. Oktober wurden mehr als 6.000 Menschen verletzt, über 157 Menschen starben, schreibt die Nachrichtenagentur Reuters. Mittlerweile ist die Zahl der Todesopfer auf über 200 gestiegen. +Seit dem Ende des Krieges gegen den IS im Irak, im Dezember 2017, hat sich die Sicherheitslage im Land zwar verbessert: In Bagdad explodieren kaum noch Autobomben, Entführungen und Selbstmordanschläge sind seltener geworden. Gleichzeitig treten jedoch andere Probleme in den Vordergrund: In zahlreichen Vierteln Bagdads fällt der Strom fast alle zwei Stunden aus. Jeder vierte Jugendliche ist arbeitslos. Viele haben das Gefühl, von der Regierung unter dem parteilosen Ministerpräsidenten Adel Abdul-Mahdi, der vor gut einem Jahr sein Amt antrat undzunächst als säkularer Hoffnungsträger galt, im Stich gelassen zu werden. + +"Die Leute, die auf der Straße sind, folgen weder einer Religion noch einer politischen Partei. Sie wollen, dass die Regierung zurücktritt. Wir können nicht mehr weitermachen mit dieser Korruption. Wenn ich könnte, würde ich den Irak verlassen. Nur so habe ich eine Zukunft. Aber das heißt nicht, dass ich mein Land nicht liebe. Ich bin bereit, für mein Land zu sterben. So geht es vielen jungen Leuten im Irak."Ali Amer Almikdam, 21, Kunststudent und Aktivist + +Die Proteste der vergangenen Tage und Wochen gehören zu den größten seit dem Umsturz des Saddam-Regimes 2003. Im Vergleich zu früheren Demonstrationen fordern die Demonstranten heute keine Reformen mehr. Versprechungen der Regierungen waren schließlich kaum je erfüllt worden. Heute fordern die Demonstranten den Rücktritt von Adel Abdul-Mahdi und seiner Regierung und eine tiefgreifende Änderung des politischen Systems. +Die Konflikte im Irak sind komplex. Zum einen sind da ethnische: Im Norden des Landes gibt es die autonome Region Kurdistan, in der gut ein Siebtel der irakischen Bevölkerung lebt. Die Mitte und der Süden des Landes sind mehrheitlich arabisch. + +"Ich schreibe nur unter Pseudonym über die Proteste. Den Fernsehstationen hat die Regierung verboten, über die Demonstrationen zu berichten. Dies sind nicht die ersten Demonstrationen im Irak, doch früher sind die Menschen mit Versprechungen der Regierung wieder nach Hause gegangen. Geändert hat sich aber nichts. Jetzt bekämpft die Regierung die Demonstranten. Trotz all der Korruption dachten wir, dass wir zumindest eine demokratische Regierung haben. Nicht wie damals unter Saddam Hussein. Jetzt aber schickt die Regierung die Antiterroreinheit und Milizen vor – dabei sind die Protestler doch keine Terroristen! Aber die Leute haben keine Angst, sogar die Frauen sind auf der Straße. Wir sind alle betroffen."Journalistin (Name der Redaktion bekannt), 29 + +Zum anderen gibt es religiöse Konflikte, vor allem zwischensunnitischen und schiitischen Muslimenim arabisch besiedelten Teil des Landes. Nach dem Sturz des Saddam-Regimes 2003 wurde das politische System entlang religiöser Volks- und Religionsgruppen aufgebaut. Das sollte die Mitsprache und Beteiligung der verschiedenen Gruppen sichern – doch stattdessen führte es dazu, dass sich die politischen Parteien und Politiker persönlich bereichern konnten. Laut Korruptionswahrnehmungsindex der Organisation Transparency International ist der Irak heute eines der korruptesten Länder der Welt – auf Platz 168 von 180. + +"Was im Irak passiert, ist keine Demonstration, es ist ein Krieg. Die Regierung bekämpft uns. Sie sagen, sie beschützen unser Recht zu demonstrieren. Aber wie können wir ihnen vertrauen? Über 200 Menschen sind schon gestorben! Immer wenn wir für unsere Rechte auf die Straße gehen, macht uns die Regierung Angst: Der IS würde zurückkommen. Aber die Leute, die jetzt demonstrieren, haben keine Zukunft. Ich habe mit einem geredet, der keine zwanzig Jahre alt war. Ich sagte, er soll vorsichtig sein. Er sagte, er habe keine Arbeit, kein Geld, um zu heiraten, keine Zukunft. Wenn sie ihn töten würden, wäre es eine Erlösung."Kuhel Khaled, 36, Theaterregisseur + +Die Proteste finden mehrheitlich im schiitischen Süden und in der Hauptstadt Bagdad statt. Dass vor allem Schiiten demonstrieren, die im Irak knapp die Bevölkerungsmehrheit stellen, wird aber nicht unbedingt als Zeichen einer weiteren Spaltung zwischen den Sunniten und Schiiten gelesen. Abdul-Mahdi, der als religiös moderat gilt, ist Schiiit, die Regierung ist ebenfalls von schiitischen Parteien dominiert. Es sind also ihre "eigenen Leute", die sich gegen sie erheben. Auch politisch verliert Abdul-Mahdi Rückhalt: Zwei der größten schiitischen Fraktionen im Parlament, angeführt von dem Geistlichen Moktada al-Sadr und Hadi al-Amiri, der vom Iran unterstützt wird, arbeiten nun gegen Abdul-Mahdi – vielleicht kommt es zu einem Misstrauensvotum. Und in den sunnitischen Landesteilen? Dort äußern manche Bewohner ihre Unterstützung, wagen sich aber selbst nicht auf die Straße. Zum Teil aus Angst, alsIS-Anhängerdiffamiert zu werden. +Die Demonstranten betonen, dass sie als Iraker und für den Irak auf die Straße gehen. Sie kämpfen für ein System, in dem sich die politische Führung an der Bevölkerung orientiert – derweilen versucht die aktuelle Regierung, die Demonstrationen mit Tränengas und Wasserwerfern zu beenden. Scharfschützen sollen auf Demonstranten geschossen haben. Am vergangenen Freitag und Samstag starben mindestens 74 Menschen. Die Demos werden noch viele Leben kosten, glaubt eine irakische Journalistin, die die Proteste begleitet. Sie ist sich aber auch sicher: "Die Leute werden nicht einfach wieder nach Hause gehen. Sie wissen, dann wird sich nichts ändern." + +Mehr Infos darüber, warum es der irakischen Bevölkerung, Wirtschaft und Demokratie heute so schlecht geht,gibt es hier. +Titelbild: Ahmad Al-Rubaye/AFP via Getty Images diff --git a/fluter/proteste-in-hong-kong-hintergruende.txt b/fluter/proteste-in-hong-kong-hintergruende.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8a5aa0d7276401ff782f666af942f49f36e47913 --- /dev/null +++ b/fluter/proteste-in-hong-kong-hintergruende.txt @@ -0,0 +1,32 @@ +Auch sollten die Hongkonger Bürger ihre Regierung frei wählen können.Stattdessen ist es der chinesischen Regierung in Peking durch ein umfassendes Nominierungsverfahren de facto möglich, die Kandidatenliste bei Gouverneurswahlen auf von Peking erwünschte Politiker zu begrenzen. Auch dieses Systems wollen die Demonstranten reformieren. +Viele fühlen sich heute an den Herbst 2014 erinnert: Damals zogen unter dem Banner des "umbrella movement" Zehntausende durch die Straßen, um sich gegen eine schleichende Abschaffung der ohnehin fragilen Demokratie im Stadtstaat zu wehren. Über Wochen wurde friedlich unter Regenschirmen demonstriert, die als Schutz vor den Wasserwerfern der Polizei dienten. Allerdings ohne nennenswerte Erfolge für die Demonstranten. Stattdessen wurden zahlreiche Anführer zu Haft- oder Bewährungsstrafen verurteilt. Darunter war der mittlerweile 22-jährige Joshua Wong (Titelbild), der heute wieder zu den Anführern der Protestler gehört. + + +fluter.de: Herr Wong, als wir vor einem guten Jahr miteinander sprachen, standen Sie nach drei Monaten Haft gerade vor der Rückkehr ins Gefängnis. Nun sind Sie zwar auf freiem Fuß, aber auf dem besten Weg, erneut wegen "Auflehnung gegen die Staatsgewalt" verfolgt zu werden. +Joshua Wong: Ich und mittlerweile fast zwei Millionen weitere Bürger Hongkongs demonstrieren für die Rechte, die uns versprochen wurden. Das Basic Law von Hongkong, quasi unsere Verfassung, garantiert uns Versammlungsfreiheit. Ich sehe nicht, was daran falsch sein sollte, für unsere Rechte auf die Straße zu gehen. +Die Demonstration am vergangenen Sonntag war zum Beispiel nur für den Victoria Park genehmigt – die Proteste zogen sich aber über ganze Straßen hinweg. +Wir waren am Sonntag überraschend viele Menschen und haben friedlich demonstriert. Wir werden nicht aufhören zu demonstrieren, bis wir unsere Forderungen realisiert haben. +Die Forderung, das Auslieferungsgesetz der Hongkonger Regierung zurückzunehmen, wurde bereits weitgehend erfüllt. Was fordern Sie noch? +Zentral sind für uns drei Punkte. Erstens muss die Gewalt durch Hongkongs Polizei ein sofortiges Ende finden. Mehrere Demonstranten wurden schon verletzt. Zweitens muss Carrie Lam vom Posten als Regierungschefin von Hongkong zurücktreten. Sie hat keinen Rückhalt in der Bevölkerung, und das wird sich auch nicht mehr ändern. Denn drittens müssen Hongkongs Bürger ihre Regierung selbst wählen können. [Anm.: Die chinatreue Regierungschefin Lam wurde von einem Komitee gewählt, das zum Großteil aus von Peking bestimmten Mitgliedern bestand.] Nur so können wir sozialen Frieden schließen. +Gibt es für Sie einen gangbaren Mittelweg, zum Beispiel eine Forderung, die entbehrlich wäre, um eine andere zu erreichen? +Ich wüsste nicht, wie ein Kompromiss aussehen sollte. Wenn wir sagen: "Carrie Lam kann bleiben, aber wir wollen demokratisch unsere Regierung wählen", wäre das ja ein Widerspruch. Wir fordern nur, was uns laut Verträgen und Versprechen zusteht. Und Gewalt der Polizei gegenüber den Bürgern, die eigentlich von ihr beschützt werden müssten, ist inakzeptabel. + + +Die Zeit im Gefängnis hat nicht an Ihren Überzeugungen gerüttelt. +Nein, die Zeit hat mich in meinem Glauben bestärkt, für das zu kämpfen, was uns Hongkongern zusteht. Und dass wir am vergangenen Sonntag 1,7 Millionen Menschen auf die Straße bekommen haben, obwohl Chinas Armee droht, alles niederzuschmettern, stärkt meine Überzeugungen nur weiter. +In Shenzhen, einer benachbarten Metropole auf dem chinesischen Festland, sind bereits Panzer vorgefahren. Haben Sie Angst? +Angst hilft uns nicht weiter. Wir denken an unsere Forderungen und daran, dass wir Hongkonger nicht nachgeben werden. +Glauben Sie, dass Chinas Regierung wirklich in Hongkong einmarschieren würde? +Wir wissen überhaupt nicht, wie Chinas Regierung in Peking in den kommenden Tagen und Wochen reagieren wird. Es ist nicht rational von Peking, Gewalt einzusetzen, die wird den Konflikt hier nicht lösen. Aber was wir sehr wohl wissen: Man kann von einem Regime nicht erwarten, dass es rational handelt. +Was würden Sie im Falle eines militärischen Einmarsches chinesischer Truppen tun? +Wir wollen keine Gewalt. Aber wir brauchen die Unterstützung der Anführer der Welt. Das betrifft unter anderem die Europäische Union, die USA und andere demokratische Staaten. Es geht hier nicht nur um unsere kleine Halbinsel – es geht um das Aufhalten der Expansion des autokratischen chinesischen Politikmodells, um die Stabilität des Finanzzentrums Hongkongs und damit um die globale Finanzstabilität. Und es geht um das Einhalten des Versprechens von Demokratie, das uns gemacht wurde. + + +Bisher ist von den mächtigsten Staaten der Welt nicht viel zu hören. Wie erklären Sie sich das? +Die Handelsbeziehungen mit China sind für diese Länder wichtig, deshalb sind sie zögerlich. Wenn China nicht davon abgehalten wird, Hongkong unter seine Kontrolle zu bringen, schreitet die rücksichtslose Expansion Pekings weiter voran. Das kann nicht im Interesse der westlichen Länder sein. Man muss sich nur ansehen, wie Unternehmen wie Huawei den Weltmarkt mit fragwürdigen Mitteln erobern. +Was sollte die internationale Gemeinschaft Ihrer Meinung nach tun? +Gegenüber China sollten unter anderem Wirtschaftssanktionen verhängt werden, wie es auch mit anderen Regierungen gemacht wird. Es muss Druck aufgebaut werden. Das ist die klügste Strategie, auch wenn sie kurzfristig ein wirtschaftliches Problem für einige Länder sein mag. +Wie sehen die nächsten Tage bei Ihnen aus? +Wir planen die nächsten Aufmärsche. Und dann marschieren wir. Das machen wir so lange, bis wir unseren Willen durchsetzen. Wir haben 80 Prozent der Hongkonger hinter uns. Und hoffentlich auch bald die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. + + diff --git a/fluter/proteste-in-weissrussland-warum-demonstrieren-junge-belarussen.txt b/fluter/proteste-in-weissrussland-warum-demonstrieren-junge-belarussen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a2012d672682099ce77a9a66c2a3abf4593b5d97 --- /dev/null +++ b/fluter/proteste-in-weissrussland-warum-demonstrieren-junge-belarussen.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Das die Steuer festlegende "Dekret Nummer Drei" unterzeichnete Lukaschenko bereits im April 2015. Weil erst am 20. Februar dieses Jahres die Zahlungsfrist für die Steuer endete, kam es zu den aktuellen Protesten. Jedes Jahr gibt es außerdem am 25. März den traditionell von der Opposition landesweit gefeierten Freiheitstag; die Demonstrationen wurden dieses Mal erst kurz vor Beginn verboten. +Fünf junge Demonstranten haben uns erzählt, warum sie protestieren und was sie über die politische Situation in Belarus denken. + +Ignat (22), Musiker +Ich bin zum ersten Mal auf die Straße gegangen, um zu protestieren. Ich sehe mich eigentlich nicht als Oppositionellen – aber ich konnte einfach nicht mehr tatenlos zusehen, was im Land passiert. Insbesondere die "Sozialschmarotzer-Steuer" hat mich verärgert. Das Dekret bestraft Arbeitslose und Menschen, die keine ständige Arbeitsstelle haben. Dass sich die Politik dafür nicht schämt! +Auch ich selbst bin von diesem Dekret betroffen. Ich bin Musiker. Ich habe ein Soloprojekt und spiele Gitarre, singe und schreibe Gedichte und Lieder. Mein Protest richtet sich aber gegen die allgemeine Situation im Land. Die Menschen in Belarus werden von der Politik nicht ernst genommen, angelogen und erniedrigt. Ich bin gegen diese Gewalt und Willkür der Polizei, wie wir sie auch heute bei den Verhaftungen gesehen haben. +Ich finde, wir Bürger müssen einfach noch enger zusammenhalten. Dann wird es dem Regime irgendwann unmöglich sein, uns auseinanderzutreiben. + +Viktoria (26), Software-Testerin +Ich war von Anfang an bei den Protesten gegen die Steuer dabei. Im Februar hat es aber noch keine Repressionen gegeben. Ganz anders als heute. Auch ich selbst habe Angst, festgenommen zu werden. Schon bei den letzten Protesten haben sie einige Leute mitgenommen und für 15 Tage eingesperrt. Einfach so. +Es ist so schwer, in diesem Land einen Job zu finden, der dir einen normalen Verdienst und ein würdiges Leben ermöglicht. Wenn du arbeitest und dafür 300 Dollar (umgerechnet etwa 277 Euro, Anm. d. Red.) im Monat bekommst, kannst du dich schon glücklich schätzen. Dabei kann ich mir schwer vorstellen, wie die Leute davon leben können. Meine Lage ist besser, ich arbeite als Software-Testerin. Die IT-Branche in Belarus ist weniger von der Krise betroffen, weil wir für den westlichen Markt produzieren. +Vor zwei Jahren, als die "Sozialschmarotzer-Steuer" eingeführt wurde, war ich selbst arbeitslos. Somit bin auch ich unter die Kategorie der "Schmarotzer" gefallen. Jetzt habe ich Arbeit, aber die Steuer wird auch für die vergangenen zwei Jahre erhoben. +Die Politik ist ganz klar darauf ausgerichtet, die Menschen zu unterdrücken, damit sie in ständiger Angst leben. Ich protestiere, um meine Unzufriedenheit darüber auszudrücken. Ich möchte einfach, dass die Menschen in diesem Land ein würdiges Leben führen können. Warum können wir nicht so leben wie in Polen oder Litauen? + +Jaroslaw (24), Fotograf, und Violetta (22), Wirtschaftsstudentin +Wir wollen zeigen, dass wir gegen die Politik des Präsidenten Alexander Lukaschenko sind. Unter ihm gibt es keine freie Meinungsäußerung, keine freien Wahlen. Wir wollen keine Kolonie von Russland, sondern stolz auf unser Land sein, auf unsere eigene Sprache, unsere eigene Kultur und unsere Nation. +Dennoch sehen wir uns nicht als Teil der Opposition. Wir sind einfach unzufrieden mit der Lage im Land. Wir sind jetzt zum ersten Mal auf die Straße gegangen. Als es die letzten großen Proteste gegeben hat (im Dezember 2010 nach den Präsidentschaftswahlen, Anm. d. Red.), waren wir noch zu jung, um zu demonstrieren. Heute hatten wir große Angst, zu den Demonstrationen zu gehen. +Wenn wir ehrlich sind, dann werden wir wohl nicht in Belarus bleiben. Wenn sich eine Möglichkeit eröffnet, werden wir ins Ausland gehen. Vielleicht nach Polen. + +Kirill (25), Schauspielstudent +In Belarus gibt es kein politisches Gleichgewicht. Die gesamte Macht ist in den Händen eines einzigen Menschen konzentriert. Und der kümmert sich herzlich wenig um die Meinung der Menschen. Das hat auch die heutige Demonstration gezeigt: Wir haben friedlich protestiert, niemand war bewaffnet. Und trotzdem hat das Regime so schwere Geschütze aufgefahren. Es ist offensichtlich, dass es zu allem bereit ist. Das war eine Machtdemonstration, wie effektiv es einen Protest zerschlagen kann. +Eigentlich bin ich ja der Meinung, dass Kunst die bessere Möglichkeit ist, seine Unzufriedenheit auszudrücken. Ich studiere Schauspiel amBelarus Free Theatre(ein vom Regime nicht anerkanntes Untergrundtheater, Anm. d. Red.). Aber diesmal hatte ich das Gefühl, dass ich etwas machen muss. Also habe ich an den Protesten teilgenommen. Einfach auch, um mein Gewissen zu beruhigen. Obwohl es eine verbotene Aktion war und das natürlich gefährlich ist. Vier meiner Kollegen aus dem Theater sind heute verhaftet worden. Drei wurden inzwischen wieder freigelassen, aber einer ist noch im Gefängnis. +Die "Sozialschmarotzer-Steuer" ist nur ein Tropfen im Ozean. Es gibt so viele unsinnige Gesetze, die man aufheben sollte. Zum Beispiel, dass sich nicht mehr als eine Handvoll Leute versammeln dürfen. Die Steuer war nur der Aufhänger, der eine große Anzahl von Menschen mobilisiert hat. diff --git a/fluter/proteste-peru-demonstrationen-gewalt.txt b/fluter/proteste-peru-demonstrationen-gewalt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..39e3a161db64fde51f003c2d6544c035234c7852 --- /dev/null +++ b/fluter/proteste-peru-demonstrationen-gewalt.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +Der linke Gewerkschaftler Pedro Castillo kam als Hoffnungsträger für die ärmere und indigene Landbevölkerung an die Macht. War er wirklich so ein schlechter Präsident? +Tatsächlich hat Präsident Castillo während seiner Amtszeit schlechte Entscheidungen getroffen. Er hat sich mit unerfahrenen Leuten umgeben. Es gibt schwere Korruptionsvorwürfe. Seine Regierung war unberechenbar und instabil. Wir hatten fast jede Woche neue Minister. Die Regierung war nicht in der Lage, irgendeine Art von Reform oder Veränderung vorzuschlagen. Und der Kongress mit seiner rechtskonservativen Mehrheit hat ihn auch nicht regieren lassen. +Im Dezember ist die Situation im Parlament schließlich eskaliert. +Am 7. Dezember hielt Pedro Castillo eine Rede an die Nation. Er sagte, dass er den Kongress auflösen und per Dekret regieren würde, dass es Reformen in der Justiz und im öffentlichen Dienst geben werde. Das war verfassungswidrig und ein versuchter Staatsstreich. Castillo beging politischen Selbstmord – und lieferte dem Kongress den perfekten Vorwand. Der setzte ihn ab und ließ ihn verhaften. Innerhalb weniger Stunden hatten wir eine neue Präsidentin: die bisherige Vizepräsidentin Dina Boluarte. +Warum machte das die Peruaner:innen so wütend? +Der Kongress ist unglaublich unbeliebt in Peru. Die Kongressabgeordneten, die hinter Castillos Absetzung standen, sind korrupt, wie Mafiosi. Sie ließen sich wenige Stunden danach mit den Fahnen Perus im Hintergrund im Kongress fotografieren und feierten den vermeintlichen Triumph der Demokratie. Diese Bilder waren für viele Menschen, die Castillo gewählt hatten, eine Provokation. Als Dina Boluarte dann wenig später sagte, dass sie mit diesem so unbeliebten Kongress weiter regieren werde, begannen die Menschen im Süden, sich zu mobilisieren. +Was fordern die Protestierenden? +Zuerst beschuldigten sie Dina Boluarte, eine Verräterin zu sein, und forderten, Pedro Castillo wieder als Präsidenten einzusetzen. Mittlerweile verlangen immer mehr Menschen vorgezogene Wahlen, den Rücktritt von Boluarte und eine verfassunggebende Versammlung. Außerdem fordern sie Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Opfer der Proteste. + +Mittlerweile sind mindestens 67 Menschen infolge der Gewalt während der Proteste gestorben. Wie kam es zu dieser hohen Zahl? +Das liegt vor allem an den Sicherheitskräften. Anfangs hofften wir noch, dass Präsidentin Boluarte die Situation mit einer versöhnlichen Botschaft beruhigen würde. Aber bei der ersten großen Demo in Andahuaylas erlaubte Boluarte den Einsatz von Polizeigewalt. Die Demonstrierenden versuchten dort, den Flughafen zu blockieren. Die Polizei begann, auf sie zu schießen. Auch einige Tage später in Ayacucho versuchten Protestierende, den Flughafen zu blockieren. Da genehmigte die Regierung nicht nur das Eingreifen der Nationalpolizei, sondern auch das der Armee. Es gibt Videos, die zeigen, wie Polizei und Armee Menschen auch außerhalb des Flughafens jagen. +Das war im Dezember. Auch einige Demonstranten griffen zu gewaltsamen Mitteln. Im neuen Jahr gingen die Proteste weiter, vor allem in der Region Puno. +Die Reaktion der Polizei war wieder brutal. In der Stadt Juliaca sind über 17 Menschen gestorben, für mich war das ein regelrechtes Massaker. Die Regierung leugnet, was passiert ist. Es gab keine Entschuldigung. Die Präsidentin, der Innenminister, der Premierminister – alle haben nur gesagt, dass das untersucht werden müsse. +Wie erklärt die Regierung die Toten? +Sie sagt, dass die Demonstrierenden anscheinend aufeinander geschossen hätten und dass es nicht die Polizei war: Man habe Geschosse gefunden, die die Polizei nicht verwenden würde. Aber Ärzte und Sachverständige widerlegten das. Die Regierung sagte auch, dass hinter den Protesten Terroristen steckten. Dann hieß es, es seien illegale Bergarbeiter. Dann Drogenhändler. Und im Fall des südlichen Puno hieß es: Bolivien und Evo Morales (Anm. d. Red.: Boliviens ehemaliger Präsident) hetzten die Leute auf, Bolivien hätte Waffen geliefert. + + +Wer geht denn da wirklich protestieren? +Vor allem die Menschen in den indigenen und bäuerlichen Gemeinden im Süden Perus: Puno, Cuzco, Apurímac. Alte, Junge, Männer und auch Frauen. Sie marschieren dann mit ihren Kindern auf dem Rücken, die Aymara-Frauen haben ihre Kinder immer dabei, auch bei der Arbeit. Das ist Teil ihrer kulturellen Identität. Die Regierung hat daraus gemacht: Die Frauen benutzen Kinder als Schutzschilde. +In welchen Landesteilen gibt es Proteste? +Erst konzentrierten sich die Proteste auf die ländlicheren Regionen, dann kamen sie in die Großstädte. Im Januar und Februar marschierten Delegationen bis in die Hauptstadt Lima, um sich dort Gehör zu verschaffen. Es war die Rede davon, Lima einzunehmen. Dort beteiligten sich Studierende und Menschen aus den Arbeitervierteln Limas. Dann kehrten die Menschen wieder in ihre Regionen zurück. Gerade gibt es eine zweite Besetzung Limas, vor allem von Menschen aus Puno. Sie schlafen in den Räumen von Gewerkschaften, in Schulen oder bei Verwandten und gehen jeden Tag auf die Straße. +Ist es auch ein Kampf der Landbewohner gegen die Städter? +Die Bevölkerung in den ländlichen Regionen stellt Limas Zentralismus infrage. Während der Proteste kamen der ganze Rassismus und das Klassendenken ans Licht, die wir in Peru nie wirklich überwunden haben. Sie sagten hier in Lima: Da sind dieseIndios zum Protestieren gekommen, diese Bauern. Erschießt sie! Sie verachten sie und beschimpfen sie auf der Straße, sagen: Verschwindet in eure Region. Ihr stinkt! +Sehen Sie eine Lösung für die Krise? +Schwierige Frage. Für viele scheint der einzige Ausweg der Rücktritt von Präsidentin Dina Boluarte und vorgezogene Neuwahlen. Alle seriösen Umfragen ergeben, dass mehr als 70 Prozent der Bevölkerung Boluarte ablehnen – und mehr als 90 Prozent den Kongress. +Wie stehen die Chancen auf ihren Rücktritt und Neuwahlen? +Schlecht. Diese Regierung, Präsidentin Dina Boluarte und der Kongress, haben klar gesagt, dass sie nicht gehen werden. Sie wollen bis 2026 bleiben, und sie sind bereit, dafür weiter die Proteste zu unterdrücken und Gewalt anzuwenden. Aber, auch wenn sich die Lage jetzt kurzzeitig entspannt hat, werden die Menschen nicht aufhören, sich zu mobilisieren. diff --git a/fluter/proteste-zur-justizreform-in-polen.txt b/fluter/proteste-zur-justizreform-in-polen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b558885e2467f9e495092d06a301870de420dc8d --- /dev/null +++ b/fluter/proteste-zur-justizreform-in-polen.txt @@ -0,0 +1,31 @@ +Wir haben vier junge Demonstranten in Warschau gefragt, wofür sie auf die Straße gehen und was sie über das Veto ihres Präsidenten und die politische Situation in ihrem Land denken. + + +Janusz, 17, Schüler am Gymnasium +"Ich habe meinen Cousin aus Kanada mit zur Demonstration gebracht, weil er sehen wollte, was hier passiert, wie es aussieht und wofür wir kämpfen. Ich protestiere, weil ich nicht möchte, dass unser Land weiter gespalten wird. Es ist verstörend, wie wir Polen miteinander streiten – über etwas, das unser Allgemeingut ist. +Ich freue mich, dass sich so viele soziale Bewegungen entwickeln, um die Demokratie zu verteidigen. Wir müssen uns jetzt erst einmal auf ein Problem konzentrieren und es lösen – und dann können wir mit dem nächsten weitermachen. Dass das Veto von Präsident Duda ein taktischer Schritt war, halte es für sehr gut möglich. +Für Polen wünsche ich mir vor allem eines: Freiheit! An den nächsten Protesten werde ich wahrscheinlich auch teilnehmen." + + +Aleksandra, 27, Theaterwissenschaftlerin +"Ich protestiere, weil ich das Gefühl habe, dass das das Einzige ist, was ich gegen die derzeitige Situation machen kann. Einfach auf die Straße gehen. Ich wurde in einem freien Land geboren, und ich kann mir nicht vorstellen, dass es sich in die falsche Richtung bewegt – das beunruhigt mich. Meine Eltern haben diese Richtung in der Vergangenheit leider schon kennengelernt. Ich spüre, dass unsere Freiheit Stück für Stück beschränkt wird. +Ich kann mich mit keiner der Parteien in Polen identifizieren – aber besonders nicht mit ,Recht und Gerechtigkeit' (PiS). Ich arbeite im Theater und dort hat sich die Situation seit der Wahl der PiS sehr verschlechtert. Das Kulturministerium begann, die Theaterdirektoren auszutauschen, ohne auf die Stimmen des Publikums und der Kulturschaffenden zu hören. Die öffentlichen Medien wurden vom Staat ,auf Linie' gebracht. Ich habe Angst, dass die Kunstfreiheit bald zur Fiktion wird. +Ich wünsche mir ein tolerantes und europäisches Polen, für das ich mich nicht schämen muss. Und ich möchte sehr daran glauben, dass der Präsident mit seinem Veto wirklich dieses Land erhört hat. Doch natürlich habe ich Zweifel, wie alle anderen. Kann Politik wirklich so widerwärtig sein? +Zu den Protesten werde ich weiterhin gehen, um an meiner Freiheit festzuhalten." + + +Piotr, 26, Linguist +"Die Regierungspartei ,Recht und Gerechtigkeit' (PiS) stört mich schon sehr lange. Sie haben diktatorische Absichten, sie sind gegen die EU, und sie versuchen die letzten unabhängigen Institutionen in Polen an sich zu reißen. Diese drei Gesetze, die von der PiS vorgeschlagen wurden, werden die Gerichte unter die Kontrolle der Regierung stellen. +Bei den letzten Wahlen habe ich für die Partei ,Die Moderne' (Nowoczesna) gestimmt. Allerdings war das eher eine Entscheidung für das geringere Übel als meine Traumwahl. Aber wenn wir über soziale Bewegungen reden, dann kann ich mich zurzeit mit allen identifizieren, die zu den Protesten kommen, um für ihre Rechte zu kämpfen. +Es gibt noch jede Menge politische Themen, die wichtig sind! Die Flüchtlingskrise, die Rechte der Frauen und viele mehr. Aber ich glaube, dass wir uns auf diesen einen Fall konzentrieren sollten: die Unabhängigkeit der Gerichte – weil wir gerade jetzt eine unglaubliche Chance bekommen, uns zusammenzuschließen und unsere Regierung zu beeinflussen. +Was das Veto des Präsidenten angeht, habe ich gemischte Gefühle. Ich möchte nicht, dass das die Bedeutung unseres Protestes mindert, aber ich glaube, dass es nur ein taktischer Schritt war. +Ich wünsche mir ein offenes und freundliches Polen. Ich wünsche mir, dass wir einander akzeptieren können – trotz unserer Unterschiede. Und ich wünsche mir, dass wir nicht nur für uns selbst, sondern für das Allgemeinwohl kämpfen können. +Heute ist mein neunter Tag, ich bin von Anfang an auf den Demonstrationen. Ich bin erschöpft, aber ich werde weiter auf die Straße gehen." + + +Justyna, 25, Schauspielerin +"Ich musste einfach demonstrieren gehen, weil ich die Möglichkeit, die Situation in meinem Land zu beeinflussen, nutzen muss. Unsere Anwesenheit bei den Protesten ist gerade jetzt sehr wichtig. +Meine Sorge ist, dass die Regierenden von ihrem Willen zur absoluten Macht geblendet werden. Dass sie Stück für Stück unsere demokratischen Gesetze zerstören und uns die Meinungs- und Versammlungsfreiheit nehmen. +Aber es gibt noch mehr, was mich stört. Zum Beispiel ist die Beeinflussung und Manipulation der öffentlich-rechtlichen Medien seit der Wahl der PiS beängstigend. Auch Kunst- und Kulturschaffende werden in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt. Außerdem beunruhigt mich persönlich die Rechtslage für Frauen – die Regierung versucht unsere Grundrechte zu beschneiden. +Ich würde gern in einem Land leben, in dem die menschlichen Grundfreiheiten respektiert werden, in dem die Menschen tolerant sind und wo es genug Raum sowohl für persönliche Entfaltung wie auch den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt gibt. +Die Entscheidung des Präsidenten ist meiner Meinung nach ein direktes Resultat der Proteste. Niemand hat mit so viel Widerstand aus der Bevölkerung gerechnet. Ich werde weiter protestieren." diff --git a/fluter/protokoll-croupier-las-vegas.txt b/fluter/protokoll-croupier-las-vegas.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..54d565d46736f64916cbe52791f97beee96a7867 --- /dev/null +++ b/fluter/protokoll-croupier-las-vegas.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Spieler sind sehr unterschiedlich: Die einen wollen reden und Spaß haben, die lassen ihr Geld im Casino, wie andere shoppen gehen. Sie haben ein Limit, setzen nie mehr Geld als geplant. Aber natürlich gibt es auch die unkontrollierten Zocker und Spielsüchtigen. Wir aufseiten der Bank bewerten das nicht: Der Kunde entscheidet. Sicher, früher hatte ich auch mal Mitgefühl, vielleicht sogar ein schlechtes Gewissen, wenn wir gerade auf Kosteneiner SuchtGeld verdient haben. Aber das legt man mit den Jahren ab.Wer an Spielsucht leidet, kann sich helfen lassen.Die Casinosinformieren über Hilfsangebote, und man kann sich als Spieler selbst sperren lassen. +Gamblingist in erster Linie Entertainment. Wer mit einem Gewinn rechnet, verliert; wer glaubt, eine Glückssträhne zu haben, auch. Man sollte immer nur das Geld ausgeben, das man nicht benötigt, und sich freuen, wenn man mit diesempocket moneygewinnt. Das ist für mich die einzig gesunde Art zu zocken. Die Leute tragen eine Verantwortung, wenn sie sich an den Spieltisch setzen, für sich und oft auch für Angehörige. +Natürlich sieht man in fast 30 Jahren Vegas Menschen, die sich mit Glücksspiel ruinieren. Auch Dealer: Sie sehen, dass jemand bei ihnen hoch gewinnt, und denken nach Feierabend: Das kann ich auch! Und verzocken dann die 500 Dollar, die sie an dem Tag insgesamt als Trinkgeld verdient haben. Für sie ist das enorm viel Geld, für manchen Spieler aber ein Klacks. Neid ist eine ganz schlechte Eigenschaft für einen Croupier. Man muss gönnen können. +Gier ist auch fatal. Es gibt ja nicht nur Spieler, sondern auch Dealer, die betrügen. Indem sie Geld und Chips abzweigen zum Beispiel oder Betrunkene überlisten, die allein nicht mehr klarkommen. Getrickst wird immer. Aber wir zeichnen alles per Video auf, Betrügereien sind schnell aufgedeckt, und mit der Karriere in Vegas ist es dann natürlich vorbei. +Als Dealer solltest du bescheiden bleiben und einen gesunden Bezug zum Geld behalten. Summen von mehreren Tausend Dollar, die manche Spielerinnen und Spieler in einer Stunde verzocken, verdienst du im Monat. Ein normaler Dealer kriegt in Vegas 100 bis 300 US-Dollar am Tag, zuzüglich Trinkgeld. +Nach dem Job als Croupier bin ich aufgestiegen: Erst war ich so was wie der Chef der Dealerinnen und Dealer in meinem Casino, heute bin ich Director of Player Development. Ich halte die Spieler bei Laune, ich "locke sie an", damit sie nach Vegas kommen und bei uns spielen. Dafür planen und organisieren wir ihren kompletten Vegas-Trip, vom Flug über den Golfplatz bis zum Steakhouse. Ich kümmere mich vor allem um die "Highroller", also Klienten, die mit 5.000 Dollar pro Hand und noch mehr spielen. Die kommen aus allen Himmelsrichtungen, aus Nevada, Kalifornien, Utah, Colorado oder Massachusetts, hier spielt ein ganz buntes amerikanisches Publikum. Die Welt der Spieler fasziniert mich, und das wird sich auch nie ändern. +Dabei spiele ich selbst überhaupt nicht. Das ist eine Entscheidung, die du als Dealer lieber früh triffst als zu spät. Ich habe bei den frühen eigenen Versuchen gelernt: Du kannst nicht gewinnen, lass es. Seither lebe ich entspannter. + diff --git a/fluter/protokoll-eu-umweltlobbyist.txt b/fluter/protokoll-eu-umweltlobbyist.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..53b71a8aea082b513c9aca4746d7b7f41f540b86 --- /dev/null +++ b/fluter/protokoll-eu-umweltlobbyist.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Einmal traf ich mich mit einer portugiesischen Europaparlamentarierin kurz nach einem Wanderurlaub in Portugal. Sie wollte über lokale Wahlen reden,Wasserknappheitim Land, sehr lokale Themen. Und ich wollte über europäische Politik sprechen und über die Prioritäten ihrer Fraktion im Hinblick auf die Europawahlen. Sie hörte mir nicht wirklich zu. Also habe ich von den Fischer:innen erzählt, die ich bei meiner Wanderung auf dem Camino de Santiago de Compostela getroffen hatte, und was die von der EU hielten. Da wurde die Parlamentarierin neugierig. "Oh, du hast dich mit Menschen aus meinem Wahlkreis über die EU unterhalten, was haben sie gesagt?" +Abgeordnete wollen über reale Dinge reden. Viele mögen es nicht, wenn wir nur im Politikjargon sprechen. Mit unserem Thema Naturschutz haben wir das Glück, dass es viele nachvollziehbare Beispiele gibt. Das gilt auch, wenn man zusammen konkrete Änderungsanträge zu einem anstehenden Gesetz durchgeht. Da kann man nicht nur sagen: "Ist Ihnen klar, dass Sie Änderungsantrag 381 unterstützen müssen, damit dieses Gesetz den Menschen nützt?" Ich muss schon erklären, was genau der Nutzen davon wäre. +Damit ich inhaltlich gut vorbereitet bin, arbeite ich eng mit meinen Kolleg:innen aus den fachlichen Teams zusammen. Sie sind spezialisiert auf Themen wie Landwirtschaft,Meere, Wälder oder Energie. Mein Team und ich behalten den Überblick über Entwicklungen und sind das Gesicht unserer Organisation nach außen. +Um überhaupt ein Treffen zu bekommen, helfen manchmal persönliche Kontakte.Das politische Brüssel ist ein bisschen wie ein Dorf, wo man berufliche Kontakte nach Feierabend auch mal zufällig trifft oder beim Ausgehen pflegt. Abgesehen davon schätzen viele Abgeordnete und ihre Assistent:innen einen direkten Draht zu Organisationen wie uns, denn so können sie unter anderem direkt Informationen zu bestimmten Themen bekommen. Gerade bei EU-Umweltgesetzen, die viel öffentliche Aufmerksamkeit bekommen. Schätzungen zufolge kommen 80 Prozent der Umweltgesetze, die in Deutschland gelten, von der EU. Es gibt also eine direkte Verbindung zwischen dem Alltag der Menschen und den Änderungsanträgen, die wir täglich in Brüssel diskutieren. +Das geht schon beim Frühstück los: Das Brot, das man morgens isst, wurde von der gemeinsamen EU-Agrarpolitik beeinflusst. Diese macht Vorgaben zum Getreideanbau und istfür finanzielle Mittel verantwortlich, die Landwirt:innen erhalten. +Hier in Brüssel habe ich schon in verschiedenen Jobs gearbeitet. Zum Beispiel als parlamentarischer Assistent im EU-Parlament und zuvor in einem Lobbyverband der Privatwirtschaft. Meine jetzige Arbeit kann man ebenfallsals Lobbying bezeichnen. Mit dem Begriff habe ich persönlich keine Probleme. Lobbyieren bedeutet erst einmal, mit einer Strategie einen Prozess bestmöglich nach seinen Interessen zu beeinflussen. Aber es gibt für mich einen großen Unterschied zwischen einem Unternehmen, das seine privaten kommerziellen Interessen vertreten lässt, und uns als NGO, die sich für eine wohltätige Sache einsetzt. +Wir vertreten die Interessen von Menschen und der Natur. Deshalb ist es uns als NGO sehr wichtig, die Unterstützung der Öffentlichkeit zu haben. Also dass Menschen in der Bevölkerung es auch wichtig finden, etwas gegen den Klimawandelund dessen soziale Auswirkungenzu tun. Oder zu verhindern, dass sich das Leugnen des Klimawandels verbreitet. Um das gut zu koordinieren, besteht ein Großteil meiner Arbeit darin, mit Kolleg:innen aus anderen WWF-Büros in Europa oder anderen Organisationen zusammenzuarbeiten. +Auf unseren gemeinsamen Strategien basierend schreiben wir außerdem Positionspapiere, Berichte und Texte. In denen übersetzen wir unsere Forderungen in konkrete Vorschläge zu anstehenden Gesetzen, gestützt auf wissenschaftliche Daten. Für solche Berichte oder Papiere übersetze ich manchmal auch die Ideen der spezialisierten Kolleg:innen in eine umgänglichere Ansprache. Damit es auch Europaabgeordnete verstehen können, die vielleicht keine Expert:innen auf dem Gebiet sind. Schließlich wollen wir so viele Menschen wie möglich erreichen. diff --git a/fluter/protokoll-flucht-aus-der-ukraine.txt b/fluter/protokoll-flucht-aus-der-ukraine.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3ead3a30f08b7bc38234ee61044a9388c4f46d5b --- /dev/null +++ b/fluter/protokoll-flucht-aus-der-ukraine.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Die Ukrainerin Nastya Podorozhnia, 25, ist Sexualaufklärerin und Redakteurin des Studierenden-Magazins "Doxa". Es berichtet über politische Themen wie Repressionen gegen Studierende nach der Teilnahme an Protesten und den Krieg gegen die Ukraine. In Russland ist der Zugang zu dem Onlinemagazin mittlerweile gesperrt. Vier "Doxa"-Mitarbeitende stehen seit April 2021 unter Hausarrest. +Meine Mutter versuchte ihr zu erklären, was los war: "Putin hat uns angegriffen." Oma öffnete die Augen und sagte mit überraschender Klarheit: "Was ein Scheißkerl." Seitdem verbringen meine Eltern, die Familie meiner Tante, meine Oma und ihre Pflegerin den Großteil ihrer Zeit im Keller meines Elternhauses. +Meine Schwester Lera hatte sich für die Flucht entschieden und war schon drei Tage zuvor mit den Kindern von Kiew nach Lwiw gefahren. Sie hatte ihnen gesagt, es sei Urlaub. Die sechsjährigen Zwillinge hatten es geglaubt, aber die Zehnjährige ahnte, dass etwas nicht stimmt. Ich war aus Krakau, wo ich seit meinem Masterstudium lebe, nach Lwiw angereist. Ich wollte bei ihr sein, falls ihre Familie aus der Ukraine fliehen muss. + +Den ersten Tag des Krieges verbrachten wir zwischen unserem Hotelzimmer und einem Bunker. Jura – der Mann meiner Schwester, der in Kiew zurückgeblieben war – lud nützliche und sentimentale Sachen ins Auto: Fotos, Kleidung, Leras Lieblingstasse. Dann machte er sich auf den Weg zu uns. Während er unterwegs war, wurde beschlossen:Männer zwischen 18 und 60dürfen nicht mehr das Land verlassen. Ohne ihn wollte Lera nicht nach Polen. Wir alle waren ratlos und verzweifelt. +Am nächsten Abend fuhren wir trotzdem los, um es an der Grenze zu Ungarn zu versuchen. Wir teilten uns auf zwei Autos auf. Jura mit den Kindern, ich mit Lera. Sie am Steuer, ich las am Smartphone Telegram-Kanäle, um herauszufinden, wo die Kämpfe sind. Zuerst fuhren wir nach Mukatschewo in Transkarpatien, der westlichsten Region der Ukraine. Den direkten Weg nach Krakau aus Lwiw wollten wir nicht mehr nehmen. Wir hatten von langen Schlangen an den dortigen Grenzübergängen gehört. +Die nächsten vier Tage verbrachten wir im Nebel der Angst und Erschöpfung. Schon beim Losfahren waren wir bereits fast 40 Stunden wach gewesen. Die ganze Nacht zuvor hatten wir Nachrichten gelesen und eine möglichst sichere Strecke diskutiert. Jetzt mussten wir eine zweite Nacht am Steuer durchmachen. Laut Google Maps dauert der Weg von Lwiw nach Mukatschewo etwa vier Stunden. Wir brauchten neun, weil wir Ortschaften umfahren mussten, die uns zu gefährlich erschienen. Zum Glück nahmen uns Freundesfreunde in Mukatschewo auf, sodass wir etwas schlafen konnten. Außerdem wurde, als wir unterwegs waren, eine Gesetzesergänzung verkündet: Männer mit mindestens drei minderjährigen Kindern dürfen die Ukraine verlassen. Jura durfte also doch raus! + + +Über Umwege am Grenzübergang zu Polen angekommen, mussten wir 18 Stunden warten. Die Mädchen weinten. Es gab nirgendwo eine Toilette. Als wir endlich über die Grenze fuhren, kamen mir die vier Tage mit Schlafentzug und schlimmen Nachrichten wie Folter vor. +Die Familie meiner Schwester und ich sind jetzt in Krakau. Eine Kollegin von mir hat sie kostenlos in einer Wohnung untergebracht. Wir fühlen uns in Sicherheit, sorgen uns aber sehr um unsere Verwandten in Kiew. Sie schlafen immer noch im Keller, essen die Lebensmittel, die sie im vergangenen Sommer eingelegt haben. Statt Sirenen läuten in dem Dorf die Kirchenglocken. +Die Gesundheit meiner Oma hat sich verschlechtert. Und es scheinen Erinnerungen zurückgekommen zu sein. Sie sagt jetzt oft: "Ihr versteht nicht, was für ein Horror Krieg ist." Als sie noch ein kleines Mädchen war, marschierten Nazis in ihr belarussisches Dorf Bykovo ein. Früher, als sie noch fitter war, erzählte meine Oma mir oft diese Geschichte: Die Nazis hatten die ganze Dorfbevölkerung aufgereiht, um sie zu erschießen. Meine Uroma stellte meine Oma in die erste Reihe, damit sie schnell stirbt und sich nicht quält. Eine Deutsche, die in dem Dorf wohnte, konnte die Nazis aber im letzten Moment überreden, die Menschen leben zu lassen. Ob die Geschichte stimmt, werde ich wohl nie überprüfen können. Sicher ist, dass der Krieg bei meiner Oma tief festsitzt. In einer Nacht im Keller stand sie plötzlich auf. "Wohin willst du?", fragten meine Eltern. "Im Schrank verstecken", sagte sie. Ich denke, das sind Kindheitserinnerungen. Es ist so traurig, dass ihr Leben mit einem Krieg begonnen hat und vielleicht in einem Krieg zu Ende geht. diff --git a/fluter/protokoll-pflegekraft-ausland.txt b/fluter/protokoll-pflegekraft-ausland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..64adeed5d5ebe2e00c09fc307797c0c414e3b9f2 --- /dev/null +++ b/fluter/protokoll-pflegekraft-ausland.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Meine polnische Agentur hatte der Familie vertraglich eine 24-Stunden-Pflege zugesichert. Bei diesem Modell lebt man mit im Haushalt, aber trotz des Namens hat man natürlich das Recht auf Pausen. Dieses Recht wurde mir verwehrt, während meiner Pausen sollte ich noch den Haushalt machen. Ich musste fast alles machen, den Patienten mit dem Auto zu seinen Terminen fahren, einkaufen, putzen und Wäsche waschen. Als ich bei der Agentur angerufen und nach Freizeit für einen Spaziergang gefragt habe, meinten die nur: "Warum wollen Sie denn spazieren gehen, Sie werden sich doch eh nur verlaufen." +Abends bin ich erst um 23 Uhr ins Bett gekommen. In der Zeit habe ich viel geweint. Ich war so erschöpft. Arbeitsrechtlich ist das alles eigentlich nicht erlaubt, aber ich wusste es damals nicht besser und konnte mich nicht wehren. Zum Glück habe ich schnell Deutsch und mit der Zeit und wachsender Erfahrung auch immer mehr über Pflege gelernt. +Wir Pfleger*innen durften nicht über unser Gehalt reden, sonst hätten wir eine Strafe zahlen müssen – das war vertraglich so geregelt, obwohl das illegal ist. Aber ich bin nicht mehr bei der Agentur, und jetzt kann ich sagen, dass ich bei meinem ersten Job 1.000 Euro netto im Monat verdient habe. Die Familie, bei der ich war, hat der Agentur aber monatlich 2.500 Euro bezahlt. In den ersten drei Jahren bin ich zwischen Berlin und meiner Heimatstadt in der Nähe von Krakau gependelt, alle zwei Monate im Wechsel. Viele meiner Kolleginnen vermissen ihre Familien zu Hause. Es sind meist ältere Frauen, die nicht mehr ihre Kinder, dafür aber ihre Enkelkinder vermissen. Meine beiden Kinder und mein Mann sind früh gestorben, deswegen war es für mich leichter, mich auf die Zeit in Deutschland einzulassen. +Das Schwierigste an diesem Beruf ist nicht die körperliche Belastung, sondern die psychische. Du lebst das Leben eines anderen. Auch wenn wir gerade nicht arbeiten, wohnen wir da. Es ist nicht unser Zuhause. Und ältere Menschen haben häufig genaue Vorstellungen davon, wie ihr Haushalt zu funktionieren hat. Ich war mal bei einer Dame, die der Meinung war, dass ich ihre Wäsche nicht in genug Farben trenne. Oder ein anderes Mal war ich bei einer Familie, die es mir beim Spülen verbieten wollte, das Geschirr am Ende noch mal mit klarem Wasser abzuspülen. Die Erwartungen, die an dich gerichtet werden, sind hoch. +Der erste Patient, bei dem ich war, hatte Parkinson. Mit der Zeit verschlechterte sich sein Zustand, bis er schließlich starb. Ich war nicht nur seine Betreuerin, sondern auch seine Sterbebegleitung. Das ist hart. Oft kümmern sich die Familien nicht darum, dass eine geschulte Person kommt, die den Tod eines Menschen begleitet. Das übernehmen wir dann, ohne dafür ausgebildet zu sein. Für Polinnen wie mich ist es schwer zu verstehen, dass manche Familien sich wegen der Patientenverfügung ihres Angehörigen dazu entschließen, lebenserhaltende Maßnahmen einstellen zu lassen. Bei uns in Polen kämpft man bis zum Schluss um das Leben. Menschen sterben zu lassen, tut vielen von uns weh. +Für einige Patienten ist es erst unangenehm, sich von mir waschen zu lassen. Für den Patienten bin ich am Anfang ja auch fremd. Mir macht das nichts aus. Ich möchte meine Aufgabe so gut erledigen, wie ich kann. Ich sage mir immer: Vor mir steht nur ein Mensch, und der braucht meine Hilfe. Ich empfinde keinen Ekel. Es gibt schon auch Patienten, die mir gegenüber aggressiv waren, aber sie waren nie physisch gewalttätig. Zum Glück. Einmal Gewalt ist immer zu oft. Kolleginnen von mir erzählen mir,dass sie geschlagen wurden. Die Familie muss dafür eine Lösung finden. +Wenn mir etwas zu viel wird, rede ich mit den Patienten und setze Grenzen. Ich bin ein Mensch mit Gefühlen. Zu einer Dame habe ich mal gesagt: Ich bin nicht hier, um deine Freundin zu sein. Ich bin hier, um dir zu helfen. Und wenn ich weine, verstecke ich mich nicht. Andere Situationen versuche ich durch Humor zu entschärfen. +Bei der zweiten Familie, bei der ich war, hatte ich Glück. Ich habe sie zufällig kennengelernt, und sie haben mich direkt angestellt und sind mein Arbeitgeber geworden – ohne Umweg über eine Agentur. Sie waren sehr respektvoll im Umgang mit mir. Aber auch ich war selbstbewusster. Ich hatte einen freien Tag in der Woche und Pausen. Nicht alle meine Kolleginnen haben dieses Glück. Ich würde nie selbstständig arbeiten, weil ich mich dann selbst versichern müsste und keine Rentenbeiträge gezahlt werden. +Heute bin ich bei meiner dritten Familie in Tuttlingen, einem Ort in der Nähe des Bodensees. Ich habe sie über eine Facebook-Gruppe gefunden. Dort betreue ich eine 72 Jahre alte Frau. Sie wollte eigentlich keine Betreuerin, aber ich konnte sie überzeugen, dass ihre Kinder nur ihr Bestes wollen. Mir geht es hier sehr gut. Ich habe fast zwei Tage frei, verdiene sehr gut und habe ein eigenes Zimmer mit Bad, bei dem ich die Tür schließe, wenn ich Pause mache. Dieschlechte Situation von uns Pfleger*innenändert sich, wenn auch nur langsam, und immer mehr wehren sich auch rechtlich. +Nach all den Schicksalsschlägen, die ich schon erlebt habe, habe ich heute Frieden gefunden. Ich bin glücklich in Deutschland und möchte hier meine Rente verbringen. Dieser Beruf hat mich gerettet, und ich mach ihn sehr gerne. Menschen in meiner Obhut können sich mit mir sicher fühlen. Ich baue eine Verbindung zu ihnen auf. Beruflich konnte ich mich weiterentwickeln, und ich habe so viel über Krankheiten gelernt. In meiner Freizeit besuche ich gerne Freunde oder fahre an den Bodensee zur Entspannung. Und ich nutze die Zeit, um anderen Frauen in der Pflege zu helfen. Ich informiere sie in Facebook-Gruppen über ihre Rechte. Denn wir werden ausgebeutet, wenn wir nicht genug wissen. + diff --git a/fluter/protokoll-schiedsrichter-patrick-ittrich.txt b/fluter/protokoll-schiedsrichter-patrick-ittrich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..568cd9248034de83b1f721e7e4c52d1e91a86fdb --- /dev/null +++ b/fluter/protokoll-schiedsrichter-patrick-ittrich.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Am Anfang geht es gar nicht darum, alle Regeln sicher zu kennen. Viel wichtiger ist ein Gefühl fürs Spiel. Auf dem Platz hat man mit unterschiedlichen Charakteren zu tun, die man alle führen muss, damit es nicht eskaliert. Dafür braucht man bestimmte Eigenschaften: Man muss selbstkritisch und selbstbewusst sein, Entscheidungen treffen, Organisationstalent haben und das alles sofort abrufen können. +2016 wurde ich vom DFB in die Fußballbundesliga berufen. Da war ich schon 36 Jahre alt, einer der ältesten Aufsteiger seit vielen Jahren. Man könnte dann davon leben, aber als Schiedsrichter ist man selbstständig, und wenn man krank ist, bekommt man kein Geld. Ich arbeite deshalb noch immer 20 Stunden die Wocheals Polizist– in meinem eigentlichen Beruf. +Das schönste Spiel meiner Karriere war mein erstes Bundesligaspiel,Wolfsburg gegen Ingolstadt, im Februar 2016. Das lief unfassbar gut, ohne Gelbe Karten. Nicht so gut lief es zum Beispiel bei einem anderen Spiel in Wolfsburg, auch Bundesliga,damals gegen Schalke. Da gab es viele Situationen mit dem Videoassistenten, und ich wurde später von der Presse zerfleischt. Das hat mich schon deprimiert, weil ich sehr ehrgeizig und perfektionistisch bin. +Durch den Videoassistenten bekomme ich ja immer sofort mit, was richtig oder falsch war. Ich muss die Situation dann für mich abschließen und mich auf die nächste konzentrieren. Das Schlimmste, was dir als Schiri während eines Spiels passieren kann, ist Akzeptanzverlust. Dann wirst du praktisch ausgelacht von Trainern, Mannschaften, Spielern. In solchen Momenten wünscht man sich einfach, dass das Spiel bald vorbei ist. +Ich bin natürlich auch nicht fehlerfrei. Wenn ein Spiel wirklich nicht gut gelaufen ist, gebe ich mir zwei Tage Zeit, um das zu analysieren, und dann mache ich einen Haken dahinter, denn sonst könnte ich gar nicht mehr pfeifen. Das ist professionelles Arbeiten. +Wenn ich nicht gut war, gebe ich das aber auch vor den Spielern zu. Es geht immer darum, sie gerecht zu behandeln und berechenbar zu sein. Wenn das kippt, kann es laut werden auf dem Spielfeld. Dann kommen sie an und wollen etwas erklärt bekommen. Manche bleiben ruhig, andere brüllen. Das ist sehr speziell an diesem Job: Die Selbstverständlichkeit,mit der gebrüllt wird auf dem Platz. In anderen Kontexten wäre das undenkbar. +Ich kann damit umgehen, meine Arbeit sind Ermessensentscheidungen, das bringt viel Emotionalität mit sich. Ein gängiger Spruch auf dem Feld ist: Du hast jede 50:50-Entscheidung gegen uns getroffen. Das sagt aber meistens nur der Verlierer zu mir. Manchmal kommt es auch in den Stadionkatakomben oder in der Kabine zu Gesprächen nach dem Spiel, dann zeige ich gerne mal die Foulstatistik: "Guck mal, was erzählst du mir da eigentlich?" Um ein bisschen Objektivität reinzubringen. +Die neue Regelung bei der EM, dass nur noch die Kapitäne zum Schiedsrichter kommen, finde ich gut, um Rudelbildung zu vermeiden. Allerdings verliert man so auch ein bisschen den Bezug zu den anderen Spielern, das kann auch zu schlechter Stimmung auf dem Platz führen. Mit 45 Jahren bin ich aber schon ein alter Hase, so oft passiert es mir nicht mehr, dass Spieler diskutieren oder ich von ihnen angeschrien werde. +Bei Fans gibt es das hingegen immer wieder. Oft gucke ich in wütende Gesichter. Wenn ich zum Spielertunnel gehe, rennen manchmal Fans von der Tribüne dorthin und beschimpfen mich. Ich denke, sie sind eigentlich mit ihrer Mannschaft unzufrieden und kanalisieren das dann so. Manchmal bleibe ich auch stehen und frage: Was habe ich heute falsch gemacht? Als Antwort kommt dann nur ein Pöbeln: Ist doch egal, das war alles scheiße. Und ich frage zurück: Was war denn ganz konkret scheiße? Was habe ich falsch gemacht, dass dein Verein verloren hat? +Fußball hat sich in den letzten Jahren noch mal mehr emotionalisiert, weil da mittlerweile so viel Geld im Spiel ist. Sieg und Niederlage entscheiden über Auf- und Abstieg, über viel Kohle für einen Verein, und dadurch heizt sich die Stimmung noch mehr auf. +Für meine Social-Media-Kanäle habe ich eine Person, die Kommentare vorfiltert. Ich versuche, die sachliche Kritik daraus schon ernst zu nehmen. Wenn sich die bei einem Spiel häuft, mache ich mir Gedanken. Aber ich lese mir nicht jeden Scheiß durch.Harte Beleidigungen und Morddrohungenzeige ich auch an. Was geht in Menschen vor, die schreiben, Schiri, ich weiß, wo du wohnst oder parkst, wenn es einfach nur um Fußball geht? + +Titelbild: Alexander Hassenstein/Getty Images diff --git a/fluter/protokoll-schulabbrecherin.txt b/fluter/protokoll-schulabbrecherin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7e6289e7777632d1f05c4c9dcf792ab51ec07d2d --- /dev/null +++ b/fluter/protokoll-schulabbrecherin.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Nachdem eine Mitschülerin bei uns zu Besuch war, erzählte sie herum, dass es bei uns nur Nudeln mit Fertigsoße gebe. Meine Mutter hat das Beste getan, was sie konnte. Trotzdemwar unsere Lebenssituation katastrophal. Mehr als die notwendigsten Mahlzeiten, Klamotten und Möbel gab es nicht. Immerhin hatte ich ein eigenes Zimmer. +Auf dem Weg zur Schule und in den Pausen haben mir meine Mitschüler dann fiese Sprüche zugerufen. Einmal standen 40 Leute vor meiner Haustür, um mich zu beleidigen. Eltern von Freundinnen, die einst nach der Schule zu mir kommen durften, verboten ihnen, sich mit mir zu treffen. +Die Lehrer waren keine Hilfe: Im Englischunterricht mussten wir uns ein Buch für 16 Euro anschaffen. Als ich ohne das Geld in die Stunde kam, stellte mich meine Lehrerin vor der ganzen Klasse bloß. Sie sagte: "Deine Mutter hat Geld für Zigaretten, oder? Dann hat sie wohl auch Geld für Schulbücher!" Dass ich gemobbt wurde, haben sie sicher mitbekommen, aber nie etwas dazu gesagt. +Ohne Abschluss +Laut einer aktuellenStudieder Bertelsmann Stiftung verließen im Jahr 2021 47.500 Jugendliche die Schule ohne Hauptschulabschluss – das entspricht etwa sechs Prozent der entsprechenden Altersgruppe. 49 Prozent der Schulabbrecher kommen von Förderschulen, 20 Prozent von Gesamtschulen, lediglich 13 Prozent waren tatsächlich auf einer Hauptschule. Die Zahl derer, die die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen, ist seit knapp zehn Jahren fast unverändert. +Zu Hause hat sich niemand für mich interessiert oder sich darum gekümmert, ob ich Hausaufgaben mache oder nicht. Es gab keine Nachfragen, keine Konsequenzen. +Anfangs habe ich die Hausaufgaben trotzdem noch gemeinsam mit anderen Jugendlichen im Jugendtreff gemacht. Dann ging auch dort das Mobbing los. Einmal war es so schlimm, dass ich mich auf den Toiletten verstecken musste. Als ich dachte, die Luft wäre wieder rein, kam ich raus – doch da drückten sie mir Schneebälle mit Steinen ins Gesicht. Ich bin blutüberströmt und mit Schrammen im Gesicht nach Hause gerannt. Mein Bruder ist ausgerastet und hat die ganze Schule zusammengeschrien. Ich habe mich so geschämt. Nach der Schule hing ich von da an nur noch zu Hause am PC ab. +Irgendwann fühlte ich mich kraftlos und perspektivlos. Ich habe mich aber nicht getraut, jemandem davon zu erzählen, weil ich Angst hatte, dannvon meiner Mutter wegzumüssen. Hausaufgaben machte ich gar nicht mehr, vor allem Physik und Chemie waren schwierig für mich. Als ich zum zweiten Mal durch die achte Klasse fiel, war es endgültig vorbei. Mit 15 ging ich dann einfach nicht mehr zur Schule. +Da es allerdings in Deutschland im Allgemeinen eine Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr gibt, musste ich an Schulersatzmaßnahmen teilnehmen. Ich besuchte eine Produktionsschule, an der man gleichzeitig lernt und arbeitet. Die brach ich nach einer Weile ebenfalls ab. Dort und auf dem Amt behandelte man mich wie eine Systemsprengerin. +Dabei habe ich nicht das System gesprengt, sondern das System mich: Ich war intelligent genug, um die Schule zu schaffen. Doch ich hätte jemanden gebraucht, der mir zuhört. Jemand, der mir soziale Unterstützung und einen sicheren Raum gibt. Aber weder Lehrer noch Sozialarbeiter haben mir geholfen – obwohl sie alles mitbekommen haben. +Mit 16 holte ich meinen Hauptschulabschluss an der Volkshochschule nach und begann anschließend eine Friseurausbildung. Es fiel mir leichter, dort hinzugehen, weil meine Mitschüler dort alle älter waren und auch krumme Lebenswege hinter sich hatten. Meine damalige Chefin hat mich unterstützt, bei ihr konnte ich meine Ausbildung machen und gleichzeitig den Realschulabschluss nachholen. Später hängte ich noch eine Ausbildung zur Erzieherin dran. Heute arbeite ich in einem Projekt für Jugendliche. Wir helfen jenen, die es ähnlich schwer haben, im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, wie ich damals. Viele Kinder aus Junkie-Familien schaffen keinen Abschluss, denn Chancengleichheit im Bildungssystem gibt es für sie nicht. Es hat mich viel Kraft gekostet, diesen Weg trotzdem zu schaffen. Deshalb bin ich sehr froh, heute hier zu stehen. +* Name geändert + diff --git a/fluter/protokoll-streetworkerin.txt b/fluter/protokoll-streetworkerin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..aa32d4b4483214a2cfaa101e34001dbebf7d4cc0 --- /dev/null +++ b/fluter/protokoll-streetworkerin.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +In meinem Job geht es auch um das richtige Timing. Ich spreche die Jugendlichen tagsüber an, wenn sie noch offen sind. Sobald Alkohol geflossen ist, ist es meist zu spät. Ich würde auch selbst nicht wollen, dass mich jemand anquatscht, wenn ich angetrunken bin und eine gute Zeit mit meinen Freund:innen habe. +Manchmal haben meine beiden Kolleg:innen und ich Give-aways dabei: Kondome, Aschenbecher oder Sitzkissen. Das erleichtert es uns, ins Gespräch zu kommen. Genau wie meine Hündin Alva, die ich vor viereinhalb Jahren aus Polen adoptiert habe. Manche Adressat:innen, die schoneinige Jugendhilfeeinrichtungen durchschritten haben, sind Menschen gegenüber skeptisch. Bei Tieren sind sie unvoreingenommen. Einmal hat sich eine junge Frau auf Alva gelegt und sich auf ihr ausgeweint. Die Bandbreite der Probleme von Jugendlichen ist groß: vom Streit mit Partner:innen über eine fehlende Krankenkassenkarte bis hin zur Verschuldung. Wir unterstützen sie, indem wir gemeinsam Wohngeld beantragen,Jobs suchenoder Beratungsstellen vermitteln. Manchmal hilft einfach auch schon jemand, der zuhört. +Als ich vor fünf Jahren angefangen habe, dachten Jugendliche gelegentlich, ich sei Zivilpolizistin. Ich entgegnete dann: Schaut mich doch mal an! Ich bin tätowiert, gepierct, zu klein und zu schwer, um Polizistin zu sein. Heute erkennen mich viele von weitem und rufen: "Ey, Maren!" Manche Adressat:innen sind interessiert, aber zurückhaltend, andere erzählen mir gleich ihre gesamte Lebensgeschichte. Andere drehen sich um und signalisieren, dass sie keine Lust auf mich haben. Ich sage übrigens Adressat:innen und nicht Klient:innen, weil das auf Augenhöhe ist und nicht so klingt, als müssten wir Aufpasser spielen. Unsere Grundhaltung ist, junge Menschen als Expert:innen des eigenen Lebens wahrzunehmen. +Für vertrauliche Gespräche oder Hilfe beim Bewerbungsschreiben kommen Jugendliche gerne zu uns ins Büro, weil sie dort einen Kaffee bekommen und auf bequemen Stühlen sitzen können. Wir arbeiten eng mit der Offenen Jugendarbeit in Bamberg zusammen und teilen uns denselben Träger. Mein Auftraggeber ist die Stadt, mein Arbeitgeber der Verein "Innovative Sozialarbeit". Nur in seltenen Fällen müssen wir das Jugendamt oder die Polizei hinzuziehen. Grundsätzlich gilt: Wenn es um Kindeswohlgefährdung, Selbstgefährdung oder Fremdverletzung geht, darf ich meine Schweigepflicht brechen. +Für viele istdas Jugendamtdie böse Macht, die über sie hinweg entscheidet. Genau wie die Polizei, mit der viele keine guten Erfahrungen gemacht haben. Wir gelten eher als "good cop". So nehmen uns auch die Eltern der Jugendlichen und jungen Erwachsenen wahr. Sie sind froh, dass ihr Kind sich von uns helfen lässt. +Mittlerweile arbeite ich seit fünf Jahren als Streetworkerin. Sozialarbeiter:innen, die in anderen Bereichen arbeiten, wissen oft nicht, wie belastend diese Arbeit manchmal sein kann. Manche denken sicherlich: Ach, die machen wieder einen Spaziergang, fahren auf E-Rollern oder sitzen in ihrem bunt bemalten Ford Nugget rum. Es stimmt: Wir treffen nicht immer Jugendliche an, die uns brauchen. Ich war bei einem Straßengang aber auch schon mal Ersthelferin bei einem Suizidversuch. +Ich finde es wichtig, dass man meinen Job als Studienberuf wahrnimmt. Die meisten Streetworker haben, wie ich, Pädagogik oder aber Soziale Arbeit studiert. Während meines Studiums wurde Streetwork nicht genauer thematisiert. In anderen Hochschulen gibt es aber Seminare dazu, die teilweise selbst von Streetworker:innen geführt werden. Ich habe vor der Streetwork drei Jahre als Jugendsozialarbeiterin an einer Schule gearbeitet. Das System Schule war mir dann aber zu eng, und da ich jung und unabhängig war, habe ich mich entschieden, noch mal zu wechseln, bevor ich wieder einen, sagen wir mal: geordneteren Beruf annehme. +Neugierig und interessiert sollte man sein, am besten jung und ein Gespür haben für die Probleme junger Menschen. Die Arbeitszeiten machen den Job nicht besonders sexy: Dienstag bis Samstag. Von Kommunen oder Städten werden außerdem immer mehr Zuschüsse und Stellen gekürzt. Auch wir sind davon betroffen: Aktuell teilen wir uns zu dritt zwei ganze Stellen. +Schon länger gibt es bei uns Diskussionen darüber, ob man den Begriff "Streetwork" umbenennen sollte in "mobile Jugendsozialarbeit". Klingt sperrig – aber trifft es in unserem Fall besser, denn ich bin wirklich nur für Jugendliche zuständig. Ich trage bei meiner Arbeit einen Rucksack mit der Aufschrift "Streetwork Bamberg". Damitan älteren Hilfebedürftigenvorbeizugehen fühlt sich falsch an. In Großstädten geht es bei Streetwork mehr um Einzelhilfe, in der Kleinstadt können wir uns auch für die Interessen der Zielgruppe einsetzen. Zum Beispiel für den Bau eines Skateparks. Neuerdings bieten wir an, kostenlos gemeinsam mit uns ins Fitnessstudio zu gehen und mal so richtig Dampf abzulassen. + diff --git a/fluter/protokoll-wie-ist-es-soldatin-zu-sein.txt b/fluter/protokoll-wie-ist-es-soldatin-zu-sein.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1d5cfd2577caa6f539cda929232a8f107c3e17a1 --- /dev/null +++ b/fluter/protokoll-wie-ist-es-soldatin-zu-sein.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Bei der Bewerbung sollte man im Hinterkopf behalten, dass man nach zwölf Monaten Dienst jederzeit in den Einsatz geschickt werden kann. Und als Frau vielleicht auch, dass die Bundeswehr eineMännerdomäneist. Da fallen schon mal Sprüche wie: "Frauen haben hier nichts zu suchen." In solchen Situationen drücke ich entweder einen blöden Spruch zurück oder ignoriere die Aussage. Mit vielen verstehe ich mich aber sehr gut, und wir unternehmen auch außerhalb des Dienstes etwas zusammen. Montags ist bei uns zum Beispiel immer Dönertag, weil wir nach dem Wocheneinkauf keine Lust mehr haben zu kochen. +Jeder Soldat startet mit der dreimonatigen Grundausbildung. Morgens um fünf Uhr: Sport. Danach stehen Marschieren und verschiedene Ausbildungen an wie der Umgang mit dem G36, der Grundwaffe jedes Soldaten. Am Ende hatten wir die Rekrutenbesichtigung, bei der das bis dahin Gelernte geprüft wird. Wir haben fünf Tage draußen geschlafen. Unser Gepäck hat allein 15 Kilo gewogen, plus das Gewehr, das noch mal gut 3,5 Kilo wiegt. Doch wir haben uns gegenseitig motiviert weiterzulaufen, das hat den Zusammenhalt gestärkt. +Nach der Grundausbildung gibt es verschiedene Werdegänge. Es gibt die Laufbahn der Mannschaften, der Unteroffiziere und der Offiziere. Je höher die Laufbahn, umso höher muss der Schulabschluss sein. Ich habe mich trotz Abitur für eine Laufbahn bei den Mannschaften entschieden – damit ich den Panzer auch wirklich fahren darf und ihn nicht nur als Kommandant führe. Somit ging es für mich in die Stammeinheit. +Mein Dienstposten ist Kraftfahrerin für Brückenlegepanzer. Mit dem legt man Brücken über einen Graben, ein kleines Gewässer oder zum Beispiel in einen kleinen Bach hinein. Dafür war ich auf dem Lehrgang "Führerschein für Kettenfahrzeuge". Während der Ausbildung habe ich von morgens bis abends die Brücke abgelegt und wieder aufgenommen. Die ständige Wiederholung ist wichtig, damit im Ernstfall alles routiniert abläuft. Weil man als Fahrer nicht alles im Blick haben kann, sitze ich zusammen mit einem Kommandanten im Panzer. Gerade wenn man sich noch nicht kennt, ist das eine Herausforderung – man muss sich gut einspielen. Besonders Spaß hat mir das Panzerfahren an sich gemacht. Ich freue mich heute noch, wenn ich mit dem Panzer im Gelände fahren darf. Ich wollte außerdem zu der Truppengattung der Pioniere. Die sind nicht vorne im Kampf dabei, sondern bereiten ihn vor, indem sie den Weg für die Kampftruppe frei und sicher machen. Hierfür musste ich lernen, Sperren zu bauen. +Nach den 23 Monaten habe ich mich für acht Jahre verpflichtet. Mittlerweile bin ich bereits seit vier Jahren bei der Bundeswehr und würde in der Zukunft gerne einen Laufbahnwechsel zum sogenannten Unteroffizier mit Portepee, der Feldwebel, machen. +Das Einstiegsgehalt bei der Bundeswehr liegt um die 1.400 Euro netto beim freiwilligen Wehrdienst im Heimatschutz und rund 2.000 Euro in der Laufbahn "Mannschaftsdienstgrad Soldat auf Zeit". Gerade möchte die Bundeswehr an Personal aufstocken. Wie in der zivilen Marktwirtschaft haben auch wir Probleme, Auszubildende zu finden. Ich glaube, gerade durch den Ukrainekrieg überlegen sich manche noch mal mehr, ob sie zur Bundeswehr gehen. Ich persönlich bin für eineWiedereinführung der Wehrpflicht. Ich glaube, dann würden einige feststellen, dass die Bundeswehr vielleicht doch etwas für sie ist. +2021 musste ich für sechs Monate in eine einsatzgleiche Verpflichtung nach Litauen. Das ist ein wichtiger Standort für dieNATO, weil Litauen an Russland grenzt. Als ich angefangen hatte, mich über die zugespitzte Lage vor Ort zu informieren, hatte ich ein mulmiges Gefühl, dort hinzugehen. Natürlich haben wir in Litauen auch daran gedacht, dass Russland gleich um die Ecke ist und immer etwas passieren könnte. Nach zwei, drei Wochen hatte ich mich aber eingelebt, und dann war das mein neuer Alltag. +In Litauen habe ich mir mit einer weiteren Soldatin eine Stube in einem Wohnblock geteilt. In dem Fall ist es ein Vorteil, dass es wenig Frauen in der Bundeswehr gibt. Die Männer waren zu viert auf einer Stube oder zu zweit in Wohncontainern untergebracht. +Generell haben wir in dieser Zeit sehr viele Übungen im Gelände gemacht. Ich war die ganze Zeit auf Abruf. Und wurde gerufen, wenn die Kampftruppen bei ihren Erkundungen gemerkt haben, dass sie jetzt einen Brückenpanzer benötigen. Mein moderner Panzer ist in Litauen geblieben, deswegen gehe ich bald in den nächsten Lehrgang. Dann lerne ich, mit dem älteren Modell zu arbeiten. +Mein Highlight war, dass ich die damalige Verteidigungsministerin Christine Lambrecht kennenlernen durfte und den Inspekteur des Heeres, die uns beide besucht haben. Weihnachten war dagegen ein Tiefpunkt. Meine Familie und ich haben unsere Geschenke per Videotelefonat geöffnet. Es war deprimierend, sich nicht umarmen zu können. Um die besinnliche Zeit im Lager angenehmer zu gestalten, hatten wir einen Weihnachtsmarkt, an dem jede Nation teilgenommen hat. Die Niederlande hatten zum Beispiel einen Käsestand. Mit Kinderpunsch, Waffeln und Tombola war es gleich ein bisschen schöner. +Durch denKrieg in der Ukrainedenke ich jetzt vermehrt darüber nach, dass es eine reale Option ist, in den Einsatz ziehen zu müssen. Meine Familie macht sich Sorgen, aber ich beruhige sie damit, dass die Ukraine weder in der NATO noch in der EU ist. Trotzdem schlafe ich nicht mehr so ruhig wie vorher. + diff --git a/fluter/psychoanalyse.txt b/fluter/psychoanalyse.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/psychoanalytikerin-ueber-koerperideale.txt b/fluter/psychoanalytikerin-ueber-koerperideale.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f14a5a455b17de1b467ac275136131758b31ddab --- /dev/null +++ b/fluter/psychoanalytikerin-ueber-koerperideale.txt @@ -0,0 +1,39 @@ +Wie sieht heute die weibliche und männliche Traumfigur aus? +Seit den 1920er-Jahren wird das westliche Körperideal zunehmend schlanker. Dazu kommt bei Frauen ein sehr großer Busen und ein wohlgerundeter Po, was ja eigentlich im Widerspruch zur Schlankheit steht. Bei Männern sind breite Schultern das Ideal und ein schlanker, muskulöser Körper. Der Oberkörper sollte haarlos sein – wobei sich das gerade wieder zu ändern scheint. +Wer bestimmt denn unsere Körperbilder? +Es gibt keine bestimmte Gruppe oder Macht, die das festlegt. Vielmehr ist es ein Zusammenspiel aus Moden und deren medialer Verbreitung. Natürlich spielen immer auch Vorbilder eine Rolle. Wichtig sind in dem Zusammenhang die technischen Möglichkeiten der Retusche. So makellose Haut, wie man sie durch Photoshop in der Werbung sieht, hat kein Mensch. So kursieren dann völlig unrealistische Körperbilder, die zum Ideal werden. +Erklärt das, warum sich viele Jugendliche so exzessiv mit ihrem Körper beschäftigen, sich in den sozialen Medien inszenieren und permanent Bilder von sich verschicken? +Natürlich. Zur Kultur des Selfies gehört zum Beispiel das starke Schminken. Weil man ja ein schönes Selfie von sich machen möchte. Wie ein Maskenbildner tragen manche Mädchen Schminke auf, um einen makellosen Teint zu erreichen. Indem man solche Bilder verschickt, werden sie zum Maßstab. +Wie wirken Werbung und Medien auf das Körperbild von Jugendlichen? +Die medialen Bilder beeinflussen die Wahrnehmung meiner Körperform extrem stark, weil ich sie ständig mit mir selbst abgleiche und das als Ideal verinnerlicht habe. Durch die Selfie-Kultur wird mir auch noch vorgemacht, dass alle so aussehen. Als es Anfang der Neunziger nur wenige international bekannte Supermodels mit Idealmaßen und noch kein Photoshop gab, war der Abstand zwischen dem Normalmenschen und den Models sehr groß. Es war klar, dass diese Menschen relativ unerreichbar für den Einzelnen sind. Diese Grenzen verschwinden immer mehr. +Haben Sendungen wie "Germany's next Topmodel" wirklich so viel Einfluss auf jugendliche Körperbilder? Werden dadurch mehr Mädchen magersüchtig? +Diese Sendungen haben erheblichen Einfluss. Und natürlich gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Schlankheitsideal und der Zunahme von Essstörungen. Der existiert nur in einem gesellschaftlichen Milieu, in dem es genügend Nahrung oder einen Überfluss an Nahrung gibt. Und wo sich gleichzeitig ein Schlankheitsideal herausgebildet hat, das vor allem mit Weiblichkeit verbunden wird. Mit dem Aufkommen des Bürgertums bildeten sich spezifische Geschlechterrollen heraus, wobei der Frau der häusliche Bereich zugewiesen wurde und dem Mann die Arbeitswelt. In der Folge entstand das Schönheitsideal der schlanken, ätherischen Frau, die der Arbeitssphäre enthoben ist und dadurch das Prestige ihres Mannes mehrt. Dieses weibliche Schlankheitsideal existiert bis heute, auch wenn sich im 20. Jahrhundert die Vorzeichen geändert haben und weibliche Schlankheit heute die emanzipierte moderne Frau verkörpert. +Yoga und Fitnessstudios haben Konjunktur. Ist es übertrieben, von einem Fitnesswahn zu sprechen? +Das Entscheidende heute ist nicht, dass man fit ist, sondern fit aussieht. Bei all den sitzenden Tätigkeiten ist es nicht mehr so einfach, Muskeln zu haben, dafür muss man trainieren. Das Sportstudio oder die Yogastunde ist Ausweis Ihrer Investition in den Körper. Und das wird anerkannt. +Ist das Äußere generell wichtiger geworden? +Auf jeden Fall. Das hat mit der gesellschaftlichen Entwicklung und der stärker werdenden Individualisierung zu tun. In der westlichen Welt sind wir dazu aufgefordert, die eigene Identität herauszubilden. Früher geschah das über den gesellschaftlichen Stand. Man war Arbeiter, Angestellter oder Bauer, und damit war die Identität für das ganze Leben festgelegt. Das hat sich fundamental verändert. Heute muss man ein eigenes Profil haben, ganz gleich welches. Deshalb ist das Aussehen wichtiger geworden und der eigene Körper das Medium, über das die Identität ausgedrückt wird. Das ist gesellschaftlich etwas relativ Neues. +Sieht man auch deshalb häufiger Körpermodifikationen wie Piercings oder Tattoos? +Das ist eine Möglichkeit, den Körper mit Individualitätszeichen zu versehen und nach außen zu präsentieren. Es geht darum, den Körper zu schmücken und mit einem Tattoo oder Piercing seine Besonderheit auszudrücken. Noch vor 20 Jahren waren Tattoos ein Symbol der Arbeiterklasse – heute sind sie ein Massenphänomen. +Bezieht das alle Schichten ein? +Tattoos sind heute nicht mehr eindeutig auf bestimmte Schichten begrenzt. Eine repräsentative Studie hat aber ergeben, dass vor allem mehrfach Tätowierte häufiger ohne Job sind als Menschen ohne Tattoos. Trotzdem: Jeder Fünfte, der in Deutschland lebt, ist mittlerweile tätowiert. Besonders die jungen Frauen haben bei den Tattoos aufgeholt. +Gibt es Tabus, wie man seine äußere Form nicht manipulieren darf? +Man darf sich nicht hässlich machen. Ein Gesichtstattoo zum Beispiel stößt noch viele Menschen ab. Auch Zeichen des Verlebtseins wie tiefe Falten dürfen Sie nicht zeigen. Graue Haare gehen, aber nur, wenn es ein schönes Grau ist und alles andere stimmt. Es darf nicht alt aussehen. Auch die Bereitschaft, seinen Körper mithilfe von Schönheits-OPs zu optimieren, scheint größer geworden zu sein. Das hängt zum einen mit den technischen Möglichkeiten zusammen, zum anderen sind die Eingriffe kostengünstiger geworden. Dadurch sind sie nicht mehr ausschließlich für Prominente, sondern auch für die Mittelschicht bezahlbar. Hinzu kommt, dass der Körper nicht mehr als Schicksal, sondern als veränderbar erlebt wird. Und mit schönheitsmedizinischen Eingriffen ist er das ja tatsächlich. +Was verspricht man sich davon? Macht man es für sich selbst oder für die anderen? +Ein wesentliches Motiv ist, dass man sich bessere Berufschancen und Chancen auf dem Partnermarkt ausrechnet. Und dem ist auch so. Wir wissen zum Beispiel, dass ein attraktiveres Aussehen zu mehr Gehalt führt, insbesondere bei Männern. +Was sagen diese Körperideale denn überhaupt über die Gesellschaft und ihre Machtund Geschlechterverhältnisse aus? +Es ist offensichtlich, dass das Schönheitsideal für Frauen sehr viel restriktiver ist, es umfasst mehr Körperbereiche als bei Männern. Daher ist es für Frauen immer noch wichtig, gut auszusehen. Es entscheidet über ihren gesellschaftlichen und sicher auch ökonomischen Erfolg. Für Männer sind die Schönheitsideale nicht ganz so restriktiv. Allerdings ist es keineswegs so, dass keine gelten. Manager mit Tränensäcken oder großem Bierbauch sind heute die absolute Ausnahme. Auch der männliche Körper muss Dynamik und Fitness ausstrahlen, und dazu gehören nun mal keine starken Alterszeichen oder Übergewicht. Jeder muss einem bestimmten äußerlichen Ideal entsprechen. +Gehen Männer entspannter mit dem eigenen Aussehen um? +Das männliche Schönheitsideal des muskulösen Körpers ist durch Training erreichbar, für Frauen ist das schwieriger. Sie haben eine andere Art von Muskel-Fett-Zusammensetzung. Auch Falten und graues Haar werden bei Männern und Frauen unterschiedlich bewertet. Schauspieler wie George Clooney gelten mit grauen Haaren als attraktiv, bei Frauen wäre das ein Ausdruck des Alterns. Hinzu kommt, dass wir die Alterszeichen bei Männern eher als Zeichen von Reife, Macht und Reichtum werten. Ende der Achtziger erschien ein Lied, das "Dicke" heißt und sich über diese Menschen lustig macht. Das könnte man sich 2018 nicht mehr vorstellen. +Gibt es heute einen sensibleren Umgang mit anderen Körpern und Körpereinschränkungen? +Nein, den gibt es meiner Meinung nach nicht. Für mich ist es auch kein Zeichen der Befreiung, dass ein solches Lied heute politisch unkorrekt wäre. Weil die Schlankheitsnorm unverändert unterschwellig weiterexistiert, man darf nur nicht mehr darüber reden. Keiner wird heute noch sagen: Oh, ist die aber dick! Aber jeder wird es denken. Diese Körperideale sind bei uns sehr stark verankert, alle kennen sie. Und deshalb wird man bewertet und in eine bestimmte Schicht eingeordnet, wenn man massiv übergewichtig ist. Wir sind viel strenger als zu Zeiten von Marius Müller-Westernhagen. +Stichwort Apps: Kommt es zu einer Entfremdung von unserem biologischen Körper unter dem Einfluss digitaler Technologie? +Ja und nein. Es gibt keinen nicht entfremdeten Körper. Wir haben schon, wenn wir auf die Welt kommen, keinen natürlichen Körper. Der ist sehr früh kulturell überformt. Wir werden als Menschen immer schon in eine bestimmte Kultur hineingeboren, die von Anfang an auch die Vorstellungen prägt, die wir von unserem Körper im Lauf unserer Entwicklung herausbilden. Insofern stellen die digitalen Techniken nur eine weitere kulturelle Entwicklung dar. Wenn ich anfange, meinen Schlaf zu überwachen, und morgens nicht mehr weiß, ob ich gut geschlafen habe, ohne auf meine Fitnessuhr zu schauen, ist das ein Zeichen, dass wir uns stärker auf die Technik als auf unser Gefühl verlassen. Oder wenn ich bei jedem Essen die Kalorien zähle. Das alles macht einen sehr unentspannt. Diese Menschen, die über Fitnesstracker jede Körperfunktion kontrollieren, stecken in einer Art Zwangskorsett. Gleichzeitig profitieren viele kranke Menschen vom technischen Fortschritt. +Will unsere Gesellschaft nur gesunde, funktionierende Körper? +Auf jeden Fall. Bei bestimmten seelischen Erkrankungen ist es heute ein Segen, dass man mit medizintechnischen Mitteln helfen kann. Allerdings werden sich die meisten Depressionen damit nicht behandeln lassen. Das sage ich als Psychoanalytikerin. Weil es sich quasi um Grundkonflikte des Menschseins handelt, die mit einem Hirnschrittmacher nicht zu therapieren sind. Dagegen sind medizinisch-technische Maßnahmen bei endogenen, also körperlich verursachten Depressionen sinnvoll. Aber die Vorstellung, alles mit Technik lösen zu können, halte ich für schwierig. Es entwickeln sich auch neue Krankheiten – zum Beispiel die Orthorexia, eine Form der Essstörung, bei der man davon getrieben ist, sich wahnsinnig gesund zu ernähren. Ernährung ist in Deutschland eine Ideologie, über die man auch gut seine Neurosen ausleben kann. +Und über alldem steht der gesunde Körper, der nicht krank werden darf? +Ja, das ist das Heilsversprechen der modernen westlichen Medizin, die Überwindung von Alter und Krankheit und letztlich dem Tod. Man darf nicht mehr sterben, also auch nicht krank sein. Dahin soll es für die optimierte Gesellschaft gehen. Bis ins hohe Alter soll man heute geistig und körperlich fit bleiben. +Was raten Sie einem jungen Menschen, der mit seinem Körper hadert und ihn als unzulänglich empfindet? +Er muss sich klarmachen, dass Schönheit nicht unbedingt glücklich macht. Es ist ein Irrglaube, dass ich per se glücklicher bin, wenn die Brust größer oder die Nase kleiner wäre. +Aber haben Sie nicht gesagt, dass schöne Menschen mehr Chancen haben? +Real haben sie bessere Chancen in bestimmten Bereichen, das heißt aber nicht, dass sie deswegen im Leben glücklicher werden. Wenn man mit seinem Leben nicht zufrieden ist, hilft einem auch die geradere Nase nicht. Mit Schönheits-OPs kann man seine Identität nicht verändern, man wird kein anderer Mensch. +Die Psychoanalytikerin Dr. Ada Borkenhagen lebt in Berlin und ist Mitbegründerin und Vorsitzende des Vereins Colloquium Psychoanalyse. An der Universität Magdeburg arbeitet sie seit 2015 zudem als Privatdozentin der Medizinischen Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie. diff --git a/fluter/punk-feminismus-viv-albertine-the-slits.txt b/fluter/punk-feminismus-viv-albertine-the-slits.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f3b81238c8e06c9d3b6db6775fc5bceadc657026 --- /dev/null +++ b/fluter/punk-feminismus-viv-albertine-the-slits.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Wie ein Entwicklungsroman lesen sich die Memoiren von Viv Albertine, geboren 1954, die von 1976 bis 1981 in der Band The Slits spielte. In ihrem 2016 in deutscher Übersetzung erschienenen Buch"A Typical Girl"vollzieht sie ihren Werdegang nach: vom unsicheren Mädchen zur Gitarristin einer der wichtigsten und besten Punk-Bands überhaupt. +Schon als Kind war Albertine besessen von Popmusik: "Ich untersuchte die Plattenhüllen nach Namen von Freundinnen und Ehefrauen. Das war, wie ich Frauen mit der Welt in Verbindung brachte, deren Teil ich sein wollte. Jede meiner Zellen war durchdrungen von Musik, aber der Gedanke, dass ich in einer Band sein könnte, kam mir nicht – nicht in einer Million Jahre –, wie auch? Wer hatte das vor mir getan?" Einstweilen blieb nur das Dasein als Groupie. +Bis 1975, das Jahr, in dem Patti Smith ihr Album "Horses" veröffentlicht. Albertine sieht das Coverfoto, schwänzt am Erscheinungstag die Schule und kauft sich die Platte. Eine Offenbarung. "Patti Smith ist jemand, der es vor den Augen aller wagt, sich gehenzulassen, sie exponiert sich und riskiert, damit auf die Schnauze zu fallen", schreibt Albertine. "Beim Hören von ‚Horses' erschließt sich mir diese Idee: dass die Sexualität einer Frau von ihr selbst bestimmt sein kann, zu ihrem eigenen Vergnügen oder für ihre Kreativität, nicht nur, um damit einen Mann zu bekommen." +Nachdem sie die Sex Pistols spielen sieht, kommt ihr der Gedanke: Ich kann das auch. Mit der Unterstützung ihres ersten Freundes, dem The-Clash-Gitarristen Mick Jones, kauft sich Viv Albertine eine elektrische Gitarre und beginnt zu üben. Bald fragen die Slits, ob sie bei ihnen spielen möchte. Anfangs zögert Albertine, Teil einer reinen Frauenband zu werden, weil sie es für effekthascherisch und scheinheilig hält. Immerhin sind die Slits die erste weibliche Punk-Band. Doch schnell weicht ihre Zurückhaltung und macht Platz für Ambition und Stolz: "Ich möchte, dass Jungs auf unsere Konzerte kommen, uns spielen sehen und denken: ‚Ich will Teil dessen sein.' Nicht ‚Sie sind hübsch' oder ‚Ich will sie vögeln', sondern ‚Ich will in dieser Gang, in dieser Band sein'". +Dabei lernt die 22-Jährige viel von der Frontfrau der Band, der gerade einmal 15-Jährigen Ari Up, die sich kein bisschen darum schert, ob sie auf der Bühne attraktiv aussieht. Einmal pinkelt Ari Up sogar während eines Konzerts auf offener Bühne – einfach weil es eben dringend sein muss. Umso bewusster wird Albertine, wie problematisch ihr Verhältnis zu ihrem eigenen Körper ist. "In meiner Arbeit hinterfrage ich ständig Stereotype, gleichzeitig werde ich immer noch von dem Stereotyp der Weiblichkeit in meinem Kopf unterjocht", schreibt sie. Dank Ari Up schafft es Viv Albertine irgendwann, sich locker zu machen. So weit, dass sie sich manchmal zum Spaß einen Tampon mit roter Farbe an die Ohren hängt und ihn einmal da vergisst – zum Entsetzen ihrer Mitfahrer im Bus. +Als Band ziehen die Slits eine Menge Hass und offene Aggression auf sich – vor allem von Männern. Man verlacht, beschimpft und bespuckt sie. Ari Up wird zwei Mal mit einem Messer attackiert. Weil sie nicht sind, wie Mädchen damals zu sein haben. Sie sind nicht die Einzigen, die sich gegen die Klischees auflehnen: "Oh Bondage! Up yours!" heißt das bekannteste Stück der Band X-Ray Spex von 1977. "Manche Leute denken, dass kleine Mädchen gesehen, aber nicht gehört werden sollten", singt Frontfrau Poly Styrene darin. "Oh Unfreiheit, du kannst mich mal!" +Gerade mal fünf Monate nachdem Albertine das erste Mal eine Gitarre in die Hand genommen hat, gehen die Slits mit The Clash auf Tour, sie werden vom legendären John Peel eingeladen, in seiner Radioshow auf BBC zu spielen, und unterschreiben einen Plattenvertrag. In ihrem größten Hit, dem von Viv Albertine geschriebenen "Typical Girl", fassen sie zusammen, welche Eigenschaften Mädchen üblicherweise zugeschrieben werden: "Typical girls stand by their man / Typical girls are really swell / Typical girls learn how to act shocked / Typical girls don't rebel". +"In einer Zeit, in der das weit verbreitete Bild einer Feministin übermäßig schlecht gelaunt und militant aussah, waren die Slits lustig und verspielt", heißt es in dem 2016 von dem Musikmagazin "Pitchfork" veröffentlichten Artikel mit dem Titel"Die Geschichte des feministischen Punk in 33 Songs". Und obwohl die Slits das Etikett "feministisch" damals ablehnten, waren sie genau das. +Und wie sich das gehört für Punks, waren sie auch fies. Eines Abends treten sie in derselben Show im niederländischen Fernsehen auf wie die Schwester des Musikers Mike Oldfield, Sally. "Sie trug eine Art Bauernkleid und trällerte mit ihrer Kleinmädchenstimme. Hinterher gingen wir zu ihr und sagten ihr, dass sie scheiße sei und nur Stereotype verstärke. Sally brach in Tränen aus." +Für viele der unmittelbar Beteiligten starb Punk schon wieder im Sommer 1977, als der Medienrummel um die Sex Pistols losging. Aber das emanzipatorische Potenzial, das er entfesselt hatte, beeinflusste nachfolgende Generationen von Bands wie Le Tigre, Sleater Kinney und Hole – und tut es noch immer. Heute, 40 Jahre nach der Geburt des Punk, tragen junge Bands wie Skinny Girl Diet dessen Geist weiter. +"Ich denke, dass es Frauen waren, die seit den 1970er-Jahren die interessanteste, fesselndste, zauberhafteste, überraschendste und intensivste Musik gemacht haben", sagte der einflussreiche britische Musikjournalist Greil Marcus 2015. "Und das ist keine ideologische Aussage. Das ist einfach, wie es ist." Der Punk war es, der es Musikerinnen erlaubte, sich freizuspielen. +Titelbild: Kevin Cummins/Getty Images +AlsAnne Waak, geboren 1982, begann, sich für Musik zu interessieren, hatte ihr jüngerer Bruder bereits seine Liebe zum Punk (allerdings dem der kalifornischen Ausprägung) bekundet. Die Autorin wandte sich daraufhin dem denkbar unpunkisten Genre zu: dem Europop von Ace of Base. +Hiergehts zum ersten Teil von "40 Jahre Punk": Warum die Wut zurück in die Popmusik kam und was das mit dem heißen Sommer 1976 zu tun hat. diff --git a/fluter/punk-in-israel.txt b/fluter/punk-in-israel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5cd31070249248a283fc9dabf98eed1caa8f7816 --- /dev/null +++ b/fluter/punk-in-israel.txt @@ -0,0 +1,37 @@ +Sie sind vermutlich nur ehrlicher als die meisten anderen. +Protopunk: Avi Pitchon beim Plattenhören im Wohnzimmer (1982) +Dschinghis Khan waren die deutschen Repräsentanten beim Eurovision Song Contest, der 1979 erstmals in Israel ausgetragen wurde. Ich interessierte mich damals für Science-Fiction und alte Kulturen. Mongolen, Hunnen und Wikinger. Mein erstes Comic war "Conan, der Barbar". Dschinghis Khan waren also das Missing Link zur Musik. Die Theatralität der Band hat mich angesprochen. Es waren die außermusikalische Elemente, die Kostüme und das "Hu! Ha!" des Songs, die mich angezogen haben, aber auch die Wildheit der Band. Ich war fasziniert und begann bald nach anderen Bands Ausschau zu halten, die sich kostümierten. So kam ich erst zu den Village People, dann aber bald zu Kiss, David Bowie, Nina Hagen und Johnny Rotten. Mich interessierten ihre Kostüme, ihre Mimik und natürlich der Lärm. +Ihr Buch handelt von einem jungen Mann, der gegen die Welt der Eltern rebelliert. Zum ersten Mal verwandeln Sie sich an Purim, dem jüdischen Pendant des Karnevals, zu einem Punk. +Das ist der Moment, dein neues Aussehen zu testen, bevor du damit ernst machst. +Punktest: Avi Pitchon mit einem Freund zu Purim, dem jüdischen Equivalent zum Fasching +Sie versuchen nicht zu erklären, was der Hintergrund Ihres Sich-Fehl-am-Platz-fühlens ist. Aber Sie erzählen, dass Ihnen als Kind Sirenen Angst machten, und erwähnen, dass Ihre Mutter die Naziherrschaft in Europa überlebt hat. +Ich kann meine Entscheidungen bis zu einem gewissen Punkt erklären, aber es bleibt immer ein geheimnisvoller Rest. Es gibt ganz konkrete Einflüsse, die damit zusammenhängen, dass der Holocaust zu meiner Familiengeschichte gehört. Aber das teile ich mit vielen Israelis. +Die keine Punks wurden. +Richtig. Das allein ist also als Erklärung nicht genug, aber sicher ein Teil. Wenn mir jenamd auf dem Gehweg entgegen kam, wechselte ich die Straßenseite. Das Grundgefühl war, dass andere Menschen eine potenzielle Bedrohung darstellen. Das kann ich mit den Erfahrungen meiner Mutter in Verbindung bringen. Ich weiß nicht mehr, wie viel ich darüber im Buch erzählt habe. +Sie erzählen nichts darüber. +Sie stammte aus der Slowakei und musste sich mit ihrer Familie zehn Monate lang in einem Bunker im Wald verbergen. Die slowakische Familie, die sie dort versteckt hat, wurde vor kurzem mit dem Titel "Gerechte unter den Völkern" geehrt. Auf Hebräisch nennt man das Psychologie für einen Schekel. +Küchenpsychologie. +Man muss kein Psychologe sein, um zu verstehen, dass meine Mutter, der eingebleut wurde, nicht zu weinen, weil das ihren Tod bedeuten könnte, als Kind gelernt hat, dass Leben sich vor anderen verstecken heißt. Das hat sie an mich weitergegeben. Ich habe die Vorstadt, in der ich aufgewachsen bin, als langweilig und hässlich empfunden, das ist eine Abstraktion von Bedrohung. Meine Generation wuchs außerdem in patriarchalisch strukturierten Familien auf. Aus Gründen, die ich mir ebenfalls nicht erklären kann, empfand ich das so stark, dass ich Anarchist wurde. +Avi vor seinem Zimmer (1986) +Und Feminist. +Richtig. Ich schloss aus meiner Erfahrung dieser familiären Struktur, dass jede Macht und jede Autorität problematisch, destruktiv und unterdrückend sind. +Punk zu sein, sich provokant zu kleiden, war damals skandalös – in Deutschland war das nicht anders. Wollte man mit solchen Outfits die Autorität herausfordern, sich zu zeigen? +Auf den ersten Blick scheint es absurd zu sein, sich aus Angst vor den anderen so zu kleiden, dass man ihre Aufmerksamkeit und ihre Aggression auf sich zieht. +Man fordert es heraus. +Das ist ein interessanter Gedanke: Weil das ohnehin passieren wird, macht man eine Show daraus. Aber auch das Gegenteil ist richtig: Es distanziert die anderen. So ein Outfit ist wie eine Ritterrüstung. Die Leute wissen nicht damit umzugehen und lassen dich in Ruhe. Als ich 16 war, dachte ich, Anarchismus sei die Wahrheit, eine völlig rationale Entscheidung: der logisch erscheinende Weg, sein Leben als Mensch zu führen. Heute weiß ich, dass es ein Weg war, meine Angst und meine Wut durch ein System zu rationalisieren. +Während einer Demonstration von Noar Patzifisti anlässlich des 21. Jahres der Besatzung (1988) +Als Sie Punk wurden, gab es bereits Punk-Bands wie HaKlick oder Killer Halohetet in Israel. Aber damit konnten sie nicht so viel anfangen? +Ich war auf meine eigene Weise engstirnig. Sie kennen das vielleicht aus Deutschland. Die lokalen Versionen einer Popkultur werden viel strenger beurteilt, weil man die Details besser sehen und verstehen kann. In eine Band aus England kann man seine Fantasien viel besser projizieren. Punk brannte seit den Siebzigern in Israel zwar schon, aber auf leiser Flamme. 1982 änderte sich das. Der Pinguin Club wurde in Tel Aviv eröffnet, ein Jahr später Kolnoa Dan. Die Betreiber luden wichtige Bands aus dem Ausland ein. Bauhaus, Siouxsie and the Banshees oder Marc Almond. Das gab es vorher nicht. Die Szene in Tel Aviv fand in Echtzeit statt. +1982 begann auch der Libanonkrieg. +Und eben das war die spezifische und wesentliche israelische Komponente. Der israelische Konsens hatte 1973 erste Risse bekommen, als das Land imJom-Kippur-Kriegüberfallen und fast besiegt wurde. Das war traumatisch. 1982 dann war das Land über der Frage gespalten, ob dieser Krieg gerechtfertigt und notwendig war. 18, 19 Jahre alte Soldaten, die ihre Freunde hatten sterben sehen, kamen für ein Urlaubswochenende nach Hause. Manche gingen in die neuen Clubs, wo man sich wie in New York, London oder Berlin fühlen konnte. Und eben das wollten sie auch. +Punktourist: Avi in der Oxford Street in London (1985) +Der Krieg wurde von vielen als israelischer Angriffskrieg gewertet. War das ein Anlass für die Punks, sich vom Zionismus, also der Idee der Rückkehr der Juden in ihre historische Heimat, zu distanzieren? +Wir schufen eine Kultur, die sich vollkommen vom israelischen Ethos lossagte. Ohne das ausdrücklich zu sagen, hatte das eine politische Bedeutung. Punk war die erste postzionistische Kultur, noch bevor der Begriff desPostzionismusformuliert wurde. Ich wurde 1968 geboren. Als ich klein war, war Israel ein starkes Land, das das Recht auf seiner Seite hatte. Das war ein mächtiges Gefühl, aber es verschwand, und man begann sich nach einem Ersatz umzusehen. Der Drang, alles Israelische abzulehnen, entstand aus einer fast unbewussten Erinnerung an seine ursprüngliche zionistische Utopie. +Sie haben sich enttäuscht, betrogen gefühlt, weil Sie sich plötzlich auf der falschen Seite der Geschichte fühlten? +Absolut. Ich wurde also Anarchist, Pazifist, Antizionist. Interessanterweise bekam der Begriff des Jüdischen erst eine Bedeutung für mich, als ich Israel tatsächlich verlassen habe. Ich habe in London und Berlin gelebt. Wenn man als israelischer Jude in Berlin lebt, wird man mit der Frage ständig konfrontiert, weil unsere Geschichten miteinander auf ewig verknüpft sind. In Berlin bekam ich ein Buch eines jüdischen Poeten in die Hand, der in den Zwanziger zwischen Berlin, Warschau und Lwow pendelte. Er und seine Freunde veröffentlichten Untergrundmagazine und führten ständig Diskussionen. Als ich das las, dachte ich: Genau das haben wir in den Neunzigern in Tel Aviv auch gemacht. Erst außerhalb von Israel wurde mir bewusst, dass ich Teil einer Kontinuität jüdischer Dissidenten und Bohemiens bin: Ja, ich bin jüdisch, führe eine jüdische Tradition fort, und das hat nichts mit Religion zu tun. +Vielleicht doch. Die jüdischen Intellektuellen führten doch auch die Tradition fort, jedes einzelne Wort in der Bibel kritisch zu hinterfragen und um die beste Interpretation zu streiten. +Rotten Johnny and the Queen of ShiversIsraelische Gegenkulturen und Sehnsuchtsorte, Ventil Verlag 256, Seiten1. Aufl. 201617,00 € +Stimmt. Ich habe außerdem verstanden, dass für die Generation meiner Eltern und Großeltern der Zionismus dasselbe wie für mich Punk war. Das war ihr Weg, sich von ihrer Umgebung loszusagen. Das hat aber nichts daran geändert, wie ich Israel sehe. Das Land ist, wie irgendwann jedes utopische Projekt, in großen Schwierigkeiten. +Welche Rolle spielt Popkultur heute in Israel? +Die Jungen, die heute Musik machen, sind stärker, als wir es waren. Sie wissen mehr. Ich kenne 20-Jährige, die unsere Zeit romantisieren, weil sie verstanden haben, dass wir keine Perspektive hatten. Sie wünschen sich, sie könnten auch so sein. Sie haben das Gefühl, aus dem Paradies vertrieben worden zu sein. Sie sind viel zynischer, nihilistischer und eskapistischer als wir es waren. Aber man kann das auch positiv beschreiben: Sie sind nicht naiv, sie haben keine Illusionen. Sie glauben an keine politische Agenda. Sie verschwenden ihre Energien nicht mit Dingen, die konkret zu gar nichts führen. +Alle Fotos mit freundlicher Genehminung von Avi Pitchon diff --git a/fluter/qanon-deutschland-verschwoerung-gefahr.txt b/fluter/qanon-deutschland-verschwoerung-gefahr.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3b209d4f4ced7231539ad8c7d4e219fcdac3dd3b --- /dev/null +++ b/fluter/qanon-deutschland-verschwoerung-gefahr.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Seit Ende 2019 ist das Q auch in Deutschland zu beobachten, vor allem auf Demonstrationen von Verschwörungsideolog*innen,Impfgegner*innen,Reichsbürger*innen und zuletzt Gegner*innen der Corona-Schutzmaßnahmen. Die deutsche Q-Community ist inzwischen die größte im nichtenglischsprachigen Raum. Wie viele QAnonist*innen es hierzulande gibt, lässt sich schwer sagen. Sicher scheint: Q wächst. Das zeigen allein die deutschsprachigen Kanäle der Szene. +Ein Beispiel: Dem Telegram-Kanal Qlobal Change folgten im März 2020 etwas mehr als 21.000 Menschen, im Juni waren es schon mehr als 111.000. Das zeigt eine Auswertung des Politikwissenschaftlers Josef Holnburger. Im Jahresverlauf verlangsamte sich das Wachstum, die Abonnent*innenzahl wuchs aber bis Ende Januar 2021 auf rund 165.000 an. Andere Kanäle und Chatgruppen wuchsen ähnlich rasant. Auf YouTube wurden deutsche QAnon-Videos hunderttausendfach angesehen – bis die Plattform im Oktober begann, gegen die Verschwörungsideologie vorzugehen und immer mehr Kanäle und Videos zu löschen. Auch auf Instagram und Twitter wurden Profile bekannter QAnon-Anhänger*innen offline genommen. + + +Besonders verankert hat sich der Glaube an QAnon in der rechtsextremen Reichsbürger-Szene. Reichsbürger*innen und Souveränist*innen glauben, dass die Bundesrepublik noch immer von den alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkriegs besetzt, also kein souveräner Staat sei. Sie halten Deutschland für eine Firma, die "BRD GmbH", gegen die man sich auch mit Gewalt zur Wehr setzen dürfe. Wie kann eine auf den US-Präsidenten Trump fokussierte Verschwörungserzählung in dieser Szene Fuß fassen? +"Reichsbürger und QAnon sind über rechtsradikale verschwörungsideologische Narrative miteinander verbunden", sagt der Politikwissenschaftler Jan Rathje. "Beide teilen die Vorstellungen von einer geheimen Fremdherrschaft über das Volk, den Wunsch nach einem Erlöser oder Führer und der Bestrafung der vermeintlichen Verschwörer und Handlanger." In den USA sprechen QAnonist*innen dabei meist vom Deep State, einem "Staat im Staat" aus Bürokrat*innen, Geheimagent*innen und Militär, die alles tun, um die Regierung Trump zu sabotieren. Viele Reichsbürger*innen hätten erst Anfang 2020 realisiert, dass der Erlöser Trump nicht nur die USA vom Deep State, sondern auch sie von der "BRD GmbH" befreien könnte, sagt Rathje. +QAnon-Erzählungen finden aber weit über die Reichsbürgerbewegung hinaus Zustimmung.Das könnte auch daran liegen, dass sie gar nicht so neu sind:Die Erzählung von den mächtigen "Eliten", die heimlich die Geschicke der Welt lenken, geht aus einer langen Tradition antisemitischer Verschwörungsmythen hervor. +Und auch die Erzählung von den Geheimkreisen, die Kinder entführen, missbrauchen und töten, folgt judenfeindlichen Mustern: Die Ritualmordlegende, der zufolge Juden christliche Kinder töten würden, um deren Blut zu trinken, entstand wohl bereits im England des 12. Jahrhunderts und führte seitdem immer wieder zu Pogromen gegen jüdische Gemeinden. Ohne denantisemitischenKern scheint der Erfolg QAnons bis heute kaum denkbar. +Verschwörungsideologien haben eines gemeinsam: ein klares Freund-Feind-Denken. Wer als Feind gilt, wird zum ultimativen Bösen stilisiert. In diesem Weltbild liegt eine große Gefahr: Wer als Teil der Verschwörung gesehen wird, des Deep State oder einer kindermordenden Elite, muss bekämpft und beseitigt werden. In den USA haben QAnon-Anhänger*innen schwere Straftaten und Morde begangen, die offenbar durch ihren Verschwörungsglauben motiviert waren. Auch in Deutschland warnen Expert*innen seit Monaten vor einer möglichen Radikalisierung der Szene: Eine eigene Arbeitsgruppe des Verfassungsschutzes beobachtet sowohl Corona-Leugner*innen als auch andere Verschwörungstheoretiker*innen. +Weiterlesen +Der Journalist Sören Musyal weiß, wie geschickt Rechtsradikale Social Media nutzen –und warum Telegram dabei so wichtig ist +Wie sich eine Radikalisierung äußern könnte? Zumindest in den QAnon-Telegram-Gruppen fantasiert man längst über Gewalttaten. Eine Gruppe diskutierte im Oktober 2020 etwa, ob der frühere US-Präsident Barack Obama besser erschossen oder langsam zu Tode gequält werden sollte. In einer anderen forderte eines der mehr als 47.000 Mitglieder im Dezember, alle "Eliten" sollten in Guantánamo eingesperrt werden. Woraufhin ein Mitglied zustimmte und anfügte, sie sollten dort schnell hingerichtet werden, zusammen mit allen Politiker*innen. +Der Aufstieg von QAnon ist eng an den Wahlerfolg Donald Trumps in den USA geknüpft. Dass die "Erlösung" durch Trump, der sein Amt im Januar abgegeben hat, und die wiederholt angekündigten Massenverhaftungen seiner demokratischen Kontrahent*innen ausgeblieben sind, wird die Verschwörungsgläubigen wohl kaum bremsen: Vertraut Trump, vertraut dem Plan – das war stets die Botschaft Qs. +Zwar hat der Wahlsieg Joe Bidens, den sich QAnons Anhänger*innen wie so viele andere aus Trumps Lager nur mit einem massiven Wahlbetrug erklären können, viele desillusioniert. Gerade in solchen Rückschlägen liegt aber womöglich die Gefahr: Wer nicht mehr darauf vertraut, dass es ein Erlöser richtet, kann sich umso mehr verpflichtet sehen, den Kampf gegen die "Eliten" – so wiebeim Sturm auf das Kapitol– selbst aufzunehmen. diff --git a/fluter/quarantine-circular-rezension.txt b/fluter/quarantine-circular-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c13a0e47519974e09b00dbaee8c12ed547f67ca4 --- /dev/null +++ b/fluter/quarantine-circular-rezension.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Autor Mike Bithell bezeichnet seinen Titel "Quarantine Circular" als einen "Short". Das stimmt, zwei bis drei Stunden sind für ein Spiel sehr kurz. Für ein digitales, interaktives Kammerspiel reicht die Zeit dagegen üppig. Das Alien kann arrogante Kommentare abgeben, die wenigen Menschen können sich ausgiebig streiten und die Spieler sich den Kopf zerbrechen. Bithells Spiel setzt einen deutlichen Kontrast zu dem Status quo aktueller Computerspiele. Die konzentrieren sich oft auf sehr mechanische Geschicklichkeitstests und zeigen Helden, die vor allem physische Hindernisse überwinden. Bithells Drama bleibt dagegen in den Köpfen seiner Charaktere. Es geht nur um die Frage, wie sich die Menschen entscheiden, wem sie glauben und wen sie überzeugen können. +Reine Dialogspiele gibt es zwar schon lange, aber meist in Form technisch simpler Exoten. "Quarantine Circular" protzt dagegen mit schicker Grafik: Die Sonne brennt unbarmherzig auf metallisch glänzende Schutzanzüge, das Alien wackelt mit den Mundwerkzeugen. Auch die Musik, das Interface, alles wirkt teuer. Bithell führt ein ganzes Team von Entwicklern an, und er verkauft die Erzählung für ein paar Euro. Dahinter steht die Wette, dass auch interaktive Bücher gut laufen, wenn der Umschlag schick aussieht. Einmal hat das schon funktioniert, das ähnlich strukturierte Roboter-Verhörspiel "Subsurface Circular" hat sein Publikum gefunden. +Der technische Aufwand hat klare Grenzen: Alle Menschen tragen einen Helm, niemand gestikuliert, nichts wird vorgelesen. Das mag in der Story Sinn ergeben, weil die Angst vor der Seuche umgeht und weil die Menschen aus verschiedenen Ländern einen Übersetzer benutzen. Aber etwas absurd fühlt sich die Verhandlung mit der Zeit an: Der Blick ruht auf dem Chatfenster in der Mitte, die aufwendige Grafik reduziert sich dagegen zum Bildschirmhintergrund. Kein Gesichtsausdruck wird je sichtbar. Das Schicksal der Menschheit wird entschieden, ohne dass die Menschen greifbar würden. +"Quarantine Circular" ist also nicht perfekt, aber Sprachausgabe und menschliche Gesichter würden so ein Spiel sehr viel teurer machen. Als eine verzweigte Science-Fiction-Kurzgeschichte funktioniert es trotzdem, die am Ende fast desinteressiert an Knalleffekten wirkt. Die Seuche, die Aliens, das ist alles nur Beiwerk. Im Kern ist "Quarantine Circular" eine einfühlsame Geschichte über Menschlichkeit und Empathie in Krisenzeiten. + +Ideal für ...Spieler, die nicht tagelang in Parallelwelten versinken, sondern sich für ein paar Stunden auf ein Gedankenspiel einlassen wollen. + diff --git a/fluter/queer-neukoelln-silverfuture.txt b/fluter/queer-neukoelln-silverfuture.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ba9c1bca465c6eac3ebd171e4ab375191dafd2b4 --- /dev/null +++ b/fluter/queer-neukoelln-silverfuture.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Nicht ganz so lang, aber immerhin schon seit 2007 gibt es das Silverfuture in der Neuköllner Barmeile Weserstraße. Es war wohl die erste queere Bar im Bezirk und ein beliebter Treffpunkt für Menschen, die nicht heterosexuell sind oder deren geschlechtliche Identität nicht der binären Norm entspricht. Meist ist es voll und laut, statt einer großen Weinkarte gibt es günstige Drinks, regelmäßig finden zudem unterschiedliche Veranstaltungen statt: Dragshows, Date-Nights und Poetry-Abende. Heute Abend moderiert Monty Ray eine Talentshow. "Das ist ein Ort zum Treffen, Abhängen, Flirten und – natürlich – um Dates zu haben", sagt Helena Krausz, die im Silverfuture Veranstaltungen organisiert. +Glam & Glitter: Auf den Bühnen von Clubs wie dem Silverfuture oder dem SchwuZ stehen Dragkings und Dragqueens auf der Bühne +Während man in regulären Bars als queere Person kritischen Blicken ausgesetzt sein kann, ist das Silverfuture auch ein Zufluchtsort. Da die Bar für alle Menschen zugänglich ist, ist aber auch der Club nicht frei von Diskriminierungen. Deswegen klebt auf den Blumenvasen auf den Tischen ein Schild, das darum bittet, respektloses Verhalten an der Theke zu melden. Darunter fallen auch Heteropärchen, die den ganzen Abend in der Bar knutschen. "Das ist problematisch, dadurch verändern sich Dominanzen im Raum", erklärt Sabine Holzmann, Mitbetreiberin des Silverfuture. +Erst hatte sie Bedenken, eine queere Bar in Neukölln zu eröffnen. Mitte der Nullerjahre sprach man überall von den unhaltbarenZuständen an der Rütli-Schule, wo Lehrer und Lehrerinnen über die gewalttätige Schülerschaft klagten. Obwohl der Bezirk in Verruf geraten war, zogen immer mehr junge Menschen hierhin – mit Lust auf alternative Lebensentwürfe, darunter viele Queere. "Damals gab es einfach keinen Ort für uns in Neukölln", erinnert sich Holzmann. Früher hätte es in ihrer Straße hauptsächlich Trödelläden und Kaffee- und Teestuben für Männer gegeben. Einige der Immobilien standen einfach leer und waren günstig zu mieten. Wichtig sei ihnen gewesen, dass die Bar in der Nähe einer U-Bahn-Station lag, damit die Gäste nicht lange durch dunkle Straßen laufen müssen. +Natürlich sind sogenannte Hatecrimes auch in der Neuköllner Community ein Thema. Lautder Erfassungsstelle "Berliner Register" gab es 2022 in ganz Berlin 239 LGBTQ-feindliche Vorfälle, dabei wurden nicht nur Beleidigungen und Gewalt gezählt, sondern auch homophobe Aufkleber. Besonders viele Vorfälle gab es mit 42 in Berlin-Mitte, in Neukölln waren es 22 Fälle – doch davon 13 tätliche Angriffe auf Personen. Der "Tagesspiegel"berichtete im Juli dieses Jahresvon einem schwulen Paar, das nach etlichen Angriffen aus Neukölln wegziehen will. +"Natürlich passiert das, und das ist ein Problem", sagt Silverfuture-Betreiberin Holzmann. Problematisch finde sie, wenn sich die Berichterstattung über die Täter auf einen etwaigen Migrationshintergrund fokussiere. "In Neuköllnleben eben viele Menschen mit Migrationshintergrund", sagt sie und fügt hinzu: "Mir ist es egal, woher jemand kommt, meiner Meinung nach geht die Gewalt von Cis-Männern aus. Es istein männliches Problem." Ihre Forderung wäre, Jugendliche besser über Gender aufzuklären. +Dass die generelle Angst für eine queere Person real ist, macht auch Dragking Monty Ray später an diesem Abend deutlich: "Weil ich spät dran war, habe ich kurz überlegt, mich im Bus zu schminken – es aber gelassen, da es nicht sicher ist. Später werde ich mit einem Uber nach Hause fahren." +Nach ihm tritt noch ein anderer Dragking auf die Bühne: Peach Fuzz inszeniert sich als Priester. Kurz nachdem er die "Hostie" gebrochen hat, reißt er sich das Gewand vom Körper und zeigt sich in Unterwäsche und Rosenkranz als unkonventionelle Interpretation von Jesus. Er selbst kommt aus einer konservativen Kleinstadt in Deutschland. Die Performance kann als Kritik an seinen Erfahrungen dort verstanden werden. Die Menge grölt, und eine ältere Dame im Publikum hält ein Pappherz mit seinem Namen in die Höhe. Es ist seine Mutter, die zum ersten Mal die Show sieht. +Als die Show vorbei ist, spaziert Peach Fuzz, mittlerweile in einen Leopardensatinmantel gehüllt, in den Backstagebereich, um sich abzuschminken. Langsam verschwinden die markanten Wangenschattierungen und das Augen-Make-up aus dem Gesicht. Dann erzählt er davon, dass er lange das Gefühl hatte, politisch nichts bewegen zu können. Abschließend sagt er: "Wenn sich aber ein paar queere Personen durch meine Performance empowered fühlen, sie einen guten Abend haben und positive Gedanken, dann verändere ich im Kleinen auch etwas." + +Titelbild: Diego Sixx +Dieser Text ist im fluter Nr. 88 "Neukölln" erschienen.Das ganze Heftfindet ihr hier. diff --git a/fluter/queer-sex-games-robert-yang.txt b/fluter/queer-sex-games-robert-yang.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1210d8e547532e15a8788c7d784ba19f58dab3a6 --- /dev/null +++ b/fluter/queer-sex-games-robert-yang.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Aber auf dem Marktplatz "Steam" und der Streamingplattform "Twitch" gibt es ja auch Altersfreigaben. Warum wirst du dann zensiert? +Steam und Twitch verbannen Sex, weil wir alle denken, Computerspiele seien immer noch vor allem Kindersache und dass Kinder bloß nicht mit sexuellen Inhalten konfrontiert werden sollen. Aber wenn Spiele eine ernstzunehmende Kunstform sind, wie können sie dann Sex und Nähe ausklammern? Moderation, Alterskennzeichnungen, Inhaltswarnungen, kann ich alles akzeptieren. Doch ich akzeptiere nicht den kompletten Ausschluss einer ganzen Kultur – vor allem dann nicht, wenn das heimlich gemacht wird. +Wieso heimlich? +Twitch schmeißt meine Spiele ohne Benachrichtigung raus. Wenn ich nachfrage, was genau erlaubt ist und was nicht, dann verweigern sie mir eine Erklärung. Diese Geheimpolitik hat eine abschreckende Wirkung: Viele Leute auf Twitch denken jetzt einfach, alle meine Spiele seien verboten, obwohl das nicht stimmt. +Darf man "The Tearoom" jetzt auf Twitch streamen? +Ja. Ich habe jemanden beim Spielen auf Twitch zugesehen, und die ganze Zeit haben Zuschauer im Chat behauptet, es sei verboten. Es war fürchterlich, das anzuschauen. + +Robert Yang mag es nicht, wenn der Sex hinter 40 Stunden Fantasyschlachten versteckt wird. Deshalb geht es in seinem Game "Succulent" einfach nur um diesen knackigen Typen, der sexy Sachen mit seinem Mund macht. + +Steam hat kürzlich angekündigt, in Zukunft so offen wie möglich zu sein. Denkst du jetzt doch darüber nach, auf der Plattform zu veröffentlichen? +Das Problem ist Vertrauen. Es gibt kein Vertrauen, keine Beziehung. Die können versprechen, was sie wollen – bestimmt mit den besten Absichten – aber sie halten sich offenbar nicht an ihre Versprechen. Es gibt ein wunderbares Spiel namensNSFWarevon Pierre Corbinais, zu dem Valve nun seit einem vollen Monat nicht verraten hat,ob es reindarf. Also muss ich und müssen all die anderen Entwickler erstmal annehmen, dass die neue Richtlinie bedeutungslos ist. +Kann man die Plattforminhaber umstimmen? Was hältst du von Boykottforderungen? +Robert Yang staunt selbst, wie populär seine kurzen Spiele über Spanking, Duschräume, Penisfotos und Auto-Erotik sind. "Radiator 2", sein einziger Titel auf der populären PC-Spieleplattform Steam, wurde über 150.000 Mal heruntergeladen. Er lehrt am Game Center der New York University und spricht regelmäßig auf Fachkonferenzen +Ich weiß nicht, ob ein Boykott funktionieren würde; oder ob ich all meine Zeit und Energie dafür aufbringen will, statt einfach weiter Spiele zu machen. Erstmal finde ich die Unterstützung ethisch stärkerer Plattformen wieitch.ioam sinnvollsten. +Deine Spiele zeigen ja Sexualität ganz explizit, aber die Darstellung wirkt humorvoll. +Ich versuche, kommerzielle und hochwertig produzierte Spiele zu machen, aber ich weiß nicht, ob man die humorvoll nennen kann. +Du stellst menschliche Körper ungewöhnlich dar. Wenn Games versuchen, menschliche Nähe realistisch abzubilden, geht das meistens schief und die Menschen sehen aus wie Roboter. Einerseits sehen deine Körper ziemlich realistisch aus, andererseits bewegen sie sich oft merkwürdig oder übertrieben, so als seien es eben doch keine Menschen. Ist das Absicht? +Ich finde, ein Bild soll aussehen wie ein Bild und ein Videospiel wie ein Videospiel, und ein Körper in einem Videospiel darf sich fremdartig anfühlen. In großen kommerziellen Games ist der Charakter oft ein Bodybuilder mit flüssigen, per Motion Capture erfassten, von K.I. gesteuerten Animationen – wie soll ich mich mit so einem unmöglichen Körper identifizieren? Meine Erfahrungen sehen ganz anders aus. Ein fremdartiger Roboterkörper ist ehrlicher, als ein vermeintlich realistischer, perfekter Körper. +Wie erlebst du als progressiver Spielemacher die aktuelle Lage in den USA? +Die Apokalypse hat für die Progressiven in der Spieleszene schon vor Trump stattgefunden – 2014, mitGamergate. Da haben sich radikalkonservative Alt-Right-Mobs zusammengeschlossen, um Frauen und queere Menschen aus der Szene rauszuschikanieren. Der Mainstream der Spieleindustrie hat uns nicht geholfen, hat uns Sterben lassen. Also herrscht bei uns seit Jahren eine finstere Stimmung. Als Künstler habe ich gelernt, sehr misstrauisch zu sein – und niemals großen Firmen oder Institutionen zu trauen, denen geht es immer mehr um Profit und den Anschein von Ordnung, als um Gerechtigkeit. +Welchen Titel würdest Du Menschen empfehlen, die Dein Werk nicht kennen? +Ich mag "Succulent", weil es genau das ist, wonach es aussieht. Du schaust dem knackigen Typen dabei zu, wie er erotische Sachen mit dem Mund macht. Das war's. Ich verstecke den Sex nicht hinter 40 Stunden Fantasyschlachten oder Ressourcenmanagement. Mein Fokus ist: dem Sex den Respekt und die Aufmerksamkeit geben, die er verdient, ohne all diesen Extra-Videospielscheiß obendrauf. + +Bilder: Robert Yang diff --git a/fluter/queer-uebern-fjord.txt b/fluter/queer-uebern-fjord.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..82c010467d3f585522b69c626ea2b102762ea3f5 --- /dev/null +++ b/fluter/queer-uebern-fjord.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Trotz aller Schwierigkeiten und begleitender Dramen – der zweite Hauptdarsteller Yuvraaj Parashar wurde gar von seinen Eltern verstoßen – kam Sharmas Film damals ins Kino. Nach Europa schaffte er es dagegen nicht, anders als das Nachfolgewerk "Dunno Y 2 – Life Is a Moment", das im letzten Jahr produziert wurde und jetzt nach dem DVD- auch einen regulären Kinostart in Deutschland erlebt. +"Life Is a Moment" wurde in Norwegen gedreht. Das hat mehrere Gründe. Zum einen liebt das Bollywood-Kino exotische Schauplätze. Mittlerweile dürfte das indische Publikum aber die ewigen Schweizer Alpenwiesen gründlich satt haben. Da ist es eine schöne Abwechslung, das tanzende und singende Personal mal vor einen tiefblauen Fjord oder ein traditionelles rotes Holzhäuschen stellen zu können. Aber vor allem: Es gehört sich einfach so, dass in einem ordentlichen Bollywoodfilm am Ende geheiratet wird. Und wo können zwei Männer heiraten? In der Schweiz nicht. Aber in Norwegen! +Und so ist "Life Is a Moment" der erste norwegische Bollywoodfilm geworden, als echte binationale Koproduktion. So wie dem Regisseur Sanjay Sharma (Bruder von Kapil) bei der Regie die Norwegerin Tonje Gjevjon zur Seite steht, so sind auch zahlreiche Nebenrollen mit Norwegern besetzt. Das Norwegen dieses Films scheint überwiegend von Lesben bevölkert, und auch die – real existierende – "Hungry Hearts Pin-Up Performance Band", die lesbische Themen auf die Agenda setzt, wird ordentlich gefeaturet. Die Texte, das nebenbei, sind teilweise sogar auf Deutsch. "Ich liebe dich, du liebst mich" ist deutlich zu verstehen. Aber singen sie wirklich "die große Fickerei"? Nun ja, der indische Zensor wird das eh nicht verstanden haben. +Die Handlung ist schnell nacherzählt. Der Pakistaner Ayan fliegt nach Norwegen, um dort eine sehr hübsche Pakistanerin zu heiraten, mit der er glücklich verlobt ist. Da die Braut auf Shoppingtour in London weilt, nutzt Ayan die Gelegenheit, sich in einer Schwulensauna ein wenig zu amüsieren, und trifft dort einen ebenfalls sehr hübschen Inder, dessen Liebesdienste er für drei Tage kauft und sich dabei rettungslos verliebt. Befreundete norwegische Lesben unterstützen natürlich die Beziehung, die im Übrigen ganz nebenbei auch noch den indisch-pakistanischen Konflikt in Liebe auflöst. In der pakistanischen Verwandtschaft dagegen bricht das schiere Entsetzen aus. Kann und wird Ayan zu seinen Gefühlen stehen? +Natürlich ist dies kein Film für Cineasten. Er istechte Bollywoodwaremit so unechten wie kitschigen Dialogen, überzeichneten Figuren, schrillen Tanz- und Gesangseinlagen (mit Fjord im Hintergrund) und eben der obligatorischen Hochzeit am Schluss. Super, wenn man das so mag. Aber selbst, wenn nicht: Die filmische Kombination aus nordischer Coolness und indischer Buntheit ist allein optisch sehr sehenswert. Wie hochpolitisch das Ganze eigentlich ist und dass auch dieser zweite Teil von "Dunno Y..." in Indien nur haarscharf die Zensur passierte, sieht man der burlesk-verspielten Liebesgeschichte nicht an. +Im Übrigen wurde für den indischen Markt eine andere Version geschnitten als für den europäischen Kinostart; vermutlich mit mehr Tanzerei und weniger Schwulensauna. Und doch: Es ist eine tolle Sache, wenn LGBT-Themen mittlerweile, bei allen Schwierigkeiten, am Rande des Bollywood-Mainstreams mitschwimmen können. Und zugleich ist eine Koproduktion wie diese ein äußerst charmanter Beleg für die schönen Seiten der Globalisierung. +"Dunno Y 2 – Life Is a Moment", Regie/Buch: Sanjay Sharma, Tonje Gjevjon, mit: Kapil Sharma, Yuvraj Parashar, Sadia Khan, Meera, Nary Singh, Ingeborg Kolle, 98 Minuten diff --git a/fluter/queere-menschen-deutschland-video.txt b/fluter/queere-menschen-deutschland-video.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/queeres-filmfestival-harz-wernigerode-video.txt b/fluter/queeres-filmfestival-harz-wernigerode-video.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/quelle-internet.txt b/fluter/quelle-internet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b83d1c2e53b17e86a9ae951b52e4dfead5fe3cd6 --- /dev/null +++ b/fluter/quelle-internet.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Aussortieren geht manchmal auch schnell. Wir benutzen hier die sogenannte Rückwärts-Bildersuche: Wir gleichen ein Bild mit den Ergebnissen einer Suche im Internet oder Archiven ab. Oft finden wir damit heraus, dass ein Bild aus einem anderen Kontext stammt. Auch nach dem Anschlag von Brüssel haben wir so ein erst mal echt wirkendes Foto aussortiert. Zu sehen war eine Explosion in einer Flughafenhalle. Das Bild wirkte nicht nachträglich bearbeitet, es kam aus einer französischsprachigen Quelle, und wir haben uns andere Aufnahmen vom Brüsseler Flughafen angeguckt: Nach allem, was man auf dem Bild erkennen konnte, hätte es durchaus dort sein können. Die Rückwärts-Bildersuche hat aber offenbart, dass das Foto fünf Jahre alt und tatsächlich eine Explosion am Flughafen von Moskau zu sehen war. + +Wenn es um Filme aus Kriegsgebieten geht, zu denen Reporter nur schwer Zugang haben, ist die Tagesschau oft auf Material aus den sozialen Medien angewiesen. Nur – wie vertrauenswürdig sind die? + +Verifikation ist ein Indizienprozess. Erst mal stellen wir uns die klassischen journalistischen W-Fragen: Was ist zu sehen, wer handelt da, wann und wo passiert das? Die Fragen zu beantworten geht umso besser, je mehr Erfahrung man hat. Ich habe inzwischen so viel Material aus dem Syrienkrieg gesichtet, man könnte mich nachts aufwecken und mir ein Bild vorlegen, das angeblich aus Homs stammen soll, und ich würde sofort sagen können, ob da wirklich die typische Hügelkette zu sehen ist. +Der zweite Punkt ist die Quelle. Wir versuchen, einen direkten Kontakt zur Originalquelle herzustellen, und fragen uns, wie vertrauenswürdig sie ist: Kennen wir den Verbreiter? Seit wann gibt es den Account? Was für Follower hat die Quelle, und wie wird in den sozialen Netzwerken über ihr Material diskutiert? Dann brauchen wir Experten: jemanden, der die Sprache des Landes spricht, aus dem ein Video stammen soll. Oder einen Militärexperten, der jeden Panzer kennt und ihn einer Konfliktpartei zuordnen kann. Dann schauen wir noch auf die technischen Metadaten der Bilder: Man kann auslesen, wann und mit welchem Smartphone ein Foto gemacht wurde. Es gibt auch Indizien, die auf Manipulationen an einem Bild hinweisen. +Das alles kann Stunden dauern. Sich so lange Aufnahmen von Terror und Krieg anzuschauen ist belastend. Wir haben uns deshalb von Anfang an Hilfe von einer Psychologin geholt. Und wir haben so unsere Tricks: zum Beispiel das Vorschaufenster klein machen, um Gewalttaten nicht gleich im Großformat zu sehen. +Trotz aller Fakes – das Material aus den sozialen Medien können wir nicht ignorieren. Gerade der Syrienkrieg zeigt das. Wir haben mit der Verifikation angefangen, als keine Korrespondenten ins Land reinkamen. Die Bilder aus den Netzwerken waren unsere Möglichkeit, eine andere Sichtweise auf den Konflikt zu zeigen als die des Regimes: Sonst gab es nur die Bilder des syrischen Staatsfernsehens. +Michael Wegener leitet das Content Center von ARD-aktuell. Die Redaktion verifiziert Bilder und Videos für die "Tagesschau", die "Tagesthemen" und Tagesschau 24. diff --git a/fluter/quinoa-schule-bildungschancen.txt b/fluter/quinoa-schule-bildungschancen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c6d7860b68f473107256888d21d10f0567cf2279 --- /dev/null +++ b/fluter/quinoa-schule-bildungschancen.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Die Quinoa-Schule ist damit eine der ungewöhnlichsten Bildungsstätten des Landes: Das beginnt bei ihrem Namen. Da das Getreide Quinoa unter widrigen Bedingungen wachsen kann, soll der Schulname Familien im Berliner Stadtteil Wedding Hoffnung bringen, in dem es Kinder oftmals schwerer haben als in anderen Bezirken der Stadt. +Ungewöhnlich an der Schule ist auch ihre Zielgruppe.Im Gegensatz zu anderen Privatschulen spricht sie nicht vermögende Eltern an,sondern gezielt die weniger Wohlhabenden. Auch das Schulgeld von 35 Euro im Monat widersprichtdem Klischee von elitären Privatschülerinnen und -schülern,zumal die meisten Eltern davon befreit sind. Die Schule ist staatlich anerkannt und bekommt das meiste Geld vom Staat, der Rest muss durch Spenden und Schulgeld reinkommen. Es ist ein bildungspolitisches Experiment: Kann ausgerechnet solch eine Privatschule dem Staat vormachen, wie man die Ungleichheit im Bildungssystem ausgleichen kann? +In kaum einem anderen westlichen Industrieland werden die Bildungschancen so stark vererbt wie in Deutschland.Wer aus einer sozial benachteiligten Familie kommt, hat deutlich schlechtere Chancen, aufs Gymnasium zu kommen – oder überhaupt einen Schulabschluss zu machen.Jedes Jahr brechen bundesweit etwa 50.000 Jugendliche die Schule ab. Im Bezirk Mitte, zu dem der Stadtteil Wedding zählt, verlässt jeder Achte die Schule ohne Abschluss, Förderschüler nicht mitgerechnet. Vor gravierenden Folgen warnt der Nationale Bildungsbericht 2020: Nur ein Viertel der Jugendlichen ohne Schulabschluss finde einen Ausbildungsplatz. Bei denen, die zumindest die Mittlere Reife schaffen, sind es bereits über 80 Prozent. +Pantelis Pavlakidis kennt die Schicksale hinter den Statistiken. Der 35-Jährige ist seit 2018 Leiter der Quinoa-Schule. "Ohne Unterstützung kommen viele Jugendliche hier nicht aus der Armutsfalle raus", sagt Pavlakidis.Drei Viertel seiner rund 160 Schülerinnen und Schüler kommen aus Familien, die Hartz IV beziehen.Die wenigsten Eltern haben einen höheren Bildungsabschluss, viele sprechen kaum oder gar kein Deutsch. Oft wohnten die Familien auch sehr beengt, viele Schüler hätten zu Hause weder Platz noch Ruhe, um Hausaufgaben zu machen, erzählt Pavlakidis.Hinzu kämen häufig noch Diskriminierungserfahrungen,über 80 Prozent der Quinoa-Schüler haben eine Einwanderungsgeschichte. "Unser Motto ist: Wenn Chaos im Kopf ist, ist kein Platz für Mathe", so Pavlakidis. Deshalb müsse sich nicht jede Stunde um Schulstoff drehen. +Das erkennt man schon an der Stundentafel. Im Schulfach "Zukunft" sollen sich die Jugendlichen über mögliche Berufsziele und Ausbildungswege Gedanken machen, im Fach "Interkultu- relles Lernen" über Fremd- und Eigenzuschreibungen. Einmal habe seine Klasse über ein Jahr hinweg regelmäßig ein Seniorenheim besucht, berichtet Pavlakidis. "Stigmatisierte Jugendliche aus dem sozialen Brennpunkt unterhalten sich mit alten weißen Biodeutschen. Das hat auf beiden Seiten Vorurteile abgebaut." Das wichtigste Instrument gegen einen Schulabbruch aber sei Beziehungsarbeit. Damit dafür genügend Zeit bleibt, setzt die Quinoa-Schule die Unterrichtsverpflichtung ihrer Lehrkräfte deutlich niedriger an als staatliche Schulen. Ein Viertel der Arbeitszeit, schätzt Pavlakidis, können er und seine Kollegen stattdessen in Elternarbeit, Mediation, Klassenzeit und die Tutorengespräche stecken. "Wer nur sein Fach unterrichten möchte, wird an der Quinoa- Schule wahrscheinlich nicht glücklich." Die Bereitschaft, sich mit den Sorgen der Schüler und Schülerinnen auseinanderzusetzen, stehe an oberster Stelle. +Das kann Ex-Schülerin Dorna bestätigen. "An der Quinoa-Schule nehmen sich die Lehrer viel Zeit für die Schüler und ihre Fragen", sagt sie. An ihrer jetzigen Schule sei das ganz anders. Vor anderthalb Jahren hat sie an der Quinoa-Schule ihren Mittleren Schulabschluss gemacht. Jetzt geht sie auf eine gymnasiale Oberstufe und lernt bis in die Nacht für ihr Abi. +"Ich will Medizin studieren und Ärztin werden", sagt Dorna. Sollte sie das schaffen, wäre sie eine Ausnahme. Von 100 Kindern aus Nichtakademikerfamilien nehmen nur 27 ein Studium auf, bei Kindern von Akademikern sind es selbst bei gleichen Schulleistungen 79. Seit Jahren kritisieren Bildungsforscherinnen und -forscher,dass Kinder aus Familien mit niedrigen Bildungsabschlüssen und Einwandererfamilien selbst bei gleichen Schulleistungen seltener eine Empfehlung für das Gymnasium erhalten. +Dornas Mutter stammt aus dem Iran, sie zog ihre Tochter allein groß und hat nicht studiert. Für Dorna waren die Chancen, irgendwann zu studieren, viel geringer als bei vielen Gleichaltrigen, deren Eltern in Deutschland geboren sind, sich die Erziehungsarbeit aufteilen, besser verdienen und Akademiker sind. So hatte Dorna zum Ende der Grundschule auch keine Empfehlung für das Gymnasium, sondern nur mittelmäßige Noten und wenig Motivation, für die Schule zu lernen. Durch Zufall erfuhr ihre Mutter von der neuen Privatschule und meldete Dorna an. In vier Jahren auf der Quinoa-Schule erarbeitete sich ihre Tochter einen Notenschnitt von 1,3. +Darf's noch was sein? +Was muss heute jeder wissen? Wir haben gefragt, ihr habt geantwortet.Das ist euer alternativer Bildungskanon +"Als Dorna zu uns an die Schule kam, habe ich ihr das ehrlich gesagt nicht zugetraut", sagt Schulleiter Pantelis Pavlakidis, den Dorna als Klassenlehrer hatte und der ihr in den ersten beiden Jahren als Tutor zur Seite stand. Spätestens seit ihrem Schnupperpraktikum in einer Klinik, das sie durch die Vermittlung ihres Bio-Lehrers Spiegel bekam, habe Dornas Berufswunsch jedoch festgestanden. "Wie sie seither dieses Ziel verfolgt, beeindruckt mich", so Pavlakidis. Und: Dornas Entwicklung zeige, dass das Quinoa-Konzept wirke. +Dafür sprechen auch die Zahlen. In der ersten Abschlussklasse 2018 schafften 88 Prozent der Schülerinnen und Schüler ihren Abschluss, 2019 dann 92 Prozent, 2020 sogar alle. Im Vergleich zu den staatlichen Schulen im Bezirk erzielten die Quinoa-Schüler in allen drei Jahren die besseren Ergebnisse. +Und auch die Anschlussbegleitung scheint sich bezahlt zu machen. Von den ersten drei Abschlussjahrgängen hat ein Drittel eine Ausbildung begonnen, der Rest besucht – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen – eine weiterführende Schule. Hält die Quinoa- Schule also, was sie verspricht? +Larissa Zierow vom ifo Zentrum für Bildungsökonomik in München hält das Konzept für vielversprechend: "Wir wissen aus der Forschung, wie wertvoll Mentoringprogramme bei sozial benachteiligten Jugendlichen sein können. Intensive Beziehungsarbeit kann die soziale Ungleichheit zu einem gewissen Grad ausgleichen." Wenn das an der Quinoa-Schule die Lehrkräfte leisten könnten, auch gut. Als Modell für staatliche Schulen hält Zierow die intensive Betreuungsarbeit aber für nicht machbar, dafür fehle schlicht Geld und Personal – weswegen es schon lange politische Forderungen gibt, Schulen finanziell mehr zu fördern. +Um die soziale Ungleichheit im Bildungssystem flächendeckend anzugehen, schlägt sie den Ausbau der Kita- und Ganztagsbetreuung oder ein längeres gemeinsames Lernen mindestens bis zur achten Klasse vor. "Die Rezepte für mehr Chancengerechtigkeit sind der Politik seit vielen Jahren bekannt", sagt Bildungsökonomin Zierow. Sie kritisiert, dass das Thema Chancengerechtigkeit in Deutschland stiefmütterlich behandelt werde. "Solange das so bleibt, ist jede private Initiative wertvoll." +Auch die Verantwortlichen der Berliner Quinoa-Schule wissen, dass sie mit ihrer Arbeit nur einen kleinen Beitrag zu mehr Bildungsgerechtigkeit leisten können. Ab dem nächsten Schuljahr soll in der nordrhein-westfälischen Stadt Herne die zweite Quinoa-Schule Deutschlands eröffnen, um auch im Ruhrgebiet für mehr Chancengerechtigkeit zu sorgen. + diff --git a/fluter/quitt.txt b/fluter/quitt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ad9c5c796c2676b77875929267878b8fd68961f5 --- /dev/null +++ b/fluter/quitt.txt @@ -0,0 +1 @@ +Moderation & Schnitt: Paul HofmannRedaktion: Luise Checchin und Paul HofmannSound: Max LangeCover: Jan Q. Maschinski diff --git a/fluter/quiz-wofuer-stehen-die-einzelnen-parteien.txt b/fluter/quiz-wofuer-stehen-die-einzelnen-parteien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/quotenregelung.txt b/fluter/quotenregelung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/rabat-ist-die-hauptstadt-von-marokko.txt b/fluter/rabat-ist-die-hauptstadt-von-marokko.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9c62fa3ed241ed68929269e7028ed29b537fe253 --- /dev/null +++ b/fluter/rabat-ist-die-hauptstadt-von-marokko.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Unter Einzelhandel versteht man Unternehmen, die verschiedene Waren unterschiedlicher Hersteller in ihr Sortiment aufnehmen und an private Konsumenten verkaufen – zum Beispiel Supermärkte oder Textilgeschäfte. 1919 wurde die Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels (HDE) gegründet, heute der Handelsverband Deutschland, der ein Viertel aller rund 400.000 selbstständigen Unternehmer mit knapp drei Millionen Beschäftigten und einem Umsatz von rund 433 Milliarden Euro im Jahr 2013 in Deutschland repräsentiert. Neben Branchenriesen wie Edeka oder Lidl ist der Einzelhandel in Deutschland vom Mittelstand geprägt. +Preisnachlässe waren früher unter anderem im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) geregelt. Mit dessen Novellierung im Jahr 2004 fielen unter anderem die umstrittenen Vorschriften zu Räumungs-, Jubiläums- und Sonderverkäufen inklusive Sommer- und Winterschlussverkauf weg. Bis dahin war es etwa in der Textilbranche üblich, dass der Einzelhandel seine Waren nur zweimal im Jahr reduzierte. Von 1933 bis 2001 existierte zudem das Rabattgesetz, das die Gewährung von Preisnachlässen für Endverbraucher für Waren des täglichen Bedarfs teilweise untersagte. Maximal drei Prozent Rabatt waren gestattet. Das Gesetz sorgte dafür, dass das Preisverhandeln in Deutschland bei vielen Konsumenten bis heute recht unüblich ist. "Sie haben Hemmungen, weil das Feilschen für sie gefühlsmäßig immer noch auf den Basar gehört", sagt Georg Tryba von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. Es gibt übrigens nach wie vor Produkte, bei denen das Feilschen nicht erlaubt ist – etwa preisgebundene Artikel wie Bücher oder Tabak. +Im Gegensatz zum Einzelhandel versteht man unter Großhandel Unternehmen, die Waren weder selbst herstellen noch bearbeiten und sie stattdessen an andere Unternehmen verkaufen, die sie in ihr Angebot für Privatkunden aufnehmen. Mit einem jährlichen Umsatz von knapp 1,1 Billionen Euro im Jahr 2012 ist der Großhandel in Deutschland der zweitstärkste Wirtschaftszweig nach der Industrie. Er bietet ca. 1,2 Millionen Menschen Arbeit. +Unter Außenhandel versteht man den Austausch von Waren mit dem Ausland, wobei Deutschland wesentlich mehr Waren in andere Länder exportiert, als es importiert. Im Jahr 2013 betrug der Wert der Exporte aus Deutschland in andere Länder 1,093 Billionen Euro, eingeführt wurden Waren im Wert von 895 Milliarden Euro. Die größten Handelspartner Deutschlands sind die Länder der Europäischen Union (EU), in die Waren im Wert von ca. 623,5 Milliarden Euro exportiert wurden. Umgekehrt importierte Deutschland aus Ländern der EU Waren im Wert von rund 577,6 Milliarden Euro. Dennoch rangiert Deutschland unter den größten Importländern der Welt auf Platz drei. Nur China und die USA führen mehr Waren aus anderen Ländern ein. +*Mit diesem naseweisen Spruch kanzelten Verkäufer früher gern mal Kunden ab, die nach einem Preisnachlass fragten. Dabei schreibt sich ja Rabatt eh mit Doppel-t. diff --git a/fluter/rabe-moeglichkeit-von-glueck-ddr-interview.txt b/fluter/rabe-moeglichkeit-von-glueck-ddr-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d2d0dd0d032c87179c43c0ff47c52e632de4d786 --- /dev/null +++ b/fluter/rabe-moeglichkeit-von-glueck-ddr-interview.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +fluter.de: In deinem Roman erzählst du von einer jungen Frau, dieals Kind der Wendein Ostdeutschland aufwächst und sich gezwungen sieht, die DDR-Vergangenheit ihrer Familie aufzuarbeiten. Wie bist du darauf gekommen? +Anne Rabe: Ich beschäftige mich schon lange mit der DDR. Ausschlaggebend für das Buch waren aber die Wahlen 2019 in Thüringen, als es eine Zeit lang so aussah, als hätte die AfD Chancen, stärkste Kraft zu werden. Die Debatte darüber, warum dort so viele Menschen rechts gewählt hatten, drehte sich wie so häufig um dieselben Themen: dieTreuhand,der Wegzug der jungen Leuteund so weiter. Das sind die immer gleichen Erklärungsmuster. Es wird viel weniger darauf geschaut, was im Osten eigentlich vor 1990 passiert ist. Woher kommen die rechten Strukturen überhaupt? +Wenn es, wie du sagst, eine Kontinuität rechter Strukturen in Ostdeutschland gibt, warum wird das dort nicht stärker adressiert? +Das liegt an den autoritären Strukturen der DDR. Sie stehen in einer nationalistischen Tradition, die nicht aufgearbeitet wurde. Erst langsam hören wir von den Erfahrungen von zum Beispiel Schwarzen Menschen im Osten. Die wurden teils katastrophal behandelt. Man muss sich klarmachen, dass es im Osten zuerst den Nationalsozialismus gab, dann die sowjetische Besatzungszeit, in der viel Unrecht und Gewalt passiert ist, dann die DDR. Das waren insgesamt 56 Jahre Diktatur. Drei Generationen, die gar nicht erst gelernt haben, miteinander zu sprechen. +Du bist genau wie deine Protagonistin Stine Mitte der Achtzigerjahre in Ostdeutschland geboren und dort aufgewachsen. Wie hat die Wende deine Kindheit geprägt? +Ich konnte die Wende als Kindergartenkind zwar noch nicht politisch einordnen, aber die Erfahrung, dass die eigenen Eltern aus der Bahn geworfen sind, war für viele meiner Generation prägend. In der Zeit danach hatteMassenarbeitslosigkeiteine große Selbstverständlichkeit. Ich kenne niemanden, dessen Eltern nicht mal arbeitslos waren. Meine Schulzeit war dominiert von autoritären Strukturen und Gewalt. Das begann bei Methoden der schwarzen Pädagogik in den Elternhäusern, die darauf ausgerichtet war, den Willen der Kinder zu brechen. Und es ging in der Schule weiter, wo Schwächere regelmäßig von Lehrern gedemütigt wurden und die so natürlich auch ihren Mitschüler*innen als perfekte Opfer präsentiert wurden, die dann wiederum ihre eigene Wut ungehemmt an diesen Kindern ausließen. Im Roman haben ich versucht, diese Mechanik aufzuschlüsseln. +"Die Möglichkeit von Glück" ist bei Klett-Cotta erschienen +Du hast für die Recherche mit alten Schulfreund*innen gesprochen. +Das Thema Gewalt war bei allen sehr präsent. Viele hatten wie ich nie darüber gesprochen. Das Wissen in den Familien und die Betrachtungen der DDR-Zeit unterscheiden sich aber natürlich. Je nachdem, ob man eher aus einer oppositionellen Familie kam, aus dem Kirchenkreis oder eben aus einem SED-Haushalt. Einige von meinen Freund*innen haben nie mit ihren Eltern gesprochen, keine Nachfragen gestellt und die Zeit überhaupt nicht reflektiert. +Untersuchungen wiedie Leipziger Autoritarismus-Studiehaben gezeigt, dass verstärkt Menschen deiner Generation im Osten rechts eingestellt sind. Woran liegt das? +Es gibt im Osten eine Normalität von Rechtssein, die sich von den meisten westdeutschen Gegenden unterscheidet. Die AfD liegt bei Umfragen in Sachsen bei etwa 30 Prozent. Das wäre gegenwärtig ein Traumergebnis für jede demokratische Partei. So zu wählen wird von vielen im Osten nicht verachtet, sondern gesellschaftlich anerkannt. Dazu kommt eine Ostalgiewelle, gerade bei den noch Jüngeren, die die DDR selbst gar nicht mehr erlebt haben. +Ist es so schwierig, die rechten Strukturen zu thematisieren und aufzuarbeiten? +Im SED-Regime wurde die Aufarbeitung der Nazidiktatur ideologisch vereinnahmt. In meinem Buch findet die Hauptfigur einen Brief, in dem sich ihr Großvater für seine Vergangenheit rechtfertigen muss. Er muss alles aufzählen, bis zur NSDAP-Mitgliedschaft seines Bruders, der gar nicht in der DDR lebte. Es war klar, dass die Nazizeit in der DDR immer ausreichen konnte, um einem das Genick zu brechen. Der Staat bestimmte, wie etwas zu deuten war. Das heißt, die Menschen konnten nicht über ihre Kriegserfahrungen in der sogenannten faschistischen Wehrmacht sprechen. Das Regime hat die Aufarbeitung unterbunden und damit auch den Umgang mit der Geschichte. Es gab keine Institutionalisierung der Aufarbeitung, keinen Bruch mit der Elterngeneration und auch keine Emanzipationsbewegung wie etwa in Westdeutschland. +Stine hat zu Beginn Probleme damit, sich mit den möglichen Verbrechen ihres Großvaters zu beschäftigen. +Wo fängt man auch an, wenn man in einer Gesellschaft voller Schweigen aufwächst? Sie hat zwar eine Ahnung, dass etwas nicht ganz richtig ist, und plötzlich fallen ihr Sätze ihres Großvaters ein, zum Beispiel über die Toten an der Berliner Mauer. Der Großvater war im Zweiten Weltkrieg an der Front und wollte nie wieder Krieg. Das war für ihn Grund genug, dass Menschen erschossen werden durften, die aus der DDR fliehen wollten. Gleichzeitig hat Stine mit dem zunehmenden Wissen über das DDR-System Angst, dass ihre Familie verstrickt sein könnte und was das dann für sie bedeuten würde. Gerade im Verhältnis zu ihrem Großvater, den sie sehr geliebt hat. +Wann gibt man sich mit dem Schweigen nicht mehr zufrieden? +In dem Moment, in dem man anfängt, sich damit zu beschäftigen. Ich kenne auch Leute, die sich nicht damit auseinandersetzen wollen – auch weil sie Angst davor haben, was sie herausfinden könnten. Es könnte zum Beispiel bedeuten, einsehen zu müssen, dass die eigene Familie zu den Privilegierten des DDR-Systems gehörte und man als Kind davon profitierte. Was uns Nachwendekindern heute häufig fehlt, ist die Reflexion der eigenen Position. Das ist kein Vorwurf im Sinne einer Schuld. Meine Generation hat keine Schuld auf sich geladen. Aber man wird sich mancher Dinge anders bewusst: Nicht alle hatten in diesem System denselben Stand,und nicht alle hatten nach der Wende dieselben Startvoraussetzungen. +Was könnte die Aufarbeitung vorantreiben? +Man könnte die Geschichtsbücher überarbeiten. Also nicht nur eine Doppelseite DDR und auf der nächsten Seite die Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen ist oder nicht. Es muss viel mehr Basiswissen vermittelt werden. Zum Beispiel finde ich es wichtig, dass alle wissen, was ein Jugendwerkhof in der DDR war. In dem Haus, in dem ich auf meine ersten Partys gegangen bin, wurden früher Jugendliche misshandelt. Darüber wird nicht gesprochen. Es gibt keine Integration der DDR-Geschichte in das gesamtdeutsche Bewusstsein. Ich finde das falsch, weil wir ein Land sind und die Ereignisse von damals bis heute Auswirkungen haben. Wenn wir politische Kontinuitäten durchbrechen wollen, brauchen wir eine Aufarbeitung der DDR, der einzelnen Familiengeschichten, aber auch der eigenen Position. Das ist eine gesamtdeutsche Aufgabe. + + +Anne Rabe, 1986 in Wismar an der Ostsee geboren, arbeitet als Essayistin, Schriftstellerin und Drehbuchautorin. (Foto: Annette Hauschild) + + + diff --git a/fluter/rabiye-kurnaz-film-kaptan-interview-berlinale.txt b/fluter/rabiye-kurnaz-film-kaptan-interview-berlinale.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5a257014541a492c5481afecbed51e44cb581504 --- /dev/null +++ b/fluter/rabiye-kurnaz-film-kaptan-interview-berlinale.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Meltem Kaptan (auf dem Titelbild rechts), geboren 1980 in Gütersloh, ist Comedienne, Autorin und Moderatorin, unter anderem bei der ARD-Sendung "Ladies Night". "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush" von Regisseur Andreas Dresen ist Kaptans erste deutsche Spielfilmproduktion. Dafür erhielt sie auf der diesjährigenBerlinaleden Silbernen Bären für die beste schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle. +fluter.de: Frau Kaptan, in "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush" spielen Sie die Mutter von Murat Kurnaz, der von 2002 bis 2006 ohne Anklage im US-Gefangenenlager Guantánamo auf Kuba interniert war, weil ihm terroristische Aktivitäten im Zusammenhang mit 9/11 vorgeworfen wurden. Erinnern Sie sich noch an den Moment, als Sie von dem Fall erfahren haben? +Meltem Kaptan: Zum ersten Mal habe ich Murat Kurnaz in einem TV-Interview mit Reinhold Beckmann gesehen. Das war 2006, er war gerade nach Deutschland zurückgekommen. Dieses Bild von Murat Kurnaz hat sich mir eingeprägt: die langen Haare, der Bart und dieses verzögerte, langsame Sprechen. Seine Erscheinung hat mich sehr erschüttert. +Der Film thematisiert auch die deutsche Berichterstattung während seiner Inhaftierung. Welchen Eindruck hatten Sie davon bei der Recherche für Ihre Rolle? +Man erkennt in dem Film, welche Kraft Pressestimmen haben. Diese Schlagzeile "Der Bremer Taliban" zum Beispiel: So wurde Murat Kurnaz in der Öffentlichkeit bekannt. Die Fixierung auf seine vermeintlich islamistische Haltung hat seine Rückkehr nach Deutschland erschwert. Auf der anderen Seite waren es aber auch Medien in den USA und in Deutschland, die auf den Fall und generell auf die Verbrechen in Guantánamo aufmerksam gemacht haben. Sie haben letztlich mitgeholfen, Kurnaz da rauszuholen. +Die damalige Bundesregierung hat sich jahrelang nicht für die Freilassung von Kurnaz eingesetzt. Dabei spielte auch eine Rolle, dass Kurnaz zwar in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, aber einen türkischen Pass hatte. +Für mich ist der Film deshalb so aktuell.Ich als Deutsche mit türkischem Migrationshintergrund kann sagen, dass diese Frage immer noch gestellt wird: Wann gilt jemand als deutsch?Inwiefern übernehmen wir als Gesellschaft Verantwortung für junge Menschen, die hier sozialisiert und zur Schule gegangen sind? Egal ob sie Eltern mit anderer Herkunft haben. Murat Kurnaz gehört nach Deutschland. Da hätte die Frage nicht lauten sollen, ob er Schuld hatte, sondern ob die deutsche Rechtsstaatlichkeit auch für ihn da ist. +Seitdem wurde der Fall in Untersuchungsausschüssen des Bundestags verhandelt, Kurnaz selbst hat ein Buch veröffentlicht, es gibt mehrere Filme. Was hat Sie als Schauspielerin daran interessiert, die Geschichte nun aus der Perspektive der Mutter darzustellen? +Die Brutalität, die Kurnaz in Guantánamo erfahren hat, wurde in den anderen Filmen gezeigt. Die Perspektive der Mutter zeigt jetzt, wie sich eine politische Entscheidung auf das Schicksal eines einzelnen Menschen auswirkt. Dieser Mensch ist nicht allein, er hat Angehörige. Kurnaz' Frau in der Türkei, die jahrelang auf ihn wartet. Sein kleiner Bruder, der sich aus Milch und Toast ein Essen macht, Mama muss sich ja um Weltpolitik kümmern. Und dann natürlich seine Mutter selbst, die eigentlich nur Mutter sein möchte, aber plötzlich vor dem Supreme Court steht. +Sie haben die echte Rabiye Kurnaz kennengelernt, die für die Rechte ihres Sohnes kämpfte. Was ist sie für ein Mensch? +Eine Art Übermutter, das kann man schon sagen. Sie steht 100 Prozent für ihre Kinder ein und sieht die Mutterrolle als Lebensaufgabe. Als Erstes ist mir aber aufgefallen, dass diese Frau nach allem, was sie erlebt hat, ihren Humor und ihre positive Lebenseinstellung behalten hat. Bei unserer ersten Begegnung war auch ihr Anwalt Bernhard Docke dabei(im Film gespielt von Alexander Scheer, Anm. d. Red.). Mit dem hat sie einen Witz nach dem anderen gerissen, die beiden haben schallend gelacht. Ihr Humor ist ihre Kraftquelle und musste unbedingt gezeigt werden. + + + + +Im Film spricht die Familie Kurnaz einen Sprachmix aus Deutsch und Türkisch. Wie haben Sie in der Hinsicht mit der Drehbuchautorin Laila Stieler und dem Regisseur Andreas Dresen – die ja keine Türkisch-Muttersprachler sind – zusammengearbeitet? +Das Drehbuch kam schon nah an die Essenz einer türkischen Familie heran. Oft werden deutsche Wörter in den türkischen Satz eingebaut, oder ein Satz fängt türkisch an und hört deutsch auf. Das kenne ich alles, es fühlte sich organisch an. Natürlich überprüft man alles noch mal und arbeitet gemeinsam an sprachlichen Details, etwa wann welcher Kosename verwendet wird: mein Schatz, mein Schäfchen. In Vorbereitung auf die Rolle der Rabiye habe ich mich auch mit ihrem Sprachduktus und ihrem Dialekt im Türkischen auseinandergesetzt. Irgendwann habe ich auch im Alltag angefangen, ein paar Stunden wie Rabiye Kurnaz zu sprechen. +Auch als Comedienne thematisieren Sie Integrationsdebatten oder eigene Erfahrungen mit einerpostmigrantischen Identität. Welche Verbindungen sehen Sie zwischen Ihrer Comedy und dem Film? +Es gibt eine Form von Comedy, die feiner ist als andere und besonders nah an einem Charakter. So wollte ich diese Figur anlegen, um in dieser tragischen Geschichte pietätvoll zu bleiben, die Balance zu halten. Themen wie Integration sind zwar in meiner Comedy immer wichtig gewesen, weil ich einen Migrationshintergrund habe. Postmigrantisch bedeutet für mich aber, dass ich mich als Mitglied der deutschen Gesellschaft sehe und in allen Bereichen mitgestalten möchte. Deswegen gehe ich auch in andere Gefilde, die nichts damit zu tun haben, dass ich einen Migrationshintergrund habe. +Frank-Walter Steinmeier wurde geradeals Bundespräsident wiedergewählt. Er hat sich als Kanzleramtschef der rot-grünen Regierung damals mit dem Fall befasst, lehnt bisher aber ab, sich bei Murat Kurnaz zu entschuldigen. Was halten Sie von dieser Debatte? +Murat Kurnaz hat mal sinngemäß gesagt, er würde Herrn Steinmeier fragen: "Wenn ich ein Kind wäre, das in einem Becken ertrinkt, und Sie wären der Bademeister: Würden Sie mich dann auch erst fragen, welche Nationalität ich habe – oder würden Sie mich retten?" Ich denke, damit ist alles gesagt. + +"Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush" läuft ab dem 28. April in den deutschen Kinos. + +Titelbild: Andreas Hoefer /​ Pandora Film diff --git a/fluter/radikale-transparenz-in-der-mode-everlane-QWSTION-honest-by-legen-produktionsbedingungen-offen.txt b/fluter/radikale-transparenz-in-der-mode-everlane-QWSTION-honest-by-legen-produktionsbedingungen-offen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..62fcb5fdd52468498e669e148eb71f575807f5f9 --- /dev/null +++ b/fluter/radikale-transparenz-in-der-mode-everlane-QWSTION-honest-by-legen-produktionsbedingungen-offen.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Normalerweise finden wir Mode als anonyme Ware vor. Dass es kaum einen Hinweis auf ihre Herkunft oder gar die Produktionsbedingungen gibt, unter denen sie entstanden ist, ist nicht etwa dem Informationsmangel des Verkaufspersonals oder – online – der lückenhaften Beschreibung unter "Produktdetails" geschuldet. Die Verkäufer haben schlicht selbst keine Informationen. Nicht einmal die Kennzeichnung "Made in" gibt wirklich Aufschluss. Denn sie bezeichnet nicht etwa das Herkunftsland, sondern nur den Ort, an dem das Kleidungsstück hauptsächlich zusammengesetzt wurde. +Weil die meisten Modemarken völlig intransparent sind, können sie problemlos kaschieren, wenn sie mit Baumwolle arbeiten, die von pestizidverseuchten Feldern stammt, oder Wolle nutzen von Schafen, die mit dem äußerst schmerzhaften "Mulesing"-Verfahren – also dem Entfernen der Haut rund um den Schwanz ohne Betäubung – vor dem Befall durch Fliegenmaden geschützt werden. Sie können auch problemlos verbergen, wenn sie den Stone-washed-Effekt bei Jeans noch mit der gesundheitsschädlichen Sandstrahl-Technik herbeiführen lassen. Völlig unklar bleibt für den Endverbraucher auch, wie es den Menschen geht, die für die Herstellung seiner Kleidung verantwortlich sind: Ob die Zwischenhändler, der Näher und die Weberin, die an der Produktion beteiligt sind, für ihre Arbeit ausreichend bezahlt werden und an Arbeitsplätzen arbeiten, die internationalen Sicherheitsstandards entsprechen. +Doch es gibt durchaus Unternehmen, die gewissenhafter arbeiten. Der Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch 2013, bei dem weit über 1.000 Textilarbeiter ums Leben kamen, war ein Weckruf für die Modebranche. Inzwischen legen Textilkonzerne wie Inditex – zu dem Zara und Bershka gehören – und das schwedische H&M ihre Lieferketten offen. Und kleine Unternehmen, wie auch Everlane, gehen noch weiter. Ein Unterfangen, das nicht immer einfach ist. +Da kann man noch so genau die Etiketten studieren – vieles über die Produktionsbedingungen erfährt man dort nicht. Auch die Kennzeichnung "Made in" kann irreführend sein: Sie gibt nämlich nicht das Herkunftsland eines Kleidungsstücks an, sondern den Ort, an dem es hauptsächlich zusammengesetzt wurde +Weil es selbst für Unternehmer schwierig ist, ihre Lieferkette komplett zu kennen, gibt es Initiativen wie die gemeinnützige Fair Wear Foundation (FWF), die von Einzelhandelsverbänden, Lieferanten, Gewerkschaften und nichtstaatlichen Organisationen aus dem Bekleidungssektor als Stiftung gegründet wurde. Hersteller, die dort Mitglied werden, verpflichten sich, Richtlinien wie freie Arbeitswahl, die Zahlung existenzsichernder Löhne und angemessene Arbeitszeiten einzuhalten. Die FWF berichtet dann öffentlich über deren Einhaltung. "Nur wenn Unternehmen wissen, wo ihre Produkte hergestellt werden, können sie dort auch Einfluss auf die Arbeitsbedingungen nehmen", sagt Vera Köppen, die deutsche Repräsentantin der Fair Wear Foundation. +Das Schweizer Unternehmen QWSTION stellt langlebige Taschen – meist aus Biobaumwolle und vegetabil gegerbtem Leder – her mit dem Anspruch, jeden Schritt der Produktion in China zu kennen. Am Beispiel des Innenfutters einer Laptoptasche erlebten die Gründer, wie schnell die Produktion auch für sie selbst unüberschaubar wird. "Wir hatten eine diagonale Ziernaht vorgesehen", sagt einer von ihnen, der Industriedesigner Christian Kaegi. "Als wir die Fabrik in China besuchten, um zu sehen, wie die Produktion läuft, erfuhren wir eher beiläufig, dass die Produktion des Innenfutters an eine externe Näherei vergeben wurde." Eine nicht zertifizierte, bei der nicht bekannt war, ob die Arbeiter so auskömmlich bezahlt wurden, ihr Arbeitsplatz so sicher und die Arbeitstage nur so lang waren, wie das Schweizer Unternehmen es sich wünschte. Auf Nachfrage erklärte die zertifizierte Fabrik, dass die Näherinnen für eine diagonale Naht schlicht zu lange brauchten. QWSTION korrigierte das Design – die Naht verläuft nun horizontal –, und der Auftrag wurde wieder intern erledigt. +Bei Everlane wird nicht nur angegeben, in welcher Fabrik welches Kleidungsstück gefertigt wurde. Wer will, gewinnt auch einen Einblick in die dortigen Arbeitsbedingungen und die Herkunft der Rohstoffe. Beziehungspflege, so vermitteln die Texte auf der Webseite, ist dabei von entscheidender Bedeutung: Zwar hat das Label seinen Sitz in San Francisco, aber Mitarbeiter besuchen regelmäßig die Fabriken in Asien und sprechen mit den Besitzern und Nähern dort. Außerdem legt Everlane die Kosten offen, die bei der Produktion eines Kleidungsstücks entstehen, genau wie die Marge, die das Unternehmen aufschlägt, um Gewinn machen zu können. +Noch radikaler geht der belgische Designer Bruno Pieters vor. Nachdem er einige Jahre als Designer der Marke HUGO des deutschen Modekonzerns Hugo Boss gearbeitet hatte, kündigte er und gründete sein eigenes Label: Honest by. Unter diesem Namen produziert er nun Kleinstkollektionen mit befreundeten Designern. Aktuell gibt es in Zusammenarbeit mit On the Moon zum Beispiel eine Kollektion von Schlafbekleidung und Morgenmänteln aus hochwertiger Baumwolle. +Dabei legt Pieters alles offen: dass die Baumwollgarne von der Schweizer Spinnerei Hermann Bühler stammen, sie bei Hausammann + Moos, ebenfalls in der Schweiz, gefärbt wurden, Obermaterial wie Futterstoff mit dem Siegel OEKO-TEX zertifiziert sind, die Knöpfe aus Ecuador stammen, von dem Hersteller MABO, das Rohmaterial des Nähgarns aus China stammt und in dem bulgarischen Werk des Herstellers Coats zu Nähgarn verarbeitet wurde, ja selbst dass die Sicherheitsnadel, mit der das Etikett befestigt ist, nickelfrei ist und von dem deutschen Händler Rayher Hobby stammt. "Mode kann ein Werkzeug für Mainstream-Design sein und für kommerziellen Erfolg", sagt Bruno Pieters, "und sie kann ein Werkzeug des Wandels sein. Dafür habe ich mich entschieden." +Dass mehr Marken so offen kommunizieren wie Everlane, Honest by und QWSTION, ist nach Ansicht von Vera Köppen von der Fear Wear Foundation wichtig, auch für die Kunden. "Für Konsumenten wird so besser nachvollziehbar, wie die Lieferketten der Produkte aufgebaut sind, vor welchen Herausforderungen die Unternehmen und ihre Lieferanten stehen und worauf sie als Konsumenten achten können", sagt sie. In Zeiten, in denen jeder, der will, nachvollziehen kann, welche Henne sein Frühstücksei gelegt hat, erscheint das Leuten wie Vera Köppen längst überfällig. Bisher sind überwiegend noch die Ästhetik und der Preis bestimmend für die meisten Kaufentscheidungen in der Mode, nicht die ökologische und soziale Verträglichkeit des Produkts. +Doch möglicherweise deutet sich am Beispiel von Everlane das Umdenken der Konsumenten an: Nach Aussagen von Marktexperten erzielte das kalifornische Unternehmen 2015 einen Umsatz von rund 50 Millionen Dollar; für 2016 rechneten die Experten bereits mit einer Verdoppelung. diff --git a/fluter/radikalisierte-jugendliche-in-frankreich.txt b/fluter/radikalisierte-jugendliche-in-frankreich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..eb38100d6e61de88d008cc5d47b88030d000f036 --- /dev/null +++ b/fluter/radikalisierte-jugendliche-in-frankreich.txt @@ -0,0 +1,44 @@ +fluter: Seit den Jugendkrawallen 2005 kennt alle Welt das Wort "Banlieue" als Inbegriff einer tristen Vorstadt, in der die Menschen kriminell werden, weil sie sonst keine Perspektive haben. Sie lehnen den Begriff ab. Warum? +N'Sondé: Weil das Wort "Banlieue" ursprünglich alle Viertel außerhalb der Stadt bezeichnet, auch die wohlhabenderen. Heute aber meint man damit etwas anderes: das arme Viertel, in dem Personen mit Migrationshintergrund leben. Schwarze, Araber, sichtbare Minderheiten. Deswegen ist mir das Wort zu wenig trennscharf. Es leben ja rund zehn Millionen Menschen rings um Paris, es gibt auch viele gute Viertel außerhalb der Stadt. +Sie sind selbst in den 1970er- und 1980er-Jahren in der Vorstadtsiedlung Le Mée, im Südosten von Paris, aufgewachsen. War die Stimmung dort so, wie Sie es in Ihrem Roman beschreiben – also voller Stress und Gewalt? +Ja, es wurde dort gedealt, die Samstagabendpartys endeten oft mit Schlägereien. Aber das Schlimmste war eigentlich die Langeweile. Das Kino war eine halbe Stunde Fußweg entfernt. Wir hatten aber eh kein Geld dafür. Es gab einfach nichts zu tun. +Ist diese Langeweile, diese große Leere im Leben, auch heute noch ein Grund für die hohe Kriminalität in diesen Vierteln? +Die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich spielt eine große Rolle dabei. Die Folge davon sind Armut und Perspektivlosigkeit. Es ist ein Gefühl, wie nicht zu existieren, niemand zu sein. Es ist ziemlich schlimm, wenn man jung ist und nicht genügend Geld hat, um an einer kapitalistischen Gesellschaft teilzuhaben, in der alles Geld kostet. +Wie kann man die abgehängten Jugendlichen wieder mitnehmen in eine bessere Zukunft? +Man muss ihnen zeigen, dass sie etwas wert sind. Damit kann man viel bewegen. Man muss sich für sie interessieren, sie fragen: "Wer bist du?", und: "Was hast du zu sagen?". Man muss ihnen klarmachen, dass sie kein Dreck sind. +Mittlerweile werden die riesigen Hochhausriegel der 1960er-Jahre zum Teil wieder abgerissen und durch kleinere, offenere Bauten ersetzt. +Die Stadtplaner von damals haben sich geirrt. Ursprünglich waren die Hochhäuser eine gute Idee, ein schneller Ersatz für die Slums, in denen die Migranten zunächst hausten. Aber vieles hat man nicht richtig bedacht: Verkehrsmittel, Parkplätze, Sportanlagen für die Kinder. Auch dass sich Probleme verschärfen, wenn es keine Durchmischung mit der Mehrheitsgesellschaft gibt. Man darf keine Gettos mehr schaffen. +Das war ein Anschlag auf die Art, wie wir leben, hieß es nach den Pariser Attentaten vom November 2015 oft. Gemeint waren damit Toleranz und Freiheit. Aber ist das Leben in Frankreich nicht auch durch extreme soziale Gegensätze geprägt? Hier die Elite und dort die Abgehängten. +Diese Kluft gibt es. Menschen mit dunkler Hautfarbe werden zum Beispiel bei Polizeikontrollen oder Bewerbungen diskriminiert. Neulich wollte ich meinen Ausweis verlängern und fragte einen Beamten, ob ich bei ihm richtig sei. Er hat mich gefragt, ob ich Franzose sei. Das hatte aber mit meiner Frage gar nichts zu tun. Ich habe mich dann mit ihm gestritten. +Das heißt, die weiße Mehrheitsgesellschaft akzeptiert Sie immer noch nicht als echten Franzosen, weil Sie schwarz sind? +So hart würde ich das nicht sagen. Aber es gibt immer noch zu viele, die nicht verstehen, dass Franzosen heutzutage alle Gesichter der Welt haben können. +Eine Weigerung, die ja angesichts der Kolonialgeschichte paradox ist. Denn dazu gehört auch, dass schwarze Menschen aus den Kolonien nach Europa verschleppt wurden und bereits im Ersten Weltkrieg aufseiten der Franzosen gekämpft haben. +Schon mein Großvater war Franzose, meine Onkel waren Fallschirmspringer in der französischen Armee. Unsere gemeinsame Geschichte ist alt, sie hat schreckliche Seiten wie die Gräuel der Kolonialzeit, aber auch positive. Frankreich hat geholfen, Nazideutschland zu besiegen. Damals waren in seiner Armee Schwarze, Araber und Muslime. Das vergessen die Menschen heute leicht. +Wilfried N'Sondé führt durch sein Viertel. Ein Gang durch die schmalen Straßen, Gewusel. In einer Gasse werden Rinderbeine entladen. N'Sondé zeigt hierhin und dorthin, erklärt: "Die Pakistaner verkaufen Erdnüsse, Frauen aus Zentralafrika Nsafu-Früchte. Algerier und Marokkaner bieten hintendurchs Bahnhofsgitter illegale Zigaretten an. "Wenn die Polizei kommt", sagt N'Sondé, "hauen alle ab." +In Ihrem Debütroman wird ein Junge vom Kleinkriminellen zum Nachwuchsterroristen. Warum radikalisieren sich so viele junge Menschen in Frankreich? +Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Das Problem ist neu und komplex. Wir müssen uns Zeit nehmen. All jene, die schnelle Lösungen anbieten, etwa, dass das ein Problem des Islam sei, machen es sich viel zu einfach. +Aber stimmt das denn nicht? Die Pariser Attentäter hatten alle einen arabischen beziehungsweise muslimischen Hintergrund. Sie riefen bei ihren Taten "Allahu akbar" und beriefen sich auf den Koran. +Sehen Sie, wenn wir beide uns zusammentun und morgen im Namen des Christentums Leute in die Luft sprengen – ist das dann ein Problem aller Christen? So viele Muslime sahen sich genötigt, sich nach den Anschlägen zu rechtfertigen, dabei hatten sie mit diesen Verbrechern überhaupt nichts zu tun. +Etwa 10.500 Menschen gelten in Frankreich als "Gefährder", die meisten von ihnen sollen islamistischen Bewegungen angehören oder in Kontakt zu ihnen stehen. +Wie viele Millionen Moslems gibt es in Frankreich? Wie viele von ihnen radikalisieren sich nicht? Millionen. Selbst wenn es 10.000 Leute sind, die radikalisiert sind, ist es immer noch eine krasse Minderheit. Wir führen die falschen Diskussionen. Ein Beispiel: Die gewaltsamen Jugendproteste 2005 in Frankreich – wie viele Mädchen waren da dabei? Wahrscheinlich nur ein paar wenige. Genau. Es ist ein geschlechtsspezifisches Problem! Junge Männer in einem gewissen Alter machen Probleme. Es ist so naheliegend. Aber bisher hat das niemand in die Diskussion eingeführt. Kein Einziger. Das sagt schon sehr viel aus. +Reicht ein strenger Vater wie in Ihrem Fall, um nicht auf die schiefe Bahn zu kommen? +Es hilft auf jeden Fall. Im Ernst: Mit den Vätern müssen wir auch reden. In Berlin klagte mir ein Vater sein Leid: "Mein Sohn kriegt doch alles, was er will. Warum stellt er nur so viel an?" Er kam gar nicht darauf, dass es vielleicht viel wichtiger wäre, nicht immer weg zu sein. Dem Sohn zu sagen und vor allem zu zeigen, wie man gut durchs Leben geht, statt ihm alles zu kaufen, was er will. +Müssen das Problem also die Elternhäuser lösen? Oder die Streetworker? +Wir alle müssen dazu beitragen. Ich, Sie. Die Lehrer. Die Medien. Die französische Gesellschaft. Es sind nicht nur diejenigen interessant, die am lautesten schreien oder besonders cool tun. Alle gehören dazu, das müssen wir viel mehr betonen. Auch die Jugendlichen aus den Vorstädten selber im Übrigen. Sie fühlen sich nicht als Franzosen – aber sie sind es doch! Sie sollten etwas daraus machen. +Sie selbst haben es aus der Vorstadt geschafft, haben an der Sorbonne Politik studiert, sind erfolgreicher Schriftsteller. Ist Frankreich also eine durchlässige Gesellschaft? +Nicht in allen Bereichen. Die Politik ist ein geschlossener Raum. Die französischen Politiker kommen fast alle aus derselben Eliteschule, der École Nationale d'Administration (ENA; siehe Artikel "Bleib doch sitzen" aus dem Heft Seite 49). In anderen Gebieten ist es schwierig, aber nicht unmöglich, sich aus einer unteren sozialen Schicht hochzuarbeiten. Ingenieur kann jeder werden, der gut ist in der Schule. +Mittagessen im knallgelb gestrichenen Restaurant "Francis Labutte" ein Stück weiter im schicken Viertel Clignancourt. Hier gibt es keine Straßenhändler, keine Dealer an der Ecke. Ein paar Straßen weg, eine andere Welt. Abends ist Wilfried N'Sondé noch auf einen Empfang der Autorengilde eingeladen. Als Schriftsteller in Frankreich, sagt N'Sondé, "da ist man wer". Von den Freunden von früher aber seien ihm nur einige wenige geblieben. Als er von den Lesetouren erzählte, den Auslandsreisen und feinen Hotels, fragten ihn manche: "Gibst du jetzt an?" +Heute leben Sie mitten in Paris. Als junger Mann aber gingen Sie ins Exil nach Deutschland, erst 2015 kehrten Sie zurück. Warum? +Es war damals nicht so leicht, als schwarzer Franzose in Paris einen Mietvertrag zu bekommen. In Berlin war das einfacher. Dort war ich kein Schwarzer, sondern Pariser. Das war gleich etwas anderes. +Und heute? Spielt die Hautfarbe noch eine Rolle bei der Wohnungssuche? +Es ist nicht mehr so schlimm. In manchen besseren Vierteln ist es aber noch das Gleiche. Es sei denn, man hat sehr, sehr viel Geld. Dann öffnen sich eh alle Türen … +Verläuft die Grenze also eher zwischen oben und unten und weniger zwischen den Hautfarben? +Vielleicht leben wir in einer Welt, in der die Herkunft erst keine Rolle mehr spielt, wenn du reich bist und Erfolg hast. Franck Ribéry, einer der Stars von Bayern München, ist Moslem, aber keinen Arsch interessiert's. Zidane? Ich nehme an, er ist Moslem. Als Jugendlicher im Armenviertel von Marseille war er noch ein Araber. Jetzt ist er nur noch: Zidane. +Égalité, die Gleichheit, ist einer der Grundpfeiler der französischen Republik. Doch der Front National von Marine Le Pen kratzt an der Macht. Warum denken so viele Franzosen, sie wären gleicher als andere? +Der FN sagt: Die Franzosen zuerst. Das ganze Land versteht: Dunkelhäutige und Araber raus. Sie tun so, als seien die keine Franzosen, obwohl sie einen Pass haben. +Ihre Familie wurde 1982 eingebürgert, unter der Regierung von François Mitterrand. Seitdem sind Ihre Eltern treue Wähler der Linken. Ist das auch am Ende der Amtszeit von Präsident Hollande noch so? +Stellen Sie sich vor, mein Vater, ein alter Linker, hat tatsächlich überlegt, den Front National zu wählen. Der FN war die einzige Partei in Frankreich, die die kongolesische Opposition ins EU-Parlament nach Brüssel eingeladen hat. Mein Vater wird sicher wieder seine Sozialisten wählen, aber allein sein Gedankenspiel hat mich schockiert. +Was erwartet Frankreichs Jugend nach der Wahl? +Ich fürchte, es wird sich nicht viel tun. Ich sehe keinen Hoffnungsträger, keinen einzigen unter all den Kandidaten. Jemanden, der sagt, dass wir vielleicht am Ende gar nicht glücklicher werden, wenn wir nur immer mehr besitzen. Wir brauchen eine Vision, ein gemeinsames Projekt, an dem viele teilnehmen können. Halten Sie mich für naiv, aber ich glaube an die Menschheit. Vor 75 Jahren haben sich Deutsche und Franzosen gegenseitig umgebracht. Heute sitzen wir hier, beste Freunde. +Lange noch wird diskutiert auf der überdachten Außenterrasse des Restaurants: über Globalisierung, Demokratie, das Leben. Der Kellner hat den Heizstrahler angemacht. Am Ecktisch sitzt einer, raucht, trinkt Bier und liest in seinem Buch. Die Studentinnen aus dem Viertel sind da, reden, lachen. "Wir müssten viel stolzer sein auf das, was wir schon erreicht haben", sagt Wilfried N'Sondé und zeigt nach draußen zur vollen Kreuzung. Mütter mit Kinderwagen. Mopeds. Küsschen, Umarmungen. Eine wunderbare Pariser Abendstimmung macht sich breit. Die Nacht ist jung, die Welt keine schlechte, ihre Probleme scheinen weit weg. Und am nächsten Morgen geht ein Mann ins Shoppingcenter am Louvre, er schwingt zwei Macheten und ruft "Allahu akbar". +Wilfried N'Sondé wurde 1969 in der heutigen Republik Kongo geboren. 1973 siedelte seine Familie in einen Pariser Vorort über. Lange lebte er in Berlin, wo er mit sozial benachteiligten Jugendlichen arbeitete. diff --git a/fluter/radikalisierung-im-gefaengnis.txt b/fluter/radikalisierung-im-gefaengnis.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6aedd634bd6445af4800e69883be565f5b3d1079 --- /dev/null +++ b/fluter/radikalisierung-im-gefaengnis.txt @@ -0,0 +1,40 @@ +Wie kam das? +Meine Familie stammt aus dem Libanon. Als ich vier war, sind wir nach Deutschland. In der Grundschule hatte ich große Probleme mit der Sprache. Mit den Lehrern kam ich nicht klar und mit den anderen Kindern auch nicht. Wenn die auf Klassenfahrt waren, musste ich zu Hause bleiben: Weil ich keine Papiere hatte und meine Identität "ungeklärt" war, durfte ich die Stadt nicht verlassen. Ich hatte immer das Gefühl, nicht dazuzugehören. Später dann beim Arbeitsamt wurde mir eine Ausbildung verwehrt. Irgendwann hab ich mir gesagt: Geh ich eben meinen eigenen Weg. +In Haft begannen Sie sich für den Islam zu interessieren. Warum? +Als Kind besuchte ich zwar oft die Moschee, aber ich konnte mich nur noch an die Ohrfeigen erinnern und dass man kein Schweinefleisch essen darf. Im Gefängnis habe ich einen jungen Afghanen kennengelernt, der eine krasse Ruhe ausgestrahlt hat. Er war hilfsbereit, freundlich und furchtlos. Er sagte, die Menschen könnten ihm nichts anhaben: "Mach dir lieber Gedanken über das Leben nach dem Tod – dann kommt die richtige Strafe!" + + +Klingt eher nicht beruhigend. +Mich hat es beeindruckt. Von da an blieb ich die meiste Zeit in meinem Haftraum und betete um Verzeihung. Mit den anderen Inhaftierten wollte ich nichts zu tun haben. Ich habe keine Drogen genommen, mich nicht geprügelt. Schon damit erregt man in einem Gefängnis Aufmerksamkeit. Und ich ließ mir einen Bart wachsen. +Für die Justizbeamten waren Sie ein potenzieller Dschihadist. +Klar, für mich gab es ja nur noch die Religion, etwas anderes wollte ich nicht mehr hören. Das Problem war: Mein afghanischer Freund wurde sehr bald abgeschoben, und von den anderen Inhaftierten konnte ich nur bruchstückhafte Infos kriegen. Ich hab die ganze Zeit nach Quellen gesucht: Was sagt der Koran? Was darf ich als Gläubiger? Was nicht? Ich bin sogar zum Gefängnispastor gelaufen, aber der meinte, er könne mir nicht helfen. +Irgendwann durften Sie einen Islamkurs des Violence Prevention Network besuchen. +Das war eigentlich ein Antigewalttraining. Der Trainer, Thomas Mücke, kannte sich aber extrem gut mit dem Islam aus. Ich hatte mich schon oft für solche Kurse beworben, damit ich früher rauskomme, aber immer Absagen kassiert, weil ich ja als Gefährder galt. Mücke hatte all das Wissen, das ich suchte: über den Propheten, über Regeln, über den Koran. Ich dachte: Der ist doch ein Moslem, der traut es sich nur nicht zu sagen! Je mehr ich gelernt habe, desto weniger Hass hatte ich in mir. + + + +Was, wenn Sie zu diesem Zeitpunkt jemand anderen getroffen hätten? Hätten Sie sich vielleicht radikalisiert? +Aber zu hundert Prozent! Einen sinnsuchenden Inhaftierten müssen Sie sich vorstellen wie einen Schwamm, der alles aufsaugt. Hätte ich jemanden getroffen, der mir eine gefährliche Ideologie beigebracht hätte, sie wäre eingeschlagen wie eine Bombe. Ich war voller Wut und gab allen die Schuld an meinem Leid: dem System, den Beamten, dem Staat. Nur nicht mir selbst. +Heute sind Sie Deradikalisierungstrainer. Was macht man da? +Am Anfang erzähle ich viel von mir. Oft sind die Inhaftierten skeptisch und fragen nach meinem Aktenzeichen: Sie wollen überprüfen, ob ich lüge. Viele glauben ja, dass man jede Chance verspielt hat, sobald man einmal im Gefängnis saß. Wenn sie dann meine Biografie hören, sind sie überrascht. Das ist ein guter Moment, um sie für bestimmte Themen zu sensibilisieren. + + +Wie geht das? +Ein wichtiger Begriff ist zum Beispiel der der Ehre. Ich selbst hatte durch meinen Vater ein völlig verqueres Bild davon. Hätte er zu mir gesagt "Du musst für die Ehre unserer Familie deine Schwester töten", ich hätte nicht gezögert. Ehrenmorde haben aber nichts mit Religion, sondern mit einer menschenverachtenden und fürchterlich toxischen Tradition zu tun. Die Inhaftierten müssen erkennen, dass das, was sie irgendwo über Religion gehört haben, und das, was der Koran sagt, womöglich zwei ganz verschiedene Dinge sind. +Wie stehen die Chancen für eine Deradikalisierung? +Es dauert ein bisschen, aber meistens klappt es. +Wie oft treffen Sie Inhaftierte zu diesem Zweck? +Das hängt ganz vom Bedarf ab. Manche Inhaftierte treffe ich einmal in der Woche. Wenn die Gespräche fruchten, was man zum Beispiel am Respekt gegenüber Frauen oder den Beamten sieht, reduzieren wir. +In manchen Medien klingen JVAs wie die reinsten Brutstätten für Islamisten. Die Forschung ist sich da nicht so sicher. Wie groß schätzen Sie das Risiko ein, dass ein Extremist in den Knast geht und fünf wieder herauskommen? +Was ich aus meiner Erfahrung sagen kann: Wenn man Menschen einsperrt, dann fühlen sie sich bedrängt. Viele denken dann an das Jenseits, als gäbe es keinen anderen Ausweg aus ihrer Misere. Wenn man ihr Verlangen nach Wissen darüber nicht befriedigt, dann gehen sie zum nächstbesten Inhaftierten und fragen den. + + +Rein biografisch betrachtet nicht unbedingt der beste Einfluss. +Richtig. Viele hassen den Staat. Manche muslimische Inhaftierte denken sich: Wollte der Staat uns wirklich helfen, würde er Imame zu uns lassen. Dazu kommt, dass viele nach etwas suchen, mit dem sie ihrem Leben trotz aller Verfehlungen Sinn geben können. Also ja: Die Gefahr der Radikalisierung ist sicher da. +Was müsste im Strafvollzug anders sein, damit diese Gefahr sinkt? +Meiner Meinung nach sollten wir mehr fundiertes Wissen über Geschichte, Politik und den Islam anbieten. In jeder Anstalt gibt es einen Pastor. Warum nicht auch einen Imam? Vielerorts fehlt es anmuslimischer Seelsorge. +Wenn von Radikalisierung die Rede ist, denken viele als erstes an religiöse Radikalisierung. Welche Rolle spielt politischer Extremismus im Knast? +Eine große. Ich selbst habe damit wenig Erfahrung gemacht, was ich aber von meinen Kollegen weiß, ist: Die Arbeit ist praktisch identisch. Der Moslem denkt: Mein Gott ist der wahre Gott. DerRechtsextremist denkt:Mein Land ist das wahre Land, meine Rasse ist die wahre Rasse. Bei jeder Art von Extremismus gilt es, eine Verunsicherung auszulösen. Aber nicht durch eine konfrontative Diskussion. Man sollte sachte Gedanken anstoßen, die sich eine Person sonst nicht gemacht hätte. + +Hamid Aydin, 33, arbeitet für die NGOViolence Prevention Network, das u.a. vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und vom Bundesministerium des Innern gefördert wird. Aydin betreut Inhaftierte in 18 JVAs. +*Name von der Redaktion geändert diff --git a/fluter/radikalisierung-streetwork-internet.txt b/fluter/radikalisierung-streetwork-internet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9be8f9df7213cccb180f016a38eb80bca9e0c089 --- /dev/null +++ b/fluter/radikalisierung-streetwork-internet.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Insgesamt 18 "Fokusgruppen" haben Günther und seine Kollegen und Kolleginnen identifiziert. Daneben beobachten sie auch ein Dutzend Instagram-Profile. Allein was in den 18 Facebook-Gruppen geteilt wird, erreicht mehr als eine Million User – zum größten Teil junge Menschen, darunter viele Teenager, die noch mitten in der Pubertät stecken. Die Gruppe also, die laut Sozialpsychologen am anfälligsten für extremistische Ideen ist und die durch falsches Handeln oft erst in die Radikalität getrieben wird. +Felix Günther geht erst mal sehr behutsam vor: Er sucht das Gespräch, auch mit Jugendlichen, die außerhalb ihrer Community schon als radikalisiert gelten. "Mein oberstes Gebot ist es, wertfrei zu kommunizieren." Also zuhören und ermutigen, statt zu kritisieren oder zu diskutieren. Nur so bestehe die Chance, Vertrauen aufzubauen, sagt Günther und lächelt. Dann beginnt er, Djamila eine Nachricht zu schreiben. +Günther und seine sechs Kollegen und Kolleginnen betreiben sogenannte aufsuchende Sozialarbeit – nur dass sie dafür nicht an Schulen, in Jugendclubs oder Moscheen gehen, sondern sich in den Sozialen Medien umschauen. Das Modellprojekt des Düsseldorfer Trägers AVP e. V., das die Landeskommission Berlin gegen Gewalt seit Oktober 2017 fördert, heißtstreetwork@online. Es ist bundesweit eines der ersten Präventionsprojekte, die sich auf Online-Radikalisierung konzentrieren. "Wir mussten bei null beginnen", erzählt Projektleiterin Sonja Ebert*. Die 37-jährige Islamwissenschaftlerin verhehlt nicht, dass es viel Zeit kostet, sich im Netz die nötige Glaubwürdigkeit aufzubauen. +Dazu gehört, dass man die sprachlichen, theologischen und popkulturellen Codes der Szene kennt und beherrscht. Außerdem braucht man ein Verständnis dafür, wie sich Gläubige auf Arabisch anreden oder welche Vorstellungen vom Diesseits und Jenseits an die Begriffe dunya und achira geknüpft sind. Man sollte auch schon mal davon gehört haben, dass die Lieder, mit denen der sogenannte Islamische Staat gern seine Propagandavideos untermalt, Naschids heißen und bei manchen Jugendlichen äußerst beliebt sind. "Heute sind wir Teil der Community", freut sich Ebert. Sie macht das auch daran fest, dass sich mittlerweile regelmäßig junge Frauen mit Fragen an streetwork@online wenden. In bestimmten Familien spielen traditionelle Geschlechterrollen eine große Rolle, weiß Ebert aus ihrer eigenen Zeit als aktive Online-Streetworkerin. Viele junge Frauen sind verunsichert, wie sie ihre Religion leben sollen, oder haben Angst, zu Hause oder im Freundeskreis anzuecken. "Diese Frauen im Gespräch in ihrer Identität zu bestärken oder notfalls an eine Beratungsstelle weiterzuvermitteln sehen wir als Erfolg." +Dass Jugendliche im Netz gegen extremistische Propaganda gestärkt werden sollen, hat die Bundesregierung 2016 in ihrerStrategie zur Extremismusprävention und Demokratieförderungzum Ziel erklärt. Mittlerweile schlägt sich das auch langsam in den Projektzahlen nieder. Über das Bundesprogramm "Demokratie leben!" fördert der Bund seit Anfang des Jahres zehn Präven­tionsprojekte "mit explizitem Netzbezug", wie ein Sprecher des zuständigen Familienministeriums mitteilt. Das ist fast jedes dritte der geförderten Präventionsprojekte. Auch bei dem zweiten großen Bundesprogramm der Regierung, "Zusammenhalt durch Teilhabe", das vorrangig Vereine in ländlichen Regionen unterstützt, wächst der Bedarf an online verfügbaren Beratungs- und Bildungsangeboten. +Felix Günther von streetwork@online weiß um die Grenzen seiner Arbeit. Allein personell: Auf Facebook finden viele Debatten erst abends oder nachts statt. "Bei sechs halben Stellen ist klar, dass wir nicht immer unmittelbar reagieren können", so Günther. Größere Sorgen mache ihm jedoch, dass die jüngeren Teenager inzwischen ganz anders kommunizieren. Auf TikTok oder Snapchat werde viel gepostet, aber kaum kommentiert. "Da müssten wir erst eine Strategie entwickeln." +"In ein paar Jahren ist unsere Zielgruppe vielleicht schon auf ganz neuen Kanälen", ergänzt der Streetworker. Schon heute treffen sich die radikalisierten Jugendlichen eher in Messenger-Chats wie Telegram. Und dort wollen sie unter sich bleiben. "Ein paar Monate haben wir probiert, dort Fuß zu fassen", erinnert sich Günther. "Aber immer, wenn wir ins Gespräch gehen wollten, sind wir sofort aus der Gruppe geflogen." In den Facebook-Gruppen ist das den digitalen Streetworkern noch nicht passiert. Manchmal bekommen sie sogar Likes für ihre Antworten. Oder, wie von Djamila, einen Smiley. +*Aus Sicherheitsgründen wurden die Namen der Streetworker und von Djamila geändert. + diff --git a/fluter/radio-begum-fm-afghanistan.txt b/fluter/radio-begum-fm-afghanistan.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..45165a7ec89e9c1e5ab8b0dfea04e9fb722af74c --- /dev/null +++ b/fluter/radio-begum-fm-afghanistan.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Laut"Reporter ohne Grenzen"wurden rund 60 Prozent aller afghanischen Journalistinnen und Journalisten bis Ende November 2021 arbeitslos. Vor allem Frauen wurden aus den Medien gedrängt, von ihnen seien mittlerweile 84 Prozent ohne Arbeit. Einen Monat nach der Machtübernahme sprach Aman mit den Taliban, bat sie, weitersenden zu dürfen. Jetzt ist Radio Begum nach eigener Auskunft der einzige Radiosender Afghanistans, der von Frauen betrieben wird – und einer der wenigen überhaupt, die noch senden. "Wir durften weiterarbeiten, weil unser Fokus nicht auf Nachrichten liegt", sagt sie. Der Schwerpunkt des Senders liege auf Bildung und Aufklärung, weniger auf Politik und aktuellen Geschehnissen. Aber auch Radio Begum musste sich den neuen Machthabern anpassen: "Wir mussten das Entertainment-Programm verändern", so Aman. Weniger Musik, ruhigere Musik. Auch gibt es klare Regeln: Keine Berichte über illegale Demonstrationen oder lokale Aufstände. "In Afghanistan als Journalistin zu arbeiten war noch nie einfach, jetzt ist es aber noch schwieriger geworden", sagt die Gründerin. Der öffentliche Raum sei für Frauen geschlossen, Recherchen vor Ort kompliziert. +In einem hohen Raum neben Amans Büro mit dem Bollerofen steht Sediqa Ahmadi auf einem Podest. Vor ihr: zwei Mikrofone und sechs Mädchen, die auf hohen Stühlen sitzen. Unruhig rutschen sie hin und her. Ein Techniker sitzt vor einem Bildschirm, Audiowellen zucken über den Monitor. Ahmadi ist Angestellte beim Radiosender Begum und von Anfang an dabei, seit der Gründung im März 2021. "On Air Schooling" heißt der Programmpunkt, der Mädchen von der sechsten bis zur zwölften Klasse Zugang zu Bildung ermöglichen soll. Die Schulstunden werden aufgenommen und über den Radiosender verbreitet. Heute steht Paschtuunterricht auf dem Programm. "Wie nennt man das traditionelle Reiterspiel in Afghanistan?", fragt sie in Paschtu, neben Dari eine der beiden Amtssprachen in Afghanistan. Dann übersetzt sie ihre Frage in Dari. + +Ein Mädchen mit rotem Kopftuch streckt ihren Finger in die Luft. "Buzkaschi, Buzkaschi", sagt sie. Ahmadi nickt, das Mädchen rutscht von seinem hohen Stuhl und spricht seine Antwort auf Paschtu in das Mikrofon. Buzkaschi ist eine Sportart, bei der 20 oder mehr Reiter versuchen, eine tote Ziege vom Boden aufzunehmen und zu einem Preisrichter zu bringen. Jeder spielt gegen jeden. Um an die Ziege zu gelangen, ist alles erlaubt. Ahmadi nickt zufrieden, der Techniker streckt den Daumen in die Luft, Aufnahme passt. +Neben der Schulstunde bietet Ahmadi Hörerinnen über das Telefon psychologische Unterstützung an. "Viele rufen bei uns an, weil sie depressiv sind", sagt Ahmadi. Frauen dürfen nicht mehr alleine nach draußen, Familien haben Schwierigkeiten, ihre Kinder zu ernähren. "Das schlägt auf die Psyche", fügt sie hinzu. Die studierte Psychologin möchte mit der Telefonsprechstunde Abhilfe schaffen. Seit der Machtübernahme der Taliban hätten sich diese Anrufe gehäuft, 60 bis 70 Prozent mehr Frauen würden sich mit Depressionen an den Radiosender wenden, so Ahmadi. "Wenn die Taliban die Frauen in Afghanistan weiterhin so stark einschränken, werden die psychischen Probleme vor allem in der weiblichen Bevölkerung stark zunehmen", prognostiziert Ahmadi. Sie ist sich sicher: "Als Psychologin werde ich in Afghanistan noch viel Arbeit haben – auch ohne Radio." +In einem Aufnahmestudio sitzt Saba Chaman hinter einem schmalen Tisch, schalldämmende Holzvertäfelung an den Wänden, ein Mikrofon hängt von der Decke. Chaman spricht ruhig und bedacht, jedes Wort legt sie sich zurecht. Sie ist seit knapp einem Jahr Direktorin bei Radio Begum. Früher, sagt sie, wollte sie nur aus persönlichem Interesse Journalistin werden, inzwischen sei es eine öffentliche Aufgabe – mit großer Verantwortung. "Wir können es uns nicht leisten, eine neue Generation von Extremisten heranzuziehen", sagt sie. Wer Extremisten heranziehe, bringe jeden in Gefahr. Daher fordert sie: Die internationale Gemeinschaft solle den Menschen in Afghanistan zur Seite stehen und die Taliban nicht als Regierung in Afghanistan anerkennen. "Wir haben genug gelitten", sagt Chaman. Sie befürchtet, dass die politische Situation in Afghanistan sich verschlechtern wird. Sollte die internationale Gemeinschaft die Taliban anerkennen, werden sie sich verändern. "Dann nehmen sie uns die restlichen Freiheiten weg." +Ende April 2021 begann der offizielle Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan. In der Folgezeit eroberten die Taliban fast das gesamte Land zurück und rückten am 15. August 2021 in die Hauptstadt Kabul vor. Nach der Machtübernahme der Taliban zogen alle westlichen Staaten ihr Botschaftspersonal aus Afghanistan ab, bis heute hat kein Staat die islamistische Regierung als legitim anerkannt. Deutschland, so steht es im Koalitionsvertrag, wird eine mögliche Anerkennung der Regierung in Afghanistan unter anderem an die Bewahrung der Menschenrechte vor Ort knüpfen. Für die völkerrechtliche Anerkennung von Staaten oder Regierungen wie etwa in Afghanistan gibt es kein formalisiertes Verfahren. +Auch Ziauddin Bakhtyar ist sicher, dass sich die Situation für die Medien in Afghanistan weiter stark verändern wird, wenn die Taliban anerkannt werden. Der 37-Jährige ist einer der wenigen männlichen Angestellten bei Radio Begum. Seit 2004 arbeitet Bakhtyar in der afghanischen Medienlandschaft. "Der Medienboom in Afghanistan, den wir die vergangenen 20 Jahre erlebt haben, kam durch die Machtübernahme der Taliban zu einem abrupten Ende", sagt er. 50 Prozent aller Radiostationen mussten schließen, viele Journalistinnen sind geflohen. Zwar haben sich die Taliban verändert, inzwischen dürfen etwa Frauen mit männlicher Begleitung auf die Straße, aber, so Bakhtyar: "Es ist schwierig abzuschätzen, was die Taliban versprechen und was sie am Ende umsetzen. Wir können diesen Leuten nicht vertrauen." Er befürchtet indirekte Repressionen durch die neuen Machthaber: Steuern für Medienunternehmen oder Akkreditierungen, die es nur noch bestimmten Journalisten ermöglichen, an Presseinformationen zu gelangen. +Ein weiteres Problem sind die mangelnden Einnahmequellen für Radiosender wie Begum. "Unsere Hauptsorge sind nicht mehr die Taliban, sondern die fehlenden Einkommensmöglichkeiten", sagt Hamida Aman, die Radiogründerin. Vor der Machtübernahme spülte Werbung von Verlagen, Nahrungsmittelkonzernen oder Banken Geld in die Kassen. "Damit konnten wir wenigstens Teile der Ausgaben decken." Inzwischen zahle sie den laufenden Betrieb des Radiosenders aus eigener Tasche. Lange, sagt sie, halte sie das nicht mehr durch. Dann verstumme der letzte Radiosender für Frauen in Afghanistan. Gut möglich, dass die Taliban darauf spekulieren und den Sender deshalb bislang ohne großes Aufsehen weiterlaufen lassen. diff --git a/fluter/radium-girls-cy-comic-rezension.txt b/fluter/radium-girls-cy-comic-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e3b3fa2b2330971a7adfe340d08442f7f9b09f41 --- /dev/null +++ b/fluter/radium-girls-cy-comic-rezension.txt @@ -0,0 +1,9 @@ + + +Die "Radium Girls" gab es tatsächlich. In den 1920er-Jahren erkrankten in den USA zahlreiche Arbeiterinnen in Radiumfabriken auf zunächst unerklärliche Weise: Ihre Knochen brachen, sie verloren ihre Zähne, entwickelten Tumore oder verbluteten. Als klar wurde, dass die Frauen durch die Radiumfarbe vergiftet worden waren, verklagte die damals 28-jährige Grace Fryer 1927 zusammen mit ihren KolleginnenKatherine Schaub, Edna Hussman, Quinta McDonald und Albina Lariceden ehemaligen Arbeitgeber, die U.S. Radium Corporation, auf Schadensersatz. Weil die Firma den nicht zahlen wollte, gab sie immer weitere Studien in Auftrag – im Wissen, dass die Klägerinnen nicht mehr lange leben würden. 1928 akzeptierten die Frauen einen Vergleich, aber nach und nach folgten Prozesse weiterer Betroffener gegen Radiumunternehmen und 1939 wies der Oberste Gerichtshof die letzte Berufung von deren Arbeitgebern zurück. Am Ende schrieben die "Radium Girls" durch ihr Aufbegehren Justizgeschichte: Arbeitnehmer:innen in den USA erhielten von nun an das Recht, ihren Arbeitgeber zu verklagen, wenn sie durch die Arbeit zu Schaden gekommen waren. Außerdem etablierten sich erstmals Arbeitsschutzregeln, die zum Beispiel vorschrieben, dass die Arbeiterinnen in den Radiumfabriken Schutzkleidung tragen mussten. +Sehr düster und beklemmend. Die französische Zeichnerin Cy hat sich auf wenige dunkle Farben konzentriert und nur acht Stifte beim Malen benutzt. Die Farbpalette beinhaltet hauptsächlich unterschiedliche Violett-, Blau- und Grautöne. Die einzige Farbe, die sich im Buch vom sonst so dunklen Stil abgrenzt, ist das Radiumgrün, das tatsächlich – genau wie die Heldinnen der Geschichte – im Dunkeln leuchtet. Cys Zeichenstil kommt skizzenartig und einfach daher, manchmal auch ein bisschen zu einfach: Drei der fünf Frauen ähneln sich abgesehen von ihrer Körpergröße so sehr, dass man sie mitunter schlecht auseinanderhalten kann. + + +Nachdem ein Doktor der Arbeiterin Mollie empfiehlt, den Pinsel mit der Farbe nicht mehr in den Mund zu nehmen, bespricht die Clique die Arbeit in der Fabrik. Während die anderen Frauen kein Problem sehen, entscheidet sich Mollie dazu, eine Vorarbeiterin zu fragen, ob die Farbe gefährlich sei. Die Vorarbeiterin antwortet daraufhin: "Glauben Sie wirklich, wir würden das tun, wenn wir den geringsten Zweifel hätten?" +"Radium Girls" zeigt eindrucksvoll, wie prekär die Situation für Frauen in den USA noch vor hundert Jahren war und wie wichtigder Zusammenhalt unter Beschäftigtensein kann. Allerdings reißt Cy viele Themen, die auch heute noch von Bedeutung sind, nur kurz an. Statt so viel Zeit auf die Vorgeschichte ihrer Protagonistinnen zu verwenden, wäre es interessanter gewesen, von den Folgen des Rechtsstreits zu erzählen – schließlich prägt der die Rechte US-amerikanischer Arbeitnehmer:innen bis heute. +"Radium Girls – Ihr Kampf um Gerechtigkeit" von Cy ist im Carlsen Verlag erschienen. diff --git a/fluter/rakka-nach-dem-islamismus.txt b/fluter/rakka-nach-dem-islamismus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7ae4fde8e9e175400cc6586fcd961cd65820c327 --- /dev/null +++ b/fluter/rakka-nach-dem-islamismus.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Amal hat eine Mission, die so unmöglich scheint, dass sie an manchen Tagen selbst nicht daran glaubt: Sie will die Gesellschaft im nordsyrischen Rakka wieder versöhnen, vier Jahre nachdem der selbst ernannte Islamische Staat aus der Stadt vertrieben wurde. +Zwischen Ende 2013 und 2017 war Rakka in Nordsyrien so etwas wie die Hauptstadt des Islamischen Staats,im Arabischen "Daesh" genannt.Die Bilder von Menschen in Käfigen, von öffentlichen Steinigungen, Enthauptungen und einem Video, in dem eine Geisel in orangefarbenem Overall lebendig verbrannt wird, haben sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Vor vier Jahren, am 17. Oktober 2017, eroberte die internationale Anti-IS-Koalition mithilfe kurdisch geführter Milizen die Stadt zurück. +Die 41-jährige Khod Issa Ali, rubinroter Lippenstift, Bluejeans, weiße Nike-Sneakers, erinnert sich noch genau daran, wie im Jahr 2013 kurz Hoffnung aufkeimte, weil Rakka die erste Provinzhauptstadt war, aus der die syrischen Revolutionäre das Assad-Regime vertrieben hatten. Das Bangen und die Ängste, als Ende desselben Jahres die islamistischen Milizen der Nusra-Front und des IS die Stadt eroberten, sind der jungen Frau noch sehr präsent. Erst zwangen die Islamisten alle Frauen, nur noch schwarze Kleidung zu tragen und ihre Gesichter zu verschleiern. Dann verboten sie ihnen, ohne ein männliches Familienmitglied auf die Straße zu gehen. Sie verbannten Handys, Internet und Fernsehen. Die Religion wurde zur Legitimierung, die Bevölkerung in zwei Kategorien einzuteilen: Fromme und Ungläubige. Anhänger und Abtrünnige. Ersteren versprachen die Terroristen das Paradies, den anderen drohten Folter und Tod. Khod Issas Mann galt als Ungläubiger. Er ist Kurde und musste deshalb gemeinsam mit dem kleinen Sohn aus der Stadt fliehen. Monatelang hielten sie sich in Dörfern versteckt, weil der IS gedroht hatte, alle Kurden in Rakka zu töten. +"Vor Daesh hat uns das Assad-Regime unterdrückt, aber wir Menschen haben alle friedlich zusammengelebt", sagt Khod Issa. "Es waren vor allem die Ausländer, die hier einfielen und versucht haben, uns von den Gedanken des IS zu überzeugen." Diese Geschichte erzählen viele Menschen in Rakka: Die IS-Anhänger seien aus der Türkei, Tunesien, Ägypten,Europaoder den USA nach Syrien gekommen. +Der aus Rakka stammende Intellektuelle Yassin al-Haj Saleh beschrieb das in einem Essay so: "Daesh bezeichnet sich selbst als Staat, benimmt sich aber gegenüber den Gemeinschaften unter seiner Kontrolle wie eine Kolonialmacht, ohne auch nur im Geringsten auf die Forderungen oder Bedürfnisse der Bevölkerung einzugehen." Lange Zeit dachte Khod Issa, diese Herrschaft würde nie zu Ende gehen. +Ein Grund, warum der IS schließlich doch stürzte, waren die Frauen aus Rakka. Die (mehrheitlich) kurdische Frauenmiliz YPJ half mit, den IS 2015 aus der kurdischen Stadt Kobanê zu vertreiben. Eineinhalb Jahre später kämpften Hunderte Frauen bei der Befreiung von Rakka gegen die Dschihadisten. 2018 riefen die kurdischen Kräfte hier die "Autonome Selbstverwaltung Nordostsyrien" aus, die heute rund ein Drittel des syrischen Territoriums umfasst und in der der IS verboten ist. Die neuen Machthaber wollen eine Gesellschaft, in der Geschlecht, Ethnie und Klasse keine Rolle mehr spielen. +Doch manche Bewohnerinnen und Bewohner Rakkas sind angesichts dieser Ideen skeptisch. In Wahrheit seien die Kurden nur die nächsten Fremdherrscher in der arabischen Stadt, die de facto einen Einparteienstaat etablieren. Bisweilen würden Menschen willkürlich verhaftet, denen eine Nähe zum IS vorgeworfen wird. Khod Issa aber will den Kampf weiterführen, den die kurdischen Kämpferinnen in Kobanê begonnen haben. Ihre kurdischen Freundinnen hätten ihr gezeigt, was Widerstand und Gleichberechtigung bedeuten. +Heute ist sie Frauenrechtsaktivistin bei "Zenobia", einer kleinen Organisation von Frauen aus den Städten, die vom IS befreit wurden. Ihr Ziel: die verbliebenen IS-Frauen in Syrien aufzuklären und die IS-Ideologie aus den Köpfen zu vertreiben. Sie zieht ihr Smartphone aus der Tasche undzeigt ein Bild von Frauen in schwarzen Gewändern, deren Augen nicht zu erkennen sind. "Die Männer sind in Gefängnissen, aber ihre Frauen kommen zurück und tragen die Gedanken weiter", sagt sie. "Wir veranstalten diese Treffen, um ihnen Schritt für Schritt zu erklären, dass Daesh nichts mit dem wirklichen Islam zu tun hatte. Dass Daesh ein Fake ist. Aber wir können sie zu nichts zwingen, sonst wären wir der nächste IS." +Dabei helfe ihr, dass sie im Gegensatz zu vielen IS-Anhängerinnen die Sprache der Menschen spreche. "Es hilft nichts, wenn wieder jemand von außerhalb kommt und ihnen seine Meinung überzustülpen versucht." Manche Frauen kämen Wochen später zu ihr, um sich zu bedanken. Von vielen höre sie allerdings nie wieder. Niemand kann abschätzen, wie viele IS-Anhänger sich noch in Rakka aufhalten. +Wenn man in diesen Tagen durch die Stadt spaziert, merkt man, dass eine neue Zeit angebrochen, die alte aber noch nicht ganz vergangen ist. Am Platz des Paradieses, wo einst Menschen in Käfigen vorgeführt und gekreuzigt wurden, steht heute ein bunter Schriftzug, wie man ihn aus vielen Städten kennt: I <3 Raqqa. Dahinter hat sich eine Menschenschlange vor dem neu eröffneten Nutella-Café gebildet, das mit der Nutella-Schrift an der Fassade zwischen all dem Schutt etwas fehl am Platz wirkt. +Blickt man durch Amals vergittertes Bürofenster nach draußen, sieht man vor allem zerbombte Gebäude mit weggerissenen Fassaden. Man kann in die Wohnungen der Menschen blicken. Durch die Straßen wälzen sich Kolonnen von Lastwagen, Betonmischern und gelben Baggern, die 24 Stunden, sieben Tage die Woche Schutt abtragen, wegkarren und neue Baustoffe liefern. Es ist der Versuch, die Kerben zuzuschütten, die der IS-Terror in der Stadt hinterlassen hat. +Khod Issa kämpft für Gleichberechtigung und gegen die IS-Ideologie +Amal sieht bei ihrer Arbeit auch die psychischen Wunden der zerrissenen Familien und elternlosen Kinder, die von der IS-Herrschaft geblieben sind: "Die junge Frau, die eben hier war, wurde während der Zeit des IS zwangsverheiratet", erklärt Amal "Unsere Aufgabe ist es, mit der Familie zu reden und eine Lösung zu finden." Sie kann stundenlang von den Fällen erzählen, in denen sie und ihre vier Kolleginnen versuchen, zu vermitteln, ohne ein offizielles Gericht einschalten zu müssen. Typische Fällesind zum Beispiel jesidische Frauen,die bei den Raubzügen des IS verschleppt und vergewaltigt wurden und jetzt nicht wissen, wer für ihre Kinder sorgen soll,Frauen, die zwangsverheiratet wurden,oder Töchter, die sich dem IS anschlossen, obwohl ihre Eltern dagegenwaren. "Wir müssen Wege der Versöhnung finden – wir können ja nicht alle einsperren", sagt sie. "Wenn wir uns rächen, hört das Massaker niemals auf." +Doch können Amal und Khod Issa damit erfolgreich sein? +"Wenn wir genügend Zeit bekommen, können wir unsere Probleme lösen", sagt Amal. "Aber dazu müssen die Menschen verschwinden, die den Terror nach Rakka gebracht haben." Rund 10.000 ausländische IS-Anhängerinnen und Anhänger leben noch in Camps in Nordostsyrien. Darunter mindestens 1.000 Frauen und Kinder aus Europa. Staaten wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien weigern sich teilweise seit Jahren, ihre Staatsbürger zurückzunehmen. +"Diese Camps sind wie tickende Zeitbomben", sagt Amal. "Diese Kinder und Jugendlichen sind für uns unerreichbar. Sie kennen nichts anderes als die IS-Ideologie, und wenn nicht bald etwas passiert, wird ein neuer IS entstehen, der noch brutaler ist als der erste. Und das werden nicht nur wir, sondern die ganze Welt zu spüren bekommen." +Auch Khod Issa ist sich sicher: Erst wenn die letzten ausländischen IS-Unterstützer verschwinden, wird auch die IS-Ideologie keine Chance mehr haben. Dann kann das möglich werden, wovon sie träumt: eine Gesellschaft, in der Geschlecht, Ethnien und Klassen keine Rolle mehr spielen. + diff --git a/fluter/ramy-starzplay-rezension.txt b/fluter/ramy-starzplay-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4861a927bb9bd2487a54d61a66c93f6be0686393 --- /dev/null +++ b/fluter/ramy-starzplay-rezension.txt @@ -0,0 +1,9 @@ + +Am Ende der ersten Staffel war der Serien-Ramy im Zuge seiner spirituellen Suche zu seiner Verwandtschaft nach Ägypten gereist. Der Beginn der zweiten macht schnell klar, dass ihn das nicht sonderlich weitergebracht hat. Lethargisch liegt er tagein, tagaus in seinem Jugendzimmer (er wohnt noch bei seinen Eltern), seine einzigen Interessen sind der Konsum von Weingummi und Pornos, gerne in Kombination. Was sein Problem ist, merkt er selbst erst, als er sich dem charismatischen Scheich einerSufi-Gemeindeanvertraut, die ihm ein Freund empfohlen hat. "Ich habe das Gefühl", gesteht er dem geistigen Mentor, "als wäre da eine Leere in mir und ich habe immer versucht, sie mit irgendetwas zu füllen – Sex oder Pornos zum Beispiel. Ich habe auch versucht, sie mit Gott zu füllen, aber ich weiß einfach nicht, wie." + + +Einen Moment scheint es so, als könne der genauso weise wie liberale Scheich, den Mahershala Ali mit stoischer Eleganz spielt, der perfekte Lehrmeister für Ramy sein. Schließlich sind die Tugenden, die er lehrt – Ehrlichkeit, Selbstlosigkeit und Disziplin –, Eigenschaften, die dem verpeilten Egomanen Ramy wohl ganz guttäten. Doch natürlich kommt es anders. Als enthusiastischer Sufi-Schüler gestartet, scheitert Ramy bald an seinen viel zu hohen moralischen Ansprüchen und seinem unbedingten Willen zu gefallen. +Ihm bei diesem Scheitern zuzuschauen ist, wie in der ersten Staffel, gleichzeitig wahnsinnig witzig und ungemein verstörend. In der Tradition von Comedyserien wie "Lass es, Larry!" oder "Louie" bringt Youssef sein Alter Ego in Situationen, die das Publikum vor Fremdscham zusammenzucken lassen. +Anders aber als in der ersten Staffel nehmen nun die Nebenfiguren deutlich mehr Raum ein. Das ist ein gelungener Kunstgriff. Denn so führt die Serie als Ganzes das vor, woran die Figur Ramy kontinuierlich scheitert: das Ego hinter sich zu lassen. In einigen Folgen taucht Ramy kein einziges Mal auf, stattdessen erfährt man etwa, welches Geheimnis Ramys Onkel zu dem klischeehaften Macho machte, als den man ihn bisher kennengelernt hat. In der vielleicht besten Episode sieht man Ramys Mutter dabei zu, wie sie sich auf den US-Einbürgerungstest vorbereitet. Sie tut das vor allem, um dieMigrationspolitik der Trump-Administration, die sie als diskriminierend empfindet, bei den nächsten Wahlen abzustrafen. Dass sie bei einem zufälligen Zusammentreffen mit einer Transperson selbst diskriminierend handelt, weil sie sich weigert, das Pronomen "es" für die Person zu benutzen, merkt sie erst viel zu spät. +Menschen, die versuchen, sich zu bessern, und dabei oft alles nur viel schlimmer machen, das ist das Thema der zweiten "Ramy"-Staffel. Damit gesteht Youssef seinem Protagonisten mit noch mehr Konsequenz als zuvor genau die Vielschichtigkeit zu, die muslimischen Figuren im US-Fernsehen bisher fehlte. Dass der Serien-Ramy weiter denn je davon entfernt ist, ein vorbildlicher Muslim, ein vorbildlicher Mensch zu sein, macht das Ende der zweiten Staffel schmerzhaft klar. Seine Mutter immerhin zeigt deutlich mehr Veränderungspotenzial. Als sie sich nach ihren Erfahrungen mit der Transperson das nächste Mal in einer Runde vorstellen muss, sagt sie mit der größten vorstellbaren Ernsthaftigkeit: "Mein Name ist Maysa, meine Pronomina sind ihr/sie." +"Ramy" läuft bei Starzplay. diff --git a/fluter/ran-an-die-kohle.txt b/fluter/ran-an-die-kohle.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c38cb2c748bc3adfb4fe7752283002c4d1f2f163 --- /dev/null +++ b/fluter/ran-an-die-kohle.txt @@ -0,0 +1,31 @@ +Auch auf lokaler Ebene gibt es Ansatzpunkte. Im Prinzip hat ja jeder Landkreis ein Jugendamt und einen so genannten Jugendhilfeplan. Dort sitzen Leute, die sich um eure Fragen kümmern. Einfach in der Zentrale eures Rathauses oder beim Landtag anrufen und nach dem Bildungsreferenten fragen. Bloß nicht aufgeben. +Die wenigsten wissen auch, dass mit jedem Lottoschein ein bestimmter Prozentsatz des Kaufpreises an den Staat geht, der dann für soziale Projekte gesammelt und ausgeschüttet wird. Jedes Land hat seinen Lottomittelfond oder eine Lotto-Stiftung. Das geht von der Niedersächsischen Lottostiftung bis zur Lottostiftung Rheinland-Pfalz. Hier kann man bis zu 5.000 Euro für kleinere Organisationen bekommen, sogar relativ problemlos. Es kommt nur von Bundesland zu Bundesland darauf an, welche Prozedere ihr durchlaufen müsst und ob ihr als Verein oder als Initiative auftreten solltet." +www.jugend-in-aktion.de +www.diegesellschafter.de +http://www.buergergesellschaft.de/mitgestalten/tipps-fuer-engagierte-organisationen/foerdermittel/107550/ +"Erste Adresse für Projekte im Bereich Kunst: derFonds Soziokultur. Damit habe ich gute Erfahrungen gemacht. Der Fond bietet eine Fehlbedarfsfinanzierung. Das heißt, man muss zu deren Geldern noch woanders weitere beantragen. +Denn Kunst ist schwierig. Solche Projekte werden kaum staatlich durchfinanziert. Deshalb ist ein Blick auf den Stiftungsindex sinnvoll. In der Regel findet man Fördermöglichkeiten bei Sparkassenstiftungen. Einfach mal schauen, was die Sparkasse vor Ort oder im Kreis anbietet. +Zusätzliches Geld könnt ihr über das so genannte Social-Micro-Payment bekommen, aufflattr.combeispielsweise. Ein Haken: Ihr müsste Mitglied sein, denn nur so können euch auch die anderen Mitglieder beziehungsweise Abonnenten mit Barem unterstützen." +www.fonds-soziokultur.de +www.stiftungsindex.de +www.flattr.com +"Relativ neu ist in dem Bereich, dass man Mittel im Konzept derAgenda 2010bekommt, wenn man sich in Richtung Nachhaltigkeit und Stadtentwicklung bewegt. Da ruft ihr am besten direkt beim Stadtplanungs- oder Stadtbauamt an und fragt nach, ob es einen Ansprechpartner gibt. Und nicht die Stiftungen vergessen. Umwelt ist da ein sehr beliebtes Thema. Da gibt es zum Beispiel dieBUND-Stiftungoder dieHeinrich-Böll-Stiftung. Da gibt es aber von Bundesland zu Bundesland andere Schwerpunkte. Anrufen! Fragen! +Warum aber nicht auch von den Großen lernen? Einfach mal beiGreenpeaceoder beimNABUanrufen und fragen, ob sie Tipps und Infos zu eurem Thema haben. Man darf nichts unversucht lassen. +Auch von Jugendinformationszentren gibt es Angebote und Newsletter. Ich habe beispielsweise den von Sachsen-Anhalt abonniert. Den bekomme ich alle zwei Wochen und es stehen immer Fördermittelangebote drin. Auch Wettbewerbe sind Möglichkeiten, um Projekte zu finanzieren. Das darf man nicht vergessen." +www.bund.net/bundnet/spenden/bundstiftung +www.boell.de +www.bildungsserver.de +"Es gibt in jedem Bundesland eine Landesmedienanstaltoderein-zentrum. Deren Gelder fließen aber selten in Projekte außer Haus. Wenn ihr hiervon also profitieren möchtet, dann am besten, indem ihr dort an einem Radio- oder Videoschnittkurs teilnehmt und euch erst mal für euer Projekt fit macht. +Eine andere Adresse kann euer Medienkundelehrer sein. Der hat vielleicht auch Tipps, wo ihr Unterstützung bekommen könnt. +Wenn es um Film geht, dann könnt ihr nach Medienförderungen suchen, wie es sie beispielsweise für Mitteldeutschland oder in Baden-Württemberg gibt. +Wollt ihr ein Webradio aufbauen oder mit dem Podcasten starten, dann schaut euch den Social-Payment-Serviceflattrnoch mal genauer an. Der Dienst ist – verkürzt gesagt – eine Art GEZ-Gebühr auf freiwilliger Basis." +www.alm.de +www.kuratorium-junger-film.de +www.ffa.de +www.flattr.com +Helpedia,Betterplaceunddonaresind so genannte Crowd-Fundraising-Seiten. Hier könnt ihr eure Aktionen und Projekte anbieten und Spender auffordern, euch zu unterstützen. Das ist eher 'Kleinvieh', aber auch das macht Mist. In den USA soll das Prinzip schon sehr gut klappen – siehe kickstarter.com. +www.helpedia.de +http:de/betterplace.org +www.donare.de + +Stephanie Lachnit arbeitet als freie Journalistin in Köln. diff --git a/fluter/randerscheinung.txt b/fluter/randerscheinung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1d43e35f7860b91a784e8bd94b850e6898972e97 --- /dev/null +++ b/fluter/randerscheinung.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Die Statistik sieht aber anders aus als in Sidos Kopf: Laut dem Berliner Kriminalitätsatlas 2013 (PDF) liegt die Verbrechensrate im Märkischen Viertel leicht unter dem Berliner Durchschnitt, es gibt dort etwas mehr Raub und Körperverletzungen als anderswo, dafür weniger Diebstähle, Einbrüche und Drogendelikte. +Als das Märkische Viertel entstand, war die Hoffnung groß, die Hoffnung auf ein schöneres Wohnen, auf ein menschenwürdigeres Leben. Denn dort, wo nun der Beton wuchs, standen zuvor armselig zusammengezimmerte Hütten, die nicht mal an die Kanalisation angeschlossen waren. Sie wurden abgerissen und an ihrer Stelle moderne Wohnungen für 40.000 Menschen geschaffen. Die Familien, die ins neue Viertel zogen, kamen nicht nur aus den Hütten, sondern auch aus unsanierten Altbauwohnungen in Kreuzberg oder Neukölln, die zwar wunderschönen Stuck an der Decke hatten, aber die Toilette draußen auf dem Flur und statt Heizungen alte Öfen. Viele schätzten sich nun glücklich und fühlten sich auch ein bisschen wie Pioniere. Die erste Neubausiedlung Westberlins neben der fast gleichzeitig erbauten Gropiusstadt bewies, dass auch Bürger mit einem kleinen Einkommen komfortabel leben konnten. +Doch die Euphorie hielt nicht lange an. Zu der Zeit, als die 68er-Bewegung, oft Studenten, gegen das Establishment protestierte, stellte man auch schnell die Frage, wie sozial die neue Wohnform tatsächlich sei – und hatte die Antwort ebenso schnell parat: Von "menschenverachtender Architektur" sprach ein Arzt aus dem Märkischen Viertel im "Spiegel" bereits 1970. Dazu wurden Fotos aus den Schluchten der weißen Klötze gedruckt: vernachlässigte Kinder, Erwachsene mit Bierflaschen statt Perspektive. +"Der lange Jammer" hieß ein Dokumentarfilm, benannt nach einer Kette aus mehreren zusammenhängenden Hochhäusern, 18 Stockwerke hoch. Das Viertel war noch nicht ganz fertiggestellt, da galt es schon als unbewohnbar. Man erzählte sich, dass die Menschen in ihren Betonschubladen psychisch krank würden und die Kinder dort in die Flure pinkelten, weil sie es nicht bis in ihre Wohnung schafften. Sogar Führungen ins schlimme Viertel gab es, damit sich die Touristen nicht nur an der Mauer gruseln konnten. +Märkisches Viertel, 2015: In der "Märkischen Zeile", einem Einkaufszentrum inmitten der Häuser, sitzen gut frisierte Ehefrauen mit ihren Männern vorm Griechen und trinken zum Mittagessen Ouzo. Wenn sie aufstehen, klopfen sie denen, die noch dort bleiben, auf die Schulter. Viele wohnen seit den 70er-Jahren hier. +Es gibt auch manche, die von außerhalb dazukommen, weil sie es hier so gemütlich finden. Es ist so eine Art Expertenrunde für das "Merkwürdige Viertel", wie die Jugendlichen den Ort nennen, wobei man immer auch ein wenig den Stolz heraus­hören kann – darüber, an einem Ort zu wohnen, der den meisten auf den ersten Blick zu grimmig erscheint, zu unwohnlich. ­Deswegen zitieren sie auch so gern Sido. +"Eine schwangere Frau, Kippe im Mund, rechts der Hund, links der Kinderwagen", so sei das Bild vom Märkischen Viertel, sagt eine Frau mit kurzen grauen Haaren, die hier zehn Jahre lang in einem Fotogeschäft gearbeitet hat. "Aber hier wohnt auch Intelligenz, hier wohnen Künstler, sogar hochkarätige Manager, das weiß ich." Verstohlen deutet sie auf den braun gebrannten Mann ihr gegenüber: "Er hat wahrscheinlich die schönste Wohnung im Viertel: im vierzehnten, fünfzehnten und sechzehnten Stock, über drei Etagen." Seit 1978 wohne er da, seine Frau sei Japanerin. Die wolle immer weg, weil es ihr hier zu bunt sei. +"Die Mittelschicht prägt die öffentliche Meinung. Und als urbanes Wohnideal der Mittelschicht gelten seit Ende der 1960er-Jahre innerstädtische Altbauten: Sie stehen für Individualität, Geschichtsbewusstsein", erklärt die Kulturwissenschaftlerin Christiane Reinecke von der Universität Leipzig, die eine Arbeit über marginalisierte Räume schreibt. Menschen, die in Hochhaussiedlungen lebten, müssten sich ständig damit auseinandersetzen, dass die eigene Wohnumgebung bei anderen nicht als ideal gelte. Auch im Märkischen Viertel würden die Eigen- und die Fremdwahrnehmung stark auseinandergehen. Die Menschen, die hier wohnen, täten das allerdings in der Regel gern, versichert sie: "Es gibt ein pragmatisches Sich-Einrichten im Alltag. Das, was einige am Märkischen Viertel kritisieren, das durchgeplante, funktionale Wohnen, schätzen die Bewohner. " +Von den 16.916 Wohnungen des Märkischen Viertels gehören 15.043 der Gesobau, einem der städtischen Wohnungsunternehmen. Alle Wohnungen des Märkischen Viertels wurden als ­Sozialwohnungen errichtet, nach einer gewissen Zeit verfällt dieser Status. Gegenwärtig sind noch 214 Sozialwohnungen übrig. Allerdings haben sich die städtischen Wohnungsbaugesellschaften in Berlin 2012 dazu verpflichtet, 50 Prozent der Wohnungen innerhalb des S-Bahn-Rings an Menschen mit geringem Einkommen zu vermieten. +Seit 2008 wurden im MV nach und nach alle Wohnungen energetisch modernisiert, es gilt als ­bisher größtes Sanierungsprojekt Deutschlands. In einer Box mit einer Musterwohnung konnten sich die Bewohner damals informieren. Nachdem das Märkische Viertel 2014 seinen 50. Geburtstag gefeiert hatte, wurde die Box zu einer Art Kulturzentrum, in dem jetzt Nähkurse und Konzerte stattfinden. "Großsiedlungen wirken eigentlich wie Überbleibsel aus der Vergangenheit. Aber sie haben etliche Vorteile", meint Anna Müller, die dort arbeitet. Gerade älteren Menschen und Familien komme die Funktionalität der Siedlungen entgegen: die Nahversorgung, die Barrierefreiheit, die Infrastruktur. Berlin brauche die urbane Dichte, denn es gebe nicht endlos Platz. +Tatsächlich steigen die Mieten in Berlin weiter, alteingesessene Anwohner müssen ausziehen, damit teure Eigentumswohnungen entstehen können, unter anderem luxussanierte Altbauwohnungen für Kunden aus aller Welt. Dies ist der Preis, den viele dafür zahlen, dass Berlin mittlerweile international das Image einer aufregenden Metropole hat. Daher entdecken zunehmend mehr Menschen, dass man auch woanders wohnen kann als dort, wo alle hinwollen. Und dass es sich sogar in den Hochhäusern von Marzahn oder Gropiusstadt leben lässt. Natürlich auch im "Merkwürdigen Viertel" – wovon schon manche zuvor überzeugt gewesen waren. +Die Menschen leben inzwischen über mehrere Generationen hier, die Wohndauer liegt bei rund 17 Jahren. Das ist eine ziemlich gute Bilanz, wenn man an die Diskussionen aus den 1970er-Jahren denkt. Dass sich gewisse Gruppen im Viertel konzentrieren – Menschen mit Migrationshintergrund, Rentner und Arbeitslose –, müsse nicht schlimm sein, sagt die Kulturwissenschaftlerin Christiane Reinecke. "Für soziale und ethnische Durchmischung gibt es gute Gründe. Aber es kann auch schön sein, wenn ich mich mit Menschen meiner Community umgebe. Ähnlichkeit kann stabilisieren." Sie unterstreicht, das Viertel sei auf die Beine gekommen, als sich die Leute eingelebt hatten und sich über die Jahre ein Wir-Gefühl entwickeln konnte. +Inmitten der weißen Hochhausriesen hängt ein blondes Mädchen kopfüber vom Klettergerüst, ein schwarzer Vogel pickt nach ihr. "Ein seltener Vogel", sagt ein Junge, dem ein zarter Flaum auf der Oberlippe sprießt. "Er hat keine Angst." +"Eine Elster", erwidert das Mädchen. "Sie fliegt nicht weg, weil sie das Märkische Viertel auch mag." +Fotos:  Dawin Meckel/Ostkreuz diff --git a/fluter/rap-genres-steckbriefe.txt b/fluter/rap-genres-steckbriefe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e9e14a2c5037ed740b881eb7e022551985ee0930 --- /dev/null +++ b/fluter/rap-genres-steckbriefe.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Boom Bap in einem Song:"C.R.E.A.M." (Wu-Tang Clan) + +Ghetto, Gangs, Gewalt, die drei großen Gs im Gangsta-Rap. Legenden wie Ice Cube, Dr. Dre und 2Pac nehmen einen mit zu Drogendeals an der Ecke und in Gang- Rivalitäten, die selten mit Worten geklärt werden. +Beleidigungen und Schimpfworte kommen in den Tracks trotzdem nicht zu kurz. Auf schweren Beatsverherrlicht Gangsta-Rap das Thug Life, rotzt seiner Hörerschaft aber auch die Brutalitäten und Ungerechtigkeiten der Straße vor die Füße. Klanglich unterscheidet sich das Subgenre nicht wahnsinnig vom Boom Bap oder anderen, es setzte vor allem inhaltlich Maßstäbe. Die Texte und der oft düstere Sound schaffen eine Atmosphäre, die die Realität der US-amerikanischen Armenviertel widerspiegelt. Zeilenüber Polizeigewalt und strukturellen Rassismussind Standard,Gangsta-Rap ist politisch, auch wenn er oft als prollig verschrien ist. +Gangsta-Rap in einem Song:"Ambitionz az a Ridah" (2Pac) + +Emo zelebriert eine Verletzlichkeit, die es im Rap lange nicht zu geben schien. Juice WRLD, Lil Peep und andere rappen offen und sehr romantisierend über Einsamkeit, Liebeskummer, Ängste, Drogensucht und die Kämpfe mit den eigenen Dämonen, die sie bis in den Suizid treiben können. Unterlegt werden diese schmerzlichen Texte mit zaghaften Trap-Beats, rockigen Instrumentalstücken oder nostalgischen Samples von 20 Jahre alten Pop-, Punk- und Emo-Songs. Richtig viel Melancholie, damit es richtig doll wehtut. +Emo in einem Song:"Wishing Well" (Juice WRLD) + +Anfang der 1990er-Jahre entstand Trap in Atlanta, Georgia. Es ist ein schwerer, harter, dunkler Sound: Im Slang steht "Trap" für einen Ort, an dem gedealt wird. Die Nähe zum Rauschgift hat sich das Genre bewahrt. In vielen Musikvideos wird "Purple Drank" gereicht, ein Cocktail aus Hustensirup, Limo und Bonbons. Seit den 2010er-Jahren dominieren Trapper wie die Migos, Gucci Mane, Travis Scott, Loredana, Ufo361 oder Shindy die Charts und großen Playlists der Streamingdienste. Die Musik ist eben eingängig: sehr tiefe Bässe, schnelle Hi-Hats, viele Synthesizer übereinander und Stimmen mit einer dicken Ladung Autotune. In jüngerer Zeit hat Trap eigene Subgenres wie Latin Trap oder EDM-Trap inspiriert. +Trap in einem Song:"goosebumps" (Travis Scott feat. Kendrick Lamar) + +In Chicago geboren, in London groß geworden und als "UK Drill" dann sogar weltberühmt. Der Sound ähnelt den treibenden Trap-Beats, aber Drill ist zu hart, um im Radio zu laufen; schon deshalb, weil die Flows oft eher gebrüllt als gesungen werden. Drill spiegelt die Härten des Lebens derer, die es nicht rausschaffen aus den "schlechten" Vierteln. Hört man Songs von Chief Keef oder Headie One, glaubt man zu spüren, wie es sich anfühlt, in Chicagos Washington Park oder in London-Tottenham eins auf die Fresse zu bekommen. +Drill in einem Song:"Wayne" (Chief Keef) + +Anfang der Nullerjahre heiraten in Großbritannien Dubstep und UK Garage. Sie bekommen ein Kind: Grime. Schnelle Beats (meist um die 140 BPM), unregelmäßige Drums, düstere Synthesizer, das ist der Grime-Sound. In anderen Rap-Genres fließen die Beats, Melodien und Reime, Grime wirkt eher kantig. Künstler wie Skepta, Wiley oder Stormzy texten aus ihrem Alltag als Working-Class-Kids in einem London, das vor lauter Business und schimmernden Fotomotiven seine Bewohnerinnen und Bewohner vergisst. Grime ist ein trotziger Überlebenskampf. +Grime in einem Song:"That's Not Me" (Skepta feat. JME) + +Crunk ist Slang, eine Wortschöpfung aus "crazy" und "drunk" oder "crack" und "drunk" – und das sagt eigentlich schon alles. Das Genre ist die Definition von Party-Rap: exzessiver Beat, zischende Hi-Hats und Männer, die sich Obszönitäten zuschreien. Dreimal dürft ihr raten, worum es in den Texten von Lil Jon, Ciara oder Three 6 Mafia geht. Richtig: Konsum und Nachtleben. Dafür werden oft verschiedene Musikstile gesampelt, darunter Funk, Soul, Rock oder Techno, und mit Call-and-Response-Techniken gemischt. Die beziehen die (imaginäre) Crowd ein und stellen ein Gefühl von gemeinsamer Partynacht her. Abriss! +Crunk in einem Song:"Turn Down for What" (Lil Jon & DJ Snake) + +Schläfrige Beats, hallende Stimmen: Cloud-Rap klingt, als würde einer Wolken vertonen. Dazu kommen Melodien aus dem Lo-Fi und Chillwave, dickflüssige Samples und Dada-Texte mit Autotune-Effekt. So haben Künstler wie Yung Lean oder A$AP Rocky einen Sound geprägt, der erst mal völlig untypisch war für Rap: weich und nach innen gekehrt, ohne viel Reim und Rhythmus, mehr Amateuraufnahme als Hochglanzproduktion. In ihren Songs berichten Cloud-Rapper von ihren Liebschaften, vom Alleinsein, Depressionen und Selbstfindung, und das so sphärisch, dass Cloud-Rap mit der Zeit fast betäubend wirken kann. Kein Wunder, dass sich in vielen Lyrics und auf Covern mehr oder weniger dezente Hinweise auf Weed, Angstblocker und Codein verstecken. Das zieht nicht nur in den USA: Gerade die Österreicherum Yung Hurnoder Crack Ignaz haben deutschsprachigen Cloud bekannt gemacht. +Cloud in einem Song:"Everyday" (A$AP Rocky) + +Pop-Rap ist der Ohrwurm unter den Rap-Genres – wie gemacht für die Charts oder die Familienfeier. Die Realkeeper-Fraktion regt das auf: die Sprache zu weich, die Lyrics zu belanglos, der Sound zu glatt. Alle anderen freuen sich über tanzbare Beats und Rap, bei dem einem nicht direkt die Laune vergeht angesichts all der Ungerechtigkeiten in der Welt. Acts wie Cardi B, Macklemore oder Doja Cat kombinieren Rap-Elemente mit melodischem Gesang, klassischen Pop-Hooks und Themen aus den Ressorts Liebe, Freundschaft, Partys, Erfolg und Lifestyle. In Deutschland zeigen Cro, Nina Chuba oder Apache 207: Pop-Rap muss gar nichts außer Spaß machen. +Pop-Rap in einem Song:"Wildberry Lillet" (Nina Chuba) diff --git a/fluter/rap-in-russland-noize-mc.txt b/fluter/rap-in-russland-noize-mc.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..53d00b8338cb5956aa9a3e489a62c452b3382c25 --- /dev/null +++ b/fluter/rap-in-russland-noize-mc.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Obwohl er seine Kritik an den russischen Realitäten zumeist intelligent und pointiert äußert, eher das Florett als den Vorschlaghammer einsetzt, gilt Noize in Russland als Querulant. Kein Wunder in einem Land, dessen größter Rapstar, Timati, Songs mit Titeln wie "Mein bester Freund Putin" rausbringt und seine Styles und Flows auf dem Roten Platz vor dem Kreml zum Besten gibt. Und nein, das ist nicht ironisch gemeint. +In Musikvideos haut Noize MC aber gerne auch brachial drauf. Er schmeißt schon mal einen Fernseher aus einem Hotelzimmer – auf das Dach der Luxuskarosse eines Mafiabosses. Mit einem Schlag trifft er damit symbolisch die beiden Dinge, die er immer wieder kritisiert: die, wie er sie nennt, "Hirnvernebelungsmaschine" russisches Staatsfernsehen – und die korrupten Eliten. Er tritt mit seiner Musik für eine bessere Gesellschaft ein, sieht jedoch gerade die junge Generation als zu unpolitisch an. Ihre Einstellung sei "nihilistisch", hat er mal erklärt. +Ihren Siedepunkt erreicht die Karriere des rappenden Querdenkers nach einem Auftritt in Lemberg in der Westukraine. Alleine die Tatsache, dass Noize MC dort im August 2014 auf der Bühne steht, ist ein Politikum. Die Ukraine-Krise  spaltet zu dieser Zeit Ost und West, bis ein Canyon entstanden scheint, in dem sogar Worte wie "Kalter Krieg" wieder Platz finden. Noize widmet in Lemberg seine Performance  "allen Opfern des Informationskrieges". Später reicht ihm jemand aus dem Publikum eine ukrainische Flagge – er nimmt sie an. Es gibt nun Fotos des Rappers mit dieser Fahne in der Hand. Fortan gilt Noize als Staatsfeind. +Bei seinem nächsten Auftritt in Russland wird ihm der Strom abgedreht. Da will Noize gerade dem Publikum erklären, dass der vom russischen Staatsfernsehen herbeigeredete ukrainische Faschismus eine Schimäre sei . Unzählige Gigs werden daraufhin abgesagt . Bei einem Konzert stürmt die örtliche Polizei mit Maschinengewehren die Bühne. Die Aktion wird als Drogenrazzia deklariert. Mitglieder der kommunistischen Partei fordern bald ein generelles Verbot aller Auftritte von Noize MC . Im Internet wütet der digitale Mob. Eine harte Zeit für Alexejew. +Nach einigen Monaten legt sich die Aufregung etwas, Noize kann in Russland wieder Konzerte geben. Leise geworden ist er wegen der Lemberger Episode aber keinesfalls. In seinem neueren Video "Lenin Has Risen" lässt er den auf dem Roten Platz aufgebahrten Revolutionsführer wieder auferstehen. Noize persifliert eine ganz besondere russische Symbiose: die Verklärung der kommunistischen Vergangenheit und das Aufkommen der neuen autoritären Politik, die alte Machtsymbole, etwa den roten Stern, heute wieder salonfähig macht. +Das Lenin-Lied rappt Noize  auf Englisch. Er hat schon viele Auftritte in den USA und in Europa absolviert. Da ist es nicht verwunderlich, dass der Moderator der YouTube-Show ihn irgendwann fragt, ob er angesichts seiner nun internationalen Ausrichtung und der Probleme mit russischen Nationalisten nicht ans Auswandern denke. Noize verneint. "Ist es wegen der Birken?", fragt der Moderator. Die Birke gilt vielen Russen als "Nationalbaum", sie dominiert die russische Naturfolklore. "Es ist wegen der Sprache", sagt Noize. "Birken gibt es überall. Aber die russische Sprache nicht." +Titelbild: Scut36 / noizemc.com diff --git a/fluter/rap-marseille.txt b/fluter/rap-marseille.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..58f74872f58b172be444192b57ed81cdf7070164 --- /dev/null +++ b/fluter/rap-marseille.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +"C'est la petite qui gère le Bluetooth ...", legt TK los, die schwarzen Locken wippen über seiner Anonymous-Maske."Bluetooth" ist eine Hommage an Marseille, seine Stadt. Er und sein Kollege Missan springen vor der Kamera auf und ab. Beide hoffen darauf, die Nächsten zu sein, die vom "Planet Mars" durchstarten: Rap ist übergroß in Marseille, seit Jahren erobern Rapperinnen und Rapper von hier aus die Streamingdienste. +Und andere Länder: Deutschsprachiger Rap ist ohne die Einflüsse aus dem Nachbarland kaum denkbar. DiePioniere aus Südwestdeutschland, Advanced Chemistry, Freundeskreis oder Massive Töne, waren wohl schon wegen der räumlichen Nähe französisch inspiriert. Später schauten Künstler wie Fler oder Bushido genau auf den harten Sound und die düstere Ästhetik der Gangsta-Rapper nebenan. + +Heute sind Frankreich-Referenzen sowieso selbstverständlich. Wer kann, rappt ganze Parts auf Französisch oder streut zumindest französische Wendungen ein wie der Newcomer Haaland936 oder Pashanim. Der Berliner rappt stilsicher über die Basare von Marseille, Trikots des dort geborenen Fußballers Zinédine Zidane und seine Nike TNs. Die kamen wie die langen Haare und die billige Funktionskleidung von Decathlon aus Marseiller Gefängnissen und Hochhaussiedlungen auf die Straßen, fanden von dort ihren Weg in die Pariser Banlieues und nach Deutschland. +Dabei hat sich Marseille den Rap einst selbst abgeschaut. In den 1980er-Jahren brachten US-Soldaten auf der Durchreise die noch junge Musik auf Kassetten in die Stadt und ihre Clubs. Ihr Style – Baggys, Lederjacke, Goldkette – infizierte auch ein paar Jungs, die in einem Burgerladen am alten Hafen abhingen. Sie begannen selbst zu rappen, die Crews nannten sich IAM und Fonky Family. +Sie stehen für einen Rap de Marseille, der ohne den Einfluss der vielen Kulturen, Ethnien und Sprachen in der Stadt nie entstanden wäre. Ein Großteil der knapp 900.000 Marseillais kommt aus Familien mit Einwanderungsgeschichte. Italien, Portugal und Armenien, wegen der französischen Kolonialgeschichte vor allem auch Algerien, Senegal, Marokko, die Komoren oder Tunesien: Für viele Menschen endete die Route über das Mittelmeer einst in der Hafenstadt Marseille. +Im Gegensatz zu anderen Metropolen wurden die Zugewanderten nicht in die Vororte verdrängt, sie sind auch im Stadtzentrum geblieben. Die Identifikation mit der Stadt ist bis heute stark: Hier verstehen sie sich nicht als Algerier oder Armenier, als Bewohnerin von Noailles oder La Savine, hier sind alle Marseillais. +C'est Marseille Bébé: TK in den Farben seiner Stadt +Missan spielte schon als kleiner Junge in Rapvideos mit + +Nach der ersten Rap-Welle um IAM und Fonky Family schwappte der Rap aus der Innenstadt auch an die Ränder,in die Quartiers Nord, wo ein Hochhaus dem nächsten die Sonne nimmt. Dieser Umzug ist leicht zu datieren, leider: Februar 1995, drei Mitglieder des Front National (heute Rassemblement National) kleben Wahlplakate. Einer der Männer erschießt den vorbeilaufenden Ibrahim Ali. Der 17-Jährige ist Amateurrapper, er kommt gerade von einer Probe. Zu Ibrahims Ehren gründen seine Freunde in La Savine, am nördlichen Stadtrand, die Sound Musical School: ein Studio für aufstrebende Rapper. +"In Frankreich unterscheiden wir zwischenfranzösischem Rapund Marseiller Rap", sagt TK, der wie Missan algerische Wurzeln hat. "Die Stadt ist melancholisch, und sie kann richtig hart sein, aber wir verarbeiten das fast spielerisch." Schon der Rap von IAM und Fonky Family groovte mehr als seine Vorbilder aus den USA: Sie liehen sich Elemente aus Blues, Flamenco und Reggae, vom karibischen Zouk und der algerischen Popmusik Raï. Oder wie Missan sagt: "Der Rap hier klingt nach Mittelmeer." Anders als das Versgeballer aus Paris oder Deutschrap, der erst in den 2010er-Jahren entdeckte, dass er melodiös sein darf, ohne die Wurzeln des Rap zu verraten. +Zudem hat die Sprache einen eigenen Slang. Man hört tief arabisch durchsetztes Französisch,die Jugendsprache Verlanund die jahrhundertealte Geheimsprache Argot. Rapper wie Booba setzen den Slang gezielt ein, weil er wenig auf Rechtschreibung gibt und die Silben innerhalb eines Wortes gern mal tauscht. Frankfurter Straßenrapper wie Haftbefehl oder Celo & Abdi haben sich diese eigenwillige Grammatik geliehen. + +Der Sound hier sei sehr schnell und tanzbar, sagt Tarik Chakor, Mitbegründer einer Promo-Agentur, die einige lokale Rapperinnen und Rapper vertritt. "Wir nennen das den JUL Type Beat." +JUL, natürlich. Status: Selbst wenn ein Marseiller glaubt, nie von JUL gehört zu haben, er hat schon von JUL gehört. Aus Shishabars, von Balkonen, durch geöffnete Autofenster, man hört JUL unweigerlich in der ganzen Stadt. Er ist der größte Plattenverkäufer des französischen Rap und die Sonne, um die der Planet Mars kreist. Sein neuester Streich: die Bande Organisée aus mehr als 150 Marseiller Rapperinnen und Rappern. Dabei sind Größen wie Soprano, Le Rat Luciano von der Fonky Family oder IAM-Legende Akhenaton. Aber auch Talente wie Missan und TK. +Im Musikvideo einer Single der Bande Organisée rappt TK auf einem Kamel vor der Notre Dame de la Garde. Die Kathedrale von Marseille spielt eine zentrale Rolle bei JUL, genauso wie der Fußballverein Olympique de Marseille, kurz OM. Eine Kombination, die zeigt, wie Marseiller Rap funktioniert: Historisches Wahrzeichen trifft modernen Hochglanzfußball, Alt trifft Neu, Tradition, Architektur, Sport, Musik. "In Marseille brauchst du kein Storytelling. Marseille ist die Story", sagt Missan. + +Auch beim Videodrehsind Ultras von OM erschienen. Mit Bannern und Feuerwerk begleiten sie TK und Missan auf den Place Jean Jaurès. Fußball und Rap sind eine Einheit in Marseille. Der Song "Bad Boys de Marseille" von Fonky Family feat. Akhenaton ist die inoffizielle Hymne von OM, JUL einer der Trikotsponsoren. 2020 gründete OM sogar ein eigenes Rap-Label. OM Records ist das erste Label eines Fußballvereins überhaupt – und ein Flop, sagt Tarik Chakor. "Das Management kam aus Paris. Die haben nicht verstanden, wie der Rap in Marseille funktioniert." +Kreativ sei die Stadt bestens entwickelt, sagt Chakor, Künstlerinnen und Künstler kämen aus dem ganzen Land, um in den Studios in Marseille aufzunehmen. "Aber was das Musikgeschäft angeht, sind wir am Anfang." Wer die dicken Vorschüsse und das größtmögliche Publikum wolle, müsse den Weg über Paris machen, wo die großen Medien und Labels sitzen. +"In Paris sind die Stars, in Marseille sind die Künstler", sagt TK. "Hier macht jeder sein Ding: vom Rappen bis zum Videodreh. Und bis das klappt, arbeitet der eine nebenher im Supermarkt, der andere verkauft Koks oder klaut." +Ein Major-Deal sei für viele die einzige Möglichkeit,der Armut in den Quartierszu entkommen, sagt Chakor. Und sauber zu bleiben: "Der Drogenhandel, die Mafia und der Knast gehören zu Marseille wie die Sonne und das Meer." Und immer mehr: der Rap. + +Dieser Beitrag ist im fluter Nr. 93 "Rap" erschienen.Das ganze Heftfindet ihr hier. diff --git a/fluter/rap-ostdeutschland-deutsche-einheit.txt b/fluter/rap-ostdeutschland-deutsche-einheit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dc7d45c5c9c1629ee7bdf3a98236b0151f59e801 --- /dev/null +++ b/fluter/rap-ostdeutschland-deutsche-einheit.txt @@ -0,0 +1,36 @@ +Trettmann, bürgerlich Stefan Richter, war schon in der DDR ein Hip-Hop-Head. In einer Zeit, in der es in Karl-Marx-Stadt Rap-Platten allenfalls unter der Ladentheke zu kaufen gibt, näht sich der junge "Tretti"– orientiert an seinen Adidas tragenden Helden aus den USA – auf eigene Faust drei weiße Streifen auf seine Stoffjacke. Als einen Monat nach seinem sechzehnten Geburtstag die Berliner Mauer fällt, ist plötzlich alles anders: Trettmanns Heimatstadt heißt auf einmal Chemnitz, und die Welt scheint ihm nun offenzustehen. Leider stellt sich die neu gewonnene Freiheit für Trettmann und viele andere Jugendliche aus dem Plattenbaugebiet "Fritz Heckert" in den Folgemonaten als Illusion heraus. Vor der Tür ergibt sich ein Bild, das mit der "bunten Welt in der Leuchtreklame" aus dem Westen nur wenig zu tun hat: "Grauer Beton, rauer Jargon" ist alles, was ihm von seiner Heimat übrig geblieben zu sein scheint – Arbeitslosigkeit und rechtsfreie Räume, die von gewaltbereiten Neonazis ausgefüllt werden. + + + + +Alle Spielarten des SED-Staates in einem knapp vierminütigen Song abzuhandeln, ohne dabei auf einen emotionalen Spannungsbogen zu verzichten, ist quasi unmöglich. Pyranja, die es als weibliche MC aus Mecklenburg-Vorpommern zu Beginn der Zweitausenderjahre ohnehin gewohnt war, in einer Stuttgart-Hamburg-Ruhrpott-Heidelberg-geprägten Männerdomäne gegen Wände zu rennen, hat sich dieser Herausforderung trotzdem gestellt. In "Kennzeichen D" überträgt sie das von wechselseitigem Misstrauen und behördlicher Willkür geprägte Grundrauschen des DDR-Alltags in sprachliche Bilder: "Kaum atmest du alleine, heißt das Urteil lebenslang", rappt sie zum Beispiel an einer Stelle. Selten vor und selten nach Pyranja wurde im deutschsprachigen Hip-Hop so präzise über das Gefühl, eingesperrt zu sein, gerappt. + + + + +Stell dir vor, du bist zehn Jahre alt, gehst eines Morgens in die Schule, kommst mittags nichtsahnend nach Hause und stellst fest, dass deine Eltern weg sind. Beide. Einfach so. Disko Degenhardt – heute unter dem Alias Vandalismus aktiv – ist genau das passiert. Die Inhaftierung seiner Eltern durch die Staatssicherheit macht ihn über Nacht zum Schlüsselkind und zwingt seine Oma für mehr als drei Jahre in die Mutterrolle. Degenhardts Eltern sitzen ihre Strafe als politische Gefangene in unterschiedlichen Haftanstalten ab, bis die Bundesrepublik die beiden im Frühjahr 1989 freikauft. Die Familie trifft in einer Asylunterkunft in Bayern wieder aufeinander und zieht wenig später nach Düsseldorf, wo zumindest Vandalismus bis heute geblieben ist. Er hat seine Familiengeschichte vor acht Jahren en détail und – Triggerwarnung – höchst emotional in der Ballade "Rote Kirschen" erzählt. + + + + +Die Lebensläufe von Hendrik Bolz und Moritz Wilken – besser bekannt als Testo und grim104 vom Hip-Hop-Duo Zugezogen Maskulin – scheinen sich auf den ersten Blick stark zu ähneln. Beide sind 1988 zur Welt gekommen, beide sind Küstenkinder. Nach dem Abi haben beide ihrer schnöden Kleinstadt den Rücken gekehrt, um nach Berlin überzusiedeln, wo beide – und das auch noch zeitgleich – Praktikanten bei der Hip-Hop-News-Plattform rap.de waren und ein paar Jahre später zu Berufsmusikern wurden. Und dennoch gibt es einen Faktor, der ihre Lebensgeschichten sehr unterschiedlich beeinflusst hat: Testo ist Ossi, grim ist Wessi. Im Song "Steine & Draht" haben sich die beiden mit ihren jeweiligen Familienstammbäumen und der Kontinuität dramatischer historischer Einschnitte beschäftigt, die ihre Eltern und Großeltern im Laufe der letzten 100 Jahre erlebt haben: Nationalsozialismus, Wirtschaftswunderland, Kalter Krieg, Arbeiter-und-Bauern-Staat. Gleichzeitig ist das dreigliedrige Drama "Steine & Draht" eine umfassende Auseinandersetzung mit dem durchaus kontroversen und schwer definierbaren Begriff "Heimat". + + + + +Sido hat seine Ostberliner Wurzeln lange vor der Öffentlichkeit verheimlicht. Eigentlich kein Wunder, hat man ihn aufgrund seiner Herkunft doch schon auf dem Schulhof angefeindet und ausgelacht. Als seine Rap-Karriere um 2002 Fahrt aufnimmt, schustert er sich ein markantes Image zusammen: Sido mimt den Bilderbuch-Badboy mit Totenschädel-Maske, inszeniert sich als Kind des Märkischen Viertels, einer Hochhaussiedlung am Stadtrand des ehemaligen Westteils der Hauptstadt. Als sich Sido dann 2009 im Zuge seiner Videosingle "Hey du" ungewohnt angreifbar als "Ostlerjunge" outet, steht die Szene kopf. Im Song erzählt er detailreich von der Fluchtgeschichte seiner alleinerziehenden Mutter und greift sensible Kindheitserinnerungen auf – zum Beispiel aus seiner Zeit in einem Westberliner Asylbewerberheim. + + + + +Kraftklub wollten nie nach Berlin. Und nach München sowieso nicht. Die fünfköpfige Band hat Chemnitz bis heute die Treue gehalten und mit der Ausrichtung ihres eigenen Festivals sieben Sommer hintereinander Tausende junge Menschen aus der ganzen Bundesrepublik ins sächsische "Hinterland" gelockt. Dabei hat die Gruppe stets versucht, mit positiver Einstellung gegen den durchwachsenen Ruf ihrer Geburtsstadt anzukämpfen, die in den vergangenen Jahren vor allem wegen rassistisch motivierter Ausschreitungen in den Medien war. Auf seinem Soloalbum "Kiox" hat Kraftklub-Sänger Felix Kummer das Positive etwas zurückgeschraubt und seine Hassliebe zu Chemnitz auf mehreren Tracks ehrlicher denn je zum Ausdruck gebracht. In "Schiff" vergleicht er die Stadt mit einem unaufhaltsam sinkenden Dampfer: "Rostbraune Flecken an den Wänden unter Deck … Und wenn man das jahrzehntelang so lässt, dann geht das später nicht mehr von alleine weg". Blühende Landschaften? Na ja. + + + + +"Deine Ossi-Parodie ist nur 'ne Wessi-Fantasie", singt Pöbel MC in seinem Song "Patchworkwendekids". Wenn es um seine Rostocker Heimat geht, hat der Musiker nicht das geringste Bedürfnis, den "Pseudo-Assi" zu geben, den etwa der Rapper Finch Asozial mit seiner Parodie eines Ostdeutschen verkörpert. Ossi zu sein, das bedeutet für Pöbel MC, mit Respekt und Bescheidenheit durchs Leben zu gehen, selbst aussichtslosen Problemlagen mit Kreativität zu trotzen und materiellen Reichtum niemals zu hoch zu priorisieren. In "Patchworkwendekids" erinnert sich "der Pöbler" an die abenteuerlichen Kindheitstage, die er mit seiner alleinerziehenden Mutter in einer Kohleofen-beheizten Altbauwohnung verbracht hat, und schlägt im letzten Vers sogar eine appellartige Brücke zwischen der Wende- und der Jetztzeit: "Mauern fallen, doch zu viele wachsen weiter. Die Welt als Einheit oder einzeln daran scheitern." + + + +* Alex Barbian ist Journalist und Moderator, beschäftigt sich die meiste Zeit des Tages mit Rapmusik, ist in Thüringen aufgewachsen und lebt in Berlin. + diff --git a/fluter/rap-sampling-schaubild.txt b/fluter/rap-sampling-schaubild.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f235271df2283b95acb610e8be8e5ad9dc5ecd19 --- /dev/null +++ b/fluter/rap-sampling-schaubild.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Fakt ist: Einige der größten Rap-Hits basieren auf Samples. Fakt ist auch, dass die Rechtslage kompliziert geworden ist und das "Klären" fremder Soundclips mitunter so teuer, dass Größen wie Jay-Z in Songs regelrecht mit ihren vielen Samples prahlen. Und die anderen? Sampeln, ohne zu zahlen, spielen neue Schnipsel ein, die alt klingen, oder sampeln notgedrungen gar nicht mehr. + + + diff --git a/fluter/rap-texte-beweismittel-justiz.txt b/fluter/rap-texte-beweismittel-justiz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9bccce4239a65ef5b27fab806b9d687b33f564f8 --- /dev/null +++ b/fluter/rap-texte-beweismittel-justiz.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Die Aufklärung des Mordes ist schwierig für die Ermittler: Es gibt weder klare Spuren noch verlässliche Zeugen. Deshalb greift die Staatsanwaltschaft zu mehreren Kniffen. +Sie beantragt zum einen, dass vor Gericht Rap-Zeilen verlesen werden, die meisten stammen von Young Thug. Zum anderen will sie beweisen, dass YSL eine kriminelle Gang ist, und beruft sich dafür auf das sogenannte RICO-Gesetz. Das wurde in den 1970er-Jahren erlassen, um kriminelle Organisationen zu zerschlagen. Würde das Gericht YSL gemäß dem RICO-Gesetz zur Gang erklären, könnte es Angeklagte für jeglichen Beitrag zum Label verurteilen, selbst wenn sie nicht nachweislich an Straftaten beteiligt waren. +In solchen Fällen seien Musiktexte in den USA nicht unbedingt von der Kunstfreiheit gedeckt, dem sogenannten First Amendment, sagt Charis Kubrin. Sie ist Professorin für Kriminologie an der University of California, Irvine. Kubrin hat an einem Leitfaden mitgearbeitet, der Anwälten helfen soll, wenn Staatsanwaltschaften Rap-Zeilen vor Gericht verlesen lassen wollen. "Tatsächlich kommt es fast nur in Verbindung mit Rap vor, dass Lyrik als Beweis eingebracht wird", sagt Kubrin. +Bob Marleyhat nie einen Sheriff erschossen, Johnny Cash nie einen Mann in Reno. Foster the People sind nie Amok gelaufen, und David Bowie war nie im Weltall. Brutale, verstörende, hasserfüllte oder schlicht fantastische Zeilen sind in Reggae, Country, Rock, in eigentlich allen Musikrichtungen zu finden. Nur sehr selten werden diese Texte vor US-Gerichten verlesen. +Bei Rap ist das anders. Das Forschungsprojekt Rap on Trial berichtet von fast 700 Prozessen, in denen Rap-Texte herangezogen wurden. +Auch in Großbritannien hat sich die Praxis etabliert: UK-Drill-Rapper erzählen oft und explizit davon, wie Mitglieder verfeindeter Gangs abgeknallt oder mit dem Messer entstellt werden. Die britische Justiz geht hart gegen die Szene vor: Musikvideos werden gesperrt, mancher Künstler muss seine Songs vor Veröffentlichung der Polizei vorlegen, und seit ein paar Jahren sind Texte und Musikvideos vor Gericht als Beweismaterial zugelassen. Das ist auch in Deutschland möglich, kommt aber äußerst selten vor, weil das Grundgesetzdie Kunstfreiheit schützt. +Als Young Thug 2022 auf der Anklagebank Platz nimmt, ist er ein Star mit Nummer-eins-Alben und Grammy Award. Selten sind die Angeklagten so bekannt, heißt es im Forschungsband "Rap on Trial". Meist seien es Amateure, denen Zeilen zum Verhängnis werden, die sie von bekannten Rappern kopieren und umdichten. +Wenn es um schwere Straftaten wie Gewaltverbrechen geht, entscheidet in den USA meist eine Jury über Schuld oder Nichtschuld. In der sitzen mehrere Geschworene, ganz normale Bürgerinnen und Bürger. Einige Staatsanwaltschaften sähen Rap-Zeilen als Abkürzung zu einem Schuldspruch, sagt Kubrin: Damit ließen sich hervorragend Vorurteile aktivieren. BestimmteRap-Stile wie Gangsta-Rapwürden in der Popkultur und von Nachrichtenmedien seit Jahrzehnten dämonisiert. +Zur Wahrheit gehöre aber auch der Rassismus, sagt Kubrin: "Wir wissen, dass es eine Rolle spielt, welcher Ethnie jemand angehört." Laut "Rap on Trial" waren nur in ein bis zwei Prozent der Fälle, in denen Rap-Zeilen als Beweisstück verlesen wurden, die Angeklagten weiß. In allen übrigen soll es sich um Schwarze oder Latinos gehandelt haben. +"Eine Eigenheit des Rap ist, dass er so tut, als sei er authentisch", sagt Kubrin. Was musikalische Fiktion ist und was autobiografische Realität, steht hier eher infrage als bei anderen Genres. Wegen dieser Konvention, wegen der vielen Inszenierungen von Kriminalität im Rap und wegen der Nähe, die Rap und Kriminalität seit jeher haben. Das heiße aber natürlich nicht, dass das in den Texten Geschilderte wirklich passiert sei, sagt Kubrin. +Viele Angeklagte gingen davon aus, sie bräuchten nur eine Chance, sich vor Gericht zu erklären, heißt es in "Rap on Trial". Unter dem Druck der gezielten Fragen von Staatsanwälten würden sich dabei aber manche in Rechtfertigungen verstricken oder ganz die Nerven verlieren. So wirkten sie schnell krimineller, als sie sind, und stünden vor der Jury schlecht da. Ein Problem, das nicht nur angeklagte Rapperinnen und Rapper betrifft. +Kubrin hat selbst ein Experiment unternommen, um Vorurteile gegen Rapmusik aufzuzeigen. Sie gab mehr als 500 Personen einen Liedtext: immer dieselben Zeilen, geschrieben vor mehr als 60 Jahren vom Kingston Trio. Einer Folkband. + +Well, early one eveningI was rollin' around,I was feelin' kind of mean,I shot a deputy down. + +Mal sagte Kubrin, die Zeilen würden aus einem Countrysong stammen, mal aus Heavy Metal oder Rap. Sie stellte fest: Die Hörerinnen und Hörer, die dachten, sie hätten Rap-Zeilen vor sich, gaben mit höherer Wahrscheinlichkeit an, wer so etwas schreibe, sei in einer Gang, vorbestraft oder kriminell. +Kubrins Forschung und die jahrelange Arbeit von "Rap on Trial" haben mit dazu geführt, dass das Problem auch politisch angegangen wird. In Kalifornien wurde 2022 das Gesetz geändert. Bei Strafverfahren, in denen kreative Ausdrucksformen wie Songtexte als Beweismittel zitiert werden, sollen die Gerichte seither erst mal davon ausgehen, dass in den Kreationen kaum wörtliche Wahrheit steckt. Außerdem bescheinigt das Gesetz speziell dem Rap "ein erhebliches Risiko unfairer Vorurteile". Es sei das erste Gesetz in den USA, das die Verwendung von Rap-Texten als Beweismittel beschränkt, sagt Kubrin. + +Dieser Text istim fluter Nr. 93 "Rap"erschienen +In Georgia, wo der Prozess gegen Young Thug verhandelt wurde, ist die Praxis weiterhin erlaubt. In seinem Prozess wurden 17 Zeilen verlesen. Sie erzählen vom Drogenkochen und Schießereien, sprechenBeschimpfungen gegen die Polizeiund Drohungen aus. Nach monatelangen Verhandlungen fehlten allerdings die Beweise, um ihn klar mit einer Gewalttat in Verbindung zu bringen. +Ende Oktober 2024 ließ sich Young Thug auf einen "Plea Deal" ein: Er gestand einige vergleichsweise kleine Vergehen. Und bestritt nicht, dass sein Label eine Gang gewesen sei, deren Kopf er war. Das kam einem Schuldeingeständnis gleich. Dafür wurden andere Vorwürfe gestrichen. Nach zwei Jahren in Untersuchungshaft ist Young Thug frei – aber nun für 15 Jahre auf Bewährung. + diff --git a/fluter/rap-tuerkei-meinungsfreiheit-zensur.txt b/fluter/rap-tuerkei-meinungsfreiheit-zensur.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6622e868e21d8cb402602b47cd9579983dd55a3a --- /dev/null +++ b/fluter/rap-tuerkei-meinungsfreiheit-zensur.txt @@ -0,0 +1,12 @@ + + +So wurde im Mai 2018 der Rapper Ezhel, mit bürgerlichem Namen Sercan Ipekcioglu, aus Ankara im Vorfeld der vorgezogenen Präsidentschaftswahlen in Untersuchungshaft genommen. Der Vorwurf: Im Song "Alo" (dt.: Hallo) würde er zum Drogenkonsum aufrufen. Ezhel wurde auf Grundlage seines künstlerischen Werkes verhaftet und nicht, weil er eine reelle Straftat begangen hat. Amnesty International und Fans von Ezhel initiierten eine Kampagne zur Freilassung des Künstlers. Als das am 19. Juni geschah, forderte Ezhel: "Die Kunstfreiheit muss geschützt werden." +Diese Forderung kann auf alle Musikrichtungen in der Türkei übertragen werden: Bereits im Jahr 2016 wurden vom staatlichen Sender TRT 208 Songs auf eine rote Liste gesetzt, unter anderem, weil das Wort sevişmek (dt.: Liebe machen) oder sarhoş (dt.: betrunken) vorkommt. Dies gleicht einer Kampfansage, weil es nicht nur um den Konsum von Alkohol geht, sondern auch darum, wer im öffentlichen Raum sichtbar sein darf. Und wer nicht. +Wenn Rapper Alkohol- und Drogenkonsum thematisieren, greifen sie damit indirekt zum einen die Regierungspolitik an, die sich restriktiv auf das private und öffentliche Leben der Bürger*innen auswirkt. Zum anderen spiegeln sie in ihren Texten auch den Zustand des Landes wider: Wirtschaftlicher Abstieg, Flucht in Drogen und Alkoholkonsum zeigen die gesellschaftliche Krise, die für Teile der Bevölkerung spürbar ist. Das Video zu "Şehrimin tadı" (Der Geschmack meiner Stadt) von Ezhel wurde über 60 Millionen Mal geklickt. Darin rappt er: "Immer nur für euch, Alter, wir wollen auch etwas / Die Jugendlichen sind arbeitslos, während ihr die Chefs seid, dann fick die Arbeit." +Es gibt in der Türkei keine Rap-Songs, in denen explizit Regierungspolitiker verbal angegriffen werden. Angesichts der Tatsache, dass 2017 die Staatsanwaltschaft in 20.539 Fällen wegen Präsidentenbeleidigung ermittelte und es in über 6.000 Fällen zum Prozess kam, kann das als Selbstzensur gelesen werden. Präsidentenbeleidigung ist seit 1993 im türkischen Strafgesetz verankert, also bereits vor der Zeit Erdoğans, der seit 2003 Ministerpräsident war und seit 2014 Präsident ist. Jedoch kam das Gesetz nie so häufig zur Anwendung wie in seiner Amtszeit. Aktuell befindet sich die Türkeilaut Reporter ohne Grenzen weltweit beim Thema Pressefreiheit nur noch auf dem 157. von 180 Plätzen. Die Türkei gehöre zu den Ländern mit den meisten inhaftierten Journalisten weltweit. Nach dem Putschversuch im Juli 2016 wurden weit über 100 Journalisten verhaftet, rund 150 Medien geschlossen und mehr als 700 Presseausweise annulliert.Im März mussten auch deutsche Journalisten das Land verlassen. + + +Rapper*innen in der Türkei sind mit einer Reihe von Einschränkungen konfrontiert, die zum Beispiel in Deutschland durch die Kunstfreiheit im Grundgesetz gedeckt sind. Explizite Kraftausdrücke, wie beispielsweise das Wort bok (dt.: Scheiße), müssen auf Alben mit Stickern überklebt werden. +Angesichts der konservativ-religiösen Politik und der Vorstellung, dass Rap eine männliche Domäne ist, sind weibliche MCs doppelt subversiv. Präsident Erdoğan konstatierte mehrfach, Männer und Frauen könnten nicht gleichberechtigt sein, weil das widernatürlich sei. Rap aber bietet Frauen die Möglichkeit, als solche zu sprechen und von einer breiten Masse gehört zu werden. Die Rapperin Ayben hat Ende 2017 das Album "Başkan" (dt.: Chef, Präsident) produziert. Den Begriff Başkan verwendet sie selbst ausdrücklich im Straßenjargon, so wie es in Rap-Battles üblich ist. Er ist aber auch ein Angriff auf das herrschende Rollenverständnis. Unter anderem mit dem Satz "Frauen, die nicht Mütter werden, weil sie arbeiten, sind nur halbe Frauen" hatte Erdoğan verdeutlicht, welch konservative Frauenpolitik er verfolgt. 2017 wurden nach Angaben des Frauenrechtsvereins Kadın cinayetlerini durduracağız platformu in der Türkei 409 Frauen ermordet. Ayben widmete ihr Album allen Frauen, die durch Unterdrückung und Gewalt zum Schweigen gebracht werden. So eröffnet Rapmusik ihren Künstler*innen und Fans solidarische Räume, um ein anderes Gesellschaftsmodell zu fordern und das herrschende zu kritisieren – wenn auch nur indirekt. + +Titelbild: BULENT KILIC/AFP/Getty Images diff --git a/fluter/rap-und-polizei.txt b/fluter/rap-und-polizei.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..953194334220173ececf4469ec2c23a99b690373 --- /dev/null +++ b/fluter/rap-und-polizei.txt @@ -0,0 +1,23 @@ + +[...] 'cause I'm brownAnd not the other color so police thinkThey have the authority to kill a minorityFuck that shit, 'cause I ain't the oneFor a punk motherfucker with a badge and a gun +"Fuck tha Police" von N.W.A + +In Deutschland folgten Acts wie Advanced Chemistry in den 1990er-Jahren den US-Vorbildern. Größen wie Haftbefehl und Newcomer wie Aylo oder Lacazette führen die Tradition polizeikritischer Texte bis heute fort. "Die sind durchaus politisch zu verstehen", sagt der Kriminologe Christian Wickert. "Rap kann polizeiliches Fehlverhaltenwie Racial Profiling, Korruption oder eineals illegitim empfundene Gewaltanwendungskandalisieren." In einer Studie unter Zehntausenden Polizeibeschäftigten gab jüngst ein Drittel an, aus dem Kollegium bereits rassistische und sexistische Äußerungen oder ablehnende Kommentare gegenüber Asylsuchenden gehört zu haben. Stereotype und strukturelle Benachteiligung sind nicht nur in den USA ein Problem, sondern auch in Deutschland. +Dieser Text istim fluter Nr. 93 "Rap"erschienen +Für ein Forschungsprojekthat Christian Wickert Texte von mehr als 900 Deutschrap-Alben analysiert, die zwischen März 2015 und März 2022 in die Charts eingestiegen sind. Er hat dabei herausgearbeitet, warum das "Copbashing" zum Selbstverständnis vieler Rapperinnen und Rapper dazugehört. Neben der politischen Komponente macht Wickert die Street Credibility verantwortlich, die gerade im Straßen- und Gangsta-Rap eine wichtige Währung ist. Erzählungen vom Kontakt mit der Polizei würden die Texte und das Image beglaubigen, sagt Wickert: Wernicht nur darüber rappt, sondern wirklich krumme Dinger dreht, bekommt es zwangsläufig irgendwann mit der Polizei zu tun. Das Scheinwerferlicht der Unterwelt leuchtet immer auch blau. +Zum anderen sei Polizeikritik häufig versteckte Sozialkritik, sagt Wickert. Raperzählt oft aus Gegendenohne Bildungs- und Aufstiegschancen. "Gangsta-Rapper stellen dort ihre Handlungsfähigkeit zur Schau, indem sie diesen widrigen Umständen wie der Verfolgung durch die Polizei aus eigener Kraft entkommen." +Aber wie ist es umgekehrt? Natürlich sind auch viele Polizeibeamtinnen und -beamte selbst Fans der Musik, die sie ablehnt. Wie hält man diesen Widerspruch aus? "Es gibt Teile von Rap, die kann man mögen, und andere nicht", sagt Daniel, 34, der viele Jahre Streife durch Berlin gefahren ist. "Ich höre genauer hin, wenn eine Line über Polizisten fällt, aber ich liebe Rapmusik und ihre Protagonisten nicht weniger, seit ich Polizist bin." Jamie sieht das ähnlich. Sie ist 31 und arbeitet nach sieben Jahren auf Streife mittlerweile im gehobenen Dienst der Polizei. "Ich liebe die Sprache und welche Geschichten Rap daraus baut. Oft adressiert er die richtigen strukturellen Probleme wie Armut oder Rassismus. Es ist aber auch wichtig, wie man die rüberbringt." + +Fick auf die Bull'n, wir machen Party [...]Mitten in der Nacht siehst du Blaulicht am BlockWeil einer nimmt was,verpackt es um und gibt es dann weiterJeden Tag Streiterei'n wegen Baida oder WeibernFick Polizei, Mann, transportier' Ganja auf higher +"Fick dich" von Hanybal und Nimo + +Bloßes Abgehate auf die Polizei langweile sie, sagt Jamie. "Aber man hört Rap anders, wenn man sich mit den Künstlern beschäftigt. Der klassische ‚Fick die Cops'-Song von Haftbefehl nervt mich wegen seiner Biografie weniger als einer von Bushido, der sich mit dem Chef eines kriminellen Clans verkracht hat und deshalb massiv den Polizeiapparat in Anspruch nehmen musste." +Rap – insbesondere Gangsta-Rap – ist eben vor allem: Show. Nicht die "Tagesschau" oder der polizeiliche Lagebericht, sondern eine Kunstform, in der die Inszenierung zählt. "In dieser Hinsicht brauchen Rapper die Polizei", sagt der Kriminologe Christian Wickert. Auch wenn es viele ungern zugeben würden. Die Musik ist zum globalen Phänomen geworden, weil sie gute Geschichten erzählt. Jede gute Geschichte hat zunächst mal einen Protagonisten und einen Antagonisten. +"Da wird vieles überzogen dargestellt", sagt Daniel. Die Texte spiegeln aus seiner Sicht nicht die Realität der Polizeieinsätze wider: Eine Verkehrskontrolle oder der zwölfte Einsatz wegen Lärmbelästigung wären viel zu nüchtern für große Geschichten. Das wüssten auch Rap-Fans, sagt Daniel. Dass die polizeikritischer sind als Fans anderer Genres, glaubt er nicht. Wie man die Polizei sehe, bestimmen nicht die Texte, die man hört, sondern die Erfahrungen, die man mit Polizisten macht. + +Görlitzer Park, Görlitzer ParkAuf dem Spielplatz liegen Nadeln im SandRacial Profiling, Schikane vom StaatDrogenspürhunde, sie wittern etwas +"Görlitzer Park" von K.I.Z. + +Daniel fühlt den Song – vielleicht mehr, als manche vermuten mögen. "Man sollte ansprechen, was schlecht läuft, auch in der Polizei", sagt er. Künstler wie K.I.Z. oder Apsilon würden das gut hinbekommen. Als Polizist ist er verpflichtet, die Regeln eines Staates durchzusetzen, die die Würde aller Menschen schützen sollen. Gleichzeitig lasse die Politik viele Menschen so allein, dass sie irgendwann kriminell werden. Als Polizist habe er sich damit oft im Stich gelassen gefühlt. "Aber es gibt Texte, die mir helfen, die Gründe für manche Straftaten nachzuvollziehen. Rap kann dir manchmal erklären, wen du vor dir hast, wie die Welt dieser Person aussieht, wie du ihr am besten begegnest." +Auch wenn man im Rap traditionell nicht mit der Polizei spricht: zu ihr zu sprechen ist kein Verbrechen. Vielleicht ist es eine Chance. + diff --git a/fluter/rap-weltweit.txt b/fluter/rap-weltweit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c4f1789bd2d436db773a26527cd5ffe38464ade2 --- /dev/null +++ b/fluter/rap-weltweit.txt @@ -0,0 +1,39 @@ +Seinen Stil hat das verändert. Ironische Witze sind Balladen gewichen, auf denen er Panik, Depressionen und den Verlust seiner Heimat verarbeitet. "Ich habe russisches Blut und auch ukrainisches Blut / Deshalb hasse ich mich selbst, und es ist schwierig für mich", rappt er auf seinem neuesten Album. +Johann Voigt + +Nicht lang her, da hätten Charterfolge afrikanischer Acts in Europa für Schlagzeilen gesorgt. Heute füllen Tems, Wizkid oder Burna Boy hier selbstverständlich die Konzerthallen, Major-Labels eröffnen Ableger in Westafrika, und die Streaminganbieter hecheln mit Playlists den Trends nach, die Musikerinnen und Musiker aus Afrika setzen. +Afrobeats sei Dank. Das ist weniger ein einheitlicher Stil als ein Sammelbegriff, der kurioserweise in Großbritannien entstand: Partygänger mit nigerianischen und ghanaischen Wurzeln brauchten ein Label für den Pop ihrer Herkunftsländer, der moderne, polierte Sounds mit komplexen afrikanischen Rhythmen zusammenbrachte. +Wie das klingt, hört man bei Amaarae. Aufgewachsen zwischen der ghanaischen Hauptstadt Accra, New York und Atlanta, mischt die Rapperin 90er-Rock und US-Pop mit klassischem und modernem Afropop. Viele Songs ("Sad Girlz Luv Money"!) sind so tanzbar, als wären siefür TikTok geschrieben. +Bei Amaarae verschmelzen die Genres wie die Themen: Mit klarer, oft fast hauchender Stimme rappt sie über gute Autos und schlechten Sex, alten Cognac und neue Rollenbilder, Geld und Freiheit, Spaß und Selbstbestimmung, gern auch über alles innerhalb weniger Lines. "I don't make songs, bitch, I make memories", verspricht sie in"Hellz Angel"und legt direkt doubletime nach: "I don't like thongs, 'cause they ride up in jeans." +Victor Efevberha + +In den meisten Ländern Südostasiens ist Rap erst seit ein paar Jahren in den Charts. Er hat als US-Importprodukt nicht die Entwicklung von der Straße zu Hochglanz gemacht, sondern ist direktmit dem großen Flexeingestiegen: Die Klamotten, Sportwagen, Gesten und Lines kennt man von Nullachtfünfzehn-US-Rappern ... wären da nicht JMara und seine Crew Morobeats, die die muslimische Minderheit auf den Philippinen representen. +Statt stoisch mit Designerbrillen zu posieren, stapft JMara mit halb wahnsinnigem Blick und ohne Shirt durch vermüllte Armenviertel. Man checkt: Der hat etwas zu sagen. Man muss kein Tagalog sprechen, um Songs wie"Mahal Kong Pilipinas"("Meine geliebten Philippinen") zu fühlen. Auch weil Jmaras Stimme aus Gold ist: Auf den Philippinen, wo Karaoke wie ein Volkssport betrieben wird, sind viele Rapper auch Gesangstalente. Mal ergreifend, mal wütend berichtet JMara vom Elend, das seine Leute ertragen. Hier ist Hustle, jeden Tag. Die Sandalen fallen auseinander, die Mahlzeiten aus, viele haben kein Dach über dem Kopf. JMara liebt seine Heimat, aber: "Mahal mo ba ako?" Liebst du mich auch? +Nikita Vaillant + +Mai 2020. Überall auf der Welt demonstrieren Menschen nach dem Mord an George Floyd gegen Rassismusund Polizeigewalt. In Australien trägt eine Zeile die Protestwelle: "Why my people gotta die?" Warum müssen meine Leute sterben?, fragt die Rapperin Barkaa in ihrem Song"Our Lives Matter". Chloe Quayle, wie Barkaa bürgerlich heißt, wächst als Tochter einer alleinerziehenden Barkindji auf: Der Stamm zählt zu den indigenen Völkern Australiens. +Als Jugendliche ist Barkaa Meth-abhängig und sitzt mehrfach in Haft. Ihr drittes Kind, das sie im Knast zur Welt bringt, kommt sofort nach der Geburt in eine Pflegefamilie. Ein Wendepunkt für Barkaa. Schon zu Schulzeiten war Rap ein Ventil für ihre Wut, jetzt macht sie Rap zum Beruf. Barkaa flowt monströs, ihre Sounds sind düster, die Texte kraftvoll, in ihren Musikvideos sind traditionelle Kleider und Farben der Barkindji zu sehen. Die sind ein Matriarchat, seit jeher hatte Barkaa starke weibliche Vorbilder. Diese Tradition führt sie fort: Ihre älteste Tochter steht regelmäßig mit ihr auf der Bühne. +Katharina Schulz + +Die Rap-Szene in Indien wächst und mit ihr auch viele Rapperinnen, denen allerdings oft die Plattform fehlt. Wie gut, dass es WWW gibt – nicht das World Wide Web, sondern die Wild Wild Women. Die fünf MCs, eine Graffitikünstlerin und zwei Breakdancerinnen sind das erste komplett weibliche Hip-Hop-Kollektiv Indiens. Es will nicht weniger als gesellschaftliche Konventionen aufbrechen: In Indien werden Mädchen und Frauen massiv benachteiligt und unterdrückt, sexualisierte Gewalt, Zwangsehen und Entführungen sind alltäglich. +Wild Wild Women rappen wütend, aber immer im Flow über Empowerment, Sisterhood, mentale Gesundheit und die täglichen Kämpfe, die viele Frauen in dieser patriarchalischen Gesellschaft bestehen müssen: "The need of the hour, We're gonna live to empower. Rise up for what you believe, turning the tables, this is girl power, can't you see?" +Die Crew wollte die westliche Hip-Hop-Kultur nicht einfach übernehmen. Also wird auf Englisch, Hindi, Marathi und Tamil gerappt und manchmal in traditionellen Saris. +Julia Belzig + +Rap schwappt seit den 1990er-Jahren aus den USA nach China, der Durchbruch kam aber erst 2017: Die Fernsehshow "The Rap of China" war eine Art chinesisches "The Voice", so gut und so neu, dass sie mehr als zweieinhalb Milliarden Mal gestreamt wurde und Rap innerhalb kürzester Zeit zur Musik des Mainstreams machte. Das ging der chinesischen Medienbehörde zu schnell.2018 verbot sie Rap, der nicht auf Parteilinie liegt. +Wer heute öffentlich in China rappen will, muss seine Lyrics vor dem Upload von einer künstlichen Intelligenz prüfen lassen. Sex, Drogen und Gewalt, groß inszenierte Tattoos und dekadentes Verhalten, vulgäre oder politische Texte: alles verboten. Ehemals regimekritische und am US-Rap orientierte Acts wie die Higher Brothers rappten plötzlich patriotisch. Aber auch in China floriert ein Untergrund, der seine Songs an den Uploadfiltern vorbeischmuggelt – verpackt in Metaphern oder ähnlich klingenden Worten. Chinesischer Rap wird vielfältiger und bleibt eines der beliebtesten Musikgenres der Gen Z – trotz der massiven Einschnitte in die Meinungsfreiheit. +Katharina Schulz + +Lisa, Patricia, Alejandra, Valeria … Young Miko liebt viele Frauen, auf ihrem Song "Lisa" listet sie sie auf. Typisch Rap, nur gibt es die Zeilen über Sex und schöne Frauen hier ohne den üblichen Chauvinismus. +Young Miko kommt aus Puerto Rico. Auf der Karibikinsel, die zu den USA gehört, waren homosexuelle Handlungen bis 2003 strafbar. Queere Menschen leben immer noch gefährlich: 2019 wurde Kevin Fret ermordet, der als erster offen schwuler Trap-Rapper Puerto Ricos gilt, 2020 die trans Frau Alexa Negrón Luciano. Es folgte eine Debatte, der Rap viel zu geben hat. Zum Beispiel Vorbilder mit reichlich Selbstbewusstsein: "Dein Papa zahlt für meine OP", rappt Villano Antillano auf"Vendetta", einem Song mit Young Miko. Rap war immer auch die Kunst der kreativen Beleidigung. Nur geht es dabei noch selten um Transidentität. +Young Miko ist inzwischen ein Star: Ihr Album "att.", das Rap, Pop und Reggaeton lässig durcheinanderwirft, wurde millionenfach gestreamt. +Mathis Raabe + + +"Da draußen protestieren Kids, die sind 12, 13 Jahre alt. Wovor hast du Angst?", fragt Toomaj Salehi seine Fans. Herbst 2022, Hunderttausende Iranerinnen und Iraner gehen nach dem Tod von Jina Mahsa Amini auf die Straßen. Die 22-Jährige war festgenom men worden, weil sie aus Sicht der Sittenpolizei ihr Kopftuch nicht richtig getragen hat. Auf der Polizeistation fiel sie unter unklaren Umständen ins Koma und starb wenige Tage später. +Toomaj läuftbei den "Jin, Jiyan, Azadî"-(Frau, Leben, Freiheit)-Protestenan vorderster Front. Seit Jahren prangert der Rapper in Songs die Korruption des iranischen Regimes und die Willkür der Sittenpolizei an, die in der Islamischen Republik die Einhaltung der Scharia überwacht. Im Frühjahr 2024 wird er wegen Aufrufs zur Rebellion und "Korruption auf Erden" verhaftet und zum Tode verurteilt. +Das Urteil ist mittlerweile aufgehoben, Anfang Dezember 2024 wurde Toomaj nach Monaten in Haft freigelassen. Im autoritären Iran, wo Frauen in der Öffentlichkeit nicht singen dürfen, haben sich in den vergangenen Jahren auch Rapperinnen gegen das Regime gestellt. Viele haben das Land verlassen, so wie Justina oder Salome MC. Andere bleiben und rappen im Untergrund weiter. +Teseo La Marca + + +Dieser Beitrag ist im fluter Nr. 93 "Rap" erschienen.Das ganze Heftfindet ihr hier. diff --git a/fluter/rap-workshop-selbstermaechtigung.txt b/fluter/rap-workshop-selbstermaechtigung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b99849fcf4ee2acccc3d484d2316277ea300b042 --- /dev/null +++ b/fluter/rap-workshop-selbstermaechtigung.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +Vier Lines aufeinen Oldschool-Boom-Bap-Beat. Am Mikro: Mieke, 20, Trainingsjacke, Augenbrauenpiercing, feste Stimme. + +Mache das für alle Chayasaus dem Untergrund,Und treff mit dieser Muckemanchen wunden Punkt + +Blick in die Runde. Vier Köpfe nicken im Takt der Musik. KeineChayashier, aber Robert, Iman, Eric und Aria. Sie feiern den Track. Seitenhiebe gegen Machos hin oder her. Als der Beat verstummt: anerkennender Applaus und Fistbump. Zufrieden legt Mieke das Mikro beiseite. +Ein Herbstnachmittag in Hamburg-Tonndorf. Die Gruppe sitzt am Konferenztisch des Nordstern-Vereins. In der Mitte liegen Schmierzettel, ein Mikro und eine Bluetooth-Box. Draußen fahren ein paar Kids mit ihren E-Scootern Donuts in den Sportplatzboden. Am Eingang des Gebäudes klebt ein Sticker: Raps & Beats. + +Eingeladen hat Mr. Schnabel, Rapper und in Hamburg ein echtes Urgestein. Ein Typ, der aussieht, als würde er den Kiez atmen. Snapback, blauer Hoodie, wacher Blick. "Zurück zu den Neunzigern", ruft er, als die Drums in Miekes Song leiser werden. Der Sound scheint Erinnerungen zu wecken. Damals war Schnabel im Umfeld von Jan Delays Label Eimsbush unterwegs. Als Rapper machte er sich deutschlandweit einen Namen. Bis zum ersten Plattenvertrag habe es zehn Jahre gedauert, erzählt Schnabel. Er habe vieles auf die harte Tour gelernt. Diese Erfahrungen will er weitergeben. +Rappen lernen. Das klingt erst mal uncool. Weit entfernt von der Bordstein-zur-Skyline-Erzählung, laut der man sich die Skills selbst beibringt, die Reime aus dem Ärmel schüttelt, mit Rap geboren wird oder eben nicht. Aber Schnabels Kurse sind gut besucht, vor allemin den benachteiligten StadtteilenHamburgs. Zu Hause gibt es oft Probleme: zu wenig Geld, Langeweile, Drogen. "Für die Jugendlichen ist Rap ein Auffangbecken", sagt Schnabel. Rap könne ihnen helfen, die eigenen Gefühle auszudrücken, Dampf abzulassen, keine Scheiße zu bauen. "Rap ist wie Boxen für den Kopf", sagt er. "Man kann sich damit leer machen." +Genau dafür sind Mieke, Eric, Aria, Robert und Iman heute hier. Eine Gruppe, so gut abgemischt wie ein Rap-Hit: Hier trifft Schwesta-Ewa-Fan auf OG-Keemo-Ultra, BWL-Student auf angehende Sozialarbeiterin, Straßenrapper auf Gedichteschreiber. Über Wochen haben sie an ihren Songs gearbeitet: an Binnenreimen getüftelt, Laute und Vokale abgestimmt und ihr Timing verbessert. Heute wollen sie die Ergebnisse vortragen. Mieke hat gut vorgelegt, jetzt ist Eric dran. Ein großer Typ, der Ruhepol der Gruppe. Bisher hat er sich zurückgehalten, doch jetzt schnappt er sich das Mikro und legt los: + +Die Guten sterben jung19 Jahre viel zu frühIch bin hier in TherapieHab ein bitteres Gefühl + +Wenn Eric seine Zeilen rappt, scheint er ganz bei sich zu sein. Das war nicht immer so. Jahrelang konnte er nicht über das sprechen, was ihn bedrückt. Die Drogen ließen irgendwann keinen Platz mehr für Emotionen. Vor zwei Jahren hat er einen Freund verloren: Überdosis. Mit der Trauer kam die Angst. An Alltag war nicht mehr zu denken. In Menschenmengen bekam er Herzklopfen, seine Hände begannen zu zittern. +In der Drogentherapie lernte Eric Schnabel kennen. Ihre erste gemeinsame Arbeit: ein Song übers Abschiednehmen. Im vergangenen Winter performte Eric den Track zum ersten Mal live. 800 Menschen hörten zu, als er seine Geschichte erzählte. Das Zittern seiner Hände war nur für Mentor Schnabel erkennbar. Für Eric ein Befreiungsakt. "Danach war ich ein anderer Mensch", sagt er heute. + +Studien zeigen, dass Rap das Selbstbewusstsein steigern kann. Besondersfür Jugendliche mit Angststörungen und Depressionenkann das hilfreich sein. Aber auch für die, denen sonst nicht oft zugehört wird. Durch Musik können sie die Kontrolle über ihre Geschichte zurückerlangen. "Rappen bedeutet, aus der Opferrolle rauszukommen", sagt Mieke. Gerade junge Rapperinnen würden sich oft unterschätzen. Als Mieke nach zwei Wochen bei Schnabel das erste Mal auf der Bühne stand, sei das ein "selbstermächtigender Moment" gewesen. Schnabel hat oft beobachtet, wie Jugendliche am Rap wachsen. "Es ist wichtig, dass sie eine Sprache bekommen, um sich und anderen Mut zu machen." +Als Nächstes ist Aria dran, mit 26 der Älteste der Runde. Schulterlange Haare, schwarzer Sweater. Wenn er nicht rappt, sitzt er in Politikvorlesungen an der Uni. Seit Langem schreibt er Gedichte. Mit Schnabel bringt er sie in Form. So entstand auch "Schwarzkopfrevier". In dem Song verarbeitet er seine Jugend in Hamburg-Jenfeld. Heute will er Mieke und den anderen davon erzählen. + +Zähne auf ZementZu viel Kopffick, werd' dementIn Jentown aufzuwachsen heißtEs gibt keinen hellen Moment + +Die Musik stoppt, Applaus. Schnabel bescheinigt "Headliner-Potenzial". An diesem Nachmittag ermutigt er und hört zu, mit Ratschlägen hält er sich eher zurück. "Ich kann sie nur anstupsen, den Rest müssen sie allein machen." Schnabel ist mehr Mentor als Lehrer, der Schnack zählt hier mehr als die perfekte Zeile. +Mieke, Aria und Eric haben vorgelegt, das Schlusslicht bilden Iman und Robert. Während der eine am nächsten Track feilt, träumt der andere schon von den großen Bühnen. Robert kommt seit zwei Jahren zu Schnabel. Er arbeitet an seinem Traum, Rapper zu werden. Dafür hat er im Herbst ein BWL-Studium angefangen, auch um die Musikindustrie besser zu verstehen. Heute trägt er ein weißes Shirt. Darauf sein Name: R.O.B. Auf den Rücken ist ein QR-Code gedruckt, mit dem man auf seine Webseite kommt. Robert überlässt nichts dem Zufall. Routiniert präsentiert er der Gruppe seinen Song. "Wake Me Up" ist ein emotionaler Track über den Verlust einer geliebten Person. Nächste Woche geht es für ihn ins Studio. + +Dieser Text istim fluter Nr. 93 "Rap"erschienen +Iman ist noch in der Arbeitsphase. In seinem neuen Song erzählt der 13-Jährige von seiner Kindheit in Sachsen-Anhalt, von streitenden Eltern und Fußballspielen zwischen Wäscheständern. Iman trägt erst mal nur die erste Strophe vor. Der Beat steht, aber der Flow sitzt noch nicht. Deshalb performt er heute "Jentown im Juli", eine Hymne an 045, seine Hood in Hamburg-Jenfeld. Schnabel erinnert: Wichtig sei es in solchen Songs vor allem, authentisch zu sein. "Leutereden von Ferraris, aber haben nicht mal 'nen Führerschein." Iman grinst. Von wegen hohe Häuser und tiefe Karren. Er ist eher Team E-Scooter. +Draußen ist es dunkel geworden. "Amo aller Amos" leiert über Handyboxen. Genug gesagt, jetzt sollen andere rappen. Aber Schnabel, der hat noch eine Punchline. Beim Bewerbungsgespräch oder im Klassenzimmer müsse man sich verstellen, sagt er. "Da kannst du nicht erzählen, wie lang du konsumiert hast." Kunstpause. "Aber im Rap, da kannst du sein, wie du bist." diff --git a/fluter/rappen-gegen-rechts.txt b/fluter/rappen-gegen-rechts.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4c0615e81096b6baf827ec096102adf2c5d6ccb9 --- /dev/null +++ b/fluter/rappen-gegen-rechts.txt @@ -0,0 +1,26 @@ + +Marten Laciny, der hinter Pseudonymen wie Marteria oder Marsimoto steckt, hat mal gesagt, dass Marsimoto etwas "komplett Wahnwitziges" sei. Mit seiner verzerrten Stimme, die wie sein Name angelehnt an Madlibs Alter Ego Quasimoto ist, ist Marsimoto auf jeden Fall besonders. Das zeigt sich auch in seinen Rollenprosa-Raps. So schlüpft er schon mal in die Rolle eines ausgesetzten Hundes, eines Pinguins oder einer Zecke wie in "Zecken raus". Da spielt Marsimoto clever mit dem häufig im rechtsextremen Spektrum benutzten Begriff "Zecke" für Linksautonome und verkehrt ihn ins Gegenteil. So ist es die Zecke, die durch den Wald marschiert und "Gottesanbeter und Wildschweine raus" brüllt – eines der originellsten Statements, die der deutsche HipHop zum derzeitigen gesellschaftlichen Klima zu bieten hat. + + +Dass bei den Terroristen des "Nationalsozialistischen Untergrunds" Alben von U2 gefunden wurden, überrascht. War aber leider so. Mit "Beate Zschäpe hört U2" beweist die Antilopen Gang, dass im HipHop nicht nur Gesellschaftskritik steckt, sondern manchmal auch ganz schön viel Philosophie. Der Titel verweist im Grunde implizit auf die berühmte These der Philosophin Hannah Arendt, dass das Böse banal ist. Fazit: ein Track, der darauf aufmerksam macht, wie schnell sich rechtsradikale- und rechtsextreme Ideologien ausbreiten und hinter einer biederen Fassade verstecken können. + + +Wenn es um politischen Rap geht, darf ihr Name nicht fehlen: Sookee hat sich mit ihrer Musik schon immer gegen Homophobie, Sexismus und Rassismus engagiert. Und sie tut es auch auf ihrem neuen Album "Mortem und Makeup". Gleich das erste Stück "Q1" ist ein politischer Rundumschlag, in dem die Rapperin aus Berlin den Rechtsruck und die Flüchtlingsdebatte thematisiert. In "Hüpfburg" erzählt sie aus der Sicht eines Kindes, das in einer Neonazi-Familie aufwächst. Durch diese kindliche Perspektive werden die Widersprüche deutlich: auf der einen Seite die Ideologisierung durch die Eltern, auf der anderen die Bedürfnisse des Kindes. Denn das möchte eigentlich nur mit seinem Freund Yüksel spielen – und darf es nicht. + + +Auf Chefkets jüngstem Album "Nachtmensch" geht es zwar viel ums Feiern, die Liebe und darum, dass er der glücklichste Rapper der Welt ist. Doch auch gesellschaftliche Entwicklungen behält Chefket sehr genau im Blick. Das beweist er mit dem Stück "Wir": Er macht klar, dass es immer noch eine Kluft zwischen den Menschen gibt, die von Vorurteilen und Stereotypen geprägt ist. Und Chefket betont in seinem Song, dass es gar nicht viel braucht, um diese zu überwinden: nämlich einfach mal zu den Menschen hingehen, mit ihnen sprechen und sie kennenlernen. + + +"Ich bin Gast in diesem Land / Ich kam hier an mit meinem Pass in meiner Hand / Meine Haut ist an vielen Stellen verbrannt." Wer angesichts dieser Zeilen im ersten Moment an Flüchtlinge denkt, liegt leider genau falsch – und das ist wiederum genau richtig. Denn die nächste Zeile "Ich hab die Sonnencreme vergessen / doch liege ständig am Strand" wirkt erst dadurch so absurd und verstörend. Der Münchner Rapper Fatoni nimmt sich in "32 Grad" bitterböse all jene vor, die sich nicht nur für die Situation von Flüchtlingen nicht interessieren, sondern sie sogar ganz bewusst ausblenden. "DJ, mach das Lied mal laut / Weil diese Schreie da draußen den Appetit versauen / Es heißt ,All you can eat' und genau das werd ich tun." Bei diesen Zeilen kann einem eigentlich nur schlecht werden. + + +2015 wurde "Gutmensch" zum Unwort des Jahres gekürt. Mit dieser Bezeichnung sollten all jene beschimpft werden, die sich für Flüchtlinge engagieren. Darauf spielt der Titel "Gute Menschen" an, wobei OK Kid aus Gießen ihm eine neue Bedeutung geben. Denn jetzt geht es um diejenigen, deren Leben von Doppelmoral und Verlogenheit zersetzt ist: "Niemand schiebt hier irgendjemand ab / Alle lieben Aydin Döner – beste Soße der Stadt / Ich weiß nicht, was ihr habt / Ich sehe nur gute Menschen, die nichts Böses wollen." OK Kid greifen das Thema Fremdenhass sowohl in ihrem Text als auch im dazugehörigen Video in eindringlicher Weise auf. Mögen sie vorher auch wenig politisch mit ihrer Musik gewesen sein – hiermit haben sie ein deutliches Zeichen gesetzt. + + +2015 sorgte das Foto des toten dreijährigen Aylan Kurdi an einem türkischen Strand für weltweites Entsetzen. Fast zwei Jahre sind seitdem vergangen. Dass im Mittelmeer immer noch Menschen ertrinken, daran erinnert die Rapperin Ebow aus München mit ihrer Single, die Anfang des Jahres erschienen ist: "Salem Aleikum, Brüder und Schwestern, viele können nicht hier sein im wilden, wilden Westen, einer ging verloren, einer kam nie an." Gleichzeitig macht sie noch mal bewusst, was das lateinische Wort Asylum eigentlich bedeutet: sicher, unberaubt. Ebow, die in vielen ihrer Texte Sozialkritik verpackt, prangert jedoch nicht allein die Abschottung an, sie entlarvt auch Egoismus und Überheblichkeit der westlichen Welt, die sich für etwas Besseres halte. "Lern endlich die Sprache/ werd endlich ein Sklave/ vergiss deine Werte/ mach Geld oder sterbe." + + +Gegen die Bezeichnung politischer Rapper würde sich Megaloh wohl wehren – zumindest sagte er in einem Interview, dass er sich selbst nicht so etikettieren würde. Doch spätestens seit seinem Album "Regenmacher" ist klar, dass der Rapper aus Berlin zu den reflektierten Stimmen im deutschen HipHop zählt. Auf seinem Album setzt er sich mit seiner niederländisch-nigerianischen Abstammung und der Situation von Geflüchteten auseinander. In "Wohin" nimmt er die Perspektive eines Geflüchteten ein und macht deutlich, wie verloren Menschen sein können: "Sie sagen ich bin illegal hier / Ich habe kein Recht / Ich such nur nen Platz, um zu leben / Ich habe kein Recht." Damit lässt er eine Stimme erklingen, die oftmals überhört wird. + + +Titelbild: PYMCA/UIG via Getty Images diff --git a/fluter/rapper-smockey-burkina-faso-revolution.txt b/fluter/rapper-smockey-burkina-faso-revolution.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ce0017e104d4db11d8db9f924700b5597d1321c1 --- /dev/null +++ b/fluter/rapper-smockey-burkina-faso-revolution.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Vor noch nicht allzu langer Zeit war das kleine, im Inland liegende Burkina Faso ein Lichtblick im damals oft ziemlich chaotischen Westafrika. 1983 hatte sich der Sozialrevolutionär Thomas Sankara an die Macht geputscht, als der Staat noch seinen Kolonialnamen Obervolta trug. Bald taufte Sankara ihn in Burkina Faso um, was so viel wie "das Land der Aufrechten" bedeutet. Er begann umfassende Reformen, die seine Heimat etwa unabhängig von Lebensmittelimporten machen sollten. Doch nach nur vier Jahren im Amt wurde er ermordet. Man munkelt, dass der spätere Präsident Campaoré, damals ein Kamerad Sankaras, hinter dem Mord steckte. In den Folgejahren verlängerte Campaoré seine Amtszeit verfassungswidrig wieder und wieder – ein klassisches Modell in vielen afrikanischen Staaten. Heute ist Burkina Faso eines der ärmsten Länder der Welt, auch wegen der schlechten Amtsführung der Politikelite. +In der burkinischen Hauptstadt Ouagadougou kam 1971 Serge Bambara zur Welt, sein Vater war Mitglied des lokalen Bissa-Volks, seine Mutter Französin. Mit 16, 17 verliebte sich Serge in den HipHop und begann, US-Rapper wie LL Cool J oder Public Enemy nachzuahmen, deren Musik er auf Kassetten erstand. Schon damals nannte er sich Smockey – zum einen wegen seiner rauen, rauchigen Stimme, also eigentlich "Smokey", zum anderen aber auch als Wortspiel mit dem französischen "se moquer", was "sich lustig machen über etwas oder jemanden" meint. +Mit 20 ging Smockey zum Studium nach Paris, wo er nebenbei weiter rappte und sogar einen Vertrag mit einer großen Plattenfirma angelte. Doch 2001 zog er zurück nach Burkina Faso. Er rappte nun nicht nur auf Französisch, sondern auch in der zweiten LandesspracheMòoré, damit ihn möglichst viele Menschen vor Ort verstehen können. "Wenn die Leute ins Ausland gehen, dann weil sie in ihrem Land keine Chance haben", sagt er. "Ich ziehe es vor, in meinem Land zu bleiben. Ich will, dass alle Afrikaner zu Hause glücklich werden." In Ouagadougou eröffnete er sein eigenes Musikstudio, das er Abazon taufte, was so viel heißt wie "schnell" oder "dringlich" heißt. Hier nimmt Smockey "Aufstandsmusik" auf, wie er sagt – HipHop von sich und von anderen Rappern. +Schon das erste Stück, das Smockey in seinem Geburtsland veröffentlichte, hieß "Putsch à Ouagà", es rief unverblümt zum Umsturz in der burkinischen Hauptstadt auf. Sein Großvater kam daraufhin eigens von seinem Dorf in die Stadt gereist, um mit dem aufmüpfigen Enkel zu sprechen. "Wir sind hier nicht bei den Weißen", mahnte er. Smockey hielt sich aber nicht daran, sondern schrieb stattdessen einen Text über die Angst seines Großvaters. +Da Smockey die Politik in seiner Heimat zunehmend unerträglich fand, gründete er 2013 seine Besen-Bewegung. "Ein traditioneller afrikanischer Besen besteht aus einem Reisigbündel", erklärt Smockey. "Wenn du nur einen Zweig hast, ist es schwierig zu fegen. Aber wenn du viele zusammenbindest, dann geht es. Unsere Zahl ist unsere Stärke." Schon bald demonstrierten Menschen mit erhobenem Besen auf den Straßen der Hauptstadt. Le Balai Citoyen mobilisierte in dem Land, in dem zwei Drittel der Einwohner jünger als 25 sind, die Jugend – und zwar vor allem über Musik. +Ihr Vorbild war die Bewegung Y'en A Marre ("Ich habe genug davon"), bei der Rapper und Journalisten im nahen Senegal 2012 Präsident Abdoulaye Wade mit zum Amtsverzicht gedrängt hatten. HipHop, besonders der von Smockey, wurde auch in Burkino Faso zum wichtigsten Medium des Wandels. So rappte Smockey beispielsweise in seinen Stück "On Passe À L'attaque" Zeilen wie "Wir schalten um auf Angriffsmodus, und das ganze Land dreht durch, wir schließen Schulen und tragen Schilder und Banner auf die Straße, überall in der Stadt ist Aufregung in der Luft". Zwar standen fast alle von Smockeys Liedern auf einer schwarzen Liste und durften nicht im Radio gespielt werden. Über Smartphones und soziale Netzwerke verbreiteten sie sich trotzdem rasend schnell. Und wo es kein Internet gab, etwa auf dem Land, fuhren die Anhänger von Le Balai Citoyen mit Motorrädern vor, um über Megaphone zu rappen und Ansprachen zu halten. +In der Stadt beschallten die Balai-Aktivisten ihre Demonstrationen mit HipHop und verwandelten damit ihre Straßenblockaden in Straßenfeste, etwa auf dem zentralen Place de la Nation, den sie in "Place de la Révolution" umtauften. Dabei hielten sie ihre Anhänger stets dazu an, friedlich zu bleiben. "Musik kann der Auslöser für einen politischen Wandel sein, weil sie eingängig ist und jeden erreicht", sagt Smockey. "Niemand kann sie aufhalten, nicht einmal Diktatoren." +Am 31. Oktober 2014 sollte das Parlament eigentlich eine weitere Amtszeit von Präsident Campaoré genehmigen. Doch nach tagelangen Protesten stürmten Demonstranten das Parlament, und der Diktator musste flüchten. Smockey und Le Balai Citoyen hatten es – zusammen mit Gewerkschaften, Oppositionsparteien, Studentenvereinigungen und Bürgerrechtsgruppen – geschafft. Bald darauf gab es erstmals in der Landesgeschichte wirklich freie Wahlen. Seitdem regiert Präsidenten Roch Marc Christian Kaboré, der sich an Reformen versucht. Auch wenn diese von vielen als nicht schnell und entschieden genug kritisiert werden, sind immerhin die politischen Unruhen weitgehend abgeebbt. Gegen den Ex-Diktator Blaise Compaoré läuftein Strafprozess– wenn auch in dessen Abwesenheit: Compaoré hat sich an die Elfenbeinküste abgesetzt. +Smockey macht trotz des erfolgreichen Wandels weiter – und berichtet in seinen Texten nun von den Nöten der einfachen Menschen. So schreibt er jetzt etwa Lieder über die schwierige Situation von Taxifahrern in der Stadt, die wegen hoher Unfallzahlen einen riskanten Job haben und dabei nur wenig verdienen. Zudem will er möglichst viele junge Menschen für die nächsten regulären Wahlen mobilisieren, die im Jahr 2020 anstehen. +Selber Politiker will Smockey auf keinen Fall werden – er sieht sich und seine Besen-Organisation vor allem als Vermittler. "Wir sind eine politische Bewegung, aber wir wollen nicht an die Macht und auch keinen Zugang zu politischen Ämtern", betont er. "Als Musiker kann ich nützlicher sein denn als Politiker. Ich kann den Menschen in meinen Liedern erklären, was los ist." +Smockeys Album "Pre'volution" ist 2015 bei dem deutschen Label Out Here erschienen, das sich auf zeitgenössische Clubmusik aus afrikanischen Ländern spezialisiert hat, darunter viel HipHop. + diff --git a/fluter/rapperin-sonita-afghanistan-zwangsheirat.txt b/fluter/rapperin-sonita-afghanistan-zwangsheirat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..714fc54f2644fdb3f039f1637c69be406fbc33a2 --- /dev/null +++ b/fluter/rapperin-sonita-afghanistan-zwangsheirat.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Das ist der Moment, in dem die Regisseurin zur Handelnden in ihrem eigenen Film wird. Weil sie verhindern will, dass Sonita wieder in Afghanistan leben muss. Aber auch, weil ihr ihre Protagonistin abhanden zu kommen droht: ohne Sonita kein Film. Ghaem Maghami entscheidet sich, der Mutter 2000 US-Dollar zu geben und so Sonita (und damit auch sich selbst) sechs Monate Zeit zu erkaufen. "Ich kann nicht Menschen filmen, die unter etwas leiden, das ich ändern kann – sie geben mir ihr Leben, ihre Geschichte", wird Ghaem Maghami später der britischen Tageszeitung The Guardian  berichten. Die beiden drehen ein Video zu Sonitas Song "Brides for Sale", in dem sie auf Farsi in Brautkleid, mit blauem Auge und Barcode auf der Stirn gegen die Tradition in ihrem Heimatland anrappt. +Der Rest ist eines dieser modernen Internet-Märchen: Das Video wird ein viraler Hit, Sonita gewinnt einen Musikwettbewerb, erste internationale Artikel erscheinen. Die amerikanische "Strongheart Group" wird auf sie aufmerksam: eine gemeinnützige Organisation, die sich für soziale Gerechtigkeit für jene einsetzt, denen anders keine zuteil kommt. Eine Highschool in den USA bietet Sonita schließlich ein Stipendium an. +"Mir kommt das alles vor wie ein Wunder", sagt sie. Doch für das Wunder braucht sie ihre Geburtsurkunde, einen Pass und ein Visum. Und das bedeutet, dass sie zurück nach Afghanistan muss, in ein Land, das in weiten Teilen als gefährlich gilt. Scheitert sie an der Beschaffung der Unterlagen, darf sie weder in die USA noch zurück in den Iran.  Ihrer Familie erzählt sie nichts von ihren Plänen, aus Angst, sie könnten sie davon abhalten. +Was wurde aus Sonita? Ein Anruf in Utah. Es ist 8 Uhr morgens Ortszeit in Mount Pleasant, einer Kleinstadt im Westen der Vereinigten Staaten. Seit 2015 geht Sonita hier zur Highschool und lebt im dazugehörigen Internat, lernt Englisch, bekommt Musikunterricht und bereitet sich aufs College vor. "Ich gehe hier zum ersten Mal in meinem Leben in eine Schule", erzählt sie. +In das von Mormonen geprägte Utah hat es sie verschlagen, das nicht eben als der liberalste US-Bundesstaat gilt. Politische Fragen, beispielsweise, ob und inwiefern sie sich als Muslima in Trumps Amerika Anfeindungen ausgesetzt sieht, würde Sonita nicht beantworten, das hatten die Mitarbeiter der "Strongheart Group" vor dem Interview klargemacht – um Sonitas Familie in Afghanistan zu schützen, so die Begründung. Auf die Frage, wie sie in Utah empfangen wurde, erwidert Sonita: "Ich habe mich hier sehr willkommen gefühlt. Das ist der Ort, an dem ich derzeit am liebsten leben möchte." +"Sonita", der Film, der sie nach Amerika gebracht hat, gewann den Publikums- und den Preis der Grand Jury  auf dem Sundance Film Festival 2016 . Sonita trat vor hochrangigen Politikern wie John Kerry und Joe Biden auf , Chelsea Clinton interviewte sie in einer Panel-Diskussion. Der britische Fernsehsender BBC setzte sie auf ihre Liste der "100 Frauen 2015". +"Bevor ich hierher kam, dachte ich, Zwangs- und Kinderehen seien etwas, das nur in Ländern wie Afghanistan oder dem Iran vorkommt" , erzählt Sonita. "Aber es gibt sie überall, auch hier in den Vereinigten Staaten." Schätzungsweise 15 Millionen sind es jährlich weltweit . +Auch wenn es inzwischen etwas ruhiger um sie geworden ist: Ihren Kampf für die Rechte von Millionen von Mädchen setzt Sonita als Aktivistin neben der Schule fort. "Ich möchte meinen Teil dazu beitragen, dass sich die Situation für Frauen auf der ganzen Welt verbessert." Als Nächstes möchte sie studieren – wo, das ist noch unklar. "Ich weiß natürlich nicht, wo ich heute ohne den Film, das Video und das Stipendium wäre", sagt sie. "Aber ich glaube, dass meine Entschlossenheit und mein Wille, etwas an meiner Situation zu verändern, mir die Kraft gegeben haben, einen Weg zu finden." Die Beziehung zu ihrer Familie habe sich verbessert, seit sie weggegangen ist. "Jetzt, da ich mache, was mir wichtig ist, verstehen sie mich besser. Meine Mutter ist mein größter Fan." +Irgendwann, so hofft Sonita Alizadeh, wird sie nach Hause zurückkehren können. "Afghanistan ist meine Heimat und Teil meiner Identität. Ich vermisse es – egal, wo ich bin." Ende Juli veröffentlichte sie mit "United" ein neues Stück auf Youtube: Sie rappt hier über eine Zukunft in ihrer Heimat, in der alle Afghanen friedlich und vereint zusammenleben. Es wäre nicht das erste Mal, dass einer ihrer Wünsche in Erfüllung ginge. diff --git a/fluter/rapperinnen-emanzipation.txt b/fluter/rapperinnen-emanzipation.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..08a7997ec574d8249ad14b6546d51ea4272656ac --- /dev/null +++ b/fluter/rapperinnen-emanzipation.txt @@ -0,0 +1,36 @@ + +------------------------------------------------------- +That's why I'm talkin',one day I was walkin' down the blockI had my cutoff shorts on right'cause it was crazy hotI walked past these dudeswhen they passed meOne of 'em felt my booty,he was nastyI turned around red,somebody was catchin' the wrathThen the little one said, "Ha ha,yeah me, bitch", and laughedSince he was with his boys,he tried to break flyHuh, I punched him dead in his eyeAnd said, "Who you callin' a bitch?"Yeah! +Wer nicht weiß, wie man Frauen respektvoll behandelt, kann schon mal eine aufs Maul kriegen. Im Stile vieler Kurzgeschichten erzählt Queen Latifah in "U.N.I.T.Y." von Catcalling, sexualisierter Gewalt in ihrer eigenen Beziehung und dem Zusammenhalt zwischen Schwarzen Frauen und Männern. All Hail the Queen! + +------------------------------------------------------- +I was looking for affection,so I decided to goSwing that dick in my direction,I'll be out of controlLet's take it to perfection,just you and meLet's see if you can bring, bring,bring the nasty out of me,n-n-n-now sock it +In Raumanzügen auf der Flucht vor Robotermonstern: Die futuristischen Musikvideos von Missy Elliott waren wegweisend. Im Song "The Rain" tritt sie in einem aufgeblasenen Plastikanzug auf, der ihren Körper allen Blicken und Erwartungen von außen entzieht. Auch sonst setzt die Rapperin mit Trainingsanzug, Sneaker und Cap auf Tomboy-Attitude. Missy steht ja auch nicht für Fräulein, sondern für Misdemeanor, auf Deutsch: Verstoß. + +------------------------------------------------------- +Ich bin ne Frau,aber wäre ich n Mann,würde ich dir jetzt sagen: Alter lutschmein Schwanz (Bitchfresse)Mit wem denkst du, dass du sprichst,Alter komm mal klar man,wer denkst du wer du bist (Bitchfresse) +Mitte der Nullerjahre, Kitty Kat ist beim Berliner Label Aggro Berlin gesignt und auf vielen Songs zu hören, allerdings nicht zu sehen: Weil sie nicht dem Image der "hotten Bitch" entspricht, hält das Label sie aus der Öffentlichkeit heraus. "Bitchfresse" ist Kitty Kats erste Solosingle, in der sie sich Kool Savas' ultrasexistischen Song "LMS" zu eigen macht und mit dem Männerbusiness abrechnet. + +------------------------------------------------------- +Meine Klitoris Klasse wie Svon MercedesTrag nur Designer –Prada und GucciSchlafe bis 12und reib mir die Muschi +Rap ist eine Wissenschaft für sich? Lady Bitch Ray steigt als promovierte Sprachwissenschaftlerin auf jeden Fall durch. Ihr Spezialgebiet als Rapperin: gesellschaftliche Normen brechen. In ihren Texten geht "Dr. Bitch Ray" dafür ein Tabu nach dem anderen an. Eines davon: weibliche Masturbation. + +------------------------------------------------------- +Mama, you look like a rock starBbyMutha –I'm in labour giving birth todayHit the trap tomorrow, pussy diamond,call her Lisa Ray +Alle Rapper reden über Mütter, aber keine Mütter über Rap? Für diese Regel hat BbyMutha einfach zu viel zu erzählen: Mit 17 das erste Mal schwanger, zieht sie ihre vier Kinder (zwei Zwillingspaare!) allein groß. BbyMuthas Rap ist mehrdeutig und gewitzt: Heute schnell gebären, morgen wieder hustlen. Es geht um Geburt und Drogen, das Leben als "Baby Mama" und ihre sexuellen Abenteuer, denn: Auch Single Moms haben Lust auf Sex. + +------------------------------------------------------- +Put this pussy right in your faceSwipe your nose like a credit cardHop on top, I want a rideI do a kegel while it's inside +Dafür, dass es im Rap häufig sehr explizit um Sex geht, war die Aufregung um "WAP" erstaunlich groß. Mit Cardi B und Megan Thee Stallion erklären allerdings nicht wie üblich Männer ihre sexuellen Vorlieben und Fähigkeiten, sondern zwei Frauen. Statt Sexobjekte zu sein, sexualisieren sie sich selbst: ihr Weg zur Selbstbestimmung und zum Geld, das sonst wieder Rap-Männer abgegriffen hätten. + +------------------------------------------------------- +Baby du willst Sex, komm relaxIch leck' dich als wärst du das ExtraCaramel Bonbon mit NutellaLet it rain, ich brauch 'nen umbrellaVitamin P – Pussy FruitYup du weißt, die Pussy's good +Noch immer sind lesbische Perspektiven im Rap eine Seltenheit.Ebows Rapist queer as fuck. In ihren Songs geht es, neben Alltagsrassismus und Ausgrenzung, auch um Liebeskummer und Menstruation. Stolz bezeichnet sie sich als lesbisch und erzählt selbstbewusst von ihrem ziemlich bombastischen Sex mit Frauen – inklusive Happy End und weiblicher Ejakulation. + +------------------------------------------------------- +Bin keine Projektionsflächefür deine UrlaubsfantasienRandom Landeskunde Facts undschon gar nicht verquere TheorienVon guten und schlechten Migrantsbis zur Model MinorityIch mache nicht mitin deinem Exotisierungsspiel +Wo kommst du eigentlich her? Na, woher wohl? Aus der Pussy meiner Mutti, ist die Antwort von NASHI44. Volle "Asian Berlin Pussy Power" voraus! In ihren Texten prangert die viet-chinesisch-deutsche Rapperin Rassismus und die Fetischisierung (süd-) ostasiatischer Frauen an. +------------------------------------------------------- +Dieser Beitrag ist im fluter Nr. 93 "Rap" erschienen.Das ganze Heftfindet ihr hier. + +Illustration: Sebastian Haslauer diff --git a/fluter/rassismus-aufklaerung-familien-video.txt b/fluter/rassismus-aufklaerung-familien-video.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/rassismus-deutsche-filme-serien.txt b/fluter/rassismus-deutsche-filme-serien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..05a522255affba05961333474d98ab7cb08ac3b2 --- /dev/null +++ b/fluter/rassismus-deutsche-filme-serien.txt @@ -0,0 +1,48 @@ +fluter.de: Tyron, du spielst seit 25 Jahrenin deutschen Fernsehproduktionen. Ist die Branche rassistisch? +Tyron Ricketts: Ich würde sagen, rassistisch ist die Sichtweise auf die Welt, aus der wir in Deutschland Geschichten erzählen.Mit diesem eurozentrischen Blickwird meist der Weiße Mann das Subjekt, und alle anderen werden zum Objekt. Das färbt auf die Strukturen in Film und Fernsehen ab. Unterm Strich ist die Antwort also: Ja, die deutsche Filmbranche istrassistisch. +Wie äußert sich das? +Die deutsche Gesellschaft besteht zu 25 Prozent aus Menschen mit Migrationsgeschichte. Wenn man sich dann aber in Film und Fernsehen anguckt, wie diese Menschen repräsentiert sind – sowohl zahlenmäßig als auch in welcher Art und Weise –,fällt sofort auf, dass nicht jeder vierte Mensch, der auftaucht, eine Migrationsgeschichte hat.Und wenn so jemand auftaucht, dann nicht in der Rolle des Helden, sondern oft mit Negativklischees und Vorurteilen. +Welche sind das konkret bei Schwarzen Menschen? +Stark sexualisierte Darstellungsweisen, bei Frauen noch mehr als bei Männern. Ich habe aber schon erlebt, dass bei meiner Rolle nicht ein Fünfer-, sondern ein Hunderterpack Kondome gefunden wurde oder dass sich Polizisten beim Abtasten überzeugen wollten, ob es wirklich stimmt, dass Schwarze Männer große Schwänze haben.Außerdem tauchen Schwarze Menschen oft ausschließlich im Zusammenhang mit Flucht, Drogen oder Gewalt auf. +Wie hat sich das auf deine Vita ausgewirkt? +Ich habe in mehr als 65 Filmen gespielt. Fast immer war ich"der Andere", also der Ami, jemand aus Westafrika oder Jamaika. Wenn ich mal ein erfolgreicher Hoteldirektor sein durfte, dann nur auf Mauritius(Anm. d. Red.: wie in die "Die Inselärztin", seit 2018 in der ARD). Ganz selten werde ich als rechtmäßiger Teil dieser Gesellschaft dargestellt. Dabei habe ich einen deutschen Pass und lebe seit über 40 Jahren hier. + +"Deutschland hat nie mit dem Rassismus gebrochen, der sich durch den Kolonialismus über Jahrtausende in Denkmustern, Handlungen und unserem Wissen etabliert hat. Teil dieses Diskurses ist es, eine weiße deutsche Überlegenheit zu begründen, also Weiße als Kultur und die so konstruierten ‚Anderen' als Natur zu zeigen. In Kolonial- und Afrikafilmen wird Afrika als Gefahr erzählt, gleichzeitig aber exotisiert und erotisiert. Weiße Charaktere werden als überlegen und individualisiert erzählt, während Schwarze eher entindividualisiert werden und als Kulisse von Afrika als unterlegener Natur dienen." +Susan Arndt ist Professorin in Bayreuth. Sie arbeitet seit Jahren zu Rassismus und deutschen Afrikabildern. + + +Woran liegt es, dass Schwarze Schauspieler*innen fast nur fremdbestimmte Rollen bekommen? +Die deutsche Medienbranche ist Weiß – von Autoren über Produzenten hin zu Castern, Regisseuren und Intendanten. Ich bin seit 25 Jahren in der Branche und muss sagen: Ich treffe kaum Menschen, die eine Migrationsgeschichte haben, und zudem unterdurchschnittlich wenige Frauen. Diese Gruppe produziert hauptsächlich Geschichten, in denen es um sie selbst geht. Darum sind die meisten Geschichten, die man als Drehbuch auf den Tisch bekommt, nicht sonderlich divers. +Das Etikett "Afrikafilm" bezeichnet Spielfilme, die in einem afrikanischen Land gedreht werden. Typischerweise steht eine Weiße Europäer*in (meist sind es Frauen) als Held*in im Zentrum der Story, die aus ihrem alten Leben geflohen ist, um in Afrika die berufliche, persönliche oder romantische Erfüllung zu finden. Vor Ort spielen sich die Protagonist*innen oft als White saviors auf: Sie versuchen, die Lebensrealität der Nicht-Weißen Bevölkerung (vermeintlich) zu verbessern, indem sie sie kultivieren und die Menschen missionieren. Schwarze Schauspieler*innen dienen dabei meist als Objekte, an denen sich die Befreiung und Entwicklung der Weißen Hauptperson vollziehen kann. Schwarze werden dabei sie in der Regel stereotypisch dargestellt: sexualisiert, kindlich-primitiv, wild, gefährlich. Viele dieser Filme rücken die Natur und Tiere des afrikanischen Landes in den Vordergrund, um das Narrativ ‚Natur' versus ‚Kultur' zu stützen. +Fördern deutsche Filmproduktionen soalltäglichen Rassismus? +Ich glaube schon. Letztlich sagen solche Filme der Gesellschaft, dass Menschen mit Migrationsgeschichte nicht Teil unserer Gesellschaft sind. Wenn man ein Viertel der eigenen Gesellschaft als fremd wahrnimmt, ist es für mich sogar nachvollziehbar, dass manAngst vor denen hat, die eingewandert oder gerade auf der Flucht sind. + + + +Siehst du Medien wie den Film in einer besonderen Verantwortung, wenn es um Diversität geht? +Viele Menschen denken immer noch im Schema "Wir" und "Ihr". Wenn Medien das reproduzieren und bestätigen, können sie diese Gedanken verstärken und so einen Keil in unser friedliches Zusammenleben treiben. Kommen zeitgeschichtliche Situationen wie die starkeFlüchtlingsbewegungoder das Erstarken rechter Parteien dazu, kann aus Gewalt im Kopf schnell Gewalt durch Taten werden.Das haben wir in Hanau wieder erlebt. +Wie gehst du in deiner Arbeit als Schauspieler mit klischierten oder rassistischen Rollen um? +Entweder Produzenten entscheiden sich dafür, eine "normale" Rolle mit jemandem zu besetzen, der nicht Weiß-deutsch ist – das passiert relativ selten. Die Rollen, die für einen geschrieben sind, sind meist klischeebehaftet. Ist das Drehbuch erst mal fertig, kannst du am Set nicht mehr viel ausrichten. Ich muss mir dann überlegen, ob ich versuche, das Beste aus der Rolle zu machen, indem ich mich mit dem Produzenten und Regisseur hinsetze und zum Teil auch mit ihnen anlege, und erkläre, warum Charaktere oder Dialoge rassistisch sind. Damit laufe ich aber Gefahr, als unbequem zu gelten. +Du könntest solche Rollen einfach ablehnen. +Das kann sich nicht jeder leisten. Ein Schauspieler verdient in Deutschland durchschnittlich 1.000 Euro im Monat. Da muss man sich jede Absage gut überlegen. Ich hatte schon Regisseure, die, nachdem ich sie auf rassistische Narrative hingewiesen habe, zu mir meinten: "Wenn man es so sieht, ist es vielleicht rassistisch. Aber wenn du es nicht machst, macht es ein anderer." +Mehr als Diskussionen am Set sind für dich also nicht möglich, um dieses Problem zu lösen? +Doch. In den USA durfte ich mit Harry Belafonte zusammenarbeiten. Das hat mich sehr inspiriert: Belafonte hat Unterhaltung sein Leben lang genutzt, um die Gesellschaft zu verändern. Nach meiner Rückkehr hatte ich wieder Engagements mit rassistischen Szenen, und da ist mir richtig heiß geworden vor Wut. Das machst du nie wieder, habe ich mir gesagt. Da habe ich meineProduktionsfirma Panthertainmentwieder aufgemacht, mit der ich schon in den 90er-Jahren gearbeitet habe. + + + +"Als ichBranwen Okpakos Film ‚Tal der Ahnungslosen'gesehen habe, musste ich fürchterlich weinen. Ich wusste zuerst gar nicht, warum. Dann ist mir klar geworden: Das ist die erste afrodeutsche Geschichte mit einer Schwarzen Hauptdarstellerin (Nisma Cherrat), die ich je gesehen habe. Da war ich 40. Das ist traurig. Wenn man ständig nur Stereotype sieht, ärgert man sich grün und blau. Sollten Film und Fernsehen nicht weiter sein als die Realität? Die haben auch eine Lehrfunktion: Es ist wichtig, dass sich Zuschauer mit den Figuren identifizieren und über ihre Geschichten lernen können. Dass man sich nicht mit afrodeutschen Figuren identifizieren kann, dass sie im Fernsehen oft nicht mal stattfinden, ist eine große verpasste Chance." +Mo Asumang schauspielert, moderiert, schreibt undführt Regie. + +Was macht es mit Schwarzen Menschen, wenn sie in Film und Fernsehen ständig nur Schwarze Klischee sehen? +Ich vermute, dass es Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl hat und auf die Ziele, die sich junge Schwarze Menschen im Leben setzen.Wenn man sich immer nur als Verbrecher sieht, ist es schwieriger, sich eine Karriere als Bürgermeister oder Manager vorzustellen.Die Forschung zeigt, dass Unterhaltung wegweisend für die eigene Biografie sein kann. Ich finde, wir müssen Utopien abbilden, die zeigen, wie es sein kann. Der erste Schritt ist aber, die Realität zu zeigen. Und die ist ja schon besser und vielfältiger, als sie bislang im Fernsehen dargestellt wird. +Denkst du, die Branche erkennt das und wird sensibler? +Viele erkennen zunehmend ihre Verantwortung und stellen die Bilder infrage, die sie produzieren. Dazu kommt, dass das Streaming unsere Sehgewohnheiten ändert. Die großen Plattformen produzieren für eine globale Kundschaft, und die ist überwiegend nicht-Weiß. Da ist es sinnvoll, Geschichten zu erzählen, die die Vielfalt abbilden. Ich glaube, auch die deutsche Fernsehbranche merkt, dass sie sich nicht nur demdemografischen Wandel in Deutschlandanpassen muss, sondern auch diesem globalen Markt, wenn sie wirtschaftlich erfolgreich sein will. +Kennst du ein Positivbeispiel aus Deutschland, das Diversität schon als Normalität zeigt? +Es gibt Vorbilder. Ich habe bei "SOKO Leipzig" im ZDF ein paar Jahre lang ganz normal den Kommissar gespielt, ohne dass oft thematisiert wurde, dass ich Schwarz bin. Viele Versuche scheitern aber, weil sie nicht ernst genug gemeint sind. Oder gut gemeint, aber schlecht umgesetzt. +Wie löst man das Problem? +Menschen mit Diversitätserfahrung gehören in die komplette Produktionskette, von der Idee übers Drehbuch bis zur Ausführung am Set. Denn letztlich muss die Gesellschaft in allen Berufen so abgebildet werden, wie sie wirklich ist. +Trotzdem sind sogenannte "Afrikafilme" immer noch beliebt. +Der durchschnittliche Fernsehzuschauer ist Mitte 40, bei den öffentlich-rechtlichen Sendern über 60. Klischees, altbekannte Sichtweisen und die Abwendung von rassistischen Diskursen stören viele der Zuschauer nicht. Eine schöne "afrikanische" Kulisse im Hintergrund,der Weiße Retter im Vordergrund,das kommt nach wie vor gut an, glaube ich. Und solange der eurozentrische Blick in der Gesellschaft nicht breit thematisiert wird, bleibt das auch so. Dieser Diskurs fängt gerade erst an. Aber ich bin froh, dass ich mittlerweile mitdiskutieren kann. +Tyron Ricketts ist in Österreich geboren, in Deutschland aufgewachsen und Wahlberliner. Vor seiner Schauspielkarriere arbeitete er als Moderator bei VIVA. +Übrigens: Wir schreiben "Schwarz" in diesem Text groß, um zu verdeutlichen, dass es keine "Eigenschaft" ist, die mit Hautfarbe zu tun hat, oder Kategorie, in die man Menschen einordnen kann. Der Begriff "Schwarz" ist hier eine politische Selbstbezeichnung von Menschen, deren Erfahrung durch Kolonialismus und Rassismus geprägt ist. Genauso ist Weiß-Sein keine Eigenschaft, sondern eine dominante und privilegierte Position innerhalb eines rassistischen Machtverhältnisses. Diskriminierungssensible Sprache ist auf fluter.de immer Entscheidung der Autorinnen und Autoren. + diff --git a/fluter/rassismus-identitaet-frage-nach-herkunft.txt b/fluter/rassismus-identitaet-frage-nach-herkunft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f11c3c2ae23b5c13c4e07a6bacc22c6306d484a6 --- /dev/null +++ b/fluter/rassismus-identitaet-frage-nach-herkunft.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Auch aufrichtiges Interesse kann problematisch sein. Spätestens dann, wenn mich jemand fragt, woher icheigentlichkomme, wird es kritisch. Ich bin hier geboren, in den Kindergarten und zur Schule gegangen, studiere, lebe und arbeite hier. Dennoch wird mir häufiger als meinenweißenFreund*innen diese Frage gestellt. Meistens sage ich, dass ich aus dem Wendland, Berlin oder dem Supermarkt komme. Fragende geben sich oft mit dieser Antwort aber nicht zufrieden … +… so wie deine Ärztin. Die Frage, wo einer eigentlich herkommt, ist daneben. Wobei: Einmal fragte mich eine Oma in einem Kaff in Oberbayern danach. Für sie es nicht Normalität, dass manche Deutsche nicht weiß sind. Also habe ich ihr diesen Umstand erklärt und es ihr nicht übel genommen. Der Kontext ist für mich das Entscheidende. +Das stimmt. Aber trotzdem: Was ist der Zweck dieser Frage? Ich könnte denjenigen, die sichwirklichfür mich interessieren, einiges über das Wendland erzählen, darüber, wie es ist, auf dem Land aufzuwachsen, als Kind auf Anti-Atomkraft-Demos zu gehen, oder über mein Studium und meine Arbeit berichten. +Unser Autor ist Person of Color und genervt,dass seine Hautfarbe immer und überall Thema ist +Klar, echtes Interesse steckt nicht immer dahinter. "Was bist du für ein Landsmann?" oder "Woher kommst du?" wurde ich seit meiner Kindheit in Berlin-Kreuzberg unzählige Male gefragt. Allerdings von Mitschüler*innen oder Bekannten, die selbst beispielsweise türkischstämmig sind. Oft ging es den Fragenden jedoch genauso um Kategorisierung, weshalb ich auch bei Menschen mit Migrationshintergrund bisweilen einfach nur antworte: "Aus Berlin." Arpana, macht es für dich einen Unterschied, wenn du von anderen migrantischen Menschen nach deiner Herkunft gefragt wirst? +Ja, auf jeden Fall. Denn dann werde ich nicht als "fremd" gekennzeichnet, sondern die gemeinsame Erfahrung, in dieser Gesellschaft als "fremd" markiert zu werden, steht im Mittelpunkt. Es geht übrigens nicht um die Hautfarbe "weiß". In deinem Beispiel mit dem Israeli kann die Frage als ein berechtigtes Interesse im Zusammenhang mit seiner Familiengeschichte verstanden werden. +Eine Regel auf so was anzuwenden, finde ich schwierig. Für mich suggeriert eine Frage nach der Migrationsgeschichte auch nicht per se, dass ich zum "Anderen" gemacht werde. +Das sehe ich anders. Wenn mir zum Beispiel gesagt wird, wie exotisch ich aussähe, wenn ich gefragt werde, wo ich denn so gut Deutsch gelernt hätte, und eben auch, wo ich herkomme, dann werde immer ich zur "Anderen" gemacht.Otheringnennt man das in der Wissenschaft.Die fragende Person suggeriert, dass ich nicht dazugehöre, und betont, dass ich von der Norm abweiche. Ich werde gefragt, weil ich eine Person of Color bin, weil es die Vorstellung gibt, dass Deutscheweißsind.Weiß, blond, blauäugig: Möchten wir dieses Bild von Deutschen beibehalten? +Warum soll ich Weißen automatisch unterstellen, dass sie mich abseits der Norm verorten, wenn sie fragen: "Woher kommen deine Eltern?" Ich kenne viele Weiße, für die migrantische Eltern völlig normal sind. So eine Einstellung am Äußeren des Gegenübers festzumachen ist für mich irrsinnig. Aufrichtiges Interesse an der Geschichte seiner Mitmenschen ist für mich etwas sehr Positives. Ich finde, man hat in solchen Situationen ein Gespür dafür, wann jemand mit der Frage ausschließen möchte und wann nicht. +Es geht nicht um die individuelle Motivation der Fragenden, sondern um die gesellschaftlichen Verhältnisse. Im Zusammenhang mit der öffentlichen Diskussion über die Rolle von Migrant*innen in Deutschland und die Begrenzung von Zuwanderung kannOtheringals bedrohlich empfunden werden.Rassistisches Denken ist in unseren Köpfen so tief verankert,dass auch "aufrichtiges Interesse" zu rassistischen Handlungen führen kann, zum Beispiel zur Absprache von gesellschaftlicher Teilhabe. +Dass der Rassismus strukturell tief in unserer Gesellschaft verankert ist, steht für mich auch außer Frage. Wir sollten im Alltag klarmachen, dass man nicht weiß sein muss, um Deutsche*r zu sein. Aber immer anzukreiden, wenn jemand die antirassistischen Formeln nicht kennt, finde ich überzogen. Dieser ewig lamentierende Umgang bringt niemandem etwas. Ich finde, wir sollten uns auf konkrete rassistische Strukturen wie dieDiskriminierung auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarktkonzentrieren, die die gesellschaftliche Teilhabe migrantischer Menschen weiterhin erschweren. Das ist wichtiger, als sich in Debatten zu verheddern, bei denen es oft subjektive Interpretationssache ist, ob nun etwas rassistisch war oder nicht. +Gerade auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt greifen ähnliche ausgrenzende Mechanismen wie bei der Herkunftsfrage. Solche psychischen Gewalterfahrungen als "subjektive Interpretationssache" zu verharmlosen ist gefährlich! Rassismus ist kein Gefühl oder persönliche Wahrnehmung, sondern steht immer im Zusammenhang mit Macht und Strukturen, die über so eine Argumentation unsichtbar gemacht werden. Du kannst die Herkunftsfrage für dich persönlich nicht so schlimm finden: Das ist vollkommen in Ordnung. Es ändert aber nichts daran, dass Rassismus existiert und Personen ihre Definitionsmacht ausüben und versuchen, andere Menschen zu kategorisieren. Wem die Frage nach der Herkunft unter den Nägeln brennt, sollte am besten die eigene gesellschaftliche Position hinterfragen und Rassismusbetroffenen zuhören. Vielleicht ist es viel interessanter, nach Gemeinsamkeiten zu suchen, statt überOtheringUnterschiede hervorzuheben. + + +Arpana Aischa Berndt hat Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim studiert. Sie ist vielauf Instagram unterwegs, schreibt Prosa und Essays und engagiert sich in der politischen Bildungsarbeit. +Nikita Vaillant macht seinen Bachelor in Sozial- und Kulturwissenschaften an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Für fluter.de schreibt er meistens über soziale Gerechtigkeit, (Anti-)Rassismus und Hip-Hop-Kultur. + diff --git a/fluter/rassismus-in-fussballstadien.txt b/fluter/rassismus-in-fussballstadien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..40942cff4ea0e2072d45777370bdeabd7044d892 --- /dev/null +++ b/fluter/rassismus-in-fussballstadien.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Schon in den Siebzigern und Achtzigern hatten Rechts und Links um die Vorherrschaft in der Kurve gekämpft. Einmal habe ein Haufen Bomberjackenträger die Punker aus dem Block getreten, erinnert sich Thomas Hafke, damals Mitarbeiter des Bremer Fanprojekts – die erste Initiative dieser Art im deutschen Fußball. "Es war völlig normal, dass dunkelhäutige Gegenspieler mit Affenlauten begrüßt wurden oder der Hitlergruß gezeigt wurde." Der brutale Überfall im Januar 2007 sei die Wende gewesen. "Endlich begriffen Verein und Stadt, was eigentlich in der Fanszene abging." Entscheidend sei gewesen, dass die Opfer des Überfalls so mutig waren, die Täter anzuzeigen, auch wenn es bis zu diesem Schritt noch lange dauerte und der Prozess erst vier Jahre später begann. +Obwohl die Bremer Gerichte den Überfall als vermeintlich gewöhnliche Gewalt unter Fußballfans darstellten und die Täter nur milde Gefängnisstrafen bekamen, war der Prozess ein Durchbruch. Denn die Angreifer hatten nicht damit gerechnet, dass die Geschädigten sie tatsächlich anzeigen würden – "Don't talk to cops" lautet das ungeschriebene Gesetz der Szene. Dass sich mit den Ultras von Racaille eine Gruppe offen gegen Neonazismus und Rassismus stellte, empfand Hafke auch als Lohn für die jahrelange Arbeit an der Basis im Stadion. +Auch die Clubführung erwachte aus ihrer jahrelangen Starre und positionierte sich mit einem später ausgezeichneten Antidiskriminierungsprogramm klar gegen rechte Gewalt. Jahrzehntelang hatte man wie in so vielen anderen Stadien der Bundesliga einfach weggesehen, wenn Skinheads ihre Banner am Zaun aufhängten – oder weggehört, wenn im Bus zum Spiel von einer "U-Bahn nach Auschwitz" gesungen wurde. Nun erfuhren die Ultras plötzlich vom Management und vom Großteil der übrigen, eher unpolitischen Fans Unterstützung. Bei einem Auswärtsspiel wurden die Rechtsextremen mit "Nazis raus!"- Rufen und "Wir sind Bremer und ihr nicht!" aus dem Stadion gebrüllt. Der damalige DFB-Präsident Theo Zwanziger, zufällig anwesend, nannte den Bremer Anhang daraufhin eine "Allianz der Vernünftigen" im Kampf gegen den braunen Fußballanhang. +Während sich in der Kurve immer mehr Menschen tummelten, die sich als politisch Denkende definieren, und sich eine klar linksorientierte Ultra-Szene entwickelte, verbot der Verein das Tragen von rechten Klamottenmarken, sensibilisierte seine Ordner, distanzierte sich von braunem Gedankengut und bestrafte rassistische, ausländerfeindliche und homophobe Ausfälle konsequent. Allen ist klar geworden, dass gegen Diskriminierung und Rassismus nur ein gemeinsames Einstehen für demokratische Werte hilft, dass es keinen halben Weg gibt – und dass der bei vielen Clubführungen beliebte Spruch, der Fußball sei unpolitisch, nichts ändert. +Inzwischen gibt es an der Weser fünf Ultra-Gruppierungen, die sich regelmäßig gegen rechtsradikale, ausländerfeindliche und rassistische Strömungen im Umfeld des Vereins positionieren. Sie schreiben Briefe oder machen Aktionen im Stadion. Im Jahr 2018 ist die Fankurve so schön bunt wie noch nie. Vielleicht ist es ja kein Zufall, dass der Verein gegenwärtig auch wieder schönen Fußball spielt? diff --git a/fluter/rassismus-psychotherapie-poc.txt b/fluter/rassismus-psychotherapie-poc.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ca28440d1be04cbd947782fba2220975b79dd647 --- /dev/null +++ b/fluter/rassismus-psychotherapie-poc.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Ihre erste Therapiesitzung hatte Kimya deshalb auch mit einer weißen Therapeutin. Zunächst hätten die beiden über Grundsätzliches gesprochen. Doch als Kimya gegen Ende der Sitzung von ihrem geisteswissenschaftlichen Studium berichtete, habe die Therapeutin mit folgendem Satz reagiert: "Das ist beachtlich, schließlich ist es bestimmt schwer, in einer Fremdsprache zu studieren." Kimya klärte die Therapeutin auf, dass Deutsch keine Fremdsprache für sie sei. Woher kommen Sie denn?, Woher kommen Ihre Eltern?, Sind Sie dann adoptiert? seien die nächsten Fragen gewesen. Was folgte, war ein Gespräch, in dem Kimya der Therapeutin mitteilte, wie unangebracht ihre Fragen seien. Zwischen den beiden entstand eine Diskussion über rassistisches Verhalten. "Zum nächsten Termin bin ich nicht gegangen, weil solche Situationen genau der Grund waren, warum ich eine Therapie gesucht habe", erklärt Kimya. +Therapeutin Sema Akbunar, die selbst PoC ist und eine interkulturelle psychologische Praxis leitet, hört oft von solchen Erfahrungen durch PoC-Patient*innen. "Das ist schon ein Schlag ins Gesicht. ‚Du bist weit gekommen' sagt ja indirekt: ‚Ihr seid eigentlich minderwertiger.'" Diese subtilen Demütigungen, Mikroaggressionen genannt, erleben Menschen, die von Rassismus betroffen sind, meist täglich. In der Therapie, in der man sich eigentlich öffnen soll und sicher fühlen will, trifft einen das noch mehr. +Kimyas Erfahrungen zeigen: Die Psychotherapie ist nicht immer frei von Rassismus. Therapeut*innen reproduzieren zum Beispiel das N-Wort oder sprechen Betroffenen ihre Erfahrungen ab. Das zeigt auchder Afrozensus, dieerste umfassende Studie, die sich mit den Lebensrealitäten, Perspektiven und Diskriminierungserfahrungen von Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Menschen in Deutschland beschäftigt. Dort gaben 2020 62 Prozent der Befragten an, dass ihre Rassismuserfahrungen bei der Psychotherapie nicht ernst genommen und infrage gestellt werden. +Für die 33-jährige Betty* war deswegen von Anfang an klar, dass sie nur zu einer PoC in Therapie gehen möchte. Doch selbst als sie einen entsprechenden Therapieplatz fand, waren die Probleme damit nicht gelöst. Denn wie viele Therapeut*innen hat auch dieser keinen Kassensitz – die Krankenkassen übernehmen somit die Therapiekosten nicht. Betty versuchte es mehrfach über ein sogenanntes Kostenerstattungsverfahren, bei dem die Krankenkasse die Kosten unter bestimmten Umständen dennoch übernimmt und das mit vielen Formularen und Nachweisen verbunden ist.  Der Therapeut habe ihr bei den Anträgen sogar geholfen, seine Beratungen musste sie selbst bezahlen, so Betty. +Der Antrag wurde abgelehnt. Grund: Es gäbe genug Therapeut*innen, die über die Kasse abrechnen. Dass diese nicht rassismussensibel sind, spielte offenbar keine Rolle. "Das hat sich angefühlt, als hätte all die Arbeit, die ich als psychisch belastete Person reingesteckt habe, keinen Sinn ergeben", erzählt Betty. Sie wechselte daraufhin die Krankenkasse. Gerade ist sie erneut dabei, die Unterlagen für das Verfahren zusammenzutragen. +Die schwierige Suche nach rassismussensiblen Therapeut*innen und rassistische Erfahrungen in der Therapie führen dazu, dass viele PoC erst gar keine Hilfe in Anspruch nehmen oder Therapien abbrechen, ergab der Afrozensus. Dabei sei diese Hilfe für Rassismusbetroffene umso wichtiger, denn die Erfahrungen können zu Angststörungen, depressiven Störungen und Panikattacken führen. Um das zu ändern, müsse sich bereits die Ausbildung der Therapeut*innen weiterentwickeln: Schwarze Therapeut*innen kritisieren, dass das Thema Rassismus im Studium sowie in der Ausbildung zu kurz komme. +"Es tut sich langsam etwas, aber das Thema ist in der Lehre noch nicht obligatorisch verankert", sagt auch Therapeutin Stephanie Cuff-Schöttle, die ebenfalls als PoC positioniert ist. Seit vielen Jahren gibt sie rassismussensible Weiterbildungen für Fachkräfte. In diesen beschäftigen sich Teilnehmer*innen mit den Lebensrealitäten von Rassismusbetroffenen, Begrifflichkeiten und der Selbstreflexion als weiße Person. Viele weiße Fachkräfte seien dann erst mal schockiert. +Da sie mit den Weiterbildungen bisher immer nur eine kleine Gruppe erreicht, arbeitet Cuff-Schöttle aktuell mit der Trainerin Mashanti Alina Hodzode und dem Pädagogen Anthony Owosekun an der Webseite "De-Construct". Dabei soll eine Videoplattform entstehen, auf der Fachkräfte sich überregional online zum Thema Rassismus weiterbilden können. Gleichzeitig sollen Absolvent*innen der Kurse auf der Webseite gelistet werden, sodass PoC, die nach rassismussensiblen Therapeut*innen suchen, schneller fündig werden. "Meines Wissens kann man bei der Psychotherapeutenkammer nämlich bislang keine Liste mit rassismussensiblen Therapeut*innen erhalten", erklärt Cuff-Schöttle. +Auf dem Weg zu einer strukturellen Veränderung geht es schleichend voran. Doch die Nachfrage nach rassismussensiblen Plätzen ist bereits jetzt hoch. "Es hat mir im Herzen wehgetan, die Leute immer abzulehnen, weil ich keinen Platz hatte", sagt die Therapeutin Sema Akbunar. Deswegen bietet sie zusammen mit ihrem Kollegen Marcel Badra seit kurzem eine Gruppentherapie für BPoC (Black and People of Color) an. Auf die neun Plätze hätten sich 150 Leute gemeldet, weshalb sie nun daran arbeiten, weitere Gruppen aufzubauen. +Neben der Tatsache, dass in einer Gruppe mehrere Menschen gleichzeitig behandelt werden können, hat sie für Patient*innen auch eine stärkende Wirkung, so Akbunar: "Sie merken, dass sie nicht allein sind, und bekommen bestätigt, dass sie in unserer Gesellschaft einer Mehrfachbelastung ausgesetzt sind." Eine Person in der Gruppe hätte viel darüber gesprochen, dassihre Haare als Kind oft von Menschen einfach angefasst wurden. Während sie erzählte, hätte die Hälfte der Gruppe genickt. "Da kam nicht die Frage: Was ist denn daran schlimm? Jeder wusste sofort, worum es geht", erinnert sich Akbunar. Zwar verschwinden durch die Therapie nicht die rassistischen Erfahrungen im Alltag, Patient*innen lernen aber, besser damit umzugehen. +Immer mehr Therapeut*innen wie Sema Akbunar und Stephanie Cuff-Schöttle setzen sich für mehr Rassismussensibilität in der Psychotherapie ein. Zu Akbunar gehen auch weiße Therapeut*innen freiwillig in Supervision, um sich dem Thema zu nähern. PoC, die akut Hilfe brauchen, aber keinen freien rassismussensiblen Therapieplatz finden, rät sie: "Schreibt euch auf Wartelisten und sucht in der Zeit Orte auf, an denen ihr euch wohlfühlt. Das kann eine Selbsthilfegruppe sein, ein Healing Circle oder Communitytreffen von Organisationen. Man sollte nur nicht allein bleiben mit seinem Leidensdruck." + + + +* Namen geändert diff --git a/fluter/rassismus-verbindet.txt b/fluter/rassismus-verbindet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bb8d40b9f182e093ce14e876909ce8765565186c --- /dev/null +++ b/fluter/rassismus-verbindet.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +In den nächsten Jahrhunderten entwickelte sich aus den Abgrenzungsversuchen der Europäer ein krasser Rassismus. Im Zuge der Aufklärung und der Schaffung einer europäischen Idee fungierten die "Zigeuner" dabei als eine Art Gegenbild zur Zivilisation. Die Europäer dichteten ihnen dabei für sie passende kulturelle, religiöse oder soziale Merkmale an, die all dem entsprachen, was Europäer nicht sein wollten. So entstand in der europäischen Literatur das romantisch angehauchte Bild des "Zigeuners", der unabhängig und emotional ist, unbeherrscht und primitiv. +Das tatsächliche Verhalten der Roma konnte diesen Vorurteilen nichts anhaben. Für Roma typische, eigentlich angesehene Berufe, wie zum Beispiel der Kesselflicker, wussten die Europäer schnell in eine unehrenhafte Ecke zu stellen. Der Umstand, dass diese Metallarbeiter einst für ihre Arbeit von Ort zu Ort zogen, führte zu der Legende, Roma hätten in grauen Vorzeiten die Nägel für Jesus' Kreuzigung geschmiedet und seien als Strafe dafür zu ewigem Umherziehen verurteilt worden. Christliche Legenden besagten, Roma seien zwangsweise zum "fahrenden Volk" geworden, als sie der Heiligen Familie Unterkunft verwehrten – unabhängig davon, dass die meisten Roma seit dem 19. Jahrhundert sesshaft lebten. +Mit dem 20. Jahrhundert fanden die Vorurteile dann ihre pseudowissenschaftliche Legitimierung in Abhandlungen, die zeigen sollten, dass "Zigeuner" unabänderlich asozial und arbeitsscheu seien. Den Höhepunkt erreichte dieses Vorgehen im Holocaust, als die Nazis und ihre Verbündeten eine Vielzahl – Schätzungen zufolge bis zu 500.000 – Roma und Sinti ermordeten. In Deutschland, im Baltikum, in Polen, der Sowjetunion, Ungarn, Serbien und Kroatien. In Auschwitz gab es sogar ein eigenes "Zigeunerlager". Obschon 80 Prozent der in KZ umgebrachten deutschen Roma katholisch waren, scherte sich auch die Kirche nur wenig um ihre Anhänger, sofern ihre Ausweise mit einem "Z" gekennzeichnet waren. +Selbst mit dem Ende des "Dritten Reichs" fand wenig Umdenken statt. Der Bundesgerichtshof beispielsweise legitimierte noch 1956 die Verfolgungen von Roma in der Nazizeit als "sicherheitspolitische und kriminalpräventive" Maßnahme gegenüber "primitiven Urmenschen". Erst 1982 erkannte die deutsche Bundesregierung an, dass der Völkermord an den Roma und Sinti in Wirklichkeit aus rassistischen Gründen geschah. +Die Roma sind mit schätzungsweise bis zu zwölf Millionen Menschen Europas größte Minderheitengruppe, und sie sind weiterhin Diskriminierungen ausgesetzt. Nach einer Umfrage des UN-Entwicklungsprogramms und der EU-Behörde für Grundrechte leben in ost- und zentraleuropäischen Ländern etwa 90 Prozent der Roma unterhalb der jeweiligen nationalen Armutsgrenze. 30 Prozent der Roma sind arbeitslos, jeder fünfte Roma hat keine Krankenversicherung. +Auch wenn es kaum soziale Fortschritte gab, fand im öffentlichen Diskurs über Roma in den letzten Jahren in vielen europäischen Staaten immerhin ein Umdenken statt. Statt die häufig als diskriminierend empfundene Fremdbezeichnung "Zigeuner" verwenden öffentliche Institutionen und Medien inzwischen immer häufiger den Sammelbegriff Roma, der aus der Sprache Romanes stammt. Einen großen Anteil daran haben die Selbstorganisationen von Roma, die stärker in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. +Acht europäische Staaten riefen 2005 in einer gemeinsamen Erklärung die "Dekade der Roma-Inklusion" aus und mahnten eine Sensibilisierung gegenüber der Minderheit an. Diese Politik birgt allerdings, bei allen Erfolgen, die Gefahr einer ethnischen Stigmatisierung, bei der Probleme wie Armut und mangelnde Bildung dauerhaft mit den Roma selbst verknüpft werden statt mit der jeweiligen Lebenswirklichkeit der Betroffenen. Nicht alle Roma sind arm, und nicht alle Armen sind Roma. +Aber auch eine politisch korrekte Sprache kann manchmal nicht über den wahren Inhalt der Wörter hinwegtäuschen: Bei der Diskussion um die Wiedereinführung von Einreisebeschränkungen für Bürger aus Serbien und Montenegro in die EU etwa wird zwar offiziell von einer Eindämmung von Armutsmigration gesprochen. Gemeint sind damit aber eigentlich Einreisebeschränkungen für Roma, die in den vergangenen Monaten vermehrt in der EU Asyl gesucht haben. +Und so leben die Vorurteile in Europa immer weiter. Deutschland schiebt Roma massenhaft in den Kosovo ab. Frankreich weist rumänische Roma in ihr Heimatland aus, obwohl dies nach EU-Recht unzulässig ist. Die rechtsextreme Jobbik ist mit Anti-Roma-Propaganda drittstärkste Partei im ungarischen Parlament geworden. Nach einer Erhebung des Eurobarometers wäre es jedem dritten EU-Bürger unangenehm, wenn sein Kind mit Roma zur Schule gehen müsste. In Tschechien und der Slowakei sind es sogar mehr als die Hälfte. +Wer also noch nach einem Element sucht, das Europa verbindet, hier ist es: Rassismus gegenüber Roma gibt es auf dem gesamten Kontinent. diff --git a/fluter/rassistische-stra%C3%9Fennamen-umbenennen.txt b/fluter/rassistische-stra%C3%9Fennamen-umbenennen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/rassistische-uebergriffe-handy-filmen.txt b/fluter/rassistische-uebergriffe-handy-filmen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ce6d163becfe57d252463067e70bb9381f27dacc --- /dev/null +++ b/fluter/rassistische-uebergriffe-handy-filmen.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Das Video sorgte für Empörung und wird von vielen als Symbol für den alltäglichenRassismus gegen schwarze Menschengesehen. Die Frau muss sich nun wegen Falschaussage vor Gericht verantworten. Am selben Tag wurde George Floyd in Minneapolis von einem weißen Polizisten ermordet – einer von vielen Fällen vonPolizeibrutalität gegen Schwarzein den USA. Wieder spielte ein Handyvideo eine Rolle: Eine 17-jährige Passantin hatte die Tat gefilmt. Die Bilder gingen um die Welt. +Auch in Deutschland tauchen immer wieder Videos auf, in denen Menschen sich gegen rassistische Attacken wehren, indem sie die Handykamera anmachen. 2018 filmte ein schwarzer Mann in Bellenberg in Bayern, wie ein weißer Autofahrer ihn beleidigte und bedrohte. Der Täter konnte ermittelt werden und erhielt eine Geldstrafe. Weil er in der online veröffentlichten Aufnahme aber unverpixelt zu sehen war, wurde zeitweise auch gegen den Mann ermittelt, der das Video gefilmt und hochgeladen hatte – wegen Verletzung des Kunsturhebergesetzes, genauer gesagt demRecht am eigenen Bild. +Solche Videos sind umstritten und können schnell auch dazu führen, dassPersönlichkeitsrechte verletzt werden. Das Filmen an sich ist unproblematisch, solange es in einer öffentlichen Situation geschieht. Bei der Veröffentlichung wird es jedoch schwierig, weil das Verbreiten von Bildern einer Person gewöhnlich ihrer Einwilligung bedarf (ausgenommen sind "Bildnisse aus dem Bereich der Zeitgeschichte", also zum Beispiel in der Öffentlichkeit entstandene Aufnahmen von Politikern oder Prominenten). Grundsätzlich gilt: Ist eine Person unkenntlich gemacht, etwa durch Verpixelung, können auch keine Persönlichkeitsrechte verletzt werden. +Welche Erfahrungen machen Menschen, die sich mit der Handykamera gegen Rassismus wehren? Ist ihnen die Rechtslage bewusst, gerade in der Extremsituation eines Übergriffs? Drei Filmer erzählen. + +Suleman Malik, 33, Erfurt +Ich habe nicht groß überlegt, bevor ich die Kamera angemacht habe. Ich saß an der Haltestelle und wartete, als der Mann plötzlich anfing, mich zu beschimpfen. Er steigerte sich da richtig hinein. Natürlich hatte ich Angst. Er hatte eine Glasflasche in der Hand, und ich ging davon aus, dass die gleich auf meinem Kopf landen würde. Es gab kaum Zeugen, und für den Fall der Fälle wollte ich ein Beweismittel haben. Als ich ihn filmte, wurde der Mann noch aggressiver, aber wenigstens wusste ich, dass das Ganze dokumentiert wird. +Ich mache das auch aus dem Gefühl heraus, dass mir sonst keiner glaubt. Es ist wichtig zu verstehen, dass das nur ein winziger Ausschnitt ist. Ich bin stellvertretender Ortsteilbürgermeister von Erfurt-Rieth und engagiere mich für einen Moscheebau. Ich könnte stundenlangüber rassistische Erfahrungenerzählen. Mir wird so oft der Mittelfinger gezeigt, ich werde angespuckt. Diese rassistischen Angriffe haben fast nie Konsequenzen, selbst wenn man sie zur Anzeige bringt. Oft tut die Polizei sie als Kleinigkeiten ab, sodass ich mich gar nicht mehr traue, sie damit zu "belästigen". +Ich versuche Angriffe deshalb möglichst oft festzuhalten. Auf Screenshots, wenn es online passiert, sonst auf Videos. Ich habe das Privileg, mehrere Tausend Twitter-Follower zu haben. Die Aufnahme, die ich später dort gepostet habe, habe ich wohlweislich so bearbeitet, dass der Mann nicht identifizierbar war. Weil ich weiß, dass ich sein Gesicht nicht zeigen darf. In diesem Fall profitiert der Rassistvom Gesetz. Trotzdem: Ein Video kann ein Funke sein, das hat man bei George Floyd gesehen. + +Ali Tajik Jahr, 16, Leipzig +Ich gehe öfter auf politische Veranstaltungen. An dem Tag war ich unterwegs zu einer Demo, und in meiner Tasche steckte ausgerechnet ein Schild, auf das ich "#AfghanLivesMatter" und "#BlackLivesMatter" geschrieben hatte. Kurz zuvor war George Floyd ermordet worden, und mehrere Afghanen waren im Iran verbrannt, nachdem die Polizei ihr Auto beschossen hatte. +An der Haltestelle auf dem Weg zur Demo saß ein Paar, das völlig rücksichtslos minutenlang seinen Müll auf den Boden warf. Das hat mich so geärgert, dass ich es gefilmt habe – bewusst so, dass ihre Gesichter nicht zu sehen waren. Als ich sie höflich bat, damit aufzuhören, fingen die Beleidigungen an. Der Mann sagte, er sei Deutscher, er dürfe das. Ich solle mich verpissen. Er zahle Steuern, ich würde von seinem Geld hier leben. +Von dem Zeitpunkt an habe ich ihn direkt gefilmt, weil ich dachte: Wenn etwas passiert, habe ich einen Beweis. Ich werde oft rassistisch beleidigt, diesmal wollte ich, dass die Leute das endlich sehen. Am nächsten Tag habe ich das Video auf Instagram gestellt. Viele schickten mir aufbauende Nachrichten und sagten, ich hätte genau richtig reagiert: ruhig und sachlich. Ich finde es wichtig, dass solche Momente sichtbar werden. Wenn sowas ein, zwei Mal Aufmerksamkeit bekommt, wächst auch die Scheu davor, andere Menschen so zu behandeln. Niemand möchte als Rassist in einem Video auftauchen. + +Nawaf Hossein, 27, Osnabrück +Als ich in den Bus stieg, fing die Frau sofort an: "Guck mal, ein Ausländer, derHartz IVkriegt und sich einen Hund leisten kann." Ich hatte Kopfhörer auf, und sie dachte wohl, ich könnte sie nicht hören. Ich habe dann ganz gezielt die Kamera angemacht, um zu zeigen, dass solche Sprüche Alltag sind. Ich habe der Frau absichtlich nicht ins Gesicht gefilmt, weil ich wusste, dass die Lage dann wahrscheinlich eskalieren würde, wollte aber wenigstens den Ton aufnehmen. Ich kann mich wehren. Ich spreche Deutsch. Aber was, wenn meine kopftuchtragende Mutter, die nicht so gut Deutsch spricht, dagesessen hätte? Ich lebe seit 18 Jahren in Deutschland. Ich habe meinen Realschulabschluss und meine Mechatroniker-Ausbildung hier gemacht. Jetzt arbeite ich als Auto-Gutachter. Und muss mir an einem Samstagmorgen von einem fremden Menschen anhören, ich würde faulenzen? +Es war mir wichtig, das Video direkt auf Twitter zu posten. Parallel hatte ich die Lokalzeitung kontaktiert, die auch Interesse hatte, aber dann nicht mehr von sich hören ließ. Die Leute bei Twitter waren sehr solidarisch. Es ist eine ganz andere Erfahrung, wenn Leute spürbar hinter einem stehen. Im echten Leben kriegen die Leute den Mund fast nie auf. Mein Rat, wenn man rassistisch angegangen wird: souverän bleiben, festhalten, veröffentlichen. Nur so steigt in der Debatte der Druck. + diff --git a/fluter/rave.txt b/fluter/rave.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e0841d6d7c27c4e88fb603580653f7f85c92895c --- /dev/null +++ b/fluter/rave.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Doch an einem Freitagabend im Oktober ist da plötzlich Stimmengewirr in der Dunkelheit, Gelächter. Sind da Glasflaschen, die aneinanderklirren, und bunte Lichter. Knapp 300 Menschen bewegen sich ruckartig zu Beats, die Arme pumpen im Takt, die Augen sind hinter Sonnenbrillen versteckt. Die jungen Menschen, die in Slowjansk heute auf Techno tanzen,haben den Ausbruch des Krieges in der Ostukraineals Kinder miterlebt. Heute versuchen sie, ihre Stadt kulturell wiederaufzubauen und den Menschen eine Perspektive zu geben. +Einer von ihnen ist Jewhenij Skrypnyk, 24 Jahre alt und Organisator der Party. Die braunen Haare fallen ihm ins Gesicht. Sie haben schon lange keinen Friseur mehr gesehen, auch der Bart sprießt ungezähmt. Sein schwarzer Hoody ist ihm ein paar Nummern zu groß, er strahlt Gemütlichkeit aus, trotz der Anspannung, die ihm ins Gesicht geschrieben steht. +Seit zwei Jahren organisiert Skrypnyk Raves in Slowjansk, doch dieser ist etwas Besonderes."Boiler Room. In Slowjansk", sagt Skrypnyk mit weit aufgerissenen Augen, als könne er es selbst kaum glauben. "Was soll jetzt noch kommen?" Das Londoner Techno-Projekt "Boiler Room" ist berühmt für seine Partystreams, die Sets von Technogrößen wie Carl Cox oder Honey Dijon werden auf YouTube millionenfach geklickt. Skrypnyk erhofft sich dadurch Aufmerksamkeit – nicht nur für seine Partys, sondern für die gesamte Stadt. "Menschen aus allen Ecken der Ukraine reisen an, aus Ost und West. Sie bleiben einige Tage und lassen Geld hier", erklärt Skrypnyk. + +Als im Jahr 2014 prorussische Separatisten für einige Monate die Kontrolle über Slowjansk übernahmen und eine Schreckensherrschaft errichteten, bot die Stadt kaum mehr Perspektiven. Viele zogen weg, besonders die jungen Menschen. +Seit 2014 gibt es in der Ostukraine Krieg zwischen sogenannten prorussischen Separatisten und der ukrainischen Armee. Die Separatisten kontrollieren einen Teil der ostukrainischen Regionen Luhansk und Donezk. Inklusive der von Russland annektierten Halbinsel Krim hat die Ukraine inzwischen die Kontrolle über rund drei Prozent ihres Territoriums verloren. +Seit Sowjetzeiten ist Kohle für die Ostukraineein bedeutender Wirtschaftszweig und wichtiger Energielieferant. Der Kohle-Niedergang begann bereits vor Ausbruch des Krieges. Aber inzwischen steckt die Ukraine in einer echten Krise: Viele Bergwerke sind vom Krieg beschädigt oder befinden sich unter der Kontrolle der Separatisten. +Die Frontlinie trennt außerdem Familien, Geschäftswege und Verwaltungsbezirke: Viele Menschen konnten nahe Verwandte seit Jahren nicht besuchen, Gütertransporte oder Arbeitswege hat der Krieg für manche verunmöglicht. Viele junge Menschenmussten die Ostukraine verlassen: Zwar hat sich der Alltag vielerorts normalisiert und sie können auf beiden Frontseiten zur Schule, Ausbildung oder in die Universitäten gehen, aber es fehlt massiv an Arbeitsplätzen. +So war Boiler Room gar nicht das Ziel, als Skrypnyk vor zwei Jahren begann, die Raves zu organisieren. "Wir hatten damals einfach keinen Ort, an dem wir nach zehn oder elf Uhr abends laut sein durften", erklärt er. +Der erste Rave fand in einem verlassenen Industriegebäude statt. "Shum" nannte Skrypnyk die Veranstaltung, was übersetzt "Lärm" bedeutet. Nach Absprache mit den Behörden legte bis weit in die Morgenstunden eine Handvoll DJs auf.  Seitdem verändert "Shum" das Image der Stadt. "Früher war Slowjansk die Stadt, in der der Krieg begann", sagt Skrypnyk. "Heute ist es die Stadt, in der Shum-Raves stattfinden." +Dass die Veranstaltung auch anderen Geschäften in der Stadt hilft, wird einige Stunden vor dem Rave im Café Kap sichtbar. Seit der Eröffnung vor einem Monat sei es hier nicht so voll gewesen, sagt Besitzerin Nastja, eine Freundin von Skrypnyk, die alle nur Sliwa, "Pflaume", nennen. Das Café ist in schummriges rosa Licht getaucht. Hinter dem Tresen verkauft Nastja Milchshakes, Avocado-Toasts und vegane Kuchen. Die Tapete hat sie heruntergerissen und die grauen Steinwände mit rosa Neonfarben besprüht. An den Wänden hängen unscharfe Fotos vergangener Partys, über dem Eingang vor der Tür bunte Stoffwimpel. "Ich hatte das Bedürfnis, irgendwo in dieser Stadt gemütlich einen Kaffee zu trinken", erklärt Nastja, ein brauner Wuschelkopf von 28 Jahren mit tätowierten Armen und Beinen, einem kleinen Piercing in der Nase und großen Tunneln in den Ohren. +Auf wackeligen Hockern und tiefen, alten Sofas quetscht sich eine Jugend, die so vieles anders machen will als ihre Eltern. Sie spricht Ukrainisch oder Englisch – lieber und oft auch besser als Russisch. "Das führt zu Konflikten, meine Oma hasst es, dass ich nur noch Ukrainisch spreche", sagt Kateryna Bosjatschenko. +Für Bosjatschenko ist Sprache ein Mittel, ihre Identität als Ukrainerin auszudrücken, sich von Russland und der sowjetischen Vergangenheit des Landes zu distanzieren. Wer den Konflikt in der Ostukraine verstehen will, muss in die Vergangenheit schauen. Zu Sowjetzeiten galt die Ostukraine als fortschrittliche Industrieregion, ihre Arbeiterklasse als stolze Avantgarde der kommunistischen Gesellschaft. Russisch zu sprechen zeigte, dass man sich diesem System zugehörig fühlte, – und wird deswegen gerade von Älteren, wie Bosjatschenkos Großmutter, noch immer bevorzugt. Auf den Zusammenbruch des Systems folgten nicht nur wirtschaftliche und soziale Probleme, sondern auch Identitätskrisen. +Bosjatschenko überbrückt die Zeit bis zum Rave mit einem Kaffee. Alkohol verkauft Nastja noch nicht. Und auch von härteren Drogen scheint das junge Partyvolk in Slowjansk weit entfernt. Vor dem Café Kap strauchelt ein junger Mann, vermutlich Drogen. Auf die Party wird er es später nicht schaffen. Im Café rollt Kateryna Bosjatschenko genervt die Augen. Ihre Freundinnen vermuten, der Gast sei aus Kiew angereist, wo Drogen auf Technopartys weit verbreitet sind. In Slowjansk haben viele darauf keine Lust. Auch Veranstalter Skrypnyk will illegale Substanzen von seinen Raves fernhalten, sagt er. + +Kateryna Bosjatschenko ist aus der Nachbarstadt Kramatorsk angereist. Eigentlich stammt sie aus Debalzewe, um das im Krieg heftig gekämpft wurde und das heute nicht mehr unter Kontrolle der ukrainischen Regierung steht. "Der Krieg hat uns viel genommen, aber auch viel gegeben", sagt Bosjatschenko. "Er hat der kulturellen Entwicklung, der Kunst und der Musik, einen Schub gegeben." +Die 20-Jährige hat sich einem Theaterprojekt angeschlossen, mit dem sie durch das Land und durch Europa reist. Im aktuellen Stück verarbeiten die Darsteller ihre persönlichen Kriegserlebnisse. In Bosjatschenkos Familie schwelt bis heute ein ungeklärter Konflikt. Ihre Onkel schlossen sich unterschiedlichen Konfliktparteien an, kämpften gegeneinander, einer starb für die Separatisten. +Nichts verpassen? Mit unseremNewsletterbekommst du alle zwei Wochen fünf fluter-Highlights +Ähnliche Geschichten haben fast alle Gäste im rosa Café Kap zu erzählen. Aber die wenigsten wollen reden. In der Ecke steht ein Plattenspieler. Es läuft Tupac. "Den Vibe, den wir ausstrahlen, den ziehen wir auch an", ist Besitzerin Nastja überzeugt. "Und wir haben hier einen positiven Vibe. Wir glauben an das Gute." Es ergebe keinen Sinn zurückzuschauen. "Wir müssen auf den Ruinen etwas Neues aufbauen." +Passend dazu hat sie im Hinterzimmer einen Secondhandstore eingerichtet. Vor den Partys kleiden sich die Gäste hier ein, machen Fotos, beraten über Outfits. Ein Mädchen aus Belarus ohne Augenbrauen und mit weißblonden kurzen Haaren schminkt die anderen. Ein 15-Jähriger überprüft seinen Style im Spiegel: nackter Oberkörper, langer Pelzmantel, dicke Sonnenbrille. Passt. Daneben junge Männer und Frauen in Plateauschuhen, übergroßen Jeansjacken, mit Tattoos und grellen Lidschatten. Einer trägt Anzug und dazu eine Jägermeister-Goldkette auf der nackten Brust. So werden sie bis in die Morgenstunden tanzen. diff --git a/fluter/reality-tv-analyse.txt b/fluter/reality-tv-analyse.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0b7010b2808e17810256612360a11e6ddeea838a --- /dev/null +++ b/fluter/reality-tv-analyse.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Wenn man möchte, kann man aus einer Kleinigkeit einen unendlichen Streit spinnen. Und im Reality-TV möchte man. Wo Konflikt ist, ist Unterhaltung, das lehrte schon das klassische griechische Drama. In westlichen Geschichten baut der Spannungsbogen bis heute fast immer auf einem Konflikt auf. Reality-TV-Formate funktionieren nicht anders. Im Gegensatz zu fiktiven Geschichten sollen sie aber, wie der Name schon sagt, real sein. Zumindest theoretisch. Denn weil die Realität keiner Dramaturgie folgt und darüber zuweilen unspannend zu werden droht, muss der Konflikt aus den Protagonisten herausgekitzelt und dann über ein giftiges Script und die richtigen Schnitte so lange wie möglich heiß gehalten werden. +So unterschiedlich wie die Shows sind die Konflikte, die sie ausweiden. Bei manchen geht es um Wettbewerb, da kann der Konflikt wie bei "Shopping Queen" eher spielerisch sein. In anderen wird aktiv angeheiztwie bei "Germany's Next Topmodel", wo sogar die Produktionscrew die Kandidatinnen zum Lästern und Mobben animiert haben soll. Sendungen wie das "Dschungelcamp" setzen auf die Zermürbung der Teilnehmenden, damit sie irgendwann so gereizt sind, dass man den Streit einfach ernten kann. Shows wie "Love Island" oder der "Bachelor" casten ihre Kandidaten so zusammen, dass sie von allein Streit anfangen, um mehr Sendezeit zu bekommen. Und dann gibt es natürlich noch Shows, die sich um bestehende Konflikte drehen, zwischen Familienmitgliedern und Paaren, um Konflikte mit dem Gesetz oder mit dem eigenen Körper. "Alle Realityshows sind Versuchsanordnungen", sagt Andrea Nolte. "Sie schaffen Rahmenbedingungen, die Konflikte schüren." +Nolte, Medienwissenschaftlerin an der Universität Paderborn, guckt am liebsten das "Dschungelcamp" und das "Sommerhaus der Stars". Sie hat über Dokusoaps promoviert und beobachtet die Dynamiken im deutschen Reality-TV. Nolte glaubt, dass dessen Konfliktkultur eskaliert, vor allem durch die sozialen Medien. "Zwischen diesen Welten gibt es Wechselwirkungen", sagt Nolte, "sie pushen sich gegenseitig." +Auf TikTok, Reddit, Instagram und anderen Plattformen diskutieren die Zuschauer die Folgen, oft parallel zur Ausstrahlung. Die Lagerbildung heize die Diskussionen an, sagt Nolte: Die Zuschauenden schlagen sich auf die Seite einer Konfliktpartei, ziehen zum Teil gnadenlos über die Realitystars her. "Diese Feindseligkeit trägt dazu bei, dass sich auch in den Formaten selbst die Atmosphäre verändert, und zwar nicht zum Positiven", sagt Nolte. Hinzu komme, dass das Realitybusiness professioneller wird. Viele der Teilnehmer tingeln von Format zu Format. Sendezeit bringt Follower und damit letztlich bares Geld. Dafür muss man liefern, sagt Nolte, je krasser, desto lukrativer. "Wer langweilig ist und nicht provoziert, hat keine Chance auf eine Realitykarriere." +Die Kritik am Konfliktfetisch der Formate ist bekannt: Sie beuten die Teilnehmer psychisch aus, verankern Stereotype und negative Verhaltensweisen im Unterbewusstsein der Zuschauer. Und sie können auch die verletzen, die sich mit den Teilnehmern identifizieren. Trotzdem muss ich sagen: Es sind gerade die sinnlosen Konflikte, die Reality-TV für mich so erholsam machen. +Andrea Nolte hat dafür eine Erklärung: "parasoziale Interaktion". Entweder wir identifizieren uns mit den gezeigten Personen, oder wir finden sie doof. Nicht wenige schauen zu, um sich über die Gezeigten zu erheben: ein sozialer Abwärtsvergleich. "Dadurch vergewissern wir uns unserer eigenen Werte und Ansichten", sagt Nolte. Realityshows kann man also auchals Verhandlung gesellschaftlicher Normensehen. +Früher war es mir peinlich, dass ich als politisch interessierter Mensch Sendungen schaue, die als "Trash" gelten, als schriller Nonsens, über den viele nur den Kopf schütteln. Mittlerweile weiß ich, dass es in allen Teilen der Gesellschaft Fans wie mich gibt: Die Quoten boomen, und es gibt immer mehr Realityformate. +Dieser Text istim fluter Nr. 91 "Streiten"erschienen +Am liebsten sind mir US-Serien: diverse Maklerinnen-Shows, zwischendurch ein Datingformat, am liebsten aber die "Real Housewives of Beverly Hills", die sich seit bald 15 Jahren vor der Kamera streiten und versöhnen. +Das läuft meist so ab: Der Konflikt entsteht bei einer Party unter Alkoholeinfluss. Sofort scharen sich alle um die Streitparteien – vorsätzlich, um zu schlichten, tatsächlich, um noch mehr Öl ins Feuer zu gießen. Im Nachgang treffen sich die Beteiligten in Grüppchen und besprechen, was passiert ist. Weil alle beteuern, ehrlich miteinander sein und sich aussprechen zu wollen, wird das Streitthema immer wieder aufgebracht. Irgendwann vertragen sich die Streitenden, besonders gern, wenn schon der nächste Konflikt ansteht, in dem sie sich gegen eine andere Person verbünden. +Die Konfliktanlässe sind dabei meist komplett unwichtig, und die Kulisse – die Häuser riesig, die Extensions grellblond, die High Heels schwindelerregend – ist so fernab meiner Realität, dass ich beim Zuschauen richtig abschalte. Als Journalistinschreibe ich viel über Rassismus, Völkerrechtsverbrechen oder Migration, belastende Themen, die ich oft noch im Privaten weiterdiskutiere. Läuft nach Feierabend eine Folge "Housewives", tausche ich Realität gegen Reality. In der gibt es auch jede Menge Konflikte, aber die sind banal und haben nichts mit dem verkorksten Zustand der echten Welt zu tun. + diff --git a/fluter/recht-so.txt b/fluter/recht-so.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8381283a3976e9b51ba1b1dacd938a2e8482a320 --- /dev/null +++ b/fluter/recht-so.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Die Verfassungsarbeiter sahen das anders. Für sie war das Werk ein Scheck für eine bessere Zukunft; aber auch sie hatten, wie alle, Angst vor der Zementierung der deutschen Teilung und, vor allem, vor einem neuen Krieg. Die Sowjets hatten Berlin abgeriegelt, die Blockade sollte fast ein Jahr dauern. Unter miserableren Voraussetzungen ist kaum eine Verfassung geschrieben worden. Die dreißig Fachleute, die vor 63 Jahren aus den zerbombten Städten der Westzonen zum Verfassungskonvent in die Idylle der Insel Herrenchiemsee kamen, um ein Grundgesetz vorzubereiten, haben sich an den Martin Luther zugesprochenen Satz gehalten: Sie haben befürchtet, dass die Welt untergeht – und trotzdem das Bäumchen gepflanzt. +Hunderttausende "displaced persons" zogen damals durch die Städte, fast eineinhalb Millionen Flüchtlinge lagerten allein im kleinen Schleswig-Holstein; aber über ein Grundrecht auf Asyl wurde nicht lang debattiert, es war selbstverständlich angesichts der bitteren Erfahrungen, die man selbst mit Verfolgung und Abweisung erfahren hatte. Die Mordrate war in den unsicheren Nachkriegsjahren auf bis dahin ungekannte Höhen gestiegen, die Abschaffung der Todesstrafe wurde trotzdem ins Grundgesetz geschrieben. Die neue Kriegsgefahr, die Ge- fahr von Spionageakten und von Anschlägen war mit Händen zu greifen, doch über das Verbot der Folter wurde keine Sekunde gestritten; man wusste, was passiert, wenn Demütigung zum Instrument staatlichen Handelns wird. Es saßen viele zuvor politisch Verfolgte in den Gremien, die das Grundgesetz vorbereiteten. Nie mehr später in einem deutschen Parlament war ihr Anteil so hoch. +Die Pflanzaktion von 1949 war die erfolgreichste Pflanzaktion der deutschen Geschichte. Sorgsam wurden die Wurzeln gebettet: Glaubensfreiheit, Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Parteigründungsfreiheit, Berufsfreiheit – Freiheit war das Zauberwort nach den Jahren der Unfreiheit, die Freiheiten waren Garantie und Verheißung. Manche meinen, eine Verfassung sei auch nur "irgendein Gesetz", wie es in jedem Land Tausende gibt – Arbeitsgesetze, Schulgesetze, Strafgesetze oder etwa die Gesetze, die regeln, wann man den Führerschein machen oder wann man heiraten darf. Doch die Verfassung ist nicht irgendein Gesetz, wie es jede Woche im Bundestag gemacht wird und wieder geändert werden kann. In einer Verfassung steht nicht nur drin, dass die deutsche Fahne schwarz-rot-gold ist. Die Verfassung ist etwas ganz Tiefschürfendes: Sie ist die Grundlage für alle anderen Gesetze. Der Name der deutschen Verfassung sagt das deutlich: Grundgesetz. +Deswegen kann das Grundgesetz auch nicht so einfach geändert werden wie die anderen anderen Gesetze, es reicht nicht, wie sonst, die einfache Mehrheit der Stimmen. Das Grundgesetz kann nur dann geändert werden, wenn zwei Drittel der Mitglieder des Bundestags und zwei Drittel der Mitglieder des Bundesrats zustimmen. Und es gibt sogar Vorschriften im Grundgesetz, die niemals geändert werden dürfen: der Artikel 1 über den Schutz der Menschenwürde und der Artikel 20, in dem steht: "Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." An diesen Kernsätzen darf, so steht es ausdrücklich im Grundgesetz, nicht gerüttelt werden, sie sollen ewig gelten – und diese Ewigkeit soll länger dauern als die ewige Liebe, die sich Liebespaare schwören, die aber dann doch oft nur ein paar Monate oder ein paar Jahre hält. +Als das Grundgesetz geschrieben wurde, war der Zweite Weltkrieg erst ein paar Jahre vorbei, und den meisten Deutschen war bewusst geworden, welchem Verbrecher sie nachgelaufen waren und welche furchtbaren Verbrechen Hitler und die Nazis begangen hatten. Das Grundgesetz macht sich daher, wie ein Tagebuch beinah, Gedanken über die zurückliegenden Jahre der Verachtung und Verfolgung von Millionen von Menschen. Das Grundgesetz zieht seine Folgen daraus. Es gibt jedem Menschen die gleichen Rechte, und es hält die Grundfreiheiten ganz hoch: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, die Freiheit, einigermaßen unbehelligt leben zu können. Und das Grundgesetz gibt den Gerichten, vor allem dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, die Aufgabe, darüber zu wachen, dass diese Regeln auch eingehalten werden. Es stellt Regeln auf, die verhindern sollen, dass Deutschland noch einmal auf die schiefe Bahn gerät. +In unsicherster Zeit wurden Grundrechte geschaffen. Später, im sichersten Deutschland, das es je gab, wurden sie revidiert: erst das Grundrecht auf Asyl, weil das "Boot" angeblich voll war; dann das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung, weil man angeblich sonst der organisierten Kriminalität nicht Herr werden konnte; heute ist es der islamistische Terror, dessen Bekämpfung Grundrechte angeblich im Wege stehen. Die Kirschen der Freiheit werden nicht selten madig gemacht. Oft wird in der Tagespolitik so getan, als müsse man die Grundrechte kleiner machen, um mehr Sicherheit zu schaffen. Dann muss das Bundesverfassungsgericht der Politik klar machen, dass die Grundrechte ein Geschenk sind, nicht eine Gefahr. +Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten – heißt es oft in den sicherheitspolitischen Debatten. Manchmal stimmt das tatsächlich. Von einer einzelnen Videokamera geht sicherlich keine Gefahr aus, von ein bisschen Spucke, die einem unschuldigen Menschen genommen wird, auch nicht; eine Speichelprobe zur Aufklärung eines Verbrechens muss man ja nicht jeden Tag abgeben. Und die Videokamera, die den öffentlichen Raum überwacht, springt zwar nicht herunter, um zu helfen, wenn etwas passiert – aber sie kann immerhin für ein kleines Sicherheitsgefühl sorgen; und wenn mit den Bildern nicht Schindluder getrieben wird, kann die Kamera ganz sinnvoll sein. Wenn aber der Mensch fast überall mit staatlichen oder privaten Videokameras beobachtet wird, wenn diese zusammengeschaltet, und so Menschen gezielt erfasst und kontrolliert werden können, wenn mit Erfassungssystemen festgehalten wird, wo und wann sie welche Straßen benutzen, wenn die Daten ihrer Flüge registriert, ihre dortigen Essgewohnheiten festgehalten, ihre Computer elektronisch durchsucht werden, wenn ihre Telekommunikationsdaten gespeichert werden, wenn also gespeichert wird, wer wann und wo mit wem telefoniert oder wem er SMS geschickt hat, wenn die Bankkonten der Bürger vom Staat visitiert, wenn ihre Persönlichkeitsdaten, Krankheiten und Gebrechen zentral abrufbar werden, wenn gar überlegt wird, Speichel- oder Blutproben zur Entschlüsselung und Speicherung des genetischen Codes schon im Säuglingsalter abzunehmen – dann hat das mit dem Bild vom freien Bürger, das dem Grundgesetz zugrunde liegt, nicht mehr so viel zu tun. +Wenn die Rechte der Bürgerinnen und Bürger zu sehr eingeschränkt werden, dann ist das Grundgesetz ein Schild, um sich dagegen zu wehren. Das Bundesverfassungsgericht hilft jedem Einzelnen dabei, sich zu wehren. Das Grundgesetz ist also nicht nur Liebesbrief an ein Land, es ist nicht nur Tagebuch und Poesiealbum. Es ist auch ein Protestbrief, wenn Staat und Gesellschaft die Freiheit, die soziale Gerechtigkeit und den inneren und äußeren Frieden nicht mehr ganz hoch halten. +Prof. Dr. jur. Heribert Prantl ist Mitglied der Chefredaktion der "Süddeutschen Zeitung" und leitet die Redaktion Innenpolitik diff --git a/fluter/rechte-im-eu-parlament.txt b/fluter/rechte-im-eu-parlament.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..447723fed1d66d2c808057a0f24ce22dcc46ea5c --- /dev/null +++ b/fluter/rechte-im-eu-parlament.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Europa wählt … aber wen?Unser Crashkurs Europawahl +Die Chefs der rechten Parteien AfD, La Lega (Italien), Dansk Folkeparti (Dänemark) und "Die Finnen" verkündeten vor laufenden Kameras, nach den Europawahlen eine gemeinsame Fraktion bilden zu wollen: Die "Europäische Allianz der Völker und Nationen" soll dem restlichen Europaparlament mit EU-Skepsis gegenübersitzen. +Von solchen Terminen träumt Steve Bannon schon lange. Der rechtspopulistische Publizist und ehemalige Berater von US-Präsident Donald Trump unterstützt seit vergangenem Jahr mit der Stiftung "Die Bewegung" die Vernetzung der rechtspopulistischen Parteien Europas. +"Die Bewegung" hat gute Voraussetzungen: Täten sich alle nationalistischen und die EU ablehnenden Parteien zusammen, könnten sie zweitstärkste Kraft im Europaparlament werden, rechnet die "Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP). + +Noch aber ist unklar, ob die Idee der "Bewegung" Erfolg hat. Um die Geschlossenheit unter den europäischen Nationalisten steht es nicht gut. Im Europaparlament verteilten sie sich bislang auf: +die gemäßigtere"Europäische Konservative und Reformer"(EKR), in der rechtskonservative Parteien wie die polnische PiS oder Dansk Folkeparti sitzen. +die radikal EU-ablehnende"Europa der Freiheit und der direkten Demokratie"(EFDD), gegründet vonBrexit-Wortführer Nigel Farage, mit zum Beispiel der AfD, deritalienischen Fünf-Sterne-Bewegung, der UK Independence Party und denSchwedendemokraten. +die ebenfalls radikal EU-ablehnende"Europa der Nationen und der Freiheit"(ENF), gegründet von Marine Le Pen, unter anderem mit der deutschen "Die blaue Partei", dem französischen Rassemblement National (ehemals Front National), der italienischen Lega Nord, der belgischen Vlaams Belang und der niederländischen Partij voor de Vrijheid (PVV). + +Diese Zersplitterung der EU-Skeptiker – diesen Begriff nutzen Wissenschaftler, um die Kategorisierung in rechts und links zu vermeiden – ist vor allem inhaltlich begründet. Die Parteien unterscheiden sich in der politischen Verortung, etwa in ihrer Haltung zu Russland, zum Thema Migration oder zum Verbleib ihrer Länder in der EU. "2014 war die Chance für die EU-Skeptiker schon einmal da", sagt Nicolai von Ondarza, Europa-Experte der SWP. "Gemeinsam hätten sie eine der größten Fraktionen im Parlament stellen können. Damals sind sie vor allem an ihren unterschiedlichen Positionen gescheitert." +Zum Beispiel tat sich Farage, der die EFDD-Fraktion bereits 2009 gegründet hatte, nach dem populistischen Wahlerfolg 2014 nicht mit Le Pen zusammen: Er sorgte sich wohl, zu stark dem rechten Spektrum zugeordnet zu werden – und damit in Großbritannien gemäßigte Wähler für seine Brexit-Kampagne zu verlieren. Kürzlich lud Le Pen Farages Brexit-Parteierneutzur Kooperation ein. +Momentan stellt die EFDD-Fraktion um Farage 42 der insgesamt 751 Sitze im Parlament. Wegen des Brexits steht die EFDD nun kurz vor der Auflösung. Dann muss sich auch eine andere Partei eine neue Fraktion suchen: die italienische Fünf-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo (11 Mitglieder). Die ist in Italien inzwischen an der Regierung beteiligt, wird nach der EFDD-Auflösung aber wahrscheinlich auch nicht mit den Rechten kooperieren wollen. +Anders das deutsche Mitglied der EFDD: Jörg Meuthen von der AfD. Meuthen zog 2017 ins EU-Parlament ein, nachdem seine Vorgängerin Beatrix von Storch in den Deutschen Bundestag gewechselt war. Als von Storch 2014, im Jahr der vergangenen Europawahl, ins EU-Parlament einzog, war die AfD inhaltlich noch anders orientiert: mehr Euro-Kritik, weniger Migrationsthematik. Beim Treffen in Mailand verkündete Jörg Meuthen nun die Gründung der neuen, rechten Fraktion mit – mindestens – der Rechten aus Italien, Dänemark und Finnland. +Klar ist: Richtig groß kann sie nur werden, wenn auch die Franzosen, Niederländer oder Österreicher mitmachen. Bislang stellen die den Rechten-Zusammenschluss im Parlament, genannt "Europa der Nationen und der Freiheit" (ENF), mit 36 Mitgliedern. Darunter die französische Rassemblement National, die österreichische FPÖ, die PVV um Geert Wilders, die Lega Nord und auch Marcus Pretzell für die "Die blaue Partei". +Die bekanntesten Mitglieder der ENF waren Marine Le Pen und Matteo Salvini, beide sitzen aufgrund der Mandate in ihrer Heimat nicht mehr im Europaparlament. Die Fraktion sorgte in der vergangenen Periode für einen Skandal:"Champagnergate". Demnach soll die Fraktion laut Haushaltskontrollausschuss allein im Jahr 2016 234 Flaschen Champagner auf EU-Kosten konsumiert haben. Dazu teure Weihnachtsgeschenke und luxuriöse Essen – alles zusammen kostete rund 420.000 Euro. Das widersprach dann doch mit der vermeintlichen Volksnähe und dem Anti-Establishment der Populisten, die Kritik ließen nicht lange auf sich warten. Der Popularität in ihren Heimatländern tat das jedoch keinen Abbruch, alle rechnen mit Zuwächsen. +Ob nun die große Einheit folgt? Angeblich sollen sich der Rassemblement National, Vlaams Belang und die FPÖ den vier Gründungsmitgliedern anschließen wollen. Ein abgestimmtes Wahlprogramm aufzustellen ist aber schon für die vier ein Problem; zu sehr unterschieden sich ihre Positionen zur Umverteilung von Migranten. Wie EU-Experte Nicolai von Ondarza berichtet, zeigten die EU-skeptischen Parteien schon zuvor die geringsteFraktionsdisziplin, waren bei Abstimmungen also uneins wie keine andere Fraktion. Der Nationalismus in Europa spricht noch nicht mit einer Stimme. + +Das Titelbild von Alessandro Garofalo/REUTERS zeigt – von links nach rechts – Olli Kotro (Die Finnen), Jörg Meuthen (AfD), Matteo Salvini (Lega Nord) und Anders Vistisen (Dänische Volkspartei) beim Treffen in Mailand. diff --git a/fluter/rechter-terror-gegen-fluechtlinge.txt b/fluter/rechter-terror-gegen-fluechtlinge.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..08bec23803272650ba28cc6486dafbb84f9c4344 --- /dev/null +++ b/fluter/rechter-terror-gegen-fluechtlinge.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Robel und seine fünf eritreischen Mitbewohner fallen in Wurzen auf. Wegen ihrer dunkleren Hautfarbe. Sie spüren die Blicke, nach ein paar Wochen trauen sie sich kaum mehr allein raus. Immer wieder strecken Menschen auf der Straße den Arm zum Hitlergruß, wenn sie an ihnen vorbeilaufen. Abends fliegen rohe Eier gegen die Fenster ihrer Wohnung. "Schwarzes Schwein" sind die ersten deutschen Wörter, die sie lernen, noch bevor sie einen Sprachkurs besuchen können. +Doch wenn Robel damals mit seiner Familie telefoniert, erzählt er nichts von alledem. Es gehe ihm gut, sagt er. Seine Familie hatte ihr Haus verkauft, um ihrem ältesten Sohn ein besseres Leben zu ermöglichen. Als er auf der Flucht im Sudan entführt wurde, hatte sich seine Familie verschuldet, um ihn freizukaufen. "Ich wollte nicht, dass sie wieder Angst haben." + +Im sächsischen Wurzen zeigten Neonazis ganz offen ihre rechtsextreme Gesinnung + +Es ist Mitte Januar 2017, Robel guckt mit Freunden Fußball am Domplatz, so nennt er den Begegnungsraum, den das Netzwerk für Demokratische Kultur e. V. dort geschaffen hat. Er ist glücklich, dass er endlich Menschen kennengelernt hat, die ihn mögen. Bei ihnen lernt er Deutsch, sie feiern zusammen seinen Geburtstag. Kurz sieht es so aus, als ob alles gut werden könnte. +Um zwei Uhr nachts geht er nach Hause, schon von Weitem sieht er die eingeschlagenen Fensterscheiben seiner Erdgeschosswohnung. Als er in die Wohnung kommt, ist es eiskalt. Unter seinen Füßen knirschen die Scherben, die überall auf dem Boden verteilt liegen. Seine Mitbewohner sind verängstigt. Ein lauter Knall hat sie aus dem Schlaf geschreckt. Robel bleibt vor seinem Bett stehen. Die Ma­tratze ist schwarz, die Bettdecke hat sich wie heißes Plastik zusammengezogen, noch immer riecht es verbrannt. Ein Feuerwerkskörper ist auf Robels Bett explodiert und hat ein Feuer entfacht. In dieser Nacht wird er bei einem Freund schlafen. Es ist die erste Nacht, in der er wieder auf der Flucht ist. Die Täter werden nie gefasst. Laut Staatsanwaltschaft Leipzig ist die Strafverfolgung aufgrund eines fehlenden hinreichenden Tatverdachts eingestellt worden.Es ist nur eine Ermittlung von vielen, die nach Angaben der Opferberatung Leipzig ins Leere laufen wird. Bis Ende des Jahres werden in Wurzen 2017 insgesamt 40 Menschen Opfer rechtsmotivierter Gewalt. +Hinter den Zahlen verbergen sich Menschen wie Habtom M., dem Neonazis mit einem Messer die Hand zerschnitten, oder Lwam E., die nur schützend ihre Hände vor ihren Bauch halten konnte, als drei Männer ihr hinter ihrem Haus auflauerten und auf die Schwangere einschlugen. "Du wirst hier kein schwarzes Baby auf die Welt bringen", rief einer. +Nach dem Anschlag auf Robels Wohnung ist er dort nicht mehr sicher. Die Opferberatung organisiert ihm eine Wohngemeinschaft in Leipzig. Die sieben Monate dort tun ihm gut. Dann läuft der Mietvertrag aus, und er muss zurück nach Wurzen. Mittlerweile, so glaubte er, wäre es dort sicherer. "Wir waren jetzt mehr, ich dachte, die machen das jetzt nicht mehr", sagt er heute. Weil er noch keine Wohnung hat, schläft er die ersten Nächte auf der Couch eines Freundes. Mitten in der Nacht wacht er davon auf, dass ihn ein Pflasterstein am Bein trifft. Der Terror geht wieder los. +In Sicherheit: Robel wohnt jetzt mit seiner Frau und seinem Sohn in Leipzig + +In den kommenden Wochen wird Robels Wohnung zu seinem Versteck. Nachdem er einem regionalen Fernsehsender ein Interview gegeben hat, kennt jeder sein Gesicht. Man warnt ihn, er solle abends lieber nicht mehr vor die Tür gehen. Wenn Robel nachmittags von seinem Praktikum aus Leipzig nach Hause kommt und er die rassistischen Sprüche der Jugendlichen am Bahnhof hinter sich gelassen hat, schließt er die Tür hinter sich zu. In seinem neuen Zuhause fühlt er sich jetzt fremder als je zuvor. +Nicht jeder hält es aus, durch die wiederkehrende Gewalt erneut mit seinen traumatischen Fluchterfahrungen konfrontiert zu werden. Einige fangen an zu trinken, zu rauchen, werden depressiv. Er habe das libysche Gefängnis überlebt, dann werde er auch das schaffen, hat sich Robel immer wieder gesagt. "Robel ist stark", sagt Heike Krause, eine Gymnasiallehrerin, die 14 Eritreer seit 2016 unterstützt, darunter auch Robel. Sie half ihm schließlich, eine Wohnung und eine Arbeit in einer anderen Stadt zu finden. +Zwei Jahre später sitzt Robel zusammen mit seiner Frau und seinem drei Monate alten Sohn auf dem Sofa in seiner Leipziger Wohnung. In Sicherheit. Keine 30 Kilometer von Wurzen entfernt hat er noch einmal neu angefangen. Er hat einen festen Job, trägt Verantwortung. Nach sechs Monaten als Paketbote kennt Robel die Straßen des Leipziger Nordwestens fast alle auswendig. Die Kunden begrüßen ihn mit einem Lächeln, wenn er an ihrer Tür klingelt. Er sagt, er habe jetzt ein glückliches Leben. +Zwei Jahre, nachdem Robel Wurzen verlassen konnte, steht er noch einmal dort, wo er seine schlimmsten Tage nach der Flucht verbracht hat. Ein altes Eckhaus mitten in der Wurzener Altstadt, ganz in der Nähe des Doms. Seine alte Wohnung. Das Klingelschild trägt noch immer seinen Namen. +"Jeder Tag war stressig", erinnert er sich, und trotz allem ist da so etwas wie Wiedersehensfreude in seinen Augen. Immer wieder um sich schauend, läuft er durch die verwinkelten Gassen. Als ein Auto vorbeifährt, guckt er dem Fahrer ins Gesicht und flüstert "Den kenne ich, mit dem hatte ich viele Probleme." Inzwischen ist es ruhiger geworden in Wurzen. Auch weil die meisten Geflüchteten weggezogen seien. "Ihr Ziel war es, uns Angst zu machen, damit wir aus Wurzen weggehen", sagt Robel. "Sie haben gewonnen." diff --git a/fluter/rechtschaffen-im-rattenrennen.txt b/fluter/rechtschaffen-im-rattenrennen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..09a0e0cad03b6f8f4aaba3828d416b95245036c9 --- /dev/null +++ b/fluter/rechtschaffen-im-rattenrennen.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Die Serie, 2012 gestartet und 2014 beendet, arbeitet sich über drei Staffeln an der Frage ab, ob das Erzeugen von Nachrichten nicht wenigstens noch ein kleines bisschen dem Allgemeinwohl und öffentlichen Interesse dienen sollte. Oder nichts weiter ist als eine Geldquelle für Konzerninhaber. Geht es nur noch um Klicks, Einschaltquoten und Auflagen oder auch noch um eine demokratische Volksbildung? +"Newsroom"-Erfinder und Drehbuchautor Aaron Sorkin hält mit seiner Meinung nicht hinterm Berg. Wie schon in "The West Wing", seiner Serie über die Arbeit eines US-Präsidenten, macht er seine Protagonisten zu seinem demokratischen Sprachrohr: "There is nothing that's more important in democracy than a well-informed electorate", sagt die weibliche Hauptfigur MacKenzie McHale (Emily Mortimer). "That's why I produce the news." +McHale ist nebenbei Will McAvoys Ex-Geliebte, seine größte Schwachstelle – und die ausführende Produzentin seiner Nachrichtensendung "Newsnight". Sie wieder ins Boot zu holen ist ein kluger Schachzug von McAvoys Chef Charly Skinner, um "die vierte Gewalt zurückzuerobern". Das klappt, wie bei Journalisten üblich, weil er McAvoy bei seiner Eitelkeit packt: "Die Leute lieben dich, weil du niemandem auf die Füße trittst." +McAvoy wendet sich also an seine Zuschauer mit einer Entschuldigung und einem Versprechen: Er habe unwichtige Geschichten zugunsten der Quote gebracht – von nun an wolle das "Newsnight"-Team die Zuschauer wieder über echte Skandale informieren und nicht einfach jede neue Sau mit durchs Dorf treiben. Klar, dass das nicht einfach wird, und so sehen wir staffelübergreifend rechtschaffene, sehr intelligente Journalisten im Kampf gegen die Herrschaft von Klatsch, Tratsch und Voyeurismus und für die gute Recherche. +Folgerichtig befindet sich McAvoy immer wieder im Quoten- und Rechtfertigungsdruck der Geschäftsführung gegenüber. Etwa wenn er sich weigert, im Rattenrennen der Medien um Sensationen mitzumachen und den Tod einer angeschossenen Politikerin zu melden: "Die Ärzte erklären sie für tot, nicht wir." Und, ja: Die Frau überlebt, und "Newsnight"-Sender ACN ist damit der einzige, der die Falschmeldung nicht verbreitet hat. +Natürlich handelt es sich hier um eine idealisierte, überhöhte Redaktion, wie Sorkin sie sich wünscht, ebenso wie der Präsident Jed Bartlet aus "The West Wing" der feuchte Traum eines jeden US-Demokraten ist und eine verantwortungsvolle Politik verkörpert. Mit dem Unterschied, dass sich die Arbeit in "The Newsroom" um tatsächliche Geschehnisse der jüngsten Vergangenheit dreht wie das Leck der Bohrinsel "Deepwater Horizon", die Kriege in Afghanistan und Syrien, Edward Snowden oder die Bombenanschläge beim Boston-Marathon. Das hat zur Konsequenz, dass die Zuschauer bereits klüger sind als die Protagonisten. +In der dritten Staffel von "The Newsroom", die im Januar auf Deutsch ausgestrahlt wurde, sehen wir Will McAvoy schließlich vor Gericht. Er will die Quelle innerhalb des US-Geheimdienstes nicht preisgeben, die seinem Sender Informationen über den Tod von 38 Unschuldigen im imaginären Land Kundu zukommen ließ. Journalistenethos, für das er sogar ins Gefängnis gehen würde. Allerdings nicht, ohne vorher dem Richter noch einen dieser kleinen Schlaumeier-Monologe zu halten, für die sein Erfinder und Drehbuchschreiber Aaron Sorkin so bekannt ist; über die Bill of Rights, die Pressefreiheit und den Espionage Act, der diese einzuschränken vermag. +Dabei sympathisiert McAvoy sogar mit der Anklage: Es sollte heutzutage nicht so einfach sein, die Freiheit der USA zu gefährden, indem ein einzelner Whistleblower Dokumente im Internet veröffentlicht oder verschlüsselt einer Zeitung zukommen lässt, findet er. Die Szene vor Gericht verdichtet die beiden Hauptthemen der letzten Staffel von "The Newsroom": die Bedrohung eines "guten Journalismus" durch das Internet und die Frage, wie ein US-Fernsehsender mit geheimen Dokumenten umzugehen hat und ob er sich deren Veröffentlichung überhaupt leisten kann. Denn es stehen Glaubwürdigkeit und Finanzierung des Senders auf dem Spiel und somit Interessen einander gegenüber. +Die Vision des neuen Eigentümers von ACN, dass der Journalismus im 21. Jahrhundert aus einem Konglomerat von Redakteuren, Bürgerjournalismus, Blogs und Social Media besteht, treibt der integren Journalisten-Elitetruppe stellvertretend für Aaron Sorkin den Angstschweiß auf die Stirn. Dabei kann niemand gewinnen, Des- und Fehlinformation sind der Preis der digitalen Revolution – und mit dieser düsteren Vision lässt Aaron Sorkin uns allein. Der Ausgang dieser Geschichte wird in der Realität geschrieben. diff --git a/fluter/rechtshilfe.txt b/fluter/rechtshilfe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/recycling-wie-viel-muell-machen-windraeder.txt b/fluter/recycling-wie-viel-muell-machen-windraeder.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..028a9cf3f4eb9876615ee055f8fea7c34b8ae76b --- /dev/null +++ b/fluter/recycling-wie-viel-muell-machen-windraeder.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +"Es ist wie beiAtomkraftwerken. Die hat man auch ein­geschaltet, ohne über das Recycling nachzudenken, also darüber, was mit dem strahlenden Abfall passieren soll", sagt der Ressourcenforscher Winfried Bulach vom Öko-­Institut Darmstadt. Der Vergleich ist zwar drastisch, denn beim Atommüll handelt es sich um lebensgefährliche Hinterlassen­schaften – aber tatsächlich droht ein neuer riesiger Abfallberg aus alten Windkraftanlagen. "Wir rechnen mit einer Menge von 40.000 bis 60.000 Tonnen ausrangierter Anlagen. Das ist keine Kleinigkeit", so Bulach. +Schon zum Jahreswechsel fielen geschätzte 4.200 Windräder aus der Förderung des Erneuerbare-­Energien­-Gesetzes. Das heißt, dass sich der Betrieb für die Besitzer meist nicht mehr lohnt. Derzeit werden viele der ausrangierten Windanlagen nach Ost­- und Südeuropa gebracht, wo die in der Branche als "Eisenschweine" bezeichneten robusten Modelle noch weiter Strom erzeugen können. "Ein zweites Leben im Aus­land für noch einmal 10 bis 20 Jahre ist im Moment die beste Option", sagt Bulach. +Tatsächlich sieht es so aus, als hätten Ingenieure und Umweltpolitiker in den vergangenen Jahren vor allem die Leistungssteigerung der Windräder im Auge gehabt – und weniger die Möglichkeit zur Wiederverwertung. Dabei ist nicht etwa der Turm des Windrads das Problem; der besteht aus Stahl und Beton. Beides kann relativ einfach wiederver­wertet werden. Schwierig wird es dort, wo beim Windrad Hightechmaterialien zum Einsatz kommen – in den bis zu 120 Meter langen Rotorblättern. Weil die selbst Stürmen trotzen müssen, bestehen sie oft aus komplizierten Kon­struktionen: innen extrem leichtes Balsaholz, dazu Kohlenstoff­ und mit­unter Glasfasern. Umhüllt und fest verbunden sind diese Bestandteile mit Epoxidharz. Oft sind so viele verschie­dene Stoffe verklebt, dass sie nicht mehr voneinander zu trennen sind. +Da es keine bewährten Recycling­wege gibt, landen geschredderte Rotor­blätter trotz Verbots nicht selten auf Mülldeponien, manche Hersteller schlugen sogar vor, ausrangierte An­lagen im Meer zu versenken. +Besonders groß sind die Proble­me bei Rotorblättern mit Kohlenstoff­fasern. Sie dürfen nicht in Müllver­brennungsanlagen gelangen, weil die Fasern in der Hitze bersten und die Abgasreinigungsfilter lahmlegen. Fie­berhaft suchen Forscher deshalb nach Möglichkeiten, kohlenstofffaserhalti­ge Rotorblätter wiederzuverwerten – erste Versuche dazu gibt es. +Wenn die Rotorblätter keine Koh­lenstofffasern, sondern nur Glasfasern enthalten, funktioniere das Recycling schon ganz gut, sagt Philipp Sommer, Recyclingexperte bei der Deutschen Umwelthilfe. Glas basiert nämlich auf Sand – und Sand ist derzeit knapp auf dem Weltmarkt. Aus diesem Grund landen glasfaserhaltige Rotorblattstücke in Zementöfen. Bei 800 Grad Celsius verbrennen Kunststoffe und Holz sofort, übrig bleiben die Glasteil­chen. Sie liefern quasi den Sand, den die Fabrikanten sonst teuer einkaufen müssten. "Es ist nicht das werthaltigs­te Recycling. Aber momentan eine gute Lösung", so Sommer. +"Man muss ein Windrad von Anfang an so bauen, dass man es hinterher auch gut und rentabel recyceln kann", fordert Holger Seidlitz, Ingenieur am Fraunhofer-­Institut für Ange­wandte Polymerforschung in Wildau. Die Teile müssten sich mechanisch einfach und möglichst sortenrein voneinander trennen lassen. Statt Kettensägen und brachialen Werkzeugen, mit denen Arbeiter heute die Rotorblätter vor Ort zerkleinern, könnten intelligente Klebstoffe zum Einsatz kommen, die sich mit Hitze leicht lösen lassen. +"Design for recycle" heißt es, wenn man Güter so fertigt, dass ihnen viele weitere Lebenszyklen offenstehen. Immer wieder hat man dieses Nachhaltigkeitsprinzip sogar bei Um­welttechnologien außer Acht gelassen. "Am Anfang ist viel Dynamik in der Technologieentwicklung. Die verwendeten Materialien ändern sich häufig innerhalb kurzer Zeit, sodass es schwierig ist, schon das Recycling mitzuentwickeln", er­ klärt Umweltexperte Sommer das Dilemma. Fehlendes Re­cycling dürfe daher kein Totschlagargument gegen Umwelt­technologien an sich sein. + diff --git a/fluter/recyclinghaus-bauabfaelle-muell.txt b/fluter/recyclinghaus-bauabfaelle-muell.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a8fb0f96ef8be0d2a71fbadb83eddba1354cfb21 --- /dev/null +++ b/fluter/recyclinghaus-bauabfaelle-muell.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Zapfanlage im Bad: Kronkorken statt Mosaikfliesen, ein Retro-Waschbecken statt Neuware – auch im Haus wurde auf Recycling geachtet +Vom Fundament bis hin zur mit Kronkorken verzierten Wand im Badezimmer – fast das gesamte Haus wurde aus Materialien errichtet, die normalerweise weggeworfen werden, oder zumindest aus Bauteilen, die später leicht wiederverwertbar sind. Viel wird auch beim Bauherrn und Eigentümer des Recyclinghauses, dem Hannoveraner Wohnungsbauunternehmen Gundlach, entsorgt. "Wir erleben es täglich auf unseren Baustellen", sagt Franz-Josef Gerbens, Ökologiebeauftragter bei Gundlach. Das Recyclinghaus seider Versuch, weniger Müll zu produzieren. "Es ist ein Experiment. Wir wollten ausprobieren, was mit Recycling alles möglich ist." +Die Baubranche ist ein gigantischer Müllproduzent. Mit rund 230 Millionen Tonnen im Jahr machen Bau- und Abbruchabfälle mehr als die Hälfte des gesamten deutschen Müllaufkommens aus. Das meiste davon endet auf Deponien und als Verfüllmaterial in Löchern vom Braunkohleabbau, ein Teil kommt auch im Straßenbau unter. Doch so gut wie nichts wird in neuen Häusern wiederverwertet. "Abreißen und wegwerfen ist billiger als wiederverwerten", sagt Gerbens. Im Recyclinghaus hingegen haben sogar alte Gehwegplatten einen neuen Platz erhalten – als Ersatz für den Estrich unter dem Fußbodenbelag. Das Fundament besteht aus sogenanntem Recyclingbeton. Dabei handelt es sich um ein Gemisch aus Alt und Neu. Einmal verbauter Beton, zurückgewonnen und zerkleinert, wurde mit natürlichen Rohstoffen wie Sand und Kies vermischt. Eine Mixtur, die bei Gundlach offenbar Gefallen findet. Das Bauunternehmen plant in der Nachbarschaft zum Recyclinghaus ein neues Wohnquartier. Auch hier soll Recyclingbeton eingesetzt werden. +Bei dem Bauunternehmen ist man zuversichtlich, dass in Zukunft weniger Abfälle auf Baustellen anfallen. Die Hoffnung beruht auf industriell recycelten Materialien, wie sie auch im Recyclinghaus zum Einsatz gekommen sind. Dazu gehören alte Jutesäcke, die ursprünglich für den Transport von Kakaobohnen genutzt wurden. Sie eignen sich als Dämmstoff. +Ein Problem beim Recycling auf dem Bau sind die höheren Kosten und – man mag es angesichts der wachsenden Müllberge kaum glauben – die mangelnde Verfügbarkeit von geeignetem Material. "Man muss die Bauteile genau dann bekommen, wenn man sie braucht", sagt der Architekt Nils Nolting vom Büro Cityförster in Hannover. Er hat das Recyclinghaus entworfen und weiß genau, wie knifflig die Materialsuche ist. Während neue Materialien nach Belieben verfügbar sind, musste Nolting nehmen, was er kriegen konnte und was die Baufirma von ihren anderen Baustellen für ihn abzweigte. Wann immer etwas nützlich schien, erhielt der Architekt einen Anruf. Entscheidungen mussten spontan getroffen werden. diff --git a/fluter/red-scare-podcast.txt b/fluter/red-scare-podcast.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fd956b3e16eff5b9ce48968e0ab6fef712e713f6 --- /dev/null +++ b/fluter/red-scare-podcast.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +In chaotischen Hot Takes [Anm. d. Red.: bewusst provozierende Kommentare] zum popkulturellen und politischen Tagesgeschehen demonstrieren Khachiyan und Nekrasova ein vage marxistisches Klassenbewusstsein. Dem tugendhaften Woke-Getue der amerikanischen Liberals sei das weit überlegen. +Red Scares ideologischer Kompass ist so unzuverlässig wie unterhaltsam und deshalb schwer zu fassen. Auf einige wiederkehrende Positionen ist aber Verlass. Die "Ladies", wie sich die beiden Hosts in sarkastischer Opposition zu ihrer Meinung nach weinerlichen liberalen Feministinnen nennen, hassen: Hillary Clinton, den Begriff "Girlboss", die sogenannte "Cancel Culture", die vermeintlichen Opfermythen der Identitätspolitik und, mehr als alles andere, den Neoliberalismus. Sie lieben:Meinungsfreiheit, Männer als Versorger, die Politik von Bernie Sanders und die Texte der umstrittenen Kulturhistorikerin Camille Paglia. Über sie sagte die US-amerikanische Journalistin und Frauenrechtlerin Gloria Steinem einmal: "Dass Paglia sich Feministin nennt, ist ein bisschen, wie wenn ein Nazi behauptet, nicht antisemitisch zu sein." Würde man ihr eine Waffe an den Kopf halten, wägt Dasha Nekrasova in einer Episode ab, sie würde lieber Trump wählen als Clinton, allein wegen des Unterhaltungspotenzials. +Khachiyan und Nekrasova sind seltene weibliche Mitglieder derDirtbag Left, auchAlt Leftgenannt, einem Lager, das sich gegen "Wohlfühl-Widerstand" stellt und liberalen Linken oft kritischer gegenübersteht als Konservativen. Man ist für die Revolution. Vor allem aber ist man dagegen, rein kosmetische Verbesserungen des Establishments als Erfolge zu feiern. Damit linke Positionen im lärmigen Internet besser knallen, fällt Kritik gerne vulgär und öfter auch mal rufschädigend aus. Der Aufschrei folgt verlässlich und prompt, wie auch im Falle der IS-Shirts. Auf ihn folgten wiederum Relativierungsversuche und die Frage, warum man Trollen wie den Red-Scare-Hosts überhaupt Aufmerksamkeit schenkt – womit sich das Empörungsrad noch ein paar Runden weiter drehte. +Dass sich Arbeiter*innen von den Medienbubble-Themen der "Ladies" abgeholt und verstanden fühlen, ist fraglich. Ein großer Teil der liberalen New Yorker Kulturelite aber feiert ihren Habitus für seineedginess. Die Red-Scare-Hosts werden als scharfsinnige Kunstfiguren mit ausführlichen Porträts im US-amerikanischen Feuilleton bedacht, in denen gern gefragt wird, wasSatire eigentlich darf. +Dasha und Anna marschieren über die Laufstege der New York Fashion Week, über ein Patreon-Konto lassen sie sich von Hörer*innen mit monatlich etwa 35.000 Dollar unterstützen, und auch in der akademischen Welt hat der Podcast seine Fans: Slavoj Žižek, einer der populärsten Philosophen der Gegenwart, gab Red Scare kürzlich einkultiges Videointerviewüber die Paradoxien der Pandemie. +Wer verstanden hat, dass man gerade in der sogenannten "Cancel Culture" oft ehervon seinen Kontroversen profitiert, wird von Red Scares Popularität nicht überrascht sein. Sie ist aus einem anderen Grund bemerkenswert:Rechte Trollekennt man zuhauf, aber links der US-amerikanischen Mitte scheinen echte exzentrische Skandalfiguren spärlicher gesät. Spätestens seit Michelle Obama mit ihrem Ausspruch "When they go low, we go high" zu Anstand im Umgang mit der republikanischen Gegnerseite mahnte, scheinen sich viele Demokrat*innen in der undankbaren Position zu wähnen, stets das Vernünftige tun zu müssen. Diese vorgebliche moralische Einigkeit scheint all jene zu ermüden, die gegenwärtige Tugendstandards für wenig authentisch und schwer realisierbar halten. +Khachiyan und Nekrasova besprechen die Lücke zwischen moralischer Wunschvorstellung und menschlicher Realität am liebsten im Kontext von Geschlechterrollen und Sexualität. Sex sei längst nicht mehr triebhafte Lebenskraft, sondern einem hypergesunden und übervorsichtigen Lifestyle zum Opfer gefallen. Die "Ladies" wollen Sex aber dort sehen, wo sie Leidenschaft vermuten: in der Nähe derGewalt. Sie sind Fans von Lana del Rey, weil die von einem prototypisch starken Mann schwärmt, der ihr durchaus gefährlich werden kann – und sie genau deshalb anziehe: "My old man is a bad man, but I can't deny the way he holds my hand, and he grabs me, he has me by my heart." Mittoxischer Beziehungsdynamikzu kokettieren ist das eine. Wenn Nekrasova und Khachiyan jedoch so weit gehen, den Initiatorinnen der #MeToo-Bewegung ernsthaft ihre Glaubwürdigkeit abzusprechen, ist selbst für viele ihrer Fans eine Grenze überschritten. +In guten Momenten führen Khachiyan und Nekrasova vor, wie sich mit dem politischen Werkzeug der Provokation ein Weg aus der Moralkultur bahnen ließe: Indem sie sich weigern, eine Haltung ständiger Empörung einzunehmen, schaffen sie Raum für moralische Komplexität. Leider nutzen sie diesen nur selten. Red Scare tritt nicht mit Visionen an, sondern begnügt sich mit Entertainment. Seine beiden Hosts werden dabei von ihren skandalträchtigen Boheme-Avataren vereinnahmt und stecken länst viel zu tief in der Kultur, die sie kritisieren, als dass sie glaubhaft Klassensolidarität vorleben könnten. Die Podcast-Mean-Girls haben das Endstadium einer Diskussionskultur erreicht, in der Positionen so lange verdreht und umgedeutet werden, bis nicht mehr erkennbar ist, was Ernst und was Humor ist. + +Titelbilder: Twitter diff --git a/fluter/redewendung.txt b/fluter/redewendung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bccb766edf157f034f57eda324c68566ecee6a5c --- /dev/null +++ b/fluter/redewendung.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Atatürks Sprachreform war umstritten und funktionierte nicht problemlos. Gegner warfen ihm vor, den Reichtum der Sprache zu verringern. Atatürk selbst soll das Neutürkische gar nicht beherrscht haben, seine Texte ließ er angeblich übersetzten. Reformgegner versuchten immer wieder, eine Rückkehr zum alten osmanischen Türkisch zu erzwingen. Als Symbol dafür kann das Schicksal von Nâzım Hikmet (1902–1963) dienen. Der Dichter etablierte, ganz im Sinne Atatürks, in seinen Gedichten ein neues, modernes Vermaß und gilt heute als Erneuerer der türkischen Literatur. 1938, im Todesjahr Atatürks, wurde Hikmet von Reformgegnern wegen Anstiftung zur Aufruhr zu 28 Jahren Gefängnis verurteilt. Aus dem Haft schrieb er einem Freund: "Auf die allgemeine Aufforderung hin schreibe ich also meine Briefe mit dem alten Alphabet. Möge mir Allah diese leicht reaktionäre Haltung verzeihen. Ich habe das arabische Alphabet so gründlich vergessen, dass ich bei jedem Wort stocke und stöhne."Aufhalten ließ sich die Sprachreform dennoch nicht: Die Medien benutzten nur noch Neutürkisch, in den Schulen wurde nichts anderes mehr unterrichtet. Heute kann kaum jemand in der Türkei die alte osmanische Schrift lesen oder schreiben. Vor 1930 geschrieben Bücher kann heute, sofern sie nicht übersetzt wurden, kaum jemand verstehen. Vor allem deswegen bezeichnet der englische Turkuloge Geoffery Lewis die Sprachreform als "katastrophalen Erfolg". +Einige alte Begriffe sind dennoch erhalten geblieben, ihr Gebrauch bereitet heute mitunter Schwierigkeiten. Erfahrung damit hat Dr. Mehmet Hacisalihoglu ,37, Mitarbeiter am Institut für die Geschichte und Kultur des Nahen Ostens der Universität München: "Wenn ich meinen Studenten etwas zur Geschichte der türkischen Rechtschreibung erzähle, schreibe ich zwei Wörter an die Tafel: ‚yazım', das neue, gängige Wort für Rechtschreibung, und ‚imla', das alte, osmanische. Viele meinen dann, es würde nur ein richtiges Wort geben, nämlich das neue." In der Türkei werde Sprache politisch verwendet, erklärt Hacisalihoglu die Verwunderung seiner Studenten: Wer eher nationalistisch-konservativ eingestellt ist, verwende die alten Begriffe. Wer eher links ist, gebrauche die neuen. Er selbst versucht, sich keiner politischen Seite unterzuordnen: "In meinen wissenschaftlichen Aufsätzen verzichte ich manchmal sogar auf das türkische Wort und ziehe das englische vor, gerade bei heiklen Begriffen wie ‚Nationalismus'." Dass das Spiel mit den alten und neuen Wörtern auch reizvoll sein kann, findet Ipek Ipekçioğlu: "Wenn ich von Gefühlen spreche, kann ich das alte Wort, ‚iltifat' verwenden, und somit das altertümliche Bedeutungsfeld, in dem es um Komplimente und Gunst geht, aufrufen. Oder ich nehme das neue Wort: ‚aşık' – dann ist klar, ich bin verliebt."Eine besondere Geschichte ist die des Kurdischen, in der es nicht zuletzt um Politik geht. Die wenigen kurdischen Wörterbücher, die es gibt, wurden fast alle außerhalb der Türkei erstellt. Wer früher Buchstaben des kurdischen Alphabets, das über mehr Konsonanten (x, w, q) als das türkische verfügt und deshalb leicht zu erkennen ist, auf einem Plakat zeigte, wurde bestraft. Ähnlich ging es Eltern, die ihren Kindern Vornamen gaben, in denen diese Buchstaben enthalten sind. Zwar hat sich die Gesetzgebung in den letzten Jahren gelockert, aber auch heute noch dürfen auf öffentlichen Dokumenten oder nur Buchstaben des türkischen Alphabets in der Presse gezeigt werden.Atatürks Sprachreform sollte neben der Modernisierung des Türkischen auch dazu führen, das Türkische von fremden Wörtern zu reinigen. Heute, rund 80 Jahre später, ist die Sprache dennoch geprägt von anderen Einflüssen. Die meisten Lehnwörter kommen aus dem Arabischen, dem Französischen und immer mehr aus dem Englischen. Natürlich gibt es das Wort "elmek" – doch fast jeder sagt lieber "e-mail". Das Türkische ist dem Englischen ähnlich; in beiden Sprachen gibt es kein Geschlecht. "Wenn ich auf Türkisch sage, ich komme mit einem Freund vorbei, kann das heißen, ich bringe einen Jungen oder ein Mädchen mit", erklärt Ipek Ipekçioğlu. "Das finde ich gut: Der türkischen Tradition wird oft Frauenfeindlichkeit vorgeworfen – wenigstens in der Sprache gibt es Gleichberechtigung." diff --git a/fluter/referendum-gegen-schweizer-sozialdetektive.txt b/fluter/referendum-gegen-schweizer-sozialdetektive.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4ea4463a5d2b8d8241a702de03141b847652d0ab --- /dev/null +++ b/fluter/referendum-gegen-schweizer-sozialdetektive.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Im März hatte die Schweizer Regierung ein Gesetz verabschiedet, das im Verdachtsfall die heimliche Überwachung von Versicherten erlaubt. +Eine Gruppe von Privatleuten versuchte das Gesetz mittels Referendum anzufechten. +Am Sonntag stimmten nun 64,7 Prozent der Schweizer für das Gesetz. +Die verdeckte Überwachung von Sozialleistungsbeziehern wird in der Schweiz kontrovers diskutiert. Anlass ist ein Gesetz, das den Sozialversicherungen erlauben soll, bei Verdacht auf unrechtmäßige Leistungsbezüge Versicherte durch Privatdetektive beschatten zu lassen. Das wurde in der Schweiz bereits mehrere Jahre lang so praktiziert, bisher aber mit einer Rechtsgrundlage, die sich im Nachgang vor Gericht nicht immer als ausreichend erwiesen hat. Das Gesetz sichere nun ein nötiges und effizientes Mittel, um Missbräuche zu verhindern, sagen Befürworter; das sei wichtig für das Vertrauen in die Sozialversicherungen. Die Gegner sehen darin ein Geschenk an eine starke Lobby, die ein Interesse daran hat, möglichst wenig zu zahlen. +Herr O.s Geschichte beginnt 1960 im Norden Irans. Aufgewachsen in guten Verhältnissen, wird er als Jugendlicher in den frühen Jahren der Islamischen Revolution politisch aktiv. Als er zum ersten Mal verhaftet wird, wird er verhört, gefoltert, dann wieder entlassen. Auf den Straßen seiner Heimatstadt fühlt er sich fortan beobachtet. Als sie ihn zum zweiten Mal in die Finger bekommen, bleibt er ohne Prozess fünf Jahre im Gefängnis, eineinhalb davon in Isolationshaft in einer Dunkelzelle. Er erträgt tägliche Folter, Scheinexekutionen und den Tod vieler Mitinhaftierter. Als er freikommt, flüchtet er in die Türkei. 1989 kommt er, von der UNO vermittelt, in die Schweiz, lernt schnell Deutsch, arbeitet als Medizinlaborant, wird später eingebürgert. Mit seinen traumatischen Erinnerungen scheint er leben zu können. Doch dann benötigt er eine Herzoperation. Sie verläuft nicht ohne Komplikationen, Herr O. wird lange krankgeschrieben, sitzt untätig zu Hause. Und plötzlich ist die Vergangenheit wieder da, sagt er. Sie bohrt sich ihren Weg in seine Träume, seinen Alltag, seinen Körper, der ständig schmerzt. Herr O. funktioniert nicht mehr. +So sehen das auch seine Psychiater, die ihn für weitgehend arbeitsunfähig befunden haben. Anders sieht es eine Ärztin der zuständigen staatlichen Invalidenversicherung, die seinen Fall 2013 überprüft. In ihrem Gutachten attestiert sie Herrn O. vollständige Arbeitsfähigkeit. Als Beweis werden unter anderem verdeckte Überwachungen ins Feld geführt. Das Videomaterial zeige Herrn O. auf Spaziergängen und im Supermarktcafé, wobei auch beobachtet wurde, dass er "diskutiert, gelacht oder gestikuliert" habe. Herrn O. wird die Rente gestrichen. Sein gesundheitlicher Zustand verschlechtert sich weiter, denn Herr O. kann sich jetzt sicher sein, wieder verfolgt zu werden. Und: Die Versicherung verklagt Herrn O. wegen unrechtmäßigen Bezugs von Leistungen. +Schließlich übernimmt der Anwalt Philip Stolkin seinen Fall, der zurzeit vor dem Schweizer Bundesgericht verhandelt wird. Stolkin hat einiges damit zu tun, dass heute über das Gesetz, das die Arbeit der Sozialdetektive endgültig legalisieren soll, diskutiert wird. Er hat einen ähnlich gelagerten Fall bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht und dort 2016 recht bekommen: Die Überwachung seiner damaligen Klientin durch ihre Unfallversicherung sei eine unzulässige Verletzung der Privatsphäre gewesen, sagten die Straßburger Richter; sie entbehre einer Rechtsgrundlage. Seither erarbeitete das Parlament im Eilverfahren ebenjene Rechtsgrundlage. Das Gesetz wurde im März von der Bundesversammlung beschlossen und untersteht noch dem fakultativen Referendum, dessen Frist am 5. Juli 2018 abläuft. +Mit dem Gesetz gebe es aber mehrere Probleme, sagt Stolkin. Erstens könne es nicht sein, dass Privatdetektiven mehr Kompetenzen als den Strafbehörden eingeräumt würden. Bild- und Tonaufnahmen können die Behörden im Gegensatz zu den Detektiven im Regelfall nämlich nur im öffentlichen Raum machen. +Damit verletze es – zweitens – die Privatsphäre: Observieren dürften die Detektive frei einsehbare Orte – es wäre also auch zulässig, von der Straße aus, etwa mit einer Drohne, in eine Wohnung hineinzufilmen. Die Überwachung privater Räume sei laut Strafprozessordnung aber in diesen Fällen verboten. Drittens hätten solche Bestimmungen nichts im allgemeinen Teil des Sozialversicherungsgesetzes zu suchen. Versicherungsmissbrauch sei ein Straftatbestand, der durch die Strafbehörden abgeklärt gehöre. Zudem könne kaum überprüft werden, ob ein Verdacht tatsächlich begründet und eine Überwachung verhältnismäßig sei. +Das neue Gesetz schien beschlossene Sache, es hatte genügend politische Befürworter. Bis eine kleine Gruppe von Privatleuten – darunter auch Herr O.s Anwalt Stolkin und die Autorin Sibylle Berg – beschloss, ein Referendum anzustoßen, damit das Schweizer Stimmvolk an der Urne über das Gesetz befinden kann. Technisch ist das möglich, praktisch schwierig: In 100 Tagen müssen 50.000 Unterschriften zusammenkommen – ein Unterfangen, für das üblicherweise vor allem Parteien oder Verbände genug Finanzen und Reichweite haben. Ein eiligst lanciertes Crowdfunding aber zeigte der Gruppe, dass sie mit ihrer Empörung nicht allein ist. +Stolkin befürchtet, dass mit dem neuen Gesetz auch die anderen Versicherungen künftig mehr überwachen werden, auch wenn die Befürworter beteuern, dass es zurückhaltend angewendet werden soll. "Überall, wo es für die Versicherungen teuer wird, sei es bei langer Arbeitsunfähigkeit oder einer teuren Krebstherapie, wird es für sie interessant, einen Leistungsanspruch in Abrede zu stellen." Schon einen Monat vor Sammelfrist hat das Referendumskomitee mehr als die erforderlichen Unterschriften gesammelt. +Herr O. verlässt die Wohnung heute nicht mehr gerne. Nur für das Nötigste gehe er noch raus, er vermeide es auch, sich zu nahe am Fenster aufzuhalten, jederzeit könnte er beobachtet werden, fürchtet er. Er lebt nun von der Sozialhilfe seiner Wohngemeinde, dem letzten Glied im Schweizer Sozialstaat. Anwalt Stolkin hofft derweil, dass spätestens der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Herrn O.s Version der Geschichte Glauben schenken wird. Und dass der die geplante Gesetzesänderung früher oder später verurteilen wird, sollte sie Realität werden. + diff --git a/fluter/reformhaus.txt b/fluter/reformhaus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/regenwald-retten-mit-juristischen-mitteln.txt b/fluter/regenwald-retten-mit-juristischen-mitteln.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/regionale-ernaehrung-in-der-stadt.txt b/fluter/regionale-ernaehrung-in-der-stadt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..aab91a4fb2de4602096a93969a9a6fee1a1c731f --- /dev/null +++ b/fluter/regionale-ernaehrung-in-der-stadt.txt @@ -0,0 +1,30 @@ +Sollte nicht so schwer werden, dachte ich. Denn ich ernähre mich seit über 20 Jahren vegetarisch, habe eine Bioladen-Treuekarte mit stolzer Punkteanzahl, bin per Du mit den Jungs vom Urban-Gardening-Projekt nebenan und käme nie auf die Idee, im Dezember Erdbeeren zu essen. Weil ich mich also schon für eine bedachte Konsumentin hielt, wollte ich eine zusätzliche Herausforderung und begann meinen Selbstversuch im Winter. Meine Regel: Gleichbleibendes Budget (Volontärin in einem Verlag) für eine Ernährung, die nur noch aus regionalen Produkten bestehen sollte. +Regionale Ernährung ist eine ökologische und eine politische Entscheidung +Aber was bedeutet "regional" eigentlich? Es gibt keine allgemeingültige Definition oder Beschränkung, alles ist Verhandlungssache. Mit einem selbst. Auf die Idee, wie ich in Berlin einen vernünftigen Radius bestimmen kann, bringt mich schließlich die von meinen "Woher genau"-Fragen gereizte Verkäuferin am Gemüsestand: "Hundertfuffzich Kilometer müssten ditt schon sein." Sonst müsse ich ja och auf die knackigen Kürbisse verzichten und nein, ditte könne ich ja nich wollen. Ich lasse also die Kürbisse entscheiden. +In der WG-Küche sortiere ich nach der neuen Umkreisbemessung mein Regal aus. Übrigbleiben: getrocknetes Obst, ein Salatkopf, Teekräuter und ein paar Kartoffeln. + +WG-Regalfach mit den Überbleibseln +So viele meiner Standardprodukte – auch die aus dem Bioladen – haben sehr weite Wege hinter sich. Damit bringen die aussortierten Sachen zusammen eine CO2-Bilanz mit in den Haushalt, die es locker mit der eines Fluges von Berlin-Schönefeld nach London-Gatwick aufnehmen könnte. Weggeschmissen werden sie natürlich nicht, sondern an meine Mitbewohner verschenkt. +Alle meine Einkäufe sind jetzt genau vorbereitet, und ich weiß, was ich für meinen Speiseplan der nächsten fünf Tage brauche. Keine Lustkäufe mehr. Außer ein spontanes Grünkohl-Gelüst würde mich überfallen. Google Maps wird mein treuester Einkaufsbegleiter, und ich staune immer mehr, was für lange Wege fast alle Produkte hinter sich haben: Der Ingwer ist 12.179,89 Kilometer (Argentinien) Luftlinie entfernt, die Birnen 10.801,76 Kilometer (Peru), Fenchel, Kohlrabi und Zucchini 1.078,68 Kilometer (Italien). +Mit meinem bescheidenen Einkauf fülle ich die Tupperdosen für den nächsten Tag: Rote-Beete-Salat, Kräuterquark und in Honig geschmorte Apfelschnitze. Trotzdem fühle ich mich großartig. Ich habe von einem Restaurant gehört, das einen Michelin-Stern für die regionale Küche erhalten hat, das kocht sogar ganz ohne Salz und Pfeffer. Das schaffe ich auch. Denke ich. Kurz. +Nach nur drei Tagen ohne Kaffee (Luftlinie Guatemala 9.541,18 Kilometer) und Brotaufstriche will ich nicht mehr. Abgesehen davon habe ich drei Ringe unter jedem Auge. Es ist dunkel, kalt und nass draußen, und mein Lindenblütentee zum Aufwachen schmeckt grauenhaft. +Zum Aufwachen gehört ab jetzt eine Tasse Lindenblütentee + +Ohne Salz (aus der Umgebung von Halle, 154,43 Kilometer, also knapp vorbei) mit Gemüse zaubern schmeckt bei mir nicht nach Michelin-Stern, sondern nach Babynahrung. Meine Laune nach dem Mittagessen im Büro ist schlecht, die Kollegen kommen bestens genährt vom Vietnamesen zurück, meine Konzentration schwindet. Wie weitreichend mein Selbstversuch ist, wird mir besonders durch meinen schwerfällig gewordenen Arbeitsalltag bewusst. Ich beschließe, dass Salz und Kaffee mein Kryptonit sind. Und erlaube mir diese beiden Ausnahmen. Das ist der Anfang vom Ende. +Durch die vermeintlich einfache Vorgabe, dass alles regional sein soll, wird meine Ernährung in den nächsten Wochen zum neuen Lebensmittelpunkt. Planen, Einkaufen und Kochen fühlen sich mittlerweile wie ein zusätzlicher Job an. Es reicht nicht, sich die Umstellung vorzunehmen. Denn ich muss Rezepte und jede Zutat recherchieren, früh auf den Markt gehen, immer alles dabeihaben. Und nicht überall ist man mit seiner Tupperdose willkommen. Bei einer Geburtstagsparty fällt man noch nicht ganz so auf, muss sich aber den einen oder anderen Kommentar anhören, beim Familienessen gibt es nervige Sprüche oder besorgte Blicke, und spätestens im Restaurant ist man sowieso raus. +Ist eine Eingrenzung auf regionale Ernährung sinnvoll? Immerhin hat man schon früher untereinander Lebensmittel ausgetauscht, hat gehandelt und den Wert von Vielfalt erkannt (Salz war sogar mal eine Art Bezahlung für römische Legionäre) +Für mich stimmt das Verhältnis von Ernährung und Aufwand nicht mehr. Ich scheitere schon an den kleinen Dingen. Ab und zu will ich Schokolade essen, um mein Mittagstief zu überwinden, will meine Freunde für das Essen würdigen, das sie gekocht haben, will mit meinen Kollegen zum Mittagessen gehen und nicht immer allein im Büro meine Tupperdose auspacken müssen. Mir fehlen Spontaneität und mit anderen zusammen zu essen, ohne andauernd etwas abzulehnen und in einer Sonderrolle sein zu müssen. Ständig das eigene Essverhalten zu kontrollieren nimmt fast schon zwanghafte Züge an und bestimmt den kompletten Tagesablauf. +Mein Körper will auch nicht immer das, was ich essen "darf". Ich mache viel Sport und habe das Gefühl, ich brauche (als Fastveganerin) Proteine, die es im Winter kaum von regionalen Äckern gibt, und bei der obligatorischen Erkältung will ich meinen Ingwertee trinken. +Bis zur Ernte dauert es noch +Mittlerweile entscheidet also nicht mehr nur der Kopf, sondern auch der Körper, was das Richtige ist. Auch wenn meine Ernährungsentscheidung eine politische sein soll, so muss ich doch einsehen, dass sich die Produktion von vielen wichtigen Nahrungsmitteln verschoben hat und nicht mehr in (m)einem "regionalen" Radius liegt. Spezialisierung, Globalisierung, ganz klar. +Mehr zum ThemaCO2-Fußabdruck und Umweltbilanz regionaler Lebensmittelund zur Bedeutung von"Regionalität" bei Lebensmitteln +Ich glaube, es ist in der Stadt schlicht unmöglich, sich nur mit Produkten aus dem unmittelbaren Umfeld zu ernähren. Vor allem, wenn man ein begrenztes Budget hat. Auch wenn man selbst anbaut und Urban-Gardening-Kumpel ist. Alternativen sind meistens absurd teuer, wie zum Beispiel das Leindotteröl aus Brandenburg für 55 Euro pro Liter statt Olivenöl. +Obst und Gemüse aus der Umgebung - aber selbst beim Bio-Bauern gibt es Bananen +Nach drei Wochen bin ich froh, mein Experiment für beendet zu erklären. Nicht weil ich es geschafft hätte, mich ausschließlich regional zu ernähren, sondern weil ich endlich kein schlechtes Gewissen mehr haben muss, wenn ich Ausnahmen mache. Gelohnt hat sich das Experiment trotzdem. +Ich bin zwar nicht bereit, mich dauerhaft auf regionale Produkte zu beschränken. Aber ich habe einiges gelernt: Wichtiger als meine Regionalbilanz ist mir jetzt, ein Bewusstsein für den Weg, den ein Produkt zurückgelegt hat, zu entwickeln. Dann kann ich abwägen, ob es das wert ist oder nicht. Und die wichtigste Erkenntnis: Manchmal ist es das eben einfach wert. Ganz egoistisch. Ich versuche immer noch, mich mit Produkten aus der Umgebung zu ernähren, soweit es geht. Aber ich weiß auch: Wenn ich versuchen würde, das durchzuziehen, wäre ich nach spätestens einem halben Jahr arm, einsam, frustriert und immer müde. In der Stadt leben und sich komplett regional ernähren ist für mich unvereinbar. +Ernährung ist mehr als nur Essen, ganz klar. Nur lebt man nicht besser, wenn man dadurch zu dogmatisch oder einseitig wird +Was sich nach meinem Selbstversuch tatsächlich geändert hat: Ich koche mehr für Freunde (nicht mehr alleine essen), probiere Rezepte aus, die sich nach der Saison richten, und achte darauf, möglichst mit regionalem Gemüse zu kochen. So gut es geht – aber eben nicht ausschließlich. + + + +Dieser Text wurde veröffentlicht unter der LizenzCC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden. diff --git a/fluter/reichtum-in-skandinavischen-laendern.txt b/fluter/reichtum-in-skandinavischen-laendern.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dceb15cac8e04b8d6051f43dc3be1c91ea0fae5f --- /dev/null +++ b/fluter/reichtum-in-skandinavischen-laendern.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Thorstein Veblen, ein US-Soziologe mit norwegischen Vorfahren, hatte schon Anfang des 20. Jahrhunderts erkannt, dass Menschen Reichtum häufig daran messen, ob sie mehr besitzen als der Nachbar, und daher selten ein vernünftiges, sozialverträgliches Maß gefunden wird. Er kritisierte die Oberklasse für ihren Geltungskonsum und stellte als gesellschaftliche Alternative zum Profitstreben einen gut ausgebauten Wohlfahrtsstaat heraus, der von allen mitgetragen wird – wie es bis heute in Skandinavien der Fall ist. +Der immer noch leidlich starke Staat im Norden wird durch vergleichsweise hohe Steuern finanziert. Wer sich als Tourist wundert, warum Waren in Dänemark und anderen nordischen Ländern so viel teurer sind als in Deutschland, braucht sich nur die Mehrwertsteuersätze anzuschauen: In Skandinavien liegt der Standardsatz bei mindestens 24 Prozent und ist damit deutlich höher als in Deutschland mit 19 Prozent. Ganz drastisch sind die Unterschiede bei den Autopreisen. Dänemark, Finnland und Norwegen berechnen ihren Bürgern hohe Sondersteuern. So kommt es, dass der kleinste VW Golf in Dänemark gut 28.000 Euro kostet und damit über 50 Prozent mehr als in Deutschland. Bei teureren Autos sind die Aufschläge sogar noch höher. +Der dänische Politikwissenschaftler Gøsta Esping-Andersen hat in einer Typologie des Wohlfahrtstaates das sozialdemokratisch- skandinavische Modell beschrieben, bei dem der Staat neben der finanziellen Absicherung der Arbeitslosen viele soziale Dienstleistungen übernimmt – von aktiver Arbeitsmarktpolitik bis zu einer sehr guten Kinderbetreuung, die vielen Menschen den (Wieder-)Einstieg in Jobs ermöglicht. Zudem werden Steuergelder oft für alle sichtbar investiert, etwa in gute Schulen und Universitäten oder Stadtverschönerungen. + + +Gemeinsam mit einem recht wohlhabenden dänischen Anwalt hörte ich vor einigen Wochen dem Vortrag einer Osteuropäerin zu, die versuchte, dänische Privatleute in ihr Heimatland zu locken, indem sie ihnen drastische Steuerersparnisse versprach. "Ach, solange ich nach Steuern noch genug habe, ist mir doch beinahe egal, was ich abgeben muss. Es wird ja gut ausgegeben", sagte er mir nach der Veranstaltung. "Wir sind doch alle Sozialisten hier oben", fasst es die Kopenhagener Möbelhändlerin Kiki Borch Jensen zusammen. Gerade Frauen profitieren auch davon, dass die nordischen Länder Vorreiter beim Abbau von Geschlechterungleichheiten sind. Besonders in Schweden wurde seit den 1970er-Jahren die Kinderbetreuung stark ausgebaut und durch das Unterhaltsrecht die Erwerbstätigkeit von Müttern gefördert. +Dass die Einkommen so gleich verteilt sind, hat mehrere Gründe. Zum einen klaffen die Gehälter nicht so stark auseinander. Vereinfacht gesagt verdienen Arbeiter mehr als in Deutschland, während sich Topmanager oft mit einem geringeren Einkommen zufriedengeben müssen, das auch noch höher besteuert wird. So bekommen zum Beispiel Friseure in Dänemark einen Stundenlohn von mindestens 17,70 Euro – sofern sie nach Tarif bezahlt werden. Daher kostet in der Hauptstadt Kopenhagen ein Haarschnitt bei einem normalen Friseur schnell 40 Euro und oftmals sogar erheblich mehr – schließlich müssen die hohen Löhne bezahlt werden. Auch Gesundheitspersonal, beispielsweise Krankenschwestern oder Ergotherapeuten, verdient in Nordeuropa wesentlich besser, verfügt aber gleichzeitig über mehr Kompetenzen und eine entsprechend bessere Ausbildung als in Deutschland. Das gilt für alle nordischen Länder. Norwegen sticht jedoch ganz klar heraus: Dort sind die Löhne in vielen Bereichen so hoch, dass selbst aus den ebenfalls wohlhabenden Nachbarländern, vor allem aus Schweden, zahlreiche Arbeitskräfte ins Land strömen. +Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die meisten der nordischen Länder für lange Zeit überwiegend von Sozialdemokraten regiert und hatten extrem starke Gewerkschaften. In Norwegen regiert eine konservativ-liberale Minderheitsregierung, Dänemark wird von einer Mitterechts-Koalition regiert, und in Schweden sitzen seit 2010 Rechtspopulisten im Parlament. Zu diesem Rechtsruck führte auch das Argument, dass der Staat in den vergangenen Jahren viel Geld für die Aufnahme und Integration von Migranten ausgegeben habe. So wurde die Dänische Volkspartei bei der Wahl 2015 zweitstärkste Kraft – unter anderem mit der Forderung, dass der Wohlfahrtsstaat nur noch für Dänen sorgen solle. +Die Frage, wie weit man bereit ist, seinen Reichtum zu teilen, bleibt ein bestimmendes Thema. Während Schweden sehr viele Flüchtlinge aufgenommen hat, hielten sich die anderen Länder, insbesondere Dänemark, zurück. Dort wird auch die Zuwanderung aus Europa oft als Bedrohung angesehen. Selbst in der linken Zeitung "Information" wurde gefordert, dass der Verkauf von Wohneigentum an Ausländer begrenzt werden müsse. Arbeiter – häufig aus Osteuropa –, die bereit sind, für niedrigere Löhne zu arbeiten, werden in Schweden und Dänemark regelmäßig mit ziemlich rigorosen Methoden daran gehindert: Die mächtigen Gewerkschaften blockieren wegen des Lohndumpings einfach die entsprechenden Betriebe. + +Das Ass: Phil Hellmuth (53), Poker-Großmeister & Rüpel +Wegen seiner cholerischen Anfälle und kränkenden Bemerkungen am Pokertisch gegenüber Gegnern – vor allem bei Niederlagen – hat der US-Pokerprofi Phil Hellmuth in der Szene längst den Spitznamen "Hellmouth" (deutsch: "Höllenmund") weg. Doch Niederlagen sind bei ihm eher selten: Bei Live-Pokerturnieren hat er schon insgesamt rund 21 Millionen Dollar gewonnen – zumeist in seiner Paradedisziplin "Texas Hold 'em". Manche Pokerfans nervt zwar, dass Hellmuths Schimpftiraden den Spielfluss mitunter sehr stören, insgesamt ist die Bewunderung für ihn aber groß. Bereits mit 24 Jahren – im Jahr 1989 – gewann Phil Hellmuth als bis dato jüngster Spieler eins der wichtigsten amerikanischen Pokerturniere: das Main Event bei der World Series of Poker (WSOP) in Las Vegas. 2007 wurde er dann in die Poker Hall of Fame aufgenommen und hält inzwischen unter anderem den Rekord für die meisten WSOP-Geldgewinne und Teilnahmen an Finaltischen. Hellmuth beherrscht es offenbar perfekt, seine Gegner und deren Spielweise zu "lesen". Deshalb verkaufen sich auch seine Pokerbücher und Video-Tutorials so gut. Auch seine eigene Bekleidungsserie mit dem Label "Poker Brat" (deutsch: "Poker-Rüpel") ist ein Renner. + +Fotos: Martin Parr/Magnum Photos/Agentur Focus diff --git a/fluter/reichtum-in-suedafrika.txt b/fluter/reichtum-in-suedafrika.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..330be620137a9a2f0dc33fe02ce081f688cbc9ab --- /dev/null +++ b/fluter/reichtum-in-suedafrika.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Die einen suchen ihren Spaß in den Wellen, die anderen versuchen zu überleben. Unser Autor hat Fotos von seinem Trip gemacht +Südafrika ist ein Land der Kontraste, natürlicher Schönheit und furchteinflößender Statistiken. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft weit auseinander, und doch lebt man sichtbar nah beieinander. Hier die Townships, dort die teuren Strandbungalows. Ein Land voller Vielfalt, regiert von einem Präsidenten, der einst in einem Vergewaltigungsprozess andeutete, dass man sich kaum mit HIV anstecken könne, wenn man nach dem Sex dusche. +Aids ist nicht das einzige Problem. Der Rassismus besteht auch nach dem Ende der Apartheid fort. Schwarz serviert, Weiß diniert. Ich erhalte lobende Blicke für eine Selbstverständlichkeit, nämlich eine schwarze Reinigungskraft wie einen richtigen Menschen zu behandeln. Und mittendrin die World Surf League. Natürlich weltoffen und sensibel für die Probleme unserer Zeit. Immerhin werden vier der elf jährlichen Tourstopps in Ländern ausgetragen, die von den Millenniumszielen der UN weit entfernt sind. Kann es sich ein Unternehmen wie die World Surf League aber leisten, wirklich politisch zu werden? Kann es sich eine gutaussehende Sportart erlauben, auf die Probleme hinzuweisen, die wirklich unter die gut gebräunte Haut gehen? Anscheinend eher nicht. +Für die durchwachte Nacht bekommt der Security Guard rund 16€ +Jeffreys Bay ist ein Ort mit Wellen an 365 Tagen im Jahr. Der Surftourismus boomt. Die Restaurants platzen. Zumindest einmal im Jahr: Die World Surf League rückt diesen Ort in den Mittelpunkt des Geschehens. Kommt, nimmt – und lässt laut Aussagen südafrikanischer Surfverbandsvertreter nichts für den Sport und ihre Kommunen zurück. Durch diesen Ort führt eine breite Straße. Vorbei an der Wettbewerbs-Area bis hin zu den Outlet-Centern, in denen alle großen Surfmarken ihre Kollektionen vergangener Jahre verscherbeln; Cafés, in denen man den anstrengenden Shoppingtag ausklingen lassen kann; Marketingbüros, Headquarters – und dann das: ein ausgebranntes Fabrikgebäude am Ende der Straße, das einstige Billabong-Hauptquartier. Vermutlich angezündet, nachdem in der Woche zuvor 40 Mitarbeiter entlassen worden waren. Die letzte Bastion der Konsumgesellschaft, bevor Plastikhütten, Müll und Perspektivlosigkeit die Landschaft kennzeichnen. +Genau dorthin möchte ich. Das andere Südafrika kennenlernen. Natürlich fühlen wir uns unwohl: nicht nur, weil unser Land Rover größer ist als manche Hütten der dort lebenden Menschen, sondern wegen unseres permanent schlechten Gewissens, weil man überfressen und krankenversichert ist, während die Menschen hier täglich einen Überlebenskampf führen. + +Auf unserer Rückbank sitzt Wellington, ein Jugendlicher aus einem Township, der uns mit den Leuten in Verbindung bringt und uns genau sagt, mit wem wir lieber nicht Kirschen essen sollten. Ich bin von seiner Freundlichkeit überwältigt, von diesem Interesse. Wir halten an einer Hütte, die hier "Shebeen" heißt: eine Kneipe, die nichts mit meinen bisherigen Vorstellungen von einer Kneipe gemein hat. Wir kaufen Bier für die ganze Runde und stoßen mit einem Typen an, den sie "Genitals" nennen. Er erzählt uns, dass früher alles besser war. Zu Zeiten der Apartheid? "Ja, weil der Rassismus öffentlich organisiert war und nicht so verkappt wie heute. Es gab klare Strukturen, wir hatten ein Haus, und die Polizei war nicht so korrupt! Wir sind auf uns allein gestellt und warten auf die leeren Versprechungen der Regierung." +Bevor wir zurückfahren, müssen wir noch an einem Busch vorbei, in dem Wellington seine Warnweste versteckt, die er für seine Schicht als Parkplatzanweiser braucht. Er sagt, dass man sie ihm sonst stehlen würde. Über zehn Mal wurde er schon mit einem Messer oder Ähnlichem bedroht. Und ich dachte, das Schlimmste, was mir hier passieren könnte, wäre eine eingezogene Kreditkarte oder die allzu gegenwärtige Hai-Hysterie. +Die Menschen haben sich daran gewöhnt, an diese stetige Gefahr. Falscher Ort, falsche Zeit. An unübersichtlichen Ecken wird bei Rot nicht gehalten, und bevor man das Haus verlässt: Fenster zu? Gitter davor? Laptop unterm Bett? +Doch heute Abend wird gefeiert. In dem Haus, das der südafrikanischen Surfhoffnung Jordy Smith während der Wettkampftage zur vollen Verfügung steht. Gefühlte zehn Haushälterinnen, Köche und Securities laden ein, irgendetwas zu feiern. Nur was, weiß keiner. Pro-Surfer sind ein interessantes Völkchen. Sie sind gelangweilt, wenn sie nicht angesprochen werden, und genervt, wenn man es doch tut. Aber ich muss mit Jordy sprechen: über Südafrika, seinen riesigen Swimmingpool und Friede, Freude, Ozean. Bis auf einige Floskeln finde ich nichts von dem wieder, was ich jenseits der abgebrannten Billabong-Fabrik entdecken durfte. Vielleicht doch erwähnenswert, dass in Durban der Putz von den Häusern fällt, Zitat Jordy Smith. Dann rede ich mit dem berühmten Surffotografen Steve Sherman. Ist professionelles Wettkampfsurfen ein Sport für Reiche geworden? Immerhin kommen viele hier aus wohlhabenden Familien. Schwarze Surfer sieht man eher wenig. Ein Jahr auf der Qualification Series der World Surf League beläuft sich in Sachen Reisekosten schon auf über 50.000 Dollar. Jadson André, ein brasilianischer Pro-Surfer, musste Müll sammeln, um sich den Luxus des internationalen Wettbewerbs leisten zu können. Zum nächsten Strand waren es damals zehn Kilometer. Zu Fuß. Von diesem Strandhaus sind es zehn Meter, egal wie. diff --git a/fluter/reif-fuer-die-insel.txt b/fluter/reif-fuer-die-insel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..230de7c8a9d9ad04dac452225f491a1620b5373d --- /dev/null +++ b/fluter/reif-fuer-die-insel.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Das Vereinigte Königreich (im Folgenden "Großbritannien") trat 1973 in der ersten Erweiterungsrunde der Europäischen Gemeinschaft bei, die ursprünglich – als "Europäische Wirtschaftsgemeinschaft" (EWG) – aus nur sechs Ländern bestand und im Grunde genommen als Freihandelszone effektiv funktionierte. Schon zwei Jahre später stand die Mitgliedschaft in dem Verbund zum ersten Mal auf dem Spiel. Doch eine Zweidrittelmehrheit der Briten sagte im Juni 1975 "Ja" zur EG. Heute hat der Nachfolger "Europäische Union" 28 Mitgliedstaaten, die zusammen genommen eine Bevölkerung von über 500 Millionen zählen. Und 19 dieser Staaten teilen eine gemeinsame Währung. Hört sich das nicht nach einer wahren Erfolgsgeschichte an? +Diese Entwicklungen wurden in Deutschland von der großen Mehrheit bis vor kurzem begrüßt. Für die Deutschen war die Mitgliedschaft in der EWG (Motto: "In Vielfalt geeint") von Anfang an eine lebensnotwendige Frage, denn nach 1945 ging es vor allem darum, dass es nie wieder Krieg in Europa geben sollte. Die junge Bundesrepublik war bereit, auf wichtige Aspekte ihrer Nationalinteressen zu verzichten, um den Frieden in Europa sowie Wachstum und Wohlstand im eigenen Land zu sichern. +Die Briten wiederum hatten immer ein völlig anderes Verhältnis zu Europa und haben die EU nie als etwas Existenzielles gesehen. Großbritannien versuchte zwar schon 1961, Mitglied zu werden, doch der Versuch scheiterte am Veto Frankreichs. Seit seinem Beitritt im Jahre 1973 gehörte das Königreich dann nahezu ununterbrochen zu den Nettozahlern der Union, das kostete die Briten allein 2015 knapp elf Milliarden Euro. Bei der aktuellen Diskussion geht es aber, meiner Meinung nach, nicht um bloße Zahlen. Die EU ist inzwischen zu einem Moloch mit undurchsichtigen, ineffizienten, kostspieligen und scheinbar undemokratischen Machtstrukturen geworden: Zum Beispiel, die (nicht gewählte) Kommission, der Europäische Rat (der Staats- und Regierungschefs) und ein Parlament, das den Namen kaum verdient und ständig zwischen Brüssel und Straßburg pendelt und kein Recht hat, Gesetzentwürfe zur Abstimmung vorzulegen. Der "Vertrag von Lissabon" über die Arbeitsweise der Europäischen Union, dessen deutsche Übersetzung mit 233 Seiten 16-mal länger als die Verfassung der USA ist, passt gut zu einer Organisation, die jedes Jahr Berge von Vorschriften produziert. +Inzwischen stammen über die Hälfte aller jährlich verabschiedeten und in Großbritannien gültigen Gesetze von der EU, ohne dass sie vom britischen Parlament bewilligt werden müssen. Und Großbritannien hat nicht das Recht, eigene Handelsabkommen mit wachsenden Volkswirtschaften wie Indien oder China zu unterzeichnen – für internationale Handelsabkommen ist allein die EU zuständig. Britische Brexit-Gegner sind, mit wenigen Ausnahmen, alles andere als begeisterte EU-Befürworter, denn bei ihnen steht die Angst vor den ungewissen Folgen eines Brexit an vorderster Stelle. Aber glaubt jemand noch wirklich, dass ein Austritt Großbritanniens beispielsweise zu einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Deutschland führen könnte? Die Rolle der EU als Garantin eines gesamteuropäischen Friedens scheint jedoch nicht erst seit dem Balkankrieg der 1990er-Jahre fragwürdig. Spätestens seit dem Ukrainekonflikt von 2014 ist an der expandierenden EU als Stabilisierungsfaktor in Europa zu zweifeln. +Die EU möchte immer größer werden, doch irgendwann sind die Grenzen des Möglichen erreicht. Wie so oft sind "größer" und "besser" zwei verschiedene Sachen. Das Projekt EU besteht darin, so kommt es mir vor, sich dauerhaft zu erweitern. Aus 28 sehr verschiedenen Staaten einen engen integrierten und effizienten Staatenverbund zu schaffen, der den Interessen aller Beteiligten gerecht wird, ist schwer genug – dazu sollen in den nächsten Jahren noch Albanien, Mazedonien, Montenegro, Serbien – und bislang zumindest formell auch noch die Türkei – der EU beitreten. Wenn man bedenkt, wie groß die kulturellen und innenpolitischen Unterschiede sind, erscheint jeder Versuch, eine halbwegs reibungslose Zusammenarbeit im Rahmen der EU zu etablieren, völlig hoffnungslos. Und wozu? Die Nationen Europas sind sehr unterschiedlich, und das ist auch gut so. +Trotz anfänglicher Begeisterung für die eher aus politischen als aus wirtschaftlichen Gründen eingeführte gemeinsame Währung Euro hat diese die Kluft zwischen dem wohlhabenden Nord- und dem ärmeren Südeuropa weiter vergrößert, anstatt die beteiligten Länder einander näher zu bringen. In Griechenland und Spanien sind Jugendarbeitslosigkeitsquoten von rund 51 bzw. 45 Prozent erreicht worden, während verarmte Rentner betteln gehen: sozialer Sprengstoff, der an die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg erinnert, auf einem Kontinent, wo rechte Parteien (zum Beispiel die rechtsextreme "Jobbik-Partei" in Ungarn, der "Front National" in Frankreich, die neonazistische Bewegung "Goldene Morgenröte" in Griechenland oder die rechte polnische Partei "PiS – Recht und Gerechtigkeit", die seit 2015 sogar an der Macht ist) längst wieder auf dem Vormarsch sind. Klar, auch im reichen Deutschland sind solche Tendenzen nun zu sehen. +Ich bin der festen Überzeugung, dass der Brexit zu einem "Neustart" der politischen Prozesse sowohl innerhalb Europas als auch innerhalb des Vereinigten Königreichs führen kann – und muss. Denn Unzufriedenheit mit der EU scheint inzwischen keinesfalls eine rein britische Spezialität zu sein. Ich finde, Europa könnte innerhalb eines neuen und freiwilligen Verbundes unabhängiger Nationen eher prosperieren. In einem Verbund mit wesentlich weniger aufgeblähter Bürokratie und Regulierung, geprägt von transparenten, überschaubaren und wirklich demokratischen Strukturen. Dies wäre etwas völlig anderes als die EU. Bis sich ein solches neues Europa bildet, muss Großbritannien (und nicht nur Großbritannien) die EU verlassen. Deswegen: Vote Brexit, please. Ja zu Europa, nein zur EU! +Daniel Tetlow hat in den vergangenen Wochen alles daran gesetzt, andere britische Expats davon zu überzeugen, gegen den Brexit zu stimmen. Er selbst ist vor Kurzem ist er mit seiner Partnerin aus London nach Berlin gezogen, wo die beiden Nachwuchs bekommen haben. Als EU-Bürger hatten sie es leicht, hier in den Genuss von Sozialleistungen für Familien zu bekommen. Aber das ist nur einer von vielen Gründen für Tetlow, sich mit großer Verve gegen den Brexit auszusprechen. +BRIT-SET, BRE-MAIN, BREX-IT? Interessieren wir uns wirklich dafür, was auf dieser kleinen, kalten, dunstigen Insel vor der französischen Küste passiert, die früher die Welt und mittlerweile, nun ja, nicht mehr viel regiert? Ähm, ja, wir interessieren uns dafür! Und diese Empfindung scheint von meinen deutschen und europäischen Freunden und Nachbarn in Berlin geteilt zu werden, die ihre Zeit geopfert haben, um mir dabei zu helfen, die Botschaft zu uns britischen Expats zu tragen, damit wir noch handeln, bevor der Brexit eine außerordentlich gefährliche Realität für uns alle wird. +Ich bin ein britischer Dokumentarfilm-Produzent, ein keltischer Geigenspieler und ein Vater, der in Berlin lebt. Meine Partnerin und ich sind erst vor kurzem von Großbritannien hierher gezogen, nachdem ich mehr als ein Jahrzehnt für die BBC in London gearbeitet hatte. Und ich bin als Brite anscheinend nicht allein in Berlin. In den vergangenen fünf Jahren hat sich die Zahl der Briten hier etwa verdoppelt. Als ich also begann, darüber nachzudenken, was ich für die Anti-Brexit-Kampagne tun kann, wurde mir klar, dass ich gerade hier, zu Hause in Berlin, einen sehr wichtigen Beitrag leisten kann. +Tatsächlich ist es so: Sehr wenigen britischen Expats ist überhaupt klar, dass sie sich an der Wahl beteiligen können. Auch letztes Jahr bei den britischen Parlamentswahlen registrierten sich nur 106.000 von über fünf Millionen Briten überall in der Welt für die Briefwahl. Aber Großbritannien ist mit seiner kläglichen Wahlbeteiligung von Expats nicht alleine: Bei den Wahlen für den Deutschen Bundestag im Jahr 2013 meldeten sich laut Bundeswahlleiter nur 67.057 Auslandsdeutsche für eine Briefwahl an. +Doch das EU-Referendum unterscheidet sich von der nationalen Wahl. Selten hat irgendeine Abstimmung britische Expats stärker betroffen als das am 23. Juni anstehende Referendum. Allerdings gibt es da noch ein Problem: Wir Briten in Berlin können uns zumindest auf die deutsche und britische Post verlassen. Sie wird unsere Briefwahl sicher rechtzeitig zustellen. Was aber ist mit meinen Landsleuten, die in Papua-Neuguinea oder Timbuktu leben? +Jedenfalls hat eine Gruppe von Briten hier in Berlin beschlossen, über den Brexit bei einem Bier zu diskutieren. Das Treffen wurde auf einer Facebook-Seite veröffentlicht, und drei Tage später tauchten 250 Menschen in einem Pub in Berlin-Mitte auf – der Aufruf hatte offensichtlich einen Nerv getroffen. Nach diesem Treffen richteten ein paar von uns die unparteiische Webseitewww.vote-eu-referendum.comein, auf der Expats sich informieren können. Und die Angaben der britischen Wahlkommission (bis zum Stichtag am 7. Juni konnte man sich registrieren) zeigen: Die Zahl der Registrierungen von Expats hat sich für das kommende Referendum zumindest verdreifacht. Das ist also ein großartiger Anfang. +Und warum ist mir das alles wichtig? Nun, eineDokumentation der BBC mit dem Titel "Driving on the Right"("Fahren auf der rechten Seite"), die ich produziert habe, zeigt den Aufstieg der Rechtsaußen-Parteien in Europa. Und diese Parteien haben noch an Einfluss gewonnen. Wir leben in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit, eines Vertrauensverlusts in die Politik und der größten humanitären Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg. Ich habe keine Zweifel, dass ein Austritt Großbritanniens die Unsicherheit überall in Europa noch verstärken wird. +Die Geschichte lehrt uns – wie die Deutschen nur zu gut wissen – dass in solche Zeiten ein Erstarken von fanatisch-patriotischer Politik am rechten Rand droht. Meine Sorge ist, dass die Briten für ein "Out" stimmen, weil sie nicht wirklich verstehen, was auf dem Spiel steht – und man es ihnen auch nie so richtig vermittelt hat. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen: Ich besitze keinen intuitiven Stolz, ein Europäer zu sein – und das ist etwas, was in frühem Alter einsetzt. In meiner Schulzeit in England war die Europäische Union nie ein Thema. +Hier seht ihr mich und meine Tochter Lucia, die dank des deutschen Gesundheitssystems letztes Jahr in der Charité in Berlin-Mitte geboren wurde. Lucia ist seit Januar ganztags in der Kindertagesstätte. Wir machen von dem gesetzlich garantierten Recht Gebrauch, dass in Deutschland jedem Kind ab dem vollendeten ersten Lebensjahr ein Kindergartenplatz zusteht. +Diese vom deutschen Staat subventionierte Kinderbetreuung kostet uns ungefähr 20-mal weniger als eine entsprechende Kinderbetreuung in London. In Großbritannien hätten die untragbaren Kosten dafür wahrscheinlich einen von uns beiden dazu gezwungen, zu Hause zu bleiben. Hier in Deutschland hingegen können meine Partnerin und ich wieder Vollzeit arbeiten. Ich bezweifle, dass sich das viele meiner Landsleute bewusst machen: Zwischen einer und zwei Millionen Briten, die als Expats in der Europäischen Union leben, erhalten dort mehr oder weniger umfangreiche familiäre Sozialleistungen, die allesamt bedroht wären, würde Großbritannien aus der EU austreten. Aber was ist mit den Briten, die in Großbritannien leben? +Mein verstorbener Großvater aus Yorkshire warnte mich gelegentlich vor dem Umgang mit Deutschen. Es sei zwingend erforderlich, dass sich die Schrecken des Krieges in Europa nie wieder ereignen. Natürlich stimmte ich nicht mit ihm überein, was die Zusammenarbeit mit den Deutschen anging – aber selbstverständlich in Bezug auf das oberste Ziel: Frieden in Europa. Die EU ist ein unfertiger Verbund von 28 Nationen, die darauf bestehen, dass man sich zusammensetzt und politische Probleme diskutiert, von denen die meisten nur multilateral gelöst werden können. Die EU hat den Friedensnobelpreis aus gutem Grund erhalten. Und das Argument vom Frieden in Europa greift für uns Expats in Deutschland ebenso wie für die Briten zu Hause. Besonders für die Generation der über 70-Jährigen, die Umfragen zufolge bei diesem Referendum immer noch den Zweiten Weltkrieg im Hinterkopf haben. Die Frage ist: in oder out? +Das Thema, auf das die "In"-Kampagne in Großbritannien voll und ganz gesetzt hat, ist die Wirtschaft. Vielen in Großbritannien ist nicht bewusst, dass die EU der größte (Absatz-)Markt der Welt ist, ja sogar größer als China und die USA. Nach Europa geht rund die Hälfte der gesamten britischen Exporte. Einleuchtend, dass die Regierung und auch die "In"-Kampagne davon ausgehen, dass eben dieses Thema die Wahl bestimmen wird. Denn in der Tat dürften die Auswirkungen eines Brexit auf das Leben und die Arbeitsplätze vieler Menschen groß sein. +Und die "Out"-Kampagne verfügt im Hinblick auf die wirtschaftlichen Auswirkungen eines Brexit wirklich nicht über befriedigende Antworten. Doch hört nicht nur auf mich, fragt auch unsere Verbündeten überall auf der Welt – die USA, Indien, China, Australien. Fragt jeden einzelnen unserer globalen Verbündeten, aber auch die Bank of England, den Internationalen Währungsfonds (IWF), die CBI (Konföderation der britischen Industrie), fünf ehemalige Nato-Generalsekretäre, den Generaldirektor des National Health Service (staatlicher britischer Gesundheitsdienst), ähm … soll ich wirklich weiter fortfahren? Aber die "Out"-Kampagne lässt mit ihrem Oberboss Michael Gove nur verlauten: "Holt euch die Kontrolle über unser Schicksal von den Organisationen zurück, die weit weg, undurchsichtig und elitär sind und keine britischen Interessen im Herzen tragen." Und das sagt der Lordkanzler und Justizminister Michael Gove, der Präsident der Oxford Union Society war. Da habe ich keine weiteren Fragen. +Es wird also eng, und politische Karrieren hängen von dem Ergebnis ab. Klar ist: Je mehr britische Expats und junge britische Menschen zum Wählen mobilisiert werden konnten, desto eher haben wir die Chance, ein starkes und wichtiges Mitglied jener losen Gemeinschaft von Nationen zu bleiben, die da EU heißt. + +Aus der Reihe "Informationen zur politischen Bildung" der bpb gibt es einHeft über Großbritannien. Darin findest du gute Hintergrundinformationen, mit denen die Diskussion über den Brexit noch verständlicher wird. Zu empfehlen ist auch das Heft über Großbritannien aus der Reihe "Aus Politik und Zeitgeschichte". +Außerderm zu empfehlen: Das neue Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung"Der Brexit und die britische Sonderrolle in Europa". diff --git a/fluter/rein-mit-der-pille.txt b/fluter/rein-mit-der-pille.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..babfac2a0d72135a3ac8423badc2864184d97ada --- /dev/null +++ b/fluter/rein-mit-der-pille.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Weil es eben nicht nur auf Ausdauer, Schnelligkeit und Durchhaltevermögen ankomme, so die gängige Argumentation, sondern vor allem auf die technische Fertigkeit, auf die Taktik und die sogenannte mentale Stärke, würde Doping im Fußball auch gar nicht viel bringen. Trotzdem hat jeder Profiverein mittlerweile eine personell, technisch und pharmakologisch bestens ausgestattete medizinische Abteilung. Und die spielte schon bei der modernen deutschen Heldensage des "Wunders von Bern" 1954 eine nicht unerhebliche und von vielen als höchst zweifelhaft angesehene Rolle. +Die Studie "Doping in Deutschland von 1950 bis heute" von 2013 entfachte von Neuem die Gerüchte, die es um das Team von Sepp Herberger schon lange gegeben hatte. Einige der Spieler waren damals auf einmal an Gelbsucht erkrankt, der Ersatzmann Richard Herrmann starb sogar später daran. Warum? Fest steht, dass mehrere Spieler in der Schweiz gespritzt wurden. Möglicherweise mit dem Aufputschmittel Pervitin, doch das ist nicht bewiesen. Die späteren Weltmeister behaupten stets, in den Spritzen sei nichts anderes als Traubenzucker gewesen. +In die deutsche Öffentlichkeit kam das Thema erst 1987 mit dem Enthüllungsbuch "Anpfiff" des Nationaltorhüters Toni Schumacher. "Stärkungschemie", so schrieb Schumacher, sei unter seinen Kollegen weit verbreitet gewesen: "Es kam mir schon seltsam vor, dass sich kerngesunde Menschen derartig mit Medikamenten vollstopften." Toni Schumacher verlor nach dem Erscheinen des Buchs seine Jobs in der Nationalmannschaft und beim 1. FC Köln. +Im vergangenen Jahr hatte es Hinweise gegeben, dass es bei den Vereinen SC Freiburg und VfB Stuttgart in den 70er- und 80er-Jahren systematisches Doping gab. Im Mittelpunkt: der Freiburger Mediziner Armin Klümper. Eine Kommission, die sich mit der Doping-Vergangenheit der Uni Freiburg beschäftigt hat, hat offenbar Belege dafür gefunden, dass bei den beiden Klubs Anabolika verabreicht worden sind. Zu Klümpers zahlreichen Patienten aus dem Sport gehörte auch die Siebenkämpferin Birgit Dressel, die 1987 an Multiorganversagen als Folge eines toxisch-allergischen Schocks starb und in den beiden Jahren vor ihrem Tod mehr als 100 verschiedene Medikamente, darunter auch Anabolika, eingenommen haben soll. Im "Aktuellen Sportstudio" sagte der heutige Bundestrainer und ehemalige Freiburg-Spieler Joachim Löw, dass auch er bei Klümper in Behandlung gewesen sei, dort aber nicht wissentlich gedopt habe. Dennoch: "Es gab keine Verbote, und es gab auch keine Dopingkontrollen, das Bewusstsein war nicht vorhanden." +Pillen, Spritzen und Kuren – davon berichten auch Spieler von legendären Mannschaften wie Juventus Turin in den 60er-Jahren, Ajax Amsterdam in den 70ern und noch einmal Turin in den 90ern. Wahre Wundermittel hätten ihnen die Ärzte verabreicht. Eine große Studie des europäischen Verbandes UEFA ergab, dass bei den Urinproben von 879 Spitzenfußballern aus den Jahren 2008 bis 2013 in 7,7 Prozent der Fälle erhöhte Testosteronwerte festgestellt wurden. Die Spieler blieben anonym. +Passiert ist auch sonst fast nie etwas. Riccardo Agricola, Teamarzt von Juventus in den 90ern, wurde zunächst schuldig gesprochen, das Blutdopingmittel EPO an Spieler seiner Mannschaft verabreicht zu haben – zu der gehörten Stars wie Zinédine Zidane, Alessandro Del Piero und Didier Deschamps. Später hob das Gericht das Urteil auf, Agricola behielt seinen Job. Pep Guardiola war neben den Niederländern Jaap Stam, Edgar Davids und Frank de Boer einer der vielen Spieler, die in den frühen 2000ern wegen Missbrauchs des Steroids Nandrolon gesperrt wurden. Guardiola und de Boer genießen als Trainer heute höchsten Respekt in der Branche. +Und was ist mit den größten Klubs des Fußballs, dem FC Barcelona und Real Madrid? Eufemiano Fuentes, der Arzt, der im Radsport ein dichtes Doping-Netzwerk geknüpft hatte, soll in der Haft gegenüber einem Mitgefangenen behauptet haben, mit den Vereinen zusammengearbeitet zu haben. Später widerrief er diese Aussage zwar, nur um dann zu sagen: "Würde ich reden, würde die spanische Nationalmannschaft ihren WM-Titel 2010 abgeben müssen." Das würde er aber nicht tun, um nicht sein Leben aufs Spiel zu setzen – er habe mehrfach Todesdrohungen erhalten. Ein Gericht schlug sein Angebot aus, die Namen seiner Klienten außerhalb des Radsports zu nennen, und ordnete die Zerstörung der bei ihm gefundenen Beutel mit Plasma und Blut sowie ihrer Dokumentation an. Mehrere Sport- und Antidoping-Verbände gingen dagegen vor, das Berufungsurteil zieht sich hin. +In der Multimilliarden-Industrie Fußball scheinen wenige ernsthaft an Aufklärung interessiert zu sein. Das zeigt sich auch beim diesjährigen Sensationsmeister der englischen Premier League: Leicester City. Viel wurde darüber berichtet, dass der Titelgewinn des letztjährigen Abstiegskandidaten wie Balsam auf die Seele der geschundenen Fußballromantiker wirke. Meistens wurde vergessen, dass Leicester City nur einen Monat zuvor im Mittelpunkt einer Dopingaffäre stand. Der Gynäkologe Mark Bonar hatte vor der versteckten Kamera der "Sunday Times" und einem von der ARD/WDR-Dopingredaktion eingesetzten Lockvogel behauptet, über mehrere Jahre mehr als 150 Profisportler gedopt zu haben – darunter Spieler von Chelsea, Arsenal und Leicester City. Bonar ruderte später zurück, die Vereine widersprachen den Vorwürfen vehement, Beweise gab es keine. Merkwürdig ist nur, wie schnell das Interesse an der eigentlich alarmierenden Geschichte wieder verebbt ist und dass auch kein Offizieller der nicht betroffenen Vereine lautstark über Wettbewerbsverzerrung klagte. +Jetzt, zu Beginn der Europameisterschaft, taucht die Dopingwolke wieder auf. Wie die  ARD/WDR-Dopingredaktion berichtet, soll sich in Russland systematisches Doping nicht auf die Leichtathletik beschränken. Sportminister Witali Mutko soll persönlich dafür gesorgt haben, dass ein Dopingfall beim Erstligaklub FK Krasnodar vertuscht wurde. Ob sich das auf die Einschaltquoten des Megaevents negativ auswirkt, darf bezweifelt werden. Auch die Fans scheinen – von Bern bis Leicester – lieber an Wunder glauben zu wollen, als sich ihre Liebe zum "schönen Spiel" beschmutzen zu lassen. diff --git a/fluter/reine-nervensache.txt b/fluter/reine-nervensache.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6b32fe88f5a9e1a757f320c5c511444d756a1269 --- /dev/null +++ b/fluter/reine-nervensache.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Diese Frage steht im Zentrum der Debatte, die seit Jahren den Bundestag, den Nationalen Ethikrat, Forscher und Feuilletonisten beschäftigt. Für die katholische Kirche lautet die Antwort: Das Leben und damit der Mensch beginnt mit der Befruchtung. Boris sagt: "Das hat sich doch jemand einfach ausgedacht." Für ihn und den Großteil seiner Kollegen ist die Antwort: Ein Embryo gilt für sie als Mensch ab dem Zeitpunkt, an dem sich die befruchtete Eizelle in die Gebärmutter einnistet, ab dann entwickelt der Fötus Nervenzellen. "Das sind menschliche Merkmale, darüber muss man nicht diskutieren. Keiner kann mir erklären, dass eine befruchtete Eizelle ein vollwertiger Mensch sei."Das eine ist für Boris eben ein Beweis, das andere eine Interpretation. Die Diskussion werde in Deutschland einerseits von religiösen Dogmen und andererseits zu stark von den Alten dominiert, darin sieht er ein Problem für seine Wissenschaft und den Fortschritt im Allgemeinen. "Der Nationale Ethikrat ist fast ausschließlich mit Menschen über fünfzig Jahren besetzt und hat eine Theologenquote - warum gibt es keine Quote junger Menschen? Das sind doch diejenigen, deren Zukunft dort entschieden wird." Für ihn sind es die Möglichkeiten, die seiner Generation als Wissenschaftler und als Menschen versagt werden, die ihn ärgern. So schwankt er zwischen Frustration und Begeisterung, wenn er von einem Forschungsaufenthalt am Roslin Institut bei Edinburgh erzählt, Heimat des berühmten Klonschafs Dolly. "Da sind es Dutzende, die mit ES-Zellen forschen", erzählt er. "Mehrere Gruppen an einem Institut, mit denen man permanent zusammenarbeiten und sich austauschen kann. Hier sind wir am gesamten Institut zu dritt." Mit humanen ES-Zellen arbeiten in Deutschland etwa hundert Wissenschaftler. Die können mit der Regelung meist besser leben als Boris.Stammzellen-Koryphäe Hans Schöler von der Uni Münster betont immer wieder, dass sich mit dem rechtlichen Rahmen gut arbeiten lasse. Einzig die so genannte Stichtagsregelung, nach der importierte Stammzellen von Embryonen abstammen müssen, die vor dem 1.Januar 2002 gezeugt wurden, steht ernsthaft in der Kritik. Boris reicht das nicht. "Diese ganzen Beschränkungen sind doch Wahnsinn. Die müssen weg." Wenn die Gesetze nicht gehen, wird er es tun. "Ich hätte kein Problem damit, in ein hippes Labor in Großbritannien, Skandinavien oder den USA zu gehen." So wie es immer mehr seiner Kollegen machen. In anderen Ländern werde weniger herumgeredet. "Ich finde es in Ordnung, dass über diese Dinge diskutiert wird. So ein Gespräch ist ja immer interessant. Aber sobald so eine Debatte den Fortschritt und die Forschung behindert, ist sie meiner Meinung nach überflüssig." Wer Boris vom Gegenteil überzeugen will, wird es ihm beweisen müssen. +Stammzellen sind die Vorläufer aller Körperzellen. Zwei Fähigkeiten machen sie für die Forschung wichtig: Sie bilden durch Teilung spezialisierte Zellen, das heißt, aus ihnen lässt sich organisches Gewebe züchten. Sie erneuern sich - im Gegensatz zu normalen Körperzellen - immer wieder selbst. Forscher hoffen, aus ihnen Ersatzzellen für Menschen mit Krankheiten wie Parkinson, Diabetes oder Herzschwäche gewinnen zu können. Jeder Körper enthält Stammzellen, für die Forschung besonders attraktiv sind allerdings die embryonalen Stammzellen (ES-Zellen). Sie lassen sich auch in vitro, also in der Kulturschale, vielfältiger und unbegrenzt weiter vermehren. 1981 wurden erstmals ES-Zellen schottischer Mäuse isoliert. Die ersten menschlichen ES-Zellen gewann James Thomson 1998 an der Universität Wisconsin. Das Verfahren dafür ist höchst umstritten, da der Embryo nach fünf bis sechs Tagen zerstört und anschließend entkernt wird, um an die ES-Zellen zu gelangen. +Seit 1991 gilt das Embryonenschutzgesetz (EschG).Ein Embryo darf in Deutschland ausschließlich zum Zweck einer Schwangerschaft gezeugt und eingesetzt werden.Auch die Manipulation des menschlichen menschlichen Erbguts ist verboten, genau wie das Klonen von Menschen zu reproduktiven oder therapeutischen Zwecken. Das Stammzellgesetz (StZG) von 2002 versucht den Schutz des Embryos mit der Forschungsfreiheit zu vereinen. Es erlaubt den Import menschlicher ESZellen, sofern diese vor dem 1. Januar 2002 gewonnen wurden. Verwendet werden dürfen sie nur für "hochrangige Forschungsziele" in der Grundlagenforschung und der Medizin, die Herkunft der Zellen unterliegt strengen Auflagen. Deutsche Forscher benötigen eine Genehmigung vom Robert-Koch-Institut, um mit ES-Zellen arbeiten zu dürfen. Die Zentrale Ethik-Kommission für Stammzellenforschung überprüft alle Anträge und spricht daraufhin eine Empfehlung aus. Derzeit dürfen 13 Gruppen in Deutschland mit embryonalen Stammzellen arbeiten. Sowohl Befürworter als auch Gegner der Forschung mit ES-Zellen halten das StZG für einen ungenügenden Kompromiss.Im Zentrum ihrer Debatte steht die Frage nach der Schutzwürdigkeit des Embryos. Setzt man den Zeitpunkt der Menschwerdung mit der Befruchtung gleich, ist die Erzeugung und vorsätzliche Tötung eines Embryos zu Forschungszwecken moralisch unzulässig, da man ihn seines Rechts auf freie Entwicklung beraubt. Für Befürworter der Stammzellenforschung setzt die Schutzwürdigkeit des Embryos als Mensch frühestens ab dem 12.Tag nach der Befruchtung ein. Sie halten Stammzellenforschung für geboten - um Menschen zu heilen oder am Leben zu erhalten. Sollte die Gesetzeslage dies nicht ermöglichen, geht die Zentrale Ethik-Kommission in ihrem letzten Bericht davon aus, dass "erneuter wissenschaftlicher und ethisch-rechtlicher Diskussionsbedarf" entstehen und eine Gesetzesänderung unter Umständen notwendig werden könnte. +Es gibt kein international verbindliches Regelwerk zur Forschung an embryonalen Stammzellen. Die Generalkonferenz der UNESCO veröffentlichte 1997 die "Allgemeine Erklärung über das menschliche Genom und die Menschenrechte". Diese befasst sich mit Eigenschaften und Schutz des menschlichen Genmaterials. Ausdrücklich verboten wird nur das reproduktive Klonen von Menschen. Jeder Staat hat die Aufgabe, "Rahmenbedingungen für die freie Ausübung der Forschung am menschlichen Genom" zu schaffen und zu kontrollieren, dass dabei ethische und rechtliche Grundsätze eingehalten werden.Auch im ersten "Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin" des Europarats von 1997 werden keine Regeln für die Stammzellforschung festgeschrieben. Nur die Erzeugung menschlicher Embryonen zu reinen Forschungszwecken ist verboten. In der Europäischen Union wird derzeit vor allem diskutiert, ob verbrauchende verbrauchende Embryonenforschung mit öffentlichen Mitteln gefördert werden soll. Einige Mitgliedsstaaten, darunter Deutschland, lehnen dies ab, da die Forschung nicht im gesamten EU-Gebiet erlaubt ist. +Tiermediziner Woo Suk Hwang aus Südkorea klonte 2004 als Erster einen menschlichen Embryo, um daraus Stammzellen zu gewinnen. Vor kurzem gelang es ihm, ES-Zellen zu produzieren, denen das Erbgut von schwerkranken Patienten eingesetzt worden war. Im Oktober 2005 eröffnete er die erste Stammzellenbank der Welt,die "World Stem Cell Foundation". Deutsche Forscher dürfen deren Angebote nicht nutzen. Ende November musste er von allen öffentlichen Ämtern zurücktreten,weil er zugeben musste, Eizellenspenden von Mitarbeiterinnen angenommen zu haben. In England haben es Wissenschaftler 2005 geschafft,unreife Spermien aus ES-Zellen zu züchten. Sie hoffen, bald auch künstliche Eizellen herstellen zu können. So könnte es in zehn Jahren möglich werden, dass beispielsweise zwei Männer ein gemeinsames Kind bekommen,ohne dass die Eizelle einer Spenderin benötigt wird. Im belgischen Reproduktionszentrum Brüssel sind 2005 durch künstliche Befruchtung erstmals Babys mit ausgewähltem Genmaterial zur Welt gekommen. diff --git a/fluter/reinigungskraft-0.txt b/fluter/reinigungskraft-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/reinigungskraft-arbeit.txt b/fluter/reinigungskraft-arbeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..08d896434881e53b5dac0e05d4ee0659f50a4e66 --- /dev/null +++ b/fluter/reinigungskraft-arbeit.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Gelernt habe ich Zahnarzthelferin, obwohl ich lieber technische Zeichnerin geworden wäre. Aber einen Ausbildungsplatz gab es damals nicht in Mannheim. Ich blieb einige Zeit in meinem Beruf, doch merkte schnell: Das ist nichts für mich. Die Arbeitszeiten waren nicht flexibel. Also ging ich als Reinigungskraft zur Zentralwerkstatt für Verkehrsmittel Mannheim, bis ich mich an der Uni beworben habe. +Für mich als Mutterwaren ein unbefristeter Vertrag und ein gutes Gehalt sehr wichtig. Als Festangestellte an der Uni bekomme ich das. Und auch den Alltag zu Hause konnte ich mit 20 Wochenstunden und Arbeit am Vormittag immer vereinbaren. Als meine Tochter noch zur Schule ging, war es schön, dass ich mittags zu Hause sein konnte. +Klar gibt es auch Tage, an denen ich denke: ‚Ach, würde ich mal einen gescheiten Beruf ausüben.' Aber ist das nicht in jedem Job so, dass es Tage gibt, die nicht gut sind? Ich habe mich damals für diesen Beruf entschieden. Selbst als ich noch mal ein Angebot von einer Zahnarztpraxis bekommen habe, bin ich geblieben. +Die größte Herausforderung in meinem Job ist sicherlich dieReinigung der Toiletten. Aber wenn man sich entscheidet, in den Reinigungsdienst zu gehen, muss man damit klarkommen. Manche machen auf den Boden oder den Klodeckel und schmieren damit Herzchen an die Wand. Da erlebt man schon was. Aber zum Glück ist das nicht tagtäglich. An der Uni erfahre ich in der Regel große Wertschätzung. Unter den Lehrkräften, Sekretärinnen und uns Reinigungskräften herrscht ein respektvoller, kollegialer Umgang. Zu Ostern und Weihnachten gibt es kleine Präsente, und als es in Sardinien brannte, schrieb ich einer Sekretärin, die dort gerade Urlaub machte, ob es ihr gut gehe. +Manche Studenten lassen den Müll in den Hörsälen liegen, leeren ihren Kaffee aus, kleben Kaugummis unter den Tisch oder stellen ihre Füße auf die Stühle. Dann sag ich auch schon mal: ‚Macht ihr das zu Hause auch?' Doch der größte Teil ist wirklich umgänglich. Man kennt sich, grüßt, und vor allem Erstsemester fragen schon mal nach dem Weg, zögern, über den gewischten Flur zu gehen, oder sagen: ‚Super, dass Sie das jeden Tag machen.' Über solche Worte freue ich mich. Denn die braucht meiner Meinung nach jeder Mensch. +Durch meinen Beruf habe ich gelernt: Egal was du machst, mach es mit Hingabe. Ich nehme jeden Tag, wie er kommt. Menschen, die sagen: ‚Oh, jetzt muss ich morgen schon wieder ins Geschäft' und die Nacht vorher schon Bauchweh haben, verstehe ich nicht. Dann würde ich mir einen Job suchen, der mir mehr Spaß macht. Dass ich für mein Geld putzen gehe, dafür schäme ich mich nicht. Und es ist wirklich nicht so schlimm, wie andere es sich vorstellen." + diff --git a/fluter/reinigungskraft.txt b/fluter/reinigungskraft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/reinkultur.txt b/fluter/reinkultur.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/reise-ins-nichts.txt b/fluter/reise-ins-nichts.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c4373d5096720fa4696cb36b49be3777063a3cbd --- /dev/null +++ b/fluter/reise-ins-nichts.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Amri klettert auf ein größeres Schiff mit einer Führerkabine. Mit so einem ist er auf dem Mittelmeer unterwegs gewesen, bis der Regen einsetzte, und der Motor ins Stottern geriet. Die Küstenwache hat ihn schließlich gerettet. Amri ist 24 Jahre alt und kommt aus Sidi Bouzid im Inland von Tunesien. Es gibt dort wenig Arbeit, man sitzt herum, trinkt Kaffee, raucht Zigaretten. "Ich bin Friseur", sagt Amri, "an einem Tag habe ich einen Job, am anderen nicht. In zwei Jahren habe ich 1.000 Euro gespart." +1.000 Euro für die Fahrt in eine bessere Welt – nach Europa. Amri rief eine geheime Telefonnummer an und reiste in die Hafenstadt Zarzis, von wo aus das Schiff in der Nacht ablegte, wie die meisten Kähne ziemlich überladen. "Wir waren 100 Personen, und die Fahrt dauerte 24 Stunden." Hatte er keine Angst? "Nein. Über das Leben und den Tod entscheidet Gott. Ich suche nur die Freiheit." +Lampedusa ist ein Ort, an dem die Außengrenze der EU sichtbar wird. Ein Außenposten im Mittelmeer. 5.000 Einwohnerinnen und Einwohner leben auf der kleinen Insel, die meisten von der Fischerei und dem Tourismus. In den vergangenen Jahren strandeten immer mehr Flüchtlinge aus Afrika an der Küste, in der Hoffnung auf Asyl in Europa. Tausende junge Tunesier haben den demokratischen Aufbruch in den nordafrikanischen Staaten zum Anlass genommen, um wie Amri ihre eigene Vorstellung von der Freiheit zu verwirklichen: Auf brüchigen Barken haben sie die gefährliche Überfahrt übers Mittelmeer gewagt. Auf Lampedusa aber wartet erst einmal nicht die Freiheit, dort warten 500 Polizisten, die auf der Insel im Einsatz sind. Carabinieri fahren in Jeeps mit Blaulicht durch die Stadt, um die ankommenden Flüchtlinge in ein Lager zu schaffen. +Die Bürgerinnen und Bürger der 27 Mitgliedsstaaten dürfen sich überall in der EU niederlassen, sofern sie über eine Arbeitsstelle oder einen Studienplatz verfügen. Wer keiner Arbeit nachgeht, in Rente ist oder studiert, muss nachweisen, dass er vom eigenen Einkommen oder Kapital leben kann und eine Krankenversicherung besitzt. Alle, die aus einem Nicht-EU-Land kommen, haben es schwer, hier eine neue Heimat zu finden. Als Nicht-EU-Bürger darf man sich laut Schengener Abkommen nur in Europa niederlassen, wenn man über eine spezielle berufliche Qualifikation verfügt, die der Wirtschaft eines EU-Landes nützt – oder wenn man politisch verfolgt wird. Nach der Schoah, dem Völkermord an den Juden durch die Nationalsozialisten, haben die Vereinten Nationen 1951 die Genfer Flüchtlingskonvention erlassen: Als Flüchtling gilt jeder, der wegen seiner politischen Überzeugung, Staatszugehörigkeit, Rasse oder Religion verfolgt wird. Im Vertrag von Dublin haben jene Staaten der EU sowie die Nicht-EU-Staaten Norwegen, Island und die Schweiz schließlich festgelegt, dass der Staat ein Asylgesuch zu behandeln hat, den ein Flüchtling zuerst betritt. Weil wenige Flüchtlinge mit dem Flugzeug in Paris oder Berlin landen, wurde das Problem also in die südeuropäischen Länder am Mittelmeer ausgelagert: nach Spanien, Italien oder Griechenland. +Schengen und Dublin, das sind vor allem zwei Datenbanken: Das Schengener Informationssystem SIS speichert alle Daten von Personen, gegen die eine Einreisesperre in den sogenannten Schengenraum verhängt wurde, weil sie ohne Visum in die EU gekommen sind. In der Datenbank Eurodac wiederum werden die Fingerabdrücke aller sich illegal im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten aufhaltenden oder bei der illegalen Überschreitung einer Außengrenze eines Mitgliedsstaats angetroffenen Asylsuchenden gespeichert. So soll sichergestellt werden, dass sie in keinem weiteren Mitgliedsstaat ein Gesuch stellen können, nachdem es in einem Land abgelehnt wurde. Oder es noch einmal im selben Land probieren. Manche nehmen die lebensgefährliche Reise nach einer Abschiebung tatsächlich mehrmals auf sich. +Das Glashochhaus ist 40 Stockwerke hoch und steht mitten im boomenden Geschäftsviertel von Warschau. Als Gast muss man durch eine Kontrolle, dann durch eine Metallschleuse, anschließend wird die Iris im Auge geprüft. Schließlich begrüßt einen der Exekutivdirektor der Grenzschutzagentur Frontex, der Finne Ilkka Laitinen. Von seinem Büro im 22. Stock ist die Aussicht schwindelerregend. Weit unten in der Tiefe, aber gut sichtbar haben Politaktivisten wenige Tage zuvor in weißen Lettern "Frontex kills" auf ein Hausdach gemalt. "Wir leben in einem Zeitalter der Meinungsfreiheit", sagt Laitinen und schaut ernst durch die randlose Brille. +Frontex soll die Überwachung der EU-Grenze koordinieren. Dazu sammelt man alle Informationen über die Situation vor Ort – von dort, wo die Boote stranden, die Zäune stehen, sich die Menschen im Unterholz verstecken. Aus den Daten macht Frontex Risikoanalysen und empfiehlt den Staaten, Personal und Material an jene Orte zu schicken, wo gerade besonders viele Flüchtlinge versuchen, in die EU zu gelangen. Dabei helfen sich die Mitgliedsstaaten gegenseitig: Bei der Operation Hermes beispielsweise wird Italien rund um Lampedusa von zahlreichen Staaten unterstützt, darunter auch Deutschland. +Die Grenze bedeutet Risiko und Gefahr, aber sie bedeutet auch ein großes Geschäft, wie Laitinen unumwunden einräumt: "Grenzüberwachung und Grenzkontrolle sind ein wachsendes Geschäft: Überwachungskameras, Wärmebildkameras oder Satelliten werden immer benutzerfreundlicher." 110 Millionen Euro investiert die Europäische Union in ihrem laufenden Forschungsprogramm in die Grenzüberwachung und Grenzkontrolle. "Wir fördern den Austausch zwischen der Industrie, der Wissenschaft und den Grenzwächtern", sagt Laitinen. Organisiert von der Agentur, die 2005 ihre Arbeit aufnahm, findet jedes Jahr der "European Day for Border Guards" statt, an dem sich die nationalen Grenzwachtruppen mit Sicherheits- und Rüstungsfirmen treffen, darunter Marktführer wie EADS oder Thales. Die Presse erhält keinen Zutritt. +Auf Lampedusa ahnt Walid Amri allmählich, dass er von der Freiheit noch weit entfernt ist. "Für die jungen Europäer ist es einfach zu reisen. Wir aber haben kein Recht zu reisen, ich habe noch nicht einmal einen Pass." So hat er sich das Recht eben selbst genommen. +Von Lampedusa will er weiter nach Frankreich. Auch die Schweiz könnte er sich vorstellen. "Ich liebe die Schweiz, ich liebe Roger Federer!" Im Gespräch mit anderen Flüchtlingen auf Lampedusa wird klar: Es gibt viele Gründe für die Flucht. Einige Männer sind aus ökonomischen, andere aus politischen Gründen hier, wieder andere wegen ihrer sexuellen Orientierung. In Afrika gibt es Staaten, in denen Homosexuellen die Todesstrafe droht. Auffällig ist, dass es wenige Frauen nach Europa schaffen: Sie schreckt die Grenze besonders ab. +Das Lager von Lampedusa liegt in einem Talkessel. In der Nachmittagshitze bringen Tankwagen Wasser ins Lager, auch ein Krankenwagen mit Blaulicht fährt vorbei. Wenn man von einem der Hügel auf das Lager blickt, sieht man im Gegenlicht Carabinieri, die patrouillieren. Bewaffnete Silhouetten. +Es ist schwer, Informationen über die Situation im Lager zu bekommen. Ein Mitarbeiter eines Hilfswerks, der seinen Namen nicht nennen will, berichtet, dass das Lager aus allen Nähten platze. "Es ist nur für 850 Menschen Platz. Im Moment sind darin dreimal so viele untergebracht." Zu trinken gebe es genug, doch das Essen sei knapp. Einige der Eingesperrten seien psychisch angeschlagen, die Strapazen der gefährlichen Überfahrt haben viele nicht verarbeitet. +Auf seinem Blog "Fortress Europe" (Festung Europa) dokumentiert der italienische Journalist Gabriele del Grande Meldungen über Menschen, die beim Versuch, nach Europa zu gelangen, ihr Leben verloren haben oder als vermisst gelten. Die Zahlen, die er zusammengetragen hat, zeigen das Ausmaß der stillen Katastrophe: Seit 1988 sind 18.673 Menschen gestorben. 2011, dem bisher schlimmsten Jahr, wurden laut Fortress Europe 2.352 Menschen als tot oder vermisst gemeldet. "Eines Tages werden auf Lampedusa und in Zuwara, am Evros (dem Grenzfluss zwischen Griechenland und der Türkei), auf Samos, in Las Palmas und in Motril Gedenktafeln stehen mit den Namen der Opfer aus diesen Jahren der Unterdrückung der Bewegungsfreiheit", schreibt del Grande. "Wir werden unseren Enkeln nicht sagen können, dass wir davon nichts gewusst hätten." +Die Staaten an der Außengrenze werden bei der Betreuung der Flüchtlinge "überproportional beansprucht und vielfach überfordert", schreibt die deutsche Stiftung Pro Asyl. "Flüchtlinge werden ... zu Obdachlosen gemacht, erleben schlimmste Armut und Übergriffe." Pro Asyl fordert deshalb, dass Asylsuchende selbst bestimmen können, in welchem europäischen Staat sie ein Asylgesuch stellen. +Doch die offizielle Politik setzt auf noch stärkere Abschottung. Im Glashochhaus in Warschau skizziert Frontex-Direktor Laitinen die beiden nächsten Projekte für eine bessere Überwachung der Außengrenze: das biometrische Entry-Exit-System EES, das automatisch Alarm schlagen soll, wenn die autorisierte Aufenthaltsdauer einer Person, die in die EU eingereist ist, abgelaufen ist. Und das Projekt Eurosur, bei dem die Satelliten, Radare und Drohnen miteinander verknüpft werden, um das Mittelmeer ständig zu überwachen. Und die Situation der Flüchtlinge? Laitinen zögert keine Sekunde. "Wir messen bei unserer Arbeit der Wahrung der Menschenrechte große Bedeutung zu." +Welche Vision setzt sich durch? Die eines sich abschottenden oder die eines offenen Europas? Ein Jahr nach der Begegnung auf Lampedusa meldet sich Walid Amri mit einem Lebenszeichen: Er hat sich nach Berlin durchgeschlagen. + +Kaspar Surber arbeitet als Redakteur bei der Schweizer Wochenzeitung "WOZ". Im Echtzeit Verlag ist von ihm das Buch "An Europas Grenze. Fluchten, Fallen, Frontex" erschienen. diff --git a/fluter/reisen-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-haben.txt b/fluter/reisen-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-haben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/reisen-transitautobahn-westberlin-ddr.txt b/fluter/reisen-transitautobahn-westberlin-ddr.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0f8abca27c5b6220f32cd46060e99c469c23304c --- /dev/null +++ b/fluter/reisen-transitautobahn-westberlin-ddr.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Die innerdeutsche Grenze war berüchtigt für ihre Schikanen. Grundsätzlich war jeder Autofahrer verdächtig und wurde auch so behandelt. Die Volkspolizei der DDR suchte nach Schmuggelware,verbotener Literatur, besonders aber nachRepublikflüchtigen, also DDR-Bürgern, die in den Westen wollten. 1983 verstarb ein 45-Jähriger während eines Verhörs am Grenzübergang. Ein Herzinfarkt – wie viele andere war er demGrenzstressnicht gewachsen, dem zuvor schonder erste "Tatort"-Krimi von 1970 ("Taxi nach Leipzig")gewidmet war. Zum30-jährigen Jubiläum des Mauerfallsunternehmen wir einen Roadtrip durch den innerdeutschen Grenzverkehr: + + +Ausfahrt I: Peter Bieber – Schmuggeln und geschmuggelt werden +In einem Schrank floh Peter Bieber aus der DDR, später half er anderen bei der Flucht in den Westen. Bis zum Oktober 1972 + +Ausfahrt II: Hans-Jürgen Hickethier – Kaffeepausen mit der Stasi +In den DDR-Raststätten saßen Ost- und Westdeutsche an einem Tisch. Ein Küchenchef beobachtete die gemeinsamen Brotzeiten über Jahre – genauso wie die Stasi + +Ausfahrt III: Ludmilla Korb-Mann – Anhalten verboten +… schlecht für alle, die auf einer Transitstrecke eine Panne hatten + +Ausfahrt IV: Stepan Benda – Heimliches Familientreffen +Zu Fuß flieht Stepan nach Westberlin. Den Osten vermisst er nicht, seine Familie dafür umso mehr. Also beschließt er, sie an einer Raststätte zu treffen + +Ausfahrt V: Rafael Klust – Bananenrepublik +An der deutsch-deutschen Grenze haben nur die Spießer Schiss, dachte der Rafael Klust. Dabei war der Stress nur eine flapsige Bemerkung und eine Südfrucht weit entfernt + +Bildmaterial: ZDFinfo diff --git a/fluter/reisepass-ranking-design-politisch.txt b/fluter/reisepass-ranking-design-politisch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5b8291ae235170cbad7ccddd4d934147aa1f5a38 --- /dev/null +++ b/fluter/reisepass-ranking-design-politisch.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +Dabei identifizieren Pässe nicht nur die Inhaber*innen und ihre Reiseprivilegien, sondern auch die Staaten, die sie ausstellen: Die abgedruckten Symbole, Farben oder Wasserzeichen sind wichtiger Teil des "Nation Branding". Ein Pass verrät also immer auch, wie ein Staat sich sieht – oder gern gesehen werden möchte. Hier sind sieben Beispiele dafür. + +Als Mao Zedongs Kommunist*innen 1949 den chinesischen Bürgerkrieg gewonnen und die Volksrepublik China ausgerufen hatten, zogen sich die unterlegenen Nationalist*innen auf die Insel Taiwan zurück.Seitdem kämpft Taiwan (amtliche Eigenbezeichnung: Republik China) um die Anerkennung als souveräner Staat. +Von diesem Kampf erzählt auch Taiwans Pass. Erst 2002, also mehr als 50 Jahre nach der Gründung der Volksrepublik China, wurde er zum ersten Mal mit dem Namen Taiwan bedruckt. Ein Ausdruck für dasgewachsene Selbstbewusstsein Taiwans. Die Regierung in Beijing, die stets betont, dass Taiwan zu Festlandchina gehöre, war entsprechend erbost über das neue Design. +2015 begannen Unabhängigkeitsaktivist*innen, die verbleibenden Symbole der Republik China auf dem Pass zu bestickern – meist mit typisch taiwanesischen Symbolen. China verhängte Einreiseverbote, was die taiwanesische Regierung nicht davon abhielt, die Sticker im Jahr darauf zu legalisieren. Ein Zeichen an Beijing, die Welt – und auch die eigene Bevölkerung. Die New Power Party rief einen Wettbewerb für eigene Passdesigns aus. Der wurde ein riesiger Erfolg, die eingereichten Entwürfe zeigten den taiwanesischen Schwarzbären, geschmortes Schweinefleisch auf Reis, Kirschblüten oder das Nationalgetränk Bubble Tea. +Dagegen nimmt sich der neue Pass, der seit Anfang des Jahres ausgegeben wird, recht nüchtern aus. Er gleicht den alten Pässen, mit einem bedeutenden Unterschied: Der Schriftzug "Taiwan" dominiert erstmals den der "Republik China". + +Pässe werden nicht nur lesbar und möglichst zeitlos designt, sondern vor allem: fälschungssicher. Je komplexer ein Design, desto sicherer; je neuer der Pass, desto mehr Sicherheitspapier, Sicherheitsfäden, UV-Lichtmuster, Chips, Mikrotexte, Wasserzeichen, Hologramme, komplexe Ornamente oder Kristallmuster sind verbaut. +Der iranische Pass verbindet solche Innovationen mit denPrinzipien der islamischen Theokratie,also dem Grundsatz, dass der Staat seine Herrschaft durch das Wort Gottes, den Koran, legitimiert: Die Wasserzeichen im Pass zeigen Imam Khomeini, den geistigen Führer und Gründer (1979) der Islamischen Republik. Die Visumsseiten des Passes zieren Hologramme von 14 religiösen und historischen Kulturstätten und -schätzen wie Damavand, dem höchsten Berg des Landes. +Stolz dürfte darauf nicht jede*r im Land sein: Der Iran ist zwar ein Vielvölkerstaat mit mehreren ethnischen Gruppen und Sprachen, der Pass reflektiert diese Vielfalt aber nur bedingt. Er ist auf Persisch, der Amtssprache, und Englisch ausgestellt; Azeri, Kurdisch, Belutschi, Arabisch und andere Minderheitensprachen fehlen komplett. Der iranische Pass ist ein Beispiel für die Sprachpolitik von Pässen – die oft illustriert, wie ernst ein Staat seine ethnischen und sprachlichen Minderheiten nimmt. +Das Redesign des norwegischen Passes wurde 2014 weltweit besprochen: Der Pass ist minimalistisch und modern. Allein der Passdeckel sticht aus dem Einheitsbrei staatstragenden Weinrots heraus und könnte auch die Drinks einer mondänen Bar auflisten. +Der Pass wurde vom Osloer Designstudio Neue entworfen. Das war vor allem für seine Verpackungen und Webseiten bekannt, gewann aber 2014 den vom norwegischen Polizeidirektorat ausgeschriebenen Ideenwettbewerb. +In das Passinnere druckten die Designer*innen keine nationalen Held*innen, sondern Landschaftsbilder: Wald, Berge, Fjorde, allesamt in Pastellfarben gehalten. Hält man den Pass bei einer Kontrolle unter UV-Licht, erscheinen die Landschaften im Nachtpanorama, natürlich mit Vollmond und Polarlichtern. + +Erst 1975 endeten Jahrhunderte derportugiesischen Kolonialherrschaft in Angola. Nach brutalen Kämpfen und Hunderten Toten wurde Angola zunächst zu einem marxistisch-leninistischen Einparteienstaat. (Die ideologische Nähe zur DDR brachte unter anderem Tausende angolanische Vertragsarbeiter*innen nach Deutschland.) +Angolas Pass zeigt die leidvolle Kolonialgeschichte und ihr Ende im Sozialismus bis heute: Er ist schwarz. Was selten ist und vor allem in sozialistisch geprägten Staaten zu finden. Dazu ist der Pass in Englisch und der Amtssprache Portugiesisch gehalten, die nach der langen Kolonialisierung bis heute in den meisten angolanischen Haushalten gesprochen wird. Indigene Sprachen wie Umbundu sind zwar weit verbreitet im Land, finden sich aber nicht im Pass wieder. Das Passbuch und die Visumsseiten sind mit dem nationalen Wappen verziert. Macheten, Hacke und Zahnrad verweisen auf den langen Unabhängigkeitskampf gegen Portugal, in dem Arbeiter*innen in sozialistischer Tradition eine tragende Rolle zugemessen wurde. Mit der aufgehenden Sonne führt Angolas Passästhetik – wie so viele andere – die Vergangenheit mit dem Wunsch auf eine gerechtere Zukunft zusammen. + +In keinem anderen Land wurde der Reisepass zuletzt so vehement diskutiert wie in Großbritannien. Mit demEU-Austrittforderte das Pro-Brexit-Lager eine Rückkehr zu den alten britischen Pässen, den sogenannten "blauen Pässen". Sie wurden 1988 durch die EU-Passcover in Burgunderrot ersetzt, die die Brexiteers schon während der Brexit-Abstimmung gern als Symbol für die "Fremdherrschaft" über Großbritannien heranzitierten. Dabei war die Angleichung der Pässe innerhalb der EU damals nicht verpflichtend, die Regierung Margaret Thatchers entschied sich freiwillig dafür. +Das Beispiel Großbritannien verdeutlicht, dass die Farbe eines Passes ähnlich ideologisch aufgeladen sein kann wie die Farben einer Flagge(siehe Infokasten). So begeisterte sich für den britischen "blauen Pass" vor allem das rechtskonservative Lager um die Brexit-Unterstützer*innen. Das schaute nostalgisch auf die frühere Rolle Großbritanniens in der Welt und sah die Souveränität der ehemaligen Kolonialmacht durch die EU beeinträchtigt. Nach dem Brexit werden mittlerweile wieder blaue Pässe ausgestellt. (Die zu allem Ärger wohleher schwarz sind und im Ausland hergestellt werden.) +Weltweit haben Passcover vier Farben, die sich nur in Nuancen unterscheiden: Schwarz, Rot, Blau und Grün. Das hat gestalterische Gründe: Auf dunklen Farben ist die goldene Prägung des Wappens deutlich zu erkennen. Die Farben können aber auch ideologische, ökonomische oder kulturelle Traditionen widerspiegeln – oder auch politische Prozesse. +SchwarzePässegibt es selten. Sie werden von einigen sozialistisch geprägten Staaten auf dem afrikanischen Kontinent ausgestellt – etwa Angola und der Republik Kongo –, aber auch von Neuseeland, wo Schwarz Nationalfarbe ist. +BlauePässesind vor allem in Nordamerika, Australien und vielen karibischen Staaten verbreitet, in Südamerika weisen blaue Pässe auf eine Verbindung zur Handelsunion Mercosur hin. +GrünePässesind in vielen muslimisch geprägten Ländern gängig: Grün gilt als Lieblingsfarbe des Propheten Mohammed. Aber auch der Pass des Vatikans ist grün. +Von China über Russland und fast die komplette EU:Rote Pässesind nach blauenam weitesten verbreitet. +Der aktuelle neuseeländische Pass wird seit Ende 2009 ausgegeben. Sein Design zeichnet sich vor allem durch die zentrale Rolle aus, die die indigene Maori-Kultur in ihm spielt, obwohl heute mehr als zwei Drittel der Bevölkerung europäischer Herkunft sind. Der Pass ist schwarz. In der Maori-Kultur symbolisiert die Farbe die Dunkelheit, aus der die Welt entstand. Seitlich ziert ihn ein Silberfarn, der auf die vielfältige Verwendung und Bedeutung des Silberfarns in der Maori-Kultur hindeutet. Beide Designelemente sind auch für die Flugzeuge der nationalen Fluglinie Air New Zealand oder die Rugbytrikots der neuseeländischen Nationalmannschaft visuell bestimmend. Das soll nicht nur die Maori anerkennen, sondern auch auf Neuseelands Aufarbeitung seiner gewaltvollen britischen Kolonialgeschichte hinweisen. Das unterscheidet den Inselstaat beispielsweise von seinem Nachbarn Australien,wo indigene Menschen bis heute weniger Anerkennung erhalten. Seit 1987 ist Maori in Neuseeland/Aotearoa neben Englisch auch offiziell Landessprache. Deshalb trägt der Pass nicht nur die (britische) Kolonialbezeichnung des Landes, sondern auch die indigene Bezeichnung für die Inselgruppe: Aotearoa. + +Der deutsche Pass ist weinrot, wie fast alle EU-Pässe. (Kneipenwissen: Die blaue Ausnahme macht Kroatien.) Und auch sonst – Brandenburger Tor, Quadriga, Bundesadler – keiner Innovation verdächtig. Diese Schlichtheit erscheint zunächst unkreativ, ist aber Absicht: Das Design entstammt der politischen Vision für ein Deutschland nach denNazisund dem Holocaust. +Der unaufgeregte Stil soll der jüngeren deutschen Geschichte entgegentreten, die von Pomp, Größenwahn und Faschismus bestimmt war. Die Abkehr von dieser Ästhetik ist Ausdruck eines Selbstverständnisses, das nach 1945 in die Welt getragen werden sollte und sich bis heute auch in der schlichten Architektur der deutschen Regierungsgebäude zeigt. +Seit der Einführung des biometrischen Passes 2005 gab es nur minimale Veränderungen im deutschen Passdesign. 2017 wurde die aktuelle Version veröffentlicht, die einen Euro teurer ist (60 Euro) und deren Neuerungen auch sonst im Detail liegen: in den Sicherheitstechnologien und der Berücksichtigung von nichtbinären Identitäten. Letzteres ist ein wichtiger Schritt in Richtunginstitutioneller Anerkennung. Statt des üblichen "M" für Mann oder "F" für Frau können sich ab diesem Jahr Menschen, die sich außerhalb dieser beiden Geschlechter verorten, ein X eintragen lassen. diff --git a/fluter/reklame-selbstgemacht.txt b/fluter/reklame-selbstgemacht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/religion-haelt-beim-is-nur-als-ideologie-her.txt b/fluter/religion-haelt-beim-is-nur-als-ideologie-her.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..27c4ba1100af80de55569197fb889f2261863be6 --- /dev/null +++ b/fluter/religion-haelt-beim-is-nur-als-ideologie-her.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +fluter: In Kommentaren zu den Anschlägen in Paris war oft zu hören, diese seien ein Angriff auf unsere westliche Lebensweise. Halten Sie das für eine zutreffende Interpretation? +Pankaj Mishra: Auf einem sehr banalen Beschreibungsniveau ist ein Terroranschlag immer ein gewaltsamer Angriff auf die Lebensweise von irgendjemandem –  ob in Paris, in Beirut, in Mumbai oder irgendwo in China. Aber das ist trivial. +Worum geht es stattdessen? +Es ist nie so, dass eine Seite die reine Untadeligkeit für sich beanspruchen kann. Hier die Vernünftigkeit der liberalen Demokratie des Westens, dort der irrationale Islam – über diesen simplifizierenden Gegensatz muss man schon hinausdenken, wenn man das Phänomen verstehen will. Man braucht einen breiteren historischen Blickwinkel. +Und was bekommt man dann in den Blick? +Das Voranschreiten von Kapitalismus und Technologie hat einen tiefen Schnitt durch die Welt gezogen. Viele Regionen, die bei dieser Entwicklung nicht mithalten konnten, sind durch den sehr schmerzhaften Kampf gegangen, einen Platz in dieser globalen Ordnung zu finden. Seit dem frühen 19. Jahrhundert hat sich eine ganze Welle von gewalttätigen Aufständen über die Welt ausgebreitet. Was wir gegenwärtig sehen, ist: Diese Druckwelle erreicht nun Teile der Welt, in denen sie lange nicht zu spüren war. +Sie unterstellen: Den Terroristen geht es gar nicht um die kulturelle Differenz, sondern sie wünschen sich eigentlich, in Wohlstand und Freiheit leben zu können wie die Europäer? +Es ist in der Tat ein großes Problem, dass dem Rest der Welt diese Ideale vermittelt worden sind, die für etliche abgehängte Länder aber kaum noch umsetzbar sind. Dadurch gibt es unglaublich viel gärende Unzufriedenheit und das Verlangen, sich zu ermächtigen. Deswegen zieht es weltweit so viele junge Menschen zu Demagogie und Gewalt. Lesen Sie mal die Schriften der russischen Nihilisten und Anarchisten im 19. Jahrhundert. Da entdecken sie vieles, das sich heute auch in der Ideologie des Islamischen Staats findet. Das ist die große Herausforderung der bevorstehenden Jahrzehnte: Wie werden wir diesem explosiven Verlangen nach einer Mitbestimmung und nach einem Lifestyle gerecht, in dessen Genuss weltweit bisher nur eine kleine Minderheit gekommen ist? +Warum schließen sich dann auch Jugendliche aus der Mittelschicht dem IS an? +In der globalisierten Gesellschaft leben auch viele Menschen der Mittelklasse in einem sonderbaren Klima der Verunsicherung. Alles kann sich jederzeit ändern; Sie können ihren Job verlieren oder bekommen gar keinen mehr. Wir haben es mit einer globalen Krise zu tun, die vor den Grenzen von so genannten Klassen nicht haltmacht. Zudem hat man in der europäischen Geschichte gesehen, dass auch die Mittelschicht zur treibenden Kraft beispielsweise von faschistischen Massenbewegungen werden kann. +Aber da ist doch offenkundig auch religiöser Wahn im Spiel: Die Terroristen verüben Selbstmordanschläge in dem Glauben, durch den "Märtyrertod" ins Paradies zu kommen. +Die Terroristen benutzen Aspekte der islamischen Tradition, um ihrem desperaten Tun eine Bedeutung zu verleihen – aus einem kompensatorischen kulturellen Stolz heraus. Aber die Religion hält beim IS nur als Ideologie her, die ist kein echter Glaube. Diese nihilistische Bereitschaft, das eigene Leben zu opfern, kommt in den verschiedensten Kulturkreisen vor, etwa auch unter buddhistischen Mönchen in Tibet, die sich öffentlich verbrannt haben. So etwas gehörte nie zur buddhistischen Lehre, aber diese Mönche sind durch buddhistische Vorstellungen motiviert. Und die meisten der IS-Terroristen sind eben in einer islamisch geprägten Umgebung sozialisiert worden, dort bedienen sie sich auch weltanschaulich. In Wirklichkeit bietet ihre Ideologie aber eher eine postmoderne ideologische Collage als eine stimmige Doktrin. Es gibt zahlreiche Hinweise, dass die Terroristen von Paris statt in die Moschee lieber regelmäßig in Nachtclubs gegangen sind und Alkohol getrunken haben – was nach einer strengen Auslegung des Islams verboten wäre. Diese Zusammenhänge sind zu komplex, als dass wir uns mit Begriffen wie "islamistischer" Terror zufriedengeben sollten. +Tun wir den Terroristen einen Gefallen, wenn wir sie "islamistisch" nennen? +Wir nehmen den IS dann tatsächlich genau so wahr, wie er wahrgenommen werden will, und bekräftigen eben jene Konfrontation zwischen dem Islam und dem Westen, die die Terroristen herbeisehnen. Man sollte ihnen diese Legitimation auf keinen Fall geben. Beim IS stehen Zerstörung, Mord und Vergewaltigung im Mittelpunkt der Agenda. +Was wäre denn Ihrer Meinung nach eine angemessene Reaktion der westlichen Staaten auf die Anschläge? +Ihre bisherigen Antworten auf Anschläge waren jedenfalls oft katastrophale Überreaktionen. 9/11 etwa ist von einer relativ kleinen Gruppe von Fanatikern begangen worden. Die hätten durch begrenzte Polizeioperationen viel effizienter ausgeschaltet werden können als durch eine groß angelegte Militäroperation. Dieses kriegerische Vorgehen hat nur noch mehr selbstzerstörerische Leidenschaft entfesselt –  was den westlichen Staaten jetzt zum Verhängnis wird. Die Führer der Arabischen Liga  (Internationale Organisation Arabischer Staaten, Anm. der Redaktion) haben damals gewarnt, der Irak-Krieg würde das Tor zur Hölle öffnen. So könnte man beschreiben, was jetzt passiert ist. Ich denke, die Menschen in den europäischen Ländern und in Amerika sollten ihre Regierungen fragen: Was habt ihr dazu beigetragen, dass es so gekommen ist? +Bisher haben Sie vor allem gesagt, was die westlichen Staaten nicht tun sollen: militärisch überreagieren. Aber was sollen sie tun? +Ich fürchte, die Alternative lautet: zunächst einmal akzeptieren, dass solche Anschläge in den kommenden Jahren ein Problem bleiben werden – und ihnen entgegenwirken durch Polizeimaßnahmen, durch politische Maßnahmen, durch Diplomatie. Den Menschen vermitteln, dass sie eine Zukunft in dieser Welt haben und einen Anteil an ihr bekommen. Und endlich verstehen, dass Krieg nur immer noch mehr Terroristen hervorbringen und zu noch größeren Verhängnissen führen wird. +Sehen Sie Möglichkeiten, durch eine wechselseitige kulturelle Verständigung zwischen Europa und dem Nahen Osten Fortschritte zu erzielen? +Im Grunde gibt es diese Verständigung ja schon. Im Osten wie im Westen möchte der Großteil der Menschen einfach nur ein geregeltes Leben führen. Sie wollen eine Ausbildung, sie wollen sicher zur Arbeit kommen. Es wäre für westliche Regierungen also nicht schwierig, Verbündete in diesen Teilen der Welt zu finden. Aber ich fürchte, wir können derzeit einen Trend zu Extremen beobachten, von allen Seiten. +Die Bürger von Paris haben doch sehr behutsam reagiert und betont, dass sie auch weiterhin nur ihr ganz normales Leben führen wollen: ins Bistro gehen, Musik hören, feiern. +Die Reaktionen und Solidaritätsbekundungen auf den Pariser Straßen waren für mich sehr bewegend. Aber die Eliten scheinen mir in alten Denkmustern gefangen zu sein. Sie sollten begreifen: Die Zeiten, in denen man die Dinge durch diese schiere militärische Gewalt durchsetzen konnte, sind vorbei. Auch die Menschen in Ländern wie Syrien und Irak wissen heute auch, was sie wollen. Man muss sich mit ihnen auseinandersetzen. +Pankaj Mishra (46) ist Autor und Essayist bei englischsprachigen Publikationen wie der New York Times, der New York Review of Books und dem Guardian. Als Sachbuchautor ist er mit "Butter Chicken in Ludhiana" bekannt geworden, einer soziologischen Betrachtung der indischen Provinz. In dem Buch "Aus den Ruinen des Empire" schildert Mishra, wie sich die vom Westen unterworfenen Regionen Asiens intellektuell gegen die Kolonialmächte erhoben. Auf Deutsch sind einige seiner Essays in der Kulturzeitschrift"Lettre International"erschienen. diff --git a/fluter/religion-und-rausch.txt b/fluter/religion-und-rausch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/religionsfreiheit-covid-19.txt b/fluter/religionsfreiheit-covid-19.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6bb0b4743fb90448047cecd0f6c4f7802abf6c54 --- /dev/null +++ b/fluter/religionsfreiheit-covid-19.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +Das Bundesverfassungsgericht hält es momentan für rechtens, Gottesdienste zu verbieten. Es besteht aber auf eine regelmäßige und strengen Prüfung der Verhältnismäßigkeit, da das Verbot einen schwerwiegenden Eingriff in die Glaubensfreiheit darstelle. Vier junge Menschen erzählen, wie sie trotz Kontaktverbot nicht vom Glauben abfallen. +Soraya, 28, Referendarin aus der Nähe von Karlsruhe +Der Islam spielt eine zentrale Rolle in meinem Leben. Ich halte mich an die Essensvorschriften, trinke keinen Alkohol und bete fünfmal täglich. Vor Corona war ich immer mittwochabends beim Tafsir-Kreis meiner Gemeinde, in dem uns jemand den Koran erklärt, und sonntags in einem Intensivkurs. +Wohnzimmerandacht: Sorayas Gebetsteppich +In Anbetracht der Lage finde ich die Kurse per Videokonferenz und Slack ganz praktisch. Ich sehe trotz der Kontaktsperre die Gesichter meiner Glaubensgeschwister, was sehr schön ist, und finde das Lernen zu Hause sogar bequemer. Trotzdem gehört zu meiner Religion echter Kontakt. Das Gebet in der Gemeinschaft ist ganz besonders, weil wir nah beieinander, Körper an Körper, stehen und zu Gott beten. +Jetzt beginnt der Ramadan, und vieles ist unklar.Das gemeinsame Fastenbrechen mit Muslimen und Nichtmuslimen ist ein Erlebnis der Gemeinschaft: gemeinsam vorbereiten, austeilen und essen. Ich habe immer im Hinterkopf, dass die Kontaktbeschränkungen irgendwann zu Ende gehen. Aber es macht mich traurig, dass das dieses Jahr voraussichtlich fehlen wird: in der Gemeinschaft etwas für die Gemeinschaft tun. +Monty, 28, Doktorand aus Berlin +Jüdisch sein ist für mich sehr stark an Gemeinschaft gebunden. Ich mache Gemeindehopping und gehe zu mehreren Gemeinden. In Berlin gibt es so viele Angebote. +Muss sein: Siddur (Gebetbuch), Challe (abgedeckt), Kidduschwein und Kerzen +Mir ist wichtig, dass ich freitags zum Gottesdienst gehe. Dieses Jahr haben mich meine Dissertation und kleinere Krankheiten von dieser Routine abgehalten – schon vor Corona. Dann habe ich stattdessen zu Hause Kerzen angezündet, eine Challe (Hefezopf) besorgt und den Segen über Kerzen, Brot und Wein gesprochen. Das ist das Mindeste, was ich jede Woche möchte, und das funktioniert auch jetzt in Quarantäne. +Die Gemeinschaft ist der Aspekt, der in dieser Krise unerreichbar scheint. Es gibt jetzt viele Lösungen, etwa Hilfsnetzwerke für Menschen in Isolation. Die finde ich wichtig, und sie zeigen, was es heißt, religiös zu sein. Über Videokonferenzen zu beten, mit Leuten rund um den Globus, ist eine schöne Chance. Aber wenn man am Laptop singt, klingt das einfach nicht so schön. So gut die Technik ist, die ja auch Gemeinschaft schaffen kann: Die Zeitunterschiede und das Kratzen sind eigenartig. +Gerade ist das Pessach-Fest zu Ende gegangen. An Pessach steht die Geschichte des jüdischen Auszugs aus Ägypten im Mittelpunkt, der durch Speisen und Erzählungen gemeinsam mit der Familie erlebt wird. Das funktioniert über eine Videokonferenz nicht, aber ich habe andere Aspekte beherzigt, zum Beispiel die Wohnung aufgeräumtund das Gesäuerte aussortiert. +Die aktuellen Maßnahmen greifen stark in unsere persönlichen Rechte ein,ein hoher jüdischer Feiertag wie Pessach lässt einen das auch kritisch hinterfragen. Für mich als Asthmatiker, also Risikogruppe, ist die Pandemie auch emotional anstrengend, und die Gesundheit geht vor. Aber die Einschränkungen müssen maßvoll sein – und die Isolation irgendwann ein Ende finden. +Harpreed, 22, Sonderpädagogik-Studentin aus Hamburg +Ich lebemeine Religionaktiv. Dazu gehören feste Gebete, zum Beispiel morgens, bevor die Sonne aufgeht, oder an den Wochenenden bei meiner Gemeinde im Gurdwara. Der Gurdwara ist das Gotteshaus der Sikhs und wird im Deutschen als "Das Tor zum Guru" übersetzt. +Vom Fach: Kursmaterial und das "Mul Mantar", die ersten Zeilen der heiligen Schrift im Sikhismus +Am 14. April haben wir Khalsa Sajna Diwas gefeiert, die Gründung der Khalsa-Gemeinschaft. Der Tag ist sehr, sehr wichtig, die Gemeinde ist normalerweise überfüllt, und hält besondere Vorträge und Gebete ab. Dieses Jahr war die Stimmung nicht gut, weil wir zu Hause feiern mussten. +Aber Covid-19 bedeutet nicht, dass wir uns als Gemeinde auseinanderleben. Wir treffen uns dreimal die Woche zu einer Videokonferenz, sprechen, beten, meditieren und singen. In meiner Gemeinde sind auch Sikhs aus England, Italien oder anderen Teilen Deutschlands, die ihre Erfahrungen mit der Quarantäne teilen. Auch mein Harmoniumunterricht kann weitergehen: Ich unterrichte das Instrument, weil viele Gebete darauf begleitet werden, und habe schon vor der Pandemie Lernvideos aufYouTubegestellt. Ich nehme jetzt noch mehr Videos auf und schicke die an meine Schüler, damit sie zu Hause üben. +Bis jetzt hat der Glaube auf Distanz ganz gut funktioniert. Aber so wichtig die Isolation für unsere Gesundheit ist: Der Gang in die Gemeinde fehlt mir, dort sind meine Freund. Mit ihnen kann ich auch über WhatsApp sprechen, aber sich gegenüberzusitzen, die Heilige Schrift vor sich zu haben, sich vor ihr zu verneigen – das fehlt mir. +Die anderen Einschränkungen stören mich nicht so. Vielen Sikhs dürfte zum Beispiel egal sein, dass Friseursalons gerade geschlossen sind: Wir schneiden uns nicht die Haare. Alles, was Gott gibt, ist ein Geschenk, das wir annehmen. Und im Alltag trage ich eh einen Turban. +Matthias, 17, Abiturient aus Karlsruhe +Ich fühle mich durch die Beschränkungen nicht eingeschränkt. Durch das Virus, also höhere Gewalt, ist es eben nicht möglich, in den Gottesdienst zu gehen. Ich verstehe, dass manche Leute auf Religionsfreiheit pochen, aber dass Gemeindengeklagt haben, finde ich eher unchristlich. Jeder sollte ein Interesse daran haben, dass die Gemeinde, dass alle Menschen gesund sind.Tote Katholikenbringen uns,mal ganz salopp gesagt, auch nichts. +Matthias betet immer vor dem Einschlafen +Die Osternacht ist normalerweise mein Lieblingsgottesdienst. Das Licht am Abend, die Kerzen, viele Musiker, eine volle Kirche, das ganze Drumherum. Es ist ja auch der höchste Feiertag der katholischen Kirche. Dieses Jahr hat meine Gemeinde St. Rafael den Gottesdienst live auf YouTube gestreamt. +Meine Familie und ich haben den Gottesdienst mitgeschaut und eine Kerze angezündet. Wir saßen auf dem Sofa, haben mitgesungen und gebetet. Ich war überrascht, wie digital meine Gemeinde ist. +Normalerweise geht in der Osternacht immer das Osterlicht durch die Bänke. Mit dem Leitungsteam der Ministranten habe ich initiiert, dass wir den Leuten nach der gestreamten Messe das Licht nach Hause bringen. Viele waren uns sehr dankbar. +Ich finde, so haben wir Ostern dieses Jahr relativ elegant gelöst. Aber noch ein Fest in Isolation brauche ich nicht, da gehen einfach Atmosphäre und Gemeinschaft verloren. Es ist etwas ganz anderes, zu fünft im Wohnzimmer zu sitzen, als mit mehr als hundert Menschen in der Kirche. + diff --git a/fluter/reni-eddo-lodge-interview-rassismus.txt b/fluter/reni-eddo-lodge-interview-rassismus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..13dedd9f6dbf9ad13658bb6fd30a6d5e8cd08fb4 --- /dev/null +++ b/fluter/reni-eddo-lodge-interview-rassismus.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +fluter.de: Kann es sein, dass Sie inzwischen viel mehr mit Weißen über Hautfarbe und Rassismus sprechen als vor Erscheinen Ihres Buchs? +Reni Eddo-Lodge: Das stimmt! Es fühlt sich nicht besonders schlecht oder gut an, es ist halt so. Genau das zu tun, ist jetzt zu meiner Arbeit geworden. Es hat sich noch etwas verändert: Vor 18 Monaten habe ich angefangen, öffentlich über mein Buch zu diskutieren. Ich schreibe über Dinge, die vor der Veröffentlichung stattfanden. Wenn jetzt jemand mit mir über Rassismus diskutieren will, sind das andere Gespräche: Die Menschen wissen schon mehr und auch, was meine Haltung ist. + +Reni Eddo-Lodge: "Warum ich mit Weißen nicht länger über Hautfarbe spreche", Berlin 2019, 263 Seiten +Ihr Buch hat also die Diskussionen über Rassismus verändert? +Es hat Anti-Rassismus zu einem Mainstream-Thema gemacht, das gab es so schon lange nicht mehr. Das finde ich natürlich sehr wichtig. Ich kann bei mir um die Ecke nicht einfach essen gehen, irgendwer erkennt mich meistens und möchte mit mir über das Buch sprechen. Es ist erstaunlich, was für emotionale Reaktionen es hervorruft. Ich beschäftige mich schon so lange mit Antirassismus und er ist für mich ein essentieller Teil meines Lebens. Ich bin wirklich überrascht, wie neu er für viele zu sein scheint. + +Eines der Grundprobleme lautet: Warum begreifen viele Weiße ihr weißes Privileg nicht? +Frag die, die es nicht verstehen! Ich glaube, dass Weiße zu wenig Bewusstsein dafür haben, was es bedeutet, ein weißer Mensch in einer von weißen Menschen dominierten Gesellschaften zu sein. Mein Buch ist nur der Versuch, aufgrund von Daten, Geschichte und Beobachtung verschiedene Erklärungen zu finden. Ich befrage auch eine weiße anti-rassistische Aktivistin. Ihrer Meinung nach haben viele Weiße das Gefühl, sie würden etwas verlieren, wenn sie ihre weißen Privilegien einsehen würden. + +Wann ist Ihnen selbst bewusst geworden, dass Weiß nicht einfach eine Hautfarbe ist, sondern auch eine Machtposition? +Als ich vier war, habe ich meine Mutter gefragt, wann ich weiß werden würde. Denn schließlich waren alle guten Menschen weiß. Und ich war doch ein guter Mensch! Als ich dann später mehr über Rassismus zu lesen begann, erkannte ich die Strukturen und Privilegien der weißen Hautfarbe. Gehört man zu denen, die nicht dazu gehören, spürt und lernt man das mit der Zeit immer mehr. Ich habe mich zum Beispiel von unserem Bildungssystem unterschätzt gefühlt. Eine ehemalige Lehrerin gab mir eine schlechte Note und anderen weißen Personen, die vom Intellekt wirklich genau gleichauf waren, empfahl sie, sich an den Eliteuniversitäten zu bewerben. Inzwischen sitze aber ich hier und spreche über mein erfolgreiches Buch. + +Als ich Ihr Buch las, fühlte ich mich zwischendurch wütend und hilflos. Ich wollte sofort etwas besser machen. Was kann ich tun – oder ist diese Frage auch Teil des Problems? +Ich denke, die Frage ist tatsächlich ein kleiner Teil des Problems. Nach einer Anleitung zu fragen bedeutet, sich ein Stück weit aus der Verantwortung zu nehmen. Man muss selbst die Probleme im eigenen Umfeld erkennen und sehen, worauf man einen Einfluss haben kann. Ich beantworte diese Frage auch deshalb nicht, weil ich niemandem sagen will, wie er oder sie zu leben hat. + +Wie hat der Brexit die Diskussionen über Rassismus in England verändert? +Ich habe das Buch zu einem Zeitpunkt geschrieben, als es noch keine konkreten Brexit-Pläne gab. Aber klar: Rassismus ist auch hier ein Thema. Ich gehe nicht soweit und bezeichne alle Leave-Wähler [pro Brexit] als Rassisten.Ich kenne allerdings die Argumente der Leave-Kampagne, die sind zum Teil sehr rassistisch und fremdenfeindlich. Hier wurde gezielt mit Ängsten gearbeitet. Ich würde aber nicht sagen, dass durch den Brexit der Rassismus angestiegen ist. Den bisherigen Erfolg der Pro-Brexit-Leute darauf zu reduzieren, ist zu einfach gedacht. Aber ich weiß, dass die Leave-Wähler für Leute und Argumente gestimmt haben, die eng verbunden sind mit Personen wie Marine Le Pen vom Rassemblement National in Frankreich. Ich denke, dass Freunde viel über einen Menschen aussagen. + diff --git a/fluter/rennen-und-maul-halten.txt b/fluter/rennen-und-maul-halten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2c8c3ad36af32e4be8938cc1d506ad016e7f7501 --- /dev/null +++ b/fluter/rennen-und-maul-halten.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Das alles war vor Jürgen Klopp. Es müssen finstere Jahre voller Angst und Schrecken gewesen sein. Die Sache ist allerdings: All diese Trainer waren erfolgreich. Und als die Diskussion um den neuen und gutherzigen Trainertypen aufkam, hatte Louis van Gaal, der seinen Spielern zur Veranschaulichung seiner Macht einmal sein sehr großes Gemächt gezeigt hatte, mit den Bayern die Meisterschaft gewonnen und sie ins Pokal- und Champions-League-Finale geführt. +Es stellte sich zudem die Frage: Ist Jürgen Klopp – abgesehen von der Sache mit dem Gemächt – so anders? Lässt er, nur weil er sich nonchalant gibt, im Kollektiv über die Mannschaftsaufstellung entscheiden? Kommt Mats Hummels erst um 17 Uhr zum Training, wenn er am Vorabend zu lange feiern war? Man darf das bezweifeln. +Einen basisdemokratischen Fußball findet man gegenwärtig in kaum einer Profiliga. Dabei hat es in der Fußballgeschichte immer wieder Versuche gegeben, konventionelle Strukturen aufzubrechen. Anfang der 80er Jahre führte der geniale Spielmacher Sócrates unter dem Eindruck der brasilianischen Militärdiktatur bei seinem Club die "Democracia Corinthiana" ein. Fortan tobte bei den Corinthians Paulista kein Alleinherrscher in der Kabine, es diskutierte ein Plenum, denn die Mannschaft entschied alles durch Mehrheitsbeschluss. Die Stimme des dritten Torwarts oder des Zeugwarts hatte genauso viel Gewicht wie die des Sportdirektors oder des Mannschaftskapitäns. Dabei ging es mal um vermeintlich banale Dinge wie die Dauer von Trainingseinheiten, die Aufstellung oder die Zubereitung des Mittagessens, häufiger aber um gesellschaftliche Fragen, etwa warum man politische Standpunkte ins Stadion transportieren sollte oder wie sich die Spieler der in Brasilien üblichen Praxis des "concentração" widersetzen konnten, nach der sie schon Tage vor den Spielen in Hotels einkaserniert wurden, um von äußerlichen Einflüssen abgeschirmt zu werden. +Bis heute ist unbestritten, dass die Corinthians wichtig waren, um die brasilianische Öffentlichkeit gegen den Diktator João Baptista de Oliveira Figueiredo zu mobilisieren. Doch sportlich? Zwar konnte das Team in jener Zeit die Bundesstaatsmeisterschaft gewinnen, die wirklich großen Erfolge feierte der Club aber erst in den Neunzigern, als er dreimal brasilianischer Meister wurde und niemand außer dem Trainer das Sagen hatte. In den vergangenen Jahren formierten sich im Fußball etliche Vereine, deren Gründungen zwar andere Ursachen hatten als die der Corinthians, aber ähnliche Motive. Im Mai 2002 beschloss zum Beispiel der englische Traditionsclub FC Wimbledon, in die Retortenstadt Milton Keynes umzusiedeln. Den Fan Kris Stewart erzürnte die Entscheidung der Cluboberen so sehr, dass er mit anderen Anhängern einen eigenen Verein gründete: den AFC Wimbledon. Um Spieler und Trainer zu gewinnen, führte er Castings durch und ließ alle Entscheidungen im Verein von den Anhängern fällen. +Ähnlich war es beim österreichischen Club Austria Salzburg. Als Red Bull im Jahr 2005 einstieg, machte das Unternehmen aus der Austria eine Art Betriebsmannschaft, tauschte die violettweißen Vereinsfarben gegen Rot-Weiß und änderte den Namen in Red Bull Salzburg. Bei der neu gegründeten Austria übernahm ebenfalls ein Fan von der Basis, Moritz Grobovschek, die Geschicke. Auch er träumte davon, Entscheidungen von unten treffen zu können. +In Mexiko lässt der Drittligist Murciélagos FC die Anhänger über die Aufstellung, Taktik und sogar das Wohl des Trainers abstimmen. Der Initiator Elías Favela sagt dazu: "Die Trainer und die Sportdirektoren sind überbewertet, die wollen uns glauben lassen, dass der Sport komplizierter sei, als er ist." Nur: Wie lange kann man überhaupt ein herrschaftsfreies Idyll in einem kapitalistischen System wie dem Fußball aufrechterhalten? +In Salzburg hat Grobovschek seine Aufgaben schon lange abgegeben. Es sei alles zu sehr wie bei einem normalen Fußballverein geworden, hierarchisch und kommerziell. Selbst das Stadion hat mittlerweile einen Sponsorennamen: Es heißt "MyPhone Austria Stadion". Seit drei Jahren hängt der Verein in der Regionalliga fest. Zumindest der AFC Wimbledon hat eine kleine Erfolgsgeschichte geschrieben: Er kehrte 2011 in die vierte Liga und somit in den Profifußball zurück. +Und ganz oben? Dort bellen die Trainer und Funktionäre heute vielleicht nicht mehr so wie noch vor ein paar Jahren. Manche lassen sich duzen, manche nehmen ihre Spieler in den Arm, und ihr Ego ist nicht mehr so groß wie das der "Sklaventreiber" (Helenio Herrera) oder "Generäle" (Louis van Gaal) von einst. Doch vermutlich gilt am Ende immer noch diese Erkenntnis: "Spieler wollen von Trainern gesagt bekommen, was sie zu tun oder zu lassen haben." Sie stammt von einem Spieler, der sich im Pokalfinale 1973 gegen den Willen seines Trainers selbst einwechselte. Sein Name ist Günter Netzer. diff --git a/fluter/rente-geschiedene-frauen-ddr.txt b/fluter/rente-geschiedene-frauen-ddr.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8424d568e6c19fc6b0b30acfec324e20bd4cfda7 --- /dev/null +++ b/fluter/rente-geschiedene-frauen-ddr.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +In der DDRbrachten Scheidungen Frauen in der Regel nicht in Armut. Auch nicht Frauen wie Margit Wolf. Sie hatte gerade ihr Biologiestudium begonnen, als sie schwanger wurde. Sie brach es ab und kümmerte sich um ihre Tochter. Auch das war in der DDR kein Problem, jedenfalls nicht mit Blick auf die Rente. Über ein System von Zusatzzahlungen wurde Frauen, die sich um ihre Kinder kümmerten, diese Zeit für die Altersversorgung angerechnet. Dafür mussten sie monatlich lediglich einen symbolischen Betrag von drei Mark in die Rentenkasse einzahlen. Hinzu kam: Die Höhe der Rente war bei Frauen vollkommen losgelöst vom Familienstand. Es zählte allein, wie viel Geld sie durchschnittlich in den letzten zwanzig Berufsjahren verdienten. +Wolf machte später ihren Abschluss und fing anschließend in einem Verpackungswerk in Leipzig an. "Ich hatte mir das genau ausgerechnet: Basierend auf meinem Einkommen ab 40 und den Zusatzzahlungen hätte ich eine gute Rente bekommen." Doch dann fiel die Mauer, und im sogenannten Einigungsvertrag wurden auch die Renten neu geregelt – und die Ansprüche von Frauen wie Margit Wolf einfach übersehen. +Man übernahm mehr oder weniger das Modell des Westens. Das Problem: Während in der DDR neun von zehn Frauen arbeiteten, wurde in der Bundesrepublik ein sehr traditionelles Familienmodell gefördert. Kurz gesagt: Der Mann sollte das Geld nach Hause bringen, während sich die Frau um den Haushalt und die Kinder kümmert. Weil sie dadurch nicht selbst ins Rentensystem einzahlte, die Rente sich aber gleichzeitig an allen Berufsjahren bemaß, bekam die Frau im Fall einer Scheidung über den sogenannten Versorgungsausgleich einen Anteil an der Rente des Mannes zugesprochen – je nach Anzahl der Ehejahre. Für Frauen wie Margit Wolf bedeutete die Wende nicht nur, dass sie ihre alten Ansprüche vergessen konnten, sie bekamen auch keinen Versorgungsausgleich: Ihre Rente wurde nicht mehr auf Basis ihres Einkommens im Alter von 40 Jahren errechnet, sondern eben auch auf Basis ihrer zehn Jahre als Hausfrau, und die zählten fast nichts im neuen System. +Dass sie heute halbwegs, wie sie sagt, über die Runden kommt, liegt daran, dass sie nach der Wende und der Schließung ihres Betriebs schnell neue Arbeit fand. Für viele andere Betroffene, in deren Namen Wolf spricht, sieht die Sache anders aus. Etwa die Hälfte der in der DDR geschiedenen Frauen bekommt weniger als 800 Euro Rente. Sie leben damit unterhalb der Armutsgrenze. Schätzungen zufolge müsste der deutsche Staat den in der DDR geschiedenen Frauen nachträglich zwischen 60 und 120 Millionen Euro zahlen. Aber schon jetzt sind viele betroffene Frauen sehr alt, immer mehr versterben. +Mit ihrem Ex-Mann hat Wolf seit Jahren nicht mehr gesprochen. Aber eins weiß sie genau: Seine Rente hat durch die Scheidung nicht gelitten. Dafür hatte man(n) nach der Wende gesorgt. + +Titelbild: Eberhard Klöppel | ZB/picture alliance diff --git a/fluter/repaircafe-konsum-muell-neukoelln.txt b/fluter/repaircafe-konsum-muell-neukoelln.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bdb545d572ba3e3ba12b890f3b63fe3133227254 --- /dev/null +++ b/fluter/repaircafe-konsum-muell-neukoelln.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +"Die Herabsetzung des Alten und Wertvollmachung des Neuen ist vielleicht die zentralste ökonomische Operation überhaupt", hat der Philosoph Boris Groys gesagt, und tatsächlich ist Boenigks Mission angesichts einer konsumfreudigen Gesellschaft und einer Industrie,deren Wachstum auf ständigen Neuanschaffungen gründet, keine leichte. "Ich komme mir vor wie Don Quijote", sagt der 68-Jährige. "Ich sitze falsch rum auf einem Esel, hab eine Stange in der Hand und komm nirgends ran." +Doch die kleinen Erfolgserlebnisse reichen aus, um den Retter von Toastern, Handys und Rasenmähern bei Laune zu halten. Deshalb engagiert er sich in verschiedenen Repaircafés in Berlin – unter anderem zweimal monatlich in einem Kinder- und Jugendzentrum in Berlin-Neukölln. Für Besucher gibt es dort erst einmal einen Kaffee, die Maschine hat Boenigk selbst aus dem Müll gefischt. +Vier ältere Herren haben sich um Boenigks randvollen mobilen Werkzeugkasten versammelt. Sie bohren, löten und schrauben. Einer haut gerade die Halterung eines alten Hammers in Form. Ein anderer läutet eine Glocke – das Zeichen, dass eine Reparatur erfolgreich abgeschlossen wurde. +Die ehrenamtlichen Repaircafé-Techniker beheben – immer gemeinsam mit den jeweiligen Besitzerinnen und Besitzern der Produkte – mechanische Defekte oder einfache Softwareprobleme, und manchmal werden auch gemeinsam kaputte Klamotten geflickt. + +Norbert Boenigk gibt selten auf. Bevor etwas im Abfall landet, wird erst mal gelötet und geschraubt. War die Reparatur erfolgreich, wird eine Glocke geläutet + +Das Konzept der Repaircafés hat sich in den letzten Jahren weltweit verbreitet, vor allem in Europa. Worauf es bei der Gründung solcher Cafés ankommt, beschreibt die niederländische Journalistin Martine Postma, die 2009 das erste Repaircafé in Amsterdam eröffnete, in einem Handbuch. Die Idee: Menschen reparieren gemeinsam bei Kaffee und Kuchen und unter Anleitung ehrenamtlicher Profis ihre Haushaltsgegenstände. Ein Beitrag zum sozialen Kitt im Kiez und zur Reduzierung der Elektroschrottberge, die alljährlich in die Höhe schießen. +Gleich mehrere Faktoren bewirken, dass Geräte immer früher entsorgt werden. Was Norbert Boenigk "das Marketing-Diktat" nennt, führt zu einer vermeintlichen Alterung der Geräte: Schnell ist etwas Besseres mit neuen Features auf dem Markt. Und dann gibt es da noch die ewige Frage, ob es eine geplante "Obsoleszenz" gibt. Das bedeutet, dass Unternehmen ganz bewusst eine kurze Lebensdauer in ihre Produkte einbauen. Eine Studie im Auftrag des Umweltbundesamtes von 2016 hat für diese Annahme keine Belege gefunden. Tüftler Boenigk sieht dennoch Handlungsbedarf: Zwar ließen sich bei Produkten keine Sollbruchstellen nachweisen, aber es kämen Mechanismen und Materialien zum Einsatz, die eine gewisse Zeit gar nicht überdauern könnten. Ist ein Gerät dann defekt, sei die Reparatur oft ähnlich teuer wie eine Neuanschaffung. +Es ist ein Teufelskreis. Dem Konsumenten fehlt das Bewusstsein oder das technische Wissen für eine Reparatur, und viele Teile sind so verbaut, dass ein Austausch kaum möglich ist. Als ein junger Mann vor dem Anhänger des Rollberger Repaircafés stehen bleibt und ein Handy mit kaputtem Display in die Runde zeigt, schütteln die Tüftler den Kopf. Einen Profi, sagt Boenigk, zeichne aus, dass er an der richtigen Stelle sagt: "Diese Tablette gibt es in meiner Apotheke nicht." +Handys und Laptops, erklärt Boenigk, seien mit jeder neuen Generation schwerer instand zu setzen: die Akkus fest eingebaut, die Displays so verklebt, dass sie sich nicht von Halbprofis austauschen lassen. Oft bleibt die Wahl zwischen kostspieliger Profireparatur und ebenfalls teuren Ersatzteilen– oder der Entsorgung. +Laut der Organisation Global E-waste Statistics Partnership (GESP) belief sich der weltweit angesammelte Elektromüll 2019 auf rund 53,6 Millionen Tonnen. 2030 könnte laut der Prognose die Menge bei 74,7 Millionen Tonnen liegen. Nur rund 17,4 Prozent des Elektroschrotts wurden laut GESP 2019 in professionellen Anlagen recycelt, der Rest landete auf Müllhalden oder wurde verbrannt, oftmals in armen Ländern. +Auf dem "informellen" (also nicht staatlich geregelten) Industriesektor des globalen Südens, zu dem auch die Elektroschrott-Bearbeitung gehört, arbeiten laut einem aktuellen Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 18 Millionen Kinder und Jugendliche. Die grausamen Zustände auf einer Müllkippe in Ghana, wo Menschen in Wolken aus giftigen Dämpfen Tag für Tag den Schrott der Industrienationen in Einzelteile zerlegen, waren 2018 in dem Dokumentarfilm "Welcome to Sodom" zu sehen. +Doch bei allem berechtigten Pessimismus: Im Kleinen nimmt das Bewusstsein für Müllvermeidung zu. Fast 900 Projekte wie das Rollberger Repaircafé listet das Netzwerk Reparatur-Initiativen inzwischen deutschlandweit auf. Und auch Norbert Boenigk freut sich über immer mehr Zuspruch und Interesse: über Lehrer und Lehrerinnen, die sich an den Schulen Reparaturkurse wünschen, über das Berliner Technikmuseum, das jetzt ein dauerhaftes Repaircafé einrichten will +Am nächsten Tag ruft Boenigk den jungen Mann mit dem kaputten Handy vom Vortag an. Dass er ihn wegschicken musste, hat ihm keine Ruhe gelassen. Er bittet ihn, zum nächsten Repaircafé zu kommen, dann will er seine Wärmeplatte mitbringen und versuchen, Display und Bildschirm zu lösen. Einen Versuch ist es wert. "Was wir erreichen, ist viel zu wenig. Aber ganz untätig würde ich mich fragen: Hallo, hast du noch alle Tassen im Schrank? Ich will nicht nur reparieren, ich will was anschieben. Und wer weiß, vielleicht ist ja in zwei Jahren aus dem Flattern ein Taifun entstanden." Der Don Quijote im Hawaiihemd gibt seinen Kampf nicht auf. diff --git a/fluter/reparieren-statt-neukaufen.txt b/fluter/reparieren-statt-neukaufen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/reportage-wie-der-is-junge-maenner-anwirbt.txt b/fluter/reportage-wie-der-is-junge-maenner-anwirbt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..96d2e5fd9588fb77caed8397b2b4eb471f85b8bd --- /dev/null +++ b/fluter/reportage-wie-der-is-junge-maenner-anwirbt.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Es gibt Momente, die alles verändern. Die meisten sind nicht laut, sondern so banal wie das Umschalten mithilfe einer Fernbedienung – und trotzdem entscheiden sie über ein ganzes Leben. +Henry wird Mitte der 1990er-Jahre geboren, in Wulensi, einer Kleinstadt im Norden Ghanas. Tagsüber brennt die Sonne. Abends knistert der Ruf des Muezzins zum Gebet aus alten Lautsprechern. Henrys Vater stirbt früh. Seine Mutter verlässt die Kinder. Er wächst bei einem Onkel auf, einem armen Farmer. "Manchmal", sagt Henry, "habe ich drei Tage lang nichts gegessen." So geht es vielen Kindern in Wulensi. Aber Henry ist anders als die meisten. Er ist neugierig, und er will mehr. Schon als Kind sagt er: "Irgendwann steige ich in ein Flugzeug und fliege in ein anderes Land." Als Henry 18 ist, macht er seinen Schulabschluss, den besten seines Jahrgangs. Als Belohnung schenkt ihm sein Lehrer ein Handy. Das ist alles, was Henry hat, ein Handy und einen Traum: Er will studieren. Aber er hat kein Geld. +Dann, ein Jahr nach seinem Schulabschluss, bekommt er eine Nachricht auf Facebook. Ein Mann aus Accra bietet an, für Henrys Studium zu zahlen,wenn dieser seiner Frau im Haushalt helfe.Henry sagt sofort zu. Er denkt: "Jetzt wird sich alles verändern." +Accra und drum herum: fünf Millionen Menschen, 80 Prozent Luftfeuchtigkeit, 24 Stunden Hip-Hop-Dröhnen, Flip-Flop-Flappen, Motorheulen. Stadtstrände und Sushirestaurants, Frauen in bunten Kleidern und Männer mit glänzenden Schuhen. Accra ist so, wie Henry es sich immer vorgestellt hat. Doch sein Leben dort ist es nicht. +Der Mann, für den er arbeitet, besitzt ein Haus am Stadtrand. Jeden Tag kocht Henry für die Familie, kauft ein, putzt. "Auf Knien habe ich die Toiletten geschrubbt", sagt er. "Und mit der Hand Unterwäsche gewaschen." Es dauert ein halbes Jahr, bis Henry versteht: Er wurde betrogen. Niemand wird für sein Studium bezahlen. "Ich war traumatisiert", sagt er. "Ich habe jeden Tag geweint." Zurück nach Wulensi kann er nicht – er hat kein Geld für ein Busticket, und in dem Dorf erwartet ihn nichts. In Accra kennt Henry niemanden – würde er die Familie verlassen, wäre er obdachlos. Also arbeitet er weiter, ohne Bezahlung, wie ein Haussklave. "Niemand wusste, dass es mich gibt", sagt Henry. "Ich war ganz allein." Bis eines Nachts sein Handy aufleuchtet. + +Eine Chatnachricht: "Salam aleikum." Henry tippt zurück: "As-Salam aleikum." "Bist du ein Moslem?", fragt der Unbekannte. "Ja, das bin ich", antwortet Henry. Die Hitze staut sich in seiner Dachkammer. Er schwitzt. Auf dem Handy leuchtet die nächste Nachricht: "Ich liebe dich!" Henry zögert, dann schreibt er: "Ich liebe dich auch, Bruder." Der Fremde sagt, sein Name sei Atib, er komme aus Algerien. "Was machst du?", fragt er Henry. "Bist du Student?" Henry kann sich nicht erinnern, wann sich das letzte Mal jemand für ihn interessiert hat. Also erzählt er alles. Er tippt seine ganze Geschichte ins Handy, schreibt von Wulensi, von den Blasen an seinen Händen, von der Dachkammer, in der er schläft. "Wow", antwortet Atib. Dann fragt er: "Glaubst du, Moslems sollten ihren Brüdern helfen, wenn sie in Not sind?" Henry antwortet: "Natürlich." +Nach dieser Nacht schreiben sich Atib und Henry jeden Tag. Wenn Henry aufwacht, wartet bereits die erste Nachricht: "Guten Morgen, Bruder!" Wenn er ins Bett geht, tippt er selbst: "Gute Nacht, Atib!" Henry ist 20 Jahre alt, aber noch nie hatte er einen Freund. Atib wird innerhalb weniger Monate zum wichtigsten Menschen in seinem Leben. Von Anfang an ist es ihr Glaube, der die beiden zu verbinden scheint, den Mann aus Ghana und den Mann aus Algerien. Und nach und nach wird der Islam zu ihrem einzigen Thema. Atib schickt Henry Predigten, es geht um den "Heiligen Krieg", um Helden, um Gut und Böse. Am Telefon beten die beiden gemeinsam, und Atib sagt: "Du bist nicht allein." Er erzählt Henry, unschuldige Moslems würden ermordet, in Gaza und in Syrien. Irgendwann sagt er: "Ich kämpfe für unsere Sache. Ich bin ein Soldat des Islamischen Staats." +"Das war die Zeit, in der ich radikalisiert wurde", sagt Henry rückblickend. Seit er ein Kind war, betet er fünfmal am Tag. In Wulensi gehörte der Glaube dazu, wie eine Vereinsmitgliedschaft. Es gab das Feld, die Schule und die Moschee. Aber jetzt verändert sich Henrys Glaube. Die Mehrheit der Menschen in Accra sind Christen. Bisher waren sie für ihn andersgläubig, jetzt sieht er sie als Ungläubige. "Wenn ich einkaufen ging, stellte ich mir vor, sie zu töten", sagt Henry. Nachts, in seiner Kammer, träumt er vom Krieg. Er schaut Videos aus Syrien, sieht die Männer des IS Menschen erschießen. "Bum, bum, bum machten die Schüsse aus meinem Handy", sagt er. "Ich hatte Angst, jemand könnte mich hören." Aber niemand beachtet ihn. +Niemand ahnt, dass Henry ein Geheimnis hat. Irgendwann ruft Atib ihn an. Er sagt: "Wir planen etwas Großes. Ich werde mich ein paar Tage nicht melden." Dann legt er auf. Es ist der 20. März 2016. Zwei Tage später sprengen sich in Brüssel drei Selbstmordattentäter des IS in die Luft. 35 Menschen sterben. 340 werden verletzt. +Am Morgen nach den Anschlägen schreibt Atib Henry: "Hast du die News gesehen?" "Ja", tippt Henry. "Das ist es, was wir machen", schreibt Atib. "Das ist unser Krieg." Henry ist nicht erschüttert. "Ich war stolz", sagt er. "Weil diese Männer mir vertraut haben." Als Atib ihn schließlich fragt, ob er nach Syrien kommen will, ist er bereit. "Ja", sagt Henry, "ich will für Allah kämpfen." Atib schickt ihm Geld für ein Busticket von Ghana nach Burkina Faso. Dort soll Henry einen Mittelsmann treffen, der ihn weiterschleust. +Am Tag der Abreise ist Henry nervös. Er hat gepackt, Klamotten und ein Bild von IS-Führer al-Baghdadi. Das Haus ist still, die Klimaanlage summt. Henry sitzt im Wohnzimmer und schaltet den Fernseher ein. "Welcome", sagt eine Stimme, "willkommen bei Iqra TV." Iqra TV sendet eine islamische Talkshow. Der Moderator: Sheik Bagnya, ein in Ghana bekannter Imam. An diesem Tag heißt sein Gast Mutaru Muqthar: ein junger Mann mit einem runden, freundlichen Gesicht. +Muqthar erklärt, wie der Islamische Staat über das Internet Mitglieder rekrutiert. "Sie suchen sich die Schwächsten", sagt er. "Die ohne Geld, ohne Familie, ohne Hoffnung." Sie gäben sich als ihre Freunde aus, verführten sie über Monate und lotsten sie schließlich nach Syrien. Wort für Wort beschreibt er, was Henry passiert ist. Satz für Satz bricht Henry zusammen. Er schreit, sackt zu Boden, während der Fernseher läuft und Muqthar redet. Henry liegt da, zwei Stunden lang, zusammengekrümmt, und weint. Henry nimmt den Bus nicht. Er denkt an Suizid. "Ich dachte, es ist zu Ende", sagt er. Dann nimmt er sein Handy, loggt sich auf Facebook ein und schreibt dem einzigen Menschen, der ihm noch helfen kann: Mutaru Muqthar. "Bitte, Bruder", schreibt Henry, "ich brauche Hilfe." +Muqthar und Henry treffen sich nachts, in einem menschenleeren Park. Noch einmal vertraut Henry einem Wildfremden, noch einmal erzählt er seine Lebensgeschichte. Dieses Mal wird er nicht ausgenutzt. Muqthar nimmt Henry bei sich auf, in seinem Haus. Draußen verkaufen Frauen Früchte, abends trinken Muqthars Freunde Tee auf der Terrasse. An der Wand hängt ein Poster von Obama. "Change" steht darauf. "Wandel". Atib schreibt wieder und ruft an, fast jeden Tag. Aber jetzt sitzt Muqthar neben Henry. Er sagt ihm, was er schreiben soll: Seine Abreise würde sich verzögern, es dauere nur ein bisschen. "Diese Menschen sind gefährlich", sagt Muqthar, "sie dürfen nicht merken, dass du dich von ihnen abwendest." +Muqthar hat in England Terrorismusbekämpfung studiert und in Italien gegen die Mafia gekämpft. Seit ein paar Jahren ist er wieder in seiner Heimat Ghana und hilft radikalisierten Jugendlichen. Über Wochen nimmt er jedes Gespräch auf, das Henry mit Atib führt, und sichert die Chatverläufe. Am Ende bringt er alles zur Polizei. Henry bekommt einen neuen Namen, eine neue Identität. Und: eine Perspektive. Muqthar verschafft ihm einen Studienplatz. Die Studiengebühren für die ersten Semester bezahlt Muqthar. "Dieser Mann", sagt Henry, "hat mir das Leben gerettet." +Inzwischen lebt und studiert Henry in einer Stadt im Norden Ghanas. Niemand hier weiß von seiner Vergangenheit, nicht einmal sein Mitbewohner. "Ich bin glücklich", sagt Henry. "Meistens." Aber Henry hat wieder kein Geld. Er weiß nicht, wie er die nächsten Studiengebühren bezahlen soll. Muqthar will er nicht fragen. "Ich schulde ihm zu viel", sagt Henry. "Es gibt Tage", sagt er, "da bereue ich es, nicht nach Syrien gegangen zu sein." Nicht weil er noch an die Ideologie des IS glaube. Sondern weil er manchmal das Gefühl habe, das sei seine einzige Chance gewesen, "Teil von etwas Großem zu sein". Würde Henry sich noch einmal re­krutieren lassen? "Nein", sagt er. "Diese Menschen sind böse – die bekommen mich nicht wieder." Das sei Allahs Wille. Und: "Meine eigene Entscheidung." + diff --git a/fluter/respekt-gegenueber-polizisten.txt b/fluter/respekt-gegenueber-polizisten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3df9491c07b492a8c4ed6809b3491c9cf65c2831 --- /dev/null +++ b/fluter/respekt-gegenueber-polizisten.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Isabella Harms, blonder Zopf, lila Nagellack, dreht das Autoradio leise. Das Mädchen am Telefon hat der Notruf-Hotline etwas von einer wilden Party in der Nacht erzählt, von Koks und Jungs, die auf sie eingeschlagen hätten. Jetzt ist es Mittwoch, 10.30 Uhr. Die 34-Jährige drückt den Knopf in der Mittelkonsole, Blaulicht und Sirene springen an. +Es muss schnell gehen. Streifenpolizisten stehen oft unter Druck. Auch wenn es in Niedersachsen noch nie so viele Polizisten gab und immer mehr in den Beruf wollen, sind sie zu wenige, sagt Harms: "Wir arbeiten uns den Wolf." Freinehmen dürfe sich im Sommer niemand, denn: "Alle drehen bei der Hitze durch." Die Polizisten seien dann pausenlos im Einsatz. "Wenn du da aufs Klo musst", sagt Harms, "gehste halt in den Wald." +Damit die alleinerziehende Mutter die Miete zahlen kann, arbeitet sie häufig 50 statt 35 Stunden in der Woche. "Wenn meine Kleine nicht da ist", erzählt Harms, "arbeite ich zwölf Tage durch." Das geht, weil sich auch der Papa ab und zu kümmert und ihre Eltern in die Nähe gezogen sind. +Sie rast zwischen ausweichenden Autos hindurch, der Regen spritzt hoch. Harms mag das, gebraucht zu werden. Aber es geht an die Substanz, wenn die Streife nach einer Zwölfstundenschicht auch noch angepöbelt wird. +Harms lenkt mit einer Hand weiter, zieht sich im Fahren Handschuhe über. Dann stoppt sie. Es ist ruhig hier, im Norden Lüneburgs, nah bei der Stadt und doch im Grünen. "Freibier gab's gestern" steht auf einem Schild im Vorgarten eines Backsteinhauses. Beim Haus gegenüber warten drei Polizisten und ein Rettungswagen. Auf der Terrasse parkt ein Sportwagen, an der Hauswand hängt eine Deutschlandflagge. +Der Einsatzleiter verteilt Aufgaben und Pfefferminzdrops. "Krass, ich hab auch ein Bonbon gekriegt", ruft ein bartloser junger Mann, der in nassen Socken im Türrahmen steht und raucht. "Warum denn nicht", antwortet sein Kumpel im Wohnzimmer. "Polizisten sind auch nur Menschen." +Auch nur Menschen? "Für viele sind wir der Staatsfeind Nummer eins", sagt Harms später, "und nur da, um zu schikanieren." In der Freizeit seien die Streifenkollegen froh, ohne Uniform nicht erkannt zu werden. Ihrem Gefühl nach nehmen die brenzligen Situationen zu: "Dass uns wer mit einem Messer begegnet oder sich welche zusammenrotten gegen uns." +Die ganze Nacht waren sie wach: Sechs Jungs, zwei Mädels, sie haben getrunken und weiße Linien geschnupft. Dann ist es eskaliert. Ein Mädchen ist verletzt. Harms soll die Frauen durchsuchen. Sie läuft zum Rettungswagen. Andere Polizisten stellen sich an jeder Hausecke auf, damit niemand abhaut. Für den Stand der Polizei in der Bevölkerung hätten die Krawalle am Rande des G-20-Gipfels in Hamburg 2017 ihr Gutes gehabt, meint Harms: "So schlimm das für die Polizei war, so augenöffnend war es für die Bevölkerung." Damals, als in Hamburg Kleinwagen angezündet wurden, hätten viele erkannt, welchen Gefahren die Beamten ausgesetzt sind – wenn sie gerufen werden, um für Ordnung zu sorgen. Auch zwei ihrer Freundinnen seien im Einsatz gewesen, 56 Stunden in einer 22 Kilogramm schweren Uniform. "Die sind regelrecht verheizt worden." Und die Leute daheim, die von allem nur in der Zeitung gelesen haben? "Die standen für uns Spalier und haben geklatscht", sagt Harms. Auch Monate später liegt Staunen in ihrer Stimme, wenn sie davon erzählt. Dankbarkeit erlebt sie selten. "Ich finde, Deutschland vergisst zu schnell." +Harms klettert in den Rettungswagen. Dort liegt ein dunkelhaariges Mädchen. Mascara läuft ihr als schwarze Tränen über die Wangen, Blut klebt an der Lippe und an den Händen. Sie schnappt nach Luft: "Ihr glaubt mir doch eh nicht." "Ich glaub nicht, dass du lügst", antwortet Harms. Ihre Ruhe überträgt sich auf die 19-Jährige. Die sagt dann doch, wie sie heißt, wann sie geboren ist, pustet ins Röhrchen – 1,8 Promille. Sie berührt Harms an der Schulter. Die Polizistin weicht zurück, bringt etwas Abstand zwischen sich und das Mädchen. Sie weiß nie, wie ihr Gegenüber reagiert. Sophie spricht vom Klappmesser in ihrer Tasche. Als einer der Jungs auf sie losgegangen ist, habe sie ihm gedroht: "Ich stech dich ab." +Harms steigt aus, geht zum Beifahrersitz. Dort sitzt die Freundin der 19-Jährigen. Ihre blonden Haare hat sie für die Nacht zu Locken gedreht. Sie ist aufgekratzt, schon angeschnallt, will ihre Freundin ins Krankenhaus begleiten. Sie hat Sophies Tasche auf dem Schoß und das Messer. Die Polizistin greift danach, reicht es an die Kollegen weiter. +Das Mädchen will nichts sagen. Ihren Namen nicht, ihr Alter nicht, auch nicht, wo sie wohnt. Sie reagiert trotzig. Sagt nur, sie komme aus Russland. "Russland ist groß", antwortet Harms. "Wenn ich sag: ‚Ich komm aus Deutschland', reicht das auch nicht." Die Polizistin wird ungeduldig. "Da müsst ihr euch halt mal dran gewöhnen", pampt das Mädchen zurück, "wir sind auch schon länger da." "Klar, jetzt kommt die Rassismuskeule", erwidert Harms und lacht trocken. Ihre sanfte Art ist in Härte umgeschlagen, sie weiß, hier muss sie durchgreifen. +Der Rettungswagen fährt ohne die Freundin ab. Der Einsatzleiter will die junge Frau mit aufs Revier nehmen. Sie sitzt schon hinten im Streifenwagen, blafft die Polizisten wieder an: "Heute noch?" Mit ihrer frechen Art reizt sie die Beamten. "So ein renitentes Verhalten ist typisch", sagt Harms genervt, als sie wieder am Steuer sitzt, "das erleben wir täglich." Zurück auf der Wache, hängt sie den Autoschlüssel an den Haken, schüttelt allen Kollegen, die vorbeikommen, die Hand. Die Polizisten kennen sich gut, haben Spitznamen füreinander. Sie geben sich den nötigen Halt, wenn sie auf der Straße aggressiv angegangen werden. Nach einem schlimmen Einsatz trinken sie Malzbier auf der Wache und sprechen über das Erlebte. Isabella Harms bedient sich am Obstteller eines Kollegen. "Es klingt kitschig", sagt sie und beißt in den Apfel, "aber wir sind hier eine Familie." diff --git a/fluter/respekt-im-alter.txt b/fluter/respekt-im-alter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a36b50d85a56a8bf68d3f944cffe0fa7c0197ff9 --- /dev/null +++ b/fluter/respekt-im-alter.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Durften Sie als junger Mensch die Autorität der Älteren infrage stellen? +Dafür gab es damals gar keine Gelegenheit. So eine Situation wie heute, dass man alles hinterfragt, gegen alles ist und alles angreift, das gab es in meiner Jugend nicht. Die Frage hat sich gar nicht gestellt. +Blieb da nicht die Achtung vor Ihren Wünschen auf der Strecke? +Ich durfte zum Beispiel keinen eigenen Beruf haben. Mein Vater hat mich in seinem Betrieb, in dem Baumaterial verkauft wurde, gebraucht, und es war gar keine Frage, ob ich da mithelfe. Ich habe im Büro gearbeitet und habe das gar nicht hinterfragt. +Wie war das bei Ihnen mit dem Verhältnis der Geschlechter untereinander? +Unsere Männer waren damals alle im Krieg, und wir waren daheim allein. Nach dem Krieg haben mein Mann und ich zusammengearbeitet. Wir waren selbstständig und hatten unseren Betrieb und den Haushalt in einem Haus. Auch meine Eltern haben, als sie älter wurden, mit uns in dem Haus gewohnt. Und es war ganz klar, dass man sich um die Eltern bis zu ihrem Tod kümmert. Das war selbstverständlich. Heute sieht es in den meisten Familien anders aus. Dafür sorgt der Staat für die Rente und Pflegeplätze. +Sind Sie mit der Politik für ältere Menschen zufrieden? +Insgesamt versucht man schon, uns noch ein gutes Leben zu ermöglichen. Ich habe das Glück, dass ich nach einer Operation, als ich meinen Haushalt nicht mehr allein führen konnte, von meinem Sohn hierhergeholt worden bin. Ich werde sehr gut behandelt: von meinem Sohn, von meiner Schwiegertochter und auch hier im Pflegeheim. Dafür bin ich sehr dankbar. Das ist im Alter ein Geschenk, wenn sich die Kinder so um dich kümmern. +Begegnet man sich hier im Heim auf Augenhöhe? +Bei uns auf jeden Fall. Für andere Heime kann ich nicht sprechen. Ich fühle mich aber aufgefangen und gut betreut. Die meisten Pflegerinnen und Pfleger kommen aus dem Ausland, Deutsche gibt es hier kaum. Aber alle sind sehr lieb und nett und helfen uns. +Wird dem Alter in anderen Kulturen anders begegnet? +Ich bin in Stuttgart geboren und habe 79 Jahre dort gelebt. Gelesen habe ich, dass die Familien zum Beispiel in Afrika ein anderes Zusammengehörigkeitsgefühl besitzen und die Alten immer bei sich haben, weil sie kein Geld haben, sie irgendwo unterzubringen. Ein bisschen wie bei uns früher. Sie haben viel Lebenserfahrung. +Worauf kommt es beim Respekt an? +Man muss Achtung haben vor anderen Menschen, man muss aber nicht alles tun, was andere wollen. Jeder soll so leben, wie er möchte, aber er muss die Grenzen der anderen anerkennen. Es kommt natürlich dabei immer auf den einzelnen Menschen an, wie er erzogen wurde, welchen Beruf er hat, was von ihm verlangt wird. +Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben. diff --git a/fluter/respekt-im-rap.txt b/fluter/respekt-im-rap.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1b6449f6b3cf34de482156d2d5a15d8caacfc1e6 --- /dev/null +++ b/fluter/respekt-im-rap.txt @@ -0,0 +1,13 @@ + +Oft hat die Empörung über solcherlei Grenzverletzung den gegenteiligen Effekt: Junge Menschen hören noch genauer zu, denn plötzlich hat die Musik den Charme des Verbotenen. Außerdem, das betonen Rapper immer wieder, sei das ja eh alles nicht so ernst gemeint: So sei er eben, der Rap. Doch Rap kann auch respektvoll und gleichzeitig erfolgreich sein. +Chefket erschießt in seinen Texten niemanden. Seit über zehn Jahren lebt er in Berlin und setzt sich in seiner Musik auch mit seinem Dasein als Deutschtürke und seinem Fremdheitsgefühl auseinander. Statt über Gewalt, Kriminalität, Drogen und Sex rappt er über Glück und Liebe. "Alles Liebe (Nach dem Ende des Kampfes)" heißt sein aktuelles Album, und Chefket sagt: "Es war klar, dass ich ein Album über Liebe machen muss, weil es kein anderer macht." +Schon vor Jahren hat er sich dafür entschieden, bestimmte Triggerwörter nicht mehr zu benutzen. "Es ist anstrengend, auf Schimpfwörter zu verzichten, aber ich zensiere mich da gern selbst", sagt er und fügt hinzu: "Ich habe irgendwann gelernt, wie man schreibt, und es wäre traurig, wenn ich keine kreative Lösung finden könnte, um solche Wörter zu vermeiden." +Einmal konnte er sogar einen Kollegen überzeugen, das Wort "Spast" aus seinen Lyrics zu streichen und kreativ zu ersetzen. Als Chefket neulich im Hamburger Mojo-Club auftrat, saß da auch ein Mann im Rollstuhl – "mit Schläuchen und allem. Ich hätte mich geschämt, wenn ich ihm dann ‚Spast' oder ‚behindert' als Beleidigung entgegengerappt hätte". +So weit wie Chefket sind nicht alle Rapper. Der Soziologe Dr. Martin Seeliger von der Universität Flensburg, der schon mehrere Bücher über Deutschrap herausgegeben hat, sieht in dem Genre zwei Ebenen von Respekt, die die rohe Sprache erklären. Zum einen würden Rapper mit allen Mitteln Respekt für ihren eigenen unangepassten Lebensentwurf einfordern, zum anderen wollen sie Respekt innerhalb ihrer Szene. Und den bekam eben lange Zeit derjenige, der sich am krassesten gibt. Der Frauen diskriminiert, Schwächere verhöhnt und den harten Mann markiert. +Seeliger erklärt sich die Verrohung der Sprache und die immer krasseren Beschimpfungen mit dem Wettbewerb in der Szene. "Da musste immer einer draufgesetzt werden. Das hat auch damit zu tun, dass Rap eine sehr männlich geprägte Kultur ist und außerdem Ausdrucksformen aus dem Umfeld der Rapper direkt in die Texte einfließen." +Tatsächlich ist es ja erstaunlich, dassin Zeiten der #MeToo- Debatteim Rap hemmungslos Frauen zu Sexobjekten degradiert werden – in Texten und Videos. Auch hier widerspricht Chefket dem Klischee und ging sogar mit einer Frauenband auf Tour. "Die Musikerinnen haben mir gesagt, dass sie nur deswegen mit mir Musik machen können, weil meine Texte das hergeben", sagt er. +Als die Diskussion um dieHolocaust- Opfer verhöhnenden Zeilenvon Farid Bang und Kollegah so richtig Fahrt aufnahm, stellte sich Chefket allerdings auf deren Seite. "Farid Bang ist ein rappender Serdar Somuncu. Und der meint, jeder hat das Recht, zu diskriminieren. Natürlich ist vieles geschmacklos. Es geht in unserem Genre auch darum, zu schockieren. Unter Rappern und deren Fans weiß man, um was es geht." +Tatsächlich verhält sich die Rapszene bei Kritik von außen auch nicht anders als andere Gemeinschaften – man hält zusammen. Gerade wenn sich bürgerliche Medien plötzlich mit Rap beschäftigen und Kritik üben, führt das selbst bei kritischen Rappern zu Abwehrreflexen. Lieber Farid Bang recht geben als der "Bild"-Zeitung. + +Dennoch hat sich in den letzten zwei Jahren was getan. Der Straßenrapper Massiv, der auch als Schauspieler in derSerie "4 Blocks"mitspielt, verzichtet in seinen Texten mittlerweile vollständig auf Schimpfwörter. Jüngere Straßenrapper wie Ufo361 oder Nimo nutzen in ihrer Musik zwar noch immer Beleidigungen als Stilmittel, doch es geht nicht mehr primär um die Herabsetzung eines fiktiven oder realen Gegners. +"Was du bei uns übrigens auch niemals sehen wirst: objektifizierte Frauen. Diese fast nackten Frauen in vielen Rapvideos, was transportieren die denn bitte für ein Frauenbild?", fragt auch Hasan.K. Er ist damit wohl der erste Gangsterrapper, der eine solche Haltung auch öffentlich äußert. Die große Respektlosigkeit bringt innerhalb der Szene immer weniger Respekt. diff --git a/fluter/respekt-vor-lehrern.txt b/fluter/respekt-vor-lehrern.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b10578f016985a20bae36892fcc90f48557956d5 --- /dev/null +++ b/fluter/respekt-vor-lehrern.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Das A und O ist, eine Beziehung zu den Schülern aufzubauen und ihnen zu zeigen, dass man sie erst nimmt, ein offenes Ohr hat und sie mag. Alle Schüler wollen ja gemocht werden. Und wenn man Vertrauen zueinander hat, klappt Lernen einfach besser. Je älter meine Schüler wurden, umso unproblematischer wurden sie. Natürlich werde ich als junge Lehrerin manchmal sexualisiert, weil es eine Rolle spielt, wie ich aussehe, wie ich mich kleide. Da habe ich schon ein paar Respektlosigkeiten erlebt. Aber ich lasse das gar nicht an mich heran. Ich zwinkere zurück und sage: "Lass das bitte beim nächsten Mal sein! Du weißt, ich bin eine Lehrperson." Wenn das zwei-, dreimal passiert, werden die Eltern angerufen, und es gibt einen Tadel. Hört sich doof an, aber die klassischen Mittel funktionieren leider, weil viele unserer Schüler das Prinzip der Strafe verinnerlicht haben. Klare Grenzen sind deshalb wichtig. Wenn du immer nur drohst, aber nichts passiert, dann wirst du nicht ernst genommen. Ich muss manchmal auch laut werden. Entscheidend ist es, konstruktiv zu bleiben. +Früher hatte ich Angst, von den Eltern nicht akzeptiert zu werden. Aber nur einmal wollte mir ein Vater nach dem Elternabend nicht die Hand geben. Ich habe viel stärkere Abneigung erwartet und war verwundert, dass die Eltern mich als Autorität anerkennen und wertschätzen. Allerdings kann sich kaum eine Mutter adäquat mit mir unterhalten. Weil viele – im Gegensatz zu den Männern – sehr schlechtes Deutsch sprechen. Dann müssen oft die Kinder übersetzen, was schwierig ist, wenn es um sie geht. Meistens ist der Sozialarbeiter der Schule bei den Gesprächen dabei. +Ich lebe schon sehr für meinen Job. Das ist für mich die Voraussetzung, um ein gutes Auskommen mit den Schülern zu erreichen. Der Job ist nicht einfach, und man stößt auch an seine psychischen und körperlichen Grenzen, aber ich bin sehr gern Lehrerin. Es ist halt nicht nur ein Bildungs-, sondern auch ein Erziehungsauftrag. + diff --git a/fluter/respekt.txt b/fluter/respekt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4bb46602265deb572c774957a2a6661e3e3c8cca --- /dev/null +++ b/fluter/respekt.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Vor zweieinhalb Jahren kam die Familie Albaghdadi aus der syrischen Millio-nenstadt Damaskus nach Gars am Inn in Oberbayern. 3.800 Einwohner und damals 35 Flüchtlinge. Als sie in den Bahnhof der Kleinstadt hineinfuhren, spürten sie schon, wie sehr ihnen vieles fehlen würde – und sie ahnten noch wenig von dem, was kommen sollte. Aber heute scheint es, als hätten sie nach der Flucht auch das Ankommen geschafft. Während Ahmad vom Fasching erzählt, formt er Falafel – die typisch arabischen Bällchen aus pürierten Kichererbsen, die frittiert in eine Brottasche kommen. Seit November 2015 betreiben die Albaghdadis nämlich ihren eigenen Imbiss – einen kleinen weißen Wagen mitten im Ort gegenüber vom Rathaus und der Sparkasse. In den Auslagen türmen sich Tomaten- und Gurkenscheiben, auf den kleinen Werbe-flyern, die auf der Theke liegen, steht: "Langjährige Familientradition aus Damaskus". +In Syriens Hauptstadt hatten die Albaghdadis mehrere Lokale, vier Falafel-Imbisse, ein Restaurant mit traditioneller arabischer Küche und einen Laden, in dem es Obst und Säfte gab. Die Geschäfte gingen recht gut, doch dann kam der Krieg. +Ahmad spricht leise und deutlich, sein Deutsch ist schon fast perfekt. Sechs Semester hat er in Damaskus Pharmazie studiert, er ist der Erste in der Familie, der es auf die Uni schaffte. Nun soll es in München weitergehen. Die meiste Zeit lebt er schon jetzt dort, momentan bereitet er sich auf die Prüfung für den Hochschulzugang vor. Im Imbiss hilft er daher nur noch aus, wenn besonders viel los ist. +Am Imbiss gibt's auch mal eine Kostprobe +Mohamad, der älteste Sohn, ist jeden Tag da. Er fängt schon morgens um halb sechs an, um Fladenbrot zu backen. Später kommt sein Vater dazu, der den Passanten bereits von Weitem ein fröhliches "Servus" zuruft. Gars am Inn hat ein Gymnasium, eine Klosterkirche, ein Bierstüberl und einen Italiener. Nun hat es also auch einen Syrer. Wo früher mal eine Würstelbude stand, gibt es nun arabisches und türkisches Essen, Falafel, Döner und Schawarma. Mit Granatapfelsoße, Spezialrezept, genau dosiert. Seit einem guten Jahr sind alle sieben Albaghdadis als Flüchtlinge anerkannt. Sie hätten woanders hinziehen können, stattdessen sind sie geblieben. Die Tochter Layan geht in Gars auf die Schule, die Mutter hat Freundinnen gefunden, vor allem aber, sagt Ahmad, sei vieles auf dem Land leichter als in der Stadt. Man knüpfe schneller persönliche Kontakte, lerne schneller Menschen kennen. Menschen wie Annette Hugel-Seberich, ohne die die Albaghdadis sehr wahrscheinlich gar keinen Imbiss hätten. + +Hugel-Seberich ist Ende 50, sie trägt halblange, blonde Haare, einen feinen Lidstrich unter den Augen und die Fingernägel akkurat lackiert. Sie hat Sozialpädagogik studiert, Kindertagesstätten geleitet, mit schwer erziehbaren Kindern und in der Jugendpsychiatrie gearbeitet. Helfen, jemanden unterstützen, zeigen, wie man sein Leben selbst in die Hand nimmt – das ist genau ihre Sache. Dass der Krieg in Syrien bald vorbei ist, glaubt sie nicht. Und genau deswegen ist sie überzeugt, dass man die Flüchtlinge von dort hier nicht einfach nur warten lassen kann. + +Venturecapital: Annette Hugel-Seberich hat sich selbst Geld von der Bank geliehen, um es dann den Albaghadis zu geben +Auch für die Albaghdadis gab es am Anfang nichts zu tun: keine Arbeit und Deutschkurse nur für die Jüngeren. Die Eltern lernten die Sprache von freiwilligen Helfern, lange nicht so gut wie die Kinder. Die Sehnsucht nach einer Aufgabe wurde immer größer. Dass sie wieder in der Gastronomie arbeiten wollten, war allen klar, am liebsten im eigenen Betrieb. Dass das schwierig werden würde, auch. Irgendwann stieß Ahmad dann im Internet auf einen Imbisswagen, der zum Verkauf stand. Doch ihre Ersparnisse waren nach der Flucht aufgebraucht, und es schien aussichtslos, einen Kredit zu bekommen. Deutsche Freunde telefonierten mit Banken, ohne Erfolg. Dass Flüchtlinge sich selbstständig machen, war anscheinend nicht wirklich erwartet worden.Annette Hugel-Seberich hatte die Albaghdadis über ihre Tochter kennengelernt. Die ist Kindergärtnerin, eine der Töchter war in ihrer Gruppe. Man freundete sich an, fuhr zusammen nach München aufs Oktoberfest und an den Starnberger See, wo Hugel-Seberich in einem umgebauten Bauernhof wohnt. +Schließlich machte sie den Albaghdadis einen Vorschlag: "Ihr baut wirklich etwas Eigenes auf – zur Not eben mit meinem Geld." Dann beantragte sie einen Kredit über 16.000 Euro und lieh sie der Familie. +Gemeinsam stellte man einen Businessplan auf, informierte sich im Jobcenter, bei der Handelskammer. "Die meinten, wir sollten erst mal Deutsch lernen und dann erst arbeiten", sagt Ahmad. Doch die Albaghdadis hatten keine Zweifel an ihrem Vorhaben. Mohamad und Ahmad machten den Führerschein, eine befreundete Grafikdesignerin gestaltete kostenlos die Flyer. Und schließlich stand er da: der Imbiss, den sie "Habibi" nannten, Liebling. Albaghdadi hätte zu sehr nach Abu Bakr al-Baghdadi geklungen, dem Führer der Terrororganisation IS. +Das schmeckt auch der lokalen Bevölkerung +"Ohne Hilfe geht es doch nicht", sagt Hugel-Seberich, auch wenn es der syrischen Familie nicht immer leichtfalle, sie anzunehmen. "Yahya Albaghdadi war mal ein Chef, hatte alles im Griff und hat so viel zurückgelassen." Hat sie keine Angst um ihr Geld? "Ich kenne die Familie so gut mittlerweile, dass ich weiß: Ich kriege das zurück. Das ist Ehrensache." Die ersten Raten seien sogar schon eingegangen. Am besten wäre es, wenn die freiwillige Hilfe so liefe wie bei ihr, nur eben ein wenig koordinierter. So eine Art Pate für jeden Flüchtling, das ist ihre Idee. Es gibt Menschen, die nicht verstehen, warum sie für die Fremden sogar Schulden machte. "Wir sind maßgeblich daran beteiligt, wie es in Krisenländern zugeht, und wir haben doch wirklich genug, unsere Wohnungen, unser Essen, unsere Autos, unsere Urlaube", sagt sie. Wenn es klappen solle mit der Integration, dann müssten sich eben alle ein bisschen öffnen. +Der Imbisswagen ist ein Anfang. Vielleicht reiche es irgendwann für ein richtiges Lokal, sagt Yahya Albaghdadi, inschallah, so Gott will. Wenn man die Familie fragt, wie Integration gelingen kann, müssen alle eine Weile überlegen. Dann sagt Yahya: "Die Garser respektieren unsere Kultur und wir ihre, von Anfang an." +Bislang war es für die meisten Flüchtlinge schwer, überhaupt ein Konto zu eröffnen – nun sollen sie ein 
Recht darauf bekommen. Bis Herbst soll eine EU-Richtlinie zum "Basiskonto" in deutsches Recht umgesetzt werden. Doch so etwas wie ein Recht auf Kredit gibt es nicht. Da die Menschen nach der Flucht meist keine Sicherheiten bieten können, haben sie bei normalen Banken schlechte Chancen. Ein neues Programm könnte ihnen Zugang zu Darlehen gewähren: Eine Stiftung 
der staatlichen Förderbank KfW gewährt seit Kurzem rund ein Dutzend Stipendien für die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt. +Um Flüchtlinge und Firmen zusammenzubringen, fördert das Wirtschaftsministerium sogenannte Willkommenslotsen. Sie sollen 
besonders kleinen und mittelständischen Unternehmen helfen, unter den Geflohenen geeignete Bewerber für Ausbildungsplätze und Stellen zu finden. Selbstständigkeit und Existenzgründung werden jedoch erst langsam als Optionen für anerkannte Flüchtlinge diskutiert. Und solange der Asylantrag noch läuft, kann sich kein Flüchtling selbstständig machen. diff --git a/fluter/restitution-savoy-afrikas-kampf-kunst.txt b/fluter/restitution-savoy-afrikas-kampf-kunst.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b20fcf7c541461b29d8f7e7501fc06f486c268cc --- /dev/null +++ b/fluter/restitution-savoy-afrikas-kampf-kunst.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +"Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage" (256 Seiten, 24 Euro) von Bénédicte Savoy ist bei C. H. Beck erschienen. +Schätzungsweise 90 Prozent der afrikanischen Kunstwerke sollen sich außerhalb Afrikas befinden. Den Bronzekopf der Idia entwendeten britische Soldaten 1897 während einer brutalen "Strafexpedition" aus dem Königspalast von Benin-Stadt. Wenig später kam der Kopf über den Kunstmarkt nach Berlin, inzwischen gehört er der staatlichen Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK). +Eine viel gehörte Stimme in der Debatte ist die der französischen Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy. "Ich will wissen, wie viel Blut von einem Kunstwerk tropft", erklärte sie 2017, als sie aus Protest den Expertenbeirat des umstrittenen Berliner Humboldt Forums verließ, das dieses Jahr eröffnen soll und noch bis vor kurzem plante, zahlreiche Benin-Bronzen auszustellen. Zuvor hatte Savoy als Beraterin des französischen Präsidenten Emmanuel Macron dafür plädiert, Objekte im Zweifelsfall zurückzugeben. Doch manchen ist dieser Grundsatz zu pauschal. "Man soll nicht immer so tun, als wäre alles zusammengeklaut", kritisierte etwa SPK-Präsident Hermann Parzinger. +Savoys neues Buch "Afrikas Kampf um seine Kunst" hält sich mit Polemik eher zurück. Es dokumentiert mit großer Beharrlichkeit die kaum bekannte erste Welle der Restitutionsdebatte. Die hatte ihren Höhepunkt um 1980, ebbte aber bald ab, nachdem Forderungen aus Afrika an der "Sperrmauer westlicher Institutionen" abgeprallt waren. +Hinter den Schreibtischen der alten Bundesrepublik saßen dabei nicht selten ehemalige NSDAP-Mitglieder. Wie Hans-Georg Wormit, der die Stiftung Preußischer Kulturbesitz leitete, die die zweitgrößte Sammlung von Bronzen und anderen Benin-Artefakten weltweit besitzt. Als 1972 das erst zwölf Jahre vorher unabhängig gewordene Nigeria darum bat, ihm einige der geraubten Benin-Bronzen auszuleihen, schrieb Wormit, Nigeria habe keinerlei "moralischen Anspruch" auf sie, "die Erwerbungen der Berliner Museen sind von jedem Makel frei". +Ein beliebtes Argument gegen Restitutionen lautete, sie würden zu völlig entleerten europäischen Museen führen. Savoy zeigt, dass es bei Rückgabegesuchen aber meist um wenige Objekte ging. Die Reaktionen vieler Museen und Wissenschaftler waren in ihren Augen herablassend. Der 2009 verstorbene Ethnologe Friedrich Kußmaul, seinerzeit einer der schärfsten Restitutionsgegner, erklärte zum Beispiel, es gebe "in Kreisen afrikanischer Intelligenz ein manchmal übersteigertes Gefühl eigener Würde, Leistung, Tradition und Zusammengehörigkeit". Die Bundesrepublik solle sich hüten, "ein schlechtes Gewissen zu präsentieren und zu dokumentieren". +Diese Haltung wirkt bis heute nach. Mangels Listen wissen die Museen teils selbst nicht genau, unter welchen Umständen Objekte in ihre Depots gelangt sind – und ob sie aus fraglichen oder gewaltsamen Kontexten stammen. Savoys Recherchen zufolge war diese Vernebelung zum Teil gewollt. Ein vertrauliches Papier westdeutscher Museumsexperten warnte 1978 ausdrücklich davor, Objektverzeichnisse zu erstellen, denn so "würden Begehrlichkeiten erst recht geweckt". Und überhaupt: Voraussetzung für Rückgaben sei, "daß in den betreffenden Ländern nachgewiesenermaßen wirklich nichts mehr an Kulturgut ist. Sehr oft haben sie nämlich sehr viel, wissen es aber nicht". +Mittlerweile ist zumindest der offizielle Ton ein anderer. Der Deutsche Museumsbund hat jüngst einen Leitfaden für den "Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten" herausgegeben, in dem neben Rückgaben auch die Möglichkeit eines "gemeinsamen Sorgerechts" genannt wird. Am 22. März stellte Hartmut Dorgerloh, der Intendant des Humboldt Forums,in einem Pressegesprächaußerdem eine kleine Sensation in Aussicht: Er erwarte, dass bis September über die Restitution der Berliner Bronzen entschieden werde. Vonseiten der SPK, deren Stiftungsrat die Entscheidung trifft, hieß es, man führe derzeit "aktive Gespräche mit den zuständigen Akteuren in Nigeria". Bedenkt man den öffentlichen Druck, der maßgeblich auch von Savoy ausgeht, ist gut vorstellbar, dass wenigstens ein Teil der Objekte dorthin gehen wird. +Wie die Zukunft der Idia aussieht – ob sie etwa als nigerianische Leihgabe in Berlin bleibt oder aber eine mahnende museale Leerstelle hinterlässt –, ist also offen. Genauso wie der künftige Umgang mit Benin-Bronzen, die sich in Hamburg, München, Leipzig oder Stuttgart befinden. Es wird auch an der jungen Generation liegen, zu verhindern, dass die Debatte ein zweites Mal verstummt. Sie ist, wohl oder übel, deutsches Kulturerbe. + diff --git a/fluter/retoure.txt b/fluter/retoure.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..48e30c269a8fe61926892245773bdb4c1ca70c54 --- /dev/null +++ b/fluter/retoure.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +315 Millionen Pakete. Würde man sie aneinanderstellen, käme man damit bei einer angenommenen Kantenlänge von 40 Zentimetern dreimal um die Erde. Stapelte man sie in die Höhe, könnte man an ihnen locker bis zur Internationalen Raumstation hochklettern und noch weit darüber hinaus, nicht ganz hinauf bis zum Mond, aber ein Drittel der Strecke würde man schaffen – allein mit dem Jahresretourenaufkommen aus Deutschland. +Was wir zurücksenden? +Von 100 auf Rechnung bestellten Büchern laut den Bamberger Forschenden im Schnitt etwa sechs. +Von 100 Fernsehern, Tablets, Konsolen und weiteren Produkten aus der Unterhaltungselektronik etwa 14. +Von 100 Hosen, Pullis, Kleidern und anderen Fashionartikeln im Schnitt sogar 46.Manchmal mehr, bei Schuhen gehen bei Einbeziehung aller Zahlungsarten sogar etwa 70 von 100 Paaren zurück. +Dabei hält sich unser Abschiedsschmerz in Grenzen. Nur manchmal meldet sich doch der Gedanke an die Umwelt,die Konsumscham, das schlechte Gewissen, dass die Bequemlichkeit des Onlinehandels für andere eher unbequem ist.Die Umweltschutzorganisation Greenpeace hatte 2019 einen Mitarbeiter in ein Amazon-Logistikzentrum in Winsen eingeschleust, der dokumentieren konnte, dass Neuware auf dem Müll landete. Daraufhin wurde das Kreislaufwirtschaftsgesetz geändert, sodass Neuwaren und Retouren nicht mehr einfach vernichtet werden dürfen. +Die Händler betonen, dass die Verschrottung die Ausnahme sei, die Ultima Ratio. Aber was passiert dann mit all der zurückgeschickten Ware? +Gut möglich, dass sie zum Beispiel in einem der Hermes-Logistikzentren landet: Kleinvolumige Retouren wie Kleidung bringen die Laster nach Polen oder Tschechien, große und schwere Fracht über 31,5 Kilo nach Löhne in Ostwestfalen, Großvolumiges unter 31,5 Kilo kommt bei Jörg Reichenbach an, dem Betriebsleiter des Zentrums im thüringischen Ohrdruf, das knapp 10.000 Einwohner zählt. Ende des Jahres macht sich Herr Reichenbach bereit für die große Rückreisewelle, die er zu Beginn des neuen Jahres erwartet. Er stockt das Personal im Retourenmanagement auf, von gut 140 auf 200. 40 Laster kommen zur Hochphase täglich nach Ohrdruf. 40 Wechsellaufbaubrücken voller Ware, so nennt ein Logistiker wie Reichenbach die containerähnlichen Ladungsträger, die der Lkw auf seinem Rücken transportiert. Pro Wechsellaufbaubrücke 500 bis 600 platzoptimiert gestapelte Pakete, die ein Mitarbeiter nun Stück für Stück im Rückwärtstetris aufs Förderband legt. Das Förderband bringt sie ins Obergeschoss des Ohrdrufer Logistikzentrums, zu den Kolleginnen und Kollegen an den 60 sogenannten Beurteilungsplätzen. +Handscanner über den Rücksendeschein, auf dem Bildschirm erscheinen die Kenndaten. +Kundenname: Sagen wir mal Lieschen Müller. +Produkt: Flachbildfernseher, 55 Zoll. +Retourgrund: Auswahlbestellung. +Auswahlbestellung, ein Klassiker. Reichenbach beobachtet, dass die Menschen längst nicht mehr nur ihre Füße daheim verschiedene gelieferte Schuhmodelle anprobieren lassen – sondern auch ihre Wohnzimmer Großgeräte. Einfach mal vier Fernseher bestellt, Bildschirmdiagonale je 1,39 Meter, einer bleibt, drei gehen zurück. "Kommt nicht oft vor", sagt Reichenbach. "Aber diese Auswüchse gibt es." Er könne sich da nur wundern. +Wundern kann er sich auch über Kunden, die die Retoure als bequeme Möglichkeit zur Elektroschrottentsorgung mit Geld-zurück-Garantie missbrauchen. Einmal packten die Mitarbeiter an den Beurteilungsplätzen einen alten Röhrenfernseher aus, obwohl der Kunde eigentlich den neuen Flachbildfernseher reklamieren wollte. (Geld bekam er selbstverständlich nicht zurück.) +Was nicht funktioniert, aber funktionstüchtig gemacht werden kann, landet in der Werkstatt. 25 bis 30 Leute arbeiten dort normalerweise, jetzt zur Hochphase sind es 30 bis 40 Techniker. Bei einer Bestellung, sagt Reichenbach, werden erst die Retouren verschickt, dann die Neuware. Verschrottet würden nur die Totalschäden. +Die Forschungsgruppe Retourenmanagement der Uni Bamberg schätzt: Von 100 zurückgeschickten Artikeln werden am Ende knapp vier vernichtet. Ein großer Teil könne wie Neuware wieder in den Verkauf gebracht werden. Vor allem Kleidung: Von 100 zurückgeschickten Artikeln sind es laut einer Studie des Handelsforschungsinstituts EHI 82. Bei Elektronik, Einrichtungsgegenständen und Nahrungsmitteln ist die Quote dagegen eher niedrig. Diese B-Ware schicken selbst die Logistikzentren weiter. +Zum Beispiel an einen wie ihn: Ralf Hastedt, Chef der Firma Avides in Hemsbünde bei Bremen, nach eigenen Angaben einer der größten Retourenaufkäufer Europas. +Die Rückreisewelle nach Weihnachten, auf die man sich im Hermes-Zentrum einstellt, erreicht ihn mit etwas Verspätung. Januar, Februar. Das sind so die Monate, in denen die Bugwelle des Retournierten bei ihm aufbrandet, dann wird er überschwemmt mit all der Ware, die der Kunde nicht will, die der Händler nicht will und aus der Hastedt sein Geschäft zu machen versucht. +Ihm ist in den letzten 20 Jahren schon alles untergekommen. Da hing mal Fleisch in einem Drucker, warum auch immer. Da lag mal eine tote Katze in der Trommel einer Waschmaschine, wie auch immer das arme Tier da hingeraten ist. Einmal hatte ein Kunde ihn sogar mit Pasta betrügen wollen. Hastedt hatte in großem Stil Packungen mit Lego-Steinen aufgekauft – nur waren in manchen trockene Nudeln drin. Merkt man nicht, klingt beim Schütteln genauso. "Und sogar das Füllgewicht hat gestimmt", sagt Hastedt. +Für zwei Millionen Artikel im Jahr sucht er eine neue Heimat. Und oft eine, die möglichst weit weg ist. +Viele Hersteller möchten nicht, dass die B-Ware in Deutschland auf den Markt kommt. "Kann ich verstehen", sagt Hastedt. "Die wollen sich ihre Marke nicht kaputt machen." Die Kunden seien an ein Premiumprodukt gewöhnt, da sollen sie dann nicht irgendwo in einem Onlineshop an eine verschrammte Version geraten. "Gerade bei Elektronik sind die Hersteller da sehr empfindlich." +Hastedt löst das Problem. Er schickt die Dinge dahin, wo sie dem Image nicht in die Quere kommen, nach Rumänien, nach Kasachstan, manchmal bis nach Dubai. Da freut man sich über einen zurückgeschickten Markenfernseher, bei dem die Fernbedienung fehlte, die Hastedt einfach durch eine Universalfernbedienung ausgetauscht hat. +Nur einmal ist es schiefgegangen. Hastedt hatte aussortierte Schuhe aufgekauft und einen Geschäftspartner gefunden, der sie außerhalb der EU auf den Markt bringen sollte. So hatten sie es im Vertrag vereinbart. Leider hielt der Geschäftspartner sich nicht dran. +Eines Tages nämlich bekam Hastedt eine Nachricht vom Hersteller. Warum der Schuh plötzlich wieder in Deutschland verkauft wird? Ein paar Tausend Stück waren in den Regalen einer Bekleidungskette aufgetaucht. Offenbar hatte der Hersteller am Barcode gemerkt, dass dieser Schuh an diesem Ort nicht über die Ladentheke gehen sollte. Nicht Hastedts Schuld, aber ärgerlich. +Was wir wegschicken, wollen wir nicht mehr wiedersehen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Manchmal achten auch die Hersteller sehr genau darauf, dass das wirklich so bleibt. + diff --git a/fluter/rette-mich.txt b/fluter/rette-mich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..eb27ee90dfd33fc0f9bf7cb2700d65877f410185 --- /dev/null +++ b/fluter/rette-mich.txt @@ -0,0 +1,33 @@ +Als Tom die Nachricht liest, lebt er gerade in einer 4er-WG. Sein Zimmer ist geschmückt mit Mitbringseln: Muscheln aus Panama, eine Holzmaske aus Südafrika, Fotos aus Costa Rica, wo seine Freundin an einer deutschen Schule lehrte. Er spielt Handball und kellnert in einer Bar, am Wochenende kocht er mit Freunden indisches Curry. +Zur gleichen Zeit sind am anderen Ende der Welt Millionen Syrer auf der Flucht. Mehr als 70.000 sind schon gestorben. Tom weiß das, er sieht es in der "Tagesschau", liest es in Online-Zeitungen. Dann denkt er an Syrien: an Daraa, wo die Revolution begann und wo Nabils Familie lebt. An Aleppo, das einmal wunderschön war und dessen Fluss nun Leichen anschwemmt. Aber Tom ist auch mit seinem eigenen Leben beschäftigt: Er muss Prüfungen bestehen und Geld verdienen. Von den Artikeln über Syrien bleibt eine flüchtige Beklemmung, aber in Wahrheit ist das Elend weit weg. Bis zu jenem Dienstag im Mai. Als er Nabils Nachricht liest, ist Toms erster Gedanke: Bin ich stark genug? Will ich diese Verantwortung tragen? Und einen Moment später, sagt Tom heute, habe er gewusst: "Ich muss. Ich kann ein Leben retten." +Tom Scheunemann, 14. Mai 2013 um 12:24: "Hi Nabil. Mir geht es gut ... hab viel zu tun. Ich muss im Moment viel lernen. Natürlich werde ich alles tun, was ich kann, um dich hierher zu bringen. Ich muss mich ein bisschen informieren: Wie so ein Brief aussieht, was du brauchst. Ich melde mich wieder, wenn ich mehr Infos habe." +Tom Scheunemann, 14. Mai 2013 um 21:27: "Ich muss dich nur eines fragen. Willst du nach Europa kommen, um dich mal umzusehen? Oder ist das Teil eines größeren Plans? Möchtest du in Europa bleiben?" Nabil ist ehrlich: Er will Syrien für immer verlassen und bittet Tom um Hilfe. "Ich hätte Nein sagen können", sagt Tom, "er hätte es verstanden." Aber mit welcher Begründung? Sorry, ich muss gerade studieren? Göttingen hat eine große linke Szene, Tom wendet sich an die Antifa. Doch die helfen eher Flüchtlingen, die schon in Deutschland sind. Wie man jemanden legal ins Land bringt, wissen sie nicht. Er trifft sich mit einer Anwältin, kontaktiert Behörden. Das Ausländeramt ist nur knapp fünf Stunden pro Woche erreichbar: Montag, Dienstag und Mittwoch von 14 bis 15.30 Uhr. Tom telefoniert zwischen den Vorlesungen. +Tom Scheunemann, 15. Mai 2013 um 17:04: "Ich bin genauso verloren und verwirrt wie du ..." +Nabil Talab, 24. Mai 2013 um 00:12: "Klar, Mann... Aber du rettest mein beschissenes Leben." +Tom Scheunemann, 24. Mai 2013 um 00:13: "Wenn ich es schaffe, ist es das Beste, was ich je getan habe." +Die Informationen, die man Tom gibt, sind widersprüchlich. Man schickt ihn immer weiter: zur nächsten zuständigen Behörde, der nächsten Anlaufstelle. Mit jedem Anruf, jeder patzigen Antwort versteht Tom zwei Paragrafen mehr. Er erkennt den einzigen Weg durch dieses Labyrinth der Vorschriften: Nur wer dem Staat nutzt, darf nach Deutschland. Ein Medizinstudent ohne Einkommen – wie Nabil – ergibt eine Verlustrechnung. Ein Visum wird damit aussichtslos. +Tom Scheunemann, 9. Juni 2013 um 15:34: "Hey, ich habe eben gelesen, dass die syrische Armee die Rebellen nach Norden abdrängt ... Angeblich wollen sie Homs heute oder morgen einnehmen. Bitte sag mir, wie es dir geht oder ob du abhauen kannst. Bist du sicher dort, wo du jetzt bist?" +Nabil Talab, 9. Juni 2013 um 19:43: "Hallo, mein Freund, mir geht es gut. Ich lerne jeden Tag Deutsch. Ja, sieht so aus, als würden die nächsten Tage ziemlich scheiße werden. Aber wir kommen schon klar ..." +Die Front zwischen den Rebellen und den Assad-Truppen verläuft mitten durch Homs. Im Juni 2013 beschießt die Artillerie der syrischen Armee abtrünnige Viertel mit Mörsern und Raketen. Auch das Haus, in dem Nabil einst lebte, wird getroffen. Der ganze Bezirk steht schon lange leer, die Bewohner sind geflohen. Die Bar, in der Tom und Nabil vor zwei Jahren Bier tranken, ist zerstört. +Wenn Tom Freunden von Nabil erzählt, erntet er Anerkennung. Doch er merkt auch: Sie teilen seine Systemkritik, aber die Last, den Krieg teilen – das möchten sie nicht. Tom bleibt mit der Verantwortung allein.Tom ruft bei Kliniken an und versucht, Nabil einen Praktikumsplatz zu besorgen, schreibt Anfragen an Ärzte und Aktivisten. Mehrere Stunden verbringt er pro Woche damit. Dabei versucht Tom, so nüchtern wie möglich zu bleiben. Die Bürokratie beschäftigt ihn, aber sie schützt ihn auch. Vor den Bildern der Kämpfe in Syrien, der Frage, wer Schuld hat am Leid der Welt, und warum er, Tom, in einer studentischen Idylle lebt und Nabil in einer zerstörten Stadt. Manchmal denkt Tom daran, Nabil einfach zu holen: mit dem Auto in die Türkei und an die syrische Grenze. Ein Konflikt, Tausende Kilometer entfernt, ist Tom auf einmal ganz nah. Der Krieg hat sich in seinem WG-Zimmer eingenistet, er blickt ihm ins Gesicht, wann immer er den Computer anschaltet.Er ist seinen Freunden deshalb nicht böse. "Ich wollte es zwischendurch auch nicht mehr. Ich war so müde davon", sagt Tom heute. Was ging ihn diese Not im Nahen Osten eigentlich an? Warum ließ er sich davon sein Leben trüben? "Man schämt sich schnell für solche Gedanken", sagt er.Tom packt währenddessen seine Sachen in Kisten. Sein Studium ist bald zu Ende. Ihm fehlen noch 15 Seiten seiner Bachelorarbeit, und er fragt sich, welchen Weg er danach einschlagen wird.Nach unzähligen Anrufen und E-Mails findet Tom ein Krankenhaus, das bereit ist, Nabil als Hospitanten aufzunehmen. Zusätzlich organisiert Tom einen Sprachkurs in Hamburg und bittet seine Mutter, eine Erklärung zu unterschreiben, mit der sie sich dazu verpflichtet, finanziell für Nabil aufzukommen. Sie willigt auch ein, Nabil für die erste Zeit aufzunehmen. Im Januar 2014 bekommt Nabil einen Termin in der deutschen Botschaft in Beirut. Seine Motivation soll überprüft werden. Dafür reist Nabil in den Libanon. "Wer ist dieser Tom?", fragt ihn die Sachbearbeiterin. "Ein echter Freund", antwortet Nabil. Nach dem Gespräch meldet er sich: Es sei gut gelaufen, er mache sich auf den Weg zurück nach Homs. Nabil will seine Sachen holen, Syrien ein letztes Mal Lebewohl sagen. Viel übrig ist davon ohnehin nicht mehr. +Tom Scheunemann, 14. Januar 2014 um 19:48: "Jetzt ist es ja fast vorbei. Nur noch Hoffen und Warten." Zwei Tage später, am 16. Januar 2014, nach fast einem Jahr und mehr als 5.000 Facebook-Nachrichten, reißt der Kontakt ab.Nabil Talab, 14. Januar 2014 um 19:47: "Ich hoffe, ich halte dich mit meinen Scheißproblemen nicht auf." +Nabil antwortet nicht auf E-Mails, sein Handy ist aus. Seine Freundin weiß nicht, wo er steckt, Freunde fahren los, um ihn zu suchen. Am Grenzübergang zum Libanon verliert sich seine Spur. "Ich dachte: Es ist vorbei", sagt Tom. "Er liegt irgendwo angeschossen im Straßengraben. Oder er wird gefoltert. Oder er ist tot." Tom geht noch immer in die Bibliothek und arbeitet an seiner Bachelorarbeit, aber er schafft es nicht, sich zu konzen- trieren. Einmal bricht er zusammen und weint stundenlang. Weil er am Ende doch machtlos war gegen die deutschen Visabestimmungen und gegen die Gewalt im Krieg. Vier Wochen vergehen, dann erhält er eine Nachricht. +Nabil Talab, 10. Februar 2014 um 07:24: "Hallo, mein lieber Freund. Ich bin raus. Ich lasse dich wissen, wie es weitergeht. Mir geht's gut. Mein Körper ist nur ein bisschen schwach. Ich kann nichts tun. Außer heulen wie ein Baby." +Tom Scheunemann, 10. Februar 2014 um 17:57: "Mein Freund, ich kann dir nicht sagen, wie froh ich bin. Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Jeden Tag meine Nachrichten gecheckt." +Kurz hinter der Grenze war Nabil festgenommen worden. Genauso willkürlich ließen ihn die syrischen Behörden nach einigen Wochen wieder frei. Nach seiner Rückkehr ist Nabils Tonfall verändert. Seine Nachrichten, die selbst in Kriegszeiten leicht und scherzhaft blieben, klingen plötzlich düster. +Nabil Talab, 10. Februar 2014 um 21:20: "Die Welt ist ein furchtbarer Ort, mein Freund. Als ich einsaß, habe ich keine einzige Träne geweint. Jetzt kann ich nicht aufhören." +Tom Scheunemann, 10. Februar 2014 um 21:21: "Dort, wo du gerade bist, ist die Welt vielleicht furchtbar ... Aber bitte vergiss nicht ... Sie kann so wunderschön sein." +Tom vermutet, dass Nabil in der Haft gefoltert wurde – aber er hakt nicht nach. So wie er nie nach Nabils Motiven gefragt hat. Nabil ist kein politischer Aktivist, er wird nicht gesucht wie andere, die sich im syrischen Widerstand engagieren. Ihnen bei der Flucht zu helfen wäre vielleicht dringender nötig. Aber Nabil hat eine Ausbildung, die in Deutschland angesehen und rar ist. Um mehr als ein Leben zu retten, das spürt Tom – dafür reicht seine Kraft nicht. "Die Welt ist so ungerecht", sagt Tom. "Und jetzt, nur dieses eine Mal, kann ich etwas ändern." +Im März 2014 besteigen Nabil und seine Freundin in Homs das Auto eines libanesischen Bekannten. Er bringt die beiden an die Grenze, verhandelt mit den Soldaten am Checkpoint. Nabil bekommt sein Visum für zwei Monate. Mit seiner Freundin lebt er in einem Zimmer, das 700 Dollar kostet. Im Libanon gibt es kaum Arbeit; der Flüchtlingsstrom aus Syrien hat die Stimmung zusätzlich angeheizt. Nabil lebt von Erspartem und hofft jeden Tag, dass das Visum aus Deutschland kommt. +Nabil Talab, 3. April 2014 um 15:32: "Hey, Kumpel. Hab die Botschaft heute angerufen. Weißt du was?!? Ich hab das Visum. 6 Monate." +Tom Scheunemann, 4. April 2014 um 16:33: "WAAAAAAAS???????????????" +Tom Scheunemann, 4. April 2014 um 16:34: "Haben wir es geschafft?" +Tom Scheunemann, 4. April 2014 um 16:37: "Unglaublich." +In Beirut senkt sich der Abend über die Minarette und Kirchtürme, und Nabil packt. Drei Hosen, fünf T-Shirts, ein Pullover, zwei Hemden. Eine deutsche Zeitschrift, die ihm ein Austauschstudent geschenkt hat. Dazwischen, sorgfältig verstaut, ein Stapel so dick wie ein Daumen: Dokumente. Zeugnisse, Urkunden, Ausweiskopien. Ein Leben in Klarsichthüllen. Zum Schluss legt er seinen Pass auf den Koffer. Auf Seite 7 klebt das deutsche Visum. "Es ist das Wertvollste, das ich je besessen habe", sagt Nabil. +Er hat die Aura eines Philosophiestudenten: schmales Kinn, eckige Brille. Ein Kindergesicht, aber zu ernst für sein Alter. Er spricht leise und akkurat, in seinen Bewegungen liegt Höflichkeit, aber auch Scheu. Um halb fünf in der Früh kommt das Taxi, außer Soldaten ist niemand auf den Straßen. Im Dunkel des Morgens läuten die Kirchenglocken. Nabil und Mariam, seine Freundin, stapeln ihre Koffer im Fond. Sie sehen einander ähnlich: beide schmal und schüchtern, die Haltung leicht gebückt, als müssten sie sich vor etwas ducken. Auch Mariam ist gefoltert worden, auch sie hat dank der Hilfe eines deutschen Bekannten ein Visum bekommen. "Ich werde Syrien vermissen." Es geht Nabil nicht leicht über die Lippen. Aber die Gastfreundschaft der Menschen wird ihm fehlen, ihre Herzlichkeit. Dass ein Fremder gleich Freund ist. In Deutschland, hat Nabil gehört, gehe man mit Ausländern nicht besonders gut um. Als Nabil Tom anschrieb, hatte er keine Hoffnung, dass dieser wirklich antworten würde. "Wir kannten uns ja kaum", sagt Nabil. "Ich dachte, er liest die Nachricht und vergisst sie dann wieder."Um 6.40 Uhr hebt das Flugzeug ab. +Drei Stunden und 3.000 Kilometer entfernt kocht Tom sich einen Kaffee. Das Wochenende liegt noch als Schatten unter seinen Augen: In Göttingen hat er bis morgens den Geburtstag eines Freundes gefeiert; zu Funk getanzt, "Mexikaner" getrunken. Er kaut auf einem Brötchen und checkt seine E-Mails. Später steigt er in den ICE nach Frankfurt. Windräder ziehen vorbei, im Bordrestaurant gibt es Königsberger Klopse. Toms Mutter ruft an: Sie hat ein Zimmer hergerichtet. Holzmöbel, hellblaue Wände, über dem Bett ein Kunstdruck von Miró. Sie will dem Besuch auch noch etwas kochen. Ob Nabil Schweinefleisch isst? Tom zuckt mit den Schultern. "Ich weiß nicht mal, wie viele Geschwister er hat", sagt Tom, als er aufgelegt hat. "Muss ich das, um ihm zu helfen?" +Tom Scheunemann, 10. Mai 2014 um 12:08: "Was für ein komisches Gefühl ... Ich werde mich daran gewöhnen müssen, dir ins Gesicht zu sprechen." +Am Flughafen Frankfurt leuchten orangefarbene Transparente: "Stilllegung der Nordbahn", "Müde Kinder lernen nicht". Wutbürger haben die Eingangshalle belegt. "Nabil wird sich freuen", sagt Tom grinsend. "Endlich legale Demos!" Er sieht auf die Anzeigetafel, Ankunft 18.25 Uhr, Ausgang B1. Gleich nach dem Flug aus Barcelona, vor der Maschine aus Tel Aviv. +Ein Jahr hat Tom für diesen Tag gekämpft. Es ist der Beginn eines neuen Lebens für Nabil und gleichzeitig das Ende von Toms Verantwortung. Bald, sagt er, wird Nabil selbst ins Migrationszentrum gehen können, er wird einen Job finden oder Asyl beantragen. Tom hat seine Pflicht getan. "Ich kann ihn gehen lassen", sagt Tom. Sie werden nicht mehr Flüchtling und Fluchthelfer sein, sondern Freunde. +Einen Raum weiter wuchtet Nabil zwei Koffer vom Band, dazu zweimal Handgepäck. Mariam hat noch eine Extratasche: darin Reis und Tomaten, Bulgur, Zwiebeln und Labne. Sie hat gehört, dass das Essen in Deutschland teuer sei, und hütet den Beutel wie einen Notgroschen. Nabil war noch nie an einem derart großen Flughafen. Überall Glas und Stahl, die Luft ist kalt und klar. Es ist der schönste Tag, aber er spürt nichts als Angst. Über der letzten Tür steht "Exit", dabei ist es für Nabil der Eintritt in ein Leben voller Pünktlichkeit und Ordnung, aber ohne den syrischen Sonnenschein und ohne den gewürzten Reis, den seine Mutter ihm immer kocht. Dann öffnet sich die Glastür. Dahinter steht Tom. +Mitarbeit: Jan Ludwig diff --git a/fluter/retter-der-riffe.txt b/fluter/retter-der-riffe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..29d069e2e5fafe1d6fb42777535556a9f191d4e3 --- /dev/null +++ b/fluter/retter-der-riffe.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +fluter.de: Sie haben weltweit bereits über 300 künstliche Korallengärten angelegt. Wie funktioniert das? +Tom Goreau: Wir bauen Stahlkonstruktionen, die wir auf dem Meeresgrund verankern und durch die wir schwachen Gleichstrom leiten. Durch den Prozess der Elektrolyse fällen Mineralien aus dem Meerwasser aus – es lagert sich Kalkstein ab, und auf diesem Untergrund siedeln wir Korallen an. Durch die leichte Spannung unterstützen wir sie in ihrem Stoffwechsel, wir nehmen ihnen quasi Arbeit ab. Unsere Korallen wachsen zwei bis zehnmal schneller als andere unter denselben Bedingungen; und sie sind gegenüber schädlichen Umwelteinflüssen ausgesprochen resilient. +Resilient – das heißt, diese Korallen sind widerstandsfähiger als andere? +Genau. Sie können auch unter hohen Temperaturen länger überleben. Wir haben das 1998, während des letzten Super-El-Niños, auf den Malediven dokumentiert: Unsere Korallen blichen zwar aus, aber sie starben nicht. Einfach weil sie gesünder und stärker waren als die Korallen auf den Riffen ringsumher. Auf diese Weise konnten wir sie erhalten, während rundherum alles einging. Die Fische, die die toten Riffe verließen, zogen in unsere Strukturen ein und konnten dort überleben. Indem wir zerstörte Korallenriffe wiederherstellen, tragen wir zum Erhalt der Vielfalt bei. Unsere künstlichen Riffe fungieren als eine Art Arche. +Auf Bali haben Sie auch ein natürliches Riff unter Strom gesetzt, die Korallen dort gedeihen prächtig. Wäre das auch am Great Barrier Reef möglich? +Technisch gesehen: auf jeden Fall. Wir könnten Tausende von Kilometern von Riff verkabeln –wenn wir das Geld dazu hätten. Viel Strom verbraucht das nicht: Ein Kilometer Stromleitung durch das Riff braucht in etwa so viel Energie wie eine Klimaanlage. +Klingt so einfach. Warum wird das nicht gemacht? +Aus politischen Gründen. Ich bin in den letzten zehn Jahren mehrfach von Touranbietern am Great Barrier Reef gebeten worden, ihre Riffe wiederaufzubauen. Diese Leute bringen Tausende von Touristen in ausgewiesene Besucherzonen – und leiden darunter, dass es für ihre schnorchelnden Gäste kaum noch etwas zu sehen gibt. Die Reaktion des Managements des Great Barrier Reef Marine Park war aber: "Auf gar keinen Fall! Unsere Riffe brauchen keine Hilfe." +Mit solchen Stahlkonstruktionen, durch die schwacher Gleichstrom geleitet wird, erzeugt Tom Goreau künstliche Algengärten: Durch Elektrolyse lagert sich Kalkstein ab, auf dem Korallen angesiedelt werden. Die werden durch die leichte Spannung in ihrem Stoffwechsel unterstützt und wachsen so angeblich viel schneller +Woher kommt diese Haltung? +Das war schon immer so. In der Logik der Marine-Park-Manager ist Management an sich schon die Lösung des Problems. Ich halte das für historisch fragwürdig, denn dem Riff geht es kein bisschen besser, seit es gemanagt wird. Am besten erhalten ist es im nördlichsten Drittel, oberhalb von Port Douglas, wo die Manager nicht hinkommen. Es geht ja nicht nur um Korallenbleiche. Invasionen von Dornenkronen-Seesternen haben in den letzten Jahren mehrfach ganze Riffe aufgefressen. Die Leute vom Marine Park haben da so lange zugeschaut, bis es zu spät war, und dann verkündet: "Das war alles ganz natürlich, da können wir leider nichts tun." +Das Credo des Marine Park ist: Korallenriffe sind resiliente Ökosysteme und in der Lage, sich von selbst zu erholen. Je weniger Einflussnahme von außen, desto besser. +Das ist auch prinzipiell richtig – jedenfalls war das früher so. In meiner Kindheit auf Jamaika habe ich mehrmals komplett zerstörte Riffe gesehen, wenn ein Schiff aufgelaufen war oder ein Hurrikan zugeschlagen hatte. 20 Jahre später hatten sich diese Riffe vollkommen regeneriert: Der Schaden war begrenzt, und sie waren von gesunden Korallenriffen umgeben. Regeneration funktioniert aber nur in einer Umgebung ohne Stress. Die gibt es heute nicht mehr. Die Tatsache, dass dieses Jahr auch eine derart abgelegene Region wie das nördliche Drittel des Great Barrier Reef so stark zerstört wurde, zeigt ja: Hohe Temperaturen kommen überallhin. +Was ist Ihr Rat an die australische Regierung? +Australien sollte sich dringend darum kümmern, seine Riffe zu restaurieren. Und aufhören, den Zusammenhang zwischen CO2-Ausstoß und Klimawandel zu leugnen. Das Land ist einer der größten Klimasünder der Welt, und das Great Barrier Reef bezahlt den Preis dafür. Ich habe schon während der großen Korallenbleiche 1998 davor gewarnt, was unweigerlich passieren würde. Wir haben ja die Daten zur Oberflächenwassertemperatur, und wir wissen seit Jahren um diese Probleme. In gewisser Weise war es Pech, dass der jetzige Super-El-Niño erst jetzt kam – sonst hätte die Welt vielleicht früher begriffen, wie dringend dieses Problem ist. Wir können das Aufheizen der Meere nicht mehr aufhalten, aber wir können Korallenriffe dabei unterstützen, das zu überleben. +Korallenriffe sichern weltweit den Lebensunterhalt von mindestens 100 Millionen Menschen. Allein am Great Barrier Reef geben Touristen im Jahr über vier Milliarden australische Dollar aus. Warum rüttelt das nicht auf? +Weil die Korallenriffe uns mit ihren Ressourcen leider kostenlos versorgen. Fischreserven und bunte Unterwasserwelten – der materielle Wert dieser "Dienstleistungen" wird erst deutlich, wenn er ausbleibt. Ganz zu schweigen vom Küstenschutz. Die Bewohner der kleinen Inselstaaten stehen schon jetzt bis zu den Knöcheln im Wasser, und jeder einzelne Strand dieser Welt wird durch den Klimawandel Schaden nehmen. Aber niemand kümmert sich darum. Die Korallenriffe sind das Erste, was wir verlieren, aber nicht das Letzte. +Der Biochemiker und Meeresbiologe Tom Goreau wurde auf Jamaika geboren und erkundete dort schon mit seinen Eltern Korallenriffe. Heute erforscht er den Einfluss der globalen Klimaveränderung und der Verschmutzung der Meere auf Korallenriffe, die als Biotop eine wichtige Brutstätte für viele Meeresbewohner sind. Goreau setzt sich für die Wiederherstellung kranker oder abgestorbener Korallenriffe ein und hat eine Methode zur Erzeugung künstlicher Korallenriffe entwickelt. + +Was bedeutet "Korallenbleiche"? +Korallen funktionieren als Wohngemeinschaft. Einzellige Algen (Zooxanthellen) nisten sich im Skelett des Korallenpolypen ein. Der Deal: Schutz gegen Energie. Die Alge betreibt Fotosynthese und ernährt die Koralle, durch sie entsteht auch die typisch bunte Farbe. Wird das Wasser zu warm, gerät die Koralle unter Stress und stößt ihre Zooxanthellen aus. Dadurch verliert die Koralle ihre Farbe und bleibt als bleiches Skelett zurück. Kühlt das Wasser wieder ab, zieht die Alge wieder ein. Einige Wochen lang kann der Korallenpolyp ohne seine Alge überleben; bleibt das Wasser aber über einen längeren Zeitraum zu warm, stirbt er den Hungertod. Momentan ist die Lage besonders kritisch, denn 2016 ist ein El-Niño-Jahr: Im Verlauf dieses zyklisch alle paar Jahre auftretenden Klimaphänomens erwärmt sich das Oberflächenwasser im tropischen Pazifik stellenweise um bis zu sechs Grad. Bereits jetzt sind 50 Prozent aller Korallenriffe weltweit betroffen – im Jahr 2050 könnten mehr als 95 Prozent aller Korallen schwer geschädigt oder abgestorben sein. + +Dunja Batarilo ist freie Journalistin in Hamburg. Das von Tom Goreau unter Strom gesetzte Riff hat sie auf Bali selbst beschnorchelt. diff --git a/fluter/rezension-film-official-secrets-whistleblower-katherine-gun.txt b/fluter/rezension-film-official-secrets-whistleblower-katherine-gun.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0cbec131fa34a708ac4c9802ad6683c328ef3317 --- /dev/null +++ b/fluter/rezension-film-official-secrets-whistleblower-katherine-gun.txt @@ -0,0 +1,9 @@ + +Katharine ist entsetzt und ringt sich dazu durch, die Intrige publik zu machen. Sie landet bei der Zeitung "The Observer", die die brisante Botschaft nach intensiver Recherche veröffentlicht. Als das GCHG unverzüglich die Jagd nach demWhistleblowereröffnet, stellt sich Katharine selbst. Sie kommt kurzzeitig in Haft, wird überwacht, und nach dem "Official Secrets Act" angeklagt – einem Gesetz, das Regierungsbeamte zum vertraulichen Umgang mit Staatsgeheimnissen verpflichtet. Und während der Irakkrieg auch ohne UN-Mandat beginnt, will Katharines Strafverteidiger die Herausgabe von Informationen erzwingen, die die britische Regierung schwer belasten würden: Beteiligt sich Großbritannien an einem Krieg, den die Regierung zuvor selbst als illegal bewertet hat? +Der Politthriller erzählt die Geschichte der – zumindest in Deutschland weitgehend unbekannten – Whistleblowerin Katharine Gun, die im Januar 2003 das NSA-Memo leakte und im Februar 2004 vor Gericht gestellt wurde – mit überraschendem Ausgang. Der südafrikanische Regisseur Gavin Hood verzichtet dabei weitgehend auf Effekthascherei. Er konzentriert sich darauf, die Verwicklungen von Regierung, Medien und Justiz transparent zu machen. Zeitzeugen lobten bereits die Genauigkeit des Films, selbst wenn eine spannungsgeladene Szene, in der Katharines kurdischer Ehemann in Abschiebehaft gerät, in der Realität wohl keine Schikane war, sondern schlicht ein Versehen. +Keira Knightley verleiht dem eh schon herausragend besetzten Film emotionale Wucht: Ihre Katharine ist als biedere Angestellte das genaue Gegenteil einer Rebellin, besonders im Kontrast zu den machohaften Reportern und altgedienten Staatsbeamten. Und doch folgt Gun – trotz Panik, gesundheitlicher Probleme und dem hohen persönlichen Risiko – ihrem moralischen Kompass. Gerade, dass sie auf "nicht schuldig" plädiert, stellt ihre kafkaesken Gegner im Staatsapparat vor ein juristisches Dilemma. Der rote Faden des Dramas ist die Frage nach der Legalität des Irakkrieges, dessen Folgen bis in die Gegenwart spürbar sind – verbunden mit der impliziten Aufforderung, die damaligen Politiker und Politikerinnen zur Verantwortung zu ziehen. Seiner couragierten und dennoch gescheiterten Heldin, die den Krieg nicht verhindern konnte, setzt Gavin Hood mit diesem Film ein Denkmal. + +Diese Filmkritik ist eine Übernahme vomKinofenster, dem filmpädagogischen Portal der BpB. Da gibt es diesen Monat noch viel mehr zum Thema Politthriller zu lesen: Besprechungen zu "The Report", "Citizenfour" oder "Inside Wikileaks", aber auch eineAnalyse, wie sich die neuen Heldinnen und Helden des Politthrillers von denen der 1970er-Jahre unterscheiden. + + +Titelbild: eOne diff --git a/fluter/rezension-heartstopper-dritte-staffel.txt b/fluter/rezension-heartstopper-dritte-staffel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..de85db1e86f08168843b082ae68675bdeb1dcde8 --- /dev/null +++ b/fluter/rezension-heartstopper-dritte-staffel.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Der eine, Charlie, lebt zum Zeitpunkt, in dem die dritte Staffel einsetzt, schon einige Jahre offen schwul. Der andere, Nick, hatte sich erst im Verlauf der zweiten Staffelals bi geoutet. Jetzt, da die beiden ihre Beziehung offen leben, scheint alles "perfekt", wie es Charlie ausdrückt. Sie laufen händchenhaltend durch den Zoo, Knutschen beim Rugbytraining und denken darüber nach, ob und wann sie das erste Mal "Ich liebe dich" sagen oder Sex haben wollen. +Wäre da nicht das animierte schwarze Loch, das Charlies Kopf in manchen Szenen umkreist. Stimmen, die ihm sagen, dass er ekelhaft sei, so wie früher seine Mobber, die ihn dafür verhöhnten, dass er schwul ist. Wäre da nicht sein Drang, das Essen in Stückchen aufzuteilen, bevor er es in den Mund nimmt, oder dann doch gar nichts zu essen. Wäre da nicht Nicks Sorge um Charlie und seine Angst, was wird, wenn er, Nick, zur Uni geht. +2016 startete Oseman als Studentinden Webcomic "Heartstopper". Charlie und Nick, die zuvor schon als Nebencharaktere in Osemans Debütroman "Solitaire" auftauchten, bekamen nun also ihre eigene Geschichte. Oseman lud für den Webcomic, der ihr zufolge bis heute 124 Millionen Mal aufgerufen wurde, fertige Seiten hoch, die Community kommentierte diese. Der erste gedruckte Band von "Heartstopper" wurde 2019 ein Überraschungserfolg. Inzwischen gibt es fünf Bände, die in 37 Sprachen übersetzt und von denen weltweit mehr als acht Millionen Exemplare verkauft wurden. Oseman, die sich das Comiczeichnen selbst beibrachte, schrieb auch das Drehbuch für die Netflix-Adaption. + + +Die dritte Staffel ist der bisher beste Teil von "Heartstopper" – deutlich dunkler, ernster und erwachsener. Die Staffel zeigt, wie absurd parallel manches abläuft, wenn man jung ist: Das Leben kann einerseits geprägt sein von mentalen Problemen wie Essstörungen, Panikattacken und Zukunftsängsten, und andererseits kann man trotzdem Lust auf Sex und Partys haben. "Ich bin zwar krank, aber das heißt nicht, dass ich keinen Spaß haben und ein Teenager sein kann", sagt Charlie, der nach einem Streit mit seiner Mutter zu Nick geflohen ist. +Auf die zunehmende sexuelle Anziehungskraft zwischen den beiden deuten animierte pinke Funken hin, die immer dann sprühen, wenn sie sich berühren. Eine Hommage an die Graphic-Novel-Vorlage. Chatverläufe werden eingeblendet, immer wieder gibt es einen Splitscreen zwischen zwei Szenen, wie zwei Fenster eines Comics. Animierte Schmetterlinge, Laubblätter oder Blumen fliegen, je nach Jahreszeit, durch das Bild, wenn ein besonders emotionaler Moment passiert. +Die LGBTQI+-Community selbst ist zu "Heartstopper" geteilter Meinung: Während manche die Serie als Wohlfühlserie und Safe Space empfinden, sehen andere darin ein queeres utopisches Märchen. Einige Situationen werden von Zuschauenden zwar durchaus als authentisch eingestuft, bei anderen halten sie eher schmerzhafte und abweisende Erfahrungen dagegen. Tatsächlich hat "Heartstopper" aber sogar einige Fans inspiriert, sich selbst zu outen. +Obwohl "Heartstopper" in erster Linie eine Geschichte über zwei Teenager ist, finden auch ältere Zuschauende in der Serie womöglich eine Art Bewältigungsstrategie. Als erwachsene Zuschauerin fragt man sich zumindest, ob die Schulzeit nicht anders verlaufen wäre, wäre da eine solch unterstützende Freundesgruppe gewesen, wie Charlie und Nick eine haben. Damit wird das Trauma, das Charlie oder andere Teenager:innendurch Mobbing erlebt haben, nicht wettgemacht. Es zeigt aber, dass es manchmal nur diese eine Person braucht, die dich so akzeptiert, wie du bist, und dich liebt – ob romantisch oder freundschaftlich –, um sich dem Trauma zu stellen. +Kit Connor und Joe Locke, die Nick und Charlie spielen, wurden durch die Netflix-Adaption ähnlich berühmt wie ihre Figuren. Die beiden Anfang 20-Jährigen gelten als Aushängeschilder der queeren Community – allerdings nicht unbedingt freiwillig. Einige "Fans" spekulierten nach dem Erscheinen der Serie über Connors sexuelle Identität – er solle, so der Vorwurf, den Eindruck erweckt haben, als sei er bi, um seine Rolle und damit die Serie zu promoten (ein Phänomen, das "Queerbaiting" genannt wird). Daraufhin sah sich Connor Ende 2022 dazu genötigt, sich öffentlich als bi zu outen. "Ich denke, einige von euch haben echt nicht verstanden, worum es in der Serie geht", schrieb er auf der Plattform X. +Die Prominenz der beiden Hauptdarsteller sowie der Hype um "Heartstopper" sind gerade in Zeiten wichtig, in denen in manchen Ländern die mediale Repräsentation von queeren Lebensrealitäten eingeschränkt wird. In Ungarn dürfen Buchhandlungen die "Heartstopper"-Bücher beispielsweise nur eingeschweißt und nicht in der Jugendbuchabteilung auslegen, weil Kinder und Jugendliche laut einem Gesetz keine Darstellungen von Homosexualität zu Gesicht bekommen sollen. In den USA wirdmancherorts erbittert darüber gestritten, ob die Bücher in Bibliotheken zugänglich für Jugendliche sein sollen. Die Netflix-Show wurde in der Türkei erst ab 18 zugelassen, mit dem Argument, sie sei nicht für Kinder geeignet (in Deutschland ist die Altersfreigabe von "Heartstopper" ab 6 Jahren). +"Heartstopper" ist also aus vielerlei Gründen eine unverzichtbare Serie: Sie bildet eine queere Lebensrealität ab, in der ein heteronormatives Bild keinen Platz hat. Und sie schafft es dabei, sich wie eine kuschelige Decke um einen zu legen – und so Hoffnung zu machen, wie viel sich durch Liebe und Freundschaft heilen lässt. +Die acht Folgen der 3. Staffel von "Heartstopper" laufen auf Netflix. +Fotos: Netflix/Samuel Dore diff --git a/fluter/rezension-i-am-earth-serie-arte.txt b/fluter/rezension-i-am-earth-serie-arte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8f941447571b0df3b0de75a0165f90118a7ad623 --- /dev/null +++ b/fluter/rezension-i-am-earth-serie-arte.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +"I Am Earth" ist ein Rapsical, also ein Rap-Musical. Das heißt, dass Songs das Mittel sind, um in Odiles Gefühlswelt einzutauchen. Auf eine Schlüsselszene folgt meist eine Studioaufnahme, bei der Odile von sich rappt und erzählt, während Archivaufnahmen aus ihrer Kindheit zu sehen sind. Die Musik und der Gesang sind dabei so wechselhaft wie Odiles Gefühle: von schnellen Beats über lässiges Chill-out bis hin zu fast atmosphärischen Klängen mit nachdenklich gesprochenen Reflexionen. Da die Serie mit deutschen Untertiteln versehen ist, kommen die Zuschauenden in den Genuss echter norwegischer Rap-Kunst. + + +Star und Schöpferin von "I Am Earth" ist die Schauspielerin und Drehbuchautorin Amy Black Ndiaye. Als Protagonistin gelingt es ihr eindrücklich, Gefühle wie Ratlosigkeit und Zweifel so zu transportieren, dass die eher wortkarge Odile dennoch sehr nahbar bleibt. Ndiaye wuchs in Bergen auf, ihre Mutter stammt von den Färöerinseln, ihr Vater aus dem Senegal. Für den Dreh der Serie verpflichtete Ndiaye ihre gesamte Familie: Ihre Eltern, ihre Schwester und Nichte spielen jeweils ihre Eltern, ihre Schwester und Nichte in der Serie. Alle Kindheitsaufnahmen, die man sieht, zeigen Ndiaye selbst und ihren Vater Joe Ndiaye. +Dass hier eine reale Familie vor der Kamera vereint ist, gepaart mit der Vielschichtigkeit der Charaktere, lässt die Serie sehr ungestellt und lebendig wirken. Darin erinnert "I Am Earth" an andere norwegische Serien wie "Skam" (in Deutschland unter dem Titel "Druck" adaptiert), die das Leben junger Menschen so nah an der Realität erzählen, dass es manchmal echter wirkt als die Wirklichkeit. Auch wenn Odiles Reise fiktiv ist, kann Ndiaye den Weg ihrer Heldin nachempfinden, wie sie in einem Interview erzählt: "Ich habe viele Dinge über Menschen angenommen. Ich dachte, sie würden mich nicht so akzeptieren, wie ich bin, und habe mich dann selbst isoliert. Aber sobald man anfängt, ehrlich zu sein und sich von den Leuten so mögen zu lassen, wie man ist, kommt das Selbstvertrauen." +In der Musik dreht die oft unsichere Odile ihr Innerstes nach außen. Und erzählt, wie es ist, als Schwarzes lesbisches Mädchen in einer Provinzstadt aufzuwachsen. +"Plötzlich zogen wir unsere BHs aus und verglichen unsere Brustwarzen. Ihre waren kleiner und rosa, wie bei allen anderen auch. Aber meine waren dunkel, fast schwarz. Sie fand sie seltsam, schmutzig. Die anderen kamen näher, um sie anzusehen. Eine fing tatsächlich an zu lachen. Da hörte das Kribbeln in meiner Pussy sofort auf." +Als Ndiaye in New York Schauspiel studierte, begann sie aus Heimweh, norwegischen Rap zu hören, genauer gesagt Lieder im Bergener Dialekt des norwegischen Rappers Lars Vaular. Es entstand die Idee, eine Geschichte über eine Schwarze Rapperin zu schreiben, und Ndiaye selbst wollte die Hauptrolle spielen. Nach über zehn Jahren war es endlich so weit. Es gab nur ein kleines Problem: Ndiaye konnte nicht rappen. Sie bat Vaular um Hilfe, und nachdem die beiden unzählige Stunden zusammen geübt hatten, übernahm er die Rolle des Produzenten und besten Freundes Stian. Es sind die intimsten Szenen, wenn sich Odile im Studio mit einem Mikro zu Stian ans Mischpult setzt, ihr kleines Notizbuch öffnet und rappend erzählt, was sie gerade bewegt. Fast ehrfürchtig lauscht Stian ihren Worten. Man hat den Eindruck, dass Vaular Ndiaye auch im wirklichen Leben aufmerksam zugehört hat, denn alle Songtexte sind von ihm verfasst. +Unbedingt. Der Originaltitel "Verden er Min" bringt auf den Punkt, um was es geht: Er bedeutet übersetzt "Die Welt gehört mir." Und das ist es, was Odile lernen muss: die Welt für sich zu beanspruchen. Sie tut das auf eine leise, aber dafür nicht weniger inspirierende Weise. Es ist ein Vergnügen, ihr dabei zuzusehen. + +"I Am Earth"läuft auf arte.tv(sechs Folgen, je 24 Minuten). +Titelbild: Helge Skodvin diff --git a/fluter/rezension-la-paranza-dei-bambini-saviano-film.txt b/fluter/rezension-la-paranza-dei-bambini-saviano-film.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..09657a0807d55906ea2758330ff4a0731ea9db86 --- /dev/null +++ b/fluter/rezension-la-paranza-dei-bambini-saviano-film.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Was zeigt uns das? +Der Gewalt kann man nicht entkommen. Selbst wenn man sich mit 15 noch unsterblich vorkommen mag. Und wer sich Schusswaffen besorgt (und sie, nach dem Studium von YouTube-Tutorials, auch einsetzt), wird irgendwann selbst beschossen. Auch wie Rituale und "Gesetze" toxischer Männlichkeit über die Generationen vererbt werden, zeigt der Film. Immer wieder geht es um verletzte Ehre. Ein tödlicher Mix. +Wie wird es erzählt? +Laut, schnell, hektisch, so ungeduldig und so voller Energie wie die Protagonisten. Die Handkamera filmt immer wieder über die Schulter von Nicola, fast wie in einem Ego-Shooter. + +Good Job! +Alle jugendlichen Darsteller sind Laienschauspieler, sie kommen wirklich aus Neapel. Und sie sind toll, Hauptdarsteller Francesco di Napoli gilt jetzt sogar als Kandidat für den Silbernen Bären. Großen Respekt also für die Jungen, aber auch für das Castingteam, das ein halbes Jahr lang aus 4.000 Bewerbern acht aussiebte. Und für Regisseur Claudio Giovannesi, was er mit ihnen veranstaltet. +FYI +Die Romanvorlage zum Film stammt von Roberto Saviano – und der kennt sich aus mit der Mafia in und um Neapel. Der Journalist und Buchautor recherchiert seit mehr als 15 Jahren über die Machenschaften der Camorra-Clans. Berühmt wurde er mit seinem Buch "Gomorrha", das 2008 auch verfilmt wurde. So ein Mann macht sich Feinde: Saviano lebt unter Polizeischutz und an einem unbekannten Ort. In Berlin war er trotzdem, in Begleitung von Bodyguards. +Stärkste Szene +Der Film ist schon recht weit fortgeschritten, Nicola hat gerade seiner Mutter für 10.000 Euro neue Möbel gekauft und sich mit weitaus erfahreneren Gangstern als er selbst angelegt. Und dann steht er morgens in der Küche und streitet mit seinem kleineren Bruder darüber, wer wessen Kekse aufgegessen hat, bis Mamma kommt und den Streit schlichtet. Und plötzlich merkt man, dass Nicola doch noch ein halbes Kind ist. +Schwierig +Trotz aller Energie bleibt der Film ein wenig öde. Zwar sorgt allein die Frage, ob sich die Jungmafiosi irgendwann doch mal beim Feiern versehentlich erschießen, für permanente Spannung. Doch zu sehr hakt die Geschichte einfach nur die Stationen des Aufstiegs ab. Irgendetwas fehlt hier. +Für alle … +… Fans von Mafiafilmen. Und für Romanisten, die sich den Film dann aber in Originalsprache anschauen müssen. Gesprochen wird nämlich der Dialekt von Neapel, den selbst Italiener kaum verstehen. Ein linguistisches Spektakel. + +Titelbild: Palomar 2018 diff --git a/fluter/rezension-ruhm-und-ruin.txt b/fluter/rezension-ruhm-und-ruin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..78e62882e33790cbeb518695b4f4511bd2492282 --- /dev/null +++ b/fluter/rezension-ruhm-und-ruin.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Nur zwei verpasste Chancen, zwei von vielen. Denn für den von türkischen Einwanderern gegründeten Kiezklub, von dem Imran Ayata in "Ruhm und Ruin" erzählt, hält das Schicksal einige Niederlagen parat. Und zwar nicht nur sportliche. Denn um Fußball geht es in dem Episodenroman eh nur am Rande. Vielmehr dient der Sport als Gesellschaftsmetapher. Ausgerechnet die urdeutsche Vereinsmeierei steht für die elf Romanfiguren für die Hoffnung auf eine besseres Leben in Deutschland. +"Wir waren der spielende Beweis, dass Ausländer in Almanya etwas erreichen könnten", sagt etwa Komünist Yusuf, der als ehemaliger Profi und Spielerscout zu den grauen Eminenzen des Vereins zählt. Die Rolle als Aushängeschild gefällt indes nicht jedem. "Integrationsaffen" seien sie, schimpft etwa Türk Richard aus dem Vereinsvorstand, wenn mal wieder die lokale Politikprominenz vorbeikommt, mit Fotografen im Schlepptau, aber ohne Hilfe für den insolventen Verein. +Hinter den Kulissen geht es heiß her. Wenn auf den Mitgliederversammlungen die Türken mit den Kurden streiten, die anatolischen Altmitglieder sich über die Initiative gegen Homophobie echauffieren, die die in Deutschland aufgewachsenen Jüngeren starten, und wenn die Haltung der AKP bei den Gezi-Protesten auf der Tagesordnung landet – dann geht Türk Richard dazwischen: "Ruhe im Migrantenstadl". +"Ruhm und Ruin" basiert auf dem Theaterstück "Liga der Verdammten", das Ayata mit dem Regisseur Neco Çelik 2013 im Ballhaus Naunynstraße in Berlin auf die Bühne brachte. Ayata, der als Autor, DJ und Gesellschafter einer Agentur für politische Kampagnen arbeitet, ist Experte für postmigrantische Stoffe. Neben seinen Büchern "Hürriyet Love Express" und "Mein Name ist Revolution" hat er die CD "Sound of Gastarbeiter, Vol. 1" zusammengestellt und das Netzwerk Kanak Attak mitbegründet. +Der Kiezklub, der im Roman keinen Namen hat, ist erkennbar an Türkiyemspor Berlin 1978 angelehnt. Der Kreuzberger Fußballverein war der Stolz jener Generation, die als "Gastarbeiter" nach Deutschland kam. Und Ziel zahlreicher rassistischer Schmähungen bei Auswärtsspielen. Dem Erfolg tat das keinen Abbruch. Ende der 1980er-/Anfang der 1990er-Jahre wäre Türkiyemspor ein paar Mal fast in die Zweite Bundesliga aufgestiegen und nötigte den DFB sogar zur Änderung seiner Ausländerstatuten. Ein "Fußballdeutscher" war fortan ein Spieler ohne deutsche Staatsangehörigkeit, der einem deutschen Spieler gleichgestellt wird, wenn er fünf Jahre, davon mindestens drei als Juniorenspieler, ununterbrochen für deutsche Vereine gespielt hat. +Diese großen Zeiten sind in "Ruhm und Ruin" lediglich eine verblassende Erinnerung. Nur gelegentlich blitzen sie in den elf Prosaminiaturen auf, in denen jeweils ein Icherzähler Auskunft gibt. Manchmal wirkt die Erzählperspektive ein bisschen konstruiert, etwa wenn sie die Form eines Therapiegesprächs hat oder eines Kick-off-Vortrags. Manchmal ist auch die Sprache überdekoriert. Beispielsweise wenn Ardas kleinkrimineller Kumpel Giuseppe sagt: "Immer noch porno, dass es viele nicht schnallen, dass der große Shit nicht der Fußball, sondern der Bums drum herum ist." +Was wiederum gut funktioniert, ist die Erzählstruktur. Die eher lose verwobenen Episoden verweigern sich einer geschlossenen sinnhaften Ordnung. Hier gibt es kein "Was lehrt uns die Geschichte?", sondern etwas sehr viel Wertvolleres: Geschichten von Einwanderern und über Einwanderung – so komplex und vielschichtig erzählt, wie diese medial immer noch sträflich unterrepräsentierte Wirklichkeit eben ist. +Imran Ayata: "Ruhm und Ruin". Verbrecher Verlag, Berlin 2015, 200 Seiten, 19 Euro +Felix Denk ist Kultur-Redakteur bei fluter.de. Auf dem Bolzplatz gilt er als übler Rumpelfüßler. diff --git a/fluter/rezension-systemsprenger-oscars.txt b/fluter/rezension-systemsprenger-oscars.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f9ff3ee1eb4e7248e2910a721b9dd6408a269321 --- /dev/null +++ b/fluter/rezension-systemsprenger-oscars.txt @@ -0,0 +1,25 @@ + +Wie wird's erzählt? +Regisseurin Nora Fingscheidt wechselt zwischen sehr laut und sehr leise: laut, wenn Benni in der x-ten Einrichtung in einem ihrer Wutanfälle ein Bobbycar gegen die Glastür pfeffert, sie den Erziehern Beleidigungen entgegenbrüllt, sie den Kopf einer Mitschülerin auf die Tischplatte schlägt und die ganze Klasse entsetzt aufschreit. Bei den Wutanfällen bricht das Bild, knallbunte Fragmente schießen durcheinander, wir sehen, was Benni sieht – und die sieht rot, oder eher: knallpink. Darunter schneller werdende, wilde Musik, bis es plötzlich ganz still wird und wir nur noch Bennis Herzschlag hören. + + +Was zeigt uns das? +Schuld an seiner ausweglosen Situation ist nicht das Kind. Schuld ist auch nicht die Mutter; sie liebt das Kind und verachtet sich selbst dafür, dass sie mit der Erziehung überfordert ist. Schuld ist nicht das Jugendamt, das immer wieder versucht zu helfen und immer wieder scheitert. Solche Kinderschicksale sind vielfältig. Um sie zu verstehen, reicht es nicht, eine Person oder Institution zu beschuldigen, man muss die ganze Geschichte kennen. Nicht die Kinder sprengen ein System, sondern das System scheitert, wenn Kinder keine Möglichkeit mehr haben, irgendwo anzukommen. + + +Lisa Stutzky hat viele der "Systemsprenger"-Rollen besetzt.Hiererzählt sie, wie man Casterin wird – und was eine gute ausmacht +Good Job! +Gabriela Maria Schmeide als engagierte und am Ende doch resignierendeJugendamtsmitarbeiterin, Lisa Hagmeister als überforderte Mutter und Albrecht Schuch als raubeiniger Streetworker mit weichem Herz spielen allesamt überragend. Die elfjährige Helena Zengel stiehlt jedoch allen die Schau. Ihre Benni lässt keinen kalt. Sie zeigt die Verzweiflung, aber immer wieder auch die Hoffnung einer kleinen großen Kämpferin so intensiv, dass man kaum glauben kann, dass das alles nur gespielt ist. + +Klappt nicht so: +Einmal greift der Film doch arg tief in die Klischee-Kiste: Streetworker Micha entpuppt sich natürlich selbst als ehemaliger Problemfall, der seine Aggressionen heute glücklicherweise im Griff hat. Da fragt man sich, ob eigentlich alle Sozialarbeiter mal Problemfälle waren. + +FYI +Kinder wie Benni werden tatsächlich als "Systemsprenger" bezeichnet – allerdings inoffiziell. Ein solcher Fall begegnete der Regisseurin bei Dreharbeiten zu einem anderen Projekt: Das Mädchen war 14 und kam in eine Einrichtung fürwohnungsloseFrauen, weil sie keine Jugendeinrichtung mehr nehmen wollte. Filmfigur Benni ist mit Absicht erst neun, damit die Pubertät keine Ausrede ist. + +Ideal für … +… alle, die einen intensiven Film sehen möchten. Man zuckt in Fingscheidts Regiedebüt zusammen, hält die Luft an, leidet fast körperlich. Und hat doch am Ende das Gefühl, einen richtig guten Film gesehen zu haben. + + +"Systemsprenger"startet am 19. September in den deutschen Kinos und ist für den Oscar 2020 nominiert. Der Film wurde unter sieben Bewerbern als Kandidat für die Kategorie "Bester nicht-englischsprachiger Film" ausgewählt. + diff --git a/fluter/rezension-wintermaerchen-film-nsu.txt b/fluter/rezension-wintermaerchen-film-nsu.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d51806e3ba56c072fe8f5b4b7365e89c446e3d29 --- /dev/null +++ b/fluter/rezension-wintermaerchen-film-nsu.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Dabei behauptet "Wintermärchen" nicht, ein Film über den realen NSU zu sein. Doch einige Elemente – ein Trio, Schusswaffen, Rassismus, Gewaltverbrechen – laden dazu ein, Parallelen zu ziehen. Die drei heißen hier Tommy, Becky und Maik. Zunächst gibt es nur Becky und Tommy, die ein Paar sind. Man sieht sie bei Schießübungen im Wald und bei Sexübungen in einer hässlichen kleinen Wohnung. Beides läuft eher unterdurchschnittlich, was besonders Becky immer unzufriedener und aggressiver macht. "Der da?, Der da?" sagt sie ein ums andere Mal, wenn die beiden im Auto an ausländisch aussehenden Männern vorbeifahren. Damit meint sie, Tommy solle doch endlich mal einen der Typen erschießen. Aber der traut sich nicht oder hat Skrupel. Erst als der Dritte, Maik, zu ihnen stößt, ändert sich etwas. Während Tommy noch mit seinen inneren Dämonen ringt, kennt Maik keinerlei Hemmungen. Er setzt sich als Alphatier in Szene, zu dem Becky umstandslos überläuft, während Tommy im Nebenzimmer mit Maiks Unterhose über dem Kopf masturbiert. Danach überfallen die Männer einen türkischen Supermarkt und ermorden den Inhaber und seine beiden Söhne. Anschließend wird in einer türkisch geführten Bar ordentlich abgefeiert. + + + +"Wintermärchen" hat eine FSK-Freigabe ab 16 Jahren, was irgendwie erstaunlich ist, denn Sex und Gewalt sind immerhin die einzigen, konsequent durchgezogenen Themen dieses Films. Sicher hat bei der Vergabe des Ratings eine Rolle gespielt, dass Gewalt hier eben nicht verherrlicht, sondern als widerwärtiges Ausagieren niederster Triebe gezeigt wird. Das Gleiche gilt für Sex, den man selten so erbärmlich – und dann auch noch so viel davon – gesehen hat wie hier. Die drei HauptdarstellerInnen (Jean-Luc-Bubert, Thomas Schubert, Ricarda Seifried) leisten Enormes. Man möchte nicht in ihrer Haut stecken und mehr ist von ihnen über weite Strecken auch nicht zu sehen. +Wie die realen NSU-Neonazis ihr Beziehungs- und Sexleben gestalteten, wissen wir nicht. Doch so explizit die Darstellung des Sex hier ist, so wenig pornografisch ist die Wirkung. Dasselbe gilt für die Mordszenen. Die enthemmte Brutalität der Täter wird gezeigt, die Würde der Opfer bleibt unangetastet (darin unterscheidet sich dieser Film wohltuend von so mancher gefeierten Thrillerserie). Es schmerzt auch so genug. +Was kaum vorkommt, ist der ideologische Rahmen, in dem die Verbrechen stehen. Ab und an ziehen die drei beim Trinken über Ausländer her. Ab und an wird "Deutschland! Deutschland!" gegrölt. Aber das geschieht scheinbar nebenbei; es geht darum, dass der Gewaltstau sich sein Ventil sucht. Mindestens ebenso wichtig ist es, innerhalb des Trios das richtige Ventil zu finden, eine endgültige Gruppenstruktur zu etablieren: Wer darf mit wem? Wer hat die Macht? Die eigentliche Macht hat, in diesem Film, die Frau: Mit hysterischer Eifersucht hält sie das Trio zusammen, lässt niemanden hinein, schon gar keine andere Frau, aber auch die sexuelle Spannung zwischen den Männern hält sie nicht aus. Die einzig richtige Lösung ist schließlich ein zünftiger Dreier. +Irgendwie ist der Nazischockerfilm auf seinen letzten Metern zu einer Paraphrase von Lars von Triers "Idioten" geworden. Es ist alles ein bisschen seltsam.Aber man kann sich ziemlich viel dazu denken. + +Titelbild: W-film / Heimatfilm diff --git a/fluter/riah-knight-jazz-sinti-roma.txt b/fluter/riah-knight-jazz-sinti-roma.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/rice-and-shine-podcast.txt b/fluter/rice-and-shine-podcast.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d8a147c431e1c96407e3cfb4791ec723725bdea9 --- /dev/null +++ b/fluter/rice-and-shine-podcast.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Gab es Anfang der 90er-Jahre noch massive rassistische Ausschreitungen gegen zugewanderte Vietnamesinnen und Vietnamesen –die Bilder von Rostock-Lichtenhagen sind unvergessen–, werden sie, zumindest seit einigen Jahren, häufig als "Vorzeigemigranten" bezeichnet. Ein Thema, das Minh Thu Tran und Vanessa Vu ausgiebig diskutieren. Ihre Eltern gehören zur ersten Einwanderergeneration. Und deren Erwartungen an ihre Kinder waren oft enorm: alles unter einer Eins in der Schule kaum akzeptabel. Jeder Cent wurde in Schulbildung investiert. Und schon ist es geboren:das Vorurteil vom ewig fleißigen, klugen Asiaten, das Minh Thu Tran und Vanessa Vu nicht mehr hören können. Über den realen Alltag heutiger vietnamesischer Einwandererfamilien in Deutschland wird bislang eher wenig berichtet – der Podcast verändert daran etwas. +Die beiden Journalistinnen sprechen über Themen, die man von so einem Podcast erwartet: Alltagsrassismus,kulturelle Aneignung, den Konflikt zwischen ihrer vietnamesischen Abstammung und Deutschsein. Sie sprechen aber auch über Verblüffendes: wie Aufstieg und Fall des "Bubble-Tea" die Community in eine tiefe Krise stürzte. Viele investierten damals in das Geschäft mit dem Tapioka-Kügelchen-Getränk. Nicht zuletzt als Wissenschaftler Schadstoffe in dem Getränk fanden, war der Trend schlagartig vorbei. Obwohl die Forschungsergebnisse nicht haltbar waren, waren die Folgen gravierend. Viele Vietnamesen in Deutschland hatten Geschäfte eröffnet und waren plötzlich finanziell ruiniert. +Oft laden Minh Thu Tran und Vanessa Vu Gäste mit vietnamesischen Wurzeln ein. Fun Fact: Der ehemalige FDP-Vorsitzende und Ex-Wirtschaftsminister Philipp Rösler ist in Vietnam so was wie ein Nationalheld, weil er es als von Deutschen adoptierter Vietnamese so weit gebracht hat. Im Podcast betont Rösler eine halbe Stunde lang unbeirrt,dass ihm kaum jemals Rassismus in Deutschland begegnet sei. Die meisten anderen Gäste sehen das anders. +Spannend ist auch die Folge darüber, wie sich das Lebenvietnamesischer Einwanderer im Ostenund Westen unterscheidet. In Ostdeutschland ist die vietnamesische Community bedeutend größer als im Westen, weil die DDR in den 70er- und 80er-Jahren sogenannte "Vertragsarbeiter"aus Vietnam ins Land holte. Journalistin, Speakerin und Moderatorin Nhi Le wuchs in Thüringen auf. Ihr selbst, sagt sie, begegnete kaum Alltagsrassismus. Inzwischen seien aber viele Vietnamesen in den Westen gezogen. Ihr jüngerer Bruder habe jetzt viel mehr mit Anfeindungen zu kämpfen. +Zwanzig Folgen gibt es bisher, viele mit selbstironisch bis kritischen Titeln wie "Sind wir rassistisch?", "Warum sind wir so K.L.U.K.?"oder "Wir Bananen: Außen gelb, innen weiß". Über letztere Selbstbezeichnung lachen die beiden dann so herzlich, dass man laut mitlachen muss. Minh Thu Tran und Vanessa Vu haben einen schonungslos ehrlichen, aber immer liebevolle Umgang mit der eigenen Vergangenheit. Wenn Minh Thu Tran erzählt, dass sie aus Angst vor der elterlichen Reaktion weinend mit einer Drei im Schulranzen nach Hause gelaufen ist. Und in der nächsten Folge lachend verkündet, die Mama habe sie angerufen und gefragt: "Warum redest du so schlecht über mich?" Sie sei aber nicht böse gewesen, sagt Minh Thu Tran. Die Eltern hätten ja in den letzten 20 Jahren auch dazugelernt und sich verändert. "Dass sie uns einfach zuhören. Wie krass ist das denn?" + +Den Podcast gibt eshier zu hören. diff --git a/fluter/richard-brox-ueber-sein-leben-als-obdachloser.txt b/fluter/richard-brox-ueber-sein-leben-als-obdachloser.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..99f4912ffd7b844e02aef9fd03e786a9b6dec567 --- /dev/null +++ b/fluter/richard-brox-ueber-sein-leben-als-obdachloser.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +Sie wohnen im Moment in einer Wohnung in Köln. Vermissen Sie das Leben auf der Straße manchmal? +Ich habe gelernt, das Berberleben zu lieben. Das ist Teil meiner Identität. Ich habe so viele Jahre auf der Straße gelebt, war deutschlandweit unterwegs – das streift man nicht von heute auf morgen ab. Das geht vielen so, die von der Straße kommen und dann wieder in einer Wohnung leben. Dort habe ich nicht mehr das Gefühl des Freiseins. +Sie bezeichnen sich selber als Berber. Was ist das? +Ein Berber ist ein Durchreisender ohne festen Wohnsitz. Wie ein Eremit, der an der Gesellschaft vorbeilebt, aber mit ihr mitlebt. Er meidet die Massen und verfügt über wertvolles Wissen über die Straße und lernt andere an. Informationen sind überlebenswichtig, wenn du obdachlos bist. Deswegen habe ich 2001 einenBloggestartet, um dieses Wissen mehr Menschen zugänglich zu machen. Wo sind die besten Notschlafstellen, welche Unterkunft ist besonders schlimm? Zum Berber-Kodex gehört auch, nicht alkohol-, drogen- oder glücksspielabhängig zu sein. +Wie sind Sie obdachlos geworden? +Im April 1986 ließ das Sozial- und Wohnungsamt die Wohnung meiner Eltern räumen. Meine Mutter war wenige Monate vorher gestorben. Ich hatte damals schwere gesundheitliche Probleme. Seit ich 13 war, nahm ich Kokain. Die Abhängigkeit hatte mit dem Tod meines Vaters begonnen. Nun stand ich mit 21 Jahren ohne Wohnung da, alles, was mir blieb, waren zwei Plastiktüten mit Sachen. In der selben Nacht ging ich zur Notübernachtung in Mannheim und wurde dort bestohlen. Da begann ich bei null. Mein Hab und Gut bestand nur noch aus den Klamotten, die ich gerade am Leib trug. Dass die Obdachlosigkeit so lange andauern würde, hätte ich niemals gedacht. Manchmal sage ich mir: Ich habe das von meinen Eltern vererbt bekommen. Sie hatten auch ein Leben auf der Flucht. Sie wurden von den Nazis verfolgt, meine Mutter war im KZ. +Wurde Ihnen von den Ämtern nicht geholfen? +Mit dem Sozial- und Gesundheitsamt hatte ich am Anfang noch einigen Kontakt. Mir wurde aber jede Hilfe verwehrt. Sie haben in meinem Fall total versagt. Die Sachbearbeiter hatten kein Verständnis für einen wie mich. 1989 war ich dann in Langzeittherapie. Das hat mir das Leben gerettet. Seitdem bin ich drogenfrei und Nichtraucher. + +Von solchen Leidensgeschichten und familiären Schicksalsschlägen können sicher viele Obdachlose berichten. +Ja, Familientragödien sind definitiv der Hauptgrund für Obdachlosigkeit. Das können Scheidungen oder der Tod des Partners oder eines Kindes sein. Daran erkranken viele Menschen psychisch und landen auf der Straße. Manche hatten auch eine insolvente Firma und dann so viele Schulden, dass es mit allem bergab ging. Mir sind Obdachlose aus vielen gesellschaftlichen Schichten begegnet. +In Deutschland hat sich die Zahl der Obdachlosen in den letzten zwei Jahren um 13.000 erhöht. Schätzungen zufolge leben heute ca. 50.000 Menschen auf der Straße. Was hat sich am Leben auf der Straße in den letzten 30 Jahren geändert? +Ein großer Einschnitt war die Einführung von Hartz IV. In der Folge hat sich die Armut schleichend und konsequent ausgebreitet. Hartz IV ist meiner Meinung nach dafür verantwortlich, dass die Obdachlosigkeit in den letzten Jahren stark zugenommen hat. Außerdem herrscht mehr Neid und Konkurrenz unter den Obdachlosen. Hartz IV hat mehr soziale Kälte in die Gesellschaft gebracht. Ein anderes Problem ist, dass Kommunen die Flüchtlinge bei der Wohnungsvergabe oftmals bevorzugen. +Richard Brox: "Kein Dach über dem Leben. Biografie eines Obdachlosen". Mit einem Vorwort von Günter Wallraff. Mitarbeit Dirk Kästel, Albrecht Kieser. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2017, 272 Seiten, 9,95 Euro +Das ist ein Argument, das auch Rechte gerne benutzen. +Das mag sein, aber viele Leute auf der Straße haben eben das Gefühl, dass Ämter Flüchtlinge bei der Wohnungsvergabe bevorzugen. Dadurch herrscht Unmut unter den Menschen, die in dem Ort schon länger leben und keine Wohnung haben. Dieses Denken ist natürlich ein Fehler. Alle Menschen haben gleichermaßen Hilfe verdient. Wir dürfen uns nicht gegeneinander ausspielen lassen. Trotzdem: Es muss zwischen Wohnungslosen, die keine feste Bleibe haben, aber in einem Wohnheim oder einer Sammelunterkunft unterkommen, und Obdachlosen, die wirklich auf der Straße leben, unterschieden werden. Da ist mir auch egal, ob es ausländische oder deutsche Obdachlose sind. + +Wohnungslose und Obdachlose +Es wird zwischen Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit unterschieden. Obdachlose haben weder Wohnsitz noch Unterkunft und müssen im öffentlichen Raum, in Parks oder Bahnhöfen übernachten. Wohnungslose haben zwar keinen eigenen Mietvertrag, übernachten aber regelmäßig in kommunalen Einrichtungen, Notunterkünften, Flüchtlingsheimen oder in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe. Die Wohnungslosigkeit hat in Deutschland in den letzten Jahren stark zugenommen. Von 2014 bis 2016 stieg die Zahl der Wohnungslosen von 335.000 auf 860.000. Grund dafür sehen Experten in den steigenden Mieten und dem Mangel an Sozialwohnungen, die gerade von geflüchteten Personen gebraucht werden. Obdachlos sind Schätzungen zufolge derzeit 52.000 Menschen, 13.000 mehr als noch vor zwei Jahren. +Die Erlöse aus den Verkäufen Ihres Buches wollen Sie spenden. Warum behalten Sie sie nicht einfach selbst? +Ich kenne den Geruch des Geldes und habe gemerkt, dass es mir nicht wichtig ist. Ich baue gerade eine Initiative auf, die sterbenskranke Obdachlose begleitet. Bisher gibt es für diese Fälle keine Hospize. Viele Obdachlose sterben einsam im Krankenhaus, oftmals in jungen Jahren. Drei meiner Brüder sind in den letzten vier Jahren gestorben. Ein solches Hospiz hätten sie sich gewünscht. +Sie waren Brüder im Geiste? Oder Angehörige? +Auf der Straße gibt es keine Freunde. Nur Kollegen und Brüder. Mit Brüdern teilt man das letzte Stück Brot, die Einsamkeit am Tag und die Kälte. Man macht Pläne zusammen, reist ein paar Wochen gemeinsam. +Wie oft geben Sie eigentlich Bettlern etwas Geld? +Ich gebe einmal am Tag demjenigen etwas, bei dem ich das Gefühl habe, dass er am notleidendsten ist. Im Moment kriege ich Hartz IV und habe weniger als zehn Euro pro Tag zum Leben. Als ich noch Sitzung mit einem Schild "Bitte um eine milde Gabe" machen musste, war ich immer froh über einen warmen Kaffee im Winter oder einen Eintopf. Jetzt, als "Geber", frage ich die Leute gerne, womit ich ihnen eine Freude machen kann. Die Leute teilhaben zu lassen und mit ihnen zu reden ist wahnsinnig wichtig. + + + +Fotos: Tim Ilskens diff --git a/fluter/richtige-stelle.txt b/fluter/richtige-stelle.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a5c2ffe0360812d3c6b8fd94f4d2273ab8ea32e1 --- /dev/null +++ b/fluter/richtige-stelle.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Das alles klingt nach einer humanen Lösung für ein großes Problem, schließlich befinden sich die Langzeitarbeitslosen meist in einem Teufelskreis: Wer lange joblos ist, verliert nämlich nicht nur die Fähigkeiten, die er mal in der Ausbildung gelernt hat, sondern auch zunehmend die Motivation – und fühlt sich am Ende als Deklassierter in einer auf Wertschöpfung getrimmten Gesellschaft. Doch es gibt durchaus Kritiker. Sie wenden ein, dass die Bürgerarbeit das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit nur für eine kurze Phase verdecke und zudem die Jobcenter aus ihrer Pflicht entlasse, den Arbeitslosen eine Stelle auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt zu beschaffen. Andere befürchten, dass Bürgerarbeit zur Abschaffung regulärer Stellen führe. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen, die das Projekt in diesem Jahr auf den Bund ausweitet und 160.000 Arbeitslose zunächst in einer Testphase daran teilnehmen lassen will, spricht hingegen von der "konsequentesten Form des Fordern und Förderns". Laut Plan der Koalition könnten die Bürgerarbeiter nach einer intensiven Aktivierungsphase ab 2011 in größerem Umfang in den Bereichen Gesundheit, Naturschutz, Landschaftspflege, Sport, Kinder und Jugend tätig werden. +Die Schlussfolgerungen aus den Modellversuchen in Sachsen-Anhalt und Bayern sind nicht eindeutig: Einerseits ist die Arbeitslosenquote in den Modellregionen tatsächlich signifikant gesunken, andererseits hat bei Weitem nicht jeder der geförderten Menschen im Anschluss an die Bürgerarbeit eine reguläre Stelle gefunden. Fest steht aber, dass die Bürgerarbeit bislang der ambitionierteste Ansatz ist, eine Lösung dafür zu finden, dass es für eine stattliche Zahl von Menschen einfach keine Arbeit mehr gibt – und das gilt für alle westlichen Industrieländer. Längst führt Wirtschaftswachstum nämlich nicht mehr wie früher zur Schaffung neuer Arbeitsplätze, sondern im Gegenteil zu deren Abschaffung. Kurz gesagt: Wenige gut Ausgebildete erledigen auch dank neuer Technologien die Arbeit für viele. "Angesichts des nicht zu behebenden und wachsenden Mangels an Arbeitsplätzen", so schreibt die französische Publizistin Viviane Forrester in ihrem Buch "Der Terror der Ökonomie", "ist es lächerlich und grausig, jedem der Millionen zählenden Arbeitslosen eine nachweisbare und ständige Suche nach einer Arbeit, die es gar nicht gibt, zu verordnen." + +Grundeinkommen: +Seine Anhänger wollen das bedingungslose Grundeinkommen für jeden – egal, ob er Arbeit hat oder eine sucht. Sie sehen darin einen Weg zu sozialer Gerechtigkeit, außerdem würden Existenzgründungen und ehrenamtliche Tätigkeiten gefördert. "Wir kommen endlich von unserem bornierten Arbeitsbegriff weg, bei dem Erwerbsarbeit alles und Tätigkeiten in Vereinen, Sozialeinrichtungen und Bürgerinitiativen so gut wie nichts wert sind", sagt der Sozialwissenschaftler Wolfgang Storz. Kritiker befürchten u.a., dass der Antrieb verloren gehe, sich Arbeit zu suchen. diff --git a/fluter/richtungweisend.txt b/fluter/richtungweisend.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..108cc1d4c974d8dfdb336bf0a28cc8c6c5a597b7 --- /dev/null +++ b/fluter/richtungweisend.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Außerdem werden insgesamt rund 3.500 Unternehmen verpflichtet festzulegen, auf welchen prozentualen Wert sie den Frauenanteil in leitenden Positionen erhöhen wollen. Eine Untergrenze gibt das Gesetz dabei allerdings nicht vor. Es gilt aber: Liegt der Frauenanteil in einer Führungsebene unter 30 Prozent, dann dürfen die gesteckten Ziele nicht niedriger ausfallen. Bis Mitte 2017 sollen die Unternehmen diese Werte erreichen. Auch für den öffentlichen Dienst sieht das Gesetz Änderungen vor, stärkt die Rolle von Frauen und erhöht ihre Chancen. "Die Quote ist ein Meilenstein für die Gleichberechtigung", sagt Justizminister Heiko Maas. +Debattiert wird schon sehr lange über eine gesetzliche Quote, und die Äußerungen dazu zeigen, aus welchen Gründen Politikerinnen dafür und dagegen waren oder sind.Einige Politiker haben ihre Meinung in den vergangenen Jahren geändert. +Im Jahr 1994 sagte die damalige Bundesministerin für Frauen und Jugend, Angela Merkel, dass sie eine Quote nicht wolle: "Natürlich weiß ich, dass der Frauenanteil mit der Quote mit höherer Wahrscheinlichkeit steigt. Dennoch widerspricht die Quote meiner Auffassung von freiwilligem menschlichem Handeln." +Auch Ursula von der Leyen war 2007 als Bundesfamilienministerin gegen die Quote: "Die Wirtschaft würde nur viel Energie darauf verschwenden, diese Quoten zu umgehen. Und die Frauen würden sich selbst schaden, weil sie damit ihr Licht unter den Scheffel stellen." Im Jahr 2011 sprach sich von der Leyen dann für die Frauenquote aus, weil der Weg für Frauen in Führungspositionen schwieriger sei als für Männer. Schließlich trat auch Angela Merkel für die Frauenquote ein. +Die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder bleibt hingegen bei ihrer ablehnenden Haltung. Sie gibt Anfang März 2015 im Bundestag zu Protokoll: "Aus einer Unterrepräsentanz lässt sich nicht zwangsläufig auf eine Diskriminierung schließen." Die Frauenquote könne die Chancen eines Einzelnen verringern, "weil andere Angehörige seines Geschlechts tatsächlich oder vermeintlich Vorteile genossen haben". +Die Zahlen sprechen jedenfalls bisher eine eindeutige Sprache: In Unternehmen, Ministerien, an Universitäten und in Krankenhäusern haben Männer dieüberwiegende Mehrheit der Führungspositioneninne. +"Ohne eine Quote finden nicht mehr Frauen den Weg an die Spitze – das haben die letzten Jahre gezeigt. Wir halten das Gesetz daher für sehr sinnvoll", sagt Stephanie Bschorr, Präsidentin des Verbandes deutscher Unternehmerinnen. Frauen an der Spitze, etwa in Aufsichtsräten, seien als Vorbilder wichtig und weil sie im Aufsichtsrat wiederum Frauen für die Unternehmensspitzen nominieren können. Anders sei es bei den Vorständen. "Eine gesetzliche Quotierung an dieser Stelle lehnen wir als Wirtschaftsverband ab", sagt Bschorr, da eine solche Vorgabe unmittelbar in die operative Unternehmensführung eingreife. +Die Sozialwissenschaftlerin Ulla Hendrix vom"Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW"kritisiert, dass Frauen trotz vergleichbarer oder zuweilen sogar höherer Qualifikation als Männer immer noch nicht annähernd so stark in Führungspositionen vertreten seien wie Männer. Deshalb sei eine Quote sinnvoll. +"Eine Quote, etwa für Vorstände und Aufsichtsräte, trägt dazu bei, die einseitige Zusammensetzung von Entscheidungsgremien aufzubrechen. Damit geht es nicht nur um eine gerechtere Verteilung privilegierter Positionen, sondern auch darum, dass gesellschaftlich relevante Entscheidungen anders kontrolliert werden: von Gruppen, die stärker die Gesellschaft widerspiegeln." +Weitere Maßnahmen zur Förderung von Frauen blieben trotz der Quote wichtig, etwa Gleichstellungsprojekte und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. +Felix Ehring arbeitet als freier Journalist. Bei der Recherche wurde ihm von Zahl zu Zahl klarer: Ob es nun um Armut, Geburten, Arbeitslosigkeit oder Klimaschutz geht – Interessengruppen führen eine teilweise erbitterte Debatte um die Deutungshoheit dieser Zahlen. Und: Einige Journalisten vermelden amtliche Zahlen einfach, ohne sie zu hinterfragen und einzuordnen. Dabei gilt für jede Zahl: Sie sagt nicht nur etwas aus, sie verschweigt auch etwas. diff --git a/fluter/riefenstahl-dokumentation-rezension.txt b/fluter/riefenstahl-dokumentation-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a001fc6cf351a5a3c01aaee786eb7eb9c8d93772 --- /dev/null +++ b/fluter/riefenstahl-dokumentation-rezension.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Der Dokumentarfilm behandelt auch die Frage nach individueller Verantwortung und Schuld in einer totalitären Gesellschaft: 90 Prozent der Deutschen wären vor dem Krieg von Hitler begeistert gewesen, behauptet Riefenstahl: "Eine Widerstandskämpferin hätte ich sein sollen?", fragt sie ironisch. Riefenstahl, das macht der Film deutlich, inszenierte sich jahrzehntelang als Opfer ihrer angeblichen politischen Naivität, statt Verantwortung für ihr Tun und Denken zu übernehmen. +Der Dokumentarfilm von Regisseur Andres Veiel nutzt ausschließlich historisches Archivmaterial: private Bilder und Dokumente aus Riefenstahls Nachlass, Telefongespräche, die sie jahrelang akribisch auf Tonband aufzeichnete, ihre eigenen Filme, Interviews, Talkshowauftritte. "Riefenstahl" verzichtet auf Expert*innen oder Zeitzeug*innen. Stellenweise gibt es einen erläuternden, sehr nüchternen Off-Kommentar, der Riefenstahls Widersprüche und Lügen jedoch nicht enttarnt, das sollen der Schnitt und die Nachlassdokumente selbst übernehmen – ein Vorhaben, das aber nicht immer aufgeht. Auf Riefenstahls Aussage, im Parteitagsfilm "Triumph des Willens" gehe es nur um Frieden und Arbeit, folgt beispielsweise eine Szene aus dem Film, in dem Reichsminister Rudolf Heß über das Volk spricht, das sein Erbgut rein halten muss – ohne weiteren Kontext. +Riefenstahls Nachlass sollte nach dem Tod ihres Lebensgefährten Ende 2016 an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz übergehen. Die TV-Journalistin und Produzentin Sandra Maischberger vereinbarte mit der Stiftung: Ihre Produktionsfirma erfasst den Inhalt der 700 Kisten, dafür darf sie das Material für eine Dokumentation nutzen. +"Riefenstahl" bietet keine große Enthüllung, wie man es vielleicht erwartet hätte, wenn erstmals Unmengen an Unterlagen ausgewertet werden können. Regisseur Andres Veiel und sein Team mussten die Dokumente kritisch überprüfen und haben Leerstellen entdeckt: So ist ein Interview aus dem Jahr 1934, in dem sie erzählte, "Mein Kampf" gelesen zu haben, nicht in ihrem Nachlass enthalten. Sie berichtete darin, die Lektüre habe sie zur begeisterten Nationalsozialistin werden lassen. Riefenstahls Behauptung, unpolitisch gewesen zu sein, erweist sich so als Lüge. Obwohl die Regisseurin also auch in Sachen Nachlass die Deutung ihres Lebens kontrollierte, gibt es erstaunliche Funde: Sie telefonierte mit vielen Bürger*innen, die ihr nach einem Talkshowauftritt 1976 ihre Sympathie aussprachen. Ein Mann prophezeite ihr, in ein oder zwei Generationen würden die Deutschen zurück zur Moral finden. Riefenstahl stimmte zu, denn "das deutsche Volk hat ja die Anlage dafür". +Fast ein Drittel der Deutschen glaubt laut einer Studie, die eigenen Vorfahren hätten im Dritten Reich NS-Opfern geholfen – dabei waren es nach historischen Schätzungen nur 0,3 Prozent. Das ist Ausdruck von Verdrängung, wo ein historisches Bewusstsein nötig wäre. Gleichzeitig ist das Thema Propaganda auch heute relevant. "Alternative Fakten" und Fake News prägen viele politische Debatten. Desinformation, beispielsweise aus Russland, versucht, Wahlen in der westlichen Welt zu beeinflussen. Und die Riefenstahl-Ästhetik lebt in autoritären Staaten etwa in Filmen von Militärparaden weiter. Da ist es nicht nur wichtig, auch subtile Propaganda als solche zu erkennen, sondern auch, ihre historischen Vorbilder und ihre Muster zu durchschauen. Auch wenn die Dokumentation selbst diese aktuellen Bezüge nicht direkt herstellt, kommen sie einem beim Schauen des Films doch in den Sinn. +Man sieht "Riefenstahl" den immensen Aufwand an, den es gebraucht hat, um den Nachlass nicht nur zu erschließen, sondern ihn in einen Film zu gießen. Wer noch nie von der Filmemacherin gehört hat, wird es jedoch nicht leicht haben, alles zu verstehen und einzuordnen. Die Dokumentation ist ein anspruchsvoller weiterer Beleg für Riefenstahls Lügen. Doch der Film versucht weder durch seinen Zugang noch die Machart, eine jüngere Zielgruppe zu erreichen. Das ist schade, zumal es sogar das erklärte Ziel der Produzentin Sandra Maischberger war: einen Film sowohl für "Filmhistoriker, die jedes Detail über sie wissen" zu machen als auch "für die Generation meines Sohnes, der siebzehn ist und der den Namen Leni Riefenstahl nie gehört hatte". Aber das ist vielleicht einfach unmöglich. + +"Riefenstahl" läuft ab dem 31.10. im Kino. + +Fotos: Majestic Filmverleih diff --git a/fluter/riskante-liebe.txt b/fluter/riskante-liebe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9b39f9ed18a7f8c27d226490599b271fdd7fa786 --- /dev/null +++ b/fluter/riskante-liebe.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +In vielen Staaten ist das Leben für LGBTIQ*-Personen ein ständiges Versteckspiel. Sie werden ausgegrenzt, beschimpft und geschlagen, verfolgt werden die Täter in der Regel nicht. Im Gegenteil: Meist fühlen sie sich im völligen Einklang mit den Politikern. Der populäre ghanaische Regionalminister Paul Evans Aidoo schlug einst vor, alle Homosexuellen in der von ihm regierten westlichen Region festzunehmen. Die Bürger wurden aufgefordert, Verdächtige zu melden, und Aidoo versprach: "Wir werden alle Anstrengungen unternehmen, um diese Menschen loszuwerden." Dabei gibt es im ghanaischen Gesetz noch aus der britischen Kolonialzeit einen Paragrafen, der die Diskriminierung erleichtert. Demnach sind "unnatürliche fleischliche Gelüste" verboten. Nicht nur in Ghana ist dieses koloniale Relikt ein Hebel, um gegen Schwule und Lesben vorzugehen. +Was nicht der heterosexuellen Norm entspricht, gilt in vielen Staaten als zweifelhafter Lifestyle aus dem Westen, als unnatürlich und unafrikanisch. In Sambia wurde Appellen an die Menschlichkeit mit dem Argument begegnet, dass es sich bei Homosexuellen gar nicht um Menschen handle. Und selbst wenn moderne Antidiskriminierungsgesetze existieren wie etwa in Südafrika, ist dies nicht unbedingt ein ausreichender Schutz. So werden dort immer wieder Lesben vergewaltigt, um sie von ihrer "Krankheit" zu heilen (siehe auch "fluter" Nr. 44). +Dass afrikanische Homosexuelle so bedrängt werden, liegt auch am Einfluss der Religionen, etwa in Regionen, in denen der Islam rigide ausgelegt wird. Oder dort, wo evangelikale Kirchen große Anhängerschaften haben. So sind in Uganda viele der Gläubigen Mitglieder der Pfingstkirche "International House of Prayer" aus den USA, die besonders strenge Moralvorstellungen predigt. Und in Ghana riet die mächtige Vereinigung "Christian Council of Ghana" ihren Mitgliedern vor der letzten Präsidentschaftswahl, keinen Kandidaten zu wählen, der sich für die Rechte Homosexueller starkmacht. +So bleibt vielen LGBTIQ-Personen als Ausweg nur ein Leben im Verborgenen. Manchmal können sie nicht mal ihren Angehörigen die Wahrheit sagen. So kamen James Mwape und Philip Mubiana in Sambia ins Gefängnis, nachdem sie von ihrer Familie angezeigt worden waren. +*Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Inter-sexual, Queer diff --git a/fluter/robert-biedron-erster-schwuler-politiker-in-polen.txt b/fluter/robert-biedron-erster-schwuler-politiker-in-polen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ba3f21098a7e837840eb0922bcaff8dc6985803d --- /dev/null +++ b/fluter/robert-biedron-erster-schwuler-politiker-in-polen.txt @@ -0,0 +1,30 @@ +Er hat zudem das Porträt des polnischen Papstes Johannes Paul II. aus seinem Büro entfernt, ebenso einige Spirituosen und einen Fernseher mit einem Pornokanal-Zugang. Stattdessen hat er ein Foto seines Partners auf den Schreibtisch gestellt. Er reduzierte sein eigenes Gehalt und bewegte sich fortan nur noch mit dem Fahrrad oder zu Fuß durch Słupsk, wenngleich ihm seine Kritiker nachsagen, es sei ohnehin wahrscheinlicher, dass man ihm in den Straßen der Hauptstadt Warschau begegne. +Vor dem Eintreten anklopfen? Dem Bürgermeister ist das ziemlich egal +Als bei einer Umfrage zur Präsidentschaftswahl 2020 vor kurzem 15 Prozent der Befragten angaben, ihn wählen zu wollen, erklärten die Medien ihn zu einem polnischen Hoffnungsträger und Durchstarter: Während die polnische Linksliberale ihn bejubelt, sehen andere ihn kritischer als jemanden, der die Medien für sich zu nutzen weiß. Viele religiöse Polen und auch Unterstützer der rechtskonservativen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) wiederum unterstellen ihm eine antipolnische Einstellung und nehmen Anstoß an seiner sexuellen Orientierung. + + +Wie ist Biedroń da angekommen, wo er heute ist? Die 90er-Jahre waren keine einfache Zeit für einen schwulen Teenager, jedenfalls nicht im Karpatenvorland, einer der in politischer und religiöser Hinsicht konservativsten Regionen Polens. Dort ist Biedroń aufgewachsen. In einer Berufsfachschule für Hotelmanagement verliebte er sich in einen Klassenkameraden. Im Unterricht hieß es, Homosexualität sei eine Krankheit. +"Es war sehr hart für mich, denn in Polen wurde Homosexualität damals nur mit Aids assoziiert", erinnert sich Biedroń. "Ich hatte das Gefühl, ich sei der einzige Schwule im ganzen Dorf und kaum Hoffnung, je einen anderen homosexuellen Mann zu treffen." 1995 ist Biedroń dann nach Berlin getrampt und hat dort die LGBT-Organisation Man-O-Meter kennengelernt. Er kehrte nach Polen zurück, begann ein Studium der Politikwissenschaften und beschloss, sein Leben dem politischen Aktivismus zu widmen. "Ich erkannte damals, dass man anders leben kann, ohne sich für seine sexuelle Orientierung schämen zu müssen." + +Möchte Rathaus und Bürger näher zusammenbringen – dafür sitzt er auch schon mal auf dem Tisch + +Ende 2017 hat das polnische Parlament eine Reihe von Änderungen im Wahlrecht des Landes beschlossen. Allerdings wurde der kontroverseste Vorschlag, der den Zuschnitt der Wahlbezirke und die Änderung der Direktwahl in ein Verhältniswahlrecht betraf und die Wahlergebnisse in Zukunft womöglich stark beeinflusst hätte, in letzter Minute doch wieder zurückgenommen. Dennoch: Dass in Zukunft die staatliche Wahlkommission mehrheitlich durch Parlamentsmitglieder statt durch unabhängige Richter besetzt werden soll, sorgt immer noch für heftige Diskussionen. Auch wird das Innenministerium ab 2019 einen größeren Einfluss auf die Besetzung der Wahlleiter vor Ort nehmen können. Diese Gesetzesänderungen werden von Experten und der politischen Opposition kritisiert. Sie geben zu bedenken, dass es so zu einer Politisierung von Wahlposten und letztlich auch zu Wahlfälschungen kommen könne. Die regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) hingegen sagt, dass sie auf diese Weise die Tranparenz des Wahlverfahrens erhöhen wolle. Die bevorstehenden Kommunalwahlen im Jahr 2018 sind von diesen geplanten Änderungen jedoch noch nicht betroffen. +Im katholisch geprägten Polen war Homosexualität lange ein Tabu. Bis heute gibt es dazu in den Schulen keine angemessene Aufklärung, es gibt viel Gewalt gegen homosexuelle Menschen und Lebenspartnerschaften, und Eheschließungen zwischen gleichgeschlechtlichen Menschen sind in Polen gesetzlich nicht anerkannt. Unter der PiS-Regierung dürfte das auch bis auf weiteres so bleiben, auch wenn einer aktuellen IPSOS-Umfrage zufolge 32 Prozent der Polen eine solche Gesetzesänderung befürworten. +Die polnische LGBT-Organisation Kampagne gegen Homophobie (KPH), die Biedroń 2001 mitbegründet hat, sieht darin einen Stimmungswandel. "Als wir begannen, wurden schwule Männer im Fernsehen mit schwarzen Balken vor den Augen unkenntlich gemacht, und die Menschen sprachen über ‚diese Dinge' im Flüsterton oder lieber gar nicht", erklärt Marta Abramowicz, Mitgründerin von KPH. "Viele Schwule ließen uns wissen, dass sie darüber nachdachten, ihrem Leben eher ein Ende zu bereiten, als es weiter im Verborgenen führen zu müssen." Im Laufe der Jahre sei es aber gelungen, Homosexuellen mehr Mut zuzusprechen. So sei die polnische Gesellschaft toleranter geworden. +2011 ist Robert Biedrón dann als erster offen Homosexueller ins polnische Parlament gewählt worden – zusammen mit Anna Grodzka, einer Transsexuellen. "Niemand hatte es bis dahin für möglich gehalten, dass ich es bei den Parlamentswahlen schaffen könnte."  Biedroń hat sowohl verbale als auch körperliche Gewalt erfahren, mehrere Male. Heute habe er ein dickes Fell, sagt er. Er reagiert nicht mit Aggression auf Anfeindungen, aber er ist auch bereit zu kämpfen. +In der Zeit seiner Kandidatur fürs Bürgermeisteramt ist er bei einem Basketballspiel ausgebuht worden. Als er dann Bürgermeister war, ist er ein zweites und ein drittes Mal hingegangen. Beim letzten Mal wurde er dann mit Ovationen empfangen. + + +Wenn es um seine Heimatregion geht, erinnert Biedroń sich vor allem an das Gefühl der Isolation, wenn man dort "schwul, links und atheistisch" war, wie Biedroń sich selbst beschreibt. Er sieht aber auch die sozialen Probleme, mit denen die Menschen in den Jahren der Systemtransformation ab 1989 konfrontiert waren. Die Modernisierung hat damals hauptsächlich in den großen Städten stattgefunden, während der Rest des Landes zu großen Teilen in Arbeitslosigkeit und Frustration versank. Gewalt und Alkohol waren Alltag für Biedroń und seine Klassenkameraden. +Eine Kritikerin bemängelt, Biedroń würde inkompetenten Freunden gut bezahlte Jobs bei der Stadt verschaffen. Die Einwohner von Słupsk sehen das anders: 70 Prozent sind mit der Arbeit zufrieden +"Słupsk, genau wie mein Heimatort Krosno, war in den Jahren des Kommunismus die Metropole der Region", erklärt er. "Das Leben florierte hier, der öffentliche Nahverkehr funktionierte wie am Schnürchen, die Menschen kamen hierher, um zu studieren und zu arbeiten. Daran erinnern sich viele Einwohner noch, und deshalb haben sie den Zusammenbruch dieser Orte als sehr schmerzhaft erlebt. Der Glaube, dass die steigende Flut alle Boote mit hochheben würde, stellte sich als ein Wunschtraum heraus." +2014 stellte sich Biedroń zur Wahl für das Bürgermeisteramt. Er versprach eine grüne, menschenfreundliche und transparente Stadt, in der der Zugang zu öffentlichen Leistungen leicht sein soll, und die finanziellen Schwierigkeiten, die sein Vorgänger hinterlassen hatte, sollten aus dem Weg geräumt werden. Biedroń gewann die Wahl mit 57 Prozent der Stimmen. +Auch durch gutes Finanzmanagement ist es ihm gelungen, 2016 erstmals wieder 20,5 Millionen Złoty (ungefähr 4,8 Millionen Euro) Überschuss zu erwirtschaften, nachdem die Stadt die Jahre davor immer weiter Schulden angehäuft hatte. Er führte Quoten ein, damit gleich viele Männer und Frauen im Stadtrat sitzen, und anstatt einen ideologischen Krieg anzuzetteln, ist er mit allen Ratsfraktionen in einen Dialog getreten. Die Arbeitslosigkeit in der Stadt ist gesunken, und die große Abwanderung von Menschen aus Słupsk in den vergangenen Jahren wurde kompensiert durch Zuwanderer, hauptsächlich aus der Ukraine. +Mit Wollmütze raus aus dem Rathaus und rein in die Stadt. Mittlerweile kennt fast jeder Pole die kleine Stadt Słupsk – wegen ihres Bürgermeisters, aber auch, weil sie sich so gut entwickelt +Es gibt aber auch viel Kritik: Biedroń schiele vor allem auf das gute Bild, das er in den Medien abgebe, seine hehren Versprechungen halte er nicht ein. Er reise zu viel in der Welt herum und gebe Interviews, um sich selbst zu promoten, anstatt sich um die Regierung von Słupsk zu kümmern. "Als Bürgermeister hatte Biedroń bisher keinen Erfolg, was dadurch bedingt ist, dass er bei Sitzungen des Stadtrates oder auch sonst im städtischen Leben und im Rathaus durch Abwesenheit geglänzt hat", sagt Patrycja Jędrzejewska, eine Doktorandin am Institut für Geschichte und Politikwissenschaften an der Pommerschen Universität in Słupsk. Und sie ergänzt: "Der einzige positive Aspekt seiner Arbeit ist, dass er Słupsk in Polen sehr bekannt gemacht hat." +440.000 Follower hat Biedroń auf Facebook – mehr als jeder andere polnische Politiker +Bei der Frage beispielsweise, wie das geplante Freizeitbad in Słupsk fertiggestellt werden soll, erscheine Biedroń ziemlich ratlos. Ärgerlich sei auch, dass er Freunden hoch bezahlte Posten bei der Stadt verschaffe, statt auf Leute zu setzen, die wirklich über die nötige Erfahrung verfügen. +Die Einwohner von Słupsk sehen das mehrheitlich anders. Rund 70 Prozent von ihnen unterstützen Biedroń neuesten Umfragen zufolge, was mit Blick auf das politische Meinungsklima in ganz Polen eine beachtliche Zahl ist. "Ich studiere in Danzig und muss mich nicht mehr schämen, wenn ich erzähle, von wo ich komme", sagt eine junge Frau auf der Straße begeistert. Słupsk ist zu einem Symbol dafür geworden, wie sich kleine Städte auch entwickeln können – und Biedroń in linksliberalen Kreisen einer der populärsten Politiker des Landes. Die Medien haben das als den "Biedroń-Effekt" bezeichnet. Auf Facebook hat der Bürgermeister mehr als 440.000 Follower – mehr als jeder andere polnische Politiker. Aber Biedroń ist nicht überall beliebt. Die rassistischen und homophoben Einstellungen haben wieder zugenommen, wie Nichtregierungsorganisationen festgestellt haben, und sie nehmen an, dass das auch durch Statements von Politikern aus dem Regierungslager befeuert wurde. +Und wie steht er zu einer Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl 2020? Biedroń selbst denkt, dass die Zustimmungsrate in Umfragen eine Auswirkung der Tatsache ist, dass viele Bürger des Landes des "polnisch-polnischen Krieges" müde sind. So wird in Polen das große Zerwürfnis zwischen dem konservativen und dem liberalen Lager bezeichnet, die sich politisch und kulturell feindselig gegenüberstehen. Erst mal konzentriert er sich auf die nächsten Kommunalwahlen, bei denen er hofft, als Bürgermeister im Amt bestätigt zu werden. Zurzeit sieht es gut aus. + + diff --git a/fluter/robert-rubin-finanzkrise-wall-street.txt b/fluter/robert-rubin-finanzkrise-wall-street.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bdda53f9e51bf1c4cb436f1c95eda7602bb11842 --- /dev/null +++ b/fluter/robert-rubin-finanzkrise-wall-street.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Nicht nur die richtige Uni, auch das richtige Netzwerk kann in den USA entscheidend sein. In Bruderschaften, den sogenannten Fraternities, wird die Männerbündelei bei gemeinsamen Trinkgelagen zum wichtigen Teil des Studentenlebens. Besonders exklusiv sind die sogenannten Ehrengesellschaften, die ihre Mitglieder streng nach Leistung und Noten auswählen. Rubin trat schon früh der ältesten Studentenverbindung der USA, "Phi Beta Kappa", bei, zu deren ehemaligen Mitgliedern allein 17 US-Präsidenten zählen. +Durch die guten Beziehungen seines Vaters bekam der damals 28-jährige Rubin 1966 nach dem Studium einen Job bei der Investmentbank Goldman Sachs, doch er spürte schnell, dass ihm die Arbeit dort nicht den Einfluss brachte, den er sich erhoffte. Wichtiger als die Finanzbranche waren damals noch andere gesellschaftliche Bereiche – etwa das Kulturleben rund um den Broadway und die Politik. +Zugang verschaffte sich Rubin über seine Frau Judy: Er begleitete sie regelmäßig zu Theater- und Ballettaufführungen und kam bei VIP-Partys mit den Chefs der wichtigsten Institutionen ins Gespräch. Einer von ihnen war ein alter Studienfreund, Sherwin Goldman, der Rubin bald in das Gremium des American Ballet Theatre berief. "Die externen Engagements halfen auch meiner Karriere bei Goldman Sachs, da ich gestandene Menschen traf, die wiederum Kunden oder potenzielle Kunden unserer Kanzlei waren", gab Rubin später in seiner Biografie zu. +Der Weg in die Politik wiederum war eine Geldfrage. Als ihn dieDemokratische Parteifragte, ob er ein Spendendinner für den Wahlkampf organisieren könne, rief er einen alten Familienfreund in Miami an, der durch Goldman Sachs zu Reichtum gekommen war. Der Mann und seine Geschäftspartner stellten 40.000 US-Dollar für die Veranstaltung bereit, bei der schließlich mehr als eine Million gesammelt wurde. Rubin hatte seine Nützlichkeit für die Politik unter Beweis gestellt, fortan meldeten sich die Demokraten bei ihm, wenn sie die Unterstützung der Wall Street brauchten. Zwei Präsidentschaftskampagnen unterstützte Rubin finanziell, mittlerweile besaß er auch selbst genug Geld. Als Chef von Goldman Sachs wurde er zum vielfachen Millionär. +Als Bill Clinton 1992 mit Hilfe der Wall Street US-Präsident geworden war, machte er Rubin zu seinem obersten Wirtschaftsberater, der Clinton entsprechend beeinflusste. Der Präsident, der als Mann der Mittelklasse angetreten war, entwickelte sich zu einem Befürworter wirtschaftsliberaler Maßnahmen. So unterzeichnete er in seiner zweiten Amtszeit, in der Rubin zum Finanzminister aufstieg, ein Gesetz zur Abschaffung des sogenannten Glass-Steagall Act, der Banken vorschrieb, das Geschäft mit Privatkunden und das Investmentbanking strikt zu trennen – um beim teilweise gefährlichen Spekulieren an der Börse nicht das Geld der normalen Sparer zu riskieren. Diesen Schritt führten viele später als einen wichtigen Grund für die Finanzkrise an, weil die Banker weitgehend ohne Regulierung mit Milliarden jonglierten und ihre Geldhäuser in den Ruin trieben. Aber Mitte der 1990er-Jahre war die Welt an der Wall Street noch in Ordnung. Man verdiente obszön viel Geld, und Rubin widmete sich einem neuen Zirkel, in dem die Zukunft geplant wurde. Jeden Donnerstag traf er sich zu einem vertraulichen Frühstück mit Lawrence Summers, der später mit seiner Hilfe Präsident von Harvard werden sollte, und Alan Greenspan, der später Präsident der US-Notenbank wurde. Diverse Posten wurden unter Freunden aufgeteilt: 1999 übernahm Summers Rubins Posten als Finanzminister, 2002 wurde Rubins alter Goldman-Buddy Stephen Friedman oberster Wirtschaftsberater des neuen Präsidenten George W. Bush. +Rubin selbst wechselte 1999 erneut die Seiten. Er verließ die Regierung und stieg bei der Citigroup-Bank ein. Als die zehn Jahre später kurz vor dem Zusammenbruch stand, fügte es sich günstig, dass mit Hank Paulson ein ehemaliger Goldman-Kollege das Finanzministerium leitete. Die Regierung rettete Citigroup – und Rubin rettete sich selbst. Während viele US-Amerikaner in der Finanzkrise ihren Besitz verloren, belief sich sein Vermögen auf 126 Millionen Dollar. +"Rubin hatte seine gesamte Karriere damit zugebracht, seine eigenen Interessen und die der Wall Street mit denen des Landes zu harmonisieren", schreibt der Reporter George Packer in seinem Buch "Die Abwicklung". +Nach dem Ausbruch der Finanzkrise 2008tauchte Rubin erst einmal ab. Später, vor einem Untersuchungsausschuss zur Finanzkrise, hörte er sich an wie jemand, der nicht sein gesamtes Leben an den wichtigsten Entscheidungen seines Landes beteiligt war. Den Sturm, der ganze Banken hinwegfegte und Millionen Menschen in tiefe Armut stürzte, so ließ er die überraschten Ausschussmitglieder wissen, habe selbst er nicht voraussehen können. Und all seine Freunde anscheinend auch nicht. + diff --git a/fluter/rohingya-voelkermord-facebook.txt b/fluter/rohingya-voelkermord-facebook.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4ce4d62dd0878e536d5c9880032a77fc9a02b0d3 --- /dev/null +++ b/fluter/rohingya-voelkermord-facebook.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Eine Klageschrift, die die Geflohenen Anfang Dezember in den USA und in Großbritannien eingereicht haben, spricht Facebook eine Mitschuld daran zu und fordert 150 Milliarden Dollar Schadensersatz. +Der zentrale Vorwurf: Nicht nur habe der Algorithmus des Sozialen Mediums die Verbreitung von Gewaltaufrufen und Hassbeiträgen befeuert. Das Unternehmen habe von den Posts gewusst und die programmierte Begünstigung pro­ble­matischer Inhalte willentlich geschehen lassen. Dieser Aspekt der Anklageschrift ist deshalb so zentral, weil Facebook strafrechtlich bislang nicht für die Verbreitung von Hassrede und Desinformation belangt werden konnte. Als Seitenbetreiber ist das Unternehmen juristisch nämlich nicht für die Inhalte der User verantwortlich. Könnte Facebook jedoch nachgewiesen werden, dass der Algorithmus gezielt beibehalten wurde – etwa um Nutzerinteraktionen zu steigern –, gäbe es womöglich einen rechtlichen Hebel. +Weiterlesen +Kutupalong in Bangladesch ist eines der größten Flüchtlingslager der Welt. Hier leben rund 600.000 verfolgte Rohingya.Hier erzählen drei von ihrem Leben im Camp +Neben den Aussagen der Whistleblowerin Frances Haugenstützen mittlerweile auch Einblicke eines anonymen ehemaligen Mitarbeiters die Vorwürfe, dass Facebook die Verbreitung von Hass und Gewaltaufrufen in Kauf genommen habe, um wirtschaftliche Unternehmensinteressen zu verfolgen. +Für das Land Myanmar kommt erschwerend hinzu, dass Facebook für viele Menschen vor Ort gleichbedeutend mit dem Internet ist. 2017 sollen von den insgesamt rund 54 Millionen Bürgern 13 Millionen einen Facebook-Account gehabt haben – das sind rund 86 Prozent aller Menschen, die Internet haben. Ein Großteil von ihnen benannte das Soziale Medium in einer Umfrage als erste Quelle für Informationen. Sogar politische Vorfälle – etwa den Rücktritt des Präsidenten im März 2018 – veröffentlichte die Regierung zuallererst auf Facebook. +Entsprechend dürften der Hetze und Desinformation wenig entgegengestanden haben. Das Unternehmen räumte bislang ein, dass es Schwierigkeiten gegeben habe, Hetze in der birmanischen Sprache zu blockieren. Zu dem Vorwurf, dass die Empfehlungen von Facebook die emotional erregendsten Beiträge bevorzugt hätten, sagte der Konzern nichts. Dabei fanden Desinformation und extreme Inhalte die meiste Verbreitung – darunter im Oktober 2017 die Behauptung eines Regierungssprechers, die Gewalt gegen die Rohingya sei lediglich inszeniert. +Experten bezweifeln allerdings, dass die Klage erfolgreich sein wird. Nichtsdestotrotz gilt sie als Zeichen dafür,dass Plattformen wie Facebook sich zukünftig stärker ihrer Verantwortung stellen müssen– damit sich ein Desaster wie in Myanmar nicht wiederholt: Zuletzt ließ sich im Bürgerkrieg in Äthiopien beobachten, wie hasserfüllte Posts auf Facebook ungehindert Bevölkerungsgruppen aufstacheln konnten. + diff --git a/fluter/rollenspiele-mit-furzkissen.txt b/fluter/rollenspiele-mit-furzkissen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4f782319fb94136e2e9684afab4998eb326d4768 --- /dev/null +++ b/fluter/rollenspiele-mit-furzkissen.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Komischer Kauz: Als sich der pensionierte Musiklehrer Winfried in Toni Erdmann verwandelt, wird das Leben seiner Tochter Ines nicht eben leichter +Es gibt keinerlei Überschneidungen zwischen den Leben des Alt-68ers und seiner Karrieretochter, und so trennen sich ihre Wege mit der Abmachung, demnächst wieder über Skype miteinander zu telefonieren. Winfrieds Ankündigung, Ines demnächst in Bukarest zu besuchen, hält sie für einen Witz. Umso entsetzter reagiert sie, als ihr Vater plötzlich im Foyer ihres Unternehmens steht. +In diesem Stil könnte Ade ihren Film sehr vorhersehbar als Vater-Tochter-Komödie mit den üblichen Konflikten (Clash der Generationen, Milieukontraste, Weltbildkollisionen) bis zum Happy-End durcherzählen – überraschen würde es nicht, man befindet sich schließlich in einem deutschen Film. Stattdessen passiert in "Toni Erdmann", der schon bei den Filmfestspielen in Cannes frenetisch gefeiert wurde, etwas ganz anderes: Die Geschichte nimmt eine spontane Abzweigung, und plötzlich sehen sich Ines und Wilfried auf tragikomische Weise mit ihren entgegengesetzten Lebensentwürfen konfrontiert. Es beginnt mit einem harmlosen Scherz, der sich schnell als fantasievoller Sabotageakt des Vaters entpuppt, um das Vertrauen seiner Tochter zu gewinnen: Winfried tritt als ein anderer in das Leben von Ines, als Toni Erdmann, ein irrer Kauz mit schiefen Zähnen und Zottelfrisur, nicht gerade eine präsentable Erscheinung für einen Unternehmensberater. Ines spielt das Spiel zunächst mit, aus Verwunderung, aber auch aus Scham gegenüber ihren Kollegen, die sich über Tonis seltsames Verhalten amüsieren. +Ines' Leben zwischen Luxusapartment und Businessmeetings erweist sich für den Vater als Kulturschock. "Bist du eigentlich ein Mensch?", fragt Winfried mal entgeistert, was ihm kurz darauf schon wieder leidtut. Ade jedoch zeigt die Welt, in der Ines verkehrt, ohne sie zu diffamieren. Im Gegenteil schildert sie die PowerPoint-Sprechweisen der Beraterbranche und den pragmatischen Zynismus des globalen Kapitals mit einer fast dokumentarischen Sachlichkeit. Und je länger der Film Ines bei ihrer Arbeit zeigt, immer wieder begleitet von Toni, der sich einmal sogar mit Handschellen an sie kettet, desto deutlicher wird, dass auch Ines in eine Rolle gewachsen ist, die ihr nicht behagt – die sie aber perfekt ausfüllt. Ines spielt die eiskalte Vollstreckerin in einer Männerdomäne, ihre Hosenanzüge sitzen an ihr wie eine Rüstung. "Bist 'n Tier, Ines!", meint ihr Chef einmal zu ihr, und das ist im Raubtierkapitalismus wahrscheinlich das größte Kompliment. Ines aber steht in einer Szene auf dem Balkon ihres schrecklich unpersönlichen Apartments und bricht in Tränen aus. +Das Erstaunliche an "Toni Erdmann" ist, mit welcher Selbstverständlichkeit Ade zwischen komischen Situationen, die nie in bloßen Slapstick kippen, und ernsten Szenen wechselt und dabei Klischees und Rührseligkeiten vermeidet. Mit einer Länge von fast drei Stunden nimmt der Film mitunter wunderliche Umwege, stellenweise verabschiedet er sich komplett von den Zwängen des handlungsorientierten Erzählens. Doch diese Abschweifungen, die immer wieder in absurden Situationen gipfeln, gehören zu den besten Momenten des Films, weil sich Ade als eine sehr genaue Beobachterin von zwischenmenschlichen (Fehl-)Verhaltensformen erweist. +In der letzten Dreiviertelstunde eskalieren die Rollenspiele und Maskeraden schließlich in einer irrwitzigen Wendung: Vater und Tochter stehen sich gegenüber, sie komplett entblößt, er in einem schamanischen Fellkostüm. Zum ersten Mal scheinen sie sich wirklich zu erkennen. diff --git a/fluter/roman-das-getraeumte-land-imbolo-mbue-rezension.txt b/fluter/roman-das-getraeumte-land-imbolo-mbue-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a7390b53b67cfc7bcb58715964b22a89eed9d009 --- /dev/null +++ b/fluter/roman-das-getraeumte-land-imbolo-mbue-rezension.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Imbolo Mbue: "Das geträumte Land". Aus dem Englischen von Maria Hummitzsch. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, 432 S., 22 Euro +Zwei Familien porträtiert Imbolo Mbue in ihrem Erstling; zwei völlig verschiedene Welten, die in sich zusammenfallen, als die Pleite der Bank Lehman Brothers und die folgende Finanzkrise die US-amerikanische Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttern. Dabei scheinen doch alle Träume wahr geworden zu sein, als Neni und Jende aus Kamerun endlich mit ihrem kleinen Sohn in der Sehnsuchtsstadt New York ankommen. +Neni, die als ledige junge Mutter in Kamerun keine Chance auf höhere Bildung hatte, wirft sich mit umso größerem Ehrgeiz in ihr Studium am Community College, denn sie träumt davon, eines Tages Apothekerin zu werden. Jende, älter als Neni und in der Ernährerrolle gefangen, kann vom Studium nicht mehr träumen, sondern nur von besseren Jobs. +Und eines Tages zieht er tatsächlich das große Los, als er Chauffeur bei dem reichen Banker Clark Edwards wird, der sich zur Entspannung gern mit seinem Fahrer unterhält. Die Familien kommen sich näher, als Neni einen Sommer als Haushälterin im Ferienhaus der Familie Edwards verbringt. Deren zehnjähriger Sohn bindet sich eng an sie, und als Neni der Dame des Hauses aus einer peinlichen Lage helfen kann, scheint das gegenseitige Vertrauen durch nichts mehr zu erschüttern zu sein. Doch dann kommt alles ganz anders … +Das Erstaunlichste an diesem Roman ist seine Figurenpsychologie. Abwechselnd aus der Perspektive Jendes oder Nenis erzählt, werden die Mitglieder der Familie Edwards nur in der Außensicht geschildert. Doch die Empathie, die die Romanfiguren füreinander empfinden, ist im Grunde dieselbe Empathie, die diesen Roman an sich ausmacht. Jede Figur, auch die Nebendarsteller, hat das Zeug zum Charakter. Jede Person, und sei sie noch so reich oder verwöhnt oder anspruchsvoll, hat das Recht auf echtes Leid, echte existenzielle Probleme. +Im Laufe des Romans verschiebt sich die Erzählperspektive immer mehr in Richtung der Frau – proportional umgekehrt zu ihrem sozialen Einfluss. Denn obgleich Neni als ungemein starke, zielstrebige Person gezeigt wird, ist trotzdem für beide klar, dass es der Mann ist, der die wichtigen Entscheidungen trifft – so katastrophal sie auch sein mögen. +Imbolo Mbue vollbringt sogar in der Konfrontation des Ehepaars das Kunststück, beide Perspektiven absolut nachvollziehbar zu machen. Und führt abschließend noch einen erstaunlichen Perspektivwechsel ganz anderer Art vor: Sehr lange bangt man beim Lesen mit Neni und hofft, dass doch alles gut ausgehen möge. Als es dann anders kommt, ist das aber irgendwie auch in Ordnung. +"Das geträumte Land" ist so viele Romane in einem: über Menschen, die für ein besseres Leben kämpfen, und über die Fähigkeit, das Beste aus dem Leben zu machen, das man eben hat. Es hat etwas Zauberisches, wie die Autorin es schafft, die Sehnsüchte der Romanfiguren in die Köpfe der Leser zu implantieren. Oder wo kommt es sonst auf einmal her, dieses plötzliche Fernweh nach New York? + +Titelbild: Monika Graff/UPI/laif diff --git a/fluter/roman-ueber-kulturelle-aneignung-hari-kunzru-white-tears.txt b/fluter/roman-ueber-kulturelle-aneignung-hari-kunzru-white-tears.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7a217bddd0f4715712d28339b49011b0c68717f2 --- /dev/null +++ b/fluter/roman-ueber-kulturelle-aneignung-hari-kunzru-white-tears.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Am College hören sie noch Detroit Techno und House, Hip-Hop, Dub-Reggae und Jazz. Bald aber verabschieden sie sich aus der Welt der normalnerdigen Musikexperten. Sie graben sich immer tiefer hinein in die Musikgeschichte, getrieben von einer Sehnsucht nach Intensität und Echtheit, die der digitalen Gegenwart irgendwie abhandengekommen zu sein scheint – und machen daraus ein florierendes Geschäft. Bald eröffnen sie ein Tonstudio in New York und schneidern Bands einen passgenauen Retro-Sound wie einst Mark Ronson für Amy Winehouse. +"White Tears" von Hari Kunzru startet wie eine Satire auf das schnöselige Auskennertum zweier Hipster, gleitet aber bald ins Unheimliche ab und öffnet dabei manche gesellschaftliche Dunkelkammer. Carter beginnt ultraseltene Blues-Aufnahmen aus den 1920er-Jahren zu sammeln. Seth durchstreift die Stadt derweil mit seinem Mikrofon, um interessante Geräusche aufzunehmen. Eines Tages entdeckt er auf einer Audiodatei eine Melodie. Im Studio befreien sie die Aufnahme von den Umgebungsgeräuschen. Das Blues-Stück stellen sie ins Netz und behaupten, es stamme von einer alten Schellackplatte eines Sängers namens Charlie Shaw. Den gibt's natürlich gar nicht. Oder doch? Wenige Tage nach ihrem Fake wird Carter ins Koma geprügelt. +Hari Kunzru: "White Tears". Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner. Liebeskind, München 2017, 350 Seiten, 22 Euro +Viel gegenwärtiger als "White Tears" kann ein Roman kaum sein. Er verknotet ziemlich geschickt Rassismus und Klassenfragen mit der Vergangenheitssehnsucht der Digital Natives. Vor allem aber erzählt der Roman des in New York lebenden Anglo-Inders die Geschichte einerkulturellen Aneignung. Die Debatte darum wird gerade ausgesprochen lebhaft geführt. Da wird jede Rastalocke die an einem weißen Haupt sprießt, alsübergriffige Enteignung angeprangert, so als wäre eine respektvolle Verneigung vor einer anderen Kultur gar nicht erst möglich. Und Solidarität auch nicht. +Mit dem Blues ist es da schon schwieriger, wie "White Tears" erzählt. Wie keine andere Musik ist er vom langen Leid der Afroamerikaner in den USA durchdrungen. Knapper als der antikoloniale Theoretiker Frantz Fanon kann man es nicht zusammenfassen: "Ohne Unterdrückung und Rassismus kein Blues." +Ohne Blues aber auch kein Rock 'n' Roll. Kein Elvis, keine Rolling Stones, keine milliardenschwere Popindustrie. Was das heißt, wenn weiße Musiker das Erbe der bitterarmen und rassistisch diskriminierten Blues-Musiker fortschreiben und vermarkten, hat US-Kulturwissenschaftler Greg Tate in dem Essayband "Everything but the Burden" beschrieben. Sein Schluss: Die US-Popkultur – von Musik über Mode, Tanz, Slang, Humor oder auch Sport – ist durchdrungen von schwarzer Kreativität. Die Weißen nehmen die nur zu gerne auf – und zwar alles, bis aufdie Bürde, die auch heute noch mit dem Schwarzsein verbunden ist. +Wo hört die Annerkennung auf? Wo fängt die Ausbeutung an? Wie geht man mit dem Erbe des Rassismus um? Und wie mit den Machtstrukturen der Gegenwart? In dem Moment, wo sich "White Tears" von der Retromania-Persiflage auf den allgemeinen Profilierungszwang der Hipster und die besonderen Stilneigungen der Generation Y löst, tauchen die Geister der Vergangenheit auf. Die Handlung verblendet sich zu einerSouthern Gothic Novel. Während Carter nicht mehr aus dem Koma erwacht, wird Seth von Carters reicher Familie aus der Wohnung und aus dem Studio geschmissen. Seine Existenz liegt in Trümmern. Auf der Suche nach dem Geheimnis von Charlie Shaw reist er in den Süden. +Auf seinem Roadtrip bekommt seine Realität immer mehr Kratzer und verschwimmt zusehends. Vergangenheit und Gegenwart lassen sich nicht mehr trennen, sie überlappen sich. Auch die Handlungsorte verschmelzen. Wer war Charlie Shaw, den sie doch eigentlich nur erfunden hatten? Was wurde aus ihm? Lebt er sogar noch? Und hat er was mit Carter zu tun? Die Geister der Vergangenheit kommen nicht ohne Grund. Natürlich nicht. Sie fordern einen Tribut für ein längst vergangenes Unrecht, das noch nicht beglichen wurde. Nur verdrängt. Aber bevor Seth das merkt, ist es für ihn und Carter schon längst zu spät. +Titelbild: Henning Bode/laif diff --git a/fluter/roman-ueber-zwangsprostitution-lana-lux-kukolka.txt b/fluter/roman-ueber-zwangsprostitution-lana-lux-kukolka.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..334585925acc66cca636d6a4cdbd0fef4e4ee559 --- /dev/null +++ b/fluter/roman-ueber-zwangsprostitution-lana-lux-kukolka.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +War das Thema auch der Ausgangspunkt des Buches? +Es war nicht so, dass ich dachte: Zwangsprostitution ist ein großes Problem, ich möchte darüber schreiben. Die Figur kam zu mir, und das ist ihre Geschichte. Erst daher habe ich angefangen, mich in das Thema einzuarbeiten. Dann tat sich diese Welt vor mir auf, in der Deutschland ein Land des Sextourismus ist. +Wie du stammt deine Protagonistin aus der Ukraine und kommt irgendwann nach Deutschland. Wie viel von dir steckt in Kukolka? +Lana Lux: "Kulkowa", Aufbau Verlag, Berlin 2017, 375 Seiten, 18,90 Euro +Alles und nichts. Ihre Geschichte ist nicht meine, aber ich war drei Jahre mit ihr verbunden. Diese Figur ist für mich so real wie ein echter Mensch. +Ist es dir je in den Sinn gekommen, über Deine eigene Immigration zu schreiben? +Ich kann mir nicht vorstellen, über mich selbst zu schreiben. Das kenne ich, das interessiert mich einfach nicht. +Aus was für einem Elternhaus stammst du? +Auf meinem Gymnasium in Dnipropetrowsk war ich das einzige Kind, das nicht aus einem Elite-Haushalt stammte. Meine Eltern gehörten nach dem Zerfall der Sowjetunion zu den Verlierern. Meine Mutter war zu Sowjetzeiten Ingenieurin, mein Vater arbeitete als Fotograf in einer Möbelfirma. Als immer mehr Betriebe privatisiert wurden oder sich langsam auflösten, bezahlte man die Arbeiter mit Urlaubstagen oder den Produkten, die sie herstellten. Das Erste, was meine Mutter von der Schulleitung gefragt wurde, war, welche Art von Sponsoring sie der Schule zukommen lassen könnte. Ihre Antwort war: Nichts. Wir mussten nie hungern, aber wir waren arm. Wir hatten oft keinen Strom, dann wieder keine Heizung, ein anderes Mal kein warmes Wasser. Meine Hausaufgaben habe ich bei Kerzenschein gemacht. +Wie gingen deine Eltern um mit dem Verlust ihres Status und ja auch ihrer Existenz um? +Sie erzählen oft davon, wie schön es zu Sowjetzeiten gewesen war. Sie verklären da viel. Andererseits: Während ich es schön oder abenteuerlich fand, wenn wir bei Kerzenschein beim Essen zusammensaßen, empfanden meine Eltern die Situation als furchtbar. +Wie seid ihr in Deutschland gelandet? +Als Juden wollten wir selbstverständlich nach Israel – nach Hause. Wir haben alles verscherbelt, die wichtigsten Dinge verschifft, und mein Vater ist zunächst allein vorgefahren. Kurz vor unserer Abreise rief mein Vater an und sagte: Kommt nicht! Was er sah, gefiel ihm nicht: das Orientalische, die jungen Mädchen mit den Waffen, aber auch die Tatsache, dass er in Israel Russe war und nicht in erster Linie Jude. Wir entschieden dann, dass wir als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland gehen würden. Und so landeten wir 1996 in einem Flüchtlingslager im nordrhein-westfälischen Unna. +Lana Lux +Warst du seitdem noch mal in der Ukraine? +In den ersten Jahren waren wir noch regelmäßig da, das letzte Mal war ich 14 Jahre alt. Das war bislang auch okay, aber im Moment habe ich ein großes Bedürfnis danach zurückzufahren. Mein Gefühl für das Land wurde – so traurig das auch ist – tatsächlich vom Krieg geweckt. Es ist, als hätte ich erfahren, dass ein Verwandter tödlich krank ist. Ich habe eine Sehnsucht nach den Orten meiner Kindheit, was damit zu tun haben kann, dass ich jetzt eine Tochter habe. Mein Mann ist Berliner und hat an viele Orte in der Stadt Erinnerungen. Ich kenne das nicht. +Hast du noch Kontakt in die Ukraine? +Nein, ich habe mich irgendwann bewusst abgewendet. Ansonsten hätte es mich zerrissen. Es ist schwer genug, so viele Identitätssplitter in sich zu tragen. Ich musste diese Orte loslassen, andernfalls hätte ich nicht wachsen können. Mittlerweile bin ich auch bereit, meinen ukrainischen Pass abzugeben und die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. +Ohne zu viel vom Ende deines Buches verraten zu wollen: Weißt du, wo deine Protagonistin heute wäre? +Samira studiert Gesang, bekommt auch Engagements, aber sie funktioniert nicht im gutbürgerlichen Leben. Sie lernt einen Typen kennen, der misshandelt sie, im Krankenhaus stellt man fest, dass sie HIV-positiv und schwanger ist. Sie treibt das Kind ab und findet ihren Seelenfrieden erst in einem Kloster in Russland. + + +Titelbild: Ute Mahler/OSTKREUZ diff --git a/fluter/romarchive-sinti-roma-kultur-beispiele.txt b/fluter/romarchive-sinti-roma-kultur-beispiele.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b48a0d5f19e5145e6176e3b16727d819af702f5f --- /dev/null +++ b/fluter/romarchive-sinti-roma-kultur-beispiele.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Eine typische Sinti- und Roma-Musik gibt es natürlich nicht.So wie sich die Angehörigen der Minderheiten von Land zu Land, von Gruppe zu Gruppe, ja von Familie zu Familie unterscheiden, gibt es auch unterschiedliche Musikgenres. Was sich aber sagen lässt: Sinti und Roma haben einen wesentlichen Anteil daran, die Volksmusik in den unterschiedlichsten Ländern zu erhalten. Vielerorts waren sie die Einzigen, die alte lokale Volkslieder überhaupt noch kannten. Im Schlager, der durch lokale Volksmusiken geprägt ist, sind Sinti und Roma bis heute durch Größen wie Marianne Rosenberg vertreten. Und: Sinti und Roma haben die klassische Musik geprägt. Der ungarische Rom János Bihari beispielsweise konnte zwar weder schreiben noch Noten lesen, war aber im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert ein gefragter Komponist und Violinist. Bihari prägte die in Ungarn populären Tanz- und Musikstile Csárdás und Verbunkos,deren Einflüsse sich in den Werken anderer Komponisten seiner Zeitwie Liszt, Beethoven und Mozart wiederfinden. Außerdem war er der erste Rom-Kapellmeister und spielte unter anderem vor dem Wiener Kongress. + + + +DassDamian Le Bas(links im Titelbild)aus einer irischen Roma-Travellerfamilie stammte, hat er in seiner Kunst nie verheimlicht. Mit Collagen, die Roma-Symbole wie das Spinnrad, Lagerfeuer oder Wohnwagen teils bis ins Absurde überzeichnen, wurde Le Bas einer der großen zeitgenössischen Künstler aus den Roma-Communitys. "I'm putting Gypsies on the map", beschrieb er seine Arbeit. Sein bekanntestes Werk nimmt das wortwörtlich: Für "Back To The Future! Safe European Home 1938" bemalte Le Bas eine Europakarte von 1938. Die Jahreszahl 1938 verweist auf den drohenden Weltkrieg und den Völkermord an den europäischen Sinti und Roma. Das Gemälde ist aber nicht nur Warnung, sondern auch ein Hinweis: Le Bas zeigt Europa nicht mehr als Ansammlung klar abgegrenzter Staaten, sondern als Fläche lachender Gesichter – Sinti und Roma, überall. Nachdem Le Bas 2007 gemeinsam mit seiner Frau Delaine, die auch als Künstlerin arbeitet, den ersten Roma-Pavillon auf der Biennale in Venedig kuratiert hatte, träumte er von einer eigenen Roma-Biennale, die Roma-Kunst jenseits von Stereotypen Raum gibt. Dieser Wunsch wurde Jahre später wahr: 2018 zeigte das Gorki-Theater in Berlin die erste Roma-Biennale. Die Damian Le Bas nicht mehr erlebte: Er verstarb überraschend im Dezember 2017. Seitdem führt Delaine Le Bas das Projekt weiter. + + + +Den Flamenco-Tanz verbinden viele mit Spanien, aber nur wenige mit den spanischen Roma– bei denen die Wurzeln des Tanzes liegen. Die Minderheit, die sich selbst Gitano nennt, wurde über Jahrhunderte ausgegrenzt und verfolgt. Anfang des 19. Jahrhunderts begann sie, diese Leidensgeschichte durch Tanz, Musik und Gesang auszudrücken: Der Flamenco war geboren. Damals war er noch ein rein ritueller Tanz, der innerhalb der Roma-Gemeinschaft praktiziert wurde. Bis Ende des Jahrhunderts die ersten Flamencobars eröffneten und auch Nichtroma den Tanz entdeckten. Neue Formen entstanden, zum Teil weitaus kommerziellere: Schließlich war der Flamenco plötzlich auch ein Bühnenerlebnis. Bis heute gibt es große Flamencotänzerinnen wie die Romni Belén Maya, die in ihren Shows die Geschichte des Tanzes und der Gitano erzählt. + + + +Die Darstellung von Sinti- und Roma-Figuren in der Oper "Carmen" oder dem Roman "Der Glöckner von Notre-Dame" sindSchwerstarbeit für Sensitivity Reader:In den meisten literarischen Werken werden sie romantisiert, sexualisiert und rassistisch dargestellt. Das mag auch daran liegen, dass es bis Mitte des 20. Jahrhunderts kaum Literatur von Sinti und Roma selbst gab: Viele lebten als Nomaden und hatten am jeweiligen Aufenthaltsort Schulverbot, sodass ein Großteil der Gemeinschaften weder lesen noch schreiben konnte. + +Sinti/-ze und Rom/-nja leben sein Jahrhunderten in Deutschland – werden aber bis heute verkannt und ausgegrenzt.Dieses fluter.de-Specialerklärt, warum – und stellt Menschen vor, die das ändern wollen +Aus dieser Not entstand ein zentrales Element vieler Sinti- und Roma-Communitys: die Oralität. Geschichten wurden mündlich weitergegeben. Und konnten sich so über Jahre entwickeln, auch durch den Tonfall, die Mimik und Gestik ihres jeweiligen Erzählers. Geschichten, die in Deutschland viele kennen, waren auch darunter: Viele "wandernde Märchen" wurden hier erst durch Sammler wie die Gebrüder Grimm in einheitlichen Fassungen niedergeschrieben.Der Dichter und Rom Károly Bari sammelte über Jahrzehnte Tondokumente solcheroral literature. + + + +Ob als Regisseure, Schauspieler, Tänzer, Akrobaten oder Tierbändiger: Sinti und Roma haben das europäische Theater in den verschiedensten Funktionen mitgestaltet. Und betrieben auchganz eigene Bühnen,die Roma-Theater. Das Romathan-Theater im slowakischen Košice und das Teatr Romen in Moskau produzieren bis heute Stücke und bilden Künstler aus. Zum Beispiel Vadim Kolpakov, der die Teatr-Romen-Akademie besuchte und mehrfach mit Madonna auftrat. Eines der bekanntesten Roma-Theater ist aber das Pralipe in Skopje (im heutigen Nordmazedonien). Im Grunde war das Pralipe keine Bühne für einzelne Stücke, sondern für Sinti und Roma selbst. Sie führten eigene Stücke auf, aber auch Werke von Shakespeare oder Bertold Brecht – immer in ihrer Sprache, dem Romanes. Das sollte die Sprache am Leben erhalten und Nichtroma einen Zugang zur Kultur verschaffen. In Zusammenarbeit mit dem Theater an der Ruhr in Mülheim ging das Pralipe-Ensemble Anfang der 90er-Jahre auf Tour durch ganz Deutschland. + + diff --git a/fluter/ronya-othmann-sommer-jesiden-interview.txt b/fluter/ronya-othmann-sommer-jesiden-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c11e0d6e797752d74f828d7347cb991ae18c224e --- /dev/null +++ b/fluter/ronya-othmann-sommer-jesiden-interview.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +fluter.de: Ein markanter Satz in deinem Buch stammt von Leylas Vater, der angesichts der Nachrichten zum Genozid an den Jesiden 2014 sagt: "Es ist seltsam, aber zum ersten Mal wissen die Deutschen, wer wir sind." Hast du das Gefühl, dass das stimmt? +Ronya Othmann: Sie wissen nun zumindest, dass wir existieren. Vor dem Genozid hatten viele noch nie von den Jesiden gehört.Heute können sich viele an die Bilder von 2014 erinnern, als der IS in Shingal im Irak Massaker anrichtete. Es ist sozusagen eine traurige Berühmtheit. Das heißt aber nicht unbedingt, dass jetzt jeder weiß, wer oder was Jesiden sind – viele denken weiterhin, es handele sich dabei um eine christliche oder islamische Sekte, was beides nicht stimmt. Dabei gibt es in Deutschland die größte jesidische Diaspora-Community. +Das Jesidentum ist eine monotheistische Religion, deren Anhänger sich überwiegend zur Volksgruppe der Kurden zählen. Ein großer Teil der ungefähr eine Million Jesiden stammt aus dem Nordirak, Nordsyrien, der südöstlichen Türkei und dem Iran. Die Jesiden wurden in ihrer Geschichte immer wieder verfolgt und diskriminiert. Zuletzt in der Phase nach dem Irakkrieg im Jahr 2003, als der "Islamische Staat" das Machtvakuum füllen und jesidische Siedlungsgebiete kontrollieren konnte. 2014 verübte die Terrororganisation einen Völkermord an den Jesiden im Nordirak und verschleppte Tausende Frauen und Mädchen. Hunderttausende flohen in die kurdischen Autonomiegebiete, wo sie bis heute in improvisierten Camps untergebracht sind. In Deutschland leben heute etwa 200.000 Jesiden. +Indeinem Text "Vierundsiebzig",der 2019 mit dem Publikumspreis beim Bachmann-Wettbewerb ausgezeichnet wurde, hattest du dich dem Thema schon mal angenähert – aus einer nonfiktionalen Ich-Perspektive. In "Die Sommer" hast du dich mit Leyla für eine fiktionale Protagonistin entschieden – wobei sich eure Biografien in groben Zügen decken. Warum diese Entscheidung? +In "Vierundsiebzig" habe ich von eigenen Eindrücken berichtet, die ich bei einer Reise in den Irak und die Camps gesammelt habe, in denen viele Jesiden heute leben. Das war sehr heftig, sehr nah, das konnte ich gar nicht fiktionalisieren. Das Buch hatte ich bereits vorher geschrieben, es handelt viel von Erinnerungen an die jesidischen Dörfer, die es in dieser Form nicht mehr gibt. Hier wollte ich eher eine beobachtende Figur, die den anderen Figuren Luft lässt, ihre eigene Geschichte zu erzählen. + + +Als Leyla in Deutschland vom Genozid an den Jesiden hört, fühlt sie sich machtlos und auch schuldig, weil sie dem Ganzen nur zusehen kann. Wie bist du selbst damals mit dieser Ohnmacht umgegangen? +Es ging mir durchaus ähnlich. Alle waren geschockt von den Bildern, gleichzeitig empfanden viele in der Diaspora natürlich auch eine Form von Scham, weil wir uns das alles sozusagen aus der sicheren Distanz angesehen haben. Und klar, man konnte auch in Deutschland demonstrieren gehen, auf den Genozid aufmerksam machen oder Geld sammeln – aber wirklich etwas ändern konnte man einfach nicht. Ich habe mich dann hauptsächlich darauf konzentriert, all die Meldungen und Details zu sammeln, um mir und anderen ein Bild der Lage vor Ort machen zu können. +Der Vater rät Leyla im Buch schon vorher, niemandem genau zu erzählen, wo sie hinfährt, wenn sie ihre Großeltern besucht. Hat man als Jeside oder Kurde in Deutschland Grund, sich zu fürchten oder seine Identität geheim zu halten? +Der Rat des Vaters bezieht sich eigentlich auf die Reise selbst, also dass sie in der Türkei und Syrien lieber niemandem erzählen solle, wohin sie fährt, eben weil Jesiden und Kurden in der Region eher auf Ablehnung stoßen. Aber natürlich ist das auch in Deutschland ein Problem. Salafisten und IS-Sympathisanten haben Jesiden hier bereits 2014 angegriffen, die Angriffeder türkischen rechtsextremen Grauen Wölfesind nichts Neues. Was nun dazukommt, sind die IS-Rückkehrer: Mittlerweile befinden sich ja nicht nur viele Opfer, sondern auch viele Täter in Deutschland. +Die große Katastrophe in deinem Buch ist der Genozid im Jahr 2014. Durch ihn scheint das kleine Dorf, in dem Leyla jeden Sommer verbracht hat, für immer verschwunden. Die Entwicklung in der Region ging aber weiter: Der IS ist – zumindest in seiner damaligen Form – Geschichte, und große Teile Nordsyriens standen danach unter kurdischer Verwaltung. Wie findet man den Ausstieg, wenn man ein Buch schreibt? +Natürlich hätte ich auch die Entwicklung bis zum heutigen Tag einbringen können, die Jahre seit 2014 haben ja noch einmal sehr viele Veränderungen in Nordsyrien gebracht. Dennoch kann man festhalten, dass die Geschichte dieses jesidischen Dorfes – das es ja wirklich gibt, in dem ich selbst Teile meiner Sommerferien verbracht habe – zu Ende ist. Nicht nur dieses Dorfes, sondern der gesamten Region. Viele Männer sind gestorben, Frauen wurden vergewaltigt, Friedhöfe zerstört. Wer konnte, ist geflohen. Es gibt dort also schlicht kein jesidisches Leben mehr. DieDorfnormalität, die ich im Buch beschreibe, wird in absehbarer Zeit nicht zurückkehren. Genau die wollte ich noch einmal aufgeschrieben haben. +Worin besteht gerade die Perspektive für die Menschen vor Ort? Und inwiefern kann ein Land wie Deutschland helfen, dort wieder etwas aufzubauen? +Zum einen braucht es Stabilität. Im irakischen Shingal, wo sich der Genozid hauptsächlich abgespielt hat, gibt es derzeit türkische Luftangriffe. Es fehlt noch immer an grundlegender Infrastruktur: Bei seinem Rückzug hat der IS viele Minen hinterlassen, dorthin kann also momentan niemand auf sichere Art zurückkehren. Tausende leben seit Jahren in improvisierten Zeltstädten. In Syrien ist es ähnlich,auch dort wird es wohl vorerst keinen Frieden geben– der ist meiner Meinung nach nicht möglich, solange Präsident Assad noch im Amt ist. Aus deutscher Perspektive gesprochen finde ich es wichtig, dass man diesen Zustand nicht als Normalität akzeptiert oder gar ignoriert. Was in Deutschland außerdem wichtig ist: die Prozesse, die gerade beginnen, sowohl gegen Folterer des Assad-Regimes als auch gegen IS-Täter. Der Anfang ist gemacht. Aber es muss viele weitere Prozesse geben, damit es irgendeine Form von Gerechtigkeit für die Jesiden gibt. + +Titelbild: Cihan Cakmak diff --git a/fluter/rosalind-franklin-vergessene-mitentdeckerin-der-dna-doppelhelixstruktur.txt b/fluter/rosalind-franklin-vergessene-mitentdeckerin-der-dna-doppelhelixstruktur.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1c49244852e4c10e90f7be70943b2de10260bcda --- /dev/null +++ b/fluter/rosalind-franklin-vergessene-mitentdeckerin-der-dna-doppelhelixstruktur.txt @@ -0,0 +1,25 @@ + +Die britische Biochemikerin Rosalind Franklin hatte diese Aufnahme im Jahr 1952 gemeinsam mit ihrem Doktoranden Raymond Gosling am Londoner King's College angefertigt. Darauf zu sehen ist ein grobkörniger grauer Kreis; in seiner Mitte ein gestricheltes, dunkler abgehobenes X. Wie sich herausstellte, war dieses X das eindimensionale Negativ der dreidimensionalen Kurve der DNA, erstmals gebannt auf Fotofilm, erzeugt durch eine Strukturanalyse mit Hilfe von Röntgenstrahlen – Franklins Spezialgebiet. +Es war jedoch nicht Rosalind Franklin, die durch diese Erkenntnis zu Ruhm gelangte. 1962 erhielten drei Männer den Nobelpreis für Medizin für die Entdeckung der DNA-Struktur: die beiden jungen Forscher James Watson und Francis Crick, gemeinsam mit Maurice Wilkins, Rosalind Franklins Laborleiter am King's College . +Die Geschichte Rosalind Franklins, die um die Anerkennung für ihren bahnbrechenden Beweis gebracht wurde, ist oft erzählt worden. Mindestens drei Biografien befassen sich mit Franklin. 1987 produzierte die BBC einen Fernsehfilm namens "Life Story", der in den USA unter dem Titel "The Race for the Double Helix" erschien. 2008 wurde in den USA ein Theaterstück mit dem Titel "Photograph 51" uraufgeführt. 2015 hatte das Stück über Franklins Leben dann in London Premiere – mit Nicole Kidman in der Hauptrolle. +Darüber hinaus gilt der Fall Franklin als Beweis für den Matilda-Effekt: die systematische Verdrängung und Leugnung des Beitrags von Wissenschaftlerinnen in der Forschung, deren Arbeit häufig ihren männlichen Kollegen zugerechnet wird. Aber gerade weil es so viele Erzählungen über Franklin gibt, ist schwer auszumachen, was damals wirklich geschah – und vor allem, warum. +Zu Beginn der 1950er-Jahre waren viele Wissenschaftler heiß darauf, das Geheimnis des Lebens zu entschlüsseln. Zwar wusste man, dass die Erbanlagen aller Lebewesen in der DNA angelegt sind. Wie diese jedoch genau aufgebaut ist, war nicht bekannt. +Rosalind Franklin, geboren am 25. Juli 1920 in London, war damals Anfang 30. Eine ehrgeizige und kluge Forscherin, aufgewachsen in einer jüdischen Familie, kosmopolitisch erzogen und gut ausgebildet. Die Eltern hatten sie auf eine Mädchenschule mit naturwissenschaftlichem Schwerpunkt  geschickt deren Philosophie es war, Mädchen auf einen beruflichen Werdegang vorzubereiten. +Mit 17 Jahren wurde Franklin am Newnham College der Universität Cambridge für ein Studium der Naturwissenschaften zugelassen. Im Fach physikalische Chemie schloss sie als Beste ab. 1947 holte sie die Physikerin Adrienne Weill nach Paris an eine staatliche Forschungseinrichtung, das Laboratoire Central des Services Chimiques de l'Etat. +Immer wieder werden diese Pariser Jahre als Franklins glücklichste Zeit geschildert: Mit dem Forschungsteam soll sie sich gut verstanden haben, ihre wissenschaftlichen Leistungen wurden anerkannt. Womöglich war es auch das weltoffene Paris, das zu ihrem Glück beitrug. Dort konnte sie sich als Frau sehr viel freier bewegen als im London der damaligen Zeit. Die Eingangsszene des BBC-Films "Life Story" zeigt Franklin in ausgelassener Stimmung mit ihren französischen Kollegen in einem Café. Später dann, in London, zeigt sie der Film meist allein. Zu den Pubs und Teerunden in den englischen Clubs, die ihre männlichen Kollegen besuchen, haben Frauen keinen Zutritt. +1950 kehrte sie trotzdem nach London zurück und trat eine Forschungsstelle am King's College an. Dort erforschte sie die Kristallstruktur der Desoxyribonukleinsäure. Sie entwickelte und verfeinerte eine Methode, Röntgendiagramme von DNA-Fasern zu erstellen. +Dass sie sich am King's College nicht recht wohlfühlte und sich offenbar ganz auf ihre Studien konzentrierte, mag zwei Gründe gehabt haben. Den einen beschreibt der Physiker Simon Altmann, ein jahrelanger Freund Franklins in einem Interview mit Franklins Biografin Brenda Maddox so: "Wohlbelesen in zwei Sprachen war sie ein zivilisiertes, intellektuelles Leben sowie Gespräche über Malerei, Lyrik, Theater und Existenzialismus gewohnt… Jetzt umgaben sie Menschen, die noch nie von Sartre gehört hatten, die hauptsächlich den ‚Evening Standard' lasen und denen die Sorte Mädchen gefiel, die sich auf Fachbereichspartys betranken, von Schoß zu Schoß weitergereicht wurden und sich den BH öffnen ließen." +Auch schien die Hierarchie zwischen Franklin und ihrem Laborleiter Maurice Wilkins nicht ganz geklärt. Er sah sie als seine Assistentin an, sie betrachtete sich als ihm gleichgestellt. +James Watson (links) und Francis Crick mit ihrem Modell der DNA-Struktur, inspiriert von Fotografie Nummer 51 + +Hier kommen nun James Watson und Francis Crick ins Spiel, zwei aufstrebende Wissenschaftler, die seit geraumer Zeit zur Struktur der DNA forschten und über sie spekulierten. Während Rosalind Franklin – so wird es in verschiedenen Quellen dargestellt – jede voreilige Spekulation ohne ausreichend empirisch erforschtes Beweismaterial zuwider war, ging es Watson und Crick um spektakuläre Entdeckungen. +Ob sie Franklin als Forscherin ernst nahmen? In seinem Buch "Die Doppelhelix" schreibt der Nobelpreisträger Watson jedenfalls: "Sie tat nichts, um ihre weiblichen Eigenschaften zu unterstreichen. Trotz ihrer scharfen Züge war sie nicht unattraktiv, und sie wäre sogar hinreißend gewesen, hätte sie auch nur das geringste Interesse für ihre Kleidung gezeigt. Das tat sie nicht. Nicht einmal einen Lippenstift, dessen Farbe vielleicht mit ihrem glatten schwarzen Haar kontrastiert hätte, benutzte sie, und mit ihren einunddreißig Jahren trug sie so fantasielose Kleider wie nur irgendein blaustrümpfiger englischer Teenager." Blaustrümpfe hatte man zur damaligen Zeit Frauen genannt, die nach Emanzipation strebten. +Als Laborleiter Maurice Wilkins auf das von Franklin gemachte Foto Nummer 51 stieß, zeigte er es den ja ebenfalls die DNA erforschenden Wissenschaftlerkollegen Watson und Crick– und lieferte ihnen damit den entscheidenden Hinweis auf die Doppelhelixstruktur der DNA. 1953 veröffentlichten Watson und Crick daraufhin einen Artikel in der Fachzeitschrift Nature. Sie dankten Franklin dort zwar für ihren Beitrag, worin dieser bestanden hatte, ließen sie aber unerwähnt. Es waren Watson und Crick, die nun als Entdecker des DNA-Models in seiner Doppelhelixstruktur galten. + + + +Franklins Beitrag zu dieser Erkenntnis fiel unter den Tisch. Im selben Jahr wechselte Franklin ans Birkbeck College. Dort leitete sie ein Forschungsteam und machte sich als Viren-Forscherin einen Namen. Watson und Crick blieb sie offenbar trotz allem freundlich gewogen. Mit Crick stand sie in beruflichem Austausch und Watson unterstütze sie bei einer Stipendiumsbewerbung. +Ob Wilkins, Watson und Crick damals ebenso verfahren wären, hätte nicht Rosalind Franklin das entscheidende Bild gemacht, sondern ein Mann, lässt sich heute schwer sagen. Immerhin sind auch männliche Forscher nicht vor Ungerechtigkeit gefeit und der Konkurrenzdruck in den Naturwissenschaften ist bis heute groß. +Als Watson, Crick und Wilkins 1962 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden – eine Auszeichnung, die gemäß den Statuten nicht posthum vergeben wird – war Rosalind Franklin nicht mehr am Leben. Sie starb mit 37 Jahren an Eierstockkrebs. + +Titelbild: Vittorio Luzzati/National Portrait Gallery diff --git a/fluter/rote-zahlen.txt b/fluter/rote-zahlen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d758e02d137ba7235fb69681bb8b0a35a0802d30 --- /dev/null +++ b/fluter/rote-zahlen.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Die Daten der Schuldenuhr berechnet der Verein auf Grundlage der öffentlichen Haushalte und des Statistischen Bundesamtes. Der Schuldenzuwachs pro Sekunde wird vor dem Hintergrund der geplanten Neuverschuldung der öffentlichen Haushalte prognostiziert. Sobald sich Veränderungen bei der Gesamtverschuldung oder der Neuverschuldung ergeben, aktualisiert der Bund der Steuerzahler seine Schuldenuhr manuell. Hinter der Schuldenuhr befindet sich ein kleines Kästchen. Drei- bis viermal im Jahr steigt ein Mitarbeiter eine Leiter hinauf und stellt eine neue Zahl ein.Zwei Stockwerke höher, ein schlichter Konferenzraum. Hier empfängt mich der Präsident des Bundes der Steuerzahler, Reiner Holznagel. Der Bund der Steuerzahler Deutschland e.V. (BdSt) wurde 1949 gegründet. Als seine Ziele nennt der Verein die Verringerung von Bürokratie und Steuerverschwendung sowie den Abbau der Staatsverschuldung. Der Bund ist beim Deutschen Bundestag in der Lobbyliste registriert. Nach eigenen Angaben hat er 250.000 Mitglieder. Ein Großteil davon kommt aus Unternehmen des gewerblichen Mittelstands. Mit am Tisch sitzen die Pressesprecherin Hildegard Filz und der Abteilungsleiter für Haushalts- und Finanzpolitik, Sebastian Panknin. Erste Frage: Warum haben Sie diese Uhr da draußen aufgehängt? "Seit 1970 hat die Bundesregierung kontinuierlich neue Schulden aufgenommen. Neue Schulden waren wie süßes Gift", sagt Holznagel. "Man konnte Wohltaten verteilen, sehr viele Sozialleistungen wurden über Schulden finanziert. Mit der Schuldenuhr wird dargestellt, welche Verpflichtungen auf uns Steuerzahler zukommen." +Am Konferenztisch erklären die drei vom BdSt die Staatsverschuldung der Bundesrepublik Deutschland. Sie sind gut vorbereitet, auf dem Tisch liegen Bücher, Broschüren und statistische Tabellenauszüge. Die Gesamtverschuldung, argumentieren sie, ergibt sich aus den Schulden von Bund, Ländern und Kommunen. Die Gläubiger sind zum Beispiel Banken, Versicherungen und auch private Personen, 60 Prozent von ihnen kommen aus dem Ausland, 40 Prozent aus dem Inland. Schulden, so stellen die drei heraus, sind volkswirtschaftlich sinnvoll, wenn sie tatsächlich die Infrastruktur so finanzieren, dass gegenwärtige und zukünftige Generationen davon profitieren. Allerdings, so fügen sie mahnend hinzu, brauche man einen Plan, wann und wie die Schulden zurückzubezahlen sind. "Und diesen Plan", sagt Reiner Holznagel, "vermisse ich in der Historie der Bundesrepublik Deutschland." Darüber hinaus sei der drittgrößte Posten im Bundeshaushalt inzwischen die Bundesschuld. Allein in diesem Jahr, so Holznagel, werden fast neun Prozent des Haushaltes für Zinsen ausgegeben. Die Abgeordneten könnten diesen Posten nicht mehr nach ihrer politischen Gewichtung gestalten, meint er. Und dies sei aus Demokratiegesichtspunkten fatal.Jeweils im Herbst veröffentlicht der BdSt das Schwarzbuch "Die öffentliche Verschwendung". Dort werden die Fehlinvestitionen und Steuerverschwendungen der öffentlichen Hand dargestellt. Kritiker aus dem linken Spektrum und den Gewerkschaften werfen dem BdSt allerdings vor, dass dieser in seinem Schwarzbuch die Fehlinvestitionen zu hoch ansetze, die Staatsschulden dramatisiere und eine möglichst große Steuerlast suggeriere, um einen schlanken Staat und niedrige Steuersätze durchzusetzen. +Ist diese Kritik berechtigt? Wenn man das Staatsvermögen zum Beispiel mit der Staatsverschuldung verrechnen würde – dann hätten wir doch gar keine Schulden mehr, oder? Dies sei eine ökonomische Betrachtung, referiert Holznagel, die zwar in der Bilanz schön aussehe, aber mit der Realität nicht viel zu tun habe. Er sagt: "Versuchen Sie mal, den Bundestag oder das Regierungsviertel zu verkaufen. Wir haben natürlich ein hohes Staatsvermögen, aber vieles davon ist schlicht und einfach nicht veräußerbar."Dann eben noch eine andere Zahl: Was ist mit dem Nettovermögen der privaten Haushalte? Dieses beträgt momentan mehr als zehn Billionen Euro. Zuwachs pro Sekunde: gute 9.000 Euro. Der Zuwachs der Staatsverschuldung beträgt 165 Euro pro Sekunde. Relativiert das nicht die Schulden? Oder anders gefragt: Müsste neben der Schuldenuhr nicht auch eine Vermögensuhr hängen? Jetzt kommt Holznagel in Fahrt: "Diese Zahlen kann man doch nicht gegeneinander aufrechnen!" Natürlich könne sich der Staat durch massive Steuererhöhungen entschulden. Aber schon jetzt sei ein Single in Deutschland mit über 50 Prozent durch Steuern und Abgaben auf sein Einkommen belastet. Wo solle das denn noch hinführen, fragt er.Aber es gibt durchaus politische Kräfte, die diese für den BdSt typischen Einschätzungen ablehnen und als alarmistisch bezeichnen.LinkeundGrünehaben den BdSt immer wieder kritisiert, eineStudieder gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung warf dem Verband vor, wegen der vielen Unternehmer und Freiberufler unter seinen Mitgliedern kein repräsentatives Abbild der steuerzahlenden Bevölkerung zu sein.Bleibt die Frage nach der Einführung einer Vermögenssteuer. Eine Steuer von einem Prozent auf das Nettovermögen oberhalb eines Freibetrags von 500.000 Euro für einen Familienhaushalt, argumentieren die Befürworter einer Vermögenssteuer (etwa die Linkspartei), würde etwa 20 Milliarden Euro im Jahr einbringen. Damit könnte man einen substanziellen Beitrag zur Finanzierung der öffentlichen Haushalte leisten, anstatt weiterhin überall zu sparen. Jetzt ist BdSt-Chef Holznagel schon fast empört: "Wir haben doch bereits eine Vermögensbesteuerung in Form einer Grunderwerbssteuer, in Form einer Grundsteuer, in Form vieler anderer Steuern, die wir auf Substanzwerte bezahlen." Dies sei nicht der richtige Weg. Die Gewerkschaften, so Holznagel, sagten zum Beispiel, dass wir ein zu reicher Staat seien, dabei aber die Eigentumsfrage vergessen würden. Dieses Geld werde doch erarbeitet und durch Kapitalmärkte generiert, das könne man nicht so einfach in die Bedienung von Schulden umleiten. "Nein", sagt er mit überzeugter Stimme, "wir brauchen keine Vermögensuhr, sondern einen funktionierenden Staat, der maßvoll mit den Steuereinnahmen seiner Bürger umgeht und die Schuldenlast nicht auf zukünftige Generationen abwälzt."Das Gespräch beim Bund der Steuerzahler dauerte 45 Minuten. Laut der Schuldenuhr am Eingang des BdSt stiegen die Schulden der Bundesrepublik währenddessen um 467.100 Euro. + +Die Schuldenuhr +Die erste Schuldenuhr wurde 1989 in New York auf Initiative des Immobilienhändlers Seymour Durst installiert. Als im September 2008 die Staatsverschuldung der USA 14-stellig wurde, reichte die vorgesehene Anzahl der Stellen nicht aus, und es musste das Dollarzeichen in der ersten Position durch eine Ziffer ersetzt werden. Eine deutsche Schuldenuhr gibt es seit 1995. Sie befand sich zunächst in Wiesbaden in der Geschäftsstelle des Bundes der Steuerzahler. Seit dem Umzug am 16. Juni 2004 hängt sie am Eingang der Zentrale in Berlin. Bei einem Stromausfall vor ein paar Jahren zeigte die Uhr kurzfristig lauter Nullen an. Die Uhr hörte auf zu ticken, für ein paar Stunden war die Bundesrepublik sozusagen "schuldenfrei". + +Alem Grabovac lebt als freier Autor und Journalist in Berlin. Momentan hat er keine Schulden, bedauerlicherweise aber auch kein Vermögen. Möglicherweise trägt er deshalb keine Uhr am Handgelenk. diff --git a/fluter/rotormotor.txt b/fluter/rotormotor.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..910d30c5674c374074a50f22f44e6461837612b1 --- /dev/null +++ b/fluter/rotormotor.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Repowering. Moderne Anlagen produzieren mehr als dreimal so viel Strom wie vier Jahre alte Anlagen. Interessant wird daher das Repowering: Alte Windanlagen werden abgebaut, neue aufgestellt. Also: weniger Windräder, die mehr Strom erzeugen. +Kosten. Strom aus Windkraft ist, auch wegen der Förderung, noch teurer als Strom aus konventionellen Kraftwerken. Da der teurer werden wird, die Windkraft hingegen auch wegen der abnehmenden Förderung günstiger, wird damit gerechnet, dass spätestens 2015 Windenergie günstiger zu erhalten ist als konventioneller Strom. +Umweltschutz. Eine 1,5-MW-Anlage vermeidet während einer 20-jährigen Betriebszeit 64 000 t CO2-Emissionen bzw. den Verbrauch von 80 000t Braunkohle in herkömmlichen Kraftwerken. +Wirtschaftsfaktor. Der Bundesverband Windenergie (BWE) geht von bundesweit 64 000 Arbeitsplätzen in der Windenergiewirtschaft aus. Der bundesweite Umsatz 2005 wird auf 7,4 Mrd. Euro geschätzt: 2,1 Mrd. Euro Neuinvestitionen, 2,9 Mrd.Euro Export, 2,4 Mrd. Euro Stromerzeugung. Im Jahr 2020 könnte die Windenergie laut BWE 130 000 Menschen beschäftigen. +Das EEG. Wer Strom aus Quellen wie Photovoltaik, Biomasse oder Wind ins Stromnetz einspeist, bekommt einen festen Preis bezahlt. Die Mehrbelastung trägt der Verbraucher – 2005 waren das für einen durchschnittlichen Haushalt 1,50 bis 2 Euro im Monat. Der Festpreis, den der Anbieter für die Windenergie erhält, wird von Jahr zu Jahr um zwei Prozent gesenkt, ein Grund für den raschen Ausbau in Deutschland. Ähnliche Regelungen gibt es in Spanien, Frankreich, Großbritannien, Kanada, einigen US-Bundesstaaten und in China. diff --git a/fluter/rudis-racker.txt b/fluter/rudis-racker.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/rueck-die-infos-raus.txt b/fluter/rueck-die-infos-raus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ca37a704e439dc5978cd429453e20c61d50592b4 --- /dev/null +++ b/fluter/rueck-die-infos-raus.txt @@ -0,0 +1,15 @@ + +So eine Klage klingt holzschnittartig. Doch mit Behörden, die mauern und mit Informationen geizen, hat schon manch einer seine Erfahrungen gemacht. Für solche Fälle gibt es eine Internetseite, die hilft: "Frag den Staat" heißt die Plattform, die Bürger dabei unterstützen will, Informationen von Behörden und Ämtern zu bekommen. Worüber sprach der Stadtrat mit dem Immobilieninvestor? Was hat der Minister dem Stromversorger in seinem Brief mitgeteilt? Mit Hilfe von "Frag den Staat" ist an diese Informationen vielleicht ranzukommen. Das funktioniert so: Man klickt auf der Seite von "Frag den Staat" auf den Button "Stellen Sie eine Anfrage" und wählt aus einer Datenbank die Behörde aus, die vermutlich die gewünschte Info hat – auf Bundes-, Landes- oder Kommunalebene. Dann schreibt man in einem Formular kurz, was man haben möchte und schickt die Anfrage mit einem Klick ab. "Frag den Staat" fügt dann automatisch einen vorformulierten juristischen Text an und leitet die Anfrage an die Behörde weiter. Falls man nicht weiß, welche Behörde die Info haben könnte, oder man weitere Fragen hat, helfen die Moderatoren der Seite beim Stellen der Anfrage. +Andernfalls werden die Anfragen automatisch bearbeitet. "Frag den Staat" hat also hauptsächlich eine Weiterleitungsfunktion und macht das Fragegesuch transparent: Fragen, Antworten, Hinweise der Moderatoren, alles steht chronologisch auf der Internetseite. Man kann allerdings auch eine Anfrage stellen, ohne dass diese für die Öffentlichkeit sichtbar ist. Piktogramme erklären, welche Anfrage im Sande verlief und welche erfolgreich war. +Pro Tag laufen etwa acht Anfragen über "Frag den Staat". Die Plattform ist spendenfinanziert und entstand 2011 auf Initiative der Open Knowledge Foundation, ein gemeinnütziger Verein, der sich dafür einsetzt, Wissen für alle zugänglich zu machen. In diesem Jahr wurde "Frag den Staat" für den Grimme-Online-Award nominiert. +Es geht der Seite nicht darum, Skandale aufzudecken. "Wir wollen keinen Krawall machen", sagt Stefan Wehrmeyer, einer der Gründer der Plattform. Die Idee sei es, Bürgerinnen und Bürgern zu helfen, an Informationen zu bekommen, und Transparenz herzustellen. Ob Mieten im Stadtteil oder Messdaten von Kohlekraftwerken: Behörden sammeln Daten, sortieren und verwalten Informationen, die die Bürger betreffen. Warum sollen diese Infos hinter Rathausmauern und Bürofassaden versteckt bleiben? +Es ist schon besser geworden. 2006 trat das Informationsfreiheitsgesetz (Gesetz zur Regelung des Zugangs zu Informationen des Bundes), kurz IFG, in Kraft. Durch das Gesetz haben Behörden und Ämter die Pflicht, Auskünfte zu geben, wenn ein Bürger danach fragt. Fast die Hälfte der Anfragen an den Bund im Zusammenhang mit dem IFG laufen über die Seite "Frag den Staat", schätzt Wehrmeyer. Aber IFG ist nicht gleich IFG. Der Bund hat sein eigenes Gesetz, die meisten Länder jeweils auch, einige haben aber keins, etwa Baden-Württemberg und Sachsen. Hamburg hat das liberalste Gesetz, hier werden Dokumente zum Teil sogar automatisch veröffentlicht, ohne dass überhaupt jemand danach fragt. Man nennt das "proaktive Transparenz". +Warum veröffentlichen Behörden nicht mehr Informationen? Wehrmeyer vermutet psychologische Gründe. Das sind meine Akten, ich hüte sie, warum soll ich sie teilen? Solche Gedanken stecken vielleicht dahinter. Bis 2006 genügte sogar die "allgemeine Pflicht zur Amtsverschwiegenheit", um Informationen zu verweigern, ganz offiziell. +Immer wieder kommt es auch vor, dass ein Amt für eine Antwort überhöhte Gebühren fordert. Dagegen engagieren sich insbesondere auch die Leute vom Plattform-Kooperationspartner "Correctiv". +Wie widerspenstig Behörden sein können, zeigte zum Beispiel eine preisgekrönte Recherche der Journalisten Daniel Drepper und Niklas Schenck zur Sportförderung und den Medaillenvorgaben für Olympia 2012 in London.Sie blieben hartnäckig und zwangen das Innenministerium, Informationen herauszugeben.Zudemkämpfen die Journalisten vor Gerichtdafür, dass die vom Ministerium verlangten hohen Gebühren zurückgezahlt werden müssen. Nach Siegen in den ersten beiden Instanzen wird sich voraussichtlich im kommenden Jahrdas Bundesverwaltungsgericht mit dem Fall befassen. +Zwischen der Bundesregierung und "Frag den Staat" kam es schon einmal zum Rechtsstreit, weil die Seite ein internes Regierungsdokument zu Prozentklauseln bei der Europawahl zeigte. Das Innenminsterium hatte das Schreiben zwar rausgerückt, wollte aber keine Veröffentlichung – angeblich wegen des Urheberrechts. "Frag den Staat" setzte sich vor Gericht durch. "Frag den Staat" dokumentiertdas gesamte Verfahren auf seiner Webseite. +Wehrmeyer geht davon aus, dass es einen Kulturwandel geben wird. Allerdings hält er den auch bei den deutschen Medien für notwendig, weil er auch dort einen Mangel an Transparenz sieht. Er nennt ein Beispiel: Ein Magazin bekommt ein Dokument in die Hände und macht eine Geschichte daraus. Jedoch ohne zu schreiben, was auf Seite zwei im Dokument steht. Weil das die Sensation relativieren würde. Oder weil man daraus nach einer Woche die nächste Story basteln kann. Information als Privatbesitz, genau das hält Wehrmeyer für falsch. +Deshalb die Idee zu "Frag den Staat". Ein Name, bei dem der Staat wie ein kluger Freund klingt. Aber der Staat wirkt auch wie ein misstrauischer Bekannter, wenn man sieht, wie viele Anfragen auf der Internetseite ohne befriedigende Antwort bleiben. Auch Wehrmeyer fällt auf Anhieb die Einschätzung schwer, was für ihn und die anderen Moderatoren eigentlich der Staat ist. Erst einmal geht es ihm darum, Vertrauen aufzubauen zwischen Staat und Bürgern – indem man zeigt, was man weiß. +Bisher dachten alle: Wissen ist exklusiv, es gehört dem, der es besitzt. Es scheint so, als ob alle – Beamte, Bürger, Journalisten, Politiker – nun langsam lernen: Transparenz ist etwas Gutes. Sie stärkt das Vertrauen. Und irgendwann setzt sich dann vielleicht ein etwas anderes Bild vom Staat durch: Er wäre dann nicht mehr der Boss da oben, sondern eigentlich wir alle.Wie bitte? Wir als Volk sind doch der Souverän! Was maßt der Staat sich an, Informationen vor uns zurückhalten? Die Aktivisten von "Frag den Staat" fordern mehr Auskunftsbereitschaft +Giuseppe Pitronaci hält es für folgenschwer, dass so viele Leute den Staat nur als Feind sehen. In Italien sieht er diese Einstellung allerdings noch viel ausgeprägter. Seine Vermutung: Nicht nur Politiker sind gefordert, das zu ändern, und Seiten wie "Frag den Staat" sind ein Puzzleteil für mehr Bürgerstaat. +Das Bild ist Teil der Fotoarbeit "Positions" der FotografinIsabelle Wenzel. Sie inszeniert darin surreale Szenen mit Models in körperbetonten Posen: weit vornüber gebeugt, kopfüber hängend, akrobatisch verdreht. Man kann die Spuren von Aktionskunst erkennen, ihres ehemaligen Akrobatik-Trainings und ihrer Faszination für Bewegung und Symbole. diff --git a/fluter/rueckblick-berlinale-2018.txt b/fluter/rueckblick-berlinale-2018.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7eb51f38e96fc0fca27ef868d7b66ab468fdd096 --- /dev/null +++ b/fluter/rueckblick-berlinale-2018.txt @@ -0,0 +1 @@ +Hier geht's zumBerlinale Blog 2018 diff --git a/fluter/rueckkehr-nach-armenien.txt b/fluter/rueckkehr-nach-armenien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/rueckkehr-nach-visegrad.txt b/fluter/rueckkehr-nach-visegrad.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7e96678fbe2643fc20d7a85e40fb834603eb690b --- /dev/null +++ b/fluter/rueckkehr-nach-visegrad.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Bosnien in den frühen 1990er-Jahren +Aleksandar ist die Hauptfigur in Saša Stanišićs Debütroman "Wie der Soldat das Grammofon repariert". Stanišić, Sohn einer Bosniakin und eines Serben, wurde 1978 ebenfalls in Višegrad geboren. 1992 floh er mit seinen Eltern nach Deutschland. Dass es in seinem ersten Roman um den Bürgerkrieg in Bosnien gehen würde, war für Stanišić selbstverständlich. Eine Notwendigkeit. "Wenn du einmal all das erlebt hast, dann hast du lange Zeit gar kein anderes Thema", sagt er. +Da waren zu viele offene Fragen an seine Kindheit, an den Krieg und die Flucht. "Weil keiner von den dreien antworten kann, habe ich mich selbst ein paar Dinge gefragt, dann andere, und das habe ich dann aufgeschrieben und mir dazu Geschichten ausgedacht." Mit einer Autobiografie braucht man seinen Roman aber nicht zu verwechseln. Stanišić selbst möchte das Buch am liebsten überhaupt nicht biografisch gelesen wissen. Zu stark würden sich beim Schreiben Erinnerungen und Fiktion vermischen. +Und welche Erinnerungen hat Stanišić an Krieg und Flucht? Woran er sich entsinnen kann, sei heute nur noch sehr vage und erscheine ihm fast irreal, sagt der Autor. Als in Višegrad die ersten Kämpfe losgingen, konnten seine Familie und er sich in einem Keller verstecken. Bald darauf verließen sie die Stadt und reisten nach Serbien, nach Kroatien und dann über Ungarn nach Deutschland, wo sie schließlich in Heidelberg unterkamen. Die Flucht kommt Stanišić heute ganz unwahrscheinlich vor. "Als wäre sie jemand anderem zugestoßen, der sie mir dann erzählt hat. Als wäre ich nicht dabei gewesen. Keine Emotion ist mir mehr zugänglich, ich weiß nicht, ob ich Angst empfand, wann ich erleichtert war und wann verzweifelt. Ich weiß eigentlich nur, dass ich mich erst in Heidelberg, in Deutschland, zum ersten Mal nach dem Verlassen meiner Heimatstadt sicher gefühlt habe." +In Deutschland besaß die Familie erst einmal nicht mehr als drei gepackte Koffer. Stanišićs Vater, ein Betriebswirt, bekam einen Job auf dem Bau, und seine Mutter, eine Politikprofessorin, begann in einer Wäscherei zu arbeiten. Saša besuchte eine internationale Schule und lernte schnell Deutsch. "Die Sprache war ein Schlüssel", sagt er. Mit ihrer Hilfe konnte er sich einen schnellen Zugang zum Leben in Deutschland verschaffen. Stanišić machte sein Abitur und studierte Deutsch als Fremdsprache und slawische Philologie an der Universität Heidelberg. Lange Zeit wollte er Deutsch lehren, um Flüchtlingen in Deutschland ebenso zu helfen, wie auch ihm geholfen worden war. +Saša Stanišić, knapp 20 Jahre später +Letztlich entschied er sich aber für ein zweites Studium am Literaturinstitut Leipzig. Noch während Stanišić dort studierte, schrieb er "Wie der Soldat das Grammofon repariert", das es dann 2006 auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises schaffte. Mittlerweile ist das Buch in 31 Sprachen übersetzt worden. +Es kommt leichtfüßig daher, besonders anfangs, trotz seiner schweren Themen. Stanišić eröffnet seinen Lesern eine amüsante Welt aus Anekdoten und skurrilen Gestalten, gesehen durch die etwas naiven, aber keinesfalls dummen Augen eines Kindes, das sich die Realität auch mal mit Hilfe der eigenen Fantasie interessanter macht. Der Tonfall ist unbemüht humorvoll, ohne dabei albern zu werden. +Aber Stanišić kann auch anders. Von Beginn an lassen Andeutungen die nahende Bedrohung erahnen. Aleksandar beschreibt genau, was er sieht, und versteht zwar nicht immer, womit er es zu tun hat, meist aber doch genug, um zu wissen, dass etwas nicht stimmt. Etwa wenn während der Besetzung Višegrads der "Soldat mit dem Goldzahn" ständig die Nähe der Bäckerin Amela sucht und ihr auflauert. Dass es sich um die mehrfache Vergewaltigung einer Frau handelt, die durch die Misshandlungen gebrochen wird und sich schließlich umbringt, wird nie konkret ausgesprochen, vom Leser aber genau verstanden. +Im letzten Teil des Buches reist Aleksandar, mittlerweile 20 und Student in Deutschland, nach Bosnien zurück, in ein zerrüttetes Land, das nicht mehr sein altes Heimatland ist und in dem er sich verloren fühlt. Als Stanišić selbst 1998, sechs Jahre nach seiner Flucht, nach Višegrad reiste, fand er eine andere Stadt vor, die "Menschen und Gebäude und ihre Würde verloren hatte, auch ihre Schönheit." Bosnien war gezeichnet von Verlust, Verheerung und Verwahrlosung. "Die Folgen von alldem plagen das Land bis heute", sagt Stanišić. +Heute lebt Stanišić in Hamburg und ist als Schriftsteller enorm erfolgreich. Letztes Jahr ist sein zweiter Roman "Vor dem Fest" erschienen. Der spielt in Deutschland, in der Uckermark, und ist ebenso lesenswert wie "Wie der Soldat das Grammofon repariert". +Wenn man ihn danach fragt, ob er Deutschland oder Bosnien als sein Zuhause empfinde, antwortet Saša Stanišić: "Ich kann mit dem Begriff der Heimat in keiner Ausprägung seiner Bedeutung etwas anfangen, und das ist Heimat." diff --git a/fluter/ruestungsforschung-an-deutschen-universitaeten.txt b/fluter/ruestungsforschung-an-deutschen-universitaeten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d137a23b82049e70c9f755a0f01d42afb45a2a6a --- /dev/null +++ b/fluter/ruestungsforschung-an-deutschen-universitaeten.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Nicht nur deshalb, weil diese zum Großteil aus Steuermitteln finanziert sind oder weil wir Deutschen katastrophale Erfahrungen mit der Vaterlandsliebe im Labor gemacht haben (man denke an Fritz Habers Eifer für den Einsatz von Chlorgas im Ersten Weltkrieg). Die Kooperation mit Rüstungsunternehmen ist Teil zweier besorgniserregender Hochschultrends: die zunehmende finanzielle Abhängigkeit von Drittmitteln– heute müssen die Hochschulen jeden dritten Euro ihrer Einnahmen selber einwerben – und die beharrliche Transparenzverweigerung von Unis, die vor allem um Gelder von privaten Auftraggebern aus der Wirtschaft bangen. +Das konnte man gut beobachten, als Rheinland-Pfalz und Bremen ihre Unis per "Transparenzgesetz" zu mehr Auskünften verpflichten wollten: Wer zahlt den Hochschulen wie viel für welche Forschungsaufträge? Das aber wollen RektorInnen nicht offenlegen. Sie berufen sich auf die Freiheit von Forschung und Lehre – dabei sind sie kaum mehr frei genug, Wirtschaftsgelder aus ethischen Gründen abzulehnen. +Wozu das führen kann, sah man an der Ungeniertheit, mit der 22 deutsche Hochschulen mehrere Jahre für das US-Verteidigungsministerium forschten – seit 2000 sollen insgesamt über zehn Millionen Dollar geflossen sein. Alles halb so wild. Wie weit sich die Wissenschaft für zusätzliche Gelder verbiegt, zeigte zuletzt die Hochschule Bremen (HSB): Die selbst gesetzten Friedensziele mussten sich ganz schnell der Wirtschaftlichkeit unterordnen. Seit vergangenem Herbst bildet die HSB angehende Beamtinnen der Bundeswehrverwaltung zu Informatikerinnen aus, weil ihr die Bundeswehr ein lukratives Angebot gemacht hat: 120.000 Euro zahlt sie, um vier Jahre lang zehn Studentinnen in Bremer Hörsäle entsenden zu dürfen. +Offenbar Grund genug für die Hochschule, gleich zwei Zivilklauseln zu ignorieren: ihre eigene Selbstverpflichtung und die Vorgabe aus dem Bremischen Hochschulgesetz. Beide schreiben vor, dass Studium, Forschung und Lehre ausschließlich friedlichen Zwecken dienen dürfen. Die erstaunliche Auslegung der Hochschulleitung, die den Vertrag mit der Bundeswehr trotz eindeutiger Gesetzeslage anfangs nicht offenlegen wollte: Die Kooperation diene friedlichen Zwecken. Schließlich verfolge die Bundeswehr ja friedliche Ziele. So sieht das auch der Bremer Senat – und wohl auch jene 48 deutschen Hochschulen, die zwischen 2000 und 2010 mit dem Verteidigungsministerium kooperierten. +Eine verheerende Logik. Wer so argumentiert, kann den Münchner Panzerbauer Krauss-Maffei Wegmann aufgrund seiner Deals mit Saudi-Arabien und Katar mit Fug und Recht als Ordnungsgaranten preisen. Und tatsächlich vermeiden es viele Hochschulen, bei ihren Kooperationspartnern aus der Waffenindustrie von Rüstungsunternehmen zu sprechen. Immer wieder ziehen sich WissenschaftlerInnen und RektorInnen auf den Standpunkt zurück: Die Forschungsergebnisse lassen sich zivil oder militärisch nutzen. Ergo sei es keine Rüstungs-, sondern Grundlagenforschung. +Diese Dual-Use-Rhetorik beherrscht besonders eine andere Bremer Hochschule: die Uni Bremen. Dort bezahlt der Raumfahrtkonzern OHB, der für die Bundeswehr Satelliten baut, eine Professur für Raumfahrttechnik. Auch hier reine "Grundlagenforschung". Dabei hat die Uni jahrelang zusammen mit OHB im Auftrag des Verteidigungsministeriums geforscht. Bei dem Projekt ging es um die schnelle Übermittlung großer Datenmengen aus Flugzeugen. Mittlerweile hat die Hochschule selbst eingestanden, schon mehrfach gegen die eigene Zivilklausel verstoßen zu haben. Astrium, Rheinmetall, das US-Außenministerium – die Liste der "wehrtechnischen Auftraggeber" an der Uni ist lang. +Und sie wird es trotz Zivilklausel bleiben: Denn ForscherInnen und InstitutsleiterInnen, die möglichst viel Drittmittel einnehmen sollen, verbauen sich nicht freiwillig ihre Karriere, solange sie Rüstungsprojekte bequem als zivile Grundlagenforschung ausgeben können – wenn diese überhaupt bekannt werden. Wer Rüstungsforschung zähmen will, muss staatlichen Hochschulen Kooperationen mit einschlägigen Unternehmen prinzipiell verbieten. Das scheint umso dringender, als selbst das Bildungsministerium (!) "zivile" Forschungsprojekte mit Rüstungsunternehmen fördert, wie vor kurzem herauskam. EADS, ThyssenKrupp & Co erhielten in den beiden vergangenen Jahren 13 Millionen Euro aus Johanna Wankas Bildungsbudget. Noch Zweifel? +Das Verbot von Rüstungsforschung an staatlichen Hochschulen ist überfällig: Nur so lässt sich mit Sicherheit ausschließen, dass Hochschulen aus Geldmangel fragwürdige Kooperationen eingehen – und im Namen der Wissenschaft Entsetzliches hervorgebracht wird. +Ralf Pauli hat Politologie studiert und arbeitet als freier Journalist in Berlin. Welchen Einfluss die Wirt­schaft auf unser Hoch­schul­­system nimmt, ist einer der Schwer­punkte seiner Arbeit. Er schreibt unter anderem für die taz und Zeit Online, produziert aber auch Radiobeiträge für den Bayrischen Rundfunk. +Den Bremer Hochschulrektor Bernd Scholz-Reiter ärgert die häufige Behauptung, deutsche Hochschulen betrieben im großen Stil Rüstungsforschung für private Unternehmen. Die beklagten Drittmittel seien zum großen Teil öffentliche Mittel. Und wenn es zu Projektpartnerschaften mit Privatunternehmen komme, diene das der Grundlagenforschung und friedlichen Zwecken– sowie dem von Hochschulen angestrebten Technik- und Wissenstransfer. +Immer wieder wird behauptet, an deutschen Universitäten würde in großem Stil Rüstungsforschung betrieben. Die Informationen, die dabei zugrunde gelegt werden, sind oft schlicht falsch, unvollständig wiedergegeben oder aus dem Zusammenhang gerissen. Ein bisschen erinnert das an die seit kurzer Zeit so berühmten "alternativen Fakten". +Ein Beispiel: Es wird behauptet, deutsche Universitäten seien zunehmend finanziell abhängig von privaten Auftraggebern. Begründet wird diese Aussage damit, dass ein Drittel der Einnahmen einer Universität heute sogenannte Drittmittel seien, also von Dritten der Universität zur Verfügung gestellt werden. Letzteres ist zwar richtig. Was aber nicht stimmt, ist, dass diese Drittmittel zum größten Teil von privaten Auftraggebern kämen. Genau das wird aber immer wieder suggeriert. +Tatsächlich sind die Drittmittel zum überwiegenden Teil öffentliche Mittel von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und von der Europäischen Union, um nur die wichtigsten zu nennen. Ich will es konkret machen: Von knapp 97 Mio. Euro Drittmittelausgaben im Jahr 2016 an der Universität Bremen stammen 11,7 Mio. von "sonstigen Dritten", worunter neben gemeinnützigen Stiftungen auch Unternehmen subsummiert werden. Das macht bezogen auf den Gesamthaushalt der Universität Bremen von knapp 308 Mio. Euro gerade mal einen Anteil von 3,8 Prozent aus. +Diese Zahlen sind öffentlich und für jedermann verfügbar. Wer also von Abhängigkeit der staatlichen Universitäten von privaten Auftraggebern schreibt, hat entweder nicht gut recherchiert oder will seine Leser für dumm verkaufen. +Als eine der ersten Universitäten Deutschlands hat sich die Universität Bremen bereits 1986 eineZivilklauselgegeben. Im Jahr 2012 hat der Akademische Senat dieseSelbstverpflichtung zur Forschung für friedliche Zweckebekräftigt. Die in der Öffentlichkeit intensiv diskutierte Christa-und-Manfred-Fuchs-Stiftungsprofessur für Raumfahrttechnologie – gestiftet von der OHB System AG, dem Institut für Raumfahrtsysteme des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt in Bremen und dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft – betreibt Grundlagenforschung und beschäftigt sich mit der Entwicklung weltraumtauglicher Technologien zur Umsetzung von Weltraummissionen. Die Einrichtung dieser Professur wurde in den Gremien der Universität ausführlich debattiert und fand ihre Zustimmung. Die Professur wurde im Einklang mit demCode of Conductdes Stifterverbandes von der Universität in einem Berufungsverfahren besetzt. Die Universität Bremen handelte also auch hier transparent und verantwortungsvoll. +Eine Aufgabe der Hochschulen nach Hochschulrahmengesetz ist es, den Wissens- und Technologietransfer zu fördern. Die Erkenntnisse und Ergebnisse unserer Grundlagenforschung sollen also in die Umsetzung gelangen. Das geht in vielen Bereichen nur gemeinsam mit der Wirtschaft. Dafür gehen wir Projektpartnerschaften ein, für die wir die bei uns anfallenden Vollkosten berechnen. Dabei geht es bei uns um die Inhalte der Projekte, die friedlichen Zwecken folgen sollen, nicht um den einzelnen Projektpartner. Bei Zweifeln an den friedlichen Zwecken greift unsere Zivilklausel unter Berücksichtigung von Art. 5 Abs. 3 unseres Grundgesetzes: "Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung." +Mein Rat an alle, die sich mit der Thematik beschäftigen: sachlich und seriös bleiben, Fakten anerkennen und richtig darstellen. Denn am Ende geht es um ein hohes Gut unserer Demokratie: die Freiheit von Forschung und Lehre. +Prof. Dr. Bernd Scholz-Reiter ist seit 2011 der Rektor der Universität Bremen. Begonnen hat seine Hochschulkarriere als Student im Bereich Wirtschaftsingenieurwesen an der TU Berlin. Zwischendurch hatte er unter anderem den Lehrstuhl für industrielle Informationstechnik an der Uni Cottbus inne und war Leiter des Fraunhofer-Anwendungszentrums Logistiksystemplanung und Informationssysteme. diff --git a/fluter/russische-sportler-bei-olympia-doping.txt b/fluter/russische-sportler-bei-olympia-doping.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ddc46ac70f86d9f15e2afc96c87b79a869b267f8 --- /dev/null +++ b/fluter/russische-sportler-bei-olympia-doping.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Möglich macht dies ein Urteil des Internationalen Sportgerichtshofs CAS. Das in der Schweiz ansässige oberste Sportgericht hob die lebenslangen Olympia-Sperren von 28 russischen Sportlern wieder auf, weil es deren Schuld nicht als erwiesen ansieht. Trotzdem dürfen 15 von ihnen nicht in Pyeongchang starten, entschied jetzt das Internationale Olympische Komitee (IOC). Die anderen 13 sind ohnehin nicht mehr sportlich aktiv. Nur nachweislich saubere russische Sportler dürfen in Südkorea als "olympische Athleten aus Russland" unter neutraler Flagge und ohne ihre Nationalhymne starten – und zwar auf Einladung des IOC. +Bisher haben 169 Athleten eine Einladung nach Pyeongchang erhalten. Gegen die 15 vermeintlich rehabilitierten russischen Sportler lägen aber zusätzlich belastende Informationen vor, die für Zweifel an der Integrität der Sportler sorgten. +Zwischen den vergangenen und den nun anstehenden Winterspielen hat ein beispielloser Dopingskandal den russischen Sport erschüttert. Ausgelöst wurde er zunächst Ende 2014 durch den ARD-Dokumentarfilm "Geheimsache Doping". Später wurde im sogenannten "McLaren-Report" das russische Staatsdoping in all seinen Facetten beleuchtet. Beauftragt hatte diesen Untersuchungsbericht die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA). Einer der an der "Geheimsache Doping" beteiligten Journalisten, der Dopingexperte Hajo Seppelt, nannte die Gerichtsentscheidung des CAS in der ARD nun "eine Bankrotterklärung des Doping-Kontrollsystems". Der Fehler sei gewesen, dass versucht worden sei, die individuelle Schuld von Sportlern festzustellen. Dabei habe auch das Gericht das Staatsdoping nicht angezweifelt. Der Freispruch, sagt Seppelt, sende ein "fatales Signal an die ganze Welt": Es könne ein großes System wie in Russland geben, ohne dass es schwerwiegende Konsequenzen nach sich zieht. +Viele Russen betrachten die ganze Staatsdoping-Affäre hingegen als westliche Verschwörung. Auf der Titelseite einer Sportzeitung standen kürzlich gar symbolisch die olympischen Ringe in Flammen. Als Konsequenz will die russische Regierung parallel zu den Olympischen Spielen einen Ersatzwettbewerb in Sotschi für die russischen Sportler veranstalten, die nicht an den richtigen Spielen in Pyeongchang teilnehmen dürfen. "Die zweiten Spiele von Sotschi" überschrieben manche russischen Zeitungen diese Meldung. Bei diesem Ersatzwettbewerb gibt es immerhin keinen Zweifel daran, wer für alle Zeiten auf Platz eins der Medaillenwertung stehen wird. +So mancher Experte wird angesichts der unendlichen Dopingaffäre und des wenig geradlinigen Vorgehens der Sportfunktionäre und Politiker bereits fatalistisch. Thomas Kistner schrieb zuletzt in der "Süddeutschen Zeitung": "Pyeongchang kann die Schmutzspiele von Sotschi in den Schatten stellen. Ob es so kommt? Ist eigentlich schon wurscht." + + +Titelbild: DAMIEN MEYER/AFP/Getty Images diff --git a/fluter/russische-ukrainische-auswanderer-bali.txt b/fluter/russische-ukrainische-auswanderer-bali.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..515a20fe0234c4b4fa4701507f0b83b4dcb0b037 --- /dev/null +++ b/fluter/russische-ukrainische-auswanderer-bali.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Vlada meidet Orte, an denen sich viele Russ*innen aufhalten. "Sie lachen und feiern, und alles scheint bei ihnen in Ordnung zu sein, während ich nachts wach liege, die Nachrichten verfolge und mir Sorgen mache." Sie hat drei Freunde bei Bombardierungen in der Ukraine verloren. Dennoch teilt sich Vlada seit mehreren Monaten ein Haus mit Russ*innen und Ukrainer*innen. In wechselnder Besetzung leben sie zu acht zusammen. Als Hauptmieterin entscheidet Vlada, wer einzieht: "Nur wer gegen den Krieg, gegen Putin und die Besetzung der Krim ist, ist bei uns willkommen." +Ähnlich wie Vlada handhabt es auch Dmitri, der Gründer des Tennisclubs Liga.Tennis. Der Ukrainer kam 2010 nach Bali – erst verliebte er sich in die Insel, erzählt er, dann in seine spätere Frau. Seitdem lebt und arbeitet Dmitri hier. "Ich war nie in einer ukrainischen Gemeinschaft, so was gab es hier nicht und hätte mich auch nicht interessiert. Als der Krieg begann, hat sich das geändert", sagt der 39-Jährige. Die Ukrainer*innen, die schon vor Beginn des russischen Angriffskrieges auf Bali waren, hätten sich am Tag des Einmarsches zusammengetan und würden seitdem eine solide Gemeinschaft bilden. "Über Social-Media-Gruppen tauschen wir uns aus und treffen uns an ukrainischen Feiertagen, kochen traditionelle Gerichte und sammeln Geld für unsere Leute zu Hause." +Dmitri kennt viele Menschen, die flüchten mussten, darunter auch seine Schwester, die im achten Monat schwanger nachts nach Polen floh. Zwei seiner Schulfreunde starben beim Beschuss ihrer Wohnhäuser. Das Zusammenleben mit Russ*innen auf Bali hat sich für Dmitri seither geändert. "Wenn Menschen aus Russland mit mir Tennis spielen wollen oder sich bei mir im Club bewerben, frage ich erst mal: ‚Wie stehst du zum Krieg?' Es gibt für mich nur eine richtige Antwort: dagegen sein. Wenn jemand meint, neutral zu sein, weil Sport nichts mit Politik zu tun habe, sage ich direkt: ‚Ciao.'" Tatsächlich, diesen Eindruck bekommt man bei Gesprächen immer wieder, lehnen viele der Russ*innen auf Bali den Krieg strikt ab. Eindeutige Zahlen dazu gibt es allerdings nicht. +Dafür sind Russ*innen aus anderen Gründen auf der Insel in Verruf geraten: Es gebe Besäufnisse, vermehrten Drogenmissbrauch,aggressives Verhalten im Straßenverkehrund unhöflichen Umgang mit den Einheimischen, berichten internationale Medien. Viele arbeiten ohne Erlaubnis – als Surflehrer*innen, Tourguide oder Mopedvermieter*innen, ohne Gewerbeanmeldung und ohne Steuern zu zahlen. Influencer*innen drehen in der Öffentlichkeit freizügige Videos oder posierenfür Fotos nackt an heiligen Orten– was im religiösen Indonesien eigentlich verboten ist. + + +Wer sich nicht an Gesetze hält, dem drohen Verhaftung und Abschiebung. So erging es zum Beispiel einem russischen Fotografen und drei russischen Sexarbeiterinnen, die auf Bali ihre Dienste anboten. Laut Anggiat Napitupulu, dem Leiter der Einwanderungsbehörde, wurden 2023 in den ersten vier Monaten 101 Ausländer*innen des Landes verwiesen, beinahe die Hälfte Zahl seien Russ*innen. Auch Menschen aus anderen Ländern verhalten sich nicht regelkonform oder sitzen im Gefängnis. Doch es scheint, als liege der Fokus derzeit stark auf Menschen aus Russland. Ein Polizist sagte zu CNN: "Wenn wir Beschwerden über Ausländer bekommen, sind es fast immer welche über Russen." Darüber, dass die meisten von ihnen sich nicht nur gesetzeskonform verhalten, sondern auch sehr freundlich sind, berichten die Medien derzeit eher weniger. Doch auch das gehört zur Wahrheit dazu. +Sasha schüttelt über die Russ*innen, die sich unangemessen benehmen, den Kopf. "Viele Russen hier bleiben unter sich, weil sie keine andere Sprache sprechen. Ich schäme mich manchmal, wenn ich meine Landsleute hier beobachte", sagt sie. Bis Februar 2022 arbeitete sie in der russischen Filmbranche, doch diese brach zusammen, als der Krieg begann. Innerhalb einer Woche löste Sasha ihr Leben in Moskau auf. Während die 39-Jährige von ihrer Flucht erzählt, zittern ihre Hände. Mit zwei Koffern kam sie auf Bali an – ihr Konto eingefroren, Geld musste sie sich leihen. Ob sie jemals zurückgeht, weiß Sasha nicht und hatte sich erst mal einen neuen Plan überlegt: Sie gründete ein Label und stellt nun Schmuck her. "Beim letzten Fotoshooting waren zwei der Models Ukrainerinnen", sagt Sasha, "wir haben keine Ressentiments untereinander. Zwar auf eine andere Weise, aber der Krieg hat auch mich entwurzelt." +Im Januar 2023 war Russland hinter Australien das Land, aus dem die meisten Menschen nach Bali kamen. Es gibt Orte auf der Insel, an denen heute fast ausschließlich Russisch gesprochen wird. Wie Parq Ubud. "Dort würde ich nie hingehen", sagt Vlada. In dem riesigen Komplex aus Villen, Apartments, Restaurants, Wellnesscenter und Co-Working-Büro leben und arbeiten bis zu 90 Prozent Russ*innen, wie Kristina, die Sales-Managerin von Parq Ubud, berichtet. Kristina selbst kommt aus Sibirien und lebt seit drei Jahren auf Bali. Sie verkauft hier Immobilien, hauptsächlich an russische Kund*innen. +Aber nicht alle kaufen, um hier zu leben: Immobilien auf Bali sind ein günstiges Investment. Eine Fundgrube für Investor*innen aus aller Welt, die schnell Geld machen wollen – oft ohne Rücksicht auf Bauregeln und Ausbeutung. Die extreme Bebauung von landwirtschaftlichen Flächen, insbesondere von Reisfeldern, kann zu Naturkatastrophen wie Überschwemmungen führen, beklagen Umweltgruppen. Sie befürchten, dass Lebensgrundlagen auf dem Land zerstört und die Ernährungssicherheit verringert wird. Schon heute leidet die Natur auf der Insel durch Abholzung, Vermüllung und Versiegelung des Bodens. +Das, was Tourist*innen aller Länder nach Bali zieht – Traumstrände, Reisfelder, Stille und Harmonie –, scheint bedroht. Auch Vlada beobachtet, dass sich der Tourismus auf Bali wandelt. Während früher Urlauber*innen kamen und gingen, bleiben nun immer mehr Menschen – nicht nur aus der Ukraine und Russland. Während Vlada in dem belebten Straßencafé ihren Tee trinkt, erzählt sie, dass sie die friedliche Stimmung abseits von Balis Hotspots findet, "weit weg von den vielen Menschen hier in Canggu". Und sie hofft, dass sie eines Tages zurück in ihre Heimat kann, in Frieden. + +Fotos: Nyimas Laula/NYT/Redux/laif diff --git a/fluter/russland-unterstuetzt-europas-rechtspopulisten.txt b/fluter/russland-unterstuetzt-europas-rechtspopulisten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..07a8749f1fd372c5347c54c4f4b4306be3d5e02b --- /dev/null +++ b/fluter/russland-unterstuetzt-europas-rechtspopulisten.txt @@ -0,0 +1,37 @@ +fluter.de: Auf welchen Ebenen existiert eine Zusammenarbeit zwischen rechten Kräften im Westen und der russischen Politik? +Anton Shekhovtsov: Bereits in den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den Neunzigern gab es Kontakte zwischen rechtsextremen beziehungsweise rechtspopulistischen Personen und Gruppierungen im Westen und entsprechenden Kreisen in Russland. Aber diese Kontakte waren marginal. + + +Wann und warum hat sich die Lage geändert? +Als Putin im Jahr 2004 seine zweite Amtszeit als Präsident antrat, ging in Russland die Angst vor den "Farbenrevolutionen" um, die in Georgien und in der Ukraine Regimewechsel bewirkt hatten. Beim Polit-Establishment setzte sich der Glaube durch, dass der Westen hinter diesen Revolutionen steckte – mit dem Ziel, Russlands Einfluss im postsowjetischen Raum zu unterminieren. Das brachte eine antiwestliche Agenda auf den Plan. Und vor diesem Hintergrund verstärkten sich auch die Kontakte zu rechten Kräften im Westen. Ich würde ab Mitte der 2000er von einer Institutionalisierung dieser Beziehungen sprechen. + + + + +Was genau war das Ziel dieser Beziehungen? +Die russische Politik brauchte antiwestliche Narrative. Ausschlaggebend war die Überzeugung russischer Politiker, dass NGOs, die von den USA und vom Westen finanziert wurden, die "Farbenrevolutionen" möglich gemacht haben. Diesem "Betrug" sollte etwas entgegengesetzt werden. So wurden in Russland alternative Wahlbeobachtungsinstitute gegründet, wie beispielsweise die CIS-EMO. Diese Organisation lud rechte Politiker oder Journalisten aus Europa zu Wahlen in Südossetien, Transnistrien, aber auch in Deutschland oder in Estland ein, wo sie Meinungen vertraten, die im Sinne Russlands waren und die den Einschätzungen derOSZEoder der EU entgegenstanden. +Was waren das für Leute? +Einer war beispielsweise der polnische Politiker Mateusz Piskorski, der ein eigenes Wahlbeobachtungsinstitut mit Namen European Centre for Geopolitical Analysis gründete. Eine weitere Institution, die solche Wahlbeobachtungen durchführt, heißt Eurasian Observatory for Democracy and Elections. Sie wird von dem Belgier Luc Michel geleitet. Er entstammt der faschistischen Bewegung in seiner Heimat. In Europa haben fast alle rechtspopulistischen Kräfte an diesen "Missionen" teilgenommen. Am liebsten werden aber Politiker mit einem gewissen Status eingeladen, beispielsweise Abgeordnete des EU-Parlaments wie Nick Griffin, der 2011 Wahlbeobachter in Russland war. + + +Neben der Wahlbeobachtung: Wie sehen weitere Kooperationen aus? +Viele dieser Wahlbeobachter traten und treten als Kommentatoren und Meinungsmacher in russischen Staatsmedien wie Russia Today, Sputnik News oder The Voice of Russia auf. Dort erzählen sie, wie dekadent der Westen sei, dass der Liberalismus nichts Gutes bedeute und dass Russland der Bewahrer der wahren Werte sei. Leute wie Manuel Ochsenreiter von der Zeitschrift "Zuerst!" werden in den Medien nicht als Rechtsextreme präsentiert, sondern als "Experten". + + + + +War nicht auch das Jahr 2012 entscheidend, als Putin zum dritten Mal zum Präsidenten gewählt wurde und sich in Russland großer Protest regte? +Die Demonstrationen im Vorfeld und nach den Wahlen interpretierten russische Politiker und Staatsmedien als Versuch des Westens, einen Regimewechsel herbeizuführen. Der Maidan und der russisch-ukrainische Krieg ließen die antiwestliche Linie schließlich eskalieren. Seitdem richten sich die Kommentatoren von RT verstärkt an das westliche Publikum, dem vermittelt wird, dass Russland nicht der Aggressor in der Ukraine sei. + +Es erscheint widersprüchlich, wenn in Verlautbarungen der russischen Regierung einerseits von einem "Kampf gegen die faschistische Junta in Kiew" gesprochen und andererseits mit rechten Kräften gemeinsame Sache gemacht wird. +Schon die Sowjetunion hat den Faschismus als ein Label benutzt, unter dem Gegner dämonisiert wurden. Nichts anderes tut Russland heute mit denen, die die russische Dominanz im postsowjetischen Raum infrage stellen. Nach dieser Logik meint Faschismus so etwas wie "antirussisch", genau wie in der Sowjetunion unter diesem Label ein "Antikommunismus" verstanden wurde. Wenn sich heute ein Ukrainer als Nationalist versteht – und damit meine ich noch nicht mal einen Rechtsextremen –, dann wird er aus der Sicht Russlands automatisch zum Faschisten. Wenn sich aber ein Rechtsextremer einer europäischen Partei für den Kreml ausspricht, kann er kein Faschist sein. Da gab es zum Beispiel den bizarren Moment im Jahr 2015, als in Sankt Petersburg eine Konferenz mit westlichen Rechtsextremen stattfand. Einer der Organisatoren twitterte ein Foto, auf dem Udo Voigt von der NPD zu sehen war. Und in diesem Tweet hieß es, dass Voigt ein "Anti-Faschist" sei. + + +In der jüngsten Zeit scheinen die Kooperationen zwischen der russischen Politik und Parteien wie der FPÖ, dem Front National oder auch der Lega Nord in Italien konkreter zu werden. +Dies ist ein neues Level in der Institutionalisierung dieser Beziehungen. Auch hier geht es dem Kreml darum, seine antiwestliche und Anti-EU-Politik zu stärken. Und natürlich sollen diese Kooperationen mehr Einfluss in der europäischen Politik bringen. Die FPÖ hat zwar die Präsidentschaftswahlen verloren. Aber sie ist zurzeit die populärste Partei Österreichs. Sie hat bei den nächsten Parlamentswahlen sehr gute Chancen, in einer Koalition mit den Sozialdemokraten oder mit den Konservativen zu regieren. In diesem Fall würde sich die Kooperation für Russland auszahlen. +Anton Shekhovtsov stammt aus Sewastopol in der Ukraine. Er ist Politikwissenschaftler und forscht zurzeit als Visiting Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien +Wie sieht es in Deutschland aus? Gibt es Kooperationen zwischen der AfD und dem Kreml? +In Deutschland war es dem Kreml bis dato wichtiger, mit Mainstream-Politikern zu kooperieren, mit den sogenannten "Putin-Verstehern", die es ja auch in den großen Parteien gibt. Solche Leute, die die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland fordern, sind dem Kreml nützlicher, weil sie anerkannt sind. Es gab auch Treffen zwischen AfD-Leuten und russischen Politikern auf verschiedenen Ebenen. Aber ich würde das nicht als eine "institutionelle" Kooperation wie im Falle der FPÖ oder der Lega Nord bezeichnen. Im Moment scheint die Popularität der AfD ja auch zu sinken. Merkel ist ohnehin sehr russlandkritisch. Und im Falle eines Sieges von Martin Schulz würde sich die deutsche Politik gegenüber Russland kaum ändern. Eine enge Kooperation mit der AfD würde Russland zum heutigen Zeitpunkt einfach nichts bringen. +Warum wollen rechte Parteien und Gruppen überhaupt mit dem Kreml kooperieren? Was versprechen sie sich von solch einer Zusammenarbeit? +Dafür gibt es mehrere Gründe. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die rechtsextreme Ideologie marginalisiert, und radikale rechte Parteien wissen auch heute noch, dass sie wegen des liberaldemokratischen Konsenses, der den Westen immer noch bestimmt, als Randkräfte wahrgenommen werden. Heutzutage aber können sie auch auf Putins Russland verweisen, das kein Staat am Rande ist, sondern eine "globale Macht", die den Liberalismus des Westens herausfordert. So können sie sich selbst als "einen neuen globalen Mainstream" präsentieren, der sich unter der Führung von Russland formt. Zudem suchen rechte Parteien, die sich für Russland einsetzen, Unterstützung von Putins Regime nicht unbedingt, weil sie sich Geld erwarten wie im Falle des Front National, sondern weil sie sich eine politische Unterstützung im Allgemeinen erhoffen oder eine Unterstützung durch mehr Medienpräsenz. + diff --git a/fluter/russlands-junge-opposition.txt b/fluter/russlands-junge-opposition.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f98d8dd750d7722eecb273be4cea43c4b1cd9292 --- /dev/null +++ b/fluter/russlands-junge-opposition.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Daniil (22), Schauspieler aus Sergijew Possad – wollte seinen Namen lieber nicht sagen +Ich werde nicht zu den Wahlen gehen. Es ist doch ohnehin schon klar, wer gewinnen wird. Deswegen fände ich es eigentlich gut, wenn niemand hinginge, um die Wahlbeteiligung zu drücken. +Meine Großmutter unterstützt den Oppositionellen Alexej Nawalny. Sie ist sehr aktiv und hat mich eigentlich erst auf ihn gebracht. Jetzt unterstütze ich ihn auch. Ich bin zwar nicht mit allem einverstanden, was er vorschlägt, aber ich bin gegen die herrschende Macht. Sie übt starken Druck auf unsere Freiheitsrechte aus. Zuletzt sind ja sogar Oppositionelle ermordet worden, immer wieder werden Kritiker eingesperrt. Ich bin oft in Westeuropa, und bei euch achtet man die Polizei doch. Aber bei uns? Hier ist sie doch hauptsächlich dazu da, um Andersdenkende einzuschüchtern. +Es ist zum Heulen: Gerade die Menschen, die außerhalb von Moskau leben, unterstützen Putin, obwohl sie selbst in einer derartigen Armut leben. Sie halten ihn wirklich für einen guten Präsidenten, wobei doch sie diejenigen sind, die am meisten unter seiner Politik zu leiden haben. + + +Darja Winogradskaja (19), Literaturstudentin aus Moskau +Ich werde wohl nicht zu den Präsidentschaftswahlen gehen. Ich vertrete keine bestimmte politische Position, und keiner der Kandidaten, die zur Wahl stehen, sagt mir besonders zu. Aber meine Eltern drängen mich dazu, zumindest für irgendjemanden meine Stimme abzugeben. Vielleicht werde ich es mir doch noch überlegen und ihnen zuliebe hingehen. Am ehesten werde ich aber wohl am Wahltag zu Hause bleiben. Ich habe einfach das Gefühl, dass es niemanden unter den Kandidaten gibt, der meine Position vertritt oder wirklich etwas im Land verändern könnte. Außerdem wird es wohl ohnehin wieder viele Wahlfälschungen geben. +Für mich persönlich sind Menschen- und Medienfreiheit besonders wichtige Themen. Ich bin natürlich nicht damit zufrieden, wie sich Russland – vor allem in diesen Bereichen – entwickelt. Ich bin zuletzt zu den Moskauer Kommunalwahlen gegangen, dort habe ich auf Bezirksebene meine Stimme abgegeben. Aber eigentlich glaube ich gar nicht mehr daran, dass man in Russland etwas mit den Wahlen verändern kann. + + +Anastasia Strekatschowa (18), Musikstudentin +Ich bin Pianistin und studiere Musik am Gnessin-Institut in Moskau. Ich werde bei diesen Wahlen dem Präsidenten Wladimir Putin meine Stimme geben. Ich bin mit seiner Arbeit bisher ganz zufrieden, und ich glaube auch, dass es keinen besseren Anwärter auf das Amt geben kann als ihn. Deswegen werde ich für ihn stimmen. +Ich bin gerade erst 18 Jahre alt geworden, und es ist das erste Mal, dass ich zu einer Wahl gehe. Das ist aufregend. Aber eigentlich interessiere ich mich nicht besonders für Politik und würde auch sagen, dass ich mich nicht sehr gut auskenne. Ich gehe einfach nach meinem Gefühl und finde, dass Putin bewiesen hat, dass er bisher ein sehr sachkundiger und würdiger Präsident gewesen ist und es ganz gut geschafft hat, das Land zu regieren. Immerhin hat er ja schon einige Amtszeiten hinter sich gebracht, also warum sollte er damit nicht weitermachen? + + +Ilja Biljezkij (20), Literaturstudent aus Wolgograd +Prinzipiell denke ich schon, dass man zu den Wahlen gehen sollte. Ich würde gerne "gegen alle" wählen, aber diese Möglichkeit gibt es ja nicht mehr (Anm. d. Autorin: Diese Wahlmöglichkeit wurde 2006 abgeschafft). Xenia Sobtschak tritt zwar auch mit diesem Slogan an, aber ich kaufe ihr diese Kampagne irgendwie nicht so richtig ab. Die Kandidaten sind doch alle von ganz oben abgesegnet! Ich bin aber noch etwas unentschieden und werde mir noch einmal alle Kandidaten genau ansehen. Eines ist klar: Ich werde bestimmt nicht für Wladimir Putin oder für die Kommunisten stimmen. Ich halte es einfach nicht für richtig, wenn jemand so lange an der Macht ist wie Putin. Dann wird sich doch überhaupt nichts mehr verändern. +Ich bin erst vor kurzem aus Wolgograd nach Moskau gezogen. Die großen Proteste, die Alexej Nawalny vor einem Jahr organisiert hat, habe ich verpasst. Ich glaube, dass ich zu den Protesten hingegangen wäre. Korruption ist eines der größten Probleme in Russland, und Nawalny macht zumindest darauf aufmerksam. Wenn er auf dem Stimmzettel stehen würde, würde ich wohl für ihn stimmen. Es ist nicht so, dass er mir übermäßig sympathisch wäre, aber er wäre zumindest die einzige halbwegs vernünftige und wählbare Alternative. + + +Alisa Goluenko (22), Journalistin aus Moskau +Ich helfe mit, Wahlbeobachter im Nawalny-Stab auszubilden. Ich selbst habe schon oft Wahlen beobachtet und bin auch in der unabhängigen NGO für Wahlbeobachtung "Golos" (Stimme) aktiv. Wie wichtig Wahlbeobachter sind, haben wir bei den Kommunalwahlen im Herbst gesehen: Ich habe dort kandidiert und den Einzug als Bezirksabgeordnete geschafft. Ich denke, dass wir diesmal viel mehr Wahlbeobachter haben werden als noch bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2012. Ich hoffe zudem, dass wir am Ende einen schönen Boykott haben werden. +Die Wahlbeobachtung ist wichtig, damit unsere Stimmen nicht geklaut werden. Man kann sich gar nicht vorstellen, mit welchen Methoden versucht wird, zu betrügen. Eine beliebte Methode ist es zum Beispiel, den Strom auszuschalten und gefälschte Wahlzettel unterzuschieben. Ich war bei den großen Protesten nach den Wahlfälschungen 2012 nicht dabei, weil ich damals noch zu jung war. Aber ich weiß, dass danach viele junge Russen ausgereist sind, weil sie die Hoffnung aufgegeben haben, etwas im Land zu verändern. +Ich finde, die Menschen sind des Präsidenten Putin schon überdrüssig. Sie haben keine Lust mehr, ihn überall zu sehen und immer nur zu hören, wie super alles ist. Bevor der Ölpreis in den Keller ging, haben die Leute ja eigentlich auch gut gelebt. Aber jetzt werden sie immer ärmer. diff --git a/fluter/saal-101-nsu-hoerspiel.txt b/fluter/saal-101-nsu-hoerspiel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b7af59f2cb2a523ad80bbf6714cf8ee8344bcba6 --- /dev/null +++ b/fluter/saal-101-nsu-hoerspiel.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +In 438 Verhandlungstagen wurde der HauptangeklagtenBeate Zschäpe vor dem Oberlandesgericht München im Saal 101 der Prozess gemacht.Der selbst ernannte "Nationalsozialistische Untergrund" hatte zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen ermordet – acht türkisch- und einen griechischstämmigen Menschen sowie eine Polizistin – und mehrere Mordversuche, Bombenanschläge und Raubüberfälle verübt. Das Oberlandesgericht München sprach Zschäpe 2018 des zehnfachen Mordesfür schuldig und verurteilte sie zu einer lebenslangen Haftstrafe,auch die vier Mitangeklagten wurden zu Haftstrafen verurteilt. +Diesen Prozess in einem Hörspiel zusammenzufassen ist eine Mammutaufgabe. Tonmitschnitte aus dem Gerichtssaal existieren nicht, weshalb die Nachwelt von dem Prozess vor allem durch die Protokolle der anwesenden Journalistinnen und Journalisten erfährt. Die Episoden bestehen aus Collagen von eingesprochenen Prozessmitschriften, vor allem der protokollierten Zeug:innenaussagen. +"Saal 101" läuft am 19. und 20. Februar zwischen 20.05 Uhr und 2 Uhr in den Kultur- und Informationsradios von BR, NDR, WDR, SWR, RBB, HR, MDR, SR und Deutschlandfunk. Alle Teile sind ab 19. Februar in der ARD-Audiothek und auf allen gängigen Podcast-Plattformen zu hören. +Was in den ersten Folgen noch so steril wie der neonlichthell ausgeleuchtete Prozesssaal wirkt, entfaltet mehr und mehr Sogwirkung, je länger man zuhört. Denn der Kontrast ist riesig zwischen den nüchternen Aussagen der Ermittlungsbeamt:innen,die jahrelang im Dunkeln tappten und die Täter im "Ausländermilieu" vermuteten,den anekdotischen Erzählungen der Urlaubsbekanntschaften des NSU-Kerntrios, die auf Fehmarn gemeinsam mit den Terroristen surften und grillten, und schließlich den markerschütternden Schilderungen der Angehörigen. +Der Vater des in Hamburg 2001 erschossenen Süleyman Taşköprü hatte seinen Lebensmittelladen nur kurz verlassen, um Oliven zu kaufen. Es nimmt einem den Atem, wenn er erzählt, wie er, als er zurückkam, seinen schwer verwundeten Sohn hinter der Ladentheke liegen sah. Zwei deutsch aussehende Männer seien ihm aufgefallen, die den Laden kurz zuvor verlassen hatten, gibt er danach zu Protokoll. Die Ermittlungsbehörden werden die beiden Männer nicht finden und zehn lange Jahre überwiegend in Richtung "organisiertes Verbrechen" ermitteln. Auf die richtige Spur kommen die Beamten erst, als sich der NSU nach einem Banküberfall im November 2011 selbst enttarnt. +Damit begann ein langer Prozess der Aufarbeitung aus parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, journalistischen Recherchen und dem Gerichtsverfahren, das im Juli 2018 endete. Die Strukturen des NSU wurden vor dem Oberlandesgericht nicht vollends ausgeleuchtet – schließlich war es ein Strafprozess, bei dem der Fokus nicht auf der Aufklärung lag, sondern auf der Frage nach der Schuld der Angeklagten. Das Hörspiel zeigt deshalb auch nur diese eine (juristische) Perspektive auf den NSU. +Sich dieser blinden Flecken bewusst, stellt der Bayerische Rundfunk zeitgleich mit dem Hörspiel einen fünfteiligen Podcast online, der dieZusammenhänge und Kontinuitäten rechten Terrorsin Deutschland offenlegt. Das Datum der Veröffentlichung ist so traurig wie passend gewählt: Vor genau einem Jahr erschoss ein Rechtsextremist in Hanau an einem Abend zehn Menschen. Weil der Attentäter auch sich selbst tötete, kann es keinen Prozess geben, der die Taten durchleuchtet und wichtige Fragen beantwortet. Umso wichtiger, bei Projekten wie "Saal 101" genau hinzuhören. + +Die Titelbilder zeigen den "Saal 101" des Oberlandesgerichts München und die Angeklagte Beate Zschäpe mit ihren Verteidiger:innen. Die Fotos stammen aus dem Langzeitprojekt"Eine Reise durch Deutschland. Die Mordserie des NSU"der Fotografin Paula Markert, das auch als Buch erschienen ist. diff --git a/fluter/sachsenhausen-dachau-kz-loznitsa-film.txt b/fluter/sachsenhausen-dachau-kz-loznitsa-film.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9651548f032e22f1f2b4a6253876929b698ed75f --- /dev/null +++ b/fluter/sachsenhausen-dachau-kz-loznitsa-film.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Keine Interviews, keine Nahaufnahmen, keine Farben – Sergei Loznitsa beobachtet den Gedenkstättentourismus aus der Distanz +Viele Besucher laufen mit ihren Handykameras über das Gelände, manche schmeißen sich vor dem schmiedeeisernen Tor mit der Inschrift "Arbeit macht frei" in Pose und schießen Selfies. Für wen? Verschicken sie diese Bilder später über Snapchat? +Der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa hat sich in den vergangenen Jahren als Dokumentarfilmer einen Namen gemacht. Sein bekanntester Film "Maidan" begleitete die ukrainischen "Euromaidan"-Proteste im Januar 2014 kommentarlos von ihren friedlichen Anfängen bis zur blutigen Niederschlagung und wahrte dabei eine neutrale Haltung. Ähnlich arbeitet Loznitsa in "Austerlitz". Einen Sommer lang drehte er in verschiedenen deutschen KZ-Gedenkstätten. +Die Zahl der Gedenkstättenbesucher wächst seit Jahren. Nach Sachsenhausen bei Berlin kommen jährlich rund 500.000 Besucher, nach Dachau bei München um die 800.000 Besucher +Loznitsa will nicht das Verhalten der Menschen in seinem Film bewerten. "Für mich", erklärt er im Interview, "besteht ein Widerspruch zwischen ihrem Verhalten und der historischen Bedeutung des Ortes. Daran ist zunächst nichts Verwerfliches, die Besucher des Konzentrationslagers verhalten sich menschlich. Es gibt keinen Verhaltenskodex für einen solchen Ort." +Die zentrale Frage führt zurück zu der Szene mit dem Mann im Jurassic-Park-Shirt: Welche Funktion erfüllen KZ-Gedenkstätten heutzutage? Entwürdigt der Gedenkstättentourismus diese Orte, oder ist es nicht sogar wünschenswert, dass sie wieder mit Leben erfüllt sind – ohne dass ihre Geschichte darüber in Vergessenheit gerät? +Aber wie geht das zusammen – der Massentourismus und das Erinnern an den Holocaust? Austerlitz liefert Anschauungsmaterial für diese schwierige Frage +Loznitsa nimmt dem Publikum die Antwort nicht ab. Er liefert Anschauungsmaterial, anhand dessen man sich eine eigene Meinung bilden kann. "Ich möchte das Publikum involvieren", sagt er, "es soll in einen Dialog eintreten. Die Zuschauer haben die Möglichkeit, etwas in meinen Filmen zu entdecken, statt Erklärungen vorgesetzt zu bekommen." +Ein wenig ratlos lässt einen "Austerlitz" aber dennoch zurück. Das beginnt schon mit dem Titel. Der gleichnamige Roman von W. G. Sebald handelt von einem jüdischen Kunsthistoriker mit einem Interesse an öffentlichen Gebäuden. Die stellen für die Titelfigur Jacques Austerlitz einen Zugang zur Geschichte dar. Für Loznitsa wiederum ist eine KZ-Gedenkstätte hierfür ein exemplarischer Ort. Ihm geht es darum, dass die Menschen ihr Verhältnis zur Geschichte wieder reflektieren. Man könnte nun das Verhalten der Gedenkstättenbesucher in "Austerlitz" als Beleg dafür heranziehen, dass dieses historische Bewusstsein nicht mehr allzu ausgeprägt ist. Oder umgekehrt, dass sich die Erinnerungskultur in Zeiten des Massentourismus nicht mehr auf der Höhe der Zeit befindet. Klar ist: Wenn man das Leben aber an diese Orte einlädt, muss man es – mit allen Randerscheinungen – aushalten. +"Austerlitz", Regie & Buch: Sergei Loznitsa, D/USA, 94 Min. diff --git a/fluter/sag-du-mir-nicht-was-ich-tun-soll.txt b/fluter/sag-du-mir-nicht-was-ich-tun-soll.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..62a99da98fbfae514b389e240171a41a6f045fae --- /dev/null +++ b/fluter/sag-du-mir-nicht-was-ich-tun-soll.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +In vielen Industrieländern ist die demokratische Grundordnung ein Eckpfeiler der Gesellschaft, gegen antidemokratische Bewegungen geht in Deutschland sogar der Verfassungsschutz vor. Nur die Wirtschaft ist oft eine demokratiefreie Zone: Firmenbosse wirken wie Despoten, kleine Zirkel von Managern bestimmen, was getan wird. Manche Unternehmen haben nicht mal Betriebsräte, über die die Angestellten eine gewisse Mitsprache haben. +Es gibt demokratisch organisierte Firmen – in Europa sogar etwa 60.000, wie der Innsbrucker Professor für Angewandte Psychologie, Wolfgang Weber, schätzt. Doch diese seien meist kleine oder mittelständische Betriebe. Aber meistens läuft es anders: Private Besitzer oder Großaktionäre berufen Manager an die Spitze ihrer Unternehmen. Diese kleine Gruppe entscheidet dann, was die weitaus größere Gruppe der Angestellten zu tun hat, welche Produkte wie und wo hergestellt werden. Natürlich auch, was mit dem Gewinn geschieht, der durch den Verkauf dieser Produkte erzielt wird. Die Mehrheit muss mit diesen Entscheidungen und deren Folgen leben. Der Soziologe Ulrich Beck hat daher den Ausdruck der "halbierten Demokratie" geprägt. In unserer Industriegesellschaft bliebe die wissenschaftlich-technische Gesellschaftsveränderung der politisch-parlamentarischen Entscheidung entzogen. +Die Mehrheit der Manager und Berater ist mit diesem Modell zufrieden. Ein Unternehmen sei nun einmal nicht der Platz für hehre demokratische Ideale. Wenn Entscheidungen in Echtzeit getroffen werden müssten, könne man nicht erst darüber abstimmen. Außerdem müsse die Entscheidungsstruktur klar definiert sein. Einer müsse schließlich die Dinge durchsetzen, die Richtung bestimmen, die Verantwortung übernehmen. Und welcher Mitarbeiter würde schon effizient arbeiten, wenn es nicht einen Vorgesetzten gäbe, der ihn motiviert, aber auch kontrolliert. +Es gibt auch andere Ansichten: Schon in den 50er-Jahren stellten die US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Douglas McGregor, Frederick Herzberg und William Edwards Deming fest, dass strikte Hierarchien eher dazu führen, dass sich die Angestellten von ihrer Arbeit entfremden. So ähnlich hat es auch Karl Marx zu Zeiten beginnender Industrialisierung prophezeit. Für eine dauerhafte Motivation der Belegschaft wären "intrinsische" – also dem Menschen innewohnende – Bedürfnisse zu berücksichtigen, vor allem das nach Selbstverwirklichung. Verhaltenspsychologen an der Universität Harvard entwickelten daraus Mitte der 80er-Jahre ihre "Theorie der Selbstbestimmung": Wem nicht ständig hineingeredet wird, der geht lieber zur Arbeit – und macht einen besseren Job. +Diese Erkenntnis ist heute populärer denn je, schließlich drängt mit den nach 1980 Geborenen eine Generation auf den Arbeitsmarkt, die Flexibilität gewohnt ist und mit autoritären Strukturen nicht viel anfangen kann. Und weil in vielen Bereichen ein Mangel an Fachkräften herrscht, müssen die Unternehmen diese Ansichten ernst nehmen. Große US-Firmen wie der Tomatenverarbeiter Morning Star und der Textilhersteller W. L. Gore sowie der brasilianische Mischkonzern Semco funktionieren seit Jahrzehnten fast hierarchiefrei. Giganten wie Google, General Electric und die Bio-Supermarktkette Whole Foods sind auf dem Weg dorthin. +Allerdings kann die erweiterte Mitbestimmung auch zu Problemen führen. Die amerikanische Soziologin Arlie Hochschild hat in einer Langzeitstudie festgestellt, dass Menschen, die sich im Job zu viel Eigenverantwortung aufbürden, kaum noch Zeit für sich selbst und ihre Familie fänden. Das führe über kurz oder lang zu tiefen persönlichen Krisen. Der Psychologe Wolfgang Weber sagt: "Gerade bei der Vereinbarkeit zwischen Arbeit und Familie muss es Regelungen geben." Weber weist auf eine weitere Schwierigkeit hin. Wenn es ans Eingemachte gehe, nämlich an die Firmenstrategie und nicht zuletzt die Besitzverhältnisse, sei es mit der Demokratie in einem Teil der ansonsten demokratisch organisierten Unternehmen sofort vorbei. "Da stoßen die Mitarbeiter dann an eine gläserne Decke. Das ist für viele frustrierend." +Auch bei Genossenschaften läuft nicht immer alles in vollkommener Harmonie ab. Sie sind zwar in der Regel demokratischer als normale Firmen, aber nicht unbedingt sozialer. Genossenschaftsbanken jagen dem schnellen Geld oft ebenso hinterher wie die Konkurrenz, hohe Zinsen gefallen ihren Mitgliedern schließlich auch. Wozu Gier in Genossenschaften führen kann, zeigt der Fall der gewerkschaftseigenen Wohnungsbaugenossenschaft "Neue Heimat". Der Vorstand von Europas größtem Wohnungsbaukonzern hatte jahrelang Millionen in die eigene Tasche gewirtschaftet, 1982 brach das ganze Gebilde zusammen. +Bei Mondragón versucht man solchen Gefahren vorzubeugen, mit einer Mischung aus Laissez-faire und Kontrolle. Es wird nicht über jedes Detail abgestimmt. Das würde einen effizienten Arbeitsablauf unmöglich machen. Stattdessen laufen die Entscheidungsprozesse wie in einem repräsentativen Parlament ab. Das oberste Organ der einzelnen Genossenschaftsfirmen bildet die jeweilige Generalversammlung der Mitglieder. Von ihr wird der Vorstand gewählt, der zwar über die Besetzung der leitenden Positionen im Unternehmen entscheidet, sich aber an die Vorgaben der Generalversammlung halten muss. Ein Sozialrat wacht darüber, dass sich die einzelnen Genossen nicht übernehmen. Auf der Ebene der Dachorganisation MCC wird diese Struktur kopiert: 650 Vertreter der einzelnen Genossenschaften treffen sich einmal jährlich zur großen Generalversammlung. Die Delegierten beschließen dort gemeinsam die langfristigen Strategien der gesamten Gruppe. +Für Wolfgang Weber ist es kein Zufall, dass Mondragón mit diesem System die Finanzkrise vergleichsweise gut überstanden hat. "Es kommt eben nicht nur darauf an, schnelle Entscheidungen zu treffen. Die Entscheidungen müssen auch gut sein. Gerade in schweren Zeiten ist es töricht, auf die Weisheit der Vielen zu verzichten." diff --git a/fluter/sally-rooney-normale-menschen-rezension.txt b/fluter/sally-rooney-normale-menschen-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5d5ab3cfe6e8d1cc7af44ae0e2378234bcb18403 --- /dev/null +++ b/fluter/sally-rooney-normale-menschen-rezension.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Worum geht's? +Eigentlich könnten Marianne und Connell unterschiedlicher nicht sein: sie, ein Mädchen aus einer wohlhabenden Familie, das in der Schule als Außenseiterin gilt. Er, der Junge aus einer Arbeiterfamilie, Star der Fußballmannschaft und Teil einer großen Clique. Ihre Leben in einer Kleinstadt im Westen Irlands hätten sich nicht kreuzen müssen. Doch Connells Mutter arbeitet als Putzkraft im Haushalt von Mariannes Familie, und so kommen die beiden irgendwann ins Gespräch. Es beginnt eine Beziehung, die zunächst hauptsächlich von gegenseitiger Faszination und sexueller Anziehungskraft geprägt ist und sich im Laufe der Zeit zu einer tiefen Freundschaft und Liebe entwickelt. Auch nach der Schule, beide studieren an der Uni in Dublin, kommen sie nicht voneinander los, obwohl immer wieder Monate vergehen, in denen Funkstille herrscht. Denn auf einmal sind die Rollen vertauscht: In der Großstadt ist Marianne die coole Studentin, die von Männern angehimmelt und auf Partys eingeladen wird, während Connell der merkwürdige Typ ist, der sich hinter Büchern versteckt und versucht, seinen Platzinmitten von Akademikerkindernzu finden. +Wie ist das erzählt? +Der Stil von "Normale Menschen" ist im ersten Moment etwas gewöhnungsbedürftig, Rooney schreibt sehr nüchtern und emotionslos. Es wirkt beinahe dokumentarisch, wenn sie scheinbar willkürliche Ausschnitte aus dem Leben von Marianne und Connell präsentiert und dabei auf den ersten Blick nebensächliche Details von Menschen, Umgebungen und Situationen in aller Ausführlichkeit beschreibt. Einen klassischen Spannungsaufbau gibt es nicht, die Handlung findet in der Gegenwart statt, die Dialoge sind nicht durch Satzzeichen abgetrennt – es ist ein einziger Erzählfluss. Ist man erst einmal reingekommen, ist es aber genau dieser Eindruck des Ungefilterten, der einen fasziniert. Wie in einem Film läuft der Roman vor den eigenen Augen ab: Man hat das Gefühl, Marianne und Connell bei ihrer Reise miteinander und zu sich selbst aus nächster Nähe zu begleiten – und spürt dabei ihre Verlorenheit, Verzweiflung und Unsicherheit beinahe auf jeder Seite. +Was gelingt nicht so gut? +Richtiges Identifikationspotenzial haben Marianne und Connell nicht, dafür vereinen die beiden zu viele der möglichen Heranwachsenden-Probleme in zu kurzer Zeit in sich. Auch weiß man nach der Lektüre nicht so recht, ob die beiden nun eigentlich gut oder schlecht füreinander sind. Denn so stark ihre sexuelle Anziehungskraft und gegenseitige Faszination auch zu sein scheinen: Ob es wirklich eine beidseitige, aufrichtige, romantische Liebe oder eher eine toxische sexuelle Abhängigkeit ist, ist nicht eindeutig herauszulesen. So lässt "Normale Menschen" einen etwas ratlos zurück. +Warum sollte man es trotzdem lesen? +Weil gerade diese Widersprüchlichkeiten und die offenen Fragen zum Nachdenken anregen. Man ertappt sich dabei, sich selbst ständig zu fragen:Istdas normal? Und wenn nicht: Wieso eigentlich nicht? So zeigt Rooney, dass "Normalität" auch nur ein gesellschaftliches Konstrukt ist. Allerdings eines, das Menschen in echte Identitätskrisen stürzen kann, vor allem wenn sie in einer Lebensphase sind, in der sie sich selbst noch finden müssen. Besonders bei Marianne wirkt dieser gesellschaftliche Druck zerstörerisch: Weil sie denkt, Strafen und schlechte Behandlung verdient zu haben, lässt sie sich von Männern ausnutzen und missbrauchen. Wer und was von den Protagonist*innen als "normal" angesehen wird, lässt Rooney immer wieder beinahe nebensächlich einfließen – um es dann zu dekonstruieren. So macht sie klar:Identität ist nicht fixiert, man kann sich immer wieder neu erfinden– und vermeintliche Normalität ist keine Kategorie, an der man sich dabei orientieren sollte. +Stärkster Satz: +Wie stark sich die eigene Identität wandeln kann, erkennt auch Connell gegen Ende des Romans: "Schon lustig, welche Entscheidungen man trifft, weil man jemanden mag, sagt er, und dann ist das ganze Leben anders. Ich glaube, wir sind in diesem komischen Alter, in dem sich das Leben durch kleine Entscheidungen gewaltsam verändern kann." + +Titelbild: ALBERTO CRISTOFARI/laif diff --git a/fluter/sam-ein-sachse-serie-interview-harris-bauer.txt b/fluter/sam-ein-sachse-serie-interview-harris-bauer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3375c37e76ac869a439dc7900dd2c12511cc3a74 --- /dev/null +++ b/fluter/sam-ein-sachse-serie-interview-harris-bauer.txt @@ -0,0 +1,34 @@ +fluter: Eure Serie läuft seit Ende April. Malick, wirst du mittlerweile auf der Straße angequatscht? +Bauer: Hier in Berlin sind die Leute ja eher cool, deswegen gar nicht so viel. Letztens auf einem Nas- & Wu-Tang-Konzert habe ich aber viel positive Rückmeldung bekommen. Ein älterer Mann hat mir sogar die Hand geküsst. +Wie bitte? +Bauer: Das war so ein alter Autonomer, der konnte sich gut identifizieren mit den Szenen, in denen ich mich als Samuel mit Nazis schlage, und meinte, er hätte das alles selbst erlebt. Mir ist es wichtig zu betonen: Das ist keine "Schwarze" Serie, sondern eine deutsche Serie mit Schwarzer Hauptrolle. +Trotzdem ist das etwas ganz Neues in Deutschland. +Bauer: Klar, deswegen sitzen wir ja auch hier. Ich meinte damit eher, dass alle möglichen Menschen an der Produktion beteiligt waren – das war ein guter Querschnitt durch die deutsche Gesellschaft, divers vor und hinter der Kamera. Die Lead-Regie hat zum Beispiel Soleen Yusef übernommen, eine kurdische Frau. +Wenn sie nicht gerade eure Hände küssen, wie reagieren die Menschen in eurem Umfeld auf die Serie? +Harris: Mein Opa ist aus der DDR und meinte, der damalige Zeitgeist sei total gut eingefangen – gleichzeitig hat die Serie ihm eine ganz neue Perspektive eröffnet, die er als weißer junger Mann nicht hatte: wie das Lebenals junger Schwarzer Mann im Ostenwar. Dadurch hatte ich mit ihm jetzt sehr spät nochmal ganz neue Gespräche. Das war ein schöner Perspektivwechsel für uns beide. +Bauer: Das ist auch ein wichtiger Punkt: Eigentlich geht es um zwei Minderheiten in der Serie, Schwarze und Ostdeutsche. + + +Wie wird die Serie von Schwarzen Deutschen aus eurem Umfeld aufgenommen? +Harris: Alle feiern an sich, dass es diese Serie gibt und dass wir einen Schwarzen Protagonisten haben, mit dem wir mitfiebern. Ich höre immer wieder, dass es ein empowerndes Gefühl sei, sich selbst auf der Leinwand oder auf dem Fernsehbildschirm wiederzufinden. +Bauer: Ich kriege auch sehr viel Zuspruch, die Leute freuen sich einfach über die Serie. +Gab es auch Kritik? +Harris: Schon, was die Sprache betrifft – man hört nämlich ein paarmal das N-Wort. Aber dazu muss man sagen, dass die Serie einfach in einer anderen Zeit spielt und versucht, die Realität abzubilden, in der Samuel nun mal lebte. Das ist natürlich schwer vereinbar mit heutigen "Standards". Aber auch die Kritischen sind froh darüber, dass man heute so eine Serie realisieren kann.Vor nicht allzu langer Zeit wäre das unmöglich gewesen. +Bauer: Das ist auch nicht nur so dahingesagt – Jörg und Tyron(Jörg Winger und Tyron Ricketts, Drehbuchautoren der Serie, Anm. d. Red.)wollten die Serie schon 2006 verkaufen und haben von Redakteuren, die öffentlich-rechtliche Gelder verwalten, immer nur gehört: "Ein Schwarzer Protagonist in Deutschland, so weit ist unser Publikum noch nicht." +Nach seiner Zeit bei der Polizei beging Meffire Raubüberfälle und musste für sieben Jahre ins Gefängnis. Wie ist es, so eine ambivalente Figur zu spielen? +Bauer: Meffire ist eine streitbare Person, aber jemand, den ich im echten Leben sehr schätze. Während der Produktion hatten wir häufig Kontakt, er hat mir seine Autobiografie "Ich ein Sachse" während des Drehs in der Rohfassung anvertraut. Gleichzeitig hat er nie von mir erwartet, dass ich ihn besonders moralisch darstelle oder Ähnliches. Ich habe die Figur vielschichtig und ambivalent gehalten, um nicht einfach nur ein Opfer des Rassismus ohne freie Entscheidungsgewalt zu zeigen. +Warum ist es so wichtig, die Geschichte von Samuel Meffire zu erzählen? +Bauer: Minderheiten wurden zu lange zu "den Anderen" gemacht – deswegen ist es wichtig,Geschichten zu erzählen, die ihre Perspektive in den Mittelpunkt stellen. Und damit meine ich nicht nur Schwarze Männer, sondern meinetwegen auch eine 60-jährige, asiatisch gelesene Frau. Man darf nicht immer nur für die eigene politische Position kämpfen. Rundfunkbeitrag zahlen wir alle nicht freiwillig, sondern als deutsche Gesellschaft – wäre doch schön, wenn wir uns alle mal auf den Bildschirmen wiederfinden. + + +Apropos Repräsentation: Hättet ihr euch so eine Serie als Jugendliche auch gewünscht? +Harris: Ich glaube, jeder, der ausschaut wie wir, würde das mit Ja beantworten. Das sieht man auch an diesen süßen Reaction-Videos auf die neue Schwarze Arielle. Ich glaube, gerade wenn man jung ist, kann das Selbstvertrauen schaffen, später ganz unterschiedlichen Dingen nachzugehen. Also: Wenn ich groß bin, dann kann ich Polizist werden oder auch Schauspieler wie Malick. +Bauer: 100 Prozent. +Wie ist es für euch selbst als Afrodeutsche, die Serie zu gucken? +Harris: Für mich ist es eine Achterbahn der Gefühle. Bei einer Szene muss ich mich besonders emotional wappnen(lacht). Es ist das Bundestreffen der Initiative für Schwarze Menschen in Deutschland, wo May Ayim(eine deutsche Dichterin, Pädagogin und Aktivistin, Anm. d. Red.)als Ikone der afrodeutschen Community einen Auftritt hat. Man hat diesen Raum voller Schwarzer Menschen, in Deutschland ja einfach ein seltenes Bild, dazu hört man "Zuhause" von Joy Denalane. Da heule ich jedes Mal. +Steht "Sam – Ein Sachse" symbolisch dafür, dass die Filmindustrie in Deutschland diverser wird? +Bauer: Ich glaube, politisch und markttechnisch gibt es zwei wichtige Entwicklungen: Erstens hat der Knall nach Black Lives Matter auch in Deutschland endlich überfällige Debatten um Diversität und die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte angeregt. Zweitens gibt es durch die Streamingportale eine höhere Nachfrage nach internationalen Geschichten. Seit 2020 bewegt sich so einiges in die richtige Richtung. Ich hoffe einfach, dass dieser Blitz nicht zurück in die Wolke geht. Wenn die Geschichte gut ist, funktioniert es. Das muss das erste Kriterium bleiben und nicht die Herkunft des Cast. +Harris: Dem kann ich nur zustimmen. Es ist schön, dass jetzt mehr junge Schwarze Filmschaffende ihren Weg in die Branche finden, aber man darf auch nicht vergessen, dass die, die schon lange im Geschäft sind, jetzt auch Allyship("Allyship" bezeichnet die aktive Solidarität einer privilegierten Person mit Menschen aus einer gesellschaftlich unterdrückten Gruppe, Anm. d. R.)für sich entdecken. Natürlich kann man sagen, das sei schon längst überfällig, aber trotzdem ist es eine positive Entwicklung. Das muss man einfach mal feiern an dieser Stelle. + +* Wir schreiben "Schwarz" groß, um zu verdeutlichen, dass es keine "Eigenschaft" ist, die mit "Hautfarbe" zu tun hat, keine Kategorie, in der man Menschen einordnen kann. Sondern eine politische Selbstbezeichnung von Menschen afrikanischer Herkunft, deren Erfahrung durch Kolonialismus und Rassismus geprägt ist. + diff --git a/fluter/samir-maombi-mode-flucht.txt b/fluter/samir-maombi-mode-flucht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..85dea629206f98e4119a0e459d621cc7de908cfd --- /dev/null +++ b/fluter/samir-maombi-mode-flucht.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Das Camp ist zu einer dauerhaften Stadt angewachsen, allerdings fast ausnahmslos oh­ne Stromanschlüsse, ohne fließend Wasser, ohne eine einzige befestigte Straße. Die Mehrheit der Geflüchteten in Kakuma ist abhängig von Lebensmittelspenden. Alle zwei Wochen verteilen die Vereinten Nationen, unter deren Leitung das Camp steht, genau abgezählte Rationen, die jedoch mangels internationaler Geldgeber in den vergangenen Jahren immer wieder reduziert werden mussten. +Manche Kunden wollen schlichte Kleidung, andere mögen es bunt und farbenfroh +Samir Maombi floh aus dem Osten der DR Kongo, wo sich unzählige Rebellengruppen und die Armee der Regierung seit Jahrzehnten gegenseitig bekämpfen. Immer wieder kommt es bei Raubüberfällen auf Dörfer zu Massakern an der Zivilbevölkerung. Samir Maombi hat seine Familie im Krieg verloren. "Ich bin ganz allein hierhergekommen. Ich lebe allein." Er kam 2009, nachdem er zuvor in seiner Heimat eine Ausbildung zum Schneider angefangen hatte. Seinen Wunsch brachte er mit: "Ich will ein berühmter Modedesigner werden." +Trotz der Not zählt neben Mehl, Öl und Erbsen auch würdevolle Kleidung zu den Grundbedürfnissen der Menschen in Kakuma. Davon jedenfalls ist Samir Maombi überzeugt. "Die Leute hier sind vor vielen Problemen geflüchtet. Ich glaube, wenn du etwas trägst, das dir eine Freude bereitet, nimmt dir das vielleicht ein wenig von deinen Sorgen", sagt er."Auch Geflüchtete sollen sich wohlfühlen und sich selbst gefallen dürfen." +Als Jugendlicher hat Maombi in Kakuma zunächst bei älteren Schneidern gejobbt. Vor zwei Jahren konnte er von seinem Ersparten dann endlich sein eigenes Atelier eröffnen: "Samir Fashion Design" steht über der Tür des kleinen Ladens, dessen Wellblechwände Maombi bunt bemalt hat. +"Als ich nach Kakuma kam, habe ich zunächst Schuluniformen für Kinder genäht", erzählt Maombi. "Ich war jung, und die Leute dachten, ein Junge wie ich könne keine gute Kleidung nähen. Deshalb war es schwer, Arbeit und Kunden zu finden." Inzwischen aber hat sich Maombi einen guten Ruf erarbeitet. An den Wänden hängen die maßgeschneiderten Kleidungsstücke, die Kundinnen und Kunden bei ihm in Auftrag gegeben haben: Röcke, Hosen, Hemden, Blusen, Jumpsuits, Anzüge, manche schlicht, die meisten farbenfroh bunt bis psychedelisch gemustert. "Ich bevorzuge ostafrikanische Stoffe, so genannte Vitenge, viele davon sind mit tollen Mustern bedruckt." Der junge Designer verarbeitet die in Ostafrika ohnehin beliebten Stoffbahnen, die er aus der Hauptstadt Nairobi und dem Nachbarland Uganda importieren lässt, zu kreativer Mode: "Die meisten Leute hier im Camp wollen diese Art von Stoff. Darauf können sich alle einigen, egal wo sie herkommen." +In Afrika beliebt und auch Maombis Favorit: Vitenge, ein fester, mit Mustern bedruckter Stoff +Doch die meisten Menschen im Camp können oder wollen sich Maombis aufwendige Mode nicht leisten: "Hier in Kakuma gibt es nicht sehr viele Kunden. Wir machen etwa 10.000 Schilling Gewinn pro Monat", rechnet er vor. Das sind umgerechnet rund 80 Euro. Zu wenig, klagt Maombi. "Dieser Laden gehört mir nicht, ich zahle Miete. Es kommt vor, dass ich zu wenig Kunden habe, um die Miete zu bezahlen." +Trotzdem Maombi hat sich inzwischen über die Grenzen Kakumas hinaus einen Namen gemacht. Seine Mode präsen­tiert er auf Instagram (@samir_fashion_­designer) und Facebook, auf Anfrage verkauft er die Kleidungsstücke in die ganze Welt. +Dank dieser Aufträge kann er nun sogar zwei Lehrlinge beschäftigen: "Ich habe zwei Angestellte, zwei Jugendliche, denen ich das Nähen beibringe. Auch sie haben ihre Eltern im Krieg verloren. Deshalb versuche ich ihnen zu helfen."Seit die Corona-Pandemie das Camp erreicht hat,verarbeitet er die Stoffreste aus seinem Atelier zu Masken, die er kostenlos an Bedürftige verteilt. "Die größte Herausforderung für mein Geschäft ist, dass wir keine elektrischen Nähmaschinen haben. So ist die Arbeit sehr langsam." Strom ist im Camp Mangelware, nur fünf Prozent der Haushalte haben Zugang zu Elektrizität. Trotz vereinzelter Initiativen, das Camp mit Solarzellen auszustatten, versinkt Kakuma nach Sonnenuntergang im Dunkeln. Dann kommt auch die Arbeit in weiten Teilen des Camps zum Erliegen. +Maombis Geschäftssinn wird in Kakuma zusätzlich von strengen Auflagen gebremst:Ohne Aufenthaltsstatus dürfen die Geflüchteten kein Land erwerben und keine Arbeit annehmen.Auch Maombi kann sein Atelier nicht offiziell anmelden. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen preist Unternehmer wie Maombi zwar als Aushängeschilder für einen innovativen Markt inmitten eines Flüchtlingscamps, doch der Aufstieg von Geflüchteten zu Geschäftsleuten ist so selten wie der Strom im Camp. In Wirklichkeit dürfen die Geflüchteten das Camp nicht mal ohne Erlaubnis verlassen. Jeden Abend um 18 Uhr, wenn hier, in Äquatornähe, die sengende Sonne untergeht, werden die Tore des Lagers geschlossen. Samir Maombi fühlt sich eingesperrt. "Es ist ein großes Problem, dass du als Geflüchteter ohne Reisedokumente nicht einfach reisen kannst, wie du gern würdest." +2018 aber bekam er vom Campmanager eine der begehrten Reiseerlaubnisse erteilt. So durfte Samir Maombi mit seiner Kollektion zur Fashion Week reisen. Noch nicht nach New York, aber immerhin in die Hauptstadt Nairobi. + diff --git a/fluter/sarah-rennt.txt b/fluter/sarah-rennt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c8ecc250ce104d1cef135f5601bd1cec4521f8e7 --- /dev/null +++ b/fluter/sarah-rennt.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +"Es war seine Idee", sagt sie und zuckt mit den Schultern, so als wolle sie sagen "nichts Besonderes". Ein Job wie jeder andere. "In Bulgarien machen viele Mädchen diesen Beruf." 50 Euro gab es damals. In Bulgarien im Jahr 2005 muss das viel Geld gewesen sein. Hier in Essen bekommt sie 20, höchstens 30 Euro dafür. "Der Beruf ist total kaputt", sagt Sarah. +Als sie zum ersten Mal abhaut, ist sie 20 Jahre alt: Schwanger sei sie gewesen, sagt sie. Von ihm. Doch er habe sie verprügelt und zum Arbeiten geschickt, sodass sie am Ende sogar das Kind verlor. In einer Diskothek in Warna treffen sie sich wieder. Ein Jahr ist vergangen. Er hat geheiratet. Ein Kind bekommen. Trotzdem fragte er sie, ob sie mit ihm nach Deutschland gehen will. Um Geld zu verdienen. Das ganz große Geld. Sarah willigt ein. +Warum sie mit ihm gegangen ist? Sie lächelt. Zieht den Mund ganz breit. "Liebe", sagt sie dann, als würde das alles erklären, alles vergessen machen, was er ihr angetan hat. Sie gehen nach Berlin. Sie steht an der Straße, acht bis zwölf Stunden täglich. Er arbeitet nicht, gibt aus, was sie verdient, schickt einen Teil sogar nach Bulgarien, zu Frau und Kind. Warum? "Wir haben uns geliebt, er hat sich um mich gekümmert." +Jetzt verdient sie ihr eigenes Geld, ohne Zuhälter. Ein paar Monate später lernt sie wieder jemanden kennen, der ihr hilft. Ein deutscher Freier. "Ich hatte keine Wohnung", erinnert sie sich, "stand mit all meinen Sachen auf der Straße." Auch er quartiert sie bei sich ein, ohne Gegenleistung. Dafür geht er mit ihr zum Jobcenter. Sarah ist 24 Jahre alt, als sie zum ersten Mal aufhört, sich zu prostituieren. Die Flucht aus ihrem alten Leben: Beinahe scheint sie zu gelingen. Sie bekommt Hartz IV und eine Wohnung vom Amt, hilft in der Küche einer Kantine aus, beginnt einen Deutschkurs. Alles sieht gut aus. Doch dann wird ihr alles zu viel. "Ich hatte keine Lust", sagt Sarah und zieht die schmal gezupften Augenbrauen zusammen, bis ihre Stirn eine senkrechte Falte wirft. Eine andere Erklärung gibt es nicht.Irgendwann wurde er anders, hart und jähzornig und begann sie wieder zu schlagen. Dann müssen sie wieder fliehen. Diesmal nach Essen. "Er hatte Probleme mit anderen Leuten", sagt Sarah. Wieder geht sie arbeiten, diesmal steht sie am Kirmesplatz. Als sie zwei Jahre später beschließt zu gehen, hat sie Schmerzen. Der Mann, der einmal ihre große Liebe war, hat sie ihr zugefügt. Ein paar Rippen sind gebrochen. Sie hatte in der Nacht zuvor nicht genügend Geld nach Hause gebracht. Er will nach Bulgarien, und sie ergreift ihre Chance, packt ihre Sachen. Ein "guter Bekannter" nimmt sie mit zu sich. Er kennt das Milieu, hat einflussreiche Freunde. Dort ist sie sicher. Und dieses Mal muss sie nichts abliefern. Aber sie schläft mit ihm. Verliebt? "Nein", sagt Sarah und lacht, "aber er war ein hübscher Mann." Sechs Monate hält die Beziehung, dann trennen sie sich. "Wie Freunde." +Keine Lust, morgens aufzustehen, um in den Kurs zu gehen. Keine Lust, in der Kantine zu arbeiten. Dann wird sie krank. Gallensteine. Vier Jahre ist es her. Den Deutschkurs hat sie nie zu Ende gemacht. Dafür steht sie wieder auf der Straße. Nicht oft. Ein, zwei Mal im Monat vielleicht. Weil das Geld vom Amt nicht reicht. Ihr altes Leben, es holt sie immer wieder ein. +Foto: Maria Sturm diff --git a/fluter/sarr-roman-geheimste-erinnerung-menschen.txt b/fluter/sarr-roman-geheimste-erinnerung-menschen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a7611cdc5c155743b8e73cd189bb195768049d52 --- /dev/null +++ b/fluter/sarr-roman-geheimste-erinnerung-menschen.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Die Figur Elimane hat ein reales Vorbild:Yambo Ouologuem. Dem Autor ist "Die geheimste Erinnerung der Menschen" auch gewidmet. Ouologuem, geboren 1940 im "Französisch-Sudan", dem heutigen Mali, wurde 1968 in der französischen Literaturszene mit seinem Debütroman "Das Gebot der Gewalt" bekannt und erhielt dafür den renommierten Prix Renaudot. Wegen Plagiatsvorwürfen, die der Autor bestritt, ließ ihn sein Verlagshaus fallen, Ouologuem zog sich aus der Literaturwelt zurück, und "Das Gebot der Gewalt" erschien in Frankreich erst wieder 2003. Der 1990 geborene Sarr wiederum wurde 2021 für "Die geheimste Erinnerung der Menschen" mit dem höchsten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet – als erster senegalesischer Autor und einer der jüngsten Preisträger überhaupt. +Mit einem Wort: virtuos. Sarrs Schreibstil öffnet sich an jeder Ecke seiner labyrinthischen Wege in fantastische Bilder, die sich langsam entfalten. Rasant wechselt außerdem die Perspektive zwischen den vielen erzählenden Personen hin und her: von Siga D. in Paris zu Diéganes Schriftstellerfreund Musimbwa in Zaire (der heutigen Demokratischen Republik Kongo) und zum alten Seher Ousseynou Khoumakh in Senegal. Ihre Erzählungen berichten einen Teil der Geschichte um Elimane, zugleich sind sie aber auch ganz eigene biografische Fiktionen, die weite Bögen zu anderen Ebenen und Zeiten des Romans spannen. Natürlich kann man den fiktiven Autor Elimane als ein Spiegelbild des Protagonisten Diégane lesen, der ein Spiegelbild des realen Autors Mohamed Mbougar Sarr darstellt – der damit wiederum an den argentinischen Autor Jorge Luis Borges erinnert. Borges' Literatur ist bekannt für ineinander verschränkte Spiegelbilder, Labyrinthe und Bibliotheken. Und so scheinen alle Schriftsteller*innen in Sarrs Roman in Wahrheit auch nur ein einziges Buch zu schreiben, ob es nun "Labyrinth des Unmenschlichen" (Elimane), "Elegie der Finsternis" (Siga) oder "Anatomie der Leere" (Diégane) heißt. Es ist immer ein Buch der Bücher, das wie eine Bibliothek alle Bücher der Welt enthält. Dabei ist klar: Dieser Roman hat nicht nur die französische Tradition und Literaturgeschichte aufgesogen und kunstvoll "plagiiert", er atmet auch die senegalesische,westafrikanische mündliche Erzähltradition der sogenannten "Griot"-Erzähler*innen. Da wird etwa von Menschen mit übernatürlichen Fähigkeiten in Elimanes Vergangenheit im Senegal berichtet oder von einer mysteriösen Suizidserie unter Elimanes Kritiker*innen, die scheinbar nur mit der ("schwarzen") Magie des Buches zu erklären ist. +Ja! Sarrs "Die Geheimste Erinnerung der Menschen" ist eine postkoloniale literarische Rache, so bitter wie präzise ausgeführt. Darüber hinaus beschwört der Roman die Geister des (westafrikanischen) Erzählens. Indem sich Sarr elegant in die französische Literaturgeschichte einschreibt, kehrt erden kolonisatorischen Versuchum, die eigene Geschichte auszulöschen. +Mitunter geht Sarr allzu unbarmherzig mit seinen Frauenfiguren um, er lässt sie heftiger leiden als die männlichen Protagonisten und interessiert sich mehr für ihre körperlichen Eigenschaften. Zugleich denken einige dieser Protagonistinnen aber laut und klar, sie weisen Diégane schlagfertig und belesen in die Schranken und finden oft die besseren Worte als er. +Stammt von Diéganes Schriftstellerfreund Musimbwa, der in einem Brief aus Zaire endlich offenlegt, was es mit den tauben Protagonisten seiner Romane auf sich hat – es ist sein eigenes Trauma: "Ich glaube nicht, dass man die Gespenster vertreiben muss, ich glaube, man muss sich zu ihnen ans Feuer setzen und dort, vom Angstschweiß durchnässt, zähneklappernd, die Hosen voll, seinen Platz und seine Rolle einnehmen, die ganze Rolle aus der Vergangenheit." + +Titlebild: Andrea Mantovani/The New Y​ork Times/Redux/laif diff --git a/fluter/sasa-stanisic-herkunft-rezension.txt b/fluter/sasa-stanisic-herkunft-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ecafb360f5179f51ead8e4ce955cb7acf33102a5 --- /dev/null +++ b/fluter/sasa-stanisic-herkunft-rezension.txt @@ -0,0 +1,9 @@ + + +Es gibt einen Friedhof in den bosnischen Bergen, da steht auf fast jedem Grabstein der Name Stanišić. Der Friedhof gehört zu dem entlegenen Weiler Oskoruša, aus dem ein Zweig der Familie stammt. Der Autor ist Sohn eines Serben und einer bosnischen Muslima und wuchs zunächst in der Stadt Višegrad auf. Im Alter von 14 Jahren floh er mit der Mutter nach Deutschland; Großeltern und Vater kamen nach. Er schreibt: "Müssten wir jetzt fliehen, wären also die Zustände an den Grenzen 1992 so restriktiv gewesen wie heute, würden wir Heidelberg nie erreichen. Die Reise wäre vor einem ungarischen Stacheldrahtzaun zu Ende." Die Großmutter väterlicherseits, Kristina, bleibt zurück, als Serbin droht ihr keine Gefahr. +16 Jahre nach der Flucht der Familie nimmt Kristina den Enkel, der gerade beginnt, sich als deutscher Autor einen Namen zu machen, erstmals mit zum Dorf der Vorfahren. Dieser Besuch wird zur Ausgangssituation von "Herkunft". Saša Stanišić erzählt darin Szenen aus den ersten beiden Jahrzehnten seines Lebens – und dazwischen aus dem letzten Lebensjahrzehnt seiner Großmutter. Szene für Szene, Erzählung für Erzählung setzt sich die Geschichte seiner Familie zusammen, die durch den Krieg in verschiedene Länder verstreut wurde. Neue Wurzeln im Ausland zu schlagen ist für die Erwachsenen sehr schwer, für die Kinder eher nicht. Der junge Saša findet eine neue Heimat in einem Heidelberger Vorort und der örtlichen Aral-Tankstelle, wo sich eine Clique aus Zugewanderten trifft. Im Gegensatz zu den Eltern darf er später zum Studium in Deutschland bleiben und bekommt dank einer flexiblen Sachbearbeiterin in der Ausländerbehörde sogar eine weitere Aufenthaltserlaubnis – unter der originellen Bedingung, stets als selbstständiger Schriftsteller arbeiten zu müssen. + +Das ist eine toll erzählte Erfolgsgeschichte. Stanišić ist sehr gut darin, existenzielle Härten nur dezent anzudeuten oder, noch besser, sie poetisch oder humoristisch zu verpacken. Ein großes Thema ist die fortschreitende Demenz der Großmutter, die den Enkel bei einem Ausflug nach Oskoruša überhaupt erst auf das Herkunftsthema gebracht hat. Der zunehmende Verlust ihrer Erinnerungen steht der Erinnerungssuche des schreibenden Enkels entgegen. Und als ob der sich durch das allmähliche Verschwinden der Großmutter erst auf seinen Beruf Erzähler besonnen hätte, implodiert das Buch am Ende in einem Rausch von fantastischem Was-wäre-wenn. +Das Buch lässt alle Fakten hinter sich, wenn Erzähler und Großmutter sich heimlich aus dem Altersheim schleichen, um in den Bergen auf die Suche nach dem mythenumwobenen Drachen aus der örtlichen Heimatlegende zu gehen. Möglicherweise. Denn an dieser Stelle hat der Autor es schon lange seinen LeserInnen überlassen, welchem Ausgang der Geschichte sie folgen wollen, die sich in diversen Verästelungen gabelt ("Lügst du? […] – dann lies weiter auf Seite 342. Sagst du die Wahrheit […] – lies weiter auf Seite 295"). Wobei die interaktive Wahlmöglichkeit natürlich augenzwinkernder Quatsch ist: Kaum jemand wird sich davon abhalten lassen, jedem einzelnen möglichen Ausgang dieser Geschichte nachzugehen. Schließlich kann man so oft zurückblättern, wie man will, und noch einmal anders anfangen. Das ist toll, weil es diese Gelegenheit im wirklichen Leben nie geben wird. + + diff --git a/fluter/saudi-arabien-investition-gaming.txt b/fluter/saudi-arabien-investition-gaming.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..aff2115c6d1da1a855716b3c4885a84cdaa6dde4 --- /dev/null +++ b/fluter/saudi-arabien-investition-gaming.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Menschenrechtsorganisationen sprechen schon – analog zumGreenwashing– von Sportswashing, also vom Versuch, durch Sport das Image aufzupolieren und Menschenrechtsverstöße vergessen zu machen. Davon existieren im Falle von Saudi-Arabien so einige. Zwar gibt sich das Königreich seit dem Regierungsantrittvon Kronprinz Mohammed bin Salmangern weltoffen, dennoch geht etwa die systematische Unterdrückung von Frauen oder Homosexuellen weiter. Dazu kam der Mord am "Washington Post"-Journalisten Jamal Khashoggi. +Der Einstieg in die Videospielindustrie soll offenbar nicht nur dazu beitragen, das Land vom Öl unabhängig zu machen. Er soll das Bild des Landes international aufpolieren, es damit einflussreicher und für Geschäfte salonfähiger machen. Dafür hat Mohammed bin Salman persönlich zur Gaming-Offensive geblasen. Er selbst zockt leidenschaftlich gern und erzählte der Presse, dass er zur ersten Generation in Saudi-Arabien gehöre, die mit Videospielen aufgewachsen sei. Sein Lieblingsspiel? Der Ego-Shooter "Call of Duty". +Natürlich ist bin Salman bei aller Spielleidenschaft nichtdie wirtschaftliche Relevanz der Gaming-Industrieentgangen, die allein im vergangenen Jahr weltweit über 184 Milliarden Dollar umsetzte, Tendenz steigend. Zurzeit schätzt man, dass weltweit 3,2 Milliarden Menschen Computerspiele zocken. In diesem Wachstumsmarkt will sich Saudi-Arabien als feste Größe etablieren und nimmt dafür viel Geld in die Hand. Zur Koordination des Geschäfts hat man sogar ein eigenes Unternehmen gegründet: die Savvy Games Group. +Ziel von Savvy ist es, langfristig zu den Marktführern in der Gaming- und E-Sports-Industrie zu gehören. Dafür möchte das Unternehmen bis 2030 bis zu 250 eigene Entwicklungsstudios im Königreich etablieren und damit ca. 39.000 Arbeitsplätze im Gaming-Bereich schaffen. 30 Spiele sollen veröffentlicht werden. Seine Pläne will sich das Königreich insgesamt fast 38 Milliarden Dollar kosten lassen. Zum Vergleich: Mit 250 Millionen Euro hat der Bund 2020 sein bisher größtes Förderprogramm für die deutsche Gaming-Industrie aufgelegt. +Neben den geplanten saudischen Eigenproduktionen kauft das Königreich auch fleißig ein: Allein in den letzten zwölf Monaten erwarb Saudi-Arabien Anteile an den größten Gaming-Unternehmen der Welt – darunter Nintendo ("Super Mario Bros.", "The Legend of Zelda"), Electronic Arts ("FIFA") und Take-Two ("Grand Theft Auto V"). +Der niederländische Videospielentwickler und -berater Rami Ismail sieht in Riads Spiele-Offensive ein Mittel zur Imagepflege – allerdings sei Saudi-Arabien damit nicht allein. "Das ist kein unbekanntes Phänomen. Die USA, China und Japan machen das ähnlich. Jedes halbwegs wohlhabende Land macht sich die Medien zunutze, um seine PR zu verbessern. Hollywood ist auch eine einzige große Propagandamaschine." Laut Ismail wird Gaming von der Politik auch in anderen Ländern schon längst instrumentalisiert. +Tatsächlich entwickelte das US-amerikanische Verteidigungsministerium schon Anfang der Nullerjahre ein Spiel namens "America's Army". Ein First-Person-Shooter, in dem Spielerinnen und Spieler Missionen für die US-Armee absolvieren. Mit der Simulation sollte die Reputation des Militärs verbessert und die Rekrutierungsrate erhöht werden. Und das mit Erfolg: Laut einer Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT) konnte das Spiel den Ruf des Militärs bei 30 Prozent der 16- bis 24-Jährigen im Land verbessern. Darüber hinaus stieg die Anzahl der Rekrutierungen beim Militär dadurch stärker an als bei allen bisherigen Werbemaßnahmen zusammen. +Mittlerweile hat das US-Militär seinen Fokus auf Streamingplattformen wie Twitch verlagert, um junge Menschen zu erreichen. Die Bundeswehr macht sich ebenfalls Videospiele zunutze und wirbt regelmäßig auf der Gamescom, der weltweit größten Videospielmesse, um Nachwuchskräfte für die Bereiche IT, Cybersicherheit und technische Verwaltung. +Dieser Text ist in fluter Nr. 87 "Spiele" erschienen. Das ganze Heftfindet ihr hier. +Mit Gaming lässt sich also Politik machen. Bleibt die Frage, wie das Königreich Saudi-Arabien vorgehen wird. Wird es Einfluss auf westliche Studios ausüben, in die es investiert hat? Wird es in die Inhalte reinreden und versuchen, Propaganda zu verbreiten? Auf der Suche nach Antworten hilft vielleicht ein Blick nach China: Dort werden Spiele für den heimischen Markt inhaltlich verändert, um "sozialistische Grundwerte" zu vermitteln. Und Games mit für das Regime unliebsamen Botschaften werden vom Markt entfernt oder nicht zugelassen. Ganz anders ist die Vorgehensweise aber auf dem westlichen Markt, in den sich auch China aggressiv eingekauft hat. Bislang lassen die chinesischen Konzerne Tencent und Net-Ease den Studios, in die sie investiert haben, anscheinend freie Hand. Das mag handfeste wirtschaftliche Gründe haben: Die Gamer und Gamerinnen, die in Demokratien leben, würden inhaltliche Eingriffe wie prochinesische Botschaften vermutlich ablehnen. Das Geld wäre also schlecht investiert. +Noch geht es also weniger um die Message in den Spielen als um die Spiele als Message: So ist es auch bei E-Sports. Wettbewerbe, bei denen Gamerinnen und Gamer gegeneinander antreten, sorgen für ausverkaufte Stadien. Die Kölner Firma ESL Gaming gehört zu den größten E-Sports-Unternehmen und organisiert weltweit zahlreiche Turniere und Ligen. Im April 2022 wechselte das Unternehmen für eine Milliarde US-Dollar den Besitzer. Der Käufer? Die Savvy Gaming Group des Königreichs von bin Salman. + diff --git a/fluter/saudische-frauen-duerfen-mit-ins-fussballstadion.txt b/fluter/saudische-frauen-duerfen-mit-ins-fussballstadion.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..302ec96bc1d14e469e69564ced599bf20cd9558c --- /dev/null +++ b/fluter/saudische-frauen-duerfen-mit-ins-fussballstadion.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Dagegen mag der Besuch im Stadion erst mal lächerlich klingen. Aber: Fußball ist in Saudi-Arabien ein großes Thema. Dass Frauen nun auch ein bisschen etwas davon haben dürfen, ist Teil der kleinschrittigen Veränderungen im Land. In Saudi-Arabien gelten die strengen Regeln des wahhabitischen Islam. + + +Die Erlaubnis zum Autofahren ist auch ökonomisches Kalkül. Laut der "Vision 2030" soll der Anteil der arbeitenden Frauen im Land bis 2030 auf etwa 30 Prozent steigen. Der ambitionierte Entwicklungsplan geht vor allem auf den progressiven Kronprinzen Mohammed bin Salman (MBS) zurück. Er kündigt an, sein Land unabhängiger vom Öl zu machen und den strikten Wahhabismus weniger im Alltag dominieren zu lassen. Noch stammen fast 90 Prozent der Einnahmen aus dem Ölgeschäft, und die religiöse Elite hat viel zu sagen. +International erregt MBS sowohl mit seiner Bereitschaft zur Modernisierung Aufmerksamkeit als auch mit einer großen Verhaftungswelle im eigenen Königshaus. Im vergangenen Jahr ließ er Dutzende Prinzen und Minister im Ritz-Carlton festgesetzt – offiziell wegen Korruptionsverdacht. Dabei geht es wohl mehr um Machtkämpfe innerhalb der Regierung, denn nicht alle finden den Wandel durch MBS gut. +Für viele junge Saudis erscheint MBS mit seiner Vision 2030 als einer, der ihre Interessen versteht. Darunter fällt dann wohl auch die Idee, dass Frauen nun ab und zu mal mit ins Stadion dürfen. + diff --git a/fluter/schadenfreude-soziale-funktion.txt b/fluter/schadenfreude-soziale-funktion.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7533bb2949d37d51dccdfd7d65383e84efb71dc0 --- /dev/null +++ b/fluter/schadenfreude-soziale-funktion.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Schadenfreude ist eine universelle Emotion, auch wenn in vielen Sprachen, wie etwa dem Englischen, das (vielleicht einfach besonders treffende) deutsche Wort dafür verwendet wird. Sie kann ab der frühen Kindheit auftreten, wenn – wer hätte es gedacht – eine andere Person zu Schaden kommt. Doch ganz so simpel wie die Gleichung "Person 1 widerfährt ein Unglück, Person 2 lacht" zunächst klingen mag, ist es dann doch nicht. +Schadenfreude ist nämlich im Gegensatz zu alltäglichen Slapstick-Einlagen – die Einkaufstüte reißt, die Tante stolpert – ein komplexes Phänomen, das seit den Neunzigerjahren von Forschenden aus den Bereichen der Psychologie und Philosophie untersucht wird. Eine grundsätzliche Erkenntnis, die dabei herauskam: Schadenfreude hat einen sozial funktionalen Charakter. Das heißt, die Frage, ob eine Person über das Missgeschick einer anderen Person lacht oder Mitgefühl mit ihr empfindet, hängt davon ab, in welcher Beziehung die beiden zueinander stehen. Außerdem erscheint Schadenfreude zumindest auf den ersten Blick als etwas Passives: Schließlich entsteht sie in Situationen, in denen man beobachtet, wie einer Person ein Missgeschick passiert, ohne selbst aktiv daran beteiligt zu sein. +Der Psychologe Jens Lange von der Universität Hamburg beschäftigt sich mit genau solchen Schadenfreude-Momenten. "Diese Situationen betrachtet man rein subjektiv als verdient, und das führt dazu, dass man sich gut fühlt", erklärt er. "Dabei geht es darum, den eigenen Selbstwert zu erhöhen oder zu schützen. Der Umstand, dass ich mich in dem Moment mit der Person vergleichen kann und ich besser dastehe, ist gut für mein Ego." +Gemeinsam mit seiner Kollegin Lea Boecker hat sich Langein einer umfassenden Studiedamit beschäftigt, welchesoziale FunktionSchadenfreude hat. Dafür legten sie mehreren Testgruppen – in manchen Experimenten waren es etwa 100, in anderen knapp 500 Personen – verschiedene Szenarien vor. In diesen kleinen Geschichten sollten die Teilnehmenden sich meistens kompetitive Situationen vorstellen und wurden dann mit dem Erfolg – beziehungsweise Misserfolg – von imaginierten Konkurrent_innen konfrontiert. Anschließend fragten die Forschenden die Emotionen ab, die die Testpersonen für die Konkurrent_innen empfanden. +"Auf der Gruppenebene lassen sich ähnliche Funktionen der Schadenfreude erkennen", erklärt der Psychologe weiter. "Wenn sich eine Gruppe insgesamt herabgesetzt fühlt oder vermittelt bekommt, sie könne ihre Ziele nicht erreichen, dann ist die Schadenfreude eine Reaktion auf das Unglück, das einer anderen höhergestellten Gruppe zustößt. Das stärkt dann den Selbstwert und die Identität der niedriger gestellten Gruppe." Besonders bei Gruppen, die auf einer gesellschaftlichen Ebene marginalisiert werden, beispielsweise von strukturellen und institutionellen Diskriminierungsformen betroffen sind, lassen sich Tendenzen erkennen, die ein intensiveres Gefühl der Schadenfreude hervorrufen können.Besonders interessiert hat die Wissenschaftler_innen dabei die Frage, wie Schadenfreude zwischen Individuen oder Gruppen wirkt und inwiefern sie dazu beiträgt, Hierarchien zu unterlaufen. Denn Schadenfreude trifft laut Lange und Boecker fast immer Menschen, die ein starkes Dominanzgehabe zeigen, deren gesellschaftliche Position anderen ungerecht erscheint oder die ihre Macht durch Einschüchterung erlangt haben. +Gleichzeitig können Emotionen wie Neid und Angst dazu beitragen, das Empfinden von Schadenfreude zu verstärken. Zum Beispiel, wenndie Schulmobberinvon einer Lehrperson dabei erwischt wird, wie sie einem Mitschüler das Taschengeld klaut, und daraufhin bestraft wird. Lacht der Mitschüler die Mobberin deshalb vor versammelter Klasse aus, hilft das dabei, dass sich seine Furcht vor ihr verringert. "Es ist ein Signal, dass die Person oder die Situation nicht so einschüchternd ist wie zuvor angenommen", meint Lange. +Da wären wir wieder bei Trump. Der ehemalige Präsident der USA und die Republikanische Partei entwickelten während der vergangenen Amtszeit undim Wahlkampf 2020ein Image, mit dem sie sich als unantastbar inszenierten. Als Trump dann im November 2020 gegen Joe Biden und die Demokratische Partei verlor, so erklärt Lange, löste das ein Gefühl kollektiver Schadenfreude aus – zumindest bei den Demokrat_innen und Kritiker_innen von Trump. Nicht umsonst gehörte das Wort "Schadenfreude" im Jahr 2020 zu den am häufigsten nachgeschlagenen Begriffen: Der US-amerikanische Wörterbuchverlag Merriam-Webster konnte nach Trumps Wahlniederlage einen rasanten Anstieg in der Suche verzeichnen, dasselbe war schon wenige Wochen zuvor passiert, als sich der Präsident mit dem Covid-19-Virus infiziert hatte. +Diese überschwängliche Reaktion auf das Unglück einer anderen Gruppe beziehungsweise ihres Repräsentanten war jedoch nur möglich, weil sich viele Menschen sicher waren, mit ihrer Abneigung gegenüber Trump nicht allein dazustehen. "Theoretisch ist Schadenfreude ja nichts Nettes, man könnte vermuten, Menschen würden diese Emotion eher für sich behalten und still in sich hineinlachen", sagt Lange. "Das öffentliche Auslachen geht nur, wenn man weiß, man ist im Hass gegenüber der anderen Person oder Gruppe vereint." An diesem Beispiel zeigt sich auch, dass Emotionen ansteckend sind und sich stärker ausdrücken, wenn sie mit anderen Menschen geteilt werden. "Es ist eine Möglichkeit, sie überhaupt richtig ausleben zu können. Sich selbst ins Fäustchen zu lachen macht weniger Spaß und erfüllt nicht die gewollte Funktion", meint der Emotionsforscher. "Wenn man sieht, dass andere Menschen auf dieselbe Situation genauso schadenfroh reagieren wie man selbst, dann kann dies das Gemeinschaftsgefühl stärken." +Doch nicht nur bei denen, die Schadenfreude empfinden, kann das Gefühl etwas bewirken. Mitunter können auch Menschen, die das Ziel von Schadenfreude werden, ihr Verhalten korrigieren. "Man stelle sich vor, es handelt sich um eine Person, der vorher alles gelang, und plötzlich wird sie diffamiert. Das ist besonders im Sport zu erkennen, wenn Dopingskandale öffentlich werden", erzählt Lange. "Manche der Sportler_innen treten danach weniger dominant auf oder zeigen sich sogar komplett geläutert." Aus dieser Perspektive wäre Schadenfreude also ein relevantes Mittel, die Macht, das Prestige oder das fragwürdige Verhalten bestimmter Menschen zu regulieren. Und würde damit sogar einen gewissen moralischen Effekt ausüben – immer vorausgesetzt, die Person, die der Schadenfreude ausgesetzt ist, hat ihren Status wirklich unrechtmäßig erhalten. +Eine andere Frage, die noch weitgehend unerforscht ist, lautet, welche Folgen das öffentliche Auslachen auf das individuelle Befinden der ausgelachten Person hat. Reaktionen, die naheliegen, wären Emotionen wie Scham, Verunsicherung, Wut oder Trotz. Egal ob verdient oder nicht, das Demonstrieren von Schadenfreude erscheint als Konflikt, bei dem die Würde der betroffenen Person angegriffen wird – und der viel über die schadenfrohe Person und ihre Lebenssituation aussagt. "Daten zeigen, dass Schadenfreude dann stärker ist, wenn die statusniedrigeren Personen mit ihrem eigenen Zustand unzufrieden sind. Das passt auch zu der Idee, dass Schadenfreude als Rache der machtlosen oder unfähigen Personen verstanden wird", sagt Lange. +Die Freude über das Leid kann also eine menschliche Reaktion auf Ungleichheitsstrukturen und Ungerechtigkeiten sein, die das Potenzial trägt, hierarchische Unterschiede auszugleichen. Vor allem in der Politik, aber auch in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen, in denen wir mit Macht, Status und Hierarchien konfrontiert werden, kann das herzhafte Lachen über ein Unglück nicht nur für persönliche Erleichterung sorgen. "Überspitzt man das Argument, dann hätte Schadenfreude quasi eine egalitäre Orientierung. Durch das öffentliche Auslachen versucht man, eine Veränderung zu erreichen", bringt Lange es auf den Punkt. Die Schadenfreude als Kraft, die für Gerechtigkeit sorgen kann? Ganz so optimistisch ist Lange dann doch nicht: "Was ein bisschen dagegenspricht, ist, dass Menschen immer dazu neigen, Hierarchien zu bilden. Selbst in Ländern, die versuchen, so egalitär wie möglich zu sein, gibt es Unterschiede in der Bevölkerung." Durch Schadenfreude allein wird die Welt wohl zu keinem besseren Ort – jeden Lacher verkneifen müssen wir uns trotzdem nicht. diff --git a/fluter/schall-und-rauch.txt b/fluter/schall-und-rauch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c8bb18408e297f10e0d92f3a6b7507bb9a37f4b7 --- /dev/null +++ b/fluter/schall-und-rauch.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Kommen-wir-zur-Sache-mäßig schiebt Peter Königsfeld seinen Obstsalat beiseite. "Zigaretten sind ein kritisches Produkt, das mit Vorsicht zu genießen ist. Und deshalb braucht man Aufklärung, genau wie bei Alkohol, Lotto und Computerspielen. Da übernehmen wir Verantwortung, aber gleichzeitig ist auch klar: Wir sind ein Industrieverband, der ein legales Produkt vertreibt, mit einem klaren wirtschaftlichen Interesse. Noch einmal: Ein legales Produkt braucht auch Spielraum für Wettbewerb." "Noch einmal" sagt Herr Königsfeld oft. Wie jemand, der ständig annehmen muss, dass die Menschen ihn nicht verstehen wollen. Die Branche macht harte Zeiten durch – weltweit. Vorbei die Jahre, als der Zeitgeist und die Tabakbranche noch an einem Strang zogen. In Talkshows waren vor lauter Zigarettenrauch die Talkgäste kaum zu erkennen, und in der Reklame stimmte das süße Cartoon-Kamel von Camel die Kleinsten schon mal röhrend auf die Genüsse des Erwachsenseins ein. Der Zigarettenautomat hing gleich draußen an der Schule. Davon ist nicht viel übrig geblieben: ein bisschen Reklame im Kino, auf Plakaten und an den Verkaufspunkten, die traurig gegen die martialischen Warnhinweise auf den Packungen anwirbt – Bildhinweise mit Raucherbeinen und Krebsgeschwulsten sind schon geplant. "Wir wollen das Rad der Zeit gar nicht zurückdrehen. Aber wir appellieren an den Staat, es dabei jetzt auch zu belassen", sagt Königsfeld. +Strenge Nichtrauchergesetze gibt es mittlerweile selbst in Ländern wie Irland oder Italien, wo die Menschen früher mit der Kippe an der Fleischtheke standen. Und in Deutschland darf seit Neuestem nicht mal mehr in bayerischen Bierzelten geraucht werden. Griffen im Jahr 2001 noch 27 Prozent der Jungen und 28 Prozent der Mädchen zwischen 12 und 17 zur Kippe, sind es heute nur noch 15 beziehungsweise 16 Prozent. Von 145,1 Milliarden im Jahr 2002 fiel die Zahl der verkauften versteuerten Zigaretten auf 86,6 Milliarden in 2009. Schuldige dafür hat der DZV schon ausgemacht. Auf seiner Website liest man viel vom zunehmenden Zigarettenschmuggel und den steigenden Tabaksteuern. Knapp 13,4 Milliarden Euro hat der Staat im vergangenen Jahr kassiert, und nur zu gern werden neue Löcher im Bundeshaushalt mit weiterem Geld der Raucher gestopft. +Obwohl der Verband viel von Verantwortung spricht, sucht man wissenschaftliche Studien zur Gesundheitsgefährdung durch das Rauchen auf der Website vergeblich: "Das ist auch die Policy des neuen Verbandes", sagt Königsfeld. "Wir lassen uns nicht auf einen Gutachterstreit ein. Es würde wenig Sinn machen, da ein medizinisches Gutachten hinzustellen, das, grob formuliert, sagt: ‚Rauchen ist nicht schädlich.' Egal welches Gutachten wir vorlegen würden, wir bekämen immer vorgehalten, dass wir dieses Gutachten gekauft hätten. Sie können jedes medizinische Gutachten mit einem zweiten aushebeln. Diesen Streit kann keine Seite gewinnen." Die 2007 aufgelöste Vorgängerorganisation des DZV, der Verband der Cigarettenindustrie (VdC), ging mit Gutachten weniger zimperlich um. Nach Erkenntnissen des Center for Tobacco Control, Research & Education an der University of California unterdrückte der VdC seit den frühen siebziger Jahren unliebsame Forschungsprojekte. 2006 konnte die Tabaklobby noch einen letzten Coup landen: Sie schleuste einen eigenen Entwurf für ein Nichtraucherschutzgesetz im Originalwortlaut und inklusive Rechtschreibfehlern bis ins Gesetzgebungsverfahren. Damit folgte die deutsche Tabaklobby nur der Gangart ihrer US-amerikanischen Vorbilder: Wie im Rahmen der Zivilklage der US-Regierung gegen die US-Tabakindustrie 2006 aktenkundig wurde, bildeten die Konzerne ein Kartell, das sich der systematischen Verbreitung von Unwahrheiten verschrieben hatte. Deren größte hatten die Tabakbosse noch 1994 im Rahmen der Waxman-Hearings unter Eid beschworen: "Nikotin macht nicht süchtig." +Heute gibt sich der DZV dafür besonders korrekt. "Eine Grüne als Lobbyistin für die Tabakindustrie kann nur gut für das Image sein, werden sich die Manager aus der Tabakindustrie gedacht haben", so kommentierte die "Taz" die Ernennung von Marianne Tritz, die früher mal gegen den Castor-Transport protestierte, zur Geschäftsführerin des Verbands. Weder Tritz noch Königsfeld sind Raucher. Ist der böse alte Lobbyismus damit ganz der Soft Power gewichen? Besonders mächtig scheint die Tabaklobby in der Tat nicht mehr zu sein. Dem jüngsten Beschluss zur Steueranhebung hatten Tritz und ihre Mannen jedenfalls nicht viel entgegenzusetzen. "Alles, was wir tun können, ist darauf hinzuweisen, was das Umsetzen der Extremstvorschläge für die Branche bedeuten würde", sagt Königsfeld. Laut Branchenbeobachtern verschwenden die Tabakmultis an die siechenden Absatzmärkte der Heimat sowieso keine großen Gedanken mehr – und setzen längst auf den zunehmenden Schmacht Lateinamerikas und Asiens. +Was bleibt nichtrauchenden Tabaklobbyisten, die Jugendliche eindringlich vor dem eigenen Produkt warnen, überhaupt noch anzukreiden? Vielleicht, dass sie ihre Warnungen nicht in der offiziellen Kommunikation des Verbandes offen aussprechen? Entsteht nicht der Eindruck von Unbedenklichkeit, wenn man beim DZV überall "Genuss braucht Verantwortung" liest, aber kein Wort über die Gesundheitsschädlichkeit? Peter Königsfeld rührt in seinem Tee. "Wir wenden uns nur an erwachsene, aufgeklärte Konsumenten", antwortet er wie gedruckt. "Denen trauen wir zu, das frei zu entscheiden. Wir beide wissen, dass übermäßiger Alkoholkonsum oder zu viel fetthaltiges Essen auch nicht gut für eine ausgewogene Ernährung sind." Aber was sagen Sie den immerhin 15 Prozent der Jugendlichen, die das Rauchen eher irrational als symbolische Abkürzung zum Erwachsenwerden sehen? "Da setzen wir auf verantwortungsvolle Eltern, die ihre Kinder über die Gefahren aufklären. Mein Vater war da ganz pragmatisch. Er hat mich probieren lassen, und ich habe dann, auf Deutsch gesagt, gekotzt. Damit war das Thema für mich durch. Unsere Message an Jugendliche ist, gar nicht erst anzufangen." diff --git a/fluter/schau-genau-hin.txt b/fluter/schau-genau-hin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7af611d9e8121372004bdb7d96001839fe0ecfee --- /dev/null +++ b/fluter/schau-genau-hin.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Bevor es losging, bekamen wir erst einmal einen Stapel an Informationen: Wie sieht das politische System des Landes aus, welche Probleme gibt es momentan, wie schätzt man die aktuelle Lage ein, und wie funktionieren die Wahlen in Bulgarien? Das alles sollte man schon wissen. Vor Ort wurde uns dann von Vertretern der bulgarischen Wahlkommission das Wahlsystem erklärt und erläutert, auf was man genau achten sollte und in welchen Regionen Probleme erwartet wurden. +Zu meiner großen Verwunderung bestand unsere Gruppe nicht nur aus alten, grauhaarigen Männern. Zudem waren fast alle Länder der EU vertreten – von der jungen Frau mit bunten Haaren aus East-London bis zu einer älteren Dame aus Südfrankreich, die im Rollstuhl geschoben werden musste. Vom Arbeitslosen aus England über den pensionierten Hochschulprofessor aus Italien bis zu mir, dem Studenten aus Berlin, waren auch alle sozialen Schichten vertreten. Die 120 Wahlbeobachter, die sich vorher in Sofia getroffen hatten, verteilten sich schließlich mit Bus, Auto oder Flugzeug über das ganze Land. Ich war in Dobritsch, eine Stadt im recht armen Nordosten des Landes. +Als erste Station unseres langen Tages sind wir gegen sieben Uhr morgens zur Öffnung eines Wahllokals gefahren. Jeder Wahlhelfer und jeder Wahlbeobachter bekam ein kleines Schild, um den Wählern zu zeigen, dass man berechtigt war, sich im Wahllokal aufzuhalten. Eins fiel leider sofort auf: Man hatte vergessen, die Wahlurne zu versiegeln. Nach unserem Hinweis wurde das aber nachgeholt. +Was man sonst so macht? Man kann beispielsweise kontrollieren, ob nicht zu viel Andrang herrscht, ob sich unautorisierte Menschen im Wahllokal befinden, ob Wahlzettel schon vorher ausgefüllt sind und ob die Wahlkommission alle erforderlichen Papiere dabeihat. Man kann auf solche Verstöße hinweisen und sie der Wahlkommission in der betreffenden Region melden. Selber einschreiten kann man nicht. +Nach vielen Wahllokalen und unzähligen Kilometern im Auto haben wir uns am frühen Abend auch noch das Auszählen in einem weiteren Wahllokal angeschaut. Leider war dieses in einem Kindergarten untergebracht, so dass wir drei Stunden lang auf etwa 30 Zentimeter hohen Kinderplastikstühlen sitzen mussten. +Insgesamt hatten wir am Ende des Tages etwa 15 Wahllokale kontrolliert. Spätestens nach der dritten Station hatte sich allerdings herumgesprochen, dass wir in der Gegend waren. Das lokale Radio hatte darüber berichtet, und die lokalen Beobachter schienen untereinander auch gut vernetzt zu sein. Anders als in Deutschland, wo nur Wahlhelfer, Wahlbeobachter und Wähler im Wahllokal zugelassen sind, dürfen in Bulgarien auch Parteien Beobachter für alle Wahllokale entsenden, die dann im Zimmer sitzen und ebenfalls schauen, ob alles mit rechten Dingen zugeht. +In allen besuchten Wahllokalen haben die Menschen kooperiert und uns respektiert. Manchmal hat man eine gewisse Anspannung gemerkt. Obwohl wir faktisch keine Handhabe gegen Verstöße hatten, wurden unsere kleinen Beanstandungen meist schnell korrigiert. Ein einziges Mal hat mir ein Mann Prügel angedroht, weil ich angemerkt hatte, dass er kein Namensschild trägt, das ihn als Helfer ausweist. Das glaube ich zumindest, denn leider konnte die Übersetzerin sein Schreien nicht Wort für Wort übersetzen. +Ob man Wahlbetrug durch die Beobachter wirklich bekämpfen kann? Ich bin da skeptisch. Nach der Wahl gab es Hinweise, dass ausgerechnet in unserer Region viele Stimmen gekauft wurden. Auf der anderen Seite hat unsere Präsenz hoffentlich einige unter Druck gesetzt. Und letztlich hat sich die Mission doch gelohnt, wenn nur eine einzige Stimmenfälschung verhindert werden konnte. + +Yannick Haan engagiert sich seit mehreren Jahren politisch im Bereich Netzpolitik. Im April letzten Jahres erschien sein Buch "Gesellschaft im digitalen Wandel" diff --git a/fluter/schau-mal-woran-ich-jetzt-glaube.txt b/fluter/schau-mal-woran-ich-jetzt-glaube.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1ed7ba63c35c148fd06ecad8bb7476c37d7e8583 --- /dev/null +++ b/fluter/schau-mal-woran-ich-jetzt-glaube.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Fluter: Wenn ich mich dafür entscheide, ab morgen nie wieder Fleisch zu essen, bin ich dann konvertiert? +Martina Wagner-Egelhaaf: Das könnte man, muss man aber nicht so ausdrücken. Wir sind es gewöhnt, "Konversion" als religiöse Konversion zu verstehen. Zunächst bedeutet "Konversion" aber ganz einfach nur "Umkehr" oder "Wende". Und in diesem weiten Sinne kann man das Bekenntnis zum Vegetarismus als Konversion verstehen. Sie haben aufgrund bestimmter "Glaubensprinzipien" – tierethischer oder gesundheitsbezogener Art – Ihr Leben ziemlich radikal verändert. +Warum bringen wir Konversion schnell mit Religion in Verbindung? +Religion steht in unserem Wertesystem sehr weit oben. Normalerweise wird man in eine Religion hineingeboren, in dieser sozialisiert, und wenn man dann die Religion ändert, ist das schon ein aufsehenerregender Akt – mehr als der Entschluss, Vegetarierin zu werden. Historisch gesehen bezog sich Konversion übrigens zunächst nicht auf die Religion. In der Antike verstand man unter einer "conversio" die Bekehrung zur Philosophie. +Wie viele Formen von Konversion gibt es? Religiöse und nichtreligiöse? +Es gibt sehr viele verschiedene Formen. Man kann freiwillig konvertieren oder dazu gezwungen werden. Wenn wir das Beispiel eines Paares nehmen – die Frau ist Katholikin, der Mann ist evangelisch oder konfessionslos. Der Mann kann den Glauben seiner Frau aus religiösen oder aus pragmatischen Motiven annehmen. In letzterem Fall hätte die Religion im Grunde keinen hohen Stellenwert – es ist also nicht immer leicht, zwischen religiösen und nichtreligiösen Konversionen zu differenzieren, und deshalb sollten wir sie nicht unbedingt gegeneinander ausspielen. Die Konversionsforschung unterscheidet zwischen drei Konversionstypen. Erstens die "Blitzkonversion", bei der sich mit einem Mal, ganz plötzlich, das ganze Leben ändert, ohne dass dem ein Reflexionsprozess vorausgeht. Zweitens die Konversion, die ein längerer Entwicklungsprozess ist, der mit einer allmählichen Bewusstseinsveränderung einhergeht. Und der dritte Typus ist die Konversion, die eigentlich nie abgeschlossen ist. +Kann man sagen, dass es sich bei Jugendlichen, die zum Islam übertreten und sich dann radikalisieren, um Blitzkonvertiten handelt? +Das würde ich nur unter Vorbehalt sagen. Wir wissen oft nicht, was der Konversion vorausgeht. Ich würde davon sprechen, dass es eine Nähe zur Blitzkonversion hat, weil sie plötzlich als Anhänger des Islam auftreten. Wie religiös das allerdings begründet ist, ist nur schwer zu sagen. Da spielen oft auch andere Dinge eine Rolle, glaube ich: Abenteuerlust, männliches Imponiergehabe. Aus diesem Grund würde ich in solchen Fällen überhaupt nicht von Konversion sprechen, jedenfalls nicht, wenn man damit eine religiöse Wende meint. +Warum konvertieren Menschen denn überhaupt? +Das kann ich als Literaturwissenschaftlerin nicht solide beantworten. Aber ich denke, der Faktor "Unzufriedenheit" spielt sicherlich eine Rolle. Wenn man sich mit seinem eigenen Leben nicht wirklich identifizieren kann und man den Gedanken hat "Da muss doch noch was anderes sein", suchen sich die Menschen eine neue Orientierung, eine neue Gemeinschaft. Gerade bei den jungen Männern, die sich dem Islamischen Staat anschließen, handelt es sich oft um Menschen, die es eben nicht geschafft haben, irgendwo anzukommen. Und dann suchen sie sich natürlich andere Wege. +Sie untersuchen Texte aus verschiedenen Epochen, vom Mittelalter bis heute. Haben sich im Laufe der Jahrhunderte die Vorstellungen und Erzählmuster von Konversion geändert? +Man muss bedenken, dass die meisten Autobiografien retrospektiv geschrieben werden und man dementsprechend nicht unbedingt davon ausgehen kann, dass da genau beschrieben wird, was tatsächlich der Fall war. Die Grundmuster sind jedenfalls erstaunlich konstant. Man findet die drei Konversionstypen nicht nur in älteren Texten, sondern auch in modernen. Häufig ähneln sich die Konversionsberichte sehr stark. Sie orientieren sich an überindividuellen Schemata. Dazu gehört zum Beispiel, dass die Betroffenen einen kritischen Blick auf die Gesellschaft beziehungsweise ihre Umwelt haben und sie zum Beispiel deren Scheinheiligkeit anprangern. Auch das Motiv der Suche ist Teil dieser Erzählmuster – alles Narrative, die sich über die Jahrhunderte hinwegziehen. +Und bis heute wirken … +Ja. Mit diesen Narrativen betrachten wir die Welt, und sie helfen uns, uns selbst und die Welt zu verstehen. Daher sind sie relativ stabil – auch weil sie eine Schutzfunktion haben. Sie geben uns ein Ziel, auf das wir hinarbeiten können. Nehmen wir mal das Narrativ "vom Tellerwäscher zum Millionär". In diesem Narrativ steckt sehr viel, zum Beispiel die Behauptung "Jeder kann es zum Millionär bringen" – was natürlich gar nicht unbedingt der Fall ist. Dennoch orientieren wir uns daran: Zum Millionär hat es jemand vielleicht nicht gebracht, aber er hat es mit Fleiß und dank glücklicher Umstände geschafft, seinen einfachen Verhältnissen zu entkommen. Er nimmt also das Narrativ vom Tellerwäscher als Vorlage und wandelt es ab. +Welche Quellen müssten wir uns heute anschauen, um zu verstehen, warum jemand konvertiert ist? Posts bei Facebook? +Posts bei Facebook würde man sich auf jeden Fall anschauen, genauso wie YouTube-Videos. Aber das sollten natürlich nicht die einzigen Quellen sein. Man sollte versuchen, mit den Menschen selbst ins Gespräch zu kommen, zumal die meisten Konvertiten sehr gerne über ihre Konversion sprechen. Die wenigsten Menschen konvertieren still und heimlich für sich, sondern sie treten damit an die Öffentlichkeit und wollen, dass diese ihre Konversion wahrnimmt. +Wie erklären Sie sich diesen Drang, die eigene Konversion öffentlich zu machen? +Ich glaube, wir sind sehr abhängig von dem Bild unseres Selbst, das uns von anderen gespiegelt wird. Wir sind nicht die souveränen Subjekte, die genau wissen, was sie tun und was richtig ist – wir brauchen immer die Bestätigung von außen. +Was passiert eigentlich genau bei einer Konversion? +Das lässt sich nicht allgemein sagen, weil wir nicht in die Köpfe der Menschen gucken können. Das Einzige, was man sagen kann, ist, dass sich das Leben radikal verändert. Das gilt sowohl für die eigenen Gedanken und Meinungen als auch für die Lebenspraxis. Wenn ich mich zum Vegetarismus bekenne, fange ich eventuell an, in anderen Geschäften einzukaufen, treffe mich mit Gleichgesinnten. Letztlich ist jede Konversion auch eine Aufnahme in eine neue Gemeinschaft, und sehr häufig lockern sich dann alte Bindungen.Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf lehrt am Germanistischen Institut der Uni Münster. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem Gegenwartsliteratur und Autobiografien. Sie gehört zudem dem Forschungsverbund "Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne" der Uni Münster an und beschäftigt sich dort besonders mit dem Thema "Konversion". +Ann-Kristin Schöne ist Volontärin bei der Bundeszentrale für politische Bildung. diff --git a/fluter/schaubild-milieu-klasse-studien.txt b/fluter/schaubild-milieu-klasse-studien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/schaubild-muelltrennung.txt b/fluter/schaubild-muelltrennung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b28b04f643122b019e912540f228c8ed20be9eeb --- /dev/null +++ b/fluter/schaubild-muelltrennung.txt @@ -0,0 +1,3 @@ + + + diff --git a/fluter/schaubild-terrorstroemungen-weltweit.txt b/fluter/schaubild-terrorstroemungen-weltweit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..efe611d70aa7303afa052c6fa514a4f346f888e3 --- /dev/null +++ b/fluter/schaubild-terrorstroemungen-weltweit.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Mit diesen Begriffen lassen sich verschiedene Gruppierungen bezeichnen, die mit terroristischen Mitteln eine als ungerecht empfundene Staats- und Wirtschaftsordnung überwinden wollen. Das war schon das Ziel der frühen Anar chisten, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Macht der Herrschenden brechen wollten. Auch viele links-terroristische Bewegungen im 20. Jahrhundert, die ihren Feind vornehmlich im westlichen Imperialismus und Kapitalismus sahen, verfolgten ähnliche Motive. Typisch für diese Gruppierungen ist, dass sie recht international orientiert sind: Schon die frühen Sozialrevolutionäre orientierten sich über Ländergrenzen hinweg aneinander und griffen zum Teil sogar auf die gleichen "Handbücher" mit terroristischen Taktiken zurück. Eine Gemeinsamkeit vieler Gruppierungen dieses politischen Spektrums im späteren 20. Jahrhundert war, dass sie sich als Vorkämpfer der "revolutionären Massen in der Dritten Welt" sahen. Tatsächlich gab es in einigen ehemaligen Kolonialstaaten aufständische Gruppen, deren Kampf aber nur zum Teil terroristisch war und meist den Charakter von Guerillabewegungen hatte. Oft richten sich deren Angriffe gegen militärische Einheiten, manche wollen auch Gebiete erobern. In einigen Ländern ist der Widerstand auch nationalistisch und antikolonial motiviert. + +Diese Erscheinungsform des Terrorismus zielt häufig auf Angehörige ethnischer Minderheiten und andere gesellschaftliche Gruppen, die von Terroristen als "abartig", schwach und minderwertig eingestuft werden, etwa auf Menschen mit Behinderung, Obdachlose und Homosexuelle. Anders als der anarchistische Terrorismus ist diese Form der Gewalt nicht geprägt durch generelles Misstrauen und Feindseligkeit gegenüber staatlicher Ordnung. Es geht aber darum, eine Ordnung nach eigenen Vorstellungen zu eta blieren, die mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und dem Gleichheitsprinzip des Grundgesetzes nichts zu tun hat. Wer in den Augen rechtsextremer Terroristen "anders" ist, gefährdet diese herzustellende homogene Ordnung. Man bezeichnet das auch als vigilantistischen Terrorismus: Das Ordnungssystem des Nationalstaats wird nicht infrage gestellt und auch nicht angegriffen von den Terroristen, vielmehr schwingen sie sich als nichtstaatliche Akteure zu dessen "Beschützern" auf und deuten es auf ihre Weise um. Ihr Ziel ist eben nicht ein liberaler Nationalstaat, wie er aktuell in vielen westlichen Ländern anzutreffen ist, sondern ein ethnisch homogener und damit exklusiver Nationalstaat. Angesichts von Zuwanderung in die Gesellschaft misstrauen sie der Autorität und Wirkungsmacht des Nationalstaats in seiner aktuellen Ausprägung und üben Selbstjustiz. Beim rassistischen und rechtsextremen Terrorismus häufig anzutreffen ist das Phänomen des "Lone Wolf"-Terroristen: Gewalttäter, die sich zwar durchaus von einem politischen Umfeld motivieren lassen, ihre Taten aber ohne die Struktur einer sie unterstützenden Gruppe planen. Zwar sind Anhänger des rechtsextremen Terrorismus in der Regel Befürworter einer strikten staatlichen und patriarchalen Ordnung, gleichwohl agieren sie radikal gegen das Gewaltmonopol des Staates, der ja das Recht auf körperliche Unversehrtheit aller Menschen garantieren soll. + +Anhänger solcher Gruppen streben an, eine weltliche Gesellschaftsordnung durch eine religiöse zu ersetzen. An die Stelle des säkularen Staates wollen sie eine Theokratie setzen, in der Politik, Gesetze und Rechtsprechung auf einem sehr traditionellen Verständnis ihrer Religion gründen. Bei dieser Form des Terrorismus denken heute viele zuerst an islamistische Gruppen und an Selbstmordattentate, zu denen wohl nur Menschen bereit sind, die an ein besseres Leben im Jenseits glauben. Die Gewalt kann aber durchaus auch aus anderen Glaubensrichtungen kommen, wie etwa dem Christentum. Zwar spielt auch in separatistischen Bewegungen Religion manchmal eine Rolle, wenn die nach Unabhängigkeit strebende Minderheit einen abweichenden Glauben hat. Bei religiösem Terrorismus jedoch steht die Religion im Mittelpunkt. Aus ihr wird die Rechtfertigung für die gewaltsame Herstellung einer anderen Gesellschaftsordnung ebenso abgeleitet wie die Regeln, nach denen dort gelebt werden soll. + +Es wird deutlich: Terroristische Gewalt hat verschiedene Formen. Wichtig ist: Nicht jede Terrorgruppe ist stets eindeutig nur einer der skizzierten terroristischen Strömungen zuzuordnen. Manche separatistische Terrororganisation versteht sich zugleich als sozialrevolutionär, manche religiös-fundamentalistische Terrorgruppe tritt unter Anhängern ihres eigenen Glaubens zugleich als Wohltäter auf.Auch haben einige Terrorgruppen einen politischen Flügel, der als legale Partei Politik macht. Die genannten Strömungen sind also nur "Idealtypen", von denen in der Realität oft abgewichen wird. + +Hier könnt ihr die Heftmitte ausfluter Terrorin hoher Auflösung herunterladen: diff --git a/fluter/schaubild-ukraine-fakten.txt b/fluter/schaubild-ukraine-fakten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/scheidung-syrische-frauen-in-deutschland.txt b/fluter/scheidung-syrische-frauen-in-deutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2b823a523b5646215738f76851df2a22599f9f9c --- /dev/null +++ b/fluter/scheidung-syrische-frauen-in-deutschland.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Der Krieg hatte noch nicht wirklich begonnen, als Amira und ihr Mann Syrien verließen. Amiras Mann hatte einen anderen Grund zu gehen: Er schmuggelte Waffen für den sogenannten Islamischen Staat und die Rebellengruppe Ahrar al-Scham. +Die Wohnung der Familie in Antakya wurde bald zum Umschlagplatz für Waffen und zur Zwischenstation für verletzte Kämpfer aus Syrien. Amira war zu diesem Zeitpunkt schwanger. Einen kleinen Sohn hatte sie schon in der Türkei zur Welt gebracht. Ihr Mann verbrachte den ganzen Tag im Internet. Er sprach immer weniger mit ihr, schließlich begann er sie zu schlagen. +"Wenn ich mit meiner Mutter telefonierte, sagte sie, ich müsse bei ihm bleiben, weil ich schon zum zweiten Mal verheiratet war", erzählt Amira. Sie ist groß, trägt schwarze, zerrissene Jeans und glattes schwarzes Haar. Ihr Kopftuch hat sie nach der Trennung abgelegt. Ihre Heimatstadt Hama sei sehr konservativ und so auch ihre Familie. Die Mutter hatte Sorge, dass auch das dem Ruf der Familie schaden würde. Mit 13 Jahren war Amira das erste Mal verheiratet worden. Die erste Scheidung sei nur möglich gewesen, sagt sie, weil ihre Mutter den damaligen Ehemann nicht leiden konnte. +Als der zweite Ehemann dann 2015 für neun Monate ins Gefängnis musste, floh sie mit ihren zwei Kindern nach Berlin. Dort traf sie auf Lina Ganama. Die 61-jährige Syrerin mit blond gefärbtem Haar lebt seit 1986 in Deutschland und arbeitet fast ebenso lang bei Al Nadi, dem Treffpunkt für arabische Frauen im Nachbarschaftsheim Schöneberg. Als Amiras gewalttätiger Ehemann ihr nach Berlin folgte und sie auf offener Straße angriff, unterstützte Ganama sie bei der Scheidung. Heute läuft ein Verfahren gegen ihn, die Kinder darf er nur unter Aufsicht sehen. +Ganama hilft syrischen Frauen in Berlin bei ihren Scheidungen. In Syrien würden einige von ihnen bei ihren Männern bleiben, weil sie um ihren gesellschaftlichen Ruf fürchteten oder kein eigenes Geld verdienten, sagt sie. In Deutschland seien die Frauen anonym und, wenn sie Glück haben, auch wirtschaftlich unabhängig. +"Als meine Aufgabe sehe ich es, den Frauen die Scheu vor einer Scheidung zu nehmen", sagt Ganama, die sich selbst vor 18 Jahren in Deutschland scheiden ließ. Bei einem Besuch in Syrien habe ihr eine Nachbarin damals gesagt: "Geh jetzt lieber nicht mehr so oft nach draußen, du musst auf deinen Ruf achten", erinnert sie sich amüsiert. Dass Frauen sich laut und ohne Scham als "mutallaqa" – "geschieden" – bezeichnen, daran arbeite sie seitdem. +Shinar Moustafa lebt inzwischen tatsächlich ohne Scham darüber: "Hier ist es mir nicht unangenehm zu sagen, dass ich geschieden bin", erzählt die 32-jährige Syrerin aus dem kurdischen Afrin, die seit drei Jahren in Kiel lebt. Sie hatte aus Liebe geheiratet und fühlte sich irgendwann nicht mehr von ihrem Mann geliebt. Dass sie in Deutschland ihr eigenes Geld vom Jobcenter bekommt, war ausschlaggebend für ihre Entscheidung. Und sie ist froh, dass sie hier weniger Angst vor unangenehmen Reaktionen haben muss. "In Syrien hätte ich viel mehr Hemmungen gehabt", sagt sie. +Die Anonymität in einem fremden Land bedeutet aber nicht nur Schutz, sondern auch Einsamkeit. Und eine Scheidung weit weg von zu Hause hat ihre Schattenseiten. Shinar Moustafa findet das Leben als alleinerziehende Mutter in Deutschland schwierig. "Das Gute in Syrien wäre gewesen, dass ich mein Kind bei meiner Familie hätte lassen können, während ich in der Uni bin", sagt sie. Seit sie von ihrem Mann geschieden sei, könne sie ihr Jurastudium nicht fortsetzen, das sie in Aleppo begonnen habe, erzählt Moustafa. "Wenn mein Sohn krank ist, muss ich mich um ihn kümmern und kann oft nicht einmal für den Deutschkurs lernen." Ihr Ex-Mann helfe ihr überhaupt nicht. +Und dann sind da noch die bürokratischen Fallen. Manche Frauen können sich in Deutschland nicht scheiden lassen, weil ihre Ehe noch gar nicht anerkannt wurde. "Wir arbeiten hier nur mit WhatsApp", erzählt Ganama. Verwandte schicken aus Syrien Bilder der Eheurkunde, um damit die Scheidung zu ermöglichen. Andere machen es wie Shinar Moustafa: Sie hat ihre Ehe in Deutschland nie anerkennen lassen. In Syrien aber bleibt sie damit verheiratet. Wer es richtig machen will, solle am besten einem Verwandten oder Anwalt in Syrien eine Vollmacht erteilen, die Scheidung dort durchführen und dann hier anerkennen lassen, sagt Ganama. Das gehe ohnehin schneller, denn in Syrien ist vor der Scheidung kein Trennungsjahr vorgesehen. + + +Piktogramm: RedKoalaDesign / Getty images (Animation: fluter.de) diff --git a/fluter/scherz.txt b/fluter/scherz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/schicht-auf-schienen-zugbegleiterin.txt b/fluter/schicht-auf-schienen-zugbegleiterin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b4598f18aa105818078981b3136755652c92c9ef --- /dev/null +++ b/fluter/schicht-auf-schienen-zugbegleiterin.txt @@ -0,0 +1 @@ +Stefanie Wurster ist fluter-Redakteurin. diff --git a/fluter/schicht-im-schacht.txt b/fluter/schicht-im-schacht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/schiedspersonen.txt b/fluter/schiedspersonen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6751140a1e9273bac592d5edc3a64ad1bec107f6 --- /dev/null +++ b/fluter/schiedspersonen.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Das Schiedsamt ist alt, sehr alt. Im Jahr 1827 führte das Königreich Preußen das Institut des Schiedsmannes ein. Schon zu dieser Zeit waren Schiedsmänner – damals ausschließlich Männer – für kleine private Streitigkeiten zuständig. Das ist bis heute so geblieben. Rund 8.000 Schiedsmänner und -frauen gibt es aktuell in Deutschland. Sie schlichten kleinere strafrechtliche und zivilrechtliche Konflikte. +Dafür setzen sie sich mit den zerstrittenen Parteien zusammen. In der Regel einmal und auf neutralem Boden, manchmal in eigens angemieteten Räumen. Jeder trägt sein Problem vor und hört dem anderen zu, die Schiedsperson moderiert und protokolliert. Am Ende entscheidet sie nicht, wer recht hat, sondern handelt einen sogenannten Vergleich aus – das kann ein Schmerzensgeld sein oder ein Kompromiss, der das Zusammenleben vereinfacht. +In den allermeisten Fällen haben die Schiedspersonen mit Nachbarschaftsstreitigkeiten zu tun, berichtet der Bund Deutscher Schiedsmänner und Schiedsfrauen e. V. (BDS). Die gibt es in Deutschland zuhauf. Manipulierte Grundstücksgrenzen, Hecken, die zu breit sind, stinkende Mülltonnen vor Schlafzimmerfenstern, laute Partys im Garten: Laut Umfragen hat jeder Zweite schon einmal mit seinem Nachbarn gestritten, rund 300.000 Klagen von Nachbarn gegen Nachbarn landen jährlich vor Gericht. +Sie sind einer der Gründe, warum die deutschen Gerichte massiv überlastet sind. Die Zahl der offenen Verfahren ist laut Deutschem Richterbund auf einem Rekordhoch. 2023 blieben 906.536 Fälle unerledigt. In 12 der 16 Bundesländer sind Gemeinden und Städte deshalb verpflichtet, alle fünf Jahre eine Schiedsperson wählen zu lassen. Bevor man überhaupt vor Gericht ziehen kann, müssen sogenannte Privatklagedelikte vor dem Schiedsamt oder einer Schiedsstelle verhandelt werden. Dazu zählen unter anderem Hausfriedensbruch,Beleidigung, Sachbeschädigung oder leichte Körperverletzung. Erst wenn die Schlichtung zu keinem Kompromiss führt, kann man mit einer Erfolglosigkeitsbescheinigung eine Klage beim Amtsgericht einreichen. +Die Anforderungen, die die Bundesländer an ihre Schiedspersonen stellen, sind überschaubar. Die Bewerber müssen je nach Bundesland mindestens 25 oder 30 Jahre alt sein, in einigen höchstens 70. Sie dürfen keine Vorstrafen haben, müssen im Schiedsamtsbezirk wohnen und dürfen nicht unter Betreuung stehen. Außerdem dürfen sich Menschen mit bestimmten Justizberufen, etwa Notare oder Richter, nicht als Schiedspersonen engagieren. Und sie müssen sich fortbilden, zum Beispiel in Strafrecht oder Mediation. Fabian Musch, der frischgebackene Schiedsmann aus Romrod, war dafür bei Bodo Winter. +Winter, 72, ist ein Urgestein des deutschen Schiedswesens: Seit 27 Jahren schlichtet er im hessischen Büdingen. Er hat eine Zeit als Jurist am örtlichen Amtsgericht gearbeitet, schon sein Vater war Schiedsmann. Der Bürgermeister höchstpersönlich sprach Bodo Winter damals an, ob er das Amt nicht übernehmen wolle. Seitdem dürfte er etwa 2.000 Fälle bearbeitet haben, im Schnitt 74 im Jahr. +"In den meisten Fällenging es eigentlich um Kleinigkeiten", sagt er. Aber wenn die Streitendenüber Jahre nicht offen miteinander sprechen, eskaliere der Streit irgendwann. Einmal, erinnert sich Winter, habe ein Nachbar dem anderen den Autospiegel abgetreten. Das Ganze wurde von der Überwachungskamera des Autobesitzers aufgezeichnet – die die öffentliche Straße allerdings gar nicht hätte filmen dürfen. "Im Gespräch kam dann heraus: Der Nachbar hat den Spiegel nur zerstört, weil er wütend wegen der Kamera war", erzählt Winter. +Für ihn ist die größte Belohnung für sein Ehrenamt, wenn sich zwei Parteien, die sich seit Jahren anbrüllen oder, noch schlimmer, anschweigen, nach dem Schlichtungsgespräch in den Armen liegen. "Kommt natürlich nicht oft vor", räumt Winter ein. Aber ein Miteinander sei bei den meisten seiner Klienten nach der Schlichtung wieder möglich. Winter sorgt sich um die Gesellschaft, hier in Büdingen wie im ganzen Land. "Viele Menschen", sagt er, "haben einfach verlernt, miteinander zu sprechen." + +Dieser Text istim fluter Nr. 91 "Streiten"erschienen +Deshalb versucht Winter zunächst immer, die Zerstrittenen ins Reden zu bringen. Er stellt Frage um Frage um Frage um Frage. Bis der Knoten platzt und klarer wird, worum es bei dem Streit eigentlich geht. In 30 Prozent der Fälle klappt das nicht, schätzt Winter. "Bei manchen ist gar keine Grundlage mehr da für ein Gespräch." Oft gehe es in diesen Konflikten um Körperverletzung. +Schiedspersonen wandeln auf einem Grat. Sie müssen zurückhaltend sein, aber aktiv moderieren. Aufgeschlossen und interessiert am Menschen, aber Distanz wahren. Neutralität ist im Schiedswesen oberstes Gebot. Wenn sie einen Konflikt schlichten soll, darf die Schiedsperson mit keiner der Streitparteien verwandt oder verschwägert, verlobt, verheiratet oder von ihr geschieden sein. Sonst muss ein Stellvertreter ran, so regelt es das Schiedsamtsgesetz. +Schwieriger wird es, wenn die Schlichtenden mit einem der Streithälse befreundet oder bekannt sind. Dann muss die Schiedsperson abwägen: Kann ich mich noch neutral verhalten? Oder muss ich den Fall besser abgeben? +Das ist die Situation, vor der Fabian Musch am meisten Respekt hat. "Ich hoffe, dass ich nie zu eng mit einer Partei befreundet bin", sagt er. Ganz unwahrscheinlich ist das nicht: In Romrod leben nicht mal 3.000 Menschen. + diff --git a/fluter/schlager-juengere-helene-fischer-interview.txt b/fluter/schlager-juengere-helene-fischer-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..097d0c11eaa11f06e8a3d17ac495a8f7f5259b8d --- /dev/null +++ b/fluter/schlager-juengere-helene-fischer-interview.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +Was macht Schlager für jüngere Menschen interessant? +Schlager hat sich stark modernisiert. Es gibt plötzlich coole Beats und sogar Musikvideos, die im Schlager lange keine Rolle gespielt haben. Vieles ist professioneller produziert als noch vor einigen Jahren. Auch die Texte sind für eine jüngere Zielgruppe ansprechend: Es geht um Hedonismus, Partykultur,Verliebtsein. Das übliche, als verstaubt geltende Familienleben, das man aus dem volkstümlichen Schlager kennt, ist in den Hintergrund gerückt. Und es treten neue Akteurinnen auf, die cool und selbstbewusst wirken, zum Beispiel Beatrice Egli oder Vanessa Mai. +Sind die beiden gewissermaßen auf den Helene-Fischer-Zug aufgesprungen? +Helene Fischer hat auf jeden Fall neue Maßstäbe gesetzt, an denen sich auch andere orientiert haben. Man sieht das vor allem an Andrea Berg: Sie hat Fischer keinesfalls kopiert, ihre Inszenierungen und Bühnenshows haben sich aber deutlich professionalisiert. Schlagersängerinnen kamen immer etwas uncool und altbacken daher. Aber Berg sieht mittlerweile eher wie eine Popsängerin aus. +Hat sich das Frauenbild im Schlager dadurch verändert? +Was die Akteurinnen betrifft, auf jeden Fall. Im Gegensatz dazu stehen aber die Texte, in denen noch immer häufig das ultimative Lebensglück in der heterosexuellen Paarbeziehung gesucht und besungen wird. Allerdings fällt auf, dass der Schlager in den letzten Jahren queerer geworden ist. Queere Schlagerstars wie Ross Antony oder Kerstin Ott treten ganz selbstverständlich in den großen ARD-Shows auf, das ist bemerkenswert. Die queere Schlager-Fanbase, die sich von der Ästhetik angesprochen fühlt, existiert schon länger, wie man zum Beispiel auch beimEurovision Song Contestsehen kann. Das spiegelt sich langsam auch in den auftretenden Künstlerinnen und Künstlern wider. +Schlager nähert sich der Popmusik also an. Welche Elemente an Fischer und Co. entsprechen denn noch dem typischen Schlager? +Ein Merkmal von Schlager ist, dass er vor allem Sprachrohr der Hörerinnen und Hörer ist. Das heißt, er soll deren Lebenswelt bewusst abbilden. Auch wenn Liebe das vorherrschende Motiv ist, kommen auch andere Themen wie Freundschaft oder Tod vor. Der klassische Pop hingegen ist inhaltlich stark bezogen auf den Künstler oder die Künstlerin und damit eher eine Art Ego-Show. Auch Fischers klare Stimmfarbe und ihre deutliche Artikulation sind Schlager, während Pop – gerade Deutschpop – oft etwas genuschelt daherkommt. + + +Im Deutschpop wären wohl auch die akrobatischen Elemente kaum denkbar. +Was das angeht, ist Helene Fischer die deutscheBeyoncé. Auch bei ihren Outfits und Inszenierungen sieht man sehr klare Parallelen zwischen den beiden Künstlerinnen. Und natürlich, was ihre Perfektion betrifft: Es wird eine öffentliche Persona konstruiert, die vordergründig authentisch ist, aber eigentlich sehr geplant und durchgestylt agiert. +Welche Rolle spielen Sexualität und Erotik? Fischers Lieder scheinen ja voll mit sexuellen Chiffren und Metaphern. +Diese Themen sollen im "Konzept Helene Fischer" auf jeden Fall existieren und dargestellt werden – allerdings wirkt auch das wieder sehr kalkuliert. Erotik lebt für viele Menschen vom Imperfekten, vom Zufall. Das findet bei Fischer eben nicht statt. Sie verkörpert eine sehr cleane Ästhetik, die passend ist für die heutige Zeit. Sie hat einen perfekten, trainierten Körper und stellt diesen bewusst zur Schau. Und ihr Gesicht entspricht demklassischen Schönheitsideal, dazu die langen blonden Haare – im Prinzip genau, wie ein Popstar auszusehen hat. +Wieso ist diese Makellosigkeit für jüngere Frauen so ansprechend? +Makellosigkeit hatin unserer Gesellschaft und Medienkultur noch immer einen festen Platz– und prägt damit vor allem das Leben und die Wünsche junger Frauen. Das sieht man auch anTikTok-Trends wie #thatgirl, bei dem es darum geht zu zeigen: Ich lebe ein durchorganisiertes und ästhetisches Leben, stehe früh auf, kümmere mich um meinen Körper, bin – überspitzt gesagt – sehr selbstzentriert und strebe nach der perfekten Version meiner selbst. Und das spiegelt auch Helene Fischer sehr gut wider. +Ist eine Kooperation wie die mit der Rapperin und Influencerin Shirin David für die Neuauflage von "Atemlos" für Helene Fischer also nur konsequent? +Absolut. Fischer kann damit noch mal eine jüngere Zielgruppe abholen und sich – passend zum Zeitgeist – feministisch positionieren. Was das angeht, war schon ihr Lied "Die Erste deiner Art" von ihrem Album "Rausch" ein großer Ausreißer: eine feministische Hymne, die deutlich emanzipatorische Ziele thematisiert. Im Chorus heißt es etwa: "Es zählt nicht, dass dich jeder mag / Lass dir nicht sagen, du wärst schwach". In der Doku zu dem Album hat Fischer gesagt, dass sie das Lied auch Frauen widmet, die sie kennt, ihren Freundinnen praktisch. Das lässt vermuten, dass sie selbst wirklich hinter der Botschaft steht. Wie feministisch sie persönlich letztendlich ist, werden wir aber wohl nie erfahren. +Der Feminismus ist im Schlager aber wohl noch nicht komplett angekommen, wie man etwa an der"Layla"-Debattesieht, oder? +Der Ballermann-Schlager ist noch mal eine ganz eigene Welt. Es werden dort kaum Alben, sondern fast nur Singles produziert. Die sind nach einem sehr spezifischen Muster gestrickt und auf Stimmung, Mitmachen und Saufen ausgelegt. Es herrscht eine sehr etablierte Livekultur, die in ganz bestimmten Clubs ausgelebt wird. Dieses Gefühl von "Alles ist so woke geworden, aber wir hauen jetzt noch mal so richtig auf die Kacke" haben nun mal einige in unserer Gesellschaft, und die fühlen sich dann von solchen Liedern abgeholt. Die vielfältigen gesellschaftlichen Strömungen, die es gibt, halten also auch in den Schlager Einzug. +Ist durch diese Entwicklungen der Schlager insgesamt politischer geworden? +Wenn, dann eher auf zurückgestellte, dezente Art und Weise. Der Schlager ist keinProtestsongund muss diese Funktion auch nicht erfüllen. Es geht immer noch um den hedonistischen Aspekt, der Spaß steht eindeutig im Vordergrund. Aber dass man sich für andere Publikumsschichten und neue Themenfelder öffnet – das ist gegeben, ja. +Wie wird sich der Schlager in Zukunft entwickeln? +Ich glaube, dass sich die Entwicklung in Richtung Pop fortführen wird, dass die beiden Genres immer mehr verschwimmen. Eine große Spotify-Playlist heißt zum Beispiel "Popland" und beinhaltet beides. Dann gibt es so jemanden wie Andreas Gabalier, bei dem das Traditionelle und Heimatverbundene immer noch vorkommt. Hier kann es sein, dass es weiter zu einer Retraditionalisierung kommt und sogar rechte Tendenzen Einzug halten. Insgesamt wird sich der Schlager weiter ausdifferenzieren – bis auf den klassischen volkstümlichen Schlager: Der hat seine Nische bei den Alten und mittlerweile keine großen Marktanteile mehr. + +Marina Forell, Jahrgang 1995, ist Musikwissenschaftlerin und hat ihre Dissertation über "Gender, Frauenbild und Entwicklungstendenzen im deutschen Schlager" geschrieben. + + +Titelbild: IMAGO / osnapix diff --git a/fluter/schlechte-arbeitsbedingungen-in-textilfabriken-bangladesch.txt b/fluter/schlechte-arbeitsbedingungen-in-textilfabriken-bangladesch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e0a98dcd2e248ed60b2f68fbee58a4acaf1ab022 --- /dev/null +++ b/fluter/schlechte-arbeitsbedingungen-in-textilfabriken-bangladesch.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Als Reaktion auf die Tragödie wurde Tausenden Familien, die vor dem Nichts standen, Geld aus einem insgesamt 30 Millionen US-Dollar hohen Entschädigungsfonds ausgezahlt. Zudem einigten sich einkaufende Modeunternehmen und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) darauf, in Kooperation mit staatlichen Behörden die Arbeitsbedingungen in den Nähfabriken regelmäßig zu überprüfen. Über 200 Modeunternehmen aus über 20 Ländern unterzeichneten ein Abkommen über Brandschutz und Gebäudesicherheit. Auch über Lohnerhöhungen wurde damals viel diskutiert – doch in diesem Bereich änderte sich für die meisten Näherinnen nichts. Tatsächlich sind die Löhne in den vergangenen Jahren kaum gestiegen, selbst die bestbezahlten Näherinnen bekommen nur knapp 80 Euro im Monat – genauso wie vor sieben Jahren. Und es lässt sich kaum kontrollieren, ob dieser Mindestlohn überhaupt eingehalten wird:Oft bekommen die Näherinnen ihr Gehalt bar ausgezahlt und haben weder Einblick in ihre Verträge noch in die Abrechnungen. +Durch das Coronavirus hat sich die wirtschaftliche Situation der Näherinnen noch weiter verschlechtert. Große Modehäuser mussten ihre Filialen vorübergehend schließen, die Nachfrage brach ein. Als Folge wurden in Bangladesch nach Angaben des Verbands der Bekleidungshersteller und -exporteure Bangladeschs (BGMEA) Aufträge im Wert von 3,18 Milliarden US-Dollar von Modefirmen storniert oder ausgesetzt, fast ein Zehntel des jährlichen Textilexports. "Etwa die Hälfte der Jobs im Textilsektor ist in Gefahr", sagt Rubana Huq, Präsidentin des BGMEA. +Als die Regierung Ende März eine landesweite Ausgangssperre verhängte– offiziell als "landesweiter Urlaub" bezeichnet –, konnte auch Kulsum Akhter nicht mehr zur Arbeit gehen. Stattdessen saß sie in ihrem Zimmer und vertröstete den Vermieter, der ständig nach Geld fragte. Zwar hatte die Premierministerin von Bangladesch, Sheikh Hasina, millionenschwere Hilfen zur Unterstützung der Textilindustrie versprochen, doch die Auszahlung verläuft nach wie vor schleppend, und viele Familien blieben ohne Geld. Also gingen Tausende Näherinnen in Bangladesch auf die Straßen, um gegen die Zustände zu protestieren. Die einen forderten Löhne auch für die Zeit des Lockdowns und protestierten für die Wiedereröffnung ihrer Fabrik, wieder andere dafür, dass ihre Fabrik geschlossen blieb – aus Angst vor dem Virus. +Während die Näherinnen in Bangladesch auf die Straße gehen,regt sich auch in den Ländern Widerstand, in denen die billige Mode in den Läden hängt.Max Gilgenmann berät Modeunternehmen, die auf Nachhaltigkeit und Fairness umstellen wollen, indem sie zum Beispiel Biorohstoffe verwenden. Er ist einer der Organisatoren der Nachhaltigkeitsmesse Neonyt. Im April baute er mit seinen Freunden von der Protestbewegung "Fashion Revolution" einen Onlineshop für die virtuelle Marke "Crisis Fashion". Für 50 Cent werden dort T-Shirts angeboten, doch sobald jemand ein Shirt anklickt, löst sich die Seite auf, und ein Text erscheint, der über das Unrecht in der Modeindustrie aufklärt. Im Anschluss können Besucher der Website an ihre Lieblingsmarke eine Protestmail schreiben oder Geld an einen Fonds für die Arbeiterinnen spenden. +"T-Shirts gibt es heute günstiger als eine Busfahrt. Und dafür haben die Näherinnen in Asien geschuftet", sagt Gisela Burckhardt, die das sogenannte Textilbündnis berät, eine Initiative des Entwicklungsministeriums, bei der viele große Modekonzerne mit Vertretern der Zivilgesellschaft an einem Tisch sitzen, um bessere Standards entlang der Lieferkette festzulegen. Einzelne Unternehmen wie etwa C & A haben manches davon bereits umgesetzt. +Vor 13 Jahren gründete Burckhardt, die jahrelang im Ausland in der Entwicklungszusammenarbeit tätig war, mit Kolleginnen die Organisation Femnet. Femnet geht auch an Hochschulen mit Modestudiengängen, um zukünftige Modeeinkäufer und Designer für Sozial- und Umweltstandards zu sensibilisieren, denn viele Modestudierende würden ihre Zukunft nicht im Fast-Fashion-Produktionssystem sehen, sagt sie.Auch Gisela Burckhardt fordert ein Umdenken bei Konsumenten und Modefirmen. +"Besser, wir produzieren hochwertig und langlebig und setzen auf neutrale Kleidung statt auf aktuelle Mode", sagt Burckhardt, die ein Lieferkettengesetz unterstützt, das im Juli dieses Jahres in Deutschland diskutiert wurde und das von NGOs und Gewerkschaften gefordert wird. "Unternehmen, die Schäden an Mensch und Umwelt in ihren Lieferketten verursachen oder in Kauf nehmen, müssen dafür haften. Skrupellose Geschäftspraktiken dürfen sich nicht länger lohnen", heißt es in dem Aufruf. Und Gisela Burckhardt schiebt gleich hinterher, dass es sehr darauf ankommt, wie das Lieferkettengesetz im Detail ausgestaltet wird. "Es ist wichtig, dass Betroffene nach deutschem Recht und vor einem deutschen Gericht gegen Menschenrechtsverletzungen vorgehen können." Tatsächlich plant die Bundesregierung ein Lieferkettengesetz, durch das deutsche Unternehmen die Veranwortung für Menschenrechtsverletzungen ihrer Lieferanten übernehmen. +Human Rights Watch kommt zu dem Schluss, dass die Käufer die Zulieferer immer noch finanziell dermaßen unter Druck setzen, dass Letztere "große Anreize verspüren, ihre Kosten durch Ausbeutung zu verringern". Nun drohen einige Lieferanten erstmals damit, einzelne Modehäuser auf eine schwarze Liste zu setzen oder sie zu verklagen. Der Großteil der Fabriken wird aber wohl weiter zu Niedrigstpreisen liefern. "Viele Lieferanten werden sich nicht gegen die Käufer wehren, weil sie deren Bestellungen zum Überleben brauchen", sagt Christie Miedema von der Clean Clothes Campaign. Große Kunden könnten ihre Produktion in andere Länder verlegen, sollten die Lieferanten zu viel Kritik üben. +Nach Wochen, in denen ihre Familie nur Linsen mit Puffreis-Crackern gegessen hat, erfährt Kulsum Akhter, dass sie Anfang Mai wieder in die Fabrik darf. Mitte Mai bekommt sie die langersehnten 60 Prozent ihres April-Lohnes: Das Geld stammt aus staatlichen Krediten, welche die Fabriken mit zwei Prozent Zinsen zurückzahlen müssen. Jetzt muss sie entscheiden, ob sie mit dem Geld zuerst den Vermieter bezahlt oder einkaufen geht. + +Mitarbeit: Dil Afrose Jahan, Sylke Gruhnwald und Christian Zeier diff --git a/fluter/schleuser-social-media-gefluechtete.txt b/fluter/schleuser-social-media-gefluechtete.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..772f11a01464c05d050c50f9709b244f17adfd67 --- /dev/null +++ b/fluter/schleuser-social-media-gefluechtete.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Weiterlesen +Durch den Białowieża-Wald zwischen Belarus und Polen versuchen Menschen in die EU zu flüchten.Was sich in der Zone genau abspielt, bleibt der Öffentlichkeit verborgen +In den dokumentierten Posts, Videos und Kommentaren finden sich unverschleierte Angebote zum Menschenschmuggel, als gäbe es keinerlei Regulierungen für die Kommunikation auf Sozialen Medien. "Vor allem Facebook diente als zentraler Knotenpunkt für den Austausch von Informationen über die Schmuggelroute von Belarus in die EU", sagt Monika Richter, die das Investigativteam leitete. +Bereits Mitte vergangenen Jahres verbreiteten Mitglieder arabischsprachiger Facebook-Gruppen Infos über Fluchtrouten aus Belarus. Teils stiegen die Mitgliederzahlen wöchentlich um mehrere Tausend Nutzer an – und schließlich begannen Schleuser damit, ihre Dienste in den Gruppen offen anzubieten. Zuvor hatte der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko Menschen vor allem aus Syrien, Afghanistan und dem Irak mit der Zusage von Visa ins Land gelockt, von wo aus sie an die EU-Grenze gelangen konnten, um dort um Asyl zu bitten. Damit sollte Druck auf die EU ausgeübt werden, die dieProteste gegen Lukaschenkonach einer mutmaßlich gefälschten Wahl unterstützt hatte. +Die Leidtragenden der ungebremsten Verbreitung von Desinformation und illegalen Angeboten waren die Mi­granten und Geflüchteten, die wenig später bei Eiseskälte in den Wäldern des Grenzstreifens zwischen Belarus und Polen festsaßen. Bis Februar starben mindestens 21 Menschen. "Facebook war die treibende Plattform für den Großteil dieser Aktivitäten, da es Nutzer durch Inhaltsemp­fehlungen auf der Startseite höchst effektiv in diese Gruppen lockte und den Schmugglern ermöglichte, überhaupt erst mit potenziellen Migranten in Kontakt zu treten", sagt Chefanalystin Richter. + + +Einer breit angelegten Studie zufolgeverbreiten sich Falschmeldungen in den Sozialen Medien sechsmal schneller als wahre Posts. Über die demokratiegefährdenden Auswirkungen dieser Desinformationsflut wird seit Jahren intensiv berichtet. So ist bekannt, dass Posts Wählende manipulieren (USA 2016) und die Willensbildung ganzer Gesellschaften (Brexit-Votum) beeinflussen können. Selbst vielfach widerlegte Falschmeldungen setzen sich in den Köpfen der Menschen nachhaltig fest. Trotz solcher Auswirkungen hat Facebook von sich aus kaum Maßnahmen gegen derlei Aktivitäten und Inhalte ergriffen, wenn nicht massiver Druck von außen ausgeübt wurde. Ein Druck, der sich in einigen Regionen der Erde allerdings gar nicht erst aufbauen kann. So unterliegt das Unternehmen in der EU und den USA einer wesentlich stärkeren öffentlichen Kontrolle durch den Journalismus und die Regierungen als etwa in vielen arabischsprachigen Ländern, wo unabhängiger Journalismus und freie Informationsbeschaffung nicht gegeben sind. Darum investiert der Konzern in den USA und in der EU zwar auch nicht ausreichend, aber wesentlich mehr in die Beseitigung problematischer Inhalte.Moderatoren, die Sprachen wie Belarussisch oder Arabisch sprechen und unzulässige Posts löschen, gibt es verschwindend wenige im Vergleich zu Englisch sprechenden. Für manche Sprachen in problematischen Regionen gibt es gar keine. +Zurück nach Belarus: Die Facebook-Posts zu den osteuropäischen Fluchtrouten wurden aufgrund der Funktionsweise der Algorithmen oft hundertfach geteilt sowie tausendfach kommentiert. So erreichten sie immer mehr verzwei-felte Menschen, denen die Beiträge Hoffnung machten, tatsächlich in die EU gelangen zu können. +Warum Facebook nichts unternahm? Richter sagt, dass es aufs Engste mit dem Geschäftsmodell Sozialer Medien zusammenhinge, gegen die Verbreitung von Desinformation nicht entschieden genug vorzugehen. Die sich stärker und schneller verbreitenden Falschnachrichten seien schließlich eine Goldgrube, weil sie Nutzerinnen und Nutzer zu intensiver Interaktion (Kommentare, Likes, Shares) verleiteten. Und je länger und intensiver jemand ein Netzwerk nutzt, desto mehr Daten kann der Konzern verwerten und desto attraktiver wird das Netzwerk als Oberfläche für Werbetreibende. +Nichts verpassen? Mit unseremNewsletterbekommst du alle zwei Wochen fünf fluter-Highlights +Mit einer Anpassung der Algorithmen, aber auch durch entschiedeneres Löschen ließe sich die Verbreitung problematischer Inhalte massiv zurückdrängen. Doch im Fall der osteuropäischen Fluchtrouten passierte erst mal: nichts. Während die Lage für die Menschen im Grenzstreifen mit Hereinbrechen der kalten Jahreszeit zunehmend dramatischer wurde, zirkulierten in den Facebook-Gruppen weiterhin ungehindert Falschinformationen, Schleuserangebote und Gerüchte rund um die Route über Belarus nach Deutschland. +Ein Nutzer mit dem Namen "Israa Abdulkarem" postete ein Angebot, das sich dezidiert an Familien richtete. Der Beitrag garantierte eine sichere Route von Belarus nach Deutschland – insbesondere für Familien mit kleinen Kindern, da lediglich eine Strecke von sechs Kilometern zu Fuß bewältigt werden müsse. Der Preis: 4.500 Euro pro Person. Auch für Kranke und Menschen mit Behinderung wurden "Reiseangebote" beworben. +Wer auf die Angebote der Schleuser eingeht, wird einer Route überlassen, die selbst für junge Menschen in Bestform lebensgefährlich werden kann. Bereits Mitte November warnt eine Nutzerin mit dem Namen "Mamou" vor den Zuständen an der Grenze. Sie erzählt, dass ihr Mann sowie ihre Cousins ohne etwas zu essen und zu trinken dort gefangen seien. Sie fleht um Hilfe. Andere Nutzer berichten von betrügerischen Schmugglern, die ganze Gruppen abgezockt hätten. Gemeinsam losgezogene Freunde seien völlig mittellos auf verschiedene Länder verteilt worden. +Doch nur einen Post weiter findet sich eben wieder eine offensive Werbung: Vor einem fröhlichen Hintergrund mit Zeichnungen von Eis am Stiel, Kuchen- und Pizzastücken sowie Partydeko steht in großen Buchstaben eine Telefonnummer sowie der Hinweis, dass eine Fahrt von Belarus nach Deutschland jederzeit buchbar ist. In den Kommentaren darunter fragt jemand nach dem Preis. + diff --git a/fluter/schluss-mit-lustig.txt b/fluter/schluss-mit-lustig.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/schmutziges-geschaeft.txt b/fluter/schmutziges-geschaeft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0d9a685d8e05cb39108ab5f7e74ffa2e9d3e223b --- /dev/null +++ b/fluter/schmutziges-geschaeft.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +42.381So viele Tonnen CO2 pro Jahr spart ein Kraftwerk in Indien, das mit Abfällen anstatt mit Kohle oder Gas betrieben wird +Der sogenannte Emissionshandel gehört zu den größten umweltpolitischen Experimenten unserer Zeit. Einfach ausgedrückt besteht die Idee darin, dass jedes Unternehmen nur ein begrenztes Recht hat, die Luft zu verschmutzen. Will es mehr CO2 als erlaubt ausstoßen, muss es dafür bezahlen, indem es anderen Unternehmen, die weniger zum Klimawandel beitragen, Zertifikate abkauft. Wichtig ist, dass die globale Gesamtmenge sinkt. Allein im Jahr 2009 wurden weltweit Zertifikate für 90 Milliarden Euro gehandelt. Beschlossen wurde die Grundlage für den Handel mit schmutziger Luft auf der Weltklimakonferenz in Kyoto, auf der sich die Industriestaaten verpflichteten, ihren Ausstoß an Treibhausgasen bis 2012 um 5,2 Prozent unter das Niveau von 1990 zu senken. Ein Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, sollte der Handel mit Emissionsrechten sein, der 2005 in der EU startete. Die Vereinigten Staaten hatten auf dieses Instrument bestanden, obwohl sie das Kyoto-Protokoll später gar nicht ratifizierten. Dass sie neben China nun nicht dabei sind, gehört zu den Konstruktionsfehlern der Idee. +1.665So viele Anlagen nehmen in Deutschland am Handel mit Emissionsrechten teil +"Wenn man den Emissionshandel wie im Lehrbuch einführt, ist er sicherlich ein wirksames Instrument", sagt Claudia Kemfert, Energieökonomin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, allerdings war der Start des Gesetzes auch sonst eher holprig. Nachdem das Kyoto-Protokoll 2005 in Kraft getreten war, begannen mehrere europäische Staaten Emissionsrechte untereinander zu handeln. Nahezu gleichzeitig eröffnete die europäische Union das weltweit größte Emissionsrechte-Handelssystem für Firmen, die die Umwelt besonders belasten: Kraftwerke, Stahlwerke und andere energieintensive Anlagen müssen ihren Kohlendioxidausstoß seitdem mit Zertifikaten abdecken. Einen Teil der Zertifikate erhielten sie kostenlos vom Staat, den anderen mussten sie sich je nach Bedarf dazukaufen. Emissionen, die ohne Emissionsrecht erfolgen, werden mit einer Strafe belegt. Doch schon ein gutes Jahr nach Einführung stellte sich heraus, dass die meisten Unternehmen mehr Scheine als nötig erhalten hatten, woraufhin der Preis einbrach. Das Experiment war gescheitert – vorerst jedenfalls. 2008 begann eine neue Handelsphase. Dieses Mal wurden weit weniger Scheine verteilt. Das knappere Angebot führte dazu, dass viele Firmen zum ersten Mal richtig investieren mussten, um ihren Bedarf zu decken. So erwarben allein die Stadtwerke Bremen vor zwei Jahren 899.944 zusätzliche Berechtigungen, der Energiekonzern RWE Power kaufte 67,5 Millionen Tonnen. Seitdem funktioniert der Markt, der Klimaschutz hat jetzt seinen Preis. In Deutschland nehmen mittlerweile 1.665 Anlagen am Emissionshandel teil, die über mehrere Wege an ihre Rechte gelangen: Den größten Teil bekommen sie vom Staat genehmigt, den Rest können sie an der Börse, im außerbörslichen Handel (OTC) oder auch bilateral von anderen Unternehmen erwerben oder auch durch Klimaschutzprojekte erwirtschaften. + +Auch diese Idee geht auf das Kyoto-Protokoll zurück: Wer den Klimaschutz in Entwicklungs- und Schwellenländern fördert, kann sich das Kohlendioxid, das er dort einsparen hilft, zu Hause gutschreiben lassen. "Ich bin ein bekennender Fan solcher Projekte", sagt die Rechtsanwältin Ines Zenke, die Unternehmen zum Thema Emissionshandel berät und ein Buch darüber geschrieben hat, wie Unternehmen Kohlendioxid durch die Unterstützung von Klimaschutzprojekten in Entwicklungs- und Schwellenländern einsparen können – und so einen Beitrag zur Entwicklungshilfe leisten. +23Milliarden Euro wurden im Jahr2008 in Projekte investiert, dieden Klimaschutz fördern +Mittlerweile ist auch aus diesem Ansatz ein eigener Wirtschaftszweig entstanden, dessen Umsatz 2008 laut einer Studie der Weltbank rund 33 Milliarden US-Dollar betrug. Dabei teilen sich die Firmen auf diesem Markt in zwei Gruppen auf: Die einen helfen Firmen, Zertifikate zu beantragen, die anderen beglaubigen die Anträge und prüfen später, ob sich der Ausstoß an Treibhausgasen wie vorgesehen verringert hat. Ganz zum Schluss geht der ganze Papierberg an die Vereinten Nationen. Eric Krupp ist einer von denen, die den Nutzen dieses Handels überprüfen. Er ist beim TÜV Nord angestellt, der auch die Autoplaketten vergibt, und dort stellvertretender Leiter einer Abteilung mit weltweit mehr als 120 Leuten, die kontrollieren, ob sich die Firmen auch an ihre Versprechen halten. +40 %der Projekte zum Klimaschutz würden sich einer Untersuchung zufolge auch ohne Zertifikate rechnen +Dafür ist Krupp schon nach Brasilien, China und Südafrika geflogen, in Osteuropa hat er fast jedes Land bereist. Eines seiner ersten Projekte führte ihn in den indischen Bundesstaat Andhra Pradesh. Eine Firma wollte hier ein neues Kraftwerk bauen, das nicht mit Kohle oder Gas, sondern mit den Abfällen der umliegenden Zuckerrohr- und Reisfelder betrieben werden sollte. Krupp sah sich das Kraftwerk mit drei anderen Fachleuten an und schickte schließlich einen Bericht an die Vereinten Nationen. Tatsächlich sparte die neue Anlage jedes Jahr 42.381 Tonnen Kohlendioxid. "Das ist ein schönes Teil", sagt Krupp. Doch nicht alle Klimaschutzprojekte funktionieren so gut. So untersuchte Michael Wara, ein Forscher an der amerikanischen Stanford University, das Geschäftsgebaren von Fabriken, die Kältemittel für KühlschraÅNnke herstellen. Dabei fällt ein Treibhausgas an, das 14.800-mal schädlicher als Kohlendioxid ist. Insgesamt 19 Chemiefirmen in China, Indien und Brasilien erklärten sich bereit, ihre Anlagen aufzurüsten und das Gas zu entsorgen. Im Gegenzug erhielten sie Kohlendioxidzertifikate, die sie an Firmen in Industrieländern verkauften. Wara berechnete, dass die Firmen schließlich doppelt so viel mit Zertifikaten wie mit Kältemitteln verdienten. Der Emissionshandel hatte anscheinend einen falschen Anreiz geschaffen: Es lohnte sich plötzlich, so viele Fabriken wie möglich zu eröffnen. "Viele Projekte haben sicher auch Gutes bewirkt, aber es ist nötig, die Anforderungen für die Klimaschutzprojekte zu überarbeiten", sagt Lambert Schneider, der als einer der wichtigsten Experten auf diesem Gebiet gilt. Er veröffentlichte vor drei Jahren für das Öko-Institut eine Studie, die ebenfalls den Nutzen der Klimaschutzprojekte infrage stellte. Dazu untersuchte er 93 zufällig herausgegriffene Vorhaben. Rund 40 Prozent, so sein Ergebnis, hätten sich auch ohne Zertifikate gerechnet. Wenn die Projekte aber ohnehin umgesetzt worden wären, entlastet ihre Förderung auch nicht die Atmosphäre – so das Fazit. Nicht nur deshalb ist der Emissionsrechtehandel umstritten. Kritiker fordern, mehr Wirtschaftszweige einzubinden und auch andere Treibhausgase als CO2 zu berücksichtigen. Ab 2012 soll sich der Emissionshandel bereits im Luftverkehr etablieren. Der Staat solle zudem die Zertifikate nur noch versteigern und nicht wie bisher größtenteils verschenken. +14.800So viel mal schädlicher als CO2 können Kältemittel in Kühlschränken sein +Außerdem solle die Obergrenze bei Bedarf angepasst werden, damit die Firmen nicht davon profitierten, wenn plötzlich der weltweite Kohlendioxidausstoß – z. B. wegen einer Wirtschaftskrise wie im vergangenen Jahr – sinkt. Zudem könne ein europaweites System nur ein Anfang sein: "Langfristig hat der Handel nur Erfolg, wenn es weltweit eine Lösung gibt", so die Energieökonomin Kemfert. Tatsächlich diskutieren Japan, Australien und die Vereinigten Staaten mittlerweile wieder über ähnliche Plattformen. Derweil bereitet die EU die nächste Handelsperiode vor, die 2013 beginnen soll. Die erlaubte Gesamtmenge soll dann weiter schrumpfen, Marktbeobachter rechnen damit, dass der Preis für Zertifikate bis 2020 von derzeit etwa 15 auf bis zu 50 Euro steigt. Den Banker David Stratmann wird das freuen. Für ihn ist es gut, wenn sich der Preis bewegt, weil er am Unterschied zwischen An- und Verkaufskurs verdient: "Ich bin davon überzeugt, dass sich der Emissionshandel zu einem der wichtigsten Rohstoffmärkte der Welt entwickeln wird", sagt er. Ob er dem Klimaschutz nützt, ist eine andere Frage. diff --git a/fluter/schnaps-statt-bananen.txt b/fluter/schnaps-statt-bananen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7d9edf94eba574b1c949842abe460d0d9f3b00eb --- /dev/null +++ b/fluter/schnaps-statt-bananen.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Mangel und Überfluss ergänzten sich: Heiß begehrte Waren wie Baumaterialen waren vergriffen, sobald sie in den Geschäften lagen. Die Betriebe produzierten aber auch Ladenhüter wie qualitativ minderwertige Damenbekleidung, die niemand haben wollte. Für viele DDR-Bürger/innen galt dementsprechend: Sie kauften, was sie kriegen konnten, bekamen aber selten das, was sie gerade brauchten. Die Grundbedürfnisse der Menschen, ausreichend Nahrung, ein Dach über dem Kopf und ein Arbeitsplatz, waren trotzdem meist erfüllt.Was aus heutiger Perspektive uneffizient erscheint, war Ursache historischer Begebenheiten: die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre, die Kriegsjahre und das Ende des zweiten Weltkriegs. "Nach 1945 gab es auch in Westeuropa antikapitalistische Tendenzen", erklärt Steiner, "man suchte nach Möglichkeiten, die Wirtschaft zu kontrollieren, um neue Krisen zu vermeiden. Für die Kommunisten war die Sowjetunion eben das attraktive Gegenmodell zum Kapitalismus."Das betraf vor allem die Umwälzung der Eigentumsverhältnisse: Privateigentum, das zur Produktion von Gütern erforderlich war, wurde verstaatlich und zu Volkseigentum gemacht. Die dem System innewohnenden Fehler und Symptome hätten die DDR-Politiker/innen als Kinderkrankheiten betrachtet. "Die Partei erhob den Anspruch, auf der Basis der marxistisch-leninistischen Theorie die Entwicklung der Gesellschaft zu steuern." Wirtschaftliche Effizienz stand dabei im Schatten der sozialen und politischen Stabilität der DDR. "Die Partei hat übersehen, dass der wirtschaftliche Erfolg Voraussetzung für die politische Stabilität war", fügt Steiner hinzu. +Nach Kriegsende ging es im Deutschland der vier Besatzungszonen vor allem um die Frage: Wer würde es am ehesten schaffen, das Leben der Menschen zu normalisieren? Anna Kaminsky, Geschäftsführerin der Bundesstiftung Aufarbeitung, erklärt, dass die Demontagen der Sowjetunion die wirtschaftliche Entwicklung in ihrer Besatzungszone erschwert hätten. In den 1950er-Jahren sei der Vergleich mit dem Lebensstandard in den Westzonen dann zur offiziellen Vergleichsfolie geworden, daher auch der Slogan "überholen ohne einzuholen". "Den Machthabern in der DDR war schon früh klar, dass sich die Systemfrage auch an der Konsumfront mitentscheiden würde. Die Menschen in der DDR sollten merken, dass sie im besseren Deutschland lebten", erklärt Kaminsky den Systemwettstreit.Für Edith Hager stand nach dem Krieg zunächst die Befriedigung der Grundbedürfnisse im Vordergrund. "Als die Kinder älter wurden, schicke Kleidung und Bücher brauchten, wurde es schwieriger." Kreativität und Erfindungsgeist waren gefragt. Anna Kaminsky beschreibt das als eine Geschichte von Macht und Ohnmacht: Die Menschen hätten zwar unter dem strikten Zuteilungssystem und dem knappen Angebot gelitten, sie hätten immer wieder versucht, mit Findigkeit, Tricks und Beziehungen die Mängel zu lindern. Edith Hager erzählt davon, dass sie früher Tiere hielten und selbst geschlachtet haben, "wir haben dann getauscht: eine Büchse Leberwurst, eine Büchse Rotwurst und eine Büchse Sülze gegen ein paar Fliesen. Irgendwie haben wir das immer geschafft." Die Herrschenden nahmen diese grauen Märkte stillschweigend zur Kenntnis.Ähnlich wie die Inhalte der Westpakete, die sie in den 1980er-Jahren sogar in die Grundversorgung einkalkulierten: 1979 erreichten 11,4 Millionen Strumpfhosen und 9,3 Kilotonnen Röstkaffee die DDR auf dem Postweg aus der Bundesrepublik. Das alles konnte nicht über die Unzufriedenheit der Menschen hinwegtäuschen. Mit der Zeit stiegen zwar ihre Löhne und damit das Konsumbedürfnis, aber es gab kaum Gelegenheit, das Geld auszugeben. Wichtige Waren wie Heizöl oder Fleisch exportierte die DDR häufig ins Ausland, um Devisen zu bekommen und die Schulden gegenüber dem Westen zu senken. Dass der Staat 1989 bereits zahlungsunfähig gewesen sei, stellt André Steiner klar, gehöre allerdings in den Bereich der Legenden. Die DDR habe weiter gewirtschaftet, bis es nicht mehr ging, erinnert sich Edith Hager an das Ende der 1980er-Jahre. "Am Ende gab es in den Kaufhallen kistenweise Schnaps zu kaufen, das hatte ich noch nie gesehen. Der sollte wohl beim Vergessen helfen", sagt sie. Die wirtschaftlichen Defizite und die Wut vieler Menschen konnte die SED damit nicht unter den Teppich kehren.Julia Rosch ist freie Autorin in Bonn. diff --git a/fluter/schoen-cool-bleiben.txt b/fluter/schoen-cool-bleiben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3d13f174258d7bd3324cfc253e3f06b51428fc3b --- /dev/null +++ b/fluter/schoen-cool-bleiben.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Der Showdown unter der Sonne Arizonas hätte also der Anfang einer unglaublichen Erfolgsgeschichte sein können: Massenhaft als Kühlmittel in Klimaanlagen eingesetzt, rettet CO2 das Klima. Aber so weit kam es nicht – denn letztlich ging es nicht um die langfristigen Folgen der Erderwärmung, sondern um die Gewinne der Konzerne – um Hunderte Millionen Autos und damit um Hunderte Milliarden Euros. Dabei wäre es nicht das erste Mal, dass ausgerechnet der Klimakiller CO2 als Mittel im Kampf gegen den Klimawandel genutzt wird, schließlich sind andere Gase wesentlich schädlicher für das Klima. Um zu beziffern, wie sehr ein Gas das Klima schädigt, haben Forscher den Begriff Treibhauspotenzial (Global Warming Potential GWP) entwickelt. Das Treibhauspotenzial sagt aus, wie stark ein bestimmtes Gas über einen bestimmten Zeitraum, meist 100 Jahre, zur Erderwärmung beiträgt. CO2 ist dafür die Vergleichsgröße, die Währung des Klimawandels. Es hat einen GWP von eins. Schwefelhexafluorid, das stärkste bekannte Treibhausgas, das etwa bei der Herstellung von Magnesium anfällt, hat dagegen einen GWP von 22.800. Das bedeutet, dass eine Tonne Schwefelhexafluorid das Klima so stark erwärmt wie 22.800 Tonnen CO2. +Derart starke Treibhausgase durch CO2 zu ersetzen, ist deswegen eine erfolgsversprechende Strategie im Kampf gegen die Erderwärmung. Die Firma BASF hat das Treibmittel für Hartschaumplatten zur Dämmung von Häusern bereits ausgetauscht: Früher wurden sogenannte H-FCKW-Stoffe benutzt, die einen GWP von bis zu 2.310 haben, heute benutzt BASF nur noch Kohlendioxid. Aber es ist die Verwendung im Auto, die die größte Wirkung für das Klima haben könnte. Zurzeit wird in Pkw-Klimaanlagen das Treibhausgas Tetrafluorethan eingesetzt. Der Stoff, den Ingenieure und Techniker nur als R134a bezeichnen, nimmt genau wie CO2 die Wärmestrahlung von der Erde auf, die sonst ins All abgestrahlt würde, und trägt so zur Klimaerwärmung bei. Und zwar gewaltig. Denn R134a hat einen GWP von 1.430, trägt also 1.430-mal so stark zum Treibhauseffekt bei wie CO2. + +An sich wäre das nicht weiter schlimm, wenn das Gas in den Klimaanlagen der Autos bleiben würde. Aber bei jeder Fahrt entweicht ein kleiner Teil des Gases, umgerechnet bedeutet jeder gefahrene Kilometer eine Emission von etwa sieben Gramm Kohlenstoffdioxid. Allein im Jahr 2008 gelangten so laut Umweltbundesamt (UBA) in Deutschland 2.700 Tonnen des Kältemittels in die Atmosphäre. Das entspricht 3,9 Millionen Tonnen CO2. So viel Kohlendioxid verursachen sonst 1,9 Millionen Kleinwagen, die je 15.000 Kilometer weit fahren. Der Weltklimarat hatte bereits zuvor für das Jahr 2002 errechnet, dass bis zu drei Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen aus Klimaanlagen von Fahrzeugen stammten. +Bei jedem Kilometer entweicht aus der Klimaanlage ein Gas, das 1000-mal schlimmer ist als CO2 +Welche Ironie: Um uns bei der Fahrt zu kühlen, verschlimmern wir die Hitze auf der Erde: Bis 2015 rechnet der Klimarat mit einer Milliarde klimatisierter Fahrzeuge weltweit. Deshalb wurde in Europa die Richtlinie "2006/40/EG" beschlossen, die vorschreibt, dass ab dem 1. Januar 2011 nur noch Pkw-Typen zugelassen werden, deren Klimaanlage ein Kältemittel enthält, das höchstens 150-mal so klimaschädlich ist wie Kohlenstoffdioxid. Dabei steht CO2 als Kältemittel vor einer Wiederentdeckung. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Gas als Kältemittel eingesetzt – besonders auf großen Fischkuttern, auf denen der Fang gekühlt werden musste, bis er an Land gelangte. Erst in den 30er-Jahren wurde es langsam verdrängt – von den Fluorchlorkohlenwasserstoffen, den berüchtigten FCKWs. Die galten damals als sicher, billig und gut und fanden massenhaft Verwendung – in KühlschraÅNnken, als Treibmittel in Spraydosen und als Reinigungsmittel. Heute sind sie als Ozonkiller verpönt und größtenteils verboten. Daher begannen Entwickler schon Ende der 80er-Jahre sich unter anderem wieder der CO2-Technologie zuzuwenden. Zahlreiche Supermarktketten benutzen heute CO2 in ihren Kühlanlagen und vermeiden so große Mengen klimaschädlicher Emissionen. Die Berliner Verkehrsbetriebe haben kürzlich den ersten Bus mit einer CO2-Klimaanlage angeschafft und wollen sechs Busse ihrer Flotte auf CO2 als Kältemittel umrüsten. Auch so manche Eissporthalle wird inzwischen mit CO2 gekühlt. +Als richtiger Klimaschützer könnte sich CO2 aber vor allem in der Klimaanlage der Pkws erweisen, doch dazu müssten die Hersteller ein wenig investieren: Denn das Gas ist nur unter Druck ein gutes Kältemittel, weswegen neue Klimaanlagen konzipiert werden müssten mit einer guten Dichtung. "Diese Probleme sind heute alle gelöst", sagt Willi Parsch von der Firma Ixetic in Bad Homburg. Die entsprechenden Anlagen seien in Autos getestet worden, die Pläne seien in den Schubladen. "Da hat die Zuliefererindustrie eine ganz neue Technik entwickelt, die sehr innovativ ist", bestätigt Wolfgang Plehn vom Bundesumweltamt in Dessau. Spätestens nach dem ersten Test – damals, unter der sengenden Sonne von Phoenix, wurde Kohlenstoffdioxid zu einem ernsthaften Kandidaten. "Wir haben da einmal einen Wagen für Chrysler umgebaut und damit den Test gewonnen. Das war eigentlich das am schlechtesten klimatisierte Auto des Konzerns und wir haben es zu dem am besten gekühlten Auto der Welt gemacht", sagt Frank Obrist stolz, dessen Firma, die Obrist Engineering GmbH, über Jahre Klimaanlagen mit CO2 für verschiedene Automobilfirmen getestet hat. Auch der Verband der Automobilhersteller (VDA) war stolz auf die Entwicklung. In einer Pressemitteilung verkündete er im Oktober 2008 optimistisch: "Deutsche Automobilhersteller sind bei CO2-freundlichen Kältemitteln für Klimaanlagen führend." +Es blieb ein frommer Wunsch. Inzwischen haben die deutschen Automobilhersteller ihre Aktivitäten auf dem Sektor eingestellt, beim VDA will man sich zu dem Thema nicht mal mehr äußern. Dabei soll Mercedes-Benz 2005 kurz davor gewesen sein, seine S-Klasse serienmäßig mit einer CO2-Klimaanlage auszurüsten. Letztlich habe ein Mehrpreis von etwa 200 Euro pro Auto den Plan zunichtegemacht, heißt es bei den Automobilzulieferern. "Das mag für ein Auto, das 80.000 Euro kostet, seltsam anmuten. Aber 200 Euro mal hunderttausend ist auch viel Geld – und das geht nachher auf Kosten der Shareholder." +Es fehlt aber nicht nur am Willen der Automobilindustrie, auch die Chemiebranche macht Druck. Sie könnte Milliarden verlieren, wenn ihr Markt für Pkw-Kältemittel zusammenbricht. Oder noch mehr verdienen, wenn sie einen Nachfolger präsentiert. Die Firmen Honeywell und Dupont drängen deswegen mit ihrem Kältemittel "HFO-1234yf" auf den Markt. Immer wieder preisen sie es als die Lösung aller Probleme an. Tatsächlich ist der Stoff mit einem GWP von vier recht klimafreundlich. Doch Kritiker bemängeln, dass bis heute keine neutralen Untersuchungsergebnisse über die gesundheitlichen Effekte des Stoffes vorliegen. Außerdem ist "1234yf" brennbar, eigentlich ein K.o.-Kriterium für Pkw-Kältemittel. Zudem ist das neue Kühlmittel deutlich teurer als R134a. Viele Kritiker sind deswegen überzeugt, dass eine Einführung von "1234yf" reine Augenwischerei wäre. "Sobald das Auto in die Werkstatt kommt und das Kühlmittel nachgefüllt wird, hat man die Wahl, das teure "1234yf" nachzukaufen oder das viel billigere "R134a" einfüllen zu lassen", sagt Plehn. So ein Vorgehen verbiete die europäische Richtlinie schließlich nicht. Am Ende werde also weiter das klimaschädliche R134a verwendet. Das sieht auch Carl Schmitt so. Als Vorstand bei der Firma "Konvekta" hat er daran mitgearbeitet, die erste Omnibus-Klimaanlage mit CO2 als Kältemittel zu entwickeln. Dafür erhielt er 2007 den Deutschen Umweltpreis – der höchstdotierte Umweltpreis in Europa. Bei Pkws sei der Widerstand der Automobilhersteller einfach zu groß gewesen, sagt er. "Die wollen das CO2 nicht. Dass 1234yf keine Alternative sei, sondern teurer, gefährlicher und umweltschädlicher, habe man vorher wissen können. Der Unternehmer Obrist drückt es so aus: "Da hat die Chemieindustrie die Automobilhersteller an der Nase herumgeführt." +Pech für das Klima: Die Chemieindustrie verkauft lieber teurere Kältemittel als CO2 +Dabei hätte CO2 als Kühlmittel im Auto sogar noch einen weiteren Vorteil: Mit ihm lässt sich die Kühlung sehr effizient umkehren, sodass die Klimaanlage zur Wärmepumpe wird. Für Elektroautos könnte das entscheidend sein, denn das Hauptproblem ist nach wie vor die Batterie. Wenn die auch noch eine Heizung betreiben soll, könnte man im Winter nur halb so weit fahren wie im Sommer. Manche sehen darin eine letzte Chance: "Ich bin mir sicher, dass CO2 am Ende das Kältemittel in Autos wird", sagt Willi Parsch vom Automobilzulieferer Ixetic. Die Frage sei nur wann. Andere sind weit weniger optimistisch. "Es wäre zwar eine technische Dummheit und ein Klimafrevel auf irgendetwas anderes als Kohlendioxid zu setzen", so Wolfgang Plehn vom Umweltbundesamt – auszuschließen sei das aber nicht. diff --git a/fluter/schoene-bescherung.txt b/fluter/schoene-bescherung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/schoene-neue-welt.txt b/fluter/schoene-neue-welt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/schon-gehoert.txt b/fluter/schon-gehoert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/schrank-im-tank.txt b/fluter/schrank-im-tank.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/schreck-lass-nach.txt b/fluter/schreck-lass-nach.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c3144e025063da2a276db44b33405fe4bafe7237 --- /dev/null +++ b/fluter/schreck-lass-nach.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Es ist bekannt, dass sich Rechtsextreme über Musik Zugang zu Jugendlichen verschaffen. Wie funktioniert die Nachwuchsrekrutierung? +Das ist eine allgemeine Ansprache an Jugendliche oder junge Erwachsene ohne einen bestimmten Fokus auf eine Musikszene. Am bekanntesten ist das Beispiel der "Schulhof-CD" der NPD. Die bietet ein buntes musikalisches Potpourri. Früher fand man darauf eher Liedermacherstücke und Hardrock oder Rock mit leichter Punk-Attitüde – in den letzten Jahren hat sich das verändert. Es gibt auch mal Stücke aus dem Hip-Hop oder Hardcore. Man versucht, junge Leute mit einer erweiterten musikalischen Bandbreite anzusprechen. +Der Heavy-Metal-Szene wird immer wieder der Vorwurf gemacht, Rechtsextreme zu beheimaten. Wieso eigentlich? +Ich komme selbst aus der Metal-Szene der 1980er-Jahre. Sicherlich finden wir auch hier Rassisten oder Antisemiten – aber nicht in einer größeren Häufung als im gesellschaftlichen Durchschnitt. Die Kritik fußt in der Regel auf dem Black Metal beziehungsweise dem Black Metal Underground. Und das ist eine sehr überschaubare Szene. Wir sprechen nicht von Zehntausenden, sondern von deutlich weniger Menschen, von einigen Hundert bis wenigen Tausend. Sie kokettieren in der Regel nicht nur mit der Symbolik des Nationalsozialismus, sondern tragen sie bewusst und übernehmen auch dessen Ideengut. +Es gibt für ein rechtsextremes Subgenre im Metal die Bezeichnung "National Socialist Black Metal" (NSBM). Ist das eine Bezeichnung von außen oder eine hausgemachte, also eine Selbstbeschreibung von Anhängern dieser Strömung? +Tatsächlich ist NSBM eine szeneeigene Bezeichnung. Sie wird im Black Metal Underground für jene Bands benutzt, die tatsächlich klare nationalsozialistische Positionen beziehen. Aber auch hier ist diese Begrifflichkeit schwierig. Manche Bands innerhalb des Underground würden sich nicht als NSBM-Band bezeichnen, beziehen in ihren Texten oder Interviews aber trotzdem antisemitische Positionen. Es gibt zum Beispiel eine recht bekannte französische Band, die man aufgrund ihrer Verlautbarungen und antisemitischen Texte eigentlich als NSBM-Band bezeichnen müsste – im Underground wird sie aber vorwiegend als Black-Metal- Band mit etwas krasseren Tönen wahrgenommen. +Wie kann man denn als Außenstehender oder Neuling der Szene Textinhalte und Symbolik differenzieren? +Wie in jeder Szene: indem man sich ordentlich informiert. Es gibt in den Szenen Mythen zum Image von Bands, die sich tradieren. Oft hilft es, sich selbst ein Bild zu machen: Mit wem habe ich es zu tun? Warum macht die Band das? Warum benutzt sie solche Symbolik? Als Fan ist es schwierig, immer eine gewisse Kritik zuzulassen. Musik ist eine sehr emotionale Angelegenheit, da will man nicht immer das Hirn einschalten. +Die Trennlinien sind aber doch extrem fließend. +Die Trennlinie zum NSBM ist nicht fließend. Wer sich innerhalb der Szene mit dem Black Metal beschäftigt, bekommt relativ schnell mit, wer wirklich eine NS-Black-Metal-Band ist. Wer bei Sätzen wie "Auschwitz rules" den Kopf noch benutzt, merkt, dass da was nicht passt. Im Subgenre des Pagan Metal ist es tatsächlich schwieriger. Wenn eine Band die Tyr-Rune benutzt: Hat das dann was mit dem Abzeichen der Reichsführerschule zu tun? Oder sind das Leute, die früher zu viele "Was ist was"-Bücher über Wikinger gelesen haben und die nur cool finden? Das ist eine Ebene, auf der man einen kritischen Zugang zur Musik und den Bands braucht. +Wie muss man sich das konkret vorstellen: Keimt Rechtsextremes von innen auf, zum Beispiel durch diesen Bezug auf nordische Mythologie, oder passiert eine bewusste Vereinnahmung von außen? +Der Ursprung liegt tatsächlich in der Szene selbst. Die Begeisterung für Nationalsozialismus ist in der Black-Metal-Szene aufgekeimt und letztendlich in ihr groß geworden – ohne das Zutun von Neonazis. Heutzutage zeigt sich, dass auch ein Interesse von außen aus dem neonazistischen Spektrum an der Musik und den Leuten existiert. Zum Beispiel gibt es Neonazis, die eine Black- Metal-Band gründen – auch die NPD hat schon mal eine entsprechende Black-Metal-Gruppe zu einer ihrer Veranstaltungen eingeladen. Hier wird versucht, die verschiedenen Spektren zusammenzuführen. +Wie erkennt man Rechtsextreme in den Subgenres? +Heutzutage kann man ja schwer sagen: "Der da sieht aus wie ein Nazi." In der Metal-Szene gibt es ein ganz einfaches Erkennungskriterium: das Band-Shirt. Das gilt eigentlich immer. Wer Fan ist, teilt seine Vorliebe über das T-Shirt mit. +2010 war die Diskussion um die Band Varg so groß, weil der Sänger ein Shirt einer rechtsextremen Band trug und sich später wieder von dieser Aktion distanzierte. +Genau, das war ein klares Statement. Man kehrt seine eigene Identität und Präferenz mit dem Band-Shirt nach außen. +Zum größten Metal-Festival in Wacken kommen 80.000 Fans, die Veranstalter bekennen sich auf ihrer Website klar gegen Rechts. Bleiben Nazis deshalb draußen? +Solche Statements sind immer ein wichtiges Signal in die Szene hinein. Wichtig ist aber, dass vor Ort dann tatsächlich auch zu zeigen. Das "Party.San Open Air" in Thüringen hat beispielsweise schon sehr früh darauf geschaut, welche Verkäufer sich bei ihnen auf das Gelände stellen. Sie wollten eben nicht, dass irgendwelche dubiosen Black-Metal-Sachen verkauft werden. +Sie beobachten die Black-Metal-Szene schon seit Jahrzehnten. Hat sich der rechte Rand verändert? +Man findet heute seltener Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus und rassistische, antisemitische Äußerungen als vor zehn Jahren. Vielleicht liegt es auch ein wenig daran, dass wir mit unserem Buch 2005 Tabula rasa gemacht haben. In der Metal-Szene ist es auf Interesse gestoßen, im Black Metal Underground hat es damals gekracht. Dieses Gefühl "wir können machen, was wir wollen" ist dort tatsächlich durch, zumindest in dem Umfang von früher. Sicherlich, es gibt neonazistischen Black Metal noch, aber seine Hochphase scheint vorüber. +Martin Langebach (43) weiß, wovon er spricht: Er war jahrelang selbst in der Metal- Szene und widmet sich als Soziologe dem Forschungsschwerpunkt Jugend- und Kultursoziologie sowie Rechtsextremismus. 2005 schrieb er unter dem Pseudonym Christian Dornbusch gemeinsam mit Hans-Peter Killguss das Buch "Unheilige Allianzen. Black Metal zwischen Satanismus, Heidentum und Neonazismus". diff --git a/fluter/schreib-doch-ein-buch.txt b/fluter/schreib-doch-ein-buch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dbd92a8e9a2da096d821853f4b8bec82e5f6f566 --- /dev/null +++ b/fluter/schreib-doch-ein-buch.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Beim Blick in den App Store merkt man von der Firmenzensur wenig. Der Marktplatz ist riesig. Die Auswahl wirkt grenzenlos. Über eine Million Apps sind erhältlich, viele davon sind schlecht. Man könnte glauben, da darf jeder rein. +Aber genau das stimmt nicht. Am eigenen Leib zu spüren bekam das Ben Poynter. Der Student und Künstler aus Nevada schuf "In a Permanent Save State". Das Spiel ist so sperrig wie sein Titel – es handelt von chinesischen Fließbandarbeitern, die Selbstmord begingen. Die Namen aller Personen und Arbeitgeber wurden geschwärzt, aber die Anspielung auf Foxconn bleibt erkennbar. Die chinesische Firma stellt elektronische Geräte für viele Konzerne her, auch für Apple. Das wollte Poynter kommentieren: "Das iPhone ist ein brillantes Gerät. Aber die Art, wie es hergestellt wird, ist problematisch." Direkte Kritik an Foxconn oder gar an Apple übt er gar nicht. "Ich wollte keine Aussage treffen, die platt genug für einen Autoaufkleber ist." Poynters App flog innerhalb einer Stunde aus dem App Store. Apple wertete sie als direkte Kritik an Institutionen – und die ist im Marktplatz verboten. Ärgerlich, aber kein Weltuntergang für Poynter. Sein Kunstspiel hat viel erreicht. Der Rausschmiss brachte Aufmerksamkeit. Geld verdienen wollte Poynter gar nicht, er hat das Spiel immer gratis angeboten. +Andere Zensuropfer wurden härter getroffen. Littleloud war eine Spielefirma aus England. Ihr Titel "Sweatshop HD" stand wochenlang im App Store. Das Spiel sollte vor allem aufklären, wie Kreativdirektor Darren Garrett erläutert: "Spieler müssen selbst einen Sweatshop leiten. So wollten wir sie dazu bekommen, über die komplexen Mechanismen dahinter nachzudenken." Beim Spielen begreift man, dass der Teufel im System steckt: Die Textilfabrik hat weder Zeit noch Geld für gute Arbeitsbedingungen. Eines Tages wurde Apple darauf aufmerksam, dass man in "Sweatshop HD" auch Kinder anheuern kann, und warf das Spiel raus. "Wir haben versucht, ihnen zu erklären, dass wir gut recherchiert hatten, dass wir keine einfachen Antworten geben." Apple gab nicht nach, "Sweatshop HD" blieb draußen. Einer von vielen harten Schlägen für Littleloud. Das Unternehmen ist heute pleite. +Hätten die Entwickler es wissen müssen? Zwar hat Apple Richtlinien für den App Store veröffentlicht. Aber eindeutige Verstöße der Spiele lassen sich kaum erkennen. Nur ganz am Anfang des Dokuments steht ein merkwürdiger Satz: "Wir sehen Apps anders als Bücher oder Songs." Wer beispielsweise eine Religion kritisieren oder über Sex aufklären wolle, der solle lieber ein Buch schreiben. +Warum dürfen Bücher und Songs, was Apps nicht dürfen? Apple erwähnt Kinderschutz. Aber muss man Kinder vor Politik schützen? Und warum werden viele gewalttätige Apps nicht rausgeschmissen? Ein merkwürdiges Bild: Andere Medien haben einen hohen kulturellen Status, Apps nicht – zumindest nicht in den Augen der Firma, die Geld mit ihnen verdient. Wenn aber Apple die intelligentesten Apps vor die Tür setzt, könnte der Marktplatz uninteressant werden, weil man manches nicht findet, was man sucht. diff --git a/fluter/schueler-organisieren-protest-gegen-waffen-usa.txt b/fluter/schueler-organisieren-protest-gegen-waffen-usa.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..920c872cef69727aab0264db9467a3b93fd6fffe --- /dev/null +++ b/fluter/schueler-organisieren-protest-gegen-waffen-usa.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Gabrielle: Anders ist, dass der Amoklauf genau in dieser Schule passiert ist. Die Gegend rund um die Marjory Stoneman Douglas High School ist liberal, divers und reich. Dort kommt normalerweise keine Waffengewalt vor. Es ist eine politisch sehr aktive Schule, es gibt dort zum Beispiel einen preisgekrönten Debattierklub. Ein weiterer Unterschied ist, dass die Kids im Vergleich zum Amoklauf an der Sandy Hook Elementary School alt genug sind, sich zu engagieren. Viele werden dieses Jahr zum ersten Mal bei den Midterm-Wahlen wählen. Die haben an dem Tag, an dem die Tragödie passierte, gesagt: never again. Wir wollen, dass nie mehr ein Amoklauf an einer Schule passiert. Und daraus wurde eine breite Bewegung. +Am 24. März findet die von Parkland-Überlebenden initiierte Großdemonstration "March For Our Lives" in Washington statt. Ihr vier organisiert Unterkünfte für anreisende Schüler. Wie macht ihr das? +Gabrielle: Soziale Medien sind sehr nützlich. Sie helfen uns, uns zu organisieren. Eine Schülerin aus Parkland mit tausenden Followern auf Twitter hat unseren Flyer auf Twitter geteilt. Aber klassische Medien sind auch wichtig: Lokale Medien und sogar die Tageszeitung Washington Post haben daraufhin über unser Projekt berichtet. Mittlerweile stehen mehr als 600 Unterkünfte in und um Washington bereit. Hunderte Schüler werden dort am Demo-Wochenende schlafen. Es ist eine großartige Möglichkeit, Menschen mit den gleichen Zielen miteinander zu vernetzen. + +Die US-Medien nennen euch die Columbine-Generation, benannt nach dem ersten großen Amoklauf an einer Schule, bei dem im April 1999 zwölf Menschen gestorben sind. Ist das das richtige Label für euch? +Alle: Ja. +Kate: Wir sprechen oft darüber, dass irgendjemand uns in der Schule abknallen könnte. Viele Kids haben Angst vor Nachahmungstätern. Wir leben in einer Zeit, in der wir Gummiarmbänder in der Schule bekommen, auf denen steht: "If you see something, say something". So ist man ständig in Alarmbereitschaft. Doch nicht nur Columbine hat unser Sicherheitsgefühl beeinträchtigt, sondern auch die Anschläge vom elften September. 9/11 hat viele Menschen hier in ein ständiges Gefühl des Misstrauens versetzt. +Von links: Mai Cunning (16), Michaela Hoenig (17), Kate Lebron (18) und Gabrielle Zwi (17) +In Deutschland hat man in den Schulen Erdbeben- oder Feuer-Notfallübungen. In den USA trainieren die Schüler auch für den Ernstfall, dass jemand mit scharfer Munition in die Schule kommt. Wie läuft das ab? +Mai: Es gibt unterschiedliche Übungen für unterschiedliche Schweregrade: Ein "shelter in place" oder "code blue" bedeutet, dass es in der Nähe der Schule eine potentielle Gefahrenquelle oder in der Schule einen medizinischen Notfall gibt. Wenn wir eine solche Warnung bekommen, werden die Türen verriegelt und der Unterricht geht in den Klassenräumen weiter. Ein "lockdown" oder "code red" hingegen bedeutet, dass sich ein "active shooter", ein Bewaffneter mit scharfer Munition, in der Schule aufhält. Dann werden alle Türen verschlossen und mit Stühlen zugestellt, die Fenster mit Stoffen und Papier zugeklebt, die Lichter ausgeschaltet und alle hocken sich in die selbe Ecke. +Emma Gonzalez, David Hogg oder Cameron Kasky, Überlebende des Amoklaufes in Parkland, sind die neuen berühmten Gesichter der Anti-Waffen-Bewegung. Mit ihrem Aktionismus haben sie sich aber auch Feinde gemacht. Spürt ihr Gegenwind? +Mai: Nicht persönlich, aber es war seltsam, dass unsere Schule und zwei weitere, die einen Spaziergang für strengere Waffengesetze vor das Weiße Haus am 21. Februar unterstützten, eine Bombendrohung genau an diesem Tag erhielten. Wir haben keine Beweise, aber wir glauben, dass die Anrufe von Leuten kamen, die gegen die Verschärfung der Waffengesetze sind. +Umfassende Background-Checks, höhere Altersgrenzen für Waffenkäufer, ein Verkaufsverbot für "Bump Stocks" und anderen Vorrichtungen, die aus halb- vollautomatische Waffen machen – das sind nur ein paar Forderungen der Parkland-Überlebenden und ihren Anhängern. Was wollt ihr mit dem "March For Our Lives" erreichen? +Michaela: Mit der Demo sagen wir: Wir haben es satt, immer nur das Ziel irgendeiner Gesetzgebung zu sein, die uns nicht hilft. Wir haben es satt, dass immer nur geredet und nichts getan wird. Wir haben es satt, jeden Tag Angst zu haben. +Gabrielle: So viele Schüler werden zum ersten Mal bei den bevorstehenden Midterm-Wahlen wählen und die Mehrheit aller Schüler, die gerade in High Schools sind, wird bei den nächsten Präsidentschaftswahlen ihr Kreuz machen dürfen. Wir wollen den Politikern zeigen, dass wir ein ernstzunehmendes Wählerklientel sind: Wenn ihr uns nicht unterstützt, dann unterstützen wir euch auch nicht. +Der Kongress in Florida hat kürzlich ein schärferes Waffengesetz verabschiedet. Das Gesetz ermöglicht auch, dass Schulangestellte und einzelne Lehrer Waffen tragen. Glaubt ihr trotzdem, dass sich etwas ändert? +Gabrielle: Wir haben in den letzten Wochen gesehen, dass große Einzelhändler wie Walmart als Reaktion auf den Amoklauf bestimmte Waffen aus ihrem Sortiment genommen haben. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung – ganz ohne neue Gesetze. +Mai: Außerdem erwarten wir nicht, dass einen Tag nach der Demo der Verkauf von Sturmwaffen verboten wird. Uns ist schon klar, wie lang es dauert, bis Gesetze geändert werden. Aber wir haben einen langen Atem. + +Titelbild: JOSH HANER/NYT/Redux/laif diff --git a/fluter/schulbuch-international-vergleich.txt b/fluter/schulbuch-international-vergleich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..746dff9984a1dc341473016a5dd150cd2134b8e0 --- /dev/null +++ b/fluter/schulbuch-international-vergleich.txt @@ -0,0 +1,43 @@ +50 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges geschah in Europa wieder ein Völkermord.Im Juli 1995 ermordeten binnen weniger Tage bosnisch-serbische Truppen mehr als 8.000 Bosniaken in Srebrenica.Der Name der Stadt gilt seither als Mahnmal des Krieges im ehemaligen Jugoslawien. +Doch in Bosnien und Herzegowina, wo die Tat geschah, kommt das Wort Srebrenica in vielen Lehrbüchern nicht vor. Schülerinnen und Schüler lernen dort meist getrennt nach ethnischer Zugehörigkeit: Kroaten haben kroatische Geschichtsbücher, Serben nutzen serbische, und auch die Bosniaken haben ihre eigenen Bücher. Selbst in "gemischten" Schulen werden Jugendliche häufig voneinander getrennt durch Zäune oder zeitlich getakteten Unterricht. Diese Trennung, dieses Nebeneinander statt Miteinander zeigt sich auch in den Geschichtsbüchern der achten und neunten Klasse aus den Jahren 2009/2010, wenn es um die jüngste Geschichte geht. + +In Bosnien und Herzegowina lernen Bosniaken, Kroaten und Serben oft mit ihren eigenen Schulbüchern. Nur im bosniakischen Geschichtsbuch (links) wird Srebrenica ausführlich behandelt. Im kroatischen (rechts) wird der Völkermord kaum erwähnt + +Nur im Lehrbuch der Bosniaken – der Gruppe der Opfer – nimmt der Völkermord größeren Raum ein. Im serbischen Buch ist von Srebrenica nirgends die Rede, dabei wurde die Tat von bosnischen Serben begangen. Stattdessen werden immer wieder die eigenen Opfer betont, auch aus anderen Kriegen. Von Tätern aus den eigenen Reihen ist kaum je die Rede. Als gäbe es einen Krieg, als gäbe es einen Völkermord ohne diejenigen, die töten. + +Wie war das nochmal genau?Hierliest du mehr über den Völkermord in Srebrenica. + +Im Jahr 1989 erschien das DDR-Schulbuch "Geschichte für die 10. Klasse". Wer als Schüler durch die Seiten blätterte, dem wurde klar: Es herrscht Krieg. Zumindest ideologischer. Auf vier Doppelseiten wird die Geschichte des Mauerbaus 1961 ausgewalzt. Die Bundesrepublik habe vor dem Bau der Mauer "die Eroberung der DDR" vorbereitet, heißt es darin martialisch. Doch dank eines "wohldurchdachten Schlages gegen den Feind" wurde der "Menschenhandel" unterbrochen – gemeint war die Abwanderung Ostdeutscher in den Westen. +Die "Kampfgruppen der Arbeiterklasse" sicherten schließlich in den Morgenstunden des 13. August die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin. Aufgabe an die Schülerinnen und Schüler: "Legen Sie dar, warum der 13. August 1961 den Frieden in Europa rettete!" + +Das West-Geschichtsbuch (links) handelt den Mauerbau in einem Absatz ab. Im Ost-Geschichtsbuch geht es auf acht Seiten um die "Sicherung des Friedens", weil die BRD "die Eroberung der DDR" vorbereitet habe + +Dabei kostete der Bau der Mauer Menschenleben. Im West-Geschichtsbuch "Geschichte und Geschehen" von 1988 wird deutlich, was das Ost-Geschichtsbuch verschweigt: "Die Grenztruppen bekamen Anweisung, auf Flüchtlinge gezielt zu schießen." Nur einen Absatz nimmt der Mauerbau im West-Geschichtsbuch ein. Wenige Monate nach Veröffentlichung der beiden Bücher, am 9. November 1989, öffneten sich dann in Berlin die Tore zum Westen. Die Mauer war Geschichte. + +Was damals geschehen ist, kannst duhiernachlesen. + +Special: Wissen +Hier liest du weitere Artikelaus unserem Wissen-Schwerpunkt +Wer als Kind in Israel aufwächst, für den ist der Anblick von Soldaten und Polizisten, ja selbst das Geräusch von Bomben und Raketen leider oft vertraut. In Israel und in den palästinensischen Gebieten (Westjordanland, Gazastreifen und Ost-Jerusalem) wird der Konflikt von den Schulbehörden in den Klassenräumen nachgezeichnet. Beide Seiten verwenden unterschiedliche Lehrbücher und beschuldigen sich gegenseitig, deren Inhalte zugunsten der "eigenen" bzw. politisch dominanten Perspektive zu beeinflussen. In palästinensischen Mathe-Büchern der Klassen 3 und 4 lernen Kinder beispielsweise rechnen, indem sie Opferzahlen von Kriegen und Aufständen addieren. Links neben der Aufgabe für Viertklässler: das Foto einer Beerdigung. +Wie in den palästinensischen Gebieten üblich, werden palästinensische Opfer des Konflikts als "Märtyrer" bezeichnet. Die neun- bis zehnjährigen Kinder lernen so nicht nur Mathematik, sondern auch etwas über die palästinensischen Aufstände ("Intifadas") in den Jahren1988 bis 1993und2000 bis 2005. +In anderen Büchern aus den palästinensischen Gebieten finden sich ähnliche Beispiele: Wie das vegetative Nervensystem unter Stress funktioniert, müssen Schülerinnen der Klasse 11 an einem Bild von Menschen zeigen, die gerade beschossen werden. Und die Gesetze der Physik lernen Siebtklässler unter anderem anhand von Steinschleudern: "Zweites Newtonsches Gesetz: Während der Ersten Intifada nutzten palästinensische Jugendliche Steinschleudern, um sich den Soldaten der zionistischen Besatzung entgegenzustellen und sich gegen ihre tückischen Kugeln zu verteidigen. In welchem Verhältnis steht die Dehnung des Gummibandes zu seiner Reißfestigkeit?" + +Mathe, Bio oder Physik: In den palästinesischen Schulbüchern geht es oft um den Konflikt mit Israel. Und in Israel? Dort verbannte die Regierung das arabische Wort für die Gründung des Staates Israel aus seinen Schulbüchern + +Für die einen eine Katastrophe, für die anderen ein Triumph:Die Staatsgründung Israels im Mai 1948 wird bis heute als Gedenktag begangen– aber auf unterschiedliche Weise. Die meisten jüdischen Israelis feiern den Unabhängigkeitstag. Viele arabische Israelis begehen diesen Tag aber als Tag der "Nakba", dem arabischen Wort für Katastrophe. Denn während des Unabhängigkeitskrieges zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarstaaten in den Jahren 1948/1949 verloren etwa 700.000 Palästinenser ihre Heimat, weil sie wegzogen, flohen oder vertrieben wurden. +Der Likud-Partei des heutigen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu ist dieses Gedenken an die "Nakba" zuwider. Als Erstes werde man das Wort "Nakba" streichen, kündigte Netanjahu noch als Oppositionsführer an. Und tatsächlich: Kaum kam Netanjahu und mit ihm ein neuer Schulminister im Jahr 2009 an die Regierung, ordnete das Ministerium die Streichung des Wortes "Nakba" in einem arabischen Schulbuch an. Es gebe schließlich keinen Grund, so der Schulminister, von der Gründung Israels als einer Katastrophe zu sprechen. Ganz konsequent war das Schulministerium allerdings nicht. Bis heute werden im Unterricht Bücher verwendet, in denen das Wort "Nakba" steht. Auch in hebräischen Büchern ist von der "Katastrophe" die Rede. + +Hierfindest du mehr Informationen über den Nahost-Konflikt. + +Der Zweite Weltkrieg endete nicht am 8. Mai 1945. Im Pazifik kämpften Soldaten noch bis zum September, viele Menschen starben, selbst um kleinste Flecken Land wurde erbittert gerungen. In den Jahren zuvor hatte das japanische Kaiserreich mehrere Länder in Süd- und Ostasien angegriffen. Vor allem in China litten viele Menschen unter der oft grausamen militärischen Besatzung. Im Winter 1937 verübten japanische Soldaten ein Massaker in der damaligen chinesischen Hauptstadt Nanking. + +In den Schulen wenig erfolgreich, auf dem freien Markt ein Bestseller: Diesem japanischen Geschichtsbuch ist das Massaker von Nanking, dem Tausende chinesische Zivilisten zum Opfer fielen, kaum eine Erwähnung wert + +Im Jahr 2001 wurde in Japan ein Schulbuch zugelassen, das nicht nur in China für große Empörung sorgte. Das Massaker von Nanking war den Autoren des Buches nur eine Randnotiz wert. Übersetzt lautet sie: "Viele chinesische Soldaten und Zivilisten wurden damals von japanischen Soldaten getötet oder verwundet (Vorfall von Nanking). Schriftliche Quellen ließen Zweifel an der tatsächlichen Zahl der Opfer des Vorfalls aufkommen. Die Debatte darüber dauert bis heute an." +Nicht erwähnt wird, dass Historiker von einem Massaker mit – je nach Schätzung – mehreren Zehntausend bis zu weit mehr als 200.000 Toten sprechen, viele von ihnen Zivilisten. Die Leichenberge, die die Straßen Nankings säumten, dass Japans Soldaten einige Opfer mit Schwertern enthaupteten und Frauen vergewaltigten, findet keinen Platz. Zumindest in den Schulen hatte das Buch keinen Erfolg – nur eine winzige Minderheit der japanischen Kinder lernte Geschichte mit diesem Werk. Doch auf dem freien Markt wurde das Buch hunderttausendfach verkauft – in immer wieder neuen Auflagen. + +Der Zweite Weltkrieg endete nicht am 8. Mai 1945?Hierliest du über die letzten Kriegsmonate in Japan. + + +Wir danken dem Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig sowie dem Institute for Monitoring Peace and Cultural Tolerance in School Education in Ramat Gan (Israel) für die Unterstützung bei der Recherche. +Collagen: Bureau Chateau / Jannis Pätzold diff --git a/fluter/schule-bildung-ungleichheit-armut-interview-helbig.txt b/fluter/schule-bildung-ungleichheit-armut-interview-helbig.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ae55a56dc9f6a2e8f8e5860239009e5015ac9db3 --- /dev/null +++ b/fluter/schule-bildung-ungleichheit-armut-interview-helbig.txt @@ -0,0 +1,32 @@ +Weil? +Gute Schulleistungen werden nicht nur an vorhandenen Kompetenzen im Lesen oder Mathematik gemessen, sondern auch über Noten für Referate oder Klassenarbeiten. Darauf muss sich ein Kind gut vorbereiten können. Das setzt gerade in der Grundschule voraus, dass die Eltern das Kind unterstützen können. Können Eltern dies nicht,haben auch die Kinder schlechtere Chancen, gute Leistungen abzuliefern. Für Lehrkräfte ist es schwer zu trennen, welche Faktoren die Leistung eines Kindes beeinflussen. Und trotzdem empfehlen sie – basierend auf den gezeigten Leistungen – die weiterführende Schule. Leider setzen sich Eltern aus höheren Schichten eher darüber hinweg, wenn ihren Kindern keine Gymnasialempfehlung ausgesprochen wird, als solche aus niedrigeren Schichten. +Die Begriffe Schicht und Klasse fassen Menschen in ähnlicher sozioökonomischer Lage zusammen, die ähnliche Lebenserfahrungen und Bildungsabschlüsse machen – und somit ähnliche Werte, Lebensstile und Einkommen haben. Der Begriff Klasse betont dabei mehr das Ökonomische (wie der Klassenbegriff von Karl Marx) und deutet immer auch Konflikte und Machtbeziehungen zwischen den Klassen an. Schichten sind hingegen durchlässiger und mobiler. +Mehr zum Thema findet ihr imfluter-Heft "Klasse". +Welche Faktoren begünstigen diese Ungleichheiten? +Ungleichheit beginnt mit der Geburt. Eltern von Kindern in höheren Schichten lesen ihren Kindern zum Beispiel mehr vor und sprechen mehr mit ihnen. Das führt dazu, dass diese Kinder einen größeren Wortschatz entwickeln als Kinder, die in niedrigeren Schichten aufwachsen. Ein anderes Beispiel: Kinder aus höheren Schichten nehmen früher an organisierten Sportangeboten oder Angeboten der musischen oder künstlerischen Erziehung teil. Die Kosten für solche Angebote sind jedoch nicht unbedingt der Hauptgrund, warum Kinder aus unteren Schichten diese Angebote seltener nutzen. Entscheidender scheint zu sein, dass Eltern höherer Schichten diese Angebote für wichtiger halten. Sicherlich kann man versuchen, dieses Ungleichgewicht über pädagogische Angebote in Kitas auszugleichen. Aber in Zeiten von Fachkräftemangel in Kitas und Schulen ist das schwierig. +Aber sind Schulen nicht genau dafür da? +Die können höchstens verhindern, dass bestehende Ungleichheiten nicht größer werden. Sie sind aber wenig erfolgreich, wenn es darum geht, soziale Ungleichheiten zu verringern. Studien zeigen zum Beispiel, dass die sprachlichen Kompetenzen von Kindern aus sozial höheren und aus sozial benachteiligten Schichten zu Beginn und zum Ende der Schulzeit ähnlich weit auseinanderliegen. +Also sind die Eltern schuld, dass ihre Kinder in der Schule keinen Erfolg haben? +Schuld ist ein System, das Ungleichheit hervorbringt und fördert. Statt die Gerechtigkeitsfrage im Bildungssystem den Schulen und Bildungsinstitutionen zuzuschieben, sollten wir über die Gründe dahinter sprechen: Einkommensungleichheiten, Vermögensungleichheiten, Ungleichheiten der Wohnquartiere, generelleine ungleiche Verteilung von Ressourcenund Macht. Mindestensjedes fünfte Kind ist von Armut bedroht. Von Schulen wird erwartet, dass sie diese Ungleichheiten ausgleichen. Daran können sie nur zerbrechen. Diese Strukturen bestehen seit Jahrzehnten. Und sie werden sich nicht so schnell ändern. +Welchen Einfluss hat eine Migrationsgeschichte? +Es gibt kaum Studien, die belegen, dass migrantische Kinder wegen ihrer Herkunft ungünstigere Bildungsverläufe haben. Entscheidender ist die soziale Lage: Hier haben Kinder von Migranten geringere Ressourcen im eigenen Haushalt. Migration und soziale Benachteiligung treffen häufig ein und dieselbe Person. +Jedes Jahr verlassen fast 50.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss, 50 Prozent davon kommen von Förderschulen. Die Zahl hat sich seit zehn Jahren kaum verändert. Wie kann das sein? +Wir leben in einem System, das Stärkere mehr fördert als Schwache. In den vergangenen 20 Jahren wurde versäumt, sich Konzepte dagegen zu überlegen. Stattdessen wird alles auf die kleinste Ebene abgeschoben: die einzelne Schule und die Lehrkräfte. Aber die brauchen die richtigen Strukturen, um die Schwächsten fördern zu können: zeitliche Ressourcen, Qualifikationen und ausreichend Personal. All das ist nicht vorhanden. Der Lehrermangel trifft zum Beispiel die nichtgymnasialen Schulen aktuell viel stärker als die Gymnasien. Mit der Folge,dass an den Schulen der sozial Schwächeren mehr Unterricht ausfällt und mehr Quer- und Seiteneinsteiger unterrichten. Dies wird sich in den kommenden Jahren sogar noch verstärken. Dabei muss die klare Ansage doch lauten: Wir unterstützen die Schwächsten stärker als die Stärksten. Kinder aus Akademikerfamilien setzen sich im Bildungssystem so oder so durch. +Das Gymnasium gilt in diesen Kreisen als die einzig wahre Schulform. Haupt- oder Realschulabschlüsse werden da oft belächelt. +Das Gymnasium ist in Deutschland wie ein Naturgesetz. Mit dem Abitur stehen einem alle Türen offen: Man kann studieren, landet weniger wahrscheinlich in der Arbeitslosigkeit, kann auf höheres Einkommen und mehr Prestige hoffen. Es gibt Wege, diese Ziele mit einem Realschulabschluss zu erreichen. Aber die haben Hürden und bedeuten Umwege. Hauptschulen haben sich in einigen Bundesländern zu – überspitzt gesagt – sozialen Resteschulen entwickelt. Sie gelten mittlerweile als dysfunktional: Dorthin werden sozial benachteiligte und leistungsschwächere Schüler abgeschoben, denen keine Entwicklungschancen zugetraut werden. Dies könnte den Druck auf die Mittelschicht verstärkt haben, dass das eigene Kind unbedingt ein Gymnasium besuchen muss. +In Deutschland haben 37 Prozent der Menschen einen Fachhochschulabschluss oder Abitur, einen Real- oder Hauptschulabschluss haben zusammen 48 Prozent. Brauchen wir ein System, in dem alle Abitur machen können? +Es geht nicht darum, dass jeder Abitur macht und studiert. Es geht darum, dass allen Schülern alle Wege offenstehen. Das ist in Deutschland nicht der Fall. Die Entscheidung, die Eltern am Ende der Grundschule treffen, ist wegweisend. Wenn man nach der zehnten Klasse doch noch aufs Gymnasium möchte, ist das nicht so einfach: In Realschulen ist eine zweite Fremdsprache zum Beispiel nicht Pflicht, an Gymnasien schon. +Würden Sie das dreigliedrige Schulsystem aus Hauptschule, Realschule und Gymnasium abschaffen? +Dieses Modell gibt es so strikt ohnehin nur noch in Bayern. Trotzdem müssen sich Eltern nach der vierten Klasse entscheiden, auf welche weiterführende Schule sie ihr Kind schicken wollen. Dass wir Kinder so früh in gut, mittel und schlecht aufteilen – damit ist Deutschland ziemlich einzigartig. Andere Länder Europas regeln das direkt über Kurse, die sich je nach Kompetenzen der Schüler im Niveau unterscheiden. Dadurch kann sich die Schule den Stärken und Schwächen der Schüler anpassen. Ein solches System berücksichtigt die Entwicklungsphasen von Kindern und lässt mehr Spielraum für einen individuellen Bildungsweg. +Werden wir in Deutschland ein solches System bekommen? +Ich glaube nicht. +Warum so pessimistisch? +Ungleichheit wird selten von Betroffenen thematisiert. Und die, die nicht betroffen sind, thematisieren sie meist nicht entschlossen genug. Oder beharren zum Teil sogar darauf, dass alles so bleibt, wie es ist. Manche argumentieren ja, solche "Einheitsschulen" seien Bildungssozialismus, der dazu führt, dass Kinder nicht mehr gefördert würden. Unser aktuelles Bildungssystem dient ganz einfach dazu, die behauptete Leistungsgesellschaft zu rechtfertigen. Und die rechtfertigt wiederum, dass es Ungleichheiten in Deutschland gibt. In Wahrheit fördert ein gegliedertes Schulsystem eine Klassengesellschaft. Und die wiederum rechtfertigt, dass an Gymnasien weder Inklusion noch Integration von Kindern mit Fluchthintergrund gelebt wird: Beide Gruppen erzielen in der Regel nicht die entsprechenden Leistungen für den Besuch eines Gymnasiums. Folglich sind Inklusion und Integration eine Aufgabe für die nichtgymnasialen Schulen – gerade da, wo der Lehrermangel am größten ist. +Sollten wir also stärker auf Gesamtschulen setzen? +Ein reines Gesamtschulsystem würde aus meiner Sicher eher dazu führen, dass private Schulen boomen und sich soziale Segregation noch mehr verschärfen würde. Schließlich wäre es für Eltern aus höheren Schichten dann noch wichtiger als bisher, an Schulen zu kommen, an denen der Anteil von Akademikerkindern besonders hoch ist. Gerade in den Großstädten würde sich das Schulsystem, glaube ich, noch stärker von einem formal gegliederten System zu einem quartiersbezogenen, sozial gegliederten System verschieben. +Bildung ist in Deutschland Ländersache. Sehen Sie Bundesländer, die es besser machen? +Hamburg hat ein zukunftsfähiges Modell entwickelt. Dort, wo die Kinderarmut am größten ist und die sozial schwächste Klientel lebt, bekommen Schulen mehr Geld und Lehrkräfte. Außerdem hat Hamburg das Recht auf Ganztagsbetreuung eingeführt – als einziges Bundesland. Und: Kein Kind muss dort die Klasse wiederholen. Hat ein Kind Probleme, setzt man sich stattdessen mit diesem und seinen Eltern zusammen und arbeitet ein individuelles Förderkonzept aus – das dann im Rahmen der Ganztagsbetreuung umgesetzt wird. An sogenannten Stadtteilschulen machen die Kinder dann nach der 9., 10. oder 13. Klasse einen Schulabschluss. Ich glaube, dass die positive Entwicklung der Hamburger Schüler im Vergleich zu anderen Bundesländern im vergangenen Jahrzehnt genau auf diese konsequente Förderung sozial benachteiligter Schüler zurückzuführen ist. Es gibt auch andere ähnliche Schulentwicklungsprogramme. Zum Beispiel "Schule macht stark", das Talentschulprogramm in NRW oder Perspektivschulen in Schleswig-Holstein. So sehen Systeme aus, die ihre Schwächsten stärker unterstützen als die, die ohnehin privilegiert sind. + +Marcel Helbig arbeitet als Wissenschaftler am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe in Bamberg. + +Illustration:Raúl Soria diff --git a/fluter/schulen-neukoelln-krise.txt b/fluter/schulen-neukoelln-krise.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fb2aa8c784fa9fe1c45c623092643ede390bafb5 --- /dev/null +++ b/fluter/schulen-neukoelln-krise.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Konflikte gehören auch am Fliederbusch zum Schulalltag, erzählt Anke Schäfer, die selbst unterrichtet. Zurzeit häuften sich Auseinandersetzungen, bei denen es um Geschlechterrollen gehe. "Da kopieren die Kinder das, was sie zu Hause hören", glaubt Schäfer. Viele Familien kommen aus osteuropäischen Staaten, aus der Türkei und aus arabischen oder afrikanischen Ländern. Wobei Schäfer betont, dass die Probleme weniger mit der Nationalität als mit dem Bildungsgrad der Eltern zu tun hätten. Im Unterricht und in der Schulsozialarbeit gehe es oft darum, die Grundlagen für gegenseitigen Respekt zu legen. Zu ihrem eigentlichen Auftrag kämen die Lehrerinnen und Lehrer selten. "Wir haben Kinder, die verlassen die Grundschule nach der sechsten Klasse, ohne richtig lesen und schreiben zu können." +Spätestensseit dem Pisa-Schock 2001ist bekannt, wie stark der Bildungserfolg in Deutschlandvom sozialen Hintergrund der Schüler abhängt. Die Coronapandemie hat das noch verstärkt. Derjüngste nationale Bildungsberichtzeigt, dass Viertklässler aus einem privilegierten Elternhaus einen Leistungsvorsprung von einem ganzen Lernjahr oder mehr haben. Wer aus einer sozial benachteiligten Familie kommt, hat also nach wie vor deutlich schlechtere Chancen, einen Schulabschluss zu schaffen oder aufs Gymnasium zu kommen. Bildungsforscher beobachten, dass die Rolle des Elternhauses aktuell sogar weiter an Bedeutung gewinnt. +Zum Schulstart haben in Neukölln vier von zehn Kindern Sprachdefizite, bei mehr als jedem zweiten wird schulischer Förderbedarf festgestellt. Der Berliner Senat versucht, gegenzusteuern, indem er Schulen in sozial benachteiligter Lage zusätzliche Mittel überweist. Rund 18 Millionen Euro investiert die Stadt derzeit im Jahr, um die ungleichen Startchancen abzufedern. Wie die Mittel eingesetzt werden, bleibt den Schulen überlassen. Das können etwa Investitionen in die Schulsozialarbeit sein, in Kunst- oder Musikprojekte oder in Fortbildungen für Lehrkräfte und Eltern. Berlinweit profitiert mehr als jede dritte öffentliche Schule von der Förderung – in Neukölln sind es zwei von drei Einrichtungen. Ausschlaggebendes Kriterium für die Förderung ist der Anteil der Schülerinnen und Schüler, deren Eltern von der Zuzahlung für Lernmittel befreit sind. LmB-Faktor heißt das im Schulsprech. In keinem anderen Berliner Bezirk ist er so hoch wie in Neukölln. +Auch die Grundschule am Fliederbusch erhält Gelder vom Senat. In diesem Jahr aber statt 80.000 Euro nur mehr knapp 30.000 Euro. Der Grund für die Kürzung ärgert Schulleiterin Schäfer noch heute. Um die zusätzlichen Gelder zu erhalten, müssen nämlich die Eltern einmal im Jahr in die Schule kommen und nachweisen, dass sie Anspruch auf staatliche Hilfe haben. Doch das letzte Mal sind viele nicht erschienen – die Schule verfehlte die nötige LmB-Quote von 50 Prozent. Anke Schäfer glaubt, dass das Wegbleiben auch mit Scham zu tun hatte. Für die Betroffenen sei diese Praxis eine unnötige Demütigung. +Dabei sind die Herausforderungen für das Kollegium nicht kleiner geworden. Zumal, wie Schäfer betont, nur fünf ihrer 31 Lehrkräfte voll ausgebildete Pädagogen sind. Zu wenige, umden vielen jungen Quereinsteigernzur Seite stehen zu können. Und zu wenige, um all den anderen Aufgaben einigermaßen gerecht werden zu können. "Wir brauchen eigentlich viel mehr Personal, um die Lehrkräfte entlasten zu können", sagen Ronald Blank und Sabine Folgmann, die am Fliederbusch die Ganztagsbetreuung organisieren. 15 Erzieherinnen und Erzieher stehen dafür bereit, das sei ordentlich. Aber aus Sicht von Blank und Folgmann bräuchten sie dringend auch Schulbegleiter und Therapeutinnen, Sonderpädagogen und zumindest eine Schulpsychologin. Denn viele Kinder hättenErfahrung mit Mobbing, andere mit Gewalt in der Familie. Gleichzeitig nehmen die besonderen Förderbedarfe für Autismus oder Asperger-Syndrom an der Schule zu: "Um wirklich auf alle Kinder eingehen zu können, fehlen uns die Ressourcen", sagt Folgmann. +Auch Adrian de Souza Martins beobachtet, dass viele Lehrkräfte überlastet sind. Mehrere Jahre hat er als sogenannter Respekt Coach eng mit Berliner Schulen zusammengearbeitet, seit fünf Jahren koordiniert er das Projekt beim Internationalen Bund (IB) für den Bezirk Neukölln. Aktuell arbeiten de Souza Martins und sein Team mit vier Schulen zusammen, deren Schülerinnen und Schüler mehrheitlich aus muslimischen Familien kommen. Die Probleme seien dort dieselben wie überall sonst in Deutschland, betont er. Was ihm in der öffentlichen Wahrnehmung jedoch zu kurz kommt: Die meisten Jugendlichen mit Migrationsgeschichteerfahren tagtäglich Rassismus, Ausgrenzung und Ablehnung– auch in den Schulen. Die Lehrkräfte zu sensibilisieren, dass sie Verantwortung für den Abbau von Diskriminierungen tragen, das sei Ziel des Projekts. + +Dieser Text istim fluter Nr. 88 "Neukölln"erschienen +Als Beispiel nennt der Politikwissenschaftler den Umgang mitden Attentaten von Hanau. "Ich habe an einer Schule erlebt, wie eine Schweigeminute für einen ermordeten Lehrer in Frankreich gehalten wurde, nicht aber für den zehnfachen rassistischen Mord, der in Deutschland verübt wurde." Es könne niemanden überraschen, wenn sich Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte dann an dieser Schule nicht voll akzeptiert fühlten. Ähnlich unsensibel gingen Schulen oft auchmit religiösen Feiertagenum. Einerseits müssten an Weihnachten alle Engel basteln, das muslimische Zuckerfest hingegen werde ignoriert. Ein großes Problem seien aus seiner Sicht zudem Diskriminierungen vonseiten des Schulpersonals. "Wir erleben zwar, dass sich sehr viele Lehrkräfte in Neukölln für einen diskriminierungsfreien Raum engagieren und ihre Schülerinnen und Schüler schützen wollen." Damit die Schule ein sicherer Ort werde, müsse das ganze Kollegium mitziehen. Das sei aber nicht immer der Fall. +Die Respekt Coaches erstellen deshalb gemeinsam mit den Schulen Präventionskonzepte für Angehörige marginalisierter Communitys und unterstützen die Jugendlichen in ihren Identitätsprozessen. "Viele von ihnen sind aufgrund ihrer sozialen Herkunft, ihrer Sprache oder der angenommenen Religionszugehörigkeit stigmatisiert", stellt de Souza Martins fest. Aber nur wer sich anerkannt fühle, nehme auch gesellschaftlich teil. +Was die Ablehnung mit jungen Menschen macht, hat Ender Çetin selbst erlebt. Der heute 47-Jährige ist in Neukölln aufgewachsen, seine Familie stammt aus der Türkei. Der Erziehungswissenschaftler und Theologe erinnert sich, wie stark er sich in seiner Jugend ausgegrenzt gefühlt hat. "Meine Freunde und ich sind ja alle in Deutschland geboren, trotzdem haben wir uns als Ausländer gefühlt." Irgendwann hätten sie diese Identität aus Protest nach außen getragen. Bei heutigen Jugendlichen erkennt Çetin einen ähnlichen Reflex, nur mit einem Unterschied: "Jugendliche mit Wurzeln in der Türkei, Bosnien oder arabischen Ländern werden nicht mehr als Ausländer gelesen, sondern als Muslime." Aus Çetins Wahrnehmung nähmen viele junge Menschen in Neukölln deshalb aus Protest eine "pseudoreligiöse" Identität an. Die Jugendlichen seien ja heute nicht religiöser, sie nutzen nur verstärkt religiöse Vokabeln. Zum Beispiel Wallah – eine Schwurformel, die "bei Gott" bedeutet. +Çetin weiß, wovon er spricht. 15 Jahre lang war er Imam der Neuköllner Şehitlik-Moschee. Mittlerweile arbeitet Çetin in der Extremismusprävention, besucht im Jahr weit über 200 Berliner Schulklassen, meist begleitet ihn ein Rabbiner. Dort thematisiert er Vorbehalte: die der muslimischen Community gegenüber Juden, die oft für den Staat Israel geradestehen müssen, und die der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Muslimen. Dass die Schulen sensibler mit der religiösen Vielfalt sein könnten, nimmt Çetin sehr wohl wahr. Er nimmt aber auch die Eltern in die Pflicht. "In vielen Neuköllner Communitys ist die Vaterrolle ein Problem", sagt Çetin und zählt auf: die Tabuisierung der Sexualität, vor allem bei Mädchen. Die Vorstellungen von Familienehre. Die fehlende Unterstützung der Kinder beim Lesen und bei den Hausaufgaben. "All das führt dann zu Ärger in der Schule." Im schlimmsten Fall zu Mobbing, sexuellen Übergriffen oder anderer Gewalt. +Der Einfluss des Elternhauses beschäftigt auch die Berliner Polizei. Vor zwei Jahren hat sie ihre Präventionsarbeit erweitert. Nun gibt es für den südlichen Teil des Ortsteils Neukölln, in der die Jugendgewalt verstärkt auftritt, ein dreiköpfiges Jugendschutzteam. Nach jedem Gewaltvorfall an einer Schule führen die Polizisten Gespräche mit dem oder der tatverdächtigen Jugendlichen und vor allem auch den Eltern. "Normenverdeutlichendes Gespräch" heißt das. Was das Jugendschutzteam beobachtet: Die meisten Kinder und Jugendlichen, die in der Schule mit aggressivem Verhalten auffallen, haben zu Hause selbst Schlimmes erlebt. Auch an der Grundschule am Fliederbusch gibt es Fälle von häuslicher Gewalt. Schulleiterin Schäfer und ihr Kollegium bringen daher alle Beteiligten an einen Tisch: Eltern, Pädagoginnen, Vertreter von Beratungsdiensten und Jugendamt. Zudem werden Eltern zweimal im Jahr zu Bilanzgesprächen eingeladen. Und künftig sollen auch pädagogische Nachmittage im Beisein der Eltern stattfinden. "Wir haben einen Schritt Richtung Familienarbeit gemacht", sagt Schäfer. + diff --git a/fluter/schulessen-in-schieflage.txt b/fluter/schulessen-in-schieflage.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8461651f71a7c075743ec32ce0175807a4ff89ec --- /dev/null +++ b/fluter/schulessen-in-schieflage.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Formal sind die Kommunen als Schulträger dafür verantwortlich, die Verpflegung zu organisieren, doch oft überlassen sie diese Aufgabe den Schulen. Wie sich die Kosten für das Essen zusammensetzen und wer wie viel zahlt, das sei oft "völlig intransparent", urteilt der jüngst emeritierte Ernährungswissenschaftler Volker Peinelt, der jahrzehntelang zur Schulverpflegung hierzulande forschte. Er findet: "Deutschland hat ein Problem mit der Wertschätzung des Essens."Im Vergleich zu anderen Industrienationen wie zum Beispiel Frankreich sei die Bereitschaft, für gutes Essen etwas mehr Geld auszugeben, hierzulande gering, sagt Peinelt. Es sei aber auch Teil des Problems, dass die Schulverpflegung für viele Eltern nur einen geringen Stellenwert habe. Die Schmerzgrenze liege für sie im Schnitt bei 3,50 Euro pro Essen, weiß Peinelt aus seinen Befragungen.Vielerorts unterschreitet der Preis fürs Schulessen diese Grenze sogar deutlich. 2,25 Euro kostet ein Menü an weiterführenden Schulen in Sachsen-Anhalt im Durchschnitt, in Baden-Württemberg sind es 3,42 Euro. Weil die Kommunen nur teilweise Zuschüsse für die Kantinen bereitstellen, beauftragen die meisten Schulen externe Catering-Firmen. Günstige Anbieter setzen fast immer auf die Warmverpflegung, bei der das Essen in Zentralküchen fertig zubereitet und anschließend von Ort zu Ort gefahren wird. +Das Problem: Weil die Caterer so viele Schulen beliefern, müssen die Speisen mancherorts über Stunden hinweg warm gehalten werden. "Die Gefahr, dass Keime wachsen, ist bei der Warmverpflegung hoch", warnt Peinelt. Zudem gingen die meisten Vitamine verloren, und das Essen werde weich, geschmacklos und sehe oft auch übel aus.Eine komplette Eigenbewirtschaftung wie in Münchberg gibt es nur in etwa jeder siebten Kantine der von der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften im Rahmen ihrer Studie befragten Schulen in Deutschland. Damit Kantinenchefin Gabriele Ruckdeschel und ihr Team die Arbeit in der Küche meistern können, stellt der Landkreis Hof immer wieder Auszubildende und Praktikanten ab und unterstützt die Kantine mit Zuschüssen. Trotzdem kostet das teuerste Mittagsmenü in Münchberg 4,50 Euro. Für viele Eltern sei dieser Preis "grenzwertig", sagt Ruckdeschel.Dass sie dennoch bereit sind, das Geld auszugeben, könnte neben der Qualität des Essens auch daran liegen, dass die Mensa spürbar zur Schule dazugehört. Die Kantinenleiterin kennt die Kinder beim Namen, die Tische werden je nach Saison liebevoll dekoriert. Und: Auch Lehrer essen hier zu Mittag. +Dort, wo Schulverpflegung gut funktioniert, stecken meist großzügige Städte, Landkreise oder Bundesländer dahinter. "Es ist toll, wenn das mancherorts so gut gelingt", sagt Forscher Peinelt, "aber man darf nicht glauben, dass man in Deutschland diese Beispiele flächendeckend multiplizieren kann." Dazu fehle nicht nur der politische Wille, die teure Frischküche zu finanzieren, sondern auch ausreichend qualifiziertes Personal.Peinelt plädiert daher für ein sogenanntes temperaturentkoppeltes System: "Cook and Chill". Dabei wird das Essen in Großküchen vorgegart, anschließend heruntergekühlt und in den Kantinen zu Ende gegart. Der Vorteil: "Cook and Chill" ist billiger als die Frischküche, weil weniger Personal benötigt wird. Gleichzeitig enthält das Essen aber mehr Nährstoffe und ist hygienischer als die Warmverpflegung. Und: Im Gegensatz zur ihr sehe das Essen besser aus und schmecke besser, betont Peinelt.In den vergangenen Jahren hat das Bundesministerium für Ernährung einige Versuche gestartet, das Kantinenessen zu verbessern. Für mehr als acht Millionen Euro hat das Ministerium gemeinsam mit den Ländern Vernetzungsstellen gegründet. Sie sollen die DGE-Standards an den Schulen bekannter machen, organisieren Veranstaltungen zu gesundem Essen und bieten beispielsweise in Bayern auch Coachings für Schulkantinen an. +Auf die Frage, wieso das Ministerium die DGE-Standards nicht als verbindliche Richtlinie festsetzt, verweist Ernährungs- und Landwirtschaftsminister Christian Schmidt auf die zuständigen Bundesländer. "Aber ich übernehme im Rahmen meiner Möglichkeiten Verantwortung", sagt Schmidt. Er werde demnächst ein Nationales Qualitätszentrum für gesunde Ernährung in Kita und Schule eröffnen, das die Arbeit der Vernetzungsstellen koordiniert. Zudem sei eine Art TÜV für Caterer in Planung.Fragt man Gabriele Ruckdeschel, was sie sich für die Schulkantinen in Deutschland wünscht, dann gibt sie eine klare Antwort: "Geld." Momentan funktioniere Schulverpflegung in Deutschland nur über engagierte Menschen, "die sich nicht jede Stunde bezahlen lassen". Es ärgert sie, dass Uni-Mensen und Behördenkantinen großzügige staatliche Subventionen erhielten, die Kleinsten der Gesellschaft aber nicht.Damit Schüler mehr über gesundes Essen erfahren, machte sich Minister Schmidt in der Vergangenheit immer wieder für Ernährung als Schulfach stark. Am Gymnasium Münchberg wurde das einst gelebt, als Kinder und Jugendliche in der Küche mithalfen und im Wirtschaftsunterricht Kalkulationen für den Einkauf anfertigten. Dann kam das achtjährige Gymnasium. Seitdem ist auf dem Stundenplan kein Platz mehr für praktische Ernährungslehre. diff --git a/fluter/schulfernsehen-ard-corona-krise.txt b/fluter/schulfernsehen-ard-corona-krise.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7f20ab72174d0ba5a455b0daa88220b430268b10 --- /dev/null +++ b/fluter/schulfernsehen-ard-corona-krise.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +Über die Öffentlich-Rechtlichen wurde zuletzt viel gespottet, manche forderten gar die Abschaffung der Rundfunkgebühr. Jetzt aber das: 17 Millionen schalten bei der "Tagesschau" ein, 18 Millionen bei der Merkel-Ansprache. Angst wirkt Wunder. Treibt die Heiden in die Kirchen und die Netflix-Häretiker zurück in die Arme der Öffentlichen. +Vom "Après-Ski-Mekka" zur "Corona-Hölle": So wurde über das österreichische Ischgl zuletzt in den Medien berichtet. Im "Panoramabild" des BR ist die Welt noch in Ordnung + +Da ist es nur konsequent, dass die ARD das "Schulfernsehen" aus dem Hut zaubert, wenn die Schulen schließen. Um die Eltern zu entlasten, den Unterrichtsausfall abzufedern, den Absturz der Lernplattform Mebis in Bayern zu überbrücken. Jeden Morgen von 9 bis 12 Uhr. +"Waaas? So früh?", hatte Anton gestern noch entsetzt gespielt. Aber weil der andere Bruder, 16-jährig, zu der Sorte Mensch gehört, die die Quarantäne nutzen, um sich selbst Hebräisch und Altgriechisch beizubringen und die gesammelten Werke von Erasmus von Rotterdam zu lesen (und daher keine Option für mich war), erbarmte sich der Kleine, meinBinge-Watching-Buddyzu werden. +9.02 Uhr +Wir zappen nach Österreich, dort haben sie nicht nur alte Sendungen hervorgekramt, sondern gleich ein neues Format erfunden:Die "ORF1 Freistunde". Die Moderatorin Fanny Stampf kommt ins Studio gehüpft, verabschiedet den Kollegen, links-rechts-links wird gefüßelt, Secret-Handshaker Paul Pogba kann einstecken. Dann sehen wir, wie sich Fanny trotz Virus für uns bis ins Studio durchgekämpft hat. Menschenleere Gänge, gespenstisch die Kantine, Hände desinfiziert, dann noch mal gewaschen. Das Gefühl vom Marsch durch die Katakomben vor einem mittelklassigen Wrestling-Fight. Gleich wird unsere Heldin im Leoparden-Einteiler in der Arena stehen und uns das Virus auf Leben und Tod erklären. +9.04 Uhr +Wir geben zurück nach Bayern, wo unter dem Motto "Schule daheim" ganze Vormittage pädagogisch kuratiert werden. Sie nennen es "Grips – Lernen mal anders". Im "Glücksrad"-Style wird darüber entschieden, was wir lernen dürfen. Heute: English! Hooray! Der BR verspricht uns "lässige Lehrer" und "außergewöhnliche Drehorte". Wir bekommen: Michael Meisenzahl, Typ Oberstudienrat mit Karopullunder, Polohemdkragen und randloser Brille. Er ist mit zwei Kids – sie, Jessica, Typ coole Streberin, er, Sadiq, Typ "Hätte ich bloß hingehört, dann hätte ich mich nicht freiwillig gemeldet" – im Zoo. Sie wollen ein Tier adoptieren, indem sie querbeet Adjektive steigern: big, bigger, the biggest. Easy, easier, the easiest. "Boring, more boring, most boring", sagt mein Bruder. +9.20 Uhr +Zurück nach Wien. "Es wird definitiv nicht wie Schulunterricht!", hatte uns Fanny versprochen – und jetzt stehen wir auf irgendeiner Farm in Namibia in einem Tierwaisenhaus, mit einer Frau van der Merve, die aussieht, als hätte sie sich hierbeim letzten "GNTM"-Fotoshootmit den Gepardenbabys abgeseilt. Mit Safari-Jeeps werden weiße Teeniescharen aus "Amerika, Europa und Australien" angekarrt. "Sie wollen Afrika spüren und dabei über sich hinauswachsen!", verkündet die Stimme aus dem Off – nicht ohne Theatralik. Manche haben mit Karabinern Nici-Plüsch-Giraffen an ihren Trekkingrucksäcken befestigt. +Lars aus Hamburg geht mit vier Löwen Gassi ("Zwei Männer, vier Löwen, die sich gemeinsam die Füße vertreten", kommentiert das Off), eine Rentnerin aus München steht am Wegesrand und gibt einem Affen ein Nuckelfläschchen ("Wenn's günstige Flüge gibt, komm ich zweimal im Jahr"), eine blonde Annika schmiegt sich furchtlos an das Löwengatter. "Er hat seine Pfoten rausgelegt, es sind die Sterne aufgegangen … Irgendwann wird man so vertraut, man kennt jeden Winkel seines Gesichts, man redet mit seinen Augen – aber tief drin wird er immer der Jäger bleiben." Wir wollen Annika und der Redaktionmit einem Lehrbuch über deutsche Kolonialgeschichte Luft zufächeln. +Kolonialisiert die Seele: "Die Teenies wollen Afrika spüren und dabei über sich hinauswachsen!", sagt die Stimme aus dem Off + +10.15 Uhr +"Als Nächstes schauten wir BR, wo auch eine Schulsendung lief, die aber – wie ich nicht erwartet hatte –nochlangweiliger war", notiert mein Bruder. +Im Medienschrank hat der Bayerische Rundfunk mittlerweile alte Aufnahmen von Victor Pichlmayr vom Telekolleg im 4:3-Format ins Programm gerollt. Mit Helmut-Kohl-Brille und grünkohlfarbenem Sakko trägt er seinen Sprechpart seit Jahrzehnten so vor, als hätte er ein Physikbuch gefrühstückt. Es geht um Natriumionen und Chloratome. Wir, die Wissen2Go-geschädigte Generation YouTube, würden gerne auf doppelte Geschwindigkeit stellen. "Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Aufnahme nicht aus dem jetzigen Jahrtausend kommt", schreibt Anton. Tatsächlich ist das Telekolleg eine 60er-Jahre-Erfindung des bayerischen Kultusministeriums, damit Erwachsene neben Beruf und Familie staatlich anerkannte Schulabschlüsse erwerben können. +Für mich ist Pichlmayr schon jetzt das Comeback des Jahres, eines, das Hoffnung macht. Alles scheint wieder möglich: Arne Friedrich führt das DFB-Team als Abwehrchef zur Europameisterschaft 2021, Modern Talking geben ihr Bühnencomeback, und Angela Merkel wird Kanzlerkandidatin der CDU. +Im Medienschrank rollt der BR den Klassiker herein: Victor Pichlmayr vom Telekolleg + +10.30 Uhr +90 Minuten Qual. Anton hat die Augen geschlossen. Spontangefühl: Schulfernsehen ist mehr Gewissensbefriedigung für die Großen als Interessenbefriedigung der Kleinen. Letzte Chance: "Planet Schule", das Onlineangebot des WDR. Wir ziehen hintereinander weg: einen Kurzfilm überCybermobbing, eine Doku über Revolution (die Russische, die der Frauenbewegung in Schweden, gescheiterter Hitlerputsch in Deutschland). Dann "Ich und die Anderen – Sie, er oder wer?", eine Doku über Fernis, 18, Nick, 16, und Anna-Lena, 17. Fernis und Nick wurden mit Vulven geboren – sind aber Männer. Bei Anna-Lena ist es genau andersherum. "Transgender sein ist, wie in einem Gummianzug zu stecken, der bis oben hin zu ist. Und an den Reißverschluss kommt man nicht ran", sagt Anna-Lena. +Anton und ich sind das erste Mal an diesem Morgen voll bei der Sache. "Da habe ich mir noch keine Gedanken drüber gemacht", sagt er. "Wie würdest du damit umgehen, wenn dein bester Freund dir sagt, dass er eine Frau ist?", frage ich. "Ich würde ihn auf jeden Fall dabei unterstützen und ihm sagen, dass das kein Problem ist." Ich kriege Gänsehaut – und ein schlechtes Gewissen. Nicht alles Gutgemeinte ist immer gut gemacht. Respekt verdienen die Öffentlich-Rechtlichen (in Deutschland wie in Österreich) mit ihrer schnell aufgesetzten Bildungsoffensive dennoch. +Wie in der echten Schule schweifen meine Gedanken kurz vor Schulschluss weit, weit ab: Ich stelle mir vor, wie Anton und ich eines Tages, post Corona, mit Fernis und Anna-Lena, Sadiq und Jessica, dem Pullundermann und Fanny Stampf, Annika und den BR-Programmdirektoren auf der Berghütte in Ischgl zu "Stayin' Alive" von den Bee Gees die Öffentlich-Rechtlichen abfeiern. Nur Victor Pichlmayr vom Telekolleg wird fehlen. Der ist 2012 im Alter von 85 Jahren gestorben. Sein großes Comeback hat er nicht mehr miterlebt. + +Nicht lustig: Am Ende fanden unsere beiden Fernsehschüler das Corona-Angebot der Öffentlich-Rechtlichen nicht nur langweilig und lustig antiquiert, sondern den Einsatz auch etwas rührend + diff --git a/fluter/schwamm-drueber.txt b/fluter/schwamm-drueber.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0abdfb896e8d45768ece84b5d2abcd8f0697a583 --- /dev/null +++ b/fluter/schwamm-drueber.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Nach der Entdeckung stürzen sich Experten auf den Pilz. Ihr Fachbereich: "Bioremediation", so heißt die Entgiftung des Ökosystems durch organische Stoffe. Sie versuchen, das Enzym mit dem Plastikappetit zu isolieren und gegen andere Kunststoffe zu richten, vielleicht sogar das zuständige Genom zu entschlüsseln, das die Abfallprodukte des Organismus zurück in Erdöl verwandelt. Medien berichten von der Rettung des im Plastikmüll versinkenden Planeten. Etwas voreilig. +Seit drei Jahren forschen die Experten an dem Pilz. Im Labor füttern sie ihre gezüchteten Präparate mit Bauschaum und Dämmmaterial. Kunststoffproduzenten schicken ihre Materialien nach Yale – als Futterspende sozusagen. Andere Remediatoren schalten sich ein. Pilze und Plastik, das scheint ganz gut zu passen. Der eine Pilz löst Kunststoffe auf, der andere ersetzt sie. Zwei Biologen stellen Materialien auf Pilzbasis her. Mit denselben Eigenschaften wie Styropor. Nur eben ohne Unmengen Öl und Trinkwasser dafür zu verwenden. +Doch die Revolution lässt auf sich warten. Denn anstatt die Welt zu retten, verpulvern die Biologen ihr Forschungsbudget bei juristischen Scharmützeln. So beansprucht nicht nur die Universität Yale den Pilz für sich, sondern auch der Staat Ecuador. Monatelang wird geklagt, gestritten und um Lizenzen gefeilscht. Dabei ist noch gar nicht geklärt, ob Pestalotiopsis microspora die Probleme der Plastikära überhaupt lösen kann. Der Schwamm zersetzt immer noch keine stabileren Kunststoffe, die besonders schädlich für die Umwelt sind. +Ihre grundlegenden Experimente dürfen die US-Biologen inzwischen fortführen. Doch den Pilz selbst besitzt nun Ecuador, das mit seiner eigenen Forschung zur Zersetzung von Plastik begonnen hat. Die Arbeit hat von vorn angefangen. Der Pilz, der Plastik frisst, muss noch auf seinen großen Auftritt warten. +Philipp Brandstädter arbeitet als freier Autor in Leipzig und Berlin. Zur Vermeidung von Plastiktüten geht er immer artig mit seinem alten 4-You-Rucksack aus der Grundschule einkaufen und erntet dabei zuverlässig Lacher. diff --git a/fluter/schwammstadt-kopenhagen.txt b/fluter/schwammstadt-kopenhagen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e5c939ea3c657dd3db04644bf90714662c0fc340 --- /dev/null +++ b/fluter/schwammstadt-kopenhagen.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Das war nicht immer so. Einmal, am 2. Juli 2011, verdunkelte sich das Idyll. Damals fiel innerhalb von knapp zwei Stunden auf jeden Quadratmeter so viel Regen, dass man damit eine Badewanne füllen könnte, 150 Liter. Die Kopenhagener beobachteten an den Fenstern ihrer Wohnungen, wie die Brühe aus den Deckeln der Abwasserkanäle in die Höhe quoll, in die Keller rann und sie bis unter die Decke füllte. Danach füllten die Kopenhagener ganze Bauschuttcontainer mit Büchern, Videokassetten, Kleidung, Kinderrädern und Lampen. Überall in der Stadt sah man aufgeweichten Schrott. Der Schaden des Wolkenbruchs belief sich laut Schätzungen auf bis zu 1,2 Milliarden Euro. + + +Was damals passierte, ist kein dänischer Einzelfall.Wissenschaftliche Prognosen zeigen, dass Starkregen mit der voranschreitenden Erderhitzung häufiger werden. Viele Länder entwickeln Pläne, um die Folgen von Extremwetter abzumildern. Kopenhagen setzt auf einen besonderen: Schwammstädte. +Jan Rasmussen, Anfang 60, kommt in einem modischen kurzen Mantel über den Tåsinge-Platz geschlendert, in der Linken eine abgewetzte Aktentasche, ein unauffälliger Mann. Dabei hat er Kopenhagen verändert wie kaum ein anderer. +Anfang der Neunziger trat Rasmussen in die Dienste der Stadt. Als junger Umweltingenieur leitete er die Planung neuer Kavernen, unterirdischer Überlaufbauwerke. Mit dem alten System waren die Kläranlagen überfordert: Die Niederschläge flossen zusammen mit den Abwässern der Stadt direkt in den Hafen. Durch den Bau neuer Reservoirs unter Kopenhagen wurde diese Umweltverschmutzung ab der Jahrtausendwende weitgehend verhindert. 2002 konnte sogar das erste Hafenschwimmbad eröffnet werden, vor drei Jahrenrief CNN Kopenhagen noch vor Zürich zur weltweiten "Top-Stadt zum Schwimmen" aus. +Aber all die unterirdischen Reservoirs reichen nicht, um die Stadt vor extremen Hochwassern zu bewahren. Das hat die Überschwemmung 2011 gezeigt. Deshalb treibt die Abteilung für Klimaanpassung mit 55 Angestellten die Sicherheit und die Lebensqualität in der Stadt weiter voran: 300 Projekte, davon sehr viele an der Oberfläche, sollen Kopenhagen künftig schützen. "Skybrudsplan" nennen sie das Programm, das Jan Rasmussen gleich nach den Überschwemmungen 2011 als Verantwortlicher startete, zu Deutsch: "Wolkenbruchplan". +Kopenhagen verfolgt damit ein Konzept, das im Englischen einen poetischeren Namen erhielt: "Sponge City": Die "Schwammstadt" ist die Idee, dass Metropolen das Wasser bei viel Regen nicht mehr in die Kanalisation und dann ungenutzt und verschmutzt in Flüsse, Seen oder das Meer ableiten. Sondern das Wasser unterirdisch in Becken und oberirdisch in grünen Oasen zurückhalten. Grünflächen werden so umgestaltet, dass sie große Niederschlagsmengen aufnehmen können. Versiegelungen werden aufgebrochen, damit Wasser versickern kann. Bei Neubauten wird darauf geachtet, Dächer zu begrünen, um auch dort Niederschläge zu speichern. Die Stadt soll saugfähig sein wie ein Schwamm. +Das Zwei-Millionen-Euro-Pilotprojekt von Mai bis Dezember 2014 war der Tåsinge Plads. Der Startschuss des Wolkenbruch-Plans. "Hier war früher alles versiegelt", sagt Jan Rasmussen. "Nur Parkplätze. Kein Grün, nicht ein einziger Baum." Jetzt ist der Platz eine grüne Insel mit einer Senke in der Mitte. Darin stehen Vogelbeerbäume und Felsenbirnensträucher, Schwarzerlen und Silberweiden zwischen hohem Gras. Das neu angelegte Biotop soll wie eine Art Duschwanne funktionieren: Bei einem Wolkenbruch läuft sämtliches Regenwasser aus den umgebenden Straßen auf den Platz zu. Teils wird das Regenwasser in einem unterirdischen Bassin unter dem Platz aufgefangen, teils in der oberirdischen Senke zwischen Gräsern und Bäumen, wo es langsam versickern kann. Das Wasser im unterirdischen Bassin nutzen die städtischen Arbeiter an heißen Tagen, um die Grünanlagen rund um den Platz zu gießen. +Die Duschwanne besitzt auch einen Abfluss: Neu angelegte Rinnen führen zu einem Tunnel, der das Regenwasser Richtung Hafen führt. Diese Kombination führt dazu, dass die Häuser vor Überschwemmungen sicher sind. +Der Tåsinge Plads ist ein Teil in einem großen Puzzle. Die Planer aus Rasmussens Team teilten Kopenhagen in 60 Gebiete auf. Für jedes untersuchten sie, wo das Regenwasser natürlicherweise hinläuft, was herkömmliche Kanäle und oberirdische Rückhaltelösungen kosten und wie man beides optimal kombinieren kann. "Wir dürfen nur das realisieren, was am günstigsten ist", sagt Rasmussen. +Er bringt ein Beispiel aus dem Viertel Vesterbro. "Wir hatten dort eine Alternative zu gigantisch teuren Rohrleitungen: der Enghavepark." Als tiefstes Gebiet im Viertel gestalteten sie den Park zu einem natürlichen Rückhaltebecken um. Der tiefer gelegte Hockeyplatz dient als Bassin und der Park wurde mit einer hüfthohen Mauer umzogen, gebaut aus einem hellen, feinen Beton. Die Besucher nehmen sie als Stilelement wahr. Heute kann der Park bei Wolkenbrüchen fast 23 Millionen Liter Wasser zurückhalten. Damit könnte man neun olympische Schwimmbecken füllen. + + +Allein 2022 kamen 30 Delegationen, vor allem aus anderen skandinavischen Städten, um von Kopenhagen zu lernen. Bei den südlichen Nachbarn scheint das Interesse weniger groß. Lediglich eine deutsche Besuchergruppe interessierte sich für die Lösungen, eine Abordnung aus Krefeld. +Hierzulande würden "blau-grüne Infrastrukturen bisher viel zu wenig, zu unstrategisch beziehungsweise unsystematisch genutzt", sagt Stefan Geyler von der Professur für Wassermanagement und Klimaanpassung an der Universität Leipzig. "Blau" meint Teiche und andere Wasserspeichermöglichkeiten, "grün" sind die bepflanzten Rückhaltemöglichkeiten für Regenwasser. +Immerhin, Pilotprojekte gibt es: In Hannover wird gerade an quartierbezogenen Schwammstadt-Ansätzen geforscht, inLeipzig wird das Quartier um den ehemaligen Eutritzscher Freiladebahnhof neu entwickelt.Dabei wird auch ein umfassendes Regenwasserbewirtschaftungskonzept umgesetzt. Die Erfahrungen sollen in andere Projekte einfließen. +"Am meisten überrascht die Besucher, dass sich unser Plan tatsächlich realisieren lässt", sagt Rasmussen in Kopenhagen. In Dänemark gebe es eine lange Tradition, ganzheitlich zu denken, über Behörden und Organisationen hinweg partnerschaftlich zu arbeiten. Die Kommune treibt den Wolkenbruchplan voran, aber ohne das enge Zusammenspiel mit dem Versorgungsunternehmen für Trink- und Abwasser wäre das Programm nicht zu realisieren. Das Unternehmen und damit die Bürger bezahlen den Großteil der Projekte. Die erwarteten Kosten von rund 1,3 Milliarden Euro bis 2035 werden über die Wassergebühren eingezogen. Die Stadt wendet für die Gestaltung und Begrünung der oberflächlichen Schwammstadt-Elemente aus Steuermitteln lediglich 150 Millionen Euro auf. Jan Rasmussen glaubt, es gebe keinen Grund, das Rad immer wieder neu zu erfinden: Der eigentliche Schlüssel sei der Wille zur Kooperation. diff --git a/fluter/schwangerschaft-regierungschefin-ardern-karriere-ist-nicht-vorbei.txt b/fluter/schwangerschaft-regierungschefin-ardern-karriere-ist-nicht-vorbei.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1413a276a60f74feb6f6e24d8b97adf66cc9070e --- /dev/null +++ b/fluter/schwangerschaft-regierungschefin-ardern-karriere-ist-nicht-vorbei.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Ardern, mit 37 Jahren international die jüngste Regierungschefin, wurde auch als Idol hochgejubelt. Danach gefragt, wie sie es geschafft habe, eine Regierung zu bilden, während sie mit Morgenübelkeit kämpfte, antwortete Ardern: "Ich bin nur schwanger, nicht unfähig." Und: "Ich bin nicht die erste Frau, die arbeitet und ein Baby hat." +Das Beispiel Jacinda Ardern und die überwiegend positiven, aber auch kritischen Reaktionen auf ihre Schwangerschaft zeigen einerseits, dass die gesellschaftlichen Diskussionen um Gleichberechtigung weit gekommen sind. Aber sie zeigen andererseits auch, dass gerade Frauen in Spitzenpositionen immer wieder zu beweisen scheinen müssen, dass sie es können, obwohl sie Frau sind. Auch weil im Jahr 2018 die Verantwortung für die Kinder von vielen noch oft bei den Müttern gesehen wird. Bei Männern im Allgemeinen und männlichen Regierungschefs im Besonderen scheint die Kompetenz hingegen nicht so oft infrage gestellt zu werden: Bei Tony Blair spekulierte 2000 niemand, ob die Geburt seines vierten Kindes sich negativ auf seinen Job auswirken könne, und auch Justin Trudeau musste keine Fragen beantworten, ob sein 2014 geborener Sohn ein Hindernis im Wahlkampf darstellen würde. +Dass es bei ihr als Frau darum gehen würde zu beweisen, dass sie ihren Pflichten auch mit Kind nachkommen kann, hat Jacinda Ardern vorhergesehen – schließlich wurde sie im Wahlkampf öffentlich nach ihren Babyplänen gefragt. Ihre Lösung: Bevor sie ihre Schwangerschaft offiziell machte, legte sie sich einen genauen Plan zurecht. Sie wollte,so Ardern, dass die Menschen wissen, "dass ich diesen Job sehr ernst nehme". +Der Plan sah so aus: Ardern arbeitete bis kurz vor der Geburt, übergab die Staatsgeschäfte dann an den stellvertretenden Premierminister Winston Peters und verabschiedete sich für sechs Wochen in den Mutterschaftsurlaub. Sie blieb weiterhin erreichbar und in Kontakt mit Peters sowie dem Kabinett – sie sei schließlich nicht "tot", stellte Ardern klar. Nach ihrer Rückkehr an den Kabinettstisch wird ihr Partner Clarke Gayford Elternzeit nehmen. Während die einen die Rollenaufteilung zwischen Ardern und Gayford inspirierend und modern finden, bemängeln andere, die Politikerin solle doch mehr Zeit mit ihrem Kind verbringen. +Und Ardern? Die zieht ihr Ding durch. Vor kurzem begrüßte sie per Videobotschaft vom heimischen Sofa aus die Einführung familienpolitischer Reformen durch ihre Regierung. Baby Neve hielt sie dabei im Arm. + diff --git a/fluter/schwarze-kinderbibliothek-bremen-video.txt b/fluter/schwarze-kinderbibliothek-bremen-video.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/schwarzer-flinta-outdoorsport-verein.txt b/fluter/schwarzer-flinta-outdoorsport-verein.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..49d9ce67b6b908438d397c66ee93f65a68ab7a07 --- /dev/null +++ b/fluter/schwarzer-flinta-outdoorsport-verein.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Nach dem Yoga wartet bereits ein Reisebus auf uns. Nächster Stopp: Hochseilgarten. Im Bus sitzen die Coolen bekanntlich hinten. Bei den Black Canarys bedeutet das, die vordersten Sitze bleiben frei. Im Hintergrundläuft Beyonces Song "Brown Skin Girl", und spätestens bei den Textzeilen: "Brown skin girl / ya skin just like pearls / Your back against the world / I never trade you for anybody else" singen alle laut mit. Neben mir sitzt Myriam, die eine pharmazeutische Ausbildung macht und mir erzählt, dass sie letztens eine Aknepaste in ihrem Hautton entwickelt hat. Teil der Ausbildung sei das aber nicht. + +Myriam und ich verstehen uns so gut, dass wir im Hochseilgarten zu einem Team werden und uns für den grünen Pfad entscheiden, auf dem "FUN" steht. Vor uns klettert die Teilnehmerin Pearl auf die Plattform. Als auch wir beide oben ankommen, sieht es nicht mehr nach Fun aus, sondern nur noch nach Höhenangst. Wir ziehen es trotzdem durch. Habe ich zu viel Bammel davor, mich in den Abgrund zu stürzen, jubeln mir Pearl und Myriam zu. Wackelt der Holzpfahl zur nächsten Plattform, reiche ich den beiden die Hand. Nach dem Parcours verrät mir Myriam: "Ohne dich hätte ich mich nicht getraut." Morgens kannte ich niemanden, am Nachmittag habe ich neue Freundinnen. +Mir fällt auf, dass außer den Clubangehörigen die meisten Menschen im Hochseilgarten weiß sind. "Die Outdoorszene ist auch so exklusiv, weil sie verdammt teuer ist", sagt Tsellot, die selbst mitHartz IVgroß geworden ist. 27 Euro kostet der reguläre Eintritt zum Hochseilgarten. Normalerweise bezahlt Tsellot einen Teil der Ausgaben. Sie wolle nicht, dass Geld ein Ausschlussfaktor sei. Doch heute findet eine Zusammenarbeit mit einer Turnschuhmarke statt. Diese finanziert den Tag und nutzt im Gegenzug Fotos des Events für ihr Marketing. +Die Markenkooperationen sieht Tsellot als gelegentliche finanzielle Unterstützung. Anfragen auf ausschließliche Zusammenarbeit mit einer bestimmten Marke hat sie bislang aber abgelehnt, da sie die Gruppe nicht verkaufen will. "Man bezahlt ja trotzdem einen Preis, und ich will nicht, dass Schwarze Leute dann nur Werbung sind", sagt Tsellot. Einige Teilnehmer*innen haben heute Sneakers für die Fotos geschenkt bekommen. +Auch Pizzas, Pommes, Rhabarberschorlen und Kuchen im anliegenden Café müssen somit nicht selbst bezahlt werden. Während ein paar dabei sind, sich zu stärken, erzählt eine Teilnehmer*in von ihrem Verehrer. "Er wäre perfekt, wenn er nicht weiß wäre", sagt sie. Alle nicken verständnisvoll, keiner fragt "Warum?". Mich beeindruckt das, weil ich aus meinen mehrheitlich weißen Freundeskreisen gewohnt bin, mich für Aussagen dieser Art erklären zu müssen. Bedeutet: Als weiße Personmacht man andere Erfahrungen im Lebenals eine Schwarze Person. Diese unterschiedlichen Perspektiven zeigen sich in Liebesbeziehungen oder auch im Freundeskreis. Geradewenn es um Diskriminierung geht, ist es erleichternd, sich nicht auch noch rechtfertigen zu müssen, sondern verstanden zu werden. +Bei Black Canary geht es neben dem Sport um den Community-Aspekt. "Wenn man keinen Schwarzen Freundeskreis hat, kann es ziemlich einsam sein", teilt Tsellot mit. Denn weiße Menschen nehmen ihrer Erfahrung nach oft nicht wahr, wenn Schwarze Personen Diskriminierung erleben. "Deswegen ist es wichtig, dass wir zusammenkommen und unsere Erfahrungen im Alltag anerkennen", appelliert Tsellot. + + +Das hat die Gruppe auch bei ihrem Ausflug zur Ostsee gemerkt. "Im Vorfeld hatte ich bereits ein bisschen Panik und bin deswegen eine Woche davor alleine hochgefahren und habe alles ausgecheckt", erinnert sich Tsellot. Der Anblick der vielen Menschenmit Swastikatattooshabe sie beunruhigt, sodass sie eine Risikowarnung zur Ausflugsinfo in die WhatsApp-Gruppe des Clubs schrieb. Circa neun Personen hätten sich dennoch getraut. Auf dem Heimweg wurden ihre Sorgen bestätigt. Während andere Fahrgäste im Bus hinten einsteigen durften, rief der Busfahrer den Club nach vorne, um ihre Fahrkarten zu kontrollieren. "Wenn ich allein gewesen wäre, hätte ich geheult", hätten einige später gesagt. Zusammen sei es ein bisschen leichter gewesen. +Dennoch steht nicht das gemeinsame Leid im Fokus, sondern der gemeinsame Spaß. Ein Ort, an dem man sich durch das Zusammensein unterstützt und neue Räume öffnet. In der Black-Canary-WhatsApp-Gruppe geht es schon lange nicht mehr nur um Sport. Dort werden Jobs, WG-Zimmer, Friseur*innen und Tipps zu dunklem Make-up geteilt. +Zwei Wochen später geht es für mich zum Bouldern. Wenn ich ehrlich bin, muss ich mich dafür morgens ziemlich aus dem Bett quälen. Ich verbinde es mit weißen, drahtigen Männern – ich bin nichts davon. Ich habe Kurven, und die Vorstellung, in einem mehrheitlich weißen Raum auf drei Meter Höhe meinen Po zu präsentieren und dabei wahrscheinlich noch kommentiert zu werden, schreckt mich ab. "Anders fühlen und dann etwas noch nicht zu können ist ein doppelter Austritt aus der Komfortzone", sagt Pearl, als ich ihr vor der Halle von meinen Bedenken erzähle. Mir scheint das plausibel. Bin ich mit Black Canary unterwegs, sehen alle wie ich aus und haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Ich gewinne ein bisschen Komfortzone zurück, und es fällt mir leichter, Neues zu wagen, weil ich mich sicherer fühle. +Ich freue mich riesig, als ich Myriam entdecke. In der Halle wärmen wir uns zunächst auf und stellen uns gegenseitig vor. Ich bin erleichtert, dass die Mehrheit auch noch nie bouldern war. Myriam und ich starten mit der Beginner-Wand. Von der orangen – easy – zur gelben – tricky. Nur der blaue Pfad ist mein Endgegner. Vier Mal wage ich einen Anlauf, nach oben schaffe ich es nie. Bei meinem letzten Versuch falle ich wie ein Sack Kartoffeln auf die Matte. Ein bisschen peinlich ist es mir, doch ich lache mit den anderen mit. Schließlich sind wir hier zum Spaß. Und tatsächlich habe ich nicht nur den, sondern richtig Ehrgeiz entwickelt. "Die blaue Wand und ich sind noch nicht fertig miteinander", rufe ich beim Verlassen der Halle. +Während ich den Text schreibe, packt mich der Ehrgeiz erneut. Allein traue ich mich immer noch nicht zum Bouldern. Also schreibe ich Myriam: "Lust, nächste Woche wieder bouldern zu gehen?" Abends vibriert mein Handy. Die blaue Wand, Myriam und ich haben eine Verabredung. + +Fotos: Meklit Fekadu Tsige diff --git a/fluter/schwarzer-tag.txt b/fluter/schwarzer-tag.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1bee167984ea55715088cccbfdcdc47c14af4e17 --- /dev/null +++ b/fluter/schwarzer-tag.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Anca ist 14 Jahre alt. Sie ist zum ersten Mal in Berlin, ihre Eltern waren schon öfters hier. "Ich vermisse meine Geschwister in Rumänien sehr", sagt sie. Als der Himmel ein wenig aufklart, wechselt das zierliche Mädchen auf eine andere Straße der Kreuzung. Die Grünphase dauert hier 20 Sekunden, die Rotphase eine Minute. Genug Zeit, zwei Windschutzscheiben zu putzen. Als sie auf einen Lkw zugeht und sich kurz umblickt, erschrickt Anca, rennt schnell durch die Autoreihen und wirft ihr Geld in einen Busch. Drei Männer laufen auf sie zu und umringen sie, drei Frauen kommen noch dazu. Eine von ihnen nimmt Anca die Spülmittelflasche aus der Hand und gießt sie aus, einer der Männer nimmt den Wischer an sich und durchsucht ihre Tasche. Er trägt eine Sonnenbrille, Baseballcap und schwarze Handschuhe mit extra Polsterung am Handrücken, wie sie sonst Türsteher tragen. Polizisten in Zivil. "Das Putzen der Scheiben ist eine Ordnungswidrigkeit", erklärt einer der Beamten, während er die Münzen aus dem Gebüsch fischt. "Viele Autofahrer sind davon genervt." Das Geld und der Wischer werden von den Polizisten mitgenommen, Anca muss den Platz vorübergehend verlassen. "Was heißt Platzverweis auf Rumänisch?", fragt der Polizist mit der Sonnenbrille. Die Aktion sei keine Besonderheit, meint er. "Manchmal putzen hier an der Kreuzung zehn Leute, die verstoßen damit aber gegen verschiedene Gesetze." +Nach fünf Minuten ist Anca wieder zurück. Sie wirkt erleichtert, als sie im Gebüsch noch drei Euro und fünfzig Cent findet. Inzwischen sind einige Bekannte von Anca am Kottbusser Tor angekommen und diskutieren über den Polizeieinsatz. "Die stecken das Geld doch in die eigene Tasche", sagt einer. Zumindest kann erst mal nicht weitergearbeitet werden, die Zivilpolizisten patroullieren in den nächsten Stunden rund um die anliegenden Häuserblocks. Anca holt sich aus ihrer Wohnung am Hermannplatz in Neukölln einen Ersatzwischer. "Es ist ein Spiel", erklärt sie. "Mal wird man geschnappt, mal nicht." Als am späten Nachmittag die Rush-Hour beginnt und sich BMWs, Fords und Polos auf den Straßen vor den Dönerläden stauen, ist Anca wieder da – und hat Unterstützung mitgebracht. Vier Freundinnen widmen sich, allesamt mit Wischern und Spülmittel ausgerüstet, den endlosen Autoschlangen. +Würden sie nicht lieber eine legale Arbeit annehmen, vielleicht in einer Tankstelle? Ja, meinen die Mädchen, aber Hauptsache, sie können arbeiten und Geld verdienen, das sie zum Überleben brauchen. An eine Arbeitserlaubnis komme man schließlich nicht so einfach, schließlich brauche man dafür einen festen Wohnsitz. Wie am Fließband arbeitet die Truppe die Autoreihen ab. Die Mädchen singen während der Grünphasen und feixen mit den Fahrern großer Limousinen. Angst hätten sie bei ihrer Arbeit nicht, sagen sie. Aber ein dickes Fell ist nötig, wenn sie angehupt und beschimpft werden. Viele Fahrer im Feierabendverkehr sind gestresst, die Stimmung ist angespannt, unverzagt werden trotzdem Spülwasserherzen auf Windschutzscheiben gesprüht. +Unser Autor Arne, 22, hat auch schon ganz schön viele Jobs gemacht. Nach seinem Abitur war er im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahres Betreuer in einem Roma- und Sinticamp in Rumänien, anschließend hat er bei Amnesty International und "Reporter ohne Grenzen" mitgemacht. Nun will er Politik studieren. diff --git a/fluter/schwarzseher.txt b/fluter/schwarzseher.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b46127b32a246f5acf0acca4470215e87d006297 --- /dev/null +++ b/fluter/schwarzseher.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Um die Angst zu instrumentalisieren, muss sie sich aber auch noch mit einem Gefühl der Ohnmacht verbinden. Schon in den Sechzigerjahren haben die Soziologen Leo Löwenthal und Norbert Gutermann Propagandamaterial untersucht und gefolgert, dass Menschen, die ihre Gruppe bedroht sehen, empfänglich für eine einfache Botschaft werden: Wir zeigen euch einen Ausweg."Angst ist eine ganz wesentliche Grund-Emotion, von denen es nicht so viele gibt und auf die wir gut ansprechen. Für jeden von uns macht außerdem Zugehörigkeit einen wesentlichen Bestandteil unserer sozialen Identität aus, und die ist genauso wichtig wie Wasser und Brot", erklärt Andreas Zick, Sozialpsychologie-Professor an der Uni Bielefeld und Leiter des Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung. "Es geht bei Kampagnen nicht darum, dass wir individuell Angst vor Überfremdung oder wirtschaftlichen Krisen empfinden, sondern sie wirken, wenn die Angst meine Gruppe betrifft." "Uns geht es an den Kragen" ist also viel dramatischer, als zu denken: "Mir geht es an den Kragen." Das ist zwar auch schlimm, aber die meisten Menschen glauben daran, immer noch einen Ausweg für sich selbst finden zu können. +Unsichere Zeiten, in denen Parteien und andere solche Kampagnen erdenken, sind normal, meint Frank Decker, Politikprofessor an der Uni Bonn und Experte in Sachen Par­teienpopulismus. "Früher hat es ein natürliches Aufstiegsversprechen gegeben, die Kinder hatten einen besseren Beruf als ihre Eltern. Heute haben wir eine Verunsicherung bis weit in die mittleren Schichten; Menschen erleiden einen Abstieg oder fürchten sich davor", sagt er und meint damit vor allem solche umfassenden Entwicklungen wie die Wirtschaftskrise und die Globalisierung. "Es reicht schon,  auf diese Unsicherheit hinzuweisen und sie mit Sicher­heits­ver­sprechen zu verknüpfen, um eine Angst erfolgreich für Kam­pagnen zu nutzen."Phasen, in denen sich Gruppen bedroht fühlten und auf Angst ansprachen, gab es immer wieder. Nach der Hyperinflation im Jahr 1923, als sich das Geld so schnell entwertete, dass man es lieber im Ofen verheizte, statt es zu sparen, und die Demokratie auch noch nicht so richtig gut funktionierte. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren warnte die SPD vor Verarmung, die CDU vor der Sowjetunion. Die Ölkrisen in den Siebzigern, Umweltkrisen in den Achtzigern, der Kalte Krieg, andere Kriege, Gesellschaftswandel oder natürlich die letzte Weltwirtschaftskrise – alles Stoff für furchterregende Appelle der Parteien. Auf Angst setzten die Grünen in den Achtzigerjahren, als es um Waldsterben und Atomkraft ging, etwa mit dem Foto eines toten Sees und dem Spruch "Jeden Tag stirbt ein Stück Natur! Die Industrie macht Kasse". Oder ein schwarz-weißes Foto mit einer Kriegsszene, von der Linken unterlegt mit "Nie wieder Krieg!". Rechtsextreme TV-Spots wie das Filmchen der Republikaner im Wahlkampf um das Berliner Abgeordne­ten­haus 1989 treiben das Konzept auf die Spitze: Die Kamera fährt durch eine Wohnsiedlung, vorbei an tristen Häusern und türkischstämmigen Kindern. Im Hintergrund des Spots läuft "Spiel mir das Lied vom Tod". +Sabrina Gaisbauer volontiert bei der bpb und ihr wird manchmal auch etwas bange, wenn sie an bestimmten Wahlplakaten vorbeiläuft. diff --git a/fluter/schweden-bandengewalt-jugendheim.txt b/fluter/schweden-bandengewalt-jugendheim.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..205ad2a10dff1ef5f5e0180173d0cd3541386fb1 --- /dev/null +++ b/fluter/schweden-bandengewalt-jugendheim.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Die staatliche Behörde Statens institutionsstyrelse (SiS) betreibt in Schweden 21 Jugendheime. Diese haben insgesamt rund 700 Plätze für Menschen zwischen 12 und 21 Jahren. Ziel ist es, die Jugendlichen zu therapieren – etwa mit Suchtbehandlung, Aggressionstraining und kognitiver Verhaltenstherapie. Dabei wird zwischen zwei Heimkategorien unterschieden: +1. Begeht ein Jugendlicher zwischen 15 und 17 Jahren eine schwere Straftat, für die ein Volljähriger ins Gefängnis müsste (wie Raub, schwere Körperverletzung, Mord oder Totschlag), verurteilt ihn das schwedische Gericht in der Regel zum Zwangsaufenthalt in einem geschlossenen Jugendheim. Die Höchststrafe beträgt vier Jahre. Kinder unter 15 Jahren sind noch nicht strafmündig. Das entsprechende Gesetz wurde 1999 eingeführt mit dem Ziel, Jugendliche von dem Gefängnismilieu fernzuhalten. Im Heim sollen sie es leichter aus der Kriminalität herausschaffen, so die Theorie. Damit wollte die damalige Regierung auch der UN-Kinderrechtskonvention folgen, die besagt, dass es für Minderjährige eine Alternative zum Gefängnis geben sollte. Momentan verbüßen rund 160 Jugendliche in Schweden ihre Strafe im geschlossenen Heim. Die Behörde SiS spricht von einem "dramatischen Anstieg". Noch Anfang 2023 habe man nur rund 50 Jugendliche auf diese Weise unterbringen müssen. +2. Die meisten Heime, wie Klarälvsgården, betreuen hingegen Jugendliche und junge Erwachsene, die nicht wegen einer konkreten Straftat verurteilt wurden. Sozialdienste werden auf Jugendliche aufmerksam, die ein sozial destruktives Verhalten an den Tag legen und in schwere Kriminalität verwickelt sind. Wenn verschiedene Maßnahmen wie eine Betreuung zu Hause oder in einer anderen Familie keine Wirkung erzielen, entscheidet das Verwaltungsgericht: Der oder die Jugendliche muss in ein Jugendheim. "Wir sind sozusagen der letzte Ausweg" – so fasst es SiS-Heimleiter Jonathan Eliasson zusammen. Auch Jugendliche, deren Gerichtsprozess noch läuft, werden hier untergebracht, bis das Gericht sie etwa zum Aufenthalt im geschlossenen Jugendheim verurteilt. +330 Kilometer westlich von Stockholm beherbergt das staatliche Heim einige der schwersten jungen Bandenkriminellen – verwickelt in Raub, schwere Körperverletzung oder Mord. Abgeschieden stehen vier Gebäude um einen kargen Platz. 22 junge Männer wohnen in den Häusern – aufgeteilt in Gruppen, die sich unter keinen Umständen begegnen dürfen. Um Gewaltausbrüche zu verhindern, sollen Mitglieder rivalisierender Drogengangs eigentlich nicht im selben Heim unterkommen. Kameras überwachen jeden Quadratzentimeter. Vor den Fenstern: Stacheldrahtrollen. Die nächste Bushaltestelle ist eine halbe Stunde zu Fuß entfernt. +Seit einigen Jahren eskaliert in Schweden die Bandengewalt. Vor allem zwei verfeindete Gangs, Foxtrot und Dalen, bekämpfen sich bis auf den Tod, besonders in den Vororten der Städte. Vor rund zwei Jahren begannen die Banden, um die Vorherrschaft im Drogenmarkt in der Stadt Sundsvall zu kämpfen. Nach mehreren Mordversuchen entstand eine Rachespirale. Sprengstoffanschläge und Schusswaffenvorfälle kommen nun fast täglich in Schweden vor. Allein im Jahr 2023 wurden 53 Menschen erschossen – im Schnitt jede Woche einer. 2022 war mit 62 Todesopfern ein neuer Höhepunkt erreicht. +Die Gangs rekrutieren immer mehr Minderjährige. Als Strafe drohen ihnen höchstens vier Jahre im geschlossenen Jugendheim. Die ersten Aufträge sind oft Botengänge – bis es dann bald um mehr geht. Khaled haben sie mit Geld geködert. Vor zehn Jahren ist er mit seiner Familie von Libyen nach Schweden geflüchtet. Dort ging er in einer mittelgroßen Stadt zur Schule. "Man kann so viel verdienen, wie man will", sagt Khaled. Er stockt, Augenkontakt fällt ihm schwer. Gut habe er sich dabei nicht gefühlt. "Man weiß nie, wem man vertrauen kann." +"Junge Menschen wollen eine Identität haben", erklärt Mats Lindström. "Wenn du jemanden für dein Netzwerk erschießt, verschaffst du dir Respekt." "Kindersoldaten" nennt er sie. Lindström arbeitet als Fahndungsleiter bei der Polizei in Rinkeby, einem Vorort im Nordwesten von Stockholm. + +Bilder von beschlagnahmten Waffen in einer Polizeistation im Stockholmer Stadtteil Rinkeby + +Auf der Karte der Polizei ist dieser dunkelrot umrahmt – ein "besonders gefährdetes Gebiet". So bezeichnen die Behörden Stadtviertel, die unter hoher Kriminalität und sozialer Ausgrenzung leiden. Das Straßenbild dominieren Wohnblocks aus den 60er- und 70er-Jahren. Der Migrantenanteil liegt in Rinkeby bei 92 Prozent. Die meisten Einwohner:innen verdienen wenig Geld, fühlen sich abgehängt. Banken und die Post sind schon vor Jahren weggezogen. Sprachliche Integration sei in diesem Umfeld oft schwierig, vielen Jugendlichen fehlt eine positive Lebensperspektive – sie sind eine leichte Beute für die Drogengangs. Vor einigen Jahren eskalierte hier der Streit zwischen zwei anderen Drogennetzwerken: Shottaz und Dödspatrullen – sozusagen der Vorgänger des aktuellen Konflikts. +Im Jugendheim Klarälvsgården, weit weg von großen Städten, sollen junge Männer wie Khaled auf einen Weg fernab von Kriminalität kommen und sich selber finden. Ihr Tag folgt deshalb einem Stundenplan: Schule, Essen, Therapie. Der Heimleiter Jonathan Eliasson tritt ihnen gegenüber autoritär auf, schaut streng. Hier gebe es Regeln. Trotzdem solle im Heim aber vor allem eine Beziehung zu ihnen aufgebaut werden. So sei es auch leichter, an sie ranzukommen und Einfluss auf sie zu nehmen. "Wir fragen: ‚Hast du mit deiner Mutter darüber gesprochen, welches Lied sie auf deiner Beerdigung spielen soll? Und welches Kleid deine Schwester anzieht, wenn sie um dich weint?'" Oft kämen dann Gefühle wie Scham und Wut zum Vorschein. +Seit 1999 werden in Schweden junge Täter:innen ins Jugendheim geschickt statt ins Gefängnis. Die Recherchegruppe Acta Publica hat Gerichtsurteile gegen mehr als 400 junge Menschen dokumentiert. Von den Jugendlichen, die zwischen 2015 und 2018 zu geschlossenem Heim verurteilt wurden, sind danach sieben von zehn erneut straffällig geworden – bei Bandenkriminellen sogar neun von zehn. Aufsichtsbehörden schieben das auf Mängel in den Jugendheimen: Die Sicherheitsvorkehrungen reichen nicht, das Personal sei schlecht ausgebildet. +In Teilen stimme er der Kritik zu, sagt Jonathan Eliasson. An einigen Standorten sei es schwer, gutes Personal zu finden, weil es generell an Sozialarbeiter:innen mangele und die Heime so weit weg von Städten sind, dass sie kein attraktiver Arbeitsplatz seien. Sein Heim betreffe das aber nicht. Trotzdem fordert Eliasson von der Politik neue Räume, mehr Betreuungsplätze und eine stärkere Zusammenarbeit mit Psychiater:innen. +Die Minderheitsregierung aus drei konservativ-liberalen Parteien ist auf die Unterstützungder rechtspopulistischen Schwedendemokratenangewiesen und plant nun, das System umzukrempeln: Sie will das Bandenproblem mithilfe des Militärs lösen und härtere Strafen verhängen. Auch strengere Migrationsregeln wurden bereits verabschiedet. Die für die Jugendheime zuständige Behörde soll aufgelöst und neu organisiert werden. + + +Von alldem hält Mesir Taki vom schwedischen Rat für Kriminalprävention wenig. "Härtere Strafenwerden das Problem nicht lösen", ist er überzeugt. Über die Rückfallquote wundert er sich nicht. Die Jugendlichen seien auf sich allein gestellt, wenn sie aus dem Jugendheim kommen. "Wir müssen ihnen Alternativen zur Kriminalität bieten", meint Taki. Die Stadt Malmö etwa verfolgt seit einigen Jahren ein neuartiges Konzept: Polizei, Sozialdienste und Menschen aus der Zivilgesellschaft arbeiten koordiniert zusammen, suchen das Gespräch mit kriminellen Gruppen, zeigen Verständnis für die Situation der Betroffenen und erklären, dass es Hilfe für sie gibt. Studien zeigen, dass die Strategie wirkt. Mehrere Kommunen haben das Konzept übernommen. +Auch in Stockholm-Rinkeby haben sich die Bewohner:innen gegen die Bandengewalt gewehrt, als ihr Stadtteil vor ein paar Jahren stark betroffen war. "Die Menschen wollten etwas verändern", erklärt Mesir Taki. Innerhalb der vergangenen zehn Jahre gründeten sie Einrichtungen für Teenager, in denen sie nach der Schule Sport oder Musik machen können, Hilfe bei den Hausaufgaben oder bei Bewerbungen für Jobs bekommen. Mütter und Väter aus anderen Vierteln ziehen abends mit Warnwesten durch die Straßen und sprechen mit Jugendlichen, hören ihnen zu. Ida Kriisa ist eine von ihnen. "Ich mache das aus Liebe – auch für meine Kinder", sagt sie, die Lehrerin aus dem wohlhabenden Stadtteil Södermalm. Die Waffengewalt in Rinkeby ist seither zurückgegangen. +Präsenz zeigen, einfach da sein – damit nicht noch mehr junge Menschen dort landen, wo Khaled jetzt sitzt. In einem streng bewachten Raum hinter Fenstern aus Sicherheitsglas. "Das ist kein Platz, an dem man sein möchte", sagt er. Was er getan hat, bereue er. In einer Woche kommt Khaled aus dem Heim, dann darf er in einer eigenen Wohnung leben, zunächst betreut vom Sozialdienst. Eine Arbeit will er finden und Geld verdienen. "Ich habe keine Träume. Ich will nur, dass meine Familie stolz auf mich sein kann." Draußen scheint weiter die Sonne. + +Titelbild: Ilvy Njiokiktjien/NYT/Redux/laif diff --git a/fluter/schwedendemokraten-rechtspopulismus-in-schweden.txt b/fluter/schwedendemokraten-rechtspopulismus-in-schweden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f937427ed97eda4588c2c5ebe59dd6d177bbe9f1 --- /dev/null +++ b/fluter/schwedendemokraten-rechtspopulismus-in-schweden.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Auf einer Wahlkampfveranstaltung der Schwedendemokraten. Emanuel Jacobsson und Hamodi Zaidam (links im Bild) wollen konservativ wählen – die SD sind ihnen aber zu rechts +Die Schwedendemokraten entstammen der gewaltbereiten Naziszene der 1980er-Jahre. Anders als die rechtspopulistischen Parteien in Dänemark und Norwegen haben sie ihre Wurzeln nicht im ultraliberalen Kampf gegen den nordeuropäischen Steuerstaat. Mit dem heutigen Vorsitzenden Jimmie Åkesson hat sich die Partei gewandelt und ist mehrheitsfähiger geworden. Die SD versuchen auf Distanz zur Neonaziorganisation "Nordische Widerstandsbewegung" (Nordiska motståndsrörelsen, NMR) zu gehen. Die Verbindungen bestehen jedoch fort. Immer wieder wird aufgedeckt, dass SD-Mitglieder die NMR unterstützen oder auf deren Webseiten schreiben – ein NMR-Mitglied sitzt sogar für die SD in einem Kommunalparlament. +Landesweit hat sich in den letzten vier Jahren der SD-Stimmenanteil beinahe verdoppelt. Ihnen laufen Wähler von Sozialdemokraten und konservativen Moderaten zu, die einer aktuellen Umfrage zufolge mit den SD ungefähr gleichauf liegen. Laut einer Untersuchung des Stockholmer Instituts für Zukunftsstudien liegt das daran, dass eine diffuse Zukunftsangst herrscht und die Schwedendemokraten Probleme mit der Integration von Einwanderern offener ansprechen. Zugleich bestärkt die Partei den Eindruck, dass in Schweden vieles nicht funktioniert. Aus diesem Grund wenden sich viele Wähler von den traditionellen Parteien ab. Dabei geht es, bezogen auf Wachstum, Einkommen und Arbeitslosigkeit, nicht nur dem Land und den Leuten generell gut, sondern auch den SD-Wählern, so die Studie. +Moschee in Vivalla, einem der sogenannten Problemviertel +In diesem Sommer brannten in Göteborg und Stockholm mehrere Dutzend Autos, angezündet von Jugendlichen. Die Bilder in den Medien schockierten, die Vorfälle dominierten die Schlagzeilen. Ähnliche Bilder gab es auch in den letzten Sommern immer wieder. Anfang 2017 hatte sogar US-Präsident Trump vor "schwedischen Zuständen" gewarnt. Damals bezog er sich auf das Video "Stockholm Syndrom", ein Bericht des Senders Fox News mit vielen Falschinformationen. Darin hieß es, es gebe in Schweden No-go-Areas sowie Horden krimineller Einwanderer, die Städte und Musikfestivals unsicher machen würden. "Es stimmt nicht, dass wir uns in gewisse Gebiete nicht trauen", so der Polizeiinspektor Tomas Aggebrandt aus Malmö.  Vor zehn Jahren habe es mal eine Phase gegeben, wo stets zwei Polizeiwagen an bestimmten Orten aufgetaucht seien, die Rede von aktuellen No-go-Zonen für die Polizei sei aber nicht korrekt. Wem solche Diskussionen Aufwind geben? Den Schwedendemokraten. +Viele Medien und Politiker der etablierten Parteien haben sich lange geweigert zu diskutieren, ob die Integration von Einwanderern in Gesellschaft und Arbeitsmarkt gut genug funktioniert. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl (10 Millionen) hat Schweden in der Hochphase der sogenannten Flüchtlingskrise europaweit die meisten Flüchtlinge aufgenommen. Allein 2015 waren es 162.000. Der konservative Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt hatte 2014 angekündigt, eine große Menge Flüchtlinge willkommen heißen zu wollen. +Diese offene Politik ist seit ein paar Jahren vorbei. Seitdem wird das Thema "Integration" in der schwedischen Politik viel diskutiert. Und die SD sind oft Wortführer: Fluchtgründe werden von ihnen angezweifelt, im Extremfall pauschal abgetan. "Niemand von denen, die hierherkommen, ist vor Krieg geflohen", so der SD-Lokalpolitiker Kurt Olsson im schwedischen Fernsehen. Und er fügt hinzu: "In Syrien gibt es keinen Krieg." +Die SD wollen kaum noch Asylbewerber aufnehmen und fordern einen Austritt aus der EU. Vor allem ihre Vorschläge zur Asylpolitik fallen derzeit auf fruchtbaren Boden. Die SD sind so erfolgreich, dass die Konservativen und Sozialdemokraten sich den Positionen der SD immer mehr annähern. "Die ahmen nur nach, die Schwedendemokraten haben aber sozusagen das Copyright auf das Programm", so Anders Hellström, Politikwissenschaftler an der Uni Malmö. Allerdings ist für die Mehrheit der Bevölkerung das Thema Integration gar nicht das Wichtigste. Am meisten beschäftigt sie eine andere Frage: die Gesundheitspolitik. + +Weitere Fragen zur Politik in Schweden beantwortet unser FAQ"Schweden vor der Wahl" + +Fotos: Espen Rasmussen/Panos diff --git a/fluter/schweinezucht-in-ostdeutschland-nach-der-wende.txt b/fluter/schweinezucht-in-ostdeutschland-nach-der-wende.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a6ef2902b135e8b1c7b83019329e811d936b8130 --- /dev/null +++ b/fluter/schweinezucht-in-ostdeutschland-nach-der-wende.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Die 90er-Jahre eher nicht.Damals geriet das Dorfleben aus den Fugen, von den blühenden Landschaften, die Bundeskanzler Kohl versprochen hatte, war nichts zu sehen. Der Konsum-Supermarkt, der Gasthof, die Post, der Bäcker, der Fleischer und der Arzt mit der bunten Holzspieleisenbahn im Wartezimmer, sie alle verschwanden. +Die Zeit nach der Wende war eine Belastungsprobe für den Osten. Zahlreiche Betriebe mussten schließen, viele Menschen wurden arbeitslos oder zogen weg. Das hat man auch in Neumark nicht vergessen. Die Gegend war ein Muster für die DDR-Landwirtschaft, mehrere Großbetriebe, darunter auch eine der größten DDR-Schweinemasten, hatten hier ihren Sitz. + +Diese Schweinezucht soll bald die größte Thüringens sein – neben den 500 Einwohnern würden dann 60.000 Schweine in Neumark leben + +Mehrere Millionen Menschen verloren in Ostdeutschland nach der Wende ihre Arbeitsplätze im Zuge einer rasanten Deindustrialisierung. Allein 4.000 der 14.000 von derTreuhandverwalteten Betriebe wurden bis 1994 aufgrund mangelnder Rentabilität geschlossen. Auchdie DDR-Landwirtschaftstand unter dem Druck, sich an die Marktwirtschaft anzupassen. Nicht selten hieß das: Betriebe schließen, Menschen entlassen. Vier von fünf Arbeitern aus der DDR-Landwirtschaft wurden arbeitslos. Ein großer Rückschlag: In der DDR waren elf Prozent aller Arbeiter in der Landwirtschaft tätig, in der BRD waren nur vier Prozent. + +Nach der Wende befanden sich die Betriebe nicht mehr in einem Land mit Mauer, sondern auf dem Weltmarkt. Sie mussten unter neuen Bedingungen ihre Leistungsfähigkeit beweisen. Entweder überführte man sie in eine neue Rechtsform: Aus zwei DDR-Genossenschaften entstand 1991 die Erzeuger-Genossenschaft Neumark. Über hundert Landwirte sind Teil des Betriebs, der heute wieder zu einem der größten der Region zählt. +Oder sie kamen zur Treuhand. Die verwaltete und veräußerte das Vermögen der DDR, darunter auch die ehemalig volkseigene Industrie. Im Vereinigungsprozess wurde beschlossen, die DDR-Großbetriebe nicht in kleine Gehöfte zu zerschlagen. Das machte sie lukrativ, auch für Investoren aus dem Ausland, da die Anlagen dank Ausnahmeregelungen größer (und, wie Tierschützer sagen: tierunfreundlicher und umweltschädlicher) sein durften als andere Betriebe. So ging es auch der Schweinezuchtanlage in Neumark. +Einige Hundert Meter hinter Neumarks zentraler Straßenkreuzung liegt die Schweinezucht: ein paar fensterlose Flachbauten, von Zäunen umgeben. Ein Schild verbietet das Betreten und verweist auf die Kameraüberwachung. Nach der Treuhand und mehreren Besitzerwechseln gehört die Anlage heute zur Van Asten Group, einem niederländischen Unternehmen mit rund 60 Millionen Euro Jahresumsatz und fünf Standorten in Ostdeutschland. + +Alltag in Neumark: der Anblick von Schweinetransportern – und der Geruch der Anlage + +Es ist kein Zufall, dass sich niederländische Tierzüchter für Betriebe in der früheren DDR entscheiden. Während in den Niederlanden strengere Tier- und Umweltschutzauflagen gelten, winken hier Subventionen und Bestandsschutz für die DDR-Altanlagen. Das begünstigt Großbetriebe mit Tausenden Tieren, die andernorts unmöglich wären. In Nordrhein-Westfalen, wo es auch viel Schweinehaltung gibt, sind es deutlich weniger Tiere pro Betrieb, oft nur ein paar Hundert. +Wenn der Wind ungünstig steht, riecht man die hinter einem Hügel verborgene Anlage, bevor man sie sieht. Für die Neumarker ist der Anblick der Schweine-Lkws, die durch den Ort rollen, Alltag. Die Anlage hat eine Kapazität von 42.000 Schweinen – noch. Der Betreiber versucht schon lange zu erweitern. Mit rund 60.000 Tieren hätte Neumark dann die größte Schweinezucht Thüringens. +Ein erster Versuch scheiterte vor neun Jahren an einem Bürgerentscheid. Nun hat das Unternehmen den nächsten Versuch gestartet und verspricht, die Anlage für den Ort angenehmer zu gestalten, zum Beispiel besonders wirkungsvolle Luftfilter einzubauen. Viele Neumarker begrüßen solche Verbesserungen, im Stadtrat sind die Befürworter mittlerweile in der Mehrheit. +Wirtschaftliche Gründe dürften sie kaum überzeugt haben: Weil der Konzern seinen Sitz nicht in Neumark hat, sind die Steuereinnahmen überschaubar. Bei den Arbeitsplätzen ist es ähnlich. Der örtliche Maler und der Elektriker sind für van Asten tätig. Sonst sind auf dem Gelände um die 30 EU-Ausländer in Baracken untergebracht, vor allem aus Polen und Rumänien. +Aber Bürgermeisterin Anke Necke und andere Befürworter sind der Meinung, man müsse pragmatisch sein, und werben für einen Kompromiss mit der Industrie. Als grünes Naherholungsidyll, wie so manche Gegenden in Mecklenburg-Vorpommern, lässt sich Neumark ohnehin nicht verkaufen. Zwischen den Silotürmen der Erzeuger-Genossenschaft, der Schweinezucht, den Windrädern, die auf dem Hügel rotieren, und der ICE-Trasse, die Berlin mit München verbindet, gibt es keinen Platz für unberührte Natur. + +Abwarten und Teetrinken? Keine Option für Beatrice Sauerbrey, die die Anlage mit einer Bürgerinitiative bekämpft + +"Ich wehre mich gegen den Ausverkauf einer Landschaft", sagt hingegen Beatrice Sauerbrey. Als Anführerin einer Bürgerinitiative gegen die Erweiterung der Schweinezucht trat sie zur Bürgermeisterwahl an und unterlag gegen Anke Necke. Sauerbrey formuliert mit Bedacht, kommt die Rede aber auf die Schweinezucht, spürt man ihre Entschiedenheit. Ihre Argumente gegen van Asten: Die sinkende Lebensqualität in Neumark und der Tier- undUmweltschutz. Die Tierrechtsorganisation PETA erstattete 2017 Anzeige gegen das Unternehmen – mit einem Video aus der Neumarker Anlage voneingepferchten, verletzten Tieren. Zwei Mal floss nach einem Zwischenfall im Betrieb Gülle in den örtlichen Bach. +Sauerbrey und Necke sind beide in Neumark aufgewachsen, lebten zeitweise im Ausland und kehrten in ihren Heimatort zurück. Der hat die Nachwendezeit weit besser überstanden als andere Orte in den neuen Bundesländern. Junge Menschen wollen hier leben, sie bauen Häuser, gründen Familien. Die als Altlasten verspottete Industrie aus DDR-Zeiten konnte sich neu aufstellen. Aber die Frage, wie weit man den ökonomischen Interessen Einzelner entgegenkommen soll, entzweit die Bevölkerung. Es istein Konflikt, der 30 Jahre nach dem Mauerfall immer noch schwelt. diff --git a/fluter/schwerpunkt-europawahl-2024.txt b/fluter/schwerpunkt-europawahl-2024.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e286b2866e445aa5c088c2d746140e6468a0e0a3 --- /dev/null +++ b/fluter/schwerpunkt-europawahl-2024.txt @@ -0,0 +1,21 @@ + +"Du musst dich ganz anders behaupten" +Wie ist es, die jüngste deutsche Abgeordnete im Europaparlament zu sein? Wir haben die 31-jährige Delara Burkhardt gefragt. + +So ist es, Dolmetscherin im EU-Parlament zu sein +Xenia Kommer, 49, übersetzt im Plenarsaal ins Deutsche – aber auch mal in einem Schlachthof oder auf Schiffen. + +"So etwas kann Wahlentscheidungen beeinflussen" +Wie ist es, gegen Desinformationen über die EU zu kämpfen? Die Analystin Verena Zimmermann, 27, schaut derzeit besonders auf mögliche Kampagnen aus Russland und China. + +So ist es, Küchenhilfe im EU-Parlament zu sein +Bahija Elyacouti, 47, sorgt dafür, dass in Straßburg niemand Durst oder Hunger leidet. Wer sich koscher oder halal ernährt, hat allerdings Pech. + +"Es liegt an uns allen, Europa zu gestalten" +Das Europäische Parlament zu leiten sei die größte Ehre ihres Lebens, sagt Roberta Metsola. Hier erzählt sie, was die EU für sie bedeutet. + +So ist es, Umweltlobbyist zu sein +Florian Martinez-Buathier, 25, will EU-Abgeordnete von mehr Natur- und Klimaschutz überzeugen. + +Making-of: WahlBot +Die Bundeszentrale für politische Bildung hat einen Chatbot zur Europawahl entwickelt. Wir haben Projektleiter Tobias Fernholz gefragt, was der Bot kann, was nicht und warum er in Wahlangelegenheiten besser ist als ChatGPT. diff --git a/fluter/schwimmende-hollaender.txt b/fluter/schwimmende-hollaender.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b290260b30f7a725232f8e32ac16b30359229250 --- /dev/null +++ b/fluter/schwimmende-hollaender.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Um das Land in Zukunft vor solchen Überschwemmungen zu schützen, gründete die niederländische Regierung damals eine Gruppe aus Experten, die sie Delta-Kommission nannte. Sie organisiert seitdem den Schutz des Landes vor dem Wasser, plant Dämme und entwickelt Küstenschutzprogramme. Die Niederländer sind zu Experten für Deichbau, Flutwehre und Trockenlegungen geworden. Eine der technischen Meisterleistungen ist die Maeslant-Sturmflutsperre. Die zwei großen Tore, die vier mal so viel wiegen wie der Eiffelturm in Paris, sollen Rotterdam vor Überflutungen schützen. +"Die Bedrohung durch Wasser ist nicht neu, das kennen wir in den Niederlanden schon immer", sagt der Klimawissenschaftler Wilco Hazeleger von der niederländischen Universität Wageningen. "Neu ist die Dimension, die sie durch den Klimawandel bekommt." Wissenschaftler gehen davon aus, dass das Meer bis zum Jahr 2100 um 65 bis zu 130 Zentimeter ansteigen wird und dass die Niederländer als erste Europäer nasse Füße bekommen werden. "Wenn das Meer nur ein wenig ansteigt, können wir damit noch klarkommen. Doch wenn der Anstieg mehr als einen Meter beträgt, wird es sehr schwierig. Die Deiche können dann keinen Schutz mehr bieten", sagt Hazeleger. Auf diese Gefahr müssten sich die Niederlande jetzt schon vorbereiten. Und das betrifft nicht nur den Deichbau. +Alles in den Niederlanden ist mit Wasser verbunden. Daher beschäftigen sich nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Politiker, Industrien und Architekten mit Fragen wie: Wie lassen sich Städte und Industriezentren, wie lässt sich die Natur und Landwirtschaft schützen, wenn immer öfter heftige Stürme über das Land fegen? Wie lässt sich verhindern, dass das steigende Meerwasser in die Flüsse dringt und das Süßwasser versalzt? Der Küstenstreifen soll breiter werden, Deiche und Dämme müssen erhöht und stabiler gemacht werden, erklärt Wissenschaftler Hazeleger. In Flussregionen werden künstliche Seitenarme geschaffen und an der Küste sollen künstliche Deichdurchbrüche dem Wasser den Druck nehmen. +Fragt man junge Menschen in den Niederlanden, ob sie Angst vor dem steigenden Meeresspiegel haben, hört man nur wenig beunruhigte Stimmen. Es mag daran liegen, dass man hier schon seit Jahrhunderten ziemlich pragmatisch auf die Bedrohung durch das Wasser reagiert. Und nachdem die Niederländer sich lange hinter den Deichen verkrochen haben, entwickeln sie nun eben neue Strategien, um mit dem Wasser zu leben. Sie wollen das Wasser nicht mehr nur als Gefahr, sondern auch als Chance betrachten. Einige schlagen vor, doch gleich auf die Flüsse, Seen und Grachten zu ziehen und so mit dem steigenden Wasser zu leben: Waterwoningen heißt das. +Einer, der für das Waterwoningen plädiert, ist der niederländische Architekt Koen Olthuis. Er baut schwimmende Häuser. In Orten wie Maasbommel leben Bewohner bereits in solchen Gebäuden auf dem Fluss. Mit dem steigenden Wasser werden die Häuser, die auf großen, wasserdichten Betonwannen stehen, angehoben und schwimmen so an der Wasseroberfläche, anstatt überflutet zu werden. Damit sie nicht wegtreiben, sind sie an Pfählen befestigt, an denen sie auf und ab gleiten können. +Auch schwimmende Gewächshäuser wurden schon gebaut. Wissenschaftler sehen darin eine Alternative für Bauern, denen das Hochwasser immer wieder die Ernte ruiniert. Wenn es nach dem Architekten Olthuis geht, soll es bald auch eine schwimmende Stadt geben mit schwimmenden Schulen, Kirchen, Gärten und Supermärkten. Bisher sind das aber noch Zukunftspläne. Busse, die schwimmen können, gehören dagegen in Amsterdam und Rotterdam schon zum Stadtbild. "Schwimmender Holländer" heißt solch ein Bus-Schiff. Der Fahrer verwandelt sich in einen Kapitän, der Bus wird zum Schiff, wenn das Fahrzeug die Straße verlässt und über Kanäle oder Flüsse gleitet. +"Wenn wir nichts tun, dann laufen wir Gefahr, dass weite Teile der Niederlande überflutet werden", sagt Cees Veerman, der Vorsitzende der Delta-Kommission. Er ist aber auch zuversichtlich: "Mit Wasser können wir aber auch die Entwicklungen vorantreiben und Wunder vollbringen." +Inga Rahmsdorf ist freie Journalistin, lebt in München und schreibt unter anderem für die Süddeutsche Zeitung. diff --git a/fluter/schwimmerinnen-netflix-mardini-film-rezension.txt b/fluter/schwimmerinnen-netflix-mardini-film-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..97b2b81aa233ebf7dff404fb9ceef9319ddcacfd --- /dev/null +++ b/fluter/schwimmerinnen-netflix-mardini-film-rezension.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +"Die Schwimmerinnen" ist zwar ein Spielfilm, die Netflix-Produktion basiert aber auf der wahren Fluchtgeschichte der Schwestern Sara und Yusra Mardini. Sie gehörten zu den knapp 900.000 Flüchtenden,die 2015 nach Deutschland kamen. Von den rund 450.000 Menschen, die hierzulande schließlich einen Asylerstantrag stellten, kam mehr als ein Drittel aus Syrien. Bis heute sterben nahezu jedes Jahr mehrere Tausend Menschenbei der Flucht über das Mittelmeer. Laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen sind 2021 knapp 2.000 Menschen auf dieser Fluchtroute gestorben oder gelten als vermisst. +Der Film der walisisch-ägyptischen Regisseurin Sally El-Hosaini erinnert daran, nicht wegzuschauen, nicht zu vergessen. Er zeigt bedrückend und detailreich, wie die Schwestern in ein überfülltes Schlauchboot steigen. Zeigt ihre Verzweiflung, als der Motor ausfällt und das Boot mit Wasser vollläuft. Und die Wut und Fassungslosigkeit darüber, dass die Küstenwache ihnen nicht hilft. Als das Boot zu sinken droht, entscheiden Yusra und Sara, ins Wasser zu springen, um das Boot leichter zu machen. Nur durch ein Seil mit dem Boot verbunden, schwimmen sie drei Stunden lang durchs Meer, bis sie Lesbos erreichen. + +In "Die Schwimmerinnen" dominieren diese bildgewaltigen, emotionalen Szenen – oft unterlegt mit arabischer Musik –, die einem die Brust zusammenziehen. Gleichzeitig zeigt der Film die jugendliche Naivität, mit der sich Yusra und Sara auf den Weg nach Europa machen. Zu Beginn scheint es, als planten sie ein Abenteuer, scherzen noch darüber, bald im Berliner Berghain feiern zu können. Dass dieses sorgenlose Leben endgültig vorbei ist, belegen milchig weiße Rückblenden, die die glückliche Familie in Damaskus zeigen. Gegengeschnitten sieht man Yusra im Mittelmeer schwimmen, um sie herum nichts als Dunkelheit. Schwimmen ist es, was Yusra motiviert, nicht aufzugeben: wederauf Lesbosnoch an der serbisch-ungarischen Grenze oder im Zelt auf dem Tempelhofer Feld in Berlin, das sie sich mit sechs anderen Frauen teilen muss. +"Die Schwimmerinnen" ist somit auch ein Film über weibliche Emanzipation und den Ehrgeiz zweier arabischer Frauen, sich in einer patriarchalen Welt zu behaupten. Flüchtende sind hier keine Opfer, sie sind handelnde Menschen. Durch diese Erzählweise macht der Film zwar Hoffnung, erinnert gleichzeitig aber daran, dass es nicht alle lebend über das Mittelmeer schaffen. +Yusra, die heute UNHCR-Sonderbotschafterin ist und in Los Angeles studiert, erfüllte sich übrigens ihren Traum: Für das olympische Flüchtlingsteam nahm sie 2016 und 2020 an den Olympischen Spielen teil. Ihre Schwester Sara hat das Schwimmen hingegen aufgegeben.Sie kehrte nach Lesbos zurück, um Flüchtenden zu helfen. 2018 wurde sie wegen angeblicher Spionage und Menschenschmuggels festgenommen – laut Menschenrechtsorganisationen vorgeschobene Vorwürfe – und saß drei Monate in Untersuchungshaft. Ihr drohen 20 Jahre Gefängnis. +"Die Schwimmerinnen" läuft bei Netflix. + diff --git a/fluter/screentime-reduzieren-apps.txt b/fluter/screentime-reduzieren-apps.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f1ea4bce68b5ebb1f2c4fc79df193b0655f98192 --- /dev/null +++ b/fluter/screentime-reduzieren-apps.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Ich halte die Sozialen Medien für eine gute Erfindung, Instagram vermutlich sogar für ein bisschen zu gut. Möglicherweise bin ich gerade erst wieder in meinem Feed versackt, obwohl ich dringend diesen Text schreiben muss. Mag sein, dass mich Instagram vor dem Eingeständnis rettet, dass ich nicht weiß, was ich sonst gerade tun möchte. Nur nicht mehr so oft, "One sec" sei Dank. +Ich habe die App im September installiert. Seitdem springt sie – Sekunde mal! – direkt an, wenn ich Instagram auf meinem Smartphone öffnen will. "One sec" füllt meinen Screen mit einem Farbverlauf, er läuft voll wie ein kleines Aquarium. Nach zwölf langen Sekunden brummt mein Smartphone zufrieden. Sekunden, die ausreichen, um darüber nachzudenken, ob ich jetzt wirklich Zeit auf Instagram verbringen möchte, Sekunden, in denen sich mein Gehirn wieder etwas beruhigt. +Das halbe Silicon Valley verdankt seinen Reichtum einem Botenstoff: Dopamin. Bei sozialen Stimuli wie Likes, Kommentaren oder neuen Followern aktiviert Dopamin das Belohnungszentrum im Gehirn, das bald mehr davon will. Wer sich Soziale Medien genau ansieht – die Feeds unendlich, die Benachrichtigungen signalrot, die Interaktionen quantifiziert –, kann sich vorstellen, wie innig unser Gehirn diese Umgebung liebt. +"One sec" einzurichten kostet ein paar Minuten, die Investition lohnt sich. Laut meiner Bildschirmzeit-App habe ich Instagram vor "One sec" bis zu 40-mal am Tag geöffnet; ausgehend von acht Stunden Schlaf also alle 24 Minuten. Nach drei Tagen mit App war ich runter auf fünf tägliche Dosen Instagram, wieder eine Woche später war das Muskelgedächtnis meines Daumens, der vorher wie ferngesteuert das Instagram-Icon ansteuerte, überschrieben. Ich war genau einmal auf Instagram, um ein Video zu sehen, in dem ein Dackel Reiswaffeln auf seinem Kopf balanciert. +Apps wie Instagram können süchtig machen.Ihre Macher wissen menschliche Bedürfnisse und Schwächen so klug zu nutzen, dass ihre Anwendungen zur Gewohnheit werden. Die Techniken, um neue Gewohnheiten zu etablieren, müssen also mindestens genauso klug sein. Die Gegenkultur aus Hausmittelchen, Tricks und Hacks blüht, einige sind clever, andere verzweifelt, wieder andere Selbstgeißelung. Hier sind ein paar, die euch vielleicht helfen. +Kurioserweise ist die Auswahl an Apps, die helfen sollen, weniger Apps zu nutzen, riesig. "One sec" kennt ihr jetzt, "AppDetox", "SPACE", "OFFTIME" oder "Momentum" funktionieren ähnlich. Andere machen es spielerischer: "Forest" lässt – solange ihr nicht ans Smartphone geht – ein digitales Bäumchen wachsen (in der Bezahlversion sogar echte: "Forest" hat zusammen mit der Organisation Trees for the Future nach eigenen Angaben fast 1,3 Millionen Bäume gepflanzt). Und "Flipd" macht Verzicht zum Wettkampf: Ihr könnt eure Offlinezeiten mit anderen vergleichen. +Übrigens verbauen die Tech-Unternehmen die Behandlung für ihre Suchtmittel inzwischen selbst, siehe Apples "Bildschirmzeit"-App oder Googles "Digital Wellbeing". Die Tech-Konzerne streiten mittlerweile regelrecht, wer mehr für das Wohlbefinden seiner Nutzer tut. Das ist kein Edelmut, sondern gut fürs Image und soll wohl auch strengeren Regulierungen durch den Gesetzgeber vorbeugen. Und letztlich ist ein weniger aktiver Nutzer besser als kein Nutzer. +Wer weniger Zeit am Smartphone verbringen will, braucht mehr Geräte: Für die Uhrzeit eine Armbanduhr, im Dunkeln eine Taschenlampe, zum Wecken einen Wecker oder – für Fortgeschrittene – gleich ein Zweittelefon, das nur das Nötigste kann. Das Light Phone, Schwarz-Weiß-Display, keine Fotos, keine Social-Media-Apps, ist extra dafür designt, dass man es möglichst wenig benutzt. Es kostet aber ein paar Hundert Euro. Vielleicht also gleich ein Seniorenhandy. Das kostet nur 15 Euro und kann genauso wenig. +Praktisch alle Apps schicken Push-Nachrichten, die ständig irgendwo vibrieren, klingeln oder leuchten. Und selbst wenn nicht: Neurobiologen haben festgestellt,dass unsere Konzentration schon gestört wird, wenn sich das ausgeschaltete Smartphone im selben Raum befindet.Also (in aufsteigender Drastik): Smartphone lautlos. Benachrichtigungen abstellen. Oder die Apps deinstallieren und das Netzwerk im Browser nutzen – wo sie oft klobig aussehen und weit weniger Spaß machen. +Erstaunlich, wie oft wir kurz Instagram checken wollen, um uns 20 Minuten später zu fragen, wo die Zeit geblieben ist. Gegen solche "Zombie-Checks" können Impulshemmer helfen, kleine Hindernisse, die bewusst machen, dass man gerade zum Smartphone greift. Spannt zum Beispiel ein Gummiband um das Gerät oder stellt auf dem Sperrbildschirm ein Foto ein, das euch stutzen lässt (Foto wechseln, wenn es nicht mehr irritiert). +Für smartphonefreie Zeit können App-Helferlein sorgen, smartphonefreie Zonen kannst du selbst abstecken. Das Schlafzimmer bietet sich an. Oder der Esstisch: Regelt in der WG oder Familie, dass das Telefon während der Mahlzeiten nicht auf dem Tisch liegen darf. In WG-Zimmern können es Teilbereiche sein: Die Couch ist Smartphonezone, das Bett nicht. +Nicht vergessen: Smartphones und Social Web sind gerade 25 Jahre alt. Die Generation derer, die jetzt damit in Berührung kommt, ist die erste, die aus den Fehlern der vorangegangenen lernen kann. Wenn Menschen durch den Umgang mit dem Smartphone in digitalen Stress rutschen, dann sind meistens soziale Gründe mitentscheidend. Es fehlt uns an sozialen Normen, wir haben das Gefühl, wir müssen sofort auf Nachrichten, Kommentare oder Posts reagieren. Einfach mal probieren, dem Druck zu entfolgen – und erst antworten, wenn du Zeit hast. +Für viele bedeutet weniger Zeit am Handy, sich ein Vergnügen zu versagen – und wer tut das schon gern? Sieh's mal so: Die Zeit auf Instagram ist Zeit, die du nicht mit anderen angenehmen Dingen verbringst; es ist nicht "weniger Zeit am Smartphone", sondern "mehr Zeit mit deinem Leben". Der Schriftsteller Henry David Thoreau hat diese Rechnung schon 1854 in seiner Aussteigerfibel "Walden" in einem Satz konzentriert: "Der Preis einer Sache ist die Menge dessen, was ich Leben nenne, die ich im Austausch dafür früher oder später hergeben muss." Das gilt, so viel Kitsch sei hier erlaubt, genauso für Soziale Medien. diff --git a/fluter/sea-shepherd-naturschutz.txt b/fluter/sea-shepherd-naturschutz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/sea-watch-moonbird-startverbot-malta.txt b/fluter/sea-watch-moonbird-startverbot-malta.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6c75a5375e7ceb48398c720070d5326d6ddc23df --- /dev/null +++ b/fluter/sea-watch-moonbird-startverbot-malta.txt @@ -0,0 +1,6 @@ + +Als das erste Schiff der Sea-Watch 2015 von Hamburg aus in See stach, um Flüchtlinge im Mittelmeer vor dem Ertrinken zu retten,war fluter.de mit dabei. + +"Ganz offensichtlich soll es keine unabhängigen Augenzeugen geben, die das Sterben und die Menschenrechtsverstöße auf dem Mittelmeer dokumentieren",sagt Ruben Neugebauer, der die Einsätze der Moonbird leitet. Die europäische Öffentlichkeit solle nicht erfahren, wie barbarisch die Abschottungspolitik an den Außengrenzen durchgesetzt wird. Auf die Flüchtlinge, glaubt Neugebauer, soll die Entscheidung abschreckend wirken. +Laut der Internationalen Organisation für Migration sind die Opferzahlen in den vergangenen Tagen und Wochen gestiegen. Allein seit dem Wochenende seien 200 Menschen auf ihrer Flucht nach Europa ertrunken. Der Sprecher der IOM, Flavio Di Giacomo, fordert deshalb, die Rettungskräfte wieder zu verstärken. Die Hilfe der staatlichen Akteure nämlich, kritisieren Menschenrechtsorganisationen wiePro AsylundAmnesty International, reiche bei weitem nicht aus. +Foto: Chris Grodotzki / Sea-Watch.org diff --git a/fluter/sebastian-schipper-film-roads-flucht.txt b/fluter/sebastian-schipper-film-roads-flucht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fb07546750ef0fb42831fd0af8609c8a257300b3 --- /dev/null +++ b/fluter/sebastian-schipper-film-roads-flucht.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Es geht um zwei grundverschiedene Jungs, die durch Europa reisen, über Fußball sprechen und kiffen. Fast beiläufig wird dabei das ganze Drama um Flucht und Vertreibung anhand eines Einzelschicksals erzählt – inklusive Schlepperbanden, Grenzkontrollen, traumatischen Erfahrungen, Hilfsorganisationen und einer Flucht mit dem Boot. Zum anderen spielt der Film mit Stereotypen und Vorurteilen. Warum William so gut Englisch spreche, fragt ihn Gyllen. Na, weil er so viele amerikanische Serien gucke, antwortet dieser. In Wahrheit hat William aber auf einer christlichen Schule im Kongo perfekt Englisch gelernt, und er schaut weder Serien noch Fußball und möchte auch nicht nach Europa flüchten, sondern nur seinen Bruder finden. Im Gegensatz zu Gyllen ist dieser Trip für William kein Abenteuer, kein Aufbegehren gegen die Eltern und auch keine Selbstfindung, sondern eine gefährliche Reise in eine Welt, in der er nicht willkommen ist. + + + + + +Als Mischung aus Coming-of-Age- und Roadmovie. Der Weg nach Calais steckt voller Widrigkeiten, lustigen und aufregenden Momenten und Begegnungen. Vor allem aber ist er für Gyllen und William ein Trip zu sich selbst. Regisseur Sebastian Schipper erzählt die Reise der beiden formal weit weniger radikal als noch in seinem letzten Film"Victoria", der für Furore sorgte, da Schipper ihn in einer einzigen Einstellung drehte. Die leuchtenden Bilder und der Soundtrack sind aber ebenso mitreißend. + +William und Gyllen sitzen sich im Camper gegenüber. Draußen ist es dunkel, nur ein Deckenlicht fällt auf die Gesichter der beiden. Sie spielen ein Spiel. Dabei sehen sie sich an, werfen sich spontan Begriffe zu und checken ihre Vorurteile und Klischees: Einer schließt die Augen und öffnet sie nur kurz, wenn der andere ein Wort sagt. "Fußballspieler": Gyllen öffnet die Augen und sieht William: "Missbrauchsopfer": William schaut Gyllen an: "Straßenhändler" … "Rassist" … " Kindersoldat" … + +Nachdem Gyllen vom frühen Tod seines Bruders Lawrence erzählt hat, fragt ihn William: "What was the nicest thing Lawrence ever said to you?" Gyllen denkt nach und sagt: "You made my day." In der letzten Szene sehen wir die beiden Freunde – mittlerweile nicht mehr zusammen auf ihrem Roadtrip – telefonieren. "Roads" endet mit den Worten: "You made my day." + +Die Aktivisten der Hilfsorganisationen im Film sind keine Schauspieler, sondern echte Helfer, die ihren Alltag in Calais real nachspielen. Sie kommen aus ganz Europa, verteilen Essen, warme Kleidung und Schlafsäcke. + +… eine Sommernacht im Freiluftkino, wenn es nicht nur leicht und heiter sein soll. Als Vorbereitung für den Interrail-Urlaub. Und als kritischer Check für die eigenen Vorurteile. + +Noch viel mehr zu Sebastian Schippers etwas anderem Roadmovie gibt es imKinofensterder bpb. Zum Beispiel einInterview mit den beiden Hauptdarstellern Fionn Whitehead und Stéphane Bak. + + diff --git a/fluter/security-tuersteher-united-dresden.txt b/fluter/security-tuersteher-united-dresden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9ec5748914031aa11ef5b007b0aa9b0de6b3562a --- /dev/null +++ b/fluter/security-tuersteher-united-dresden.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Das Angebot von United ist eine Absage an Sicherheitsdienste, wie man sie vielerorts immer noch nicht anders kennt: Muskelmänner, die wortkarg regeln, wer mitfeiern darf und wer nicht. Mackertum, kurze Zündschnur, kaum Kommunikation. United will es anders machen, progressiv, divers, positiv. Dafür soll schon mal ihr Logo stehen: ein T. Rex in Pink. "Der ist ja bekannt dafür, dass er sehr kleine Arme hat, aber ein großes Maul. Die Kombi beschreibt uns gut", sagt Andi. "Wir wollten damit auch die typischen Security-Embleme, die oft mit kriegerischen Symbolen werben, auf die Schippe nehmen." +Andi, Mitte 30, einer der Gründer von United, steht an diesem Abend mit an der Tür. Er checkt Taschen, kontrolliert Ausweise, bestimmt, aber zugewandt. Als ein Gast betrunken vor ihm steht, nicht aggressiv, aber unaufhörlich auf ihn einredet, bleibt er ruhig. "Mit manchen führt man ein kurzes Gespräch. Um zu merken, wie die Leute ticken." Auch Reden kann deeskalieren. +Andi, Sophie und ihre Kollegen heißen eigentlich anders. United-Securitys arbeiten auch auf Demonstrationen oder Veranstaltungen, bei denenmit Bedrohungen von Rechtsextremen zu rechnen ist. Andi will was verändern, das motiviert ihn, deshalb hat er United mit aufgebaut. "Gerade ein Landstrich wie Sachsen, in dem es starke rechtsextreme Strukturen gibt, braucht diskriminierungsarme Räume", sagt er. "Dafür müssen wir auch unsere Branche verändern, die davon noch weit entfernt ist." +Dass Sicherheitsdienste Personal beschäftigen, das Verbindungen in die rechtsextreme Szene hat, ist überall in Deutschland immer mal wieder Thema, auch in Sachsen. Flächendeckende Statistiken gibt es nicht, allenfalls Erhebungen aus einzelnen Städten. Also keine Zahlen, die zeigen, wie groß das Problem ist. Wenn man mit Veranstaltern spricht, hört man von Erfahrungen. Carsten Becker, Chef des Dresdner Konzertclubs Beatpol, arbeitet seit ein paar Jahren mit United zusammen. Für ihn die beste Lösung. Die Sicherheitsfirmen davor hätten ihren Job gemacht, sagt Becker. "Aber bei einigen hat es vom Weltbild her nicht zu uns gepasst." + +Auch die Scheune, eine Veranstaltungslocation in der Dresdner Neustadt, arbeitet schon lange mit United zusammen. Im Grunde wurde die Firma dort initiiert: Vor vielen Jahren, erzählt Geschäftsführerin Romy Jaehnig, habe es in der Scheune einen Vorfall gegeben, an einem 13. Februar. Wegen der Bombardierung Dresdens durch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg am 13. Februar 1945 ziehen an diesem Tag traditionell Neonazi-Aufmärsche durch die Stadt. +Als Veranstalter müsse man seine Gäste an so einem Tag noch besser schützen, sagt Jaehnig. In der Scheune ging damals das Gerücht um, einer der Sicherheitsmänner, der an jenem Abend Dienst hatte, hätte Verbindungen zu Rechtsextremen. Sein Arbeitgeber habe den Verdacht nicht ausräumen können, erzählt Jaehnig. "Das war ein richtiger Anstoß, etwas an unseren Sicherheitsstrukturen zu ändern." Im Umfeld der Scheune fanden sich Leute, die an der Tür helfen wollten. Mit den Jahren haben sie sich professionalisiert, es entstand der Sicherheitsdienst United. +Seit 2020 ist United ein eingetragenes Unternehmen, die Nachfrage ist stetig gewachsen. Eine Website oder Telefonnummer findet man bis heute nicht im Netz, es gibt keine Werbung. Anfragen kommen ausschließlich über Empfehlungen. Sie arbeiten für Clubs, für Festivals, für Journalisten, die auf Demos Personenschutz benötigen. Andi hat die Verantwortung, er regelt die Logistik und die Buchhaltung. Welchen Job sie annehmen, entscheidet die Gruppe basisdemokratisch. Aktuell arbeiten 30 bis 40 Personen für United, ein Viertel Frauen. Es könnten gern mehr werden, findet Andi. +Frauen im Sicherheitsdienst sind wichtig. Wenn es in einem Clubzu einem sexualisierten Übergriff kommt, sind die Betroffenen oft froh, wenn sie sich an eine andere Frau wenden können. Und auch das United-Team beobachtet, dass Frauen meist deeskalierender auf aggressive Gäste wirken. Normal seien Frauen in der Security aber noch längst nicht, erzählt Sophie. Sie bekommt schon mal blöde Sprüche, zum Beispiel wenn sie Körperkontrollen macht. "Manchmal gehe ich darüber hinweg, manchmal gibt es einen Spruch zurück." Auf Typen, die sich nicht damit abfinden können, dass sie das Sagen hat, trifft sie immer wieder. "Gerade deshalb finde ich wichtig, dass die sehen, dass es auch Frauen gibt, die als Security arbeiten." +Am Einlass gibt es keine Probleme. Gerade ist Matthes dran, um die 20, er trägt einen Turban aus bunten Schals und auffällige Ohrringe. Und freut sich geradezu über die Kontrolle. "Ich finde es voll schön, wenn die Leute an der Tür lieb zu einem sind. Wenn mein Outfit mal kein Thema ist." +Für die meisten bei United sind die Einsätze ein Zweitjob. Securitys arbeiten, obwohl es an geschultem Personal mangelt, oft für Niedriglöhne, vor allem wenn sie Objekte und Veranstaltungen bewachen – oder eben vor Clubs stehen. Für viele ihrer Aufträge brauche es einen Sicherheitsschein, sagt Andi. Für den muss man rechtliche und psychologische Grundlagen nachweisen, die Prüfung nehmen Industrie- und Handelskammern ab. Und Securitys müssen sich im "Bewacherregister" eintragen lassen. Das Register ist noch recht neu. Irgendwann soll es eine Datenbank der privaten Sicherheitsfirmen werden. Und damit der gut 260.000 Menschen, die in Deutschland in der Security arbeiten; nicht wenige davon für unübersichtliche Subunternehmen, die sich nicht immer an deutsches Arbeitsrecht halten. + +Dieser Text istim fluter Nr. 90 "Barrieren"erschienen +Das Register ist auch ein Versuch, zu verhindern, dass Neonazis zum Schutz von Geflüchtetenunterkünften eingesetzt werden oder dass politisch Radikale kritische Infrastrukturen wie Wasserwerke oder Krankenhäuser bewachen. "Aber Kontrollen", sagt Andi, "gibt es nur ganz wenige in der Sicherheitsbranche." +Viele im Team von United arbeiten hauptberuflich in sozialen Berufen,als Erzieherinoder Sanitäter. Auch Sophie hat heute tagsüber gearbeitet, jetzt steht sie bis morgen früh an der Tür. Soziale Erfahrungen helfen, sagt sie, um in problematischen Situationen besser deeskalieren zu können. Nicht sofort fronten, erst mal beruhigen. Für Auseinandersetzungen gibt es bei United regelmäßig Sicherheitstrainings, in denen sie Techniken zur Selbstverteidigung üben. Zweimal im Monat trifft sich das Team, um Einsätze auszuwerten und Probleme zu besprechen. +Die Nacht an der Tür im Dresdner Industriegebiet ist lang und kalt. Andi hat für das Team Heizsohlen und Handwärmer mitgebracht. Und Kartenspiele für die zähen Stunden kurz vor dem Morgengrauen. Größere Probleme gibt es heute nicht. Das Awareness-Team hat sich um einen Gast im Vollrausch gekümmert, sonst alles ruhig. Andis Bilanz am nächsten Morgen: "Junges, sehr nettes Publikum, überraschend entspannt alles." diff --git a/fluter/sei-ein-superheld.txt b/fluter/sei-ein-superheld.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..392ecbbb9bd87fab7192f1ee98d334ec4ef38359 --- /dev/null +++ b/fluter/sei-ein-superheld.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Das Herz des aufrührerischen Punks und die Selbstbezogenheit der Künstlerin sind der 27-Jährigen geblieben, aber der Radius ihrer Aktionen scheint sich in das im heutigen Russland zivilgesellschaftlich Mögliche verschoben zu haben. "Wir müssen letztlich einfach Kontakt finden und in einen Dialog treten, gemeinsam die Wahrheit suchen, gemeinsam Weisheit anstreben, gemeinsam Philosophen sein und nicht stigmatisieren ..." + + +Demnach meint der Buchtitel wohl nicht nur die Revolution, die Tolokonnikowa im Russland Wladimir Putins anstoßen wollte, sondern auch ihre eigene persönliche Entwicklung. Ausschlaggebend für diesen Wandel waren die Erfahrungen, die sie im Arbeitslager gemacht hat. Interniert war sie in dem berüchtigten Frauenlager in Partza. Dieses befindet sich in der Republik Mordwinien, gelegen zwischen Moskau und der Wolga. Der zweite Teil des Buches wird zum eigentlichen Höhepunkt: Tolokonnikowa beginnt, den Gefängnisalltag und die Regeln des Lagersystems eingehend zu beschreiben. "Jede Gefangene in Mordwinien kennt den schweren Holzknüppel, der mit Klebeband umwickelt ist und den Schriftzug unseres Auftraggebers trägt. Damit schlägt die Verwaltung die Näherinnen, die ihre Produktionsnorm des 16 bis 20 Stunden langen Arbeitstages nicht erfüllen. Mit diesem Knüppel prügelt man aus den Frauen 250 Anzüge pro Tag." +Im ersten Teil des Buches erzählt Tolokonnikowa ihre Geschichte als Aktionskünstlerin, als Teil der Gruppe Pussy Riot, die – inspiriert durch die Aufbruchstimmung in der russischen Gesellschaft, die sich 2011 mit Protesten gegen die dritte Amtszeit Putins als Präsident wendet – auf Bussen und Gebäuden auftritt, Polizisten in der Öffentlichkeit küsst und schließlich wegen ihres Auftritts in der Moskauer Christus-Erlöser-Kathedrale verhaftet wird. Der Text ist gespickt mit Zitaten von Philosophen wie Sartre und Heidegger und Feministinnen wie Lynda Benglis, von konservativen russisch-orthodoxen Popen, von russischen Politikern und, natürlich, von Putin. Dazu gibt es Auszüge aus Reportagen, die den Prozess gegen Pussy Riot beschreiben, Songtexte, eigene Tagebucheinträge. Die Kapitel enden häufig mit Aufrufen wie "Schimpfe und sei unanständig" oder "Mach das Wasser zu Wein. Sei ein Superheld". + + +Auf Dauer nervt der revolutionäre "Ich weiß, wie es geht"-Ton. Selbstkritik, Selbstzweifel sucht man vergeblich. Schließlich sind Revolutionäre von ihrem eigenen Handeln durch und durch überzeugt. So liest man: "Aber was bleibt dir außer Selbstsicherheit, wenn du dich mit 22 Jahren plötzlich in Opposition zum staatlichen Machtblock wiederfindest, der schon mal ganz andere zu Pulver verarbeitet hat?" +Immer wieder geht es auch um die "Rolle des Weiblichen" in der russischen Gesellschaft, die Tolokonnikowa mit einer unglaublichen verbalen Aggressivität attackiert. So, als wolle sie das erstarrte Frauenbild einer extrem patriarchalischen Macho-Gesellschaft einfach wegbomben. Der Schwerpunkt der Attacken im Buch zielt aber auf das System Putin. "Wir wollten, dass Putin sich aus Russland verpisst", beschreibt Tolokonnikowa die Motivation für ihre Aktionen, die häufig als reine Provokation kritisiert wurden, die aber laut dem russischen Journalisten Oleg Kaschin etwas ganz Grundsätzliches künstlerisch überhöhen: nämlich die "Angst der russischen Bevölkerung vor den Sicherheitsorganen, vor der Kirche, vor der Regierung, vor den Bullen". +Die besten Erklärungen für das Phänomen Pussy Riot kommen in dem Buch von Tolokonnikowas Vater, der mehrmals zitiert wird: "Die Aktionen ... haben etwas Niedliches, Kindliches, und diese anarchistische, kindliche Freiheit, die Freiheit eines herzigen Übermuts, eines närrischen und durchgeknallten Propheten ist in Wirklichkeit etwas, das Russland dringend braucht. Nur dass Russland das nicht versteht." +Tolokonnikowas Buch mag keine literarische Meisterleistung sein, aber es bietet Einblicke in die Gedankenwelt einer mutigen jungen Frau, die daran glaubt, das ungeliebte System verändern zu können. Vor allem zeigt es eines: Das Lesen von Literatur, von Philosophen, von Welterforschern ist immer noch der beste Weg zur Freiheit. +Nadja Tolokonnikowa: "Anleitung für eine Revolution". Hanser Berlin 2016, 224 Seiten, 17,90 Euro +Ingo Petz hat in Russland und Köln Osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert. Seit über 15 Jahren arbeitet er als freier Journalist und Autor. Seitdem er sich 1994 in Weißrussland verliebte, lässt ihn das östliche Europa nicht mehr los. diff --git a/fluter/sei-kein-frosch.txt b/fluter/sei-kein-frosch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..58d1d810036c704addc5482e36e742833af9f463 --- /dev/null +++ b/fluter/sei-kein-frosch.txt @@ -0,0 +1 @@ +Das Darstellende Spiel ermöglicht einen eigenen Zugriff auf einen Stoff, auf ein Thema. Das ist etwas, was in der Schule nach wie vor viel zu häufig fehlt: dieser eigene Zugriff, dieses Sich-in-Beziehung-setzen- Können zu dem, was man lernt. Es ist das, worum in jeder Unterrichtsstunde neu gerungen wird, woran Lehrer regelmäßig scheitern. Selbst bei Themen, die den Schülern eigentlich nahe sein sollten. "One, two, three, Laser", ruft Gui Garrido, der Choreograf, im Houseclub des Theaters, und 14 Siebtklässler wuseln eilig durch die Gegend. Es war ein harter Kampf am Anfang, sie waren misstrauisch, mochten sich nicht zeigen, sich nicht bewegen, und erst recht mochten sie sich nicht gegenseitig anfassen. Vor allem die Jungen und die Mädchen wollten das gegenseitig nicht. Jetzt werfen sie sich ohne Rücksicht auf Verluste auf einen großen Haufen, verknäulen ihre Körper ineinander, rollen über den Boden. Gemeinschaft ist das Thema, an dem sie gemeinsam arbeiten. Sie haben darüber geredet, gespielt, fantasiert. In elf Bundesländern, so auch in Berlin, wurde das Darstellende Spiel im Laufe der vergangenen rund 20 Jahre als Unterrichtsfach eingeführt. Jetzt wurde – längst überfällig – in Braunschweig ein erstes eigenes universitäres Institut eröffnet, das Institut für Performative Künste und Bildung. Wahrscheinlich wird es nicht das einzige bleiben. diff --git a/fluter/seichtes-gerede.txt b/fluter/seichtes-gerede.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/sein-bester-wurf.txt b/fluter/sein-bester-wurf.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..efb93dd9517776384b28405b03cbeafbac48a42a --- /dev/null +++ b/fluter/sein-bester-wurf.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Während die Mannschaftskollegen fliegen, fährt Norris lieber mit dem Camper zum Spiel. Er hat eben auch als Multimillionär die Bodenhaftung nicht verloren +Wenn man so gut Baseball spielt wie Norris, verdient man in den USA fast zwangsläufig Millionen Dollar. Das ist das Problem. Na ja, für die meisten eher nicht, aber für Norris schon ein bisschen. "Ich sehe keine Notwendigkeit für Luxus oder das, was die Gesellschaft darunter versteht", sagt er. Nur einen sehr kleinen Teil seiner jährlichen Gage, etwa 800 Dollar monatlich, braucht er für sein tägliches Leben, den Rest gibt er einem Anlageberater, der es für ihn spart. Wenn die Baseball League pausiert, lebt er eh in seinem Bus und gibt kaum Geld aus. +Aufgewachsen ist der 23-Jährige in einem kleinen Ort in Tennessee. Viel Whiskey gibt es da und viel Sonne. Seine Familie betreibt dort einen Fahrradladen, kein Wunder also, dass Daniel und seine Geschwister ständig draußen waren, ständig auf ihren Rädern durch die Gegend fuhren. Das hat ihn geprägt.Auf seinem Instagram-Account kann man Norris an einsamen Stränden in Oregon sehen oder beim Wandern in den Rocky Mountains. Während viele Sportprofis gern ihre neuesten Sonnenbrillen, Tattoos oder Sportwagen posten, kann man bei Norris Bäume betrachten – oder grobkörnige Schwarz-Weiß-Porträts alter Menschen. Fotografieren ist auch so ein Hobby von ihm. Dann wieder liegt er in seinem VW-Bus von 1978 und liest. Angeblich hat er seine erste Freundin verlassen, weil er nicht mehr genug Zeit für seine Bücher hatte. Klar, dass sich so eine Geschichte wie die von Norris auch ein bisschen verselbstständigt. Sie ist einfach zu gut, und sie wird immer besser. +Vergangenes Jahr wechselte er von den Toronto Blue Jays zu den Detroit Tigers und stellte gleich mal ein paar Vereinsrekorde auf. Das Irre ist ja, dass ihm seine Vorliebe für Einsamkeit auf dem Platz hilft. Diese extreme Stille, die manchmal entsteht, wenn Zehntausende den Atem anhalten, weil gleich der Ball geworfen wird – für Norris ist das, als stünde er ganz allein auf einer Waldlichtung. Wenn das Stadion dann explodiert, ist das nicht mehr so sein Ding. +Im letzten Herbst gab Norris bekannt, dass er einen Tumor an der Schilddrüse habe. Dieser wurde wenig später erfolgreich entfernt. In solchen Situationen wird den meisten Menschen klar, was wirklich wichtig ist. Norris wusste das schon längst. diff --git a/fluter/selbsterfahrung.txt b/fluter/selbsterfahrung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9f881358770e4602f3709e80eddcd0c9dc49eba9 --- /dev/null +++ b/fluter/selbsterfahrung.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +"Das Klonen birgt langfristig die Gefahr, dass die Einheit der Menschheit auseinanderbricht", sagt Gernot Böhme. Der Philosoph, der früher als Professor an der Technischen Universität Darmstadt lehrte, beschäftigt sich seit Jahren mit den Folgen der Gentechnik für den Menschen. Ihre Erfindung ist aus seiner Sicht so revolutionär, weil sie es ermöglicht, den Ursprung des Menschen zu beeinflussen. "Gott sei Dank haben wir in Deutschland eine Gesetzgebung", sagt er, "die der Manipulation menschlicher Embryonen Grenzen auferlegt." Tatsächlich sind die Auflagen für die Humangentechnik streng. Das Klonen – also die künstliche Herstellung genetischer Kopien – ist bei uns verboten. +Die Präimplantationsdiagnostik (PID), mit der man Embryos genetisch untersuchen kann, bevor man sie in den Mutterleib einsetzt, ebenfalls. Forscher, die mit embryonalen Stammzellen arbeiten wollen, müssen diese Zellen im Ausland kaufen und darauf achten, dass diese vor einem bestimmten Stichtag entstanden sind. Wissenschaftler wie Oliver Brüstle, seit vielen Jahren in der Stammzellenforschung tätig, beklagen sich über solche Einschränkungen, weil sie befürchten, dass deutsche Wissenschaftler dadurch den Anschluss an die internationale Forschung verlieren. Wer sich wie Gernot Böhme für strenge Gesetze einsetzt, bezieht sich gern auf die Menschenwürde. Sie ist der oberste Wert unseres Grundgesetzes und wurde erstmals in der Zeit der Aufklärung in einem philosophischen Konzept ausformuliert. Damals entstand die Idee der Menschenrechte, um den Einzelnen gegen Folter oder andere Eingriffe des Staates zu schützen. Der Begriff Menschenwürde schützt vor allem die, die sich gegen solche Eingriffe am allerwenigsten wehren können: Kinder, Behinderte, Arme oder Angehörige von Minderheiten. +Die Frage, ob auch ein menschlicher Embryo Menschenwürde genießt, bejaht Gernot Böhme genauso wie die katholische Kirche. Für sie hat der Mensch als Krone der Schöpfung Anspruch auf jeden möglichen Schutz. Da ein Mensch entsteht, sobald Eizelle und Samen miteinander verschmelzen, muss ein menschlicher Embryo wie ein erwachsener Mensch geschützt werden. Die Menschenwürde ist demnach ein absoluter Wert. +Für Philosophen wie Dieter Birnbacher ist die Menschenwürde dagegen ein Begriff, den man abstufen kann. Birnbacher ist Professor für Philosophie in Düsseldorf und gehört einer Denkrichtung an, die Utilitarismus heißt. Ein Utilitarist bemisst eine Handlung danach, welchen Schaden und welchen Nutzen sie bringt. Er wägt beide Seiten ab und entscheidet dann, was in der Summe besser ist. Der Nutzen, den die Menschen durch die Forschung an embryonalen Stammzellen haben, ist für Birnbacher größer als der Schaden, der dadurch entsteht, dass Embryonen im Frühstadium für Forschungszwecke sterben. +Ein Embryo hat aus Birnbachers Sicht nicht die gleiche Würde wie ein erwachsener Mensch: "Ein wenige Tage alter Embryo hat viele Dinge nicht, die einen Menschen auszeichnen: Er hat keine Gefühle, empfindet keinen Schmerz und hat kein Bewusstsein. Wenn wir für ihn genau die gleiche Menschenwürde wie für einen geborenen Menschen beanspruchen, verwenden wir den Begriff so weit, dass wir seine Bedeutung unterhöhlen." Als bloßen Zellhaufen sieht Birnbacher den Embryo jedoch auch nicht: "Ein Embryo verdient unsere Pietät – genauso wie eine menschliche Leiche." +Wann beginnt das menschliche Leben? Ist es absolut schützenswert oder nicht? Und wenn ja, wieso? Wer über Gentechnik nachdenkt, stößt auf die Frage nach dem Wesen des Menschen überhaupt. Das ist auch der Grund dafür, warum Befürworter und Gegner über das Thema so leidenschaftlich streiten. Die Diskussion geht quer durch die Parteien. Es gibt Christ- und Sozialdemokraten, die für oder gegen die Humangentechnik sind. Nur die kleineren Parteien haben eindeutigere Positionen: Die Grünen sind für, die Liberalen gegen strenge Gesetze. Letztere, weil sie Nachteile für Forschung und Wirtschaft befürchten. Auch darum geht es in diesem Streit: um Märkte und Standortpolitik. +Der amerikanische Forscher Craig Venter hat das früh verstanden. Das Unternehmen Celera Genomics, das er vor zehn Jahren gründete, entschlüsselte 2001 das menschliche Genom. Venter arbeitet mit Pharmafirmen zusammen, die die Gene erforschen, um neue Medikamente zu entwickeln. Als Venter jedoch einen Teil der gefundenen Gene patentieren ließ, ging ein Aufschrei durch die Öffentlichkeit: Kann man ein allgemeines Gut, wie ein Gen es ist, patentieren? Venter verteidigte sich: Nur mit Patenten würden sich seine Forschungskosten rechnen – nicht sofort, aber vielleicht in der Zukunft. +Ein Verfahren, das heute schon in den Ver-einigten Staaten, Belgien oder Spanien angewendet wird, ist die Präimplantationsdiagnostik. Mit dieser Technik testet man das Genom eines Embryos auf Erbkrankheiten, bevor es in den Mutterleib eingesetzt wird. Trägt ein Embryo ein Gen, das eine Krankheit verursacht, wird er einfach weggeworfen. Die Mutter muss den Embryo weder abtreiben noch ein krankes Kind zur Welt bringen. Für Philosophen wie Birnbacher ist die Antwort eindeutig: Die PID sollte man auf jeden Fall einsetzen, um Erbkrankheiten auszuschließen. Das Verfahren wird aber nicht nur in diesem Fall angewandt. So ging vor acht Jahren die Geschichte von Molly Nash aus dem US-Bundesstaat Colorado um die Welt. Das sechsjährige Mädchen litt an einer angeborenen Blutarmut und benötigte das Knochenmark eines nahen Verwandten, um zu überleben. Da weder die Eltern noch Verwandte als Spender infrage kamen, zeugten die Eltern mithilfe der PID einen Sohn namens Adam, der Molly Knochenmark spenden sollte. Molly wurde durch die Spende ihres Bruders wieder gesund. +"Was ist denn, wenn Adam Nash kein Knochenmark mehr spenden will?", fragt Thomas Zoglauer, außerplanmäßiger Professor an der Technischen Universität Cottbus. "Werden seine Eltern ihm dann sagen, dass er nur deswegen gezeugt wurde?" Zoglauer ist nicht nur wegen des Wohls des Kindes skeptisch. Er sieht in diesem Fall einen Schritt in Richtung Eugenik – der Lehre von der Erbgesundheit, bei der es darum geht, den Gen-bestand eines bestimmten Volkes zu verbessern. Dieser Begriff weckt in Deutschland schlimme Erinnerungen. Die Nationalsozia-listen haben im Namen der Eugenik Juden ermordet und Behinderte sterilisiert. Diese Praxis ist einer der Gründe dafür, weshalb die PID in Deutschland verboten ist. Natürlich ist der Wunsch, einem kranken Mädchen zu helfen, verständlich, Zoglauer sieht jedoch einen möglichen Präzedenzfall, durch den die PID später auch in anderen, weniger eindeutigen Fällen angewendet werden könnte. Er gibt zu bedenken, dass sich im Laufe der Geschichte immer ändert, was Menschen als Krankheit verstehen. Bis in die Sechzigerjahre hinein galten zum Beispiel Schwule noch als krank. +Ärzte aus Ländern, in denen die PID erlaubt ist, erzählen von Paaren, die sich die Eigenschaften ihrer Kinder am liebsten im Katalog aussuchen würden. Aus den USA weiß man, dass der Samen weißer Spender beliebter ist als der schwarzer. Zwergwüchsige haben gern zwergwüchsige und Taubstumme gern taubstumme Kinder. Hier bestimmt die Nachfrage die Merkmale, welche die Kinder später haben sollen. Es handelt sich um Eugenik von unten, bei der nicht ein Staat, sondern die Verbraucher den Genbestand nach ihren Vorstellungen ändern. +Noch weitreichender wären die Folgen, wenn man das Klonen von Menschen erlauben würde. Man unterscheidet zwei Arten: das therapeutische Klonen, bei dem man den Embryo früh zerstört und seine Zellen für die Forschung nutzt, und das reproduktive Klonen, bei dem der Klon in den Mutterleib eingesetzt wird. Mit diesem Verfahren könnte man nicht nur das Genom der Menschheit, sondern die Gene jedes einzelnen Menschen gezielt beeinflussen. Die Technik ist heute noch längst nicht ausgereift – Ian Wilmut benötigte 277 Versuche, bis es ihm gelang, Dolly zu klonen. +Weder Zoglauer noch Böhme befürworten das Klonen von Menschen, aber es gibt auch seriöse Wissenschaftler, die dieses Verfahren gutheißen. Vor einigen Jahren veröffentlichte Ulrich Otto Mueller, Professor für medizinische Soziologie und Sozialmedizin in Marburg, einen Artikel, in dem er sich für das Klonen aussprach. "Wir könnten damit Männern, die ihre Hoden bei einem Unfall verloren haben, helfen", sagt Mueller. Die Hoffnung, einer Gruppe von Patienten zu dienen, rechtfertigt es in seinen Augen, die Technik nicht grundsätzlich zu verbieten. Zoglauer und Böhme lehnen das Klonen dagegen ab, weil es die Würde des Klonkindes einschränken würde. Ein Klonkind wäre nicht zufällig von der Natur, sondern gezielt von einem Menschen geschaffen worden. Mueller sieht darin kein Problem. "Wenn wir einen Partner auswählen, mit dem wir Kinder kriegen wollen, achten wir doch auch darauf, dass er unseren Vorstellungen entspricht. Und durch die Erziehung prägen Eltern ihre Kinder doch auch." Zoglauer hält diesen Vergleich jedoch nicht für stimmig. "Gegen seine Erziehung kann sich ein Kind wehren und tut das ja auch in der Pubertät", sagt er, "unsere Gene aber können wir nicht verändern. Wir müssen mit ihnen ein Leben lang zurechtkommen." +Ob es jemals wirklich dazu kommt, dass ein menschlicher Klon geboren wird, bleibt abzuwarten. Zwar gibt es Forscher, die behaupten, bereits Menschen geklont zu haben, aber Mueller nimmt sie nicht ernst. "Das sind doch Scharlatane", sagt er. Der südkoreanische Forscher Hwang Woo Suk, der 2004 behauptet hatte, mithilfe eines Zellkerntransfers einen geklonten menschlichen Embryo geschaffen zu haben, flog später als Betrüger auf. Vielleicht ist das der Gang der Forschung: "Auch bei der ersten Herztransplantation haben sich die Leute gefragt, ob der Patient durch den Eingriff seine Seele verlieren würde – heute ist diese Operation normal", sagt Mueller. +"Gott sei Dank ist mittlerweile etwas mehr Gelassenheit eingetreten", sagt auch Gernot Böhme, doch der Philosoph will sich seinen kritischen Blick auf die Gentechnik bewahren. Er wirbt dafür, sich mehr Zeit zu nehmen und die Folgen der neuen Techniken zu durchdenken: "Sonst tun wir möglicherweise heute Dinge, die wir in zwanzig oder dreißig Jahren als pervers ansehen werden." diff --git a/fluter/selbstliebe-krebsdiagnose-anna-melamed.txt b/fluter/selbstliebe-krebsdiagnose-anna-melamed.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..000f5f076ea02a67219fe4292f2d3bb2ce6e5439 --- /dev/null +++ b/fluter/selbstliebe-krebsdiagnose-anna-melamed.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Im Umkehrschluss trug ich meine Unzufriedenheit mit mir selbst geradezu stolz vor mir her, als Orden wider die Mittelmäßigkeit. Ohne dabei zu merken, dass meine Selbstkritik bereits in eine Art Selbstablehnung umgeschlagen war. Selbst in schönen Erlebnissen sah ich Momente meines Versagens. Kein Schaumbad,keine Therapiestunde, kein gutes Meeting, kein noch so liebes Wort konnte diese Gedanken vertreiben. Meine Krebsdiagnose dagegen schon. +Die Warnungen meines Körpers hatte ich in den Wochen davor ignoriert. Der Umzug auf einen anderen Kontinent, die Hochzeit, die Firma, all das war schön, aber auch: Stress. Die Atemnot bei Schwimmen und das Herzrasen beim Wandern schob ich zunächst auf die Veränderungen in meinem Leben, bis ich mich dann doch durchchecken ließ. An jenem Morgen fuhr ich widerwillig zum Arzt: Es war mir unangenehm, den wirklich Kranken Zeit und den Arzt wegzunehmen. Neun Stunden und zig Untersuchungen später war ich Krebspatientin. +Völlig klar, warum ich beim Sport Probleme gehabt hatte, sagte der Arzt, über meine Patientinnenmappe gebeugt: Er zeigte mir auf dem Röntgenbild einen Tumor, tennisballgroß, der auf meine Lunge und mein Herz drückte und den angemessen gruseligen Namen Non-Hodgkin-B-Zell-Lymphom trug. +Alle drei Wochen nahm ich nun ein Uber für die 30 Kilometer in die Klinik. Und blieb dort eine Woche, damit sie die orangefarbene Flüssigkeit in mich reinpumpen konnten, die den Krebs auffrisst. Ich hatte Schmerzen. Ich habe getrauert. Und gezweifelt. Warum trifft es ausgerechnet mich? +Gut zwei Wochen nach der ersten Chemo wachte ich nur noch mit der Hälfte meiner Locken auf. Jetzt rasierte ich den Rest meines Kopfes. Ich sah aus wie ein blasses, aufgedunsenes Alien. Nicht mal der Face-Scan meines Smartphones erkannte mich noch. +Ich versuchte, mein neues Ich mit der vielen Kopfhaut selbstfreudig anzugehen: als Chance, Schönheit neu zu definieren, mit Perücken und experimentellen Mustern in den Augenbrauen. Und blieb dann doch bei meinem natürlichen Aussehen. Gerade in den Investorenmeetings unter lauter älteren Männern kam mein Glatzkopf, quasi als Solidaritätsbekundung, gut an. +Schließlich fing ich im Krankenhaus zum ersten Mal seit Jahren wieder an zu malen und machte sexy Selfies in diesen Krankenhausnachthemden, die hinten so reizvoll offen sind. Ich wollte weder Mitleid von anderen noch von mir selbst. Ich war entschlossen, die Behandlung wie einen neuen Job anzugehen, gewissenhaft, Chemo für Chemo, eine Woche rein, drei raus. +Sechs Monate ging das so, während der letzten beiden Wochen konnte ich kaum mehr das Handy in der Hand halten. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich die körperliche Erschöpfung nicht mehr mit Disziplin überwinden konnte. +Ich arbeitete weiter Vollzeit, tat aber zum ersten Mal etwas, was mir immer schwergefallen war: Ich gab Arbeit ab. Statt mich fürs Prokrastinieren wie früher zu bestrafen, delegierte ich an andere, was ich nicht mehr fertigbrachte. Ich nahm Auszeiten, ohne mich schuldig zu fühlen. Die Grenzen des eigenen Körpers zu spüren und die Erkenntnis, dass auf schlechte Tage gute folgen, hat mich befreit. Heute quäle ich mich an miesen Tagen nicht mehr unnötig und feiere die Energieschübe der guten Tage ganz bewusst. +Vielleicht habe ich Selbstliebe all die Jahre falsch verstanden. Sie schien mir vor allem das Ergebnis einer fanatischen Arbeit an sich selbst zu sein. Self-Love durch Self-Care. Ziemlich verkrampft. Der deutsche Philosoph Wilhelm Schmid schlägt als Alternative die sogenannte Selbstfreundschaft vor. Sie setzt auf mehr Distanz. Auf einen nachsichtigen und manchmal selbstironischen Umgang mit sich selbst. Eigentlich will Schmid nicht mehr als einen Perspektivwechsel: Sieh dich,wie dich gute Freundinnen und Freunde sehen. Die finden dich auch nicht ugly, nur weil du an den Hüften draufgepackt oder plötzlich eine Glatze hast. +Ich bin sicher: Selbstliebe braucht –wie die Liebe auch– ein Gegenüber. Auf der Krebsstation habe ich alle 27 Stationsschwestern kennengelernt und mit ihnen 27 verschiedene Lebensentwürfe. Ich fragte, sie erzählten. Sie schoben mir Nadeln in die Haut, ich gab ihnen Anlagetipps. Wer sich annehmen will, muss lernen, sich Zeit für andere zu nehmen. Heute vergeht keine Woche ohne einen Freitag, an dem ich nicht Fremde beim Schabbat-Dinner zusammenbringe. Oder einen Sonntag, an dem ich nicht mit einer Fahrraddisco in der Stadt unterwegs bin. Lass es ein Klischee sein, aber: Je aufmerksamer ich für die Perspektiven und Bedürfnisse anderer wurde, desto besser erkannte ich meine eigenen. +Die ersten neuen Haare begrüßte ich zwei Monate nach Ende der Chemotherapie mit einem Triumphzug durchs Badezimmer. Um das Ende meines Krebskapitels zu zelebrieren, rasierte ich mich so lange nicht, bis sich meine Achselhaare wieder kringelten. +Dieser Text istim fluter Nr. 89 "Liebe"erschienen +Heute fühlt sich jede neue Woche wie ein Glow-up an. Ich bin dankbar für mein Leben und für meinen Körper. Schade, dass er erst ein paar Vitalfunktionen einstellen musste, damit ich das verstehe. +Selbstliebe kann vieles sein und für jeden etwas anderes. Jetzt, wo mein Krebs zumindest fürs Erste weg ist, bedeutet sie für mich eine Befreiung aus den Rollen, in denen ich festzustecken glaubte. So wie ich als Krebskranke innerlich gewachsen bin, will ich jetzt in anderen Rollen wachsen: als Partnerin, Freundin, Tochter, Entertainerin und ab und an auch mal als Trägerin experimenteller Augenbrauen. + diff --git a/fluter/selbstoptimierung-techniken-ausprobieren.txt b/fluter/selbstoptimierung-techniken-ausprobieren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a57ed2ce841e54e9a96df73bace9696878f9444e --- /dev/null +++ b/fluter/selbstoptimierung-techniken-ausprobieren.txt @@ -0,0 +1,40 @@ +Vielleicht finden Menschen ja Erfüllung darin, ihr Leben wie eine Firma zu betrachten, in der jede Minute prozessoptimiert genutzt werden kann. Womöglich ist es auch für mich noch nicht zu spät. Ich probiere es aus: Ich will nicht weniger als die optimale Woche verbringen. Sollte ich dabei mal durchatmen oder – Hilfe! – zweifeln, nehme ichAnja Röckes Buch "Soziologie der Selbstoptimierung"zur Hand, um Tag für Tag schneller, schöner, effizienter und konzentrierter zu werden. + +SeitCoronahabe ich das Gefühl, ständig mit meinem Gesicht konfrontiert zu sein. In Videocalls schaue ich meine eigene Kachel an, beim Öffnen von Insta-Storys schau ich mir 200-mal täglich über die Frontkamera ins Gesicht, ja selbst beim Facetime-Anruf bei meiner Mutter habe ich im Grunde das Gefühl, mit mir selbst zu reden. Diese Selfiepermanenz scheint nicht nur mich zu verunsichern, dieSchönheitschirurgiejedenfalls boomt. Weil mir für derlei ästhetische Eingriffe ein bisschen Geld fehlt und viel Mut, tritt das Thema Skincare in mein Leben. +Eine Freundin von mir hatte eines Tages einen auffallend guten Teint. Auf meine Frage, wo der so plötzlich herkäme, sagte sie: "Lena, alles, was dein Gesicht braucht, ist Vitamin A, B und C." Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutet, aber wenige Tage später glich mein Bad einer Apotheke. Kleine braune Glasfläschchen mit stilvollen Pipetten und Beschriftungen wie Hyaluronic Acid 2 % + B5, Vitamin C Suspension oder Retinol 0,5 % in Squalane. Ein Fläschchen mit roter Flüssigkeit verspricht, meine oberste Hautschicht wegzuätzen, bis mein Gesicht porenfrei ist. Nach ein paar Tagen und immer mehr Bestellungen stelle ich fest: Neben meinen Poren ist auch mein Selbstbewusstsein kleiner geworden. Kaum ist eine Gesichtsbaustelle behoben, entdecke ich eine neue. Wir Selbstoptimierer haben immer was zu tun. Und: Mit der Annahme, Selbstoptimierung sei nur etwas für Menschen mit viel Geld und Zeit, lag ich falsch. Skincare gibt es für sehr viel, aber auch sehr wenig Geld. + + +Dass Selbstoptimierung demokratischer wird, beschreibt auch Anja Röcke in ihrem Buch. Sie nennt das eine Ausdifferenzierung der Konsumgesellschaft, die für jeden das passende Angebot bereithält: "Mc-FIT oder Holmes Place, Nahrungsergänzungsmittel der Drogerie-Hausmarke oder vom exquisiten Spezial-Internethandel, die noble Schönheitsklinik oder das günstige Angebot für den kleinen Geldbeutel." Wahrscheinlich gilt die These nicht fürdie Ärmsten einer Gesellschaft, die Zeit und Geld schlicht zum Überleben aufwenden müssen. Daneben aber können (oder müssen) sich heute viele Menschen optimieren, schreibt Röcke, auch die, die noch vor wenigen Jahren verschont geblieben wären. "Noch nie zuvor hat es das Phänomen der Selbstoptimierung in dieser umfassenden Form und mit dieser gesellschaftlichen Reichweite gegeben." +Apropos Reichweite. Einen weiteren ersten Schritt im Best-Body-Programm finde ich im Netz: Schritte zählen. Durch die Pandemie ist auch meine Wohnung zum Büro geworden, oft gehe ich an einem Tag maximal bis in die Küche. Ich nehme mir also vor, jeden Tag mindestens 10.000 Schritte zu gehen – besser mehr, ist ja klar. +Nach ein paar Tagen kommt von meinem Smartphone die frohe Botschaft: Du schaffst dieses Jahr durchschnittlich mehr Schritte pro Tag als im letzten Jahr. 15.000 im Schnitt, schon toll. Nur verfliegt die Euphorie schnell: Die Bewegung tut mir gut, aber oft geht es nur noch darum, eine Zahl zu erreichen.An Tagen, an denen ich den Schrittzähler besiege, fühle ich mich gut, egal ob der Spaziergang Spaß oder Sinn gemacht hat. Wenn ich das Ziel verfehle, bin ich enttäuscht. Selbstoptimierung konfrontiert einen, anders, als es auf Instagram aussieht, vor allem mit der eigenen Unfähigkeit. Röcke beschreibt Selbstoptimierung im Gegensatz zur Selbstverbesserung als Prozess, der zeitlich entgrenzt ist. Heißt: Es gibt kein Ende – und das kann krank machen. Burnout, Sportsucht oder Depression: Man muss sich Selbstoptimierer*innen nicht zwingend als glückliche Menschen vorstellen. + +Als freie Journalistin ist meine Arbeit ohnehin schon optimiert worden, nur leider nicht von Journalist*innen selbst: Gute Arbeit wird oft ungut bezahlt, hoher Aufwand trifft enge Deadlines. So geht es vielen Selbstständigen in der Kreativwirtschaft, die ganz entgegen dem Bild vom Freelancer, der nur arbeitet, wenn es nach zwölf ist und ihn die Muse küsst, nur überleben können, wenn sie ihre Arbeitszeit optimieren. Mein Endgegner dabei ist die ständige Ablenkung. Natürlich kennt die Selbstoptimierungsindustrie auch darauf eine Antwort: Pomodoro. +Die Idee: Die Arbeitszeit wird in 25-Minuten-Intervalle gegliedert, in denen sklavisch an der Arbeit festgehalten werden soll. Nach jedem Intervall gibt es fünf Minuten Pause, nach einigen solcher Einheiten auch eine längere Pause. Die Zeit stoppt man auf Seiten, die klingeln, wenn eine Einheit durch ist, oder mit einer dieser Küchenuhren, die aussehen wie eine Tomate. Daher der Name der Methode. +Jetzt unterbricht das Klingeln des Pomodoro-Weckers leider ständig meine Tagträume. Für Steuererklärungen ist die Technik vermutlich perfekt, aber kreative Arbeit lässt sich nicht takten. + + + +Als ich einen Freund frage, wie er sich selbst optimiert hat, sagt er nur: "Buchweizen." Seit fünf Tagen ernähre er sich von Buchweizen, morgens, mittags, abends, in verschiedenen Härtegraden. Ein paar Stunden später blubbert brauner Schleim auf meinem Herd, daneben ein Topf mit gedämpftem Gemüse ohne Salz. Buchweizen zählt zu den heimischen Superfoods, eigentlich ein Pseudogetreide, weil es frei von Weizen und Gluten ist. Es enthält viele Nährstoffe und eignet sich damit perfekt für einen optimierten Speiseplan. Nur schmecken tut es nicht. Und für meine optimale Woche wäre die Buchweizendiät ohnehin eine verschenkte Chance: In kaum einem Bereich des Lebens kann man sich so optimieren wie in dem der Ernährung. +Weiterlesen + + +Unser Autor isst für sein Leben gern Lachs. Aber wie kommt der eigentlich auf seinen Teller?Die Frage hat ihm keine Ruhe gelassen +Vegetarisch, vegan, ökologisch, mit Fisch, ohne Fisch, regional, Paleo. Ich esse meist vegetarisch, ziemlich undogmatisch aber auch mal ein Schnitzel, und sonst nichts, das mein Leben verändern könnte. Als ich am Sonntag vor Antritt meines Selbstversuchs überlege, wie man sich optimal ernährt, finde ich in der Arte-Mediathek eine sehr lange Doku. Am Beispiel eines Tiefkühl-Cordon bleus (diese Speise, bei der zwischen zwei Scheiben Schwein Schinken und Käse rausläuft) prangert sie giftige Zusatzstoffe und Fettmacher in der Lebensmittelindustrie an. Wer nicht selbst mit frischen Lebensmitteln kocht, heißt es da, riskiert seine Gesundheit. Für alle, die keine Zeit haben (siehe Montag: Körper), jeden Tag unverarbeitete Lebensmittel zu verkochen, hat die Doku aber auch eine Lösung: Yuka, eine App zum Lebensmittelchecken. Einmal den Barcode gescannt, schon weiß ich, dass Hafermilch mega (natürlicher Zucker) und Sojawürstchen schlecht (zu viel Salz, E-Stoffe) sind. +Im Supermarkt stehe ich jetzt viel länger und häufiger im Weg, aber das ist mir im Kampf gegen Verfettung, Krebs und wovor die App sonst noch warnt, egal. Wenn ich irgendwann meine neue, optimale Produktpalette zusammenhabe, wird der Einkauf sicher schneller gehen. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dabei zu viel Zeit zu verlieren. In der Zeit könnte ich die Zusammenfassungen von mehreren Büchern lesen. Oder auf LinkedIn wertvolle berufliche Kontakte knüpfen. +Zum Glück hat die Stadt die Lösung für mich: Lieferservices, die versprechen, Lebensmittel in unter zehn Minuten zu liefern. Eine Verheißung für Selbstoptimierer wie mich: Minuten im Supermarkt sparen, die meinem sogenannten produktiven Leben zugutekommen. Ich bestelle über die App. Und stelle schnell fest, dass meine neue Freiheit das Leben anderer eher suboptimal macht: Nach wenigen Minuten klingelt ein junger Mann, der gehetzt meinen Einkauf aus seinem kleinwagengroßen Rucksack fummelt und grußlos wieder kehrtmacht. +Überhaupt lässt mein selbstoptimiertes Leben wenig Platz für zufällige Begegnungen im Alltag, die sich nicht verwerten lassen. Ich treffe gehetzte Rucksackboten statt launiger Kassierer, übersehe beim Blick in die Yuka-App meine Nachbarin in der Schlange beim Bäcker und mit einem Jahresvorrat an Buchweizen fällt auch der nächtliche Döner aus. Wenn man nur sich selbst im Fokus hat, wird die Umgebung unscharf. Aber klar, ich könnte pro Tag auch eine halbe Stunde für den Zufall einplanen. + +Mein erster Tag im 5 AM Club beginnt um halb zehn. Mist, verschlafen. Der Club basiert auf dem gleichnamigen Buch, in dem der Autor Robin Sharma dazu ermutigt, schon nach der Hälfte der Nacht aufzustehen. Die Zeit zwischen fünf und sechs Uhr heißt bei Sharma "Siegesstunde", weil man von niemandem abgelenkt wird und sich auf sich selbst konzentrieren kann. Die Stunde soll man bestenfalls der Bewegung, Reflexion und Weiterbildung widmen, zum Beispiel direkt nach dem Aufwachen Sport treiben, Tagebuch schreiben und zum Schluss "inspirational quotes" erfolgreicher Menschen lesen. + + +Meine erste wache Siegesstunde verlebe ich nach einigen missglückten Anläufen am Donnerstag. Ich lasse mich auf YouTube von einer Work-out-Frau anschreien, danach schreibe ich meine Ziele für die nächsten Jahre auf und lese. Nach dem Frühstück gehe ich direkt an den Schreibtisch. Es ist immer noch vor elf, ein gelungener Morgen. Dafür wird mein erster Tag im 5 AM Club lang und länger, um 21 Uhr schlafe ich auf der Couch wie ein Stein. +Ich bleibe bis Sonntag im 5 AM Club und gebe dann auf. Sharmas eigentliche Motivation scheint mir nicht der morgendliche Erfolg an sich, sondern das Gefühl der Erhabenheit: Während ihr alle noch schlaft, erarbeite ich mir schon einen Produktivitätsvorteil, von dem ich den Rest des Tages zehre. Meine Augen sind klein, aber von Genugtuung wie poliert. So will ich nicht sein. + +Das erste Opfer meiner optimalen Woche war genau genommen mein Freund. Ich mag ihn sehr. Aber nach Abwägung seiner Vor- und Nachteile stellte ich schon zu Beginn der Woche fest, dass die negativen Aspekte überwiegen. Er trug es mit Fassung, ich sitze am Ende der Woche mit Liebeskummer auf dem Sofa. +Das wird man wohl noch abonnieren dürfen: Mit unseremNewsletterbekommst du alle zwei Wochen fünf Highlights aus der fluter-Redaktion +Das kann es doch nicht sein. Wie lassen sich meine Gefühle gewichten, wenn aus meinem Freund eine Pro-Kontra-Liste wird? Stellen sich jetzt schon Hormone in den unternehmerischen Dienst der Selbstoptimierung? Ich befrage meine Hausheilige Anja Röcke. +Sie sieht inamorevor allem sexuelles Potenzial: eine Bühne für das männliche Leistungsparadigma und einen Wachstumsmarkt für Potenzmittel.Frauen scheint da nur die hormonelle Verhütung zu bleiben, die Mädchen empfohlen wird, um schöne Haut und keine Babys zu bekommen, insgesamt also eher ihren Wert auf dem Arbeitsmarkt steigert. Alles ziemlich abgeklärt, alles interessant, alles nicht eben wirksam gegen meinen Liebeskummer. Ich greife zur Großsoziologin der Liebe: Bei Eva Illouz schließen sich ökonomisches Handeln und authentische Gefühle nicht aus. Sie schreibt, der Kapitalismus habe eine eigene Form berechnender Emotionalität ausgebildet. Ich muss an Freunde denken, die klagen, sie hätten wieder mal "zu viel in eine Beziehung investiert". An Freundinnen, die auf Tinder rumswipen, als könne man Menschen in Warenkörbe verschieben. Mir ist diese Herzensnüchternheit nach gerade mal einer Woche als Liebespragmatikerin plötzlich ziemlich fremd. +Um Herz und Kopf zu trennen, überlege ich kurz, mich auf einer Seite für bezahlte Dates anzumelden. Da können Frauen ihre Aufmerksamkeit und Zeit an zahlende Männer verkaufen. Die Idee finde ich erfrischend. Wenn Dating ohnehin darauf hinausläuft, dass Menschen Beziehungen eingehen, um indirekt ihren Marktwert zu steigern: Warum nicht eine Dating-App, die ihr ökonomisches Prinzip offen vor sich herträgt? Liebe als Ware, no need for lies. +Soweit bin ich also gekommen in einer Woche Selbstoptimierung. Ich habe mir Ziele gesetzt und die dann auch erreicht, das gelingt sonst selten. Die Beschäftigung mit mir selbst war intensiv und gleichzeitig erholsam. Aber: ziemlich einsam. Wozu perfekte Poren, eine ausgefeilte Morning-Routine, alle Nährstoffe und ein volles Konto, wenn ich am Ende niemandem von meiner Einsamkeit erzählen kann? Von meinen Abstiegsängsten? Dem Gefühl, mit jeder Optimierung eine neue Stelle an mir aufzutun, die noch Luft nach oben hat? Ich könnte ein selbstoptimiertes Jahr hinlegen, es würde immer noch Bereiche meines Lebens geben, die nicht auf einer To-do-Liste stehen. Einige Bereiche und ein Organ. So weh das auch tut, ich finde diesen Gedanken irgendwie tröstlich. + + diff --git a/fluter/self-made-netflix-rezension.txt b/fluter/self-made-netflix-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6d680a6fa019b76ac7d6107bcf6febc30fc2746d --- /dev/null +++ b/fluter/self-made-netflix-rezension.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Genug Stoff also, um eine rasante vierteilige Serie daraus zu machen. Sie unterhält, inspiriert, gibt Hoffnung und lässt Tränen fließen. Madam C.J. Walker, so heißt Sarah nach ihrer Hochzeit, wird grandios gespielt von der Oscargewinnerin Octavia Spencer. Sie kämpft sich durch – gegen dieMännerwelt des Kapitalismusund ihre Rivalinnen. +Dieser Kampf beginnt beim Bewerbungsgespräch in einem Beautysalon. Doch weil sie nicht dem Schönheitsideal entspricht, bekommt sie den Job nicht. Zu dunkel ihre Hautfarbe, zu kraus ihr Haar.Dieses Problem begegnet schwarzen Frauen auch heute noch.Gerade das Haar ist oft Grund für Diskriminierung – damals wie heute. Auch wenn dies meist subtiler als früher passiert, sind Schönheitsideale immer noch rassistisch. Michelle Obama kennt die Öffentlichkeit nur mit geglätteten Haaren, Beyoncé trägt Perücken, und welche Haarstruktur hat Rihanna überhaupt? Gleichzeitig ist diese Erwartung, der schwarze Frauen oft gerecht werden müssen, wohl der Grund, der Madam C.J. Walkers Beautyimperium erst ermöglicht. + +Die vierteilige Serie "Self Made: Das Leben von Madam C.J. Walker" ist seit 20. März auf Netflix zu sehen + +Sie startet nach der Jobabsage ihr eigenes Haarpflege-Geschäft, zuerst im kleinen Stil von Tür zu Tür. Walkers Ehrgeiz ist – auch aus heutiger Sicht – beeindruckend. Laut der Studie "Frauen und Selbstständigkeit" sagen nur 20 Prozent der in Deutschland lebenden Frauen, dass sie gerne ein Unternehmen gründen würden. Davon glauben wiederum nur zwei Prozent, dass sie ihren Traum verwirklichen könnten. +Walker ist nicht unterzukriegen. Selbst als ihr Keller ausbrennt, in dem sie ihre Produkte produziert, denkt sie nicht einmal daran aufzuhören. Stattdessen beschließt Madam C.J. Walker, eine Fabrik zu eröffnen: Sie ist eine Stehauffrau, hat bald schon Tausende von Angestellten im ganzen Land und eröffnet in New York mit ihrer Tochter A'Lelia den Schönheitssalon Dark Tower, der später zu einem beliebten Partyort wird. +Die Männerwelt macht es ihr erwartungsgemäß nicht leicht. Auf der Suche nach Investoren belächelt man sie als Frau und spricht anfänglich nur mit ihrem Mann. Mit ihrem steigenden Erfolg verliert sie die Nähe zu ihm. Er geht fremd, wirft ihr vor, dass sie sich nur um Geld kümmere und nicht mehr um ihn. Frauen sollten für ihren Mann da und Mutter sein. +Der Feminismus kämpft 120 Jahre nach Madam C.J. Walker immer noch gegen ähnliche Dynamiken an. Das zeigt die Serie auf eindrucksvolle Weise. "Self Made" ist grandios und lässt einen wundern, warum man von dieser Frau, die es trotz Marginalisierung an die Spitze der Unternehmenswelt schafft, noch nie gehört hat. Größter Makel? Es sind nur vier Folgen. Perfekt, dass Ururenkelin A'Lelia Bundles gerade an der Biografie ihrer Uroma und Namensvetterin A'Lelia Walker schreibt. Als Unterstützerin der New Yorker Kunst und LGBTQ+-Community legte sie eine große Kunstsammlung an und veranstaltete liberale Partys in ihrem Zuhause. Hoffentlich sieht Netflix in diesem Stoff Potenzial für eine zweite Staffel. + diff --git a/fluter/senden-kann-boese-enden.txt b/fluter/senden-kann-boese-enden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9816ff7f8ff663941b21fb2d2db2c40fcb61fe5e --- /dev/null +++ b/fluter/senden-kann-boese-enden.txt @@ -0,0 +1,32 @@ +Wafaa Al Badry: Dass ich Journalistin wurde, hat aber einen anderen Grund: Journalismus schien mir das Werkzeug zu sein, mit dem ich erzählen kann, was mich bewegt. +Eine Weile schien das in Ägypten auch möglich zu sein. 2011, nach der Revolution, entstanden neue Zeitungen und Blogs. Es gab neue Fernsehsender. +Alles schien plötzlich möglich. Man konnte seine Meinung äußern, Journalisten wurden gesucht, statt eines Medienmonopols gab es einen Medienmarkt. Im Fernsehen fingen wir an, live zu senden – mit Technik, von der wir vor der Revolution geträumt hatten. Ende 2011 arbeitete ich bereits für einen namhaften Fernsehsender, der allerdings auch bekannt dafür war, das alte, das Regime des früheren Präsidenten Husni Mubarak zu unterstützen. +Wie hat sich das gezeigt? +Der Mann, dem der Fernsehsender gehörte, war einer der Firmenbosse und Mubarak-Getreuen, denen vorgeworfen wurde, während der Revolution Männer auf Pferden und Kamelen zum Tahrir-Platz gehetzt zu haben, mitten in die demonstrierende Menge. Dabei starben Menschen, der Vorfall wurde zu einem der berüchtigtsten während des Aufstands gegen Mubarak. Die Sache wurde später vor Gericht verhandelt, es gab aber Freisprüche. +Wie bestimmte der Besitzer des Senders darüber, was in den Nachrichten lief? +Wir bekamen Anweisungen, bestimmte Informationen über bestimmte Personen zurückzuhalten. Sag nichts über den. Sag nichts über die. Ignoriere, wenn es was zu sagen gäbe. +War das das erste Mal, dass Sie Zensur so direkt erlebt haben? +Nein, solche Dinge kamen schon zu Studienzeiten vor. Einem Freund wurde ein Jahr lang verboten, die Uni zu betreten. Er schrieb Theaterstücke und hatte einen Song komponiert, der systemtreuen Studenten oder Professoren wohl nicht passte. +Wovon handelte der Song? +Er richtete sich gegen Mubaraks Sohn. Nicht direkt gegen ihn, aber dagegen, dass die Herrschaft über unser Land einfach vom Vater zum Sohn weitergereicht werden sollte. 2005 oder 2006 war das, Mubarak war damals noch Präsident – und Gamal, sein Sohn, bereitete sich darauf vor, Präsident zu werden. +Unter welchem Regime waren die Einschränkungen für die Presse am dramatischsten? Unter dem alten Präsidenten Husni Mubarak, seinem frei gewählten islamistischen Nachfolger Mohammed Mursi oder jetzt unter dem Ex-Militär Abdel Fattah al-Sisi? +Wie soll ich das vergleichen? Unter Mubarak haben sie dich ins Gefängnis gesteckt, wenn du etwas geschrieben hast, das sie nicht mögen. Unter Mursi haben sie gedroht, dich umzubringen, und ins Gefängnis gesteckt. Und unter al-Sisi wirst du ins Gefängnis gesteckt und womöglich noch rechtskräftig zum Tode verurteilt. +Als Sie 2013 über das Goethe-Institut nach Deutschland kamen – war das Ihre Art zu fliehen? +Eigentlich hatte ich vor, vielleicht in die USA zu gehen. Ich bewarb mich in englischsprachigen Ländern, weil ich Englisch konnte – Deutsch nicht. Eine Freundin bestand darauf, dass ich es trotzdem versuche, und dann war ich eine von elf Journalisten aus der arabischen Welt, die das Goethe-Institut für zwei Monate nach Deutschland einlud. +Haben Sie Ihre Tochter mitgenommen? +Nein. Das ägyptische Recht erlaubt es einer Mutter nicht, mit ihrem Kind auszureisen – ohne das Einverständnis des Vaters. Und das habe ich noch nicht. +Sie brauchen eine Einverständniserklärung des Vaters, um mit Ihrer Tochter in ein anderes Land zu fliegen? +Wenn ich dort leben will, ja. Und das will ich, ich lerne Deutsch, versuche, mir ein Netzwerk in Deutschland aufzubauen. Bloß die Vorstellung, meine Tochter zurückzulassen – dass es ein oder zwei Jahre dauern könnte, bis ich sie nachholen darf –, macht mir Angst. Ich habe zwar eine große Familie, die für sie sorgen kann. Aber eine Fernbeziehung mit meiner Tochter führen? Das gefällt mir nicht. +In den zwei Monaten, die Sie in Deutschland waren, haben Sie bei der Deutschen Welle gearbeitet. Plötzlich weit weg von Befehlen und Zensur zu sein – inwiefern hat das Ihre Arbeit verändert? +Obwohl ich für Kulturthemen zuständig war, war ich hungrig nach Politik. Weil es meine Chance war, zu sagen, was ich wollte. An etwas Wahrem zu arbeiten. Mein erster Beitrag war einer über die Flüchtlinge am Berliner Oranienplatz. +Sie haben das Flüchtlingscamp gesehen – und trotzdem ist Berlin Ihr Zufluchtsort? +Der Himmel! Berlin ist der Himmel für mich. In Kairo – überhaupt in Ägypten – überlege ich ständig: Was sind mögliche Folgen von dem, was ich gerade tue? Wenn ich zu Hause ein politisches Lied höre, drehe ich die Lautstärke runter. Wegen der Nachbarn. Und wenn du arbeitest, musst du dich verbiegen. Dem Regime schmeicheln, dem Militär. Das größte Problem, das mir in Deutschland begegnen kann – Rassismus –, ist da vergleichsweise klein. +Klein? +Rassismus erfahre ich hier in Ägypten auch. Ich bin schwarz. Beim Fernsehen durfte ich als Reporterin arbeiten, nicht aber als Moderatorin. Obwohl ich live sicher auftrete. Ich habe ein Jahr lang versucht, meine Kollegen davon zu überzeugen, dass ich auch vor der Kamera gut bin. Ich bat, dass sie es mich versuchen lassen, dann würden sie schon sehen, dass ich es kann. Sie haben mir nicht geglaubt, bis es eine Art Notfall so gewollt hat. Es musste schnell gehen mit einem Bericht, und ich war gerade da. Von nun an hieß es: Na gut, du kannst auch mal moderieren. Wenn wir dich brauchen. Meine letzte Festanstellung endete allerdings damit, dass mein Chef sagte: Ich mag dein Gesicht auf dem Bildschirm nicht. Und in Ägypten ist es nicht so, dass dein Vertrag ausläuft und du dann deine Sachen packst. Du wachst auf und gehst nicht mehr ins Büro. +Vor kurzem hieß es, der jetzige Präsident Abdel Fattah al-Sisi plane den Bau einer neuen Hauptstadt. Elf ägyptische Zeitungen brachten hierzu die Schlagzeile: "Ägypten erwacht". Was denken Sie, wenn Sie elfmal dasselbe lesen? +Dass Medien vom Regime geführt werden, kann niemand nachweisen. Aber jeder weiß es. +Worüber können Sie deshalb nicht berichten? +Früher habe ich viel über Minderheiten, wie etwa Christen, berichtet. Solche Themen sind mittlerweile zu riskant. Auch deshalb bewerbe ich mich gerade an der Freien Universität in Berlin. Bei meinen Aufenthalten in Deutschland war ich vom deutschen Bildungssystem beeindruckt. Ich würde meine Tochter gern davon profitieren lassen und selbst wieder studieren, in Deutschland meinen Master in Journalismus und Politikwissenschaften machen. +Was soll Ihr Thema sein an der Universität? +Es soll um die neue Generation der Muslime in Deutschland gehen – und um die verschiedenen Interpretationen des Islam. +Wafaa Al Badry, Jahrgang 1986, kam auf Einladung des Goethe-Instituts 2013 für eine Weiterbildung und ein Praktikum zur Deutschen Welle nach Berlin und Bonn. In diesem Frühjahrbloggtesie für das Goethe-Institut über die Berlinale. Im Juni wird sie zumGlobal Media Forumder Deutschen Welle nach Bonn reisen und bei einem Workshop des Goethe-Instituts sprechen. diff --git a/fluter/sensible-faustschlaege.txt b/fluter/sensible-faustschlaege.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..14e0cd0de71fd8359540f5666b28b321934a7d9d --- /dev/null +++ b/fluter/sensible-faustschlaege.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +In ihrer Schule sind Tom und Damien die Außenseiter. Als im Sportunterricht Mannschaften gewählt werden, muss der Lehrer den beiden Jungen Teams zuweisen, weil niemand sie haben will. Es ist nicht das letzte Mal in André Téchinés Wettbewerbsbeitrag "Quand on a 17 ans" ("Being 17"), dass die natürliche Autorität der Erwachsenen unangetastet bleibt. +Tom und Damien sind Einzelgänger, aber sie kommen auch nicht miteinander klar. Tom unterscheidet sich schon äußerlich von seinen Klassenkameraden: Seine Eltern kamen aus dem Maghreb, nun lebt er mit seinen französischen Adoptiveltern außerhalb einer Kleinstadt in den Bergen auf einem Bauernhof. Doch seine Herkunft ist nicht der Grund für seine Isolation, sie scheint eher wie ein Vorwand, um sich von seinem sozialen Umfeld abzugrenzen. Rassismus spielt von allen Konflikten, von denen Regisseur Téchiné und seine Drehbuchautorin Céline Sciamma (zuletzt mit dem großartigen Mädchengangfilm "Bande de filles" im Kino zu sehen) in ihrem für kleine Gesten aufmerksamen Jugendfilm erzählen, ohnehin die geringste Rolle. Tom liebt die Berge und würde gerne Tierarzt werden. Aber die Noten reichen nicht aus, auch weil der Schulweg lang ist. Drei Stunden gehen dafür jeden Tag drauf, außerdem muss er nach der Schule noch auf dem Hof der Eltern aushelfen. +Da ist Damien privilegierter aufgewachsen. Seine Mutter Marianne ist eine Art Ärztin ohne Grenzen in dem kleinen Ort, manchmal lässt sie sich sogar in Naturalien bezahlen, der Vater – Helikopterpilot der Luftwaffe – glänzt dagegen durch Abwesenheit. An Kampfeinsätzen beteiligt er sich nicht, er ist aber nah genug dran an den aktuellen politischen Konflikten, dass die Coming-of-Age- und später Coming-out-Geschichte auch in der französischen Bergidylle einen starken Realitätsbezug behält. Die Konflikte, um die sich "Quand on a 17 ans" im Verlauf von drei Schultrimestern (und vier Jahreszeiten) unmittelbar dreht, sind jedoch kleiner, persönlicher. +Tom hält Damien für ein verzogenes Muttersöhnchen (Marianne setzt ihn jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit vor der Schule ab), vielleicht findet er das Rimbaud-Gedicht, das Damien im Unterricht vorträgt, auch "schwul". Die Rivalität der beiden Außenseiter nimmt jedenfalls zunehmend gewalttätige Züge an. Marianne kümmert sich derweil um Toms Mutter, die nach mehreren Fehlgeburten wieder schwanger ist – zunächst nicht ahnend, dass sich ihr Sohn und Tom auf dem Schulhof prügeln. +Man könnte es für eine unrealistische Drehbuchwendung halten, dass Marianne Tom eines Tages anbietet, eine Weile bei den beiden zu wohnen, als die Mutter des Jungen ins Krankenhaus eingeliefert wird. Aber man verwirft solche Vorbehalte schnell, weil es in "Quand on a 17 ans" um eine andere Form von Realismus geht. Und der hat ganz viel mit der Körperlichkeit des Kinos zu tun und wie (junge) Menschen sich vor der Kamera bewegen und miteinander agieren. + + +Darin ist "Quand on a 17 ans" so überzeugend, bewegend und auch verblüffend direkt, dass man Corentin Fila als Tom, Kacey Mottet Klein in der Rolle von Damien und Sandrine Kiberlain als Marianne stundenlang zusehen könnte, wie sie ihre Rollen in diesem unwahrscheinlichen Bündnis immer wieder neu für sich entdecken. Als Marianne etwa die Rivalen zum Armdrücken auffordert. Oder wenn Tom ihr seinen Lieblingsausblick in den Bergen zeigt. Man erkennt Téchinés Gespür für die feinen physischen Nuancen des Kinos auch daran, wie er die Kämpfe zwischen Tom und Damien filmt. Mit jeder Prügelei verschiebt sich das Verhältnis von Kamerad- und Feindschaft, als würde unter den Schlägen noch eine andere Kraft ruhen, der sich die beiden gerade erst bewusst werden. +In einer Szene gesteht Damien seiner Mutter, dass er manchmal heimlich weine, und die entgegnet nur, wie stolz sie sei, dass ihr Sohn so sensibel ist. Schöner kann man auch einen Film nicht beschreiben, der voller Kraft ist, ohne unter ihr zusammenzubrechen, und sich dabei empfänglich zeigt für emotionale Zwischentöne. + +"Quand on a 17 ans", Frankreich 2016; Regie: André Téchiné, Drehbuch: Céline Sciamma, mit Sandrine Kiberlain, Kacey Mottet Klein, Corentin Fila, Alexis Loret, 116 Minuten diff --git a/fluter/sensitivity-reader-deutschland.txt b/fluter/sensitivity-reader-deutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d4dffdbeca25c38f9ba3eb0e8cd00dea456c384a --- /dev/null +++ b/fluter/sensitivity-reader-deutschland.txt @@ -0,0 +1,22 @@ + +Victoria Linnea, Mitgründerin des Netzwerks und selbst Sensitivity Reader +Thema: Rassismus +Die Idee für unser Netzwerk ist spontan entstanden. Meine Kollegin Elif Kavadar und ich waren 2018 bei einem Literaturcamp. Dort haben sich Autor*innen mehr Diversität in Romanen gewünscht, aber wussten nicht, wie sie in ihren Texten authentisch über marginalisierte Menschen schreiben können. Weil Elif und ich schon Diskriminierungen erlebt haben und beide Buchmenschen sind – sie hat Germanistik studiert, ich arbeite als freie Lektorin –, haben wir daraufhin sensitivity-reading.de gegründet. Heute kümmern wir uns zu fünft um die Seite, alle ehrenamtlich. Auf der Website sind Sensitivity Reader gelistet. Sie gehören nicht nur selbst zu einer oder mehreren marginalisierten Gruppen, sondern haben auch eine Expertise in ihrem Bereich. +Wenn ich als Sensitivity Reader einen Text lese, markiere ich nicht nur, was diskriminierend ist, sondern erkläre auch, warum und welche Auswirkungen das hat.Asiatisch gelesene Menschenwie ich werden beispielsweise oft sehr devot oder sexualisiert dargestellt. Das ist entwürdigend und rassistisch. Ein weit verbreitetes Klischee ist auch, dass wir alle Nerds seien, meist Musiker*innen oder Mathematiker*innen. Abgesehen davon, dass das natürlich nicht stimmt, wirft man uns damit auch alle in einen Topf. +Obwohl Romane diese Diskriminierungen in der Gesellschaft reproduzieren können, hat die sensibilisierte Darstellung der Charaktere für große Verlage oft keine Priorität: Sie richten sich mehrheitlich an ein weißes Publikum. Sensitivity Reading ist ein politisches Thema, zu dem sich einige nicht eindeutig positionieren wollen. Es ist aber eine Entwicklung erkennbar, und immer mehr Publikumsverlage arbeiten mit Sensitivity Readern zusammen. +Trotzdem kommt unsere Arbeit nicht immer gut an. Es gibt Leute, die uns böse Mails schreiben und uns beschimpfen, weil wir angeblich Zensur betreiben. Dabei sagen wir immer, dass Autor*innen natürlich schreiben dürfen, was sie möchten. Wir wollen nur dafür sensibilisieren, dass man als Autor*in Verantwortung für seinen Text trägt. Bis heute lese ich in Geschichten das Wort "Schl***auge". Das ist für mich und die meisten asiatisch gelesenen Menschen schmerzhaft. + +Tristan Lánstad, Sensitivity Reader +Thema: Abneigung gegen dicke Menschen +Wenn ich in meiner Freizeit Bücher lese, fällt mir oft auf, dass dicke Menschen überhaupt nicht vorkommen. Oder nur in kleinen Rollen: die gemütliche Wirtin, die Knödel serviert, oder der dümmliche Witzbold. Eine beliebte Klischeefigur ist auch die dicke beste Freundin, die selbst keinen eigenen Charakter hat, aber immer lustig ist und die Protagonistin unterstützt. Gerne wird dann gesagt, sie sei zwar dick, aber trotzdem attraktiv. Warum? Weil wir in der deutschen Gesellschaft insgesamt einnegatives Bild von dicken Menschen haben: unästhetisch, faul, disziplinlos, gemütlich oder unhygienisch. Das hat auch damit zu tun, dass wir Gesundheit und die Vorstellungen, die wir davon haben, so sehr glorifizieren. Der vermeintlich perfekte Mensch ist nicht dick,hat keine Behinderungenoder psychische Krankheiten. +Vielen ist nicht klar, dass sich diese realen Diskriminierungen auch in erfundenen Geschichten widerspiegeln. Ich selbst schreibe beispielsweise Fantasy-Geschichten und weiß, dass man da häufig über Dinge schreibt, mit denen man keine persönlichen Erfahrungen hat. Ich kann natürlich dazu recherchieren, aber vieles denke ich mir aus. Das ist ja der Kern von Fantasy. +Nur ist meine Fantasie nicht frei: Jede erfundene Welt ist ein Konstrukt unserer Vorstellung und wird dementsprechend stark von dem geprägt, was wir kennen. Deswegen gibt es auch in Fantasy-Geschichten viele fettfeindliche Klischees. +Die Bücher des mittlerweile verstorbenen britischen Schriftstellers Terry Pratchett sind im deutschen Sprachraum sehr beliebt. Mir selbst gefallen sie auch gut, ich muss da oft lachen. Aber auch Pratchett schrieb immer wieder Charaktere, die durch ihr Dicksein negativ dargestellt werden. Oder welche, die Gewicht verlieren und für die plötzlich alles besser wird. Beispielsweise in dem Roman "Einfach göttlich" mit dem Protagonisten Brutha, der so beschrieben wird: "prankenartige Hände, ein tonnenförmiger Leib und baumstammdicke Beine, die in Spreizfüßen enden". Er verliert bei einer Reise durch die Wüste einen Großteil seines Gewichts und wird gleichzeitig der Prophet des Gottes Om. Ganz so, als ob er das als dicker Mensch nie erreicht hätte. + +Alexandra Koch, Sensitivity Reader und Ehrenamtliche der Plattform +Thema: Behinderung +Schon bevor ich Sensitivity Reader wurde, habe ichin meinem BlogBücher rezensiert. Dassich im Rollstuhl sitze, habe ich dabei lange nicht erwähnt. Ich hatte Angst, dass das sonst zum Hauptthema wird und ich nur darauf reduziert werde. Im Stillen ärgerte mich aber immer, wie einseitig Menschen mit Behinderungen oft dargestellt werden. +In der sechsten oder siebten Klasse mussten wir extra wegen mir die "Vorstadtkrokodile" lesen, weil da ja auch ein Junge im Rollstuhl dabei ist. Das Buch fand ich ehrlich gesagt furchtbar. Der Junge ist ein ganz klischeehafter Behinderter, der nur traurig am Fenster sitzt. Ich weiß noch, wie schade ich es fand, dass er die einzige Figur war, in der ich mich wiederfinden sollte. +Okay, das Buch ist aus den Siebzigern. Aber noch heute werdenMenschen mit Behinderung sehr passivund traurig dargestellt und haben oft sonst keine anderen Eigenschaften. Gerne wird das auch benutzt, um Drama zu erzeugen. Zum Beispiel bei "Ein ganzes halbes Jahr": Da geht es um einen Millionär, der nach einem Unfall im Rollstuhl sitzt. Das Buch ist wirklich ein buntes Potpourri aus Klischees. Angefangen bei der Wortwahl, wenn es heißt, er sei an den Rollstuhl "gefesselt". Dadurch wird suggeriert, Menschen im Rollstuhl seien bemitleidenswert und hilflos. Oder Sätze wie "Natürlich ist er schlecht drauf, er ist schließlich behindert". Als ob Menschen mit Behinderung automatisch ein freudloses und weniger wertvolles Leben führen würden. Zum Teil war das so schlecht geschrieben, dass ich lachen musste. Das Buch ist übrigens ein Bestseller. +In vielen Romanen beobachte ich auch eine sprachliche Trennung der Menschen mit Behinderung von den "Gesunden". Mich nerven zum Beispiel Begriffe wie der "Behindertensessel" oder der "Behindertenurlaub". Ernsthaft? Also ich sitze auch im normalen Sessel und fahre in den normalen Urlaub. Die Menschen mit Behinderung, die ich kenne, haben nicht dieses leidvolle Leben, das nur von ihrer Behinderung dominiert wird. Aber in der Gesellschaft wird das leider häufig so kommuniziert. Das muss sich ändern. + diff --git a/fluter/sequenzieren-bis-der-rechner-schlappmacht.txt b/fluter/sequenzieren-bis-der-rechner-schlappmacht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..21a8a68a9ecd0e66cf2008b57305f49b5c486d75 --- /dev/null +++ b/fluter/sequenzieren-bis-der-rechner-schlappmacht.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Auch für die freie Forschung spielt Big Data eine große Rolle. Letztes Jahr hat ein Forscherteam von der University of Pittsburgh über zwei öffentlich zugängliche Datenbanken mit Gensätzen und Proteinen von Tausenden Brustkrebstumoren Hinweise dafür gefunden, wie Brustkrebs bei Frauen in den Wechseljahren verläuft. +Aber nicht nur für Menschen und Gentechnik ist die massenhafte Datenauswertung relevant, sondern auch für Züchtungen: Wo etwa früher jahrelange Versuche nötig waren, markieren heute Maschinen interessante Eigenschaften auf DNA-Strängen, und Computer rechnen für Millionen von Datensätzen aus, was bei Kreuzungen herauskommen würde. Was besonders vielversprechend aussieht, wird dann umgesetzt. Das Unternehmen Monsanto nutzt dieses "Smart Breeding", auch "Präzisionszucht" genannt, seit über zehn Jahren. Zu den ersten angekündigten Sorten gehörte eine Sojabohne, deren Öl u.a. nicht so schnell ranzig werden soll. Doch beim Züchten blieb es nicht: Für den US-amerikanischen Markt wurde die Sojabohne 2015 in einer gentechnisch veränderten Version zugelassen – und für die EU vor wenigen Wochen. diff --git a/fluter/serhii-plokhy-interview-ukraine.txt b/fluter/serhii-plokhy-interview-ukraine.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..89d1466b2c020ccdec558887f3aaf5725d40bb8c --- /dev/null +++ b/fluter/serhii-plokhy-interview-ukraine.txt @@ -0,0 +1,39 @@ +Der Name Ukraine bedeutet "Grenzland". Was sind das für Grenzen? +Die Ukraine ist historisch betrachtet eine Art Kontaktzone zwischen östlichem und westlichem Christentum, Judentum und Islam. Über lange Zeit war sie aufgeteilt zwischen Österreich-Ungarn, Polen-Litauen, dem Russischen und dem Osmanischen Reich. Das heißt: Es kamen sehr viele kulturelle Einflüsse zusammen. Für das heutige Verständnis ist es meiner Meinung nach wichtig, dass die kulturellen Einflüsse des Westens am wichtigsten für die Identität des Landes waren. +Aber noch heute sieht es doch so aus, als gäbe es einen proeuropäischen Westen und einen nach Russland tendierenden Osten. +Nur weil zwei Sprachen gesprochen werden – Ukrainisch und Russisch –, heißt das nicht, dass es nicht eine gemeinsame Identität gibt, die sich durch den Wunsch nach Demokratie, Freiheit und stabilen staatlichen Institutionen auszeichnet. Auch Russland hat das falsch eingeschätzt und geglaubt, seine Panzer und Soldaten würdenim Donbasvon russischsprachigen Menschen jubelnd empfangen. Stattdessen gab es auch viele, die sich ihnen mit ukrainischen Fahnen entgegengestellt haben. Durch den Krieg ist das Land geeinter. Aber das schließt nicht aus, dass es pluralistisch ist, was die Sprachen anbelangt oder auch die Religion. Wolodymyr Selenskyj ist zum Beispiel der einzige jüdische Präsident außerhalb Israels. +Das Wort Nation hat für viele Deutsche einen negativen Beigeschmack. Fehlt uns daher manchmal das Verständnis für das ukrainische Streben, eine zu sein? +Ich erinnere mich an die deutsche Wiedervereinigung, als mir meine damaligen deutschen Kollegen erzählten, dass es dabei nicht um die deutsche Identität und die Nation gehen würde. Ich musste damals schmunzeln. National zu denken hat ja nicht unbedingt was mit Nazis zu tun. Im Fall der Ukraine sehen wir gerade, wie sich eine Nation rund um Werte wie Meinungsfreiheit und Demokratie bildet – und diese Werte gegen eine Macht verteidigt, die keine Nation sein will, sondern ein imperiales Reich. Die Ukraine ist ein Land, in dem die Demokratie überlebt hat. Nach 1990, aber auch 2004 und 2013, als Russland versucht hat, ein autoritäres Regime zu installieren. All das mündete in heftige Proteste auf dem Majdan. +Rückt die Ukraine gerade mehr nach Westen oder umgekehrt: Europa mehr nach Osten? +Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich Länder wie die Bundesrepublik stark nach Westen gewandt, nach dem Fall der Mauer waren es dann die Länder des ehemaligen Ostblocks wie Polen oder das Baltikum. Sie sahen die Gelegenheit, dem russischen Einfluss zu entkommen, und traten Bündnissen wie der EU und der NATO bei. Die Ukraine fand sich plötzlich in einer Grauzone wieder zwischen Ost und West. Aber auch die Ukraine versuchte, so weit wie möglich von Russland abzurücken und frei ihr Schicksal zu bestimmen. + + +Was lief dann schief? +Unter anderem gab es dieselben Bedenken des Westens wie heute. Man sah die Ukraine geschichtlich nah bei Russland und wollte Russland nicht reizen. Der damalige russische Präsident Boris Jelzin sollte nicht von russischen Nationalisten gekippt werden. Wenn man nach Gründen sucht, warum die Ukraine nicht in der NATO ist, dann ist eine Antwort immer wieder, dass der Westen seine Beziehungen zu Russland nicht verschlechtern wollte. +Wenn der Westen die demokratischen Bewegungen der Ukraine also zu wenig unterstützt hat, wie hat die Demokratie dann überleben können? +Durch die Menschen.Die ukrainische Zivilgesellschafthat ihre Stärke während der Orangen Revolution im Jahr 2004 unter Beweis gestellt, als sie ihr Wahlrecht verteidigte und den Vormarsch des Autoritarismus stoppte. Die Demokratie in der Ukraine hat schon die schwierigste Zeit um 1990 herum überstanden, als sie in Russland, Belarus und den meisten postsowjetischen Republiken in weite Ferne rückte. +Haben die westlichen Länder der Ukraine zu wenig Beachtung geschenkt und Russland zu viel? +Absolut, besonders Deutschland. Das geht auch auf die Ostpolitik der 1970er-Jahre zurück unter Willy Brandt. Damals akzeptierte man die Teilung Europas in Ost und West und setzte auf Wandel durch Annäherung. Ein anderes Schlagwort war "Wandel durch Handel": Man fing an, Öl und Gas in Russland zu kaufen. Damals entstand der Glaube, dass man durch gute Geschäfte den Frieden bewahrt. Und als die Mauer fiel, war das die Bestätigung dafür. Aber die Rezepte von gestern müssen nicht die von heute sein. Der Fehler war, diese Art Politik nicht zu ändern, als Russland immer aggressiver und offen imperialistisch auftrat. Der russische Krieg in Tschetschenien 1994, später in Georgien – all das hat die Politik nicht beeinflusst. Im Gegenteil: Je aggressiver Russland wurde, desto mehr wurden die Handelsbeziehungen ausgeweitet – und mit dem Geld für Gas und Öl hat sich Russland weiter hochgerüstet. Dass auf diese Art Frieden und Wohlstand erhalten bleiben, war magisches Denken. +1994 hat die Ukraine ihre Atomwaffen an Russland abgegeben. War das rückblickend betrachtet ein Fehler? +Es war vor allem ein gebrochenes Versprechen. Mit dem sogenannten Budapester Memorandum verzichtete die Ukraine auf die Atomwaffen, die aus der Sowjetzeit dort lagerten und immerhin das drittgrößte Arsenal weltweit waren. Den USA, Großbritannien, China und Frankreich war es lieber, dass alles in einer, nämlich russischer Hand blieb. Als Gegenleistung erhielt die Ukraine Sicherheitsgarantien von den westlichen Mächten. Man versprach dem Land, einzuschreiten, sollten seine Integrität und Souveränität bedroht werden. Dieses Versprechen wurde gebrochen,als Russland 2014 die Krim annektierte– und kaum etwas geschah. Dabei gab es schon 1994, zur Zeit des Abkommens, in Russlands Parlament Diskussionen über eine Annexion der Krim. Man hätte da schon ahnen können, was später passierte. Wenn man vor diesem Hintergrund sieht, wie der ukrainische Präsident heute um Waffen betteln muss, ist das beschämend. Ich denke, dass die Länder, die damals Sicherheit versprochen haben, nun in der Verantwortung stehen, Waffen zu liefern. +Wie sieht es mit Deutschlands Verantwortung aus? +Deutschland hat eine besondere Verantwortung, denn immerhin fandein Großteil der Verbrechen der Nazis auf ukrainischem Gebiet statt. Denn Hitler hat nicht Russland, sondern die Sowjetunion angegriffen, die nicht nur aus Russland bestand. Wenn man schaut, in welchen Ländern es im Zweiten Weltkrieg proportional zur Bevölkerung die meisten Opfer gegeben hat, dann findet man unter den ersten dreien nicht Russland, sondern: Polen, Belarus und die Ukraine. +Sie meinen, dass Deutschland die Ukraine schon wegen der Geschichte unterstützen muss? +Ich will nicht sagen, dass die Geschichte der einzige Grund ist, aber sie ist sehr wichtig. Wenn von manchen gesagt wurde, man könne keine Panzer liefern, weil deutsche Panzer schon mal in Russland waren, dann ist das historisch fragwürdig: Wenn man auf die Landkarte und die Zahlen schaut, war die Ukraine im Vergleich zu Russland das viel größere Opfer. Das ist in Deutschland vielen nicht klar. +Die Belange der postsowjetischen Staaten bekommen gerade so viel Aufmerksamkeit wie nie. Verlagert sich das politische Zentrum Europas zurzeit Richtung Osten? +Es gibt einen Spruch in den USA: Krieg ist Gottes Art, den Amerikanern Geografie beizubringen. Ich fürchte, das trifft derzeit auch auf viele Länder in Europa zu. Die Zonen politischer Unklarheit werden weniger, vieles klarer. Zum Beispiel, dass Russlands Ziel ist, die Ukraine zu erobern und die Nation zu zerstören. Davor kann die Ukraine nur die Nähe zur EU und zur NATO retten. Also ja: In dem Maße, in dem die Ukraine nach Westen tendiert, tendiert das Zentrum Europas nun weiter nach Osten. + + +Die Kritik an der Ukraine entzündet sich oft daran, dass es rechtsextreme Bewegungen und einen Kult umden Nationalisten Stepan Banderagibt, der Massenerschießungen im Zweiten Weltkrieg zu verantworten hat. +Vor 2014 war Bandera vor allem in der Westukraine für einen Teil der Bevölkerung eine Art Volksheld. Nach dem Beginn des Krieges wurde er dann zunehmend von vielen als Unabhängigkeitskämpfer wahrgenommen. Die meisten Ukrainer, die heute angesichts des Angriffs der Russen Sympathien für Bandera hegen, identifizieren sich nicht mit dem radikalen Nationalismus der Dreißigerjahre. Ich sage nicht, dass es kein Problem mit Rechtsextremismus gibt, aber es ist nicht größer als in anderen Ländern und eignet sich nicht, die Ukraine als Land von Nazis zu diffamieren, wie es die russische Propaganda tut. Die rechtsextremen Parteien sind seit 2014 nicht mehr in Fraktionsstärke im Parlament, weil sie die Fünfprozenthürde nicht genommen haben. +Anden Majdan-Protestensollen sich ebenfalls ultrarechte Gruppen beteiligt haben. +Die Rechtsextremen waren eine von vielen Gruppen, die an den von den prodemokratischen Kräften dominierten Protesten teilgenommen haben. +Ein EU-Beitrittwurde auch immer wieder wegen der Korruption im Land zurückgestellt. Sehen Sie da Veränderungen? +Viele Menschen haben den Schauspieler Selenskyj gewählt, weil sie von korrupten Politikern die Nase voll hatten. Zudem versprach er Frieden. Tatsächlich sehen wir nun einen Präsidenten, der seine Stellung nicht dazu nutzt, der reichste Mensch des Landes zu werden – wie einige seiner Vorgänger oder auch Putin in Russland. Es gab auch vor dem Krieg bereits Gesetze, um die Macht der Oligarchen zu beschränken. Dann kam mit dem Krieg erst einmal eine Zeit, in der es so eine Art Übereinkunft gab, sich vor allem um das Überleben zu kümmern und manches zu verschieben. Das ist vorbei. Die Journalisten sind nicht mehr still, sie recherchieren die ganze Zeit. Und der Präsident distanziert sich von den Beamten, die Korruption in den Ministerien tolerieren. Mal sehen, wie effektiv das ist. Aberes ist ein Ansatz, den es seit 1991 nicht gab. +Wie könnte die Ukraine nach dem Krieg aussehen? +Geeint wie noch nie. Die Chancen stehen gut, dass die Ukraine stärker als Nation daraus hervorgehen wird. Dann wird es um die weitere Integration in die westlichen Systeme gehen – in die NATO und in die EU. Der Preis für all das ist sehr hoch, und der einzige Weg, ihn zu reduzieren, ist, der Ukraine zu helfen, sich zu verteidigen. Das Land steht an vorderster Front eines globalen Konflikts, bei dem es um Demokratie und Freiheit auf der einen Seite geht und Autokratie und Diktatur auf der anderen. +Und was wird, wenn die Ukraine den Krieg verliert? +Ganz einfach: Schauen Sie nach Belarus. Dort leben die Menschen in einer Autokratie. + +Der in Saporischschja aufgewachsene Serhii Plokhy ist Leiter des Fachbereichs für ukrainische Geschichte an der Harvard University. Er veröffentlichte mehrere Bücher über die Ukraine, darunter "Das Tor Europas – die Geschichte der Ukraine" und "Die Frontlinie", erschienen im Rowohlt Verlag. + diff --git a/fluter/serie-arcane-auf-netflix-den-kreislauf-durchbrechen.txt b/fluter/serie-arcane-auf-netflix-den-kreislauf-durchbrechen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..15f06d071757f8b468cf95b80acf8b41ab9eaf1d --- /dev/null +++ b/fluter/serie-arcane-auf-netflix-den-kreislauf-durchbrechen.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Während in der ersten Staffel die emotionalen Prozesse der Figuren – allen voran die Folgen von Jinx' Traumata – bemerkenswert viel Raum einnahmen, ist die zweite Staffel actionreicher und bildgewaltiger. Auch bringt das verantwortliche Animationsstudio Fortiche aus Frankreich wieder viele neue Stile ein, etwa wenn Szenen, in denen es um Trauer geht, wie mit Kohle gezeichnet sind. +Insgesamt ist das Tempo schneller als in der ersten Staffel, was beim Anschauen noch mehr Konzentration abverlangt. Aber "Arcane" war nie eine Serie, die ihr Publikum an die Hand nimmt. Sie ist voller Verweise, Rückbezüge und Full-Circle-Momente, in sich stimmig und deshalb für Detailverliebte sehr befriedigend. +Auf jeden Fall, wie die erste Staffel auch. Die Serie basiert auf der Welt von "League of Legends" von Riot Games, dem global größten E-Sports-Spiel. Man muss "LoL" jedoch nicht kennen, um die Handlung zu verstehen. Dass ausgerechnet eine Serie, die auf einem Videospiel mit weiblichen Champions inübersexualisierten Pin-up-Girl-Looksbasiert, außergewöhnlich vielschichtige Frauenfiguren zeigt, ist zumindest erstaunlich, vielleicht sogar ein bisschen revolutionär. Die Figuren haben realistische (wenn auch immer noch sehr ästhetische) Körper, es werden auch androgyne und als maskulin gelesene Formen von Weiblichkeit gezeigt. Außerdem sind es in der Welt von "Arcane" mehrheitlich Frauen, die die Fäden in der Hand halten, egal auf welcher Seite der Brücke. Anders als im Spiel sind sie nicht durchgehend flirty, weder einseitig gut noch böse, sondern ambivalent. Auch die große Liebesgeschichte ist eine zwischen zwei Frauen. Geschlechterübergreifend ist die Serie ein Paradebeispiel für Repräsentation, sie zeigt Vielfalt, ohne sie zu forcieren. Die Figuren werden durch ihre komplexe Persönlichkeit und ihre Fähigkeiten definiert und durch nichts anderes. +Eines der wichtigsten Gespräche führt Jinx in ihrem Kopf mit ihrem verstorbenen Ziehvater, dem ehemaligen Unterwelt-Boss Silco. Jinx hat aufgegeben, sie ist es leid, immer wieder alles zu verlieren. "Töten ist ein Kreislauf", sagt Silco. Aber wie kommt man aus diesem heraus? "Arcane" ist ein Plädoyer für die zweite Chance: Auch wenn man bisher immer auf dem falschen Weg war, die Möglichkeit zu haben, sich anders zu entscheiden, kurz: den Kreislauf zu durchbrechen. + +Alle neun Folgen der zweiten Staffel und die gesamte erste Staffel laufen auf Netflix. Freigabe ab 16 Jahren. + diff --git a/fluter/serie-its-a-sin-rezension-starzplay.txt b/fluter/serie-its-a-sin-rezension-starzplay.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ac569ebb8f6c8a4fbcb149fc37164bc08854b485 --- /dev/null +++ b/fluter/serie-its-a-sin-rezension-starzplay.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +HIV ("Humanes Immundefizienz-Virus") schädigt das Immunsystem und kann unbehandelt zu lebensgefährlichen Erkrankungen führen. Das nennt man dann AIDS ("Acquired Immune Deficiency Syndrome", auf Deutsch: "Erworbenes Abwehrschwäche Syndrom). Weltweit sind 38 Millionen Menschen mit HIV infiziert, allein 690.000 Menschen starben 2019 daran. Anders als in den 80er-Jahren bedeutet HIV-positiv zu sein für viele jedoch kein Todesurteil mehr. Mit der entsprechenden Behandlung können Erkrankte fast genauso lange leben wie der Rest der Bevölkerung. +Als die ersten Aids-Fälle Anfang der 1980er-Jahre bekannt wurden, nahmen viele an, es handele sich um eine schwere Lungenentzündung oder Hautkrebs. Und als sich dann herausstellte, dass hauptsächlich Homosexuelle daran erkrankten, waren die "Schuldigen" schnell ausgemacht.Das Stigma haftet schwulen Männern oft bis heute an. Dem Regisseur der Serie Russel T. Davies (bekannt für "Queer Folk", "Doctor Who" oder"Years and Years"), der selbst homosexuell ist, war wichtig, diesen Teil der Geschichte wieder auf die Agenda zu setzen: "Mir ist bewusst", sagte er in einem Interview, "dass junge Menschen, die heute aufwachsen, nichts darüber wissen. Und seien wir ehrlich: Die, die dabei waren, im Grunde auch nicht." +Regisseur Davies setzt bei "It's a Sin" auf einen waschechten Achtziger-Soundtrack. Und obwohl die dramatische Grundstimmung in den ersten zwei Folgen, die der Presse vorab zugänglich waren, nach und nach zunimmt, macht es Spaß, der Gruppe zuzusehen: Dabei, wie sie – untermalt durch Musik der Pet Shop Boys, Soft Cell oder Kelly Marie – ihre Freiheit auf dem Dancefloor und im Bett auslebt. Dabei, wie erleichtert Ritchie, Colin und Roscoe sind, endlich sie selbst sein zu können. +Umso krasser wirkt im Gegensatz dazu die tödliche Bedrohung um sie herum, die nicht alle wahrhaben wollen. Während in einer Einstellung Ritchie, Roscoe und Colin hochmotiviert von ihren Zukunftsplänen erzählen, wird in der nächsten die Leiche von Colins Arbeitskollege aus dem Krankenzimmer gebracht. So mischt sich in vielen Szenen Komik mit Drama, etwa als Ritchies Vater ihm auf der Überfahrt von der Isle of Wight nach London – im Glauben, sein Sohn stehe auf Frauen – Kondome zusteckt und Ritchie diese schnell über Bord wirft. + + + +Jill ist die Erste, die die dramatische Dimension der Situation begreift, als sie zu Colin sagt: "Es verbreitet sich hier eine krass tödliche Krankheit und das alles geschieht in absoluter Stille!" Damit beschreibt sie, was vielen Männern in den 1980er-Jahren widerfuhr: Hunderte starben alleine und isoliert, da man Angst hatte, ihnen nahe zu kommen. Denn wie die Krankheit übertragen wurde, wusste bis dahin niemand. Nicht selten isolierten sich die Erkrankten aus Scham auch selbst. Eine Scham, die vor allem von der Presse befeuert wurde. So nannte "Der Spiegel" Aids 1983 die "Homosexuellen-Seuche" , andernorts sprach man von der "Schwulen-Pest". Da es – vermeintlich – nur eine Minderheit betraf, die zudem noch gesellschaftlich geächtet war, dauerte es eine Weile, bis ein Bewusstsein für die Krankheit entstand und dafür, wie man sich vor ihr schützen kann. +"It's a Sin" schafft es eindrücklich, die Zuschauer:innen an den Punkt der Geschichte zurückzuversetzen, als Aids nur ein großes, bedrohliches Fragezeichen war. Das Unwissen über die Krankheit und die Panik, die daraus resultierte, sind etwa zu Beginn an Jill zu beobachten: Als ein Freund erkrankt, und sie ihn als Einzige besucht – immer mit Gummihandschuhen, Desinfektionsmittel und Abstand –, ist sie bald überfordert. Abends sitzt sie in der Badewanne und schrubbt minutenlang ihren gesamten Körper. Geschirr, das der Freund benutzt hat, schmeißt sie in den Müll. Es sind Szenen, die an den erstenCorona-Lockdown im Frühjahr 2020erinnern – nur dass in den 1980er-Jahren eben besonders eine Gruppe unter der Last der Ungewissheit zu leiden hatte. Die Kraft, mit der "It's a Sin" von dieser Katastrophe erzählt, hatte in Großbritannien, wo die Serie im Januar anlief, reale Konsequenzen: Nach der Ausstrahlung stieg die Zahl der durchgeführten HIV-Tests sprunghaft. + +"It's a Sin" läuft jetzt in der ZDF-Mediathek. Wir haben die Serie bereits zum Serienstart bei Starzplay besprochen. + +Titelbild: RED Production Company, all3media international diff --git a/fluter/serie-unwanted-rezension.txt b/fluter/serie-unwanted-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0351e907ffc590d21ed9e837ac7f92817ca0961c --- /dev/null +++ b/fluter/serie-unwanted-rezension.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Teile des Drehbuchs basieren auf dem Buch "Bilal" des Investigativjournalisten Fabrizio Gatti, der so etwas wie der italienische Günter Wallraff ist. Er begab sich zwischen 2003 und 2007 undercover auf die Fluchtrouten von Afrika nach Europa. Im Buch erzählt er von seinen Erlebnissenmit mitleidlosen Schleppernund korrupten Polizisten. Gatti beschreibt, wie das System des Menschenhandels funktioniert und wer sich daran bereichert. Obwohl das Buch schon über zehn Jahre alt ist, könnte der Stoff aktueller nicht sein. In "Unwanted" finden die Recherchen Gattis fiktionalisiert als Rückblenden der einzelnen Flüchtlinge Platz und schildern eindringlich, was Menschen auf ihrer Flucht passieren kann. Leider sind sie nur ein kleiner Teil der Serie. +Die Macher*innen von "Unwanted" (Regie: Oliver Hirschbiegel, Buch und Entwicklung: Stefano Bises) verflechten verschiedene Erzählstränge zu einer fiktiven Geschichte: Da wäre einmal die Jetztzeit der Luxuskreuzfahrt, in die das gekenterte Schlepperboot crasht. In Rückblenden erfährt man mehr über die Vergangenheit einzelner Flüchtlinge, die geschickt auf bekannte Bilder der Flüchtlingskrise anspielen. Etwa dasdes zweijährigen syrischen Jungen Alan Kurdi, der 2015 tot an der türkischen Küste angespült wurde. Die Figuren sprechen abwechselnd Deutsch, Italienisch, Englisch und einige afrikanische Dialekte. Wie schon in demviel beachteten Film "Triangle of Sadness", in dem die Machtverhältnisse auf einer Kreuzfahrt für Superreiche durcheinandergebracht werden, entsteht durch die Enge des Schiffs eine Kammerspielatmosphäre: Keiner der Anwesenden kann sich der Situation und den Konflikten, die hier stattfinden, entziehen, und so verstärken sich die Emotionen. +"Diese Karotten sollen wie Rosen aussehen", schreit der cholerische Chefkoch der "Orrizzonte" seine Küchencrew an und schmeißt alle (aus seiner Sicht missglückten) Karottenrosen in den Mülleimer. Das nennt man dann wohl Luxusprobleme. +Geht so. Aus der Erzählstruktur entsteht in den besseren Szenen Spannung wie in einem packenden Thriller, manchmal erinnern die steifen Charaktere und die fehlende Geschwindigkeit aber auch an einen schlechten "Tatort". Dazu kommt ein an vielen Stellen melodramatisches Drehbuch. Ein Beispiel: Die reiche, aber auch depressive Deutsche versichert ihrem Mann beim Anblick der Flüchtlinge, dass sie nie vergessen werde, wie viel Glück sie doch hat. Er antwortet ihr pflichtschuldig: "Ich liebe dich, Hannelore." +In den guten Szenen werden die Tourist*innen auf dem Schiff als Menschen entlarvt, die erst Empathie empfinden, wenn ihnen die Geschichten der Flüchtlinge in einer abendlichen Show gezeigt werden. So viel Ambivalenz gesteht "Unwanted" den meisten Flüchtlingsfiguren nicht zu: Bei der Ankunft auf dem Kreuzfahrtschiff werden sie etwa so staunend inszeniert, als hätten sie in ihrem Leben noch nie Fernseher, Lichter oder Pools gesehen. Diese Menschen leiden in ihren Herkunftsländern an Krieg, Perspektivlosigkeit oder der Klimakrise – Smartphones und Social Media gibt es aber auch in Libyen oder Kenia. +Zugegeben: Es ist sehr schwer, gute Fiktion zu den Themen Flucht und Migration zu machen, die auch noch unterhalten soll. Vielleicht wäre ein dokumentarisches Projekt für diesen Stoff doch sinnvoller gewesen. + +"Unwanted" ist ab dem 3. November auf Sky zu sehen. +Titelbild: © 2023 Sky Studios Limited/Sky Italia S.r.l./INDIANA Production S.p.a./PANTALEON Films GmbH diff --git a/fluter/serienmoerder-psychopathen-und-die-faszination-des-boesen.txt b/fluter/serienmoerder-psychopathen-und-die-faszination-des-boesen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..32cf00137c688590138bd3069c5a7f0ddc87e39c --- /dev/null +++ b/fluter/serienmoerder-psychopathen-und-die-faszination-des-boesen.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +fluter.de: Psychopathen und Serienmörder tauchen in unzähligen Romanen, Filmen und Serien auf. Was fasziniert uns an ihnen?​ +Borwin Bandelow: Ein guter Krimi lebt von dem Auf und Ab der Gefühle. Ab dem ersten Auftritt des Mörders wird unsere Angst systematisch aufgebaut. Schnappen am Ende die Handschellen zu, schüttet der Körper Endorphine aus. Die Faustregel für Krimimacher ist: Je größer die Angst, desto stärker die Glücksgefühle der Zuschauer und Leser, und dazu braucht es schon einen brutalen Mord samt Pathologen, Spurensicherung und einer Portion Maden in der Leiche. Das erklärt den Trend zu besonders brutalen Serientätern auf der Leinwand oder im Roman. +Sind Serientäter im realen Leben ebenso faszinierend? +Ein gutes Beispiel dafür war der Mörder Jack Unterweger. Er übte zu Lebzeiten auf Menschen eine große Anziehung aus. Seine Romane aus der Haft wurden Bestseller, sogar verfilmt (zum Beispiel "Fegefeuer"), und er war in der Kulturszene angesehen. Täter wie er sind hochintelligent, kontrolliert, charismatisch und können auch ihre Opfer für sich einnehmen. Der Widerspruch zwischen einem bürgerlichen Leben und dem Bösen macht sicherlich eine weitere Faszination aus. Gerade Serientäter müssen unauffällig unter Mitmenschen leben können, um ihre Taten über längere Zeit begehen zu können und nicht schon beim ersten Mord geschnappt zu werden. +Gibt es in den Biografien von Serientätern Parallelen? +Ja, die gibt es. Zu der Entwicklung von antisozialen Persönlichkeiten, also solchen Menschen, die gesellschaftliche Normen missachten, gibt es zahlreiche Untersuchungen. 60 Prozent macht dabei wohl die genetische Vererbung aus, 40 Prozent beeinflussen Umweltfaktoren. Wenn schon die Mutter antisoziale Tendenzen zeigt, ist das häusliche Umfeld auch gleichzeitig nicht das beste. Es gibt aber Serientäter, die in einem geordneten Elternhaus aufgewachsen sind, wie zum Beispiel Jeffrey Dahmer, ein amerikanischer Serienmörder der 80er und 90er Jahre. Seine Eltern haben sich zwar scheiden lassen, aber da war er bereits volljährig und hatte schon mehrere Morde begangen. +Mutmaßlicher Serienkiller in Düsseldorf vor Gericht +Fallen die Täter schon in der Kindheit und Jugend durch ihr Verhalten auf? +Bei 50 Prozent der Gefängnisinsassen mit antisozialen Persönlichkeitsstörungen (APS)** lag in früher Kindheit das ADHS-Syndrom vor. Im Alltag fielen sie als Kinder zuerst durch Gewalt gegenüber anderen Kindern auf. Später kam häufig noch sexuelle Belästigung von Mitschülerinnen dazu. Ein typisches Phänomen ist auch die Tierquälerei. Menschen kommen für sie so früh noch nicht infrage als Opfer. +Wann wird aus den ersten Quälereien die Lust zum Morden? +Es geht diesen Menschen in erster Linie um Machtausübung. Jack Unterweger hatte zum Beispiel mehrmals pro Tag einvernehmlichen Sex mit befreundeten Frauen – keine von diesen hat er ermordet. Seine Opfer waren ihm völlig fremde Prostituierte, mit denen er nicht geschlafen hatte. Prostituierte hat er wahrscheinlich nur deswegen gewählt, weil man mit ihnen leicht in einen einsamen Wald fahren konnte. Es ging ihm nur um den endgültigen Machtkick. Der Anblick von wehrlosen Opfern auf dem Boden hat ihm Befriedigung verschafft. Der Mörder Jeffrey Dahmer wollte seine männlichen Opfer zu willenlosen Zombies machen und aß sie am Ende auf. Anfangs sind solche Verbrechen vor allem Phantasien. Nach der ersten Tat entsteht aber ein so großes Wohlgefühl, dass der Wunsch nach mehr aufkommt. Es gibt wahrscheinlich einige Menschen, die solche Phantasien ein Leben lang in sich tragen, aber nie in die Tat umsetzen. +Lässt sich das Bedürfnis nach weiteren Morden mit einer Drogensucht vergleichen? +Ja, auf neurobiologischer Ebene ist das vergleichbar. Ein Mörder hat einmal gesagt, das Töten wäre wie das Schneiden von Fußnägeln. Am Anfang macht man es widerwillig, später will man nicht mehr damit aufhören. Das Gefühl von Macht über ein wehrloses Opfer ist so stark, dass sich Serientäter kaum noch zurückhalten können. +Schlummert in jedem von uns etwas Böses? +In der Geschichte der Menschheit wurden Dominanz, Macht und Aggressivität immer durch eine Endorphinausschüttung im Gehirn belohnt. Wer bei der Mammutjagd besonders mutig war, wurde schneller Anführer, bekam die schönsten Frauen und konnte so seine Gene in der Welt verbreiten. Antisozial zu sein ging mit einem Überlebens- und Fortpflanzungsvorteil einher. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Ich glaube trotzdem nicht, dass jeder von uns etwas Böses in sich trägt. Es braucht schon Extremsituationen wie Kriege oder schwere Krankheiten, um "normale" Menschen zu Mördern werden zu lassen. +Wie hoch ist die Frauenquote unter Serienmördern? +Frauen begehen nur sechs bis zehn Prozent aller Gewaltverbrechen. In diesem Rahmen bewegt sich auch die Frauenquote unter Serienmördern. Dieser geringe Anteil lässt sich entwicklungsgeschichtlich erklären. Die Aufgaben der Frauen waren eher das Versorgen der Kinder, das Sammeln und Verarbeiten der Nahrung. Die Fähigkeit zu jagen oder Menschen zu töten war dagegen eher zweitrangig. +Was fasziniert Frauen an den Tätern? Gerade Serienmörder bekommen ungewöhnlich viele Liebeserklärungen im Gefängnis. +Dafür gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Einer davon ist das sogenannte "Rotkäppchen-Syndrom": Diese Frauen empfinden eine krankhafte Faszination für das Animalische. Ihre Liebe setzt das intelligente Gehirn außer Kraft, und die Frauen suchen nur noch nach starken Alphamännnchen. Eine weitere Erklärung ist das "Amiga-Syndrom" ("Aber meiner ist ganz anders"). Die grausamen Taten des Mörders schreiben die Frauen dabei unglückseligen Umständen zu. Liebe oder Glaube könnten ihn retten und aus ihm wieder ein rechtschaffenes Wesen machen, so ihre Überzeugung. +Opfer von Psychopathen, die gefangengehalten wurden, reden manchmal von "unsichtbaren Handschellen", die jede Flucht verhindert haben. Warum bleibt diese Verbundenheit zum Peiniger? +Die Opfer leiden unter den ständigen Quälereien der Psychopathen. Diese tägliche Angst um das eigene Leben sorgt für eine drastische Verschiebung der Wahrnehmung. Es entstehen starke Bindungsgefühle zum Täter, vergleichbar mit dem Verhältnis zwischen Säugling und Mutter. Auch ein Baby ist wütend, wenn die Mutter davon geht – das Baby kann ja nicht wissen, dass sie nur die Milchflasche erwärmen will. Gleichzeitig bleibt sie eine wichtige Person, die für das Essen und damit für das Überleben sorgt. Die Todesangst der Opfer macht auch den Täter zu einem Versorger, der ihnen Essen bringt. Einfach ausgedrückt lautet die Strategie der Opfer: Quälereien kann man überleben, den Hungertod nicht. +*Personen mit Dissozialer oder Antisozialer Persönlichkeitsstörung "zeichnen sich dadurch aus, dass sie sowohl sich selbst als auch ihren Angehörigen schaden. Aufgrund ihrer Tendenz zu Gewalttätigkeit und delinquentem Verhalten stellen sie auch eine Gefahr für die Gesellschaft dar." (Quelle:Forensisch-Psychiatrischer Dienst der Universität Bern) +**Antisozial sein bedeutet, dass man sich "nicht an allgemeine soziale Normen angepasst" verhält. (Quelle:Duden) +Birk Grüling lebt und arbeitet als freier Journalist am Rande von Hamburg. Seine Schwerpunkte sind Reportagen und Interviews rund um Wissenschaft, Gesellschaft und Popkultur. + +Links: +Über die Frage, ob das eigene Verhalten Veranlagung ist oder von der Umwelt geprägt: imfluter-Heft "Familie"Eine APuZ zum ThemaSozialisationEine"Planet Wissen"-Sendungzu SerienmördernDieSendung "scobel" auf 3satüber die Faszination durch das BöseInformationsportal über den wohl bekanntesten SerienmörderJack The Ripper diff --git a/fluter/serienstart-4-blocks-premiere-tnt.txt b/fluter/serienstart-4-blocks-premiere-tnt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..619c154d20b91566226ffa7d9c57261433f20388 --- /dev/null +++ b/fluter/serienstart-4-blocks-premiere-tnt.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Wirkt die erste halbe Stunde von "4 Blocks" noch etwas plump, mit Aggro-Rap, Kanak-Romantik, Koks und Nutten im Club, entfalten sich mit der Zeit immer mehr Konflikt- und Handlungsebenen: Tino Hamady hofft nach 26 Jahren Warten auf das Ende der befristeten Aufenthaltsgenehmigung, auf den deutschen Pass. Eine durchgeknallte Biker-Gang (den Anführer spielt Ronald Zehrfeld) macht dem Hamady-Clan die Geschäfte streitig. Mit Vince (Frederick Lau) kommt ein alter Freund von Tino zurück in die Stadt, ein Kleinkrimineller, dem Abbas nicht vertraut: "Wir lassen keine Deutschen bei uns rein." + +Dazu spitzt sich der Konflikt der beiden ungleichen Brüder immer mehr zu – es ist viel drin in "4 Blocks", es macht Spaß, diese aufwändig produzierte Serie zu gucken. Und noch ein wenig mehr, wenn man in Berlin lebt, vielleicht sogar in Neukölln, dessen Wandlung vom Migranten- zum Hipsterviertel ebenfalls thematisiert wird. +Neben den genannten deutschen Filmstars setzte der österreichische Regisseur Marvin Kren auch auf Laiendarsteller, "für den – entschuldigt das Wort – Street-Swag", wie er nach der Premiere sagt. Mit dabei sind unter anderem die Rapper Veysel und Massiv, die, auch wenn sie gar nicht wirklich aus Berlin stammen, bei der Premiere sehr gefeiert werden. In Berlin aufgewachsen ist hingegen der wahre Star des Abends und der Serie: Kida Khodr Ramadan, der die Loyalitäts-Zerrissenheit von Hauptfigur Tino Hamady mit traurigen Augen spielt. Er kriegt den dicksten Applaus und draußen vor der Tür stehen schon die Shuttlebusse bereit, für die Afterparty im HipHop-Club. diff --git a/fluter/sex-der-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt b/fluter/sex-der-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..97f74e56162d8c8954167e78eecd2bc257dbb9a5 --- /dev/null +++ b/fluter/sex-der-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt @@ -0,0 +1 @@ +Im Hip-Hop gibt es ja mittlerweile schon eine richtige Tradition von männlichen Rappern, die damit provozieren, dass sie vermeintliche sexuelle Tabus brechen. 2 Live Crew (größter Hit: "Me So Horny") lieferten sich schon in den 1980er- und den frühen 1990er-Jahren Scharmützel mit amerikanischen Jugendschützern. Bis heute versuchen Rapper mit sexistischen und pornografi schen Texten Skandale zu inszenieren, um ihre Musik so besser zu verkaufen. Ein besonders trauriges Exemplar dieser Gattung ist Manuel Romeike alias "King Orgasmus One", der angeblich auch noch selber Pornos dreht. Irgendwie war uns der Platz im Heft aber zu schade, um uns mit ihm über seine Musik und seine Probleme mit der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien zu unterhalten. Wer dennoch Interesse daran hat, sollte mal im Internet nach der Aufzeichnung eines Talkshow-Auftrittes suchen, bei dem ihn die Feministin Alice Schwarzer nach allen Regeln der Kunst vernascht. diff --git a/fluter/sex-education-serie-zweite-staffel-rezension.txt b/fluter/sex-education-serie-zweite-staffel-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3bc530c10e2399f6b25ba1169cfecb779641bf59 --- /dev/null +++ b/fluter/sex-education-serie-zweite-staffel-rezension.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Sex Education läuft beim Streaming-Anbieter Netflix – und vielleicht ja auch bald im Biologieunterricht +Dort fragt zum Beispiel Rahim, der neue französische Austauschschüler mit Topmodel-Antlitz: "Wie sieht es mit homosexuellem Sex aus? Welches Gleitmittel würden Sie für Analsex empfehlen?" Lehrer Hendricks hat darauf keine Antwort, schaut nur verdutzt. Er verkörpert das Klischee des verkrampften Pädagogen, der sich vor der Schulleitung paradoxerweise als "Master of Sex" profiliert. Erneut liefert Sexualtherapeutin Jean, die den Unterricht beobachtet, die Antwort: Die Schüler*innen sollten auf wasser- statt ölbasiertes Gleitmittel setzen, da sich Latexkondome sonst auflösen. Für eine funktionierende Aufklärung brauche es die drei T, erklärt Jean in der Serie: "Truth, Talk, Trust (Wahrheit, Reden, Vertrauen)". +Eine wie Jean hätte auch ich mir im Unterricht gewünscht. Mein verklemmter Hendricks war Biologielehrer und hieß Herr P. Mit Mäuschengesicht und -stimme sollte er 30 Achtklässler*innen sexuell aufklären. Wir Mädchen wollten wissen, an welchem Tag ihrer Periode die Frau beginnen muss,die Pille zu nehmen. Herr P. hatte keine Ahnung. Eine Mitschülerin, die bereits die Pille nahm, wurde zu unserer Jean. Während wir neugierig zuhörten, verstummte neben den Jungen unserer Klasse der Lehrer gleich mit. +Sexualkundeunterricht ist in Deutschland laut der Studie "Jugendsexualität 2015" erfolgreich: 93 Prozent der 14- bis 25-Jährigen gaben an, in der Schule sexuell aufgeklärt worden zu sein. Das ist eine gute Quote und ein Allzeithoch. Allerdings sagt diese Zahl natürlich wenig über den genauen Inhalt der Aufklärung aus. Der ist oft unbefriedigend: Homosexualität wurde nur bei knapp jeder*m zweiten Befragten thematisiert, über Schwangerschaftsabbruch oder sexuelle Gewalt sprachen jeweils nur rund 40 Prozent im Unterricht. Meine Klasse hätte zum Beispiel auch gerne erfahren, wie genau STI (sexuell übertragbare Infektionen) ansteckend sind, dass Lecktücher existieren oder welche Möglichkeiten des Schwangerschaftsabbruchs es gibt. +"Sex Education" ist auch in der zweiten Staffel mehr als ein lustiges britisches Highschool-Pointenfeuerwerk. Die Serie erzählt von Bindungsängsten, außerirdischen Fetischen und einer feministischen Mädchengang, die sich gemeinsam gegen sexuelle Gewalt wehrt. Sie führt vor Augen, wie viel mehr sexuelle Aufklärung heute noch nötig ist, auch wenn wir immer offener über Homo-, Bi-, Trans- oder A-Sexualität sprechen können. Wer sie geschaut hat, möchte den Sexualkundelehrer*innen dieser Welt zurufen: Bitte klärt uns richtig auf. Oder noch besser: Drückt im Unterricht die Play-Taste und lasst "Sex Education" laufen! + + diff --git a/fluter/sex-geld-autos.txt b/fluter/sex-geld-autos.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..10457436fd2fff7d326e3e5c200ed4990571ecd7 --- /dev/null +++ b/fluter/sex-geld-autos.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Kaufvertrag, Körperverletzung, Erbschaft, Erpressung, Vereinsmitgliedschaft, Mord – im deutschen Recht ist all das definiert, entweder im Zivil- oder im Strafrecht. Das Zivilrecht ist in erster Linie das "Bürgerliche Gesetzbuch" (BGB), es regelt die Rechtsbeziehungen von Bürgern untereinander. Gegenstück zum Zivilrecht ist das öffentliche Recht, das die Angelegenheiten des Staates und seine Machtbefugnisse gegenüber dem Bürger festschreibt. Weil das Strafrecht so alt ist, gilt es als eigener Rechtsbereich – gehört aber in den öffentlichen Bereich. Denn im Strafrecht ist festgelegt, mit welchen staatlichen Sanktionen Bürger bei welchen Taten zu bestrafen sind. +Wer einen Vertrag eingeht, hat Rechte und Pflichten. Zuallererst muss er ihn erfüllen. Das gilt auch für mündliche Vereinbarungen. Gesetzlich geregelt ist das Widerrufsrecht vor allem für Fernabsatz- Verträge (Internet, Telefon), Haustürgeschäfte, Verbraucherkredite. Hier muss das Unternehmen in Textform über das Widerrufsrecht informieren. Wenn darüber hinaus in Verträgen das gemeine Kleingedruckte in den AGB (Allgemeinen Geschäftsbedingungen) zuschlägt, gilt für Minderjährige: Haben deine Eltern nicht ihre Erlaubnis gegeben, sind bestimmte Verträge unwirksam. Ab 18 bist du voll geschäftsfähig. Auswege gibt es nur, wenn zum Beispiel Täuschung, sittenwidrige Klauseln oder Formverstöße nachgewiesen werden können. +Am 18. Geburtstag ist Schlüsselübergabe. Allerdings darfst du neuerdings schon mit 17 ans Steuer, wenn ein eingetragener erwachsener Fahrer dabei ist. Eine zweijährige Probezeit gibt's für alle Fahranfänger. Sie verlängert sich bei einem schweren Verstoß oder zwei leichteren auf vier Jahre. Dazu kommt ein Aufbauseminar, das man selbst zahlen muss. Ein schwerer Verstoß ist zum Beispiel, bei Rot über die Ampel oder alkoholisiert zu fahren. In der Probezeit und unter 21 Jahren gilt null Promille. Auch die Begleitperson von 17-Jährigen darf nicht mehr als 0,5 Promille im Blut haben. Ganz weg ist der Führerschein beim dritten Verstoß oder wenn du das Aufbauseminar verweigerst. Jeder, der einen Führerschein haben will, muss nicht nur die Prüfung bestehen, sondern auch die "notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen" erfüllen. Ist man zum Beispiel mehrfach durch Cannabiskonsum aufgefallen, kann ein ärztliches Gutachten verlangt werden. Bei Delikten wie grob fahrlässigem, rücksichtslosem Überholen drohen auch Haftstrafen. +Das Gesetz spricht von "sexuellen Handlungen". Wann was verboten ist, ist rechtlich ausdifferenziert. Zum einen geht es ums Alter und die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung. Zum anderen um die Art der Beziehung. Bei Lehrern, Jugendbetreuern, Trainern greift der Paragraf "Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen". Danach sind sexuelle Kontakte zu unter 16-Jährigen verboten. Zu unter 18-Jährigen, wenn die Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses vorliegt. Klar geregelt ist darüberhinaus die übergreifende Altersschutzgrenze von 14 Jahren. Wird eine Zwangslage ausgenutzt, liegt bei unter 18-Jährigen "Sexueller Missbrauch von Jugendlichen" vor. Mit 18 ist man volljährig und gilt als selbstbestimmt. Inwiefern sich arbeitsrechtliche Konsequenzen aus dem Lehrer-Verhältnis ergeben, hängt vom Einzelfall ab. +Zuletzt hat er die Asylpolitik der EU gerügt, Belgien und Griechenland verdonnert, einem afghanischen Asylbewerber rund 25.000 Euro Schadensersatz zu zahlen. Von Straßburg aus beschützt er die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) in allen 47 Mitgliedsländern des Europarats, von Island bis in die Russische Föderation, von Portugal bis Aserbaidschan. Mit der EMRK hatten sich die Länder Europas nach dem Zweiten Weltkrieg eine gemeinsame Rechtsgrundlagegegeben, die Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit verbürgt und Freiheiten des Einzelnen schützt. Durch Reformen 1998 und 2004 wandelte sich der vom Europarat eingerichtete und fi nanzierte EGMR zum ständigen Gericht mit hauptamtlichen Richtern. Jedes Mitgliedsland stellt je einen der 47 Richter. Angerufen werden kann der EGMR durch Mitgliedsstaaten und von Bürgern, die einen EMRK-Verstoß anprangern und den nationalen Rechtsweg ausgeschöpft haben. An EGMR-Entscheidungen sind alle Vertragsstaaten gebunden, 30.000 Beschwerden gehen jährlich ein, und etwa 12.000 Urteile gab es bislang. diff --git a/fluter/sexismus-pflegekraefte-krankenhaeuser.txt b/fluter/sexismus-pflegekraefte-krankenhaeuser.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0b985cadaad9b1f244adcb6192e659fa4a3c679a --- /dev/null +++ b/fluter/sexismus-pflegekraefte-krankenhaeuser.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Das galt lange auch für die über 8.000 Mitarbeitenden an den acht Klinikstandorten der RKH Gesundheit. Rund 70 Prozent von ihnen sind weiblich, auf der Führungsebene hingegenist das Verhältnis umgekehrt. Es gibt 42 Chefärzte und lediglich zwei Chefärztinnen. +Diese ungleiche Machtverteilung in Krankenhäusern sieht Nadja Schmidt als einen der Gründe für das Problem mit Sexismus. Schmidt, 44 Jahre alt,ist selbst ausgebildete Krankenpflegerinund war früher in der Unfallchirurgie tätig, bevor sie in den Betriebsrat wechselte. Mittlerweile ist sie Pflegereferentin der RKH Gesundheit. Oft viel schwieriger als der Umgang mit Übergriffen durch Patienten seien jene durch Kollegen, sagt sie. Denn da gehe es um Macht, um zur Schau gestellte Dominanz und starre Hierarchien. "Schließlich geht es dabei nie um einen Flirt, eine Annäherung, sondern immer um eine Demütigung und Herabwürdigung der anderen Person." +Sich zu wehren trauen sich viele nicht, aus Überforderung und aus Angst um die berufliche Zukunft. Hinzu kommt, dass es lange Zeit weder feste Ansprechpartner für Betroffene noch klare Handlungspfade nach Vorfällen sexueller Belästigung gab. Genau darum gründete Nadja Schmidt im April 2021 die Gruppe Gleichstellung. Zusammen mit ihrem Team möchte sie in den Kliniken aufklären, Möglichkeiten aufzeigen, vom entschiedenen Dagegenhalten bis zur Anzeige, damit sich die (vor allem) Mitarbeiterinnen sicher fühlen und Hilfe finden können. +Heute werden in einer Broschüre Ansprechpersonen genannt, bei denen das Pflegepersonal Hilfe bekommt. Besonders wichtig: Möchte sich ein Opfer nicht an Kolleginnen und Kollegen wenden, kann es Stefanie Lejeune als Ombudsfrau ansprechen, vor allem wenn es um schwerwiegende sexualisierte Übergriffe geht. Lejeune ist unabhängige Rechtsanwältin. Wenn jemand eine Einschätzung braucht, wissen möchte, ob ein Vorfall arbeitsoder strafrechtlich relevant ist, begleitet sie durch die nächsten Schritte, berät – im besten Fall bis die Betroffene mit der Lösung einverstanden ist. Es ist diese Unabhängigkeit, die Distanz vom Klinikalltag, die wichtig ist für die Opfer, die sich oft scheuen, einen Kollegen "anzuschwärzen". +Weiterschauen +Wer versorgt … unsere Kranken? Inder dritten Folge unserer Videoreihenimmt uns die die Krankenpflegerin Ann-Sophie mit auf ihre Station im Nürnberger Krankenhaus. +Damit künftig solche Fälle gar nicht erst vorkommen, setzen die Mitarbeitenden in Ludwigsburg auf Aufklärung und Prävention. Im Zweifel, sagt Nadja Schmidt, werde dem Täter gekündigt oder er werde versetzt – nicht das Opfer. Letzteres sei die frühere Handhabung gewesen, "weil es eben leichter ist, die Pflegekraft woanders einzusetzen, statt die Stationsleitung neu zu besetzen", sagt Nadja Schmidt. +Und auch in der Ausbildung für die Pflegefachkräfte wird übergriffiges Verhalten nun stärker thematisiert. "Wo jede Einzelne ihre rote Linie, ihre Grenzen setzt, kann ganz unterschiedlich sein." Das zu betonen ist Nadja Schmidt wichtig. Für die eine ist es der doofe Spruch in der Kantine, für andere die anzügliche Bemerkung oder das Starren auf das Dekolleté. Wichtig sei, auch da sind sich die Pflegekräfte einig, sich zu solidarisieren und zusammenzuhalten, statt es kleinzureden, wenn eine Kollegin sich bedrängt fühlt. +"Wir sind laut, wir erheben die Stimme, gehen bewusst damit in die Medien", sagt Nadja Schmidt, die hofft, dass sich so immer mehr Betroffene trauen, Übergriffe zu melden oder öffentlich zu machen. +Kollegen weise sie mittlerweile zurecht, sagt Alina: Fühle sie sich belästigt durch einen Kommentar, sage sie: "Stopp, ich bin nicht Ihre Süße, mein Name ist Alina." Die meisten würden sich dann auch entschuldigen. Dass sich die Frauen trauen, sich Vorgesetzten entgegenzustellen, liegt auch an der Haltung des Arbeitgebers. Die Botschaft: "Wenn sich etwa ein Oberarzt übergriffig verhält, steht die ganze Klinik hinter der Betroffenen, dann ist sie nicht die Untergeordnete, sondern die Stärkere", sagt Nadja Schmidt. +Viele Kliniken und Krankenhäuser suchen mittlerweile nach Lösungen. Nadja Schmidt glaubt, dass sich das Image der Pflegeberufe wandeln muss. "Gute Arbeitsbedingungen, faire Bezahlung, keiner tatscht mich an." Für sie ist das ein Dreiklang. Pflegepersonal sei nicht in Gottes Gnaden tätig, opfere sich nicht auf, sondern es handele sich um professionelle Fachkräfte. Für Schmidt beginnt das damit, aufzuhören, das Bild der Krankenschwester mit Häubchen und Röckchen zu sexualisieren. +Ihr Appell an Opfer sexueller Belästigung: "Macht den Mund auf, schämt euch nicht, ihr habt nichts falsch gemacht." +Illustration: Christine Gensheimer diff --git a/fluter/sexistische-tipps-waehrend-corona.txt b/fluter/sexistische-tipps-waehrend-corona.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ecd6f4764109ae1e6bb33c29602b8310a8be3311 --- /dev/null +++ b/fluter/sexistische-tipps-waehrend-corona.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +In einer der Infografiken sieht man zum Beispiel einen Mann und eine Frau Klamotten auf eine Wäscheleine hängen. Falls der Ehemann dies falsch mache und man ihn darauf hinweisen wolle, dann bitte auf "humorvolle" Weise: "So hängt man die Klamotten auf, mein Schatz", gefolgt von einem schüchternen Kichern. Protipp: Man könne dazu die Stimme von "Doraemon" imitieren, einer in Asien populären Anime-Roboter-Katze. Sarkastische Kommentare sollten sich Frauen sparen. Und falls es doch mal zum Streit kommt, sollten Frauen vor jeder Antwort bis zwanzig zählen – das Gehirn beruhige sich in der Zeit und treffe rationalere Entscheidungen. Für Männer gibt es keine spezifischen Handlungsanweisungen. +Seit der Ausgangssperre haben sich in Malaysia die Anrufe auf staatliche Hotlines für Opfer häuslicher Gewaltlaut lokalen Medien verdoppelt. Auch im letzten "Global Gender Gap Report" des Weltwirtschaftsforums schnitt Malaysia schlecht ab und landete auf Platz 104 von 153. +Besonders vor diesem Hintergrund kritisierten viele malaysische Frauen und feministische Organisationen die Infografiken scharf: "Stoppt diese sexistischen Botschaften #KPWKM[Ministerium für Frauen und Familie]und konzentriert euch auf Überlebende von #domesticviolence, die jetzt einem höheren Risiko ausgesetzt sind",twitterte die NGO "All Women's Action Society". Vor allem der Verweis auf die Tonlage von Doraemon erntete Häme: User/-innen führten vor, wie lächerlich es wäre, diesem Ratschlag tatsächlich zu folgen: + +Mittlerweile hat das Ministerium die Infografiken wieder von seinen Seiten gelöscht und ein Statement veröffentlicht: "Wir entschuldigen uns, wenn einige der geteilten Tipps unangemessen sind und die Sensibilität bestimmter Gruppen berühren, und werden in Zukunft vorsichtiger sein." Sexismus oder gar die Verantwortung von Männern bei Gewalt gegen Frauen wurde im Schreiben nicht reflektiert –dafür aber in zahlreichen Kommentaren. Mit über 800 Likes auf Facebook aktuell ganz oben: "Themenverfehlung! Was meint ihr mit ‚Sensibilität bestimmter Gruppen'? Dass die Tipps okay sind und MANCHE von uns ÜBERreagieren?! Um Himmels willen, euer Statement und eure Tipps sind unangemessen gegenüber JEDER Frau." + diff --git a/fluter/sexshop-ukraine-krieg.txt b/fluter/sexshop-ukraine-krieg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..497bdfd00f4723c994a07dbc2ca056be66d22785 --- /dev/null +++ b/fluter/sexshop-ukraine-krieg.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +So wie Hanna geht es Millionen von Frauen, deren Partner an der Front kämpfen. Auch im dritten Kriegsjahr gilt für ukrainische Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren das Ausreiseverbot. Zuletzt hat die Regierung das Mobilisierungsgesetz noch weiter verschärft: Das Einberufungsalter wurde von 25 auf 18 Jahre herabgesetzt, und das Recht auf Entlassung nach 36 Frontmonaten wurde gestrichen. ZahlreicheFrauenim Land sind weiterhin auf sich allein gestellt, viele von ihnen leben als Kriegsflüchtlinge oder Binnenvertriebene fernab ihrer Heimat. +Für Hanna stand fest, dass sie in Kyjiw bleiben würde. Sie weiß, was es heißt, ihr Zuhause zu verlieren: Ihre Geburtsstadt Donezk liegt imDonbassund wurde neben der Oblast Luhansk und der Krim bereits 2014 von Russland besetzt. Bei den Kampfhandlungen in den darauffolgenden acht Jahren starben ca. 3.000 Menschen, mehr als 850.000 wurden vertrieben. "Für uns hat dieser Krieg vor zehn Jahren begonnen", sagt Hanna. In Kyjiw hatte sie sich ein neues Leben aufgebaut: Sie schloss ihr Medizinstudium ab, arbeitete als Ärztin und später als Pharmavertreterin. 2017 lernte sie ihren Partner kennen, kurze Zeit später zogen die beiden zusammen. Durch den Verlust ihrer Heimat habe sie gelernt, nach vorne zu schauen, sagt sie. +Als Russland den Krieg vor zwei Jahren dann auf die gesamte Ukraine ausweitete, geriet auch ihr neues Leben aus den Fugen. Ihr Partner wurde über Nacht zum Soldaten, und auch Kyjiw geriet immer wieder unter Beschuss. Inmitten dieser chaotischen Wochen traf Hanna eine Entscheidung: Sie kündigte ihren Job als Pharmavertreterin – und gründete ein Start-up für Sexspielzeug. Ein Start-up für Sexspielzeug – mitten im Kriegsgebiet? Wie kommt man auf so eine Idee? +"Ich hatte schon länger den Wunsch, ein eigenes Unternehmen zu gründen", erzählt Hanna bei einem Telegram-Call. Als der Krieg ausbrach, sei ihr klar geworden, dass sie ihre Pläne nicht länger aufschieben dürfe. Die Idee zu einem eigenen Onlineshop für Sextoys sei schließlich entstanden, weil sich ihre Partnerschaft infolge des Kriegs verändert hatte. "Wir mussten von heute auf morgen lernen, eine Fernbeziehung zu führen", sagt Hanna. Das sei für viele Paare eine Zerreißprobe. Zu der psychischen Belastung durch den Krieg komme die Einsamkeit, die Sehnsucht nach dem Partner und nach körperlicher Nähe: "Viele halten dem Druck nicht stand." +Je länger der Krieg andauert, das zeigt die Statistik des Justizministeriums in Kyjiw, desto zermürbender sind die Auswirkungen auf Partnerschaften. Obwohl sich anfangs noch eine gegenläufige Tendenz beobachten ließ – in den ersten Kriegsmonaten verzeichneten ukrainische Standesämter einen regelrechten Heiratsboom –, stieg die Scheidungsrate im Jahr 2023 um 16 Prozent an. Hinzu kommt eine große Dunkelziffer unverheirateter Paare, darunter queere Menschen, die in der Ukraine nicht die gleiche rechtliche Anerkennung erfahren. +"Ich behaupte nicht, dass fehlenderSexder Hauptgrund für die vielen Trennungen ist", sagt Hanna. Aber er sei für viele ein wichtiger Teil der Beziehung. Daran hätte auch der Krieg nichts geändert. Sie suchte deshalb nach Möglichkeiten, wie Paare trotz Distanz Nähe erleben können. Zum Beispiel Couple-Toys, die sich über das Smartphone miteinander synchronisieren und steuern lassen. +Auf Instagram vermarktet Hanna ihre Produkte, schreibt über Long-Distance-Sex, Selbstbefriedigung – und LGBTQI+-Leben in der Ukraine, denn Hanna richtet ihr Angebot gezielt auch an die LGBTQI+-Community. Die gelernte Ärztin will verkaufen, aber auch die Tabus um Sexualität brechen. "In der Sowjetunion wurde das Thema totgeschwiegen", sagt sie. Die Folgen spüren insbesondere queere Menschen bis heute: Jahrzehntelang hat der Staat dieLGBTQI+-Community im Landignoriert, zeitweise sogar – wie Russland – versucht, ihre "Propaganda" per Gesetz zu unterbinden. Obwohl die gesellschaftliche Akzeptanz in den vergangenen Jahren gestiegen ist, erleben queere Menschen in der Ukraine nach wie vor Diskriminierung. +Aus manchen Kreisen erhält Hanna Zuspruch. Viele Frauen würden ihr schreiben, dass sie ein Vorbild in Sachen Selbstbestimmung sei. Den Menschen täte es gut, sich mit etwas anderem zu beschäftigen als dem Krieg. Auch ihr Partner unterstütze sie, sagt Hanna: "Wir sind stolz aufeinander und halten an unserer Beziehung fest, auch wenn die Umstände schwierig sind." +Es gibt aber auch Kritik: Manche finden es unpassend, dass sie das Thema Sex in diesen Zeiten so in den Mittelpunkt stellt. "Es gibt auch Hasskommentare", sagt Hanna. So werde ihr auch vorgeworfen, dass sie Profit aus dem Kriegsthema schlagen würde. "Das kommt vor, wenn ich über meinen Partner und unsere Fernbeziehung spreche", sagt sie. Ein anderer Vorwurf betrifft ihre Ausbildung: Einige seien der Meinung, sie solle lieber als Ärztin arbeiten und sich um kranke und verwundete Landsleute kümmern. +Hanna selbst will sich von dem russischen Angriffskrieg nicht diktieren lassen, wie sie zu leben hat. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als nach vorne zu schauen, sagt sie: "Der Krieg geht möglicherweise noch lange. Meine Zeit hier ist endlich." + diff --git a/fluter/sexualbegleitung-behinderung.txt b/fluter/sexualbegleitung-behinderung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..032b22b73bca11a53dc407d8a0b72d9be12e11dc --- /dev/null +++ b/fluter/sexualbegleitung-behinderung.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Das Konzept hinter der Sexualbegleitung ist einfach. Wer aufgrund einer Behinderung Pflege braucht, für den reduziert sich Körperkontakt oft auf Waschen und Anziehen. Wer derart fremdbestimmt lebt, soll mit Sexualbegleitung seine Lust ausleben können. In den 1990er-Jahren gründet Sandfort im niedersächsischen Trebel das "Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter". Das ISBB berät zu Sexualbegleitung, bietet Erotikworkshops für Menschen mit Behinderung an und bildet Sexualbegleiterinnen und Sexualbegleiter aus. +Petra Winkler von der Beratungsstelle Pro Familia erinnert sich: "Vor zehn Jahren wollten alle Sexualbegleitung ausprobieren, mehr darüber wissen. Das war ein richtiger Hype." Seit mehr als 25 Jahren tauscht sich die Sexualpädagogin Winkler im Arbeitskreis "Sexualität und Behinderung" mit Sozialpädagogen, Behindertenhilfe und Sexualberaterinnen aus. Der Hype blieb ein Hype. Mittlerweile würden die sexuellen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung gesellschaftlich wieder ignoriert und in den Familien sogar tabuisiert, sagt Winkler. +Ilkas Freundinnen sehen Sexualassistenz skeptisch. Sie wird's wohl bald mal ausprobieren +Sexuell haben es geistig beeinträchtigte Menschen noch schwerer als Menschen mit körperlicher Behinderung. Viele werden wie Kinder behandelt und rechtlich bevormundet. Dabei brauchen Pflegebedürftige keine Zustimmung, um selbstbestimmt sexuell aktiv zu werden. Viele können ihre sexuellen Bedürfnisse und Wünsche allerdings nur durch Gesten und Bewegungen kommunizieren. Eine heikle Situation, sagt Winkler: "Sieht ein Betreuer beispielsweise eine Klientin bei der Selbstbefriedigung und geht ihr ohne eindeutige Erlaubnis zur Hand, begeht er eine Straftat." +Menschen mit Behinderung sind gefährdet, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden. Zuletzt wurde im Sommer ein Pfleger in Berlin zu zehn Jahren Haft verurteilt, weil er sechs Frauen und Männer einer Wohngruppe missbraucht und vergewaltigt hatte. 2020 hatte sich ein Pfleger in Stuttgart gestellt, nachdem er sich an mehreren Frauen und Kindern vergangen hatte. +Sexualbegleitung ist kein geschützter Beruf. Jeder kann sie anbieten. Seit 2017 müssen Sexualbegleiter ihre Tätigkeit aber anmelden, da sie gesetzlich unter Sexarbeit fällt. Die ist in Deutschlandseit Einführung des Prostitutionsgesetzes 2002 legal, wenn sie freiwillig und von Erwachsenen ausgeübt wird. +Wenn also sexuelle Dienstleistung nicht mehr als "sittenwidrig" gilt und sogar als normales Gewerbe anerkannt wird, wo liegt das Problem? Immer noch ordnet die Gesellschaft bestimmten Körpern bestimmte Rollen zu: Wer aussieht wie die vermeintliche Norm, hat Sex. Wer nicht, hat keinen. An Körperbildern orientieren sich Moralvorstellungen: Viele sehen in Menschen mit Behinderung asexuelle Wesen – also keinen Grund, Sexualbegleitung für sie zu organisieren. +Ilka lebt in Berlin und sitzt im Rollstuhl: Die 45-Jährige hat Spastiken. Ihr Mann hat auch eine Behinderung, ist aber mobiler. "Er macht sich nicht viel aus Sex. Also hole ich mir woanders, was ich brauche."Online sucht Ilka nach Dates, die sie in Hotels trifft. Selten geht es nur um Sex. "Man lernt ganz unterschiedliche Leute kennen." Von Sexualbegleitung hat Ilka bislang nur gehört. +Sexualbegleitung ist kein geschützter Beruf. Pamina kommt trotzdem gut hin +"Am Anfang geht es eigentlich nie um Geschlechtsverkehr", erklärt auch Sexualbegleiterin Pamina. Zuerst wird gekuschelt und gestreichelt. "Wer noch nie Sex hatte, geht nicht gleich aufs Ganze." Pamina wohnt im brandenburgischen Eberswalde. Sie ist eine der letzten von Sandfort ausgebildeten Sexualbegleiterinnen und mit 22 Jahren auffällig jung. Populäre Figuren der Sexualbegleitung wie die niederländische Sexualassistentin Nina de Vries stehen kurz vor dem Rentenalter. +Pamina kam über eine Reportage im Fernsehen auf die Sexualbegleitung, vorher hatte sie sich zur Modeberaterin ausbilden lassen. "Aber das war nichts für mich.Selbstliebeund sexuelle Weiterentwicklung interessieren mich viel mehr." Hemmungen im Umgang mit Sexualität hatte sie noch nie. Sie komme aus einer Hippiefamilie, sagt sie und lacht. Auch deshalb hätten aufdringliche Männer mit Pornovorstellungen keine Chance bei ihr. +Wie viele Professionelle Sexualbegleitung praktizieren, ist nicht klar. Das ISBB hat nach eigenen Angaben in 20 Jahren weniger als 100 Zertifikate ausgestellt. Für heterosexuelle Frauen wie Ilka fehlt es an geeigneten Angeboten: Die durchschnittliche Sexualbegleitung ist über 40 und weiblich. +Frauen fragen die Sexualbegleitung aber nicht nur mangels Angebot seltener nach. Manche von Ilkas Freundinnen haben Angst vor unsensiblen Begegnungen. Anderen fehlt das Geld. Pamina nimmt 150 Euro pro Stunde. +Trotzdem ziehen viele den sichereren Raum der Sexualbegleitung einem Bordellbesuch vor. Pamina nennt die Leute, die zu ihr kommen, "Ratsuchende". Sie erklärt ihnen, was sie macht. Bei ihr soll der Körper zur Spielwiese werden, auf der man sich ausprobiert, um herauszufinden, was man braucht und vom Gegenüber möchte. Bei Prostituierten kauft man bestimmte Handlungen, zum Beispiel einen Blowjob. Was in anderthalb Stunden Sexualbegleitung passiert, entscheide sich spontan. +Deshalb sieht Pamina Sexualbegleiterinnen weder als "Huren" noch als "Heilige", die aus Nächstenliebe mit Menschen mit Behinderung schlafen. "Manchmal frage ich mich, warum manche als geistig behindert abgestempelt werden, während andere Leute sich wirklich wie Idioten verhalten."Laut UN-Behindertenrechtskonventionist die dauerhafte Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen eine essenzielle Aufgabe für jede Gesellschaft. Damit das keine Theorie bleibt, sollten manche Menschen Sex auf Rezept bekommen, findet Pamina. +Chris Lily Kiermeier hält davon nichts. Sie findet Sexualbegleitung sogar desintegrativ. "Die Leute tun, als wäre das für Menschen mit Behinderung die einzige Möglichkeit, Lust zu leben und Intimität oder Sex zu haben." Kiermeier, 33, Münchnerin und Transfrau, lebt mit einer spinalen Muskelatrophie. Inihrem Blog "Sexabled"klärt sie über Sexualität, Queerness und Behinderung auf und teilt Erfahrungen. Sex hatte Kiermeier auch ohne Sexualbegleitung. "Ich hab Sexualbegleitung genutzt, um was Neues zu lernen, zum Beispiel Bondage", erzählt sie. +Anders als Pamina spricht sich Kiermeier explizit gegen Sex auf Rezept aus. "Ich finde nicht, dass man Sexualität in irgendeiner Form mit Krankheit gleichsetzen sollte." Das vermittele ein falsches Bild vom Leben mit Behinderung und verhindere Teilhabe. "Und wie soll ich nachweisen, dass ich sonst keinen Zugang zu Sexualität habe?" +Sexualbegleitung beschränkt sich nicht auf Menschen mit Behinderung. Es gibt Sexualassistentinnen, die aktiv werden, und andere, die nur beraten, wenn es Fragen zur Selbstbefriedigung oder Partnersuche gibt. Von sexueller Assistenz profitieren auch extrem Schüchterne. Menschen, die nach Missbrauchsfällen einen neuen Zugang zu ihrem Körper suchen. Oder Paare mit zu viel Druck im Alltag und zu wenig Lust, für die Sexualbegleitung eine Alternative zur Paartherapie ist. +Pro Familia empfiehlt deshalb, dass die Sozialhilfe oder die Krankenkassen die Sexualbegleitung in solchen Fällen finanzieren. In den Niederlanden übernehmen manche Kommunen bereits einen Teil der Kosten. Aber hierzulande tue sich in Sachen Kostenübernahme bislang nichts, beklagt Winkler. Um nach einer Misshandlung Traumata und selbstverletzendem Verhalten vorzubeugen, verschreiben Ärzte manchmal Sexualbegleitung. Selbst dann bleibe es der Krankenkasse überlassen, ob sie die Kosten trägt. + +Dieser Text istim fluter Nr. 89"Liebe"erschienen +Für Behinderte ohne explizite Krankheitsgeschichte ist die Hürde, an ein solches Attest zu kommen, ungleich höher, also noch mal unwahrscheinlicher, dass die Kasse zahlt. Dabei stehtin Artikel 3 des Grundgesetzes: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." Das heißt, Menschen mit Behinderung dürfen ihre Persönlichkeit entfalten und sexuelle Beziehungen eingehen, auch wenn Eltern oder Betreuende, zum Beispiel Ärzte, dagegen sind. +Nach mehr als 25 Jahren bietet Lothar Sandfort seit Sommer 2022 keine Erotikworkshops und Ausbildungen mehr an. Auch die Beratungsangebote hat er mittlerweile eingestellt. Pamina will Sandforts Arbeit langfristig fortführen. Wie genau, ist offen. Warum, ist klar: Sexualbegleitung soll nicht nur als Therapie für psychisch oder physisch Behinderte verstanden werden. Es geht ihr um Augenhöhe. "Sex zeigt immer auch, wie die Machtverhältnisse in der Gesellschaft gelagert sind." diff --git a/fluter/sexualisierte-gewalt-serien-beispiele.txt b/fluter/sexualisierte-gewalt-serien-beispiele.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1721c9315902bbf5e432ea4e25e4701857d39520 --- /dev/null +++ b/fluter/sexualisierte-gewalt-serien-beispiele.txt @@ -0,0 +1,31 @@ +Dass Filme und Serien dabei lange fast ausschließlich männliche Perspektiven eingenommen haben, ist problematisch.Studien zeigen: Diese Sicht kann junge Männer abstumpfen lassen, wenn es um sexualisierte Gewalt geht. Spätestens seit #MeToo, findet die Kultursoziologin Isabella Caldart, haben mehr Serienmacher*innen gelernt, wie man Vergewaltigung sensibel und unterschiedlich darstellt. Hier hat sie fünf Darstellungsweisen mit Beispielen zusammengestellt. + +Die jüngst wohl bekannteste Serie zum Thema Vergewaltigung ist "I May Destroy You" (2020,hier liest du die fluter-Rezension). Die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete HBO-Miniserie wurde von Michaela Coel nicht nur geschrieben und produziert, sie spielt auch die Hauptrolle – und die Geschichte basiert auf ihrer persönlichen Erfahrung. +Coel spielt eine Schwarze Autorin und Influencerin namens Arabella, die in London lebt und Schwierigkeiten damit hat, ihr zweites Buch zu schreiben. Die Serie behandelt verschiedene Formen von Vergewaltigung. In der ersten Folge wird Arabella Liquid Ecstasy ins Getränk gemischt, eine Droge, die sie handlungsunfähig macht. Später wird sie auf einer Toilette vergewaltigt. Es geht außerdem um Stealthing, also heimliches Entfernen des Kondoms beim Sex, mittlerweile eine Straftat in Großbritannien, Deutschland und vielen anderen Ländern. Und es geht um die Vergewaltigung ihres schwulen Freundes und die unterschiedliche Reaktion der Polizei auf ihre und seine Erfahrung. +Die Serie ist realistisch, weil sie nicht nur verschiedene Formen sexualisierter Gewalt zeigt, sondern auch wie unterschiedlich Arabella und ihre Freund*innen mit ihren Erfahrungen umgehen: Arabella schwankt zwischen Verdrängung, Zorn, Wiederaufsuchen des Tatorts, Ablenkung und Racheplänen. "I May Destroy You" erzählt nicht nur von Wut und Ohnmacht, sondern auch von den Chancen, sich von diesem traumatischen Erlebnis möglicherweise zu befreien. +"I May Destroy You" läuft auf WOW oder bei Amazon Prime. + + +Hannah ist tot. Das wissen wir von Anfang an. Ihr Suizid hat 13 Gründe, die sie in den 13 Folgen der ersten Staffel von "13 Reasons Why" (2017) erzählt. Mehrere davon drehen sich um sexualisierte Gewalt. +In der ersten Folge geht es um sogenanntes Slutshaming: Hannah hat an ihrer Highschool das Image, "leicht zu haben" zu sein, und wird es nie wieder los. Als sie auf einer Party mitbekommt, wie ihre bewusstlose Freundin Jessica von ihrem Mitschüler Bryce vergewaltigt wird, verfällt Hannah in Schockstarre, statt zu helfen. Später wird auch sie von Bryce vergewaltigt – der zwölfte Grund. +Die erste Staffel der Serie wurde gelobt, aber auch kritisiert, vor allem wegen der Suizidszene im Staffelfinale und weil Hannahs Vergewaltigung so ausführlich gezeigt wird. Viele Gegenstimmen hielten gerade diese krasse Darstellung für richtig: Die Szenen "sind so konzipiert, dass sie unangenehm sind. Vergewaltigung ist kein angenehmes Thema. In dem Moment, in dem es leicht wird, darüber zu sprechen, sind wir der Gewalt gegenüber desensibilisiert", heißt es in einemKommentar der "Teen Vogue". Geschrieben hat ihn die Journalistin Ella Cerón, die als Jugendliche selbst vergewaltigt wurde und die sich in Hannah und Jessica wiedererkennt. Das ist am Ende der Punkt: Wenn sich Betroffene gesehen fühlen und die Serie ihnen sogar hilft, mit anderen darüber zu sprechen, ist viel gewonnen. +"13 Reasons Why" läuft auf Netflix. + + +Anfang 2017, also noch vor #MeToo, lief auf HBO die Folge "American Bitch" der Serie "Girls" von Lena Dunham. In dieser Folge besucht die Protagonistin Hannah den bekannten Schriftsteller Chuck zu Hause, weil der mit ihr über einen Artikel sprechen will, in dem sie schreibt, er habe weibliche Fans zum Oralsex gezwungen. Was als Konfrontation beginnt, endet in einer Grauzone. +Zu Beginn des Treffens ist Hannah skeptisch, aber sie lässt sich auf einen Dialog ein. Chuck gibt zu, Frauen schlecht zu behandeln, sexualisierter Gewalt habe er sich aber nicht schuldig gemacht. Langsam entspannt sich Hannah. Er macht ihr Komplimente zu ihren Texten, stellt viele Fragen. Sie landen im Schlafzimmer, wo Chuck sie schließlich bittet, sich zu ihm aufs Bett zu legen, weil er so einsam sei. Hannahs Intuition sagt ihr eindeutig, sie solle es nicht tun, sie legt sich trotzdem neben ihn. Er dreht sich zu ihr um, sein Penis hängt aus dem Hosenstall und Hannah greift wie automatisch danach – bevor sie aufspringt und ihn anschreit. +Geschickt wurde sie von Chuck in eine Grauzone manövriert, in der ihre Handlungen freiwillig waren, und doch ist die Manipulation offensichtlich. Hannah wird die Geschichte niemandem erzählen, weil sie die subtile Machtverschiebung kaum beschreiben kann. So nimmt Chuck ihr, der jungen Journalistin, auch noch die Stimme. +"Girls" kannst du unter anderem bei WOW streamen. + + +Wer öffentlich macht, sexualisierte Gewalt erlebt zu haben, dem wird oft nicht geglaubt. Dabei istlaut Statistikennur ein sehr niedriger Prozentsatz der Anschuldigungen falsch – im Gegensatz zu den vielen Vergewaltigungen, die niemals zur Anklage gebracht werden. Die Netflix-Miniserie "Unbelievable" (2019) handelt genau davon. Als die 18-jährige Marie zur Polizei geht und von einem nächtlichen Überfall berichtet, wird sie gezwungen, die Vergewaltigung immer und immer wieder zu beschreiben – bis sie, um sich aus diesem Albtraum zu retten, schließlich behauptet, sie habe gelogen. Erst Jahre später, als die Polizistinnen Grace und Karen einen Serienvergewaltiger verfolgen, wird klar, dass Marie die Wahrheit gesagt hat. +Die Serie, die auf einer wahren Geschichte basiert, erzählt dabei auch von Klassismus: Marie ist Waise, arm, jung, lebt in einer Art Sozialwohnung, warum sollte sie vertrauenswürdig sein? Vor allem aber erzählt sie von einer jungen Frau, der nicht geglaubt und die durch die Behandlung der Polizei weiter traumatisiert wird, bis sie schließlich wegen der vermeintlichen Falschaussage selbst vor Gericht muss. Die Jahre, in denen sie nicht nur mit der erlittenen Vergewaltigung allein umgehen musste, sondern auch von ihrem sozialen Umkreis geächtet wurde, bekommt Marie durch die späte Gerechtigkeit nicht zurück. +"Unbelievable" läuft bei Netflix. + + +Auch die zweite Staffel von "13 Reasons Why" handelt vom Kampf um Gerechtigkeit. Hannah ist tot, aber Jessica klagt Bryce wegen der Vergewaltigung an. Die Botschaft der Serie lautet somit auch, dass es andere Auswege als Suizid gibt. Die Staffel ist holpriger erzählt als die erste. Aber der Handlungsstrang um den Gerichtsprozess gegen Bryce funktioniert: Er thematisiert sexualisierte Gewalt und ihre Folgen, ohne die Tat selbst darzustellen. (Wobei die Staffel ausgangs dermaßen explizit zeigt, wie ein Junge vergewaltigt wird, dass dies nur als Schockeffekt zu verbuchen ist.) Auch im Prozess bleibt "13 Reasons Why" realistisch: Bryce als weißer, reicher Junge hat wenig zu befürchten. Es ist eine "He said, she said"-Situation. +So heißt auch eine Folge von "Brooklyn Nine-Nine", in der die Polizist*innen Jake und Amy versuchen, gegen einen Mann zu ermitteln, der seine Mitarbeiterin belästigt hat. Es ist Amy, die die Frau davon überzeugt, Anzeige zu erstatten, statt ein Schweigegeld in Höhe von 2,5 Millionen US-Dollar zu akzeptieren. Auch in dieser Episode gibt es wenig Gerechtigkeit. Am Ende wird der Mann zwar gefeuert – aber die Frau kündigt ebenfalls, weil sie nicht mehr in dem Job arbeiten kann. +Alles komplett vergebens also? Nicht unbedingt. Die Folge schließt mit einer leicht hoffnungsvollen Botschaft. Eine weitere Mitarbeiterin ist jetzt bereit, eine Aussage gegen ihn zu machen. Und wie Kollegin Rosa zu Amy sagt: "Zwei Schritte vorwärts und einer zurück ist immer noch ein Schritt vorwärts." +"13 Reasons Why" und "Brooklyn Nine-Nine" kannst du bei Netflix streamen. + + diff --git a/fluter/sexualitaet-unter-jugendlichen.txt b/fluter/sexualitaet-unter-jugendlichen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9285917b14e500a30415d532a0ef992983d90b95 --- /dev/null +++ b/fluter/sexualitaet-unter-jugendlichen.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +"Setzen Sie sich", sagt Frau Wronska. Die Einrichtung im Therapie- und Beratungszimmer von "Kind im Zentrum" ist schlicht. Drei gemütliche Lehnsessel vor einem Tischchen, darauf eine Uhr und ein Taschentuchspender. Der einzige Schmuck sind zwei Zimmerpflanzen, die in der Ecke stehen. Das Licht scheint durch die Lamellen einer Jalousie. +Vor 18 Jahren glaubte sie noch, dass sie nur etwas erreichen könne, wenn ihre Klienten freiwillig zu ihr kämen. Heute ist die Sexualtherapeutin dankbar, wenn Richter Menschen wie Timur* zu ihrem Glück zwingen. Er ist 19, Informatikstudent. Vor einigen Wochen hat er ein Mädchen in der Disco kennengelernt. Das Mädchen himmelte ihn an. Dass sie jünger als er war, ahnte er zwar, aber erst 13 Jahre? Timur sagt, sie habe ihn getäuscht. +"Wollen wir jetzt über Ficken sprechen oder was? Ich sag Ihnen meine Meinung, Frau Wronska: Loch ist Loch, rein muss er doch." +Die Körperhaltung von Timur ist wie ein Panzer. Breitbeinig sitzt er da, aufgeplustert, den Oberkörper nach vorne gebeugt, provokant, bereit, sich zu verteidigen, wenn der erste Angriff kommt. +Da draußen fahren Autos durch die Stadt, auf deren Heckscheiben in Frakturschrift steht, dass man Menschen wie Timur umbringen soll. Urteil: schwerer sexueller Missbrauch eines Kindes. Als er das Mädchen in der Nacht mit seinem Auto nach Hause fuhr, hatte er diesen Porno in seinem Kopf. Er überredete sie, seinen Penis in den Mund zu nehmen und ihn zu befriedigen. Die Mutter des Mädchens fand heraus, was geschehen war, und zeigte ihn an. +Jeder Sexualstraftäter, der Frau Wronska gegenübersitzt, bringt eine andere Geschichte mit. Einer hat ein Mädchen damit erpresst, Nacktfotos von ihr zu veröffentlichen. Einer hat heimlich andere Männer auf dem Klo gefilmt. Einer hat sich Kinderpornos angeschaut. Einer hatte einvernehmlichen Sex mit einem Mädchen auf der Schultoilette und steckte ihr, obwohl sie sich wehrte, irgendwann den Penis in den Po. +Täter und Opfer. Von so einfachen Begriffen hält Lucyna Wronska nicht viel. "Opfer" sagt sie nicht, weil die Jugendlichen sich so gegenseitig beschimpfen und damit so etwas wie Memme oder Schwächling meinen. Die verknallte 13-Jährige, die Timurs Penis in dieser Nacht nach der Party in den Mund nahm, obwohl sie das eigentlich gar nicht wirklich wollte, nennt Lucyna Wronska "die Verletzte". Auch diese Menschen behandelt die Sexualtherapeutin bei "Kind im Zentrum". Sie sorgt dafür, dass sie stabilisiert werden, Selbstvertrauen bekommen, mit dem Geschehenen leben lernen und es nicht verdrängen. "Täter" sagt sie nicht, weil sie der Meinung ist, dass es sich nicht nur um ein Verbrechen, sondern auch um ein Missverständnis ge- handelt hat. Einen wie Timur nennt sie lieber "sexuell übergriffiger Mensch". Wronskas Job ist es, zu verhindern, dass so etwas noch einmal passiert. Sex muss man genau wie gutes Kochen oder Autofahren lernen, davon ist sie überzeugt. +"In welchem Sinne möchten Sie gern über Ficken sprechen?", fragt Lucyna Wronska. Timur ist verdutzt. "Wie meinen Sie das?" Wronska, die gern Antworten in der Sprache sucht, erzählt, dass das Wort "ficken" altdeutsch ist und im Mittelalter entstand. "Ficken hat zwei Bedeutungen." Bedeutung Nummer eins: Zwei Schichten Haut reiben übereinander. Ein Kopf, der gestreichelt wird, wird also gefickt. Ein Fuß, der massiert wird, wird also gefickt. Wenn zwei Menschen freiwillig miteinander ficken, ist das wertvoll, ja, beinahe spirituell, weil es zu Entspannung und Nähe führen kann, erklärt Lucyna Wronska. "Wollen Sie mit mir über selbstbestimmte Sexualität sprechen? Oder wollen Sie über die zweite Bedeutung von ‚ficken' sprechen? Ficken heißt auch ‚mit einer Rute züchtigen' und ‚anderen Schmerzen zufügen'." Timur lehnt sich in den Sessel zurück. "Aber hören Sie mal: Ich wusste nicht, wie alt sie ist. Erst bläst die Fotze mir einen, und dann zeigt sie mich an!" "Es macht mich betroffen und todtraurig, wenn Sie das Mädchen so beschreiben", sagt Lucyna Wronska. "Fotze?" "Das Wort ist auch im Mittelalter entstanden. Es bedeutet ‚stinkendes Loch'." Sie erzählt Timur, dass Menschen sich damals prostituieren mussten, um nicht zu verhungern. Dass ihre Geschlechtsteile eiterten und schmerzten, weil sie schwerste sexuell übertragbare Krankheiten hatten, an denen sie dann auch starben. Sie erzählt, dass Kondome Luxus sind. Und dass Timur Menschen auf Genitalien reduziert und dann auch noch auf "stinkendes Loch". "Bleiben Sie bei Fotze?" "Nein", sagt Timur. "Das habe ich verstanden." +Die allermeisten Jugendlichen wissen, dass Pornos wenig mit der Realität zu tun haben, dass sie ähnlich wie Splatterfilme grotesk übertrieben und körperlich gar nicht umsetzbar sind, manche jedoch, vor allem die sexuell Unerfahrenen, halten sie für echt. "Pornotopia", so nennt Lucyna Wronska die Welt, in der Männer wie Timur zu Hause sind. "Sie sind davon überzeugt, dass junge Frauen oder Männer nach der Disco nach ungewaschenen fremden Penissen lechzen und orale Befriedigung das einzig Wertvolle ist", sagt Lucyna Wronska. +Wenn die erste Mauer der Ablehnung durchbrochen ist, kommt sie mit den Jugendlichen ins Gespräch. Sie zeigt ihnen aus Stoff genähte Modelle von Geschlechtsteilen. Erklärt die Lage und Funktion der Prostata. Liest ihnen eine Geschichte vor, anhand derer sie über Uneindeutigkeiten reden will: Eine verliebte Frau muss mit einem Fährmann schlafen, um zu ihrem Geliebten zu kommen. Der verstößt sie, weil sie untreu war. Ein Dritter kommt hinzu und verprügelt den Geliebten, und die Geliebte lacht. Wer sei die sympathischste Figur, fragt sie? +Ihr gehe es nicht darum, die Kultur von Jugendlichen zu bekämpfen, sondern sie zu verstehen, sagt sie. Für ihre Arbeit muss Lucyna Wronska Raptexte von Bushido genauso gut kennen wie die Thora, die Bibel und den Koran. Wenn sich die Männer auf religiöse Schriften berufen, findet sie immer eine Stelle im selben Text, die ihre Weltanschauung infrage stellt. +Sie erzählt von mechanischen, archaischen und wellenartigen Orgasmen, vom sexuellen Wissen, das durch die Forschung mit Ultraschallgeräten zugenommen hat. Sie versucht ihnen klarzumachen, dass Befriedigung des Körpers auch jenseits von Geschlechtsteilen stattfinden kann. Berührungen. Feinmotorik. Darauf kommt es an. Im Laufe der Treffen mit Lucyna Wronska wächst bei Timur die Einsicht, dass seine Ansichten über Sex seltsam sind und er sich in der Nacht mit dem Mädchen falsch verhalten hat. "Da hatte ich aber ganz schön viel Müll im Kopf", sagt er am Schluss. +Hin und wieder trifft sie ihre ehemaligen Klienten in der U-Bahn. "Wie geht's, Frau Wronska?", ruft ein Mann, der vor langer Zeit mal bei ihr war. "Gut. Und Ihnen?" "Ich bin noch immer nicht im Gefängnis!", sagt er und lacht. +Von denen, die zu ihr kamen, ist ihr nur einer bekannt, der auch als Erwachsener noch einmal als Sexualstraftäter verurteilt wurde. Die meisten, sagt Wronska, hätten sich nach den vereinbarten Therapiesitzungen im Griff. diff --git a/fluter/sexuelle-belaestigung-aktivismus.txt b/fluter/sexuelle-belaestigung-aktivismus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5240c2bfe37f1cf81a66bfad83a33cb1d707297f --- /dev/null +++ b/fluter/sexuelle-belaestigung-aktivismus.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +"Sehr oft sind Catcalls fast keine Catcalls mehr, sondern strafbare tätliche sexuelle Übergriffe oder Beleidigungen – das geht fließend ineinander über", sagt Franzi. Anders als beispielsweise in Frankreich ist Catcalling in Deutschland nicht strafbar – doch eine Petition, die das seit dem Sommer 2020 fordert, liegt inzwischen dem Bundestag vor. +An diesem Samstagmittag ist Franzi in der Bonner Innenstadt unterwegs. Einen Plastikeimer Kreide in der einen, das Handy in der anderen Hand. An einem Supermarkt in der Einkaufspassage bleibt sie stehen. Kreiden gehe sie nur in Gesellschaft, so die 30-Jährige – aus Sicherheitsgründen. Heute ist ihre Freudin Judith mit dabei. Gemeinsam überlegen die beiden, wie sie den Spruch am besten positionieren. Nach einer Weile steht "Er nannte sie N*tte" mit dem Hashtag "StopptBelästigung" auf dem Boden. Schon während sie schreiben, drehen sich einige Menschen um, runzeln die Stirn, schütteln den Kopf, nur wenige bleiben stehen, um zu lesen. "Es kommt auch vor, dass Menschen uns beschimpfen", erzählt Franzi. "Einmal hat ein Mann direkt auf den Spruch gespuckt." Je nach Tagesform suche sie dann den Dialog, denn sie möchte nicht nur anprangern, sondern aufklären. Dazu postet sie anschließend ein Bild von dem Spruch samt Hintergrundgeschichte auf Instagram. Knapp 4.500 Menschen folgen ihrem Account, der einer von 87 aktiven in Deutschland ist, die Belästigungen öffentlich machen. Jeden Tag bekommt Franzi ein bis zwei Erlebnisse geschickt. "Du musst mal wieder geleckt werden", "Wollt ihr blasen?" oder "Dein Arsch gehört mir" sind nur einige Beispiele. +Das Risiko, als Frau sexuelle Übergriffe zu erleben, ist in Deutschland hoch. Laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums haben rund 63 Prozent der Frauen bereits selbst einen erlebt oder bei anderen mitbekommen. Die meisten Taten geschehen auf öffentlichen Plätzen, am Arbeitsplatz oder im Nahverkehr. Obwohl sich Frauen oft nachts, etwa an dunklen Orten, unsicher fühlen – Übergriffe passieren genauso mitten am Tag und selbst wenn man in Gruppen unterwegs ist. Es sind eben nicht immer Fremde, von denen die Übergriffe ausgehen, zum Teil sind es Freunde, Bekannte, Arbeitskollegen. Betroffenen wird oft selbst die Schuld für die Übergriffe gegeben: Man hätte die "falschen" Signale gesendet,sich "falsch" angezogen.Solche Bemerkungen tragen dazu bei, ein übergriffiges Verhalten als normal erscheinen zu lassen. +Das Sicherheitsempfinden betroffener Frauen ist oft langfristig beeinträchtigt, sind sich Franzi und Judith sicher. Obwohl sie selbst keine Angst haben, wenn sie draußen unterwegs sind,treffen sie Vorsichtsmaßnahmen:rufen den Freund an, faken einen Anruf, teilen ihren Livestandort, schreiben eine Nachricht, wenn sie zu Hause sind. Denn sie wissen: Nicht immer bleibt es "nur" bei einer verbalen Belästigung. Franzi glaubt: "Männer, die mir hinterherrufen: ‚Ey, dich ficke ich auch noch', sind eine potenzielle Gefahr." Doch es sind nicht nur die offensichtlich aufdringlichen Männer, die eine Gefahr darstellen. +Maria ist 18, als sie ihr Studium in Münster anfängt. Nach einer Clubnacht ist sie allein auf dem Weg nach Hause. Ein junger Mann spricht sie an. Er wirkt nett, nicht aufdringlich. Maria fühlt sich sicher. Sie laufen ein Stück gemeinsam. Vor der Haustür angekommen, bittet der Mann, die Toilette benutzen zu dürfen. Maria denkt sich nichts dabei. Sie steht in der Küche, schmiert sich ein Brot, als der Mann wieder aus dem Badezimmer kommt. Maria will sich verabschieden, bedankt sich fürs Nachhausebringen. Doch der Mann geht auf sie zu, sagt: "Ich geh jetzt nicht nach Hause." Er kommt Maria immer näher, bedrängt sie. Sie bekommt Panik, droht damit, nach ihrem Mitbewohner zu rufen. So schafft sie es, den Mann aus der Wohnung zu drängen. Ihr Sicherheitsgefühl habe sich durch dieses Erlebnis nachhaltig verändert, sagt die heute 26-Jährige. Es sei selbstverständlich geworden, dass sich in der Brust was zusammenziehe, wenn sie bestimmten Männern begegne, und dann ganz geduckt durch die Straßen zu laufen, um bloß keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Catcalling erlebt Maria regelmäßig: "Wenn ich alleine unterwegs bin und mich eine Gruppe Männer komisch von der Seite anlabert und dabei Knutschgeräusche macht, fühle ich mich schutzlos und ausgeliefert." +Um den öffentlichen Raum für Frauen sicherer zu gestalten,gibt es verschiedene Ansätze:Da ist die Idee von gender planning, also einer Stadtplanung, die sich an Frauen orientiert, sie aktiv miteinbezieht und zum Beispiel auf Unterführungen verzichtet, beleuchtete Fußwege und Haltestellen im Blick hat. Doch es geht noch konkreter: Die Hilfsorganisation Plan International hat im vergangenen Jahr in vier deutschen Großstädten Frauen danach gefragt, wie sicher oder unsicher sie bestimmte Orte einstufen. Auf einer Onlinekarte konnten die Beteiligten Pins setzen und dort eine Bewertung hinterlassen, entsprechend sind die Orte grün (sicher) oder rot (unsicher) eingefärbt. So gibt es auf den Kölner Ringen, in der Nähe der Kölner Innenstadt, viele Pins mit dem Hinweis auf "sexuelle Belästigung". Eine Frau schreibt: "Ich kann nicht zählen, wie oft ich schon übergriffige Männer (...) erlebt habe." +Ist man in Köln unterwegs, sieht man an einigen Geschäften, Cafés, aber auch Bankfilialen einen großen Aufkleber: Eine Frauenfigur mit orangefarbenen Haaren, roten Lippen, grünen Augen ist darauf zu sehen, einen Speer in der Hand. Auf ihrem schwarzen Oberteil steht groß: "Edelgard schützt". Dieser Aufkleber verweist auf 155 Orte in Köln als Schutzräume für Frauen, die von sexualisierter Gewalt betroffen oder bedroht sind. Vor Ort finden Betroffene bei geschulten Mitarbeitenden Unterstützung. Alle "Edelgard schützt"-Orte sind auf einer Onlinekarte einsehbar. +Zurück in Bonn. Franzi und Judith sind inzwischen am Hauptbahnhof angekommen, zwei Hunde bellen sie an. Als sie mit ihrer Kreide loslegen, werden sie leicht misstrauisch von Beamten des Ordnungsamtes beäugt. "Alter, wie soll man sonst jemanden kennenlernen", steht nach ein paar Minuten auf dem Boden. So habe ein Mann im Zug auf die Abfuhr einer jungen Frau reagiert. +Viele Frauen würden nicht über solche Erfahrungen sprechen, viel werde verdrängt, erzählen Judith und Franzi. "Wenn man danach fragt, sagen die meisten: Ich habe das noch nie erlebt. Wenn sie dann drüber nachdenken, fällt aber fast jeder mindestens ein Vorfall ein." +An einer Unterführung kreiden Judith und Franzi für heute das letzte Mal: "Siehst geil aus in deiner Hose – dich f*cke ich auch noch!" Diesmal bleiben einige stehen, lesen interessiert, manche schauen irritiert. Eine Frau, die mit ihrem Partner an dem Spruch vorbeigeht, erklärt ihm kurz, um was es geht. Franzi ist zufrieden. Es sei der größte Spruch, den sie je gekreidet habe. Bald geht es für sie nach Berlin. Den Account will sie weiterführen. Denn mit der Aufklärungsarbeit ist sie noch lange nicht am Ende. diff --git a/fluter/sexuelle-selbstbestimmung-suedafrika.txt b/fluter/sexuelle-selbstbestimmung-suedafrika.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f1d83ebabf79207ddd088a064565951d39b5e9c8 --- /dev/null +++ b/fluter/sexuelle-selbstbestimmung-suedafrika.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Die Vereinigten Arabischen Emirate waren bislang das einzige Land, in dem ich nirgendwo ein Sextoy kaufen konnte. Gleichzeitig war es auch das Land, in dem ich am häufigsten sexuell belästigt wurde. Als Schwarze Frau fühlte ich mich besonders als Zielscheibe. Die Männer dort betrachten Schwarze Frauen als Objekte, die allzeit verfügbar sind für Sex. In den Shoppingmalls versuchten Männer andauernd, mich zu begrapschen, und in der Hotelbar machten sie mir anzügliche Angebote. Am Ende kaufte ich mir eine Burka, die ich dann ständig trug und in der ich mich frei fühlte – auch weil ich darunter nichts anziehen musste. + + + + +Ich habe eine Weile gebraucht, um zu merken, dass traditionelle monogame Beziehungen nichts für mich sind. Dreimal habe ich es versucht. Das erste Mal mit einer Frau. Damals war ich noch sehr jung, und obwohl ich verliebt war, war es doch zu schwer, für unsere Liebe zu kämpfen. +LGBTQ+steht für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer plus alle anderen Geschlechter und Orientierungen +Auf dem Papier hat Südafrika zwar eine der progressivsten LGBTQ+-Gesetzgebungen, doch die Realität sieht anders aus. Andauernd wurden wir als unafrikanisch und böse beschimpft. In Südafrika werden lesbische Frauen immer wieder vergewaltigt und ermordet. Selbst in ihren Familien bekommen sie manchmal zu hören, es wäre besser, wenn sie HIV-positiv anstatt queer wären. Für all das war ich nicht stark genug – und so endete unsere Beziehung. +Danach war ich drei Jahre langmit einem Rastafarizusammen, der keinen Oralsex wollte, weil Reggaemusiker und die sogenannten Hüter der Rasta-Kultur Dinge sagten wie "Fire bun man who suck pussy". Männer, die Frauen oral befriedigen, gelten oft als unmännlich. +Rückblickend war das die einzige Zeit in meinem Leben, in der ich mich von dem Glauben anderer Menschen einschränken ließ. Zwar konnte ich schließlich meinen Freund von Oralsex überzeugen, aber danach bekam er jedes Mal Schuldgefühle. Und natürlich macht es keinen Spaß, wenn man glaubt, dafür in die Hölle zu kommen. +Nachdem unsere Beziehung zu Ende war, gründete ich eine Frauengruppe mit dem Ziel, die Verbindung von Sexualität und Spiritualität zu erforschen. Meine Schwestern sollten wissen, dass Sexualität nichts Böses ist und dass es Wege gibt, Sex mit Spiritualität in Einklang zu bringen. Ich wollte sie dabei unterstützen, sich selbst und ihre Grenzen besser kennenzulernen. Manchmal ermutigte ich sie auch dazu, ihre Komfortzone zu verlassen. All meine Rasta-Freundinnen haben zwischen drei und sechs Kinder, und ich fragte sie: "Genießt ihr wirklich das Kinderkriegen – oder habt ihr Lust auf Sex und bekommt notgedrungen Kinder? Wie könnt ihr es schaffen, über eure Wünsche im Bett zu reden? Wie könnt ihr diese mit eurem Mann teilen? Und wenn ihr das nicht könnt: Wie könnt ihr euch selbst befriedigen?" + + + + +Dass Monogamie nichts als ein Mythos ist, machte mir meine letzte Beziehung deutlich. Ich hatte mich gerade mit Dave verlobt, und wir waren auf dem Weg nach Durban, um das zu feiern. Sein Handy war über Bluetooth mit dem Auto verbunden, und die Musik wurde mehrmals vom Klingeln und einer roboterhaften Stimme unterbrochen: "Primrose ruft an." Eigentlich ging Dave immer in meinem Beisein ans Telefon, doch diesmal ignorierte er die Anrufe. Irgendwann reichte es mir, ich griff mir sein Handy – und sah die Nachrichten von Primrose: Sie war schwanger. Dave hatte mich nicht nur betrogen, sondern auch mein Leben riskiert, weil er ohne Verhütung mit einer anderen Frau geschlafen hatte. Wir waren 100 Kilometer von zu Hause entfernt – trotzdem bestand ich darauf, dass er mich am Straßenrand absetzte. +Nun bin ich seit sechs Jahren polyamorös. Ich weiß, dass ich in Zukunft vielleicht andere Entscheidungen treffe, aber gerade funktioniert es wunderbar für mich. Wenn ich jemals wieder mit einem Mann zusammenkomme, dann mit einem, der älter ist und schon seine Midlife-Crisis hinter sich hat. +Im Moment hänge ich ein wenigin einer Situationshipfest, aus der ich mich befreien muss. Vor ein paar Jahren war ich auf einem Festival in Spanien und traf einen großen, dunkelhäutigen Mann auf der Tanzfläche. Wir tanzten miteinander und beschlossen, zusammen abzuhängen. Weil auf Festivals alle im Freien duschen, sah ich seinen Körper. "Hmmm, du hast einen großen Schwanz", sagte ich zu ihm, und er erwiderte nur: "Hmmm, du hast große Brüste." +Weiterlesen +Der Text ist eine gekürzte Fassung aus dem Buch "The Sex Lives of African Women" – herausgegeben von Nana Darkoa Sekyiamah, Dialogue Books, 2021. +Hattest du jemals Sex in einem Zeltauf einem Festival? Ich habe in meinem Leben noch nie so viel geschwitzt. Wir blieben in Kontakt, und einige Monate später besuchte ich ihn in Deutschland. Er ist Raumfahrttechniker, arbeitet aber als Barkeeper – was ich nicht verstehe. Warum sucht er sich mit seiner Qualifikation nicht einen Job in einem anderen Land, wenn es in Deutschland nicht klappt? Das müsste doch leicht sein. +Kürzlich sahen wir uns in Ghana. Wir waren beide einen Monat dort und hatten nur zweimal Sex. Einmal habe ich meine Toys ausgepackt, was ihm sichtlich unangenehm war. Als wäre das nicht genug, war sein bester Freund permanent um uns herum und schlief sogar manchmal mit uns im selben Raum. Eigentlich hatte ich vor, mein Leben voll auszukosten, aber in diesen Wochen fühlte ich mich gefangen – und mir wurde klar, dass ich einen drastischen Neuanfang brauchte. Denn jeden Tag frage ich mich, ob ich glücklich bin. Und wenn die Antwort nein ist, muss ich etwas ändern an meinem Leben. +Übersetzung: Dshamilja Roshani + +Titelbild: Luca Sola/AFP via Getty Images diff --git a/fluter/seyda-kurt-interview-hass.txt b/fluter/seyda-kurt-interview-hass.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..17505bbb0141cfea7d7a7a616ddbce3ebaacfe27 --- /dev/null +++ b/fluter/seyda-kurt-interview-hass.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Şeyda Kurt: Weil wir als Gesellschaft eine große Armut beim Sprechen über Gefühle haben. Nehmen wir das Beispiel der Eifersucht: Die Eifersucht einer Frau, die aus ökonomischen Gründen von ihrem Mann abhängig ist, ist etwas ganz anderes als die männliche Herrschaft über den weiblichen Körper, bei der es letztlich um Kontrolle und Besitzansprüche geht. Das sind unterschiedliche Phänomene. Die beteiligten Menschen handeln aus unterschiedlichen Gründen. Trotzdem nennen wir beides Eifersucht. +Woran liegt das? +Ich glaube, es gibt ein Bedürfnis nach einfachen Erzählungen und Kategorien. Auch werden Gefühle oft als etwas Natürliches wahrgenommen. Blickt man aus einer politischen Perspektive auf sie, merkt man schnell, dass Gefühle wie Liebe oder auch Hass unmittelbar mit Herrschafts- und Machtverhältnissen, mit Klassenkampf und mit antikolonialen Kämpfen zusammenhängen. Genau deshalb eröffnen Gefühle meiner Meinung nach ein großes Spektrum an Widerstandsformen. Gefühle mobilisieren, weil sie die Menschen abholen in ihrem Unbehagen, ebenso wie in ihrem Begehren. +Wie weit war der Weg von der Zärtlichkeit zum Hass? +Die beiden Gefühle passen sehr gut zusammen. Nicht wie Yin und Yang. Sondern weil die Liebe zur Gerechtigkeit, um die es mir im ersten Buch geht, einen gewissen Hass auf die Ungerechtigkeit mit sich bringt. +Bei diesem Thema denken viele an denHass von rechtsoder anHass im Netz, der kommt in Ihrem Buch aber nur als Kulisse vor. Welchen Hass gucken Sie sich an? +Ich schaue mir bewusst die Perspektive marginalisierter Menschen an und frage: Bringt sie der Hass einer radikal zärtlichen Gesellschaft näher, oder isoliert und zerstört er sie? Ich glaube, Hass kann der Gleichgültigkeit entgegenwirken. Denn er braucht eine Fixierung auf ein Objekt. Die Philosophin Hilge Landweer sagt, Hass sei anders als Verachtung. Die Verachtung wendet sich vom Gegenüber ab. Sie entmenschlicht. Der Hass nimmt sein Gegenüber ernst. Es geht darum, sich nicht abzuwenden, weil man denkt: Es ändert sich ja eh nichts. Es muss darum gehen, die Unterdrückungsverhältnisse der Gesellschaft ernst zu nehmen und sich zu fragen, wie man daraus ausbrechen kann. +Es geht Ihnen also um Widerstand? +Um Widerstand und Selbstverteidigung. Für meine Recherche habe ich auch das Buch "Selbstverteidigung" der französischen Philosophin Elsa Dorlin gelesen. Darin geht es um antikoloniale, aber auch um feministische Praktiken der Selbstverteidigung. Dorlin fragt sich: Wie wurde historisch Widerstand geleistet? Muss dieser Widerstand explosionsartig daherkommen und alles niederreißen? Oder geht es eher darum, immer wieder Grenzen zu überschreiten, um den Widerstand so im Alltag zu etablieren? Diese Fragen habe ich mir auch gestellt. Die Wut feiert aktuell eine Art feministisches Comeback. Aber ich hatte immer das Gefühl, dass ich mit meiner Wut eine gewisse Schwelle nicht überschreiten darf. +Inwiefern? +Es gab in letzter Zeit einige Veröffentlichungen, die sich mit weiblicher Wut befassen; damit, dass Wut ein männliches Privileg ist, das Frauen nicht zugestanden wird. Mein Eindruck ist, dass solche Debatten im liberalen Mainstream als augenzwinkernder Lifestyle daherkommen müssen und dass weibliche Wut bloß nicht zu unbequem werden darf. Ich wollte ein Buch schreiben, das dezidiert unbequem ist. Das Hässlichkeit wagt und grollt. Hinzu kommt, dass ich in den letzten Jahren als Journalistin viel zudem rassistischen Terroranschlag in Hanaugearbeitet habe. +Sie haben zum Beispiel andem Podcast "190220 – Ein Jahr nach Hanau"mitgewirkt. +Dabei habe ich festgestellt, dass Menschen, die von den Anschlägen betroffen sind, also die Angehörigen der Getöteten von Hanau, ausschließlich als Objekte des Hasses behandelt werden. Sobald sie ihren Zorn zeigen oder sagen "Ohne Gerechtigkeit gibt es für uns keinen Frieden", werden sie delegitimiert. Von Opfern wird erwartet, dass sie vergeben. Mich interessiert, wie Menschen, die von Rassismus betroffen sind, oder Menschen in Klassenkämpfen, in antikolonialen Kämpfen immer wieder abgesprochen wird, dass auch sie hassend sein können. Dieses Tabu will ich offenlegen. +Also geht es Ihnen um Agency, sprich die Fähigkeit zum absichtsvollen und zielorientierten Handeln? +Spricht man einer Person ab, hassend sein zu können, geht das immer mit dem Verlust von Handlungsfähigkeit einher. Dasselbe gilt aber auch für die Zuschreibung von Hass von außen. Im kolonialen Zeitalter wurde er immer wieder als vermeintliche Eigenschaft von kolonisierten, rassifizierten, versklavten Menschen heraufbeschworen, um sie in der Folge zu entmenschlichen. Um zu sagen: Der kolonisierte Mensch ist nicht mehr als ein hasserfülltes Objekt. Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel schreibt im 19. Jahrhundert von Völkergeistern, "die in ihrem Hasse sich auf den Tod bekämpfen". Das bedeutet: Sie sind nicht zur Zivilisation fähig und können nur fremdbeherrscht werden, weil der Hass sie ohnmächtig macht. Das sind starke Erzählungen und Ideologien. Die nehme ich unter die Lupe. +Die Publizistin Carolin Emcke hat für ihr Buch "Gegen den Hass" aus dem Jahr 2016 viel Anerkennung bekommen. Geht es nach Emcke, hat Hass in unserer Gesellschaft keinen Platz. Wie stehen Sie dazu? +Als das Buch 2016 erschien, dachte ich, dass es wichtig ist. Denn es bezieht Stellung gegen Pegida und andere islamfeindliche rechte Strömungen, die damals von der Mehrheit der Gesellschaft entweder belächelt wurden oder denen man bisweilen auch heimlich applaudierte. Als ich das Buch für die Recherche zu "Hass" noch mal gelesen habe, hat es mich sehr wütend gemacht. +Warum? +Weil auch bei Emcke der Hass als das kategoriale Andere daherkommt. Er ist ultimativ verpönt. Menschen wie ich oder meine Mutter, also Menschen, die von Rassismus betroffen sind, kommen wieder nur als Objekte des Hasses vor. Hassen dürfen sie nicht. Ich nenne diese Herangehensweise das Hufeisen des Hasses. Der Hass der Opfer von Rassismus wird als ebenso schlimm und unangebracht gewertet wie der Hass der Rechten, also der Täter. Emcke schreibt, die Opfer würden sich durch den Hass verformen lassen. Und ich denke: Natürlich lässt man sich durch Hass verformen! Man ist ja keine isolierte Festung und bleibt unangetastet vom Hass, den man erfährt. Menschen wie ich, wie meine Mutter, meine Freundinnen, wir hassen. Und wir haben das Recht dazu. Wir alle wissen, dass sich der Rassismus in unserer Gesellschaft mit Sonntagsreden nicht bekämpfen lässt. Wir müssen stattdessen auf die politischen und sozioökonomischen Ursachen hinweisen. +Ihr Gegenprogramm lautet "strategischer Hass". Was verstehen Sie darunter? +Ich glaube, dass man mit politischen Gefühlen strategisch umgehen kann. Dass man aus dem Hass Kraft schöpfen kann, ebenso wie aus der Liebe. Politische Bewegungen machen das schon seit Jahrhunderten, weil sie um die Mobilisierungskraft von Gefühlen wissen. Ich will also sagen: Der Hass kann sehr wohl differenzieren. Er kann und muss das Wir, das hinter dem Hass steckt, immer wieder infrage stellen und sich selbst reflektieren. Er kann strategisch eingesetzt werden, um dem Ziel einer radikal zärtlichen Gesellschaft näher zu kommen. Ich arbeite in meinem Buch zwar das widerständige Potenzial des Hasses heraus, aber mir geht es dabei nicht um Hass als Selbstzweck. Auch wenn er ein Nein ist, zur Ungerechtigkeit etwa, muss er mit vielen Jas einhergehen. Und über die Frage, zu was man Ja sagt, müssen wir ins Gespräch kommen. + +Titelbild: Harriet Meyer diff --git a/fluter/sezieren-im-medizin-studium.txt b/fluter/sezieren-im-medizin-studium.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..17bd2c74247d6411f7fa1a38782e2818169df93a --- /dev/null +++ b/fluter/sezieren-im-medizin-studium.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Eine Woche später erwarten uns im Präpsaal nicht nur Arme, sondern vollständige Körper – unter weißen, angefeuchteten Tüchern. Als diese zum ersten Mal entfernt werden, bin ich froh, dass der tote Mensch vor mir auf dem Bauch liegt und der Kopf bedeckt bleibt. An vielen Stellen sind Dellen zu sehen, die bei einem lebenden Menschen kaum vorkommen würden, die Haut ist blass und aufgequollen. Der Körper ist starr wie ein Brett. Ich kann kaum glauben, wie die Hand unseres Dozenten beim Reden auf der Leiche hin und her streicht, als wäre nichts dabei. Ich will jede Berührung vermeiden. Doch dann ist der erste Schnitt getan und der nächste klar: Die unter der Haut liegende Fettschicht muss entfernt werden, dabei dürfen Gefäße, Nerven und Muskeln keinen Schaden nehmen. Macht eigentlich Spaß. Nicht viele Studiengänge erfordern feinmotorisches Geschick. +In diesen Wochen fallen mehrere von uns in Ohnmacht – ganz normal. Die ersten Tage finde ich seltsam bis unangenehm, es kostet mich jedes Mal aufs Neue Überwindung. Nach der Stunde im Präpsaal bin ich für den Rest des Tages gesättigt mit Eindrücken und auffällig müde. Mir geht durch den Kopf, wer diese Menschen wohl waren, die uns ihre Körper gespen-det haben, obwohl uns geraten wurde, darüber nicht nachzu- denken. Würde ich meinen eigenen Körper zur Verfügung stellen? Langsam merke ich, wie es zur Routine wird, den toten Körper zu berühren, dass ich den Formalingeruch kaum noch wahrnehme, dass ich den Körper vom Menschen abstrahiere. Diese Veränderung an mir zu beobachten finde ich interessant, aber auch unheimlich. Kann man sich an alles gewöhnen? Stumpfe ich ab? + +Während mein Messer die Innenseite der Haut vom Fett trennt, ahne ich, wie sich der Blick eines Chirurgen auf den Menschen ändert – der Körper als Arbeitsgegenstand und weniger als Heimat einer Persönlichkeit. Aber muss das dazu führen, dass sich der eine oder andere zu spöttischen Bemer- kungen hinreißen lässt? "An dieser fetten Leiche kann man ja gar nichts erkennen." So ein Kommentar wäre an den ersten Tagen im Präpsaal undenkbar gewesen, doch kurz vor den Prüfungen hört man so was häufiger. Ich frage mich, ob man nicht die nötige Abstraktion erreichen kann, ohne den Respekt zu verlieren. Ich versuche, mir meine Dankbarkeit gegenüber den Körperspendern in Erinnerung zu rufen und mit dieser Haltung weiterzuarbeiten. + diff --git a/fluter/shahid-film-kalhor-alinejad-interview.txt b/fluter/shahid-film-kalhor-alinejad-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c668aec1695feb669d9123dd01e8b00d8c39ede2 --- /dev/null +++ b/fluter/shahid-film-kalhor-alinejad-interview.txt @@ -0,0 +1,36 @@ +Aydin Alinejad:Ich bin regulär als Student nach München gekommen und wusste zum Beispiel schon, wo ich wohnen würde. Eine komplett andere Erfahrung. In die Lage von Narges kann ich mich gar nicht hineinversetzen – das ist eine krasse Geschichte. + +Narges Kalhorist 1984 in Teheran geboren und studierte im Iran Spielfilmregie und Visuelle Kommunikation. Nach ihrem Auftritt beim Internationalen Filmfestival der Menschenrechte Nürnberg musste sie 2009 politisches Asyl in Deutschland beantragen und lebte zeitweise in einer Unterkunft für Geflüchtete. Ab 2010 studierte sie in München an der Hochschule für Film und Fernsehen und realisierte dort ihren Abschlussfilm "In the Name of Scheherazade oder der erste Biergarten in Teheran" (2019). +Aydin Alinejadist 1981 in Teheran geboren und aufgewachsen. Er hat in München Theaterwissenschaft studiert. Für sein Drehbuch "Nabilah" (2014) erhielt er den Preis für das beste Drehbuch beim Lyon International Film Festival. Seit 2015 arbeitet er mit Narges Kalhor als Drehbuchautor zusammen. +"Shahid" erzählt einen Teil dieser Geschichte. Der Film hat autobiografische Züge und lässt eine Schauspielerin als "Narges Shahid Kalhor" auftreten. Und er deutet die Umstände an, unter denen du, Narges, 2009 Asyl in Deutschland beantragt hast. +Narges: Ich war damals mit einem Kurzfilm aus dem Studium in Teheran beim Menschenrechts-Filmpreis in Nürnberg eingeladen. Den Film hatte ich underground gedreht, im Iran konnte ich ihn nicht zeigen. 2009 war die Stimmung im Iran ein bisschen wie jetzt: Alle haben sich positioniert. +2009 war das Jahrder Grünen Bewegung, die nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl gegen die Regierung von Präsident Mahmud Ahmadineschad protestierte. Dein Vater war damals Berater des Präsidenten. Im Film ist zu sehen, dass dein Asylantrag in der Presse hohe Wellen geschlagen hat. +Narges: Schon davor ging durch die Nachrichten: "Die Tochter von Ahmadineschads Berater ist ohne Kopftuch auf einem Menschenrechtsfestival." Ich hatte damals keinen Kontakt mehr zu meinem Vater, meine Eltern waren längst getrennt. Aber ich musste mich positionieren: Auf der Seite meines Vaters oder dagegen? Klar, ich war dagegen, und dann musste ich entscheiden, ob ich in den Iran zurückkehre oder nicht. Im bayerischen Zirndorf, das auch im Film zu sehen ist, habe ich den Antrag auf Asyl gestellt und in einem Heim für Flüchtlinge gewohnt. Das war der Moment, in dem ich vielleicht mein Leben riskiert habe. Weil man vorher ja nicht weiß, ob man nach einem Jahr oder nach acht Jahren rauskommt – oder ob man zurückgeschickt wird. + + +Der Film zeigt eindrückliche dokumentarische Szenen von der Flüchtlingsunterkunft. +Narges: Ich habe damals einen Dokumentarfilm gemacht mit allen, die mit mir in Zirndorf gewesen sind. Wie ich es in "Shahid" sage: Ich hatte Glück, vielleicht auch aufgrund meines Nachnamens. Die deutschen Behörden haben schnell gearbeitet, und ich bin nach drei Monaten mit einem blauen Asylpass rausgekommen. Andere bleiben Jahre ohne Papiere, bis klar ist, ob sie überhaupt im Land bleiben dürfen. Diese Unterschiede sind auch Thema des Films. +Der Film ist allerdings keine klassische Autobiografie, sondern umfasst mehrere thematische Ebenen. Wie würdet ihr selbst in drei Sätzen beschreiben, worum es in "Shahid" geht? +Narges: In "Shahid" geht es darum, dass eine Frau ihren Nachnamen ändern möchte. Das Wort "Shahid" bedeutet Märtyrer. Dadurch, dass das Wort für die Hauptfigur eine Geschichte in sich trägt, begegnet die Figur dieser Geschichte in ihrer Gegenwart in Deutschland. +Aydin: Es geht um die Versinnbildlichung davon, wie unsere Generation im Ausland versucht, einen Weg zu finden, sich von der Vergangenheit loszulösen. +Narges: Das klingt besser!(lacht) +Shahid ist ein Name, den die Hauptfigur von ihrem Urgroßvater geerbt hat, der vor mehr als 100 Jahren als Märtyrer gestorben ist. Die Hauptfigur sagt einmal: "Ich will mit der ganzen Scheiße nichts mehr zu tun haben." Warum wurde der Konflikt um den Namen zum Ausgangspunkt des Films? +Narges: Auch das ist meine eigene Geschichte: Ich wollte Shahid rausnehmen lassen aus meinem Nachnamen. +Aydin: Im Iran haben viele Leute zwei Nachnamen. Wir stellen uns meist mit unserem Lieblingsnamen vor, doch in Deutschland müssen beide Namen zusammengeschrieben werden, deswegen heißen wir hier alle komisch. Narges heißt eigentlich Shahid Kalhor – aber im Pass wird es zusammengeschrieben. Oft ist man dann mit Problemen konfrontiert. Bei mir hat ein Hausmeister mal Vor- und Nachname verwechselt und einfach das Schild auf dem Briefkasten verändert. Und bei Narges… +Narges: … sagen alle nur: "Frau Shahid hier! Frau Shahid dort!" In der Realität habe ich den Prozess für eine Namensänderung gar nicht angefangen. Aber für den Film hat Aydin recherchiert, wie das bürokratisch in Bayern funktioniert: Es braucht viele Dokumente, ein psychologisches Gutachten und so weiter. Im Film ist der Konflikt mit dem Namen und seiner Bedeutung ein Zugang zu der schweren, von männlicher Macht geprägten Vergangenheit, die ich aus dem Iran nach Deutschland mitgebracht habe. Aber unsere Probleme können natürlich nicht damit gelöst werden, einfach ein Wort aus dem Namen rauszulassen. +Ihr experimentiert im Film mit unterschiedlichen Stilen: Es gibt Tanzeinlagen, Theater, Animationen, Film-im-Film-Szenen. Was wollt ihr mit der Form erzählen? +Aydin: Die Form entwickeln wir immer zuerst, und sie muss in einem guten Verhältnis zum Inhalt stehen. Wenn wir zum Beispiel erzählen, wie die Hauptfigur durch die bürokratischen Hürden geht, hat die Geschichte eine eher "dokumentarische" Form. +Narges: Aber dann verwenden wir plötzlich die Szenen, die eigentlich nicht für die Veröffentlichung bestimmt sind: die Outtakes. Wenn alle nicht mehr wissen, dass die Kamera noch läuft, und ihre echten Gesichter zeigen. +Aydin: Dann gibt es eine Theaterform, mit der wir wie in einem Comic sehr schnell Versatzstücke aus der Vergangenheit darstellen. Das ist eine Erzählweise aus der iranischen Tradition, die sehr musikalisch ist und noch aus vorislamischer Zeit stammt. +Narges: Mir ist es wichtig, dass sich die Zuschauer in einem 85-minütigen Experimentalfilm nicht langweilen. Deshalb nutzen wir alle Möglichkeiten: Musik, Tanz, bildreiche Elemente. Uns beiden war von Anfang an bewusst, dass wir so viele Ebenen einbauen. + +Eine Art Musicalszene wiederholt sich: Die Protagonistin geht aus dem Haus und wird von ihrem Urgroßvater und weiteren Männern in schwarzen Gewändern verfolgt. Sind das die Schatten der Vergangenheit? +Narges: Ja,diese Szene soll sich wie ein Loop anfühlen. Das heißt, wir brauchten auch im Textund in der Musik sich wiederholende Themen. Wir wollten, dass die Körper der Tänzer, wenn sie die Hände hochheben, größer werden, wie bei einer Fledermaus. Die Kostüme sind von einer Designerin aus dem Iran. +Spiegelt sich das Prinzip der Wiederholung auch im Bild, das der Film von derGeschichte des Iranszeichnet? +Aydin: Wenn man nur auf die kurze Zeit von Narges' Urgroßvater bis heute guckt: Seit 1905 gibt es im Iran immer wieder und zuletzt in kurzen Abständen revolutionäre Ereignisse mit gewaltsamen Folgen. Also unheimlich viel Leid, das die Menschen, vor allem Frauen, ertragen mussten. Ja, das Muster wiederholt sich leider auch. +Narges: Im Film gibt es dieses Bild: eine nackte Frau mitten in diesem riesigen Schatten von Männern, die im Kreis um sie herumtanzen. Es gibt eine Sehnsucht, dass wir diesen Teufelskreis beenden. Aber wir gehen immer wieder zurück auf Anfang. Vielleicht wird es der jüngeren Generation gelingen, daraus auszubrechen. Den 18- oder 19-Jährigen, die"Frauen, Leben, Freiheit"auf die Beine gestellt haben. +Narges, du hast in Bezug auf deine Filme mal das spanische Wort "cinemigrante" (ein Kofferwort für "migrantisches Kino") benutzt. Was bedeutet das für dich? +Narges: Den Begriff habe ich in Argentinien gelernt. Ich meine damit: Diesen Film zum Beispiel kann keine deutsche Filmemacherin in Deutschland und keine Iranerin im Iran machen. Wir transformieren unsere Ideen und unseren Background in die deutsche Sprache. Für mich als Migrantin ist das etwas, das fehlt, wenn wir heute über Diversität reden. Es geht nicht darum, nur ein paar neue Gesichter vor die Kamera zu stellen, sondern darum, dass auch die Mentalität der Filmschaffenden divers ist. Solche Filme könnte es noch viel mehr geben, wenn Menschen, die noch nicht perfekt Deutsch sprechen und – wie wir zum Beispiel – 25 oder 30 Jahre anderswo gelebt haben, trotzdem Vertrauen, ein Budget und eine Plattform bekommen würden, um ihre eigene Geschichte in diesem Land zu erzählen. + +"Shahid" feierte auf der Berlinale 2024 Premiere und läuft ab dem 1. August regulär in den deutschen Kinos. +Fotos: Leonie Huber; Portraits: privat diff --git a/fluter/shiny.txt b/fluter/shiny.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7659141ffb293692e312b04afaa1eba2692bce8b --- /dev/null +++ b/fluter/shiny.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Julia Brailovskaia kennt das Phänomen. Sie ist Dozentin an der Fakultät für Psychologie an der Ruhr-Universität Bochum und forscht zum Zusammenhang zwischen Mediennutzung, Persönlichkeit und psychischer Gesundheit. "Der Mensch ist ein soziales Wesen", sagt sie, "und daher von Natur aus darauf konditioniert, sich mit seinem Umfeld zu vergleichen und daraus zu lernen." Doch in der Onlinewelt gebe es noch viel mehr Referenzen. Fast 30 Millionen Deutsche nutzen Instagram, etwa 500 Millionen Menschen weltweit sind täglich auf Instagram aktiv. Zig Millionen Vergleichsobjekte, gegen die man nur verlieren kann, weiß Brailovskaia: Auf Instagram finde eine "genau durchdachte Selbstpräsentation" statt. Fortwährend poppen Idealbilder der anderen auf, und schon hat man sich wieder mit ihnen verglichen, ohne es zu bemerken. Nur vergleichen wir dabei unser echtes Leben mit den kleinen, genau ausgewählten und wahrscheinlich in den meisten Fällen besonders eindrucksvollen Ausschnitten aus den Leben der anderen. "Das hat gravierende Folgen auf unsere psychische Verfassung", sagt die Psychologin. +Wenn ich morgens auf Instagram durch meinen Feed stöbere, bleibe ich bei einzelnen Posts hängen: Ein Kumpel von mir hat einen neuen Song rausgebracht. Eine Freundin repostet in ihrer Story das Announcement zu einem Magazin von Bekannten, das unter anderem ihre Fotografien zeigen wird. Ich liege im Bett und habe heute noch gar nichts geleistet. Ich weiß schon: Ich befinde mich offensichtlich in einer Kreativbubble, aber bestimmt kennt jede*r Instagram-Nutzer*in diesen Frust, wenn das Leben aller anderen einfach perfekt wirkt, das eigene aber gerade irgendwie nicht rundläuft. +Abends in der Stammkneipe werde ich auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Dort rücken alle mit ihren echten Krisen heraus, ich fühle mich plötzlich verstanden. Bis ich dann am nächsten Morgen Instagram öffne – und mir wieder faul und unfähig vorkomme. Warum also nicht einfach mal den Stecker ziehen? Obwohl wir wissen, wie gut es tut, mal ein paar Tage Abstand von der Bilderflut zu nehmen, bleibt kaum jemand dauerhaft abstinent. Ich befinde mich täglich im Zwiespalt: Sollte ich nicht doch noch viel aktiver auf Instagram werden oder meinen Account ganz einfach löschen? +Neben dem suchtartigen Verhalten, das wir mehr oder weniger beiläufig – und fast ohne es zu bemerken – entwickeln, entsteht bei vielen eine fear of missing out, die bekannte FOMO, was laut Psychologin Brailovskaia Auswirkungen auf unseren gesamten Körper haben kann: Man wird unruhig und kann sich nicht mehr konzentrieren. +Ein Problem meiner Generation? +Man nennt uns die Kinder der Jahrtausendwende, die Gen Z, die Generation iGen oder die Digital Natives. Vielleicht waren wir die Letzten, die noch unbewacht im Sandkasten spielen durften oder im Kindergarten sogar bei Regen und Minustemperaturen Ausflüge in den Wald machten. In meiner Kita gab es sogar sogenannte "spielzeugfreie Wochen", damit wir lernten, uns mit uns selbst zu beschäftigen. Später waren wir plötzlich die ersten Jugendlichen, die sich mit einem Smartphone im digitalen Selbstdarstellungskosmos bewegten. Unser Anspruch an uns selbst ist dadurch enorm: Es scheint so, als würde uns die Welt zu Füßen liegen. Wir wollen alles erreichen, was möglich ist, weil wir es können. Wir können über Nacht berühmt werden, ohne die eigenen vier Wände zu verlassen. Das hätte schon bei den sogenannten Millennials angefangen, sagt Brailovskaia. Instagram öffnet Türen, aber es führt anscheinend – nicht nur bei mir – auch zur totalen Überforderung. +Wir sind auch die Generation Multitasking, wir machen alles zugleich. Während wir mit Freund*innen ein Feierabendbier am Späti trinken, fragen wir auf WhatsApp schon die Nächsten nach den weiteren Plänen für den Abend, posten Schnappschüsse in unseren Storys und liken hier und da ein Bild. Psychologin Brailovskaia nennt das: "Alles und nichts". Mit tausend Dingen gleichzeitig beschäftigt sein, aber mit nichts richtig. "Unsere Aufmerksamkeitskapazität ist begrenzt, und das bedeutet: Entweder 100 Prozent Konzentration für eine Sache oder 20 Prozent hier und da." +Warum also nicht einfach abschalten?Das Problem ist, dass Instagram nicht nur die Abendgestaltung beeinflusst, sondern inzwischen auch tief in der Berufswelt verankert ist. Meine Schwester berichtete mir vor ein paar Tagen, sie habe das Gefühl, den ersehnten Galeriejob nur deshalb nicht bekommen zu haben, weil sie nicht genügend Follower, also keine ausreichende Reichweite hätte. In manchen Branchen kommt es anscheinend nicht mehr nur auf ein abgeschlossenes Studium und Vorerfahrungen an, es ist auch wichtig, dass man bereits ein breites Publikum mitbringt. "Instagram Recruiting" nennt man das, und immer mehr Unternehmen setzen jetzt auf die Methode, ihre Mitarbeiter*innen via Instagram auszuwählen. Eine laut der Expertin unsinnige Herangehensweise, die zeige, dass der jeweilige Arbeitgeber auf falsche Werte setze und Selbstpräsentation über echte Kompetenzen stelle. +Immer wieder denke ich an meine Kindergartentage zurück: Wenn uns die Erzieher*innen das Spielzeug wegnahmen, bereitete sich erst mal eine destruktive Langeweile aus. Ich war sauer, bockig, stritt mich mit den anderen und wusste mit mir selbst nichts anzufangen. Doch nach einer Weile wurde eine Art Schalter umgelegt, und wir begannen, anders und ganz neu zu spielen. Wir verkleideten uns eine Woche lang als Indianer*innen und bauten Tomahawks. Kehrte das Spielzeug dann zurück, brauchten wir es kaum mehr. Trotzdem freuten wir uns, dass es wieder da war.Wäre es nicht gut, wir könnten Instagram wieder wie ein lieb gewordenes, aber manchmal auch ziemlich überflüssiges Spielzeug betrachten? diff --git a/fluter/shogoon-rapper-herkunft.txt b/fluter/shogoon-rapper-herkunft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bfb139d9685812771e3331854e074a90056e6f1a --- /dev/null +++ b/fluter/shogoon-rapper-herkunft.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +In welcher Situation warst du damals? +Als sich meine Eltern getrennt haben und meine Mutter ihren Job verloren hat, haben wir in einem kleinen Kaff in der Nähe von Minden gewohnt. Meine Mutter hat alles gegeben, aber unser Kühlschrank war trotzdem oft leer. Auf dem Gymnasium war ich der Einzige, der diese Probleme hatte. Manche Mitschüler haben sich über unsere Armut lustig gemacht. Ein Lehrer sagte, ich solle unter "meinesgleichen" bleiben. Das war in Bärenkämpen anders. Dort musste ich mich nicht dafür schämen, wenn das Licht im Flur nicht ging, weil wir die Stromrechnung nicht bezahlen konnten. Das hat mir eine unfassbare Ruhe gebracht. +Viele denken bei Hochhaussiedlungen an fehlende Perspektiven und Jugendliche, die nichts zu tun haben. +In einer Einfamilienhaussiedlung mit frisch gemähtem Rasen können die Tage auch sehr lang werden. Aber es ist halt eine andere Langeweile, wenn deine Mutter dich mal nicht zum Fußballtraining oder zum Klavierunterricht fahren kann. Wenn du selber dafür verantwortlich bist, morgens aufzustehen und zur Schule zu gehen, ist das ein anderes Leben. Das hat nichts mit Eltern zu tun, die sich nicht um ihre Kinder kümmern, sondern mit zeitlichen und finanziellen Ressourcen. Ich glaube, das kann man in den meisten Hochhaussiedlungen beobachten. +2Pac hat mal gesagt, dass die Gesellschaft "das Ghetto" nur aussaugt. Tun Rapperinnen und Rapper das nicht auch, wenn sie über Viertel rappen, in denen sie selbst gar nicht mehr wohnen? Du lebst inzwischen in Berlin. +Ich habe kein schlechtes Gewissen, das Viertel war ja meine Lebensrealität. Solange auch die Kids aus Bärenkämpen zu meiner Show kommen, ist für mich alles gut. Aber je länger ich weg bin, desto genauer muss ich überlegen, ob ich noch Aussagen über die Siedlung treffen kann. Bei der ersten Versionmeines Tracks "Jogger"haben mir Freunde aus Bärenkämpen gesagt, dass der so nicht klargeht. +Warum? +Ich habe über einen Mord gerappt, der dort vor ein paar Jahren passiert ist. Das ganze Viertel wurde damals verteufelt. Als wären dort alle automatisch scheiße und kriminell. Ich wollte das im Song noch mal aufgreifen und deutlich machen, dass solche Verbrechen überall passieren. Aber ein paar Leute von früher meinten, das wäre zu krass. Es geht ihnen viel zu nahe, viele sind immer noch mit der Trauer und Verarbeitung beschäftigt. Das habe ich natürlich respektiert und das Ganze umgeschrieben. + + +Wie ist es für dich, dass viele Gangsta- und Straßen-Rap hören, aber selbstnie Ausgrenzung, Armut oder Gewalt erlebt haben? +Wenn privilegierte Studis bei Konzerten von OG Keemo oder Haftbefehl in der ersten Reihe stehen und durch die Texte sensibilisiert werden, ist das für mich völlig fein. Im besten Fall hören sie es mit echtem Interesse und bekommen Eindrücke einer Welt, die sie sonst wahrscheinlich nie kennenlernen würden. Schwierig wird's, wenn sie es von oben herab hören, ironisch, so nach dem Motto "Sind die alle dumm". Da werde ich sauer. +In welchen Rapsongs findest du dich wieder? +Mit 13 hat michSidos "Mein Block"richtig abgeholt. Der hat sich eben nicht hingestellt und gesagt: "Guck, wie geil ich bin." Der Song nimmt die Verhältnisse in den Blick und macht etwas Selbstermächtigendes daraus: Ja, ist kacke hier, aber wir machen das Beste daraus. Später ging es mir bei OG Keemo ähnlich.In "Töle"reflektiert er das Verhältnis zu seinem ehemaligen Viertel auf einem extrem hohen Niveau. +Im Rap geht's oft um glorreiche Aufstiegsgeschichten. Bei dir hört sich das anders an: "Esse die Asia-Box auf der Treppe noch immer, als wär das ein Festmahl." +Ich habe damals Drogen verkauft, um an Geld zu kommen. Abgefeiert habe ich das nie, manche meiner Freunde wussten das nicht mal. Mit so viel Zeug unterm Bett einzuschlafen ist das Härteste: Du liegst da und kannst nur daran denken, dass du in den Knast gehst, wenn du erwischt wirst. Warum soll ich mich mit so einem beschissenen Gefühl brüsten? Wenn du die Leute erreichen willst, die in prekären Verhältnissen unterwegs sind, bringt blindes Glorifizieren nichts. Sie sichtbar zu machen, ist viel wichtiger. +Kannst du es nicht nachvollziehen,wenn man zeigen möchte, was einem jetzt alles gehört: die teuren Sneaker, Uhren, der SUV? +Doch. Ich habe diesen Geltungsdrang auch, ich kaufe mir heute Sachen, die ich mir früher nie leisten konnte. "Geld macht nicht glücklich", das sagen sowieso nur die, die genug haben. Trotzdem darf man nicht vergessen, dass auch Leute die Musik hören, deren Situation sich nie ändern wird. Ich kenne so viele im Viertel, die immer der Illusion nachgelaufen sind, dass es irgendwann besser wird. Die sind heute durch Frust und Drogen abgeschmierter als alle anderen. + +Dieser Text istim fluter Nr. 93 "Rap"erschienen +Wie sollte über Menschen aus Blocks gerappt werden? +Musik hat keinen Bildungsauftrag. Aber ich finde es wichtig, deutlich zu machen, dass es durch Chancenungleichheit viele Menschen gibt, bei denen es scheiße bleibt. Sozialer Aufstieg ist kein Klassenverrat, aber wenn du Mucke für die Menschen aus den Blocks machst, musst du dein Ego rausnehmen, wenn du selbst nicht mehr in der Gegend wohnst. Ich kann dann nur noch mitgeben, dass ich ähnliche Erfahrungen gemacht habe und wie ich damit umgegangen bin. Deshalb rappe ich zum Beispiel darüber, wie es ist, Nudeln mit nichts zu essen. Und dass sie mit Brühwürfeln aufgekocht immerhin halbwegs schmecken. Solche Geschichten würde ich mir schon mehr im Rap wünschen. Und das sage ich nicht als jemand, der es geschafft hat. +Weil wir das Interview sonst in einem schicken Privatclub über den Dächern Berlins führen würden und nicht digital in unseren Zimmern? +(lacht)Ich kann meine Miete zahlen und habe einen Steuerberater. Aber der sagt mir schon: Bruder, überleg mal, ob du dir nicht einen zweiten Job suchst. + diff --git a/fluter/sich-abgrenzen-durch-eine-kluft.txt b/fluter/sich-abgrenzen-durch-eine-kluft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e455e7023f9c2d56bf04fca6a4ad5450e5527682 --- /dev/null +++ b/fluter/sich-abgrenzen-durch-eine-kluft.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Geir ist Sámi, so heißt das einzige indigene Volk innerhalb der Europäischen Union. Sápmi, das Siedlungsgebiet der Sámi, erstreckt sich vor allem über Lappland im Norden von Finnland, Schweden und Norwegen bis nach Russland. +Geirs Familie lebt im finnischen Teil, rund 400 Kilometer oberhalb des Polarkreises. Im Winter wird es hier bis zu minus 40 Grad Celsius kalt. Seine Eltern führen im einsam gelegenen Lemmenjoki Nationalpark ganzjährig einen Ferienhof. Jetzt im Sommer, wo die Sonne kaum untergeht, bieten sie für Touristen zum Beispiel Kanufahrten auf dem angrenzenden See an. +Zum Hof gehört neben einigen Holzhütten für Gäste auch das Restaurant"Ahkun Tupa". Ahkun bedeutet auf Nordsamisch "Großmutter", und Tupa auf Finnisch "Stube" oder "Wohnzimmer". Großmutters Stube spiegelt die beiden Kulturen aus Geirs Familie wider, denn sein Großvater war Sámi und seine Großmutter eine Finnin aus dem Süden. 1955 eröffneten sie ihren Ferienhof, den nun Geirs Eltern weiterführen. Wie ihre Vorfahren besitzt die Familie einige Rentiere, einstmals waren es große Herden, die mit ihrem Fleisch, Fell und ihrer Milch den Sámi das Überleben in der Natur sicherten. Auch Fischerei wurde betrieben. +In der Stube erinnern vergilbte Bilder an die alten Zeiten. Geir, der sich nun umgezogen hat, sieht ein bisschen aus wie den historischen Fotos entsprungen. Der 18-Jährige führt seine traditionelle Sámi-Tracht vor, zu der neben Lederschuhen mit hochgezogener Spitze und bunten Schuhbändern, eine Lederhose und das Gákti, ein kittelähnliches Oberteil, gehört. Typisch ist dabei der an der Taille angesetzte Stoff, das Schößchen. Das blaue, dicke Wollgewand ist mit detailreich gestickten Bändern dekoriert, ebenso der hohe Hut. "Ich finde es toll, dass ich durch die Kleidung meine Kultur repräsentieren kann", sagt Geir. +Seine Mutter Margetta Jompan-Tiainen hält zum Vergleich ihr Gewand daneben. Die Röcke der Frauen sind etwas länger. Es gibt jeweils eine Tracht für den Winter und den Sommer. "Dieses Wintergewand kostet über 5.000 Euro", sagt Margetta, die alles in Handarbeit genäht hat. Jedes Detail hat seine Bedeutung – die kleinen Ringe am Gürtel symbolisieren zum Beispiel, dass Geir noch unverheiratet ist. Einst trugen die Sámi ähnliche Outfits als Arbeitskleidung, wenn auch nicht so kunstvoll verzierte. +Jede Region hat ihren eigenen Stil und andere Muster – ein Profi erkennt also sofort, dass Geirs Familie aus Enontekiö stammt. Manche sehen sogar, wer die Tracht genäht hat. Die Infos stehen in keinem Buch, sie werden von Generation zu Generation mündlich weitergegeben. In Finnland gibt es einige Souvenir-Shops, die Fake-Sámi-Kleider verkaufen, was in der Community stark kritisiert wird. +Heute tragen die Sámi ihre Tracht meist nur zu besonderen Familienfesten und ihremeigenen Nationalfeiertag Anfang Februar. "Ich fühle mich als Sámi und nicht als Finne", sagt Geir, der in der Schule auch Unterricht auf Nordsamisch hat. Lange wurde den Sámi verboten, ihre eigene Sprache zu sprechen und ihre Kultur wurde unterdrückt. Heute haben sie mehr Rechte und sowohl in Norwegen als auch in Schweden und in Finnland haben die Sámi ein eigenes Parlament. +Dennoch sind viele Sámi enttäuscht, dass das Finnische Parlament die Indigenous and Tribal Peoples Convention, kurz ILO 169, die ihnen mehr Rechte geben würde, bis heute nicht unterschrieben hat. Anders als die norwegische Regierung. Außerdem ist es ein Politikum, wer überhaupt als Sámi anerkannt wird. Mindestens ein Elternteil muss zum Beispiel eine samische Sprache als Muttersprache nachweisen können. Die Volksgruppe wird insgesamt von der Finnischen Botschaft in Berlin auf 76.000 bis 110.000 Personen geschätzt, nur die Hälfte davon spricht noch eine der Sámi-Sprachen. Manche Sámi fürchten sogar, dass ihre Kultur demnächst aussterben könnte. In Finnland leben etwa 7.500 bis 9.000 Sámi. Die meisten wohnen im Süden, sie werden City-Sámi genannt. +Einer von ihnen ist Markku Laakso. Gemeinsam mit seiner Frau Annika Dahlsten lebt er in der Stadt Turku. "Und doch träume ich fast jede Nacht von meiner Heimat", sagt Laakso. Der Künstler wuchs in Enontekiö auf, sein Gewand ähnelt also dem von Geirs Familie. Laakso spricht selbst jedoch kaum Samisch. +Geht gar nicht: Die Sámi sehen es nicht gern, dass Souvenirshops ihre Trachten verkaufen +In seinen Gemälden setzt er sich immer wieder mit der Identitätsfrage auseinander. Auf einem sitzt ein Sámi neben Elvis am Lagerfeuer. So wie er hier die Kulturen mischt, macht er dies auch in den Video- und Fotoprojekten mit seiner Frau. Dahlsten ist Finnin. "Bei Performances trage ich manchmal die Tracht meiner Schwiegermutter, im Alltag würde es nie tun", sagt die Künstlerin. Obwohl sie es als Frau eines Sámi sogar dürfte. "Ich denke, dass das Gewand sehr politisch ist. Es hat etwas Tiefgreifendes, sogar Heiliges." Für eine Arbeit kreierte das Künstlerehepaar eigene Sommergewänder, die sie mit verschiedenen Stilen kombinierten. Sie fotografierten sich darin in Afrika und im Hamburger Zoo. Während ihrer Weltreise wollten Dahlsten und Laakso das Anderssein und die Frage nach der Originalität erforschen. +Zuletzt drehten sie eine ArtRockmusikvideo, bei dem sie und eine Gruppe von Tänzern verschiedene Sámi-Trachten tragen. Als das Video erstmals im Rahmen der Ausstellung "Sámi Contemporary" gezeigt wurde, kritisierten einige Sámi, dass es zu humoristisch sei und die Künstler die Tracht nicht richtig präsentieren würden. Dabei will das Paar bewusst die bedrohte Kultur wahren, aber eben auch neue, moderne Einblicke gewähren. Oft wurden die Künstler gefragt, ob sie die "hübschen und süßen Kostüme" bei Vernissagen oder anderen Events tragen könnten. "Zu viele in der Kulturszene sehen das Gewand immer noch als Kostüm", sagt Laakso. "Ich finde, das zeigt die Naivität und Ignoranz gegenüber den Sámi-Rechten." +Als Rheinländerin ist Alva Gehrmann an Karneval schon in viele Rollen und Kleider geschlüpft. Nach der Recherche für diese Story ist der Berliner Journalistin klar, dass sie aus Respekt vor der Sámi-Kultur nie ein Gákti tragen würde. diff --git a/fluter/sich-dumm-zu-stellen-war-eine-form-von-opposition.txt b/fluter/sich-dumm-zu-stellen-war-eine-form-von-opposition.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dd0e2116cc34fb6017cbd6829a049ee1872e0685 --- /dev/null +++ b/fluter/sich-dumm-zu-stellen-war-eine-form-von-opposition.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Es gab ja auch gleich wirtschaftliche Schwierigkeiten. Viele Vertriebene, etwa aus Schlesien, konnten mit dem ihnen zugeteilten Land nichts anfangen. Die waren gar nicht mit den Techniken der modernen Landwirtschaft vertraut. Die größte Hypothek waren aber die Demontagen durch die Sowjetunion. Die Siegermächte hatten das Recht, Industrieanlagen abzubauen, um sich für die Kosten des Krieges entschädigen zu lassen. Und das hat die Sowjetunion im Gegensatz zu den Alliierten im Westen im großen Stil gemacht. +Das war natürlich ein nützliches Konstrukt. Man hat immer gesagt, dass das alles nur Anfangsschwierigkeiten sind, bald komme der wahre Sozialismus. Wenn der Westen nicht mehr reinfunkt und keine Agenten mehr schickt, um die Kühe zu vergiften. +Das war ja gar nicht vonnöten, die strömten ja von allein in den Westen, als dort das Wirtschaftswunder begann. +Nach der Gründung der DDR hat sich der Kurs zunehmend verschärft – so bis Juli 1952: die Kollektivierung, der Kampf gegen die Kirche, die Remilitarisierung der Gesellschaft, der wachsende Stalin-Kult. Erst nach Stalins Tod wurde diese ständige Verschärfung abgebremst und eine Politik des neuen Kurses verkündet. Das empfanden aber die meisten schon nicht mehr als Liberalisierung, sondern als den Anfang vom Ende der Regierung. Deswegen war ja auch der Protest am 17. Juni 1953 so massiv. +Das kann man so sehen. Die ganze Geschichte der DDR war ja dadurch gekennzeichnet, dass es immer wieder Ansätze zu neuen Kursen gab, die dann wieder abgebremst wurden. Das war eine ständige Pendelbewegung zwischen Neuaufbruch und Zeiten der Repression, und diese Pendelbewegung erklärt auch, warum noch bis 1989 so viele Menschen dem System die Treue hielten und daran glaubten, dass die DDR letztlich doch die antifaschistische Alternative zur kapitalistischen BRD und auf lange Sicht der bessere Staat sei. Viele Kritiker der DDR haben ja das System nicht abschaffen, sondern verbessern wollen. Dem Sozialismus gehöre die Zukunft, hie©¨ es, er müsse nur demokratisch erneuert werden. Wirtschaftlich effizienter und humaner sein. +Dort hat sich die Führung vom Steinzeitsozialismus der Sowjets abgewandt. Und dann kamen deren Panzerdivisionen und machten alles zunichte. +Die Leute im Politbüro haben immer gesagt: Es ist noch nicht so weit. Wenn der Klassenfeind erst einmal einen Fuß in der Tür hat – und sei es durch seine Musik – ist er nicht mehr aufzuhalten. Das Schlimme ist ja, dass selbst die Intellektuellen, die sich für das Land eingesetzt haben, ständig vor den Kopf gestoßen wurden. Wolf Biermann war zum Beispiel ein überzeugter Kommunist, vom Marxismus tief geprägt und von der DDR als dem besseren deutschen Staat überzeugt. Dennoch wurde er 1976 ausgewiesen. + +Es gab ja schon 1948 den Kampf gegen die Jazzmusik. Da wurde gesagt, das sei ein Ausdruck amerikanischer Unkultur. Plötzlich war Jazz aber die Musik der unterdrückten Schwarzen – dann wurde das geduldet. Später kam das Theater mit dem Rock'n'Roll. Da wurde gesagt, es sei unmoralisch, so mit der Hüfte zu wackeln und dass Deutsche nicht so tanzen. Und dann gab es 1963 die Beatles, die erst als Unkultur beschimpft wurden. Dann schrieben die Zeitungen, das seien Arbeiterjungs aus Liverpool, die gegen den Kapitalismus anspielten. Im Dezember 1965 erklärte schließlich Ulbricht, dass man nicht jeden Dreck aus dem Westen anhören müsse, und das "Yeah, yeah, yeah" der Beatles schon mal gar nicht. So ging das immer hin und her. +Die Marxisten hatten halt die Weisheit mit den Löffeln gefressen, schlimmer als der Papst. Die Partei hat immer recht. Die Diktatur ist nun mal so gestrickt, dass sie niemals unrecht haben kann. Wenn sie einmal sagt, dass sie sich geirrt hat, ist das schon ein Teil Selbstaufgabe. +Ja, konnte man. Aber man ist dabei verblödet. Das ging auch nur in bestimmten Berufen – als Schlosser zum Beispiel oder als Klempner, die als Handwerker in der Mangelwirtschaft natürlich Vorteile hatten, weil sie improvisieren konnten. Die konnten es sich leisten, sich nicht für Politik zu interessieren. +Dieser massenhafte Rückzug ins Private stabilisiert eine Diktatur vielleicht kurzfristig, aber langfristig lebt die Diktatur von der ständigen Mobilisierung der Massen. Dass die Menschen zu Aufmärschen kommen, organisiert sind, einfach mitmachen. +Ja, beim Subbotnik nicht mitzumachen, beim FDJ-Aufmarsch zu fehlen. Der Rest war eine tägliche Neujustierung zwischen Anpassung und Opposition. Das lernte man schon als Schüler. Wenn der Lehrer sagte: Heute wollen wir uns mal über Erich Honecker unterhalten. Dann konnte man als Schüler natürlich sagen, dass das der Größte und Unfehlbarste ist, und hat dafür ein Bienchen bekommen. Aber es reizte natürlich, kritisch zu sticheln. Das war ein intellektuelles Vergnügen. +Na ja, es schärfte den Geist. Es war immer eine intellektuelle Herausforderung. Das wiederholte sich ja alles auf höherer Ebene, etwa bei der Armee und im Studium. Da gab es im Marxismus-Seminar die, die alles richtig machten, und die anderen. Wenn es hieß, man solle im Text alles Wichtige von Lenin unterstreichen, dann haben manche eben alles unterstrichen und gesagt: Bei Lenin ist alles wichtig. Ob das Verarschung war oder nicht, war nicht festzustellen. +Es gab natürlich auch radikalere Formen: Leute, die den Wehrdienst verweigert haben, die in keine Organisation gingen. Solange es Proleten waren, wurden die geduldet, aber die wurden nichts mehr. Und das war genauso wirkungslos. Wenn man sagt: Macht euren Schei©¨ allein, tut man dem Land auch keinen Gefallen. +Noch besser war das Dummstellen – das war das A und O. Man tat so, als begreife man es nicht. Das war die Hauptform des Widerstandes. Das war auch das, was alle ihren Kindern empfahlen. +Dass es hier gebrodelt hat, ist eine falsche Vorstellung. Das war 1953 so – aber später? Selbst 1989 kann man nicht sagen, dass die DDR ein Vulkan war. Es gab Einzelne, die aktiv geworden sind, etwa in der Kirche – so Ende der 70er, Anfang der 80er. Die haben aber immer gesagt: Wir sind keine Opposition. Der Begriff war ja geradezu tabuisiert. Man wollte in Einzelfragen Konkretes bewirken, Feindbilder abbauen – auch das Feindbild SED-Staat. Und das war nicht nur ironisch gemeint. Die standen in der Kirche und sagten: Wir beten auch für die Mitarbeiter der Stasi, die vor der Tür stehen – dass sie abkommen von ihrem schlimmen Tun. +Einerseits war der Ausreiseantrag der härteste Ausdruck einer kritischen Haltung, andererseits für die Führung der bequemste Weg. Die Störenfriede waren dann weg und konnten nichts mehr verbessern. Aber die Gesellschaft braucht ja diese Impulse der Verbesserung. +Es hing ja alles zusammen: Der Mangel an Demokratie und der Mangel an Meinungsfreiheit resultierte ja aus dem niedrigen Lebensstandard. Wenn das halbwegs ausgeglichen gewesen wäre, hätte es ja gar keine Beitrittsbewegung für ein vereinigtes Deutschland gegeben. +Einer der wenigen klugen Sätze, die Ulbricht gesagt hat, war: Überholen ohne einzuholen. Das hieß: Wir machen uns nicht die Wertmaßstäbe des Kapitalismus zu eigen. Wir verzichten zum Beispiel auf das Privatauto – das wäre ja bis heute ein Segen für die Welt. Aber zu so einer eigenen Kultur hat es nicht gereicht. Nicht mal zu einer Kultur des Verzichts. Das wäre richtiger Sozialismus gewesen. +Es war ja alles bekannt, was es im Westen gab. Und grundsätzlich wollten die Menschen dieselbe Konsumgesellschaft mit allen erfreulichen und unerfreulichen Begleitumständen. Man sah ja, dass die DDR auch kein schönerer Ort ist: Dort hat man ja die Städte teilweise noch menschenfeindlicher als im Westen gebaut und die Umwelt noch mehr zerstört. +Sie haben vor allem diese Sehnsucht nach Sicherheit. Im Osten war ja alles so sicher: Man saß in seiner Neubauwohnung, hatte einen Krippenplatz für die Kinder, den Trabi vor der Tür, 14 Tage Ostsee im Jahr und vor allem: Die anderen hatten auch nicht mehr. Das hat natürlich den Stress rausgenommen. Heute haben alle ständig Angst, und diese Angst wird noch durch die Medien gefüttert. Das zumindest war in der DDR besser. +Eher wenig. Die haben sich ja abgeschottet und sind sehr unter sich geblieben. Auf der anderen Seite wurden sie ja auch gemieden. Das war eher peinlich, wenn man in der Verwandtschaft einen von der Stasi hatte. Für die war es auch schwer, eine Freundin zu bekommen. +Eine reale Chance für den Wandel in der DDR hat es erst gegeben, als die Sowjetunion in die Krise geriet. Und die DDR war ja Teil der Krise der Sowjetunion. War Teil eines Systems, das insgesamt die Welt erobert oder zusammen untergeht. In der DDR selbst hat das Politbüro der SED am meisten zum Niedergang beigetragen. Das war so gesehen das effektivste Widerstandsnest. Die haben den Staat zugrunde gerichtet. + +Stefan Wolle studierte Geschichte in Ostberlin. 1972 wurde er aus politischen Gründen von der Humboldt-Universität verwiesen. Nach dem Fall der Mauer war er Mitarbeiter des Komitees für die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit und des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes. Seit 2005 ist Stefan Wolle Wissenschaftlicher Leiter des DDR-Museums in Berlin (www.ddr-museum.de). diff --git a/fluter/sie-brauchen-dieses-zeug.txt b/fluter/sie-brauchen-dieses-zeug.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5ecc53f00a1e3757be497f4f3698767d2b986cda --- /dev/null +++ b/fluter/sie-brauchen-dieses-zeug.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +36 Stunden später war von der Scheibe nicht mehr viel übrig. Der harte Stoff hatte sich in ein aufgeplustertes Etwas verwandelt, in ein "Schaummonster", wie Stastny in seinem Labortagebuch vermerkte: "Der Dosendeckel saß neckisch wie eine Baskenmütze auf einem 26 Zentimeter hohen Schaumstrang", notierte der Chemiker. "Das Gebilde war starr und sah aus wie länglich verzogene Bienenwaben."Das Styropor war geboren. 1952 stellte BASF seine Entdeckung auf der Düsseldorfer Kunststoffmesse vor. Den Fachbesuchern präsentierte das Unternehmen etwa zehn Zentimeter lange Schiffchen aus dem neuen Material – "das leichteste Schiff der Welt", wie BASF die Innovation anpries. Die Messebesucher waren beeindruckt. Doch so richtig anfangen konnte kaum jemand etwas mit dem neuen Material. Für die Isolierung von Telefonkabeln war es ungeeignet. Der erste Kunde, der Styropor bei den Ludwigshafenern orderte, machte daraus Weihnachtsbaumschmuck. +Heute gehört die Ludwigshafener Zufallsentdeckung zu den wichtigsten Kunststoffen der Welt. Mit ihm werden Häuser gedämmt und zerbrechliche Gegenstände verpackt, Rettungsringe sind aus Styropor, Lebensmittel werden in Styropor gebettet, Styroporschalen halten Essen warm. Und BASF entwickelte sich vom Farbenfabrikanten zu einem der größten Plastikproduzenten. +Bemerkenswert ist nicht nur, wie zufällig die Chemieindustrie auf die meisten Kunststoffe stieß, sondern auch, wie lang unklar blieb, welche Möglichkeiten in den neuen Materialien schlummerten. Die wichtigsten Kunststoffe waren bereits in den 30er-Jahren erfunden worden. Der große Plastikboom setzte jedoch erst nach dem Krieg ein. +Das hat verschiedene Gründe. Da die deutschen Chemieunternehmen während der Nazizeit eine wichtige Rolle in der Kriegswirtschaft gespielt hatten und im Verbund der I.G. Farben zum Profiteur des mörderischen Systems von Zwangsarbeit und Konzentrationslagern geworden waren, hatten ihnen die Siegermächte nach dem Weltkrieg erhebliche Beschränkungen auferlegt. Unter anderem verbot man ihnen die Kautschuksynthese, so dass Firmen wie Bayer und BASF, die aus der Entflechtung der I.G. Farben hervorgegangen waren, neue Geschäftsfelder brauchten. +Im Zuge des beginnenden Plastikbooms gründete BASF 1953 gemeinsam mit dem Mineralölkonzern Shell die Rheinischen Olefinwerke in Wesseling, zwischen Bonn und Köln gelegen. Es war das erste großtechnische Petrochemiewerk in Deutschland. Öl wurde billig und verfügbar und löste die Kohle ab. "Das hat den Plastikboom erst rentabel gemacht", sagt der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser von der Uni Bielefeld, der die Unternehmensgeschichte von BASF untersucht hat. +Rentables Öl alleine reichte aber wohl nicht – eine gewichtige Rolle spielte auch die Tatsache, dass die Konsumbedürfnisse im Deutschland der Nachkriegszeit stark zunahmen und die chemische Industrie gewiefte Marketingleute in ihren Reihen hatte: Kunststoffhersteller wie BASF produzierten zwar in der Regel nicht für den Endkunden, brüteten aber fleißig darüber, welche Alltagsgegenstände man in Plastikdinge verwandeln könnte – und verhalfen so dem Stoff, mit dem zunächst niemand etwas anfangen konnte, zum Einzug auf breiter Front in den Alltag. "Sie waren so erfolgreich, weil sie den Kunststoffverarbeitern nicht nur das Material, sondern gleich auch die fertigen Ideen geliefert haben", sagt Jochen Streb, Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Mannheim. +Die Firma Kaffee Hag aus Bremen zum Beispiel machte BASF darauf aufmerksam, sie könne ihr Kakaopulver Kaba doch auch in Dosen aus Plastik mit einem Deckel aus festem Styropor verkaufen. Und suchte prompt einen Hersteller, der die neue Verpackung produzieren konnte. Auf diese Weise kamen immer mehr Kunststoffprodukte auf den Markt, an die zuvor niemand gedacht hatte. Ob das neue Material immer sinnvoller war als das, welches es ersetzte, und was das alles für die Umwelt bedeutete, daran verschwendete damals noch niemand einen Gedanken. +Die Kunststoffverarbeiter blieben BASF treu, auch wenn Rohplastik andernorts billiger zu bekommen war. Sie vertrauten darauf, dass das Chemieunternehmen ihnen weitere Produktideen lieferte und die passenden Abnehmer vermittelte. Andere Firmen gingen ähnlich vor, um ihren Kunststoff in die Welt zu bringen: Der Hersteller Freudenberg aus Weinheim entdeckte beispielsweise, dass ein von ihm entwickeltes Lederimitat sich auch als Einlagenstoff für Krawatten, Blusen und Hüte verwenden ließ – und organisierte prompt Modenschauen, um die Bekleidungsindustrie von dem Kunststoff zu überzeugen. Das Unternehmen BASF versuchte seine Neuentdeckung Styropor in die Welt zu bringen, indem es eine Wanderausstellung organisierte. Zu sehen war alles, was sich aus Styropor machen ließ – auch fiktive Anwendungen. Styropor-Erfinder Stastny tingelte als Vortragsreisender durch die Lande, immerzu die Vorzüge seiner Entdeckung preisend. +Diese Marketingstrategie war in der Branche keineswegs neu. Als BASF sein Geld noch vor allem mit Farben verdiente, bot man den Mitarbeitern von Textilunternehmen in Lehrwerkstätten kostenlose Kurse im Färben und Bedrucken an. So wurde es für die Kleiderproduzenten lukrativ, auf synthetische Färbemittel umzustellen. +Auf diese Weise sorgte die Plastikindustrie selbst dafür, dass Produkte in den Markt kamen, die ursprünglich niemand haben wollte und die später zum Umweltproblem wurden. Verdienen konnte sie mit dieser Strategie jedenfalls lange gut. An den weltweiten Kunststoffexporten hatten die deutschen Hersteller in den Nachkriegsjahren einen überproportional großen Anteil. "Die Kunststoffbranche ist eine Vorzeigebranche für das Wirtschaftswunder", sagt der Mannheimer Wirtschaftshistoriker Jochen Streb. +Heute werden Massenkunststoffe wie Polyethylen oft im Ausland produziert, wo der Weg zu den Rohstoffen kürzer ist und die Märkte stärker wachsen. Vor allem in Asien hat der Plastikhunger zugenommen, während die Produktionszahlen hierzulande eher stagnieren. Der Boom der deutschen Kunststoffproduktion ebbte bereits in den 70er-Jahren etwas ab. Auch dafür gibt es viele Gründe. 1973 drosselte die Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) die Ölförderung – der Rohstoff, aus dem all die Plastikvarianten entstanden, wurde mit einem Mal knapper und teuer. Und die bisherige Marketingstrategie zog nicht mehr so recht: Inzwischen waren im Ausland Konkurrenten auf den Plan getreten, die ebenfalls begriffen hatten, dass sie ihren Kunststoffverarbeitern nicht nur das Material, sondern gleich ganze Vermarktungskonzepte liefern mussten. +Bernd Kramer schreibt als freier Autor unter anderem für die "Zeit", "Neon" und die "taz". Als studierter Volkswirt und Soziologe beschäftigt er sich in seinen Texten gerne mit den großen Fragen der Gesellschaft. diff --git a/fluter/sie-nannten-es-gao-kao.txt b/fluter/sie-nannten-es-gao-kao.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0ed21f99befcfa24e2fffc9e4f43971da4c82251 --- /dev/null +++ b/fluter/sie-nannten-es-gao-kao.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Jedes Jahr kämpfen in China mehr als neun Millionen Schüler um sechs Millionen Studienplätze. Die Gao-kao-Prüfung findet an zwei Tagen Anfang Juni statt und dauert insgesamt neun Stunden. Nur 0,3 Prozent der Schüler schaffen Bestnoten und werden auf einer Eliteuni zugelassen. Wer mittelmäßig abschneidet, wird auf eine schäbige Provinzuni verdammt und muss fürchten, später als einer von Millionen arbeitslosen Hochschulabsolventen zu enden. Ein berüchtigtes Sprichwort vergleicht das Gao kao mit "Tausenden Soldaten und Zehntausenden Pferden, die versuchen, eine schmale Holzbrücke zu überqueren". +Auch Zhou Jin macht dieses Jahr Abitur. Die 18-Jährige sitzt in einer Wohnsiedlung im Norden Schanghais zu Hause an ihrem Schreibtisch. Eine kleine Leselampe zeichnet helle Kreise auf die Algebra-Bücher, die aufgeschlagen vor ihr liegen. So richtig motiviert sieht sie nicht aus. "Ich sehe die Prüfung eher entspannt, alle anderen halten mich deshalb für verrückt", sagt sie. In ihrem jungenhaften Gesicht macht sich ein Grinsen breit. Sie kramt eine Packung Fläschchen heraus, die ihre Mutter ihr letztens mitgebracht hat. "Only Smart Brain Child" steht auf der Schachtel. Und das Versprechen: Die eitrig-gelbe Flüssigkeit fördere das Gedächtnis und stärke die Konzentration. Die Mutter ist nervös, was auch sonst. Gestern war Jin Karaoke singen bis um ein Uhr nachts. Am Wochenende geht sie ins Kino oder spielt Basketball. Sie interessiert sich für Fotografie und Werbung und schläft aus bis mittags. Mit ihrer Schule, einer der liberaleren der Stadt, ist sie eigentlich ganz glücklich. Es gibt dort keinen Morgenappell, dafür Theater-, Musik- und Garten-AGs. Jin war lange in der Fernseh-AG und drehte Kurzvideos, am Anfang dieses Schuljahres wurde den Abiturienten jedoch verboten, weiter zu den Gruppentreffen zu gehen. Ihr Vater, Angestellter bei einem Stahlunternehmen, sagt: Seine Tochter werde es schon schaffen. "Sie hat ihren eigenen Kopf und ist sehr selbstständig für ihr Alter." Das harte Lernpensum macht ihm allerdings Sorgen. "Der Wettbewerb ist viel härter als bei uns damals", sagt er. Jin geht dreimal die Woche zur Nachhilfe. Die Familie kostet das umgerechnet 250 Euro im Monat, die Hälfte von dem, was der Vater verdient. Aber es helfe ja nichts, sagt er: "Die anderen Familien investieren auch Geld und Mühe. Was soll man da machen?" +Schanghais Abiturienten haben es dabei vergleichsweise gut. Die 23-Millionen-Metropole wurde 2009 internationaler PISA-Sieger. Das allgemeine Bildungsniveau ist hoch, an den Schulen lehren die besten Lehrer des Landes. Wer hier aufgewachsen ist, hat von vornherein bessere Chancen auf gute Prüfungsergebnisse. Schlimmer ist der Konkurrenzkampf in den armen und bevölkerungsreichen Provinzen. Wo es viele Schüler gibt, aber nur wenig gut ausgestattete Schulen, greifen viele zu absurden Mitteln: In diesem Jahr kursierten Fotos im Internet von einer Schulklasse, die sich über einen Tropf Aminosäure in die Venen verabreichen ließ, um effizienter zu lernen. Woanders lernten Schüler mit Sauerstoffmasken. An den Prüfungstagen selbst müssen in vielen Städten die Bauarbeiten unterbrochen werden, und Autofahrer dürfen nicht hupen. Vor manchen Schulen wurden schon Mütter und Väter gesehen, die mit Stöcken zwitschernde Vögel von den Bäumen vertrieben. Wer ist vor der Prüfung mehr gestresst, die Kinder oder die Eltern? Bei dieser Frage muss Zheng Simin, Lehrerin an der Weiyu-Mittelschule, lächeln. Sie erzählt von Eltern, die sich in den letzten Monaten eine Wohnung in der Nähe der Schule mieten, damit sie immer in der Nähe der Kinder sind. In der letzten Woche vor der Prüfung nehmen sich viele sogar Urlaub. Auch für Lehrerin Zheng, die oft von hysterischen Eltern auf dem Handy angerufen wird, bedeutet diese Zeit die Hölle. +Aber die Zeiten ändern sich. Noch vor zehn Jahren habe keiner das System infrage gestellt. "Jetzt gibt es immer mehr Eltern, die sagen: Unser Kind soll sich nicht totlernen. Es muss nicht der oder die Beste sein. Hauptsache, es ist glücklich. Das ist ein Fortschritt." Dann wird sie nachdenklich. Für sie als Lehrerin sei es schwer, etwas zu ändern. "Wir sind eine Eliteschule. Wir werden daran gemessen, wie viele unserer Schüler es auf eine Eliteuniversität schaffen. Als Lehrerin bin ich Teil des Systems: Meine Aufgabe ist es, bestmögliche Leistungen herauszuholen." Im Privaten aber meine sie: Emotionale Intelligenz sei wichtiger als Noten. Nicht wenige brechen unter dem Prüfungsdruck zusammen. Wenn man "Gao-kao-Stress" im Internet sucht, kommt man auf die Seite des Psychologen Wu Lisu. Oberstufenschüler aus ganz China suchen online bei ihm Rat, offline empfängt er in einer Praxis im 14. Stock eines Apartmenthochhauses in Schanghai. "Viele leiden unter Schlafstörungen. Unter Depressionen. Sie haben Panikanfälle. Ohnmachtsgefühle. Können keine klaren Gedanken mehr fassen. Oder erkennen ihre eigenen Grenzen nicht, bis sie irgendwann gar nicht mehr lernen können." Oft sind es die Eltern, die ihr Kind zur Sprechstunde anmelden. Väter und Mütter, die erkennen, was sie mit ihren überzogenen Erwartungen angerichtet haben, und nun Schuldgefühle haben. Wu bringt den angeschlagenen Abiturienten Entspannungstechniken bei. Er versuche, ihnen klarzumachen: Natürlich ist es gut, wenn man sich Mühe gibt. Aber vom Ergebnis hängt nicht das ganze Leben ab. "Die Eltern begreifen die Message in der Regel schnell und schalten mehrere Gänge runter. Aber bei den Kindern ist es oft zu spät. Nach jahrelanger Indoktrination haben sie den Druck so verinnerlicht, dass sie nicht glauben können, wie sie etwas, worauf sie ihre ganze Schulkarriere lang hingearbeitet haben, plötzlich entspannt sehen sollen. Das zerstört ihr gesamtes Weltbild." +Über Alternativen zum derzeitigen Prüfungssystem wird in China inzwischen öffentlich debattiert. "Alle sind sich einig: Das Gao kao raubt unseren Schülern Neugier, Kreativität und ihre Kindheit", schrieb jüngst Jiang Xueqin, stellvertretender Direktor einer der renommiertesten Mittelschulen des Landes. Seit 2008 sinkt die Zahl der Schüler, die sich jährlich zu den Abiturprüfungen anmelden. Eine Minderheit schafft es auf anderem Wege auf die Uni: Einige Elitehochschulen wählen bereits fünf Prozent ihrer Studenten nach eigenen Aufnahmekriterien aus. Andere Glückliche haben reiche Eltern, die sie zum Studieren ins Ausland schicken. "Die Schüler, die es sich leisten können, in den USA zu studieren, lernen gleich auf die amerikanische Hochschulzulassungsprüfung", sagt Lehrerin Zheng Simin. Das Gao kao können sie sich so sparen. +Schlupflöcher wie diese sind bislang den Überfliegern und Privilegierten vorbehalten. Die Suche nach einer fairen Alternative zum Gao kao, die allen mehr als neun Millionen Abiturienten dieselbe Chance bietet, sei ein nahezu unmögliches Unterfangen, meint Jiang Xueqin. Es sei wünschenswert, Leistung individueller zu bewerten. Doch in einem zu weiten Teilen immer noch armen Land, in dem Korruption sich durch die ganze Gesellschaft zieht, wäre die Gefahr groß, dass am Ende nur diejenigen mit den besten Beziehungen und dem meisten Geld davon profitieren. "Wenn wir heute das Gao kao abschaffen und ganz von vorne anfangen würden, wäre die einzige Lösung, die im heutigen China funktionieren würde: das Gao kao", schreibt Jiang. Die Abiturientin Zhou Jin wägt ab: "Die Lernerei nervt, aber das Prüfungssystem an sich halte ich für gerecht." In ihrer Klasse hängt neben der Tafel ein Kalender, der Countdown zählt bis zum Tag des letzten Tests. Für die Zeit danach hat Jin schon einen Plan. Mit ein paar Freunden will sie eine Rucksackreise durch Südchina machen. Li Jinghang von der Eliteschule Weiyu weiß auch, was er nach den Prüfungen machen wird: ganz viel schlafen. diff --git a/fluter/sie-sind-deutschland.txt b/fluter/sie-sind-deutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..83e6d54e8a44a0f9721687f7bfbbaa91822d16a3 --- /dev/null +++ b/fluter/sie-sind-deutschland.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Ein Ort, der dem Durchschnitt des Landes entspricht, heißt im Marketingdeutsch "Magic Town" – magische Stadt. Haßloch ist eine Magic Town. 3500 von 10 000 Haushalten werden von der GfK erfasst und bilden einen repräsentativen Durchschnitt der deutschen Bevölkerung. Haßloch ist berühmt, weil es so gewöhnlich ist. Die Gemeinde hat rund 20 000 Einwohner. Der Bäcker schließt zur Mittagszeit, die S-Bahn bringt Pendler in 15 Minuten nach Ludwigshafen. Es gibt abgesenkte Bürgersteige, Bremshügel und Fachwerkhäuser, einen Freizeitpark, fünf Kirchen und einen englischen Wikipedia-Eintrag. "Beinahe alle Markenartikler waren schon in Haßloch. Wir haben hier insgesamt 400 Tests durchgeführt und noch niemals eine falsche Vorhersage gemacht", sagt Thomas Hertle, der bei der GfK AG für die Testmärkte verantwortlich ist. Das Marktforschungsunternehmen ist weltweit das viertgrößte seiner Branche und veröffentlicht auch die Fernseheinschaltquoten. Gegründet wurde das Institut im Jahr 1934 in Nürnberg, unter anderem auch von dem späteren Bundeskanzler Ludwig Erhard. +Es gibt unterschiedliche Methoden, das Verhalten der Verbraucher zu testen. Man kann sie im Internet, zu Hause oder in der Fußgängerzone befragen. Man kann ihnen einen Werbespot zeigen, sie vor ein Regal führen und anschließend fragen, welche Waren sie kaufen würden. Allerdings haben diese Methoden einen großen Nachteil: Die Versuchspersonen wissen, dass sie beobachtet werden, und das verfälscht das Ergebnis. In Haßloch stehen die Waren in normalen Supermärkten wie Edeka, Real oder Penny. Die Firmen, die Produkte testen lassen, nehmen in Kauf, dass die Konkurrenz theoretisch nur in den Laden gehen und aufmerksam die Regale absuchen müsste, um herauszufinden, was andere planen. Wichtig ist ihnen, dass der Kunde nicht merkt, dass er gerade ein Testprodukt kauft. "Wenn in einem Supermarkt bis zu 20 000 Waren in den Regalen stehen", sagt Hertle, "geht ein Testprodukt darin unter." Der Kunde greift zu, ohne zu merken, dass er etwas Neues vor sich hat. Dank der Strichcode-Karte kann die GfK zudem feststellen, ob ein Haushalt einen Müsliriegel nur einmal oder mehrmals kauft oder zwischen verschiedenen Shampoos wechselt. Diese Methode macht den Testmarkt Haßloch so treffsicher und rea-listisch – sie ist allerdings langwierig und teuer. Ein Test dauert vier bis sechs Monate und kostet mindestens 50 000 Euro. +Nur zwanzig Tests führt die GfK hier jährlich durch, obwohl siebzig Prozent aller Artikel, die neu auf den Markt kommen, nach einem Jahr wieder verschwinden. "Das Bauchgefühl funktioniert eben nicht immer", sagt Hertle. Durch die Flops gingen der deutschen Wirtschaft 9,6 Milliarden Euro verloren.Haßloch bezeichnet er als ein geschlossenes Gebiet. Spülmittel oder Limonade kaufen Haßlocher immer in den Läden vor Ort ein. Das kann Bettina Finco bestätigen. Fast täglich geht die Hausfrau in Märkten wie Penny oder Schlecker einkaufen. Mal mit, mal ohne ihre beiden Töchter Anna und Verena, die aufs Gymnasium gehen. Ihr Mann arbeitet im Außenhandel eines Industrieunternehmens. "Selbst wenn wir ein neues Produkt kaufen, wissen wir normalerweise nicht, ob es nur hier oder deutschlandweit eingeführt wird", sagt Bettina Finco. +Vor ein paar Monaten ist sie mit ihrer Familie in ein neu gebautes Haus umgezogen, nur ein paar Häuser vom Lager der GfK entfernt. Aus diesem Lager holen die Mitarbeiter der GfK die Waren ab, um sie in den Supermärkten vor Ort zu verteilen. Fast täglich gehen sie durch die Geschäfte und prüfen, ob noch genug Packungen im Regal stehen. Außerdem unterhält die GfK in der Stadtmitte ein Büro, an das sich Testfamilien wie die Fincos oder die Jungs wenden können, wenn sie ihre Karte verloren haben. +Im ersten Stock des Gebäudes befindet sich das Fernsehstudio, aus dem die GfK täglich zwanzig bis dreißig Werbespots sendet. Im Gang stapeln sich graue Fernsehboxen, wie sie auch in einem Drittel der Testhaushalte ste-hen. Über sie werden Werbespots eingespeist. Die GfK testet in Haßloch nämlich auch, wie sich Fernseh- oder Zeitschriftenwerbung auf die Verkäufe auswirkt. 1986 war Haßloch als einer der ersten Orte Deutschlands verkabelt worden – der wichtigste Grund, weshalb sich die GfK damals für Haßloch entschied. +Im Fernsehstudio flimmern gegenüber einem Kontrollpult drei Monitore. Jeden Tag erhält die GfK von großen Fernsehsendern wie ZDF oder RTL den Sendeplan für die Werbeunterbrechungen des nächsten Tages. Ein Mitarbeiter sucht einen Spot heraus, der die gleiche Länge wie der Testwerbespot hat. Ist es so weit, drückt er einige Knöpfe und überblendet den normalen Werbespot. Anschließend vergleicht die GfK die Einkäufe der Fernsehhaushalte mit einer Kontrollgruppe. Kauft die Testgruppe mehr als die Kontrollgruppe, würde sich der Einsatz der Werbung lohnen. +Auch bei den Jungs steht eine GfK-Box im Wohnzimmer, auch sie bekommen die Fernsehzeitschrift Hörzu, dort werden spezielle Anzeigen gedruckt. Es gibt nur eine Situation, in der den Jungs auffällt, dass sie gerade eine Testwerbung sehen. "Manchmal gucke ich in meinem Zimmer das gleiche Programm wie mein Vater im Wohnzimmer", sagt Tochter Fiona. "Wenn bei einer Werbung im Wohnzimmer ein anderer Ton als bei mir zu hören ist, dann weiß ich, dass dort jetzt gerade ein Testwerbespot läuft." +Genau wegen dieser Alltäglichkeit nennt Kai Saalbach Haßloch ein "tolles Werkzeug". Der 41-Jährige leitet die Marktforschung des Keksherstellers Bahlsen, der in den vergangenen zehn Jahren drei Produkte in Haßloch getestet hat, darunter 1997 den Schokoriegel Pick Up!, der erst in Haßloch und dann in ganz Deutschland zum Erfolg wurde. "Haßloch ist weder hinterwäldlerisch noch großstädtisch, sondern ganz normal", sagt er. "Es gibt sogar den Quotenpunker am Bahnhof." Obwohl fast alle Hersteller Alltagswaren in Haßloch getestet haben, geben nur wenige darüber Auskunft – auch deshalb, weil die Tests Marktforscher wie Saalbach in einen Zwiespalt bringen. "Wenn wir einen neuen Keks entwickeln, müssen wir unsere Backstraßen umstellen und manchmal einige Millionen Euro in neue Verpackungsmaschinen stecken", sagt Saalbach. "Bei einem Test in Haßloch verkaufen wir 1000 bis 2000 Packungen. Bei solchen Stückzahlen können wir die Verpackungen nicht einzeln anfertigen." Schlägt der Test fehl, war die millionenteure Vorbereitung umsonst, und für ein neues Produkt wären neue Tests nötig. +Wegen solcher Kritik hat die GfK ihre Preise gesenkt und ein weiteres Werkzeug entwickelt: den Testmarkt Vorderpfalz, der sich zwischen Kaiserslautern und Ludwigshafen befindet und zu dem auch Haßloch gehört. Hier kann die GfK in einem Gebiet mit 139 000 Einwohnern die Einkäufe messen und bei 84 000 Kabelfernsehkunden Testwerbung einspeisen. Zwar fehlt im Gegensatz zu Haßloch ein Überblick darüber, welcher Haushalt was gekauft hat, dafür sind die Tests jedoch deutlich schneller. +Der Süßwarenhersteller Ferrero hat offensichtlich ebenfalls schon in Haßloch getestet. Zwar will die Presseabteilung keine Auskunft darüber geben, wann welche Waren getestet wurden, aber zumindest einen Test kann man als enttarnt betrachten. "Vor ein paar Jahren haben wir ständig Ferrero Garden gekauft, weil wir sie so gerne gegessen haben", erzählt Bettina Fincos zwölfjährige Tochter Anna. "Als wir sie nicht mehr kaufen konnten, waren wir traurig – aber nach einem halben Jahr standen sie wieder im Regal." diff --git a/fluter/sie-sind-transsexuell.txt b/fluter/sie-sind-transsexuell.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f628be6f713910c50c1ee3d25a41b521500fd148 --- /dev/null +++ b/fluter/sie-sind-transsexuell.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +"Ich bin eine Überlebende", sagt Lohana Berkins. Es schickt sich nicht, sie nach dem Alter zu fragen, aber sie liegt mit mehr als 50 Jahren deutlich über dem Schnitt der argentinischen Trans-Community. Mit 13 Jahren stellte ihr Vater sie vor die Wahl: "Entweder du wirst doch noch ein echter Kerl, oder du gehst." Sie ging, landete auf dem Strich und schaffte es durch ihre enorme Willensstärke, mit 30 Jahren doch noch Pädagogik zu studieren. Heute leitet sie das Büro für Gender-Identität der Stadt Buenos Aires. "Arbeit ist ein Schlüsselthema", sagt Berkins. Sie ist ungeschminkt, trägt Jeans und T-Shirt, die halblangen Haare hat sie zu einem Zopf gebunden. "Es kann doch nicht sein, dass die Prostitution für jemanden aus der Trans-Community der vorgezeichnete Lebensweg ist." +Das Gesetz ist weltweit einzigartig und fortschrittlich – doch im Alltag werden Transpersonen in Argentinien nach wie vor diskriminiert. "Es gibt Länder, in denen die Politiker Gesetze verabschieden, für die es bereits einen Konsens in der Gesellschaft gibt. Dieses Gesetz folgt der umgekehrten Logik", sagt Karina Nazabal.  Die Provinz Buenos Aires möchte mit dem Gesetz dafür sorgen, dass Trans-personen in das gesellschaftliche Leben integriert werden, um Vorurteile abzubauen. +Noch wurde keine Stelle nach den neuen Bestimmungen besetzt. Wie die Provinz Bue-nos Aires das Gesetz in die Tat umsetzen will, muss noch ausgearbeitet werden. Dazu gehören werden sicherlich auch Fortbildungen in verschiedenen Berufen. So gibt es in Lanús, dem Bezirk, aus dem Karina Nazabal kommt, einen Gastronomiekurs für Transpersonen, in dem sie unternehmerisches Know-how bekommen. Denn wer sich selbstständig macht, braucht keine Quote. diff --git a/fluter/sieben-winter-in-teheran-interview.txt b/fluter/sieben-winter-in-teheran-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/siedepunkte.txt b/fluter/siedepunkte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1b82bad60c6c29331c735ce696620b95d799b620 --- /dev/null +++ b/fluter/siedepunkte.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Ein paar Zahlen zum Hintergrund: Seit Beginn der Industrialisierung messen wir eine globale Erwärmung von knapp 0,8 Grad Celsius. Ein weiterer Anstieg ist zu erwarten. Der Weltklimarat IPCC schätzt, dass sich die Erde bis 2100 zwischen 1,8 und vier Grad Celsius erwärmen wird, manche Wissenschaftler gehen sogar von vier bis sechs Grad Celsius aus. Ökosysteme reagieren nicht linear auf die Erwärmung. Von "Klimawandel" will Stefan Rostock von Germanwatch deshalb nicht mehr sprechen, "Klimachaos" sei zutreffender: "Wir haben schon jetzt extreme Wetterverhältnisse, wie wir sie vorher nicht kannten: stärkere Regenfälle, extremere und länger an-dauernde Hitzeperioden." Zahllose Opfer und Flüchtlinge infolge von Flutkatastrophen sowie Hitze und Dürren: Das sind nicht länger Szenarien, wie man sie ausschließlich aus Weltuntergangsfilmen à la Hollywood kennt, das ist Realität und kann in extremer Form unsere Zukunft sein. +Wenn man untersucht, wie die Menschen mit dem Wissen um die Erderwärmung umgehen, dann sind vier verschiedene Gruppen auszumachen: Es gibt die "konsequenten Umweltschützer", die "Umweltrhetoriker", die "Um-weltignoranten" und die "Einstellungs-Ungebundenen". "In Deutschland macht jede dieser Gruppen etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung aus", sagt Udo Kuckartz, Professor für Empirische Erziehungswissenschaft an der Philipps-Universität in Marburg. Zu den "Ungebundenen" gehören Menschen, "die sich positiv umweltgerecht verhalten, denen aber das Bewusstsein dafür fehlt", so Kuckartz, also Menschen, die sparsam leben müssen und nur deshalb weniger Strom verbrauchen, weniger fliegen und weniger Auto fahren. Bei den "Umweltignoranten" findet das Thema Klimawandel keine Aufmerksamkeit. "Diese Menschen sind zum Beispiel stark freizeitorientiert. Für sie ist das einfach kein relevantes Thema", sagt de Haan. Die "Umweltrhetoriker" haben Umweltbewusstsein, handeln aber nicht danach – anders als die "konsequenten Umweltschützer", die Probleme und Ursachen sehen und ihr Verhalten dementsprechend ausrichten. +In der Politik treffen ebenfalls verschiedene Gruppen aufeinander. Das zeigte die dritte Vertragsstaatenkonferenz des Kyoto-Protokolls, die im Dezember 2007 auf Bali stattfand. Die Klimakonferenz endete nach zähen Verhandlungen mit der "Bali Roadmap". Auf deren Grundlage soll das Nachfolgeabkommen zum Kyoto-Protokoll zustande kommen. An konkreten Zahlen für die Reduktion von Treibhausgasen wurde nicht festgehalten – auf Druck der USA. Es kam nur zu einem Hinweis auf die Untersuchungsergebnisse des Welt-klimarates. Dieser fordert den Rückgang des CO2-Ausstoßes um die Hälfte bis 2020. +In der Umweltdiskussion, erklärt der Soziologe Andreas Diekmann von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, spreche man von der sogenannten Allmende-Situation. "Ich habe einen Fischteich, und darin schwimmen eine begrenzte Menge Fische herum. Wenn alle auf Teufel komm raus die Fische herausangeln, dann ist der Teich irgendwann leer. Eine vernünftige und nachhaltige Strategie wäre für alle, gerade so viel zu fangen, dass die verbleibenden Fische sich vermehren können und der Fischbestand insgesamt immer gleich bleibt." Aber für den Einzelnen sei es natürlich, für den Moment gesehen, ein Vorteil, möglichst viele Fische mit nach Hause zu nehmen. Um die Menschen zu einer kollektiven Strategie zu bewegen, sei ein Regelwerk notwendig. +Der Sozialpsychologe Heiner Keupp ergänzt: "Wenn mit erhobenem Zeigefinger überall nur Verzichtsbotschaften verkündet werden, erreicht man damit Menschen kaum. Es muss vielmehr eine Botschaft kommen, dass nachhaltige Veränderungen unserer Konsumgewohnheiten auch zu mehr positiver Lebensqualität beitragen können." Steuererleichterungen seien hier eine Möglichkeit, sagt Gerhard de Haan. +Und obwohl sich Wissenschaftler wie Umweltschützer einig sind, dass Appelle von Politikern und auch Prominenten zu umweltschonenderem Verhalten wichtig sind − sie allein reichen nicht aus. Es gibt viele Beispiele: Cameron Diaz fährt in Hollywood vor dem roten Teppich im Hybridauto vor. Leonardo DiCaprio kritisiert den amerikanischen Präsidenten George W. Bush, dieser sei kein Vorbild. Bushs ehemaligem politischem Gegner hingegen wird 2007 der Friedensnobelpreis für sein Engagement um die Bewusstmachung der Klimakrise verliehen. Al Gore bekam diese Auszeichnung gemeinsam mit dem Weltklimarat. Ebenfalls 2007 gewann "An Inconvenient Truth" über Al Gores Engagement den Oscar als bester Dokumentarfilm. Und während des G8-Gipfels in Heiligendamm protestierten Zehntausende gegen die Doppelmoral der Regierungen. Doch zur gleichen Zeit ändert sich im Verhalten der Menschen: nichts. Im Jahr 2006 stellte das Statistische Bundesamt fest: Für Urlaubsreisen mit mindestens vier Übernachtungen hatten knapp dreißig Prozent der Deutschen das Flugzeug als Transportmittel gewählt, knapp sechzig Prozent das Auto. Nur knapp acht Prozent waren mit der Bahn unterwegs. +Die Vorbildfunktion von Politikern sei nicht zu unterschätzen, sagt Heiner Keupp. "Auch symbolische Politik kann, etwa bei einem konsequenten Programm, das auf erneuerbare Energien setzt, durchaus etwas bewirken. Statt weiterhin in prestigeträchtigen Limousinen zu fahren, könnten Minister auf Dreiliter-autos umsteigen." Man werde verhaltensbezogene Änderungen bei einzelnen Menschen nur dann erzielen, "wenn sie das Gefühl haben, dass sie mit ihrem Handeln wirklich etwas bewirken können. Wir nennen dies das Gefühl der Selbstwirksamkeit." +Es gibt Beispiele für Verhaltensänderungen, die vergleichsweise leicht umsetzbar, kostengünstig und in ihrer Effizienz erkennbar sind. Auf die Frage "Es gibt ja Energiesparlampen. Haben Sie da viele, weniger oder keine?" sagten im Jahr 2007 immerhin 49 Prozent der Deutschen, sie hätten viele. 1996 waren es noch 35 Prozent gewesen. Zu dem Ergebnis kommt eine Studie des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) in Berlin. Energie sparen zu wollen hängt natürlich auch mit gestiegenen Preisen zusammen. 73 Prozent der Bundesbürger gaben das im Frühjahr 2007 als Grund für ihr "starkes" oder "sehr starkes" Bemühen an. Anfang 2007 wurde wegen der milden Witterung weniger geheizt. Und trotz wachsender Konjunktur blieb der Stromverbrauch in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr nahezu stabil, der Erdgasverbrauch sank um fünf Prozent. +Neben Menschen, die zu umweltbewusstem Verhalten aufrufen, gibt es jene, die betonen, dass der Klimawandel Gewinner hervorbringe. In den USA und in Russland wurde das als Grund gesehen, nicht zu reagieren, erklärt Stefan Rostock. Durch die Erderwärmung entstünden weniger Heizkosten und Vorteile für die Landwirtschaft. "Letzteres gilt für den einen oder anderen Acker in Norddeutschland oder den Weinanbau in Mitteldeutschland", sagt Rostock, "und im globalen Blick für Flächen im Norden der USA und in Russ-land. Aber die Probleme, die durch die Klimakrise in den USA und in Russland entstehen, werden die sogenannten Gewinne überwiegen." Rostock ist der Meinung, dies sei eine zynische Rechnung. "Im Vergleich zu den Opfern, die der Klimawandel fordert, ist es grausam, diese Veränderung als Gewinn anzuführen." +Der Weltklimarat liefere klare Handlungsanweisungen, um die CO2-Emission zu senken und auf erneuerbare Energien umzustellen, erklärt Karsten Smid von Greenpeace. "Technisch stehen uns alle Möglichkeiten dafür zur Verfügung." Notwendig sei aber, dass die Gesellschaft von der Politik einfordere, in erneuerbare Energien zu investieren. Ein Beispiel aus der Geschichte des Umweltschutzes in Deutschland stimmt ihn optimistisch: Das Fortschreiten des Waldsterbens in den Achtzigerjahren sei erfolgreich verhindert worden − durch eine entsprechende Gesetzgebung und einen Bewusstseinswandel in der Gesellschaft. Die vermehrte Medienberichterstattung, erklärt Gerhard de Haan, habe damals eine Art Echo-Effekt bewirkt. Das Problem Waldsterben blieb länger in den Köpfen, als darüber berichtet wurde. Hinzu kam, dass in Schulen und Familien über das Thema gespro-chen wurde. Und die Politik reagierte. Es habe zudem eine "kulturelle Beziehung" zur Thematik gegeben, erklärt Gerhard de Haan: "Die Deutschen sind durch die Epoche der Romantik gegangen. Das hat uns eine kulturelle Beziehung zum Wald beschert." Die globale Erwärmung sei für viele Menschen in Deutschland noch ein abstraktes Thema, auch deshalb würden viele nichts tun. Die Menschen in Ländern wie Bangladesh und Thailand können nur hoffen, dass sich dies bald ändert. Denn dort zeigen sich die Folgen der Erderwärmung bereits auf dramatische Weise – in Überschwemmungen und tropischen Stürmen. diff --git a/fluter/sieger-sein-film-yusef-berlinale-interview-video.txt b/fluter/sieger-sein-film-yusef-berlinale-interview-video.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9fd2b38c1a97a28745b4572ea73a9bd0fc667893 --- /dev/null +++ b/fluter/sieger-sein-film-yusef-berlinale-interview-video.txt @@ -0,0 +1 @@ +"Sieger sein" hatte auf der diesjährigen Berlinale Premiere und läuft ab dem 11. April im Kino. diff --git a/fluter/siegestrunk.txt b/fluter/siegestrunk.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/sieh-mal-einer-an.txt b/fluter/sieh-mal-einer-an.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dd6023605a977285cfb4574e15f3a0694f4ea740 --- /dev/null +++ b/fluter/sieh-mal-einer-an.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Um ein realistischeres Bild von "menschlicher Entwicklung" zu zeichnen, sind im HDI neben dem Bruttonationaleinkommen auch Faktoren wie die Lebenserwartung oder die Anzahl der absolvierten Schuljahre enthalten. Die Idee dahinter: Wer länger lebt und eine bessere Bildung hat, der kann generell ein besseres Leben führen und mit seinem Schaffen die Gesellschaft bereichern. Und so kommt es, dass etwa für Chile ein deutlich besserer HDI-Wert berechnet wurde als für das wirtschaftlich vergleichbare Malaysia. Denn in Malaysia liegt die voraussichtliche Schulbesuchsdauer im Schnitt 2,5 Jahre unter der von Chile, und die Menschen dort sterben sogar sieben Jahre früher. +Der Südsudan schneidet im HDI-Ranking mit Platz 169 eher schlecht ab. Etwa jeder vierte Erwachsene dort kann nicht lesen. Diese Schüler der Juba Technical High School aber offensichtlich schon. +Der "Bericht über die menschliche Entwicklung" bietet allerdings mehr als nur eine Auflistung der HDI-Werte – das aktuelle Schwerpunktthema "Arbeit" wird beispielsweise besonders intensiv analysiert. Unser Autor hat einen Blick in den aktuellen Bericht geworfen und findet die folgenden Ergebnisse besonders interessant – auch weil sie manch verbreitetes Vorurteil korrigieren. +Vorneweg: Natürlich wirken sich die erwähnten Kriege auf den Entwicklungsstand der betroffenen Länder aus. So rutschte Syrien in den letzten Jahren im HDI-Ranking um 15 Plätze ab. Noch schlechter ergeht es dem ehemals recht wohlhabenden und ebenfalls unter einem Bürgerkrieg leidenden Libyen, das sich im gleichen Zeitraum um 27 Plätze verschlechterte. Auch in fünf weiteren Ländern und Territorien sank die Lebensqualität im Jahr 2014 nach Einschätzung der Vereinten Nationen: in Venezuela, in Palästina, im Irak, in Osttimor und in Gambia. Diesen sieben Verlierern stehen allerdings 171 Länder und Gebiete gegenüber, in denen es sich gemäß HDI-Wert besser lebt als zuvor – etwa in Irland, im Bergstaat Bhutan oder in der Republik Kongo. In zehn Ländern stagnierte die Entwicklung. +Anführer des Entwicklungsindex ist seit Jahren das reiche Norwegen: Die Menschen in dem skandinavischen Land haben eine Lebenserwartung von 81,6 Jahren, und wer heute dort geboren wird, kann mit über 17 Jahren Ausbildungszeit rechnen – vor allem aber erwirtschaften die Norweger sehr viel Geld. Auf den Plätzen 2 und 3 des HDI folgen Australien und die Schweiz. Deutschland erreicht Platz 6. Das erste nichtwestliche Land auf der Liste ist der wirtschaftlich starke und autoritär regierte Stadtstaat Singapur auf Platz 11. Vergleichsweise niedrig ist die Lebensqualität in vielen afrikanischen Nationen: Die 17 letzten Plätze des Index entfallen allesamt auf Länder dieses Kontinents. +Der Report zeigt auch, wie unterschiedlich die Lebensbedingungen in den afrikanischen Ländern sind, die in der deutschen Öffentlichkeit gerne – mit Ausnahme von Südafrika und dem Gebiet nördlich der Sahara – als einheitliches, immer wieder von Krisen heimgesuchtes Ganzes wahrgenommen werden. Zwar ist die Situation in vielen afrikanischen Ländern tatsächlich sehr schlecht: So können Neugeborene im Niger nur mit gut fünf Jahren Ausbildungszeit rechnen, und die Menschen in der krisengeschüttelten Zentralafrikanischen Republik werden im Schnitt nicht einmal 51 Jahre alt. Auf der anderen Seite gibt es jedoch afrikanische Staaten wie Ghana oder Sambia, in denen Wohlstand und Wohlergehen ähnlich hoch sind wie etwa im boomenden Indien. Und: Selbst in den ärmsten afrikanischen Staaten klettern die HDI-Werte, wenn auch langsam, stetig nach oben. Dies gilt übrigens für alle Erdteile. Lebten 1990 noch 3,2 Milliarden Menschen in Ländern, die als niedrig entwickelt bewertet wurden, waren es im Jahr 2014 "nur" noch 1,2 Milliarden. +Doch diesen Menschen geht es zum Teil richtig schlecht. Während in Deutschland das durchschnittliche monatliche Haushaltseinkommen bei etwa 3.000 Euro netto liegt, mussten 2014 in anderen Ländern rund 830 Millionen Menschen trotz Arbeit mit weniger als zwei US-Dollar am Tag auskommen. Und: 200 Millionen Menschen hatten gar keine Arbeit, 21 Millionen wurden zur Arbeit gezwungen. Der Hauptautor des aktuellen Reports, Selim Jahan, mahnt deshalb: "Der menschliche Fortschritt wird sich beschleunigen, wenn jeder, der arbeiten will, auch die Möglichkeit hat, das unter anständigen Bedingungen zu tun." +Der Entwicklungsreport enthält noch eine weitere wichtige schlechte Nachricht: Bis zur Gleichberechtigung ist es noch ein langer Weg. So verdienen Frauen nicht nur 24 Prozent weniger als Männer – sie arbeiten auch häufiger ganz ohne Bezahlung, etwa in der Pflege, und haben seltener die Chance, höhere Schulen zu besuchen. Außerdem ist die politische Repräsentation von Frauen in fast allen Ländern der Erde extrem schlecht. Zwar hat sich der Anteil der Frauen in den nationalen Parlamenten in den letzten 20 Jahren verdoppelt, dennoch sind weltweit immer noch vier von fünf Parlamentariern Männer. Lediglich zwei Länder haben Parlamente, in denen mehr Frauen als Männer sitzen: Ruanda und Bolivien. Die mangelnde Geschlechtergerechtigkeit wird in dem Report als eine der "Haupthürden" auf dem Weg zu einem besseren Leben bezeichnet. +Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebte 2014 in Städten – fast vier Milliarden Menschen. Im Jahr 2050, so schätzen die UN, werden sogar mehr als zwei Drittel der Menschen in Städten wohnen. Das rapide Wachstum bringt zwar viele Probleme mit sich, wie etwa ein erdrückendes Verkehrsaufkommen und sich verstärkende Luftverschmutzung. Doch gibt es laut UN auch zahlreiche Vorteile, denn in Städten haben die Menschen in der Regel einen besseren Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung. "Städte", so heißt es in dem Bericht, "versprechen den Menschen ein besseres Leben". +Während die Autoren des "Human Development Report" etliche Ungerechtigkeiten kritisieren, wird allerdings auch der von ihnen verwendete Index immer wieder kritisiert. Denn der HDI misst längst nicht alles, was "menschliche Entwicklung" und ein gutes Leben ausmacht: Menschenrechte oder Umweltaspekte zum Beispiel kommen im HDI höchstens indirekt vor. Außerdem verwendet der Index Durchschnittswerte für ein ganzes Land, weshalb Ungleichheiten innerhalb einer Nation nicht abgebildet werden. Eines jedoch kann der HDI auf jeden Fall: uns zeigen, dass die Welt – trotz allem – nicht im Chaos versinkt. diff --git a/fluter/silicon-savannah.txt b/fluter/silicon-savannah.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/simple-serie-lernschwierigkeiten.txt b/fluter/simple-serie-lernschwierigkeiten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0dddb99b38f97b075149ede07849407a5e02c49f --- /dev/null +++ b/fluter/simple-serie-lernschwierigkeiten.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +"Simple" basiert auf dem Roman "Leichte Sprache" der spanischen Autorin Cristina Morales. In der Serie wird in fünf etwa 30-minütigen Folgen das Zusammenleben der Frauen in ihrer Wohngemeinschaft geschildert. Dabei spielt Humor eine große Rolle, um dieAutonomie und Kreativität der Frauenzu betonen, mit der sie sich jeglichen Hürden des Alltags stellen. Die Frage, die sich durch die Serie zieht, ist: Wird Freizügigkeit und Provokation Menschen mit Lernschwierigkeiten auf gleiche Weise zugestanden wie nichtbehinderten Personen? + + +In einer Szene tanzt Marga bei einem Straßenfest ausgelassen und später ohne Unterhose auf dem Balkon ihrer Wohngemeinschaft. Margas sexuelle Freizügigkeit erinnert an die Hippiebewegung, die besonders stark von Studierenden getragen wurde. Ihr Verhalten wird aber von Menschen wie Anna, die studiert hat und in ihrer Position Macht über behinderte Menschen wie Marga ausüben kann, ganz anders und viel negativer bewertet und ruft auch entsprechende Reaktionen hervor: Weil Marga mit vielen Männern schläft, sieht Anna sie als sexsüchtig an und versucht, sie dazu zu bringen, sich sterilisieren zu lassen. +Der Roman findet dafür klare Worte. In der Serie kommt das oft nicht ganz so deutlich rüber. Ein Grund dafür ist, dass hier eine Erzählstimme fehlt, welche die Hintergründe und Gedanken der Protagonist*innen den Zuschauer*innen näherbringen könnte. Die verleiht im Roman der gesellschaftskritischen Botschaft der Geschichte noch einmal deutlich mehr Tiefe. Auffällig ist auch, dass außer Anna Marchessi, die Patri verkörpert, keine weitere der Hauptdarsteller*innen eine Behinderung hat. Diese weit verbreitete Praxis, nichtbehinderte Schauspieler*innen für Figuren zu casten, die eine Behinderung haben, wird von Wissenschaftler*innen und Behindertenrechtsaktivist*innen"Cripping up" genanntund alsableistischkritisiert. Man kann also infrage stellen, inwiefern "Simple" dem Anspruch, die Lebenswelt von Frauen mit Lernschwierigkeiten realistisch darzustellen, gerecht wird. +Ja, auch wenn es einige Schwachpunkte gibt. Wie auch Cristina Morales an der Verfilmung ihres Romans kritisierte, wird die Behindertenhilfe in "Simple" zu positiv dargestellt, und ihre Kapitalismuskritik an der nichtbehinderten Mehrheitsgesellschaft bleibt damit in der Serie verborgen. Dennoch wirft die Serie wichtige Fragen auf, insbesondere was das Thema Zwangssterilisierung angeht. Die ist in zwölf EU-Staaten unter bestimmten Voraussetzungen nach wie vor legal. Solcheeugenischen Politiken– also Maßnahmen, die Menschen mit bestimmten, vermeintlich "guten" Erbanlagen bevorzugen und andere mit vermeintlich "schlechten" diskriminieren – sind ein wenig diskutiertes Thema im Umgang mit behinderten Menschen. +… die einmal kritisch hinterfragen wollen,was in der Mehrheitsgesellschaft als "normal" gilt. Empfehlung: Am besten auch den Roman lesen und dann noch einmal neu über die Serie nachdenken. + +"Simple" ist bis zum 15.9.in der ZDF-Mediathekzu sehen. +Fotos: Daniel Escale/zdf diff --git a/fluter/sims-nachhaltig-leben-erweiterung.txt b/fluter/sims-nachhaltig-leben-erweiterung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e98593264e91d5e87b5e9dbc3fc8ba3a72dcd484 --- /dev/null +++ b/fluter/sims-nachhaltig-leben-erweiterung.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Zwar hat sich die Serie in den vergangenen zwei Jahrzehnten schleichend gewandelt. Die Computermenschen sind komplexer geworden, längst haben sie verschiedene Charaktermerkmale und Ziele, die schwerer als Geld wiegen. Was sie konsumieren, wie sie leben, wie sie aussehen, wen sie lieben, das ist alles sehr flexibel. Doch bisher vermittelten die Sims noch immer den Eindruck, der Karrierestart mit Haus und unerschöpflichen Konsumbedürfnissen sei der Normalzustand. +Wer das Erweiterungspack "Nachhaltig leben" kauft und installiert, erlebt nun einen neuen Normalzustand. Auf der Karte des neu erdachten Orts "Evergreen Harbor" hat jedes Viertel einen "ökologischen Fußabdruck". Schon beim Bau und der Einrichtung des neuen Hauses wird plötzlich jedes Fenster und jede Tapete auf einer Skala zwischen "grün" und "industriell" einsortiert. Ist die Nachbarschaft industriell, trübt sich die Luft, und die Menschen husten. Das gibt Anreiz, nicht möglichst viel Material in möglichst große Häuser zu packen, sondern klein und klug zu bauen. +Um grün zu werden, können die Sims sich Solarkollektoren auf das Dach montieren oder Tau sammeln. Sie ernten Lebensmittel aus einem vertikalen Garten,recyceln ihren Müllund aus irgendeinem Grund können sie jetzt auch Kerzen selber ziehen. +Es hat schon eine gewisse Ironie, dass ein durchkommerzialisiertes Produkt wie "Die Sims" jetzt virtuelle Konsumkritik als Add-on verkauft. Das vorletzte Accessoire-Pack hieß immerhin "Moschino" und ging einher mit der Vermarktung einer passenden Kollektion der gleichnamigen Modemarke. Und das war nur eine von mehreren "Produktpartnerschaften". +Auch wer die neue Erweiterung spielt, fragt sich bald, wie weit es mit dem ökologischen Bewusstsein eigentlich her ist. Ein ganz offensichtliches Problem dabei: Weil die Sims vor allem auf einer persönlichen Ebene spielen, droht die Weltverbesserung schnell zu einer Lifestyle-Entscheidung zu schrumpfen. +Löblicherweise hat "Nachhaltig leben" das erkannt und bemüht sich wenigstens um ein bisschen Politik. Wer den ökologischen Fußabdruck des Stadtteils verbessern will, muss an einer öffentlichen Pinnwand über Aktionspläne abstimmen, damit auch die Sims nebenan mehr recyceln oder mitgärtnern. Die mal sinnvollen, mal abstrusen Pläne werden zu einem beständigen Gesprächsthema zwischen den Sims, die Pinnwand ein Treffpunkt. +Aber viel mehr als ein Häppchen Aktivismus steckt auch hinter dieser Spielidee nicht. Denn wer keine Lust hat, die "Sims"-Welt mit ein paar Abstimmungen zu retten, muss ja als schlimmste Konsequenz nur fürchten, ein bisschen öfter zu husten. Denrealen Gefahren des Klimawandelswird das kaum gerecht. +Einen echten Gesinnungswandel kann man also auch an dieser "Sims"-Erweiterung nicht festmachen, aber vielleicht ein Zeichen der Hoffnung: Wenn ein internationaler Spielegigant wie Electronic Arts den Umweltschutz so selbstverständlich in seine virtuelle Welt einbaut, dürfte er in der analogen endgültig angekommen sein. + +Das Erweiterungspack "Nachhaltig leben" kostet 40 Euro und funktioniert nur in Verbindung mit dem Basisspiel "Die Sims 4". Es ist für PC, Steam, PlayStation 4 und Xbox One erhältlich. +Bilder: Electronic Arts diff --git a/fluter/sind-abtreibungen-in-den-usa-bald-illegal.txt b/fluter/sind-abtreibungen-in-den-usa-bald-illegal.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c2248b61ca8afc4a5b7164b3199f150592c8efdb --- /dev/null +++ b/fluter/sind-abtreibungen-in-den-usa-bald-illegal.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Mehrere konservative Bundesstaaten haben in den vergangenen Monaten ihr Abtreibungsrecht massiv verschärft, etwa mit der Verabschiedung eines sogenannten Herzschlag-Gesetzes. Abtreiben ist demnach illegal, sobald beim Fötus Herztöne erkannt werden können; das ist in der Regel sechs Wochen nach Beginn der Schwangerschaft der Fall – ein Zeitpunkt, zu dem manche Frauen noch nicht einmal wissen, dass sie schwanger sind. +Doch vorerst hängen die Gesetze in der Schwebe. "Abtreibungen sind immer noch legal in Amerika, und zwar in allen 50 Staaten", sagt Rachel Johnson-Farias, Direktorin des Center on Reproductive Rights and Justice an der University of California in Berkeley. In den USA geht das Bundesrecht dem Landesrecht der Bundesstaaten vor. "Die Abgeordneten wissen, dass diese Gesetze nicht geltendem Verfassungsrecht entsprechen. In fast allen Fällen beantragen Bürgerrechtsorganisationen vor Gericht einstweilige Verfügungen gegen diese Beschlüsse." Dass gerade in jüngster Zeit mehrere konservative Bundesstaaten aus der Deckung kommen, überrascht Johnson-Farias nicht. Es sei taktisches Kalkül. +Im Wahlkampf hatte Donald Trump versprochen, als Präsident für den Supreme Court Richter zu nominieren, die sich klar für die Lebensrechte des Embryos einsetzen werden. In weniger als zwei Amtsjahren installierte der neue Präsident mit Neil Gorsuch und Brett Kavanaugh gleich zwei solche Juristen am Obersten Gericht des Landes –einer seiner größten Erfolge im Weißen Haus. Somit hat das Gericht einen Überhang an als konservativ geltenden Richtern. Einige republikanische Gouverneure fühlen sich daher ermutigt, Gesetze in ihren Bundesstaaten durchzubringen, die nicht verfassungskonform sind. Die Folge: Diese Abtreibungsverbote müssten irgendwann vor dem Obersten Gericht in Washington verhandelt werden. +Die Abgeordneten in Alabama verabschiedeten Ende Mai ein Gesetz, das jegliche Form von Abtreibung verbietet, auch im Fall von Inzest oder Vergewaltigung. Einzige Ausnahme: wenn das Leben der Mutter gefährdet ist. Wer als Arzt dem Gesetz zuwiderhandelt und Eingriffe vornimmt, dem droht eine Haftstrafe von bis zu 99 Jahren. Dass die republikanischen Abgeordneten im Senat von Alabama allesamt weiß und männlich sind, halten viele (zum Beispiel Rihanna,DiddyundHilary Duff) für bezeichnend. Tatsächlich lässt sich beobachten: Je schlechter Frauen in der Politik eines Bundesstaates vertreten sind, desto strenger die Abtreibungsgesetze. + + +Führen solche Fälle wie aus Alabama tatsächlich dazu, dass das "Roe gegen Wade"-Urteil – damals einMeilenstein der Frauenrechtsbewegung– gekippt wird? "Selbst wenn wir es jetzt mit einem konservativen Supreme Court zu tun haben, gibt es keine Anzeichen dafür, dass sie das Roe-Urteil demnächst aufheben", sagt Mary Ziegler, Professorin an der Florida State University. Die Juristin hat mehrere Bücher über den Fall von 1973 geschrieben. +Erst kürzlich habe das Gericht ein weitaus weniger drastisches Gesetz aus Indiana vorgelegt bekommen und es bei der Entscheidung des Berufungsgerichtes belassen. Dem Gericht einen Extremfall aufzudrücken könnte, so Ziegler, den umgekehrten Effekt haben: Der Supreme Court ignoriert ihn.Wohl auch deswegen distanzierten sich Donald Trumpund andere Republikaner von dem Gesetz in Alabama und bezeichneten es als zu radikal. +Laut Ziegler hätten die Abtreibungsgegner aus Alabama größere Chancen, wenn sie zeigen würden, warum "Roe gegen Wade" überhaupt juristisch untragbar ist. Dem Supreme Court genügten die rein taktischen Überlegungen der Abtreibungsgegner nicht. "Wenn die Richter sich jetzt hinstellen und das Gesetz aus Alabama stützen, macht das einen schlechten Eindruck. Es lässt sie wie Parteigenossen aussehen, nicht wie unabhängige Richter", sagt sie und fügt hinzu: "Ich glaube, dass es noch ein paar Jahre dauern wird, bis sie das Urteil kippen könnten." Noch ein paar Jahre. Für viele von Amerikas Frauen klingt das wenig beruhigend. + + diff --git a/fluter/sinti-roma-kurz-erklaert.txt b/fluter/sinti-roma-kurz-erklaert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..63f80046fd068fbf96063fe2a0cfbe8d5d583ef8 --- /dev/null +++ b/fluter/sinti-roma-kurz-erklaert.txt @@ -0,0 +1,34 @@ + +Genau genommen bezeichnet "Sinti und Roma" nur Männer. Dabei gibt es für beide Gruppen eigene männliche und weibliche Sprachformen. Gegendert wird häufig mit Sinti:ze und Rom:nja. (Auch unser Autor zieht diese Schreibweise vor.) +Sintiza: weiblich, Einzahl +Sinto: männlich, Einzahl +Sintize: weiblich, Mehrzahl +Sinti: männlich, Mehrzahl +Romni: weiblich, Einzahl +Rom: männlich, Einzahl +Romnja: weiblich, Mehrzahl +Roma: männlich, Mehrzahl +Sinti:ze haben ihren Lebensmittelpunkt vorwiegend in West- und Mitteleuropa. Historiker:innen nehmen an, dass sich die Eigenbezeichnung Sinti/Sintize aus dem Wort "Sindh" ableitet: der altindische Name des Flusses Indus, aus dem sich auch das Wort Hindu herleitet. (Sinti:ze sind aber keine Inder, ihre Vorfahren leben nachweislich seit Jahrhunderten in Europa.) + + + +Rom:nja haben ihren Lebensmittelpunkt oftmals in Osteuropa. Die Eigenbezeichnung Rom:nja wird von vielen Organisationen in der Regel als europäischer Oberbegriff verwendet. + +Wie bei vielen Menschen ist das Land der Sinti:ze und Rom:nja der Staat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen. Sie sind somit auch Teil Deutschlands (auch wenn das oft verkannt wird). + +Die Sprache von Sinti:ze und Rom:nja. Romanes geht auf das altindische Sanskrit zurück, die älteste noch gesprochene Sprache. Sprachvergleiche haben bewiesen, dass das Romanes mit Hindi, das in den meisten nord- und zentralindischen Staaten gesprochen wird, und dem indogermanischen Urdu verwandt ist. Über die Jahrhunderte haben sich aber regional unterschiedliche Sprachvarianten entwickelt. In Deutschland betrachten viele Sinti:ze und Rom:nja gleichermaßen Deutsch und Romanes als ihre Muttersprachen. + + + +Als Gadje werden im Romanes Menschen bezeichnet, die nicht Sinti:ze oder Rom:nja sind. Die Minderheiten nutzen den Begriff, um sich abzugrenzen – wie andere Gruppen auch (bspw. Goj für Nichtjuden und Nichtjüdinnen). + +Porajmos ist Romanes und heißt "das alles Verschlingende". Damit ist der nationalsozialistische Genozid an Sinti:ze und Rom:nja gemeint. Der Völkermord und die damalige Verfolgung werden heute auch Samudaripen (sinngemäß "das vollständig Mordende") genannt. Etwa 500.000 europäische Sinti:ze und Rom:nja wurden damals durch die Nationalsozialist:innen (sowie verbündete Regierungen und Bewegungen) systematisch ermordet. Die Bundesrepublik Deutschland hat das erst 1982, mehr als 35 Jahre später, offiziell als Völkermord anerkannt. + +Sehr abhängig vom Status der jeweiligen Sinti:ze und Rom:nja. So ist etwa ein Rom mit deutscher Staatsbürgerschaft in der Regel bessergestellt als ein osteuropäischer Rom mit vorübergehendem Aufenthaltstitel, weil er beispielsweise wählen oder Beamter werden darf. Generell legen einzelne Statistiken aber schon länger nahe, dass Sinti:ze und Rom:nja in Deutschland diskriminiert werden. EineStudiedes Zentralrats Deutscher Sinti und Roma und der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zeigt zum Beispiel, dass 19 Prozent der Deutschen dezidiert negativ gegen Sinti eingestellt sind –gegenüber keiner anderen Gruppe zeige sich "ein so durchgehendes Bild der Ablehnung". Erst Mitte Juli 2021 stellte das Bundesinnenministerium den Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus vor. Der erklärt auf mehr als 800 Seiten das Spektrum der vergangenen Verfolgung und fortbestehenden Diskriminierung –etwa am Arbeitsplatz und bei der Wohnungssuche, in Schulen und Behörden, durch Sozialarbeiter:innen, Ärzt:innen und Medien. + + +Der Begriff wird oft in der Bildungs- oder Bürgerrechtsarbeit und selbst von einigen Roma-Organisationen verwendet, auch um die enthaltenen rassistischen Zuschreibungen sichtbar zu machen. Aber der Begriff ist umstritten, weil er eine Fremdbezeichnung ist und den rassistischen BegriffZigeuner* reproduziert. Mit dieser Kritik wurden früh auch Gegenvorschläge unterbreitet, etwa Antiromaismus, Gadje-Rassismus oder einfach Rassismus gegen Sinti:ze und Rom:nja. Expert:innen wie die Bürgerrechtlerin und Wissenschaftlerin Isidora Randjelović betonen, wie wichtig es sei, dass Sinti:ze und Rom:nja die Debatte um den richtigen Begriff selbst vorantreiben: Nur sie verfügen über Wissen, Argumente und Konzepte, die die Komplexität der gegen sie gerichteten Gewalt genau beschreiben und analysieren können. + +Deutsche Sinti:ze und Rom:nja sind eine anerkannte nationale Minderheit. Heißt: Sie haben ein Recht auf Bekenntnisfreiheit. Sie bestimmen also selbst, ob sie sich als Sinti:ze und/oder Rom:nja bekennen wollen. Niemand darf verlangen, dass sie sich dieser ethnischen Gruppe zuordnen. Heißt auch: Die Bundesregierung erkennt an, dass Sinti:ze und Rom:nja hier seit Jahrhunderten heimisch sind. Zu den nationalen Minderheiten gehören auch Fries:innen, Dän:innen und Sorb:innen, alle vier Gruppen organisieren sich im sogenannten Minderheitenrat. + +Merfin Demir wurde 1980 als Sohn einer muslimischen Romnja in Mazedonien geboren. Er ist Pädagoge, Vorsitzender von Terno Drom, einer Roma-Jugendorganisation in Nordrhein-Westfalen, und arbeitet der oben erwähntenUnabhängigen Kommission Antiziganismuszu. diff --git a/fluter/sinti-und-roma-ausgrenzung-geschichte.txt b/fluter/sinti-und-roma-ausgrenzung-geschichte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c68d8014c66d42287aec6ada30bbba5a5c5f42fa --- /dev/null +++ b/fluter/sinti-und-roma-ausgrenzung-geschichte.txt @@ -0,0 +1,35 @@ +… einer vermeintlichen Wissenschaftsdisziplin über Sinti und Roma, die eine rassistisch-biologistische Ausrichtung hat. +Die Frage ist also, welche Traditionen wir in die Zukunft tragen, wenn wir weiter von Antiziganismus sprechen. Ich spreche von Rassismen gegen Sinti:zze und Rom:nja. Rassismen im Plural,weil ich versuche, mehrdimensional und intersektional zu denken.Menschen haben nie nur eine Identität, also können sich auch Rassismen kombinieren. In meinem Umfeld gibt es viele Sinti:zze und Rom:nja, die muslimisch sozialisiert unddamit auch von antimuslimischem Rassismus betroffen sind. +Weder Sinti und Roma noch die Rassismen sind neu. Die Minderheit lebt seit dem Mittelalter in Europa. Wie wurden Sinti und Roma vor gut 700 Jahren hier empfangen? +Zunächst freundlich. Als religiöse Pilger:innen stattete man sie mit Wanderscheinen aus. +Wer damals durch den Flickenteppich aus Kleinstaaten reisen wollte, brauchte hoheitliche Reisegenehmigungen. +Ja, diese neue Freiheit für Sinti:zze und Rom:nja war dann aber sehr schnell wieder vorbei. +Warum? +Als sie im Mittelalter ankamen, plagten Europa Hungersnöte, Kriege und die Pest. Für viele musste die Minderheit als Sündenbock herhalten, weil sich die Zeitgenoss:innen diese Phänomene nicht anders erklären konnten. +Dazu wurden sie offiziell beschuldigt, für Feinde zu spionieren. +1498 beschloss der Reichstag des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Rom:nja für quasi vogelfrei zu erklären: Ihnen sollte verboten werden, im Lande herumzuziehen und zu handeln. Wer sich dem widersetzte, konnte angegriffen und getötet werden, ohne, dass der Angreifer eine Strafe zu befürchten hatte. In Osteuropa wurden Rom:nja sogar noch bis ins 19. Jahrhundert als Sklav:innen gehalten. Ihre Verfolgung sollte zu allen Zeiten immer auch die Gesellschaft disziplinieren nach dem Motto: Benehmt euch! Sonst wird es euch so ergehen wie denen. +Und das hat funktioniert? +Man sieht die Kontinuitäten bis heute. Ein Beispiel: Vor kurzem hat das Gesundheitsministerium die Familienbesuche in die Türkei und den Balkan dafür verantwortlich gemacht, dass die Corona-Fallzahlen im vergangenen Sommer plötzlich gestiegen sind. Ich finde, daran sieht man, dass die Sündenbock-Strategie immer noch funktioniert. +Über die Jahrhunderte haben sich die Rassismen gegen Sinti und Roma diversifiziert: Es gibt die romantisierende Vorstellung, dass sie ihr Leben sorglos wie eine nie endende Party betrachten. In christlichen Kreisen entstand der Aberglaube, dass sie schwarze Magie beherrschen würden. Dazu kommt die sozioökonomische Diskriminierung: Die würden angeblich klauen, weil sie so arm seien. Warum ist der Hass so facettenreich? +Mit der Gesellschaft verändern sich die Rassismen. Zumal mit den Rassentheorien und dem nationalsozialistischen Völkermord an den Sinti:zze und Rom:nja in der jüngeren Geschichte eine neue, schreckliche Dimension hinzukam. Diese unterschiedlichen Zuschreibungen haben sich vermischt, weil die Rassismen über Jahrhunderte überlebt haben und zusammengewachsen sind. Bei dieser Frage müssen wir also auf die weiße Dominanzgesellschaft schauen. +Immer mehr Menschen wollen wissen, was ihre Familienangehörigen zur Zeit der Nazis getrieben haben.Über eine Enkelin, die eine Geschichte fand, die zu Hause nie erzählt wurde +Um was zu erkennen? +Wir leben in einer Gesellschaft, die einen Holocaust mit zwei Genoziden betrieben hat.Diese Geschichte wurde nie ernsthaft aufgearbeitet. Was sehen wir in den Geschichtsbüchern dieser Täter:innen-Gesellschaft? Die Zahl der Todesopfer oder Beschreibungen der Abläufe an den Kriegsfronten. Wirkliche Selbstreflexion sehe ich da nicht. Und genau das ist der Raum, in dem Rassismen weiterleben. +Dann war die Vernichtungspolitik der Nazis, der Genozid an Hunderttausenden Sinti und Roma, auch deshalb so grauenhaft erfolgreich, weil sie in der deutschen Gesellschaft auf hassgesäten Boden traf? +Der Nationalsozialismus konnte nur funktionieren, weil die rassistischen Strukturen in der Gesellschaft gegeben waren. Die Nazis haben zum Beispiel die polizeilichen Registrierungen von Sinti:zze und Rom:nja aus dem Kaiserreich weitergeführt und für ihre Vernichtungspolitik genutzt. Die Kontinuitäten in ihrer Verfolgung gehen aber über den Nationalsozialismus hinaus. Der Bundesgerichtshof hat noch 1956 geurteilt, dass Sinti:zze und Rom:nja nicht aufgrund "rassischer" Gründe deportiert wurden, sondernweil sie angeblich "asozial" wären.Bis in die 70er-Jahre wurde in der deutschen Polizeiausbildung gelehrt, dass man zur schnelleren und besseren Personenerfassung mit den KZ-Tätowierungen arbeiten soll. + + +Die BRD hat den Völkermord an den Sinti und Roma 1982 offiziell anerkannt. Warum hat es so lange gedauert, bis die Öffentlichkeit angefangen hat, sich dem Porajmos – wie der Völkermord auf Romanes bezeichnet wird – zu stellen? +Ich würde nicht sagen, dass sich die deutsche Gesellschaft wirklich gestellt hat. Wir haben es der Bürger:innenrechtsbewegung von Sinti:zze und Rom:nja zu verdanken, dass der Völkermord überhaupt gesehen und dann mit viel Kampf anerkannt wurde. Das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti:zze und Rom:nja wurde erst 2012 errichtet. Für mich hat das Denkmal einen emotionalen Wert, weil es das Resultat des Kampfes der Überlebenden des Samudaripen(Anm. d. Red.: ein anderes Wort für den Völkermord, weitere wichtige Begriffe rund um Sinti und Romaerklärt unser FAQ)und ihrer Kinder ist. +Du hast dir Johann Wilhelm Trollmann tätowieren lassen, einen deutschen Boxmeister, der im Porajmos umgebracht wurde. +Johann "Rukeli" Trollmann war eine faszinierende Figur. Er hat sich zum Beispiel für einen Boxkampf die Haare blond gefärbt und Mehl ins Gesicht geschmiert, um sich über den Ariertypus lustig zu machen. Ich will mir gar nicht vorstellen, was das für ein Gefühl gewesen sein muss in einem Raum voller Nazis. Ich habe erst mit 27 oder 28 Jahren öffentlich gesagt, dass ich Romni bin. Trollmann war ein Vorbild für mein Outing. +Viele Roma leben bis heute unter katastrophalen Zuständen, vor allem in Südosteuropa. Aber auch in Deutschland haben Angehörige der Minderheit im Schnitt schlechtere Zugänge zu Bildung oder zum Gesundheitssystem. Wenn öffentlich über Roma und Sinti debattiert wird, steht allerdings meistder Name einer Tomatensauceim Mittelpunkt. Hat die Gesellschaft überhaupt ein Interesse, sich ernsthaft mit dem Thema zu befassen? +Ich finde es wirklich spannend, die Reaktion der Mehrheitsgesellschaft in der Saucendebatte zu beobachten. Sie bangt um ihre Macht, denn sie musste über Jahrzehnte gar nicht mit Minderheiten wie uns debattieren. Und begreift jetzt langsam: Wir sind viele, wir sind nicht länger ruhig, und vor allem erwarten wir, gehört zu werden. Das löst Angst aus. +Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes sieht nicht nur ideologische Ablehnung als Motivation für die Rassismen gegen Sinti und Roma, sondern auch Unwissenheit und Gleichgültigkeit. Was muss passieren, damit die größte Minderheit Europas sichtbarer wird? +Ich hoffe sehr, dass dasEngagement von Sinti:zze und Rom:njaetwas ändert. Und 2019 ist immerhin eine unabhängige Kommission Antiziganismus entstanden. +… ein Expertengremium aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft, das das Bundesinnenministerium berät. +Diese Kommission isteinSchritt. Trotzdem sind wir weiterhin unterrepräsentiert in der Politik und im öffentlichen Leben. Dass wir so wenig sichtbar sind, hat auch mit den Konsequenzen eines Outings als Sinti:zze und Rom:nja zu tun. Du musst damit rechnen, dass du deinen Job verlierst oder Angriffen ausgesetzt bist. +Was hat sich durch dein Outing verändert? +Ich habe etliche Geschwister kennengelernt, die mich empowern und von denen ich lernen kann. Seit ich auch öffentlich Romni bin, ist ein Kollektiv entstanden, das ich vorher nicht hatte. + +Serçe Berna Öznarçiçeği, 32, hat so ziemlich alle Klischees und Rassismen gegenüber Sinti und Roma schon gehört: Als Referentin für das Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V. (IDA) in Düsseldorf gibt Serçe Bildungsworkshops und vernetzt Betroffene. diff --git a/fluter/sinti-und-roma-im-film-bitte-keine-bettler-rollen-mehr.txt b/fluter/sinti-und-roma-im-film-bitte-keine-bettler-rollen-mehr.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/sippen-an-strippen.txt b/fluter/sippen-an-strippen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..accca4e12efde16141ca99697ee3f8a6123c93f1 --- /dev/null +++ b/fluter/sippen-an-strippen.txt @@ -0,0 +1 @@ +Es ist nicht zweifelsfrei dokumentiert, ob Kim Jongun (Jahrgang 1983 oder 1984) wie sein Vater und der Opa schon immer eine Karriere als Diktator von Nordkorea machen wollte. Oder ob er doch als Teenager davon träumte, Arzt, Landwirt oder Kosmonaut zu werden. Nun setzt der "Oberste Führer" die Linie der "ersten kommunistischen Dynastie", wie sie manchmal in den Medien genannt wird, in dritter Generation fort. Die begann mit der Herrschaft Kim Il-sungs Ende der 40er Jahre. Nach dem Koreakrieg (1950 bis 1953) baute der General einen Staat nach sowjetisch-stalinistischem Vorbild auf und regierte, bis er 1991 seinen Sohn Kim Jong-il zum Oberbefehlshaber der koreanischen Volksarmee und damit zum nächsten Staatschef ernannte. Die westliche Geschichtsschreibung macht die Herrscherfamilie für die wirtschaftliche Rückständigkeit und Armut des Landes verantwortlich. In Nordkorea dagegen lässt ein staatlich auferlegter Personenkult die Regentschaft der Kim in einem glänzenden Licht erstrahlen. diff --git a/fluter/situation-junger-griechen-in-griechenland.txt b/fluter/situation-junger-griechen-in-griechenland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b949bc98746a3dd5e83196c03641f98e7c18e403 --- /dev/null +++ b/fluter/situation-junger-griechen-in-griechenland.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +In der Generation meines Großvaters gab es auch viele Auswanderer. Die kleine Insel, auf der er wohnte, ist heute fast entvölkert, weil viele nach dem Zweiten Weltkrieg ihr Glück in den USA suchten und dort geblieben sind. Wer damals ein Studium und eine Ausbildung hatte, fand aber zumindest noch Arbeit in Griechenland. Mein Opa konnte als Rechtsanwalt auf der Insel bleiben und sich etwas aufbauen. Was mir wirklich Sorgen macht, ist der Rechtsruck in Griechenland. Die Leute sind wütend auf die linke Regierung und radikalisieren sich immer mehr. Die Krise macht sie rassistisch. Sie sind arm und sehen in den Flüchtlingen, die auf den Inseln ankommen, Feinde, die von der EU angeblich mehr unterstützt werden als sie selbst. + + +In fünf Jahren will ich in einem kleinen Dorf im Olymp- Gebirge leben. Dort habe ich mit fünf Freunden ein kleines Unternehmen gestartet. Auf einer Fläche von 15 Fußballfeldern bauen wir Bergtee an. Eine spezielle Sorte, die es nur in Griechenland gibt. Die Großeltern eines Freundes wohnten früher in dem Dorf. Ihre zwei Häuser und das Land, das dazugehört, sind unsere Ausgangsbasis, von der aus wir expandieren wollen. +Die Arbeitslosigkeit bei den 15- bis 24-Jährigen liegt in Griechenland immer noch bei über 40 Prozent. Auch aus unserer Gruppe sind zwei arbeitslos, die anderen haben gerade Jobs. Wir alle sparen jeden Monat Geld und stecken das ins Unternehmen, um unseren Traum zu verwirklichen. Mein Bruder ist auch dabei. Er schickt uns Geld aus Paris, wo er als Kellner arbeitet. Zurzeit arbeite ich noch im Verkauf und Marketing eines großen Gardinenproduzenten in Thessaloniki. Die richtige Arbeit fängt für mich aber erst nach Feierabend an: Kunden anschreiben, Tee abpacken, ein Marketingkonzept entwickeln. Wir wollen ein soziales Unternehmen sein, uns allen gleich viel Lohn zahlen und alle wichtigen Entscheidungen gemeinsam treffen. +Dieses Jahr hatten wir unsere erste Ernte. Die war noch sehr klein, weil wir biologisch anbauen und deshalb etwas länger warten müssen, bis die jungen Setzlinge Ertrag abwerfen. In zwei Jahren werden wir unser angestrebtes Produktionsvolumen erreichen, in fünf Jahren wollen wir alle davon leben können. Ich habe viele Bekannte mit ähnlichen Vorhaben: Sie produzieren Olivenöl oder Honig. Wer weiß, wie lange die schlechte Lage noch andauern wird. Da ist es besser, nicht von einem einzigen Arbeitgeber abhängig zu sein, sondern gemeinsam mit anderen etwas aufzubauen und neue Wege auszuprobieren. Das ist unsere Lehre aus der Krise. + + +Ich hatte Glück. So wie meine Eltern, die keinen Tag ihres Lebens arbeitslos waren. Seit drei Jahren arbeite ich in einer IT-Firma als feste freie Mitarbeiterin und verwalte die Computersysteme von öffentlichen Einrichtungen wie Unis und Krankenhäusern. Wie die meisten anderen jungen Leute bekomme ich immer nur eine Vertragsverlängerung für sechs Monate. Zwar arbeite ich Vollzeit in dem Unternehmen, bin aber trotzdem offiziell selbstständig. Am eigenen Leib spüre ich, dass Griechenland mittlerweile einen der flexibelsten Arbeitsmärkte in der EU hat. Immerhin kann ich meine Miete selbst zahlen, bin unabhängig von meiner Familie. Meine Schwester wird bald meinem Bruder folgen und im Ausland arbeiten. Auch viele Freundinnen sind weggegangen. Mein Freund und ich sind nicht mehr zusammen, seitdem er auf der Suche nach Arbeit Griechenland verlassen musste. +Als ich aufwuchs, war Griechenland mit einem Neuanfang beschäftigt. Die Menschen wollten ihr Land nach dem Ende der Diktatur 1974 neu aufbauen. Alle freuten sich 1981 über die Mitgliedschaft in der EU und später über den Euro und schauten in den Nullerjahren auf die Olympischen Spiele im eigenen Land. Alle hatten ihre Kreditkarten und die Illusion, eine Menge Geld zu besitzen. Dann kam die große Krise und damit das böse Erwachen. Wir sind eine enttäuschte Generation, die sich den Illusionen der Elterngeneration nicht hingibt. Es gibt sicher viele Gründe, an dieser Situation zu verzweifeln, aber bei mir überwiegt die Hoffnung. +Es haben sich viele kleine Communitys gebildet, die bei Hackathons (Wortschöpfung aus "Hack" und "Marathon", Anm. d. Red.) oder in selbstverwalteten Abendschulen Wissen austauschen und solidarisch miteinander leben. Ich gebe zum Beispiel Programmierkurse und nehme dafür an Yogakursen teil. Es bewegt sich einiges. Griechenland wird langsam erwachsen und rappelt sich Stück für Stück auf. + + +Als die Krise Griechenland erreichte, war ich neun Jahre alt. Ich kann mich daran erinnern, dass Mit schüler von mir fast in Ohnmacht fielen, weil sie morgens zu Hause nicht genug zu essen bekamen. Die Schule hat daraufhin ein kostenloses Frühstück für Bedürftige eingeführt. Auch meine Eltern hatten von Jahr zu Jahr weniger Geld. +Wegen der unsicheren Zukunft versuchten sie, so viel wie möglich zu sparen, mein Vater musste als Bauingenieur immer mehr Steuern zahlen. Sie konnten sich den Fußballverein und meinen Musikunterricht nicht mehr leisten. Das alles ist und war Normalität für mich, ich kenne keinen krisenlosen Zustand. +Im nächsten Sommer mache ich mein Abitur. Danach will ich in Thessaloniki Wirtschaft studieren, um später Arbeit zu finden. Am liebsten würde ich später den Betrieb managen, in dem mein Vater arbeitet. Ein guter Freund von mir will in Italien Ingenieur werden. Andere Freunde gehen auch zum Studium ins Ausland. Sie sind der Überzeugung, dass sie mit einem Abschluss aus dem Ausland dann einfacher im Ausland einen Job finden werden. Aber ich will bleiben und mit dafür sorgen, dass es hier wieder aufwärtsgeht. +Titelbild: Dimitris Michalakis , Portraits: privat diff --git a/fluter/skandale-affaeren-olympische-spiele.txt b/fluter/skandale-affaeren-olympische-spiele.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..08cbbbcf215cdcadd78ee7a571288a555dff5106 --- /dev/null +++ b/fluter/skandale-affaeren-olympische-spiele.txt @@ -0,0 +1,41 @@ + + + +Hier kommt ihr direkt zum Skandal von +Los Angeles 1932Berlin 1936Melbourne 1956Mexiko-Stadt 1968München 1972Montreal 1976Moskau 1980Los Angeles 1984Atlanta 1996Sotschi 2014Tokio 2021 +1931 vergab das IOC die Spiele von 1936 an Berlin. Zwei Jahre später ergriff Adolf Hitler die Macht, und die Nazis zeigten offen, dass sie das Weltereignis für Propaganda missbrauchen würden. Also reiste IOC-Chef Avery Brundage 1934 nach Deutschland. Sein Fazit: "Ich erhielt die positive Zusicherung (…), dass es keineDiskriminierung von Judengeben wird." Weit gefehlt: Durch den jahrelangen Wettkampfausschluss und die Manipulation ihrer Ergebnisse hatten die Nazis schon dafür gesorgt, dass sich jüdische Sportler*innen nicht für die Spiele qualifizierten. Bis auf eine Ausnahme: Helene Mayer.Die Fechterin wurde sogar gebeten, an den Spielen teilzunehmen, gewann Silber und zeigte bei der Siegerehrung den Hitlergruß. Auch Werner Seelenbinder nahm teil. 1942 wurde der mehrfache Deutsche Meister im Ringen, bekennende Kommunist und Widerstandskämpfer verhaftet, zwei Jahre später ermordet. Zum Star der Spiele wurde – zum Unmut der Nazis – mit Jesse Owens ein schwarzer Läufer. + + +Im Wasserball-Halbfinale kommt es im Schwimmstadion von Melbourne zum Showdown: Der amtierende Olympiasieger Ungarn trifft auf die UdSSR. Einen Monat zuvor haben sowjetische Soldat*innen den ungarischen Volksaufstand blutig niedergeschlagen, mindestens 2.700 Ungar*innen wurden bei den Kämpfen getötet. Die Spieler nehmen den Konflikt mit ins Wasserbecken, das Spiel ist brutal. Als der Ungar Ervin Zádor kurz vor Schluss durch einen Schlag eine Platzwunde erleidet(siehe Foto), stürmen Zuschauer*innen in den Innenraum und gehen auf die sowjetische Auswahl los. Der Schiedsrichter bricht das Spiel ab, Ungarn gewinnt 4:0 und holt anschließend olympisches Gold. Zádor und einige seiner Teamkollegen gehen nach den Spielen ins Exil. + + +Dass das keine gewöhnliche Siegerehrung wird, war klar, als die US-Sprinter Tommie Smith und John Carlos sowie der Australier Peter Norman das Olympiastadion betraten. Smith, der gerade den 200-Meter-Lauf gewonnen hatte, und Carlos (Bronze) trugen je einen schwarzen Handschuh, an den Füßen nur schwarze Socken. Smith hatte einen schwarzen Schal umgehängt, Carlos öffnete seine Trainingsjacke. Die beiden schwarzen Läufer verstießen damit gegen olympische Regeln, um auf Ungerechtigkeiten in den USA aufmerksam zu machen: Die bloßen Füße symbolisierten ihre Armut als Kinder, schwarze Socken, Handschuhe und Smiths Schal den Stolz schwarzer US-Amerikaner*innen, die offene Jacke Solidarität mit Arbeitnehmer*innen in der Heimat. Alle drei, auch der weiße Norman, der vorher Silber gewonnen hatte, trugen einen Pin der Menschenrechtsbewegung "Olympisches Projekt für Menschenrechte" (OPHR). Während der US-Nationalhymne senkten Smith und Carlos den Kopf und streckten die Faust. Der Black-Power-Gruß war umstritten, weil sich die Black-Power-Bewegung Ende der 1960er-Jahre zunehmend radikalisierte. +Das US-Duo wurde für die Gesten umgehend suspendiert und nach Hause geschickt – auf Bestreben des erklärten OPHR-Gegners Avery Brundage, der 32 Jahre zuvor kein Problem damit hatte, dass während der Spiele der Hitlergruß gezeigt wurde. + + +5. September: Acht Terroristen der Palästinenserorganisation "Schwarzer September" dringen in das israelische Quartier im olympischen Dorf ein. Sie töten Ringer-Trainer Moshe Weinberg, den Gewichtheber Yossef Romano und nehmen neun andere Trainer und Sportler als Geiseln. Die Entführer fordern die Freilassung von 234 in Israel inhaftierten Palästinensern sowie derRAF-Mitglieder Ulrike Meinhof und Andreas Baader. Bei einer Rettungsaktion am Flughafen Fürstenfeldbruck sterben alle Geiseln, fünf Terroristen und ein Polizist. IOC-Chef Brundage verkündet trotzdem, die Spiele fortsetzen zu wollen. Zwei Tage später startet das israelische Militär erste Vergeltungsschläge in Syrien und im Libanon. + + +Weiterlesen + + +China verletzt Menschenrechte – und darf sich trotzdem mit Olympischen Spielen inszenieren. Boykotte helfen da wenig, sagt Sportsoziologe Gunter Gebauer.Er weiß aber, wer ein solches Dilemma künftig verhindern könnte +Seit 1964 war südafrikanischen Sportler*innen die Teilnahme an den Olympischen Spielen verboten: Das IOC wollte dierassistische Apartheidpolitik ihres Heimatlandes ächten, dessen Regime keine schwarzen Sportler für die Wettkämpfe nominierte. Der Ausschluss galt auch 1976, trotzdem ließ sich die Rugbynationalmannschaft von Neuseeland auf eine gut bezahlte Tournee durch Südafrika ein. Weil Rugby zwar nicht olympisch war, Neuseeland aber (trotz Protesten) eine olympische Mannschaft stellen durfte, boykottierten Guyana, der Irak und mehr als 20 afrikanische Länder die Spiele von Montreal. Darunter auch Kenia: "Die Regierung und die Bürger Kenias", sagte Außenminister James Osogo, "sind der Ansicht, dass Prinzipien mehr wert sind als Medaillen." + + +Im Dezember 1979 marschierte das sowjetische Militär in Afghanistan ein. Die USA unter Präsident Jimmy Carter beschlossen daraufhin, die Spiele in Moskau zu boykottieren. So wird derKalte Kriegin den Olympischen Spielen fortgesetzt. Dem Olympia-Boykott der USA folgten Dutzende Nationen, sodass nur 81 Nationen an den Spielen teilnahmen, darunter Afghanistan und die DDR, nicht aber die BRD. "Der Sport", sagte der damalige Innenminister Gerhart Baum, "wurde als politische Waffe genutzt, aus guter Absicht." + + +Im September 1983 hatte ein sowjetischer Abfangjäger ein südkoreanisches Passagierflugzeug abgeschossen. Als Reaktion forderten zunächst rechtskonservative US-Politiker den Ausschluss sowjetischer Sportler*innen. Später verweigerte das US-Außenministerium dem Olympia-Attaché Oleg Jermischkin die Akkreditierung für die Spiele: Jermischkin war als KGB-Agent enttarnt worden. Das ließ die Situation eskalieren. Im Mai 1984 verkündete Moskau, die Spiele zu boykottieren; 18 weitere Nationen – darunter die DDR – folgten. Der "letzte große symbolische Akt des Kalten Krieges zwischen Ost und West" ("Süddeutsche Zeitung") war zugleich der letzte große politische Boykott der Olympischen Spiele. + + +Acht Tage liefen die 26. Olympischen Sommerspiele, als sich am Morgen des 27. Juli 1996 beim Polizeinotruf ein Mann meldete: Innerhalb der nächsten halben Stunde gehe eine Bombe im Centennial Olympic Park hoch. Fast zeitgleich entdeckte ein Wachmann eine verdächtige Tasche und begann mit der Evakuierung des Parks – die vermutlich viele Leben rettete. Wenige Minuten später explodierte die mit Nägeln und Schrauben gespickte Rohrbombe. Sie kostete zwei Personen das Leben, 111 weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Der Attentäter Eric Rudolph, ein christlich-fundamentalistischer Terrorist, stellte sich – sieben Jahre und drei weitere Anschläge später. + + +"Mit der Ausgrenzung von Homosexuellen", sagte Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im August 2013, "geht Russland einen weiteren großen Schritt in Richtung einer lupenreinen Diktatur." Wegen der homophoben Gesetzgebung im Land des Gastgebers wurde monatelang offen über einen politischen Boykott diskutiert. "Grotesk", nannte es CDU-Politiker Jens Spahn, "dass die Weltin einem Land zu Gast sein soll, in dem per Gesetz gegen Schwule und Lesben gehetzt wird." Letztlich schickten doch alle Nationen ihre Mannschaften zu den Winterspielen von Sotschi, die schließlich von einem ganz anderen Skandal überschattet wurden:dem Staatsdoping des Gastgebers. + + +Schlechte Nachrichten schrieben die "Corona-Spiele" schon als sie noch gar nicht begonnen hatten: Einen Tag vor der Eröffnungsfeier wurde Kentaro Kobayashi, Kreativdirektor der Veranstaltung, von seinen Aufgaben entbunden. Kobayashi hatte sich in einem früheren Auftritt als Komiker über den Holocaust lustig gemacht. Schon sein Vorgänger war wegen sexistischer Äußerungen entlassen worden. Später floh die belarussische Läuferin Kristina Timanowskajaaus Angst vor Repressionen ins polnische Exilund der Sportdirektor des Bundes Deutscher Radfahrer, Patrick Moster, sorgte für einen Skandal, weil er seinen Fahrer während eines Rennensmit einer rassistischen Äußerungmotiviert hatte. + + +Unser Titelbild (picture-alliane/dpa) zeigt das Attentat von München 1972 (links) und den Black-Power-Gruß von Mexiko 1968 (rechts). diff --git a/fluter/skateistan-film.txt b/fluter/skateistan-film.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..511e15081cec96d623c5a8026374c0e0dbccc520 --- /dev/null +++ b/fluter/skateistan-film.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Die NGO versucht, Jungs und Mädchen im Alter von 5 bis 17 Jahren von den Straßen zu holen und sie weiterzubilden. Dafür gibt es vier verschiedene kostenlose Programme. In "Skate and Create" wird eine Stunde geskatet und eine Stunde gelernt, zum Beispiel über Menschenrechte, Ernährung oder Umwelt. Das "Back to School"-Programm, das vom afghanischen Bildungsministerium begleitet wird, hat zum Ziel, dass sich Kinder aus ärmeren Familien anschließend (wieder) an einer öffentlichen Schule einschreiben können. Dazu nehmen die Schüler und Schülerinnen ein Jahr lang an fünf Tagen die Woche das reguläre Schulprogramm durch. Oft geht es aber in erster Linie einfach darum, Lesen und Schreiben zu lernen: Analphabetismus ist in Afghanistan weit verbreitet, vor allem junge Frauen können meistens nicht lesen und schreiben. +Nicht alle finden das Projekt gut. Oliver Percovich hat schon mehrere Morddrohungen bekommen. Bisher konnte die NGO Auseinandersetzungen aber immer schlichten, sagt Jessica Faulkner von Skateistan. "Wir fragen die Community vor Ort, welche Programme sie für ihre Kinder wollen, und versuchen, diese dann anzubieten." Den Hauptsitz hat die spendenfinanzierte NGO aber mittlerweile nicht mehr in Kabul, sondern in Berlin. "Es machte einfach Sinn, eine internationale Base zu haben", sagt Faulkner. Inzwischen gibt es nämlich neben dem Ableger in der afghanischen Stadt Masar-e Scharif auch eine Skateschule in Kambodscha und eine in Südafrika. diff --git a/fluter/skaten-brasilien-film-Meu-nome-e-Bagda.txt b/fluter/skaten-brasilien-film-Meu-nome-e-Bagda.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2f9847e49d7140a79a152b5fc52552ba205ba216 --- /dev/null +++ b/fluter/skaten-brasilien-film-Meu-nome-e-Bagda.txt @@ -0,0 +1,25 @@ + +Gratulation! +"Meu nome é Bagdá" hat den Großen Preis der Internationalen Jury von Generation 14plus für den Besten Film gewonnen, im Wert von 7.500 Euro und gestiftet von der Bundeszentrale für Politische Bildung. +Wie wird's erzählt? +In vielen kurzen, recht unaufgeregten Episoden, oft passiert nicht richtig was. Mal hängt Bagdá im Friseursalon eines befreundeten queeren Paars ab. Mal bewirft sie ein Auto mit Wasserballons. Mal hilft sie ihrer neunjährigen Schwester Bia, die unbedingt zum Mars fliegen will, bei einem Bewerbungsvideo für die NASA. Oft skatet sie natürlich oder macht mit ihrem Camcorder Videos von den anderen beim Skaten. Aber auch eine sexismusgespickte Polizeirazzia undhomophobe Aggressionengehören zu Bagdás Alltag. +Regisseurin Caru Alves de Souza arbeitet möglichst ohne Kunstlicht, dafür mit der Handkamera und viel Improvisation – die Darstellerinnen bekamen das komplette Skript der Szenen nie zu sehen –, was den Film sehr unmittelbar macht. Zwischen die Spielszenen schneidet Alves de Souza immer wieder lange Sequenzen, die nur von Musik unterlegt sind, dazu kommen durchchoreografierte surreale Szenen, die wie fürs Theater inszeniert scheinen. +Was soll uns das zeigen? +Caru Alves de Souza wollte einen Film machen "über starke, unabhängige Frauen, die zusammen Spaß haben und einander unterstützen". Das hat sie auch.Weibliche Selbstermächtigung gegen den täglichen Machismo in BrasilienistdasThema von "Meu nome é Bagdá", Männer sind potenziell verzichtbare Störenfriede. Das gilt auch fürs Skaten, wie Bagdá merkt, als sie in einem anderen Stadtviertel eine rein weibliche Skatecrew trifft und sich mit ihr anfreundet. +Gänsehautmoment: +Auf einer Party wird Bagdá von einem Skater ihrer Gruppe zum Küssen gezwungen. Er hält ihr den Mund zu, damit sie nicht um Hilfe ruft. Dass die Situation einigermaßen schnell endet, ist bloßes Glück. +Stärkste Szene: +Mithilfe ihrer neuen Freundinnen traut sich Bagdá, den Jungen von der Party mit seinem Verhalten zu konfrontieren, und bringt die#MeToo-Debatteauf den Skateplatz – vor der gesamten Skatercrew. +Stärkster Satz: +"Wir sind uns so nah, haben so sehr einen gemeinsamen Vibe, dass wir manchmal sogar unsere Tage gleichzeitig kriegen", sagt eine der Skaterinnen, die Bagdá kennenlernt. Nur eine von mehreren verbalen Verschwesterungsszenen. +Wie im schlechten Film: Die rechtsextreme Regierungbeendet die brasilianische Filmförderung +Gut zu wissen: +Nicht nur vor der Kamera dominieren die Frauen, auch dahinter: Regie, Kamera, Drehbuch, Produktion, fast alle kreativen Schlüsselpositionen in "Meu nome é Bagdá" sind weiblich besetzt. Die Reise nach Berlin mussten Caru Alves de Souza und ihr Team selber bezahlen: Die nationale Filmförderungsanstalt Ancine hat im Herbst die Unterstützungsmittel zur Teilnahme an internationalen Festivals gestrichen – ausgerechnet in dem Jahr, in dem mit 19 so viele brasilianische Filme wie noch nie bei der Berlinale laufen. +Die Maßnahme ist Teil eines größeren Konflikts: Der seit Anfang 2019 amtierende ultrarechte brasilianische Präsident Jair Bolsonaro will über die Fördermittelvergabe erreichen, dass vor allemFilme unterstützt werden, die "traditionelle Werte" vermitteln. Zwar wurde ein erster Versuch, die Förderung von Fernsehserien mit LGBTQI-Inhalten zu stoppen, im Herbst 2019 von einem Bezirksgericht rückgängig gemacht – doch damit ist dieser Kulturkampf von oben noch nicht vorbei. Erst wurden mehrere Direktorenposten bei der Ancine nicht besetzt und deren Arbeit damit lahmgelegt. Am 21. Februar wurden dann ein evangelikaler Pastor und die Direktorin eines christlichen Filmfestivals als Direktoren eingesetzt. Sie verwalten den Fördertopf. +Die Filme, die aktuell anlaufen, sind noch mit Fördergeldern aus der Zeit vor Bolsonaro entstanden. Für 2020 wurde die Förderung um fast die Hälfte gekürzt. Ob es in ein, zwei Jahren noch so emanzipatorische Projekte wie "Meu nome é Bagdá" geben wird, ist unklar. +Für alle … +… Skaterinnen. Und für alle Skater, die kritisch hinterfragen wollen, wie wohl sich Frauen in ihrem Hobby und Lebensumfeld fühlen. + +"Meu nome é Bagdá" (Generation 14plus, Brasilien 2020) feierte am 25.2. auf der Berlinale seine Weltpremiere undläuft auf dem Festival noch an drei weiteren Terminen. + +Titelbild: Luh Barreto diff --git a/fluter/sklaven-nachfahren-in-equadors-fu%C3%9Fball.txt b/fluter/sklaven-nachfahren-in-equadors-fu%C3%9Fball.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cffee5e655b97a3c97c392563c95bb1ae6a03ac5 --- /dev/null +++ b/fluter/sklaven-nachfahren-in-equadors-fu%C3%9Fball.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Sucht man nach Gründen für den Erfolg der Fußballer aus dem Chota-Tal, wird oft angeführt, dass diechoteñosvon kräftigen Sklaven abstammen und daher so athletisch sind. Oder, so eine andere Theorie, liegt es an der im Tal verbreiteten Guandul-Schote, einer grün-gelblichen, besonders proteinreichen Hülsenfrucht, dass die Fußballer von hier so robust und laufstark sind? +Vermutlich ist die Wahrheit noch einfacher: Ihr Antrieb sei der Wunsch gewesen, aus der Armut auszubrechen und wahrgenommen zu werden, hat Ulises de la Cruz in einem Interview erklärt. "Wir mussten erfolgreich sein, damit wir anerkannt werden." Früher habe es viel Rassismus gegeben, so de la Cruz. Mit dem Erfolg derchoteño-Kicker sei die "Schranke der Minderwertigkeit" überwunden worden. Die Anerkennung der Afroecua­dorianer im Fußball hat wohl auch so lange gedauert, weil ihr Anteil an der Bevölkerung vergleichsweise gering ist. Er liegt bei ca. 7 Prozent. +Ecuadorliegt mitten auf dem Äquator und ist geografisch, landschaftlich, klimatisch und ethnisch eines der vielfältigsten Länder der Erde, obwohl es für südamerikanische Verhältnisse klein ist. Hier gibt es viele aktive und erloschene Vulkane, denn das Land liegt genau auf der Grenze der beiden tektonischen Platten, aus deren Zusammentreffen sich die Anden gebildet haben. +Doch der Erfolg derfutbolistasaus dem Valle hat an den strukturellen Problemen vor Ort kaum etwas ändern können – trotz einiger von Fußballhelden wie Delgado und de la Cruz initiierter Sozialprojekte. Immer noch ist die Chota-Region bitterarm, die Infrastruktur schlecht, und es gibt zu wenig Arbeit. Auch fußballerisch ging es kaum voran: In den letzten Jahren standen nur noch wenige Spieler aus dem Valle im Nationalteam, was auch mit den Problemen auf Vereinsebene zu tun hatte. 2012 wurde etwa der Club Valle del Chota aus dem Spielbetrieb ausgeschlossen. +Immerhin: In der U-17-Auswahl Ecuadors sind aktuell wieder drei Jungs aus dem Chota-Tal, wo die Kinder aufstaubigen Sandplätzen weiter von einer Profikarriereträumen. Ihr jüngstes Vorbild ist Romario Ibarra. Der 24-jährige Mittelfeldspieler aus der Valle-Provinz Imbabura gab 2017 sein Debüt in der Nationalmannschaft, ein Jahr später wechselte er vom Club Universidad Católica in Quito in die US-amerikanische Major League Soccer. Ein Sprung in die Welt. + +Titelbild:  RODRIGO BUENDIA/AFP/Getty Images diff --git a/fluter/skurrile-disziplinen-olympische-spiele.txt b/fluter/skurrile-disziplinen-olympische-spiele.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..630a63ca29fae502ce61fe9451f982b5a828bbd4 --- /dev/null +++ b/fluter/skurrile-disziplinen-olympische-spiele.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +De Coubertin sah in denOlympischen Spielen eine Möglichkeit, nationale Egoismen zu überwinden. Persönliche Egoismen blieben vom olympischen Geist freilich unberührt: Als 1912 zu wenige Arbeiten eingereicht wurden, ging de Coubertin höchstselbst zu Werke. Unter dem Pseudonym "Georges Hohrod und Martin Eschbach" reichte er die"Ode an den Sport"ein. Das Gedicht beginnt mit "O Sport, du Göttergabe, du Lebenselixier" und geht ungefähr genauso weiter. Was die Jury nicht davon abhielt, Hohrod und Eschbach die Goldmedaille zu verleihen – ohne zu wissen, dass sie damit den IOC-Präsidenten de Coubertin auszeichnete. + +Immerhin: Das Interesse an den Kunstwettbewerben stieg mit den Jahren und erreichte 1932 seinen Höhepunkt. Bei den Sommerspielen von Los Angeles sahen 384.000 Besucher knapp 1.100 Werke aus 31 Ländern. Die fünf Kunstdisziplinen de Coubertins wurden immer wieder variiert. So gab es zum Beispiel Medaillen für "Städtebauliche Entwürfe" (1912–1932), "Medaillen und Plaketten" (1928–1948), "Gebrauchsgraphik" (1936) oder Chorgesang (1936). +Der erfolgreichste olympische Künstler ist Jean Jacoby. Der luxemburgische Maler gewann 1924 und 1928 Gold, 1932 und 1936 bekam Jacoby keine Medaillen mehr, aber jeweils "lobende Erwähnungen" der Jury. (Insbesondere jene in Berlin 1936 war für den in Berlin lebenden Jacoby ein Schlag, über den er sich in Briefen ans IOC bitterlich beschwerte.) +Auch gab es Sportler, die zugleich als Künstler teilnahmen. Der US-Amerikaner Walter Winans gewann 1912 Silber als Sportschütze und Gold als Bildhauer, der Ungar Alfred Hajos gewann 28 Jahre nach seinen zwei Goldmedaillen als Schwimmer noch einmal Gold in Architektur, passenderweise für den Entwurf eines Schwimmstadions. +Dass künstlerische Disziplinen für ältere Olympioniken ganz neue Perspektiven boten, bewies auch John Copley. Bei den Londoner Spielen 1948 gewann Copley 73-jährig Silber in "Gravur und Kupferstecherei". Damit ist der Brite der älteste Olympiamedaillengewinner aller Zeiten. +1948 waren zugleich die Spiele, bei denen die Kunstwettbewerbe das letzte Mal ausgetragen wurden. Zum einen, weil die Künstler oft von ihrer Kunst lebten, also nach dem damals geltenden Amateurgebot nicht antreten durften. Zum anderen, weil die Spiele 1936 in Berlin stattgefunden hatten. Dort fielen die Kunstwettbewerbe in die Zuständigkeit des Propagandaministeriums unter Joseph Goebbels – das Olympia als ebendas verstand: Propaganda. In der Jury saßen überzeugte Nazis wie Hans Herbert Schweitzer, bekannt für seine antisemitischen Plakate und Karikaturen, oder Adolf Ziegler, der kurz darauf den Auftrag erhielt, "entartete" Kunst (Werke, die nicht zur NS-Ideologie passten, Anm. d. Red.) im Land zu diffamieren und zu beschlagnahmen. Unzufrieden mit den Einreichungen deutscher Künstler, mussten auf Goebbels' Geheiß regimetreue Künstler teilnehmen, die dann, Überraschung, 13 Medaillen für die Nazis gewannen. + +Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts war Tauziehen mehr als nur die Möglichkeit,sich im Schulsport von kräftigeren Mitschülern demütigen zu lassen: Es war olympisch. Zwischen 1900 und 1920 gehörte Tauziehen als Leichtathletikdisziplin fünfmal zum Programm der Olympischen Sommerspiele. Damals war es den Nationen sogar erlaubt, mehrere Teams zu nominieren, was dazu führte, dass 1904 drei US-Teams auf dem Treppchen standen und 1908 drei britische. +Die beiden Staaten dominierten den Sport dieser Tage – und sorgten 1908 für einen Eklat. Eines der britischen Teams trat gegen die USA mit schweren, mit Nägeln beschlagenen Stiefeln an. Die US-Amerikaner legten ob des wettbewerbsverzerrenden Schuhwerks Protest ein, die Briten, eine Polizeimannschaft aus Liverpool, hielten dagegen, es handele sich bei den Stiefeln um normale Polizeiausrüstung. Der Kampfrichter (auch ein Brite) lehnte den Protest ab, die Polizisten gewannen locker. Und wurden später Olympiasieger. + +Bei den Olympischen Spielen 1904 waren die Dinge ein bisschen unübersichtlich. Schon der Austragungsort St. Louis war umstritten, dazu fanden die Spiele – wie schon vier Jahre zuvor in Paris – als eine Art Anhängsel derWeltausstellung"Louisiana Purchase Exposition" statt und zogen sich über Monate. +Pierre de Coubertin war bei der Organisation außen vor, dafür gab es ein eigenes Referat im Organisationskomitee der Weltausstellung: die "Abteilung P". Sie sorgte dafür, dass Olympia zu einer besseren Westernshow verkam. Abteilung P hatte zunächst 300 Sportarten vorgeschlagen, letztlich wurden es 102. Welche dabei genau olympisch waren und welche nicht, war schwer zu sagen: Abteilung P verwendete das Label großzügig. So gab es 1904 "olympische" Sternstunden wie die amerikanischen Grundschulmeisterschaften, die Wettbewerbe in Irish Sports (Hurling und Gaelic Football) und diverse Showveranstaltungen wie Tonnenspringen (eine Art Hindernislauf) oder Sackhüpfen. +Bis heute hält sich die Legende, es habe auf Betreiben eines Tabakwarengroßhändlers aus St. Louis auch ein Tabak-Weitspucken gegeben. (Das angeblich auch der Grund gewesen sein soll, warum Pierre de Coubertin den Spielen fernblieb.) Ob ein solcher Wettbewerb stattfand, ist umstritten. Offiziell als olympisch anerkannt wurden vom IOC im Nachgang nur 16 Sportarten. + + +Ein Tabak-Weitspucken mag (wenn es denn stattgefunden hat) der hygienische Tiefpunkt der Spiele 1904 gewesen sein; der menschliche waren die "Anthropologischen Tage". Die völkerkundliche Abteilung der Weltausstellung richtete zu ebendieser auch sogenannte Völkerschauen aus, in denen Angehörige indigener Völker vorgeführt wurden. An den "Anthropologischen Tagen" mussten die Völker gegeneinander antreten, zur "Prüfung der alarmierenden Gerüchte über Schnelligkeit, Ausdauer und Kraft der wilden Stämme", wie es damals hieß. +So maßen sich Vertreter der Cherokee, Sioux, Patagonier, Pygmäen und anderer Völker in einem zutiefst rassistischen Event im Laufen, Weitwurf, Bogenschießen, Baumstammklettern, Schlammringen und anderen Pseudowettkämpfen. Die bescheidenen Ergebnisse der in den Disziplinen oft völlig ungeübten Teilnehmer wurden zum Beweis der Überlegenheit des "zivilisierten weißen Menschen" herangezogen, die indigenen Teilnehmer seien "unterlegene Athleten", hieß es in der Retrospektive. Der Sportchef der Olympiade, James E. Sullivan, spottete gar, "dass niemals zuvor in der Geschichte des Weltsports derart schlechte Leistungen" gezeigt worden seien. Ein schäbiger Superlativ, mit denen man ja ohnehin sparsam umgehen sollte. Außer vielleicht in diesem Fall: Die "Anthropologischen Tage" dürften eines der hässlichsten Kapitel der olympischen Geschichte sein. + diff --git a/fluter/slow-fashion-mode-nachhaltigkeit.txt b/fluter/slow-fashion-mode-nachhaltigkeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c57a2a4d03d394702c98e723b045b14c39e0e9a7 --- /dev/null +++ b/fluter/slow-fashion-mode-nachhaltigkeit.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Mittlerweile gibt es viele Designerinnen und Designer, die lokal produzieren und so die Herstellungskette für die Käufer besser nachvollziehbar machen. Transparenz ist wichtig geworden,weil immer mehr Menschen wissen wollen, wo und unter welchen Bedingungen ihre Kleidung entstanden ist. +Viele kleine Designer, die keine großen Stückzahlen liefern müssen, verwenden zudem häufig Materialien, welche die Umwelt weniger belasten. Die Stoffe Modal und Lyocell (auch Tencel genannt) etwa basieren auf pflanzlichen Fasern, die biologisch abbaubar sind. Dadurch sind sie nachhaltiger als pure Synthetikstoffe wie Polyester, Polyamid und Polyacryl auf der Basis von Erdöl. Das Re- und Upcycling ist in den letzten Jahren beliebter geworden: Aus Fischernetzen werden Bikinis, aus alten Airbags Rucksäcke und aus Bällen Taschen. Alte PET-Flaschen können zu Polyesterfasern verarbeitet werden. +Auch die Studierenden am Fachbereich "Fashion & Technology" an der Kunstuniversität Linz suchen nach besseren Produktionsmethoden. Seit fünf Jahren gibt es den Studiengang, der Modedesign mit Robotik, 3-D-Druck und biologischem Wissen kombiniert. So wird dort zum Beispiel mit Gräsern, Pilzen oder Fruchtschalen experimentiert, die der viel Wasser verbrauchenden Baumwolle in Zukunft Konkurrenz ma­chen könnten. "In the Lab" heißt das Forschungsprojekt an der Uni, bei dem selbst Techniken wie das Weben und Nähen hinterfragt werden. +So war die 26-jährige Belinda Winkler gerade dabei, Garn auf eine 20 Zentimeter große Spule zu wickeln, als ihr auffiel, dass die überkreuzten Fäden bereits wie ein Stück Stoff aussahen. Mit einem Mechatroniker entwickelte sie daraufhin eine Maschine mit einer 1,20 Meter großen Spule und machte damit Röcke, Kleider, Hüte und Tops. Denn wenn die Fäden etwas haarig sind wie bei Wolle, verhaken sie sich ineinander und halten von selbst. Damit das Material nicht auseinanderfällt, fixiert sie die Säume zusätzlich mit einem dünnen Silikonstreifen. Die gesamte Produktion sei mit dem ersten Arbeitsschritt bereits vollendet, so Belinda. Das Weben oder Stricken des Stoffs würde wegfallen, ebenso wie der Zuschnitt und das Nähen. +Softwareprogramme von Architekten, Ideen von Game- und Produktdesignern, das Wissen von Maschinen­bauern – alles trägt zur Entwicklung von Modedesign bei. Simon Hochleitner, ebenfalls Student an der Kunstuniversität Linz, arbeitet mit 3-D-Scans von Körpern. Er hat einen Code entwickelt, um diese in zweidimensionale Schnittmuster zu zerlegen und so Outfits zu designen, die perfekt passen. "Kein einziger Schnitt, den ich so rausbekommen habe, war je symmetrisch", sagt Simon. "Weil unser Körper nicht symmetrisch ist." +Der ehrliche Blick auf den menschlichen Körper ist neben der Nachhaltigkeit ein weiterer Trend im Design. Wobei der Körper bei manchen Designerinnen und Designern sogar als Rohstofflieferant dient. Alice Potts zum Beispiel macht Mode aus Schweiß. Gemeinsam mit Bioingenieuren des Imperial College in London hat sie eine Methode entwickelt, um die menschlichen Absonderungen aus Kleidungsstücken herauszulösen, in ihre Bestandteile zu zerteilen und daraus Kristalle zu schaffen. In einem neueren Projekt experimentiert sie mit Schmuck aus Tränen. +Noch einen Schritt weiter geht Tina Gorjanc. In ihrem Londoner Labor arbeitet sie mit DNA, die menschlichem Haar entnommen wird. Das daraus gezüchtete Material wird gefärbt und anschließend zu Leder verarbeitet. Mit der Menschenhaut aus dem Labor stellt sie dann Kleidungsstücke und Accessoires her – und sorgt möglicherweise für ein größeres Bewusstsein für Ressourcen. +In jedem Teil von Tina Gorjanc findet sich übrigens ein Pflegehinweis, auf dem steht, dass es regelmäßig eingecremt werden muss, um nicht spröde zu werden – vor allem vor dem Gang in die Sonne. diff --git a/fluter/smart-city-wien.txt b/fluter/smart-city-wien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4f4f5300655dd9d2946ed910bfdc7d6e789802d1 --- /dev/null +++ b/fluter/smart-city-wien.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Auch die Stadt spricht mit den Bürgern. Unter dem Motto "Wohnpartner unterwegs" fahren Mitarbeiter der Stadtverwaltung mit dem Rad herum, um die Menschen in den städtischen Wohnungen nach ihren Problemen zu fragen. Wo fehlt es an Möglichkeiten für Jugendliche, sich zu treffen, wie läuft das neue Nachhilfeangebot, und wird das neue Hofcafé auch wirklich genutzt? Auch mithilfe der App "Sag's Wien" kann man jederzeit Wünsche und Klagen loswerden. Und auf die Mülleimer hat man in Wien Telefonnummern geklebt. Falls mal einer zu sehr stinkt. +Was Wien macht, läuft anderswo unter dem Label Smart City: Daten sammeln und dadurch die Stadt lebenswerter machen. "Ich war neulich wieder auf einer Veranstaltung zu dem Thema, und alle sprachen ständig nur von Nutzern. Für mich aber geht es um Bürger. Das Soziale ist wichtiger als die Effizienz", sagt Thomas Madreiter, sogenannter Planungsdirektor der Stadt. Wien will nicht nur Daten von den Bürgern, sondern gibt ihnen selbst welche. Im Rahmen der Open Data Initiative können Bürger auf einer Website alle möglichen Zahlen zum Leben in der Stadt abrufen. +Das angesehene Nachrichtenmagazin "The Economist" kürte Wien gerade zur lebenswertesten Stadt der Welt. Für das Ranking wurden 140 Großstädte nach Kriterien wie Infrastruktur, Bildung, Gesundheitsversorgung und Kultur miteinander verglichen. Besonders gut gefällt es den Zugezogenen in der Stadt, die für internationale Unternehmen oder die UNO arbeiten. Seit dem Ende des Kalten Krieges ist Wien von der morbiden Metropole am Rande des Ostblocks zu einer beliebten Großstadt mitten in Europa geworden, die mit vielen Freizeit- und Kultureinrichtungen gerade junge Menschen anzieht, seien es Studenten oder Mitarbeiter von Start-ups. +Noch entscheidender ist allerdings, dass Wiens Einwohner derzeit weniger mit steigenden Mieten und Gentrifizierung zu kämpfen haben als in vielen anderen europäischen Metropolen, wo statt Sozialwohnungen vor allem teure Apartments für eine internationale Kundschaft entstanden sind. In Wien gibt es 220.000 städtische Wohnungen, das ist gemessen an der Gesamtzahl ein Spitzenwert. Der derzeitige Wiener Bürgermeister Michael Ludwig hat bereits als Wohnbaustadtrat erfolgreich dafür gekämpft, dass die Stadt ihren großen Bestand an kommunalen Wohnungen nicht an private Investoren verkauft – wie es etwa in Berlin passiert ist, wo heute 310.000 bezahlbare Wohnungen fehlen. "Von der Wiege bis zur Bahre" wolle sich die Wiener Stadtregierung um die Bürger kümmern, das versprach sie bereits vor 100 Jahren – ein Leitsatz, der die Kommunalpolitik bis heute prägt und die Bürger anspruchsvoll gemacht hat. "Die Wiener glauben, dass ihnen Genuss und Lebensqualität einfach zustehen", sagt Lukas Franta von der TU Wien. Allerdings seien für den Erhalt einer lebenswerten Stadt nicht nur die Politiker, sondern auch die Bürger wichtig. Sie sollten ihre Stadt mitgestalten und sich einbringen, so Franta. "Sonst verliert die Stadt das, was sie in den letzten hundert Jahren ausgemacht hat. Diese fast schon übereifrige soziale Organisation." Tatsächlich wohnt jeder vierte Wiener in einer Wohnung, die ihm die Stadt vermietet, insgesamt sind das 500.000 Menschen. +Allein im 22. Bezirk der Donaustadt entstanden von 1973 bis 1977 in der Siedlung Trabrenngründe mehr als 2.400 Wohnungen in 59 Häusern. Anfangs sah es so aus, als würde der größten Anlage von Gemeindebauten das Schicksal vieler Hochhaussiedlungen drohen, also hohe Kriminalität und die niederdrückende Anonymität einer Schlafstadt. Aber durch kluges Stadtteilmanagement wurde gegengesteuert. Heute gibt es in der meistens nur kurz Rennbahnweg genannten Siedlung viele Schulen und Kindergärten, Sportflächen und Geschäfte. Die meisten Anwohner fühlen sich wohl. +Fast 50 Jahre später ist es nun wieder der Bezirk Donaustadt, wo die Stadt Wien die Zukunft des Zusammenlebens ausprobiert. In der sogenannten Seestadt Aspern entsteht bis 2028 ein ganzer Stadtteil – mit 10.500 Wohnungen für 20.000 Menschen, dazu Büro- und Ladenflächen, damit dort auch tagsüber Leben ist – und nicht nur, wenn die Menschen von der Arbeit nach Hause kommen. +Und hier findet tatsächlich vieles statt, was unter dem Begriff Smart City zusammengefasst wird: Die energiesparenden Häuser werden ressourcenschonend gebaut, die Sensoren in den Häusern sollen die Wassernutzung messen, den Stromverbrauch und den Kohlendioxidgehalt in der Luft. Zuständig ist "Aspern Smart City Research", ein Gemeinschaftsunternehmen der Stadt Wien und Siemens. Eine sogenannte Public-private-Partnership – also eine jener Kooperationen von öffentlichen Institutionen und Konzernen, die oft dafür kritisiert werden, dass die Unternehmen mit Steuergeld ihre Ziele vorantreiben. Und gerade das Konzept der Smart City wirft die Frage auf, wem die erhobenen Daten gehören. In Aspern sollen sie den Bürgern gehören. Ob das wirklich so kommt, bleibt abzuwarten, schließlich sind die Daten der Mieter viel Geld wert. Wer sie freiwillig teilt, könnte irgendwann finanziell dafür belohnt werden. +Die Seestadt ist an den ziemlich günstigen Nahverkehr mit U- und Straßenbahn angebunden, eine App zur Parkplatzsuche soll es in Wien nicht geben, schließlich will man den privaten Autoverkehr langfristig komplett abschaffen. Eines der bereits fertigen Häuser dort ist das Technologiezentrum Seestadt, dessen Fassaden begrünt werden können, auf dessen Dach Solarzellen installiert sind und bei dem sogar die Wärme aus den Serverräumen der Firmen für die Raumkonditionierung genutzt werden soll. Wenn es gut läuft, produziert das Haus am Ende mehr Strom, als es verbraucht. Ein anderes Vorzeigeprojekt im Viertel ist das höchste Holzhochhaus der Welt (84 Meter), bei dessen Bau durch den weitgehenden Verzicht auf Stahl und Beton 2.800 Tonnen CO2 gespart wer- den sollen. +Die Hälfte der Flächen in der Seestadt soll öffentlicher Raum bleiben; breite Gehsteige sind geplant, Stationen für Leihräder,geteilte Garagen, Plätze, auf denen man sich gern aufhält. Denn auch im neuen Viertelgeht es im Grunde genommen um eine uralte Aufgabe der Stadtpolitik. "Die Frage nach der Smart City ist nur scheinbar eine technische", so Planungsdirektor Madreiter. "In Wahrheit ist es die Frage, wie wir das soziale Zusammenleben organisieren." diff --git a/fluter/sneaker-fuer-sibirien.txt b/fluter/sneaker-fuer-sibirien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..aef4604620c60ceb1ea592843d3446b4fe52364d --- /dev/null +++ b/fluter/sneaker-fuer-sibirien.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Früher markierte der Amur fast eine Art Todesstreifen zwischen der Sowjetunion und ihrem feindlichen Bruderstaat im Süden. Nachdem sich die einstigen Verbündeten Chruschtschow und Mao in den 60er-Jahren im Kampf um den Führungsanspruch in der kommunistischen Bewegung überworfen hatten, installierten sowjetische Truppen entlang der 3.645 Kilometer langen Grenze elektrisch geladenen Stacheldraht, Bewegungsmelder, Beobachtungstürme und Betonbunker. Immer wieder drohte Krieg. Erst ein Staatsbesuch von Gorbatschow in Peking 1989 sorgte für Entspannung. Die Grenze wurde wieder geöffnet, und beide Riesen näherten sich an. +Anfang der 90er-Jahre blickten die Russen noch mit Mitleid über den Amur, brachten den Chinesen Teller, Besteck und Fleischkonserven, die ihrerseits in den reicheren Norden zogen, um dort als Schwarzarbeiter anzuheuern. Dann kollabierte in der alten Supermacht die Planwirtschaft. Und in China brach der Boom aus. Heute prägt die neue Supermacht mit Milliardeninvestitionen die Grenzregion: China baute einen neuen Flughafen, eine neue Stadt und Urlaubsresorts, bald sogar eine 150 Milliarden Dollar teure Hochgeschwindigkeitsstrecke von Peking nach Moskau. +In den sibirischen Grenzstädten dominieren chinesische Unternehmer das Immobiliengeschäft und die Warenmärkte, in Blagoweschtschensk haben sie eine Traditionsbrauerei aufgekauft und betreiben das teuerste Hotel vor Ort. "China investiert mehr im russischen Fernen Osten als die eigene Regierung", klagte eine Moskauer Zeitung. Die Sorge ist groß, dass sich Russland in eine Art Rohstofflager für den erstarkten Nachbarn verwandelt: Zwei Drittel aller Holzimporte Chinas werden aus russischen Wäldern herangekarrt, erst kürzlich stimmte der russische Gaskonzern Gazprom einem 30-Jahres-Deal mit Peking zu. +In den Nordprovinzen Chinas leben 140 Millionen Menschen, ihnen stehen am anderen Ufer des Amurs sechs Millionen Russen im dünn besiedelten "Fernen Osten" gegenüber. Um den Bevölkerungsschwund zu bekämpfen, wirbt die russische Regierung seit Jahren gezielt um Zuzügler aus Kasachstan, Armenien und anderen Teilen der ehemaligen Sowjetunion. +Blagoweschtschensk und Heihe werben zwar mit dem Slogan "Zwei Länder – eine Stadt", doch die Beziehungen bleiben angespannt. Manche Bewohner auf der russischen Seite schauen mit Neid und Skepsis nach China. Um an die einstige Überlegenheit zu erinnern, ließ der Kreml am Amurufer den alten Triumphbogen aus der Zeit des Zaren wieder aufbauen. Einige Kilometer weiter steht ein in Bronze gegossener sowjetischer Grenzsoldat. Wie der Wächter eines untergegangenen Reiches. diff --git a/fluter/so-denkt-eine-aktivistin-ueber-den-g20-gipfel.txt b/fluter/so-denkt-eine-aktivistin-ueber-den-g20-gipfel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4842ac3819898edc7dbfaa8a03c38378dda802cf --- /dev/null +++ b/fluter/so-denkt-eine-aktivistin-ueber-den-g20-gipfel.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Vor dem Gipfel erklärte uns Stefanie Polster, wie Haltung.Hamburg Menschen dazu bringen möchte, über das Ereignis nachzudenken -->zum Artikel +Ich habe mit Vielem gerechnet, aber so eine Gewalt ist unglaublich und erschreckend. Das waren für mich keine Aktivisten. Das waren einfach nur Hooligans. +Die Bilder habe ich am Freitagabend im Internet verfolgt, Freunde haben mir Nachrichten geschickt, was in anderen Stadtteilen so los ist. Einen Moment lang habe ich mir Sorgen gemacht, ob ich am Montag in eine völlig demolierte Agentur zurückkehren müsste, aber wir sind im Hinterhof, das ist einigermaßen sicher. Viel mehr haben mich dann die Bilder der Plünderungen erschreckt. Da steigen Menschen in einen kaputten Supermarkt und nehmen sich, was sie wollen. Und es waren längst nicht nur die Vermummten vom Schwarzen Block, sondern zum Teil auch ganz normale junge Leute. Gelegenheit macht Diebe, so sagt man ja. +Es ist unfassbar. Genau wie die vielen Schaulustigen, die sich ins Getümmel gemischt haben. Ich habe mich ernsthaft gefragt, was da eigentlich mit unserer Gesellschaft los ist. +Richtig erschreckend ist, wie sich Andreas Beuth, der Rechtsanwalt der "Roten Flora", dem autonomen Zentrum hier im Schanzenviertel, vor einer Kamera des NDR dazu geäußert hat: Er habe ja Sympathie für solche Aktionen, aber doch bitte nicht im eigenen Viertel. Mit den Leuten, die da randaliert haben, identifiziert sich hoffentlich sonst keiner in Hamburg, auch nicht im Schanzenviertel. Das Schanzenviertel ist für mich zwar ein linker, aber ein offener und toleranter Stadtteil. Die Schanze steht nicht für das, was da am Rande des Gipfels passiert ist. +Es gab auch ermutigende Ereignisse an diesen Tagen, an denen Hamburg so gelitten hat. Ich hatte zum Beispiel das Glück, das "Global Citizen Festival" besuchen zu können. Ein tolles Konzert, bei dem es nicht nur um Musik ging, sondern auch um Politik. Viele Menschen im Publikum haben Schilder hochgehalten, um ein Zeichen zu setzen im Kampf gegen Hunger und Krankheiten oder für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Ich weiß, diese Aktionen werden oft als seichter Pop-Aktivismus verschrien. Aber wer sagt denn, dass man mehr bewirkt, wenn man protestierend mit Bannern durch die Straße zieht? +Der schönste Moment war der Sonntag, als sich viele nach den Ausschreitungen per Facebook zum Aufräumen verabredet haben. Ich habe den Besen und Handschuhe von zu Hause mitgebracht und in der Schanze Scherben weggeräumt, andere haben Graffiti von den Geschäften geschrubbt. 7.000 bis 8.000 Leute haben sich an der Aufräumaktion beteiligt, auch viele Familien mit Kindern. Das ist der Spirit, der für Hamburg steht. Am Rande gab es noch drei, vier Leute, die im Kreis gelaufen sind und "Anticapitalista" gerufen haben. Schon schräg in der Situation, aber das gehört eben zur Schanze dazu. Die Protestierenden mussten sich den einen oder anderen kritischen Kommentar gefallen lassen, wurden aber ansonsten eher belächelt. +Der Bäcker am Schulterblatt hatte am Montag übrigens wieder ganz normal geöffnet – obwohl der Laden keine Fensterscheiben hatte. Das Leben geht also weiter. Ich hoffe, dass Hamburg nicht als brennende Stadt in Erinnerung bleiben wird. + diff --git a/fluter/so-ein-schuften.txt b/fluter/so-ein-schuften.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2549a0613af9975a79ce121b626fee09b2d6ed50 --- /dev/null +++ b/fluter/so-ein-schuften.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation Anti-Slavery International arbeiten in der Elfenbeinküste rund 200.000 Kinder in Kakaoplantagen, bis zu 15 Stunden täglich. Meist ohne Schutzkleidung sprühen sie Pestizide auf die Pflanzen, bezahlt werden sie kaum. Mehr als die Hälfte des Kakaos, der in Deutschland verarbeitet wird, stammt laut Welthungerhilfe aus dem westafrikanischen Land. Zwar unterzeichnete die Regierung der Elfenbeinküste 2001 gemeinsam mit der Schokoladenindustrie ein Abkommen, um illegale Kinderarbeit abzuschaffen – doch bis heute hat sich nicht viel getan: Kinder werden weiter für die Kakaoernte gekidnappt und als Erntehelfer eingesetzt. Wer beim Kauf von Schokolade sicher gehen will, dass er damit keine Kinderarbeit unterstützt, sollte Produkte mit einem Fair-Trade-Logo kaufen. +Im Jahr 2009 wurden in Deutschland 710 Opfer von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung ermittelt. Knapp ein Viertel von ihnen stammt aus Deutschland, je ein Fünftel aus den neuesten EU-Mitgliedsstaaten Rumänien und Bulgarien. Jedes zehnte Opfer gab gegenüber der Polizei an, mit Gewalt zur Prostitution gezwungen worden zu sein, weitere 15 Prozent wurden von angeblichen Künstler- und Modelagenturen angeworben. In der Regel schaffen die Zuhälter ein Abhängigkeitsverhältnis, indem sie den Opfern statt der versprochenen hohen Verdienstmöglichkeiten zunächst die Reise-, Verpflegungs- und Unterbringungskosten in Rechnung stellen. Die Opfer sehen dann meist keinen anderen Ausweg, als den Bedingungen ihrer Zuhälter nachzugeben und sich zu prostituieren. +T-Shirts für 1,99 Euro, Jeans für 7,99 Euro: Viele Textilketten bieten ihre Ware zum Spottpreis an. Bezahlen Kinderarmüssen dafür die Arbeiter in den Sweatshops, die die Kleidung herstellen. Der Journalist Christoph Lütgert hat in der Reportage "Die Kik-Story" aufgedeckt, unter welchen unmenschlichen Bedingungen Näherinnen in Bangladesch Stoffe zu Kleidung verarbeiten – und dafür im Monat gerade einmal 20 bis 35 Euro verdienen. Neun Stunden am Tag, sechs Tage die Woche schuften die Frauen in Fabriken, die wie Gefängnisse anmuten. Überleben können die Arbeiterinnen von ihrem Lohn kaum. Aber dafür sind die Produkte schön billig. +Bei der sogenannten Schuldknechtschaft geraten Menschen in Abhängigkeit zu ihrem Gläubiger, da sie ihre finanziellen Schulden nicht zurückzahlen können. Das Phänomen taucht vor allem in landwirtschaftlich geprägten Gebieten Südasiens auf, wo viele Menschen kaum Besitz haben. Die Schuldner werden meist dazu verpflichtet, ihren Kredit zu den Bedingungen des Gläubigers abzuarbeiten – was meist aber gar nicht möglich ist, da die Zinsen für den Kreditbetrag den Lohn für die Arbeit übersteigen. Obwohl solche Ausbeutungen in der Regel verboten sind, gibt es in Südasien laut der Internationalen Arbeitsorganisation mindestens 9,5 Millionen Menschen, die zur Arbeit gezwungen werden, die meisten davon durch eine Schuldknechtschaft. diff --git a/fluter/so-ein-terror.txt b/fluter/so-ein-terror.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..81dd7eaa3f8b298bc5395d39cc08e7dc4e76ee15 --- /dev/null +++ b/fluter/so-ein-terror.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Qaali Ladan (ganz links) ist schon ein kleiner Star geworden. Zu ihren Auftritten kommen Hunderte – darunter viele Jugendliche, die ebenfalls Künstler werden wollen +Entdeckt wurde Qaali Ladan von "Eastleighwood" oder "E-Wood", einer Initiative, deren Name an die Filmindustrie in Hollywood und nicht zuletzt an Nollywood, das boomende Filmimperium Nigerias, erinnern soll. Mit Filmen, Dokumentationen und Musik will die Organisation, deren Mitglieder Jugendliche mit hauptsächlich somalischen Wurzeln und damit auch Muslime sind, gegen das Misstrauen vorgehen, das der somalischen Minderheit in Kenia seit der Unabhängigkeit 1963 entgegenschlägt – und das sich vor drei Jahren noch einmal verschärfte. Damals marschierte die kenianische Armee ins benachbarte Somalia ein, um dort gegen die islamistische Al-Shabaab-Miliz zu kämpfen. Deren Mitglieder rächen sich bis heute mit Attentaten in Kenia. Ihren Höhepunkt erreichte die Terrorwelle im September 2013, als islamistische Extremisten aus Somalia das Einkaufszentrum Westgate in Nairobi stürmten und nach Tagen der Geiselnahme und mehreren Befreiungsversuchen etwa 70 Tote zu beklagen waren. +Seitdem muss jeder, der für einen Somali gehalten wird – die Männer, wenn sie groß, schlank und etwas hellhäutiger sind, die Frauen im somalischen Hidschab, einer Kombination aus Kopftuch und Schal –, damit rechnen, als potenzieller Terrorist zu gelten. Als Maryan Khalif, 24, Marketingfrau bei E-Wood, kürzlich in einen Kleinbus stieg, um zur Arbeit zu fahren, stiegen alle anderen Fahrgäste aus. Maryan trägt keinen Hidschab, bedeckt aber ihren Kopf mit einem Tuch, was sie als Muslima kenntlich macht. "Wo ich als Selbstmordattentäterin den Sprengstoff hätte verstecken sollen, ist mir ein Rätsel", sagt sie. +Eastleigh ist ein trubeliger Stadtteil im Osten Nairobis, den viele Kenianer nur ungern betreten. Er gilt als Geschäftszentrum der somalischen Diaspora, in dem von Kamelfleisch bis zur Kalaschnikow alles zu haben ist. Nach jedem Regenschauer stehen die ungeteerten Straßen voller Schlaglöcher unter Wasser, der Wind bläst weggeworfene Plastiktüten vor sich her. Die fliegenden Händler versuchen, dem Abfall auszuweichen, und drängen sich auf den Gehsteigen vor Einkaufszentren, die Namen wie "Moga­dishu Mall" oder "Garissa Lodge" tragen. Willkürliche Polizeikontrollen sind hier keine Seltenheit. Im April verhaftete die Polizei im Verlauf einer Razzia, bei der nach Terroristen gesucht wurde, schätzungsweise 4.000 Menschen, die meisten ethnische Somalis aus Eastleigh, darunter auch Frauen und Kinder. Weitere 2.000 Flüchtlinge wurden in die Flüchtlingslager im Norden Kenias gebracht, obwohl ein Gericht dies zuvor für rechtswidrig erklärt hatte. 359 wurden sofort nach Somalia abgeschoben. +In Kenias Hauptstadt Nairobi kommt es in den Stadtteilen, in denen vor allem Menschen mit somalischen Wurzeln wohnen, oft zu willkürlichen Verhaftungen +Das Selbstbewusstein zu stärken und die Angst vor Ausgrenzung zu nehmen,  das ist das Ziel von E-Wood. "Jeder soll die Chance haben, etwas aus seinen Talenten zu machen", betont Burhan Iman, 25, der Gründer und Motor der Initiative, die finanzielle Unterstützung von der US-amerikanischen Behörde für Entwicklungszusammenarbeit USAID bekommt. Die Grafiker, Fotografen oder Videotechniker, die den Jugendliche Kurse geben, arbeiten unentgeltlich. "Es wird keiner kommen und uns Jobs präsentieren", sagt Burhan im mit roter Plastikfolie verkleideten Tonstudio. "Wir müssen irgendwo anfangen." Anfangen, gegen die Angst der Kenianer zu kämpfen, die von der politischen Führung instrumentalisiert wird, um Teile der Gesellschaft zu diskriminieren und zu kriminalisieren. "Je mehr ich diskriminiert werde, umso entschlossener werde ich, etwas dagegen zu tun. Deswegen arbeite ich bei E-Wood", sagt Maryan Khalif. Ohne Ausbildung und Chancen würden junge Leute in Eastleigh nur herumhängen und anfällig für Drogen und Kriminalität werden. "Wir gehören zu dieser Gesellschaft, ob es ihr passt oder nicht." +Einmal im Monat veranstaltet Eastleighwood im Grand Royal Hotel das sogenannte Friedensforum, bei dem junge Künstler wie Qaali Ladan auftreten. "Diese jungen Leute haben Talent", sagt Hussein Ali Noor, 28, ebenfalls Flüchtling aus Somalia, und zeigt auf zwei Rapper auf der Bühne. "E-Wood kann sie für ein bisschen Geld fördern, und dann kriegen sie vielleicht einen Job. Hier zu sein ist doch besser, als draußen auf der Straße kriminell zu werden." Zwischen den Auftritten der Musiker spricht E-Wood-Aktivist Burhan Iman zum Publikum und preist das friedliche Zusammenleben als Weg zu Bildung und Erfolg. "Al-Shabaab ist kein Teil von uns", sagt er. "Ihr müsst euch dagegen wehren, dass euer Name als terroristisch missbraucht wird." +Film ab: Selber einen Film zu drehen, ist für viele der Mitwirkenden bei Eastleighwood das Ziel +Hussein hat acht Jahre lang die Grundschule im Flüchtlingslager besucht, für das gebührenpflichtige Abitur hatte er kein Geld. Jetzt verkauft er als einer der vielen fliegenden Händler gebrauchte Kleidung und schickt jeden Monat seinen Eltern und elf Geschwistern Geld ins Flüchtlingslager. Mit einem weiteren Teil seines Verdienstes muss Hussein die Polizei bestechen, damit sie ihn in Ruhe lässt; sie gilt als die korrupteste Behörde des Landes. "Aber solange du Geld hast, lassen sie dich gehen", sagt er. +Hat Hussein Angst? "Glücklich bin ich nicht", sagt er trocken. "Wenn es Anschläge gibt, kann ich nichts verkaufen und kein Geld an die Familie schicken." Dann dreht er sich wieder zur Bühne um. "Alles, was ich will, ist Ruhe und etwas zu essen." +Die somalische Minderheit in Kenia besteht zum einen aus somalischen Flüchtlingen, die nach dem Sturz des somalischen Diktators Siad Barre Anfang der 1990er aus dem Land vertrieben wurden. Die meisten davon leben im Flüchtlingslager Dadaab im Norden Kenias, dem größten der Welt, andere aber sind in die urbanen Zentren gezogen. Eine ganze Generation Somalis ist in kenianischen Flüchtlingslagern geboren und zur Schule gegangen.  Zum anderen besteht die somalische Minderheit in Kenia aus ethnischen Somalis mit kenianischer Staatsbürgerschaft, also denen aus dem Nordosten Kenias (der an Somalia grenzt), die durch die willkürliche Grenzziehung zwischen Somalia und Kenia eher durch Zufall Kenianer geworden sind. +Anja Bengelstorff lebt seit mehreren Jahren als freie Journalistin in Nairobi, Kenia, und schreibt für deutschsprachige Medien. diff --git a/fluter/so-funktioniert-das-eu-wettbewerbsrecht.txt b/fluter/so-funktioniert-das-eu-wettbewerbsrecht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f720ebbbbb91ea754cdd6ae424e8ce08c06819a6 --- /dev/null +++ b/fluter/so-funktioniert-das-eu-wettbewerbsrecht.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Erklären Sie das EU-Wettbewerbsrecht doch bitte kurz. +Wettbewerbspolitik ist in erster Linie eine juristische Analyse. Jedes Unternehmen muss im Binnenmarkt die gleichen Chancen haben. Und sobald ein Unternehmen in eine Vorteilsposition gebracht wird, muss die Behörde prüfen, ob der faire Wettbewerb davon beeinträchtigt ist. Die erwähnten Konzerne haben eine schlicht erdrückende Marktdominanz erreicht, die mit den europäischen Regeln nicht vereinbar ist. Gerade wenn sie ihr Monopol in einem Bereich nutzen, um auch in anderen Bereichen den Markt zu dominieren, verbietet das EU-Wettbewerbsrecht diese Manöver klar. +Google hatte beispielsweise versucht, Suchergebnisse zwingend mit eigenen Werbeanzeigen zu verknüpfen … +Google darf seine Position nicht ausnutzen, Punkt! Das Wettbewerbsrecht ist eindeutig. Doch dafür braucht es eine Kommissarin, die ihr Mandat ernst nimmt. Da setzt Vestager in Europa einfach Standards für die ganze Welt. Die Herausforderung für die nächste Kommission könntenchinesische Konzernewerden. Ich bin gespannt, wann Europa zum ersten Mal ein chinesisches Unternehmen wegen zu großer Marktmacht in die Schranken weist. + + +Es gibt häufiger die Kritik, das europäische Wettbewerbsrecht stünde "europäischen Champions" im Weg. Zwei Zughersteller aus unterschiedlichen europäischen Ländern, die gemeinsam produzieren: Damit könnte die EU der Konkurrenz aus China oder den USA trotzen, heißt es da. Was halten Sie davon? +Natürlich ist es wichtig, dass auch Europa Weltmarktführer hervorbringt – und unser Wettbewerbsrecht muss genug Flexibilität haben, das zuzulassen. Aber ich glaube, dass das heute schon der Fall ist. Unser Problem ist nicht das Regelwerk, sondern die mangelnde Dynamik mancher Großunternehmen. Google, Facebook und Amazon sind durch ihre ambitionierten Geschäftsmodelle zu natürlichen Monopolisten geworden, nicht durch Fusionen. +Sich mit China und den USA anzulegen ist politisch gesehen womöglich trotzdem einfacher, als sich Feinde in Europa zu machen … +Ganz klar. Die Aktion gegenüber Siemens und Alstom war sehr mutig. Daraufhin hat dann auch der deutsche Wirtschaftsminister gleich gefordert, über die Ausnahmen bei der Zulassung von Fusionen solle doch zukünftig nicht die Kommission entscheiden, sondern der von Deutschland und Frankreich dominierte Rat. Das zeigt ziemlich klar, dass viele denken, dass die Regeln für die anderen gelten, aber nicht für einen selbst. Und da muss die Wettbewerbskommission eine gute Richterin sein. +MussBrüssel häufig als Sündenbockherhalten? +Natürlich versuchen Unternehmen, sich gegenüber ihrer internationalen Konkurrenz Vorteile zu verschaffen. Die Unternehmenskultur in Europa ist weiterhin sehr national geprägt. Und dafür werden dann auch die eigenen Regierungen eingespannt. Regulatorische Unterstützung, Subventionen, Hilfen bei der Marktpositionierung – gerade wenn diese großen Konzerne in finanziellen Schwierigkeiten sind und viele Arbeitsplätze stellen, lassen sich die Regierungen da oft einspannen.Da ist es eben die Aufgabe der EU-Wettbewerbshüter, eben das nicht zuzulassen. Wie ein Schiedsrichter beim Fußball, der dafür sorgt, dass es fair zugeht. Und wer sich nicht an die Regeln hält, wird bestraft. Man merkt auf dem Feld, ob ein Schiedsrichter Autorität hat. Dann verhalten sich die Spieler von Anfang an anders. Das ist bei Frau Vestager der Fall. +Henrik Enderlein ist Präsident und Professor of Political Economy an der Hertie School of Governance in Berlin sowie Direktor des Jacques Delors Institute. Sein großes Interesse: europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik +Wieso ist die EU an dieser Stelle so mächtig und an anderer Stelle so schwach, wenn sich etwa Staaten bei den Steuersätzen gegenseitig unterbieten? +Bei den Steuern sind zusätzliche europäische Regeln nötig. Es ist einfach zu verstehen, warum. Eigentlich folgt die europäische Integration einer ganz klaren Logik: Es gibt einen Binnenmarkt – und der lässt keine offenen oder verdeckten Wettbewerbsvorteile zu. So ist dann auch die Währungsunion entstanden. Um zu vermeiden, dass nationale Regierungen "ihren" Unternehmen durch Währungsabwertungen Vorteile beim Export verschaffen können, wurde der Euro eingeführt. Steuerwettbewerb ist grundsätzlich sinnvoll, aber wenn einzelne Länder nur sehr geringe oder überhaupt keine Unternehmenssteuern mehr eintreiben und die Ansiedlung von Briefkastenfirmen zulassen, dann ist das ein Problem für die gesamte EU. Wir brauchen Mindestsätze, damit es gerecht zugeht. Nun unterliegen Steuerfragen der Einstimmigkeit. Einzelne Länder blockieren den Fortschritt seit Jahrzehnten. Ich hoffe auf eine europäische Steuerharmonisierung, bin aber skeptisch, dass wir sie bald erleben. + diff --git a/fluter/so-funktioniert-eine-linke-protestpartei.txt b/fluter/so-funktioniert-eine-linke-protestpartei.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..20685f1cd2d479aca2e1052bb90be064585ea179 --- /dev/null +++ b/fluter/so-funktioniert-eine-linke-protestpartei.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Was soll uns das zeigen? +Das Dilemma der linken Protestparteien, die in verschiedenen EU-Staaten während der Eurokrise gegründet wurden. Während nur eine von ihnen – Syriza in Griechenland – den Sprung in die Regierung schaffte, die europäische Austeritätspolitik dann aber auch nicht beeinflussen konnte, zeigt sich am Beispiel von Podemos schon im Wahlkampf die Schwierigkeit, alles "ganz anders zu machen". +Wie wird's erzählt? +Als Politthriller, der nicht wirklich einer ist. In einem Countdown zählt der Film die Tage zur Parlamentswahl im Dezember 2015 herunter, als wäre das Ergebnis nicht bereits bekannt. Und als wäre es nicht kurz darauf hinfällig gewesen: Nach erfolglosen Koalitionsverhandlungen musste die Wahl 2016 wiederholt werden. Der Blick auf die Chronologie hat aber auch etwas für sich. Der nachvollziehbare Wandel der Partei unter dem Druck der medialen Öffentlichkeit lässt gut auf das größere Thema des Films schließen: Was bedeutet Demokratie eigentlich heute in Europa? +Stärkster Satz +"Den Himmel nimmt man sich im Sturm, nicht im Konsens." Mit diesem Satz, der sich auf Karl Marx bezieht, bringt der begnadete Rhetoriker Iglesias im Oktober 2014 die Podemos-Basis auf Linie. Fortan ist er Parteichef, Spitzenkandidat, Talkshow-Gesicht. Ein nachhaltiger Dämpfer für den basisdemokratischen Flügel der Partei. +Beste Nebenrolle +Íñigo Errejón. Anfang 30, pragmatischer Kurzhaarschnitt, unmodische Brille mit dicken Gläsern. Nicht der Typ fürs Rampenlicht, aber als Kampagnenmanager und Spindoktor am rasanten Aufstieg von Podemos zur drittstärksten Partei im spanischen Parlament maßgeblich beteiligt. Bekommt im Film deutlich mehr Aufmerksamkeit als in den Nachrichten und tritt mit seinen smarten Strategiereferaten aus dem Schatten von Spitzenkandidat Iglesias. +Ideal für ... +Aktivisten, die von der Straße ins Politbüro wechseln wollen. Alle aus den etablierten Parteien, die nach den Schwachstellen der neuen Konkurrenz suchen. Junge Spanier, die während der Krise nach Berlin ausgewandert sind. + +"Política, manual de instrucciones",Spanien 2016;Regie:Fernando León de Aranoa; 120 Min. diff --git a/fluter/so-helfen-drohnen-leben-zu-retten-und-die-umwelt-zu-schuetzen.txt b/fluter/so-helfen-drohnen-leben-zu-retten-und-die-umwelt-zu-schuetzen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0835f45221e04f2dd11e1191e0c833b19ddfd37d --- /dev/null +++ b/fluter/so-helfen-drohnen-leben-zu-retten-und-die-umwelt-zu-schuetzen.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Al Maktums Plan hat Potenzial, denn die Möglichkeiten dazu sind nahezu endlos. So können Drohnen etwa als Relaisstationen Internetverbindungen herstellen oder mit abgeworfenen Samenkapseln entwaldete Landstriche wieder aufforsten. Dank der kleinen Flugkörper sind Landwirte in der Lage, ihre Felder auf den Quadratmeter genau dort zu düngen, wo gerade Nährstoffe fehlen. Und mit Drohnen lassen sich auch Waldbrände entdecken, Wilderer jagen oder verirrte Wanderer aufspüren. Die Lebensretter von der DLRG überwachen beispielsweise südlich von Hamburg Schwimmer in der Elbe mit einem ferngesteuerten Fluggerät. +Auch bei internationalen Hilfsorganisationen sind Drohnen seit einiger Zeit ein Trendthema, berichtet Yves Daccord, Generaldirektor des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). So surrten schon kurz nach dem Erdbeben im April 2016 in Ecuador die ersten Drohnen durch den Luftraum des Landes. Die kanadische Hilfsorganisation Global Medics hatte sie losgeschickt, um sich einen Überblick zu verschaffen. Die Infrarotkameras der kleinen Helfer erstellen unter anderem Wärmebilder, um Verschüttete aufzuspüren. +In manchen Ländern sind Straßen häufig auch ohne Erdbeben schon unpassierbar. Hier eignen sich Drohnen dazu, Sendungen schnell und sicher selbst in abgelegene Regionen zu transportieren. So versorgen die Vereinten Nationen bei einem Pilotprojekt im westafrikanischen Ghana Frauen auf dem Land mit Verhütungsmitteln. Der Probelauf ist schon jetzt so erfolgreich, dass andere afrikanische Länder wie Simbabwe oder Äthiopien ähnliche Programme starten wollen. Und in Malawi im Süden Afrikas nutzt die UNICEF Drohnen, um die Blutproben von Neugeborenen sehr schnell in Labore zu transportieren, wo sie auf HIV getestet werden. +Einen regelrechten Drohnen-Flughafen plant der ehemalige Afrika-Korrespondent des britischen Magazins "The Economist", Jonathan Ledgard, zurzeit in der ugandischen Hauptstadt Kigali. Bis 2020 will er von hier aus Medikamente, Spritzen oder Verbände in schwer zugängliche Regionen des Landes schaffen. Irgendwann sollen Waren über ein ganzes Netzwerk solcher Drohnenstationen durch das gesamte Land transportiert werden. Die zeltartigen Gebäude dafür hat der Stararchitekt Norman Foster entworfen. +Aber nicht nur bei humanitären Einsätzen können Drohnen beweisen, dass sie mehr können als spionieren, überwachen, töten. So haben Filmemacher aus den Industriestaaten Drohnen inzwischen für spektakuläre Kameraflüge entdeckt. In einem aktuellen Clip der Hamburger Elbphilharmonie stürzen sich zwei Kameradrohnen nach einem rasenden Flug die Fassade des Gebäudes hinab. Und die französische Rockband Phoenix ließ sich für einen Videoclip einsam im Park des Schlosses Versailles filmen – von einer Drohne, die zwischendurch immer wieder in den Himmel steigt und von dort einen atemberaubenden Blick auf die umliegende Parklandschaft bietet. +Dies alles sind Anwendungen, die nur noch wenig zu tun haben mit den Einsatzgebieten,für die das Militär die ferngesteuerten Fluggeräte einst erfunden hat. Weil viele Menschen bei dem Ausdruck "Drohnen" aber immer noch zuerst an unheilbringende Tötungsmaschinen denken, nennen zivile Anwender ihre Geräte oft lieber"Unmanned Aerial Vehicle" (UAV). Die Namensänderung nützt jedoch oft wenig. In Ländern wie Pakistan oder Somalia, berichtet etwa Michiel Hofman von Ärzte ohne Grenzen, liefen die Menschen reflexartig davon, wenn sie das Surren von Hilfsdrohnen hören. Dabei bringen die nicht Tod und Verderben – sondern Medikamente. diff --git a/fluter/so-ist-es-ich-zu-sein-apothekerin.txt b/fluter/so-ist-es-ich-zu-sein-apothekerin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8cb6dee77211f044a73fbd88a33a3f60e784f903 --- /dev/null +++ b/fluter/so-ist-es-ich-zu-sein-apothekerin.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Auchum die Impfung gab es Verwirrung und irrationale Debatten: Eine Kundin beschwerte sich darüber, wegen starker Impfreaktionen im Krankenhaus gelandet zu sein. Nach Prüfung ihrer Dokumente stellte sich aber heraus, dass es nicht die Impfung, sondern eine Covid-Infektion gewesen war, die sie ins Krankenhaus gebracht hatte. Als ich ihr das erklärte, war sie der Ansicht, ihr Impfzertifikat sei nichts mehr wert und hat mich aufgefordert, es zu zerreißen. Ich habe ihr dann gesagt, dass ich das nicht machen werde, da ist sie nur noch lauter geworden und wütend rausgestürmt. In solchen Situationen denkt man dann auch mal: "Oh Gott, wir schaffen das nie aus dieser Pandemie heraus." +Nichts verpassen? Mit unseremNewsletterbekommst du alle zwei Wochen fünf fluter-Highlights +Inzwischen stellen wir wöchentlich mehrere Tausend Impfzertifikate aus und sind einiges gewohnt. Jeden Tag versuchen es vermutlich ein bis zwei Personen mit einer Fälschung. Leider ist es sehr schwierig, die mit bloßem Auge zu erkennen. Ich checke immer den Perso und den Stempel, ob ich den Arzt oder das Impfzentrum kenne, ob im Impfpass schon andere Impfungen drin sind. Im Zweifel greift das Vieraugenprinzip. Aber es ist trotzdem einfach, die Dokumente zu fälschen. Deswegen ist es wichtig, darauf zu achten: Wer steht da vor mir? Wie ist die Person drauf? Ich versuche meistens, ein wenig mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, um einen Eindruck von ihnen zu kriegen. Ein Mann stand mal superaufgeregt vor mir und hat regelrecht gezittert. Als ich dann meinte, dass ich gerne mal beim Arzt anrufen würde, um die Impfung bestätigen zu lassen, meinte er nur: "Ach nee, dann gehe ich woandershin." Oder zwei junge Typen, bei denen man direkt gemerkt hat, dass die einen verarschen wollten, weil sie sich gegenseitig rumgeschubst haben. Als sie gecheckt haben, dass sie bei uns nicht weiterkommen, sind sie mit den Worten "Die nächste Apotheke wird's schon machen" abgezogen. +Rein rechtlich gesehen dürfen wir in solchen Fällen die Impfpässe einbehalten und die Polizei rufen. Aber man überlegt sich schon gut, ob man das macht, denn in erster Linie muss man an seine eigene Sicherheit und die des Teams denken. Wenn Menschen aggressiv werden, lässt man sie lieber ziehen, als sich mit ihnen anzulegen. Ich persönlich habe keine Angst. Aber klar: Bei uns gehen täglich bis zu 1.500 Leute ein und aus, da weiß man nie. Es gibt einige ältere Kollegen, die während der Pandemie aufgehört haben, weil ihnen alles zu viel geworden ist. Manche ältere Kollegen, die noch da sind, geben die Sache mit den Impfzertifikaten inzwischen lieber an jüngere ab. +Wenn wir bei einem Impfnachweis Zweifel haben, zum Beispiel weil ein Stempel oder eine Unterschrift fehlt, müssen wir einfach hart bleiben und höflich sagen: "Nein, ich kann Ihnen das jetzt nicht ausstellen" und erklären, warum. Manche diskutieren dann, aber wenn die Menschen nichts zu verbergen haben, sind sie in der Regel einsichtig und kommen mit einem korrigierten Eintrag wieder. Ich glaube, wir machen da schon einen guten Job – trotzdem will ich gar nicht wissen, wie viele Fälschungen uns schon durch die Lappen gegangen sind. Anfangs war der Druck sehr hoch – wir waren die, die darüber entschieden haben, ob Menschen zum Beispiel in Restaurants dürfen und dort eventuell jemanden anstecken. Inzwischen blende ich das aus. Denn wir sind Apotheker und keine Detektive. Glücklicherweise können wir seit Dezember die Chargennummern auf den Aufklebern im Impfpass überprüfen, indem wir sie auf dem Zertifikatsserver des Robert-Koch-Instituts eingeben. So können wir einschätzen, ob die Nummer zu den in Deutschland verimpften Impfstoffen gehört und ob der Impfzeitraum passt. Das macht vieles einfacher. +Dass Apotheken ständig neue Zuständigkeiten bekommen – daran habe ich mich mittlerweile gewöhnt und empfinde es als positive Herausforderung. Teilweise wird es allerdings schlecht kommuniziert. Da heißt es in den Medien, dass Apotheken ab morgen impfen können, und am nächsten Tag rufen Menschen bei uns an und wollen Termine vereinbaren. Dabei ist bei uns nicht von heute auf morgen alles dafür vorbereitet: Es braucht Schulungen und Räumlichkeiten. Oft fehlt der Realitätscheck von der Politik, aber auch vom Deutschen Apothekerverband, der uns ansonsten gut durch die Pandemie gebracht hat. Aber ich habe richtig Bock aufs Impfen und freue mich, wenn wir damit dazu beitragen können, diese Pandemie zu bekämpfen. + diff --git a/fluter/so-ist-es-ich-zu-sein-arbeitslose-bisexuelle-ua-erzaehlen.txt b/fluter/so-ist-es-ich-zu-sein-arbeitslose-bisexuelle-ua-erzaehlen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..217ac08fcb87cc565fcbc75698ea2bc2f4ed1183 --- /dev/null +++ b/fluter/so-ist-es-ich-zu-sein-arbeitslose-bisexuelle-ua-erzaehlen.txt @@ -0,0 +1,93 @@ + +Pflegekraft aus dem Ausland +Ewa, 59, kam zum Arbeiten aus Polen nach Deutschland. Sie kann von Ausbeutung, psychischer Belastung, Sterbebegleitung erzählen – und warum sie ihren Job trotz allem gerne macht. + +Fußballschiedsrichter +Patrick Ittrich pfeift seit vielen Jahren Bundesligaspiele. Dafür muss man führungsstark, selbstkritisch und entscheidungsschnell sein, sagt er. Und auch den Hass mancher Fans ertragen. + +Umweltlobbyist +Florian Martinez-Buathier, 25, will EU-Abgeordnete von mehr Natur- und Klimaschutz überzeugen. Hier erzählt er, wie er das anstellt. + +Dolmetscherin im EU-Parlament +Xenia Kommer, 49, übersetzt Plenarsitzungen simultan ins Deutsche. Hier erklärt sie, was diese Arbeit alles erfordert. + +Küchenhilfe im EU-Parlament +Bahija Elyacouti, 47, sorgt dafür, dass in Straßburg niemand Durst oder Hunger leidet. + +Lkw-Fahrer +Jörg Schwerdtfeger, 58, ist 17 Jahre mit dem Lkw durch Europa gefahren. Er weiß, wie es ist, wochenlang von seiner Familie getrennt zu sein. Wer will so einen Job heute noch machen? + +Kassiererin im Discounter +Warum geht es bei Discountern immer viel hektischer zu als in anderen Supermärkten? Das kann Saskia beantworten, die sich bewusst für eine Karriere im Einzelhandel entschieden hat. + +Schulabbrecherin +Eva, 30, hat die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen. An ihrer Intelligenz lag es nicht, sagt sie – sondern an Mobbing und mangelnder Unterstützung von Lehrern und Eltern. + +Streetworkerin +Maren, 32, arbeitet seit fünf Jahren in Bamberg mit Jugendlichen. Ein Job, bei dem es auf Vertrauen und das richtige Timing ankommt. + +Abschiebeobachterin +Marie, 30, arbeitet für die Caritas im Flüchtlingsschutz. Am Flughafen Berlin Brandenburg achtet sie darauf, dass Abschiebungen entsprechend den gesetzlichen Vorgaben durchgeführt werden. + +Croupier +Ely Prussin arbeitet schon sein halbes Leben in der Glücksspielindustrie in Las Vegas. + +Schöffe +Markus ist seit 14 Jahren ehrenamtlicher Richter an einem Jugendgericht. An schlechten Tagen belastet ihn das – an guten lernt er, wie man Elektroroller knackt + +Soldatin +Nina ist 23, seit vier Jahren bei der Bundeswehr und für die Wiedereinführung der Wehrpflicht + +Teen Dad +Tim ist mit 17 Vater geworden, und volle Windeln sind jetzt wirklich sein kleinstes Problem + +Bodenpersonal +Andreas arbeitet seit über 15 Jahren im Bodenverkehrsdienst am Flughafen. Als Flugzeugabfertiger belädt er Flieger mit Trolleys, Tieren und Toten + +Bedienung auf dem Oktoberfest +Mirjam, 27, hat sieben Mal auf der Wiesn gearbeitet. Hier erzählt sie, was sie mit kotzenden Gästen macht und wie viel sie an einem Bier verdient + +Erzieher +Paul ist leidenschaftlich gern Erzieher – trotzdem hört er jetzt auf. Woran das liegt, erzählt er hier + +Hochrisikopatientin +Tina wird oft genervt aufgefordert, ihren Mundschutz abzunehmen. Als Organtransplantierte macht sie das wütend + +Profigamer +Marco, 30, ist einer der besten "Age of Empires II"-Spieler der Welt. Hier erzählt er, was er damit verdient und warum nur Zocken nicht reicht + +Apothekerin +Nora, 28, ist gern Apothekerin – auch wenn sie sich täglich mit gefälschten Impfpässen rumschlagen muss + +Multiple Persönlichkeit +Fay teilt sich einen Körper mit mehreren Personen. Sie wurde mit DIS, auch bekannt als multiple Persönlichkeit diagnostiziert. Auf TikTok erzählen sie ihre Geschichten + +Reinigungskraft +Jutta entschied sich vor 35 Jahren für den Job als Reinigungskraft. Das hat sie nie bereut + +Jugendwohnheim +Richtige Eltern hatte Marc eigentlich nie. Dafür waren die Jahre im Jugendwohnheim die besten seines Lebens. + +Hartz-IV-Empfänger +Im Vormittagsfernsehen werden arbeitslose gerne mal als fette, kettenrauchende Schmarotzer dargestellt – wie es wirklich ist, mit Hartz-IV zu leben und mit eben jenen Stereotypen konfrontiert zu werden, erfahrt ihr hier. + +Bisexuell +Mia fühlt sich in ihrer Sexualität wenig ernst genommen – ihre Eltern nennen es eine Phase, von anderen Queeren muss sie sich Sprüche wie "Entscheide dich halt mal!" anhören. + +Lehrerin an einer "Brennpunktschule" +Anja ist Lehrerin in einer sogenannten "Brennpunktschule": Fast alle Schüler haben einen Migrationshintergrund und die Familien der meisten leben von Sozialhilfe. Das heißt aber nicht, dass der Unterricht nicht funktioniert – es bedarf nur bestimmter Strategien. + +Mitarbeiterin im Jugendamt +Wie ist es, als Sozialpädagogin für mehr als 40 Familien zuständig zu sein? Annika erzählt, wie sie mit dieser Verantwortung umgeht. + +Aufgewachsen mit Hartz IV +Wenn sich alles nur noch ums Geld dreht, weil es nie reicht. Wenn die Mutter weint, weil sie einem so wenig bieten kann und der Vater vor lauter Nichtstun todkrank wird. Erinnerung an eine Kindheit mit Hartz IV. + +Pfandflaschensammler +Thomas sammelt Pfandflaschen, viele Stunden am Tag. Warum es ihm dabei um mehr geht, als ein bisschen Geld zu verdienen + +Pfarrerin +Marie lässt sich zur evangelischen Pfarrerin ausbilden. Manchmal zweifelt sie, ob der Beruf mit ihrem Lebensmodell zusammenpasst: Sie lebt in einer offenen Beziehung + +Berufsbetreuer +Klaus Fournell arbeitet seit zehn Jahren als Berufsbetreuer in Freiburg. Mit der endlich beendeten Vormundschaft à la Britney hat das wenig zu tun diff --git a/fluter/so-ist-es-ich-zu-sein-hochrisikopatientin.txt b/fluter/so-ist-es-ich-zu-sein-hochrisikopatientin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0a76e78e02a7671dfd7a87f5f76ce83536661644 --- /dev/null +++ b/fluter/so-ist-es-ich-zu-sein-hochrisikopatientin.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Immunsuppressiva verhindern häufig, dass der Körper ausreichenden Impfschutz aufbaut. Als Corona ausbrach, sagten meine Ärzte, ich dürfe mich unter keinen Umständen anstecken. Das ist seit dem Wegfall der Schutzmaßnahmen sehr schwierig geworden, denn überall, wo ich hingehe, sind Menschen ohne Maske, diemöglicherweise sogar ungeimpft sind. Bei mir auf der Arbeit wurde zum Beispiel gerade eine ungeimpfte Office-Managerin eingestellt. Als es noch Maßnahmen gab, habe ich mich sehr viel sicherer gefühlt. Ich komme jetzt mit Corona in Berührung, ohne dass ich dagegen viel unternehmen könnte. +Immerhin habe ich im Gegensatz zum Anfang der Pandemie jetzt einen Impfschutz und nehme mir mehr Freiräume. Vor kurzem bin ich zum Beispiel das erste Mal wieder Bahn gefahren. Dafür habe ich mir ein Erste-Klasse-Ticket geholt und einen Zug am Abend gebucht, der nicht so ausgelastet war. Außerdem trage ich immer FFP3-Masken. Ich fange auch wieder an, mich mit engen Freunden zu treffen, die sich dafür testen lassen. Als das Virus ausbrach, habe ich mich von einem Tag auf den anderen komplett isoliert. Ich war von März bis November 2020 mit keiner einzigen anderen Person mehr in einem Raum. +Dass ich Teil einer Risikogruppe bin, auf die während der Pandemie besondere Rücksicht genommen werden sollte, hat mir wenig genützt. Ich war mit meinen Problemen quasi unsichtbar. Wenn ich eines gelernt habe, dann, dass man sich als Betroffene um alles selbst kümmern muss. Bei der Impfung zum Beispiel dachte ich, dass ich schnell informiert würde, doch gab es bei den Gesundheitsämtern dafür überhaupt keine Kapazitäten und auch kein Prozedere: Sie hatten keine Information darüber, dass ich zu einer Risikogruppe gehöre. Es gab auch für meine Ärzt*innen keine standardisierte Möglichkeit, die Informationen zur Priorisierung weiterzugeben. Ich habe bei verschiedenen Ämtern mehrerer Bundesländer angerufen – alles ohne Erfolg. Es war für mich ein Kampf, an diesen Impfstoff zu kommen. +Mittlerweile werde ich häufig aufgefordert, meine Maske abzunehmen – mit dem Hinweis, man müsse ja keine mehr tragen. Das nervt mich so sehr. Wir wissen alle, dass wir keine Maske tragen müssen, danke! Ich brauche nicht von irgendeiner fremden Person gemaßregelt zu werden. Häufig habe ich in solchen Situationen das Gefühl, erklären zu müssen, dass ich eine Krankheit habe. Früher habe ich gerne über Organspende geredet, weil ich es wichtig finde, darüber aufzuklären. Aber jemandem ohne Maske berichten zu müssen, dass ich organtransplantiert bin, ist unangenehm. +Richtig wütend aber machen mich Menschen, die ihre Maske unter der Nase tragen. Die Nase ist für mich zum Symbol von Ignoranz und Boshaftigkeit geworden. Am Anfang habe ich viele dieser Menschen noch angesprochen, aber nur Wut abbekommen. +Durch das Ende der Maßnahmen wird suggeriert, dass Corona vorbei sei. Aber das stimmt nicht. Das Virus wird sich im Herbst oder Winter womöglich in einer neuen Variante verbreiten und ist dann vielleicht noch gefährlicher für gefährdete Menschen wie mich. Wenn es so weit ist, wäre es toll, wenn es für Risikogruppen Sicherheitszonen gäbe, eine bestimmte Uhrzeit zum Beispiel, während der wir ohne Angst im Supermarkt oder in der Drogerie einkaufen könnten. Momentan versuche ich, so schnell wie möglich wieder aus Geschäften rauszukommen. +Ich will mein Leben so wenig wie möglich vom Verhalten anderer abhängig machen. Für Risikopatienten heißt es im Moment aber immer nur: verzichten, verzichten, verzichten, während alle anderen alles machen dürfen und damit den Raum einnehmen, den sie eh schon die ganze Zeit hatten. Ich bin trotzdem froh, dass ich überhaupt etwas machen kann. Bei meiner Nierenerkrankung konnte ich das nicht. Es ist einfach mit jedem Tag schlimmer geworden. Bei Corona habe ich praktische Möglichkeiten, mich zu schützen und die nutze ich. + +* Name geändert + diff --git a/fluter/so-ist-es-ich-zu-sein-juengste-abgeordnete-im-eu-parlament.txt b/fluter/so-ist-es-ich-zu-sein-juengste-abgeordnete-im-eu-parlament.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f5a755a432f710c3fdab10700d6096afbb2c3fdc --- /dev/null +++ b/fluter/so-ist-es-ich-zu-sein-juengste-abgeordnete-im-eu-parlament.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Bei den Regeln für weniger Verpackungsmüll lief es wie bei den meisten Gesetzen auf EU-Ebene: Die Europäische Kommission, die so etwas wie die Bundesregierung für die EU ist, hatte einen Vorschlag gemacht. Und wie bei jedem Gesetz, das die Kommission vorschlägt, konnten danach das EU-Parlament und die Mitgliedstaaten miteinander über die konkreten Details verhandeln. +Ich gehörte zu der Gruppe von Abgeordneten, die die Detailverhandlungen für das Parlament geführt haben. Bei so vielen "Mitbestimmer:innen" ist es nicht immer einfach, auf einen Nenner zu kommen, ich muss auch oft Kompromisse eingehen. Als wir nach monatelanger Arbeit am letzten Verhandlungstag um drei Uhr nachts eine Einigung erreicht hatten, war ich erschöpft, aber zufrieden. +Um Entscheidungen zu treffen, muss ich die Perspektiven der Leute kennen, die ich vertreten darf. Deswegen fahre ich immer wieder nach Hause nach Schleswig-Holstein. Außerdem ist mir besonders wichtig, die jüngere Generation im Europäischen Parlament zu repräsentieren. Um diesen Austausch zu fördern und junge Menschen zu ermutigen, sich zu beteiligen, treffe ich mich regelmäßig mit Schulklassen, Auszubildenden, Studierenden und anderen jungen Gruppen. Ich möchte ihnen zeigen, dass Europa auchihrProjekt ist und dass ihre Stimme zählt. +Um wiederum zu verstehen, wie ein kommendes Gesetz in der Praxis funktioniert, treffe ich mich außerdem mitLobbyist:innen, also Interessenvertreter:innen aus der Wirtschaft, der Industrie, Verbrauchern oder Umweltschutzorganisationen. +Zum Thema Verpackungsmüll habe ich rund 5000 Lobby-Terminanfragen bekommen, irgendwann haben meine Mitarbeitenden und ich aufgehört zu zählen. Wen genau ich getroffen habe, kann man auf der Webseite des EU-Parlaments nachlesen. Anders als Abgeordnete im Bundestag muss ich alle meine Lobbytreffen offenlegen, wenn ich an einem neuen Gesetz beteiligt bin. +Dass ich immer wieder auf das Thema Lobbyismus in Brüssel angesprochen werde, geht mir ein wenig auf die Nerven. Grundsätzlich ist es normal, dass es hier viel Lobbyarbeit gibt, wir machen immerhin für 448 Millionen Menschen Politik. Was ich eher problematisch finde ist nicht die Existenz von Lobbyist:innen, sondern das Ungleichgewicht. Es gibt Kräfte, die mehr Geld haben, um ihre Interessen vertreten zu lassen. Das habe ich gerade beim Thema Plastikverpackungen gemerkt. Niemand in Europa – würde ich jetzt mal unterstellen – hat Bock auf zu viel Verpackungsmüll. Dennoch spielte diese Verbraucherperspektive hier weniger eine Rolle, und große Unternehmen waren dafür sehr präsent. Viele von ihnen organisieren sich in großen Verbänden, um dann gemeinsam an Entscheidungsträger:innen heranzutreten, meistens in Form eines schriftlichen Briefings oder eines Anrufs mit einer Terminanfrage. +Um Interessen abzuwägen und Kompromisse zu suchen, habe ich ein Team von fünf Leuten, das mach ich nicht alleine. Außerdem unterstützen mich Referent:innen von meiner Fraktion. Und man kann beim Wissenschaftlichen Dienst des Europäischen Parlaments Studien anfragen. +Weitere Themen, die ich in dieser Legislaturperiode bearbeitet habe, waren: eine Regelung für Textilhändler, unverkaufte Mode nicht einfachwegwerfen zu dürfenund eine zu klareren Angaben auf Honig. Damit man direkt sieht, aus welchem Land genau er kommt, und da nicht wie bisher die ungenaue Bezeichnung "Nicht-EU-Land" steht. +Was mich in den fünf Jahren der Legislaturperiode manchmal genervt hat, aber nicht überrascht, ist die besondere Position als junge Frau. Wenn du als junge Frau, egal wie ausgebildet, qualifiziert und fleißig, in eine Domäne mit überwiegend älteren Männern gehst, musst du dich ganz anders behaupten und wirst oft unterschätzt. Das ist in der Politik genauso, wie wenn man als junger Mensch anderswo seinen Berufseinstieg macht. +Das stört mich, schließlich wurde ich ja genauso gewählt wie ein 70-jähriger Mann. Dieser Mann muss aber niemals darüber reden, ob er schon richtig gearbeitet hat oder wie er bestimmte Dinge als Mann dieses Alters sieht. Ich dagegen muss mich rechtfertigen und ständig meinen beruflichen Hintergrund erklären. +Jetzt kandidiere ich für ein zweites Mandat. Danach würde ich aber ganz gerne etwas anderes machen. 2019 hatte ich kandidiert, um die Perspektive der Generation einzubringen, für die Europa selbstverständlicher geworden ist. Und wenn ich hier 15 Jahre wäre, bringe ich diese Perspektive ja nicht mehr mit. diff --git a/fluter/so-ist-es-kassiererin-zu-sein.txt b/fluter/so-ist-es-kassiererin-zu-sein.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..01d9118f750c06b26f30440a48167e0ed2a5b0ff --- /dev/null +++ b/fluter/so-ist-es-kassiererin-zu-sein.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Die Hauptschichten dauern von sechs bis 14 oder von 13 bis 21 Uhr. Morgens um sechs Uhr räume ich ein, dabei habe ich einen eigenen Bereich, für den ich zuständig bin. Wenn das erledigt ist, wird man flexibel im ganzen Markt eingesetzt und schaut, dass alles immer aufgefüllt und gut präsentiert ist. Nachmittags wird die Filiale "nur" noch instand gehalten, dazu gehört auch Backen und natürlich "Pappe ziehen", also leere Kartons aufräumen. Eine Person macht immer die Hauptkasse und wird nur während ihrer Pause abgelöst. Gerade die älteren KollegInnen machen das lieber, denn das Verräumen ist körperlich schon sehr anstrengend. Ein voller Bananenkarton zum Beispiel wiegt 18 Kilogramm, und davon kriegen wir zehn Stück am Tag. Das merkt man schon im Rücken. Die Arbeit ist nicht ohne – von vier Neuen, die bei uns anfangen, bleibt meist nur einer. +Ich persönlich freue mich, wenn ich nicht die Hauptkasse mache und neben dem Kassieren auch verräume. An der Kasse muss alles so schnell gehen, da hat man kaum Zeit, mit den KundInnen zu sprechen. Dabei ist dieser Kontakt für mich der schönste Teil des Jobs. Als ich zum Beispiel nach anderthalb Jahren Mutterschaftszeit zurück in den Laden kam, sprachen mich plötzlich viele StammkundInnen an und sagten mir, dass sie mich hier vermisst hätten, weil ich immer so gut gelaunt war, oder dass sie gezielt zu mir kämen, wenn sie Hilfe bräuchten. Im Alltag bemerke ich als Verkäuferin manchmal nicht, wie wichtig ich manchen KundInnen bin. Gerade bei den älteren KundInnen finde ich es schön, wenn ich ihnen helfen kann, zum Beispiel, um einen Artikel aus der Werbung zu organisieren – da freuen die sich immer einen Ast. +KundInnen können aber gleichzeitig auch der nervigste Teil des Jobs sein. Ich habe den Eindruck, dass unser Beruf gesellschaftlich sehr wenig Anerkennung bekommt. Man ist immer nur die kleine Kassiererin, die sowieso von nichts eine Ahnung hat, und wird dementsprechend viel von oben herab behandelt. "Hätten Sie mal was Vernünftiges gelernt" musste ich mir schon öfter anhören. Ich versuche dann, trotzdem freundlich zu bleiben, was aber nicht immer hilft – meist werde ich dann noch weniger ernst genommen. Das stört mich schon sehr. +Wenn Artikel ausverkauft sind, was völlig normal ist und gerade während derCorona-Krisehäufiger vorkam, lassen viele Kunden ihren Frust einfach an uns aus. Wir können ja nur das verräumen, was geliefert wurde, und uns entschuldigen, und trotzdem haben wir da Sprüche kassiert wie: "Es tut ihnen leid, aber nicht weh, genau das ist das Problem." So was lasse ich aber nicht an mich heran. +Natürlich gibt es auch Momente, in denen ich an allem zweifle. Zum Beispiel im Dezember, das ist die anstrengendste Zeit im Jahr:Vor den Feiertagenhat man bei der gleichen Arbeitszeit teils doppelt so viel Ware zum Verräumen. Wenn man dann morgens ins Lager kommt, denkt man sich nur: Wie sollen wir das heute noch alles schaffen? Vor Silvester erreicht das seinen Höhepunkt: Dieses Jahr war unser Parkplatz um Punkt sieben Uhr schon rappelvoll, und die Kunden griffen uns Feuerwerksartikel noch beim Auspacken aus dem Wagen. +Trotzdem habe ich mich ganz bewusst für einen Discounter entschieden. Ich mag die schnellere Arbeitsweise und werde auch besser bezahlt als in anderen Supermärkten. Mittlerweile habe ich hier einen fast doppelt so hohen Stundenlohn wie im Supermarkt, bei dem ich während des Studiums gejobbt habe. VerkäuferInnen, die neu einsteigen, haben bei uns einen Stundenlohn von 14,25 Euro, der sich dann über die Jahre bis zu 19 Euro hoch staffelt. Darauf gibt es dann noch verschiedene Zulagen, zum Beispiel bei Spätschichten ab 18.30 Uhr und Nachtschichten ab 20 Uhr. Dafür ist die Arbeit eben auch anstrengender. +Spätestens wenn mein Kind in die Schule geht, möchte ich die stellvertretende Filialleitung übernehmen. Weil ich mehr Verantwortung will und auch ganz einfach mehr Geld verdienen möchte. In dieser Position verdient man nämlich bis zu 26 Euro die Stunde, was schon einen großen Unterschied macht. Allein körperlich könnte es schwierig werden, bis zur Rente durchzuhalten. Ich kenne wenige, die das schaffen. Aber ich würde es mir wünschen – denn insgesamt mache ich meine Arbeit total gerne. + diff --git a/fluter/so-ist-es-mit-hartz-IV-aufzuwachsen.txt b/fluter/so-ist-es-mit-hartz-IV-aufzuwachsen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4733933c124be754a465845575841eb5a798125e --- /dev/null +++ b/fluter/so-ist-es-mit-hartz-IV-aufzuwachsen.txt @@ -0,0 +1,38 @@ +Ich sitze im Münchner Büro meines Chefs und versuche, ihm zu erklären, warum ich meinen Job kündigen will. Neben vielen anderen Gründen sage ich: "Ich würde gerne wieder nach NRW ziehen, um näher bei meiner Mutter zu sein." +"Kann deine Mutter nicht einfach hierherziehen?" +"Nein, das geht nicht. Sie lebt von Hartz IV und kann nicht einfach so umziehen", sprudelt es aus mir heraus. +Peinliches Schweigen. Mein Chef ist sichtbar betreten und wechselt gleich das Thema. +Mittlerweile ist es mir nicht mehr unangenehm zu sagen: Meine Mutter lebt von Hartz IV. Meine Familie hat, als ich noch Teenager war, lange Zeit von Hartz IV gelebt. Ich finde, das sollte kein Stigma sein. +Meine Bekannten sind immer wieder überrascht, wenn sie erfahren, in welchen Verhältnissen ich aufgewachsen bin: Ich habe studiert, bin Vegetarierin, lese gerne klassische Literatur und kaufe hin und wieder in Boutiquen ein. Aber trotzdem weiß ich, wie es ist, von unter 400 Euro im Monat zu leben. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn deine Eltern ihr Leben aufgeben und nur noch vor dem Fernseher hocken, weil es sonst nichts mehr zu tun gibt. Und ich weiß, wie meine Mutter bis heute mit ihrem Dasein kämpft. +In den 1980er-Jahren kamen meine Eltern aus Polen nach Deutschland, um hier ihr Glück zu versuchen. Ihre Studienabschlüsse wurden leider nicht anerkannt, weswegen sie sich mit Jobs wie Putzen, Essen ausliefern oder Zeitungen austragen durchschlugen. Leider ging das letzte Unternehmen, bei dem sie angestellt waren, pleite. Von 2005 an lebten wir von Hartz IV. +Anfang der 1980er kamen Agathas Eltern aus Polen nach Deutschland, heirateten und suchten hier ihr Glück +Damals bedeutete das: Der Staat übernahm die Kaltmiete und die Betriebskosten unserer 65 Quadratmeter großen Wohnung und zahlte einen Regelsatz von 622 Euro für meine beiden Eltern und 276 Euro für mich, damals 17 Jahre alt. Insgesamt hatten wir also als dreiköpfige Familie898 Euro pro Monat. +Von da an gab es keine Restaurantbesuche mehr. Keinen Urlaub. Und neue Klamotten nur, wenn es besonders notwendig war. +Unser Alltag drehte sich vor allem um Geld: Was können wir heute zu essen einkaufen, damit es noch bis zum Ende des Monats reicht? Wocheneinkäufe fielen flach. Wir versuchten, öfter, aber dafür weniger einzukaufen, denn so konnten wir eher auf günstigere Angebote hoffen. Häufig gab es billiges Fleisch vom Discounter und sehr oft Kartoffeln, immer wieder auch Suppen oder Eintöpfe – Dinge, die man günstig in großen Mengen kochen kann. Oft habe ich auch von meinem Geld, das ich als Nachhilfelehrerin nebenbei verdiente, für uns eingekauft. So konnte ich meine Eltern unterstützen oder zumindest mein eigenes Essen finanzieren. +Schulausflüge wurden zum Problem. Ich musste Förderanträge stellen, um an solchen Aktivitäten teilzunehmen. Selbstverständlich wussten dann alle meine Klassenkameraden von meiner Situation, die von unseren Lehrern auch gerne vor versammelter Menge besprochen wurde. +Es wäre natürlich kein Weltuntergang gewesen, wenn man mit seinen Mitschülern nicht Ski fahren gehen kann. Aber Armut zeigt sich auch in sozialer Ausgrenzung und darin, dass die Möglichkeiten, sein Leben frei zu gestalten, nicht mehr gegeben sind. Das wurde mir vor allem dann bewusst, wenn meine Freunde ganz selbstverständlich von ihren Reisen erzählten oder ihren Führerschein machten. + + +Was Agatha in der Schule auch lernen musste: Wenn man sich deutlich weniger leisten kann als die anderen, dann ist man oft außen vor + + +Drei wichtige Fragen zu Hartz IV: +Was ist der Unterschied zwischen Arbeitslosengeld I und Hartz IV? +Welche Kosten übernimmt der Staat? +Was muss man beim Amt alles angeben? +Am stärksten spürte wohl meine Mutter den Druck. Sie versuchte zu sparen, wo es ging, und kaufte niemals etwas für sich selbst. Wenn sie doch einmal ein neues Kleidungsstück brauchte, wartete sie auf passende Angebote beim Discounter oder kaufte secondhand. +Sie managte alle Termine beim Jobcenter, saß stundenlang im Amt und kümmerte sich um Fristen und Formulare. Ich verstand erst später, wie sehr sie darunter litt, mir nicht das finanzieren zu können, was sie sich für mich wünschte. Manchmal sagte sie: Wenn sie gewusst hätte, dass es so kommt, hätte sie keine Kinder bekommen. +Als die Mutter eines Freundes mich nach dem Abi mit in den Urlaub nehmen wollte, weil ich es mir nicht leisten konnte, wie viele meiner Klassenkameraden zu verreisen, schrie meine Mutter mich unter Tränen an: "Glaubst du, es tut mir nicht weh, dass eine andere Frau dich in den Urlaub mitnimmt und ich dir das nicht bieten kann?" +Mein Vater reagierte auf unsere finanzielle Situation, indem er gar nicht mehr reagierte. Immer mehr zog er sich aus unseren Leben zurück. Seine Krankheiten, Diabetes und Arteriosklerose, schritten voran. Essen und Fernsehen waren seine einzigen Beschäftigungen. +Hier waren alle noch guter Dinge. Später sollte Agathas Vater jeden Lebensmut verlieren +Dass er in einem fremden Land eine Familie gegründet und sie ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr alleine versorgen konnte, hat er niemals verarbeitet. Zunächst scheiterte er, weil er mit seinem Ausbildungshintergrund und in seinem Alter von über 50 keine Arbeit mehr fand. Dann scheiterte er zunehmend an seinen Launen und seinem isolierten Dasein. Er starb, als ich 18 war, an den Folgen seiner Krankheit. +Zu diesem Zeitpunkt zog meine Mutter nach Essen, weil sie Aussicht auf einen neuen Job hatte. Ich blieb in Düsseldorf, um dort noch die Schule abzuschließen. Leben sollte ich währenddessen von Schüler-Bafög, das das Amt für Ausbildungsförderung zahlt und in der Regel Schulkinder bekommen, die wie ich nicht bei ihren Eltern wohnen können:  Der damals für mich berechnete Schüler-Bafög-Satz war zwar etwas niedriger als die Hartz-IV-Zahlungen, aber das Amt für Ausbildungsförderung war verständnisvoller als die Agentur für Arbeit. Doch bis mein Antrag auf Schüler-Bafög bewilligt war, musste ich weiterhin von Hartz IV leben. +Agatha mit ihrer Mutter beim Abi-Abschlussball +Plötzlich war ich nicht nur angehende Abiturientin, sondern vollwertige Hartz-IV-Empfängerin – schließlich war ich volljährig, erwerbslos (Schülerin ist nun einmal kein Beruf) und meine Mutter konnte mich finanziell nicht unterstützen. +Sechs Monate lang lebte ich von Hartz IV. Während andere in der Schule Vektoren berechneten oder "Faust" lasen, saß ich in diesen sechs Monaten oft im Jobcenter und diskutierte meinen Antrag. Wegen bestimmter Komplikationen und eines Missverständnisses wurde mir zwei Monate lang lediglich die Wohnung bezahlt, nicht aber der Regelsatz. Mein Leben war zu dieser Zeit sehr simpel: Ich wohnte in einem 20-Quadratmeter-Apartment in der Düsseldorfer Innenstadt, ohne Telefon oder Internet. Bis ich gratis einen Kühlschrank auftreiben konnte, kühlte ich mein Essen auf der Fensterbank. +Das Studium nach dem Abitur und die Aussicht auf finanzielle Sicherung durch Bafög erschienen mir damals wie eine Erlösung. Zum einen war der Bafög-Satz fürs Studium etwas höher. Zum anderen ist es allgemein akzeptiert, wenn jemand sein Studium nicht selbst finanzieren kann. Ich hatte Glück, nur wenige schaffen es, Hartz IV zu überwinden. Ich habe mein literaturwissenschaftliches Studium erfolgreich abgeschlossen und gleich nach dem Studium ein Volontariat in einer Online-Redaktion gemacht. Gerade einmal16 von 1.000 Langzeitarbeitslosen, zu denen ich, ohne jemals arbeitslos gewesen zu sein, statistisch gehörte, finden jeden Monat den Weg in die Berufswelt zurück. + +Meine Mutter hatte weniger Glück. Nachdem sie ein paar Jahre eine Vollzeitstelle in Essen hatte, ging leider auch dieses Unternehmen insolvent. Als sie, damals 57, zur Beratung im Jobcenter erschien, wurde ihr gleich klargemacht, dass sie nicht mehr in eine Vollzeitstelle zu vermitteln sei – von dem Amt, das ihr eigentlich helfen sollte. Damals, vor fünf Jahren, habe ich es meiner Mutter übelgenommen, dass sie nicht wenigstens versucht hat, sich zu bewerben. Heute verstehe ich, dass sie keine Kraft mehr hatte. +Bis heute unterstütze ich meine Mutter, so gut ich kann. Dennoch kann und darf ich ihr nicht das Leben finanzieren, das ich ihr, mittlerweile 62, nach all den Strapazen wünsche. +Selbstverständlich kann man ein halbwegs normales Leben mit Hartz IV führen. Man kann sich Nahrung, Haushaltsgegenstände und Kleidung leisten. Das Überleben ist gesichert. Aber wie soll man sich in die Mitte der Gesellschaft wieder eingliedern können, wenn man einerseits aufgrund der limitierten finanziellen Mittel, andererseits wegen des Sozialschmarotzer-Stigmas niemals vollwertig dazugehört? Hartz IV reproduziert die Armut, die es eigentlich bekämpfen sollte: durch Reglementierung, Perspektivlosigkeit und schlichtweg durch den Stempel, den Empfänger aufgedrückt bekommen. + diff --git a/fluter/so-kanns-kommen.txt b/fluter/so-kanns-kommen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..57db7e5fca683ca268a02f0ce3c072652bffb38b --- /dev/null +++ b/fluter/so-kanns-kommen.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Zusammen mit den Vertretern der anderen Regierungspartei, der FDP, formulierten die Ausschussmitglieder einen Antrag, in dem sich auch zwei Sätze zu diesem Freiwilligenjahr in der Politik finden: "Der geplante Bundesfreiwilligendienst soll analog zum Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) in einer Fülle von Einsatzbereichen möglich sein. Mit dem FSJ Politik greifen bereits einige Bundesländer diesen Gedanken einer größeren Angebotsvielfalt im FSJ auf." In ihrem Wahlkreis im Saarland besuchte Nadine Schön den Verein Lebenshilfe und die Stiftung Hospital, um sich mit dem leitenden Personal und Zivildienstleistenden zu unterhalten. Dabei bekam sie den Eindruck, dass die Zivis oft auch Betätigungen übernehmen, die wichtig sind, für die die anderen Pfleger im Alltagstress aber kaum Zeit haben: Im Seniorenheim lasen sie zum Beispiel den Bewohnern aus Büchern vor oder spielten etwas auf dem Klavier. Von den Zivildienstleistenden hörte sie, dass sie den Dienst oft als sehr bereichernd für das eigene Leben empfanden. Aus diesen Erzählungen entwickelte Nadine Schön mit ihren Parteikollegen den Slogan "Tu was für dein Land – tu was für dich". Jeder Satz im neuen Bundesfreiwilligengesetz sollte sich an dieser Leitidee orientieren. +An einem Montagmorgen Anfang dieses Jahres bekommt Schön in ihrem Abgeordnetenbüro Besuch von dem Sozialarbeiter Matthias Pletsch. Er arbeitet für einen Verein, der Freiwilligendienste im In- und Ausland anbietet. Mit dem Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) oder dem Freiwilligen Sozialen Jahr im politischen Leben (FSJ Politik) organisiert er bereits ähnliche Angebote, die bald als Bundesgesetz eingeführt werden sollen. Schön befragt Pletsch, wo die Freiwilligen überall eingesetzt werden. Und wie schwer es ist, Freiwillige zu finden, wie man an die Plätze kommt. Am Ende des Gesprächs nutzt der Sozial- arbeiter das Treffen auch für sein Anliegen. Er versucht der Abgeordneten zu erklären, warum es für seinen Verein schwer würde, wenn der neue Bundesfreiwilligendienst mit dem bisherigen FSJ konkurrieren würde. Man nennt das Lobbyismus: Ein Interessenvertreter wirkt auf die Politik ein, um ein Gesetz in seinem Sinne zu beeinflussen. Nadine Schön verspricht, seine Befürchtungen zu berücksichtigen. "Ich brauche die Informationen von den Interessenvertretern", sagt sie später. Schon ein paar Tage, nachdem bekannt geworden war, dass es bald keinen Zivildienst mehr geben wird, waren die ersten Briefe von Lobbyisten in ihrem Büro angekommen. Das Rote Kreuz, die Arbeiterwohlfahrt, die Caritas oder die Malteser schrieben ihre Wünsche oder baten um Gesprächstermine. Manchmal wird sie auch auf der Straße von Lobbyisten angesprochen. In Abgeordnetenbüros landen etliche Einladungen zu Lobby-Abenden oder zum gemeinsamen Frühstücken. +Um alle Interessengruppen zu berücksichtigen, darf jede Partei Sachverständige in den Ausschuss einladen. Schöns Fraktion hat unter anderem Vertreter der Malteser und des evangelischen Diakonischen Werks eingeladen, die Grünen den Vorsitzenden des Bundesarbeitskreises Freiwilliges Ökologisches Jahr und die Linkspartei eine Professorin, die Freiwilligendienste kritisch sieht. Nach der Anhörung muss Nadine Schön beurteilen, welche Vorschläge der Lobbyisten dem gesamten Volk dienen und welche nur einzelnen Gruppen. Darüber wird später im Ausschuss diskutiert, jeder kann noch Änderungen vorschlagen. Beschließt der Ausschuss einen Entwurf, kommt das Gesetz zurück in den Bundestag. In der zweiten Lesung debattieren dann alle 621 Abgeordneten im großen Plenarsaal über den Vorschlag. Es werden Reden und Gegenreden gehalten. Die eigentliche Arbeit findet danach wieder im Ausschuss statt: Die Vorschläge aus der Debatte werden in das Gesetz eingearbeitet. Beim Bundesfreiwilligendienst wird es danach noch eine dritte Lesung im Plenum geben. +Wenn im Frühling über das Gesetz abgestimmt wird, ist für Nadine Schön die Arbeit an dem Dekret beendet. Es ist der vierte Gesetzesantrag, an dem sie seit ihrem Einzug in den Bundestag mitgearbeitet hat. Nach der Verabschiedung im Bundestag muss dann noch der Bundesrat zustimmen. Sollte auch die Länderkammer ihr Okay geben, wird das Gesetz noch ein paar hundert Meter weiter geschickt: ins Schloss Bellevue. Hier residiert der Bundespräsident. Erst wenn Christian Wulff das Gesetz unterzeichnet hat, tritt es in Kraft. Sollte der neue Bundesfreiwilligendienst im Juli 2011 pünktlich eingeführt werden, hätten die Politiker von der Idee bis zur Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt genau neun Monate gebraucht. +Wie ein Gesetz entsteht, erklärt auch die Infografik unter: www.bpb.de/gesetzgebung diff --git a/fluter/so-laeuft-eine-klimakonferenz-ab.txt b/fluter/so-laeuft-eine-klimakonferenz-ab.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c5ff8caaad1d875a92c6b9efaef9770b98d91f4d --- /dev/null +++ b/fluter/so-laeuft-eine-klimakonferenz-ab.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Von außen betrachtet sieht eine UN-Klimakonferenz so aus: Für knapp zwei Wochen treffen sich Vertreter der 196 Staaten der UN-Klimarahmenkonvention UNFCCC (United Nations Framework Convention on Climate Change) an wechselnden Orten zur "Konferenz der Vertragsstaaten" COP (Conference of the Parties) – zuletzt im Dezember 2018 bei der COP24 im polnischen Kattowitz. Bei wichtigen Konferenzen wie in Paris versammeln sich knapp 40.000 Teilnehmer (Diplomaten, Industrielobbyisten, Umweltschützer, Wissenschaftler und Journalisten). Das erfordert einen riesigen Organisationsaufwand, allein die COP23 in Bonn 2017 kostete Deutschland, das als Gastgeber für die Fidschi-Inseln eingesprungen war, etwa 117 Millionen Euro. +Für viele Beteiligte hören die Konferenzen praktisch nie auf. In Deutschland sind einige Dutzend Spezialistinnen und Experten in den Ministerien für Umwelt, Entwicklung und Auswärtiges das ganze Jahr über mit dem Thema beschäftigt – um weitere kleinere Konferenzen und die nächsten COPs vorzubereiten. +Die folgen einer ganz eigenen Choreografie: In der ersten Woche bereiten die Fachbeamten die technischen Fragen vor. Zu vielen Themen gibt es einen Wust von Vorschlägen, die für die Minister auf zwei, drei Varianten heruntergebrochen werden müssen, zum Beispiel auf konkrete Zahlen. Dann beginnt die politische Phase, Ministerinnen und Minister treffen ein, mit ihnen die meisten Medien. Die wichtigen Staatengruppen und Staaten – in der Regel die USA, EU, China, Indien, Brasilien, Südafrika, Indonesien, Saudi-Arabien – geben im Plenum ihre Erklärungen ab und bereiten in Hinterzimmern die Deals vor. Dafür haben die Fachbeamten die wichtigsten Probleme auf einige Kernfragen reduziert. Aus mehreren Hundert Seiten Text mit verschiedenen möglichen Versionen muss ein Abschlusstext gemacht werden. Ab Donnerstag der zweiten Woche ist dann "Crunch-Time" – die Konferenz geht in die heiße Phase. Die Zeit wird knapp, Gerüchte kursieren und die Frage: Steht die Konferenz vor dem Scheitern? + + + + +Diese Klimagipfel seien "die Höchststrafe der Natur für die menschlichen Umweltfrevel", meint nur halb ironisch der Klimawissenschaftler und langjährige Leiter des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), Hans Joachim Schellnhuber.Nun wird auch in den Nächten durchverhandelt, traditionell wird mindestens um einen Tag überzogen. In dieser Phase kommt es oft auch zum "Huddle": Die Vertreter der wichtigsten Staatengruppen versammeln sich in einem Knäuel rund um den COP-Präsidenten, der die Konferenz moderiert, und versuchen, in letzter Minute zu Einigungen zu kommen. Dann verkündet ein völlig übermüdeter Konferenzpräsident einen "Durchbruch". Der kann wie in Paris tatsächlich historisch sein. Oder, weitaus häufiger, nur darin bestehen, die ungeklärten Fragen auf nächstes Jahr zu verschieben. +Andererseits werden durchaus auch Fortschritte erzielt: Im Pariser Abkommen haben sich praktisch alle Staaten völkerrechtlich bindend zum Klimaschutz verpflichtet – auch wenn sie dazu niemand zwingen kann, außer ihrer eigenen Bevölkerung. In Kattowitz haben sich die Staaten 2018 auf ein "Regelbuch" geeinigt, das die Klimaschutzpläne der Länder vergleichbar machen soll – um eine Tonne Kohlendioxid (CO₂) in China genauso zu messen wie in Schweden. Auch über Finanzen entscheiden die Konferenzen: Ab 2020 sollen jedes Jahr 100 Milliarden Dollar aus den Industrieländern an die Entwicklungsländer fließen, um Klimaschutz und Ökotechniken voranzubringen. +Die UN-Klimagipfel leiden an vielen Problemen: Entschieden werden kann in der Regel nur mit Einstimmigkeit, dadurch hat praktisch jedes Land ein Veto. Also einigt sich die Konferenz meist auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. So wie in Kopenhagen 2009, wo es statt eines verbindlichen Abkommens aufgrund des Einspruchs vonseiten der USA und Chinas nur eine unverbindliche Erklärung von Zielen gab, die sich jeder selbst setzen kann. Und gibt es konkrete Beschlüsse, dann existieren keine direkten Sanktionsmöglichkeiten bei Verstößen – oder wenn sich, wie 2017 die US-Regierung, eine Nation ganz aus dem Abkommen zurückziehen will. Außerdem geht es bei den Klimakonferenzen nicht nur um Klimapolitik. Indirekt werden noch ganz andere Probleme verhandelt: Die Industrienationen etwa fürchten ökonomische Konkurrenz durch Schwellenländer wie China und Indien – die armen Länder wiederum fühlen sich durch Jahrhunderte des Kolonialismus und ungerechter Weltwirtschaft in ihrer Entwicklung behindert. +Der bislang vielleicht größte Erfolg der Klimagipfel: Sie lenken die Aufmerksamkeit immer wieder auf das Thema Klimawandel und rufen uns die Warnungen der Wissenschaftler ins Gedächtnis. Ihr größtes Versagen: Seit der ersten COP 1995 in Berlin sind die CO₂-Emissionen weltweit nicht etwa gesunken, sondern von 23 auf 37 Milliarden Tonnen gestiegen. Für echten Klimaschutz muss der Ausstoß laut UN-Klimarat zwischen 2010 und 2030 um 45 Prozent sinken, dann (nach Berechnungen des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung) in jedem Jahrzehnt bis 2050 weiter halbiert werden. Bei den kommenden Konferenzen dürfte es also heiß hergehen. + +DasPariser Abkommenlegt verbindliche Regeln für den globalen Klimaschutz fest: Bis 2100 soll die Erderwärmung deutlich unter 2 Grad Celsius gehalten werden, möglichst sogar bei 1,5 Grad. Um das zu schaffen, müsste in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts Schluss sein mit der Verbrennung von Kohle, Öl und Gas, zudem müssten Wälder erhalten bleiben und neu angepflanzt werden. Im Pariser Abkommen verpflichten sich nicht nur die Industrieländer, sondern alle Staaten der Welt zum Klimaschutz. Entwicklungsländern soll geholfen werden, in saubere Techniken zu investieren. + diff --git a/fluter/so-laufen-Koalitionsverhandlungen-ab.txt b/fluter/so-laufen-Koalitionsverhandlungen-ab.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..aca6d3532786399e422db5b8d8ec26f63cefd6d6 --- /dev/null +++ b/fluter/so-laufen-Koalitionsverhandlungen-ab.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +In den Sondierungsgesprächen, die derzeit auch zwischen den Jamaika-Parteien laufen, muss geklärt werden, ob eine Koalition überhaupt machbar wäre. Es ist ein erstes Vorfühlen, ein Kennenlernen und ein Ausloten: Lässt sich eine gemeinsame Zukunftsperspektive entwickeln? +In der Regel lädt dabei die stärkste Partei zum Treffen für die Sondierungsgespräche ein. Das war in diesem Jahr die Union. So breit und so lange wie jetzt bei den Jamaika-Parteien wurde in der Vergangenheit normalerweise aber nicht sondiert. Auch die Verhandlungsteams sind bei den Sondierungsgesprächen diesmal viel größer als sonst. 2005 waren es nur vier Personen: Franz Müntefering und Gerhard Schröder von der SPD, Angela Merkel und Edmund Stoiber von der Union. Jetzt sind es mehr als 50. Darunter Parteivorsitzende, Stellvertreter, Fraktionsvorsitzende und Länderchefs. FDP-Vize Kubicki hat sich bereits beschwert, in so einer großen Gruppe könne man nicht vertraulich miteinander reden. +Erst wenn in den Sondierungen das "Ob" geklärt ist, kann in den Koalitionsverhandlungen über das "Wie" des gemeinsamen Regierens gestritten werden. + +Die Union aus CDU und CSU ist trotz größerer Einbußen als stärkste Partei aus der Wahl hervorgegangen. Die SPD hat eine krachende Niederlage erlebt und möchte mit der Union keine Koalition mehr bilden. Als wahrscheinlichste Option gilt damit "Jamaika": ein Bündnis aus CDU, CSU, FDP und Grünen. Die Farben der Parteien finden sich in der Flagge des Inselstaats Jamaika. Doch von Urlaubsgefühlen könnte die Situation nicht weiter entfernt sein: Bis der Koalitionsvertrag steht, könnte es nach Ansicht von FDP-Vize Wolfgang Kubicki Januar werden – wenn es überhaupt klappt. Noch sondieren die Parteien nämlich und loten aus, ob eine gemeinsame Regierung denkbar ist. Es wäre das erste Mal, dass die Grünen auf Bundesebene mit der CDU, CSU und FDP koalieren – auf Landesebene kam im Saarland nach der Wahl im Jahr 2009 eine solche Koalition zustande, die 2012 scheiterte. Hier prallen zum Teil sehr gegensätzliche politische Weltbilder aufeinander. Das macht die Sondierungsgespräche so kompliziert. +Sowohl CDU und CSU als auch FDP und Grüne haben sogenannte "rote Linien", also Forderungen, von denen sie nicht abweichen wollen. CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer bezeichnete in der "Passauer Neuen Presse" die Vereinbarungen von CDU und CSU zur Begrenzung der Migration als "fixe Grundlage" für die Verhandlungen. Den Grünen wiederum ist der Familiennachzug für Angehörige von Flüchtlingen wichtig. Zudem müsse es "klare Vorfahrt für Klimaschutz" geben und einen proeuropäischen Kurs, erklärte Parteichef Cem Özdemir kurz nach der Wahl. Und FDP-Chef Christian Lindner sagte der "Welt": "Wir wollen eine vernünftige Energiepolitik und lehnen automatische Finanztransfers in Europa ab." +Die Parteien stehen unter Druck: Das Grundgesetz sieht zwar keine Frist für die Bildung einer neuen Bundesregierung vor. Theoretisch könnte die alte also sogar noch bis zur nächsten Wahl geschäftsführend im Amt bleiben. Politisch aber gilt das als sehr unwahrscheinlich, den Wählerwillen derartig zu übergehen. Doch sollten sich die Parteien nicht einigen können, gäbe es möglicherweise Neuwahlen. Kommen sie aber in den zentralen Punkten zusammen, dürften in Kürze Koalitionsverhandlungen beginnen. +Der ganze Prozess ist von großer Bedeutung: "Mindestens zwei Drittel der Dinge, die eine Regierung macht, sind abgeleitet aus dem Koalitionsvertrag", sagt der frühere SPD-Bundesgeschäftsführer Kajo Wasserhövel, der 2005 die Koalitionsverhandlungen mitkoordinierte. +Die Grüne Sylvia Löhrmann, die bereits einige Koalitionsverhandlungen miterlebt hat, vergleicht diese mit einem Fußballspiel. "Bundestrainer Jogi Löw guckt sich auch vorher die Kader der anderen Mannschaften an, wie spielen die, wie reagieren die, wenn das und das passiert. Die Mischung aus Strategie und Taktik ist wichtig", sagte sie der "Süddeutschen Zeitung". Auch bei Koalitionsverhandlungen analysiere man die Programme der anderen und lote aus, wo deren "No-Gos" liegen. Schließlich will man ja so viele Forderungen wie möglich im späteren Koalitionsvertrag unterbringen. +Aus Sicht von Wasserhövel ist die Sache sogar noch um einiges komplizierter als bei einem Fußballspiel. "Man kann es sich auch als ein mehrdimensionales Schachspiel vorstellen", sagt er. Je mehr Parteien an den Verhandlungen beteiligt seien, desto schwieriger werde es. + + +An Koalitionsverhandlungen sind insgesamt oft mehrere hundert Leute beteiligt. Den machtpolitischen Kern aber bildet eine "kleine Runde". 2013 bestand diese aus 15 Personen. Sie ist auch Teil einer "großen Runde" – 2013 mit 77 Personen. Dazu kommen mehrere Arbeitsgruppen, die die Inhalte für den Koalitionsvertrag ausarbeiten. Sie heißen etwa "Arbeit und Soziales", "Energie" oder "Gesundheit und Pflege". Ein kompliziertes Konstrukt. "Deshalb ist es wichtig, dass es noch eine Steuerungsgruppe gibt, die die Verhandlungen organisiert und dafür sorgt, dass der Textprozess hin zum fertigen Koalitionsvertrag professionell läuft", sagt Wasserhövel. "Sonst könnte es schnell chaotisch werden." + +"Wer ein Land gemeinsam regieren will, muss sich aufeinander verlassen können. Die Chemie muss stimmen", sagt Löhrmann. Deshalb müssen die Parteien Vertrauen zueinander aufbauen. Dafür ist auch der Ort der Verhandlungen von Bedeutung. "Psychologisch wichtig ist es, dass man wechselseitig tagt, also sich gegenseitig besucht. Oder dass man einen neutralen Verhandlungsort wählt", sagt Wasserhövel. Derzeit tagen die Jamaika-Unterhändler im Reichspräsidentenpalais gegenüber vom Reichstag – in den Medien sind derzeit viele Bilder zu sehen, die die Spitzen von Grünen, FDP und Union auf dem Balkon des Gebäudes zeigen. "Der Ort ist neutral und klug gewählt", findet Wasserhövel. "Man kann ihn gut erreichen und sich auch in kleineren Gruppen in das angrenzende Bundestagsgebäude zurückziehen, ohne dass es gleich alle mitbekommen." +Oft wird während der Verhandlungen neugierig beäugt, wer sich duzt. FDP-Chef Lindner und Grünen-Chef Özdemir tun das beispielsweise schon lange. Doch diese symbolischen Vertrauensbeweise sind nur dann etwas wert, wenn die Verhandelnden auch fair miteinander umgehen. So gehört es laut Wasserhövel zum guten Ton, dass Konflikte in den anderen Parteien nicht ausgenutzt werden. "Wenn ein Spitzenkandidat einen Durchhänger hat, weil er nach einem Wahlkampfjahr ausgepowert ist, darf das auch nicht gleich an die Presse gegeben werden." +Wichtig sei außerdem, dass unter den Verhandlungsführern klar sei, was bei den anderen "rote Linien" seien und was nur "Taktik und Theaterdonner". Denn "taktische Spielchen", sagt Wasserhövel, "die finden statt, und sie gehören auch dazu." + +Auch wenn es eigentlich erst am Schluss entschieden wird: Wer welchen Ministerposten bekommt, spielt laut Wasserhövel die ganze Zeit im Hinterkopf der Verhandlungsführer eine Rolle. Bereits jetzt während der Jamaika-Sondierungen wurde schon viel spekuliert: Bekommt die FDP das Finanzministerium? Oder doch die CDU? Und wird Cem Özdemir Außenminister? Die Parteispitzen versuchen schon zu Beginn der Koalitionsverhandlungen, ihren Wunschkandidaten für einen Ministerposten an die Spitze der jeweiligen Arbeitsgruppe zu setzen, sagt Wasserhövel. "Aber es dauert, bis Postenwünsche auch ausgesprochen und wirklich verhandelt werden." Wichtig für die Parteien ist es allerdings, bei dem Geschacher um Posten ihre Kernforderungen nicht aus dem Blick zu verlieren. Denn das käme bei der Basis und beim Wähler schlecht an. + +Die Verhandler haben oft bereits einen kräftezehrenden Wahlkampf hinter sich. Sie hatten Stress, Termindruck und bekamen viel zu wenig Schlaf. Eigentlich bräuchten sie dringend Urlaub. Doch der ist für Monate nicht in Sicht – stattdessen wird oft bis spät in den Abend hinein diskutiert. Die Verhandlungen müssen vor- und nachbereitet werden, am Ende sind alle chronisch übermüdet. "Wenn es am Schluss dann noch Nachtsitzungen gibt, dann kommt es darauf an: Wer ist noch am fittesten, wer kommt mit dem wenigsten Schlaf aus?", erklärt Wasserhövel. Kanzlerin Angela Merkel ist darin angeblich ziemlich gut. +Bei den laufenden Jamaika-Sondierungen sollen nun bis zum kommenden Freitag erste konkrete Lösungsvorschläge für zentrale Themen vorgelegt werden.  Die offenen Fragen sollen dabei aber erstmal nur in der kleinen Runde besprochen werden. + +Fotos: Murat Tueremis/laif diff --git a/fluter/so-leben-wir-teil-1.txt b/fluter/so-leben-wir-teil-1.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8b5244b70c4bd828e71694a6197377c8619f8fc9 --- /dev/null +++ b/fluter/so-leben-wir-teil-1.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Meine Freunde wollen natürlich schon wissen, wie das bei uns so läuft. Aber ehrlich gesagt kann ich denen gar nicht viel erzählen, weil es wahrscheinlich nicht anders ist als bei ihnen zu Hause. +Familie ist für mich einfach da, wo Liebe ist, wo es ein Miteinander gibt. Mein Bruder und ich nennen die Frau unserer Mutter Claudia. Unsere kleinen Geschwister nennen sie Mama und Mami. Mama ist unsere Mutter, die nennen wir alle so. Und Claudia ist für meine kleinen Geschwister die Mami, weil sie auch die leibliche Mutter ist. +Ich muss sagen: Ich finde das komisch, dass zwei Frauen nicht richtig heiraten können. Diese ganze Diskussion um die Homo-Ehe ist meiner Meinung nach total unsinnig. Warum sollten die nicht heiraten dürfen? Verstehe ich nicht. +Bei Lesben und Schwulen ist das ja immer das Argument, dass das andere Geschlecht im Haushalt fehlt. Aber es gibt ja auch alleinerziehende Mütter und Väter, und da gibt es dann ebenfalls keine Mutter oder keinen Vater. Und die schaffen das ja auch. +So wie bei uns ist es doch eigentlich viel besser, finde ich. Weil man einen Partner hat. Und weil man nicht alles alleine machen muss. Aber es tut sich mittlerweile ja was bei der Homo-Ehe und beim Adoptionsrecht für Schwule und Lesben. Zwar langsam, aber sicher. +Mama und Claudia sind auf jeden Fall meine Eltern. Ich finde das alles nicht ungewöhnlich. Mein Vater und meine ältere Schwester wohnen in Cottbus, aber wir sehen uns regelmäßig am Wochenende, und Weihnachten verbringen wir eigentlich immer zusammen. Und wir sind natürlich über Facebook und Skype in Kontakt oder telefonieren einfach. +Ich will später gern eine Familie haben. Und einen Mann haben, der da ist. Ich finde es schade, dass mein Vater so weit weg ist. Ich stelle mir das schon so vor, dass meine Kinder später ihren Vater in der Nähe haben. diff --git a/fluter/so-leben-wir-teil-2.txt b/fluter/so-leben-wir-teil-2.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dae989fd08cb62e04e0ef1dd710dbb85b6eb3fdf --- /dev/null +++ b/fluter/so-leben-wir-teil-2.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Meine Mutter hat mir zwar angeboten, sie könne mir deren Namen sagen oder Fotos zeigen, aber ich will das gar nicht. Irgendwie hat sie nichts mit meiner Familie zu tun: Das sind meine Eltern und mein Bruder, der ja auch adoptiert ist, allerdings von anderen Eltern. +Über meinen Vater weiß ich auch nichts, von ihm habe ich noch nicht einmal ein Bild. Warum sie mich nicht wollten, weiß ich nicht, aber ich finde es gut, dass sie mich in eine Familie gegeben haben, von der sie wussten, dass ich dort gut aufgehoben bin. Meine Eltern werden ihre Gründe gehabt haben, weil man ja nicht einfach so sein Kind weggibt. Und deshalb bin ich ihnen eher dankbar, dass sie mich zur Adoption freigegeben und nicht unter irgendwelchen Strapazen aufgezogen haben. diff --git a/fluter/so-leben-wir-teil-3.txt b/fluter/so-leben-wir-teil-3.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..23da9fcb6b66ceb62f572bf04d11d2c9aa81fac3 --- /dev/null +++ b/fluter/so-leben-wir-teil-3.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Irgendwann musste ich mich entscheiden zwischen meinem Glück und dem Unglück der Kinder. So habe ich es zumindest empfunden. Auf der einen Seite war ich total verliebt, auf der anderen Seite wollte ich unsere Familie nicht zerstören. Aber ist es für Kinder schön, in einem Elternhaus aufzuwachsen, in dem sich Vater und Mutter nicht mehr lieben? Die Beziehung war einfach eingeschlafen – vielleicht auch ein bisschen wegen der Kinder. Ständig musste der Alltag organisiert werden, als Paar haben wir uns gar nicht mehr erlebt, haben nichts mehr gemeinsam gemacht. Ich denke, es ist wichtig, dass man trotz Kindern ein Liebespaar bleibt, aber das ist inmitten vollgeschissener Windeln schwierig. Für die Kinder war die Trennung hart, vor allem, weil wir es nicht geschafft haben, unseren Streit vor ihnen zu verbergen. Nun sind sie alt genug, um zu verstehen, dass manche Menschen nicht zusammenpassen. Heute bin ich froh über meine Entscheidung, weil es die richtige war. Allerdings ist mein Leben komplizierter geworden, weil ich auf viel mehr Wünsche und Bedürfnisse Rücksicht nehmen muss. Und in Zukunft wird es noch komplizierter. Wir bekommen nämlich noch ein gemeinsames Kind. Vielleicht wächst das ja mit seinen leiblichen Eltern auf. +Als ich die Kinder meiner Frau zum ersten Mal traf, haben wir so getan, als sei ich nur ein Freund und nicht ihr neuer Mann. So konnten wir uns erst einmal beschnuppern. Ich habe selbst auch noch einen Sohn, der aber schon 16 ist. Mit seiner Mutter war ich eigentlich nie richtig zusammen, es ist eher so passiert. Ich habe zu beiden ein gutes Verhältnis, und meinen Sohn sehe ich auch sehr oft. Neulich waren wir zwei Wochen zum Klettern in Italien – nur wir beide. Auch mit den beiden Jungs meiner neuen Frau versteht er sich ganz gut. Im Grunde ist das Leben jetzt vielseitiger: Manchmal sind wir zu fünft, dann nur zu viert, und alle zwei Wochen haben wir ein kinderfreies Wochenende. Mir gefällt das, so bleibt das Leben spannend. Dass wir jetzt noch ein Kind kriegen, finde ich einerseits schön, weil es ein Produkt der Liebe ist, andererseits habe ich Angst, dass mein Leben zu starr wird. Wir haben uns jedenfalls geschworen, noch ausreichend Zeit miteinander zu verbringen. Genügend potenzielle Babysitter haben wir ja. +Als ich gehört habe, dass sich meine Tochter vom Vater ihrer Kinder trennt, war ich geschockt. Ich mochte den Mann zwar nicht besonders, aber für die Kinder tat es mir leid. Ich komme selbst aus einer Trennungsfamilie und weiß, dass eine Scheidung für Kinder nicht leicht ist. Ich habe dann auf meine Tochter eingeredet, es noch einmal zu versuchen, aber sie war nicht davon abzubringen, mit dem neuen Partner ein neues Leben zu versuchen. Wenn ich jetzt sehe, wie glücklich die beiden sind und wie gut sie zueinanderpassen, denke ich natürlich, dass es richtig war. Und meine Enkelkinder machen jetzt auch nicht den Eindruck, als sei ihnen ein seelischer Schaden zugefügt worden. diff --git a/fluter/so-leben-wir-teil-4.txt b/fluter/so-leben-wir-teil-4.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b8bd26a11b9388a4058364339e56f0212474059c --- /dev/null +++ b/fluter/so-leben-wir-teil-4.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Guillaume hatte sehr eigenartige Gewohnheiten. So tanzte er manchmal im Garten mit Stöcken in den Händen eine Art Angriffstanz gegen Luftfeinde – wobei wir ihn ganz gern tanzen sahen, denn so saß er wenigstens nicht pausenlos vor seinem Computer. Als ihn meine Freunde in der Schule ansprachen, sagte er, sie sollten ihn nicht nerven. +Ich meine: Ein bisschen eigenartig zu sein ist ja nichts Schlechtes. Ein bisschen eigen möchte, glaube ich, jeder sein. Doch wenn einer zu eigen ist, zu anders, dann grenzt er sich dadurch aus. +Irgendwann entschlossen wir uns, für Guillaume klare Regeln einzuführen. So durfte er nur noch zwei Stunden pro Tag an seinen Computer, die restliche Zeit bewachte meine Mutter den Laptop. Das lief die ersten Tage sogar recht gut, bis wir einen wütenden Anruf aus Frankreich bekamen. Nun reichte es uns endgültig, und wir benachrichtigten die Austauschorganisation. Es wurde uns geraten, den Austausch, der meiner Meinung nach nie stattgefunden hatte, weil wir uns nie ausgetauscht hatten, zu beenden und uns einen neuen Gastschüler zu suchen. +Doch vorher fuhren wir noch zusammen auf eine Klassenfahrt – auf eine Insel. Dort schockte uns Guillaume damit, dass er am Strand irgendwelche Muscheln sammelte und sie dann roh verschlang. Als er mitbekam, dass sich manche Mitschüler in den Nächten rausschlichen und heimlich trafen, meldete er das einem Lehrer. Einer meiner Freunde bekam daraufhin riesigen Ärger mit seinen Eltern. Dass Guillaume der Verräter war, kam erst viel später heraus. Da war er bereits wieder in Frankreich. Zum Glück für ihn, aber auch für uns. diff --git a/fluter/so-oder-so.txt b/fluter/so-oder-so.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0e919870537d0eda67d69031c7f92696f471bc4e --- /dev/null +++ b/fluter/so-oder-so.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Nie zuvor gab es auf der Erde so viele Übergewichtige. In Deutschland fällt bereits jeder zweite Erwachsene in diese Kategorie. Jeder vierte Deutsche über 15 Jahren galt im Jahr 2013 sogar als fettleibig. Um die Jahrtausendwende war es noch jeder fünfte gewesen. +An der Universitätsklinik Charité in Berlin erforscht der Kinderarzt und Wissenschaftler Peter Kühnen den Zusammenhang zwischen Genen und Gewicht. Gleich zu Beginn des Gesprächs stellt er klar: "Die Frage ist ungelöst." Ein paar Dinge habe man aber verstanden, und dafür bedanken dürfe man sich – wie so oft – bei den Zwillingsforschern: Eineiige Zwillinge seien nämlich meist nicht nur auf den Zentimeter gleich groß, sondern hätten auch ein sehr ähnliches Körpergewicht. Und zwar unabhängig davon, ob sie zusammen aufwachsen oder nicht. "Wenn zum Beispiel der eine Zwilling in den USA lebt und der andere in Deutschland, sind sich die beiden vom Gewicht her ähnlicher als den Familien, in denen sie leben", sagt Kühnen. +1994 machten amerikanische Forscher eine entscheidende Entdeckung an sehr, sehr dicken Mäusen. Man vermutete zwar seit Jahren, dass die armen Tiere aufgrund eines genetischen Defekts derart fettleibig waren. Aber erst dem Team um den New Yorker Mediziner Jeffrey Friedman gelang es, nachzuweisen, dass es ein Gen gibt, das die Produktion eines Hormons steuert, welches Mäuse vor Fettleibigkeit schützt. Dieses Hormon tauften sie Leptin (nach Griechisch: leptos = dünn). Spritzte man den Mäusen Leptin, wurden sie ganz schlank. Die anfängliche Euphorie, man könne mit dem Hormon alle fettleibigen Menschen behandeln, wurde zwar gedämpft (es funktionierte nicht). +Etwas sehr Wichtiges hat man durch das Experiment jedoch verstanden: Im Kopf sitzt ein Sättigungszentrum. Dieses ist essenziell für das Körpergewicht, weil es uns auf dem Laufenden hält: "Hallo, ich habe Hunger! Bitte Nahrung!" oder "Danke, das waren genug Fischstäbchen!" +Viele Forscher gehen davon aus, dass unser Körper quasi mitzählt, wie viele Kalorien er haben will und wie viele er bekommt. Und es scheint, als zähle er sehr streng: "Unser Körper weiß ganz genau, welches individuelle Gewicht er anstrebt", sagt Peter Kühnen. In der Wissenschaft nennt man diese Annahme "Set-Point-Theorie". Sie würde unter anderem erklären, warum nach Diäten der berüchtigte Jo-Jo-Effekt einsetzt, warum unser Gewicht relativ stabil ist, obwohl wir nicht jeden Tag gleich viel essen, und auch, warum die einen etwas fülliger sind als die anderen. +Bei manchen Menschen ist das Sättigungszentrum regelrecht gestört. Wenn zum Beispiel ein zuständiges Hormon fehlt oder eine Genmutation vorliegt, haben die Betroffenen immer Hunger. Egal, wie viel sie auch essen – sie werden niemals satt. An der Charité wurden im Juli erstmals zwei Patientinnen mit POMC-Mangel (ein Vorläufer des Botenstoffes MSH, der das Sättigungszentrum des Gehirns gezielt aktivieren kann) erfolgreich mit einem Medikament behandelt, das die Wirkung des Hormons ersetzen soll. Mühelos nahm die eine Patientin innerhalb von 12 Wochen 20,5 Kilogramm ab, die andere in 42 Wochen 51 Kilo. +Sosehr die Forscher der Erfolg auch freut, das Problem der Fettleibigkeit wird er nicht lösen. "Eine Mutation im Sättigungszentrum ist extrem selten", sagt Peter Kühnen. Ob man auch "normalen" Fettleibigen mit einer solchen Therapie helfen kann, wird man wohl erst in ferner Zukunft wissen. Entsprechende Studien kosten nicht nur viel, sie sind auch schwierig zu erstellen. "Dass immer mehr Menschen und vor allem auch schon Kinder übergewichtig sind, kann man durch Genmutationen jedenfalls nicht erklären", so Kühnen. "Genetisch gesehen", sagt der Wissenschaftler, "liegen wir in unserer Evolution noch viele Jahre zurück." Man könne sich das so vorstellen, als wären wir noch auf Zeiten der Nahrungsknappheit eingestellt: "Wenn nur ein Mal im Monat ein Mammut vorbeikommt, dann ist es gut, wenn man Energie speichert, anstatt sie schnell zu verwerten." +Ein Überlebensvorteil, der in vielen Ländern mittlerweile überflüssig ist – irgendein Supermarkt hat ja immer offen. Das Problem ist, vereinfacht gesagt: Die Gene vieler Menschen wissen das noch nicht. "Das führt dazu, dass wir unterschiedlich eingestellt sind, wie wir mit Nahrung umgehen", sagt Kühnen. Also ob wir zum Beispiel besonders auf Süßes stehen und ob ein Stück Kuchen sofort in Hüftgold umgewandelt wird oder nicht. +"Insgesamt erklären unsere bisher gefundenen Genvarianten aber nur 30 Prozent der Variabilität des Körpergewichtes", sagt Kühnen. Und was ist mit dem Rest? "Zwischen diesen 30 und den genannten 70 Prozent liegt die ‚Missing Heritability'", so der Forscher, "neudeutsch für ‚Erklärungslücke in der Vererbung'." +Momentan arbeiten zig Wissenschaftler daran, diese Lücke mit Experimenten unter Laborbedingungen zu schließen. Einer von ihnen ist Johannes Beckers. Am Institut für Experimentelle Genetik des Helmholtz-Zentrums in München forscht er mit Mäusen, die durch Fehlernährung fett werden und eine Diabetes entwickeln. Der Nachwuchs dieser Mäuse wird bei Fehlernährung noch schneller dick und erkrankt noch stärker an Diabetes. Der Trick bei den Experimenten von Beckers: Die Mäusekinder werden im Reagenzglas gezeugt und von gesunden Leihmüttern ausgetragen. Das heißt, dass die Neigung der Kinder, noch dicker zu werden als ihre Eltern, über die Keimzellen – also Ei und Spermium – vererbt wird. +Faktoren wie das Verhalten der Eltern oder Einflüsse der Mutter während der Schwangerschaft können die Forscher so ausschließen. "Dass Eltern die Folgen ihrer Ernährungsweise epigenetisch an ihre Kinder weitergeben, könnte ein Grund dafür sein, warum Übergewicht und Diabetes in den letzten Jahrzehnten so stark zunehmen", sagt Beckers. +Ein einzelner, konkreter Grund, warum jemand übergewichtig ist, lässt sich laut Susanna Wiegand fast nie benennen. Die Berliner Ärztin leitet die Adipositas-Ambulanz des Sozialpädiatrischen Zentrums an der Charité. Dort versucht man, auf alle äußeren Faktoren zu achten, die mit der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu tun haben. "Man kann nie genau sagen, zu wie viel Prozent das Übergewicht eines einzelnen Menschen jetzt an seinen Genen liegt, an dem Beruf seiner Eltern, Stress in der Schule oder einem Migrationshintergrund", sagt Wiegand. +Es sind viele Puzzleteile, die dick machen. Tanja Behrmann weiß mittlerweile, welche es bei ihr sind. "Schuld" will sie dafür niemandem geben, auch nicht einer möglichen genetischen Veranlagung, die ein Blick auf ihren Stammbaum suggerieren könnte. "Für solche ‚Ausreden' wird man von der Gesellschaft nur schief angeschaut", lacht die 27-Jährige, und schnell wird klar: Das passiert auch so schon oft genug. +In ihren dicksten Zeiten wog Behrmann 135 Kilo, in ihren dünnsten 86. Heute liegt ihr Gewicht irgendwo dazwischen. "Als ich drei war, kam meine kleine Schwester zur Welt. Weil sie sehr krank war, musste sie alle zwei Stunden essen", sagt Behrmann, "und dann aß ich halt mit." Die Berlinerin war ein molliges, aber glückliches Kind. +In der Grundschule fing dann aber das Mobbing an, und Essen wurde zum Trost. Dann kam die Unterstufe und die Jungs, die sich immer nur für die schlanken Freundinnen interessierten. Essen wurde zum Freund. Behrmann entwickelte früh eine Esssucht, wurde körperlich krank, verlor ihren Job. "Weight Watchers, Low Carb, FdH, Fasten, Kuraufenthalte", sagt sie, "ich hab eigentlich schon alles durch." +Erst durch eine Psychotherapie hat Behrmann gelernt, sich vor sich selbst zu "outen": "Ich habe mir nicht eingestanden, dass ich ein Problem mit dem Essen habe", sagt sie. Durch eine Selbsthilfegruppe hat sie gelernt, davon zu erzählen. Und durch Freunde, Jazzdance und Hip-Hop, dass im Leben auch noch andere Sachen zählen als ein möglichst niedriger Body- Mass-Index. +Stichwort Nutrigenetik: +Dass der eine nach zwei Bier vom Barhocker kippt, während der andere auch nach zwölf noch sitzt, kann viele Gründe haben. Körpergewicht, Tagesverfassung, langjähriges Training – alles schon gehört. Seit Kurzem gehen Wissenschaftler davon aus, dass auch unsere Gene beeinflussen, wer wie viel verträgt. Und zwar nicht nur was Alkohol betrifft, sondern auch Kaffee, Salz oder Fett. Glaubt man aktuellen Studien, dann gehen unsere Körper mit Nahrung höchst unterschiedlich um: Während für den einen eine Tüte Pommes täglich kein Problem darstellt, kann sie für den anderen sozusagen der direkte Weg zum Herzinfarkt sein. Genmutationen, die sich über Jahrhunderte entwickelt haben, können auch erklären, warum viele Mitteleuropäer Kuhmilch trinken können, ohne Blähungen zu bekommen – und viele Südostasiaten nicht. Dieses neue Forschungsgebiet zwischen Veranlagung und Nahrungsverwertung trägt den Namen Nutrigenetik. Die Hoffnungen, die darauf liegen, sind groß: Wertet man alle relevanten Gen-Variationen eines Menschen aus, wäre es möglich, einen individuellen Ernährungsplan zu erstellen. Einen, der abseits pauschaler Weisheiten tatsächlich Schlaganfällen vorbeugt, Bluthochdruck verhindert oder einfach die paar Kilo zu viel. Einige Firmen bieten solche Auswertungen bereits an – besonders seriös sind sie aber nicht. Solange man nämlich nicht das gesamte Genom eines Menschen sequenziert, haben die Ergebnisse kaum Aussagekraft. Findet man etwa an einer Stelle Varianten, die eine Art Fettfreifahrtschein bedeuten, liegen womöglich an 20 anderen Orten Varianten, die für das genaue Gegenteil sprechen. Eine voreilige Ernährungsempfehlung wäre in so einem Fall, nun ja, ziemlich heavy. +Titelbild: Alessandra Sanguinetti/Magnum Photos/Agentur Focus diff --git a/fluter/so-schon-mal-gar-nicht.txt b/fluter/so-schon-mal-gar-nicht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0d78783d88e02195109a171c3f0339c95bcebc24 --- /dev/null +++ b/fluter/so-schon-mal-gar-nicht.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Wanke handelte. In einem Horrorfilm wäre er derjenige, der für den Kampf gegen die Zombies eine Truppe aus Gleichgesinnten zusammentrommelt. Sie alle eint ein Stolz, ein Bürgersinn und vor allem eine Heimatliebe, die grimmiger und entschiedener ist als die ihrer politischen Gegner. Die können nur nisten, wo das Gemeinwesen fault. Und deshalb gab es im "Haus der Demokratie" einen Proberaum für Schülerbands, eine informelle Jobbörse und Ausstellungen zur Geschichte von Zossen. Gelernt hat Wanke das nicht, für Politik hat er sich "eigentlich nie" interessiert. Hauptberuflich makelt er Versicherungen. Klar habe er gewusst, wie's aussieht im Landkreis mit den "Kameradschaften", den "Freien Kräften" und anderen Erscheinungsformen des Problems. Gekümmert hat ihn das kaum. Immerhin bekommt die NPD in Zossen keinen Fuß in die Rathaustür, also sei's drum. Dabei regiert hier nicht einmal die Linke oder die SPD, sondern – wie in vielen Kommunen im Osten – eine "freie" Bürgermeisterin, die Kandidatin aus dem Lager kleiner und mittelständischer Unternehmer. Der geht es darum, Zossen aus den Schlagzeilen herauszuhalten und – etwa durch eine Senkung der Gewerbesteuer auf das erlaubte Minimum – Investoren zu locken. Sie ist eine Art Geschäftsführerin des Gemeinwesens. +Zossen liegt 20 Kilometer südlich der Stadtgrenze von Berlin. Gerade jenseits des sogenannten Speckgürtels in Reichweite der S-Bahn, wo metropolenmüde Familien sich gerne niederlassen. Wer von der Autobahn kommt, der muss ein ganzes Weilchen durch die brandenburgische Ödnis zockeln. Damit Jugendliche bei der Heimfahrt von der Disko nicht mehr so oft gegen die Bäume fahren, säumen Leitplanken die Alleen. In den Mulden auf den Stoppelfeldern stehen gefrorene Pfützen, auf denen junge Familien Schlittschuh laufen. Idyll oder toter Winkel? Vielleicht beides, ein idyllischer toter Winkel. Knapp 17.000 Menschen leben hier. Die Infrastruktur ist ein Trauerspiel, sogar die Internetanbindung ein Witz. Aber hübsch ist es hier. Ein Ortskern wie aus einer betulichen Vorabendserie, wo die Welt noch heil ist. Bäcker, Rathaus, Apotheke, Buchladen und die Redaktionsräume des Lokalblatts stehen einträchtig beieinander. Neuerdings gibt es dort auch die "World of Döner", betrieben von dem aus Berlin zugezogenen Türken Erol Cacan. Seit das "Haus der Demokratie" abgebrannt ist, trifft sich "Zossen zeigt Gesicht" in seinem Lokal. Er sagt, in 20 Jahren habe er in der Hauptstadt nicht so viele Anfeindungen erlebt wie in zwölf Monaten in Zossen. Cacan schüttelt entschlossen den Kopf. Er ist jetzt hier zu Hause, und er wird bleiben. Es gibt genug kräftige Charaktere hier, die Zossen an seinem eigenen Schopf vom Abgrund wegziehen können. +Anders und wesentlich düsterer sieht es in Anklam aus, oben in Mecklenburg-Vorpommern. Das "Tor zur Sonneninsel Usedom" ist noch entlegener, noch kleiner als Zossen. Brachen, auf denen wie Zahnstummel eingestürztes Mauerwerk verrottet. Plattenbauten mit auch schon wieder abblätternder Nachwendeschminke säumen die Einfallstraßen. Wie beleuchtete Aquarien stehen da ein Autohaus, eine Tankstelle. Eine quadratische Zuckerfabrik im Dunst auf der grünen Wiese. Und die üblichen großspurigen Großmarktklötze, die wie überall als kommerzielle Todessterne ihren gewaltigen Schatten auf das Zentrum einer Gemeinde werfen. Dort blühen dann nur noch Sonnen-, Nagel- oder Tattoostudios. Und besonders unheimliche Nachtschattengewächse wie das New Dawn, ein Geschäft für Nazi-Bedarf. Hier gibt es T-Shirts mit martialischem "Vorpommern"-Aufdruck, rechtsextreme Presse und Tonträger von Gruppen wie Nordsturm, Tonstörung, Kahlschlag, Skrewdriver oder Spreegeschwader. Anklam zeigt Antlitz, sozusagen. Drinnen geht es genauso zu wie in jeder anderen Provinzboutique auch. Der Kunde muss sich gedulden, bis die Verkäuferin fertig telefoniert hat, wird dann aber routiniert beraten. Alles wirkt so banal und alltäglich, als besuche man ein paralleles Universum, in dem sich das singuläre Grauen des "Dritten Reichs" nie ereignet hat. +Dabei sind auch dem New Dawn schon die Scheiben eingeworfen worden, von Antifaschisten. Hier tobt der gleiche Kampf wie in Zossen, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Anklam gilt den Rechten als "nationaler Leuchtturm". Der Konfliktforscher Dierk Borstel hat hier für sein verdienstvolles Buch "Braun gehört zu bunt dazu!" recherchiert und sich deshalb eine Zweitwohnung im Ort genommen. Die Begründung liest sich, als wage sich da ein Völkerkundler in den Dschungel von Borneo: "Ich verspreche mir davon eine deutlichere Nähe zur Alltagskultur und Kontakte, die ich als Reisender sonst nicht bekommen hätte." Auch in Anklam sind die demokratischen Parteien mehrheitlich zu komischen Klüngelklubs verkümmert, die Arbeitslosenquote dümpelt auf bedenklichem Niveau. Die NPD kommt mancherorts auf satte 30 Prozent. "Die kümmern sich eben um die Leute, und den Leuten gefällt das", sagt Annett Freier. Zusammen mit ihrer Kollegin Tina Rath betreibt sie den Demokratieladen in Anklam, der zugleich Sitz des Vereins Demokratisches Ostvorpommern ist. +Die beiden Frauen und ihre Mitstreiter wollen die Demokratie, die hier längst auf den Kampfhund gekommen ist, wieder "erlebbar" machen. Sie organisieren Jugendbürgerversammlungen, Freiluftkonzerte und Vernissagen. Plant die NPD ein Kinderfest, steuern Freier und Rath mit einer eigenen Veranstaltung dagegen. Das Zauberwort heißt "Vernetzung", damit greifen sie die Nazis auf deren eigenem Terrain an. Das geschieht, anders als in Zossen, mit Bundesgeldern – ist aber dennoch alles andere als leicht in einer Stadt, deren parteiloser Bürgermeister den Bürgern allen Ernstes rät, bei NPD-Demonstrationen zu Hause zu bleiben und die Fenster zu schließen. "Es ist nicht damit getan, für ein Konzert gegen Rechtsextreme tolle Bands nach Anklam einzuladen, die hier ihr Statement ablassen und danach wieder wegfahren", erklärt Annett Freier ihren Ansatz: "Es geht darum, jungen Bands aus der Gegend eine Auftrittsmöglichkeit zu verschaffen – und so den Leuten das Gefühl zu geben, dass sie selbst etwas auf die Beine gestellt haben. Das kann nicht von außen kommen." +Klar wird auch mal ein Joachim Gauck eingeladen oder die Akademie der Künste aus Berlin, aber die eigentliche Arbeit setzt vor Ort an – in den trostlosen Weilern rund um die Stadt. In Wietstock oder Tollensetal etwa haben Freier und Rath eine kommunale Zeitung aus der Taufe gehoben, sie veranstalten Graffiti-Projekte oder Informationsveranstaltungen zum Thema: Kommunalpolitik, was ist das eigentlich? Gerade Jugendlichen soll gezeigt werden, dass die Welt größer ist als Vorpommern, dass auch Polen nette Menschen sind und die Welt noch anderes zu bieten hat als Hass mit SS, Aufmärsche und Benzin in Plastikflaschen. "Wenn die Leute älter werden, Arbeit haben und eine Familie gründen", sagt Freier, "wächst sich das meistens aus, dann ist es mit dem Extremismus vorbei." Die Teilnahmslosigkeit allerdings bleibt. Hier ein Bewusstsein für bürgerliches Gemeinwohl zu schaffen, das hält Freier für einen "langen Prozess". Man könnte es auch eine Sisyphosarbeit nennen, die nur mit viel Idealismus und Vertrauen auf die Vernunft in Angriff zu nehmen ist. Schön, dass es Menschen gibt, die sich das antun. diff --git a/fluter/so-schreibst-du-einen-wikipedia-artikel.txt b/fluter/so-schreibst-du-einen-wikipedia-artikel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e58d4ebbfd769646186cccb69cab39970559e5ab --- /dev/null +++ b/fluter/so-schreibst-du-einen-wikipedia-artikel.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Bevor du deine Ärmel hochkrempelst und dich an die Arbeit machst, frag dich: Ist dein Spezialthema, über das du schreiben willst, für die Wikipedia ausreichend relevant? Um Enttäuschung vorzubeugen, dass dein Artikel direkt wieder gelöscht wird, nachdem du ihn verfasst hast:Mach den von Wikipedia angebotenen Relevanzcheck. +Du recherchierst nach Quellen, um dein Spezialwissen in deinem geplanten Artikel ausreichend zu belegen. Denn: Ohne Belege kein Artikel. Deine Quellen sollten nicht aus der Wikipedia selbst stammen. Je weniger Quellen du später zitieren kannst, desto angreifbarer ist dein Artikel. +Wenn du unsicher bist, wie du den Artikel aufbauen sollst: Such dir einen bereits existierenden Artikel auf Wikipedia heraus, der deinem geplanten Artikel ähnelt. Kommen wichtige Personen oder Themen in deinem Artikel vor, über die es bereits Artikel auf Wikipedia gibt, dann verlinke sie in deinem Artikel. Veröffentliche deinen Artikel. +Tipp: DieserGuideführt dich von der Anmeldung bis zum ersten eigenen Artikel. +Das, was du hinzugefügt hast, können jetzt andere auf der ganzen Welt lesen. Am Anfang erscheint dein Artikel möglicherweise noch mit dem kleinen Hinweis "Nicht gesichtet". Erfahrenere Editor*innen können deinen Artikel sichten. Damit geben sie deinem Artikel Glaubwürdigkeit. +Andere können deinen Artikel nicht nur lesen. Editor*innen können auch anpassen und Anmerkungen machen, ergänzen oder einen Löschantrag stellen. ("Der Eintrag ist nicht relevant", bemerkt ein Editor. Was jetzt? Option 1: Andere Editor*innen kommen zu Hilfe, und der Artikel bleibt bestehen. Option 2: Du und andere Editor*innen rechtfertigen, warum der Artikel hier relevant ist. Der Artikel bleibt.) Die Versionsgeschichte eines Wikipedia-Artikels verrät dir, wer deinen Artikel weiterbearbeitet hat. + +Alleine schreibt niemand gern. Unterstützung von und für Editorinnen gibt's beimWikiWomenNetzwerk, beiWomenEdit, einer Berliner Frauengruppe, die sich regelmäßig zum Editieren trifft, oder beiArt+FeminismundWho writes history?, die Edit-a-thons (kollektive Schreibsessions) initiieren. +Du weißt nicht, wo du anfangen sollst?Frauen in Rotlistet alle Frauen, die in der deutschsprachigen Wikipedia noch fehlen. + + diff --git a/fluter/so-sollen-demokratien-erneuert-werden.txt b/fluter/so-sollen-demokratien-erneuert-werden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2206864a9188d9c65d90d79037ce1e54b97abdd1 --- /dev/null +++ b/fluter/so-sollen-demokratien-erneuert-werden.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Die einen argumentieren, dass etwa die Mehrheitsentscheidung der Briten, die EU zu verlassen, und die Wahl Donald Trumps auf die Ignoranz der Wähler zurückzuführen sind. Daher sei die Lösung: weniger Mitbestimmung. Ein viel diskutiertes Beispiel für eine solche Forderung ist die Idee der Epistokratie, die aktuell von dem Philosophen Jason Brennan vorgestellt wird. Brennan fordert, dass es nur Wählern mit einem Mindestmaß an politischer Bildung erlaubt sein soll, an demokratischen Beteiligungsprozessen teilzunehmen. Nur so würden die objektiv "besten" Entscheidungen getroffen und infolgedessen auch die Politik ihre Legitimität zurückgewinnen. +Ganz anders stehen das einige Wissenschaftler, die den Vertrauensverlust genau umgekehrt begründen: nämlich mit mangelnder Beteiligung. Die führen sie darauf zurück, dass die klassischen Instrumente wie Wahlen, Repräsentation und Parteimitgliedschaften nicht mehr ausreichend seien – und fordern daher neue Formate demokratischer Mitbestimmung.Sophie Pornschlegelvom Progressiven Zentrum etwa fordert deshalb ein "Systemupdate" der Demokratie. Es müssten ergänzende Instrumente und Denkmuster entwickelt werden, die "die Werte der Demokratie stärken und den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen sind: der Digitalisierung, der Migration, einer globalisierten Welt". +Wir stellen euch hier vier verschiedene demokratische Innovationen vor, die nach Auffassung ihrer Initiatoren dazu beitragen könnten, die Demokratie in turbulenten Zeiten zu stärken. + +Ziemlich provokant klingt der Vorschlag des Historikers David Van Reybrouck, Wahlen als Auswahlprozess für politische Repräsentanten größtenteils durch ein Losverfahren zu ersetzen. Das Ergebnis könnten Parlamente sein, die zur einen Hälfte aus gewählten fachkundigen Politikern und zur anderen aus zufällig ausgelosten Bürgern bestehen. Befürworter argumentieren, dass so eine Fokussierung auf Wahlkämpfe durchbrochen werden könne. Wahlen und parteipolitisches Engagement seien außerdem nicht das fairste Mittel, um politische Repräsentanten zu bestimmen. Denn durch die Arbeit oder Kindererziehung komme mancher kaum dazu, sich umfassend zu informieren oder einzubringen. Außerdem, so die Argumentation, verlangten viele Parteien, dass die Kandidaten einen Teil der Wahlkampfkosten selbst übernehmen. Das führe dazu, dass in den Parlamenten nicht alle Teile der Bevölkerung gleich repräsentiert seien. +Auch nach Ansicht der Politikwissenschaftler Claus Leggewie und Patrizia Nanz braucht Politik eine größere Perspektivenvielfalt – um das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen und bessere Entscheidungen zu treffen. Auch die Erfahrungen von Alleinerziehenden, ALG-II-Empfängern und Menschen mit Migrationshintergrund müssten einbezogen werden. +Van Reybrouck kann einige erfolgreiche Beispiele für Bürgerbeteiligung per Los anführen. Als etwa nach der belgischen Wahl 2010 lange keine Regierung zustande kam, berief eine Bürgerinitiative, an der Van Reybrouck selbst beteiligt war, auf diese Weise einen Bürgerkongress ein. Flamen und Wallonen aus den beiden zerstrittenen Landesteilen diskutierten dort über die drei wichtigsten Themen, die durch eine Online-Abstimmung ermittelt worden waren. In ähnlichen Formaten sind in Kanada, den Niederlanden, Island und Irland bereits wichtige politische Entscheidungen herbeigeführt worden. +Eine häufige Kritik an bestehenden Formen der demokratischen Entscheidungsfindung ist auch, dass durch sie Geld ausgegeben werde für Maßnahmen, die den Bürgern gar nicht wirklich wichtig sind. Umfragen zufolge wünschen sie sich mehr Geld in den Bereichen Bildung, Familie oder digitale Infrastruktur – bisher wird in diese nur ein verhältnismäßig geringer Anteil öffentlicher Gelder investiert. Deshalb gibt es die Forderung nach Bürgerhaushalten: Bürger sollen selbst und direkt entscheiden, wohin Geld fließt. Das, so die Argumentation der Befürworter, würde die Transparenz bei der Vergabe von Steuergeldern radikal erhöhen, und die Betroffenen selbst könnten Prioritäten setzen. Gerade für ökonomisch und sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen, die in höherem Maße auf staatliche Zuwendungen angewiesen sind, würde das die politische Teilhabe deutlich erhöhen. +Die Idee des Bürgerhaushalts wurde 1989 von der brasilianischen Arbeiterpartei für die Kommunalpolitik Porto Alegres entwickelt – als Maßnahme gegen Korruption. In der brasilianischen Stadt konnten so Hunderte Projekte durchgeführt werden, die der Verbesserung der Bildung und der gesundheitlichen Versorgung dienen. Seit der Einführung der Bürgerhaushalte gibt die Stadt mehr Geld für die Allgemeinheit aus, in der Verwaltung wiederum wird immer mehr Geld eingespart. Es wird geschätzt, dass 2014 weltweit bis zu 2.700 Kommunen unterschiedliche Formen des Bürgerhaushalts verwendeten. +Ein viel diskutierter Vorschlag ist das Modell Liquid Democracy, das die klassische Form demokratischer Repräsentation radikal infrage stellt. Anstatt bis zur nächsten Wahl die Entscheidungen über Gesetze an Parteiabgeordnete zu übergeben, sieht es eine "Verflüssigung" demokratischer Repräsentation vor: Bei jeder Abstimmung entscheiden die Bürger erneut, ob sie selbst abstimmen wollen oder das ihrem Repräsentanten überlassen. Es soll nicht nur öfter abgestimmt werden, sondern Bürger sollen auch an den Gesetzestexten direkt mitschreiben können. So würde die Spaltung in Regierende und Regierte sowie die Trennung zwischen repräsentativ-demokratischen und direktdemokratischen Entscheidungen aufgehoben. Noch ist man von einer Umsetzung aber weit entfernt: Selbst in Estland, wo man schon online wählen kann und viele staatliche Services digital abrufbar sind, ist Liquid Democracy bis jetzt noch kein Thema. +Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot kritisiert, dass nicht das von den Bürgern gewählte Europäische Parlament am meisten Macht in der EU hat, sondern der Europäische Rat, in dem die Regierungschefs der Mitgliedstaaten zusammenkommen. Die Regierungschefs würden vor allem nationale Interessen vertreten – und weniger die gemeinsamen europäischen Anliegen. Guérot fordert deswegen einen Umbau der EU zu einer Europäischen Republik, eine Ablösung der Nationalstaaten durchein Europa der Regionen. So würde die Vormachtstellung großer Nationalstaaten wie Deutschland und Frankreich zugunsten vieler fast gleich großer transnationaler Regionen aufgebrochen. +Guérots Ziel: Der Wirtschafts- und Währungsunion soll eine Bürgerunion zur Seite gestellt werden, in der alle EU-Bürger eine gemeinsame EU-Regierung wählen können. Die EU-Bürger müssten sich dann über nationale Grenzen hinweg über ihre Ziele verständigen. Auf diese Weise sollen eine europäische Öffentlichkeit und ein demokratisches "Wir-Gefühl" jenseits nationaler Grenzen entstehen. + +Mehr zum Thema Demokratie gibt'sauf bpb.de + +Illustrationen: Raúl Soria diff --git a/fluter/so-versuchen-iraker-den-krieg-zu-vergessen.txt b/fluter/so-versuchen-iraker-den-krieg-zu-vergessen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3a5cdae538863276adaaa744222c77185f853698 --- /dev/null +++ b/fluter/so-versuchen-iraker-den-krieg-zu-vergessen.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Eugenio Grossos Bilder vom nun wiedereröffneten Hamam zeigen den Triumph über den IS: Zivilisten und Soldaten, die hier Seite an Seite baden, die sich ein kleines bisschen Normalität, Ablenkung und Genuss zurückerobert haben. +Die Folgen des Terrors lassen sich jedoch nicht einfach so abwaschen. Die Region ist zudem immer noch sehr arm, die Auffanglager für die aus Mossul flüchtenden Menschen sind heillos überfüllt und die Perspektiven für Jugendliche mehr als trist. Um ein paar Euro zu verdienen, tauchen und graben etwa Kinder am Flussbett des Tigris den ganzen Tag nach Schlamm, den sie in Flaschen füllen und dann vor dem Heilbad verkaufen: für die nächste Schlammpackung im Hamam. +Dieses Hinweisschild informiert: Von Hauterkrankungen über schmerzende Muskeln bis zu psychischen Leiden kann man im Hammam fast alles behandeln lassen diff --git a/fluter/so-viel-ist-mal-sicher.txt b/fluter/so-viel-ist-mal-sicher.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/so-viele-stars.txt b/fluter/so-viele-stars.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f34226ed8a56f5c8de0f36bfc82e3b17f8ace958 --- /dev/null +++ b/fluter/so-viele-stars.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Dabei sollte die Durchsetzungsfähigkeit der AU eigentlich schon vor knapp elf Jahren wachsen. Damals wurde auf Initiative des mittlerweile getöteten libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi die zahnlose OAU in die AU umgewandelt. Während in der OAU das Prinzip der Nichteinmischung in nationale Angelegenheiten noch höchste Priorität hatte, darf die AU im Falle von Kriegsverbrechen, Völkermorden und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in einem Mitgliedsstaat intervenieren – unter anderem eine Reaktion auf den Völkermord in Ruanda, dem 1994 Schätzungen zufolge 800.000 Menschen zum Opfer fielen, während das übrige Afrika und die Welt tatenlos zusahen. +Mittlerweile greift die AU mit der Friedenstruppe AMISOM im gescheiterten Mitgliedsstaat Somalia ein. Soldaten aus Burundi, Uganda und Kenia riskieren dort ihr Leben, nachdem amerikanische Soldaten und UN-Truppen Somalia aufgegeben und sich zurückgezogen hatten. Doch noch immer – wie jetzt in Mali – ist die AU bei Kriegen auf dem Kontinent auf Unterstützung von außen angewiesen. Deshalb wollte al-Gaddafi die "Vereinigten Staaten von Afrika" mit einer gemeinsamen Armee, einer einheitlichen Währung, einer starken zentralen Führung und afrikanischen Lösungen für afrikanische Probleme schaffen. Der Libyer steckte viel Geld in diese Vision – allerdings mit mäßigem Erfolg. +Der Einfluss der AU auf ihre 54 Mitgliedsstaaten (alle Länder des Kontinents bis auf Marokko, das 1984 wegen des Konfliktes um die von Marokko besetzte Westsahara aus der OAU austrat) ist in den letzten Jahren zwar gewachsen, doch im Vergleich zum Status der EU ist er immer noch sehr gering. Viele afrikanische Staats- und Regierungschefs sind nach wie vor nicht gewillt, nationale Kompetenzen an den Staatenbund abzugeben. Der einzige echte nichtmilitärische Sanktionsmechanismus der AU ist bislang die Suspendierung eines Mitgliedsstaates nach einem Putsch. So darf momentan beispielsweise die Zentralafrikanische Republik nicht an den AU-Treffen teilnehmen, nachdem dort im März eine Rebellengruppe den Staatschef stürzte. +Trotz der lobenden Worte seiner Amtskollegin für die Institutionen der EU will Barroso nicht von der EU als Vorbild für die AU sprechen. "Das Wort Vorbild suggeriert, dass es nur einen Weg gibt", sagte der EU-Politiker. Doch die Unterschiede zwischen dem europäischen und dem afrikanischen Integrationsprozess seien zu groß, als dass die AU das EU-Modell einfach abkupfern könne. Während in Europa zunächst wirtschaftliche Interessen im Vordergrund standen, ging es den Gründern der OAU anfangs vor allem um die Befreiung von der Kolonialherrschaft. Zudem hat die AU fast doppelt so viele Mitglieder wie der europäische Staatenbund: Während der europäische Prozess mit sechs Mitgliedsstaaten begann, wurde die OAU von 30 Staaten gegründet und hatte schnell über 50 Mitgliedsstaaten mit sehr unterschiedlichen politischen Kulturen und sich teilweise widersprechenden politischen Interessen. +Unter anderem deshalb attestiert Dr. Solomon Ayele Dersso vom panafrikanischen Thinktank "Institute for Security Studies" in Addis Abeba der EU nur eine eingeschränkte Vorbildfunktion. "Die Mitgliedschaft in der EU muss man sich verdienen. Dazu muss man gewisse sozioökonomische, politische und kulturelle Standards erfüllen. Die Mitgliedschaft in der AU erhält man automatisch, man muss keine Mindeststandards einhalten." +Trotz aller Unterschiede glaubt Barroso, dass die EU der ganzen Welt und der AU als "Quelle der Inspiration" dienen kann. "Nach der schrecklichen Erfahrung von zwei Weltkriegen und der Schoah haben wir den Prozess der europäischen Integration begonnen, der zu Frieden und Demokratie geführt hat", sagt der europäische Kommissionspräsident. Während es seit der Gründung der OAU vor 50 Jahren innerhalb und zwischen den Mitgliedsstaaten immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen kam, sei Krieg in der EU undenkbar. +Im Unterschied zur EU verfügt die AU mit dem Friedens- und Sicherheitsrat zwar über ein zentrales Organ, das Frieden auf dem Kontinent herstellen oder sichern soll, doch nicht immer gelingt dies. In der somalischen Hauptstadt Mogadischu kam es trotz der Präsenz der AU-Friedenstruppe immer wieder zu schweren Anschlägen mit vielen Toten. Auf den Komoren hingegen gelang es 2008 einer AU-Truppe, den Präsidenten zur Aufgabe zu zwingen, der bei den Wahlen gegen die Verfassung verstoßen hatte. Möglicherweise verhinderte die AU so einen Bürgerkrieg auf dem Inselstaat im Indischen Ozean. +Doch nicht nur der Friedens- und Sicherheitsrat, auch die anderen Institutionen der AU sind oft noch nicht in der Lage, die vielen Beschlüsse zur Einhaltung der Menschenrechte, zur Bekämpfung der Armut und zur verstärkten wirtschaftlichen und politischen Integration effektiv umzusetzen. Oft fehlt das Geld, die Expertise, das Personal oder der politische Wille. +Deutschland unterstützt die AU durch die staatliche Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in den Bereichen Frieden und Sicherheit, gute Regierungsführung und Menschenrechte, Infrastruktur sowie beim Aufbau der Panafrikanischen Universität. "Die Institutionen der AU-Gründungsakte existieren teils noch nicht, teils benötigen sie noch Konkretisierung, um die Handlungsfähigkeit der AU zu erhöhen", sagt Dr. Mechthild Rünger, Leiterin des GIZ-Verbindungsbüros zur Unterstützung der AU in Addis Abeba. +Barroso bezeichnet die AU gerne als "Schwesterorganisation". Und auch die ältere EU könne sich von der jüngeren Schwester AU noch etwas abschauen. Der EU-Politiker: "Was Kreativität und Energie betrifft, können wir sehr viel von Afrika lernen." diff --git a/fluter/so-was-von-da-rezension.txt b/fluter/so-was-von-da-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..66d29af906efe5d8d8ce971e2c5af3b44c5f6109 --- /dev/null +++ b/fluter/so-was-von-da-rezension.txt @@ -0,0 +1,17 @@ + +Was ist das Besondere an diesem Film? +Mit seinem Produktionsteam eröffnete Jakob Lass kurzerhand einen Club im Hamburger Industriegebiet, in dem an vier Abenden Bands und DJs auftraten. Über die Webseite konnten sich Feierwütige als Gäste bewerben. Und mittendrin: die Kameras und die Schauspielenden, nüchtern und konzentriert auf die Geschichte, quasi "so was von da". Lass wollte erproben, ob ein Roman zu einem Film werden kann, ohne dass es dafür Worttreue braucht. +Wie wird's erzählt? +Einzig aus der Perspektive des Protagonisten. Weil ein chaotischer Partyraum in einem teils improvisierten Film allein nicht unbedingt für einen rauschenden Erzählfluss taugt, gibt es immer wieder Auslassungen und Sprünge. Zu dem unzusammenhängenden Gefühl einer langen Nacht passt das gut. Spätestens wenn dann Bela B als gealterter Rocker auftaucht, wird aber sehr deutlich klar, dass Lass trotz aller Offenheit eben auch eine Geschichte inszenieren will. Sein Film soll kultig sein, emotional und politisch, selbst Fragen zur Stadtentwicklung dürfen sich einschleichen. Verbunden werden soll alles durch Oskars Stimme, die sich aufdringlich über das Geschehen legt und auf den Punkt bringen will, was nicht auf den Punkt zu bringen ist: die großen Fragen, die Gefühle, die Superlative. Die Selbstinszenierung Hanekamps aus der Buchvorlage trifft auf den Stilwillen von Jakob Lass, der den Roman als Stoff für seine Idee vom Kino nutzt. +Gemeinsam rauben sie dem Filmpublikum die Bewegungsfreiheit, die sowohl einer Partynacht als auch dem improvisierten Arbeiten eigentlich zu eigen ist. Der Regisseur nutzt die Energie der feiernden Menge, hat aber keinen Film gemacht, der sich wirklich für Kontrollverlust interessiert. Am Ende sind alle Statisten, und die Vieldeutigkeiten wurden weggetanzt. + +Was Lust auf mehr macht +Der Regisseur feiert die absurden Momente, die eine Nacht magisch machen. Die Wasserschlacht auf der Clubtoilette. Die eingesperrte Mutter, die herumschreit und die keiner so recht rauslassen will. Vor allem nicht ihr Sohn. Da wird Spielfreude besonders sichtbar, in den Szenen dürfen die Schauspielenden und ihre Figuren verschwimmen. + +Was hätte sein können +Für Hanekamps Roman gab es einen Trailer. Und der schaut sich gut weg. Vielleicht sogar besser als der Film – der fast zu überdreht ist. Er ist selbstbezogen, aber dabei zu schnell, um aufdringlich zu werden, auf unnötige Details fixiert und überlastet von Gedanken, für die es nicht genug Raum gibt. Also eigentlich wie im richtigen Leben. + +Ideal für … +… alle, die von College-Partyfilmen angeödet sind und denen "Spring Breakers" zu pessimistisch ist. "So was von da" ist hip, macht Spaß und tut niemandem weh, weigert sich aber, die Intelligenz des Publikums herauszufordern. + +"So was von da", Deutschland 2018; Regie: Jakob Lass; 100 Minuten diff --git a/fluter/so-weit-kommts-noch.txt b/fluter/so-weit-kommts-noch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f9928f1320e5bac817174adc96f3263662402709 --- /dev/null +++ b/fluter/so-weit-kommts-noch.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +das Raumfahrtprogramm schien in den 60er-Jahren eine kulinarische Revolution einzuläuten. Die NASA-Astronauten ernährten sich von Proteingels, Vitaminwürfeln und Flüssignahrung aus der Aluminiumtube. Und genau wie abschwellende Nasentropfen, so mutmaßte man, werde auch das Astronautenfutter den Weg aus dem All in den Alltag finden, Magazine träumten bereits von Kantinen, in denen Angestellte nur noch kleine Pillen mit der Aufschrift "Hühnerfrikassee" oder "Pfannkuchensuppe" zu sich nehmen. Längst gibt es Vitaminwasser, Aminosäuren-Shakes und Nahrungsergänzungsmittel, und doch scheint der Mensch seine grundsätzliche Aversion gegen unnatürliche Nahrungsaufnahme ohne Kauen-Schmecken-Schlucken nicht ablegen zu können. Beim US-Militär wollten sie trotzdem mit dehydrierten Mahlzeiten wie dem Meals Ready to Eat (MRE) und Compressed Meat (CM) sicherstellen, dass Soldaten im Schlachtgetümmel keine Mittagspause einlegen. Die US-Army entwickelt sogar ein Pflaster, das Soldaten drei Tage lang vor dem Hungern schützen sollen. Guten Appetit. +ausgerechnet im berüchtigten Jahr 1984 schrieb der Science-Fiction-Autor William Gibson in seinem Roman "Neuromancer" erstmals vom Cyberspace, einer "konsensuellen Halluzination, die jeden Tag von Milliarden von legitimen Akteuren erlebt wird". Die Men-sschen betreten in dem Roman über Hightechschnittstellen eine grenzenlose Stadt aus Licht und Daten, in der sie den Großteil ihrer Zeit verbringen. Spätestens seitdem geht uns der Gedanke des Second Life im Computer nicht mehr aus dem Kopf, wir fantasieren über ein Leben jenseits von Alltag, Schwerkraft und dem eigenen Körper, fürchten uns gleichzeitig vor einer metastasierenden Kunstwelt, die den echten Planeten schluckt. Im Jahr 2005 sorgte das clever vermarktete Onlinespiel "Second Life" für kurze Zeit für großes Aufsehen und schaffte es sogar zum "Spiegel"-Titel. Mehrere Millionen Menschen waren in der virtuellen Welt aktiv, bauten Fantasiehäuser, entwarfen neue, bessere Identitäten und gingen in virtuelle Diskotheken, Bordelle oder in den – schnell aufgestellten – Nike-Flagshipstore. Wenige Jahre später war "Second Life" eine digitale Geisterstadt. Der Traum vom Cyberspace als verpixelte Parallelgesellschaft wird einer bleiben. +der große Erfolg von James Camerons "Avatar" ist ein enormer Rückschlag für die Vision von der Mondfarm. Zeigt der Blockbuster doch, wie Menschen im 22. Jahrhundert ein fremdes Himmelsgestirn besiedeln, um dort Rohstoffe abzubauen, und dabei das Ökosystem und die eingeborenen Blauhäute bekriegen. In den 50er-Jahren galten planetarische Pioniere nicht als Bösewichter, sondern als Helden. Der Raketenpionier und V2-Erfinder Wernher von Braun hatte ein Konzept für eine Mondbasisin der Schublade (3 Raumschiffe, 50 Mann). Arthur C. Clarke, der Autor der "2001 – Odyssee im Weltall", schrieb in dem Buch "The exploration of space" schon 1951 von Städten und Farmen auf Mond und Mars, in denen unter einer gigantischen Glaskuppel Bäume wachsen und Autos herumfahren. In der Realität aber hatte seit den 70ern kein Mann mehr den Mond betreten, sogenannte Biosphären-Projekte scheiterten kläglich an Lagerkoller und Schimmelpilz. +wenn sich zwei Menschen verlieben oder sich begehren, dann spricht man gerne davon, dass "es gefunkt hat" und dass "die Chemie stimmt". Die großen Gefühle, so scheint es, werden als chemische Formel oder elektronische Ladung verstanden, und vielleicht ist es deshalb kein Wunder, dass der Mensch seit Erfindung der Telekommunikation davon träumt, nicht nur Texte, Töne und Bilder durch die Leitungen zu schicken, sondern auch Küsse, Erregung und Berührungen, nun ja, Sex eben. Die Erotikmaschinen tauchten zunächst in Filmen auf: Woody Allen erfand für den Film Sleeper das "Orgasmatron", eine fahrstuhlartige Kabine, die einen wirklich nach oben bringt. In den 70ern dachte man bereits über den etwas anderen Datenverkehr nach, und Howard Rheingold sprach Anfang der 1990er von einer sexuellen Interaktion über das Datennetz, etwa durch einen "durchsichtigen Ganzkörperanzug, wie ein Strumpf, aber mit der intimen Enge eines Kondoms". Stattdessen aber veränderte die Medienrevolution das Sexleben auf andere Art: Das Internet ermöglichte den unbegrenzten Zugriff auf Hardcorepornografie. Der Mensch hat den Sexualpartner abgeschafft, sitzt alleine vor dem Bildschirm, auf dem die Körper zucken. +1989 kam aus Kalifornien, der Heimat des Skatens und Surfens, der Film "Zurück in die Zukunft II" und mit ihm die Vision eines neuen Fortbewegungsmittels. In dem Film besucht Marty McFly das Jahr 2015 und erwirbt dort ein Hoverboard der Firma Mattel, ein Skateboarddeck, das durch eine avancierte Magnetfeldtechnologie über dem Boden schwebt. Das Hoverboard entwickelte sich schnell zu einem Phantasma derglobalen Teenagergemeinde, vereinte es doch Hightech, Action und den Traum vom Fliegen. Regisseur Robert Zemeckis sorgte später für Verwirrung, als er behauptete, dass das Hoverboard kein Spezialeffekt sei, sondern eine tatsächlich existierende Technologie, die allerdings von Verbraucherschützern und Elternverbänden zurückgehalten werde. Die Gerüchte über ein massenmarkttaugliches Hoverboard ebbten in den 90er-und Nuller-Jahren nicht ab, immer wieder versuchten Firmen, mit dem Markennamen ihre futuristischen Roller und Rasenmäher zu bewerben. +in der Serie "Näher als wir denken", welche die Chicago Tribune in den 50er-Jahren publizierte, schrieb der Autor Arthur Radebaugh über die "unblutige Operation", und zeichnete einen Patienten, der gemütlich unter riesigen Strahlenkanonen sitzt und auf die Heilung wartet. "Dank dem Atommesser werden Operationen bald so angenehm sein wie ein Nachmittag im Lehnstuhl", schrieb Radebaugh. In der Science-Fiction-Serie "Star Trek" konnte man die magische Medizin schon in den 60ern bewundern, silbrige Geräte mit Namen wie Knochenregenerator und Nanosonden. Die patientenschonende Behandlungsweise von Bordarzt "Pille" inspirierte den amerikanischen Krebsspezialisten John Adler angeblich zur Entwicklung seines "Cyberknifes", mit dem man Tumore gezielt angreifen kann. Ultraschall, Laser und Bestrahlungstherapie sind längst Bestandteil der modernen Medizin. Die unblutige OP wird es aber im Jahr 2020 nicht mal für Privatpatienten geben. +die Idee mit der Nummer 98580 ist nicht tot zukriegen. Am 13. August 1898 hatte das Kaiserliche Patentamt den Konstruktionsplan für einen "Lenkbaren Luftfahrzug mit mehreren hintereinander angeordneten Tragkörpern" des Antragstellers Ferdinand Graf von Zeppelin geschützt. Die mit Gas gefüllten Luftschiffe galten als Fortbewegungsmittel der Zukunft. Die war zu Ende, als 1937 das Luftkreuzfahrtschiff Hindenburg über dem US-Städtchen Lakehurst explodierte. Der "Lenkbare Luftfahrzug" aber blieb ein Phantasma der deutschen Erfinderszene. Ende der 90er-Jahre wurde dann die Firma Cargolifter gegründet, die den Zeppelin zum Monstertruck des Himmels machen wollte – bis zu 160 Tonnen sollten die Luftschiffe transportieren können. Die Firma ging pleite. Das Modell wurde nie gebaut. Die Zukunft des Zeppelins war vorbei, bevor sie begonnen hatte – Luftschiffe werden heute nur noch sporadisch als Werbeträger und Ausflugsdampfer eingesetzt. diff --git a/fluter/so-wohnen-beduinen-in-der-wueste.txt b/fluter/so-wohnen-beduinen-in-der-wueste.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2f83a29e9e1c6f698e8423b94a95286d52e1bcfc --- /dev/null +++ b/fluter/so-wohnen-beduinen-in-der-wueste.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Heute wachsen an diesem Ort in der sandigen Erde zwischen dem roten Gestein fast nur noch dürre Akazien und blasses Gestrüpp. Einzig wo etwas Wasser aus den Leitungen tropft, blüht auch schon mal ein Oleanderbusch. Zwischenzeitlich hat sich in der Senke, die circa neun Kilometer vom letzten Dorf und vom Ende einer asphaltierten Straße entfernt liegt, eine kleine Beduinengemeinde von vielleicht 30 Menschen und ihrem Vieh gebildet. Gut ein Dutzend Zelte und Hütten gibt es hier. Der Ort, den die Beduinen bewohnen, liegt in unmittelbarer Nähe eines einst von der jordanischen Königin Nur gestifteten weiß getünchten Schulgebäudes und der Feynan Ecolodge – ein Hotel für umwelt- und traditionsbewusste Touristen, das eine der wichtigsten Einnahmequellen für die Beduinen geworden ist. Sie arbeiten dort oder bieten den Urlaubern Führungen durch die Wüste an. +Siehste: Ibrahim und seine Familie haben alles im Zelt … +… Computer, Solarzellen, Feuerstelle +Abu Ibrahim bittet seine Gäste in den mit bunten Plastikmatten ausgelegten Empfangsbereich des Hauptzelts der Familie. Ausrichtung und Öffnungen der rund 15 Meter langen Konstruktion orientieren sich an der Windrichtung. Der vordere Teil ist mit Koransuren und einer bunten Girlande dekoriert. Hinter einem raumbreiten Vorhang liegt der private Bereich. Hier lagern in mannshohen Stapeln Dutzende Matratzen, Kissen und Decken. Schränke, Tische, Stühle – all das gibt es hier nicht. Auch Strom ist rar. Er kommt aus einer kleinen Fotovoltaikanlage, die eine Autobatterie auflädt, die den Strom speichert – zum Beispiel für einen Fernsehabend nach dem Fastenbrechen. +Hinter einem weiteren Raumtrenner liegt der Waschraum mit einer alten Zinkwanne. Rund zwei Stunden am Tag fließt Wasser durch die Leitungen, die von einem talaufwärts gelegenen Brunnen am Haus vorbeiführen. Für den Betrieb einer Toilette reicht das nicht, ihre Notdurft verrichten die Familienmitglieder irgendwo zwischen den Felsen, in gebührendem Abstand zu den Zelten. +Abu Ibrahim arbeitet als Hirte und Touristenführer, seine Frau Dschamala hält das familiäre Zuhause zusammen, im wahrsten Sinne des Wortes: Sie vernäht Plastikplanen und alte Säcke zu Zeltwänden und -decken. Das Haupt- und das danebenstehende Küchenzelt sind, anders als das kleine Feuerzelt, mit je 80 Zentimeter breiten Bahnen aus gewebter Ziegenwolle gedeckt. Bei Regen quillt die Wolle auf und macht die Außenhaut dichter, außerdem lässt das Öl in der Wolle das Wasser abperlen. So bleibt es im Inneren des "Bait al Sha'ar" (das bedeutet: Haus aus Haaren) warm und trocken. Das Gerüst für Tücher und Planen bilden Metall-und Holzstäbe. +Die halten zusammen: Plastikplanen und alte Säcke werden zu Zeltwänden vernäht +Durch die zunehmende Trockenheit hat die Familie immer weniger Ziegen +Nur der Boden des Küchenzelts ist aus Hygienegründen mit Beton ausgegossen. Hier gibt es Metallteller, Regale aus alten Kisten und einen Gasherd. "Aber einen Kühlschrank haben wir nicht", sagt Abu Ibrahim und zeigt auf eine Kiste mit Tomaten: "Die müssen wir innerhalb von vier Tagen verbrauchen, sonst werden sie schlecht." Täglich backt Dschamala das dünne Fladenbrot Sadsch und manchmal auch das dickere A'arboud direkt in der Glut des Feuers. "So schmeckt es viel besser", sagt Abu Ibrahim, nachdem er die Asche lautstark abgeklopft und das Brot in dampfende Stücke geteilt hat. Fleisch gibt es nur, wenn gerade ein Huhn geschlachtet oder eine der Ziegen zum Metzger gebracht wird. Doch Abu Ibra-him hat längst nicht mehr so viele Ziegen wie noch vor einigen Jahren. +"Früher hatte ich 200 Ziegen, jetzt sind es nur noch 30. Mehr kann ich mir nicht mehr leisten." Zwar wurde es in Feynan im Sommer schon früher oft über 40 Grad heiß, sodass er mit seiner Familie von Juni bis Oktober in ein kühleres Quartier in den Bergen zog, doch mittlerweile sind auch die Winter zum Problem geworden. "Seit zehn Jahren regnet es selbst zwischen Oktober und März kaum noch. Deshalb muss ich meinen Ziegen zufüttern", sagt Abu Ibrahim und öffnet das große blaue Fass, in dem eine Mischung aus Gerste, Weizen und Kleie lagert. Im Monat kostet allein das Ziegenfutter umgerechnet 51 Euro – für den Beduinen ein Vermögen. +Als eine Gruppe, die stark von den Gegebenheiten der Natur abhängig ist,nehmen die Beduinen die Auswirkungen des Klimawandels stärker wahr.Fakt ist: Ohne das Geld, das Abu Ibrahim durch das Kaffeekochen und die Touren für die Touristen der Ecolodge verdient (buchbar als "Bedouin Experience"), könnte er seine Familie schon jetzt nicht mehr ernähren. Deshalb ist sich Abu Ibrahim sicher: "Meine Kinder werden bald nicht mehr so leben wie ich. Sie ziehen in die Stadt." diff --git a/fluter/social-media-zensur-in-china.txt b/fluter/social-media-zensur-in-china.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..96ca1ddd26c78a33bcc3660dbfeb944d08678c87 --- /dev/null +++ b/fluter/social-media-zensur-in-china.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Dong ist kein Einzelfall: In den vergangenen Jahren hat China die Verfolgung kritischer Stimmen massiv ausgeweitet. Sie sollen nicht nur im eigenen Land schweigen, sondern auch im Ausland. Denn es sind längst nicht mehr nur politische Aktivisten und Aktivistinnen, sondern zunehmend auch gewöhnliche Bürger, die in den Sozialen Medien ihre Stimme erheben und ihre Meinung sagen. +Facebook, Twitter, TikTok: Dass plötzlich jeder und jede seine Meinung frei äußern kann und viele mit ihren Posts mehr Menschen erreichen als die staatlich kontrollierten Medien, wurde von der chinesischen Regierung von Anfang an als Gefahr gesehen. Praktisch sämtliche westliche Apps und Onlinedienste – von Twitter über WhatsApp bis hin zu Google – sind von der Regierung verboten worden. +Die chinesischen Plattformen werden bis heute von kritischen Inhalten "gesäubert". Wer etwa auf "Baidu Baike" – dem chinesischen Wikipedia –nach dem 4. Juni 1989 sucht, wird keinen Eintrag über die blutige Niederschlagung der Studentenbewegung finden.Auch die Große Hungersnot unterMao Zedongwird dort mit wenigen Halbsätzen abgehandelt, als seien die bis zu 50 Millionen Toten nur eine Folge von Dürreperioden gewesen. Und als zu Beginn der Coronapandemie Anwohner aus Wuhan Fotos von überfüllten Spitälern posteten, wurden diese nach wenigen Minuten gelöscht. +Die Internetriesen ByteDance (TikTok bzw. Douyin, wie es in China heißt) und Tencent (WeChat) lassen sämtliche Kommentare mithilfe eines Algorithmus auf Schlagwörter untersuchen. Dann entscheiden "Content-Moderatoren", ob Inhalte gesperrt werden oder nicht. Schon bei kleinsten Vergehen können die Unternehmen ihre staatliche Lizenz verlieren. +Wie eine aktuelle Recherche der "New York Times" belegt, ermitteln Chinas Behörden zunehmend auch gegen Staatsbürger im Ausland. In mehreren Fällen hat Pekings Sicherheitsapparat die Identität von Studenten in den USA ermittelt, die auf Twitter mit anonymen Profilen regierungskritische Postings abgesetzt haben. "Ich stehe hinter Hongkong" reicht aus, um ins Visier der Ermittler zu geraten. Am schlimmsten werden Nutzer und Nutzerinnen verfolgt, die Chinas Parteiführung direkt kritisieren oder politischen Protest organisieren. +Um kritische Kommentatoren im Ausland zu identifizieren, nutzen chinesische Beamte Wählerverzeichnisse, gehackte Datenbanken und Foto-Suchmaschinen. Sind die User erfolgreich ermittelt, werden sie aufgefordert, ihre Postings oder sogar Accounts zu löschen. Wenn sie dies nicht tun, üben die Behörden Druck auf enge Verwandte aus. In einem dokumentierten Fall wurden die Eltern des Betroffenen zehn Tage lang in Untersuchungshaft gesteckt. +Gleichzeitig steckt China viel Geld in Desinformationskampagnen. So werden von der Kommunistischen Partei ausländische Influencer zu Presse­reisen in Gebiete eingeladen, in die echte Journalisten aufgrund der systematischen Verfolgung kaum Zugang haben. Die auf diesem Weg inszenierten Videos werden dann von den chinesischen Staatsmedien auf Sozialen Medien sowohl im In- als auch im Ausland verbreitet. Zum Beispiel Videos vom scheinbar friedlichen Alltag der Uiguren, die brutal unterdrückt und in politische Umerziehungslager gesteckt werden. Doch das, so kann man in den Posts lesen, seien lediglich Lügen westlicher Medien. +Am 29.12.2021 meldet sich Dong wieder auf Twitter: "Hallo zusammen, euer Xi Jinping ist zurück!" Nach der Recherche der "New York Times" hatte Twitter die Sperrung aufgehoben. Seitdem herrscht allerdings wieder Funkstille auf dem Account. + diff --git a/fluter/socialmediauniverse.txt b/fluter/socialmediauniverse.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0171fd34f9fad558084d27cb563634457049af99 --- /dev/null +++ b/fluter/socialmediauniverse.txt @@ -0,0 +1,80 @@ + +… und hier gibt's unsere komplette Recherche über die Macht der Social-Media-Firmen. + +Geschichte:Facebook wurde 2004 von dem Harvard-Studenten Mark Zuckerberg gegründet und  2006 öffentlich zugänglich gemacht. Im Jahr 2009 gründeten Jan Koum und Brian Acton die Instant-Messaging-App WhatsApp, die fünf Jahre später für 19 Milliarden US-Dollar von Facebook gekauft wurde. Im Jahr 2010 gründete Kevin Systrom und Mike Krieger das soziale Netzwerk  Instagram, das keine zwei Jahre später von Facebook für eine Milliarde US-Dollar gekauft wurde. Im Jahr 2021 wurde das Unternehmen Facebook in Meta umbenannt. +Nutzerïnnen:Im vierten Quartal 2021 hatte Meta 3,59 Milliarden monatlich aktive Nutzerïnnen über alle Plattformenhinweg. Im vierten Quartal 2021 hatte Facebook weltweit 2,91 Milliarden monatlich aktive Nutzerïnnen und war damit das größte soziale Netzwerk der Welt. WhatsApp ist mit rund zwei Milliarden monatlich aktiven Nutzerïnnen der meistgenutzte Instant-Messaging-Dienst der Welt. Und Instagram kommt ebenfalls auf zwei Milliarden monatlich aktive Nutzerïnnen. +Eigentümerstruktur:Mark Zuckerberg ist der mit Abstand größte Aktionär von Meta und langjähriger Chief Executive Officer (CEO). Seine Beteiligung an der Firma hat er zwischen 2012 und 2021 auf 14 Prozent halbiert – immer noch genug, um sein Privatvermögen durch den Absturz der Meta-Aktie Anfang 2022 binnen eines Tages um gut 31 Milliarden US-Dollar schrumpfen zu lassen. Die nächstgrößeren Anteilseigner sind die beiden Investment-Gesellschaften und ETF-Anbieter Vanguard (gut 7,7 Prozent im dritten Quartal 2021) und Blackrock (knapp 6,7 Prozent im vierten Quartal 2021). Neben Zuckerberg nimmt Sheryl Sandberg eine wichtige Rolle im Unternehmen ein, sie leitet das operative Geschäft und arbeitete zuvor bei Google, im US-Finanzministerium, bei McKinsey und der Weltbank. +Einnahmen:Im vierten Quartal 2021 nahm Meta 33,67 Milliarden US-Dollar ein, den Löwenanteil (97 Prozent) durch Werbung. Der Nettogewinn lag im vierten Quartal 2021 bei 10,29 Milliarden US-Dollar – bei einem effektiven Steuersatz von 19 Prozent. Pro Nutzerïn nahm Meta im vierten Quartal weltweit 11,57 US-Dollar ein, in den USA und in Kanada waren es 60,57 US-Dollar pro Person, in Europa 19,68 US-Dollar. +Welche Regierung hat Zugriff:Im Jahr 2019, im Zuge des Skandals um Cambridge Analytica, als persönliche Daten von 50 Millionen Nutzerïnnen ohne deren Wissen zusammengetragen wurden, versprach Mark Zuckerberg die flächendeckende Einführung der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung auf allen Plattformen. Diese gibt es seit 2016 nur bei WhatsApp. Einige Länder, allen voran die USA und Großbritannien, wollen die Einführung einer starken Verschlüsselung verhindern und wünschen sich eine digitale Hintertür – eine Funktion, die es zumindest 2018 schon für Facebook-Mitarbeiterïnnen gab, die sich heimlich in jedes beliebige Profil einloggen konnten. Unabhängig von der Verschlüsselung werden Metadaten auch in Zukunft über die Server des Unternehmens geleitet. Diese Daten beinhalten zahlreiche sekundäre Informationen, die der Ermittlung des Urhebers dienen. In internen Dokumenten lobt die US-Sicherheitsbehörde FBI die Schnelligkeit und Datenfülle, die der Meta-Konzern den Behörden liefere und die eine Lokalisierung der Nutzerïnnen beinahe in Echtzeit ermöglichen. Je weiter entfernt (politisch wie geografisch) die anfragenden Behörden vom Meta-Stammsitz in den USA sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, diesen Service nutzen zu dürfen. + + +Geschichte: YouTube wurde 2005 von den ehemaligen Paypal-Mitarbeitern Steve Chen, Chad Hurley und Jawed Karim gegründet. Nach einigem Hin und Her mit Yahoo kaufte Google die Plattform gerade mal 18 Monate nach deren Veröffentlichung für 1,65 Milliarden US-Dollar. Im Jahr 2015 wurde mit Alphabet eine Dachgesellschaft geschaffen, zu deren Tochtergesellschaften die Firma Google gehört, der wiederum YouTube gehört. +Nutzerïnnen: Weltweit nutzen mehr als 2,3 Milliarden Menschen YouTube mindestens einmal im Monat. Jeden Tag werden mehr als eine Milliarde Stunden auf der Plattform geschaut, das entspricht fünf Milliarden einzelner Videos. Jede Minute werden 500 Stunden neues Material hochgeladen. Das Gros der Nutzerïnnen ist zwischen 15 und 35 Jahren, 38 Prozent davon weiblich. Über 70 Prozent schauen über mobile Endgeräte, was dazu führt, dass ein Viertel der weltweiten Mobildatennutzung auf YouTube zurückgeht. Betrachtet man YouTube als Suchmaschine, dann ist sie weltweit die Nummer zwei, nach Google. +Eigentümerstruktur: Nach der Umfirmierung des Unternehmens und einer grundsätzlichen Neustrukturierung gehört nun die Videoplattform YouTube der Firma YouTube LLC, die ihrerseits der Firma Google LLC gehört, die wiederum der Holding-Gesellschaft XXVI gehört (der Name steht für die römische Schreibweise der Zahl 26 und damit für die Zahl der Buchstaben des US-Alphabets), die wiederum der Firma Alphabet gehört. Die Geschäfte bei YouTube führt seit der Übernahme Susan Wojcicki, in deren Garage Google einst von Sergey Brin und Larry Page entwickelt wurde. Die beiden Gründet halten bis heute mit zusammen 51,1 Prozent die Mehrheit des Stimmrechts über das gesamte Unternehmen. Zwar besitzen sie nur je ein paar Prozent aller Alphabet-Aktien, doch sie halten zusätzlich Aktien mit zehnfachem Stimmrecht, die ihnen  die Macht über das Unternehmen sichern. Weitere Anteilseigner sind die Investment-Gesellschaften und ETF-Anbieter Vanguard und BlackRock. CEO von Alphabet ist Sundar Pichai, vormals CEO von Google. +Einnahmen: Durch Werbung nahm YouTube im Jahr 2021 knapp 28,85 Milliarden US-Dollar ein, etwa ein Fünftel der Werbeerlöse durch die Suchmaschine Google. Im Jahr 2020 war der größte Kunde die Firma Apple, die über 237 Millionen US-Dollar für Werbung auf der Plattform ausgab. +Welche Regierung hat Zugriff:Laut Firmenstatuten haben Strafverfolgungsbehörden aller Länder die Möglichkeit, Google zur Offenlegung oder Speicherung persönlicher Daten zu ersuchen. Laut Transparenzbericht des Unternehmens wurden im Jahr 2020 weltweit 714.111 Auskunftsersuchen gestellt, in 76 Prozent der Fälle hat Google kooperiert. Auch hier spielt der Stammsitz des Unternehmens eine Rolle, da mehr als ein Drittel der Ersuchen des Jahres 2020 (247.254) von Behörden aus den USA gestellt wurden. Dazu kommen noch mehrere Zehntausend US-Anfragen, die besonderer Geheimhaltung unterliegen. Auch liegt die Kooperationsrate gegenüber US-amerikanischen Ersuchen mit 82,3 Prozent über dem weltweiten Durchschnitt. + + +Geschichte: Die Unternehmensgeschichte beginnt 2014, als Alex Zhu und Luyu Yang die Lip-Sync-App Musical.ly gründeten, die neben ihrem Hauptsitz in Shanghai auch mehrere Sitze in San Francisco hatte, was die App in beiden Ländern populär machte. Im Jahr 2016 gründete das chinesische Internet-Technologieunternehmen Bytedance eine vergleichbare Plattform namens Douyin, die binnen eines Jahres 100 Millionen Nutzerïnnen gewann. Im Jahr 2018 kaufte Bytedance den Konkurrenten Musical.ly für knapp eine Milliarde US-Dollar und glich sie unter dem neuen Namen TikTok dem eigenen Dienst an. Heute sehen sich TikTok und deren chinesische Version Douyin sehr ähnlich – haben aber getrennte Server und damit auch unterschiedliche Inhalte. +Nutzerïnnen: Im September 2021 waren auf TikTok eine Milliarde aktive monatliche Nutzerïnnen unterwegs. Im selben Jahr war TikTok die am häufigsten heruntergeladene mobile App überhaupt. Knapp 20 Stunden verbringen die Nutzerïnnen auf TikTok. In China kommt Douyin auf mehr als 600 Millionen täglich aktive Nutzerïnnen. +Eigentümerstruktur: Dem chinesischen Unternehmen Bytedance, an dem die chinesische Regierung einen einprozentigen Anteil hat. TikTok Inc. ist seit 2016 in Los Angeles registriert  und gehört zu hundert Prozent Bytedance . Zu den ersten und größten Financiers des ebenfalls nicht öffentlich gehandelten Mutterkonzerns Bytedance zählt die US-Investementfirma Susquehanna International Group  , die im Jahr 2020 rund 15 Prozent der Anteile hielt, sich aber aktuell von Anteilen im Wert von 500 Millionen US-Dollar trennt . Zu den übrigen Investoren zählen unter anderem Tiger Global Management, Morgan Stanley, Goldman Sachs, Softbank und die Bank of China . +Einnahmen: Die Einnahmen des Mutterkonzerns Bytedance lagen im Jahr 2021 bei 58 Milliarden US-Dollar. Nutzerïnnen gaben über TikTok und Douyin im Jahr 2021 insgesamt 2,3 Milliarden US-Dollar aus, über die Hälfte davon in China. +Welche Regierung hat Zugriff:Als die größte chinesische App mit massivem weltweiten Erfolg steht TikTok unter besonderer Beobachtung westlicher Länder, allen voran der USA. Neben offensichtlichen Einschränkungen, wie der Zensur politisch unerwünschter Inhalte in China, steht der Vorwurf der Spionage im Raum. Es wird befürchtet, Daten ausländischer Nutzerïnnen würden ohne deren Wissen nach China geleitet. Untersuchungen konnten bisher keine Beweise für die Vorwürfe finden, zeigten aber, dass die letztliche Entscheidungsgewalt über alle Daten beim chinesischen Mutterkonzern Bytedance liegt, an dem die chinesische Regierung einen einprozentigen Anteil hält und Anspruch auf einen von drei Aufsichtsratsposten hat. TikTok selbst sieht sein US-Geschäft, das zunehmend auf Distanz zu Peking geht und das chinesische Geschäft um Douyin personell wie physisch vom US-Geschäft trennt, als unabhängig von chinesischer Einflussnahme. Ein Unternehmensleiter sagte vor dem US-Kongress aus, man gebe keinerlei Daten an China weiter und stehe in keiner Verbindung zu jener Bytedance-Körperschaft, bei der die chinesische Regierung einen Aufsichtsrat ernennen könne. + + +Geschichte: Anfang 2011 veröffentlichte das chinesische Internet-Technologieunternehmen Tencent eine Messenger-App unter dem chinesischen Namen Weixin. Im April 2012 bekam die App zusätzlich den englischen Namen WeChat für das internationale Publikum. Im Sommer 2013 kam mit der WeChat Wallet eine Bezahlmöglichkeit für den chinesischem Markt hinzu, etwas später auch die Möglichkeit, Geld an Dritte zu senden. Immer mehr Waren wurden direkt über die App verkauft. Ein Jahr später konnte man auch Taxis über die App buchen und bezahlen. Wer die App heute installiert und sie mit einer chinesischen Telefonnummer aktiviert, findet sich auf Weixin mit zahlreichen Funktionen wie etwa dem Bezahlen wieder, wer die App mit einer nicht-chinesischen Nummer aktiviert, landet in der eingeschränkten internationalen Version WeChat. +Nutzerïnnen: Mitte 2021 hatte WeChat/Weixin mehr als 1,25 Milliarden aktive Nutzerïnnen pro Monat. Gut drei Viertel aller 16- bis 64-Jährigen in China nutzen Weixin. +Eigentümerstruktur: Dem chinesischen Konzern Tencent, der Anfang 2022 zu den zehn größten Technologiefirmen der Welt zählt. Der mit Abstand größte Anteilseigner ist der in den Niederlanden gelistete Investment-Arm Prosus der südafrikanischen Holding Naspers. Im Jahr 2001 sicherte sich Naspers für 32 Millionen US-Dollar 46,5 Prozent von Tencent. Heute hat Tencent eine Marktkapitalisierung von knapp 590 Milliarden US-Dollar. Prosus (Naspers) besitzt aktuell noch knapp 29 Prozent aller Anteile, gefolgt vom Tencent-CEO Ma Huateng mit 8,38 Prozent. Erst danach kommen die Investmentgesellschaften Vanguard (2,07 Prozent) und BlackRock (1,24 Prozent). +Einnahmen: Der Mutterkonzern Tencent hat im dritten Quartal 2021 rund 22,3 Milliarden US-Dollar eingenommen, welchen Anteil WeChat und Weixin daran haben, schlüsselt die Firma nicht auf. +Welche Regierung hat Zugriff:Als chinesisches Unternehmen unterliegt Tencent den örtlichen Zensurauflagen von Shenzen. Wer in der chinesischen App Weixin verbotene Begriffe wie zum Beispiel "Falun Gong" sendet, dessen Nachricht wird nicht zugestellt. Weder Senderïn noch Empfängerïn erfahren von der Zensur, der Beitrag wird einfach nicht übermittelt. Das Gleiche passiert mit Nachrichten, die von WeChat nach Weixin geschickt werden. Nachrichten zwischen nichtchinesischen WeChat-Nutzerïnnen werden aktuell nicht zensiert, aber vom Unternehmen durchleuchtet und offenbar auch zum Training des chinesischen Zensuralgorithmus benutzt. Wer mit einer chinesischen Nummer zensiert wird, läuft neben staatlicher Verfolgung auch Gefahr, in Weixin gesperrt zu werden – und zumindest in größeren Städten Chinas ist das Leben ohne nur noch schwer zu bewerkstelligen, da die App in vielen Bereichen des Alltags fest verankert ist. + + +Geschichte: Telegram wurde im Jahr 2013 von den Brüdern Nikolai und Pavel Durov gegründet, die zuvor das russische soziale Netzwerk vk.com gegründet hatten. Nachdem sich Pavel Durov weigerte, Daten ukrainischer Organisatorïnnen von Protesten herauszugeben, verkaufte er seine Anteil an vk.com und verließ Russland. Während sich Nikolai Durov um die technische Umsetzung von Telegram kümmerte, stellte sein Bruder über seinen Fonds die finanziellen Mittel bereit. +Nutzerïnnen: Im Sommer 2021 hatte Telegram weltweit 550 Millionen aktive Nutzerïnnen. +Eigentümerstruktur: Telegram wird hauptsächlich durch den Milliardär Pavel Durov vertreten, der maßgeblichen Einfluss auf den Kurs der Firma hat. +Einnahmen: Als Telegram im Jahr 2020 beinahe 500 Millionen Nutzerïnnen hatte, schätzte Pavel Durov die damit verbundenen Serverkosten auf mehrere Hundert Millionen US-Dollar im Jahr. Bislang sei das aus eigenen Mitteln finanziert worden. Um die weiter steigenden Kosten zu decken, wird zur Zeit an Monetarisierungsmodellen gearbeitet. Zwar ist die App laut Bertreiberïnnen nicht profitorientiert, sie firmiert aber nicht als Non-Profit-Organisation. +Welche Regierung hat Zugriff:Laut Impressum ist der Standort von Telegram in Dubai. Laut eigenen Angaben haben die Entwicklerïnnen, die hauptsächlich aus St. Petersburg stammen, bereits Standorte unter anderem in Berlin, London und Singapur unterhalten. Zu den Statuten des Unternehmens gehört es, Inhalte weder zu löschen noch mit staatlichen Stellen zu kooperieren. Der Gründer Pavel Durov machte 2020 deutlich, dass er Telegram niemals verkaufen wolle. Die Bundesregierung drohte dem Betreiber 2021 mit einem Bußgeld von bis zu 50 Millionen Euro wegen Verstößen gegen das Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Zu Beginn des Jahres 2022 sperrte Telegram aufgrund zunehmenden Drucks erstmals Kanäle in Deutschland, darunter auch den eines antisemitischen Kochs. + + +Geschichte: Der Instant-Messaging-Dienst QQ wurde 1999 als erstes Produkt der ebenfalls neu gegründeten Firma Tencent von Ma Huateng (heute der CEO von Tencent) und Zhang Zhidong gegründet. Anfangs hieß der Dienst OICQ, da der Name aber auf den einstigen Instant-Messaging-Dienst ICQ anspielte und damit Markenrechte verletzte, wurde die App bald in QQ umbenannt und wurde schnell bekannt. +Nutzerïnnen: Da QQ nahtlos mit anderen Produkten von Tencent wie QQ Music oder Tencent Video zusammenarbeitet, gehört die Plattform zu den aktuell beliebtesten bei Jugendlichen in China. Mitte 2021 hatte QQ knapp 591 Millionen aktive Nutzerïnnen pro Monat. +Eigentümerstruktur: Vorstandsvorsitzender von Tencent ist Ma Huateng, Mitgründer des Unternehmens. Die chinesische Regierung forderte von Tencent Ende 2021, sich jedes kommende Update und jede neue App vor der Veröffentlichung genehmigen zu lassen. Tencent gehört zu den zehn größten Firmen der Welt nach Marktkapitalisierung. +Einnahmen: Der Mutterkonzern Tencent, dem auch WeChat/Weixin gehört, hat im dritten Quartal 2021 rund 22,3 Milliarden US-Dollar eingenommen, QQ trägt nur einen Bruchteil zu diesem Umsatz bei. +Welche Regierung hat Zugriff:Als chinesisches Unternehmen unterliegt Tencent den örtlichen Zensurauflagen von Shenzen. QQ ist im Laufe der vergangenen Jahrzehnte mehrfach beim Zensieren und sogar beim aktiven Ausspähen seiner Nutzerïnnen erwischt worden. + + +Geschichte: Die chinesische Antwort auf Twitter, der Mikrobloggingdienst Weibo wurde im Sommer 2009 von der Sina Corporation gegründet. Bereits vor Twitter erlaubte Weibo das Senden von Nachrichten, die länger als 140 Zeichen lang waren. +Nutzerïnnen:Im dritten Quartal 2021 waren 573 Millionen aktive Nutzerïnnen auf Weibo aktiv. +Eigentümerstruktur:Vorstandsvorsitzender des Technologie-Unternehmens Sina Corporation ist der Journalist Charles Chao. Nach 21 Jahren an der US-Technologiebörse NASDAQ wurde Sina im Jahr 2021 privatisiert. Neuer Eigentümer ist die New Wave Holdings Limited, der ebenfalls Charles Chao vorsteht. Weibo hingegen bleibt weiterhin in den USA börsennotiert. Sina Group Holdings hält 44,9 Prozent der Weibo-Aktien und ein Stimmrecht von 71 Prozent. +Einnahmen: Im Geschäftsjahr 2020 hatte Weibo Einnahmen in Höhe von 1,69 Milliarden US-Dollar, davon 88 Prozent mit Werbung. +Welche Regierung hat Zugriff:Weibo unterlag seit jeher der staatlichen Zensur in China und kommt dieser nach. Dennoch musste das Unternehmen allein im Jahr 2021 mindestens 44-mal Strafzahlungen in einer Gesamthöhe von 2,2 Millionen US-Dollar an die Regierung entrichten, da auf der Plattform schädliche Informationen veröffentlicht worden seien.  Neben den offiziellen Zensorïnnen der Regierung stellen chinesische Internetfirmen auch eigene Moderatorïnnen ein, um verbotene Inhalte zu löschen. Dazu zählen sind neben Pornografie, Gewalt und Betrug auch Kritik an der Regierung und "moralisch entartete" Inhalte wie etwa LGBTQ-Beiträge. + + +Geschichte: Snapchat ist eine App für den mobilen Austausch von Multimedia-Inhalten, die nur  für eine beschränkte Zeit sichtbar sind. Die App wurde Ende 2011 von Evan Spiegel, Bobby Murphy und Reggie Brown veröffentlicht. +Nutzerïnnen: Im vierten Quartal 2021 waren auf Snapchat 319 Millionen Nutzerïnnen monatlich aktiv. +Eigentümerstruktur: Mit 5,4 Prozent und 3,1 Prozent sind die beiden Mitgründer Robert Murphy  und Evan Spiegel die größten Einzelaktionäre von Snap. Institutionelle Anlege sind vor allem die Investmentgesellschaften und ETF-Anbieter T. Rowe Price Associates (10,1 Prozent), Vanguard (6 Prozent) und Edgewood (5 Prozent). CEO von Snap ist der Evan Spiegel, sein Gründungskollege Robert Murphy ist Technikvorstand (CTO) . Zwar werden die Aktien von Snap frei an der Börse gehandelt, 95 Prozent der Stimmrechte liegen aber bei den Gründern. Das hinderte Facebook bisher daran, Snap zu übernehmen . Den größten Aktienanteil hält mit 10,6 Prozent der chinesische Konzern Tencent, gefolgt von T. Rowe Price mit 10,2 Prozent. Murphy und Spiegel besitzen 5,94 Prozent und 2,95 Prozent der Aktien . +Einnahmen: Im vierten Quartal 2021 nahm Snapchat weltweit knapp 1,3 Milliarden US-Dollar ein, gut 70 Prozent davon in den USA. Pro Nutzerïn lagen die Einnahmen weltweit bei durchschnittlich 4,06 US-Dollar, in Europa waren es 2,50 US-Dollar und in den USA 9,58 US-Dollar. Der Nettogewinn lag 2020 bei 23 Millionen Euro. +Welche Regierung hat Zugriff:Der erste Fall von Zensur ereignete sich 2017, als Snap auf Wunsch der saudi-arabischen Regierung die Inhalte des Nachrichtensenders Al Jazeera aus seinen Discover Publisher Channels entfernte. Zusammen mit Twitter und Facebook hat auch Snap im Januar 2021 den Account des damaligen US-Präsidenten Donald Trump gesperrt. Die Inhalte auf Snapchat unterliegen den Community-Richtlinien, die etwa sexuelle Freizügigkeit, Mobbing, Bedrohung und Betrug verbieten. Anfragen von US-Behörden geht Snap nach, internationale Gesuche will die Firma "aus Höflichkeit" prüfen, wenn diese ordnungsgemäß gestellt sind. + + +Geschichte: Der Mikrobloggingdienst Twitter wurde 2006 ins Leben gerufen, anfangs unter dem Namen "twttr". Die zugehörige Firma Twitter Inc. wurde  im April 2007 von Jack Dorsey, Biz Stone und Evan Williams gegründet. +Nutzerïnnen: Ende 2021 waren auf Twitter 217 Millionen eingeloggte Nutzerïnnen monatlich aktiv. +Eigentümerstruktur: Der Gründer Jack Dorsey hält 2,26 Prozent der Unternehmensanteile, während die Investmentgesellschaften und ETF-Anbieter Morgan Stanley und Vanguard je rund 8 Prozent halten. +Einnahmen: Im Geschäftsjahr 2021 nahm Twitter knapp 5,1 Milliarden US-Dollar ein, hauptsächlich mit Werbung. Damit machte das Unternehmen im selben Jahr einen Nettoverlust von 221 Millionen US-Dollar. +Welche Regierung hat Zugriff:Twitter kommt regelmäßig Aufforderungen von Staaten nach, bestimmte Inhalte für ihr Land zu sperren. Das reicht von antisemitischen Inhalten in Frankreich über Fake-Modi-Accounts in Indien bis hin zu oppositionellen Accounts in der Türkei, die sich gegen Korruption aussprachen. Als US-Unternehmen kooperiert Twitter mit den örtlichen Strafverfolgungsbehörden. + +Geschichte: Reddit wurde im Juni 2005 von Steve Huffman und Alexis Ohanian gegründet. Für die Gründung stellte ihnen der Start-up-Inkubator Y Combinator 100.000 US-Dollar zur Verfügung. +Eigentümerstruktur: Steve Huffman, Alexis Ohanian und Aaron Swartz haben Reddit 2005 gegründet. Ab Oktober 2006 gehörte die Website dem US-Verlag Condé Nast, bis sie im Jahr 2011 als Reddit Inc eine Tochtergesellschaft der Condé-Nast-Muttergesellschaft Advance Publications wurde. Neben seinen Mitgründern Alexis Ohanian und Aaron Swartz gehört Steve Huffman als CEO zu den Schlüsselfiguren des Unternehmens. Reddit plant derzeit einen Börsengang und strebte zuletzt eine Bewertung von 15 Milliarden US-Dollar an. Bislang ist das Familienunternehmen Advance Publications Mehrheitseigner. Nach dem Sturm aufs Kapitol in den USA sperrte das Unternehmen nach eigenem Ermessen den Sub-Reddit /r/DonaldTrum, in dem sich Menschen austauschten, die für die Erstürmung waren. Ein Jahr zuvor wurden rund 2000 Sub-Reddits wegen Verstößen gegen die Unternehmensrichtlinien (vor allem Hassrede) geschlossen, davon betroffen auch der rechte Sub-Reddit "The_Donald" und der linke Sub-Reddit "Chapo Trap House". +Einnahmen: Im zweiten Quartal 2021 nahm Reddit zum ersten Mal mehr als 100 Millionen US-Dollar durch Werbung ein. + + +Geschichte: Twitch wurde 2011 von Justin Kan und Emmett Shear gegründet. +Nutzer*innen: Im dritten Quartal 2021 hatte Twitch durchschnittlich 2,62 Millionen gleichzeitiger Zuschauerïnnen, die zusammen 5,79 Milliarden Stunden in 10,4 Millionen Channels zusahen. Zwei Drittel der Nutzerïnnen sind männlich, knapp die Hälfte ist zwischen 16 und 24 Jahren alt, nur ein Zehntel ist über 45. Gut ein Fünftel des Traffics kommt aus den USA. +Eigentümerstruktur: Seit der Übernahme für rund 970 Millionen US-Dollar im Jahr 2014 ist die Plattform eine Tochtergesellschaft von Amazon.com. CEO ist der Mitgründer Emmett Shear, nebenbei auch Teilzeitpartner der Risikokapitalfirma Y Combinator. Twitch hat strenge Community-Richtlinien und sperrt auch jene, die außerhalb der Plattform durch Hatespeech auffällig werden. Auch Verstöße gegen das Urheberrecht werden zunehmend geahndet. Twitch ist seit 2018 in China blockiert. +Einnahmen:Im Jahr 2020 hat Twitch rund 2,3 Milliarden US-Dollar eingenommen, schätzungsweise 750 Millionen davon durch Werbung. + + +Geschichte:Discord wurde 2015 vor allem dafür entwickelt, um sich während des Spielens von Computerspielen über einen Schnellchat auszutauschen. +Nutzer*innen: Monatlich sind mehr als 150 Millionen Menschen auf Discord aktiv. Täglich sind es rund 30 Millionen, zwei Drittel davon männlich und drei Viertel jünger als 35. Durchschnittlich verbringt eine Nutzerïn gut 280 Minuten pro Monat auf der Plattform, also knapp fünf Stunden pro Monat. +Eigentümerstrukturen: Discord hat seinen Firmensitz in San Francisco und ist nicht an der Börse gelistet. Das letzte große Übernahmeangebot von Microsoft lag angeblich bei 10 Milliarden US-Dollar. Im Vorstand sind die beiden Gründer Jason Citron (CEO) und Stanislav Vishnevskiy (CTO). Um das Problem von Mobbing und Hatespeech (vor allem durch Alt-Right) zu unterbinden, überwacht ein Team des Unternehmens auffällige Muster und greift bei Bedarf ein. +Einnahmen:Discord nahm im Jahr 2021 rund 140 Millionen US-Dollar ein, hauptsächlich durch seine Premium-Angebote, Werbung wird nicht geschaltet. Das Unternehmen wurde im Jahr 2021 mit rund sieben Milliarden US-Dollar bewertet. diff --git a/fluter/sofie.txt b/fluter/sofie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fc7ab7fefcd3e8b04515e7f77d3c4972b930b0fc --- /dev/null +++ b/fluter/sofie.txt @@ -0,0 +1,33 @@ +Bist du allein? +Nein, nie. Mehrere Menschen teilen sich meinen Körper. +Was tun die anderen im Moment? +Manche schlafen. Andere hören uns kritisch zu. Sie beargwöhnen, was uns gerade für Fragen gestellt werden. +Wie viele Persönlichkeiten hast du? +Wie viele es genau sind, kann ich nicht sagen. Teilweise sind es Kinder, teilweise Jugendliche oder Erwachsene. Es gibt Frauen, Männer, aber auch Personen, denen ich kein Geschlecht zuordnen kann. +Das klingt anstrengend und chaotisch. +Ist es auch. Wenn es sehr stressig wird und viele Personen gleichzeitig Aufmerksamkeit wollen, habe ich Schwierigkeiten, mein Innenleben zu koordinieren. Ich kann manchmal kaum noch wahrnehmen, was um mich herum passiert. +Fährst du Auto? +Ja. +Und was passiert, wenn auf einmal ein Kind die Kontrolle übernimmt und am Steuer sitzt? +Das wäre gefährlich. Es würde wahrscheinlich denken, dass es Bobbycar fährt. In der Praxis passiert mir das aber nicht. Wir kommunizieren miteinander und vereinbaren, dass immer nur eine Person am Steuer sitzt, die alt genug ist. +Hast du überhaupt noch einen Überblick, wer du selber eigentlich bist? +Ich sehe mich eher als System und nicht als Einzelperson. Ich bestehe aus Teams, die gemeinsame Aufgaben übernehmen. Zum Beispiel gibt es mehrere, die gut darin sind, meine Ausbildung auf die Reihe zu kriegen und zu lernen. Die gehen zur Schule und können sehr gut logisch denken. Andere Persönlichkeiten sind dafür zuständig, soziale Kontakte zu pflegen. +Wann hast du gemerkt, dass mit dir etwas nicht stimmt? +Lange Zeit war es für mich normal, dass in meinem Kopf jemand dazwischenquatscht. Ich dachte, das wäre bei allen so. Aber in der Schulzeit ging es mir auf einmal immer schlechter. Manchmal bin ich zum Beispiel während des Unterrichts einfach aufgestanden und rausgerannt, weil ich es nicht ertragen habe, mit dem Lehrer in einem Raum zu sein. Ich habe selber nicht mehr verstanden, was mit mir los ist. +Hast du dann eine Therapie gemacht? +Ja, ich bin durch mehrere Therapeutenhände gegangen. Irgendwann kam ich zu einer Psychologin, mit der ich zum ersten Mal über die Probleme in meiner Familie sprechen konnte. Ich erzählte ihr, dass mein Vater manchmal ausgerastet ist. Wir näherten uns dem Kern langsam. Dann kam eine Therapiestunde, in der ich auf einmal weg war. +Wie meinst du das – weg? +Ich hatte einen richtigen Filmriss. Als ich zu mir kam, sagte meine Therapeutin: "Weißt du, was eben passiert ist? Da saß gerade ein Kind vor mir. Ich habe mit einem kleinen Kind geredet!" Ich hatte aber nichts mitbekommen. Danach wurde ich mit Tests in einem standardisierten Verfahren untersucht. Am Ende hatte mein Zustand einen Namen: dissoziative Identitätsstörung. +Was ist die Ursache für diese Störung? +Ich war seit meiner frühesten Kindheit massiver Gewalt ausgesetzt. Ich wurde von Menschen aus dem familiären Umfeld vergewaltigt und misshandelt. +Was hat das mit der Spaltung deiner Persönlichkeit zu tun? +Dissoziation ist ein Mechanismus der Psyche, der das Überleben sichern soll. Wenn eine Situation unerträglich für ein Kind wird, dann spalten sich Teile ab. Es entstehen Identitäten, die den schrecklichen Teil in sich tragen, und andere, die im Alltag funktionieren können. Meine Innenpersonen haben ganz eigene Erinnerungen und Biografien. Sie haben Sachen erlebt, von denen ich nichts wusste. Am Anfang war das für mich so, als würde ich Geschichten über jemand völlig Fremden hören. Meine erste Reaktion war: Das bin doch nicht ich! +Hast du nicht gezweifelt, ob das überhaupt wahr sein kann? +Natürlich habe ich gezweifelt! Ich war mir sicher, dass das nicht stimmen kann. Ich diskutierte viel mit meiner Therapeutin und glaubte, dass mir das alles eingeredet werden soll. Wobei ich sagen muss, dass sie immer eine sehr neutrale und objektive Haltung hatte. Letztendlich ist es aber so, dass ich schon noch einige Erinnerungen aus der Zeit vor den Therapien hatte, die sich mit den Ereignissen deckten. Manches ließ sich auch objektiv durch die unabhängigen Aussagen Dritter bestätigen. +Wie offen gehst du mit deiner Identitätsstörung um? Wissen andere, dass du viele Personen bist? +Wenn ich neue Leute kennenlerne, erzähle ich erst mal nichts. Das ist mir zu kompliziert und intim. Nur enge Freunde kennen meine Geschichte. Die halten mich auch nicht für verrückt und stehen zu mir. Meine Freunde wundern sich nicht, wenn mal statt einer 27-Jährigen ein Kind am Telefon mit ihnen spricht. +Kann man deine Störung heilen? +Ich habe davon gehört, dass man mit therapeutischer Hilfe angeblich wieder eine Person werden kann, aber das ist gar nicht mein Hauptziel. Ich hoffe einfach, dass ich irgendwann lerne, mit meiner Vergangenheit umzugehen. Die Angst und die schlimmen Erinnerungen sollen mein Leben nicht mehr bestimmen. + +Stichwort DIS: +Im  Jahr 1889 beobachtete der französische Psychiater Pierre Janet erstmals, dass einige seiner Patienten, die belastende Lebenserfahrungen hinter sich hatten, Bewusstseinsinhalte zu haben schienen, die vollkommen voneinander getrennt waren. Janet nannte diesen Zustand Dissoziation. Schätzungen zufolge haben weltweit 0,5 bis 1,5 Prozent der Allgemeinbevölkerung und etwa 5 Prozent der Menschen in Psychiatrien eine dissoziative Identitätsstörung (DIS). Die Diagnose ist allerdings nicht unumstritten. 1973 wurde das Sachbuch "Sybil", das von einer Frau mit 16 Innenpersonen handelt, in den USA zu einem Bestseller. Daraufhin schnellten die Fallzahlen in die Höhe, und es entwickelte sich ein regelrechter Hype um multiple Persönlichkeiten. Es mehrten sich aber auch die kritischen Stimmen. Nicht nur der Fall der Frau aus dem Sachbuch, sondern auch viele andere wurden angezweifelt. In den USA verurteilten Gerichte Therapeuten zu Schadensersatzzahlungen, weil sie ihren Patienten nachweislich nie stattgefundenen Missbrauch eingeredet hatten. Manche taten DIS daraufhin als eine reine Modeerscheinung ab. Heute wird die Diskussion über das Krankheitsbild differenzierter geführt. Die Frage, ob es sich bei den traumatischen Erlebnissen um innere Bilder oder historische Wahrheiten handelt, ist für viele Therapeuten nicht mehr entscheidend. Wichtiger ist es, den Menschen dabei zu helfen, mit diesen quälenden Erinnerungen umzugehen. diff --git a/fluter/solaranlage-selbst-aufs-dach-bauen.txt b/fluter/solaranlage-selbst-aufs-dach-bauen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f8e30678a7ef750008b819432b6aca49bd7562c3 --- /dev/null +++ b/fluter/solaranlage-selbst-aufs-dach-bauen.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Der Rentnerin Inge Frank gehört das Haus in der Bremer Vorstadtsiedlung, auf dem nun die akkurat ausgerichteten Panels die Südseite des Daches einnehmen. "Eigentlich hatte ich schon seit dem Kauf des Hauses vor acht Jahren die Idee, eine Solaranlage zu installieren", sagt sie. Diesen Sommer schaltete sich Inge Franks Tochter Maren ein: "Du", sagte die 35-Jährige zu ihrer Mutter, "ich habe da von einem interessanten Projekt gehört." Mit dem Projekt meinte sie den Verein "Bremer Solidarstrom". Dessen Konzept ist simpel: Wie wäre es, wenn diejenigen, die sich eine Solaranlage aufs Dach bauen wollen, sie unter Anleitung von erfahrenen Vereinsmitgliedern einfach selbst installieren? Handwerker braucht es dann nur noch für das Aufstellen des Gerüsts und den Anschluss der Anlage ans Stromnetz. + + +Dem Bremer Solidarstrom ging es einst vor allem um die Förderung von Ökostrom. Aber als die Mitglieder vor einigen Jahren auch selbst Solaranlagen planen und in Auftrag geben wollten, fanden sie heraus, dass viele Solarbetriebe vergleichsweise kleine Anlagen wie die auf Privathäusern nicht bauen wollten, sagt Henrik Steinert, 31, seit acht Jahren Vereinsmitglied. "Also haben wir uns gesagt: Das geht so nicht. Lasst uns da mal selber mit rangehen!" Inspiration fand sich in der Schweiz. "Dort ist der Selbstbau schon seit vielen Jahren verbreitet", sagt Christian Gutsche, 36, der auch beim Bremer Solidarstrom aktiv ist. In der Schweiz baute er an zwei Anlagen mit, holte Rat und Hilfe von Installateuren auch in Bremen. Im Sommer 2021 installierten die Vereinsmitglieder zum ersten Mal selbst eine Solaranlage in Deutschland. +Seither bringt das Team von Solidarstrom fast alle sechs Wochen eine Anlage an – zuletzt bei Inge Frank. Die stieg zwar nicht mehr selbst mit aufs Dach, dafür waren am Samstag, an dem die Arbeiten begannen, auch die Freunde von Tochter Maren zum Helfen dabei. Der Wetterbericht hatte 30 Grad angekündigt, vom Himmel brannte die Sonne. Auf dem Dach tropfte der Schweiß und hinterließ dunkle Flecken auf den Ziegeln, die innerhalb von Sekunden verdunsteten. Mit Knieschonern machten sich die Helfenden in Teams von zwei bis drei Personen an die Arbeit. +Zunächst lösten sie markierte Ziegel aus dem Dach, in die sie kleine Aussparungen frästen. Währenddessen befestigten die anderen metallene Haken mit großen Schrauben in der unter den Ziegeln liegenden Dachkonstruktion. "Passt der Haken hier?", fragte eine Helferin. "Ich glaube, er müsste ein Stückchen weiter nach oben", sagte ihr Teampartner. Fast 70 Haken setzten die Teams am Samstag. Anschließend befestigten sie daran mehrere Meter lange Metallstangen, in die die schon bereitliegenden Solarmodule am folgenden Tag einfach eingeklickt wurden. Dieser letzte Arbeitsschritt war innerhalb weniger Stunden erledigt. +Für die Handwerkskammer in Bremen ist es grundsätzlich eine gute Nachricht, wenn sich möglichst viele Bürgerinnen und Bürger für den Bau einer Photovoltaik-Anlagen (PV) entscheiden, sagt deren Sprecher Oliver Brandt. "Allerdings ist die Installation von PV-Anlagen technisch komplex, was auch im Hinblick auf Haftungsfragen eine Rolle spielt. Fachliche Expertise und die rechtliche Befugnis für die Arbeiten sind deshalb das absolute Mindestmaß", gibt er zu bedenken. Christian Gutsche vom Bremer Solidarstrom sieht das erfüllt. "Wir reduzieren das Unfallrisiko, indem wir die Arbeitsschutzrichtlinien einhalten", sagt er. Besonders sicherheitsrelevante Arbeiten, wie der Bau des Gerüstes, hat ein Handwerksbetrieb verrichtet. Und sollte es dennoch zu Schäden am Haus oder an der Anlage kommen, springe eine Versicherung ein. + + +Die bei Familie Frank installierte Anlage produziert im Schnitt 10.000 Kilowattstunden Strom pro Jahr. Ein typischer Dreipersonenhaushalt verbraucht nur rund ein Drittel davon – und Inge Frank, die alleine wohnt, noch weniger. Der überschüssige Strom ihrer Anlage speist eine Batterie. Sobald die gefüllt ist, geht der Rest ins Netz. Ein wenig Geduld muss Inge Frank dafür mitbringen. Obwohl die Anlage fertig montiert ist und alle nötigen Kabel verlegt sind, ist sie noch nicht ans Netz angeschlossen. Noch fehlen wegen der Lieferengpässe zwei wichtige Bauteile: die Batterie und der Wechselrichter, der den Gleichstrom der Panels in Wechselstrom umwandelt und ins Stromnetz einspeist. +Selbstbau und Energiegenossenschaften +Mit ihrem pragmatischen Ansatz ähnelt die Selbstbau-Initiative den Energiegenossenschaften. Auch in Genossenschaften wollen Bürgerinnen und Bürger die Energiewende voranbringen. Doch während Selbstbauinitiativen selbst Hand anlegen und beispielsweise Solarmodule aufs Dach bringen, kümmern sich Energiegenossenschaften normalerweise vor allem ums Finanzielle. Ihre Mitglieder legen Geld zusammen, um gemeinschaftlich Solaranlagen oder sogar Windkraftwerke zu betreiben, die Einzelne nicht finanzieren könnten, weil sie zu teuer sind. Je nach investierter Summe gibt es dann jährliche Auszahlungen. +Könnten Solaranlagen wie die auf dem Dach von Inge Frank die Energiewende in Deutschland insgesamt spürbar voranbringen? Fachleute sehen ein erhebliches Potenzial, können es aber nur schwer exakt beziffern. Dazu müssten die genaue Ausrichtung aller Dächer, ihre Neigung und die Traglast ebenso berücksichtigt werden wie andere Häuser oder Bäume, die unerwünschte Schatten werfen können. Die Beratungsgesellschaft Energy Brainpool schätzt, dass auf deutschen Wohngebäuden bis zum Jahr 2030 im Idealfall eine Leistung von bis zu 79 Gigawatt installiert werden könnte – rund 15-mal so viel wie bislang. Zum Vergleich: Das größte deutsche Atomkraftwerk Isar 2 bei München verfügt über eine Leistung von rund 1,5 Gigawatt. Allerdings ließen sich die Atom- sowie Kohle- und Gaskraftwerke nicht einfach durch Photovoltaikanlagen auf vielen Dächern ersetzen. Die Solarmodule liefern schließlich nur Strom, wenn die Sonne scheint. Noch gibt es keine Speicher, die groß genug sind, um den an sonnigen Tagen erzeugten Strom für den Winter aufnehmen zu können. + +Christian Gutsche vom Bremer Solidarstrom treibt eher ein anderes Problem um: Bislang können sich im Prinzip nur die eine Solaranlage aufs Dach bauen, die im eigenen Haus wohnen. Für Mieterinnen und Mieter in großen Mehrfamilienhäusern ist es deutlich komplizierter, weil zahlreiche komplizierte Vorschriften abschrecken, die Anlagen zu installieren. "Hier müssten die Regelungen deutlich gelockert werden", fordert er. +Die Solaranlage, die sich Inge Frank installieren ließ, kostet rund 30.000 Euro. Komplett unabhängig von anderen Stromquellen ist die Bremerin damit aber nicht. Nachts, wenn die Sonne nicht scheint, produziert die Anlage keinen Strom und an trüben Herbsttagen nur wenig. An sonnigen Tagen dagegen erzeugt sie einen Überschuss. Damit lädt zunächst eine Batterie, die beispielsweise einspringt, wenn Inge Frank abends den Fernseher einschaltet. Ist die Batterie vollgeladen, speist die Anlage das Netz. Dafür bekommt Inge Frank Geld. Wie viel, das ist durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz ("EEG") festgelegt. Seit einer Erhöhung der sogenannten "Vergütung" durch eine Gesetzesänderung liegt der Betrag für eine Anlage wie der von Inge Frank bei 8,2 Cent pro Kilowattstunde. Das ist allerdings wenig im Vergleich zu dem, was Stromkundinnen und -kunden zahlen müssen, wenn sie jetzt einen neuen Stromvertrag abschließen. Die Kosten dafür liegen momentan bei mindestens rund 40 Cent pro Kilowattstunde, also fast beim Fünffachen. Den ganz normalen Strompreis muss auch Inge Frank zahlen, wenn sie Strom aus dem Netz bezieht. Also dann, wenn ihre Solaranlage nicht produziert und die Batterie leer ist. Die Anlage wird voraussichtlich 10.000 Kilowattstunden pro Jahr produzieren. Angenommen, die Rentnerin verbraucht rund 2.000 Kilowattstunden selbst. Damit blieben ihr in etwa 650 Euro Einspeisevergütung im Jahr. In Anbetracht der Baukosten ist eine Solaranlage also nicht unbedingt ein gutes Geschäft. Für Inge Frank ist das allerdings zweitrangig. Ihre Motivation ist eine andere: Sie möchte konkret einen kleinen Beitrag für den Umwelt- und Klimaschutz leisten. +In der Bremer Vorstadt ist man trotzdem stolz: "Ich war überrascht, wie einfach die Installation tatsächlich war. Das ist wirklich simpel, fast idiotensicher", sagt Karo, eine von Marens Freundinnen. "Wenn du dann abends müde bist und siehst, was du da gemacht hast, ist das schon ein geiles Gefühl." +Das Gefühl, das Karo beschreibt, kennt Christian Gutsche schon. Er hofft, dass es auf mittlere Sicht dazu beiträgt, den Fachkräftemangel zu beseitigen. Manchmal schauen Kinder und Jugendliche bei den Bauarbeiten zu. "Vielleicht sagen sich ja einige von denen: ‚Das macht Spaß, das will ich auch beruflich machen' und lassen sich zum Dachdecker oder Elektriker ausbilden." Genug Arbeit gäbe es jedenfalls um Inge Franks Haus herum: Hier brüten auf den Dächern nur Ziegel in der Sonne. Noch glitzert es sonst nirgends. diff --git a/fluter/solidarpakt.txt b/fluter/solidarpakt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/soll-das-wahlalter-gesenkt-werden.txt b/fluter/soll-das-wahlalter-gesenkt-werden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ff45b6e1aa638580ef4e94c3ab36119f3c8b5169 --- /dev/null +++ b/fluter/soll-das-wahlalter-gesenkt-werden.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Begründungen, die man häufiger mal hört, lauten: Jugendliche seien weniger vernünftig, leicht beeinflussbar und politisch desinteressiert. Außerdem könnten sie zu extremen Positionen neigen. Abgesehen davon, dass ich diese Thesen fragwürdig finde: Seit wann sind dies Knock-out-Kriterien für ein Grundrecht, nämlich das Recht zu wählen? Wenn dem so wäre, dann müsste man meiner Meinung nach auch einem Donald Trump sein Wahlrecht entziehen, sein Amt natürlich erst recht. Aber dem ist nicht so: Viele Menschen sind unvernünftig, beeinflussbar und so frustriert von der Politik, dass sie ihr Wahlrecht gar nicht erst wahrnehmen. Trotzdem sind sie aus gutem Grund im Besitz dieses Rechts. Wie kann vor diesem Hintergrund das angebliche Desinteresse vieler Jugendlicher ein Argument gegen ihre Teilnahme an der Wahl sein? +Es könnte höchstens ein Argument dafür sein, ihnen das Wahlrecht endlich einzuräumen. Denn dann würde politische Verantwortung für sie früher erfahrbar, sodass sie sich eher mit politischen Fragen auseinandersetzen und ihre Möglichkeiten zur Teilhabe entdecken. +Bei meinen gelegentlichen Workshops zu politischer Bildung an Schulen ist mir aufgefallen, dass die meisten Schülerinnen und Schüler mehr Interesse an politischen Themen haben, als es zunächst erscheint. Anfängliche Coolness und scheinbares Desinteresse weichen häufig reger Teilnahme, sofern es gelingt, einen Bezug zum Leben der Jugendlichen herzustellen. Wenn man aber unter 18-Jährigen das Gefühl gibt, dass sie die Bundestagswahlen nichts angehen, wieso wundert man sich dann, dass sie sie nicht interessieren? +In einer alternden Gesellschaft, in der schon heute die über 65-Jährigen gut 21 Prozent der Bevölkerung ausmachen, hat die Jugend immer weniger Einfluss auf politische Entscheidungen. Das ist fatal, da es bei diesen Entscheidungen ja vor allem um die Zukunft eben jener jungen Menschen geht. Ältere Menschen tendieren häufiger zu konservativen Positionen und stehen Wandel und Aufbruch kritischer gegenüber als Jüngere. Wie sollen innovative, moderne Ideen eine Chance bekommen, wenn die Stimmen der Jungen und Jugendlichen nur einen geringen Teil der Wahlberechtigten ausmachen? Hätte eine insgesamt jüngere Wählerschaft auch für den Brexit gestimmt? +Die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl in Deutschland ist seit den 1970er-Jahren von 91,1 Prozent auf zuletzt 71,5 Prozent gesunken. Wähler mobilisieren konnten in letzter Zeit vor allem Trump, die AfD und Konsorten. Mag Macron bei der französischen Wählerschaft auch für genug Begeisterung gesorgt haben, um die Präsidentschaft Le Pens zu verhindern – angesichts der weltweiten Tendenzen, sicher geglaubte gesellschaftliche Errungenschaften (z.B. die EU, Obamacare oder Diskussionen auf Grundlage von Fakten) infrage zu stellen, können wir uns nicht darauf verlassen, dass stets ein Macron zur Stelle sein wird, um unsere Demokratie zu retten. Eine strukturelle Stärkung der Demokratie ist also essenziell. Dafür ist es aus meiner Sicht eine gute Idee, Kindern und Jugendlichen früh den Zugang zur demokratischen Gestaltung ihres Umfeldes zu eröffnen und ihnen zu zeigen, dass sie sowohl einen Einfluss auf als auch eine Verantwortung für die Gesellschaft haben. Natürlich sind dazu auch andere Veränderungen hilfreich. Wie wäre es zum Beispiel mit (mehr) direktem Mitspracherecht von Schülerinnen und Schülern bei der Bildungspolitik? Ich sehe die frühe Konfrontation mit dem Recht zu wählen als Ausdruck einer Haltung, die Jugendlichen Verantwortung zutraut und Einfluss zugesteht. Sie ist nicht die Lösung aller Probleme unserer Demokratie, aber kann Teil einer positiven Entwicklung sein. +Die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre als Teil eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses, der Minderjährige und Politik einander annähert, ist deshalb eine zeitgemäße Forderung, weil sowohl der Gefahr von Politikverdrossenheit entgegengewirkt werden muss als auch der demografische Wandel eine Stärkung der Positionen junger Menschen gegenüber denen der älteren erforderlich macht. Diese Altersgrenze sollte jedoch keinen neuen, unumstößlichen Standard setzen, sondern eine Annäherung an den Zeitpunkt in unserem Leben darstellen, zu dem wir politische Fragestellungen verstehen können. +Pao Engelbrecht studiert eigentlich Medizin und hat vor Kurzem sein Pflegepraktikum absolviert. Auch darüber hat er hier schon geschrieben ("Mein persönlicher Pflegenotstand"), weil er nämlich studienbegleitend noch an einer zweiten Karriere als Journalist bastelt. +Und zwar ohne gleich weitreichende Konsequenzen nach sich zu ziehen, betont Felix Riefer. Politische Beteiligungsformen für Jugendliche abseits von Wahlen gäbe es schließlich genug +Man kennt das aus den Hollywood-Streifen. Die Protagonisten in den Teeniefilmen sind nicht nur meist nerdig und total verliebt in die Highschool-Schönheit, sie versuchen auch noch sich mit gefälschten Ausweisen ein paar Bier zu besorgen. Für uns in Deutschland wirkt dieses angestrengte "Alk-Besorgen" komisch – sind die nicht schon 16? Während einem sogleich in den Sinn kommt, dass in den meisten US-amerikanischen Bundesstaaten der Konsum von Alkohol erst ab 21 erlaubt ist. Die Grenze wirkt willkürlich und hoch. Und verleitete mich bereits im Teeniealter zu so mancher Diskussion ab wann es denn sinnvoll sei, als volljährig zu gelten. Natürlich nicht ohne gewisse Schadenfreude gegenüber den Highschool-Kids, denn Bier und Wein darf man bei uns schon ab einem Alter von 16 Jahren kaufen. +Ist diese sogenannte Volljährigkeit heilig? Was soll das überhaupt bedeuten? Und was hat das mit dem Wahlalter zu tun? +Selbstverständlich ist in einem demokratischen Rechtsstaat kaum ein Gesetz unverrückbar, unantastbar und erst recht nicht heilig. Und tatsächlich wurde in der Bundesrepublik schon mal das Volljährigkeitsalter gesenkt. Im März 1974 verabschiedete der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit die Herabsetzung der Volljährigkeit von 21 auf 18 Jahre. Bereits 1970 schuf man mit der Absenkung der Altersgrenze des aktiven Wahlrechts von 21 auf 18 Jahre hierfür die rechtliche Grundlage. Unter dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt lief diese Politik unter dem Slogan "Wir wollen mehr Demokratie wagen". +Ich hätte diesen Entschluss damals sicherlich unterstützt. Vieles war in der damaligen Bundesrepublik verstaubt und insbesondere für junge Menschen einengend. Kein Wunder, dass sie rebellierten und die Politik letztendlich reagieren musste. Heutzutage ist die Lebenswirklichkeit der meisten Jugendlichen in Deutschland geprägt von immer verständnisvolleren Eltern. Auch der Staat versucht zunehmend Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen sich jedes Individuum möglichst frei entfalten kann. Klassen- und Konfessionsdenken sind flachen Hierarchien und Toleranz gewichen. Von einer Enge wie damals kann heute kaum noch die Rede sein. +So abgedroschen sich das Folgende auch anhören mag: Mit Rechten kommen Pflichten und somit Verantwortung. Nicht zuletzt gibt es das aktive und das passive Wahlrecht. Aktiv bedeutet, dass ich am Wahltag wahlberechtig bin und passiv, dass ich mich selbst zur Wahl aufstellen kann. Wie wäre es mit einer/einem 16-jährigen Bundeskanzlerin oder Bundeskanzler? Während er oder sie noch die physischen und psychischen Veränderungen der Endphase der Pubertät durchlebt, bestimmt er oder sie "die Richtlinien der Politik" unseres Landes. Spinnen wir noch ein wenig weiter. Es gibt schließlich auch Forderungen nach einem Wahlrecht ab 14. Auf der anderen Seite können Beispiele von pubertärem Verhalten in höchsten Staatsämtern freilich auch Erwachsene liefern. +Es hört sich zunächst überzeugend an, wenn Befürworter behaupten, dass man durch eine früher erfahrbare politische Verantwortung, Jugendliche besser an Politik heranführen könne. Doch letztendlich sollte es eben auch eine Heranführung sein. Eine Phase des Übergangs. Vom Jugendlichen zum Erwachsenen. Dabei ist eine Auseinandersetzung mit politischen Fragen ohnehin auch dann schon jederzeit möglich. Eine Vielzahl von Jugendorganisationen – nicht zuletzt der einzelnen politischen Parteien – sucht immer nach engagierten Mitgliedern. +Im Übrigen gibt es bereits repräsentativ-parlamentarische Beteiligungsformen für Kinder und Jugendliche. In sogenannten Jugendbeiräten oder Jugendgemeinderäten können sich – je nach Bundesland – Kinder und Jugendliche von 12 bzw. 14 bis 21 Jahren kommunalpolitisch beteiligen, ihre Positionen einbringen und eigene Projekte initiieren. Den Anfang machte Frankreich 1979. Seit den 1980er-Jahren gibt es im ganzen Land Kinder- und Jugendparlamente, sogenannte: "conseils d'enfants et de jeunes". Belgien folgte 1987 mit dem Jugendparlament in Waremme. Seither setzte sich auch in der Bundesrepublik sowie in weiteren europäischen Staaten wie Finnland oder Österreich diese Form der Beteiligung von Jugendlichen und Kindern zunehmend durch. Je nach Bundesland existieren verschiedene Konzepte der Jugendbeiräte. Nicht zuletzt ist etwa in diesen Jugendbeiräten oder in einer Jugendorganisation der eigene Input schneller und sichtbarer erfahrbar als beim Gang zur Wahlurne. +Zwar finden progressive Projekte und Gedanken wie die europäische Integration besonders bei jungen Menschen Anklang. Jedoch zeigt gerade das Brexit-Referendum, dass vor allem die jungen Menschen am Abstimmungstag zu Hause geblieben sind. Erst nach der Abstimmung machte man seinem Ärger durch Demonstrationen und in den sozialen Netzwerken Luft. Fakt bleibt auch, dass man sich in diesem Übergangsalter schlicht ausprobieren möchte. Dabei macht man den einen oder anderen Fehler, der durchaus auch juristische Konsequenzen haben kann. Vielleicht ist es gar nicht so verkehrt, wenn es eine Zeit im Leben gibt, in der man zwar schon vieles überblickt, aber eben noch in der Entwicklung ist. Sich mit politischen Themen auseinandersetzen kann man auch dann. Gerne auch nüchtern. +Felix Riefer ist Volontär in der Online-Redaktion der bpb. Er promoviert zu Russlands Außenpolitik unter Putin. Von daher verbringt er viel Zeit damit Matrjoschka-Puppen der Größe nach aufzustellen. Manchmal fährt sogar ein Bär auf einem Einrad vorbei diff --git a/fluter/sommerkollektion-2050.txt b/fluter/sommerkollektion-2050.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bbe58dc5989a68f71ef822d95c61dcf58ee007b7 --- /dev/null +++ b/fluter/sommerkollektion-2050.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Der Elektronikmechaniker und der Modemacher sind aber nur eine Person: Hannah Perner-Wilson, 32, ist Designerin für Elektrotextilien – ein Beruf, der so neu ist, dass man in Deutschland weder einen Studiengang dazu findet noch passende Stellenausschreibungen. "Ich komme aus der Hacker-Szene", berichtet Perner-Wilson. "Schneidern habe ich mir selbst beigebracht." Zusammen mit ihrer Kollegin entwickelt sie Produkte, die Mode und Technik zusammenbringen: Kleider mit eingebauten Lautsprechern etwa – oder Hüte, die tagsüber Solarenergie speichern und nachts leuchten. Außerdem arbeitet Perner-Wilson in einem Team an"Mi.Mu", einemDatenhandschuh, der elektronische Musik komponiert und wiedergibt, wenn der Träger die Hände bewegt. +Nach ihrem Abschluss am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den USA hätte sich Perner-Wilson wohl jede Metropole zum Arbeiten aussuchen können. Sie ist aber froh, in Berlin gelandet zu sein: "Hier passiert gerade sehr viel", sagt sie. Und dieser Fortschritt komme nicht von oben, von der Seite der Modekonzerne, sondern von unten: "Es ist eine Graswurzelbewegung." +Die Graswurzeln, das sind Leute, die Alternativen zum Bestehenden schaffen wollen und dafür wie Perner-Wilson an tragbaren Technologien forschen. Dazu gehören Entwickler von neuen Produktionsmethoden oder Start-ups mit den unterschiedlichsten Konzepten – von Schmuck aus dem 3D-Drucker bis zur digitalen Körpervermessung für das Onlineshopping. "Fashion Technology" oder "Fashion Tech" heißt der Oberbegriff für solche Projekte an der Schnittstelle zwischen Mode, Technik und Internet. +Noch steckt die Branche in den Kinderschuhen. Doch Berlin hat gute Chancen, zu einem Zentrum für Fashion Tech zu werden: Die Mieten hier sind im internationalen Vergleich günstig, und der hippe Ruf der Stadt zieht Kreative und Entwickler an. Einmal im Jahr findet in Berlin das dreitägige Festival"Wear it"für tragbare Technologien statt und halbjährlich die Konferenz"#Fashiontech"mit Besuchern aus vielen Ländern. +Langsam fangen auch einige der zahlreichen Forschungszentren und Hochschulen in Berlin an, sich für Fashion Tech zu interessieren. Die Universität der Künste beispielsweise eröffnete das Design Research Lab, in dem unter anderem zu smarten Textilien geforscht wird. Und die Berliner Senatsverwaltung hat in diesem Jahr insgesamt 30.000 Euro an Preisgeldern für herausragende Fashion-Tech-Konzepte ausgeschrieben,zu deren ersten beiden Ausgezeichneten der Musik-Handschuh Mi.Mu gehört. +Musik-Handschuhe, leuchtende Hüte – das scheint zunächst eine nette Spielerei zu sein. Neue Technologien könnten aber auch wichtige Probleme lösen, vor denen die Mode heute steht.Mario Behling, 39, will die Art und Weise ändern, mit der die meisten Kleidungsstücke bislang produziert werden: in überfüllten, entlegenen Fabriken, in denen Arbeiter für wenige Euro am Tag schuften. Früher leitete Behling eine Softwarefirma. "Jetzt bin ich ein Pulloverhacker", sagt er. Behling verbindet ältere Strickmaschinen mit Computern, sodass sie fast selbstständig Kleidung mit Wunschmuster stricken, angepasst an den Körper des Kunden. Automatische Strickmaschinen gibt es zwar schon länger, nur sind sie teuer und kompliziert. Behling möchte sie so preiswert und bedienungsfreundlich machen, dass auch Privatpersonen mit ihnen "Strickstationen" eröffnen und ihren Kunden dann individuelle Pullover anbieten können: also ein Gegenentwurf zu Ausbeuterbetrieben, die in großer Serie und bei schlechten Arbeitsbedingungen billig Klamotten produzieren, die später in Schlussverkäufen verramscht werden. +Behlings Projekte sind, ebenso wie die von Perner-Wilson, "open source", will heißen: Das Know-how hinter ihren Entwicklungen ist frei verfügbar – anders als bei Konzernen, die ihr Wissen möglichst exklusiv halten wollen. Behling kooperiert mit Entwicklern aus der ganzen Welt. Einer von ihnen arbeitet gerade daran, Einzelteile der Produktionsmaschinen mit dem 3D-Drucker zu produzieren, um sie noch billiger und freier verfügbar zu machen. Das große Ziel ist, dass irgendwann auch Näher aus Entwicklungsländern sie kaufen können. +Die Modekonzerne selbst hätten wenig Interesse an Veränderung, konstatiert Behling. "Ich bot einem Hersteller an, seine Prozesse mit einer App zu vereinfachen. Kosten: 10.000 Euro. Er meinte nur: ‚Weißt du, wie viele Leute in Bangladesch ich dafür einstellen kann?'" +Auch die Designerin Lisa Lang, 32, denkt, dass die Modeindustrie in Sachen Technik alles andere als aufgeschlossen ist: "Die Mode geht von einer Retrowelle in die nächste. Sie schafft es nicht, sich selbst neu zu erfinden." Deshalb gründete Lang vor drei Jahren das LabelElektroCouturefür LED-Schmuck und leuchtende Kleidung. Ihr Arbeitsplatz ist das "Fab Lab", eine offene Werkstatt im Prenzlauer Berg. Die Räume hier tragen futuristische Namen, zum Beispiel "Laser Lab" oder "Heavy Metal Shop". Jede/r kann hier Geräte wie Heißpressen und Lasercutter benutzen – oder den Umgang damit lernen. +Auch unter dem Aspekt Verkehrssicherheit ein gelungener Entwurf: zwei LED-Röcke von "Cute Circute" +Lang bezeichnet sich selbst als "Nerd mit Lippenstift". Auch sie hat nie etwas mit Mode studiert, sondern arbeitete für eine Softwarefirma, bevor sie ihre erste LED-Schmuck-Kette erstellte. Heute leitet sie ein vierköpfiges Team, darunter eine Textildesignerin und einen Entwickler, der seine Doktorarbeit über Mikrobatterien schrieb. +"Man muss Entwickler und Modemacher in einen Raum sperren", sagt Lang. Kämpfe jede Branche für sich allein, so die Gestalterin, komme dabei etwas heraus wie Google Glass, die Brille mit Computerdisplay, die vor allem wegen ihres schlechten Designs gescheitert sei; oderdie vermeintlich innovative Tasche von Diane von Fürstenberg,in der Smartphones kabellos aufgeladen werden. Weihnachten 2015 soll sie herauskommen – das Start-up Everpurse setzte die Idee allerdings bereits im Jahr 2012 um. Langs wichtigster Tipp lautet aber: "Einfach machen!" Es seien die Querschläger, die die Branche revolutionierten, erklärt sie. "Spotify hat die Musikindustrie aufgemischt, Airbnb die Hotelbranche. Vielleicht machen wir dasselbe mit Mode." +Große Szenen für Tech und Smart Fashion gibt es in London und New York. In London sitzt beispielsweise das bekannte, bereits 2004 gegründete Elektromode-LabelCute Circuit. Dessen Designer Francesca Rosella and Ryan Genz machten unter anderem mit dem"Galaxy Dress"Furore, einem Kleid mit 24.000 LED-Leuchtpunkten. In New York kündigte 2014 der Computerchip-HerstellerIntel an, Technologie und Mode zusammenzubringen.Gemeinsam mit dem Luxuskaufhaus Barneys, der Vereinigung der US-Modedesigner und dem Design-Onlinehändler Opening Ceremony will man tragbare Technologie entwickeln und marktreif machen. Zudem soll sich dort künftig auch die neue Mode-Innovationsagentur"Manufacture New York"um tragbare Technologie kümmern. +London und New York bieten beide die Nähe von Mode, Technologie und Geld. In diesen Metropolen sind zwei der wichtigsten Fashion Weeks sowie renommierte Mode-Universitäten beheimatet. Gleichzeitig findet sich dort jeweils eine lebendige Start-up-Szene, hinzukommen viele Tech-Unternehmen und zahlungskräftige Investoren. In London sind etwa die E-Commerce-Modeunternehmen Asos und Net-A-Porter groß geworden. Ein Vorzeigeprojekt auf der anderen Seite des Atlantiks ist das New York Fashion Tech Lab: eine Plattform, die Modefirmen mit Start-ups verbindet und einige von ihnen fördert, zum Beispiel "Stylit", eine Webseite, die Kunden online mit Stylisten verbindet, oder "StyleSage", eine Datenanalyse-Firma für die Modebranche +Wlada Kolosowahätte gern den leuchtenden Schal von ElectroCouture, wenn sie mal wieder nachts mit kaputten Licht durch Berlin radelt. diff --git a/fluter/sonne-film-ayub-rezension-berlinale.txt b/fluter/sonne-film-ayub-rezension-berlinale.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d527bd8616f20880d0fe43158c7c78b1db1781fa --- /dev/null +++ b/fluter/sonne-film-ayub-rezension-berlinale.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Auch die immer wieder zwischengeschnittenen Social-Media-Clips im Hochformat tragen zur Unmittelbarkeit der Geschichte bei. Ob beim Abhängen im Parkhaus, bei nächtlichen Partytouren oder beim Posieren mit Elfenohren-Filtern – die Videos sind Ausdruck des medialen Alltags und gleichzeitig selbst eine künstlerische Ausdrucksform der jungen Frauen. Geschickt nutzt Ayub die schnellen Abfolgen von Videosnippets außerdem dazu, die zunehmende Distanz zwischen den Freundinnen zu veranschaulichen: Wirklich nah ist nur, wer auch in den Storys der anderen zu sehen ist. + + +Fast beiläufig zeigt "Sonne" ein interkulturelles Wien, in dem ethnische Zugehörigkeiten selbstverständlich gelebt, geteilt und zu neuen kulturellen Trends verbunden werden: Festliche Szenen einer kurdischen Hochzeitsfeier folgen nahtlos auf Gespräche über Vaginas und darauf wiederum Alkoholexzesse, die von den Eltern schmunzelnd hingenommen werden. Nur Yesmins Mutter begegnet den liberalen Einstellungen mit Skepsis. Ihr zurückgezogenes Leben in der Wohnung wird dargestellt als Folge von traumatischen Kriegserlebnissen, die sie in einem intimen Moment mit ihrer Tochter teilt. +Yesmin steht irgendwie zwischen alldem. Nach und nach fängt sie an, ihre Lebensweise zu hinterfragen. Ihre beiden Freundinnen hingegen fühlen sich immer stärker angezogen von der kurdischen Kultur, die für sie fremd ist. Nati beginnt, einen jungen Mann mit kurdischen Wurzeln und konservativen religiösen Ansichten zu daten. Bella scheint ihre zunehmende Entwurzelung durch wilde Partys zu kompensieren, gleichzeitig träumt sie von einer Reisenach "Kurdistan". Was Emanzipation bedeutet, was Zugehörigkeit, darauf finden die Freundinnen immer unterschiedlichere Antworten. "Ich dachte, wir tauschen die Rollen", sagt Yesmin einmal provokant zu ihren Freundinnen, als sie zu einem Auftritt ungewohnt freizügig auftaucht: "Jetzt seid ihr die Ausländermädchen und nicht ich." +Leicht erzählt und dabei doch mit großer Ernsthaftigkeit, gelingt Kurdwin Ayub mit ihrem Film eine feinfühlige Geschichte über migrantische Selbstermächtigung und das Ausloten der eigenen Identität. Dabei ist "Sonne" auch eine liebevolle Annäherung an die Verworrenheit jugendlicher Freundschaften, die weit über die kurdisch-österreichische Gesellschaft hinausweist. + +"Sonne" hatte auf der Berlinale Premiere und läuft ab dem 1. Dezember 2022 in den deutschen Kinos. + diff --git a/fluter/sonne-mond-und-caesium.txt b/fluter/sonne-mond-und-caesium.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9ffb23a51979eecccd34bf01a2c390f6f022d48a --- /dev/null +++ b/fluter/sonne-mond-und-caesium.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Mittelalter / frühe Neuzeit +Die Entwicklung der Uhren und des Zeitverständnisses wird in Europa maßgeblich in Klöstern vorangetrieben: Zu bestimmten Zeiten soll dort gebetet oder gearbeitet werden. Papst Sabinianus ordnet 604 an, die Gebetszeiten durch Glocken zu verkünden; bald richtet sich die ganze Bevölkerung nach den kirchlichen Signalen.Die mechanische Räderuhr wird zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert in europäischen Klöstern erfunden – das technische Wissen dazu ist wohl aus dem islamischen Raum und aus China gekommen. Padua ist 1344 die erste Stadt, die eine öffentliche Uhr besitzt.Ein niederländischer Astronom meldet 1657 das Patent für eine Pendeluhr an. Mit dieser Erfindung wird die Gangungenauigkeit auf 10 Sekunden pro Tag gesenkt. +Zeitgleich mit den Räderuhren verbreiten sich in Europa die Sanduhren, die besonders in der Seefahrt zum Einsatz kommen. Die Sanduhren beenden die Ära der Wasseruhren, da sie eine genauere Zeitmessung erlauben.In wohlhabenden Haushalten werden im 14. Jahrhundert Haus- und Zimmeruhrenüblich. Die Erfindung des Mechanismus von Zugfedern und Schnecken macht die Verbreitung von tragbaren Uhren möglich. Sie werden im 14. und 15. Jahrhundert zum Statussymbol.Papst Gregor XIII. korrigiert 1582 den Julianischen Kalender, der bis dahin zehn Tage Verspätung angesammelt hatte, und führt den Gregorianischen Kalender ein. Aber auch dieser heute übliche Kalender ist ein unvollkommenes Sys-tem. Er kann die unregelmä-ßigen Umlaufzeiten der Erde um die Sonne und des Mondes um die Erde nicht ausgleichen. Deshalb gibt es Korrekturtage und Schaltjahre. +Neuzeit +Im 18. Jahrhundert wird die Digitalanzeige populär. Auf einer drehenden Scheibe sind die Ziffern durch einen Ausschnitt zu sehen. Zeit war immer Sonnenzeit: Es war 12 Uhr Mittag, wenn die Sonne im Zenit stand. Der Sonnenstand aber ist von den Jahreszeiten abhängig - ein Umstand, der mit der wachsenden Bedeutung von Zeit im Alltag problematischer wird. Daher wird eine von den Jahreszeiten unabhängige Ortszeit eingeführt, in Genf 1780, in London 1792, in Berlin 1810. Da jede Stadt ihre Ortszeit selbst ermittelt, gehen vielerorts die Uhren anders. So gibt es am Bodensee noch vor etwa hundert Jahren fünf Zeitzonen mit Differenzen von bis zu 34 Minuten.1884 beschließt die internationale Meridiankonferenz, Zeitzonen mit einer Breite von je 15 Längengraden einzuführen, für die eine einheitliche Zeit gelten soll. Seitdem richtet sich Mitteleuropa nach dem Meridian von Görlitz. Der Nullmeridian wird in Greenwich gelegt. Aber auch dieses System hat einen toten Winkel: Wie spät es an den Polen ist, wo die Längengrade zusammenlaufen? +In Deutschland werden am 1. April 1893 die Ortszeiten abgeschafft.Die Deutsche Reichsbahn führt 1927 bei ihren Fahrplänen die 24-Stunden-Zählung ein.1930 wird die Quarzuhr erfunden, die so genau geht wie keine Uhr zuvor. Die ersten Quarzuhren waren so groß wie Kleiderschränke.Seit 1967 ist die Sekunde nicht mehr, wie 1345 festgelegt, der 86400. Teil des mittleren Sonnentages, sondern als das 9192631770fache der Periodendauer einer speziellen Strahlung des Cäsiumatoms definiert. Seit Mitte der Fünfzigerjahre berechnet das Internationale Büro für die Zeit in Paris mit Hilfe mehrerer Cäsiumuhren die genaue Zeit. diff --git a/fluter/sonne-und-beton-film-lobrecht-rezension.txt b/fluter/sonne-und-beton-film-lobrecht-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1fc8a629ebb7de5536c602467e406702c19bd419 --- /dev/null +++ b/fluter/sonne-und-beton-film-lobrecht-rezension.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Um die Trostlosigkeitin sogenannten sozialen Brennpunkten, um Ungerechtigkeit und Potenzial, das ungenutzt bleibt, weil Geld und Förderung durch Eltern oder Lehrer*innen fehlen. Und ums Wegschauen. "Jeden Tag ist was in der Schule, und niemanden interessiert's", sagt Lukas, als die Polizei – mit großer medialer Aufmerksamkeit – wegen der gestohlenen Computer ermittelt. Es geht um Gewalt im Klassenzimmer, im Park und zu Hause, die Sehnsucht nach einem besseren Leben und die Freundschaft zwischen den vier Jungs. Lukas und Julius sind an ihrer Schule als Deutsche ohne Einwanderungsgeschichte in der Minderheit, besonders Julius kompensiert das, indem er permanent provoziert. Der Film ist eine Adaption des autobiografischen Romandebüts von Comedian Felix Lobrecht aus dem Jahr 2017. Damalssagte er dem Deutschlandfunk: "In einer Gegend, in der blonde Deutsche in der Minderheit sind, kriegen die natürlich eher auf die Schnauze, weil Minderheiten immer diskriminiert werden in irgendeiner Form." + +"Sonne und Beton" ist in einem Moment abgrundtief traurig und berührend, dann wieder wohltuend lustig. Es wird viel geflucht und auf die Straße gerotzt, die Dialoge sind authentisch. Der Soundtrack, unter anderem von den Rapper*innen Azzi Memo, Juju, Lucio101, Luvre47 und Olexesh, die auch im Film zu sehen sind, trägt den Film und gibt seinen schnellen Rhythmus vor. "Sonne und Beton" nimmt seine Figuren ernst und das nicht nur, weil Lobrecht das Milieu so gut kennt: Er schrieb das Drehbuch zusammen mit dem Regisseur David Wnendt, der für sein Debüt "Kriegerin" über ein rechtsradikales Mädchen in Ostdeutschland 2012 den Deutschen Filmpreis in Bronze erhielt. +Felix Lobrecht ist selbst mit seinen Geschwistern bei seinem alleinerziehenden Vater in Berlin-Neukölln aufgewachsen. Er betonte, sein Roman sei nicht autobiografisch, er habe aber vieles eingearbeitet, was er in seiner Kindheit in der Gropiusstadt erlebt habe. "Es war alles genau so. Vielleicht aber auch nicht", wird zu Beginn des Films eingeblendet. +"Gropiusstadt ist offensichtlich einer der Hauptdarsteller in dem Buch und in dem Film", sagte Felix Lobrecht im Rahmen der Premiere auf der Berlinale. Dasvom Bauhaus-Gründer Walter Gropius entworfene Viertel am Rand von Neuköllnwar eigentlich großzügiger geplant, aus Kostengründen und wegen der Wohnungsnot in Westberlin nach dem Mauerbau wurde dann höher und enger gebaut als vorgesehen. Diese Enge, das will der Film zeigen, befeuert Aggression. "Sonne und Beton" beschönigt nicht, zeigt finstere Ecken, ist aber auch ein liebevolles Porträt des Viertels und seiner vielen Facetten. +"Sonne und Beton" ist hervorragend besetzt und gespielt. Für die jugendlichen Hauptrollen wurde bundesweit gecastet, mehr als 5.000 Jugendliche hatten sich  beworben oder wurden bei Straßencastings angesprochen (verantwortlich: Jacqueline Rietz). Die vier Schauspieler Levy Rico Arcos, Rafael Luis Klein-Heßling, Vincent Wiemer und Aaron Maldonado Morales spielen so wahrhaftig, mit Timing und Gespür für Humor, dass man nur hoffen kann, sie bald in weiteren Rollen zu sehen. + +"Sonne und Beton" hatte auf derBerlinalePremiere und läuft ab sofort in den deutschen Kinos. + +Titelbild: Constantin Film Verleih diff --git a/fluter/souad-mekhennet-terror-expertin.txt b/fluter/souad-mekhennet-terror-expertin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..78dad131ebd5d30d74df6c0e84ca8d2e0f093774 --- /dev/null +++ b/fluter/souad-mekhennet-terror-expertin.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +In ihrem neuen Buch "Nur wenn du allein kommst. Eine Reporterin hinter den Fronten des Dschihad" stellt sie dar, welche Dynamiken hinter dem internationalen Terrorismus stecken. Darin geht es nicht nur um die Wut ausgegrenzter Männer und Frauen in Brüssel, die Bedeutung von al-Qaida und des sogenannten Islamischen Staates (IS) im Irak oder den wachsenden Einfluss des Iran. Es geht ebenso um Vergehen und Fehler westlicher Behörden, um den Irakkrieg, Guantánamo und die Folterpraktiken des US-amerikanischen Auslandsgeheimdienstes CIA. +Immer wieder fällt der Name Khaled al-Masri, dessen Geschichte Mekhennet gemeinsam mit einem weiteren Journalisten der "New York Times" aufgedeckt hat. Der Deutsch-Libanese wurde 2003 vom CIA in Mazedonien verschleppt, eingekerkert, gefoltert, verhört. Ohne Grundlage, wie sich später herausstellte, aufgrund einer Verwechslung, aber mit dem Wissen deutscher Behörden. Die Staatsanwaltschaft München hat ihre Ermittlungen gegen 13 mutmaßlich beteiligte CIA-Agenten laut "Spiegel" im April eingestellt. Grund: Verjährung. Die Journalistin ist sich sicher: "Indem wir beziehungsweise unsere Politiker nicht bereit sind, solche Themen öffentlich zu diskutieren, werden wir den Kampf gegen die Rekrutierer verlieren, weil nur ihre Erzählungen gehört werden." +Souad Mekhennet: "Nur wenn du allein kommst. Eine Reporterin hinter den Fronten des Dschihad". C.H. Beck Verlag, München 2017, 384 Seiten, 24,95 Euro +Dieser Kampf scheint bei einigen Menschen, die Mekhennet während ihrer Recherchen begegnet, bereits verloren. Wie bei Meryam, einer 18-jährigen Deutschen, die zum Islam übergetreten ist. Mekhennet traf sie 2014 in Berlin, weil sie herausfinden wollte, warum immer mehr junge Frauen einen IS-Kämpfer heiraten wollen. Die Rollen waren für Meryam klar verteilt: Amerika, Europa und die arabischen Machthaber rissen sich das Öl und die anderen Reichtümer der islamischen Welt unter den Nagel und ließen die Armen leer ausgehen, meinte sie. Es sei ein "Krieg gegen den Islam" im Gange. "Der IS und al-Qaida waren für sie Organisationen des Widerstands, ihre Anführer Helden", schildert Mekhennet. "Ich habe mit ihr über die Versklavung der Jesidinnen gesprochen, darüber, wie Frauen behandelt werden, aber sie meinte, das sei alles Propaganda. Sie stand schon im Kontakt mit dem IS und wollte gar nichts anderes mehr hören." +Auch Souad Mekhennet erlebte als Jugendliche Wut und Angst. Die Tochter eines sunnitischen Marokkaners und einer schiitischen Türkin, aufgewachsen in Frankfurt am Main, verknüpft in ihrem Buch immer wieder Weltpolitik mit persönlichen Erfahrungen. Sie erzählt, wie es sich für sie angefühlt hat, als Anfang der 1990er-Jahre in in Städten wie Hoyerswerda Flüchtlingsunterkünfte brannten und die ersten Rekrutierungsvideos von Dschihadisten vom Balkan auftauchten. Ihr half damals nicht nur die Solidarität von jüdischen Freunden und Bekannten, sondern auch, dass sie durch eine Koranschule in Marokko und ihre Großmutter viel über ihre eigene Religion weiß: "Es ist wichtig, dass man den Islam in Europa als Religion in die Mitte reinholt und nicht als etwas behandelt, das halt da ist. Die Leute müssen wissen, dass das, was ihnen die Rekrutierer als Islam verkaufen, möglicherweise so gar nicht im Koran steht oder aus dem Kontext gerissen wurde." +Wie wenig es um Religion und wie sehr es um Politik geht, zeigen die vielen Gespräche mit hochrangigen Dschihadisten. Mit ihnen diskutiert Mekhennet nicht nur über Koransuren, sondern auch über das Verhältnis zwischen den USA und dem Iran oder zwischen den Schiiten und Sunniten im Irak. Spannend sind diese Stellen im Buch auch, weil sie viel über die Recherchetechniken der Investigativjournalistin verraten. +Über die Jahre hat Mekhennet viele Kontakte zu Fundamentalisten und Radikalen in Nordafrika und Europa geknüpft. Ihre "Glücksabaya", die sie zu heiklen Interviews anzieht, hat sie von einem Vertrauten des inzwischen toten Al-Qaida-Anhängers Abu Musab al-Zarquawi bekommen; ein Taliban-Kommandeur benannte seine Tochter nach der Journalistin. Auch Heiratsanträge wurden schon an Mekhennet herangetragen. +Diese Anekdoten bieten aber nur eine kurze Verschnaufpause. Die Interviews, die Mekhennet mit den Dschihadisten führt, sind jedes Mal ein Drahtseilakt. Sie oszillieren zwischen Neugierde und Drohungen: "Es ist schwer und gefährlich, an diese Menschen heranzukommen. Da schützt es mich auch nicht, dass ich eine Frau mit muslimischer Abstammung bin. Es kann immer etwas schiefgehen – und solche Situationen beschreibe ich auch in dem Buch." Wie beispielsweise jene 24 Stunden in einem berüchtigten Foltergefängnis des ägyptischen Geheimdienstes, in dem Souad Mekhennet mit einem Kollegen und ihrem Fahrer festsaß. +Warum riskiert sie freiwillig ihr Leben? Vielleicht lässt sich die Antwort an einem Abend vor rund 16 Jahren finden. Nach dem ersten Prozessauftakt nach 9/11 gegen einen mutmaßlichen Terroristen sitzt sie in Hamburg Maureen Fanning gegenüber. "Niemand hat uns darüber informiert, dass es Menschen gibt, die uns derart abgrundtief hassen", sagte Fanning, die ihren Mann bei den Anschlägen in New York verloren hat. "Warum hassen sie uns so sehr?" "Ich konnte ihr damals keine richtige Antwort geben, weil wir mit diesen Attentätern davor nicht gesprochen haben", erinnert sich Mekhennet. "Aber seitdem habe ich mir das zur Aufgabe gemacht. Ich möchte nie mehr vor einem Opfer stehen, das sagt: Wir haben nichts gewusst." + + diff --git a/fluter/soziale-klassen-definition.txt b/fluter/soziale-klassen-definition.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..935a738f3f98092c61e2c7b3ed462762c0317efc --- /dev/null +++ b/fluter/soziale-klassen-definition.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Erstmals in zivilen Zusam­menhängen als "classis" bezeichnet und wurden diese Gruppen in Rom, und zwar vom dortigen Finanzamt. Ihm ging es darum, die Bevölkerung anhand ihrer materiellen Mittel in Steuerklassen zu unterteilen. Die­se amtliche Anerkennung faktischer Ungleichheiten wurde aber poli­tisch nicht weiter problematisiert. +Im christlichen Mittelalter galt die Einteilung der Menschen ineine dreigliedrige Ständeordnung: Klerus, Adel und alle freien Bauern und Bürger. Die Verteilung des gesellschaftlich produzierten Reichtums wurde als gott­gegeben gerechtfertigt. So legitimierten sich die privilegierten Positionen der vermeintlichen Stellvertreter Gottes auf Erden und der Inhaber der weltlichen Macht. +Immer wieder aber gab es auch aufseiten des Christentums Versuche, alle Ungleichheiten einzuebnen. Berufen konnten sich Reformer und die Vorkämpfer einer "klassen­losen Gesellschaft" auf eine Beschreibung der christlichen Urgemeinde in der biblischen Apostelgeschichte, in der alle Christen ihr Eigentum abgeben und miteinander teilen. +Weiterlesen: +Wie würde Marx wohl über die heutige Zeit urteilen?Eine Zeitreise mit dem Marx-Experten Mathias Greffrath +Je mehr Güter ab der industriellen Revolution produziert wurden, umso dringlicher stellte sich die Frage nach der Ver­teilung des Reichtums. Nach und nach ergriffen die Bürger die Macht, die über Produktionsmittel verfügten – Kapital, Land, Rohstoffe und Maschinen. Im 19. Jahrhundert wuchs auf diese Weise zwar der Wohlstand, vor allem aber jener der ohnehin schon Wohlhabenden. Immer größere Massen von Arbeitern verkauften ihre Arbeitskraft in den Fabriken, anstatt wie zuvor auf Feldern ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften. +Dann schlug die Stunde des Sozialismus. Karl Marx und Friedrich Engels riefen einen Klassenkampf zwischen Bour­geoisie (besitzendes Bürgertum) und Proletariat (besitzlose Lohnabhängige) aus. Im Zuge der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft würden sich die werktätigen Massen, so die Theorie, gegen die Kapitalisten erheben. Nach einer solchen Revolution, glaubte man, würde das Privateigentum abgeschafft und gerecht verteilt. +Dort, wo es tatsächlich zu Revolutionen kam, wie in Russland, wurde das kommunistische Ideal einer "klassenlosen" Gesellschaft nie erreicht. In europäischen Industrienationen wie Großbritannien, Frankreich oder Deutschland hingegen gelang es, die Kehrseiten des Kapitalismus politisch so weit einzudämmen, dass es zu keinem Umsturz kam. Gewerk­schaften waren in der Lage, die Interessen der Arbeitenden gegenüber den Arbeitgebern zu formulieren und durchzusetzen – von der Gesundheitsversorgung bis zum bezahlten Urlaub. +Die nationalsozialistische Propaganda leugnete die Gegen­sätze zwischen den Klassen und betonte die gemeinsamen Interessen einer vermeintlich gleichen "Volksgemeinschaft". Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich die Erzählung des durch den Marshallplan befeuerten "Wirtschaftswunders" durch, das "Wohlstand für alle" bringen sollte. Der Soziologe Hel­mut Schelsky prägte in Anbetracht der sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik in der Nachkriegs­zeit den Begriff der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft". Trotz dieser optimistischen Beschreibung bestanden die Klassenunter­schiede weiterhin fort. +Der französische Soziologe Pierre Bourdieu sah in jeder Gesellschaft ein Oben, ein Unten und eine Mitte – je breiter die Mitte sei, umso geringer das Ungleichgewicht zwischen den Klassen. Unterscheidungsmerkmal ist laut Bourdieu neben den ökonomischen Ressourcen auch der kulturelle "Geschmack". Wie viele Bücher jemand im Schrank stehen hat, wie viel er oder sie von Kunst versteht, wie viel jemand fernsieht oder welche Nahrung man zu sich nimmt –das sind Bourdieu zufolge die "feinen Unterschiede", in denen sich die Ungleichheit der Menschen in der moder­nen Gesellschaft ausdrückt. +Als "soziale Mobilität" bezeichnet man den Auf­- oder Abstieg von Individuen in eine andere soziale Klasse. In Deutschland erlahmt gegenwärtig die Aufstiegsdynamik, und Klassenschranken werden deutlicher. Die soziale Ungleichheit nimmt zu. Es werden Debatten über Vermögenssteuer, Min­destlöhneund Hartz IVgeführt. Diskriminierungen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse werden – analog zum Rassismus und Sexismus – als Klassismus bezeichnet. +Die Klassenfrage bleibt aktuell und wartet noch immer auf eine Antwort. diff --git a/fluter/soziale-medien-filter-sch%C3%B6nheit.txt b/fluter/soziale-medien-filter-sch%C3%B6nheit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..432a4872a570398ac8246060089e298cb8a94d22 --- /dev/null +++ b/fluter/soziale-medien-filter-sch%C3%B6nheit.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Längst reichen vielen die Filter nicht mehr aus, sie wollen auch im echten Leben aussehen wie im digitalen Raum – oder besser:wie die erfolgreichsten Influencerinnen.Neben vollen Lippen und einer Wespentaille wurde auch ein besonders praller Po zum neuen Schönheitsideal – und damit eine besonders gefährliche Operation zum Trend: Bei der "Brazilian Butt Lift" genannten Aufpolsterung mit Eigenfett kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu Todesfällen. + + +"Zuckerberg und Co. haben Monster erschaffen" und "Influencer sind eine Gefahr für unsere Gesellschaft", sagt Werner Mang, der seit mehr als 30 Jahren Schönheitsoperationen durchführt. In den vergangenen 20 Jahren hätten sich die Wünsche der Patientinnen und Patienten stark gewandelt, sagt er – vor allem durch das Internet. Mang erzählt von einem zwölfjährigen Mädchen, das mit einem stark bearbeiteten Selfie zu ihm kam, um sein Gesicht dem Bild anpassen zu lassen. So was sei leider kein Einzelfall. Rund zehn Prozent der Anfragenden schicke er wieder nach Hause, sagt Mang. Weil sie entweder zu jung seien – oder die Erwartungen zu hoch sind. +Es muss nicht immer gleich der Brazilian Butt Lift sein: Weltweit führten Ärztinnen und Ärzte im Jahr 2020 mehr als 14 Millionen nicht- oder minimalinvasive Eingriffe durch, letztere sind Operationen, die mit kleinen Schnitten und leichten Verletzungen gemacht werden. Darunter waren Lippenaufspritzungen, aber auch über sechs Millionen Botoxbehandlungen – 26 Prozent mehr als noch vier Jahre zuvor. Auch in Deutschland zählen Botoxbehandlungen zu den häufigsten Eingriffen. Überhaupt stand Deutschland in puncto Schönheitsoperationen 2020 weltweit an dritter Stelle. +2019 befragte die Deutsche Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie 1.333 Menschen zu ihrer Motivation, sich einer Schönheitsoperation zu unterziehen. 24 Prozent wollten ihr Aussehen einem ästhetischen Vorbild annähern, aber nur 2,3 Prozent gaben an, die Sozialen Medien hätten sie bei der Entscheidung beeinflusst. Doch auf die Frage, ob sie so aussehen wollen wie auf ihren eigenen, mit Bildbearbeitungsprogrammen bearbeiteten Fotos und Selfies, antworteten 14 Prozent der Befragten mit "Ja". + + +Die gestörte Wahrnehmung des eigenen Körperbilds nennen Experten "Dysmorphophobie". Das bedeutet: Menschen empfinden sich als hässlich, obwohl sie keine auffälligen Schönheitsmakel haben. Sind Filter die Ur­sache für diese gestörte Selbstwahr­nehmung, sprechen Ärzte auch von "Snapchat-Dysmorphophobie". Denn auch die Filterfunktionen von Sozialen Medien können solch eine gestörte Körperwahrnehmung auslösen, etwa wenn sich eine Person nicht mehr im Spiegel anschauen kann, weil das Bild nicht dem gefilterten Selfie in den Sozialen Medien entspricht. +Claus-Christian Carbon ist Psychologe an der Universität Bamberg. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die Wahrnehmungspsychologie. "Wenn ich auf Dauer stark veränderte Personen sehe, sagen wir Menschen mit stark vergrößerten Lippen, dann verschiebt sich mein Empfinden von Attraktivität in diese Richtung – und jede Person mit normalen Lippen werde ich als schmallippig wahrnehmen. Wenige Minuten des Betrachtens können diesen Effekt auslösen – und er kann wochenlang anhalten." Wer sich auf Dauer sein stark verändertes Selbst ansehe, für den werde dieses Selbst zum neuen Normal. Ein neues Normal, das sich immer noch weiter verbessern lässt. +"Wer sich zu lange in der Filterblase aufhält, der nimmt sie nicht mehr wahr", sagt Carbon. "Dann erscheinen nicht mehr die Filter merkwürdig und unnormal, sondern alles andere." Doch auch dieser Trend wird vorbeigehen, ist sich Carbon sicher. "Viele Menschen sehnen sich nach Authentizität." Auch auf Instagram: Tatsächlich gibt es auch Tausende Beiträge unter Hashtags wie #realvsfake, #normalizenormalbodies, #realskin von ungefilterten Hautunreinheiten, von Aknenarben und Falten. +Und Bilder von echten Menschen  – so, wie sie in Wirklichkeit aussehen. + +Fotos: Ji Yeo diff --git a/fluter/soziale-medien-fluter-editorial.txt b/fluter/soziale-medien-fluter-editorial.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0d0da3074ff49be99c82089daced8a5848d53e13 --- /dev/null +++ b/fluter/soziale-medien-fluter-editorial.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Dazu kommt: Unsere vielfältigen sozialen Beziehungen werden durch die vorherrschenden Sozialen Medien verzerrt abgebildet. Was wird hier eigentlich durch die Algorithmen als sozial definiert und bevorzugt? Weil es Aufmerksamkeit bindet und so das Geschäftsmodell stützt, werden Starkult und überzogene Ideale der Selbstdarstellung mitsamt dem entwürdigenden und krank machenden Konkurrenzdruck befeuert, werden Aufregungen bis hin zu offenem Hass und organisierter Gewalt einfach gemacht und im Umlauf gehalten. +Was fehlt? Was würden wir anders erfahren wollen? Wie wäre es zum Beispiel damit: unbeobachtete Momente erleben können, in Ruhe miteinander schweigen, sich ungestört Trost spenden, gemeinsam Gelassenheit, Achtung und Selbstgewissheit finden. In Echtzeit wissen und selbst entscheiden, welche Daten wir an wen weitergeben und wofür. +Die vorherrschenden Ausblendungen und Widersprüche zeigen, dass da noch Entscheidendes fehlt. Unsere offenen Fragen geben Hinweise, wie es anders werden und weitergehen könnte. Diese Plattformen sind ja kein Schicksal, sie gehören zu Verhältnissen, die verändert werden können. +Das Geschäft mit unseren sozialen Beziehungen und Daten ist auch in Deutschland bisher wenig wirksam reguliert, angesichts ihrer weltweiten Macht steht die politische Einhegung der Konzerne noch am Anfang. Ohne öffentliche Debatten, organisierten Druck und unsere eigene massenhafte Beteiligung daran wird die Politik hier eher schwach bleiben. +Letztlich geht es dabei um die Frage, was wir unter gutem Leben verstehen wollen. Wie wollen wir es uns erkämpfen, und wie werden wir unser Miteinander digital neu gestalten? Wie sähen denn wirklich soziale Soziale Medien aus? Wem gehörten sie, welchen Werten wären sie verpflichtet? diff --git a/fluter/soziale-medien-politischer-aktivismus.txt b/fluter/soziale-medien-politischer-aktivismus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2f7ab34808f976abf3c9e48f47b1df694e864218 --- /dev/null +++ b/fluter/soziale-medien-politischer-aktivismus.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Bereits 2013 nutzten Afroamerikaner und Afroamerikanerinnen Twitter, um sich über Gewalt an Schwarzen auszutauschen und für ihre Rechte zu kämpfen. Sie formierten sich zu einer Protestbewegung:Black Lives Matter. Nach der Tötung von George Floyd vor knapp zwei Jahren und der Veröffentlichung des Videos davon verbreiteten sich Hashtags wie #BlackLivesMatter, #BlackoutTuesday und #icantbreathe, die letzten Worte Floyds, in der ganzen Welt. Mehr als 19 Millionen Mal wurde allein der Hashtag #Blackouttuesday auf Instagram gepostet, dazu millionenfach ein schwarzes Bild. Die Aktion sollte zum Nachdenken über Rassismus anregen. Aber nicht nur online wurde protestiert: In Städten wie Wien, Lagos, Berlin und Tokio gingen die Menschen auf die Straße. Die Demonstrationen brachten politische Debatten über unterschiedliche Facetten von Rassismus auf den Tisch. Auch in Deutschland wurde in der Politik und in den klassischen Medien daraufhin vermehrtüber Rassismus wie etwa Racial Profiling diskutiertund berichtet. Dieses globale Ausmaß kam wohl vor allem dank der Sozialen Medien zustande. + +Seit der Islamischen Revolution 1979 gelten strenge Kleiderregeln für Frauen im Iran: Unter anderem müssen Mädchen ab der Grundschule ein Kopftuch tragen. Dagegen sträubte sich Masih Alinejad, eine der bekanntesten Kritikerinnen der iranischen Regierung, schon als Kind. Als junges Mädchen kämpfte die heute 45-Jährige in ihrem Heimatdorf Ghomikola im Nordiran dafür, die gleichen Rechte wie ihr Bruder zu bekommen. Als Studentin wurde sie als Regime­gegnerin verhaftet. Als Parlamentskorrespondentin in Teheran erhielt sie ein Berufsverbot. Heute lebt sie im Exil in New York. 2014 startete sie eine Facebook-Initiative: "My Stealthy Freedom". Mehr als eine Million Nutzerinnen und Nutzer haben die Facebook-Seite abonniert. Sie gilt heute als Plattformfür Proteste von Iranerinnen, die sich gegen die Kopftuchpflicht aus­sprechen. Masih Alinejad ist eng mit Aktivistinnen im Iran vernetzt und startete mehrere Kampagnen. Sie gilt als Ideengeberin der "White Wednesdays", bei denen sich seit 2017 Frauen im Iran immer mittwochs weiß kleiden oder sogar ihr weißes Kopftuch abnehmen. Als Erste wagte die damals Anfang-30-jährige Vida Movahed, sich auf einen Stromkasten am Rand einer stark befahrenen Straße in Teheran zu stellen, ihr Kopftuch an einen Stock zu binden und durch die Luft zu schwenken. Dafür wurde sie zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Während der Proteste wurden zahlreiche Frauen festgenommen, strafrechtlich verfolgt und mit Folter bedroht. Trotz dieser Proteste gibt es die Kopftuchpflicht im Iran bis heute. + +Im Dezember 2010 zündete sichder tunesische Gemüsehändler Mohamed Bouaziziaus Protest gegen Polizeigewalt und die Demütigung durch Behörden selbst an. Dieser radikale Akt der Verzweiflung führte zum Beginn des sogenannten Arabischen Frühlings und zum Sturz des Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali. Wenige Monate später bäumten sich die Menschen in Ägypten, Libyen, Dschibuti und zahlreichen weiteren Staaten im Nahen Osten und Nordafrika gegen ihre Regierungen auf. Zwar begannen die Proteste auf den Straßen, doch das Internet beschleunigte die Sache:Die Sozialen Medien wurden zum Werkzeug der Selbstermäch­tigungund machten es den Regimen schwer, unerwünschte Informationsflüsse zu stoppen. Auf Facebook mobilisierten sich die Massen, mit Twitter und YouTube informierten junge Araberinnen und Araber die Welt über die Proteste. Das Zusammenspiel der traditionellen und neuen Medien war revolutionär und begünstigte den Sturz mehrerer Regierungen. + +Unter der Dusche oder auf dem Klo sei ihm die Idee zu "No Woman, No Drive" gekommen, so der Satiriker Hisham Fageeh. Der Song ist eine Art Coverversion des Bob-Marley-Songs "No Woman, No Cry". Fageeh singt darin über ein Thema, das in Saudi-Arabien lange politisch und gesellschaftlich höchst brisant war: das Fahrverbot für Frauen. Oft hatten Aktivistinnen versucht, in den Sozialen Medien Druck aufzubauen und so das Verbot zu kippen. Doch nie zuvor gab es ein so großes Echo wie nach dem Hit von Fageeh: In weniger als zwei Tagen wurde das Video auf YouTube über drei Millionen Mal geklickt. Mittlerweile hat das Video ausSaudi-Arabienfast 17 Millionen Klicks. Fageeh greift in seinem Song unter anderem das ab­surde Argument eines islamischen Geistlichen auf, der behauptet hatte, das Steuern von Fahrzeugen sei schlecht für die Eierstöcke. Ob das Video die Entscheidung von Kronprinz Mohammed bin Salman beeinflusst hat? Zumindest hob dieser das Fahrverbot für Frauen in Saudi-Arabien 2018 auf. + +Titelbild: Carlo Allegri / picture alliance / REUTERS diff --git a/fluter/soziale-ungleicheit-und-depression.txt b/fluter/soziale-ungleicheit-und-depression.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ee1a12114d9b7fc1f64fad948930b738cf954df6 --- /dev/null +++ b/fluter/soziale-ungleicheit-und-depression.txt @@ -0,0 +1,37 @@ + + +Die heute 34-Jährige wurde in der damaligen DDR geboren, ihre Mutter war alleinerziehend, arbeitete viel und war fast nie zu Hause. Trotzdem reichte es nie aus. Schon früh lernte Susanne, was es bedeutet, kein Geld zu haben. Konnten Rechnungen nicht bezahlt werden, und so war es oft, bediente sich die Mutter an dem Sparschwein ihrer Tochter. Sogar als Susanne sich mit 19 Jahren etwas für den Start ins eigene Leben dazuverdiente, wurde ihr Gehalt vom Sozialhilfesatz der Mutter abgezogen. +"Schon da habe ich erlebt, dass meine Arbeit nicht belohnt und anständig bezahlt wird", erinnert sie sich. "Ich brauchte das Geld, weil ich von zu Hause rausmusste, aber es wurde mir einfach weggenommen." +Auf der Arbeit versuchte sie, mit ihrer Leistung zu überzeugen, und das funktionierte auch erst mal ganz gut. Aber sobald Feierabend war, fiel Susanne in einen Sumpf aus Einsamkeit und gefühlter Wertlosigkeit. Als sie für ein Praktikum in eine andere Stadt ziehen musste, fehlte ihr das Geld für die Kaution, und sie bat ihren Vater um Unterstützung. Tagelang hörte sie nichts von ihm – bis er ihr beiläufig mitteilte, er könne ihr nicht helfen. Auch das Jobcenter steuerte kein Geld für die Umzugshilfe bei. Bei einem Praktikantengehalt von 460 Euro, das sie zu diesem Zeitpunkt bezog, blieb in einer teuren Großstadt neben Miete und Fahrkarte nicht viel übrig. +Entmutigt im Bett liegen, obwohl man sich dringend um Geld, Job und Unterstützung kümmern müsste. Aber zum Aufstehen fühlt sich der Körper zu schwer an. Das ganze Leben fühlt sich zu schwer an +"Ich hatte keine Ahnung, wo ich in drei Wochen schlafen soll. Das waren fürchterliche Existenzängste." +Mit Mitte zwanzig machte sich Susanne selbstständig. Sie wollte sich endlich eine solide Existenz aufbauen und nicht mehr auf die Unterstützung anderer angewiesen sein. Doch: "Ich habe so viel geackert, mein Zeug immer rechtzeitig abgegeben, aber wann deine Rechnung bezahlt wird, weißt du nicht." Verlässlich wurde in ihrem Leben nur, dass sie ihre Miete und den Strom regelmäßig nicht bezahlen konnte. Sie geriet in einen Teufelskreis: überhäufte sich mit Arbeit, wurde enttäuscht und um den Lohn für ihre Anstrengung betrogen und lag schließlich wieder reglos im Bett – ohne Energie, auch nur den kleinen Finger zu bewegen. Müde vom Aufstehen und Hinterherrennen. Voller negativer Gefühle sich selbst und anderen gegenüber. +So dringend es gewesen wäre, in dieser Zeit finanzielle Unterstützung zu beantragen, war es Susanne doch unmöglich. Dazu fehlte ihr jegliche Zuversicht, dass am Ende etwas dabei herumkommt. Wieso sollten sie und ihre Bedürfnisse diesmal ernst genommen werden? Ihre Not hatte schon als Kind und als Heranwachsende niemanden interessiert. Außerdem wusste sie nicht einmal, wie lange die depressive Phase diesmal andauern und ob sich der Aufwand überhaupt lohnen würde. "Das waren dann vielleicht ein paar Wochen, in denen ich nicht arbeiten konnte und ins Minus fiel. Dafür kann ich doch nicht extra zum Jobcenter rennen. Bis da was passiert, ist die Phase wieder vorbei." Erst recht fehlte ihr die Kraft, all die bürokratischen Hürden zu nehmen, um einen Therapieplatz zu ergattern. In solchen Phasen befand Susanne sich im freien Fall. + + +Und doch fing sie sich immer wieder auf. Als sie erneut eine Festanstellung annahm und zumindest die existenzielle Not gelindert war, trat ein anderes fundamentales Defizit zutage: Mit der jahrelangen Finanznot war Susanne auch in Sachen Anerkennung und Liebe tief ins Minus gerutscht. Nun erhoffte sie sich von ihren neuen Kollegen, dass sie das mit Zuneigung und Bestätigung ausgleichen würden. Doch diese Menschen waren nicht ihre Ersatzfamilie und kümmerten sich genauso wenig um sie wie ihre leiblichen Verwandten. +Knut Jöbges, Leiter der Fachtherapien in der Schön Klinik Bad Arolsen, arbeitet seit vielen Jahren mit Patienten mit unterschiedlichen psychosomatischen Krankheiten zusammen und kennt den Zusammenhang zwischen sozialer Benachteiligung, Existenzängsten und Depression: +"Persönliche emotionale Unsicherheit und nicht gestillte Wünsche nach Geborgenheit können durch instabile soziale Bedingungen, unsichere materielle Verhältnisse, vor allem Geldnot, ständig reaktiviert werden und so in einen Kreislauf von Depression und prekären finanziellen Verhältnissen führen. Eine unsichere, nicht gehaltene soziale Situation kann auf emotionaler Ebene auch immer wieder die gleichen schmerzhaften Erinnerungen aus der Kindheit reaktivieren und aufrechterhalten." +Wobei Jöbges betont, dass natürlich auch das Bezwingen von sozialen Nöten kein Garant dafür ist, eine Depression zu überwinden: +"Soziale Sicherung ist nur die äußere Bedingung dafür, dass Menschen ihr Inneres klären und befrieden und somit bestenfalls auch ohne Depression durchs Leben gehen können. Kümmert sich der Betroffene nicht aktiv um seine psychische Gesundheit, besteht sogar die Möglichkeit, die eigenen emotionalen Verwundbarkeiten und vielleicht sogar die Anfälligkeit für Depression in die nächste Generation zu vererben." + + +Susannes Versuch, sich durch Leistung Liebe zu erarbeiten, scheiterte. Die Arbeitsatmosphäre wurde von Monat zu Monat unangenehmer, und immer öfter verschwand sie heulend auf der Toilette. Diesmal rutschte sie in die Depression, obwohl sie Geld hatte – und sie gab es aus, bis nichts mehr davon übrig war. +Die Flucht hinaus aus ungesunden Arbeitsbedingungen und schädlichen Verhaltensmustern war zugleich die Flucht nach vorn auf der Suche nach einem Therapieplatz. "Ich war beim Berliner Krisendienst, aber die machen auch nicht viel mehr, als dir ein Mal für eine Stunde zuzuhören und dir ein paar Flyer in die Hand zu drücken." Von dort wurde Susanne an eine Stelle verwiesen, die Psychologen ausbildet und schneller Therapieplätze vermitteln soll: "Ich sagte, dass ich dringend einen Therapieplatz suche, und dann schaut mich diese Rezeptionistin an und antwortet: ‚Damit kann ich Ihnen momentan nun wirklich nicht dienen. Gehen Sie doch am besten zum Berliner Krisendienst.'" Eine Beratungsstelle, die darüber informiert, welche Therapieform die richtige für sie wäre, suchte Susanne vergebens. Ihr blieb nichts anderes übrig, als den Hörer selbst in die Hand zu nehmen. +"Wenn ich aber in einer Depression stecke, fällt es mir sowieso schon enorm schwer, mit Menschen in Kontakt zu treten. In 90 Prozent der Fälle landet man auf dem Anrufbeantworter, hört von den meisten Therapeuten gar nichts oder erhält eine Absage." +Irgendwann meldete sich eine Verhaltenstherapeutin zurück. Danach dauerte es noch mal zehn Wochen bis zu einem Kennenlerntermin und drei Probestunden, bis sie einen festen Wochentermin bekam, für den sie schon sehr bald eine Verlängerung bei der Krankenkasse beantragen musste. Nach vier Monaten der Suche, etlichen Behördengängen, unzähligen Formularen und sechs Monaten mit wöchentlichen Sitzungen war fast ein Jahr vergangen. Was hatte es ihr gebracht? +"Eigentlich nichts", sagt Susanne. Außer dass sie wieder an sich selbst zweifelte und die Therapeutin einen Haufen Geld verdient hatte. Sie habe ihr zugehört, und das habe auch gutgetan. Aber über Reden ging es nicht hinaus. Von einer Verhaltenstherapie hätte sich Susanne mehr Aktion und vor allem eine spürbare Veränderung erhofft. Heute wisse sie, dass man jahrelanges Leiden nicht in ein paar Monaten aufarbeiten kann und es auch um die richtige Therapieform geht. +Wieder einmal im Teufelskreis gedreht: Sich mit Arbeit überhäuft, enttäuscht worden und sich um den Lohn für die Anstrengung betrogen gefühlt – schließlich wieder reglos im Bett gelegen +Nach der gescheiterten Behandlung fiel sie zurück in ihre lethargischen Bettphasen. Doch ihr Gehirn hungert nach Input. Endlos zog sie sich Dokumentarfilme, TED-Talks und Wissensvideos rein – nicht ahnend, dass sie ausgerechnet dabei auf etwas Rettendes stoßen würde: "Eines Tages sah ich eine Dokumentation über Kulturen, die Depression als eine Art seelisches Erwachen zelebrieren. Das hat mir geholfen, das Ganze aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten." +Experte Knut Jöbges bestätigt: "Seelische Krisen werden in traditionelleren Kulturen als Chancen für persönliches Wachstum und tiefgreifende Veränderung der Haltung zu sich und dem Leben wahrgenommen." + + +Dieser Impuls inmitten ihrer dunkelsten Phase gab Susanne etwas, das sie jahrelang vergebens gesucht hatte: den Glauben an sich selbst. Mit dieser neuen Zuversicht schaffte sie es, sich um einen Klinikplatz zu kümmern, und trat ihn drei Monate später an. In den ersten beiden Wochen wurde nur gepuzzelt und gespielt, das System heruntergefahren und das Hamsterrad angehalten. Danach brach es umso heftiger aus ihr heraus: Sie wurde wütend, sie traute sich, laut zu werden, zu schreien, all die angestauten Enttäuschungen herauszulassen – mit Kunst, mit Sport, mit Streit, mit allem, was ihr zur Verfügung stand. Hier gab es kein paralleles, "normales" Leben, das ablenkte. Es wurde auch nicht nur geredet, sondern Strategien entwickelt und umgesetzt. Erstmals hatte Susanne ein Gefühl von Vorankommen und Entwicklung. "Das war ein Wendepunkt für mich". +Seitdem versucht sie, sich auf das zu konzentrieren, was ihr guttut, und für sie schädliche Handlungen, Dinge oder Personen zu meiden. Psychohygiene nennt sie das, aber einfach sei das nicht. Immer wieder müsse man sich erklären und rechtfertigen. Auch als potenzielle Arbeitnehmerin: "Ich habe nach wie vor etliche Jobangebote, aber ich lehne sie ab, weil sich sonst alles wiederholen würde." +Dafür, dass sie sich jetzt mehr um sich selbst kümmern kann, zahlt Susanne einen hohen Preis: Sie lebt nach wie vor von Hartz IV. Anders gehe es derzeit nicht, weil sie noch nicht stabil genug sei, um zu arbeiten. Was wiederum, trotz des Therapieerfolges, ihre Existenzangst ständig am Köcheln hält. Eine Idee, wie sie den Teufelskreis aus Geldnot, Angst, mangelndem Selbstwertgefühl und Depression durchbrechen könnte, hat Susanne durchaus. Sie würde gerne studieren. Doch von drei BAföG-Stellen hat sie bereits eine Absage kassiert. Sie sei zu alt für diese Art der Unterstützung, sie fiele eben durchs Raster. + +Was muss ich als gesetzlich Krankenversicherter bei einer Therapiesuche beachten? +Derzeit werden nur die Kosten von drei als wissenschaftlich fundiert anerkannten Therapieformen von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen: die analytische Psychotherapie, die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und die Verhaltenstherapie. Der Begriff "Therapeut" ist in Deutschland gesetzlich nicht geschützt, wird aber für viele Berufsbilder verwendet. Daher ist wichtig zu wissen: Nur ärztliche und psychologische Psychotherapeuten haben ein abgeschlossenes Hochschulstudium absolviert, entweder in dem Fach Medizin oder der Psychologie.Nach einer Therapie Suchende sind mit einer Vielzahl an psychotherapeutischen Methoden konfrontiert, über die man sich zum Beispiel auf der Plattformwww.therapie.deinformieren kann. +Nicht jede Methode ist für jeden gleichermaßen geeignet. Leider ist die Psychotherapieforschung noch nicht weit genug fortgeschritten, sodass man heute noch keine verlässlichen Aussagen darüber treffen kann, welche Methode für welche Störung und für welchen Persönlichkeitstyp die geeignetste ist. Jede Therapie ist zudem ein Zusammenspiel von Methode und Therapeut, daher sollte auch die persönliche Beziehung zwischen Therapeut und Klient stimmen. Der Klient sollte sich frei, ernst genommen und wohl dabei fühlen, mit dem entsprechenden Therapeuten zu arbeiten. Andersherum gilt dasselbe.Je nach Wohnort und Krankheitsbild variiert auch die Suche nach einem geeigneten Therapieplatz. Hier ein paar Schritte, die jeder Klient durchlaufen sollte: +Es ist empfehlenswert, anfangs den Arzt aufzusuchen, der einen am besten kennt. In der Regel ist das der Hausarzt. Dieser kann häufig mit therapeutischen Adressen beziehungsweise Kontaktmöglichkeiten weiterhelfen, oft auch auf ein spezifisches Problem bezogen und sortiert nach kassenunterstützten Plätzen.-    Viele Betroffene investieren viel Zeit in Eigenrecherche, um sich über verschiedene Therapieformen zu informieren und dadurch das eigene Problem beziehungsweise die daraus entstehenden Bedürfnisse besser zu erfassen.-    Anschließend kontaktieren sie die herausgefilterten therapeutischen Praxen, meistens per Anruf oder E-Mail.-    Sofern freie Plätze verfügbar sind, wird ein Termin zum Erstgespräch vereinbart.Bei diesem Erstgespräch lernen sich Therapeut und Klient kennen, klären organisatorische Fragen (z.B. zu Bezahlung, Dauer oder Methode) und versuchen, einen ersten Eindruck des Gegenübers zu bekommen, um zu entscheiden, ob sie miteinander arbeiten können beziehungsweise möchten.-    Anschließend folgen die Probesitzungen (probatorische Sitzungen): Darunter versteht man die Therapieeinheiten, die stattfinden, bis die Krankenkasse eine schriftliche Zusage zur Kostenübernahme erteilt. In der Regel tragen die Krankenkassen die Kosten für bis zu acht solcher Sitzungen.-    Sobald die Krankenkasse die Kostenübernahme bewilligt hat, beginnt die Arbeitsphase: In der Regel wird zunächst entweder eine Kurzzeittherapie von 25 Sitzungen oder eine Langzeittherapie von 45 beziehungsweise 50 Sitzungen beantragt. Bei Bedarf kann im Anschluss daran in mehreren Schritten noch verlängert werden.-    Nach dieser Zeit kann man eine Verlängerung bei der Krankenkasse beantragen, oder man erklärt die Therapie für erfolgreich beendet. Abbrechen kann man natürlich jederzeit. + diff --git a/fluter/sozialer-aufstieg.txt b/fluter/sozialer-aufstieg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..da50bfec6251ac983174249c767b4ff8289c5b8f --- /dev/null +++ b/fluter/sozialer-aufstieg.txt @@ -0,0 +1 @@ +Heißt das also, dass die eigenen Vorfahren vor mehreren Jahrhunderten die gleiche gesellschaftliche Stellung hatten wie man selbst? Ganz so einfach ist es zum Glück nicht. Immerhin entstanden dank Industrialisierung und breiterer Schulbildung in den vergangenen 150 Jahren durchlässigere gesellschaftliche Strukturen. Auch Revolutionen, Kriege und Wirtschaftskrisen wirbeln die Gesellschaft durcheinander. Und trotzdem reproduzieren sich besonders die sehr Reichen und die sehr Armen über viele Generationen. Aufstiegsgeschichten wie "Vom Tellerwäscher zum Millionär" sind immer noch die Ausnahme. diff --git a/fluter/sozialkreditsystem-china.txt b/fluter/sozialkreditsystem-china.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/sozialpaedagogin-jugendamt-mitarbeiter-erfahrungen.txt b/fluter/sozialpaedagogin-jugendamt-mitarbeiter-erfahrungen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fedb0a9f5cf6434d13ddf830984ecbad15296053 --- /dev/null +++ b/fluter/sozialpaedagogin-jugendamt-mitarbeiter-erfahrungen.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +In vielen Bundesländern werden händeringend Pflegeeltern gesucht. In unserem niedersächsischen Landkreis haben wir zum Glück viele interessierte Paare. Manche mit unerfülltem Kinderwunsch, manche mit schon älteren Kindern, vereinzelt auch gleichgeschlechtliche Paare. Sie alle müssen ein intensives Auswahlverfahren durchlaufen. +Im ersten Gespräch kläre ich über die Rahmenbedingungen auf und bitte die Paare, genau über ihre Entscheidung nachzudenken. Es gibt zwei wichtige Aspekte: Zum einen geht das Sorgerecht nicht automatisch auf die Pflegeeltern über, sondern bleibt in der Regel bei den leiblichen Eltern oder beim Jugendamt. Darunter fallen grundsätzliche Entscheidungen wie der Wohnort, Operationen und Impfungen oder auch die Anmeldung zur Schule oder zum Kindergarten. Die Pflegeeltern sind – offiziell ausgedrückt – "Vertragspartner" des Jugendamtes und übernehmen für die leiblichen Eltern die Pflege der Kinder. Dafür bekommen sie eine finanzielle Unterstützung vom Jugendamt und haben Anspruch auf fachliche Hilfe und Begleitung. +Zum anderen spielen die leiblichen Eltern weiterhin eine wichtige Rolle im Leben der Kinder. In der Regel gibt es ein- bis zweimal pro Monat ein Treffen, wenn die Eltern und die Kinder das wollen. +Im zweiten Schritt müssen sich die Pflegeeltern "offiziell" bewerben – mit ärztlichem Attest, polizeilichen Führungszeugnissen, Einkommensnachweis und "Motivationsschreiben". Wir wollen genau wissen, warum sich die Paare für ein Pflegekind interessieren, wie ihre eigene Kindheit war und welche Vorstellungen sie für die gemeinsame Zukunft haben. +Außerdem gibt es noch ein Bewerberseminar – fünf Abende, je drei Stunden. Ich versuche, dabei auch ein Bewusstsein für die Kinder und ihre Geschichte zu schaffen. Außerdem besuche ich die Bewerber zu Hause, um zu schauen, ob das für die Kinder geeignet ist. Zum Beispiel muss der Wohnraum groß genug sein. Aber natürlich geht es zu großen Teilen darum, wie empathisch und motiviert die Bewerber auftreten. +Manche Bewerberpaare empfinden diesen monatelangen Prozess als zu intim. Für uns ist er aber sehr wichtig. Immerhin haben wir einen besonderen Schutzauftrag und wollen nicht einen neuerlichen Bruch riskieren. Deshalb gibt es auch Bewerber, die wir ablehnen; manchmal wegen eines schlechten Bauchgefühls, weil das Paar den Kindern kein gesichertes Umfeld bieten könnte oder weil sie schon zu alt sind. Eine echte Altersgrenze für Pflegeeltern gibt es nicht. Aber Eltern und Kind sollten in einem "familienentsprechenden" Altersabstand sein. All diese Entscheidungen treffen wir nie alleine, sondern immer im Team. +Wenn wir aber das Gefühl haben, Kind und Pflegeeltern könnten gut zusammenpassen, beginnt das Kennenlernen. Als Erstes erfahren die zukünftigen Eltern alles über das Kind und seine Geschichte – schonungslos ehrlich. Vorgeschichte, Lebenssituation der leiblichen Eltern, Behinderungen oder Auffälligkeiten. Fällt die Entscheidung der Eltern positiv aus, lernen sie das Kind kennen – erst ganz zaghaft, ohne zu große Hoffnungen zu wecken. Ich gehe mit ihnen durch die Jugendeinrichtung, oder wir treffen uns zum Kaffee in der Übergangspflege – das sind Einrichtungen oder auch Familien, die die Kinder in einer akuten Krisensituation aufnehmen, bis eine dauerhafte Pflegefamilie gefunden ist. Im Laufe der Zeit wird der Kontakt immer intensiver. Man macht erste kleinere Ausflüge, verbringt gemeinsam ein Probewochenende. Dabei schauen wir genau hin, ob die Chemie stimmt. + +Wie ist es, mit Hartz IV aufzuwachsen?Hart, weiß unsere Autorin aus eigener Erfahrung +Aus eigener Erfahrung als Sozialpädagogin weiß ich: Nicht jedes Jugendamt schaut so genau hin. Anders könnte man wohl kaum erklären, dass immer wieder Kinder in die Obhut von offensichtlich völlig ungeeigneten Menschen übergeben werden. +Natürlich bleibt auch bei uns ein Restrisiko, dass die Konstellation nicht passt. Manchmal ist der Rucksack der Kinder einfach zu groß, und die Eltern stoßen an ihre Grenzen – zum Beispiel durch Verhaltensauffälligkeiten der Kinder. Manchmal zeigen sich die früh, manchmal auch erst nach vielen Jahren im Übertritt in die Pubertät. Wie oft das geschieht, darüber gibt es keine verlässlichen Zahlen. Die Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik sagt aber, dass jede zweite Unterbringung in Heimen und Pflegefamilien vorzeitig beendet wird. +Um das zu verhindern, bleibe ich mit allen Pflegefamilien in Kontakt. Mindestens einmal pro Jahr besuche ich jede der 42 Familien, für die ich zuständig bin. Alle sechs Monate treffen wir uns zu einem Gespräch im Jugendamt, in dem es um die Entwicklung des Kindes, um Probleme, aber auch den Kontakt mit den leiblichen Eltern geht. Außerdem telefonieren wir regelmäßig. Der Austausch im Team ist noch aus einem anderen Grund sehr wichtig: Es nimmt Druck von den eigenen Schultern und gibt mir die Möglichkeit, mit den Kollegen über besonders schwere Schicksale offen zu sprechen. Dadurch nehme ich wenig von meiner Arbeit mit nach Hause, obwohl ich im Alltag viel Leid sehe und schlimme Geschichten höre. + diff --git a/fluter/sozialversicherung-deutschland-erklaerung.txt b/fluter/sozialversicherung-deutschland-erklaerung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..624fb1ad43dc84d90df8bb8bcf517e0f0487cd14 --- /dev/null +++ b/fluter/sozialversicherung-deutschland-erklaerung.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Im Mittelalter gab es noch keinen deutschen Nationalstaat, aber eine erste Form der Sozialversicherung: 1260 wurde die erste Knappschaft für Bergleute gegründet, die sich um kranke Arbeiter kümmerte und Familien half, wenn der Vater im Bergwerk ums Leben gekommen war. 1883 führte der Reichskanzler Otto von Bismarck die gesetzliche Krankenversicherung und später eine Unfallversicherung sowie eine Alters- und Invalidenrente ein. Deutschland war das erste Land der Welt mit einem solchen System. In der Weimarer Republik entstand 1927 die staatliche Arbeitslosenversicherung. Der jüngste Zweig der deutschen Sozialversicherung ist die Pflegeversicherung. Sie trat am 1. Januar 1995 in Kraft. +Das Grundprinzip der Sozialversicherung ist Solidarität. Wer einzahlt, kann etwa im Fall eines Unfalls, einer Krankheit oder eines Jobverlusts finanzielle Leistungen in Anspruch nehmen und versorgt die anderen Beitragszahler mit. Für Festangestellte ist die Sozialversicherung in Deutschland verpflichtend. Das gilt auch für Studierende, die mehr als 20 Stunden in der Woche arbeiten, und Rentner und Rentnerinnen. Ausnahmen gelten unter anderem für Beamte und geringfügig Beschäftigte. Die Beiträge zur Sozialversicherung richten sich nach dem Einkommen. +Für jeden Versicherungszweig ist ein Teil des monatlichen Bruttogehalts reserviert, derzeit 18,6 Prozent für die Renten- und 14,6 Prozent für die Krankenversicherung. Die eine Hälfte des Beitrags wird vom Arbeitgeber abgeführt, die andere vom Arbeitnehmer – die Abgaben werden automatisch vom monatlichen Gehalt einbehalten. Aber auch arbeitslose Menschen sind sozialversichert. Ihre Beiträge zahlt die Agentur für Arbeit. Die Sozialversicherung funktioniert weitgehend als "Umlagesystem": Die eingezahlten Beiträge werden direkt wieder als Leistungen an andere ausgezahlt, sodass außer einer Reserve nichts angespart wird. +Sie übernimmt die Versorgung bei Krankheiten, etwa die Behandlung bei einer Ärztin und Medikamente, und zahlt Aufenthalte in einer Rehaklinik oder in einem Krankenhaus, springt aber auch dann ein, wenn eine Frau ein Kind bekommt oder in den Mutterschutz geht. Wer wegen einer Krankheit länger nicht arbeiten kann, bekommt Krankengeld. Jeder kann selbst wählen, bei welcher der 103 gesetzlichen oder 37 privaten deutschen Krankenkassen er oder sie sich versichert. Der monatliche Beitrag bei gesetzlichen Kassen beträgt 14,6 Prozent des Bruttoeinkommens. Bei einer Privatversicherung richten sich die Beiträge nach dem persönlichen Gesundheitsrisiko und dem Alter. Privat versichert sind viele Selbstständige, Menschen mit höherem Einkommen und Beamte. +Sie sichert den Lebensunterhalt, sofern man ihn nicht auf andere Weise bestreiten kann, bis man einen neuen Job findet. Um "Arbeitslosengeld I" (ALG I) zu bekommen, muss man in den 30 Monaten vor der Arbeitslosigkeit mindestens zwölf Monate versicherungspflichtig gearbeitet haben. Die Leistungen richten sich danach, wie viel man verdient und wie lange man eingezahlt hat. Auch das Alter spielt eine Rolle. Der monatliche Beitrag liegt bei 2,4 Prozent des Bruttolohns. Die Bundesagentur für Arbeit nutzt die Beiträge auch, um Berufsberatungen, Ausbildungsvermittlungen oder das Kurzarbeitergeld zu finanzieren, das vielen Menschen in der Coronakrise geholfen hat. +Hartz IV,an das die meisten beim Thema Arbeitslosigkeit denken, ist kein Teil der Arbeitslosenversicherung, sondern wird aus Steuergeldern finanziert. "Arbeitslosengeld II" – so der offizielle Name von Hartz IV – greift erst, wenn der Anspruch auf Arbeitslosengeld I ausläuft. Nach maximal 24 Monaten erlischt dieser Anspruch, danachkann man Hartz IV beantragen.Dafür müssen Hilfsbedürftige jedoch mindestens drei Stunden täglich arbeiten können, sich in einer finanziellen Notlage befinden sowie akut in ihrer Existenz gefährdet sein. +Rente erhält, wer die "Regelaltersgrenze" erreicht hat, die noch bis zum Jahr 2029 schrittweise von 65 auf 67 Jahre angehoben wird, oder wer wegen einer Krankheit oder Behinderung nicht mehr mindestens drei Stunden täglich arbeiten kann. Wenn ein rentenversichertes Familienmitglied stirbt, wird eine Rente für Witwer, Witwen und Waisen ausgezahlt. +Für die Rente gilt der "Generationenvertrag": Wer arbeitet, zahlt Beiträge, von denen die Rente der aktuell Berechtigten bezahlt wird, und erwirbt so den eigenen zukünftigen Anspruch, der dann von der nachkommenden Generation finanziert wird. Der monatliche Beitrag beträgt 18,7 Prozent des Bruttolohns. +Wie hoch die eigene Rente ist, berechnet sich nach dem "Äquivalenzprinzip": Die Leistungen sind – wie auch beim ALG I – von Dauer und Höhe der eingezahlten Beiträge abhängig. Das unterscheidet sie von der Krankenversicherung, bei der sich die Leistungen nach dem Bedarf der Versicherten richten, egal wie viel sie eingezahlt haben. +Kritik an diesem System ist vermutlich so alt wie der Sozialstaat selbst. Eine lautet zum Beispiel, dass die Beitragsbemessungsgrenzen – also das Gehalt, ab dem man keine höheren Beiträge mehr zahlen muss – ungerecht seien, weil Menschen, die besonders gut verdienen, dadurch anteilsmäßig weniger einzahlen. Bemängelt wird außerdem, dass die Berechnung sich am Bruttolohn orientiert, während andere Einkunftsarten, zum Beispiel Einnahmen aus Mieten, nicht berücksichtigt werden. Auch dass die Beitragssätze für alle gleich sind, egal wie viel man verdient, finden viele unfair. Zahlen des Bundesarbeitsministeriums belegen, dass die Last der Sozialversicherung ungleich verteilt ist: Menschen mit einem Jahreseinkommen bis 70.000 Euro tragen 81 Prozent der Sozialabgaben, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit mehr als 110.000 Euro nur fünf Prozent. +Aysel Yollu-Tok, VWL-Professorin an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht, hält die deutsche Sozialversicherung im Grunde für gerecht. Dennoch hat auch sie Kritikpunkte. Der größte ist, dass der Arbeitsmarkt, über den die Sozialversicherung ja finanziert wird, sich in den vergangenen 15 bis 20 Jahren stark verändert hat. Er sei "ausgehöhlt" worden, so Yollu-Tok: "Der Niedriglohnsektor, nicht sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse wie Minijobs oder Soloselbstständigkeit und befristete Verträge haben sich etabliert. Das führt dazu, dass Arbeitende nicht genug einzahlen, um ausreichende Leistungsansprüche zu haben." +Besonders deutlich wird das im Falle der Rente.Weil immer weniger junge Menschen die Renten einer wachsenden Zahl Älterer tragen müssen, geht der Generationenvertrag nicht mehr auf. +Auch mit der Arbeitslosenversicherung sind viele nicht zufrieden: Die Leistungen könnten oft nicht lang genug bezogen werden, um wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, und die Sanktionen seien zu hart, etwa Leistungskürzungen, wenn man ein Jobangebot der Arbeitsagentur ablehnt. Außerdem würden zu viele Menschensehr schnell in Hartz IV abrutschen,weil sie durch befristete Verträge die Voraussetzungen für das ALG I nicht erfüllen. +Als Lösung für diese Probleme setzt der deutsche Staat bisher vor allem auf eines: Sparen. Und zwar "radikal", sagt Yollu-Tok, "die Leistungen sind runtergeschraubt worden". Das kann man zum Beispiel am sinkenden Rentenniveau sehen. Dieses wird jährlich berechnet und drückt in Prozent aus, wie sich die sogenannte Standardrente zum aktuellen Durchschnittseinkommen entwickelt. Im Jahr 2000 betrug sie 52,9 Prozent des durchschnittlichen Einkommens, 2018 waren es nur noch 48,1 Prozent. 2019 sind 16,8 Prozent der Seniorenvon Altersarmut bedroht, vor allem Frauen.Weil auch die Krankenkassen sparen müssen, wurde außerdem das Gesundheitssystem ökonomisiert und mehr auf Profit ausgerichtet. "Die Daseinsvorsorge wurde runtergeschraubt, und als Leistung gibt es nur noch das Nötigste", sagt Yollu-Tok. "Die Coronapandemie hat die Schwachstellen dieses Systems noch einmal besonders deutlich gemacht." +Um die Situation zu verbessern, gibt es verschiedene Vorschläge. Am 1. Januar 2021 wurde in Deutschland die Grundrente eingeführt, und Menschen, die wenig verdient haben, bekommen im Alter automatisch einen Zuschlag. Dafür müssen sie aber immer noch gewisse Voraussetzungen erfüllen: mindestens 33 Jahre versicherungspflichtig gearbeitet, dabei aber wenig verdient, Kinder erzogen oder Angehörige gepflegt haben. Ein Vorschlag für die Krankenversicherung ist, das duale System aus gesetzlich und privat abzuschaffen, um mehr Einnahmen zu generieren. Private Kassen wären dann nur noch für Zusatzleistungen zuständig. Dänemark und die Niederlande haben zum Beispiel solche "Einheitskassen". Von deren Erfahrungen könnte man lernen. diff --git a/fluter/spanien-canada-real-ohne-strom.txt b/fluter/spanien-canada-real-ohne-strom.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4872a6bfc6c20f995c144a24047beb614e0f995c --- /dev/null +++ b/fluter/spanien-canada-real-ohne-strom.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Seit Ende der 50er-Jahre wurde die Strecke besiedelt, anfangs nur mit provisorischen Hütten, heute gibt es je nach Sektor auch voll ausgebaute Einfamilienhäuser mit echten Strom- und Wasserleitungen. Nur floss der Strom nie offiziell – die Cañada Real ist die größte informelle Siedlung Europas, also offiziell illegal. +Das Land, auf dem die Häuser stehen, ist unveräußerliches Land im Gemeinbesitz. Über 8.000 Menschen, viele von ihnenRomaoder marokkanischer Herkunft, wohnen hier in sechs Zonen, die aus Verwaltungszwecken eingeführt worden sind. Zone 5 und 6 sind vom Stromausfall betroffen. +Zone 6 gilt als die ärmste und hat einen besonders zweifelhaften Ruf: Die spanische Presse nennt sie den "größten Drogen-Supermarkt Europas". Laut dem verantwortlichen Anbieter Naturgy sollen Cannabisplantagen den Stromausfall ausgelöst haben: Ihre Betreiber sollen Leitungen angezapft und so viel Strom verbraucht haben, dass das Netz kollabiere. Dass solche Plantagen existieren, bestreiten die Bewohner der Cañada Real gar nicht. Nur bezweifeln sie, dass sie wirklich für den Stromausfall verantwortlich sind. Sie vermuten, der Strombetreiber habe die Leistungsfähigkeit absichtlich heruntergesetzt, um den Stromausfall zu provozieren und sie so zu vertreiben. + +Nachdem die Siedlung immer wieder Negativschlagzeilen machte und sich sogar die UN einschaltete, wurde eine interministerielle Kommission gegründet, die das Dilemma lösen sollte. Nun soll das spanische Verkehrsministerium zusammen mit den Gemeinden Rivas und Coslada und der Stadt Madrid einen Plan aufstellen, der mehr als 2.000 gefährdete Familien aus den Sektoren 5 und 6 dauerhaft umsiedelt. +Doch das geht nur schleppend voran: Ende April demonstrierten mehrere Hundert Bewohner der Cañada Real unter dem Motto "Luz, contratos y mesa de seguimiento" – sie fordern Strom und wollen über die Zukunft der Cañada Real und die Verträge mit dem Stromanbieter mitbestimmen. Obwohl viele Haushalte ordentlich an das Netz angeschlossen sind, müssen sich die Bewohner von Sektor 5 derzeit mit der Nutzung abwechseln, weil das Netz weiterhin instabil ist. In Sektor 6 ist das Licht seit eineinhalb Jahren ganz aus. +Titelbild: Isabel Fernández (80, links), lebt seit 18 Jahren in der Cañada, Ivan (23), Yané (19), Adara (2) und Jose Antonio (5) seit 2012. diff --git a/fluter/sparen-ohne-banken-in-vietnam.txt b/fluter/sparen-ohne-banken-in-vietnam.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..09d1035198ed1d5528cd3a05fd35ffd03f4954b5 --- /dev/null +++ b/fluter/sparen-ohne-banken-in-vietnam.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Um Fische zu kaufen, die sie dann auf dem Markt weiterverkaufen kann, braucht Frau Bep aber gelegentlich ein kleines Darlehen. "Meist leihen mir in dieser Situation Verwandte Geld", sagt Frau Bep. "Manchmal aber musste ich auch schon zu einem Kredithai gehen. Der aber nimmt hohe Zinsen." Und diese muss sie erst einmal wieder erwirtschaften. +Für Situationen wie diese hat der Wirtschaftswissenschaftler Muhammad Yunus aus Bangladesch in den 1980er-Jahren eigentlich das Konzept derMikrokrediteentwickelt. Im Jahr 2006 wurde er dafür sogar mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Doch klassische Mikrokredite sind nicht für alle Menschen eine praktikable Lösung. Für Frau Bep etwa, die kurzfristig immer nur sehr kleine Summen benötigt, wäre der Aufwand, bei einer auf Mikrokredite spezialisierten Bank ein Darlehen zu beantragen, viel zu hoch. +Zusammen mit 14 Frauen aus ihrer Nachbarschaft hat Frau Bep deshalb eine andere Lösung gefunden: Sie haben sich zu einer nichtkommerziellen Spar- und Kreditgruppe zusammengeschlossen. Die Teilnehmerinnen sind zwischen 30 und 57 Jahre alt, haben Familie und sind wirtschaftlich in einer ähnlichen Situation. Frau Kieu etwa ist Mutter von vier Kindern und verkauft auf dem lokalen Markt Speisen und Getränke. Und die 34-jährige Frau Ngoài, die zwei Kinder hat, ist wie Frau Bep Fischhändlerin. Die Idee: Die Gruppenmitglieder helfen sich bei kurzfristigen kleineren Investitionen gegenseitig aus – und sparen sich auf diese Weise die hohen Zinsen, die sie sonst zahlen müssten. + +Entspannter Job? Das Obst und Gemüse, das die Frauen am Markt verkaufen, muss erst einmal finanziert werden + +Unterstützt wurden die Frauen von zwei europäischen Stiftungen, der TUI Care Foundation und der Stiftung Hilfe mit Plan. "Wir arbeiten bei diesem Projekt mit Menschen, die zu arm sind, um einen normalen Mikrokredit zu erhalten", erklärt Kathrin Hartkopf von der Stiftung Hilfe mit Plan. Zusammen mit lokalen Nichtregierungsorganisationen stellen die Stiftungen in erster Linie das Wissen zur Verfügung, wie eine solche Gruppe organisiert werden muss, um mögliche Probleme zu vermeiden. Alles Weitere liegt dann bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern selbst. +Frau Beps Spar- und Kreditgruppe, sie hat sich "Erfolg" genannt, trifft sich einmal im Monat bei einer der Frauen zu Hause. Tee und Wasser werden dann serviert, frisches Obst angerichtet, die Kinder spielen vor dem Haustor. Auf dem Boden sitzen die Frauen rund um die metallene Truhe, in der die Gruppe ihre Gelder aufbewahrt. Gesichert ist sie durch mehrere schwere Schlösser. Während eine der Frauen die Box zwischen den Treffen bei sich zu Hause aufbewahrt, verfügen andere Frauen über je einen Schlüssel. Eine weitere Frau wacht über das Kassenbuch, und alle zeichnen in Sparbüchern ihre Einnahmen und Ausgaben nach. Das Ziel all dieser Maßnahmen: maximale Transparenz. +Die monatlichen Treffen folgen einem strikten Plan. Zunächst wird das Geld in der Box vor aller Augen gezählt und mit den Büchern abgeglichen. Zehn Millionen Dong (390 Euro) haben die Frauen im vergangenen halben Jahr gespart. Als keine Unregelmäßigkeiten festgestellt werden, zahlen reihum alle Frauen je 10.000 Dong in eine Gemeinschaftskasse ein. Über Mittel aus dieser Kasse kann die Gruppe gemeinsam verfügen, etwa für Geschenke zum Geburtstag oder als Hilfe, wenn eine Teilnehmerin dringend Medikamente kaufen muss. +Ein Sparclub ist dir zu analog? Bankenfreies Sparen geht auch mit Krypotwährungen –unser Autor hat's ausprobiert +Anschließend wird gespart: Wer mag, kann überschüssige Gelder in die Truhe einzahlen. In diesem Monat kommen rund 2,5 Millionen Dong zusammen. Die gesparten Summen werden in die Sparbücher eingetragen und können auch wieder abgehoben werden. Schließlich geht es zum nächsten Thema: Darlehen. Eine Frau zahlt ihre Schulden zurück. "Benötigt jemand einen neuen Kredit?", fragt dann die Versammlungsleiterin. Frau Bep meldet sich, erklärt ihren Kreditwunsch von 3,5 Millionen Dong und dass sie mit dem Geld Fische kaufen möchte. Die Runde beratschlagt kurz. Wie alle Entscheidungen muss auch diese einstimmig fallen: Spricht sich nur eine Teilnehmerin gegen den Kredit aus, wird er nicht ausgezahlt. Doch die Gruppe gibt grünes Licht. +Penibel wird das Darlehen in den Büchern vermerkt, zwei Frauen zählen das Geld, bevor sie es an Frau Bep auszahlen. Innerhalb von drei Monaten will sie das Darlehen wieder tilgen. Auch Zinsen werden fällig: 70.000 Dong je Monat. Die aber landen in der Gemeinschaftskasse, in die auch die Mitgliedsbeiträge gezahlt werden – und bleiben der Gruppe auf diese Weise erhalten. +Die "Erfolgs"-Gruppe hat sich bewusst dafür entschieden, keine Männer aufzunehmen. "Es ist halt eine Frauengruppe", sagt Frau Bep zur Begründung lapidar. Unausgesprochen bleibt: Dadurch, dass die Frauen untereinander bestimmen, wer einen Kredit bekommt, haben sie innerhalb der Familie und besonders gegenüber ihren Männern eine einflussreiche Position. "Die Männer freuen sich darüber", beteuert Frau Kieu. Denn innerhalb relativ kurzer Zeit habe ihre Familie bereits einiges gespart. +Als die Sitzung endet, werden die Bücher geschlossen, die Truhe verriegelt, die Schlüssel verteilt. In einem Monat steht das nächste Gruppentreffen an. Frau Bep hofft bis dahin auf gute Fischgeschäfte. Und alle wünschen sich gegenseitig zum Abschied eins: Viel Erfolg! + diff --git a/fluter/spendenauszug.txt b/fluter/spendenauszug.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/spiel-mir-das-lied-vom-tod.txt b/fluter/spiel-mir-das-lied-vom-tod.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d2fa82292293a441c6efdf34966c1a999e12d174 --- /dev/null +++ b/fluter/spiel-mir-das-lied-vom-tod.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Heute hat uns die Umsonstkultur fest im Griff und die Kreativen, die, die die Musik komponieren, sind die Verlierer, zumindest ein Großteil von ihnen. Es herrscht ein derartiges Überangebot an Musik im Netz, dass die DSL-Leitung schon kaputt sein muss, damit man sich wieder an Tonträger und Plattenladen erinnert. Denn während illegales Filesharing auf dem Rückzug ist, sind Streamingdienste auf dem Vormarsch. Bands stellen neue Stücke zuerst auf ihrer MySpace-Seite vor und bei Last. fm kann man sich ein unendliches Mix-Tape ganz nach seinen persönlichen Vorlieben zusammenstellen. Die Liste dieser Dienste ist endlos, der Service immer beliebter: Eine Studie aus Großbritannien belegt, dass 65 Prozent der Teenager auf der Insel regelmäßig Musik im Netz hören. Gekauft wird immer seltener. Übel nehmen kann man den Nutzern diese Neuorientierung nicht: Die schnelle Datenleitung ist fast überall preiswert verfügbar und das Angebot weitreichender, als es ein Plattenladen jemals bewerkstelligen könnte. Der Status quo: Alle hören, kaum einer zahlt. Der entscheidende Faktor ist nicht mehr, etwas zu besitzen, sondern den Zugang dazu zu haben. Für die Fans ist das mehr als bequem, für viele der Musiker hingegen der Vorbote zum Gang zum Arbeitsamt. +Warum? Der alte Dreisatz des Musikers mit Plattenvertrag ging so: Tantieme aus CD-Verkäufen + Geld aus Radio-Einsätzen + Konzertgagen = Miete. CDs sind heute in dieser Gleichung immer unwichtiger, das Abrechnungsprinzip von Dienstleistern wie Last.fm für das Streamen von Musik ist undurchsichtig und bewegt sich ohnehin im Dschungel einer kaum nachzuvollziehenden Mikroökonomie. Gleichzeitig nutzen Anbieter von legalen Downloads jede erdenkbare Möglichkeit, um sich um Abgaben an die Verwertungsgesellschaften wie die GEMA zu drücken. Geld, das beim Kauf eines MP3s fällig wird und dem Künstler zusteht, wird entweder gar nicht gezahlt oder auf dubiosen Sperrkonten geparkt, bis sich die Dienstleister mit den europäischenVerwertungsgesellschaften auf ein Abrechnungsmodell geeinigt haben. Was soll denn das ganze Gejammer werden jetzt viele schreien, die Konzerte sind doch alle voll! Stimmt. Und genau hier liegt der Hund begraben. Denn nicht alle Bands können den finanziellen Verlust durch geringere Plattenverkäufe durch mehr Konzerte kompensieren. Die Konkurrenz wird größer, Klubs bestimmen die Gagen oder verlangen sogar Geld von den Bands, wenn die spielen wollen. Das klingt unfair, ist aber noch viel dramatischer. Die neue Realität des Onlineüberangebots dreht dem musikalischen Mittelstand den Hals um. Die Bands, die in den Stadien der Welt spielen, werden auch weiterhin reich sein, Platten verkaufen, Videos drehen, glücklich sein. Die Musiker jenseits der Top Ten aber werden auf den geschäftlichen Neustart zurückgeworfen. Ihre Chance, und damit schließt sich derKreis: das Internet. Direkte Kommunikation jenseits der Grabbeltisch-Seiten wie MySpaceerfordert zwar mehr Arbeit, ermöglicht aber nicht nur die Weitergabe von Informationen, sondern auch den direkten Verkauf von Tonträgern. Ohne großes Label im Hintergund,ohne traditionellen Vertrieb und ohne etablierte Plattenläden können Bands ihre Produkte preisgünstig anbieten und müssen darüber hinaus keine Rücksicht nehmen auf lästige Standards z. B. bei der Verpackung, müssen keine Mittelsmänner mehr zufriedenstellen,damit das Produkt am Ende für zu viel Geld im Laden steht. Kein Wunder, dass die Schallplatte seit Jahren wieder im Aufwind ist. Hier bekommen die Fans die in Vinyl gepresste und mit dicker Pappe umhüllte Antithese zur Krise. Einen Fetisch, den man in Ehren hält, ein Produkt, das endlich wieder dem angemessen ist, um das es eigentlichgeht bei der Musik: Herzblut. +Thaddeus Herrmann (37) schreibt auch für das Magazin De:Bug. Er gründete mit seinem Kollegen Shlom Sviri 1998 (also in einer Zeit, als noch nicht so viel runtergeladen wurde) das Label City Centre Offices, auf dem die beiden leicht melancholische elektronische Musik veröffentlichen. diff --git a/fluter/spieleautor-harald-muecke-brettspiele.txt b/fluter/spieleautor-harald-muecke-brettspiele.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..60e9059f54e93be37aead1a596b06789ae84258d --- /dev/null +++ b/fluter/spieleautor-harald-muecke-brettspiele.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Mücke ist 55 und einer der wenigen, die ihre Leidenschaft fürs Spielen zum Beruf machen konnten. 2000 ist er das erste Mal als Spieleautor auf Messen. Als studierter BWLer sieht er schnell eine Lücke im Markt: Es gibt niemanden, der das Material, das Autorinnen und Autoren für die Spiele brauchen, als Einzelteile anbietet. "Ich habe gemerkt, dass ich selber Spielteile produzieren muss, damit ich meine Spiele hinkriege. Das war nie geplant, sondern tatsächlich mehr oder weniger erzwungen." Mücke gründet einen Materialversand für Spielutensilien und einen Verlag. Fortan bastelt er nicht mehr nur im Keller, sondern zieht in ein Büro und bedient von dort eine wachsende Nachfrage – sowohl mit Material als auch mit eigenen Spielkreationen. Aus seinem Hobby wird ein Vollzeitjob. +Dass er das geschafft hat, ist nicht selbstverständlich. Spiele zu entwickeln ist kein Ausbildungsberuf, kein geschützter Titel und wenig lukrativ. "Der Standardvertrag von Verlagen sieht vor, dass Autorinnen und Autoren sechs Prozent vom Handelspreis erhalten", sagt Mücke. Ein Durchschnittsspiel verkaufe sich zwei- bis dreitausendmal. Die Einnahmen für die Autorinnen und Autoren sind gering. Für die meisten bleibt das Spieleerfinden ein Hobby. + +DieSpiele-Autoren-Zunft (SAZ)versucht, das zu ändern. Sie vertritt die Interessen vieler deutscher, aber auch internationaler Spieleautorinnen und -autoren und bietet rechtlichen Beistand. Mücke saß dem Verein mal vor. Dass die Autorinnen und Autoren eines Spiels heute auf den Schachteln genannt werden, hat er miterkämpft. +Noch etwas ändere sich gerade auf dem Markt, sagt Mücke. "Durch die Automatisierungsprozesse ist vieles günstiger geworden. Wenn ich jetzt als Anfänger ein Spiel machen möchte, kriege ich das mit 5.000 Euro hin und arbeite dann für die eigene Kasse. Nicht für die großen Verlage. Da mag schon mal mehr hängen bleiben." +Mücke hat, das ist wohl Voraussetzung, schon als Kind gern gespielt. Dabei packte ihn manchmal der Drang, mehr aus einem Spiel zu machen. Für sein erstes Spiel nahm Mücke eine Korkwand, pinnte Planeten drauf und verband sie mit einem Faden. Er taufte es "Galaktische Kooperative". Die Wand hängt bis heute in seinem Büro. Produziert wurde das Spiel nie: Mit der sperrigen Pinnwand und den spitzen Reißzwecken wäre der Versand des Materials zu aufwendig gewesen. +Die Umsetzbarkeit ist ein Kriterium, auf das auch Verlage achten müssen. Einmal habe ein Autor bei ihm ein Spiel eingereicht, für das man zwei Kilo Sand benötigt, erzählt Mücke. Zudem geht auch in der Spielindustrie der Trend zur Nachhaltigkeit. Vor allem was die Verpackung angeht, die Schachtel und die Spielmaterialien. Aber auch thematisch: "Spielen hilft ja immer, Sachen auf positive Weise zu transportieren. Umweltthemen gehen dann natürlich gut." +Auch Mücke stellt sich dahingehend um. In seinem Lager sind mittlerweile fast alle Spielfiguren aus Holz. Sein Verlag pflegt einen kleinen Firmengarten, verschickt Ware in alten Kartons und Folien und kauft größeren Häusern Spiele ab, die in hoher Stückzahl produziert wurden, aber gefloppt sind. Damit schreibt er seit Jahren Wettbewerbe aus, in denen Autorinnen und Autoren aus den alten Spielsets ein neues Spiel entwerfen müssen. So können Spielmaterialen wiederverwendet werden. +Neben dem Thema Umwelt liegen gerade Kooperationsspiele im Trend – also miteinander spielen, nicht gegeneinander. Auf so eine Welle springen schnell viele auf, sagt Mücke. "Da versucht einer mal was Neues, und wenn es funktioniert, rennt die ganze Branche hinterher." Manche Runs seien schnell wieder vorbei, denn ein Rezept für Bestseller gebe es nicht. + +Viele Spiele, die heute Klassiker sind, hatten es anfangs schwer. Die "Siedler von Catan" lehnten zwei große Verlage ab, als der Autor das Spiel 1994 anbot. "Siedler" wurde bis heute mehr als 35 Millionen Mal verkauft und begründete den Erfolg der sogenannten Eurogames, strategische Brettspiele, die zu einem deutschen Exportschlager wurden. In vielen dieser Spiele geht es um Expansion und den Kampf um Ressourcen. Sie sind in den vergangenen Jahren in die Kritik geraten, weil sie das Leid, dasdurch den Kolonialismusentstanden ist, verharmlosen würden. +Auch Mücke kennt Verlage, bei denen es Vorwürfe gab, weil Spielfiguren als rassistisch empfunden wurden. Heute versuche man schon, "manche Dinge zu vermeiden und dafür aktiv Themen wie Diversität reinzubringen", sagt er. +Wenn Mücke etwas erklärt, zeichnet er gerne auf, was er meint. Mit schnellen Strichen skizziert er das Spielbrett des Spiels, an dem er gerade arbeitet. "Die Idee kam mir nach einer Wahl." Es gehtum Lobbyistenund Parlamentarier, die kooperieren müssen, um an die Macht zu kommen, aber auch konkurrieren, um Einfluss auf die Gesetzgebung auszuüben. "Ich habe versucht, diesen Prozess vereinfacht darzustellen." +Gerade bei solch komplexen Spielen seien die Regeln oft das größte Hindernis. Vielen Spielerinnen und Spielern dauert es zu lange, bis sie die Regeln verstanden haben und losspielen können. Auch dafür suchen Autorinnen und Autoren Lösungen. Zum Beispiel mit Begleitvideos auf YouTube, unterschiedlichen Regeln für die ersten und darauffolgende Partien oder Regeln, die so aufgebaut sind, dass man direkt loswürfeln kann und das Spiel beim Spielen lernt. +Solche Herausforderungen ziehen Mücke nicht runter, ein Spieleautor muss lösungsorientiert denken. Damit aus einer Idee ein Spiel wird, brauche er neben Kreativität und logischem Verständnis auch den Biss, das Spiel reif zu machen. "Wenn man jahrelang an einem Spiel herumbastelt, hört der Spaß irgendwann auf." +Dieser Text ist in fluter Nr. 87 "Spiele" erschienen. Das ganze Heftfindet ihr hier. +Seine Ideen entwickelt Mücke oft vom Material her. Heißt: Er nimmt sich etwas aus seinen Regalen, spielt rum, würfelt mögliche Kombinationen aus. Bei manchen Spielen geht es schnell. "Ein einfaches Kartenspiel mit wenig Tiefgang ist schnell zu Ende gedacht. Dann setzt der Illustrator das um, und ich bin in einem Monat fertig." +Für andere, die Schwergewichte, braucht er schon mal zwei, drei Jahre. Je komplexer die Verknüpfungen, desto mehr muss Mücke testen. Wirft man ein Spiel zu schnell auf den Markt, leidet die Logik. Ein Spiel muss in jeder Situation funktionieren, für jede Spielerzahl, für jede Strategie. Ein Spieler dürfe nie wissen, wie er spielen muss, um zu gewinnen, sagt Mücke. "Dann ist das Spiel tot." diff --git a/fluter/spieltheorie-erklaert.txt b/fluter/spieltheorie-erklaert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e2d90c66331191efb9648390fa0f347a51fe5306 --- /dev/null +++ b/fluter/spieltheorie-erklaert.txt @@ -0,0 +1,13 @@ + +Das wohl bekannteste Szenario der Spieltheorie ist das Gefangenendilemma: Zwei Gefangene werden wegen einer gemeinsamen leichten Straftat überführt und unabhängig voneinander verhört. Im Raum steht auch eine größere Straftat mit einer langen Haftstrafe. +Dieser Text istin fluter Nr. 87 "Spiele"erschienen. +Wenn beide zusammenarbeiten und die schwere Tat leugnen, profitieren beide – zumindest ein bisschen. Sie würden nur für kurze Zeit ins Gefängnis kommen, da die Polizei ihnen die schwere Tat nicht nachweisen kann. Demgegenüber steht die Möglichkeit, für sich allein das Maximum rauszuholen: selbst gestehen und den anderen beschuldigen, während der schweigt. Der Geständige käme als Kronzeuge frei, während der andere für lange Zeit ins Gefängnis muss. Wenn aber beide gestehen und sich gegenseitig belasten, müssten beide für die schwere Tat ins Gefängnis.  Zusammengefasst: Der Anreiz zur Kooperation mit dem Komplizen (indem man die schwere Tat leugnet) ist hoch, gleichzeitig besteht die Gefahr, richtig viel zu verlieren, wenn man als Einziger schweigt. +Das lässt sich vereinfacht aufPandemien wie Covidübertragen – unter der Annahme, dass die beste Lösung für alle ist, ihre Kontakte einzuschränken. Durch diese Kooperation wäre eine Pandemie schneller eingedämmt, alle könnten nach einer Zeit der Isolation wieder ihrem Alltag nachgehen. Eine Person für sich genommen hätte dagegen den größten Vorteil, wenn alle anderen sich einschränken, nur sie nicht: Sie würde wahrscheinlich gesund bleiben, könnte sich aber weiter frei bewegen. Genau diese persönliche Freiheit ist ein großer Anreiz, nicht zu kooperieren. Das schlechteste Ergebnis wäre dann, wenn niemand kooperiert: Das Virus verbreitet sich, Menschen erkranken. +Eine Lösung, dieses Dilemma zu überwinden, wäre, individuelle Interessen hinter das Gemeinwohl zurückzustellen. Während der Covidpandemie hat beispielsweise der Staat durch entsprechende Kommunikation und Regeln wie das Infektionsschutzgesetz versucht, diese Logik zu unterstützen, und viele Menschen haben sich trotz der starken Eingriffe in die individuellen Grund- und Freiheitsrechte daran gehalten. Dass diese Bereitschaft Grenzen hat und menschliches Verhalten nicht nur von spieltheoretischen Überlegungen bestimmt ist, zeigen die Kontroversen während der Pandemie. +Dem Gefangenendilemma nicht unähnlich ist die Tragik der Allmende. Die Allmende beschreibt ein gemeinschaftliches Eigentum, wie einen Ozean, aus dem alle Menschen fischen. Die Tragik: Dieses Gut ist endlich, und es wird nicht nachhaltig damit gewirtschaftet. Es droht eine Übernutzung, die schlussendlich negative Auswirkungen für alle hat. Auch die Erdtemperatur ist ein gutes Beispiel: Demnach steht hier der Schutz des allgemeinen Guts im Konflikt mit individuellen Interessen, nämlich den Kosten und Einschränkungen, die mit entschlossenem Klimaschutz einhergehen. Rational würden es wohl die meisten vorziehen, wenn andere die Kosten für den Klimaschutz trügen, sie aber von einem lebenswerten Planeten profitierten. +Es ist die Kernfragevon Klimaverhandlungen: Warum sollten Staaten oder Individuen ihre Emissionen senken, wenn sie nicht sicher sein können, dass andere es auch tun? Das Gute: Güter, die allen gehören, also praktisch niemandem, lassen sich etwa durch gemeinsame Regeln und gemeinschaftliche Entscheidungen, aber auch durch Überwachung und Sanktionen nachhaltig nutzen. Sicher ist: Am Ende verlieren alle, sollte niemand kooperieren und die Emissionen senken. +Der Ausgang von Wahlen hängt nicht zwangsläufig an der Performance von Personal und Parteien. Auch spieltheoretische Erwägungen können die Wahlentscheidung beeinflussen. Der Schönheitswettbewerb, nach dem britischen Ökonomen John Maynard Keynes, geht auf frühere Preisausschreiben US-amerikanischer Zeitungen zurück. In denen sollten die Lesenden aus Aufnahmen von potenziellen Schönheitsköniginnen nicht das Foto aussuchen, das sie selbst am hübschesten fanden, sondern das, welches ihrer Meinung nach die meisten anderen Lesenden als das schönste auswählen würden. +Wendet man Keynes' Modell auf Wahlen an, tritt auch dort das Verhalten anderer neben die eigene Einstellung oder Entscheidung. Auf Wahldeutsch nennt sich das eine "strategische Wahlentscheidung": Etwa auf Grundlage nicht immer zuverlässiger Wahlumfragen berechnet man schon vor der Wahl ein, wie die Mehrheit der Gesellschaft wählen wird. Und wählt daraufhin eventuell eine andere als die eigentlich bevorzugte Partei, um das Gesamtwahlergebnis möglichst in Richtung der eigenen Position zu beeinflussen. Das Ziel: die eigene Stimme nicht zu verschenken. +Unter Jugendlichen in den USA soll es folgendes Spiel gegeben haben: Zwei sitzen in ihren Autos und rasen frontal aufeinander zu. Beide wollen natürlich die Kollision vermeiden – sofern sie rational denken. Aber: Wer zuerst ausweicht, das Chicken, hat verloren. In diesem Sinne spielen in Tarifverhandlungen die Gewerkschaften mit den Arbeitgebern das Chicken Game. Beide Konfliktparteien gehen mit ihren Maximalforderungen in die Verhandlungen. Gibt niemand nach, droht der Arbeitskampf – ein Ergebnis, das sowohl Arbeitgebern (Produktions- und Umsatzausfälle) als auch Arbeitnehmern (Lohnausfälle) schadet. +Gleichzeitig spielen aber andere Interessen eine Rolle, zum Beispiel die Glaubwürdigkeit der eigenen Verhandlungsposition. Um die zu stärken, kann es für beide Seiten lukrativ sein, sich als irrational zu inszenieren. Wenn dadurch eine Kollision wahrscheinlicher scheint, bringt das die Gegenseite möglicherweise früher zum Einlenken. Würde die Gewerkschaft zum Beispiel glaubhaft mit Streik drohen, also den Anschein erwecken, sie nähme eine Kollision billigend in Kauf, kann sich das entscheidend auf das Verhalten der Arbeitgeber auswirken. +Die Salamitaktik ist eine beliebte Lesart militärischer Konflikte. Sie ist einfach zu erklären und meint, sich politischen Zielen scheibchenweise und unauffällig zu nähern. Immer unterhalb der Schwelle, die eine Reaktion provoziert. Mit dieser Politik der kleinen Schritte lassen sich Gegner zermürben und Sanktionen vermeiden, während man gleichzeitig nach jeder Scheibe seine Unschuld beteuern kann.Chinas Verhalten gegenüber Taiwankann mit der Salamitaktik erklärt werden. Mit Schießübungen nahe der taiwanesischen Hoheitsgewässer, Raketentests und verstärkter militärischer Präsenz versucht die Volksrepublik, die Kontrolle Taiwans über seine Souveränität Schritt für Schritt auszuhöhlen. diff --git a/fluter/sport-integration-film.txt b/fluter/sport-integration-film.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/sport-politik-film-inklusion.txt b/fluter/sport-politik-film-inklusion.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/sport-wirtschaft-video.txt b/fluter/sport-wirtschaft-video.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/sportanlagen.txt b/fluter/sportanlagen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/sprache-beamtendeutsch.txt b/fluter/sprache-beamtendeutsch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3e5664144dbd723c7eba3a813d46d38ddeaa1c13 --- /dev/null +++ b/fluter/sprache-beamtendeutsch.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Die Behörden tun sich auch selbst keinen Gefallen, meint Matthias Kleindienst, Sprecher des Jobcenters in Nürnberg. "Der Kunde ruft uns dann an, weil er die Briefe nicht versteht, oder er schickt uns das Falsche." Zu komplexe Briefe bedeuten Mehrarbeit für die Ämter, also auch Steuergeld, das woanders nicht ausgegeben werden kann. Dabei sind die Bürgerinnen und Bürgerlaut einer Großbefragung des Statistischen Bundesamtsmit ihren Behörden eigentlich zufrieden. Bemängelt werden vor allem die (fehlenden) Onlineangebote und die Verständlichkeit ihrer Schreiben. + +Dass Behördenbriefe so geschwollen formuliert sind, liege an ihrem historischen Erbe, erklärt Christine Möhrs. "Rechtssprache wollte ursprünglich ganz sicher eine Abgrenzung schaffen, damit nur eine kleine elitäre Gruppe sie versteht."(1)Heute wollen Behörden nahbarer sein, nur sprachlich klingen sie noch nach alten Zeiten. Andererseits sei da die Rechtssicherheit, sagt Möhrs. "Die hängt teils wie ein Damoklesschwert über dem Schriftverkehr der Ämter." Was Behörden mitteilen, muss rechtlich korrekt sein. Das ermutigt Mitarbeitende nicht gerade, sich von den Gesetzestexten zu lösen, um ihre Schreiben verständlicher oder sogar freundlicher zu machen. +Allerdings gibt es kein Gesetz, das einer Behörde verbietet, ein Verb statt eines Nomens zu verwenden. Oder mal einen Punkt zu setzen. Eine Arbeitsgruppe mit Mitarbeitenden verschiedener Jobcenter hat daher begonnen, die mehr als 300 Vorlagen schrittweise sprachlich zu überarbeiten.(2)Ihr Anspruch: Die Schreiben sollen "in eine rechtssichere Sprache gegossen werden, die aber verständlich ist und die Leute direkt anspricht", erklärt Matthias Kleindienst. Für den Anfang hat sich die Arbeitsgruppe das häufigste Schreiben vorgenommen(3)– und es erst mal umbenannt. "‚Aufforderung zur Mithilfe', das klingt eher nach ‚Strammgestanden!'", findet Kleindienst. Künftig soll es heißen: Wir brauchen Ihre Mithilfe.Wer Bürgergeld beantragt, soll nicht mehr im Befehlston angeblökt werden.(4) + +Dass es sinnvoll ist, zunächst am Ton zu arbeiten, bekräftigt auch Christine Möhrs. Wenn sie Behörden Workshops für verständlichere Sprache gibt, stellt sie zuerst eine Frage in den Raum: Wie will ich als Behörde eigentlich rüberkommen? Im nächsten Schritt könne man dann etwa überlegen, was man in einem ersten Schreiben schon mitteilen muss – und was noch Zeit hat, weil es sonst wie eine Drohgebärde wirken kann. +"Ich hoffe vor jedem Blick in den Briefkasten, kein Behördenschreiben zu finden", sagt Paul. Er ist 21 und macht gerade eine Ausbildung zum Elektroniker. Paul erinnert sich, dass er nach einem Umzug mal die Frist verpasst hat, in der er seine neue Adresse hätte anmelden müssen. Beim zuständigen Bürgerbüro sei ihm mit mehreren Tausend Euro Strafe gedroht worden. Drei Wochen habe er Angst gehabt, eine Zahlungsaufforderung im Briefkasten zu finden. Am Ende musste er nur ein geringes Bußgeld zahlen. Das hat Pauls Blick auf die Behörden geprägt. "Man muss doch nicht direkt mit dem Schlimmsten drohen. Gerade Ämter sollten wissen, dass solche Summen für manche die Existenz bedeuten." +Dieser Text istim fluter Nr. 90 "Barrieren"erschienen +Um die Schreiben zu vereinfachen, könne man auf drei Ebenen ansetzen, erklärt Christine Möhrs. +· Da sei zum einen die Struktur des Schreibens: Steht die wichtigste Aussage am Anfang, oder ist sie irgendwo im vierten Absatz versteckt? Ballert der Brief direkt mit Gesetzesparagrafen um sich, oder dürfen die auch am Ende stehen? +· Auch an der Satzebene lässt sich arbeiten, das zeigen die neuen Schreiben der Arbeitsagentur. Die Arbeitsgruppe hat mehr Verben verwendet, Sätze vom Passiv ins Aktiv gesetzt und deutlich unterschieden, was die Arbeitsagentur tut und was der Briefempfänger zu tun hat.(5) +· Am schwierigsten sei es, die Wortebene zu ändern, sagt Möhrs. Fachbegriffe lassen sich aus rechtlichen Gründen oft nicht einfach ersetzen. Sie empfiehlt: Bei unbekannten Rechtsbegriffen einen Satz hinterherschieben, der erklärt, was der Begriff bedeutet und was zu tun ist. +Immerhin schicken die Behörden Briefe auch an Menschen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Palwasha ist vor zwei Jahren nach Deutschland gekommen. In Afghanistan hat sie als Journalistin gearbeitet, bis eswegen der Talibannicht mehr ging. +Hier büffelt die 28-Jährige Deutsch und will später als Dolmetscherin anderen Geflüchteten helfen. Sich im neuen Land zurechtzufinden und eine neue Sprache zu lernen findet sie anstrengend genug. Da sind die vielen Briefe vom Jobcenter zusätzlicher Stress. Lange Briefe seien das, seufzt Palwasha, mit noch längeren Fachbegriffen. Und alle nur auf Deutsch. Mittlerweile versucht sie, die Post allein zu beantworten. Anfangs ging das nur, weil sie Familie hat, die seit Jahren in Deutschland wohnt. + +Anmerkungen +(1)Dass Amtsschreiben lesefeindlich sind, hat auch mit einem zweiten historischen Erbe zu tun: Mit Verwaltungsdokumenten wurde früher versucht, in die deutsche Sprache einzugreifen. Zum Beispiel um 1900, als manche fürchteten, das Deutsche könne durch die vielen Lehnwörter aus anderen Sprachen verkommen. Daher stehen in Behördenbriefen bis heute Antiquitäten wie Lichtbild (statt Foto), Kraftfahrzeug (Auto) oder Tanzlustbarkeit (feiern gehen). +(2)Eine Menge Papier. Insgesamt haben die Jobcenter 2023 knapp 52 Millionen Schreiben und Bescheide versandt. +(3)2023 wurde der Antrag mehr als 7,5 Millionen Mal verschickt. +(4)Drei solcher neuen Vorlagen sollen im Mai an alle Mitarbeitenden der deutschen Jobcenter gehen. +(5)Aus "Es ist zu überprüfen, ob und inwieweit für Sie ein Anspruch auf Leistungen besteht beziehungsweise bestanden hat" wird dann: "Wir überprüfen, ob oder in welcher Höhe Sie einen Anspruch auf Leistungen haben oder hatten". Geht doch. + +Illusttration: Renke Brandt diff --git a/fluter/sprache-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt b/fluter/sprache-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..72863cb6209c440bd85bf38493ed8c5669fe4c3d --- /dev/null +++ b/fluter/sprache-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt @@ -0,0 +1 @@ +Irgendwann kam bei uns auch mal die Idee auf, dass wir unbedingt etwas über tolle Programmiersprachen wie C++ oder Java machen sollten, ohne die wir in unserer Computerwelt ganz schön aufgeschmissen wären. Aber dann haben wir festgestellt, dass wira) vermutlich niemals kapieren werden, was uns#include #include int main(){std::cout << "Hallo Welt!" << std::endl;sagen will. Und wir b) vielleicht auch ganz glücklich damit sind, dass die blöden Maschinen einfach so funktionieren, auch wenn wir nicht wissen, warum. diff --git a/fluter/srebrenica-massaker-prozess-nuhanovic.txt b/fluter/srebrenica-massaker-prozess-nuhanovic.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9024ae531e419c18ccd0ab0a86af08c726d5dff8 --- /dev/null +++ b/fluter/srebrenica-massaker-prozess-nuhanovic.txt @@ -0,0 +1,30 @@ +Hasan mit seinen Eltern und Bruder +Seine Geschichte beginnt 1992. Seit drei Jahren studiert Hasan Maschinenbau in Sarajevo, als serbische Truppen in die Stadt einmarschieren. Nur ein Jahr zuvor hatte sich Jugoslawien, der Staat, in dem Hasan geboren war, endgültig aufgelöst. Erst erklärte sich Slowenien unabhängig, dann Kroatien. Das sozialistische Jugoslawien verschwand von der Landkarte, stattdessen begannen drei Armeen um die Überreste des zerfallenen Staates zu kämpfen: serbische, kroatische und bosniakische Truppen. +Hasans Familie gehört zur bosniakischen Bevölkerung, doch sein Heimatort liegt in einem Teil Bosnien-Herzegowinas, der mehrheitlich von Serben kontrolliert wird. Nach Ausbruch des Bosnienkriegs – derzeitgleich zum Kroatienkriegstattfand – leben sie mit einem Mal im Feindesland. Aus Sorge um seine Eltern steigt er in den nächsten Bus und fährt aus Sarajevo nach Hause. Als er das Haus seiner Eltern erreicht, rufen ihm serbische Polizisten zu: "Verschwindet von hier, oder ihr werdet sterben." Über Nacht hat der Bürgerkrieg aus Nachbarn Feinde gemacht – und Hasan zum Flüchtling. +Jugoslawien bricht auseinander +Ab dem Beginn der 1990er Jahrezerfiel der Vielvölkerstaat Jugoslawien: Von den sechs Teilrepubliken der "Sozialistischen Föderativen Republik" erklärten sichSlowenien,Kroatien,MazedoniensowieBosnien und Herzegowinafür unabhängig, übrig bliebenMontenegroundSerbien. In der Folge entbrannte ein Krieg, in dem die Jugoslawische Volksarmee gegen die Unabhängigkeitsbewegungen kämpfte und sich die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in den einzelnen Republiken gegenseitig bekriegten. +Bürgerkrieg in Bosnien und Herzegowina +Im multiethnischen Bosnien und Herzegowina waren laut der Volkszählung 1981 die drei größten Bevölkerungsgruppen Muslime (39,5 Prozent), bosnische Serben (32 Prozent) und bosnische Kroaten (18,4 Prozent). Zwischen ihnen kam es zu immer größeren Spannungen. Während die meisten bosnischen Muslime einen unabhängigen Staat befürworteten, forderten bosnisch-serbische Nationalisten einen Anschluss an Serbien. Viele der kroatischen Bosnier wollten wiederum eine Vereinigung mit Kroatien. Die Situation eskalierte, als im Frühjahr 1992 die muslimische und kroatische Bevölkerung in einem Referendum für die Abspaltung vom serbisch dominierten Rumpf-Jugoslawien stimmte. In kurzer Zeit wuchsen die Unruhen zu einem Bürgerkrieg heran. Serbische Nationalisten kontrollierten bald mehr als zwei Drittel Bosnien und Herzegowinas, wo sie Angehörige anderer Bevölkerungsgruppen vertrieben. +Bosnische Muslime fliehen nach Srebrenica +Srebrenica, ein kleiner Ort im Osten von Bosnien und Herzegowina nahe der Grenze zu Serbien, wurde nach Ausbruch des Bürgerkriegs zur Zufluchtsstätte vor allem für bosnische Muslime. DieVereinten Nationenhatten das Gebiet zur UNO-Sicherheitszone ("Safe Area") erklärt, in der niederländische Truppen Sicherheit gewährleisten sollten. Doch den rund 350 dort stationierten UN-Soldaten reichten weder das UN-Mandat noch die Ausrüstung aus, um diesen Schutz sicherzustellen. Als bosnisch-serbische Truppen unter Führung des Armeechefs Ratko Mladić am 11. Juli Srebrenica einnahmen, konnten die UN-Soldaten keine Gegenwehr leisten. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich dort ungefähr 36.000 Flüchtlinge. +Um zu überleben, schlägt er sich gemeinsam mit seinen Eltern und seinem Bruder in die Wälder. Sie irren von einem Ort zum nächsten, immer auf der Flucht vor den serbischen Truppen. Bomben explodieren nur wenige Meter von ihnen entfernt, Gewehrsalven fegen über ihre Köpfe hinweg. Tagelang finden sie nichts zu essen, wenn sie unterwegs jemandem begegnen, fürchten sie, es könnten Feinde sein. In den Monaten der Flucht hört die Familie schreckliche Geschichten von niedergebrannten Dörfern, von Morden und Vergewaltigungen. Plötzlich, so scheint es, versinkt die Welt um sie herum in Gewalt. +Sechs Monate später erreichen die Nuhanovićs im September 1992 Srebrenica. Die Stadt liegt eingezwängt zwischen steilen Hügeln, umgeben von dichten Wäldern, ein kleiner Fluss fließt vorbei an Moscheen und Kirchtürmen. Srebrenica wirkt friedlich, zum ersten Mal fühlt es sich an, als würde sich für die völlig erschöpfte Familie alles zum Guten wenden. Sie wird freundlich empfangen, erhält Brot und Suppe und darf ein leer stehendes Haus beziehen. +Kurz darauf erklären die Vereinten Nationen Srebrenica zur Schutzzone für Zivilisten. Die kämpfenden Armeen dürfen die Stadt nicht betreten. Am 17. April 1993 fahren kanadische Soldaten mit Jeeps in den Ort ein, auf denen das weiße Emblem der UN prangt, Hasan ruft: "Do you have a cigarette?" Er ist stolz auf seinen ersten englischen Satz. + +Die Gedenkstätte und der Friedhof von Srebrenica in Potocari, Bosnien + +Seit einigen Wochen lernt er mit einem alten Schulbuch Englisch. Als die Kanadier Stellung beziehen, darf er als Dolmetscher für die UN-Truppen arbeiten. Zuerst übersetzt er für die Kanadier, dann für die Niederländer, die den Schutz der Stadt übernehmen. Zwei Jahre lang lebt Hasans Familie in Srebrenica unter dem Schutz der Vereinten Nationen. Während im Rest des Landes der Krieg tobt, glaubt Hasan, sie seien endlich in Sicherheit. +Im Juli 1995, fast drei Jahre nachdem die Familie Nuhanović nach Srebrenica gekommen ist, beschließen serbische Truppen, die Stadt einzunehmen. Niemand wird sie aufhalten. +Zu der Zeit leben bereits etwa 42.000 Menschen in Srebrenica, fast alle sind Flüchtlinge aus anderen Teilen des Landes. Als in der Nacht vom 6. Juli der serbische Angriff beginnt, kontern die UN-Truppen zunächst mit Luftangriffen und ziehen sich dann, nach dem Ausbleiben von Unterstützung und der Drohung, UN-Geiseln zu töten, zurück. Die Menschen in Srebrenica fliehen in Panik aus ihren Häusern und versuchen, auf den Stützpunkt der UN-Soldaten zu gelangen, der nur wenige Kilometer außerhalb der Stadt liegt. +Einige Tausend Bosniaken erhalten dort Zuflucht, mehr als 25.000 Menschen lagern vor den Toren, in der Hoffnung auf Schutz. Der Rest schlägt sich wieder in die Wälder. Alle haben Angst vor den serbischen Soldaten: Es geht das Gerücht um, dass sie die muslimischen Bosniaken vertreiben und ein rein serbisches Gebiet etablieren wollen. Die Rede ist von "ethnischen Säuberungen". +Hasan ist damals bereits offiziell UN-Mitarbeiter. Er und seine Familie dürfen deshalb auf dem sicheren Gelände bleiben. Noch immer hoffen sie: Die Niederländer werden sie beschützen. Dann kommt alles anders. +Am Abend des 11. Juli fährt der niederländische UN-Kommandeur Thomas Karremans vom Stützpunkt aus nach Srebrenica, um mit dem serbischen General Ratko Mladić zu verhandeln. Die Männer handeln einen Deal aus: Die Kampfhandlungen werden eingestellt, dafür kümmern sich die Serben um die Flüchtlinge. +Von diesem Treffen gibt es Videoaufnahmen, die zeigen, dass Karremans und Mladić keine ebenbürtigen Verhandlungspartner waren. Mladić war der Sieger, Karremans wirkt, als habe er große Angst, dass die Serben seine Soldaten umbringen könnten. Er wird später behaupten, er habe nicht ahnen können, was die serbischen Truppen mit den Flüchtlingen vorhatten. +Als Hasan von den Verhandlungen erfährt, fleht er die Niederländer an, seine Familie nicht den Serben zu übergeben. Aber der niederländische Kommandeur erklärt: Hasan als Dolmetscher darf bleiben, alle anderen müssen das Gelände verlassen. Auf den Videoaufnahmen sieht man serbische Soldaten mit Maschinengewehren und verzweifelte Menschen, die um ihr Leben betteln. +Seit fast zwei Stunden erzählt Hasan bereits, seine Stimmt klingt rau. Dann sagt er: "Ich möchte nicht mehr über das sprechen, was dort geschah. Es tut zu sehr weh." Er meint den Moment, in dem seine Eltern und sein Bruder ihm den Rücken zukehren und an den UN-Soldaten vorbei das Gelände der Vereinten Nationen verlassen. Ihre letzten Worte: "Uns wird nichts passieren." +Was dann passierte, bezeichnete der Internationalen Strafgerichtshof in den Urteilen gegen Ratko Mladić und seine Anhänger als Völkermord. Hasan hat seine Version der Geschichte schon oft erzählt: wie die serbischen Truppen die bosniakischen Männer vom Rest der Flüchtlinge trennten, sie in Busse verluden und ermordeten. Rund 8.000 Jungen und Männer, von hinten erschossen und verscharrt. Wie er, Hasan, überlebte, weil ihn die UN-Soldaten nach Kroatien brachten. Wie er später nach Bosnien zurückkehrte, um herauszufinden, was mit seiner Familie geschah. Wie er die Leichen suchte und fand. Wie Hasan beschloss, vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu treten. +Er wollte beweisen, dass die Niederländer, die zu dem Zeitpunkt die Friedensmission in Srebrenica führten, eine Mitschuld am Tod der bosniakischen Flüchtlinge trugen. Hasan Nuhanović gegen die Niederlande. Elf Jahre lang dauerte der Prozess, bei dem es um den Tod von drei Menschen ging, darunter Hasan Nuhanović' Vater und Bruder. Schließlich bekam er recht. Das Gerichturteilte: Die Niederländer hätten Hasans Vater und Bruder retten müssen. Er und drei weitere Angehörige der Getöteten erhielten 20.000 Euro – als Entschädigung. +Heute arbeitet Hasan als Berater für die Gedenkstätte in Srebrenica, von seinem Büro in Sarajevo aus recherchiert er weiter zu den Kriegsverbrechen der Serben. Er sagt, viele der Täter von damals seien bis heute auf freiem Fuß: "Der Mörder meiner Mutter arbeitet im selben Gebäude wie ich, und niemanden interessiert es." In Serbien spricht offiziell niemand von einem Völkermord. Erst im vergangenen Jahr bedankte sich ein Abgeordneter der serbischen Regierungspartei öffentlich für die "Befreiung Srebrenicas" durch General Mladić. Hasan kämpft nicht nur für Gerechtigkeit. Er hat Angst, dass die Täter am Ende doch noch gewinnen könnten. "Der Prozess gegen die Niederlande", sagt Hasan, "war bloß ein Anfang." +Nur wenige Monate nach dem Morden in Srebrenica schlossen die Kriegsparteien auf Druck der internationalen Gemeinschaft Frieden. Das Land Bosnien-Herzegowina wurde eine Föderation mit einem bosniakisch-kroatischen und einem serbischen Teil. Srebrenica liegt seitdem im serbischen Teil. Vor einigen Wochen stellte der Bürgermeister dort ein Banner auf, das den serbischen Präsidenten zeigt. Darunter steht in großen Buchstaben auf Kyrillisch: "Dankbares Srebrenica". + +Titelbild: Ron Haviv/VII/Redux/laif diff --git a/fluter/staat-der-gewalt.txt b/fluter/staat-der-gewalt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e21763add85a8c6b291feeda38413ce12e4384a4 --- /dev/null +++ b/fluter/staat-der-gewalt.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Vor rund vier Jahren trat der konservative Politiker Felipe Calderón sein Amt mit dem Versprechen an, die organisierte Kriminalität aus Mexiko zu verdrängen. Mehr als 50.000 Soldaten schickte er zur Unterstützung der Polizei in den Kampf gegen die Mafia-Clans, die das Land in Lateinamerika terrorisieren, aber bislang brachten mehr Sicherheitskräfte nicht mehr Sicherheit, sondern nur mehr Tote: Mehr als 10.000 Menschen sind alleine in diesem Jahr im Kugelhagel der Kartelle gestorben, 30.000 Menschen haben in diesem Krieg in den vergangenen vier Jahren ihr Leben verloren; ein Krieg, der vor allem im Norden Mexikos stattfindet, an der knapp 3.200 Kilometer langen Grenze zu den USA. +Entlang dieser Grenze zieht sich die Bundesstraße 2 durch die Wüste von Chihuahua. An ihr liegt auch die Millionenstadt Ciudad Juárez, die tödlichste Metropole Mexikos. Eine Stadt ohne Seele, geprägt von breiten Avenidas, die Fabrikhallen mit Fast-Food-Tempeln verbinden und Shopping-Malls mit Schlafstätten. Wer diese Stadt durchquert, hat das Gefühl, einen großen Vorort zu passieren, ohne jemals irgendwo anzukommen. Vier Grenzübergänge verbinden Juárez mit dem texanischen El Paso, umgeben ist die Stadt von sandigem, windigem und verlassenem Niemandsland – einem Paradies für Schmuggler, die hier ihre Flugzeuge mit Drogen für den Nachbarn im Norden vollpacken. +Seit den neunziger Jahren dominierte in Juárez das gleichnamige Kartell unter Führung von Amado Carrillo, dem sagenumwobenen "Señor de los Cielos", dem Herrn der Himmel. Carrillo setzte als Erster Flugzeuge ein, um das Rauschgift in die USA zu bringen. 1997 starb er auf einem OP-Tisch in Mexiko-Stadt, als er sich ein neues Gesicht machen lassen wollte. Sein Tod hat Ciudad Juárez ein neues Antlitz gegeben, eine noch brutalere Visage, eine Fratze mörderischer Gewalt. Zehn Menschen sterben durchschnittlich pro Tag, am Wochenende meist doppelt so viele. Die Pistoleros strecken ihre Opfer beim Friseur nieder, verfolgen sie bis ins Krankenhaus oder erwischen sie daheim beim Fernsehabend. Manchmal werden auch Beerdigungsinstitute zum Tatort, wenn die Killer auch noch die Angehörigen während der Trauerfeier töten. +Seit Carrillos Tod tobt der Kampf zwischen dem Juárez- und dem Sinaloa-Kartell, der mittlerweile mächtigsten Mafia Mexikos. Beide teilen sich mit fünf weiteren Kartellen den Drogenmarkt auf. Nach Erkenntnissen der US-Fahnder ist Mexiko Drehkreuz für 60 bis 90 Prozent des in den USA konsumierten Kokains, das vor allem aus Kolumbien, aber auch aus Peru oder Bolivien stammt. Zudem versorgen die Kartelle den US-Markt mit Marihuana, Heroin und synthetischen Drogen. Ein Geschäft von rund 100 Milliarden USDollar, das sind mehr als elf Prozent des mexikanischen Bruttoinlandsprodukts. Es ist nicht nur der riesige Konsumentenmarkt für Drogen, den Mexiko vor der Tür hat, der das drittgrößte Land Lateinamerikas zu einem idealen Spielfeld für die organisierte Kriminalität macht. Es ist auch der Umstand, dass die Macht der Kartelle längst in die staatlichen Institutionen eingesickert ist. Diejenigen, die eigentlich die Menschen schützen sollen, sind oft selbst kriminell. Weil jede Gemeinde ihre eigenen Polizisten hat, stellt die relativ integre Bundespolizei nur 35.000 von landesweit 427.000 Ordnungshütern. Die anderen gehören den Gemeinden an, sind oft schlecht ausgebildet und leicht von der Mafia zu bestechen oder erpressbar. Selbst die Staatsanwaltschaft arbeitet nicht unabhängig, eher ist die Korruption auch in ihren Reihen an der Tagesordnung. Die Organisation Transparency International listet Mexiko in ihrem aktuellen "Corruption Perception Index" auf Rang 98 von 178 untersuchten Ländern. Zwar wurden zwischen Dezember 2006 und März 2010 über 120.000 verdächtige Personen verhaftet, verurteilt wurden bis zum Februar dieses Jahres aber nicht mal 1.000. +Eine knappe Stunde Fahrt von Ciudad Juárez liegt der Ort Praxedis G. Guerrero: rund 8.500 verängstigte Einwohner, ein erschossener Polizeichef, ein getürmter Bürgermeister und mittendrin Marisol Valles, die vielleicht mutigste Frau Mexikos. Die 20-Jährige wurde in den vergangenen Wochen zu einer kleinen Berühmtheit, weil sie einen Job macht, den niemand wollte, den des Polizeichefs von Praxedis. Die Männer, von denen hier viele machohaft Cowboystiefel und -hüte tragen, hatten vorsichtshalber weggeschaut, als der neue Bürgermeister José Luis Guerrero den Posten zu vergeben hatte. Nur Marisol Valles zögerte nicht, obwohl sie einen Mann und einen sieben Monate alten Sohn hat. Wirklich qualifiziert ist sie nicht für den Job: Ihr Examen im Fach Kriminologie will sie erst in diesem Jahr machen. Eine Waffe trägt sie auch nicht, auf Leibwächter verzichtet sie. "Am Anfang war mein Mann nicht begeistert, er hat da schon ein bisschen geschluckt", sagt die junge, dunkelhaarige Frau mit der strengen Brille. "Aber jetzt geht es. Ich habe ihm von meinen Ideen erzählt, und nun tragen wir das als Familie." +Ihre Ideen, sie klingen noch etwas wie die Wahlkampfversprechen eines Politikers: "Ich will den Menschen in meiner Gemeinde das Vertrauen und die Ruhe zurückgeben." Beides haben ihnen die einheimischen Rauschgiftbarone aus Ciudad Juárez und deren Rivalen aus Sinaloa genommen. Im Tal von Juárez, zu der die Millionenstadt und das weite Hinterland gehören, beklagt man jedes Jahr knapp 3.000 Opfer. In dem Dorf Praxedis G. Guerrero sind es seit Jahresbeginn schon 17 Tote. Die Opfer all dieser Bluttaten sind oft kaum so alt wie Marisol Valles, die 13 Mitarbeiter hat – zehn davon Frauen –, ein Polizeiauto und drei Mopeds. Schon angesichts dieser bescheidenen Mittel gegen die waffenstarrende Übermacht der Gangster sieht sie sich eher als eine Art Sozialarbeiterin: "Wir gehen von Haus zu Haus und reden mit den Familien, ermuntern sie, schaffen Vertrauen. Mein Job ist weniger, Verbrechen zu verfolgen, als vielmehr zu verhindern, dass Verbrechen geschehen." Ansetzen will sie daher bei den Kindern und Jugendlichen – viele der Erwachsenen stecken selbst schon zu tief im Drogensumpf. "Die Menschen gehen nicht mehr auf Feste oder sonntags auf den Gemeindeplatz, sie gehen nicht mehr zum Fußball. Das will ich ändern." Ob sie selbst Angst hat? "Natürlich", sagt sie, "das gehört hier überall dazu." +Keine Angst mehr zu haben bedeutet in Mexiko nichts Gutes. Denn keine Angst haben hier oft Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben, weil ihr Leben bereits zerstört ist. Wie das Leben von Luz Maria Dávila. Die 43 Jahre alte Frau sitzt an ihrem Küchentisch, den Blick auf die abwaschbare Tischdecke mit den Blumenmotiven gesenkt. Sie erzählt, bis die Tränen ihre Erzählung ersticken. Sie hat Albträume, aus denen sie nachts hochschreckt, immer dann, wenn sie im Schlaf wieder den unverwechselbaren Soundtrack zum ewig gleichen Horrorfilm hört: erst die Salven aus automatischen Gewehren, dann quietschende Reifen, der kurze Moment der Stille, bis die Schreie einsetzen. Der mexikanische Drogenkrieg hat sich mit all seiner Grausamkeit und Absurdität in ihr Leben gedrängt und das ihrer Söhne Marcos, 19, und José Luis, 16, ausgelöscht. An einem Samstagabend Anfang dieses Jahres feierten sie im Arbeitervorort Villas de Salvarcar mit rund einem Dutzend anderer Jugendlicher eine Geburtstagsparty, als gegen 22.30 Uhr sechs Killer in drei Pick-up-Trucks vorfuhren und die Gäste mit ihren automatischen Gewehren niedermähten. Ihr jüngstes Opfer war 13 Jahre alt. 150 Meter entfernt von diesem Massaker schaute Luz María eine Telenovela, als sie die tödlichen Schüsse hörte. Am Tatort fand sie ihren älteren Sohn tot, begraben unter zwei blutüberströmten Leichen. "Der Kleine hatte 18 Kugeln im Bauch und eine im Kopf, er starb am anderen Tag", sagt sie und rettet sich für einen Moment in die Nüchternheit der Gerichtsmediziner. Luz Maria Dávila hebt den Blick, es liegt Wut darin. Nicht nur auf die Mörder ihrer Söhne, die frei herumlaufen, sondern auch auf die Politiker, die das Morden nicht stoppen können. Vor allem auf den Präsidenten Felipe Calderón. +Denn zunehmend breitet sich der Albtraum eines Staates, der die gesellschaftliche Ordnung nicht mehr aufrechterhalten kann, auch in anderen Teilen des Landes aus. Neulich wurden mehrere Jugendliche in Tepito, einem der gefährlichsten Viertel von Mexiko-Stadt, ermordet. Es waren vermutlich kleine Dealer, die auf der Lohnliste eines konkurrierenden Kartells standen. Für die einen war es nur ein weiteres Gewaltverbrechen in der Neun-Millionen-Stadt. Für andere war es der Beweis, dass der Drogenkrieg jetzt auch in der Hauptstadt angekommen ist. Und es sieht nicht so aus, als wäre er bald vorüber. Die von Präsident Calderón angestrebte Vereinheitlichung der Polizei findet im Parlament keine Mehrheit, allzu viele Gemeindepräsidenten und Gouverneure lassen sich die Gefügigkeit ihrer Polizisten vergelten. Am fehlenden politischen Willen aller Parteien scheitert auch die effektive Bekämpfung der Geldwäscherei. Die Geldströme, mit denen Beamte, Waffen und Mörder gekauft werden, fließen fast ungehindert weiter. Und was sagt Calderón zu den 30.000 Toten, die der Drogenkrieg bislang gefordert hat? Die Zahl, so der Präsident, werde wohl noch eine Weile ansteigen. diff --git a/fluter/staat-ueberwachung-gegen-terrorismus.txt b/fluter/staat-ueberwachung-gegen-terrorismus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..32639c9d34c64823e4658cc859dd5d9924964e0e --- /dev/null +++ b/fluter/staat-ueberwachung-gegen-terrorismus.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +In beiden Fällen spielte bei den erfolgreichen Ermittlungen eine Rolle, dass zuvor die Kommunikation der Terroristen untereinander überwacht worden war – und die Gesetze dies mittlerweile möglich machen. Schließlich ist jedes Abhören grundsätzlich zunächst ein Verstoß gegen Artikel 10 des Grundgesetzes, in dem das Brief-, das Post- und das Fernmeldegeheimnis festgeschrieben sind. +Dass sich die Rechtslage mittlerweile geändert hat, liegt auch an den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Mit den Anschlägen wurde vielen Gesellschaften auf der Welt schlagartig ihre eigene Verwundbarkeit bewusst. Krieg war nicht mehr nur etwas, das irgendwo an fernen Orten auf der Welt stattfindet. Dieser Krieg kann jeden überall treffen. Mit dieser neuen Angst wurden Stimmen laut, die forderten, es solle alles dafür getan werden, Anschläge wie diesen künftig zu verhindern. Nach 9/11 begannen Sicherheitsbehörden auf der ganzen Welt damit, Überwachungsmaßnahmen auszudehnen. Besonders weit gingen dabei die USA. 2013 deckte der ehemalige CIA-MitarbeiterEdward Snowdenweltweite Überwachungspraktiken der Geheimdienste auf. +Nach Snowdens Enthüllungen wurden die Überwachungsmaßnahmen allerdings nicht eingeschränkt, im Gegenteil. "In den vergangenen fünf Jahren gab es einenmassiven Ausbau der Überwachung,die auch unbescholtene Bürger, die gesamte Bevölkerung unter Generalverdacht stellt", sagt Markus Beckedahl, Gründer der Plattform netzpolitik.org, die sich mit digitalen Freiheitsrechten befasst. +Der deutsche Bundesnachrichtendienst analysiert Datenströme an Internetknoten – der größte befindet sich in Frankfurt am Main. Sicherheitsbehörden können mithilfe von Staatstrojanern Smartphones abhören und mitlesen, was der Nutzer tippt. Das schärfste Instrument allerdings, so der Rechtsanwalt Bijan Moini von der Gesellschaft für Freiheitsrechte, sei die Onlinedurchsuchung. Die Polizei kann Computer und Handys komplett durchsuchen – wie eine Wohnung –, und derjenige, der ausspioniert wird, bemerkt es noch nicht einmal. +Doch wann ist es gerechtfertigt, eine Person zu überwachen, und wann nicht? Dass der Verfassungsschutz eine Person überwacht, ist nur unter engen Voraussetzungen möglich. Diese regelt das "Artikel 10-Gesetz". Die Polizei darf in manchen Bundesländern bereits bei drohenden Gefahren eingreifen, also bereits vor einer konkreten Gefahr. Der relativ neue Begriff der drohenden Gefahr liegt laut bayerischem Polizeiaufgabengesetz vor, wenn "im Einzelfall … in absehbarer Zeit Angriffe von erheblicher Intensität oder Auswirkung zu erwarten sind". +Markus Beckedahl bezweifelt, dass mehr Überwachung zielführend ist. "Wir haben beobachtet, dass es vor allem an Personal, Ausbildung, Weiterbildung und technischen Ressourcen fehlt, wenn Sicherheitsbehörden nicht gegen Terroristen vorgehen können – nicht an Überwachungsgesetzen." So wie der Netzaktivist Beckedahl fordert auch Rechtsanwalt Bijan Moini, dass alle Sicherheitsgesetze zunächst auf Zeit gelten – dann könnte es zum Beispiel nach zwei Jahren eine Bewertung geben: Hat die Onlinedurchsuchung etwas gebracht? Nur nach einer positiven Beurteilung sollte das Mittel weiterhin benutzt werden dürfen. +Vom Bundesverfassungsschutz heißt es: Es werde keine Statistik da­rüber geführt, wie viele Terroranschläge durch Überwachungsmaßnahmen verhindert werden konnten. Präsident Thomas Haldenwang sagte in einem TV-Interview: "Wir wollen mit den Instrumentarien in der modernen Zeit ankommen." Extremisten seien aktiv im Internet, sie stacheln zu Hass an, verabreden sich zu Gewalttaten in Räumen, die den Sicherheitsbehörden nicht zugänglich sind. "Wir müssen die Möglichkeit haben, in diese Bereiche hineinzuschauen, um Gefahren für unser Land abzuwenden." + diff --git a/fluter/staatenlos-deutschland-reportage.txt b/fluter/staatenlos-deutschland-reportage.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..adc95af8982f4e8eec4300c14b81c325086b816e --- /dev/null +++ b/fluter/staatenlos-deutschland-reportage.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Leonardo ist Rom, also Angehörigerder ethnischen Minderheit der Rom*nja, und besitzt keine Staatsbürgerschaft. Auch seine Frau, die beiden haben drei Kinder, ist staatenlos. Unter Rom*nja und Sinti*zze ist dieser Status gar nicht so ungewöhnlich. Zum Beispiel, weil die Nazis nach den sogenannten Rassengesetzen von Nürnberg vielen Familien die Staatsangehörigkeit einfach aberkannt haben.Eine Diskriminierung, die bis heute nicht rückgängig gemacht, geschweige denn entschädigt wurde. Ein anderer Grund ist der Zerfall früherer Staaten wie etwa Jugoslawien nach 1991: Als es ihre Heimatländer offiziell nicht mehr gab, waren viele Jugoslaw*innen faktisch staatenlos. +Leonardos Vater war deutscher Staatsbürger. Obwohl Leonardo deshalb ebenfalls Anspruch auf einen deutschen Pass gehabt hätte, bekam er als Kind lediglich eine zehnjährige Aufenthaltsgenehmigung. Leonardo vermutet, dass es am fehlenden Vaterschaftsnachweis scheiterte. Sein Vater habe schlicht nicht gewusst, dass er den dem Antrag hätte beilegen müssen. +1954 beschlossen die Vereinten Nationen ein "Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen". Seitdem gelten "Personen, die kein Staat aufgrund seines Rechtes als Staatsangehörige ansieht" als staatenlos. Unterschieden werden sie noch mal in anerkannt Staatenlose und faktisch Staatenlose. Denn Staatenlosigkeit ist ein Status, der beantragt und von einer deutschen Behörde festgestellt werden muss. Anerkannt Staatenlose erhalten den sogenannten Staatenlosenausweis, der auch im Titelbild zu sehen ist. Leonardo hat als faktisch Staatenloser einen Reiseausweis für Ausländer, in dem statt einer Staatsangehörigkeit nur XXX steht +Die Aufenthaltsgenehmigung lief ab, als Leonardo 16 war. Seitdem hat er den Pass, in dem statt eines Herkunftslandes nur die drei X stehen: einen Reisepass für Ausländer. Die vergeben Ämter, solange ungeklärt ist, ob in anderen Ländern vielleicht noch ein Anspruch auf Staatsangehörigkeit besteht. +Auch wenn die Optionen "staatenlos" oder "nicht geklärte Staatsangehörigkeit" oft auf Formularen fehlen: Mit dem Reisepass für Ausländer kann Leonardo sein Leben organisieren, Konten führen, Reisen, eine Wohnung mieten. Aber Wählen darf er als Nicht-Staatsbürger natürlich nicht. Und der Pass muss alle zwei bis drei Jahre neu beantragt werden. Das wird regelmäßig zum Behördenmarathon, erzählt Leonardo. Bis der Ausweis da ist, bekommt er sogenannte Fiktionsbescheinigungen. "Letztes Mal hab ich eine Woche lang herumtelefoniert, bis die endlich kam." Schließlich hätte er ohne sie gar keine Papiere, könnte theoretisch sogar abgeschoben werden. +Leonardo hat früh versucht, einen deutschen Pass zu bekommen. Mit sechzehn, beim ersten Anlauf, wurde ihm im Amt abgeraten. "Die haben gesagt, wegen irgendeines Paragrafen wäre es unwahrscheinlich, dass es mit dem deutschen Pass klappt", erinnert sich Leonardo. Er sollte es stattdessen lieber mit der polnischen Staatsbürgerschaft versuchen, schließlich kämen seine Großeltern aus Polen. Verstanden hat er das damals nicht, sagt Leonardo. Er beantragte die deutsche Staatsangehörigkeit – und wurde abgelehnt. +Wer deutscher Staatsbürger werden will, muss bestimmte Kriterien erfüllen. Zum Beispiel ausreichend Deutsch können, einen Einbürgerungstest bestehen und sich zumGrundgesetzbekennen. Das offizielle Dokument, das seine Ablehnung begründet, habe er nicht mehr, sagt Leonardo. Er vermutet heute, dass der Antrag womöglich abgelehnt wurde, weil er vorbestraft war. "Eine Jugenddummheit", sagt er und knetet die Hände. "Ich hatte mit 13 was geklaut." Abgelehnt werden dürfen Antragsteller*innen laut Gesetz nur bei einem bestimmten Strafmaß, zum Beispiel Geldstrafen über 90 Tagessätze. Leonardos Strafe lag darunter. Ob es wirklich daran lag, oder an einer anderen Voraussetzung, die er nicht erfüllt hat, kann er nicht mehr nachvollziehen. Angefochten hat er die Ablehnung damals nicht, weil er nichts von den Regelungen wusste. +Mihael Ritter kennt etliche solcher Geschichten. Viele Staatenlose wie Leonardo seien nicht gut informiert über ihre Rechte als Antragsteller*innen, sagt Ritter. Wenige würden hinterfragen, was ihnen von Ämtern mitgeteilt wird. Vor allem, weil sie nicht wüssten, wie. Mihael Ritter hat als Sinto selbst jahrelang um eine Staatsbürgerschaft gekämpft. 2019 gründete er den Verein Roma und Sinti e.V., der eingewanderte Rom*nja und Sinti*zze bei der Integration unterstützt. Heißt im Alltag: beim Ausfüllen von Dokumenten helfen, zu Ämtern begleiten, Rechtsbeistand organisieren, aber auch Jugendarbeit. Der Verein bietet beispielsweise ein Boxtraining an. Rund 500 Mitglieder hat der Verein heute im Großraum Köln. + + +Ritter und seine Kolleg*innen haben täglich mit den Problemen und dem Frust zu tun, die viele der 26.000 staatenlosen Menschen teilen, dielaut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Deutschland leben. Auch weil andernorts die Kompetenz fehlt, um sie zu beraten. "Fachanwälte für Ausländerrecht sagen mir: ‚Herr Ritter, wir lassen die Finger davon'", sagt er. "Auch die ‚Beratung'" – Ritter malt zwei Anführungszeichen in die Luft – "der Ausländerbehörden ist ungenügend." Im Alltag gebe es häufig Probleme mit Sacharbeiter*innen. Viele hätten Vorurteile, seien deshalb unfreundlich. Weshalb manche Staatenlose auch gar nicht mehr versuchen, ihren Status zu ändern. +Alle zwei Wochen fünf fluter-Highlights:Hier abonnierst du unseren Newsletter +Dabei soll Staatenlosigkeit in Deutschland eigentlich kein Dauerzustand sein: Wer durch die Ausländerbehörde genehmigt acht Jahre im Land lebt, dem steht die deutsche Staatsbürgerschaft zu (oder zumindest eine Niederlassungserlaubnis, also ein unbefristeter Aufenthaltstitel ohne deutsche Staatsbürgerschaft). Es gibt allerdings Bedingungen für diesen Anspruch: Die Antragsteller*innen müssen ihren Unterhalt selbst sichern können, also ohne Sozialhilfe zu empfangen. +Leonardo wollte nach seinem Hauptschulabschluss eigentlich eine Ausbildung zum Handwerker machen, zum Installateur für Sanitäranlagen. Im Bewerbungsgespräch habe es ewig gedauert, seinen Status zu erklären, erzählt Leonardo. Das Gespräch sei schleppend gelaufen, aus der Ausbildung wurde nichts. Danach hat er lange gekellnert. Seine Familie konnte er damit nicht immer durchbringen. Deshalb wurde auch sein zweiter Antrag auf deutsche Staatsbürgerschaft abgelehnt. +Die finanzielle Unabhängigkeit als Voraussetzung für die Staatsbürgerschaft führt Antragssteller*innen wie Leonardo oft in eine absurde Schleife: Ohne unbefristete Aufenthaltsgenehmigung sind kaum sichere und gut bezahlte Anstellung zu finden. Wer keine hat, ist selten finanziell unabhängig – bekommt also wiederum nur befristete Aufenthaltsgenehmigungen. +Vor kurzem hat sich Leonardo mit einer Teppich- und Fassadenreinigung selbstständig gemacht. Deutschland bleibt seine Heimat, aber eine auf Zeit. Die deutsche Staatsbürgerschaft wünscht er sich vor allem, um nicht ständig in Erklärungsnot zu geraten. Und weil er sich mit den offiziellen Bezeichnungen schlichtweg nicht gemeint fühlt: Leonardo stellt sich nicht als Ausländer oder Staatenloser vor, sondern zuerst als Rom, dann als Deutscher. Er und seine Familie hätten keine Bindung zu einem anderen Land, sagt er. "Ich bin doch hier geboren. Was bitte soll das heißen, staatenlos?" + diff --git a/fluter/staatliche-kredite-corona-faq.txt b/fluter/staatliche-kredite-corona-faq.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c3958bc58b5732b5908eb352d9aee1a7c8414a48 --- /dev/null +++ b/fluter/staatliche-kredite-corona-faq.txt @@ -0,0 +1,31 @@ +Welchen großen Firmen hat der Staat seit Beginn der Pandemie Geld bereitgestellt? +Zu den prominentesten Fällen der letzten zwölf Monate gehören die Lufthansa (9 Mrd. Euro), TUI (bisher 4,3 Mrd. Euro in drei Tranchen), Adidas (2,4 Mrd. Euro), Galeria Karstadt Kaufhof (bis zu 460 Mio. Euro) und der Autovermieter Sixt (1 Mrd. Euro). Weniger bekannte Fälle sind etwa die Tourismusunternehmen Novum Hospitality (45 Mio. Euro) und Berge & Meer (20 Mio. Euro), der Autozulieferer A-Kaiser (12,5 Mio. Euro) und die MV Werften (193 Mio. Euro) – also größtenteils Firmen aus Wirtschaftszweigen,die aus naheliegenden Gründen unter Pandemie und Lockdown leiden. +Wie kommen die Firmen konkret an das Geld? +Eine Anlaufstelle ist die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Als nationale Förderbank ist sie eigentlich dafür da, Freiberufler:innen sowie kleinere und mittlere Firmen und Kommunen bei Investitionen, Existenzgründungen und Projekten mit Krediten zu helfen. Sie vergibt auch Studienkredite. Seit März 2020 bietet die KfW zudem spezielle Corona-Hilfen für alle Unternehmen an. +Weiterlesen: +Der Staat verschuldet sich wegen der Hilfen in Rekordhöhe – ist das schlimm?Experte Prinz klärt auf +Zusätzlich hat die Bundesregierung im März 2020 einen speziellen Topf für größere Unternehmen geschaffen: den Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF). Hier stehen theoretisch bis zu 600 Milliarden Euro für Firmen mit mehr als 249 Beschäftigten und einem Umsatz von mindestens 50 Millionen Euro bereit. Davon wurde bisher aber nur ein sehr geringer Teil beansprucht. Oft wird nämlich nicht das gesamte bewilligte Geld tatsächlich in Anspruch genommen. Bei Adidas waren es zum Beispiel letztlich "nur" 500 Millionen Euro. Zum Teil haben die Firmen zusätzlich Geld von Privatbanken erhalten, sodass die Summen, von denen die Medien berichten, oft noch höher sind, weil sie auch diese Kredite beinhalten. +Warum leiht der Staat den Firmen überhaupt Geld? +Damit sie nicht pleitegehen. Dann wären nämlich Arbeitsplätze in Gefahr – in den Firmen selbst und mitunter auch in anderen Betrieben aus derselben Branche, also zum Beispiel bei Zulieferern. Das vermindert die Steuereinnahmen und schwächt die Gesamtwirtschaft. +Welchen Firmen hilft der Staat in so einer Situation? +In der Vergangenheit mussten die Firmen schon von einer gewissen Bedeutung sein, sodass ihr Scheitern die Wirtschaft nachhaltig erschüttert hätte. Generell muss davon ausgegangen werden, dass die Firmen noch wirtschaftlich sind, also nur vorübergehende Zahlungsengpässe haben. Die Hilfen sollen weder ein Dauerzustand noch ein sinnloser Tropfen auf den heißen Insolvenz-Stein sein. +Wer entscheidet über die Hilfen? +Geprüft werden die Anträge auf Unterstützung durch den WSF vom Wirtschaftsministerium, unterstützt von der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers. Entschieden wird, je nach Höhe, von der KfW, vom Wirtschafts- und Finanzministerium gemeinsam oder vom WSF-Ausschuss. +Woher kommt das ganze Geld? +Aus dem Bundeshaushalt. Zur Bewältigung der Folgen der Lockdowns und der Corona-Pandemienimmt der Staat momentan in großem Umfang neue Schulden auf. +Müssen die Firmen das Geld zurückbezahlen? +Ja, es handelt sich schließlich um Kredite. Sie müssen zum Teil sogar recht hohe Zinsen darauf zahlen, bei der Lufthansa bewegen sie sich zwischen 3,75 und 9,5 Prozent, was deutlich über dem aktuellen Kreditzinsniveau für Privatanleger liegt. Dafür trägt der Staat als Schuldner eben auch das Risiko: Im schlimmsten Fall ist das Geld verloren. +Zahlen die Firmen das Geld wirklich zurück? +Adidas und Sixt haben ihre Kredite bereits komplett zurückgezahlt, auch die Lufthansa zum Teil – sie hat inzwischen private Geldgeber gefunden, bei denen die Auflagen nicht so streng sind. +Was ist nochmal was – KfW und WSF? +KfW: Kreditanstalt für Wiederaufbau. Nationale Förderbank, die Coronahilfen vergibt +WSF: Wirtschaftsstabilisierungsfonds."Topf", aus dem Kredite für Großunternehmen ausgezahlt werden +Was für Auflagen sind das? +Bei WSF-Hilfen von mehr als 100 Millionen Euro ist eine Bedingung, dass die Gehälter der Geschäftsleitung nicht über das Niveau von 2019 steigen dürfen, Bonuszahlungen – auch in Form von Aktienpaketen – sind ebenfalls nicht gestattet. Auch dürfen Firmen ihren Aktionär:innen keine Dividende – also einen Anteil ihres Bilanzgewinnes – auszahlen. +Bekommt der Staat auch Mitspracherechte in den Firmen? +Im Fall der Lufthansa wurde genau dies öffentlich diskutiert und auch von verschiedenen Seiten gefordert – zum Beispiel, um das Unternehmen auf einen ökologisch verträglicheren Kurs zu bringen. Kritiker:innen sehen hierbei einen zu großen Eingriff des Staates in die freie Marktwirtschaft oder fürchten gleich, dass Unternehmen quasi verstaatlicht werden. Bisher bleibt es aber bei einer sogenannten stillen Beteiligung. +Mit Kapitalismus hat das dann nicht mehr viel zu tun, oder? +Im Sinne einer freien Marktwirtschaft ist es schwierig, wenn der Staat einzelne Firmen unterstützt – schließlich haben sie dann einen Vorteil gegenüber der Konkurrenz. Darauf achtet auch die EU-Kommission, die verhindern will, dass einzelne Mitgliedstaaten ihren Unternehmen Wettbewerbsvorteile verschaffen. Prinzipiell müssen Staatshilfen vonder EU-Kommissiongenehmigt werden, um Wettbewerbsverzerrung vorzubeugen. +Die Firmen kriegen Millionen und Milliarden,und viele Selbstständigeund kleine Unternehmen kämpfen um ihre Existenz. Ist das nicht unfair? +Das lässt sich so leicht nicht beantworten. Grundsätzlich hilft der Staat kleinen Unternehmen und Selbstständigen in der Corona-Krise sogar mehr als großen Firmen. Viele der Hilfen aus den diversen Töpfen – Soforthilfe, Überbrückungshilfe, Novemberhilfe, Neustarthilfe usw. – sind ganz oder zumindest teilweise Zuschüsse, die nicht wieder zurückgezahlt werden müssen. Die Staatshilfen für Adidas und Co. sind hingegen – wie gesagt – Kredite mit vergleichsweise hohen Zinsen. Das aber bringt den Einzelnen, die bisher noch kein oder nur wenig Geld bekommen haben, nicht viel. Wo Tausende und Millionen gleichzeitig Hilfe beantragen, zugleich aber Betrug vorgebeugt werden soll, fallen leider wohl zwangsläufig einige unverschuldet durchs Raster oder müssen länger warten. Fragt hingegen ein namhaftes Unternehmen einen Millionenkredit an, kann es sich recht sicher sein, dass der Antrag schnell bearbeitet wird. Letztlich lassen sich diese Fälle aber nur bedingt vergleichen. + diff --git a/fluter/stacheldraht-haendler.txt b/fluter/stacheldraht-haendler.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4c9d664f0795d6c6d2fa65f76098ef86b95b1a07 --- /dev/null +++ b/fluter/stacheldraht-haendler.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Stacheldraht gilt als Nachlass böser Zeiten. Vor 150 Jahren ließ ihn der US-Amerikaner Joseph Glidden patentieren, weil Holzzäune zu teuer geworden waren für die riesigen Viehherden im mittleren Westen. Bald richtete sich Gliddens Erfindung auch gegen Menschen: im Ersten Weltkrieg, um die feindlichen Linien draußen zu halten, in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten undden sowjetischen Gulags, um Juden und Roma und Zwangsarbeiter drinnen zu halten. Später wurde der Draht zum Symbol des getrennten Europas, spätestens mit dem Schengenabkommen und der Freizügigkeit innerhalb der EU wirkte Stacheldraht so gestrig wie die Ideeeiner physischen Grenze an sich. +Aber weg war er natürlich nie: Überall in der Welt entstehen neue Grenzanlagen. In den vergangenen rund 20 Jahren wurden mehr sogenannte "fortifizierte", also mit Mauern, Zäunen, Stacheldraht oderSoftware zur Gesichtserkennunggesicherte Grenzen errichtet als in den fünf Jahrzehnten davor. An der US-Grenze zu Mexiko steht ein gebäudehoher stacheldrahtbewehrter Zaun, an manchen Abschnitten der Grenze zu Palästina hat Israel gleich ein halbes Dutzend Rollen hintereinanderlegen lassen. Und auch die Ränder der EU sind im Höchstmaß umzäunt: Spanien sperrt Marokko aus, Griechenland die Türkei, Polen Belarus, Finnland Russland. Hunderte Kilometer Stacheldraht sollen es Geflüchteten erschweren, nach Europa zu kommen. Wo ein Land endet und ein anderes beginnt, soll vielerorts wieder sichtbar werden und gern auch fühlbar. + +Der Draht heißt so, weil er vom NATO-Verbündeten USA nach Deutschland kam +Wie sieht einer wie Dikici, der mit dem Abgrenzen sein Geld verdient, diese Welt und ihre wachsende Begeisterung fürs Territoriale? Was für ein Geschäft ist der Handel mit Stacheldraht? Wir verabreden uns. Dikici freut sich auf das Gespräch, aber er zögert auch. "Nicht dass ich wie der letzte Warlord rüberkomme", sagt er, grüßt aber zum Abschied fröhlich: "Tschu-tschu!" +Das Gelände von Mutanox liegt im Ortsteil Karlshorst, weder Stadtgrenze noch Berlin der Clubs und Szenen. Ein Gewerbegebiet, die Nachbarn: ein Landschaftsbaubetrieb und eine Wagensiedlung, die bald geräumt werden soll. "Zaun-Store" steht groß auf der Fassade. Rechts von der Einfahrt ein Bürobungalow, vor dem bunte Musterzäune einen Kirschbaum einhegen. Dahinter das Lagergebäude. Überall stapeln sich Gittermatten. Auf der anderen Straßenseite werden Wohnungen gebaut. Womöglich steht bald der nächste Umzug an, erzählt Efekan Dikici. Seit fast 25 Jahren wandert Mutanox immer weiter an den Stadtrand, von Schönebergnach Neukölln, jetzt hier in den Südosten der Stadt. +Sollte der Mann ein Warlord sein, ist er einer, der gerne lacht. "Die Presse will den NATO-Draht interviewen", scherzt er mit seinen Angestellten. Dikici, Mitte 30, wirkt selbst am fasziniertesten von dem Geschäft, das er leitet: so viel Stahl, so viele Variationen! Richtig ins Schwärmen kommt er über Fangzäune für Bolzplätze oder die pinkfarbenen Zäune, die sie für Eigenheime sonderanfertigen. +Zaunanlagen von Mutanox schützen heute die Baustellen von SuedLink, auf denen von Scheeßel bis Schweinfurt Höchstspannungsleitungen verlegt werden. Oder das Berliner Bundeskriminalamt. Viele Justizvollzugsanstalten in Deutschland und Österreich sind seit Jahren Kunden. Mutanox hat schon Bleche nach Uruguay geliefert und Maschendrahtzaun nach Haiti. Einmal war die Firma sogar ein Medienstar. Ausgerechnet, weil Mutanox mal nicht geliefert hat. +Herbst 2015, Höhepunkt der Fluchtbewegungen aus Syrien. Zu Zehntausenden versuchten Menschen,über den Balkan in die EU zu gelangen. Unter dem rechten Ministerpräsidenten Viktor Orbán wollte Ungarn das verhindern, indem es massiv Zäune baute. Über 175 Kilometer entstand an der Grenze zu Serbien in kürzester Zeit eine Anlage mit mehreren Schichten NATO-Draht. Nur kam der nicht aus Berlin: Murat Ekrek und Talat Deger, die Gründer von Mutanox,lehnten den Großauftrag ab. Sie verkauften ihren Stacheldraht auf der ganzen Welt, aber nicht, um ihn gegen wehrlose Menschen wie Kriegsflüchtende einzusetzen. +Dikici war damals für das Tagesgeschäft zuständig, zum Geschäftsführer wurde er erst später. Die Entscheidung hat er nur am Rande mitgekriegt. Heute müsste er sie fällen. Stachel- und NATO-Draht dürfen in alle Welt verkauft werden, der Handel fällt nichtunter das Kriegswaffenkontrollgesetz. Die meisten Aufträge seien eh harmlos, sagt Dikici. Cafés, Getränkegroßhändler oder Schrottplätze, die Einbrüchen vorbeugen wollen, eine Hausverwaltung, die eine Mauer im Innenhof bewehrt. "Aber Achtung", Dikici hebt die Augenbrauen. "Wenn sich da jemand verletzt, und wenn es ein Einbrecher ist, kann man dafür angezeigt werden." Zumindest wenn man ihn nachlässig anbringt: Stacheldraht ist auf Privatgrundstücken nur dann legal, wenn er korrekt und mit Warnhinweisen angebracht ist. + + +Ob er Kunden schon mal vom Stacheldraht abgeraten habe, frage ich Dikici, aus moralischen Gründen? "Ganz ehrlich? Nein. Ich fühle mich zwar manchmalwie ein Waffenhändler. Aber dadurch, dass wir das wirklich nur Leuten verkaufen, die damit ihr Hab und Gut sichern wollen, habe ich ein reines Gewissen." +In der staubigen Lagerhalle zeigt Dikici mir seinen Bestand. NATO-Draht in verschiedenen Durchmessern, zu mannshohen Rollen aufgetürmt. Um die 1.000 Rollen habe er immer auf Lager, sagt Dikici, das reicht für knapp zehn Kilometer Zaun. +Die großen Rollen sehen aus wie Siegerkränze beim Pferderennen, die kleinen sind nur von einer dünnen schwarzen Plastikhülle umgeben. An vielen Stellen ist sie aufgescheuert. Man sieht viele kleine Klingen mit noch mehr kleinen fiesen Widerhaken. Auch die Mitarbeiter von Mutanox verletzen sich regelmäßig daran, zerfetzen sich Schuhe und Arbeitskleidung und manchmal auch ihre Haut. Als ich mich den Drahtstapeln nähere, die mir bis auf Augenhöhe reichen, achte ich noch sorgfältiger darauf, nicht zu stolpern. +Eigentlich komisch, überlegt Dikici: Da arbeiten so viele Menschen an etwas, mit Herz, Kopf und Seele, in der Stahlindustrie, in riesigen Anlagen mit Feuer und Walzkräften von 10.000 Tonnen, "und am Ende kommt ein Draht raus, der macht dich zu Wurst". Dikici lacht die Grausamkeit weg, er macht eine Geste: verdrehte Augäpfel, skurrile Verrenkungen. "Das denke ich mir auch bei Waffen, ehrlich. Die bestehen ja auch aus Stahl. Da stehen Leute, die produzieren etwas, das Menschen tötet. Das ist krass." +Würde er es heute machen, würde er Ungarn beliefern? "Ich glaube nicht. Ich stelle mir immer vor, wie eine Frau mit Kindern durch den Draht will oder eine Oma, weil sie vor dem Krieg flüchten. Die können sich gar nicht vorstellen, wie doll das wehtut, da durchzukrabbeln." +Das Bild scheint ihm sehr plastisch vor Augen zu stehen. Auch ich denke an ein Bild, aber in Schwarz-Weiß, von den Schützengräben des Ersten Weltkriegs, die mit Stacheldrahtverschlägen geschützt wurden. Angreifer verhedderten sich darin und wurden erschossen. Ihre toten Körper blieben in grotesken Stellungen hängen, weil es für beide Seiten zu gefährlich gewesen wäre, sie zu bergen. Manchmal ist die Welt von 1918 der von 2024 ähnlicher, als wir wollen. +Dabei ist Dikici gar nicht grundsätzlich gegen Grenzen. "Ich kann schon verstehen, dass man kontrollieren und regulieren will, wer durchkommt. Aber dann denk ich mir: Stell doch einen stabilen Bauzaun hin. Das schützt deine Grenze, tut aber niemandem weh. Stacheldraht gegen Menschen, die aus der Not kommen, finde ich scheiße." +Dieser Text istim fluter Nr. 90 "Barrieren"erschienen +Es ist, wo wir hier so über Grenzen reden und wer sie passieren darf, nicht frei von Ironie, dass es die Firma Mutanox auch deshalb gibt, weil ihre Gründer in Deutschland viel Rassismus erlebt haben. Murat Ekrek und Talat Deger begegneten sich damals, weil sie als Menschen türkischer Herkunft in der Stahlbranche Außenseiter waren. Sie hatten keine Lust mehr auf die abwertenden Sprüche der Kollegen und taten sich zusammen. +Das kleine Team ist bis heute türkisch geprägt, es wirkt wie eine Familie. Als Dikici niest, ermahnt ihn der ältere Lagerarbeiter Mustafa väterlich auf Türkisch, sich doch bitte eine Jacke überzuziehen. "Ich kann mir vorstellen, dass einige Metallbauer, die bei uns kaufen, rechte Parteien wählen", sagt Dikici. "Wenn die hier sind und unsere Buchhalterin mit Kopftuch ins Büro guckt, kommen schon mal Fragen: Das ist die Putzfrau, oder?" +Im Gehen kann ich es dann doch nicht lassen. Vorsichtig lege ich meinen Finger an eine der Klingen, die sich im Lager durch die Schutzhülle geschnitten haben. Es tut nicht weh, es fließt kein Blut. Aber ich erkenne den feinen Schnitt in den oberen Hautschichten. Er ist noch ein paar Tage zu sehen. diff --git a/fluter/stadt-oder-land.txt b/fluter/stadt-oder-land.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d7484e1f178554eaee6b0afa8eaa2fb36a6d69b4 --- /dev/null +++ b/fluter/stadt-oder-land.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +Aber es fällt doch auch schwer, auf dem Land Arbeit zu finden. Das Handwerk ist vielerorts verschwunden, viele Bauernhöfe sind aufgegeben worden. Wenn der eine Bau- er mit seinen Drohnen 500 Hektar bewirtschaftet, gibt es für die anderen nicht mehr viel zu tun. +Der Wandel von der Agrar- zur Industrie- und schließlich zur Dienstleistungsgesellschaft hat die Dörfer tiefgreifend verändert. Allein in der Landwirtschaft ging die Zahl der Betriebe von 1950 bis heute von ca. 2,4 Millionen auf etwa 270.000 zurück, die der Erwerbspersonen von 7,1 Millionen auf knapp eine Million. Ähnlich stark verlief die Schrumpfung in der Forstwirtschaft und im Landhandwerk. Und dennoch haben wir einen großen Teil der Wertschöpfung immer noch auf dem Land. Das ist ja nicht das Armenhaus der Republik, sondern oft die Heimat der sogenannten Hidden Champions, also mittelständischen Weltmarktführern. Da gibt es bärenstarke Betriebe in Orten mit 800 bis 2.000 Einwohnern, etwa in Niedersachsen, im Sauerland oder in Baden-Württemberg. +Aber seltener im Osten des Landes. +Es gibt in der Tat ein Ost-West-Gefälle. Auch weil es nach der Wende eine Art Deindustrialisierung gegeben hat und viele Betriebe nicht mehr konkurrenzfähig waren. Zudem wurden die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaf- ten (LPG) aufgelöst. Da haben viele Menschen von heute auf morgen ihre Arbeitsplätze verloren und deswegen bis heute eine geringere Rente. Auch die traditionellen Vereinsstrukturen, die im Westen viele Dörfer tragen, spielen eine geringere Rolle. +Wie beurteilen Sie den Zuzug von Großstädtern, die vor dem technologie getriebenen Alltag am Computer am Wochenende in eine Welt voll Selbstgemachtem und Kräutergärten fliehen? +Es gibt eine reale Sehnsucht nach einem naturnahen und entschleunigten Leben. Auf die Frage, wo sie am liebsten wohnen würden, entscheiden sich immer mehr Bürger für eine ländliche Gemeinde als für die Großstadt. Es ist ja auch so, dass 80 bis 90 Prozent der Menschen auf dem Land zufrieden mit ihrem Leben sind. Natürlich leiden viele Dörfer unter dem Wegzug der Jungen, aber es gibt auch eine gegenläufige Entwicklung. Leute, die Ruhe und Freiheit suchen, ziehen aus der Stadt aufs Land. Familien mit Kindern, die sich die hohen Mieten nicht leisten wollen oder können und ihre Kinder statt zwischen Autos lieber naturnah und ruhig auf- wachsen sehen wollen. +Es gibt eine regelrechte Schwemme von Magazinen wie "Landlust", andererseits schreiben Sie Bücher wie "Rettet das Dorf!". Ist das nicht ein Widerspruch? +Das Problem ist die "hohe" Politik in Bund und Ländern, die die Bürger und Kommunen auf dem Land nicht genug unterstützt. Es gibt in den meisten Bundes- und Landesministerien eine erhebliche Arroganz gegenüber den kleinen Gemeinden. Ein Musterbeispiel der Fernsteuerung und Fremdbestimmung waren die kommunalen Gebietsreformen der letzten Jahrzehnte. Über 20.000 Dörfer verloren ihren Status als Gemeinde und damit in einer politischen Sekunde ihren Bürgermeister und Gemeinderat. Über 300.000 demokratisch gewählte ehrenamtliche Kommunalpolitiker wurden "beseitigt". Ein Demokratieverlust, der bis heute wirkt. Die lokale Politik wurde in einen größeren Ort ausgelagert, die Dörfer zu ohnmächtigen Ortsteilen degradiert. Da ist eine über Jahrhunderte gewachsene Selbstverantwortung zerstört worden. +Das heißt, wenn die Friedhofsmauer marode ist, muss man erst in zentralen Orten anfragen, ob man sie sanieren darf? +Genau so ist es. Früher kam man dann zur Ratssitzung zusammen, hat sich das angeguckt, und ein paar Wochen später war die Mauer kostengünstig repariert. Heute setzt ein Behörden- und Aktenmarathon ein. Da kommen Politiker und Beamte aus den Großgemeinden und schauen sich das mehrfach an. Es gibt Gutachten und Anträge, und in der Regel ist kein einziger Bürger des Dorfes mehr dabei. Das ist ein Verlust an Mitmach-Demokratie. +Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Stadt und Land ist ja eigentlich im Grundgesetz verankert. Damit scheint es aber nicht weit her zu sein. +Das stimmt. Ein anderes Beispiel für die Ungleichbehandlung ist die Schließung vieler Dorfschulen, weswegen die Kinder teilweise stundenlange Schulwege haben. Da wurden oft willkürliche Mindestschülerzahlen festgelegt, mal 80, mal 60, mal 40, und insgesamt 20.000 Schulen dichtgemacht. Der Verlust der Dorfschule wird heute von vielen Pädagogen, Psychologen und Eltern bedauert. Es gibt mittlerweile ein Nachdenken, dass diese Fremdbestimmung schädlich ist. Aber leider nicht überall. Ich schaue immer gern nach Rheinland-Pfalz, wo man sich viele Gedanken darüber macht, wie man den Dörfern helfen kann. Dort unterstützen die Ministerien die Bürgermeister und Gemeinderäte in den kleinen Dörfern bei ihren Bemühungen, Dorfläden und Treffpunkte einzurichten oder zu erhalten. Und zwar durch konkrete Beratungen und auch der einen oder anderen Geldzuwendung. Das alles ist vorbildlich und geschieht nicht mal in einem besonders reichen Bundesland. +Sie haben einmal vorgeschlagen, dass man jedem Dorf 10.000 Euro zur Verfügung stellt, ohne Kontrolle, ohne Auflagen. +Das ist ja keine Riesensumme, aber damit würde man den Menschen vor Ort zeigen: Wir vertrauen darauf, dass ihr selbst wisst, was euch hilft, und: Wir haben euch nicht vergessen. Vielleicht würde damit ein Treffpunkt für Jung und Alt initiiert oder der letzte Gasthof gerettet. +Was würden Sie noch empfehlen, um die Dörfer zu stärken? +Dass die Eigenheimzulage reaktiviert wird, ist schon mal ein guter Schritt. Auf dem Land gehört das Eigenheim traditionell zur Baukultur. So können auch alte Häuser umgebaut und renoviert werden. Generell sollte man die Landkommunen besser ausstatten, anstatt das Land aus vielen kleinen Töpfen zu füttern, die erst über zahllose Hürden zu erreichen sind. +Nun liegt der Niedergang mancher ländlichen Gemeinden nicht nur an der Politik. Vielerorts gibt es nicht mal mehr eine Post oder eine Bankfiliale, auch keinen Supermarkt. +Da hat die Privatwirtschaft nur nachvollzogen, was von der Politik vorgemacht wurde. Allerdings gibt es auch positive Entwicklungen. Da entstehen durch private Initiativen Läden oder werden sogenannte Bürger-Busse von Ehrenamtlichen gefahren. +Besteht nicht die Gefahr, dass sich die Politik ausruht, wenn es genügend Privatinitiativen gibt? +Auch wenn es oft auf das Engagement der Bürger ankommt, hat der Staat dafür zu sorgen, dass die Menschen überall in Deutschland gut leben können. Dass es zum Beispiel nicht zu weit zum Arzt ist oder ältere Menschen ohne große Umstände Lebensmittel kaufen können. Das sind Verpflichtungen. Der versprochene Ausbau der Internetversorgung wurde auch noch nicht umgesetzt. Beim Thema Breitband habe ich aber große Hoffnung. Das hat sich zwar verzögert, aber das ist jetzt ein Thema, das angepackt wird. Allgemein muss sich die Erkenntnis, dass wir nicht nur Städte brauchen, sondern auch das Land, noch mehr durchsetzen. In England gibt es zum Beispiel den Countryside Fund von Prince Charles, der Zehntausende Mitglieder hat – aus allen möglichen gesellschaftlichen Schichten: Künstler, Kirchenvertreter, Manager. Das ist ein großes gesellschaftliches Bekenntnis zum Land, das ich mir auch hier in Deutschland wünschen würde. +Zumal das Landleben für vieles steht, worüber sich auch Städter zunehmend Gedanken machen. Also etwa Nachhaltigkeit und Naturnähe oder auch sozialer Zusammenhalt. Ist das Land da Vorreiter? +Es gab dort immer Genossenschaften und Vereine, die das solidarische Denken gefördert haben. Man weiß auf dem Land, wie man anpackt und sich gegenseitig hilft. Auch in Sachen Nachhaltigkeit ist das Land Vorreiter. Die Menschen dort sind ja gewohnt, in großen Zeiträumen zu denken, die neigen nicht zu Schnellschüssen. Es gibt eine Kultur des Hegens und Pflegens, des Bewahrens. Das sind ja Tugenden, die im Angesicht von Umweltverschmutzung und Klimawandel hoch im Kurs stehen. +Der Kampf gegen den Klimawandel findet vor allem auf dem Land statt. Mancherorts stehen so viele Windräder oder Solaranlagen herum, dass man die Landschaft kaum noch sieht. +Das Interessante ist ja, dass das Land früher schon mal der Energiespender der Nation war, durch Holzkohle etwa oder durch Wasserkraft. Dann hat es diese Energiehoheit verloren, weil Atomkraft- und Kohlekraftwerke gebaut wurden. Nun, durch die Energiewende, ist die Energiegewinnung wieder auf dem Land angekommen. Aber es ging viel zu schnell, die Bürger und Kommunen wurdne beim zügigen Ausbau der regenerativen Energien oft überrumpelt und entmündigt. +Regt sich deswegen nun allerorts Widerstand, wenn es um den Bau der Stromleitungen geht, die den Windstrom aus dem Norden in den Süden transportieren sollen? +Ja, das hat mit den Erfahrungen der allzu schnellen Energiewende zu tun. Da wurde zu viel verlangt von den Menschen. Das muss in Zukunft behutsamer gemacht und die Bürger und Kommunen mehr einbezogen werden, wenn vor ihrer Haustür riesige Anlagen geplant werden. In Landschaften, in denen es nur noch Windräder oder Maisfelder für die Biogasanlagen gibt und es nach Gülle riecht, kommen auch Touristen nicht gern. +Die Dorfjugend kommt in die Stadt zum Studium, die Städter fahren auf den Erdbeerhof. Früher wurden die Menschen aus der Provinz in der Stadt belächelt, heute tragen sie dieselbe Mode und hören dieselbe Musik. Kann man sagen, dass sich die Menschen aus Stadt und Land nähergekommen sind? +Das stimmt, es ist ein ständiger Austausch. Und dennoch gibt es unterschiedliche Lebensstile, und das ist auch gut so. Denn wir brauchen beides: die Großstadt mit ihren Hochschulen und Kultureinrichtungen, aber auch das Land mit Traditionen, Gemeinwohldenken, Anpackkultur und Natur. Es muss dem Land gut gehen und der Stadt. Und daran müssen auch die Eliten der Gesellschaft arbeiten. Staat und Gesellschaft profitieren vom Austausch, vom Geben und Nehmen zwischen Stadt und Land. +*Gerhard Henkel ist Humangeograf und Professor an der Universität Duisburg-Essen. Seit 45 Jahren befasst er sich mit unterschiedlichen Themen der historischen und aktuellen Entwicklung des ländlichen Raumes. Er hat das Buch "Rettet das Dorf!" geschrieben (erschienen im dtv-Verlag). Auf bpb.de könnt ihr zudem sein Buch "Das Dorf – Landleben in Deutschland" bestellen (Nr. 1476) diff --git a/fluter/staerkemittel.txt b/fluter/staerkemittel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dd5ef2fdf1658df53a50964749ced0a3b3054d7b --- /dev/null +++ b/fluter/staerkemittel.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +"Die Rolle des ,freien Mädchens' hat mir viel Raum zur Entfaltung gegeben", gibt Nil zu. "Ich bin zwar nicht das Mädchen aus der Werbung, aber das Image hat zu mir gepasst. Und langsam tritt die Reklamefigur in den Hintergrund." Mit ihrer gespielten Mädchenhaftigkeit und ihrer etwas piepsigen Stimme erinnert Nil ein wenig an Jane Birkin oder Vanessa Paradis; als Vorbilder nennt sie selbst aber eher Tori Amos und Madonna. In ihren Texten spiegelt sich das Lebensgefühl junger moderner Frauen in türkischen Großstädten wie Istanbul und Ankara, das sich auf den ersten Blick nicht sehr von dem ihrer Altersgenossinnen irgendwo anders auf der Welt zu unterscheiden scheint. +Sie singt von Cellulitecreme, Kuchenrezepten, Abzählreimen, neuen Diäten oder davon, wie es ist, sich aus Liebeskummer zu betrinken. Mädchenprobleme eben. Folgerichtig war das Cover ihres Debütalbums der Ästhetik einer Frauenzeitschrift nachempfunden,auf dem zweiten Album präsentierte sie sich als Radiostation Nil FM. Mit ihrem jüngst erschienenen dritten Album spielt sie nun auf das berühmte Zitat von Marilyn Monroe an, wonach Diamanten angeblich die besten Freunde einer Frau sind. "Meinen einzigen Edelstein habe ich mir selbst gekauft", lautet der Titel und in dem Song Pirlanta ("Diamant") singt sie dazu: "Behalte dein Geld, was soll dieses Mädchen mit Reichtum? +Ich habe diesen Diamanten selbst gekauft, ich verdiene selbst Geld, und wenn ich keinen Liebling in meinen Armen halte, was soll ich dann mit dem Diamanten und dem Geld?" In der Türkei sind solche Sätze noch nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit, das ist Nil bewusst."Es ist nicht einfach, eine Frau zu sein, das gilt insbesondere für den Osten des Landes",sagt sie. "Aber ich bekomme viel Zuspruch von Frauen, die sich durch mich inspiriert fühlen, und zwar aus allen Ecken der Türkei." Seit mehr als zwei Jahren schreibt sie in der Tageszeitung Hürriyet eine wöchentliche Kolumne, auf die sie viel Resonanz bekommt. "Die Menschen sind es hierzulande nicht gewöhnt, dass Popstars in ihrer Musik eine Meinung vertreten", hat Nil festgestellt. "Aber es kann sehr effektiv sein, eine Botschaft in einen Popsong zu verpacken: Es ist wie ein Virus, dem man nicht entkommen kann." diff --git a/fluter/star-wars-fan-film-wird-youtube-hit.txt b/fluter/star-wars-fan-film-wird-youtube-hit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1a3568562c529e4f00f845613ddec35007188004 --- /dev/null +++ b/fluter/star-wars-fan-film-wird-youtube-hit.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Insgesamt zwei Jahre haben Bu und Tran an dem Film gearbeitet – gemeinsam mit 70 Helfern. Ihr Hauptdarsteller, der professionelle Stuntman Ben Schamma, schminkte sich an jedem der 18 Drehtage viereinhalb Stunden, um sich in Darth Maul zu verwandeln. +Der Aufwand hat sich gelohnt. Nicht nur diverse "Star Wars"-Fanmagazine gratulierten Bu und Tran, auch "Spider Man"-Erfinder Stan Lee fand lobende Worte. Und die Uni? Vergab die Bestnote: 1,0. diff --git a/fluter/starke-arme.txt b/fluter/starke-arme.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5c3963312b6f5d5aef32d035215d1cc17803245e --- /dev/null +++ b/fluter/starke-arme.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +"Spontan zu sein ist schwierig für Rolli-Fahrer", erzählt Fuhrmann. Zwar hilft das Projekt Wheelmap dabei, die nächste barrierefreie Kneipe zu finden, doch gibt es in vielen Städten ganze Viertel ohne eine Behindertentoilette. Und im größten Saarbrücker Kino ist pro Saal nur ein einziger Platz für Rollstuhlfahrer vorhanden. "Das ist bescheuert", ärgert sich Fuhrmann, mit ihren Rolli-Freunden kann sie deshalb nicht ins Kino gehen. +Es sind solche Ungerechtigkeiten, die sie dazu gebracht haben, sich zu engagieren – zusätzlich zu ihrem Job als Sozialarbeiterin im Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter e. V. und als Gesamtbehin­dertenbeauftragte der Stadt Saarbrücken. In dieser Funktion besucht sie Stadtrats- und Bauausschuss­sitzungen und hakt dort nach, wo die Belange von Menschen mit Behinderung zu kurz kommen. Wie beim Umbau des St. Johanner Markts, einem Platz voller Kneipen in der gemütlichen Saarbrücker Altstadt. Die Stadt überlegt, dort wieder neues Kopfsteinpflaster zu verlegen. Das Problem des Belags ist dessen grobe Oberfläche: Sie bringt alte Menschen zum Stolpern und verlangt Rollstuhlfahrern viel Kraft ab. "Die Erschütterungen spürst du im ganzen Körper. Sie können Muskelverkrampfungen auslösen", erklärt Fuhrmann. Außerdem beschädigt das Pflaster den Rollstuhl. +Dabei gäbe es Alternativen. Statt grober Steine könnte die Stadt mit der Steinsäge zugeschnittene Quader verlegen – wie in Mainz: Der neue Boden in der Altstadt sieht dort so aus wie bisher, behindert aber Rollstuhl-, Rollator- und Radfahrer nicht mehr. In Aschaffenburg wurden stolperfreie "Komfortstreifen" auf dem Pflaster angebracht. +Doch die Verantwortlichen in Saarbrücken zögern. Die Baudezernentin sei von dem Vorschlag "nicht begeistert", erzählt Fuhrmann. "Ich habe das Gefühl, dass man uns Behinderte oft nur als Nörgler wahrnimmt", sagt die Aktivistin. Dabei fordere sie etwas Selbstverständliches: dass die Stadt niemanden benachteiligt. Von einer "schwierigen Gemengelage" spricht Baudezernentin Rena Wandel-Hoefer mit Blick auf die anstehenden Bauarbeiten rund um den St. Johanner Markt. Man müsse verschiedene Interessen unter einen Hut bringen – neben der Barrierefreiheit etwa den Denkmalschutz. +Und es gibt ja auch Erfolge. So hat der Besitzer eines beliebten Biergartens am Ufer der Saar ein Behindertenklo aufgestellt. Und beim Saarbrücker Filmfestival Max-Ophüls-Preis gibt es jetzt eine Behindertentoilette und eine Rampe, die ins Kino führt. Fuhrmann hatte bei der Eröffnung des Filmfests im letzten Jahr genau das eingefordert. "Das Witzige ist, dass die meisten Leute über die Rampe gegangen sind und nicht über das holprige Pflaster." +Die Beine von Dunja Fuhrmann sind gelähmt, seit sie mit 15 Jahren nach einem Zeckenbiss eine ­Rückenmarkserkrankung aufgrund eines genetischen Defektes erlitt. Doch von Anfang an wollte die zierliche Frau selbstständig sein und übte, Bordsteine und Treppenstufen zu erklimmen; ihre Oberarme, auf denen heute Tattoos prangen, wurden kräftiger. Schließlich gelang es ihr sogar, auf den Hinterrädern balancierend selbst das fieseste Kopfsteinpflaster zu bezwingen. "Ich bin ein paar Mal nach hinten gestürzt, bis ich raushatte, wie das geht", erzählt Fuhrmann amüsiert. Anstrengend ist es trotzdem. "Ich lasse mich nicht einschüchtern." +Fabian Scheuermann ist Volontär bei der Bundeszentrale für politische Bildung diff --git a/fluter/stars-und-genies-der-mathematik.txt b/fluter/stars-und-genies-der-mathematik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8757098713559928b7e296e8668af7ecd90e767c --- /dev/null +++ b/fluter/stars-und-genies-der-mathematik.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Pythagoras war besessen von der Schönheit der Zahlen. Sie waren für ihn der Wesenskern der Welt. Pure Göttlichkeit. Angeblich ließ er zu Ehren der Götter 100 Ochsen schlachten, nachdem er seinen berühmten Lehrsatz bewiesen hatte. Besonders wichtig war ihm der Unterschied zwischen rationalen und irrationalen Zahlen. Erstere waren ihm heilig, Letztere fand er abstoßend. Als er seinen Schüler Hippasos dabei erwischte, wie der √2 als Dezimalzahl, also als irrationale Zahl, darstellen wollte, soll er befohlen haben, ihn ertränken zu lassen. Wer ist jetzt hier irrational? +Dem Wunsch, in den Zahlen nach Schönheit und Wahrheit zu suchen, sind viele Mathematiker und Mathematikerinnen verfallen. Es wirkt fast so, als ob sie die Mathematik als ein unendlich großes Kunstwerk verstehen, an dem pausenlos gebaut werden muss – um ihrer selbst willen. Jahrhundertelang haben sich Mathematiker und Mathematikerinnen mit hochkomplexen, kaum lösbaren Rätseln beschäftigt, im vollen Bewusstsein von deren Nutzlosigkeit. G. H. Hardy3), Cambridge-Professor für "Pure Mathematics", schrieb rückblickend ganz schonungslos: "Ich habe nie etwas Nützliches geschaffen. Gemessen an allen praktischen Kriterien ist der Wert meines Mathematikerlebens gleich null." + + +Manche Mathematiker verhielten sich regelrecht divenhaft, wenn es um die konkrete Anwendbarkeit ihrer Forschung ging. Als ein Schüler von Euklid4)wissen wollte, welchen Nutzen der Lernstoff habe, den sie gerade durchnahmen, soll Euklid zu seinem beistehenden Sklaven gesagt haben: "Gib dem Knaben eine Münze, da er noch aus allem, was er lernt, Nutzen schlagen will." Der Schüler wurde angeblich auf Lebenszeit vom Unterricht ausgeschlossen. +Frauen haben es in den Wissenschaften seit jeher besonders schwer, das gilt auch für die Mathematik: Hypatia5)war eine der größten Mathematikerinnen der Spätantike. Ihre angesehene Stellung als Universalgelehrte, die philosophische Themen in der Öffentlichkeit vortrug, und ihre selbstbewusste Weiblichkeit waren den Vertretern des an Macht gewinnenden Christentums in Alexandria unerträglich. Also versammelte sich im Jahr 415 ein Mob, der Hypatia brutal ermordete: Hypatia wurde mit Scherben zerstückelt und ihre Überreste verbrannt. +Maria Agnesi6)verweigerte die Académie des Sciences de Paris eine Anstellung – weil sie eine Frau war. Immerhin: Ihre Leistungen in Analysis, Differential- und Integralrechnung waren so beeindruckend, dass ihr der Papst höchstselbst +1750 eine Professur an der Universität von Bologna anbot – die sie allerdings nie annahm. Aber selbst wenn weibliche Mathematikerinnen ausnahmsweise einmal ein bisschen Anerkennung von ihren männlichen Kollegen bekamen, mussten sie viel mehr dafür leisten. Zum Beispiel Emmy Noether7), die Einstein ein Genie nannte, durfte erst nach langem Rumgedruckse der Fakultätsangehörigen an der Uni Göttingen unterrichten. Und auch nur, weil ihr Kollege David Hilbert argumentierte,dass ihr Geschlecht doch keine Rolle spielen solle, weil man "hier in einer Universität und nicht in einer Badeanstalt" sei. +So weit schien es für Sophie Germain8)gar nicht erst zu kommen. Weil ihr Vater ihre Leidenschaft für Mathematik angeblich für unschicklich hielt, soll er Kerzen und den Ofen aus ihrem Zimmer entfernt haben, damit sie nicht mehr heimlich studieren konnte. Sie tat es trotzdem. Um an der École Polytechnique studieren zu können, reichte Germain unter dem Pseudonym Antoine Auguste Le Blanc Lösungen von Übungsaufgaben ein. Die waren so überragend, dass der Professor den Absender persönlich treffen wollte. Als dann Sophie Germain auftauchte, reagierte er positiv und wurde zu ihrem Mentor. +Nicht nur Frauen bekamen zu spüren, dass die Pforten zur Welt der Zahlen von weißen Männern streng bewacht wurden. Elbert Frank Cox9)schaffte das bis dahin kaum Vorstellbare und promovierte 1925 als erster Schwarzer Mann in den USA – und weltweit – in Mathematik. Als Cox seine Doktorarbeit auch von Universitäten außerhalb der USA anerkennen lassen wollte, wurde sie in England und Deutschland abgelehnt. Erst eine Universität in Japan erkannte ihren Wert an und veröffentlichte sie in ihrem Mathematikjournal. +Aber was treibt Menschen an, selbst angesichts massiver Gegenwehr ihren Zahlenrätseln nachzugehen? Na ja, Mathematiker und Mathematikerinnen wollen, nein, müssen wissen, wie es weitergeht. Wie ein Ereignis auf dem anderen aufbaut. Die Welt der Mathematik bietet viele Theorien, aber oft einen Mangel an Beweisen. Viele sehen genau darin eine unwiderstehliche Herausforderung. Oder wie will man sonst erklären, dass Archimedes10)selbst dann nicht aufgehört haben soll, an seinen Kugeln und Zylindern zu tüfteln, als bei einer Plünderung ein römischer Soldat in seine Studierstube eindrang und Archimedes ihn nur mit einem genervten "Störe meine Kreise nicht" verscheuchen wollte? Der Soldat jedenfalls tötete ihn daraufhin. +Évariste Galois11)wäre so etwas nicht passiert. Er war viel zu ungeduldig, um lange still zu sitzen. Er scheint in seinem kurzen Leben pausenlos durchs nachrevolutionäre Paris gehastet zu sein: Erst mit 15 Jahren kam er mit Mathematik in Kontakt, veröffentlichte mit 17 seine erste Abhandlung und starb mit 20 bei einem Duell. Er wurde zweimal an der École Polytechnique abgelehnt, unter anderem, weil er keine Lust hatte, seine Gedankengänge an der Tafel aufzuschreiben, und weil er beim zweiten Versuch dem Prüfer einen Schwamm an den Kopf warf. +Daneben pflegte Galois einen unbändigen Hass auf Kleriker und Aristokraten und wurde mit 19 Jahren ins Gefängnis geworfen, weil er bei einem Bankett in aller Öffentlichkeit und mit einem Messer in der Hand dem König durch die Blume mit Mord gedroht hatte. Bei der Beerdigung seines Vaters kam es zu einer Schlägerei zwischen revolutionären Republikanern und Königstreuen, bei der sich der Priester eine klaffende Wunde am Kopf zuzog und des Vaters Sarg slapstickmäßig ins Grab geplumpst sein soll. Évariste trank, beleidigte alle und jeden und verfasste gleichzeitig auf höchstem Niveau Beweise zuPolynomen, Permutationen und anderem verwirrenden Mathekram. In seine Aufzeichnungen sind immer wieder Sätze wie "Ich habe keine Zeit" hineingekritzelt. Und die hatte er wirklich nicht: Sein kurzes Leben endete durch einen Pistolenschuss in den Bauch bei einem Duell, angeblich wegen einer Frau, auf die er noch nicht einmal stand. Bei seiner Beerdigung kam es wieder zu einer Schlägerei. +Galois war trotz seiner hohen Begabung nur einem kleinen Kreis von Sachkundigen bekannt. Und damit teilte er das Schicksal vieler seiner Kollegen und Kolleginnen. Denn zu Lebzeiten besteht der ganze Lohn vieler Mathegenies meist allein darin, dass nur sie selbst und einige wenige Eingeweihte sich über ihre Entdeckungen freuen können. Der Brite Andrew Wiles12)ist wohl einer der wenigen Mathematiker der Geschichte, dessen Leben je die Welt der Schönen und Reichen berührt hat – wenn auch nur höchst tangential, wie er wohl sagen würde. Als er das sagenumwobene, jahrhundertealte Rätsel um Fermats13)letzten Satz löste, erreichte er für kurze Zeit eine so große öffentliche Bekanntheit, dass ihm die Fashion-Marke Gap anbot, für ihre nächste Kollektion zu modeln. Wiles lehnte dankend ab. +Besagter Fermats letzter Satz (auch Großer Fermatscher Satz) hat übrigens seine ganz eigene Geschichte: Der Franzose Pierre de Fermat wollte einen Beweis dafür gefunden haben, dass an+ bn= cn keine ganzzahligen Lösungen für n > 2 hat. Das ist eine ziemlich simple Aussage. Und gerade deshalb trieb sie 350 Jahre lang die größten Mathematikerköpfe in den Wahnsinn: Sie schafften es einfach nicht, den Satz zu beweisen. Der Satz wurde zur Legende, und diejenigen, die sich an seinem Beweis versuchten, dürften immer das verschmitzte Grinsen von Fermat im Hinterkopf gehabt haben. Dessen größte Freude war es nämlich, an seine Kollegen mathematische Aussagen, also Sätze, zu schicken mit der Bemerkung, dass er den Beweis dafür gefunden habe. Aber ohne ihn mitzuschicken. Sie sollten sich die Zähne daran ausbeißen. So war es auch mit seinem letzten Satz. In einer Randnotiz seines Exemplars der "Arithmetica" des Diophant schrieb er zu seinem Satz nur genüsslich: "Ich habe hierfür einen wahrhaft wunderbaren Beweis entdeckt, doch ist dieser Rand hier zu schmal, um ihn zu fassen." +Nur durch jahrelange obsessive Beschäftigung und unter Nutzung des sogenannten Modularitätssatzes der Japaner Gorō Shimura und Yutaka Taniyama gelang es Andrew Wiles schließlich, ihn zu beweisen. Glaubte er. Denn nachdem er 1993 seinen Beweis der Crème de la Crème der Matheexperten und -expertinnen in Cambridge vorgestellt hatte, machten sich seine Kollegen und Kolleginnen darüber her und versuchten akribisch, einen Fehler in der Beweisführung zu finden – was ihnen auch gelang. Das hatte Wiles wohlgemerkt aber auch in Kauf genommen. Die Mathematik kann nur durch ständige gegenseitige Kontrolle und Widerlegung funktionieren. Ein Jahr später schaffte er es schließlich, den Fehler zu beheben, und wurde zum Jahrhundertgenie ausgerufen. +Wie übrigens auch Peter Scholze14), der 2018 als erst zweiter Deutscher mit der seit 1936 verliehenen Fields-Medaille ausgezeichnet wurde – inoffiziell auch der Nobelpreis der Mathematik genannt. Schon mit 16 hatte Scholze versucht, Wiles' Beweis des Fermatschen Satzes zu verstehen, und wurde mit 24 Professor. Das Einzige, was ihm jetzt noch fehlt, um wirklich zur Legende zu werden, sind haarsträubende Eskapaden. Ein Duell zum Beispiel. + diff --git a/fluter/statistik-bewerten-der-anti-panik-guide.txt b/fluter/statistik-bewerten-der-anti-panik-guide.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/statistiken-parlament-wahl-test.txt b/fluter/statistiken-parlament-wahl-test.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..10c73b681b006c56412d763076c6d27127f7a3f4 --- /dev/null +++ b/fluter/statistiken-parlament-wahl-test.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Wahlperiode 13: 1994 - 1997 +Wahlperiode 14: 1998 - 2001 +Wahlperiode 15: 2002 - 2004 (kürzer durch vorgezogene Neuwahlen) +Wahlperiode 16: 2005 - 2008 +Wahlperiode 17: 2009 - 2012 +Wahlperiode 18: 2013 - 2016 +Wahlperiode 19: 2017 - 2020 +Unsere Diagramme zeigen auszugsweise, was sich seit 1990 in Parlament und Wahlverhalten verändert hat. Die x-Achse zeigt die Wahlperioden von 1990 (12) bis heute (19). Zeichne die Kurven weiter – und schaue dann über den Button "Ergebnis anzeigen", ob deine Einschätzung mit der tatsächlichen Entwicklung übereinstimmt. + +Quelle +Der Frauenanteil im Bundestag stagniert: Er liegt seit Jahren bei rund einem Drittel. Im internationalen Parlamentsvergleich liegt Deutschland mit diesem Anteil auf Platz 47 (von 193 Ländern). Schwedinnen machen über 47 Prozent aller Abgeordneten in ihrem Parlament aus, in Finnland, Spanien und Norwegen sind rund 41 Prozent Frauen vertreten. Länder, die mehr Parlamentarierinnen stellen als Parlamentarier, gibt es nur außerhalb Europas: Ruanda, Kuba und Bolivien. + +Quelle +Der Bundestag hat seit 30 Jahren gut lachen – zumindest wenn man die Resultate für entsprechende Schlagworte in den Plenarprotokollen nachschlägt. So notieren die Parlamentsstenografen etwa "Heiterkeit", wenn eine Rednerin den Saal mit einer Pointe zum Lachen bringt. Aber nicht jedes Lachen wird automatisch als Heiterkeit erfasst: Ist im Protokoll nur "Lachen" vermerkt, dann ist damit abwertendes Lachen gemeint, zum Beispiel, wenn ein Redner durch Gelächter verunglimpft werden soll. Am hämischsten war demzufolge die Wahlperiode von 1994 bis 1998 – damals wurde laut den Protokollen öfter gelacht als erheitert. Übrigens dürfte die 15. Wahlperiode nicht zwingend die unlustigste gewesen sein: Aufgrund der vorgezogenen Neuwahlen war sie die kürzeste Wahlperiode der letzten 30 Jahre. +Quelle +In Deutschland ist die Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen generell höher als bei Europa- oder Landtagswahlen. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Deutschen lange besonders wahlaktiv, durchschnittlich 87 Prozent gaben ihre Stimme ab. Seit 1990 lässt die Wahlbeteiligung nach, wenn auch nicht kontinuierlich: 2017 wählten plötzlich wieder mehr Bürger, was Experten als Reaktion auf den Flüchtlingssommer 2015 interpretieren. Übrigens gehen Westdeutsche durchschnittlich etwas häufiger wählen als die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern. +Quelle +Nachdem es lange richtiggehend gesittet zuging im Bundestag, wurde der Ton 2017 wieder rauer: Der aktuelle Bundestag ist der unflätigste seit 30 Jahren. Zumindest wenn man die Ordnungsrufe im Parlament als Maßstab anlegt. Die Präsidentin oder der Präsident des Bundestags kann Abgeordnete "mit Nennung des Namens zur Ordnung rufen", wenn sie mit Zwischenrufen provozieren oder andere beleidigen. Solche Ordnungsrufe haben keine weitreichenden Konsequenzen, sondern sind eher eine Rüge: Wird jemand dreimal in Folge zur Ordnung gerufen, muss ihm der Präsident oder die Präsidentin das Wort entziehen – und darf es ihm zum gleichen Thema nicht mehr erteilen. +Quelle +Eine offizielle Statistik für die 19. Wahlperiode liegt zwar noch nicht vor, aber sicher scheint: Noch nie gab es so viele Akademikerinnen und Akademiker im Bundestag. Der Anteil der Abgeordneten mit Hochschulabschluss liegt bei gut 80 Prozent. Rund 17 Prozent der Parlamentarier haben einen Doktortitel, etwas mehr als zwei Prozent sogar eine Professur. Diese Bildungsdichte bildet das Volk nicht ab. Im Gegenteil: Rund 80 Prozent aller Deutschen haben keinen Hochschulabschluss. Übrigens machen die Juristinnen und Juristen gerade die größte Berufsgruppe aus, gefolgt von Ärztinnen und Ärzten sowie Lehrerinnen und Lehrern. +Programmierung: Gustav Pursche +GIF: Jan Q. Maschinski diff --git a/fluter/statistiken-tricks.txt b/fluter/statistiken-tricks.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..aac4b1ec713c1235af2d3de10ced591b865badd0 --- /dev/null +++ b/fluter/statistiken-tricks.txt @@ -0,0 +1,38 @@ +Was tun? +Frag dich, ob die Achsen des Diagramms bei null beginnen oder abgeschnitten sind. Wie haben sich die Daten vor und nach dem gewählten Ausschnitt entwickelt? Ändert dies die Aussage der Statistik? + + +Wir alle leben ziemlich verschieden, weswegen bei Durchschnittswerten Vorsicht geboten ist. Sie sind natürlich sehr praktisch, um schnell einen allgemeinen Überblick zu bekommen. So haben z. B. in Deutschland Haushalte 2020 im Schnitt 6,1 Prozent ihres monatlichen Nettoeinkommens für Wohnenergie ausgegeben. Doch dieser Durchschnitt verschluckt gleichzeitig jede Menge interessanter Details. So geben Haushalte mit einem Nettoeinkommen von unter 1.300 Euro im Monat im Schnitt sogar 9,5 Prozent für Heizung und Strom aus. Haushalte mit einem Nettoeinkommen von 5.000 und mehr Euro im Monat wenden hingegen nur 4,7 Prozent ihres Einkommens für Heizung, Strom und Warmwasser auf. Steigende Energiepreise treffen alsoärmere Haushaltehärter als reiche. +Was tun? +Manchmal gilt der Durchschnitt nur für wenige, während am oberen und unteren Ende viele betroffen sind. Am besten, du schaust bei solchen Statistiken mal im Internet nach, wie groß die Bandbreite ist, von der der Durchschnitt ablenkt. + + +Was ist überhaupt der Durchschnitt? Häufig werden zwei unterschiedliche "Durchschnittswerte" verwendet: das arithmetische Mittel und der Median. Mit dem arithmetischen Mittel wird der Mittelwert errechnet, wenn etwa der Gesamtstromverbrauch durch die Zahl der Haushalte geteilt wird. Nach dieser Berechnung verbrauchen Haushalte pro Jahr im Durchschnitt etwa 3.650 Kilowattstunden Strom. Beim Median hingegen wird geschaut, welche Haushalte genau in der Mitte aller Stromverbraucher liegen. Eine Hälfte aller Haushalte verbraucht dann weniger und die andere Hälfte mehr Strom als der Median. Der liegt mit rund 3.300 Kilowattstunden pro Jahr niedriger als der Durchschnitt. Der Hintergrund: Einige Haushalte verbrauchen sehr viel mehr Strom als andere. Das treibt den Stromverbrauch im arithmetischen Mittel stark nach oben. +Was tun? +Am besten ist es, jeweils sowohl nach dem arithmetischen Mittel als auch dem Median zu fragen. Das arithmetische Mittel allein kann große Unterschiede verdecken. + + +In Deutschland geben dieMenschen mit dem höchsten Einkommenden niedrigsten Anteil ihres monatlichen Nettoeinkommens für Wohnenergie aus. Es wäre allerdings ein Trugschluss, zu glauben, sie würden besonders wenig Energie verbrauchen (oder besonders günstige Tarife ausgewählt haben). Ihr Einkommen ist lediglich so hoch, dass die Kosten für Energie weniger ins Gewicht fallen, obwohl sie sogar mehr Energie verbrauchen. In den Medien stoßen wir immer wieder auf Trugschlüsse dieser Art. Bei Vermutungen über die Ursachen von scheinbar verknüpften Entwicklungen ist deshalb immer besondere Vorsicht geboten. +Was tun? +Gibt es Faktoren, die in der Statistik nicht hervorgehoben (oder nicht erwähnt) werden, die die dargestellte Entwicklung begründen können? Dieser Trick kommt oft beim Vergleich verschiedener Durchschnittswertezur Anwendung. + + +Vergleiche sind eine tolle Sache. Schon weil es sehr schwerfällt, eine allein stehende Zahl sinnvoll einzuordnen. Deutschland hat im Jahr 2019 644,1 Millionen Tonnendes klimaverändernden Gases Kohlenstoffdioxid (CO2) in die Atmosphäre ausgestoßen.Die Zahl klingt riesig, aber wie ist sie zu bewerten? Hier kann ein Vergleich helfen: Im Jahr 1990 hat Deutschland noch 940 Millionen Tonnen CO2 aus- gestoßen. Bevor wir uns aber zu sehr auf die Schulter klopfen: Der französische CO2-Ausstoß lag im Jahr 2019 mit 293,9 Millionen Tonnen deutlich niedriger. +Was tun? +Vorsicht bei allein stehenden Zahlen. Frag dich, welche anderen Zahlen es gibt, um sie ins Verhältnis zu setzen? Wie ist die Lage in anderen Ländern, wie war sie in früheren Zeiten? + + +Selbst unvorstellbar große Zahlen wie die deutschen CO2-Emissionen (wie viel sind mehrere Hundert Millionen Tonnen CO2?) lassen sich in Statistiken verstecken. Diese Zahl schrumpft auf Miniaturgröße, wenn sie als Prozent des gesamten CO2-Ausstoßes angegeben wird: Weltweit wurden im Jahr 2019 nämlich rund 33.621,5 Millionen Tonnen CO2 ausgestoßen. Die deutschen 644,1 Millionen Tonnen entsprechen also 1,92 Prozent aller CO2-Emissionen. Wer argumentieren will, dass die deutschen Bemühungen, CO2 einzusparen, zu teuer sind, wird auf die 1,92 Prozent verweisen: "So gering ist der deutsche Anteil!" Wem die Maßnahmen dagegen nicht weit genug gehen, wird eher auf die absolute Zahl verweisen: "Schaut her, so viel CO2 verursacht Deutschland!" +Was tun? +Bei Prozentangaben auch nach absoluten Zahlen fragen. Dieser Trick ist gewissermaßen das Gegenstück zum Aufblasen kleiner absoluter Zahlen. + + +Und? Sind die deutschen CO2-Emissionen – verglichen mit anderen Ländern – nun hoch oder niedrig? Für einen guten Vergleich muss die Basis stimmen. Und da die Länder der Erde sehr unterschiedlich groß sind, bietet sich in diesem Fall ein Vergleich pro Person an. Und da zeigt sich: Die Emissionen in Deutschland betrugen im Jahr 2019 7,8 Tonnen CO2 pro Person – im internationalen Vergleich ist das ein ziemlich hoher Wert. In Indien beispielsweise lagen sie im selben Jahr nur bei 1,7 Tonnen CO2 pro Person. In den USA verbrauchte allerdings jeder Mensch im Durchschnitt 14,4 Tonnen im Jahr. Man kann also mit der Auswahl der Vergleichsgrundlage bei vielen Statistiken die Aussage ändern. +Was tun? +Ist die gewählte Vergleichsgrundlage wirklich die am besten geeignete? Macht es zum Beispiel Sinn, unseren Verbrauch mit Staaten zu vergleichen, in denen die Verhältnisse ganz andere sind? Das sind Fragen, die man sich stellen sollte. + + +Was, wenn eine Zahl viel größer erscheinen soll, als sie eigentlich ist? Kein Problem, und zwar mit der Angabe der Wachstumsrate. In Deutschland trugen erneuerbare Energien im Jahr 2021 zu 19,7 Prozent zur Energieproduktion bei – also nicht mal ein Fünftel. Doch immerhin ist die Versorgung mit erneuerbaren Energien zwischen 2010 und 2021 um rund 79,1 Prozent gestiegen. Und das ist eine Zahl, die sich sehen lassen kann. Oder? +Was tun? +Besonders bei spektakulären Wachstumsraten lohnt sich ein Blick auf die zugrunde liegenden Zahlen. Wie groß sind sie, und welchen Anteil an der Gesamtmenge nehmen sie ein? Dieser Trick wird gern verwendet mit abgeschnittenen Achsen, einem geschickt ausgewählten Startpunkt und der Fortschreibung eines Trends. +Fazit: Die Kraft von genauen Zahlen zieht viele Menschen fast magisch in ihren Bann. Schon eine geschickte Datenauswahl genügt, um Argumente zu untermauern. Auch wenn es nicht immer ganz leicht ist, kleinen oder großen Manipulationen auf die Schliche zu kommen: Die Detektivarbeitkann sogar Spaß machen. diff --git a/fluter/statistisches-bundesamt-destatis-besuch.txt b/fluter/statistisches-bundesamt-destatis-besuch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ff808b73829ef5eaf77b5b16596548a269f6d10e --- /dev/null +++ b/fluter/statistisches-bundesamt-destatis-besuch.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +"Die Wirklichkeit in Zahlen verwandeln" – Destatis-Mitarbeiter Stefan Dittrich +Der aktuelle Stand der Erhebung ist der 30. September 2021. Und die Zahl war vielleicht schon an diesem Stichtag nicht mehr korrekt. Es gibt Umzüge, Sterbefälle und Geburten, Menschen wechseln die Staatsangehörigkeit oder das Geschlecht. Die Daten in den Meldeämtern ändern sich von Tag zu Tag. Und trotzdem ist diese Illusion etwas, mit dem gearbeitet werden kann – alles andere also als eine Schätzung oder eine "gefühlte Wahrheit". Die Zahl ist ein Näherungswert, wie er näher derzeit nicht machbar ist. Und an dieser Zahl hängt viel: von der Sitzverteilung im Europäischen Parlament über Zahlungen aus Deutschland nach Brüssel oder die Zuschnitte von Wahlkreisen. Und auch, wie viel Geld jedes Bundesland zur Verfügung hat. +Destatis, wie das Statistische Bundesamt abgekürzt wird (und wie auch seine Internetadresse lautet), ist ein gigantischer Datenstaubsauger, der die Zahlenkolonnen und Ziffernpartikel nicht nur sammelt, sondern auch in Zusammenhänge bringt und auswertet. Demografie, Handwerk, Sozialhilfe, Haushalt, Gewerbe, Bildung, Forschung, Wirtschaft, Steuern, Verkehr, Energie, Arbeitsmarkt, Wohnungen – wo und wie auch immer sich Deutschland statistisch erfassen lässt, geschieht das hier, immer in Abstimmung mit den Melderegistern, Finanzämtern und anderen Erhebungsstellen der Länder und Kommunen. +Die Behörde hat ihren Hauptsitz in der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden. Rechnet man die Standorte in Bonn und Berlin hinzu, arbeiten gut 2.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Destatis. Einer davon ist Stefan Dittrich, der lächelnd erklärt: "Vielleicht kann man sagen, dass wir erst die Wirklichkeit in Zahlen verwandeln und dann die Zahlen wieder in Wirklichkeit." +Etwa 400 Statistiken aus allen nur denkbaren Bereichen werden in der Behörde laufend erstellt und bearbeitet, und Dittrich ist in leitender Funktion für eine wahre Herkulesaufgabe zuständig: den Zensus 2022. Es ist, nach dem Zensus 2011, die zweite komplette Volkszählung seit der Wiedervereinigung. Dafür werden in den kommenden Monaten etwa 10,3 Millionen Menschen per Zufall ausgewählt und befragt – u. a. nach Alter und Geschlecht, Staatsangehörigkeit, Bildungsstand und Beruf.Ein Schwerpunkt liegt dieses Mal auf dem Thema Wohnen– es geht also um Miethöhe, Wohnungsgrößenund Leerstand. +Von der Insel in der Nordsee bis zum Einsiedlerhof in den Alpen: Ein Heer von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird bundesweit ausschwärmen und an Türen klopfen. Die Mithilfe verweigern darf man nicht. Wer zufällig ausgewählt wurde, muss Auskunft erteilen, Bürgerpflicht. Die Bundesrepublik wiederum ist von der EU verpflichtet, diese Erhebung durchzuführen. "Was wir tun, ist kein Selbstzweck", sagt Dittrich. "Es dient der Wissenschaft, es dient der Politik, es dient der Objektivierung – und damit uns allen." + +Auf uns könnt ihr nicht zählen! Gegen die "Volkszählung" 1987 gingen noch Tausende auf die Straße + +Das sehen manche anders: Bei den vorherigen Zählungen formierte sich zum Teil starker Widerstand. Vor der damals noch "Volkszählung" genannten Erhebung unter sämtlichen Einwohnern 1987 legten Bürgerinnen und Bürger sogar Beschwerde beim Verfassungsgericht ein, da sie fürchteten, die erhobenen Daten könnten missbraucht werden. +Die große Zählung ist so etwas wie die Inventur im Supermarkt. Was ist da, was nicht? Wo braucht es mehr Kindergärten? Wo lohnen sich neue Straßen, neue Bahnlinien? Wie wird in Deutschland geheizt? Wer ist erwerbstätig, arbeitslos oder zu jung zum Arbeiten? Im Grunde gibt es zu den meisten Punkten Auskünfte bei den Meldeämtern, aber die sind zu unvollständig, um Aussagen im bundesweiten Zusammenhang treffen zu können. Daher braucht es die Volkszählung. +Wer kommt, wer geht? Sarah Weißmann und Jan Eberle wissen genau, wer in Deutschland lebt +Sarah Weißmann vom Referat für die Bevölkerungsfortschreibung beschäftigt sich mit der Zusammensetzung der Bevölkerung. Auch für ihren Bereich liefert der Zensus 2022 neue, wichtige Daten. Sie weist auf die sogenannte Bevölkerungspyramide hin, "die man ja meistens schon aus der Schule kennt". Hier wird die Einwohnerschaft grafisch so dargestellt, dass sich auf den ersten Blick schon ihre Überalterung ablesen lässt. "In den letzten Jahren", fügt Weißmanns Kollege Jan Eberle hinzu, "ist Deutschland nur deswegen nicht geschrumpft, weil wir so viel Zuwanderung haben."Momentan kommen die meisten Menschen aus der Ukraine nach Deutschland.Auch wenn viele von ihnen wieder in die Heimat wollen, werden einige dauerhaft hier leben. Auch hierzu hält Destatis Politiker und Medien auf dem Laufenden. Dasselbe gilt für die Coronapandemie: Beim Versuch, ihren Verlauf im Blick zu behalten und in den Griff zu bekommen, tauscht man sich mit dem Robert-Koch-Institut aus. "Unsere Zahlen", sagt Sarah Weißmann, "machen die Lage auch international erst vergleichbar." +Gespannt sind alle im Amt nun auf den "Zensus 2022", auch weil die Zahl von 83.222.442 höchstwahrscheinlich keinen Bestand haben wird. "Unsere Berechnungen", erklärt Eberle, "tendieren dazu, über lange Zeit gewisse Fehler aufzubauen." +Die Ergebnisse des Zensus wirken sich auf viele politische Prozesse aus – nicht nur auf die Anzahl der Schulen oder Kindergärten oder etwa auf neue Radwege im Land. Für die Bundesländer, Städte und Gemeinden geht es ganz handfest um Geld. Darum, wie viel jedes Bundesland aus dem Länderfinanzausgleich bekommt oder wie viele Fördermittel der EU wo in der Land- und Stadtentwicklung ausgegeben werden können. +Beim letzten Zensus 2011 stellte sich heraus, dass Berlin quasi über Nacht rund 180.000 Einwohner und Einwohnerinnen weniger hatte, als zuvor angenommen worden war. Als Ergebnis bekam die Hauptstadt 470 Millionen Euro weniger aus dem Topf des Länderfinanzausgleichs überwiesen. diff --git a/fluter/steffen-mau-soziologe-trigger.txt b/fluter/steffen-mau-soziologe-trigger.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b70b13cae3d29abd8efe28fbc6bee264b3c0d243 --- /dev/null +++ b/fluter/steffen-mau-soziologe-trigger.txt @@ -0,0 +1,47 @@ +fluter: Lastenrad, Kindergrundsicherung,Gendern, Veggieday,arabische Clans. Bei mindestens einem dieser Wörter dürfte bei unseren Leserinnen und Lesern der Puls steigen, Herr Mau. Warum reicht manchmal schon ein Begriff, um uns aus der Fassung zu bringen? +Steffen Mau: Solche Begriffe sind Chiffren. Sie stehen symbolisch für größere Themen und berühren moralische Grundüberzeugungen, etwa darüber, dass der Sozialstaat schwach oder Migration gefährlich ist. Menschen können prinzipiell offen sein für rationale Argumente – kommt ein solcher Reizbegriff auf, kann eine Debatte spontan umschlagen. Es wird emotional, es wird laut, und das eigentliche Thema, etwa die Bekämpfung von Kinderarmut, wird oft im Streit zerrieben. +Diese ständige Erregungscheint vielen Angst zu machen. Laut der Studie "Jugend in Deutschland" aus dem Frühjahr fürchten sich junge Menschen genauso stark vor einer Spaltung der Gesellschaft wie vor den Folgen des Klimawandels. +Die angebliche Spaltung ist ein Angstszenario der Deutschen, bei jungen wie älteren, seit Jahrzehnten schon. Und es stimmt ja: Wenn wir uns in der Welt umsehen, scheinen viele Gesellschaften im Konflikt zu versinken. Die USA sind politisch so gespalten, dass Verständigung unmöglich geworden ist. In Deutschland stehen wir unter einer Art Grundspannung, würde ich sagen. Die Pandemie, ein Krieg mitten in Europa, die Energiekrise: Wir haben in den vergangenen Jahren viele politische Schocks erlebt. Die Fliehkräfte zu den politischen Rändern werden stärker. +Aber gespalten sind wir deshalb noch nicht, sagen Sie. +Laut unserer Forschung gibt es eine relativ stabile, ideologiefreie Mitte. Die überwältigende Mehrheit der Gesellschaft empfindet den Klimawandel und Ungleichheit als schlecht, Diversität und Migration mit Einschränkungen als gut. +Für ihre Studie haben Steffen Mau und seine Mitarbeiter Thomas Lux und Linus Westheuser mehr als 2.500 Personen zahllose Fragen gestellt – und Kleingruppen über Veggiedays, Obergrenzen für die Aufnahme Geflüchteter oder Homosexualität in Schulbüchern diskutieren lassen. Das Ergebnis der Befragungen hat mehr als 500 Seiten: "Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft" ist im Herbst 2023 erschienen. Im Buch vergleichen Mau und Co. Gesellschaften bildlich mit Tieren. Die USA sind ein Kamel: zwei strikt getrennte Lager beziehungsweise Höcker. Deutschlands Gesellschaft gleicht einem Dromedar mit einem großen Höcker in der Mitte und schwachen extremen Rändern. +Das Ergebnis Ihrer Studie überrascht. Warum macht es denn auf viele den Anschein, die deutsche Gesellschaft sei gespalten? +Der Eindruck entsteht dadurch, dass extreme Positionen und emotionale Aussagen mehr Aufmerksamkeit bekommen als die moderaten. Weniger am Esstisch, Gartenzaun oder im Kegelverein, aber Talkshows werden so besetzt, Überschriften geschrieben und die Algorithmen sozialer Medien werden so entwickelt. Wenn gleichzeitig die breite Mitte der Gesellschaft eher still ist und auch nicht angehört wird, entsteht das Gefühl, die Gesellschaft sei gespalten. +Die Rede von der Spaltung ist also eine selbsterfüllende Prophezeiung? +In den USA gibt es sogar Forschung dazu, dass die gefühlte Polarisierung die reale mit vorantreibt. Wenn wir erst mal denken, es gebe nur zwei unversöhnliche gesellschaftliche Gruppen, versuchen wir uns einer zuzuordnen. Sind wir für oder gegen die Coronamaßnahmen? Für oder gegen die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine?Pro Israel oder pro Palästina? + +Die Fotos auf diesen Seiten hat Etsuo Hara auf der japanischen Women-Pro-Wrestling-Tour gemacht. Dass der Streit der Wrestlerinnen inszeniert ist, stört dort niemanden: Das "Puroresu" ist in Japan Volkssport. Und während der Fokus der US-amerikanischen WWE auf der Unterhaltung liegt, geht es beim japanischen Wrestling um die sportliche Auseinandersetzung. Und hart zur Sache. + +Dieses Lagerdenken erschwert es, sich überhaupt zu verständigen und Kompromisse einzugehen. +Ja, viele Auseinandersetzungen werden dann unversöhnlich. Um einen Kompromiss zu finden, muss man den anderen erst einmal gute Absichten unterstellen unddie andere Meinung respektieren. Das fällt leichter, wenn man nicht denkt, die andere Person sei bösartig und hinterhältig oder wolle gesellschaftlichen Schaden anrichten. Dieses Freund-Feind-Denken wird aber in der Öffentlichkeit oft aktiviert. +Wer hat daran Interesse? +Wir nennen sie Polarisierungsunternehmer: Rechtspopulisten, Identitäre, Querdenker, manche Politiker und Journalisten. Eigentlich alle, die gesellschaftliche Themen so zu ihrem Vorteil politisieren, dass es starke Emotionen und Lagerbildungen auslöst. Polarisierungsunternehmer drücken ganz gezielt auf Triggerpunkte. +Den Begriff "Triggerpunkt" hat sich Steffen Mau aus der Medizin geliehen. Er beschreibt eigentlich Verhärtungen des Gewebes, wie sie an einem langen Tag am Schreibtisch im Nacken entstehen können. Eine falsche Bewegung, schon schreit man auf. Laut Mau können ganze Gesellschaften solche Verspannungen spüren. In den Gruppendiskussionen kristallisierten sich vier typische Trigger heraus: +1. Ungleichbehandlungen: das Gefühl, andere würden bevorteilt +2. Normalitätsverstöße: die Befürchtung, das "Normale" würde verletzt, die Regeln unseres Miteinanders gebrochen +3. Entgrenzungsbefürchtungen: die Angst, etwas Fremdes, Suspektes könnte zum neuen Standard werden und zum Kontrollverlust führen +4. Verhaltenszumutungen: das Gefühl, von neuen Verhaltensvorgaben (zum Beispiel "Sprechverboten" oder einem Tempolimit) eingeschränkt zu werden + +Kann man von biografischen Merkmalen auf die politische Einstellung schließen? Wer studiert hat, in der Stadt lebt, gut verdient, ist tendenziell fürs Gendern, für Einwanderung, für ein Tempolimit? +Einkommen, Klasse und Bildungsgrad gehen mit entsprechenden Positionen einher. Aber das Land teilt sich nicht in eine sozial gleichgültige, kosmopolitische Klasse und eine Arbeiterschicht, die auf Klassenkampf und ethnische Abgrenzung drängt. Wir haben festgestellt, dass diese gefühlten Trennlinien viel schwächer oder anders verlaufen als erwartet. +Haben Sie dafür Beispiele? +Wir sehen in unseren Daten, dass die "fossilen Boomer" mehrheitlich bereit sind, sich zugunsten des Klimaschutzes in ihrer Lebensweise einzuschränken. Dass interessanterweise mehr junge als alte Deutsche gegen ein Tempolimit sind. Dass Frauen generell toleranter sind als Männer, aber größere Vorbehalte gegenüber muslimischer Zuwanderung haben. Auch die Unterschiede in der Einstellung von Ost- und Westdeutschen, etwa gegenüber der Klimapolitik, fielen schwächer aus als erwartet. +Was hat den größten Einfluss auf die Anfälligkeit für Trigger? +Die Position in der Sozialstruktur, also die ökonomische Stellung. Jeweiter unten man sitzt, desto heftiger ist die Abwehr von Veränderung. + + +Sie sprechen von einer allgemeinen "Veränderungserschöpfung". +Vielen fehlen die Ressourcen, um sich auf Veränderungen einzustellen. Wenn ich drei Fremdsprachen spreche, feiere ich die Globalisierung natürlich. Und Nachhaltigkeit wird zum Gewinn, auch im gesellschaftlichen Ansehen, wenn ich es mir leisten kann, ökologisch zu konsumieren. Diese Erschöpfung äußert sich übrigens auch in den Berufskontexten: Personen in unteren sozialen Positionen sind in ihrem beruflichen Umfeld häufiger eingezwängt, also eher Befehlsempfänger. Die leben die Autonomie, die auf der Arbeit fehlt, dann eben privat aus, auf der Autobahn oder am Grill. Sie wollen sich nicht bevormunden lassen. +Steffen Mau beobachtet einen "Allmählichkeitsschaden". Der nächste Begriff, den er klug entliehen hat: So bezeichnen Versicherungen Schäden, die über einen längeren Zeitraum entstehen und unbemerkt bleiben. Und wenn man sie bemerkt, ist es sehr schwer, sie zu beheben, manchmal unmöglich. So ist es laut Mau auch in der politischen Kultur: Die Debatte verschleißt, das Vertrauen in Institutionen wie Politik, Wissenschaft und öffentlich-rechtliche Medien bröckelt. Durch viele kleine Grenzüberschreitungen, die für sich genommen unbedeutend wirken, aber in Summe die offene, pluralistische Gesellschaft beschädigen. +Nachdem im Frühjahr ein geheimes Treffen von Rechtsextremen in Potsdam bekannt wurde, an dem auch Abgeordnete der AfD teilgenommen hatten,sind Millionen Deutsche auf die Straße gegangen. Waren die Enthüllungen um das Geheimtreffen und der Begriff "Remigration" Triggerpunkte? +Ich denke schon. Millionen hatten das Gefühl, dass da eine Grenze überschritten wurde, und gingen demonstrieren. Eine gesellschaftliche Immunreaktion. Daran zeigt sich, dass Triggerpunkte positiv wirken können: Indem die Menschen für die offene Gesellschaft auf die Straße gingen, haben sie Veränderung mitgestaltet, statt sie zu erleiden. Diese Selbstwirksamkeit ist zentral, um mit Wandel umgehen zu können. +Nun finden nicht ständig und überall Demos statt. Die sozialen Medien befeuern Polarisierungsempfinden und Ohnmacht oft. Welche Streitorte bleiben, um zu "enttriggern", um konstruktiver zu streiten? +Ich bin für Lesungen häufiger in Bibliotheken unterwegs, auch in Plattenbausiedlungen. Da kommen die Leute unvoreingenommen. Der direkte Austausch ermöglicht viel mehr Sachlichkeit als die sozialen Medien. Früher waren auch die Kirchen, Gewerkschaften und Volksparteien Orte der Selbstwirksamkeit und Verständigung. Nur haben die enorm an Mitgliedern und Vertrauen verloren. An ihrer Stelle stehen heute Netzwerke, Vereine und Initiativen, die weit weniger mächtig und schwerer zu greifen sind. Spannend fand ich zuletzt die Zusammenarbeit von Fridays for Future mit der Gewerkschaft ver.di. +Die gemeinsam für die Mobilitätswende lobbyieren. +Weil die, wenn man sie richtig gestaltet, fürs Klima und die Arbeitsbedingungen im öffentlichen Nahverkehr gut wäre. Das ist ein gutes Beispiel für eine Allianz unterschiedlicher ökonomischer Gruppen. Da gibt es ein Mobilisierungspotenzial, das bislang brachliegt. +Als Makrosoziologe leben Sie von der Draufsicht, kreisen ein wenig über dem Geschehen. Was triggert Sie? +Wenn ich das Gefühl habe, Leute drücken bewusst Triggerpunkte, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. + +Steffen Mau, 55, ist Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Einige halten ihn für den einflussreichsten Soziologen Deutschlands. Der mit den griffigsten Metaphern ist er sicher: Mau spricht von Kamelgesellschaften, sozialen Frakturen, Veränderungserschöpfungen – und von seiner Arbeit als "Mythenjagd". + +Fotos: Etsuo Hara / Getty Images diff --git a/fluter/steigt-durch-auslaender-die-kriminalitaet-in-deutschland.txt b/fluter/steigt-durch-auslaender-die-kriminalitaet-in-deutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a3d035212170b2e12b1d92d961419d3b039bebcf --- /dev/null +++ b/fluter/steigt-durch-auslaender-die-kriminalitaet-in-deutschland.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Die Polizeiliche Kriminalstatistik +Das Bundeskriminalamt (BKA) veröffentlicht seit 1953 jedes Jahr die Polizeiliche Kriminalstatistik. Sie bietet Informationen über Fälle, Opfer und Tatverdächtige. Das BKA weist darin selbst darauf hin, dass die Kriminalstatistik "kein getreues Spiegelbild der Kriminalitätswirklichkeit, sondern eine je nach Deliktsart mehr oder weniger starke Annäherung an die Realität" bietet. Trotzdem sind Kriminalstatistiken ein wichtiges Erkenntnismittel. Sie bieten einen Arbeitsnachweis der Polizei und sagen aus, welche Delikte wie häufig begangen werden oder wie sich das Geschlechter-, Stadt-Land- oder Ost-West-Verhältnis der Kriminalität verändert. Nach Ansicht vieler Kriminologen wären periodische Dunkelfelduntersuchungen wünschenswert, die ein realistischeres Bild des tatsächlichen Ausmaßes der Kriminalität zeichnen könnten. +"In der PKS geht es nur um Tatverdächtige, nicht um Täter. Die Statistik sagt also vor allem etwas über die Polizeiarbeit in Deutschland aus. Nur ein geringer Teil der Tatverdächtigen wird am Ende auch verurteilt. Die Mehrheit der von der Statistik erfassten Personen ist also im rechtlichen Sinne unschuldig. Dazu kommt, dass es aus kriminologischen Untersuchungen Hinweise gibt, dass Ausländer sowohl häufiger kontrolliert als auch angezeigt werden." + +"Die Polizei braucht Zeit für ihre Ermittlungen, mal mehr, mal weniger: Tatverdächtige des einen Jahres tauchen darum zum Teil erst in der Polizeilichen Kriminalstatistik des Folgejahres auf." + +"Die PKS bildet, wie alle Statistiken, nur das Hellfeld ab – also bekannt gewordene und bearbeitete Straftaten. Allein von gestiegenen Zahlen kann man noch nicht mit Gewissheit ableiten, dass die Kriminalität in Deutschland wirklich zugenommen hat. Es ist auch möglich, dass sich im Anzeigeverhalten etwas geändert hat. Um das zu klären, bräuchte es regelmäßige Dunkelfeldanalysen. Dafür fehlt leider das Budget." +"Die Kriminalstatistik unterscheidet zwischen Deutschen und Nichtdeutschen. Zu letzteren zählen seit 2015 als eine Teilgruppe die Zuwanderer, zu denen Asylbewerber, Geduldete, Kontingent- und Bürgerkriegsflüchtlinge sowie Menschen, die sich illegal in Deutschland aufhalten, gehören. Arbeitnehmer, Touristen und Durchreisende sowie andere in Deutschland lebende Ausländer werden dagegen nicht bei den Zuwanderern erfasst, sondern in eigenständigen Rubriken unter den nichtdeutschen Tatverdächtigen eingeordnet. Bei der Variable ‚nichtdeutsch' kann man sich streiten, ob sie überhaupt tauglich ist, weil sie eine sehr heterogene Gruppe enthält. Kriminalität hat im Übrigen nichts mit der Nationalität zu tun, sondern vielmehr mit Lebenslagen, Geschlecht und Alter. Wenn aus einem Land überwiegend junge, schlecht ausgebildete Männer ohne eine berufliche Perspektive nach Deutschland einreisen, laufen selbige in weit überdurchschnittlicher Zahl Gefahr, sich straffällig zu verhalten." + + + + + +"Wer die Kriminalitätsrate von Deutschen und Nichtdeutschen vergleichen will, muss darauf achten, dass die sogenannten Aufenthalts- bzw. Ausländerdelikte nicht einbezogen werden. Wenn man als Flüchtling unerlaubt einreist, hat man damit bereits eine Straftat begangen. Als Deutscher kann man diese Straftat jedoch nicht verüben, darum verzerrt das die Zahl. Seit 2015 wird darum zwischen ‚Straftaten insgesamt' und ‚Straftaten insgesamt ohne ausländerrechtliche Verstöße' unterschieden. 2016 sind in der PKS etwa 950.000 nichtdeutsche Tatverdächtige aufgeführt, ohne ausländerrechtliche Verstöße sind es noch gut 600.000." + +"Die Polizeiliche Kriminalstatistik registriert für 2016 10,9 Prozent mehr nichtdeutsche Tatverdächtige (ohne ausländerrechtliche Verstöße) als im Vorjahr. Mehr Zuwanderung bedeutet automatisch auch mehr Straftaten von Zuwanderern, denn jede Person ist erst mal ein Kriminalitätsrisiko. Wenn die Deutschen in den nächsten Jahren auf einmal im Durchschnitt drei Kinder bekämen, stiegen mit einer zeitlichen Verzögerung auch die Straftaten von Deutschen – das allein ist noch kein Grund zu großer Besorgnis. Es wäre überraschend, wenn die Zahl der tatverdächtigen Zuwanderer bei der großen Zahl nach Deutschland Eingereister nicht zugenommen hätte." + +"Kriminologen achten vor allem auf die Häufigkeitszahl: die Anzahl der Fälle pro 100.000 Einwohner. Von 2015 auf 2016 sank diese sogar, von 7.797 auf 7.755 Fälle pro 100.000 Einwohner. Das entspricht einem Rückgang von 0,5 Prozent. 2004 zum Beispiel kamen auf 100.000 Einwohner noch mehr als 8.000 Fälle." + +"Unter den Zuwanderern nach Deutschland sind viele junge Männer. Man weiß aus der Kriminologie, dass vor allem junge Männer dazu neigen, straffällig zu werden, das gilt für deutsche wie für zugewanderte. Das sollte man also bedenken, wenn man die Zahl der Tatverdächtigen beurteilt. Der Kriminalstatistik zufolge war 2016 nur etwa ein Viertel aller Tatverdächtigen weiblich. Ein weiterer sozialer Faktor ist das Umfeld: Zuwanderer wohnen im Durchschnitt eher in den Städten, wo es bekanntermaßen mehr Kriminalität als auf dem Land gibt." + +"Die Polizei steht bis heute erst am Anfang, was die Analyse der Auswirkungen der gestiegenen Zuwanderung auf die Kriminalität angeht. Einen ersten Eindruck brachte der Sonderbericht ‚Kriminalität im Kontext von Zuwanderung' des Bundeskriminalamts, der die Entwicklung von Straftaten von Zuwanderern im Jahr 2016 auswertet. Darin sehen wir einerseits, dass wir in diesem Jahr fast 300.000 aufgeklärte(laut PKS sind das Straftaten, denen man mindestens einen Verdächtigen zuordnen kann)Straftaten hatten, bei denen mindestens ein Zuwanderer als Tatverdächtiger ermittelt wurde. Im Vergleich zum Vorjahr entspricht dies einer Zunahme von immerhin 42 Prozent. Andererseits wird auch klar, dass sich dennoch die weitaus meisten Zuwanderer in Deutschland legal verhalten und gerade bei Gewalttaten Zuwanderer nicht nur Täter, sondern zugleich auch Opfer sind." +"2016 wurden bei den Straftaten gegen das Leben, also bei den Mord- und Totschlagsdelikten, 3.765 Tatverdächtige registriert, wobei die Gruppe der Nichtdeutschen etwas überrepräsentiert ist. Obwohl Tötungsdelikte natürlich immer beunruhigend sind, ist der Anteil dieser Delikte an der Gesamtkriminalität zum Glück sehr gering. Und auch wenn die Gewaltkriminalität insgesamt im letzten Jahr um 6,7 Prozent angestiegen ist, liegt sie immer noch zum Teil deutlich unter den Werten, die wir in der ersten Hälfte der 2000er-Jahre zu verzeichnen hatten." + +Titelbild: Kristoffer Finn/laif diff --git a/fluter/stell-dir-vor-es-ist-krieg-und-keiner-singt-drueber.txt b/fluter/stell-dir-vor-es-ist-krieg-und-keiner-singt-drueber.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4a40527326f7f3b676612d047a1ffeab742cdaba --- /dev/null +++ b/fluter/stell-dir-vor-es-ist-krieg-und-keiner-singt-drueber.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Auch in den beiden deutschen Staaten prägt dieser Krieg das politische Klima der Popmusik. In der DDR wird die Kritik an den USA vom Staat verordnet, während musikalische Proteste gegen das eigene Regime im Keim erstickt werden. So blüht jenseits des Eisernen Vorhangs in den sechziger und siebziger Jahren vor allem die staatlich gesteuerte Pop-Langeweile. Die wenigen Musiker, die sich Kritik am Regime leisten – wie die Klaus-Renft-Combo oder Wolf Biermann – bekommen Auftrittsverbote. +In der BRD orientieren sich die meisten Popkünstler an angloamerikanischen Vorbildern. Den wenigsten gelingt es, sich mit einer eigenen Ästhetik von diesen Idolen zu emanzipieren. In den Sechzigern versammelt sich um die Burg Waldeck eine kleine, aber lebendige Folkszene, die Liedermacher wie Franz-Josef Degenhardt oder Hannes Wader prominent macht. Auf der politischen Agenda dieser Szene stehen vor allem Antifaschismus und Antikapitalismus, der quasi natürliche Feind sind die USA. Ästhetische Raffinesse, poppige Inszenierungen und jede Art von Show-Biz verfolgt man hier mit Argwohn und Skepsis. Es gilt das einfache Wort zur unverstärkten Klampfe. Dieser kargen GraubrotÄsthetik ist ein großer Teil der westdeutschen Linken bis tief in die Achtziger verpflichtet. Das macht die Aktionen der Friedensbewegung zu musikalisch recht trostlosen Veranstaltungen, Ähnliches gilt für die selbstgenügsamen Darbietungen, wenn sich Atomkraftgegner und Öko-Jünger begegnen. Die einzige deutsche Band, auf die sich fast alle Fraktionen der Linken einigen können, ist Ton, Steine, Scherben. Auch 15 Jahre nach dem Tod ihres charismatischen Sängers Rio Reiser im August 1996 fehlen die eingängigen Gassenhauer der Scherben bei kaum einer Demonstration. +Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Sieg des Kapitalismus wird die Lage unübersichtlich. In einigen deutschen Großstädten entstehen nach dem Fall der Mauer und den pogromartigen Überfällen von Rostock, Mölln und Hoyerswerda antirassistische Initiativen, denen sich auch viele jüngere Bands anschließen. Besonders stark ist die sogenannte Poplinke in Hamburg. Bands wie Blumfeld, Die Goldenen Zitronen, Die Sterne und später Tocotronic werden unter dem griffigen Label "Hamburger Schule" vermarktet. Der kommerziell erfolgreichste Protest im wiedervereinigten Deutschland kommt freilich von rechts. Die Böhsen Onkelz, eine Frankfurter Hardrock- Band mit Skinhead-Vergangenheit, erreicht mit prolligem Habitus, schlichten Parolen und ebensolcher Musik ein großes Publikum. In der verschworenen Onkelz-Gemeinde vertragen sich "unpolitische" Fans beim Bier problemlos mit stolzen Deutschen, Rassisten und Neonazis, die ihr Gegröle als Protest gegen den Staat sehen. +Die Anschläge vom 11. September 2001 in New York verändern auch das popkulturelle Koordinatensystem. Nach dem Einsturz des World Trade Centers trauert die Welt mit Amerika. Rockstars wie Bruce Springsteen und Neil Young – in der Vergangenheit nicht zimperlich mit Kritik an den USA – reagieren mit patriotischen Liedern auf den terroristischen Angriff. Die Stimmung dreht sich. Kritik am Präsidenten gilt plötzlich als Vaterlandsverrat. Das bekommen die Dixie Chicks zu spüren. "Wir sind beschämt, dass der Präsident der Vereinigten Staaten aus Texas stammt", verkündet die texanische Band 2003 auf einem Konzert in London als Reaktion auf den Krieg in Afghanistan. Darauf hagelt es Proteste, Platten und CDs der Dixie Chicks werden öffentlich verbrannt, es gibt Morddrohungen. Der innertexanische Konflikt der Dixie Chicks gegen George W. Bush sorgt für mehr Aufregung als die Kriege der USA in Irak und Afghanistan. Dort sind die Fronten nicht so klar wie einst in Vietnam. Da galt die Faustregel: Sag mir, ob du für oder gegen diesen Krieg bist, und ich sag dir, welche Musik du hörst, welche Bücher du liest, welche Drogen du nimmst und welche Klamotten du trägst. +Heute ist die Kriegsfrage nicht mehr so eindeutig an Ideologien oder Lebensstile gekoppelt. Man findet Kriegsgegner auf der Rechten und Kriegsbefürworter auf der Linken. Und dazwischen viele, die nur wissen, dass sie nichts wissen. Vietnam – das war David gegen Goliath. Irak und Afghanistan, das sind die asymmetrischen Kriege des 21. Jahrhunderts. Kein Stoff für heroische Antikriegshymnen. Al Kaida und Taliban taugen nicht als Helden für Love-and-Peace-Romantik, Osama Bin Laden ist kein Che Guevara, Saddam Hussein kein Martin Luther King. Aber auch umgekehrt wird kein Stiefel draus: Weder George W. Bush noch Barack Obama ist es gelungen, der Nation die Idee zu verkaufen, dass es sich hier um einen gerechten Feldzug zur Verteidigung des American Way of Life handelt. Also gilt diesmal: Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner ist so richtig dagegen. Und keiner ist so richtig dafür. +Denn die Kriege in Afghanistan und Irak sind viel weiter weg vom Alltag als der Krieg in Vietnam. Die Zahl der amerikanischen Toten ist bedeutend geringer. Die täglichen Nachrichten schocken nicht mit grusligen Bildern von verstümmelten Soldaten. Politik und Militär haben die Bildkontrolle übernommen, Pannen wie die Folterbilder aus dem Gefängnis in Abu Ghuraib sind die Ausnahme. So bleiben amerikanische und europäische Opfer weitgehend unsichtbar, die Opfer auf der anderen Seite gelten vielen im Westen als Terroristen. Nein, das sind keine Popkriege. Und die Protest- Rhetorik von Altvorderen wie Young und Springsteen erreicht eher die Generation Woodstock als die Generation Facebook. Sollte also ausgerechnet Lady Gaga für den politisch bedeutendsten Pop-Moment der neuen Kriege verantwortlich sein? Lady Gaga? Der größte Popstar des Planeten hat sich mit einem spektakulären Auftritt in die Debatte eingeschaltet, ob Schwule und Lesben zur US Army gehen dürfen. Im September 2010 nahm sie eine siebeneinhalbminütige Videobotschaft auf, die bis heute millionenfach im Netz angeklickt wurde. +"Ich bin hier, um meiner Generation eine Stimme zu verleihen, und zwar nicht der Generation der Senatoren, die abstimmen werden, sondern der jungen Leute dieses Landes", verkündet die Mittzwanzigerin mit dem Sendungsbewusstsein der meistgehörten Stimme ihrer Generation. In Jackett und Krawatte kritisiert Lady Gaga vor dem Sternenbanner, dass die Praxis der US-Armee Schwule und Lesben diskriminiere und damit gegen jene Werte von Freiheit und Gleichheit verstoße, für die Amerika stehe. "Findet ihr nicht auch, dass wir lieber die heterosexuellen Soldaten heimschicken sollten, die Vorurteile hegen und schwule Soldaten hassen? Ich bin hier, weil ich ein Gesetz vorschlagen möchte, das die Homophoben und Voreingenommenen heimschickt." Die Frage nach den Rechten von Schwulen und Lesben beim Militär wird heftiger diskutiert als der Sinn der Kriege. Es geht um Körperpolitik, Identität, Zugang, Teilhabe, Sexualität. Solche Fragen taugen heute eher zu einem Kulturkampf als die Frage nach der Legitimität eines Krieges wie damals dem in Vietnam. diff --git a/fluter/stephan-lessenich-die-externalisierungsgesellschaft.txt b/fluter/stephan-lessenich-die-externalisierungsgesellschaft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..852c7cb8c38c7c22b6f2c10a3d65aa3b8ef44362 --- /dev/null +++ b/fluter/stephan-lessenich-die-externalisierungsgesellschaft.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie wir unseren Wohlstand vergrößern, indem wir ihn anderen vorenthalten. Dafür verwenden Sie den Begriff der Externalisierungsgesellschaft. +Die meisten finden den Begriff viel zu sperrig. Externalisierungsgesellschaft ist natürlich eine Globaldiagnose und Externalisierung durchaus ein alter Hut. Man kann sagen, seit es den Kapitalismus ansatzweise in Form des globalen Weltsystems gibt, so etwa seit 500 Jahren, operiert er im Modus der Auslagerung von Kosten, der Aneignung von Gewinnen und der Ausbeutung Dritter. Ich würde aber sagen, dass diese Struktur der Externalisierung sich in den letzten Jahrzehnten noch einmal stark verändert hat: Der frühe Kapitalismus hat diese Auslagerungspraktiken noch stark über Gewalt organisiert, spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg sind diese Auslagerungsstrukturen verrechtlicht worden. +Wie muss man sich das vorstellen? +Dieses Auslagerungshandeln hat verschiedene Dimensionen. Beispielsweise wird "schlechte" Arbeit ausgelagert. Wir kennen das aus der Textilproduktion. Aber auch viele Formen der Landwirtschaft oder Rohstoffförderung sind verbunden mit sehr, sehr schlechten Arbeitsbedingungen. Verbunden damit ist wiederum die Auslagerung von ökologischen und anderen Schäden, von Verwüstungen der Natur bis zu starken Gesundheitsschädigungen. Die monokulturelle Landwirtschaft, die in weiten Teilen der Welt für den europäischen Verbrauch betrieben wird, etwa der Sojaanbau für Tierfutter, hat einen massiven Pestizid- und Herbizideinsatz, massive Verwerfungen der lokalen Ökonomien und massive Verdrängungen der Menschen aus den ländlichen Räumen zufolge. Ausgelagert wird kurz gesagt all das, was wir in keiner Weise bei uns zu akzeptieren bereit wären. +Wie kommt es, dass wir trotzdem gut schlafen können? +Weil wir die Folgekosten unserer Produktions- und Lebensweise nicht wahrnehmen müssen. Wir können sie ausblenden, müssen sie nicht an uns heranlassen. Sie werden von niemandem direkt an uns herangetragen, wir sind also auch nicht gezwungen, unsere Verhaltensweisen zu ändern. Ich glaube, dass es sich bei diesem Ausblendenkönnen um eine große Machtressource handelt. +Wir können es uns, grob formuliert, leisten, dass es uns kalt lässt. +Ja, es macht uns ja niemand dafür haftbar, vielleicht ab und an mal moralisch, zum Beispiel in Weihnachtspredigten jetzt gerade wieder. Dann geben wir ein bisschen mehr in die Kollekte. Ich nenne das den Externalisierungshabitus, dass es uns gewissermaßen in Fleisch und Blut übergegangen ist, so zu leben, wie wir leben, dass wir uns in Strukturen befinden, die uns das ermöglichen und es uns teilweise auch nahelegen oder sogar erzwingen, man kann nämlich nicht einfach so konsumieren, wie man will, und nicht jeder kann sich frei entscheiden, ethischen Konsum zu betreiben. +Vermutlich hätten Sie größere Teile des Buches auch vor Jahren schon schreiben können. Ihre These ist jedoch, dass sich die Lage zuletzt zugespitzt hat und die Externalisierung zu uns nach Hause kommt. Was meinen Sie damit genau? +Schon Ulrich Beck hat in seinem Klassiker "Risikogesellschaft" von 1986 von "Bumerang-Effekten" gesprochen, etwa in Bezug auf den Klimawandel, der ja heute noch viel stärker spürbar ist. Gerade die Migrationsgeschehnisse der letzten anderthalb Jahre sind meines Erachtens ein greifbares Zeichen dafür, dass die Verwerfungen, die von hier aus anderswo produziert werden, zunehmend auch auf uns zurückschlagen. Die Zeiten ändern sich, und die Möglichkeit, die Konsequenzen irgendwo anders geschehen zu lassen und hier nichts damit zu tun zu haben, die sind langsam vorbei, glaube ich. Und leider führt das dazu, dass wir zunehmend gewaltsam versuchen, dieses Zurückschlagen zu verhindern. Und da stellt sich in einer einstweilen noch demokratisch verfassten Gesellschaft tatsächlich die Frage, wie hoch da die Schmerzgrenze ist. Wie viele tausend Menschen im Mittelmeer ertrinken können, bis sich hierzulande Widerstand regt. +Was sollen wir konkret machen, um die Externalisierungen einzudämmen? +Wir müssen für eine Politisierung der alltäglichen Lebensverhältnisse sorgen. Weil es so ist, dass wir in unserem Alltagshandeln diese Externalisierungen mitproduzieren und auch davon profitieren, kann eine Veränderung nur darüber laufen, dass breite gesellschaftliche Mehrheiten ihr Verhalten verändern, und zwar nicht nur im Sinne von ethischem Konsum, weniger Reisen und weniger Fleisch essen, sondern in dem Sinne, dass sich Mehrheiten dafür einsetzen, dass die Strukturen, die diese Konstellation tragen, verändert werden. +Jetzt könnte man einwenden, dass es sozial Schwache auch in den westlichen Industrienationen gibt und sich in den neuen Teilnehmerländern im großen Weltmarktspiel eine neue Mittelklasse bildet. +Stephan Lessenich, 1965 in Stuttgart geboren, lehrt am Institut für Soziologie der LMU München und ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Von ihm erschienen zahlreiche Publikationen, u. a. Die Neuerfindung des Sozialen (2008) +Mit dem Buch versuche ich, eine Perspektive stark zu machen, die in Ungleichheitsdebatten für gewöhnlich unterbelichtet ist. Wir haben gerade, völlig zu Recht, eine Debatte über innergesellschaftliche Ungleichheiten, über die sich öffnende Schere zwischen Arm und Reich. Diese Debatte verkompliziert sich aber, wenn man die weltgesellschaftlichen Ungleichheiten miteinbezieht. Dann wird man nämlich sehen, dass gerade die Menschen, die in unserer Gesellschaft schlechter gestellt sind, in einer doppeldeutigen Position sind, denn weltgesellschaftlich gesehen leben sie auf einem Standard, der den weiter Teile der Gesellschaft erheblich überschreitet. Und gleichzeitig sind sie "gefangen" in Strukturen, die sie von den Ausbeutungsverhältnissen in der Welt profitieren lassen. Ich finde es wichtig, beide Dimensionen zusammen zu bringen und davon auszugehen, dass sie sich gegenseitig überlagern und entsprechende Debatten auch verkomplizieren. Es ist eben nicht damit getan, dass wir hierzulande zu einer Angleichung von Lebenslagen kommen und dann wäre wieder alles in Ordnung, sondern wir müssen sehen, dass unser Lebensstandard damit zusammenhängt, dass andere dieses Niveau gar nicht erreichen können. +Sanft nach unten getröpfelt, wie immer wieder mal prognostiziert wird, ist der Wohlstand der reichen Länder bis heute jedenfalls nicht. +Nein. Es gibt ja von einigen Ökonomen die These, dass sich einerseits die innergesellschaftlichen Ungleichheiten verschärfen würden, sich zwischen den Ländern des globalen Nordens und denen des Südens die Einkommensschere andererseits langsam schließen würde. Wenn man sich die letzten fünfzehn Jahre anschaut, dann ist es in der Tat so, dass sich das Ungleichheitsniveau weltweit zwischen den armen und reichen Gesellschaften etwas verkleinert hat – aber auf einem Niveau, wo die Unterschiede zwischen den ärmsten und reichsten Nationen des Globus immer noch deutlich größer sind als die innergesellschaftlichen Unterschiede der ungleichsten Gesellschaft dieser Welt. +Stephan Lessenich: "Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis". Hanser Berlin, 2016, 224 Seiten, 20 Euro +Titelbild: Valerio Muscella/ReduxRedux/laif diff --git a/fluter/stephen-buoro-roman-andy-africa.txt b/fluter/stephen-buoro-roman-andy-africa.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cd4bdbb7321aa7a737a225d6fa1d49c2a19f3caa --- /dev/null +++ b/fluter/stephen-buoro-roman-andy-africa.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +"Andy Africa" ist eine Geschichte über Vertreibung: aus dem göttlichen Paradies, aus dem hassgeliebten Nigeria und aus der eigenen Kindheit. Es isteine klassische Coming-of-Age-Story.Wo komme ich her und wie komme ich hier raus? Andys Fragen führen ihn in die unausgeleuchteten Winkel der eigenen Familiengeschichte. Wer ist sein Vater, und warum verweigert seine Mutter ihm den Kontakt? Auf Andys Flucht zu sich selbst wird er sie schmerzlich zurücklassen müssen, um eine Antwort zu finden. Und es wird nicht die sein, die er gesucht hat. +Stephen Buoro wurde 1993 in Nigeria geboren und hat im englischen Norwich Mathematik und Creative Writing studiert. "Andy Africa" ist sein Debüt. Und was für eins. Aus guten Gründen hat sich die englische Verlagslandschaft um die Rechte für diesen Roman gerissen. Lange hat man nicht so eine waghalsige Konstruktion erlebt. So ein hellwaches Spiel mit dem Genre und den Vorurteilen seines Publikums. Im ersten Satz schon wendet sich Andy an eine weiße Leser:innenschaft, um klarzustellen, er stehe auf weiße Frauen – und nur auf weiße. Auf blonde mit Pferdeschwanz, um genau zu sein. Er wisse zwar nicht, wie blonde Frauen so seien, aber er habe sie in unzähligen Filmen aus Hollywood gesehen. +Ein geschicktes Manöver, wirft Buoro doch den exotisierenden Blick, mit dem Weiße auf afrikanische Länder zu schauen neigen, mit voller Wucht zurück. Aber in diesem Blick liegt für Andy auch etwas Selbstverletzendes: die Sehnsucht, selbst weiß sein zu wollen, wie Clark Kent, Peter Parker oder Neo aus "Matrix", wie es an anderer Stelle heißt. Als wäre nicht das Fliegen oder Hochklettern an Wolkenkratzern die Superkraft dieser Figuren, sondern ihre Hautfarbe. Und tatsächlich zeigt sich die schier übermenschliche Anziehungskraft von weißer Haut auf Andy, als die platinblonde Eileen, die Nichte eines Priesters, zu Besuch aus Großbritannien in Kontagora auftaucht. +So sind die Leser:innen von der ersten Seite an hellwach. Denn in diesem Roman ist sein eigener Abgrund immer anwesend. So tief die Vorurteile der Leser:innenschaft über dieses Land und seine Geschichte womöglich reichen, so spielerisch geht der Roman mit ihnen um. Als hätte Buoro ein schmales Brett über diesen Abgrund gelegt, über das er seine Figuren vorsichtig führt. +Dabei sind seine Figuren keine ausgereiften Charaktere, sondern Prototypen. Sie haben scharfe Konturen, aber sie bleiben zweidimensional. Wie Comiczeichnungen, um die man nicht herumgehen kann. Man darf das nicht als Schwäche dieses Romans verstehen, sondern als einen augenzwinkernden Umgang mit dem Authentizitätsanspruch an Literatur. Wenn Andy mit seinen beiden Freunden Slim und Morocca spricht, dann klingt das wie die Synchronfassung einer Hollywood-Highschool-Komödie: +"Was geht, Dawgs?", sage ich."Alles cool, Mann", sagt Slim."Sauhungrig", gähnt Morocca. (…)"Klar, was sonst", lacht Slim. +Aber vielleicht liegt in der Beliebigkeit dieses Dialogs auch eine psychologische Genauigkeit. Die Beobachtung, dass wir im Erwachsenwerden nur über den Umweg der Anderen zu uns selbst finden. Wir sehen Andy mit seinen Freunden, seinen sogenannten Droogs, wie sie nach Sätzen suchen, die größer sind als sie. Wie Konfirmationsanzüge, in die sie noch reinwachsen müssen, ziehen sie sich die Sätze an. +Auf wunderbare Weise verknüpft Stephen Buoro in "Andy Africa" die Urfrage des Aufwachsens mit der Identitätsfrage Nigerias im Umgang mit seiner Kolonialgeschichte. Ein Land, das viele Länder ist,das über 500 Sprachen spricht, von denen Englisch nur eine ist. Tu das nicht, sagt Eileen, als Andys Englisch einmal zu sehr in ihr britisches Englisch kippt. Was nicht?, fragt Andy. Und Eileen lacht. Je näher sie sich kulturell kommen, desto mehr scheinen sie sich emotional voneinander zu entfernen. Sind sie doch mehr interessiert an der Andersartigkeit des Anderen als an dem Anderen selbst. Nähern sie sich an, verlieren sie den Reiz füreinander. Darin liegt eine der zynischen Pointen dieses Romans. +Die größte hebt sich Stephen Buoro aber bis zum bitteren Ende auf. Denn das schmale Brett, auf dem seine Figuren balancieren und auf das wir ihnen längst gefolgt sind, es biegt sich. Die waghalsige Konstruktion, die Buoro in schwindelerregender Diskurshöhe gebaut hat, droht einzustürzen unter dem Gewicht, das die Geschichte am Ende bekommt, als Andy mit seinen Droogs nichts anderes bleibt als dieFlucht durch die Wüstenach Europa. Aber solange wir nicht runtergucken, stehen wir noch in der Luft. Wie im Comic. Als würde sich Andy Africa noch einmal an seine weißen Leser:innen wenden, um zu sagen, dass ihre Superkraft nicht in ihrer Hautfarbe besteht, sondern darin, sie nicht zu sehen: Wenn ihr nicht hinguckt, könnt ihr fliegen. + +Titelbild: Didier Ruef/Redux/laif diff --git a/fluter/sternburg-buch-germania-heimat.txt b/fluter/sternburg-buch-germania-heimat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9f37215967208dd2bd0116c1e15134fc20158398 --- /dev/null +++ b/fluter/sternburg-buch-germania-heimat.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Mein Porträt über den Rapper Massiv beginnt vor seinem schicken Sportwagen. Massiv ist dankbar. Dankbar,dass der Kapitalismus in Deutschland für ihn so gut funktioniert hat. Andere Einwanderer*innen, die weniger "dankbar" sind, müssen sich oft schiefe Blicke gefallen lassen. Denn wer nach Deutschland gekommen ist, soll immer und überall versichern, wie toll es sei, hier (Sicherheit, Sozialstaat, Sauerkraut) leben zu dürfen. Pardon, man muss das etwas eingrenzen: Wer nicht aus Frankreich oder Norwegen, sondern aus Marokko, Pakistan oder, wie Massiv, aus Palästina hergekommen ist, soll dankbar sein. Sorry to break it to you, aber: Meiner Meinung nach müssen sich Migrant*innen nicht prinzipiell vor Deutschland in den Staub werfen. Der Grund dafür, dass es den Menschen in Deutschland oft besser geht als in ihren Heimatländern, ist simpel: Uns geht es gut, weil es ihnen schlecht geht. Dass sie hier leben wollen, ist also eine Selbstverständlichkeit. +Postmigrantisch bedeutet erst mal: nach der Migration. Das bedeutet nicht, dass Migrationsbewegungen abgeschlossen sind. Sondern dass es nach der Migration zu politischen Veränderungen, Konflikten und neuen Identitäten kommt. Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft, und immer mehr Menschen wollen das Land mitgestalten – auch wenn ihre Vorfahren nicht deutsch waren und sie selbst vielleicht nicht so aussehen, wie man sich früher Deutsche vorstellte. +Ich habe für das Buch nicht nur Chorknaben und Klassensprecherinnen getroffen. Einige der Künstler wie Massiv oder Kool Savas haben sich in der Vergangenheit problematisch geäußert oder straffällig verhalten. Sie im Buch zu featuren, wird mir jetzt vorgeworfen. Da wird Einwanderern wie dem Musiker Manuellsen, der eine Kutte trägt und mit den Hells Angels durch die Gegend fährt – die der Verfassungsschutz der organisierten Rockerkriminalität zuordnet –, in Kommentaren das Recht abgesprochen, überhaupt etwas über Deutschland sagen zu dürfen. Klar: Übergriffe, Missbrauch oder Gewalt gehören bestraft. Diese Strafe wird aber vor Gericht entschieden, nicht in Facebook-Kommentarspalten. In denen dominiert noch immer die Vorstellung des Strebermigranten: Einwanderer*innen, die sich tadellos verhalten, hört man vielleicht zu; wer sich einmal etwas zuschulden kommen lässt, hat aber gefälligst keine Ansprüche mehr zu stellen. Dieser Tadellosigkeitsimperativ ist unsinnig. + +"Ich bin drei in eins", hat mir der Rapper Olexesh seine Herkunft erklärt. "Ich sehe mich als Russen, weil mein Vater Weißrusse ist. Ich sehe mich als Ukrainer, weil meine Mutter daher stammt. Ich bin Deutscher, weil ich hier aufgewachsen bin und die Leute mich hier gut empfangen haben, schon seit dem Kindergarten." Diese Aussage mag den Nationalstolz vieler herausfordern, ist aber völlig logisch:Konstrukte wie Ländergrenzen und Zufälligkeiten wie Geburtsorte sind an sich keine Gründe, irgendetwas von jemandem zu erwarten.Eine Deutsche muss nicht pünktlich sein, ein Kolumbianer nicht gut tanzen können. Vor allem aber muss sich niemand vom Staat seiner Eltern und Großeltern lossagen, um ein "guter Deutscher" zu werden. Wieso sollen sich, während in Deutschland gejammert wird, dass Traditionen und alte Wert verschwinden, Oleg und Layla bitte möglichst von allem lossagen, was ihre Eltern ihnen mitgegeben haben? + +Viele Eltern prahlen gern mit ihren Kindern, die, kaum dreijährig, auf einem Fabergé-Ei balancierend Tuba spielen. Spricht der Knirps dann noch vor der Einschulung Französisch oder Mandarin, ist das Glück perfekt. Mit den Muttersprachen deutscher Einwanderer verhält es sich seltsamerweise ganz anders: Verfällt ein Kind ins Türkische oder Persische, wird gerne mal kritisch nachgefragt, wieso zu Hause niemand Deutsch spricht. Sprache ist Kulturgut und Privileg, genau wie Hautfarbe und Herkunft. Französisch wird tendenziell als weiß wahrgenommen, auch wenn der halbe afrikanische Kontinent die Sprache fließend spricht. Es ist kein Wunder, wenn der deutsch-marokkanische Schauspieler und Rapper Yonii berichtet: "Immer wenn mich die Polizei anhält, schwätz ich einfach Schwäääbisch. Und dann isch die Sach' sofort geklärt.Das war schon immer meine Taktik, egal mit welchem Pass. Immer schön Schwäbisch schwätze." + +Meine persönlichen Erfahrungen mit Rassismus beschränken sich auf Antisemitismus. Ich kenne das Gefühl nicht, auf der Straße als "fremd" gelesen zu werden.Ich musste noch nie um eine Wohnung oder einen Job bangen,weil ich jüdisch bin. Ich wurde noch nie in der Straßenbahn bedroht, weil ich eine andere Hautfarbe habe. Trotzdem werde ich gefragt, ob ich ein Buch über Alltagsrassismus und Migrationsgeschichte schreibe. Ich mache das, weil ich die Geschichten für wichtig und erzählenswert halte. Und weil ich damit einen Teil meiner Miete zahle. Dennoch sage ich:Gewöhnt euch an, Menschen zu fragen, die betroffen sind. Gewöhnt euch an, Menschen zu fragen, die marginalisiert sind. Reduziert sie nicht auf ihre Rassismuserfahrungen, aber hört zu, lasst sie ausreden, fragt, macht ihnen Platz in euren Timelines, Kollegien und Medien. + diff --git a/fluter/steuer.txt b/fluter/steuer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..20f8da382cc8701cc2c49baf2a378e371b896292 --- /dev/null +++ b/fluter/steuer.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Ihr habt Lob, Kritik oder eigene große Fragen, die wir in einer Pause beantworten sollen? Schreibt uns beiInstagram,Facebookoder perMail. + +Moderation & Schnitt: Paul HofmannRedaktion: Luise Checchin und Paul HofmannSound: Max LangeCover: Jan Q. Maschinski diff --git a/fluter/steuersysteme.txt b/fluter/steuersysteme.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/stinkt-und-macht-laerm.txt b/fluter/stinkt-und-macht-laerm.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bd4496f1848e6595cf58b7f4f565e291d44dae9b --- /dev/null +++ b/fluter/stinkt-und-macht-laerm.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Wäre das Internet/die Cloud (also alle dafür benötigten Rechenzentren und Telekommunikationsnetzwerke) ein eigenes Land, stünde es auf Platz fünf der energiehungrigsten Staaten der Welt. 1,5 bis 2 Prozent des weltweiten Energieverbrauchs entstehen nach Schätzung von Greenpeace aus der Nutzung des Internets. Jedes Jahr wächst dieser Wert um ein gutes Zehntel. Von 2005 bis 2010 stieg der Energieverbrauch sogar um mehr als die Hälfte an. Nach Berechnungen von Forschern der TU Dresden könnte unser Surfen im Netz im Jahr 2030 schon so viel Strom verbrauchen wie die gesamte Weltbevölkerung im Jahr 2011. Klar ist auch, dass unser Online-Verhalten sein Teil zur Klimaerwärmung beiträgt: Eine einzige Suchanfrage bei Google beispielsweise führt zu einem CO2- Ausstoß von 0,2 Gramm. Das alleine ist nicht viel, allerdings entsprechen 1.000 von ihnen schon der Verschmutzung, die ein Auto während einer Fahrt von einem Kilometer verursacht. Pro Tag erreichen Google fast vier Milliarden Suchanfragen. +Mehr als 1.000 Satelliten schweben im Erdorbit. Viele von ihnen dienen Kommunikationszwecken, vor allem Fernsehen, Telefonie und Radio. Aber auch für das Internet können Satelliten genutzt werden. Dabei handelt es sich gewöhnlich um sogenannte geostationäre Satelliten, also Flugkörper, die im Optimalfall immer über einem bestimmten Punkt der Erdoberfläche schweben. Dazu muss der Satellit so in den Weltraum geschossen werden, dass er in etwa 36.000 Kilometer Höhe über dem Äquator in die Umlaufbahn der Erde eintritt. Dort muss er eine Geschwindigkeit haben, die der Erddrehung entspricht, um auf einen Punkt an der Erdoberfläche ausgerichtet zu bleiben. Satelliteninternet kann Geschwindigkeiten auf Breitbandniveau erreichen und ist daher eine nützliche Option für Internetnutzer an Orten, die nicht mit Glasfaserkabeln versorgt sind. Eine hohe Bandbreite für eine weltweite Datenkommunikation per Satellit kann jedoch nach wie vor nicht zur Verfügung gestellt werden. Ein Problem bei der Nutzung von Satelliten bleibt auch die relativ hohe Latenzzeit, also der Abstand zwischen dem Abschicken einer Information und dem Eintreffen beim Adressaten. +Die Computerserver der wichtigen Technologiekonzerne stehen in Rechenzentren, die fast alle in den USA zu finden sind. Das größte Rechenzentrum der Welt ist in Chicago. Auf über 100.000 Quadratmetern beherbergt das Lakeside Technology Center die Server von rund 70 Internetprovidern. Firmen wie Google oder Microsoft betreiben längst eigene Rechenzentren für ihre speicherplatzhungrigen Dienste wie Clouds und YouTube. Das größte Problem für die Ingenieure vor Ort ist dabei neben dem Platz- und Energieproblem vor allem die Kühlung der sich schnell erhitzenden Festplatten. Das zeigt sich auf der Stromrechnung: Neben 32 Millionen Liter Kühlflüssigkeit nutzt das Gebäude rund 100 Megawatt Strom. Das SuperNAP-Zentrum in Las Vegas bringt es sogar auf 250 Megawatt. Das entspricht etwa einem Fünftel der Nettoleistung eines großen Atomkraftwerks – genug, um eine Stadt mit etwa 600.000 Haushalten mit Strom zu versorgen. +Ohne Seltene Erden würden die meisten Hightechprodukte, die wir jeden Tag nutzen, nicht funktionieren. Unter anderem in Handys, Flachbildschirmen und Computern werden insgesamt 17 verschiedene Metalle verarbeitet, die Namen wie Lanthan oder Europium tragen. Die mit Abstand weltweit größten Mengen – etwa 95 Prozent – der Seltenen Erden produziert China. Aus dieser Fast-Monopolstellung heraus versucht das Land, die Weltmarktpreise für die Rohstoffe in die Höhe zu treiben. Daher ist in den letzten Jahren ein Handelskampf um die begehrten Güter entbrannt. Die EU, Japan und die USA haben China wegen seiner Exportpolitik vor der Welthandelsorganisation verklagt. Gleichzeitig suchen Firmen fieberhaft nach alternativen Förderorten, beispielsweise in Sachsen. Dort stießen Gutachter kürzlich auf das größte Vorkommen von Seltenen Erden in ganz Mitteleuropa. Ob sich eine Rohstoffförderung finanziell lohnen würde, ist aber noch nicht klar. diff --git a/fluter/stirbt-der-klassischen-musik-das-publikum-weg.txt b/fluter/stirbt-der-klassischen-musik-das-publikum-weg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dc2f4363672cf0e541e3ebf7025bcec572400a75 --- /dev/null +++ b/fluter/stirbt-der-klassischen-musik-das-publikum-weg.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Da liegt der Gedanke nahe, dass es schlecht aussieht mit dem klassikinteressierten Nachwuchs. Mit erhobenen Armen will man in den immer gleichen Trauergesang vom Aussterben der Klassikhörer einstimmen. Doch interessieren sich junge Menschen denn wirklich nicht mehr für klassische Musik? + +Stimmbildnerin Katrin und eine Vokalheldin +Ein konzentriertes Chorkind beim Vorsingen +An Neugier mangelt es meistens nicht. Was aber oft fehlt, ist der Zugang. Viele Stücke sind keine leichten Hörerlebnisse und verlangen selbst manchem Klassikexperten viel Geduld ab. Klassik ist nicht einfach konsumierbar. Und um die Kunstmusik verstehen zu können, braucht es ein Mindestmaß an Vorwissen. Wem das fehlt, der verliert schnell die Neugier und Lust an langen Konzerten. +Dieses Problem haben mittlerweile viele in der Branche verstanden: Um die Zukunft der Musik, der Konzerthäuser, Komponisten und Musiker zu sichern, müssen sie jungen Leuten die Klassik wieder näherbringen. + +Opernhäuser, Philharmonien und Musikschulen bemühen sich nun schon seit einigen Jahren, einem größeren Publikum den Zugang zur Klassik zu eröffnen. Sie bauen die Hemmschwellen zumEinstiegab. Ein Blick auf das Programm führender Häuser zeigt, dass es sozahlreiche Angebotefür junges Publikum gibt wie nie zuvor. "Unsere Besucher sind mittlerweile im Schnitt 49 Jahre alt", berichtet Anne-Kathrin Ostrop, Musiktheaterpädagogin und Leiterin der Abteilung "Komische Oper Jung". "Würden wir die Kinder mit einrechnen, lägen wir vermutlich bei 36 Jahren." Für Opernpublikum ist das ein sehr junger Durchschnitt, sind die Besucher doch sonst häufig über 60. + +Ist damit endlich Schluss mit dem Gejammer über das Aussterben der Klassik?Es steht laut den Zahlen des Statistischen Bundesamts im Spartenbericht Musik tatsächlichgar nicht schlechtum die Nachfrage: In der Spielzeit 2013/2014 gab es insgesamt mehr als5,2 Millionen Konzertbesucheund sogar18,2 Millionen Besucheim gesamten Klassik-Segment. Dazu zählen allerdings auch viele nicht explizit klassische Formen wie Musicals.Eine Untersuchung des Musikkonsums von jungen Menschen ergab 2016, dassetwa jeder sechsteder 20- bis 29-Jährigen klassische Musik mag und hört. +"Zu zeigen, wie großartig die Klassik ist, ist trotzdem weiterhin bitter nötig. Aber in den Trauergesang auf das Alter des Publikums einzustimmen wird spätestens in ein paar Jahren überflüssig sein", hofft Anne-Kathrin Ostrop. "Ein wirklich akutes Problem unserer Zeit liegt in der einseitigen Ausbildung der Spitzenmusiker", kritisiert die Musiktheaterpädagogin. Die würden nicht lernen, die Hierarchie gegenüber dem Publikum abzubauen und sich dafür einzusetzen, auch junge Hörer anzusprechen. + +Wie viel Freude es bereiten kann, die Über-Ehrfurcht vor der Klassik aufzulösen, zeigt zum Beispiel folgendes Ereignis: Der Dirigent Nikolaus Harnoncourt baute eine Überraschung in die Aufführung von Joseph Haydns "Sinfonie Nr. 94" – besser bekannt als "die mit dem Paukenschlag" – ein. Der laute Paukenschlag war zu Lebzeiten des Komponisten etwas gänzlich Unerwartetes für das Publikum. Dirigent Harnoncourt ließ an besagter Stelle zwei Kanonen mit Konfetti abfeuern, um denEffekt fürs Publikumin die heutige Zeit zu holen. + +Ohne Konfetti und dafür mit selbst gebastelten Sternen geht es aber auch. Das Education-Projekt der Berliner Philharmoniker setzt darauf, dass die Kinder, die einmal als Vokalhelden mitgemacht haben, sich langfristig für klassische Musik begeistern können. +Der erste Schritt ist schon getan: Die Vokalhelden-Kinder sind zufrieden mit ihrem Auftritt und werden mit Keksen und Küssen von den Eltern belohnt. Warum sie so gerne im Chor sind? "Hier muss ich nicht iiiiiiimmer leise sein", sagt einer von ihnen. Also: Mit guter Kommunikation, Konfetti und Kindern ist die Klassik vielleicht doch zu retten. + diff --git a/fluter/stopp-mal.txt b/fluter/stopp-mal.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f0db7491324443c28e47e6531e2f7f11c4b8213f --- /dev/null +++ b/fluter/stopp-mal.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Reisen – sei es, um Urlaub zu machen, Verwandte zu sehen, zu arbeiten, woanders Schutz zu suchen oder gar auszuwandern – ist eine hochpolitische Angelegenheit: Wer wie wann reisen darf und warum, ist weltweit geregelt. Auf Reisen bewegen sich Men- schen – mit all ihrem Geld, ihrer Arbeitskraft, ihren Bedürfnissen, ihrer Gesundheit, ihren Plänen. Staaten und ihre Bewohner können das als Bereicherung für sich ansehen oder auch als Bedrohung. +Auch für Deutsche war das Reisen nicht immer leicht. Schon im 18. Jahrhundert gab es verstärkt Ausweispflichten. Später, etwa nach dem Ersten Weltkrieg, als der Nationalismus in Europa wütete, war Ausreisen sehr schwierig – gerade für Bürger des Deutschen Reiches. Die Regierung befürchtete, dass mit den Reisenden die Wirtschaftskraft geschwächt würde. "In den 20er-Jahren hatten die Staaten Angst, dass mit den Reisenden Devisen ins Ausland abfließen", sagt Hasso Spode, Leiter des Historischen Archivs zum Tourismus an der TU Berlin. "Das Deutsche Reich hatte deswegen zeitweise sogar ver- sucht, eine Ausreisegebühr von 100 Reichsmark zu erheben." +Noch nach dem Zweiten Weltkrieg war das Verlassen des Landes für Menschen aus ganz Deutschland ein bürokratischer Kraftakt, erst in den 50er-Jahren entspannte sich die Situation für Westdeutsche mit der Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der Vorgängerorganisation der EU. In der DDR dagegen spitzte sich die Situation zu, der Staat fürchtete die sogenannte Republikflucht. Die Mauer wurde zum Symbol dafür, dass niemand das Land gen Westen verlassen sollte – bis 1989, als sie fiel. +Heute ist der Kalte Krieg vorbei, die Reisefreiheit seit vielen Jahrzehnten ein Menschenrecht – und trotzdem heißt es noch oft "bis hierher und nicht weiter". Nordkorea etwa ist eines der wenigen Länder mit einem umfassenden "Ausreiseverbot". Der Staat muss Reisen genehmigen, Fluchtversuche werden hart bestraft. Den aufgegriffenen Flüchtigen, die das Land meist über China in Richtung Drittländer hinter sich lassen wollen, drohen oft Folter und Arbeitslager, wie ein UN-Bericht im Februar offenlegte. In China müssen nicht nur Dissidenten mit Ausreisesperren rechnen. "Auch bestimmte Staatsbedienstete haben für private Reisen ins Ausland strenge Auflagen, das ist aber nicht ungewöhnlich, jedenfalls nicht für autoritäre Staaten", sagt Björn Ahl, Juniorprofessor für chinesische Rechtskultur an der Universität Köln. Es gibt aber auch in autoritären Staaten Lichtblicke: Kuba hat seine zuweilen willkürlichen Ausreiseauflagen von 1976 vor über einem Jahr mit dem "Dekret 302" gelockert. +Die Ausreise zu verbieten ist heute eher eine Ausnahme, aber selbst freiheitliche Staaten machen davon Gebrauch, vor allem als Form der Strafe oder in der Verbrechensbekämpfung: In den USA können Menschen, die mit mehr als 2.500 Dollar Kindesunterhaltszahlungen im Rückstand sind, ihren Pass nicht erneuern, oder sie bekommen ihn erst gar nicht. Ein Komitee des UN-Sicherheitsrats hat die Namensliste "Individuals associated with Al-Qaida" erstellt; zu den Sanktionen gehören neben eingefrorenen Konten auch Reiseverbote. Transparent ist das Verfahren nicht unbedingt – warum diese Leute genau auf die öffentliche Liste kommen, steht nirgends. "Die Liste basiert auf geheimen Informationen und auf der Zusammenarbeit zwischen Staaten und ihren Geheimdiensten, die ihre Angaben jedoch nicht zwingend gegenseitig prüfen", sagt Wouter Werner von der Universität Amsterdam, der zum Thema forscht. +Doch man muss nichts verbrochen haben, um die Ausreise verwehrt zu bekommen: In Deutschland haben Asylbewerber oder Geduldete schlechte Karten. Für sie gilt je nach Bundesland eine mal mehr, mal weniger stark ausgeprägte Residenzpflicht, die sie an einen festgelegten Bereich bindet. +Palästinenser haben mit der Bevölkerung des Kosovo, des Libanon, Sri Lankas, des Sudan und Einwohnern vieler anderer Staaten auf unterschiedlichen Kontinenten, mit denen sie sonst nicht so viel verbindet, gemein, dass sie nur in wenige Länder visafrei reisen können. Dem Rest gegenüber müssen sie je nach Anforderungskatalog und Reisezweck ihr Einkommen offenlegen, ihren Rückkehrwillen beweisen, Reise- und Impfpässe, Versicherungen und Einladungen vorzeigen. Ähnliche Prinzipien gelten für den Schengen-Raum, der hauptsächlich aus EU-Staaten besteht. Die Visabedingungen für den Schengen-Raum sind scharf – zumindest wenn man aus einem Drittstaat kommt.Das Reisen im Nahen Osten ist eine besonders heikle Sache; wenn im Reisepass Visa bestimmter arabischer Staaten sind, kann die Einreise nach Israel verweigert werden, umgekehrt ebenso. Es hilft ein bisschen, dass heute manche Visa separat auf Papierzetteln ausgegeben werden. Manchmal reicht aber schon ein bestimmtes Aussehen, um an der Grenze Probleme zu bekommen. Für "deutsche Staatsangehörige mit auch nur vermuteter arabischer oder iranischer Abstammung" sei an der Grenze mit einer "Sicherheitsbefragung durch israelische Sicherheitskräfte zu rechnen", heißt es auf der Website des Auswärtigen Amtes. Auch deutsche Staatsangehörige palästinensischer Herkunft sollten eine Befragung und längere Wartezeiten einplanen. Für Palästinenser selbst ist das Reisen erst richtig kompliziert. Die israelische Militärverwaltung unterteilt sie je nach Gebiet in verschiedene, farbig gekennzeichnete ID-Gruppen mit eigenen Rechten und Reisebestimmungen. So dürfen Palästinenser mit einer grünen Gaza-ID de facto nicht ins Westjordanland und nach Jerusalem. Die Palästinensische Autonomiebehörde stellt außerdem einen – schwarzen – Reisepass aus, der nur für Auslandsreisen genutzt werden kann und nur Besitzern einer palästinensischen Identitätsnummer ausgestellt werden darf. Er ersetzt nicht den Identitätsausweis, der zusätzlich mitgeführt werden muss. +Kurz gesagt: Beliebt ist, wer die Wirtschaft des Gastlandes nach vorne bringen kann. Mit dem vielerorts diskutierten US-amerikanischen Greencard-Modell soll zum Beispiel Personen von "nationalem Interesse" oder "mit besonderen Fähigkeiten" die unbefristete Bleibe schmackhaft gemacht werden. +Karims Asylantrag in Deutschland ging übrigens durch. Der heute 29-Jährige, der vor der Flucht nur bis zur dritten Klasse in die Schule gehen konnte, studiert nun Wirtschaftswissenschaften und arbeitet. Seit ein paar Jahren ist er deutscher Staatsbürger – und hat damit Freiheiten, die viele seiner Freunde nicht kennen. diff --git a/fluter/strahlenbelastung-im-elektroauto.txt b/fluter/strahlenbelastung-im-elektroauto.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7fd4c5bddd50a2e00b00c415e9d197747ebf203c --- /dev/null +++ b/fluter/strahlenbelastung-im-elektroauto.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Studien und Fachartikel haben bisher keine klare Antwort darauf gegeben. Die einen warnen vor einer starken Belastung durch elektromagnetische Strahlen, die insbesondere von den im Rückraum des Fahrzeugs untergebrachten, mehrere Hundert Kilogramm schweren Batteriepaketen ausgehen und vor allem die hinten sitzenden Mitfahrer – häufig Kinder – bedrohen sollen. Die anderen verneinen eine Gesundheitsgefahr: Die Belastung durch Magnetfelder unterscheide sich in Elektroautos nur wenig von der in Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor. +Auch in herkömmlichen Fahrzeugen entstehen Magnetfelder, etwa durch Sitzheizungen und Lüftermotoren. In der Nähe dieser Quellen hat man bei Benzinern zum Teil Feldstärken gemessen, wie man sie auch in Elektroautos vorfindet. +Magnetfelder entstehen überall, wo Strom fließt. Sie sind unterschiedlich stark, je nachdem, in welcher Frequenz der Strom fließt. An dieser Frequenz orientiert sich auch der Grenzwert, den das entstehende Magnetfeld einhalten muss, um als nicht gesundheitsgefährdend zu gelten. Faustregel: Je höher die Frequenzen, desto niedriger der Grenzwert für die Magnetfeldstärke, die in Mikrotesla gemessen wird. Bei Elektroautos sind die Grenzwerte eher niedrig. + + +2010 hatte die Bundesregierung dieNationale Plattform Elektromobilität(NPE) ins Leben gerufen. Ihr Ziel: bis 2020 eine Million Fahrzeuge mit Elektro- oder Hybridantrieb auf Deutschlands Straßen bringen. Bislang sind es noch keine 500.000. Kürzlich wurde die Zielmarke korrigiert, erst im Jahr 2022 soll die Million geknackt werden. +Im Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) erforscht man seit Jahren, welche elektromagnetischen Felder beim Betrieb eines E-Mobils im Inneren des Wagens entstehen und welche Risiken sie für die menschliche Gesundheit bergen. 2009 hatte das BfS in einer Studie Feldmessungen in verschiedenen Elektrofahrzeugen durchgeführt – und die waren ganz unterschiedlich, je nachdem, wie der Wagen fährt, und vor allem, wo Leitungen und Batterien positioniert sind. Deswegen habe man in Kopfhöhe, weit weg von Kabeln und Batterie, sehr niedrige Werte gemessen. Nahe an der Karosserie hingegen, wo in ein paar Millimetern Abstand eine Leitung verläuft, seien die Werte deutlich höher gewesen – "aber immer noch im Grenzwertbereich", betont Dirk Geschwentner, wissenschaftlicher Referent in der Arbeitsgruppe Elektromagnetische Felder im BfS. Und dafür, dass Magnetfelder unterhalb der Grenzwerte sich langfristig auf den Körper auswirken, lägen keine Befunde vor. +Umstritten ist bislang noch, ob das auch auf Kinder zutrifft. Studien haben Hinweise darauf ergeben, dass es für sie ein leicht erhöhtes Risiko geben kann, eine bestimmte Form von kindlicher Leukämie (Blutkrebs) zu entwickeln, wenn sie über eine längere Zeit Magnetfeldern ausgesetzt sind. Selbst unterhalb der Grenzwerte. Allerdings beziehen sich diese Studien auf Frequenzen aus dem normalen Stromnetz (50 bis 60 Hertz). Elektroautos haben meist höhere Frequenzen, können diese niedrigen Frequenzbereiche aber ab und zu aufweisen. + + +2030 könnten schon 10 bis 15 Prozent der neu zugelassenen Autos Elektrofahrzeuge sein, sagt die NPE. Diedeutsche Autoindustriehat auf die Forderung reagiert, bezahlbare batteriebetriebene Fahrzeuge zu entwickeln und in Serie herzustellen: Audi, BMW, Mercedes und VW wollen den Anteil der Elektroautos in ihren Flotten erhöhen. Bis 2025 soll er zwischen 15 Prozent und rund einem Drittel betragen. +Auch beim Laden der Batterien von Elektroautos entstehen elektromagnetische Felder. Künftig wird nicht nur über Kabel aufgeladen, sondern auch kontaktlos. Bei diesem sogenannten induktiven Laden fließt der Strom über ein elektromagnetisches Feld aus einer im Boden eingebauten Sendespule in die Batterie. Dabei werden in relativ kurzer Zeit mehrere Kilowatt übertragen, wobei sehr hohe Feldstärken entstehen. +Bleiben Personen während des induktiven Ladens direkt neben dem Fahrzeug stehen oder darin sitzen, sind sie diesen Feldstärken ausgesetzt. Das kann übrigens theoretisch auch in Elektrobussen imöffentlichen Nahverkehrpassieren. Schon jetzt laufen Versuche, wonach die Batterien dieser Busse an bestimmten Haltestellen während des Ein- und Aussteigens der Fahrgäste immer wieder über die Induktionsspule im Boden nachgeladen werden. Gesundheitliche Probleme traten bis jetzt keine auf. Aber auch hier gilt: Langzeitstudien fehlen noch. diff --git a/fluter/straight-edge.txt b/fluter/straight-edge.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/straight-outta-marxloh.txt b/fluter/straight-outta-marxloh.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6b592f35cd9f304b62bc1491fad669290cae4e1c --- /dev/null +++ b/fluter/straight-outta-marxloh.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Selbst die Polizei traue sich nicht mehr rein in den Stadtteil, heißt es.Die Kriminalitätsrate sei im Deutschlandvergleich beispiellos, heißt es.Einwanderer-Clans aus dem Libanon würden Angst und Schrecken verbreiten, heißt es.Marxloh = No-go-Area. +Der erste Brautmodeladen öffnete vor rund 20 Jahren. Der Erfolg der Geschäfte sorgt für Selbstbewusstsein in Marxloh +Als Özet hier geboren wurde, war Marxloh ein reicher Stadtteil. Das war vor 35 Jahren. Die Menschen hatten Arbeit. Sie verdienten ihr Geld im Stahlwerk und in den Zechen in Walsum und in Dinslaken. Damals war Marxloh noch kein von türkischen Einwanderern geprägtes Viertel, doch als die Zechen dichtmachten, gingen auch viele Deutsche. Die Türken blieben. +Auch das Stahlwerk hat Personal abgebaut. Und die, die noch auf dem Gelände arbeiten, haben keinen Vertrag mehr bei ThyssenKrupp, sondern unsichere und schlechter bezahlte Jobs bei Dienstleistern, die für den Konzern arbeiten. +"Ich habe selbst noch eine Aufnahmeprüfung bei der Zeche Walsum absolviert", sagt Özet. Aber dann hatte er die Nase voll, wollte weg aus Marxloh und wurde Kameraassistent. Er arbeitete für TV-Sender und Werbeagenturen in ganz Europa. Irgendwann war er wieder zurück. "Ich wollte mich selbstständig machen, und ich wollte zurück zu meinen Wurzeln." Er übernahm den alten Bunker, richtete sein Studio dort ein und erfand die Initiative"Made in Marxloh". Sie veranstaltet Ausstellungen im Bunker und dreht Filme über den Stadtteil. +Als das Ruhrgebiet – und damit auch Duisburg – 2010 Kulturhauptstadt Europas wurde, schickte die Initiative 100 festlich gekleidete Bräute zum Bürgerfest auf die gesperrte ­Autobahn und schaffte es damit weltweit in die Schlagzeilen. Die Weseler Straße war am Boden, bevor hier vor 20 Jahren die ersten Brautläden eröffneten. Heute bekommt man dort keinen Laden unter 40 Euro den Quadratmeter. "Es sind viele neue Jobs entstanden, und vor allem hat dieser Erfolg den Menschen hier Selbstbewusstsein und Hoffnung gegeben", sagt Özet. "Aber seitdem alle nur noch darüber reden, wie gefährlich es in Marxloh ist, wollen viele Türken wegziehen. Nicht nur die Geschäftsleute. Sie haben keine Lust mehr, in einem Stadtteil zu leben, der runtergeschrieben wird. Das ist hier sicher nicht das Paradies, aber dass sich keiner mehr auf die Straße trauen kann, ist Unsinn." +Und das lässt sich mit Zahlen untermauern:Die Polizeiliche Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtesfür das Jahr 2014 weist Duisburg nicht als eine Verbrechenshochburg aus. 10.369 Straftaten auf 100.000 Einwohner verzeichnet die Statistik. 2013 waren es noch 10.692. Duisburg liegt damit weit hinter Frankfurt (16.938), Berlin (15.873) oder Dortmund (15.027), ungefähr auf dem Niveau von Stuttgart (10.190) und Karlsruhe (10.320). Mord und Totschlag gingen zurück, Körperverletzungen sind leicht angestiegen. +Pater Oliver ist weit davon entfernt, Marxloh als Idyll zu beschreiben. Er arbeitet im sozialpastoralen Zentrum an der Katholischen Kirche St. Peter. "Wir bieten hier die einzige Sprechstunde für die über 10.000 Menschen, die in diesem Stadtteil ohne Krankenversicherung leben." Die meisten von ihnen sind Roma aus Bulgarien und Rumänien. Viele von ihnen haben früher in der Landwirtschaft in Südeuropa oder auf Baustellen in Großbritannien gearbeitet. Nach Duisburg kamen sie, weil die Stadt noch immer den Ruf hat, ein starker Industrie­standort zu sein.Die gefährlichste Gegend Duisburgs ist auch nicht Marxloh, sondern die grenzt direkt an die Innenstadt. Hier wurde an der Vulkanstraße mit Genehmigung der Stadtverwaltung ein Großbordell angesiedelt, in dessen Nähe sich Rockerclubs wie die Bandidos niedergelassen haben. Immer wieder kommt es dort zu Revierkämpfen zwischen den verschiedenen Banden. 2009 erschoss ein Hells Angel einen Bandido und sorgte damit nicht nur für Schlagzeilen, sondern auch für weitere Auseinandersetzungen in der Szene. +Ein Gerücht, an dem nicht mehr viel dran ist. Duisburg hat eine Arbeitslosenquote von 13,3 Prozent. Die Stadt ist pleite, die Duisburger sind arm: Die Kaufkraft liegt bei gerade einmal 18.272 Euro je Einwohner. Im Bundesdurchschnitt sind es 20.877 Euro. +Viele Roma kommen nach Marxloh, weil hier Wohnungen leer stehen und billig sind. Skrupellose Hausbesitzer vermieten sogar in verfallenen Häusern Matratzenplätze für bis zu 200 Euro im Monat. Ein lukratives Geschäft, das den Stadtteil herunterzieht. In der Nähe dieser überfüllten "Ekelhäuser", wie sie zuweilen in der Presse genannt werden, finden sich nicht selten Müllberge, mit deren Abtransport die Stadt nicht nachkommt. Es leben einfach zu viele Menschen in diesen Häusern, die Abfalltonnen reichen für sie nicht aus. +Das Gerede von der No-go-Area ist auch für Pater Oliver Unfug: "Natürlich gibt es hier Kriminalität, und natürlich ist es hier härter als in Stadtteilen, die reicher sind, aber man muss auf der Straße keine Angst haben. Der Ruf der Libanesen-Clans, die das Viertel angeblich regieren, hat mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun." Die Polizeiwache im Viertel hätte nicht einmal einen Dienstwagen, sondern nur zwei Fahrräder. "Die Ausstattung der Wache in einer No-go-Area stelle ich mir anders vor." Polizeisprecher Ramon van der Maat sieht auch keine rechtsfreien Räume."Vieles würde hier besser laufen, wenn die Stadt mit Initiativen und der Kirche zusammenarbeiten würde, aber da gibt es einen großen Nachholbedarf", sagt Pater Oliver. Marxloh sei ein Stadtteil mit vielen Problemen, aber auch mit großen Chancen: "Die Menschen, die hier leben und klarkommen, schaffen das unter sehr widrigen Bedingungen. Solche Leute haben doch ein Potenzial, das man nutzen kann." Nur nutzt es keiner. Weil für Roma-Kinder kein Platz in den Schulen war, hat der Pater sein Arbeitszimmer geräumt. Es wurde zum Klassenraum. +Pater Oliver kennt auch die Mitglieder des angeblichen Clans, der nicht nur aus Libanesen, sondern auch aus Türken, Kurden und einem Iraker besteht, und an einem schönen Sommerabend sitzen sie auf einer Bank neben einem kleinen Park. Sie begrüßen ihn, man macht Scherze, man kennt sich. Dass Bundeskanzlerin Angela Merkel hier war, finden sie alle gut und hoffen, dass sich auch dadurch etwas ändert. Die Probleme mit den Bulgaren und Roma zum Beispiel: "Die brauchen vernünftige Wohnungen", sagt einer von ihnen. "Die können doch nicht in diesen runtergekommenen Hütten mit den Ratten wohnen." Und überhaupt müssten deren Kinder in die Schule gehen: "Sonst haben die keine Chance, hier jemals rauszukommen." +So wenig, wie sie selbst eine haben. In Marxloh leben viele Libanesen, einige bezeichnen sich als staatenlos. "Ich bin 24 Jahre alt. Ich bin hier geboren, das ist meine Heimat. Mit dem Libanon habe ich nichts zu tun", sagt einer der Jungs und zeigt ein Papier, seine "Fiktionsbescheinigung". Die gibt an, dass er für drei Monate eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland hat. "Wer gibt einem eine Lehrstelle oder einen richtigen Job, wenn man eine Aufenthaltserlaubnis für nur drei Monate hat? Niemand." Sicher, früher seien sie kriminell gewesen. "Kleinkram" hätten sie gemacht, wie viele hier im Viertel. "Aber der deutsche Kevin kommt aus dem Knast und hat eine Chance. Wir nicht." Sie seien "keine Engel", aber die Zeiten hätten sich geändert. Sie arbeiten +im Messebau oder in Cafés. Schwarz, ohne Vertrag und für kleines Geld. Sie würden sich gern selbstständig machen. "Arbeit zu finden ist schwer. Ich mach mir Arbeit. Ich will arbeiten und mir ­etwas aufbauen." Auf große Hilfe der Stadt können sie nicht zählen. Die Street­worker, die sich um sie kümmern könnten, bieten nur eine Sprechstunde in der ­Woche an: mittwochs von 11 bis 15 Uhr. diff --git a/fluter/strandbad.txt b/fluter/strandbad.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..95768b1afcd280ca10654a4a92198a405f5a6e13 --- /dev/null +++ b/fluter/strandbad.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Der Berliner Verein "Neue Nachbarschaft/Moabit" will solchen Menschen helfen. Im Juni eröffnete er das jahrelang brachliegende Strandbad Tegel im Norden Berlins neu. Die Idee dahinter: einen Ort schaffen, an dem Familien, Jugendliche und Kinder zusammenkommen können, und gleichzeitig Menschen Arbeit geben, die auf dem Arbeitsmarkt vor hohen Hürden stehen. 40 Arbeitsplätze sollen in dem Projekt entstehen, hauptsächlich niedrigschwellige Anstellungen in der Gastronomie, als Hausmeister oder Rettungsschwimmer, an der Kasse oder bei der Badeaufsicht. Viele Geflüchtete wie Mazen Alsawaf sollen hier Arbeit finden, aber auch Menschen wie Leyla Nurmuhamed, die vor langer Zeit aus dem Arbeitsmarkt gefallen sind und den Wiedereinstieg nicht geschafft haben. +Auf dem Strandbad-Gelände leitet Alsawaf den "Snackpoint", einen Imbiss, in dem er Falafel- und Halloumi-Sandwiches verkauft. Geplant ist, dass er einmal das auf dem Areal entstehende Restaurant leiten soll. "Es ist ein Traum. Ich liebe es, für viele Menschen zu kochen, vor allem wenn Familien mit ihren Kindern kommen", sagt er. Leyla Nurmuhamed arbeitet ihm zu, schneidet Salat, Tomaten, Gurken und Petersilie, frittiert Pommes, nimmt Bestellungen entgegen, während Mazen Falafelbällchen formt. Auch sie hofft nach der Anfangsphase auf eine feste Anstellung im Bad. Derzeit arbeiten die Helfenden dort noch ehrenamtlich. Nurmuhamed darf kostenlos in den Räumlichkeiten des Nachbarschaftsvereins wohnen. +Wer einmal in die Langzeitarbeitslosigkeit geraten sei, finde nur schwer wieder heraus, sagt Holle Grünert vom Zentrum für Sozialforschung in Halle. "Die Leute werden oft passiv und trauen sich zunehmend weniger zu." Gefährdet seien vor allem ältere Menschen, Menschen mit geringeren Bildungsabschlüssen, psychischen Problemen oder Vorerkrankungen. Dennoch müsse man die Fälle stets individuell betrachten, so Grünert. +Alsawaf und Nurmuhamed lernen sich 2017 in den Vereinsräumen der "Neuen Nachbarschaft/Moabit" kennen, wo zu diesem Zeitpunkt viele Geflüchtete am Deutschstammtisch teilnehmen. Seitdem kochen sie gemeinsam und besprechen ihre Probleme zwischen zischenden Fritteusen und Säcken voller getrockneter Kichererbsen. Sie seien wie Geschwister, sagen beide. Was verbindet sie? "Wir lassen uns nicht unterkriegen", sagt Leyla Nurmuhamed. Denn ihr Leben ist nicht immer einfach gewesen. +Sie wächst in einem knapp 5.000 Seelen zählenden Dorf bei Kaiserslautern auf, macht einen Hauptschulabschluss, beginnt mit 16 zu arbeiten, wird mit 25 Witwe und alleinerziehende Mutter zweier Kleinkinder. Sie verfällt in eine schwere Depression. "Mein Körper hat funktioniert, aber meine Seele war schon lange tot", sagt sie heute. + + +Als Alsawaf 2016 nach Berlin flieht, ist er Ende 40 und muss von vorne anfangen. Deutsch fällt ihm schwer, im Juni fällt er durch seine B2-Prüfung. In Syrien habe er 20 Jahre lang in der Bankettabteilung des Sheraton-Hotels in Damaskus gearbeitet. In Deutschland hätte er als Tellerwäscher anfangen können. Für leitende Stellen in der Gastro reichten seine Sprachkenntnisse zunächst nicht. Im Verein "Neue Nachbarschaft/Moabit" sind sie davon überzeugt, dass Arbeit das beste Mittel ist, um Selbstbewusstsein aufzubauen und Menschen in die Gesellschaft zu integrieren. +Wer arbeitslos ist, leidet häufig nicht nur unter finanziellen Problemen. "Arbeit erfüllt auch Funktionen, die den Menschen oft gar nicht bewusst sind, aber für das Wohlbefinden wichtig sind", sagt der Psychologe Karsten Paul von der Uni Erlangen-Nürnberg, der zu psychischen Aspekten der Arbeitslosigkeit forscht.Denn Arbeit strukturiert den Alltag, gibt dem Leben einen Sinn und sorgt für gesellschaftliche Anerkennung. "Hierherzukommen hat mein ganzes Leben verändert", sagt Nurmuhamed. "Auf einmal war ich jemand, der gebraucht wird." +Für den Snackpoint stehen beide morgens früh auf, denn der Imbiss will jeden Tag frisch bestückt werden. "Ohne Auto geht bei mir gar nichts", sagt Mazen Alsawaf und springt hinein. Im Inneren des schwarzen VW Golf übertüncht eine Mischung aus Anis, Kardamom und Falafelgewürz den Duft eines alten gelben Wunderbaums, der vom Innenspiegel baumelt. Zwei Lesebrillen mit dünnen Rändern liegen auf dem weichen Leder neben dem Schaltknüppel, drum herum unachtsam aufgerissene Briefumschläge, hinter der Windschutzscheibe ein alter Pappteller, in der Seitentür steckt eine Küchenrolle, Sand und Staub bedecken den Fußraum. Alsawaf ignoriert das Chaos, er muss sich beeilen. "Der Imbiss macht dann auf, wenn ich da bin, aber heute ist das Wetter gut, es werden viele Leute", sagt er, die linke Hand am Lenkrad, in der rechten sein Handy, und drückt das Gaspedal durch. +Wenige Stunden später steht er in seinem rund acht Meter langen und zwei Meter breiten Reich. Es ist eng und stickig, Fettgeruch hängt in der Luft. Auf den Ablagen türmen sich Plastiktüten mit Gewürzen und Gemüse, ein Karton mit Tomaten, ein Berg Falafelmasse in einer bauchigen Stahlschüssel, an den Wänden hängen Wender, Schlitzlöffel, Kochlöffel, Suppenkellen, Greifzangen, Schaber und Messer. Alsawaf beißt mit kritischem Blick in die erste Fuhre Falafel an diesem Tag. Er kaut, schiebt die Kichererbsenmasse im Mund von links nach rechts und sagt schließlich: "Die müssen noch länger." +Vor dem Imbiss hat sich da schon eine Schlange gebildet. Sieben Portionen Pommes sind offen, Leyla Nurmuhamed an der Fritteuse kommt kaum hinterher. "Kann ich meine Portion Pommes schon mal haben?", sagt eine Frau und lugt in den Imbiss. "Haben wir noch Öl, Mazen?", ruft Nurmuhamed. Er macht eine undeutliche Handbewegung, und sie taucht hinter der Anrichte ab, um in den Unterschränken nach mehr Fett zu suchen. "Heute ist Action hier", sagt sie, als sie wieder auftaucht. "Aber macht Spaß. Das geht hier wie am Fließband!" +Alsawaf und Nurmuhamed haben im Strandbad Tegel in den vergangenen Monaten mehr gefunden als eine sinnvolle Aufgabe. Der Verein "Neue Nachbarschaft" sei wie ein Zuhause. "Du kommst als Fremder und gehst als Familie", sagt Nurmuhamed. Nun bleibt abzuwarten, ob sie beide eine Festanstellung im Bad bekommen. Von den 40 geplanten Anstellungen seien 20 bereits bestimmten Personen versprochen. Verträge gibt es aber noch keine – und man wolle in der Öffentlichkeit keine Aussagen darüber treffen, wer am Ende im Bad angestellt werde, sagte der Verein Neuen Nachbarschaft/Moabit" auf Nachfrage vonfluter.de. diff --git a/fluter/streamingportale-einfluss-rap.txt b/fluter/streamingportale-einfluss-rap.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..34f99d50e19981fe841b02a388912c0c988ad6cf --- /dev/null +++ b/fluter/streamingportale-einfluss-rap.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Die arbeiten nach einer sogenannten Superhit-Economy. In der werden nicht die Acts bezahlt, die man als Abonnent oder Abonnentin persönlich hört, sondern die, die insgesamt am meisten gestreamt werden. Das Problem ist nicht, dass Acts "zu klein" sind, sondern dass sie in diesem Modell nicht verhältnismäßig bezahlt werden. +Ein Stream zählt erst als Stream, wenn der Song mindestens 30 Sekunden läuft. Seit geraumer Zeit ist deswegen zu beobachten, dass Rapperinnen und Rapper ihre Songs mit der größtmöglichen Attraktion einleiten: Die ersten Zeilen müssen zur Sache kommen, die Melodien catchy sein. Lange Intros leisten sich nur noch wenige. +Früher war das anders. Mit "Von der Skyline zum Bordstein zurück" beginnt eines der erfolgreichsten Bushido-Alben mit einem fast einminütigen Zitat aus dem Thriller "Layer Cake". Sido moderiertauf seinem Song "Interview"einen fiktiven Schulradiosender an, auch hier beginnt die Musik erst nach einer halben Minute. Heute wäre so ein Einstieg für viele Acts ein finanzielles Risiko. +Noch etwas fällt auf: Die Songs werden kürzer. Aus Businesssicht ist es Unsinn, 4-Minuten-Tracks zu bauen, wenn es nur 30 Sekunden braucht, um Geld zu verdienen. Und warum riskieren, dass Fans einen 4-Minuten-Song nicht mögen, wenn man vier Einminüter veröffentlichen kann, unter denen für alle Hörerinnen und Hörer mindestens einer dabei ist? Auf Ski Aggus Album "Wilmersdorfs Kind" sind nur zwei Songs länger als drei Minuten, auf dem lang erwarteten Debütalbum von Pashanim keiner. Das kann ein Kunstgriff sein oder Berechnung oder beides. Studien zeigen jedenfalls, dass Popsongs im Schnitt 73 Sekunden kürzer sind als noch vor 20 Jahren. +Wie Musik aufgebaut ist, war immer abhängig vom Abspielmedium. Große Konzeptalben wie von Bob Dylan oder David Bowie entstanden überhaupt erst, weil die frühen Vinylplatten nur eine begrenzte Wiedergabedauer boten. So suchten sich die Künstlerinnen und Künstler Songs aus, die thematisch zusammenhingen. +Heute sind Singles wichtiger als Alben: Es geht darum, einzelne Songs zu pushen, statt eine Menge auf einmal zu veröffentlichen. Zu sehen auch bei Ski Aggu: Sechs der 16 Songs auf "Wilmersdorfs Kind" erschienen vor dem Albumrelease als Single. Einen roten Faden haben sie nicht, jeder Song steht für sich. +Dazu braucht es die richtige Social-Media-Strategie. Allein TikTokhat ganze Rap-Karrieren begründet: je eingängiger eine Line oder Melodie, desto wahrscheinlicher landet sie in einem Video auf der Plattform. Die entscheidet mit darüber, ob ein Song ein Hit wird und es in die großen Playlists der Streaminganbieter schafft, die die Reichweite multiplizieren. +Ikkimel und Ski Aggu haben schon Wochen vor Erscheinen der ersten Single Fotos veröffentlicht, unter denen ihre Fanbubbles über eine Zusammenarbeit spekulieren konnten, und schließlich Videos, in denen sie zu neuen Songs tanzen. Viral gehen, bevor Songs draußen sind, das funktioniert. +Dieser Text istim fluter Nr. 93 "Rap"erschienen +Ob bewusst oder unbewusst: Rapper und Rapperinnenpassen ihre Musik solchen Mechanismen an. Und die Streamingdienste verschaffen entsprechend optimierten Songs mehr Aufmerksamkeit als anderen, wodurch die Algorithmen wiederum ähnliche Songs vorschlagen. Ein Kreislauf, der zu vielen Tracks mit wiederkehrender Struktur führt. +Wobei Streaminggrößen wie Ski Aggu, Ufo361 oder Luciano ganz unterschiedlich klingen: Die Acts, die es sich leisten können und wollen, gestalten das Streamingkorsett kreativ und in unzähligen Nischen aus. Musik hat sich immer verändert, ganz wesentlich durch die Technik, mit der sie abgespielt wird. Deutschrap-Einheitsbrei muss also niemand fürchten. + diff --git a/fluter/streit-abschaffung-schuldenbremse.txt b/fluter/streit-abschaffung-schuldenbremse.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..215d82334fd538badbfe7deef00d30aec1a40504 --- /dev/null +++ b/fluter/streit-abschaffung-schuldenbremse.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +meint Timothy Randall +So wie in Deutschland über die Schuldenbremse debattiert wird, kann man den Eindruck bekommen, Deutschland könne seinen staatlichen Verpflichtungen, wie beispielsweise die Sanierung von Straßenund Schulen, kaum noch nachkommen, weil durch die Schuldenbremse das Geld fehle. Das ist natürlich Quatsch. Trotz Schuldenbremse betrug zum Beispiel die Staatsquote, also die Ausgaben eines Staates im Verhältnis zu seinem Bruttoinlandsprodukt, 2023 ganze 49,1 Prozent. Das, was der Staat jährlich ausgibt, beträgt wertmäßig also fast die Hälfte des Betrages aller produzierten Waren und Dienstleistungen in Deutschland. Das ist nicht wenig. +Die Schuldenbremse schützt die Bevölkerung aber vor dem, was Ökonomen "present bias" nennen: Auf Wiederwahl bedachte Politiker denken gern kurzfristig. Gerade direkt vor Wahlen kann es für sie attraktiv sein, plötzlich viel Geld auszugeben, um Wählergruppen noch von sich zu überzeugen. Und weil Steuererhöhungen kurz vor der Wahl nicht gut ankommen, ist es naheliegend, plötzlich viele Schulden zu machen, um kurzfristig attraktive, langfristig aber weniger sinnvolle Vorhaben zu finanzieren. Also sogenannte konsumtive Staatsausgaben, die eine Erhöhung des möglichen Konsums in der Gegenwart erlauben, wie zum Beispieldas Bürgergeld, statt investive Staatsausgaben, zum Beispiel Investitionen in Infrastruktur, die langfristiges Wirtschaftswachstum in der Zukunft begünstigen. +Um den oben beschriebenen Hang der Politikzum "Gegenwartskonsum"einzuschränken, ist die Schuldenbremse ein gutes Mittel. Außerdem gibt es diverse empirische Studien, die zeigen, dass Regeln wie die Schuldenbremse, die den Handlungsspielraum des Staates einschränken, positive Effekte haben: Sie können etwa die Zinsen senken, die Staaten auf ihre Schulden zahlen, und gehen oft mit Wirtschaftswachstum einher. Generell verhindert die Schuldenbremse auch, dass zu viele neue Schulden aufgenommen werden und somit die Zinsen auf diese Schulden wiederum Geld kosten, das dann für andere Aufgaben fehlt. +Deutschland befindet sich im europäischen Vergleich der Schuldenstandsquoten auf Platz 16 von 27, sozusagen im Mittelfeld. Im Vergleich zu einigen anderen europäischen Staaten, wie Griechenland oder Italien, ist Deutschland sehr niedrig verschuldet. Aber selbst im moderat verschuldeten Deutschland zahlen wir ca. 8,3 Prozent der Bundesausgaben, um Schulden zurückzuzahlen. Ganze 37,5 Milliarden entfallen allein auf Zinszahlungen. Das ist nur knapp ein Prozent weniger, als das Bundesministerium für Digitales und Verkehr 2024 ausgeben darf. +Dass Deutschland vergleichsweise niedrig verschuldet ist und hoffentlich bleibt, hilft auch in Notsituationen – wenn in kurzer Zeit viel Geld hermuss. Hätte Deutschland bereits viele Schulden, wäre es für den Staat nicht so einfach, am Kapitalmarkt Gläubiger zu finden, die ihm noch mehr Geld leihen – wer nur gering verschuldet ist, gilt als vertrauenswürdig. Der Staat konnte sich so etwa in der Corona-Pandemie stark verschulden. Als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine konnte Deutschland 100 Milliarden Euro Sondervermögen zur Stärkung der Bundeswehr im Grundgesetz festschreiben und hat aufgrund seiner guten Schuldentragfähigkeit ohne Probleme Kredite dafür aufnehmen können. +Die Schuldenbremse verhindert übermäßige Zinslasten, garantiert Flexibilität in Notsituationen und zwingt uns auch dazu, staatliche Ausgaben zu priorisieren. Die müssen regelmäßig überprüft werden, um sicherzustellen, dass Steuergeld gewissenhaft und bestmöglich eingesetzt wird. Deutschland hat bereits vor der Notlage der Corona-Pandemie kaum in die öffentliche Infrastruktur investiert, sodass der Wertverlust der Infrastruktur im Zeitverlauf nicht kompensiert werden konnte. Das hat sich auch seit 2023 nicht geändert und zeigt die mangelnde Priorisierung von Zukunftsaufgaben. +Kurz: Ja, wir haben kaum in die Zukunft investiert, und das, obwohl der Staat genügend finanzielle Mittel hat. Dass sich die Ausgabenpriorisierung plötzlich ändert, indem wir die Schuldenbremse abschaffen, ist nicht plausibel. Deutschland mangelt es nicht an Geld, um den Klimawandel zu bekämpfen oder die Digitalisierung und Bildung zu fördern. Stattdessen mangelt es am politischen Willen, das vorhandene Geld zukunftsweisend einzusetzen: nämlich für langfristige Ausgaben, deren Nutzen sich in der Zukunft auszahlt. Der Bundeshaushalt 2024 steht sinnbildlich dafür: Die Ausgaben für den Posten "Arbeit und Soziales" übersteigen die Ausgaben für "Bildung und Forschung" um das Achtfache und sogar um das fast 16-Fache des Postens "Wirtschaft und Klimaschutz". +Timothy Randall ist FDP-Mitglied und überzeugt, dass Nachhaltigkeit essenziell ist – ökologisch und fiskalpolitisch. +findet Pao Engelbrecht +Kommenden Generationen keinen Schuldenberg zu hinterlassen klingt erst mal vernünftig und logisch. Nur leben wir in einer Zeit, in der sich die Krisen aufeinanderstapeln. Wenn Staaten in solchen Zeiten keine Schulden machen, bleiben dringend nötige Investitionen auf der Strecke: Die Energiewende geht viel zu langsam voran. Viele Schulgebäude sind marode. Auf die Bahn ist kein Verlass, und Angebotezur Prävention von Extremismus und Antisemitismuswerden gestrichen. Aus Krisen spart man sich nicht heraus. +Es ist zynisch, die Schuldenbremse mit dem Argument zu rechtfertigen, sie sei unfair für folgende Generationen, die die hohen Schulden später mal abzuzahlen hätten: Die Jungen werden sowieso irgendwann ausbaden, dass die Regierung seit Jahren kaum investiert. Das sehen viele Jugendorganisationen so,in einem offenen Briefhaben sich einige öffentlich gegen die Sparpolitik ausgesprochen. +Gerade leiden unter der Schuldenbremse vor allem die Ausgabenbereiche, an denen sich der Zusammenhalt einer Gesellschaft entscheidet:bezahlbarer Wohnraumund Nahverkehr, Krankenhäuser, Pflege- und Sporteinrichtungen, ein gerechtes Bildungssystem. Geld, das in solche öffentlichen Infrastrukturen fließt, ist gut angelegt: Je hochwertiger die Schulbildung, je gesünder und mobiler die Menschen, desto besser sind die Bedingungen. Übrigens auch für Unternehmen, die nur mit gut ausgebildeten Fachkräften und einer funktionierenden öffentlichen Infrastruktur profitabel arbeiten können. +Für den Staat heißt das: Gezielte Investitionen, die er über Schulden finanziert, kann er in Zukunft als Steuern wieder einnehmen. Sparen ist kein Selbstzweck, Investitionen schaffen neue Werte. Denn genauso verliert der Staat zukünftigen Wohlstand und Einnahmen, wenn er weiter spart und Deutschland als Standort für Unternehmen unattraktiver wird. Wenn wir wichtige Investitionen in der Gegenwart vor lauter Sparsamkeit verpassen, steigt die Schuldenquote in der Zukunft. +Das zeigt sich besonders beim dringendsten Problem unserer Zeit: der Klimakrise. Wie teuer die uns zu stehen kommt, ist seit Jahrzehnten wissenschaftlich belegt. In der Politik müsste sich rumgesprochen haben, dass es billiger ist, in den Klimaschutz zu investieren, als entstandene Schäden im Nachhinein zu reparieren. Nachder Flut im Ahrtalhaben Bund und Länder allein 30 Milliarden Euro bereitgestellt, um die Schäden zu beheben: Das entspricht 15 Prozent des gesamten Bundeshaushalts – für eine Extremwetterlage. +Klimaschutz ist teuer, kein Klimaschutz kostet deutlich mehr. Selbst wer rein wirtschaftlich denkt, müsste also befürworten, dass wir Schulden aufnehmen und das Geld in Klimaschutz stecken, um unsere Treibhausgasemissionen schnell zu senken. China und die USA investieren massiv in grüne Technologien. Dass es möglich ist, sich dafür höher zu verschulden, zeigen viele andere Industriestaaten. Japan zum Beispiel, das eine mehr als dreimal so hohe Staatsschuldenquote hat wie Deutschland. +Aus diesen Gründen halten selbst wirtschaftskonservative Politiker und Wirtschaftsexpertinnen die aktuelle Schuldenbremse für überholt. Berlins Bürgermeister Kai Wegner, dessen Partei CDU mehrheitlich hinter der Schuldenbremse steht, nannte sie eine "Zukunftsbremse" und forderte Investitionen. CSU-Chef Markus Söder tat sie als reine "Prinzipienreiterei" ab. Auf ihren jüngsten Parteitagen stimmten die beiden größten Regierungsparteien, SPD und Grüne, dafür, die Schuldenbremse grundlegend zu reformieren. +Die dritte Regierungspartei, die FDP um Finanzminister Christian Lindner, hält weiter an der Schuldenbremse fest. Damit handelt er gegen die Interessen großer deutscher Industrien, die Liberalen eigentlich wichtig sind, und Lindner verspricht eine eierlegende Wollmilchsau: Schulden abbauen,die Bundeswehr aufrüsten, das Pariser Klimaabkommen einhalten, Deutschland attraktiv für Unternehmen machen, Steuern senken und soziale Gerechtigkeit herstellen. +Klingt fabelhaft. Aber eben nach einer Fabel. Realistisch und generationengerecht wäre, sich für die richtigen Dinge zu verschulden. +AlsMercator Fellowüberlegt Pao Engelbrecht, wie man internationale Maßnahmen zum Klimaschutz finanzieren kann. Schulden hat er auch, ziemlich hohe sogar, aus dem Studium in Manchester. +Collage: Renke Brandt diff --git a/fluter/streit-bildungskanon-oder-nicht.txt b/fluter/streit-bildungskanon-oder-nicht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f792580c9a23e51ae0ee22943cdec342e006b477 --- /dev/null +++ b/fluter/streit-bildungskanon-oder-nicht.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Für mich gehören Werke wie Goethes "Faust" oder Schillers "Die Räuber" dazu, weil es dafür gute Gründe gibt. Zum einen spiegeln sie den damaligen Zeitgeist wider. Wie haben die Menschen gedacht, wie gefühlt? Welche politische Haltung nahmen sie ein, zum Beispiel gegenüber dem NS-Regime? Letzteres erfährt man bei Brecht und anderen Vertretern der Exilliteratur. Zum anderen vermittelt große Literatur doch gerade Werte wie Mündigkeit und Toleranz, von der Sie, Herr Crapa, gerade gesprochen haben. Die Themen sind heute dieselben: Vernunft, Toleranz, Moral. Darum geht es auch bei derBlack-Lives Matter-Debattein den USA. +Aber diese Werte kommen ja nicht nur in Klassikern vor und sind nicht exklusiv an Literatur gebunden. Man kann sie zum Beispiel genauso gut imRapfinden – oder dort vielleicht gerade nicht. Genau damit könnte man sich auseinandersetzen. Ich finde es positiv, wenn in der Schule auch Werke behandelt werden, die das Bildungsbürgertum nicht als Allgemeinbildung etikettieren würde. Es ist nach wie vor die Ausnahme, dass im Unterricht auch mal die Geschichten der polnischen Immigrant*innen auftauchen oder andere Geschichten, die nicht typischer Mainstream sind. +Im Leistungskurs Deutsch haben wir uns ausführlich mit Poetry Slam und Rap beschäftigt. Wir wurden gefragt: Ist das Literatur? Was wird vermittelt? Und im letzten Semester ging es ausschließlich darum,wie Literatur im interkulturellen Kontext steht. Da haben wir zum Beispiel Gedichte von Migranten gelesen, die Rechtschreibfehler enthielten oder die gewohnten literarischen Formen verlassen haben.Ich erinnere mich an den Jugendroman "Tschick". Der wird schon viel früher gelesen, in der achten Klasse. Aber was lernt man da? Wie man Autos klaut. Wie man raucht. Wie man betrunken in die Schule geht … Da frage ich mich schon: Was nimmt man von so einem Buch mit, wenn man 13 Jahre alt ist? +(Lacht) Ich finde, "Tschick" lässt auch andere Schlüsse zu. Die Hauptfigur outet sich gegenüber seinem besten Freund als homosexuell. Dass er dort keine Ablehnung erfährt, sondern die Freundschaft wächst, ist eine wunderbare Geschichte für Toleranz, also im Grunde doch auch für die Werte der Aufklärung. Warum also nicht anhand eines Textes, der der Lebensrealität vieler Jugendlicher viel näher ist als beispielsweise "Faust". Wir können nicht mit Sicherheit sagen, welches Wissen und welche Fähigkeiten für unsere Schülerinnen und Schüler später relevant sein werden. Man kann nur prognostizieren, was im Leben einmal hilfreich sein kann. +"Exit Racism" statt "Faust", Frank Ocean statt Beethoven? Mit diesemFragebogenstellen wir bei Instagram gerade einenalternativen Bildungskanon zusammen +Wissen über denKlimawandeldürfte auch später für uns relevant sein. +Ja, der betrifft alle jungen Menschen. Und spätestens seit den Fridays-for-Future-Demonstrationen müsste auch allen Schulen klar sein, dass sich viele junge Menschen damit auseinandersetzen möchten.Sie politisieren sich und lernen, ihre Interessen in der Gesellschaft zu formulieren.Das finde ich toll! Auf Klimawissen können sich alle einigen, denke ich. +Okay, dann gehört das in den Bildungskanon. Aber muss man den Klimawandel unbedingt im Fach Deutsch behandeln? Oder nicht eher in Politik, Geschichte oder Ethik? Ich weiß, was ich später sicher brauchen werde: Sprache. Und die vermittelt doch die Literatur. Viele kritisieren, "Faust" oder "Faust II" seien zu schwer, zu unverständlich. Aber das ist doch eine wichtige Fähigkeit im Leben: dass man sich mit komplexen Themen und komplexer Sprache auseinandersetzen kann. Übrigens lässt sich auch im "Faust" ganz viel aus der heutigen Zeit entdecken. Die Figur Faust hat alles, weiß alles. Aber sie will immer mehr. Das erinnert mich an die heutigeKonsumgesellschaft: Wir alle wollen mehr, wir alle wollen besser sein. Es kommt darauf an, dass Schüler da auch frei interpretieren dürfen. Es darf kein Richtig oder Falsch geben. +Dein Argument finde ich spannend. "Faust" kann man tatsächlich in ganz verschiedenen gesellschaftlichen oder politischen Kontexten lesen. Vielleicht sogar, dass im "Faust" schon der deutsche "Weltmachtsanspruch" angelegt ist. Du hast im "Faust" die kapitalistische Konsumgesellschaft entdeckt, andere sehen das nicht. Da sind wir wieder bei der Frage, wer einen Kanon vorgibt und welche gesellschaftlichen Milieus dabei nicht berücksichtigt oder sogar ausgeschlossen werden. Dann besser gleich auf einen Kanon verzichten, der nur exklusiv sein kann. +Ich habe das nicht so wahrgenommen, dass sich jemand wegen der Auswahl der Literatur ausgeschlossen gefühlt hat. Was aber stimmt: Nicht alle können was mit Goethe oder Schiller anfangen, manche haben die Bücher ja nicht mal gelesen. Auch nicht im Leistungskurs Deutsch. + +Collage: Renke Brandt diff --git a/fluter/streit-ist-monsanto-boese.txt b/fluter/streit-ist-monsanto-boese.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d46631ba338308596c7b74c2eb5d482713caa79a --- /dev/null +++ b/fluter/streit-ist-monsanto-boese.txt @@ -0,0 +1,36 @@ + + +Das Unternehmen Monsanto verspricht die Rettung der Hungernden und des Klimas. Was das Saatgut-Schwergewicht macht, verhindert aber genau das, findet Susanne Schwarz +Vorwarnung: Diesen Text muss – nein, soll – nicht jeder lesen. Wer es zum Beispiel nicht weiter schlimm fand, dass manche Unternehmen ihren Mitarbeitern Löhne von nur gut drei Euro die Stunde gezahlt haben, bevor es den gesetzlichen Mindestlohn gab, der klappt den Notebook-Deckel lieber gleich runter. Dieser Text geht nämlich davon aus,dass Unternehmen soziale und ökologische Verantwortung haben. +Auch der berüchtigte US-amerikanische Gentechnik-Saatgut-Pflanzengift-Bösewicht Monsanto, den sich das deutsche Chemieunternehmen Bayer gerade – vorbehaltlich der Zustimmung der Monsanto-Aktionäre und der zuständigen Kartellbehörden – für 66 Milliarden US-Dollar ins Haus geholt hat, müsste sich seiner Verantwortung stellen – tut es aber nicht. +Halten wir fest: Monsanto hält sich natürlich brav an die Rechtslage, die von Land zu Land unterschiedlich ist. In Deutschland etwa verkauft das Unternehmen keine genmanipulierten Samen, denn deren Anbau ist hier bisher verboten. +Auf den ersten Blick erscheint Monsanto auch gar nicht so böse. Der Konzern wirbt damit, den Welthunger besiegen zu wollen, auch in Zeiten des menschengemachten Klimawandels. Es gehe darum, Pflanzen durch Gentechnik so zu manipulieren, dass sie unter extremen Wetterbedingungen überleben und mehr Erträge abwerfen. +Doch selbst wenn man alle denkbaren Risiken von grüner Gentechnik mal außen vor lässt und auf deren innovative Kraft hofft, so ist Monsanto meines Erachtens nur an Profit orientiert – und bremst durch seine Gier die eigentlich notwendige sozial-ökologische Revolution der Landwirtschaft aus. +Indiz A: Mitnichten verkauft der Konzern nur Saatgut, das ganz einfach zu üppigen Pflanzen heranwächst, dem Wassermangel, der Hitze, den Stürmen zum Trotz. Einen beträchtlichen Teil des Geschäfts machen Samen aus, die vor allem gegen das hauseigene Pflanzengift resistent sind. Roundup heißt das Mittel. Hauptwirkstoff istdas umstrittene, möglicherweise krebserregende Glyphosat. Seit Monsantos Patente darauf ausgelaufen sind, verkaufen auch andere Hersteller das Totalherbizid. Kaum jemand hat daraus aber ein so ausgefeiltes Geschäftsmodell gemacht wie Monsanto. +Passend zu Roundup sollen die Bauern gleich das genmanipulierte Saatgut kaufen, das Monsanto praktischerweise als Roundup Ready anbietet. Wird das Gift versprüht, sterben durch die Chemiekeule alle bis auf die aus der genveränderten Saat gezogenen resistenten Pflanzen – etwa sogenannte Unkräuter, die dem gewünschten Soja oder Mais Nährstoffe entziehen könnten. Und fertig ist die Monokultur. +Wäre ich Monsantos Pressesprecherin, würde ich jetzt wahrscheinlich argumentieren,dass die gesamte konventionelle Landwirtschaft sowieso auf Monokulturen hinausläuft. Ohne Roundup würde man halt pflügen und dadurch ebenfalls so gut wie alles Unkraut auf dem Acker platt- und der Artenvielfalt den Garaus machen. Obendreinentweicht aus stark gepflügtem Boden haufenweise CO2 und auch Lachgas, ein Treibhausgas, das etwa 300-mal so klimaschädlich wie Kohlendioxid ist. +Aber es ist ja nicht so, als hätten wir nur Übel zur Wahl, von denen das geringere eine Gifttinktur in Kombination mit Gengemüse ist. Die wahre Alternative ist für mich der Ökolandbau und alles, was ihn voranbringt. Wenn überhaupt Genmanipulation, dann doch bitte so, dass Pflanzen dabei herauskommen, die ohne Stickstoffdünger, Pflanzengift und Co. auskommen und bei denen negative Wirkungen auf das Ökosystem ausgeschlossen sind.Wohlgemerkt ist Letzteres Zukunftsmusik, von der noch keiner weiß, ob wir sie jemals wirklich hören werden. Bisher bringt Monsanto trotz Weltretter-Inszenierung auf jeden Fall nicht die grüne Erlösung. +Indiz B: Bei Monsanto ist der Kunde bestenfalls ein geknebelter König. DerKonzern verstrickt die Landwirte in komplexe Vertragswerke. Diese enthalten beispielsweise die Pflicht, Monsanto nach dem Kauf der Samen auch noch Lizenzgebühren auf die Ernte zu zahlen – aber als Saatgut fürs nächste Jahr dürfen die Bauern sie trotzdem nicht verwenden. Dieses Konstrukt drängt sie in eine enorme Abhängigkeit und ist zudem ein teures Missvergnügen. Jedes Jahr müssen die Landwirte zwangsläufig neues Saatgut kaufen. Für finanzstarke US-amerikanische Farmer mag das in Ordnung sein, für viele afrikanische oder asiatische Kleinbauern sieht so die Spirale ins Unglück aus. +Damit Bauern sich dem nicht heimlich widersetzen, beschäftigt Monsanto Privatdetektive und Anwälte. Die einen schnüffeln auf Höfen und Feldern herum und verlangen Einsicht in Geschäftsunterlagen. Die anderen schicken bei Auffälligkeiten die Klage hinterher. Die Maschinerie läuft sogar auf den Nachbarfeldern von Monsanto-Kunden. Es sind Fälle bekannt, in denen Monsanto gegen Bauern vorging, auf deren Ackerflächen sich Monsanto-Pflanzen wahrscheinlich durch Wind verbreitet hatten – vollkommen absurd. +Fazit: Klar ist es Aufgabe der Parlamente dieser Welt, solch gemeingefährlichem Blödsinn durch Gesetze Einhalt zu gebieten, einen gerechten Welthandel aufzubauen, die sozial-ökologische Revolution anzuleiern. Wie wäre es zum Beispiel, wenn Forschung an grüner Gentechnik ausschließlich in öffentlicher Hand abliefe – ohne Patente auf Lebewesen, ohne Spekulation? Was Monsanto macht, darf man zurzeit so machen. Es ist halt nur kacke. + + +Susanne Schwarz lebt in Berlin und arbeitet als freie Journalistin im KJB KlimaJournalistenBüro (u.a. klimaretter.info). Die Mitbewohnerin einer Pflanzenbiologin hat ihre radikale Gegnerschaft gegenüber grüner Gentechnik mittlerweile zugunsten einer ausgeprägten Skepsis aufgegeben. Was die Spatzen von den Dächern brüllen, ist vielleicht nicht immer richtig – im Falle von Monsanto trifft es die kollektive Erzählung vom ausbeuterischen Bösewicht ihrer Meinung nach aber ziemlich gut. + +Aber wer das auszusprechen wagt, gerät schnell in Verdacht, ein von der Gen-Lobby geschmierter Opportunist zu sein. Oder ein Hardcore-Zyniker. Viel zu pauschal, meint Andreas Resch +Wer wissen möchte, wie desaströs es um das Image von Monsanto bestellt ist, dem sei eine kurze Netzrecherche ans Herz gelegt. So kursieren seit einiger Zeit die wildesten Gerüchte, Monsanto sei in irgendwelchen Geheimlabors gerade dabei, transgenes Cannabis zu züchten. Und auf der eigenen Website sieht sich das Unternehmen dazu genötigt, darauf hinzuweisen, dass eskeinenZusammenhang zwischen seinen Produkten und dem Zika-Virus gibt. Offenbar gibt es Menschen, die Monsanto alles zutrauen. +Ihre Logik ist simpel: Ein so dominanter Konzern, der Bauern in Drittweltländern die Konditionen beim Kauf von Saatgut quasi diktieren kann und der ihnen dann das passende (potenziell schädliche) Pflanzenschutzmittel gleich mitverkauft; ein Konzern, der sich sein durch "Genetic Engineering" gewonnenes Saatgut patentieren lässt und der darüber hinaus in seiner Geschichte in dermaßen viele Skandale (Stichwort: Agent Orange) verwickelt gewesen ist, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll – der kann doch nur böse sein! Aber ganz so einfach ist es dann eben doch nicht. +Zunächst einmal: Wenn man sich, wie ich, weigert, Monsanto als "böse" zu bezeichnen, heißt das im Gegenschluss nicht, dass Monsanto stattdessen "gut" wäre. Unternehmen sind nämlich selten einfach nur gut oder böse – außer vielleicht, sie begehen systematische und gezielt vertuschte Verstöße gegen geltendes Gesetz, in die eine Vielzahl von Mitarbeitern auf unterschiedlichen Hierarchieebenen verwickelt sind. Hierfür jedoch, so lehrt uns die jüngere Geschichte, sind andere Unternehmen zuständig (Stichwort: Abgasskandal). +Monsanto hingegen versucht lediglich, innerhalb geltenden Rechts ein Maximum an Profit zu erzielen. Dass diese Profitmaximierung partiell anhand von in der Öffentlichkeit scharf kritisierten Methoden geschieht – wie etwa jener, Landwirte dazu zu verpflichten, Saatgut Jahr für Jahr aufs Neue von Monsanto zu erwerben, anstatt es aus der eigenen Ernte zu gewinnen –, ist nur bei oberflächlicher Betrachtung unmoralisch. Schließlich gibt, wie Niklas Luhmann schreibt, "die Gewährleistung des Ausgeben-Könnens eine abstrakte, in ‚Warenform' allein gar nicht mögliche Zukunftssicherheit". Mit anderen Worten: Natürlich wäre es den Bauern lieber, nicht immer wieder für ihr Saatgut bezahlen zu müssen. Gleichzeitig profitieren sie anscheinend dann aber in den meisten Fällen doch so sehr von der von Monsanto gewährleisteten Erntestabilität, dass sie sich auf diesen Deal einlassen. +Sicherlich gibt es auch Grenzfälle. Wenn beispielsweise, wie 2003 geschehen,Monsanto mit afrikanischen Staaten wie Burkina Faso Verträge über die Abnahme von gentechnisch modifiziertem Baumwoll-Saatgut abschließt, denen sich auch die Kleinbauern des Landes fügen müssen, ist das, gelinde gesagt, unglücklich. Andererseits stellt sich in diesem Zusammenhang schon auch die Frage, warum sich die Regierung von Burkina Faso überhaupt auf den Deal eingelassen hat. Und außerdem, auch wenn das jetzt vielleicht zynisch klingen mag: So funktioniert Wirtschaft. +Und dass Monsanto ein überaus erfolgreich operierendes Wirtschaftsunternehmen ist, äußert sich schon im Aktienkurs: Ein Anleger, der im Jahr 2003, also zum Amtsantritt des aktuellen Chefs Hugh Grant (kein Witz), 100 Euro in Monsanto investiert hätte, würde heute Aktien im Wert von mehr als 1.000 Euro halten. Eine Verzehnfachung also. Natürlich spiegelt in den Augen der Monsanto-Gegner gerade dieser ökonomische Erfolg ein zutiefst skrupelloses Verhalten am Markt wider. +Anderen Konzernen, denen es über die Jahre gelungen ist, ein deutlich besseres Image zu pflegen, verzeiht man ihren wirtschaftlichen Erfolg hingegen bereitwillig. Wer will auch schon auf sein iPhone verzichten, nur weil es Apple einigermaßen wurscht ist, obZulieferer wie Foxconn oder Pegatron ihre Mitarbeiter ausbeuten? Wer möchte den praktischen Nutzen kostenfreier Internetdienste wie Google oderFacebookmissen, bloß weil man weiß, dass die dahinterstehenden Konzerne dabei sind, eine gläserne Gesellschaft zu errichten? +Wer Monsanto verteufelt, der möge doch bitte, um nicht vollends in Bigotterie zu verfallen, auch davon absehen, an Tankstellen von BP oder Esso zu tanken, der sollte kein Fahrzeug aus dem Volkswagen-Konzern ("Dieselgate") fahren und aufgrund der schlimmen Arbeitsbedingungen weder bei Amazon bestellen nochin Bangladesch hergestellte Kleidung von H&Mtragen. +Monsanto-Gegner führen gerne ins Feld, die gentechnische Veränderung von Saatgut sei unethisch, gefährlich oder zumindest in ihren Folgen unkalkulierbar. Doch unabhängig davon, ob dem nun so ist oder nicht: Kann man hierfür tatsächlich Monsanto einen Vorwurf machen? Schließlich obliegt es Staaten (beziehungsweise Staatengemeinschaften wie der EU), bestimmte Technologien zu erlauben oder eben nicht. +Zugleich verfügen Staaten über Zulassungsbehörden – in Deutschland etwa das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL), das mit den Bewertungsbehörden Bundesinstitut für Risikobewertung, Julius Kühn-Institut und Umweltbundesamt zusammenarbeitet , die nach (hoffentlich) sorgfältiger Prüfung darüber entscheiden, ob ein Pflanzenschutzmittel zugelassen werden darf oder nicht. Und wenn die EU-Lebensmittelsicherheits-Behörde EFSA dieZulassung von glyphosathaltigen Unkrautvernichtern trotz unter anderem von einer Teilbehörde der WHO in den Raum gestellten Krebsverdachts verlängertund Monsanto mit seinem Unkrautvernichtungsmittel Roundup davon profitiert: Äußert sich hierin nicht vielmehr ein Versagen der durch Lobbyismus zersetzten Behörden als ein tatsächliches Fehlverhalten Monsantos? +Last, but not least lässt sich zwar trefflich über Gentechnologie streiten, doch führt sie im Fall von Monsanto beispielsweise auch dazu, dass genmodifiziertes Saatgut des Unternehmens mit deutlich weniger Wasser gedeihen kann als gentechnisch unverändertes. Und Wasser gilt nun einmal als die Ressource der Zukunft. In Zeiten des Klimawandels, in dessen Folge es vermutlich zu immer weiter wachsenden Dürreregionen, gerade in Afrika, kommen wird, könnte dies im Kampf gegen den Hunger ein nicht zu unterschätzender Faktor sein. Zudem lässt genetische Modifikation die Verwendung von Insektengift bei bestimmten Pflanzen, etwa Baumwolle, weitgehend überflüssig werden – weil die Pflanze selbst jenes Schädlingsgift produziert, das ihr zuvor mühevoll aufgesprüht werden musste. Darüber hinaus hat es sich Monsanto im "Sustainability Report 2015" unter anderem zum Ziel gesetzt, die jährlichen Treibhausgas-Emissionen bis 2020 um 22 Prozent zu senken (Vergleichsjahr: 2010). +Insofern: Nein, Monsanto ist nicht böse, sondern ein ziemlich normales global operierendes Unternehmen mit zugegebenermaßen unrühmlicher Vergangenheit und einem verheerenden Image. Doch damit muss sich vermutlich bald Bayer herumschlagen. + + +Andreas Resch, der in Berlin als Drehbuchautor und Journalist arbeitet, hielt selbst lange am Bild des ach so bösen Monsanto-Konzerns fest. Den Job, das Unternehmen an dieser Stelle zu verteidigen, übernahm er eigentlich aus einer sophistischen Anwandlung heraus. Nach kurzer, intensiver Recherche kristallisierte sich für ihn jedoch heraus: Das Vorurteil gegenüber Monsanto resultiert – wie so oft – aus diffusem Halbwissen und äußerem Meinungsdruck. Monsanto-Aktien würde sich Andreas dennoch nie kaufen. + diff --git a/fluter/streit-parteiverbot-ja-oder-nein.txt b/fluter/streit-parteiverbot-ja-oder-nein.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..54578b431b337f486e61c3609625a13902d92779 --- /dev/null +++ b/fluter/streit-parteiverbot-ja-oder-nein.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Die Hoffnung derer, die ein Verbotsverfahren fordern, ist, dass damit sogar schon vor seiner Durchsetzung Wähler:innen abgeschreckt werden könnten. Doch diese Hoffnung ist trügerisch. DennRechtspopulistensetzen schon lange auf ein bewährtes Erfolgsrezept: Hier das wütende Volk, dort die Verschwörung mächtiger Eliten. Mit diesem Trick inszenieren sie sich als einzig wahre Vertreter:innen eines angeblichen Wählerwillens. Und alles, was nicht in dieses Muster passt, wird als Gegenkampagne abgetan. Es wäre also ein Leichtes für sie, ein Parteiverbotsverfahren zu instrumentalisieren, um sich als wahre Demokrat:innen im Kampf mit einem autoritären Rechtsstaat darzustellen – so wie Trump aktuell in den USA. Weil ein Parteiverbotsverfahren mehrere Jahre dauern kann, hätten sie dafür jede Menge Zeit und könnten diese Strategie im Wahlkampf einsetzen. Allein das Verbotsverfahren könnte ihnen also mehr Unterstützer bringen. +Außerdem ist der Ausgang eines Verbotsverfahrens ungewiss – und damit hochriskant: Verfassungsfeindliche Forderungen reichen bei weitem nicht aus, um eine Partei zu verbieten. Es braucht auch eine "aktiv kämpferische, aggressive Haltung", planvolles Handeln, das sich auf dieBeseitigung der demokratischen Grundordnung richtet, und Anhaltspunkte, die das Vorhaben möglich scheinen lassen. Ob diese Kriterien im Einzelfall nachgewiesen werden können, ist unklar – bei derNPDkonnten keine realen Durchsetzungsmöglichkeiten festgestellt werden. Das Verbotsverfahren 2017scheiterte(wie auch schon 2003). Selbst wenn das Bundesverfassungsgericht tatsächlich für ein Verbot entscheiden würde, was bisher erst zwei Mal vorgekommen ist, könnte es immer noch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg angefochten werden. Was dagegen sicher ist: Scheitert das Verbot, dann würden sich Demokratiefeinde in ihren Ansichten bestärkt sehen. Schlimmer noch: Sie könnten das Urteil sogar für sich nutzen und sich das Label "verfassungskonform" auf die Fahne schreiben. +Und angenommen, ein Verbotsverfahren hätte Erfolg – was wäre dann für die Demokratie gewonnen? Man müsste befürchten, dass sich Anhänger und Funktionäre demokratiefeindlicher Parteien weiter radikalisieren oder sogar in den Untergrund gehen – rechtsextreme Einstellungen lösen sich ja nicht durch ein Parteiverbot in Luft auf. Wie gefährlich rechtsextremer Terror ist, haben die Morde in Hanau oder der Fall Walter Lübcke gezeigt. +Und außerdem: Es gibt andere wirksame Mittel, mit denen wir gegen die Verfassungsfeinde vorgehen können. Gegen wachsende demokratiefeindliche Einstellungen brauchen wir eine stärkere demokratische Kultur von unten: gute politische Bildung, demokratische Beteiligung an Schulen und am Arbeitsplatz, staatliches Geld für zivilgesellschaftliche Demokratieprojekte und ein besserer Schutz für Demokrat:innen, die sich in den Kommunen und Stadtparlamenten engagieren. Hassrede in den sozialen Medien oder gewalttätige Übergriffe auf marginalisierte Gruppen können und müssen verfolgt werden – das Strafrecht bietet dafür schon jetzt die Möglichkeit und muss konsequent angewendet werden. Zu guter Letzt noch: Solange Politiker:innen aus demokratischen Parteien nicht mit rechtsextremen Parteien zusammenarbeiten oder ihre Positionen übernehmen, kann die Macht der Demokratiefeinde beschränkt werden  – selbst wenn sie bei Wahlen stärkste Kraft werden. + +Valentin Ihßen promoviert im Fach Soziologie an der Universität in Lüneburg und schreibt für unterschiedliche Magazine. Statt politischer Sonntagsreden für die Demokratie wünscht er sich echte Unterstützung für eine lebendige Zivilgesellschaft. +meint Ralf Pauli +Ein Parteiverbot ist immer dann eine heikle Forderung, wenn die Partei, die verboten werden soll, gerade von Wahlerfolg zu Wahlerfolg stürmt. Wenn derzeit also Politiker von CDU, SPD oder Grünen verlangen, ein Verbotsverfahren gegen die AfD zu prüfen, riecht das nach frustrierten Konkurrenten. Es wirkt hilflos, opportun, mitunter panisch. Das heißt aber nicht, dass die Forderung deshalb automatisch falsch ist. +Das Grundgesetz erlaubt den Ausschluss von Parteien aus gutem Grund. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren sich die demokratischen Kräfte sicher gewesen, die Nationalsozialisten mit einer Regierungsbeteiligung einhegen, bändigen, mäßigen zu können. Ein fataler Irrtum. Die Demokratiefeinde haben die Demokratie gekapert – um sie von innen heraus zu untergraben. Deshalb hielten die Gründungsmütter und -väter der BRD als Konsequenz aus dem Aufstieg der NSDAP und dem Zweiten Weltkrieg das Parteiverbot in der Verfassung fest. Unsere Demokratie muss sich gegen ihre Feinde zur Wehr setzen können. +Zwei Argumente werden häufig gegen das Parteiverbot angeführt. Erstens: Wer eine radikale Partei verbietet, bekämpfe nur die Symptome. Die radikalen Ideen und Einstellungen in der Bevölkerung würden dadurch nicht verschwinden, eine Dämonisierung könnte sogar das Gegenteil bewirken. So gegen ein Verbot zu argumentieren ist allerdings, als würde man sich gegen die Aufstellung eines Tempo-30-Schildes in einer gefährlichen Straße wehren, weil man befürchtet, viele Autofahrer könnten die Notwendigkeit der Maßnahme bezweifeln und aus Wut über die Beschränkung gerade extra schnell fahren. Ob es jetzt um den Schutz von Fußgängern oder die Grundrechte von Minderheiten, Journalisten oder politischen Gegnern geht: Verbote sind nicht vorrangig dafür da, um uneinsichtige Menschen zur Einsicht zu bringen – sondern um rote Linien zu ziehen. Die Zufriedenheit mit den demokratischen Institutionen kann der Staat weder einfordern noch erzwingen. Werden sie aber angegriffen, muss er sie verteidigen. Notfalls, indem er eine Partei stoppt, die die Unzufriedenen mit antidemokratischen Verheißungen blendet und lockt. +Das zweite Gegenargument ist da schon stichhaltiger: Was, wenn das Verbotsverfahren scheitert, hätte die geprüfte Partei dann nicht die höchste amtliche Bestätigung, nie verfassungsfeindlich gewesen zu sein? Diese Gefahr besteht natürlich. Allerdings ist auch dies kein Grund gegen ein Verbotsverfahren: Selbst ein "Freispruch" kann dazu führen, dass der Partei die staatliche Finanzierung gestrichen wird, wie beim jüngsten Verfahren gegen die rechtsradikale Partei NPD. Denn generell finanziert der deutsche Staat die relevanten, also im Bundestag vertretenen Parteien großzügig. Warum sollte er das tun bei Parteien, die sich erwiesenermaßen an unseren Grundwerten Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaat vergreifen möchten und somit seinen eigenen Untergang fördern? +Ohne finanzielle Mittel würde es der Partei viel schwerer fallen, sich zu vernetzen, Veranstaltungen zu organisieren, Wahlkampf zu machen. Außerdem kann ein Parteiverbotsverfahren mitunter Jahre dauern, und es bleibt offen, was für Informationen über die Partei ans Licht kommen und welche Wirkung das langfristig auf die Wählerinnen und Wähler hat. Obwohl die NPD letztlichnicht verbotenwurde, zeigt sich inUmfragen, dass die Zustimmung während des zweiten Verbotsverfahrens gesunken ist. + +Ralf Pauli, 41, ist Redakteur bei der "taz". Von zu vielen Verboten hält er wenig. Beim Schutz von Minderheiten und vor Demokratiefeinden ist er aber für klare Grenzen. + + + + + + +Collagen: Renke Brandt diff --git a/fluter/streit-rap-john-known-portraet.txt b/fluter/streit-rap-john-known-portraet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/streit-sollten-kurzstreckenfluege-verboten-werden.txt b/fluter/streit-sollten-kurzstreckenfluege-verboten-werden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a0861e0edecc8fd94f19d8b40a655c1055a41668 --- /dev/null +++ b/fluter/streit-sollten-kurzstreckenfluege-verboten-werden.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Eine von der Umweltschutzorganisation Greenpeace in Auftrag gegebeneStudiehat dazu gerade wieder Daten zusammengetragen. Demnach sind Flüge mit einer Distanz von unter 1.500 Kilometern (laut Eurocontrol als Kurzstrecke definiert) für ein Viertel der CO2-Emissionen aus dem EU-Flugverkehr verantwortlich. Die Zahlen belegen auch: Die Reisenden müssen dringend vom Flugzeug auf die Schiene umsteigen. Und es liegt an der Politik, dafür eine gesetzliche Grundlage zu schaffen. Denn ein Flugzeug im Inlandsbetrieb emittiert 214 Gramm klimaschädliche Treibhausgase pro Personenkilometer. Ein Pkw immerhin noch 154 Gramm – ein Fernverkehrszug oder ein Fernbus hingegen nur 29 Gramm. +Der niedrige Preis, ein Lieblingsargument pro Kurzstreckenflüge und contra Bahn, ist eine Mogelpackung. Denn die wahren Kosten haben schon immer andere getragen: die Mehrheit, die mit Steuergeldern unrentable Regionalflughäfen und reduzierte Steuersätze unter anderem für Kerosin subventioniert hat – und die Folgen des Klimakollapses bezahlen wird, zu dem die Kurzstreckenflüge beitragen. +Deutsche Flugunternehmen sind für ein Drittel der 150 meistgenutzten Kurzflugstrecken innerhalb der EU verantwortlich. Laut Statistischem Bundesamt ging jeder zweite Flug von und nach Deutschland in den Jahren 2019 und 2020 über eine Distanz von maximal 1.000 Kilometern. 30 Prozent waren Inlandsflüge. Das kann man bei Ländern wie Kolumbien verstehen, wo manche Regionen nur per Flugzeug zu erreichen sind – nicht aber in einem reichen, deutlich kleineren Industrieland ohne Anden als natürliche Barriere. +Derzeit lassen sich laut Greenpeace nur ein Drittel der 150 wichtigsten Strecken innerhalb der EU durch Zugreisen von unter sechs Stunden ersetzen. Da ist das Flugzeug selbst mit Anfahrt zum Flughafen und Warten schneller. +Ich träume von einer Welt, in der Geschäftsreisende mit stabilem Internet im Zug arbeiten können, wo UrlauberInnen genug Platz für ihre Koffer haben, Züge pünktlich sind – und alle bessere Verbindungen zu erschwinglichen Preisen bekommen. Ohne subventionsgestützte Kurzfliegerkonkurrenz steigt die Rentabilität der Bahn. Eingestellte Nachtzuglinien könnten sich wieder lohnen – und ohne Hotelübernachtung morgendliche Arbeitstreffen ermöglichen. Der für Inlandsflüge so beliebte Flughafen München bekommt den lang gewünschten Fernbahnhof statt Bummel-S-Bahn. Und mit deutschlandweit mehr Nonstop-Verbindungen nach dem Vorbild des französischen TGV, auf denen ICEs mit 300 Stundenkilometern übers Land fahren, würde das Zugfahren auf einigen Strecken sogar schneller als das Fliegen. + +Katharina Wojczenko ist als freie Journalistin vor allem in Kolumbien unterwegs – dort gibt es oft wirklich keine Alternative zu Inlandsflügen. + +sagt Ralf Pauli +Die Debatte über das Verbot von Kurzstreckenflügen ist spätestens seit dem Bundestagswahlkampf 2021 kaum noch aus der Öffentlichkeit wegzudenken. Eine Grundidee, die man auf den ersten Blick gutheißen mag: Je weniger Menschen fliegen, desto besser fürs Klima. Noch dazu, wenn bei kürzeren Strecken mit der Bahn eine bequemere, sauberere und manchmal sogar gleich schnelle Alternative existiert. 1,6 Millionen Tonnen CO2 ließen sich im Jahr durch ein Verbot von Flügen einsparen, deren Ziele auch mit der Bahn innerhalb von vier Stunden erreicht werden können, rechneten Umweltverbände vor. +Klingt gut – und trotzdem wäre ein Verbot von Kurzstreckenflügen falsch. Zum einen, weil die Alternative leider den Namen oft nicht verdient. Es stimmt, dass zuletzt die Hälfte aller Passagierflüge, die auf Deutschlands Hauptverkehrsflughäfen starteten oder landeten, nicht weiter als 1.000 Kilometer geflogen sind. Doch nur jeder siebte davon war auch ein Inlandsflug, die große Mehrheit startete oder landete im Ausland. Nicht überall kommt man mit der Bahn so schnell und direkt hin wie nach Amsterdam oder Prag. Wer regelmäßig mit der Bahn ins Ausland reist, weiß, dass einem die Liebe zum Klima beträchtlich mehr Zeit – und oft auch Geld – abverlangt. +Auch in Deutschland ist die Taktung der Züge für viele Strecken zu selten und zu unzuverlässig – was bei Dienstreisen oder Anschlussflügen ins Ausland oft auf nervige und teure Übernachtungsstopps hinausläuft. Zudem ist Bahnfahren teuer. Vermutlich würden nur wenige Flugreisende auf die Schiene, viele aber aufs Auto umsteigen. Damit wäre dem Klima kaum geholfen. Statt eines Flugverbotes bräuchte es einen ernsthaften Ausbau des ICE-Netzes zu genuinen Hochgeschwindigkeitsstrecken wie beim französischen TGV. Die Fahrtzeiten zwischen Frankfurt und Berlin oder Hamburg und München könnten sich fast halbieren, wenn der ICE durchgängig 300 bretterte. So würde er zur echten Alternative. +Das Hauptargument gegen ein Verbot von Kurzstreckenflügen ist aber dessen mickrige Wirkung. Selbst im bestmöglichen – und unwahrscheinlichen – Fall, dass alle rein innerdeutschen Fluggäste auf die Bahn umsteigen, spart das gerade mal rund 0,7 Millionen Tonnen CO2. Zum Vergleich: Der Straßenverkehr in Deutschland ist für 158 Millionen Tonnen an CO2-Ausstoß verantwortlich.Zumal Flugzeugbauer schon längst an klimaneutralen Alternativen zum Kerosin arbeiten.2035 möchte Airbus das erste wasserstoffbetriebene kleine Kurzstreckenflugzeug auf den Markt bringen. Es ist schlauer, die Branche mit den richtigen Anreizen – Stichwort Kerosinsteuer! – zum Umstieg zu bewegen und in der Zwischenzeit dort CO2 zu sparen, wo es sinnvoll und einfach umzusetzen ist. Zum Beispiel beim Tempolimit 130 auf Autobahnen. Damit allein würde man dreimal so viel CO2 wie bei einem Verbot von Inlandsflügen einsparen – und zudem viele tödliche Unfällevermeiden. + +Ralf Pauli ist Redakteur bei der Berliner Tageszeitung "taz" aus Berlin, passionierter Bahnfahrer – und seit Jahren nicht mehr geflogen. + + + +Collagen: Renke Brandt diff --git a/fluter/streit-um-avenidas-gedicht-gomringer.txt b/fluter/streit-um-avenidas-gedicht-gomringer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c14cb94b33b55eac38c4a4ffc7a7e39364332de2 --- /dev/null +++ b/fluter/streit-um-avenidas-gedicht-gomringer.txt @@ -0,0 +1,31 @@ +Höchste Zeit also jemanden vom Fach zu fragen. Professor Dr. Elisabeth Paefgen lehrt an der Freien Universität Berlin seit 2003 Didaktik der deutschen Sprache und Literatur. Wie interpretiert sie das Gedicht – und wie den Streit, der darum entbrannt ist? + +Fluter.de: Sechs Jahre lang war auf der Fassade der Alice Salomon Hochschule zu lesen: avenidas/avenidas y flores/flores/flores y mujeres/avenidas/avenidas y mujeres/avenidas y flores y mujeres y/un admirador. Auf Deutsch: Alleen/Alleen und Blumen/Blumen/Blumen und Frauen/Alleen /Alleen und Frauen/Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer. Finden Sie "avenidas" diskriminierend? +Elisabeth Paefgen: Keinesfalls. Es ist schon seit den 1960er Jahren im Deutschunterricht thematisiert worden, auch in der Grundschule. Ich mochte das Gedicht schon immer. Diskriminierung habe ich da nie herausgelesen. +Einige Studierende der Alice Salomon Hochschule schon. Ihnen zufolge reproduziert das Gedicht "nicht nur eine klassische patriarchale Kunsttradition, in der Frauen* ausschließlich die schönen Musen sind, die männliche Künstler zu kreativen Taten inspirieren", sondern erinnere "zudem unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen* alltäglich ausgesetzt sind." +Das Schöne an "avenidas" ist doch seine Offenheit. Dadurch, dass es keine Verben enthält, sondern nur Substantive, lässt es Raum für Deutung. +In der Lesart der Studierenden wird die Frau bei Gomringer zum Objekt herabgewürdigt. Alleen, Blumen, Frauen würden allesamt nur dazu dienen, dem männlichen Beobachter zu gefallen. +Das steht da so nicht. Alles, was Gomringer tut, ist vier Substantive aneinanderzureihen. Es steht jedem frei, dies zu deuten. +Besonders am Wort "Bewunderer" haben sich viele gestoßen. +Bewunderung ist doch etwas Schönes. Sie tut niemandem weh, sie verletzt nicht. Ich kann darin nichts Falsches sehen. +Gomringer gilt als Begründer der Konkreten Poesie, auch "avenidas" gehört zu dieser Gattung. Was zeichnet sie aus? +Konkrete Poesie orientiert sich sehr stark an Sprache, nicht am Inhalt. In wenigen Worten wird eine Welt entworfen. Gleichzeitig muss man auch den historischen Kontext sehen. Geschrieben wurde es 1951, veröffentlicht zwei Jahre später. Sicher war es eine Reaktion auf den Missbrauch von Sprache in den 1930er- und 1940er-Jahren. +Der historische Bezug ging in der Debatte vollkommen unter… +Das muss ja auch nicht sein, "avenidas" kann auch für sich alleinstehen. Ein Gedicht, das bleiben wird, ganz im Gegensatz zu jenem von Barbara Köhler. +Lassen Sie uns über dieses namenlose Gedicht sprechen. Es lautet: +SIE BEWUNDERN SIE/BEZWEIFELN SIE ENTSCHEIDEN:/SIE WIRD ODER WERDEN GROSS/ODER KLEIN GESCHRIEBEN SO/STEHEN SIE VOR IHNEN IN IHRER SPRACHE/WÜNSCHEN SIE IHNEN/BON DIA GOOD LUCK +Was lesen Sie da heraus? +Köhler bleibt unentschieden. Sie will es allen rechtmachen, den gekränkten Studierenden, dem Urheber des Originalgedichts, denjenigen, die jetzt "Zensur" rufen. Was für eine Botschaft soll das sein? Kunst ist nicht für Kompromisse zuständig und auch nicht für politische Korrektheit. +Wie erklären Sie sich das katalanische BON DIA und das englische GOOD LUCK? +Das katalanische BON DIA nimmt Bezug auf die spanische Sprache des Originals. GOOD LUCK wirkt ein wenig anbiedernd. Es soll vielleicht die junge Generation ansprechen, die Englisch und Deutsch ganz selbstverständlich mischt. Vielleicht ist es auch als ein leichter, heiterer Abschluss des Gedichts zu verstehen. +Was sagen Sie zur sprachlichen Gestaltung? +Dadurch, dass man das SIE in den ersten beiden Zeilen sowohl vorwärts als auch rückwärts lesen kann, entsteht eine Unklarheit in der Bedeutung.  Die zweite und dritte Strophe sind metapoetisch, das heißt, sie nehmen Bezug auf das Dichten selbst. Damit beschäftigen sich die Studierenden der Alice Salomon Hochschule doch nicht! Gomringers Original hingegen grenzt niemanden aus. Jeder Drittklässler kann damit etwas anfangen. +Dieses Original ist in Kleinbuchstaben verfasst… +… was ganz typisch ist für Konkrete Poesie, da so jegliche Hierarchisierung der Worte vermieden wird. +Köhlers Zeilen sind dagegen nur in Großbuchstaben verfasst. +Meines Wissens nach schreibt im Moment niemand nur in Versalien, das ist ja auch nicht schön. Köhler tut das auf dieser Fassade vielleicht gerade im Unterschied zu dem Original. +Ursprünglich sollte daraus ein Palimpsest werden, also eine Überschreibung. +Einer meiner Studenten, der täglich an dem Gebäude vorbeifährt, sagte, dass nicht mehr viel zu sehen sei vom Original. Dabei mochte ich die Idee, weil die beiden Texte somit in einem Zusammenhang stehen würden. Ich frage mich sowieso, warum die gekränkten Studentinnen kein neues Gedicht geschrieben haben, anstatt das fünfundsechzig Jahre alte Original verbannen zu wollen. +In einem Deutschlandfunk-Interview antwortete Köhler auf die Frage, ob es mehr Gedichte brauche im öffentlichen Raum: "Bloß nicht!" Wie sehen Sie das? +Doch! Unbedingt! Ganz viele! Bloß Köhlers Gedicht gehört nicht dorthin, weil es voraussetzt, dass man den Diskurs kennt. Ich bin froh, dass es in fünf Jahren wieder übermalt wird. + diff --git a/fluter/streit-um-den-rundfunkbeitrag.txt b/fluter/streit-um-den-rundfunkbeitrag.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..de14d1ff61706e837142328e0ae9644cadf2d0f6 --- /dev/null +++ b/fluter/streit-um-den-rundfunkbeitrag.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Der Streit um die Rundfunkgebühren und damit um die Zukunft der öffentlich-rechtlichen Sender schwelt aber nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Deutschland – mal mehr, mal weniger. Vordergründig ist das Thema eigentlich recht simpel. Durch den Rundfunkbeitrag erhalten die öffentlich-rechtlichen Sender ein Jahresbudget von etwa acht Milliarden Euro. Damit werden die Rundfunkanstalten, also ARD, ZDF, die Dritten Programme und deren Radiosender, der Deutschlandfunk und Spartenkanäle wie arte, 3Sat, ZDFneo und andere Angebote finanziert. +Gerade dieses breite mediale Angebot ist für Kritiker ein gefundenes Fressen: So fragte zum Beispiel Jürgen Kaube, Herausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", provokativ, welchen Bildungsauftrag die Öffentlich-Rechtlichen denn mit Fußball, Musikanten, Nordseekrimis, Traumschiff, Quiz- und Kochshows erfüllen wollen. +Der Kommunikationswissenschaftler Dr. Jeffrey Wimmer von der Uni Augsburg sagt: "Sicher kann man sich fragen, ob die Landesrundfunkanstalten zusammen mehr als 24 Kochshows brauchen, aber wir können in Deutschland, was die Qualität des öffentlich-rechtlichen Rundfunks angeht, verglichen mit anderen Ländern trotzdem äußerst zufrieden sein." Hinzu kommt: Die öffentlich-rechtlichen Anstalten sollen gar nicht nur informieren. Im Rundfunkstaatsvertrag, der die Aufgabe der Sender festhält, heißt es auch, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit seinen Programmangeboten zur Information, Bildung, Beratung, Kultur und Unterhaltung einen Beitrag zur Sicherung der Meinungsvielfalt und somit zur öffentlichen Meinungsbildung leisten soll. +Um dem Musikantenstadl- und Kochshow-Argument etwas entgegenhalten zu können, versuchen sich die öffentlich-rechtlichen Sender auch immer wieder an jungen Formaten. Ein gutes Beispiel für den Versuch, mit einem frischeren Angebot im Internet Fuß zu fassen, ist "funk", das 2016 gestartete Jugendprogramm von ARD und ZDF. Es sollte junge Nutzer ansprechen, die sich immer mehr vom klassischen Fernsehen abwenden. Investiert wurden dafür 45 Millionen Euro, prominente Gesichter wie Ronja von Rönne und LeFloid wurden engagiert, der Erfolg blieb bisher allerdings eher überschaubar. Laut ARD/ZDF-Onlinestudie kennen nur etwa 20 Prozent der 14- bis 29-Jährigen das Inhalte-Netzwerk namentlich. +Eine weitere Frage im Diskurs lautet: Wie unabhängig können Sender, die durch eine staatlich organisierte "Zwangsabgabe" finanziert werden, wirklich sein? Nicht nur ausgewiesene Kritiker der Rundfunkgebühren bemängeln die Verfilzung von Politik und öffentlich-rechtlichen Sendern. Besonders oft stehen die Rundfunkräte in der Kritik. In ihnen sitzen neben Mitgliedern von Gewerkschaften, Kirchen und Verbänden nämlich auch Politiker verschiedener Parteien. Sie kontrollieren das Programm, sie kontrollieren den Haushalt, sie wählen die Intendanten, die wiederum das Programm verantworten. Kurz: Sie sind am Ende die großen Entscheider. +"Dieses System sorgt natürlich dafür, dass die öffentlich-rechtlichen Sender schon sehr stark politisch dominiert werden, und das schadet ihnen mehrfach. Sie sind einerseits nicht wirklich unabhängig und leiden andererseits auch darunter, dass die Entscheidungsträger oft zu alt sind, um die kommende Bedeutung der digitalen Medien zu verstehen", sagt Wimmer. +Aber ist das, was die Öffentlich-Rechtlichen berichten, journalistisch tatsächlich nicht mehr unabhängig, weil Politiker in den Rundfunkräten sitzen? Es gibt zumindest auch gute Beispiele, die das widerlegen: Da wäre die Geschichte von Hans-Michael Strepp, dem Pressesprecher der CSU. Der meldete sich beim letzten bayerischen Landtagswahlkampf per Telefon und mehrmals per SMS bei der Redaktion der "heute"-Nachrichten und wollte verhindern, dass über den Parteitag der SPD berichtet wird. Seine Anrufe wurden von den Öffentlich-Rechtlichen publik gemacht, Strepp musste von seinem Amt zurücktreten. +Wenn es allerdings um die Besetzung von Spitzenposten bei den Öffentlich-Rechtlichen geht, laufen die Dinge subtiler ab: Etwa wenn die Unionsvertreter, die den ZDF-Verwaltungsrat dominierten, einen mutmaßlich SPD-nahen Journalisten als erneuten Chefredakteur des ZDF zu verhindern versuchten. Doch auch dieses Vorgehen wurde schnell publik, und prominente Journalisten des Senders wie Claus Kleber, Marietta Slomka und Maybrit Illner protestierten gegen die Einmischung der Politik. Dem schlossen sich zahlreiche Printmedien, Politiker und Staatsrechtler an. Nach einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht wurde die Anzahl der Staatsvertreter in den entscheidenden Gremien schließlich auf ein Drittel begrenzt, dafür sitzen dort seit letztem Jahr mehr Vertreter unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen und Organisationen. +Das ist auch im Sinne der Rundfunkfreiheit, die im Grundgesetz verankert ist und gewährleisten soll, dass auch die Öffentlich-Rechtlichen ohne staatliche Gängelung berichten können. Durch diese Freiheit, gesichert durch die breite Aufmerksamkeit der Gesellschaft und die Rundfunkgebühren, können die öffentlich-rechtlichen Sender auch starke Waffen für unabhängigen Journalismus sein. Zumindest in der Schweiz haben sie das aber offenbar nicht deutlich genug gezeigt. + diff --git a/fluter/streit-um-kohleausstieg-in-lausitz.txt b/fluter/streit-um-kohleausstieg-in-lausitz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a19f039e066574b20d9bee5490a12bcbdd7d7abe --- /dev/null +++ b/fluter/streit-um-kohleausstieg-in-lausitz.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Sie halten den Kohleausstieg für überstürzt. Sie fragen: Wo soll der Strom denn herkommen? Und sind wütend, dass sie ihre Jobs verlieren +In der Lausitz, im Südosten Brandenburgs und im Nordosten Sachsens, gewann die Braunkohle ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts massiv an Bedeutung. Verglichen mit anderen Energieträgern ist ihre Klimabilanz besonders schlecht. Die von der Bundesregierung eingesetzte Kohlekommission hat empfohlen, dass im Jahr 2038 in Deutschland ganz Schluss sein soll mit Strom aus Braunkohle, vielleicht auch schon drei Jahre früher. +Es ist natürlich kein Zufall, dass die drei Männer des Stromerzeugers LEAG ihre Sichtweise dort erklären möchten, wo die Schäden des Tagebaus bereits wieder beseitigt wurden. Sie fühlen sich ungerecht behandelt. Häufig werde in den Medien nur "die Fräskante" des Tagebaus gezeigt, sagen sie, also die Stelle, bis zu der sich die Bagger durch die Landschaft gepflügt haben. Zu selten die neuen Bäume und Seen – Ergebnisse der Rekultivierung. "Hierher kommen Abordnungen aus aller Welt, um von uns zu lernen, aber in Deutschland sind wir die bösen Klimasünder", erklärt einer der Männer. Ein anderer sagt: "Du selbst denkst, wenn du hier anfängst, bist du Batman. Aber plötzlich stellst du fest: Alle sehen dich als den Joker." +Der Erfahrenste der drei ist Michael Koppatz, 49, operativer Ingenieur und "seit dem 1. September 1986 in der Kohle", wie er ganz präzise erklärt. Viele hier sehen ihren Einstieg in den Job als eine Art zweiten Geburtstag, sie definieren sich darüber, dass sie die Gesellschaft mit Energie versorgen. "Damals war das Ende der Kohleverstromung nicht absehbar. Ich habe gedacht, ich mache das bis zur Rente, ohne je so eine negative Stimmung erleben zu müssen." Koppatz spricht bedächtig, als würde er jeden Satz genau abwägen. "Wir wissen, dass der Wandel irgendwann kommen muss. Aber es ist falsch, heute schon über ein Datum für den Kohleausstieg zu verhandeln." +Die Perspektive der drei Kohlekumpel und jene der Umweltbewegung sind so verschieden, dass eine Einigung irgendwo in der Mitte schwierig erscheint.Während vor allem junge Menschen sich in Bündnissen wie "Ende Gelände" engagieren oder im rheinischen Revier für den Erhalt des Hambacher Forstes demonstrieren, schütteln Kohlekumpel in der Lausitz den Kopf. "Wohlstandsaktivismus" nennen die drei das. Michael Koppatz erzählt: "Die von ‚Ende Gelände' waren auch hier. Ich habe tagelang mit denen diskutiert. Da war ein Franzose, den habe ich gefragt: ‚Wo soll der Strom künftig herkommen?' Und er hat gesagt: ‚Atomkraft!'" Auch wenn klar ist, dass die meisten Klimaschützer sowohl gegen Atomstrom als auch gegen die Kohle sind, ist für die Männer der Konflikt eindeutig: Hier die Schar internationaler Aktivisten, dort die Menschen in ländlichen Regionen wie der Lausitz, die hehren Idealen geopfert werden sollen. +"Wir wissen, dass der Wandel irgendwann kommen muss." Nicht ganz einfach: Aus Arbeiter Sicht geht auch gesellschaftlich eine Epoche zu Ende, in der Zusammenhalt und Vertrauen eine große Rolle gespielt haben +Eine Feststellung ist den drei Männern noch wichtig: "Wir werden das Weltklima nicht in der Lausitz retten!" Damit meinen sie, dass der deutsche Ausstieg aus der Braunkohle auf den ganzen Planeten bezogen nur gering ins Gewicht fällt. Das stimmt natürlich, offenbart aber zugleich ein klassisches Dilemma: Würden alle Menschen in sämtlichen Staaten so denken und handeln, gäbe es beim Klimaschutz keine Hoffnung mehr. Gerade deswegen gibt es schließlich internationale Abkommen, die jedem Staat gleichermaßen auferlegen, seinen Ausstoß von Treibhausgasen zu reduzieren – auch Deutschland. +Seit vielen Jahren schon nimmt der Streit um die Kohle an Schärfe zu. Und er ist auch nicht zu Ende, seit die von der Bundesregierung eingesetzte Kohlekommission empfohlen hat, der Industrie finanziell unter die Arme zu greifen, falls der Strompreis wegen des Ausstiegs steigt, und den betroffenen Regionen 40 Milliarden Euro Strukturhilfen zur Verfügung zu stellen – etwa zum Bau von Glasfasernetzen, zur Ansiedlung von Forschungsinstituten oder für eine bessere Verkehrsanbindung an Cottbus und Berlin. Kohlebefürworter wie derVerein Pro Lausitzer Braunkohlevermissen trotzdem "einen klaren Plan für die Gestaltung der Strukturentwicklung in der Lausitz" und werfen Kohlegegnern "Klimapopulismus" vor. +Die Grüne Liga dagegen, ein Netzwerk ökologischer Bewegungen, bezeichnet den Plan für die Lausitz als "mutlos". Sie bemängelt etwa, dass die Rettung von Dörfern, die dem Tagebau weichen sollen, nicht festgeschrieben wurde, und kritisiert, dass konkrete Schritte für den Umweltschutz in die ferne Zukunft verschoben worden seien. "Dabei hätten die Menschen in der Region sich längst auf kommende Veränderungen einstellen können", sagt René Schuster, Koordinator für alle Fragen rund um die Braunkohle bei der Grünen Liga, "wenn sie nicht mit falschen Versprechungen über eine Zukunft der Kohle getäuscht worden wären." Für ihn sei sowieso nicht das Ausstiegsjahr entscheidend, sondern dass besonders schmutzige alte Kraftwerke schnell vom Netz gehen. "Es gibt noch sehr viel zu tun." +In der Lausitz ist das Vertrauen in einen geregelten Ausstieg wohl auch deswegen so gering, weil die Region nach der Wiedervereinigung bereits eine Schockperiode durchlebt hat. Ganze Wirtschaftszweige sind damals kollabiert, etwa die Textil-, die Glas- und Teile der Chemieindustrie. Massenarbeitslosigkeit und massenhafte Abwanderung waren die Folge, eine traumatische Erfahrung für die Region. In der Kohle arbeiteten damals noch um die 80.000 Menschen. Heute sind es noch etwa 8.000 – sowie rund 16.000 Menschen in Service- oder Zulieferbetrieben. +Einer von ihnen ist Stefan Leib, ein junger Mann, der schüchtern grüßt. Er heißt eigentlich anders, will seinen Namen aber nicht veröffentlicht sehen, aus Angst vor "Ausgrenzung bei der Arbeit". Leib ist nämlich auch bei der LEAG angestellt – und will vor allem sagen, dass "nicht alle bei uns nur in eine Richtung denken". In einem Café in der Lausitz erzählt er: "Braunkohle zu verbrennen ist eine umweltschädigende Technologie. Das wollen viele bei uns nicht wahrhaben." Er zieht seine blaue Arbeitsjacke aus, wie um sich ein bisschen von seinem Arbeitgeber zu distanzieren. +Er findet, dass mit der Kohleverstromung bald Schluss sein muss. Aus Angst vor Ärger mit seinem Arbeitgeber bleibt er lieber unerkannt +Stefan Leib stammt aus einer Lausitzer Bergmannsfamilie. Und es wird deutlich, dass er an seinem Dilemma schwer zu tragen hat: Seine Existenz hängt an einer Technologie, an die er selbst nicht mehr glaubt. "Ja, ich profitiere auch von der Kohle. Ich ringe mit mir. Wenn ich aussteige, verliere ich die Chance, von innen zu verändern." Er will "als grünes Zahnrad in diesem Getriebe mitwirken". Und wenn das im Kleinen erst einmal nur heißt, seine Kollegen dazu zu bewegen, mit dem Rad zur Arbeit zu kommen. Leib macht auch bei Veranstaltungen von Umweltschützern mit, "heimlich, weil ich weiß, was los wäre, wenn das rauskommt". Er versucht zu lächeln, aber sein Lächeln wirkt müde. +Es ist also vor allem eine falsche Mentalität, die Stefan Leib seinem Unternehmen vorwirft. Aber auch konkrete Dinge wie zu geringe finanzielle Rücklagen für die Rekultivierung oder wie firmenintern die Belastung der Flüsse künstlich kleingerechnet würde. Leib glaubt, dass "wir es uns in Deutschland leisten könnten, Vorreiter zu sein", um nicht mehr durch klimaschädliche Technologien "Menschen in anderen Teilen der Welt ihre Existenz zu versauen". Der Strukturwandel, von dem Politiker so oft reden, müsse vor allem in den Köpfen stattfinden. +Dieser Wandel, nirgendwo scheint er so weit weg wie direkt vorne an der Fräskante, wo sich die Bagger unaufhörlich in die Erde graben, Transportbänder den Abraum wegschaffen und die mehr als 500 Meter lange Förderbrücke auf Schienen fährt – eine der größten mobilen Technikanlagen der Welt. Michael Koppatz sagt: "Hier muss man sich auf jeden verlassen können." Er führt jetzt mit seinen beiden Kollegen durch den Tagebau, ihre Jacken sind bunte Farbtupfer im graubraunschwarzen Erdmeer. Koppatz sagt: "Wir können uns hier keine Ellbogengesellschaft leisten. Jeder ist mit dem Chef per Du." Seine Kollegen nicken.Aus ihrer Sicht geht gerade auch gesellschaftlich eine Epoche zu Ende, in der Zusammenhalt und Vertrauen eine größere Rolle gespielt haben als heute. +Koppatz erzählt, dass er selbst in einem Dorf gewohnt hat, das weggebaggert wurde, genau wie Wolkenberg. Nein, allzu problematisch finde er das nicht, schließlich könne die Region nur so überleben. "Lieber das Haus verlieren als die Heimat." +Ganz unten in diesem überdimensionalen Erdloch hebt er ein Stück Braunkohle aus der lehmigen Erde hoch. Er erklärt, wie Kohle entsteht, welche Rolle der Druck und die Temperatur spielen, die zusammen extrem lange wirken müssten, und sagt: "Braunkohle ist gepresste Zeit." Und bald beginnt in der Lausitz eine neue Zeitrechnung. + +Über 900 Millionen Tonnen Treibhausgase wurden in Deutschland 2016 emittiert, davon rund 85 Prozent durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe. Größter Verschmutzer war die Energiewirtschaft mit 37,8 Prozent der Emissionen. Etwa halb so viel verursachten die Industrie (20,7 Prozent) und der Verkehr (18,2 Prozent). Die Haushalte sind mit 10,2 Prozent der Emissionen dabei, die Landwirtschaft mit 7,8 Prozent – hier ist nicht CO₂ das Problem, sondern vor allem die Treibhausgase Methan und Distickstoffoxid, an deren Ausstoß die Landwirtschaft in Deutschland den Hauptanteil hat. diff --git a/fluter/streiten-lernen.txt b/fluter/streiten-lernen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e83dd756249a91acd2a0627237d985ee82324fbb --- /dev/null +++ b/fluter/streiten-lernen.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Glaubt man allen Ratgebern, die ich dazu gelesen habe, steht dahinter die Angst vor Ablehnung. Ein anderer Grund liegt ganz offenbar in meiner Familie. In anderen Haushalten mag am Abendbrottisch diskutiert worden sein, bei uns gab es so gut wie nie offene Auseinandersetzungen. Als meine Eltern meinem Bruder und mir mitteilten, dass sie sich scheiden lassen würden, fielen wir aus allen Wolken. Nichts – kein Gebrüll, keine knallenden Türen, kein verächtlicher Blick – hatte darauf hingedeutet, dass sie sich nicht mehr verstanden. Ich habe schlicht nicht gelernt, wie Streiten geht. +Leider verschwinden Unzufriedenheit und verletzte Gefühle nicht, wenn man es vermeidet, sie anzusprechen. Sie suchen sich nur einen anderen Weg und kommen dann als passiv-aggressives Gepampe heraus oder bleiben als nagender Groll in der Körpermitte sitzen. Beides kenne ich gut, deswegen sitze ich an diesem Wochenende in der Volkshochschule, um zum Vorzugspreis von 55,80 Euro in Theorie und Rollenspielen das Streiten zu lernen. +Wir sind acht Erwachsene zwischen Anfang 30 und Anfang 50. Zwei meiner Mitstreiter sind dabei, weil ihnen ihre Konfliktflucht schon auf den Magen schlägt. Eine Teilnehmerin bezeichnet sich als Vulkan, die Gefühle brodeln so lange in ihr, bis sie irgendwann unkontrolliert ausbrechen. +Der erste Seminartag gehört dem Grundlagenwissen: Was ist eigentlich ein Konflikt? Eine subjektiv empfundene Spannungssituation. Was gilt es dabei nie zu vergessen? Es gibt keine objektive Wahrheit, nur Situationen und unseren individuell gefärbten Blick auf sie. Welcher Grundmechanismus herrscht kulturübergreifend? Konflikte funktionieren zirkulär, heißt: Jede Seite betrachtet sich selbst als diejenige, die lediglich auf das Verhalten der anderen reagiert, woraufhin diese dann wieder...und so weiter. +Unser Umgang mit Konflikten, erklärt die Seminarleiterin,sei größtenteils familiär bedingt, über den Rest entschieden unser Charakter und das kulturelle Umfeld. Die gute Nachricht: Weil ein Großteil unseres Verhaltens in Konflikten erlernt sei, lasse es sich auch verändern. Die schlechte Nachricht: Es sei gut, Dinge, die man als störend oder verletzend empfindet, frühzeitig anzusprechen und zu klären. Das ist der Moment, in dem ich mich melde und frage: Was, wenn ich es 15 Jahre lang verpasst habe, einen Konflikt zu thematisieren? +Es ist nämlich so: Ich wohnemit meiner besten Freundinzusammen – und finde meist ein ungeputztes Bad vor, wenn ich von einer Reise zurückkehre. Das geht seit anderthalb Jahrzehnten so, und genauso langeärgere ich mich darüber.Aber hasenfüßig, wie ich bin, habe ich das Thema nie angesprochen. Weil ich Haare auf den Fliesen und Wollmäuse in den Ecken wirklich nicht mag, endet es immer gleich: Ich grummle nach meiner Heimkehr still in mich hinein und schicke den Staubsaugerroboter durchs Bad. +Durch den allgemeinen Achtsamkeitshype und das gewachsene Bewusstsein für mentale Gesundheit sind viele mit Gewaltfreier Kommunikation (GfK) vertraut. Manche sprechen fließend GfK. Das Konzept hat der US-amerikanische Psychologe Marshall B. Rosenberg ab den 1960er-Jahren entwickelt. Es basiert auf vier Schritten: Erst formuliert man – möglichst wertfrei – eine Beobachtung, dann das Gefühl, das sich daraufhin bei einem selbst einstellt. Als Nächstes äußert man das eigene Bedürfnis und schließlich eine Bitte. GfK gilt als Goldstandard der Konfliktlösung, sei es in Paarbeziehungen, der Psychotherapie oder der internationalen Diplomatie. Auch mir wurde mehr als einmal geraten, Generalisierungen und Anklagen zu vermeiden und Ich- statt Du-Botschaften zu formulieren. Nur hilft mir das Konzept leider kein Stück dabei, meine Furcht vor Auseinandersetzungen zu überwinden. +Was dagegen hilft, mein Problem anzugehen: mir die Gründe zu vergegenwärtigen, warum sich eine Auseinandersetzung lohnt. Die Seminarleiterin lässt uns aufschreiben, wofür Konflikte gut sein können: +Sie sind Mittel der Kommunikation. +Sie dienen einem Perspektivwechsel. +Sie ermöglichen Veränderungen. +Sie vertiefen Beziehungen. +Sie stellen die Demokratie sicher. +Am Ende ist die Liste länger, als ich gedacht hätte. Mich überzeugt vor allem das Argument, das Konfliktlösung wie ein Muskel funktioniert: Je öfter man es tut, desto leichter wird es. Auch die sehr naheliegende Überlegung, dass Konflikte helfen können, eigene Interessen durchzusetzen, kommt mir angesichts meines Badproblems hilfreich vor. +Ich bin mir wegen meiner Konfliktscheue immer ein bisschen minderbemittelt vorgekommen. Aber an diesem Wochenende lerne ich: Es gibt keinen besseren oder schlechteren Konfliktstil. Ob man die Konfrontation vermeidet, in einem Konflikt nachgibt, sich durchsetzt oder einen Kompromiss findet: Alles hat Vorteile und Nachteile. "Das Ziel entscheidet über den Stil", sagt die Seminarleiterin. Wenn ich in Sachen Dreckbad bislang die Vermeidung statt des offenen Streits gewählt habe, dann war das schon eine Konfliktstrategie – und für mich der Weg des geringsten Widerstandes. Der Satz der Seminarleiterin klingt für mich befreiend. +Ganz ohne GfK geht es auch in unserem Seminar nicht. Aber weil sich die Leiterin vor lauter behutsamen Ich-Botschaften und verbalem Appeasement förmlich danach sehnt, mal wieder jemanden zusammenzustauchen, belässt sie es bei den Grundlagen. Und erklärt uns abschließend zwei Konflikttechniken, die oft helfen sollen, mit der Sprache rauszurücken: eine zur ergebnisoffenen Verhandlung ("Wie siehst du das, und welche Lösung siehst du?"), und eine, die Konflikte quasiautoritär in eine gewünschte Lösung übersetzt ("Das ist es, was ich will und warum"). +Die zweite hilft mir tatsächlich: In der anschließenden Übung formuliere ich die Sätze, die mir lange so schwergefallen sind: "Ich will, dass du in Zukunft putzt, bevor ich nach Hause komme. Denn für mich bedeutet das schmutzige Bad, dass es dir scheißegal ist, ob ich mich in meiner eigenen Wohnung ekle." Klingt wirklich nicht gewaltfrei. Egal, sagt die Seminarleiterin. Wichtiger sei erst mal, klar zu formulieren. Im späteren Streitgespräch könne ich das immer noch netter ausdrücken. +Dieser Text istim fluter Nr. 91 "Streiten"erschienen +Keine Ahnung, ob ich das schaffe. Zumindest glaube ich aber, jetzt so etwas wie einen Fahrplan zu haben. Ich streite für (nicht etwa über) etwas. Es geht mir weniger um dreckige Fliesen als um die fehlende Anerkennung für ein Bedürfnis (nicht auf Staubmäuse und Teppiche aus Haaren zu treten, die nicht meine sind). Und wenn ich mein Anliegen sachlich und nachvollziehbar formuliere, droht mir vermutlich auch keine Ablehnung. Und noch eins habe ich gelernt: ohne konkreten Anlass kein Konfliktgespräch. Die Wörter "immer", "jedes Mal" oder "seit 15 Jahren" haben wohl noch nie einen gelungenen Streit eingeleitet. Was das Bad angeht, warte ich also wohl lieber auf die nächste Reise. Oder ich lasse diesen Text offen auf dem Küchentisch rumliegen. + diff --git a/fluter/streitwert.txt b/fluter/streitwert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/strohmaenner.txt b/fluter/strohmaenner.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/studienkredite-usa-schulden-loesung.txt b/fluter/studienkredite-usa-schulden-loesung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..142633e130cbfa17729793f88a8f2e407054c481 --- /dev/null +++ b/fluter/studienkredite-usa-schulden-loesung.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Die andere Entscheidung, die Stephen Rogers mit der Zusage zu treffen hat, ist eine finanzielle. Er hat einen Bachelorabschluss von einer Universität in Boston, seit fünf Jahren arbeitet er bei einer großen Beratungsfirma in New York. Mit einem MBA, einem Master of Business Administration, von der University of California, Berkeley, eine der angesehensten Universitäten der Welt, will er sein berufliches Profil schärfen. Rogers hat bloß ein Problem: Eigentlich kann er sich so ein Studium nicht leisten. +Ein Jahr MBA in Berkeley, inklusive 70.000 Dollar Studiengebühren, kostet rund 100.000 Dollar. Das sind zurzeit 83.000 Euro. Rogers hat einen Kredit beim Staat aufgenommen, um die Studiengebühren bezahlen zu können. Damit ist er einer von 45 Millionen Menschen in Amerika, die dem Bildungsministerium Geld schulden, um ihre Ausbildung zu finanzieren. Rogers, das sei dazugesagt, heißt gar nicht so. Seinen richtigen Namen würde der 27-Jährige ungern in Verbindung mit seiner finanziellen Lage in der Öffentlichkeit wiederfinden. +Rogers hat bereits für seinen Bachelor einen Kredit aufnehmen müssen. "Das waren ungefähr 25.000 Dollar", erzählt er heute. Knapp 60 Prozent davon hat er inzwischen abbezahlt. Jeden Monat legt er rund 250 Dollar allein für die Tilgung beiseite. Dieser Weg folgt einer seltsamen inneren Logik: Das teure Studium muss man in den USA absolvieren, um später einmal mehr als der Durchschnittsbürger zu verdienen. Die wenigsten verdienen allerdings gleich so gut, dass sie den Kredit innerhalb kürzester Zeit zurückzahlen könnten. Also stottern sie kleine Beträge ab, während die Zinseszinsen die Gesamtsumme anschwellen lassen. +Über die Jahrzehnte hat sich so in den Vereinigten Staaten ein Schuldenberg von 1,5 Billionen US-Dollar angehäuft. Zu groß, um ihn jemals abbezahlen zu können, argumentieren Studienverbände, Soziologen und Volkswirte. Selbst Menschen mit guten Jobs und Einfluss brauchen manchmal 15 bis 20 Jahre, bis sie schuldenfrei sind. Barack Obama ist 44, als er 2005 seine letzte Rate überweist. Drei Jahre später wird der Absolvent der Harvard Law School zum 44. Präsidenten der USA gewählt. +Der Einstieg in den Beruf nach Schule oder Uni ist oft nervenaufreibend genug. Der zusätzliche Stress, große Geldbeträge, die scheinbar nicht kleiner werden wollen, zurückzahlen zu müssen, ist dabei nicht hilfreich. Es gibt haufenweise Studien, wie sich das auf die Studierenden auswirkt: In einer aktuellen Umfrage geben 53 Prozent der Befragten an, dass ihr Studienkredit Depressionen bei ihnen auslöse, neun von zehn plagen Angstgefühle. +Auch Stephen Rogers sagt, dass es nicht immer einfach ist. Nach zwei Jahren MBA erwartet er, rund 130.000 Dollar an Studiengebühren zurückzahlen zu müssen. Während seiner Zeit als Berater in New York hat er etwas Geld gespart, einen festen Nebenjob hat er nicht. Rogers will sich ganz auf die Uni konzentrieren. Es klingt etwas masochistisch, aber seine Entscheidung für das teure Berkeley-Studium sei auf eine Art ein Ansporn: "Ich hatte noch nie so hohe Schulden, und es ist definitiv riskant", sagt er. "Und natürlich löst das eine Unsicherheit und Beunruhigung in mir aus." Er hofft jedoch, dass sein Gehaltsniveau nach dem MBA so hoch ist, dass er den Kredit relativ zügig abbezahlen kann. Sein Plan: einen guten Abschluss machen und dann richtig,richtig hart arbeiten. +Seitder Finanzkrise von 2008ist der Schuldenberg der US-Amerikaner noch einmal angewachsen. Im Schnitt mussten Studierende 2019 Kredite in Höhe von 33.000 US-Dollar zurückzahlen, rund 20 Prozent mehr als noch 2016. Durch die Pandemie, die die US-Wirtschaft hart getroffen hat, dürfte sich die Situation im Jahr 2020 weiter verschärft haben. Der einzige Ausweg scheint ein allumfassender Schuldenerlass für Studienkredite durch die Politik zu sein. +Im Februar 2021,Joe Bidenwar vier Wochen vorher vereidigt worden, stand der neue US-Präsident auf einer Bühne bei einer Bürgersprechstunde. Aus dem Publikum kam die Frage, ob er ein bundesweites Programm unterstütze, Studierenden Schulden bis zu 50.000 Dollar zu erlassen, ohne Wenn und Aber. Bidens Antwort fiel eindeutig aus: "Ich werde das nicht tun." +"Ich verstehe, welche Auswirkungen Schulden haben", fügte der Präsident hinzu. "Ich bin bereit, 10.000 Dollar abzuschreiben, aber nicht 50.000 Dollar, weil ich nicht glaube, dass ich dazu befugt bin." Zurzeit prüfen Experten, ob der Präsident diese Befugnis hätte. +In Deutschland jobben zwei Drittel neben der Uni, denn Bafög allein reicht oft nicht zum Leben.Wie wirkt sich das auf das Studium aus? +Ein Masterstudium ist in den USA der gängige Weg, um sozial aufzusteigen. Die horrenden Studiengebühren und teuren Kredite sind jedoch echte Hindernisse auf dem Weg dahin – vor allem für nichtweiße Familien und Haushalte. Das hat auch damit zu tun, wie staatliche Hochschulen wie Berkeley finanziert werden. Seit den 1970er-Jahren habe sich das Modell nach und nach verändert, erzählt Louise Seamster, die an der University of Iowa zum Thema Schulden und ökonomische Ungleichheit forscht. Ein Großteil der US-Bundesstaaten hätten ihre Ausgaben für Bildung immer weiter heruntergeschraubt, die Unis im Gegenzug Programme zusammengespart und Studiengebühren angehoben: "Die Kosten werden auf die Studierenden umverteilt." +Coronabedingt läuft die Schuldenspirale gerade ein bisschen langsamer: Die Rückzahlungen von staatlichen Studienkrediten in den USA sind bis Ende September aufgeschoben. Heißt: Stephen Rogers schuldet dem Staat so viel wie vorher, nur muss er momentan keine Raten für seinen MBA-Kredit abstottern. Es ist die kleinstmögliche Entlastung, die ihm zurzeit bleibt. +Mittelfristig, glaubt Louise Seamster, führe aber kein Weg daran vorbei, den Studierenden die Schulden in großem Umfang zu erlassen. Zwar sei dieser Schritt regressiv, weil selbst Wohlhabende, die sich ein Studium leisten können, davon profitierten. Gleichzeitig könne man das Thema Studienkredite aber nicht diskutieren, ohne es aus Sicht von racial inequality zu betrachten, also der ungleichen Verteilung unter verschiedenen ethnischen Bevölkerungsgruppen. +Für Seamster ist ein Schuldenerlass in erster Linie ein Schritt, die ungleichen Vermögensverhältnisse anzupassen, um nichtweißen US-Amerikanern bessere Aufstiegsmöglichkeiten zu bieten. Danach müsse man allerdings über eine Reform des Systems und dessen Finanzierung diskutieren – ansonsten wachse die Schuldenblase mit der nächsten Generation ins Unermessliche. + diff --git a/fluter/studieren-als-arbeiterkind-erfahrungsbericht.txt b/fluter/studieren-als-arbeiterkind-erfahrungsbericht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e6c96e18b52244f46283ba46a64e22436e8e526e --- /dev/null +++ b/fluter/studieren-als-arbeiterkind-erfahrungsbericht.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Das Selbstbewusstsein der anderen gab mir zu verstehen, dass ihnen der Raum mehr gehörte als mir. Wenn ich in der Mensa zu Pommes statt Salat griff, bedachten sie mich mit humorvoll getarntem Tadel.In meiner Kindheit aßen wir eben, was wir uns gerade leisten konnten.Weil wir bisweilen nicht wussten, wie wir die Woche überstehen sollten, musste das Essen oft möglichst fetthaltig sein. Auf WG-Partys war es ein beliebtes Spiel, Unbekannte zu fragen, wo er oder sie "denn schon so herumgereist" sei. In solchen Momenten verkroch ich mich unauffällig in der Schamecke. +Klassenclown: Der Autor bei seiner Einschulung 1991. In Deutschland hat ein Kind aus einer Akademikerfamilie eine fast vier Mal größere Chance auf eine Gymnasialempfehlung +Heute arbeitet Christian Baron als Redakteur bei der Wochenzeitung "Der Freitag" – und hat Anfang des Jahres den Bestseller "Ein Mann seiner Klasse" veröffentlicht +Und dann war da die Sache mit der Sprache: Bis zum Studienbeginn hatte ich nur Pfälzisch gesprochen. Darum dauerte es lange, ehe ich mich halbwegs sicher auf Hochdeutsch ausdrücken konnte. Ständig sprach ich Wörter falsch aus oder fiel zurück in meinen Dialekt. Das Gekicher der anderen höre ich bis heute. Damals drohte ich zu ertrinken in einem Meer aus Nichtwissen und unausgesprochenen Regeln, in dem sich die anderen bewegten wie Fische. +Woher meine Probleme und Hemmungen kamen, wurde mir erst später klar: Ich bin ein Arbeiterkind. Als Erster und noch immer Einziger in meiner Familie habe ich Abitur gemacht. In Deutschland studieren rund 70 Prozent aller Akademikerkinder, aber nur gut 20 Prozent der Nichtakademikerkinder – und da sind die ökonomisch oft noch sehr gut abgesicherten Facharbeiterkinder schon mitgezählt. Aus Familien, in denen beide Elternteile keinen beruflichen Abschluss haben, sind es sogar nur zwölf Prozent. Zu diesen Sonderfällen unter Sonderfällen gehöre auch ich: Mein Vater war ungelernter Hilfsarbeiter, er schuftete völlig unterbezahlt als Möbelpacker, was ihn nebenbei auch noch zum Säufer und Schläger machte. Meine Mutter war ebenfalls ungelernt, ohne Ausbildung. Auch einer Erwerbsarbeit ging sie nicht nach, schließlich musste sie sich um ihren kranken Mann und ihre vier Kinder kümmern. +Ein Kind aus einer Akademikerfamilie hat bei gleichen kognitiven Fähigkeiten und gleicher Lesekompetenz eine fast vier Mal größere Chance auf eine Gymnasialempfehlung als ein Kind aus einer Facharbeiterfamilie. Ich bekam eine – nicht obwohl, sondern weil meine Lehrerinnen wussten, was bei mir zu Hause vor sich ging. Sie sahen etwas in mir, das niemandem sonst sichtbar war – am allerwenigsten einem Knirps wie mir. Doch kein Gymnasium der Stadt nahm mich auf. +Auch das nach dem frühen Tod meiner Mutter für meine Familie zuständige Jugendamt legte ein Veto ein, weil es annahm, dass ich aufgrund meiner sozialen Herkunft unmöglich den Leistungsanforderungen eines Gymnasiums entsprechen könnte. Mit Glück durfte ich eine Gesamtschule besuchen, an der ich in der Oberstufe einem Sozialkundelehrer begegnete, der mich unter seine Fittiche nahm und zum Abitur lotste. +In den Armen von Armen: Der Autor mit seiner Mutter 1985. Seine Eltern waren ungelernt, hatten keine Ausbildung +An der Uni strengte ich mich an, meine soziale Herkunft zu vertuschen. Die Angst davor, etwas Dummes zu sagen, saß mir sogar beim Grillabend mit den Nachbarn aus dem Studentenwohnheim im Nacken. Die anderen wissen mehr, können mehr, wollen mehr, so dachte ich, als trügen sie ein letztes Geheimnis in sich, dessen Entschlüsselung mir auf ewig verborgen bleibt. +Ich galt als anstrengend, streberhaft, spröde. Häufig hörte ich den Spruch: "Mach dich mal locker!" Das tat weh, aber die anderen wussten es ja nicht besser. Wer nicht am eigenen Leib erlebt hat, wie erniedrigend und entbehrungsreich es ist, in Armut und sogenannten bildungsfernen Verhältnissen aufzuwachsen, der hat davon keine Vorstellung. Meine mit bildungsbeflissenen Eltern gesegneten Freunde haben sich das Wissen um bürgerliche Regeln von klein auf unbewusst angeeignet und diesen Aneignungsprozess später verdrängt. Es ist wie mit den Fremdsprachen: ob man sie als Kind lernt oder als Erwachsener – letzterem wird man immer anmerken, dass es nicht seine Erstsprache ist. +Erst nach mehreren Semestern fand ich den Mut, die Bildungsbürgerkinder mit ihren Wissenslücken zu konfrontieren. Lästerte etwa im Vorbeigehen an einer Eckkneipe jemand zum wiederholten Mal:"Das ist ja mal eine echte Spelunke für Asoziale",dann sagte ich ihnen, wie beleidigend es für mich ist, dass er oder sie Menschen als "asozial" diffamiert, nur weil sie womöglich nicht studiert haben. Damit stieß ich häufig auf Verwunderung, bisweilen auf Unverständnis, erstaunlich oft aber brachte ich Menschen zum Nachdenken. +Special: Wissen +Hier liest du weitere Artikelaus unserem Wissen-Schwerpunkt +Zahlreiche Studien zeigen, dass der Bildungserfolg in Deutschland sehr stark von der sozialen Herkunft abhängt. Im Vergleich zu anderen Industrienationen ist die Bundesrepublik unterdurchschnittlich: Kitas, Schulen undUnis bauen die Spaltung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer nicht ab, sondern verfestigen sie.In allen Bundesländern ist der Übergang von der Grundschule zum Gymnasium kaum an die individuelle Leistungsfähigkeit oder den Bildungshunger des Kindes geknüpft, sondern in erster Linie an den formalen Bildungsgrad der Eltern. "Tatsächlich hieß Chancengleichheit nichts anderes, als dass Hase und Schildkröte an derselben Startlinie standen", schreibt die Schriftstellerin Marion Messina. Solange die Ungleichheit der Ausgangsbedingungen bestehen bleibt, wird ein Kind armer Leute nur selten einen Bildungsaufstieg hinlegen. Dass ich es geschafft habe, lag nicht in erster Linie an meiner Leistung oder Begabung, sondern vor allem auch daran, dass es Menschen gab, die mich zu dieser Startlinie gelotst haben. + diff --git a/fluter/studio-baut-vr-modell-von-kz-auschwitz.txt b/fluter/studio-baut-vr-modell-von-kz-auschwitz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..509917180a1f7693b0769a72cc3a752ac52331b8 --- /dev/null +++ b/fluter/studio-baut-vr-modell-von-kz-auschwitz.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Genau das ist das große Versprechen der virtuellen Realität: dass man nicht mehr via Bildschirm auf eine Situation blickt, sondern Teil von ihr wird. Sobald sich der Nutzer eine der Hightech-Brillen überstreift, soll er alles um sich herum vergessen. "Immersion" nennen das die Fachleute. +Um das virtuelle Vernichtungslager möglichst authentisch nachzubauen, haben die Macher Fotos und Baupläne studiert und auch mit Überlebenden gesprochen. Bücher und Filme würden nicht reichen, um nachvollziehen zu können, was Auschwitz gewesen ist, so die Entwickler, die auch von der Union italienisch-jüdischer Communitys unterstützt werden. Die Gedenkstätte Auschwitz dagegen kritisiert, dass das Projekt eine Grenze überschreite. Ein Mensch solle nicht mithilfe von Virtual Reality dazu verleitet werden, "das zu fühlen, was Opfer gefühlt haben", erklärte das Museum auf Twitter. + +Darf man das größte Konzentrationslager, das Symbol der Shoa, in eine VR-Erfahrung verwandeln? Wird sie dadurch banalisiert? Wie sehr ist die Technik überhaupt dazu geeignet, empfindliche Inhalte zu transportieren? +"Prinzipiell ist es eine gute Idee, Virtual Reality zu nutzen, um Personen in Situationen zu versetzen, die sie anderweitig nicht wahrnehmen können", sagt der Medienethiker Thilo Hagendorff, der an der Universität Tübingen unter anderem dazu forscht. Per Virtual Reality kann man sich schon heute auf dem Meeresboden umsehen, im Weltall oder in der Zelle von Al Capone auf Alcatraz. Chris Milk, der früher einmal Musikvideos für Kanye West, U2 und Green Day gedreht hat, entführte den Zuseher per 360-Grad-Video 2015 in das jordanische Flüchtlingslager Zaatari und stellte im Zuge dessen die These auf, dass Virtual Reality die ultimative Empathiemaschine sei. +Mittlerweile gibt es VR-Erfahrungen, in denen der Nutzer in die Rolle einer schwangeren Frau schlüpft und auf dem Weg in eine Klinik für Schwangerschaftsabbrüche an einem Mob sogenannter "Lebensschützer" vorbeimuss. Es gibt VR-Modelle, die simulieren, farbenblind zu sein oder die Welt als Bettler vom Straßenrand aus wahrzunehmen. Die Tierrechtsorganisation Animal Equality hat mit "iAnimal" eine VR-Erfahrung programmieren lassen, die den Nutzer in den Körper eines Tieres in der Milchindustrie schlüpfen lässt. Die Aktivisten berichten, dass sich viele Menschen nach dieser Erfahrung dazu entscheiden, künftig auf Tierprodukte zu verzichten. + +Doch die neue Empathiemaschine hat auch ihre Grenzen: "Virtual Reality zielt vor allem auf die Emotionen ab", sagt Thilo Hagendorff, "man darf aber nicht vorgeben, dass es mittels VR möglich ist, wirklich nachzuvollziehen, wie es ist, beispielsweise ein Obdachloser zu sein." Eine Erkenntnis, die einer australischen Wohltätigkeitsorganisation wohl zu spät gekommen ist: Bei einer Spendengala setzten die Organisatoren betuchten CEOs VR-Brillen auf. Die Manager sollten begreifen, wie es ist, kein Dach über dem Kopf zu haben. Es folgte ein kleiner Shitstorm, "virtueller Elendstourismus", so lautete einer der Vorwürfe. +Ein ähnliches Problem zeigt sich auch bei "Witness Auschwitz". Die Macher belassen es nicht dabei, Auschwitz nachzubauen, um sich virtuell darin umzusehen und ein Gefühl für den Aufbau und die Dimensionen der Vernichtungsmaschinerie zu bekommen. Darauf hat sich zum Beispiel der WDRmit seiner Virtual-Reality-Dokumentation "Inside Auschwitz"beschränkt, in der die Geschichte dreier Überlebender erzählt wird. +Die Entwickler von "Witness Auschwitz" wollen, dass der User in virtuelle KZ-Kleidung schlüpft und mit einer animierten Schaufel Gräber aushebt. Das Ganze wird als "Experience" vermarktet, bei der man als Zeuge und Protagonist ganz nah dran ist am industriellen Völkermord. +Aus Perspektive der Geschichtsdidaktik und des immer wieder neu diskutiertenBeutelsbacher Konsenses, der in den 1970er-Jahren formuliert wurde und Leitgedanken für die politische Bildung formuliert, könnte damit jedoch eine Grenze überschritten werden: Demzufolge darf, wer historische Vorgänge nachvollziehen will, von Bildungsangeboten nicht mit Emotionen überwältigt werden. Eine starke psychische Erfahrung hindere daran, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Das Verständnis historischer Zusammenhänge solle deshalb immer an erster Stelle stehen. +Ganz davon abgesehen, dass Erlebnisse in der virtuellen Realität möglicherweise Traumata auslösen können – das von "Witness Auschwitz" gesetzte Ziel überspannt die Fähigkeiten des Mediums, findet Thilo Hagendorff: "Bei einer VR-Experience gibt es immer die Möglichkeit, die Brille abzusetzen, schon alleine deswegen kann man nicht ansatzweise nachvollziehen, wie es ist, damals in Auschwitz gewesen zu sein." "Witness Auschwitz" könnte so zum Gegenteil dessen beitragen, was es erreichen möchte – nämlich die Realität und das Ausmaß der nationalsozialistischen Mordmaschinerie fassbar zu machen. +Dabei würde die neue Technologie tatsächlich die Möglichkeit bieten, der jungen Generation die Shoa ein Stück weit nahezubringen. Davon zumindest ist Hannes Liebrandt überzeugt, der an der Uni München Geschichtsdidaktik lehrt: "Man kann in der virtuellen Realität hautnah dabei sein und auch interaktiv werden, das ist der große Unterschied zu Filmen." Per VR-Erfahrungen wird man zudem bald von überall her Zugang zu digitaler Geschichte haben. Hannes Liebrandt glaubt, dass wir vielleicht sogar am Beginn einer regelrechten Bildungsrevolution stehen. In Zukunft könnten Schulklassen als Teil des Geschichtsunterrichts Konzentrationslager virtuell besuchen. Allerdings werden solche digitalen Erfahrungen den Besuch einer Gedenkstätte nicht ersetzen können. Hannes Liebrandt spricht von der "auratischen Wirkung", die originale Schauplätze und Objekte besitzen und die in der virtuellen Realität verloren geht. Sie kann nur spüren, wer wirklich vor Ort ist – in der wirklichen, ganz realen Realität. + +Christian Schiffer gibt ein Magazin für Gameskultur heraus, ist Autor und Moderator für den Bayerischen Rundfunk. Für letzteren wagte er 2016 einen Selbstversuch: 24 Stunden in der virtuellen Realität verbringen. Am Ende sehnte er sich sehr nach menschlichen Gesichtern und dem Geruch sommerlicher Blumenwiesen + +Titelbild: 101° Studios diff --git a/fluter/studium-auf-hoher-see.txt b/fluter/studium-auf-hoher-see.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9ba2459415a45f45ca421c19a22222b35fca5ef8 --- /dev/null +++ b/fluter/studium-auf-hoher-see.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +27. August, Halifax, Kanada:Florian ist total aufgeregt. Vor dem Hotel sieht er viele junge Leute, spricht einfach jemanden an. Bingo, auch SAS, Gott sei Dank sind sie jetzt schon mal zu zweit. Und siehe da, die anderen gehören auch dazu. Dann aufs Schiff, die MV Explorer: Alle rennen durcheinander, lernen ihre Kabinennachbarn kennen, erkunden das neue Zuhause. Es ist der Anfang einer großen Reise. +Um fünf ist Feierabend +28. August, auf See:Florian unternimmt eine Schiffsbegehung. Fitnessraum, Dampfbad, Sauna, Schwimmbad, Kinoraum – wie im Hotel. Außerdem Unterrichtsräume und Bibliothek. Um sieben Uhr morgens gibt es Frühstück, um acht Uhr beginnt der Unterricht. Vier Klassen sind es, aufgeteilt auf so genannte A- und B-Tage. Die ersten Stunden finden in dem Pflichtfach "Global Studies" statt. Nach dem Mittagessen kommt BWL als frei wählbares zweites Fach dazu. Bis fünf Uhr geht ein Studientag höchstens, dann ist Feierabend.5. September, Cádiz, Spanien, 8 Uhr morgens:Die MV Explorer läuft im Hafen ein. Zum ersten Mal gibt es das traditionelle Briefing vor den Landausflügen. Politik und Wirtschaft Spaniens, praktische Reiseinformationen, Sicherheit, Währung, etc. Als Vorbereitung, bevor alle zum organisierten Landausflug starten oder einfach auf eigene Faust losziehen. Noch ist alles familiär, Florian war schon mal in Spanien. Trotzdem kann er es kaum erwarten: Das Stadion von Barcelona wartet. +10. September, Casablanca, Marokko:Florian reitet sechs Stunden auf einem Kamel durch die Wüste. Sand, so weit das Auge reicht. Vier aufregende Landtage stehen an. Tagsüber Sightseeing und Kulturprogramm, abends Ausgehen und andere SAS-Kommilitonen näher kennen lernen. Der Schlaf wird später auf dem Schiff nachgeholt. +22. September, Accra, Ghana:Florian spielt Fußball mit 20 kleinen Jungs, die Süßigkeiten wollen. Später bringt ihn ein Bus nach Togo, wo er sein Zimmer mit einem Kommilitonen teilt, der bei der Geburt zu wenig Sauerstoff bekam, Übergewicht hat und keinen Funken Selbstbewusstsein. Sie reden und reden und freunden sich an. Der geplante Barbesuch ist vergessen.3. Oktober, Kapstadt, Südafrika:Der südlichste Punkt der Reise ist erreicht. Kaltes Wasser und Haie. Safaris und Nationalparks. Florian surft in Kapstadt, schwimmt mit Robben. Dann gibt es eine Tour mit dem Mountainbike durchs Weinfeld, zwischendurch die ein oder andere Weinprobe. +8. Oktober, auf See:Zurück auf dem Schiff sind alle erschöpft. Weiter geht es jetzt mit Vorlesungen und Präsentationen, die Bibliothek wird rund um die Uhr genutzt. Internet gibt es, aber zu einem stolzen Preis. So heißt es, wieder mehr auf traditionelle Lernmittel zurückzugreifen. Eine Freundin von Florian jobbt neben dem Studium in der Bibliothek, um sich die Reise zu finanzieren. +15. Oktober, Port Louis, Mauritius:Es ist warm. Wie so oft kann man mit Schlafsäcken auf dem Deck unter freiem Himmel schlafen. Briefing der Botschaft, dann Bergwandern, Erkundung der Vulkaninsel, Kinderdorf Beau Bassin oder lieber blaue Safari? Für Florian steht an: Adventurepark, also Herumspringen, sich Austoben und Spaß haben. +23. Oktober, Chennai, Indien:Faszinierend und irritierend zugleich, Kulturschock pur. Nette Leute und überall erschreckende Armut. Ein Mädchen ohne Auge. Da lernt man sein eigenes Leben zu schätzen. Und auf der anderen Seite gibt es da Weltwunder wie das Taj Mahal. Bei einem Ausflug verpassen Florian und sein Kumpel den Bus um halb sechs. Mist, was nun? Sie können nur noch rennen, um ihr Schiff zu erreichen. Die ganze Strecke rasen sie zu Fuß zurück, springen über Kühe und erleben das Land noch einmal ganz anders. Unvergesslich. +Seltene Momente der Ruhe +3. November, Ho Chi Minh City, Vietnam:Florian und eine Freundin verpassen den Bus und damit den Ausflug mit Freunden. Sie finden einen Taxifahrer, schaffen es, sich verständlich zu machen, und lassen sich zu einem Jetski-Stand bringen. 20 Dollar pro Stunde soll es kosten. Bald darauf jagen sie den Fluss hinunter. Plötzlich sehen sie ein Touristenboot mit den Freunden, die vorher noch den Bus erwischt hatten. Mit Gejohle brausen die beiden vorbei und haben den Spaß ihres Lebens. Am nächsten Tag kommt das Kontrastprogramm: 5 Uhr aufstehen, auf nach Angkor Wat, um gegen 6 Uhr früh den Sonnenaufgang gemeinsam mit betenden Buddhas aus Stein zu genießen. Ruhe und endlich mal Zeit, sich selbst zu finden. +11. November, Hongkong, Volksrepublik China:So viel Florian auf See für das Studium tun muss, so sehr freut er sich auf die Pause an Land. Neben "Global Studies" hat er "International Management", "International Operations" und "Public Speaking" auf dem Lehrplan. Die Professoren sind locker, aber hoch kompetent und auch anspruchsvoll. Das heißt: Hundertprozentige Anwesenheit ist gefragt, kein Schwänzen. Die einzige mögliche Ausrede: "I'm seasick", ich bin seekrank. Abends kommt der entspannte Teil, da finden die freiwilligen Abendseminare mit den Life Long Learners statt, älteren Menschen, die auch mitreisen: Musik, Sport, Reisen – an Themen mangelt es nicht. +15. November: Shanghai, Volksrepublik China:Nachts ist es kalt und die Freunde frieren. Sie schlafen auf der Great Wall of China, dicht aneinander gedrückt. Eine Nacht, die sie nicht wieder vergessen werden. Dem Vergessen vorbeugen soll auch die obligatorische Fahne, die Florian in jedem Land ersteht, als Erinnerung an diese Reise. +20. November, Yokohama und Kobe, Japan:Florian fährt mit seiner Gastfamilie zwei Stunden im Auto herum, kommuniziert wird mit Händen und Füßen – die Familie spricht kein Wort Englisch. Trotzdem versuchen sie, ihm ihre Kultur näher zu bringen und ihm etwas zu zeigen, zum Beispiel historische Samurai-Schwerter. Ganz traditionell wird auf Bambusröhren auf dem Boden übernachtet, zum Frühstück gibt es Sushi. +4. Dezember, Honolulu und Hilo, Hawaii:Das letzte Land auf dieser Reise. Florian hat gemischte Gefühle. All die Leute, die er so intensiv kennen gelernt und mit denen er so viel erlebt hat. Gleichzeitig hat er auch den Wunsch, in dem Trubel ab und an mal kurz alleine zu sein. Florian versucht das heimlich auf dem dritten Deck: iPod hören oder mal nur das Wasserrauschen genießen. An Land geht es dafür richtig rund: Florian springt aus einem Flugzeug, zum Skydiven! +15. Dezember, San Diego, Kalifornien:Endstation. Der Drang, jetzt schnell nach Hause zu gehen, ist groß. Aber an Land warten alle, bleiben stehen, umarmen sich, weinen, danken. Florian hat noch keinen Flug heim gebucht, zuerst geht er noch mit einer Kommilitonin nach New York, danach erst in seine Heimatstadt München. Home, sweet home? Einerseits fühlt es sich für Florian gerade so an, als würde er in ein Loch fallen, andererseits merkt er, dass er sein Zuhause viel mehr als früher schätzt. Er hat sich verändert. Und eine einmalige Erfahrung gemacht, die ihm niemand nehmen kann. Außerdem bleiben ihm viele neue Freunde, auf der ganzen Welt. +Daniela Heimpel (22) studiert Politikwissenschaft und Europastudien in Paris und schreibt für verschiedene Print- und Onlinemedien. diff --git a/fluter/sturm-auf-der-zeitungsinsel.txt b/fluter/sturm-auf-der-zeitungsinsel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..52ce8c9285e120d18d1995ea99a59d027a90fbd8 --- /dev/null +++ b/fluter/sturm-auf-der-zeitungsinsel.txt @@ -0,0 +1,34 @@ +Zur Auswahl stehen einerseits großformatige, renommierte Broadsheet Papers wie die Times, andererseits reißerische Boulevardzeitungen wie die Sun, die auf der Insel Tabloids genannt werden. Außerdem bietet der britische Zeitungsmarkt so ziemlich alles was dazwischen liegt. Wer wissen will, welche Zeitung welche Leserschaft anspricht, muss sich nur eine Szene aus der britischenSatiresendungYes, Prime Ministervon 1987 ansehen: Die Politiker Hacker, Sir Humphrey und Bernard unterhalten sich darin mit dem Premierminister, ob dieser den Zeitungen zu viel Aufmerksamkeit schenkt: +Hacker: "Sagt mir nichts über die Presse. Ich weiß genau, wer die Blätter liest. Den Daily Mirror lesen die Leute, die denken, dass sie das Land regieren. Den Guardian lesen die Leute, die denken, dass sie das Land regieren sollten. Die Times lesen die Leute, die wirklich das Land regieren. Die Daily Mail lesen die Ehefrauen der Leute, die das Land regieren. Die Financial Times lesen die Leute, denen das Land gehört. Den Morning Star lesen die Leute, die denken, dass das Land von einem anderen Land regiert werden sollte. Und den Daily Telegraph lesen die Leute, die denken, dass das schon der Fall ist."Sir Humphrey: "Premierminister, was ist mit den Leuten, die die Sun lesen?"Bernard: "Sun-Lesern ist es egal, wer das Land regiert, solange sie große Brüste hat." +Wir stellen euch hier nun eine Auswahl der wichtigsten britischen Medien vor. Daneben gibt es noch den Independent, den Daily Mirror, den Daily Star, den Daily Express, den Daily Record... und so viele mehr. +THE SUN +"The Sun ist das Äquivalent zur deutschen Bild-Zeitung", sagt die Kommunikationswissenschaftlerin Christine Lohmeier von der Universität München. "Auf Political Correctness wird bei der Sunwenig Wert gelegt." In der Tat polarisiert die Sun mit Skandalgeschichten, Fotos von leicht bekleideten Frauen und kreativen Wortspielen in den Überschriften. So nannte sie den deutschen Papst Benedikt XVI einmal "Papa Ratzi". Im Jahr 1992 reklamierte die auflagenstärkste britische Tageszeitung den Wahlsieg des konservativen Kandidaten John Major für sich. Am Tag nach der Wahl titelte sie: "It's The Sun wot won it". Hinter derSun steht der australische Medienmogul Rupert Murdoch. +Auflage: ca. 2,5 Millionen Exemplare, Preis: £0,40, Webseite: http://www.thesun.co.uk +THE GUARDIAN +Wäre der Guardian ein Mensch, man würde bei ihm wohl Borderline diagnostizieren. Einerseits erlebte die Zeitung einen weltweiten Bekanntheitsschub, seit sie die Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden veröffentlichte und so die Diskussionen über Massenüberwachungen durch Geheimdienste auslöste. Der Guardian expandiert nach Australien und in die USA, die Journalismusbranche feiert das Blatt für seine innovative Digital-Strategie. Andererseits schreibt es seit Jahren rote Zahlen, die Auflage sinkt bedrohlich und liegt aktuell bei nur noch knapp über 200.000 Exemplaren. Zum Vergleich: Die Freie Presse aus Chemnitz oder die Neue Westfälische aus Bielefeld liegen in der gleichen Größenordnung. Trotzdem: Die politische Relevanz des Guardian ist nicht zu unterschätzen. Kommunikationswissenschaftlerin Lohmeier meint: "The Guardian ist eine politisch links-ausgerichtete Qualitätszeitung, die immer wieder durch hochwertige investigative Berichte internationale Beachtung findet." +Auflage: ca. 200.000 Exemplare, Preis: £1,60, Webseite: http://www.theguardian.com +THE TIMES +Der Aufschrei war groß, als die News Corporation des australischen Medienmoguls Rupert Murdoch im Februar 1981 die renommierte Times kaufte. Murdoch war bis dahin vor allem mit dem Boulevardblatt The Sun aufgefallen. Bis heute wird dieTimes allerdings in der britischen Oberschicht geschätzt, wie Christine Lohmeier bestätigt: "The Times ist eine konservativ-liberale Tageszeitung, die den Ruf genießt, einen Großteil der politischen und wirtschaftlichen Elite unter ihren Lesern zu haben." Als eine der wenigen Zeitungen verlangt The Times Geld von den Lesern für ihren Online-Auftritt. Seitdem schwinden die Leserzahlen im Internet. +Auflage: 400.000 Exemplare, Preis: £1, Webseite: http://www.thetimes.co.uk +THE MORNING STAR +"Die Tageszeitung des Volkes", nennt sich der Morning Star selbst. In der Tat gehört das Blatt, das der kommunistischen Partei Großbritanniens nahesteht, seinen Lesern. Doch die werden immer weniger. Die journalistische Kooperative sieht sich als einzige sozialistische Tageszeitung der englischsprachigen Welt. Kommunikationswissenschaftlerin Christine Lohmeier sagt: "DerMorning Star ist ein politisch links ausgerichtetes Tabloid Paper, das 1930 als Blatt der Arbeiter und Gewerkschaften gegründet wurde." Heute ist die stolze Zeitung nur noch ein Abziehbild ihrer selbst. Auf der Website wird um Spenden gebeten und die Auflage liegt, je nach Quelle, nur noch bei 15.000-30.000 Zeitungen. +Auflage: 15.000-30.000, Preis: £1, Webseite: http://morningstaronline.co.uk/ +DAILY MAIL +Wem die Times zu anspruchsvoll ist und die Sun zu plump, der liest die Daily Mail, die Zeitung mit der zweithöchsten Auflage auf der Insel. "Sie wird dem sogenannten Mid-Market-Segment zugerechnet, das zwischen Tabloids und Broadsheet eingeordnet ist", erklärt Christine Lohmeier. Politisch sei das Blatt eher konservativ ausgerichtet. Der New Yorker nannte die Daily Mail einmal "die mächtigste Zeitung in Großbritannien". Zwar habe sie weniger Leser als die Sun, dafür würde sie von den Mächtigen ernst genommen. Nach eigenen Angaben ist die Leserschaft der Daily Mail in der Mehrzahl weiblich. MailOnline, die Onlineausgabe der Daily Mail ist mit Abstand die meist-gelesene Nachrichtenwebsite Großbritanniens und gehört zu den 100 meistbesuchten Websites überhaupt. +Auflage: ca. 1,8 Millionen Exemplare, Preis: £0.60, Webseite: http://www.mailonline.co.uk +THE DAILY TELEGRAPH +Neben der Times ist der Daily Telegraph die größte konservative Tageszeitung Großbritanniens. "Sie ist für ihre Unterstützung der konservativen Partei bekannt und hat sich dadurch den Spitznamen 'Torygraph' eingehandelt", sagt Christine Lohmeier (bezieht sich auf die konservative Tory Party, auch "Tories" genannt). Bereits im Jahr 1906 sorgte der Daily Telegraph für diplomatische Spannungen zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien, als sie ein heikles Interview mit dem damaligen Kaiser Wilhelm II. abdruckte. Die Website des Daily Telegraph ist bereits seit November 1994 online. "Damit wurde sie zur ersten europäische Zeitung, die im Web erhältlich war", sagt Christine Lohmeier. Seit 2004 ist die Zeitung im Besitz der schwerreichen Zwillinge David und Frederick Barclay. +Auflage: ca. 400.000 Exemplare, Preis: £1.20, Webseite: http://www.telegraph.co.uk +THE HERALD +Genau wie in vielen anderen Lebensbereichen hat Schottland was Zeitungen angeht einen Sonderstatus. Nicht die Londoner Blätter geben im Norden der Insel den Ton an, sondern die schottischen: The Herald aus Glasgow und The Scotsman aus Edinburgh. "Unter den schottischen Tageszeitungen hat The Herald die größte Leserschaft", sagt Christine Lohmeier. Allerdings: "Wie alle schottischen Regionalzeitungen steht der Herald im Wettbewerb mit den nationalen Tageszeitungen, von denen viele eine spezielle Version für schottische Leser anbieten." +Auflage: ca. 50.000 Exemplare, Preis: £1.10, Webseite: http://www.heraldscotland.co.uk +Die BBC +Die British Broadcasting Corporation ist zwar keine Zeitung, aber dennoch das wohl einflussreichste Medium in Großbritannien. Auntie, das "Tantchen", oder auch "The Beep" nennen die Briten ihre BBC scherzhaft. Und das piepende Tantchen ist mit 23.000 Mitarbeitern eine der größten Rundfunkanstalten der Welt. "Ihre ursprüngliche Aufgabe, der britischen Bevölkerung Informationen, Bildung und Unterhaltung zu liefern, hat die Entwicklung zahlreicher öffentlich-rechtlicher Rundfunkgesellschaften in Europa stark geprägt", erklärt Christine Lohmeier. Die BBC wird über eine direkte Gebühr aller Haushalte finanziert, ähnlich wie ARD und ZDF in Deutschland. Die BBC ist besonders für ihre Auslandsberichterstattung bekannt, aber genauso für selbst produzierte Serien - wie "Yes, Prime Minister". +BBC Webseite: http://www.bbc.co.ukPreis: £145,50 im Jahr +Der Hort der Pressefreiheit in Gefahr? +Im Vergleich zu Deutschland gilt die britische Presse als härter. "Dort geht man wenig zimperlich mit den Menschen um, über die berichtet wird", sagt Christine Lohmeier. Viele Journalisten berufen sich dabei auf die traditionell starke Pressefreiheit, für die das Vereinigte Königreich bekannt ist – UK-Mitglied England schaffte die Zensur nämlich als erstes Land 1695 ab. Doch als der Guardianim letzten Jahr aus den Geheimdokumenten des amerikanischen Whistleblowers Edward Snowden zitierte, wurde der britische Geheimdienst GCHQ ungemütlich. "Ihr hattet euren Spaß. Jetzt wollen wir das Zeug zurück", sollen Geheimdienstmitarbeiter zu Alan Rusbridger, dem Chefredakteur des Guardian, gesagt haben. Unter Aufsicht zweier Techniker des Geheimdienstes zerstörten Guardian-Mitarbeiter daraufhin Festplatten und andere Datenträger mit dem brisanten Material. "Das war schon ein erstaunlicher Schritt", sagt Lohmeier, "denn die Pressefreiheit war in Großbritannien mit prägend auf dem Weg hin zur Demokratie". +Die Zukunft: digital, was sonst? +Wie fast überall auf der Welt wandelt sich die Mediennutzung auch auf der Insel. "Junge wenden sich von Zeitungen ab", heißt es in einer Studie des Meinungsforschungsinstituts YouGov von 2013. Die vermeintliche Folge: "Die Blätter sterben mit der alten Generation aus." Zwar lesen immerhin 61 Prozent der jungen Briten Online-Zeitungen, allerdings nimmt die Leser-Blatt-Bindung ab, wie Christine Lohmeier erklärt: "Die jungen Leute kaufen nicht mehr eine Zeitung und lesen die, sondern im Internet kommt es zu einer Vermischung." Leser setzten sich so mit Inhalten aus verschiedenen Medien auseinander. Dass der Sun-Leser auch mal zum digitalen Daily Telegraph surft, ist aber eher nicht anzunehmen. + +Maximilian Zierer ist Absolvent der Deutschen Journalistenschule in München und berichtet zwischen Bayern und Barcelona – und auch mal über Britannien. +Ebenfalls brisant: Der Abhörskandal bei News of the World, dazu ein Stück aus demTagesspiegel.EinSpiegel-Artikelüber Alan Rusbridger.Video der Guardian-Mitarbeiter, die ihre Festplatten im NSA-Skandal zerstören mussten.Eine Folge aus "Yes, Prime Minister" aufYoutube.Auflagenzahlender größten Zeitungen auf der Seite des Guardian.Artikel aus dem New Yorkerüber die Daily Mail.Und hier noch dieYouGov-Studie zur Mediennutzungim Vereinigten Königreich. diff --git a/fluter/sturm-und-drang.txt b/fluter/sturm-und-drang.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/suedkorea-antifeminismus.txt b/fluter/suedkorea-antifeminismus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b08b14b0d0301ea167627d5d5b1e0073d8f82504 --- /dev/null +++ b/fluter/suedkorea-antifeminismus.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Eine Statistik zeigt die Problemlage besonders deutlich: das Ranking beim Thema Gleichberechtigung von Frauen und Männern.Im "Gender Gap Report" des World Economic Forumlandet Südkorea 2022 auf dem 99. Platz von 146 Ländern, hinter den Vereinigten Arabischen Emiraten und Kenia. Überall werden Frauen in Südkorea benachteiligt: Arbeitsmarkt, Bildung, Gesundheit und Zugang zu Ämtern. Zudem ist die Zahl der Gewalttaten auffällig: Pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner kam es 2020 zu mehr als 58 Vorfällen von sexueller Gewalt inklusive Vergewaltigungen in Südkorea. In Deutschland liegt diese Zahl bei zwölf. +Nicht erfasst werden dabei Übergriffe in der U-Bahn und die vermehrten Fälle, bei denen Frauen auf öffentlichen Toiletten und in Hotelzimmern heimlich gefilmt werden. Kim Areum kümmert sich als freiwillige Helferin in einer NGO besonders um solche Fälle von sogenanntem "spy-cam porn". Sie habe Videos angeschaut, wegen denen die Frauen vor Gericht gehen. "Das war zum Teil wirklich eine verstörende Arbeit." Eine Arbeit, die sie davon überzeugt hat, dass Südkorea noch viel aufholen muss. "Es heißt immer, Seoul sei eine der sichersten Städte der Welt", sagt sie. "Aber für uns Frauen gilt das nicht." +Um die Rechte der Frauen zu fördern, wurde vor rund 20 Jahren das Ministerium für Gleichberechtigung geschaffen, dessen Gebäude direkt im Zentrum von Seoul steht, gleich beim großen Palast des ehemaligen Königs. Doch obwohl es noch viel für das Ministerium zu tun gäbe, soll es nun abgeschafft werden. Anfang Oktober 2022 machte Präsident Yoon Suk-yeol damit eines seiner Wahlversprechen wahr. In der offiziellen Begründung heißt es, dass es Zeit sei, Diskriminierung "sowohl für Frauen als auch für Männer" abzuschaffen. Schließlich seien auch Männer im Alltag zunehmend benachteiligt. Als Beispiel zitieren Präsident Yoon und seine Mitstreiter immer wieder den Militärdienst,der für alle Männer verpflichtendist. Außerdem müssten Männer im Restaurant meistens die Rechnung bezahlen. Vier von fünf Koreanern zwischen 20 und 29 Jahren behaupten, als Mann bereits diskriminiert worden zu sein. Dass Männer in manchen Situationen benachteiligt werden und auch ernst genommen werden sollten, liegt auf der Hand – doch manche nutzen dies als Vorwand dafür, die Entrechtung von Frauen kleinzureden und damit zu billigen. +Yoon hatte schon im Wahlkampf die Nähe von Organisationen gesucht, die die Rechte von Frauen weiter beschränken wollen und die immer offener und lauter auftreten. Darunter die "Neue Männer-Solidarität", ein loser Zusammenschluss von Südkoreanern, die auf der Straße und im Internet gegen Feministinnen protestieren. Ihr You-Tube-Kanal startete Anfang 2021 und hat derzeit mehr als eine halbe Million Follower. +In diesen Videos spricht sich ihr Anführer Bae In-kyu(der Redner auf dem Foto oben)dezidiert gegen Gleichberechtigung aus und gegen Feministinnen. Die seien "Männerhasser", und das Streben nach Gleichberechtigung sei eine "psychische Krankheit". Die Frauen würden sich als Opfer inszenieren und in allen Männern Sexualstraftäter sehen. Die "Neue Männer-Solidarität" kämpfe für Genderharmonie und gegen einen "weiblichen Chauvinismus". +Der neue Antifeminismus entstand nach einer Zeit, in der Feministinnen öffentlich sichtbarer wurden. Das Buch "Kim Jiyoung, Born 1982" erschien 2016 und ist inzwischen einer der meistverkauften koreanischen Romane überhaupt, die Verfilmung ein Kassenschlager. Die Autorin beschreibt darin die systematische Benachteiligung von Frauen im Land, vom Kindergarten bis ins Büro. +Gleichzeitig hatteauch die #MeToo-BewegungSüdkorea erreicht. Am prominentesten war der Fall des beliebten Bürgermeisters von Seoul, der jahrelang eine Mitarbeiterin belästigt haben soll. Bevor die Behörden den Anschuldigungen nachgehen konnten, wurde er tot aufgefunden. Es wird davon ausgegangen, dass er infolge der Vorwürfe Suizid beging. Außerdem wehrten sich vor wenigen Wochen südkoreanische Aktivistinnen und Aktivisten lautstark dagegen, dass der 2020 verstorbene Regisseur Kim Ki-duk in Venedig geehrt werden sollte. Kim wurde nach Vorwürfen im Zuge der #MeToo-Debatte wegen Misshandlung und sexueller Handlungen an Schauspielerinnen angeklagt. +Präsident Yoon aber müht sich weiter, die Zeit zurückzudrehen, und kündigte an, die Strafen für falsche Anschuldigungen wegen sexueller Übergriffe zu erhöhen. Damit erfüllt er einen weiteren Wunsch, den Bae In-kyu von der "Neuen Männer-Solidarität" immer wieder geäußert hatte. Die antifeministische Gruppe greift indes zu immer drastischeren Mitteln. So filmte sich Bae neulich dabei, wie er mit einer Wasserpistole auf Demonstrationen von Feministinnen auftauchte und um sich schoss. Dabei trug er die Clownsmaske des "Jokers" aus dem gleichnamigen Film, in dem sichder von Frauen zurückgewiesene Protagonist radikalisiertund letztlich einen gewaltbereiten Mob anführt. Unmissverständlich sagte Bae: "Ich bringe sie alle um!" In einem Videostatement behauptete er später, er habe diese Verkleidung nur gewählt, weil er sonst keine Aufmerksamkeit bekäme. Die verstörenden Videos haben in Südkorea keinen großen Aufschrei ausgelöst, im Gegenteil: Der "Joker" bekommt nach wie vor viel Unterstützung in den Sozialen Medien. +Bei Kim Areum kommen auch dadurch gerade wieder die Erinnerungen an ihr Erlebnis vor elf Jahren hoch. Auch deshalb, weil bis heute nicht klar ist, welche Flüssigkeit in Baes Pistole war. + +Titelbild: Woohae Cho/The New York Times/Redux/laif diff --git a/fluter/suizid-von-jugendlichen-in-japan.txt b/fluter/suizid-von-jugendlichen-in-japan.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..019a00802c034e032c853b9d4d8d5a58ab4dd942 --- /dev/null +++ b/fluter/suizid-von-jugendlichen-in-japan.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Als Reaktion auf ihren harten Alltag voller Verpflichtungen undMobbinghatte sich Honoka Omoto, Schülerin und Teeniestar, erhängt. Die bei Events anfallenden zehn Stunden Arbeit am Tag zusätzlich zur Schule hielt sie nicht mehr aus, wollte die Gruppe verlassen, obwohl eine Showkarriere ihr Traum gewesen war. Als sie diese Probleme beim Management ansprach, soll sie erpresst und bedroht worden sein: Sie solle sich loyal gegenüber ihren Bandkolleginnen verhalten und weitermachen, ansonsten käme sie in Schwierigkeiten. Dass Omotos Hinterbliebene ihren Fall detailreich öffentlich gemacht haben, erinnert nun Japan an ein Problem, vor dem viele lieber die Augen verschließen würden: den starken Anstieg der Suizidrate unter Jugendlichen. +Anders als in christlich und islamisch geprägten Ländern ist ein Suizid in der japanischen Geistesgeschichte keine Sünde, sondern wurde traditionell eher als ein Übernehmen von Verantwortung oder eine Bitte um Vergebung verstanden. Bekannt ist auch der Mythos der Samurai, die sich in ausweglosen Situationen aus Ehrgefühl das Leben nahmen, oder dieGeschichte der Kamikaze genannten Selbstmordpilotengegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Einer der berühmtesten Schriftsteller Japans, Yukio Mishima, nahm sich 1970 öffentlichkeitswirksam das Leben. Durch internationale Medien geistern Storys über den "Selbstmordwald" am Rande des Fuji, wohin einige Menschen gehen, um sich aufzuhängen. Laut der Weltgesundheitsorganisation liegt Japans Suizidrate über 70 Prozent über dem weltweiten Durchschnitt: Nahmen sich 2016 durchschnittlich rund zehn von 100.000 Menschen das Leben, waren es in Japan über 18 (und in Deutschland über 13). + +Nachdem die Suizidrate in den 1990er-Jahren als Folge der schweren ökonomischen Krise stark angestiegen war, fallen die Werte im Bevölkerungsdurchschnitt mittlerweile. Besonders deutlich ist dieser Trend seit 2012, als die Regierung das Thema als soziales Problem anerkannte, vermehrt Sorgentelefone einrichtete und den mentalen Zustand von Angestellten in Betrieben überwachen ließ. 2016 zählte Japan 21.897 Suizide. Dies markierte das siebte Jahr in Folge mit fallenden Werten und nur noch gut zwei Drittel des Höchstwerts von 34.427 im Jahr 2003. +Doch fragt man Jiro Ito, gibt es keinen Grund zur Entwarnung. Vor fünf Jahren gründete der ausgebildete Sozialpsychologe in Tokio die Nichtregierungsorganisation OVA. Der Name steht für den Plural des lateinischen Wortes für Ei und deutet auf die Zerbrechlichkeit der Menschen hin. Mit OVA will Ito auf Suizide junger Menschen aufmerksam machen. Denn dieser Anteil stieg über die letzten Jahre an, die Sängerin Honoka Omoto ist nur ein Fall von vielen. +Auf 100.000 Jugendliche zwischen 15 und 19 Jahren kamen in Japan 2015 circa sieben Suizide pro Jahr (Deutschland: knapp fünf). Seit 2014 ist dies die häufigste Todesursache unter Teenagern. "Die Kampagne, mit der die Regierung Selbstmorden vorbeugen will, erreicht junge Leute überhaupt nicht", sagt Ito. Ein Großteil der Betroffenen würde bei seelischen Problemen sowieso kaum bei einer Hotline anrufen. "Telefonieren ist unter jungen Leuten heute eher etwas Anstrengendes oder sogar Unheimliches. Man nutzt Messaging-Dienste." +Immer Anfang September und Anfang April, wenn nach den Ferien die Schule wieder beginnt, steigt die Suizidrate etwas an. Laut einer Untersuchung von Kenzo Denda, Professor für Gesundheitswissenschaften an der Universität Hokkaido, leidet jedes vierte Kind auf einer weiterführenden Schule unterDepressionen. Häufig sei Mobbing ein Grund dafür, und unter depressiven Kindern sei Suizid wiederum besonders häufig. +Chika Tsuda, eine Lehrerin im zentral gelegenen Kobe, glaubt, die wesentlichen Probleme zu kennen. "Jugendliche sind von morgens bis abends in der Schule, dort wird gegessen und Sport oder Musik gemacht. Ihr einziges weiteres soziales Umfeld ist das Elternhaus." Wer also in der Schule soziale Probleme habe, könne diese meist nur daheim ansprechen, wovor aber viele junge Menschen aus Angst, die Eltern zu enttäuschen, zurückschreckten. Zudem: "Es gibt großen Druck in unserer Gesellschaft, normal zu sein. Anderssein wird kaum geschätzt." Konformität zu fördern sei heutzutage zwar meist nicht mehr die Absicht der Lehrer, glaubt Tsuda, der Druck werde aber häufig aus den Familien durch die Kinder in den Schulalltag getragen. Und wer von der Norm abweicht, ob durch die Noten oder den Haarschnitt, kann zum Mobbingopfer werden. +Müsste die Schule dies nicht erkennen und einschreiten? Ja, wenn sie es könnte, meint Jiro Ito von der NGO OVA. "Natürlich gibt es die Fälle, in denen Schulen wie auch Arbeitgeber die Probleme im eigenen Haus verschweigen, um die Reputation zu schützen. Aber häufiger ist der Fall, dass die Lehrer davon gar nichts mitbekommen." Chika Tsuda kennt dies aus ihrem Alltag. "Wenn Schüler im Unterricht gehänselt oder während der Pause in den Mülleimer gesteckt werden, dann sehen wir Lehrer das natürlich. Aber wie sollen wir deren Chatgruppen überwachen?" +Und wenn es tatsächlich einen Suizid gegeben habe, erführe man nicht einmal als Lehrer unbedingt davon. Dann komme ein Kind eben nicht mehr zur Schule. "Man macht sich dann seine Gedanken", sagt Tsuda, die solche Geschichten von Kollegen kennt. "Aber es kann gut sein, dass die Eltern so ein unangenehmes Ereignis auch nicht zum großen Thema machen wollen." + + +Der Fall der Popsängerin Honoka Omoto hat auch deswegen so hohe Wellen geschlagen, weil hier die Öffentlichkeit auf Missstände aufmerksam gemacht wurde. Doch wer kann etwas ändern? OVA testet neue Wege. Bei Googlehat Jiro Ito Anzeigen geschaltet, die immer dann aufscheinen, wenn Begriffe wie "shinitai" (dt.: ich will sterben) oder "jisatsu houhou" (dt.: Suizidmethoden) eingegeben werden. Ganz oben steht bei Google dann ein Link mit dem Titel "Für dich, der/die du über Freitod nachdenkst", der auf eine Website mit Ermunterungen und Gesprächsangeboten weiterleitet. +Ito ist guter Dinge, dass sich damit etwas erreichen lässt: "Der Anteil der Personen, die den Link sehen und dann auch draufklicken, ist doppelt so hoch wie bei normalen Anzeigen." Im ersten Jahr hat OVA auf diese Weise allein im Westen von Tokio 300 E-Mails von Menschen erhalten, die über einen Suizid nachdachten. "Die meisten lassen sich von uns überzeugen, es mit dem Leben noch einmal zu versuchen." Die Unterhaltungen führt OVA natürlich per Messaging-Dienst. + + +Wenn es dir nicht gut geht oder du gar daran denkst, dir das Leben zu nehmen, versuche, mit Freunden oder Verwandten darüber zu sprechen. Es gibt auch sehr viele Hilfsangebote, bei denen du dich rund um die Uhr melden kannst. +Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und jederzeit erreichbar. Die Telefonnummern sind 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222. Wenn du lieber chattest oder E-Mails schreibst, kannst du unter www.telefonseelsorge.de unkompliziert schriftlich Kontakt aufnehmen. + +Titelbild: Pieter Ten Hoopen/VU/laif diff --git a/fluter/sundarbans-mangroven-klimakrise.txt b/fluter/sundarbans-mangroven-klimakrise.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0e98115a0546f9d0ed50c08797c016deba9f0472 --- /dev/null +++ b/fluter/sundarbans-mangroven-klimakrise.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Der größte Mangrovenwald der Welt mit 10.000 Quadratkilometern Fläche befindet sich vor der Küste von Indien und Bangladesch, wo das vielfach verästelte Gangesdelta eine schwer zugängliche Inselwelt schafft. Sundarbans heißt die Region, bengalisch für "schöner Wald". Doch von Schönheit ist auf den Bildern von Supratim Bhattacharjee wenig zu sehen. Seit 13 Jahren reist der indische Fotograf in die Sundarbans, an deren westlichem Rand der Wald den Siedlungen für Menschen weichen musste. Er zeigt eine bedrohte Region, denn der Klimawandel lässt denMeeresspiegelsteigen und sorgt dafür, dass die Tropenstürme heftiger und häufiger werden. Einige der Inseln im Gangesdelta sind bereits versunken. So werden die Menschen dort auch Opfer ihres eigenen Handelns und bald womöglichKlimaflüchtlingesein. + +Die Dorfbewohner der Insel Sajtelia stehen Schlange, um Hilfe zu erhalten, nachdem ein Zyklon viele Häuser zerstört hat +Auf der Insel Ghoramara brachen die Dämme und ließen weite Regionen im Wasser versinken +Die Flutwellen haben ein Haus überspült +Geschäftsleute haben illegal Flussdämme für die Garnelenzucht errichtet +Dieses Haus auf der Insel Gadhkhali wurde durch den Superzyklon Amphan völlig zerstört +Bewohner der Insel Mousuni fällen Bäume in der Küstenregion diff --git a/fluter/superblocks-leipzig-verkehrswende.txt b/fluter/superblocks-leipzig-verkehrswende.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b3e788e31ae2c868c197b8550d7aa6bf8d9a3153 --- /dev/null +++ b/fluter/superblocks-leipzig-verkehrswende.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Das stellte sich Jedlitschka einfach vor: ein Zebrastreifen, um die Straße sicher zu überqueren. Die Nachbarschaft beschäftigt sich mit der Straßenverkehrsordnung und stellt fest: nicht so einfach. Auf Nebenstraßen und in Ampelnähe werden normalerweise keine Zebrastreifen eingerichtet, "empfohlen" sind sie sogar nur dort, wo stündlich 100 bis 150 Fußgänger auf 300 bis 600 Autos treffen. Zu viel für die Hildegardstraße. "Es ist kompliziert,mehr Sicherheit im Straßenverkehrherzustellen", sagt Jedlitschka. Die Idee zum Superblocks Leipzig e. V. wächst. +Bekannt wurde das Konzept in Barcelona durch die "Superilles". Mitte der 2010er-Jahre sah sich die Stadtverwaltung gezwungen, etwas gegen die hohe Luft- und Lärmbelastung in der Stadt zu tun, und organisierte den Autoverkehr in Wohnvierteln neu. Die Idee: Vier bis neun Häuserblocks werden für eine "Superilla" zusammengefasst. Innerhalb des Blocks wird der Verkehr durch Tempolimits, Diagonalsperren, Poller, Hochbeete, Parkbänke oder Einbahnstraßen beruhigt, Fußgänger undRadfahrer haben Vorrang. Die Hauptstraßen um den Superblock herum können wie bisher befahren werden. +"Solche Konzepte sind wichtig, umStädte resilienter und lebenswerter zu machen", sagt Annegret Haase. Die Stadtsoziologin hat das Leipziger Pilotprojekt wissenschaftlich begleitet. Der Superblock helfe bei der Anpassung an den Klimawandel, sagt sie. Die Begrünung sorgt für mehr Schatten und dafür,dass sich die Hitze im Sommer weniger staut.Dazu trage das Konzept zu sozial gerechterem Verkehr bei. "Kinder, Ältere mit Rollator oder Frauen mit Kinderwagen – die bleiben bei der Stadtplanung sonst oft auf der Strecke", sagt Haase. "Wir schließen Straßen, um sie zu öffnen." +Nach Barcelonas Vorbild haben sich etliche Initiativen gegründet: In Wien wurde das Konzept unter dem Namen Supergrätzl umgesetzt, in Darmstadt gibt es Heinerblocks, Berlin will 70 Kiezblocks schaffen. Jede Stadt setzt das Konzept anders um. +Am Leipziger Superblock kommt durch die Julihitze Friedemann Goerl angeradelt. Er ist der Fußverkehrsverantwortliche der Stadt, eine bundesweit einmalige Stelle. Goerl sagt: "Der Raum ist schon etwas Besonderes mit den Sitzmöbeln und der Bemalung auf dem sonst tristen Asphalt. Er hat eine Verwandlung durchgemacht, mehr Qualität für Aufenthalt und Spiel." +Auf einer der Bänke trinken zwei junge Frauen Kaffee, in und vor den Restaurants an der Kreuzung zur Eisenbahnstraße ist zur Mittagszeit viel los. "Wir haben hier seit über einem Jahr den ersten Modalfilter. Also eine Reihe von Pollern, quer über die Straße gezogen", sagt Goerl. "Das wirft den Verkehr in Schleifen. Man kann alles erreichen, aber nicht mehr einfach durchs Quartier hindurchfahren." +Superblocks sind nicht autofrei. Die Anwohnerschaft soll mobil, das Viertel zugänglich bleiben. Aber Verkehrsforscher beobachten, dass der Verkehr nicht nur verlagert wird, wenn Pkw langsamer und schleifenförmig durch städtische Wohngebiete fahren dürfen: Viele steigen mit der Zeit auf andere Verkehrsmittel um. Heißt: Es wird weniger Auto gefahren. +Hier in Leipzig fahren trotz Schritttempo immer noch viele Autos. Und auf den rund 60 Metern Superblock parken gleich mehrere. "Theoretisch verboten", sagt Friedemann Goerl. "Das Parkverbot ist ein großes Problem", sagt Hasan Ciftci. +Ciftci wohnt im Superblock und arbeitet hier in einem Restaurant. "Unsere Anlieferer bekommen jetzt dauernd Strafzettel, wenn sie hier halten", sagt er. Und abends sei es oft lange laut: Die Leute treffen sich im verkehrsberuhigten Bereich, besonders die, die trinken und Drogen nehmen, betont Ciftci. Er wünscht sich, dass der Superblock gestoppt wird. Gegen das Projekt wurde eine Petition gestartet – und eine für seine Umsetzung, die mehr Unterschriften erhielt. + +Um den Konflikt zu verstehen, hilft ein Blick auf die Stadtkarte: Der Superblock grenzt an die Eisenbahnstraße, eine der Hauptverkehrsachsen Leipzigs. Wenn es sich dort staut, kürzen viele Autofahrer über die Querstraßen ab – von denen einige im Superblock liegen. +Früher betitelten grelle Reportagen die Eisenbahnstraße als "gefährlichste Straße Deutschlands". Sie stand für Drogen und Schlägereien. Heute ist Volkmarsdorf, der Stadtteil, in dem der Superblock liegt, eher eine Wohngegend mit belebten Bürgersteigen, kleineren Geschäften, Restaurants, Bars und Spätis. Die Mieten sind günstig, das Durchschnittsalter mit am niedrigsten. Und in Volkmarsdorf sind am wenigsten Pkw pro Einwohner zugelassen. Einigen vermittele das Straßenbild einen falschen Eindruck von den Bedürfnissen im Viertel, sagen Kritiker des Superblocks: Es gebe hier genauso die, die den Block nicht als Aufwertung erleben, weil sie ihre Autos brauchen, um zur Arbeit zu kommen oder den Einkauf zu erledigen. +"Viele befürchten auch, dass die Mieten steigen, wenn die Lebensqualität hier steigt", sagt Francesca Russo. Sie ist Vorsitzende im Leipziger Migrantinnen- und Migrantenbeirat. Der hat den Superblock in einem Votum mehrheitlich abgelehnt. "Teile der migrantischen Community, die auch sonst in der Stadt kein Mitspracherecht haben, fühlen sich nicht mitgenommen", sagt Russo. In Volkmarsdorf ist der Migrationsanteil besonders hoch. Russo persönlich glaubt, dass der Superblock das Viertel weiterbringt, hat aber auch gegen ihn gestimmt. +Was der Beirat entscheidet, ist für den Stadtrat nicht bindend. Ende April beschloss der: Das Projekt wird nicht gestoppt, sondern erweitert. Zwei weitere Diagonalsperren sollen errichtet werden, 40 Meter Straße vor einer Schule, die komplett für den Durchgangsverkehr gesperrt werden. "Beteiligungsprozesse können nie alle zufriedenstellen", sagt Friedemann Goerl. Die Bedenken der Anwohner würden aber gehört: Die Stadt will feste Ladezonen für Lieferfahrzeuge und Pflegedienste einrichten. + +Dieser Text istim fluter Nr. 92 "Verkehr"erschienen +Wie viel der Superblock zum Klimaschutz beiträgt, lässt sich noch nicht sagen. Das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig wertet dazu gerade Messdaten aus. Für Forscherin Haase ist aber klar, dass solche Maßnahmen allenfalls ein "Mosaikstein" sind und in ein größeres Konzept für nachhaltige Stadtentwicklung eingebunden werden müssen. Das gibt es in Leipzig, die Stadt arbeitet an der Umsetzung. In Barcelona trägt das Konzept bereits: Dort wurden weniger Schadstoffe wie Feinstaub oder Stickstoffdioxid in der Luft gemessen, es gibt weniger Lärm und in den "Superilles" kaum noch Unfälle, dafür hat sich dort sogar mehr Gastronomie und Einzelhandel angesiedelt. +In Leipzig hätte Initiatorin Ariane Jedlitschka nie gedacht, dass es solchen Widerstand geben würde gegen weniger Autoverkehr vor der Haustür. Jedlitschka wirkt erschöpft, ist aber zufrieden: Es sei jetzt "viel ruhiger und sicherer" auf den umkämpftesten 60 Metern der Stadt. + +Titelbild: Leon Joshua Dreischulte diff --git a/fluter/superskeptisch.txt b/fluter/superskeptisch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..654268290d5aa888b253852f0d7d870883f4e634 --- /dev/null +++ b/fluter/superskeptisch.txt @@ -0,0 +1,13 @@ + +Als der Food-Blog "Grub Street" über diese interkontinentale Kalorienbombe berichtete, zerbarsten alle Dämme. Tout New York wollte den neuen Edeldonut, den es nur in sehr kleiner Stückzahl gab, weil er so aufwendig herzustellen war. Ab Sonnenaufgang bildeten sich Schlangen vor dem Laden, verzweifelte Anrufe gingen beim Bäcker ein, Unternehmen schickten ihre Praktikanten zum Anstehen. Als Ansel den Verkauf auf zwei Stück pro Kunde limitierte, entstand ein Schwarzmarkt. Bis zu 100 Dollar wurde für ein Teilchen des Fettgebäcks gezahlt. Irgendwann, als sich die Ersten schon um drei Uhr morgens vor der Bäckerei einfanden, machte ein Foto viral die Runde, das zwei junge Frauen zeigt, die im Müll nach aussortierten, verkohlten oder verformten Cronuts wühlten. +Wie um alles in der Welt kann so etwas passieren? David Sax, Journalist unter anderem für die "New York Times" und preisgekrönter Sachbuchautor, hat sich an einer Erklärung versucht. Sie wurde 354 Seiten lang und heißt "Tastemakers" – eine systematische wie unterhaltsame Untersuchung, wie heute Essenstrends entstehen. +Natürlich gab es die schon immer. Manche sind flüchtig – das Fondue chinoise in den 1970er-Jahren. Andere beständig – der Espresso. Mit zunehmendem Wohlstand, schreibt Sax, wurde Essen immer mehr zum Modeartikel, Statussymbol und Machtinstrument. Längst sei es ein Stück Popkultur mit den entsprechenden Wellen der Hysterie, die durch die sozialen Netzwerke rasant beschleunigt werden. +Sax unterscheidet vier Arten von Foodtrends. Es gibt kulturelle Trends, etwa der Cupcake. Nachdem er 20 Sekunden in einer Folge der Fernsehserie "Sex and the City" vorkam, hat sich der Absatz des Gebäcks in Amerika von 2008 bis 2012 um 56 Prozent gesteigert. Es gibt landwirtschaftliche Trends, etwa wenn neue Produkte auf den Markt kommen. Beispielsweise die Reissorte "China Black", die pro Kilo 1.000 Dollar kostet. Andere Trends werden von Köchen initiiert. Warum erst koreanisches und jetzt peruanisches Essen so beliebt ist, geht auf einzelne Pioniere am Herd zurück. Und schließlich sind da die gesundheitlichen Trends. Dazu gehört das heute so erfolgreiche wie umstrittene Superfood, dem Sax das interessanteste Kapitel widmet. + + +Der Begriff selbst ist relativ neu. 1998 brachte ihn der amerikanische Ernährungsjournalist Aaron Moss in Umlauf, als er damit Lebensmittel bezeichnete, die einen hohen Nährstoffreichtum aufweisen. Seither hat das Wort eine steile Karriere als Marketingbegriff hingelegt. Warum? In einer komplexen und hyperoptionalen Welt der Diät- und Nahrungstrends, so Sax, biete es eine ebenso attraktive wie einfache Erklärung. Wenn du Chia/Goji/Acai etc. isst, wirst du gesund, schön und glücklich. + +Der Markt für "Functional Food", so definiert die Lebensmittelindustrie Nahrungsmittel mit angeblichem gesundheitlichen Nutzen, lockt mit großen Margen. Als Kellogg's behauptete, dass ihre ballaststoffreichen Cornflakes "All-Bran" das Krebsrisiko senken könnten, stiegen die Marktanteile um 50 Prozent. Das war 1984. Heute sei es nicht anders, schreibt Sax. Im Gegenteil. Planen Konzerne, neue Superfood-Produkte auf den Markt zu bringen, beauftragen sie universitäre Forschungseinrichtungen mit aufwändigen Studien. Deren Ergebnisse allerdings drehen und wenden sie dann oft, und es wird unübersichtlich. Am Ende stehen verwirrende und weit hergeholt erscheinende Werbeversprechen, auch wenn längst nicht alle so dreist sind wie das des Granatapfelsaft-Herstellers Pom, der meinte, man könnte mit dem Kauf seiner Produkte dem Tod ein Schnippchen schlagen. +Gar nicht glücklich darüber, dass Lebensmittel wie Medikamente vermarktet und entsprechend teuer verkauft werden, sind indessen viele unabhängige Wissenschaftler, die bei Sax zu Wort kommen. Etwa Marion Nestle, eine Celebrity im Bereich der Lebensmittelpolitik (und nicht verwandt mit dem Schweizer Ernährungsmulti mit dem Accent auf dem e). Für Wissenschaftler sei kein Lebensmittel herausragend, sagt sie. Würden doch sämtliche frischen und nicht verarbeiteten Lebensmittel zahlreiche Nährstoffe enthalten – wenn auch in unterschiedlichen Anteilen. Praktisch alle Obst- und Gemüsesorten enthielten zum Beispiel Antioxidantien, mit denen Superfoods oft beworben werden, deren gesundheitsfördernde Wirkung jedoch gar nicht belegt ist. +Das ist vielleicht das Beste an diesem Buch: Am Ende ist man skeptisch, genau genommen superskeptisch – nämlich auf alles, was verspricht, dass es schön, gesund, schlank und fit machen soll. Und man fragt sich, warum Ernährung nicht schon längst ein Schulfach ist. +Felix Denk ist Redakteur bei fluter.de. Er hat noch keinen Cronut gegessen, aber ziemlich lang nach handgemachten Croissants in Berlin geforscht. Ziemlich toll sind die vonDu Boheurund demSalon Sucre. Und für die muss man nicht mal anstehen. diff --git a/fluter/surfen-gaza-fotos.txt b/fluter/surfen-gaza-fotos.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/surfen-und-pflanzen.txt b/fluter/surfen-und-pflanzen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6484ae33e94a02c6db39de2dd8c881fbe6f4a1a1 --- /dev/null +++ b/fluter/surfen-und-pflanzen.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Ecosia ist eine Suchmaske, deren Ergebnisse von der Microsoft-Suchmaschine "Bing" kommen. Zudem sollen eigene Algorithmen das Ergebnis aufpeppen. Pro Suchanfrage verdient Ecosia nach eigenen Angaben etwa 0,5 Cent, vor allem durch die Gewinne aus Werbung, die rund um die Suchergebnisse angezeigt wird. In Burkina Faso einen Baum zu pflanzen kostet die belgische Partnerorganisation WeForest rund 28 Cent. In Wirklichkeit braucht es also gut 60 Suchanfragen, um einen Baum zu pflanzen, und Ecosias Baumzähler gibt etwas schwammig an, zu wie vielen Bäumen man "beigetragen" hat. Aber es ist wohl besser für die Motivation seitens der Nutzer, wenn anstatt eines einzelnen Blattes oder Astes ein ganzer Baum angezeigt wird. +"Ich hatte BWL studiert, in Richtung Nachhaltigkeit und Umweltschutz war ich nicht besonders vorgebildet", erzählt Gründer Christian Kroll. Es bedurfte erst einer Weltreise und des Bestsellers "Hot, flat, and crowded" von Thomas Friedman (dt. Titel:"Was zu tun ist"), um das zu ändern. Man muss sich das so vorstellen: Kroll erblickte in Südamerika das erste Mal den Regenwald – und lernte aus der Reiselektüre, dass 20 Prozent der weltweiten Kohlendioxid-Emissionen auf die Abholzung eben dieses Waldes zurückzuführen seien. +Das war im Jahr 2008. Da war Krolls erste Idee, ein Entwicklungshilfeprojekt in Form einer von ihm aufgebauten und von Nepalesen verwalteten Suchmaschine, bereits gescheitert ("Weil es kaum Internet und Strom gab"). Auch sein nächstes Projekt, Ecosias Vorläufer "Forestle", überdauerte nicht lange, da Partner Google es sich anders überlegte. Doch beim Nachfolger, online seit Dezember 2009, arbeiten mittlerweile elf Angestellte "für eine Welt, in der die Umwelt gar keinen Schutz mehr braucht", wie Kroll sagt. +Ecosias Beitrag zu diesem Ziel sind bald 2.700.000 gepflanzte Bäume und Server, die mit Ökostrom betrieben werden. Außerdem ist die Suche mit Ecosia CO2-neutral. Richtig gelesen: Auch eine Webrecherche hinterlässt – wie jegliche Online-Aktivität – einen CO2-Fußabdruck, schließlich werden dabei stets Server in Anspruch genommen, und diese verbrauchen wie der eigene Rechner eben Energie. So rechnet beispielsweise Marktführer Google mit acht Gramm Kohlendioxid pro Tag und "aktivem" Nutzer (25 Suchen, 60 Minuten YouTube plus Mail-Nutzung). Ecosia geht von 0,2 Gramm Kohlendioxid pro Suchanfrage aus und neutralisiert diese durch Unterstützung eines strengst zertifizierten Klimakompensationsprojekts in Madagaskar. +Skeptikern begegnet Ecosia mit größtmöglicher Transparenz: Aufihrem Blogveröffentlichen die Berliner allerhand Fotos und Videos von ihrem Partnerprojekt in Burkina Faso, auch Dokumente wie Spendenquittungen und Geschäftsberichte sind hier einsehbar. Laut diesen nahm Ecosia im Juli 2015 durch etwa 720.000 Suchanfragen pro Tag insgesamt 106.999 Euro ein. Mehr als die Hälfte davon ging für Geschäftskosten und Rücklagen drauf, 44.750 Euro wurden gespendet. Macht 160.000 Bäume im Juli 2015 – oder anders ausgedrückt: alle 16 Sekunden ein Baum. +Das klingt nicht übel, reicht aber bei weitem nicht aus, um bis 2020 auf die angepeilte Milliarde zu kommen. Deshalb will sich Ecosia künftig den US-amerikanischen Markt vornehmen, auf dem es noch viel Luft nach oben gibt. Die dortigen Nutzer müssen nur merken, wie einfach das geht mit dem Bäumepflanzen. Und ihnen erzählt besser niemand, was Forscher der US-Uni Yale jüngst geschätzt haben: dass esetwa drei Billionen Bäume auf der Weltgibt – und dass pro Jahr 15 Milliarden gefällt werden. +Der Berliner Journalist Lukas Wohner muss zugeben, dass er gelegentlich auf Googles Suchergebnisse umschaltet – auch wenn er bei Ecosias Bäumchenzähler das bessere Gewissen hat. + diff --git a/fluter/sven-liebichs-fake-news.txt b/fluter/sven-liebichs-fake-news.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..33fe9864914cc50e8bf9199f07f1d25d15ee296b --- /dev/null +++ b/fluter/sven-liebichs-fake-news.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Manche seiner Geschichten haben womöglich sogar einen wahren Kern. Aber eigentlich brauchen sie so etwas gar nicht. Aus einer Schlägerei zwischen zwei betrunkenen Deutschen macht er kurzerhand einen religiös motivierten Anschlag, bei dem ein Junge erschlagen und dessen Vater enthauptet wurde, und erntet dafür im Netz wütendes Geheul. "Krank!! Einfach nur krank! Danke Frau Merkel ganz großes Kino haben sie uns beschert." Liebich weiß eben, welche Tonlage er anschlagen muss, damit sein Thema Erregung produziert Einmal montierte er ein Zitat neben das Foto des Bundesjustizministers. "Auch wenn die Ehefrau erst 6 und der Mann 56 ist, können wir nicht einfach unterstellen, die Heirat wäre nicht aus Liebe vollzogen." Der Justizminister hatte das so nie gesagt. Liebich behauptete hinterher, das sei auch nicht als Zitat gemeint gewesen. Vielleicht bekäme er damit vor Gericht sogar recht. Im Gegensatz zu Verleumdungen sind Übertreibungen von der Meinungsfreiheit gedeckt. Der Spruch mit dem Justizminister funktionierte für Liebich sehr gut. Der Beitrag auf Halle-Leaks produzierte nach Analysen von Buzzfeed deutlich mehr Facebook-Engagements als die Artikel, die es zum selben Thema bei bild.de und anderen Onlinezeitungen gab. +Auch die Nachricht von Halle-Leaks über den Kindergarten verbreitet sich schnell. Irgendwann verlässt das Gerücht den digitalen Raum und schwappt in die reale Welt. Die Kita-Leiterin in Merseburg wird von einer ihrer Mitarbeiterinnen gewarnt. Kurz darauf geht es los. Bei ihr klingelt das Telefon, besorgte Eltern fragen, ob denn etwas dran sei an den Vorwürfen. Ob die Kinder sicher seien? Warum denn da auf Facebook stehe, sie habe irgendwelchen Flüchtlingen Kinder zum Vergewaltigen angeboten? Nein, sagt sie. Auf keinen Fall. Das stimme nicht. Immer wieder muss sie sich rechtfertigen. Sie erklärt, dass der Garten der Kita vermüllt gewesen sei, dass der Hausmeister es nicht schaffe und sie deswegen bei einer Organisation um ehrenamtliche Helfer gebeten habe. Gekommen seien syrische Flüchtlinge mit ihrem Betreuer, und die hätten den Garten netterweise, ohne Geld dafür zu bekommen, sauber gemacht. Offenbar hatten drei Frauen aus der Nachbarschaft die Syrer beobachtet. Erst hätten sie rassistische Parolen über den Zaun gerufen, dann Fotos der Helfer gemacht und diese an Halle-Leaks geschickt. Sie sei entsetzt über das, was da im Netz zu lesen sei, sagt die Kita-Leiterin. +"Das Gerücht wächst, indem es sich verbreitet." Schon vor über 2.000 Jahren beschrieb der Dichter Vergil das, was heute mit Falschmeldungen geschieht. Rein juristisch ist es zwar möglich, gegen einen Autor wie Sven Liebich vorzugehen und ihn vor Gericht zur Unterlassung, Löschung oder Gegendarstellung seiner Inhalte zu bringen. Doch dasselbe auch mit allen Menschen zu tun, die seine Nachricht weiterverbreitet haben, ist nahezu unmöglich. Auch direkte Beschwerden Betroffener in sozialen Medien ändern nicht viel. Die Leser von Halle-Leaks scheinen keine Zweifel zu hegen. Sie sehen die Welt so, wie sie sie sehen wollen, und kommen offenbar gar nicht auf den Gedanken, dass etwas mit ihren Informationsquellen nicht stimmt. +Sven Liebich gibt es nicht nur im Netz, sondern auch in der analogen Welt. Fast jeden Montag steht ein kleiner stoppelwangiger Mann mit einem Mikrofon vor dem Ratshof und wirbt für das, was er den Frieden nennt. "Ich will euch keine Etiketten geben. Ich will hier nicht fragen, wer ist links, wer ist rechts, wer ist Muslim, wer ist Christ. Diese Etiketten, diese ganze Rechts-Links-Scheiße dient den Herrschenden, um unser Volk zu spalten! Und das benutzen sie seit Jahrzehnten erfolgreich!" Er gibt sich den Anstrich eines aufrichtigen Aktivisten, eines Mannes, der gegen "das System" kämpft und ideologische Gräben überwinden will. Für Liebich ist es ein Vorteil, dass ihn keiner so richtig einordnen kann. Er fährt Skateboard und trägt Kapuzenpullover. Gerne rennt er auch mit Marx-Engels-Lenin-T-Shirt herum. Am liebsten zitiert er Rudi Dutschke, Brecht und Voltaire. Als Imam hat er sich auch mal verkleidet und dazu aufgerufen, zum Islam zu konvertieren. Aber das war nicht ernst gemeint, sondern nur seine ganz spezielle Art von Humor. Am einen Tag wedelt er mit einem Mitgliedsausweis der Linkspartei herum (die jedoch Wert darauf legt, dass er sich den Ausweis erschummelt habe und nie Mitglied gewesen sei). Am nächsten grölt er auf der Bühne die Lieder einer Neonazi-Band. Wer genau er ist, was genau er eigentlich will, hält er bestmöglich geheim. +Sein Geld verdient Liebich womöglich nicht ganz zufällig mit dem Verkauf von T-Shirts. Der Name seines Geschäfts ist genauso unscheinbar und schwer zu deuten wie seine öffentlichen Auftritte. Im Angebot des Ladens findet man einerseits dumpfe Männerscherz- Drucke à la "Mann mit Grill sucht Frau mit Kohle", aber andererseits eben auch islamfeindliche Sprüche und Pseudo- Wikinger-Prosa. Liebichs Aktivitäten sind ein Dreiklang. Mit seinen Gerüchten betreibt er eine Art von Kreislaufwirtschaft. Weil sie seine Nachrichten lesen und die vermeintlichen Skandale glauben, weil er Unsicherheit und Wut erzeugt, gehen Menschen auf die von ihm beworbenen Demonstrationen und ziehen sich dafür mitunter die extra von ihm designten T-Shirts an (erwähnt sei zum Beispiel das Motiv "Merkel-Jugend" anlässlich eines Besuchs der Bundeskanzlerin). Das T-Shirt sei eine Propagandawaffe, schreibt Liebich, "weil es – besser als ein Flugblatt – ständig gesehen wird von allen Mitmenschen, die einem über den Weg laufen". Jüngst hat er ein neues Produkt in sein Sortiment aufgenommen, das verdeutlicht, wie weit er schon mit der Fiktionalisierung der Gegenwart gekommen ist. Wenn die vermeintliche Islamisierung Deutschlands nicht schnell genug voranschreitet, hilft Liebich eben nach. Seine Kunden können bei ihm jetzt Aufkleber in arabischer Schrift mit dem Namen ihrer Heimatstadt oder ihres Dorfes bestellen. Den kleben sie dann auf ihre Ortsschilder. Es wird nicht lange dauern, bis danach auf Facebook jemand die Meldung verbreitet, man habe jetzt offenbar heimlich Arabisch als Amtssprache eingeführt. + +Titelfoto: Schellhorn/ullstein bild diff --git a/fluter/swingender-fluchthelfer.txt b/fluter/swingender-fluchthelfer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a1446235f50238eadd8c6d46c73ddfe71a94564e --- /dev/null +++ b/fluter/swingender-fluchthelfer.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Und was soll uns das sagen? +Im Grunde erzählt der Film davon wie schwierig die Entscheidung ist, sich auf die Flucht zu begeben. Nur widerwillig verlässt Reinhardt Paris, immerhin kam er ja ganz gut durch, trotz der Besatzer. Und da ist noch seine schwangere Frau, seine alte Mutter, die anderen Musiker der Band. Aber die Situation für die Sinti spitzt sich zu. Und so dreht sich der Film plötzlich um eine späte politische Bewuststeinsbildung. +Wie wird das erzählt? +Eher langsam, und anfangs auch ein bisschen behäbig. Experimente vermeidet Etienne Comar, dessen Regiedebüt "Django" ist. Dafür nimmt er manches Klischee mit. Schön ist die Eingangsszene. Während Reinhardt auf der Bühne ein Feuerwerk auf der Gitarre zündet, blitzen im Gegenschnitt immer die Orden der Wehrmachtsoffiziere auf, die stocksteif im Publikum sitzen. Dann fehlt dem Film über den so schwungvollen Gitarristen etwas Tempo, bis er im zweiten Teil Fahrt aufnimmt. +Beste Szene +Um anderen die Flucht zu ermöglichen und sich selbst aus einer misslichen Lage zu befreien, spielt Reinhardt ein Konzert für die Nazis in einer Villa direkt am Genfer See, der an die rettende Schweiz grenzt. Mit seinem Auftritt soll er auch die Wachen ablenken. Während die Fieberkurve der Musik ansteigt, schaffen es die Flüchtlinge unbemerkt über den See zu paddeln. +Beste Nebenrolle +Negros, die Mutter von Reinhardt (hinreißend gespielt von der Sintiza Bim Bam Merstein), die zwar schon alt und bucklig ist, aber noch gnadenlose Gagenverhandlungen für ihren Sohn führt. +Bester Satz +Auch von Negros: "Besser spielen kostet extra". Das sagt sie dem Veranstalter, der ein Konzert für die Pariser Nazi-Größen organisiert hat. +Wieder was gelernt +Reinhardt war Analphabet. Anstelle von Autogrammen malte er Herzchen. +Ideal für... +... alle, die Musik mögen, sich für Biopics interessieren, das Thema Flucht mal aus einem historischen Blickwinkel sehen wollen, aber nicht die allerhöchsten Ansprüche an Dramaturgie und Dialoge haben. +"Django". Regie und Buch: Etienne Comar, mit: Reda Kateb, Cécile de France, Beata Palya, Bim Bam Merstein, Frankreich 2017, 117 Min. diff --git a/fluter/symbolische-politik-und-nebensaechlichkeiten.txt b/fluter/symbolische-politik-und-nebensaechlichkeiten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..747e13a01185a98ed929c9d0e2d37d8875766dc5 --- /dev/null +++ b/fluter/symbolische-politik-und-nebensaechlichkeiten.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +In Ihrem Buch untersuchen Sie Gesten, Worte, Orte und Rituale der Demokratie. Da geht es unter anderem um Aufsitzrasenmäher, Milbenkäse, Inkontinenzwindeln und Zwergschnauzer. Dabei sind Sie als Politikwissenschaftler ja für theoretische Tiefenbohrungen zuständig. Hören Sie manchmal: Das ist aber oberflächlich? +Das denken bestimmt viele, aber man bekommt das nicht so ins Gesicht gesagt. Die Gefahr ist immer da, dass man für die Trivialitäten zuständig ist. Aber das Argument ist ja, dass uns das was Substanzielles sagt. Wenn das nicht eingelöst wird, habe ich was falsch gemacht. +Wenn Politiker im Wahlkampf immer öffentlich Bratwurst essen, dann können wir daraus etwas über die Demokratie lernen? +Ja, das glaube ich. Wir leben ja in einer repräsentativen Demokratie. Es gibt Abgeordnete, die für uns im Bundestag sitzen und für uns Entscheidungen treffen sollen. Da gibt es einen eingebauten Verdacht, den populistische Parteien thematisieren, nämlich: Die sind abgehoben, die gehören gar nicht zu uns, die schmoren im eigenen Saft, abgekoppelt von unseren Sorgen und Nöten. Das muss einerseits materiell beantwortet werden. Die Leute müssen das Gefühl haben, dass es eine Lösungskompetenz gibt für die Probleme. Und es muss symbolisch beantwortet werden: Wir sind normale Menschen mit Macken und Fehlern, unsere Gewohnheiten heben sich gar nicht von euren ab, wir essen das, was ihr esst. Wir kleiden uns auch so, wie ihr euch kleidet. +Gibt es deshalb gerade die programmatisch unrasierten Politiker wie Christian Lindner oder Guttenberg? +Ich weiß nicht, ob da ein Inszenierungsinteresse dahintersteht. Bei dem Begriff der Inszenierung bin ich überhaupt vorsichtig, da schwebt ein Verdacht mit, dass das alles nur Show sei – und irgendwo im Hinterzimmer findet dann die richtige Politik statt. Das klingt nach Fassadendemokratie. Diese Art von Vorwurf möchte ich nicht bedienen. Im Gegenteil. Ich spreche ja von der Ökonomie der Darstellung der Politik. Bei Lindner – klar, der hat sich einen Pop-Fotografen rekrutiert, der ihn ins rechte Licht setzen sollte. Er und Guttenberg sprechen andere Wählergruppen an als vielleicht Martin Schulz, auch eine andere Alterskohorte, und treten deshalb weniger steif auf, machen eher ein bisschen auf Popstar. +Vor drei Jahren erschien im "New Yorker" ein Porträt der Bundeskanzlerin Angela Merkel. George Pecker, der Autor, beschreibt Merkel, wie sie im Bundestag über die Ukraine-Krise spricht und mit gedämpfter Stimme vom Teleprompter abliest. Der erste Absatz endet mit: "Angela Merkel, the Chancellor of the Federal Republic of Germany and the world's most powerful woman, is making every effort not to be interesting." Ist Auffallen etwas Gefährliches geworden? +Interessante These. Ich glaube, sie trifft zu. Zumindest für Deutschland und auch Skandinavien. Hier gehört es zum guten Ton, nicht aufzufallen, eher einlow profilezu pflegen. Das hat natürlich auch was mit der deutschen Geschichte zu tun. Die ganze Ästhetik, die der bundesdeutsche Staat sich auferlegt hat, ist eine, bei der der Ball flach gehalten wird. Ganz anders etwa als Macrons Versailles-Inszenierung mit dem ganzen neoimperialen Pomp. In Frankreich kann man das machen, in Deutschland eigentlich nicht. Das Nüchterne, die Pragmatik, die Behauptung, eigentlich keinen inszenatorischen Stil zu haben, ist ein eigener inszenatorischer Stil. +Das demonstrative vorzeitige Verlassen von Talkshow-Runden geht da aber in eine andere Richtung. +Ja, das ist so eine neue Geste, das hat der Bosbach gemacht, dann die Weidel, woraufhin der Bosbach gesagt hat, das sei ja nur ein billiger Abklatsch. Bislang saßen die Leute – wenn auch nicht friedlich, aber doch bis zum Ende der Sendung – beisammen und haben eine Unterhaltung simuliert. Mal sehen, ob das jetzt Schule macht. Es untergräbt natürlich das Format. +Was hat man denn davon, wenn man rausgeht? +Frau Weidel konnte ihre Partei als Medienopfer stilisieren, was in der Vergangenheit teilweise auch berechtigt war, die AfD hat ja extrem Gegenwind erfahren. Und sie hat das mit einer programmatischen Position verbunden: Die haben gesagt, das sei ein weiterer Grund, die Rundfunkgebühren nicht zu zahlen. Für die Anhängerschaft ist das sicher mobilisierend. +Aufmerksamkeitsökonomisch gedacht ein gelungenes Manöver. +Das ist fast ironisch: Jetzt wird man mal eingeladen, jetzt hat man mal eine Öffentlichkeit, und dann geht man wieder raus. +Sie untersuchen in Ihrem Buch auch die politische Sprache, in der suggestive Wörter dominieren, die keinen Gegenbegriff zulassen: bunt oder tolerant etwa. Haben wir verlernt zu streiten? +Die Mechanismen des politischen Wettbewerbs sind weniger auf den Streit ausgerichtet als auf die Vermeidung des Streits. Da geht es um Mehrheitsfähigkeit und maximale Zustimmungsfähigkeit. Die führen dazu, dass die eigene Position so formuliert ist, dass die Gegenposition gar nicht möglich ist. Das kann man natürlich auf das Symbolische erweitern. Was da dauernd versucht wird, ist eine maximale Zustimmungsfähigkeit zu erreichen. Das zielt auch auf das Nebensächliche. +Aber ist der Streit nicht das Wesen der Demokratie? +Das stimmt natürlich. Aber meine Analogie wäre die Marktwirtschaft. Generell würde man sagen, die funktioniert über den Wettbewerb. Und der funktioniert über Preise. Wenn man genauer hinguckt, merkt man, dass Unternehmen die ganze Zeit versuchen, diesem Wettbewerb auszuweichen, indem sie Produkte schaffen, die so einzigartig sind, dass sie sich dem Preiswettbewerb nicht stellen müssen. So ist das auch im politischen Wettbewerb. Man versucht den Streit zu unterlaufen, weil die eigene Position als fraglos gelten soll. Wer ist schon gegen soziale Gerechtigkeit, Frieden, Vollbeschäftigung? Wenn man all seine Positionen so formuliert, dann gräbt man aber der Gegenposition, die im Ziel ja gar nicht unterschiedlich ist, in der Wahl der Mittel das Wasser ab. +Was war für Sie denn die zentrale Nebensächlichkeit dieses Wahlkampfs? +Angela Merkels Kartoffelsuppen-Rezept und Christian Lindners Karriere als Thermomix-Vertreter. Plötzlich ging der Wahlkampf Richtung Kochshow. + +Philip Manow ist Professor für Politikwissenschaft und unterrichtet an der Universität Bremen. Mit seinem Buch "Die zentralen Nebensächlichkeiten der Demokratie. Von Applausminuten, Föhnfrisuren und Zehnpunkteplänen" (Rowohlt) hat er ein Lexikon der politischen Gesten und Rituale geschrieben, das so unterhaltsam wie lehrreich ist. + diff --git a/fluter/syrien-diktatur-politische-gefangene.txt b/fluter/syrien-diktatur-politische-gefangene.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c7b93cb0dcab854824823fe3b4f440c7a864b248 --- /dev/null +++ b/fluter/syrien-diktatur-politische-gefangene.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Yasmin al-Mashaan (44, auf dem Titelbild rechts) hat fünf ihrer sechs Brüder in Syrien verloren. Vier tötete das Assad-Regime, einen der IS. In Deutschland hat al-Mashaan die Caesar Families Association mitbegründet: einen Zusammenschluss von Menschen, die ihre verschwundenen Angehörigen auf den sogenannten Caesar-Fotos wiederfanden. 2013 hatein syrischer Militärfotograf mit dem Decknamen CaesarZehntausende Fotos aus dem Land geschmuggelt und veröffentlicht. Darauf zu sehen waren die Leichen von mindestens 6.700 Syrern, die in den Gefängnissen der Geheimdienste getötet worden waren oder nach ihrer Überstellung aus einem Gefängnis in ein Militärkrankenhaus gestorben sind – auch al-Mashaans Bruder Oqba war darunter. +Seit Jahren fordert al-Mashaan, wie viele andere Hinterbliebene, die Aufklärung des Schicksals aller Verschwundenen und Gerechtigkeit für die Opfer. Nach dem Sturz des Assad-Regimes scheinen diese Ziele nun greifbarer denn je. + + +fluter.de: Wie haben Sie den Sturz des Assad-Regimes in der Nacht auf den 8. Dezember erlebt? +Yasmin al-Mashaan: Meine Kinder und ich verfolgten die Nachrichten auf allen Kanälen, gleichzeitig war ich in Kontakt mit meinen Verwandten vor Ort. Alles ging so schnell. Als um circa drei Uhr nachts das Foltergefängnis Sednaya befreit wurde, konnten wir unsere Gefühle nicht mehr kontrollieren, wir jubelten vor Freude. Wir erwarteten ja, dass die Gefangenen jetzt alle rauskommen, überlegten, wie wir Betreuung für sie organisieren. +Doch es waren weniger als gedacht. +Es waren nur ein paar Tausend, und das bei geschätzt 130.000 Verschwundenen. Es zeichnete sich ab, dass alle, die nicht rausgekommen sind, tot sind. Der Tag danach war sehr bedrückend. +Wie gehen die Familien, die nach Angehörigen suchen, mit der Situation um? +Ich bekomme im Minutentakt Nachrichten von Menschen, die noch nach jemandem suchen und Unterstützung brauchen. Manche haben es bisher nicht gewagt, auf den Caesar-Fotos nach ihren Angehörigen zu suchen, und wollen das jetzt nachholen. Wer dort nicht fündig wird, den können wir an andere Opferorganisationen vermitteln, die sich zum Beispiel mit im Sednaya-Gefängnis verschwundenen Personen beschäftigen. Oder wir helfen ihnen, ihre Angehörigen beiden speziellen UN-Organisationen für die Verschwundenenzu registrieren. Ich kenne auch einige, die jetzt aus Europa und der Türkei nach Syrien gereist sind, um vor Ort nach ihren Kindern zu suchen, obwohl sie wissen, dass sie danach nicht zurückkönnen. Mittlerweile fragen viele: Wenn sie tot sind, wo sind dann ihre sterblichen Überreste? +Können Sie helfen? +Das Wichtigste ist jetzt, die Familien zu beruhigen, denn sonst entstehen leicht Wünsche nach Rache. Wir haben Psycholog*innen engagiert, die unsere Mitglieder online betreuen. Seit Jahren beschäftigen wir uns mit dem systematischen Verschwindenlassen durch den Staat, dokumentieren und sammeln Beweise. Und doch ist die Realität noch grausamer als erwartet. +Rund um und in Damaskus wurden bereits Massengräber gefunden. +Wir rufen die Menschen dazu auf, nicht eigenständig in den Massengräbern nach ihren Angehörigen zu suchen. Das müssen Expert*innen machen. Die neue Führung muss die Massengräber schützen. Leider haben manche Menschen auch Dokumente aus den Gefängnissen mitgenommen, weil sie nach ihren Kindern suchen. Wir bitten sie, diese ordnungsgemäß aufzubewahren, bis es eine Regierung oder eine andere verantwortliche Organisation gibt, der man sie übergeben kann. Sie dürfen nicht verloren gehen. +Gibt es Beweise oder Spuren, die auf den Verbleib der Verschwundenen hindeuten? +Wir haben eine Dokumentationsgruppe in Syrien, die Aufzeichnungen von Computern, Datenträgern, Überwachungskameras sammelt. Außerdem Berichte von Augenzeug*innen, die wissen, wo Menschen begraben wurden. Selbst die Innenwände der Gefängnisse tragen Informationen darüber, welche Personen dort waren. All diese Beweise sind nicht nur mögliche Spuren zu den Verschwundenen, sie helfen auch, die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Wer Menschen verschwindenoder foltern lässt, der muss zur Rechenschaft gezogen werden. Jetzt ist die Gelegenheit für Aufarbeitung und Gerechtigkeit. + + +Sie haben in den letzten Jahren Aktivist*innen aus aller Welt getroffen, die sich in ihren Ländernmit Übergangsjustiz beschäftigt haben. Lässt sich davon etwas auf Syrien übertragen? +Ich war in Kenia und Kolumbien, habe Opferverbändeaus Argentinienund Mexiko getroffen und habe erfahren, wie die Menschen dort mit der Suche nach den Verschwundenen umgingen. Die kolumbianische Herangehensweise war inspirierend, sie haben sich auf die Opfer fokussiert. Die nächste Regierung sollte die Rechte der Opfer in den Fokus stellen, in der neuen Verfassung müssen sie geehrt und entschädigt werden. Die UN-Sonderinstitution für Verschwundene in Syrien muss weitreichende Befugnisse bekommen, um die Gefängnisse und Massengräber in Zusammenarbeit mit den Familien zu überprüfen. Korrupte Institutionen müssen reformiert, eine neue Verfassung geschrieben werden. Es braucht Sondergerichte für die Übergangsjustiz. +Glauben Sie, dass die aktuelle Führung Ihre Forderungen umsetzen wird? +Bisher zeigt sich Ahmed al-Scharaa, der Führer der Islamistenmiliz HTS, die Diktator Baschar al-Assad gestürzt hat, in seinen Aussagen kooperativ. Die internationale Gemeinschaft hat Einfluss darauf, dass er sich daran hält. Wenn al-Scharaa eine friedliche Machtübergabe, Wahlen, eine neue Verfassung und eine Übergangsjustiz ermöglicht, dann sollten die Sanktionen gegen Syrien gelockert werden. +Überlegen Sie, selbst nach Syrien zu reisen? +Meine Kinder sindhier aufgewachsen, haben die deutsche Staatsbürgerschaft und gehen hier zur Schule.Ich kann sie nicht einfach aus ihrem Alltag herausholen. Wenn sie mit ihrer Ausbildung fertig sind, können sie überlegen, wo sie leben möchten. Syrien besuchen wollen wir auf jeden Fall, aber erst, wenn wir wissen, dass es eine stabile Regierung gibt und das Land sicher ist. In mir gibt es auch einen Teil, der denkt: In Syrien habe ich einen Schmerz erfahren, der nicht zu beschreiben ist. Warum soll ich dorthin zurückgehen? Höchstens, um Blumen auf die Gräber meiner Brüder zu legen. + +Titelbild: Lutz Jäkel/laif - Hannah El-Hitami diff --git a/fluter/system-change-not-climate-change.txt b/fluter/system-change-not-climate-change.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1cf304429f83c889bc5f9ff69ac89223d0680803 --- /dev/null +++ b/fluter/system-change-not-climate-change.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Bald sitzen Flori und ich im Auto, machen eine Rundfahrt durch die Region. Aus den Boxen Schreigeschrabbel von Floris Hardcore-Band Extinct: "Eaten by your hatred / caught up in despair / the guilt is on the strangers / that never weren't there." +Flori trägt eine IG-Metall-Kappe, ausgebeulte Jeans, ausgedehnte Ohrlöcher, einen Umhängebeutel mit Aufklebern drin. "Antifa bleibt Landarbeit" steht drauf. Flori lässt sich zum Pädagogen ausbilden, ist bekennender Marxist und sitzt für die Linkspartei im Gemeinderat. Wo beim bayrischen Nachwuchs eher politischer Gleichmut herrscht, muss sich die Jugend im Osten entscheiden: Fascho oder Zecke? "Landser hat hier jeder mal jehört – die Frage ist: Hörst du damit auf – oder jehste weiter?", sagt Flori. +Wir fahren vorbei an einer Bushaltestelle, darin stehen zwei verwaiste Paletten Bier neben zwei grimmig dreinguckenden Oldschool-Nazis. So kontextlos mit ihren Camouflagehosen, kahl rasierten Schädeln und 88-Tattoos sehen sie aus wie ausgestopfte Karikaturen aus einer längst vergangenen Zeit. An einem Laternenpfahl klebt ein "Wehr dich"-Sticker der Identitären. Flori klebt einen drüber, auf dem steht: "System change, not climate change!" +Warum bist du zurückgekehrt, Flori? "Heimweh", sagt Flori, der im Dachgeschoss über seinen Großeltern wohnt. "In Berlin biste immer am Rennen, obwohl de weißt, dass die nächste Bahn in drei Minuten kommt. Immer die Angst, da irjendwo was zu verpassen." diff --git a/fluter/systemfrage.txt b/fluter/systemfrage.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..75806fbb06705c569082c631f3d32cec57da4cf1 --- /dev/null +++ b/fluter/systemfrage.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Football3 heißt das Konzept, nach dem hier gespielt wird. Der Sport- und Sozialwissenschaftler Jürgen Griesbeck entwickelte es 1996, inspiriert vom Straßenfußball im kolumbianischen Medellín. Er veranschlagte drei Drittel statt zwei Halbzeiten, nur in einem davon wird gekickt, und im ersten legen die Spieler:innen selbst die Regeln fest. Im letzten Drittel vergeben sich die Teams gegenseitig Fair-Play-Punkte, die für den Sieg zählen. Wer am fairsten spielt, hat also größere Chancen zu gewinnen. Schiedsrichter:innen gibt es nicht, die Mannschaften werden nicht nach Geschlechtern getrennt. +Football3 vermittelt einen ganz anderen Fußball, als er sonst auf den Plätzen der Welt gespielt wird. In dem gibt es zwei gleichgeschlechtliche Teams, zwei Tore, einen Ball und ein Ziel: den Ball öfter ins gegnerische Tor zu schießen als der Gegner. Trainer:innen rufen vom Rand rein, Schiedsrichter:innen verteilen Strafen nach Regeln, die am Spieltag unveränderlich feststehen. +Millionen Menschen feiern diesen Sport, Fußball vereint Menschen verschiedenster Klassen. Er ist vielleicht der beliebteste, auf jeden Fall der präsenteste Sport der Welt. Für manche gibt es am konventionellen Fußball einen Haken: Seine Regeln seien mehr als nur technische Vorgaben; sie spiegelten die patriarchalen und kapitalistischen Strukturen unserer Gesellschaft wider. Fußball ist ein Wettbewerb. Er konzentriert sich auf Siege, im besten Falle als Summe individueller Erfolge. Wer viel leistet und sich durchsetzt, wird belohnt, auch wenn er Sexualstraftäter, Steuerhinterzieher oder Fundamentalist ist. Diese Maskulinität prägt auch ein Körperbild, das queere, weibliche und Körper mit Behinderungen immer noch benachteiligt. +Dass Fußball ganz anders aussehen könnte, ist kein neuer Gedanke. "Viele wissen gar nicht, dass Fußball nicht immer so war", sagt Alina Schwermer. Die Sportjournalistin hat die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Missstände im Fußballsystem in einem Buch geschildert. "Futopia" stellt auch Möglichkeiten vor, den Sport gerechter zu gestalten. "Fußball wird seit über 2.000 Jahren gespielt, vielleicht noch viel länger", schreibt Schwermer, "und er war dabei so unterschiedlich, wie Gesellschaften verschieden sind." +Sie erzählt von Kreisballspielen in Südostasien, in denen Spieler:innen den Ball gemeinsam so lange wie möglich in der Luft halten müssen, sich gute Leistungen also durch gegenseitige Solidarität einstellen. Oder vom angehenden Mittelalter in England. Ganze Dörfer traten gegeneinander an, recht ungestüm und gewaltvoll, aber eben auch ohne Regeln oder Positionen auf dem Feld. Nicht mal die Ergebnisse wurden festgehalten. Später spielten europäische Adelige Ballsportarten, die ganz auf Rhythmus, Manieren und Proportion ausgelegt waren, nicht auf körperliche Hochleistung. Oft sei historisch nicht zwischen Geschlechtern unterschieden worden, sagt Schwermer. +Die Regeln, nach denen heute weltweit Fußball gespielt wird,wurden erst 1863 an der Cambridge University entworfen. Heute suchen verschiedene soziale Bewegungen – darunter Arbeiter:innen, Feminist:innen oder Bildungsentwickler:innen – Alternativen zum vorherrschenden Fußballkonzept. +• Eine ist Football3, die Variante, die an der Osnabrücker Realschule gespielt wird: Die Spieler:innen treten in gemischten Teams an und handeln die Regeln gemeinsam aus. +• Beim Integrated Football spielen Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam – auf vier Tore. Je nach Spielfähigkeiten werden ihnen bestimmte Rollen zugeteilt. Die schreiben vor, was den Spieler:innen erlaubt ist; einige dürfen nur auf bestimmte Tore zielen, andere nicht in Zweikämpfe gehen mit Personen, die eine andere Rolle innehaben. +• Im Jugendfußball entstehen immer mehr Fair-Play-Ligen. Schiedsrichter:innen gibt es nicht, die Trainer:innen müssen sich gemeinsam in einer Zone aufhalten, die Eltern 15 Meter Abstand zum Spielfeld halten: Die Kinder sollen sich auf dem Platz selbst verständigen, ohne Druck von draußen. +• Der sogenannte Dreiseitenfußball will die übliche Binarität des Fußballs dekonstruieren, indem drei statt zwei Teams gegeneinander antreten. Und zwar im Hexagon. Das Team, das die wenigsten Tore zulässt, gewinnt. Für erfolgreiche Angriffe müssen die Teams Bündnisse schließen und sich anschließend wieder in den Rücken fallen. "Das bildet unsere komplexe Gesellschaft, in der es selten die eindeutig Guten und die Bösen gibt, viel realistischer ab", sagt Alina Schwermer. +Schwermer hat auch eigene Ideen für neue Fußballkonzepte. Kooperative Spielformen, in denen Teams gemeinsame Ziele anstreben. Oder Überraschungsfußball: Team A überlegt sich ein Spielziel, etwa möglichst viele Eckbälle, oft die Latte treffen oder möglichst viele Räder schlagen. Team B weiß nichts davon. Es muss herausfinden, was passiert. In der Halbzeit wird gewechselt. "Das könnte Humor einbringen, der Fußball ist ja sonst sehr ernsthaft", sagt Schwermer. +Auch Fußball ohne jedes Ziel kann sie sich vorstellen. "Wie wäre es mit einem Themenparcours, den Teams gemeinsam mit dem Ball am Fuß durchlaufen, oder einem Impro-Theaterstück auf dem Spielfeld, das mit dem Ball arbeitet?" Das Ziel wäre nicht mehr Gewinnen, sondern ein schönes Spiel. +Wenn Schwermer solche Ideen auf Lesungen vorschlägt, reagieren einige Zuhörer:innen empört. "In fast jeder Runde steht jemand auf und sagt: Aber Wettbewerb ist doch das Herzstück des Spiels. Das können wir nicht abschaffen." Auch Trainer:innen, die Überraschungsfußball oder Dreiseitenfußball ausprobieren, berichten, dass sie bei den Spieler:innen auf Widerstand stoßen. "Viele sind so in diesem Leistungsdenken verankert, dass sie alles Abweichende als Nonsens empfinden", sagt Schwermer. +Auch Saber Silo muss den Schüler:innen in Osnabrück immer wieder erklären, dass es beim Turnier nicht nur um Wettbewerb geht. "Die wollen erst mal nur spielen", sagt er. "Auf das Gerede haben sie keine Lust." +Dass Menschen ihre Leistungen messen wollen, finden beide legitim. Doch müssen wir deswegen einen Fußball spielen, der viele strukturell benachteiligt, der Werte wie Kooperation, Mitsprache und Kreativität unterminiert? +Manchmal lässt sich schon beobachten, dass alternative Fußballkonzepte Wettbewerb mit demokratischen, inklusiven Werten vereinen kann. Als sich die Teams "Kein Rassismus" und "VfL Osnabrück" nach dem Abpfiff in Osnabrück zur dritten Halbzeit versammeln, fehlen zwei Spieler:innen des VfL. "Die sind genervt, weil wir verloren und die anderen so oft gefoult haben", sagt ein Schüler. Saber bittet das Team, die Mitspieler:innen zu holen. "Wir haben miteinander gespielt, jetzt müssen wir miteinander reden", sagt er. Das will erst mal niemand, die Gemüter sind erhitzt. Aber zuletzt einigen sich die Teams, einander jeweils zwei Fair-Play-Punkte zu geben. "Sie haben sich an alle Regeln gehalten, außer daran, niemanden in die Ecke zu drücken", erklärt jemand. Team "Kein Rassismus" jubelt. Sie haben gewonnen: mit 3:2 Toren und 2:2 Fair-Play-Punkten. + +Die Autorin dankt dem Team von KickFair e.V. für die Unterstützung bei der Recherche und die Möglichkeit, am Turnier in Osnabrück teilzunehmen. + +Unser Titelbild zeigt eine Frühform des heutigen Fußballs auf einem Kupferstich. (Foto: Rischgitz/Getty Images) diff --git a/fluter/tagebuecher-zweiter-weltkrieg.txt b/fluter/tagebuecher-zweiter-weltkrieg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..af9fa7250a506760eccc9cb7ac4870f3c20f5802 --- /dev/null +++ b/fluter/tagebuecher-zweiter-weltkrieg.txt @@ -0,0 +1,42 @@ +Noch heute, 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, sind imNIOD, dem Institut für Kriegs-, Holocaust- und Genozidstudien, der Königlichen Bibliothek der Niederlande und anderen Institutionen mehr als 2.100 Kriegstagebücher archiviert. Seit 2018 helfen unter der Leitung von René Pottkamp Freiwillige dabei, die Dokumente zu transkribieren und zu digitalisieren. "Der Leser erlebt die Ängste, Unsicherheiten und Sehnsüchte mit, fast so, als würde er dem Autor oder der Autorin über die Schulter schauen", sagt Pottkamp vom NIOD. "Mit dem Unterschied, dass wir heute wissen, wie alles ausgeht." +Hier zeigen wir Auszüge aus drei Tagebüchern: +1933 floh der damals 10-jährige Arnold Heilbut mit seiner Familie aus Hamburg nach Amsterdam, wo er das jüdische Gymnasium besuchte. Sein Tagebuch beginnt im Februar 1940. Am 10. Mai 1940 überfällt die Wehrmacht die Niederlande. +10. Mai 1940, 5:30 Uhr +Heute Nacht von 2 bis 5:30 Uhr hat die Luftabwehr gefeuert. Viele deutsche Flugzeuge über den Niederlanden. Hier und da landen Fallschirmjäger, teils in niederländischen Uniformen. Niemand weiß wirklich, was bevorsteht. […] Ich war schon um 5:30 Uhr auf. Also bin ich in die Sjoel [Synagoge] gegangen. Beten ist das Einzige! +23. Februar 1941 +Das jüdische Viertel wurde heute wieder von der Grünen Polizei [der Ordnungspolizei der Nazis] abgesperrt. Es wurden ungefähr 50 Personen festgenommen […]. Als Jude lebst du hier jetzt etwas unruhig. + +Das Tagebuch des damals 18-jährigen Arnold Heilbut hat den Krieg überstanden und ist heute im Jüdischen Historischen Museum archiviert. Arnold selbst wurde 1941 im KZ Mauthausen ermordet + +23. März 1941 +Heute war ein Tag, an dem wir nicht wussten, wo vorne und hinten ist. Gestern Abend hatte ich mich mit Judith [Wolff] und Ruth Knoller verabredet, zu "Was ihr wollt" von Shakespeare zu gehen. Heute früh bekam Judiths Großmutter einen Anruf. Es war das Komitee, sie müsse am Morgen den ersten Zug nach Berlin nehmen. Obwohl seit Wochen alles vorbereitet war, ging es natürlich furchtbar schnell für sie, aber wir konnten ihr helfen. […] Morgen früh um 6:30 Uhr fährt sie mit dem Expresszug nach Berlin, und wahrscheinlich Dienstag nach Lissabon, von wo aus sie hofft, Mitte April mit dem Schiff in die USA zu fahren. Hoffentlich geht das gut aus. +29. März 1941 +Donnerstagnachmittag herrschte in der Stadt eine echte Feierstimmung. […] Wir alle erwarten, dass dies das letzte Kriegsjahr ist; dass es im Sommer oder Herbst vorbei ist. +Judith Wolffs Flucht gelingt. Arnold Heilbut wird am 11. oder 12. Juni 1941 auf der Straße verhaftet und am 26. Juni 1941 imKZ Mauthausen ermordet. + + +"In jedem Tagebuch gibt es Momente, die einen schockieren", sagt Josine Franken, eine der 130 Freiwilligen des Tagebuch-Projekts. Die 70-Jährige wurde über Facebook auf die vergessenen Tagebücher aufmerksam, als sie nach dem Tod ihrer Mutter, die sie jahrelang gepflegt hatte, eine neue Aufgabe suchte. +Seitdem hat Franken mehr als 1.000 Seiten transkribiert. Die langwierige Arbeit versteht sie alsBeitrag gegen die historische Amnesie.Frankens ältestes Enkelkind ist zwölf Jahre alt – in ihren Augen das Alter, in dem Kinder spätestens von den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs erfahren sollten. "Ich mache mir Sorgen, dass viele junge Leute nicht mehr wissen, was damals passiert ist. Wir dürfen das menschliche Leid nicht vergessen. Das war für mich einer der wichtigsten Gründe, bei dem Projekt mitzumachen." +In Amsterdam erlebt auch der jüdische Diamantenhändler Meijer Emmerik die Deportation vieler Verwandter und Freunde, weshalb er und seine Frau Vogeltje sich Anfang 1942 in Amersfoort verstecken. Als es dort zu riskant wird, zieht der 49-Jährige im September 1943 in ein Versteck in der südniederländischen Provinz Limburg um. Vogeltje bleibt zurück, um auf das kranke Enkelkind aufzupassen. +23. September 1943 +Heute früh war Fräulein Tini hier, um mir mitzuteilen, dass meine Frau am Freitag, dem 17. September, nach Westerbork transportiert worden ist. Obwohl ich nicht viel Hoffnung habe, werde ich sofort alle Anstrengungen unternehmen, um sie vorerst in Westerbork zu sperren. Ich habe ein vollumfängliches Finanzmandat erteilt. Sollte es trotz alledem nicht glücken, bete ich zu Gott, dass er sie für mich verschonen möge. +Das "Finanzmandat" bezieht sich vermutlich auf Emmeriks Vorhaben, seine Frau von den Nazis freizukaufen. Der Versuch ist vergeblich. Am 24. September 1943 wird Vogeltje imKZ Auschwitzermordet. Ihr Mann erfährt zunächst nicht von ihrem Tod, vermutet aber das Schlimmste. +10. Januar 1944 +Ich bin letzte Nacht um 9 Uhr ins Bett gegangen und habe bis heute früh um 9 Uhr dagelegen, ohne auch nur eine Minute geschlafen zu haben. Ich kann den Verlust meiner Frau nicht überwinden, und obwohl die Leute hier sehr gut zu mir sind, fühle ich mich schrecklich einsam. Wenn ich hin und wieder zu Herrn Simons gehe, sind das auch nur fünf Minuten auf der Straße, und das ist alles, was ich von draußen sehe, und ansonsten sitze ich Tag für Tag, Woche für Woche und Monat für Monat im Haus, bewege mich von einem Stuhl zum anderen und liege dann wieder den ganzen Tag auf dem Bett. Es ist zum Verrücktwerden. +Meijer Emmerik überlebt den Holocaust. Er stirbt 1978 im Alter von 83 Jahren. + + +Von September 1944 an blockieren die Nazis Lebensmittel- und Brennstofflieferungen aus den ländlichen Gebieten der Niederlande. Maria Takkenberg, Angestellte in einem Amsterdamer Ladenbüro, beginnt ihr Tagebuch im darauf folgenden "Hungerwinter". +13. Januar 1945 +Heute ist der 13. Januar, ich bin 31 Jahre alt geworden. Wir leben im Winter des 6. Kriegsjahres. Leben… das heißt ohne Gas, Licht, ohne genug Treibstoff und Essen. Es gibt keine Filme mehr, keine Straßenbahnen, keine Duschen oder Bäder, keine Kleidung, keinen Luxus, keinen Komfort. Was wir haben, um am Leben zu bleiben: 1.000 Gramm Brot pro Woche (1¼ Brot), 1 kg Kartoffeln […]. Dass ich dieses Tagebuch mit einer Abhandlung über Essen beginne, mag vielleicht typisch sein, aber den Fokus auf das Materialistische wird heutzutage jeder nachvollziehen können. Es gibt nur zwei Probleme, die alles andere verdrängen: Kälte und Hunger. +24. Januar 1945 +Gegessen: Küchenstampf (Kartoffeln, Karotten, Zuckerrüben), von uns ergänzt mit Kartoffeln, Zuckerrüben, Zwiebeln. "Wir hätten das vor dem Krieg nicht gegessen", sagt Lex, und wir reden darüber. Wahrscheinlich nicht. Momentan sind wir wie Hunde, die alles essen. + +Ein halbes Brot für eine Woche: Maria Takkenberg beschreibt in ihrem Tagebuch, wie die niederländische Bevölkerung während des Zweiten Weltkriegs hungerte + +25. Januar 1945 +Der einzige Lichtblick bleibt die Ostfront. Laut Zeitung von heute: "bedrohlicher Fortschritt". Also gut! +26. Januar 1945 +Gegenwärtige Brotration um die Hälfte reduziert, d.h. 500 Gramm (gut ein halbes Brot) pro Woche […]. Die Not nimmt überhand. Immer mehr Bäcker fahren wegen der Plünderungen mit Polizeigeleit. Auch fast kein Brot mehr zu bekommen. Kinder betteln auf der Straße um Brot und Essen. Der Frost bleibt. Langsam ist alles geschlossen, und alle Lieferungen werden gestoppt. Wie lange halten wir das noch aus? +Maria Takkenbergführt Tagebuch bis zum 4. Mai 1945. Am Tag darauf werden die Niederlande von der deutschen Besatzung befreit. +Den 5. Mai feiern die Niederländer*innen seitdem als "Bevrijdingsdag" (Befreiungstag) – um sich zu erinnern, aber auch, um nach vorne zu schauen. Die unterschiedliche Sicht auf das Kriegsende machen auch die Tagebücher deutlich: "Da wurde nicht nur gefeiert und gejubelt, wie wir es von Fotos kennen", erklärt Projektleiter Pottkamp vom NIOD. "Die Hungersnot hielt an, für viele waren die Liebsten noch immer weit entfernt und etliche Häuser waren durch die Gefechte im Herbst 1944 zerstört worden." 102.000 niederländische Jüdinnen und Juden wurden ermordet, 18.000 Niederländer*innen starben an Unterernährung, 300.000 mussten in Deutschland Zwangsarbeit verrichten, 8.000 von ihnen überlebten nicht. Ihre Worte bleiben – dank ihrer Tagebücher. diff --git a/fluter/taiwan-china-konflikt-einfach-erklaert.txt b/fluter/taiwan-china-konflikt-einfach-erklaert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f01a714194a127af49f6a9366b3fc4bbb7ff4e39 --- /dev/null +++ b/fluter/taiwan-china-konflikt-einfach-erklaert.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +China betrachtet Taiwan als abtrünnige Provinz. Nachdem Mao Zedongs Kommunisten 1949 den chinesischen Bürgerkrieg gewonnen und die Volksrepublik China ausgerufen hatten, zogen sich die unterlegenen Republikaner, die Anhänger der Kuomintang, auf die Insel Taiwan zurück. Ihr Anführer Chiang Kai-shek regierte dort bis 1987 unter Kriegsrecht als Diktator die "Republik China", stets in der Hoffnung, das Festland eines Tages zurückzuerobern. +Ab den späten Achtzigerjahren entwickelte sich Taiwan dann jedoch schrittweise zu einer Demokratie. Soziale Bewegungen kämpften gegen Zensur und Korruption und für mehr Rechte. 2019 führte Taiwan – gegen viele Widerstände – als erstes asiatische Land sogar die Ehe für alle ein. Und auch wirtschaftlich öffnete und veränderte es sich stark: In Sachen Digitalisierung gilt esmittlerweile als Vorreiter. +Nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung wünscht sich heute eine Wiedervereinigung mit dem chinesischen Festland. Seine Unabhängigkeit von China hat Taiwan aber nie offiziell proklamiert – aus Angst vor einer militärischen Intervention, die China immer wieder angedroht hat, und wirtschaftlichen Einbrüchen: Aktuell gehen 40 Prozent der Exporte nach China und Hongkong. Noch, wohlgemerkt: Im Rahmen der"New South Bound Policy"baut Taiwan gerade seine wirtschaftlichen Beziehungen zu anderen Staaten aus. +Heute hat Taiwan ein demokratisches Regierungssystem mit parlamentarischen und präsidentiellen Elementen. Seit 1996 kann die Bevölkerung den Präsidenten oder die Präsidentin direkt für vier Jahre wählen. Die amtierende Präsidentin Tsai Ing-wen und ihre Partei DPP stehen zwar nicht für völlige Unabhängigkeit, sehr wohl aber fürmehrUnabhängigkeit. Das soll einen größeren Handlungsspielraum undSicherheit vor dem chinesischen Militär bringen. +In den aktuellen Umfragen liegt Tsai vorne, vor allem bei der jüngeren Bevölkerung. Engere Beziehungen zur Volksrepublik wollen dagegen die größte Oppositionspartei, die KMT, und ihr Präsidentschaftskandidat Han Kuo-yu. Wobei enger hier viel oder auch sehr wenig heißen kann: Nach der Wahl Tsai Ing-wens vor vier Jahren hatte China alle offiziellen Kontakte zu Taiwan abgebrochen. + +Titelbild: Kevin Lee/SZ Photo/laif diff --git a/fluter/taiwan-kuomintang-terror-aufarbeitung.txt b/fluter/taiwan-kuomintang-terror-aufarbeitung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ad3913773961fee61c249cc7ca2feae53773cf98 --- /dev/null +++ b/fluter/taiwan-kuomintang-terror-aufarbeitung.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Schließlich steht er in seiner alten Zelle. Ein Raum, in den das Tageslicht nur durch eine Klappe fällt, durch die ihm die Wärter Essen gereicht haben. Was hatte Fred Chin verbrochen, um hier zu landen? +Mit 18 zog Chin von Malaysia nach Taiwan, um zu studieren. 1971 holte ihn die Geheimpolizei ab. Der Vorwurf: Chin sollte an einem Attentat auf ein amerikanisches Regierungsgebäude beteiligt gewesen sein. Eine absurde Vorstellung, sagt Chin heute. "Ich war jung und unpolitisch." Die herrschende Kuomintang (KMT) interessierte das nicht. Um die Bevölkerung gefügig zu machen, waren willkürliche Verfolgungen und Verhaftungen probate Mittel. + + +Ende der 1940er-Jahre hatte die nationalistische KMT den chinesischen Bürgerkrieg gegen Maos Kommunisten endgültig verloren. Millionen Anhänger flohen vom Festland auf die Insel Taiwan. KMT-General Chiang Kai-shek wurde zum Diktator, Taiwan zum Einparteienstaat – Chiangs Verständnis nach das wahre China. Den Taiwanern misstraute Chiang, er witterte überall Spione der Kommunisten. Als Teile der Bevölkerung revoltierten, schlug die KMT die Aufstände brutal nieder. Sie ermordete viele Mitglieder der damaligen taiwanischen Elite und legalisierte ihren "Weißen Terror" durch das Kriegsrecht, das erst 38 Jahre später wieder aufgehoben wurde. +Als Fred Chin verhaftet wurde, herrschte der "Weiße Terror" der KMT bereits seit mehr als 20 Jahren. Chin wurde von einem Militärgericht zum Tode verurteilt, ein paar Monate später milderte man die Strafe auf zwölf Jahre Haft. +"Weißer Terror" wird von Konterrevolutionären ausgeübt. Die hatten (wie der Name schon verrät) historisch meist das Ziel, Revolutionen rückgängig zu machen. Da waren zum Beispiel Chiangs Nationalisten, die Maos Kommunisten wieder aus Festlandchina vertreiben wollten, oder die Bourbonen: Das ultraroyalistische Adelsgeschlecht konnte sich nie mit der Absetzung seiner Vertreter abfinden und gab dem "Weißen Terror" seinen Namen: Ihre Flagge zeigte goldene Lilien auf weißem Grund. +"Wenn ich hierherkomme, geht es mir immer noch schlecht", sagt Chin heute. Dabei ist es ein Erfolg, dass er noch ins ehemalige Jingmei-Gefängnis kommen kann. 2007 stand das Gebäude vor dem Abriss – den Chin und andere ehemalige Insassen verhinderten. Heute ist es ein Museum und eine Gedenkstätte für Menschenrechte. Warum nicht die Zivilgesellschaft, sondern die Opfer des Regimes dafür sorgen mussten, dass dieser historische Ort nicht einfach entsorgt wird? Er erinnert an Gräuel, die viele Taiwaner lieber vergessen würden, meint Chin. "Als wir für den Erhalt des Gefängnisses demonstrierten, hat man uns vorgeworfen, wir würden nur die KMT schlechtreden." Er als Opfer könne nichts sagen, ohne instrumentalisiert zu werden. +"Für viele Taiwaner ist es ein politischer Akt, über den ‚Weißen Terror' zu sprechen", bestätigt Vladimir Stolojan-Filipesco. Der Soziologe forscht zur Erinnerungspolitik in Taiwan. Bis heute, sagt er, werden die Taten des KMT-Regimes nicht von der ganzen Bevölkerung als historisches Unrecht anerkannt. Chiang Kai-shek sei für manche bis heute ein Held. Unlängst gewann einer seiner angeblichen Urenkel, Chiang Wan-an, für die oppositionelle KMT die Kommunalwahl in der Hauptstadt Taipei (woraufhin Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen den Vorsitz der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) aufgab). Chiang betont stets, wie stolz er auf die Geschichte seiner Familie ist. Problematischer als diese Verklärung findet Stolojan-Filipesco, dass viele Taiwaner von ihrer Partei abhängig machen wie sie den "Weißen Terror" bewerten. Kurz: Wer zur KMT gehört, schweigt oder tut, als sei alles nicht so schlimm gewesen; das DPP-Lager verlangt da Aufklärung, wo es die KMT diskreditieren kann. +Dabei gilt Taiwan heute als Vorzeigedemokratie. Taiwan – das formell noch zu China gehört und von den meisten Ländern, auch Deutschland, nicht als eigener Staat anerkannt wird – wird seit 2016 von einer Präsidentin geführt. Es legalisierte als erstes Land in Asien die gleichgeschlechtliche Ehe, gilt als weit voraus, was Digitalisierung und Gesundheitsversorgung angeht. Genau in diesem beispielhaften Weg sieht Stolojan-Filipesco einen Grund, warum sich Taiwan schwertut mit der Aufarbeitung: Das Land hat sich schrittweise demokratisiert, dabei aber nie so klar mit dem alten Regime gebrochen, wie es beispielsweise das von Alliierten organisierte Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg versucht hat. Als 1987 das Kriegsrecht in Taiwan aufgehoben wurde, nannte sich die KMT demokratisch – und saß fortan mit an den Verhandlungstischen. Ihr gegenüber: die gerade gegründete DPP. + + +Die Frage, ob man es mit der DPP oder der KMT hält, spaltet die taiwanische Gesellschaft heute wie vielleicht nur eine andere Frage:Mehr Distanz zu China oder nicht?Entlang dieser beiden Grundfragen bilden sich oft Lager, die Kompromisse in anderen Debatten erschweren. Ob es nun um soziale Ungleichheit, den Schutz Indigener Gemeinschaften oder eben die Übergangsjustiz geht, wie die Aufarbeitung der Diktatur in Taiwan seit den 1990er-Jahren offiziell heißt. +DPP und KMT einigten sich damals darauf, dass die Opfer des "Weißen Terrors" entschädigt, die Täter dafür nicht bestraft werden sollen. Der Kompromiss ist umstritten, bis heute. "Ich würde gerne die Staatsanwälte von damals kennenlernen und sie fragen, ob sie Mitleid mit uns hatten", sagt Chin. Auch der Soziologe Stolojan-Filipesco hätte es wichtig gefunden, die Täter zu verurteilen. "Das hätte einen moralischen Standard gesetzt." Eine solche Orientierung fehle bis heute. Auch weil Taiwan nie eine soziale Bewegung wie die deutschen Achtundsechziger erlebt hat,die sich ihrerzeit mit den NS-Opfern solidarisierten und vollständige Aufarbeitung forderten. An die Jahre der Diktatur zu erinnern, den Opfern zuzuhören, das alles ist nicht selbstverständlich in Taiwan. Der "Weiße Terror" ist nicht Teil des "kollektiven Gedächtnisses", wie es die Kulturwissenschaft nennt. +Taiwan nimmt sich deshalb an Deutschland ein erinnerungspolitisches Vorbild. 2018 lud das Kulturministerium den Stasi-Unterlagenbeauftragten Roland Jahn nach Taipei, um über den Umgang mit Akten der Diktatur zu sprechen. Solche Dokumente sind in Deutschland in der Regel öffentlich zugänglich. Und auch bei anderen Erinnerungsartefakten ist viel erreicht worden: Die Gräuel der Nazis etwa sind verpflichtender Schulstoff, Ereignissen wie der Pogromnacht oder der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz wird öffentlich gedacht, historische Stätten werden als Orte des Gedenkens und der politischen Bildung erhalten. +"An solchen symbolischen Handlungen mangelt es Taiwans Übergangsjustiz", sagt Stolojan-Filipesco. Es reiche nicht, den Opfern Geld zu zahlen, ein Land brauche Rituale, um sein historisches Gewissen auszudrücken. Und mehr politische Bildung an den Schulen. Der Besuch von Erinnerungsstätten beispielsweise sei für Schüler in Taiwan nicht verpflichtend. Das gilt zwar auch für Deutschland, aber aus anderen Gründen, sagt Stolojan-Filipesco. "Viele Eltern in Taiwan würden solche Pflichtbesuche nicht tolerieren, weil sie in der Schule gar keine politischen Diskussionen wollen." + + +Das Beispiel zeige, wie schwer Erinnerungspolitik zu kopieren ist, sagt Stolojan-Filipesco. Erinnern funktioniert je nach historischem und kulturellem Kontext anders. Auch in Deutschland ist Vergangenheitsbewältigung kein festes Programm, sondern ein Prozess. Laut einerUmfrage der Bertelsmann-Stiftungwollte zuletzt rund die Hälfte der Befragten einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit setzen. Das sind zehn Prozent weniger als noch 1991, und durch die Debatten um die Entschädigungsforderungen der Hohenzollern oder das mit Zwangsarbeit erwirtschaftete Vermögen von Familienunternehmen wie Bahlsen wurde zuletzt viel über Aufarbeitung diskutiert. Aber wie die deutsche Erinnerungspolitik auf die vielen Erinnerungsmüden reagieren kann und dabei auch die nicht vergisst, die jung sind oder deren Familien nicht aus Deutschland kommen,ist immer wieder Thema. Das werde in Taiwan oft übersehen, sagt Stolojan-Filipesco. +Weiterlesen +Die Deutschen gelten als Erinnerungsweltmeister. Dabei wissen die wenigsten, was ihre Großeltern im Nationalsozialismus getan haben.Über eine Enkelin, die eine Geschichte fand, die zu Hause nie erzählt wurde +Als 2016 Tsai Ing-wen Präsidentin wurde, hatten zum ersten Mal die Demokraten die Mehrheit im Parlament – und viele die Hoffnung, dass die Regierung eine Erinnerungskultur etabliert. Die DPP gründete eine Kommission für Übergangsjustiz. Sie erwirkte, dass die KMT ihre Archive öffnen muss, also jedes Opfer seine Akte einsehen kann. Das war 2018 – und blieb der größte Erfolg der Behörde: Wenige Monate später wurde bekannt, dass ehemalige Spione von Chiang Kai-sheks Regime heute Mitglieder der DPP sind. "Seitdem ist die DPP vorsichtig mit Anliegen der Übergangsjustiz. Sie gewinnt da keine Wähler", sagt Stolojan-Filipesco. Dabei reichen Fragen der Erinnerungspolitik tief in die Klientel der DPP. Eine ambitionierte Aufklärung wäre auch eine Abgrenzung von der Volksrepublik China, die jede Form der kollektiven Erinnerung unterbindet. Über dasTian'anmen-Massaker von 1989etwa darf in China niemand öffentlich sprechen. +In Taiwan fühlen sich noch immer die Opfer verantwortlich für die Aufarbeitung. Viele, die Stolojan-Filipesco interviewt hat, kämpfen bis heute um rechtliche Anerkennung. Und mit der gesellschaftlichen Isolierung, durch die viele zum zweiten Mal zu Opfern werden. +Fred Chin wurde 1983 aus dem Gefängnis entlassen. Er kehrte nicht nach Malaysia zurück. Die Regierung habe seinen Pass einbehalten, sagt Chin, im Ausland sollte niemand wissen, was ihm widerfahren ist. Ausgepackt hätte Fred Chin wohl auch mit Pass nicht. Erst 2007, als das Jingmei-Gefängnis zu einer Gedenkstätte wurde, entschloss er sich, öffentlich zu erzählen, worüber er mehr als 20 Jahre lang nur mit seiner Frau gesprochen hatte. "Davor ging es einfach nicht", sagt Fred Chin. Man wisse nie, wie der Zuhörer politisch tickt. + diff --git a/fluter/taiwan-vorbereitung-auf-angriff-chinas.txt b/fluter/taiwan-vorbereitung-auf-angriff-chinas.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b6105f887223197efeecd8c9fe67d7e5ab13740a --- /dev/null +++ b/fluter/taiwan-vorbereitung-auf-angriff-chinas.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Puma Shen ist einer der Gründer der KUMA Academy. Bei seinen Trainings legt er besonderes Augenmerk auf Medienkompetenz. Erst vor kurzem warnten staatliche taiwanesische Stellen vor Fake News und Verschwörungserzählungen seitens Chinas. "Die chinesische Regierung will den Verteidigungswillen der Menschen schwächen und ihr Vertrauen in Taiwan und seine Verbündeten zerstören", erklärt Puma Shen. Er ruft dazu auf, sich auf den Ernstfall vorzubereiten: "Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass China in den nächsten Jahren Taiwan angreift." +Shen steht mit seiner Einschätzung nicht allein da. Einen Angriff Chinas in absehbarer Zeit halten knapp 40 Prozent der Bevölkerung für möglich. Auch Taiwans Regierung ist in den letzten Jahren immer wachsamer geworden: Ende Dezember letzten Jahres verkündete Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen von derDemokratischen Fortschrittspartei(DPP) die Verlängerung des Militärdienstes von vier Monaten auf ein Jahr. "Wer den Frieden wahren will, muss sichfür den Krieg rüsten", erklärte sie. Es ist auch ein Motto der KUMA Academy. +Die meisten Teilnehmenden von Pumas Trainings sind 30 oder älter. Manche treibt die Sorge um ihre Familie um, andere die Angst, ihre hart erkämpften Rechte und Freiheiten zu verlieren. Schüler*innen und Studierende sind bei den Trainings eher in der Minderheit, auch wenn die Mehrheit der Jungen chinakritisch ist. Sie sind aufgewachsen mit chinesischen Streamingdiensten und Plattformen wie BiliBili und TikTok, größtenteils aber noch nie selbst in China gewesen. Die meisten können sich ein Leben ohne demokratische Wahlen, Meinungsfreiheit und Co. nicht vorstellen. Dabei sind derartige Errungenschaften in Taiwan noch gar nicht so alt. +Nachdem Taiwan über Jahrtausende von Indigenen bewohnt wurde, brachte das damalige chinesische Kaiserreich es im 17. Jahrhundert unter seine Kontrolle. Ab 1895 wurde Taiwan dann für über 50 Jahre zu einer japanischen Kolonie. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fiel die Insel wieder unter chinesische Verwaltung. Dann gewannen die Kommunist*innen dort unter Führung von Mao Zedong den Bürgerkrieg gegen die bisherige Regierung unter General Chiang Kai-shek. Er zog sich mit dem Rest seiner Truppen und Gefolgsleute nach Taiwan zurück. Damals rechneten viele damit, dass die kommunistische Volksrepublik China die Insel früher oder später zurückerobern würde. Doch Taiwan – offiziell Republik China genannt – hielt stand, auch mit Unterstützung der USA. + + +Bis vor gut 30 Jahren war Taiwan eine Militärdiktatur, angeführt von Chiang Kai-sheks nationalistischer Partei, derKuomintang(KMT). Dann wurde Taiwan schrittweise zur Demokratie, und die Oppositionspartei DPP übernahm zum ersten Mal die Macht. In ihrer zweiten Amtsperiode regiert Präsidentin Tsai Ing-wen mittlerweile seit fast acht Jahren, pocht auf Taiwans faktische Unabhängigkeit und auf mehr Distanz gegenüber China. Die KMT sucht dagegen den Dialog mit der chinesischen Regierung. Deren Ziel ist es weiter, die "Wiedervereinigung" mit Taiwan zu erzwingen, wenn nötig auch mit Gewalt. Einen konkreten Zeitpunkt dafür hat Chinas Führung nie genannt, und niemand weiß sicher, ob und wann China tatsächlich angreifen wird. +Fakt ist: Die militärische Bedrohung wächst. Nachdem im August letzten Jahres die US-Politikerin Nancy Pelosi Taiwan besucht hatte, fuhr China im großen Stil Kriegsschiffe, Drohnen und U-Boote vor der Küste Taiwans auf. Anfang April dieses Jahres folgten weitere Militärübungen. +Als Ende 2022 in verschiedenen Städten Chinas vor allem junge Leute auf die Straße gingen, um gegen die harten Corona-Beschränkungen und für mehr politische Rechte zuprotestieren, solidarisierten sich auch in Taiwan junge Menschen mit der Bewegung. Wie viele Demonstrant*innen in China hielten sie weiße Din-A4-Blätter hoch, ursprünglich ein Zeichen des Protests gegen die chinesische Zensur. +Dieses Foto würde in China gelöscht werden: Angelina (links) hält als Protest gegen die chinesische Zensur ein leeres A4-Blatt in die Luft +Angelina war eine der Initiatorinnen der Kundgebung: "Als die Demonstrationen in China anfingen, war mir sofort klar, dass ich ein Zeichen der Unterstützung senden wollte." Während ihrer Kindheit gingen Angelinas Eltern als Geschäftsleute nach China. So verbrachte sie ihre Grundschulzeit in Guangzhou im Süden der Volksrepublik. Mittlerweile ist sie 19 und längst zurück in Taiwan. Das Schicksal der Menschen in China geht ihr weiter nahe: "Egal wie viel Taiwan und China mittlerweile trennt, wir jungen Menschen haben alle den gleichen Wunsch nach Freiheit." Doch in Taiwan ist Angelina mit ihrer engen persönlichen Verbindung zu China eher die Ausnahme. Nur wenige zeigten sich von den Protesten dort wirklich bewegt, und zu der Demonstration in Taipeh kamen nur einige Dutzend Leute. Dennoch glaubt Angelina daran, dass Jugendliche in Taiwan und China sich weiter untereinander austauschen und vernetzen sollten. Die sozialen Medien sind für sie dabei das wichtigste Mittel. +Weite Teile der DPP und viele Aktivist*innen in der "Civil Defense" setzen dagegen weniger auf Austausch und noch weniger auf politische Verhandlungen mit Chinas Regierung. Für sie steht fest: Taiwan muss sich vor allem wappnen, alles andere ist zweitrangig. +Eines eint auf der Insel wiederum praktisch alle: die Hoffnung, weiter in Freiheit und in Frieden leben zu können. Die Entscheidung hierfür liegt vor allem in den Händen der Machthaber in Peking. Doch auch Taiwans Volk hat eine Wahl: Im Januar 2024 stehen die nächsten Präsidentschaftswahlen an. Angelina wird zum ersten Mal ihre Stimme abgeben. Sie hofft, dass es nicht das letzte Mal ist. + diff --git a/fluter/taiwan-wahlen-2020.txt b/fluter/taiwan-wahlen-2020.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..985b1ce7fa673e716265549491f39de0d9d1f792 --- /dev/null +++ b/fluter/taiwan-wahlen-2020.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +Chen Yueh Chi, 30, Studentin +Ich stimme für eine weitere Amtszeit von Präsidentin Tsai Ing-wen und der DPP. Ich habe fünf Jahre lang in China gelebt und dort Traditionelle Chinesische Medizin studiert. Es war sehr, sehr anders als hier – der Alltag, das Sozialleben, selbst meine Gedanken. Es gab viel mehr Polizei,überall waren Überwachungskameras. Ich hatte das Gefühl, nicht einfach sagen zu können, was ich dachte. Als hätte ich etwas auf dem Herzen, das nicht rausdarf. Ich will nie mehr dahin zurück. +Ich war auch in Hongkong, damals war die Polizei allerdings sehr nett. Wenn ich jetzt die Nachrichten schaue,wirkt es komplett anders. Warum sind die Einsatzkräfte so gewalttätig? Warum kämpfen sie gegen die Bevölkerung? Ich habe Angst, dass bei einem Machtwechsel etwas Ähnliches in Taiwan passieren könnte. Wir haben hier eineDemokratie, und unsereMenschenrechtewerden geachtet. Ich will nicht, dass wir das verlieren, und hoffe, dass wir den Konflikt mit China friedlich lösen können. Wenn ich mir anhöre,was Chinas Staatschef Xi Jinping sagt, stehen die Chancen dafür aber vielleicht bei einem Prozent. + + +Oliver Chen, 19, Student +Ich jobbe gerade als Wahlhelfer für Tsai Ing-wen, um ein bisschen was zu verdienen, aber auch, um zumindest irgendeinen Einfluss auf die Wahl zu haben – wählen darf ich nämlich nicht. In Taiwan gilt das Wahlrecht ab 20, und ich bin erst 19. Mit 18 Jahren gelten wir als erwachsen, müssen Verantwortung tragen und sind voll schuldfähig, aber unsere Stimme abgeben dürfen wir nicht? Das ist doch unfair! Ich bin dafür, das Wahlalter auf 18 herunterzusetzen, so wie es bei euch in Europa ist. Ich habe gehört, dass ihr zum Teilschon mit 16 wählen dürft? Nur bei Referenden kann ich mitstimmen, da wurde das Wahlalter vor zwei Jahren auf 18 heruntergesetzt. + + +Lio Peng, 18, Student +Dürfte ich schon wählen, würde ich für die DPP stimmen. Lieber wäre mir aber, es würde mehr starke Parteien zur Auswahl geben als nur DPP und KMT. Klar, es gibt noch andere, aber die haben kaum etwas zu sagen. Mit mehr unterschiedlichen Stimmen im Parlament würde es vielleicht weniger ideologische Grabenkämpfe geben. Ich kenne keine einzige Person in meinem Alter, die für die KMT ist – ältere Leute dafür zuhauf, zum Beispiel meine Eltern. Wir streiten zu Hause oft darüber. Ich habe auch Verwandte, die in der KMT sind und aktiv mitmachen. Deren Präsidentschaftskandidaten Han Kuo-yu unterstützen sie aber nicht. Er ist mehr oder weniger eine taiwanesische Version vonUS-Präsident Trump: populistisch, fremdenfeindlich und sexistisch. + +Jason, 25, Tourguide und Musiker +Es macht mir Angst, wie die Behörden in Hongkong durchgreifen. Wenn wir uns China nähern, wird uns irgendwann dasselbe passieren. Ich habe mich oft für Freiheit ausgesprochen, auch mit meiner Hardcore-Metal-Punk-Band. Hätte China die Kontrolle über Taiwan, würde ich vielleicht eines Tages einfach vom Erdboden verschwinden! +Mit unseren Songs versuchen wir den Druck abzubauen, der auf uns lastet. Die taiwanesische Gesellschaft ist nämlich immer noch sehr konservativ, das Bildungssystem ist altmodisch und strikt. Wir sitzen von morgens bis abends in der Schule und müssen die ganze Zeit irgendetwas leisten und uns miteinander vergleichen. Es gibt eine riesige Kluft zwischen den Generationen. Ältere Menschen würden mich zum Beispiel niemals als echten Musiker bezeichnen – das kann schließlich nur jemand sein, der Klavier oder Geige spielt. +Viele junge Taiwanesen haben oder hatten wegen dieses DrucksDepressionen– mich eingeschlossen. Ich habe das auch in einem Lied thematisiert. Viele Leute im Publikum haben dabei angefangen zu weinen – ich glaube, weil sie sich damit identifizieren können. + + +Linda Wang*, 29, arbeitet für ein internationales Unternehmen +Ich möchte lieber anonym bleiben. Anhänger der DPP und auch der KMT können radikal sein, deshalb vermeide ich es, in der Öffentlichkeit über Politik zu reden. Ich stimme für die KMT und auch für ihren Präsidentschaftskandidaten Han Kuo-yu. Ich habe positive Veränderungen in der Stadt Kaohsiung miterlebt, nachdem Han vor einem Jahr zum Bürgermeister gewählt wurde. Er hat die Infrastruktur verbessert: Straßen saniert, die Bürgersteige renoviert und die Abwasserkanäle von Schlamm reinigen lassen, was gerade während der Regenzeit wichtig ist. Verstopfte Kanäle sorgen da regelmäßig für Überschwemmungen. Und: Er hat sich nicht nur um das Zentrum gekümmert, sondern auch um abgelegene Gebiete. +Davor wurde Kaohsiung jahrzehntelang von der DPP regiert. Sie haben sich nicht um die einfachen Leute gekümmert. Jetzt schürt sie Ängste und zieht Parallelen, die in Wirklichkeit gar keine sind. Die Beziehungen zwischen China und Hongkong sind ganz anders als die zwischen China und Taiwan: Hongkong wurdean Großbritannien verpachtet. Es war klar, dass China es irgendwann zurückhaben will. Die Angst, dass wir durch die KMT unsere Freiheit verlieren könnten, ist doch völlig überzogen: Von 2008 bis 2016 hatten wir einenPräsidenten von der KMT– und es hat überhaupt keine Gefahr für Taiwan bestanden. + + +Mark Hsu, 26, hat einen kleinen Online-Shop +Ich bin mir nicht sicher, ob Tsai Ing-wens Politik das Beste für Taiwans Wirtschaft ist – schließlich haben sich unsere Beziehungen zu anderen Staaten und natürlich zu China verschlechtert, seitdem ihre Partei an der Macht ist. Die Gehälter für Angestellte sind zu niedrig, die Mieten viel zu hoch. Ich habe mich deshalb mit Freunden selbstständig gemacht – mit einem Onlineshop für Lifestyleprodukte. Damit kennen wir uns aus. Mit Politik dagegen nicht wirklich. Wir wissen aber, dass Demokratie nötig ist, um so leben zu können, wie wir wollen. Deshalb wählen wir die DPP. Ganz ehrlich: Wenn man nicht frei ist, ist auch das höchste Gehalt nichts wert. + +*Name der Redaktion bekannt + diff --git a/fluter/takis-wuergers-buch-der-club.txt b/fluter/takis-wuergers-buch-der-club.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c5ad72ffdb018d0ed840039364a0e12c081a5c54 --- /dev/null +++ b/fluter/takis-wuergers-buch-der-club.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Takis Würger, Der Club, Kein & Aber, 22 Euro + +Hans kommt kaum hinterher, das alles zu verarbeiten. Er gibt sich die Schuld am Tod seiner Eltern, seine erste Liebe, ein Zirkusmädchen, verschwand nach zwei Wochen, ohne sich zu verabschieden, und von seiner Tante, die ihn nach dem Tod seiner Eltern nicht aufnahm, fühlt er sich im Stich gelassen. Bis er nach Cambridge geht, ist er fast allein auf der Welt. Er sucht nur einen Freund, mit dem er ein Bier trinken kann. Stattdessen landet er an der Elite-Uni und schafft es dort tatsächlich in den Pitt Club und den noch geheimeren Club im Club: zu den "Schmetterlingen", die Champagner aus Pokalen trinken und Frauen K.-o.-Tropfen in die Drinks kippen. Hans muss sich entscheiden, wie lange er wartet, bis er sich als Verräter outet. +In Großbritannien unterscheiden sich die sozialen Schichten stärker als in anderen europäischen Ländern. Dieses Klassensystem beginnt schon in der Schule. Knapp die Hälfte der Studienplätze im Jahr vergeben die Elite-Unis Cambridge und Oxford an Privatschüler, obwohl diese nur sieben Prozent aller Schüler ausmachen. In "Oxbridge" halten Dining Clubs und Drinking Societies, die nur ausgewählten Studenten Zutritt gewähren, innerhalb dieser ohnehin elitären Schicht eine weitere Klassengesellschaft aufrecht. +Takis Würger erzählt nicht nur aus der Perspektive von Hans, sondern auch aus der anderer Figuren – und passt dabei immer auch den Erzählton an. Würgers journalistische Reportagen zeichnen seine sinnliche Sprache und starken Bilder aus. Auch sein erster Roman ist so geschrieben, lakonisch und mit einer Detailverliebtheit, die manchmal irritiert, aber oft bezaubert: etwa wenn Hans sich erinnert, wie ihn die Jungs in der Schule ausgelacht haben, als er sagte, dass sich die Nackenhaare bei Mädchen manchmal wie Zuckerwatte kräuseln. +Wie Hans sieht und hört Takis Würger sehr genau hin, und es gibt noch mehr Parallelen. Auch der Autor wurde im südlichen Niedersachsen geboren. Mit 28 hat er sich beim "Spiegel" beurlauben lassen, um in Cambridge zu studieren und zu boxen, und er ist unter anderem Mitglied im Pitt Club, den es auch in Wirklichkeit gibt. +"Der Club" ist Coming-of-Age- und Liebesgeschichte, Krimi, Box- und Campusroman in einem, und beim Lesen wäre man in jeden Strang der Geschichte gerne noch tiefer eingetaucht. Bevor man weiß, ob Hans am Ende aufklärt, was mit den Frauen im Pitt Club passiert, und er einen Freund zum Biertrinken findet, will man das Buch nicht zuklappen. Höchstens um über den Stoffeinband zu streicheln, der silber-blau-schwarz gestreift ist wie die Fliegen der Pitt-Club-Mitglieder, in deren Welt man durch einen Türspalt schauen durfte. + +Titelbild: Brian BRAKE/GAMMA-RAPHO/laif diff --git a/fluter/talos-principle-game-roboter-rezension.txt b/fluter/talos-principle-game-roboter-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c78cbb6a598574faf97f9991a481fc7433e98187 --- /dev/null +++ b/fluter/talos-principle-game-roboter-rezension.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Um die Frage, wie man als Gesellschaft mit der Aussicht auf einen großen Wissenssprung umgeht. In den Ruinen der Insel, zu deren Erkundung sich die Robotermenschen entschließen, finden sich Spuren einer mächtigen neuartigen Technologie. Sie könnte große Energiemengen freisetzen und erlauben, die Welt großflächig umzugestalten. Müsste sie deswegen erkundet werden? Oder wäre es besser und sicherer für die empfindsamen Roboter, zu ihrer stabilen Langeweile zurückzukehren? Damit berührt "Talos II" Themen, die uns auch in der Realität beschäftigen. Aktuell etwa wird kontrovers überdie Chancen und Risiken künstlicher Intelligenzdiskutiert. Und nicht umsonst war diesen Sommer der Film "Oppenheimer" überden Erfinder der Atombombe, J. Robert Oppenheimer, so erfolgreich: Die Sorge, ob die Menschheit die Folgen des technologischen Fortschritts richtig einschätzt – oder sich im Zweifel selbst auslöschen könnte –, treibt offenbar viele um. "Talos II" fühlt sich wie ein Gedankenexperiment an, das all diese Themen berührt. + + +Nein, die Spiele funktionieren unabhängig voneinander. "The Talos Principle" ist 2014 erschienen und erzählt eine Art Schöpfungsgeschichte für "Talos II". "Talos I" ist auch gut geschrieben, war kommerziell erfolgreich und konzentriert sich eher auf die Rolle des Individuums: Wann und warum könnte ein Roboter als menschlich angesehen werden? + +Als Teil des Expeditionsteams erkundet 1k die 3-D-Welt der Insel. Dabei funktioniert die Steuerung grundsätzlich wie in einem Ego-Shooter. Aber es gibt keine Action, keinen Zeitdruck, keine Gegner. Es geht darum, futuristische Ruinen zu erkunden, ihren Sinn zu verstehen, Dokumente zu lesen und mit anderen Robotern zu diskutieren. Mit ein bisschen Geduld können das auch Menschen ohne Vorerfahrung spielen. Die einzige echte Schwierigkeit kommt durch die über 100 räumlichen Logikrätsel. Sie sind keine Nebensache, sondern geben dem Spiel die Struktur. + +Ab und zu schon. Viele Rätsel sind schnell zu durchschauen, aber einige fordern mehrere Lösungsschritte und kreative Ideen. Irgendwann kann 1k Licht einfangen, die Gravitation überwinden, das eigene Bewusstsein zu einem Klon schicken und muss all das kombinieren, um Rätsel zu lösen. Ohne die Lösungen geht die Geschichte nicht weiter. Hilfestellungen gibt es nur wenige – das Kopfzerbrechen ist ein wichtiger Teil der Geschichte. Die Roboter erinnert es an ihren Schöpfungsmythos: Sie wurden in einer Computersimulation geboren und mussten ihre Menschlichkeit beweisen, indem sie ähnliche Rätsel lösten. Neugier, Spieltrieb und ihr freier Wille haben sie zu Menschen gemacht. Offenbar stellt ihnen nun jemand eine ähnliche Aufgabe in der Wirklichkeit. Das Spiel handelt also von einer Art Intelligenztest und fühlt sich auch für die Spielenden wie einer an. + + +Vielleicht schon. Die Roboter sind wenigstens körperlich widerstandsfähiger als wir, und das Szenario wirkt in seiner Fortschreibung von KI ziemlich optimistisch. Denn die synthetischen Menschen zeigen viel Mitgefühl, sind sehr belesen und haben im besten Sinne des Wortes menschliche Werte. Ihre Sorgen sind eng verwandt mit unseren. Alle erinnern sich an die existenzielle Bedrohung der Atombombe, und nebenbei ist die Welt infolge der Erderhitzung immer noch halb überschwemmt. Niemand will, dass die Menschheit in ihrer nun weiterentwickelten Roboterform quasi noch einmal untergeht. Auch deswegen streiten die Roboter sehr leidenschaftlich darum, welche Ressourcen sie nutzen und wie viel Wachstum sie erlauben wollen. + +Gelegentlich schon. Doch die Welt von "Talos II" ist selten bedrohlich und meistens schön. Es geht um existenzielle Fragen, aber ohne den Zeitdruck heranrasender Kipppunkte, wie etwa beim Thema Erderhitzung. Das gibt Zeit zum Denken. Gelegentlich wabern die Themen etwas abgehoben vor sich hin, wenn es um die Rolle des Bewusstseins im Universum oder den Sinn des Daseins geht. Aber dann stehen konkrete Anwendungsfälle an: Soll die Siedlung der Roboter nun wachsen oder nicht? Sollen wir auch dann weiterforschen, wenn wir damit unbekannte Risiken aufwerfen? Sind wir an die Vorstellung eines natürlichen Gleichgewichts gebunden, wenn die Welt sich sowieso verändert? "Talos II" fragt, welche Werte wir Nichtroboter vertreten und welche Ziele wir verfolgen. Das Spiel liefert eher eine Diskussionsanregung – Antworten müssen die Spielenden selbst geben und sich dann noch während des Abenteuers mit einem Ensemble sympathischer Roboter darüber streiten. Genau das macht "Talos II" so interessant. +"The Talos Principle II" wurde von Croteam entwickelt, von Devolver Digital veröffentlicht und ist für etwa 30 Euro auf Windows-PC, Playstation 5 und Xbox Series X/S erhältlich. +Bilder: Croteam/Devolver Digital diff --git a/fluter/tandem-langue-etrangere-film-burger-rezension.txt b/fluter/tandem-langue-etrangere-film-burger-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..06dd778f339b107ac3d6cdc6cd723872eb0b4622 --- /dev/null +++ b/fluter/tandem-langue-etrangere-film-burger-rezension.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Mit dem Setting desdeutsch-französischen Austauschsbeginnt der Film von Claire Burger als Fish-out-of-Water-Story. Wie ungewohnt ihre neue Umgebung für Fanny ist, zeigt sich am besten im Vergleich zu Lena, gespielt von Josefa Heinsius, die ganz anders drauf ist als sie: links, hip, queerfeministisch. Die beiden französischen Drehbuchautorinnen – neben Regisseurin Burger noch Léa Mysius – scheinen sich in Leipzig umgesehen zu haben. Jedenfalls trifft die Figur der Lena den Style einer Leipziger Teenagerin: Vom Vokuhila bis zum Batikpullover, von den pinkfarbenen Tennissocken bis zur Vintage-Sportjacke aus Ballonseide stimmt hier alles. +Das Schöne an "Tandem" ist, wie einfühlsam der Film über das Thema Selbstbewusstsein erzählt. In genau inszenierten Blickwechseln zeigt der Film, wie prägend die Begegnung mit einem einzigen Menschen sein kann. Wer hat nicht schon mal eine Person bewundert, die eindeutig cooler wirkte als man selbst? Wenn sonst in Coming-of-Age-Filmen oft die Frage "Wer bin ich?" gestellt wird, lautet sie hier eher: "Wer will ich sein?". Und so verstrickt sich Fanny, die zuvor unscheinbar und unpolitisch wirkte, in Lügen über ihre vermeintlich radikale politische Identität. Sie erfindet eine Freundin, die schwanger sei und Hilfe bei einer Abtreibung brauche; dann eine Halbschwester, die im Schwarzen Block aktiv und verschwunden sei. Solche Erzählungen lassen das solidarische Herz von Lena höherschlagen. Diese Fanny lässt sie nun in ihr Leipziger Leben. Dazu gehören: ein Drogentrip auf einer Party, ein Kuss zu dritt mit einem Jungen, Konflikte mit Lenas alleinerziehender Mutterund mit ihrem Opa, der AfD wählt. +Etwa zur Hälfte des Films steht Lenas Gegenbesuch in Frankreich an. In Straßburg rücken andere Konflikte in den Fokus: der bürgerliche Erwartungsdruck von Fannys Mutter und Lenas zunehmende Verunsicherung, als Fannys Lügengebilde allmählich bröckeln. "Es ist ein Film über das Begehren und über den Wunsch, an etwas zu glauben", hat Claire Burger über ihr Werk gesagt – und liefert damit zugleich eine Definition des gesamten Coming-of-Age-Genres. Die typische Ästhetik dieser Gattung beherrscht die Regisseurin auch: Die Kamera ist nah an den Körpern, subjektive Traumsequenzen fangen das Begehren von Fanny und Lena, das sich im Laufe des Films entwickelt, gut ein. Etwa wenn die beiden zusammen in einem Pool baden und Fanny, um ihr Deutsch zu verbessern, Körperteile mit den dazugehörigen Artikeln benennen muss: "die Fuß … der Knie … die Brust". Deutsch – nicht Französisch – wird hier die Sprache der Liebe. Rhythmische Synthie-Sounds, auch das mittlerweile Genrekonvention, tragen die dynamischeren Szenen des Films. +So stimmig Look und Sound sein mögen, fragt man sich im Verlauf von "Tandem", warum der Film seinen politischen Kontext nicht ernst zu nehmen scheint. Im Fall von Lena etwa wirkt die Politisierung wie eine inhaltsleere Pose. Schlagworte kann sie nennen, Argumente eigentlich nicht. So zählt sie im Gespräch mit Fannys Eltern einmal gut zehn Themen auf, die ihr wichtig seien: von A wie Antifaschismus bis T wie Tierschutz. Im ganzen Film wird aber kein einziges davon im Dialog vertieft. Wie aus dem Lehrbuch werden dafür mehrere Anspielungen auf die Friedliche Revolution eingebaut: Lenas Mutter, heute unpolitisch, war damals mit 14 Jahren dabei,als 1989 die Menschen in Ostdeutschland gegen das DDR-Regime protestierten. Politisches Engagement bloß als pubertäre Phase? "Tandem" scheint die Überzeugungen ökologisch und antifaschistisch motivierter Teenager von heute gar nicht zu kennen. Damit verpasst der Film die Chance, glaubwürdig von politischer Jugendkultur zu erzählen und seine Protagonistinnen wirklich ernst zu nehmen. + +"Tandem" hat auf der diesjährigen Berlinale Premiere gefeiert und läuft ab dem 24. Oktober im Kino. + +Titelbild: Les Films de Pierre diff --git a/fluter/tanz-den-mussolini.txt b/fluter/tanz-den-mussolini.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1c91758cec7ce1e943bbfdc5510e8412e471abee --- /dev/null +++ b/fluter/tanz-den-mussolini.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +In einigen Zentren hat die rechte Fußballszene besonders viel Zulauf. In Nordostitalien vor allem in Städten wie Udine, Triest, Padua und Verona. Bekannt ist, dass die Kurve von Inter Mailand zum Teil von Neofaschisten unterlaufen ist, auch über rechtsradikale Anhänger beim AC Mailand gibt es Berichte. Seit jeher wird auch der harte Kern der Fangemeinde von Juventus Turin mit einigen Gruppierungen zu diesem Lager gerechnet. Schließlich sind auch die beiden Serie-A-Vereine der Hauptstadt Rom als Auffangbecken neofaschistischen Gedankenguts bekannt: Bei Derbys gehen die Anhänger von Lazio Rom und dem AS Rom immer wieder aufeinander los. Politisch hingegen sind sich die Lager seit Langem einig. Eine Mehrheit der Gruppierungen in der Kurve des AS Rom ist rechtsradikal, auch wenn Lazio Rom durch einige spektakuläre Fälle international mehr Aufmerksamkeit erregt hat. Jahrelang bestimmte vor allem Lazios erklärt neofaschistische Fangruppierung "Irriducibili" ("Unbeugsame") das Geschehen auf den Rängen. Immer wieder wurden in der Lazio-Kurve Spruchbänder mit rechtsradikalen Botschaften ausgestellt. "Auschwitz eure Heimat – Die Öfen eure Häuser" stand auf einem Banner, oder auch: "Rom ist faschistisch". Der mit martialischen Tattoos übersäte Lazio-Stürmer Paolo Di Canio feierte einen Treffer im Derby, indem er den römischen Gruß vor der Kurve zeigte. Di Canio musste eine Strafe in Höhe von 10.000 Euro bezahlen und wurde für ein Spiel gesperrt. +Weil es in den vergangenen Jahren im italienischen Fußball immer häufiger zu Ausschreitungen gekommen ist, bei denen sogar 2007 in Catania ein Polizist getötet wurde, gehen die Sicherheitsbehörden drastischer gegen die Ultras vor. Gruppen wie die "Irriducibili", deren Rädelsführer festgenommen wurden, sich aber heute wieder auf freiem Fuß befinden, haben inzwischen die Kontrolle über die Lazio-Kurve verloren. Der Geist vieler Anhänger ist dennoch derselbe geblieben. Seit vergangenem Sommer spielt der Stürmer der deutschen Nationalmannschaft Miroslav Klose bei Lazio Rom. Weil er viele Tore schießt, hat er sich schnell zum Liebling der Fans entwickelt. Im Derby gegen den AS Rom zeigten Ultras ein Transparent mit der Aufschrift "Klose mit uns". Die Buchstaben "s" waren in Runenschrift gehalten, angelehnt an das Symbol der SS. Der auch in der Wehrmacht populäre Spruch "Gott mit uns" ist eine beliebte Losung unter Neonazis. Klose distanzierte sich. Als Ende Januar Kloses erfolgloser Sturmpartner, der dunkelhäutige Franzose Djibril Cissé, nach England wechselte, beschimpften ihn zahlreiche Lazio-Fans. "Stirb, Nigger-Bastard! Lazio-Fans hassen dich", lautete ein Eintrag auf Twitter. +Nicht nur in Rom, in ganz Italien sind derartige Phänomene verbreitet. Die "Beobachtungsstelle für Rassismus und Antirassismus in Italien" zählte allein an den ersten 19 Spieltagen der laufenden Saison 28 rassistische Vorfälle in Italiens Stadien. Auffällig ist, wie duldsam weite Teile der italienischen Bevölkerung auch heute noch auf solche Phänomene reagieren. Insgesamt wirkt der Umgang mit dem Faschismus in Italien weniger tabuisiert, auch wenn das Tragen verfassungsfeindlicher Symbole ebenso gesetzlich verboten ist wie in Deutschland. Zeugnis für einen milderen Umgang mit der Vergangenheit ist etwa auch der Obelisk vor dem Olympiastadion in Rom, an dem die Tifosi vor jedem Fußballspiel vorbeipilgern. Die Aufschrift "Mussolini Dux" ist als historisches Zeugnis erhalten. Bis heute können Fußballer in Italien ihre Sympathien für den Faschismus kundtun, ohne in der Öffentlichkeit für Empörung zu sorgen. Der Mittelfeldspieler des AC Mailand, Alberto Aquilani, outete sich einst als Sympathisant der neofaschistischen Partei Forza Nuova, ebenso Daniele De Rossi vom AS Rom. Der Karriere der beiden tat das keinen Abbruch. Auch einer der größten Sympathieträger des italienischen Fußballs, der Torwart von Juventus Turin und Nationalmannschaftskapitän Gianluigi Buffon, geriet mehrmals in Verdacht, gemeinsame Sache mit Neofaschisten zu machen. Die jüdische Gemeinde in Rom protestierte einst gegen Buffons Wahl der Trikotnummer 88, die in der Szene als verkappter Hitlergruß gilt (H ist der achte Buchstabe des Alphabets). Mehrmals wurde Buffon öffentlich gesehen, wie er bei Siegesfeiern Banner mit nationalistischen Losungen und keltischen Kreuzen in den Händen hielt. "Vier Indizien wirken wie ein Beweis", schrieb die Zeitung "La Repubblica". +Auch die Presse lässt sich zuweilen von den Rechtsextremen instrumentalisieren. "Sportweek", die Samstagsbeilage der täglich von Millionen gelesenen "Gazzetta dello Sport", veröffentlichte im Herbst 2008 eine Homestory über Christian Abbiati, Torwart des AC Mailand. "Ich teile einige Werte des Faschismus", sagte er und gestand seine Bewunderung für Mussolini, dessen Büste er zu Hause stehen hat. "Der Faschismus darf kein Tabu mehr sein", forderte der Spieler. Im italienischen Fußball ist das spätestens seit der Veröffentlichung des Interviews nicht mehr der Fall. Christian Abbiati ist inzwischen Stammtorwart des AC Mailand und steht jeden Sonntag zwischen den Pfosten. So, als sei nie etwas gewesen. diff --git a/fluter/tawuran-jakarta-strassenkampf.txt b/fluter/tawuran-jakarta-strassenkampf.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6c20c8e36d257a2bc79f8c4fb7218d579a8dd667 --- /dev/null +++ b/fluter/tawuran-jakarta-strassenkampf.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Tawuran Pelajar heißt das Ritual, bei dem in Indonesien regelmäßig Kinder und Jugendliche sterben. Wie viele, erfasst die Polizei nicht offiziell. Allein in Jakarta sollen es jedes Jahr zwischen 50 und 100 Tote sein. Mit selbst gebastelten Sicheln und Schwertern, mit Feuerwerkskörpern und Säure bekämpfen sich Gangs im Namen ihrer Schulen. Die Kämpfe sind mal spontan, mal verabredet und immer öffentlich: neben Autobahnen, in Tunneln und auf den Plätzen, auf denen sich die Jugendlichen zum Abhängen treffen. + + +Nicht immer wird es brutal: Die Gangs verstecken sich, verfolgen über Instagram, wo ihre Gegner sind, und rennen davon. Die meiste Zeit ist es ein Fangspiel mit Messern, bei dem man viel raucht und wartet, dass etwas passiert. +Viele der Jugendlichen kommen aus armen Familien. Die Straßenkämpfe sind für sie eine Möglichkeit, sich einen Namen zu machen. Es gehtum Mut und Männlichkeit, um Freundschaft und Gemeinschaftsgefühl und auch um die Fotos, mit denen man sich später bei Instagram Likes abholt. Die Fehden würden von einer Schülergeneration an die nächste weitergegeben, erzählten mir ehemalige Schüler. Warum genau die Schulen verfeindet sind, weiß schon lange niemand mehr. + +Weil die Kämpfe oft nach Prüfungen und Schuljubiläen eskalieren, vermuten Soziologen, dass es den Schülern auch darum geht, Stress abzubauen. Mehrere Kampagnen der Lokalregierungen, um die Kämpfe einzudämmen, blieben erfolglos + +Ibu Yanti mit einem Bild ihres Sohnes. Bagas starb am Valentinstag 2017. Nach seinem Tod ermittelte die Polizei, angeklagt wurde aber niemand +Ian war ein Freund von Bagas. Er sagt: "Ich mag Tawuran, weil wir durch Tawuran herausfinden, wer ein wahrer Freund ist und wer nicht" +Ihre Logos designen die Schülergangs selbst. So erkennt man, wer zu wem gehört. Viele tragen die Nummer einer Buslinie: Oft verbünden sich die, die denselben Schulweg haben diff --git a/fluter/technik-wandel-senioren.txt b/fluter/technik-wandel-senioren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f08a798158969e18dcd3dc7bbd072b1c0522c086 --- /dev/null +++ b/fluter/technik-wandel-senioren.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Trotzdem, ein wenig mulmig war mir schon: Der Computer wurde von Jahr zu Jahr kleiner, dabei auf magische Weise mächtiger und gefräßiger. Mit jeder Version wuchs sein Speicher, er räumte Bibliotheken aus. Mein "Brockhaus"-Lexikon, 24 Bände von A bis Z, ziegelsteindick und teuer wie ein Gebrauchtwagen, fielWikipedia zum Opfer. Schweren Herzens verabschiedete ich mich von unzähligen Reiseführern und Atlanten, von aberhundert Schallplatten, die in Streaminganbietern aufgingen – und dann kam das Smartphone, um noch einen draufzusetzen. +Schöne neue Digitalwelt! Heute bin ich 87. Und schaue meiner 65 Jahre jüngeren Enkelin Elisa bewundernd (und ein wenig neidisch) über die Schulter, wenn ihre Daumen über ihr Smartphone tanzen undeine Flut aus Grüßen und Icons, Klatsch und Sprüchen auf ihren Freundeskreis prasselt. Kein Vergleich zu meinem tapsigen Zeigefingersuchsystem. +Was täte ich ohne Elisa, wenn sich ein Passwort, das gestern noch galt, mal wieder als unsicher oder gar falsch ausgibt? Wenn ich in der Videokonferenz zu sehen bin oder zu hören – aber eben nicht beides gleichzeitig? Wenn sie einen Text, auf den die Redaktion seit gestern wartet, aus den Tiefen meines Laptops birgt? Es sind diese unergründlichen Vorgänge, die ein Fossil wie mich überfordern. +Ich glaube, da spielt Angst mit. Angst, die einen eh leichter packt, wenn man wie ich auf die neunzig zugeht. Schon die vielen rätselhaften Kürzel auf der Tastatur stellen mich vor Probleme. Was zum Teufel hat "fn" zu bedeuten? Was "command"? Viel schlimmer noch: was alles passieren kann, wenn ich sie versehentlich mit anderen Befehlen kombiniere. Ruck, zuck ist ein Text entstellt oder ganz gelöscht. Dann schleicht sich wieder das Schwächegefühl ein, weil der alte Kopf all die Möglichkeiten nicht begreifen mag. Und weil um Hilfe bitten nicht leicht ist. Wir Älteren denken leider oft, wir wären die Einzigen, die Probleme mit Technik haben. Dabei ist das Internet doch voller Foren, in denen sich Menschen gegenseitig helfen. Bis sich das unter uns Fossilien herumgesprochen hat, muss die Regierung wohlnoch ein paar Digitalpakteverabschieden. +In einer Gesellschaft, die älter wird, ist es doch ein schönes Zeichen, dass Millionen springen, um uns digital nachzurüsten. Auch wenn es womöglich preiswerter wäre, einfach die Vorzüge der Technik herauszustellen: Gerade für uns Ältere sind die Geräte nicht nur Daddeleien, sondern Instrumente, um an der Gesellschaft teilzuhaben. Wenn Augen und Beine schwächer werden, hilft es, für eine Überweisung nicht mehr den Bus zur Sparkasse nehmen zu müssen. Viele von uns leben allein, spontane Fotos der übers Land verstreuten Kinder, Enkel und Freunde oder ein Videotelefonat jeden zweiten Sonntag lindern die Einsamkeit – vorausgesetzt, man überwindet die eigenen Unsicherheiten und lernt, das Internet zu nutzen. +Ich glaube jedenfalls, dass wir dafür gerüstet sind. Ich komme aus einer Zeit, in der man Uhren jedes Mal vorm Zubettgehen aufziehen musste, in der Ferngespräche das sogenannte "Fräulein vom Amt" vermittelte. (Und ein Heidengeld kosteten: Für das stundenlange Gespräch, das ich einst von Hamburg aus mit meiner Liebsten in München führte, hätte ich genauso gut die Bahn zu ihr nehmen können.) Ich habe Generationen an Technik kommen sehen – und vor allem wieder gehen. +Wer solche Wandlungen erlebt, gewinnt Gelassenheit. Ich schaue mir vieles an, muss aber nicht mehr überall dabei sein. Zumal wir den jungen Leuten digitale Räume lassen sollten, in denen sie unter sich sind. +Dafür dürfen meine Enkel gern aushalten, wenn der Opa zur Märchenstunde ansetzt. Zum Beispiel, wie ich mir die Nase am Schaufenster des Radioladens um die Ecke platt gedrückt habe, als dahinter die erste Fernsehsendung meines Lebens lief. Oder wie ich mir als Zwölfjähriger ein Radio gebastelt habe: ein sogenannter Detektor mit einem 20 Meter langen Draht, den ich zwischen Balkon und Apfelbaum gespannt hatte. Stocherte man mit dem spitzen Drahtende über einen winzigen Kristall, krächzte der "Nordwestdeutsche Rundfunk" im Kopfhörer. +Dieser Text istim fluter Nr. 90 "Barrieren"erschienen +Auch mein erster Fotoapparat kam aus dieser analogen Steinzeit. Den Film einzufädeln war knifflig, Blende und Belichtungszeit stellte man nach Gefühl und Augenmaß ein, um dann zum Aufwendigsten zu schreiten: den Film in der Dunkelkammer zu entwickeln. Wenn aber aus dem Nichts des Entwicklerbads das Bild eines Menschen oder einer Landschaft geboren wurde, war das wie ein Wunder. Nimmt mir mein dreiäugiges Smartphone diese seligen Momente? Oder beschenkt es mich mit Spontaneität und Perfektion? +Die Antwort kann vielleicht mein Laptop geben. Vor Kurzem hat Enkelin ElisaChatGPT mit ein paar Daten gefüttert: Sie ließ den Bot einen Liebesbrief an mich schreiben. Es wurde das Porträt des alten weisen Mannes, der ich gern wäre. + diff --git a/fluter/teenager-in-seenot.txt b/fluter/teenager-in-seenot.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4b4a2fbff0bd7cf2d304428ff8090528e7843ab3 --- /dev/null +++ b/fluter/teenager-in-seenot.txt @@ -0,0 +1,19 @@ + +Was zeigt uns das? +Teenager sein sucks! Also, klar, das wussten wir alle schon, aber kann man zum Thema "Identitätsfindung als Außenseiter" ernsthaft zu wenige Filme machen? Wobei es Hauptfigur Dash (ja, selber Vorname wie der Regisseur) den Zuschauern besonders schwer macht, sich mit ihm zu identifizieren: er ist grausam arrogant und total von sich selbst eingenommen. + +Wie wird's erzählt? +Grell und wirr. Wie ein apokalyptisches Gemälde von Hieronymus Bosch als Beavis-und-Butt-Head-Folge, und das auf Ketamin. Oder: Wie eine Mischung aus Katastrophenfilm und High-School-Comedy, voller absurder Einfälle, aber ohne großes Drama. Dafür sind die Charaktere und der ganze Film zu sehr in einer zynisch-gelangweilten Whatever-Haltung verhaftet. + +Beste Nebenrolle +Lunch Lady Lorraine. Bärbeißige ältere Damen an der Essensausgabe gehören zum High-School-Klischee-Inventar. Doch diese hier entpuppt sich als Frau mit Beinahe-Superkräften und einer rührseligen Lebensgeschichte. Ihre Stimme erhält Lorraine übrigens von Hollywood-Star Susan Sarandon, die zusammen mit Lena Dunham und Jason Schwartzman Teil eines überraschend prominent besetzten SprecherInnen-Casts ist. + +Good Job! +Die Dialoge von Dash, Assaf und Verti, selbst in Momenten größter Not. Einmal, als sie im steigenden Wasser kurz vor dem Ertrinken stehen, reden sie über die verschiedenen Deutungsarten der Formulierung "Something smells". Leider wird diese Stärke nicht konsequent genug ausgespielt. + +Geht gar nicht +Der Kommentar eines Besuchers bei der Pressevorführung: "In sechs Jahren hätte ich das auch geschafft". Okay, ja: Der Film ist Low-Budget, seeeeeehr Low-Budget, Dash Shaw hat ihn größtenteils zusammen mit seiner Freundin in der Küche ihres kleinen Apartments produziert – und das sieht man. Oft bewegen sich die in mit fetten Filzstrichstiften gezeichneten Figuren gar nicht richtig, sondern flackern eher herum. Ein Lo-Fi-Style, der zur amerikanischen Indie-Comicszene passt, in der es nicht wirklich um "schöne", realitätsnahe Zeichnungen geht, sondern um Originalität. Das muss man nicht mögen. Aber, auch wenn es amateurhaft wirkt: Eine eigene Bildsprache entwickeln, das kann nicht jeder dahergelaufene Filmjournalist. Und das macht Dash Shaw vor allem mit seinen Hintergründen, wo er zahlreiche Mal- und Zeichentechniken zum Einsatz bringt. + +Ideal für... +Popkulturnerds, die sich genau so fühlen können wie die unverstandene Hauptfigur und die die Zillionen Zitate und Anspielungen dechiffrieren können. +"My Entire High School Sinking into the Sea", Regie & BuchDash Shaw, mit den Stimmen von Jason Schwartzman, Maya Rudolph, Reggie Watts, Susan Sarandon, Lena Dunham, USA 2017, 77 Minuten diff --git a/fluter/teenagerschwangerschaften-uruguay-fotostrecke.txt b/fluter/teenagerschwangerschaften-uruguay-fotostrecke.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0ff3e3fdce4e53bfb9a6c990603009a214f172d2 --- /dev/null +++ b/fluter/teenagerschwangerschaften-uruguay-fotostrecke.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +"Teen Mom" ist Rodríguez' persönlichste Arbeit. Seine Mutter war 17, als sie von einem Urlaubsflirt schwanger wurde. Der Vater, ebenfalls 17, verließ sie noch vor Rodríguez' Geburt. Er wuchs bei seinen Großeltern auf und hat heute wieder Kontakt zu seinem Vater. + + +Auf Rodríguez' Fotos wird geschwitzt, gepresst, geklammert, geweint und geschrien. Sie zeigen junge Mütter ganz anders als das Nachmittagsfernsehen, in dem Teenager überschminkt, arm und rauchend Kinderwagen durch den Block zerren, damit sich die Zuschauer besser fühlen können. Und Rodríguez kontrastiert die Fotos aus dem Kreißsaal mit Aufnahmen, die ruhiger, aber nicht weniger kraftvoll sind: Jeweils am Tag nach der Geburt kehrte er zurück, um ein Porträt mit Kind zu machen. Ihm ist wichtig, die Mädchen als Mütter zu zeigen. Denn oft würde ihr Umfeld ihnen gar nicht zutrauen, einem Kind ein stabiles Zuhause bieten zu können. Die Mädchen würden eher beschuldigt als unterstützt, sagt Rodríguez. +Dabei berichtet das Krankenhauspersonal, dass die Frauen als Mütter in ihren Vierteln oft besser angesehen sind als vorher. Schuldzuweisungen und Stereotype verhindern nicht, dass Teenager ungeschützt Sex haben (das könnenSexualaufklärungunderschwingliche Verhütungsmittel). Sie verhindern, dass die Mädchen und ihre Familien sich die Hilfe suchen, die sie brauchen. +Teenagerschwangerschaften werden weltweit gezählt. Die Zahlen gehen weit auseinander, aber seit zwei Jahrzehnten zeichnet sich weltweit ein Trend ab: Teenagermütter werden weniger, auch in Uruguay und Deutschland. 2022 kamen hierzulande im Durchschnittauf 1.000 Frauen zwischen 15 und 19 Jahren sechs Geburten– die Zahl hat sich im Vergleich zum Jahr 2000 mehr als halbiert. +Gesundheitsorganisationen befürchten in allen Ländern hohe Dunkelziffern. Denn die Zahlen zeigen nur, wie viele schwangere Teenagerinnen ihr Kind tatsächlich zur Welt bringen; nicht, wie viele Schwangerschaften – legal oder illegal – abgebrochen werden. + +Teen Dads sind hier eher die Ausnahme: Die meisten Frauen kämen mit ihren Müttern oder Freundinnen, sagt Fotograf Rodríguez +Dieser Beitrag ist im fluter Nr. 89 "Liebe" erschienen. Das ganze Heftfindet ihr hier. diff --git a/fluter/teigtaschen.txt b/fluter/teigtaschen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7e0ef949ef3aaa67f3ec9a160c09c9890c0cca7c --- /dev/null +++ b/fluter/teigtaschen.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Für die Füllung: 1 Teelöffel Salz, 800 g Kartoffeln, zwei gelbe Zwiebeln, Butter +Außerdem: 1 rote Zwiebel, Schmand +Fangen wir mit der Füllung an (die natürlich je nach Geschmack variiert werden kann): Die Kartoffeln schälen und in Salzwasser kochen. Danach Zwiebeln klein hacken und in einer Pfanne mit Butter anschwitzen. Wenn die Kartoffeln gar sind, werden sie zerstampft und mit Zwiebeln, Salz und Pfeffer vermischt. +Für den Teig: Mehl, Salz, Ei und Wasser erst verrühren, dann verkneten und anschließend ungefähr 30 Minuten bemehlt ruhen lassen. Danach wird der Teig dünn ausgerollt, damit ihr mit einem großen Wasserglas kreisrunde Scheiben ausstechen könnt. +Die Scheiben mit der Kartoffelfüllung belegen, falten und gut zusammengedrücken. Die Wareniki solange in Salzwasser kochen, bis sie an die Wasseroberfläche kommen. Ihr könnt sie mit gebratenen roten Zwiebeln und Schmand servieren. +Guten Appetit! diff --git a/fluter/tempelhofer-feld-gentrifizierung.txt b/fluter/tempelhofer-feld-gentrifizierung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fd4c8cecbaba8f8f8c45a44202e8426b18d02cdf --- /dev/null +++ b/fluter/tempelhofer-feld-gentrifizierung.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Doch 2008 wurde der Airport Tempelhof dichtgemacht, und als zwei Jahre später das ehemalige Flugfeld seine Tore für jede und jeden öffnete, wurde aus einem Problemviertel am Rande eines Flughafens eins der beliebtesten Altbauquartiere Berlins, an das ein riesiger Park grenzt: das Tempelhofer Feld. 300 Hektar zum Spazieren, Joggen, Inlineskaten oder einfach nur, um den Sonnenuntergang anzuschauen, und das mitten in der Großstadt, wo man den Himmel in vielen Straßenschluchten kaum sieht. +Seitdem ist das Tempelhofer Feld eine der größten innerstädtischen Freiflächen der Welt, und Hinzugezogene, Alteingesessene, Bürgerinitiativen und Investoren ringen miteinander um seine Zukunft und die des benachbarten Viertels. Es geht um zentrale Fragen der Stadtentwicklung, die sich an vielen Orten in Deutschland stellen: Wie halten wir esmit der Gentrifizierung? Wie viel öffentlichen Raum braucht eine moderne urbane Gesellschaft? +Der Schillerkiez ist wie ein rechteckiges Dorf mit Kopfsteinpflaster, begrenzt von zwei großen Straßen und zwei Parks. In diesem Rechteck leben laut Zahlen von 2021 rund 16.000 Menschen, die meisten in Altbauten, von denen jetzt immer mehr saniert und damit teurer werden, während andere weiterhin eher runtergerockt in den Straßen stehen. Ebenso gegensätzlich wie die Hausfassaden ist das ganze Quartier: hier ein kleiner Blumenladen oderein alter Späti mit Stammkundschaftund Bierbänken davor, dort ein neues Restaurant mit europäisch-mexikanischem Fusion-Essen oder ein genderneutraler Friseursalon, aus dem Techno auf den Fußweg pumpt. Immer mehr Menschen hier können sich jetzt so etwas leisten. Und über den Wochenmarkt auf dem Platz vor der Genezarethkirche schlendern samstags immer mehr Eltern mit Nachwuchs in sehr teuer aussehenden Kinderwagen. +"Vor unserer Tür prallen wirklich Welten aufeinander", sagt Pfarrerin Susann Kachel, 45, die im Anbau neben der Kirche am Laptop sitzt. Sie arbeitet u.a. mit am Pilotprojekt "Startbahn", das die Kirche als "Raum für Begegnungen und Vernetzungen" neu positionieren will – etwa mit einem Pop-up-Hochzeitsfestival für Kurzentschlossene oder mit dem Auftritt eines queeren Chors auf dem Gebäudevordach. Solche Projekte würden natürlich vor allem die neu Zugezogenen im Viertel ansprechen, sagt Kachel, und die Jüngeren. Rund 55 Prozent der Kiezbewohnerinnen und -bewohner sind laut Angaben aus 2022 zwischen 18 und 45 Jahre alt – und nur 9,2 Prozent über 65. +Eine Ecke weiter bietet der "Mädchen*treff Schilleria" für alle weiblichen, inter, nichtbinären und trans Personen "Empowerment- und Freizeiträume". Das bedeutet: gemütliche Sofas, Tanzworkshops, politische Bildung, Gelegenheit zum Chillen. Der geräumige Eckladen mit Graffiti an der Fassade ist inzwischen eine gefragte Immobilie. Die Miete soll erst vor ein paar Jahren verdreifacht worden sein, sie frisst jetzt einen Großteil des Etats, sodass manchmal nicht mehr genug für Programm und Projekte übrig bleibt. "Und unsere Mädchen erzählen uns, dass sie sich im Kiez nicht mal mehr die Pommes nach der Schule leisten können, bevor sie zu uns kommen", sagt Sevim Uzun, die hier aufgewachsen ist und jetzt als Erzieherin für die Schilleria arbeitet. +Mit solchen Beobachtungen ist Uzun nicht allein: In der Änderungsschneiderei mit dem ausgeblichenen blauen Schild muss die Betreiberin nach eigener Aussage mittlerweile quasi rund um die Uhr arbeiten, um ihre steigende Miete zahlen zu können. Und im alteingesessenen Frisiersalon "Daniela" ein Stück die Straße runter schießen der Inhaberin die Tränen in die Augen, weil ihr gerade der Laden gekündigt wurde. Sie hat jetzt keine Lust, zu reden. +In keinem Berliner Bezirk sind die Immobilienpreise zuletzt so stark gestiegen wie in Neukölln,die "Süddeutsche Zeitung" berichtetevon einer 60-Quadratmeter-Wohnung im Schillerkiez für mehr als eine halbe Million Euro. +Wäre es da nicht eine gute Lösung, auf dem Tempelhofer Feld neue Häuser zu bauen, am besten günstige Sozialwohnungen? + +Tatsächlich hatte der Berliner Senat damals vor, nicht das ganze Feld, aber einen ca. 200 Meter breiten Streifen am Rand zu bebauen. Nicht nur mit Wohnungen, sondern auch mit Gewerbeflächen und öffentlichen Bauten wie einer Landesbibliothek. Dagegen formierte sich schnell eine Bürgerinitiative, die dem Senat unter anderem vorwarf, viel zu wenig bezahlbaren Wohnraum schaffen zu wollen und die Gentrifizierung durch teure Wohnungen auf dem Feld voranzutreiben. 2014 sprach sichin einem Volksentscheid eine Mehrheit dafür aus, dass das Tempelhofer Feld nicht bebaut wird, ein entsprechendes Gesetz wurde verabschiedet. +Seitdem sind die Diskussionen um das Feld nie verstummt, womöglich auch, weil Berlin von 3,47 Millionen Menschen (2014) auf 3,76 (2022) gewachsen und die Wohnungsnot noch größer geworden ist. Neun Jahre nach dem Volksentscheid denkt ein neu gewählter Senat nun darüber nach, es noch mal zu probieren: LautKoalitionsvertrag von CDU und SPDsoll ein städtebaulicher Wettbewerb zumindest ausloten, welche Möglichkeiten es für eine Randbebauung gibt. +Doch die Beschützer und Beschützerinnen des Feldes sind wachsam. "Das hier ist ein Seelenort für sehr viele Menschen, nicht nur aus den umliegenden Kiezen", sagt Peter Broytman, 41. Er wohnt im Schillerkiez, geht gern mit seinem Hund auf dem Feld spazieren – und ist einer von sieben gewählten Feldkoordinatoren, die im Auftrag der Berlinerinnen und Berliner über die transparente und gerechte Nutzung des Areals wachen. "Wir haben den Entschluss gefasst, dass wir uns auf allen Ebenen dafür einsetzen, dass das Tempelhofer-Feld-Gesetz in der jetzigen Form weiter Bestand hat", sagt er. +Heißt: Die Feldkoordinatoren sind strikt gegen jede Bebauung. Auch nicht ein bisschen, auch nicht nur am Rand. Denn das wäre womöglich ein Dammbruch, meinen sie, danach würde nach und nach immer mehr vom Feld abgezwackt. Und was ist mit den ärmeren Menschen, die aufgrund der explodierenden Mietpreise in viel zu kleinen Wohnungen sitzen? "Wo sonst könnten solche Leute Familienfeste feiern?", fragt Broytman zurück. Die Menschen in der Stadt bräuchten öffentliche Orte ohne Konsumzwang. +Etwas Ähnliches schwebt Cléo Mieulet, 52, auch für das ehemalige Flughafenterminal vor. Das ragt hinter ihr in den Himmel, abweisend und grau, ein über 1,2 Kilometer langer Bogen aus Beton, Stein und Stahl, 7.266 Räume, mehr als 300.000 Quadratmeter Geschossfläche. Das Gebäude wurde ab 1936 im Auftrag der Nationalsozialisten errichtet und war damals das größte Einzelbauwerk Europas. Heuteleben in zwei der sieben Hangars Geflüchtete, ein paar Trakte mietet die Polizei, gut ein Drittel der Fläche kann aufgrund des schlechten baulichen Zustands nicht genutzt werden. Mieulet hat das "Transformationsbündnis THF" mitgegründet. Es setzt sich dafür ein, dass im Flughafengebäude künftig erforscht wird, was eine Stadt dem Klimawandel entgegensetzen könnte – mit Begegnungsorten für die Nachbarschaft und Werkstätten für postfossile Techniken. Vom Senat bekommt sie dafür keine politische Unterstützung. Wie es mit dem Bündnis weitergehen soll, ist daher ebenso unklar wie die Zukunft des Gebäudes. +Mieulet aber gibt die Hoffnung nicht auf. Hier gibt es schließlich immer wieder Überraschungen. Zwei Jahre nach der Schließung etwa landete doch noch mal ein Flugzeug auf dem Flugfeld: Eine Sportmaschine legte zwischen Skatern und Grills eine Notlandung hin, der Motor war ausgefallen. Als der Pilot und seine drei Passagiere mit wackeligen Knien aus der Maschine kletterten, war die Begrüßung laut "Tagesspiegel" wohl ziemlich Neukölln-typisch: "Habt ihr 'ne Meise?", pflaumten Parkbesucher die Gelandeten an. Danach aber gab es erst mal was zu trinken. + +Dieser Text ist in fluter Nr. 88 "Neukölln" erschienen.Das ganze Heftfindet ihr hier. diff --git a/fluter/terror-bilder-propaganda-video.txt b/fluter/terror-bilder-propaganda-video.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/terror-deutschland-schnell-erkl%C3%A4rt.txt b/fluter/terror-deutschland-schnell-erkl%C3%A4rt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c50e5727643372b29488a30741452438cc568dd5 --- /dev/null +++ b/fluter/terror-deutschland-schnell-erkl%C3%A4rt.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +DieRechtsterroristen des NSU, die zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen ermordeten, weitere Mordversuche und Sprengstoffanschläge begingen und mit Raubüberfällen das Leben im Untergrund finanzierten, passen auch zu dieser Definition. Allerdings fehlt bei ihnen ein konstitutives Merkmal des Terrorismus: Kommunikation, also etwa ein Bekennerschreiben. Ihre Botschaft besteht in der Auswahl des Anschlagsorts oder der Opfergruppe. Erst nach dem Auffliegen der Gruppe wurde ein Bekennervideo gefunden. +Rechtsextremistische Straftaten haben in den vergangenen Jahren stark zugenommen +Afghanistan war 2018 das Land mit den meisten Todesopfern durch terroristische Anschläge weltweit. Über 80 Prozent davon werden den Taliban zugeschrieben, die in mehr als zwei Dritteln des Landes aktiv waren; die Zahl ihrer Opfer stieg im Vergleich zum Vorjahr um knapp 71 Prozent auf 6.103. Demge­genüber sank die Zahl der dem sogenannten Islamischen Staat zugeschriebenen Todesfälle weltweit um knapp 70 Prozent, von 4.350 im Jahr 2017 auf 1.328 im Jahr 2018. Insgesamt hat sich die Zahl der weltweiten Terroranschläge in den vergangenen Jahren kontinuierlich verringert – von 13.482 im Jahr 2014 auf 8.093 im Jahr 2018. In Europa ist die Zahl der Todesfälle durch Terrorismus von über 200 im Jahr 2017 auf 62 im Jahr 2018 gesunken. + +Laut dem "Global Terrorism Index 2019" beliefen sich die globalen wirtschaftlichen Auswirkungen des Terrorismus im Jahr 2018 auf 33 Milliarden US-Dollar, was einem Rückgang von 38 Prozent gegenüber dem Stand von 2017 entspricht. 2014 waren es sogar 111 Milliarden. Der Schaden besteht neben dem Verlust von Menschenleben in der Zerstörung von Eigentum. In einzelnen Ländern ist der Einfluss des Terrors auf die Wirtschaft enorm. In Afghanistan, dem am stärksten betroffenen Land, machen die ökonomischen Auswirkungen des Terrorismus fast 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Zum Vergleich: Im Süd-Sudan sind es "nur" 0,8 Prozent des BIP. + +Ein Indikator für die Gefahr durch Terrorismus ist die Anzahl der Gewalttaten im Bereich der "politisch motivierten Kriminalität". Im "Verfassungsschutzbericht 2018" wird diesbezüglich schon im Vorwort die rechtsextremistische Szene erwähnt. Bei der Vorstellung der Fallzahlen der politisch motivierten Kriminalität für das Jahr 2019 im Mai diesen Jahres wiederholte Bundesinnenminister Horst Seehofer noch einmal ausdrücklich: "Die größte Bedrohung geht weiterhin vomRechtsextremismusaus." + +Beim Bundeskriminalamt heißt es, dass es in Deutschland Anfang 2020 660 sogenannte religiös motivierte Gefährder gab, alsoIslamisten, denen die Sicherheitsbehörden schwere Gewalttaten bis hin zur Durchführung eines Anschlags zutrauen. Die Zahl der linken Gefährder lag bei 5, die der rechten bei 60. +Im Zuge der Ermittlungen gegen die RAF wurde 1976 der Paragraf 129a StGB geschaffen, der die Bildung einer terroristischen Vereinigung und die Mitgliedschaft bestraft. Er wurde durch den 2002 eingeführten Paragrafen 129b StGB ergänzt, der dies auf ausländische Organisationen ausweitet. Dieser Paragraf war Teil des sogenannten Sicherheitspakets I, das zudem ein Verbot extremistischer Vereinigungen, die unter dem Deckmantel einer Religionsgemeinschaft agieren, ermöglichte. Zu den Sicherheitspaketen I und II gehören u. a.die Ausweitung einer systematischen Untersuchung elektronischer Daten. Am 1. Januar 2009 trat die Änderung des BKA-Gesetzes in Kraft, das es dem BKA auch erlaubte, zur Gefahrenabwehr des internationalen Terrorismus vorbeugend die Internet-, Telefon- und Handykommunikation zu überwachen – sowie heimliche Onlinedurchsuchungen und Abhörmaßnahmen. Im April 2016 erklärte das Bundesverfassungsgericht Teile des Gesetzes für verfassungswidrig, beispielsweise bedürfe es eines besonderen Schutzes der privaten Lebensgestaltung und für Berufsgeheimnisträger wie Ärzte oder Juristen. Es gibt aber auch noch andere Gesetze, wie etwa das Luftsicherheitsgesetz, das Videoüberwachungsverbesserungsgesetz oder das neueste Gesetz zur Geldwäsche, die den Kampf gegen Terrorismus erleichtern. + +Vor dem Hintergrund der Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus wurde 2004 in Berlin das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) eingerichtet, eine Koordinationsstelle für Polizeien, Nachrichtendienste und Justiz, in der sich 40 nationale Sicherheitsbehörden austauschen und vernetzen – darunter das Bundesamt für Verfassungsschutz, das BKA, die Landeskriminalämter, der Militärische Abschirmdienst und die Bundespolizei. Seit 2006 ermöglicht die Antiterrordatei eine weitere zwischenbehördliche Kooperation, um die präventive Terrorabwehr zu verbessern. Kritiker bemängeln, dass das Trennungsgebot, also die strikte Trennung zwischen polizeilicher und nachrichtendienstlicher Tätigkeit, so aufgeweicht wurde. 2012 wurde für die Zusammenarbeit im Bereich der politisch motivierten Kriminalität zudem nach dem Vorbild des GTAZ das Gemeinsame Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum (GETZ) in Köln eingerichtet. +Innerhalb der Europäischen Union arbeitet man vor allem daran, die Datenbanken der Sicherheitsbehörden besser zu vernetzen. + +Titelbild: Shakeel Khan,AFP-Gabe Palacio/ImageDirect/Getty Images diff --git a/fluter/terror-in-westeuropa-raf-eta-ira-action-directe-brigate-rosse-ordine-nuovo.txt b/fluter/terror-in-westeuropa-raf-eta-ira-action-directe-brigate-rosse-ordine-nuovo.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9e07ced4ea0318aa447a211bb1dd8131d7412069 --- /dev/null +++ b/fluter/terror-in-westeuropa-raf-eta-ira-action-directe-brigate-rosse-ordine-nuovo.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Die Gegenreaktion der  Irish Republican Army (IRA) ließ nicht lange auf sich warten. Die extremistische Organisation, die für die Unabhängigkeit Nordirlands von Großbritannien kämpfte, rächte sich mit Dutzenden von Bombenanschlägen noch im selben Jahr; allein am "Bloody Friday" in Belfast zündete sie etwa  20 Sprengsätze. +Jahrzehnte des Terrors brachten die IRA aber ihren Zielen nicht näher. In den 1980ern wurde deshalb der politische Arm der IRA, die Partei Sinn Féin, immer einflussreicher. Ihr Vorsitzender, der ehemalige Militante Gerry Adams, suchte im Geheimen Kontakt zu anderen Parteien, die die Loslösung von Großbritannien auf friedlichem Weg anstrebten. Auch mit Mitgliedern der britischen Regierung traf er sich. So entwickelte sich der Konflikt um Nordirland zu einem Leuchtturm gelungener Friedenspolitik. Im Karfreitagsabkommen von 1998 beschlossen die Konfliktparteien, den Krieg zu beenden. +Die militanten Gruppen wurden entwaffnet, Großbritannien versprach, Gefangene freizulassen. Und sollte sich jemals eine Mehrheit der Nordiren für einen Zusammenschluss mit Irland aussprechen, wäre eine Ablösung von Großbritannien zumindest möglich.Doch der jahrzehntelange Kampf und der Schmerz um die Opfer haben Spuren hinterlassen. Bis heute wohnen Protestanten und Katholiken in Nordirland mehr neben- als miteinander. 110 Mauern und Zäune, manche über sieben Meter hoch, trennen die Stadtviertel. Für Touristen sind die kilometerlangen Grenzen eine Attraktion – für die Bewohner eine Friedensversicherung. + +Als der Kanzler seinen Rücktritt aufsetzte +Nicht nachgeben, nicht einknicken, jedenfalls nicht offiziell: So lautete die Devise bis hoch ins Bundeskanzleramt, wenn es gegen die Rote Armee Fraktion ging. Die linksradikale Terrorgruppe bezeichnete sich selbst als "Stadtguerilla" und zog gegen das "imperialistische System" in den Kampf. Zahlreiche Banküberfälle, Sprengstoffattentate und 34 Morde gehen auf ihr Konto.Die Terroristen der ersten Generation, die Pfarrerstöchter und Fabrikantensöhne, lernten den Guerilla-Kampf in arabischen Wüsten. Sie wurden schnell verhaftet. +Im Kampf gegen die zweite Generation erweiterte der Staat seine Mittel. Nicht allen Verdächtigen konnten konkrete Taten vorgeworfen werden – aber man glaubte zu wissen, dass sie Mitglieder der RAF waren oder sie unterstützten. Deshalb wurde 1976 das Strafgesetzbuch um den Paragraph 129a erweitert, der die "Bildung einer terroristischen Vereinigung" unter Strafe stellt. Eine Tatbeteiligung war nun nicht mehr nötig, um für bis zu 10 Jahre ins Gefängnis zu müssen. Mit dem "Extremistenbeschluss" und dem "Radikalenerlass" versuchte der Staat, die Sympathisanten zumindest aus dem öffentlichen Dienst fernzuhalten; für so manche bedeutete es ein ungerechtfertigtes Berufsverbot. +Während die DDR Mitglieder der RAF versteckte, gelang es den westdeutschen Ermittlern schließlich, die zweite Generation nach und nach zu zerschlagen. Die Terroristen wurden etwa bei Banküberfallen geschnappt. Auch mit der eigens für sie entwickelten Rasterfahndungund der Schleppnetzfahndung wurden Mitglieder der RAF aufgespürt. Als die Lufthansa-Maschine "Landshut" 1977 entführt wurde und RAF-Gefangene freigepresst werden sollten, ging Bundeskanzler Helmut Schmidt nicht auf die Forderungen ein – und das, obwohl die RAF auch noch den Arbeitgeber-Präsident Hanns Martin Schleyer als Geisel genommen hatte Stattdessen befreite die GSG 9 die Geiseln im Flugzeug. Für den Fall, dass es anders gelaufen wäre, hatte Schmidt sein Rücktrittsschreiben schon aufgesetzt. +Terror von allen Seiten +Der zerstörte Bahnhof von Bologna. 85 Menschen sterben, als am 2. August 1980 die neofaschistische Ordine Nuovo einen Bombenanschlag auf den Bahnhof verübt +Rechter Terror, linker Terror, dazu die Attentate der Mafia: Das Italien des späten 20. Jahrhunderts war politisch tief gespalten und Schauplatz vieler blutiger Kämpfe. +Die neofaschistische Ordine Nuovo ("Neue Ordnung") zündete mehrere Bomben auf öffentlichen Plätzen und in Zügen. Allein im Bahnhof von Bologna starben 1980 bei einem Anschlag 85 Menschen. Die linksextremen Brigate Rosse ("Rote Brigaden") attackierten derweil den Staat und all jene, die ihn ihrer Auffassung nach repräsentierten: Staatsanwälte, Journalisten – und 1978 entführten die Brigate Rosse sogar Premierminister Aldo Moro. Doch die Regierung verhandelte nicht; knapp zwei Monate später wurde Moro erschossen. +Mit Anti-Terror-Gesetzen, etwa einer Kronzeugenregelung für reuige Ex-Terroristen, aber vor allem durch den mutigen Einsatz Einzelner wie den von Polizeigeneral Carlo Alberto Dalla Chiesa gelang es, den Terror schließlich zu besiegen. Als darüber debattiert wurde, ob man die Folter einführen sollte, wehrte sich Dalla Chiesa dagegen mit den Worten: "Italien kann den Tod von Aldo Moro überleben, aber nicht die Einführung der Folter." Wenige Jahre später wurde Dalla Chiesa selbst von der Mafia ermordet. + + +Des einen Terrorist, des anderen Separatist +Anders als in den Ländern Mitteleuropas war die größte Terrororganisation Spaniens eine separatistische Gruppe. Mit dem Ziel, einen Baskenstaat zu errichten, bombte und mordete die ETA jahrzehntelang. In ihrem Kampf gegen den Staat hatte sie einst viele Basken hinter sich. Entstanden war sie während der Diktatur von Francisco Franco, der von 1936 bis 1975 herrschte. Mit einer brutal durchgesetzten "Ein-Spanien-Politik" wollte Franco die Minderheiten im Land – darunter die Basken – ihrer kulturellen Identität berauben. + +Doch was in Zeiten der Diktatur von den Basken unterstützt wurde, fand nach 1975 immer weniger Zuspruch. Das demokratische Spanien gab dem Baskenland 1978 die größte Autonomie aller Regionen. Die Basken bekamen ein eigenes Parlament und eine eigene Polizei, Schulen und Universitäten konnten auf Baskisch unterrichten. Die ETA aber kämpfte weiterhin für völlige Unabhängigkeit. Dann machten staatlich finanzierte "Antiterroristische Befreiungsgruppen" illegal Jagd auf ETA-Terroristen – echte und vermeintliche. Sie töteten 27 Menschen, darunter vermutlich ein Drittel Menschen, die nichts mit der ETA zu tun hatten. Die ETA fühlte sich nun noch mehr zum Töten angestachelt, zum Unverständnis vieler Basken und Spanier. Nach einem ETA-Mord im Jahr 1997 gingen zwei Millionen Menschen zum Protest auf die Straße. +Längst saßen da schon Politiker ETA-naher Parteien in den Parlamenten.  Wie auch die IRA folgten die baskischen Separatisten einer Doppelstrategie aus politischem und Guerilla-Kampf. Und hier setzte die Anti-Terror-Strategie der internationalen Gemeinschaft an: Gleich fünf Friedensnobelpreisträger appellierten an die ETA, die Waffen niederzulegen; ein sechster, Kofi Annan, leitete sogar die entscheidende Friedenskonferenz. Mit Erfolg: 2011 erklärt die ETA, ihre Waffen niederlegen zu wollen. Als Vorbild diente auch die Lösung des Nordirland-Konfliktes. Heute treten Parteien wie das sozialistische Wahlbündnis Bildu weiterhin für ein unabhängiges Baskenland ein – aber eben mit friedlichen, parlamentarischen Mitteln. + +Terror aus dem WindschattenMit Bombenanschlägen auf staatliche Behörden und einem Attentat auf einen Minister macht die anarcho-kommunistische Action directe 1979/80 in Frankreich auf sich aufmerksam. Ebenso wie die RAF und die Brigate Rosse griffen sie staatliche Institutionen an, um das "kapitalistische System" zu Fall zu bringen. Die Ermittler kommen den Terroristen rasch auf die Spur, zwei Jahre nach der Gründung sitzt die Führung der Action directe in Haft. Dann gewinnt der Sozialist François Mitterand 1981 die Präsidentenwahl – und begnadigt/amnestiertmehr als ein Dutzend linksradikale Kämpfer der Gruppe. +Die Appeasement-Politik innerhalb der Linken scheitert: Schon wenige Monate später nehmen die Mitglieder der Action directe den Kampf wieder auf. Anschläge gegen Organisationen wie die Westeuropäische Union, die Raumfahrt-Organisation ESA und mehrere Politiker folgen, auch amerikanische und israelische Einrichtungen greift die Action directe an. Ein Dutzend Menschen sterben. Erst 1982 stuft die französische Regierung die Gruppe als militant ein und verbietet sie. Der Kampf gegen die Action directe wird zur Priorität der französischen Polizei. Ein Teil der Gruppe schließt sich noch 1985 mit der RAF zusammen, um Anschläge zu begehen. Doch 1987 nehmen Ermittler die Spitze der Action directe fest – sechs Jahre nach ihrer Freilassung. Einige der führenden Mitglieder sitzen bis heute in Haft. + diff --git a/fluter/terror-opfer-therapeut.txt b/fluter/terror-opfer-therapeut.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0373205d729caa7823ec8676b59f2fb3fef58967 --- /dev/null +++ b/fluter/terror-opfer-therapeut.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Was bedeutet das genau? +Es kommt zum Beispiel zu Flashbacks. Bilder des Anschlags kommen wieder hoch, wenn man beispielsweise ähnliche Geräusche hört. Wenn der Anschlag durch einen Laster passierte, können Laster generell Trigger sein, manchmal nur der Geruch von Diesel. Typisch ist auch das unbedingte Vermeiden bestimmter Situationen. Manche können nicht mehr mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren oder an Orten mit vielen Menschen sein. Außerdem kann es zu Panikattacken, Schlafstörungen, Herzproblemen oder anderen körperlichen Schmerzen kommen. Ein Terroranschlag trifft einen Menschen in der Gesamtheit seiner Persönlichkeit. +Wie unterscheiden sich unmittelbare und Spätfolgen bei Terroranschlägen? +Manche gehen sofort nach Hause, andere erstarren oder laufen herum, wissen nicht mehr, wo oben oder unten ist. Sie spüren ihren Körper nicht mehr, haben ein Taubheitsgefühl und befinden sich in einem Schockzustand. Die meisten Patienten berichten von extremen Albträumen und Schlafstörungen. Bei einigen Opfern passiert das sofort nach dem Anschlag und bei anderen erst nach drei oder vier Tagen. Oft können die Spätfolgen drastischer sein. Wenn sich jemand immer mehr zurückzieht, nicht mehr kommuniziert, monatelang nicht arbeiten kann, dann verliert er sein Umfeld und sein Selbstvertrauen. Deswegen sagen einige: "Ich will gar nicht mehr leben." Wenn so eine extreme Belastung nach ungefähr zwei Jahren immer noch nicht verarbeitet ist, kann es zu einer Persönlichkeitsveränderung kommen. +Wie sieht eine Therapie nach einem Anschlag aus? +Die erste Phase ist die der Stabilisierung. Nach einem Terroranschlag muss zunächst dafür gesorgt werden, dass der Patient wieder Boden unter den Füßen bekommt und den Alltag bewältigen kann. Manchen hilft es, normal weiterzuarbeiten. Andere machen etwas, das ihnen wieder Halt und Sicherheit gibt: in die Natur gehen, an ihren Lieblingsplatz oder vom Partner gehalten werden. Später ist die Methode der Expositionstherapie oft hilfreich. Dabei geht man in der Fantasie das durch, was derjenige erlebt hat, oder sogar zurück zum Ort des Geschehens. Für manche Patienten ist das zu früh, sie drehen völlig durch, schreien oder rennen weg. Der Therapeut muss somit sehr vorsichtig sein. Ein Terroranschlag ist der größte Kontrollverlust im Leben eines Menschen, daher muss der Patient in der Therapie die totale Kontrolle über jeden Schritt haben. Bis jemand so weit ist, kann es manchmal mehrere Monate dauern. +Was würden Sie Angehörigen von Opfern raten, um bei der Verarbeitung zu helfen? +Anerkennung und Solidarität mit Opfern sind Heilungsfaktoren. Besonders gut verläuft das posttraumatische Syndrom, wenn die Eltern, der Partner oder irgendjemand, der Verständnis hat, für das Opfer da ist. Angehörige sollten die Betroffenen so sein lassen, wie sie gerade sind. Das braucht viel Geduld, hilft diesen Menschen aber kolossal. +Wie lange dauert es, bis man völlig über so etwas hinwegkommt? +In der Forschung hat man festgestellt, dass Traumata im Gehirn gespeichert und nicht zu löschen sind. Opfer können höchstens Abstand gewinnen und durch Therapie lernen, damit umzugehen. Das heißt, das traumatische Erlebnis bleibt als solches ein Leben lang erhalten. +Opfer von Terror haben ein Recht auf Rente, wenn ein bestimmter Grad der Schädigung vorliegt. Bei psychischen Erkrankungen wird das anhand psychologischer Tests getan. Was halten Sie davon? +Psychologische Tests werden der Situation sehr gerecht. Man kann damit die Tiefe einer Depression feststellen und ob ein posttraumatisches Syndrom überhaupt besteht. Werden die Tests nicht gemacht, entstehen oft Fehldiagnosen. Das ist für die Patienten sehr schlimm. +Nach dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz haben sich viele Opfer über zu wenig Hilfe beklagt. Was lief da schief? +In Berlin hätte bereits die Erstbetreuung anders aussehen müssen. Die Betroffenen hätten zügiger aufgeklärt werden müssen und schneller in eine Therapie gemusst. Bei den meisten Traumaopfern hat das ein Jahr gedauert. Dann wurde den Angehörigen zusätzlich Leid zugefügt, etwa wenn ihnen Rechnungen für die Obduktion der Mutter oder des Vaters geschickt wurden. +Was muss der Staat tun, um Opfern besser zu helfen? +Der Staat muss dafür sorgen, dass alle Opfer unbürokratisch eine Entschädigung bekommen und als Opfer anerkannt werden, ohne zu etlichen Gutachtern gehen zu müssen. Zudem muss ihnen eine gute Therapie zugesichert werden. In anderen Ländern werden Opfer mit einer bestimmten Summe entschädigt und bekommen sogar einen Coach an die Seite gestellt, der Termine mit Ämtern erledigt. +Was sollte denn die Öffentlichkeit tun, um Opfern von Terroristen zu helfen? +Medien müssen mehr darüber berichten. Es ist wichtig, dass in den Zeitungen nicht nur über die Täter geschrieben wird, sondern ebenfalls über die Opfer. Somit erfahren Opfer von der Gesellschaft endlich Solidarität. Ich bin dafür, dass man hier in Berlin eine Gedenkstätte für Terroropfer weltweit baut. Man braucht solche Rituale und Gedenkstätten, damit auch der Allerletzte begreift, dass Terror für niemanden eine Option ist. + +Das Titelbild wurde von einem französischen Kind nach den Anschlägen in Paris gemalt. (Foto: Joel Saget/Gamma-Rapho via Getty Images) diff --git a/fluter/terrorangst-risikoforschung-wahrscheinlichkeiten.txt b/fluter/terrorangst-risikoforschung-wahrscheinlichkeiten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fdb5d0dc5687f50cd32c6d9fd99b1889d3deddce --- /dev/null +++ b/fluter/terrorangst-risikoforschung-wahrscheinlichkeiten.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +Ortwin Renn: Statistisch gesehen ist die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Terroranschlages zu werden, in Europa nicht mal halb so hoch wie die, durch Pilzvergiftung zu sterben. +Warum gibt es dann so viele Debatten um Anti-Terror-Gesetze statt mehr Warnungen vor gefährlichen Fliegenpilzen? +Beim Terrorismus geht es nicht nur um Todesrisiken. Mit Terror werden auch symbolische Werte wie Freiheit und Toleranz angesprochen, er weckt Urängste und zeigt der Gesellschaft ihre Verwundbarkeit. Daher wiegen hier die Risiken in der öffentlichen Wahrnehmung mehr als in anderen Risikobereichen. Dennoch ist es sinnvoll, sich die Größenordnung immer wieder ins Bewusstsein zu rufen. Manche Kommentatoren sprechen bei Terror sogar von Krieg in Europa. Das ist angesichts der Zahlen schlichtweg absurd. +Sie beschäftigen sich ja als Risikoforscher mit den Ängsten der Menschen und stellen sie den statistischen Wahrscheinlichkeiten gegenüber. Gibt es etwas, wovor Sie selbst sich fürchten, obwohl Sie es eigentlich besser wissen müssten? +Ja. Wenn ich im Flugzeug sitze und es wackelt und die Anschnallzeichen erleuchten, geht mein Herz schon mal in die Hose. Ich weiß natürlich genau, dass sehr wenige Flugzeuge wegen Turbulenzen abstürzen und dass andere Verkehrsmittel sehr viel unsicherer sind. Aber das Wissen allein reicht eben nicht. +Flugangst ist dennoch ziemlich verbreitet. Warum macht Fliegen so viel mehr Angst als Autofahren? +Dafür gibt es viele Gründe. Ein wichtiger Faktor ist, ob ich das Gefühl habe, die Gefahren selber kontrollieren zu können. Wenn ich mit dem Auto unterwegs bin, habe ich den Eindruck, mein Risiko eigenhändig zu steuern. Aber die Angst steigt schon, sobald man Beifahrer ist. Beim Fliegen muss man noch mehr Vertrauen delegieren, an den Piloten und seine Crew, deren Können man nicht einschätzen kann. +Sie sagen, wir fürchten uns ganz systematisch vor den falschen Dingen. Wovor haben wir zu Unrecht Angst, außer vor dem Fliegen und vor Terroranschlägen? +Umweltgefahren werden heute stark überschätzt. Wir fürchten uns vor Konservierungsstoffen in Lebensmitteln, vor Pestizidrückständen oder den Folgen der Gentechnik. Die statistischen Zahlen zeigen aber: Wenn überhaupt, werden davon nur wenige Menschen ernsthaft krank. Im Vergleich dazu gibt es andere Gefahren, die uns wesentlich stärker bedrohen. +Welche? +Es gibt vier große Volkskiller, die allein für rund zwei Drittel aller vorzeitigen Todesfälle verantwortlich sind. Das sind: Rauchen, zu viel Alkohol, zu wenig Bewegung und eine unausgewogene Ernährung. Diese Risiken unterschätzen wir ganz massiv, obwohl wir sie kennen. +Weil wir dabei wie beim Autofahren das Gefühl haben, die Dinge selbst zu kontrollieren? +Zum Teil. Aber uns bereitet auch das Denken in Wahrscheinlichkeiten große Probleme. Wenn ich eine bestimmte Menge Arsen zu mir nehme, bin ich sicher tot. Aber wie ist das beim Rauchen? Nicht jeder, der raucht, stirbt an Lungenkrebs. Und nicht jeder, der Lungenkrebs bekommt, hat vorher geraucht. Es gibt also immer einen 90-jährigen Kettenraucher ohne jede Beschwerden, der als Beispiel dafür herhalten kann, dass Rauchen angeblich doch gar nicht so gefährlich ist, wie behauptet wird. Es gibt immer Ausnahmen. Das macht die Einordnung dieser Risiken für den Einzelnen so kompliziert. +Was zeichnet die Dinge sonst aus, die wir zu Unrecht fürchten? +Generell fällt auf, dass wir künstliche und technische Risiken eher überschätzen und natürliche Gefahren eher unterschätzen. Das Fliegen zum Beispiel macht auch deswegen vielen Menschen Angst, weil es so weit von unserer naturgemäßen Fortbewegung entfernt scheint. Es ist kontraintuitiv, dass so ein schweres Ding in der Luft hängen kann. Die Natur wird idealisiert, auch bei der Ernährung. Dabei sterben mehr Menschen durch Salmonellen und Schimmelpilz als durch Pestizide in Lebensmitteln. +Wieso machen uns die künstlichen Gefahren so viel mehr Angst als die natürlichen? +Weil wir ihre Wirksamkeit so schlecht einstufen können und daher meistens auf die Einschätzungen Dritter angewiesen sind. Ist Gentechnik gefährlich? Das kann ich selbst nicht nachprüfen. Der Meinungsmarkt gibt mir ganz unterschiedliche Signale. Die einen warnen vor der Gentechnik, die anderen sagen: Ist alles kein Problem. Wenn ich nicht weiß, wie hoch ein Risiko ist, empfinde ich das als besonders angsteinflößend. Im Zweifel fürchten wir uns dann lieber ein wenig zu viel. +Lobbygruppen und Industriekonzerne dürften sich über Ihre Argumente freuen, wonach wir uns zu Unrecht vor Pestiziden und Zusatzstoffen in Lebensmitteln fürchten. +Das stimmt, die Gefahr sehe ich auch. Aber dass die Großkonzerne jetzt machen können, was sie wollen, wäre die völlig falsche Schlussfolgerung. Ich behaupte ja nicht, dass Pestizide im Essen kein Risiko darstellen. Die Gefahren sind zwar klein, aber wenn wir sie mit vertretbarem Aufwand reduzieren können, sollten wir das natürlich tun. Mir geht es eher um die Verhältnismäßigkeit: Wir sollten nicht mit viel Aufwand ein geringes Risiko um 0,01 Prozent reduzieren und ein anderes, viel gewichtigeres darüber völlig außer Acht lassen. +Ist es eigentlich schlimm, dass wir uns vor den falschen Dingen fürchten? +Es kommt darauf an, welche Ausweichstrategien wir entwickeln. Vor einigen Jahren zum Beispiel hat man in den baltischen Staaten erhöhte Quecksilberwerte in Fischen festgestellt. Was passierte? Die Menschen kauften statt Fisch fette Steaks und aßen die. Die falsche und unausgewogene Ernährung dürfte viel mehr Schaden angerichtet haben als das Quecksilber im Fisch. Und letztlich ist eine falsche Risikowahrnehmung kostspielig. Wenn wir viel Zeit und Geld einem Risiko widmen, das eher marginal ist, fehlen uns Zeit und Geld für die Risiken, die uns wirklich bedrohen. +Wo würden Sie umsteuern? +Ein Beispiel: Wir geben sehr viel Geld für Kriminalitätsbekämpfung aus. Wir geben dagegen sehr wenig Geld für Suizidprävention aus. Dabei kommen durch Suizide zehnmal mehr Menschen ums Leben als durch Mord und Totschlag. Wenn man genug Geld hat, um beides zu bekämpfen – wunderbar. Aber wenn die Mittel knapp sind, würde ich sie eher in die Suizidprävention stecken. +Wenn man an einen Mord denkt, läuft einem ein Schauer über den Rücken. Sollten wir uns lieber an Statistiken orientieren statt an unseren Emotionen? +Statistiken können uns helfen, risikomündiger zu werden. Aber Statistiken können, wenn sie falsch präsentiert werden, auch selbst zu einer falschen Risikowahrnehmung beitragen. +Inwiefern? +Vor zehn Jahren geisterte die Meldung durch die englischen Zeitungen, wonach das Thromboserisiko durch die Minipille um 100 Prozent steigen würde. Das klingt dramatisch und hat dazu geführt, dass Tausende Mädchen die Minipille abgesetzt haben. In England kam es daraufhin zu 70.000 zusätzlichen ungewollten Schwangerschaften, es gab mehr Abtreibungen, und einige Frauen sind durch die Komplikationen während des Eingriffs auch gestorben. Was war passiert? Ohne die Pille bekommen 2,3 von 10.000 Frauen eine Thrombose, eine neue Studie hatte gezeigt, dass von 10.000 Frauen, die die Pille nehmen, 4,6 eine Thrombose bekommen. Das sind zwar doppelt so viele, aber die tatsächlichen Relationen sind sehr klein. Erst hatten wir eine Nadel im Heuhaufen, jetzt haben wir zwei Nadeln im Heuhaufen. Prozentwerte signalisieren schnell eine große Gefahr, auch wenn die absoluten Risiken verschwindend gering sind. +Professor Ortwin Renn ist Soziologe, Volkswirt und Nachhaltigkeitswissenschaftler. AmInstitut für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgarthat er den Lehrstuhl für Technik- und Umweltsoziologie inne. Dem allgemein interessierten Publikum hat er seine Erkenntnisse zur Risikoforschung in dem Buch "Das Risikoparadox – Warum wir uns vor dem falschen fürchten" dargelegt. +Bernd Kramer schreibt als freier Autor unter anderem für die "Zeit", "Neon" und die "taz". Als studierter Volkswirt und Soziologe beschäftigt er sich in seinen Texten gerne mit den großen Fragen der Gesellschaft. diff --git a/fluter/terroranschlaege-verhindern-breivik-seierstad.txt b/fluter/terroranschlaege-verhindern-breivik-seierstad.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d819a67502600e0371856928b87bf1f95c38925e --- /dev/null +++ b/fluter/terroranschlaege-verhindern-breivik-seierstad.txt @@ -0,0 +1,38 @@ + +Ein Jahr nach dem Anschlag von Utøya hat Andrea Gjestvang Überlebende fotografiert. Trotz ihrer Narben, fehlenden Körperteile und seelischen Traumata sagen die Bilder auch: Wir sind noch da! + +fluter: Frau Seierstad, seit Breiviks Anschlag gibt es immer mehr Attacken von rechtsradikalen Terroristen … +Åsne Seierstad: Gerade habe ich im Radio einen Bericht über den Prozess gegen einenNeonazigehört, der im vergangenen Jahr vorhatte, in einer Moschee bei Oslo Muslime zu erschießen. Die Gläubigen konnten ihn stoppen, aber vorher hatte er bereits seine Stiefschwester erschossen. Das hat mich stark an Anders Breivik erinnert. Wenn der Mann erfolgreich gewesen wäre, hätte es ein ähnliches Massaker geben können. Im Gerichtssaal hat sich der Täter später auf das Manifest von Breivik berufen. +Am fünften Jahrestag von Breiviks Tat erschoss ein 18-Jähriger in München neun Menschen mit Migrationshintergrund. Auch der Attentäter von Christchurch, der im März vergangenen Jahres 51 Menschen in einer neuseeländischen Moschee tötete, postete Bilder des Norwegers. Ist Breivik das globale Vorbild einer neuen Terroristengeneration? +Es gab auch schon vorher ideologisch ähnliche Terroranschläge – wie den eines Rechtsextremisten auf ein Regierungsgebäude in Oklahoma City 1995 mit 168 Toten. Dennoch war Breivik tatsächlich eine Zäsur. Er steht für den Beginn einer Radikalisierung durch das Internet, durch das sein Manifest geistert. Fürdie jungen Männer, die sich vor den Bildschirmen radikalisieren, ist er der Godfather, der Pate. +Gibt es besondere persönliche Merkmale, die einen Menschen zum Terroristen werden lassen? +Es gibt immer eine ganze Menge Gründe, warum so etwas geschieht. Oft sind psychische Probleme im Spiel, aber auch der soziale Hintergrund scheint mitentscheidend zu sein. In den Lebensläufen von Gewalttätern wie Mördern oder Vergewaltigern findet sich selten eine glückliche Kindheit. Meist ist die Erziehung gescheitert, oder es gab einen häufigen Wechsel von Schulen oderHeimen– oder eine schwere Jugend mit nur einem Elternteil. Natürlich macht keiner dieser Umstände aus Menschen automatisch Terroristen, aber wenn man die Leben von Terroristen betrachtet, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass sich solche Faktoren finden. + + +Breiviks Vater hat die Familie früh verlassen, und seine Mutter schrie ihn an, dass sie wünschte, er wäre nie geboren worden. +Anders Breivik hat eine narzisstische Störung. Er suchte immer eine Bühne und fand sie nicht. Mal wollte er bei Graffitikünstlern mitmachen, mal bei einer politischen Jugendorganisation. Immer wurde er zurückgewiesen. Er hatte keine Freunde,keine Freundin und war überzeugt, alle anderen seien daran schuld. Mit dieser Geschichte können sich manche identifizieren. Breiviks einziger "Erfolg" war, dass er seinen Terrorplan in die Tat umsetzte. Das war eine Art Überkompensation und Rache. Die Rache des Gescheiterten. +Breivik bezeichnet sich selbst als Ritter, der die nordische Rasse retten muss. Klingt ziemlich verrückt. +Es wurde festgestellt, dass er nicht verrückt ist. Ein erstes Gutachten kam zu dem Schluss, dass er an einer schweren Psychose leidet und bei der Tat nicht zurechnungsfähig war. Ein zweites hat das widerlegt. Ich würde sagen, Anders Breivik ist politisch verrückt und auch soziopathisch, aber nicht verrückt im medizinischen Sinne. Es war für die Opfer sehr wichtig, dass Breivik nicht als psychisch Kranker verurteilt wurde, sondern als Verantwortlicher für seine Taten. +Terroristen sprechen oft über Moral und behaupten, ihren Kampf für eine gerechte Sache zu führen. Andererseits bringen sie unschuldige Menschen um. Wie kann man diese beiden Welten vereinen? +Das ist einfach. Diese Menschen glauben, sich im Krieg zu befinden, und im Krieg darf man töten. Das Beste ist: Sie müssen sich nicht mal gegenüber einem Kommandanten rechtfertigen. Der Befehlshaber sind sie selbst, undihre Armee finden sie im Internet. Sie sind die Retter der Gesellschaft, für die eigene Regeln gelten. + + +Der Soldat mit dem Körper aus Stahl, der aus einer verletzten Seele hervorgeht. +Genau. Breivik fühlte sich als Soldat, der für seine politischen und militärischen Ziele tötet. +Am Ende seines Manifests fanden sich zehn Seiten mit Bildern, die ihn als Soldaten zeigten und später in den Medien auftauchten. Breivik selbst bezeichnete die Bilder als "Werbematerial" für eines der "einflussreichsten Individuen dieser Zeit". Haben Medien eine Mitschuld, wenn sie diese Bilder zeigen und damit helfen, dass sich Terroristen als Helden inszenieren? +Weil es keine Bilder von Breivik gab, zeigte man nach dem Attentat die, die man bei ihm gefunden hatte. Das war ein Fehler. Medien sollten niemals die Bilder von Terroristen verwenden. Schwierig finde ich es, wenn Medien vermeiden, Namen zu nennen, Bilder zu zeigen oder auch aus dem Manifest zu zitieren. Wir leben in einer Demokratie, und zu der gehört auch eine freie Berichterstattung über Terroranschläge, die nichts im Dunkeln lässt. Alles andere führt in rechten Kreisen nur zuden üblichen Fake-News-Vorwürfen. +Aber animiert man damit nicht Nachahmer? +Die Nachahmer lassen sich nicht von den Mainstreammedien inspirieren, sondern von anderen Plattformen wie den Imageboards 4chan und 8kun.Diese Online-Communitys haben ihre ganz eigenen Standards und Hierarchien, in denen Breivik ganz oben steht, weil er ein erfolgreicher Terrorist ist. "Going full Breivik" bedeutet dort: eine Menge Menschen zu töten. +Wie ist die norwegische Gesellschaft mit dem Attentat umgegangen? +Man muss die Behörden dafür loben, wie sie nach dem Anschlag agiert haben. Die Ermittlungen waren transparent und zielführend. Schon neun Monate später kam es zum Prozess. Man konnte die Zeugenaussagen täglich in der Zeitung lesen, und obwohl sich Breivik darum bemühte, bekam er nie eine Bühne. Das alles war sehr wichtig für die Opfer und die Angehörigen. + + +Der damalige norwegische Ministerpräsident hatte direkt nach dem Anschlag angekündigt, dass die Antwort der Gesellschaft mehr Toleranz sein wird und mehr Menschlichkeit. War das dann auch so? +Jens Stoltenberg hatte damals die schwere Aufgabe, den Norwegerinnen und Norwegern zu sagen, wer sie sind und wofür sie stehen. Und das war nicht Krieg, Hass und Rache, sondern der Wille, genau das aus der Gesellschaft zu verbannen. Wenn man sich denAnschlag auf das World Trade Centerin New York anschaut, dann war die Antwort der US-Regierung Rache und Krieg, was wiederum mehr Terror hervorgebracht hat. +Aber 9/11 war ja auch ein Anschlag von außen … +Das stimmt, in Norwegen war es stattdessen einer von uns. Dennoch glaube ich, dass Rache und Krieg nie die Antwort sein sollten. Ich habe viel darüber nachgedacht, wie wir uns gegen Terrorismus verteidigen können, egal, ob er von rechts kommt oder von Islamisten. Wir leben in offenen Gesellschaften und wollen uns nicht hinter Zäunen verstecken. Wir müssen andere Wege gehen. +Wie sehen die aus? +Unsere einzige Chance ist es, gute Gesellschaften zu sein – für alle. Das bedeutet vor allem Politik für junge Menschen, Bildungs- und Freizeitangebote für Kinder. Reiche Länder müssen sich das leisten. Früher kostete die Schülerbetreuung bei uns 200 bis 300 Euro, nun ist sie in Oslo umsonst. Als ich unter jungen Dschihadisten recherchierte, habe ich festgestellt, dass sie von ihren Eltern nicht zum Fußball geschickt wurden, weil es zu teuer war. Man muss sich für diese Kinder engagieren. Das sind keine Antiterrorkampagnen, sondern Kampagnen für Gleichheit und Integration. Es gibt auch Programme wie denBesuch im Holocaustcenter, bei denen man sich mit Ideologien auseinandersetzt. +Aber wie erreicht man diejenigen, die in ihrem Zimmer vor dem Bildschirm sitzen und sich dort radikalisieren? +Ich habe auch keine Lösung, aber immerhin wissen wir, wo sich die Radikalisierung abspielt. Diese Communitys von Neonazis, Incels undVerschwörungstheoretikernmüssen wir viel besser überwachen. Und wir müssen aufpassen, dass wir die Motive der Terroristen erkennen und benennen. Der Frauenhass von Anders Breivik wurde zum Beispiel völlig unterschätzt. Wir haben alle zu sehr auf die antimuslimischen Motive geschaut, aber der Hass auf Frauen ist genauso groß. Das sieht man auch an den Amokläufen in den USA. Die meisten davon wurden von sogenannten Incels begangen. Sie können nicht ertragen, dass Frauen erfolgreicher sind, während sie als Männer am Leben scheitern. +Åsne Seierstads Buch über Breivik heißt "Einer von uns" (Verlag Kein & Aber). Es ist schwer erträglich, weil Seierstad jeden Mord einzeln schildert. Aber gerade dadurch gibt sie jedem Opfer ein Gesicht. 2017 schrieb Seierstad ein zweites Buch über Terrorismus: die Geschichte der 16 und 19 Jahre alten somalischstämmigen Schwestern Ayan und Leila, die sich plötzlichdem sogenannten Islamischen Staat anschließen.(Foto: Kagge Sturlason) diff --git a/fluter/terroranschlag-oder-amoklauf-unterschiede-und-gemeinsamkeiten.txt b/fluter/terroranschlag-oder-amoklauf-unterschiede-und-gemeinsamkeiten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4a549ce98f938e384ed988a4723f86307e784526 --- /dev/null +++ b/fluter/terroranschlag-oder-amoklauf-unterschiede-und-gemeinsamkeiten.txt @@ -0,0 +1,32 @@ +Wie ein Terrorangriff auch. +Ja. Etwas weniger plakativ könnte man bei beidem ganz einfach auch von Mehrfachtötungen im öffentlichen Raum sprechen. Und da stellen wir fest: Schulattentäter und Terroristen, zumindest solche, die sich selbst radikalisiert haben und nicht von einer Gruppe losgeschickt werden, sind sich in vielem überraschend ähnlich. +Selbstmordattentäter, die sich selbst radikalisiert haben und nicht von einer Gruppe losgeschickt werden, ticken häufig ähnlich wie Amokläufer. +Inwiefern? +Vor allem in drei Punkten. Erstens: Beide tragen ein Gefühl von Kränkung oder Ungerechtigkeit mit sich herum, aus dem sich Rachegedanken entwickeln können. Das kann ein wahrgenommenes Mobbing durch die Klassenkameraden sein, aber auch das Gefühl, als Muslim einer unterdrückten Gruppe anzugehören. Zweitens: Sowohl Amoktäter als auch terroristische Einzeltäter haben das Gefühl, in einer ausweglosen Krise zu stecken. Der dritte Faktor ist die Ideologie, die eine Gewalttat rechtfertigt. +Schulattentäter verfolgen doch keine Ideologie. +Doch, interessanterweise gibt es so etwas auch dabei. Erstaunlich viele Schulamokläufer beziehen sich auf das Attentat an der Columbine-Highschool im Jahr 1999. Die beiden Attentäter wollten mit ihren Taten damals eine Revolution der Ausgestoßenen begründen. Das ist vielen auch zwei Jahrzehnte später noch ein Anknüpfungspunkt. +Die Columbine-Attentäter sind also vergleichbare Ideologielieferanten wie der IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi? +Zumindest haben beide bewusst ein kulturelles Skript geliefert, an dem sich Nachahmer orientieren können. Man kann es als Ideologie bezeichnen. +Bei vielen, etwa bei dem Münchener Täter, stellte sich heraus, dass sie wegen Depression in Behandlung waren. Andere Experten sagen dagegen, dass Gewalttaten eher untypisch sind für Depressionskranke. +Eine Depression ist sicher kein Auslöser einer solchen Tat. Aber wer depressiv ist, sieht häufig weniger Handlungsmöglichkeiten für sich und begreift seine Situation als ausweglos. Das Krisengefühl ist wie gesagt nur eines von drei Merkmalen der Täter. Die wenigsten Depressiven würden zu einer Amoktat neigen. Und nicht jeder, der einen Amoklauf begeht, ist depressiv. +Egal ob Terroranschläge oder Amokläufer: Die Täter sind auffällig oft junge Männer. Warum? +Vermutlich hängt das damit zusammen, dass Frauen und Männer anders mit psychischen Krisen umgehen. Frauen sprechen schneller mit anderen Menschen über die Probleme und sind eher bereit, sich Hilfe zu suchen. Junge Männer tendieren dazu, ihre Sorgen mit sich allein auszumachen. +Begünstigen bestimmte Männlichkeitskulte diese Taten? +Geschlechterstereotype spielen sicherlich auch eine Rolle: der Mann als Krieger oder Rächer gegen eine ungerechte Welt. Man weiß, dass Menschen im jungen Erwachsenenalter eher anfällig sind für so genannte Identifizierungen, sich also mitunter stärker an Geschlechterstereotypen orientieren als ältere Menschen. +Wie wichtig ist es für die Täter, möglichst viel Aufmerksamkeit zu erregen? +Sehr wichtig. Und wir bieten diese Bühne ja relativ bereitwillig an, wie man am Ausmaß der Berichterstattung sehen kann: Wer viele Leute umbringt, wird bekannt. Vorher war man nichts, jetzt IST man in allen MEDIEN. Dieser Ruhm ist gerade für junge Leute verlockend, die über ihren Tod hinaus fantasieren können. +Nicht nur Terroristen, auch viele Schulattentäter rechtfertigen ihr Töten ideologisch und beziehen sich auf das Attentat an der Columbine-Highschool im Jahr 1999. + +Ist das eine weitere Gemeinsamkeit? Auch für manche islamistische Terroristen spielt vordergründig die Vorstellung eine Rolle, in einem Jenseits für ihre Morde belohnt zu werden. +Die Vorstellung von dem, was nach ihrem Tod passiert, ist für beide nicht selten ein starker Antrieb. Sie geben sich beide sehr intensiv der Fantasie hin. Man kennt das Phänomen übrigens von Suiziden bei Jugendlichen: Die stellen sich manchmal vorher sehr genau vor, wie die Eltern am Grab stehen und sich Vorwürfe machen. Dass sie davon dann nichts mehr haben, ist ihnen gar nicht so richtig bewusst. Die Vorstellung, dass der Tod etwas Endgültiges ist, ist bei jungen Erwachsenen noch sehr viel abstrakter. +In den vergangenen Wochen haben sich Attentate gehäuft. Ist das ein Zufall? +Ich kann mir gut vorstellen, dass Nachahmer-Effekte eine Rolle gespielt haben. Das Phänomen ist übrigens bei Schulattentaten bereits gut untersucht: Geschieht irgendwo ein Amoklauf, über den die Medien groß berichten, zieht er weitere Taten oder Tatversuche nach sich. Wer ebenfalls mit dem Gedanken spielt, wer vielleicht noch zögert, der sieht nun: Es ist möglich, es geht. Bei Suiziden sind diese Nachahmer-Effekte übrigens ähnlich, was dazu geführt hat, dass heute wesentlich zurückhaltender über Selbsttötungen berichtet wird. +Wie sollte über Attentate berichtet werden, ohne weitere Täter zu inspirieren? +Ganz wichtig ist: Der Täter sollte nicht ins Zentrum gerückt werden, schon gar nicht auf eine Weise, die als glorifizierend interpretiert werden könnte. Medien sollten seinen Namen nicht nennen und die Bilder verpixeln. Die ersten Zeitungen und Fernsehsender beherzigen das zum Glück auch. +Wenn Amokläufe und Attentate so gut wie nie spontan sind: Wie weit im Voraus steht der Entschluss fest? +Wir sehen, dass es bei fast jedem Täter lange Phasen des Zweifelns gibt. Zum Beispiel der 18-Jährige, der 2006 in seiner ehemaligen Schule in Emsdetten Amok lief. Er hatte einerseits die Rachefantasien, es der Gesellschaft irgendwann zu zeigen und dabei auch Angst, selbst zu Tode zu kommen. Das geht aus seinen Aufzeichnungen hervor. Gleichzeitig malte er sich ein Leben als Auswanderer in den USA aus, mit kleinem Häuschen und Basketballkorb über dem Garagentor. Beide Vorstellungen standen lange nebeneinander. Die Frage ist letztlich, wie sich eine solche Gemengelage entwickelt: Wie ist das Verhältnis von stabilisierenden Faktoren wie einem Freundeskreis oder einem Job und solchen Faktoren, die Kränkungsgefühle begünstigen und das Leben als ausweglos erscheinen lassen. +Häufig haben Schulattentäter ihre Taten vorher irgendwann angekündigt. +Terroristische Einzeltäter übrigens auch. Häufig sind sie mit ihren Gedankenspielen in ihrem Umfeld vorher auffällig geworden. Was ein guter Ansatz ist, um einzugreifen. +Der Diplom-Psychologe Dr. Jens Hoffmann ist Geschäftsführer des Instituts Psychologie und Bedrohungsmanagement in Darmstadt. +Bei Schulattentaten kann man die Lehrer sensibilisieren, damit sie stärker auf Vorzeichen achten. Lässt sich das auf andere Fälle übertragen? +Im Prinzip ist die Empfehlung ganz ähnlich. Wo könnte diese Person mit ihren Gewaltgedanken auffällig werden? An den Stellen braucht es dann Ansprechpartner, also in Behörden, Universitäten, Unternehmen. Wir hatten zum Beispiel einen Fall in unserer Beratung, bei dem ein Mitarbeiter einer Firma einen Amoklauf gegenüber einem befreundeten Kollegen angekündigt hat. So etwas kann ja ein makabrer Scherz sein, es kann aber auch mehr dahinterstehen. Was den Freund beruhigt hat: Er hatte das ganz ruhig gesagt und auch sehr detailliert aufgeführt, wen er umbringen möchte. Der Freund hatte sich zwei Nächte im Bett gewälzt, weil er nicht wusste, ob er den Hinweis weitergeben soll oder nicht. Nicht dass der entlassen wird. Das zeigt übrigens auch, wie wichtig es ist, bei solchen Anzeichen behutsam vorzugehen und nicht in einer Überreaktion alle Türen zuzuschlagen. Wir haben sehr diskret das Gespräch mit dem Mitarbeiter gesucht und ihm therapeutische Hilfe vermittelt, ohne dass im Unternehmen viel Wind darum gemacht wurde. Das hat gut funktioniert. diff --git a/fluter/terrorforschung-studium-job.txt b/fluter/terrorforschung-studium-job.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..179fd5e0d7e46eb9bcd8df708a4efb3433bd9009 --- /dev/null +++ b/fluter/terrorforschung-studium-job.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Die Arbeit in Brüssel war spannend, aber ich wollte unbedingt noch einen Master machen. Letztlich sind es dann sogar zwei geworden: Ab 2018 studierte ich "Criminology and Criminal Justice" und direkt im Anschluss "Crisis and Security Management", beides an der Universität Leiden in den Niederlanden. Ich wollte unbedingt lernen, wie man Krisen verhindert, aber auch,wie wir auf sie reagieren können, beispielsweise nach einem Terroranschlag. Denn, ganz ehrlich, solche Situationen werden auch in Zukunft nie komplett zu verhindern sein. Terrorforschung ist leider ein krisensicherer Job. +Auf Nummer sicher: Freya van Ellen, 25, schließt bald ihren Master in "Crisis and Security Management" ab (Foto: privat) + +Viele Masterprogramme in den Niederlanden dauern nur ein Jahr. Da bleibt wenig Zeit für Praktika oder Forschungsreisen. Aber wir hatten Glück mit den Dozent*innen, die die Seminare und Vorlesungen so praxisnah wie möglich gestalten wollten. Wir hörten regelmäßig Expert*innen in Gastvorlesungen: Krisenkommunikatoren von der örtlichen Polizei oder von Deloitte, einer der führenden Sicherheitsberatungsfirmen. Wir hatten sogar Peter L.J. Bos zu Gast. Er leitete das Krisenmanagement, als im März 2019 in der Utrechter Straßenbahn vier Menschen von einem islamistischen Attentäter erschossen wurden. +Außerdem haben wir Krisenszenarien am Computer simuliert. Ich erinnere mich an eine Terrorwarnung am Flughafen Amsterdam-Schiphol. Wir Studierenden mussten uns um alles kümmern: Wie ernst ist die Lage? Müssen wir den Flugbetrieb stoppen? Welche Folgen hätte das für die Region? Wer muss wann über welche Details informiert werden? Wir waren so darauf fokussiert, einen möglichen Anschlag zu verhindern, dass wir vergessen haben, die Reisenden und das Personal am Flughafen ausreichend zu informieren. Die gerieten völlig unnötig in Panik und twitterten, dass weitere Ziele in Amsterdam bedroht seien. Zum Glück war das nur eine Simulation. +So spannend und wichtig praktische Einblicke sind: Ganz ohne Theorie funktioniert so ein Studium natürlich nicht. Aber selbst die hat oft Spaß gemacht. Im Kurs "Understanding Terrorism" ging es um die Frage, wie sich Extremisten gegenseitig beeinflussen und radikalisieren; in "Security and the Rule of Law" haben wir besprochen, welche Rolle der Rechtsstaat im Krisenmanagement spielt; und in "Before Crisis" haben wir analysiert, ob das Risikomanagement beim9/11-Anschlagrichtig war – oder die Folgen des Anschlags nicht sogar verschlimmert hat. +In meinen Hausarbeiten habe ich unter anderem die Antiterrorstrategien von Singapur und Indonesien verglichen, den Aufstieg der paramilitärischen Tamil Tigers in Sri Lanka erklärt oder dieStop-and-Search-Techniken der Polizei in Deutschlandund Frankreich diskutiert. In der zweiten Masterarbeit, die ich gerade erst abgegeben habe, erörtere ich, wie Deutschland seit 2012gesetzgeberisch auf den immer stärker werdenden Rechtsextremismus reagiert. +Keine Ahnung, in welchem Job ich jetzt nach dem Studium weitermache. Ich kann mir gut vorstellen, im niederländischen Innen- oder Justizministerium an Antiterrorkonzepten zu arbeiten. Oder ich gehe in die freie Wirtschaft, um Unternehmen in Sicherheitsfragen zu beraten. Als ich mit dem Master in Leiden begonnen habe, ging es mir um zwei große Fragen:Warum verüben Menschen Anschläge?Und wie können wir das verhindern? Antworten habe ich an der Uni nur teilweise gefunden. Den Rest lerne ich jetzt in der Praxis. + diff --git a/fluter/test-the-test.txt b/fluter/test-the-test.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bd8746924ae759ca8e01345b161d18185f8532f5 --- /dev/null +++ b/fluter/test-the-test.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Annemarie sieht Konstantinos entschlossen an, wartet ab. Der gebürtige Grieche hebt zögernd die Hand, als wolle er sich für seine Antwort entschuldigen, bevor er sie überhaupt gegeben hat. "Meine Meinung sagen darf, solange ich der Regierung nicht widerspreche", sagt er schließlich. "Natürlich darfst du der Regierung widersprechen. Du musst genau lesen." Wieder wartet die Lehrerin. Diesmal antwortet Silvana: "Dass ich meine Meinung in Leserbriefen äußern darf." Konstantinos hebt seine Augenbrauen – er wäre durchgefallen. Neidisch blickt er zu Yohannes und Isaias. +Isaias hat nur zwei Fragen falsch beantwortet, Yohannes keine einzige. Die Jungs geben sich High-five. Beide sind im Sommer 2014 aus Eritrea geflohen. Fragt man sie nach ihrer Heimat, winken sie ab. Fragt man sie allerdings nach Deutschland, legen sie los. "Deutschland ist ein demokratisches Land. Hier kann sich jeder frei bewegen. Alle kriegen Bildung", sagt Yohannes. "Jeder, der arbeiten will, kann hier Arbeit finden. Ungleichheit verbietet das Gesetz", betont Isaias und tippt auf den Probetest, als wollte er sagen: "Da steht es!" +Nachdem die Ergebnisse des Probetests besprochen wurden, geht es um das Thema Bildung. Als Annemarie eine Folie auflegt, auf der das Bildungssystem Deutschlands dargestellt ist, wedelt Rubaiyat aufgeregt mit seinem rechten Arm und ruft "Diskriminierung". Er hat genau zugehört, als Annemarie ihnen die Schulformen erklärt hat. "Wenn die Kinder schon nach der Grundschule sortiert werden und die einen auf die Hauptschule kommen und die anderen aufs Gymnasium, ist das nicht fair", sagt Rubaiyat. "Sie haben nicht die gleichen Chancen." Annemarie verweist auf die Gesamtschule, berichtet, dass das dreigliedrige Schulsystem in Deutschland stark diskutiert wird. Der Kurs diskutiert es dann auch. Die Lehrerin lächelt. +Annemarie mag es, wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kritisch sind – es zeige ihr, dass sie sich mit dem Thema auseinandersetzten. "Strikte Gegenpositionen kommen nur selten vor. Neulich hatte ich mal einen Fall", erzählt sie. Es ging um die Frage 267: "Eine junge Frau in Deutschland, 22 Jahre alt, lebt mit ihrem Freund zusammen. Die Eltern der Frau finden das nicht gut, weil ihnen der Freund nicht gefällt. Was können die Eltern tun?" +Die Eltern müssen die Entscheidung der Tochter respektieren. Das ist die richtige Antwort im Test, und die "geht gar nicht", fand ein Teilnehmer. "Ich kann mir nie hundertprozentig sicher sein, ob es fruchtet, was ich ihnen zu vermitteln versuche", sagt Annemarie. Allerdings müsse man sich auch bewusst machen, dass viele den gleichen oder einen ähnlichen kulturellen Hintergrund hätten wie gebürtige Deutsche. +Bundesweit haben den Test "Leben in Deutschland" im ersten Halbjahr 2015 93 Prozent aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer bestanden. Hier im Kurs arbeitet Annemarie noch daran, den Schnitt nicht nach unten zu ziehen. Ihr ist klar: Die Fragen richtig zu beantworten ist die eine Sache, wirklich in Deutschland ankommen eine andere. diff --git a/fluter/testverfahren.txt b/fluter/testverfahren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a3b125aaa57de2a6a9c0309a46849d930eb4e11f --- /dev/null +++ b/fluter/testverfahren.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Gut zu wissen: Eigentlich sollte Bela Lugosi, der später als "Dracula" bekannt wurde, die Hauptrolle spielen. Sein Konzept fiel bei den Machern jedoch durch. +Das war 1931: Der litauische Wissenschaftler Phoebus Leven beschreibt die Zusammensetzung der DNA. Allerdings hält er die Proteine für die Träger des Erbguts, die DNA hingegen sei "dumm". +Darum geht's: Ein kanadischer Wissenschaftler experimentiert mit einem Gerät, das Materie von A nach B überträgt. Beim Selbstversuch übersieht er, dass eine Fliege mit ihm im Transmitter sitzt. Er kommt zu sich mit dem Kopf der Fliege und einem Flügel an der Schulter. Die Fliege hat dafür seinen Kopf, ganz klein, und einen Arm. +Darum geht's wirklich: Um die Fusion von humangenetischem Material mit dem eines Tiers. Ein winziger Fehler in einem Forschungsprojekt hat Folgen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. +So geht's aus: Das Wissenschaftler-Fliege-Monster scheitert an jedem Rückverwandlungsversuch. Der verzweifelteWissenschaftlers lässt sich von seiner Frau töten. Die Fliege stirbt in einem Spinnennetz.Gut zu wissen: Die Vorlage des Films war eine Kurzgeschichte im "Playboy". +Das war 1958: Der Brite Frederick Sanger erhält den Nobelpreis für Chemie für seine Bestimmung der Aminosäuresequenz von Insulin. Den Rest seines Lebens entschlüsselte er weitere DNA-Sequenzen. +Darum geht's: Menschen werden durch gefühllose Duplikate ersetzt, die von Pflanzen aus dem Weltall "geboren" werden. Als ein Arzt (Donald Sutherland) und seine Assistentin dem Grauen auf die Spur kommen, will ihnen niemand glauben – denn fast alle anderen sind bereits konvertiert. +Darum geht's wirklich: Um die Frage, ob alle Menschen außer einem selbst Teil einer großen, fiesen Verschwörung sind.So geht's aus: In einer der dramatischsten Schlussszenen der Filmgeschichte verrät der ebenfalls umgewandelte Hauptdarsteller seine gute Freundin Nancy durch einen schrillen Alienschrei. +Gut zu wissen: Der Regisseur und der Hauptdarsteller des Originals von 1956 haben in dem Remake kurze Gastauftritte als Taxifahrer beziehungsweise panischer Passant. +Das war 1978: Am 25. Juli wird Louise Brown in Oldham bei Manchester geboren. Sie ist der erste Mensch, dessen Befruchtung in einem Reagenzglas stattfand. +Darum geht's: In einer durchgestylten Zukunftsgesellschaft werden durch Gentechnologie und Präimplantationsdiagnostik Kinder gezüchtet, die die besten Eigenschaften ihrer Eltern vereinen. Der auf natürlichem Weg gezeugte Vincent (Ethan Hawke) will trotzdem Raumfahrer werden – auch wenn er aufgrund seiner suboptimalen Gene als "Invalide" gilt. Er leiht sich die genetisch einwandfreie Identität des querschnittsgelähmten Jerome (Jude Law).Darum geht's wirklich: Um DNA-Diskriminierung und die Schaffung einer neuen Klassentrennung zwischen genetisch perfektionierten Zuchtmenschen und "Gotteskinder" genannten Nichtmanipulierten.So geht's aus: Vincent fliegt trotz seiner akribisch ausgearbeiteten Tarnung kurz vor dem Start seines Raumfahrtprojektes auf. Der Arzt, der ihn entdeckt, lässt ihn jedoch gewähren, da sein Sohn auch von einer Karriere als Raumfahrer träumt.Gut zu wissen: Als Teil der Marketingkampagne wurden zum Filmstart Anzeigen geschaltet, die werdenden Eltern anboten, ihre Kinder genetisch zu optimieren - Tausende meldeten sich auf dieses fiktive Angebot.Das war 1997: Am 22. Februar wird in der Zeitschrift "Nature" das Klonschaf Dolly vorgestellt. Es ist das erste geklonte Säugetier überhaupt. +Darum geht's: 2019 wird eine Gruppe Menschen in einer abgeschotteten Gemeinschaft gehalten – in dem Glauben, sie seien die einzigen Überlebenden einer riesigen Umweltkatastrophe. In Wirklichkeit werden sie getötet, wenn der Mensch, von dem sie geklont wurden, in der realen Welt einen Unfall hat und neue Organe benötigt.Darum geht's wirklich: Um die Möglichkeit, durch Stammzellenforschung menschliche Ersatzteillager zu klonen, deren Leben nichts wert ist.So geht's aus: Die zwei Hauptfiguren (Ewan McGregor und Scarlett Johansson) entdecken, dass sie in einer Scheinwelt gefangen gehalten werden, brechen aus und befreien anschließend ihre Schicksalsgenossen. Am Ende segeln sie zu einer tropischen Insel – diese Reise war stets den Gefangenen versprochen worden, die abtransportiert wurden.Gut zu wissen: Die DreamWorks Studios wurden von den Machern des Films "Parts: The Clonus Horror" von 1979 verklagt, die behaupteten, Regisseur Michael Bay habe große Teile der Handlung übernommen. Nach einer Gerichtsentscheidung einigten sie sich 2006 auf einen Vergleich mit DreamWorks in siebenstelliger Höhe.Das war 2005: Britische Forscher klonen zum ersten Mal menschliche Embryos. Einer der Klone überlebt fünf Tage. +Darum geht's: Wissenschaftler eines Außenpostens in der Antarktis entdecken im ewigen Eis ein seltsames Wesen, das sie auftauen. Diese Tat entpuppt sich als ein großer Fehler, denn nun werden sie von dem "Ding" gejagt, das jeweils die Gestalt derjenigen annimmt, die es gefressen hat. In der Forschungsstation traut bald keiner keinem mehr, denn jeder könnte das Ding sein, das gleich alle anderen anfällt. +Darum geht's wirklich: Um die feindliche Übernahme des menschlichen Körpers durch etwas Fremdes, das sich einschmuggelt und darin versteckt. Der Unterschied zwischen dem Infizierten und dem Gesunden, der noch sein eigener Herr ist, kann von außen nicht festgestellt werden. Das führt zu Misstrauen und Paranoia, weil man das Sichtbare jetzt anzweifeln muss. +So geht's aus: Die Forschungsstation wird gesprengt, nur zwei der Wissenschaftler überleben. Sie sitzen in den Trümmern und belauern einander, denn keiner weiß vom anderen, ob er nicht das "Ding" ist und nur so aussieht wie ein Mensch. +Gut zu wissen: 1982 galt "The Thing" als das Beste, was im Bereich von gruseligen Special Effects möglich war. +Das war 1982: Zum ersten Mal wird ein menschliches Wachstumsgen in ein anderes Lebewesen eingepflanzt - in eine Maus. diff --git a/fluter/thats-all.txt b/fluter/thats-all.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..714f92ebc876e129bced021777cb0ab15c5044dd --- /dev/null +++ b/fluter/thats-all.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Sie nennen sich stolz die "Sternenmenschen". Die 6.300 Bewohner des 25 Kilometer nordöstlich von Moskau gelegenen Dorfes Swjosdny Gorodok wissen, dass sie an einem der legendärsten Orte Russlands leben. Denn hier kann man die Grundlagen der außerterrestrischen Existenz erlernen. Und hier begann für jeden der bislang 119 russischen Kosmonauten und der sieben Weltraumtouristen der Weg zu den Sternen. Die idyllische Siedlung liegt vor neugierigen Augen in einem Wald versteckt. Die Besucher des Sternenstädtchens werden am ersten Tor von Wachen misstrauisch beäugt. Hinter einem zweiten Tor beginnt das Trainingsgelände des Zentrums für die Ausbildung der Kosmonauten (ZPK). Bis in die 90er-Jahre war das ZPK noch ein geheimes Militärobjekt. +Die Legende hat ihren Ursprung in den 50er-Jahren, als der Weg ins Weltall zu einem Wettkampf wird zwischen den USA und der Sowjetunion, die ihn letztlich für sich entscheidet. In der Raumkapsel "Sputnik 2" schickt sie 1957 die Hündin Laika ins All und wenig später den ersten Menschen. Am 12. April 1961 verbringt der 27-jährige Major Juri Gagarin 108 Minuten in der Erdumlaufbahn und ebnet damit der Menschheit den Weg ins Universum. Heute erinnert im Sternenstädtchen ein großes Gagarin-Denkmal an ihn, aufgestellt vor seinem früheren Wohnhaus. Hier feiert man gerne Hochzeiten und Jubiläen, hier wird jeder zurückgekehrte Kosmonaut mit Ehren empfangen. +Sieben Jahre nach Gagarins Flug wurde die Militärsiedlung in Sternenstädtchen umbenannt. Während landesweit in den Regalen der Geschäfte nicht allzu große Warenvielfalt herrschte, genossen die "Sternenmenschen" zu Sowjetzeiten eine privilegierte Versorgung. Hier waren die Straßen sauberer als in der Moskauer Innenstadt, wurden neue Telefonanschlüsse schneller als anderswo bereitgestellt. +Noch heute ist dieser besondere Status des Sternenstädtchens spürbar. Die Alleen der Siedlung sind sauber gefegt, es herrscht Ruhe und Ordnung, und man findet keine Verkehrsstaus oder aufdringliche Werbung, die im benachbarten Moskau zum Alltag gehören. Abgesehen davon ist das Weltraumdorf eine fast normale Siedlung, nur dass viele Namen hier außerirdische Assoziationen wecken. "Orbit" heißt das örtliche Hotel, "Kosmos" die Wohnungsbaugesellschaft. Und wenn sich die Dorfbewohner erholen wollen, dann gehen sie zum Sternensee. +Bis heute dreht sich im Sternenstädtchen alles um die Ausbildung von Kosmonauten. Im Herzen des ZPK steht eine 200 Meter lange und 20 Meter hohe Halle, die mit grauweißen Kugeln und Tonnen vollgestellt ist. Eine von ihnen ist ein Nachbau der ehemaligen Raumstation "Mir" in Originalgröße. Der zentrale Raum der "Mir" erinnert an ein Flugzeugcockpit aus den 80er-Jahren. Der Fremdenführer zeigt einen großen Topf mit Schläuchen und Trichtern, die an einen Feuerlöscher erinnern. "Das ist unsere Weltraumtoilette", sagt er. "Sie entzieht dem Urin Wasser und spaltet es zu Atemluft. Genauso eine steht da oben auf der ISS." +Etwas weiter entfernt sitzt in einer engen Kugel ein Kosmonaut und übt am Bildschirm das Andockmanöver in 
400 Kilometern Höhe. Viele Dutzende Male muss der Mann im weißen Spezialanzug das rotierende Fadenkreuz perfekt ausrichten können, um zum Schluss die strenge Prüfung zu bestehen. Bereits der Abzug einer hundertstel Note könnte eine vielversprechende Weltraumkarriere vorzeitig beenden. +In einer anderen Halle kann die Höllenfahrt ins All simuliert werden. Die Zentrifuge ZF-18 ist 18 Meter lang und 305 Tonnen schwer und beschleunigt ihren durch die Halle sausenden Arm auf 250 Stundenkilometer. Während der angehende Kosmonaut mit dem Vielfachen seines Körpergewichts in seinen Sitz gedrückt wird, werden seine Knochen von Röntgenstrahlen durchleuchtet. Zur gleichen Zeit prüfen Experten die Reaktionsschnelligkeit des Kandidaten. Auch hier gilt: Ein Anwärter, der Schwäche zeigt oder gar in Ohnmacht fällt, fliegt raus. +Wer die Zentrifuge übersteht, muss weitere harte Prüfungen absolvieren, etwa in einer Druckkammer oder im zwölf Meter tiefen Riesentank mit fünf Millionen Liter Wasser. In diesem "Hydrolabor" werden unter Extrembedingungen die Weltraumspaziergänge simuliert. "Die einen Kollegen wollen den Heldenorden, den anderen geht es um die Erfüllung eines Traumes", sagt Wassili Ziblijew, der bis 2009 Ausbildungschef im Sternenstädtchen war. +Auch Laien können sich neuerdings hier ihre Träume erfüllen. Um zu überleben, hat das unterfinanzierte ZPK seit den 90er-Jahren seine Anlagen für die kommerzielle Nutzung freigegeben. Mit genügend Geld kann heute jeder Kosmonaut spielen: So probieren die Besucher etwa das Raumfahreressen aus der Tube, oder sie schlüpfen in den Weltraumanzug "Orlan", den Kosmonauten auf dem Weg zur ISS benutzen. Für 900 Euro darf man in die Zentrifuge steigen und durch den Raum rasen. Erst neulich saß ein Deutscher in dem futuristischen Riesenapparat: Für die Fernsehshow "Duell um die Welt" ließ Joko seinen TV-Partner Klaas derart beschleunigen, dass sich dessen Gesicht unter dem Eindruck der Fliehkräfte verformte, als sei es aus Knetgummi. Fieserweise musste Klaas dabei auch noch "Angels" von Robbie Williams singen. "I Lost My Heart to a Starship Trooper" von Sarah Brightman hätte irgendwie besser gepasst. diff --git a/fluter/the-assitant-film-rezension.txt b/fluter/the-assitant-film-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..892ca1de9f158729216337203087e18f7fbf8a7f --- /dev/null +++ b/fluter/the-assitant-film-rezension.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Jane und ihre Kolleg*innen arbeiten in einem toxischen Arbeitsumfeld. Aber sie ertragen die Launen und (Misse-)Taten, denn für "ihn" zu arbeiten, so sind sich alle einig, ist einfach eine "riesige Chance". Eine Chance, für die auch Jane dankbar sein sollte, schließlich sehnen sich Hunderte nach ihrem Job! Und überhaupt, schreibt der Chef in einer Mail an Jane, sei er nur so hart zu ihr, weil er sie für schlau halte und "etwas Großes" aus ihr machen werde. Nur: Warum fühlt sich dann alles so falsch an? + +An diesem Montag werden Jane mit jeder Stunde die systematischen Erniedrigungen und Grenzüberschreitungen ihres Chefs deutlicher. Zunächst erträgt sie alles stoisch, bis sie eine sehr junge Frau in ein Hotel fährt, in dem sich auch der Chef aufhält. Jane sorgt sich um das Mädchen und wendet sich schließlich schweren Herzens an das Beschwerdemanagement. Auf offene Ohren oder gar Hilfe stößt sie aber nicht. +Über zwei Jahre ist es her, dass die Anschuldigungen gegen den US-amerikanischen Filmmogul Harvey Weinstein öffentlich wurden: Über 80 Frauen, darunter berühmte Schauspielerinnen wie Uma Thurman oder Angelina Jolie, warfen ihm Belästigung, sexuelle Übergriffe und Vergewaltigung vor. In dem gerade zu Ende gehenden Prozess (das Strafmaß – zwischen fünf und 25 Jahre Freiheitsstrafe – soll am 11. März verkündet werden) geht es nur um zwei Fälle: Die ehemalige Produktionsassistentin Mimi Haleyi warf Weinstein vor, sie zum Oralsex gezwungen zu haben, die Schauspielerin Jessica Mann, von ihm vergewaltigt worden zu sein. In zwei von fünf Anklagepunkten ist Weinstein nun am 24.2. schuldig gesprochen worden: der Vergewaltigung und der sexuellen Nötigung. Weinsteins Anwälte wollen in Berufung gehen. +Mit "The Assistant" knüpft die Regisseurin und Drehbuchautorin Kitty Green an einige der Erzählungen von Betroffenen aus dem Umfeld Weinsteins an. Der Gedanke an den Produzenten begleitet einen den gesamten Film lang und hinterlässt ein beklemmendes Gefühl – eine leise Ahnung davon, wie schwierig es für Betroffene sein kann, Hilfe zu bekommen. +"The Assistant" wird mit viel Ruhe und statischen Bildern von Kameramann Michael Latham erzählt und kommt – bis auf den Schluss – komplett ohne Musik aus. Trotzdem wirkt der Thriller nie langatmig, keine Szene überflüssig. Selbst wenn Jane, gespielt von Julia Garner, das Polstersofa schrubbt oder den gefundenen Ohrring seiner Besitzerin überreicht. Oder wenn sie die vom Chef benutzten Alprostadil-Spritzen (ein Mittel, das zu Erektionen verhelfen kann) entsorgt oder gegen Ende ihren Stress am Chauffeur entlädt. All das verdeutlicht die Gewaltspirale und die teils subtilen Formen von Machtmissbrauch. Der Chef wird dabei nie beim Namen genannt – oder überhaupt gezeigt. Und doch ist er allgegenwärtig. +Kitty Green zeigt in den 87 Minuten des Films, wie schwer es Betroffenen gemacht wird, Grenzüberschreitungen als solche überhaupt zu erkennen. Und selbst wenn sie erkannt und angesprochen werden, finden viele zunächst keine Hilfe, sondern stoßen auf Schweigen oder sogar weitere Formen von Missbrauch. "The Assistant" – ein scheinbar ganz normaler Tagin einer Welt von (weißen) mächtigen Männern. +"The Assistant" (Panorama, USA 2019) läuft ab dem 23.2. auf derBerlinalezu fünf verschiedenen Terminen. Alle Infos gibt eshier. diff --git a/fluter/the-awful-german-language.txt b/fluter/the-awful-german-language.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a3ce09a4f15559d85aa263ef5c68766a1a9302d6 --- /dev/null +++ b/fluter/the-awful-german-language.txt @@ -0,0 +1 @@ +Dieser Text wurde von uns gekürzt. In voller Länge könnt ihr ihn zum Beispiel unterwww.kombu.de/twain-2.htm lesen. Es lohnt sich diff --git a/fluter/the-girls-von-Emma-Cline.txt b/fluter/the-girls-von-Emma-Cline.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..997a580540210cf548708b221cbccefaedb5ed7e --- /dev/null +++ b/fluter/the-girls-von-Emma-Cline.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Eigentlich symbolisieren Herzen ja nicht den Tod, sondern Liebe. Und an Liebe, nein, an Liebe, Anerkennung, Aufmerksamkeit und Selbstbewusstsein mangelt es Evie Boyd wie verrückt. Da ist Emma Cline, die Autorin, die 24 war, als sie ihren in den USA gefeierten und jetzt auf Deutsch erschienenen Debütroman schrieb, ganz nah dran an den Empfindungen, Unsicherheiten, Ängsten und Komplexen von Mädchen im Teenageralter. Die Haare kräftigen, an Mitessern rumstochern, den Ausschnitt runterziehen. Das Leben – "nur ein Wartezimmer", bis "einen jemand bemerkt", Jungs zum Beispiel. Daran hat sich bis heute nichts geändert, an anderen Dingen schon. Vorzüglich gelingt es Cline, ein von Makrobiotik, Kamasutra und anderen ganzheitlichen Glücksversprechen, aber auch von krassem patriarchalen Alltagssexismus geprägtes Kalifornien der späten 1960er-Jahre entstehen zu lassen. +Evies frisch geschiedene Eltern sind vor allem mit sich selbst beschäftigt, von den emotionalen Achterbahnfahrten ihrer Tochter bemerken sie nichts. Suzanne, das älteste und hübscheste der Mädchen im Park, versteht da viel mehr. Evie läuft ihr hinterher, sie ahnt, dass Suzanne nicht durch sie hindurchblicken wird, als sei sie gar nicht da. Eine Beziehung zwischen den beiden bahnt sich an in diesem Roman, der durchdrungen ist von erotischen Beziehungen, Lust und Sex, aber auch von schmerzhaften Grenzüberschreitungen, herben sexuellen Enttäuschungen und beiläufigen (Beinahe-)Vergewaltigungen. Und dessen verführerisches, dunkles Machtzentrum Russel heißt. +Emma Cline: "The Girls", Deutsch von Nikolaus Stingl, Hanser 2016, 352 Seiten, 22 Euro +Suzanne ist diesem Guru im nach Fleisch stinkenden Wildlederhemd, der in einem baufälligen Haus in den Hügeln Kaliforniens eine Gruppe zumeist junger Mädchen und verwahrloster Kleinkinder in vollgeschissenen Windeln um sich geschart hat, spirituell und sexuell hörig. Sie sagt: "In seiner Nähe zu sein ist wie ein natürliches High. Wie die Sonne oder so." +Eher lose als eng an die legendäre Figur des Hippiekommunenkopfes und verurteilten Mörders Charles Manson angelehnt, ist auch Russel ein Experte für die Liebesbedürfnisse junger Mädchen, ein Manipulator, der Harmonie und Liebe predigt. Und der auf seiner durchaus ernst gemeinten Suche nach einer weniger verlogenen Gesellschaft die eigenen Bedürfnisse doch niemals aus den Augen verliert. +Freiwillig ist Evies erster Sex mit Russel jedenfalls nicht. Aber die Magie des Ungewohnten, die Faszination dieser so ganz und gar anderen Welt lässt sie zusehends mit Russels Mikrokosmos verschmelzen. Bis das vermeintliche Paradies Risse bekommt, der Hass auf die Welt zu stark wird und schließlich in der Mordnacht endet. +Cline, die als Debütantin einen sensationellen Vorschuss von zwei Millionen Dollar bekam, verurteilt nicht. Sie schreibt schmerzlich schön, sorgfältig und präzise, gleichwohl mit ungeheurer Sogkraft. Sie versucht ernsthaft zu verstehen, was in Evie und den anderen vorgeht. Russels Kommune ist ja kein Hort des Grundbösen und die Erzählerin kein echtes Opfer. Evie wundert sich, wie schnell sie die alte Welt hinter sich lässt, wie begeistert sie in eine neue Haut schlüpft. Das hätte sie nicht von sich gedacht. Dass Gewalt eine lustvolle, mitreißende Erfahrung sein kann, ahnt sie bereits als Teenager. Als Erwachsene weiß sie es. Eben das macht ihr Angst: "Vielleicht wäre es mir leichtgefallen ..." +Titelbild: SUNNY SHOKRAE/NYT/Redux/laif diff --git a/fluter/the-last-of-us-part-ii-game-rezension.txt b/fluter/the-last-of-us-part-ii-game-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..69a5256e2d461031d3f802be2a3868ca4e876cc1 --- /dev/null +++ b/fluter/the-last-of-us-part-ii-game-rezension.txt @@ -0,0 +1,6 @@ + + +Weil das Konzept des Perspektivwechsels weit über die Wahl der Protagonistinnen hinausgeht: Es durchzieht das gesamte Spiel. Die Gegner*innen beispielsweise sind zwar computergesteuert, aber deshalb noch lange keine austauschbaren Figuren. Das merkt man nicht nur daran, dass die Überlebenden schockiert die Namen der Gefallenen brüllen, die man gerade erschossen hat. Immer wieder stößt man auf Notizen, Tagebucheinträge und andere Zeugnisse des vermeintlichen Feindes, die zeigen, dass auch das Gegenüber nachvollziehbare Gründe hat – und erkennen lassen, wie grausam man mitunter selbst ist. Es kommt durchaus vor, dass man einen rührenden Brief bei einer Person findet, die man soeben bei einem Schusswechsel kaltblütig getötet hat. Wer "The Last of Us Part II" spielt lernt auch, sich und die Welt durch die Augen anderer zu sehen. Niemand ist hier einfach nur böse. +Im Mittelpunkt steht ein Konflikt, der viel über politische Radikalisierung erzählt: Der Krieg zwischen der Washington Liberation Front (WLF), traditionell und militärisch, und dem Seraphiten-Kult, dessen Anhänger ihr Glück fernab der alten Zivilisation suchen. Beiden Gruppen läuft man im Spiel über den Weg, und in den Passagen, in denen man Abby spielt, ist man sogar eine respektierte Soldatin der WLF. Deren Anführer ist ein autoritärer Herrscher, der Kritiker*innen beseitigt, Waffenstillstände bricht und den Tod der eigenen Leute in Kauf nimmt, um den Feind zu vernichten. Er und sein Führungskader stellen die Seraphiten als rückständig und gefährlich dar und sprechen ihnen jede Menschlichkeit ab; eine Strategie, die von den Europäern schon zuKolonialzeitengenutzt wurde, um die Ermordung von Millionen von Menschen zu rechtfertigen. In der Rangordnung der Seraphiten wiederum stehen die "Ältesten" ganz oben, die sich als religiöse Anführer etabliert haben und für sich das beste Essen und die bequemsten Hütten beanspruchen. Die friedlichen Lehren der eigentlichen "Erlöserin" wurden nach ihrem Märtyrertod ins Gegenteil verkehrt, um die Verstümmelung von "Ungläubigen" und die Gewalt gegen die eigene Bevölkerung zu rechtfertigen. +Beide Gruppen bestehen zu einem großen Teil aus Menschen, die einfach friedlich leben wollen. Ihren Führern hingegen ist jedes Mittel recht, um sich Vorteile zu sichern. Beide Gruppen lernt man als Feinde kennen und verlässt sie mit neuen Freundschaften. Durch diese Perspektivwechsel schafft es "The Last of Us Part II", die Manipulationsstrategien aufzuzeigen, mit denen Feindbilder geschaffen werden. Und transportiert so eine Botschaft, die für Zombie-Survival-Games ungewöhnlich ist: Alle Menschen haben Würde und Wert. +Die Reisen von Abby und Ellie beginnen und enden mit einem Schmerz, den man auch als Spieler*in spürt. Der Abspann lässt einen mit widersprüchlichen Gefühlen allein. Für die einen ist die zentrale Botschaft von "The Last of Us Part II", dass sich überall Böses, für andere, dass sich überall Gutes finden lässt. Dritte wiederum nehmen mit, dass diese Kategorien zu einfach sind. Das Spiel dürfte eines der emotionalsten, kompromisslosesten und brutalsten Erlebnisse auf der PlayStation 4 sein, und jetzt auch, abwärtskompatibel, auf der PS5. Aber es vergisst nicht, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, und ist ein Plädoyer dafür, sein Gegenüber als Ganzes verstehen zu lernen. diff --git a/fluter/the-moment-of-truth.txt b/fluter/the-moment-of-truth.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..21cfdb25fd1c59eff4c747d8673f5eec0d4cefe4 --- /dev/null +++ b/fluter/the-moment-of-truth.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Nicht nur die Wortwahl, das ganze Setting der Spielshow glich einer Situation vor Gericht: Auf der Anklagebank, einem roten Ledersessel, mussten die Kandidaten Rede und Antwort stehen. Der Moderator fungierte als Staatsanwalt, ein Lügendetektor war der Richter. Die am Rand der Bühne platzierten Angehörigen waren die mittelbaren Opfer des Schauprozesses. Erst ihre Anwesenheit macht die Geständnisse der Kandidaten so richtig schmerzhaft. +Die Fragen begannen dabei relativ harmlos, etwa mit "Haben Sie schon einmal ein parkendes Auto angefahren, ohne eine Nachricht zu hinterlassen?", steigerten sich aber bald zu "Empfinden Sie fette Menschen als abstoßend?" und endeten bei Fragen, die in der Lage waren, Beziehungen zu erschüttern und Leben zu zerstören. Und in manchen Fällen passierte genau das. +Geld gewannen die Kandidaten dabei nach einem Stufenverfahren: Für die wahrheitsgemäße Beantwortung der ersten sechs Fragen winkten 10.000 Dollar, fünf weitere brachten 25.000 Dollar – und so weiter. Bis zur 21. Frage, die den Hauptgewinn von einer halben Million Dollar versprach. Die Kandidaten konnten sich jederzeit entscheiden, auszusteigen, jedoch nur, bevor die nächste Frage gestellt wurde. Weigerten sie sich zu antworten oder entsprach eine Antwort nicht der Wahrheit, fielen sie auf eine niedrigere Gewinnstufe zurück. In der ersten Staffel gingen sie dann sogar völlig leer aus. +Im Unterschied zu einer Gerichtsverhandlung hatten die Angeklagten in "The Moment of Truth" nicht das Recht, die Aussage zu verweigern. Egal wie er oder sie antwortete, die Wahrheit kam heraus – sofern man an die Fähigkeiten von Lügendetektoren glaubt. Denn nach eingehender Recherche in ihrem Lebensumfeld wurden den Teilnehmern bereits vor der Sendung in einem Durchlauf mindestens 50 Fragen gestellt –  wobei sie an einen Lügendetektor angeschlossen waren. Die Kandidaten kennen das Ergebnis des Lügendetektortests nicht, genauso wenig wie die Auswahl und die Reihenfolge der Fragen, die daraus in der späteren Sendung verwendet wurden. Doch wie sie auch antworteten, die Maschine befand am Ende darüber, was wahr und was falsch war. +Anders als den meisten anderen Kandidaten ging es Melanie Williams nicht ums Geld, als sie sich entschloss, an der, wie sie sagte "furchtbaren" Show teilzunehmen. Sie stammte aus einer Familie, die einer fundamentalistischen Untersekte der Mormonen angehörte. Dort dürfen Männer mit mehreren Frauen verheiratet sein – auch mit Frauen, die noch Mädchen sind. Williams, die schon vor einiger Zeit aus der Sekte ausgetreten war, hatte ihren Vater um Erlaubnis gebeten, an "The Moment of Truth" teilnehmen zu dürfen. Er saß am Rand der Bühne, als sie die 21. Frage gestellt bekam: "Glauben Sie, dass Ihr Vater als Erwachsener jemals sexuelle Beziehungen zu Minderjährigen hatte?" +Williams sagte unter Tränen, sie beantworte diese Frage für ihren Vater, und: bejahte. Die vierte Frau ihres Vaters war zum Zeitpunkt der Hochzeit 14 Jahre alt gewesen. In einem eigenartigen Moment zwischen Triumph und Erschütterung und unter dem Applaus des Publikums betrat ihr Vater die Bühne, die beiden umarmten sich, und Williams erklärte, ihr Vater fühle sich schuldig dafür, was er unter dem Einfluss seiner religiösen Führer getan habe. Trotz seines öffentlichen Geständnisses wurde er nie strafrechtlich belangt. Im Bundesstaat Utah, wo er lebte, war die Tat bereits verjährt. + +Am Ende der Williams-Folge sagte der Moderator Walberg in die Kamera: "Wir haben heute eine wahrhaft ehrliche Person gefunden." Melanie Williams sollte die einzige Teilnehmerin bleiben, die jemals das volle Preisgeld gewann. Sie sagte später, sie habe sich für diesen Schritt entschieden, weil sie nur so einer großen Öffentlichkeit zeigen konnte, dass die Sekte junge Frauen missbrauche. +Aufihrem Blogschilderte sie die Hintergründe ihrer Teilnahme und bekam viel Zuspruch und auch Respektsbekundungen für ihren Auftritt. Im Fernsehen lief diese Episode jedoch nie. Aufgrund der rapide gesunkenen Einschaltquoten – die erste Folge sahen noch erstaunliche 23 Millionen Zuschauer, auf dem Tiefpunkt waren es nur noch 8,6 Millionen – hatte Fox die Show nach der zweiten Staffel abgesetzt. Ein paar der schon abgedrehten Folgen landeten aber auf YouTube. +Während des Abspanns fiel sie vor ihren Eltern auf die Knie +"The Moment of Truth" basiert auf der kolumbianischen Sendung"Nada más que la Verdad"– Nichts als die Wahrheit. Das Format erwies sich als derart erfolgreich, dass es in insgesamt 46 Länder exportiert wurde, unter anderem auch nach Peru. Dort hieß die Sendung"El Valor de la Verdad"– Der Wert der Wahrheit. Die Kandidatin der im Juli 2012 ausgestrahlten ersten Folge war die 19-jährige Ruth Thalía Sayas Sánchez. Ihre Eltern waren mit ihren Kindern erst ein paar Jahre zuvor vom Land in ein Randgebiet von Lima gezogen, um auf dem Markt Ananas und Wassermelonen zu verkaufen. Jetzt saßen sie im Studio, neben ihnen Bryan Romero Leiva, 20, der Freund ihrer Tochter. +Ruth Thalía gab im Laufe der Sendung zu, dass sie nur so lange mit Bryan zusammenzubleiben gedenke, bis jemand Besseres auftauchen würde, dass sie nicht in einem Callcenter, sondern als Tänzerin in einer Bar arbeitete und dass sie gegen Geld mit Männern geschlafen hatte. Diese Offenbarungen brachten ihr 15.000 Soles ein, umgerechnet 4.100 Euro, was ein durchschnittlicher Einwohner Limas in zehn Monaten verdient. Nach der 18. Frage entschied sich Ruth Thalía aufzuhören. Während des Abspanns sah man, wie sie den erstarrten Bryan umarmte und vor ihren Eltern auf die Knie fiel und um Vergebung bat. +Sie habe es für das Geld getan, antwortete sie ihrer schockierten Familie auf die Frage, warum sie in die Sendung gegangen sei. Mit dem Gewinn wollte Ruth Thalía einen Friseursalon eröffnen. Womit sie nicht gerechnet hatte, war die Welle der Empörung und Häme, die über sie herein brach. Verwandte riefen an und sagten, wie sehr sie sich für die Familie schämten, Bryan wurde verhöhnt, er habe sich von ihr vorführen lassen, das ganze Land sprach über die Sendung und Ruth Thálias Geständnisse. Die Schmach war so groß, dass sie an Selbstmord dachte. +Eines Abends, sechs Wochen nachdem "El Valor de la Verdad" gelaufen war, kam Ruth nicht nach Hause. Elf Tage nach ihrem Verschwinden fand man ihre Leiche am Stadtrand, auf einem Stück Land, das Bryans Onkel gehörte, verscharrt in einem Brunnen. Bryan und sein Onkel wurden zu lebenslanger Haft verurteilt. Sie hatten versucht, an Ruths Geld zu kommen. +"The Moment of Truth", "Nada más que la Verdad" und "El Valor de la Verdad" waren neue Auswüche des TV-Genres "Reality-Gameshow", an dem sich schon lange Kontroversen entzündeten: Ist es eine Verletzung der Menschenrechte, Kandidaten in emotionalisierenden Sendungen derart zur Aufgabe ihrer Privatsphäre zu ermuntern? Juristisch war den Sendeanstalten nicht beizukommen, da sie von den Teilnehmern natürlich stets eine rechtssichere Einverständniserklärung eingeholt hatten. +Auch in Deutschland hat es einen Versuch gegeben mit dem Konzept: "Die Wahrheit – und nichts als die Wahrheit" hieß die deutsche Version der Sendung, die 2008 auf RTL II ausgestrahlt wurde. Sie wurde allerdings nach wenigen Folgen bereits wieder eingestellt. Nur an der Quote kann das nicht gelegen habe, die war gar nicht so weit unter dem Quotendurchschnitt des Senders. Über moralische Skrupel der Entscheidungsträger bei RTL ist aber auch nichts bekannt geworden. +Das war in den USA anders. Mark L. Walberg, der Moderator der amerikanischen Show sollte nach deren Absetzung sagen: "Das Konzept der Sendung ist abstoßend, es ist schrecklich!" Vielleicht sein persönlicher Moment der Wahrheit. +Anne Waak, geboren 1982 in Dresden, lebt als freie Autorin in Berlin. Während der Recherche musste sie sich sehr zusammenreißen, um nicht ganze Tage damit zuzubringen, alte Folgen der abstoßenden, aber seltsam faszinierenden Gameshow auf Youtube zu schauen. diff --git a/fluter/the-plot-against-america-serie.txt b/fluter/the-plot-against-america-serie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ecd4e2e4d3eb7e67e60c61aa3661c91527e2c9ec --- /dev/null +++ b/fluter/the-plot-against-america-serie.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Der historische Charles Lindbergh ist 1927 für seinen Nonstop-Flug von New York nach Paris berühmt geworden, die erste Alleinüberquerung des Atlantiks. Millionen jubelten ihm zu, in den USA wurde er zum Volkshelden. Weniger bekannt ist heute Lindberghs politischer Einfluss. Um 1940 war er eine der prominentesten Stimmen derIsolationismus-Bewegung, die Anhänger quer durch das Parteienspektrum versammelte. Lindbergh attackierte speziell diejüdische Communityals vermeintliche "Kriegstreiber": "Ihre größte Gefahr für dieses Land liegt in ihrem großen Besitzanteil und ihrem Einfluss auf unsere Filmindustrie, unsere Presse, unseren Rundfunk und unsere Regierung." + + +Eine kleine Minderheit, die mit ihrem Geld angeblich Medien und Regierung steuert?Lindbergh verbreitete diese bis heute verbreitete antisemitische Verschwörungsideologie als Sprecher des "America First Committee". Spätestens hier drängt sich der Vergleich mit dem aktuellen US-Präsidenten auf. Mag sein, dass Trump sich selbst als Philosemiten sieht, jüdische Verbände kritisieren aber, dass er dasStereotyp des "geldgierigen Juden"bediene. Vor allem aber appelliert Trump – wie Lindbergh in der Serie – vage an die Ressentiments seiner Basis, um politische Gegner als "unamerikanisch" zu markieren: Mal sind esPeople of Coloroder undokumentierteMigranten, ein andermalwird die Presse zum "Feind des Volkes". +Mehr als um die Figur des Präsidenten geht es der Serie aber darum, wie dieses Othering sich auf Betroffene auswirkt. Die sechs Folgen von "The Plot Against America", von der Schiebermütze bis zum Röhrenradio detailgenau im 40er-Jahre-Stil ausgestattet, stellen die jüdische Mittelschichtsfamilie Levin ins Zentrum. Episodenartig wird die Bedrohung der Levins als schleichender Prozess erzählt, nicht als plötzliche Eskalation. Eineverbale Grenzüberschreitunghier, eine gesetzliche Diskriminierung dort, schließlich Gewalt auf offener Straße. "The Plot Against America" ist die realistischere Vision einer autoritären USA als der künstlich auf Deutsch getrimmte US-Faschismus der Serie"The Man In The High Castle". +Die verschiedenen Reaktionen der Levins zeigen das Dilemma, in dem sich diskriminierte Gruppen seit jeher wiederfinden: Soll man sich anpassen und hoffen, dass es nicht so schlimm wird?Widerstandleisten? Auswandern, solange es geht? Drehbuchautor David Simon gelingt es seit der Fernsehserie "The Wire" (2002–2008), große soziale Fragen auf den Punkt zu bringen. Natürlich erscheint "The Plot Against America" bewusst imWahljahr 2020. Aber auch im Rahmen derCorona-Krisekönnte das Ende der Serie, das hier natürlich nicht verraten wird, zu einer Allegorie für Ereignisse werden, die uns noch bevorstehen. + +Ab 20. Mai sind die sechs Episoden auf Sky Atlantic HD (TV), bei den Streamingdiensten Sky Ticket und Sky Go oder über Sky Q zu sehen, wahlweise auf Deutsch oder im Original. diff --git a/fluter/theorien-ueber-reichtum.txt b/fluter/theorien-ueber-reichtum.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7664fe0a0175788a2972f4b41c24533b8d616678 --- /dev/null +++ b/fluter/theorien-ueber-reichtum.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Nicht nur Feministinnen klagen, dass Frauen weniger verdienen als Männer. Zahlreiche Verbände verweisen darauf, dass Bewerber mit ausländisch klingenden Namen schlechtere Chancen auf eine Stelle haben. Beides stimmt. Beide Seiten haben gute Gründe, um gegen Diskriminierung zu kämpfen. Aber trotzdem würden Menschen bei diesem Kampf noch durchs Raster fallen. Darauf hat die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw aufmerksam gemacht. Sie untersuchte zum Beispiel den Fall von fünf schwarzen Frauen, die gegen ihre Entlassung bei General Motors klagten. Das Gericht sah in der Kündigung keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts – die weißen Frauen waren ja nicht entlassen worden. Es sah gleichzeitig keine Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe – schwarze Männer hatten ihren Job schließlich behalten. Die Klägerinnen waren doppelt benachteiligt – und gerade deswegen besonders machtlos. Crenshaw bezeichnet dieses Phänomen als Intersektionalität: Verschiedene Arten der Diskriminierung können sich mitunter in einer Person überschneiden und eine eigene Form der Benachteiligung bilden. Kritiker bemängeln am Konzept der Intersektionalität, dass sich die Benachteiligungskategorien beliebig vermehren und bis ins Unendliche aufeinanderstapeln ließen. Wo die entscheidende Kluft zwischen Arm und Reich verläuft, wäre am Ende gar nicht mehr richtig erkennbar. +Es ist nicht das Geld allein, das über die Position in der sozialen Rangordnung bestimmt. Darauf weisen die Arbeiten des Franzosen Pierre Bourdieu hin. Wer oben ist, muss sich häufig mit einem angemessenen Lebensstil beweisen, muss über Kennerschaft in Kunst und Literatur und den richtigen Geschmack beim Essen oder bei der Wohnungseinrichtung verfügen. All diese scheinbaren Randaspekte des Alltags haben eine Funktion: Sie dienen der Abgrenzung der oberen gegenüber den unteren Klassen, der Distinktion, wie Bourdieu es nennt. Er unterscheidet daher zwischen sozialem, ökonomischem und kulturellem Kapital. Kulturelles Kapital lässt sich in ökonomisches umtauschen – mit Hilfe des Bildungssystems. Wer aus einem Professorenhaushalt stammt, wird schon in der Familie viel früher und wesentlich intensiver als ein Arbeiterkind auf Inhalte vorbereitet, die später in der Schule wichtig sind: auf Bücher, auf Musik, auf Theorien. Die Unterschiede sind oft sogar extrem subtil: Das Professorenkind spricht anders, spielt anders, sieht anders aus, tritt souveräner auf und hat damit einen besseren Stand bei den Lehrern. Mit einem hohen Bildungsabschluss lassen sich später wiederum gut bezahlte Berufe erreichen. Der soziale Status wird durch diesen Mechanismus von den Eltern auf die Kinder vererbt, fast wie in einer mittelalterlichen Feudalgesellschaft – nur dass es heute so wirkt, als habe man sich seine Position durch Bildung selbst erarbeitet. Bourdieu würde sagen: Die Undurchlässigkeit der Gesellschaft wird lediglich besser verschleiert als früher. Natürlich hat die Theorie Schwächen: Bildungsabschlüsse gehören für Bourdieu zwar auch zum kulturellen Kapital, aber der Zusammenhang zwischen ökonomischem und kulturellem Kapital ist nicht immer so eng, wie Bourdieu es darstellt. Es gibt durchaus Berufe, in denen Aufsteiger gutes Geld verdienen können, ohne dafür gelehrt über Konzeptkunst oder Jazzmusik daherreden zu müssen. +Der französische Ökonom Thomas Piketty hat mit dem "Kapital im 21. Jahrhundert" den Ungleichheitsbestseller der letzten Jahre geschrieben – der sich im Titel an das "Kapital" von Karl Marx anlehnt. Der 800-Seiten- Wälzer ist voll mit Tabellen, Kurvendiagrammen und Formeln. Die wichtigste Formel lautet: r > g. Piketty zeigt, dass die Kapitalerträge – also Zinseinnahmen, Aktiendividenden, Unternehmensgewinne, Mieteinkünfte – in der Geschichte überwiegend größer ausfielen als das Wachstum der Wirtschaft insgesamt. Das heißt: Die Vermögenden gewinnen mehr hinzu als der Rest. Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, in denen sich in den meisten Industrieländern die Einkommen und Vermögen einander annäherten, stellen für Piketty eher eine historische Ausnahme dar. Die kurze Phase relativer wirtschaftlicher Gleichheit hatte vor allem damit zu tun, dass die großen Kapitalbestände im Krieg zerstört wurden und danach neu aufgebaut werden mussten. Manche Ökonomen bemängeln, Piketty habe in seinen Daten zu wenig zwischen den einzelnen Kapitalarten differenziert. Macht es vielleicht einen Unterschied, ob man sein Geld mit Vermietungen und Verpachtungen oder mit Unternehmen verdient? Eines hat Piketty aber allemal in Erinnerung gerufen: Der wirklich große Reichtum entsteht erst dann, wenn man sein Geld für sich arbeiten lassen kann – oder, wie Marx sagen würde: andere. +Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer – der Bestseller von Piketty hat diesen Eindruck bestärkt. Der ehemalige Weltbank-Ökonom Branko Milanovic zeigt mit seinen Arbeiten, dass es etwas komplizierter ist. Es stimmt zwar: In zahlreichen Ländern ist die Ungleichheit gestiegen. Aber weltweit gesehen wird die Kluft zwischen Arm und Reich immer kleiner. In ehemaligen Entwicklungsländern, vor allem in China, ist die absolute Armut zurückgegangen, die Zahl der Hungernden gesunken, und Millionen Menschen sind in höhere Einkommensklassen aufgestiegen. In den alten Industrieländern dagegen hat die untere Mittelschicht in den letzten Jahrzehnten Lohneinbußen hinnehmen müssen – auch weil Jobs ins Ausland abwanderten. Milanovic lenkt den Blick auf etwas, was Ökonomen bisher unterschätzt haben: Die Globalisierung, also der freie Handel über Länder und Kontinente hinweg, macht nicht automatisch alle wohlhabender. Sie bringt auch Verlierer hervor. Aufsehen erregte insbesondere Milanovic' Idee, wie man die globale Ungleichheit weiter verringern könnte: Die Menschen aus armen Ländern sollten weitaus freier als bisher in den Industriestaaten Arbeit aufnehmen können. Um Akzeptanz für die Wirtschaftsmigration zu schaffen, empfiehlt Milanovic, die Einwanderer rechtlich deutlich schlechter zu stellen als die Einheimischen – ein Vorschlag, den viele als Tabubruch empfanden. +Dass einige Menschen so immense Reichtümer anhäufen können, ist keine unabänderliche Folge der Marktwirtschaft. Es ist vor allem das Ergebnis politischer Entscheidungen, analysiert der Ökonom Joseph Stiglitz. Politiker wie der US-Präsident Ronald Reagan haben die Steuern für Gutverdiener gesenkt – mit der Begründung, dass vom steigenden Wohlstand der oberen Schichten nach und nach auch der Rest profitieren würde. Ökonomen nennen das die Trickle-down- Theorie: Der Reichtum sickere nach unten durch. Stiglitz hält sie für einen Irrtum. Die Reichen würden ihren gewonnenen Wohlstand nämlich nicht nutzen, um neue Jobs zu schaffen, sondern um ihre Privilegien zu verteidigen – etwa indem sie verstärkt in Lobbyaktivitäten investieren. Ein Teufelskreis: Mehr ökonomische Ungleichheit, schreibt Stiglitz, führt so zu mehr politischer Ungleichheit und die wiederum zu noch mehr ökonomischer Ungleichheit. Stiglitz denkt insbesondere an sein Heimatland, die USA, wo Präsidentschaftskandidaten in Wahlkämpfen auf reiche Spender angewiesen sind. Eine Studie der Universität Osnabrück deutet darauf hin, dass diese Beobachtung wohl auch für Deutschland gilt: Der Bundestag entscheide sich umso eher für eine bestimmte Politik, je stärker sie von Gutverdienern befürwortet wird. diff --git a/fluter/therapie-fuer-die-nation.txt b/fluter/therapie-fuer-die-nation.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0bc650a4882de26c489a62a6d00c57f083fe9736 --- /dev/null +++ b/fluter/therapie-fuer-die-nation.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Sicelo Mhlawuli war Lehrer in der heutigen Provinz Eastern Cape. Er war eng befreundet mit dem bekannten Oppositionellen Matthew Goniwe und aktiv in der Befreiungsbewegung "Vereinigte Demokratische Front". An einem Winterabend im Juni 1985 traf sich Mhlawuli in der Stadt Cradock  mit Goniwe und zwei anderen Aktivisten. Die vier Männer wollten zu einem Treffen in der Hafenstadt Port Elizabeth. Sie kamen nie zurück. Am 27. Juni wurden sie von Mitgliedern der staatlichen Sicherheitskräfte ermordet. Ob es sich dabei um die berüchtigte Sicherheitspolizei oder die Armee handelte, ist bis heute nicht bekannt. +Die Leichen der "Cradock-Vier" wurden wenige Tage später mit allen Spuren von brutaler Folter aufgefunden. Mhlawulis Vater musste die Leiche seines Sohnes damals identifizieren; seine Frau las den Obduktionsbericht: "Er hatte Wunden am ganzen Körper von unterschiedlichen Waffen, in sein Gesicht war Säure geschüttet worden", erzählt sie vor der Wahrheitskommission, die 1996 vom  Government of National Unity eingesetzt wurde. Und ihm fehlte die rechte Hand. Neben dem alltäglichen Terror, neben dem Verlust von Söhnen, Vätern, Ehemännern, war das das Schlimmste für die Hinterbliebenen: Wenn sie die Leichen gar nicht oder zerstückelt zurückbekamen. In afrikanischen Kulturen glaubt man, dass die Seele des Verstorbenen dann keine Ruhe findet. +Nombwyselo Mhlawuli bittet die Kommission nicht nur, die Täter zu finden, sondern auch die rechte Hand ihres Mannes. Sie soll von der Sicherheitspolizei in einer Flasche aufbewahrt worden sein. Zwei Tage später bestätigt ein anderes Opfer dieses Gerücht. "Sie zeigten mir während meiner Haft eine Flasche mit einer Flüssigkeit", sagt jener Mann. "Sie roch. Darin sah ich eine Hand. Sie sagten, es sei die Hand eines dieser Paviane."  Die Schikanen hörten auch nach dem Tod des Vaters nicht auf. Einmal, so erinnert sich die Tochter, kam die Polizei mitten in der Nacht und stellte das Haus auf den Kopf. Dabei fiel ihr ein Stapel Kondolenzkarten aus aller Welt in die Hände. "Das sind die Karten eines toten Mannes", lachte einer der Polizisten. Und er sagte: "Eines Tages wird die Wahrheit herauskommen." Unter welchen Umständen das geschehen würde, hätte er sich wohl kaum vorstellen können. +Wahrheitskommissionen, die beim Übergang zur Demokratie die Verbrechen von Militärdiktaturen aufklären sollten, hatte es zuvor schon in anderen Ländern gegeben, etwa in Uganda (1974 und 1986), Argentinien (1983) und Chile (1990). Immer ging es um eine blutige Vergangenheit und darum, die Wahrheit über gefolterte, brutal getötete und vor allem verschwundene Menschen herauszufinden, damit den Hinterbliebenen zumindest moralische Gerechtigkeit widerfuhr. Das gelang diesen Wahrheitskommissionen der ersten Generation, je nach Mandat, nur sehr begrenzt. +Die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission, wie sie offiziell hieß,  beschritt deshalb auch juristisches Neuland. Sie war ein historischer Kompromiss der Verhandlungen zwischen den weißen Machthabern und dem Afrikanischen Nationalkongress (ANC), eingesetzt, um die Wahrheit über die brutalen Methoden des Regimes offenzulegen – und um eine zutiefst versehrte, gewaltgeprägte Gesellschaft zu versöhnen. +1998 legte das Gremium unter der Führung des einstigen Erzbischofs von Kapstadt, Desmond Tutu, seinen Abschlussbericht vor. Er umfasste 3.500 Seiten, mehr als 20.000 Opfer von schweren Menschenrechtsverletzungen hatten sich an die Kommission gewandt, mehr als 7000 Anträge auf Amnestie waren gestellt worden. Die größte Leistung der Kommission bestand darin, dass die Geschichtsbücher neu geschrieben werden mussten:  Die Apartheid wurde als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft (was auf internationaler Ebene schon 1976 geschehen war), der über 21.000 Menschen zum Opfer gefallen waren. "Der Staat war in der Zeit von 1960 bis 1994 (dem Untersuchungszeitraum, Anm. d. Red.) der Hauptverantwortliche für schwere Menschenrechtsverletzungen", heißt es im Bericht. +Das mag aus heutiger Sicht geradezu selbstverständlich sein, im Südafrika der Wendezeit war es das nicht. Tonnenweise hatten die Exponenten des Regimes in der Wendezeit Akten und belastendes Material vernichtet, viele Weiße waren noch immer überzeugt, dass die Politik der Rassentrennung ein gut gemeintes, am Ende aber leider gescheitertes Experiment zum Wohle aller Südafrikaner war. +Das ließ sich nun nicht mehr aufrechterhalten. In quälenden, bewegenden, zermürbenden Sitzungen hatten die Opfer zum ersten Mal die Möglichkeit erhalten, ihre Geschichte öffentlich zu machen. Für viele hatte allein dieses Sprechen eine kathartische Wirkung, viele erfuhren auch tatsächlich durch die Wahrheitskommission, wer die Mörder ihrer Angehörigen waren – so auch die der Cradock-Vier. +Der Preis aber war hoch. Denn es ging bei dem modellhaften Prozess nicht um Gerechtigkeit, jedenfalls nicht vor der Justiz. Wer als Täter bereit war, vor der Kommission auszusagen und ein volles Geständnis abzulegen, konnte Straffreiheit erhalten. Für viele Opfer war das kaum zu ertragen. Die Kommission war und ist bis heute umstritten, zumal sich die Hoffnung vieler auf eine staatliche Entschädigung nicht erfüllt hat. Insofern hat die Kommission zur Wahrheitsfindung ganz sicher beigetragen, zur Versöhnung aber nur begrenzt. Erschwert hat dies auch die einstige Befreiungsbewegung der Schwarzafrikaner, der ANC, der versuchte, die Veröffentlichung des Abschlussberichts gerichtlich untersagen zu lassen. Denn es ging ja auch um Verbrechen, die der ANC im Namen des "struggle" begangen hatte. +Auch Kommissionsvorsitzender Tutu räumte immer wieder ein, dass er moralisch durchaus einen Unterschied mache zwischen den Taten des weißen Regimes und denen der Befreiungskämpfer. Als der ANC jedoch eine Generalamnestie verlangte, drohte er das erste und einzige Mal mit seinem Rücktritt. Er, der langjährige Weggefährte von Nelson Mandela, ließ sich nicht erpressen, war aber tief enttäuscht vom ANC. +Am 29. Oktober 1998 übergibt der Vorsitzende der Wahrheitskommission Erzbischof Desmond Tutu dem südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela den fünfbändigen Abschlussbericht +Völkerrechtler halten den Prozess dennoch für wegbereitend für Südafrikas Transformation zu einer Demokratie. "Er war eine Therapie für die Nation", sagte der frühere südafrikanische Verfassungsrichter Richard Goldstone, Chefankläger in den Uno-Tribunalen für Ruanda und Ex-Jugoslawien. Einfach transplantieren könne man das Modell aber nicht, vielmehr müssen man sich die lokalen und regionalen Gegebenheiten des jeweiligen Landes sehr genau ansehen. Gehe es etwa um systematischen Völkermord wie in Ruanda, könnte eine Wahrheitskommission eine juristische Aufarbeitung nur begleiten. +Dennoch gelten Wahrheitskommissionen im internationalen Völkerrecht als geeignetes Mittel, um eine schmerzhafte Aufarbeitung und auch Heilung zu leisten und in Übergangsprozessen das Bewusstsein für Rechtsstaatlichkeit und die Zivilgesellschaft zu schärfen. Bis heute wurden in mehr als 30 Ländern in Afrika, Asien und Lateinamerika Wahrheitskommissionen eingesetzt, manchmal parallel zu Tribunalen oder großen Gerichtsverfahren. +Untersucht wird in der Regel eine zeitlich definierte, abgeschlossene Periode, in der Diktatoren, das Militär oder auch bewaffnete Guerillas schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben. Ihr Auftrag wurde in jüngster Zeit immer mehr den Besonderheiten der jeweiligen Länder angepasst. So durfte die Kommission im westafrikanischen Liberia (2006) nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs auch Wirtschaftsverbrechen untersuchen, in Bangladesch (2008) befasste sich die Kommission nur mit Korruptionsfällen und deren verheerenden Auswirkungen auf die Gesellschaft. +Aktuellstes Beispiel ist die Kommission in Brasilien, die 2011 von Präsidentin Dilma Rousseff eingerichtet wurde, um Verletzungen der Menschenrechte zwischen 1946 und 1988 inklusive der Verbrechen während der Militärdiktatur in den Jahren von 1964 bis 1985 aufzuklären. Sie hat jüngst ihren Abschlussbericht erstellt und verlangt darin die Bestrafung von etwa 100 Mitgliedern des Militärs, die zur Zeit der Militärdikatur schwere Verbrechen begangen haben sollen. Am 10. Dezember will sie Rousseff ihren Bericht übergeben. +Kordula Doerfler hat von 1996 bis 2001 als Korrespondentin für die "taz" aus Südafrika berichtet. Heute ist sie stellvertretende Ressortleiterin Politik bei der "Berliner Zeitung". diff --git a/fluter/they-love-the-eu.txt b/fluter/they-love-the-eu.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..835dff75af70a28cef34f42ad37910de43a27f8e --- /dev/null +++ b/fluter/they-love-the-eu.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Was der Brexit für die englische Musikszene bedeuten würde, hat das amerikanische Musikmagazin Pitchfork zusammengetragen. Die meisten der befragten Booker, Veranstalter, Labelbetreiber und Musiker geben an, dass ihre Arbeit komplizierter würde und damit auch teurer. In der Musikbranche überwiege entsprechend der Wunsch, in der EU zu bleiben,schreibt Pitchfork. Allerdings hat das niemand so schön und sehnsuchtsvoll besungen wie Gruff Rhys von den Superfury Animals mit seinem Liebeslied an die EU. +Gruff Rhys - I Love EU diff --git a/fluter/think-different.txt b/fluter/think-different.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e74b1934573236d06e862e4f864b0a460df8c9f5 --- /dev/null +++ b/fluter/think-different.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Warum werden Geschlechterforscherinnen in der vergangenen Zeit selbst in bürgerlichen Leitmedien angegriffen? +Man kann tatsächlich von Hass auf die Genderstudies sprechen, der in den vergangenen zwei bis drei Jahren stark zugenommen hat. Weil es politisch nicht opportun ist, gegen Gleichstellung zu sein, hat sich die Argumentation in andere Bereiche verschoben. Jetzt wird wieder stärker mit der Biologie argumentiert, auf die vermeintlich "unhintergehbare Natur" verwiesen, die nur zwei Geschlechter vorsehe. Den Genderstudies wird vorgeworfen, eine totalitäre Gleichmacherei zu betreiben. Das ist Unsinn. Aber die Inhalte der Geschlechterforschung sind vielen Menschen unbekannt, das macht es leicht, sie zu verteufeln. +Lann Hornscheidt, auch in der Genderforschung tätig,  möchte nicht klar als Frau oder Mann adressiert werden und hat mit dem Vorschlag, als "Professx" angesprochen zu werden, eine deutschlandweite Debatte ausgelöst. Hat Sie deren Heftigkeit überrascht? +Ja, sehr. Es gab auf diesen Vorschlag nahezu gewalttätige Reaktionen. Dabei hat Lann Hornscheidt nicht gesagt: Das müssen von nun an alle so oder so machen. Es ging um einen Vorschlag, wie eine bestimmte Person selbst gern adressiert werden -möchte. Und zudem um eine Anregung, über die Vergeschlechtlichung von Sprache nachzudenken. +Wird der Genderbewegung mit einem solchen Vorschlag nicht ein Bärendienst erwiesen, weil der Ansatz Menschen verunsichert und eher noch mehr Zerwürfnis verursacht? +Wir leben offenbar in einer Kultur, die extrem fehlervermeidend sein möchte. Ein Fehler ist immer nur ein Versagen, anstatt ihn als Gedankenanstoß zu sehen und daraus zu lernen. Dabei wird die ausgrenzende Wirkung von Sprache tatsächlich noch zu wenig vermittelt. Nach Jahrzehnten des Feminismus ist das generische Maskulinum – also etwa die Rede von Professoren, Ärzten oder Studenten – immer noch die verbreitete Form. Neulich hatte ich eine Studentin aus Dänemark in meinem Seminar, die entsetzt vom konservativen Umgang auch mit Sprache in Deutschland war. Da sei man in Dänemark viel weiter. Meine Berliner Studierenden waren geschockt, bescheinigt zu bekommen, dass wir in Deutschland so hinterherhinken. +Mit wenigen Ausnahmen werden Menschen biologisch als Mann oder Frau geboren. Sie sagen aber, die eigentlich entscheidenden Unterschiede werden nicht angeboren. Was macht Sie da so sicher? +Wir haben einen großen Bestand an sozialem, kulturwissenschaftlichem und historischem Wissen, das uns zeigt, dass Geschlecht in der Geschichte schon sehr unterschiedlich gelebt worden ist. Die Geschlechter, die wir heute hier bei uns im Westen kennen, sind ein Produkt historisch-kultureller Prozesse. Auch heute gibt es auf der Welt Kulturen, die Geschlecht unterschiedlich leben. Das heißt nicht, dass ich in Abrede stelle, dass wir in unterschiedlichen Körpern leben. Aber was diese Körper bedeuten, ist historisch wandelbar. +Wenn die Zweigeschlechtlichkeit als Norm infrage gestellt wird, wie viele Geschlechter gibt es dann – und wie viele sollten auch staatlich anerkannt werden? +Es gibt so viele Weisen, Geschlecht zu leben, wie es Menschen auf der Welt gibt. Die Tatsache, dass ich in einem biologisch als weiblich klassifizierten Körper stecke, dass ich juristisch eine weibliche Person bin, sagt nichts darüber aus, ob ich mich persönlich als Frau verstehe. Das Geschlecht funktioniert als "sozialer Platzanweiser" in der Gesellschaft. Das gilt es zu verändern. Geschlecht darf keinen Einfluss darauf haben, was ich werden kann und welche Chancen ich im Leben habe. Ob dann am Ende des Tages zwei, fünf oder zwölf Geschlechter staatlich anerkannt sind, ist nicht entscheidend. +Werden die klassischen Geschlechterrollen den Kindern heute nicht bereits weniger eingetrichtert als früher? +Im Gegenteil. Wir erleben derzeit eine deutlich intensivere Vergeschlechtlichung – und auch Sexualisierung der Kindheit und kindlicher Welten, als beispielsweise noch in meiner eigenen Kindheit in den spätern 1960- und 70er-Jahren. Das hat sicherlich auch mit kapitalistischen Marketing- und Verwertungsstrategien zu tun. Das gilt unter anderem für Kleidung oder Spielzeug; nehmen Sie das Beispiel Lego. Früher gab es bunte Steine, daraus konnte man bauen, was man wollte, ein Haus, ein Boot, was auch immer. Heute haben Sie eine Lego-Welt für Mädchen mit Bausätzen für rosafarbene Glitzerhäuser und eine mit blauen Steinen für Jungs. Es muss offensichtlich unbedingt ein Unterschied, in der Genderforschung nennen wir das "Gleichheitsverbot", gemacht werden – mit welchen Mitteln auch immer. Das ist heute extremer als noch vor 20 oder 30 Jahren. +Gibt es denn später im Leben, in der Arbeitswelt, eine Annäherung? Sitzen wir nicht alle am Ende vor Computern, wodurch typisch männliche oder weibliche Eigenschaften nicht mehr so stark zählen? +Global gesehen stimmt das überhaupt nicht. Ein Großteil der Arbeit ist immer noch sehr dreckige und schwere Handarbeit. Da arbeiten Menschen in Minen oder in Nähfabriken. Interessant ist auch eine Erhebung des Statistischen Bundesamts, nach der Frauen bei uns zwei Drittel ihrer Arbeit unbezahlt leisten, also Haushalt, Kinder, Pflege von Angehörigen. Außerdem leisten Frauen den überwiegenden Teil der schlecht entlohnten und sozial niedrig geschätzten Erwerbsarbeit. Da kann ich wirklich nicht sehen, dass wir "am Ende alle vor dem Computer sitzen" und das irgendeine egalisierende Wirkung auf das Geschlechterverhältnis hätte. Ich zitiere da immer gern die Journalistin Ingrid Kolb: "Feminismus ist keine Frage des Glaubens, sondern eine Antwort auf Statistiken." +Sollte es – um diesen Zustand zu ändern – mehr gesetzliche Regelungen wie die Frauenquote geben? +Wir können erst mal feststellen, dass es ohne gesetzliche Regelungen nicht geht. Auf freiwilliger Basis wurde es lange probiert, und das hat schlicht nicht geklappt. Wir haben aber auch jetzt keine echte Frauenquote, denn es geht erst einmal nur um Aufsichtsräte börsennotierter und mitbestimmungspflichtiger Dax-Unternehmen, deutschlandweit sind das lediglich rund 170 Positionen. Ich bin für eine echte Frauenquote, denn faktisch hatten wir jahrhundertelang Männerquoten. +Wie sahen diese Männerquoten aus? +Es ist gerade mal etwas länger als 100 Jahre her, dass Frauen in Deutschland überhaupt studieren dürfen. Bis dahin hatten wir in der Wissenschaft eine Männerquote von 100 Prozent. Bis die historisch abgebaut ist, haben wir noch einige Jahrzehnte vor uns, wenn wir keine politischen Instrumente finden. +Momentan sind Mädchen bis ins Studium oft den Jungs voraus. Wenn es dann um die oberen Positionen in der Wissenschaft geht, ziehen die Jungs wieder vorbei. Was läuft da schief? +Das hat nicht nur etwas mit der mangelnden -Familienfreundlichkeit im akademischen Betrieb zu tun. Es hat auch etwas mit geschlechtlichen Stereotypen zu tun. Es gibt viele experimentelle Studien, die zeigen, dass bei identischen Bewerbungen auf Professuren die Erfolgsquote bei einem männlichen Vornamen deutlich besser war als bei einem weiblichen. Es gibt auch nach wie vor die "typischen Frauenfächer" in den Sprach- und Kulturwissenschaften. Da haben wir 70 bis 80 Prozent Absolventinnen. Bei den Professoren dreht sich das Verhältnis aber nahezu wieder um. So viel zum Thema Quotierungen. +Klingt, als gäbe es für die Frauenbewegung noch viel zu tun. Vielen jungen Frauen ist der sehr ideologisch geführte Feminismus von früher aber suspekt, sie grenzen sich von Ikonen wie Alice Schwarzer ab. Können Sie das nachvollziehen? +Ja, und ich finde das nicht problematisch. Es ist einfach ein Unterschied, ob ich für einen Feminismus à la Schwarzer stehe oder für einen globalen intersektionalen Feminismus eintrete. Und es ist wichtig, solche Unterschiede zu markieren. Dass gerade beim Feminismus und bei der Frauenbewegung öffentliche Auseinandersetzungen eher negativ wahrgenommen werden, hat vielleicht auch wieder mit bestimmten Weiblichkeitsvorstellungen zu tun. Frauen wird keine Tradition der öffentlichen Streitkultur zugebilligt, weil sie historisch nicht im öffentlichen, sondern im privaten Raum verankert wurden. Ich würde mir vielmehr wünschen, dass wir noch entschiedener in die Auseinandersetzung um verschie-dene Positionen und Perspektiven gehen. +Gilt das auch für die Auseinandersetzung mit dem sogenannten neuen Maskulinismus, der heute Jungs und Männer gegenüber Frauen als benachteiligt ansieht? +Absolut. Das ist eine sehr klare politische Kampflinie. Es geht um die Deutungshoheit über die Zahlen. Da muss man sich auch politisch positionieren, und es gibt gute statistische Argumente für die feministische Perspektive. +Momentan treten viele Kommentatoren und Politiker Flüchtlingen gerade in Geschlechterfragen mit großem Selbstbewusstsein entgegen und warnen vor einer Aufweichung der Errungenschaften der Geschlechtergerechtigkeit durch eine muslimische Macho-Kultur. Wie empfinden Sie das? +Wir haben fast ein Drittel weibliche Flüchtlinge und fast ein Drittel Kinder und Jugendliche. Klar gibt es da eine spezifische Schutzbedürftigkeit. Es findet bei dieser Debatte aber eine – auch für mich als Feministin unerträgliche – Versämtlichung der Männer statt. Plötzlich sollen alle Frauenfeinde und homophobe, übergriffige Patriarchen sein. Das alles gibt es. Aber das sind keine Merkmale einer bestimmten Kultur oder Religion, sondern Elemente eines Patriarchats, das es in jeder Gesellschaft geben kann. Viele dieser Männer fliehen doch gerade vor Gewalt und Krieg. Diese Art sexistischer Verallgemeinerung ist schlimm. In der feministischen Theorie wird das "Femonationalismus" genannt. Dabei werden der Feminismus und die Gleichstellung benutzt, um fremdenfeindliche und islamfeindliche Politiken zu stärken. diff --git a/fluter/this-is-america-childish-gambino-weltweite-spin-offs.txt b/fluter/this-is-america-childish-gambino-weltweite-spin-offs.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..17f6c6d3bccc9a76dbbf99580f4120b568f3b4b0 --- /dev/null +++ b/fluter/this-is-america-childish-gambino-weltweite-spin-offs.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Wenige Monate vor der Wahl wird bekannt, dass Waldheim Mitglied eines Reiterkorps der SA und des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes war. In Österreich formiert sich eine Protestbewegung, in den USA strengt die NGO World Jewish Congress umfangreiche Recherchen zu Waldheims Kriegseinsätzen an, die den Kandidaten in Erklärungsnot bringen: Er sei kein Mitglied der NS-Verbände gewesen, beharrt Waldheim, habe bei seinen Einsätzen auf dem Balkan keine Kriegsverbrechen oder Deportationen miterlebt, sondern bloß "meine Pflicht erfüllt wie Hunderttausende Österreicher auch". Große Teile der Bevölkerung solidarisieren sich mit Waldheim – und zur Stichwahl plakatiert die ÖVP einen neuen Slogan: "Jetzt erst recht!" +Was zeigt uns das? +Zum einen zeigt der Dokumentarfilm am Beispiel der Waldheim-Affäre das tief gespaltene Verhältnis der Österreicher zur Rolle ihres Landes im Nationalsozialismus. Der Mythos vom "ersten Opfer der Nazis"  war 1986 noch fest verankert. Eine Aufarbeitung der Vergangenheit scheuten große Teile der Gesellschaft. "Wir waren anständig", ruft Waldheim den Massen auf dem Stephansplatz zu und erntet begeisterten Applaus. +Zum anderen zeigt der Film, wie sich in kontroversen Debatten der mediale Diskurs verschiebt, wie es auf ähnliche Weise nun in Österreich und auch in Deutschland zu beobachten ist. Fake News 1986: Damals gelang es der ÖVP, die Kritik an Waldheim öffentlichkeitswirksam als Angriff auf die Ehre der Nation darzustellen – verübt durch eine "kleine, aber einflussreiche Gruppe aus dem Ausland". Das mobilisierte nationalistische und antisemitische Aggressionen, die sich, wie der Film zeigt, auf der Straße entluden. +Wie wird's erzählt? +"Waldheims Walzer" ist ein Kompilationsfilm. Ruth Beckermann verwendet ausschließlich historisches Bildmaterial aus TV-Archiven sowie Aufnahmen, die sie selbst als junge Frau mit einer Videokamera drehte: auf den Straßen Wiens, bei Wahlkampfauftritten und Protestaktionen. Die Regisseurin war seinerzeit von Beginn an Teil der Bewegung, die Waldheim zum Rücktritt aufforderte und sich gegen Antisemitismus positionierte. +Good Job! +Die Recherchearbeit, die spannendes Material aus der Zeit zutage fördert, verdient ebenso eine Würdigung wie die Montage, welche die Interviews, Straßenszenen, Wahlkampfauftritte und Nachrichtenbeiträge in eine übersichtliche chronologische Ordnung bringt. Beckermann leitet dabei mit einem Voice-over-Kommentar durch den Film, der die eigene Beteiligung und das selbst gedrehte Material reflektiert, aber meist angenehm nüchtern bleibt. Ihr gelingt das Kunststück, in einem persönlichenundpolitischen Film weder zu häufig noch zu selten "ich" zu sagen. +Stärkster Satz +"Wir nehmen zur Kenntnis, dass er nicht bei der SA war, sondern nur sein Pferd bei der SA gewesen ist." Fred Sinowatz, damaliger SPÖ-Bundeskanzler, über Waldheims Weigerung, seine offenkundig belegte SA-Mitgliedschaft zuzugeben. +Ideal für … +… alle, die am Beispiel von Waldheims Diskursgymnastik etwas über "österreichische Geschmeidigkeit" (Beckermann) lernen wollen. Mal im Ernst: Geschichtspolitik, Rechtsruck und Antisemitismus sind keinspecial interest. Wer sich damit auseinandersetzt, findet in Beckermanns Film Denkanstöße, die weit über den historischen Fall hinausweisen. diff --git a/fluter/this-is-going-to-hurt-serie-zdf-rezension.txt b/fluter/this-is-going-to-hurt-serie-zdf-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..309abf21c490571fb8b18f2d1ba92044efbeb148 --- /dev/null +++ b/fluter/this-is-going-to-hurt-serie-zdf-rezension.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Um das marodeGesundheitssystem Großbritanniens, den National Health Service (NHS), und die Überbelastung des Gesundheitspersonals. In "This is going to hurt" stehen Adam, die Medizinstudentin Shruti Acharya (Ambika Bhakti Mod) und die Hebammen auf der Station repräsentativ für die rund 1,5 Millionen Beschäftigten des NHS und deren Nöte. Adams Buzzer vibriert unentwegt, während in den Gängen Schwangere eng an eng stehen. Manche warten bis zum nächsten Tag auf eine Behandlung. Als der Gesundheitsminister zu Besuch kommt, soll auf der Station alles ordentlich aussehen – in Wahrheit tropft es seit vier Jahren von der Decke. Nach einer Operation, bei der beinahe Kind und Mutter sterben, sieht Adam in Flashbacks das Frühchen und die blutüberströmte Mutter überall – im Kühlschrank, im Club, auf seiner Verlobungsparty. Trotzdem macht er weiter 90-Stunden-Wochen und übersieht, dass Shruti zusammenzubrechen droht. + + +Der NHS, der größte Arbeitgeber Europas,feiert in diesem Jahr sein 75-jähriges Bestehen. Die Gründungsidee: Jede Person in Großbritannien soll kostenlosen Zugang zu medizinischer Versorgung bekommen. Große Feierstimmung herrscht derzeit allerdings nicht – seit Anfang des Jahres streiken Hunderttausende Sanitäter:innen, Krankenpfleger:innen sowie Ärzt:innen. Seit Jahrzehnten spart die britische Regierung beim NHS, dergrößtenteils durch Steuern finanziertwird. Menschen müssen manchmal Monate bis Jahre auf eine notwendige Operation warten, Ärzt:innen und medizinischer Nachwuchs fehlen. Die Folge sind ausgebrannte Angestellte. Beinahe zwei Drittel aller Ärzt:innen in Großbritannien kämpften laut einer Studie aus dem Jahr 2021 mit einer Depression oder Angsterkrankung. + +In Adams Alltag folgt auf eine absurd komische Szene eine, die einem die Tränen in die Augen treibt – das alles ist unterlegt mit Indie-Rock. Wirkt es anfangs witzig, dass Adam in seinem Auto schlafen muss, überwiegt gegen Ende der siebenteiligen Dramedy das Drama: Da sieht man etwa Shruti mit ausdruckslosem Gesicht einer Frau erklären, dass die ihr Baby verloren hat. Und Adams flotte, vulgäre Sprüche, die er zum Teil direkt in die Kamera spricht, werden immer zynischer. Explizit wird es nicht nur sprachlich: Bei "This is going to hurt" fließen Körperflüssigkeiten, allen voran Blut. Es gibt eine Frau, die ihre Plazenta essen will, blutverschmierte Gebärräume, Babyköpfe, die in Vaginen feststecken. Schwangere sollten sich vielleicht überlegen, ob sie die Serie gucken wollen. + + +Die BBC-Produktion "This is going to hurt" basiert auf dem gleichnamigen Buch von Adam Kay (dem realen Vorbild für die Serienfigur), das 2017 in Großbritannien erschien und zum Bestseller wurde. Grundlage waren Kays Tagebucheinträgen der Jahre 2004 bis 2010. Depressionen und eine posttraumatische Belastungsstörung führten 2010 dazu, dass Kay seinen Job aufgab. Seitdem arbeitet er als Comedian und schreibt Drehbücher fürs Fernsehen – auch das von "This is going to hurt". + +Einige Szenen dürften für manche drüber sein, aber "This is going to hurt" ist die authentischste und politischste Arztserie seit langem. Hier sind Ärzt:innen nicht die glamourösen, makellosen Personen, wie es einem Serien wie "Grey's Anatomy" weismachen wollen. Sondern Menschen, die keine Zeit für Dates haben und die ihr Mittagessen in den Müll schmeißen, weil der Aktenberg zu hoch ist. Die zwar abstumpfen und doch alles tun, um die Würde ihrer Patient:innen zu wahren. Nicht umsonst wurde die Serie mit vier British Academy Television Craft Awards ausgezeichnet. + +Das britische Gesundheitssystem mit dem deutschen zu vergleichen ist schwierig. Anders als in Deutschland finanziert sich der NHS fast ausschließlich durch Steuereinnahmen, das medizinische Fachpersonal ist beim Staat angestellt. Außerdem fokussiert sich die Gesundheitsversorgung auf Krankenhäuser, weil es Fachärzt:innen – wie Gynäkolog:innen – nur dort gibt. Andererseits: Auch in Deutschland fehlen Ärzt:innen, Pflegekräfte und medizinischer Nachwuchs. 2022streikten Pfleger:innen allein in Nordrhein-Westfalen elf Wochen lang, umgegen schlechte Arbeitsbedingungen und für eine bessere Entlohnungzu kämpfen. Im Bereich der Geburtshilfekritisieren Hebammen, viel zu wenig Zeit für ihre Patientinnen zu haben. 70 Prozent arbeiten daher nur noch in Teilzeit oder haben den Beruf aufgegeben. Kurzum: "This is going to hurt" spielt in London, aber die Szenen dürften sich so ähnlich auch in deutschen Krankenhäusern abspielen. + +Alle Folgen von "This is going to hurt" laufen am 17. September ab 20.15 Uhrbei ZDFneo und ab 18. September in der ZDF-Mediathek. + +Fotos: ZDF/Anika Molnar diff --git a/fluter/thoreau%E2%80%93ziviler-ungehorsam-tolstoi-gandhi-mandela-king.txt b/fluter/thoreau%E2%80%93ziviler-ungehorsam-tolstoi-gandhi-mandela-king.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5de0130bf6718115e3f2dd57551fdbfc6860478e --- /dev/null +++ b/fluter/thoreau%E2%80%93ziviler-ungehorsam-tolstoi-gandhi-mandela-king.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Für Thoreau, der sich am liebsten etwas abseits der Gesellschaft in seiner Blockhütte am Waldrand aufhielt, war das eine Frage des Gewissens. Auch wenn eine Regierung von der Mehrheit gewählt wurde, sei sie fehlbar und berge den Missbrauch der Macht in sich, so sein Ausgangsgedanke, den er in dem Aufsatz "Resistance to Civil Government" ausführte. Deshalb habe der Einzelne in moralischen Fragen die Pflicht, die Verantwortung nicht einfach an die Regierung abzutreten: "Man sollte nicht den Respekt vor dem Gesetz pflegen, sondern vor der Gerechtigkeit. Nur eine einzige Verpflichtung bin ich berechtigt einzugehen, und das ist, jederzeit zu tun, was mir recht erscheint." +Die Argumentation hat ihre rechtsphilosophischen Schwächen: Wie etwa soll man erkennen, ob das Gewissen "richtigliegt"? Immerhin gibt es ja viele Auffassungen von Gerechtigkeit? Wo hört gerechtfertigter Widerstand auf, und wo fängt bodenlose Anarchie an? Dem Erfolg des Aufsatzes tat das keinen Abbruch. Wirklich berühmt wurde der allerdings erst nach Thoreaus Tod im Jahr 1862. Dabei hat auch ein in Vergessenheit geratener Verleger eine wichtige Rolle gespielt. In einer Anthologie mit politischen Aufsätzen erschien der Essay 1866 unter dem Titel "Civil Disobedience": ziviler Ungehorsam. Wohl auch wegen des griffigeren Slogans, vermutet der Thoreau-Biograf Frank Schäfer, fand der Aufsatz viele Leser auf der ganzen Welt – darunter auch viele echte Rebellen. +Leo Tolstoi (1828–1910) etwa. Der russische Schriftsteller und Adlige war ein wortgewaltiger Kritiker des Zarenreichs. Das erste Mal, dass er einen Ungehorsam ausübte, war, als er sich weigerte, als ehrenamtlicher Richter an einem Strafverfahren gegen Bauern teilzunehmen. Da die innerhalb seines Gutsbezirks lebten, wäre dies seine Pflicht gewesen. +Tolstoi war wiederum für Mahatma Gandhi (1869–1948) eine prägende Gestalt. Die beiden unterhielten einen ausführlichen Briefwechsel kurz vor Tolstois Tod. Gandhi las Thoreaus "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat" in Südafrika, wo er mit kurzen Unterbrechungen zwischen 1893 und 1914 als Rechtsanwalt arbeitete. Hier entwickelte er die Satyagraha – seine Idee des passiven Widerstands. Mit Kampagnen wie dem berühmten Salzmarsch (1930) zwang er die britische Kolonialregierung in die Knie. Mit knapp 80 Anhängern zog Gandhi von der Stadt Ahmedabad nach Dandi ans rund 380 Kilometer entfernte Arabische Meer, um dort einige Körner Salz aufzuheben. Damit brach er symbolisch das Monopol der Kolonialregierung, das die Herstellung, den Transport und den Verkauf von Salz hoch besteuerte. Der Marsch löste eine Welle zivilen Ungehorsams aus, während der an die 50.000 Inder verhaftet wurden. Ein Schlüsselmoment zur Unabhängigkeit Indiens. +Gandhis Kampf gegen die britische Kolonialherrschaft war eine wichtige Inspiration für Nelson Mandela, der gegen die Apartheid in Südafrika agitierte. Die Maßnahmen, die der African National Congress (ANC) ab den frühen 1950er-Jahren ergriff, waren von der Idee des zivilen Ungehorsams geprägt. So benutzten schwarze Aktivisten Toiletten, Zugabteile, Wartezimmer und Eingangstüren, die im segregierten Südafrika eigentlich nur Weißen vorbehalten waren. Damit wehrte sich der ANC gegen immer neue Repressionen seitens der weißen Minderheitenregierung, die seit 1947 die Rechte der Schwarzen immer weiter einschränkte und einen erbarmungslosen Polizeistaat aufbaute. +Als Nelson Mandela auf Robben Island, einer windumtosten Gefängnisinsel vor Kapstadt, in Einzelhaft kam, war in den USA die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung voll im Gange. In Martin Luther King hatte sie eine wortmächtige Führungsgestalt. Und auch der hatte seinen Thoreau gelesen. Keine andere Person hätte die Idee des Ungehorsams eloquenter und leidenschaftlicher rübergebracht als Thoreau, schrieb King in seiner Autobiografie. +Ein Auslöser für Kings Bürgerrechtskampagne war ein längst berühmter Akt des zivilen Ungehorsams. Den unternahm Rosa Parks im Jahr 1955. Die gut vernetzte Schneiderin weigerte sich, einen Platz im Bus frei zu machen, der für Weiße reserviert war. King nahm Parks Verurteilung zum Anlass, mit dem Montgomery Bus Boycott eine gewaltfreie Widerstandsaktion zu starten, die eine Initialzündung der Bürgerrechtsbewegung werden sollte. +Und heute? Die Idee des zivilen Ungehorsamswird immer noch viel diskutiertund auch immer wieder in die Praxis umgesetzt. Etwa durch Attac und die Occupy-Bewegung. Im Mai 2012 sorgte bereits die Ankündigung von Blockaden der Europäischen Zentralbank (EZB) aus Protest gegen die europäische Krisenpolitik dafür, dass das Frankfurter Bankenviertel weitgehend lahmgelegt war. Im selben Jahr – wie auch schon 2010 und 2011 – stoppten Aktivisten in Dresden den bis dahin europaweit größten Neonazi-Aufmarsch. Auch vor dem G20-Gipfel gab es zahlreiche Aufrufe zum zivilen Ungehorsam. Ein Straßenfest wie das "Hedonistische Massencornern" am 4. Juli kann man dazuzählen – auch wenn es vielen da vielleicht nur um ein Feierabendbier ging. + diff --git a/fluter/thueringen.txt b/fluter/thueringen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4d1500989f7d078b1aeac8da6148bf8a0d8d61fa --- /dev/null +++ b/fluter/thueringen.txt @@ -0,0 +1,30 @@ +Heute ist das anders. Ein Beispiel von einer AfD-Demonstration in Erfurt im April 2023: Nach der Kundgebung vor der Staatskanzlei setzt sich der Zug in Bewegung. Ich begleite mit der Kamera, bin also unmittelbar als Journalist zu erkennen."Lügenpresse", "Nimm die Kamera runter!", wird mir aus dem Demonstrationszug entgegengepöbelt. Plötzlich steht ein Typ vor meiner Linse, droht mir und versucht, mich über ein Brückengeländer zu stoßen. Zum Glück hatte ich einen Sicherheitsmann dabei, zum ersten Mal in meinem Arbeitsleben – als Vorsichtsmaßnahme. +Einordnung der AfD +Die Einschätzung der AfD ist Gegenstand politischer Kontroversen und juristischer Auseinandersetzungen. In der Wissenschaft wird die Partei in das breite Spektrum der rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteienfamilie eingeordnet. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) führt die AfD und ihre Nachwuchsorganisation "Junge Alternative" bundesweit als rechtsextremen Verdachtsfall. Die AfD klagte gegen diese Einstufung. In einem ersten Urteil hat das Verwaltungsgericht Köln die Einordnung des BfV bestätigt, wogegen die AfD in Berufung ging. Diese wurdeim Mai 2024 vom Oberverwaltungsgericht Münster abgelehnt. Die Partei kann jetzt noch eine Nichtzulassungsbeschwerde einlegen. +In Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen stuft der jeweilige Landesverfassungsschutz die Partei als "erwiesen" bzw. "gesichert rechtsextremistische Bestrebung" ein. In Sachsen und Sachsen-Anhalt geht die AfD bereits juristisch gegen die Einstufung vor. In Thüringen hat die AfD Klage gegen einzelne Passagen des Thüringer Verfassungsschutzberichts von 2021 eingereicht. Allerdings klagt der Landesverband nicht gegen die Einstufung als "gesichert rechtsextremistische Bestrebung". In einigen anderen Bundesländern gelten die jeweiligen Landesverbände der Partei derzeit als Verdachtsfall. +Einige Wochen zuvor hatten mir Rechtsextremisten auf einer ihrer Veranstaltungen öffentlich gedroht. Seitdem wägen wir vor Demonstrationen ab, ob wir Sicherheitsleute benötigen. Normale journalistische Arbeit, also die Dokumentation einer Demo, wird eingeschränkt. Das ist Alltag geworden. +Vor allem auf rechten Demos und den sogenannten "Montagsspaziergängen", die aus Protest gegen die Corona-Maßnahmen entstanden sind, passiert das mir und meinen Kolleginnen und Kollegen immer wieder. Da, wo die AfD stark ist, zum Beispiel in Gera, ist meiner Erfahrung nach auch der Protest gegen die Medien stark. Ich glaube aber, dass das nicht nur ein Phänomen in Thüringen ist, sondern sich in ganz Deutschland zeigt. +Die AfD hat in Teilen Thüringens keinerlei Berührungsängste mit Rechtsradikalen. Zwei Beispiele: In Gera steht Wolfgang Lauerwald, ein AfD-Vertreter im Thüringer Landtag und im Stadtrat von Gera, regelmäßig bei den Demonstrationen des Rechtsextremisten Christian Klar auf der Bühne. Auch andere AfD-Stadtratsmitglieder unterstützen Christian Klars Demonstrationen. +Dann gibt es Verbindungen im Saale-Orla-Kreis, wo der über sein dortiges Direktmandat in den Thüringer Landtag eingezogene Uwe Thrum schon hinter Bannern der Initiative "Freie Thüringer" gelaufen ist. Die Gruppierung wird vom Verfassungsschutz beobachtet. Es gibt auch Bilder von Thrum, auf denen er mit Reichsbürgern wie zum Beispiel dem selbst ernannten "König" Heinrich XIII. Prinz Reuß zu sehen ist, der gerade als Kopf einer mutmaßlich terroristischen Reichsbürgergruppe angeklagt wurde. +Und das sind nur zwei Beispiele, es gibt viele weitere, die ich nennen könnte. Diese und weitere personelle Verwebungen sind einer der Gründe, warum der Verfassungsschutz die Thüringer AfDals erwiesen extremistisch einstuft. Dazu kommen rechtsextreme Äußerungen, die immer wieder fallen – und das nicht nur vom Thüringer AfD-Chef Björn Höcke. +Wie sich meine Arbeit in den nächsten Jahren verändern wird, kann ich nicht einschätzen. Ich glaube aber, dass es stark damit zusammenhängt, inwiefern die Leute das Gefühl haben, dass ihnen das bisschen Wohlstand, das sie sich erarbeitet haben, noch bleibt. Und wir als Journalisten müssen noch mehr als ohnehin schon darauf achten, transparent zu berichten. Darstellen und erklären, was passiert – aber den Leuten nicht das Gefühl geben, dass wir ihnen eine Meinung aufdrücken. + + +Nour Al Zoubi, 25, aus Syrien Geflüchtete, Gera +Ich bin aus Syrien über Jordanien nach Deutschland geflüchtet. 2015 kam ich per Familiennachzug nach Gera. Inzwischen habe ich mein Studium der Sozialen Arbeit abgeschlossen und bin seit zwei Jahren deutsche Staatsbürgerin. +Damals, 2015, war das Leben für uns in Gera sehr hart. Es gab nur rund 50 Syrer in der Stadt, fast nur Männer. Oft wurden wir beschimpft. Einmal standen meine Mutter, meine Schwestern und ich an einer Bushaltestelle, eine von uns trug keinen Hijab. Ein Mann kam zu uns und sagte: "Die ohne Kopftuch kann bleiben, die anderen sollen woanders hingehen." +Nach elf Monaten gingen wir tatsächlich: nach Bochum. Dort waren wir nicht fremd, denndie Migrationsgeschichte in Nordrhein-Westfalen reicht viel weiter zurück. Natürlich haben wir dort auch mal Beschimpfungen gehört, aber selten, während es in Gera auf der Tagesordnung stand. +Noch im Sprachkurs in Gera lernte ich Ahmad kennen. Wir hielten Kontakt, und er überzeugte mich, nach Gera zurückzukommen. Er sagte: Es hat sich viel verändert. Wir sind mittlerweile verheiratet und haben einen kleinen Sohn. Und ja: Es hat sich viel verändert. 2015 war der Arbeitsmarkt für Menschen mit Migrationshintergrund schwer zugänglich, heute arbeiten sie als Verkäufer, als Busfahrer, in den Kitas, bei staatlichen Einrichtungen. +Es gibt mittlerweile über 2.500 Syrer in Gera und insgesamt über 13.000 Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit, bei rund 100.000 Einwohnern. Ich habe nun auch mehr deutsche Bekannte und Freunde. Das Zusammenleben ist leichter geworden, genau wie mein Leben als muslimisch gelesene Frau. Damals traute ich mich nicht, alleine in einem Café zu sitzen. Heute gehört das zu meinem Alltag. Allerdings wähle ich die Orte, an die ich gehe, sorgfältig aus. +Gleichzeitig hat sich der Hass gegen Ausländer verschlimmert. Die Menschen, die uns nicht hier haben möchten, sind mehr geworden und radikaler als vorher. Ein Beispiel: Ich saß nachmittags in der Straßenbahn, auf dem Heimweg von der Hochschule. Da kam ein betrunkener Mann in meinen Vierer und baute sich vor mir auf. Eine Hand auf dem Sitz, eine auf meiner Sitzlehne – so, dass ich nicht aufstehen konnte. Er sagte, ich solle Deutschland verlassen. Irgendwann erhob er die Hand, um zum Schlag auszuholen. Da hielt ich schnell mein Handy hoch und sagte, ich würde jetzt die Polizei rufen. Er ließ von mir ab und stieg an der nächsten Haltstelle aus. +Das Schlimmste daran? Die Menschen um mich herum schauten nur zu. Egal welches Problem, ich habe das Gefühl, wir sind schuld, "die Ausländer, die Migranten, die Flüchtlinge, die jungen, gewalttätigen Männer". Sie sehen mich als Mensch zweiter Klasse. Dabeibin ich ein aktiver Teil der Gesellschaft, arbeite in einer Migrationsberatungsstelle und setze mich für meine Mitmenschen ein. +Die zunehmend feindliche Stimmung, die ich gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund wie mir empfinde, verbinde ich auch mit dem Erstarken der AfD. Seit sie bei der Kommunalwahl 2019 fast 29 Prozent der Stimmen holte, stellt die AfD die größte Fraktion im Stadtrat von Gera. Zum Glück dürfen wir dank unserer Einbürgerung jetzt wählen. Und das werden wir! + +Felizia Möhle, 23, trans Frau, Erfurt +Ich bin in Niedersachsen aufgewachsen, seit drei Jahren lebe ich in Thüringen. Zwar wusste ich vorher schon,dass ich trans bin, meine Transition begann aber mit meinem Umzug nach Erfurt. Neue Stadt, neuer Start. Für mich ist das Leben als trans Frau in Erfurt recht entspannt. Allerdings bewege ich mich in einer Bubble: An der Uni, wo ich Staatswissenschaften studiere, sind die Menschen sehr liberal. Sicher ist das im ländlichen Raum oder in kleineren Städten wie Gera oder Eisenach anders. Dort gab es in der Vergangenheit unter anderem transfeindliche Angriffe beim Christopher Street Day. +Ich arbeite auch in einer Beratungsstelle im Queeren Zentrum Erfurt. Zu uns kommen ganz unterschiedliche Menschen. Beispielsweise Arbeitstätige, die erzählen, dass ihre Namensänderung vom Arbeitgeber nicht anerkannt wird. Oder junge trans Personen, die von ihren Eltern verstoßen wurden. Sie haben finanzielle Schwierigkeiten, weil ihnen der Rückhalt fehlt, um ihre Transition zu finanzieren. Oft kämpfen sie gegen Depressionen. Manch andere werden auf der Straße angegriffen oder angespuckt. Wir fangen diese Menschen auf. Es kommen auch sehr junge Menschen zu uns, die gerade erst in die Pubertät gekommen sind und erste Fragen haben. Oder auch Kinder, deren Eltern trans Personen sind. +Auch ältere Menschen sind Teil unserer Gemeinschaft, allerdings erreichen wir sie schlechter, weil wir hauptsächlich über die sozialen Medien kommunizieren. Menschen im ländlichen Raum erreichen wir ebenfalls schlecht, allein schon wegen der räumlichen Entfernung. Hier im Bundesland gibt es nur wenige Stellen, an die sich queere Menschen wenden können. In Niedersachsen gibt es in jeder Planungsregion ein queeres Zentrum. Das wünsche ich mir auch für Thüringen. +Wir werden staatlich finanziert, bekommen Geld vom Land Thüringen und der Stadt Erfurt. Mit den Geldern des "Thüringer Landesprogramms für Akzeptanz und Vielfalt" finanzieren wir das Queere Zentrum in Erfurt und die LGBTQ-Beratungsstelle in Jena. Deshalb schaue ich mit großer Unsicherheit auf die Wahlen. Die AfD ist eine grundlegend queer- und transfeindliche Partei. Sie will zum Beispiel die "Ehe für alle" wieder abschaffen und wendet sich auch gegen das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz, das für viele trans Personen wichtig ist. +Noch deutlicher zeigt sich die Queerfeindlichkeit der Partei in Argumentationen und Formulierungen, beispielsweise wenn von einem Kulturkampf gegen die von der AfD so bezeichntete "Genderideologie" gesprochen wird. Die AfD zeigt sich auch immer wieder mit queerfeindlichen Symbolen: Der Vorsitzende der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag, Björn Höcke, sympathisiert beispielsweise öffentlich mit der Stolzmonat-Bewegung, indem er deren Flagge auf seinem Profilbild in den sozialen Medien zeigt. Die Stolzmonat-Bewegung ist eine rechte Gegenbewegung zum Pride Month. Und im Thüringer Landtag stellte die AfD 2022 einen Verbotsantrag gegen Pubertätsblocker, die für junge trans Menschen wichtig sein können. Darin schreibt die Partei, die Einnahme der Medikamente würde von der Bundesregierung propagiert. +Sollte eine rechte Regierung zustande kommen, würde sie uns – davon gehen wir aus – die finanziellen Mittel streichen. Wir müssten wahrscheinlich unser Zentrum schließen und unsere Angebote einstellen. Ich weiß noch, wie wichtig für mich der Austausch war, als ich mit der Transition begann. Für die nächste Generation queerer Menschen wäre das schwerwiegend, fürchte ich. + diff --git a/fluter/tibet-action-camp-aktivismus.txt b/fluter/tibet-action-camp-aktivismus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/tiefseekabel-internet-sabotage.txt b/fluter/tiefseekabel-internet-sabotage.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6bb9e52ee7380c02fa673d95e988e7b08488fbeb --- /dev/null +++ b/fluter/tiefseekabel-internet-sabotage.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Datenkabel, das sind zum Beispiel die LAN-Kabel, die Computer mit Routern verbinden, oder die Kabel, die unter den Straßen verlaufen und Häuser mit Telefon- und Internetverbindungen versorgen. Wann immer irgendwo eine E-Mail geschrieben oder ein Handyvideo angesehen wird, flitzen Daten durch diese Kabel. Und mit großer Sicherheitdurch die Weltmeere: Schätzungen zufolge laufen rund 98 Prozent des weltweiten Datenverkehrs durch Tiefseekabel. +Rund 1,5 Millionen Kilometer Datenkabel liegen auf den Meeresböden. Die meisten sind kaum dicker als ein Gartenschlauch, die eingefassten Glasfasern sind haarfein. Sie verbinden die großen Datenzentren in den USA, China oder Japan mit der Handyantenne oder dem Router; über den Grund des Mittelmeers, im Suezkanal, im Golf von Bengalen, im Südchinesischen Meer und entlang der Küsten, etwa von Europa nach Westafrika. Im Juli 2024 zählte Lane Burdette vom Informationsdienst TeleGeography weltweit 534 Tiefseedatenkabel, 74 weitere seien in Planung (eine interaktive Karte aller Tiefseekabel findet sich aufsubmarinecablemap.com). +Betrieben werden die Kabel von Telekommunikationsfirmen und IT-Konzernen. Die investieren jährlich rund zwei Milliarden US-Dollar in Tiefseekabel, rechnet Burdette vor. Bald sollen es mindestens 3,5 Milliarden sein: Google will Japan und andere Inselstaaten mit zwei neuen Kabeln an die US-Westküste anschließen. Die USA finanzieren das Projekt mit, um ihren Einfluss auf den pazifischen Raum gegen China zu verteidigen. +Werden Kabel gekappt, können ganze Staaten zeitweise offline sein. Abgelegene und wirtschaftlich schwächere Regionen sind ungleich stärker betroffen. Mitte März waren Dutzende westafrikanische Länder von einem Tag auf den anderen vom Internet abgeschnitten, weil gleich mehrere Tiefseekabel beschädigt waren. Im Juli hatten große Teile der südpazifischen Insel Tonga über zwei Wochen kein Internet, weil ein Erdbeben ein Kabel beschädigt hatte. Reparaturen sind logistisch aufwendig und teuer, die Übertragung über Satelliten ist keine Alternative, weil die Datenübertragung viel langsamer und fehleranfälliger ist. +Jährlich werden zwischen 100 und 200 Schäden an Tiefseekabeln registriert, die meisten werden durch Seebeben, verhedderte Schleppnetze oder Schiffsanker verursacht. Glücklich, wer gleich durch mehrere Dutzend Tiefseekabel mit den USA verbunden ist wie die europäischen Länder. Sie sind nahezu vollkommen abhängig von ausländischen Kabelanbietern, die Nutzer hier merken von einem Schaden aber nicht viel: Die Daten suchen sich einfach den schnellsten Weg durch andere Kabel. +Und wenn jemandem in den Sinn käme, Kabel absichtlich zu beschädigen? + +Dieser Text istim fluter Nr. 92 "Verkehr"erschienen +Das ist schwer zu belegen: Die meisten Kabel liegen in internationalen Gewässern, also außerhalb staatlicher Hoheitsgebiete. Mit der richtigen Ausrüstung kann man hier fast unbemerkt sabotieren. Abhörskandale mit Tiefseekabeln kommen trotzdem immer wieder ans Licht. +Den bisher größten Fallenthüllte 2013 Edward Snowden: Unter dem Decknamen "Tempora" hatte der britische Geheimdienst GCHQ seit 2011 Datenkabel an der Südwestküste Englands angezapft. Weil die britischen Inseln eine Drehscheibe des globalen Datenverkehrs sind, konnten der GCHQ und der US-amerikanische Auslandsgeheimdienst NSA praktisch den kompletten Internetverkehr mitlesen. 2018 entschied der Europäische Gerichtshof, dass solche Massenüberwachungen nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar sind. +Nachdem im Herbst 2023 ein chinesisches Schiff ein Unterseekabel in der Ostsee sabotiert hatte, legte die EU-Kommission im Frühjahr Empfehlungen für ein Seekabelsystem vor, das die Daten konsequent verschlüsselt, um sie vor Abhörangriffen zu schützen. Experten rechnen damit, dass sich solche "Seabed Warfares", Kriegshandlungen am Meeresgrund, künftig häufen. Der Oberbefehlshaber der britischen Armee beispielsweise warnte unlängst vor den Tiefseeunternehmungen Russlands: Die Aktivitäten russischer U-Boote und Unterwasserdrohnen hätten "enorm zugenommen", die Sabotage von Tiefseekabeln sei dabei als Kriegshandlung zu verstehen. Das war im Januar 2022, wenige Wochen vor dem Überfall auf die Ukraine. diff --git a/fluter/tiere-stadtnatur-neukoelln.txt b/fluter/tiere-stadtnatur-neukoelln.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e1b98c85744b30df109f05267e860d4f650b7364 --- /dev/null +++ b/fluter/tiere-stadtnatur-neukoelln.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Von den 224 Friedhöfen Berlins befinden sich 23 in Neukölln. Territorien des Todes, die sich in lebendige Flower-Power-Grünflächen verwandelt haben, wo Pflanzenwachstum nicht zu englischem Rasen gestutzt wird. Allein an der Hermannstraße liegen sechs Friedhofsflächen dicht beieinander und bilden gemeinsam mit dem Anita-Berber-Park eine grüne Achsebis zum Tempelhofer Feld. Zudem lässt das Bezirksamt Neukölln derzeit auf etwa 10.000 qm Mittelstreifen Pflanzen länger wachsen und mäht nur einmal im Jahr. Dieses sogenannte Straßenbegleitgrün soll sich allmählich zur Wiesenfläche entwickeln dürfen. Das bedeutet ein größeres Nahrungsangebot für Insekten und infolgedessen ein Straßenbüfett für Vögel. +Und doch bleibt Neukölln wie jede Innenstadt ein Extremstandort. Manche Tier- und Pflanzenarten müssen sich derart stark anpassen, um hier überleben zu können, dass Forschende eine Art Zeitraffer-Evolution beobachten. Das betrifft Farbveränderungen, neue Fressgewohnheiten, Veränderungen bei Fortpflanzungsstrategien und abweichende Vogelgesänge im Kiez. Schneckenhäuschen mit hellerem Fassadenanstrich, um im Sommer nicht so leicht zu überhitzen, Vögel, die ihre Lieder in höheren Frequenzen singen, um sich in Konkurrenz zum tiefen Grummeln der motorisierten Blechtiere Gehör zu verschaffen, Motten, die anders als ihre ländlichen Artgenossen dem Reiz von künstlichen Lichtquellen widerstehen können. Und auch einige Pflanzen werden genetisch bereits zu Stadtgewächsen. + +Bei einer Verwandten des Löwenzahns zum Beispiel hat sich mancher Samen in kürzester Zeit so verändert, dass die Gleitschirmchen der Pusteblume nicht mehr möglichst weit davongeweht werden. Ist diese Fernflugstrategie im ländlichen Raum Erfolg versprechend für eine ausgedehnte Verbreitung, sichert dem Asphaltritzenbewohner in Plattenbaulage das genaue Gegenteil sein Überleben. +Dabei sind die Tiere und Pflanzen Neuköllns mehr als nur anonyme Nachbarn. Tjorven Tenambergen und Meike Borchert, Rangerinnen der "Stiftung Naturschutz Berlin", sprechen von einer "Lebensgemeinschaft". In Echtzeit können sie verfolgen, wie aus dem artenübergreifenden Zusammenleben Räume und Wege entstehen, die so von niemandem angelegt wurden. Die verschiedenen Einwohnergruppen – über 300 Wildbienenarten ebenso wie ungebändigte Hecken, Leben spendendes Totholz, aber eben auch die Menschen – leben mit- und voneinander. +Insbesondere Brachen ließen Leben zu, anstatt "es in vorgestanzte Muster hineinzupressen", sagt der Soziologe Markus Schroer. "Das bedeutet konkret, dass wir gerade in solchen Arealen auf keine fein säuberlich getrennten Lebenswelten treffen." Das Bild vom Menschen als aktivem Gestalter vor der passiven Kulisse der Umwelt – in Neukölln weicht es allmählich der Vorstellung einer großen wuchernden, krabbelnden, zwitschernden WG. + +Hinweis aus der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels hatten wir die Nager in der Bildunterschrift fälschlicherweise als"Biber"bezeichnet. Wir bitten das zu entschuldigen. + +Titelbild: Ingolf König-Jablonski / dpa / picture alliance +Dieser Text ist im fluter Nr. 88 "Neukölln" erschienen.Das ganze Heftfindet ihr hier. diff --git a/fluter/tierische-touristen.txt b/fluter/tierische-touristen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/tiger-girl-interview-jakob-lass.txt b/fluter/tiger-girl-interview-jakob-lass.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fb5ab0695d4f09d355253fde5ae30d96987f8fa8 --- /dev/null +++ b/fluter/tiger-girl-interview-jakob-lass.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +fluter.de: In Ihrem Film "Tiger Girl" streifen zwei junge Frauen durch Berlin, saufen, klauen, prügeln, und oft sind ihre Ziele männlich. Ist das jetzt eine radikale Form von Feminismus? +Der Regisseur Jakob Lass +Jakob Lass:Feministisch – das ist ein Label, das mir gefällt. Aber das setze ich mir nicht selber auf. Ich habe mit diesem Film ja keine erzieherische Agenda. Wenn, muss das jeder für sich erkennen. Und eigentlich ist es auch kein genderspezifischer Film. +Gewalt durch Frauen – das ist dennoch ein seltenes Thema, auch auf der Leinwand. +Stimmt. Ich hatte aber einfach schon diesen Titel "Tiger Girl" im Kopf und wollte eine Heldin mit diesem Namen. Aber warum keine Frauen? Für mich ist das Thema des Films unterdrückte Wut und Aggression, die im Alltag keiner zeigen würde. Und das meine ich universell, das gilt für jeden, auch für mich. Aber es ist vielleicht etwas, was Frauen noch mehr betrifft in den gesellschaftlichen Konventionen, in denen wir leben. + +Die Kritik lautet ja häufig, dass Gewalt heroisiert wird, sobald sie von Frauen ausgeht. +Das habe ich über meinen Film auch schon gehört. Und ich spiele sehr ausdrücklich damit. Die beiden Frauenfiguren werden in kurzen Momenten heroisiert. Etwa wenn Tiger Girl in der U-Bahn Vanilla rettet und diese Koks-Affen mit einem Baseballschläger verprügelt. Das ist eine Überhöhung, das ist eine Heroisierung. Für den ganzen Film gilt das aber nicht. Solche Vorwürfe kommen meist von Leuten, die den Film noch gar nicht gesehen haben. Und es ist doch komisch, dass sich diese Fragen in den vielen Actionfilmen mit männlichen Charakteren nicht stellen. Dort hat man sich wohl schon daran gewöhnt. +Ihr Film "Love Steaks" war der erste Fogma-Film der Welt. In dem von Ihnen aufgestelltenFogma-Regelwerkist zu lesen, dass es bei den Filmen um Offenheit, Wachheit und Flow geht. Auch "Tiger Girl" ist ein Fogma-Film. Wie lief das ab? +Ich gebe den Schauspielern kleine Ziele vor, die sie am Ende der Szene erreichen sollen. Ansonsten gibt es kein festes Drehbuch, die Dialoge wurden wieder frei improvisiert, ich erfinde viel. Da bringt etwa jemand, nur so aus Spaß, ein kleines ferngesteuertes Polizeiauto mit ans Set, das Tiger Girl dann später im Film plötzlich durch die Gegend fahren lässt. Dabei waren die größten Herausforderungen diesmal die Kampfsequenzen, die ja wiederum sehr genau choreografiert wurden. Die mussten so eingefügt werden, dass sie zum Rest des Films passen und sich ebenso spontan und authentisch anfühlen. Das war schwierig für die Kamera, den Schnitt und auch für die Darsteller. +Weil das Kämpfen so eine große Rolle im Film spielt und auch Sie vorhin von Aggressionen sprachen: Haben Sie schon mal daran gedacht, sich mit jemandem zu prügeln? +Eine Assoziation wären da Rechtspopulisten, jene Leute, die sich mit Fremdenfeindlichkeit an die Macht arbeiten. Aber selbst denen möchte ich keine Gewalt antun. Sondern ich möchte, dass wir Politiker haben, die denen was entgegensetzen. Gewalt hat ihren Platz in der Fiktion. Da kann man sie ausleben. Da gehört sie hin. + + + + +"Tiger Girl", Regie: Jakob Lass, mit: Maria Dragus, Ella Rumpf, Robert Gwisdek, Deutschland 2017, 90 Min. diff --git a/fluter/tiktok-musikbusiness-aylo.txt b/fluter/tiktok-musikbusiness-aylo.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8aa97276c80d69d32e388049013eba87595bf31d --- /dev/null +++ b/fluter/tiktok-musikbusiness-aylo.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Die "For You"-Seite von TikTok zeigt den User*innen Videos, durch die sie endlos weiterscrollen können. Der Algorithmus lernt dabei, was bei den einzelnen Leuten gut ankommt, und passt seine Vorschläge an. Durch dieses Prinzip konnte Aylo mit nur einem Video und anfangs ohne Follower*innen Tausende Menschen erreichen. Seitdem nimmt sie die Leute auf TikTok mit in ihrem Alltag oder promotet ihre Musik. +TikTok hat die Art, wie mit Musik interagiert wird, verändert und ist zu einem eigenen Entertainment-Format geworden. Natürlich gibt es auch Videos, in denen die Musik nebensächlich ist, aber meist ist sie der Mittelpunkt des Clips. TikTok und den Musiklabels sind gute Beziehungen zueinander wichtig: Die Plattform will ihren User*innen urheberrechtlich geschützte Songs zur Verfügung stellen; die Rechteinhaber und Verwertungsgesellschaften, dass ihre Stücke gepusht werden. Plattenfirmen ermutigen ihre Künstler*innen, sich in der App kreativ zu präsentieren, ihre Musik zu bewerben und die Beziehung zu den Fans zu pflegen. Scouts der Plattenfirmen treiben sich auf der Plattform herum und halten Ausschau – nicht immer nach großen musikalischen Talenten, manchmal reicht es schon, jung zu sein und eine große Reichweite zu haben. Dass große TikTok-Stars die Gelegenheit bekommen, professionell Musik zu veröffentlichen – teils ohne selbst am Schreiben der Songs beteiligt zu sein –, sieht Aylo jedoch kritisch: "Da geht es um Geld statt Herzblut." + +In Aylos TikTok-Kanal geht es um ihren eigenen Alltag. Komisch, dass ein beflügelnder Energydrink fast immer eine Rolle spielt … + +Für die Musikfirmen ist TikTok zum wichtigen Werbemarkt geworden, schließlich entscheidet die Community darüber, welche Songs in der wirklichen Welt zu Hits werden: "Old Town Road" von Lil Nas X war erst auf TikTok erfolgreich und hielt sich anschließend 19 Wochen auf Platz eins der Billboard-Charts, ein neuer Rekord. "Truth Hurts" von Lizzo kletterte zwei Jahre nach seinem eigentlichen Erscheinen für sieben Wochen an die Spitze. TikTok schafft es, Songs einen zweiten – oder auch einen ersten – Frühling zu bescheren. +Entscheidend für den Erfolg eines Tracks – oder besser gesagt: der 15 Sekunden davon – ist, wie "memeable" er ist. Also wie geeignet die Lyrics sind, sie pantomimisch oder tanzend zu performen – oder in Slapstick zu verwandeln. Lizzos Songzeile "I just took a DNA test, turns out I'm 100 % that bitch" war so ein perfekter 15-Sekunden-Ausschnitt und ging viral. Manchmal passiert das zufällig, manchmal ist es kalkuliertes Marketing. Es werden gezielt Hashtag-Challenges (z.B. #dubistmein zum Song von Loredana und Zuna) oder Choreografien (z.B. zu "WAP" von Cardi B und Megan Thee Stallion)eingesetzt, um einen Song groß oder noch größer zu machen. Und man kann sicher sein: Hat ein Song-Snippet erst mal eine gewisse Beliebtheit erreicht, kann er nicht mehr anders, als viral zu gehen – zumindest für eine Woche. Denn TikToker*innen orientieren sich an den angesagten Trends und Songs, um mit ihren eigenen Videos mehr Reichweite zu erlangen. Es ist ein schnelllebiger Kreislauf. Der nächste Trend lauert schon hinter dem nächsten 15-Sekunden-Clip. +Aylo kann nicht leugnen, dass der 15-Sekunden-Mechanismus sie beeinflusst: "Wenn du 'nen Track schreibst, denkst du dir: Okay, könnte das jetzt ein Meme werden?" Kommt ein neues Lied von ihr raus, animiert sie ihre Community –inzwischen über 480.000 Follower*innen–, es zu hören, zu kommentieren oder an einer Challenge teilzunehmen. +Über die Schattenseiten der gigantischen App, die zu dem milliardenschweren chinesischen Tech-Start-up ByteDance gehört, macht sie sich wenig Gedanken: Datenmassen, von denen niemand so genau weiß, was der chinesische Mutterkonzern damit macht. Die derzeitige US-Regierung hat daher große Vorbehalte gegen die App und möchte sie am liebsten verbieten. Ein weiterer Kritikpunkt: Berichte über die Proteste in Hongkong oder die andauernden schweren Menschenrechtsverletzungen an den Uiguren, die teils als Völkermord eingeordnet werden, werden von den Behörden zensiert. +Derweil kann es einen stutzig machen, dass es TikTok namentlich nicht im Mutterland China gibt – dort benutzt man stattdessen "Douyin": funktioniert genauso, ist aber vom Rest der Welt abgekoppelt. Oft werden TikToks undurchsichtige Moderationsregeln kritisiert oder dass Leute sich für Challenges immer wieder in große Gefahr begeben. Trotzdem ist die Beliebtheit der App ungebrochen.In Indien hat ByteDance inzwischen mit Resso sogar einen eigenen Musikstreamingdienst gestartet und das Unternehmen Jukedeck gekauft, das eine künstliche Intelligenz entwickelt hat, die ohne menschliches Zutun eigene Songs schreiben kann. Der Einfluss auf die Musiklandschaft scheint ausgebaut zu werden. +Für Aylo überwiegen die Vorteile: "Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich meine Musik entwickelt hätte ohne TikTok." Früher musste sie neben ihrer Ausbildung drei Nebenjobs machen, um über die Runden zu kommen. Da blieb nicht viel Zeit, um Songs zu schreiben. Durch ihren TikTok-Erfolg ist sie nicht nur zur Influencerin eines Energydrinks geworden, sondern konnte auch einen Plattenvertrag bei Universal unterschreiben. + + diff --git a/fluter/tiktok-politiker-strategien.txt b/fluter/tiktok-politiker-strategien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..85c8cfe8a929c51d566c32f17eced5fe30ce7a66 --- /dev/null +++ b/fluter/tiktok-politiker-strategien.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Der TikTok-Algorithmusgilt als besonders aggressiv, er passt sich sehr schnell an die Vorlieben der Nutzer:innen an. Macht das den Stimmenfang leichter? +Es reichen wenige Videos, und der Algorithmus weiß, was man interessant findet. Ab dann werden uns sehr viele ähnliche Inhalte ausgespielt, auch von Accounts, denen wir gar nicht folgen, und unabhängig davon, ob sie eine große Follower:innenschaft haben. Auch kleine, unbekannte Accounts können plötzlich viele Views und damit Aufmerksamkeit bekommen. Das ist der Unterschied zu anderen Social-Media-Plattformen: Politiker:innen können ihre Inhalte einfach in den Feed der Nutzer:innen bekommen. +Wenn man also fünf Katzen-Videos schaut, bekommt man ab dann nur noch Katzen-Content ausgespielt. Und ist in der Bubble. +Genau, aber so funktioniert es auch mit weniger harmlosen Inhalten wie zum Beispiel mit Hetze gegen Migration. Und damit sogar noch schneller und besser! Denn auf TikTok zieht,was skandalisiert und Emotionen hervorruft– das ist Gold für den TikTok-Algorithmus. Er lernt schnell, was viele Menschen aufwühlt, weil sie einige Sekunden länger das Video schauen oder es sogar liken. In kürzester Zeit werden Nutzer:innen auf der For-You-Page dann nur noch ähnliche Inhalte angezeigt. Sachliche und objektive Inhalte funktionieren dagegen nicht gut. +Die AfD kommt besser als alle anderen Parteien in Deutschland mit dem Algorithmus klar: Sie ist die Partei mit der stärksten Reichweite auf TikTok. +Ich habe vor dreieinhalb Jahren begonnen, eine Sammlung von politischen Accounts bei TikTokin einer Excel-Tabelle anzulegenund auszuwerten, wie viele Likes diese Accounts haben, wie viele Views, wie viele Follower:innen. Im Oktober 2023 hatten rund 65 Prozent der AfD-Abgeordneten im Bundestag einen Account. Bei anderen Parteien im Bundestag schwankte das zwischen 12 und 24 Prozent, und sie wurden auch anders als bei den AfD-Accounts oft nicht so aktiv genutzt. Unter den zehn am meisten gelikten Politiker:innen-Accounts ingesamt bei TikTok waren fünf von AfD-Politiker:innen. +Was ist ihre Erfolgsstrategie? +Ein Grund ist erst mal banal: Die AfD hat im Gegensatz zu anderen Parteien weniger Berührungsängste mit der Plattform gehabt. Es gab keine öffentliche moralische Debatte darüber, ob eine chinesische App mit kritisierten Datenschutzrichtlinien genutzt werden darf oder nicht. Entscheidend ist aber vor allem die Wesensverwandtschaft zwischen TikTok und Populismus: Das, was die AfD in ihrer politischen Kommunikation oft macht – nämlich zuspitzen, polarisieren, andere abwerten und ganz starke Emotionen bei heiklen Themen triggern –, funktioniert bei TikTok besonders gut, weil der Algorithmus genau darauf anspringt. Fester Bestandteil der Kommunikation ist es zum Beispiel, dass grüne Politiker:innen, aber auch die Partei frontal angegriffen wird, teilweise auch sehr persönlich und unter der Gürtellinie. +Mal andersherum gefragt: Was machen andere Parteien falsch? +Bei meiner Auswertung habe ich festgestellt, dass Politiker:innen anderer Parteien zuerst auf Klamauk gesetzt haben. Sie dachten, das ist eine Unterhaltungsplattform, deshalb machen wir Tänze und Lip-Sync-Battles. Dabei sind die Inhalte hinten runtergefallen. Wenn sie sich dann doch an Sachthemen gewagt haben, dann meistens belehrend und emotionslos. Bei AfD-Accounts beobachte ich die Tendenz, Nutzer:innen zwar inhaltlich anzusprechen, aber dabei auch sehr emotional zu sein. Es werden Themen bespielt, die aufregen und Angst machen:die Inflation und steigende Preise, das Heizungsgesetz, Geflüchtete, die nach Deutschland kommen. +Sie sind selbst Politikberater für digitale Kommunikation. Haben Sie Tipps, wie man auch ohne populistische Inhalte auf TikTok erfolgreich sein kann? +Einfach einen Account anzumelden, weil jetzt alle zu TikTok gehen, reicht nicht. Es braucht konkrete Inhalte, um Ängste von Menschen abzufangen – und es braucht Emotionen. Ich will von demokratischen Akteuren keinenPopulismussehen, aber eine Aufladung durch positive Emotionen ist sehr wichtig – zum Beispiel ein Blick nach vorne, Optimismus, gute Ideen, etwa wie dem Klimawandel begegnet werden kann. +Und abgesehen von den Inhalten? +Eine gute Dramaturgie ist wichtig: Videos müssen in den ersten Sekunden reinziehen, ein aufregendes Vorschaubild haben, sich von anderen Parteien abgrenzen und Lösungsansätze nennen. Außerdem sind Videos mit vielen Schnitten erfolgreicher, also nicht nur eine monotone Rede, sondern auch Schnipsel aus Fraktionssitzungen, Interviews oder Nachrichtenbeiträgen. Die Gruppenvorsitzende der Linken im Bundestag, Heidi Reichinnek, macht das zum Beispiel sehr professionell. Sie hat es geschafft, eine eigene Dramaturgie zu entwickeln, indem sie am Ende jedes Videos einen Loop einbaut, sodass man es immer wieder von vorne gucken kann. Insgesamt habe ich in den letzten Wochen beobachtet, dass von Bundes- und Landtagsabgeordneten anderer Parteien oder aus den Fraktionen neue Accounts dazukamen, die so etwas bereits extrem gut umsetzen. +TikTok-Videos können zwischen 15 Sekunden und drei Minuten lang sein. Kann man in so kurzer Zeit überhaupt ein ganzes Wahlprogramm vermitteln? +Es gibt gegenüber TikTok einen Kulturpessimismus, den ich nicht teile. Wahlprogramme lesen sich die meisten gar nicht durch, auch in klassischen Medien werden daraus immer nur Aspekte aufbereitet und Politiker:innen nur mit einem Satz in der "Tagesschau" zitiert. Auf TikTok haben Politiker:innen eine bis drei Minuten, aktuell werden schon 60 Minuten getestet. Außerdem kann man mehrere Videos am Tag hochladen.Die JIM-Studie, die jährlich das Medienverhalten von Jugendlichen untersucht, hat 2023 gezeigt, dass 65 Prozent der befragten jungen Menschen am Weltgeschehen interessiert sind. 30 Prozent informieren sich über TikTtok, nur noch 15 Prozent über die gedruckte Zeitung. Junge Menschen wollen schon etwas über Politik wissen, nur die Infokanäle ändern sich eben. + +Illustration: Alexander Glandien diff --git a/fluter/tiny-houses-wie-viel-platz-brauchen-wir-zum-wohnen.txt b/fluter/tiny-houses-wie-viel-platz-brauchen-wir-zum-wohnen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6f81ca42649731396f0bbe3c563cabc2674ac95e --- /dev/null +++ b/fluter/tiny-houses-wie-viel-platz-brauchen-wir-zum-wohnen.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Diese Erfahrung hat auch Krenzlin gemacht: "Bei dem wenigen Stauraum bin ich gezwungen, mich einzuschränken. Ich habe nur drei Hosen, mehr brauche ich nicht, und für mehr ist kein Platz." Für viele, die ein Tiny House besitzen, bedeutet der Minimalismus gleichzeitig auch ökologische Nachhaltigkeit. Wer wenig Raum bewohnt, verbraucht nicht nur weniger Rohstoffe beim Bauen, sondern muss auch weniger heizen und benötigt weniger Strom. In Deutschland entfallen etwa 35 Prozent des Energieverbrauchs der privaten Haushalte auf den Lebensbereich Wohnen. Beinahe gleich stark ist der Prozentsatz an CO₂-Emissionen – der Großteil davon entsteht beim Heizen. +Sind Tiny Houses also die Lösung für umweltbewusstes Wohnen? Dieser Frage ist die US-Forscherin Maria Saxton nachgegangen und hat dafür 80 Personen befragt, die seit mindestens zwölf Monaten ein Tiny House bewohnen. Das Ergebnis: Das Leben im kleinen Haus verringerte den ökologischen Fußabdruck der Befragten im Durchschnitt um 45 Prozent. "Ich habe festgestellt, dass die Menschen nach der Verkleinerung dazu neigen, weniger energieintensive Nahrungsmittel zu essen und umweltbewusstere Essgewohnheiten anzunehmen", so die Wissenschaftlerin. Zudem fuhren die Teilnehmenden weniger Auto und produzierten weniger Müll. + +Küche, Bett, Bad: Im Tiny House ist alles vorhanden + +Trotzdem sind nicht zwangsläufig alle kleinen Häuser nachhaltig. Werden sie etwa mit schlechter Dämmung gebaut, können auch sie viel Energie verbrauchen. Und dennoch regen Tiny Houses zum Nachdenken über umweltfreundliches Wohnen an. "Die kritische Auseinandersetzung damit, wie viel Fläche zum Wohnen überhaupt notwendig ist, ist wichtig und richtig", sagt Christine Lemaitre von der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bau-en (DGNB). +Für Familien oder Menschen in Rente ist das Leben auf engstem Raum eher keine Option. Tiny Houses seien somit nur ein Baustein von vielen, um nachhaltiges Wohnen zu gestalten. "Sie eignen sich zur Aufstockung oder in Bereichen, wo aktuell keine Wohnungen existieren", ergänzt Lemaitre. Derzeit erschweren baurechtliche Regelungen, dass jemand dauerhaft in einem Tiny House leben darf. Auch Madeleine Krenzlin darf nicht permanent in ihrem Haus wohnen. Für sie eine unbefriedigende Situation. +In erster Linie bedeutet nachhaltig wohnen Energie einzusparen. Diesem Grundsatz haben sich "Passivhäuser" verschrieben, die so gebaut und ausgerichtet sind, dass neben einer guten Dämmung passive Quellen wie Sonneneinstrahlung, Abwärme von Haushaltsgeräten und Körperwärme ausreichen, um eine angenehme Temperatur zu erzeugen, und somit keine klassische Heizung benötigt wird. +Viele basieren zusätzlich auf dem "Low-Tech"-Prinzip, also der Beschränkung auf unbedingt notwendige Komponenten der Gebäudetechnik, die sich einfach warten und unterhalten lassen und beispielsweise Klimaanlagen überflüssig machen. Als Vorbild gilt etwa die neue Firmenzentrale einer Biolebensmittelkette in Darmstadt: Das Gebäude ist fast vollständig aus Lehm und Holz errichtet worden, Wärmespiralen in der Lehmfassade dienen als Heizung. Zur Stromgewinnung ist auf dem Dach eine Fotovoltaikanlage installiert worden, und eine Pumpe reguliert die aus der Erde gewonnene Wärme und somit die Temperatur. +Laut Lemaitre sei nachhaltige Stadtentwicklung immer auch eine Mischung von Baustilen und Technologien. In der Zukunft bräuchte es zudem Wohnformen, die relativ schnell umgenutzt werden könnten: die man also ohne viel Aufwand verkleinern oder vergrößern könne. Madeleine Krenzlin hat es nicht bereut, sich ihren Traum vom Tiny House ermöglicht zu haben: "Für mich bedeutet wenig Wohnraum auch die Freiheit, mehr Zeit und Geld für Menschen und Erlebnisse zu haben, die mir wichtiger sind als Wohnfläche." Als Nächstes plant sie, eine Terrasse für ihr Zuhause zu bauen. + +Fotos: Lisa Santos diff --git a/fluter/tipps-corona-leugnern-begegnen.txt b/fluter/tipps-corona-leugnern-begegnen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..40f1c9e1e48c8b6a0f79ca3608d0360b8af80478 --- /dev/null +++ b/fluter/tipps-corona-leugnern-begegnen.txt @@ -0,0 +1,32 @@ +"Dinge zu hinterfragen ist für eine informierte Entscheidungsfindung wesentlich. Ich würde erstmal die Gefühlswelt des Gegenübers verstehen und anerkennen: ‚Wie kommst du zu dem Schluss, dass die Impfung nicht sicher ist?' Erst bei solchen offenen Fragen bringt der andere sich ein. Wenn er dann von dieser Webseite und jenem Telegram-Channel erzählt, würde ich sagen: ‚Stimmt, hätte ich diese Informationen gelesen, wäre ich zum selben Schluss gekommen.' Danach würde ich anbieten, meine Sicht mit ihm zu teilen, und auch betonen, dass die Impfung am Ende eine freie Entscheidung ist. +Oft sagenImpfskeptiker, dass sie sich erst impfen lassen, wenn der Impfstoff zu 100 Prozent sicher ist. Dieses Argument kann man auf zwei Arten widerlegen. Inhaltlich: Das Risiko der Krankheit ist deutlich höher als das Risiko einer Impfung. Rhetorisch: Hier wird eine unmögliche Erwartung gestellt, da kein medizinisches Mittel, ob Herz-OP oder Schmerzmittel, jemals absolute Sicherheit garantiert. +Viele Menschen haben Angst, weil der Zulassungsprozess so schnell abläuft. Das stimmt, aber er wurde eben nurbeschleunigt, indem man administrative Prozesse abgekürzt hat. Die vielen Sicherheitstests sind davon jedoch nicht betroffen. Das Zulassungsverfahren für Impfstoffe in der EU ist zwar sehr kompliziert, aber eben auch: sehr sicher. +Oft hört man jetzt das Argument, dass zum ersten Mal ganz neuartige gentechnische Impfstoffe zugelassen werden. Doch schon seit 25 Jahren beschäftigen sich Forscher damit. Die neuen Impfstoffe verwenden die sogenannte Messenger-RNA (mRNA). Diese enthält Baupläne für Proteine, die der Zelle sagen, welche Antikörper sie herstellen muss, um sich gegen die SARS-CoV-2-Viren zu wappnen. Manche Menschen fürchten, dass der mRNA-Impfstoff auch die DNA, das Genom des Menschen, verändern kann – aber das ist chemisch unmöglich.Dieses Videozeigt es noch mal etwas anschaulicher. Ich denke, es ist beim Jahrhundertereignis Pandemie wichtig, dass möglichst viele Menschen sich eingehend informieren und früh über ihre Ängste und Unsicherheiten mit anderen sprechen. Kommunikation ist die beste Impfung gegen Impfskepsis." +Dr. Philipp Schmid forscht an der Uni Erfurt zu Impfgegnern, Wissenschaftsleugnern und der Bekämpfung von Falschinformationen. Wie Letzteres geht, hat er zusammen mit Kollegen in einem Online-Handbuchalltagstauglich aufgeschrieben. + + +Psychoanalytiker Prof. Dr. Ulrich Schultz-Venrath: +"Das ist eine Aussage voller Resignation und auch versteckter Aggression. Argumentieren oder Schuldzuweisungen sind in dem Fall eher kontraproduktiv. Erkenne zunächst die Not des Gegenübers an und drücke dein Mitgefühl aus. ‚Das macht mich traurig zu hören. Ich kann dich verstehen', so könnte die erste Reaktion lauten, gefolgt von einer Gegenfrage, die das Gegenüber zum Perspektivwechsel anregt. Das ist ein klassisches Werkzeug des Therapeuten. Ich würde also fragen: ,Was würdest du mir antworten, wenn ich so etwas sagen würde?' Aber unterm Weihnachtsbaum wird natürlich in den meisten Fällen keine professionelle Therapiesitzung beginnen. Man sollte sich und dem Gegenüber vor Augen führen: Die physische Nähe mit anderen ist schön – sie ist aber nicht notwendigerweise eine Voraussetzung für die Qualität unserer Beziehungen. Lässt sich das Gegenüber ermuntern, den Kontakt mit anderen wieder aufzunehmen und auch mal neue Kommunikationswege zu gehen, die mental zusammenbringen,ist das ein Stupser in die richtige Richtung." +Prof. Dr. Ulrich Schultz-Venrath kennt die pandemiebedingten Nöte vieler Menschen aus seiner täglichen psychoanalytischen Praxis in Köln. + + +Jurist Dr. Ulf Buermeyer: +"Eine Diktatur ist eine Regierungsform, in der Entscheidungen nicht vom Volk abhängen. Das ist in Deutschland nicht der Fall: Die Corona-Verordnungen stammen von den 16 Landesregierungen, und jede einzelne wurde gewählt. In manchen Bundesländern entscheiden sogar unmittelbar die Landtage über die Verordnungen. +Der neue Paragraf 28 a des Infektionsschutzgesetzes liefert einen Baukasten mit Maßnahmen – etwa eine Maskenpflicht –, die Bundestag und Bundesrat vorgeben, um die Pandemie zu bekämpfen. Wenn wir sie hinter uns haben, darf der Maßnahmenkatalog nicht mehr verwendet werden. +Ganz wichtig: Der Baukasten selbst schränkt unsere Grundrechte nicht ein. Das tun erst die Länder, wenn sie sich daraus bedienen. Ist es verhältnismäßig, in der U-Bahn in Berlin eine Maskenpflicht einzuführen? Wenn ja, darf die Regel für vier Wochen gelten. Danach muss neu überprüft werden, ob sie angemessen ist – zum Beispiel vom Bundesverfassungsgericht. Bei dem kann jede*r Bürger*in Beschwerde gegen bestimmte Maßnahmen einlegen. Wie sich eine Maßnahme konkret auf den Pandemieverlauf auswirkt, weiß niemand so genau. Aber man kann eine Prognose abgeben, beobachten und nachsteuern. Um solche Abwägungsentscheidungen zu treffen, wählen wir Politiker*innen. +In Deutschland haben wir eine Art kapitalistische Grundentscheidung getroffen: Die Wirtschaft soll weiterlaufen. Theater, Kinos etc. werden geschlossen – dafür bleiben die Schulen zunächst lange offen, sodass Eltern arbeiten gehen und Steuern zahlen können. Damit können dann wiederum Kultureinrichtungen, Musiker*innen und Künstler*innen subventioniert werden." +Dr. Ulf Buermeyer war einige Jahre als Richter in Berlin tätig, hostet den Podcast "Lage der Nation" und ist Vorsitzender der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. (GFF). Irgendwann hat er auch mal ägyptische Hieroglyphen studiert. + + +Virologin Prof. Dr. Helga Rübsamen-Schaeff: +"Wer die Grippe hinter sich hat, steht in den meisten Fällen aus dem Bett auf, ist vielleicht noch ein paar Tage schlapp, hat es dann aber hinter sich. Bei Covid-19 ist das nicht so. DieInfluenzaviren, die die Grippe verursachen, greifen vor allem die Atemwege an; das Coronavirus kann jedoch alle Organe schädigen und die Blutgerinnung verändern, sodass gefährliche Thrombosen entstehen. Wir wissen noch wenig über das Virus, sicher ist aber: Es führt zu vielfachen und stärkeren Spätfolgen wie Müdigkeit oder Atemnot, die noch mehr als 60 Tage nach den ersten Symptomen zu spüren sind. +In der Grippesaison vor drei Jahren starben in Deutschland schätzungsweise 25.000 Menschen, ein trauriger Rekord. Laborbestätigt sind davon jedoch laut RKI nur etwa 1.600. Der Vergleich mit den Corona-Todesfällen hinkt daher. Deutschland hat bereits mehr als 24.000Corona-Tote, alle waren positiv auf das Virus getestet, zu beklagen – und wir stehen erst am Anfang des Winters. Weltweit werden jährlich bis zu 645.000 Grippetote geschätzt, bei Corona gibt es jetzt schon über 1,6 Millionen bestätigte Todesfälle seit Anfang dieses Jahres. Würden wir dem SARS-CoV-2-Virus so begegnen wie den Influenzaviren in einer Grippesaison – ohne Mundschutz, Lüften oder Kontaktbeschränkungen: Ich mag mir nicht vorstellen, in welcher Lage wir uns jetzt befänden." +Helga Rübsamen-Schaeff ist Professorin für Virologie und Biochemie an der Uni Frankfurt/Main und Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. + + +Journalist Stephan Anpalagan: +"Wer so in Rage ist, dass er den Kampfbegriff Mainstreampresse benutzt, braucht vielleicht mal frische Luft. ‚Komm, Onkel Willi', würde ich sagen, ‚wir spazieren zum Kiosk und du zeigst mir die Mainstreammedien.' Da wird's zwischen ‚Taz' und ‚Spiegel', ‚Focus' und ‚Bild' spannend: Ist der ‚Spiegel' Mainstream? Dann lohnt es, einen aufzuschlagen. Eine Grundskepsis gegenüber Medien finde ich gut und wichtig. Aber dann sollte Onkel Willi auch konkret rausrücken, was da falsch oder gar nicht geschrieben wird. Klar macht der ‚Spiegel' Fehler. Aber ich habe meine Zweifel, dass Willi einen nennenswerten Teil des ‚Spiegel' widerlegen kann. Weiter im Kiosk: Die ‚Bild' wird als meistgelesene Zeitung des Landes ja wohl ein Mainstreamtitel sein? Warum berichtet sie dann völlig anders als der ‚Spiegel'? Wir sehen: In der Detailansicht wackelt der Begriff ‚Mainstreampresse'. Deutsche Medien sind frei und vielfältig bis zur Schmerzgrenze, für die Erkenntnis reicht schon der Besuch in diesem einen Kiosk. +Vielen Willis dürfte das aber ohnehin gleich sein. Ihnen geht es seltener um Meinungsvielfalt oder journalistische Qualität als um ihr Sendungsbewusstsein und die Opferrolle inmitten all der ‚Schlafschafe', die an Drostens Lippen hängen. Man glaubt einem veganen Kochbuchautor ja nicht von heute auf morgen eher als einem Virologen der Charité. Das ist ein Prozess, der tief in einen informationellen Kaninchenbau führt und an dessen Ende man alseiner der wenigen vermeintlichen Selber- und Querdenker wieder auftaucht. +Darauf kann man sich einlassen: ‚Willi, ich weiß vieles nicht, und vor allem bin ich kein Virologe. Ichdenke aber nach und höre zu. Lass uns reden.' Wenn man dann mit wissenschaftlichen Erkenntnissen argumentiert, die so gut wie jeder Wissenschaftler weltweit als wahr anerkennt, Willi aber auf Attila Hildmanns Telegram-Channel als ernst zu nehmender Informationsquelle beharrt, kann man auch einfach mal sagen: ‚Entschuldige, aber da kommen wir nicht zusammen.'" +Stephan Anpalagan schreibt Kolumnen, Texte und Posts, die die Reichweite vieler etablierter Medien toppen. Er hat Theologie studiert, kennt sich mit "gottgleichen" Figuren wie Christian Drosten also aus. + diff --git a/fluter/tipps-wie-man-seine-daten-schuetzt.txt b/fluter/tipps-wie-man-seine-daten-schuetzt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b88fc5408930175caa72b133da0fed80761c9842 --- /dev/null +++ b/fluter/tipps-wie-man-seine-daten-schuetzt.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Gesichtserkennung kann den Unterschied zwischen einem Leben in Freiheit oder einer Gefängnisstrafe machen, wie bei den regierungskritischen Demonstranten in Moskau, deren Identität durch Videoüberwachung und ein System zur Gesichtserkennung festgestellt werden kann. Eine Möglichkeit, unterzutauchen, besteht nicht etwa darin, hinter einem möglichst unauffälligen Aussehen zu verschwinden, sondern im Gegenteil mit speziellen auffälligen Frisuren und Gesichtsbemalungen die Gesichtserkennungssysteme in die Irre zu führen. Dabei werden Schwachpunkte der Algorithmen, die beispielsweise nach Symmetrie suchen, ausgenutzt. Noch einfacher funktioniert die Tarnung mithilfe eines T-Shirts, das mit einem "Hyperface"-Muster bedruckt ist. Eine Gesichtserkennungssoftware soll durch die vielen gesichtsähnlichen Abbildungen überfordert und vom eigentlichen Gesicht abgelenkt werden. Das funktioniert im Moment aber nur bei einem bestimmten Algorithmus. Der Wettlauf zwischen Software und Verkleidung geht also weiter. +Wer es im Internet nicht so eilig hat und lieber seine Privatsphäre schützen will, kann den Tor-Browser verwenden. "Die Software leitet den eigenen Internetverkehr verschlüsselt durch ein zwiebelartiges Netzwerk an Servern und verhindert damit, dass irgendwer die eigenen Schritte nachverfolgen kann", schreibt die Website netzpolitik.org dazu. So bekommt man zum Beispiel weniger Werbung und Mails von Internetprovidern. In autoritären Staaten wird Tor genutzt, um die Zensur zu umgehen. +Wenn Nachrichten verschlüsselt sind, können sie nicht ohne Weiteres mitgelesen werden. Der Inhalt von Nachrichten ist dann geheim, aber die sogenannten Metadaten werden weiter vom Anbieter gespeichert. Metadaten sind zum Beispiel Informationen darüber, wer eine Nachricht wann und wo an wen verschickt und ob es sich dabei um einen Text, ein Bild oder eine Sprachnachricht handelt. Weil diese Daten sensibler als der eigentliche Inhalt sein können, solltest du einen datenschutzfreundlichen Messenger wie "Signal" oder "Threema" nutzen, deren Geschäftsmodell nicht auf Kundendaten basiert. Sie sammeln nur so wenige Metadaten wie nötig. diff --git a/fluter/tonle-sap-kambodscha.txt b/fluter/tonle-sap-kambodscha.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f9197994d26f20fb639a85bcb22653bf3da845a0 --- /dev/null +++ b/fluter/tonle-sap-kambodscha.txt @@ -0,0 +1,30 @@ +Der Tonle Sap ist einer der fisch- und artenreichsten Seen der Welt. Er ist Lebensraum und Nahrungsquelle für viele Menschen, die wie Cheang dort in den schwimmenden Häusern wohnen, und viele weitere. Nach Angaben der World Conservation Society Cambodia decken die Tiere aus dem Tonle Sap 60 Prozent des Eiweißbedarfs der kambodschanischen Bevölkerung. + + +Trotz seiner Bedeutung ist der Tonle Sap durch Klimawandel, Umweltzerstörung und den Bau von Staudämmen bedroht. Das rasante Bevölkerungswachstum des Landes fördert zudem die Überfischung und die illegale Fischerei, was wiederum die Artenvielfalt des Sees gefährdet. Gibt es noch Hoffnung für die Bewohner des Tonle Sap? +"Der Fang heute war schlecht", sagt Cheang und nimmt einen Fisch, kaum größer als seine Handfläche, aus seinem Korb. Mit dem Finger deutet er auf die Länge seines Unterarms. "Früher waren die Fische so groß." Das Leben hier draußen, sagt Cheang, sei noch nie einfach gewesen, aber in den vergangenen Jahren werde es immer beschwerlicher. +Wer die Probleme auf dem Tonle Sap verstehen möchte, muss flussaufwärts blicken. Insgesamt elf große Staudämme hat China seit den Neunzigerjahren entlang des Mekong gebaut, um Energie zu erzeugen. Zwei weiterewurden im Nachbarland Laos errichtet, noch mehr sind geplant. +In Südostasien (aber auch international) baut China seinen Einflussdurch die sogenannte Neue Seidenstraße kontinuierlich aus. China investiert dabei massiv in Infrastruktur, in Häfen, Straßen und Eisenbahnlinien, und bringt die Länder der Region durch Kredite in eine wirtschaftliche und politische Abhängigkeit. +Während die EU Kambodscha den Zugang zum zollfreien Markt 2020 wegen Menschenrechtsverstößen entzog, investierte China weiter in das südostasiatische Land. Inzwischen ist China der größte ausländische Investor in Kambodscha und der wichtigste Handelspartner des Landes. Als ein wichtiger Teil der Neuen Seidenstraße unterhält China an der Küste Kambodschas die Dara Sakor Special Economic Zone, eine rund 450 Quadratkilometer große Sonderwirtschaftszone, die es für maximal 99 Jahre gepachtet hat. Neben dem bereits fertiggestellten internationalen Flughafen sind dort ein Tiefseehafen, Luxusresorts und ein Industriepark geplant – alles auf dem Gebiet des Botum-Sakor-Nationalparks. Die USA vermuten, dass China die Infrastruktur militärisch nutzen könnte, und verhängten Sanktionen gegen das Unternehmen. +Auch in anderen Teilen Südostasiens baut China seinen Einfluss aus: In Laos finanzierte China zum Beispiel jüngst eine Bahnlinie für rund sechs Milliarden US-Dollar. Der Bau erfolgt durch ein Gemeinschaftsunternehmen, an dem chinesische Staatsfirmen 70 Prozent und der laotische Staat einen Anteil von 30 Prozent halten. Laos muss für Kredite rund 1,9 Milliarden US-Dollar plus Zinsen an die chinesischen Gläubiger zurückzahlen – bei einem Bruttoinlandsprodukt von lediglich rund 15 Milliarden Dollar eine enorme Schuldenlast. +Das Problem: Die Staudämme beeinflussen das Ökosystem flussabwärts – und schaffen Abhängigkeiten. Schätzungsweise 47 Milliarden Kubikmeter beträgt das Gesamtvolumen, das die größten Staudämme zurückhalten. Das ist fast so viel wie die Wassermenge des gesamten Bodensees. Viel Wasser, das sich als Druckmittel gegenüber dem kambodschanischen Staat einsetzen lässt. + + +Außerdem beeinflussen die Staudämme den saisonalen Wasserzyklus in der Region: Über den mehr als 100 Kilometer langen Tonle-Sap-Fluss ist der gleichnamige See mit dem Mekong verbunden. Während der Regenzeit steigt der Pegel des Mekong so stark an, dass das Mekong-Wasser rückwärts den Tonle-Sap-Fluss hochfließt, den See um das Vier- bis Fünffache anschwellen und über die Ufer treten lässt. Die Staudämme verkleinern die Überschwemmungsgebiete und verschieben den Zeitpunkt der Rückflüsse. Dadurch gelangen weniger Nährstoffe in die landwirtschaftlich genutzten Uferregionen. Zusätzlich  blockieren die Dämme die Wanderung von Fischen, die nun nicht mehr ungehindert ihre Laichgebiete erreichen. +Auch der Klimawandel setzt dem empfindlichen Ökosystem des Tonle Sap zu. Längere Trockenperioden ändern den Überflutungszyklus, die Wassermengen und Niederschläge verringern sich und haben Einfluss auf die Verteilung der Sedimente und die Wanderung der Fische. Auch Stürme und Waldbrände in den Schwemmwäldern am Ufer während der Trockenzeit nehmen zu und erschweren den Menschen in der Region das Leben. + + +Neben der Hütte von Mean Cheang sitzt Kheng Phanna, ein Junge mit schwarzen Locken und feinen Barthaaren, auf der Veranda eines Gebäudes mit löchrigem Dach, das dem Dorf als Schulhaus dient. Der 16-Jährige ist, wie auch Cheang, auf dem Tonle Sap geboren. Bereits als Elfjähriger half er seinen Eltern beim Fischen. Nachts sammelte er Wasserschnecken, die bei Einbruch der Dunkelheit an die Oberfläche trieben, tagsüber ging er in die Schule. Bis er 14 Jahre alt wurde. +Dann, vor zwei Jahren, erzählt Phanna, habe die Familie vom Fischfang allein nicht mehr leben können. Er sei in die kambodschanische Hauptstadt Phnom Penh gezogen, um auf einer Baustelle Geld zu verdienen. Seine Tante habe ihm den Job besorgt. Sechs Tage die Woche arbeitete er. 8,50 US-Dollar habe er mit dem Schleppen von Steinen verdient – pro Tag. +Die Arbeit zerstörte seinen Rücken. Seine Mutter habe sich um seine Gesundheit gesorgt, er zog zurück auf den See. Angst bereiten ihm neben dem Mangel an Fischen die Stürme und Trockenperioden, die immer heftiger werden. Wie lange er auf dem See bleiben kann, wisse er nicht. Vielleicht muss er bereits in einem Monat, mit Beginn der Trockenzeit, wieder nach Phnom Penh, zurück auf die Baustelle, damit seine Familie überleben kann. + + +Zwei Stunden Bootsfahrt und eine Autostunde von Phannas und Cheangs Dorf entfernt steht Thay Sokhim, 23 Jahre alt, in einem Raum voller Plastikkisten und packt Medikamente, Infusionsnadeln und Verbandsmaterial zusammen. Es sind Vorbereitungen für ihre nächste Versorgungstour. +Sokhim ist Krankenschwester bei The Lake Clinic Cambodia (TLC), einer Nichtregierungsorganisation, die sich um die Gesundheit der Menschen auf dem Tonle Sap kümmert. Mehrere schwimmende Hütten und Boote dienen ihnen als Kliniken auf dem See. Auf dem Wasser gibt es kaum staatliche medizinische Hilfe, und die Fahrt in die öffentlichen Krankenhäuser am Ufer ist für viele Seebewohner unbezahlbar. +Sokhim stammt selbst aus einem schwimmenden Dorf. Nach der siebten Klasse zog sie aufs Festland, besuchte eine weiterführende Schule, absolvierte eine Ausbildung zur Krankenschwester und studiert inzwischen berufsbegleitend Biologie. Nach dem Studium, sagt Sokhim, wolle sie auf den See zurückkehren und den Menschen auf andere Art helfen: mit Bildung. +"Ohne Bildung verstehen die Menschen nicht, wie ihre Situation mit dem Klimawandel und den Dämmen zusammenhängt, und können keine Auswege und Lösungen finden", sagt Thay Sokhim. Viele können sich eine höhere Bildung nicht leisten. Aus ihrem Dorf haben es nur zwei, sie und eine Freundin, an eine Universität geschafft. Deshalb, sagt Sokhim, möchte sie das Wissen, das sie erlernt hat, zurückbringen. + + +In einem Büro über dem Lager sitzt Jon F. Morgan. Er ist der Gründer von The Lake Clinic Cambodia. "Die Hitze ist ungewöhnlich für diese Jahreszeit", sagt er und dreht den Ventilator eine Stufe höher. "Eigentlich sollte es erst in sechs Wochen so heiß sein." Mitte der 90er-Jahre zog der US-Amerikaner nach Kambodscha und gründete 2007 die TLC. Seitdem kennt er das Leben auf dem See – und sieht, wie es sich verändert. "Wir beobachteneine Zunahme von Alkoholmissbrauch,häuslicher Gewalt und Verzweiflung." +Doch einfach aufs Land zu ziehen, sei für viele Seebewohner keine Lösung. "Auf dem See können die Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen, arbeiten, sich ernähren. Was können sie hier auf dem Land tun, außer auf einer Baustelle Steine schleppen?", fragt Morgan. Auch müsse man sich auf dem Land ein Haus oder eine Wohnung kaufen, dafür fehle vielen Seebewohnern die finanzielle Grundlage. Bisher hat sich unter den Seebewohnern kaum Protest formiert. Nur wenige wissen überhaupt von den Staudämmen. +Der Staat versucht mit dem Errichten von Schutzgebieten an den Uferzonen und strikteren Fischereigesetzen die Biodiversität und das Leben im und am Tonle Sap zu schützen. Um das Leid auf dem See zu mindern und die Auswirkungen des Klimawandels abzufedern, so Morgan, müsste jedoch der Durchfluss des Mekong am Oberlauf, dort, wo die Staudämme sind, verbessert werden. Dass das passieren wird und es noch Hoffnung gibt für die Seebewohner, glaubt Morgan nicht. Kurz bleibt er still, dann sagt er: "Ich habe dem See in den letzten 30 Jahren beim Leben zugesehen. Ich fürchte, die letzten Jahre meines Lebens werde ich damit verbringen, ihm beim Sterben zuzusehen." diff --git a/fluter/top-boy-rezension.txt b/fluter/top-boy-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0e6be5fb45002825f8c2070e5b8edce84d50cbf3 --- /dev/null +++ b/fluter/top-boy-rezension.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Einer dieser leidenschaftlichen Fans ist der Rapper Drake. Der kanadische Superstar hat ein ausgeprägtes Faible für urbane Kultur aus Großbritannien. Nachdem er von der Absetzung erfuhr, überzeugte er prompt Netflix, die Rechte zu kaufen. Nun geht die Serie nach sechs Jahren weiter. + +Die Handlung setzt einige Jahre nach der letzten Staffel ein: Dushane kehrt aus dem jamaikanischen Exil heim, um das Drogengeschäft im Viertel wieder an sich zu reißen. Dabei soll ihm der frisch aus der Haft entlassene Sully helfen. Nur steht ihnen jetzt der junge Jaime im Weg, und der ist nicht einfach einzuordnen: einerseits ein skrupelloser Gangster, der fürs Geschäft über Leichen geht, andererseits Vaterfigur für seine verwaisten Brüder, die er liebevoll umsorgt. +Mit wenigen Ausnahmen spielen die Hauptcharaktere äußerst überzeugend, die Dialoge sind nach wie vor authentisch. Schon wegen des Londoner Slangs lohnt es sich, die Serie im Original zu schauen. Wie die Stammbesetzung stammen auch die neuen Darsteller aus dem porträtierten Milieu, beispielsweise die Rapper Dave und Little Simz. Überragend spielt Grime-Legende Kano. Obwohl sein Charakter Sully durch extreme Brutalität auffällt, schafft er es, ihm unheimliche Tiefe und Verletzlichkeit zu verleihen. Dafür muss er nicht einmal reden, ein Blick in sein von Konflikten und Schmerz gezeichnetes Gesicht reicht. +Trauriger Rekord: London ist dieSäureangriff-Hauptstadtder westlichen Welt. 472 solcher Fälle gab es dort allein 2017. Im Gegensatz zu anderen Ländern trifft es in Großbritannien vor allem junge Männer. +Die Szenen, in denen man etwas über die Probleme der britischen Gesellschaft lernen könnte, sind leider nicht mehr so elegant in die Geschichte eingeflochten und wirken wie das Abarbeiten einer Checkliste:Brexit: Check!"Windrush"-Generation: Check!Gentrifizierung, Rassismus: Check! Diese Themen werden angeschnitten, aber dann nicht weiterverfolgt. Lediglich das Problemvermehrter Säureattacken in Londonist gut in die Geschichte integriert. Das zeigt klar, wo der Fokus der neuen Staffel liegt. +Das, was an der Serie bemerkenswert war, nämlich dass neben den Gangstergeschichten auch aus der Perspektive vieler Bewohner der Siedlung erzählt wird, vernachlässigt die dritte Staffel. Spannend bleibt die Serie, nur ist sie jetzt eher ein Hollywood-Gangstermärchen. Wirklich zu empfehlen ist dagegen die erste Staffel, die nun ebenfalls bei Netflix unter dem Namen "Top Boy Summerhouse" zu sehen ist. Die wäre vielleicht auch der bessere Einstieg für Premier Boris Johnson. + + diff --git a/fluter/tor-zu-afrika.txt b/fluter/tor-zu-afrika.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..40797b0a3d66cb095d4b6f28d30d5d65b8424eab --- /dev/null +++ b/fluter/tor-zu-afrika.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Die Einwanderungspolitik in Frankreich ist in den vergangenen Jahren immer restriktiver geworden. Im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf wettert nicht nur Marine Le Pen, Vorsitzende der rechtsextremen Partei Front National, gegen Migranten und besonders gegen Muslime. Auch der amtierende Präsident Nicolas Sarkozy, selbst Sohn von Einwanderern, stellt die Immigration als Gefahr für die französische Identität dar. +Dabei hat Frankreich eine lange Geschichte als Einwanderungsland. Zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg verzeichnete es zusammen mit den USA sogar weltweit die meisten Immigranten. Anders als Deutschland, das sich bis vor wenigen Jahren noch nicht einmal offiziell zum Einwanderungsland bekennen wollte, wurde in Paris bereits 1889 ein Gesetz verabschiedet, das alle in Frankreich geborenen Menschen zu französischen Staatsbürgern macht – und das bis heute gilt. + +In Marseille liegt der Ausländeranteil zwar heute unter zehn Prozent, aber viele eingebürgerte Einwohner haben ausländische Wurzeln. Etwa 200.000 Muslime leben in der Stadt, viele von ihnen schon in der zweiten oder dritten Generation. Waren es vor hundert Jahren die Italiener, die verantwortlich gemacht wurden für wirtschaftliche Krisen und Arbeitslosigkeit, sind heute die Muslime die Sündenböcke. Die rechte Partei Front National schürt diesen Vorwurf. Ihre Parole, die Immigration hätte Marseille verkommen lassen, spricht vielen Einwohnern aus dem Herzen. Immerhin haben mehr als 20 Prozent bei den Regionalwahlen 2010 der rechten Front National ihre Stimme gegeben. +Chiens du quai, Hunde des Kais, so wurden vor hundert Jahren die Italiener beschimpft. Damals war jeder vierte Marseiller ein Ausländer. Der Hafen und die Industrie forderten billige Arbeitskräfte. So war seit Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem verarmte italienische Landbevölkerung in die Metropole gezogen. Ein halbes Jahrhundert später folgten Polen, Griechen, Russen, Armenier, Türken und Spanier. Als die Weltwirtschaftskrise um 1930 auch Marseille traf, nahm die fremdenfeindliche Stimmung zu und es gab Hetzjagden auf ausländische Arbeiter. +Ihren negativen Ruf verloren die Italiener erst dreißig Jahre später, als die nächste große Einwanderungswelle kam, aus Nordafrika. Die Maghrebiner gelten für viele Franzosen als schwer integrierbar und unerwünscht. Dabei hat Frankreich in der Kolonialzeit nicht nur Verbrechen in ihren Herkunftsländern begangen, sondern die Migranten sogar selbst angeworben. Nach dem Zweiten Weltkrieg unterzeichnete Paris Verträge mit Staaten wie Tunesien und Marokko, um Arbeitskräfte für den wirtschaftlichen Aufbau ins Land zu holen. + +In Marseille herrschte damals dichtes Gedränge und im Hafen Hochbetrieb. Allein im Sommer 1962 stiegen in Marseille über eine halbe Million Menschen von Bord. Es waren vor allem Algerier, Marokkaner und Tunesier auf der Suche nach Arbeit oder auf der Flucht vor dem Krieg, den Frankreich in Algerien führte. Es waren aber auch Flüchtlinge mit europäischer Herkunft, die sich einst in den französischen Kolonien niedergelassen hatten. Für viele blieb Marseille nur Durchgangsort. Dennoch wuchs die Einwohnerzahl rapide an. Doch mit der wirtschaftlichen Situation ging es bergab. Besonders unqualifizierte Arbeitsplätze wurden knapp. 1974 stellte Frankreich wie Deutschland im Jahr zuvor, die Anwerbeprogramme für Ausländer ein. Trotzdem stiegen die Zahlen weiter, viele Migranten holten ihre Familien nach. Die meisten der Neuankömmlinge kämpften von Anfang an mit Arbeitslosigkeit und schlechten Wohnbedingungen – und viele von ihnen leiden bis heute darunter. +In Marseille gibt es nicht nur ein friedliches Zusammenleben der Kulturen, sondern auch Konflikte, Rassismus und Diskriminierung. Gleichzeitig identifizieren sich viele Einwohner aber stark mit der Stadt. Nirgendwo zeigt sich das deutlicher als bei einem Match von Olympique de Marseille. Wenn der Verein spielt, sind die Straßen der Hafenstadt wie leergefegt. Beim Fußball zumindest scheinen sich die Marseiller einig zu sein und die Unterschiede in Herkunft, Hautfarbe und Religion für 90 Minuten vergessen. In erster Linie bezeichnen sich die Einwohner von Frankreichs zweitgrößter Stadt nämlich nicht als Algerier, Franzose, Italiener, Araber oder Muslim – sondern als Marseiller. +Inga Ramsdorf ist Journalistin bei der Süddeutschen Zeitung. Sie lebt in München. diff --git a/fluter/tourismus-als-entwicklungshilfe.txt b/fluter/tourismus-als-entwicklungshilfe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..08f4a64a8d48dc7b7b802419bf4b2a0c050bea99 --- /dev/null +++ b/fluter/tourismus-als-entwicklungshilfe.txt @@ -0,0 +1,28 @@ + +Vor zehn Jahren noch war Ded Nika (48) Vollzeit-Bauer. Heute verköstigt er mit seinen Ernte Wanderer von überall her. Viele Familien betreiben Gästehäuser als Haupterwerb +Fortschritt hin und her, die Arbeitsteilung bleibt bisher noch traditionell: Garten und Küche unterstehen Shrezpa, Ded Nikas Frau +Hinter Ded Nikas Bauernhaus am Rande des Dorfes erheben sich die Felswände der albanischen Alpen. Zum nächsten Haus ist es ein kleiner Fußmarsch +Theth liegt, die Häuser weit verstreut, in einem engen, lang gezogenen Tal, das rundherum von Bergen umgeben ist und aus dem eine einzige Schotterstraße hinausführt. Erst am Ende des Dorfes kommt man an grüne Wiesen und bei Nikas Bauernhof vorbei. Kühe grasen, Ziegen laufen herum, im Gemüsegarten wachsen Bohnen, Tomaten, Paprika und Kräuter. +Bis nach Tirana, die Hauptstadt des Landes, braucht man von Theth fünf Stunden. 370 Menschen leben im Dorf, verteilt auf ungefähr 25 Familien, und mit jedem Jahr werden es mehr. Fast alle, die vor Jahren auswanderten, weil sie ohne Perspektive waren, kommen zurück, bauen Häuser, Gästezimmer, Restaurants. Vor allem die Jungen. +Deshalb teilt man die Zeit in Theth ein in "vor dem Tourismus" und "nach dem Tourismus". Vor dem Tourismus war Theth so gut wie verloren. Sieben Familien lebten noch im Tal, gerade mal 100 Menschen. Es gab kein Krankenhaus, keine Ärzte, keinen Pastor, kein Telefon und auch sonst nichts, was das Leben erleichtert. Die Jungen waren fort, und auch die meisten Alten blieben höchstens bis zum Oktober, dann wurde die Straße bald durch den Schnee unpassierbar und sie zogen in kleine Zimmer in der Stadt Shkodra. Im Sommer lebten sie von dem, was in den Gärten und auf den kleinen Feldern wuchs, im Winter von Gelegenheitsjobs in der Stadt. +Der Tourismus hat das Leben in Theth komfortabler gemacht. Es gibt Minibusse, einen kleinen Laden, eine Müllabfuhr, eine Schule und eine nicht übersehbare Krankenstation +Auf Ded Nikas Hof kommt nur Regionales auf den Tisch: Mais, Bohnen, Tomaten, Paprika, Kräuter und früher oder später auch diese zwei Kühe +Pavlin Polia und sein Bruder Nard kamen aus Italien nach Theth zurück. Pavlin ist Mitte 30, sieht aus wie ein Berliner Hipster im Wollpullover. Nard ist 31 Jahre alt, trägt am liebsten Jogginghose und stets seine kleine Tochter auf dem Arm. Die Brüder verließen Theth Ende der 1990er-Jahre, arbeiteten in allen Jobs, die sich ihnen boten, und stellten schnell fest: Ein schönes Leben ist das nicht. "Wir waren immer die Albaner, die Kriminellen, die Ausländer." Als die Brüder hörten, dass Theth eine Zukunft hat, man dort wieder Geld verdienen kann, zögerten sie nicht, Italien zu verlassen. 2007 waren sie zurück in ihrem Heimatdorf und bauten mit eigenen Händen ein Gästehaus auf – heute das erste Haus am Platz. Es hat die Brüder vergleichsweise wohlhabend gemacht, und der Erfolg ist für sie eine Wohltat nach den vielen Gastarbeiter-Jahren. "Zurückzukommen war die beste Entscheidung unseres Lebens", sagt Nard Polia. +Die Ära des Tourismus begann an einem Tag im Jahr 2006, als Mitarbeiter der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), die fünf Jahre später mit zwei anderen Gesellschaften zur GIZ verschmelzen würde, ins Dorf kamen. Sie sagten, Theth könne bewahrt werden, die Leute sollten ihre Höfe und ihre Türen dem Tourismus öffnen. "Da haben wir erst mal gelacht", erinnert sich Ded Nika. Denn die Höfe hatten ja keinerlei Komfort, keine Toiletten, keine Badezimmer, keinen Strom, kein fließendes Wasser. Unten, im Erdgeschoss, wohnten die Tiere, in den winzigen Zimmern darüber die Menschen. + +Der Wanderweg Peaks of the Balkans hat auch ein politisches Ziel: Frieden in die einstige Kriegsregion zu bringen. An Nikas Tisch zumindest sitzen nun jeden Sommer Wanderer aus dem Kosovo und Montenegro und erzählen einander ihre Bergerlebnisse + +Doch die Deutschen boten Unterstützung, Kredite, Expertise und brachten Wasserrohre und Sanitäranlagen. Die Frauen lernten, für Touristen zu kochen, der Deutsche Alpenverein bildete Bergführer für den Peaks of the Balkans aus. Der Wanderweg hat auch ein politisches Ziel: Frieden und Miteinander in die einstige Kriegsregion zu bringen. Erst nur von Westeuropäern genutzt, entdecken ihn auch immer mehr Einheimische. An Nikas Tisch sitzen nun im Sommer Wanderer aus dem Kosovo und Montenegro und erzählen sich von ihren Bergerlebnissen. "Der Krieg ist kein Thema mehr", sagt Nika. +Nika und eine Handvoll andere Bauern folgten damals den Vorschlägen der GTZ. Bedingung für die 2.500 Euro, die jeder, der teilnahm, von der GTZ erhielt: Das Handwerkliche musste in Eigenleistung vollbracht werden. Nika baute Bäder und Zimmer, legte Wasserrohre und setzte Solarzellen aufs Dach. +Und tatsächlich kamen die Touristen, erst in kleiner, dann in immer größerer Zahl. 2016 übernachteten bereits 16.000 Menschen in Theth, viele Familien betreiben Gästehäuser als Haupterwerb. Das verändert das Dorf, und es gefällt nicht allen: Viele der alten Häuser verfallen, stattdessen werden Neubauten hochgezogen, um Touristen unterzubringen. +Ded Nika bekommt seine Maissamen von einer Samenbank in Tirana. Es sind alte Sorten, die zwar nicht so schnell wachsen wie die neuen, dafür aber auch nach fünfJahren noch kräftig sind +Seit zwei Jahren schon überwintern die Nikas in Theth. Die Vorräte im Keller reichen selbst für eine lange, schneereiche Zeit, und sie verdienen in der Saison genug, um danach keine Gelegenheitsjobs mehr annehmen zu müssen. "Früher haben wir die Winter gefürchtet. Jetzt sind sie die schönste Zeit", sagt Ded Nika. +Der Tourismus hat das Leben in Theth komfortabler gemacht. Die Minibusse, die die Touristen aus der Stadt Shkodra abholen, sind auch für die Einheimischen ein erschwingliches Verkehrsmittel. Es gibt nun einen kleinen Laden, eine Krankenstation, eine Schule – und neuerdings auch eine Müllabfuhr. Einmal in der Woche kommt ein Wagen aus Shkodra den weiten Weg und entleert die Müllcontainer. Sogar recyceln wollen die Bewohner künftig. +Mit eigenen Händen und mit Geld aus der albanischen Diaspora wurde die Kirche renoviert, die während der sozialistischen Diktatur verfiel. Die Brüder Polia haben vor ein paar Wochen ein Kreuz aus LED-Leuchten auf ihrem Dach anbringen lassen, das nun bei Nacht weithin strahlt. Sie taten es im Namen ihrer Eltern, die während der Diktatur in den Stall gingen, um dort heimlich zu beten. Vielleicht taten sie es auch, um sich und dem Dorf zu zeigen, dass sie es zu etwas gebracht haben. +Mit eigenen Händen und mit Geld aus der albanischen Diaspora wurde die Kirche renoviert, die während der sozialistischen Diktatur verfiel +Natürlich hat der Tourismus nicht nur die wirtschaftlichen Bedingungen, sondern auch das ganze Leben im Tal verändert. Zwangsehen und Blutrache, meint Ded Nika, gehörten schon mehr oder weniger der Vergangenheit an. Seine Töchter seien emanzipiert, die eine wolle Bergführerin werden, die andere Betriebswirtschaft studieren. + +Das Gasthaus werde wohl sein Sohn übernehmen. Der freue sich, nicht in der Stadt leben zu müssen, und habe ganz eigene Vorstellungen für die Vermarktung, "Social Media und so einen Kram". +Mit dem Geld ist laut einigen Einwohnern aber auch die Gier über Theth gekommen. Zu jenen, die deshalb vor einem weiteren Wachstum warnen, gehören auch die Polia-Brüder. Die Gästezahl sei erreicht, die das Tal verkraften kann, ohne seine Ursprünglichkeit zu verlieren. Sie ziehen sich damit die Wut jener zu, die mehr Gäste, mehr Zimmer, mehr Einnahmen wollen. "Wenn wir nicht auf Öko-Tourismus setzen und die Gäste fernhalten, die Vergnügen und Latte macchiato an jeder Ecke wollen, verlieren wir alles. Die Schönheit, die Natur, unsere Identität." +Wer mit dem Auto nach Theth will, muss lange durch das Tal rumpeln, über Schlaglöcher und herabgefallene Felsbrocken +Der größte Schrecken ist für Pavlin Polia die Ankündigung der Regierung, die Straße nach Theth zu asphaltieren und so auszubauen, dass sie auch im Winter befahrbar ist. "Dann ist Theth bald ein Ziel für Billiganbieter", fürchtet Pavlin Polia. Auch Ded Nika will die asphaltierte Straße nicht. "Wir haben dem Tourismus zugestimmt, um das Tal für die Welt zu öffnen. Unser Leben soll er nicht kaputt machen." diff --git a/fluter/township-tourismus-namibia.txt b/fluter/township-tourismus-namibia.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a0de04ba77c6c352d93f2c17e95da3e4278a62e4 --- /dev/null +++ b/fluter/township-tourismus-namibia.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Township-Tourismus ist kein neues Phänomen. Südafrika, Brasilien, Jamaika, Ägypten, Kenia, Indien, Indonesien: In etlichen Ländern kann man geführte Touren durch die ärmsten Viertel der Metropolen buchen. 2015 schätzten Forscher von der Universität Potsdam, dass weltweit jährlich mehr als eine Million Touristinnen und Touristen – hauptsächlich aus dem Globalen Norden – an Führungen durch Slums, Townships oder Favelas teilnehmen. Die ersten Führungen gab es in Südafrika bereits in den 1980ern, damals teilweise noch zu Propagandazwecken desApartheidregimes. Vierzig Jahre später boomt das Segment, auch in Namibia. +Ein Samstagmorgen in Windhoek. Es ist Juni, afrikanischer Winter also. Vor der Christuskirche mitten im Zentrum Windhoeks ist zu dieser Zeit nichts los. Hier beginnen die Township-Führungen, die Geirisebs Arbeitgeber Chameleon Safaris und etwa ein halbes Dutzend anderer Reiseunternehmen anbieten. +Die Tour dauert noch keine Viertelstunde, als wir uns auf dem Gelände eines der ersten deutschen Konzentrationslager wiederfinden. Geiriseb deutet auf eine Statue, in deren Sockel ein Bild des Grauens eingemeißelt ist: Frauen und Männer mit knochigen Körpern kurz vor dem Hungertod. "Die Opfer desdeutschen Völkermords in Namibia", sagt Geiriseb. Von 1884 bis 1915 war das Deutsche Reich Kolonialmacht im heutigen Namibia. Generalleutnant Lothar von Trotha befahl die völlige Vernichtung der Bevölkerungsgruppe der Herero im Oktober 1904 und der Nama im April 1905. Laut Schätzungen starben bis zu 100.000 Menschen im Widerstand gegen die deutsche Kolonialmacht, in Konzentrationslagern oder verdursteten in der Omaheke-Wüste. Wenn Geiriseb vom Völkermord erzählt, fangen manchmal Touristen an zu weinen. + +Der Part, wegen dem die meisten Reisenden die Tour überhaupt buchen, steht erst noch bevor: ein Besuch im Township. +Geiriseb lenkt den Bus hinaus aus dem Stadtzentrum an die Ränder der Hauptstadt. "Katutura", sagt er, "das heißt so viel wie: Ort, an dem wir nicht leben wollen." Die südafrikanischen Besatzungsbehörden hatten das Wohngebiet Ende der Fünfziger aus dem Boden gestampft. Gemäß der Apartheid sollte Windhoek zur "weißen Stadt" werden. Die schwarze Bevölkerung musste ins abgelegene Katutura umsiedeln. Auch dort galt eine Politik der strikten Trennung: Jede einzelne Gruppe – etwa Damara, Ovambo und Nama – wurde in einen eigenen Wohnbezirk verwiesen. Kilometerweites Brachland lag nun zwischen ihnen und dem Rest der Stadt, von Arbeit und Aufstiegsmöglichkeiten. +Schlichte kleine Steinhäuser reihen sich aneinander, in einem Garten findet ein Gottesdienst statt. Vor einem Friseursalon aus Wellblechplatten stehen die Menschen Schlange. Männer waschen auf den Straßen Autos oder treffen sich in Shebeens – informelle Bars, die meist schon morgens öffnen. +Anbieter betonen, dass durch die Reisen auch die Menschen vom Tourismus profitieren, die das Geld am dringendsten brauchen. Feste Verträge mit den Locals gebe es allerdings nicht, schreibt Chameleon Safaris auf Anfrage. Alle beteiligten Parteien seien unabhängig. "Wir unterstützen die Menschen aus den Townships, indem wir Touristen zu ihnen bringen und sie ihre Produkte an sie verkaufen können." + + +Geiriseb parkt den Bus vor einem Maschendrahtzaun. Unsere Taschen sollen wir gut versteckt im Wagen zurücklassen, sagt er, damit sie nicht gestohlen werden. Und wenn wir Bilder von Menschen machen wollen, sollen wir vorher um Erlaubnis bitten. Auf das kurze Briefing folgt ein Abstecher auf den Oshetu Community Market. Der Kontrast zum leblosen Stadtzentrum könnte kaum größer sein: Der Markt ist gut besucht, Musik und Bässe dröhnen durch die Gänge der offenen Halle. Männer weiden Rinder aus, in einer Wanne treiben die Gedärme umher. Dahinter braten Männer über offenem Feuer "Kapana" – stark gewürzte Rinderstreifen, die man in Katutura an jeder Straßenecke kaufen kann. +"Schon probiert?", fragt Pawa Hasheni, Glatze, Bart, freundliches Lächeln. Jeden Tag steht er von sechs Uhr morgens bis zehn Uhr abends an seinem Stand und brutzelt. Seine Hauptkunden seien nach wie vor Locals. Touristen bringen ihm nur einen Bruchteil seines Einkommens. "Viele Menschen erwarten keine weißen Menschen auf dem Markt", sagt Hasheni. "Aber ich bin stolz auf unsere Traditionen und teile sie gerne mit ihnen." Natürlich gebe es Touristen, die sich unhöflich verhalten und ihm ungefragt ihre Kamera vor das Gesicht halten. Was er dann macht? Hasheni zuckt mit den Schultern. "Es kommt wie immer darauf an, wie man damit umgeht." Seine Wahl: Gelassenheit. +Township-Touren sind ein Balanceakt für alle Beteiligten. Sie können bilden, sensibilisieren, den interkulturellen Austausch fördern, sagen Befürworter. Sie können für dringend benötigte Einnahmen sorgen. Aber es besteht eben auch die Gefahr, dass sich Veranstalter an der Not der Menschen bereichern, sie exotisieren oder romantisieren – und so Stereotype weiter verstärken. Manche Kritiker sprechen sogar von "Menschensafari", "poorism" oder "poverty porn". +"Wer Township-Touren bucht, ist oft auf der Suche nach einem besonders authentischen Erlebnis", sagt Markus Buderath von der Arbeitsstelle Tourism Watch bei der Hilfsorganisation für Entwicklungszusammenarbeit Brot für die Welt. "Das Problem daran ist, dass man so die Deutungsmacht beansprucht. Man fällt also ein Urteil darüber, was das wahre Afrika ist – und was nicht." Buderath empfiehlt, zunächst die eigene Motivation zu hinterfragen: Warum möchte man ein Township besuchen? Welche Vorstellungen hat man? Romantisiert manArmutim schlimmsten Fall? "Ich muss mir bewusst machen, dass ich als Reisender immer ein Produkt vorgesetzt bekomme", sagt Buderath. +Umso entscheidender sei es, wer dieses Produkt gestaltet. Im besten Fall stamme der Guide aus der Gegend, so wie Geiriseb. Die Menschen aus den Townships dürften keinesfalls zu bloßen Anschauungsobjekten werden. Stattdessen sollten sie mitentscheiden dürfen – zum Beispiel über das Narrativ, das den Touristen vermittelt wird. "Wenn die Leute vor Ort involviert sind", sagt Buderath, "dann können solche Angebote ein Mittel zu mehr Selbstbestimmung sein." + +Ein paar Kilometer weiter westlich beginnt die informelle Siedlung Havana. Auf der Suche nach Arbeit strömen immer mehr Menschen in die Hauptstadt. Der Traum vom Job bleibt meist unerfüllt. Eine notdürftige Wellblechhütte reiht sich an die nächste. Miete zahlt hier niemand. "Legal ist das zwar nicht, aber die Regierung kann nicht viel dagegen tun", sagt Geiriseb. "Wenn sie die Menschen wegschicken würden, würden sie ihre Hütten eben woanders aufstellen." +Am Straßenrand bieten Verkäufer Chips, Gemüse und Secondhandklamotten an, präsentiert in Pappkartons oder an klapprigen Stahlständern. "Hier steigen wir nicht aus, das wäre zu gefährlich", sagt Geiriseb. Der Frust der Menschen sei groß, die Atmosphäre hitzig, die Kriminalität hoch. Als er einmal das Gespräch mit den Einwohnern gesucht hat, wurde er harsch zurückgewiesen: Warum bringt er, ein Namibier aus Katutura, Touristen nach Havana und zeigt ihnen, wie sie hier leben? "Es ist besser, dass sie nicht nur die schicken Gebäude im Stadtzentrum sehen", hat er geantwortet. "Sie sollen wissen, wo wir tatsächlich herkommen." +In Havana gelten keine Verkehrsregeln. Quälend langsam kämpfen wir uns durch die verstopften Straßen. Niemand scheint uns weiter zu beachten. "Die Menschen haben sich an die Touristenbusse gewöhnt", sagt Geiriseb. Auf einem Hügel stellt er den Motor ab. Wir blicken auf ein Meer aus Wellblechhütten, das sich in der Wintersonne spiegelt. Keine 50 Meter von uns entfernt wühlt ein Mann in einem Müllhaufen. "Die Einwohner von Havana haben das Recht, über die Touristen und ihr Interesse verärgert zu sein", sagt Geiriseb. "Aber sie müssen auch die andere Seite sehen: Wir erweitern die Perspektive der Menschen." + + +Einmal machen wir noch halt. Der Bus holpert über Schotterstraßen, bis wir uns plötzlich in einer Oase wiederfinden. Vor unseren Augen breitet sich ein Staudamm aus, am Ufer blühen Jacarandabäume in Pink- und Lilatönen. Willkommen bei Penduka, einem sozialen Projekt, das benachteiligte Frauen aus den Townships unterstützt. Eine von ihnen: Leni Roi. +Sie führt uns durch die Werkstatt, in der sie und ihre Kolleginnen Kleider und Kissenbezüge nähen und besticken. In einem anderen Raum verwandeln sie Bierflaschen in funkelnd grüne Armbänder. Ihre Produkte verkaufen die Frauen im Shop nebenan. "Irgendwann will ich mein eigenes Modegeschäft eröffnen", sagt Roi. +Ist es Absicht, dass die Tour mit einem Besuch bei Penduka, mit hübschen Stickereien, Aufstiegsmöglichkeiten und Zukunftsträumen endet? "Nein", sagt Geiriseb, "es liegt einfach auf dem Weg zurück ins Stadtzentrum." diff --git a/fluter/toxische-maennlichkeit.txt b/fluter/toxische-maennlichkeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..362cda8828f42cdb34bda6670750cea31385f844 --- /dev/null +++ b/fluter/toxische-maennlichkeit.txt @@ -0,0 +1,47 @@ ++ +- +—  beschützt mich +— macht Witze über mich +—  ist mein Firmpate +— beleidigt mich +—  liebt "Star Wars" +— erniedrigt mich +—  er ist mir sehr ähnlich +— lacht mich aus +—  spielt gerne mit mir Wii +— schlägt mich + +Da ist der Eintrag vom 12.12.2011, vier Monate vor meinem Abitur: "Martin hat gesagt, ich wäre fett und hässlich. Er sagt das oft, und jedes Mal kränkt mich das mehr." +Das las mir meine Schwester neulich aus dem alten Tagebuch vor – und mit jedem Satz habe ich mich mehr geschämt. Wir sprachen über "Toxic Masculinity", und ich fragte naiv: "War ich toxisch männlich?" Meine Schwester musste kurz lachen wegen der depperten Frage. Natürlich war ich es. +Elf Jahre sind die Tagebücher nun alt. Mittlerweile bin ich 28. Aber es lässt mich nicht mehr los: Warum war ich damals so? Wieso bin ich es nicht mehr? Und bin ich es wirklich nicht mehr? +Was ist "toxisch männlich"? Die Frage sei einfach zu beantworten, das dachte ich zumindest, doch Definitionen dazu gibt es viele. Eine Schweizer Kriminalistik-Zeitschrift beschreibt es so: "Toxische Männlichkeit" ist ein Rollenbild, das allgemein von Dominanz geprägt ist, das Aggressivität zur Präsentation der eigenen Männlichkeit nahelegt und eine Unterordnung von Frauen befürwortet. Oft wird betont, dass Männer damit nicht nur anderen, sondern auch sich selbst schaden. Das mag sein – denn Folgen toxischer Männlichkeit können soziale Isolation, Depressionen oder ein höheres Sterberisiko sein. Auf der anderen Seite beschreibt toxische Männlichkeit ein Verhalten, von dem im patriarchalischen System Männer häufig profitieren. +Ich lese das, und sofort kommen Erinnerungen hoch. Wie beschissen ich die Mädchen behandelte, erst nett chattete, so lange, bis wir auf den Partys rumknutschten. Danach von den Jungs feiern lassen, danach das Mädchen fallen lassen, danach so viel Bier trinken, bis man kotzt. +Ich erinnere mich, wie ich mit Freunden das Wrestling-Game "WWE 2008" auf der Wii spielte, verlor und dem Gewinner aus Rache volle Kanone in seine schmale Brust dropkickte. Anders konnte ich meine Emotionen damals nicht zeigen. Dominanz, Aggressivität, Unterordnung von Frauen. Alles da. +Warum war ich so? Meine Schwester erzählt eine Geschichte, die alles auf den Punkt bringt. Ein Familiengrillen, dabei auch Freunde meines Vaters. Wir tranken Bier. Meine Schwester mochte kein Fleisch, nur Käsekrainer aß sie noch. Doch bevor sie eine greifen konnte, hatte ich mir alle gekrallt. +"Du hast dann gesagt, du wärst älter, du wärst der Mann und deshalb viel höher in der Familie." Das Schlimmste sei gewesen, erinnert sich meine Schwester heute, dass alle es gehört und niemand etwas gesagt hätte. +Weiterlesen +Disziplin und Marschieren, aber auch Verletzlichkeit und Yoga stehen auf dem Lehrplan der Chrysalis Academy in Kapstadt.Kann so ein Lehrplan die Schüler zu besseren Männern machen? +An meine Kindheit habe ich nur Shades of Erinnerungen, es fällt mir schwer, Anhaltspunkte für meine Persönlichkeit zu finden. Meine Schwester ist die Hüterin meiner Erinnerungen. Vor ein paar Jahren habe ihr einer meiner ältesten Freunde erzählt, dass sie mich immer ausgelacht hätten, wenn ich geweint habe. Er bereue das sehr, hätte er gesagt. +Ich kann mich nicht erinnern, in meiner Jugend jemals darüber gesprochen zu haben, wie es mir geht. Auch nicht nach Hänseleien. Meine Mutter war mit sich selbst beschäftigt, mein Vater arbeitete und midlife-criste vor sich hin. Ich hatte meinen Opa und meine Oma und Nachmittagsfernsehen. Nur diffus habe ich einen Beschluss mit mir selbst im Hinterkopf:Ich bin ein Mann. Ich weine nicht. +"Toxisch" ist dieses Rollenbild deshalb, weil es sowohl fremd als auch selbstgefährdend sei, schreiben die Forscher in der Schweizer Kriminalistik-Zeitschrift. Nach dem Abitur zog ich zum Studieren nach Wien, fand null Anschluss in dieser Stadt voller Hipster und deutscher Numerus-clausus-Flüchtlinge. Ich war allein. In Wien fand der erste Versuch einer Reflexion statt: Wer bin ich? Wie will ich sein? Wie gehe ich mit Menschen um? Ich beschloss, meinen Umgang mit Frauen, nein, mit allen Menschen grundlegend zu ändern. Aber wie? +Nach einem Jahr zog ich nach Passau, lernte zwei meiner noch heute besten Freunde kennen. Wir verbrachten lange Abende, im Wohnzimmer liegend, redend. Am Anfang belächelte ich sie, wie sie soziale Situationen auseinandernahmen oder sich in ihre Gefühle hineinarbeiteten. Fast manisch, so kam mir das vor. Bis sie mich fragten: Wie geht es dir wirklich? Und ich konnte nichts antworten. Wenn ich nicht einmal meine Gefühle, meine Bedürfnisse für mich selbst ausdrücken konnte, wie sollte ich dann die Gefühle und Bedürfnisse anderer erkennen? +Wie massiv die Krise meiner Männlichkeit war, merkte ich erst, als mein Opa starb. Als der Anruf kam, spürte ich eine solch tiefe Traurigkeit wie noch nie zuvor in meinem Leben. Aber ich konnte nicht weinen. Sie konnte nicht raus, diese Traurigkeit, über Tage und Tage. Bis ich am Grab stand, der Sarg langsam hinabgesenkt wurde und ich merkte: Jetzt ist er weg. Meine Beine gaben nach, ich brach vor Hunderten Leuten in Tränen aus. Ich war schwach. Es war mir egal. +Es war eine Katharsis, ohne die ich vielleicht nie die erste Liebe meines Lebens kennengelernt hätte. Sie war sehr depressiv, erdrückt von den Erwartungen der Welt, ihr Selbstwertgefühl am Boden. Es gab Monate, in denen wir alle zwei Tage im Bett lagen, für Stunden, sie weinte in meinen Armen. Ihre Muskeln schmerzten wie Hölle, die innere Anspannung hatte sich in eine äußere übertragen. Ich lernte, zuzuhören, Rücksicht zu nehmen, zu trösten. Wenn andere es nicht so gut haben (können) wie man selbst, dann wollte ich zumindest versuchen, sie verdammt noch mal hochzuziehen. + +"Bin ich immer noch toxisch männlich?", fragte ich meine Schwester letztens. Ihre Antwort überraschte mich. +Schwester: "Klar." +Ich: "Oida, wirklich?" +Schwester: "Das ist alles ein Spektrum. Jeder hat toxische Züge, aber du setzt dich damit auseinander, immerhin." +Ich: "Ich kann dann quasi auch kein Feminist sein." +Schwester: "Doch. Ich würde dich schon so nennen." +Ich zögere. +Ich: "Hmmm. Da fühle ich mich unwohl. Ich setze mich ja nicht aktiv für eine Frauenbewegung ein." +Schwester: "Aber du glaubst daran, dass alle Geschlechter gleichberechtigt sind. Und behandelst Frauen auch so." +Ich: "Ich mach eigentlich nur das Mindeste." +Schwester: "Natürlich gibt es auch die männlichen Feministen, die dann den Frauen mansplainen, wie Gleichberechtigung geht." +Ich: "Vielleicht ist es das. Vielleicht will ich einfach keiner von denen sein." +Schwester: "So eine Auseinandersetzung mit dir selbst ist ja nie vorbei." +Am selben Tag, an dem meine Schwester die Tagebücher fand, lud sie mich am Bahnhof ab. Ich fuhr in mein neues Zuhause. Noch als ich im Zug sitze, schickt sie mir weitere Seiten, wir unterhalten uns weiter über das Gewesene. "Ich war so ein Arschloch", schreibe ich. Und sie schreibt mir: +"Martin, du bist für mich eine Süßigkeit als Mensch jetzt. Eine, die manchmal ganz nervig zwischen den Zähnen klebt, aber du machst mein Leben schön!" +Als ich den Satz für diesen Artikel abtippe, kommen mir die Tränen. + diff --git a/fluter/traenen-und-bier.txt b/fluter/traenen-und-bier.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/tragweite.txt b/fluter/tragweite.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5669645184dc5c6822aede86d2c3508475085fa3 --- /dev/null +++ b/fluter/tragweite.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Freetown, Schauplatz des Kriegsfilms Blood Diamond mit Leonardo DiCaprio, ist heute die Stadt der gelben Wasserkanister. Wenn andernorts vielleicht ein bestimmter Hut oder eine besondere Handtasche ins Auge sticht, sind in Sierra Leones Hauptstadt die grellen Plastikbehälter das Accessoire Nummer eins. 24 Stunden am Tag, jeden Tag. Weil das Besorgen von Wasser ein täglicher Kampf ist. +Auf Moses Brownes Knie versteckt ein Pflaster einen tiefen Schnitt nur halb. Ein spitzer Stein lag auf dem Fußballfeld. Der schmale Junge, dessen Körper mehr die Arbeit als das Spiel geformt hat, ist an diesem Samstag wie jeden Tag um halb sieben aufgestanden, hat sein Gesicht mit einer Hand voll Wasser gewaschen, für 1000 Leones, umgerechnet 25 Cent, Cassavablätter und Reis gegessen. +Während des Frühstücks stahl jemand die Vorderachse seines Wasserwagens. Deshalb musste Moses sich von einem Freund eine Achse ausleihen, das wird ihn einen Kanis-ter Wasser kosten. So eine Vorderachse ist wertvoll, sie kostet mit 4500 Leones etwa einen Tagesverdienst. Gegen neun Uhr macht er sich auf zur ersten Runde. Fünf bis sechs Stunden ist er täglich unterwegs. Er schiebt den Wagen die Macauley Street entlang, biegt links in die breite Circular Road ein. Am Rand der Straße haben die schmalen Räder der Wasserwagen tiefe Rillen in die Fahrbahn gegraben. +Nur gut die Hälfte der sechs Millionen Sierra Leoner hat Zugang zu sauberem Wasser. Be-obachter glauben, das westafrikanische Land werde die sogenannten Millenniumsziele um Längen verfehlen, welche die Vereinten Nationen formulierten. Bis zum Jahr 2015 soll unter anderem der weltweite Wasser- und Hygienenotstand halbiert werden. Das heißt in Zahlen, man wäre froh, wenn dann "nur" noch 600 Millionen Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser hätten. +Aber in Sierra Leone ist wenig Fortschritt spürbar. In der Hauptstadt heißt eine der Hauptursachen für die Wasserknappheit: Krieg. Und das, obwohl der Bürgerkrieg, der 1991 begann, seit fünf Jahren beendet ist. Die Folgen bleiben bestehen. Damals zwangen jugendliche Kämpfer, die unter Drogeneinfluss grausam wüteten, die Menschen scharenweise in die Flucht. Viele flohen in die Hauptstadt und kehrten auch nach Kriegsende nicht mehr zurück. In Freetown wohnten vor dem Krieg 600 000 Menschen, heute sind es 1,2 Millionen. Die Wasserversorgung ist jedoch nicht mitgewachsen. +Sie kommt weiterhin aus einer einzigen Quelle, dem Guma-Stausee. Am Rand der Stadt liegt er, ein natürlicher See, hoch oben inmitten von fast unberührtem Wald. Sechs Flüsse aus den umgebenden Hügeln speisen den Stausee. Es ist ganz still. Nebel erstickt Töne. Nur der Schrei eines palm nut bird stößt hin und wieder hindurch. Der See fasst rund 24 Kubikkilometer Wasser, das ist die Größe des halben Bodensees. Als er am 4. Februar 1967 eröffnet wurde, war Joselyn Williams schon dabei. Der 62-jährige Wärter notiert die wirklich wichtigen Dinge in einem zerknitterten Adressbuch: "Regen kam am 16. April 2007, Montag." +Nachdem das Wasser vom See durch die verschiedenen Reinigungsbecken geschleust wurde, fließt es durch ein einziges Rohr in Richtung Stadt. Das rostige Überlandrohr mit etwa 30 Zentimetern Durchmesser verläuft am Rand einer Straße. Vor dem Krieg war sie geteert, die wohlhabenden Sierra Leoner fuhren darauf mit mehr als 100 Kilometern in der Stunde an die herrlich weißsandigen Atlantikstrände. Heute schleichen Autos über roten Sand, rumpeln durch Schlaglöcher. Dort, wo kleine Siedlungen stehen, sitzen Frauen auf dem Rohr, Kinder essen, Männer dösen darauf. +Schon wenige hundert Meter nach der Anlage klaffen die ersten Risse im Rohr. Sie sind so groß, dass Anwohner zu jeder Zeit ihre Kanister füllen können, der Rest versickert ungenutzt im Sand. Bis in den westlichen Teil Freetowns, der dem Stausee am nächsten liegt, fließt das Wasser vornehmlich dank Schwerkraft. Das ist einfach und billig. Der Osten der Stadt dagegen, wo seit dem Krieg die meisten Einwohner leben, liegt höher und damit trocken. Das ist teuer, technisch aufwendiger: Der Wasserdruck ist zu niedrig, Wasser müsste gepumpt werden. Die Wassermenge reicht einfach nicht für alle. Der Stausee ist nur für 400 000 Menschen angelegt. Deshalb verteilen Träger wie Moses Browne das saubere Wasser in der Stadt an diejenigen, die bereit sind, dafür zu zahlen. +Darrell Thompson zählt zu den Privilegierten, die in einem der 14 000 ans Wassernetz angeschlossenen Haushalte leben. Seine monatliche Wasserrechnung beträgt rund 12 000 Leones, etwa drei Euro. Thompson ist der Direktor der Guma Valley Water Company (GVWC), die für die Wasserversorgung von Freetown zuständig ist. Die Farbe mancher Papierstapel in seinem schlichten Büro im Stadtzentrum lässt vermuten, dass seit der Gründung der halbstaatlichen Firma im Jahr 1961 manches liegen geblieben ist. Thompson sieht die einzige Lösung für das Wasserproblem in einem weiteren Staudamm: "Das wäre die einzige sichere Langzeitlösung. Die Machbarkeitsstudien am Orogu-Fluss sind abgeschlossen, es ist nur eine Frage des Geldes." Abgesehen davon, dass Sierra Leone jedes Jahr im zweifelhaften Wettbewerb um den Titel des ärmsten Landes der Welt steht und die "Frage des Geldes" also ein veritables Problem darstellt, stimmen ausländische Experten Thompson zu. Es bedarf langfristig neuer Reservoirs. Doch heben Spezialisten hervor, dass es eine Menge weiterer Probleme gibt. Morag Baird von der britischen Behörde für Entwicklungszusammenarbeit DFID sagt: "Der Mangel an Wartung und Reparatur – neben den mutwilligen Zerstörungen durch Wasserdiebe – führt dazu, dass Unmengen an Wasser verloren gehen. Das Guma-Reservoir selbst hat genug Kapazität für 50 Liter pro Person und Tag, in der Theorie. Tatsächlich reicht es für höchstens 25 Liter pro Person." Korruption, ein Generalverdacht, dem afrikanische Länder im Zweifelsfall sofort unterliegen, spielt dem Weltbank-Berater Franklin Bassir zufolge hier keine Rolle. "Die größten Probleme liegen im Management. Best-Management-Praktiken, Sorgfaltspflicht, ein funktionierendes Rechnungswesen könnten eine Menge Gelder für Wartung frei machen." +Moses Brownes selbst gebauter Wasserwagen steht in der Circular Road. Ein achtjähriger Junge passt darauf auf, während Moses mit einem Dutzend anderer Leute in einer Seitenstraße vor einem öffentlichen Hahn sitzt und wartet. Der Kleine wird am Ende des Tages 1000 Leones von Moses erhalten und damit ein weiteres Glied in einer Kette von Kleinstunternehmern sein, die mit Wasser ihren Lebensunterhalt verdienen. Die Gespräche drehen sich um Wasser. "Wie viele Kanister hast du?" "Beeil dich mit deinem Zeug!" "Du da, kannst du mir nachher beim Tragen helfen?" "Hol die Vorderachse, sonst wird sie geklaut!" +Als Moses sich mit vollen Kanistern auf den Weg macht, bricht eben ein Streit aus. Das geschieht häufig und endet gerade nachts oft in Schlägereien; daher sind an vielen Hähnen Schilder angebracht. Darauf steht: "Prügeln verboten." Oft werden auch Strafen bis zu 2000 Leones verhängt. Moses Browne hat fünf Geschwister, er ist der Jüngste, und bei der Familie war kein Platz mehr. Jetzt wohnt er in einer WG. "Auf einem Konzert habe ich Recenc meine Situation erzählt, er macht Hiphop und Reggaemusik und studiert. Und jetzt wohne ich bei ihm, wir sind insgesamt sechs. Drei Ältere, die zahlen die Miete, und drei Jüngere, die zahlen nichts." Das stimmt nicht, Moses zahlt seinen Beitrag mit Wasser, jeden Tag bringt er 100 Liter, die für sechs Personen reichen müssen. Zum Vergleich: In Deutschland und England verbraucht eine Person mindestens 120 Liter Wasser, in den USA gar mehr als 200 Liter. Jeden Tag. +An der einzigen Straße, die aus Freetown hinausführt, liegt das Rokupa-Krankenhaus. Mit zwei Ärzten und vierzig Betten ist der Bungalow das größte staatliche Hospital im Osten der Stadt, wo die Mehrheit der 1,2 Millionen Einwohner lebt. Wenn Dr. Alhaji Turay, der medizinische Direktor, für eine Patientenvisite seine Hände waschen will, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Wasserhahn trocken bleibt. "Das Wasser läuft ein, zwei Monate, dann ist es wieder vorbei", sagt er. Unter dem Waschbecken steht ein Eimer, das Wasser darin holen Arbeiter entweder von einem öffentlichen GVWC-Hahn mehr als eine halbe Meile entfernt. Oder aus dem Brunnen, der kürzlich hinter dem Krankenhaus gebohrt wurde. Das Krankenhaus hat ihn aus Krankengebühren finanziert. Er ist tagsüber offen, der rostige Deckel liegt im Staub. +Die Vorstellung ist unangenehm: Das Wasser aus dem Krankenhausbrunnen ist nicht sauber genug zum Trinken, aber bei Operationen wird es zum Reinigen verwendet. "Wir benutzen na-türlich viel Desinfektionsmittel", sagt Dr. Turay. Er spricht leise und lächelt viel. "Wir sind berühmt für Durchfall", sagt er noch. "Durchfall-erkrankungen", erklärt er, "verursacht durch schmutziges Wasser, sind ein wichtiger Faktor für die hohe Kindersterblichkeit." Sierra Leone hält den traurigen Weltrekord: Von 1000 Kindern sterben 282, bevor sie fünf Jahre alt geworden sind. Dr. Turay erklärt auch, wie eng sauberes Wasser mit Hygiene zusammenhängt: "Ein großer Teil der Wasserverschmutzung – sofern nicht schon an der Quelle Bakterien drin schwimmen – passiert während des Transports, zum Beispiel durch ungewaschene Hände oder Behälter, die neben Latrinen stehen." +Wenige Kilometer stadtauswärts lebt Mabinti Koroma, seit sie im Jahr 2000 vor dem Krieg nach Freetown floh. Die 17-Jährige ist die Nichte eines Dorfimams und Kleinhändlers für Zement und Türschlösser. Sheikh Said Fuad Kamara kam mit seinen 13 Kindern, drei Frauen, einer Schwiegermutter und eben der 17-jährigen Nichte aus dem Norden. "An einem Nachmittag kamen die Rebellen ins Dorf. Wir haben uns alle versteckt, und am nächsten Morgen ganz früh sind wir gerannt. Wir haben nichts gepackt, jeder hatte nur die Kleidung am Leib." Sie liefen drei Tage, dann nahmen sie den Bus und blieben schließlich an der Einfahrtstraße nach Freetown hängen. Ähnlich erging es mehr als einer halben Million von Flüchtlingen, und die meisten siedelten hier im Osten der Stadt. Mabinti Koroma geht täglich Wasser suchen, meist mit anderen jungen Frauen der Familie. Es gibt wenige öffentliche Hähne, und wenn daraus Wasser fließt, heißt es stundenlang Schlange stehen, rund um die Uhr. Für manche bleiben nur die Nachtstunden. "Es ist nicht ungefährlich, nachts herum-zulaufen. Aber was sollen wir tun?", sagt Sheikh Kamara. Oft suchen die Frauen nach Lecks in Rohren oder laufen zu den wenigen Nachbarhäusern, die private Leitungen haben, wo sie gelegentlich Wasser schöpfen dürfen. Auf dem Land sei es besser gewesen, erinnert sich Mabinti Koroma. Auch wenn's nur wenige Brunnen gab und die Menschen stundenlang laufen mussten. +Samstagnacht, Moses Browne hat Pläne. Ein paar Hiphop- und Reggaemusiker treten in der Nähe auf, darunter sein Freund Recenc. Eine Sackgasse dient als Konzertsaal. Vor dem Eingang ste-hen junge Männer Anfang zwanzig. Sie sehen so aus wie die Rebellen, die während des Kriegs oft auch in deutschen Nachrichten zu sehen waren, grimmige Blicke, verschränkte Arme, Bandanas um die Stirn, dunkle Sonnenbrillen in der Nacht, das volle Gangsta-Programm. Moses' Freund wird später seinen Reggaesong Dirty System singen, da heißt es auch: "De system is too ruff an dread / Sierra Leonians / as you know we have no good roads, / Electricity and water supply / So Mr.Government / You need to change de system." +Morgen früh wird Moses Browne wieder aufstehen, Wasser schleppen und davon träumen, sich eines Tages eine eigene Wasserleitung leisten zu können. diff --git a/fluter/trans-menschen-kolumbien-rechte-250-miligramos-band.txt b/fluter/trans-menschen-kolumbien-rechte-250-miligramos-band.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/trans-szenen.txt b/fluter/trans-szenen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/transfrau-marsha-p-johnson-protest.txt b/fluter/transfrau-marsha-p-johnson-protest.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..332bcb2bec81be187116f4a92bcd3b9b9226607e --- /dev/null +++ b/fluter/transfrau-marsha-p-johnson-protest.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Nicht nur der Richter bekam diesen Spruch zu hören, sondern auch alle Menschen, die sich nach Marshas Geschlecht erkundigen wollten. "Pay it no mind" – das brachte ihre Lebenshaltung ganz gut auf den Punkt. Es war eine selbstbewusste Ablehnung aufdringlicher Fragen, ein Aufruf, sich um die wirklich wichtigen Dinge zu kümmern, statt darum, Menschen in Schubladen zu stecken. Und gleichzeitig stellt die Botschaft bis heute Grundsatzfragen: Was wäre, wenn wir jenseits dieser starren Kategorien lebten? Wenn wir die Menschen nicht danach beurteilten, welches Geschlecht sie haben, welche Hautfarbe und wen sie lieben? +Marsha P. Johnson war Aktivistin, Dragqueen, Künstlerin und Sexarbeiterin. Sie gehörte schon in den 1960er-Jahren zu den wichtigsten Figuren der weltweiten Queer-Bewegung. Angetrieben vomStonewall-Aufstandim Sommer 1969, bei dem es nach einer Razzia in einer Gay-Bar zu Ausschreitungen zwischen der Polizei und LGBTQ+-Personen auf den Straßen New York Citys kam, gründete Marsha gleich mehrere Organisationen, die wichtige Rollen im Kampf für die sexuelle Befreiung spielten. Sie prägte die New Yorker Szene, wurde zur "Bürgermeisterin der Christopher Street", die bis heute ein ikonischer Ort für die Homosexuellenbewegung ist, und wurde von Andy Warhol porträtiert. Nur jenseits der queeren Welt spielte Marsha P. Johnson, die 1992 unter ungeklärten Umständen starb, sehr lange Zeit kaum eine Rolle. Kein Wunder. Als Schwarze Transfrau aus der Arbeiterklasse war sie in einer Zeit, in der in den USA noch etliche rassistische Gesetze galten (so war es Schwarzen in vielen Bundesstaaten immer noch verboten, Weiße zu heiraten), die pure Provokation. Vor allem, weil sie laut und exzentrisch für Gleichberechtigung eintrat. + + +Geboren wurde Marsha in einer mittelgroßen Stadt in New Jersey als Malcolm Michaels Jr. – "Geschlecht: männlich" stand 1945 in ihrer Geburtsurkunde. Doch bereits im Alter von fünf Jahren trug sie zum ersten Mal Kleider, was sie allerdings schnell wieder sein ließ, nachdem andere Kinder sie damit aufgezogen hatten. Auch vor ihren Eltern – ihr Vater arbeitete in einer Autofabrik am Fließband, ihre Mutter half in einem reicheren Haushalt – konnte sie ihre Identität kaum entfalten. Mit 17 zog Marsha nach New York, im Gepäck ein paar Klamotten und kaum mehr als 15 Dollar. +Um zu überleben, ging sie wie viele andere arme queere Jugendliche auf den Strich. Rund um den Times Square, heute berühmt für seine riesigen Leuchtreklamen, suchten Teenager damals nach Freiern. Aus "Black Marsha", wie sie sich zu Anfang nannte, wurde Marsha P. Johnson – angelehnt an das Restaurant "Howard Johnson's", in dem sie viel Zeit verbrachte. +Im Rotlichtviertel von Manhattan lernte Marsha 1963 die sechs Jahre jüngere Sylvia Rivera kennen, eine queere lateinamerikanische Dragqueen, die ebenfalls in die Geschichte eingehen sollte und um die sie sich fortan großschwesterlich kümmerte. Dabei kämpfte sie selbst ständig ums Überleben: Lange Zeit schlief sie in Kinos oder bei Freundinnen, wurde immer wieder festgenommen, hatte mehrere Nervenzusammenbrüche, kam in die Psychiatrie – und wurde wieder entlassen. Dieses Leben am Abgrund hinderte sie nicht daran, andere Menschen emotional zu unterstützen und ihnen sogar finanziell auszuhelfen. Geld, das sie bekam, gab sie denen, die es noch mehr brauchten als sie. +Dann kam Stonewall, die legendäre Rebellion im Greenwich Village, die zwar nicht nachweislich durch einen Schnapsglaswurf Marshas ausgelöst wurde (wie eine von mehreren Erzählungen behauptet), aber auch dank ihrer Beteiligung das wohl bedeutendste Ereignis der LGBTQ+-Bewegung des 20. Jahrhunderts markiert. Aus den Ausschreitungen wuchs die "Gay Liberation Front", eine militante Gruppe, die regelmäßige Proteste organisierte und bald Nachahmer auf der ganzen Welt fand. Zusammen mit ihrer Verbündeten Sylvia Rivera gründete Marsha im September 1970 die "Street Transvestite (später:Transgender) Action Revolutionaries", kurz STAR – ein Kollektiv, das sich um wohnungslose Transkids kümmerte. Im East Village richtete STAR Schlafstätten für obdachlose queere Personen ein und versorgte sie dort auch mit Essen. + + +Schwarz und trans, dazu aus prekären Verhältnissen: Marsha verkörperte Intersektionalität, bevor es den Begriff überhaupt gab. Sie war eine Vorkämpferin der Homosexuellenbewegung und protestierte zugleich gegen die Dominanz weißer bürgerlicher Schwuler, dieTransmenschenmanchmal geradezu ablehnten. +"Ich war lange Zeit transphob", sagt Randy Wicker, der in den 1960er-Jahren zu den bekanntesten schwulen Aktivisten der USA zählte. "Ich dachte, Transsexuelle seien in Wahrheit Homosexuelle, die sich besonders schuldig fühlen." Was Transsein wirklich bedeutet, habe er erst später realisiert, erzählt der heute 84-Jährige. Diese Erkenntnis habe er auch Marsha zu verdanken, die zu seiner besten Freundin wurde. +Wicker lebt immer noch in derselben Wohnung in Hoboken, New Jersey, in der er mit Marsha rund zehn Jahre lang zusammenwohnte. Zwei schwarze Engelsfiguren und etliche Fotos erinnern dort an sie. "Meine Wohnung ist ein Tempel für Marsha", sagt Wicker. "Marsha hat mein Leben verändert. Sie war die großmütigste Person der Welt." +Es liegt auch an Wicker, dass Marshas Lebenswerk inzwischen nicht nur von der LGBTQ+-Gemeinde wahrgenommen wird. 2012 kam der Dokumentarfilm "Pay It No Mind" heraus, gespickt mit Wickers Archivmaterial und Erinnerungen. Im selben Jahr wurden die Ermittlungen zu Marshas Tod wieder aufgenommen. Ihre Leiche war im Juli 1992 im Hudson River gefunden worden. +Ob es ein Suizid war, wie die Behörden schnell behaupteten, ist bis heute nicht bewiesen. Wicker und viele andere Freundinnen und Freunde bezweifeln, dass sich Marsha umgebracht hat. Es passte nicht zu ihr, sagen sie. Zu viel Lebensfreude, zu viele Pläne. Ihr Werk jedenfalls bleibt bestehen: 2019 wurde das "Marsha P. Johnson Institute" gegründet, das sich für Schwarze Transmenschen einsetzt. Seit 2020 gibt es in Brooklyn direkt am Wasser den "Marsha P. Johnson State Park", ein Jahr später wurde ganz in der Nähe der Stonewall-Bar eine Statue von ihr aufgestellt. +"Marsha war der erste Schwarze Transmensch, den ich je in meinem Leben gesehen habe", sagt die 22-jährige Qween Jean, eine Schwarze Transfrau, die in New York als Kostümdesignerin arbeitet. Sie habe sie damals in der Bibliothek ihrer Schule auf einem von Andy Warhol aufgenommenen Foto entdeckt. "Das war so ein großer Moment für mich. Ich wollte sofort alles über sie erfahren." +Qween Jean hat aus ihrer Neugierde eine Lebensaufgabe entwickelt. Als vor einigen Jahren zwei ihr nahestehende Transmenschen starben, fragte sie sich: Würde irgendjemand für mich kämpfen, wenn ich sterbe? Würde sich irgendjemand um Gerechtigkeit bemühen? Sie gründete daraufhin die Organisation "Black Trans Liberation", die sich besonders für wohnungslose Schwarze Transmenschen einsetzt. Mehr noch als in Statuen oder Filmen lebt so der revolutionäre Geist von Marsha P. Johnson weiter. + +Titelbild: © Netflix/ Courtesy Everett Collection | Everett Collection/picture alliance diff --git a/fluter/transgender-frage-buch-shon-faye-interview.txt b/fluter/transgender-frage-buch-shon-faye-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..208071fc2fdf1f22d31e2d912274bdc4bd2947cc --- /dev/null +++ b/fluter/transgender-frage-buch-shon-faye-interview.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Der Begriff "trans" bezeichnet Menschen, die sich mit ihrem bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht nicht (vollständig) identifizieren können oder sich von ihm nicht beschrieben fühlen. Manche trans Personen streben eine körperliche (etwa durch Hormone oder Operationen) und/oder soziale Angleichung an das gefühlte Geschlecht an (etwa durch neue Ausweise, einen neuen Vornamen, der nicht dem Geburtsgeschlecht entspricht, oder neue soziale Rollen). Dieser Prozess der Angleichung wird Transition genannt. +Inter Personen sind Menschen, die körperlich nicht eindeutig der medizinischen Norm des weiblichen oder männlichen Körpers zugeordnet werden können. Das Gegenteil von trans oder inter ist cis. Cis Personen oder Cisgender können sich voll mit dem ihnen zugewiesenen Geschlecht identifizieren. +Übrigens: Viele schreiben "trans Person" – also klein und getrennt. Das soll verdeutlichen, dass das trans Sein nur eine von vielen Eigenschaften der Person ist (über gendersensible Schreibweise entscheiden bei fluter.de die Autorinnen und Autoren der jeweiligen Texte). +fluter.de: Das erste Kapitel deines Buches "Die Transgender-Frage" handelt von einem trans Mädchen. Du beschreibst, wiedas Kind von früh an wusste, dass es trans ist. Warum beginnt das Buch mit dieser Geschichte? +Shon Faye: Viele Menschen haben mittlerweile eingesehen, dass trans Personen existieren. Allerdings fällt es einigen immer noch schwer zu akzeptieren, dass auch trans Kinder existieren. Deswegen habe ich die Geschichte dieses jungen trans Mädchens erzählt, das seine soziale Transition bereits durchlaufen hat. Dass viele Menschen ihre Transitionen heutzutage immer nocherst im Erwachsenenalter beginnen, liegt nicht unbedingt daran, dass sie nicht bereits im jungen Alter wussten, dass sie trans sind. Sondern daran, dass die Gesellschaft trans Personen gegenüber erst seit kurzer Zeit offener und toleranter geworden ist. +In deinem Buch kritisierst du die öffentliche Debatte um junge trans Personen. Wo liegt das Problem? +Es gibt nach wie vor bei vielen die Vorstellung, dass, wenn man junge trans Personen an einem Coming-out und einer Transition hindert, man sie lange genug schikaniert und zum Schweigen bringt, man ihre trans Identität aufhalten kann. In der öffentlichen Debatte begründen diese Menschen ihr Handeln damit, Kinder schützen zu wollen. Aus meiner Sicht ist das Gegenteil der Fall: Durch ihre Äußerungen setzen sie die psychische Gesundheit von trans Kindern und Jugendlichen aufs Spiel. Sie schaffen bewusst eine queerfeindliche Atmosphäre, in der Kinder und Jugendliche es nicht mehr wagen, sich zu outen, geschweige denn, eine Transition zu machen. Hinter dem Handeln dieser Menschen steckt die tiefe Überzeugung, dass trans Personen minderwertiger sind als Cis-Personen. +In Deutschland plant die Ampelkoalition das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz, das es Jugendlichen ab 14 Jahren ermöglicht, mit dem Einverständnis der Sorgeberechtigten den Geschlechtseintrag und Vornamen im Personenstandsregister ändern zu lassen. Welchen Stellenwert hat eine solche Gesetzesänderung für junge trans Personen? +Wenn junge trans Menschen, die früh über ihre Geschlechtsidentität Bescheid wissen, Dokumente bei sich tragen, die ihnen ein anderes Geschlecht ausweisen, sagt ihnen die Gesellschaft, dass ihr Leben eine Lüge ist. Sie werden täglich daran erinnert, dass sie nicht als das gesehen werden, was sie sind. Es geht bei dieser Änderung also darum, dass die Gesellschaft die Lebensrealität von jungen trans Personen anerkennt. +Die öffentliche Debatte um das Gesetz ist groß, Kritiker:innen sprechen trans Jugendlichen ab, alt genug zu sein, um solche Entscheidungen zu treffen. +Bei der Änderung des Personenstandes geht es nicht um medizinische Eingriffe am Körper,sondern lediglich darum, Einträge auf Dokumenten ändern zu lassen. Die Entscheidung für diesen Schritt kommt bei den meisten nicht einfach spontan. Deswegen scheint es mir vernünftig, diesen Personen die Autonomie zuzusprechen, ihre rechtlichen Dokumente ändern lassen zu können. In Großbritannien ist das erst ab 18 Jahren möglich, dafür erlauben wir Jugendlichen hier bereits ab 16 Jahren, der Armee beizutreten. Den Personenstand zu ändern ist definitiv eine Entscheidung mit geringerer Tragweite. +Wir lesen und hören derzeit viel zu trans Themen. Dabei machen trans Personen in Europa weniger als ein Prozent der Bevölkerung aus. Wieso sind diese Themen gerade so präsent? +Geschlechterrollen und die binäre Geschlechterordnung formen das Leben von uns allen.Sie formen, wie wir uns selbst sehen, unseren Platz in der Gesellschaft und wie wir das Verhalten anderer interpretieren. Dass trans Personen die Zweigeschlechtlichkeit allein schon durch ihr Dasein infrage stellen, bedroht für manche Menschen den Kern ihrer eigenen Identität und ihrer Interpretation der Welt. Deswegen verspüren manche den Drang, trans Personen ihre Lebensrealitäten und manchmal sogar ihre Existenz abzusprechen. Das kann so weit gehen, dass einige Menschen – zum Beispiel Rechte oder radikale Feministinnen – eine regelrechte Obsession mit trans Personen entwickeln. Ich glaube, letztlich steckt dahinter ein Gefühl der Angst. +Hast du ein Beispiel für eine Debatte über trans Personen, die aus deiner Sicht fehlgeleitet war? +In Großbritannien haben wir eine Lebenshaltungskostenkrise. Die Menschen werden im Winter vielleicht nicht in der Lage sein, ihre Strom- und Gasrechnungen zu bezahlen. Dazu haben den ganzen Sommer über die Bahnarbeiter:innen gestreikt. Und trotzdem haben Rishi Sunak und Liz Truss während ihrer Kandidaturen für das Premierminister:innenamt ausgiebig darüber debattiert, ob trans Frauen wirklich Frauen seien. +Vor kurzem hast du auf Instagram geschrieben: "Ich werde nie wieder mit dem Ziel schreiben, andere davon zu überzeugen, dass trans Menschen es verdienen, ein Leben frei von Feindseligkeiten zu führen. Dieser Teil meines Schaffens ist vorbei." Wie kam es dazu? +Für mich ist es einfach nicht kontrovers, zu sagen, dass trans Personen ein Leben leben sollten, ohne diskriminiert zu werden, ohne das Gefühl vermittelt zu bekommen, sie seien ein Problem. Diejenigen, die dauernd Diskussionen über uns und über unsere Köpfe hinweg führen, sollten sich endlich mal um ihren eigenen Kram kümmern. Diese Buchtour war so verdammt anstrengend. Ich wurde in Rezensionen falsch gegendert, ich wurde online diskriminiert, bei meinen Buchbesprechungen musste eine Security-Person anwesend sein. Ich bin froh, das Buch geschrieben zu haben – und dennoch glücklich, dass dieser Teil meines Lebens bald vorbei ist und ich mich neuen Sachen widmen kann. +Wolltest du das Buch schreiben, oder hattest du eher das Gefühl, dass du es schreiben musstest? +Ich hatte definitiv das Gefühl, es schreiben zu müssen. In einer perfekten Welt müsste ein solches Buch gar nicht existieren. + +Fotos: Stuart Simpson / Penguin Random House diff --git a/fluter/transgender-nur-in-mode.txt b/fluter/transgender-nur-in-mode.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9758b59faee2a5334e74ef7a96013d97e30208bf --- /dev/null +++ b/fluter/transgender-nur-in-mode.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Der Twitter-Account von Hari Nef gleicht dem einer Diva: Sie postet Fotos mit befreundeten Promis, Schmollmund-Selfies und Links zu Werbekampagnen, in denen sie die Hauptrolle spielt. +Dazwischen tauchen aber auch politische Botschaften auf: Tweets, in denen sie kritisiert, dass Filmrollen für Trans-Frauen oft von heterosexuellen Männern besetzt werden. Oder sich beschwert, dass ihr als Trans-Frau bei Fotoshootings kaum Klamotten passen. Scheinbar nebenbei schreibt Hari Nef auch über ihre Hormontherapie oder die Entfernung ihrer Gesichtsbehaarung. Oder darüber, wie aufregend es ist, zum ersten Mal als "Cunt" beschimpft zu werden – als "Fotze" also. +Über ihre Arbeit und ihr Leben postet Hari Nef auf so gut wie allen gängigen Social-Media-Kanälen: Tumblr, Facebook, Twitter und Instagram. Auf letztgenannter Plattform hat sie bereits 26.000 Follower. Dabei ist sie nicht die einzige Trans-Frau, die momentan im Rampenlicht steht. Die Schauspielerin Laverne Cox aus der Kultserie Orange is the New Black schaffte es als erste Transgender-Frau auf das Cover des Time-Magazine. Das erfolgreiche australische Model Andrej Pejic, das früher als androgynes Männermodel auch in Damenkleidern modelte, unterzog sich 2014 einer Geschlechtsumwandlung und änderte seinen Namen in Andreja Pejic. Im selben Jahr eröffnete die thailändische Agentur Apple Model Management eine neue Abteilung, die ausschließlich Transgender-Models vertritt. Seit kurzem gibt es auch in Los Angeles einen solchen Ableger. +Die 22-jährige Hari Nef wurde in einem Männerkörper geboren, fühlt sich aber als Frau. Sie ist Schauspielerin, Performance-Künstlerin und wurde diesen Sommer als erste Transgender-Frau bei IMG Models unter Vertrag genommen – der einflussreichen Agentur, die auch Gisele Bündchen repräsentiert. Ihr Laufstegdebüt hatte Hari Nef auf der New York Fashion Week. Dort trug sie Mode von Eckhaus Latta und Hood By Air. Diesen Sommer modelte sie für Other Stories, eine Marke der H&M-Gruppe. Interessante Randnotiz: Die Kampagne wurde mit einem Team von ausschließlich Transgender-Menschen produziert. +Klickt man sich durch die Transgender-Kategorie auf deren Website, findet man allerdings keine Trans-Männer. Das spiegelt recht treffend ihre Situation auf dem Modelmarkt: Sie haben es noch schwerer als Trans-Frauen. Außerhalb der Szene ist nur Model und Fitnesstrainer Aydian Dowling bekannt, der als Frau geboren wurde. In diesem Sommer machte er Schlagzeilen in der Mainstream-Presse, weil er es ins Finale von "Ultimate Men's Health Guy" geschafft hat – einen Wettbewerb des erfolgreichen Fitnessmagazins, dessen Gewinner auf dem November-Cover der Zeitschrift gezeigt wird. +Was Aydian Dowling mit den prominenten Trans-Frauen gemein hat: Sie treten selbstbewusst auf. Allen voran Hari Nef: Auf Twitter rät sie Trans-Mädchen, die modeln wollen, sich nicht mit weiblichen Models zu messen, die seit ihrer Geburt Frauen sind: "Du bist nicht Natasha Poly, Naomi Campbell oder Liu Wen. Du wirst es nie sein", schreibt sie. "Als Transgender-Frau hast du wahrscheinlich keine perfekten Modelmaße. Das ist nicht schlecht. Aber das bedeutet, dass du andere Qualitäten auf den Tisch bringen musst." +Hari Nef könnte mit dieser Aussage Recht behalten. Der Mode geht es wohl – wie so oft – eher darum, sich abzusetzen, als sich tatsächlich mit den Anliegen der Trans-Community zu befassen. Ein Glück, dass es die Diva Hari Nef gibt, die lautstark im Internet darüber spricht, was es heißt, eine Trans-Frau zu sein – und damit ein Bewusstsein für Gleichberechtigung in der Branche schafft. Wohl deshalb schminkt Hari Nef ihr kantiges Gesicht kaum und trägt mittellange Haare. Mit ihrem androgynen Auftreten will sie eine ganz normale Frau sein, die manchmal Lust auf Make-up hat und manchmal eben nicht.Die gegenwärtige Öffnung der Modeindustrie für Trans-Frauen sieht sie mit einer Portion Skepsis: "Es ist die Trans-Ästhetik, die gerade angesagt ist, nicht die Probleme der Trans-Menschen", sagt Hari Nef in einem Interview mit der Vogue. Die Transgender-Menschen, die in der Modebranche arbeiten, könne man noch immer an einer Hand abzählen. diff --git a/fluter/transition-transgender-detransition.txt b/fluter/transition-transgender-detransition.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..696bc73ca709ed8244f8a36912ba6a89e0cc0967 --- /dev/null +++ b/fluter/transition-transgender-detransition.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Mit diesen Fragen ging Nele zu einem Therapeuten. "Er hat mich dann direkt als Transgender diagnostiziert", erinnert sie sich. Nach einem halben Jahr in Therapie wurde ihr das männliche Geschlechtshormon Testosteron verschrieben. Schon nach kurzer Zeit wurde ihre Klitoris größer, dann die Stimme tiefer, das Becken schmaler und die Brüste kleiner. Statt langen blonden Haaren und Kleidern trug Nele jetzt eine Kurzhaarfrisur – und in der Unterhose eine Penisattrappe. Auch in ihrem Personalausweis vollzog sich die Veränderung von einer Frau zum Mann: Aus Nele wurde Peer. +Nele genoss es, von anderen nicht mehr als Frau angesehen zu werden. Kein Hinterherschauen mehr,kein Gegrapsche,auch im Beruf wurde sie plötzlich ernster genommen. "Als Frau bin ich das Mädchen, das als Hobby malt, als Mann bin ich ein professioneller Illustrator", sagt sie. +Mithilfe einer Dating-App lernte sie den belgischen Transmann Elliot kennen. Die zwei trafen sich zum Kaffeetrinken, verstanden sich auf Anhieb gut und wurden ein Paar. Kurz darauf fand auch Neles lang ersehnte Brustentfernung statt. Für viele Transmenschen ist die Suche nach ihrem wahren Ich an diesem Punkt vorbei – nicht für Nele. +Mit Elliot führte sie weiterhin lange Gespräche über Menschen wie sie und die Art, wie sie von einem Großteil der Gesellschaft gesehen werden. Nele war der Überzeugung, im falschen Körper geboren zu sein, während Elliot glaubte, dass es nicht die Biologie, sondern die Gesellschaft ist, die einen Menschen zu einer Frau macht, zu einem Mann oder auch zu einer Transgender-Person. Dass es also nicht Neles Körper war, unter dem sie gelitten hatte, sondern das, was andere Menschen in diesem Körper gesehen hatten. +Tatsächlich fielen Nele die Blicke ein, die sie schon mit neun gespürt hatte, als sie in die Pubertät gekommen war und ihr Busen sich rasch entwickelte – weswegen sie nicht mehr mit freiem Oberkörper herumlaufen durfte. Die Art, wie die Jungs sie auf der Straße anschauten, hatte sich verändert, manche fassten sie sogar einfach an. "Plötzlich war ich nicht mehr ich,sondern sexy und wurde aufs Hübschsein reduziert", sagt sie heute. Und dass der Wandel vom Kind zur Frau für sie gleichbedeutend gewesen sei mit dem Verlust von Freiheit und dem seltsamen Gefühl, zu einem Objekt degradiert zu werden. +Nele als Junge hieß Peer. Das Testosteron hat die Gesichtszüge markanter gemacht +"Wir leben leider auch in der westlichen Welt immer nochin einer patriarchalischen Gesellschaft. Das kann dazu führen, dass Frauen denken: ‚Ich möchte auch ein Mann sein, damit ich Macht habe und nicht mehr diskriminiert werde'", sagt der Psychologe Jan İlhan Kızılhan, der die Abteilung Transkulturelle Psychosomatik der MediClin Klinik am Vogelsang in Donaueschingen leitet. War das auch bei Nele der Grund? Dass sie nicht vor ihrem weiblichen Körper wegrannte, sondern vor dem, was andere mit diesem Körper machten? Heute sieht sie es so. +Von Nele zu Peer zurück zu Nele. "Detransition" heißt es, wenn sich Transgender-Personen entschließen, ihre Umwandlung wieder rückgängig zu machen. Seit einem Jahr definiert sich Nele wieder als Frau. Die Östrogene machen ihre Gesichtszüge weicher und ihre Hüften breiter, nur die tiefere Stimme wird für immer bleiben. Ihren damaligen Entschluss bereut sie nicht, auch wenn sie sich mit ihrem heutigen Wissen anders entschieden hätte. Und mit ihrer Mastektomie ist sie immer noch zufrieden, weil sie wegen ihrer Brust nicht mehr sexualisiert wird. +Das ist Nele heute. Ihr biologisches Geschlecht hat sie akzeptiert, die gesellschaftliche Rolle dahinter nicht +Nele glaubt, dass sie in der Zeit, als sie sich selbst verletzte und Suizidgedanken hatte, eigentlich gar nicht in der Lage war, eine derart weitreichende Entscheidung zu treffen. Psychologe Jan İlhan Kızılhan stimmt ihr zu: "Zuerst muss man die Störung behandeln und den Patienten stabilisieren. Dann kann man sehen, wie es weitergeht." Auch Andreas Steiert, Chirurg an der Meoclinic in Berlin, sagt: "Ich halte es für einen Kunstfehler, wenn man Patienten, die in einer Borderline-Symptomatik stecken, also in einer instabilen psychischen Situation, operiert." +Neles Therapeut verfolgte damals den sogenannten affirmativen Ansatz, bei dem man davon ausgeht, dass durch die Transition Depressionen, Essstörungen und andere psychische Störungen weichen. Der Transformationswunsch wird dabei von Anfang an nicht hinterfragt oder beurteilt, sondern bejaht und unterstützt. Das soll den Leidensdruck der Patienten mindern. Darüber, ob Geschlechtsumwandlungen oft zu früh empfohlen werden, gibt es noch keine Studien. Fest steht aber, dass die Zahl der Behandlungen gestiegen ist – und auch die der Detransitionen. +Heute sieht sich Nele als Frau, weil es ihr biologisches Geschlecht ist, ohne daraus eine gesellschaftliche Rolle abzuleiten, die sie erfüllen muss. Sie hat ihre eigene Definition von Identität gefunden. + +Anmerkung der Redaktion (07. Januar 2020) +Danke für die zahlreichen, zum Teil kritischen Rückmeldungen zu Neles Geschichte, auf die wir hier kurz eingehen wollen. Es ist in dieser Onlineversion weniger ersichtlich, aber der Artikel ist im Kontext des aktuellenfluter-Heftes zum Thema Wahrheitenerschienen. Wegen dieses Leitthemas hat die Redaktion entschieden, Neles Geschichte in den Mittelpunkt zu stellen – und nicht etwa die Debatten um Detransition, das sogenannte Gatekeeping oder therapeutische Ansätze. +Hier wird auf begrenztem Platz ein Einzelfall geschildert, der in keinem Fall pauschal für alle trans* Menschen zu verstehen ist; es gibt viele Menschen, die ganz andere Erfahrungen gemacht haben. Der Text vereinfacht an mancher Stelle bewusst, weil wir auch für jene schreiben wollen, die wenig Kontakt zu trans* Personen oder noch nie von einer Detransition gehört haben. Über die Vereinfachungen lässt sich ganz sicher streiten; wir wollen mit Neles Geschichte aber nicht für stärkeres Gatekeeping plädieren. Wir freuen uns, dass die Kritik unter dem Artikel einige Begriffe und Zusammenhänge noch mal reflektiert. +Statistisch hält sich der Artikel u.a. an die AWMF,die davon ausgeht, dass sich Zahlen zum Behandlungserfolg bei Geschlechtsdysphorie bislang höchstens schätzen und hochrechnen lassen. Die Zahl der Detransitionen ist gestiegen, scheint aber nach wie vor gering zu sein (Quellenu.a.hier). Weitere Studien laufen. diff --git a/fluter/traurige-geschichte.txt b/fluter/traurige-geschichte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d03629c54a56d725c7aa84362a73a20600ca3312 --- /dev/null +++ b/fluter/traurige-geschichte.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Dabei beziehen sich radikale Nationalisten wie der Verein "Nationalradikales Lager" und die Partei "Nationale Wiedergeburt Polens" meist nicht auf die Hitlerzeit, sondern auf die Tradition extrem nationalistischer und antisemitischer Bewegungen im Polen der 1920er- und 1930er-Jahre. Auch während des Kommunismus nach dem Zweiten Weltkrieg betrieb die Regierung gezielt antijüdische Propaganda, die bei manchem bis heute nachwirkt. Dabei leben im heutigen Polen nur noch 8.000 bis 12.000 Menschen jüdischen Glaubens. Vor dem Krieg waren es etwa dreieinhalb Millionen. Das hält die Rechtsextremen aber nicht davon ab, gegen sie zu hetzen. Sie wenden sich auch gegen Ausländer, verteufeln die EU, bedrohen Schwule und Lesben, hassen die Demokratie und wollen ein "Polen nur für Polen". Anders als für deutsche Rechtsextreme ist für viele polnische Nationalisten auch die Kirche wichtig. Das Polen der Zukunft soll nicht nur weiß und judenfrei, sondern auch konservativ-katholisch sein. Wie widersprüchlich das Verhältnis mancher polnischer Rechtsextremer zum Zweiten Weltkrieg und den Nazis ist, zeigt das Beispiel der "Allpolnischen Jugend", deren gut 3.000 Mitglieder regelmäßig gegen den deutschen Nachbarn hetzen. Dennoch kursieren Videos, in denen Mitglieder der Gruppe vor einem brennenden Hakenkreuz stehen und "Sieg Heil" rufen. +Auch auf Demos werden gern Parallelen zu den Nazis gezogen, wenn es darum geht, andere zu verunglimpfen: Schwule werden als "Kranke" und "Perverse" bezeichnet und sollen "ins Gas" geschickt werden. "Sie rufen, dass sie mit uns das machen wollen, was Hitler mit den Juden gemacht hat", sagt Agnieszka Wisniewska von der linksliberalen Denkfabrik "Krytyka Polityczna". Sie hält die Entwicklung der extremen Rechten in Polen für gefährlich. "Die Medien in Polen sehen nicht, dass hinter rassistischen und antisemitischen Taten eine gemeinsame Ideologie steckt." Die Medien seien nicht das einzige Problem, wenn es um den Umgang mit den radikalen Nationalisten geht. "Rechtskonservative Publizisten und Abgeordnete der Partei PiS bezeichnen sie öfter als ,gute Patrioten'. Wenn es für Rechtsradikale so einfach ist, Teil des Mainstreams zu werden, ist das extrem bedenklich", sagt Wisniewska. Jüngstes Beispiel für die bisweilen unscharfe Trennlinie zwischen Rechtspopulisten und Rechtsradikalen sei der Aufmarsch am polnischen Unabhängigkeitstag im vergangenen November gewesen, den radikale Nationalisten organisiert hatten. Judenhetze und andere radikale Slogans waren verboten, offiziell hieß die Demonstration "Unabhängigkeitsmarsch", um möglichst viele normale Bürger anzuziehen, die für mehr Patriotismus eintreten wollen. An der Demonstration nahmen Nationalisten und Skinheads, aber auch Familien teil. "Der Begriff Patriotismus ist in Polen extrem positiv besetzt", sagt Wisniewska. "Hinter der patriotischen Fassade dieser Leute steckt aber eine Vorstellung von einem Land, in dem nur weiße, katholische, heterosexuelle, antidemokratische, antisemitische Menschen leben." +Die Ereignisse am Unabhängigkeitstag waren auch ein erneuter Beleg für enge Verbindungen der Rechtsextremen zur Hooliganszene. Gemeinsam mit den Nationalisten gingen Hooligans des Erstligaclubs Legia Warschau auf die Straße und zettelten Straßenschlachten mit der Polizei an. Eine kleine Minderheit der Fans sorgt so dafür, dass Gewalt und Rassismus zum Alltag in vielen Stadien gehören. Ein Marsch von mehreren Hundert "Fans" in Rzeszów hinter einem Transparent mit der Aufschrift "Hier kommt die arische Horde" ist nur einer unter mehr als 130 Vorfällen, die "Nie wieder" allein zwischen September 2009 und März 2011 in und um polnische Stadien herum dokumentierte. Strafrechtlich verfolgt werden solche Aktionen selten. Meist verurteilt der polnische Verband die Vereine zu geringen Geldstrafen oder einigen Spielen vor leeren Rängen. Auch außerhalb der Stadien sind Polizei und Staatsanwaltschaft nicht dafür bekannt, besonders engagiert gegen Rechtsextreme vorzugehen. Der Zeitung "Gazeta Wyborcza" zufolge werden in Polen vier von fünf Anzeigen wegen Aufstachelung zum Rassenhass vor Gericht abgeschmettert, oft leiten die Staatsanwälte keine Ermittlungen ein. +Angesichts des Sicherheitsrisikos, das die Hooligans für die Fußball-EM im Sommer darstellen, hat die polnische Regierung die Gesetze verschärft. Schnellgerichte sollen Straftäter noch im Stadion aburteilen. Es ist geplant, Hooligans mit Stadionverbot elektronische Fußfesseln anzulegen, um sicherzugehen, dass sie nicht in die Nähe der Spielorte gelangen. Auch die Bundesregierung gibt Sicherheitskonzepte weiter, die sie während der WM 2006 angewendet hat. Das Hooligan-Problem hat auch eine politische Dimension. "Die Rechtsextremen versuchen, unter den Hooligans Mitglieder zu werben", sagt Rafał Pankowski. "Nie wieder" kämpft deshalb seit Jahren gegen Antisemitismus und Rassismus in den Stadien und führt in den Monaten vor der EM gemeinsam mit dem europäischen Fußballverband eine Anti-Rassismus-Kampagne durch. Pankowski ist optimistisch, dass man damit die Situation deutlich verbessern kann. +Dass Arbeit gegen Rechtsextremismus wichtig ist, hat auch die Politik erkannt. Das Ministerium für Sport und Tourismus arbeitet seit einiger Zeit mit "Nie wieder" zusammen, um gegen die Probleme im polnischen Fußball anzugehen. Vertreter der Organisation werden mittlerweile als Experten in den Sejm (das polnische Parlament) eingeladen, und Gründer Marcin Kornak hat kürzlich einen Orden von Präsident Komorowski erhalten. Die Nazi-Skandale um die Allpolnische Jugend und das martialische Auftreten der Nationalisten haben auch dazu geführt, dass bei Wahlen nur eine winzige Minderheit für die Radikalen stimmt. Im Parlament sitzt keine rechtsextreme Partei, stattdessen ist 2011 die linksliberale Ruch Palikota in den Sejm eingezogen. Neue Untersuchungen deuten auch darauf hin, dass die Zustimmung zu antisemitischen Vorurteilen deutlich abgenommen hat, auch wenn sie immer noch hoch ist. Jeder zweite Pole ist der Meinung, dass Juden zu viel Einfluss im Lande haben, in Deutschland denken das "nur" 20 Prozent. Dass Juden die Kultur des Landes nicht bereichern, glauben laut Umfragen ebenfalls fast 50 Prozent der Polen. +Dass der Rechtsextremismus in Polen kein Phänomen benachteiligter Schichten ist, zeigt die Geschichte von Arkadiusz Karbowiak. Vor einigen Jahren kam heraus, dass Karbowiak, damals noch Vizebürgermeister von Opole in Schlesien, in den 90er-Jahren für ein antisemitisches Hetzblatt geschrieben hat. Darin stellte er infrage, ob es sich bei den Nazi- Gräueltaten wirklich um Verbrechen handele. Seiner Karriere geschadet hat der Skandal kaum: Vor Kurzem wurde er zum Direktor der Straßenbehörde ernannt. diff --git a/fluter/trauriger-stoff.txt b/fluter/trauriger-stoff.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c937aa0b8eed50c2c40a2c4ff529dac8fea6ec02 --- /dev/null +++ b/fluter/trauriger-stoff.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Leider ist das kein Einzelfall. Schätzungen zufolge arbeiten rund 500.000 Kinder auf Indiens Baumwollfarmen, die das erste Glied in der Produktionskette der internationalen Textilindustrie sind. Ohne Kinder können wir kein Geld verdienen, sagen die Farmer. Schuld seien Konzerne wieMonsanto, Syngenta und Bayer, die ihnen zu geringe Preise für die Baumwollsaaten zahlten. +Die Bayer AG weist solche Vorwürfe auf unsere Anfrage hin zurück: "Hier scheint ein Missverständnis vorzuliegen", betont ein Unternehmenssprecher. "Wir lehnen jede Form von Kinderarbeit entschieden ab." +Das Unternehmen verweist auf entsprechende Verpflichtungen entlang der Lieferkette und darauf, dass in der Hauptsaison 2014/2015 mehr als 75.000 Feldarbeitskräfte überprüft worden seien. Zudem betreibe man ein Programm für mehr Schulbildung und Reintegration von ehemaligen Kinderarbeitern. diff --git a/fluter/tream-schlagerrap-bayern-provinz.txt b/fluter/tream-schlagerrap-bayern-provinz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..39f8a40cebaa600b278a2b91127ecab2c74a5afc --- /dev/null +++ b/fluter/tream-schlagerrap-bayern-provinz.txt @@ -0,0 +1,34 @@ +Auf der Bühne steht ein junger Mann in Lederhose und mit weiß-blau kariertem Halstuch, 26 Jahre alt, hochgewachsen, dunkle Haare, Undercut. Tream ist Deutschlands erster Schlagerrapper oder nennt sich zumindest selbst so. Mit ihm auf der Bühne: DJ Phiphi, ein alter Klassenkamerad, und sein Freund Bollog, der im Hintergrund rappt. Backstage wartet eine ganze Reihe von Freunden aus seinem Heimatdorf. +"Ich weiß, dass euch Social Media wichtig ist", ruft Tream in breitestem Bayerisch von der Bühne. "Aber wisst ihr was? Da geht es nurdarum, wie man aussieht. Wisst ihr, was ich davon halte?" Kurze Pause. "Einen Scheiß halt ich davon!" +Tream zieht das Hemd nach oben, entblößt einen kleinen Bierbauch. Und rappt weiter. + +Die Wampe, sie sitzt, egal wo ich bin, Gang-LifeIch komm mit der Clique und mach ihr ein Kind, GangsignsVom Weiher, ich kipp nur Weizen, bin dicht, Best Life + +Aus den Lautsprechertürmen dröhnen harte Beats, eine Mischung aus Rap, Partyschlager und Elektro. Tream rappt vom 3er-BMW, der Fahrt mit drei Promille durchs Dorf und von Sex hinter dem Bierzelt. Bayernklischees, die wie alle Klischees immer mindestens ein bisschen wahr sind. "Sie ist dumm, aber dafür gut zu schebbern, Oida." Das röhren sogar die Frauen mit.Sexismus? Egal. Hier ist nicht München und schon gar nicht Berlin. "Prost, ihr Säcke!" – "Prost, du Sack!" – "Auf die Weiber!" – "Zack, zack, zack!" +Frauen, Geld, Drogen, im Rap sind das vertraute Themen. Im Partyschlager auch: Dort sind die Texte nicht unbedingt sanfter, nur die Tonlage. Die Verbindung von Rap und Schlager ist nicht neu. Shirin David sang mit Helene Fischer, Apache 207 mit Udo Lindenberg, Bushido mit Karel Gott und Ski Aggu mit Otto Waalkes. Das Konzept hat Tradition, Tream macht es zu seinem Markenkern. + +Damit hat er Erfolg. Seit zweieinhalb Jahren laufen die Fans Tream zu, nicht nur in Aichach. Seine Touren sind ausverkauft, mühelos füllt er die größten Hallen des Landes. Wer ist dieser Mann? Und was schätzen seine Fans an ihm? +Tream, Timo Grabinger mit bürgerlichem Namen, lebt in Büchelkühn an der Naab. Rund 1.000 Einwohnerinnen und Einwohner, Einfamilienhäuser, große Gärten, Obstbäume, Pferdekoppeln, Holzbalkone, Geranien. Bayerische Idylle. Und mittendrin der Landgasthof Grabinger, geführt in vierter Generation. +Vater Grabinger, Mitte 50, steht am Tresen des Landgasthofs. Er poliert Gläser und sagt "Grüß Gott" mit dieser strengen Herzlichkeit, die nur Wirtsleute beherrschen. Gäste sind noch keine da, die Oma und die Stiefschwester sitzen am Tisch, drei Hunde liegen auf dem Boden. Timo betritt den Gastraum, er trägt das blau-weiße Tuch, sein Markenzeichen, zapft sich ein Weißbier, nimmt es mit auf die Hotelterrasse und zündet sich eine Zigarette an. Ein freundlicher junger Mann, schüchtern fast. Kann losgehen. +Wie alles begann? Irgendwann 2014. Timo geht in die Zehnte, Realschule. Er hört Shindy im Schulbus, er will auch Rapper werden, und er meint es ernst. Heißt für ihn:Schule abbrechen, ab jetzt nur noch Musik. "Das musst du dir mal vorstellen", sagt Timo heute, "ein halbes Jahr vor dem Abschluss, das war schon sehr dumm." Er lacht. +Sein Vater war logischerweise nicht begeistert. +"Dabei war ihm Musik immer sehr wichtig. Er war der Grund, weshalb ich Gitarre gelernt habe", erzählt Timo. Der Deal: Wenn er schon die Schule abbricht, muss er wenigstens eine Ausbildung machen. Er holt den Mittelschulabschluss nach und beginnt eine Ausbildung zum Koch. +Aber Timo und die Küche, das passt nicht. "Ich ziehe meinen Hut vor jeder Köchin und jedem Koch, aber für mich war das auf Dauer nichts." In seiner Freizeit stellt er die ersten Songs ins Internet, dreht Videos, nennt sich Tream: Timos Dream, ganz einfach. Aber seine Karriere als Rapper will erst mal nicht zünden. + + +Er muss Zeit gewinnen, macht nach der Lehre das Fachabitur und schreibt sich an einer privaten Hochschule in München ein. Fachrichtung: Music Business. "Ganz andere Welt", sagt Timo. Warm werden er und diese Welt nie miteinander: Großstadt ist nicht sein Ding, das Studium läuft so mittel, dazu die Pandemie. Wann immer es geht, fährt Timo zurück nach Büchelkühn. +Hier ist er aufgewachsen, hier sind seine Freunde, hier ist seine Familie. Alle sprechen denselben Dialekt, alle lachen über die gleichen Witze. Hier kann Timo angeln, hier kann er mit seinen Freunden im Gartenhaus sitzen. Er muss niemand sein, er ist schon jemand. Und da dämmerte es ihm: "Ich dachte mir: Warum schreibe ich Lieder über Dinge, von denen ich keine Ahnung habe? Warum schreibe ich nicht ein Lied über das, was ich wirklich mache?" +In"Lebenslang"erzählt Timo von Freunden, die für immer bleiben, vom Bier, das sie zusammen trinken, und von der Heimat. Kurz: vom Leben und dem Zusammenhalt in der Provinz. + +Bin in mei'm Dorf und ich bleib'Wir hab'n den heißeren ScheißB-B-Bayern go highIch bin nie wieder allein + +Der Song ist sein Durchbruch. Für viele Musikerinnen und Musiker wäre das der Moment für einen Plattenvertrag. Nicht für Tream, aus Prinzip: Tream wird ein Familienunternehmen, so wie das Hotel seines Vaters eines ist. Auf Tour begleiten ihn seine Freunde. Sie bauen die Bühne auf, machen den Soundcheck und legen auf – obwohl sie alle eigene Jobs haben. +Wie das funktioniert? "Ja mei, der eine studiert, das ist ganz praktisch, der andere ist gerade arbeitslos, auch praktisch", sagt Timo, ein bisschen verschämt. "Und alle anderen, mei, die sind dann halt mal a bissl krank." +In der Welt von Tream geht es nicht um Migrationsfragen oder Queerfeminismus,sensible Sprachegibt es nicht. Er macht Musik für die vielen Menschen, die nicht an jeder politischen Diskussion teilhaben müssen, zumindest nicht an denen, die in den urbanen Bubbles geführt werden. Musik für die, die sich nicht mit ihrer Weltgewandtheit profilieren wollen. +"Ich bin auch aus einem Dorf mit 500 Einwohnern, da hat man einfach andere Themen", sagt Annika. Sie ist 28, lebt mittlerweile in Hamburg und hat Tream schon zweimal live gesehen. "Und die ländlichen Probleme,zum Beispiel der Milchpreis, werden zu wenig behandelt", sagt sie. Das sei in der Politik nicht anders als im Deutschrap. "Generell fühlt man sich auf dem Land oft außen vor." +Spricht man mit anderen Fans, kommt einem Treams Musik vor wie eine große Rückbesinnung: auf die Heimat, auf den engsten Kreis. Eine Welt, in der nicht jeder Streit ausgetragen wird, sondern einfach mit ein, zwei, drei, vier Bier runtergeschluckt werden kann. Wenn Treamdie bayerische Provinzbesingt, besingt er eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit, ein Gefühl von Heimat ohne überzogenen Patriotismus und geschlossene Grenzen. +Ein paar Wochen später, ein Donnerstagabend weit weg von Bayern. Während sich in Dortmund die Konzerthalle füllt, trinkt Timo backstage einen großen Schluck Wasser. Ohne Kohlensäure und auf Zimmertemperatur, das ist seinem Bruder Jan wichtig. Auf dieser Tour muss Timo sich und seine Stimme schonen: weniger Bier, weniger Zigaretten. "Heute muss ich wieder Hochdeutsch sprechen, oder?", fragt Timo in die Runde. Zustimmendes Nicken. "Streng dich halt ein bisschen an, ordentlich zu sprechen, ganz bekommst du es eh nicht raus", sagt Jan. +Der Vorhang geht auf, eine bayerische Wirtshauskulisse erscheint. Eine Bierbank, ein Gerstenstrauß, Heuballen, ein Holzschild mit der Aufschrift "Gasthof Kaspar Grabinger", benannt nach Timos Ururgroßvater. Vom ersten Song an hat er das Publikum, alle singen mit. Aber Tream ist nicht nur hier, um zu singen. "Wir sind heute nicht ganz vollzählig, eigentlich wäre auch unser Freund Bollog dabei. Der hat für heute nicht freibekommen, er ist nämlich Maurer", erzählt Timo. "Aber sagt's mal, sind hier im Publikum noch andere Maurer?" Einige Fans heben die Hand, andere applaudieren. +Dieser Text istim fluter Nr. 93 "Rap"erschienen +Dann erzählt Timo von seinem Vater, der hinterm Tresen schuftet, von sich und seiner Ausbildung zum Koch. Sein Publikum hört aufmerksam zu. "Und jetzt sagt's mal, wer von eucharbeitet auch im Handwerk?" Hunderte Hände gehen in die Luft, der Applaus wird lauter. Wer ist Bauer? Wer kommt aus dem Dorf? Jetzt sind fast alle Hände in der Luft, der Applaus hört gar nicht mehr auf. +Vielleicht ist es das, was Tream so erfolgreich macht. Er bleibt vermeintlich unpolitisch, zumindest geht es bei ihm nicht darum, was schlecht läuft in diesem Land. Er kritisiert nicht, er lobt. Er bewegt sich zwischen Stadt und Land, holt die Leute da ab, wo sie stehen, kann eine Seite einnehmen, ohne die andere anzugreifen. Und dann fängt er auch schon wieder an zu singen. diff --git a/fluter/trennschaerfe.txt b/fluter/trennschaerfe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/trennung-k%C3%BCnstler-werk-pro-contra.txt b/fluter/trennung-k%C3%BCnstler-werk-pro-contra.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d7398d1484d684cac30fa7b33008be187813bff6 --- /dev/null +++ b/fluter/trennung-k%C3%BCnstler-werk-pro-contra.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +In einer Netflix-Show sitzt der US-Rapper Jay-Z bei David Letterman. Und der mittlerweile rauschebärtige Talkaltstar fragt, ob das eigentlich alles wahr ist,was Rapper so reimen. Eine ganz einfache und zugleich megakomplexe Frage, zielt sie doch ins Herz einer kunsttheoretischen Debatte, die viel älter ist als dieHip-Hop-Oldschool. Jay-Z aber muss nicht lange überlegen: "Natürlich nicht." 90 Prozent seien selbstverständlich erfunden. +Letterman hätte auch gleich fragen können: Darf man Künstler*in und Werk trennen? Nein, man muss sogar, wäre die Antwort. Jedenfalls nach Jay-Z, Roland Barthes, Michel Foucault und vielen anderen Poststrukturalist*innen. Dass in den Debatten um R. Kelly, Michael Jackson, Roman Polański und wie sie alle heißen, die Schaffenden oft völlig mit ihrem Werk verschmelzen, ist erstaunlich. +Im 20. Jahrhundert wurden große theoretische Anstrengungen unternommen, Autor und Werk zu trennen. Und zwar mit dem Ziel, den Geniekult zu beenden, der in der Romantik entstand: Die Deutungshoheit über das Werk hat nicht mehr der Autor, sondern der Leser. Der Aufsatz "Der Tod des Autors" von Roland Barthes gehört nicht ohne Grund zu den heiligen Texten des 20. Jahrhunderts: In ihm steckt ungemeines Empowerment, er lädt zum Selberdenken ein. Ganz anders als der denkfauleHashtag-Aktivismus, der so manche wichtige kritische Auseinandersetzung gleich mit stummstellt, sobald Anschuldigungen auftauchen. +Seien wir doch bitte nicht so naiv: Auch jemand, der eineJahrhundertbassline wie die von "Billie Jean"schreiben kann, ist möglicherweise ein übler Mistkerl,der hinter Gitter gehört. Große Kunst wird auch von schlimmen Menschen gemacht. Michael Jackson war so einer. Und natürlich ist es falsch, dass er ungesühnt davongekommen ist. Übergriffe, Missbrauch und Gewalt gehören bestraft. Sie sind aber eine Frage der Justiz, nicht der Kunst. Ich höre auch nicht mehr gerne Michael Jackson, aber nicht jeder, der ein Verbrechen begangen hat, muss als Künstler*in gleich mundtot gemacht werden. Diesen Stummschalten-Rigorismus halte ich für gefährlich. +Seine logische Folge wäre, dass nur das Werk makelloser und straffreier Menschen Kunst sein darf. Der Gedanke ist bedrückend und seltsam autoritär. Wohin würde das führen? Dürfen sich nur bestimmte Menschen kreativ äußern? Bräuchte man ein Berufsverbot für alle, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind? Dann gäbe es keinen Hip-Hop und auch keinPussy Riot. Dürfte man Kunst, die über moralische Reinheit der Künstler*in legitimiert ist, dann überhaupt noch kritisieren – wo sie doch so gut gemeint ist? Müsste sie nicht letztlich von irgendjemandem als Kunst genehmigt werden? Welche Behörde stellt die Erlaubnis aus? Ist das dann wie in der DDR, wo man die sogenannte "Pappe" brauchte, einen Berechtigungsschein, um auf Bühnen aufzutreten? +Klar, Richard Wagner war Antisemit. Aberseine Musik ist nicht antisemitisch. Der Dirigent Daniel Barenboim würde allen etwas geigen, die fordern, dass man Wagner stummschaltet. Barenboim dirigiert Wagner, auch in Israel. Das ist mutig, aber nötig, um die Auseinandersetzung mit einem so schwierigen Komponisten nicht abzuwürgen. Sonst hieße stumm allzu oft auch dumm. + + +Felix Denk schreibt über die politische Dimension von Musik, Literatur, Kino, Essen und Trinken. Ginge es dabei nicht immer wieder um Ungerechtigkeiten, Halbseidenes und moralische Verkommenheit, würde er den Job nicht seit vielen Jahren machen. + + +Collagen: Renke Brandt +entgegnet Johann Voigt + +Emil Nolde, Richard Wagner, Leni Riefenstahl, Woody Allen, R. Kelly, Kevin Spacey, Roman Polański, Michael Jackson, Peter Handke, Gzuz. Egal aus welcher Kunstrichtung, egal aus welcher Generation: Ständig soll ich lernen, das Werk von den Künstler*innen zu trennen, die sich falsch verhalten haben. Warum eigentlich? +Die Forderung ist mittlerweile eine genauso leere Phrase wie "Kunst kommt von Können". Und: Sie ist nicht nur nicht mehr zeitgemäß, sie war es noch nie. Die Trennung vermittelt Künstler*innen als unantastbare Genies, die sich von der Gesellschaft und Privatperson entkoppeln, wenn sie Kunst schaffen. Das hat noch nie der Realität entsprochen: Künstler*innen sind keine bipolaren Fabelwesen – auf der einen Seite Kunstproduktionsroboter, auf der anderen Seite Mensch. Sie kreieren immer auch als die Menschen, die sie sind, entlang der Werte, die sie teilen. +Wir sollten die Person dahinter also unbedingt mitdenken, wenn wir hören, lesen oder schauen – und sie bitte auch danach bewerten. Vor allem, um reaktionäre, diskriminierende undsexistische Haltungen nicht einfach unreflektiert durchzuwinken, nur weil sie uns als Kunst begegnen. +Richard Wagner wird beispielsweise von vielen Klassikfans sehr zu Recht als Genie wahrgenommen. Gleichzeitig war Wagner ein glühender Antisemit, verfasste unter Pseudonym die judenfeindliche Kampfschrift "Das Judenthum in der Musik". +Natürlich kann man Wagner hören, ohne davon zu wissen oder die Schrift beim Hören mitzudenken. Aber es ist ignorant. Gegenüber den Opfern desHolocaust, gegenüber allen enteigneten, entbürgerlichten und verfolgten, auch gegenüber allen noch lebendenJüdinnen und Juden, für die Antisemitismus immer noch Alltag ist. Man darf Wagner hören. Aber nicht, ohne ihn für seine Haltung zu verurteilen. Auch wenn der mögliche Zwiespalt – zwischen dem Fan, der man vielleicht mal war, und der Haltung, die man vertritt – schmerzt. +Das Dilemma wird bei heutigen Acts noch offenbarer, gerade beim um Authentizität bemühten Rap. Viele Karrieren bauen auf der Behauptung auf, real zu sein. Zum Beispiel die von Gzuz. Die Menschen glauben, was er rappt. Auch wenn dabei Frauen heimlich Drogen ins Glas geschmissen bekommen, sexuell belästigt oder backstage "zerfetzt" werden. Ob Kunstfreiheit oder nicht:Hier bringt die vermeintliche Kunstperson Gzuz nichts anderes auf die Bühne als die Gedankenwelt des Kristoffer Jonas Klauß (wie Gzuz bürgerlich heißt). +Wer diese Lieder reinen Gewissens hören kann und problematischen Künstler*innen unreflektiert eine Bühne gibt, verhöhnt nicht nur Menschen, die unter dieser Kunst oder ihren Urheber*innen leiden. Er verschenkt auch eine gesellschaftliche Chance: Jeder Klick bei Spotify oder Netflix, jeder Cent im Buchladen oder Kino ist auch ein politisches Gut – mit dem wir uns mit bestehenden Strukturen einverstanden erklären.Solange sie Geld einspielen, haben problematische Künstler*innen auch große Reichweiten. Niemand muss das unterstützen. + + +Der eine Johann Voigt schreibt über Pop, für die "taz", "Die Zeit" oder "Das Wetter". Der andere schaut dreimal hintereinander dasselbe slowakische Graffitivideo und freut sich darüber. + diff --git a/fluter/treppenwitz.txt b/fluter/treppenwitz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/treuhand-nachwendezeit-einfach-erklaert.txt b/fluter/treuhand-nachwendezeit-einfach-erklaert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fcf5c24d1d381bbd04dab4eb8f4863ae201c49b7 --- /dev/null +++ b/fluter/treuhand-nachwendezeit-einfach-erklaert.txt @@ -0,0 +1,31 @@ +Erklären Sie doch kurz, was die Aufgabe der Treuhandanstalt war. +Sie sollte die sozialistische Planwirtschaft in die kapitalistische Marktwirtschaft überführen – und das möglichst schnell und effizient. Dazu wurde sie im Sommer 1990 von den beiden deutschen Regierungen der DDR und der Bundesrepublik beauftragt. +Damit wurde die Treuhand zum größten Arbeitgeber der Welt. +Sie war für die 8.500 DDR-Betriebe zuständig. 1990 arbeiteten hier noch vier Millionen Menschen. Die Treuhandanstalt stand vor einer historisch einmaligen Aufgabe: Die Planwirtschaft war stark durch das SED-Regime geprägt, alles wurde von einer Stelle in Berlin zentral vorgegeben. In der DDR fehlte der Wettbewerb und der Markt – also alles, was den Kapitalismus ausmacht. Deshalb holte die Politik Manager und Unternehmer aus dem Westen, die die Treuhand führen sollten, weil die ja am besten wissen, wie Marktwirtschaft funktioniert. + +In der ehemaligen Treuhand-Zentrale in Berlin ist heute das Bundesfinanzministerium untergebracht. 1992 wurde das Gebäude Detlev Rohwedder gewidmet, dem ermordeten Chef der Treuhand + +Als die Treuhand 1994 einen Großteil ihrer Aufgaben erledigt hatte, hinterließ sie knapp 270 Milliarden D-Mark Miese statt, wie erhofft, 600 Milliarden DM Gewinn. Von vier Millionen Arbeitsplätzen waren nur 1,5 Millionen übrig geblieben. Wie kam es dazu? +Man geht davon aus, dass nur ein Drittel der Betriebe rentabel wirtschaftete. Die Planwirtschaft hatte zum Ende der DDR eine Menge Probleme: Man war von westlichen Technologien abgeschottet, viele Betriebe wurden ineffizient geführt, Arbeiter hatten keine sinnvollen Aufgaben und wenig zu tun. Dazu kam eine starke Umweltverschmutzung. Es war klar, dass sich schnell etwas ändern musste, um in der Marktwirtschaft zu bestehen. Das, was im abgeschotteten Sozialismus vielleicht noch viel wert war, war unter der Bedingung des offenen Wettbewerbs auf europäischer und globaler Ebene eben nichts mehr wert. +Marcus Böick, 1983 in Sachsen-Anhalt geboren, hat zur Treuhandanstalt geforscht und arbeitet als Historiker an der Ruhr-Universität Bochum +Wobei die staatliche Versicherung sehr schnell an die Allianz in München verkauft wurde, Teile der DDR-Staatsbank wurden von Deutscher und Dresdner Bank übernommen, Konsum hieß bald Aldi … +Es gab Bereiche, die sehr attraktiv waren: Finanzdienstleistungen, Transport, Zeitungen, Bauwesen, Gesundheitswesen, Tankstellen, Hotels. Da war klar: Das wird auch in Zukunft nachgefragt. Die Investoren standen Schlange, und die Treuhand musste aufpassen, dass Betriebsdirektoren nicht an ihr vorbei irgendwas verkauften. Mehrheitlich musste sie sich aber um sehr große Betriebe aus der Schwerindustrie, um Bergbau, Werften oder Automobil- und Textilfabriken kümmern. Dafür gab es nach der Wende einfach keine Nachfrage mehr. Die Kapazitäten konnte man relativ einfach aus der eigenen westdeutschen Produktion bespielen. Und gerade bei diesen oft gigantischen Betrieben, die wie Steine im Schaufenster der Treuhand lagen, kamen die Konflikte auf. +Das Vorgehen der Treuhand führte zu großem Protest. Menschen gingen zu Montagsdemos auf die Straße, die Belegschaft in einem Bergwerk trat in den Hungerstreik, 1991 ermordete mutmaßlich die Rote Armee Fraktion den Treuhand-Chef Rohwedder. Welche Fehler hat die Treuhand gemacht? +Die rund 4.000 Mitarbeiter standen unter extremem Druck. Sie konnten sich nicht monatelang auf diese Aufgabe – für viele übrigens der Höhepunkt ihres Berufslebens – vorbereiten. Aber einen Fehler hat man gewiss gemacht: Diekulturellen Fragen und Aspekte der Anerkennung wurden unterschätzt. Vieles hat man von oben herab, sehr schnell und sehr technokratisch entschieden. Die Entscheidungen fällten Manager aus dem Westen, die sich für die harten betriebswirtschaftlichen Dinge zuständig fühlten. Mit allem anderen sollte sich die Politik beschäftigen, doch die hielt sich bewusst im Hintergrund. Diese kulturellen Reibungen zwischen Ost und West wurden aber nie richtig behandelt und verarbeitet. +Viele bewegt die Frage, ob die Treuhand wirklich so radikal und so schnell handeln musste. +Die Chefin Birgit Breuel hatte das Motto ausgerufen: "Wir müssen uns so schnell wie möglich überflüssig machen." Tatsächlich gab es zwischen den Abteilungen einen regelrechten Privatisierungswettstreit. +Ein Vorgehen, das auf viel Kritik stieß. +Es gab durchaus auch Reibungen zwischen den Treuhand-Mitarbeitern. Einige Manager hätten lieber mehr Zeit für Sanierungen in Eigenregie gehabt. Anderen wiederum ging es mit den Verkäufen noch immer nicht schnell genug. Dieser Gegensatz spielte auch an der Spitze eine gewisse Rolle: Während Rohwedder anfangs noch stärker auf eigene Umbaumaßnahmen setzen wollte, setzte seine Nachfolgerin Breuel auf eine schnellere Gangart. Auch außerhalb war dies enorm umstritten: Vielen Kritikern ging es einfach zu schnell. Die Betriebe hätten erst mal für einige Jahre in staatlichem Besitz bleiben können; statt schneller Privatisierung also eine langfristige Sanierung. Um solche Fragen zu klären, fordern mehrere Parteien gegenwärtig Untersuchungsausschüsse zur Treuhand. + + + +Seit 25 Jahren gibt es die Treuhand nicht mehr. Kann man dieses Kapitel nicht langsam abschließen? +Die Nachwendezeitprägt unsere Gegenwart bis heute sehr stark. Warum gibt es diese Ost-West-Konflikte noch? Warum finden viele Menschen in Ostdeutschland, dass Marktwirtschaft und Demokratie keine Erfolgsmodelle sind? Um die tieferen Ursachen dafür zu finden, müssen wir auch auf die Treuhand schauen. +Würden Sie sagen, dass der Osten tatsächlich vom Westen übernommen wurde? +Diese Frage ist stark umkämpft. Das sieht man auch daran, dass es noch kein allgemeingültiges Wort für das gibt, was da in den Jahren ab 1989 geschah. Viele sprechen von "Wiedervereinigung" und "Einheit". Linke Kritiker behaupten, dass der Westen den Osten "kolonisiert" oder "übernommen" habe. Das Tragische ist, dass die Ostdeutschen ihr Schicksal ja selbst gewählt haben. +Wieso? Weil sie etwa die friedliche Revolution angestoßen haben? +Das auch. Aber noch mehr, weil sie so schnell wie möglich die D-Mark und die West-Produkte wollten. Mit den ersten freien Wahlen im März 1990 entschieden sich die DDR-Bürger für eine sofortige Einheit und damit auch für eine rasche Wirtschafts- und Währungsunion. Das bedeutete aber auch einen dramatischen Umbruch der Wirtschaft mit vielen Betriebsschließungen und Massenarbeitslosigkeit. In den Augen vieler war dafür die verhasste Treuhand verantwortlich. Dabei war die Gründung einer Treuhand ursprünglich die Idee sogar von Oppositionspolitikern. Diese hatten am Runden Tisch vorgeschlagen, eine Institution zu gründen, die das Volksvermögen unter den gut 16 Millionen DDR-Bürgern aufteilt. +Uns beiden als DDR-Tischler hätte also jeweils ein Sechzehnmillionstel des Volksvermögens, rund 39.000 DM, zugestanden. Klingt doch gut. +Diese Idee war schnell vom Tisch. Am 1. Juli 1990 wurde im Eiltempo die D-Mark eingeführt. Der Wert der DDR-Wirtschaft schrumpfte dahin. Die Treuhand sollte das Volksvermögen nicht länger bewahren, sondern so schnell wie möglich verwerten und privatisieren. Es ist ein bisschen wie beim Brexit: Vielen Ostdeutschen waren die Folgen der schnellen Währungsunion nicht bewusst. Denn über Nacht wurden sie in die Marktwirtschaft entlassen. Es war eine ökonomischeSchocktherapie. Die Treuhand wurde zur "bestgehassten Institution" des Ostens und zum "Blitzableiter" für den ganzen Frust. Alle negativen Aspekte der Wiedervereinigung werden in diese Bad Bank geschoben. Vor allem für ältere Ostdeutsche, die damals voll im Berufsleben standen, ist die Treuhand ein zentrales Symbol für eine "Abwicklung" des Ostens. Das Gefühl der verweigerten Anerkennung von Lebensleistung durch Westdeutsche: Das gärt bis heute. + + diff --git a/fluter/trialoge.txt b/fluter/trialoge.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..89b2a07d1ebcc9a90f133c55e9600833765f8892 --- /dev/null +++ b/fluter/trialoge.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Der 7. Oktober 2023 +Der Konflikt zwischen Israel und Palästina ist erneut eskaliert, seitdem die islamistische Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 mit Hunderten Kämpfern aus dem Gazastreifen nach Israel eingedrungen ist und Gräueltaten verübt hat, vor allem an Zivilisten. Dabei töteten sie nach israelischen Angaben mehr als 1.000 Menschen und verschleppten mehr als 200 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen. An keinem anderen Tag seit dem Holocaust wurden mehr Juden ermordet als am 7. Oktober. + +Israel reagierte darauf mit massiven Angriffen und rückte mit Bodentruppen in den Gazastreifen ein. In dem Palästinensergebiet sind nach Angaben der Hamas seit Beginn der Angriffe Zehntausende Menschen getötet worden. Unter den andauernden Kämpfen leidet die Zivilbevölkerung im Gazastreifen extrem. Mehr als eine halbe Million Menschen im Gazastreifen sind den UN zufolge vom Hungertod bedroht. +Seit dem brutalen Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober und dem anschließenden Krieg im Gazastreifen sind auch viele Jugendliche in Deutschland im emotionalen Ausnahmezustand. Offiziell leben mehr als 14.000 Menschen mit israelischer Staatsbürgerschaft in Deutschland – darunter auch Israelis mit arabischen Wurzeln. Die Zahl der Palästinenser wird insgesamt auf 175.000 bis 225.000 geschätzt. Die beiden Communitys blicken meist aus sehr unterschiedlichen Perspektiven auf das, was aktuell in Israel und im Gazastreifen passiert. Für die einen verursacht die israelische Armee gerade unverhältnismäßiges Leid, manche sprechen sogar von einem "Genozid" am palästinensischen Volk. Für die anderen geht es um die Anerkennung und den Schutz des israelischen Staates. Diese Sichtweisen prallen auch in den Schulen aufeinander. + +Am Frankfurter Goethe-Gymnasium kam es nach dem 7. Oktober aufgrund der verschiedenen Positionen immer wieder zu Konflikten. Eine jüdische Schülerin wurde in den sozialen Medien heftig angegriffen. Raus kam das erst, als sie bei ihrer Klassenleiterin Hilfe suchte. In dem Moment sei ihr klar geworden, dass die Schule "noch mehr machen muss", sagt Lehrerin Elke Heidl-Charmillon. Zum Beispiel eine Veranstaltung für alle Schülerinnen und Schüler, denen der Konflikt nahe geht und die bereit sind, darüber zu reden. Bislang hätten einzelne Lehrkräfte das Thema zwar im Unterricht behandelt oder dies angeboten. +Aber die Verunsicherung, wie man mit betroffenen Schülern über den Nahostkonflikt spricht, sei unter Lehrkräften sehr groß gewesen, auch bei ihr selbst. Deshalb sucht Heidl-Charmillon Hilfe von außen. Über einen Beitrag im Fernsehen stößt sie auf die Schulbesuche eines israelisch-palästinensischen Tandems. +Die "Trialoge" haben Shai Hoffmann und Jouanna Hassoun initiiert. Der 42-jährige Hoffmann ist Jude mit israelischen Wurzeln und lebt in Berlin. Als er kurz nach dem Angriff der Hamas auf Israel Videoaufnahmen im Netz sieht, auf denen ein Berliner Lehrer und ein Schüler im Pausenhof wegen einer Palästinaflagge aufeinander losgehen, beschließt er zu handeln. Zusammen mit der Deutschpalästinenserin Jouanna Hassoun stellt er Bildungsvideos zusammen, die den Konflikt aus verschiedenen Perspektiven zeigen. Daraus entstehen die Schulbesuche, bei denen die beiden mit Jugendlichen ins Gespräch gehen. An mehr als 60 Schulen bundesweit war Hoffmann bereits, aktuell sind weitere 300 Anfragen offen. Seine Tandempartnerin an diesem Tag ist Nadine Migesel. Die 29-Jährige ist Deutschpalästinenserin mit israelischem Pass und lebt in Köln. Sie hat gemeinsam mit anderen Aktivisten die Gruppe "Palestinians and Jews for Peace" gegründet. Migesel und Hoffmann haben nahe Verwandte und Freunde in Israel, reisen mehrmals im Jahr dorthin. Seit der Konflikt eskaliert ist, liegen sie auch mit ihrer jeweiligen Community im Clinch. Aus deren Sicht zeigen sie zu viel Verständnis für die Gegenseite. Auch wenn Hoffmann, dass will er betont wissen, kein Verständnis für die Hamas zeigt. Wohl aber für die Palästinenserinnen und Palästinenser. +"Manche Freundschaften pausieren, weil ich mich gegen Hass und für Menschlichkeit entschieden habe", erzählt Migesel den Schülerinnen und Schülern im Goethe-Gymnasium, und die nicken verständnisvoll. Eine Schülerin erzählt, dass sie mit ihrer besten Freundin nicht über Politik und den Nahostkonflikt sprechen könne. "Das Thema ist für uns alle nicht einfach", sagt Hoffmann. Doch wenn man sich gegenseitig zuhören und respektvoll miteinander umgehen könne, sei ein Dialog zwischen den beiden Lagern möglich: "Dann ist das Demokratie at its best." Vorsichtshalber erwähnt Hoffmann aber, dass alle Aussagen bitte "im Rahmen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung" bleiben müssen. Die Sorge stellt sich hier als unberechtigt heraus. Die Frankfurter Schülerinnen und Schüler bleiben höflich, lassen einander ausreden. Die Positionen aber prallen hart aufeinander. +"Was fällt euch ein, wenn ihr an den Nahostkonflikt denkt?", fragt Hoffmann und blickt in die Runde. "Zionismus", sagt eine Schülerin. "Kriegsverbrechen", eine andere. "Antisemitismus", entgegnet ein Schüler. Vor allem das Vorgehen der israelischen Armee wird hitzig diskutiert. "Über 30.000 Menschen sind im Gazastreifen schon gestorben", sagt Fatima*, und ihre Stimme überschlägt sich leicht. Sie nennt damit eine Zahl, die für Medien gerade nicht unabhängig überprüfbar ist. "Das sind doch nicht mehr nur ‚viele Opfer'." Alle hätten sie Namen gehabt, alle ein Leben. Die Schülerin trägt Kopftuch und bezeichnet sich als deutsch-arabisch. Aus ihrer Sicht geschieht den Palästinensern großes Unrecht. Sie stellt klar: "Ich bin für Palästina, nicht Hamas." +Ähnlich äußern sich auch andere Jugendliche. Sie sind enttäuscht, wie "einseitig" sich Deutschland zum Nahostkonflikt positioniere und wie wenig die Bundesregierung gegen das Leid im Gazastreifen unternehme. "Eure Gefühle sind berechtigt", sagt Nadine Migesel. Für Jugendliche heute sei schwer erklärbar, dass die Sicherheit des israelischen Staates deutsche Staatsräson ist. Diesen Begriff benutzte schon Angela Merkel früher und auchBundeskanzler Olaf Scholz in jüngster Vergangenheit.Damit ist gemeint, dass für Deutschland Israels Sicherheit nicht verhandelbar ist. "Wir alle müssen uns bewusst machen, dass in Deutschland sehr verschiedene Perspektiven aufeinandertreffen", so Hoffmann. So blickten Jugendliche mit Wurzeln aus einem früheren Kolonialstaat bestimmt ganz anders auf den Nahostkonflikt als die Enkel von NS-Zeitzeugen, für die die historische Verantwortung Deutschlands eine größere Rolle spielt. +Für das Goethe-Gymnasium in Frankfurt am Main ist das jedenfalls eine treffende Aussage – seine Schülerinnen und Schüler haben Wurzeln in über 60 Ländern. Die 18-jährige Kertina hört während des Gesprächs in der Aula nur zu, lässt die zu Wort kommen, die persönlich betroffen sind. Nach der Veranstaltung erzählt sie, warum auch sie der Nahostkonflikt so aufwühlt. "Ich spüre einen Druck, mich positionieren zu müssen." In den sozialen Medien komme man an dem Thema nicht vorbei. "Beide Lager erwarten, dass man ihnen recht gibt." In ihrem Bekanntenkreis gebe es mehr Verständnis für die Wut der palästinensischen Seite. Sie selbst blicke als Person of Color und Deutsche mit Migrationsgeschichte mit einer dekolonialen Perspektive auf die Welt. Sie könne die Kritik am Staat Israel, dem wegen der Besetzung des Westjordanlands und Ostjerusalems seit 1967 der Bruch des Völkerrechts vorgeworfen wird, nachvollziehen. Gleichzeitig sei ihr die Kritik manchmal zu radikal. Dass Jüdinnen und Juden für die Politik Netanjahus verantwortlich gemacht werden und sich auch hier in Deutschland nicht mehr sicher fühlen können, sei durch nichts zu rechtfertigen. Aber ebenso wenig, dass Muslime jetzt pauschal unter Antisemitismusverdacht stünden. "Es ist traurig, dass sich die beiden Seiten so unversöhnlich gegenüberstehen", sagt Kertina. Die heutige Veranstaltung mache ihr aber Hoffnung, dass ein Dialog möglich sei. +Keine Selbstverständlichkeit. Bei manchen Schulbesuchen seien palästinensische Jugendliche schon aufgestanden und gegangen, erzählt Hoffmann. Für die Schülerinnen und Schüler am Goethe-Gymnasium haben er und Nadine Migesel aber nicht nur deshalb viel Lob übrig. "Sie waren sich nicht nur im Klaren über ihre Gefühle – sie konnten sie auch echt gut ausdrücken", so Migesel. Gerade bei jüdischen Schülern, die ja im Vergleich zu den muslimischen meist in der Minderheit seien, wie auch hier am Goethe-Gymnasium, imponiere ihr dieser Mut. Umgekehrt fällt das Feedback der Schüler ebenfalls sehr positiv aus. So ein offenes Gespräch auf Augenhöhe, sagt eine Schülerin, hätte es mit einer Lehrkraft bestimmt nicht gegeben. +Dem stimmt sogar Lehrerin Heidl-Charmillon zu. Im Sommer jedenfalls seien weitere Workshops mit Expertise von außen geplant. Auch da werden sich wahrscheinlich nicht alle in allen Fragen einig sein. Dafür vielleicht aber darin, dass sie alle ziemlich ähnliche Gefühle zum Nahostkonflikt haben – egal auf welcher Seite sie stehen. + +Illustration: Raúl Soria diff --git a/fluter/trink-aus-wir-wollen-anfangen.txt b/fluter/trink-aus-wir-wollen-anfangen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..46543db9d6bc65c403cd0555b012c10a131dd830 --- /dev/null +++ b/fluter/trink-aus-wir-wollen-anfangen.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Tatsächlich erwies sich die Erfindung als recht langlebig. Mittlerweile hat Froese sogar ein eigenes Unternehmen, das den Menschen zeigt, wie man aus PET-Flaschen ein Haus baut. Vor allem in Lateinamerika, aber auch in Afrika und Indien war die Firma Eco-Tec bisher für circa 60 Projekte unterwegs, darunter ein Dutzend Häuser, aber auch viele Wassertanks. Dabei hat Froese weder Mitarbeiter noch Büroräume, nur die Projekte vor Ort. Reich werde er damit nicht, sagt er, aber auf Spenden oder Crowdfunding will er dennoch nicht zurückgreifen. "Die Leute müssen sich aus Überzeugung für das Bausystem entscheiden; nur so kann es sich verbreiten." +Die Idee, aus Abfall Gebäude zu bauen, existiert schon länger. Der berühmte US-amerikanische Ökoarchitekt Michael Reynolds schuf bereits Anfang der 1970er-Jahre Häuser aus Zement und alten Plastikflaschen. Besonders bekannt wurde seine "tin can wall" – eine Mauer aus Getränkedosen. Der brasilianische Mechaniker Alfredo Moser hatte 2002 die Idee, dass man eine mit Wasser gefüllte Flasche in einem bestimmten Winkel ins Dach einsetzen kann, damit sie Licht in die Wohnung bringt. Das darauf basierende Projekt hat laut dem philippinischenTrägerverein My Shelter Foundationseit 2011 rund 140.000 Haushalte auf den Philippinen erleuchtet. +Andreas Froeses Methode zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass man dafür nicht viel mehr als das braucht, was man im Müll findet. Manchmal entsteht daraus ein Wassertank, ein anderes Mal ein billiges Dach über dem Kopf. Die Arbeiter schütten dafür Bauschutt, Erde oder auch Lehm durch einen Trichter in alte PET-Flaschen. Dann stapeln sie die Flaschen wie runde Ziegelsteine, vermauern sie mit Lehm oder Mörtel und verbinden sie mit Schnüren. Am Ende kommen dann ein bisschen Lehm, Farbe und ein einfaches Dach drauf – fertig.Der taiwanesische Architekt Arthur Huang wiederum entwickelte ein Hightech-Verfahren, bei dem aus Plastikmüll hohle, wabenförmige Bausteine hergestellt werden. Die Wändeeiner Ausstellungshalle in Taipehbestehen aus 1,5 Millionen dieser Förmchen. Das"United Bottle"-Programmhingegen setzt auf Flaschen, die schon perfekt zusammensteckbar produziert werden. +Auf einen Quadratmeter passen ungefähr hundert Flaschen. Die Wände sind dick, verteilen den Druck durch die runde Form gleichmäßig, und die Verbindungsschnüre machen sie flexibel. Für die Bewohner bedeutet dies, dass die Häuser bei Erdbeben nicht so schnell zusammenbrechen wie Ziegelbauten, außerdem sind sie angeblich feuerfest und kugelsicher. +"Statisch und vom Tragwerkverhalten her funktioniert das Verfahren", sagt Georg Conradi, Professor an der Fachhochschule Lübeck und Experte für experimentelles Bauen, vor allem dann, wenn nicht nur loser Bauschutt reingegossen werde, sondern feuchter Lehm, der später aushärtet. Vom Plastik gehe laut Conradi auch keine Gefahr aus, da sich nach dem Verbauen kaum bedenkliche Stoffe freisetzen können. Es gibt aber auch Kritiker des Mülls als Baustoff – so lehnt das Institut für Baukonstruktion an der Technischen Uni Braunschweig "Zivilisationsmüll als Nachhaltigkeitsfaktor" ab, wie Leiter Werner Kaag sagt. +Dass die Häuser aus Plastikmüll billiger sind als Häuser aus Stein, ist in Froeses Augen nicht nur ein Vorteil, sondern hemmt möglicherweise sogar deren Verbreitungserfolg. Denn Städte oder Regierungen gehören selten zu den Kunden, eher sind es NGOs und Vereine. Gerade in Ländern mit Korruption könnten sich solche billigen Projekte nicht durchsetzen, weil durch sie nur wenig Geld in den Taschen der Politiker lande, erzählt Froese. "Die Bauherren sagen mir: Super, wir wollen was für arme Menschen und die Umwelt tun, wir haben soundso viele Millionen dafür, und davon möchte ich erst mal was auf meinem Konto haben." Diese Erfahrung bestätigt auch Bauprofessor Conradi. "Günstige, aber aufwändige Methoden sind von der Baulobby in den Regionen nicht unbedingt erwünscht. Die haben ihre etablierten Bauweisen." +Daneben ist es ein Problem, dass Froeses Verfahren kein offizielles Siegel trägt. Vor etwa zwei Jahren wollte ihn eine mexikanische Regierungsorganisation engagieren, doch nach drei Monaten Papierkrieg habe es geheißen: Wir brauchen ein Patent. Doch patentieren lassen will Froese sein Verfahren nicht. Zu teuer, zudem müsse dann jeder, der nach dem Verfahren bauen wolle, eine Lizenzgebühr zahlen. +Zukünftig möchte der Zimmermann mit Unis weitere Studien durchführen, um auch im sozialen Wohnungsbau Fuß zu fassen. Das Verfahren soll schließlich zertifiziert werden, wofür offizielle Prüfstellen ausführlich testen müssen, wie sich die Häuser unter dem Einfluss des Wetters oder bei Umweltkatastrophen verhalten. Die Kugelsicherheit hat Froese bereits selbst getestet: "Ich habe schon mal mit der honduranischen Armee ein Projekt gemacht und auf ein Haus geballert." Die Kugeln seien einfach stecken geblieben – wie in einem Sandsack. diff --git a/fluter/trinkt-euren-wein-allein.txt b/fluter/trinkt-euren-wein-allein.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..02650ff71683425e7a69a48bc34ef404644b2c52 --- /dev/null +++ b/fluter/trinkt-euren-wein-allein.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Überhaupt: das Gas. Russland sitzt auf einem Viertel der weltweiten Erdgasreserven, viele seiner Nachbarn und auch die EU sind darauf angewiesen. Dementsprechend hat Russlands Präsident Wladimir Putin auch ein großes Faustpfand. Russland hat zum Beispiel die Gaspreise erhöht und baut gleichzeitig eine Gas-Pipeline, die aus Russland über die Ostsee direkt nach Deutschland führt und nicht mehr auf die Ukraine als Durchgangsstaat angewiesen ist. +Die EU strebt zwar im Rahmen der "Östlichen Partnerschaft" eine enge Kooperation mit Weißrussland, der Ukraine, Moldawien, Georgien, Aserbaidschan und Armenien an. Gleichzeitig sind die Länder aber von der Gnade des russischen Präsidenten Putin abhängig. So kommt ein Drittel aller Importe der Ukraine aus Russland, in Aserbaidschan sind es 13 Prozent, in Armenien 25 Prozent. Noch krasser ist aber die Abhängigkeit Weißrusslands von seinem großen Nachbarn, mit dem es sich ebenfalls regelmäßig um Gaspreise streitet: Mehr als die Hälfte seiner Importe kommen aus Russland. Nächstgrößter Handelspartner ist Deutschland – mit 5,9 Prozent. Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko, oft als "letzter Diktator Europas" bezeichnet, ist außerdem in Europa politisch isoliert. Als Putin neben Kasachstan 2007 auch Weißrussland eine Zollunion vorschlug, sagte Lukaschenko deswegen schnell zu. Mit seinen Nachbarn soll man es sich schließlich nicht verscherzen. diff --git a/fluter/trockengebiete.txt b/fluter/trockengebiete.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..badec776326885209b989b5de20eb021fc344d11 --- /dev/null +++ b/fluter/trockengebiete.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Kalifornien ist seit jeher das Land der großen Ideen, es gab bizarre Vorschläge, um das Problem zu lösen. Die einen wollten eine Pipeline bauen, um Wasser aus Kanada abzuzapfen. Die anderen wollten das Wasser mit Frachtschiffen anliefern. "Wir könnten genauso gut auch einen Eisberg kaufen und ihn an die Küste ziehen", sagt Jane Galbraith von den Wasserwerken von L. A. "Das Einzige, das uns über die nächsten zwanzig Jahre rettet, ist ein geringerer Verbrauch." Die Stadt ruft ihre Bürger dazu auf, Wüstengärten anzulegen. Sie bezuschusst Wasser sparende Toiletten und Waschmaschinen. Und sie hat "Drought Buster" wie Lisa Gonzales angeheuert, eine Art Wasserpolizei.Dort wo Lisa Gonzales auf Streife geht, ist es besonders schlimm. Der kühle Wind des Pazifiks wird von Bergkuppen abgehalten, das San-Fernando-Tal ist der heißeste Ort der Stadt – und das Zentrum der Wasserverschwender von L.A. Die Menschen hier benutzen zwischen 40 und 70 Prozent ihres täglichen Wasserbedarfs allein für ihre Gärten. Lisa Gonzales und die anderen fünf "Drought Busters" kontrollieren, dass niemand in der Mittagszeit seinen Vorgarten gießt oder gar mit dem Wasserschlauch den Boden abspritzt. Es ist eine gewaltige Aufgabe: Der Bürgermeister hat auf einer Pressekonferenz gesagt, er erwarte, dass die "Drought Busters" den Wasserverbrauch um zehn Prozent senken.Lisa Gonzales macht sich auf die Suche nach dem Besitzer des überschwemmten Rasens. Ein paar Wochen zuvor hat sie einen Hinweis bekommen, dass mit dem Grundstück etwas nicht stimmt. "Meine Nachbarn gießen ihre Blumen von morgens bis abends", steht mit blauem Kugelschreiber geschrieben auf einem Vordruck in ihrer Hand. Per Telefon kann man Wasserverschwender in der Nachbarschaft anzeigen. Lisa Gonzales arbeitet jeden Tag einen dicken Stapel aus 20 bis 40 solcher Beschwerden ab. Sie hat es mehr als einmal erlebt, dass sie an einer Tür klingelte und merkte, dass alles in Ordnung war und sie nur jemand in einem Nachbarschaftsstreit missbrauchen wollte. Doch es geht um die Zukunft ihrer Stadt, die Sache ist ihr zu wichtig, um aufzugeben. +Die "Drought Busters" gab es in den 90er-Jahren schon einmal in Los Angeles. Doch dann regnete es 1999 und niemand wollte mehr etwas vom Wassersparen wissen. "Dieses Mal wird es anders sein", sagt Jane Galbraith von den Wasserwerken. "Dieses Mal werden wir die Stadt nachhaltig verändern, die Zeit ist reif." Kalifornien sieht sich als Vorreiter eines neuen, ökologischen Amerikas – und das spürt man überall. Auf den Highways erinnern Schilder an die Klimaerwärmung, Plakate rufen die Bürger dazu auf, weniger Müll zu produzieren. Gouverneur Schwarzenegger hat seinen monströsen Hummer Jeep mit einem Wasserstoffmotor ausrüsten lassen.Lisa Gonzales ist im Inneren des Gebäudes, das sich als Altersheim herausgestellt hat. Die Wasserpolizistin betritt das Büro und stellt sich vor. "Hallo, ich möchte ihnen ein paar Wassersparinformationen geben und das da ist ein Reporter aus Deutschland." Eine dicke Altenpflegerin in Uniform, die eingezwängt hinter einem winzigen Schreibtisch sitzt, erstarrt wie ein verängstigtes Kaninchen. "Ihr Rasen ist überschwemmt." "Ach", sagt die Frau. "Der Rasen. Na klar. Das Leck haben wir gerade vor 20 Minuten repariert.""Das sagen sie alle", murmelt Lisa Gonzales beim Verlassen des Hauses. Die meisten Menschen sind freundlich zu ihr. Viele halten sich auch an die Regeln und sind sparsamer, seit die "Drought Busters" in der Stadt sind. An die anderen darf Lisa Gonzales Strafzettel verteilen. Und wenn das nicht fruchtet, wird der Hahn abgedreht. diff --git a/fluter/trommelwirbel.txt b/fluter/trommelwirbel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9ce1aa4062861de1b2f3e1f505209d1a64ad4f25 --- /dev/null +++ b/fluter/trommelwirbel.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Dabei sind viele Hymnen genau das, was sie ursprünglich sein sollten: nationalistisch und bisweilen geprägt vom Hass auf andere Länder – und damit dem olympischen Geist widersprechend. Und so kommt es bei vielen Siegerehrungen zu symbolträchtigen Situationen – wie zum Beispiel 1992 in Barcelona, als der kubanische Boxer Hernandez Ascuy gegen den US-Amerikaner Chris Byrd im Mittelgewicht das Finale gewann und später singen durfte: "Fürchtet den ruhmreichen Tod nicht, denn für das Vaterland sterben heißt leben." +"Steht auf! Wir wollen keine Sklaven sein / Die lange Mauer baut neu aus Fleisch und Blut (…) Mit Tausenden Leibern / doch im Herzen eins / trotz feindlicher Kanonen: Vorwärts! Vorwärts! Vorwärts!" +"Aber so je eines feindlichen Fremdlings / Fuß deinen Boden verbrecherisch schändet / Teures Vaterland, Gottes Gnade sendet / Soldaten, so viele du Söhne gezeugt." +"Noch ist Polen nicht verloren / solange wir leben / was uns fremde Übermacht nahm / werden wir uns mit dem Säbel zurückholen." +"Ich schwöre bei den tödlich drohenden Gefahren / bei dem reinen sündenlosen Blut und / bei den strahlenden flatternden Fahnen / auf den hohen stolzen Bergen / Wir haben uns erhoben! / Es gelte Leben und Tod!" +"Ihr Brüder Italiens / Italien hat sich erhoben (...) / Wo ist die Siegesgöttin? / Sie möge Italien ihr Haupt zuneigen / denn als eine Sklavin Roms hat Gott sie geschaffen (...) / Fest geschlossen die Reihen / woll'n wir dem Tode uns weihen / Italien erwacht." diff --git a/fluter/trost-senden.txt b/fluter/trost-senden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..74ec26bcaa6aa58be8c672cd33edf0ab191ecc3d --- /dev/null +++ b/fluter/trost-senden.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +"Bienvenidos, liebe Hörer da draußen im Urwald." Herbin Hoyos, ein kleiner Mann mit schwerer Harley-Davidson-Lederjacke, sitzt im Studio von "Radio Caracol" in Bogotá, der Hauptstadt Kolumbiens. Seit 15 Jahren begrüsst er so seine Hörer. Samstags von kurz nach Mitternacht bis morgens um sechs Uhr rufen Verwandte, Freunde, Bekannte von Entführten bei "Radio Caracol" an. Viele warten stundenlang in der Leitung, bis sie endlich auf Sendung sind. Über 4.000 Geiseln gebe es in Kolumbien, erzählt Hoyos. Die Regierung sagt, es seien 125. Hoyos Vermutung: "Präsident Uribe präsentierte diese Zahlen bei einer Europareise, um Investoren anzulocken. Die kommen nur, wenn Kolumbien sicher scheint." Die Wahrheit liegt vermutlich in der Mitte, denn von vielen Gefangenen gibt es seit Jahren kein Lebenszeichen, andere wurden gegen Lösegeld freigelassen, ohne dass die Behörden davon erfuhren. +Seit Jahrzehnten erdrückt der Konflikt das Land. Rechte Paramilitärs haben ganze Landstriche in ihre Gewalt gebracht, durch Mord und Vertreibung. Sie liefern sich Schlachten mit der linken Guerilla, die den Staat und seine Armee bekämpft. Entführungen bringen den Kämpfern Geld für Waffen. Oder die Möglichkeit, Geiseln gegen verhaftete Compañeros einzutauschen. Der Großteil der Entführten ist in der Hand der FARCGuerilla, der Rest wird von der marxistischen ELN, den Paramilitärs oder gewöhnlichen Erpressern festgehalten. +Die Nächte im Urwald seien düster und lang gewesen, sagt Perez. Seine dunklen Augen sind so sanft wie die Stimme. "Herbins Sendung gab mir Kraft. Ich wusste, dass eine andere Welt existierte, dass meine Familie mich nicht vergaß. Sie sangen sogarGeburtstagsständchen." Als die Guerilla Perez verschleppte, hatte er acht Nichten und Neffen. Als er vor knapp einem Jahr in der "Operación Jaque" zusammen mit der Politikerin Ingrid Betancourt befreit wurde, waren es 21. Überrascht war er nicht: "Meine Mutter hat mir alles im Radio erzählt", sagt er. Nach einer anderen Nachricht weinte er drei Tage: "Mein Vater starb kurz bevor ich befreit wurde." +Wer zu Hoyos ins Studio will, muss durch Sicherheitskontrollen wie am Flughafen. Eine imErdgeschoss, eine im siebten Stock. Autos werden von Spürhunden beschnüffelt, damit kein Sprengstoff in die Garage im Keller gelangt. Drei Attentate hat Hoyos schon überlebt, er hat ständig einen Bodyguard dabei, trägt eine schusssichere Weste. +Es war seine eigene Entführung, die Hoyos auf die Idee zu der Sendung brachte. Vor 15 Jahren verschleppten die Guerilleros der FARC den damals schon bekannten Moderator von "Radio Caracol" in den Urwald, damit er Propaganda-Nachrichten im Radio verliest. Sie brachten ihn in ein Lager, in dem schon ein Gefangener saß. Ausgemergelt, an einen Baum gekettet, mit weißem Bart, einem Radio am Ohr, unter einer Plastikplane im Regen. "Warum macht ihr Journalisten nie etwas für die Entführten?" fragte der Mann. Hoyos schwor, genau das zu tun, wenn er denn überleben würde. 17 Tage war er gefangen, bis das Militär eine Befreiungsaktion startete: "Es ist ein Wunder, dass sie mich nicht erschossen haben, schließlich sahen wir in unserer Tarnkleidung aus wie Guerilleros", sagt Hoyos. Zurück in Bogotá begann er mit den "Voces del Secuestro". Zuerst waren es nur 15 Minuten, in denen Verwandte Nachrichten an ihre Liebsten verlesen konnten. Doch Hoyos merkte schnell, dass die Sendezeit nicht reichte. Heute genügen sechs Stunden kaum. Und das, obwohl die Anrufer gebeten werden, sich kurz zu halten. "Man gewöhnt sich daran, private Dinge im Radio zu erzählen", sagt Miriam de Mora. Ihr Sohn Juan Camilo wurde am 19. Januar 2006 entführt. De Mora sitzt in ihrem Wohnzimmer auf der Couch, auf der Kommode hinter ihr liegt eine aufgeschlagene Bibel. Durchs Fenster sieht sie die Andenkette, an die sich Bogotá schmiegt. Im Blick hat sie auch eine weiße Marienstatue, die auf dem Berg und mitten im Wald steht. Früher mochte sie den Ausblick. +Was man nicht sieht, ist die Straße am Fuß der Statue. Dort wurde Juan Camilos Auto gefunden. Der Schlüssel steckte. Zwei Männer hatten ihn auf einem Parkplatz abgepasst, dafür gibt es Zeugen. Und dann nichts mehr. "Es heißt, die Guerilla rekrutiert Zwangsarbeiter", sagt Miriam, "vielleicht ist Juan Camilo dort oben in den Bergen." Vor ein paar Monaten hatte sie eine Nachricht auf der Handy-Mailbox: Schüsse, Schreie, eine Kampfszene. Vielleicht hatte Juan Camilo versucht, sich bei den Eltern zu melden? Jeden Samstag rufen de Mora und ihr Mann bei "Radio Caracol" an. Diesmal sind sie um 1 Uhr 26 auf Sendung. "Mein Herz weint, du fehlst mir so." +Wie die meisten Angehörigen spricht Miriam anfangs mit fester Stimme und endet in Tränen. Über das Radio senden die Anrufer Liebeserklärungen, Neuigkeiten und den Schmerz des Vermissens in die Wälder Kolumbiens, immer in der Ungewissheit, ob der Adressat noch lebt, ob die Nachricht irgendwo aus einem kleinen Weltempfänger knistert. "Die meisten Entführer erlauben den Geiseln, Radio zu hören", sagt Hoyos. "Denn seit es unsere Sendung gibt, bringen sich kaum noch Gefangene um, früher waren es zwölf von 100. Das Radio gibt ihnen Hoffnung." Einmal bat ihn sogar ein Guerillero, die Angehörigen einer Geisel ans Radiomikro zu holen, um einen Selbstmord zu verhindern. +"Meine Mutter im Radio zu hören, hielt mich am Leben", sagt auch Perez. Einer der ersten Wege in der Freiheit führte ihn zu Hoyos ins Studio. "Wir umarmten uns", sagt Perez und schweigt. Der Moment scheint ihm noch immer nahe zu gehen. "El abrazo de la libertad", die Umarmung der Freiheit, nennt Hoyos dieses Ritual. Über 11.000 ehemalige Geiseln, die es zurück ins Leben schafften, hat er schon umarmt. "Jahrelang kannte ich von Hoyos nur die Stimme. Ich stellte mir einen großen Mann vor und war überrascht, wie klein er ist",sagt Perez und grinst. Der mutige Journalist verspricht, erst aufzuhören, wenn alle Entführten in Kolumbien befreit sind. Vermutlich ist das Geiselradio die einzige Sendung der Welt, deren Macher darauf hoffen, irgendwann keine Hörer mehr zu haben. +Karen Naundorf (33) – ist Korrespondentin des Weltreporter-Netzwerks. Sie lebt in Südamerika und berichtet von dort aus für fluter, die Zeit, das SZ-Magazin und Neon diff --git a/fluter/trotz-allem.txt b/fluter/trotz-allem.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..403114df168373f1d42dacb25b8f133002911470 --- /dev/null +++ b/fluter/trotz-allem.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Mogadischu versucht gerade, aus Ruinen wieder aufzustehen und Normalität zu schaffen. Mogadischu will nicht mehr eine der gefährlichsten Städte der Welt sein. Und dazu trägt Manar Moalin ihren Teil bei. Wie sie kommen immer mehr Somalis zurück aus dem Ausland, um ihre Hauptstadt nach 25 Jahren Bürgerkrieg wiederaufzubauen. +Wenn man die Mittdreißigerin, die ihr Kopftuch rebellisch weit hinten trägt, reden hört, merkt man ihr den täglichen Kampf an, den sie als Frau in diesem konservativen, vom Krieg zerrissenen Land führen muss. In ihren Sätzen schwingt etwas Herausforderndes mit, eine Art vorbeugende Aggressivität. Sie wird nicht aufgeben, steht zwischen jeder Zeile. Manchmal setzt sie ihre Brille ab und schaut ihrem Gegenüber wortlos in die Augen. Als würde sie nur auf Widerspruch, auf Kritik warten. +Der Country Club ist ein kleiner Mikrokosmos in der Stadt, mit dieser Mischung aus Aufbruchsstimmung und Angst. Eine große, alte weiße Kolonialvilla, ein massives Tor, ein Wachturm, ernste Männer mit schweren Waffen. Dahinter: ein kleiner Zoo, ein Massagesalon, ein Restaurant. "Und hoffentlich bald auch eine richtige Bar", sagt Manar Moalin. "Mit Alkohol." Members only. Regelmäßig hat sie Probleme mit Leibwächtern von Männern, die keine Mitgliedschaft bekommen haben, manche schickten sogar Soldaten vorbei. Hier im Garten, wo winzige Antilopen herumlaufen und ein schreckhafter Falke in einem Käfig sitzt, treffen sie sich: Politiker, Geschäftsmänner, Gangster. Oftmals sind die Grenzen fließend. +1991 stürzten Rebellen den Diktator Siad Barre. Seitdem gab es keine funktionierende Regierung mehr, die das Land unter ihrer Kontrolle hatte. Die großen Clans und ihre Subclans zerfleischten sich gegenseitig und verwandelten Mogadischu in eine Ruinenstadt. Mehr als zweieinhalb Millionen Somalier wurden aus ihren Häusern vertrieben, eine Million floh ins Ausland, eine Million, die meisten davon Zivilisten, kam um. +Der Staat ist schon lange zersplittert. Im Norden haben sich Somaliland und die ehemalige Piratenhochburg Puntland abgespalten. Seit dem 1. August 2012 sollen diese autonomen Teilstaaten nun Mitglieder der neuen Bundesrepublik Somalia sein. Zumindest auf dem Papier. Vor allem im Süden flammen immer wieder heftige Gefechte auf. Er wird nach wie vor teilweise von der mit Al-Qaida verbündeten Terrororganisation Al-Shabaab kontrolliert, die dort den Kohle- und Zuckerschmuggel dominiert, in den auch die kenianische Armee verwickelt ist. Nach wie vor gilt das Land als Brutstätte des islamistischen Terrorismus, als Basis für Operationen in ganz Ostafrika. +Doch nun macht sich Hoffnung breit, dass der Aufschwung diesmal halten könnte. Im August 2011 hatte sich die Al-Shabaab-Führung aus Mogadischu zurückgezogen, seitdem gibt es zwar regelmäßig Anschläge, aber Truppen der Afrikanischen Union und die somalische Armee kontrollieren das gesam-te Stadtgebiet. Offene Kämpfe gibt es nur noch bei Anschlägen. +Es gibt wieder Straßenlampen, es gibt überhaupt Straßen, eine Müllabfuhr, Strom, Internet. Für eine sehr kurze Zeit gab es sogar Ampeln. Die funktionierten aber nicht. Es gibt Geschäftsstraßen, Telekommunikationskonzerne, eine Bank, und Anfang des Jahres wurde das erste Mal ein somalisches Fußballspiel live im Fernsehen gezeigt. +Manar Moalin sagt, was man derzeit oft in der Stadt hört: "Noch nie floss so viel Geld nach Mogadischu." Aber sie sagt auch: "Das ist wie die italienische Mafia hier, alles gehört zusammen. Ein riesiges kriminelles Netzwerk. Dabei brauchen wir neue, junge Leute in der Politik." Bei der UN in Nairobi heißt es, man habe die Hoffnung aufgegeben, dass die Rückkehrer, die in die Politik gehen, gegen die Korruption und Kriminalität angehen würden. "Ganz im Gegenteil, sie scheinen sofort vom System geschluckt zu werden und verhalten sich, als hätten sie das Land nie verlassen", so ein hochrangiger UN-Mitarbeiter. +Derweil fließt immer mehr ausländisches Geld in die Stadt. Nicht die Chinesen, nein, die Türken sind dabei, Mogadischu wiederaufzubauen. Sie haben einen Flughafen gebaut, sie betreiben den neuen Hafen und kontrollieren über eine Firma namens Proje Gözetim Mühendislik die Importe und Exporte des Landes. Sie haben die Straßen neu geteert, der Rohbau einer riesigen Zementfabrik thront über der Skyline, neulich eröffneten sie eine gut ausgestattete Kinderklinik. All das macht die Türkei nicht uneigennützig – sie versucht so auch neue Unterstützer auf dem internationalen Parkett zu bekommen. +Manar Moalin sitzt im Garten und trinkt wie jeden Tag einen frischen Grapefruitsaft, während die ersten Gäste in gepanzerten Geländewagen auf den Hof rollen. Aus dem kleinen Wachturm gucken die Läufe russischer Sturmgewehre, in das Zwitschern der Vögel mischt sich das Rauschen der Funkgeräte, jedes Mal, wenn sich ein Fahrzeug nähert. Oben im zweiten Stock dringt leise Musik aus der Shisha-Bar, von der aus man auf den großen neuen Büroturm nebenan schaut. 5.000 Dollar Miete im Monat kostet darin ein Büro. Der Immobilienmarkt in Mogadischu explodiert gerade. Villen kosten pro Monat ab 10.000 Dollar. Der Kaufpreis von Grundstücken am Meer liegt zum Teil bei über einer Million Dollar. Leute, die das zahlen können, sind die, die Manar Moa-lin gern als Mitglieder hat. +Ihre Geschichte ist eine typisch somalische Geschichte. Mit ihren Eltern verließ sie das Land kurz vor dem Krieg. 1988 gingen sie erst nach Italien, dann nach England. Ein Leben in der Diaspora. Vor fast drei Jahren kehrte ihre Mutter zurück in die Heimat und bat die Kinder, sie besuchen zu kommen. Als Moa-lin die Stadt das erste Mal als Erwachsene sah, sah sie vor allem: Möglichkeiten. Wo fast alles kaputt ist, wird fast alles benötigt. Und die Somalier sind in Afrika als findige, oft auch skrupellose Geschäftsleute bekannt. +Moalin verliebte sich in die Stadt, in den Ozean, die Geschichten, die wilden geheimen Partys. Und in das Geld. "Ich merkte, dass es keine Beautysalons gab. Die Frauen flogen nach Nairobi, wenn sie sich die Nägel machen lassen wollten." So fing alles an. Sie mietete eine große Kolonialvilla und stellte dann fest: "Viele der High-Profile-Leute hier haben keine Orte, wo sie hingehen können." Sie schmiedete Allianzen, schmierte die richtigen Leute, besorgte sich Sicherheitspersonal und machte aus dem Beautysalon einen Club. +Probleme aber gibt es viele. "Ich bin eine Frau, eine Rückkehrerin, und ich bin nicht religiös", sagt sie. "Drei Punkte, die alles noch schwieriger machen." Es ist nicht lange her, da stürmten 25 Mann mit Maschinengewehren abends um neun den voll besetzten Garten. Sie reihten die Gäste an der Mauer auf, schlugen auf sie ein. Nach ein paar Stunden wurden sie wieder freigelassen. +Es waren gekaufte Regierungssoldaten, die kamen, weil Moalin einem Geschäftsmann die Mitgliedschaft verweigert hatte. "Persönliche Differenzen", sagt sie nur. Ein anderes Mal stand ein ganzer Bus bewaffneter bärtiger Fundamentalisten vor dem Tor – Maschinengewehre im Anschlag, einer trug Handgranaten am Gürtel. Sie rief ihren Cousin an, der beim Geheimdienst NISA arbeitet. In letzter Minute trafen Truppen der Afrikanischen Union ein und konnten die Männer überwältigen. +Jeden Montagabend versammeln sich fast alle der über 136 Mitglieder im Garten zu einem großen Dinner. Es spricht für die Kontakte von Moalin, grenzt aber trotzdem an ein Wunder, dass sich hier noch kein islamistischer Selbstmordatten-täter in die Luft gejagt hat. Gerade im Januar hat es das Village Restaurant um die Ecke getroffen. Ein paar Monate später attackierten die Männer von Al-Shabaab ein Restaurant am beliebten Lido Beach. Im Country Club gab es bisher noch keine Toten. +Ein Jahr lang aber lebte Moalin in ständiger Todesangst. Dann sagte sie sich: "Du wirst sterben, aber du wirst dich nicht aus deinem Haus vertreiben lassen." Sie war bereit zu kämpfen. Sie weiß, dass sich die Fundamentalisten nicht abfinden werden mit einem Haus, das in ihren Augen die Sünde verkörpert. Aber Menschen wie sie, die versuchen, Normalität herzustellen, trifft man nun häufiger in der Stadt. Sie betreiben Restaurants, Cafés, Schulen, Hotels und Geschäfte. Und langsam trauen sich auch Frauen wieder mehr zu. "Es muss aufhören, dass die Männer denken, sie könnten mit einer Frau machen, was sie wollen. Ich will die Erste sein, die gesagt hat: Nein. So läuft das nicht!" +"Das Problem hier", sagt Manar Moalin, während es langsam dunkel wird und die weißen Gäste gebeten werden, aus Sicherheitsgründen allmählich zu gehen, "ist ein riesiger Egoismus." Wenigen gehe es um das Land, vielen um das eigene Konto. +Es gibt ein somalisches Sprichwort, das das Dilemma des Landes in vier Sätzen ausdrückt: "Ich und mein Clan gegen die Welt, ich und meine Familie gegen meinen Clan, ich und mein Bruder gegen meine Familie, ich gegen meinen Bruder." Im Hintergrund fallen Schüsse. Manar Moalin zuckt nur mit den Schultern. Sie wird nicht gehen. diff --git a/fluter/trump-braucht-die-republikaner-nicht.txt b/fluter/trump-braucht-die-republikaner-nicht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4b526543300ae548ac7acba7ed9595601a78b004 --- /dev/null +++ b/fluter/trump-braucht-die-republikaner-nicht.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Bemerkenswert ist, dass sich bis dato nur jene Republikaner öffentlich gegen Trump gestellt haben, die sich nicht zur Wiederwahl aufstellen lassen. Wie viel Gewicht hat ihre Kritik überhaupt? +Ihre Aussagen bringen die Frustration auf den Punkt. Die Republikaner stellen derzeit die Mehrheit im Senat und im Abgeordnetenhaus und haben das Weiße Haus. Trotzdem schaffen sie kaum etwas. Sie sind daran gescheitert, Obamas Gesundheitsreform zu ersetzen, sie wissen nicht, wie sie mit dem Thema Einwanderung weitermachen sollen, und im Moment ist die große Baustelle die Steuerreform. Das ist für viele Wähler beunruhigend und ärgerlich zu sehen. Und der einzige Grund, warum es bis jetzt noch keine Gefahr für die Republikaner darstellt, ist meiner Meinung nach der, dass die Demokraten mit keiner überzeugenden Message punkten konnten. +Donald Trump war ursprünglich ein unabhängiger Kandidat und ist für den Präsidentschaftswahlkampf eine Zweckehe mit den Republikanern eingegangen. Rächt sich das jetzt? Wer braucht einander mehr? +Trump braucht die Republikanische Partei nicht. Als Präsident kann er per Dekret vieles erreichen. Barack Obama hat die Machtfülle des Präsidenten ausgebaut und zementiert – das kommt jetzt Trump zugute. Die Republikaner haben bis jetzt keinen Weg gefunden, Trump zu kontrollieren. Das Einzige, was ihnen bleibt, ist, mit ihm zu arbeiten. +Klingt nach einer auf Angst basierenden Zusammenarbeit. +Trump tut, was er will. Überraschend war beispielsweise, dass er versucht hat, mit den demokratischen Fraktionschefs im Abgeordnetenhaus und Senat Nancy Pelosi und Chuck Schumer einen Deal zu erreichen, was mit dem Daca-Programm weiter geschehen soll, das junge Immigranten vor der Abschiebung schützen soll [Anm. d. Red.: Später knüpfte Trump jedoch Bedingungen an einen Kompromiss; zurzeit ist unklar, was mit Daca passiert. Bis März hat der Kongress Zeit, eine Einwanderungsform zu erarbeiten]. Sosehr die Demokraten ihn hassen – auch sie wollen mit Trump zusammenarbeiten. Das ist ein großer Mentalitätswechsel im Vergleich zum Beginn seiner Amtszeit. Und die Republikaner hassen und fürchten wiederum Trumps mögliche Deals mit den Demokraten, weil gerade die zeigen, wie ineffizient sie selbst sind. +Was ist Trumps Strategie? +Ich glaube, Trump spielt auf Zeit. Er will so viele etablierte Republikaner loswerden wie möglich, so dass er bei den Zwischenwahlen 2018 die Abgeordneten durch Leute ersetzen kann, die so ticken wie er selbst. +Sprechen Sie von einem Politikertypus wie Roy Moore – einem konservativen, homophoben Juristen, für den die Bibel über der amerikanischen Verfassung steht? Er hat vor kurzem die Kandidatenvorwahl bei den Republikanern in Alabama gewonnen. +Trump hat ursprünglich den Wunschkandidaten des Parteiestablishments Luther Strange unterstützt. Er musste aber einsehen, auf den Falschen gesetzt zu haben. Moore wird trotz seiner Charakterschwächen von vielen dafür geschätzt, dass er ähnliche politische Ansichten wie Trump hat und die Entscheidungen des Präsidenten mit seiner Stimme unterstützen würde. Und jeder Sieg in Washington ist für Trumps Fans ein gutes Zeichen – deshalb ist für sie jeder Kandidat, der rechts von Trump steht, unterstützenswert. +Wie groß ist Trumps Basis momentan? +Abgeleitet von aktuellen Zustimmungsraten würde ich davon ausgehen, dass 33 bis 35 Prozent der Leute in diesem Land Trump unterstützen. +Roy Moore wurde öffentlich auch von Trumps ehemaligem Chefstrategen und Leiter der Internetplattform Breitbart Steve Bannon gepusht. Wie viel Einfluss hat Bannon noch auf Trump? Insider sprechen davon, dass sich die beiden zwei- bis dreimal pro Woche hören oder sehen. +Bannon ist nach wie vor die nationalistische Stimme für diese Administration, auch wenn er offiziell kein Teil mehr von ihr ist. Er führt seinen Kampf gegen das Establishment mit Breitbart von außen weiter. Bannon und Trump stehen sich nah, weil sie die gleiche Vorstellung teilen, wie dieses Land aussehen soll. +Auch Donald Trump hält mit seiner Enttäuschung nicht hinter dem Berg, dass das republikanische Parteiestablishment im Kongress nichts zustande bringt. +Seine Kritik wirkt: Die Basis unterstützt Trump nach dem Motto "Er kann nichts falsch machen" weiterhin. Sie ist so von ihm überzeugt, dass sie ihm fast bedingungslos die Treue hält. Aber mit einer Sache kann Trump seine Unterstützer richtig wütend machen: wenn er seine Wahlversprechen zum Thema Einwanderung bricht. Als Trump mit den Demokraten einen Deal zu Daca machen wollte, verbrannten einige Fans sogar ihre "Make America Great Again"-Caps. Das Thema Einwanderung ist auch eines der wichtigsten Spaltthemen zwischen Trump und den Republikanern. Die Republikaner sprechen von sicheren Grenzen, haben aber keine Freude an einer Mauer zwischen Mexiko und den USA. +Es scheint, dass nichts und niemand Trumps Unberechenbarkeit und raue Kommunikationsweise abschwächen kann. Wie wahrscheinlich ist ein Amtsenthebungsverfahren? +Gleich null. Es gibt bei den Republikanern keinen politischen Willen dafür – alle würden ihre Posten verlieren. Und die Demokraten haben nicht genug Stimmen. Wir wissen natürlich nicht, was Mueller [Anm. d. Red.: Der US-Sonderermittler Robert Mueller untersucht die mögliche russische Einflussnahme auf den US-Wahlkampf] noch herausfinden wird, aber ich denke, keine der beiden Parteien hat saubere Hände in der Russland-Affäre. +Schadet Trump seine Kommunikationsweise denn? +Ja und nein. Ja deshalb, weil er sich widerspricht. Nein, weil ihn seine Basis liebt. Sie hatten noch nie einen Präsidenten, der öffentlich das ausspricht, was sie denken. Trump nutzt Twitter als direkten Kommunikationskanal wie kein anderer US-Präsident zuvor. Seine Tweets sind roh, ungefiltert. Und das verstärkt das Image, dass Trump kein "traditioneller Politiker" ist, und erinnert sie an die Zeit, als sie sich zum ersten Mal in Trump verliebten. + +Siraj Hashmi beobachtet seit Jahren die Washingtoner Politszene. Er ist Kommentator für die in konservativen politischen Kreisen angesehene Wochenzeitung "Washington Examiner". Zuvor arbeitete er für die Website "Red Alert", das Angebot für Millennials aus demselben Medienhaus. + +Titelbild: T.J. Kirkpatrick/Redux/laif diff --git a/fluter/trump-impeachment-warum-ein-amtsenthebungsverfahren-unwahrscheinlich-ist.txt b/fluter/trump-impeachment-warum-ein-amtsenthebungsverfahren-unwahrscheinlich-ist.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..565157018ea88896445efc9a7dd661f68f30dd64 --- /dev/null +++ b/fluter/trump-impeachment-warum-ein-amtsenthebungsverfahren-unwahrscheinlich-ist.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Gibt es dafür Belege? +Die Hinweise mehren sich. Es wurde zum Beispiel bekannt, dass James Comey Gesprächsnotizen verfasst hat. Darin schreibt er, Trump habe ihn gebeten, die Ermittlungen einzustellen. Trump selbst hat die Begründung für die Entlassung von Comey mehrmals geändert und soll gegenüber dem russischen Außenminister gesagt haben, die Entlassung von Comey nehme Druck aus der Sache. Außerdem soll Trump den zuständigen Minister für die Geheimdienste und den Chef der NSA gefragt haben, ihn gegenüber den Vorwürfen zu verteidigen. Das erhärtet den Verdacht, Trump könnte versuchen, diese Untersuchung zu behindern, und das wäre ein Gesetzesbruch – mit eventuellen Konsequenzen. Das Justizministerium nimmt die Sache immerhin so ernst, dass es einen Sonderermittler eingesetzt hat. Dieser arbeitet weitgehend unabhängig von Weisungen und hat sehr weitreichende Befugnisse. Mit einem Abschluss der Ermittlungen würde ich aber nicht vor kommendem Jahr rechnen. + +Wenn's nur der Sonderermittler wäre ... auch dieser Hund und sein Herrchen verlangen vom Präsidenten Aufklärung. Sie und anderen Demonstranten forderten Trump am 15. April erneut auf, seine Steuern offenzulegen. In den USA veröffentlichen Präsidenten üblicherweise ihre Steuerunterlagen, auch wenn es gesetzlich nicht vorgeschrieben ist. Trump weigert sich jedoch +Viele fordern nun, gegen Trump solle ein Amtsenthebungsverfahren, das sogenannte "Impeachment"-Verfahren, eingeleitet werden. Was sind die Voraussetzungen dafür? +Ein Amtsenthebungsverfahren wird eingeleitet vom Repräsentantenhaus, einer der beiden Kammern des US-Parlaments. Das Repräsentantenhaus kann das Verfahren mit einer einfachen Mehrheit beschließen, und dann geht das Ganze an den Senat, die zweite Kammer. Damit es dann aber tatsächlich zu diesem "Impeachment" kommt, muss der Senat mit einer Zweidrittelmehrheit dafür stimmen. Das ist eine sehr große Hürde, denn dafür muss eine gewisse Zahl der Republikaner gegen ihren eigenen Präsidenten stimmen. Zurzeit haben die Demokraten auch keine Mehrheit im Repräsentantenhaus, um das Verfahren gegen den Widerstand der Republikaner auf den Weg zu bringen. +Also ist ein solches Verfahren nicht besonders wahrscheinlich? +Johannes Thimm ist stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe Amerika bei der Stiftung Wissenschaft und Politik +Die Frage ist immer: Was haben die Republikaner davon, ihren eigenen Präsidenten abzusägen? Die bisherigen Fälle von drohenden Amtsenthebungsverfahren der jüngeren Vergangenheit, gegen Richard Nixon und gegen Bill Clinton, wurden jeweils von der gegnerischen Partei gestartet, weil die eine Mehrheit im Repräsentantenhaus hatte. Einerseits hat der Erfolg von Donald Trump bei der letzten Wahl dazu beigetragen, dass die Republikaner die Mehrheit im Kongress haben. Andererseits sind viele Republikaner mit der Amtsführung von Trump bisher nicht zufrieden. Sie hätten auch lieber einen anderen Kandidaten für ihre Partei aufgestellt und könnten auch mit dem Vizepräsidenten Mike Pence – der als konservativ und verlässlich gilt und im Falle einer Abwahl von Trump nachrücken würde – vermutlich mehr anfangen. Was aber wirklich zählt, ist die Stimmung unter den republikanischen Wählern, insbesondere denen, die für Trump gestimmt haben. Die Republikaner werden sich danach richten, was die Wähler wollen und wie sich ihre Positionierung zu Trump auf ihre eigene Wiederwahl auswirkt. Die nächsten Kongresswahlen stehen 2018 an. +Also würden viele Republikaner sich nur von Trump abwenden, wenn die Stimmung im Land kippt? +Und danach sieht es zumindest bisher nicht aus. Es gibt natürlich eine große Anzahl von Trump-Gegnern, die haben ihn aber noch nie gewählt. Und bei seinen Anhängern ist die Unterstützung für den Präsidenten immer noch hoch, die hat sich durch die Skandale bisher kaum verändert. Hier gibt es ein großes Misstrauen in das "politische Establishment", also die Führungseliten in Washington, und eine Absetzung Trumps durch Amtsenthebung würde Verschwörungsfantasien beflügeln, die glauben, dass das System nicht wirklich demokratisch ist. Hier ist es eher wahrscheinlich, dass Trump mit der Zeit durch seine Politik enttäuscht – zum Beispiel mit seinen Plänen zur Gesundheitsreform. Die sind sehr unbeliebt, weil viele Menschen dadurch ihre Versicherung verlieren könnten, und dafür haben sie Trump nun nicht gewählt. + +Titelbild: Konstantin Sergeyev / Alamy Stock Foto diff --git a/fluter/trump-in-der-politischen-karikatur.txt b/fluter/trump-in-der-politischen-karikatur.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..70a7ba39365080ccb75b026c9b690f187fd23ea5 --- /dev/null +++ b/fluter/trump-in-der-politischen-karikatur.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Zu weit gehen sehr wenige Karikaturen. Ich bin der Meinung, dass Satire alles darf. Wo es sich um Satire handelt, da darf auch Blut fließen. Die Frage ist: Wo hört Satire auf und wo fängt Diffamierung oder Verleumdung an? Das ist natürlich eine Grenze, die jeweils neu verhandelt wird. Wenn ich eine Karikatur schlecht finde, dann in der Regel nicht, weil sie zu weit geht, sondern weil ich darin keinen Witz oder keine kritische Aussage entdecke. Also nicht unbedingt, weil meine Gefühle verletzt sind, sondern weil ich den Sinn und Zweck dieser Zeichnung nicht verstehe. +Katharina Greveist Comiczeichnerin, Autorin und Künstlerin. Zuletzt erschienen: das Webomic "Das Hochhaus" (Avant Verlag), mit dem sie den Max&Moritz Preis gewann. +Das ist eine alte Karikatur vom New Yorker aus einer Zeit, bevor Trump Präsident geworden ist, aber ich finde, das passt immer noch total gut. Sie drückt alles aus, was diese Person ausmacht. Er zeigt halt allen den Mittelfinger. Die Karikatur gefällt mir, weil sie sehr schnell auf den Punkt kommt. Ich finde es wichtig, dass man bei Karikaturen nicht zu lange braucht, bis man den Witz erkannt hat. Außerdem sollte eine Karikatur nicht vorhersehbar, sondern überraschend sein. +Gezeichnete Cartoons über Trump finde ich oft nicht treffend und nicht besonders gelungen. Ich habe keinen Cartoon gefunden, bei dem ich gedacht habe, das kann man doch nicht machen. Eher umgekehrt: Ja, kann man machen, aber so richtig gut ist es auch nicht. Bei Trump ist es so eindeutig, dass er als ein Monster oder ein Durchgedrehter in Zwangsjacke dargestellt wird. Man versucht das, so wahnsinnig in die Höhe zu treiben, aber es funktioniert nicht. Der Witz ist oft zu durchsichtig. Karikaturen arbeiten mit einem Mittel der Übertreibung und es ist schwer, das noch zu übertreiben, weil Trump selber ja schon so eine übertriebene Figur ist. Das funktioniert ganz oft nicht. +Ich finde, es gibt erst mal keine Grenzen der Satire. Bei Trump fällt es einem sehr leicht, weil man denkt, das ist wie so eine Zeichentrickfigur, da kann man den Kopf abschlagen und es wächst wieder einer nach. Aber ich glaube, Mitleid muss man da nicht haben. +Christiane Lokarist Grafik-Designerin und Cartoonistin. Sie zeichnet unter ihrem Pseudonym Kittihawk veröffentlichte sie für die Sächsische Zeitung, den Spiegel, Titanic und zitty. 2009 erschien ihr Buch Lebenslanges Lernen (Lappan) + + + +Auf Anhieb ist mir keine Karikatur zu Trump eingefallen, die mir bis heute richtig gefällt. Diese hier ist mir irgendwie im Kopf geblieben. Da dachte ich, die hat doch irgendwas gemacht. Sie ist von Illma Gore und hat den Namen "Make America great again". Eigentlich finde ich das Spiel der Nacktheit in Karikaturen gar nicht so gut, aber in diesem Fall trifft es. Die Mimik, Gestik; der kleine Penis ist natürlich hier nicht unwichtig und so gut wie keine Eier. Das ist gut, weil es die Sprache von Trump ist. In dieser Zeichnung gilt das alte Sprichwort: Feuer mit Feuer bekämpfen. Das funktioniert hier. +Es gibt unzählig viele schlechte Karikaturen von Trump. Das Interessante ist ja, dass er eigentlich Realsatire ist. Er ist schon ein überaus überzeichneter Mensch im wahren Leben. Die ganzen Stilmittel, mit denen Karikatur eigentlich spielen sollte, kommen da nicht raus. Er ist in Wirklichkeit satirischer als viele Zeichnungen. +Aber ihn zu karikieren geht durchaus. Es ist ja nicht nur seine markante Frisur und seine Hautfarbe, es ist vor allem auch seine Mimik, das ist ja teilweise eine grausige Kirmes, die da stattfindet. Der beflügelt einen schon. Als Angela Merkel Kanzlerin wurde, hatte ich sehr viel größere Schwierigkeiten, ihr Erscheinungsbild zu überzeichnen, weil ich damals gerade meine Arbeit als Karikaturist begonnen habe und für mich erst einmal festlegen musste, wie weit ich eigentlich gehen möchte. Dazu kam noch, dass es sich um eine Frau handelte. Trump hat so eine Obrigkeit, die bietet sich ja für Satire an. +Jeder Karikaturist legt die Grenzen persönlich fest. Bei dem einen liegen die höher, bei dem anderen niedriger. Wir leben hier in Pressefreiheit und Satire hat die Aufgabe, Grenzen zu sprengen. Satire muss anecken, sonst hat das alles keinen Sinn. +Frank Hoppmannist Zeichner, Karrikaturist und Illustrator. Er zeichnet u.a. für die Welt am Sonntag, den Rolling Stone und wurde vielfach ausgezeichnet. +Von Heinrich Böll stammt der Satz: "Satire ist kein Himbeerwasser." Sie soll scharf sein im Sinne der Aufklärung, einen Sachverhalt offen legen. Ein gutes Beispiel für diese Maßstäbe ist das Donald Trump gewidmete Titelbild des SPIEGEL vom 4. Februar 2017. Trump der Rächer, der die Freiheitsstatue – das Symbol des freien Amerika schlechthin – enthauptet, zeigt die Aufkündigung des friedlichen Meinungsstreits mit der Waffe. Es ruft Assoziationen zu den im Internet kursierenden Schreckensfotos von Hinrichtungen durch die Jihadisten des IS hervor. Die Karikatur beschreibt eine Kriegserklärung an den Rest der Welt im Namen von 'America First'. +Die Grenzen der Satire bestimmt unser Grundgesetz im Artikel Eins: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Kurt Tucholskys Satz "Die Satire darf alles" füge ich hinzu: In Verantwortung. Deshalb kein scharfer Angriff ohne Erkenntnisgewinn. Meine Definition von Satire: Die Verteidigung der unverschuldet Schwachen gegen den Übermut der Starken mit den Möglichkeiten des Humors, der nicht mit Spaß verwechselt werden darf. Wer also mit scharfer Klinge angreift, muss gute Gründe haben. (Cover: DER SPIEGEL 4/2017) +Klaus Staeck ist Grafikdesigner, Karikaturist und Jurist. Er war drei mal auf der Documenta vertreten, veröffentlichte zahlreiche politische Plakate und war von April 2006 bis Mai 2015 Präsident der Akademie der Künste in Berlin. diff --git a/fluter/trump-nach-us-praesidentschaft.txt b/fluter/trump-nach-us-praesidentschaft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bdb45754da47983bd1db369f073b4227f8a21bbb --- /dev/null +++ b/fluter/trump-nach-us-praesidentschaft.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +"Wir, das Volk, haben die Kontrolle über die Vereinigten Staaten", sagte Trump-Beraterin Katrina Pierson an jenem Morgen auf der Bühne. Trumps Sohn Eric nimmt sich das Mikrofon: "Wir müssen noch heute zum Kapitol marschieren und uns für dieses Land erheben!" Dann tritt Trumps ältester Sohn Donald Junior auf die Bühne. "Wenn ihr euch als Nullen und nicht als Helden entpuppt", sagt er in Anspielung auf die mangelnde Loyalität der Republikaner, die gleichzeitig keine drei Kilometer entfernt dabei sind, das Wahlergebnis formal zu zertifizieren, "dann knöpfen wir uns euch vor und werden jede Menge Spaß dabei haben!" Am Ende ist Donald Trump an der Reihe: "Wir marschieren zum Kapitol. Wir kämpfen bis zum Äußersten, und wenn ihr nicht bis zum Äußersten kämpft, wird euer Land zugrunde gehen!" +Kurz danach kippen die Absperrgitter vor dem Kapitol um wie Dominosteine, Scheiben klirren, Reizgas vernebelt den Vorplatz, Schlagstöcke schwingen durch die Luft, irgendwann fallen Schüsse. Der Sturm auf die heiligen Hallen der US-amerikanischen Demokratie durch einen aufgebrachten Mob aus Trump-Anhängern hat begonnen. + + +Was dort am 6. Januar am Kapitol in Washington genau passiert ist, wie geplant die Aktion war, wer sich mitreißen ließ, wer vorsätzlich handelte und welche Rolle die Sicherheitskräfte dabei spielten – diese Fragen werden in Bidens Amtszeit mit Sicherheit noch Untersuchungsausschüsse beschäftigen. Doch stellt sich jetzt schon die Frage: Was bleibt vom "Trumpismus", wenn Joe Biden im Oval Office sitzt?Schließlich hat sich der scheidende Präsident mit seinen konfrontativen Wahlkampfauftritten,Tweets, Lügen und Verschwörungsmythen eine bedingungslos ergebene Anhängerschaft erschaffen – auch wenn ihn zunehmend Republikaner offen kritisieren. +Die Antwort hängt davon ab, wie aktiv Trump seine Rolle als Alt-Präsident ausfüllt – ob er sich, spätere juristische Probleme mal ausgenommen, aggressiv in die Tagespolitik einmischt oder sich altersmilde auf Nachfrage bloß hin und wieder zu den großen Themen äußert. Aber selbst wenn er sich in seine Wahlheimat Florida zurückziehen und als medialer Einsiedler seine Pension genießen sollte, lässt sich eins mit Sicherheit sagen: Rund um Trump hat sich unter Rechten ein extremes Ökosystem entwickelt, das von mehreren Seiten gepflegt wird. +Konservative Medienfiguren machen genauso Stimmung gegen eine neue Regierung unter Joe Biden wie manche republikanische Abgeordnete und Senatoren. Die bittere Ironie ihrer Sätze:Um Recht und Ordnung zu wahren, rufen sie ausgerechnet zu kämpferischem Widerstand gegen eine demokratische Wahl auf. Ihr Aufbegehren gegen das Ergebnis bleibt gegenstandslos; es gibt bislang keine Beweise für flächendeckenden oder systematischen Wahlbetrug. +Joe Biden sammelte am Ende sieben Millionen Wählerstimmen mehr als Donald Trump ein, und dennoch fehlten dem Amtsinhaber in Arizona, Georgia und Wisconsin jeweils bloß 10.000 bis 20.000 Stimmen – und plötzlich wäre eine Wiederwahl aufgrund der Eigenheiten des US-amerikanischen Wahlsystems nicht ausgeschlossen gewesen. Für einige eingefleischte Trump-Fans, für die, die kein Problem damit haben, ein Regierungsgebäude zu stürmen, um die Zertifizierung eines rechtmäßigen Wahlergebnisses zu verhindern, ist der Sturm aufs Kapitol ein entscheidender Einschnitt: der Gründungsmythos für eine neue konspirative Erzählung. + +"Inzwischen wird die Erstürmung als großartiges Patriotentreffen verklärt. Der Fokus liegt jetzt auf der Dämonisierung durch die Mainstreammedien", sagt die Journalistin Anna Merlan, Autorin des Buches "Republic of Lies", das sich mit Amerikas Empfänglichkeit für Verschwörungstheorien beschäftigt. "Die Suspendierung von Parler (einer Social-Media-App, wo sich vermehrt Rechtsextreme getroffen hatten, Anm. d. R.) und das Ende von Trumps Twitter-Account nährt zusätzlich den Spin, dass die Wahrheit angeblich vertuscht werden soll." +Spätestens nach den Ereignissen vom 6. Januar dürfte den Republikanern klar sein, sagt Merlan, dass sie ein Monster geschaffen haben, das ihre Partei übernommen hat. "Wenn deine Anhänger – teilweise bewaffnet – in einer wilden Horde auf das Kapitol zustürmen, läuft etwas sehr, sehr falsch." +Als eine Möglichkeit, die Partei doch noch vom "Trumpismus" loszueisen, wird das zweite Impeachment-Verfahren gegen den frisch ausgeschiedenen Präsidenten gesehen. Ist es erfolgreich, wäre das ein harter Bruch mit der politischen Parallelwelt, in der sich Milizen und Verschwörungsideologen aller Couleur tummeln. Für Trumps einstige Parteifreunde soll es wie ein Exorzismus wirken: die Vertreibung der alten Geister. +Aber auch diese Hoffnung lässt außer Acht, dass Donald Trump im November – trotz all der Skandale während seiner Präsidentschaft – noch einmal zehn Millionen Menschen mehr überzeugen konnte, ihm ihre Stimme zu geben. Seine Anziehungskraft für die konservative Klientel ist nicht zu unterschätzen. Noch hält er trotz seiner Niederlage die Partei im ideologischen Schwitzkasten. + +Titelbild: Ron Haviv / VII / Redux / laif diff --git a/fluter/trump-trollen-motivation.txt b/fluter/trump-trollen-motivation.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5fc5f75c2d0f219f96c5f65fc429a27b130b2efa --- /dev/null +++ b/fluter/trump-trollen-motivation.txt @@ -0,0 +1,50 @@ +fluter: "Wie meinst du das?" +Marcus: "Die Welt ist im Informationskrieg. In dem kann inzwischenjeder Fakten erfinden, wie er will." +Und wenn er, Marcus, sich auf Facebook einlogge, sei er mittendrin. Im Krieg. "Und das Trollen ist meine Waffe." +Trollen ist wahrscheinlich so alt wie das Internet selbst. Geprägt wurde der Begriff in Foren, die längst von Rechtsextremen und Verschwörungserzählern regiert werden. Tatsächlich entstammt er aber der Fischerei: Trolling bedeutet so viel wie "mit einem Schleppnetz fischen". Trolle nutzen Provokationen als Köder, um andere online in Gespräche zu verwickeln und so lange zu reizen, bis sie emotional reagieren. Wird einer wütend, traurig, unsachlich, schäumt und rastet aus, obwohl er das gar nicht wollte, hat ein Troll sein Ziel erreicht. +Auf Social Media trifft man auf jedem Kanal, jeden Tag und zu gefühlt jedem Thema Trolle.Einen Troll zu findenist kein Problem. Kompliziert wird es an einem anderen Punkt: Woher weiß man, dass man nicht selbst getrollt wird? +Marcus muss bei dieser Frage lachen. "Fairer Punkt", sagt er. Er wird seine Netzaktivitäten mit Screenshots, Chatnachrichten und Fotos belegen. Vor dem Gespräch schickt er einen Artikel der Fact-Checking-Website Snopes. Der zeigt ein älteres Bild des US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump, der zusammen mit einem mittlerweile verstorbenen weltweit bekannten Sexualstraftäter und einem leicht bekleideten Mädchen posiert. Trump hat die Hand auf ihrem Oberschenkel. Snopes schreibt, das Foto sei sehr wahrscheinlich mit künstlicher Intelligenz generiert worden. "Mein Werk", sagt Marcus. +Es bleiben viele Fragen. Die größte und erste: Warum macht er das? +Marcus zeigt auf ein Bild an der Wand gegenüber. Ein Stammbaum. Er müsse jetzt leider ausholen. Das sei aber wichtig, um ihn zu verstehen. +Er sei aschkenasischer Jude, erzählt Marcus. Seine Familie stammt aus Osteuropa, der Großteil sei im Holocaust ermordet worden. "Wir sind nicht mal in die Lager gekommen. Wir haben so tief im Baltikum gelebt, dass man uns einfach in den Kopf geschossen hat", sagt er. Seine Großeltern aber hätten überlebt und seien nach Brooklyn gekommen. Dort ist auch Marcus geboren und aufgewachsen auf Militärstützpunkten in der ganzen Welt. "Mein Vater war ein sadistischer Marinesoldat. Aber er hat mir eine Menge über Waffen und Informationen und Spionage und Propaganda weitergegeben", sagt Marcus. Er selbst wurde Geschichtslehrer. Das ist er bis heute, weshalb sein Name hier geändert ist. +Marcus kann sich genau erinnern, wann er beschloss, andere zu trollen: am 6. Januar 2021. Marcus saß vor dem Fernseher. Er war gerade zu seiner Frau nach Deutschland gezogen. +"Ich sah, wie ein Haufen aufgeblasener Möchtegernparamilitärs die Polizei zurückdrängten. Wiesie in das Kapitol in Washington eindrangen. Als Amerikaner dachte ich, unsere Republik sei stark genug, dass solche Leute keinen Erfolg haben." +Marcus redet sich in Rage. Er sagt, das tägliche Politikhickhack interessiere ihn gar nicht so. Er sei weder Demokrat noch Republikaner. +"Aber, BEI GOTT, es kann nicht noch mal Trump werden. Wenn er diesen amerikanischen Superstaat für vier weitere Jahre in den Griff bekommt, was dann? Was kommt dann??? Wird er die Begrenzung auf zwei Amtszeiten anfechten? Wird er Putin 2.0? Ich möchte, dass diese Republik überlebt. Vielleicht bin ich ein Patriot." +Aber wie soll Trollen da helfen? Für Marcus ist die Rechnung einfach. +"Für seine Anhänger ist Trump zur Wahrheit geworden." Sie hätten sich eine Parallelwelt aufgebaut, online, in der sie sich die ganze Zeit selbst bestätigten. Auf Parler, einer Plattform, die vor allem Menschen aus dem libertären bis rechtsextremen politischen Spektrum und Verschwörungserzähler nutzen. Auf Signal, Reddit oder halt in Facebook-Gruppen. Manche davon hätten Hunderttausende Mitglieder, sagt Marcus. +"Wo erreichst du sonst so viele Menschen gleichzeitig? Im November wird gewählt, der Abstand zwischen Biden und Trump ist minimal. Wenn ich am Ende ein paar Tausend Menschen in einem Swing State verwirren kann, sodass sie nicht Trump wählen, könnte das die ganze Wahl verändern." +Seit zwei Jahren taucht Marcus in die Trump-Gruppen ein, mehrmals die Woche für mehrere Stunden. Unter falschem Namen tritt er allen rechtsextremen, frauenfeindlichen, christlich-nationalistischen, transphoben Gruppen bei, die er finden kann. Und wartet erst mal ab. +"Observieren" nennt Marcus das. Er möchte wissen, wen die Trumpheads angreifen. Welche (Verschwörungs-) Erzählungen sie verbreiten, welchen Quellen sie glauben, über wen sie lachen, auf welche Themen sie besonders emotional reagieren. +Aus den Informationen generiert Marcus mit Midjourney, einer künstlichen Intelligenz, Bilder. Er tippt zum Beispiel ein: +Polaroid. 1980s. +High class, decadent party. +Hosted by Donald Trump. +Dann passt er die Bilder so lange an, bis sie den Inhalten in der Gruppe zum Verwechseln ähnlich sind. Es gibt nur einen Unterschied: In Marcus' Bildern steht Trump nicht als der Befreier da, sondern als der Böse. + +Nachdem er das Bild gepostet hat, wartet Marcus wieder. Auf Widerspruch. Für jeden Einwand hat er schon einen Konter vorbereitet. Nie wird er beleidigend. Wenn einer schreibt, das Bild sei eine Fälschung, antwortet Marcus: Es ist wahr. Er stimmt ihm also zu und gleichzeitig auch nicht. Dieser Interpretationsspielraum würde sie wahnsinnig machen, sagt er. Wenn einer schreibt, er habe Beweise, dass das Bild gefälscht sei, schreibt Marcus: Du hast die Beweise gefälscht. Wenn einer nach der Quelle fragt, schreibt er: ein Tagebuch aus dem kommunistischen Venezuela unter Pedro Wilson. +fluter: "Wer ist Pedro Wilson?" +Marcus: "Keine Ahnung. Ich habe ihn erfunden." +fluter: "Aber was bringt das?" +Marcus: "Ich schlage sie mit ihren Methoden. Sie leben in einer Welt aus Desinformation. Wie sollen sie die Desinformationen anderer erkennen?" +Marcus lehnt sich auf der Couch zurück. Schimpft noch ein bisschen über ultranationale Christen, das Alter von Joe Biden, über andere Trolle. Es gebe sicher welche, die dasselbe machen wie er, nur eben für Trump. "Ich denke, dass Menschen für den dümmsten Scheiß trollen können." Er erzählt von den Desinformationseinrichtungen, die der russische Staat finanziert,die "Trollfabriken" genannt werdenund ganz gezielt und organisiert Demokratien angreifen. Dann zuckt er mit den Schultern und sagt: "Die meisten genießen wahrscheinlich einfach das Chaos, das sie stiften." +Tatsächlich sind Trolle – und ihre Motive – gut erforscht. +Ein Anruf bei Markus Appel. Er ist Professor für Kommunikationspsychologie an der Universität Würzburg. Appel forscht zu Desinformation und wird erst mal grundsätzlich. Kommunikation, sagt er, habe immer das Ziel, sich mit anderen gemeinsam zu verständigen. Selbst wenn jemand lüge, sei das so. Trollen wiederum sei exakt das Gegenteil. +"Die meisten Trolle wollen sich nicht verständigen, sondern provozieren Widerspruch um des Widerspruchs willen." Deshalb, sagt Appel, seien die berühmten russischen "Trollfabriken" eigentlich "Propagandafabriken". +fluter: "Wer sind Trolle genau?" +Appel: "Überwiegend junge Männer." +fluter: "Können Sie die charakterisieren?" +Appel: "Trolle gibt es durch alle Bildungs- und Einkommensschichten und in jedem Land der Welt. In gewisser Weise sind sie ein Querschnitt der Gesellschaft." +fluter: "Wie sollte man auf Trolle reagieren?" +Appel: "Einfach nicht auf sie eingehen. Wenn es schlimm wird: melden und blockieren." +Vor zwei Jahren sorgte eine EU-weite Studie der University of East London für Aufsehen. Forschende hatten 16- bis 19-Jährige zu ihrem Onlineverhalten befragt. Mit dem Ergebnis: Jeder Vierte hatte im Jahr zuvor jemanden getrollt. +Appel wundern solche Zahlen nicht. Das Trollen sei in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Das liege auch daran, was das Trollen in unseren Gehirnen auslöse. "Wenn Sie Trolle fragen, sagen die meisten: Es macht Spaß. Aber dahinter steckt oft noch mehr." Wenn man Personen gegen ihren Willen etwas tun lasse, und selbst wenn man sie nur zum Ausflippen bringe, erzeuge das ein Gefühl von Macht, sagt Appel. "Und Macht ist ein gutes Gefühl." Was wahrscheinlich auch erkläre, warum mehr junge Menschen trollen: Sie haben strukturell weniger Macht als ältere. Manchmal könne dieses Gefühl zu Eskalation führen, sagt Appel. "Trollingund Hatespeechsind nah beieinander. Sie können ineinander übergehen." Aus vergleichsweise harmlosen Trollen werden organisierte Hater. +Steckt in jedem ein Troll? "Jede Person hat die Tendenz zumindest in sich", sagt Appel. Unter Geschwistern drücke man oft genau den wunden Punkt des anderen. "Aber man hat die Wahl, ob man dem inneren Troll nachgibt." +Marcus muss los. Er hat eine hochschwangere Frau, um die er sich kümmern will. Sie weiß von seinem Getrolle. Sie mag es nicht. Aber sie verstehe, warum er es tut, sagt Marcus. Das Hässliche ziehe Hässliches an, sage sie ihm öfter. "Da hat sie nicht unrecht", sagt Marcus. "Aber das Risiko gehe ich ein." +Zwei letzte Fragen noch. Macht Trollen – bei allem Ernst, bei aller Politik – nicht auch ein bisschen Spaß? Zum ersten Mal überlegt Marcus länger. Dann beugt er sich vor. +Marcus: "Wahrscheinlich ist es vergleichbar mit Sport oder einer Jagd oder einem Spiel. Wenn man gewinnt, fühlt es sich gut an." +fluter: "Tun dir die Leute manchmal leid, die du verarschst?" +Marcus: "Nur wenn sie ehrlich unsicher sind und wieder in die echte Welt zurückgeholt werden können. Wenn sie mit dem Ende der Demokratie einverstanden sind, dann nicht." +Dieser Text istim fluter Nr. 91 "Streiten"erschienen +Genau wisse er nur eins: Für die Tochter, die er bald haben wird, will er keine USA unter Trump. Er will ihr seine Heimat zeigen. Vielleicht wieder zurück, wenn sie groß ist. Aber wer weiß schon, wie die USA dann aussehen. Marcus hat Angst, dass das Frauenbild wieder in dunkle Vorzeiten zurückgesetzt wird. Trump klüngelt immer wiedermit radikalen Abtreibungsgegnern. "Meine Tochter soll frei entscheiden dürfen. Und nicht behandelt werden wie eine Kuh", sagt er. Er sieht den fragenden Blick des Reporters und schiebt nach: "Gebären und Milch geben." +Marcus wird weiter trollen. "Wenn Biden im November auch nur um Haaresbreite gewinnt, weiß ich, dass es das wert war." diff --git a/fluter/trump-unterstuetzer-auf-reddit.txt b/fluter/trump-unterstuetzer-auf-reddit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..92e970db59839b401438a57523a4ecdae314cb3a --- /dev/null +++ b/fluter/trump-unterstuetzer-auf-reddit.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Wer eine abweichende Meinung vertritt, hat auf r/The_Donald nichts verloren. Unter dem Kommentarfenster prangt ein Warnbanner: "Postings, die Präsident Trump nicht respektieren, werden sofort gelöscht." Mehr als 460.000 "centipedes" – "ernsthafte Trump Unterstützer" – hat die 2015 gegründete Unterseite auf Reddit inzwischen. Reddit, ein soziales Netzwerk, auf dem sich unterschiedliche Communities in Diskussionsforen ("subreddits") organisieren, wird als Plattform gepriesen, wo jede/r Zugehörigkeit findet. Während es international wie national an Trumps Politik Kritik hagelt, scheint die laute Mehrheit auf r/The_Donald ihren "Commander-in-Chief" zu verehren. Dem Frust mit gebrochenen Wahlversprechen wie etwa Trumps Luftangriffe auf Syrien wird mit Verachtung gegen das demokratische Lager begegnet und glatt verteidigt: "Ich muss sagen, dass der Mann ein Genie ist. Die strategischen Luftangriffe gegen Infrastruktur und Ausrüstung stärken seine Position. Hoffentlich kann er Assad und Russland an einen Tisch bringen, ohne dass jemand stirbt", postet MrFletcherYoung. +Die durchschnittlichen r/The_Donald-User sind laut einem Moderator der Plattform  jung, weiß, gut ausgebildet und mehrheitlich männlich. Sie machen nicht einmal 1 Prozent der 63 Millionen Trump-Wähler aus – und dennoch sind sie mehr als sichtbar: Sie wissen, wie Memes funktionieren und welche Themen sie setzen müssen, um Aufmerksamkeit zu bekommen: Memes auf r/The_Donald haben es nicht nur in die sogenannten Mainstream-Medien geschafft, sondern auch auf Trumps Twitterfeed. Schillernde Persönlichkeiten wie der ehemalige Breitbart-Journalist Milo Yiannopoulos oder der Fox-News-Talkshow-Moderator Tucker Carlson waren bei Q&A Sessions – im Reddit-Sprech "AMA – Ask Me Anything" – zu Gast. Und selbst der "God Emperor" höchstpersönlich stellte sich den Fragen seines Fanclubs während des Wahlkampfs. +Häufig ist r/The_Donald im Zusammenspiel mit anderen Portalen wie dem Imageboard 4chan auch Verbreiter von Verschwörungstheorien: Für Aufsehen hat vor allem "Pizzagate" gesorgt. Nachdem 4chan und r/The_Donald die Falschmeldung verbreitet hatten, dass Hillary Clinton in einen Kinderpornoring verwickelt sei, der vom Keller einer Washingtoner Pizzeria aus operiere, wurde eben jene Pizzeria von einem bewaffneten Mann gestürmt. +"r/The_Donald ist der zentrale Ort für eine Gruppe von Trump-Anhängern, wo Selbstvergewisserung stattfindet und Narratives sowie eine eigene Sprache entwickelt werden", sagt der Kulturwissenschaftler Marc Tuters von der Universität Amsterdam, der Sprache und Memes von online-affinen Trump-Fans erforscht. Nicht alle zählen dabei zur rassistischen Alt-Right-Bewegung, die auch Netzwerke zu Neonazis unterhält. Tuters würde die Users auf r/The_Donald eher mit den Anhängern von Pegida vergleichen: "Sie sehen sich nicht als Rassisten, sondern beispielsweise als Gegner gewisser Wahrnehmungen des Islams. Sie sind gegen die ,politisch-korrekte' Umgangsweise, sehen sich als Leute, die Probleme, die sie mit liberaler Politik haben, ansprechen." +Michael Jones, der seinen richtigen Namen nicht veröffentlicht haben möchte, teilt diese Meinung. Er ist 50 Jahre alt, Vater dreier Kinder, Geschäftsmann aus dem Mittleren Westen und Trump-Fan. Für die meisten User des Subreddits war laut Jones neben ökonomischen Motiven der Protest gegen "political correctness" Beweggrund, Trump zu wählen: "Viele Millennials, besonders jene, die in konservativen Familien aufwuchsen, hatten ein Problem mit der vorherrschenden US-Kultur. Sie wollten nicht akzeptieren, dass sie nichts Rassistisches oder Xenophobes sagen dürfen. Sie werden an die Ränder gedrängt, ihre Meinungsfreiheit beispielsweise an den Universitäten ist eingeschränkt." + +Jones ist seit einem Jahr Moderator auf r/The_Donald und "Senior Moderator" der Seite r/AskThe_Donald. Die Hauptseite hat Jones zufolge rund 45 Moderatoren, die zu 90 Prozent männlich sind; viele davon kamen Ende der 1980er-Jahre und später zur Welt. Sie wohnen in den USA, Kanada, Großbritannien, Osteuropa, Australien und Neuseeland und arbeiten selbstorganisiert und freiwillig daran, dass Diskussionen nicht aus dem Ruder laufen. Jones, der den "Geschäftsmann Trump" seit Anfang der 1990er verehrt, gibt zu, dass dies nicht immer einfach sei: "Ja, es gibt Rassisten, aber die findet man in jeder Gruppe. Wir Moderatoren unternehmen alles, um das zu kontrollieren. Wir akzeptieren keine Hasskommentare und verbannen Users, die Grenzen überschreiten." Wie viele Users bisher blockiert wurden, kann er nicht sagen. + +Die Grenzen der Meinungsfreiheit sind in den USA andere als in Deutschland. Rassistische, antisemitische, sexistische und islamophobe Aussagen sind Alltag auf r/The_Donald. Trevor Martin, Doktorand an der Stanford University, hat in einer groß angelegten Datenanalyse Subreddits miteinander verglichen und herausgefunden, welche Unterseiten r/The_Donald ähneln, beispielsweise r/Conservative, r/HillaryForPrison oder r/uncensorednews. "Es sind Seiten, wo Rassisten und weiße Nationalisten aufeinandertreffen und ihre Meinungen austauschen", sagt Martin. Die Studie unterstütze die Theorie, dass ein Teil der r/The_Donald-User rassistisch sei. Andere Experten wie Jonathon Morgan vom Think Tank "New Knowledge" bezeichnen r/The_Donald sogar als "Brutstätte für Extremismus". +So ganz wertfrei scheint auch Reddit-Management der Gruppe nicht gegenüber zu stehen: Das Unternehmen veränderte sogar seinen Algorithmus, um die Nutzer "vor Spam" auf der Startseite zu verschonen. Beiträge von r/The_Donald und anderen Subreddits, die durch angeblich künstliches Pushen der Kommentare auf der Startseite landeten, haben es nun schwerer. "Zensur!", klagten nicht nur r/The_Donald User: Die Fehde führte zu heftigen Diskussionen, die auch das Selbstverständnis von Reddit, eine Plattform für alle sein zu wollen, berührte. +Für den r/The_Donald-Moderator Michael Jones ist die Diskussionsplattform nach wie vor der "safe space", wo man sich unverblümt austauschen und nicht Angst davor haben muss, dass in der Nacht die Autoreifen aufgeschlitzt werden, weil man einen Trump-Sticker am Heck kleben hat: "Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem Leute ihre politischen Präferenzen auf beiden Seiten nicht mehr äußern, weil sie nicht wissen, ob sie angegriffen werden." "r/The_Donald", meint Jones, "ist also weit mehr als eine Unterhaltung am Tresen im Wirtshaus. Hier kannst du jede Meinung haben – ganz im Gegensatz zum öffentlichen Raum." diff --git a/fluter/trump-unterstuetzer-zieht-bilanz.txt b/fluter/trump-unterstuetzer-zieht-bilanz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e38c881d4731bf9e0a946e6e50935af4c30149d2 --- /dev/null +++ b/fluter/trump-unterstuetzer-zieht-bilanz.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Letztes Jahr wählte er jedoch Trump – und zwar ohne jegliche Bedenken. Seine Hauptmotivation: Abscheu vor Hillary Clinton, die er als unaufrichtig, abgehoben und hinterhältig empfindet: "Ich hatte so meine Probleme mit Trump, aber die mit Hillary waren viel größer. Für mich repräsentiert sie alles, was falsch läuft im Establishment von Washington", sagt Judar. Genau genommen hatte er das Gefühl, dass das auf beinahe alle Kandidaten der Demokraten und Republikaner zutraf. Deshalb wählte er Trump, den Geschäftsmann. Der, so dachte er, könnte das Bürokratiedickicht aufräumen – und zwar abseits des korrupten Zwei-Parteien-Systems. "Er hat keine Angst, die ganze Heuchelei auszusprechen." +Judar hatte auch das Gefühl, dass es höchste Zeit wäre, dass die USA stärker von ihrer Macht Gebrauch machen, auch von ihrer militärischen, um die eigenen Interessen entschieden zu stärken. Bis heute ist er wütend, dass Obama zwar eine rote Linie in Syrien zog und versprach, dass die USA militärisch reagieren würden, sollten Assad und sein Regime chemische Waffen einsetzen – genau das dann aber nicht in die Tat umsetzte. Nur Spott hat er für Obama übrig, der damals sagte, der IS sei lediglich eine Schülermannschaft, und es dann zugelassen habe, dass die Terroristen in Syrien und dem Irak wüteten. +Trump, so Judar, hat da bislang eine robustere Außenpolitik verfolgt. Er habe die Nordkoreaner in die Schranken verwiesen und mehr Truppen nach Afghanistan geschickt. Zu Recht habe er auch darauf bestanden, dass die Europäer ihre Militärausgaben erhöhen. "Warum sollten die USA nach 70 Jahren immer noch für die europäischen Verteidigungsausgaben aufkommen?", fragt er sich. +Klar, Trumps Spielchen, sagt er, wie sein andauerndes Twittern, gingen ihm schon mal auf die Nerven. Aber er habe auch Direktiven unterschrieben, die die Bürokratie vereinfacht und einige von Obamas offenkundigen Fehlern beseitigt hätten, so Judar. Er zählt sich zu den rund 35 Prozent Amerikanern, die mit Trumps Amtsführung in den ersten zehn Monaten zufrieden sind. +"Was die Europäer nicht an den USA verstehen", sagt er, "ist, dass die Amerikaner sich nicht vorschreiben lassen, was sie tun sollen. Jeder entscheidet für sich selbst." Zum Beispiel bei der Krankenversicherung und anderen Themen. "Hier gibt es eine ausgeprägte Ethik des Individualismus", sagt Judar. Und die verkörpere Trump. +"Die" Medien hätten Trump extrem unfair behandelt, findet Judar. Egal was er machte, immer schlugen sie auf ihn ein, ob er es verdiente oder nicht. Und das, sagt Judar, würde sich rächen: "Die Amerikaner werden das nicht dulden. Sie sehen, was passiert ist, die unfaire Berichterstattung, und sie werden reagieren. Seine Basis wird sich stur stellen. Und das ist der direkteste Weg für Trump in eine zweite Amtszeit." + + + +Drei junge US-AmerikanerInnen erinnern sich an jenen Tag vor einem Jahr zurück, an dem Donald Trump zum Präsidenten gewählt wurde. Haben sich ihre Erwartungen oder Befürchtungen bestätigt? + +Titelbild: Martin H. Simon/POOL/Redux/laif diff --git a/fluter/tuerkei-wahlen-erdbeben-auswirkungen.txt b/fluter/tuerkei-wahlen-erdbeben-auswirkungen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..045493e240eb90c9a4f2a68715c4e4ddaadc4d4f --- /dev/null +++ b/fluter/tuerkei-wahlen-erdbeben-auswirkungen.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Das Erdbeben und seine Folgen sind in der Türkei allgegenwärtig. Die Regierung wird für ihr Krisenmanagement hart kritisiert. Wie wirkt sich das auf den Wahlkampf aus? +Ich habe erwartet, dass sich die Erdbeben negativ auf die Umfragewerte der Regierung auswirken. Den zuverlässigeren Umfragen nach ist das aber nicht der Fall. Dabei hat die Reaktion der Regierung in vielerlei Hinsicht gezeigt, was in den vergangenen 20 Jahren falsch gelaufen ist. Sie hat solchen Katastrophen kaum vorgebeugt, obwohl Experten seit Jahren vor starken Beben warnen.Sie hat zu spät reagiert und die Hilfen entlang ihrer parteipolitischen Linien verteilt. +Was muss passieren, damit in den zerstörten Gebieten überhaupt regulär gewählt werden kann? +Ich denke, die Mobilität der Wähler ist gerade das größte Problem. Viele Erdbebenopfer mussten in andere Städte umziehen, sind also nicht mehr dort, wo sie als registrierte Wähler abstimmen dürfen. Es gibt einige Bürgerinitiativen, die Spenden sammeln, damit sie zurückkehren und wählen können. Davon abgesehen ist die Wahl nicht nur in den Erdbebengebieten unsicher: Wir beobachten, dass die Regierung versucht, die Oppositionsparteien, ihre Führer und Mitglieder einzuschüchtern. Die nächsten Tage werden turbulent. +Weiterlesen +"Wird er wiedergewählt, bin ich weg":Wie sehen junge Menschen mit alternativen Lebensentwürfen Erdoğans islamisch-konservativen Kurs? +Haben die Erdbeben und die schleppende Reaktion der Regierung zur Einigung der Opposition beigetragen? +Ja und nein. Kemal Kılıçdaroğlu, der Oppositionsführer und Parteichef der CHP, und Meral Akşener, die als Vorsitzende der sogenannten "Guten Partei" auch dem Oppositionsbündnis angehört, haben sehr unterschiedlich auf die Katastrophe reagiert. Kılıçdaroğlu hat – ziemlich überraschend – jede Kommunikation mit der Regierung verweigert und ist die staatlichen Institutionen für ihr zögerliches Krisenmanagement angegangen. Akşener dagegen hat Erdoğan angerufen, um eine Zusammenarbeit zu arrangieren. Wenig später hat sich Akşener aus dem Oppositionsbündnis zurückgezogen – angeblich vor allem, weil man sich nicht auf einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten einigen konnte. Zwei oder drei Tage später ist sie aber in das Oppositionsbündnis zurückgekehrt, und seitdem steht sie im Bündnis fest hinter Kılıçdaroğlu. +Kılıçdaroğlu geht als Präsidentschaftskandidat der Opposition in die Wahlen. Es ist ihm gelungen, sechs Parteien in der "Allianz der Nation" zusammenzubringen. Diese Allianz tritt gegen das Bündnis "Volksallianz" an, dem auch Erdoğans AKP angehört. Wie bewerten Sie Kılıçdaroğlus Bündnis? +Die "Allianz der Nation" ist sehr heterogen, da sitzen Sozialdemokraten, Nationalisten und Konservative neben Liberalen. Es ist nicht einfach, Parteien mit so unterschiedlichen ideologischen Hintergründen zusammenzubringen. Aber es geht ja in der politischen Situation und im Präsidialsystem der Türkei kaum anders. +Das Wahlsystem verlangt eine absolute Mehrheit bei der Wahl des Präsidenten: Ein Kandidat braucht dabei mindestens 50,1 Prozent der Stimmen, um im ersten Wahlgang gewählt zu werden. +Die Präsidentschaftskandidaten werden direkt von der Bevölkerung gewählt – und keiner könnte in der Türkei ohne die Stimmen von Wählern anderer Parteien die absolute Mehrheit erreichen. Heterogene Wahlbündnisse wie die "Allianz der Nation" sind also eine unbeabsichtigte Folge dieses Systems. Das Präsidialsystem wurde 2018 eingeführt, also unter Erdoğan und der AKP. Interessanterweise schadet es ihnen selbst: Umfragen zufolge hat sie immer noch die meisten Stimmen, in einem parlamentarischen System würde die AKP also sehr wahrscheinlich die stärkste Kraft. Selbst wenn sie eine Regierungskoalition bilden müsste, wäre sie in der die stärkste, also tonangebende Partei. +Was glauben Sie: Können alle Menschen in der Türkei frei wählen? +Frei vielleicht. Aber fair sind diese Wahlen schon jetzt nicht mehr. Um nur ein Beispiel zu nennen:90 Prozent der Medienlandschaft werden von der regierenden AKP kontrolliert. Die regierungsnahen Medienkanäle betreiben jede Menge Propaganda. +Würde Erdoğan zurücktreten, wenn er die Wahlen verliert? +Je größer der Abstand beim Wahlergebnis, desto eher erkennt er das Resultat an. Aber ich bin im Moment vorsichtig optimistisch. Die Regierung ist schon länger geschwächt. Das hat das Katastrophenmanagement nach dem Erdbeben nur noch deutlicher gemacht. + + +Dr. Sinem Adar arbeitet in der Stiftung Wissenschaft und Politik zur Türkei, vor allem zur türkischen Innenpolitik, zur europäisch-türkischen Migrationszusammenarbeit und zur türkischen Diasporapolitik. + + diff --git a/fluter/tuerkische-elite-deutschland.txt b/fluter/tuerkische-elite-deutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bf267cc8d8ca7e2f46ce8a3b9d98e9a44b2ab0bf --- /dev/null +++ b/fluter/tuerkische-elite-deutschland.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Vielen jungen Menschen fällt es aber schwer, die Türkei zu verlassen. 2013 kämpfte ein Großteil von ihnen bei den sogenanntenGezi-Protestenfür eine liberalere, demokratischere Türkei. Yağmur Çay, politische Aktivistin und Journalistin, trägt Schnürstiefel und hat ihre rotbraunen Haare zu einem Zopf zusammengebunden. Bei dem Gedanken an die Proteste gerät sie ins Schwelgen: "Jedes Mal wenn ich an Gezi denke, muss ich heulen. Es ist das Beste, was mir in meinem Leben passiert ist!" Der Protest gegen die geplante Abholzung der Bäume im Gezi-Park in der Istanbuler Innenstadt, eine der letzten Grünflächen der Megacity, habe eine ganze Generation junger Türk:innen politisiert. Denn irgendwann ging es nicht mehr nur um den Erhalt des Parks, sondern auch um die Absetzung der türkischen Regierung. Bei ihrem letzten Türkei-Besuch war Yağmur Çay wieder vor Ort: "Wenn ich heute nach Istanbul reise, ist der Gezi-Park einer der ersten Orte, den ich besuche. Wir haben es geschafft, diesen Park trotz der konservativen Regierung zu behalten. Das hat sich fast angefühlt wie eine Revolution." + +Berna Özlem +Ali Sözen +Die Hoffnungen der Demonstrant:innen auf politische Mitbestimmung wurden dennoch enttäuscht, als die Polizei die Proteste brutal niederschlug.Drei Jahre später, im Juli 2016, folgte ein Putschversuch durch Teile des Militärs, dessen Hintergründe bis heute nicht final aufgeklärt sind.Als Reaktion verhängte die türkische Regierung unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan einen Ausnahmezustand, um den Staatsapparat von angeblichen Putschhelfer:innen und tatsächlichen sowie mutmaßlichen Anhänger:innen des Predigers Fethullah Gülen, der von Erdoğan als Initiator des Putsches bezichtigt wird, zu "säubern". +Den Ausnahmezustand nutzte Erdoğan jedoch bald auch, um gegen regierungskritische Stimmen vorzugehen, die gar nichts mit dem Putsch zu tun hatten: Erst wurden Staatsdiener:innen, Jurist:innenund Lehrer:innen aus dem Dienst entlassenund regierungskritische Zeitungen und Fernsehsender geschlossen, später folgte eine Verhaftungswelle gegen Regierungskritiker:innen. Zeitgleich erschütterte eine Reihe von Terroranschlägen das Land, etwa der in der Silvesternacht 2017 im Istanbuler Club Reina. Der sogenannte Islamische Staat bekannte sich zu dem Attentat, zuvor hatten konservative Zeitungen Stimmung gegen das "westliche" Feiern des Tages gemacht. +Weil sie sich in Istanbul nicht mehr sicher fühlte, zog Yağmur Çay 2017 nach Berlin: "Warum kann ich nicht einfach einen Abend in einer Bar verbringen, ohne Angst zu haben, dass es einen Anschlag gibt?", fragt sie in die Runde. Die anderen nicken zustimmend. Nach ihrem Umzug nach Berlin hatte sie zunächst Gewissensbisse, weil sie die Proteste nicht mehr vor Ort unterstützen konnte: "Viele dachten sich: Mehr als die Gezi-Proteste hätten wir nicht machen können. Jetzt können wir nur noch uns selbst retten." In Deutschland arbeitete sie für "Özgürüz" (dt.: "Wir sind frei"), das türkisch- und deutschsprachige Onlinemagazin des Exiljournalisten Can Dündar. Der ehemalige Chefredakteur der wichtigen türkischen Tageszeitung "Cumhuriyet" kam 2016 nach Deutschland und schreibt kritisch über Erdoğan und die AKP. Ende letzten Jahres wurde er in seiner Abwesenheit wegen angeblicher Spionage- und Terroraktivitäten zu insgesamt mehr als 27 Jahren Haftstrafe verurteilt. +Onkel Ahmet bringt eine Runde Bier, grinst und setzt sich zu der Gruppe an den Tisch. Er gehört auch zur türkischen Exilcommunity: Er kam nach dem Militärputsch von 1980. Die Narr-Bar ist eine Art Anlaufstelle für das türkische Exil. Anıl Yıldırım ist ein alter Schulfreund von Ali Sözen. Sie kennen sich von ihrer gemeinsamen Zeit am Istanbuler Erkek Lisesi, einem türkisch-deutschen Elitegymnasium. Aus ihrer Clique von damals lebt nur noch ein Freund in der Türkei, der Rest mittlerweile in Deutschland. Anıl und seine Frau Berna Özlem arbeiten in den Medien: er als Webdesigner, sie bei Amazon. In den Gesprächen am Tisch in der Narr-Bar geht es immer wieder darum, wie konservativ die türkische Gesellschaft geworden ist. "Das eigentliche Problem sind die Menschen", sagt Berna Özlem. "In der Türkei wird es generell nicht gerne gesehen, wenn man seine eigene Meinung zu Dingen hat. Deswegen wird sich selbst bei einem politischen Wechsel nicht viel verbessern." Auch für Yağmur Çay sitzen die Probleme der Türkei tiefer: "In den letzten hundert Jahren wurden in der Türkei immer wieder Minderheiten wie Kurd:innen unterdrückt und getötet. Ich will nicht, dass meine zukünftigen Kinder so aufwachsen." +Ali Sözen hat Verwaltungswissenschaften in Ankara studiert. Er ist der festen Überzeugung, dass in der Türkei ein System der Vetternwirtschaft entstanden ist: Wer Leute in der AKP kenne, habe es einfacher. Nachdem ihm und seiner Verlobten in Istanbul das Auto gestohlen wurde, sagte ihnen ein Polizeibeamter: "Wenn Sie keine Kontakte in die Politik haben, werden Sie Ihr Auto vermutlich nicht wiedersehen." Mittlerweile leben die beiden mit ihrem gemeinsamen Kind in der Nähe von Köln. Der Rest der Gruppe kann sich nicht vorstellen, in einer anderen Stadt als Berlin zu wohnen. Für progressive Türk:innen, die ihr Land verlassen wollen, sei Berlin die erste Anlaufstelle: "Ich treffe hier andauernd zufällig Menschen von meiner türkischen Universität, mit denen ich seit fünf Jahren nicht gesprochen habe", sagt Berna. +Dass die Stadt durchsogenannte Gastarbeiter:innen und deren Nachkommenbereits türkisch geprägt ist, hält sie für einen Vorteil. "Egal was du für ein Problem hast: Wenn du hier Türkisch sprichst, findest du immer jemanden, der dir hilft." Das sehen nicht alle der Anwesenden so. +Die Deutschtürk:innen in Berlin sind keineswegs eine geschlossene Gemeinschaft, in der jede:r gleich denkt, sondern von vielen unterschiedlichen Ansichten und Erfahrungen geprägt. Diese äußern sich auch in politischer Spaltung.So stimmte eine deutliche Mehrheit der Wahlberechtigten in Deutschland bei der letzten Präsidenten- und Parlamentswahl 2018 für Erdoğan und seine AKP.Auch bei der umstrittenen Verfassungsreform 2017 – die dem Präsidenten wesentlich mehr Macht zugestand und Beobachter:innen zufolge die Gewaltenteilung in der Türkei aufgeweicht hat – hatten über 60 Prozent der Türk:innen in Deutschland, die an dem Referendum teilgenommen haben, mit Ja gestimmt. Viele haben ihr Stimmrecht jedoch auch nicht wahrgenommen, und knapp unter 40 Prozent haben mit Nein gestimmt. Die politischen Präferenzen derjenigen, die die deutsche Staatsbürgerschaft haben, sind schlecht erforscht. + +Yağmur Çay +Mit manchen konservativen Deutschtürk:innen haben die in den liberalen Großstädten der Türkei aufgewachsenen New-Wave-Türk:innen schlechte Erfahrungen gemacht. Als Yağmur Çay einmal am Späti mit ihren Freund:innen Bier trank, sagte der Besitzer zu ihr auf Türkisch: "Hätte ich eine Tochter wie dich, würde ich mich schämen!" +Doch auch Deutsche ohne Bezüge zur Türkei machen es ihnen oft schwer. Ali Sözen erzähltvom Rassismus, den er in Deutschland immer wieder erlebt. Etwa wenn er vom Türsteher nicht in den Club gelassen werde, weil er "zu südländisch aussieht". Oder wenn ihm nicht geglaubt werde, dass er kein Kind von ehemaligen Gastarbeiter:innen sei: "Wenn du türkisch aussiehst, denken alle, dass du hier geboren bist und schlecht Deutsch sprichst." Immer wieder muss er erklären, was ihn von der deutsch-türkischen Community unterscheidet: "Migration ist nicht bloß ein ‚Hintergrund' für mich. Ich habe mich selbst dazu entschieden auszuwandern." +Der Abend in Onkel Ahmets Narr-Bar neigt sich dem Ende zu, die Ersten sind schon gegangen. Am Tisch wird die politische Lage in der Türkei debattiert. Seit dem Sieg bei der Istanbuler Bürgermeisterwahl 2019, die Ekrem İmamoğlu trotz der von der Regierungspartei AKP forcierten Wiederholung gewann, hat die Opposition Hoffnung geschöpft. Exiljournalist Can Dündar kündigte bereits an: "Die Ära Erdoğan geht zu Ende." Ob sie zurück in die Türkei gehen werden, sollten sich die Verhältnisse dort ändern? "Sofort!", sagt Berna. Die anderen sind sich da nicht so sicher. Sie haben sich schon zu sehr an das freie Leben in Deutschland gewöhnt. Einige werden dauerhaft in Deutschland bleiben und die ohnehin schon heterogene deutsch-türkische Gemeinschaft noch vielfältiger machen. diff --git a/fluter/tyrannei-der-mehrheit.txt b/fluter/tyrannei-der-mehrheit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3342f28667d9a4d92968371bfbdfaf91a2ce306f --- /dev/null +++ b/fluter/tyrannei-der-mehrheit.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Kritik am Regierungskurs wird toleriert – aber nicht in den öffentlich-rechtlichen Medien. Zeitungen, die Orbán kritisieren, erhalten keine Anzeigen mehr von Staatskonzernen oder Unternehmen, die sich staatliche Aufträge erhoffen. Oppositionelle Versammlungen dürfen natürlich noch stattfinden, aber oftmals nicht mehr auf zentralen Plätzen. Die Opposition kann sich frei bewegen, solange sie keine echte Herausforderung für Orbán darstellt – was sie ein Jahr vor den nächsten Wahlen tatsächlich auch nicht ist. +Nach der Methode "Zwei Schritte vorwärts, einer zurück" lenkt Orbán regelmäßig ein, wenn der Druck aus der EU zu groß wird. Außerdem hat er sich einen speziellen Mechanismus ausgedacht, um den Zorn seiner Landsleute auf Brüssel zu lenken. Sollte es der EU einfallen, Geldstrafen wegen Vertragsverletzungen zu verhängen, werden unverzüglich Sondersteuern erhoben, um sie zu bezahlen. Die Ungarn würden so gleich zweimal bestraft, kritisierte Justizkommissarin Viviane Reding: Erst dürften sie ihre Bürgerrechte nicht wahrnehmen, und am Ende müssten sie auch noch dafür bezahlen. +Inzwischen scheinen einige europäische Länder die Gefahr erkannt zu haben. Tausende Politiker und Beamte würden für den Binnenmarkt kämpfen, nur wenige für die demokratischen Grundwerte, kritisiert der niederländische Außenminister Frans Timmermans. Gemeinsam mit seinen Amtskollegen aus Deutschland, Dänemark und Finnland regte er einen Mechanismus zur Überwachung der in der EU notwendigen demokratischen Standards an. Der Problemfall Ungarn wurde nicht benannt. Aber genau der war gemeint. diff --git a/fluter/ueber-den-daechern.txt b/fluter/ueber-den-daechern.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ee92ae5073440f338a12bcdc599c44db8eb57eb9 --- /dev/null +++ b/fluter/ueber-den-daechern.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Manchmal rennt Laura einfach los. Der Laufschritt als Modus Operandi ist passend für ein Alter, wo es ums Aufbrechen geht, auch wenn das Ziel noch nicht ganz feststeht. +Entsprechend pendelt die Teenagerin im tschechischen Film "Ani ve snu!" ("In Your Dreams") durch strukturbefreite Sommerferientage irgendwo am Stadtrand von Prag. Abhängen mit der besten Freundin im Freibad. Rumlaufen. Labern. Messages ins Smartphone tippen. Lauras Mutter nervt, weil sie mal wieder einen neuen Freund hat, ihr Vater würde lieber mit ihr wandern gehen, raus, in die Natur. Laura aber zieht es in Betonlandschaften und auf stillgelegte Güterbahnsteige, dorthin, wo sich die Parkourläufer treffen – Parkour, ihr wisst schon, dieses akrobatische An-Gebäuden-Hochgesteige und Von-Parkdeck-zu-Parkdeck-Gespringe aus dem Segment der urbanen Freestyle-Sportarten. Wie eine tribale Zusammenkunft sieht es aus, wenn die Parkourclique sich trifft, mit Stammeskleidung (weite Hosen) und -ritualen (das übliche Rumgepose). +Laura schwärmt für Luky (Toman Rychtera), einen der Anführer, was sehr mädchenklischeehaft ist. Aber gleichzeitig will sie mitmachen, was nun so gar nicht mädchenklischeehaft ist. Ihre Skills sind noch ein wenig ausbaufähig, aber im Ganzen schon gut genug, dass auch Laura einen Verehrer hat: Lex, der immer alles filmt und deshalb dazugehören darf, obwohl er nur so halb so cool und halb so muskulös ist wie die anderen Jungs. Ein noch größerer Nerd ist da wohl nur der Nachbar mit den feuerrot gefärbten Haaren, der sich Elektroden an den Kopf klebt und übers Zeitreisen forscht, aber auch noch seine Bedeutung haben wird. "Ani ve snu!" hat was über für Außenseiter. + + +Und dann sind da noch die titelgebenden Träume. Mehrfach hat Laura im Fahrstuhl Black-outs und rutscht in eine symbolgefüllte Welt, die einer Mischung aus tschechischem 60er-Jahre-Märchenfilm und David Lynch gleicht. Dort ist Luky ein Harlekin, der unter einem großen Leuchtturm auf Steilklippen lebt, Laura tritt auch mal als Prinzessin auf. Bis irgendwann die Ereignisse aus den Träumen mit der Wirklichkeit zu korrespondieren beginnen. +An der Stimmung von "Ani ve snu!" verändert das nichts. Petr Oukropec hat einen Atmosphärenfilm gedreht, der die geleehafte Konsistenz und die Vagheit eines Teenager-Sommers spürbar macht; durch den treibenden, leicht trippigen Ambient-Soundtrack, durch die verläppernden Dialoge, durch die Farben, die warm und kalt zugleich wirken. Ein märchenhaftes Kinoerlebnis. +"In Your Dreams!" ("Ani ve snu!"), Tschechien/Slowakei/Bulgarien 2016; Regie: Petr Oukropec, Buch: Egon Tobiáš, mit Barbora Štikarová, Toman Rychtera, Ivan Martinka, Veronika Pouchová; 79 Minuten diff --git a/fluter/ueber-den-fluss-roman-pleitner-gefluechtete.txt b/fluter/ueber-den-fluss-roman-pleitner-gefluechtete.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3c5383f3e8f8403e9ae1eb627dc07e191e745fc9 --- /dev/null +++ b/fluter/ueber-den-fluss-roman-pleitner-gefluechtete.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +fluter.de: Sie selbst haben, genau wie die namenlose Hauptfigur Ihres Romans "Über den Fluss", als Psychologin in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete gearbeitet. Wie ging es den Menschen dort? +Theresa Pleitner: Ich kann das nicht an deren Stelle beantworten, sondern nur wiedergeben, was ich mitbekommen habe. Für viele ist es eine sehr bedrängende Situation. Gerade in großen Erstaufnahmeeinrichtungen gibt es sehr viele Widrigkeiten. Wie ich auch im Text schildere, gibt es dort häufig Wanzen, ständig ist das Licht an, es herrscht eine permanente Geräuschkulisse, und es gibt überhaupt keine Privatsphäre. Dazu kommen Polizeirazzien und drohende Abschiebungen. Die Aussichtslosigkeit und das Gefühl des Ausgeliefertseins an Polizei, Behörden und Personal sind für viele ganz schwer erträglich. +Wie schlägt sich diese Situation auf die Psyche der Menschen nieder? +Trauma spielte eine große Rolle. Ich finde es aber wichtig zu betonen, dass die Leute nicht nur traumatisiert ankommen, weil sie in den Herkunftsländern oder auf der Flucht Traumata erfahren haben. Auch die Umstände vor Ort können traumatisierend sein oder zu Retraumatisierungen führen. Es gibt sehr viele dissoziative Symptome("Dissoziation" bedeutet Abspaltung, Anm. d. Red.), die sich unterschiedlich äußern, zum Beispiel in psychogenen Lähmungen, Amnesien, Depersonalisation oder Derealisation. Die Leute haben das Gefühl, neben sich zu stehen oder als sei die Welt unwirklich. Das hat viel zu tun mit dem Gefühl, keinen Einfluss auf die eigene Situation nehmen zu können, also mit einem Mangel an Selbstwirksamkeit, so nennt man das in der Psychologie. Auch Angststörungen spielen eine größere Rolle, etwa ausgelöst durch die Angst vor Abschiebung. Was ich heftig fand und mir nicht so klar war, bevor ich dort arbeitete, war die sehr hohe Rate an suizidalen Menschen, die also so verzweifelt sind, dass sie mit dem Leben hadern. +Die Hauptfigur im Roman ist eine junge Frau, die diesen Beruf mit Idealen und Überzeugungen antritt. Inwiefern muss man die aus Ihrer Sicht für diesen Job ablegen? +Natürlich ist es gut, ein Stück Idealismus zu haben, engagiert zu sein, sich einsetzen zu wollen. Es ist auch gut, einen kritischen Blick auf die eigene Rolle zu haben, auf die Verstrickung in die Machtstrukturen. Es wäre einerseits wichtig, die psychosoziale Versorgung von geflüchteten Menschen in Erstaufnahmeeinrichtungen zu verbessern, weil sie hier eine Anlaufstelle haben, um über das, was sie belastet, zu sprechen. Man kann Selbsthilfe-Methoden vermitteln, etwa Stabilisierungstechniken, oder die Menschen an externe Anlaufstationen vermitteln. Aber es ist andererseits auch wichtig, sich bewusst zu sein, dass die Möglichkeiten hier leider begrenzt sind. Das hat damit zu tun, dass das psychische Leiden in Geflüchtetenunterkünften stärker als anderswo strukturell bedingt ist, also durch politische Missstände. Und gegen die kann man als Psycholog:in wenig ausrichten. Es ist eine große Herausforderung und frustrierend, das anzuerkennen. +"Über den Fluss" (208 Seiten, 22 Euro) ist im Fischer Verlag erschienen. +Das klingt so, als seien Sie in dem Job einen Spagat eingegangen. +Die Arbeit dort bringt immer wieder Widersprüche mit sich. Einerseits soll man als Psycholog:in zwar für das Wohl der Leute sorgen, aber man ist letztlich auch dazu angehalten, Abschiebungen zu tolerieren. Dieses Dilemma schildere ich im Text. Wer das nicht täte, könnte theoretisch Geflüchtete innerhalb der Unterkunft in eine andere "Kabine" verlegen, ihnen also einen anderen Schlafplatz zuweisen, ohne das im Onlineverzeichnis der Einrichtung zu vermerken. So würde die Polizei die Leute nachts nicht finden und könnte sie nicht abschieben. Das wäre dann allerdings illegal und würde einem selbst vielleicht eine Kündigung einbringen, vielleicht auch einen Eintrag im Führungszeugnis, was heißt, dass man auch anderswo nicht mehr angestellt wird. Ein anderes Dilemma ist, dass man Zwangseinweisungen durchführen muss. Das muss man als Psycholog:in auch in anderen Behandlungskontexten, weil es zur Fürsorgepflicht gehört. Aber es hat eine andere Drastik an einem Ort, wo die Menschen ohnehin schon sehr vulnerabel und ausgeliefert sind. +Die Hauptfigur im Buch verzweifelt an diesen Widersprüchen. +Ich habe versucht, diesen Grundkonflikt zwischen Idealismus und Pragmatismus, Einfühlung und Abgrenzung durch die Protagonistin und ihre Kollegin Ines zu veranschaulichen: Die Protagonistin versucht, auf keinen Fall "Komplizin des Systems" zu werden. Ihre Kollegin ist pragmatischer und kompromissbereiter, manchmal auch unsensibler und weniger einfühlsam. Letztlich ist die Herausforderung, und so habe ich es selbst erlebt, einen Mittelweg zu finden. Wenn man viel zu idealistisch ist, dann kann man handlungsunfähig werden, und dann riskiert man, psychisch an die eigenen Grenzen zu kommen. Man muss sich abgrenzen und die professionelle Distanz wahren. Und zugleich ist es natürlich wichtig, sensibel zu bleiben und die eigene Machtposition zu reflektieren. +Der Roman stellt auch die Frage, was Helfen eigentlich bedeutet. Haben Sie durch das Schreiben an Ihrem Buch eine Antwort gefunden? +Es war mir vor allem wichtig, die Fallstricke des Helfens zu beleuchten. Ich beschreibe, inwiefern das Helfen auch etwas Übergriffiges haben, ihm auch etwas Selbstgerechtes eingeschrieben sein kann. Bei der Protagonistin stellt sich die Frage, inwiefern sie diese Stelle antritt, um sich selbst zu beweisen, ein "guter Mensch" zu sein, und sich als Retterin aufzuspielen. Das ist eine Form von"White Saviorism". Und an einem Ort wie einer Geflüchtetenunterkunft ist so etwas besonders schwierig, weil es hier um Deutungshoheit geht. Man hat mit Menschen zu tun, die kulturell anders geprägt sind, die vielleicht andere Vorstellungen davon haben, was gesund, krank, heilsam ist und was nicht. Im Roman gibt es eine Person, die meint, von Dschinns – also Geistern – besessen zu sein. Wenn man nicht weiß, was das dort, wo die Person herkommt, bedeutet, kann es etwas Übergriffiges haben zu sagen, sie sei einfach psychotisch. + +Titelbild: Theodor Barth/laif -- Andreas Labes diff --git a/fluter/ueber-den-umgang-mit-traumata-aus-dem-zweiten-weltkrieg.txt b/fluter/ueber-den-umgang-mit-traumata-aus-dem-zweiten-weltkrieg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f50619fda5c08d2af557723874c25324c7c87120 --- /dev/null +++ b/fluter/ueber-den-umgang-mit-traumata-aus-dem-zweiten-weltkrieg.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Angela Moré: Nein, nur wenn es einen Leidensdruck gibt. Mit 18 hat man ja meistens erst mal genug damit zu tun, sich von den Eltern zu lösen. Aber manchmal empfinden junge Menschen etwas als ihr eigenes Problem, dessen Ursache in einer früheren Generation liegt. +Von unseren Vorfahren werden uns ja nicht nur negative Eigenschaften und Erfahrungen weitergegeben. Dass Sie zum Beispiel hier sitzen und mir Fragen stellen, hat sicher auch damit zu tun, dass Sie viel Positives von Ihrer Familie mit auf den Weg bekommen haben. Und Eltern und Großeltern, die selbst Opfer waren, haben nicht die Absicht gehabt, ihren Kindern und Enkeln etwas Schlechtes mitzugeben. Aber sie konnten nicht anders, weil sie die schlimmen Erlebnisse nicht einfach loswerden konnten, sondern tiefe Narben in sich tragen. Daher kommt ja der Begriff "Trauma": Es sind im medizinischen Verständnis Wunden, die nie vollständig verheilen, sondern vernarben und häufig weiter schmerzen. Das transgenerationale Erbe ist so etwas wie ein Phantomschmerz in den nachkommenden Generationen. + +Wie muss man sich die Vererbung eines Traumas von Eltern an ihre Kinder vorstellen? Funktioniert das so wie die Weitergabe von genetischem Material? +Es ist zwar inzwischen nachgewiesen, dass Traumata die Gene verändern können, aber sie werden nicht eins zu eins vererbt. Kinder sind nicht nur passive Empfänger der meist unbewussten Botschaften der Eltern: Sie nehmen das, was sich atmosphärisch im familiären Klima zeigt, aktiv auf. Natürlich beeinflusst ein Kind auch umgekehrt die Erwachsenen. Deswegen ist das Bild der Erbschaft irreführend. Es ist keine einseitige Weitergabe, sondern ein emotionaler Kommunikationsprozess. +Eine große Rolle in der Forschung zu diesem Thema spielt der Holocaust. Warum? +Aufgrund der Tatsache, dass einige Tausend Menschen damals schwer traumatisiert überlebt haben und in Behandlung waren, gab es erstmals in größerem Umfang Material, das zeigte, dass es vielen dieser Überlebenden ähnlich ging. 20 bis 30 Jahre später kam die zweite Generation, und man stellte in Therapien fest, dass auch sie bestimmte, in ihrer Art ähnliche Probleme hatte. Manche Kinder zeigten sogar Symptome, als wären sie selbst im Konzentrationslager gewesen. +Welche Art von Symptomen meinen Sie? +Dazu gehören unerklärliche Angst, Bedrücktheit und innere Schwere bis hin zu Fantasien über eine diffuse, allgegenwärtige Bedrohtheit. Manche Kinder oder sogar Enkel haben den unerklärlichen Drang, ständig unterwegs sein zu müssen – auch bei Kälte und mit wenig Nahrung. Hintergrund kann sein, dass ein Elternteil oder naher Verwandter die Todesmärsche, zu denen die Nazis KZ-Insassen bei der Flucht vor den russischen Truppen gezwungen haben, nur knapp überlebte. + + + + +Viele Eltern wollen ihre Kinder vor dem Bösen in der Welt schützen und verschweigen ihnen deshalb, wenn etwas Schlimmes in der Familie passiert ist. +Das Spannende ist, dass ein Kind oft ganz genau spürt, wenn etwas verborgen werden soll, weil es den anderen verstehen will. Es merkt zum Beispiel, dass ein Erwachsener in bestimmten Situationen gereizt oder schlecht gelaunt oder schreckhaft ist. Das sind Rätsel für das Kind, die es sich erklären will. +Übertragen sich Traumata bei Tätern und Opfern in gleicher Weise? +Das scheint nur auf den ersten Blick so. Zwar spielt Scham bei Tätern wie Opfern eine Rolle. Bei den einen, weil sie eine Demütigung erlitten haben. Bei den anderen, weil ihre Kinder nicht merken sollen, dass die Eltern böse Dinge getan haben. Aber es gibt auch deutliche Unterschiede. Kinder von Verfolgten spüren etwas von der Bedürftigkeit ihrer Eltern und haben oft Schuldgefühle, wenn sie erwachsen werden und ihren eigenen Weg gehen wollen. Nach dem Motto: Ich kann doch nicht meine Eltern im Stich lassen und ein eigenes Leben führen. Ein weiteres kompliziertes Phänomen ist, dass sich Menschen, die verfolgt wurden, gelegentlich sehr aggressiv ihren eigenen Kindern gegenüber verhalten. Sind die Kinder trotzig, sagen sie: Hitler konnte uns nicht umbringen, aber ihr schafft das bald. +Das Schweigen der Täter erleben deren Kinder hingegen nicht als ein Beschütztwerden, vielmehr wollen Täter und Mitläufer sich selbst schützen. Sie wollen nicht dastehen als die Folterer und Mörder, die ihre Kinder in ihnen sehen könnten. Die Nachkommen der Täter und Täterinnen spüren häufig, dass sie belogen werden, dass ihnen Dinge verheimlicht werden, weil die Eltern ein Bild von moralischer Anständigkeit aufrechterhalten wollen. +Die Geschichte beginnt ja nicht mit dem Zweiten Weltkrieg und den Verbrechen der Nazis. Wie weit können denn Traumata in einer Familie zurückgehen? +Das kommt darauf an, wie lange etwas reproduziert und nicht thematisiert wird. Ich hatte vor kurzem Kontakt zu einer Frau, die sehr darunter gelitten hat, dass ihre Familie aufgrund des Wechsels von der katholischen zur protestantischen Religion vertrieben wurde. Das liegt schon neun oder zehn Generationen zurück. Dieses Gefühl – nur weil ihr das getan habt, sind wir vertrieben worden – trug sie bis in die Gegenwart. +Wie kann man bei all dem Ballast aus der Vergangenheit vermeiden, dass man seine Traumata unbewusst an die eigenen Kinder weitergibt? +Indem Sie sich damit auseinandersetzen. Sie geben es dann nicht weiter, wenn Sie es in eine bewusst erzählte und bearbeitete Geschichte verwandeln. Das ist das Paradox. Wenn Sie mit Ihrem Kind irgendwann darüber sprechen, ist die Gefahr, dass es Ihr Trauma übernimmt, geringer. Wobei dies eher für ungewollt entstandenes Leid gilt. Auch der Wechsel hin zur protestantischen Religion wurde ja nicht vollzogen, um den eigenen Familienmitgliedern Leid zuzufügen. Das kam durch die Vertreibung. Allerdings genügt das einfache Erzählen der Geschichte nicht mehr bei schweren Traumatisierungen. Wenn Menschen über lange Zeit der Willkür, Misshandlung und oft auch Todesdrohungen ausgesetzt waren. Diese Art von Trauma zerstört etwas in einem Menschen, zerrüttet sein Vertrauen in andere – und das verändert sogar Gene in den Betroffenen, wie Forschungen am Münchner Max-Planck-Institut nachweisen konnten. + + +Fotos: Moises Saman/Magnum Photos/Agentur Focus diff --git a/fluter/ueber-geld-reden.txt b/fluter/ueber-geld-reden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/ueber-klassik-und-den-nahost-konflikt-dana-hreish-im-portraet.txt b/fluter/ueber-klassik-und-den-nahost-konflikt-dana-hreish-im-portraet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/ueber-leitwoelfe-und-powerfrauen.txt b/fluter/ueber-leitwoelfe-und-powerfrauen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/ueber-nacht-an-die-macht.txt b/fluter/ueber-nacht-an-die-macht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..24d662b36da3049eaff7daf2beee45c04fd83233 --- /dev/null +++ b/fluter/ueber-nacht-an-die-macht.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Manch einem ist die Flut dieser Google-Dienste nicht ganz geheuer. "Einige Nutzer werden sich nach anderen Anbietern umsehen, weil es ihnen nicht behagen wird, alle Dienste von einer Firma zu bekommen", prophezeit  beispielsweise Joris van Hoboken. Der niederländische Datenschutzexperte kritisiert, dass Google persönliche Daten in einem noch nie da gewesenen  Umfang sammelt. So speichert Google beispielsweise alle Suchanfragen bis zu neun Monate. Diese Daten helfen dem Konzern, anhand von Nutzerprofilen zielgerichtet Anzeigen zu servieren. Wer erst nach Schwangerschaftstests und dann nach sauren Gurken sucht, so die Logik dieser sogenanntenverhaltensspezifischen Werbung, könnte sich bald auch für Windeln interessieren. Und natürlich gibt es eine Windelfirma, die dankbar ist für die entsprechenden Adressen. Sorgen macht van Hoboken auch Googles jüngster Einstieg ins Mobilfunkgeschäft. Im Frühjahr kam in Deutschland ein erstes Google-Handy auf den Markt. Bis zum Jahresende will man weltweit 18 bis 20 Geräte im Handel haben. "Google bekommt damit Zugang zu einer weiteren Dimension von Nutzerdaten", erklärt van Hoboken. "Daten über Aufenthaltsorte, soziale Interaktion, Mobilität." +Heftig kritisiert wird auch das Nachrichtenangebot Google News. Die Website listet die Schlagzeilen von Tageszeitungen und Online-Magazinen und zitiert dazu meist noch ein, zwei Sätze aus den verlinkten Artikeln. Gerade genug, um Leser neugierig zu machen, sagt Google. Zu viel, um noch irgendjemanden zum Durchklicken zu bewegen, heißt es dagegen von Zeitungsverlegern. Die Branche glaubt, dass Dienste wie Google News ihnen die Leser wegnehmen und damit Zeitungen in den Ruin treiben. Der geschäftsführende Redakteur des "Wall-Street-Journal", Robert Thomson, verglich das Angebot unlängst gar mit einem "Bandwurm in den Innereien des Internets". Der Konzern argumentiert dagegen, dass Google News Zeitungs-Websites jeden Monat mehr als eine Milliarde Zugriffe einbringt. Ärger bekam Google schließlich auch für die Idee, eine riesige digitale Bibliothek aufzubauen. Der Konzern hatte 2004 damit begonnen, Bücher von US-amerikanischen Uni- und Stadtbibliotheken einzuscannen und auszugsweise online verfügbar zu machen. Einige US-Verlage verklagten Google daraufhin wegen Urheberrechtsverletzungen. Ende 2008 einigten sich beide Seiten darauf, dass Google auch weiterhin Bücher ins Netz stellen darf, die nicht mehr im Handel verfügbar sind. Im Gegenzug sollen Autoren und Verleger an den damit erzielten Werbeeinnahmen beteiligt werden. Aus Deutschland gibt es jedoch herbe Kritik an diesem Vergleich. Verlegern und Politikern missfällt hierzulande vor allen Dingen, dass Google sich erst um die nötigen Rechte bemühte, nachdem man schon Millionen von Büchern eingescannt hatte. +Kontroversen wie diese wären vielleicht nicht ganz so dramatisch, wenn da nicht die Sache mit dem Motto wäre. Brin und Page wollten mit Google unter anderem beweisen, dass man im Netz ohne fiese Tricks Geld verdienen kann. Die begehrten ersten Plätze der Suchergebnisse ließen sich nämlich bei einigen Konkurrenten für bares Geld ersteigern. Google trennte Werbung dagegen von Anfang an klar von Suchtreffern. Firmen wie BMW wurden schon mal ganz von der Site verbannt, wenn sie versuchten, sich bessere Suchpositionen zu ermogeln. Für solche Grundsätze bürgerte sich "sei nicht böse" als eine Art inoffizieller Firmenslogan ein. Google-Kritiker zitieren dieses Motto bis heute gern. "Googles Gründungsmotto ist: Don't be evil", erklärte der Ökonom Willem Buiter kürzlich in der "Financial Times". Doch die Firma tut Böses. Sie ist das neue Reich des Bösen im Netz geworden. "Google missbrauche sein Monopol und seine Datensammelwut sei außer Kontrolle, so Buiter. Die einzige Lösung sei, den Konzern aufzuspalten oder ganz aus dem Geschäft zu treiben. "Niemand würde ihn vermissen", so Buiter. +Ganz so weit wird es sicher nicht kommen, doch die Politik hat bereits ihr Augenmerk auf Google gerichtet. Als der Konzern im vergangenen Herbst mit dem Konkurrenten Yahoo! kooperieren wollte, drohte das US-Justizministerium umgehend mit einer Klage wegen Wettbewerbsbehinderung. Der Deal fiel ins Wasser. Branchenkenner gehen zudem davon aus, dass die EU-Kommission schon bald eigene Untersuchungen wegen Googles Marktmacht einleiten wird, und die deutsche Regierung will die EU gegen Google Books mobilisieren. Gut möglich also, dass Larry Page noch die ein oder andere schlaflose Nacht bevorsteht. +Janko Röttgers (33) lebt in Los Angeles. Er schreibt am liebsten über das Internet und neue Technologien diff --git a/fluter/ueberfluessig.txt b/fluter/ueberfluessig.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/uebergewicht-kann-ein-vorteil-sein.txt b/fluter/uebergewicht-kann-ein-vorteil-sein.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b7fad8afe271b66f91c91921c0f5ac6d1b71479d --- /dev/null +++ b/fluter/uebergewicht-kann-ein-vorteil-sein.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Woher kommt Fettleibigkeit eigentlich? Wird sie durch falsche Ernährung verursacht?Das ist einer der Punkte, an denen es sehr kompliziert wird. Man kann nicht nachweisen, dass Übergewichtige insgesamt mehr Fett oder mehr Süßes essen. Das hat man in der "Ersten Nationalen Verzehrstudie" in den 80er-Jahren versucht und ist zu dem überraschenden Ergebnis gekommen, dass Übergewichtige sogar weniger Fett und Zucker konsumieren. Vielleicht geben sie auch einfach weniger an, weil sie sensibilisiert sind für das Thema. Aber man kann eben auch nicht das Gegenteil nachweisen. Mittlerweile geht man davon aus, dass es viel zu vereinfacht ist zu sagen, es ist hauptsächlich eine Frage schlechter Ernährung. Es ist vielmehr ein Zusammenspiel vieler Faktoren, Bewegung natürlich, aber auch die Gene spielen eine wichtige Rolle.Woher kommt der Reflex einer Gesellschaft, Dicke als krank zu brandmarken?Ein Grund ist einfach, dass Dicksein als unschick oder unästhetisch gilt, und man will diese ästhetischen Fragestellungen mit gesundheitlichen vermischen. Was ungewollt ist, ist ungesund und damit erübrigt sich auch schon die Debatte, weil man gegen die menschliche Gesundheit nicht argumentieren kann.Das heißt, es geht um ein Schönheitsideal, das man mit einem gesundheitlichen Vorwand durchsetzen will?Ja, genau. Es gibt mittlerweile eine ganze Menge Studien, in denen man lesen kann, dass nicht der schlanke Mensch, sondern der mit leichtem Übergewicht die höchste Lebenserwartung hat. Ein BMI von etwa 27 ist ideal, weil es im Alter von Vorteil ist, ein bisschen dicker zu sein. Das ist mittlerweile auch ziemlich gut belegt. Nur wird es nicht so wahrgenommen, weil es ein Idealbild gibt, das sagt: Ein gesunder Körper hat schlank und sportlich zu sein.Sind Arme denn häufiger dick als Reiche oder ist das auch so eine Zahlenspielerei?Das ist statistisch gesehen richtig. Interessanterweise werden diese Zahlen aber häufig in dem Kontext verwendet, dass Armut angeblich selbstverschuldet ist. Man sagt dann: Na ja die Unterschicht ist selber schuld an ihrem Elend, die haben nicht zu wenig Geld, denen fehlt einfach die Disziplin, die kümmern sich nicht um ihre Kinder, die kümmern sich nicht um ihre Ernährung, die verwahrlosen, und das sieht man ja schon daran, dass sie übergewichtig sind. Den Vorwurf, der in dieser Betrachtungsweise mitschwingt, halte ich für sehr problematisch.In unserer Menschenrechte-Ausgabe haben wir die Hartz-IV-Gerichte des ehemaligen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin nachgekocht. Das war richtig eklig ...(Lacht) Herr Sarrazin wollte ja eigentlich beweisen, dass man sich wunderbar gesund von Hartz-IV ernähren kann. Aber eigentlich ist das Gegenteil herausgekommen. Das Essen war mengenmäßig knapp und alles andere als ausgewogen. +Friedrich Schorbs Buch "Dick, doof und arm? Die große Lüge vom Übergewicht und wer von ihr profitiert" ist im Droemer Verlag erschienen. diff --git a/fluter/ueberholmanoever.txt b/fluter/ueberholmanoever.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/uebern-berg.txt b/fluter/uebern-berg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..aa439774b08d4c528d53f8977ce293d5f10c8e0b --- /dev/null +++ b/fluter/uebern-berg.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Cardosos Nachfolger Luiz Inácio Lula da Silva hatte ab 2003 dessen Wirtschaftspolitik fortgeführt und die Sozialprogramme deutlich ausgeweitet. Um die Schulden beim IWF abzuzahlen, erhöhte Lula unter anderem mehrere Steuern und erlaubte den Anbau von genmanipuliertem Soja. Nachdem der Kredit noch vor Fristablauf abbezahlt war, fassten ausländische Investoren mehr Vertrauen. Durch deren Kapital ließen sich groß angelegte Wirtschaftsförderungsprogramme finanzieren. Ehemals einkommensschwache Bevölkerungsschichten wurden durch Sozialhilfen und vereinfachte Kreditbedingungen zu Konsumenten. Der gesetzliche Mindestlohn stieg in zehn Jahren von umgerechnet 76 Euro pro Monat auf mehr als 220 Euro, das Pro-Kopf-Einkommen ist um 27 Prozent gestiegen. Noch nie waren in Brasilien so wenige Menschen arbeitslos. 2010, gerade mal ein Jahr nach der globalen Wirtschaftskrise, wuchs Brasiliens Bruttoinlandsprodukt (BIP) um mehr als sieben Prozent, im selben Jahr wurden hier erstmals mehr Pkw verkauft als in Deutschland. Chinas wachsende Nachfrage nach Nahrungsmitteln sowie der Rohstoffreichtum Brasiliens scheinen weitere Garanten für das Wachstum zu sein. Die Industrialisierung schreitet fort, Großereignisse wie die WM 2014 und die Olympischen Sommerspiele im Jahr 2016 sind Anlass für Neuerungen und Investitionen in Infrastruktur wie Straßenbau und Hotels. Und dann wurden vor Brasiliens Küste auch noch riesige Ölfelder entdeckt, die Hoffnungen auf eine nahe Zukunft in Reichtum schürten. +Kritiker sehen die Lage anders. Die Grünen-Politikerin und ehemalige Umweltministerin Marina Silva etwa kritisiert das Wirtschaftsförderungsprogramm als kurzsichtig, sozial- und umweltfeindlich. Tatsächlich sind besonders gigantische Projekte wie der Staudamm Belo Monte stark umstritten. Inzwischen stagniert Brasiliens Boom, für 2012 erwarten Wirtschaftswissenschaftler mäßige zwei Prozent Wachstum. Lula-Nachfolgerin Dilma Rousseff hat zwar eilig Steuern auf Konsumgüter wie Autos – aus brasilianischer Produktion – gesenkt und das Sozialprogramm nochmals erweitert, um den Privatkonsum zu steigern, der seit acht Jahren ununterbrochen wächst. Doch Kritiker sprechen von "Assistenzialismus", weil Brasilien zu wenig in Bildung investiere, gleichzeitig aber 50 Millionen Familien Geld aus einem der weltweit größten Sozialprogramme, Bolsa Familia, oder andere staatliche Zuwendungen zahlt. Die bekommt zwar nur, wer seine Kinder regelmäßig zur Schule schickt, die Effizienz der Bildungseinrichtungen ist allerdings begrenzt: In der letzten Pisa-Studie belegten Brasiliens Schüler in Lesen und Naturwissenschaften einen hinteren Platz, in Mathe sah es noch schlechter aus. +Mangelnde Bildung und Korruption sind die größten Hürden auf dem Weg zu einem dauerhaften Wachstum: In diesen Wochen werden führende Politiker aus Lula da Silvas Amtszeit wegen eines der größten Korruptionsskandale verurteilt. In der Kreisstadt Cabo de Santo Agostinho, zu der Suape gehört, erhalten von 180.000 Einwohnern zurzeit mehr als 17.000 Familien Staatshilfe, weitere 13.000 Familien haben ihren Antrag eingereicht. Dabei gibt es auch in Cabo den Aufschwung: Fuhren noch vor zehn Jahren reichlich Pferdekarren durch die landwirtschaftlich geprägte Stadt, so drängen sich heute Autos, Busse und Lkw in den zu eng gewordenen Straßen. Mehr als 2.500 Unternehmen beschäftigen im Stadtgebiet über 30.000 Menschen, die wichtigsten Supermarktketten und Banken haben Filialen aufgemacht, und neuerdings gibt es sogar ein Einkaufszentrum. +"Die neuen Firmen haben Geld gebracht und damit das städtische Budget aufgebessert", sagt Lytiene Rodrigues, die städtische Referentin für wirtschaftliche Entwicklung in Cabo. "Aber andererseits rufen sie Fachkräfte aus anderen Bundesstaaten, weil hier die Leute nicht gut genug ausgebildet seien. Mit diesen Fremdarbeitern ist bei uns der Drogenmissbrauch stark gestiegen, und viele gründen hier neue Familien, obwohl sie in ihren Heimatstädten verheiratet sind." +Insgesamt sei aber vieles besser geworden: Tatsächlich lag das Pro-Kopf-Einkommen 2010 mit umgerechnet beinahe 8.500 Euro gut ein Drittel über dem Landesdurchschnitt. Kein Vergleich zum Jahr 2000, als der Jahresdurchschnitt noch skandalöse 50 Euro betrug. Die Kindersterblichkeit ist von 40 Prozent auf unter 15 Prozent gesunken. Heute versorgen 470 Ärzte die Bevölkerung – statt 37 im Jahr 2004, und das Programm der Bundesregierung zur Ankurbelung der Wirtschaft ist komplett umgesetzt, eine Seltenheit in Brasiliens Gemeinden, wo die Bundesgelder häufig ergebnislos versickern. "Besonders stark ist der Unterschied in den Strandvierteln zu sehen, da gab es ja noch vor wenigen Jahren nur Sandwege", sagt Lytiene Rodrigues. Tatsächlich: Die Hauptstraße von Suape ist jetzt asphaltiert. Am Horizont leuchten die Zeichen der neuen Zeit rot in den Himmel; die Kräne der Werft Atlantico Sul, das Wahrzeichen des neuen Industriehafens. Dessen Entwicklung haben Investitionen der Regierung ins Rollen gebracht. Der Hafen hat bislang rund 35.000 Arbeitsplätze und einen bescheidenen Wohlstand in der Gegend geschaffen. An Suapes Hauptstraße parken Neuwagen, und nur vereinzelt duckt sich noch ein ebenerdiges Fischerhaus neben den stolzen Neubauten mit mindestens einem Obergeschoss. Gleich zwei Supermärkte machen dem alten Ladenbesitzer Konkurrenz, und am frühen Abend stehen die Kunden in beiden an der Kasse Schlange. Die meisten tragen einen Blaumann mit Firmennamen: Sie sind im Hafen beschäftigt. Der alteingesessene Besitzer hat sich auf die Fremden eingestellt und Waren in sein Angebot aufgenommen, die die Dorfbevölkerung nie gebraucht hat, "Extra vergine"-Olivenöl etwa, Vollkornkekse oder Schokoladentafeln. +João Batista Neto, Besitzer der einzigen Pension im Dorf, profitiert ebenfalls von den Zugezogenen: "Ich mache jetzt im Monat so viel Umsatz wie früher in einem Jahr", sagt der 52-Jährige. "Ich habe mir einen Jeep geleistet und dem Wunsch meiner Frau nachgegeben, die in der benachbarten Großstadt im schicken Viertel Boa Viagem wohnen wollte." Er streicht zufrieden über seinen Bauch und setzt hinzu: "Der ist auch gewachsen!" Batista beherbergt jetzt statt vereinzelter Urlauber die Belegschaften von Firmen, maximal 150 Männer. Zurzeit baut er ein Obergeschoss auf die Unterkünfte, um bald noch mehr Arbeiter unterbringen zu können. +João Batista gehörte als Ingenieur aus besserer Familie bereits vor dem Boom zur brasilianischen Mittelklasse. Anders Ana Carla Domingos. Die 28-jährige gelernte Friseurin stammt aus einem einfachen Wohnviertel in Recife und arbeitete bis vor zwei Jahren in einem Laden für Sonderangebote. "Dort habe ich etwas mehr als den Mindestlohn verdient", sagt sie. Kolleginnen aus Suape redeten ihr zu, einen Friseursalon aufzumachen. Ana Carla mochte den kleinen Ort am Strand und sah sich bei Besuchen Mietwohnungen an, bis sie eine günstige an der Hauptstraße fand. "Der Erfolg war mir sicher, es gab hier keinen Salon, ich musste nur Geduld haben und ordentlich arbeiten", sagt die schlanke Frau mit dem gewinnenden Lächeln. Das Lächeln hat sie gebraucht: "Anfangs haben mich viele schräg von der Seite angesehen, mich nicht einmal gegrüßt – ich musste eine Menge Misstrauen überwinden." +Inzwischen hat Ana Carla eine weitere Friseurin und eine Nagelstylistin angestellt und lebt gut von ihrem Salon. "Ich habe neulich eine Reise nach Bahia gemacht – das hätte ich mir früher nie leisten können. Wir bauen gerade unser Haus, und nächstes Jahr will ich mir ein Auto kaufen." Die Dorfmentalität findet sie immer noch gewöhnungsbedürftig. "Den Leuten geht es jetzt zwar finanziell besser, sie haben Autos, schicken die Kinder auf eine bessere Schule – aber die Köpfe haben diese Entwicklung nicht mitgemacht", sagt sie. "Das Denken ist sehr beengt. Zum Beispiel wollen sie Geld durch Mieteinnahmen verdienen – aber gleichzeitig die Kontrolle über ihren Besitz nicht aufgeben. Einer Freundin von mir hat die Vermieterin eine Riesenszene gemacht, weil sie zu Weihnachten Besuch von ihrer Familie bekam. Das waren der Vermieterin zu viele Leute." Andere versuchten, im Salon die Preise herunterzuhandeln, oder kämen nur zum Schneiden und Föhnen, weil ihnen die Haarpflegeprogramme zu teuer seien. +Maria Auxiliadora do Nascimento ist 39 Jahre alt und war noch nie beim Friseur. Ihre Haare schneidet eine Freundin. Maria wohnt auf einem Hügel in einem Haus aus Lehm, vielleicht 30 Quadratmeter groß. Davon nutzt Maria die Hälfte – in der anderen wohnt ihr Sohn mit seiner Frau und dem Enkel. Maria und ihr Mann Severino sind Analphabeten, bis vor einem Jahr haben sie von Gelegenheitsjobs und staatlichen Hilfen gelebt. Jetzt haben sie eine Kreditkarte: Im Garten steht eine Waschmaschine, in einem kleinen Schuppen ein kleines Moped – beides auf Kredit gekauft. Die beiden gehören zur neuen Mittelklasse Brasiliens, von der Politiker gern sprechen. Severino verdient bei der Müllabfuhr rund 300 Euro, Maria kommt als Gelegenheits- Haushaltshilfe auf weitere 70 Euro. Die Rechengrundlage der Regierung besagt: Stehen in einem Haushalt jedem Mitglied umgerechnet mindestens 111 Euro zur Verfügung, hat er die untere Mittelschicht erreicht. Das ist ungefähr die Hälfte des staatlich garantierten Mindestlohns – weit entfernt von echtem Wohlstand. Und was hält Maria davon, jetzt dazuzugehören? "Mittelschicht? Keine Ahnung, was das sein soll", sagt sie und lacht. diff --git a/fluter/uebersetzung-afrikanische-sprachen-software.txt b/fluter/uebersetzung-afrikanische-sprachen-software.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5bf2b8da5faada4fef6b0406bb0237fad272007c --- /dev/null +++ b/fluter/uebersetzung-afrikanische-sprachen-software.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Der 23-Jährige erzählt davon bei einem Skype-Gespräch. "Wie kann es sein, dass du die Möglichkeit hast, in deiner Erstsprache unterrichtet zu werden, ich aber nicht?", fragt er. In der Schule im Benin werden alle Fächer in Französisch unterrichtet. Bonaventure findet es ungerecht, dass afrikanischen Sprachen nicht ausreichend Platz eingeräumt wird. Ein Problem, das er sieht: das mangelnde Interesse an der Übersetzung. +Es gibt über 7.000 Sprachen auf der Welt, maschinelle Übersetzungsprogramme kommen nur mit einem Bruchteil davon zurecht. Der Großteil aller Webseiten ist in nur einer Handvoll Sprachen verfasst – meist in Englisch. Ein eintöniges Futter fürselbstlernende Übersetzungsalgorithmen, die sich daher meist an den viel verbreiteten Sprachen schulen. 2013 kündigte Google an, künftig auch afrikanische Sprachen anzubieten. Keine einzige fand sich damals unter den 71 Google-Translate-Sprachen. Heute sind es immerhin 13. Bleiben immer noch knapp 2.000 afrikanische Sprachen, die nicht angeboten werden. Fon ist eine davon. + +Raus mit der Sprache: Bonaventures Übersetzungsprogramm bringt Fon ins Französische – und soll so die Sprache retten + +Also entschied sich Bonaventure, eine KI zu entwickeln, die Fon in Französisch übersetzt – und Französisch in Fon. Dossou studiert Mathematik im russischen Kasan. Im Juni wird er seinen Bachelor abschließen – als einer der Besten des Jahrgangs, obwohl er nicht wirklich viel Zeit zum Lernen hatte. Zwischen Vorlesungen und Hausaufgaben schaute er Videos, wie man Daten am besten aufbereitet, manchmal bis spät in die Nacht. Als er wusste, wie es geht, stand er vor einem weiteren Problem:Wie sollte er an Daten herankommen, um seine KI zu trainieren? +Nicht nur in Benin, sondernin weiten Teilen der Welt werden indigene Sprachen durch sogenannte Weltsprachen verdrängt, meistens jene der ehemaligen Kolonialmächte. Laut einer Studie von Ethnologue sind 41 Prozent der Sprachen weltweit vom Aussterben bedroht. Das bedeutet, dass sie von weniger als 1.000 Menschen aktiv gesprochen werden, und bald verschwunden sein könnten. +"Ich mache das nicht nur, um meine Mutter zu verstehen", sagt Bonaventure. "Ich möchte den Erhalt unserer Sprache garantieren." Ein Wort aus Fon hat es zu Bekanntheit gebracht: Voodoo. Das eigentliche Wort ist vodun, was so viel wie Geist oder Gottheit bedeutet. Generell ist eine Wort-zu-Wort-Übersetzung aus dem Fon aber schwierig, da es kein einheitliches Regelbuch gibt und die Sprache vor allem gesprochen, nicht geschrieben wird. Dennoch gibt es Texte, die meist in einer abgewandelten Form des lateinischen Alphabets verfasst sind. Eine Computertastatur, um Fon einzutippen, gibt es nicht. An der arbeitet Bonaventure gerade parallel. +Die ersten Daten bekam Bonaventure schließlich von "Masakhane", einem Projekt, das die maschinelle Übersetzung von afrikanischen Sprachen fördert. Das Projekt stellte ihm Texte zur Verfügung, die umfangreich übersetzt sind: Bibeltexte. Kein Wunder, kamen doch mit den Forschungsreisenden der späteren Kolonialmächte, den sogenannten "Entdeckern",auch viele christliche Missionarein die Region. +"Afrikanische Intellektuelle müssen für ihre Sprachen das tun, was Intellektuelle weltweit für ihre Sprachen getan haben." Dieses Zitat des kenianischen Schriftstellers Ngugi Wa Thiong'o treibe ihn an, sagt Bonaventure. Wer die eigene Erstsprache verwendet, um seine Gedanken auszudrücken, mache die afrikanischen Sprachen sichtbarer –und breche den europäischen Blick auf die Dinge allmählich auf. +Bisher läuft Bonaventures KI nur im Testlauf. Damit sie bald auch Gesprochenes übersetzen kann, will er im Master Data Science an der Uni Bremen studieren. Sein Ziel ist eine Übersetzungsplattform für Text und Ton. Nach und nach werde er seine KI auf weitere Sprachen der Sprachfamilie ausweiten. Denn wenn eine Sprache in Vergessenheit gerate, sagt Bonaventure, verschwinde mit ihr ein Teil des gesellschaftlichen Gedächtnisses. Und damit auch die Lebensratschläge seiner Mama. + diff --git a/fluter/ueberwachung-durch-fitness-apps.txt b/fluter/ueberwachung-durch-fitness-apps.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..331eeefa7e2cf33ed2e15d6e4c979842b630695b --- /dev/null +++ b/fluter/ueberwachung-durch-fitness-apps.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Das Tracking des Körpers ist für ein Drittel der Deutschen in ihrer Freizeit längst Alltag. Sie nutzen Fitnessarmbänder, die ihren Herzschlag, ihre Schrittzahl, ihren Kalorienverbrauch messen. Populär sind auch Menstruations-Apps, die den weiblichen Zyklus überwachen und über Eisprung, Krämpfe und Stimmungen Bescheid wissen. Der Soziologe Hartmut Rosa sieht die Ursache für unseren ständigen Optimierungswunsch in unserem Wirtschaftssystem. Das ziele auf Wachstum und ständige Steigerung ab. "Jeder Einzelne muss jedes Jahr etwas schneller laufen, um seinen Platz in der Gesellschaft zu erhalten." Exemplarisch dafür sind TV-Formate wie "The Biggest Loser". Die Teilnehmenden treibt die Sehnsucht nach einem anderen, sprich: fitten und attraktiven Körper. Wer fit ist, gilt als leistungsfähig, ehrgeizig, willensstark und diszipliniert. Die technische Unterstützung auf dem Weg zu gesellschaftlicher Anerkennung erkaufen sich die Nutzer mit ihren Körperdaten. Dabei könnten sie weder "nachvollziehen, welche Daten an wen übermittelt werden", noch könnten sie dies beeinflussen, sagt der Hamburger Datenschützer Johannes Caspar. Je günstiger die App, desto wahrscheinlicher, dass sensible Informationen zum Beispiel an Werbefirmen fließen. +Ändern könnte das die neue EU-Datenschutz-Grundverordnung, die im Mai in Kraft tritt und für alle Unternehmen gilt, die in den Mitgliedsländern Produkte anbieten. Sie schreibt unter anderem vor, dass Apps in Zukunft von Anfang an so datenschutzfreundlich eingestellt sein müssen wie möglich. Wer seine gesammelten Informationen wieder löschen will, hat ein "Recht auf Vergessenwerden". Und am wichtigsten: Apps dürfen nur noch genau die Daten sammeln, die sie wirklich benötigen, um einwandfrei zu funktionieren. Sensible Informationen landen damit weiter in den Apps, wenn wir sie freiwillig damit füttern. Aber: Wer seine Laufrunde tracken will, kann nicht dazu gezwungen werden, auch sein Adressbuch preiszugeben, wer seinen Schlaf überwachen will, darf seinen Standort für sich behalten. +Dass solche Regelungen nötig sind, zeigen die Datenschutzpannen, die es bei Fitness-Apps in der Vergangenheit immer wieder gab: So wurde im Mai 2016 bekannt, dass die Fitness-App Runkeeper im Geheimen Ortungsdaten gesammelt und mit Drittfirmen geteilt hat, und das selbst bei Nutzern, die die Anwendung abstellten. Ein Blick in den App Store zeigt: Bis jetzt erfüllen über die Hälfte der Android-Apps die neuen EU-Vorgaben nicht. Das könnte für die betroffenen Unternehmen teuer werden: Die Datenschutz-Grundverordnung sieht Strafzahlungen bis zu 20 Millionen Euro oder vier Prozent des weltweiten Jahresumsatzes vor. +Wie gesund wir sind, interessiert aber nicht nur unseren Arbeitgeber und die Werbeindustrie, sondern auch unsere Krankenversicherung. Je mehr Daten sie über uns hat, umso besser kann sie unseren Körper überwachen, Frühwarnsignale erkennen und Krankheiten vermeiden. So ganz uneigennützig ist das natürlich nicht, denn auf diese Weise könnten die Kassen eine Menge Geld sparen. Weniger Kranke, weniger Ausgaben für die Heilung. +Ihre Apps bieten dem Nutzer verschiedenste Services, sie sollen etwa die Kommunikation zwischen Patient und Kasse erleichtern, zu mehr Bewegung motivieren oder den Krankheitsverlauf dokumentieren, wie die App Tinnitracks für Tinnitus-Patienten (Tinnitus ist ein Dauerton im Ohr), die beispielsweise mit der Techniker Krankenkasse kooperiert. Klingt für den Verbraucher erst mal ziemlich positiv. Was aber, wenn die Fitten irgendwann weniger für ihre Versicherung zahlen müssen als die weniger Fitten? +Momentan dürfen die gesetzlichen Krankenkassen die über Apps gesammelten Daten nur für Studien nutzen oder Boni an die Nutzer vergeben, indem sie etwa einen Teil des Fitness-Trackers bezahlen. Die Höhe der Beiträge darf jedoch nicht davon abhängen – ein Sportler muss der gesetzlichen Krankenkasse genau so viel zahlen wie ein Nichtsportler. Anders handhaben das die privaten Krankenversicherungen – hier darf der Tarif an die übermittelten Gesundheitsdaten der Versicherten angepasst werden. Mehr noch: Die Versicherungen dürfen sogar individuell auf die Person zugeschnittene Tarife entwickeln. Der zweitgrößte Privatversicherer in Deutschland, Generali, startete vor zwei Jahren das Programm "Generali Vitality", mit dem Versicherte durch gesundes Verhalten Punkte sammeln und sich somit einen finanziellen Vorteil erarbeiten können. Noch gilt das nur für die Berufsunfähigkeits- oder Risikolebensversicherung, die in Verbindung mit dem Programm abgeschlossen werden, und nicht für die Tarife der privaten Krankenversicherung bei Generali – aber es ist in Planung. diff --git a/fluter/uebrig-bleibt-die-pure-information.txt b/fluter/uebrig-bleibt-die-pure-information.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f9f6323762bd08a638490396222ac0c019ef2316 --- /dev/null +++ b/fluter/uebrig-bleibt-die-pure-information.txt @@ -0,0 +1,36 @@ +Und weshalb sagen Sie: Die Masse ist schlau? +Die Beweise sind überwältigend. Das einfachste Beispiel ist das mit den Bonbons: Lässt man eine größere Gruppe von Menschen schätzen, wie viele Bonbons in einem Glas sind, ist der Durchschnitt ihrer Einzelschätzungen meist sehr nah an der wahren Anzahl. Viel näher als die beste Einzelschätzung. Auch bei Wer wird Millionär? antwortet die Masse, wenn man den Publikumsjoker nimmt, viel öfter richtig als die Experten, die der Kandidat anruft. +Woran liegt das? +Die Weisheit der vielen kommt nur zustande, wenn man viele Leute unabhängig voneinander befragt. Jeder weiß nur ein kleines bisschen, aber die Fehler, die sie machen, heben sich gegenseitig auf – übrig bleibt die pure Information. +In Ihrem Buch beschreiben Sie, dass man so sogar ein verschollenes U-Boot gefunden hat ... +Das ist eines meiner liebsten Beispiele: 1968 verlor die US Navy Kontakt zu einem Unterseeboot im Nordatlantik. Es gab nur sehr wenige Informationen, und so setzte sich eine Gruppe zusammen und jeder Einzelne, vom Offizier bis zum Techniker, überlegte, was passiert sein könnte: wie schnell und weit das U-Boot in welche Richtung gefahren sein müsste, wie hoch oder wie tief es sich befinden könnte. Jemand fasste all diese Einzelaussagen zusammen und ermittelte daraus einen Ort. Tatsächlich befand sich das U-Boot nur 200 Meter davon entfernt. Das Interessante: Niemand hatte auf genau diesen Ort getippt – er war nur die Summe ihrer Vermutungen. Diese Methode wurde auch angewandt, um eine Wasserstoffbombe zu finden, die bei einem Flugzeugunglück vor der spanischen Küste verloren gegangen war. Auch da hat es funktioniert. +Und Märkte sind der beste Weg, um diese versteckte Intelligenz einer Gruppe sichtbar zu machen und zu nutzen? +Ja, Wahlumfragen liegen oft überraschend weit daneben, selbst wenn eine repräsentative Gruppe am Tag der Wahl befragt wird. Das liegt da-ran, dass viele Menschen einfach nicht die Wahrheit sagen. Viel präzisere Ergebnisse erzielt man, wenn man einen simulierten Markt einrichtet, an dem die Menschen Aktien von Kandidaten kaufen können. Man fragt sie also nicht, wie sie wählen, sondern wie sie glauben, dass die anderen entscheiden. Solche Prognosemärkte sagen den Ausgang einer Wahl regelmäßig auf ein oder zwei Zehntelprozent korrekt voraus. +Warum funktioniert das? +Märkte vereinigen automatisch sehr unterschiedliche Menschen, da prinzipiell jeder teilnehmen kann. Ebenfalls sehr wichtig: Die Beteiligten interagieren zwar, sind aber vonein-ander unabhängig. +Welche anderen Arten solcher Prognosemärkte gibt es – außer für Wahlergebnisse? +Unternehmen nutzen sie inzwischen. Es ist doch oft so: Einen kleinen Angestellten fragt niemand nach seiner Meinung – oder er traut sich nicht, sie seinem Chef mitzuteilen. Dabei haben gerade diese Leute oft die wichtigsten Informationen. Durch Prognosemärkte kann man diese Informationen sichtbar machen: Siemens nutzt das zum Beispiel, um festzustellen, ob bestimmte Produkte rechtzeitig fertig werden oder wie erfolgreich neue Produkte sein werden. +Angestellte können also Aktien kaufen, die besagen, dass eine Software rechtzeitig fertig wird? +Genau. Wenn niemand diese Aktien kauft, sondern alle ihr Spielgeld darauf verwetten, dass es zu einer Verspätung kommt, kann man daraus natürlich etwas ablesen. Gerade schlechte Nachrichten kommen so eher zum Vorschein, als wenn man sie seinem Boss ins Gesicht sagen müsste. Siemens sagt, sie hätten dadurch ihre Prognosen um 50 Prozent präziser gemacht. +Hat der Aktienmarkt auch Vorhersagekräfte? +Auf jeden Fall! Ein interessantes Beispiel ist das Challenger-Unglück von 1986. Vier große Firmen hatten die Bauteile geliefert, nach der Explosion sind die Kurse aller vier Firmen gefallen. Drei Kurse haben sich relativ schnell wieder stabilisiert. Nur der vierte Kurs, der der Firma Morton Thiokol, fiel tiefer und tiefer. Dabei war die Unglücksursache nicht mal ansatzweise klar. Erst viel später stellte sich heraus, dass wirklich die Feststoffraketen dieser Firma zu dem Unglück geführt hatten. +Wie konnte der Aktienmarkt das wissen? +Keine Einzelperson wusste etwas. Es gab keinen Insiderhandel oder geheimen Wissensvorsprung. Aber jeder ahnte wohl ein kleines bisschen, zusammen ergab sich ein schlüssiges Bild. +Warum können dann trotzdem immer wieder Hypes und Blasen auf dem Markt entstehen – wie der Neue Markt Ende der Neunziger? +Blasen entstehen, wenn die Meinungsvielfalt zusammenbricht. In einem gesunden Markt sind alle Arten von Meinungen vertreten: Optimismus, Pessimismus, Euphorie, Skepsis. Wenn das wegfällt und nur noch eine Variante der Zukunft erzählt wird – so wie bei der Internetblase Ende der Neunziger –, wird es gefährlich. +Warum? +Weil plötzlich reine Spekulanten die Oberhand gewinnen. Die wissen, dass sie mehr bezahlen, als die Aktie wert ist – vertrauen aber darauf, dass es irgendwo einen Idioten gibt, der ihnen noch mehr dafür bezahlen wird. Diese Leute gibt es immer, aber in einer Blase dominieren sie den Markt. +Wann entsteht eine solche Blase? +Das ist noch nicht endgültig geklärt. Blasen tauchen häufiger auf, wenn eine neue Technologie auf der Bildfläche erscheint. Seien es große Umwälzungen wie das Internet oder kleine wie automatische Bowlingbahnen, die Anfang der Sechzigerjahre in den USA eine absurde Blase verursachten. +Es gab einen Bowling-Hype? +Automatische Bowlingbahnen waren neu und boomten, die Leute dachten, so werde es weiter- gehen. Der Wall Street Broker Charles Schwab, heute einer der fünfzig reichsten Männer der USA, multiplizierte allen Ernstes die Einwohnerzahl Amerikas mit zwei wöchentlichen Stunden Bowling und dachte, das sei der Bedarf. +Welche Rolle spielen die Medien bei der Entwicklung von Blasen? +Eine entscheidende: Sie dienen als Echokammer, in der sich alle Stimmen gegenseitig verstärken. Journalisten sind auch nicht klüger als alle anderen: Wenn ihnen jemand einen Trend anpreist, der plausibel klingt, springen viele mit auf – und stecken damit andere an. +Abgesehen von einer gewissen Vorsicht am Aktienmarkt: Wie kann jeder Einzelne Ihre These von der klugen Masse für sich nutzen? +Wenn Sie in einem Team eine Entscheidung treffen müssen, beziehen Sie eher mehr Leute mit ein als weniger. Ermutigen Sie die Leute zu unterschiedlichen Meinungen, erzwingen Sie keinesfalls einen Konsens. Wir müssen als Individuen die Beschränkungen unseres eigenen Wissens erkennen. +Heißt das, ich sollte mich immer der Masse anschließen – wenn die so viel klüger ist als ich? +Die Weisheit der Masse funktioniert nur, wenn alle für sich selbst denken. Um auf das Anfangsbeispiel zurückzukommen: Das Bonbonexperiment funktioniert nur, wenn alle unabhängig voneinander ihren Tipp abgeben. Berät die Gruppe und gibt einen Konsenstipp ab, liegt der stets viel weiter daneben. +Woran kann ich erkennen, dass eine Gruppe auf dem Holzweg ist? +Wenn sich die Mitglieder zu ähnlich sind, was ihren Hintergrund, ihre Einstellung, ihre Erfahrung betrifft. Wenn das Gefühl entsteht, das wahre Ziel der Gruppe sei es nicht, die richtige Lösung zu finden, sondern Einigkeit herzustellen. Hüten Sie sich vor Gruppen, in denen wenige Leute die Debatte dominieren. +Neben der Gier nach Konsens: Was ist der größte Fehler in einer Gruppendiskussion? +In einem großen Kreis reihum jeden nach seiner Meinung zu fragen. Es ist fast ausgeschlossen, dass diejenigen, die als Letzte dran sind, noch ehrlich antworten.James Surowiecki, 39, ist Wirtschaftskolumnist des New Yorker und Autor des Buchs Die Weisheit der Vielen (The Wisdom of Crowds). Er lebt in Brooklyn. diff --git a/fluter/uiguren-internierung-china-corona-interview.txt b/fluter/uiguren-internierung-china-corona-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ab996eb2d01bdd266f00857ad322cb932e19ad3c --- /dev/null +++ b/fluter/uiguren-internierung-china-corona-interview.txt @@ -0,0 +1,32 @@ + + +fluter.de: InZeiten von Coronahört man nur noch wenig aus der Provinz Xinjiang. Hat sich die Situation verbessert? +Dolkun Isa: Nein, im Gegenteil. Den Uiguren geht es schlechter als je zuvor. Es dringt nur wenig aus der Provinz nach außen. Wir wissen aber, dass die chinesische Regierung die Internierung von Uiguren ausgeweitet hat, es sitzen immer mehr Menschen in den Lagern fest. Dass die Welt sich hauptsächlich für das Coronavirus interessiert und die Zustände in Xinjiang vom Radar der Medien verschwunden sind, kommt der Regierung sehr gelegen. +Mehr als zehn Millionen Uigurenleben in der Provinz Xinjiang im Westen Chinas. Damit stellen sie die zweitgrößte ethnische Minderheit des Landes. Ihre Wurzeln haben sie in indoeuropäischen, mongolischen und turkstämmigen Volksgruppen. Die chinesische Regierung wirft den Uiguren Separatismus und Terrorismus vor, die Uiguren fühlen sich von den herrschenden Han-Chinesen wirtschaftlich, politisch und kulturell unterdrückt. (Der Begriff Han-Chinese bezieht sich auf die Han-Dynastie, die das Land einst regierte.) +Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) warnte bereits davor, dass sich das Coronavirus auch in den "Umerziehungslagern" in Xinjiang ausbreiten könnte. "Eine Epidemie unter den 1,5 Millionen Menschen in den Lagern wäre der Super-GAU", sagt GfbV-Direktor Ulrich Delius. Haben Sie von Corona-Fällen aus den Lagern gehört? +Die Menschen in den Lagern haben keine Telefone und kein Internet, nur selten kann jemand fliehen. Wir haben also keine gesicherten Erkenntnisse über die Lage vor Ort und wissen einfach nicht, ob und wie viele Fälle es gibt. Wenn die chinesische Regierung sagt, in der Provinz Xinjiang gibt es keine Corona-Infektionen, kann und werde ich das aber nicht glauben. + + +Offiziell soll es in China kaum noch Corona-Fälle geben, die Zahl der Infizierten ist rapide gesunken. +Ich glaube der Regierung kein Wort. Meiner Meinung nach hat sie von Anfang an über das Virus gelogen, den Zeitpunkt des Ausbruchs in Wuhan und das Ausmaß der Epidemie in China viel zu lange verschwiegen und in Kauf genommen, dass die ganze Welt sich ansteckt. +Haben Sie noch Kontakt zu Ihrer Familie in China? +Nein. Die meisten Mitglieder meiner Familie sitzen in den Lagern fest. Sicher weiß ich das von meinen beiden Brüdern. Keine Ahnung, wie es meiner Schwester geht und wo sie ist. Meine Mutter ist schon vor zwei Jahren in einem der Lager gestorben. Und nun habe ich aus einem chinesischen Zeitungsbericht erfahren – und das war besonders schlimm für mich –, dass auch mein Vater Anfang des Jahres dort ums Leben gekommen ist. Er war schon über 90 und hat die Zustände wahrscheinlich nicht mehr verkraftet. Genaueres weiß ich nicht über seinen Tod. Die Ungewissheit ist wirklich furchtbar. + + +Dabei gibt es Augenzeugen, die aus Xinjiang nach Europa gekommen sind. Die Uigurin Asiye Abdulaheb hat mit ihren Berichten aus erster Hand bei den "China Cables"-Recherchen geholfen. +Was Augenzeugen wie sie berichten, ist erschreckend. Aber die Zustände variieren von Lager zu Lager, es gibt ungefähr tausend in der Region. In manchen ist es besonders schlimm. Dort leben 20 oder 30 Menschen in einem kleinen Raum – mit einer Toilette für alle. Sie schlafen auf dem nackten Beton. Die hygienischen Bedingungen sind unzumutbar, es gibt kein Wasser und wenig zu essen. Die Menschen dort arbeiten hart und sterben früh. +Die Gefangenen sollen in den Lagern "umerzogen" werden. +Die Gefangenen werden zum Teil mit Folter zur "Selbstkritik" gezwungen, also eigenes Fehlverhalten anzuerkennen und Besserung zu geloben. Dabei wissen viele gar nicht, warum sie verhaftet wurden. Aber nicht nur diese Lager, ich nenne sie Konzentrationslager, sind das Problem, sondern die ganze Region. Xinjiang ist ein "Open-Air-Gefängnis" für mehr als zehn Millionen Menschen. Private Besuche zum Beispiel sind nur für 20 Minuten erlaubt.Überall sind Kameras, jeder Schritt, jedes Telefonat wird aufgezeichnet. + + +Sie sind seit 1996 in Deutschland im Exil und standen jahrelang auf der Fahndungsliste von Interpol: Auf Veranlassung von China wurden Sie dort als "Terrorist" gesucht. Können Sie noch zählen, wie oft Sie verhaftet wurden? +Vielleicht zehn Mal? Ich habe aufgehört zu zählen. In den vergangenen 20 Jahren wurde ich immer wieder auf Flughäfen oder Demonstrationen festgesetzt, in Genf, in Seoul, in Frankfurt am Main, manchmal mehrere Tage lang. Bis heute versucht die chinesische Regierung, meine Arbeit als Aktivist für die Rechte der Uiguren zu manipulieren.Hacker haben meine Webseite angegriffen, ab und zu ist mein Telefon blockiert. +Werden Sie heute noch verfolgt? +Ich reise nicht in Länder, die auf der Seite Chinas stehen. Das gilt für einen Großteil der asiatischen Länder, aber auch für Russland und viele andere. Die Gefahr ist zu groß, dass ich dort wieder verhaftet werde. Ich werde auch erpresst: Wenn ich mich äußere, bekomme ich anonyme Drohungen, dass meine in China lebenden Verwandten darunter leiden werden und nicht mehr sicher sind. Sie haben meine Familie als Geisel genommen. +Wie beurteilen Sie die Haltung der internationalen Gemeinschaft? Sind die Bemühungen um die Menschenrechtslage der Uiguren ausreichend? +Die internationale Gemeinschaft und der UN-Sicherheitsrat wissen um die Lage der Uiguren. Ab und zu ist sie Thema bei Versammlungen. Auch Bundeskanzlerin Merkel hat sich schon kritisch geäußert. Aber Worte allein reichen nicht.Eine Studie aus Australien hat ergeben,dass immer noch 83 internationale Firmen in Fabriken produzieren, in denen uigurische Zwangsarbeiter beschäftigt sind. Darunter sind auch deutsche Firmen wie VW und Siemens. Sie unterstützen indirekt dieMenschenrechtsverletzungen in den Lagern. Das muss aufhören. Wenn alle Länder zusammenstehen undwirtschaftlichen Druck ausüben, indem sie dort nicht mehr produzieren lassen,müsste China reagieren. + + +Dolkun Isa, 52, ist in Xinjiang geboren und aufgewachsen. Als Student begann er, sich für die Demokratisierung Xinjiangs zu engagieren, wurde dafür der Uni verwiesen und von der Polizei verfolgt. 1994 floh Isa in die Türkei, 1996 kam er nach Deutschland, seit 2006 ist er deutscher Staatsbürger. München, wo er heute lebt, gilt als politisches Zentrum der Exil-Uiguren: Hier lebt die Hälfte der rund 1.500 in Deutschland lebenden ethnischen Uiguren. Nach seiner Ankunft in Deutschland gründete Isa den Weltkongress der Uiguren (WUC), eine Dachorganisation für 32 uigurische Gruppen in 18 Ländern. Seit 2017 ist Isa Präsident der WUC. + + diff --git a/fluter/ukraine-cyber-volunteers-hacker.txt b/fluter/ukraine-cyber-volunteers-hacker.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..71418b0915a2e6f0ef4ce2f4f8fe67168982b91b --- /dev/null +++ b/fluter/ukraine-cyber-volunteers-hacker.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +So sieht der analoge Krieg aus: Schaulustige begutachten vor dem ukrainischen Verteidigungsministerium zerstörte russische Panzer + +Und auch auf die ukrainische Öffentlichkeit gab es bereits Attacken. Schon seit Jahren ist bekannt, dass Russland als Teil seines Propagandaapparatsauch sogenannte Troll-Fabrikenbetreibt. Sie sollen Fake News im Internet verbreiten, um damit die öffentliche Meinung auf die Seite Russlands zu ziehen. Mit den Panzern rollte dann eine besonders massive Propagandawelle über die Ukraine;der "Microsoft Digital Defense Report 2022"maß in den Wochen nach Kriegsbeginn einen Anstieg von 216 Prozent. +Der Überfall auf die Ukraine gehört zur neuen Form der "hybriden Kriege", das schreiben auch die Autor:innen des "Digital Defense Report". Denn längst verlaufen die Fronten nicht nur auf dem Boden und im Meer, sondern auch durch das Internet. Auch Smartphones können zu Waffen werden. Und deshalb schalten jeden Tag Zehntausende Ukrainer:innen ihre Laptops ein. Sie stellt Sasha Maslov, der selbst aus der Ukraine stammt, in seinem Fotoprojekt "Ukrainian Cyber Volunteers" in den Mittelpunkt. Sie kämpfen für ihre Freiheit. Online. Einen Klick nach dem anderen. + + +Eine von ihnen ist Maria, die ihren Namen aus Sicherheitsgründen nicht nennen kann. Sie stammt aus dem Osten der Ukraine und engagiert sich in einem Netzwerk aus Freiwilligen, die sich selbst "die Elfen" nennen. Die Elfen stammen aus etwa einem Dutzend europäischer Länder, gegründet haben sie sich bereits im Jahr 2014 in Litauen, als Russland sich anschickte, die ukrainische Krim zu annektieren. Anfangs haben sie gegenprorussische Kommentare unter Artikeln oder auf sozialen Medienangeschrieben, für jede antieuropäische Parole antworteten sie mit einer proeuropäischen. +Inzwischen sind die Elfen gut koordiniert, es gibt Hierarchien, und jede Gruppe hat ihre Aufgaben und Ziele. Und auch ihre Taktiken wurden immer ausgefeilter. So melden sich beispielsweise ukrainische Frauen auf russischen sozialen Netzwerken und Datingplattformen an, um mit Soldaten in Kontakt zu treten und so an Informationen zu gelangen, vom Standort der Einheiten bis zu der Funktionalität der Armee. Oder sie versuchen gar, die Soldaten zum Desertieren zu überreden. +Maria überwacht für die Elfen mehrere Telegram-Kanäle und in Russland beliebte soziale Netzwerke wie VKontakte oder Odnoklassniki. Wenn sie und ihre Gruppe bemerken, dass in einer Region die Unzufriedenheit mit der russischen Regierung zunimmt, versuchen sie, diese durch Aufklärung weiter zu schüren – mit Sichtweisen jenseits von Moskaus Propaganda, etwa den Schätzungen des ukrainischen Militärs zu den Zahlen der Todesopfer auf russischer Seite. Die Onlinemissionen können Tage oder Wochen dauern, ohne garantierten Erfolg. Es ist eine langsame und systematische Arbeit, denn die russische Bevölkerung darf nicht bemerken, dass es sie gibt. "Unser Ziel ist es nicht, sie wütend zu machen oder unseren Schmerz auf sie zu übertragen", sagt Maria. "Wir wollen sie zum Nachdenken bringen, sie davon überzeugen, dass sie von diesem Krieg nicht profitieren." + + +Während die Elfen unter dem Radar arbeiten, kennt die IT-Armee in der Ukraine jeder. Nur ein paar Tage nach Kriegsbeginn verkündeteder ukrainische Minister für Digitale Transformation, Mykhail Fedorov, auf Facebook deren Gründung: Jede Hilfe sei willkommen. Es war das erste Mal, dass Regierungsvertreter ihre Bürger:innen aufforderten, sich an einem Cyberkrieg zu beteiligen. +Seine IT-Armee aus Freiwilligen ist zweigeteilt. Ein Teil agiert in der Öffentlichkeit. Er koordiniert sich über einen öffentlichen Telegram-Kanal mit 200.000 Abonnenten, hier postet das Ministerium regelmäßig Ziele. Gleich am ersten Tag rief es zum Beispiel dazu auf, DDoS-Angriffe auf große russische Konzerne wie Gazprom sowie auf regierungsnahe Medien durchzuführen. Bei DDoS-Angriffen werden Server gezielt mit so vielen Anfragen bombardiert, dass das System die Aufgaben nicht mehr bewältigen kann und im äußersten Fall zusammenbricht. An Feiertagen legte die IT-Armee auch schon mal die russische Version von YouTube lahm. Im Grunde sind solche Angriffe harmlos bis nervig, aber die Strategie dahinter ist eine ähnliche wie bei den Elfen. Die russischen Bürger:innen sollen spüren: Dieser Krieg betrifft auch sie. + + +90 Prozent der Ziele aber, die die IT-Armee angreift, werden nicht veröffentlicht, sagt Mykhail Fedorov. Und dort, im Schatten, passiere der größte Schaden. Für diese Aufgaben setzt die Regierung auf ein Netzwerk aus IT-Fachleuten, denen sie vertraut. Einer davon ist Yegor Aushev. +Aushev ist Gründer einer Cyber-Sicherheitsfirma und als solcher gut in der Hackerszene vernetzt. Als die russischen Panzer über die Grenze rollten, postete er einen Aufruf auf Facebook, ihm in den digitalen Kampf gegen Russland zu folgen. Über hundert Bewerber:innen meldeten sich innerhalb der ersten 24 Stunden und erbeuteten mehrere Datenbanken mit privaten Infos über russische Militärs. +"Ich möchte, dass wir als Kämpfer in diesem Krieg betrachtet werden", sagt Yegor Aushev. Seine Gruppe konzentriert sich auf das Abhören von russischer Kommunikation und das Auslesen von Datenbanken. Sie versuchen, alles herauszufinden, was für das ukrainische Militär von Nutzen sein könnte – bis hin zu den russischen Truppenbewegungen. Denn viele der russischen Soldaten trugen beim Einmarsch ihre Handys mit sich. "Das iPhone sendet etwa 200.000 Signale pro Stunde, und sie wussten nicht, dass wir sie auf diese Weise verfolgen konnten", sagt Aushev. + + +Dass sich die Ukraine an der digitalen Front überhaupt wehren kann, daran hat Tim Karpinsky einen bedeutsamen Anteil. "Man kann sagen, dass wir die Ersten waren, die aktiv eine ukrainische Cyberabwehr aufgebaut haben", erinnert er sich. "2014 gab es in der Ukraine keine Cyberabwehr in den staatlichen Strukturen, nicht einmal im Inlandsgeheimdienst." Das führte im Jahr 2015 dazu, dass eine Hackergruppe mit Verbindungen zum russischen Militärgeheimdienst Teile des ukrainischen Stromnetzes lahmlegen konnte. Im April 2022 versuchte es dieselbe Hackergruppe noch einmal – diesmal hielt das Stromnetz stand. +Karpinsky war 2016 einer der Gründer der Ukrainischen Cyber-Allianz, einem Verbund von Hacker:innen, der als NGO registriert ist. Die Cyber-Allianz bekommt kein Geld vom Staat. Karpinsky sagt: "Wir suchen uns unsere Aufgaben selbst und definieren unsere eigenen Ziele." Initiativen wie diese zeigen, wie Freiwillige Lücken füllen, die von der Regierung (noch) nicht geschlossen wurden. + +So wie auch Dmytro Nalbat. Vor dem Krieg arbeitete er für einen Online-Glücksspielanbieter, seine Aufgabe: die Facebook-Werberichtlinien umgehen, damit verbotene Anzeigen trotzdem gezeigt wurden. Diese Erfahrung setzt er nun dafür ein, im russischen Teil von Facebook Anzeigen über die Auswirkungen der russischen Invasion auf sein Land zu platzieren. +Am Anfang rief er darin die russischen Facebook-Nutzer:innen auf, auf die Straße zu gehen und zu protestieren. Dann richteten sie sich an russische Mütter, damit diese die Regierung auffordern, ihre Kinder zurück nach Hause zu bringen. Seine Anzeigen zeigten sogar tote russische Soldaten. Zu Dmytro Nalbats Überraschung sei die häufigste Reaktion der russischen Bevölkerung darauf gewesen: "Warum ist das in meinem Feed?" Die Menschen lehnten seine Inhalte als Fake News oder Erfindungen ab, sagt er. "Die Propagandamaschine funktioniert dort wirklich." diff --git a/fluter/ukraine-demokratie-selenskyj.txt b/fluter/ukraine-demokratie-selenskyj.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..baf6c5b97b60865a958c62e90b4fab9631a43ffe --- /dev/null +++ b/fluter/ukraine-demokratie-selenskyj.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Im politischen System der Ukraine hat das Amt des Präsidenten große Bedeutung. Der Präsident schlägt Ministerpräsident, Verteidigungs- und Außenminister vor – er bildet quasi die Regierung und kann sie auch wieder entlassen. Kritiker warfen Poroschenko vor, diese Macht zu wenig genutzt zu haben, um die in der Ukraine vorherrschende Korruption zu bekämpfen. Dasselbe galt für die Einschränkung der Macht der Oligarchen. +Timm Beichelt, Professor für Europa-Studien an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), beobachtet die Ukraine schon lange. Er sagt: "Auch in der Sowjetunion gab es ein erhebliches Maß an Korruption. Die Oligarchen sind eine Folge daraus." Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sei der Staatsbesitz neu verteilt worden. Es habe Männer gegeben, die kauften ihr Imperium für vergleichsweise wenig Geld zusammen. Andere nahmen es sich mit (Waffen-)Gewalt. "Es gab damals keine gesellschaftliche und gesetzliche Macht, um diese Konzentration zu verhindern", so Beichelt. Erst im Jahr 1996 verabschiedete die Ukraine eine eigene Verfassung. +Von Anfang an übten Oligarchen großen Druck auf die Politik aus, viele gründeten Medienunternehmen. Einige Oligarchen gingen direkt in die Politik. Poroschenko war einer von ihnen. Und außerdem war er laut dem Magazin "Forbes" 2021 der siebtreichste Mensch in der Ukraine. Sein Spitzname ist "Schokoladenkönig", weil ihm ein Süßwarenunternehmen gehört. Milliardär wurde er aber auch durch Beteiligungen an Rüstungs-, Automobil- und Medienunternehmen. Poroschenko stand für das alte System, das viele Ukrainer überwinden wollten. Wolodymyr Selenskyj, damals noch ein Politikneuling, stand für das Neue. Die Stichwahl gewann Selenskyj mit 73,2 Prozent. So hoch wie noch keiner vor ihm. Wolodymyr Selenskyj kam aber nicht aus dem Nichts. Timm Beichelt sagt: "Sicher kann man ihn als Komiker bezeichnen, aber als einen, der sich an ernsten Missständen in der ukrainischen Gesellschaft abgearbeitet hat." +Selenskyj absolvierte ein Studium der Rechtswissenschaften. Bekannt wurde er im Jahr 2006, als er die ukrainische Version von "Let's Dance" gewann. Er war auch die ukrainische Synchronstimme von Paddington Bär. Gleichzeitig leitete er mehrere Fernsehsender und eine TV-Produktionsfirma, die er zusammen mit Freunden gegründet hatte. Manche von ihnen gehören noch heute zu seinen engsten politischen Vertrauten. +Im Jahr 2014 verurteilte Selenskyj öffentlich die russische Annexion der Krim. Kurz darauf thematisierte er in einem Sketch das Verhältnis von Wladimir Putin zu einer Sportlerin. Putin soll ihm das nie verziehen haben. +Dann, im Jahr 2015, kam "Diener des Volkes" ins Fernsehen. In dieser Serie (es gibt drei Staffeln) spielt Selenskyj einen Geschichtslehrer, der mehr oder weniger durch Zufall zum Präsidenten der Ukraine wird. Selenskyjs Figur kämpft für einen EU-Beitritt und gegen Korruption. Sein Gegenspieler ist ein mächtiger Oligarch. +Laut Timm Beichelt habe er sich von dieser Figur auch im Wahlkampf kaum gelöst. Dort seien die Versprechen dieselben gewesen, plus: Selenskyj habe für einen "zivilen Patriotismus" geworben, ein Nationalgefühl. +Warum warb er dafür? Kurzer Rewind der ukrainischen Geschichte: Dass es überhaupt einen ukrainischen Staat gibt, ist nicht selbstverständlich. Das heutige Gebiet war im Laufe der Geschichte Bestandteil von vielen verschiedenen Staaten. Sogar die Sisi aus Wien war einmal Kaiserin über die Westukraine. Lwiw hieß damals Lemberg. Trotzdem gab es immer wieder Versuche, einen eigenständigen ukrainischen Staat zu schaffen, so im Jahr 1919. Der existierte jedoch nur wenige Jahre, bevor ihn die Sowjetunion 1922 eingliederte. In den folgenden Jahrzehnten versuchte die sowjetische Führung dann, die Ukraine zu russifizieren. Wladimir Putin verfolgt ähnliche Ziele. Als seine Truppen in die Ukraine einfielen, sprach er der Ukraine das Existenzrecht ab. +"Putin hat durch seine aggressive und gewaltsame Politik bewirkt, dass aus vielen verschiedenen Identitäten schließlich eine wurde: die ukrainische", so Timm Beichelt. Viele Ukrainer wollen nicht zu Russland gehören. Sie wollen sich ihren Staat nicht nehmen lassen. Das sei auch der Grund, warum die Ukraine immer liberaler, westlicher und demokratischer wurde, während sich andere ehemals sowjetische Staaten, wie Belarus, Tadschikistan oder Russland selbst, in die entgegengesetzte Richtung entwickeln. +Wie sich die Ukraine demokratisierte, zeigt ein Beispiel: Sie wurde ein immer dezentraleres Land. Das heißt, die Macht konzentrierte sich nicht auf die Regierung in der Hauptstadt Kyjiw, sondern verlagerte sich hin zu den Gemeinden. Diese Entwicklung gibt es erst richtig seit 2014. +Das hat zwar schlechte Seiten, die Zentralregierung hat zum Beispiel weniger Einfluss, sollten zum Beispiel prorussische oder rechte Bürgermeister gewählt werden. Andererseits ist eine Verteilung von Macht ein gutes Zeichen für Demokratie. In Deutschland gibt es nicht umsonst den Föderalismus. Timm Beichelt sagt es so: "Als Putin 1999 in Russland an die Macht kam, hat er sofort die Macht zentralisiert. Das Gegenteil passiert gerade in der Ukraine." +Ein kleiner Sidefact: Um seinen Überfall auf die Ukraine zu rechtfertigen, behauptete Wladimir Putin, er würde die Ukraine von "Nazis" befreien. Dabei scheiterte die rechte Swoboda-Partei an der Fünfprozenthürde, auch wenn sie einen Sitz im Parlament hat. Die absolute Mehrheit im Parlament hat Selenskyjs Partei "Diener des Volkes". Genau, sie heißt wie die Serie. +Noch immerist Korruption ein großes Problem. Aber innerhalb weniger Monate wurde unter Selenskyj die Antikorruptionsinfrastruktur ausgebaut. Zwischen 2019 und 2021 hat das Nationale Antikorruptionsbüro 381 Anklagen wegen Korruption auf hoher Ebene erhoben. 57 Personen wurden vom Obersten Antikorruptionsgericht wegen Korruption verurteilt. Im September 2021 verabschiedete das Parlament ein Anti-Oligarchen-Gesetz, sie müssen nun ihre Vermögenswerte offenlegen und dürfen Parteien nicht mehr finanziell unterstützen. +Geht es in der Ukraine nun zu wie im Märchen? Natürlich nicht. Kritiker bezeichnen Selenskyjs Regierungsstil als konfrontativ und wenig diplomatisch. Sein Name tauchte außerdem inden Pandora Papersauf. Er soll sein Medienunternehmen in einer Steueroase angemeldet haben. Selenskyjs Stand war, laut Umfragen, Ende 2021 kein leichter. Bei den meisten Ukrainern war er unten durch. Dann kam der Krieg. +Seitdem herrscht Ausnahmezustand. Selbst politische Rivalen stehen nun hinter Wolodymyr Selenskyj. "Die Ukraine ist eine junge Demokratie. Sie hat alle Voraussetzungen, um sich langfristig zu etablieren", meint Timm Beichelt. +Alles, was sie braucht, ist eine Chance. + +Titelbild: Sergei Supinsky/AFP via Getty Images diff --git a/fluter/ukraine-identit%C3%A4t-korruption.txt b/fluter/ukraine-identit%C3%A4t-korruption.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..05b7c902b86a9ca4fcdfe784ef6a4d3e887791cb --- /dev/null +++ b/fluter/ukraine-identit%C3%A4t-korruption.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +Seit dem 24. Februar 2022 bin ich dreimal in die Ukraine gereist. Das ist öfter als in den letzten 25 Jahren zusammengenommen. Bis dahin hatte ich nur einmal, 2012, das Bedürfnis, die Ukraine kennenzulernen. Bei meinem Besuch damals war ich schockiert von dem Ausmaß an Sexismus und Korruption. An einem Tag im Monat, erzählte mir eine Freundin, hätte sie einen Joker: Ihr Mann spüle das Geschirr. Die restliche Zeit übernehme sie die gesamte Hausarbeit. Sie lachte über den Deal. Menschen klagten, dass man den Arzt bestechen müsse, um eine korrekte Diagnose zu erhalten. "Danke, dass du uns nach Deutschland gebracht hast", sagte ich nach der Rückkehr zu meiner Mutter. Wer sagt, dass man ein Land lieben muss, nur weil man dort geboren ist? +Ich war fünf, als wir Mitte der 1990er-Jahre als jüdische Kontingentflüchtlinge aus der westukrainischen Stadt Riwne nach Augsburg in Bayern kamen, wo wir zusammen ein Jahr lang in einem Zimmer lebten. Wir, das waren meine Eltern, meine Schwester Polina, meine Oma und ich. Geflohen waren wir vor der Armut, die Anfang der 1990er-Jahre über die Ukraine hereinbrach. Andere Familien nutzten das Chaos nach dem Ende der Sowjetunion, um "Business" zu machen. Wir blieben arm. Wenn die Nachbarn Geburtstag hatten, verschenkten wir in Zeitungspapier eingewickelte weiße Socken. +Als wir in Deutschland lebten, interessierte mich mein Heimatland nicht besonders, auch wenn mir meine sowjetisch geprägten Eltern Anekdoten über Lenins Kindheit erzählten und wir zu Hause Borschtsch und Wareniki aßen. Die Ukraine bestand für mich aus Geschichten von Armut, vom Versuch des Sowjetregimes, das Reaktorunglück in Tschernobyl zu vertuschen, und von Korruption. Dazu kamen die Erzählungen meiner Muttervom Antisemitismus, der damals allgegenwärtig war. Als wir noch in Riwne wohnten, hatten Lokalzeitungen Judenwitze gedruckt. Die Jungen in der Schule beschimpften meine Schwester, weil sie Jüdin ist. +Wenn ich heute meinen nichtjüdischen geflüchteten Freundinnen in Deutschland davon erzähle, wollen das einige nicht glauben. In ihrem Umfeld würden Juden respektiert, sagen sie, niemand hätte etwas gegen sie. Ich komme mir dann vor, als ob sich meine Familie das alles eingebildet hätte. Bis mir wieder einfällt, dass postsowjetische jüdische Autorinnen und Autorenwie Lena Gorelikund Dmitrij Kapitelman von ähnlichen Erfahrungen berichten. +Aber klar: Die Ukraine hat sich in den letzten drei Jahrzehnten, vor allem seit der Majdan-Revolution 2013/14,stark verändert. Doch ich habe von dieser Veränderung kaum etwas mitbekommen. Stattdessen wirkte die Palette an Bildern, mit denen ich aufgewachsen bin, lange Zeit nach. Aber seit Kriegsbeginn stoßen die Bilder in meinem Kopf auf die Realität. +"Guten Tag, Marina! Ich heiße Lena. Ich komme mit zwei Kindern an, der Kleine sechs Jahre alt und mit Behinderung." Diese WhatsApp-Nachricht bekam ich am 27. März 2022. Eine alleinerziehende Frau auf der Flucht suchte eine Unterkunft. Es war nicht die einzige Anfrage dieser Art, damals hatte sich meine Telefonnummer unter Flüchtenden verbreitet. +Ich vermittelte Lenas Familie an Peter in Reutlingen, der sich bereit erklärt hatte, siein seinem Haus aufzunehmen. Als ich sie zum ersten Mal dort besuchte, erzählte mir Lena von ihrem Ältesten, der in der Ukraine geblieben war: Nazar. Mit seinen 20 Jahren war er im wehrpflichtigen Alter und durfte das Land nicht verlassen. +In diesen Anfangsmonaten des Krieges lernte ich Dutzende Geflüchtete kennen. Viele von ihnen intelligente und weise Frauen, einige sind heute meine Freundinnen. Ich schämte mich für meine oberflächlichen Pauschalurteile, mit denen ich 2012 die Ukraine abgewertet hatte. +Da ist Valeria aus Winnyzja mit ihrem kleinen Sohn Timur, die jetzt in einem syrischen Salon als Friseurin arbeitet. Ihr Vater hat Krebs im vierten Stadium. Bis es zu dieser Diagnose kam, dauerte es Wochen. Ständig war Fliegeralarm, oder der Strom fiel aus, sodass man in der Klinik kein MRT machen konnte. +Da ist Aljona, Psychologinaus dem Donbas. Ihr Partner kämpft als Scharfschütze an der Front. Aljonas Tochter und ihre Enkelin leben in den Separatistengebieten, auf der anderen Seite der Frontlinie. Sie weiß nicht, wann sie sich wiedersehen werden. +Und da ist Lena, die ihren Nazar jeden Tag anruft und vor Angst vergeht, man könnte ihn zur Armee einziehen. +Im letzten Jahr haben diese Frauen Riesenstärke gezeigt. Ich bewundere sie. Aber manchmal sind sie in ihren Einstellungen zu "typisch Frau und typisch Mann" unerträglich konservativ. Solches Gerede und Schlimmeres kenne ich auch aus meiner eigenen Familie. Und trotzdem: Nachdem ich sie kennengelernt hatte, wollte ich unbedingt in die Ukraine reisen. Ich musste drei Jahrzehnte aufholen. Als ich im vergangenen August für eine Recherche endlich hinfuhr, fühlte sich das wie eine Befreiung an. +Stundenlang kreiste ich in der Sommerhitze um den hässlichen lachsfarbenen Betonklotz in Riwne, in dem ich aufgewachsen war – dabei gab es dort nichts außer meinen verstaubten Kindheitserinnerungen. Ich fuhr mit dem Aufzug hoch und wieder runter und wieder hoch in den achten Stock, traute mich nicht, bei unserer alten Wohnung zu klingeln, aus Angst, angefeindet zu werden. Ich spreche Russisch und nicht Ukrainisch. Riwne ist eine ukrainischsprachige Stadt, viele Menschen dort wollen seit dem Krieg kein Russisch mehr sprechen. +Bei meiner nächsten Reise besuchte ich auch Lenas Sohn Nazar, der nun allein in Lenas großer, gemütlicher Wohnung mit Fußbodenheizung, vielen Zimmern und vielen Familienfotos an den Wänden wohnt. Seine Tage verbrachte er mit Videospielen und Langeweile. An die Front wollte er auf keinen Fall. +"Wirst du nicht schief angeschaut, weil du nicht kämpfen willst?", fragte ich ihn. +"Kommt darauf an. Es gibt die Patrioten, die das schlimm finden. Und die Frauen werfen ihren Männern im Streit jetzt gerne vor: Warum gehst du nicht kämpfen? Du bist gar kein echter Mann! Aber das wäre ja so, als ob man einer Frau sagen würde: Warum putzt du nicht den ganzen Tag, welche Funktion hast du sonst?" +Da waren sie wieder, diese Rollenzuschreibungen. Ich freute mich, dass Nazar sie anscheinend ähnlich dämlich fand wie ich. +Später gingen wir in ein hippes Restaurant im Zentrum Tschernihiws. Dämmerlicht, graue Plüschsessel, statt Speisekarte nur ein Barcode zum Scannen. Hier trafen wir Lenas Freund D. und seine Mitarbeiterin. D. ist Politiker auf Landesebene, mit Kriegsbeginn gründete er eine eigene Hilfsorganisation. Ich fragte ihn, obdie Korruption besser geworden sei. Er lachte nur. "Du lebst wie Alice im Wunderland! Der Krieg hat es schlimmer gemacht." +D. redete sich in Rage. Wenn man im Dorf einen Krankenwagen rufe, werde niemand kommen – es sei denn, man würde die Richtigen bezahlen, erzählte er. Und wenn man nicht die richtigen Verbindungen im Militär habe, werde man als Soldat mit ungenügender Ausrüstung nach Bachmut in den Donbas geschickt – als Kanonenfutter. +Weiterlesen: +Über eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer sind vor dem Krieg nach Deutschland geflohen. Manche wollen hierbleiben, andere nicht.Wir haben zwei von ihnen getroffen +D. ist Mitglied der "Radikalen Partei Oleh Ljaschkos", einer populistischen Partei, die Oligarchen bekämpfen will. Einige ordnen die Partei als links, andere als rechtsextrem ein, weil sie militante Forderungen stellt. Auf einem Portal fand ich später einen Artikel über ihn, in dem er als "radikaler arbeitsloser Millionär" bezeichnet wurde. Der Text war einige Jahre alt und warf ihm Beziehungen zu Oligarchen, Steuerhinterziehung und einen dekadenten Lebensstil vor. Mehrfach hatte D. beim Abendessen "sein Business" erwähnt. Immer wieder machte er an diesem Abend sexistische Bemerkungen. "Frauen werden nie verstehen, dass man die Liebe von uns Männern nicht mit Geld kaufen kann!", sagte er. "Ein Scherz", beschwichtigte seine Kollegin. Ich spürte, dass sie Mitleid mit mir hatte, weil ich mit über 30 kinderlos bin. Frauen ohne Kinderwunsch sind in der Ukraine sozial nicht akzeptiert. +Habe ich die Ukraine in den vergangenen Monaten vielleicht romantisiert, frage ich mich? Wollte ich, dass sie moderner ist, als sie ist? Romantisiert die westliche Welt sie gerade? +Ja, mit Geld hast du eine gute Chance auf eine Position in der Politik. Aber wenn jemandem Korruption nachgewiesen wird, kommt es inzwischen immer häufiger zu Verurteilungen. Erst im Januar mussten mehrere Regierungsbeamte wegen Korruptionsvorwürfen zurücktreten. Im sogenanntenKorruptionswahrnehmungsindex von 2022steht die Ukraine zwar nur auf Platz 116, aber vor zehn Jahren war es noch Platz 144. +Sprüche über Frauen und Schwule, die auch in Deutschland bis vor einigen Jahren akzeptiert waren, sind normal – aber bei meinen Besuchen traf ich auch Menschen mit ganz anderen Einstellungen. Sie zeigten mir ein anderes Land. In der Ukraine gibt es wie auf der ganzen Welt Sexismus, Antisemitismus und Korruption. Sie besteht aber eben nicht nur daraus. Heute leben viele Tausende jüdische Menschen in der Ukraine, der Präsident ist ein säkularer Jude. Stereotype über Juden sind verbreitet, aber keine einzige jüdische Person, mit der ich gesprochen habe, berichtete von antisemitischen Erfahrungen. +Einige Sachen in der Ukraine gefallen mir nicht. Und doch fühle ich mich dort so wohl, wie man sich nur in seiner Muttersprache wohlfühlt. Ich finde die Witze lustig, esse jeden Tag Wareniki, verspüre den Menschen gegenüber Nähe. Ihre Geschichten, ihre Familien, beides könnten meine sein. Immer wieder spiele ich in meinem Kopf dasselbe Spiel durch: Wer wäre aus mir geworden, wenn wir damals dageblieben wären? + +Titelbild: David Payr diff --git a/fluter/ukraine-kampf-um-selbstbestimmung.txt b/fluter/ukraine-kampf-um-selbstbestimmung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..23ead664f033882f367fb02c72605fe1bfb7b592 --- /dev/null +++ b/fluter/ukraine-kampf-um-selbstbestimmung.txt @@ -0,0 +1,25 @@ + +Neben einem Denkmal wehen blau-gelbe Fahnen, einige mit Dreizack und goldenem Löwen, den Symbolen der Ukrainischen Volksrepublik (UNR) und der Westukrainischen Volksrepublik (SUNR). Eine Ehrengarde marschiert auf, es folgen Bauern- und Gewerkschaftsvertreter, Politiker, Wissenschaftler, Lehrerinnen, Menschen aus dem westlich gelegenen Galizien und der Bukowina. Sie feiern noch im Chaos nach dem Ersten Weltkrieg den Zusammenschluss der beiden Volksrepubliken als epochale Wiedervereinigung. Sie bejubeln die Gründung des neuen ukrainischen Staates – und verlesen: "Von nun an ist das ukrainische Volk durch einen mächtigen Impuls seiner eigenen Kräfte befreit, hat die Möglichkeit, alle Anstrengungen seiner Söhne zu vereinen, um einen untrennbaren, unabhängigen ukrainischen Staat zum Wohle und Glück des ukrainischen Volkes zu schaffen." +Fast 100 Jahre liegen zwischen diesen beiden Szenen in Kyjiw, und beide Male geht es um die Freiheit der Ukraine und den Kampf gegen die Einflussnahme anderer Länder. Doch so wichtig beide Ereignisse für die Entwicklung der ukrainischen Nation sind, so unterschiedlich sind die Umstände der jeweiligen Zeit. +So folgt die Ausrufung der Republik Anfang 1919 auf die russische Revolution von 1917, mit der die Zarenherrschaft endete und die Bolschewiken unter Lenin die Macht übernahmen. Nachdem Teile der Ukraine in den Jahrhunderten zuvor zu anderen Ländern gehört hatten (etwa zu Österreich-Ungarn oder Polen), hoffen die Ukrainer und Ukrainerinnen nach dem Ersten Weltkrieg, als viele Grenzen neu gezogen werden, dass ihre neu gegründete Republik inmitten von Europa bestehen bleibt.** Doch nur Wochen nach der Staatsgründung tobt wieder ein Krieg in Kyjiw. Die Ukrainer kämpfen nun gegen Lenins Rotarmisten – so wie ihre Vorfahren in den mittelalterlichen Schlachten des Großreichs der Kyjiwer Rus, das als Vorläuferstaat der heutigen Staaten Russland, Ukraine und Belarus angesehen wird. Oder wie die Kosaken im 15. und 16. Jahrhundert gegen die polnische Krone oder das Großfürstentum Litauen. +Weil Stalin die Bauern zwang, ihre Ernte abzugeben, starben in den 1930er-Jahren Millionen Menschen +Erst 1921 gelingt es Lenins Bolschewiken, die ukrainischen Partisanenkämpfer zu unterwerfen. Die heutige Hauptstadt und das kurzzeitig von der Ukrainischen Volksrepublik für sich beanspruchte Gebiet gleichen am Ende des Vielfrontenkriegs einem Trümmerfeld. Die Opferzahlen werden auf mehrere Millionen geschätzt. 1922 ist der Traum der Unabhängigkeit endgültig ausgeträumt, die Ukraine wird als Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik (USSR) Teil der Sowjetunion. Gebiete der Westukraine werden von Polen, Rumänien und der Tschechoslowakei annektiert. +Wie wichtig die Ukraine für die Entwicklung der Sowjetunion ist, sieht man an folgenden Zahlen: 1926 stellt die ukrainische Bevölkerung fast 45 Prozent der Nichtrussen und rund ein Fünftel der Gesamtbevölkerung im neuen Sowjetreich. Eine Weile darf die Ukraine noch ihre kulturelle Identität wahren. Es gibt ukrainische Theater, Schulen, Universitäten, Bücher und Zeitungen. Erst mit Lenins Nachfolger Stalin ändert sich die Politik, es beginnt eine weitreichende Russifizierung. Kirchenleute und Intellektuelle werden verfolgt und häufig nach Sibirien verbannt, anschließend trifft es die Bauern: Ihre Betriebe sollen kollektiviert, sie selbst umerzogen werden. Große Teile ihrer Ernte müssen sie nach Moskau liefern. Diese Politik führt ab 1931 in die Katastrophe. +Holod bedeutet auf Ukrainisch Hunger, mor heißt Mord oder Tötung. Das sich daraus ergebende Wort Holodomor geht in das nationale Gedächtnis der Ukraine ein. Zwischen 1931 und 1934 verhungern mehr als 3,9 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer. Sie sterben, weil Stalin anordnet, ihnen trotz Missernten das Getreide ihrer Felder wegzunehmen, damit es die Sowjetunion ins Ausland verkaufen kann. Stalins "Große Wende" soll die Erträge der zwangskollektivierten Landwirtschaft erhöhen und die Industrialisierung vorantreiben. Durch Enteignungen, Verhaftungen, massenhafte Deportationen und Hinrichtungen wird die Ukraine "entkulakisiert" – als "Kulaken" gelten Bauern, die ihr Land selbstständig beackern, und angebliche Klassenfeinde, die Stalin nicht unterstützen. Als Menschen vor dem Hungertod und sogar Kannibalismus ins Ausland flüchten, lässt Stalin an der Grenze die Armee aufmarschieren. Auch nur über den Holodomor zu sprechen ist verboten. +Doch trotz des massenhaften Sterbens durch Hunger und der Unterdrückung der ukrainischen Identität schafft es die Sowjetführung nicht, das Streben nach ukrainischer Eigenständigkeit zu beenden. Besonders im Westen der heutigen Ukraine hoffen viele Nationalisten in den 1940er-Jahren auf den Ostfeldzug der deutschen Nationalsozialisten. Im Kampf gegen Stalins Armee werden sie von den Nazis jedoch nur benutztund schließlich selbst massenhaft hingerichtet. Auch die Deutschen wollen keine souveräne Ukraine, sondern sie unter ihre Kontrolle bringen und dem Deutschen Reich unterwerfen. + + + +Nach dem Zweiten Weltkrieg gehört die ukrainische Sowjetrepublik zwar zu den Gründungsmitgliedern der Vereinten Nationen, doch ihre Unabhängigkeit innerhalb der jetzt noch größeren Sowjetunion ist immer noch begrenzt. Kein Flugzeug darf aus Kyjiw direkt Richtung Ausland abheben, alle Wege führen über Moskau. Und weder der Holodomor noch sowjetische Massaker des Zweiten Weltkriegs oder die später von der sowjetischen Propaganda heruntergespielte Tragödie von Tschernobyl 1986 dürfen in der ukrainischen Geschichtsschreibung richtig erwähnt werden.*** +Die Freiheit, ihre eigene Geschichte zu erzählen, nehmen sich die Menschen in der Ukraine erst 1989. Um die Jahresmitte schließen sich Zehntausende Bergarbeiter von der Westukraine biszum Donbaszum größten Streik der sowjetischen Geschichte zusammen. Sie fordern mehr Lohn, die Selbstverwaltung ihrer Betriebe sowie die Streichung der Kommunistischen Partei aus der Verfassung. Im September 1989 vereinigen sich oppositionelle Gruppen in der "Ruch", der "Volksbewegung der Ukraine für die Perestrojka". Sie erinnern an die Vereinigung der Ukrainischen mit der Westukrainischen Volksrepublik im Jahre 1919 und helfen im Januar 1990 bei der Organisation einer Kette von Hunderttausenden Menschen, die von Kyjiw nach Lwiw Seite an Seite stehen. +Im Oktober 1990 kommt es zu Massenprotesten auf dem Majdan. Vor allem Studierende fordern Neuwahlen, die Beschränkung des Militärdienstes von Ukrainern auf das eigene Staatsgebiet und die Ablösung des Regierungschefs der Ukrainischen SSR. Im Rahmen dieser "Revolution auf Granit" wird Witalij Massol, der Regierungschef der Kommunistischen Partei in der Ukraine, abgesetzt. Im Dezember 1991 löst die Ukraine schließlich formal die Kommunistische Partei auf, beschließt Gesetze für eigene ukrainische Streitkräfte und proklamiert feierlich den unabhängigen Staat Ukraine, wie er heute existiert. +Ähnlich wie in Russland nach Glasnost unddem Zerfall der Sowjetunionfolgt auch in der Ukraine auf den Kommunismus keine funktionierende Demokratie. In der neuen Marktwirtschaft häufen wenige Großunternehmer – die sogenannten Oligarchen – durch Korruption Geld und Macht an. Doch anders als in Russland lehnt sich die ukrainische Bevölkerung erfolgreich gegen die korrupte Scheindemokratie auf. In der "Orangen Revolution" demonstrieren die Menschen 2004 wieder auf dem Majdan gegen Wahlmanipulationen des von Russland unterstützten Kandidaten für das Präsidentenamt, Wiktor Janukowytsch. Der verliert schließlich gegen den westlich orientierten Wiktor Juschtschenko. +Knutschen gegen den Kreml: junge Demonstrierende bei der "Orangen Revolution" 2004 + +Da sich aber das EU-freundliche Lager in den folgenden Jahren spaltet und die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst, gelangt der russlandorientierte Janukowytsch 2010 schließlich doch ins Präsidentenamt. Es folgt eine Zeit, in der die Korruption blüht und die Opposition immer mehr unterdrückt wird. Als Janukowytsch schließlich die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU aussetzt, kommt eszum sogenannten Euromajdan. Die Studierenden und alle Bürger, die sich mit ihnen solidarisiert haben, weichen selbst vor der Polizei, die auf sie schießt, nicht zurück. Sie schützen sich mit selbst gebauten Schilden, Schienbeinschonern und Bauarbeiterhelmen. +Im Februar 2014 flüchtet Wiktor Janukowytsch nach Russland. Doch eine freie, demokratische Ukraine ist das Letzte, was Machthaber Wladimir Putin im Moskauer Kreml will. Kurz nach dem Erfolg des Volksaufstandes, auch "Revolution der Würde" genannt, lässt er durch sein Militär die Krim annektieren.Es ist der Beginndes bis heute andauernden Kriegs in der Ukraine. + +* Die in der Endredaktion überarbeitete Fassung des Textes wurde auf Bitten des Autors korrigiert. Zunächst stand hier: "Neben den Studierenden stellen sich der Polizei Rentner, Arbeiterinnen und Angestellte entgegen, aber auch radikale Nationalisten und Rechtsextreme." +** Die in der Endredaktion überarbeitete Fassung des Textes wurde auf Bitten des Autors korrigiert. Zunächst stand hier, dass die Menschen hofften, dass ihre Republik "anerkannt wird". +*** Die in der Endredaktion überarbeitete Fassung des Textes wurde auf Bitten des Autors korrigiert. Zunächst stand hier, dass die "von der sowjetischen Propaganda verschwiegene Tragödie von Tschernobyl 1986 in der ukrainischen Geschichtsschreibung nicht erwähnt" werden durfte. +Titelbild: Giorgio Bianchi diff --git a/fluter/ukraine-krieg-chronik.txt b/fluter/ukraine-krieg-chronik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cb75e2c57bac43c57ec5845f8f9db09d929436b1 --- /dev/null +++ b/fluter/ukraine-krieg-chronik.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Ebenfalls imFrühjahr 2014wollen prorussisch eingestellte Kämpfer die Loslösung der Gebiete Luhansk und Donezk (Donbas-Gebiet) von der Ukraine erzwingen. Mit Unterstützung des russischen Militärs kämpfen sie gegen die ukrainische Armee. +Am17. Juli 2014schießen prorussische Separatisten über der Ostukraine einFlugzeug der Malaysia Airlinesab, das auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur ist. Alle 298 Insassen sterben. +12. Februar 2015: Russland, die Ukraine und Vertreter der prorussischen Separatisten unterzeichnen das"Minsker Abkommen", durch das der Krieg beendet werden soll. Wenige Tage nach der vereinbarten Waffenruhe greifen russische Kämpfer weitere ukrainische Städte an. +ImNovember 2018kommt es zur direkten militärischen Konfrontation am Schwarzen Meer. Mehrere Versuche eines Waffenstillstandes scheitern zwischen 2019 und 2021. +Am21. Februar 2022erkennt der russische Präsident Wladimir Putin die russisch kontrollierten Gebiete imDonbas, Donezk und Luhansk, völkerrechtswidrig als selbstständige Volksrepubliken an. +Am24. Februar 2022befiehlt Putinseinem Militär, die Ukraine mit Panzern und Flugzeugen vom Norden, Nordosten und Süden her anzugreifen. Seitdem wird derAngriffskriegRusslands mit zunehmender Härte geführt und richtet sich auch gegen die Zivilbevölkerung. +NATO- und EU-Staaten beschließenumfangreiche Sanktionengegen Russland. Die Ukraine erhält humanitäre Hilfslieferungen. Viele Staaten, darunter auch Deutschland, liefern zudem Waffen zur Verteidigung des Landes. +Die genauenOpferzahlensind unbekannt. Schätzungen gehen von Hunderttausenden toten und verwundeten Soldaten auf beiden Seiten aus und vonTausenden zivilen Opfernaufseiten der Ukraine. +Laut UNHCR leben mehr als 8 MillionenUkrainerinnen und Ukrainer(Stand März 2023)als Geflüchtetein anderen europäischen Ländern. Hinzu kommen über 5 Millionen Binnengeflüchtete in der Ukraine. Mehr als 1,4 Millionen Menschen in der Ostukraine haben keinen Zugang zu fließendem Wasser. Die Kindernothilfe veröffentlicht Schätzungen aus der Ukraine, nach denen rund 16.000 Kinder aus ihrer Heimat nach Russland verschleppt wurden. + +Titelbild: Jędrzej Nowicki diff --git a/fluter/ukraine-krieg-russe-ukrainerin-gespraech.txt b/fluter/ukraine-krieg-russe-ukrainerin-gespraech.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..86eac9ed54ac81ee3852ca11c21b173403e66baf --- /dev/null +++ b/fluter/ukraine-krieg-russe-ukrainerin-gespraech.txt @@ -0,0 +1,37 @@ +Daryna:Ich wollte mich morgens direkt an meine Hausarbeit setzen. Dann habe ich eine SMS von meiner Mutter bekommen. Sie wohnt in der Ukraine. Sie schrieb, dass Putin uns den Krieg erklärt hat. Ich habe sofort Nachrichten eingeschaltet, stand für Stunden wie unter Schock, meine Hände haben richtig gezittert. +Maris:Meine Freundin war auch geschockt. Sie stammt aus Lettland, ist aberethnische Russin. Sie streitet sich viel mit ihrem Vater, der für den Kreml argumentiert. Sie hält ihm vor, sich von der russischen Propaganda blenden zu lassen, er wirft uns vor, wir wären von westlichen Medien manipuliert. Er behauptet, Putin sei vom Westen zum Krieg gezwungen worden, hätte keine Wahl gehabt. So denken viele russische Migranten. +Wie fühlt sich das gerade an, einen russischen Pass zu haben? +Maris:Ich fühle mich schuldig. +Auch wenn du nicht mehr dort lebst? +Maris:Man trägt doch trotzdem eine Verantwortung für sein Land. Ich habe ein paar Tage gebraucht, um mich bei meinen ukrainischen Freunden zu erkundigen, wie es ihnen und ihren Familien geht. Ich werde gerade oft zu meiner Haltung zum Krieg gefragt. Zum Glück wissen die meisten Freunde und Kollegen, dass ich Putin ablehne und selbst aus Russland geflohen bin. +Weiterlesen +Gegen den Krieg zu protestieren ist in Russland verboten. Darja und Lenya wagen es trotzdem –mit Regenrinnen und Partisanenschminke +Wann war das? +Maris:Vor 20 Jahren. Meine Mutter hat entschieden, mit meinem kleinen Bruder und mir nach Deutschland zu fliehen. Damals führte Russland Krieg in Tschetschenien – unter einem jungen Putin als Ministerpräsidenten. Meine Mutter kommt ursprünglich aus Georgien. Sie hat sich in Russland immer wie eine Fremde gefühlt. Als sie anfing, gegen den Krieg zu demonstrieren, fühlte sie sich nicht mehr sicher. Bei ihr kommtdas Trauma der Fluchtgerade wieder hoch. Diese Unruhe überträgt sich auch auf uns Kinder. Obwohl ich glaube, die Karriere von Putin wird enden, wie sie begonnen hat: mit einem Krieg. +Daryna, wie bist du nach Deutschland gekommen? +Daryna:Ich komme aus Poltawa in der Zentralukraine. Vor etwa zehn Jahren bin ich nach Göttingen gezogen, um meinen Master in Deutsch als Fremdsprache zu machen. Meine Eltern leben noch in Poltawa. Seit Kriegsbeginn muss ich sagen: leider. Ich mache mir große Sorgen um sie. +Versuchst du, sie zur Flucht nach Deutschland zu überreden? +Daryna:Ich frage sie in jedem Telefonat, wann sie ausreisen. Aber sie sind schon über 70. Wir haben kein Auto, sie müssten also mit einem der Evakuierungszüge fahren, in denen es gerade wegen der Massenflucht kaum freie Plätze gibt. Meine Eltern haben entschieden, in Poltawa zu bleiben. Ich respektiere das und hoffe einfach, dass die Ukraine den Krieg so schnell wie möglich gewinnt. Wir haben auch noch Verwandte auf der Krim. +Wie sehen sie den russischen Angriff? +Daryna:Die finden es gut, dass sie zu Russland gehören – und haben den Kontakt mit uns völlig abgebrochen. Dabei waren wir früher, vor der russischen Annexion, in den Sommerferien oft dort. In meiner Erinnerung sieht die Krim noch so friedlich aus wie auf unseren Urlaubsfotos. DieAnnexionhat meine Familie getrennt. Seit 2014 waren es schwierige Jahre. Aber gerade ist der Schmerz unendlich. +Gibt es etwas, das gegen diesen Schmerz hilft? +Daryna:Gerade tut mir ein Ehrenamt gut: Ich dolmetsche für ukrainische Geflüchtete am Berliner Hauptbahnhof. Oft treffe ich Frauen mit kleinen Kindern, ältere Leute, Menschen, die hilflos sind. Die Arbeit ist nicht einfach, aber ich bin froh, dass ich helfen kann. +Maris, du arbeitest in einer Obdachlosenunterkunft. Spielt der Krieg dort eine Rolle? +Maris:In der Unterkunft habe ich russische Klienten. Auch welche, die Putin positiv sehen. Mit einem habe ich neulich lange diskutiert. Am Ende hat er geschwiegen. Ich hoffe, dass meine Argumente bei ihm angekommen sind. +Gibt es dort auch Ukrainer? +Maris:Gerade lebt dort einer, der schon vor dem Krieg nach Deutschland gekommen ist. Vor ein paar Tagen kam er blutend in die Unterkunft. Er hat mir erzählt, dass sein Brudermit Frau und Kindern vor dem Krieg fliehen wollte.Auf der Flucht hat sie eine Bombe erwischt, sie alle sind gestorben. Als er davon erfuhr, war er so außer sich, dass er in Berlin durch die Gegend gelaufen ist und auf Russisch geflucht hat. Das hätten zufällig drei Russen gehört und ihm gedroht, sie würden ihn und sein Land plattmachen. Dann gab es Prügel, erzählte er, drei gegen einen. Ich wusste nicht, was ich sagen soll. +Was wünscht ihr euch von der internationalen Gemeinschaft? +Daryna:Die Menschen im Land brauchen dringend noch mehr Hilfe. Viele Flüchtlinge, die ich treffe, wünschen sich, dass der Luftraum über der Ukraine geschlossen wird, damit Städte und Dörfer vor Luftangriffen geschützt sind. +Eine Flugverbotszone würde die Ukraine vor russischen Luftangriffen schützen. Die NATOwill trotzdem kein Flugverbot einrichten: Um es durchzusetzen, müssten NATO-Truppen russische Flugzeuge abschießen, wenn sie das Verbot verletzen. Die NATO stünde dann in einem direkten Konflikt mit Russland, den sie vermeiden will. +Maris:Was die Schließung des Luftraums angeht, habe ich keine klare Haltung. Einerseits sollte sich die NATO da nicht einmischen, zumal Russland von China gedeckt wird. Auf der anderen Seite sieht Putin genau das als Schwäche – und geht dann vielleicht noch weiter.Die Sanktionen finde ich aber richtig.Die EU hat die Aufgabe, sich zu solidarisieren. Womöglich würde es helfen, Sanktionen gegen Personen auszusprechen, die Putin sehr nahestehen. Vielleicht haben sie den Einfluss, um den Präsidenten zu stürzen. +Wie nehmt ihr die Berichterstattung in den deutschen Medien wahr? +Maris:Überwiegend gut. Ich sehe nur die Gefahr, dass manche bei aller angebrachten Kritik an Russland jetzt die USA als heiliges Land darstellen. +Daryna:Ich freue mich sehr, dass wir in Deutschland auch medial unterstützt werden. Seit Kriegsbeginn wird ja auch berichtet, wie man Ukrainern helfen oder wo man sinnvoll spenden kann. Ich finde es toll, dass so auch die Zivilgesellschaft hilft, nicht nur die Politik. +Wer kann den Krieg beenden? +Maris:Putins System ist brüchig. Aktuell führt er Krieg an zwei Fronten: einen militärischen Krieg gegen die Ukraine und einen Informationskrieg gegen sein eigenes Volk. Beide kann er verlieren. Aber im Land sehe ich gerade keine Revolution aufziehen, zumindest keine, die von jungen Leuten ausgeht.Die meisten, die gegen Putin sind und sich öffentlich gegen ihn positioniert haben, sind ins Ausland geflohen. Sie wollen nicht mehr in einer Diktatur leben. Aktuell drohen ja 15 Jahre Haft, wenn man nur von "Krieg" schreibt oder spricht. +Dann müssen die Alten für eine Revolution sorgen? +Maris:Wenn, dann sie. Vielleicht regt sich Widerstand, wenn die Lebensmittel knapp werden. Was gibt es noch zu verlieren, wenn man nichts mehr zu essen hat? Aber selbst dann sehe ich keine zeitnahe Versöhnung zwischen Russland und der Ukraine. Dieser Krieg ist nicht zu verzeihen. +Daryna:Viele Familien, die eine russische und eine ukrainische Seite haben, brechen gerade auseinander. Zumindest, wenn eine Seite immer noch auf Putins Propaganda reinfällt. +Dabei waren die Verbindungen immer eng. +Daryna:In den 90er-Jahren gab es in der Nähe von meiner Heimatstadt Poltawa ein Erholungslager für Familien mit Kindern. Dort habe ich als Mädchen in den Sommerferien auch russische Kinder getroffen. Wir haben uns gut verstanden, wir waren uns ja ähnlich: Russland und die Ukraine hatten nach dem Zerfall der Sowjetunion mit schweren Wirtschaftskrisen zu tun. Unser Feind ist Putin, nicht das russische Volk. Trotzdem werden wir Russland lange nicht verzeihen können, was gerade passiert. + diff --git a/fluter/ukraine-krieg-soziale-medien-interview.txt b/fluter/ukraine-krieg-soziale-medien-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..352f9ebdfb42b92e56e59f1bee25e0ba2ecaeea3 --- /dev/null +++ b/fluter/ukraine-krieg-soziale-medien-interview.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +Wie würden Sie Putins Ästhetik beschreiben? +Die ist durch eine große Bewegungslosigkeit geprägt. Putin sitzt meist an einem großen Tisch, ganz starr, während der Raum mit russischen Statussymbolen und Fahnen geschmückt ist. Diese Pompösität erinnert an sowjetisches Propagandafernsehen. Fast wie eine mediale Zeitkapsel. Auf Twitter hat das neulich jemand schön zusammengefasst: Selenskyj kommuniziert wie im Jahr 2022, Putin wie 1968. Damit will Putin das Festgesetzte und Unveränderte repräsentieren. Selenskyj bedient sich einer mobilmachenden Kommunikation, um Identifikation mit der Ukraine zu schaffen.Putin hingegen will weder dem Ausland gefallen noch Empathie erwirken. Er will Stärke zeigen.Deswegen kommuniziert er auch ausschließlich mit der eigenen Bevölkerung. +Der Kreml hat Facebook, Twitter und Instagram mit einem Mediengesetz sperren lassen. TikTok ist nur noch eingeschränkt nutzbar. Wie kommt seine Propaganda ans Volk? +Passend zu seiner historisch wirkenden Kommunikation nutzt Putin vor allem das Fernsehen. Und das sehr effizient: Die russische Bevölkerung, also vor allem diejenigen, die Putin glauben wollen, nehmen das dankend an. Und die junge russische Bevölkerung, die soziale Medien gern nutzen würde, hat anscheinend politisch so wenig Einfluss, dass es Putin verschmerzen kann, sie nicht an Bord zu haben. +Behindert es den russischen Widerstand, wenn diese Netzwerke down sind? +Selbstverständlich entfallen durch das Sperren der anderen Plattformen Mittel, um aus einzelnen Widerständigen eine gesamtgesellschaftliche Bewegung zu machen. Aber ich vertraue da auf den Erfindergeist der russischen Bevölkerung. Tatsächlich werden in Russland mehrheitlich YouTube und das russische Netzwerk VKontakte genutzt. Telegram wird immer populärer. Heißt:Es gibt durchaus noch Schlupflöcher in der Propaganda. +Für die Ukraine scheint TikTok besonders wichtig zu sein, um im Krieg Informationen auszutauschen. +Wir sehen vor allem die ukrainische Jugend, die versucht, diesen Konflikt irgendwie handhabbar zu machen. Da wird Social Media genutzt, um Schmerz und Trauer auszudrücken. Es ist in gewisser Weise auch eine Bewältigungsstrategie, den Alltag im Bunker oderauf der Fluchtauf TikTok zu teilen. Viele Videos funktionieren über Ironie oder dunklen Humor, was im krassen Kontrast steht zu Tod, Vernichtung und Flucht. Aber auch das ist vielleicht ein Versuch, eine Art von Normalität aufrechtzuerhalten. +Der "New Yorker" und "The Guardian" schrieben sogar vom ersten "TikTok-Krieg". Warum ist gerade dieses Netzwerk für den Krieg so relevant? +TikTok vermittelt Informationen ausschließlich über Videos.Und Videos halten wir erst mal für authentischer als bloße Worte oder Fotos, selbst wenn wir wissen, dass sie gefälscht sein könnten. TikTok hat die Ästhetik, die es braucht, um auf die Wahrhaftigkeit des Krieges aufmerksam zu machen. +Kann diese Dauerabbildung dazu führen, dass das Grauen des Krieges verzerrt wird? +Es gibt tatsächlich eine Popkulturalisierung des Krieges, die ich problematisch finde. Zum Beispiel wenn Selenskyj als Captain Ukraina und Putin als Vladimir Thanos inszeniert werden, angelehnt an Captain America und den Superschurken Thanos aus Marvels Avengers-Reihe. Ich kann aber nachvollziehen, woher das kommt: Jüngere Menschen haben weniger historische Bezugspunkte, mit denen sie den Krieg in seiner Konsequenz und Grausamkeit vergleichen könnten. Diese Lücken werden eben mit popkulturellen Referenzen gefüllt, die helfen, den Krieg zu "übersetzen". +Was ist dann so problematisch an dieser Übersetzung? +Wenn wir den Krieg auf Superheld gegen Superschurke verkürzen, reflektieren wir ihn nicht, sondern konsumieren ihn. Ein Krieg sollte aber nicht wie ein Meme oder ein Kinofilm konsumiert werden. Das kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass wir die Schrecken nicht mehr erkennen und weniger empathisch sind. + +Vor dem Posten nicht vergessen! Drei Tipps von der Medienkritikerin +Nicht sofort teilen!Manche Inhalte können sehr emotionalisieren. Wenn dich etwas besonders empört oder schockiert, lieber einmal kurz Abstand nehmen und tief Luft holen, bevor du auf den Share-Button drückst. +Check die Quelle!Und verlasse dich im Zweifel nur auf die Infos von etablierten Medien. +Sensitivity-Filter an!Auf Twitter kannst du so andere User:innen vor belastenden Bildern warnen, die du trotzdem teilen möchtest. Wenn du dich selbst schützen willst, kannst du auf Instagram einen Sensitivity-Filter einstellen. +Gerade im Hinblick auf die Schrecken des Kriegessehen wir auf Social Media ganz andere Bilder als in vielen journalistischen Medien,deren Standards es verbieten, Opfer und Tote zu zeigen oder Angaben von Kriegsparteien unhinterfragt zu übernehmen. Welche Auswirkungen können die ungefilterten Bilder der sozialen Medien haben? Wirken sie zum Beispiel auf politische Entscheidungen ein? +Die politische Wirkmacht hat sich immer wieder gezeigt. Ein bekanntes Beispiel ist das sogenannte "Napalm Girl" von 1972.Das Foto der damals neunjährigen Phan Thị Kim Phúc hat zu einer weltweiten Mobilisierung gegen den Vietnamkrieg geführtund Einfluss auf die US-amerikanische Politik genommen. Der Unterschied zu damals ist, dass wir heute sofort ein Meer solcher Kriegsbilder haben. Alleine die Eindrücke aus der ukrainischen Stadt Butscha entrücken einen derart, dass man denkt, es müsse doch jetzt sofort eine politische Reaktion darauf erfolgen. Die Bilder haben also zweifelsohne Einfluss darauf, wie wir diesen Krieg wahrnehmen. Sie haben Menschen mobilisiert … +… bringen aber nicht zwangsläufig die politische Reaktion, die sie bewirken sollen. +Als Medienkritikerin bin ich immer versucht, an die Kraft der Medien zu glauben. Ganz pragmatisch betrachtet sehen wir aber, dass viele Politiker:innen gerade strategisch handeln, um eine weitere Eskalation zu vermeiden. Sie lassen sich weniger von den Bildern beeinflussen, als es sich viele vielleicht wünschen. + +Früher war Samira El Ouassil Schauspielerin. Inzwischen ist sie für ihre wöchentlichen Kolumnen bei"Übermedien"und"Spiegel Online"bekannt. 2021 wurde die selbst ernannte "Bademeisterin der Medien" als Kulturjournalistin des Jahres ausgezeichnet, vor kurzem veröffentlichte sie mit Friedemann Karig das Sachbuch "Erzählende Affen". + +Titelbild: Ukrainian Presidency/Handout/Anadolu Agency via Getty Images diff --git a/fluter/ukraine-krieg-soziale-medien.txt b/fluter/ukraine-krieg-soziale-medien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5a75ad980093d0f8e4580db8feeec3da4cd687e6 --- /dev/null +++ b/fluter/ukraine-krieg-soziale-medien.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Längst ist es auch ein Krieg der Bilder: Aufnahmen von Panzerkolonnen, von zerstörten Häusern oder verletzten Soldaten fluten das Internet.Aber was ist echt, was nur geschickte Montage?Mittlerweile wächst auch die Zahl der Faktenprüfer: "Open Source Intelligence" (OSINT) nennt es sich, wenn die Posts im Internet mit Hilfe frei zugänglicher Daten geprüft werden, wie es zum Beispiel das internationale Kollektiv Bellingcat macht – das bereits nachwies, dass ein Passagierflugzeug von Malaysia Airlines mit 298 Menschen an Bord im Jahr 2014 von einem russischen Raketenwerfer über der Ukraine abgeschossen wurde. Als "Geheimdienst fürs Volk" bezeichnet sich Bellingcat. +Nicht unwichtig ist auch die Rolle, die Soziale Netzwerke bei der Organisation von humanitärer Hilfe und finanzieller Unterstützung spielen. Zudem ist Facebook für viele Ukrainer ein Mittel, um sich mit Angehörigen und Freunden in der ganzen Welt zu verbinden und sie an ihrem Schicksal teilhaben lassen. Auf Twitter trenden Hashtags wie #Stop­PutinNOW, #StopRussia oder #StopWarIn­Ukraine – und es finden sich dort regelrechte Kriegstagebücher, in denen die Menschen oft stündlich davon berichten, was der Krieg für sie bedeutet. Wie das von Yaroslava Antipina. Sie ist mittlerweile aus Kiew geflohen und postet nun jeden Tag aus der Westukraine. + +Titelbild: Akos Stiller/Bloomberg via Getty Images diff --git a/fluter/ukrainische-band-dakhabrakha.txt b/fluter/ukrainische-band-dakhabrakha.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3e049a827a386738fe1497b12ffa1857e2f8778f --- /dev/null +++ b/fluter/ukrainische-band-dakhabrakha.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +2010 kürte die Elite von Sankt Petersburg diesen Habitus noch mit einem großen Preis für moderne Kunst. Heute wäre das undenkbar. Mit der Krim-Annexion 2014 wandten sich DakhaBrakha von Russland ab und traten stattdessen ihren Siegeszug im Westen an, wo man sie von Neuseeland bis in die USA und Brasilien feierte. Sie erzählten der Weltdie Selbstermächtigungsstory eines Volkes: provokativ und gewillt zum Bruch mit sowjetnostalgischen Geschichten. +Dem Sowjetregime galten Volkslieder auf Ukrainisch als bäuerlich und primitiv. Zeitweise versuchte man, sie auszuradieren, vieles ging verloren. Heute stiften dieselben Lieder den Ukrainern ein Gefühl von Heimat. Sie sind das Gedächtnis ihres vom Krieg gebeutelten Landes. DakhaBrakha gehörten zu den Ersten, die diese Identitätslawine lostraten. Sie singen über Liebe, Herzschmerz oder die Jahreszeiten. Aber oft sind das Metaphern für etwas Größeres, Politisches. Besonders elegant gelingt ihnen das auf ihrem dritten Album, "Light" von 2010, einer musikalischen Collage, die durch ukrainische Regionen und Epochen führt. Der Song "Karpatskiy rep" (Karpatischer Rap) mischt Elemente vom Bergvolkder Huzulen in den Karpatenmit Klängen der Zentralukraine, reinterpretiert sowjetische Folklore und mündet dann in Rap-Passagen und feministische Kritik. +Weit weniger subtil ist das Album "Shlyah" (The Road) von 2016 mit Bezügen auf die Majdan-Revolution und den Konflikt mit Russland. DakhaBrakha widmen die Platte den im Kampf gefallenen ukrainischen Soldaten und konzipieren sie als Reise in die entlegensten Winkel der Ukraine – auch in die seit 2014 besetzten Gebiete. Mit dem tatarischen Liebeslied "Salgir boyu" zeigen sie Solidaritätmit den Krimtataren. Diese wurden als Minderheit von Russland unterdrückt. Heute fühlen sie sich der Ukraine zugehörig. +Die Ukraine sei zwar ein junger Staat, aber ein uraltes Volk, sagt der Sänger Marko Halanevych. "Wir Ukrainer sollten keine Minderwertigkeitskomplexe haben. Wir sind keine rückständigen Hinterwäldler, sondern progressive Künstler. Wundervolle, kreative Menschen, die sich nach Freiheit sehnen, nach einem Leben in Zivilisation." Für diese Freiheit kämpfen sie auf der Bühne. + +Titelbild: Vitaly Yurasov diff --git a/fluter/ukrainische-gefluechtete-ausbeutung.txt b/fluter/ukrainische-gefluechtete-ausbeutung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..85d4fed57ef53d47979f70abdbdf120f45275e93 --- /dev/null +++ b/fluter/ukrainische-gefluechtete-ausbeutung.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +In Deutschland sind mittlerweile rund 1,18 MillionenUkrainer*innen angekommen. Ihre Aufnahme sollte, anders als bei vielen anderen Geflüchteten, zügig und unbürokratisch nach Paragraf 24 des Aufenthaltsgesetzes ablaufen: Die meisten müssen kein normales Asylverfahren durchlaufen, sondern bekommen einen Aufenthaltstitel, Sozialhilfe, die Möglichkeit, den Wohnsitz frei zu wählen – und auch zu arbeiten. Da sie, im Gegensatz zu vielen anderen Geflüchteten, sofort einen Aufenthaltstitel bekommen, dürfen sie sich legal eine Arbeit suchen. +Die allermeisten Ukrainer*innen möchten lauteiner Studie des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschunggerne arbeiten, nur bis Abschlüsse anerkannt werden, dauert es. Viele sind hochqualifiziert – so wie Yulian Sheremeta: In der Ukraine hat er einen Abschluss in Theologie und Philosophie gemacht. Um möglichst schnell ins Berufsleben starten zu können, arbeitete er hier etwas ganz anderes, als Bodenleger. +Sheremeta sagt, er wolle arbeiten, er lerne schnell. Er habe auch schon schmerzhaft gelernt, wie das in Deutschland mit Jobs laufe: Wenn man die Sprache noch nicht kann, hat man es sehr schwer bei der Arbeit. Er gestikuliert auf dem Sofa, als wolle er sich endlich bemerkbar machen. Auf dem Wohnzimmertisch vor ihm stapeln sich viele Dokumente, die auch dem fluter vorliegen. Ein Arbeitsvertrag, ausgedruckte E-Mail-Verläufe, Lohnsteuerbescheide. Er will zeigen, dass es Ungereimtheiten gab, dass vieles nicht fair abgelaufen sei. +In Mainz, mehrere Hundert Kilometer von Yulian Sheremetas Wohnung entfernt, beugt sich Sergey Sabelnikov in seinem Büro über Kopien von Sheremetas Dokumenten. Er arbeitet in der Beratungsstelle des IQ Service Faire Integration und klärt dort Migrant*innen über ihre Rechte auf – auch auf Russisch. Sheremeta hat ihn um Hilfe gebeten. +Der Stundenzettel zeigt, dass Sheremeta ein Wochenende durcharbeitete, auf dem Lohnzettel ist nicht ersichtlich, ob er dafür extra Geld bekommen hat. Pausenzeiten sind auf seiner Stempelkarte nicht eingetragen. Die Lohnauszahlungen variieren. So sei es schwierig einzuordnen, ob die Arbeitszeiten korrekt vergütet wurden, sagt Sabelnikov. +Die Ungereimtheiten fingen früh an, im Herbst 2023: Sheremeta fand den Job über ein Onlineportal, erzählt er. Für die ersten zwei Tage im Betrieb stellt der Chef ihm eine Praktikumsbestätigung aus. Sheremeta sagt, dass die ersten Arbeitstage als Praktikum gelten, sei so im Bewerbungsgespräch nicht abgesprochen gewesen. Der Ukrainer wollte trotzdem bleiben und bekam dann einen richtigen Arbeitsvertrag: 3.000 Euro brutto, von 7 bis 16 Uhr an den Wochentagen, manchmal auch am Wochenende, flexible Einsatzzeiten. An Tagen ohne viele Aufträge wurde das Team früher heimgeschickt. Eine Stechuhr gab es zwar, Pausenzeiten wurden aber nicht erfasst. Oft wurde durchgearbeitet. +Arbeitgeber müssen nach deutschem Recht dafür sorgen, dass die Pausen- und Ruhezeiten eingehalten werden. Das gilt auch, wenn dieArbeitnehmer aus anderen EU-Ländernoder Nicht-EU-Mitgliedstaaten kommen. Eigentlich kontrolliert der Zoll auch, ob Arbeitgeber das tun, sagt Sebastian Klähn, Rechtsschutzsekretär bei der DGB Rechtsschutz. Doch den Zollstellen fehle Personal und die nötige digitale Infrastruktur, außerdem arbeiteten die Fachstellen nicht eng genug zusammen, sagt Klähn. Im Durchschnitt finde nur alle 25 Jahre eine Kontrolle in einem Betrieb statt. +"Gerade bei den Arbeitszeiten lässt sichbesonders leicht tricksen, um Löhne zu drücken", sagt Sebastian Klähn. In der Hotellerie hieße es etwa, gezahlt würde nach einer vorgegebenen Anzahl gereinigter Zimmer statt nach der dafür tatsächlich angefallenen Arbeitszeit. Unbezahlte Überstunden würden so normalisiert, und Arbeitgeber könnten so riesige Gewinne erzielen. Wer so in großem Stil Menschen beschäftigt, kann ordentlich abkassieren. Eine Grauzone, die nicht strafbar ist, sagt Klähn. Es sind Zwischenfälle, die man als Lappalien abtun könnte: ausbleibende Pausen, kurzfristige Arbeitseinsätze, Missverständnisse, die sich leicht auf die Sprachhürde schieben lassen. +An einem Abend kurz vor Weihnachten 2023 platzt Sheremeta der Kragen, und er schreibt dem Chef mit Google Translator eine Mail: Arbeit, steht darin, sei für ihn nicht nur Geldverdienen, sondern auch das Gefühl, für die Gesellschaft nützlich zu sein. Er bitte darum, dass der Chef sich strikt an den Vertrag halte. +Der Tag danach ist Sheremetas letzter als Bodenverleger. Nach einer Diskussion mit dem Chef kündigt Sheremeta. Auf die Fragen zu den Vorwürfen und der Zusammenarbeit mit Sheremeta schreibt der Chef, er wolle sich dazu nicht konkret äußern. +Sergey Sabelnikov ist nicht überrascht. "Ein typischer Fall", sagt er. Bei ihm sammeln sich seit zwei Jahren ähnliche Fälle von Ukrainer*innen. Im vergangenen Jahr kamen 220 Ukrainer*innen zu ihm, um Rat zu suchen. Bundesweit schildern Mitarbeitende der Beratungsstellen von Faire Integration und Arbeit und Leben e. V., einem Verein zur politischen Jugend- und Erwachsenenbildung, sowie ukrainische Beschäftigte im Rahmen dieser Recherche ähnliche systematische Ausbeutung: Arbeitgeber machten falsche Versprechungen, nutzten das fehlende Wissen der Migrant*innen, ihre dürftigen Deutschkenntnisse und ihre Abhängigkeitssituation aus. +Dagegen arbeiten Sabelnikov und andere Berater*innen in mehreren Sprachen an. Die Angst vor der Macht der Arbeitgeber sei groß. Die meisten Ukrainer*innen wollten darum nicht öffentlich sprechen. Gerade im Niedriglohnsektor sei die Gefahr groß, weil dort viele Arbeit suchten. Arbeitsminister Hubertus Heil warnte schon im März 2022, dass Ukrainer*innen nicht "Opfer von Abzocke oder Ausbeutung" werden dürfen. +Yulian Sheremeta versucht, sich selbst zu helfen. Und überlegt, vor einem Arbeitsgericht zu klagen. Auch wenn es ihm vor allem um Gerechtigkeit geht: Er braucht den Lohn, der ihm fehlt, um sein Leben in Deutschland zu bestreiten. + +Diese Recherche wurde unterstützt durch ein Stipendium der Otto Brenner Stiftung und durch die International Women's Media Foundation. + diff --git a/fluter/ukrainische-kriegsopfer-im-kurzportraet.txt b/fluter/ukrainische-kriegsopfer-im-kurzportraet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6d6000449b9649781f455474dfd06a76698888af --- /dev/null +++ b/fluter/ukrainische-kriegsopfer-im-kurzportraet.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Vor zehn Jahren lernten sich Oleksij und Irina kennen, und schon kurz darauf begannen sie, in seinem Heimatort ein Haus zu bauen. Eltern, Freunde, Irina – sie alle packten gemeinsam an. Oleksij Masurenko war Schlossermeister und brauchte keine anderen Handwerker. Anfang 2021 zogen sie schließlich ein. Im selben Jahr kam ihr zweiter Sohn zur Welt. Als der Krieg ausbrach,meldete sich Oleksij Masurenko zum Militärund bat darum, an die Front geschickt zu werden. Seiner Familie sagte er, er sei einberufen worden. Am 14. August, fünf Tage nach ihrem 8. Hochzeitstag, wurde Oleksij Masurenko bei einem Kampfeinsatz verletzt und in ein Krankenhaus in Kyjiw eingeliefert, wo er starb. "Ich fühle, du bist hier, mit mir, nur in einer anderen Ebene", sagt Irina. + +Oleksij Kaluschin war mit seiner Frau und seiner Tochter in die Wohnung seiner Schwiegereltern bei Irpin geflohen. Doch auch dort wurde es schnell gefährlich. Seine Schwiegermutter erinnert sich, wie ein russischer Schützenpanzer zunächst das Tor zum Hof aufbrach. Dann seien die Bewohner aus den Häusern geholt worden, sie mussten ihre Handys abgeben, ihre SIM-Karten wurden kaputt gemacht. Bei den Nachbarn war dieses laute Knacken und Schleifen zu hören. Oleksij Kaluschin beschloss, nachzusehen. Sein Schwiegervater folgte ihm. Als sie 15 Minuten weg waren, rannte seine Schwiegermutter auf den Hof. Dort entdeckte sie nur zwei Blutlachen in der Nähe des Tors. Die Leichen von Oleksij Kaluschin und seinem Schwiegervater wurden erst einen Monat später gefunden, nach der Befreiung von Irpin.Ihre Körper waren mit Draht gefesselt. + +Weil Ksenija Hryzyna so sehr Süßes liebte, wurde sie nach der Schule Konditorin. Sie lebte in Lwiw im Westen der Ukraine, nur wenige Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Hier kam auch ihr Sohn zur Welt. Im Jahr 2021 ließ sich Ksenija Hryzyna beim Militär zur Sanitäterin ausbilden. Dann kam der russische Überfall, und Ksenija Hryzyna ging an die Front nach Luhansk. Dort starb sie, während sie versuchte, einen Soldaten zu bergen. Am Tag der Beerdigung sagte ihre Freundin: "Du bist unser Stern, hell und ewig lächelnd, fröhliche Ksenija. Du bist gegangen, und wir glauben nicht, dass es wirklich so ist." Als Ksenija Hryzyna starb, war ihr Sohn vier Jahre alt. + +Aida Tschernych studierte Medizin. Als der Krieg begann, war sie gerade im Postgraduiertenkurs, sogar mit einem eigenen Forschungsprojekt. Doch dann beschloss sie, ihr Studium ruhen zu lassen und sich freiwillig beim Militär als Sanitäterin zu melden. Später arbeitete sie zusätzlich in der Luftaufklärung und warnte vor angreifenden Drohnen. "Immer fokussiert, selbstbewusst und von der Richtigkeit der Sache überzeugt, humorvoll und gebildet", so beschreibt sie ihr Kommandant. Am 28. Dezember starb Aida Tschernych während eines Kampfeinsatzes in der Nähe von Bachmut in der Region Donezk. Erst wenige Wochen vor ihrem Tod hatte sie einem schwer verwundeten Soldaten das Leben gerettet. + +Den größten Teil ihres Lebens verbrachte Switlana Potapowa in Nowoseliwka, einem kleinen Dorf im Süden der Ukraine. Dort kümmerte sie sich unter anderem um die Kälber auf einem Bauernhof. Und wenn sie mal eine freie Minute fand, dann liebte sie es, zu lesen. "Mutter war ein toller Mensch. Sie versuchte immer, in allem die Erste zu ein. Ich vermisse sie sehr", sagt ihre Tochter. Am 13. Juli wollte Switlana Potapowa nur kurz bei ihrer Patentochter vorbeischauen, um ihr Telefon aufzuladen und zu plaudern. Sie ging gerade über den Hof, als eine Granate einschlug. Sie und drei weitere Menschen starben. "Switlana schwieg nicht, wenn sie sah, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte ein hitziges Temperament. Und sie war gerecht", sagt ihre Patentochter. + +Oleksij Nykyforow mochte Musik, er tanzte gut und ging gern auf Reisen. Er liebte auch Tiere, besonders Katzen. Über die wusste er fast alles, erinnert sich seine Tante. Oleksij Nykyforow arbeitete als IT-Spezialistin Butscha. Hier war er geboren, hier war er zur Schule gegangen, seine Ehefrau besuchte einst dieselbe Klasse wie er. Am Tag seines Todes war er noch bis 14 Uhr online. Bis zum Schluss arbeitete er in seiner Wohnung. Dort wurde er auch tot aufgefunden; gestorben an den Folgen eines direkten Treffers durch ein Projektil, das ihn durchdrang. "In diesem Augenblick wurden Träume, Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen zerstört", sagt seine Tante. Wenige Schritte von Oleksij Nykyforow entfernt lag seine Katze. Sie war im Rauch erstickt. + +Fotos:victims.memorial– auf der Webseite finden sich weitere Nachrufe auf ukrainische Kriegsopfer diff --git a/fluter/ukrainisches-videospiel-stalker.txt b/fluter/ukrainisches-videospiel-stalker.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0bdc940812390e831d0ebf923602ec8a8113a8b2 --- /dev/null +++ b/fluter/ukrainisches-videospiel-stalker.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +In Deutschland ist das Kernkraftwerk, in dem es im Jahr 1986 zu einem Super-GAU und einer nuklearen Katastrophe kam, bislang vor allem alsTschernobylbekannt. Dabei handelt es sich um die deutsche Umschrift des russischen Namens – Чернобыль – der gleichnamigen Stadt. Die englische Umschrift des Ortes lautetChernobyl. Doch hat der Ort auch einen ukrainischen Namen: Чорнобиль. Hier lautet die deutsche UmschriftTschornobyl, die englischeChornobyl. +Schauplatz des ukrainischen Videospiels "S.T.A.L.K.E.R. 2" (Altersfreigabe: 18) ist die Weltnach der Nuklearkatastrophe von Tschornobyl. Und nicht nur das macht das Spiel so realistisch: Hier kann, wie im echten Leben, jeder Treffer tödlich sein. Gleichzeitig müssen die Spielerinnen und Spieler jederzeit auf die Strahlung achten und darauf, nicht zu verhungern. Dieses permanente Risiko sorgt für eine dramatische Spielerfahrung. + + +Ähnlich wie das Spielerlebnis war auch die Entstehung von "S.T.A.L.K.E.R. 2" eine Herausforderung. Das ukrainische Studio GSC Game World entwickelte das Videospiel während des russischen Angriffskrieges und wurde dabei selbst Teil des Konflikts. +"Hackerangriffe auf das Unternehmen und unsere Mitarbeitenden und Datenlecks sind Teil unserer Realität geworden", sagt Ievgen Grygorovych, Game Director und CEO des Studios, das aus Sicherheitsgründen nach Prag verlegt wurde. Jedochblieben auch viele Entwicklerinnen und Entwicklerin Kyjiw und arbeiteten von zu Hause – aus ihren Badezimmern, Luftschutzkellern und Hausfluren. +"Zum Arbeitsalltag gehören auch gekaufte Kommentare, Mobbing in Direktnachrichten und Bewertungen im Internet", beschreibt Grygorovych die alltägliche russische Sabotage. Die Produktion des Spiels, die bereits 2012 begann und zwischenzeitlich wieder eingestellt wurde, wurde durch den Krieg erheblich erschwert. Besonders einschneidend war der Tod des Entwicklers Volodymyr Yezhov, der im Dezember 2022an der ukrainischen Frontfiel. +Doch warum macht sich Russland überhaupt die Mühe, "S.T.A.L.K.E.R. 2" zu sabotieren? Es geht hier schließlich "nur" um ein Spiel, könnte man meinen. Aber eben um eines, das zum ukrainischen Kulturgut geworden ist; dem eine millionenstarke internationale Community jahrelang entgegenfieberte. Dazu kommt: Das Videospiel fördert nicht nur die Sichtbarkeit ukrainischer Kultur, sondern transportiert auch die Stimmung und Erlebniswelt des Landes. Denn der Krieg ist auch im Spiel omnipräsent. "Alles, was wir während und vor dem Entwicklungsprozess erlebt haben, hat das Endprodukt unweigerlich geprägt", sagt Ievgen Grygorovych. + + +Dazu zählte auch, kreative Entscheidungen zu überdenken: "Der Klang einer Sirene kann bei vielen Ukrainernposttraumatische Belastungsstörungen auslösen. Solche Geräusche waren ursprünglich Teil des Spiels. Wir haben viel darüber diskutiert, wie wir mit so etwas umgehen sollten." +Dass die ukrainische Kultur Teil des Spiels ist, war für das Studio von Beginn an ausschlaggebend. Dafür wurden russische Einflüsse bewusst entfernt. "Was das sowjetische Erbe angeht, so haben wir uns entschieden, die russischen Inschriften durch ukrainische zu ersetzen. Das war unsere Art, uns von der Aggression zu distanzieren und unsere Arbeit fortzusetzen", sagt der Game Director. +Die russische Sprachausgabe hat das Studio vollständig entfernt. Besonders stolz ist Grygorovych auf die Details, die überall im Spiel zu finden sind. Beispielsweise seien die Mosaike, die im Spiel an den Bushaltestellen zu sehen sind, ein wichtiger Teil der ukrainischen Kultur: "Wir haben sie mit viel Liebe zum Detail nachgebildet. Als ukrainisches Spiel haben wir immer versucht, etwas zu schaffen, dasunsere nationale Identität widerspiegeltund gleichzeitig weltweit anerkannt wird." Im Zuge dessen wurde auch eine Namensänderung beschlossen. Ursprünglich lautete der Untertitel des Videospiels "Heart of Chernobyl" – was das Studio in die ukrainische Schreibweise des Ortes änderte: "Chornobyl". +In ebendieser radioaktiven Zone bewegt man sich in "S.T.A.L.K.E.R. 2". Die Nuklearkatastrophe liegt zwar schon Jahrzehnte zurück, doch die Folgen sind noch heute spürbar. Als ein sogenannter "Stalker", eine Art Glücksritter, begibt sich der Charakter Skif in die gefährliche Zone, in der Hoffnung, ihre Abnormitäten zu erforschen. Dafür muss er mit verschiedenen untereinander verfeindeten Fraktionen zusammenarbeiten und sich selbst die Frage stellen, welche Zukunft er sich für diesen Ort wünscht. + + +Durch den ernsten Grundton des Spiels wird der Schauplatz nie zu einer Karikatur. Die Nachwehen der Tschornobyl-Katastrophe sind auch in der Zukunft zu spüren, und das Entwicklungsstudio geht authentisch an den Unfall von 1986 heran. Dadurch wahrt "S.T.A.L.K.E.R. 2" die Pietät und schafft den schwierigen Spagat zwischen Action und Ernsthaftigkeit. +"Das Herzstück der Serie ist die Sperrzone. Sie ist als Charakter genauso wichtig wie jede andere menschliche Figur in der Geschichte", sagt Grygorovych. "Die Zone funktioniert nach ihren eigenen Regeln. Sie kann Leben nehmen, seltsame Phänomene wie Anomalien und Mutationen hervorbringen und die einst vitale Umgebung in eine feindliche Landschaft verwandeln." +Dabei ist die Zone nicht nur Kulisse, sondern auch ein Ort, der die Einsamkeit und Komplexität der Charaktere zeigt. Ievgen Grygorovych sieht darin die Isolation der Protagonistinnen und Protagonisten, die oft nicht in der Lage seien, aufrichtige Bindungen einzugehen. Echte Freundschaften seien in dieser Welt selten. "In dieser rauen Umgebung sind die Beziehungen transaktional", sagt Grygorovych. "Sie helfen einander nur, wenn es etwas zu gewinnen gibt. Diese brutale Realität unterstreicht den überlebensorientierten Charakter des Spiels." +Auch nach Veröffentlichung ist das Spiel noch nicht ausgereift und weist technische Mängel auf. Dennoch erhält es auch zahlreiche positive Bewertungen von Nutzerinnen und Nutzern. Vielleicht, weil es ein kleines Wunder ist, dass das Videospiel trotz der vorherrschenden Kriegsbedingungen überhaupt erschienen ist; während es in Russland weder beworben noch verkauft werden darf. Berichten zufolge könnte die illegale Verbreitung des Spiels als Propaganda für die Ukraine gelten. +Wenn Skif in der fiktiven Sperrzone durch Ruinen von Atomreaktoren und abgestorbene Waldstücke wandert, täuschen weder gelbe Atomfässer noch mutierende Monster über die allgegenwärtige Kriegsstimmung in "S.T.A.L.K.E.R. 2" hinweg. Menschen trauern vor Gräbern um gefallene Freunde, wärmen sich in zerbombten Häusern an einem Feuer und kämpfen bis zum Tode. Szenen, die sich ebenso an der ukrainischen Front abspielen könnten. + +Bilder: GSC Game World Global Ltd. diff --git a/fluter/ulmer-nest-obdachlose.txt b/fluter/ulmer-nest-obdachlose.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c8e5590b9cf1eb9a1a051f700afeb5533bc092b8 --- /dev/null +++ b/fluter/ulmer-nest-obdachlose.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Eine 62-Jährige ist in Hannover zurSprecherin der Obdachlosengeworden. +Er ist katholisch erzogen worden, daher verbringt er die Tage in der Stadtbibliothek und liest Bücher über das Christentum. Abends sitzt er am Busbahnhof und trinkt Bier. +Dort, in einer klirrend kalten Dezembernacht, sah ihn im vergangenen Jahr ein Busfahrer. Aus Sorge, Benni könnte erfrieren, rief er die Polizei. Doch Benni weigerte sich, in eine Notunterkunft zu gehen. Die Beamten schickten ihn zu den neuen Schlafkojen, den sogenannten Ulmer Nestern. Prototypen, mit denen die Stadt und eine Gruppe Ulmer Jungunternehmer zeigen möchten, wie man das Leben von Obdachlosen erleichtern kann. +Geschätzt 41.000 Menschen leben in Deutschland auf der Straße, die Dunkelziffer ist wohl noch um einiges höher. Mindestens zwölf von ihnen sind im vergangenen Winter erfroren. Denn nicht jeder, der auf der Straße lebt, nutzt auch die zur Verfügung stehenden Notunterkünfte. Obdachlose Menschen müssen sich dort an strenge Vorschriften halten, sie leben in den Unterkünften auf engem Raum ohne Privatsphäre, dürfen ihre Hunde nicht mitbringen oder werden abgewiesen, weil sie zu viel getrunken haben. Auch sind viele von ihnen nicht beim Arbeits- oder Sozialamt registriert, sodass die Notunterkünfte sie ablehnen müssen, da ohne Sozialnummer die Kosten nicht abgerechnet werden können. +Minutenlang stand Benni in jener Dezembernacht vor dem fünfeckigen Kasten aus Holz und beäugte ihn. Bis die Kälte über das Misstrauen siegte, er sich auf die grüne Gummimatte legte und den Deckel über sich schloss. Aber nicht ganz, einen kleinen Spalt ließ er offen. Nur zur Sicherheit. +Die Angst verflog mit dem Schlaf. Seit dieser Nacht versucht er jeden Abend, eine der Kojen zu ergattern. Meistens gelingt es ihm. Die Stadt Ulm nennt die Nester "Notfallin­strument in letzter Instanz". Benni nennt sie mittlerweile "mein kleines Zuhause". +Ein Januarmorgen auf dem Alten Friedhof, der zentral liegt. Die Luft ist so eisig, dass der Urin der Hunde in der Wintersonne dampft. Die Hundebesitzer sind in Daunenjacken eingepackt und hüpfen auf der Stelle, um ihre Füße zu wärmen. Zwischen mehreren Tannen steht die fünfeckige Holzkiste, in der Benni die Nacht verbracht hat. Niemand beachtet sie. +Hannah Böck und Norman Kurock sind unterwegs zu Benni. Sie arbeiten für die Caritas und betreuen das Pilotprojekt. Jeden Morgen gehen sie zu den Nestern und schauen, wer darin liegt. Dass jemand drinliegt, wissen sie bereits, denn per App bekommen sie fortlaufend Informationen zugesendet. Sie sehen, wann die Koje geöffnet und geschlossen wird, wie warm es in der Kiste ist und ob die Sensoren für Rauch anspringen. Außerdem können die Sozialarbeiter mit der App die Kiste auch dann öffnen, wenn der Bewohner sie von innen verriegelt hat. Jeden Morgen um neun verschließen sie die Kojen, abends um sechs werden sie mit der App wieder geöffnet – sie sollen ja nur für die Nacht sein. +"Wir kommen nicht, um die Schlafenden zu kontrollieren, sondern um im Notfall helfen zu können." Norman Kurock hat an diesem Morgen einen Schlafsack für Benni dabei, der hat die Nacht wieder einmal nur in dünner Regenjacke und ohne Decke im Nest verbracht. +Sechs engagierte Designer, Hardware-und Softwareentwickler fanden sich 2018 in Ulm zusammen, um zu helfen. Die Stadt Ulm stellte ihnen eine lebensentscheidende Aufgabe: Wie kann man obdachlose Menschen vor dem Kältetod bewahren? +Nach 48 Stunden präsentierten die sechs Unternehmer ihre Idee – eine Hightechkiste aus massivem Holz, mit Sensoren, einer App und einem Wärmetauscher, der für Frischluft sorgt und die Innentemperatur stabil hält. Nach anfänglicher Begeisterung gab es von manchen Ulmern auch Kritik: Die Schlafkapseln würden an Särge erinnern und hätten weder Toilette noch Waschbecken. +Dabei ist die Kastenform kein Zufall, erzählt Produktdesigner Patrick Kaczmarek. Sie sorge dafür, dass die Kapseln für Menschen jeder Statur und Größe gut zugänglich und benutzbar seien. Zudem biete sie genügend Stauraum für persönliche Gegenstände oder sogar einen Hund. +Nur rund fünf Grad wärmer als draußen wird es in den Holzkisten. Ein Ersatz für eine Wohnung sollen die Schlafkapseln aber ohnehin nicht sein. "Niemand soll einziehen wollen", sagt Kaczmarek. "Die Nester sind nur da, um vor dem nächtlichen Erfrieren zu schützen." Einige Fehler und Schwächen haben sich jetzt schon gezeigt, so schließt der Deckel bei Feuchtigkeit schwerer. Das Ziel ist es, die optimierten Nester jeden Winter und bald auch in anderen Städten aufzustellen. +Benni hatte dieses Mal keine gute Nacht. Albträume und das stündliche Schlagen der Turmuhr haben ihn wach gehalten. Seine Lippen sind rissig, seine Augen tränen. Mit zittrigen Händen trägt er zwei große Taschen, die dunkle Wollmütze hat er sich tief ins Gesicht gezogen. "Immerhin hatte ich es warm." +Er weiß, dass die Nächte in seinem Nest gezählt sind. Im Frühling endet die Testphase(Anmerkung der Redaktion: Mittlerweile hat die Stadt Ulm sich entschieden, die Nester jeden Winter aufzustellen,sie sind also auch 2021 wieder im Einsatz). Benni will eh eine richtige Wohnung, ein Bett, einen Job. Hier, unter dem niedrigen Deckel, hat er das Gefühl, dass er sich ein Stück weit davor versteckt, sein Leben in die Hand zu nehmen. + +Titelbild: Ulmer Nest diff --git a/fluter/ultras-in-frankreich-antirassismus.txt b/fluter/ultras-in-frankreich-antirassismus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c7157ca2488b41aecb887a798dd4dbedc074c7ec --- /dev/null +++ b/fluter/ultras-in-frankreich-antirassismus.txt @@ -0,0 +1,31 @@ +Von Albert Camus, Teilzeit-Torwart und Vollzeit-Philosoph, ist ein kluger Satz überliefert: "Das Absurde kann jeden beliebigen Menschen an jeder beliebigen Straßenecke anspringen." +Zum Beispiel an der Kreuzung Rue Negresko und Boulevard Michelet, unweit des Stade Vélodrome, jenes wellenförmigen Ungetüms von einem Stadion, in dem der Traditionsverein Olympique Marseille seine Heimspiele austrägt. Am Bohei eines Fußballspiels wie jenem zwischen Marseille und Paris Saint Germain hätte Monsieur Camus sicher große Freude gehabt. Als Liebhaber dieses Sports. Noch mehr aber als Entdeckungsreisender des zuweilen schwierigen gesellschaftlichen Miteinanders. +Drei Stunden vor dem Anpfiff vernebeln bengalische Feuer und Rauchtöpfe die breite Treppe vor dem Haupteingang des Stade Vélodrome. Die Luft schmeckt nach dem Tränengas, das die schwer gepanzerte Polizei vorhin über den Boulevard Michelet verteilt hat. +Der Journalist undFilmemacher Gilles Rofsitzt auf einem Mauervorsprung und spricht über die besondere Rolle, die Marseille und seine Fans im fragilen sozialpolitischen Gefüge Frankreichs einnehmen. Rof kann seine Worte sorgsam abwägen, alle 20 Sekunden attackieren gewaltige Böllerexplosionen die Gehörgänge. "Marseille", sagt Rof, "ist eine Stadt voller Probleme." + + +Damit meint Rof nicht die vermutlich immense Luftverschmutzung, die vom stundenlangen Geböller und Gebrenne ausgeht, sondern die "hohe Kriminalitätsrate", ein "gewaltiges Drogenproblem", "soziale Ungerechtigkeit" und, ja, auch den Rassismus, "der hier Alltag ist". +So multikulturell wie Marseille ist keine andere Stadt in Frankreich. In der Hafenstadt wird die Welt klein, mehrere Generationen von Migranten aus Nordafrika, Italien, Spanien und dem Rest der Welt sorgen für die bunteste Metropole Frankreichs. +Seit kurzem umfasst die Farbpalette auch ein intensives Braun: DieGhettoisierungführt auch in Marseille zu sozialer Abgrenzung, zu einer allgemeinen Unzufriedenheit, die sich nicht selten in Gewalt äußert, und im Erstarken der Rechtspopulisten. In Stéphane Ravier stellt der ultrarechte Front National seit 2014 einen eigenen Stadtteil-Bürgermeister. Marine Le Pen, die Vorsitzende des Front National, holte bei den Präsidentschaftswahlen 2017 in der Provence-Alpes-Côte d'Azur, dem Gebiet um die Hauptstadt Marseille, über 20 Prozent der Wählerstimmen. Nur in zwei anderen Regionen des Landes war sie erfolgreicher. +Zum Paradox dieser Gegenwart gehört, dass Marseille als Initiationsort der anti-rassistischen Ultra-Kultur in Europa gilt. Auchdie deutsche Ultra-Szenenimmt sich Olympiques Fans zum Vorbild, etwa beim FC St. Pauli in Marseilles Partnerstadt Hamburg oder in der links-alternativen Kurve von Werder Bremen. Es waren Fans aus Marseille, die die anti-rassistische Ultra-Bewegung erstmals außerhalb Italiens verbreiteten. Das war 1984. +Heute organisieren sich Tausende in den fünf großen Ultra-Gruppen Marseilles. Sie spielen für Stadt und Verein eine so zentrale Rolle, dass der stets oben ohne anheizende Vorsänger Depé, bürgerlich Patrice De Peretti, ganz besonders verabschiedet wurde, nachdem er 2000 an einem Aneurysma verstorben war: Für eine Schweigeminute bildete die komplette Mannschaft Marseilles einen Halbkreis,oberkörperfrei. + + + +Wen hätten die Olympique-Ultras je so nah an sich herangelassen, wenn nicht einen der ihren? Der Fotograf Lionel Briot wurde in Marseille geboren und stand schon als kleiner Junge im Stade Vélodrome. Diese Bilder Briots entstanden zwischen 1996 und 2000,hierberichtet Briot, wie es in der rauen Kurve zuging. + + +Ultras sind in Marseille keine hermetische Minderheit. In den Fanshops können Besucher T-Shirts mit ihren Logos und Slogans kaufen, der Name eines Vorsängers wie Depé ist stadtbekannt. Die Ultras stehen für Marseille, sie versammeln sämtliche Ethnien, Religionen und gesellschaftlichen Schichten der Stadt. Einer der Slogans der Kurve lautet: "Nous sommes Marseille." +Wir sind Marseille. Wir, aber nicht ihr. Nicht ihr, die den Front National wählt. Nicht ihr, die ihr Maghrebiner gar nicht erst zu Vorstellungsgesprächen einladet. Oder um es mit einem der Ultras zu sagen, der am Boulevard Michelet auch gegen die Pariser anschreit: "Zu Olympique gehen auch Rechte. Aber sie halten sich bedeckt, sonst bekommen sie auf die Schnauze." + + +Der Verein hat erfahren müssen, dass sich diese Emotionen der Olympique-Fans nicht nur gegen politische Gegner richtet. In den ersten Heimspielen der Europa League blieb das Stade Vélodrome jüngst beinahe menschenleer: eine Disziplinarmaßnahme der UEFA für Fanausschreitungen, nicht die erste für den Club. +Im Spiel gegen Paris bleibt es abgesehen von ein paar Pyrofackeln und umherfliegenden Flaschen friedlich. Dabei geht es wieder mal um mehr als Fußball. Sportlich mag der von einer katarischen Investmenttruppe aufgepumpte Hauptstadtverein Marseille längst abgehängt haben. Sinnbildlich dafür steht der ungleiche Sprint zwischen Marseilles Boubacar Kamara und Paris-Star Kylian Mbappé, den der Weltmeister Mbappé mit dem 1:0 abschließt. + +Historisch aber gehen die Erzählungen anders aus: Anfang der 90er-Jahre war die Kurve in Paris deutlich sichtbar von Rechtsextremisten unterwandert. Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen stahlen Marseiller Ultras die Bomberjacken der Rechten und drehten sie als Zeichen des Triumphs kurzerhand auf links, mit dem orangefarbenen Innenfutter nach außen. +Das Blau-Weiß der Olympique-Anhänger wird noch heute gelegentlich durch knalliges Orange gebrochen. +Solche Aktionen haben ihre Strahlkraft. Weit über die Landesgrenzen hinaus, aber auch nach innen: Auf ihnen basiert der identitätsstiftende Stolz des Marseiller Anhangs. "Überall in Frankreich und Europa hat Marseille den Ruf einer gefährlichen und dreckigen Stadt voller Ausländer – aber jeder feiert die außergewöhnliche Atmosphäre, die unsere Fans veranstalten", sagt Filmemacher Rof. "Olympique ist der Melting Pot, der alle vereint und auf den alle stolz sein können." +Schlusswort Rof, der kleine Mann verabschiedet sich und verschwindet im rotflackernden Qualm über dem Boulevard Michelet. Im Stade Vélodrome werden die Fans von Marseille 90 Minuten lang singen und schreien. Sie sind "le douzième homme", der zwölfte Mann. Und bleiben es auch, als der deutsche Nationalspieler Julian Draxler zum 2:0 trifft und Paris erwartungsgemäß gewinnt. Die Enttäuschung in der Kurve Marseilles währt nur kurz. +"Alles was ich im Leben über Moral oder Verpflichtungen des Menschen gelernt habe, verdanke ich dem Fußball." Noch so ein Satz von Camus. Als moralischer Sieger fühlt sich auch an diesem Tag Olympique Marseille. + +Fotos: Lionel Briot diff --git a/fluter/umgang-mit-rechtem-terror.txt b/fluter/umgang-mit-rechtem-terror.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..54def472ec2bec1d1bec172d1c4c09b8c06ab5f0 --- /dev/null +++ b/fluter/umgang-mit-rechtem-terror.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +fluter.de: Seit 1990 haben Rechtsradikale in Deutschland laut Innenministerium mindestens 85 Menschen getötet. Derzeit gibt es laut Schätzungen des Verfassungsschutzes 12.700 gewaltorientierte Rechtsextremisten im Land, rund 20 Prozent mehr als noch vor fünf Jahren. Wie groß ist die Gefahr? +Andrea Röpke: Sie ist groß, und das war absehbar. Anderen seriösen Quellen zufolge ist Walter Lübcke seit 1990 das 196. Opfer rechter Gewalt in Deutschland. Seit Jahren warnen wir FachjournalistInnen und ExpertInnen davor, rechte Gewaltbereitschaft zu unterschätzen. DieVerbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds(NSU) hätten mehr als genug Anlass für ein Umdenken geben können, doch wieder mal wurde in erster Linie verdrängt und verharmlost. Dabei besteht zurzeit mehr denn je die Gefahr, dass nicht nurdie alltägliche rechte und rassistische Gewaltnoch steigt, sondern auch, dass sich aus deren Reihen Terrorgruppen bilden. +So wie die mutmaßlich rechtsextreme Terrorgruppe "Revolution Chemnitz". Acht Mitglieder wurden Ende Juni angeklagt, weil sie geplant haben sollen, am 3. Oktober 2018 einen bürgerkriegsartigen Aufstand in Berlin anzuzetteln. +Diese Gruppen sehen sich nur als Speerspitze einer antidemokratischen Kampfgemeinschaft, die bis in die Mitte der Gesellschaft reicht. Rechten Ideologen ist bereits eine Diskurserweiterung gelungen, Hemmschwellen fallen, die Verrohung hat zugenommen. Vordenker der sogenannten Neuen Rechten wie Götz Kubitschek und Björn Höcke etwa propagieren ganz offen eine radikale Umformung von Demokratie. So kündigen die Neuen Rechten das sogenannte "Ende der Party" an, die Zeit des Redens sei vorbei. Es werden deutliche Signale an die Anhänger gesendet. Wir dagegen unterschätzen wieder mal, hören nicht richtig hin, wollen nicht glauben, was sie ankündigen. + +Ihre Schilderung klingt ziemlich alarmierend. Wie erklären Sie sich, dass darüber so wenig gesprochen wird? +Vielleicht weil es anstrengend und kompliziert ist, sich und uns zu hinterfragen? +Nach dem Mordfall Walter Lübcke machten sich Rechtsextreme im Netz über das Opfer lustig. Welche Rolle spielt das Internet für sie? +Es ist nicht die demokratische Zivilgesellschaft, diedie neuen Medien beherrscht. International betrachtet waren es die Rechten, die sehr früh erkannt haben, welche neuen Möglichkeiten sich dahinter verbergen. Sie finden ihre Basis im Netz: Allein Pegida Dresden hatte bis 2017 schon über 570.000 Facebook-Kommentare, und die AfD war die am meisten gelikte Partei auf dieser Plattform im Europawahlkampf. Das waren eindeutige Alarmsignale. Nach der Randale von geschätzten 4.000 rechtsextremen Hooligans Ende 2014 in Köln, den "Hooligans gegenSalafisten", gab die Polizei später bekannt, dass die Organisatoren im Vorfeld über 50.000 Facebook-Einladungen versandt hatten. Längst läuft die Logistik der Szene per Internet. +Sie recherchieren seit 25 Jahren in der rechtsextremen Szene. Würden Sie sagen, dass sie sich seither stark verändert hat? Haben wir es wirklich mit einer "neuen Qualität" zu tun, wie Bundesinnenminister Horst Seehofer sagte? +Ja, ausnahmsweise muss ich ihm recht geben. Die rechtsextreme Szene hat sich professionalisiert: unter anderem hinsichtlichihrer Rhetorik, der Attitüde und der Vermarktung. Seit etwa 2013 ist es der Szene gelungen, uns vorzugaukeln, das zeitgleiche Erstarken von Pegida, Anti-Asyl-Gruppen, Identitären, rechten Mischszenen und der AfD sei nur zufällig und man habe rein gar nichts miteinander zu tun. Wieder einmal haben die Verfassungsschutzämter völlig versagt. Es gab weder Warnungen noch Aufklärung darüber, wie diese Gruppierungen miteinander agieren. Sorgen macht mir vor allem der anscheinend unbegrenzte finanzielle Rückhalt der rechten Szene. Wie es scheint, machen sich ähnlich wie in der Vergangenheit reiche Finanziers und Firmen die Politik der Rechten zu eigen. + + + +Wieso sind es meist JournalistInnen, die rechtsextreme Netzwerke aufdecken, und selten der Staat beziehungsweise seine Ermittlungsbehörden? +Na, weil es unser Job ist! Aber im Ernst: Die Verfassungsschutzämter sind zum Teil finanziell und personell aufgestockt worden – und das nach den schier unglaublichen Enthüllungen über ihre Tätigkeiten im Zusammenhang mit den Verbrechen des NSU. Nicht nur in Hessen wurde die Aufklärung einer politischen Mordtat massiv durch den Geheimdienst behindert. Akten wurden geschreddert, Zeugenaussagen verhindert. +Sie spielen auf das neunte Mordopfer des NSU an. Halit Yozgat wurde 2006 in seinem Internetcafé in Kassel ermordet. Es ist immer noch ungeklärt, warum kurz vor oder sogar während der Tat der Verfassungsschutz-Mitarbeiter Andreas Temme anwesend war. +Genau, ein völlig undemokratischer Vorgang, der nicht zuletzt den Rechten Vorschub leistet. Mit diesem Verhalten haben die Verfassungsschutzbehörden der Demokratie einen Bärendienst erwiesen. Das zeigt sich besonders seit 2017. Seitdem sind die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft gegen mutmaßlich rechtsterroristische Untergrundzellen wie Nordkreuz bekannt geworden, ein Teil der Beschuldigten stammt aus den Reihen von Polizei und Bundeswehr. In diesen Zellen hat man sich über Mordlisten für den Tag X nach dem Fall der Demokratie ausgetauscht. Wiederum in Hessen werden zurzeit 17 PolizistInnen rechter Umtriebe verdächtigt, nachdem sich herausstellte, dass Todesdrohungen gegen eine engagierte Rechtsanwältin mit Frankfurter Polizeibeamten zu tun haben sollen. Das sind Entwicklungen, die verdeutlichen: Unabhängige Recherchen im rechten Milieu sind enorm wichtig. +Wie kommen Sie an Ihre Informationen? +Vor Ort zu sein ist eine meiner Prämissen. Das ist nicht immer möglich, aber dann versuchen wir, uns mit den Kollegen und Kolleginnen zu vernetzen, die sich rechte Veranstaltungen oder Treffen angeschaut haben. Wir dokumentieren das Geschehen, und das Material bildet dann eine solide Recherchegrundlage. +Andrea Röpke ist Politologin, freie Journalistin und Buchautorin mit dem Schwerpunkt Rechtsextremismus. +Im Juni ist Ihrneues Buch "Völkische Landnahme"erschienen. Dafür haben Sie heimlich Brauchtumsveranstaltungen, Kinderlager und Kulturevents gefilmt. In der Szene werden Sie für dieses Vorgehen oft als Paparazza beschimpft. +Ja, sie ist sauer, weilihr Agieren im "Inner Circle"nicht an die Öffentlichkeit soll. Die Aufnahmen sind wichtig, um zu zeigen, wie weit der völkische Einfluss reicht. Leider fällt uns vor allem immer wieder die Polizei in den Rücken. Statt völkische Events ernst zu nehmen und mögliche Kindeswohlgefährdung zu prüfen, werden sie oft als Privatfeiern ohne politischen Charakter abgetan. Und wenn die Beamten doch mal vor Ort sind, wie kürzlich bei der Sonnenwendfeier der Rechtsextremen in Jamel, dann werden akribisch persönliche Daten von uns FachjournalistInnen aufgenommen, abgefragt und in staatliche Register gepackt. +Noch mal zum Fall Lübcke: Denken Sie, dass rechter Terror nun mehr thematisiert wird? +Dabei wären öffentlich zugängliche, intensive Analysen und Präventionskonzepte dringend vonnöten. Gerne würde ich daran glauben, dass der aktuelle Fall ein Wendepunkt sein könnte. Aber allzu schnell ist bereits der NSU-Terror in all seinen Ausmaßen in Vergessenheit geraten. Opfer rassistischer Gewalt haben meist keine Lobby. Anders ist das bei Walter Lübcke: Es herrscht berechtigtes großes Entsetzen. Aber es steht leider zu befürchten, dass kaum mehr folgen wird. Nicht nur im Netz wird Politikern der Tod gewünscht, Bürger bringen Galgen zu Demos mit. Rechte Angriffe sind Alltag in Deutschland. + diff --git a/fluter/umstrittene-woerter-und-namen.txt b/fluter/umstrittene-woerter-und-namen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a0a90f01a48a533bfedd2d70c137c9db67e7fab9 --- /dev/null +++ b/fluter/umstrittene-woerter-und-namen.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +Weil ich mich 1990 geweigert hatte, ein Formular als "Antragsteller" zu unterzeichnen, blieb ich sechs Jahre lang ohne ein staatliches Dokument. Warum? Ich wollte als Antragstellerin unterzeichnen, und das blieb mir verwehrt. +Ich habe dafür gekämpft, und nach positiv beschiedenen EU-Verhandlungen hat der Bundesrat 1996 die EU-Richtlinie übernommen, dass es in allen Ausweisen künftig heißen muss "Unterschrift der Inhaberin/des Inhabers". +Ich finde, Sprache ist unser wichtigstes Integrationsmittel und Kulturgut, aber wir Frauen kommen darin oft gar nicht erst vor. Ständig werden wir alle zu "Männern" umfunktioniert. Was aber, wenn ich das nicht will? Ich möchte als Frau in Sprache und Schrift erkennbar sein. Meine Wahrheitstreue und mein Verantwortungsbewusstsein scheitern an dem generischen Maskulin, wenn ich als "Mann" unterschreibe. +So wie wir in der Sprache vorkommen, so werden wir auch beachtet und behandelt! Deswegen fordere ich, dass wir die sprachliche Ausgrenzung nirgends hinnehmen sollten. +Auch nicht bei der Sparkasse oder dem Wetter: Bis einschließlich März 1999 hatten die Tiefs ausschließlich Frauennamen und die Hochs nur Männernamen. Ich bin zusammen mit Elke Diehl dafür verantwortlich, dass es jetzt eine gleichberechtigte Namensänderung beim Wetter gibt. Für alle, die der Meinung sind, das sei doch unwichtig, kann ich nur feststellen: Tiefs sind immer unten, Hochs sind oben – das ist die patriarchale Struktur par excellence! +Das hat nichts mit Männerfeindlichkeit zu tun, ganz im Gegenteil: Ich liebe die Männer und habe selbst drei großgezogen. Aber sie sind nicht mehr wert als Frauen. + + +Tahir Della (56), Initiative Schwarze Menschen in Deutschland Bund e.V. +Seit vielen Jahren setzen wir uns dafür ein, dass die Mohrenstraße in Berlin umbenannt wird. Der Name ist rassistisch und zeigt, wie selbstverständlich Diskriminierung in Deutschland hingenommen wird. Unsere Kritiker sagen, dass sich die Bezeichnung auf Menschen vom afrikanischen Kontinent bezieht, die als MusikerInnen in der preußischen Armee gedient haben. Sie hätten damals eine positive Rolle gespielt und seien auch so wahrgenommen worden. Woher will ein Historiker heute wissen, wie schwarze Menschen damals im Alltag gesehen worden sind? Das M-Wort ist zudem eine Fremdbezeichnung – sie haben sich nicht selbst so genannt. Und das allein ist schon ein diskriminierender Vorgang. Außerdem sagen unsere Kritiker: Der Wortstamm kommt von niger morulus, was im Lateinischen "schwarz" heißt. Da sei nichts Diskriminierendes dran. +Wir entgegnen denen dann: Es ist dem Griechischen entlehnt, wo das M-Wort für töricht, dumm und einfältig steht. Schon allein die Herkunft der Bezeichnung zeigt also, dass es nichts Positives ist. Weiße EuropäerInnen haben Leute so bezeichnet und damit diskriminiert. Unsere Kritiker sprechen uns die Diskriminierungserfahrung ab und sagen: "Nun habt euch doch nicht so." Sie haben Angst, dass eine Minderheit der Mehrheit diktieren will, wie sie zu sprechen hat. Dass eine Minderheit das kulturelle Erbe der Mehrheit zerstören oder kritisieren will. +Wenn Menschen von Diskriminierung betroffen sind und das artikulieren, kann das nicht einfach ignoriert werden, nur weil die Mehrheit nicht empathisch genug ist, das auch so anzuerkennen. Wenn eine Gesellschaft im Wandel ist, verändert sich auch ihre Sprache. Unsere Gegner wollen ihre Augen davor verschließen und die Zeit zurückdrehen. Zurück dahin, wo die Leute, die von Rassismus oder Sexismus negativ betroffen sind, ihren Mund öffentlich nicht aufmachen durften. +Wir wollen übrigens, dass die Straße nach dem ersten schwarzen Professor in Preußen benannt wird. Er wurde als Kind versklavt und hat im 18. Jahrhundert für die Rechte schwarzer Menschen gestritten. So können unsere Kritiker auch nicht mehr einwenden, dass wir Erinnerung auslöschen. Wir wollen eine andere Perspektive in der Erinnerung stark machen. Die Mohrenstraße soll ja nicht zur Blümchenstraße werden, sondern zur Anton-Wilhelm-Amo-Straße. + + +Lann Hornscheidt (53), ehemalige Professx an der Humboldt-Universität zu Berlin +Ich habe auf meiner Webseite geschrieben, dass ich mich nicht als männlich oder weiblich verstehe und um eine Ansprache bitte, die das aufnimmt. Am Anfang habe ich eine konkrete Form vorgeschlagen, nämlich Professx. Das "x" bedeutet, dass nicht zwischen männlich und weiblich entschieden werden muss. Es gab daraufhin sehr viele Reaktionen – positive wie negative. Die Hassmails und -kommentare nehme ich nicht persönlich, sondern für mich sind sie Ausdruck von Angst und Unsicherheit mit der eigenen Identität. Eine Angst davor, dass Sprache so wirkmächtig ist. +Was die traditionellen Sprachformen vorgeben, ist, dass Mensch als männlich oder weiblich angesprochen wird. Und da es keine etablierte andere Form in Deutschland gibt, habe ich eine Form versucht zu finden, die das umsetzt. Für mich ist Sprache ein kreatives Medium, das wir uns kontinuierlich wieder aneignen. Sie besteht nicht aus Normen und Regeln, die nur stur angewendet werden müssen. Wir haben die Möglichkeit, in Sprache vorzukommen. Für manche Menschen, die aus bestimmten Normen rausfallen – zum Beispiel der Gender-Norm –, ist das ein größerer Prozess. Wenn Zweigeschlechtlichkeit als Rahmen infrage gestellt wird, führt das aber offenbar zu einer sehr großen Verunsicherung. +Unter meinen Mails weise ich jetzt immer noch darauf hin, dass ich nicht mit "Herr" oder "Frau" angesprochen werden möchte. "Sei gegrüßt, Lann Hornscheidt", haben zum Beispiel einige geschrieben. Mir war das vorher gar nicht so geläufig. Ich finde diese Anrede aber sehr schön, weil sie darauf verzichtet, eine Person gendermäßig zuzuschreiben. Mir geht es nicht darum, zu sagen: "Das ist die neue Form, und die sollen jetzt alle benutzen." Menschen sollen ermächtigt sein, sich Sprache anzueignen, um mit ihr respektvoll zu handeln. + + +Aydoğan* (26), Student +Für den einen mag es vielleicht hysterisch klingen: Ich habe neulich die ganze Mensa zusammengeschrien, weil jemand ernsthaft "Schnitzel mit Zigeunersoße" an die Tafel geschrieben hatte. So ein unvorsichtiger und rassistischer Sprachgebrauch belastet mich. +Wann immer mir derartige Unaufmerksamkeiten begegnen, empöre ich mich, werde ich laut. Das habe ich mir zur Gewohnheit gemacht. Zur Not werde ich so laut, dass es für die Verursacher total peinlich wird. Denn je unbequemer der gedankenlose, rassistische Sprachgebrauch wird, desto eher verändert sich auch etwas im Denken. +Ich werde aber gar nicht für mich persönlich sauer. Sondern aus Solidarität. Ich halte mein stures Entgegenhalten für die einzige mir mögliche Strategie, den belasteten Begriffen ihre Legitimation zu entziehen. +Wer ohne nachzudenken das Z-Wort beim Mittagessen auf die Karte schreibt, ist für mich geschichtsvergessen und unsensibel. Solche unbedachten Alltagsfehler führen zu einer Verharmlosung der Geschichte. Wer macht sich denn bei seinem Schnitzel bewusst, was Sinti und Roma noch immer durchmachen müssen? Da bekomme ich eher Hausverbot und werde von allen blöd angeguckt. Aber ich stehe für die richtige Sache ein. Ich habe einen türkischen Hintergrund und symbolisiere noch Zuschreibungen, über die sich andere aufregen. Ich weiß also, wie es ist, wenn man diskriminiert wird. + +* Name von der Redaktion geändert + diff --git a/fluter/umweltschutz-auf-dem-wonderfruit-festival.txt b/fluter/umweltschutz-auf-dem-wonderfruit-festival.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7dcff177f235fba12275d9af35a0df894571f5af --- /dev/null +++ b/fluter/umweltschutz-auf-dem-wonderfruit-festival.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Montonn Jira skatet im Glitzercape übers Festivalgelände +Achtung, Kalauer: eine Standpauke + +Sein Partner Pranitan "Pete" Phornprapha wirkt mit Cowboyhut und Gummistiefeln schon geerdeter. Seinem Vater gehört das Gelände. 361 Tage im Jahr spielen wohlhabende Thais hier Golf. Während der vier Tage Wonderfruit verwandelt sich der "Siam Country Club" jedoch in ein Experimentierfeld für eine bessere Zukunft. "Fest der Ideen" nennen es die Macher. "Wir dachten schon lange, dass ein Festival der perfekte Ort ist, um Menschen zu verantwortungsvollem Konsum und Ökobewusstsein zu inspirieren, weil man diese Dinge dort mit Musik, Spaß und sogar Dekadenz verbinden kann", erklärt Phornprapha, dessen Vater in den 1990er-Jahren eine Umweltkampagne namens "Think Earth" ins Leben rief. +Pranitan "Pete" Phornpraph – seinem Vater gehört das Wonderfruit-Gelände +So sieht Vorfreude auf plastikloses Campen aus +Damals hatte in Thailand kaum jemand von globaler Erwärmung gehört. "Konzepte wie Recycling haben sich in Südostasien noch immer nicht durchgesetzt", erklärt er. "Gerade in Thailand ist die Plastiktütenproblematik enorm." +Während andere Festivals Müllwüsten hinterlassen und riesige Energiemengen verschwenden, will das Wonderfruit auf kleinem Raum zeigen, wie man Umweltverschmutzung minimiert: Plastik ist verboten, von den Bechern bis zum Besteck ist alles biologisch abbaubar. Die Bühnen sind fast durchweg aus Bambus, Kokos-Rattan oder Reisfaser konstruiert. Neben einem Kompost verfügt das Gelände über eine eigene Filteranlage, die das Wasser eines naheliegenden Sees zum Trinken aufbereitet. "Seit dem letzten Jahr sind wir CO2-neutral", erklärt Phornprapha stolz. Erreicht wurde das, in dem man den ökologischen Fußabdruck der Festivalgäste in Mangrovenbäume aufrechnete und diese dann tatsächlich pflanzte. Die verästelten Mangroven sind einer der effizientesten Kohlenstoffdioxid-Speicher der Natur. 10.000 neue Bäume stehen dank des Wonderfruit-Teams nun im Thor Heyerdahl Climate Park in Myanmar. 5000 steuerten die Besucher selbst bei: Für jeden in der "Tree Hour" zwischen fünf und sieben Uhr gekauften Drink wurde ein weiterer gepflanzt. +Die vermutlich schönsten Festival-Sanitärstationen aller Zeiten +Klima-positiv trinken für ein gutes Gewissen – steckt dahinter vielleicht nur die Absicht, als vermeintlich selbstloser Klimaretter Kasse zu machen? Solche Vorwürfe des "Greenwashing" weist Phornprapha zurück: Das sei nur eine grüne Lackierung, ohne "Ethos, Herz und Engagement. Bei uns kam zuerst der Wunsch, etwas für die Umwelt zu tun, das Festival wuchs langsam um diesen Gedanken herum. Wir messen ständig unsere Ergebnisse und lassen uns von Umweltorganisationen beraten, was wir verbessern können." + +Morgens SUP-Yoga auf dem See... + +In Zukunft wollen die beiden, die trotz wachsender Popularität auch im vierten Jahr keine Gewinne machen, verstärkt in Solarenergie investieren. Für die Energiespeisung der Bühnen seien sie noch immer auf Dieselgeneratoren angewiesen, geben sie zu. +Von einem missionarisch erhobenen "grünen" Zeigefinger halten sie ohnehin nichts. Das Ökobewusstsein soll eher nebenbei einsickern, als "guter Ton und bestenfalls als Trend", sagt Jira und grinst charmant: "Wir wollen Nachhaltigkeit sexy machen." +Noch kurz aufwärmen +So ist das Wonderfruit, das als idealistisches DIY-Projekt begann, heute vor allem eines: Ein professionelles Musik-und Wellness-Festival, das statt Müsli-Image hippen Zeitgeist verkörpert. Tagsüber können die Besucher Yoga- und DJ-Kurse machen oder im "Rainforest Pavilion" Vorträgen zuhören, nachts zu DJ-Größen wie Richie Hawtin oder lokalen Stars wie Singto Numchok feiern. 13.000 Besucher sind im Dezember 2017 angereist. "Wonderer" nennen die Macher sie liebevoll. Viele stammen aus den "Panther- und Tigerstaaten" Singapur, Taiwan, Vietnam und Malaysia, die auf dem Weg zu Industrienationen ihre Umwelt hintenan stellten. Auch immer mehr Chinesen kommen, deren Ballungsräume wie nirgendwo sonst dringende Umweltlösungen verlangen. Den Großteil machen mit 48,5 Prozent aber Thais aus, viele von ihnen junge Hipster aus der Mittel- und Oberschicht, die sich den Eintrittspreis von 5,500 Baht (rund 140 Euro) problemlos leisten können. + +Abends tanzen im Zelt +Für die meisten Besucher steht der Öko-Aspekt nicht im Vordergrund, sondern das Sehen und gesehen werden. Viele tragen Federschmuck und Glitzer, knappe Outfits und wallende Hippiegewänder. Manchmal glaubt man, auf der asiatischen Version des Coachella gelandet zu sein, dem als Instagram-Catwalk verschrienen Festival in Kalifornien. Tatsächlich eignen sich die in die Natur eingebetteten Kulissen des Wonderfruit hervorragend für Selfies und andere Beweisfotos des eigenen, aufregenden Lebens. Auch immer mehr Modefirmen kommen für professionelle Shootings hierher. Das Konzept, Umweltschutzideen durch die Hintertür einzuschmuggeln, scheint aufzugehen. +Sieht auf Instagram aus wie Coachella – ist aber nachhaltig +Auch bei Sonnenaufgang liegt hier kein Fetzen Müll im Gras +Höhepunkt des Wonderfruit bleibt trotzdem jeden Morgen der Sonnenaufgang. Wie von einer magnetischen Kraft angezogen finden sich alle, die noch wach sind, zum letzten DJ-Set der Nacht an der Solar Stage ein. Von hier aus kann man am besten verfolgen wie sich der Himmel langsam verfärbt, von dunkelblau zu lila, von türkis zu rosa, bis die Sonnenscheibe schließlich hinter den Hügeln aufblitzt, und alles in gleißendes Licht taucht. Dann geht ein Jauchzen durch die Menge. Viele liegen sich in den Armen wie in einer Neujahrsnacht um 12. Es ist ein Gemeinplatz, der im coolen Öko-Utopia plötzlich selbstverständlich und wahr erscheint: Jeder neue Tag auf dieser Erde ist ein Grund zu feiern. + diff --git a/fluter/un-behindertenrechtskonvention.txt b/fluter/un-behindertenrechtskonvention.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9e0d7d82c9ca07510a156b230f9e52f3c36b698c --- /dev/null +++ b/fluter/un-behindertenrechtskonvention.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Sie legt fest, welche Rechte Menschen mit Behinderung haben und dass Behinderung als Teil der Vielfalt menschlichen Lebens zu würdigen ist. Sie enthält aber keine Sonderrechte für Menschen mit Behinderung, sondern konkretisiert noch mal ihren Anspruch auf die geltenden Menschenrechte. +Die für Deutschland verbindliche Konventionenthält 50 Artikel. Die formulieren die Chancengleichheit und Selbstbestimmung aus, die Menschen mit Behinderung brauchen, um an der Gesellschaft teilhaben zu können. Die Artikel betreffen alle Lebensbereiche. In Artikel 9 zum Beispiel die Barrierefreiheit: Öffentliche Gebäude wie Schulen oder Krankenhäuser, Straßen oder Bussesollen für behinderte Menschen zugänglich sein. Auch das Internet soll barrierefrei eingerichtet sein, unter anderem durch die Übersetzung von Textenin Leichte Sprache. +Weitere Artikel sollen sichern, dass Menschen mit Behinderung selbst entscheiden können, was sie arbeiten und wo und mit wem sie leben wollen, dass sie wählen gehen oder sich kulturell betätigen können. Und die Konvention fordert ein "inklusives Bildungssystem", also dass Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen. Der Staat muss die Bedingungen dafür schaffen, dass das gelingt. +Die Konvention ist kein Gesetz. Menschen mit Behinderung können in Deutschland nur die Rechte einklagen, die in den deutschen Gesetzen stehen. Deutschland hat sich aber verpflichtet, seine Gesetze so zu ändern, dass sie zur Konvention passen. +Die Konvention gilt heute in 189 Staaten (der insgesamt 193 UN-Staaten weltweit), darunter alle Mitgliedsländer der EU. Kein anderes Abkommen wurde so schnell von so vielen Staaten unterschrieben, Deutschland war einer der ersten – mehr als ein Jahr bevor das Abkommen im Mai 2008 in Kraft trat. Schon in der Vorbereitung gab es eine Neuheit: Erstmals bei einem so weitreichenden internationalen Beschluss haben Menschen mit Behinderung und ihre Verbände mit darüber entschieden, welche konkreten Forderungen die Vertragsstaaten erfüllen sollen. +Zum einen nimmt die Konvention die Gesellschaft in die Verantwortung für Inklusion: Sie erkennt an, "dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht". Ein Mensch, der mit Rollstuhl lebt, wird also durch seine Umwelt behindert, etwa indem sie Gebäude baut, die nur über Treppen zu erreichen sind. Behinderung wird aus dieser Perspektive zu einer Erfahrung, die ein Mensch vor allem durch sein Umfeld erfährt, weniger durch persönliche (angeborene) Eigenschaften. +Zum anderen ist die Konvention völkerrechtlich verpflichtend. Solche Verträge haben einen besonderen Status: Verstößt ein Staat gegen das Völkerrecht, können gegen ihn weitreichende Strafen verhängt werden, zum Beispiel Wirtschaftssanktionen. +Offiziell schon. Verstöße gegen das Völkerrecht zu ahnden ist aber kompliziert: Ein Grundsatz des Völkerrechts verbietet es, sich in die "inneren Angelegenheiten" eines anderen Staates einzumischen. Verstöße gegen die Konvention werden also praktisch nicht bestraft. Die UN setzen auf den guten Willen der Vertragsstaaten, auf "naming and shaming": Alle verlassen sich darauf, dass niemand vor den anderen schlecht dastehen will. +Die Vertragsstaaten verpflichten sich selbst, eine staatliche Anlaufstelle und eine unabhängige "Monitoring-Stelle" einzurichten, die Fortschritte und Mängel überwacht. Und die Staaten müssen einem speziellen UN-Ausschuss regelmäßig Fachberichte vorlegen. Auch die zahlreichen Interessenvertretungen schauen genau auf die Situation, etwa derDeutsche Behindertenrat, Aktion Mensch oderder Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. +Es wirdmehr über Selbstbestimmtheit für Menschen mit Behinderung gesprochen, das Bewusstsein für Inklusion wächst. Gut 15 Jahre nach Inkrafttreten gibt es aber immer noch viele Mängel, vor allem in der Barrierefreiheit. Erst vergangenes Jahr haben die UN Deutschland für seine mangelhafte Inklusionspolitik kritisiert: "In Deutschland besteht weiterhin ein stark ausgebautes System von Sonderstrukturen – sowohl in der schulischen Bildung undbei der Beschäftigung in Werkstättenals auch in Form von großen stationären Wohneinrichtungen." +Der Fachausschuss fordert, solche Sondereinrichtungen für Menschen mit Behinderungen abzubauen. Bei allen Diskussionen über Vielfalt werden Menschen mit Behinderungen immer noch zu wenig berücksichtigt. +Bleibt ein fernes Ziel. Trotzdem ist die Konvention wegweisend, sie hat Bewusstsein und Aufmerksamkeit geschaffen. Sie ist Anlass für alle Vertragsstaaten, ihren Anspruch in den Alltag der Menschen zu bringen. +Ein paar Erfolge gibt es bereits, auch in Deutschland: Mehr Bahnhöfe und Busse wurden mit Rampen oder Aufzügen ausgestattet. Um mehr Menschen mit Behinderungen in reguläre Jobs zu bringen, wurde für fast 175.000 Unternehmen eine Beschäftigungspflicht eingeführt: Sie müssen mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze an Menschen mit Behinderung vergeben. Wobei sich die Unternehmen von dieser Pflicht freikaufen können – was viele auch machen. +Seit 2017 soll das Bundesteilhabegesetz die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen stärken, zum Beispiel indem sie mehr von ihrem Einkommen und Vermögen behalten dürfen (Eingliederungshilfe). Und 2019 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass Menschen mit Behinderung, die in Vollbetreuung leben, nicht längervon Bundestags- und Europawahlen ausgeschlossen werden dürfen. Nach dem Urteil führte der Bundestag das inklusive Wahlrecht ein. diff --git a/fluter/und-das-soll-gerecht-sein.txt b/fluter/und-das-soll-gerecht-sein.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..749a4a404d94bb582ebbf9988c5b5417e424d8c5 --- /dev/null +++ b/fluter/und-das-soll-gerecht-sein.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Fairer funktionieren soll es so: Kleinbauern organisieren sich in Kooperativen, der Importeur sucht sich unter ihnen langfristige Partner und zahlt für ihre Waren Mindestpreise sowie Aufschläge für die ökologische und soziale Entwicklung. Was mit dem Geld genau passiert und wie viele ihrer Orangensäfte und Fußbälle die Kooperativen überhaupt in den fairen Handel verkaufen wollen, entscheiden sie selbst. Natürlich gibt es Anforderungen an die Herstellung, aber wie ein Fairtrade-Bauer nun wirklich lebt, lässt sich nicht pauschal sagen. Auf den Markt kommen die Produkte am Ende über den Importeur und Großhändler – entweder in spezialisierte Weltläden oder in Supermärkte, wo sie sich das Regal mit der konventionellen Konkurrenz teilen. +Anders als "Bio" war und ist "fairer Handel" aber kein rechtlich geschützter Begriff. Alles darf sich so nennen. Label mit Standards und Wiedererkennungswert bieten sich an. Wie das bekannte grün-blauschwarze Fairtrade-Siegel von der Organisation Fairtrade International (FLO), bei der auch TransFair Mitglied ist. Ein Zertifizierer kontrolliert, ob die sozialen und ökologischen Standards eingehalten werden. +Laut dem Netzwerk "Forum Fairer Handel" setzte der faire Handel 2012 in Deutschland 650 Millionen Euro um – ein Zuwachs von über 500 Prozent im Vergleich zu 2004. Mehr als drei Viertel dieser Produkte trugen 2012 das Fairtrade-Siegel; ihr Umsatz hat sich seit 2004 sogar verneunfacht. Der Marktanteil ist aber insgesamt noch gering, einzelne Produkte wie Bananen erreichen gut drei Prozent, Fairtrade- Rosen hatten 2012 immerhin einen 2012 setzte der faire Handel in Deutschland 650 Mio. Euro um Marktanteil von knapp 20 Prozent. +Das Europäische Parlament hat Mitte Januar 2014 neue Regeln für das öffentliche Beschaffungswesen angenommen. Öffentliche Einrichtungen können in ihren Ausschreibungen, zum Beispiel fürs Catering, nun auch nachhaltig erzeugten Produkten aus fairem Handel oder Bio eine Chance geben – und müssen nicht unbedingt beim billigsten Anbieter zuschlagen. +Sind wir aber wirklich problembewusster geworden? Der Konsumsoziologe Kai-Uwe Hellmann, Privatdozent an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg, ist da skeptisch. Man müsse bei Konsumenten und Lieferanten differenzieren: zwischen jenen, die wirklich bis ins letzte Detail prüfen, dass alles seine Ordnung hat – das sei eine Minderheit –, und jenen, die sich mit so viel begnügen, dass der Anschein gewahrt bleibt. "Bezüglich vieler Wertschöpfungsketten fehlt die konsequente Kontrolle." Auch Saphir Robert, Projektleiterin bei "Label Online", sagt: "Vieles, aber nicht alles, wo ein Label drauf ist, ist gut. Man muss schon genau hingucken." +So sind sogar die Siegel von FLO und der Rainforest Alliance in die Kritik geraten: Im August 2013 berichtete Arte in einer Dokumentation kritisch über Kooperativen in Costa Rica und der Dominikanischen Republik, über Ungleichheit und Armut unter den Bauern und das Elend von haitianischen Wanderarbeitern. FLO warf dem Filmemacher vor, komplexe Zusammenhänge und Informationen außer Acht gelassen zu haben. +Aber auch die FLO-Fairtrade-Kriterien selbst werden heiß diskutiert: Mischwaren wie Schokolade müssen nur noch zu mindestens 20 Prozent aus fair gehandelten Zutaten bestehen statt wie früher zu 50 Prozent. "Wir haben schwer mit uns gerungen, ob uns das noch reicht", sagt Saphir Robert. "Dann haben wir uns aber entschieden, das Siegel gut zu bewerten, weil es keine Alternative zu dem Programm gibt und die Menschen dennoch profitieren." Der Kampf um das Wohlwollen des Verbrauchers ist hart. "Will ich strenge Nachhaltigkeit für wenige oder etwas gelockerte für viele?", fragt Ulf Schrader von der TU Berlin. "Mein Wunsch ist, dass Fairtrade überflüssig wird – weil der Welthandel insgesamt fairer wird." diff --git a/fluter/und-hier-sollte-es-zum-strand-gehen.txt b/fluter/und-hier-sollte-es-zum-strand-gehen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d40a26b6fd80ba98487ba3c0fc5a6bbefc673f01 --- /dev/null +++ b/fluter/und-hier-sollte-es-zum-strand-gehen.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Manch ein Reiseführer warnt davor, in Japan unbedacht nach dem Weg zu fragen. Denn viele Japaner geben eher eine falsche Antwort, als sich die Blöße zu geben, ihr Nichtwissen eingestehen zu müssen – was übrigens auch ein schlechtes Licht auf den Fragenden wirft: Er hätte sich an eine kundigere Person wenden sollen, um beiden die peinliche Situation zu ersparen. Die kleine Lüge ist hier das geringere Übel, damit beide ihr Gesicht wahren können. 
Merkwürdig? "Nur aus westlicher Sicht ist das um die Ecke gedacht", sagt diePsychologieprofessorin Jeannette Schmid, die an der Universität Frankfurt/Main zu Lügen geforscht hat. Jede Kultur billige ein gewisses Maß an Unehrlichkeit im Alltag, sie gehört zu Höflichkeit und Etikette dazu, nur der Zuschnitt falle verschieden aus. Selbst innerhalb westlicher Länder ist das Verständnis von Alltagslügen keineswegs gleich. Eine Amerikanerin, sagt Schmid, würde auf die Frage "Wie geht's" nie eine ehrliche Antwort erwarten. Eine Deutsche auch nicht unbedingt – aber sie wäre weniger erstaunt, wenn sie als Antwort ein Klagelied über die letzte Darmspiegelung vorgetragen bekäme. +Ein Forscherteam um den PsychologenKang Lee von der Universität Torontoverglich in einer Studie, wie Kinder aus Kanada und China mit der Lüge umgehen – mit erstaunlichen Ergebnissen. Die Forscher erzählten den Kindern folgende Geschichte: Ein Junge hatte auf dem Weg zur Schule sein Essensgeld verloren, ein Klassenkamerad namens Mark will helfen und steckt ihm heimlich etwas von seinem Geld zu. Die Lehrerin bemerkt es und fragt Mark: "Hast du ihm das Geld gegeben?" +"Nein", sagt der. +Alle Kinder, die die Forscher befragten, sowohl die kanadischen als auch die chinesischen, lobten Marks selbstloses Verhalten. Aber wie sah es mit ihrer moralischen Bewertung des Lügens aus? +Die kanadischen Kinder missbilligten die Lüge. Die jüngeren chinesischen Kinder ebenfalls, doch ab einem gewissen Alter scheint sich diese Haltung zu ändern. Die älteren der befragten Chinesen beurteilten die Lüge positiv. Ähnliche Ergebnisse brachte auch eine Studie mit thailändischen Probanden. Die Forscher erklärten ihre Ergebnisse damit, dass die konfuzianische Kultur Zurückhaltung wesentlich höher achtet, als dies die westliche Kultur tut. Bescheidenheit zählt mehr als Ehrlichkeit – und ab einem gewissen Alter scheinen die Kinder das verinnerlicht zu haben. +Es gibt viele Experimente dieser Art. Kulturpsychologen führen die Unterschiede unter anderem darauf zurück, dass Gesellschaften kollektivistisch oder individualistisch geprägt sein können, dass also eher die Rechte und das Wohlergehen der Gruppe oder des Einzelnen entscheidend sind. Solche Unterscheidungen sind immer holzschnittartig, die Übergänge sind fließend, und längst nicht alles passt in ein solches Schema. Dennoch: Manche groben Muster im Umgang mit der Wahrheit lassen sich damit gut erklären. "In individualistischen Kulturen herrscht die Idee einer feststehenden Persönlichkeit", sagt Lügenforscherin Schmid. Die Unwahrheit zu sagen ist immer ein Charaktermakel – unabhängig von der Situation. "Kollektivistische Kulturen betonen viel stärker den Kontext, der definiert, welches Verhalten für den Einzelnen angemessen ist." Eine kleine Alltagslüge wie die von Mark erscheint angemessen, weil sie den Werten der Gruppe dient. Sie ist wie ein Schmiermittel, das den Umgang der Menschen miteinander geschmeidig macht. +Lügen sind immer auch ein Ausweg aus einem moralischen Dilemma, das je nach den vorherrschenden Werten eines Menschen, einer Gruppe, einer Kultur auch ganz anders gelöst werden könnte. Kein Wunder, dass die Religionen der Welt ebenfalls ganz unterschiedlich mit der Lüge umgehen. Die griechischen Götter etwa intrigierten fleißig gegeneinander, da machte es kaum etwas aus, wenn der Mensch auch mal nicht ganz aufrichtig war. +In den Offenbarungsreligionen wie dem Judentum oder dem Christentum ist das Lügenverbot schon strikter. "Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten", hat Gott Moses als achtes Gebot auf die Steintafel geschrieben; an anderen Stellen ist noch deutlich von der Verwerflichkeit der Lüge die Rede. Interessant ist allerdings, wie wenig sich der Gott des Alten Testaments um die Einhaltung dieses Grundsatzes schert. Als etwa die Israeliten im ägyptischen Exil sind, befiehlt der Pharao ihren Hebammen, alle männlichen Nachkommen zu töten. Die halten sich nicht daran und tischen dem Herrscher die Lüge auf, sie kämen immer viel zu spät ans Wochenbett. Die israelitischen Frauen würden einfach so schnell ihre Kinder gebären. Dem Herrn gefällt die List: "Gott verhalf den Hebammen zu Glück; das Volk aber vermehrte sich weiter und wurde sehr stark", schreibt die Bibel. +Zu einem ehernen Grundsatz, so die deutschstämmige US-AutorinEvelin Sullivan, wird das Lügenverbot erst später. "Unsere moderne westliche Auffassung, dass das Lügen – ungeachtet seiner Zweckdienlichkeit und Nützlichkeit – an sich etwas Schlechtes ist, hat viel mit der veränderten Wahrnehmung zu tun, die ihre Wurzeln im Neuen Testament hat." Denn für Jesus galt: Über die moralische Qualität entscheidet eher die innere Haltung als die Frage, ob man äußere Regeln befolgt. +Aber auch mit einem strikten Verbot der Unwahrheit kommt eine Gesellschaft nicht weiter. Deswegen haben die Theologen auch fleißig nach Auswegen gesucht. Der spätantike Kirchenlehrer Augustinus erfand acht unterschiedliche Arten der Lüge, alle sündhaft und schlimm, aber nicht alle im gleichen Maß. "In allen Zeiten und Kulturen versucht man, sich Freiräume vom Lügenverbot zu schaffen", sagt die Frankfurter Forscherin Jeannette Schmid. "Das weist darauf hin, dass die menschliche Gesellschaft ohne Lüge schwer möglich wäre." +Bernd Kramer schreibt als freier Autor unter anderem für die "Zeit", "Neon" und die "taz". Als studierter Volkswirt und Soziologe beschäftigt er sich in seinen Texten gerne mit den großen Fragen der Gesellschaft. diff --git a/fluter/und-jetzt-alle-zusammen.txt b/fluter/und-jetzt-alle-zusammen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d69ebe77cff2269bf05635c5948a986dd5021a67 --- /dev/null +++ b/fluter/und-jetzt-alle-zusammen.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Anteil der Europäer über 65 im Jahr 1950: 8,2 Prozent +Anteil der Europäer über 65 im Jahr 2050: 27,4 Prozent +Anzahl souveräner Staaten in Europa 1900: 22 +Anzahl souveräner Staaten in Europa 2013: 49 +85 Prozent Westeuropas gelten nach dem Freedom House-Index als frei (die Türkei gilt nur als teilweise frei). In Osteuropa gelten Bosnien-Herzegowina, Ukraine, Republik Moldau, Albanien, Kosovo, Mazedonien, Georgien und Armenien als teilweise frei. Weißrussland gilt als nicht frei. +Quelle: Eurostat, destatis diff --git a/fluter/und-morgen-die-ganze-welt-film-rezension.txt b/fluter/und-morgen-die-ganze-welt-film-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c3c0558834821945a05618a126f5275e236c1738 --- /dev/null +++ b/fluter/und-morgen-die-ganze-welt-film-rezension.txt @@ -0,0 +1,25 @@ + +Worum geht's noch? +Die alte Frage, ob Gewalt als Mittel des Protests legitim ist. Die spaltet im Film die Gruppe: Während Batte und Lenor friedliche Aktionen durchführen wollen und Gewalt höchstens gegen Dinge okay finden, sieht Alfa von Anfang an auch körperliche Gewalt als adäquates Mittel im Kampf gegen rechtsextreme Kräfte. + +Wer erzählt hier – und wie? +Die Autorin und Regisseurin Julia von Heinz war selbst zehn Jahre lang in der Antifa. Sie trat ein, nachdem siean ihrem 15. Geburtstag mit ihren Freunden von Neonazis überfallen worden war. Wie ihre Protagonistin Luisa hat von Heinz erst Jura studiert, sie brach aber nach zwei Semestern ab und ging zum Film. "Und morgen die ganze Welt" ist nicht streng autobiografisch, Heinz' persönliche Erfahrung spürt man aber in jeder Filmminute – besonders wenn die Organisation und der Tagesablauf innerhalb der Antifa zu sehen sind, zum Beispiel die Vorträge der Mitglieder im Plenum. Auch Hierarchie und Gruppendynamik werden eindringlich gezeigt, vor allem am Beispiel von Alfa, der bald Anhänger innerhalb der Gruppe findet. Die hektische Handkamera macht es auch visuell authentisch. Dabei erzählt der Film radikal subjektiv Luisas Sicht auf die Dinge, hält sich aber mit Wertungen zurück. Vieles bleibt offen, auch Luisas Motivation: Sie scheint eine Mischung zu sein aus dem diffusen Gefühl, etwas gegen das Erstarken von Rassismus und Intoleranz in Deutschland unternehmen zu müssen, und dem Bedürfnis, sich in der Gruppe zu bewähren und, ja, auch Alfa zu gefallen. + + +Wie nah ist das an der Realität? +Die Diskussion, ob Gewalt ein legitimes Mittel im Kampf gegen Faschismus ist – und vor allem, wann man von Faschismus sprechen kann –,gibt es seit Jahrzehnten innerhalb der Antifa-Szene. Von außen wiederum wird solche Gewaltbereitschaft scharf verurteilt: Aktuell werden knapp 50 Antifa-Gruppen vom Verfassungsschutz beobachtet und als "extremistisch" eingestuft. Manche realen Phänomene oder Personen greift von Heinz außerdem leicht verfremdet auf: Die rechtspopulistische Partei im Film, "Liste 14", spielt nicht nur im Logo auf die AfD an, der Altnazi Manfred Röhder, bei dem Luisa, Alfa und Lenor im Laufe der Geschichte einbrechen, ist dem 2014 verstorbenen Manfred Roeder nachempfunden, der wegen Holocaustleugnung, Volksverhetzung und Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt wurde. Was auf der Erzählebene allerdings nicht ganz nachvollziehbar erscheint, ist Luisas Radikalisierungsprozess. Ihre völlige Gewaltbereitschaft, nachdem sie bei einer Auseinandersetzung von Rechtsextremen verletzt worden ist, kommt doch etwas abrupt. + +Gelernt: +Allerhand Paragrafen. Die Polizei ermittelt zum Beispiel im Laufe des Films gegen das linke Projekt, in dem sich Luisa engagiert, und wendet dabeiden viel diskutierten Paragrafen 129 des Strafgesetzbuchsan, derder Polizei umfassende Überwachungsmaßnahmen ermöglicht, wenn sie einen Verdacht auf die Bildung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung hat. Den Rahmen des Films bildetder Artikel 20 des Grundgesetzes, in dem steht: "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (…) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist". Am Anfang wird er eingeblendet, im Uni-Seminar diskutieren Luisa und ihre Kommilitonen, ob nicht schon die Vorbereitung eines antidemokratischen Umsturzes bekämpft werden sollte, und er bildet auch den Schluss des Films. + +Schade: +Der Cast in "Und morgen die ganze Welt" ist durchaus divers, der Film aber konzentriert sich auf Luisas weiße, privilegierte Perspektive. Allen anderen wird nur sehrbedingt eine eigene Stimme zugestanden. Dafür erhält die Liebesgeschichte zwischen Luisa und Alfa recht viel Raum. + +Überflüssig: +Dass der Alphamann Alfa heißt (haben wir auch so verstanden). + +Good Job! +"Und morgen die ganze Welt" hätte ein pädagogisch anmutender Themen- oder Milieufilm werden können. Julia von Heinz' persönliche Erfahrung, ihr Talent als Beobachterin, die nahe, unmittelbare Kamera und Mala Emdes bestechendes Spiel als Luisa verleihen dem Film aber eine große Kraft. + +"Und morgen die ganze Welt" feierte im September in Venedig Premiere und geht für Deutschland in das Rennen um den Oscar in der Kategorie "International Feature Film" . +In den deutschen Kinos läuft er ab sofort. diff --git a/fluter/und-taeglich-ging-einer-ueber-bord.txt b/fluter/und-taeglich-ging-einer-ueber-bord.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5e3d1ca8a69dbbedc000362795a340a196f761de --- /dev/null +++ b/fluter/und-taeglich-ging-einer-ueber-bord.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Das hat sich wohl auch Lutz Seiler gedacht, der sonst eher Gedichte verfasst – was man seinem Romandebüt irgendwie anmerkt. Statt eines Spannungsbogens, der einen über die fast 500 Seiten hinweg tragen könnte, liefert Seiler eine atmosphärische und sprachliche Verdichtung, bei der man zwangsläufig ein klaustrophobisches Gefühl bekommt. Irgendwann fühlt man sich beim Lesen genauso beengt wie der Protagonist Ed Bendler in der DDR. +Der bricht im Wendejahr sein Germanistikstudium ab, um ans Ende der Deutschen Demokratischen Republik zu reisen – auf die Insel Hiddensee, von wo aus man bei guter Sicht bis nach Dänemark blicken kann. Eine wunderbare Verheißung, wenig mehr als 40 Kilometer entfernt. Ed landet als Spülkraft im "Klausner", einem Touristikbetrieb, den Lutz Seiler Seite für Seite zur Großmetapher ausbaut: der "Klausner" als Schiff in den Wogen unsicherer Zeiten, mal kurshaltend, mal schlingernd, aber letztlich natürlich dem Untergang geweiht. Bis dahin vertreibt sich die Belegschaft in seinem Bauch die Zeit mit der Vergabe bedeutungsvoller Spitznamen und der Vernichtung sämtlicher Alkoholvorräte. In Eds Spülbecken fault das Wasser, und täglich geht einer über Bord. Am Ende natürlich auch der namengebende Alexander Krusowitsch alias Kruso, der Ed in die Geheimnisse des "Klausners" einweiht. +Lutz Seiler hat für "Kruso" den Deutschen Buchpreis bekommen – wahrscheinlich, weil es im Jubiläumsjahr der friedlichen Revolution einfach sehr gut passte: ein bekannter Autor aus dem Osten, der sich ein wichtiges Thema vornimmt. +Dabei sind die Schotten dieses literarischen Seelenverkäufers so dicht, dass der Geschichte ziemlich schnell die Luft ausgeht. Mögen sich im Rest der Republik die Anzeichen auf ein gutes Ende verdichten, auf Hiddensee ist irgendwann alles nur noch ein großes Raunen – die Herkunft der Menschen, ihr Verbleib, ihre Absichten und auch die latent homoerotische Beziehung von Ed zu Kruso. Alles bleibt im Küstennebel. diff --git a/fluter/undbeieuchso.txt b/fluter/undbeieuchso.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b8b0b24895ecd7e7ac3f006bc2b923b5a81c1119 --- /dev/null +++ b/fluter/undbeieuchso.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +In nur 114 von 2058 deutschen Städten gibt es eine Berufsfeuerwehr, in allen anderen sind die Einsatztrupps ehrenamtlich organisiert. Wir warenin Lütjenburgund haben den 15-jährigen Hannes beim Löschen begleitet. + +Tonnenweise Ideen dafür gibt es in der "Alten Mu" – einer ehemaligen Kunsthochschulein Kiel, in der sich Werkstätten, Start-Ups und Kunstschaffende zusammentun. + +InSaarbrückenhaben drei Initiativen ein altes Industriegelände zum Kulturzentrum umfunktioniert. Mit Tischtennis-Battles, Raves, Ausstellungen oder einem Weinfest wollen sie verhindern, dass junge Menschen das Saarland verlassen. +InBremenhat sich eine Kinderbibliothek zum Ziel gesetzt, Literatur diverser zu machen – und einen Ort zu schaffen, an dem sich alle willkommen fühlen. diff --git a/fluter/under-my-thump-sexistische-lieder-und-frauen-die-sie-hoeren.txt b/fluter/under-my-thump-sexistische-lieder-und-frauen-die-sie-hoeren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5066c9b45e4be34063222df80f067efbbb2357bf --- /dev/null +++ b/fluter/under-my-thump-sexistische-lieder-und-frauen-die-sie-hoeren.txt @@ -0,0 +1,26 @@ + + +Rolling Stones – "Under My Thumb" (1966) +Im titelgebenden Song des Buches singt Mick Jagger über eine Frau, die "genau das tut, was man ihr befiehlt". Auch in anderen Stones-Songs wie "Brown Sugar" dominiert Jagger seine weibliche "Beute". Obwohl Mick Jagger, genau wie David Bowie, mit seinem androgynen Auftreten gegen traditionelle Geschlechterrollen rebellierte, behandeln viele seiner Songtexte die Frau als Objekt, das dem Mann gehört und ihm jeden Wunsch erfüllt. +Kann man so einen Old-School-Sexismus mit "Andere Zeiten, andere Sitten" begründen? Manon Steiner und Em Smith sind da zerrissen. Gerade bei Musiklegenden wie Jagger und Bowie sei das letztlich nur schwer zu akzeptieren. Immerhin haben Idole wie sie eine hohe Strahlkraft. Ihre Verehrung lässt sich für Manon Steiner und Em Smith nicht mit moralischen Gewissensbissen vereinbaren. + +Nick Cave und Kylie Minogue – "Where the Wild Roses Grow" (1995) +Gewalt und sogar Mord an Frauen sind keine Seltenheit in Songtexten. Und natürlich nicht nur da. In der Literatur hat das Motiv eine lange Tradition. Nick Cave widmete den "Mörderballaden" ein ganzes Album. +Kelly Robinson argumentiert in ihrem Text, dass die Gewalt- und Mordgelüste gegenüber Frauen als Thema deshalb so reizvoll sind, weil sie als Verbrechen aus Leidenschaft gelten. Sie spielen mit Sehnsucht und der Fantasie, bis hin zum Tod begehrt zu werden. Eifersucht, Verlangen, Lust, Gewalt – das übt selbst auf manche Frauen eine seltsame Faszination aus. +Erschreckend, meint Kelly Robinson, da Gewalt gegenüber Frauen allgegenwärtig ist und nicht der Vergangenheit angehört, wie es Mörderballaden vielleicht glauben lassen. + +Eminem – "Kim" (2000) +Über die frauenfeindlichen Texte von Eminem allein ließe sich ein ganzes Buch schreiben. "Kim" ist wahrscheinlich das grausamste Beispiel: Eminem fantasiert, seiner Exfrau die Kehle zu durchtrennen, und lässt sie mit den Worten "Blute, Schlampe, blute" sterben. Das ist selbst für Hip-Hop-Maßstäbe extrem. +Laura Friesen versucht trotzdem, ihn zu verstehen. Denn egal ob bei Eminem, Jay-Z oder Kanye West: Der männliche Rapper ist stets Underdog und seine Musik ein Ventil für seine Wut auf die Welt. Hinter all der Prahlerei und Aggressivität stecke eine Menge Machtlosigkeit und Verletzbarkeit. Friesen schreibt in ihrem Essay über Kanye West: "Die Außenseiterin in mir mag den Außenseiter in ihm." Die Wut des Hip-Hops ist für sie sogar in Ansätzen vergleichbar mit dem Streben nach Emanzipation im Feminismus. Beide kratzen an Machtstrukturen. + +Bob Dylan – "Like a Rolling Stone" (1965) +Eine Frau, früher einmal reich und schön, im freien Fall und ein Mann, der sich mit Schadenfreude an ihrer Misere ergötzt. So kann man dieses Lied und viele andere zusammenfassen. Genau wie bei "Common People" von Pulp ist die Frau hier eine verwöhnte Göre, die nicht für sich selber sorgen kann. +Rhian E. Jones ist hin und hergerissen: Die Frau im Lied ist eben auch nur eine Frau und steht nicht unbedingt stellvertretend für alle Frauen. Und überhaupt: Muss man nicht zwischen Symbolik und Realität unterscheiden?, fragt sich Jones. Immerhin schlüpfen Musiker in ihren Liedern in eine "Rolle", die man nicht mit der Privatperson verwechseln darf, schreibt sie. Trotzdem wird von Jones wie auch an anderen Stellen im Buch argumentiert: Theatralische Frauenverachtung bleibt eben Frauenverachtung. Da gibt es halt nichts zu entschuldigen. + +Taylor Swift – "Better than Revenge" (2010) +Nicht nur Männer wettern in ihren Texten gegen Frauen. Taylor Swift präsentiert sich gern als Feministin, aber wie Charlotte Lydia Riley schreibt, ist sie ein problematisches Vorbild für die Frauenbewegung. Denn in vielen ihrer Texte kommen Frauen nicht gut weg, werden auf ihr Äußeres reduziert oder als Konkurrenz dargestellt. Dieser Song ist einer Schauspielerin gewidmet, die sich Taylors Exfreund schnappte und, laut Taylor, "eher für die Dinge bekannt ist, die sie auf der Matratze tut". Feminismus klingt anders. + +Eli Davies, Rhian E. Jones (Hg): "Under My Thump. Songs that hate woman and the woman who love them", Repeater Books + + +Titelbild:  Terry O'Neill/Hulton Archive/Getty Images diff --git a/fluter/underground-railroad-serie-amazon.txt b/fluter/underground-railroad-serie-amazon.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..909d5ec71734516f31b264d1b2f4c97cd0a5faf3 --- /dev/null +++ b/fluter/underground-railroad-serie-amazon.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Tatsächlich war die gesamte Operation der Abolitionisten – so nannten sich die Sklaverei-Gegner*innen damals – auf Bahnmetaphorik aufgebaut. Die "Schienen" standen für die Fluchtrouten über Land und Wasser im Grenzgebiet zu den "Sklavenstaaten" und quer durch die Nordstaaten. "Bahnhöfe" hießen die Schutzhütten am Ende einer Etappe. "Lokführer*innen" und "Schaffner*innen" wie die berühmte Schwarze Freiheitskämpferin und Aktivistin Harriet Tubman brachten die Flüchtenden von A nach B. Nach groben Schätzungen flohen ab Anfang des 19. Jahrhunderts bis etwa Mitte der 1860er-Jahre zwischen 25.000 und 100.000 versklavte Menschen über das Netzwerk der Fluchthelfer*innen. (Der Begriff "Underground Railroad" tauchte dabei erstmals 1831 auf.) Zur Relation: 1860 lebten rund vier Millionen Schwarze als Sklaven in den USA. Erst 1865,nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkrieges, wurde die Sklaverei in den gesamten USA offiziell abgeschafft. + + + +Die Bahnmetaphern der flüchtenden "Passagiere" nahm der Schriftsteller Colson Whitehead wörtlich: In seinem prämierten Roman "Underground Railroad" von 2016 führt der Weg in die Freiheit mit Dampflokomotiven durch ein gigantisches Tunnellabyrinth. Mit Barry Jenkins, derfür seinen Film "Moonlight"2017 einen Oscar erhielt, hat sich dieser Geschichte nun einer der spannendsten Filmemacher der Gegenwart angenommen. Jenkins bleibt Whiteheads Roman auch insofern treu, als er dessen sprunghafte Kapitelstruktur in eine unkonventionelle Serienerzählung überträgt: Nach dem Cliffhanger am Ende einer Folge wechselt Jenkins schon mal abrupt die Perspektive, um in der gesamten nächsten Episode von einer völlig neuen Figur zu erzählen. +Im Mittelpunkt der Serie steht die Teenagerin Cora (Thuso Mbedu), die seit ihrer Geburt auf der Plantage eines tyrannischen Sklavenhalters in Georgia lebt. Eines Tages weiht der etwa gleichaltrige Caesar (Aaron Pierre) sie in seinen Fluchtplan ein – und Cora schließt sich ihm an. Durch einen geheimen Eisenbahntunnel entkommen die beiden nach South Carolina, wo sie jedoch in neue Abhängigkeitsverhältnisse geraten. Über North Carolina und Tennessee reist Cora, unterstützt von Schwarzen und Weißen im Dienst der "Underground Railroad", weiter gen Norden. Eines ihrer größten Probleme dabei: Der Kopfgeldjäger Ridgeway (Joel Edgerton) setzt alles daran, sie mit Gewalt ihrem rechtlichen Eigentümer zurückzubringen. +Anders als der letzte großeFilm aus Hollywood, der sich des Themas Sklaverei annahm– Steve McQueens "12 Years a Slave" –, behauptet Barry Jenkins nicht, das reale Leid der Sklaverei möglichst authentisch darzustellen. So entfernt sich "Underground Railroad" nach der ersten Folge, die noch historisch akkurat das Leben auf einer Plantage schildert, immer mehr von dieser Erzählweise zu einer beeindruckenden poetischen Bilderwelt, die eigentlich eine Kinoleinwand verdient hätte: Eine Allee voller gehängter Menschen wird zum Symbol der Grausamkeit, eine brennende Prärie zur Seelenlandschaft der Hauptfigur, die Scheinwerfer der unterirdischen Dampflok zum Licht der Hoffnung. +Gerade diese Offenheit von "Underground Railroad", also der Wechsel zwischen Historischem und Fantastischem, sorgt dafür, dass man beim Schauen immer wieder Fiktion mit der realen Gegenwart abgleichen will. So fragt man sich zum Beispiel, ob der Kopfgeldjäger Ridgeway als historischer Vorläuferfür die anhaltende Gewalt, die US-amerikanische Polizisten heute gegenüber Schwarzen ausüben, interpretiert werden könnte. Oder ob die Untergrundbahn, die sich als Leitmotiv durch die Serie zieht, nicht auch für ein Gefühl steht, das derzeit dieBlack-Lives-Matter-Bewegungantreibt – für einen solidarischen Schutzraum abseits der weißen Macht. + +"Underground Railroad" läuft ab dem 14. Mai bei Amazon Prime. + diff --git a/fluter/unertraegliche-leichtigkeit.txt b/fluter/unertraegliche-leichtigkeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f222f853417575c6b4947ca336943974844b729d --- /dev/null +++ b/fluter/unertraegliche-leichtigkeit.txt @@ -0,0 +1,12 @@ + +In einer solchen Situation steckt Karim, Held von Abbas Khiders neuem Roman "Ohrfeige". Karim wachsen nämlich Brüste. Dass er todunglücklich darüber ist, wäre eine enorme Untertreibung. In der irakischen Männergesellschaft scheint es absolut unmöglich, sich mit einem derart unmännlichen Problem irgendjemandem anzuvertrauen. Zumal in der politisch repressiven Atmosphäre der 90er-Jahre unter Diktator Saddam Hussein. Der Gesichtsverlust wäre fatal. Was soll, was kann Karim tun, um doch noch ein Mann zu werden? Er ist sich sicher: Es bleibt nur ein Ausweg: das Land zu verlassen. Nach Europa zu gehen, sich als politischer Flüchtling auszugeben und in aller Heimlichkeit die ungewollten Körperteile wegoperieren zu lassen. + +Die Probleme, die Menschen bewegen, ihre Heimat zu verlassen, können die unterschiedlichste Gestalt haben, wie Karims ungewöhnliches Beispiel zeigt. Der Fall seines Autors Abbas Khider, Jahrgang 1973, der im Jahr 2000 nach Deutschland kam, lag anders. Khider war sozusagen das Musterbeispiel eines politischen Flüchtlings. Als Student im Irak hatte er sich etwas Geld verdient, indem er Bücher verkaufte; verbotene Bücher, durch die er in Kontakt mit Dissidenten kam und so allmählich zum politischen Aktivisten wurde. "Plötzlich war ich mittendrin, ohne zu wissen, dass ich gerade den Fehler meines Lebens begehe", so formulierte er esin einem Interview mit dem Berliner "Tagesspiegel". Ab und zu legte der junge Khider den verkauften Büchern regimekritische Flugblätter oder eines seiner Gedichte bei. Das ging nicht lange gut. Er wurde immer wieder verhaftet und gefoltert, saß mehrfach im Gefängnis. Mit Anfang 20 gelang es ihm, nach Jordanien zu fliehen, wenige Jahre später war er in Deutschland – gerade als sich im Nachhall der Anschläge des 11. September 2001 die Stimmung gegenüber Flüchtlingen aus der arabischen Welt vorübergehend ganz schön verfinsterte. +In genau dieser Zeit ist die Handlung von "Ohrfeige" angesiedelt. Doch anders als Abbas Khider selbst, der von sich sagt, er sei "einer von den wenigen, die Glück gehabt haben", gehört Karim zur großen Masse jener, denen unerbittlich gezeigt wird, dass der Buchstabe des Gesetzes im Zweifelsfall mehr gilt als ein einzelnes menschliches Schicksal. +Dabei gibt Karim sich alle erdenkliche Mühe. Er nimmt, als er endlich arbeiten darf, die miesesten Jobs an, nur um endlich die Berechtigung zu bekommen, am Deutschkurs teilzunehmen. Als es so weit ist, paukt er hingebungsvoll die deutsche Sprache – und bekommt dabei immerhin die Gelegenheit, mit Hilfe einer russischen Mitschülerin zu beweisen, dass er tatsächlich ein Mann ist. Für eine Brustoperation fehlt ihm allerdings immer noch das Geld. Das körperformend enge T-Shirt kann er beim Sex nicht ausziehen. +Aber ohnehin schieben sich bald größere Sorgen ins Bild. Nachdem Karim drei Jahre in Deutschland ist und schon hofft, vielleicht endlich studieren zu können, sind in der Zwischenzeit all diese Dinge passiert: die Flugzeuge, die ins World Trade Center fliegen. Der Einmarsch der Amerikaner im Irak. Der Sturz Saddam Husseins. Urplötzlich gilt Karim nicht mehr als politisch verfolgt, denn Saddam ist ja weg. Er erhält einen Bescheid, der seinen Asylstatus widerruft, was ihn zu einem nur noch Geduldeten ohne Reisefreiheit macht. Um seine potenzielle Abschiebung in den Irak zu verhindern, bleibt ihm nur ein Ausweg: wieder einmal einen Schleuser zu bezahlen, der ihn außer Landes schaffen soll. Nach Finnland, in ein Land, von dem Karim rein gar nichts weiß, außer dass die Chancen auf Asyl dort besser stehen. +All das spielt sich innerhalb einer anfangs merkwürdig scheinenden Rahmenhandlung ab. Karim hat nämlich die zuständige Sachbearbeiterin der Ausländerbehörde an einen Stuhl gefesselt, um sie zu zwingen, ihm endlich einmal zuzuhören. Merkwürdig scheint das deshalb, da wir Karim ansonsten als einen überaus friedfertigen Menschen kennenlernen, der es nach allem, was er erlebt hat, sicher nicht riskieren würde, sich auf diese Weise in den Augen der deutschen Gesellschaft zum Kriminellen zu machen. Aber wenn wir uns deswegen gewundert haben sollten, sind wir, wie wir auf jeden Fall am Ende merken, glatt dem Autor auf den Leim gegangen, der nämlich als Erzähler mit vielen Zungen auf einmal singt. + + +Dabei hätte man es ahnen können. Wahre Tragik, echte Dramatik kommen bei Abbas Khider nie allein daher, sondern immer Hand in Hand mit einer ihrer sonst oft so entfremdeten Schwestern: der Komik oder der Groteske. Deshalb liest sich Karims schwierige Geschichte wundersam leicht. Bei Khider, als einem von ganz wenigen Autoren, kann man ihr nämlich begegnen: der oft zitierten "unerträglichen Leichtigkeit des Seins". Es gibt sie wirklich. Aber in der Regel muss erst einer kommen und sie uns zeigen. +Abbas Khider: "Ohrfeige". Hanser Verlag, München 2016, 224 S., 19,90 Euro diff --git a/fluter/ungarn-nach-orbans-wiederwahl.txt b/fluter/ungarn-nach-orbans-wiederwahl.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8aaa66955844134d6a03bccd27809b88555a015d --- /dev/null +++ b/fluter/ungarn-nach-orbans-wiederwahl.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Einer der bleibt, wenn es ungemütlich wird: Bálint trotzt nicht nur dem Eisregen, sondern auch der Macht im Lande +Orbán ist mit großer Mehrheit im Amt bestätigt worden, aber er hat auch viele Gegner im Lande. Nicht wenige, die bis zum Wahltag noch in der Hoffnung auf einen Regierungswechsel gelebt haben, wollen jetzt das Land verlassen. +Bálint will nicht weg: "Wer weggeht, ermöglicht es dem System erst recht, seine Macht aufrechtzuerhalten", sagt er voller Trotz. Gleichzeitig räumt er ein, dass das Bleiben – unabhängig von Orbán – ein "riesiges Opfer" bedeute für alle, die mit ihrer Ausbildung gute Chancen im Ausland hätten. Sich selbst zählt er noch nicht dazu, übergangsweise arbeitet er an der Kinokasse, strebt eine Ausbildung zum Tontechniker und Studiomusiker an. +Ein Teil der Menge ist tatsächlich zurück, jetzt brüllen alle: "Dreckiger Fidesz!" Als der Hagel einsetzt, zieht sich Lilla die Schuhe aus und läuft über die glitzernden Eiskügelchen. Lilla mit ihren 27 Jahren weiß genau, was für sie das Fass zum Überlaufen brachte: "Die neue Verfassung von 2011. Als Fidesz mit niemandem sprach, einfach seine Zweidrittelmehrheit ausnutzte und dem Land eine neue Verfassung aufdrückte. Dabei ist doch die Verfassung das Grunddokument aller im Land Lebenden!" +Damals hieß es, das neue Grundgesetz sei in Stein gemeißelt und für die Ewigkeit. Nun will Orbán als erste Amtshandlung die siebte Verfassungsänderung durchs Parlament bringen. Es soll verboten werden, gegen den Willen der Behörden fremde Staatsbürger, Flüchtlinge und Migranten im Land anzusiedeln. Dieser Passus richtet sich gegen die EU und ihren Mechanismus der Umverteilung von Flüchtlingen unter den Mitgliedsstaaten. Lilla weiß nicht, ob sie das noch alles abwarten will. Sie hat schon einmal in Frankreich gelebt, sich mit nachhaltiger Entwicklungspolitik beschäftigt. "Wahrscheinlich gehe ich dorthin zurück." Aber vielleicht wird sie auch noch ein wenig kämpfen. +Dass Fidesz 2011 die Verfassung geändert hat, war für Lilla der Wendepunkt. Um zu protestieren, läuft sie sogar barfuß über Hagelkörner +Gehen oder bleiben, dies ist längst für viele zur wichtigsten Frage geworden. Sie betrifft alle Gesellschaftsschichten, Ärzte und Bauarbeiter, Informatiker und Handwerker. Das Wirtschaftsmagazin "Portfolio" geht in seiner neuesten Untersuchung von über 600.000 Ausgewanderten aus, die heute vor allem in Großbritannien, Deutschland und Österreich leben. Bei einer Gesamtbevölkerung von zehn Millionen ist dies eine Zahl, die sich längst auch in der Wirtschaft als Arbeitskräftemangel schmerzhaft bemerkbar macht. Die Hauptursachen der Auswanderung sind immer noch das starke Lohngefälle sowie in der heimischen Wirtschaft wahrgenommene Unfähigkeit und Korruption. Seit die Fidesz-Regierung 2010 begann, den Umbau des Staates zu forcieren, kommen verstärkt politische Gründe hinzu. +Dabei geht es nicht nur um die im Kultur- und Medienbereich Entlassenen, viele wollen einfach nicht in einem System leben, in dem Loyalität und Nähe zur Macht über die Karriere entscheiden. Inzwischen geht es auch um die Abiturienten. Jeder dritte will an eine ausländische Universität, klagen die führenden Gymnasien. Der oft als bildungsfeindlich kritisierte Kurs der Fidesz-Regierung macht sich bemerkbar: die ideologische Durchdringung von Schulen und Universitäten, die Unterfinanzierung, die Verpflichtung, nach einem staatlich finanzierten Studium doppelt so lange im Land zu bleiben. +Attila bläst zum Angriff: Er war selbst mal konservativ und national eingestellt. Jetzt befürchtet er, dass Fidesz das Land raus aus der EU an die Seite von autokratisch regierten Ländern wie Russland führen will +Fidesz im Wandel: Nicht von Anfang an war die Partei so stark national und konservativ ausgerichtet. Sie galt bei ihrer Gründung zur Wendezeit um 1989 als durchaus liberal. Mit basisdemokratischen Losungen griffen Orbán und seine Unterstützer die zerfallende kommunistische Staatspartei an und forderten öffentlich den Abzug der Sowjettruppen. Ihr Logo war die Orange, die sie auch gerne verteilten. Ihr Parteiname stand ausgeschrieben für "Bund Junger Demokraten", ein Name, der von der Protestbewegung heute belächelt wird – weil Orban und viele Parteifunktionäre in die Jahre gekommen sind und ihre demokratische Gesinnung infrage gestellt wird. Die Partei selbst verweist darauf, dass "Fides" das lateinische Wort für "Treue" ist. Diese gilt vor allem Viktor Orbán selbst, der die Partei fest im Griff hat und absolute Loyalität erwartet. In den 1990er-Jahren hatte Orbán die Schwäche der damaligen konservativen Parteien erkannt und den Fidesz mit harter Hand nach rechts geführt, um die "nationale" und "bürgerliche" Seite zu erobern. Damit hatte er Erfolg, wurde 1998 zum ersten Mal Ministerpräsident, 2002 aber zunächst wieder abgewählt. Die folgenden acht Jahre in der Opposition nutzte er zur Ausarbeitung seines "Systems der Nationalen Zusammenarbeit", abgekürzt NER, in dem kein weiterer Machtverlust vorgesehen ist. So ist er nach Meinung seiner Kritiker inzwischen beim "Illiberalismus" angelangt, der viele Freiheitsrechte sowie die Gewaltenteilung als Grundlage der Demokratie verachtet. Demnach nimmt der Fidesz immer mehr die Rolle einer übermächtigen Staatspartei ein, die Medien, Gesellschaft und Wirtschaft zu kontrollieren sucht und über alle Ressourcen zum Wohl der eigenen Klientel verfügen will. Bei der jüngsten Wahl gewann der Fidesz in Koalition mit der christlich-konservativen KDNP 49 Prozent der Stimmen und damit erneut zwei Drittel der Parlamentsmandate. +Mitten ins Prasseln der Hagelkörner hinein trötet einer mit seiner Fußballtröte. Das ist József, ein kräftiger Mann, in der Hand eine Ungarnfahne, auf dem Kopf eine schwarze "Hungary"-Kappe: vorne drauf das Staatswappen, rechts Großungarn, links das, was davon übrig ist. Ihn haben die Korruption und die Steuerpolitik hierhergetrieben: "Die Reichen zahlen immer weniger, die Armen immer mehr. Bestes Beispiel ist die von Fidesz eingeführte Flat Tax!" Die Umstehenden brüllen "Heimatverräter" und meinen Orbán. József trötet noch mal und lacht. Dann wird der 53-Jährige plötzlich ernst: "Ich habe Angst vor der Ein-Mann-Diktatur und dass demnächst Gewalt gegen Andersdenkende und Demonstranten eingesetzt wird, wie heute in Moskau." Eines seiner Kinder lebt schon im Ausland, seine Enkel werden keine Ungarn mehr sein, sagt er. Er kommt noch klar, arbeitet als Lehrer und als Coach. "Ja, ich habe jetzt für Jobbik gestimmt", sagt er. "Zum ersten Mal in meinem Leben. Sie waren die Einzigen, die versuchten, auf die sozialen Fragen irgendeine Antwort zu finden." Jobbik ist die rechtsextreme Partei, die in den letzten Jahren versuchte, ihre rechtsextremen Kader, ihre Programmatik und ihr Nazi-Image vergessen zu machen und nunmehr als "Volkspartei" die Mitte zu erobern. Durch Fidesz unter Druck geraten, gibt Jobbik sich neuerdings als glühender Verfechter der Demokratie. +Attila zieht an seiner Zigarette, schaut sich die Polizeikette an, die in Kampfmontur auf der Parlamentstreppe Stellung bezogen hat. Von den ursprünglich bis zu 10.000 Teilnehmern, die den Platz lose füllten, sind nur noch ein paar tausend da, nass, aber entschlossen. Mit immer neuen Sprechchören auf den Lippen rennen sie gegen die Polizisten an. +Attila ist bildender Künstler und kommt aus dem rumänischen Siebenbürgen. Er ist 48, alt genug, damit ihm an solchen Tagen immer noch die großen Demonstrationen gegen den kommunistischen Diktator Ceaușescu 1989 einfallen. Er ging danach nach Ungarn. "Ich weiß manchmal nicht, ob das eine gute Idee war", sagt er. Damals hat er noch Fidesz unterstützt, war eher konservativ und national eingestellt. Der Bruch kam für ihn 2000, als Orbán im Laufe seiner ersten Amtszeit die königliche Stephanskrone im Rahmen eines millionenschweren Staatsaktes aus dem Nationalmuseum in das Parlament überführen ließ. Für Attila das symbolische Ende der Republik. "Denn was hat eine Königskrone im Parlament zu suchen?" +Neben ihm halten sich die Jugendlichen warm: "Wer nicht hüpft, ist Viktor Orbán!", skandieren sie und springen auf der Stelle, ihre Köpfe sausen hoch und wieder runter. +Am Tag der konstituierenden Sitzung des Parlaments: Polizisten riegeln das Gebäude gegen die Demonstranten ab +Heute stößt sich Attila vor allem an der Zerschlagung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, an der Hassrhetorik, den Kampagnen gegen Brüssel und gegen George Soros. Darin sieht er eine große Gefahr: "Ich fürchte, das dient alles nur einem Ziel: Ungarn als neue Autokratie aus der EU herauszuführen." So würde das Land unter den direkten Einfluss der Türkei oder Russlands geraten. +Das Land ist so tief gespalten wie nie zuvor: Die eine Hälfte freut sich über den Sieg von Viktor Orbán, die andere Hälfte ist in tiefer Trauer. Jede Seite konsumiert ihre eigenen Medien, lebt in ihrer eigenen Wirklichkeit. Zu diesem Ergebnis kommen auch die Meinungsforscher von Závecz Research, bevor sie sich insbesondere der Motivation der Fidesz-Wähler zuwenden: Der Hauptgrund, für Fidesz zu stimmen, war bei der städtischen Bevölkerung oft die Einschätzung, dass es einem materiell besser ginge als acht Jahre zuvor – was auch auf die wirtschaftliche Erholung seit der Finanzkrise und die umfangreiche EU-Förderung zurückzuführen ist. In ländlichen Regionen dagegen verfing vor allem die oft volksverhetzende Kampagne der Regierung gegen Flüchtlinge und Migranten. Hier konnte sich die Partei mit ihrer nationalkonservativen Ausrichtung erfolgreich zum Beschützer Ungarns stilisieren. +"Mit Hingabe und Treue wird Viktor Orbán Ungarn dienen", macht das regierungstreue Blatt "Magyar Hírlap" am Tag des Sturzregens mit vier Zentimeter hohen Buchstaben auf. Darunter ein Bild von Orbán, händeschüttelnd mit dem Staatspräsidenten János Áder, einem alten Parteifreund, der ihn zur Bildung der neuen Regierung auffordert. Das Blatt spottet über die Demonstrationen als notwendiges Ritual, um den Frust der verlorenen Wahlen aufzuarbeiten, und zitiert die neueste Umfrage des regierungsnahen Meinungsforschungsinstituts Nézőpont, der zufolge inzwischen die Mehrheit der Bevölkerung hinter Viktor Orbán stehe und nicht nur 49 Prozent wie bei der Parlamentswahl im April. Auf die anderen 51 Prozent beziehen sich schließlich die Demonstranten mit ihrem Namensslogan "Wir sind die Mehrheit". Aber "Lügen und Demonstrieren sind in einem demokratischen Land – wie dem unsrigen – selbstverständlich erlaubt", schreibt der Chefredakteur in seinem Kommentar. +Die Ausgaben des "Magyar Hírlap" liegen warm und trocken beim Zeitungshändler. Die letzten paar hundert Demonstranten rennen am Parlament immer noch gegen die Polizei an, nass, wütend und im Dunkeln. + +Mehr Informationen zur ungarischen Parlamentswahl findest Du auch hier imHintergrund aktuellder bpb diff --git a/fluter/ungesunde-lebensmittel-salz-und-zucker.txt b/fluter/ungesunde-lebensmittel-salz-und-zucker.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..107c2abeeb44d81a1f41ef30a2b10dde785362c1 --- /dev/null +++ b/fluter/ungesunde-lebensmittel-salz-und-zucker.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Die Lust auf Süßes wurde uns wortwörtlich in die Wiege gelegt. Schon Muttermilch schmeckt süß, sie enthält Laktose, also Milchzucker. In der Steinzeit war die Süße einer Frucht ein Hinweis darauf, dass sie genießbar ist. Schmeckte sie sauer oder bitter, ließen die Menschen lieber die Finger davon. Denn das konnte bedeuten, dass sie unreif, verdorben oder giftig ist. Der natürliche Fruchtzucker war also nichts anderes als ein Qualitätssiegel. +Anders verhält es sich mit dem Salz. Das war lange Zeit kein Bestandteil des menschlichen Speiseplans, weil es in der Nahrung von Steinzeitmenschen praktisch nicht vorkam. Allerdings entdeckten die Menschen schon vor etwa 5.000 Jahren, dass Lebensmittel mithilfe von Salz haltbar gemacht werden können. Und sie gewöhnten sich an den Geschmack. Schon die Ägypter nutzten es als Gewürz und um Speisen haltbar zu machen. Die Römer haben in einem aufwendigen Verfahren in eigens angelegten Salzgärten Meerwasser verdunsten lassen und so Salz gewonnen. Es war damals so wertvoll, dass sie sogar Soldaten mit Salz bezahlten. +Der Salzhandel war seitdem Synonym von Wohlstand und Macht. Rom, die Ewige Stadt, entstand dort, wo sich ein Handelsweg mit dem Lauf des Tibers kreuzte. Bereits die Kelten hatten erste Salzbergwerke. Auch im Mittelalter galt Salz noch als Luxusgut, entlang der wichtigsten Handelswege entstanden blühende Städte. Erst im 19. und 20. Jahrhundert machte wissenschaftlicher Fortschritt die Erschließung bis dahin unbekannter Salzlagerstätten möglich und die starke Förderung des Abbaus Salz zu einem Massenprodukt. +Ganz ähnlich war es mit dem Zucker. Schon in der Steinzeit fingen Menschen in den Subtropen an, Zuckerrohr zu kauen. Die ältesten Zeugnisse raffinierten Zuckers stammen aus dem Jahr 500 vor Christus, sie wurden in Nordindien gefunden. In Europa süßten die Menschen lange mit Honig oder Sirup. +Einen Zuckerflash kann man nicht nur von Schokolade, Marmelade und Baiser bekommen – auch Ketchup, Wurst oder Tütensuppe werden ordentlich gesüßt +Der Unterschied zu diesen alten Süßungsmitteln ist, dass raffinierter Zucker keinen Eigengeschmack hat. In der Antike und im Mittelalter galt der weiße Zucker wegen seiner Reinheit als Medizin. Später war er Symbol des Überflusses und des feinen Lebens, in Form von Kuchen, Gebäck und Süßigkeiten. Manchen galt er gar als potenzsteigernd.Bis in die Neuzeit hinein war er in Europa allerdings nur für viel Geld zu haben. Erst mit der Kolonialisierung begann der massenhafte Anbau von Zuckerrohr für den europäischen Markt. Schätzungen zufolge ist der Zuckerkonsum zwischen 1650 und 1800 allein in England um 2.500 Prozent gestiegen. +Fast die gesamte Weltzuckerproduktion wurde in Europa und Nordamerika konsumiert.Unter schrecklichen Bedingungen verschleppten Europäer über Jahrhunderte hinweg Menschen aus Westafrika in die Karibik und versklavten sie dort auf Zuckerplantagen.Die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse waren jedoch nicht die einzige dramatische Folge des Zuckeranbaus in diesen Regionen. Die Wirtschaft vor Ort wurde allein auf die Zuckerproduktion getrimmt, andere Waren und Nahrungsmittel mussten importiert werden. +Heute ist der Zucker in nahezu allen Weltregionen allgegenwärtig und für wenig Geld zu haben. In einem Liter Cola stecken 36 Stück Würfelzucker. Gut, dass Cola eine Zucker-Limo ist, weiß eigentlich jeder. Aber wie ist es zum Beispiel mit Fruchtjoghurt? 100 Gramm enthalten zuweilen an die 14 Gramm Zucker. +Wie viel das bei einem größeren Becher, mit 200, 300 Gramm ist, kann sich jeder ausrechnen. Viel Zucker steckt auch in Tomatenketchup und fertigen Salatsoßen. Sogar eindeutig herzhafte Lebensmittel wie Wurst oder Tütensuppen enthalten Zucker. +Ist das nun ein Problem? Ja, finden viele Experten. Vor einigen Jahren kam ein großer Skandal ans Licht. Es tauchten Dokumente auf, die belegten, dass die Zuckerindustrie bereits in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts den Plan gefasst hatte, der Bevölkerung Fett als das größte Ernährungslaster überhaupt zu vermitteln. Und das nicht nur, weil dies von den Gefahren des Zuckers ablenken sollte. Sondern auch, weil Low-Fat-Produkten häufig Zucker hinzugefügt wird, um das Fett zu ersetzen. Die Lobbyisten beauftragten Studien, starteten riesige Marketingkampagnen. Mit Erfolg. +Inzwischen gibt es Studien, die belegen wollen, dass Zucker ungesünder ist als Fett. Er sorgt demnach dafür, dass der Insulinspiegel im Blut ständig zu hoch ist, verklebt die Blutgefäße, das Risiko für einen Herzinfarkt steigt. Es gibt allerdings auch Forscher, die davor warnen, allein den Zucker zur Ernährungssünde zu erklären. Es komme eben in der Ernährung immer auf die Ausgewogenheit und das richtige Maß an. Die Politik reagiert, jedenfalls in einigen Ländern. Großbritanniens Getränkehersteller müssen auf allzu zuckrige Getränke eine Steuer entrichten. +Mehr als die Hälfte der britischen Erwachsenen und ein Drittel der Kinder sind übergewichtig. Inzwischen haben erste Getränkehersteller bereits ihre Rezeptur geändert. Mexiko führte eine solche Steuer schon 2014 ein, ein Peso für einen Liter. Seitdem sinkt der Verbrauch von gezuckerter Limonade. +Ähnlich misstrauisch beäugt wird inzwischen das Salz. Nur dass sich hier die Experten noch viel weniger einig sind, wie viel davon eigentlich gesund ist. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt maximal sechs Gramm Salz am Tag, etwas mehr als die WHO. Einige Studien bringen Salz mit erhöhtem Blutdruck und einem höheren Herzinfarktrisiko in Verbindung. Andere Studien hingegen warnen im Gegensatz dazu vor zu wenig Salz, sprechen von einer idealen Menge von 7,5 bis 15 Gramm. Und irgendwo dazwischen: der deutsche Durchschnittsesser. +Einig sind sich die Expertinnen und Experten immerhin in einem: Dass so viele Menschen überhaupt nicht wissen, wie viel Salz und Zucker in den Nahrungsmitteln steckt, die sie täglich im Supermarkt kaufen, ist ein Problem. Denn so können sie gar nicht offenen Auges entscheiden, ob ihr Zucker- und Salzkonsum eigentlich okay ist. Oder ob es doch lieber etwas weniger sein soll. + diff --git a/fluter/ungewoehnliche-museen-neue-konzepte.txt b/fluter/ungewoehnliche-museen-neue-konzepte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..234e1b2f38e6c946d47188c5c0229f841c7fabf6 --- /dev/null +++ b/fluter/ungewoehnliche-museen-neue-konzepte.txt @@ -0,0 +1,32 @@ +Das Wort "Museum" ist übrigens kein geschützter Begriff, was in den letzten Jahren Tür und Tor geöffnet hat für – um nur ein paar Beispiele zu nennen – Currywurst-Museen,  Schnarchmuseen oder sogar Bauchnabelfusselmuseen. +Doch auch in den seriöseren Häusern wandeln sich nicht nur die Inhalte, sondern auch die Ausstellungskonzepte. Sie versuchen interaktiver (nicht nur gucken, sondern auch was machen) und partizipativer (die Museumsbesucher beeinflussen die Ausstellung) zu werden. So ist für das Humboldt Forum, das 2019 in Berlin eröffnet, eine "Scan your label"-Station im Gespräch. Hier können Besucher den Produktionsort ihrer Kleidung eingeben, woraus in Echtzeit eine Weltkarte generiert wird, die zur Reflexion über Globalisierung und Ausbeutung anregen soll. +"Es geht auch die Hoheit verloren, wer die Objekte aussucht und beschreibt, also die Inventarisierung und Dokumentation", sagt Oliver Rump. "Das haben früher fast nur Wissenschaftler gemacht in einer Sprache, die der Besucher kaum verstanden hat." Beispielsweise hat das Stadtgeschichtliche Museum Leipzig große Teile seiner Objektdatenbank digitalisiert und im Internet veröffentlicht, über 150.000 Objekte – inklusive der Option, dass Nutzer Informationen ergänzen und verbessern. Das ist eine kleine Revolution. Denn normalerweise setzt der Großteil der Museumsobjekte im Lager Staub an. Was ausgestellt und welche Geschichte damit erzählt wird, entscheiden allein die Ausstellungsmacher. +Rump gehen solche Entwicklungen allerdings nicht weit genug: "Rückkanäle sind ja schön, auch beim Feedback und in der Ausarbeitung von kommenden Ausstellungen. Die Frage ist bloß, ob dann auch der nächste Schritt passiert: Fließen die Erkenntnisse wirklich ein, oder hatte der Kurator nicht doch schon sein Konzept in der Tasche?" +Nichtsdestotrotz, es tut sich einiges, wie auch unser kleiner Museumsrundgang zeigt: + +In den Zeitungsfeuilletons werden Comics so langsam als Kultur anerkannt (zumindest wenn sie sich "Graphic Novels" nennen), in deutschen Museen gab es sie lange nur in Form von Sonderausstellungen. Das Erika-Fuchs-Haus im fränkischen Schwarzenbach stellt sie seit 2015 erstmals in den Mittelpunkt. Das kleine Museum fokussiert sich dabei auf Teile des Entenhausen-Universums und das konkrete Schaffen von Namensgeberin Erika Fuchs, die als Übersetzerin zahlloser Disney-Comics die deutsche Alltagssprache prägte – mit Spruchweisheiten ("Dem Ingeniör ist nichts zu schwör"), Wortschöpfungen oder auch dem Inflektiv ("Saus", "Staun"). +So darf man in einem begehbaren Entenhausen aus Pappaufstellern Dagobert-Duck-like in Geldtalern baden. Comic-Übersetzungsarbeitsgeräte wie Zeilenzähler und Synonymwörterbuch werden vorgestellt, und schließlich sollen sich die Besucher selbst an der Sprachkunst versuchen: etwa in der "Alliteration-Anreizabteilung" oder im "onomatopoetischen Kabinett", wo man sich Wörter für Comic-Soundeffekte ausdenken und sie mit Erika Fuchs' Schöpfungen vergleichen kann. +Erika-Fuchs-Haus. Bahnhofstraße 12, Schwarzenbach a. d. Saale.www.erika-fuchs.de + + +Beim Thema Partizipation hebt Oliver Rump die regionalhistorischen Museen der Berliner Bezirke Kreuzberg und Neukölln heraus. "Das Museum Neukölln hat eine ganz tolle Dauerausstellung, ‚99 x Neukölln', wo Bewohner des Bezirks ihre persönlichen Objekte eingebracht haben." Das Kreuzberger Pendant geht noch einen Schritt weiter: Hier werden Rump zufolge verschiedene Ausstellungen von Menschen aus dem Bezirk, beispielsweise der türkischen Community, selbst gestaltet. "Bei diesem Ansatz wird das Museum praktisch zum Facilitator", sagt Rump. "Es stellt die professionelle Umgebung, gibt auch Ratschläge und Hilfestellungen, aber eigentlich machen die Betroffenen ihre Ausstellung selbst. So es ist auch wirklich das Museum der Kreuzberger." +Museum Neukölln. Alt-Britz 81, Berlin.www.museum-neukoelln.deFriedrichshain-Kreuzberg Museum. Adalbertstr. 95A, Berlin.www.fhxb-museum.de + + +Probieren geht über Studieren. Nach diesem pädagogischen Prinzip arbeiten Science Center, auch Hands-on-, Erlebnis- oder Mitmach-Museen genannt, die sich in der Regel naturwissenschaftlichen Phänomenen widmen. Sie sind das Gegenteil von "Anfassen verboten", man kann und soll selber Wellen entstehen lassen, eine Wärmekamera ausprobieren oder die Erddrehung erfahren. +In Deutschland gibt es inzwischen Dutzende davon, gern mit pseudolateinischen und -griechischen Namen wie Phänomenta, Experimenta, Imaginata, Mathematikum oder Dynamikum. Das mit mehr als 350 Experimentierstationen größte ist aber das phæno. 2005 in Wolfsburg eröffnet, ist es ein anerkannter außerschulischer Lernort, allerdings: "Ganz strikt betrachtet ist das kein Museum", sagt Oliver Rump. Warum? Weil nach Definition des Internationalen Museumsrats ICOM ein Museum fünf Funktionen erfüllen muss: Sammeln, Bewahren, Forschen, Ausstellen und Vermitteln. "Und ein Science Center sammelt und bewahrt nicht, weil es keine historischen Exponate hat. Es forscht in der Regel auch nicht", sagt Rump. Deswegen gehöre es nur zu den "museumsartigen Einrichtungen". +phæno. Willy-Brandt-Platz 1, Wolfsburg.www.phaeno.de + + +Noch schwerer als Comics haben es Computerspiele bezüglich ihrer Anerkennung als Kulturgut. Dabei wurde schon 1997 in Berlin ein Computerspielemuseum gegründet, aber erst 2011 hat es ein Zuhause in der analogen Welt gefunden. Beeindruckend ist seine Sammlung: Mehr als 25.000 Spiele und Anwendungen, 12.000 Zeitschriften und 120 Konsolen und Computersysteme werden konserviert. Die Dauerausstellung versucht auf geringem Raum wirklich sämtlichen Facetten des Themas gerecht zu werden, vom Konzept des Homo ludens über die Geschichte der interaktiven digitalen Medien bis hin zu gesellschaftlichen Fragen, Spielesucht, Produktionsbedingungen. Sogar auf ein Nischenthema wie die Machinima-Szene wird eingegangen, in der Filme mithilfe von Computerspielen "gedreht" werden. Das ist ehrenvoll, aber erschlägt einen ein wenig; groß ist die Versuchung, sich einfach nur mit glänzenden Augen die vielen alten Konsolen anzuschauen. Der Interaktivitätsansatz ist dabei naheliegend: Spiele aus rund 40 Jahren können ausprobiert werden – bis hin zu einem Chat mit ELIZA, einer Urahnin von Siri aus dem Jahr 1966. +Computerspielemuseum. Karl-Marx-Allee 93a, Berlin.www.computerspielemuseum.de + + +Klar, es muss in Deutschland auch ein Museum für den Nationalsport Fußball geben, überraschend ist eher, dass es erst 2015 eröffnet wurde – im Mutterland des Fußballs gibt es das schon seit 2001. Unter den über 1.600 Exponaten: der WM-Finalball von 1954, der Mannschaftsbus der WM 2014, Lothar Matthäus' Telefonrechnung aus dem WM-Quartier 1990, diverse Schuhe, Pokale (bzw. Kopien von Pokalen), Videos und Tonaufnahmen von großen Momenten. An der hochemotionalen Präsentation und am museumspädagogischen Konzept gab es nach der Eröffnungharsche Kritik. Denn die partizipativen Elemente beschränken sich auf Dinge wie eine Fernsehkommentatoren-Kabine und einen Fußballkäfig. Man darf eben nicht vergessen: Das Fußballmuseum wird vom DFB betrieben, es ist sein "zentraler Erinnerungsort" – nicht der des deutschen Fußballs insgesamt. Kritische Distanz ist da nicht durchweg zu erwarten. Im Mittelpunkt stehen die vier Weltmeistertitel der Männer-Nationalmannschaft, große Videoleinwände ziehen die Besucher dort hin. Andere Themenbereiche wie der Amateur- oder Frauenfußball, die DDR- oder NS-Zeit gehen daneben unter. Weil dort kaum etwas blinkt und leuchtet, gehen viele Besucher daran vorbei, ohne sie überhaupt zu bemerken. +Deutsches Fußballmuseum. Platz der Deutschen Einheit 1, Dortmund.www.fussballmuseum.de + + +2019 soll in Berlin ein "Futurium" eröffnen, das sich mit dem Leben in der Zukunft auseinandersetzt. Schon im Frühsommer 2018 öffnete das Haus für Werkstattwochen, für Workshops, Diskussionen, partizipative Settings mit den künftigen Besuchern: "Wir möchten erfahren, welche Zukunftswünsche und Ängste Sie haben, was Sie bewegt und was Sie ändern möchten." In drei Workshops konnte man sogar an den Exponaten der künftigen Ausstellung mitwirken – unter anderem an den Dialogen eines geplantenRoboter-Theaters. +Futurium. Alexanderufer 2, Berlin.www.futurium.de + +Titelbild: Jörg Metzner diff --git a/fluter/unorthodox-netflix-serie-feldman.txt b/fluter/unorthodox-netflix-serie-feldman.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..06ac0c18df57d2a3b7f93c060a38279ada325734 --- /dev/null +++ b/fluter/unorthodox-netflix-serie-feldman.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Als dann auch noch rauskommt, dass Esty endlich – und nach einem ganzen Ehejahr längst überfällig, wie alle Familienmitglieder befinden – schwanger ist, werden ihr Ehemann Yanky und sein Cousin Moishe vom Rabbi persönlich über den Ozean geschickt. Sie sollen Esty und das ungeborene Kind zurück in den Schoß der Gemeinde bringen. Ob sie will oder nicht. + +So weit der Plot der Serie "Unorthodox", die sich an den titelgebenden Bestseller der Autorin Deborah Feldman anlehnt. Feldmans autobiografisches Enthüllungsbuch, das sich eher wie ein Roman liest, wurde in den USA und in Deutschland millionenfach verkauft. Wie die Buchvorlage ist auch die Serie eine persönliche und vor allem weibliche Emanzipationsgeschichte:raus aus der arrangierten Ehe, dem reglementierten Kontakt zwischen Männern und Frauen, den Kleidervorschriften, weg vom Leben für Gott, die Familie und etliche Kinder. +Gemeinden wie die Satmarer, gegründet von Überlebenden desHolocaust, sind überzeugt, dass nur maximale Frömmigkeit ein neuerliches Unheil wie die Shoah abwenden kann. Deshalb folgen sie strengen Verhaltensregeln und bleiben unter sich, eine Parallelwelt mitten im zu Ende gentrifizierten Williamsburg. So hinterlässt die Serie Zuschauer, die sich immer wieder bewusst machen müssen, dass sie gerade Bilder aus New York im Jahr 2019 sehen, nicht aus einemosteuropäischen Schtetlvor 100 Jahren. +Hängen bleibt– Achtung, Spoiler! – etwa die Szene, in der Esty am Tag nach ihrer Hochzeit die Haare abrasiert werden (orthodoxe Frauen verbergen ihre Haare mit einem Kopftuch oder einer Perücke, um zu zeigen, dass sie verheiratet und schicklich leben) und sie zwischen Erleichterung (endlich verheiratet!) und Entsetzen über diesen massiven Übergriff auf ihre Person heult – und gleichzeitig lächelt. Oder wie Esty einer Berliner Frauenärztin erklärt, dass Kinder da, wo sie herkommt, das höchste Gut seien. "We are rebuilding the six Million." Der Satz sitzt. Und dem Zuschauer wird klar, wie präsent die Vergangenheit für die Gegenwart vieler ist. +Weiterlesen +Salam Schalom! Ein Jude und ein Muslimkämpfen gemeinsam gegen Stereotype +Auf ihrem Weg in ein selbstbestimmtes Leben stolpert Esty über eine neue Stadt, einen neuen Freundeskreis (der leider etwas holzschnittartig gerät) und die Frage vieler 19-Jähriger: Wer bin ich, wenn ich nicht die sein will, zu der andere mich machen wollen?So weit, so klassisch Coming of Age.Aber während andere Filme das Heranwachsen über die erste Periode, Küsse, Drogen und Alkohol erzählen, flieht Esty vor einer Sekte und ihrer Unterdrückung. Mit 19 hat sie ein Leben bereits hinter sich. +Das Drehbuch stammt von Anna Winger und Alexa Karolinski, Regie hat Maria Schrader geführt, überhaupt ist "Unorthodox" überwiegend von Frauen produziert. Abgesehen davon, dass das beiFilm- oder Serienproduktionen im Jahr 2020immer noch hervorzuheben ist, setzt diese Besetzung gerade im Hinblick auf die verhandeltenFrauenrollenein Zeichen. +Diese Serie ist für: alle. Denn neben der Selbstbefreiung von Esty erzählt "Unorthodox" auch vom jüdischen Leben,jüdischem Erinnernund von der Poesie der jiddischen Sprache. ("Unorthodox" wurde als erste Netflix-Produktion in Jiddisch gedreht.) Und obwohl die orthodoxe Lebenswelt mit ihrem frömmelnden Regelwerk stark von Vergangenem geprägt ist, erzählt "Unorthodox" das orthodoxe Jüdischsein im Jetzt, nicht in der Vergangenheit. Solche Darstellungen jüdischer Gegenwart sieht man in Deutschland immer noch viel zu selten. + diff --git a/fluter/uns-gehts-doch-gut-oder-etwa-nicht.txt b/fluter/uns-gehts-doch-gut-oder-etwa-nicht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..84afa7165b53bab5d9f82a70c7d59d4dad34ac5a --- /dev/null +++ b/fluter/uns-gehts-doch-gut-oder-etwa-nicht.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Paul Nolte: Wir haben Grund zur Wachsamkeit angesichts wirtschaftlicher und demografischer Veränderungen. Aber die Lage verändert sich im Moment nicht dramatisch. Alleinerziehende Frauen, junge Männer ohne Schulabschluss: Das sind die Problemzonen. Und in Zukunft müssen wir neue Altersarmut verhindern. +In Deutschland muss angeblich niemand hungern. Ist also "Armut" angesichts des relativen Wohlstands in den meisten Haushalten überhaupt der richtige Begriff? +Christoph Butterwegge: Ja, denn zur Armut hier gehört keineswegs, dass man hungert oder friert, sondern sie liegt dann vor, wenn man sich vieles von dem nicht leisten kann, was für die meisten Mitglieder der Gesellschaft normal ist. Armut in einem reichen Land kann übrigens erniedrigender wirken als in einem armen Land, wo sich die Betroffenen weniger schämen und verstecken müssen. Wenn etwa ein Jugendlicher im tiefsten Winter mit Sandalen und Sommerkleidung auf dem Schulhof steht und von den eigenen Klassenkameraden ausgelacht wird, wünscht er sich womöglich, stattdessen lieber ins Bett gehen zu müssen, ohne etwas zu essen zu bekommen. +Paul Nolte: Die Unterschiede "unserer" Armut zu der von Menschen in existenzieller Not, ohne Obdach, ohne sichere Nahrung und Trinkwasser sollten wir uns immer bewusst machen – gerade in der globalisierten, der "einen" Welt. Aber das enthebt uns nicht von der Verantwortung für unseren eigenen Staat, unsere eigene Gesellschaft – und von einem kritischen Blick auf die Verhältnisse bei uns. Deshalb: Ja, "Armut" gibt es auch bei uns; alles andere wäre Begriffsdreherei. +Laut Bundesarbeitsministerium öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter. Was ist der wesentliche Grund dafür? +Christoph Butterwegge: Schuld ist erstens eine Regierungspolitik nach dem Matthäus-Prinzip. Im Evangelium des Matthäus heißt es sinngemäß: Wer hat, dem wird gegeben, und wer wenig hat, dem wird das Wenige auch noch genommen. Ich nenne die Erhöhung der Mehrwertsteuer für Normalverbraucher und die Senkung der Mehrwertsteuer für Hotelbesitzer als Beispiele aus der Steuerpolitik sowie die Einführung sowohl des Eltern- wie des Betreuungsgeldes als Beispiele für die Familienpolitik. Zweitens hat der Um- beziehungsweise Abbau des Sozialstaates zu weniger Sicherheit für viele Menschen geführt und das Abstiegsrisiko verstärkt. Neben den (Langzeit-)Arbeitslosen, Rentnerinnen und Rentnern sowie Behinderten und Kranken gehören Familien bzw. ihre Kinder zu den Hauptbetroffenen der "Reformen", die das System der sozialen Sicherung bis ins Mark erschütterten. Durch die sogenannte Riester-Reform wurde beispielsweise das Prinzip der Lebensstandardsicherung in der Rentenversicherung aufgegeben, noch bevor man dasselbe durch Hartz IV im Arbeitsmarktbereich realisierte. +Paul Nolte: Erstens sind die Einkünfte aus Vermögen – also Zinsen, Gewinne und so weiter – viel stärker gestiegen als die Einkommen aus Arbeit. "Superreiche" wie Unternehmensvorstände und Manager sind der Normalbevölkerung davongeeilt, ohne dass diese zwangsläufig ärmer geworden wäre – der Abstand ist aber gewachsen. Und zweitens leben mehr Menschen prekär, von sehr wenig Geld, als früher; sie verlieren "von unten" den Anschluss an die Mittelschicht. Das ist die Folge von billigen Servicejobs, aber auch der Veränderung von Familienstrukturen, vor allem bei jungen Müttern, die ohne den Partner beziehungsweise Vater der Kinder leben. +Was bedeutet die Ungleichheit für den gesellschaftlichen Zusammenhalt? +Christoph Butterwegge: Wenn sich die Gesellschaft spaltet, zerfallen ihre Städte, worunter der soziale Zusammenhalt leidet. Spaltungstendenzen erhöhen aber nicht bloß das Konflikt- und Gewaltpotenzial einer Gesellschaft, vielmehr auch das Risiko einer Krise der politischen Repräsentation. Wer die brisante Mischung von berechtigter Empörung, ohnmächtiger Wut und blankem Hass auf fast alle (Partei-) Politiker unseres Landes kennt, wie sie in Versammlungen von Hartz-IV-Beziehern existiert, kommt zu dem Schluss, dass innerhalb der Bundesrepublik längst zwei Welten oder Parallelgesellschaften existieren und die Brücken dazwischen abgebrochen sind. +Paul Nolte: Das Gefühl geht verloren, Verantwortung für andere zu übernehmen. Wenn Reiche ihr Leben auf der Yacht führen statt an den Sorgen des Stadtviertels teilzunehmen, ist der Zusammenhalt in Gefahr. Und doch ist der Zusammenhang kompliziert. So ist die Gesellschaft der USA, materiell gesehen, ungleicher als die deutsche, und doch ist ihr Zusammenhalt eher stärker, weil freiwilliges Engagement eine große Rolle spielt. +Frauen, Kinder und Alte sind besonders von Armut betroffen. Tut der Staat zu wenig für sie? +Christoph Butterwegge: Dies gilt zumindest dann, wenn sie nicht zu einer privilegierten Gesellschaftsschicht gehören. Kinder von Familienunternehmern etwa können diese inzwischen beerben, ohne einen Cent betriebliche Erbschaftsteuer zahlen zu müssen, selbst wenn es sich um einen großen Konzern handelt. Es ist aber keine Leistung, der Sohn oder die Tochter eines Milliardärs zu sein. Auch die Rentenpolitik der Bundesregierung ist nicht mehr darauf orientiert, den gewohnten Lebensstandard im Alter zu sichern und Armut zu vermeiden. +Paul Nolte: Moment – Frauen und Kinder ja, Alte eindeutig nein! Wenn wir über Altersarmut diskutieren, dann in Sorge um die Zukunft, sozusagen um die Rente der jetzigen 400-Euro-Jobber. Der Staat tut übrigens für kaum eine Gruppe mehr als für die Rentner; auch in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung gehörten die Rentner zu den großen Gewinnern. Für alleinerziehende Frauen gilt: Der Staat stößt an Grenzen, wenn er das Weglaufen eines Vaters und Verdieners kompensieren soll. Am wichtigsten sind hier nicht Transferleistungen, sondern Infrastrukturen: vor allem Ganztagsbetreuung, sodass die Frauen arbeiten und Geld verdienen können. +Haben die Hartz-Reformen das Armutsproblem verschärft? +Christoph Butterwegge: Dadurch ist die Armut bis zur gesellschaftlichen Mitte vorgedrungen, denn das Gesetzespaket hat mit dem Lebensstandardsicherungsprinzip des Sozialstaates gebrochen. Mit der Arbeitslosenhilfe wurde zum ersten Mal nach 1945 eine für Millionen Menschen existenziell wichtige Sozialleistung abgeschafft und durch das Arbeitslosengeld II ersetzt, welches nur das Existenzminimum sichert. Neben vielen älteren Erwerbslosen, die hofften, bis zur Rente von Arbeitslosenhilfe leben zu können, sind Familien, Kinder und Jugendliche die Hauptleidtragenden der relativ niedrigen Beihilfen. Hartz-IV-Betroffene müssen ihre Arbeitskraft zu Dumpinglöhnen verkaufen. Ein staatlich geförderter Niedriglohnsektor, wie ihn die Hartz-Gesetze errichten halfen, verhindert weder Arbeitslosigkeit noch Armut, vermehrt Letztere vielmehr. +Paul Nolte: Vor allem haben sie schon lange bestehende soziale Probleme sichtbar gemacht. Die überwiegend weibliche Armut in der Sozialhilfe war vorher kaum ein Thema. Und über Langzeitarbeitslosigkeit wurde seit Jahrzehnten geklagt, ohne dass viel passierte. Richtig ist, dass ein Teil der Arbeitslosen nun schneller auf ein Sozialhilfeniveau abrutschte. Andererseits haben die Hartz-Reformen viel Bewegung in den Arbeitsmarkt gebracht und damit Menschen aus der Armut herausgeholt. +Früher galt einmal, dass Arbeit vor Armut schützt. Heute können über eine Million Menschen von ihrem Lohn nicht leben. Wäre ein Mindestlohn die Lösung? +Christoph Butterwegge: Ja, denn da der Niedriglohnsektor heute das Haupteinfallstor für Armut ist, muss er durch einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von etwa 10 Euro pro Stunde zurückgedrängt werden. Ein flächendeckender Mindestlohn würde verhindern, dass immer mehr Beschäftigte von ihrer Arbeit nicht leben können, während der Staat das Lohndumping von Unternehmern auf Kosten der Steuerzahler/innen subventioniert. 20 von 27 EU-Ländern haben längst einen solchen Mindestlohn, ohne dass der Beschäftigungsstand und die Tarifpolitik der Gewerkschaften negativ berührt würden. Warum sollte die mit Abstand stärkste Volkswirtschaft Europas zusammenbrechen, wenn ein Mindestlohn eingeführt wird? +Paul Nolte: Dass Arbeit früher vor Armut schützte, ist eine Legende. Im Gegenteil, bis ins frühe 20. Jahrhundert hat sich ein Großteil der Bevölkerung in Arbeit abgeplagt und war trotzdem bitterarm – vor allem in der Landwirtschaft! Mindestlöhne sind kein Allheilmittel, und sie können gar nicht so hoch sein, dass damit ein einzelner Verdiener eine vierköpfige Familie gut ernähren könnte. Da braucht es andere sozialstaatliche Mittel wie Kindergeld oder Wohngeld. Und dass jeder Erwachsene im Prinzip erwerbstätig ist, nicht mehr nur der Ehemann und Vater als "Ernährer", ist eben heute der Normalfall. +Was sind weitere Schritte im Kampf gegen die Armut? +Christoph Butterwegge: Nötig ist die Umverteilung von Einkommen, Arbeit und Vermögen, natürlich von oben nach unten. Die Einkommensteuer muss wieder progressiver ausgestaltet, also vornehmlich im Bereich des Spitzensteuersatzes stark angehoben werden. Leiharbeit, Werkverträge und Mini-Jobs sollten erschwert oder verboten werden. Außerdem muss die Vermögenssteuer wieder erhoben werden. Sie ist keineswegs abgeschafft, sondern von der Regierung Kohl 1997 nur auf Eis gelegt worden, steht aber noch im Grundgesetz. Durch eine Weiterentwicklung der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung zu einer solidarischen Bürgerversicherung, in die eine bedarfsgerechte, armutsfeste und repressionsfreie Grundsicherung integriert sein müsste, könnte Armut nicht vollends beseitigt, aber spürbar verringert werden. +Paul Nolte: "Kampf" gegen die Armut klingt mir fast eine Spur zu martialisch. Es bleibt für alle Zeiten eine der wichtigsten Aufgaben demokratischer Sozialstaaten – lösbar ist sie nie. Und es gibt immer viele Hebel, die man in Bewegung setzen muss. Im Moment am wichtigsten: Bildung. Denn Schulabschluss und Ausbildung sind keine Garantie, aber doch eine gute Versicherung gegen dauerhafte Armut. Und immer wichtiger wird es, dass Mieten und Nebenkosten bezahlbar bleiben, damit für Geringverdiener genug zum Leben übrig bleibt. +Prof. Dr. Paul Nolte lehrt Neuere Geschichte an der FU Berlin. Er ist Herausgeber der Zeitschrift "Geschichte und Gesellschaft" +Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. 2012 sind von ihm die Bücher "Armut in einem reichen Land" und "Armut im Alter" erschienen, beide im Campus Verlag diff --git a/fluter/unser-generationen-generator.txt b/fluter/unser-generationen-generator.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/unsere-exporte-eure-schulden.txt b/fluter/unsere-exporte-eure-schulden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ecce07b26b7e878e40a7ce7afc3c984f04c3083e --- /dev/null +++ b/fluter/unsere-exporte-eure-schulden.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Deutschlands Wirtschaft konnte nur deshalb prosperieren, weil die anderen Euro-Staaten eben nicht denselben Weg gingen. Der größte Teil der zusätzlichen Produktion der vergangenen zehn Jahre, die Arbeitsplätze und Steuereinnahmen hierzulande sicherte, wurde ja nicht in Deutschland verkauft. Dafür mangelte es an der nötigen Nachfrage, weil die Löhne gedrückt wurden und folglich der Binnenmarkt stagnierte. Umso mehr exportierte die deutsche Wirtschaft ins Ausland, und davon wiederum den größten Teil nach Europa. Das aber war nur möglich, weil die meisten anderen Euro-Staaten bis zur Finanzkrise einen enormen Wachstumsschub erfuhren, der über steigende Löhne erst die Nachfrage für deutsche Produkte erzeugte. +Die Frankfurter Euro-Hüter befeuerten noch den enormen Zufluss an Krediten in diese Länder. Damit wurden die Immobilienblasen und die Überkonsumption von Athen bis Lissabon finanziert, die den heutigen Krisenländern schließlich zum Verhängnis wurden. Oder mit den Worten des US-Ökonomen und Nobelpreisträgers Paul Krugman: "Deutschland glaubt, es sei aufgrund seiner eigenen Verdienste erfolgreich. Aber in Wahrheit beruht dies zu großen Teilen auf einem inflationären Boom im übrigen Europa." +Selbst mit den härtesten Lohnsenkungen können die überschuldeten Euro-Staaten keine ausreichenden Exportüberschüsse erzielen, um damit ihre Schulden abzutragen, wenn die bisherigen Überschussländer, also vor allem Deutschland, nicht bereit sind, ihnen das Gleiche zu bieten, was die Deutschen zuvor bei ihnen hatten: den nötigen Absatzmarkt. Dazu wären jedoch erhebliche Lohnsteigerungen und vermehrte staatliche Investitionen notwendig, und Deutschland müsste ein Defizit in der innereuropäischen Leistungsbilanz hinnehmen. +Darum hat der wachsende Zorn gegen die deutsche Dominanz in der Euro-Politik einen sehr rationalen Kern. Sogar die Ökonomen des Internationalen Währungsfonds und der OECD haben jüngst ausführlich dargelegt, dass die Krisenstaaten sich nicht aus ihrer Überschuldung heraussparen können. +Mit einem Schuldentilgungsfonds, der den verschuldeten Ländern aus ihrer Finanzklemme hilft, wäre schon viel erreicht. Die Kapitalflucht nach Deutschland fände ein Ende, die Zinssätze würden sich angleichen, und auch die Unternehmen in den Krisenstaaten bekämen wieder Kredit zu bezahlbaren Konditionen, um zu investieren. Zwar würde die Zinslast für den deutschen Staat ein wenig steigen, weil der Fonds über gemeinsame Anleihen refinanziert werden müsste – zu einem Zinssatz, der höher läge als der in Deutschland, aber niedriger als diejenigen der Krisenländer. Aber das wäre nur recht und billig. + +Harald Schumann ist Redakteur des Berliner "Tagesspiegel". Er hat unter anderem das Buch "Die Globalisierungsfalle" geschrieben diff --git a/fluter/unsere-groessten-petzer.txt b/fluter/unsere-groessten-petzer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dc9af37fe1b4b5ada3b7500eff6d3c0af393026e --- /dev/null +++ b/fluter/unsere-groessten-petzer.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Seine Motivation beschrieb Edward Snowden ganz lapidar: "Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der alles, was ich sage oder tue, aufgezeichnet wird." Das sagte er Glenn Greenwald vom "Guardian" im Juni 2013 in einem Hotelzimmer in Hongkong. Kurz darauf gelangten die ersten der geschätzt 1,7 Millionen Dateien an die Öffentlichkeit, die der 29-jährige Systemadministrator gesammelt hatte. Sein Arbeitgeber war die Technologieberatung Booz Allen Hamilton, die für den US-Auslandsgeheimdienst NSA tätig ist. Daher hatte Snowden Zugriff auf Informationen der höchsten Geheimhaltungsstufe. Ohne seine Enthüllungen wüsste die Welt deutlich weniger. Etwa, wie umfangreich die NSA und der britische Geheimdienst GCHQ die Telekommunikation und Internetnutzung der Bürger global verdachtsunabhängig überwachen. Und wie vernetzt die Geheimdienste mit anderen Partnern sind – darunter Deutschland. Spähprogramme wie Prism oder Tempora wären Fremdworte und die Vorratsdatenspeicherung keinDauergegenstand der öffentlichen Diskussion. Snowden wurde von den USA wegen Spionage angeklagt, bekam von Russland Asyl gewährt und hält sich an einem geheimen Ort auf. Er wurde 2014 für den Friedensnobelpreis nominiert,der Dokumentarfilm von Laura Poitras über seine Enthüllungengewann 2015 einen Oscar. +Über Edward Snowden sagte der Whistleblower Daniel Ellsberg in Anspielung auf das Ministerium für Staatssicherheit in der DDR, er würde die Bürger vor den "Vereinigten Stasi von Amerika" schützen, die immer weiter in ihre Privatsphäre eindrängen. Ellsberg selbst tat mit der Enthüllung der "Pentagon Papers" im Jahr 1971 auch einiges für Transparenz. Die rund 7.000 streng geheimen Seiten, die der Ökonom und Bürgerrechtsaktivist kopierte und der "New York Times" übergab, belegten, dass mehrere US-Regierungen in Folge die Öffentlichkeit über wesentliche Aspekte des Vietnamkrieges belogen. Ellsberg arbeitete damals für die Denkfabrik RAND Coperation, die das Verteidigungsministerium beriet. Nachdem die ersten drei Artikel in der "New York Times" erschienen waren, ließ US-Präsident Nixon weitere Veröffentlichungen verbieten. Die erste Einschränkung einer Zeitung in der US-Geschichte. Die Artikel erschienen dann in 18 weiteren Zeitungen. Ellsberg wurde als Spion angezeigt. Das Verfahren wurde jedoch eingestellt, als herauskam, dass die Nixon-Regierung einen Einbruch bei Ellsbergs Psychiater in Auftrag gab, um an diskreditierende Informationen zu kommen. An der Operation waren dieselben CIA- und FBI-Agenten beteiligt, die wenig später den Watergate-Skandal auslösten. +Bis Edward Snowden die Machenschaften der NSA aufdeckte, war Deep Throat der wohl bekannteste Whistleblower. Und lange der meist gesuchte: Bis 2005 tappte die Öffentlichkeit im Dunkeln, wer den Journalisten Bob Woodward und Carl Bernstein von der "Washington Post" seinerzeit die brisanten Informationen zugespielt hat, derentwegen Präsident Nixon am 9.8.1974 zurücktreten musste. Der Informant versorgte die Journalisten mit praktisch allen Auskünften, anhand derer sie die Verstrickungen der Regierung in die Watergate-Affäre enthüllen konnten. Die Affäre galt lange als der größte Politskandal der USA. Im Juni 1972 brachen fünf Männer in die Wahlkampfzentrale der oppositionellen Demokraten ein und versuchten, dort Wanzen zu installieren. Die Spur führte ins Zentrum der Macht, ins Weiße Haus, ins Wahlkampfteam der Republikaner. Die Regierung vertuschte und leugnete jegliche Verstrickung in den Fall – jedoch erfolglos. Erst mit 91 Jahren brach der ominöse Informant sein Schweigen. Ein ranghoher FBI-Agent namens Mark Felt steckte hinter dem Pseudonym. Eigentlich wollte Felt sein Geheimnis mit ins Grab nehmen, da sich die Familie aber für die Schulausbildung der Enkel verschuldet hatte, wollte er mit seinem Outing etwas Geld auftreiben. +Als Chelsea Manning noch den Vornamen Bradley trug und bei der US-Army als Obergefreiter arbeitete, sorgte sie für den größten militärischen Geheimnisverrat der US-Geschichte. Sie übergab 2010 Hunderttausende geheimer Dokumente der US-Streitkräfte an die Enthüllungsplattform Wikileaks. Darunter Kriegstagebücher aus Afghanistan und dem Irak, Botschaftsdepeschen und ein Video, das zeigt, wie US-Soldaten von einem Hubschrauber aus Zivilisten in Bagdad erschossen. Dafür bekam Bradley eine harte Strafe: 35 Jahre Gefängnis wegen Geheimnisverrats, Computerbetrugs und Diebstahls. Die Anklage wollte das als Abschreckung verstanden wissen. Schließlich erhielt kaum ein Enthüller bislang eine solch hohe Haftstrafe. Ob es was gebracht hat, ist fraglich. Edward Snowden bezeichnete Manning als Vorbild. Im April 2014 änderte Bradley seinen Vornamen offiziell in Chelsea, im Februar 2015 genehmigte die US-Armee die Hormonbehandlung zur geschlechtlichen Angleichung. +Es ist nicht immer die große Weltpolitik, wo Whistleblower mit ihren Enthüllungen Licht ins Dunkel bringen. Manchmal sind es auch schmutzige Geschichten aus der Nachbarschaft. So eine hat die Tierärztin Margrit Herbst aufgedeckt. Sie arbeitete auf dem Schlachthof Bad Bramstedt in Schleswig-Holstein als Fleischhygienetierärztin. Dort hatte sie seit 1990 bei angelieferten Schlachtrindern BSE-Verdachtsfälle entdeckt. Gegen ihren Willen und auf Druck der Vorgesetzten wurden die Tiere dennoch geschlachtet und gelangten in den Handel. Als Herbst 1994 auf 21 weitere Verdachtsfälle stieß, ging sie an die Öffentlichkeit. In einem Fernsehinterview machte sie den Skandal publik – und wurde fristlos gekündigt. Begründung: Sie hätte gegen ihre Verschwiegenheitspflicht verstoßen. Obwohl sie recht hatte und jahrelang vor dem Arbeitsgericht dafür kämpfte, sollte sie ihre Stelle als Fleischhygienetierärztin nicht wiederbekommen. Ebenso scheiterte ihr Kampf um finanzielle Wiedergutmachung. Sie bekam den Whistleblower-Preis 2001 und sollte sogar das Bundesverdienstkreuz erhalten – sofern sie von ihren Ansprüchen gegen Kreis und Land abrückte. Herbst lehnte ab. Und lebt heute von einer knappen Rente. diff --git a/fluter/unsere-reservebank.txt b/fluter/unsere-reservebank.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/unter-den-wolken.txt b/fluter/unter-den-wolken.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b5a7c519e889c7b05d83d820dc6d63c722d469f9 --- /dev/null +++ b/fluter/unter-den-wolken.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +02Durch die Treibhausgase entsteht eine Art Dach über der Erde, das weniger Wärmestrahlung der Sonne, die von der Erde reflektiert wird, durchlässt und teilweise zurückwirft. Dadurch wird es auf der Erde wärmer. +03Die Folgen des Treibhauseffektes sind dramatisch: Gletscher schmelzen, der Meeresspiegel steigt, die Zahl der Naturkatastrophen nimmt zu. diff --git a/fluter/unter-erbsenzaehlern.txt b/fluter/unter-erbsenzaehlern.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b5d184354af9e0b217ff4bee452a0ea578a858af --- /dev/null +++ b/fluter/unter-erbsenzaehlern.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Auch ob die Platte limitiert ist, die Pressung eine rare oder das Werk noch mal extra für Vinyl remastert wurde: Das ist ihm alles wumpe! Der moderne Schallplattenhörer will einfach nur das Geile am Format Schallplatte. Covergröße, Coolness, Lifestyle. Ein Bart ist ja schließlich auch gleichzeitig unpraktisch und praktisch. Die aktuelle Situation begünstigt sein Leben: So gut wie alles gibt es wieder als Vinyl, der Nahrungsnachschub ist auf Jahre gesichert. Der Moderne ist vielleicht ein Wackelkandidat, wenn es mal wieder ein neues Format geben sollte, aber trotzdem ein nützliches Wesen. Ohne ihn wäre Vinyl eben auch ausgestorben. +Die beiden ersten Typen können im Laufe ihrer Entwicklung zu einer besonderen Spezies verschmelzen: dem Sammler. Dahin kommen sehr viele Schallplattenkäufer irgendwann: in die Abhängigkeit, zur Sucht. Als lockere Gelegenheitsuser gestartet, enden sie als verbissene, deep diggende Sucher und Jäger verlorener Schätze. Irgendwo muss der Spaß doch aufhören! Dann beginnt die Reinschraubung in den tiefen Sumpf. Mehrere Pressungen von einer Platte, Horten, Vergleichen, nach Preis bewerten – der ganze nerdige, sinnlos sinnig sinnliche Kram. Moralisch nicht zu bewerten. Durch die Sucht findet man auch viele Freunde: Es gibt einfach sehr, sehr viele leidenschaftliche Sammler von Schallplatten. Weltweit. Mit denen kann man sich unterhalten und die Sekte ausbauen. Faszinierend. +Auch eine in allen Farben der Bedeutungslosigkeit schimmernde Person: Der Mitkommer ist zufällig im Plattenladen anzutreffen. Entweder weil ihn jemand mitgenommen hat, oder weil er en passant irgendwie hineingeraten ist. Typische Aussprüche: "Was? Schallplatten, die gibt's noch?" und "Ich dachte, das ist ein Kunstbuchladen." Er kauft grundsätzlich nichts. Wozu auch, er hat ja keinen Plattenspieler: "Was? Schallplattenspieler, die gibt's noch?" +Früher, als DJs noch mit 12's auflegten, waren die Mitkommer oft Frauen, die stundenlang betätigungslos neben dem sich durch Tonnen von Neuerscheinungen hörenden Freund standen. Heute eher selten und zumeist durch den Zufälligen ersetzt, der keine Ahnung hat, was das alles soll. Er hat schließlich ganz normal 78.000 Songs auf seinem Handy und kann sich die anderen drei Milliarden Lieder einfach streamen. Warum soll man zehn Songs in zwei Seiten rundes Plastik reinkratzen und sie sich erst zu Hause anhören können? Na ja, ihm egal. + + + + +Gereon Klug ist Plattenhändler. In seinem LadenHanseplatteim Hamburger Schanzenviertel verkauft er aber auch CDs, Bücher, T-Shirts, Becher, Schlüsselanhänger und sogar Backformen. Berühmt ist Gereon Klug für seine Newsletter, aus denen das Buch"Low-Fidelity: Hans E. Plattes Briefe gegen den Mainstream"entstanden ist. +Foto:Heinrich Holtgreve diff --git a/fluter/unter-kartoffeln.txt b/fluter/unter-kartoffeln.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6e18b0c41c8625bd581ec64ad2d551e7fc3bb76c --- /dev/null +++ b/fluter/unter-kartoffeln.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Mohammeds Bruder spricht es aus: "Du bist kein Pyramidenbewohner mehr." So viel ist also mal klar für Mohammed (Hussein Eliraqui). Aber was ist er dann, wo gehört er hin? 2006 vor dem Krieg aus Palästina geflohen, von wo er Bombensplitternarben im Fuß mitgebracht hat, lebt der 18-Jährige mit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis im piefigen Berliner Norden, direkt in der Einflugschneise des Flughafens Tegel. Die Eltern wurden abgeschoben, aus dem Libanon meldet sich der Vater nur per Telefon und auf die Frage, wann man sich denn wiedersehe, antwortet er nicht. Halt dich von deinem älteren Bruder fern, er ist kein Vorbild, rät er Mohammed stattdessen. +Lakhdar ist nämlich ein schwieriger Fall, auch wenn er unheimlich liebenswert und fürsorglich sein kann. Er hampelt, er labert, er grimassiert, er schreit, er jauchzt und immer will er irgendwas und das sofort – ein hochextrovertierter Maniker, gespielt mit einer irren Präsenz von Oktay Inanç Özdemir. Mal singt er die palästinensische Hymne beim Zähneputzen, dann will er ein Armdrücken darum veranstalten, wer das Abendessen macht. Der Rest ist Kiffen, Videospielen und das Vernachlässigen seiner Schäferhunde Attila und Luna, die ihren Auslauf auch mal auf dem Hometrainer-Laufband erledigen müssen. Warum behandelt man bloß die, die einen lieben und unterstützen, oft so schlecht? +Während Lakhdar das Trauma der Kriegserfahrung also nach außen trägt, verarbeitet Mohammed seines im Stillen: Heimlich führt er ein Tagebuch, in dem er mühsam in krakeliger Schrift seine Sorgen und Hoffnungen niederschreibt: "Ich habe Lakhdars Augen gesehen. Sie sehen aus, als ob ein Dämon in ihm wohnte." Und später: "Er zerstört meine Chancen. Ich kann mit Lakhdar nichts schaffen." + + +Denn Mohammed hat durchaus Träume. Einen Ausbildungsplatz will er, als Motorradmechaniker. In der Werkstatt, betrieben von hemdsärmlig berlinernden Handwerkerdeutschen, gibt man ihm aber erstmal nur Hilfsarbeiteraufgaben. Lakhdar wiederum kontrolliert abends am Esstisch Mohammeds Hände, ob sie ölverschmiert sind. Er hält nichts davon, dass Mohammed "in der Werkstatt von den Kartoffeln" arbeitet. +Diese Kartoffeln lassen ihn einmal nach der Arbeit mitsaufen. "Junge, komm nie wieder" tönt es im Hintergrund, die Männer trinken Bier, Mohammed ein Alkoholfreies. "Flucht ist keine Schande", sagt einer, der schon bei der Fremdenlegion war, weil er eine Ersatzfamilie brauchte. +Für einen kurzen Moment sieht es so aus, als könnte Mohammed dazugehören. "Du musst dich entscheiden: Familie oder alleine", sagt Lakhdar zu ihm. "Ich probiere beides. Das ist Pommes mit Mayo." +Die Suche nach der Identität wurde schon oft erzählt, diese Variante ist eine der guten. "Meteorstraße" lebt von seiner Sprache und seinem so verschiedenen Hauptdarsteller-Duo. Regisseurin Aline Fischer hat ihren Abschlussfilm in so enger Zusammenarbeit mit den beiden Schauspielern entwickelt, dass die Pressemappe von "semi-dokumentarisch" spricht. Das Ergebnis ist nicht immer plausibel, aber unheimlich intensiv. + + +"Meteorstraße", D 2016; Regie und Drehbuch: Aline Fischer, mit Hussein Eliraqui, Oktay Inanç Özdemir, Bodo Goldbeck, 84 Minuten diff --git a/fluter/unter-uns.txt b/fluter/unter-uns.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..08fb81b29bbf2473b215d1d87d3f6041a8355d14 --- /dev/null +++ b/fluter/unter-uns.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Juliane sieht sich als Feministin. Sie will, dass ihre Tochter auf dem Bolzplatz den Ball ins Tor schießen darf und ihr Sohn rosafarbene T-Shirts tragen kann, ohne ausgelacht zu werden. Aber hat Juliane mit ihrer Berufswahl nicht auch ihren kleinen Beitrag dazu geleistet, dass Frauen und Männer auf dem Arbeitsmarkt noch immer so unterschiedlich dastehen? +Vor dem Gesetz sind Männer und Frauen gleich, im Job sind sie es nicht. Die Statistik zeigt: In Deutschland verdienen Frauen 22 Prozent weniger als Männer, wenn man den Durchschnittslohn aller erwerbstätigen Frauen mit dem Durchschnittslohn aller erwerbstätigen Männer vergleicht. Diese sogenannte unbereinigte Lohnkluft ist größer als in vielen anderen europäischen Ländern, und sie hält sich hartnäckig. Seit Jahren hat sich am Verdienstunterschied zwischen den Geschlechtern kaum etwas getan – trotz Frauenbewegung und obwohl sich niemand mehr über eine Frau an der Spitze der Bundesregierung wundert. Woran liegt das? +Vor Kurzem kam heraus, dass der Sandalenhersteller Birkenstock jahrelang Frauen systematisch schlechter bezahlt hatte als Männer. Mitarbeiterinnen klagten – und bekamen Recht. Die Diskriminierung war so eindeutig wie skandalös. +Auch bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gehen immer wieder Beschwerden über sexistische Chefs ein. Einmal meldete sich dort eine Schlosserin und klagte darüber, dass sie 11,50 Euro in der Stunde verdiene, die männlichen Kollegen aber 19 Euro. Ihr Vorgesetzter leugnete die Diskriminierung nicht einmal: Sie sei nun mal eine Frau. Eine Geschäftsführerin berichtete den Beratern, dass sie weniger Bonus als ihr männlicher Kollege bekomme – obwohl sie die bessere Leistungsbeurteilung habe. +Wie häufig Fälle dieser Art vorkommen, ist schwer zu sagen. Selten erklärt ein Chef so unverblümt, dass er Frauen allein wegen ihres Geschlechts weniger Lohn zugesteht. Selten ziehen die Benachteiligten vor Gericht. Und Statistikexperten sagen: Es gibt einen Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen, der nicht anders als durch offene Diskriminierung gedeutet werden kann. Die Kluft lässt sich aber auch noch anders erklären: Frauen nehmen seltener Führungspositionen ein – und sie entscheiden sich viel häufiger für die schlechter bezahlten Berufe. So wie Juliane, die Krankenpflegerin. +Auffällig ist, welch unterschiedliche Wege junge Männer und Frauen nach der Schule einschlagen. Die Hälfte aller weiblichen Azubis verteilt sich auf gerade einmal zehn Berufe. Der beliebteste betriebliche Ausbildungsberuf war zuletzt Kauffrau für Büromanagement. Drei Viertel aller Azubis in diesem Job sind weiblich. Vorn in der Liste waren auch Verkäuferin, medizinische Fachangestellte oder Friseurin. Der beliebteste Ausbildungsberuf bei jungen Männern war Kraftfahrzeugmechatroniker – in dieser Lehre liegt der Frauenanteil bei unter fünf Prozent. +Sind Frauen selbst schuld, wenn am Ende die kleinere Summe auf ihrer Gehaltsabrechnung steht? Niemand verbietet jungen Frauen, Ingenieurin oder Managerin zu werden – und dann auch gut zu verdienen. Stimmt das etwa nicht? Henrike von Platen widerspricht dieser Sichtweise. Sie ist Unternehmensberaterin und Präsidentin des Vereins "Business and Professional Women". Das Netzwerk setzt sich für Chancengleichheit in Beruf, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ein. "Frauen wählen nicht die falschen Berufe", sagt sie. "Wir müssen uns eher fragen, warum wir so viele Frauenberufe so wenig wertschätzen." +Die Soziologinnen Ann-Christin Hausmann, Corinna Kleinert und Kathrin Leuze haben kürzlich in einer Studie gezeigt. Der Lohn in vielen Berufen sinkt, wenn der Frauenanteil steigt. Überspitzt gesagt: Wer weiß, ob der Abstand zwischen den Geschlechtern wirklich kleiner wäre, ob Frauen wirklich besser verdienen würden, wenn sie nicht alle Krankenpflegerin lernten, sondern Kfz-Mechatronikerin? Vielleicht sinken dann nur die Löhne in den einstigen Männerdomänen. +Juliane, die Krankenpflegerin, drückt es zynisch aus: "Für die Kliniken wäre es am besten, wenn die Pflege weiterhin ein reiner Frauenberuf wäre. Dann können die Gehälter niedrig bleiben." +Hinter der Lohnkluft zwischen den Geschlechtern steht damit am Ende eine sehr grundsätzliche Frage: Was ist ein gerechter Lohn? Jeder wird zustimmen, dass es unfair ist, wenn eine Schlosserin für die gleiche Arbeit weniger bekommt als ein Schlosser. Aber wie ungerecht ist es, dass eine Krankenpflegerin anders bezahlt wird als ein Gerüstbauer? Dass ein Ingenieur besser verdient als die Lektorin, die genauso lang studiert hat? +Dazu kommt: Das Geschlechtergefälle auf dem Lohnzettel verschärft sich mit dem Alter – wie von selbst, fast automatisch. Juliane hat 1999 ihre Ausbildung als Krankenschwester begonnen. Ihr Freund hat Bankkaufmann gelernt. Die Ausbildungsvergütungen für beide Jobs liegen nicht so weit auseinander. Dann heirateten sie, und allmählich kippte das Verhältnis. 2006 wurde die Tochter geboren, ein Jahr später kam der Sohn auf die Welt. Juliane setzte im Beruf aus, um sich um die Kinder zu kümmern, drei Jahre lang. 2009 hat sie ihren Job wieder aufgenommen, als Nachtschwester auf einer internistischen Station. Seither arbeitet sie in Teilzeit, acht Nächte im Monat. Ihr Mann ist Vollzeit im Büro. +Ökonomisch ist das eine vernünftige Entscheidung. "Sein Gehalt ist viel höher als meins", sagt Juliane. "Ihn in Teilzeit zu schicken wäre Schwachsinn." Und ihr Job lasse sich viel besser mit der Kinderbetreuung vereinbaren als der ihres Mannes: sind die Kinder im Bett, geht sie zur Wache auf die Station. Wenn sie am Morgen heimkommt, kann sie die beiden schulfertig machen und sich anschließend schlafen legen. Mit Zulagen hat sie am Ende 1.163 Euro netto. Hauptverdiener ist ihr Mann. +Das deutsche Steuerrecht begünstigt dieses Modell: Durch das sogenannte Ehegattensplitting sparen Paare immer dann besonders viel Steuern, wenn ihre Einkommen weit auseinanderliegen. So entsteht ein Anreiz, das kleine Gehalt kleiner und das große noch größer zu machen. Männer steigen auf, Frauen steigen aus. +Die Zahlen aus dem Statistischen Bundesamt zeigen, dass das Modell von Juliane ziemlich gängig sein muss: Mit 20 Jahren, zu Beginn ihrer Erwerbsbiografie, liegen die Stundenlöhne von Frauen (6,64 Euro) und Männern (7,12 Euro) noch nah beieinander. Der Bruch setzt ein, wenn die Kinder kommen. Mit 30 verdienen Frauen im Schnitt 14,72 Euro, Männer 16,16 Euro. Mit 50 ist der Vorsprung der Männer (21,51 Euro) vor den Frauen (15,62 Euro) praktisch uneinholbar. +Frauen, die aufsteigen wollen, würden immer wieder an die berüchtigte "gläserne Decke" stoßen, sagt Henrike von Platen vom Netzwerk "Business and Professional Women". Ganz plötzlich und ohne auf Anhieb erkennbare Gründe kommen sie in ihrer Karriere nicht weiter voran. "Oben in den Führungsetagen sitzen fast nur Männer. Und Männer befördern tendenziell und oft auch unbewusst eher Männer." +Eine Informatikerin hat sich zum Beispiel mit ihrer Geschichte an den Verein gewandt. Zeitgleich mit einem Studienkollegen hatte sie den Job bei einer IT-Firma angefangen, sie machten die gleiche Arbeit, bekamen vermutlich das gleiche Gehalt, dann kam das Kind, sie reduzierte ihre Arbeitszeit auf 20 Stunden. Ihr Kollege wurde zum Projektleiter befördert, sie blieb stecken – wer in Teilzeit arbeite, sagten ihr die Chefs, der könne keinen Leitungsposten übernehmen. Man erwarte 100 Prozent. +In den 90er-Jahren stieß die US-Soziologin Christine L. Williams auf ein merkwürdiges Phänomen. Sie analysierte die Karriereverläufe in typischen Frauenberufen. Kurioserweise machten die wenigen Männer in solchen Berufen ganz andere Erfahrungen als Frauen in Männerjobs. Sie erwiesen sich keineswegs als Exoten mit Karrierehemmnis. Im Gegenteil: Die Männer stiegen wie in einem "gläsernen Fahrstuhl" wesentlich schneller und selbstverständlicher in der Betriebshierarchie auf als ihre vielen, vielen Kolleginnen. Der Aufstieg scheint dabei der Profilierung zu dienen, bewusst oder unbewusst. Männer machen Karriere, um sich als richtiger Mann zu beweisen. +"Bei Männern in der Krankenpflege denken alle sofort: Das ist so einer, bei dem hat es zum Arzt nicht gereicht", sagt Susanne, 54 Jahre alt, eine Pflegerin, die eigentlich anders heißt und lange in einer Universitätsklinik in Süddeutschland gearbeitet hat. Damals, mit Mitte 30, als sie etwas mehr Verantwortung in ihrem Job übernehmen wollte, beobachtete sie, wie plötzlich ein Mann neben ihr in den gläsernen Fahrstuhl stieg. In einem Teamgespräch hatte es eines Tages 
geheißen, die neu aufgebaute Abteilung in der Klinik brauche nun einen Pflegeleiter. Susanne fragte den Arzt, was es mit dem neuen Posten auf sich habe – sie könne sich das eventuell vorstellen. +"Das wird nichts", sagte der. "Warum nicht?", fragte Susanne. Sie sei doch von Anfang an dabei, habe den Bereich mit aufgebaut und sogar eine zweijährige Fortbildung gemacht. Das müsse er nicht begründen, erklärte der Arzt. Er habe schon jemanden im Blick: den einzigen Mann im Team der zwölf Pflegekräfte. Es war der Mann, den Susanne angelernt hatte. +"Die zwei hatten das längst miteinander ausgemacht", sagt Susanne. Doch sie gab nicht nach: Sie habe sich damals "auf die Hinterfüße" gestellt. Sie protestierte, drängte beim Personalrat, dass die Stelle ordentlich ausgeschrieben 
werden solle. Das wurde sie. Sie bewarb sich, ihr Kollege ebenfalls. Am Ende bekam sie doch noch die Stelle. Aber wer kämpft schon bis zum Ende? +Juliane, die Pflegerin in Teilzeit aus der Nähe von Köln, ist froh, dass ihr Mann eine Beförderung bekam. "Was soll ich um die Karriere kämpfen?", sagt sie. "Ich habe zwei Kinder, ich habe gar nicht die Kraft dazu." diff --git a/fluter/unter-wellness-stress.txt b/fluter/unter-wellness-stress.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a295c1d12c4560a80b6fa0894210249b953eb68a --- /dev/null +++ b/fluter/unter-wellness-stress.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Die westlichen Gesellschaften leiden an einem "Wellness-Syndrom", diagnostizieren Cederström und Spicer in ihrem gleichnamigen Essay. Damit meinen sie: Nach Glück und Gesundheit zu streben habe sich zu einer Ideologie entwickelt. Wellness sei zur moralischen Verpflichtung unserer Zeit geworden. +Diese These untermauern sie vor allem mit Beispielen aus den USA und Großbritannien. Sie berichten von Wellness-Verträgen, die Studenten an mindestens einem Dutzend US-Universitäten zu unterschreiben aufgefordert werden und in denen sie sich etwa zu einem alkohol- und drogenfreien Leben verpflichten. Sie verweisen auf Wertpapierhändler, deren Ess- und Schlafgewohnheiten von einer Software analysiert werden und denen Coachings angeboten werden, wenn sie ihre Leistung durch Lebensstilveränderungen verbessern könnten. Und sie schildern die Praxis einiger amerikanischer Krankenhäuser, zukünftige Mitarbeiter zum Urintest zu schicken: Die Kliniken stellen grundsätzlich keine Raucher mehr ein. +An solchen Beispielen zeigt sich deutlich, wie sehr die von den Autoren ausgemachte Wellness-Ideologie, die oft als wohlmeinendes "Angebot" verpackt daherkommt, in die Freiheit des Einzelnen eingreift und einen privaten Lebensstil diktiert. Und sie zeigen, wie sich die moralische Bewertung verschiebt: Nicht nur das Rauchen an sich wird verurteilt, weil es krank macht, sondern auch der Raucher selbst ist minderwertig. +Cederström und Spicer berichten in ihrem Essay auch von einem Unterstützungsprogramm für Arbeitslose, in dem diese von jedweder Spur von Negativität befreit werden sollten, um ihre Erfolgschancen bei der Jobsuche zu vergrößern. Unter anderem wurden sie dazu aufgefordert, ihre Zeit nur mit Leuten zu verbringen, die ihnen positive Gefühle vermitteln, keine Nachrichten zu konsumieren (all die schlechten Meldungen) und sich selbst nicht als "arbeitslos" zu bezeichnen: Sie seien nämlich "ihr eigener Herr". +Carl Cederström und Andre´Spicer "Das Wellness Syndrom", Edition TIAMAT, 192 Seiten, 16 € +Sogar solche teilweise absurd anmutenden Wellness-Techniken klingen erst mal ermächtigend. Sie vermitteln den Betroffenen das Gefühl, sie können ihr Schicksal aus eigener Kraft ändern. Allerdings kommt diese Ermächtigung nicht ohne eine Kehrseite, warnen die Autoren. Wenn wir glauben, dass wir nur genug an uns arbeiten müssen, um glücklich und erfolgreich zu werden, bedeutet das ebenfalls: Wer scheitert, hat sich nicht genug angestrengt und ist damit selbst schuld. Dass es zum Beispiel für Arbeitslosigkeit auch strukturelle Ursachen gibt, an denen der Einzelne nichts ändern kann, gerät aus dem Blickfeld. Wenn wir nur noch um uns selbst und unsere eigenen Unzulänglichkeiten kreisen, nehmen wir die "Krankheit der Welt" nicht mehr wahr. +Cederströms und Spicers scharfe Kritik am Wellness-Wahn ist letztendlich ein starkes Plädoyer gegen die Entsolidarisierung der Gesellschaft: Sie gruseln sich vor einem narzisstischen, kalten Nebeneinanderherleben, bei dem sich der Einzelne nur noch obsessiv mit sich selbst und dem eigenen Wohlbefinden beschäftigt. Einer Gesellschaft, die nach dem Prinzip des "Survival of the Fittest" funktioniert und in der die Verantwortung für das gute Leben individualisiert wird. +Cederströms und Spicers einseitiges Betonen des Terrorpotenzials von Wellness-Angeboten nervt zwar manchmal ein bisschen. Aber dass uns Yoga und der tägliche Apfel guttun, das wissen wir ja mittlerweile. diff --git a/fluter/unternehmen-baeume-nachhaltigkeit.txt b/fluter/unternehmen-baeume-nachhaltigkeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..db4238959420412cb98bc9a837f99d141c6a97e5 --- /dev/null +++ b/fluter/unternehmen-baeume-nachhaltigkeit.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Nicht nur "Click A Tree", auch zahlreiche weitere Organisationen wie etwa "Treedom" oder "Plant for the Planet" verdienen Geld damit, im Auftrag von Privatleuten oder Unternehmen Bäume zu pflanzen und entsprechende Zertifikate auszustellen. Doch wie nachhaltig ist dieses Geschäftsmodell? Öffentlich kritisiert wurde, als die Brauerei Krombacher im Jahr 2002 im Rahmen ihrer Regenwaldkampagne mit dem Slogan "Ein Kasten, ein Quadratmeter" warb. Entgegen der Annahme vieler Verbraucher pflanzte die Brauerei aber keine Bäume, sondern versprach lediglich, pro Kasten Bier einen QuadratmeterRegenwaldzu schützen – indem sie Geld an einen Nationalpark in der Zentralafrikanischen Republik spendete. +Vor zwei Jahren geriet die Stiftung "Plant for the Planet", die unter anderem für Rewe und eBay Bäume pflanzt, in die Kritik. Laut einer Recherche der Wochenzeitung "Die Zeit" pflanzte sie womöglich weniger Bäume als zugesichert, zum anderen versprach sie eine laut Forschern unrealistisch hohe Überlebensrate der Setzlinge. Statt neue Wälder zu pflanzen, würde das Unternehmen bloß alte verdichten – und dort lägen die Chancen junger Setzlinge weit unter den von "Plant for the Planet" angegebenen 94 Prozent. +Für viel Aufmerksamkeit sorgte vergangenes Jahr eine Kampagne von McDonald's Deutschland: In den Restaurants konnten Kunden für wenig Geld einen Baum kaufen, der dann in Zusammenarbeit mit "Treedom" gepflanzt wurde. Über 44.000 Bäume seien mittlerweile gesetzt worden, teilt Treedom auf seiner Website mit. +Allerdings fragen sich Umweltschützer, ob McDonald's mit dieser Aktion seine schlechte Umweltbilanz ansatzweise wettmachen kann oder sich unverdient als ökologisches Unternehmen präsentiert. Michael Bilharz vom Umweltbundesamt ist skeptisch. Er forscht zur Förderung nachhaltiger Konsumstrukturen und hält viele Pflanzaktionen fürGreenwashing, also für den Versuch, sich besonders ökologisch zu geben."Davon sollten Verbraucher sich nicht blenden lassen. Stattdessen sollten sie lieber darauf achten, ob das Produkt selbst umweltfreundlich ist." +Tatsächlich hat Mc-Donald's Deutschland laut eigenem Nachhaltigkeitsbericht allein im Jahr 2018 eine CO2-Last von rund 1,4 Millionen Tonnen verursacht, rund 8.800 Tonnen konnten laut "Treedom" bislang durch das Pflanzen der Bäume eingespart werden – ungefähr 0,6 Prozent.* +Auch für Jana Ballenthien, Waldreferentin bei der Umweltschutzorganisation Robin Wood, ist der Baumkauf nicht mehr als eine nette Geste. "Manche Unternehmen kaufen sich so ein reines Gewissen", sagt sie. "In Anbetracht seiner extrem hohen CO2-Emissionen ist es perfide, dass McDonald's mit Aufforstung wirbt." Hinzu kommt: Nicht jeder Baum ist gleich gut fürKlimaund Umwelt. Deswegen sucht sich zum Beispiel "Click A Tree" für jedes der Baumpflanzprojekte ein lokales Team. "Die kennen sich mit der Flora vor Ort aus und wissen, welche Bäume wo wachsen sollten", erzählt Christian Kaiser von "Click A Tree". In Ghana habe man so zwölf Menschen Arbeit gegeben und 28 Jugendlichen eine Ausbildung ermöglicht. Ob die Unternehmen, mit denen "Click A Tree" zusammenarbeitet, selbst nachhaltig wirtschaften, finden die Gründer weniger entscheidend. "Wir wollen lediglich ein Bindeglied sein", sagt Kaiser nüchtern. "Zwischen eingefleischten Umweltschützern und dem ganz normalen Verbraucher." + +* Korrekturhinweis: In der ursprünglichen Version undim gedruckten Heftstand hier – fälschlicherweise – o,ooo6 Prozent. diff --git a/fluter/unterschied-menschen-zu-affen.txt b/fluter/unterschied-menschen-zu-affen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..86618e5c02a3e9f3d9f7a3de414803847f4adaa6 --- /dev/null +++ b/fluter/unterschied-menschen-zu-affen.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Während das Gehirn meiner Tochter noch in Entwicklung und die Verbindung aller Neuronen erst nach der Pubertät abgeschlossen ist, verlangsamt sich die Hirnentwicklung bei anderen Säugetieren, etwa Schimpansen, schon im Mutterleib. Wir kommen "unfertig" zur Welt und bleiben sehr lange anpassungsfähig. Die Größe oder das Gewicht des Gehirns spielt aber – anders als gern angenommen – im Vergleich verschiedener Arten keine entscheidende Rolle. Wichtiger ist die Anzahl der darin verbundenen Neuronen. +Nun ist für manches mitleidende Kind die Grenze zwischen den Arten – hier der Mensch, dort die Tiere – noch eine Selbstverständlichkeit. Das Tier in seiner Natürlichkeit hat Rechte, es steht moralisch höher als der verblendete Mensch. Eine Auffassung, die noch in den frühesten Darstellungen der Menschheit selbst zum Ausdruck kommt. Von den Höhlenmalereien der Steinzeit über die monumentale Kultanlage von Göbekli Tepe in der heutigen Türkei, 11.000 Jahre alt, bis zu ägyptischen Gottheiten, überall sind Tiere oder Mischwesen zu sehen. +Unser heutiges Verständnis vom Menschen als "Krone der Schöpfung" entstand in einer Zeit, in der Tiere entweder eine Gefahr für den Einzelnen oder die wirtschaftliche Grundlage ganzer Gesellschaften waren, und wurde auch in den monotheistischen Religionen begründet. Im alten Testament heißt es: "Furcht und Schrecken vor euch soll sich auf alle Tiere der Erde legen." Zwar gilt auch das Tier als ein Geschöpf Gottes, es ist aber nicht, wie der Mensch, nach "seinem Bilde" gestaltet. Pech gehabt. +Aristoteles sah den Menschen als "zoon logicon", als "denkendes Tier". Und deckte sich das nicht auch mit unserer Erfahrung? Anders als die Tiere haben wir eine Sprache, greifen nach Werkzeugen, benutzen unsere Vernunft, schaffen Kunstwerke, bilden Gemeinwesen. Damit fühlten Menschen sich lange einzigartig – nur stimmte das nicht. Auch Tiere nutzen Werkzeuge, sie unterhalten sich und bilden soziale Gemeinschaften. +Endgültig zum Einsturz brachte das eitle Selbstbild der Menschen ein lachender Affe. Schon 1871 hatte der Naturforscher Charles Darwin in seinem Buch "Die Abstammung des Menschen" die evolutionsbiologische Erkenntnis formuliert, dass der Homo sapiens vom Affen abstammt. In "Der Ausdruck der Gemütsbewegungen" von 1872 war es eine Reihe von Zeichnungen, die für Aufsehen – und ein Umdenken – sorgten. Zu sehen war ein lachender Schopfmakake aus dem Londoner Zoo. Das Tier zog nicht nur die Mundwinkel zu einem Lächeln nach oben, wenn es sich "über Liebkosungen" freute. Es gab sogar "leise schnatternde Geräusche" von sich. Dieses Lachen ließ Darwin naturgetreu zeichnen – und stellte es in eine Reihe mit lächelnden Mädchen und einem lächelnden alten Mann. Diese Darstellung tierischen Gefühlslebens war zwar kein wissenschaftlicher Beweis. Sie war aber ein höchst suggestives Gegenbild zum Affen als finsterem Monster. Ein Skandal. Oder, wie Sigmund Freud knapp 50 Jahre später feststellte, eine der drei großen "Kränkungen der Menschheit". +Als Kränkung bezeichnete der Nervenarzt und Vater der Psychoanalyse wissenschaftliche Entdeckungen, die das narzisstische Selbstverständnis des Menschen nachhaltig infrage stellten. Die erste Kränkung war die Feststellung, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist. Die dritte Kränkung war Freuds Erkenntnis, dass der Mensch von Trieben gesteuert und nicht einmal "Herr im eigenen Haus" ist. +Die zweite Kränkung, die Abstammung des Menschen von den Tieren, wurde stets am heftigsten bekämpft und ist auch nach rund 150 Jahren nicht überall angekommen. Heute noch weigern sich die sogenannten Kreationisten, den Menschen als Teil der belebten Natur zu betrachten – und beharren auf unserer besonderen Stellung in einem göttlichen Schöpfungsplan. +Ein verlorener Posten, gerade im Lichte wissenschaftlicher Forschung. Gesucht wird dabei weniger nach dem Tier im Menschen, eher nach dem Menschlichen im Tier. Ideales Forschungsobjekt: der Schimpanse, unser nächster Verwandter, mit dem wir fast 99 Prozent der Gene und einige Verhaltensweisen teilen – das Pflegen von Freundschaften, die Benutzung von Werkzeugen, das Führen krie­gerischer Auseinandersetzungen. +Primatologen des Max-Planck-Instituts beobachteten an Schimpansen im westafrikanischen Taï-Nationalpark ein ausgeprägtes Sozialverhalten, das nicht von Eigennutz gekennzeichnet war. Über Jahre hinweg kümmerten sich erwachsene Männchen intensiv um verwaiste Schimpansenkinder, teilten Nahrung und nahmen sie in Schutz. +Im selben Nationalpark stellten die Forscher fest, dass Schimpansen sich ihre Partner für die notwendige Fellpflege sehr genau aussuchen – nach dem Rang im Rudel oder danach, ob das betreffende Tier gerade ein Baby hat. Dazu bedarf es, so die Forscher, kognitiver Fähigkeiten, die im komplexen Sozialgefüge zum Erfolg verhelfen. 2015 bestätigte eine Studie der Universität Portsmouth sogar Darwins Vermutung, dass Affen das Lachen ebenfalls flexibel einsetzen. Vom lauten Gackern bis zum stummen Grimassieren zählten die Forscher 14 verschiedene Gesichtsausdrücke, die als "Lachen" interpretiert werden könnten – und je nach sozialer Aktion eingesetzt werden. Gelacht wird beispielsweise auch, wenn das Gegenüber lacht. Eine spiegelnde Reaktion, die zu den Schlüsselkomponenten auch der menschlichen Kommunikationspalette zählt. Verblüffende Intelligenz zeigt sich auch unter Wasser. Berühmt wurde ein Delfin namens Kelly am Institut für Meeressäugerstudien in Mississippi. Die dort lebenden Tiere wurden jedes Mal mit einem Fisch belohnt, wenn sie ihrem Trainer Müll brachten, der ins Becken gefallen war. Kelly ging dazu über, Papier unter einem Stein zu verbergen – und dem Trainer immer nur einen kleinen Fetzen davon zu bringen. Ein Beispiel für ökonomische Vernunft. +Ameisen oder Termiten gründen gewaltige Staaten, die es unter günstigen Bedingungen sogar mit manchem Weltreich aufnehmen können. In Brasilien wurde erst 2018 eine teilweise versteinerte, teilweise noch bewohnte Termitenkolonie mit einem Alter von 4.000 Jahren und der Ausdehnung von Großbritannien entdeckt. Vom Singvogel bis zum Blauwal pflegen Tiere ihre Sprachen, zum Teil wurden regionale Dialekte nachgewiesen. Krähen benutzen Stöckchen als Werkzeuge, um an Würmer in faulem Holz zu kommen – oder lassen Nüsse dort auf der Straße liegen, wo Autos darüberfahren und sie knacken. Neulich erst überraschten Putzerfischchen die Forscher vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie mit einer Form von Selbsterkenntnis – indem sie versuchten, Farbflecken loszuwerden, die sie nur im Spiegel erkennen konnten. +Je genauer die Grenze zwischen Mensch und Tier unter die Lupe genommen wird, umso mehr erweist sie sich in allen Bereichen als nur graduell. Die Diskussion darüber, was uns eint oder trennt, hat gerade erst begonnen – und führt an den Anfang zurück. +Theologisch gesprochen sind Tiere "in Gott", denn sie haben nicht vom Baum der Erkenntnis gegessen. Ihre Lebenswelt ist sinnlicher als die des Menschen, ihre Fähigkeit zu Abstraktion eingeschränkt. Eine Oper oder eine mathematische Formel werden wir von ihnen nicht erwarten dürfen. +Philosophisch gesprochen ist der Mensch das Tier, das Kenntnis von seiner Sterblichkeit hat – und auch davon, dass es ein "Mensch" ist. Wir dürfen von ihm erwarten, dass er sich seiner Verantwortung für das Tier und dessen Rechte bewusst wird. + diff --git a/fluter/unterschiedliche-freunde.txt b/fluter/unterschiedliche-freunde.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b1740d82a1774f3379c2749ed67b755b0e59daf1 --- /dev/null +++ b/fluter/unterschiedliche-freunde.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Ganz zugehörig habe ich mich aber nie einer Gruppe gefühlt. Ich klemmte zwischen den Schubladen fest: zu prollig für die Alternativen, zu deutsch fürdie Ausländer. Obwohl ich es mir wünschte, hatte ich nie die eine Clique, wie man sie aus vielen Filmen kennt – eine, in der alle ähnlich aussehen, die gleichen Interessen haben und die gleiche Musik feiern. Stattdessen waren meine Freundeskreise immer sehr verschieden, und in jedem spielte ich eine etwas andere Rolle. +Zuerst passierte das beim Wechsel auf die Oberschule. Die befand sich nämlich im Osten Berlins, und das Herkunftsmilieu vieler meiner neuen Schulkameraden unterschied sich wesentlich von meinem. Ich komme aus Kreuzberg, und auf meiner Grundschule waren fast ausschließlich Kinder mit Migrationshintergrund. +Plötzlich hatte ich also zwei Bekanntenkreise. Während ich mit meinen neuen Schulfreunden auf Partys Wodka trank, herumberlinerte und Fußballlieder grölte, hing ich mit meinen Kreuzberger Jungs in Shisha-Bars herum, schwor sehr viel auf Personen und Dinge und spuckte U-Bahnhöfe voll – ohne jemals die technische Raffinesse meiner Kumpels zu erreichen. In der Schule war ich frech, versuchte ein bisschen den Rebellen zu spielen, während ich in Kreuzberg eher ein Mitläufer war. +Mir gefiel die Art meiner aktuellen Schulfreunde, sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen. Was ich aber nicht mochte, war ihr ausgeprägter Individualismus. Bei meinen Kreuzberger Freunden ging es viel gemeinschaftlicher zu. Ein imaginäres Konto, das ständig Entscheidungen auf persönlichen Profit oder Verlust abwägt, gab es da nicht. Sie wären auch heute noch die Ersten, die bei mir auf der Matte stehen würden, um mir zum Beispiel beim Umzug zu helfen. +Während meiner letzten Schuljahre und kurz danach kamen zwei weitere Freundeskreise dazu. Erstens die Clique meiner besten Freundin. Eine gemischte Jungs- und Mädchengruppe. Die meisten sind eher introvertiert, zurückhaltend, an vielem interessiert. Es ist das erste Mal, dass ich eine enge Beziehung zu einem Mädchen habe, ohne Hintergedanken. Ich merke, wie befreiend es sein kann, nicht nur in großen Jungsgruppen unterwegs zu sein. Bei ihr kann ich auch meine verletzlicheren Seiten zeigen. Das ganze Aufplustern und das Gefühl, sich beweisen zu müssen, das ich sonst gewohnt bin, fällt weg. Andererseits ist die Clique manchmal so ruhig, dass ich dort öfter zum Wortführer und Clown werde, wogegen ich bei meinen anderen Freunden eher als der Stille gelte. +Ins Nachtleben stürzen kann ich mich mit ihnen nur bedingt. Umso besser klappt das dagegen mit den "Cousins", einer Gruppe Männer aus Südneukölln. (Nur einer von ihnen ist wirklich mein Cousin, aber durch ein Missverständnis hat sich dieser Name für alle durchgesetzt.) Alle sind laute Typen, mit denen ich gut herumblödeln und einen Abend lang über Unsinn diskutieren kann ("Würdest du lieber gegen einen Bären oder gegen einen Gorilla kämpfen?"). Irgendwann kann die ewige Stumpfheit aber auch nerven, und ich sehne mich wieder nach meiner besten Freundin. Was ich jedoch an den Cousins liebe, ist, dass keiner von ihnen ein besonderes Geltungsbedürfnis hat. +Diesen Schlag Mensch lerne ich nämlich seit Kurzem in großer Zahl kennen. Ich gehe oft in Clubs und gerate dort immer wieder an Menschen, deren Lebensinhalt gewissermaßen aus Ausgehen besteht. Durchgestylte Kosmopoliten,die ihren Instagram-Auftritt akribisch kuratieren, auf gesponserten Events Freigetränke schlürfen und Lebensetappen in anderen Metropolen hinter sich haben. Enge Freundschaften entstehen da eher nicht, mir fehlt bei den meisten eine gewisse Bodenständigkeit. Ich teile aber kulturelle Interessen mit einigen und genieße, dass viele von ihnen aus dem Ausland sind. Hinweise auf meine Sozialisation kann ich beim Englischsprechen ganz gut verbergen. +Es kommt nun also vor, dass ich einen Abend Tee trinkend im Shisha-Café verbringe und den nächsten mit einem Herrengedeck in der Eckkneipe. Mal diskutiere ich beim Wein mit einer Künstlerfreundin über kulturelle Aneignung, dann wieder sitze ich im Park mit Bluetooth-Lautsprechern, höre 2000erDeutschrapund trinke Whiskey-Cola aus der Dose. +Zwar benehme ich mich in jeder Konstellation etwas anders, aber ich versuche, nicht völlig zum sozialen Chamäleon zu werden. Man muss es nicht immer allen recht machen. Mit manchen Freunden spreche ich mehr Berlinerisch, bei anderen streue ich vielleicht mal ein arabisches Wort ein. Aber ich grüße nicht gleich überschwänglich mit "As-salamu alaikum" und Bruderkuss auf die Wange. Auch zu meinen politischen Überzeugungen stehe ich: Bei meinen Freunden drücke ich kein Auge zu, wenn sie sich homophob, rassistisch oder frauenfeindlich äußern. +Ich finde es schön, dass ich Zugang zu verschiedenen Lebenswelten habe. Ich kann mir überall was abgucken. Und es fällt mir leichter, über Äußerlichkeiten, Geschmäcker und Stile hinwegzusehen. Denn was wirklich zählt, sitzt eh tiefer als Kleidung oder Frisur. + diff --git a/fluter/untersuchungen-gegen-trump.txt b/fluter/untersuchungen-gegen-trump.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fa84daf553a3c8c3b9985efd41f4aa58e7efd6b7 --- /dev/null +++ b/fluter/untersuchungen-gegen-trump.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Viele US-Medien polarisieren stark. Vor allem im Internet, im Radio und im Fernsehen ist der plakative Meinungsjournalismus zum Geschäftsmodell geworden. Gleichzeitig ist das Vertrauen der Amerikaner in die Presse jahrelang gesunken. Im Herbst 2016 – kurz vor der Wahl – war es so niedrig wie nie zuvor. Lediglich 32 Prozent gaben in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup an, großes Vertrauen in die Arbeit von Journalisten zu haben. Vor zehn Jahren waren es noch 47 Prozent. Doch seit der Wahl steigen die Werte wieder. Für viele liberale Medien ist kritische Berichterstattung über den Präsidenten zur Mission und zum Geschäftsmodell geworden. Die "Washington Post" wirbt beispielsweise nach dem Amtsantritt Trumps mit dem Leitspruch "Democracy Dies in Darkness". Journalisten der großen Zeitungen sind für viele Enthüllungen der letzten Monate verantwortlich. + +Als die Trump-Regierung im Januar 2017 verkündete, Menschen aus sieben muslimisch geprägten Ländern die Einreise in die USA vorübergehend zu verbieten, waren die Anwälte schon vorbereitet. Bürgerrechtsorganisationen wie die ACLU zogen vor Gericht, um den Erlass als verfassungswidrig und diskriminierend verbieten zu lassen. Bisher haben sie überwiegend recht bekommen; die Umsetzung liegt zumindest teilweise auf Eis. Die Regierung hat zwar mehrfach nachgebessert, doch neue Klagen werden auch weiterhin eingereicht – zum Beispiel gegen einen Erlass, der Transsexuellen den Militärdienst verbieten soll. Der Exekutivmacht des mächtigsten Mannes der Welt werden also weiterhin Grenzen aufgezeigt. "Sehr frustrierend" sei das alles, so Trump. + + +Parallel zur Justiz interessiert sich auch das Parlament für den Präsidenten. Zwei Ausschüsse beschäftigen sich seit dem Frühjahr mit Vorwürfen, dass Trumps Wahlkampfteam gemeinsam mit Russland versucht haben soll, Hillary Clinton auszuspionieren und ihren Wahlkampf zu diskreditieren. Die Demokraten sind dabei die treibende Kraft – denn viele Republikaner haben wenig Interesse daran, dem Weißen Haus zu schaden. Sie argumentieren, dass die Vorwürfe haltlos seien oder lediglich zeigen, dass der Präsident schlecht beraten wurde. Ein "Nothing Burger" sei die ganze Affäre: viel Lärm um nichts. Doch anklagen können die Ausschüsse sowieso niemanden. Sie sammeln und sichten lediglich Beweise. +Größere Sorgen muss sich die Regierung womöglich um Sonderermittler Mueller machen. Er wurde vom Justizministerium ernannt, nachdem Trump abrupt den FBI-Direktor entlassen hatte – angeblich, um Ermittlungen gegen seine Berater zu unterbinden. Im Köcher der Justiz ist ein Sonderermittler der schärfste Pfeil. Mueller hat (anders als die Kongressausschüsse) die Befugnis, Dokumente zu beschlagnahmen, Zeugen zur Aussage zu verpflichten, eine Jury aufzustellen und Anklagen einzureichen. +Mueller hat inzwischen ein Team zusammengestellt, das sich vor allem auf Anklagen gegen Wirtschaftsverbrecher und Mafiabosse konzentriert hat. Viele dieser Prozesse fingen klein an: In den Prozessen gegen die Genovese-Mafia zum Beispiel klagte Star-Anwalt Andrew Weissmann zuerst die Handlanger des organisierten Verbrechens an – bis einer einknickte, sich zum Informanten der Justiz machen ließ und gegen die Hintermänner aussagte. In einem anderen Fall verklagte sein Team die Ehefrau eines Enron-Managers und bewegte den Mann somit dazu, strafmildernd als Zeuge aufzutreten. Momentan mehren sich die Anzeichen, dass Mueller eine ähnliche Strategie verfolgt und sich langsam vortastet: von Anklagen wegen Geldwäsche und Steuerhinterziehung bis zu Anklagen wegen Behinderung der Justiz, von Prozessen gegen externe Berater bis zu Prozessen gegen die Protagonisten. Trumps ehemaliger Wahlkampfmanager ist bereits angeklagt; ein weiterer Mitarbeiter kooperiert seit dem Sommer mit der Justiz. Doch wer sich am Ende wofür vor Gericht verantworten muss, ist derzeit noch nicht abzusehen. Bisher hat Mueller es geschafft, dass selten Informationen an die Presse durchsickern. + +Ob die Justiz den Präsidenten überhaupt rechtskräftig verurteilen kann, wird in den USA kontrovers diskutiert. Denn anders als beispielsweise die deutsche Kanzlerin ist der Präsident befähigt, andere zu begnadigen oder dem Justizministerium die Entlassung des Sonderermittlers aufzutragen. Selbst wenn Trump sich selbst von allen Vorwürfen freisprechen würde, wäre das eine beispiellose Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien, aber nicht notwendigerweise illegal. Wäre Trump dazu bereit? Auch das ist derzeit noch offen. +So oder so: Eine Amtsenthebung ist ein politischer Akt. Laut Artikel 1 der Verfassung liegt es an den beiden Kammern des Kongresses, ein Verfahren einzuleiten und den Präsidenten oder seine Minister mit Zweidrittelmehrheit abzusetzen. Findet sich also im Parlament keine Mehrheit, bleibt der Präsident im Amt. Je stärker Trump durch die Arbeit von Mueller oder die Aussagen von Mitarbeitern belastet wird, desto größer wird der Druck auf die Parlamentarier und speziell auf Trumps Parteifreunde. Je höher die Umfragewerte des Präsidenten, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass Trump ein eventuelles Verfahren überstehen kann. +In der Geschichte der USA wurde noch nie ein Präsident auf diese Weise abgesetzt. Nixon wäre das 1974 wegen der Watergate-Affäre fast passiert. Ein Sonderermittler untersuchte damals einen Einbruch ins Wahlkampfbüro der Demokraten. Als sich die Anzeichen für Nixons Mitwisserschaft verdichteten, ordnete der Präsident die Entlassung des Sonderermittlers an. Der Generalbundesanwalt trat aus Protest zurück; Nixon verlor zuerst die Unterstützung der Öffentlichkeit und dann den Rückhalt im Kongress. Er trat dann lieber selbst zurück, als sich einer Abstimmung zur Amtsenthebung zu stellen. + +Mindestens genauso wichtig wie die laufenden Ermittlungen ist daher das politische Klima im Land. Ein Jahr nach der Wahl sind lediglich 37 Prozent der Amerikaner zufrieden mit der Arbeit des Präsidenten, 59 Prozent sind unzufrieden und der Rest unentschieden.Das sind die schlechtesten Werte eines Präsidentenin seinem ersten Amtsjahr seit etwa 70 Jahren. Doch die Basis hält Trump weiterhin die Treue. Für viele Wähler, die sich abgehängt und von der Politik vernachlässigt fühlen, ist der Präsident weiterhin die beste Option, weil er genau das Gegenteil des etablierten und besonnenen Politikers darstellt. +Vor dieser Basis haben auch viele Republikaner Respekt – denn bei den innerparteilichen Vorwahlen stellt sie in konservativ geprägten Bezirken oftmals die Mehrheit. Wer in den USA derzeit für die Republikaner antreten will, muss sich also zuerst gegen stramm rechte und populistische Konkurrenten in der eigenen Partei durchsetzen. Kritik am Präsidenten wird in diesem Klima schnell als Dolchstoß in den Rücken der Regierung interpretiert. Mit Jeff Flake hat sich Ende Oktober bereits ein prominenter Senator der alten konservativen Garde und regelmäßiger Kritiker des Präsidenten gegen eine erneute Kandidatur für den Senat entschlossen. Seine politische Heimat sei ihm verloren gegangen, schreibt Flake. +Um seine Umfragewerte zu verbessern, drängt der Präsident mit Nachdruck auf konkrete Erfolge. Derzeit debattiert das Parlament über eine weitreichende Steuerreform, die zum Eckpunkt von Trumps Agenda werden soll. Im US-Repräsentantenhaus stimmte eine Mehrheit dafür. Kommt der Entwurf auch durch den Senat, hätte Trump sein erstes größeres Wahlkampfversprechen eingelöst. Beim Thema Zuwanderung versucht der Präsident ebenfalls, Fakten zu schaffen und Versprechen aus dem Wahlkampf zu erfüllen. Per Erlass hat er ein Programm gestoppt, dass Kindern von Migranten ein Bleiberecht in den USA einräumt. Eine neue Version des Einreiseverbots ist bis zur finalen Entscheidung der Gerichte teilweise in Kraft getreten. +Auch die Opposition setzt auf den Druck der Massen und versucht, Trump als Chaos-Präsidenten zu brandmarken und jede Abstimmung zum Referendum über seine Arbeit zu machen. Anfang November hat diese Strategie bereits bei Regionalwahlen Erfolg gezeigt. Richtig ernst wird es allerdings erst im Herbst 2018: Bei den Zwischenwahlen ringen die Demokraten darum, wieder stärkste Partei im Kongress zu werden. Oppositionsführerin Nancy Pelosi ist momentan dabei, ihre Partei darauf einzuschwören. Das Ziel der Demokraten sei nicht primär die Amtsenthebung Trumps, so Pelosi, sondern ein Sieg an der Wahlurne. + +Nach dem Geschichtsstudium in Harvard kam der gebürtige Mainzer Martin Eiermann 2010 zum Debattenmagazin "The European". Als stellvertretender Chefredakteur berichtete er aus Berlin und London zu Europa und zu gesellschaftspolitischen Themen. Inzwischen lehrt und forscht er als Soziologie an der Universität von Kalifornien in Berkeley und arbeitet als Research Fellow am Tony Blair Institute for Global Change zum Thema Populismus. + diff --git a/fluter/unterwasserfotografie-ryo-minemizu.txt b/fluter/unterwasserfotografie-ryo-minemizu.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..096731276170eae472cb986f2cd2949b904793f4 --- /dev/null +++ b/fluter/unterwasserfotografie-ryo-minemizu.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Was treibt Sie bei Ihrer Arbeit an? +Die Vielfalt des Lebens. Selbst nach 30 Jahren Tauchen und Fotografieren entdecke ich bei jedem Tauchgang Neues. Ich sehe es als meine Aufgabe an, dem Publikum zu zeigen, wie wertvoll und kostbar das Leben ist. +Welche Schwierigkeiten gibt es für Sie als Fotograf unter Wasser? +Ich verbringe am Tag und in der Nacht jedesmal mehr als vier Stunden imMeer. Das kann manchmal sehr anstrengend sein, aber um Lebewesen zu beobachten, die man normalerweise nur schwer zu Gesicht bekommt, muss man Geduld haben. Ich lasse mich im Ozean treiben und halte den Auslöser der Kamera gedrückt. + + +Um Sie herum ist alles dunkel und in Bewegung. Wie ist es technisch möglich, solche Bilder zu machen? +Ich arbeite mit einer kurzen Verschlusszeit und stelle die Schärfentiefe so ein, dass eine Tiefe entsteht, wobei ich immer auf die Bewegung des Wassers achte. So fange ich ein, was das bloße Auge nicht sehen kann. +Haben Sie in den vergangenen Jahren Veränderungen unter Wasser erlebt, die Ihnen Sorgen machen? +Die Veränderungen in der Meeresflora und -fauna sind deutlich spürbar. Wir Menschen bemerken diese Veränderungen erst seit höchstens einem Vierteljahrhundert, und es ist nicht klar, wie stark sich der Ozean heute im Vergleich zur langen Erdgeschichte verändert hat. Wir müssen die Entwicklung genau im Auge behalten. Eins ist klar:Es ist wichtig, dass die Menschen bewusst so leben, dass sie die Natur so wenig wie möglich beeinträchtigen. diff --git a/fluter/unterwassergarten-genua-landwirtschaft.txt b/fluter/unterwassergarten-genua-landwirtschaft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d6e14fa19b669864ee28ee5408ae23070e3c9b57 --- /dev/null +++ b/fluter/unterwassergarten-genua-landwirtschaft.txt @@ -0,0 +1,14 @@ + + + +"Nemo's Garden" ist nicht nur Spielerei. Die Frage, wie und wo wir in Zukunft unsere Nahrung anbauen, ist für die Menschheit eine entscheidende. Aktuell werden rund 70 Prozent des weltweiten Trinkwasserbedarfs für die Landwirtschaft benötigt, in manchen Ländern sind es sogar 90 Prozent. Durch denKlimawandelnehmen Dürreperioden zu, daneben wächst mit der Weltbevölkerung aber auch der Nahrungsmittelbedarf. Und viele Landstriche und Böden – Tendenz steigend – sind nicht für den Anbau von Pflanzen geeignet. DerOzeankönnte eine Antwort sein. +Zumal das Unterwasserfarming einige Vorteile hat: Die Biosphären sind unten geöffnet, so kann das Meerwasser kondensieren und als Süßwasser die Pflanzen versorgen. Außerdem bleibt die Temperatur im Meer ziemlich konstant, und es gibt dort keine Insekten oder Pilze, die eine Ernte schädigen können. Was umgekehrt bedeutet, dass auf Pflanzenschutzmittel verzichtet werden kann. + + + + + + +Mehr als 40 verschiedene Pflanzen hat Gamberinis Team inzwischen angebaut, darunter Salate, Tomaten, Zucchini, Erbsen, Himbeeren, diverse Kräuter, Aloe vera und Blumen. Forschungen haben ergeben: Der Anteil ätherischer Öle und Antioxidantien in diesen Unterwasserpflanzen ist höher als normal. Die Anbaumethode könnte deshalb auch für die Herstellung von Medikamenten infrage kommen. +Ob "Nemo's Garden" mit der aufwendigen Bewirtschaftung durch Taucher_innen wirklich die Landwirtschaft der Zukunft ist, sei dahingestellt. Noch wird die Ernte nicht verkauft. Viel wichtiger sind aber die Erkenntnisse, die hier vor der italienischen Riviera gewonnen werden. Sie könnten den Weg für größere, einfacher zu betreibende Unterwasserfarmen in anderen Teilen der Welt bereiten. Hier wird Grundlagenforschung betrieben. Meeresgrundlagenforschung, um genau zu sein. + diff --git a/fluter/unterwegs-im-putsch-land.txt b/fluter/unterwegs-im-putsch-land.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a9f0dfcb0ccfcb4331987b34c83d3072f6a59514 --- /dev/null +++ b/fluter/unterwegs-im-putsch-land.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Ein Soldat wird außer Gefecht gesetzt. Er soll mit einer Gruppe anderer Soldaten versucht haben, das Gebäude des staatlichen Rundfunks zu besetzen +Die Großmutter nimmt einen Schluck aus ihrem Teeglas,Şenolwickelt eine Praline aus der Alufolie, sein Bruder schaut auf sein Smartphone. Was sie glauben, was das heißt? "Wahrscheinlich alles Fake", sagt Şenols Bruder und wirkt dabei irgendwie desinteressiert. Auf dem Smartphone erscheinen Nachrichten von Freunden aus Deutschland: "Was passiert da? Geht es euch gut? Wo steckt ihr? Wird jetzt alles besser?" – Wir wissen es selber auch nicht und stellen uns dieselben Fragen. Funktioniert Facebook? – Ja. Funktioniert Twitter? – Ja, hier schon. Bei den türkischen Medien haben wir auch nicht das Gefühl, die Neuigkeiten aus erster Hand zu erfahren, denn viel von dem was man im Fernsehen als Nachrichten präsentiert bekommt, ist eine sehr spezielle, regierungsfreundliche Interpretation der Geschehnisse und keine unabhängige Berichterstattung. "Morgen werden wir mehr wissen", sagt uns Şenols Bruder. Wir denken das auch und lesen trotzdem weiter Liveticker. Das wenige, was wir wissen, haben uns unsere Gastgeber gesagt, wir haben es durch deutsche Medien erfahren oder durch Freunde. Auf Facebook schreiben sie aus Istanbul von Jagdbombern und Explosionen. In einem Post steht: "Wir wissen nicht, was passiert – wie immer, aber Menschen sterben – wie immer. Und morgen wird es schlimmer sein." +Lukas Makert, ein Kommilitone, der in Istanbul ein Praktikum macht, erzählt am Telefon, er habe auf der Dachterrasse am Galataturm gegrillt, als eine Push-Nachricht auf seinem Smartphone erschien: "Putschversuch in der Türkei". Von seiner Terrasse aus hat man einen guten Rundblick über die Stadt, aber erst mal blieb alles ruhig. Als er einen aufgeregten Anruf von seiner türkischen Mitbewohnerin bekam, stieg die Anspannung. "Bei den Terroranschlägen der letzten Monate dachte ich immer, dass ich im Notfall innerhalb kurzer Zeit aus dem Land komme, aber das geht jetzt nicht: Die Grenzen sind dicht, und der Flughafen ist besetzt. Wenn die Kampfjets im Tiefflug über der Stadt die Schallmauer durchbrechen, bebt alles und ich weiß nicht, ob das eine Explosion ist." +Wir trampen weiter auf einer Küstenstraße am Schwarzen Meer. "Was macht einen Militärputsch real?", fragte nachts noch jemand auf Facebook. Das fragen wir uns auch. Wir fragen uns sogar, was das Land, das wir im Fernsehen sehen, mit dem zu tun hat, durch das wir gerade reisen. Die Nachrichten der gestrigen Nacht werden uns erst langsam bewusst, und uns wird klar: Wir haben keine Ahnung, was es bedeutet, so etwas mitzuerleben. Aber im Gegensatz zu unseren türkischen Freunden werden wir schon wieder zurück nach Deutschland können. +Der Sunny-Side-up-Typ, bei dem wir jetzt im Auto sitzen, erzählt, er interessiere sich generell nicht für Politik. Er mag weder die Regierung noch den Präsidenten und auch nicht die Armee. Er sei gerne draußen und organisiere Bergtouren. Er mache hier in dieser Gegend mit seiner Familie Urlaub, und der habe er gestern gesagt: "Für uns ist das gut, wir haben jetzt länger Ferien." Die fast 300 Toten der vergangenen Nacht sind nun noch weniger vorstellbar. +Von einem geheimen Ort aus meldete sich Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan per Video-Anruf beim Sender CNN-Türk +Unseren nächsten Lift bekommen wir von einer Deutschtürkin. Sie kommt aus Bremen, lebt jetzt aber lieber in der Türkei, denn "hier ist alles besser". Sie erzählt von ihrer schlaflosen Nacht, von der Angst, die sie hatte, von dem Wasser, das sie auf Vorrat gekauft habe – und kommentiert den Putschversuch dann ganz auf Linie der Erdoğan-Regierung: "Das waren die Truppen von Fethullah Gülen, dem Prediger." Erdoğan habe zusammen mit dem Volk die Kontrolle wiedererlangt und die "Vaterlandsverräter" verhaftet. Es sei jetzt alles wieder gut, es werde sogar noch besser, sagt sie. +Unsere Freunde aus Istanbul sehen das ganz anders. War es ein "self coup", wie Esra es durch einen verlinkten Wikipedia-Artikel nahelegt, oder doch eher eine kleine kemalistische Gruppe von Offizieren, wie Teile der deutschen Presse berichten? Was uns in einem Moment noch plausibel erscheint, ist im nächsten Moment wieder unwahrscheinlich. Immer gibt es ein paar Teile, die nicht ins Puzzle passen. +Für die Erdoğan-Anhängerin aus Bremen ist es "ganz einfach": Sie hatte schreckliche Angst gestern, aber dafür gibt es jetzt keinen Grund mehr. Die Bösen sind besiegt, wie in einem Disneyfilm. Und wer hat gewonnen? Zumindest Erdoğan, der es geschafft hat, sich auf einem Smartphone-Bildschirm für alle als Demokrat zu inszenieren, indem er "sein Volk" aufruft, jetzt für die Demokratie auf die Straße zu gehen. Er ist wieder da – aus dringenden Gründen hat er seinen Urlaub frühzeitig beendet. Jetzt ist er noch stärker. Das ist ein wahr gewordener Albtraum oder ein Happy End, je nachdem, wen man fragt. + + +Putsche und Putschversuche in der Türkei +Seit der Staatsgründung am 29. Oktober 1923 hat die Türkei viele Umwälzungen erfahren. Der Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk schaffte während der kemalistischen "Kulturrevolution" unter anderem den Islam als Staatsreligion ab und übernahm europäische Gesetzgebungen mit dem Ziel, die Türkei nach westlichem Vorbild zu modernisieren.Die amtierende Regierung für Gerechtigkeit und Entwicklung AKP ist politisch konservativ-islamisch orientiert. Die von ihr angestrebten Verfassungsänderungen bedeuten in der Praxis einen Bruch mit dem kemalistischen Laizismus, also der Trennung von Staat und Religion. In der Vergangenheit hat ein Abweichen von dieser Linie immer wieder zu Eingriffen des Militärs – dessen Eliten meist kemalistisch orientiert waren – in die Politik und zu Putschen geführt. +27. Mai 1960: Nach der Zypernkrise und einer dramatischen Verschlechterung der Wirtschaftslage in den 1950er-Jahren putschten Obristen der türkischen Armee gegen die Regierung und bildeten eine Militärregierung. Der damalige Ministerpräsident Adnan Menderes und zwei seiner Minister wurden im Zuge der im Anschluss an den Putsch stattfindenden Yassıada-Prozesse hingerichtet. Mit ihm standen knapp 600 ehemalige Regierungsmitglieder, Abgeordnete und Beamte vor Gericht, über 400 von ihnen wurden zu Freiheitsstrafen verurteilt, +9. Juli 1961: Mit der Verabschiedung einer neuen Verfassung wurde die "zweite Republik" ausgerufen. Durch ein neues Wahlgesetz und neue Institutionen (unter anderem das Verfassungsgericht) wurde einerseits die liberale Demokratie gestärkt, andererseits institutionalisierte die Militärregierung mit dem "Nationalen Sicherheitsrat" als Verfassungsorgan die Streitkräfte. +12. März 1971: Aufgrund der zunehmenden Handlungsunfähigkeit der politischen Führung des Landes und wachsender Unruhen erzwang die Militärführung mit einem Memorandum die Absetzung der Regierung und setzte eine überparteiliche Staatsführung von "Experten" ein. In den folgenden Jahren wechselten die Koalitionsregierungen unter der Führung der kemalistischen Partei CHP häufig. Ohne die islamistische Nationale Heilspartei (MSP) oder die rechtsnationale MHP konnte aufgrund der politischen Polarisierung nicht regiert werden. Gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen dem rechten und linken politischen Lager nahmen zu und forderten zahlreiche Todesopfer. Ende der 1970er-Jahre herrschten in der Türkei bürgerkriegsähnliche Zustände. +Am 12. September 1980 putschten die Militärs mit dem selbst proklamierten Anspruch, die politische Ordnung im Land wiederherzustellen; alle politischen Parteien und die mit ihnen verbundenen Gewerkschaften wurden aufgelöst. Es folgten Verhaftungen von Politikern, Intellektuellen und Journalisten. 1982 wurde eine neue Verfassung verabschiedet, die von dem Gedanken geprägt war, das Land vor dem negativen Einfluss demokratischer Freiheiten zu schützen. Die heutige Türkei ist eine parlamentarische Republik und basiert rechtlich auf dieser dritten Verfassung von 1982. Seitdem gab es zahlreiche Verfassungsänderungen. Der aktuelle Ministerpräsident Binali Yıldırım hat die von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan beworbene Einführung eines Präsidialsystems zu einer Priorität erklärt. +Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung: Zeittafel Republik Türkei diff --git a/fluter/unverpacktlaeden-muell-koeln.txt b/fluter/unverpacktlaeden-muell-koeln.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..63b313086358f9f12228bec596873ad4316c68bb --- /dev/null +++ b/fluter/unverpacktlaeden-muell-koeln.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Dabei sind Verpackungen nicht per se schlecht und haben sogar Vorteile. Sie schützen die Produkte beim Transport und vor Keimen. Außerdem sorgen sie dafür, dass Lebensmittel länger haltbar bleiben. Um das "Kondom", das sich um manche Gurke schmiegt, gibt es einen regelrechten Gelehrtenstreit. Die einen finden es vernünftig, weil es die Gurke vor dem schnellen Vergammeln schützt – also Bioabfall spart –, für die anderen ist es der Gipfel derPlastikkultur. +2013 las Olga Witt zufällig von Bea Johnson in den USA, die mit ihrer Familie nach dem sogenannten Zero-Waste-Prinzip lebt. Sie versuchen also, möglichst wenig Rohstoffe zu verschwenden. Nach eigenen Angaben produziert Johnsons Familie nur einen kleinen Behälter Müll pro Jahr. Olga beeindruckte das so sehr, dass sie kurzerhand beschloss, ihr Leben komplett umzukrempeln: "Es war wie eine Offenbarung, zu merken: Hey, es geht auch anders", erinnert sie sich heute. +Mittlerweile ist Olga selbst ein Vorbild. Sie hat zwei Bücher geschrieben, einen Onlineshop, zwei Tante-Olga-Unverpacktläden eröffnet und berät Unternehmen und Privatpersonen, die sich für Zero Waste interessieren. Ihr wichtigster Tipp: "Dort anfangen, wo es dir am leichtesten fällt", zum Beispiel einen Stoffbeutel zum Bäcker mitnehmen oder Leitungswasser trinken, statt es in Plastikflaschen zu kaufen. Danach kann man sich Schritt für Schritt steigern. +Zero Wastebedeute aber nicht, dass es null Müll gebe, sagt Olga. "Dieser Zustand ist in unserer Gesellschaft nicht möglich. Zero Waste ist eher ein Streben dahin, also so wenig Verschwendung wie möglich." Auch ein Unverpacktladen kommt nicht ganz ohne Verpackungen aus. Denn entscheidend ist die gesamte Wertschöpfungskette – das heißt nicht nur, wie ein Produkt verkauft wird, sondern auch, wie es produziert und transportiert wird. Ein großes Hindernis auf dem Weg zu weniger Müll ist die auf intensive Nutzung von Verpackungen ausgelegte Logistik in der Lebensmittelbranche. Zu diesem Schluss kommt ein Forschungsprojekt an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde. Noch seien die Unverpacktläden ein Nischenmarkt. Wenn die Nachfrage steige, könnte das aber die Hersteller motivieren, ihre Produktionsprozesse umzustellen. +Doch Verpackungen sind nur ein Teil des Problems. Laut Umweltbundesamt verursachen die Produkte selbst meist eine viel größere Umweltbelastung. Neben dem Weglassen von Verpackungen verkaufen Unverpacktläden daher möglichst regionale Produkte in hochwertiger Bioqualität, um die Umwelt zu schonen. Deswegen sind die Preise dort auch höher als in klassischen Supermärkten oder Discountern. "Zu dem Preis, zu dem in Deutschland Lebensmittel im Supermarkt verkauft werden, können sie nicht nachhaltig produziert werden", sagt Olga. Zu dem häufig angeführten Argument, dass sich nun mal nicht alle Menschen nachhaltige Produkte leisten können, hat sie eine klare Meinung: "Das ist natürlich auch eine politische Entscheidung, welche Produkte oder welche Form der Landwirtschaft wir subventionieren." +Ob sich das Konzept der Unverpacktläden langfristig und für die breite Masse durchsetzt, wird sich zeigen. Aktuell scheint es zumindest mehr Aufmerksamkeit für das Thema zu geben. Der Berufsverband Unverpackt e. V. zählt in Deutschland bereits über 442 Unverpacktläden. Tendenz steigend. Auch einige Bioläden und vereinzelt konventionelle Supermärkte bieten einen Teil ihrer Ware inzwischen unverpackt an. +Menschen wie Olga geht es aber vor allem um einen Bewusstseinswandel. Sie hat gemerkt, dass im Verzicht ein Zugewinn an Freiheit steckt. Kein ständiges Kaufenmüssen, keine Berge von Müll, um die man sich kümmern muss, kein schlechtes Gewissen, weil man die Umwelt zerstört. Bei Olga merkt man: Weniger kann viel mehr sein. +Titelbild: Victoria Jung diff --git a/fluter/update-raif-badawi.txt b/fluter/update-raif-badawi.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..db7c3fe697cb7c3314bcf77647852312830e71b4 --- /dev/null +++ b/fluter/update-raif-badawi.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Raif Badawi, gläubiger Muslim, Ehemann, Vater und Blogger, ist nicht der einzige Mensch, der in Saudi-Arabien wegen seiner Überzeugungen im Gefängnis sitzt. Doch weil er an jenem Freitag im Januar öffentlich gefoltert wurde, ist er weltbekannt. Seit 2012 in Haft, wurde Badawi Mitte 2014 zu zehn Jahren Haft und 1.000 Peitschenhieben verurteilt, was eine zuvor ausgesprochene Strafe noch verschärfte. Dass er für Glaubensfreiheit eingetreten war, brachte ihm den Vorwurf der "Beleidigung des Islam" ein. Sein Internetforum "Freie Saudische Liberale" war der saudischen Justiz entschieden zu frei und liberal. Juristisch ist Badawis Fall abgeschlossen, was bliebe, wäre ein Gnadenakt des Königs. +Amnesty International stuft Badawi als politischen Gefangenen ein und fordert seine Freilassung. So wie Menschen und Institutionen überall auf der Welt. Doch weder öffentliche Kampagnen noch diplomatische Interventionen haben bislang etwas erreicht. Riad schweigt. +2015 gab es noch viele Demonstrationen und Mahnwachen für Badawi – wie hier in London +Diese Erfahrung hat auch Barbara Lochbihler gemacht. Die stellvertretende Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des Europäischen Parlaments schrieb im April 2015 einen Brief an den damals seit 100 Tagen herrschenden König Salman, um sich für Badawi einzusetzen. Sie hat nie eine Antwort bekommen. Auch der Versuch von Abgeordneten des Auswärtigen Ausschusses des Parlaments, Badawis Fall bei einem Besuch in Saudi-Arabien im Februar anzusprechen, sei erfolglos gewesen. "Da bewegt sich nichts", sagt Lochbihler. +Es gibt ein Foto von Raif Badawi, das durch die Demonstrationen für ihn überall auf der Welt fast schon ikonografisch ist. Man sieht einen jungen Mann mit langen Haaren, der in die Kamera lächelt, offen, optimistisch, voller Tatendrang. Es ist ein Bild von Badawi vor der Tortur der Inhaftierung, vor der Auspeitschung, vor dem Hungerstreik, in den er Ende des vergangenen Jahres für einige Zeit trat. Wie es ihm inzwischen geht, weiß nicht einmal seine Ehefrau genau zu sagen. +Ensaf Haidar, die mit den drei gemeinsamen Kindern seit Herbst 2013 in Kanada lebt, hat eine Stiftung gegründet und ein Buch geschrieben, sie reist um die Welt und twittert, um für die Freilassung ihres Mannes zu kämpfen. Im April hat sie in Frankfurt den Deschner-Preis in Empfang genommen, der ihr und ihrem Mann von der Giordano-Bruno-Stiftung verliehen wurde für ihren "gemeinsamen, mutigen und aufopferungsvollen Einsatz für Säkularismus, Liberalismus und Menschenrechte, der weit über Saudi-Arabien hinaus Bedeutung hat". Badawi hat viele Würdigungen erhalten, seit seine Geschichte so traurige Berühmtheit erlangte. Das Europäische Parlament verlieh ihm 2015 den Sacharow-Preis, der den Einsatz für Menschenrechte und Meinungsfreiheit würdigt und den bereits Persönlichkeiten wie Nelson Mandela oder Malala Yousafzai, beide auch Friedensnobelpreisträger, erhielten. +Ensaf Haidar nahm die Auszeichnung im Dezember entgegen. In diesem Mai besuchte sie ein Treffen von Sacharow-Preisträgern in Brüssel und erzählte Barbara Lochbihler von den regelmäßigen Telefonaten mit ihrem Mann. Von sich selbst rede er bei diesen abgehörten Gesprächen kaum, er erkundige sich, sagt seine Frau, meist vor allem nach den Kindern. +Ensaf Hayder kämpft zusammen mit Amnesty International weiter für die Freilassung ihres Mannes. Sie hat mit ihren Kindern in Kanada Asyl bekommen +Wenngleich also die Lage verzweifelt scheint für Badawi – und auch für all die anderen in Saudi-Arabien inhaftierten "kritischen Geister, die kriminalisiert werden, um sie aus dem Verkehr zu ziehen", wie Lochbihler sagt –, sieht die Parlamentarierin doch einen kleinen Hoffnungsschimmer. Der Sacharow-Preis sei "ein Durchbruch" gewesen, der die Debatte um die Menschenrechtslage in Saudi-Arabien intensiviert habe. Und bei ihrem jüngsten Treffen entschieden die versammelten Preisträger, gemeinsam einen Brief an den saudischen König zu verfassen, um ihn anlässlich des am 6. Juni beginnenden Ramadan um Gnade für Badawi zu bitten. Solch ein Gnadenakt würde der muslimischen Tradition entsprechen. diff --git a/fluter/urlaub-von-bush.txt b/fluter/urlaub-von-bush.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/us-praesidenten-film-michel-interview.txt b/fluter/us-praesidenten-film-michel-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..da0b17d807b6049378181787c63b3ced179f0cb4 --- /dev/null +++ b/fluter/us-praesidenten-film-michel-interview.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +fluter.de: Was hat dich an der Figur des US-Präsidenten so sehr interessiert, dass du 164 Filme und Serien nach ihr durchforstet hast? +Lea N. Michel: Das Buch ist aus meiner Diplomarbeit entstanden, für die ich die Beziehung zwischen Fakt und Fiktion untersuchen wollte. Und natürlich sollte es sich dabei für mich als Grafikdesignerin um etwas Visuelles drehen: Der US-amerikanische Präsident gilt als mächtigster Mensch der Welt,es gibt ihn sowohl fiktionalisiertals auch in der Realität. Gleichzeitig tritt alle vier bis acht Jahre ein neuer Mensch in diese Rolle. Auf beiden Ebenen, sowohl im Film als auch in echt, ist die visuelle Inszenierung hochinteressant. Und das war meine Arbeitshypothese: Politische Realität und filmische Fiktion können sich wechselseitig beeinflussen. +Gene Hackman als Präsident Alan Richmond in "Absolute Power" von 1997 +Garrett Walker als Präsident Michel Gill in "House of Cards" von 2013 +Nun hast du ja keine politikwissenschaftliche Studie durchgeführt, sondern Bildmaterial ausgewertet. Wie konntest du da eine Wechselwirkung zwischen Realität und Fiktion überhaupt "nachweisen"? +Da es sich eben um keine wissenschaftliche Arbeit handelt, geht das immer nur annäherungsweise. Die realen Präsidenten geben zum Beispiel viel vor, was den Handlungsrahmen oder die Kleidung – also etwa Anzug, Krawatte und Amerikaflaggen-Anstecker – betrifft. Und die ikonischen "Standardmotive" der US-Präsidenten, etwa die Rede zur Lage der Nation, Telefonate im Oval Office oder die typischen Pressekonferenz-Auftritte sind die Kategorien im Buch mit den meisten Beispielen, die sich im Kino am zuverlässigsten wiederfinden: Wenn ein US-Präsident in einem Film auftritt, wird er mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann auch mal im Oval Office telefonieren. +Jim Curley als US-Präsident in "In the Line of Fire" von 1993 +Aus Hunderten Screenshot-Schnipseln, die du gesammelt hast, hast du zunächst eine Handvoll Überkategorien gebildet: "Vater & Ehemann", "Der Held", "Der Clown", "Der Bösewicht" und so weiter. Nehmen wir mal die erste Kategorie, die "Vaterrolle": Wie haben da in den vergangenen Jahren Filme die Wahrnehmung der realen Präsidenten beeinflusst? +Was auf jeden Fall auffällt, ist, dass es ab den Neunzigern sehr viele Filme gab, in denen die Tochter der jeweiligen Film-Präsidenten eine hervorgehobene Rolle spielte, 1998 und 2004 gab es sogar eigene Filme nur über die Präsidententöchter namens "My Date With The President's Daughter" und "The First Daughter". Der Präsident trat jeweils nur als beschützender, liebender Vater auf, weniger als Staatenlenker. Vielleicht hatte das ja tatsächlich eine Auswirkung auf die Inszenierung der darauffolgenden Präsidenten. Man kann ja durchaus festhalten, dass die Präsidenten-Töchter in den vergangenen Jahrzehnten im Fokus standen, derzeit etwa Ivanka Trump. Obamas Töchter waren in ihrer Kindheit und Jugend auch absolut sichtbar. Trumps Sohn Barron hingegen tritt medial so gut wie nie in Erscheinung. Für das Klischee des väterlichen Beschützers scheint sich eine Tochter einfach besser anzubieten. +Harrison Ford als Präsident James Marshall in "Air Force One" von 1997 +Jamie Foxx als Präsident James W. Sawyer in "White House Down" von 2013 +Lloyd Bridges als Präsident Thomas "Tug" Benson in "Hot Shots! Part Deux" von 1993 +Wo ist dir der umgekehrte Effekt aufgefallen: also dass das reale Bild eines Präsidenten eine Wirkung auf einen Film-Präsidenten hatte? +Von den bereits erwähnten allgemeinen Handlungen, die den Präsidenten im Film erst als Präsidenten erkennbar machen, mal abgesehen, gibt es auch Momente, in denen der Einfluss der Realität überdeutlich wird: Das sehr bekannte Foto von Barack Obama aus dem Jahr 2011, der im "Situation Room" die Erschießung Osama bin Ladens verfolgt, wurde zum Beispiel mit dem genau gleichen Bildaufbau in der Serie "House of Cards" übernommen. Interessanterweise dort allerdings mit Robin Wright als Präsidentin Claire Underwood. +Neben bekannten Präsidenten-Stereotypen, wie etwa "an seinem Schreibtisch im Oval Office sitzend", finden sich in den 240 Kategorien deines Buches auch eher abgefahrene Situationen, wie etwa "seine Nase abgeleckt bekommen". Wenn es so abseitig und kleinteilig wird, wie findet man dann überhaupt zum Ende? +Ich habe mir ja in einem ersten Schritt die Filme angeschaut, dann Tausende Screenshots gemacht und aus denen einzelne Situationen herausgeschrieben. Dabei habe ich aber tatsächlich sehr wenig ausgesiebt, am Ende ist die Anzahl von Situationen, in denen ein US-Präsident in Filmen dargestellt wird, erstaunlich überschaubar. Der Handlungsspielraum des Präsidenten ist dramaturgisch sehr begrenzt. Und wenn es da eine Szene gibt, in der jemand dem Präsidenten die Nase ableckt, dann nehme ich die eben mit auf. +Donald Moffat als Präsident Bennett in "Clear and Present Danger" von 1994 +James Cromwell als Präsident J. Robert Fowler in "The Sum of All Fears" von 2002 +Wenn man sich wie du die Präsidenten-Inszenierungen in 164 Filmen angesehen hat, bemerkt man dann beim Nachrichtenschauen manchmal Szenen, in denen sich Film und Realität zu überschneiden scheinen? +Ja, ein total klassisches Bild, dem ich in meinem Buch auch eine eigene Unterkategorie mit Bildern aus zehn verschiedenen Filmen gewidmet habe, ist das Aussteigen aus einem Helikopter: Trump scheint sich sehr gerne dabei filmen zu lassen, und das vermutlich nicht ohne Grund: Das Bild sieht immer ein bisschen nach der Rückkehr des Oberbefehlshabers aus einem Kriegsgebiet aus. Und dann gibt er schreiend Interviews im Lärm des Helikoptermotors, was aus professioneller Sicht überhaupt keinen Sinn ergibt, man versteht ihn ja kaum – es ist die reine Inszenierung. +Jack Nicholson als Präsident James Dale in "Mars Attacks!" von 1996 +Ein Journalist hat einmal über Trump geschrieben: "Für Trump gibt es keinen Unterschied zwischen dem Bild vom Job und dem Job selbst." Würdest du dem zustimmen? +Ich glaube schon, dass er einen vergleichsweise hohen Wert auf die Bilder legt, die er erschafft –möglicherweise einen höheren Wert als auf die Politik selbst.Auch seine "Rallys", die Auftritte in riesigen Arenen, die permanent und außerhalb von tatsächlichen Wahlkampf-Phasen stattfinden, sind da recht bezeichnend. Oder die Auflösung einer Demonstration unter Einsatz von Tränengas, nur um ein Foto mit Bibel vor einer Kirche schießen lassen zu können, wie das im Juni während der Black-Lives-Matter-Proteste in Washington geschehen ist. In gewissem Maße scheint Trump immer noch der Reality-TV-Star zu sein, der er vor seiner Amtszeit war. + +Lea N. Michels Buch"The President of the United States on Screen"ist im Verlag Scheidegger & Spiess erschienen und kostet 38,00 Euro. diff --git a/fluter/us-wahlsystem-briefwahl-interview.txt b/fluter/us-wahlsystem-briefwahl-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..26a5359e87681726fdca14147fc616dc579a7e4b --- /dev/null +++ b/fluter/us-wahlsystem-briefwahl-interview.txt @@ -0,0 +1,22 @@ + +fluter.de: Der amtierende Präsident Donald Trump hat mehrfach erklärt, dass er das Ergebnis der bevorstehenden Wahl eventuell nicht anerkennen wird. Was würde denn dann passieren? +Mike Cowburn: Eigentlich sorgen die institutionellen Strukturen der USA dafür, dass es diese Möglichkeit nicht gibt: Wenn Biden gewinnt, würde er am 20. Januar 2021 der nächste US-Präsident werden, und es gäbe nichts, was Trump dagegen tun könnte. Es ist allerdings denkbar, dass Trump seine Anhänger mobilisiert und es zu Ausschreitungen kommen könnte. Das ist schwer abzusehen. Es hängt auch davon ab, wie das Ergebnis genau ausfällt: Sollte Biden mit einer klaren Mehrheit gewinnen, dürfte die Republikanische Partei Trump dazu drängen, die Wahl anzuerkennen. Bei einem sehr knappen Ausgang könnte es problematischer werden. +In dem Fall könnte der Supreme Court entscheiden, wer die Wahl gewonnen hat. Gerade tobt um das Oberste Gericht eine hitzige Debatte, weil Trump die als konservativ geltende Amy Coney Barrett noch vor der Wahl zur Richterin ernennen lassen will. Nun sollte doch ein Gericht eigentlich unabhängig sein. Wieso spielt Barretts politische Ausrichtung überhaupt eine Rolle? +Historisch gesehen ist das eine relativ neue Entwicklung. So politisiert wie heute war das Oberste Gericht noch nie. Trump will Barrett zur Richterin machen, weil er glaubt, sie habebestimmte Ansichten zu Themen wie Abtreibungoder möglicherweise auch zur Wahl, die ihm helfen könnten. Das mag uns in Europa merkwürdig vorkommen, weil hier dasGerichtssystemanders funktioniert und nicht annähernd so politisch ist wie in den USA. Ich sehe in dieser Politisierung ein großes Problem, denn es birgt die Gefahr, dass die US-Amerikaner das Vertrauen in ihr Oberstes Gericht verlieren. +In einem solchen Gerichtsverfahren nach der Wahl könnte es auch um die Briefwahl gehen, die Trump im Wahlkampf kritisiert. Die so abgegebenen Stimmen seien manipulierbar, behauptet er. Gibt es Anhaltspunkte dafür, dass er recht haben könnte? +Nein. Es ist sogar so, dass Trump selbst Briefwahlunterlagen angefordert hat, er ist ja in Florida registriert(Anmerkung der Redaktion: Trump gab am 24. Oktober, nachdem das Interview geführt wurde,seine Stimme dann doch vorzeitig vor Ort in West Palm Beach ab). Die meisten Analysten sind sich einig, dass das eine Strategie Trumps ist, um dem Wahlprozess Legitimität abzusprechen. +Die Demokraten werfen den Republikanern wiederum vor, den Zugang zur Briefwahl einschränken zu wollen. Sind ihre Sorgen berechtigt? +Ja, ich denke, gerade sieht es tatsächlich so aus, dass die Republikaner bewusst versuchen, Wählerstimmen zu unterdrücken. Die Briefwahl erleichtert ja den Zugang zur Wahl. Nun wissen Trump und die Republikaner aber, dass es bei einer Abstimmung, bei der viele Menschen zur Wahl gehen, für sie unwahrscheinlicher wird zu gewinnen. Der republikanische Gouverneur von Texas hat zum Beispiel versucht, die Anzahl der offiziellen Abgabestellen für Briefwahlstimmen auf eine pro Landkreis zu begrenzen. +An manchen Orten müssen Menschen außerdem fünf oder sechs Stunden anstehen, um den Wahlzettel vor Ort abgeben zu können. Das betrifft vor allem urbane Gegenden, und wir wissen, dass dort grundsätzlich eher die Demokraten gewählt werden. Es scheint also so, als hätten wir es mit einem systematischen Versuch der Republikaner zu tun, bestimmten Menschen das Wählen zu erschweren. So sollte eine Demokratie nicht funktionieren – alle Parteien sollten so viele Menschen wie möglich ermutigen, zur Wahl zu gehen. +Nun gibt es neben den aktuellen Streitpunkten ja auch einige grundlegende Dinge am US-Wahlsystem, die einen aus deutscher Sicht überraschen. Zum Beispiel, dass man sich für die Wahlerst einmal registrieren lassen muss. 50 Millionen der 250 Millionen Wahlberechtigten haben das nicht gemacht. Woran liegt das? +Auch das ist ein sehr politisiertes Thema. In den USA muss man sich aktiv darum bemühen, sein Wahlrecht ausüben zu können. Und dabei gibt es einige Hürden. Zum Beispiel will die Republikanische Partei, dass jeder, der abstimmt, einen Lichtbildausweis vorzeigt. Den zu bekommen kostet Geld, also haben ärmere Menschen – darunter viele People of Color – häufig keine Ausweise. Das sind aber genau die Menschen, die mit größerer Wahrscheinlichkeit die Demokraten wählen. + + +Eine andere viel diskutierte Frage ist das "Gerrymandering", also das Zuschneiden von Wahlbezirken. Wie muss ich mir das vorstellen? +In den meisten europäischen Ländern entscheiden unabhängige Kommissionen, wie die Wahlbezirksgrenzen verlaufen. In den USA tun das die Parteien. Wer immer in einem Bundesstaat also gerade regiert, darf entscheiden – und da beobachtet man mitunter, dass die Grenzen so gezogen werden, dass es für die eigene Partei leichter ist, möglichst viele Abgeordnetensitze zu bekommen. Bei diesem Thema nehmen sich die Republikaner und die Demokraten übrigens nichts: Beide Parteien praktizieren das "Gerrymandering" seit Jahrzehnten. +Sprechen wir über den vielleicht größten Unterschied im Vergleich zu Deutschland: das "Winner takes it all"-Prinzip. Der Gewinner eines Bundesstaats bekommt alle Wahlleute, die dann später den Präsidenten ernennen. 2016 wurde Trump Präsident – obwohl seine Herausforderin Hillary Clinton in absoluten Zahlen knapp drei Millionen Wählerstimmen mehr für sich verzeichnen konnte. +Das mag aus deutscher Sicht etwas merkwürdig und vielleicht auch unfair erscheinen. Allerdings ist dieser Fall bisher erst viermal vorgekommen. Befürworter des Systems würden sagen, die USA sind eben ein Föderalstaat und die Demokratie spielt sich auf der Ebene der einzelnen Bundesstaaten ab. Der Grund dafür, dass dieses Phänomen in den vergangenen 20 Jahren schon zweimal – außer im Jahr 2016 noch im Jahr 2000 – aufgetreten ist, liegt an den wachsenden Unterschieden zwischen Stadt und Land. Die Demokraten gewinnen häufiger in urbanen Gegenden, wo immer mehr Menschen leben. Das spiegelt sich aber noch nicht in der Verteilung der Wahlleute wider: Die ländlichen Gegenden dürfen im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl mehr Wahlleute entsenden als die städtischen. Deswegen dürfte dieses Phänomen in Zukunft noch öfter auftreten. +Wäre es an der Zeit, das System zu ändern? +Dafür wäre eine Verfassungsänderung nötig, und die ist gerade sehr schwierig umzusetzen. Man bräuchte eine Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des Kongresses, und dann müsste man das Ganze noch von drei Viertel der Bundesstaaten ratifizieren lassen. Besonders die kleineren Staaten hätten daran aber wenig Interesse, denn eine Änderung des Systems würde für sie weniger Macht bedeuten. Aber selbst wenn es dieses Hindernis nicht gäbe: Die politische Polarisierung ist in den USA derzeit so stark, dass die beiden Parteien es wohl kaum schaffen würden, sich zu einigen. +Mike Cowburn, Jahrgang 1986, hat im britischen Exeter und in Berlin Politikwissenschaften studiert. An der Freien Universität Berlin promoviert er gerade zur Polarisierung der Parteien in den US-amerikanischen Kongress-Vorwahlen. + diff --git a/fluter/usa-begeisterung-im-kosovo.txt b/fluter/usa-begeisterung-im-kosovo.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1862fb397d88fedf0a0fabb4cec34f092e016b3b --- /dev/null +++ b/fluter/usa-begeisterung-im-kosovo.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Seither hatten die USA ihren (militärischen) Anteil an der Unabhängigkeit des Landes,die am 17. Februar 2008 erklärt wurde. Die Vereinigten Staaten erkannten die Republik als erstes Land offiziell an – auch Deutschland, Frankreich und einige internationale Organisationen waren schnell dabei – und unterstützten es international. Mittlerweile erkennen 111 von 193 UN-Staaten die Republik Kosovo als eigenständigen Staat an, gleichzeitig bleibt die Unabhängigkeit weltweit und auch innerhalb der Europäischen Union umstritten. Um den Frieden zu sichern, sind bis heute US-Soldaten im Rahmen einer UN-Mission im Land aktiv. Zum Dank durfte Bill Clinton 2009 eine Statue seiner selbst in der Hauptstadt Pristina enthüllen. +Zwar beenden kosovarische Präsidenten ihre Reden mittlerweile nicht mehr mit "God bless America" wie noch in den 1990ern. Dass es noch immer eine starke Verbundenheit zu den USA gibt, ist aber auch heute noch deutlich sichtbar, wie der Fotograf César Dezfuli mit seiner Arbeit "51st State" zeigt. + +Der Bürgermeister von Llashtice im Südosten des Kosovo ist ein besonders großer USA-Fan. Er zeigt seine Dankbarkeit, indem er die ganze Stadt mit USA-Flaggen und Plakaten dekorieren lässt, auf denen an die historischen Ereignisse erinnert wird +Hier leben die amerikanischen Diplomaten im Kosovo wie zuhause: Eine Gated Community, die alle nur "American Village" nennen, in Pristina. Auch einflussreiche Geschäftsleute und Politiker aus dem Kosovo leben hier +Auf der Vali Ranch im Süden des Landes können sich Besucher wie im "wilden Westen" fühlen. Zu den Ställen gehört auch ein exklusives Hotel und Restaurant +Die "Bil-Klinton-Straße" in Peja, im Westen des Kosovo. Viele Städte haben eine Straße, die nach dem Ex-US-Präsidenten benannt ist +Timothy Orr (am Tisch links), Generalmajor der amerikanischen Nationalgarde von Iowa, und Rrahman Rama (am Tisch von hinten), Befehlshaber der "Sicherheitskräfte des Kosovo", treffen sich einmal im Jahr. Das amerikanische Militär bildet Streitkräfte im Kosovo aus + +Nach dem Kosovo-Krieg hat der Staat zahlreiche Schießanlagen eröffnet, um den Waffenbesitz der Bevölkerung besser unter Kontrolle zu haben. Viele der Waffen, mit denen dort heute noch geschossen wird, sind in "made in the USA". So wie diese beiden Gewehre in der Schießanlage Katana, außerhalb der Hauptstadt Pristina +Das Wohnzimmer von Ruzhdi Kuçi, den in seiner Heimatstadt Ferizaj alle nur den "Amerikani" nennen, gleicht einem USA-Schrein. Ruzhdi sagt, er könne dem Land nicht genug danken, für das, was es für den Kosovo getan habe + +Klinton Bajgora (im hellgrünen Miami-Shirt) ist 13 Jahre alt. Hier posiert er mit seiner Familie. Sein Vorname hört sich nicht zufällig so an wie der Nachname des ehemaligen US-Präsidenten. Klinton war der Erstgeborene Sohn von Familie Bajgora nach Ende des Kriegs +Die Pizzeria USA-H verdankt ihren Namen zwar auch den Anfangsbuchstaben der Namen der drei Brüder, denen das Restaurant gehört. Die Reihenfolge ist aber nicht zufällig gewählt. Sie liegt zwischen Pristina and Peja, im Westen des Kosovo +Dürfen wir vorstellen: Klintons vielleicht potenzielle Ehefrau Hillari. Hillari Alidema verdankt ihren Vornamen ihrem Großvater, der großer Fan der damaligen First Lady war. Hier posiert sie im Wohnzimmer ihres Elternhauses, im Süden des Kosovo, zwischen Weißkopfseeadler und Star-Sprangeld Banner +Wo dieser Laden wohl ist? Auf der Bill-Clinton-Avenue natürlich. Nur wenige Meter von Bill Clintons Statue und dem Regierungssitz in Pristina entfernt + +"Welcome to the White House... Restaurant": Dieses Mini-Weiße-Haus steht im Nationalpark "Shar Mountain" National Park, nahe Prizren. Und: Es ist nicht das einzige Weiße Haus im Kosovo. Auch viele Privathäuser, Hotels und sogar öffentliche Einrichtungen haben versucht, den Stil des Amerikanischen Regierungssitzes nachzuahmen + +Arlind Basha trägt einen Weißkopfseeadler auf dem Oberarm. Er ist Kosovo-Albaner. Auch die Albanische Flagge ziert ein Adler. Allerdings ein doppelköpfiger Vogel, auf rotem Grund +Das Restaurant "Route 66" in Pristina – ein Diner wie aus dem USA-Bilderbuch +"Danke, USA" lautet das Motto dieses Basketball-Freundschaftsspiels am 4. Juli –dem amerikanischen Unabhängigkeitstag + +Agim Rexhepi ist der Präsident der "Association of Friends of America in Kosovo", also der Gesellschaft der Freunde von Amerika im Kosovo. Hier posiert er in seinem Büro in Pristina. Hinter ihm an der Wand hängen Briefe von Bill Clinton, in denen der Ex-Präsident ihm für seine Arbeit dankt. Rexhepi war auch einer der Initiatoren, die sich für die Clinton-Statue in der Hauptstadt eingesetzt haben +Am 4. Juli wird in Pristina neben Bill Clintons Statue die amerikanische Flagge gewechselt. Zu diesem Event kommen auch die Diplomaten aus der amerikanischen Botschaft +Da steht er und winkt: Bill Clinton in Statuen-Form. Am 4. Juli wird nicht nur die Flagge zum Waschen gewechselt. Auch die Statue wird gesäubert – von der Feuerwehr diff --git a/fluter/usa-gluecksspiel-casinos-indigene.txt b/fluter/usa-gluecksspiel-casinos-indigene.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c65b202ff2f93208d74e09e9816ccf2d075f6e39 --- /dev/null +++ b/fluter/usa-gluecksspiel-casinos-indigene.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +"Im kommerziellen Glücksspiel kommen die Gewinne den Shareholdern zu", sagt Ernest L. Stevens, Jr., Vorsitzender der Indian Gaming Association. Beim Glücksspiel der Indigenen hingegen würden die Gewinne unter anderem "für Gesundheitsfürsorge, Sozialleistungen und Bildung" genutzt. Insgesamt betrieben indigene Gruppen im Jahr 2022 in den USA 504 Casinos. Ein besonderes steht in Florida: Das Gebäude hat die Form einer Gitarre, drinnen gibt es 3.000 Slotmachines und Dutzende Pokertische. +Aber nicht alleNative Americanssehen im indigenen Glücksspielgeschäft eine Success-Story. Manche fürchten eine Abkehr von der eigenen Kultur, Probleme mit Alkohol und Spielsucht. +Titelbild: Joe Raedle/Getty Images diff --git a/fluter/usa-iran-konflikt-einfach-erklaert.txt b/fluter/usa-iran-konflikt-einfach-erklaert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f2a3a9a4aadd5eec3e5ca581fb6ea25f06f08548 --- /dev/null +++ b/fluter/usa-iran-konflikt-einfach-erklaert.txt @@ -0,0 +1,16 @@ + +Vor rund 60 Jahren ermöglichte die US-Regierungdem damaligen Schah Mohammad Reza Pahlavi die Einrichtung eines nuklearen Forschungszentrumsan der Universität Teheran und den Betrieb eines Forschungsreaktors. Damit erhielt der Iran erstmals die Möglichkeit, selbst Energie aus Atomkraft herzustellen – und verpflichtete sich in der Vereinbarung mit den USA dazu, diese lediglich für friedliche Zwecke einzusetzen. 2002 kam jedoch heraus, dassunrechtmäßig viel Uranangereichert wurde. Da der Iran damit theoretisch Atomwaffen herstellen konnte, kühlte sich die Beziehung zwischen den beiden Staaten ab. Die USA, selbst Atommacht, und der Westen warfen dem Iran den Bau von Atombomben vor. Irans Regierung hingegen sprach von einem zivilen Charakter des Nuklearprogramms. Es folgten Wirtschaftssanktionen seitens der UN und Jahre zähen Verhandelns. +Alshistorische Einigunggilt das unter der Obama-Administration 2015 unterzeichneteAtomabkommenzwischen dem Iran und den beteiligten Verhandlungspartnern (die fünf Vetomächte des UN-Sicherheitsrats: USA, Russland, China, Großbritannien, Frankreich, und dazu Deutschland). In dem Abkommen wurde vereinbart, dass die Sanktionen schrittweise ausgesetzt würden, wenn der Iran sein Atomprogramm einschränkt und die Technologie nur zu zivilen Zwecken einsetzt. +2018 kündigte US-Präsident Donald Trump an, aus dem Atomabkommen auszusteigen, weil es seiner Meinung nach ein schlechter Deal sei. Weiterhin warf er Teheran vor, sich nicht an das Abkommen zu halten; die von ihm angeführten Hinweise sind jedoch umstritten. Seither setzt er aufwirtschaftliche Sanktionen, wie etwa die Einschränkung von Bankgeschäften oder Ölexporten, und hofft, dass der Iran durch "maximalen Druck" einlenkt. + + +Sein Kalkül scheint jedoch nicht ganz aufgegangen zu sein: Ende Juni vergangenen Jahres schoss das iranische Militär eine US-Drohne über der Seestraße von Hormus ab. Ein daraufhin von Trump angekündigter Vergeltungsangriff wurde von ihm in letzter Minute gestoppt. Im September schoss der Iran eine amerikanische Drohne im Persischen Golf ab. Außerdem machten die USA den Iran für einen Angriff auf Ölanlagen in Saudi-Arabien (ein Verbündeter der USA) im September 2019 verantwortlich – und schließlich für Raketenangriffe auf amerikanische Stellungen Ende Dezember im Irak. Das könnte für Trump der Auslöser gewesen sein, Soleimani töten zu lassen. Diese Möglichkeit zog die US-Regierung bereits seit mehreren Jahren in Erwägung. +Sie kündigte eine "vernichtende Rache" an. In der Nacht auf den 8. Januar feuerte der Iran unterschiedlichen Quellen zufolge bis zu 22 Raketen auf zwei Militärstützpunkte mit amerikanischer Truppenpräsenz im Irak. Laut CNN wurden die US-Soldaten vor dem Angriff gewarnt und konnten sich größtenteils in Sicherheit bringen, elf Soldaten wurden verletzt. Am selben Tag wurde am frühen Morgenein ukrainisches Passagierflugzeugkurz nach dem Start nahe der iranischen Hauptstadt Teheran abgeschossen – alle 176 Insassen kamen dabei ums Leben. +Die iranische Führung schob das Unglück zunächst auf einen Triebwerksausfall. Als die Beweislast drückender wurde, erklärte der Luftwaffenchef drei Tage später, man habe die ukrainische Passagiermaschine versehentlich für einen Marschflugkörper im Anflug auf eine strategisch wichtige Militärbasis gehalten. Man sei in Alarmbereitschaft gewesen wegen der Drohungen seitens der USA, im Falle eines iranischen Vergeltungsanschlags 52 Ziele im Iran anzugreifen. Die vorherige Unaufrichtigkeit der Regierung schürte die angespannte Lage im Iran jedoch, und Tausende Iraner protestierten auf den Straßen. + +Trotz scharfer Rhetorik scheinen die Parteien keinen offenen Krieg zu wollen – oder sich leisten zu können. Die Spannungen in der Region bleiben jedoch bestehen. Vor allem im Irak wird befürchtet, dass es im Land zu einem Stellvertreterkrieg kommen könnte. Bei dem Luftangriff der USA Anfang des Jahres wurde nicht nur Soleimani getötet, sondern auch der irakische Milizenkommandeur Abu Mahdi al-Muhandis. +Gespannt schaut man auf den 11. Februar: Es ist der für Muslime wichtige 40. Tag nach Soleimanis Tod und gleichzeitig der 41. Jahrestag der Staatsgründung der Islamischen Republik. Ein weiteres wichtiges Ereignis sind dieiranischen Parlamentswahlenam 21. Februar. Sie gelten als richtungweisend für die weitere Entwicklung des von Protesten und Unruhen gezeichneten Landes. Der Iran ist einer der rohstoffreichsten Staaten der Welt, trotzdem geht es den Menschen wirtschaftlich schlecht. "Die Menschen haben verstanden, dass ihr Feind zu Hause sitzt", sagt ein iranischer Journalist im Interview. Die führenden Eliten können die USA immer weniger für die Probleme,mit denen Iraner zu kämpfen haben, verantwortlich machen. +Und in den USA? Dort finden im NovemberPräsidentschaftswahlenstatt. Donald Trump steht wegen eines Impeachment-Verfahrens und dem Wahlversprechen, dass sich die USA aus dem Nahen Osten zurückziehen würden, unter Druck. Sicher ist: Was auch immer bei der Wahl in dem einen Land passiert, hat Auswirkungen auf das jeweils andere. +Welchen Einfluss hat der Iran auf die Region?Das liest du auf bpb.de + + diff --git a/fluter/usa-kongresswahlen-republikanische-hoffnungstraegerin-mia-love.txt b/fluter/usa-kongresswahlen-republikanische-hoffnungstraegerin-mia-love.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e872de4249cfcecdbe032961991af906515d14b1 --- /dev/null +++ b/fluter/usa-kongresswahlen-republikanische-hoffnungstraegerin-mia-love.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Und bei den Demokraten? Da hat die New Yorkerin Alexandria Octavio-Cortezbei den Vorwahlen für Furore gesorgt +Als Ludmya Bourdeau 1975 in Brooklyn, New York, geboren, zog sie direkt nach der Uni nach Utah. Kurz darauf kandidierte sie als Bürgermeisterin in ihrer neuen Heimatstadt Saratoga Springs. Seitdem stieg sie stetig auf in der von weißen Männern dominierten republikanischen Partei. +Die nehmen sie gern als Beispiel, dass auch ihre Partei für Vielfalt stehe. Obwohl Donald Trump mehr schwarze Stimmen sammeln konnte als der letzte republikanische Kandidat Mitt Romney vier Jahre zuvor, ist er aktuell sehr unbeliebt bei den schwarzen Wählern. Die Republikaner können jede Hilfe gut gebrauchen in dieser angespannten Wahlkampfzeit. +Schwer zu sagen bloß, ob Mia Love diese Hilfe leisten kann. Politisch ist sie durch und durch republikanisch: gegen Abtreibung, gegen die Homoehe, gegen fast jede Form von Umweltgesetzen, gegen strengere Waffengesetze. Sie steht für einen sparsamen Umgang mit öffentlichen Geldern, niedrige Steuern und wenige staatliche Beschränkungen. Love unterstützte ihre Parteifreunde dabei, Obamacare zurückzuschrauben. +Trotzdem ist sie keine enge Verbündete von Trump. Sie erklärte öffentlich, er solle zum Wohl der Republikaner nicht als Präsidentschaftskandidat antreten. Sie wandte sich auch gegen seine Strafzoll-Politik. "Ich sehe den Präsidenten nicht als Anführer meiner Partei", sagte Love dieses Jahr und erklärte damit, warum sie sich in mehreren Punkten gegen ihn stellte. +Und sicher wurde das Verhältnis auch nicht enger, als Trump Haiti und einige afrikanische Staaten "shithole countries" während eines Treffens zur Einwanderungspolitik nannte, bei dem er vorschlug, die USA solle sich eher um Immigranten aus Ländern wie Norwegen bemühen. Love bezeichnete das als rassistisch: "Ich kann nicht verteidigen, was nicht zu verteidigen ist. Es gibt Länder, die zu kämpfen haben, aber die Leute, die von dort kommen, sind gut. Sie sind ein Teil von uns. Wir sind Amerikaner", sagte sie CNN. "Der Präsident muss sich entschuldigen bei den Amerikanern und den Ländern, die er so mutwillig verleumdet", sagte sie in einem Statement. Er hat sich nicht entschuldigt. +Schwer vorstellbar, dass Love Trump helfen wird, viele schwarze Stimmen zu gewinnen, wenn sie ihn gleichzeitig einen Rassisten nennt. Ihr Hauptproblem wartet jedoch vor ihrer Haustür. Der demokratische Herausforderer Ben McAdams, Bürgermeister von Salt Lake County und ebenfalls ein Mormone, ist mit ihr gleichauf in den Prognosen. McAdams, der vor zwei Jahren Hillary Clinton unterstützte, warf Love vor, Parteispenden nicht ordnungsgemäß verwendet zu haben, was ihrer Kampagne schadete. Love wiederum präsentierte McAdams in ihrem Spot als Clinton-Lakeien, was ihn in dem so republikanisch geprägten Staat nicht gut dastehen lässt. +Bei den Demokraten haben die Frauen in den Vorwahlen viele Erfolge erzielt. Und sie werden sicherim nächsten Kongress viel prominenter vertreten sein, als im Jetzigen. Offen bleibt, ob Mia Love dann auch noch dabei sein wird. + +Titelbild: AL DRAGO/NYT/Redux/laif diff --git a/fluter/usa-wahl-deutschland-interview.txt b/fluter/usa-wahl-deutschland-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..960620b25a58d6e70075221c56af3251048faead --- /dev/null +++ b/fluter/usa-wahl-deutschland-interview.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +Trump tritt für die Republikaner, Harris für die Demokraten an. Wie stehen die Deutschen traditionell zu beiden Lagern? +Deutsche und US-Amerikaner:innen hatten schon immer ein ambivalentes Verhältnis. Während George W. Bush recht unbeliebt in Deutschland war, wurde Barack Obama hier fast mehr gefeiert als in den USA selbst. Tendenziell würde ich sagen, dass die Demokraten ein besseres Image haben als die Republikaner, weil sie stärker für internationale Zusammenarbeit stehen. Trumps Präsidentschaft hat dieses Bild sicherlich noch einmal bestärkt. Diese war ein riesiger Schock für viele Deutsche. +Könnte Kamala Harris an Obamas Beliebtheit anknüpfen? +Mein Eindruck ist, dassder Höhenflug rund um Kamala Harris' Kandidaturin Deutschland ein Stück weit nachgelassen hat. Trotzdem ist bei dem Duell Trump gegen Harris sehr klar, wem die meisten Deutschen den Sieg wünschen. Die gegensätzlichen Erwartungen – die Hoffnung, die wir auf Harris setzen, und die Angst vor einer zweiten Trump-Amtszeit – sind nicht nur in den Medien, sondern auch in der Bevölkerung sehr sichtbar. +Und sind diese Erwartungen gerechtfertigt? +Basierend auf meiner Forschung würde ich sagen, dass man die hohen Hoffnungen auf Harris ein bisschen relativieren sollte. Denn die beiden Kandidat:innen haben auch einige Gemeinsamkeiten: Sowohl die Republikaner als auch die Demokraten versuchen etwa gegenChinaals aufsteigende Macht vorzugehen. Deshalb werden beide bei einem Sieg erwarten, dass sich Deutschland klar auf die Seite der USA stellt. Das wird eine große Herausforderung, da China sehr wichtig für unsere Wirtschaft ist. +Die USA sind ein wichtiger Partner Deutschlands imNato-Bündnis. Wie könnte die Wahl die Sicherheit in Europa beeinflussen? +Trump hat mehrfach die Nato und deren Beistandsklausel infrage gestellt. Sollte er wiedergewählt werden, ist eine weitere Schwächung des Bündnisses zu befürchten. Unter seiner Präsidentschaft könnten die Militärhilfen für dieUkrainesofort eingestellt werden. Dann ist Europa mit der Verantwortung, Kiew zu unterstützen, auf sich allein gestellt. Das schlimmste Szenario wäre ein russischer Angriff auf einen Nato-Staat. Denn Russland könnte womöglich davon ausgehen, dass die USA unter Trump den Europäer:innen nicht zur Hilfe kommen würden. +Wie schätzen Sie Harris' Position zur Nato ein? +Ich gehe davon aus, dass sie weiterhin auf die Stabilität der Nato setzen, aber ebenfalls auf mehr Eigenständigkeit Europas pochen wird. Auch die Demokraten sehen im Aufstieg Chinas die geopolitisch wichtigste Herausforderung und wollen ihre Sicherheitspolitik daher hauptsächlich nach Asien ausrichten. Unter beiden Präsident:innen müssen Europa und Deutschland wohl in Zukunft mehr für die eigene Sicherheit tun und ausgeben. +Inwiefern würde sich die Zusammenarbeit von Deutschland mit den beiden unterscheiden? +Nach allem, was wir über Kamala Harris und die Demokraten wissen, lässt es sich mit ihr sicherlich besser diskutieren und gemeinsam an Kompromissen arbeiten als mit Donald Trump. Sollte er erneut Präsident werden, wird er durch Handelshemmnisse wie Zölle versuchen, europäische Unternehmen auf dem US-Markt zu benachteiligen. Grundsätzlich wird er weniger auf internationale Zusammenarbeit und mehr auf Alleingänge setzen. Harris wird wahrscheinlich Joe Bidens Kurs größtenteils fortsetzen, also vor allem handelspolitisch gegen China vorgehen und weniger gegen Deutschland und Europa. +Wie könnte die Wahl 2024 den weltweiten Kampf gegen denKlimawandelbeeinflussen? +Ein Sieg von Trump würde den Kampf gegen den Klimawandel enorm schwächen. Schon in seiner ersten Amtszeit ist er aus dem Pariser Klimaabkommen, nachdem die weltweite Erderwärmung auf 1,5 Grad begrenzt werden soll, ausgetreten. Zudem hat Trump die Beiträge der USA zu wichtigen Klimaschutz-Fonds gestoppt und stattdessen wieder auf fossile Energien gesetzt. Die USA sind einer der größten Verursacher von CO₂. Wenn selbst sie ihre Versprechen nicht halten, wird es in Zukunft immer schwieriger, Klimaschutz-Vereinbarungen zu treffen – etwa mit aufstrebenden Staaten des globalen Südens wie Indien oder Brasilien. +Und wie steht es um Kamala Harris' klimapolitische Pläne? +Harris wird auch hier vermutlich die Politik weiterführen, die sie als Vizepräsidentin zusammen mit Joe Biden begonnen hat. Dazu gehört der Green New Deal, der eine nachhaltige Wirtschaft anstrebt. Aber in der Klimadebatte rund um die US-Wahl gibt es zwei wichtige Einschränkungen: Zum einen hat sich gezeigt, dass auch unter Trump auf Bundesstaaten- und Städteebene trotzdem viel gegen den Klimawandel unternommen wurde. Europa hat klimapolitisch zum Beispiel viel mit dem Staat Kalifornien zusammengearbeitet. Zum anderen haben während Bidens Amtszeit viele republikanische Kongressabgeordnete wichtige Entscheidungen für den Klimaschutz blockiert. Und auch die Demokraten sind nicht mehr bereit, so viel Geld für Klimaschutz, vor allem in anderen Ländern, auszugeben wie noch zu Obamas Zeit. +Könnte Trumps Rückkehr ins Weiße Haus den Einfluss von Rechtspopulist:innen in Europa weiter stärken? +Trump ist definitiv eine Symbolfigur für die rechtspopulistischen Parteien in Europa. Seine Rhetorik, das Beharren auf nationalen Interessen, die antielitären Botschaften, die Kritik an internationalen Organisationen – all das hatte und hat Vorbildcharakter. Wenn im mächtigsten Staat der Welt ein Populist an der Macht ist, befeuert das Nachahmer:innen in Europa. Dazu kommt, dass sich Trump mit autoritären Herrschern wie Kim Jong-un oder Putin auf der Weltbühne gezeigt hat, wodurch er deren menschenverachtende Politik ein Stück weit legitimiert hat. +Harris vertritt das gegenteilige politische Spektrum. Könnte ihr Wahlsieg den Einfluss rechtspopulistischer Strömungen in Europa und Deutschland schwächen? +Kamala Harris wäre als erste weibliche US-Präsidentin ein Symbol für Gleichberechtigung, Diversität und Chancengleichheit. Die große Chance und Hoffnung ist, mit Harris eine Verbündete im Weißen Haus zu haben, die sich international für die progressiven Werte der Demokraten einsetzt und damit auch ein Vorbild für das liberale Lager in Deutschland ist. Aber auch sie unterliegt politischen Zwängen und wird in einigen Punkten sicherlich US-amerikanische gegenüber transatlantischen Interessen priorisieren. +Nun hat Deutschland ja keinen Einfluss auf die Wahl. Sind wir den USA ausgeliefert? +Die Amtszeiten der US-Präsidenten, die in diesem Interview genannt werden:- Jimmy Carter: 1977 – 1981- Ronald Reagan: 1981 – 1989- Bill Clinton: 1993 – 2001- George W. Bush: 2001 – 2009- Barack Obama: 2009 – 2017- Donald Trump: 2017 – 2021 +Ein Blick in die Geschichte kann die verbreitete Angst vor einem Wahlsieg Trumps etwas lindern. Auch unter früheren Präsidenten haben die USA ihr Engagement in internationalen Organisationen oder Verträge reduziert oder diese ganz verlassen: Unter Jimmy Carter haben die USA zeitweise die Mitgliedschaft in der Internationalen Arbeitsorganisation ILO aufgekündigt, Ronald Reagans Regierung hat sich aus der UNESCO zurückgezogen, unter Bill Clinton haben die USA die UN-Organisation für industrielle Entwicklung UNIDO verlassen und George W. Bush hat veranlasst, das Kyoto-Protokoll aus dem Jahr 2001 und das Rome Statute des Internationalen Gerichtshofs ein Jahr später abzulehnen. Trotzdem blieben die meisten multilateralen Institutionen erhalten, sofern sich andere mächtige Mitglieder, insbesondere Europa und Deutschland, für sie eingesetzt haben. +Das zeigt: Europa kann sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen und ist nicht vollkommen vom Wohlwollen der USA und dem Wahlausgang am 5. November abhängig. Was wir dafür aber brauchen, ist der politische Wille in Deutschland und Europa. Diesen zu stärken, sollte unsere Priorität sein, egal wer nächstes Jahr ins Weiße Haus einzieht. + +Dr. des. Tim Heinkelmann-Wild arbeitet am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der LMU München. Er forscht zu Internationalen Beziehungen, Global Governance und Public Policy. +Portrait: David Fisher/Oxford University diff --git a/fluter/utopie-und-vision.txt b/fluter/utopie-und-vision.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vaccine-confidence-project-gruende-impfskepsis.txt b/fluter/vaccine-confidence-project-gruende-impfskepsis.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..abcea56358c486c137cabaad02e322db294ecc7b --- /dev/null +++ b/fluter/vaccine-confidence-project-gruende-impfskepsis.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Ihr Projekt dient als Frühwarnsystem, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in Impfstoffe zu ermitteln und zu bewerten, um so Probleme frühzeitig anzugehen. Wie funktioniert das konkret? +Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In den vergangenen fünf Jahren arbeiteten wir in mehreren afrikanischen Ländern mit Communitys, in denen Studien zu Ebola-Impfstoffen durchgeführt wurden. Teil der Arbeit war, dass eine Gruppe von Leuten einmal pro Woche zusammenkam, um ihnenzu Ohren gekommene Gerüchte zu diskutieren.Die Ärzte konnten so Probleme frühzeitig erkennen und schnell darauf reagieren, statt Gerüchte gedeihen zu lassen. +Haben Sie ein Beispiel dafür? +Wenn Sie sich für eine Studie anmelden, wird Ihnen zu unterschiedlichen Zeiten Blut abgenommen. Das geht langsam, und daher gab es die Wahrnehmung, dass wohl sehr viel Blut abgenommen wurde. "Und was werden sie damit machen? Sie müssen es wohl verkaufen!" Das war eines der Gerüchte. Also hat das Team, das die klinische Studie leitete, entschieden, den Studienteilnehmern genau zu zeigen, wie viel Blut es tatsächlich abnimmt: Es war nicht mehr als eine Ampulle in der Größe eines Kugelschreibers. Damit hörten die Gerüchte auf. Wenn Sie nur sagen "Das stimmt nicht", wird ein Gerücht nicht verschwinden. +Sie beobachten diese Impfskepsis seit längerer Zeit. Wie hat sich das Vertrauen in Impfstoffe in den vergangenen Jahren verändert? +Lange Zeit hatten wir keine weltweit vergleichbaren Daten. Mein Team und ich entwickelten deshalb den sogenannten "Vaccine Confidence Index". Wir fragen nach Impfstoffen allgemein, aber viele Menschen antworten in Bezug auf Impfstoffe für Kinder. Die meisten Menschen reagieren positiv, wenn sie nach der Bedeutung von Impfstoffen gefragt werden.Wenn wir sie jedoch nach ihrem Vertrauen in die Sicherheit von Impfstoffen fragen, sinken die Zahlen nahezu weltweit. + + +Gibt es regionale Unterschiede? +2015 war Europa die skeptischste Region der Welt, insbesondere Frankreich, was mich wirklich überrascht hat. Im Jahr 2019 verbesserten sich Frankreich und eine Reihe anderer Länder in Europa, sie waren aber noch immer am unteren Ende der Skala. Zur selben Zeit waren die Menschen in einigen nord- und westafrikanischen Ländern weniger zuversichtlich. Ein Grund dürfte sein, dass es sich dabei um das frankophone Gebiet Afrikas handelt, wo sich sich französischsprachige Gerüchte leichter verbreiten. +Was verursacht denn ein höheres oder niedrigeres Vertrauen in Impfstoffe? +Das Impfvertrauen ist eng mit der Beziehung zur jeweiligen Regierung verstrickt, und es geht um Vertrauen allgemein. Oft zählt gar nicht der Impfstoff an sich, sondern alles drum herum: wie Menschen behandelt werden, wie die historischen Erfahrungen einer Community ausfallen. Ich kenne keine andere Gesundheitsmaßnahme, die so ziemlich jedes Leben auf dem Planeten berührt. Regierungen zählen geimpfte Personen, sie regulieren Impfstoffe, sie empfehlen Impfstoffe, manche Regierungen schreiben bestimmte Impfungen vor.Und um sie zu produzieren, ist man weitgehend von großen Unternehmen abhängig. Impfungen berühren diese sehr fragile Grenze zwischen meinem persönlichen Recht, mich für oder gegen etwas zu entscheiden, und dem öffentlichen Recht auf Gesundheit. Diese fragile Grenze zwischen Recht und Pflicht betrifft alle Menschenrechtsfragen, mit Covid-19 jetzt auf eine besonders akute Weise. +In Ihrem Buch "Stuck: How Vaccine Rumors Start — and Why They Don't Go Away" schreiben Sie, dass es nicht unbedingt eine schlechte Sache ist, dass Gerüchte rund ums Impfen nicht verschwinden. Warum? +Gerüchte können nützlich sein, wenn es darum geht, den Beginn von Krankheitsausbrüchen zu erkennen. Die WHO hat zum Beispiel ein ganzes Kellerarchiv vollmit Gerüchten über Pockenausbrüche.Man hat also ein offenes Ohr für Gerüchte, um Signale für eine aufkommende Epidemie wahrzunehmen. +Es kursieren sehr viele Falschinformationen über das Impfen.Als Journalistinnen und Journalisten versuchen wir oft,Gerüchte zu entlarven.Sie sagen, dafür sei es dann schon zu spät. Warum? +Statt mit einzelnen Gerüchten müssen wir uns mit den Wurzeln des Misstrauens und der Meinungsverschiedenheiten befassen. Das Problem ist weniger eine Fehlinformation als vielmehr fehlendes Vertrauen. Wir misstrauen heute eher, als dass wir vertrauen. +Die neuen Impfstoffe verwenden die sogenannte Messenger-RNA (mRNA). Die enthält Baupläne für Proteine, die der Zelle sagen, welche Antikörper sie herstellen muss, um sich gegen SARS-CoV-2-Viren zu wappnen. Manche Menschen fürchten, dass der mRNA-Impfstoff auch die DNA, das Genom des Menschen, verändern kann –aber das ist chemisch unmöglich. +Wie kann man dieses Misstrauen adressieren? +Das Misstrauen kann begründet sein: Manchmal machen Menschen schlechte Erfahrungen in einem Krankenhaus oder einer Praxis und wollen deshalb nicht dorthin zurück. Das zu verstehen ist wichtig. Im Zusammenhang mit Covid-19 gibt es zudem viele Ängste: mRNA-Impfstoffe etwa sind brandneu. Die Leute wollen wissen, wer diese Impfstoffe zuerst bekommt, wer entscheidet, wie die Prozesse sind. Je mehr wir das erklären, desto besser: Viele Menschen fühlen sich von der Entscheidungsfindung ausgeschlossen. +Versuchen Medien nicht ständig, diese Fragen zu beantworten? Ist es nicht Teil des Problems, dass manche Menschen Überzeugungen haben, denen man nicht mehr mit Fakten begegnen kann? +Es gibt natürlich diese bestimmte Gruppe von Menschen, aber das sind ja nicht alle. Verhärtete Überzeugungen kommen unter anderem daher, dass man Menschen lange nicht gehört hat. Wenn heute jemand eine Frage zu Impfungen stellt, wird er oft schon als Impfgegner klassifiziert. Eltern sagen mir, dass sie sich dämonisiert fühlen, sobald sie Fragen stellen. Deshalb müssen wir – die Leute im Gesundheitswesen – den Menschen ein paar Minuten Zeit geben und Fragen beantworten. Das ist nicht immer leicht, weil manche Leute etwas aggressiv fragen. Aber diese Aggressivität ist eben teilweise darauf zurückzuführen, dass sie das Gefühl haben, laut sein zu müssen, um gehört zu werden. + diff --git a/fluter/vaeter-der-klamotte.txt b/fluter/vaeter-der-klamotte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0d28109f075c83c4bc8cd9dd99017f43e74bb384 --- /dev/null +++ b/fluter/vaeter-der-klamotte.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Im Unterschied zum Bechdel-Test, der einer ganz simplen Aufgabenstellung folgt, ist der MacGyver-Test etwas komplizierter. Um ihn zu bestehen, muss ein Film zumindest einer der folgenden vier Anforderungen entsprechen: +1. Ein Mann wird als kompetenter Vater dargestellt – unabhängig davon, ob die Mutter abwesend ist oder nicht. +2. Ein ehrlicher, hart arbeitender Mann ist in einer erfolgreichen oder gar leitenden Position und wird nicht als unglücklicher Loser dargestellt. +3. Die weibliche Protagonistin zeigt Interesse am männlichen Protagonisten, bevor dieser zum Helden wird. +4. Der männliche Protagonist löst Probleme kreativ und benutzt Gewalt nur als letzten Ausweg. +Die Liste jener Filme, die diesen Test bestehen, zeichnet sich vor allem durch eines aus: Sie ist sehr kurz. Das zumindest nehmen Philip Zimbardo und Nikita Coulombe in "Man (Dis)connected" an. Darin kritisieren die beiden nicht nur, dass Männer in Filmen überwiegend als Nieten dargestellt werden, die sich zum Deppen machen, ihre Familien im Stich lassen und außer Gewalt keine Lösung finden. +Zimbardo und Coulombe sehen einen konkreten Zusammenhang zwischen dem Männerbild in den Medien und jenem der Gesellschaft. Mehr noch: Medien und Technologien verstärken ein negatives Männerbid. Ihre alarmierende Anklage stützen Zimbardo und Coulombe auf viele Statistiken. Männer würden in vielen Bereichen, zum Beispiel an Unis, zunehmend schlechter abschneiden als früher. Das negative Männerbild in Filmen wäre vor allem deshalb so folgenschwer, weil es im echten Leben an männlichen Vorbildern mangle: Zwei von fünf Kindern in den USA würden von Single-Müttern geboren, ein Drittel der Jungen ohne Vater aufwachsen. Und diejenigen, die einen Vater hätten, würden sich pro Woche nur eine halbe Stunde mit diesem unterhalten – dafür aber 44 Stunden vor dem Fernseher oder Computer verbringen. +Auch wenn manches in "Man (Dis)connected" überzogen wirkt, haben Zimbardo und Coulombe mit einigen Beobachtungen sicher recht. Insbesondere: Männer werden in Filmen häufig als inkompetent dargestellt. Und: Der Anteil an alleinerziehenden Müttern ist überproportional hoch. Laut Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gibt es auch in Deutschland knapp 8,1 Millionen Familien mit minderjährigen Kindern. Fast 20 Prozent davon sind Familien mit Alleinerziehenden – in neun von zehn Fällen ist der alleinerziehende Elternteil eine Frau. +Wie nun das Männerbild aussieht, das über Filme in Kinderzimmern Einzug hält, darüber wurde noch kaum geforscht. Für eineStudie des österreichischen Sozialministeriumsuntersuchten Wissenschaftler jedoch eine Vielzahl von Filmen, Werbespots und Serien aus einem Zeitraum von sechs Jahren. Das Ergebnis: Männer werden durchwegs diskriminiert, als schlechte Väter, gewaltbereite Helden oder heillose Trottel dargestellt. Die Erkenntnisse decken sich mit den Thesen von "Man (Dis)connected". +Um zu sehen, wie es um die Darstellung von Frauen in aktuellen Filmen steht, haben wir auf sechs der erfolgreichsten Filme 2015 den Bechdel-Test angewendet. Macht man das Gleiche mit dem MacGyver-Test, fällt auf: Zwar schaffen die Filmmänner die eine oder andere Hürde mehr und bestehen den Test daher streng genommen. Viel präsenter und wichtiger für die Handlungsstränge ist aber ihr augenscheinliches Versagen: +Der Protagonist in Fack ju Göhte 2, der nicht besonders helle Ex-Knacki Zeki Müller, wird erst dann zum guten Lehrer, als seine Freundin nicht mit auf Klassenfahrt kommt (Regel 1 und 2 nicht bestanden). InSpectre frönt James Bond nicht nur dem Machotum, sondern auch der Gewalt (Regel 4 nicht bestanden) – eines ähnlichen Erfolgskonzepts bedient sich Fast & Furious 7. Die Protagonistin in Jurassic Worldverfällt dem Dinosauriertrainer erst, als dieser zum Helden wird (Regel 3 nicht bestanden). Und in Fifty Shades of Grey zeigt der durchtrainierte Milliardär Christian Grey, dass Gewalt nicht zwingend nur letzter Ausweg ist (Regel 4), sondern auch durchaus Spaß machen kann, sofern ein beiderseitiges Einverständnis herrscht. Die Minions schließlich – vor sich hinbrabbelnde gelbe Kreaturen – folgen sowieso nur einem Ziel: dem schrecklichsten Schurken der Welt zu dienen (Regel 2 nicht bestanden). Fortpflanzung und Vaterschaft stehen bei dieser ausschließlich männlichen Spezies nicht zur Debatte (Regel 1 nicht bestanden). +Auffälligstes Merkmal der dargestellten Männer war ihre Bereitschaft zu physischer Gewalt. Auch die österreichische Studie "Männer in den Medien" kam zu diesem Ergebnis. Das befragte Publikum – männlich wie weiblich – war davon aber keineswegs überrascht. Im Gegenteil: Sie erwarteten und wünschten sich diese Gewaltbereitschaft sogar. Beide Geschlechter zogen einen gewalttätigen dem "feigen" Protagonisten vor und konnotierten physische Gewalt eindeutig mit Männern. Im Schnitt vergingen weniger als fünf Minuten, bis in einem Film geschlagen, geschossen oder gestochen wurde. Die Regel Nummer 4 des MacGyver-Tests dürften die meisten Filme also brechen. +Mann zu sein heiße im Film, so die Autoren der Studie, sich zu entscheiden: "a) entweder für ein beziehungsfreies Leben am Limit, immer auf der Suche nach dem nächsten Superlativ, der höheren Berufung oder sogar der Rolle eines vom Schicksal Auserwählten oder b) für ein gebundenes, unfreies Leben im Kampf gegen Überforderung als Ehemann und Vater." Für Variante b entscheiden sich – siehe Regel Nummer 1 des MacGyver-Tests – nur wenige. Von den insgesamt 750 in Filmen, Serien und Werbespots auftretenden Männern hatten nur 79 auch die Vaterrolle inne. In "Spectre" wird diese Wahl zwischen "ein Leben am Limit" und "ein Leben unter der Haube" sogar zum zentralen Thema. Im Finale muss sich James Bond entscheiden: Will er ein Leben voller Abenteuer und Spannung oder lieber eine Beziehung? +Die Studienautoren sprechen deshalb von einer "Extremisierung" der Männer in den Medien: Entweder sie sind verwegen oder sie sind verschmust. Entweder geniale Helden oder dumme Versager. Auch geniale Versager ("The Big Lebowski", "Homer Simpson") kommen vor, zwischen den Extremen sind die Protagonisten aber nur sehr dünn gesät. Durchschnittsmänner, ältere Männer, homosexuelle Männer? Sie sehen wir genauso selten wie glückliche Väter, Männer aus ethnischen Minderheiten und andere ganz normale Jungs. +Die Männer, die wir in den Medien sehr wohl zu Gesicht bekommen, stehen unter ständigem Druck: Erfüllen sie nicht die an sie gestellten Erwartungen, verlieren sie ihren Wert, werden zum Problem oder bestenfalls zum Clown. Die Leistungen, die sie im Film zu vollbringen haben, sind dabei erstaunlich. Auf die Frage, ob sie mit den medialen Männern tauschen würden, lehnten die meisten Studienteilnehmer ab. Viel zu anstrengend wäre deren Existenz. Und vor allem viel zu gefährlich. Kein Wunder: Durchschnittlich ließ in den untersuchten Filmen der erste männliche Tote keine zehn Minuten auf sich warten. +Anschließend zu trauern oder andere Gefühle zu zeigen ist für die in den Filmen dargestellten Männer aber ein Tabu – da sind sich Filmemacher und Publikum einig. Männer wollen bei ihren medialen Geschlechtsgenossen nur ein absolutes Mindestmaß an Gefühlen sehen. Und Emotionalität, so drücken es die Autoren der Studie aus, kann laut Publikum "durchaus ein Gefahrensignal für eine Funktionsstörung sein". Männer haben zu funktionieren. Ob nun als lustiger Trottel oder als lebensferner Held. diff --git a/fluter/vandana-shiva-kaempft-gegen-gruene-gentechnik.txt b/fluter/vandana-shiva-kaempft-gegen-gruene-gentechnik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c10eb74f1bf409ae31d80aa67e52cfb011d8b4b9 --- /dev/null +++ b/fluter/vandana-shiva-kaempft-gegen-gruene-gentechnik.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Vandana Shiva wurde 1952 am Fuße des Himalaya-Gebirges in eine wohlhabende Familie der obersten Brahmanen-Kaste hineingeboren. Sie studierte Quantenphysik und arbeitete an einem experimentellen Kernreaktor, bis sie sich mit den Gefahren der radioaktiven Strahlung befasste und sich davon abwandte. Immer weiter forschte sie an der Schnittstelle von Technik, Umwelt und Politik, und immer wütender wurde ihr Kampf gegen die "Grüne Revolution". Denn die habe das traditionelle Leben in Indien zerstört, sagt Shiva. Vorher habe man eine organische Agrarpolitik betrieben, welche die Selbstbestimmtheit der Bauern gefördert und sie obendrein keinen Gesundheitsgefahren ausgesetzte. Tatsächlich haben die vielen künstlichen Düngemittel und Pestizide im Umlauf des Systems seit den 1960er-Jahren viele Seen und Flüsse so verunreinigt, dass große Teile des fruchtbarsten Bodens zerstört wurden. +Aber der Bedarf an Agrarprodukten wächst stetig – in Indien und in der Welt. Experten wie der indische Agrarwissenschaftler M. S. Swaminathan rufen deswegen zur "Immergrünen Revolution" auf, die mit Hilfe der Gentechnik auch die Umwelt schützt. Ein Beispiel ist die Bt-Baumwolle, die in Indien schon mehrere Millionen Bauern anbauen und auch in Ländern Südamerikas und Afrikas verbreitet ist. Indem die DNA eines Bakteriums in die Baumwollsaat eingeschleust wird, produziert die Pflanze ihr eigenes Insektengift und macht umweltschädigende künstliche Pflanzenschutzmittel unnötig. +Für Shiva ist es kein Zufall, dass die Pionierarbeit ausgerechnet bei Baumwolle gemacht wird. Es gehe bei der Gentechnik nicht um den Hunger der indischen Bauern, sondern um die Industrie des Westens. Die hohen Patentkosten für die modifizierten Samen, die von Großkonzernen hergestellt werden, würden arme Bauern vom Markt und oft gar in den Suizid drängen. Pollen von gentechnisch veränderten Pflanzen, die in die freie Wildbahn treiben, könnten das Ökosystem für immer verändern. +Vor allem im Westen wird Vandana Shiva für ihre Arbeit verehrt, neben zahlreichen anderen Preisen erhielt sie 1993 den Right Livelihood Award – inoffiziell auch "alternativer Nobelpreis" genannt. Allerdings haben viele Studien ihre Thesen widerlegt, wie der US-amerikanische Journalist Michael Specter 2014in einem aufwendig recherchierten Artikel für den "New Yorker"darlegte (Vandana Shivadementierte große Teile des Textes). Während das US-amerikanische Magazin "Time" sie bereits 2002 als "Heldin des Grünen Jahrhunderts" auszeichnete, erhielt sie daraufhin vom indischen "Liberty Institute" den "Bullshit-Preis für die Erhaltung der Armut". + +Titelbild: Bernd Jonkmanns/laif diff --git a/fluter/venceremos-wir-werden-siegen.txt b/fluter/venceremos-wir-werden-siegen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f6319474e91094514cb06695c3341ee58ff5505e --- /dev/null +++ b/fluter/venceremos-wir-werden-siegen.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Victoria Engel, damals 27 Jahre alt, war von dem feigen Präsident enttäuscht. Dass sie selbst von der Krise betroffen sein würde, erfuhr sie erst später. 30.000 US-Dollar lagen auf ihrem Bankkonto. Es war das Geld, mit dem Victoria sich einen Traum erfüllen wollte: eine kleine Einzimmerwohnung. Sie hatte das Geld erst wenige Wochen zuvor vom Staat bekommen. Es war eine, wenn auch symbolische, Entschädigung für die Ermordung ihres Vaters unter der letzten Militärdiktatur. Und nun war derselbe Staat, der ihr gerade eine Wiedergutmachung gezahlt hatte, pleite – und erlaubte ihr nicht, das Geld abzuheben und in Sicherheit zu bringen. Victoria hatte auch eine Reise geplant, ein Ticket nach Südafrika war reserviert. "Die Krise hat mir die Flügel abgeschnitten. Ich ging jeden Tag zur Bank, wusste nicht, was ich tun sollte", erinnert sich die Psychologin. "Die anderen Kunden beschimpften die Angestellten, aber die konnten ja auch nichts dafür." +"Willkommen im Museum der Auslandsschuld!" Ignacio Marutian steht vor einer Besuchergruppe im Museo de la Deuda Externa. Damals, in der Diktatur (1976 bis 1983) habe das argentinische Schuldendrama so richtig angefangen, beginnt Ignacio – kurze Haare, graues Hemd, dunkle Hose – die Führung. Der Guide ist eigentlich Soziologe, aber die Idee des Schuldenmuseums begeisterte ihn. "Nur wer die Vergangenheit kennt, begeht den gleichen Fehler nicht zweimal. Dieses Museum ist weltweit einzigartig!" Dann erklärt Ignacio, wieso die argentinischen Schulden auch nach der Diktatur immer weiter wuchsen. Die Besucher haben Notizblöcke dabei, schreiben mit: Um eine Hyperinflation zu bekämpfen und das Vertrauen ausländischer Anleger und Investoren zu gewinnen, wurde der Peso 1991 an den Dollar gekoppelt – doch um diese Bindung aufrechtzuerhalten, brauchte der Staat Geld. Deregulieren? Privatisieren? Liberalisieren? Argentinien macht alles mit, was der Internationale Währungsfonds verlangte. Die meisten Bürger störte das zunächst nicht weiter, im Gegenteil: Da die Löhne in Dollar ausgezahlt wurden, konnten sie um die Welt reisen, teure Importprodukte kaufen. Präsident Carlos Saúl Menem träumte gar von argentinischen Raumschiffen, die "in die Atmosphäre starten, dann in die Stratosphäre und von dort aus überallhin fliegen, wo wir hinwollen, sodass wir in eineinhalb Stunden von Argentinien aus in Japan, Korea oder wo auch immer sein können." Doch das "1 Peso gleich 1 Dollar"- Modell hatte Nachteile: Argentinien war zu teuer, um international wettbewerbsfähig zu sein. Das Land machte immer mehr Schulden. +Ignacio redet über eine Stunde lang, hinter ihm zeigen Texttafeln im Zeitraffer, was passierte: Verschuldung zur Zeit der Diktatur. Die Illusion des Reichtums auf Pump in den neunziger Jahren. Krise. Auferstehung. Wobei der derzeitige Ausstellungsraum nur ein Ersatzmuseum ist: In den eigentlichen Räumen im Souterrain der Universität Buenos Aires fiel den Organisatoren buchstäblich die Decke auf den Kopf. Nur wenige Ausstellungsgegenstände stehen dort noch, darunter die mit wütenden Protestsprüchen besprühte Metallverkleidung, mit der eine Bank ihre Fassade vor Angriffen schützte. "In den letzten Monaten kommen immer mehr Ausländer, vor allem Portugiesen und Spanier", sagt Ignacio. "Sie wollen wissen, wie Argentinien es geschafft hat, die Krise zu überwinden." +Der Mann, der den Karren aus dem Dreck zog, heißt Roberto Lavagna. Als er 2002 den Job als Wirtschaftsminister annahm, war Argentinien pleite. "Alle meine Freunde rieten mir ab", sagt Lavagna, silbergraue Haare, hellblaues Hemd. Er sitzt in seinen Büroräumen in einem stuckverzierten Altbau, an den Türen kleben blank geputzte Spiegel. Freundlich und zurückhaltend, beinahe gütig wirkt der Mann, der für viele Argentinier heute ein Held ist. Rechts neben seinem Schreibtisch hängt ein Gemälde, darauf zu sehen: protestierende Argentinier, hinter ihnen Flammen. +"Es war beängstigend", sagt der ehemalige Wirtschaftsminister. "Die soziale Situation bei uns war wesentlich schlimmer, als sie es heute in Griechenland ist." Mehr als die Hälfte der Argentinier war damals arm. Auf den Straßen verkauften Hausfrauen selbstgebackene Kuchen. Tauschmärkte entstanden. Die Provinzen (so heißen die Bundesländer in Argentinien) begannen eigene Geldscheine neu erfundener Währungen zu drucken, um die Staatsangestellten bezahlen zu können. Arbeiter besetzten von den Besitzern aufgegebene Fabriken und produzierten auf eigene Faust weiter. Und die, die gar nichts hatten, durchforsteten den Müll. Mit dem "tren blanco", dem "weißen Zug", kamen plötzlich jede Nacht Hunderte armer Menschen in das Stadtzentrum von Buenos Aires, um Papier und andere Wertstoffe zu sammeln. +Es gebe durchaus Parallelen zwischen den Krisen in Argentinien und in Griechenland, sagt Lavagna. Eine Währung, die das Land nicht selbst lenkt (in Argentinien war der Peso an den Dollar gekoppelt), vier Jahre Rezession und eine hohe Verschuldung bei internationalen Akteuren, die Einfluss auf die nationale Wirtschaftspolitik nehmen. "Der Währungsfonds hatte auch uns damals empfohlen, die Gehälter um 13 Prozent zu senken und die Steuern anzuheben, ähnlich wie heute in Griechenland. Doch ohne Wachstum hat ein Land keine Chance." Deshalb wagte Lavagna 2002, was sich vor ihm niemand getraut hatte. Er sagte: "Nein, danke." Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, wenn er sich an das entscheidende Treffen mit Horst Köhler erinnert, dem späteren deutschen Bundespräsidenten, der damals Direktor des IWF war: "Ich musste drei Mal wiederholen, dass wir keine neuen Kredite mehr wollten. Zuerst dachte ich, dass mein lateinamerikanisches und sein germanisches Englisch nicht kompatibel seien, aber daran lag es nicht. Er konnte es einfach nicht glauben." Worum es der argentinischen Regierung ging: "Wir wollten keine Gelder mehr und endlich ohne Einmischung von außen die Wirtschaftspolitik machen, die gut für unser Land war." Argentinien wurde so zum Ausgestoßenen am Finanzmarkt und bekam keine Kredite mehr – und dennoch schaffte es das Land aus eigener Kraft. Erst 2004 einigte man sich mit den Gläubigern, die argentinische Anleihen hielten. +Ob denn aus Griechenland schon jemand bei ihm angerufen habe, um um Rat zu bitten? Lavagna lächelt und schüttelt den Kopf. Dann geht er mit den Europäern – besonders mit Deutschland und Frankreich – hart ins Gericht. "Seit zwei Jahren diskutieren die Europäer. Sie haben die Krise nur verschlimmert, und private Verluste wurden in öffentliche Schulden umgewandelt", sagt der Ökonom. "Dabei war die Ausgangssituation für Griechenland besser als die für Argentinien: Wir standen damals ganz alleine da, Griechenland gehört zur EU. Wenn die Griechen den politischen Willen und den Mut hätten, anders zu denken, gäbe es Lösungen." Er könne sich eine Doppelwährung für Griechenland vorstellen, sagt Lavagna: für Inlandsgeschäfte die Drachme, für den Außenhandel den Euro. "Das ist zwar technisch kompliziert, könnte aber als Übergang, für fünf oder zehn Jahre, eine gute Lösung sein. Die entscheidende Frage ist langfristig allerdings auch: Was verkauft Griechenland? In welchen Bereichen ist es wettbewerbsfähig?" +Auch für Argentinien hat der Ex-Minister eine Empfehlung parat: "Keine neue Auslandsverschuldung, zumindest jetzt noch nicht! Einem Ex-Alkoholiker würden Sie ja auch nicht empfehlen, in der nächsten Eckkneipe einen trinken zu gehen." +Victoria Engel hat einen Café cortado bestellt, einen Espresso mit einem Häubchen aufgeschäumter Milch, und erzählt von ihrem Job. Sie kümmert sich um Gewaltopfer, besonders um Kinder: "Kinder sind die ersten, die die Ängste der Eltern abbekommen, auch in einer Wirtschaftskrise." Die Psychologin hat Freunde in Europa, viele haben Argentinien vor zehn Jahren verlassen, als es dem Land schlecht ging. Und erleben jetzt die Krise in Spanien. "Alle sagen mir: Es ist nicht so schlimm wie damals in Argentinien. Vielleicht sind die Europäer einfach nicht so krisenerprobt wie wir", sagt Victoria und rührt in ihrem Kaffee. "Das ist wie mit dem Wetter: Wenn es ein paar Tage lang mehr als 30 Grad hat, klagen in Europa schon alle über eine Hitzewelle. Bei uns ist das normal." +Noch ist ihr Platz in Argentinien. Doch Victoria macht sich Sorgen, misstraut dem makroökonomischen Frieden. Der Reichtum in Argentinien ist ungleich verteilt und die Inflation hoch. Offiziell liegt sie bei knapp unter zehn Prozent, inoffiziellen Schätzungen nach bei über 25 Prozent. "Wir haben alle zehn Jahre eine Krise, wer weiß, wann es wieder so weit ist. Ursprünglich hatten mein Mann und ich überlegt, nach Spanien zu gehen." Doch die Spanier kommen auf der Suche nach Arbeit längst nach Argentinien, über tausend jeden Monat. Die finanziellen Mittel für einen Neuanfang hätte Victoria: Das Geld auf dem Bankkonto war für sie am Ende doch nicht verloren. Sie verklagte den Staat – und bekam recht: Dass der gleiche Staat ihr zunächst den Vater geraubt hatte und danach auch die Entschädigung für seinen Tod, sei nicht rechtmäßig, hieß es im Urteil. Victoria konnte sich ihre Wohnung kaufen. "Eins ist klar", sagt sie. "Wenn ich jemals wieder Geld gespart haben sollte – auf ein Bankkonto zahle ich es bestimmt nicht ein." + +Der IWF ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen. Er soll seinen Mitgliedsstaaten mit Krediten helfen, wenn sie in eine finanzielle Krise geraten. Die Kredite sind jedoch an Bedingungen geknüpft, zum Beispiel mussten in der Vergangenheit notleidende Staaten ihre Märkte öffnen und Subventionen streichen. Dem IWF gehören 187 Länder an, deren Stimmrecht sich nach der Höhe des eingezahlten Geldes bemisst. Deutschland hat zum Beispiel 5,81 Prozent der Stimmen, die USA haben 16,76 Prozent. Kritiker werfen dem IWF vor, undemokratisch zu sein und Ländern eine neoliberale Wirtschaftspolitik auf- zuzwingen. +Für manche Staaten kann es sinnvoll sein, den eigenen Wechselkurs gesetzlich an eine andere Währung zu knüpfen. Für einen Euro bekommt man zum Beispiel immer 3,4528 Litauische Litai. Das hat den Vorteil, dass sich besser langfristig planen lässt und die Möglichkeiten zur Spekulation eingeschränkt werden. Allerdings hat es auch den Nachteil, dass ein Staat damit einen Teil seiner geldpolitischen Handlungsmöglichkeiten aufgibt und sich von un- günstigen Preisentwicklungen aus dem Aus- land abhängig macht. diff --git a/fluter/verborgen-im-fels-comic-bergwerk-altaussee-geschichte.txt b/fluter/verborgen-im-fels-comic-bergwerk-altaussee-geschichte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8a3739b218eafb7838c684397fa660ebe95c09e8 --- /dev/null +++ b/fluter/verborgen-im-fels-comic-bergwerk-altaussee-geschichte.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Zum Schutz vor Zerstörung lagerte man ab 1943 auch Kunstwerke im Bergwerk – darunter die aus über 5.000 geraubten Werken bestehende Privatsammlung Hitlers, mit der er in Linz ein "Führermuseum" eröffnen wollte. Die Bergleute mussten etwa Skulpturen, Gemälde und Aquarelle von Künstlern wie Michelangelo und Jan Vermeer im Stollen unterbringen. Als sich derSieg der Alliiertenabzeichnete, wollte SS-Mann und Gauleiter August Eigruber die Kunstwerke lieber in die Luft sprengen, als sie dem "Feind" zu überlassen. Er ließ in Holzkisten versteckte Fliegerbomben im Stollen platzieren. Als die Bergleute davon erfuhren und erkannten, dass mit dem Bergwerk auch ihre Lebensgrundlage vernichtet würde, erklärten sie sich bereit, die Bomben aus den Stollen zu räumen. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion versteckten sie die Bomben unter Einsatz ihres Lebens in einem Wald und retteten so eine Vielzahl von Europas bedeutendsten Kunstschätzen. +Die Geschichte der durch die Nationalsozialisten geraubten Kunst klingt nicht nur filmreif: George Clooney erzählte sie 2014 in "Monuments Men – Ungewöhnliche Helden". Die Heldenrolle spielen darin aber überwiegend US-amerikanische Spezialagenten. 2019 verfilmte Gabriela Zerhau mit "Ein Dorf wehrt sich" auch die Geschichte der Bergleute, deren Beitrag zur Rettung der Kunst lange in Vergessenheit geraten war. +Simon Schwartz spannt einen weiten historischen Bogen von der Steinzeit bis zur Gegenwart. Wichtige Ereignisse in der Geschichte des Bergwerks erzählt er dabei knapp in wenigen Sätzen und anhand von Jahreszahlen. Die harten Fakten werden nur selten durch Einschübe oder fantastische Elemente aufgelockert. Doch wenn Schwartz diese einfließen lässt, verknüpft er sie eindrucksvoll mit den historischen Tatsachen. Etwa wenn es um die Sage geht, wonach einst ein Wassermann die Menschen auf das Salz im Berg aufmerksam gemacht hat. Als die Nationalsozialisten in Österreich die Macht übernehmen, sinkt besagter Wassermann im Comic grau und sprachlos auf den Grund des Sees. Auch ansonsten geht Schwartz sparsam mit Farben um und benutzt für seine mal sehr detaillierten, mal abstrakteren Bilder überwiegend graue, braune, gelbe und schwarze Farbtöne. +"Der Berg schweigt, sagt man. Tatsächlich gibt er seine Geheimnisse nur allmählich preis." +Dieser Satz lässt sich gleich auf zwei Ebenen deuten: Die Leistung der Bergmänner wurde lange nicht gewürdigt. Und als langwierig gestaltet sich auch die Rückgabe der Werke an ihre wahren Besitzer:innen oder deren Nachfahr:innen. Nach manchen von ihnen sucht man noch heute. +Wer sich ein wenig für Geschichte und Kunst interessiert, kann mit dem schmalen Comic gut unterhalten werden. Der Anfang ist zugegebenermaßen ein wenig zäh und kann durch die nicht immer chronologische Abfolge mancher Jahreszahlen und Ereignisse verwirren. Dafür liest sich der Teil um den Kunstraub spannend und enthält auch Wissenswertes über die Kunstwerke; zum Beispiel über den "Genter Altar", der im Laufe der Jahrhunderte gleich mehrfach gestohlen und beschädigt wurde. Ein schönes Detail sind auch die Fotos am Schluss des Comics, die das harte Leben der Bergmänner um 1900 zeigen. + +"Verborgen im Fels" ist im Avant-Verlag erschienen. diff --git a/fluter/verbotene-liebe.txt b/fluter/verbotene-liebe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2bd73f88e785c4e491e1f5805d2983c0b34c6cf0 --- /dev/null +++ b/fluter/verbotene-liebe.txt @@ -0,0 +1,50 @@ +Azad zieht in ihre Stadt, baut etwas auf, so hatten sie es sich vorgestellt am Ufer der Ruhr, in Mülheim, wo sie sich heimlich trafen. Er sucht eine Wohnung, findet einen Job, und wenn alles anständig aussieht, dann würde er bei ihren Eltern klingeln. "Guten Tag, ich würde gerne Ihre Tochter heiraten." +Doch nichts würde sie interessieren, kein Beruf, keine Wohnung, wenn nicht zuerst diese eine Frage geklärt wäre: Ist er ein Jeside? Und er müsste es ihnen sagen: Nein, ich bin der Sohneiner halbdeutschen Halbspanierin und eines Kurden. Also ein Viertelspanier-Vierteldeutscher-Halbkurde. +Das war im Jahr 2012. +Sie kannten sich von Facebook. Er hatte dort eine Philosophiegruppe eröffnet. Sie diskutierten über Zarathustra, den alten persischen Gelehrten. Er fragte sie, warum sie sich dafür interessiere. Erst per E-Mail, dann am Telefon. +Er: War ein nachdenkliches Kind. Hatte Bücher gelesen, wenn die anderen Kinder gespielt haben. Hat sich mit Psychologie beschäftigt und mit der Evolutionstheorie. Dann mit Philosophie.Sie: Hat mit 16 angefangen, Zitate von Dichtern und Philosophen zu sammeln. Oscar Wilde, Konfuzius.Er: Fand alle toll, die anders gedacht haben. Aber Zarathustra war der Einzige, mit dem er sich identifizieren konnte.Sie: Kannte Zarathustra von ihrem Vater. Er hatte ihr gesagt, dass sie lernen solle, selbst zu denken. +In jedem Anfang liegt schon das Ende, hat Zarathustra gesagt. +Als sie sich kennenlernten, war er 20 und sie 19. +Es dauerte nicht lange, da erzählte er ihr, dass auch er ein Problem habe. Weil er verheiratet sei. +Er war mit seinen Freunden in der Türkei, in deren Heimatdorf. Tief im Osten. Kurdisches Gebiet. Sie wollten sich die Archäologie ansehen, so sagt er das. Er hat sich mit der Cousine angefreundet, sie haben Ausflüge zusammen gemacht. +Die Freunde haben vorgeschlagen, dass sie heiraten. Auch die Familie wollte das, irgendwann das ganze Dorf. Und das Mädchen wollte es wohl auch. Er war 19. Und schließlich hat er unterschrieben. Auf dem Papier waren sie dann Mann und Frau. Eine Feier gab es nicht. Die sollte in Deutschland nachgeholt werden. +Sobald sie verheiratet waren, wurde sie anders. Wollte er etwas von ihr, hat sie sich bei ihrer Mutter beschwert. Hat er ihr etwas geschenkt, war nur wichtig, wie viel es wert war. Für ihn hatte sie nur ein müdes Lächeln. Keine Wertschätzung, sagt er. +Zurück in Deutschland sollte er ein Visum für seine Frau beantragen. Er wollte nicht. Er hat sich alles Mögliche einfallen lassen, um die Sache hinauszuzögern. Die Familie wurde ungeduldig, warum dauert das so lange? "Was kann ich tun?", hatte er die Ausländerbehörde gefragt. Wir können das Visum natürlich ablehnen, hatte die Behörde geantwortet. +Er erzählte die Geschichte Avesta. Sie begriffen, dass sie beide Eingesperrte waren. +Wir möchten diejenigen sein, die die Welt lichtglänzend machen, hatte Zarathustra gesagt. Sie trafen sich und versuchten zu vergessen, dass die Dinge immer komplizierter wurden. +Die Familie seiner türkischen Ehefrau war außer sich, als das Visum abgelehnt wurde. Sie wollte herausfinden, warum. Sie beauftragte Anwälte, wollte klagen gegen den deutschen Staat. Sie zwang ihn, mit einem Verwandten des Mädchens zur Ausländerbehörde zu gehen. Das nächste Mal sollte der Anwalt mitkommen. +Er hatte noch eine Woche, schätzte er. Dann würde alles auffliegen. Und dann würde ihn eine kurdische Familie bestrafen, weil er ihr Mädchen nicht gewollt hatte. +Eigentlich wollte er alleine abhauen. Niemanden mit hineinziehen, das sagt er oft. Aber Avesta, das Mädchen, das er gerade zehnmal gesehen hatte, um dessen Hand er anhalten wollte, eigentlich, irgendwann, sagte: Ob sie jetzt Ärger bekommt, weil sie mit ihm geht oder später, weil sie nachkommt, das sei jetzt auch egal. +Er: Hat seine Wohnung ausgeräumt, von Donnerstag bis Montag, alles musste raus. Er hat seine Küche verkauft, alle Möbel, zwei große Koffer gepackt. Die ganze Nacht geputzt. Montagmorgen war er bereit.Sie: Hat ihren Papierkram erledigt. Einen Brief geschrieben: Dass sie mit ihm zusammen ist, dass sie eines Tages zurückkommt und alles erklärt. Am Montagmorgen schlich sie sich mit zwei Tüten aus dem Haus. +Sie haben sich im Zug getroffen. Ihre Schwester schrieb auf WhatsApp: Bist du bei der Arbeit? Sie antwortete: Ich komme nicht zurück. Schau unter mein Kissen, dort liegt ein Brief. Dann, der Zug fuhr gerade an Braunschweig vorbei, dachte sie: jetzt. Sie schaltete ihr Handy aus. Holte ihre SIM-Karte heraus und zerbrach sie. +Sie hatte ihren Bausparvertrag aufgelöst und noch etwas Geld von ihrer Ausbildung. Zusammen hatten sie 400 Euro. Unterwegs haben sie sich so viel Geld geliehen, wie sie konnten. +Die erste Woche blieben sie in Berlin. Sie nahmen ein Hotel in Charlottenburg, zahlten 45 Euro pro Nacht. Das Geld wurde weniger. +Seine Eltern wollte er nicht mit reinziehen, er hatte ihnen nichts gesagt. Aber bald klingelte sein Handy, ein Freund war dran: "Sag mal, was ist da los? Da stehen Leute vor eurer Tür, die sagen, du hast ein Mädchen entführt?" +Avestas Familie hatte Azads Eltern gefunden. "Wenn Avesta nicht zurückkommt, töten wir den Vater oder den Onkel", sagten die Männer. Wenn sie zurückkommt, sagte ihr Onkel, würde er sie mit seinem Sohn verheiraten. +In Charlottenburg, in ihrem Hotel, schliefen sie jede Nacht mit einem offenen Auge. Tagsüber waren sie ruhiger. Manchmal fühlten sie sich wie im Urlaub. Tauchten in der Menge unter. Genossen es, endlich Zeit zu haben. +Nach einer Woche sagten sie: Es ist zwar schön hier, aber wir können uns das nicht ewig leisten. Also sind sie in ein Internetcafé gegangen und haben nach günstigeren Hotels gesucht. Das günstigste war in Merseburg. +Merseburg an der Saale in Sachsen-Anhalt. Sie hatten keine Ahnung, wo das sein soll, aber sie sind einfach los, in den Zug. Das Hotel war alt und ranzig, innen wie ein Gefängnis. Nur der Eingang war frisch gestrichen, den konnte man auf den Fotos sehen. 23 Euro pro Nacht. Sie haben durchgehalten. Nach drei Tagen hatten sie in Dresden eine Wohnung gefunden. +Sie haben sich eine Matratze für 30 Euro gekauft, ein paar Decken. Und eine große Pizzapfanne, in der sie alles gekocht haben, kurdisch, türkisch. Für sechs Euro haben sie sich eine Karte bei der Stadtbibliothek geholt und sich dort Videos ausgeliehen. So haben sie die Zeit verbracht. +Sie ließen ihre Meldeadresse sperren. Nutzten Telefonzellen. Nie vom Bahnhof aus anrufen, hat einer von Azads Freunden ihnen gesagt. Wenn im Hintergrund die Ansage kommt, seid ihr verraten. Dann wissen sie, in welcher Stadt ihr seid. +Auch in jesidischen Gemeinschaften hat es "Ehrenmorde" gegeben. Arzu Özmen aus Nordrhein-Westfalen wurde 2011 von ihren Geschwistern entführt und von einem ihrer Brüder umgebracht, weil sie sich in einen Russlanddeutschen verliebt hatte. "Aber sie ist ja in derselben Stadt geblieben, diese Arzu", sagt Avesta. "Da haben die sich provoziert gefühlt." +Azad hat Avesta Tricks gezeigt, wie sie sich verteidigen kann, auch gegen einen großen Mann. Sie haben sich darauf vorbereitet, dass nachts jemand in ihre Wohnung kommt. Du nimmst ein Messer und dann los, sagt Azad. +"Das Schlimmste ist", sagt er, "dass du bereit bist zu morden, weil du keine Wahl hast, wenn sie kommen. Sie nehmen dir die letzte Menschlichkeit." Kurze Pause. Aber wenn es klappt, sagt er, dann fängt es erst richtig an. Du hast das Mädchen weggenommen und den Cousin getötet: "Die werden dich und deine Familie jagen." +Aus Avestas Zitatsammlung: "Auge um Auge – und die ganze Welt wird blind sein." Mahatma Gandhi. +Angst, sagt Azad, sagt Avesta, die kennen sie nicht mehr. Sie sind da abgestumpft. +Avestas Familie und die Familie von Azads Frau wollten sich ein paar Monate nach ihrer Flucht mit ihnen aussprechen. Das Treffen sollte in Gießen stattfinden, so ziemlich in der Mitte Deutschlands. Kurz vorher hat ein Freund sie angerufen, hat von der Polizei gesprochen. Sie haben das als Warnung verstanden und sind umgekehrt. Später hat ihnen einer von Azads Freunden erzählt, dass sie bei dem Treffen entführt werden sollten. +Ein andermal, als Azad bei Amazon war, um zu arbeiten, hat es nachts an ihrer Tür gehämmert. Avesta war allein zu Hause, hat durch den Spion geschaut, dort standen zwei Männer, die Kurdisch miteinander sprachen. Sie ist in die Küche geflohen, die Polizei hat sie am Telefon kaum verstanden. Als Azad kam und die Polizei da war, waren die beiden Männer plötzlich ganz friedlich. Sie seien alte Freunde, wollten nur vorbeischauen. Und sie hätten Nachricht von seiner Frau. Er sei einfach abgehauen und habe sie in der Türkei sitzen lassen. Das mache man doch nicht. Oje, sagte der Polizist. Das muss man aber doch klären! +Nach dieser Nacht sind sie umgezogen. Und weil Azad Geld verdient hat, wollten sie sich etwas leisten. 70 Quadratmeter, 350 Euro warm. Eine Wohnung im Plattenbau. Die Decken sind niedrig, die Wände in Ockergelb gestrichen. Aber sie können weit über Dresden blicken. Luft und blauer Himmel. +Ein Jahr später wohnen sie immer noch dort. Sie sind ein schönes Paar. Sie hat lange schwarze Haare, ihre Augen leuchten, sie blickt immer wieder zu ihm auf. Er ist groß, hält sich gerade und trägt seine schwarze Windjacke wie einen Gehrock. In seinen Augen ist etwas gebrochen. +Im Wohnzimmer stehen eine weiße Couchgarnitur und ein Esstisch mit vier Stühlen. Avesta hat einen Sandkuchen gebacken und einen Marmorkuchen. Auf dem Boden ein paar Sägespäne, Spuren von Dodo, dem Zwergkaninchen. "Ohne Dodo hätten wir es nicht geschafft", sagt Azad. +Wie viele Menschen, die unter großer Anspannung stehen, haben sie erst abgenommen und dann Gewicht angesetzt. Er hatte über die zwei Jahre Schwankungen von 30 Kilogramm. Auch sie ist molliger geworden. Wenn sie durch Dresden laufen, sagt er, sind sie wie Geister. Niemand kennt sie hier. +Obwohl ihnen Dresden gefällt und es dort günstig ist, wollen sie zurück nach Nordrhein-Westfalen. Sie kommen mit dem Rassismus nicht klar. Angerempelt werden beim Einkaufen, das sei völlig normal, sagen sie. Azad erzählt von einem Einkaufswagen, den er erst vor Kurzem in die Rippen bekommen hat. Avesta verzieht ihr Gesicht, erzählt, dass vergangene Woche ein Mann zu ihr "Fotze" gesagt habe. Sie spricht das Wort vor-sichtig aus. +Sie haben in Dresden keine Freunde gefunden. Azad arbeitet als Aushilfe bei einem Imbiss, kurzzeitig war er auch in einem Callcenter und über Weihnachten bei Amazon. Avesta hat keine Stelle gefunden, obwohl sie eine Ausbildung als Verkäuferin hat. "Wir sind halt dunkel", sagt Azad. Es klingt sachlich. Sie fühlen sich in Dresden schon seit einigen Monaten nicht mehr sicher, vor allem nachts. Auch wegen der Pegida-Demonstrationen. Wenn sie wieder in Nordrhein-Westfalen sind, glaubt er, fallen sie weniger auf. +Azad hat sich inzwischen ausgesprochen mit der Familie seiner Frau. Vor eineinhalb Jahren war er dort, Avesta kam mit und hat sich im Hotel versteckt. Alles andere wäre zu gefährlich gewesen. Im Dezember 2013 war das. Es war so kalt in den kurdischen Bergen, dass das Wasser in der Karaffe eingefroren ist, als sie in einem Restaurant saßen. +Vor einem halben Jahr dann die Scheidung in Ankara. Eigentlich wollten ihn Freunde begleiten, damit er nicht allein dort hingehen muss. Sie kamen nicht, er war sauer. Vor ein paar Wochen hat er erfahren, dass die Polizei sie festgehalten und bei ihnen geladene Waffen entdeckt hat. Einer hatte keinen Waffenschein, er sitzt bis heute im Gefängnis. Azad wusste nichts davon. Vieles, glaubt er, haben ihm seine Freunde verschwiegen, um ihn nicht zu beunruhigen. +Avesta hat mehrfach versucht, bei ihrer Mutter anzurufen. Aber immer wenn sie ihre neue Nummer herausgefunden hatte, über Nachbarn, über Freunde, hat sich die Mutter eine neue SIM-Karte geholt. Einmal ging sie ran. +"Es geht nicht." +"Ich kann nicht." +"Es geht nicht." +Dann hat sie aufgelegt. Die gewählte Rufnummer ist zurzeit nicht vergeben. +Wenn dieser Text erscheint, werden sie schon nicht mehr in Dresden wohnen. Sondern in einer Stadt in Nordrhein-Westfalen, die sie nicht verraten. Sie haben dort eine Wohnung gefunden. Seine Familie kennt den Ort nicht. +Die Namen der beiden und die mancher Orte wurden geändert diff --git a/fluter/verbotene-stimmen.txt b/fluter/verbotene-stimmen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e22095bbd85d98d2fbb8a87d913852cf87d2dc2b --- /dev/null +++ b/fluter/verbotene-stimmen.txt @@ -0,0 +1,8 @@ + +Der Film entstand praktisch ohne Budget, einfach dadurch, dass Saras Bruder, der Filmemacher Ayat Najafi, seine Schwester während der Konzertvorbereitungen mit der Kamera begleitete. Oder eben auch nicht. Sämtliche Szenen im Kulturministerium beispielsweise werden nur durch den Ton vermittelt, das Bild bleibt schwarz; offensichtlich handelt es sich um ungenehmigte Audiomitschnitte. Über die Untertitel lassen sich Dialoge verfolgen, die deutlich machen, dass auch die iranischen Behörden jeweils unterschiedliche Interessen verfolgen. Man würde ja gern dieses oder jenes, so ist aus den Dialogzeilen der Kulturbeamten herauszulesen, wenn denn nicht der Geheimdienst zu allem noch sein Okay geben müsste. Und die Religionsbehörde. Ein Konzert nur mit Frauen, das gehe leider gar nicht. Am besten, so rät ein Beamter, solle die Antragstellerin ein paar Männer auf die Bühne stellen und in ihren Antrag schreiben, dass die Sängerinnen nur die Begleitung seien. +So ähnlich macht Sara Najafi es dann, wenn auch am Ende die Frauen die Soli singen und die Männer die Begleitstimmen. Eine zusätzliche kulturpolitische Brisanz gewinnt Saras Vorhaben dadurch, dass sie auch drei ausländische Sängerinnen einladen will, die Französinnen Elise Caron und Jeanne Cherhal sowie die Tunesierin Emel Mathlouti. Diese iranisch-internationale Kulturfusion wäre wahrscheinlich einen eigenen Film wert gewesen. In den Ausschnitten, die gedreht wurden, als Sara die anderen in Paris zu ersten Gesprächen, dann zu ersten Proben besucht, ist eine behutsame musikalische Annäherung zu verfolgen, die ihrerseits an bürokratischen Hürden zu scheitern droht. Denn die Sängerinnen und ihre Musiker bekommen keine Arbeitsvisa für den Iran. Erst nach der Wahl Hassan Rohanis zum neuen Staatspräsidenten geht es wieder vorwärts. Doch dann, während der Endproben in Teheran, wollen die Behörden das Konzert plötzlich doch wieder verbieten. +"No Land's Song" ist ein kulturpolitischer Krimi, der nicht durch cineastische Finessen, sondern mit seiner ungefilterten Authentizität beeindruckt. Die Musikszenen kommen dabei vergleichsweise kurz weg, was man etwas schade finden kann, denn immerhin ist deutlich zu hören, dass Sara Najafi für ihr Projekt wirklich ein paar tolle Frauenstimmen versammelt hat. Man bekommt Lust auf mehr davon. + +Einen Musikfilm im klassischen Sinne sollte man also nicht erwarten. Dafür bekommt man ein paar seltene Einblicke in die schwierigen Bedingungen, unter denen Kulturschaffende im Iran arbeiten. Und Sara Najafis unbeugsame Hartnäckigkeit ist von einer Art, die wirklich sehenswert ist und Mut macht. + +"No Land's Song", Deutschland, Frankreich 2014; Regie und Buch: Ayat Najafi, Darsteller: Emel Mathlouthi, Jeanne Cherhal, Elise Caron, Parvin Namazi, Sayeh Sodeyfi; 91 Minuten diff --git a/fluter/verbrauchsanweisung.txt b/fluter/verbrauchsanweisung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/verdingkinder-starkes-ding-comic-nuessli-interview.txt b/fluter/verdingkinder-starkes-ding-comic-nuessli-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..abb5070ab7986a4be73698cbb629d165bc7c568a --- /dev/null +++ b/fluter/verdingkinder-starkes-ding-comic-nuessli-interview.txt @@ -0,0 +1,34 @@ +"Verdingkinder" wurden in der Schweiz Kinder und Jugendliche genannt, die von Behörden in fremde Familien geschickt wurden, um zu arbeiten, meist in der Landwirtschaft. Die Kinder kamen in der Regel aus armen Verhältnissen, oft waren sie Waisen, unehelich geboren, oder die Eltern wurden aus anderen Gründen von den Behörden als nicht "fähig" zur Erziehung eingestuft. +Genaue Angaben dazu, wie viele Kinder bis in die 1970er-Jahre in dieser Form Zwangsarbeit verrichten mussten, gibt es nicht. Schätzungen gehen von mehreren Hunderttausend Kindern aus. Die Kinder wurden häufig vernachlässigt, erfuhren psychische, physische und sexuelle Gewalt. Der Staat hat die Situation der Kinder kaum überwacht. +Von den Betroffenen, die noch leben,leidet einer Studie zufolgeein Viertel unter Depressionen und genauso viele an einer posttraumatischen Belastungsstörung. 2013 entschuldigte sich der Schweizer Staat bei den Betroffenen, seit 2017 können diese eine finanzielle Entschädigung in Höhe von bis zu 25.000 Schweizer Franken erhalten. +Ihr Vater wuchs mit sechs Geschwistern auf einem Bauernhof auf. 1949 wurde er mit knapp zwölf Jahren als Verdingkind auf einen anderen Hof geschickt. Er hat insgesamt viereinhalb Jahre dort gearbeitet. Seine Eltern haben dafür einen geringen Geldbetrag bekommen. Wurde in Ihrer Familie darüber geredet? +Es wurde nicht totgeschwiegen bei uns, aber wir haben auch nicht oft darüber gesprochen. Ich glaube, mein Vater wollte das hinter sich lassen. Und er ist auch eher so die Generation, die nichtzum Psychologengeht. +Bis Sie schließlich entschieden haben, dass Sie mehr darüber wissen wollen. Spielte dabei auch das fortgeschrittene Alter Ihres Vaters eine Rolle? +Auf jeden Fall, er ist jetzt 85. Damit angefangen, wirklich danach zu fragen, habe ich vor zwei Jahren, während des ersten Corona-Lockdowns. Da habe ich gespürt, wie fragil das Leben ist, und es hatte plötzlich eine größere Dringlichkeit, diese Geschichte noch festzuhalten. Das wollte ich ohnehin schon lange.  Aber ich denke, es war gut, zu warten, bis ich als Zeichnerin ein bisschen erfahrener war. + + +Wir sehen im Comic, dass das Ehepaar, für das Ihr Vater arbeiten muss, ihn herumkommandiert und schlägt, ihn rund um die Uhr arbeiten lässt und zu wenig zu essen gibt. Wurden viele Verdingkinder damals so behandelt? Seine Schwester zum Beispiel, die einige Zeit nach Ernst ebenfalls "verdingt" wurde, berichtet in einer Szene von sexualisierter Gewalt. +Ja …(zögert länger)… also ich denke, es war schon sehr schrecklich und  trotzdem wahrscheinlich noch eines der besseren Schicksale. Es gab Kinder, die gestorben sind, weil sie so schlecht behandelt wurden. Und von seinen Eltern wurde mein Vater vorher auch geschlagen. Außerdem lebte er immerhin nicht so weit von zu Hause weg, das war ja nur eine Stunde entfernt. +Seine Familie durfte er dann aber nur alle paar Wochen mal sonntags sehen. Und an Heiligabend. +Genau. Schon sehr wenig eigentlich. +Trotz großer Entbehrungen, Hunger und Schmerz erscheint Ihr Vater immer wieder fröhlich und vor allem: grundsätzlich zuversichtlich. +Er hatte sicher wahnsinnig Heimweh, und es war unglaublich hart. Trotzdem hatte er wohl immer wieder Menschen und Schulfreunde um sich herum, die ihm so kleine Oasen geboten haben. Und auch im Nachhinein: Er ist sicherlich traumatisiert, aber ich staune trotzdem, dass er so ein fröhlicher, offener Mensch geblieben ist. Das liegt bestimmt mit daran, dass er ja, bis er fast zwölf war, eine intakte Familie mit vielen Geschwistern gehabt hat. Aber er sagt auch, dass ihm ein Teil der Kindheit gestohlen wurde. +War Ihr Vater später böse auf seine Eltern, dass sie ihn weggegeben haben? +Ich denke nicht. In seiner Klasse waren noch ein paar andere Verdingkinder, das war damals ein Stück weit Normalität. Und mein Vater hat es auch für seine Familie gemacht. Da gab es einen starken Zusammenhalt, da mussten alle hart arbeiten, auch die, die zu Hause geblieben sind. Er ist wohl in so einen Trotz gefallen: Ich schaff das! Ich zeig denen, wie stark ich bin! Und trotzdem … er gibt es nicht richtig zu, aber ich glaube schon, dass er es als Unrecht empfand, dass damals von sieben Kindern ausgerechnet er gehen musste. +Im Comic erfährt man auch, dass Ihr Vater nicht zur Schule durfte, wenn wieder Arbeit anstand. Haben die Jahre als Verdingkind seine Bildung sehr zurückgeworfen? +Er ist halt nur acht Jahre zur Schule gegangen und auch in denen meist nur halbe Tage. Er hat anschließend auch keine Ausbildung gemacht. Mein Vater kann supergut rechnen, weil sie das zu Hause immer gemacht haben und er viel Karten gespielt hat. Aber er hat nie richtig schreiben gelernt. Lesen kann er, aber er schreibt wie ein kleines Kind, mit total vielen Fehlern und sehr krakelig. +Was hat er nach der Schule gemacht? +Zunächst hat er als Knecht gearbeitet, auf einem anderen Hof. Und dann für eine große Schweizer Supermarktkette, da ist er in einem kleinen Lastwagen mit Verkaufstheke überall auf dem Land herumgekurvt, und die Leute konnten direkt bei ihm einkaufen. Bis er schließlich meine Mutter kennengelernt hat. Die hatte ein Restaurant – und mein Vater war der geborene Wirt! +Zu den visuellen Einflüssen des Comics gehört die Senntumsmalerei. Was ist darunter zu verstehen? +Das ist so eine naive Bauernmalerei, die im 19. Jahrhundert im Toggenburg, wo mein Vater aufgewachsen ist, und dem Appenzeller Land entstanden ist. Sie ist sehr bilderbuchartig, zum Beispiel stimmen manche Größenverhältnisse nicht – etwa eine Kuh, die irgendwo auf einem Berg steht und dann halt riesengroß ist, damit man sie trotzdem noch sieht als Figur. Ich finde sehr schön, wie frei diese Malerei gestaltet ist. Sie hat auch etwas Kindliches. Und die Geschichte meines Comics wird von einem Kind erzählt, darum scheint es mir passend. + + +Ich hatte den Eindruck, dass es am Anfang viele Seiten gibt, auf denen alles sehr reduziert ist, mit viel Weiß, und mittendrin ist Ernst, der als kleines Kind noch sehr comichaft wirkt. Im weiteren Verlauf wird es dann düsterer und komplexer, weil er eben auch erwachsener wird. War das gewollt? +Hmm. Also, auf jeden Fall wollte ich, dass alles immer dichter wird. Die Arbeit blieb über die ganze Zeit eigentlich dieselbe, und es wäre total langweilig gewesen, die immer wieder darzustellen. Also wollte ich diese vier Jahre zu einem Albtraum von nie aufhörender Arbeit werden lassen, immer und immer dasselbe. +Immer wieder Kühe melken, Heu wegtragen. +Misten, Holzen. Ja, ich habe die Zeit zusammengepresst, ihr aber trotzdem Raum gegeben. +Insgesamt soll die Zahl der Verdingkinder in die Hunderttausende gehen. Mit der Aufarbeitung hat sich die Schweiz lange schwergetan. Erst 2013 gab es schließlich die so benannte Wiedergutmachungsinitiative für ehemalige Verding- und Heimkinder. Seit 2017 können die eine Entschädigung beantragen. Hat Ihr Vater das gemacht? +Ja, und auch bekommen: 25.000 Franken. Lächerlich wenig für viereinhalb Jahre harter Arbeit und eine gestohlene Kindheit – von so einem reichen Land wie der Schweiz. Aber ihn hat es sehr gefreut, vor allem die Anerkennung des Bundes. + +Lika Nüssli, geboren 1973 im Schweizer Kanton St. Gallen, zeichnet Comics, macht Installationen und Performances. Bis Ende Mai 2022 ist imCartoonmuseum Baseleine Ausstellung über ihr Werk zu sehen. +"Starkes Ding" (232 Seiten, 29 Euro) ist im Verlag Edition Moderne erschienen. diff --git a/fluter/verein-kaempft-gegen-bienensterben.txt b/fluter/verein-kaempft-gegen-bienensterben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c930e66221758c1e4c992c37986315e89f0b1585 --- /dev/null +++ b/fluter/verein-kaempft-gegen-bienensterben.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Axel Ziegler, 52, und Andrea Erhard, 37, sind keine Berufsimker. Er ist Informatiker, sie arbeitet in einer Rechtsanwaltskanzlei. Die beiden sind Teil von "O'pflanzt is!", einem Verein, der sich dem gemeinsamen Gärtnern in der Stadt verschrieben hat. Schnell nach der Gründung 2011 war den Mitgliedern klar: Wo ein Garten ist, müssen auch Bienen sein. Schließlich bestäubt die Honigbiene laut Umweltbundesamt 80 Prozent aller Pflanzen, die auf Fremdbestäubung angewiesen sind. Das macht sie in Deutschland zum drittwichtigsten Nutztier nach Rind und Schwein. Ohne Bienen keine Erträge, also keine Nahrung für Mensch und Tier. +Der Garten von "O'pflanzt is!" liegt am Fuß des Olympiabergs im Münchner Norden. Zwischen einer Montessorischule und einem Sportplatz trotzen Hochbeete mit Tomaten- und Mangoldpflanzen der Julihitze. Ein paar Meter weiter in einem kleinen Waldstück haben die Bienen ihr Zuhause. Das hier ist ein Neuanfang. 2018 mussten die Gärtner ihr altes Gelände für ein Bauvorhaben räumen, erst seit diesem Frühjahr sind sie hier. Bis zu seinem Umzug bot "O'pflanzt is!" Führungen an, es gab Bienenpatenschaften und einen Blog. Gemeinnützige Projekte haben es auf dem umkämpften Münchner Immobilienmarkt mindestens so schwer wie die Biene weltweit. +Als die Vereinsmitglieder vor fünf Jahren mit der Bienenhaltung begannen, fragten sie einen erfahrenen Imker um Rat. Wie unterscheidet man Königin, Arbeiterbienen und Drohnen? Wie ordnet man die Rahmen an, in die die Tiere ihre Waben bauen? Mit Schaudern erinnert sich Erhard daran, wie ein Volk, um das sie sich gekümmert hatte, verendete. Dass es kleiner geworden war, hatte sie schon gemerkt. Dann, von einem Tag auf den anderen, war alles vorbei. Fremde Bienen hatten die Schwäche ihrer Artgenossinnen ausgenutzt. Erhard hat eigentlich eine nüchterne Art, aber wenn sie von diesem Tag spricht, klingt es, als würde sie eine "Game of Thrones"-Folge nacherzählen. "In 24 Stunden wurden 24 Kilo Honig geraubt. Ein paar tote Bienen lagen noch draußen, die anderen waren geflohen. Und die komplette Kiste war leer." +Was Erhards Volk so minimiert hatte, war die Varroamilbe, ein Parasit, der vor rund 50 Jahren aus Asien nach Europa eingewandert ist. Er schwächt die erwachsenen Bienen und sorgt bei der Brut für Entwicklungsstörungen. Die Milbe ist der größte Feind der Honigbiene und der Hauptgrund dafür, dass etwa 15 Prozent der Völker in Deutschland den Winter nicht überstehen. Um den Befall einzudämmen, müssen Imker ihre Bienenstöcke jedes Jahr mühsam mit Säure behandeln. +Im Vergleich zu den Bedingungen, die Bienen auf dem Land vorfinden, geht es den Tieren von "O'pflanzt is!" prächtig. "Wir in der Stadt sind privilegiert", sagt Erhard, doch es klingt nicht so, als würde sie sich besonders darüber freuen. Ein Problem der Landbienen sind Pestizide, die von den Äckern der Bauern ins Ökosystem eindringen. Hinzu kommt, dass das, was die Tiere auf den Feldern vorfinden, immer eintöniger wird. Deutsche Landwirte haben in den vergangenen Jahrzehnten den Anbau von zwei Pflanzen stark ausgeweitet: Mais, mit dem die Bienen wenig anfangen können, und Raps, der zwar viel Futter bietet, aber das nur kurz. Ist die Rapsblüte vorbei, bricht das Nahrungsangebot ein. Gleichzeitig verschwinden Brachflächen, und die Bauern mähen ihre Wiesen, häufig noch bevor Bienen dort Pollen und Nektar finden können. So kommt es vor, dass mitten im Sommer ganze Völker hungern. +Doch es scheint, als tue sich etwas. Im Februar 2019 standen Menschen in Bayern trotz Kälte vor den Rathäusern Schlange. Sie wollten das Volksbegehren "Artenvielfalt – Rettet die Bienen" unterstützen. Die Initiatoren verlangten unter anderem mehr ökologische Landwirtschaft und den Ausbau von Biotopen und Blühwiesen. Am Ende hatten 1,75 Millionen Wahlberechtigte unterschrieben, es wurde das erfolgreichste Volksbegehren in der Geschichte Bayerns. Im Juli beschloss der bayerische Landtag ein Gesetz, das die Forderungen ohne Änderung übernahm. +Hobbyimker Ziegler hat sich über die Bienenbegeisterung gefreut, die da aufbrandete. Etwas stört ihn allerdings. "Es ist immer die Rede von den Honigbienen, aber das eigentliche Drama sind die ganzen anderen Insekten." In seinem Rucksack hat er stets ein Schaubild mit Wildbienen dabei, falls er mit Leuten ins Gespräch kommt. "Das sind Bienen?", fragen sie ihn, wenn er es rausholt. "Das sind die Bienen, die wir retten müssen", antwortet er dann, "um meine Honigbienen kümmere ich mich schon." +So wie Ziegler gehen auch viele Experten davon aus, dass die Honigbiene trotz aller Widrigkeiten überleben wird. Die Wildbiene dagegen hat kaum eine Lobby. Dabei ist sie für die Bestäubung mindestens genauso wichtig und viel stärker bedroht. Von den mehr als 560 Wildbienenarten in Deutschland ist die Hälfte in Gefahr. +Mit einem Ächzen hebt Ziegler einen der Holzrahmen aus dem Bienenkasten. Ein schwarz-gelbes wimmeliges Knäuel kommt zum Vorschein: Bienen, die über Bienen klettern, die über Bienen klettern. Ziegler kratzt eine der darunterliegenden Waben auf, eine zähe goldene Masse fließt heraus. Honig, zweieinhalb Kilo allein in diesem Rahmen, schätzt er. Der wird aber nur entnommen, wenn die Tiere ihn nicht selbst für den Wintervorrat brauchen. +Noch beherbergen Ziegler und Erhard hier 150.000 Bienen, doch täglich werden es weniger. "Die Drohnenschlacht steht kurz bevor", sagt Ziegler und schmunzelt. Das nenne man wirklich so, wenn die nach der Begattung überflüssigen männlichen Bienen aus dem Stock geschmissen würden. Ab Dezember können Ziegler und Erhard nur warten und hoffen: dass ihnen im Frühjahr, wenn sie die Kästen öffnen, gesunde Tiere entgegenfliegen. Für den Fall wollen die beiden dieses Jahr noch Krokusse pflanzen. Als kleinen Begrüßungssnack. + diff --git a/fluter/vereinsmeierei.txt b/fluter/vereinsmeierei.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6a55db1a3cea9cfb92f99ce20c47f3421941ec2d --- /dev/null +++ b/fluter/vereinsmeierei.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Solche Episoden wundern nur noch die wenigsten in einem Geschäft, in dem die Grenzen von Presse und PR längst verschwimmen. Dass empörte Vereinsmanager sich über die Berichterstattung beschweren oder Interviews nur gefälligen Medienvertretern geben, ist schon fast so etwas wie Folklore – wie auch die legendären Zurechtweisungen vor versammelter Kollegenschaft durch Uli Hoeneß, die beim FC Bayern lange als eine Art Initiationsritus für ernst zu nehmende Reporter galten. Mittlerweile haben sich insbesondere die Großvereine längst auf Prävention verlegt: Sie entscheiden, was die Öffentlichkeit überhaupt zu sehen bekommt – und welches Bild ihr vermittelt wird. +Kürzlich sorgte für Wirbel, dass der deutsche Rekordmeister die Bilder von seiner Saisonabschlussfeier auf dem Münchner Marienplatz über seinen Online-Kanal fcb.tv selbst produzierte. Der Bayerische Rundfunk hatte die vom Club verlangte Kostenbeteiligung an der Party abgelehnt und übertrug nicht. Spartensender Sport1 hingegen übernahm das Materialdankbarund musste dafür auch nichts bezahlen. +Die Episode verdeutlicht die wirtschaftlichen Realitäten der einen und anderen Seite. War der Sport als Triebfeder von Emotionen schon immer besonders anfällig für "embedded journalism" – in der Bundesliga gilt es eher als anrüchig, wenn der  Vereinsreporter (also der bei einer unabhängigen Zeitung für einen bestimmten Verein zuständige Reporter)nichtFan oder zumindest Sympathisant des betreffenden Clubs ist –, hat die Krise der klassischen Medien diese Tendenz weiter verschärft. Die Medienbranche hat an Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit verloren; mehr denn je wittern die Clubs von Madrid bis Hoffenheim ihre Chance, sich durch Drohungen oder Einflussnahme bei den Vorgesetzten ihre Berichterstatter selbst auszusuchen und gefügig zu machen. +Vor allem aber füllen sie auf geniale Weise das Vakuum, das sie durch immer größere Abschottung – Training ohne Öffentlichkeit, Verknappung der Austauschmöglichkeiten zwischen Spielern und Reportern – selbst geschaffen haben. Interviews, Homestorys, Trainingsfotos: Das nehmen die Vereine nun gerne selbst in die Hand, und nicht überall empört das noch. Im staatlichen katalanischen Fernsehen TV3 lief Ende Mai ein 45-minütiger Dokumentarfilm über die Arbeit von FC-Barcelona-Trainer Luis Enrique. Produziert hatte den Streifen der Club. Unabhängigen spanischen Medien hat der Übungsleiter in zwei Jahren Amtszeit noch kein einziges Interview gegeben. +WährendRealmadrid TVin Spanien inzwischen schon eine eigene Lizenz im Kabelfernsehen hat, rüsten auch Verbände wie die UEFA auf. Vor Champions-League-Spieltagen werden über die Homepage des Verbandesviele Interviewsveröffentlicht, während neutrale Berichterstatter oft vergeblich auf einen Gesprächstermin hoffen. Das Ergebnis ist oft interessant, und die Zitate finden Eingang in die Medien weltweit. Aber heikle Themen werden ausgespart. +Auch bei der Europameisterschaft zeigt sich dieser Trend. Manche sagen, er treibt hier Blüten. Indem die Länderverbände die Spieler für die tägliche Presserunde selbst auswählen, wird oft gleich auch schon der Spin vorgegeben. Auf den selbst produzierten Fotos von den nichtöffentlichen Trainingseinheiten herrscht natürlich immer gute Stimmung. +Heikel wird es, wenn tatsächlich etwas Kritisches passiert. Als beim EM-Spiel in Marseille russische Hooligans nach dem Abpfiff den englischen Block stürmten, lieferte die UEFA keine Fernsehbilder. Die Begründung: Man wolle keine Nachahmer animieren. ARD und ZDF kritisierten diese Zensur. +An einer allzu kritischen Berichterstattung hat das Fernsehen indes auch kein gesteigertes Interesse – es zahlt schließlich Hunderte Millionen Euro für das gemeinsame "Produkt" Fußball. Und den Rest erledigen die sozialen Netzwerke. Wo man früher die klassischen Medien zur Selbstdarstellung brauchte – und sich damit auch auf sie einlassen musste –, transportieren Instagram & Co. ungefiltert die eigenen Wahrheiten. Und die Sponsorenlogos gleich mit dazu. +"Bild, Bams und Glotze" sagte vor knapp 20 Jahren der damalige Bundeskanzler Schröder über seine PR-Strategie. Twitter, Homepage und Vereins-TV könnte es für den heutigen Fußball heißen. Der "Konsument" sollte sich dessen bewusst sein. diff --git a/fluter/verena-el-amil-libanon-jugend-politik.txt b/fluter/verena-el-amil-libanon-jugend-politik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..52a8d055685c4460c5bcf61db5eed43c2e5a10ae --- /dev/null +++ b/fluter/verena-el-amil-libanon-jugend-politik.txt @@ -0,0 +1,30 @@ +fluter.de: Frau El Amil, seit Sie auf der Welt sind, kämpft der Libanon schon mit Problemen wie Korruption, Morden und dem nicht aufgearbeiteten Grauen des Bürgerkriegs. Politisiert das, in so einem Land aufzuwachsen? +Verena El Amil: Niemand in meiner Familie ist politisch aktiv. Aber Gerechtigkeit hat mir schon immer viel bedeutet, deshalb wollte ich unbedingt Jura studieren. Erst im Studium habe ich angefangen, mich zu engagieren. +Im Libanon leben 18 anerkannte Religionsgemeinschaften. Schiitische und sunnitische Muslime sowie maronitische Christen sind die größten Gruppen, darüber hinaus gibt es griechisch-orthodoxe, griechisch-katholische und andere Christen, Drusen und wenige Juden. Ihre politische Repräsentation ist in einem konfessionellen Proporzsystem gesichert, das bedeutet, die Parlamentssitze sollen je zur Hälfte an Christen und an Muslime aufgeteilt werden. Die Grundlage dafür bildet eine Volkszählung von 1932. Außerdem muss der Staatspräsident maronitischer Christ sein, der Parlamentspräsident schiitischer Muslim und der Regierungschef sunnitischer Muslim. +Bis in die 1970er-Jahre hatten die Christen nach dieser Zählung die meiste Macht, obwohl das irgendwann nicht mehr der Bevölkerungsstruktur entsprach. In dieser Zeit entwickelten sich Machtkämpfe zwischen christlichen Milizen und muslimischen Gruppierungen wie der palästinensischen Befreiungsorganisation PLO, die sich mittlerweile im Libanon etabliert hatte und von dort Israel angriff. +Nachdem 1975 mehrere Christen vor einer Kirche getötet wurden, massakrierten christliche Milizen Palästinenser, und der Bürgerkrieg brach aus. 15 Jahre lang kämpften unterschiedliche religiöse Milizen und Gruppen gegeneinander, 90.000 bis 150.000 Menschen starben. Der Bürgerkrieg endete mit einem Abkommen: Der konfessionelle Proporz sollte schrittweise abgeschafft, außerdem alle Milizen entwaffnet und aufgelöst werden. +Das Abkommen wurde allerdings nicht richtig umgesetzt. Der Konfessionalismus prägt bis heute die libanesische Politik. Auch die Miliz Hisbollah wurde nie entwaffnet, und ehemalige Warlords behielten ihre Macht. Nach einem Amnestiegesetz von 1991 wechselten viele der Warlords in die Politik und sind dort zum Teil bis heute als Parteiführer aktiv. Seit den Parlamentswahlen 2022 ist nur eine geschäftsführende Regierung im Amt, ein Präsident konnte aufgrund der Spannungen nicht gewählt werden. +Mit 19 Jahren gründeten Sie mit Freund*innen die Studierendenbewegung Taleb, die heute an vielen Universitäten vertreten ist. +Lange hatten Studierende keinen Einfluss auf das, was auf ihrem Campus passierte, geschweige denn auf nationale Politik. Die Gruppierungen, die bei der Studierendenwahl in meinem ersten Unijahr vertreten waren, setzten keine politischen Belange auf ihre Agenda, und die etablierten Parteien, die auch antraten, hatten keine eigenen Inhalte, sondern diskreditierten nur die anderen. Sie sagten zum Beispiel: "Wenn du uns nicht wählst, errichten die Schiiten eine Moschee in der Uni!" Ich dachte, die Studierendenwahlen könnten ein gutes Instrument sein, um als junge Menschen mitzubestimmen und eine Vision für unsere Universität und unser Land auszudrücken. Deshalb gründeten wir Taleb. + +Wofür setzt sich Taleb ein? +Wir haben uns für mehr Demokratie, soziale Gerechtigkeit und für die Rechte von Minderheiten eingesetzt und gegen die Vermischung von Religion und Politik. Früher war Homophobie auf dem Campus Alltag. Taleb hat angefangen, darauf aufmerksam zu machen und die Studierenden zu sensibilisieren. Im Zuge der Revolutionsbewegung ist das Thema dann noch mal mehr in den Mainstream gerückt, und es ist mittlerweile gängiger geworden, sich zum Beispiel für LGBTQI+-Rechte einzusetzen oder säkularer zu sein. +In den Jahren 2019 und 2020 protestierten dann landesweit Massen gegendie Wirtschaftskrise im Land, gegen Korruption und Konfessionalismus. Ein Hochgefühl für Sie als Aktivistin? +Ich habe so was noch nie gespürt. Es waren Zeiten der Hoffnung und des ultimativen Glücks. Die Stimmung auf der Straße war sehr schön, ich habe gemerkt, dass es echte Solidarität zwischen den unterschiedlichen Menschen im Libanon gibt. Dass es eine Art Versöhnung mit der Vergangenheit geben kann, dass die Menschen vereint sind, vom Süden bis zum Norden, und auch innerhalb Beiruts. Veränderung schien möglich und nah. Wir spürten, dass wir eine Stimme haben und gehört werden. Unsere Juraprofessor*innen sind mit uns auf die Straße gegangen. Plötzlich waren unsere Lerninhalte nicht mehr nur Theorien, sondern wir haben gemerkt, dass sie in der Realität Werkzeuge sein können, um Reformen für eine bessere Zukunft durchzusetzen. +2019 rutscht der Libanon in eine Finanz- und Wirtschaftskrise, die die Weltbank als eine der weltweit schwersten seit Mitte des 19. Jahrhunderts bezeichnet. Das Bankensystem bricht zusammen, die Ersparnisse der Menschen sind weg. Der Staat ist nicht in der Lage, für Grundbedürfnisse zu sorgen, wie zum Beispiel eine funktionierende Stromversorgung. Eine geplante Steuer auf WhatsApp und damit das kostenlose Telefonieren über das Netz löst dann die Proteste im ganzen Land aus. Die Menschen gehen gegen die Regierung und gegen Korruption auf die Straße. Sie fordern eine Abschaffung der konfessionellen Parität in der Politik und einen säkularen Libanon. +Ein knappes Jahr lang ist die Bewegung aktiv, bis zur Explosionskatastrophe im Hafen von Beirut im August 2020: Ammoniumnitrat, das dort gelagert ist, explodiert nach einem Brand. Ein Großteil der Hauptstadt wird innerhalb von Sekunden verwüstet, ganze Stadtviertel zerstört. Etwa 200 Menschen sterben. Obwohl die Gefahr des gelagerten Düngemittels vielen in Verwaltung und Politik nachweislich bekannt war, werden juristische und politische Aufarbeitungen verhindert. Niemand wird zur Rechenschaft gezogen. Unterdessen verliert die libanesische Währung über 90 Prozent ihres Werts, mehr als die Hälfte der Menschen lebt in Armut. +Der damalige Ministerpräsident Hariri ist auf den Druck der Straße hin zurückgetreten, doch dann kam die Explosionskatastrophe im Hafen von Beirut am 4. August 2020. +Danach war überall Trauer und Wut zu spüren. Am 8. August gab es deswegen noch einmal Demonstrationen, die mit wahnsinniger Polizeigewalt niedergeschlagen wurden. Der Innenminister sagte damals, wir wissen in fünf Tagen, wer verantwortlich ist. Das ist jetzt über dreieinhalb Jahre her. Wir hatten während der Revolution geglaubt, wir könnten Gerechtigkeit einfordern. Die Explosion hat uns wieder daran erinnert, dass wir in einem Land leben, in dem das nicht geht, weil die Politik so korrupt ist. Die Warlords aus der Bürgerkriegszeitsind einfach in die Politik gegangenund führen jetzt jene Parteien an, die für den Staat verantwortlich sind. Unsere Hauptstadt konnte innerhalb von Sekunden zerstört werden, und niemand wird dafür zur Verantwortung gezogen. Im Libanon wird es immer Straflosigkeit geben. +Die Revolutionsbewegung fand so ihr Ende. +Alle meine Freund*innen haben danach das Land verlassen. Sie waren frustriert, dass sich nie etwas ändern wird, und haben resigniert. Wenn ich mir heute Fotos anschaue von Leuten, die damals aktiv waren, ist von ihnen kaum noch jemand hier. +Sie sind geblieben. +Ich bin noch nicht darüber hinweg, dass so viele gegangen sind. Wenn ich mich heute engagiere, dann entweder mit viel jüngeren Leuten, die etwas verändern wollen, oder mit welchen, die so alt sind wie meine Eltern. Meine gleichaltrigen Freund*innen sind in Frankreich, und auch ein Großteil meiner Familie ist nach Deutschland gegangen. + + +Warum haben Sie den Libanon nicht auch verlassen? +Ich wollte zeigen, dass es noch Hoffnung gibt, dass wir noch immer Teil der Entscheidungsfindung sein können. Deswegen habe ich auch bei den Parlamentswahlen kandidiert. Ich bin nicht gewählt worden, aber dafür 13 andere Abgeordnete, die nicht aus den traditionellen Parteien kommen. Ihr Einfluss ist zwar begrenzt, weil sie keine Mehrheit haben. Aber wir können die Plattform nutzen, um mehr Menschen zu erreichen und für demokratische Reformen zu werben. Es muss eine Kombination aus denjenigen im Parlament und einer aktiven Jugend auf der Straße sein. +Wie sieht Ihr politisches Engagement heute aus? +Ich organisiere Essenslieferungen für einige Dörfer im Süden, die im Grenzgebiet zu Israel liegen und von den Gefechten zwischen Israel und der Hisbollah betroffen sind – auch das, aus dem meine Familie stammt. Und ich bereite ein Schüler*innenparlament vor, bei dem Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Backgrounds und Religionen in Beirut im echten libanesischen Parlamentsgebäude zusammenkommen. Sie sollen simulieren, wie ein Parlament arbeitet. Jede*r sucht sich ein Thema aus, zu dem sie Gesetze erarbeiten. Wir wollen junge Menschen anregen, über Politik nachzudenken, sich Wissen anzueignen und Interesse zu entwickeln. Sie sollen verstehen, wie ein Parlament arbeitet, aber auch, dass sie durchaus etwas zu sagen haben und Veränderung herbeiführen können. +Wie könnte der Libanon der Zukunft aussehen? +Hier in Beirut vergessen wir manchmal, dass es im Süden des Libanon täglich Gefechte gibt. Ein großer Krieg droht, es liegt nicht in unseren Händen, ob er kommt oder nicht. Es geht erst mal nicht um politische Maßnahmen, um Bildung oder darum, wie man den wirtschaftlichen Kollaps aufhält, wenn man das Gefühl hat, wir könnten morgen aufwachen und der Krieg ist im ganzen Land angekommen. Ich denke, wegen dieser unsicheren Zukunft fällt es vielen schwer, darüber hinauszublicken. + diff --git a/fluter/vergiss-dass-es-ein-ich-gibt.txt b/fluter/vergiss-dass-es-ein-ich-gibt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cca69bc7b76f317dd42213b12e41ef8bb06c1b3b --- /dev/null +++ b/fluter/vergiss-dass-es-ein-ich-gibt.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Dieses Geschäft ist die Existenz von Tuan Tu Do und seiner Frau Lien. Seit 2004 betreiben sie den Laden, nachdem sie ihr Asia-Restaurant aufgegeben hatten. +Do spricht mit starkem vietnamesischen Akzent: "Wir arbeiten täglich zehn, zwölf Stunden. Sechs Tage die Woche", sagt er. Und fügt schnell hinzu: "Wir verdienen beide zwei Euro pro Stunde, wenn wir alle Kosten abziehen." Sie kämen damit einigermaßen hin. Seit 27 Jahren wohnen die Dos in derselben Wohnung in Lichtenberg, nicht weit weg vom Dong Xuan Center. +Do kam 1987 als sogenannter Vertragsarbeiter in die DDR. In Vietnam hatte er Architektur studiert, dort herrsch-ten jedoch Armut und hohe Arbeitslosigkeit. Die DDR brauchte in den 1980er-Jahren Arbeitskräfte in ihren Produktionsbetrieben. Auch für Jobs, die schlecht bezahlt, monoton und körperlich anstrengend waren, zum Beispiel das Nähen in den Textilkombinaten. +Auf der Grundlage eines Vertrages mit dem sozialistischen Bruderstaat Vietnam kamen bis Ende 1989 knapp 60.000 Vietnamesen nach Chemnitz, Dresden, Ostberlin und in andere DDR-Städte. Die Arbeiter lebten in eigenen Wohnheimen, Kontakt zu DDR-Bürgern war nicht erwünscht. Oft wurden sie als "Fidschis" beschimpft – als kämen sie aus der Südsee. +Nach der Wende waren die Vertragsarbeiter unter den Ersten, die ihre Jobs verloren. Während die Regierung des vereinten Deutschland versuchte, die Vietnamesen wieder zurück in ihr Heimatland zu schicken, versuchten diese, sich irgendwie über Wasser zu halten; sie verkauften unversteuerte Zigaretten, eröffneten Imbisse, Gemüsegeschäfte, Änderungsschneidereien und Blumenläden. Erst gegen Ende der 1990er-Jahre erhielten die meisten früheren Vertragsarbeiter, die im Land geblieben waren, unbefristete Aufenthaltsgenehmigungen. Viele konnten sich sogar einbürgern lassen. Schätzungen zufolge leben heute in Deutschland mehr als 130.000 Menschen mit vietnamesischen Wurzeln. +Darunter sind die meist aus dem nördlichen Vietnam stammenden Einwanderer der ersten Generation wie Do und deren Kinder, aber auch Vietnamesen aus dem Süden des Landes, die kurz nach dem Ende des Vietnamkriegs 1975 in der Bundesrepublik Asyl und staatliche Unterstützung erhielten und sich im Vergleich zu den Vertragsarbeitern aus der ehemaligen DDR meist besser und schneller in die Gesellschaft integrieren konnten. +In den 90ern hatten die Vietnamesen im Osten Deutschlands nicht nur damit zu tun, finanziell über die Runden zu kommen. Sie wurden vielfach rassistisch, teils gewalttätig angegriffen, für viele waren sie weiterhin die "Fidschis", die man am besten abschiebt. Während der Ausschreitungen im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen im Jahr 1992 steckten Rechtsextreme ein von Vietnamesen bewohntes Gebäude in Brand. +In den vergangenen Jahren hat der Rassismus abgenommen, und das öffentliche Bild der Vietnamesen hat sich komplett gewandelt. Gab es in den 90er-Jahren noch regelmäßig Berichte über Geldwäsche, Erpressung und brutale Morde innerhalb der vietnamesischen Mafia, schrieben Zeitungen jetzt über "das vietnamesische Wunder", über die "erfolgreichsten Zuwanderer", berichteten TV-Sender über "die schlauen Vietnamesen" – nun war die Rede davon, dass Schüler mit vietnamesischen Wurzeln häufiger Abitur machen würden als gleichaltrige Deutsche. +Der umstrittene Bestsellerautor Thilo Sarrazin zeichnete in seinen ansonsten Zuwanderern gegenüber sehr kritischen Büchern das Bild der fleißigen südostasiatischen Vorzeigeemigranten, die sich voller Ehrgeiz und Bildungshunger lautlos in Deutschland integrierten und keine Probleme verursachten. Auch Politiker heben gern hervor, wie toll sich die Vietnamesen integriert hätten. +Für Mai-Phuong Kollath, deren Büro in derselben Straße wie das Dong Xuan Center liegt, sind diese Klischees und Stereotype schwer zu ertragen. Sie war selbst DDR-Vertragsarbeiterin in Rostock und berät heute Vietnamesen und Deutsche zum Thema interkultureller Austausch. "Die Politik hat wenig für die Vietnamesen im Osten getan. Es gab zum Beispiel nie echte Anstrengungen, sie in Deutschkurse zu bringen", sagt Kollath. +Sie ärgert sich darüber, dass von den Vietnamesen häufig nur noch als Supermigranten die Rede sei: "Viele vietnamesische Einwanderer aus der ersten Generation im Osten leben am Rande des Existenzminimums, obwohl sie extrem viel arbeiten. Und auch nach 30 Jahren können viele aus der ersten Generation nur gebrochen Deutsch", sagt Mai-Phuong Kollath. So könnten sie natürlich auch nicht an Debatten teilnehmen, ihre Kritik äußern oder auf tatsächliche Probleme aufmerksam machen. +"Die erste Generation steckt alle Ressourcen in ihre Kinder und deren Ausbildung. Sie sagen den Kindern: Du musst von morgens bis abends lernen. Am Wochenende am besten auch noch. Viele Schüler aus vietnamesischen Familien haben Angst, schlechte Noten nach Hause zu bringen, den hohen Erwartungen der Eltern nicht gerecht zu werden", sagt Kollath. Kinder von vietnamesischen Eltern sind nicht automatisch talentierter, intelligenter oder erfolgreicher; die Erwartungen sind jedoch oft viel höher. Wobei sich das Niveau der vietnamesischen Kinder langsam an das der deutschen angleicht, die Schulleistungen also zurückgehen. Das bestätigt auch Thuy Luong, die am Barnim-Gymnasium in Berlin-Lichtenberg als Sozialarbeiterin tätig ist. Von gut 1.000 Schülern haben dort etwa 170 vietnamesische Eltern. +Für die Eltern sei vor allem wichtig, dass sie ihren Kindern materiell etwas bieten. "Auch deshalb arbeiten sie so viel. Sie wollen, dass sie ihren Söhnen und Töchtern wirklich alle Möglichkeiten geben, die es in Deutschland gibt. Viele dieser Jugendlichen brauchen aber nicht mehr Geld, sondern mehr Zeit und Verständnis", sagt Luong. Weil die Eltern ähnlich wie Tuan Tu Do sechs Tage die Woche von früh bis spät im Laden, im Restaurant oder anderswo arbeiteten, seien die Jugendlichen mehr oder weniger auf sich gestellt. +"Für die meisten vietnamesischen Eltern ist entscheidend, dass jeder die Pflichten übernimmt, die seiner Rolle entsprechen", sagt Luong. "Häufig vergleichen sie die Leistungen ihrer Kinder mit den Leistungen anderer Kinder aus der vietnamesischen Community." +Klare Rollen, viele Pflichten, wenig Zeit. Ein Alltag, in dem die Werte und Ideale zweier Generationen aufeinanderprallen: das Vietnam der Eltern und das Deutschland der Kinder. Zwei Welten, die zu unterschiedlich sind, als dass sie einfach lautlos und friedlich nebeneinander existieren könnten. +Die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen ist nicht nur eine Metapher. Oft ist es für die erste und die zweite Generation tatsächlich schwierig, sich zu verständigen. Und noch schwieriger, sich zu verstehen: Die Kinder sprechen viel Deutsch, das sie perfekt können, und zu wenig Vietnamesisch für ein tiefer gehendes Gespräch. Bei den Eltern ist es genau umgekehrt. Hinzu kommt, dass die vietnamesische Sprache völlig anders funktioniert als die deutsche. Respektspersonen in der Familie spricht man mit Wendungen an wie "Frau des jüngeren Bruders der Mutter", "ältere Schwester" und so weiter. Von sich selbst spricht man dabei in der dritten Person. "Trinkt die Großmutter eigentlich Kaffee?" – "Ja, die Großmutter trinkt Kaffee. Trinkt die Enkelin auch Kaffee?" – "Nein, die Enkelin mag Kaffee nicht." Die Journalistin Khue Pham schrieb darüber einmal treffend: "Wenn du in Vietnam bist, vergisst du, dass es ein Ich gibt." +Dass die Grenzen der Sprachen, Kulturen und Werte manchmal quer durch das Wohnzimmer einer Familie verlaufen können, hat auch Thao Tran erlebt. Sie ist Jahrgang 1992, die Eltern kamen 1988 von Vietnam nach Cottbus. "Ich war immer gut in der Schule, wollte Ärztin werden, wollte alles dafür tun, die Familie stolz zu machen. Ich kannte es nicht anders und habe das auch nie hinterfragt", sagt Thao Tran. +Mit 16 ging sie als Austauschschülerin in die USA. "Dort wurde ich auf einmal gefragt, was ich will, was meine Vorstellungen sind. Als ich nach dem Jahr in Amerika wieder zurückkam, war das wie ein Kulturschock." +Immer Leistung bringen, immer erfolgreich sein, immer für die Familie da sein. "Wir sind durch einen schmerzhaften Prozess gegangen, haben uns voneinander entfernt, um dann doch wieder zusammenzufinden", erklärt Thao Tran.  Einige Zeit danach trennten sich ihre Eltern. Das ist in vietnamesischen Familien eigentlich undenkbar. "Wir konnten uns befreien von dem, was uns immer als völlig selbstverständlich erschien. Was von der Tradition so vorgegeben war, womit meine Eltern in Vietnam aufgewachsen waren", so Tran. +Sie musste gar nicht Ärztin werden, musste nicht die Last der Familienehre auf ihren Schultern tragen. Sie ging stattdessen nach Berlin, arbeitete am Theater, studierte ein geisteswissenschaftliches Fach. +Ihre Eltern sind heute gut befreundet und reisen manchmal gemeinsam mit der Tochter nach Vietnam. "Die Eltern meines Vaters tun bis heute so, als hätten sich meine Eltern nie getrennt. Weil es so etwas ja eigentlich gar nicht gibt", sagt Tran. Und lacht darüber. +Sie hat sich von der Tradition befreit, ohne die Kultur zu vergessen. Vielleicht muss man erst seine Heimat verlassen, um zu verstehen, wer man eigentlich ist. diff --git a/fluter/vergiss-meyn-nicht-dokumentation-hambacher-forst.txt b/fluter/vergiss-meyn-nicht-dokumentation-hambacher-forst.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7dc43a77a27a17bc2a35857c7deb09221d9be3ca --- /dev/null +++ b/fluter/vergiss-meyn-nicht-dokumentation-hambacher-forst.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Um einen Einblick in das Leben und die Innenwelt der Aktivist:innen vor Ort. Den bekommt man einmal durch die Aufnahmen aus dem Wald mit seinen diversen kleineren "Dörfern". In diese verwegenen Baumhauskonstruktionen, die wirken, als stammten sie aus einem Endzeitfilm, nimmt Steffen Meyn uns mit und zeigt uns, unter welchen Bedingungen dort Menschen leben. In den Interviews zeigen sich alle Beteiligten hyperreflektiert: Sie schilderndie Utopieeines hierarchie- und herrschaftsfreien Ortes und wo sie an ihre Grenzen kommt. Sie stellen sich Fragen wie: Was kann man als Einzelner bewirken? Sie beschreiben innere Bruchlinien der Bewegung, etwa den Umgang mit militanter Gewalt, und diskutieren, ob diese der Sache eher dient oder schadet. Und auch praktische Fragen werden beantwortet – zum Beispiel, warum manche Aktivist:innen im Wald permanent vermummt sind. + + +"Für Steffen" steht am Anfang des Films, "Du fehlst" im Abspann. Die drei Regisseur:innen des Films waren Freund:innen und Kommiliton:innen von Steffen Meyn. Und auch wenn "Vergiss Meyn Nicht" als dokumentarische Arbeit gut funktioniert, auch wenn niemand für das Unglück angeklagt wird, auch wenn die Aktivist:innen sich reflektiert äußern – so ein Film kann eben nicht neutral sein, zudem wir nicht wissen, was weggelassen wurde. Das ist auch gar nicht schlimm, man sollte es nur bedenken. So wie man sich auch bewusst sein sollte, dass Steffen Meyn zwar nicht Teil der Besetzer:innen war, der Bewegung aber durchaus nahestand. Er hat mehrere Nächte mit in den Baumhäusern geschlafen und hatte auch einen "Waldnamen" wie die meisten anderen Aktivist:innen, die dort anonym agieren wollten. Seiner war "Sonne". +Das sind gleich die allerersten. Der Film beginnt mit den Momenten direkt nach dem Sturz, aufgenommen von Meyns Kamera, die einige Meter weit weggeschleudert wurde. Man ist buchstäblich mitten im Geschehen, hört die Aufregung und verzweifelten Schreie, sieht, wie Polizei und Sanitäter:innen herbeieilen und den Unglücksort abschirmen. Dann wird die Kamera von einem anderen Polizisten aufgesammelt, der sich mit seinen Kollegen beratschlagt, was damit zu tun ist. Danach der Schnitt, ein Jahr zurück, wie Steffen Meyn seine Kamera zum ersten Mal ausprobiert, damit durch seine WG läuft und man erst nach einem Augenblick realisiert: Dieser Mensch dort, der lebt jetzt nicht mehr, und irgendwie nimmt seine Tragödie genau jetzt ihren Anfang. +Unbedingt. Selbst wenn man mit den Zielen und Methoden der Aktivist:innen des Hambacher Forsts nicht übereinstimmt: Diese Einblicke in ihr Leben und Wirken sind von einer unheimlichen Nähe und Intensität. Und die spezielle Kamera liefert ungewohnte und faszinierende Bilder obendrauf. +Um noch eindrücklicher zu erfahren, was Meyns 360-Grad-Kamera alles kann, lohnt sich ein Blickauf die Webseite seiner ehemaligen Filmhochschule. Hier – man muss etwas nach unten scrollen – sind einige seiner Aufnahmen aus dem Wald hochgeladen, bei denen man als Betrachter komplett frei entscheiden kann, in welche Richtung man schaut. + +"Vergiss Meyn Nicht" feierte im Februar auf der Berlinale Premiere und ist ab dem 21. September in den deutschen Kinos zu sehen. + +Fotos: © MADE IN GERMANY diff --git a/fluter/vergleich-der-situation-am-arbeitsmarkt.txt b/fluter/vergleich-der-situation-am-arbeitsmarkt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4b08894b2cd7921711da70a9d18bf515e9129cd0 --- /dev/null +++ b/fluter/vergleich-der-situation-am-arbeitsmarkt.txt @@ -0,0 +1 @@ +Sind die heute unter 30-Jährigen also eine Generation, der es finanziell schlechter geht als ihrer Elterngeneration? Diese Frage ist schwer zu beantworten. Denn auch das reale Durchschnittseinkommen stieg in Deutschland in den letzten 30 Jahren. Sicher ist nur: Zwischen den Generationen wird der Wohlstand immer ungleicher verteilt. diff --git a/fluter/vergleich-obama-trump.txt b/fluter/vergleich-obama-trump.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ed8140beb40879e3107fe377e87494f1af70ecdd --- /dev/null +++ b/fluter/vergleich-obama-trump.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Quelle +Nach der Weltfinanzkrise von 2008/2009 und bis zur Corona-Pandemie 2020 sank die Zahl der Arbeitslosen in den USA nahezu stetig. Noch im Februar 2020 erreichte die Arbeitslosenquote in den USA den tiefsten Stand seit rund 50 Jahren. Auch die Anzahl der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, sank erheblich. Donald Trump feierte sich für diese Erfolge. Was dabei häufig vergessen wurde, ist, dass schon unter Obama die Zahl der Beschäftigten nach dem Finanzkrisen-Schock nach oben ging. Die Wirtschaft war bereits in einem vergleichsweise soliden Zustand, als Trump übernahm. Um den Kurs seines Vorgängers zu halten, hat die Trump-Regierung 2017 eine große Steuerreform ("Tax Cuts and Jobs Act") verabschiedet. Trump wollte mit massiven Steuererleichterungen für Unternehmen den Produktionsstandort USA stärken. Doch Wirtschaftsexperten gehen davon aus, dass der Effekt bald nachlassen wird. Nun muss Trump – oder sein Nachfolger – zusehen, wie er mit dem geschmälerten Budget den Auswirkungen der Pandemie begegnet. + + +Quelle +"Deporter-in-Chief ", Abschieber vom Dienst – so nannten manche Kritiker den ehemaligen Präsidenten Barack Obama vor seiner Wiederwahl 2012. Tatsächlich wurden in jenem Jahr die meisten Abschiebungen nichtregulärer Einwanderer zwischen 2008 und 2019 verzeichnet. Das Thema Einwanderung ist in den USA umstritten und wird spätestens seit den Terroranschlägen 2001 zunehmend mit Diskussionen über die innere Sicherheit verknüpft, sowohl unter Obama als auch unter Donald Trump. Die Obama-Regierung fokussierte sich in ihrer Abschiebungspolitik insbesondere auf Personen, die eine Straftat begangen hatten, sowie auf solche, die eben erst die Grenze überschritten hatten. Gleichzeitig versuchte sie, das Einwanderungssystem zu reformieren, um irregulären Einwanderern mehr Möglichkeiten zu bieten, ihren Aufenthalt zu legalisieren – allerdings konnten sich die Reformversuche nicht durchsetzen. Abschiebungen von Menschen, die einen großen Teil ihres Lebens in den USA verbracht haben, nahmen mit der Amtszeit von Donald Trump wieder zu. Die Trump-Regierung macht explizit keinen Unterschied zwischen eben erst Angekommenen und Alteingesessenen. Insgesamt zeichnet sich die Einwanderungspolitik der Trump-Regierung durch die Verschärfung von Asylregelungen und eine Nulltoleranzpolitik gegenüber irregulären Einwanderern aus Mittel- und Südamerika aus. + + +Quelle +Donald Trumps liebstes Kommunikationsmittel ist der Kurznachrichtendienst Twitter. Mit seinen Tweets löste er bereits eine diplomatische Krise mit China aus oder kündigte hochrangige Angestellte. Sehr viele Tweets publizierte Donald Trump zwischen 2012 und 2016. Fans feierten die schonungslosen Kommentare und Fragen, die er aufwarf. Doch es befanden sich auch zahlreiche umstrittene Tweets darunter, wie solche, in denen er die Staatsangehörigkeit des damaligen Präsidenten Barack Obama infrage stellte, die Klimaerwärmung als "Bullshit" bezeichnete, zahlreiche Personen beleidigte, zu Selbstjustiz aufrief oder das US-amerikanische Wahlsystem als ein "Desaster für die Demokratie" kritisierte. Mit Beginn seiner Präsidentschaft wurde es etwas stiller bei @realdonaldtrump, vielleicht auch deswegen, weil er den offiziellen Account @potus (für "President of the United States") bewirtschaftet. Seit 2019 steigt die Frequenz seiner Tweets wieder rasant an: Es ist Wahlkampf. + + +Quelle +In den USA gibt es keine Krankenversicherungspflicht. Barack Obamas erklärtes Ziel war es, mehr Menschen für den Krankheitsfall zu versichern. Durch seine Gesundheitsreform, den "Affordable Care Act" von 2010, sank die Anzahl der Unversicherten von mehr als 15 Prozent der Bevölkerung auf weniger als neun Prozent im letzten Jahr seiner Präsidentschaft. Unter Donald Trump stieg die Zahl der Menschen ohne Krankenversicherung langsam wieder an. Trump hatte zu Beginn seiner Amtszeit angekündigt, den Affordable Care Act aufheben zu wollen. Tatsächlich wird heute vor Gericht über die Verfassungsmäßigkeit des Bundesgesetzes gestritten. Mit dem Tod der demokratischen Supreme-Court-Richterin Ruth Bader Ginsburg im September 2020 könnte "Obamacare", wie das Gesetz manchmal auch genannt wird, fallen. "Obamacare" ermöglichte insbesondere Erwachsenen mit niedrigem Einkommen sowie deren Kindern und Personen mit Vorerkrankungen den Zugang zu einer Krankenversicherung. Für sie könnte die Aufhebung des Gesetzes verheerende Auswirkungen haben. + + +Quelle +In den USA gibt es kein nationales Register aller Schusswaffenbesitzer. Nach US-Recht müssen Kaufinteressenten einer legalen Schusswaffe einen Ausweis vorlegen und ein Formular ausfüllen, das mit bestimmten Kriterien abgeglichen wird. Dieses Formular übermitteln die zertifizierten Händler zur Überprüfung an die Bundespolizei FBI, welche die Angaben mit den Strafregistereinträgen abgleicht. Aufgrund dieses "Background-Checks" wird entschieden, ob die Person die jeweilige Waffe kaufen darf oder nicht. Ob man dann die Waffe tragen darf, ist etwas anderes; das Recht, eine Waffe zu tragen, ist auf wenige Gruppen beschränkt und unterscheidet sich von Staat zu Staat. Die Anzahl solcher Checks gibt aber zumindest einen guten Hinweis auf die Anzahl der Waffenkäufe. Zu Beginn der Präsidentschaft von Barack Obama lag die Zahl bei über einer Million monatlich – und nahm kontinuierlich zu. Oft steigt die Anzahl der Background-Checks nach nationalen Gewalttaten an, so etwa nach dem Amoklauf an einer Grundschule in Newtown, Connecticut, im Jahr 2012 oder nach dem terroristischen Anschlag in San Bernardino, Kalifornien, im Jahr 2015. 2016, im Jahr des Wahlkampfs von Donald Trump, gab es einen Anstieg der Background-Checks nach dem Anschlag von Orlando, den Trump für seine Zwecke nutzte. Gut möglich, dass die angespannte innenpolitische Stimmung den Drang zum Schusswaffenbesitz angeregt hat. Das ist zurzeit wieder der Fall, allein im Mai 2020 –nach der Tötung des unbewaffneten Afroamerikaners George Floyd durch Polizisten und den darauf folgenden landesweiten Demonstrationen gegen rassistische Polizeigewalt– wurden rund 3,9 Millionen Background-Checks verzeichnet. +Recherche: Alice Kohli +Programmierung: Gustav Pursche +GIF: Jan Maschinski diff --git a/fluter/verhaeltnis-zwischen-frankreich-und-deutschland.txt b/fluter/verhaeltnis-zwischen-frankreich-und-deutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7f2d8d6d82ae2ce5fbf4aaf6b513d1ed1148d6fa --- /dev/null +++ b/fluter/verhaeltnis-zwischen-frankreich-und-deutschland.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Nicht Deutschland, sondern das Haus Österreich galt daher lange als größter Gegenspieler Frankreichs. Meist versuchten französische Truppen, Territorien im Osten zu erobern, mit mehr oder weniger großem Erfolg. Das änderte sich auch nicht, als im frühen 18. Jahrhundert im Nordosten des Heiligen Römischen Reiches ein neuer Staat mächtiger und mächtiger wurde: Preußen. Noch war das Land eine Regionalmacht, kein Big Player auf der europäischen Bühne. Noch nicht. +Die Adelshäuser Europas machten damals Politik auf dem Schlachtfeld (durch Kriege) und im Bett (durch geschickte Heirat). Vererbt wurde da nicht viel – außer Krankheiten wegen häufiger Inzucht. Man schmiedete Allianzen und zerstritt sich wieder, manchmal innerhalb weniger Jahre. Auch Frankreich und Preußen pflegten eine solche On-off-Beziehung. +Friedrich II., genannt "der Große", wird 1740 König in Preußen. Den Franzosen ist er ein Rätsel. Friedrich schreibt und spricht exzellentes Französisch, sogar besser als Deutsch – das reicht bei ihm gerade zum Schimpfen. Voltaire, Frankreichs scharfzüngigster Philosoph, ist drei Jahre lang Gast auf seinem Schloss in Potsdam. Friedrich nennt es "Sanssouci" und nicht, wie es auf Deutsch hieße, "Sorglos". Doch sosehr die Franzosen den Oberpreußen für seinen philosophischen Weitblick loben, sosehr sind ihnen seine militärischen Abenteuer in Schlesien und Sachsen suspekt. +Frankreich treiben bald andere Sorgen um als der Gegner im Osten. Nach der Revolution 1789 kommt in Frankreich der Korse Napoleon Bonaparte an die Macht. Mit seiner "Grande Armée" erobert er Gebiete von Gibraltar bis Danzig, auch das Heilige Römische Reich nimmt er ein. Triumphierend zieht er durchs Brandenburger Tor. Frankreich ist jetzt auf dem Gipfel seiner Macht, Deutschland so zerstückelt wie nie. Von dieser Kränkung wird es sich lange nicht erholen. +Napoleon weiß, wie man Besiegte ködert. Die Kurfürsten von Sachsen, Bayern und Württemberg macht er zu Königen, denn nichts ist für Alleinherrscher so bestechend wie ein neuer Hermelinpelz. Doch die Schmeicheleien helfen Napoleon nur kurz. 1812 überfrisst er sich in seinem Machthunger. Im Russlandfeldzug verliert er den Kampf um Moskau, von seiner Grande Armée überlebt nur ein Bruchteil den Rückzug. Mit 675.000 Mann, davon bis zu 200.000 preußische, sächsische und bayerische Soldaten, war Napoleon in den Krieg gezogen. Zurück kam er mit insgesamt nur etwa 100.000 halb erfrorenen Invaliden. +Für diesen Tyrannen wollten die besetzten deutschen Staaten, allen voran Preußen, nie mehr in den Krieg ziehen (müssen). Sie waren die Franzosen leid, dieses übergriffige Volk, das immer alles besser wusste und immer alles früher zu haben schien: den Nationalstaat, die Revolution, die Herrschaft über Europa. +Auch die Schriftsteller erhoben sich mit der Feder und dem Gewehr gegen die Besatzer. Um die Deutschen, die sich in erster Linie als Preußen, Bayern, Württemberger fühlten, über alle Regionalgrenzen hinweg zu den Waffen zu rufen, erfanden sie ein Zerrbild: hier die edlen Deutschen, dort die verschlagenen Franzosen. Je größer der Hass auf Frankreich, desto patriotischer die Gefühle. Denn nichts eint so sehr wie ein gemeinsamer Feind. In den Befreiungskriegen 1813 bis 1815 trieben die österreichischen, preußischen und russischen Truppen Napoleon zurück über den Rhein. +Einer, der sich mit seinem Franzosenhass ganz besonders hervortat, war der Schriftsteller Ernst Moritz Arndt. Seine Bücher und Gedichte wurden phänomenale Bestseller, hunderttausendfach verlegt. "Ich hasse alle Franzosen ohne Ausnahme im Namen Gottes und meines Volkes", schrieb Arndt. "Ich lehre meinen Sohn diesen Hass. Ich werde mein ganzes Leben arbeiten, dass die Verachtung und der Hass auf dieses Volk die tiefsten Wurzeln in deutschen Herzen schlage." Wäre Erbfeindschaft wirklich erblich: Hier fände man das mutierte Gen. +Und auf französischer Seite? Da las man einen anderen Bestseller, "De l'Allemagne", und lernte dadurch, dass die Deutschen gut dichten können, aber auch viel Bier trinken. Die Autorin Germaine de Staël hatte Deutschland mehrfach bereist und porträtierte die Nachbarn nun als Volk der "Dichter und Denker": ein bisschen wunderlich zwar und schwermütig, aber eben auch klug. +Die Deutschlandbegeisterung in Frankreich geriet jedoch bald ins Wanken. Wieder war es ein preußischer Staatslenker, der an die Macht kam und die Franzosen gleichermaßen beeindruckte und verstörte: Otto von Bismarck, Ministerpräsident von Preußen, führte ein Regiment mit "Blut und Eisen". Seine Feldzüge etwa gegen Hannover, Hessen und Dänemark in den 1860ern ließen Frankreich erschaudern. Wie mächtig konnte dieses Preußen noch werden? +Bismarck ist es auch, der durch eine List den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 heraufbeschwört. Beide, Frankreich und Deutschland, sind daran nicht unschuldig. Diesmal zwingen die Deutschen die Franzosen in die Knie, erobern das Elsass und Lothringen. Ihren Minderwertigkeitskomplex kurieren die Deutschen mit einer Demütigung des Nachbarn. Die Gründung des Deutschen Kaiserreiches wird im Spiegelsaal zu Versailles verkündet, der Prunkstätte der französischen Könige. Die Deutschen benehmen sich wie ein Wilderer, der erst den Elefanten erlegt, den Stiefel dann auf den Stoßzahn stellt und zum Schluss ein Selfie macht. Für die Franzosen eine unsägliche Schmach. +Im und nach dem Krieg kursiert nun auch wörtlich der Begriff "Erbfeindschaft". In den Zeitungen, auf Plakaten und in den Geschichtsbüchern Frankreichs ist von der "blutenden Wunde" Elsass und Lothringen die Rede. Manche fordern gar Rache, französisch "revanche". Selbst in Kirchen wird gepredigt, die Deutschen und die Franzosen seien unversöhnliche Feinde seit Jahrhunderten. +Gut 100 Jahre später geht diese Saat auf. Mit der Parole "Zivilisation gegen Barbarei" ziehen 1914 beide Seiten in den Ersten Weltkrieg. Dabei sind die Barbaren immer die anderen. Noch immer verstehen die Franzosen die Deutschen nicht. Die Nachbarn scheinen schizophren zu sein: träumerisch mit dem Kopf, kriegerisch mit der Faust. Als "Rohling mit Erfinderpatenten; Doktor der Mordkunst, der Lüge, Doktor in der Kunst der Verleumdung, des Feuerlegens" charakterisierte der französische Schriftsteller André Suarès die Deutschen 1915. +Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg ist noch frisch, als deutsche Divisionen 1940 erneut auf Paris zurollen. Frankreich kapituliert schnell, auch, um Schlimmeres zu verhindern – und kollaboriert. Erst der Résistance unter Charles de Gaulle, vor allem aber den alliierten Truppen gelingt 1944 die Rückeroberung des besetzten Landes. +Es dauert fünf Jahre, bis Ludwigsburg und Montbéliard die erste deutsch-französische Städtepartnerschaft nach dem Krieg aufnehmen. Heute wohnen rund drei Viertel aller Deutschen und Franzosen in Städten und Gemeinden mit einer Partnerschaft. Ab Ende der 1940er-Jahre machen sich zwei Dutzend deutsche und französische Historiker und Geschichtslehrer daran, das Erbe der Erbfeindschaft zu tilgen. Der Hass soll nicht den nachfolgenden Generationen weitergegeben werden. Die Fragen, die sie klären müssen, könnten vertrackter nicht sein. Wer hatte wann einen Anspruch auf Elsass-Lothringen? Waren Napoleon III. und Bismarck Kriegstreiber? Und wer löste den Ersten Weltkrieg aus? Bildlich gesprochen ist dieses Treffen die Keimbahntherapie der Erbfeindschaft. +Besiegelt wird die deutsch-französische Wiederannäherung 1963 mit dem Élysée-Vertrag. In der Kathedrale von Reims geben sich Staatspräsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer zuvor die Hand. Achtzehn Jahre nach Kriegsende handelt ausgerechnet de Gaulle, der Held der Résistance, der Rückeroberer von Paris, die Wiederannäherung aus. Allzu schwer fällt ihm das offenbar nicht. "Unser größter Erbfeind ist nicht Deutschland, sondern England", vertraut er einem Berater an. +Verfolgt man den Ausdruck "Erbfeind" durch die Jahrhunderte, wurde da in der Tat ziemlich viel vererbt: Mal hielten die Habsburger die Osmanen für den Erbfeind, dann die Niederlande Spanien, dann Spanien England, dann England Frankreich, dann Frankreich Deutschland. Was denn auch mehr über den Begriff "Erbfeind" aussagt als über diese Länder und deren Beziehungen. Das Dominospiel der Macht ist jedenfalls seit 72 Jahren beendet, in Erbfeindschaftseinheiten gerechnet: seit drei nicht stattgefundenen Kriegen. So gesehen ist es ein Wunder, dass die Europäische Union den Friedensnobelpreis nicht schon viel früher erhalten hat. diff --git a/fluter/verhaeltnis-zwischen-fu%C3%9Fball-und-macht.txt b/fluter/verhaeltnis-zwischen-fu%C3%9Fball-und-macht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..837f92fc8dbaefa17da5e4443dfdf968005bd6fa --- /dev/null +++ b/fluter/verhaeltnis-zwischen-fu%C3%9Fball-und-macht.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Diese Macht ist aber nicht durch Wahlen legitimiert. +Es gibt viele gesellschaftliche Bereiche, in denen nicht gewählt wird und man dennoch über eine gewisse Legitimität verfügt. Man denke an den Kneipier um die Ecke oder an ein Unternehmen, das ethisch einwandfreie Geschäfte macht. Auch da ist Macht im Spiel, ökonomische und auch Macht, einen Diskurs mitzubestimmen. Das Problem ist, dass die Akteure im Fußball einerseits politische Macht ausüben. Zum Beispiel, wenn es um einen Stadionbau oder um bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen geht. Andererseits weisen sie diese gesellschaftliche und politische Macht von sich, wenn sie unter Druck und in die Kritik geraten. Wenn es eben um Menschenrechte bei Turnieren wie der WM geht oder wenn Arbeiter ausgebeutet werden. +Mächtige 360 Seiten voll mit Fußball, im Mai in der "edition suhrkamp" erschienen +Ist den meisten nicht einfach gleichgültig, unter welchen Bedingungen der Fußball gespielt wird? +Das hängt vom Weltbild ab. Wenn man ein liberales Weltbild hat, kann man bestimmte Auswüchse kritisieren, aber im Prinzip steht man dann auf dem Standpunkt: Es ist doch alles in Ordnung. Die Spieler verdienen das, was der Markt hergibt, es gewinnen halt diejenigen, die sich den Erfolg mit Geld und Einsatz erarbeiten können. Aber wenn man der Ansicht ist, dass Fußball etwas mit Gemeinschaft und Solidarität zu tun hat, dass man auch mal was abgeben muss, dass soziale Projekte sinnvoll sind, dann kommt man zu dem Schluss, dass es bestimmte Defizite im Fußball gibt. Denn wer gemeinschaftlich denkt, der bemerkt schnell, dass Spieler und Funktionäre eher auf das eigene Geld und die eigene Bedeutung achten. Dann fällt auf, dass häufig nur dann gemeinschaftliche Werte und Motive vertreten werden, wenn es mit dem Gewinn vereinbar ist. Und das funktioniert nicht. Und an dieser Stelle ist der Fußball angekommen. Es scheiden sich buchstäblich die Geister an ihm. +In Ihrem Buch schreiben Sie, dass der Neoliberalismus mit seiner stetigen Gewinnmaximierung für die heutige Situation des Profifußballs verantwortlich ist. Gibt es eine Möglichkeit, diese Entwicklung umzukehren? +Die Entwicklung ist offen. Basketball oder American Football in den USA haben ja quasi damit gebrochen, dass diese Sportarten eine gesellschaftliche Basis haben. Mitbestimmung wie in deutschen Vereinen gibt es dort überhaupt nicht. Diese Ligen leben nicht vom Vereinsleben, sondern sind auf Spektakel ausgerichtet. Das funktioniert auf seine Art natürlich auch, und es gibt dort ja durchaus eine Tendenz zu politischen Aussagen. Mit sozialer Verwurzelung hat das Ganze aber wenig zu tun. In Deutschland steht vielleicht der RB Leipzig für dieses amerikanische Modell. Das Gegenmodell in Deutschland wäre die Bewegung zum Amateurfußball. Sie führt möglicherweise dazu, dass der Sport nicht mehr so hochklassig ist, weil die besten Talente und Spieler eben in andere Länder gehen. Es gibt ein paar Vereine wie den FC St. Pauli oder den 1. FC Union Berlin, die es dauerhaft schaffen, Profifußball zu etablieren, ohne die Selbstbestimmung aus der Hand zu geben. Das ist sozusagen die letzte Utopie des Fußballs, dass man auf den letzten Tick Wettbewerb und Kommerz verzichtet, um einen Sport zu erhalten, der auf das Miteinander und das Identifizieren setzt. Welches dieser Szenarien sich durchsetzen wird, lässt sich schwer sagen. +Die Fankurven sind in den vergangenen 20 Jahren viel engagierter und politischer geworden. Rütteln sie nicht an der Macht von Verbänden und Vereinen? +Das stimmt. Aber diese Leute sind trotz allem in der Minderheit. Fans, die sich für Mitbestimmung, für den Erhalt der 50-plus-1-Regel oder gegen Rassismus im Fußball einsetzen, machen abhängig von der Fanszene vielleicht 10 bis 30 Prozent des Gesamtpublikums aus. Ich sehe darin aber einen großen Wert des Fußballs. Er bietet eine Bühne für politisches Handeln in Gegenden, wo politische Parteien nicht mehr als besonders attraktiv angesehen werden, und er ist ein Auffangbecken für diejenigen, die als Verlierer der Globalisierung gelten und dort ihre Identität ausleben können. Hochproblematisch finde ich, dass die Verbände gerade denjenigen, die um Mitbestimmung buhlen, nichts Adäquates anbieten. Stattdessen werden noch so kleine Vergehen skandalisiert und sensationalisiert. +Der Nationalspieler Mesut Özil ist der Deutsche mit den meisten Facebook-Followern, nämlich 31 Millionen. Zum Vergleich: Angela Merkel hat 2,5 Millionen. Verschiebt sich da die Macht nicht deutlich zu den Fußballakteuren und weg von den Verbänden und Vereinen? +Timm Beichelt ist Professor für Europa-Studien an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder +Ja, darüber wird im Fußball seit Jahren geklagt. Die Vereine sind viel abhängiger von den Spitzenspielern und ihren Beratern geworden. Dadurch entsteht natürlich die Frage, wie diese Macht eingesetzt wird. Viele Fußballer verhalten sich wie Popstars und nehmen Werbeverträge mit, wo sie nur können. Dadurch wird auch ein bestimmtes Weltbild verbreitet, das ziemlich konsumorientiert ist. Leider sind nur wenige Spieler gesellschaftlich interessiert. Und wenn sie politische Botschaften loswerden möchten, wie zuletzt Mesut Özil und Ilkay Gündogan, wirken sie reichlich unbeholfen. +Wie gehen Sie als Fußballfan mit Ihren Erkenntnissen um? +Ich bin enttäuscht von den Leuten, die Macht haben im Fußball – ob es nun Verbandsfunktionäre, Manager oder auch Spieler sind. Die meisten ducken sich bei wichtigen Themen weg und beziehen keine Stellung bezogen. Das schafft Distanz, was mich sicherlich mit der kritischen Fanszene verbindet. Den Fußball an sich, auch bei der WM, werde ich mir dennoch anschauen. Da möchte ich auch appellieren, sich den Fußball nicht nehmen und kaputt machen zu lassen. + +Titelbild: FABRICE COFFRINI/AFP/Getty Images (Wegen Korruptionsverdacht wird der ehemalige FIFA Präsident Sepp Blatter während einer Pressekonferenz mit Dollarnoten beworfen) diff --git a/fluter/verhaftete-Journalisten-in-der-Tuerkei.txt b/fluter/verhaftete-Journalisten-in-der-Tuerkei.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..596c1683a2c3390dabf7882d9e33b358351feac3 --- /dev/null +++ b/fluter/verhaftete-Journalisten-in-der-Tuerkei.txt @@ -0,0 +1,46 @@ + +Wie viele oppositionelle Medien gibt es derzeit in der Türkei? +Nicht mehr viele. 70 Prozent der türkischen Bevölkerung informieren sich über das Fernsehen – dort werden 90 Prozent der Kanäle mehr oder weniger von der Regierung kontrolliert. Nach demPutschversuchim vergangenen Jahr wurden viele Zeitungen geschlossen oder finanziell unter Druck gesetzt. + + +Wie genau sieht die Unterstützung aus? +Viele unserer Aktivitäten drehen sich um Aus- und Weiterbildung. Wir geben Seminare und Workshops für Studenten. Früher konnten wir das auf dem Campus tun, mittlerweile ist das nicht mehr möglich. +Einzelne Journalisten unterstützen wir in erster Linie rechtlich. Im vergangenen Mai haben wir unseren ersten Anwalt angestellt. Mittlerweile beschäftigen wir sechs – zwei in Vollzeit und vier weitere, die sich um inhaftierte Journalisten kümmern. Das Problem ist: Sobald jemand in Haft ist, wird alles viel schwieriger. Normalerweise darf man jemanden nur einmal die Woche besuchen, die Zeit ist knapp, und die Gefängnisse liegen oft weit außerhalb der Städte. + + +In der Nacht zum 16. Juli 2016 kam es in der Türkei durch eine Gruppe von Militärangehörigen zu einem Putschversuch. Die Regierung unter der Führung Recep Tayyip Erdoğans beschuldigte kurz darauf die Gülen-Bewegung, hinter dem Umsturzversuch zu stecken. Die türkische Regierung bezeichnete sie danach als "Fethullahistische Terrororganisation", kurz FETÖ. Fethullah Gülen, der Kopf der Bewegung, bestreitet die Vorwürfe. Die Gülen-Bewegung steht vordergründig für einen moderaten Islam ein und unterhält in mehreren Ländern Bildungseinrichtungen, sogenannte "Lichthäuser". Kritiker werfen der Bewegung sektenähnliche Strukturen vor und bezeichnen Gülen als islamistischen Ideologen. Der ging 1999 in die USA, als gegen ihn ein Prozess wegen Ausnutzung der Religion für politische Zwecke eröffnet wurde. Dort lebt er seitdem. Lange Zeit kämpften Gülen und Erdoğan gemeinsam dafür, in der Türkei die Vorherrschaft derkemalistischen Elitenzu beseitigen. 2013 kam es zum Bruch zwischen ihnen. +Erdoğan beschuldigt die Gülen-Anhänger, den Staat systematisch unterwandert zu haben. Über 100.000 Lehrer, Journalisten, Richter und Soldaten wurden nach dem 16. Juli verhaftet oder von ihrer Arbeit suspendiert. Das Sprachrohr der Bewegung, die auflagenstärkste Zeitung des Landes "Zaman", wurde 2016 geschlossen. Beobachter werfen der Regierung vor, nicht nur gegen vermeintliche Gülen-Anhänger vorzugehen, sondern jegliche Kritiker mundtot zu machen. Allerdings wurde auch der Gülen-Bewegung vorgeworfen, dass sie vor ihrem Verbot rigoros gegen kritische Journalisten vorgegangen sei. Erdoğan verhängte kurz nach dem Putschversuch den Ausnahmezustand und regiert das Land seitdem mit Notstandsdekreten. Am 16. April 2017 sollen die Türken über eine neue Verfassung abstimmen. Das neue Präsidialsystem soll das Land laut der türkischen Regierung regierbarer machen. In jedem Fall würde es  Erdoğan noch mehr Macht geben. +Wie viele türkische Journalisten befinden sich mittlerweile in Haft? +Vor dem Putschversuch waren es ungefähr 30 – diese Zahl ist nach unserer Zählung auf bis zu 150 angestiegen. Von vielen dieser Fälle hört man nichts in den Nachrichten. Wir erfahren erst davon, wenn uns ihre Familien anrufen. + +Ihnen allen wird Mitgliedschaft bei der Gülen-Bewegung vorgeworfen? +Hauptsächlich, aber nicht nur. Andere Organisationen sind diePKK, die linksradikale DHKP/C (beide von der deutschen Regierung offiziell als verfassungsfeindlich eingestuft –Anmerkung der Redaktion) oder sogar Hackergruppen wie Redhack. Die haben E-Mails veröffentlicht, die den Energieminister, der auch Erdoğans Schwiegersohn ist, in Bedrängnis brachten. + +Wie genau lauten die Vorwürfe? +Vor dem Putschversuch ging es vor allem um Präsidentenbeleidigung. Jetzt handelt es sich in erster Linie um "Terrorpropaganda" oder die "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung". Genau das wird ja auch dem deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel vorgeworfen. + +Wie hoch ist das Strafmaß in solchen Fällen? +Das wissen wir noch nicht, da es sich oft um Präzedenzfälle handelt. Oftmals ist die Anklageerhebung auch noch gar nicht abgeschlossen. So etwas gab es vorher noch nicht. Aber aufgrund der Gerichtsentscheidungen, die Angeklagten in Untersuchungshaft zu lassen, müssen wir mit hohen Strafen rechnen – bis zu mehrfach lebenslänglich. + + +Wie viel Vertrauen haben Sie in die Gerichte? +Wir müssen abwarten, bis die Prozesse begonnen haben. Im Moment hoffen wir vor allem, dass die Beweisaufnahme korrekt vonstattengeht. Es gibt allerdings Umfragen, denen zufolge das Vertrauen in die Justiz einen Tiefpunkt erreicht hat. + +Inwiefern beeinträchtigen die Verhaftungen auch jene Journalisten, die noch auf freiem Fuß sind? +Ich würde nicht von Selbstzensur sprechen, aber viele Kollegen sind inzwischen sehr sorgfältig geworden. Manche Kolumnisten lassen ihre Texte auch vorher von einem Anwalt lesen. Andere sind emigriert – nicht wenige davon nach Deutschland. + +Was genau zählt als Präsidentenbeleidigung? +Das können viele Dinge sein: sich über ihn lustig machen, ihn einen Esel nennen. Jemand verglich ihn mal mit einer Figur aus "Herr der Ringe" – das reichte aus. + +Was ist das größere Bild hinter diesen Verhaftungen? +Seit dem Putschversuch findet ein Kampf gegen die türkische Zivilgesellschaft statt. Rund 1.200 NGOs wurden geschlossen, viele davon setzten sich für Frauenrechte ein. Es sind kaum mehr kritische Medien übrig in der Türkei. + + +Evin Barış Altıntaş ist Direktorin von P24, einer Vereinigung, die sich für Pressefreiheit in der Türkei einsetzt und inhaftierte Journalisten unterstützt + +Am 16. April findet in der Türkei ein Referendum über eine Verfassungsänderung statt. Wie sieht das Best-Case-Szenario aus? +Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag. Das kann auch eine neue Verfassung sein. Nur sollte sie nicht einem Mann noch mehr Macht geben. Unsere Gesellschaft ist tief gespalten. Nötig ist ein neues politisches Klima, in dem wir darüber sprechen können, welchen Weg dieses Land nehmen soll. +Wie kann das Ausland helfen? +Viele Möglichkeiten gibt es nicht. Ausländische Regierungen können weiterhin die diplomatischen Kanäle nutzen, um spezifische Probleme anzusprechen. Eine wichtige Rolle spielt noch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Dort stapeln sich die Fälle aus der Türkei hinsichtlich der Festnahmen und Maßnahmen des Ausnahmezustands. + +Titelbild: Tolga Sezgin/NarPhotos/laif diff --git a/fluter/verkaufsschlager.txt b/fluter/verkaufsschlager.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e322223f8262f4670ff6228f51d89c63470b011e --- /dev/null +++ b/fluter/verkaufsschlager.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Sexismus und Geschlechterklischees in der Werbung sind tatsächlich auch im 21. Jahrhundert noch weit verbreitet. Verglichen etwa mit einer Idee des Bürgermeisters von Triberg ist die Gestaltung der Müllermilch-Flaschen geradezu prüde. Der knapp 5.000 Einwohner große Ort im Schwarzwald warb in diesem Jahr mit der Zeichnung einer nackten Frau und dem Spruch "steile Berge, feuchte Täler" für seine touristischen Vorzüge. Aus dem Schambereich der Frau wuchsen auf dem Bild Nadelbäume. Die Werbung mit den steilen Bergen und den tiefen Tälern zierte eine Parkhauswand hinter extra ausgewiesenen Männerparkplätzen und rief derartige Proteststürme hervor, dass der Gemeinderat beschloss, die Wand wieder weiß übermalen zu lassen. +Der Internetblumenhandel Bloomy Days bewarb seine Sträuße zum Valentinstag mit dem Satz "Je schöner die Blumen, desto schöner das Dankeschön". Neben dem Slogan prangte eine aufspringende Blütenknospe. Außen grün, innen fleischrosa, ähnelte sie einer leicht geöffneten Vagina. Und für die, die es noch nicht verstanden hatten, wünschte Bloomy Days nicht etwa einen angenehmen, sondern einen "erfolgreichen" Valentinstag. Frauen bekommen Blumen, Männer dafür Sex: Für diese Meisterleistung des angewandten Mariobarthismus wählte die Organisation Terre des Femmes den Internetblumenhandel unter die Finalisten für den "Zornigen Kaktus" 2015. Mit dieser Auszeichnung würdigt – oder besser gesagt: entwürdigt – die Frauenrechtsorgani-sation einmal im Jahr besonders frauenfeindliche Werbung. +Auch wenn es nicht immer auf so plumpe Weise geschieht: Viele Branchen leben davon, einen Unterschied zwischen Männer- und Frauendingen zu machen. Autos etwa waren lange Zeit für Männer gebaut und beworben worden: Die Fahrzeuge in den Werbespots fuhren rasant um enge Bergkurven, am Steuer immer nur Männer. Dann entdeckten die Autohersteller die Frauen als neue Klientel. Der sogenannte Zweitwagen neben der dicken Familienkutsche wurde auf sie zugeschnitten: kleine, weniger PS-starke Fahrzeuge, oft in den Farben Pink oder Lila zu haben. +Dabei unterscheiden sich die Antworten nicht stark voneinander, wenn man Frauen und Männer nach ihren Lieblingsautos fragt. Doris Kortus-Schultes, Direktorin des Kompetenzzentrums Frau und Auto an der Hochschule Niederrhein, fordert deshalb, sich vom Bild des Frauenautos zu lösen: Frauen kaufen Autos tatsächlich nach anderen Gesichtspunkten als Männer, aber am Ende wählen beide eben oft die gleichen. Autowerbung, so Kortus-Schultes, sollte besser auf Frauen zugeschnitten werden: Vor allem Sparsamkeit, gutes Design und die praktische Nutzbarkeit gehören zu den Prioritäten weiblicher Autokäufer. +Der Auflösung traditioneller Geschlechterrollen folgen nun entsprechende Verkaufskonzepte: Das britische Kaufhaus Selfridges hob im Frühjahr 2015 in manchen Filialen die Grenze zwischen den Damen- und Herrenmodeabteilungen auf und präsentierte eigens angefertigte Unisex-Kleidung sowie geschlechtsneutrale Looks weiterer Labels. Diese "Agender-Kampagne" war nur ein sechs Wochen dauerndes Experiment, doch will man laut Aussage des Unternehmens prüfen, wie es weitergehen könnte. Manche Modedesigner bieten längst ähnliche Kollektionen an: Gucci zeigte vor Kurzem Schluppen-Shirts für Männer, & Other Stories, eine Marke der H&M Group, bewarb seine "Capsule"-Kollektion mit Transgender-Models. +Grundsätzlich aber verkaufen Kleiderläden mehr, wenn es Mode für Männer und für Frauen gibt. Studierende am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der TU Berlin untersuchten vor einigen Monaten mehr als 500 Sprüche auf T-Shirts für Jungen und Mädchen. Ergebnis: Zu den häufigsten Wörtern auf Mädchen-T-Shirts gehörten "sweet", "cute" und "lovely", bei den Jungen fanden sich vor allem Adjektive wie "cool", "strong" und "wild" als Aufdruck. "Princess" hier, "King" da – bei den Substantiven bestanden nicht nur geschlecht-liche, sondern auch hierarchische Unterschiede. Der Otto-Versand verkaufte vor zwei Jahren ein T-Shirt für Mädchen mit der Aufschrift "In Mathe bin ich Deko", selbstverständlich mit Herzchen neben "Deko". +Der amerikanische Psychologe Claude Steele fand mit Kollegen in den 1990er-Jahren heraus, wie wirksam solche Klischees sein können – und wie schädlich. Steele zeigte, dass der "Stereotype Threat" bei Mitgliedern stigmatisierter Gruppen in Testsituationen zu signifikanten Leistungseinbußen führen kann. Beispielsweise wurden Studentinnen Mathematiktests vorgelegt und ihnen gesagt, dass es in bisherigen Prüfungen große Unterschiede zwischen den Geschlechtern gegeben habe. Und siehe da: 
Die Frauen schnitten in der Matheprüfung schlechter ab als Männer. In einer Kontrollgruppe wurde nichts über Geschlechterunterschiede gesagt. Dort erreichten die weiblichen Probanden ebenso gute Ergebnisse wie die männlichen. Sie waren eben nicht deko. +Die Organisation Pinkstinks, 2008 in London gegründet, setzt sich mit Kampagnen nicht nur gegen diskriminierende Werbung ein. Sondern auch gegen – aus ihrer Sicht – überkommene Geschlechterrollen. Die Farbe Pink gilt ihr als Symbol für die Rolle der dauerlächelnden, dem Mann dienenden, süßen Frau. Pink als Farbe für Mädchen ist ohnehin eine ziemlich junge Erfindung. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war rosafarbene Kleidung für Jungen durchaus normal: Rosa galt als die weniger martialische Schwester von Rot. Und Rot stand für Aggression, also für Männlichkeit. +Dass Pink auch Kunden in den USA stinkt, musste die Warenhauskette Target erfahren. Eine Mutter aus Ohio hatte in deren Spielwarenabteilung ein rosa Schild mit der Aufschrift "Baukästen, Unterabteilung: Mädchenbaukästen" entdeckt und es auf Twitter gestellt. Ihr negativer Kommentar dazu wurde einige Tausend Mal retweeted. Die Kette reagierte prompt mit einem Versuch in einigen ihrer Läden: kein Rosa mehr, kein Blau, auch keine nach Geschlecht getrennten Abteilungen, wo es keinen Sinn mache. +Kleinen Mädchen einzureden, dass sie von Geschlechts wegen "sweet" und "lovely" zu sein haben und eigene Baukästen brauchen, ist schon ziemlich schlicht. Glücklicherweise erkennen erwachsene Frauen leichter, wenn man ihnen so dumm kommt. Der Burda-Verlag kam im Jahr 2000 auf die Idee, eine Art Lifestyle-Nachrichtenmagazin für Frauen auf den Markt zu bringen. "Vivian" wurde in einer Auflage von mehreren Hunderttausend Exemplaren gedruckt. Man wolle "für Frauen Politik anders aufbereiten", verkündete die Chefredakteurin, ehemals Leiterin eines Modemagazins, in einem Interview. Schließlich hätten Frauen "einen anderen Zugang". +Wer so etwas behauptet, gesteht immer auch ein: Das, was wir bisher verkaufen, ist eigentlich für Männer gemacht – oder zumindest nicht geschlechtsneutral. Den "anderen Zugang" zur Politik wollten letztlich zu wenig Frauen haben. Nach nur drei Monaten wurde das Frauennachrichtenmagazin eingestellt. diff --git a/fluter/verkehr-grossbaustellen-tote-arbeiter.txt b/fluter/verkehr-grossbaustellen-tote-arbeiter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..666a12ba2ff28e1ca5bf9fc24928645cb6ced3fe --- /dev/null +++ b/fluter/verkehr-grossbaustellen-tote-arbeiter.txt @@ -0,0 +1,28 @@ + +Bauzeit: seit 2014     ·     † 55–400 +Der Flughafen Istanbul ist der siebtgrößte der Welt. Beim Bau sind 55 Arbeiter tödlich verunfallt. Zumindest offiziell: Gewerkschaften und türkische Medien berichten von bislang mehr als 400 Toten. Die Ursachen: Arbeitszeiten von zwölf Stunden, Entzug von Mahlzeiten, defekte Bremsen an Fahrzeugen. Und das, ohne den lokalen Mindestlohn zu zahlen. Stattdessen sollen die Angehörigen üppige Schweigegelder bekommen haben. + +Bauzeit: 1921–1934     ·     † 60.000 (inoffiziell) +Die Kolonialherrscher verkauften die Kongo-Ozean-Bahn als ein Projekt, das den Menschen auf dem Gebiet der heutigen Republik Kongo helfen sollte: eine Eisenbahn für den Handel aus der Mitte des Kontinents bis zum Atlantik. Die Franzosen zwangen Zehntausende Kongolesen zur Arbeit. Nach inoffiziellen Schätzungen starben bis zu 60.000 an Hunger, Malaria und bei Unfällen. + +Bauzeit: 1869–1883     ·     † mindestens 21 +Der erste Mann, der "für" die Brooklyn Bridge starb, war ihr Konstrukteur: John Roebling infizierte sich bei einem Unfall beim Vermessen der Baustelle mit Tetanus. Mindestens 20 weitere Männer kamen ums Leben. Sie fielen von Brückenpfeilern in die Tiefe, wurden von Baumaterial zerquetscht oder erlagen nach Arbeiten am Grund des East River der Taucherkrankheit. Die meisten waren Immigranten aus Irland, Deutschland und Italien. + +im Bau     ·     † 26 +Knapp 100 Meter stürzten Bauarbeiter in die Tiefe, als sie 2023 an einer Eisenbahnbrücke im indischen Bundesstaat Mizoram bauten. Die Brücke brach (siehe Titelbild), 26 Männer starben. Die meisten kamen aus der Region Malda, die wesentlich ärmer ist als Mizoram. Das treibt viele als billige Bauarbeiter in andere Teile Indiens. + +Bauzeit: 1881–1889 und 1904–1914     ·     † mindestens 25.000 +Mancher Historiker vergleicht den Baudes Panamakanalsmit der Mondlandung: Als so unglaublich galt es, den Pazifik mit dem Atlantik zu verbinden. Die Franzosen waren kurz zuvor noch gescheitert: Ihnen fehlten ein Plan, die Technik, das Geld und schließlich auch die Arbeiter. Die USA und Kolumbien setzten den Bau fort, mit etlichen Gastarbeitern aus der Karibik, die für 10 Cent Stundenlohn arbeiteten. Im Schnitt kostete jeder Kilometer des Kanals 305 Leben, ein Großteil der Arbeiter starb an Malaria und Gelbfieber, das die Mücken aus den Sümpfen entlang der Baustelle übertrugen. + +Bauzeit: 1959–1978     ·     † mindestens 1.000 +Vielleicht ist der Karakorum Highway die schönste Fernstraße der Welt, auf jeden Fall die höchstgelegene: Über 1.284 Kilometer führt der "KKH" von China nach Pakistan, vorbei an den Gebirgen Pamir und Karakorum, dem Himalaja und Hindukusch. Während des Baus kam es zu Erdrutschen, Arbeiter starben auch bei Sprengungen oder stürzten in die Schluchten. Laut Schätzungen starben mehr als 1.000 Menschen. In Pakistan und China werden sie bis heute als "Märtyrer" verklärt. + +Bauzeit: 1859–1869     ·     † 1.000–120.000 (nicht gesichert) +Als Ägypten 1956 den Suezkanal verstaatlichte, um sich unabhängiger zu machen von westlichen Mächten, sprach Präsident Gamal Abdel Nasser von 120.000 Landsleuten, die auf der Baustelle gestorben seien. Laut dem Chefarzt der Baufirma waren es nur gut 1.000. Unabhängige Zahlen gibt es nicht. Auf jeden Fall war die Zahl der Arbeiter enorm: Bis zu 1,5 Millionen Ägypter hoben mitten in der Wüste einen 164 Kilometer langen und 8 Meter tiefen Kanal aus, begleitet von Hitze, Wassermangel und Krankheiten wie Cholera. + +Bauzeit: 1872–1882     ·     † 199 +11.000 Tunnelbauer brauchte es, um den Gotthardtunnel in die Schweizer Alpen zu hacken. Fast alle waren Gastarbeiter aus Italien. 199 kamen ums Leben, von Steinen erschlagen, von Dynamit zerrissen, von Lokomotiven zerquetscht. Unklar ist, wie viele schwer verletzt in ihre Dörfer im Piemont und der Lombardei zurückkehrten. Bis heute leiden viele Menschen, die schwer körperlich arbeiten, zum Beispiel im Straßen- oder Tiefbau, unter langfristigen und indirekten Gesundheitsfolgen wie Lärmschwerhörigkeit, Rückenproblemen, Haut- oder Lungenkrebs. + +Dieser Beitrag ist im fluter Nr. 92 "Verkehr" erschienen.Das ganze Heftfindet ihr hier. + +Titelbild: Biju Boro /AFP via Getty Images diff --git a/fluter/verkehrsutopien-science-fiction.txt b/fluter/verkehrsutopien-science-fiction.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..280f211af2449b18eae9bf6e0bc940fe36a4c53d --- /dev/null +++ b/fluter/verkehrsutopien-science-fiction.txt @@ -0,0 +1,21 @@ + +Fangen wir klein an: Sich selbst bewegende Fußwege und Straßen tauchen früh in Science-Fiction-Erzählungen auf. Schon 1899 fantasiert der britische Science-Fiction-Pionier H. G. Wells in seinem Roman "When the Sleeper Wakes" von einer fast 100 Meter breiten Straße mit Sitzen darauf, die sich so schnell fortbewegt wie ein Expresszug. Sogar kleine Kioske fahren mit. +Mit den Jahrzehnten lassen Autoren (Science-Fiction-Autorinnen waren lange selten) wie Robert A. Heinlein oder Isaac Asimov die automatischen Fahrsteige über Mond und Mars sausen. Im realen Paris war die Idee derweil schon ein Jahr nach Wells' Vision wahr geworden: Zur Weltausstellung 1900 transportierte eine "Straße der Zukunft" Besucher rund um das Ausstellungsgelände. + +Am gleichen Ort zur gleichen Zeit, 1895 in Paris. Der russische Erfinder Konstantin Eduardowitsch Ziolkowski grübelte schon länger über die physikalischen Herausforderungenbei der Erkundung des Weltalls, als ihm angesichts des Eiffelturms die Idee für einen Weltraumlift kommt: ein Fahrstuhl, der Mensch und Material über ein Zehntausende Kilometer langes Kabel hinauftransportiert. +Das Verbindungsseil würde von der Schwerkraft einerseits und der Zentrifugalkraft durch die Erddrehung andererseits in der Schwebe gehalten, dachte sich Ziolkowski. Bekannter wurde die Idee in den 1970er-Jahren, als sie Arthur C. Clarke in seinem preisgekrönten Roman "The Fountains of Paradise" (deutsch: "Fahrstuhl zu den Sternen") aufnahm. +Inzwischen arbeiten Forschende im International Space Elevator Consortium ernsthaft an solchen Lifts, und die Europäische Raumfahrtagentur ESA veranstaltete bereits einen Künstlerwettbewerb dazu. Schließlich würde ein Fahrstuhl zu einer Raumstation nur einen Bruchteil des Geldes und der Emissionen kosten, die für einen Raketenstart fällig werden. +Und ein Fahrstuhl könnte auch nach unten fahren. Ganz nach unten, so wie im Remake des Science-Fiction-Filmklassikers "Total Recall" von 2012. In dem saust ein 30-stöckiger Riesenfahrstuhl in nur wenigen Minuten aus Großbritannien quer durch die Erde nach Australien. + +Bei Reisen zwischen den Sternen sind gigantische Entfernungen zu überwinden. Hohe Geschwindigkeiten würden dabei helfen, nur ist Albert Einsteins Relativitätstheorie leider unnachgiebig: Weil der Raum eng mit der Zeit verwoben ist, kann kein Objekt schneller sein als das Licht. +Dieser Text istim fluter Nr. 92 "Verkehr"erschienen +Kein Wunder, dass die Science-Fiction allerhand Überlichtantriebe erfunden hat. Bei "Star Wars" gibt es einen Hyperantrieb, die Buchreihe "Per Anhalter durch die Galaxis" kennt einen unendlichen Unwahrscheinlichkeitsantrieb, in der Animationsserie "Futurama" düsen sie mit Dunkle-Materie-Antrieb herum. +Sie alle versetzen Raumschiffe in ominöse Parallelräume oder andere Zustände, in denen Einstein nichts zu melden hat. Der Warp-Antrieb aus "Star Trek" aber dreht den Spieß gleich ganz um: Er lässt das Schiff stillstehen und bewegt den Raum selbst, indem er die Materie vor dem Raumschiff komprimiert und die dahinter ausdehnt. +Die Gilde-Navigatoren der "Dune"-Reihe manövrieren Schiffe derweil in einem Wimpernschlag durch gefalteten Raum an jeden Punkt des Universums. Aber nur, weil sie raue Mengen der Droge Spice konsumieren. Nicht gerade ein Vorbild für die Wirklichkeit. Zumal solche Antriebe Unmengen negativer Energie bräuchten, die bisher nur theoretisch erzeugt wurde. + +Ebenfalls mit dem Raum-Zeit-Falten arbeiten Sternenportale. Die meisten funktionieren nach dem Prinzip der "Einstein-Rosen-Brücke", besser bekannt als Wurmloch. Die Physiker Albert Einstein und Nathan Rosen mutmaßten 1935, dass Orte mit extremer Anziehungskraft wie schwarze Löcher miteinander verbunden sein könnten. Eine Offenbarung für Science-Fiction-Autoren, die Menschen und Raumschiffe schnell durch das Universum bringen wollen. +Der Astrophysiker Carl Sagan schickte 1985 in seinem Roman "Contact" eine Kapsel mit einem Menschen durch ein mit Alien-Technologie errichtetes Portal. Mit "Stargate" basiert gleich ein ganzes Erzählungsuniversum auf einer solchen Verbindung durch außerirdische Technologie. Und im Film "Event Horizon" (1997) erzeugt das gleichnamige Raumschiff selbst ein künstliches Wurmloch – das unsere Realität unschönerweise mit einem Horroruniversum verbindet. + +Verglichen damit reist der mysteriöse Zeitreisende aus der britischen Endlosfernsehserie "Doctor Who" unglamourös: Sein Verkehrsmittel sieht aus wie eins der blauen Polizei-Notrufhäuschen, die früher zuhauf in Großbritannien herumstanden. Die Box ist nur Tarnung, das Häuschen ist eine Hightechmaschine, die durch Raum und Zeit reist. Und zwar schnell, sehr schnell, nach Expertenschätzung erreicht sie 10.000.000.000.000.000-fache Lichtgeschwindigkeit. Komfortabel ist sie trotzdem: Weil Innen und Außen der Kapsel in verschiedenen Dimensionen existieren, beherbergt sie unter anderem einen Wohnbereich, eine Bibliothek, ein Badezimmer mit Swimmingpool und eine Kunstgalerie. Klingt doch nach einem Verkehrsmittel der Zukunft. + +Titelbild: Peter Menzel/Agentur Focus diff --git a/fluter/verkehrunfalldienst-autounfall.txt b/fluter/verkehrunfalldienst-autounfall.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4633220bb52883d477bf95d9de9f78b33c9e97dc --- /dev/null +++ b/fluter/verkehrunfalldienst-autounfall.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Dienstantritt, 5:15 Uhr. An einem Freitag im Juli übergibt die Nacht- an die Frühschicht, die Kolleginnen und Kollegen verabschieden sich eilig ins Bett. Wehrhane öffnet alle Fenster in ihrem Büro, ein Lichtkegel fällt in den stockdunklen Korridor. Kühle Luft, das erste Morgenlicht, die Nacht war ruhig: Der VUD Hannover musste nicht in den Einsatz. +20Polizistinnen und Polizistenarbeiten hier, ein Einsatzwagen mit zwei Diensthabenden muss immer bereit sein. Während der Verkehrsstoßzeiten sind es auch mal drei Wagen: Mit der Zahl der Autos auf der Straße steigt die Zahl der Unfälle. In der internen Statistik des VUD erreicht die Unfallkurve zwischen 12 und 18 Uhr ihren Höhepunkt. Die Leute wollen von der Arbeit nach Hause, dazwischen an der Kita und am Supermarkt halten, alles möglichst schnell und müde vom Arbeitstag, das ist Nährboden für Unfälle. An einer Magnetwand im Flur hängen Zeitungsartikel, die den VUD erwähnen. "Mord mit 180 km/h", "Schaut Fahrer vor Karambolage Comics?", "Wie gefährlich ist die L310?" lauten die Überschriften. +"Die Arbeit gibt mir das Gefühl, gebraucht zu werden", sagt Mare Wehrhane. Für die Beteiligten ist jeder Unfall stressig und überfordernd – egal wie groß der Schaden ist. 2023 hat die Polizei in Deutschland rund 2,5 Millionen Verkehrsunfälle aufgenommen, 361.134 davon mit Personenschaden, darunter 2.839 Verkehrstote. Zwischen Alltag und dem Vorwurf der fahrlässigen Tötung kann im Straßenverkehr eine halbe Sekunde Unaufmerksamkeit liegen, ein fehlender Schulterblick oder eine Nachricht am Handy. +Um das zu untersuchen, rückt der VUD mit Distanzmesser, Zollstock, Kreide, 3D-Scanner und Kamera an. Auf Grundlage seiner kriminologischen Berichte treffen Gerichte ihre Urteile. In Zivilprozessen werden sie genutzt, um Schadensregulierungen festzulegen, also: Wer bezahlt wem welchen Schaden? Bei Strafprozessen helfen die Berichte, Schuldige zu finden und rechtmäßig zu verurteilen. Regelmäßig sagen VUD-Beamte als Zeugen vor Gericht aus. Oder überbringen Todesnachrichten an Angehörige: Sie können viele Fragen am besten beantworten und sollen verhindern, dass die Familien zuerst in der Presse oder auf Social Media vom Unfall erfahren. +Einmal war Wehrhane dabei, als jemandem die Nachricht vom Unfalltod eines Angehörigen überbracht wurde. In der Polizeiausbildung sei sie darauf nicht vorbereitet worden, sagt sie. Solche Gespräche bräuchten Übung. Wichtig sei es, einfühlsam zu sein und trotzdem professionell, alle Informationen parat haben, auf Fragen vorbereitet sein "und dann klar aussprechen, dass die Person tot ist, aber mit wenigen Details zum Zustand des Leichnams, um keine belastenden Bilder in den Köpfen zu erzeugen". +Um 8:15 Uhr kommt ein Einsatz rein, gemeldet von einem Streifenwagen: ein Auffahrunfall. Zwei Fahrzeuge, zwei leicht verletzte Personen. Als Wehrhane und ihre Kollegin Julia Schirrmeier vor Ort eintreffen, ist der Krankenwagen schon wieder weg: Eine Knie- und eine Kopfverletzung konnten direkt versorgt werden. Am Unfallort übernimmt Schirrmeier den subjektiven Befund, sie vernimmt die Unfallbeteiligten und Zeugen, und Wehrhane den objektiven Befund, für den alle Spuren auf der Straße, an Autos und im Umfeld aufgenommen werden. +"Ausgangslage ist meist der Endstand der Fahrzeuge", sagt Wehrhane. Zunächst stelle sie sich die Frage: Wie könnte der Unfall passiert sein? Wehrhane sucht nach Bremsspuren auf der Straße, Anschlagspuren an Leitplanken, Gebäuden, Mauern, Bäumen, Bordsteinen oder Straßenschildern, Wühlspuren im Gras, Kratzspuren an Autos oder Abrieb von schleudernden Reifen oder menschlicher Kleidung. Was sie findet, markiert sie mit der Sprühkreide, schreibt Distanzangaben daneben und fotografiert alles für die Akte. +Das erste Indiz sei meist eine Bremsspur, sagt Wehrhane. "Wenn die fehlt, kann es darauf hindeuten, dass der Fahrer oder die Fahrerin unaufmerksam war." Wehrhane hockt sich auf den Asphalt. Sie prüft äußere Umstände wie Glatteis, Regen, tief stehende Sonne oder Tierwechsel. Wehrhane setzt sich selbst in die Fahrzeuge, um zu sehen, welchen Blick die fahrende Person aus ihrer Sitz- und Spiegeleinstellung hatte. In neueren Fahrzeugen kann sie auch die sogenannten fahrdynamischen Daten auslesen, die ungewöhnliches Verhalten anzeigen wie starkes Bremsen, Beschleunigungen oder das Eingreifen des Autopiloten. +Heute haben die Polizistinnen Glück: Die Überwachungskamera eines nahen Gebäudes hat den Unfall aufgezeichnet. Auf den Aufnahmen ist zu sehen, wie ein Auto nach rechts ausschert. Der Fahrer wollte direkt auf die Gegenspur wenden. Der Fahrer des Fahrzeugs hinter ihm dachte, dass das Auto rechts am Straßenrand halten will, beschleunigte, um zu überholen, und beide prallten ineinander. +Anhand der Spuren auf Straße und Fahrzeugen hätte sie den Unfall ähnlich rekonstruiert, sagt Wehrhane. Die Details, wie dass der hintere Fahrer versuchte, auszuweichen, oder dass der vordere ohne Ankündigung wendete, hätte sie nicht feststellen können. Bei diesem Unfallhergang, sagt sie, hätten alle Glück, dass nur die Fahrzeuge stark demoliert sind. +Nachdem sie alle Beteiligten befragt hat, verschenkt Schirrmeier einen Stoffteddy an ein sechsjähriges Mädchen, das ohne Kindersitz in einem der Unfallwagen saß. Es wird ihn die restliche Zeit umklammern. Um 9:18 Uhr gibt der VUD das Zeichen zur Räumung des Unfallortes, der Abschleppdienst legt los. Für Schirrmeier beginnt die Schreibtischarbeit: Sie legt die digitale Akte an und verfasst den Unfallbericht. Der soll nicht urteilen, sondern den Hergang objektiv beschreiben. Die Polizistinnen versuchen, den Unfallverursacher festzustellen. Über Schuld und Strafe entscheidet später die Justiz. +Solche leichten Unfälle seien Routine, sagt Mare Wehrhane, zurück im Einsatzwagen. Wenn es über Funk heißt, dass Menschen lebensgefährlich verletzt oder gestorben sind, sei sie weniger ruhig. "Ich würde es als fokussierte Anspannung beschreiben, es kann aber Angst vor grausamen Bildern oder Sorge, etwas Wichtiges zu vergessen, dabei sein." +Vergangene Woche war sie bei einem Motorradfahrer. Seine Leiche war nach dem Unfall kaum noch als menschlicher Körper erkennbar. "In meinem engen Umfeld gibt es Menschen, die Motorrad fahren", sagt Wehrhane. "Das macht es noch schwerer." Um leistungsfähig zu bleiben, sei es wichtig, die eigenen Gefühle in der Situation wahrzunehmen. Wenn sie merkt, dass Angst aufsteigt, kommuniziert Wehrhane das ihren Kollegen. Manchmal redet sie mit sich selbst, um sich zu konzentrieren, geht im Kopf alle Arbeitsschritte durch, um nichts zu vergessen oder um die Stille am Unfallort zu überbrücken. "Neulich war ich allein mit einer Toten in einem Tunnel", erzählt sie. "Mit der habe ich laut geredet." +Bei ihrem ersten Unfall mit Todesfolge kollidierten ein Zug und ein Pkw mit drei Insassen: alle in ihrem Alter, Mitte 20, alle sofort tot. "Ich habe zwölf Stunden gearbeitet, ohne meine Emotionen wahrzunehmen, und zu Hause bin ich zusammengebrochen", sagt Wehrhane. +Den Umgang mit dem Tod lernt man nicht im Studium. Aber es hilft, im Team über das Erlebte zu sprechen. Eine Beratungsstelle bietet Gespräche für Beamte an, die tödliche Unfälle aufgenommen haben. Seit dem Unfall mit den drei jungen Opfern nimmt Wehrhane das in Anspruch, wenn die Unfallbilder oder die Gedanken an die Angehörigen bleiben. "Als Polizistin ist es normal, Tote zu sehen. Als Mare nicht. Dessen muss man sich bewusst werden. Man muss erst lernen, wie man die Bilder im Kopf ziehen lässt." +Moderne Gesellschaften habenein Ungeheuer geschaffen, das sich Straßenverkehr nennt. 2023 kamen im Schnitt jeden Tag acht Menschen auf deutschen Straßen ums Leben. Damit sind Verkehrsunfälle die dritthäufigste nichtnatürliche Todesursache, nach Stürzen und Suiziden. Die Arbeit für einen VUD mache einem bewusst, wie viele Situationen Unfallpotenzial haben, sagt Wehrhane. "Ich stehe oft vor einem Unfall und denke: So ist das passiert? Das hätte mir selbst gestern passieren können." Wehrhane schüttelt den Kopf. + +Dieser Text istim fluter Nr. 92 "Verkehr"erschienen +Laut Statistiken gibt es die meisten Verkehrsverletzten und -toten unter den Pkw-Insassen. Die stellten aber auch die Mehrzahl auf den Straßen und seien deshalb häufiger an Unfällen beteiligt, sagt Wehrhane. Für besonders gefährdet hält sie die Verkehrsteilnehmenden, die am wenigsten Schutz um sich haben, am schnellsten übersehen werden oder sich unvorhersehbar bewegen. Wie Fußgänger. Fahrradfahrer. Kinder. +Was den Verkehr sicherer machen könnte? Die Unfallforschung, sagt Wehrhane. Die arbeitet auch mit Daten des VUD und berät Städte und Kommunen, welche Kreuzungensie verkehrssicherer machen können. Und mehr Technologie. "Das Entertainment im Auto kann ablenken", sagt Wehrhane. Abstandshalter, Abbiege- oder Bremsassistenten würden die Straßen aber sicherer machen, gerade an Fahrzeugen mit großen toten Winkelnwie Lkw. +Auf dem Rückweg zur Dienststelle läuft im Einsatzwagen der städtische Verkehrsfunk. Die Moderatorin sagt: "Die Straßen sind frei. Fahren Sie vorsichtig!" diff --git a/fluter/verschenken-tauschen-konsum.txt b/fluter/verschenken-tauschen-konsum.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..eac9b285f0d1dd7eec294c70a2b325db24df00c1 --- /dev/null +++ b/fluter/verschenken-tauschen-konsum.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Seit dem ersten Lockdown wurden aus den Sofas und Matratzen Kisten voller aussortierter Dinge. Da viele Menschen wohl die Zeit zu Hause nutzten, um mal auszumisten, entstand in meinem Viertel in Berlin eine Art Umsonst-Nachbarschaftsflohmarkt. Hier mal ein Karton mit Spielen und Büchern, da mal einer voller Klamotten, dann wieder Geschirr. Anfangs war ich noch ein wenig befangen, wenn ich mich über die Kisten beugte. Was wohl die anderen von mir denken? Dass ich arm bin? Dass ich Armen die Sachen wegnehme? Dass ich die Kiste selbst auf die Straße gestellt habe? +Zuerst fand ich massig Babykleidung, darunter viele Cordhosen. Dann Kinderfahrradsitze und Babyschalen fürs Auto. Warum, fragte ich mich, landen die immer auf der Straße? Ein Blick auf eBay-Kleinanzeigen zeigte mir: Sie haben einen eher bescheidenen Wiederverkaufswert. Frische Eltern wollen so etwas wohl am liebsten neu für ihre Kleinen. +Andere meiner Nachbarn scheinen sehr nachhaltig zu denken und hoffen, dass ihr CD-ROM-Steuer- programm von 2001 noch einen neuen Besitzer finden wird. Vielleicht sind sie aber auch zu faul, die Datenträgerrichtig zu entsorgen, denn in die üblichen Tonnen gehören sie ja nicht. Das Gleiche gilt für die vielen Fitness- und Yoga-DVDs. Liebe Nachbarn, ihr habt YouTube nicht allein entdeckt! +Meistens sind die frisch rausgestellten Kisten am ergiebigsten, denn wenn man zu spät kommt, ist nur noch das drin, was wirklich niemand mehr braucht. Ein Kalender von 2019 oder Spielzeugautos ohne Räder. Wenn man früh genug kommt, finden sich brandneue DVDs und Blu-Rays, teilweise noch in Folie. Vielleicht schaue ich statt Netflix bald mal den ersten Film, den ich finde. +Offiziell ist es gar nicht erlaubt, seine Sachen einfach auf die Straße zu stellen. Daher bringen viele ihre Kisten im Dunkeln raus. Zumindest sehe ich spätabends beim Joggen einige, die morgens noch nicht da waren. Einmal fand ich in einer den ersten Roman von Charlotte Worgitzky, einer feministischen Schriftstellerin der DDR. Statt weiterzulaufen, fing ich an zu lesen. Ich stoppte die Jogging-App, las Worgitzkys Wiki-Eintrag und joggte schließlich zu dem Friedhof, auf dem sie begraben liegt. +Mittlerweile scheint das Deponieren von Sachen, die man nicht mehr braucht, eine eigene Kulturtechnik geworden zu sein. Wer nur wenig verschenken will – zum Beispiel einen Nagellack oder eine einzelne Brotdose –, stellt es auf die Fensterbank oder legt es vor die Tür. Ein "Zu verschenken"-Schild ist gar nicht mehr nötig. Wer mehr hat, macht einen Karton zurecht, beschriftet ihn ("Leute, ihr müsst mehr lesen!") oder bringt die Sachen zu einer der immer mehr werdenden Tauschstellen. +Es gibt zum Beispiel alte Telefonzellen, die zu kleinen Bücherläden geworden sind, wo man sich mit Lesestoff eindecken oder ihn loswerden kann. Oft sind es auch ausgehöhlte Bäume, die als öffentliches Regal dienen. Man kann sicher sein, dass sich dort immer wieder was Neues findet. Also was neues Altes. +Ich finde, wenn man sich wie ich so einiges auf der Straße nimmt, sollte man auch was zurückgeben. In meiner letzten Kiste waren Musik-CDs, ein Wecker, Bilderrahmen und einige Teller. Ich stellte sie in der Dämmerung auf die Straße, dann ging ich wie gewohnt joggen. Als ich nach einer Dreiviertelstunde wiederkam, war fast alles weg. diff --git a/fluter/verschw%C3%B6rungsmythen-in-der-familie.txt b/fluter/verschw%C3%B6rungsmythen-in-der-familie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a026d09c2f607061457db9ee5bc778d742f2b42f --- /dev/null +++ b/fluter/verschw%C3%B6rungsmythen-in-der-familie.txt @@ -0,0 +1,39 @@ +Mein Vater glaubt, dass wir Spike-Proteine ausatmen. Die sind in seinen Augen Gift. Und dieses Gift kann auch ihn töten. Je öfter oder je frischer man geimpft ist, desto mehr Spike-Proteine sondert man angeblich ab. Am Anfang wurde er wütend und auch mal laut, weil wir ihn angeblich in Gefahr bringen. Mittlerweile ist er nur noch verzweifelt. Ich meine: Ich verstehe, dass jemand sauer ist, wenn er denkt, dass seine Familie ihn wissentlich in Gefahr bringt. Aber es stimmt ja einfach nicht. +Weiterlesen +Sonja Marzock berät Menschen, die Familie oder Freunde an andere Realitäten verlieren."Eine Beratung dauert 60 bis 90 Minuten", erzählt Marzock, die jeden Tag neue Beratungsanfragen bekommt +Weihnachten war der Super-GAU. Er hat uns alle zum Gespräch gebeten. Berichte von den einschlägigen Ärzten vorgelesen. Pläne ausgegeben, wie man Ivermectin einnehmen muss. Das wird in der Corona-Leugnerszene als Medikament gegen Corona gehandelt. Am Anfang haben wir uns noch die Mühe gemacht, all seine Infos nachzurecherchieren, und versucht, ihm zu zeigen, wem er da folgt. Aber das hat nichts genützt. Man kommt nicht zu ihm durch. Mein Vater war schon immer leichtgläubig, aber mittlerweile liest er nur noch die "Bild" und Telegram, und zwar viele, viele Stunden am Tag. Er guckt abends nicht mehr "Tagesschau", sondern in sein Handy. An Weihnachten haben wir schließlich gemerkt: Er versucht aus tiefster Verzweiflung noch ein letztes Mal, uns zur Vernunft zu bringen. Er ist überzeugt, dass er als Einziger überleben und an unseren Gräbern stehen wird. Er leidet extrem darunter. Das hat mich mit am härtesten getroffen. Die Verzweiflung, die mein Vater empfindet, ist real. Deswegen halten wir jetzt alle weiteren Impfungen geheim. +Ärzte oder Impfzentren haben kein Gespür dafür, was es bedeutet, mit einem Impfgegner zu leben. Ich habe lange versucht herauszufinden, ob wir meine Mutter boostern lassen können, ohne dass Post nach Hause kommt. Alle haben gesagt: Es wird schon nichts kommen. Aber das ist so einfach gesagt. +Wir Kinder leben alle nicht mehr zu Hause. Meine Eltern sind seit über 40 Jahren verheiratet. Bis vor kurzem sehr glücklich. Ich weiß nicht, wie meine Mutter das zu Hause aushält. Es gibt kein anderes Thema mehr für ihn. +Schlimm ist für mich, wenn andere sagen, dass Nichtgeimpfte nicht gegen Covid behandelt werden sollten. Ich meine, das ist doch mein Vater. Auch wenn er falsche Entscheidungen trifft, die auf falschen Informationen basieren, möchte ich, dass er behandelt wird. Es geht ja nicht nur um ihn, sondern auch um die Angehörigen, die er zurücklässt. + +– Kerstin, 34, Lehrerin aus Hamburg* +Bei meinem Bruder begann es mit den zweifelhaften Links, die er teilte. Die Pandemie hatte gerade begonnen, und die meisten waren supervorsichtig und ängstlich.Mein Bruder sagte: "Das ist nur eine Grippe. Was wollen die Leute?" +Irgendwann kam ein Argument dazu, das mich sehr belastet. Ob man krank ist oder gesund, sagt mein Bruder, sei eine Frage der inneren Haltung. Er teilt die Welt in zwei Gruppen: die Starken, die sich wie er gut genug um ihre Seele kümmerten und deswegen gar nicht krank werden könnten. Und die Schwachen, die krank werden würden. Das war der Punkt, an dem wir im Gespräch nicht weitergekommen sind. Wie er damit umgehen würde, wenn ich morgen eine Krebsdiagnose bekäme, habe ich ihn gefragt. Ob ich dann auch selbst schuld wäre? Seine Antwort: Irgendwie ja. Das hat mich verletzt. +Verrückt ist auch: Mein Bruder ist Ingenieur, er hat Fahrzeugbau studiert. Eigentlich müsste er in der Lage sein,eine solide Quelle von einer nicht soliden zu unterscheiden. Stattdessen teilt er teils obskure YouTube-Videos. Dabei gibt es durchaus Argumente, die wir teilen. Auch ich kritisiere den Stress, den unsere kapitalistische Arbeitswelt erzeugt, oder die Ungleichheit unserer Gesellschaft. Aber die Schlüsse, die wir daraus ziehen, sind komplett gegensätzlich. + + +Ich kann mir das nur so erklären: In unserer Familie gibt es eine Historie von Zwangssymptomatiken. Zwänge können stärker werden, wenn man sich in einem Zustand der Ungewissheit wiederfindet. Meine Hypothese ist, dass die Verschwörungen seine Bewältigungsstrategie sind. Nach dem Motto: Mir kann nichts passieren, ich kann meine Gedanken steuern. +Im Oktober ist mein Bruder mit seiner Frau in die Schweiz gezogen,um dem "Impfzwang" in Deutschland zu entfliehen. Wir sprechen kaum noch. Ich kann ihn bei dem Thema nicht mehr erreichen, und ich finde es beängstigend, Menschen unter uns zu wissen, die der Wissenschaft und der Demokratie nicht mehr vertrauen. +– Jan, 32, studiert Politikwissenschaft in Osnabrück* +Wir sind seit 15 Jahren befreundet. Wir spielen zusammen in einer Band. Er hat schon früher Dinge gesagt, an die ich nicht glaube. Dass die Pyramiden nicht von Menschen erbaut worden seien, sondern von Aliens. Fand ich schräg, aber eher unterhaltsam. Wie ein Witz auf einer Party. Wie stark sich unsere Weltbilder unterscheiden, wurde erst mit Anfang der Pandemie deutlich. Plötzlich stößt man gegen eine Wand.Die Gespräche mit meinem Kumpel sind heute sehr aufreibend. +Als Politikwissenschaftler bin ich bemüht, immer auch die andere Seite zu hören. Also habe ich mich auf seine Thesen eingelassen, versucht zu verstehen, woher er seine Infos hat, und mir viele Videos angeguckt. Erst dabei habe ich verstanden, wie tief er seit Jahren in diesem Verschwörungsuniversum unterwegs ist. Jetzt stehen wir uns in dieser krassen Opposition gegenüber. Er ist nicht geimpft. Aus Kritik an der Pharmaindustrie und zum anderen, weil er wohl denkt, die Impfung sei unnötig. +Ich verstehe jetzt besser, wie Verschwörungsmythen funktionieren. Viele bauen auf einem realen Ereignis auf, an dem es zum Teil berechtigte Kritik gibt. Das ist also nicht komplett unlogisch. Aber die Schlüsse, die man dann daraus zieht, sind vollkommen andere. Diese Irrtümer aufzuarbeiten ist wahnsinnig zeitaufwendig und anstrengend. Ich sehe das aber als meine gesellschaftliche Aufgabe. Zum einen, weil er mein Freund ist. Zum anderen, weil ich es immer kritisch sehe, wenn man das politische Gegenüber nicht ernst nimmt oder entmenschlicht. Ich gucke mir also die verschiedenen Kanäle an und bin in verschiedenen Telegram-Gruppen, um die Szene zu beobachten. Ich muss das gut dosieren, sonst saugt es mich aus. +Ich merke, dass es meinem Freund nicht gut geht. Mit seiner Meinung im Freundeskreis allein dazustehen ist nicht einfach. Neulich habe ich ihm klar gesagt, dass die Szene für mich sektenähnliche Züge hat. Daraufhin hat er sich wohl Videos noch mal angesehen und meinte, dass ich nicht ganz unrecht habe. Ich merke also schon, dass ich ihn noch erreiche, dass sein Glaube vielleicht doch ab und an bröckelt. Das liegt aber auch daran, dass ich die Infos, die er mir gibt, grundsätzlich erst mal ernst nehme, um sie dann zu analysieren. + +– Marlen, 23, studiert Psychologie in Leipzig +Bei meiner Mutter hat es damit angefangen, dass ihre Kollegin im Friseursalon Corona geleugnet hat. Die hatte von Anfang an gefälschte Testnachweise. In der Stadt, in der meine Eltern leben, gibt es Mediziner, die ohne Weiteres Zertifikate fälschen. Meine Mutter hat das hingenommen. Sie hat nur diese eine Mitarbeiterin. Und ihre Kundinnen kommen regelmäßig mit gefälschten Testzertifikaten. Hätte meine Mutter die Covid-Regelungen im Salon umgesetzt, der Laden hätte wohl längst schließen müssen. +Zu Beginn der Pandemie habe ich wirklich schlimme Diskussionen mit ihr geführt. Gebracht hat das nichts. Meine Mutter interessiert sich nicht für Fakten, und ich bin die abgehobene Akademikerin. Es ist nicht mal so, dass sie besonders ausgefeilten Verschwörungsmythen anhängt. Sie glaubt einfach nicht an Corona. Sie hat sich sogar mit Covid infiziert und war zwei Wochen krank zu Hause, hat aber weiterhin behauptet, dass sie es nicht habe. +Ihre Weigerung, sich impfen zu lassen, ging so lange, bis wir gemeinsam in Österreich waren. Dass sie keine Impfung nachweisen konnte, war ihr so peinlich, dass sie sich hat impfen lassen. Aber auch nur, weil ich die Termine gemacht habe. Sie ist ja in Opposition zum Staat. +Mein Vater hat sogar Long Covid. Er ist mittlerweile auch geimpft, glaubt aber trotzdem nicht an das Virus oder dass eine Impfung dagegen hilft. Er sagt, er hatte eine schwere Grippe. +Weder meine Mutter noch mein Vater erzählen von ihrer Impfung. Sie wären sonst bei vielen unten durch. Ich glaube, das hat auch mit der DDR-Vergangenheit zu tun. Meine Familie denkt, sie müsse sich gegen den Staat auflehnen. Wenn alles andersherum wäre und es keine Impfstoffe gäbe, würden sie deshalb durchdrehen. +–Vincent, 40, Drehbuchautor aus Hamburg +Mein Vater hat schon 2001 an Verschwörungsmythen zum 11. September geglaubt. Seit meine Eltern in Rente sind, wird ihr Verschwörungsglaube immer schlimmer. +Ich fürchte, losgetreten habe ich das Thema. Während meines Soziologiestudiums war ich viel zu Hause, habe meinem Vater immer wieder aus dem Studium erzählt. So hat er erst angefangen, Dinge zu hinterfragen, glaube ich. Mein Bruder und ich waren es auch, die ihn überzeugt haben, dass er Internet braucht, wenn er erst mal Rentner ist. So fing er an, sich Themen "selbst zu erarbeiten". Er hat immer mehr Zeit auf YouTube verbracht. Der klassische Weg.Ich habe ihm erklärt, dass er nicht alles glauben soll und dass er Quellen unterscheiden lernen muss.Meine Versuche haben nichts gebracht. + + +Sicher sind die auch mit seinem Stolz kollidiert:Ich bin der Erste in der Familie, der studiert hat.Mein Vater wollte nicht bevormundet werden. So als würde ich ihm Intelligenz absprechen. Ab da kam ich gar nicht mehr an ihn ran. +Als Corona kam, war mir klar, dass er alles mitnimmt. Er ist der festen Überzeugung, man könne keinen offiziellen Informationen trauen. Alle, die irgendwie Entscheidungsgewalt haben, würden lügen. Er bezeichnet sich selbst als Querdenker. Er wollte unbedingt zu Telegram, um dort entsprechenden Gruppen beizutreten und mitzuorganisieren. An dem Punkt habe ich meinen Eltern gesagt, dass ich nicht mehr nach Hause komme. Im Sommer 2020 habe ich sie das letzte Mal besucht. +Meine Mutter sitzt zwischen den Stühlen. Auf der einen Seite ist sie komplett von meinem Vater beeinflusst. Sie will nicht mit ihm streiten und ist schlecht informiert, weil er sagt: Wir gucken keine Nachrichten mehr. Auf der anderen Seite hat sie unglaubliche Angst vor Corona. Sie hofft sogar, dass die Impfpflicht kommt. Dann muss sie sich nicht selbst entscheiden. + +* Name auf Wunsch geändert + diff --git a/fluter/verschwende-deine-jugend-lieber-nicht.txt b/fluter/verschwende-deine-jugend-lieber-nicht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c98d7d7073107e104f8985682f1439c5e99bbf99 --- /dev/null +++ b/fluter/verschwende-deine-jugend-lieber-nicht.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Die aktuellen Zahlen sind erschreckend. Deutschland ist mit seiner Arbeitslosenrate von acht Prozent bei den 15- bis 24-Jährigen noch der Himmel, in Griechenland sind es über 57 Prozent. In vielen westlichen Industrieländern ist es derzeit ebenso schwierig, einen Job zu finden, wie in Schwarzafrika. Und damit reden wir nur über die Arbeitslosen: Man könnte noch all die jungen Menschen dazuzählen, die trotz bester Abschlüsse Praktikum um Praktikum absolvieren, ohne Geld dafür zu bekommen, oder für ein paar Euro in Cafés die Tische abwischen und Bier zapfen. +Diese europäische Generation steckt fest zwischen Kindheit und Erwachsensein. Kaum jemand schafft es nach Schule und Uni, die nächsten Schritte zu tun: einen Job zu finden, der seinen Qualifikationen entspricht, eine Familie zu gründen, eine Wohnung zu kaufen. Kein Wunder, dass die Weltgesundheitsorganisation WHO von einem dramatischen Anstieg psychischer Krankheiten in dieser Altersgruppe berichtet: Zehn bis 20 Prozent würden an Depressionen, Angstzuständen, Essstörungen oder autoaggressivem Verhalten leiden. +Am Anfang der Krise richtete sich die Aggression noch gegen die Politiker und Manager, die für die Fehlentwicklung verantwortlich gemacht wurden. Man engagierte sich bei Attac, unterstützte die Occupy-Wall-Street-Initiative und besetzte öffentliche Plätze. Heute sind die Straßen wieder leer. Viele Demonstranten haben resigniert. Vielleicht sitzen sie zu Hause vor dem Computer und pflegen ihre Facebook-Seiten. Heute ist es einfach, sich von der Not abzulenken, sich virtuell zu betäuben. +Auf lange Sicht sind die Perspektiven für diese verlorene Generation düster: Mal abgesehen von ein paar Wagemutigen, die Start-ups gründen oder auf andere Ideen kommen, werden es die meisten schwer haben, ein erfülltes Leben zu leben. Normalerweise ist das Beste, was man nach dem Studium machen kann, zu tun, was man will und worauf man Lust hat. Doch heutzutage gibt es etliche Absolventen, die nach der Universität einen Haufen Schulden haben. Dazu hat auch die Bologna-Reform beigetragen. Die verkürzten Studien sind teilweise so verschult, dass kaum Zeit für einen Studentenjob bleibt. Deshalb müssen viele nach dem Studium alle möglichen Jobs machen, um ihre Schulden abzubezahlen. Jobs, die meist wenig mit ihrer Qualifikation zu tun haben und die sie auch nicht weiterbringen. Wer aber mit Ende 20 nur Aushilfsarbeit in seiner Vita vorzuweisen hat, wird es noch schwerer haben, seinen Traumjob zu finden. Jüngere, die ihren Abschluss während der wirtschaftlichen Erholung machen können, ziehen vorbei. Studien belegen, dass Menschen, die in Rezessionen auf den Arbeitsmarkt kommen, über Jahrzehnte eine Hypothek mit sich herumschleppen. Lisa Kahn von der Yale School of Management bewies mit einer Untersuchung der Lebensläufe von Studenten, die während der Wirtschaftskrise Anfang der 80er Jahre ihren Abschluss machten, dass sie noch 15 Jahre später weniger Einkommen und weniger attraktive Jobs hatten als eine Vergleichsgruppe von Studenten, die ihre Karriere in guten Jahren starteten. Ich habe dieselbe Beobachtung bei meinen Altersgenossen gemacht, die mit mir 1992 die Uni verließen. Sie alle haben Arbeit, aber niemand von ihnen seinen Traumjob. +Die Krise wird eines Tages enden. Aber dann wird es für viele zu spät sein. +Simon Kuper ist unter anderem Autor für "The Guardian" und die "Financial Times" in London diff --git a/fluter/verschwoerungstheorien-impfgegner-corona.txt b/fluter/verschwoerungstheorien-impfgegner-corona.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f64552d9100dbe2afcfb471f2672315a948746e1 --- /dev/null +++ b/fluter/verschwoerungstheorien-impfgegner-corona.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Andere Impfgegner machen sich vor allem Sorgen, dass der Staat sie mit einer Corona-Impfpflicht zu dem kleinen Piks und seinen möglichen Nebenwirkungen zwingt – und somit in ihre körperliche Unversehrtheit und ihr Selbstbestimmungsrecht eingreift. Die Bundesregierung hat mehrfach versichert, dass es keine Impfpflicht geben wird, davon scheinen aber nicht alle überzeugt zu sein. In der Debatte um die Corona-Impfung vermischen sich Verschwörungsideologien, die einzelnen Menschen oder Gruppen fernab jeder Beweisbarkeit böswillige Geheimpläne zuschreiben, mit der Skepsis von Impfgegnern, die in Deutschland schon vor Corona in die Öffentlichkeit drängten. +Der Mediziner Steffen Rabe setzt sich mit seinem Verein "Ärzte für individuelle Impfentscheidung" lautstark gegen jede Impfpflicht ein. Er selbst sieht sich nicht als Impfgegner, sondern als Impfkritiker. Laut einerStudieder Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) sieht etwa ein Fünftel der Deutschen Impfen teilweise kritisch. Für Rabe ganz schlüssige Zahlen: "Es gibt Impfstoffe, die Sinn machen, andere machen keinen." +Bei guten Impfstoffen, wie etwa bei Masern, folgten die Menschen der Empfehlung einer Impfung fast zu 100 Prozent. Keuchhusten- oder Influenzaimpfungen zum Beispiel seien aber problematischer – weil die Wirkung infrage stehe und mögliche Nebenwirkungen teils kritisch beurteilt werden. Diese Impfungen machten nur die Pharmakonzerne reicher. Aber was spricht gegen einen Sars-CoV-2-Impfstoff? +"Nichts", findet Rabe,wenn er sorgfältig zugelassen, kurz- und langfristig gut verträglich und wirksam sei. "Von so einem Impfstoff sind wir aber Lichtjahre entfernt." Er findet es fahrlässig, einen Impfstoff im Schnellverfahren durchzuwinken. Dazu gibt es jedoch durchaus verschiedene Positionen. Das Bundesgesundheitsministerium prüft etwa gerade, ob ein Genehmigungsverfahren verkürzt werden könnte, ohne dass dies auf Kosten der Sicherheit geht. +Laut Artikel 2 des deutschen Grundgesetzes hat jeder das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Eine generelle Impfpflicht stünde damit in Konflikt, wenn eine Person eine Impfung als Gefahr für ihren Körper verstehen würde. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit kann aber gegenüber dem Wohl der Gesamtheit hintenanstehen – wie das Bundesverwaltungsgericht schon 1959 für die Pockenimpfung urteilte. Die heutige Rechtsgrundlage für eine Impfpflicht ist das Infektionsschutzgesetz aus dem Jahre 2000. Seit März 2020 gilt etwa eine generelle Impfpflicht gegen Masern in ganz Deutschland. Die Bundesregierung möchte aber, Stand heute, keine Impfpflicht zum Schutz vor Covid-19 einführen. +Die Ständige Impfkommission (STIKO), eine Expertengruppe, die beim Robert Koch-Institut, einem Bundesinstitut, angesiedelt ist, geht immer gleich vor, bevor sie einen Impfstoff empfiehlt: Zuerst wird der Bedarf festgestellt und die Relevanz auf einer Skala von 1 bis 9 bewertet. Dann müssen Studien umgesetzt und systematisch ausgewertet werden. Schließlich wird die "Qualität der Evidenz" ausgewertet. Sprich: Es werden Risiken, Effekte, die Dosiswirkung und die Vielfältigkeit der Studien abermals bewertet von hoch, moderat, niedrig bis sehr niedrig. Am Ende sorgt eine Risiko-Nutzen-Abwägung für die Entscheidung, ob ein Impfstoff empfohlen wird oder nicht. +Frank Ulrich Montgomery, der Ehrenvorsitzende der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, fordert eine Corona-Impfpflicht. Politiker verschiedener Parteien stimmen zu, die Bundesregierung nicht. Dass die Diskussion um eine verpflichtende Impfung Futter für Verschwörungstheorien ist, überrascht Cornelia Betsch, Professorin für Gesundheitskommunikation an der Uni Erfurt, nicht. +In Studien hätten sie und ihre Kollegen festgestellt, dass viele der Teilnehmer einerseits glaubten, das neuartige Coronaviruskomme als menschengemachte Biowaffe aus einem Labor,und gleichzeitig, dass das Virus eine Erfindung der Mächtigen sei. Zahlreiche Studien hätten belegt, dass Impfgegner anfälliger für Verschwörungstheorien sind. Bei den beiden Gruppen paart sich eine Wissenschaftsfeindlichkeit mit demGefühl, von Menschen mit mehr Macht bevormundet zu werden. + +Kein Bock auf Bevormundung: Protestierende beziehen sich oft und gern auf das Grundgesetz, das ihre individuellen Freiheiten gegen die Corona-Maßnahmen schützt + + +Die Einschätzung des Robert Koch-Instituts zum Impfen ist indes eindeutig: Die dort angesiedelte Ständige Impfkommission (STIKO) spricht Empfehlungen aus, welche Impfungen wann und in welchem Alter nötig sind. Das Ziel ist, dass möglichst viele Menschen immun gegen Krankheiten wie Masern, Pocken oder Hepatitis werden. Je mehr Menschen geimpft sind, desto schneller könnten die Krankheiten regional und schließlich weltweit ausgerottet werden. Bei der Kinderlähmung ist das in Europa und Nordamerika bereits gelungen. +Gesundheitspolitiker quer durch alle Parteien weisen die Argumente der Impfgegner demonstrativ zurück. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) listet Zurückhaltung beim Impfen unter den zehn wichtigsten Faktoren, die die globale Gesundheit gefährden. + diff --git a/fluter/verschwoerungstheorien-in-deutschland.txt b/fluter/verschwoerungstheorien-in-deutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fea24b55d0ceabd279308bcff8c9b53824ca912f --- /dev/null +++ b/fluter/verschwoerungstheorien-in-deutschland.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +An welchen anderen Merkmalen kann man Verschwörungstheorien erkennen? +Drei Elemente finden sich meistens. Erstens: Alles wurde geplant, nichts geschieht durch Zufall. Zweitens: Nichts ist so, wie es scheint – man müsse angeblich hinter die Kulissen blicken. Und wenn man das macht, stellt man fest, dass drittens sehr viel miteinander verbunden ist. +Dann sieht man in der Raute, die Beyoncé beim Super Bowl 2013 mit ihren Händen geformt hat und die ja Angela Merkels Markenzeichen ist, eine Pyramide: das angebliche Erkennungszeichen der Illuminaten. +Ja, das sind skurrile und durchaus unterhaltsame Fälle. Verschwörungstheorien ziehen tatsächlich Verbindungen zwischen Ereignissen, die nichts miteinander zu tun haben. Wenn Sie etwa an die Theorie des großen Austausches glauben, also davon überzeugt sind, dass Deutschland und Europa islamisiert werden sollen, dann sehen Sie die Einführung des Euro, das Schengener Abkommen, die Emanzipation der Frau, den Irakkrieg, die Syrienkrise und den Flüchtlingsstrom aus Nordafrika als Bausteine dieser großen Verschwörung. +Jeder elfte Befragte glaubte einer Umfrage der Uni Mainz aus dem Jahr 2016 zufolge daran, dass die angeblich"unkontrollierte Flüchtlingszuwanderung eine Strategie ist, das deutsche Volk abzuschaffen". Welche Verschwörungstheorie ist denn im Moment am prominentesten oder gefährlichsten? +Ich denke, es ist diese Theorie vom großen Austausch. Wer die Strippenzieher sind, wird unterschiedlich beantwortet: mal ein Komplott internationaler Finanzeliten, mal die NATO oder die US-Regierung. An erster Stelle steht bei dieser Theorie, dass die Flüchtlingsbewegung bewusst inszeniert wurde, um die Leute nach Europa zu bringen. Andere Maßnahmen seien schon vor langer Zeit getroffen worden: etwa die Abschaffung der Grenzen innerhalb Europas durch das Schengener Abkommen. Was diese Verschwörungstheorie so gefährlich macht, ist ihre Verbindung mit den populistischen Bewegungen. +Warum passen die so gut zusammen? +Beide behaupten, dass eine Elite sich gegen das Volk verschworen habe und seine wahren Interessen nicht vertrete. Sie reduzieren das politische Feld auf nur wenige Beteiligte: Für den Populismus sind das "die Elite" und "das Volk"; für Verschwörungstheorien "die Verschwörer" und "die Opfer der Verschwörung". Die Angehörigen "der Elite" sind für Verschwörungstheoretiker nicht individuell korrupt, sondern sie sind Teil eines großen Komplotts. Sie dienen eigentlich anderen Mächten und handeln deshalb gegen die Interessen des Volkes. In populistischen Bewegungen können Verschwörungstheoretiker und Nichtverschwörungstheoretiker wunderbar in einen Dialog treten. Beide können auf der Straße dieselben Slogans gegen Merkel rufen, obwohl sie ihr ganz unterschiedliche Dinge vorwerfen. +Kann man sagen, wer besonders anfällig für Verschwörungstheorien ist? +Michael Butter lehrt Amerikanische Literatur- und Kulturgeschichte an der Universität Tübingen +In allen Bevölkerungsschichten, Einkommensklassen, bei Männern und Frauen finden sich Anhänger. Aber es gibt Tendenzen: Der Teil der Bevölkerung, der auch die großen populistischen Bewegungen der Gegenwart trägt, ist auch besonders empfänglich für Verschwörungstheorien. Weiße Männer über 40, könnte man zugespitzt sagen. Diese Gruppe glaubt tendenziell am ehesten, unter den strukturellen Transformationen der letzten Jahrzehnte am stärksten zu leiden. Sie fühlt sich eher marginalisiert und findet, dass ihr Land sich in einer Art verändert, die ihr nicht geheuer ist. Verschwörungstheorien erklären dieser Gruppe das alles und geben ihr eine Möglichkeit, dieser Situation Herr zu werden und sie umzukehren. +Sie sagen, dass Verschwörungstheorien früher Teil des ganz normalen Wissens waren, das auch von "Eliten" verbreitet wurde. Erst in den letzten 70 Jahren habe sich das geändert. +Denken Sie an die NS-Zeit! Die Vorstellung von der jüdischen Weltverschwörung war offizielle Staatsideologie und hat mit zum Holocaust beigetragen. In den USA herrschte noch in den 1950er-Jahren ein breiter Konsens darüber, dass es eine groß angelegte kommunistische Unterwanderung der USA gebe. Dass kommunistische Verschwörer, gelenkt aus Moskau, dabei wären, die Schulen, Ministerien und Unis zu unterwandern und die amerikanischen Familien zu zerstören. Das dachten Linke und Rechte gleichermaßen. In der Zeit war es absolut normal, daran zu glauben. +Verschwörungstheoretiker leben also gedanklich in einem anderen Jahrhundert? +Verschwörungstheoretisches Wissen wurde seit circa 1950 aus der öffentlichen Debatte ausgeschlossen und in kleine Subkulturen verdrängt. Heute ist die Öffentlichkeit aber fragmentierter, was viel mit dem Internet zu tun hat. In bestimmten Teilöffentlichkeiten werden Verschwörungstheorien wieder zu normalem Wissen erhoben. Wenn du dich in einer bestimmten Filterblase bewegst, kannst du eine komplett andere Weltsicht bekommen. Dann wirst du vielleicht nur noch mit dem traditionellen Welt- und Geschichtsbild der Verschwörungstheoretiker konfrontiert. +Wieso sind Verschwörungstheorien jetzt wieder verbreiteter? +Sie gehen davon aus, dass Menschen in der Lage sind, ihre Intentionen eins zu eins in die Tat umzusetzen. Und das auch noch über einen langen Zeitraum. Das widerspricht den Erkenntnissen der Sozialwissenschaft der letzten Jahrzehnte komplett. Die Gesellschaft ist so komplex, dass einzelne Gruppen gar nicht in der Lage sein können, diese großen Verschwörungen über einen längeren Zeitraum durchzusetzen. Insofern kann man sagen, dass Verschwörungstheorien ein romantisches, naives Menschenbild propagieren. Das passt eher ins 18. als ins 21. Jahrhundert. + + diff --git a/fluter/versemmel-deine-jugend.txt b/fluter/versemmel-deine-jugend.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7032c53f1ab9984cefbd98eb75cd3d487b71530b --- /dev/null +++ b/fluter/versemmel-deine-jugend.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Immerhin spielt die Handlung 1981. Island ist damals nicht nur geografisch weit vom europäischen Festland entfernt. Auch kulturell. Es gibt dort kein Bier, gerade mal zwei Cafés, und das Fernsehen sendet nur zwischen 18 und 22.30 Uhr. Spiele der Fußball-WM überträgt es schon mal mit drei Tagen Verspätung. +Kein Wunder, dass Jung, ein pickeliger und krankhaft schüchterner Tollpatsch aus der Provinz, mit Anpassungsschwierigkeiten zu kämpfen hat. Zumal er sich ohnehin am falschen Ort wähnt. Er will gar nicht ins franzjosefstraußige München, er will nach Westberlin, dorthin, wo diese faszinierende Mauer steht, man den Kalten Krieg spüren kann und alle freie Künstler sind. Das hat er jedenfalls mal gehört, zu Hause in seiner zugigen Heimat im Nordatlantik, deren Enge er so dringend entkommen will. Von München hingegen kannte er nur Boney M und den FC Bayern. Da nämlich spielt ein Landsmann von ihm. Wobei: Eigentlich spielt er eher nicht. Er sitzt meist auf der Ersatzbank. +Auch Jung startet nicht gerade durch. In der Kunstakademie versemmelt er die Aufnahmeprüfung, wird dann aber – halb aus Mitleid – doch genommen. Er kommt in eine Klasse, in der ein Maler der Neuen Wilden unterrichtet. Für Jung, der Marcel Duchamp anbetet und in seiner introvertierten Verkopftheit am liebsten ein Konzeptkünstler wäre, ist dieses impulsive, farbenkräftige Gepinsel die totale Hölle. Auch seine Kommilitonen kommen ihm komisch vor. Eine sieht aus wie Patti Smith, ein anderer wie Lou Reed. Jung dagegen wacht jeden Tag mit der Sorge auf, der Dritte Weltkrieg könnte angefangen haben. +Helgason schickt die Leser auf eine ziemlich schräge Zeitreise, auf der man einiges über Island und vieles über Westdeutschland erfährt, vor allem aber kartografiert sein so kluger wie lustiger Außenseiterroman die karstige Seelenlandschaft eines jungen Kunststudenten, der in der Fremde eingeschüchtert, einsam und überfordert ist. Dabei lässt Helgason die Handlung schon mal ins Surreale abgleiten: Die ungewohnte Umgebung löst in Jung Übelkeit aus, so dass er immer wieder – als wäre er ein isländischer Vulkan – komische schwarze Brocken spucken muss. Meist natürlich genau dann, wenn es gerade wieder gar nicht passt. +Auf den 416 Seiten setzt Jung so ziemlich alles in den Sand. Seine Ausbildung, eine Reise nach Italien, den Versuch, bei Mädchen zu landen oder einfach nur Anschluss zu finden. Am Ende findet er sich zu allem Überfluss auch noch in einem Ostberliner Gefängnis wieder. +Das mag nach einer einigermaßen deprimierenden Lektüre klingen, zumal der Roman autobiografisch ist. Ist es aber nicht: Denn einerseits erzählt Helgason sein schwarzes Jahr in München hochkomisch, und andererseits ist aus ihm trotz seines fulminant verhauenen Auslandsaufenthalts ja doch noch was geworden. Als Maler und Autor gehört er zu den wichtigsten Künstlern seines Landes. Seine Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und sein Roman "101 Reykjavík" verfilmt. Er schrieb Theaterstücke, Essays, Hörspiele und tritt gelegentlich als Stand-up-Comedian auf. +So liegt in all dem jugendlichen Scheitern vor allem eins: ein Trost. Schlechte Zeiten, so kann man das Buch lesen, gehen meist bald wieder vorbei. Und mit ein bisschen Glück kann man irgendwann darüber lachen. +Hallgrímur Helgason: "Seekrank in München". Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig, Tropen Verlag, München 2015, 416 Seiten, 18,90 Euro +Felix Denk, Kulturredakteur von fluter.de, wuchs in München auf und war auch mal auf der Kunsthochschule, allerdings in Berlin. Wenn er sich mal übergeben musste, dann nicht aus Seekrankheit. diff --git a/fluter/versprochen-ist-versprochen.txt b/fluter/versprochen-ist-versprochen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/versteckte-tierische-produkte-quiz.txt b/fluter/versteckte-tierische-produkte-quiz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..592b36bd9cee14443bd2a33fd1c7bb1a60466d3a --- /dev/null +++ b/fluter/versteckte-tierische-produkte-quiz.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Manche Kaugummis und Kaubonbons können den Inhaltsstoff E 904 enthalten. Dahinter verbirgt sich Schellack, eine harzartige Ausscheidung der weiblichen Gummilackschildlaus. Neben dem Einsatz in Schallplatten, Farben und Lack wird Schellack auch im Überzug genutzt, mit dem Obst gewachst wird. +Unter handwerklichen Buchbindern ist es durchaus üblich, mit Hasenleim zu binden oder zu restaurieren. Um ihn herzustellen, werden die Häute von Kleintieren wie Kaninchen und Hasen stundenlang gekocht. Hautleim, auch Glutinleim genannt, hält ebenso Streichinstrumente wie Violinen und Cellos zusammen (deren Bögen übrigens traditionell mit Pferdehaar bespannt und mit Saiten aus Schafsdarm bezogen wurden). +Damit Bananen nicht braun bei uns ankommen, werden manche Sorten vor dem Export mit dem Pestizid Chitosan besprüht. Das wird aus den Panzern von Garnelen oder Insekten gewonnen. Bei Bananen aus Bio-Anbau ist die Verwendung von Chitosan verboten. +In manchen Zigarettenfiltern ist Hämoglobin enthalten. Es filtert einen Großteil der Schadstoffe aus dem Tabak, ist aber ein Eiweißstoff, der aus Schweineblut gewonnen wird. +Seien wir ehrlich: beides richtig. Aber rumgesprochen hat es sich noch nicht, dass selbst bei der Produktion von Fernsehgeräten, Computern oder Smartphones oft tierische Bestandteile genutzt werden. Zum Beispiel Cholesterin, das aus den Zellmembranen von Tieren gewonnen und als flüssiges Kristall zur Herstellung von Bildschirmen genutzt wird. +Wenn Produkte und Lebensmittel rot gefärbt werden, wird manchmal noch Karmin verwendet. Auf der Packung versteckt es sich hinter der Kennzeichnung E 120. Karmin wird aus getrockneten weiblichen Schildläusen gewonnen, die unter anderem für Süßwaren, Konfitüren, Wurst oder Kosmetika wie Lippenstift zerrieben werden. +Neben tierischem Glycerin, Bienenpollen und -wachs ist in manchen Zahncremes auch Knochenmehl enthalten. Schon in der Antike wurde Knochenmehl zur Mundhygiene genutzt, weil es die Zähne abschleift – also weißer macht. +Oft lackiert man sich die Nägel mit Bestandteilen aus Fischschuppen. Aus ihnen wird nämlich das schimmernde Pigment Guanin hergestellt, das auf vielen Nagellackfläschchen als Inhaltsstoff angeführt wird. Es gibt aber auch vegane Kosmetika, die ohne tierische Produkte und Tierversuche produziert werden. +Collagen: Renke Brandt diff --git a/fluter/versuchs-mal-mit-der-wahrheit.txt b/fluter/versuchs-mal-mit-der-wahrheit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3f1d43f139b9838efd4fb0fbc5e7961853801ba6 --- /dev/null +++ b/fluter/versuchs-mal-mit-der-wahrheit.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Wie ehrlich kann man sein, ohne zu verletzen? Im Internet lese ich ein Zitat einer österreichischen Schriftstellerin: "Wenn du durchaus nur die Wahl hast zwischen einer Unwahrheit und einer Grobheit, dann wähle die Grobheit; wenn jedoch die Wahl getroffen werden muss zwischen einer Unwahrheit und einer Grausamkeit, dann wähle die Unwahrheit." +Im Supermarkt kaufe ich Ungesundes. BiFi, Energydrinks. Die Frau, die an der Kasse hinter mir steht, kommentiert meinen Einkauf. "Wie kann man mit so schlechtem Essen so groß werden?", fragt sie. "Ich will nicht, dass Sie kommentieren, was ich kaufe", sage ich. Es ist die Wahrheit: Ich finde es unangenehm, wenn Menschen meinen Einkauf mustern und auf mich und mein Leben schließen. Der Frau hinter mir bleibt die Sprache weg. Jetzt tut es mir leid. Manchmal ist die Wahrheit grob. +Ein Bekannter fragt mich, wie es mir geht. Ich zähle ihm auf, was mich ärgert, was mir fehlt, und berichte ihm ausführlich, wie ich geschlafen habe – zu spät eingeschlafen, zu früh aufgewacht. Er schweigt. Ich meine seinem Gesicht zu entnehmen, dass er gar nicht so viel wissen wollte. Manchmal ist die Wahrheit langweilig. Ein Auftraggeber antwortet wiederholt nicht auf meine Mails. Es macht mich wütend, dass er mich am ausgestreckten Arm verhungern lässt. Dass er nicht siebzig Sekunden Zeit findet, um zu antworten. Ich werte es als Überheblichkeit, als Geste der Macht. Weiter darüber zu schweigen würde sich wie Lügen anfühlen. "Es nervt mich, dass du nicht antwortest", schreibe ich. Manchmal ist die Wahrheit geschäftsschädigend. +Ich öffne einen Brief. Es ist eine Mahnung. "Sehr geehrter Herr Dachsel", lese ich. Ich finde es unehrlich, dass ein Unternehmen, dem ich offensichtlich Geld schulde, vorgibt, mich zu ehren. Unehrlich, aber freundlich. Ich denke an den Wahlslogan der Alternative für Deutschland. "Mut zur Wahrheit", heißt der. Oder an die Werbung der Bildzeitung: "Jede Wahrheit braucht einen Mutigen, der sie ausspricht." Oder an Thilo Sarrazin, der vorgibt, Tabus zu brechen, um endlich die Wahrheit zu sagen. Dann denke ich: Manchmal ist die Wahrheit nur ein Vorwand für Idioten, ihre Dummheiten loszuwerden. Ich erinnere mich an eine Zahl, die ich mal gelesen habe. Jeder Mensch lügt am Tag angeblich bis zu 200 Mal. Ich will wissen, ob das stimmt. Im Internet finde ich einen Text, der diese Zahl anzweifelt. Anscheinend stimmt sie nicht, sie ist erfunden und erlogen. Es sind nur 1,8 Mal pro Tag, steht im Internet. +Ein Marktforschungsinstitut ruft mich an. "Sind Sie interessiert an einer attraktiven Prämie?", fragt das Marktforschungsinstitut. "Kein bisschen, und ich will nicht, dass Sie mich noch mal anrufen", sage ich. Manchmal tut die Wahrheit gut. +BevorFelix Dachseldrei Tage die Wahrheit sagte, versuchte er bereits, drei Tage ohne Plastik zu leben. Ansonsten versucht erim dritten Anlaufein Studium zu beenden und arbeitet als freier Journalist diff --git a/fluter/verteilungsfrage.txt b/fluter/verteilungsfrage.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vertragspoker.txt b/fluter/vertragspoker.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0778f099d95844d95c2210411a50a05938545b57 --- /dev/null +++ b/fluter/vertragspoker.txt @@ -0,0 +1,48 @@ +Ja, haben wir gehört. Warum? +Wenn es um Europa und die Türkei geht, geht es immer auch um die kulturellen Unterschiede. Die Vorbereitung auf 2010 und die Feier als Kulturhauptstadt können ganz Europa zeigen, dass Istanbul und die ganze Türkei kulturell zu Europa gehören – aber sie auch viel mehr sind als allein europäisch! +Wohin gehört die Türkei am Ende: zu Europa oder zu Asien? +Sie ist ein sehr kompliziertes Land, wenn es um eine solche Definition geht. Niemand fragt, ob Bulgarien oder Lettland europäisch sind, nicht mal bei Zypern stellt jemand diese Frage. Ich wundere mich, warum das so ist. +Dann anders gefragt: Fühlen sich die Türken als Europäer oder als Asiaten? +Sie fühlen beides und mehr als das! Sie fühlen sich mediterran, europäisch, islamisch, dem Nahen Osten zugehörig, dem Osten allgemein. Wenn jemand sagt, die Türken seien Europäer: Glauben Sie ihm nicht! Wenn jemand kommt und sagt, die Türken seien Muslime: Glauben Sie ihm genauso wenig! +Bei so vielen Gefühlen: Wie denken die Türken dann über eine türkische Mitgliedschaft in der Europäischen Union? +Es gibt im Wesentlichen zwei Richtungen. Ein paar sagen: Ob wir die Kriterien erfüllen oder nicht, wir werden sowieso aufgenommen, weil die EU uns braucht. Unseren Markt, unsere Jugend, unsere geostrategische Lage, uns als muslimische Demokratie.Und was sagen die anderen? +Die sagen: Wir möchten gern in die EU – aber sie wird uns nicht nehmen. Vor ein paar Jahren hatte der zweite Teil des Satzes noch keine so große Bedeutung. Aber seit die Türkei Ende 2004 den Status eines Beitrittskandidaten bekam, zeigt sich, dass die Zweifel der türkischen Öffentlichkeit sehr realistisch sind. +Die letzten Meinungsumfragen in der Türkei sagen, dass weniger als 50 Prozent der Türken in die EU möchten und nur noch 35 Prozent der EU vertrauen. +1999/2000 wollten noch 85 Prozent in die EU! Der Anteil der Leute, die neutral sind, ist ebenfalls gestiegen, auf 26 Prozent. Wenn ich das kurz verallgemeinern darf, sieht es heute so aus: Die Europäer wollen die Türkei nicht in der EU und die Türken glauben nicht mehr an das Projekt EU-Beitritt. +Warum haben die Türken das Vertrauen in den EU-Prozess verloren? +Auf die Türken wirkte die EU in den letzten sechs Jahren wie eine Person mit einem Prügelstock, die der Türkei systematisch vorschreibt, was sie zu tun hat. Reformen vorschreibt, die auch wir, die Intellektuellen, die Akademiker, die Bürgergesellschaft fordern. Die letzte Regierung genau wie die derzeitige haben die Anforderungen erfüllt – gut so! Und die Leute waren froh darüber. Das Problem ist: Die Reformen waren tatsächlich revolutionär für die Türkei. Aber gleichzeitig muss sich auch die türkische Mentalität ändern – und das ist nicht geschehen. Am Ende laufen wir Gefahr, dass all die Reformen nur auf dem Papier existieren. +Welche Reformen meinen Sie? +Vor allem die, die mit der Meinungs- und Redefreiheit zu tun haben. Die sind natürlich nicht gegen die türkische Einheit oder Identität gerichtet, sie nutzen den Menschen! Aber diese Reformen wurden von den türkischen Nationalisten missbraucht, indem diese sagten: Das sind gefährliche Reformen, die spielen den Separatisten, vor allem den Kurden, in die Hände und sie ermutigen dazu, immer mehr zu fordern,um sich am Ende von der Türkei abzuspalten. Das Schlimmste in einem Reformprozess ist es, wenn demokratische Reformen nur halbherzig umgesetzt werden. Dann bringen sie nur die Hälfte von dem, was man von ihnen erwartet, aber sie geben den Gegnern Argumente an die Hand. +Wer sind diese Gegner? +Das geht von der extremen Rechten bis zur extremen Linken. Menschen, die sehr lokal denken, die immer noch glauben, dass die Türkei niemanden braucht, dass sie sich allein weiterentwickeln sollte. Das erinnert an Albanien und Nordkorea in den Siebzigerjahren und ist vollkommener Unsinn.Und diese Gegner können den türkischen EU-Beitritt sozusagen sabotieren?Nein. Die sind gar nicht das Problem. +Wer denn dann? +Nicht, was nationalistische Elemente der Gesellschaft denken, ist problematisch, sondern das, was die Regierung, die bürgerliche Gesellschaft und die Elite der Türkei tun, um die Menschen besser über den Nutzen der Reformen und des türkischen EU-Prozesses zu informieren. Da fehlen Wille,Mühe und Mittel. Seit fast zwei Jahren hat die Regierung alle Bemühungen in Richtung EU einfach eingestellt. Ich und sechs oder sieben andere Leute, die wissen, wie wichtig der Prozess ist, wir können das nicht auffangen. Die türkischen Medien sind nicht interessiert an der EU. Im Fernsehen gibt es nur noch eine Sendung über die EU – und von der ist nicht klar, ob sie fortgesetzt wird. In den Zeitungen gibt es kaum Nachrichten über die EU. Wenn es also keinen starken politischen Willen gibt, wird es nicht funktionieren. +Was sollte passieren? +Die Menschen müssen den Sinn und die Vorteile all dieser Reformen erklärt bekommen. Ein Beispiel: Die Türkei hat eine Zollunion mit der EU. Das bedeutet,dass die Türkei und die EU Güter untereinander im- und exportieren, zollfrei. Diese Zollunion hat der türkischen Industrie immense Vorteile gebracht. Nicht zuletzt, weil sie, um nach Europa exportieren zu dürfen, die EU-Standards erfüllen mussten, bei Autos, Kühlschränken, wo auch immer. Diese Anforderungen kommen selbstverständlich auch den türkischen Konsumenten enorm zugute. Es hat sich nur niemand die Mühe gemacht, den Türken das klarzumachen. Das Gegenteil ist geschehen: Nationalisten haben das Wort ergriffen und erklärt, diese und andere mit der EU verbundenen Reformen seien gegen die Türkei gerichtet und würden die Einheit, die Lebensart, die Grundfesten der Türkei gefährden. Gleichzeitig hat der Mann auf der Straße wenig von handfesten Vorteilen der EU gespürt, ganz anders als die Menschen in früheren Beitrittskandidatenstaaten. Dort waren die EU-Institutionen sehr präsent, mit großen Projekten, bedeutenden Krediten und Subventionen. In der Türkei: fast nichts. Ich habe gesagt,die EU wirke hier wie ein Stock – aber an seinem Ende baumelt keine Karotte! +Also ein Fehler der EU? +Ich verfolge die EU-Erweiterung schon seit mehr als 15 Jahren und der Prozess der türkischen EU-Mitgliedschaft ist wahrscheinlich der schlechteste, den ich je gesehen habe. Ich habe nie einen Prozess gesehen, in dem die EU-Institutionen, mit Ausnahme der EU-Kommission, so kühl geblieben sind. Ich kann Ihnen genau sagen, welche EU-Staaten aktiv eingebunden sind in die türkischen Beitrittsvorbereitungen: die Niederlande und Schweden. Und Deutschland durch die Heinrich-Böll-, die Konrad-Adenauer- oder die Friedrich-Ebert-Stiftung. Es müssen ja nicht alle EU-Staaten immer aktiv die türkische Mitgliedschaft fördern – aber nur drei? Das ist einfach nicht genug. +Welchen Schluss ziehen Sie daraus? +Der türkische Prozess scheint für niemanden wirklich von ernsthaftem Interesse zu sein. Niemand ist heiß darauf. Vielleicht hofft man, dass der türkische Beitrittsprozess einfach irgendwann abbricht. Einfriert. Vielleicht möchten sie ihn sanft töten. +Wer sind "sie"? +Ich nenne sie die "Koalition der Unwilligen": unwillige Politiker in der Türkei und in den EU-Staaten. Zusammen ziehen sie den ganzen Prozess runter. Es ist zudem sehr unglücklich für die Türkei, dass die Beitrittsvorbereitungen in einer Zeit stattfinden, in der Europa nach seiner Seele sucht, in einer immer komplizierteren politischen Weltlage, nachdem die Verfassung gescheitert ist und die neuen Mitgliedsstaaten hinzugekommen sind. Niemand empfindet die Freude von 1989, als die Gespräche mit den ersten sechs Kandidaten wie Estland und Tschechien begannen. Das macht es nicht nur für die Türkei schwieriger, sondern auch zum Beispiel für Bulgarien und Rumänien, die am 1. Januar 2007 zur EU kommen sollen – es gibt keinen Enthusiasmus mehr.Sie sagen, die Regierung habe die Reformen eingestellt. Warum?Manche meinen, dass die Regierung nie wirklich an die EU und die von der EU inspirierten Reformen geglaubt und nur damit gespielt hat,um die Macht der Armee zu beschränken. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Andere glauben, dass die Regierung der Bevölkerung nicht noch mehr EU-motivierte Reformen zumuten möchte und dafür die Gewinne der beginnenden Verhandlungen für die nächsten Wahlen nutzen will. Und nach den gewonnenen Wahlen im November 2007 werden sie weitersehen. Das ist auch eher meine Meinung. +Dann wäre zwar Zeit verloren, das Ziel des EU-Beitritts würde die Regierung aber doch erreichen. +Am meisten Sorgen macht mir, dass die türkische Regierung die EU-Beziehungen und die Vorbereitungen der Gespräche als außenpolitische Angelegenheit betrachtet und noch dazu als eine weitere unter vielen außenpolitischen Angelegenheiten und Möglichkeiten. Von allen Fehlern ist das wahrscheinlich der größte Fehler. Denn die EU ist keine außenpolitische Angelegenheit: Wenn man den Führerschein nach den in Brüssel vereinbarten Regeln ändert, hat das doch mit Außenpolitik nichts zu tun. Und die EU ist keine Möglichkeit unter vielen anderen Möglichkeiten. Wir haben keine Alternative! +Es wird von einer Achse China–Russland–Türkei gesprochen oder einer Hinwendung zur arabischen Welt. +Das undemokratische Russland, der totalitäre Iran, der chaotische Nahe Osten? Wollen wir das für unsere Kinder? Natürlich nicht. +Am Anfang unseres Gesprächs ging es um die Kulturhauptstadt Istanbul und die damit verbundene Chance zu beweisen,dass kulturelle Unterschiede gar keine unüberwindliche Hürde darstellen. Glauben Sie das wirklich? +Es behauptet doch niemand, dass die Türkei zu 100 Prozent europäisch sei oder europäische Kultur habe. Aber solange die Debatte unter diesen Vorzeichen geführt wird, sind wir verloren. Denn dann werden wir immer weiter darüber diskutieren, ob wir kulturell oder religiös oder irgendwie anders europäisch sind oder nicht. Die EU ist ein Projekt, ein Prozess,der sich ständig weiterentwickelt. Wie schon Karl Marx sagte: Wie ein Fahrrad – wenn es anhält, fällt es um. Jacques Delors, der ehemalige Kommissionspräsident, hat das wiederholt. Ein Projekt, das wachsen wird, das wirklich eine Weltmacht wird, neben China, Indien und den USA. Dieses Projekt wird die Türkei lenken, genau wie die Ukraine, Weißrussland oder Moldawien. Wir sollten auf die Dynamiken dieses Projektes blicken und uns auf das türkische Potenzial konzentrieren, sich zu verändern und gleichzeitig eigene Werte einzubringen. +Welche Werte könnten das sein? +Damit meine ich nicht islamische Werte! Aber jeder Deutsche weiß, wie die Türken sind: Sie mögen die Menschen, sprechen mit Kindern, sind offen, gelassen, der Individualismus ist noch nicht das zentrale Element in der Gesellschaft – alles Werte, die in Europa ein wenig verloren gegangen sind. +In Deutschland spielt Kinderliebe gerade eine geringere Rolle als die latente Angst vor Muslimen. +Auch der türkische Islam verändert sich. All die Staaten, die kürzlich beigetreten sind, verändern sich. Die Leute auf der ganzen Welt werden sagen können: Schau, die EU, was für ein tolles Projekt – es kann sogar ein muslimisches Land wie die Türkei aufnehmen und integrieren unter dem Dach der gemeinsamen politischen Werte wie Recht, Gesetz, Demokratie. Das wäre eine hervorragende Botschaft an die Welt und vor allem an diese Region der Mittelmeeranrainer und des Nahen Ostens. Stellen Sie sich eine Türkei vor, die dank der Dynamik des EU-Projekts wirtschaftlich und politisch stabil ist – das würde eine große Anziehungskraft ausüben in der Region. Und es ist bereits so: Die arabischen Nachbarn investieren in der Türkei, weil sie es zu schätzen wissen, dass die Türkei immer stabiler und zuverlässiger wird. Die investieren hier doch nicht, weil sie Muslime sind und die Türkei ein muslimisches Land ist. Sie kommen, weil die Türkei europäisch wird. +Eine andere Sorge: zu viele arbeitssuchende türkische Zuwanderer. +Die Türken werden nicht ihre Häuser auf den Rücken schnallen und nach Europa reisen und dort wieder aufstellen. Warum sollten sie das tun? Ein Türke, der dank der durch die EU angestoßenen Entwicklung zum Beispiel Arbeit in Antalya findet – warum sollte der die Türkei verlassen, um in Hamburg die Straßen zu kehren, wo es dauernd regnet? Die Türkei kann ohne Probleme 100 Millionen Menschen ernähren. Und denken Sie doch bitte an die Tschechische Republik! +Warum das denn? +Für Tschechen hat Deutschland eine Quote eingeführt. Diese Quote wird nur zu 18 Prozent erfüllt. Die Tschechen kommen nicht! Warum sollten sie auch? Sie sind zufrieden, dort wo sie jetzt leben. In der Migrationsforschung gibt es eine goldene Regel, die lautet: Menschen emigrieren niemals aus Spaß. Sie verlassen den Ort, an dem sie geboren wurden, nur wenn sie bedroht werden, wenn sie unter schwierigen wirtschaftlichen oder politischen Bedingungen zu leiden haben. Sonst nicht. Deshalb kann es nur ein Ziel geben: die Kandidatenländer fit dafür zu machen, ihren Bürgern ein gutes Leben dort zu ermöglichen, wo sie jetzt leben. +Was kann die EU unmittelbar tun, um genau das zu schaffen? +Die ökologische Landwirtschaft in der Türkei fördern. Türkischer Boden ist vergleichsweise sauber, es gibt eine sehr große Artenvielfalt in diesem Land. Etwa dreißig Prozent der landwirtschaftlichen Produkte der Türkei sind schon heute biologisch, ohne so gekennzeichnet zu sein, weil sich die Bauern die Zertifikate nicht leisten können. Da gibt es ein großes Potenzial, das, wenn es vernünftig entwickelt wird, eine der Lösungen für viele Probleme sein kann. Ökologische Produkte brauchen mehr menschliche Arbeitskraft als konventionelle Landwirtschaft. Sie haben einen großen Mehrwert. Sie sind umweltfreundlich. Sie werden die Bauern auf dem Land halten, statt die Landflucht zu befördern,zuerst in die türkischen Städte, dann ins europäische Ausland. Dieses Potenzial sollte die EU dringend fördern, um auch der türkischen Öffentlichkeit klarzumachen, welche Möglichkeiten dort brachliegen. Vor allem im Osten und Südosten des Landes. +Was wird in der Türkei als Nächstes geschehen? +Wie jedes Jahr wird es auch in diesem Herbst einen Zwischenbericht geben. Der wird hart sein, aber realistisch. In der Türkei wird der Bericht einen Schock verursachen. Der Schock wird vom Finanzmarkt ausgehen, wie üblich. Wenn der Finanzmarkt den Zwischenbericht so interpretiert, dass die Türkei von Europa wegdriftet, wird die Kreditwürdigkeit des Landes zurückgestuft werden und das wird unmittelbare Auswirkungen auf die türkische Wirtschaft haben. Diese Art Schock wird hoffentlich ausreichen, um die Politiker aufzuwecken. Ich fürchte, dieses Land handelt nur, indem es auf Schocks reagiert. +Wird die Türkei jemals EU-Mitglied? +Sie sollte. Es ist im Interesse der Türkei. Es ist im Interesse Europas. +Dr. Cengiz Aktar, 51, leitet das Zentrum für Europastudien an der Bahcesehir-Universität Istanbul. 1999 war er Mitbegründer einer Initiative, die an einer Nominierung Istanbuls als Europäische Kulturhauptstadt arbeitete. 2002 gründete er die "Europabewegung 2002", die Druck auf die türkische Regierung ausübt, um die für die Beitrittsverhandlungen notwendigen Reformen voranzubringen. Aktar, Kolumnist der Tageszeitung Vatan und der Turkish Daily News, lebt mit seiner Frau und einer Tochter in Istanbul, seine zweite Tochter studiert in Genf. diff --git a/fluter/vertrauensfrage-bundestag-faq.txt b/fluter/vertrauensfrage-bundestag-faq.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0ffc08f3a4b5a08ce4808d9f9923601d371e6f8c --- /dev/null +++ b/fluter/vertrauensfrage-bundestag-faq.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Es handelt sich um eine Abstimmung im Bundestag, die einzig der Bundeskanzler beantragen kann. Sie ist im Grundgesetzin Artikel 68 geregelt. Der Bundeskanzler bittet die Abgeordneten, ihm das Vertrauen auszusprechen. Dazu ist eine absolute Mehrheit erforderlich. Der Kanzler kann diese Frage mit einem konkreten politischen Vorhaben verbinden (dazu weiter unten mehr) oder sie einfach so stellen, wie Scholz jetzt. +Dann kann er denBundespräsidentenum die Auflösung des Bundestages bitten. Dieser kann das Parlament nun innerhalb von 21 Tagen auflösen – könnte theoretisch aber auch darauf verzichten. Ist der Bundestag aufgelöst, müssen in den darauffolgenden 60 Tagen Neuwahlen stattfinden. Genau das ist die Absicht von Olaf Scholz, und auch die anderen im Bundestag vertretenen Parteien dürften ein Interesse an Neuwahlen haben. +Dann bleibt der Kanzler im Amt. Im aktuellen Fall könnte er die Vertrauensfrage dann theoretisch noch einmal beantragen. Oder versuchen, mit seiner Minderheitsregierung weiterzuregieren. Für die Vertrauensfrage im Dezember ist es allerdings sehr wahrscheinlich, dass Olaf Scholz sie verlieren wird. +Weil er das gar nicht kann. Das deutsche Grundgesetz legt fest, dass nur der Bundespräsident das Parlament auflösen und Neuwahlen bestimmen kann, und das auch nur, wenn es a) vorher eine verlorene Vertrauensfrage gab oder wenn b) beim Versuch, einen Kanzler zu wählen, niemand eine Mehrheit bekommt. +Festgelegt haben diese Regelndie Verfasser:innen des Grundgesetzes im Jahr 1949. Dass gleich mehrere Instanzen an der Auflösung beteiligt sind – die Abgeordneten, der Bundeskanzler, der Bundespräsident –, soll die politischen Verhältnisse stabiler machen,als sie es noch in der Weimarer Republikvon 1919 bis 1933 waren. +Stimmt, das wäre theoretisch ebenfalls möglich. Dann müssten die Bundestagsabgeordneten aber erst einmal versuchen, eine:n neue:n Kanzler:in zu wählen. Erst wenn hier niemand eine Mehrheit hat, kann der Bundespräsident das Parlament auflösen. +Bei beiden Verfahren geht es darum, zu prüfen, ob die Regierung noch das Vertrauen des Parlaments hat. Die Vertrauensfrage stellt der Bundeskanzler selbst, beim Misstrauensvotum geht die Initiative dagegen vom Bundestag aus. Um sein Misstrauen auszusprechen, muss der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen neuen Bundeskanzler oder eine neue Bundeskanzlerin wählen. Daher führt das Misstrauensvotum nicht zu Neuwahlen. Ein Misstrauensvotum dürfte aktuell für keine der Parteien eine Option sein. +Es klingt zunächst vielleicht seltsam, dass ein:e Kanzler:in die Vertrauensfrage absichtlich verlieren möchte. Sie hat aber noch eine andere Funktion, bei der es wirklich um Vertrauen geht. Ursprünglich ist die Frage schließlich dazu gedacht, dass sich ein:e Kanzler:in mit einer wackeligen Mehrheit vergewissern kann, dass die Abgeordneten der eigenen Koalition noch hinter ihm oder ihr stehen. Genau das hat Helmut Schmidt (SPD) im Februar 1982 gemacht. Er gewann die Vertrauensfrage – acht Monate später zerbrach seine Koalition mit der FDP allerdings dennoch. Wie oben beschrieben, lässt sich die Vertrauensfrage auch mit einem konkreten politischen Vorhaben verbinden. Diesen Weg wählte Gerhard Schröder (SPD) im November 2001. Damals ging es um die Beteiligung an einem Militäreinsatz in Afghanistan, was einige Abgeordnete der Regierungsparteien SPD und Grüne ablehnten. Schröder verknüpfte eine Zustimmung mit dem Fortbestand der Koalition – und erreichte sein Ziel. +Ja, 1972 von Willy Brandt (SPD), 1982 von Helmut Kohl (CDU) und 2005 erneut von Gerhard Schröder. Alle drei hatten wie heute das Ziel, Neuwahlen vorzuziehen. Derartige Vertrauensfragen mit der Absicht, sie zu verlieren, werden auch als "unechte Vertrauensfragen" bezeichnet. Daher gab es Debatten, ob es demokratisch gerechtfertigt sei, dieses Instrument auf diese Weise zu nutzen. Das Bundesverfassungsgericht hat in zwei Verfahren entschieden, dass eine Vertrauensfrage, die auf die Auflösung des Bundestages abzielt, zulässig ist, wenn sie dazu dient, eine ausreichend parlamentarisch verankerte Bundesregierung wiederherzustellen. +Den Antrag zur Vertrauensfrage wird Olaf Scholz voraussichtlich am 11. Dezember stellen. In der Bundestagssitzung am 16. Dezember soll dann darüber abgestimmt werden. Verliert Scholz wie erwartet die Vertrauensfrage, wird Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier voraussichtlich am 27. Dezember den Bundestag auflösen. Knapp 60 Tage später wird dann gewählt: Der anvisierte Wahltermin ist Sonntag, der 23. Februar 2025. +Die Kommunen, die vor Ort besonders viel organisieren müssen, sprechen von einer Herausforderung, die aber machbar sei. Damit alles regelgerecht vonstattengeht, muss jetzt allerdings viel in sehr kurzer Zeit passieren: In den Kommunen müssen zum Beispiel Wahlräume gebucht und Wahlvorstehende ernannt werden. Die Parteien müssen ihre Wahllisten rechtzeitig aufstellen, damit diese geprüft und die Wahlzettel gedruckt werden können. Parteien, die es nicht durch Wahlen in den bestehenden Bundestag oder eines der aktuellen Landesparlamente geschafft haben, müssen auch noch eine bestimme Zahl an Unterstützungsunterschriften sammeln und prüfen lassen, um für die Wahl zugelassen zu werden. Kleinstparteien kritisieren bereits, dass sie es dadurch schwerer hätten, an der Wahl im Februar teilzunehmen. Auch die Briefwahlunterlagen müssen versandt werden. Wahlhelfer:innen werden jetzt schon dringend gesucht und dafür zum Beispiel Ehemalige und Mitarbeiter:innen von Behörden angesprochen. +Die Regierung bleibt geschäftsführend im Amt, bis es eine neue gibt, sogar noch nach dem Wahltermin. Das ist bei normal terminierten Wahlen auch so. Neue Gesetze werden nun zwar üblicherweise nicht mehr auf den Weg gebracht, aber das ist ja nicht alles, was eine Regierung tut. Kanzler und Minister:innen vertreten Deutschland beispielsweise bei internationalen Treffen, die Ministerien haben auch Verwaltungsaufgaben, und sie müssen auf konkrete Notlagen mit Sofortmaßnahmen reagieren können. +Auch das Parlament bleibt bestehen, bis sich das nächste zum ersten Mal versammelt, also: sich konstituiert. Es gibt keine parlamentslose Zeit. Tatsächlich wird die Minderheitsregierung aus SPD und Grünen auch bemüht sein, noch einige Gesetze, die bereits ganz oder fast fertig vorliegen, vom Bundestag beschließen zu lassen. Es wird von ihrem Verhandlungsgeschick mit den übrigen Parteien abhängen, ob sie dafür noch die eine oder andere Mehrheit finden. +Nicht zwingend. Der jeweils folgende Wahltermin muss mindestens 46 und höchstens 48 Monate nach der ersten Sitzung des Bundestages liegen. Und ein neu gewählter Bundestag muss innerhalb von 30 Tagen seine erste Sitzung abhalten. 30 Tage nach dem 23. Februar 2025 ist der 25. März 2025. Hier noch 48 Monate draufaddiert, und die Bundestagswahl 2029 könnte Ende März stattfinden, die Wahl 2033 dann Ende April. Würde der Bundestag sich umgekehrt schon etwas früher konstituieren und dauerten die nächsten beiden Legislaturperioden nur 46 Monate, läge das Datum der übernächsten Wahl irgendwann im Spätherbst 2032. Das heißt, nach ein paar Zyklen könnte eine Bundestagswahl wieder im September stattfinden und der Wahlkampf bei sommerlichem Wetter. All das setzt natürlich voraus, dass die kommenden Regierungen auchbis zum Endeder Legislaturperioden halten. + + +Illustration: Alexander Glandien diff --git a/fluter/video-beirut-explosion-wiederaufbau.txt b/fluter/video-beirut-explosion-wiederaufbau.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/video-grenzen-der-freundschaft.txt b/fluter/video-grenzen-der-freundschaft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/video-juengste-abgeordnete-bundestag.txt b/fluter/video-juengste-abgeordnete-bundestag.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6344f4ef6b7e6e184f7deda8f4c41093c1d06847 --- /dev/null +++ b/fluter/video-juengste-abgeordnete-bundestag.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Philipp Amthordürfte einer der bekannteren Abgeordneten dieser Reihe sein. Er sitzt seit 2017 im Bundestag. Und erzählt im Interview, was er geworden wäre, wenn es mit der Karriere als Politiker nicht funktioniert hätte. + +Die CDU wurde nach 1945 als überkonfessionelle Partei gegründet und vereint konservative, wirtschaftsliberale und christlich-soziale Positionen. Sie bildet eine gemeinsame Fraktion mit der CSU. In Koalitionen mit der FDP bzw. der SPD stellt sie seit 2005 mit Angela Merkel die Bundeskanzlerin. Weitere Informationen gibt eshier. +Die 1946 gegründete CSU orientiert sich an christlichen Werten und setzt sich für starke föderale Elemente ein. Sie tritt nur in Bayern zu Wahlen an, wo sie seit 1957 den Ministerpräsidenten stellt. Im Bund bildet sie eine Fraktion mit der CDU und war viele Jahrzehnte Teil der Bundesregierung.Weitere Informationen gibt eshier. +Bela Bachist mit 31 Jahren die jüngste Frau im (noch aktuellen) 19. Bundestag. Sie ist seit Februar 2020 Bundestagsabgeordnete und vertritt den Landkreis München. In 100 Sekunden räumt sie mit Vorurteilen auf, erzählt, warum sie Politikerin wurde und wie sie sich vom Bundestag entspannt. + +Die SPD wurde vor fast 160 Jahren gegründet. Sie versteht sich traditionell als Interessenvertreterin der sozial Schwächeren und der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie ist seit 2013 - wie schon von 2005 bis 2009 - Teil der Bundesregierung zusammen mit CDU/CSU. Weitere Informationen gibt eshier. +Seit 2013 istMichael Espendiller AfD-Mitglied, vorher war er bei der Jungen Alternative aktiv, der Jugendorganisation der Partei. Wofür er einsteht, erzählt Espendiller in 100 Sekunden. + +Die AfD entstand 2013 aus Protest gegen Finanzhilfen für wirtschaftlich strauchelnde EU-Mitgliedsländer. Über Kritik an der Asyl- und Flüchtlingspolitik hat sie sich zunehmend als rechtspopulistische Protestpartei profiliert. Sie ist in allen deutschen Landesparlamenten und im Bundestag vertreten. Weitere Informationen gibt eshier. +Roman Müller-Böhmist der jüngste Abgeordnete – und zwar schon seit 2017, als er mit 24 Jahren in den Bundestag einzog. In 100 Sekunden erfahren wir, was er an Deutschland verändern würde und wann der Bundestag nervt. + +Die 1948 gegründete FDP steht für den politischen Liberalismus und will Freiheit, Selbstbestimmung und Verantwortung der Einzelnen im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft stärken. Sie ist seit 1949 - mit Unterbrechung von 2013 bis 2017 - im Bundestag vertreten. Weitere Informationen gibt eshier. +Michel Brandtist gelernter Schauspieler. Vor seiner Politikkarriere war er unter anderem festes Ensemblemitglied am Staatstheater Karlsruhe. Seit 2017 ist er Die Linke-Abgeordneter. Warum diese Partei? Und wie entspannt sich Brandt vom Bundestag? + +DIE LINKE entstand 2007 aus der Fusion der PDS mit der WASG. Die Partei tritt für einen demokratischen Sozialismus sowie den Ausbau des Sozialstaates ein und sieht sich als eine für Gewaltfreiheit eintretende Friedenspartei. Sie bzw. ihre Vorgängerin PDS ist seit 1990 im Bundestag vertreten. Weitere Informationen gibt eshier. +Marcel Emmerichist 31 und erst seit diesem Jahr Bundestagsabgeordneter. Dafür ist er schon seit 13 Jahren bei den Grünen. Er hält Deutschland für ausbaufähig und hat einen ganz schön vollen Arbeitstag. Warum? Erfahren wir hier in 100 Sekunden. + +Die GRÜNEN entstanden 1993 aus der Fusion der westdeutschen Grünen mit dem ostdeutschen Bündnis 90. Ihre Ursprünge liegen in der Umwelt-, Friedens- und Frauenrechtsbewegung sowie in der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Seit 1983 sind sie im Bundestag vertreten und waren von 1998 bis 2005 in der Bundesregierung. Weitere Informationen gibt eshier. diff --git a/fluter/video-rosamag-ciani-hoeder-magazin.txt b/fluter/video-rosamag-ciani-hoeder-magazin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/video-sexismus-sport-gewichtheberin-erzaehlt.txt b/fluter/video-sexismus-sport-gewichtheberin-erzaehlt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/video-ueberlebende-anschlag-halle.txt b/fluter/video-ueberlebende-anschlag-halle.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/video-wie-kleiden-sich-blinde.txt b/fluter/video-wie-kleiden-sich-blinde.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/videos-wer-versorgt-deutschland-systemrelevante-berufe.txt b/fluter/videos-wer-versorgt-deutschland-systemrelevante-berufe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/videospiele-markt-statistiken.txt b/fluter/videospiele-markt-statistiken.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9e5f5f8a47c87dbb466a2b42a1756de8aae09e78 --- /dev/null +++ b/fluter/videospiele-markt-statistiken.txt @@ -0,0 +1,7 @@ + + + + + + + diff --git a/fluter/videospiele-weltuntergang-corona.txt b/fluter/videospiele-weltuntergang-corona.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b3837c9956fe4a49aa634b685d6645fa84d02d92 --- /dev/null +++ b/fluter/videospiele-weltuntergang-corona.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Die passende Kulisse zur Pandemie liefert "Tom Clancy's The Division 2" (Titelbild) schon mal: Gespenstisch leer liegen New York und Washington, D.C., da. Bio-Terroristen haben nämlich eine tödliche Seuche auf die Menschheit losgelassen. Wer Rehe beim Spaziergang durch das wuchernde Grün der Innenstädte aufschreckt, denkt unweigerlich an die Waliser Ziegen. +Von wegen Solidarität: In "Tom Clancy's The Division 2" kämpft jeder gegen jeden +Die Geschichte des Spiels ist wirr. Diverse Sekten und Schurken tauchen auf, die man dann als Spieler im Auftrag der Vereinigten Staaten erschießen soll. Die Grundkonstellation wirkt wie ein Fiebertraum für Diktatoren: Die Zivilisation entpuppt sich als dünner Lack. Kaum ist er abgeblättert, fallen Menschen übereinander her. Nur die strafende Hand des Staates kann das Chaos bändigen. +Aber so deutlich wird das kaum gesagt. Die Erzählung steht im Hintergrund; im Vordergrund steht ein "Third-Person-Shooter", also Schusswechsel über die Schulter der Spielfigur gesehen. Das Ballern macht Spaß, es gibt ein hohles Gefühl der Kontrolle. Doch Hunderte Menschen zu erschießen fühlt sich nicht wie eine Lösungsstrategie an – weder gegen eine todbringende Krankheit noch gegen andere Zukunftsprobleme. + +Das Spiel "Endzone – A World Apart" klingt noch einmal düsterer.Nach einem atomaren Super-GAUüberwintert die Menschheit 150 Jahre unter der Erde. Doch das schlimme Schicksal wird schon im Intro-Video abgehakt. Gespielt wird das Auftauchen nach der Überwinterung, inszeniertals klassisches Aufbauspielin der Tradition von "Anno" und "Die Siedler". + +So befriedigend wie das Errichten einer Modelleisenbahn: das Aufbauspiel "Endzone" + +Wer die Klassiker kennt, der erlebt ein Déjà-vu. Wenn Spieler ihre ersten Ressourcen sammeln, Rollen verteilen und Hütten bauen, wirkt das vertraut, beruhigend. Schön sehen die Behausungen aus Schrott und Wellblech nicht aus, aber sie wachsen. Sogar die Fischerhütte, eine Art Running Gag des Genres, wird früh errichtet. Auch die Strahlenbelastung, die noch auf der Erde herrscht, ist mit der passenden Ausrüstung keine große Gefahr.Der Aufbauprozess wirkt so befriedigend wie das Errichten einer Modelleisenbahn. Dahinter steckt ein völlig anderes Menschenbild als in "Division": Eine solidarische und friedliche Zukunft scheint hier immer noch möglich. Solange jemand lebt, so lange geht auch die Sonne wieder auf. + +Eine Krise aus der Ich-Perspektive zeigt "Neo Cab". Es ist eine Visual Novel, eine interaktive Erzählung, über die letzte menschliche Taxifahrerinin einer durchautomatisierten Metropole.Die Spieler steuern aber nicht das Auto, sondern sie entscheiden, wo die Heldin Lina Strom tankt, wer ihre Fahrgäste sind und was sie mit ihnen redet. +Die Geschichte dauert nur ein paar Stunden. Lina ringt mit ihrem Gefühlsleben, den Fahrgästen und dem Geld. Den Bezug kann wohl jeder herstellen, der schon einmal einen miesen Job und ein Loch im Konto hatte. +Wer genervt ist vom schlecht bezahlten Bullshitjob, findet in "Neo Cab" Gleichgesinnte +Das Leben in Los Ojos fühlt sich an wie eine plausible nahe Zukunft. Damit ist "Neo Cab" einerseits beunruhigend. Es zeigt Zustände und gesellschaftliche Tendenzen, die es so ähnlich bereits gibt – von derGig Economybis zurAutomatisierung. Die Botschaft dahinter ist allerdings produktiv: Entscheidend an jeder möglichen Zukunft ist, wie es den einzelnen Menschen darin geht. Der Hinweis taugt auch für Spieler, die hypnotisiert vom Strom der schlechten Nachrichten zu Hause kauern. +Geschichten können der Welt einen Sinn abringen. Spiele können weiter gehen – sie können die Welt simulieren. Indem sie schwierige Entscheidungen herausarbeiten, zwingen sie das Publikum zu einer Reaktion. Auf die Art kann ein Spiel wie "Neo Cab" durchaus Mitgefühl auslösen, eine Versuchsanordnung wie "Endzone" Hoffnung wecken. "The Division 2" dagegen spielt nicht mit: Es zeigt sich desinteressiert an der eigenen Welt und reduziert sie zu einer beliebigen Action-Kulisse. So bleibt nichts zurück – außer Bildern, die nach dem Ausbruch einer echten Pandemie ziemlich geschmacklos wirken. +Titelbild: ubisoft diff --git a/fluter/videoumfrage-wie-ostdeutsch-fuehlst-du-dich.txt b/fluter/videoumfrage-wie-ostdeutsch-fuehlst-du-dich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2392086266c9e8d7e3aea8dc8fad966d404d2014 --- /dev/null +++ b/fluter/videoumfrage-wie-ostdeutsch-fuehlst-du-dich.txt @@ -0,0 +1 @@ +Wir haben vierNachwendekindergefragt, wie ostdeutsch sie sich fühlen, ob sie die Wiedervereinigung beschäftigt und natürlich: welcheVorurteilesie besonders nerven. diff --git a/fluter/viel-stoff-fuer-zoff.txt b/fluter/viel-stoff-fuer-zoff.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0e88e8ac224a7ea3d550ade0156026d5fc8ccc6c --- /dev/null +++ b/fluter/viel-stoff-fuer-zoff.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Deutschland ist Muffland. Seit den 1960er-Jahren ist der Parka der US-Armee dank der britischen Mods ungebrochen hip. Dem Parka der deutschen Streitkräfte gelang nur ein kurzer Höhenflug Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre im denkbar unhipsten Soziotop: der deutschen Öko- und Anti-Atomkraft-Bewegung. Es sagt allerdings auch niemand, dass politische Verdienste mit ästhetischen korrelieren müssen. Rollkragen, Mustang-Jeans, Enten-Schuhe und Bundeswehr-Parka, fertig war der deutsche "Links-Michel". Die schwarz-rot-goldene Flagge am Jackenärmel wurde abgetrennt, versteht sich. Als sich Jahrzehnte später die Briten im Post-Anorak-Fieber (siehe Anorak) einem flüchtigen Bundeswehr-Parka-Exotismus hingaben, hätten sie einen Teufel getan, die Deutschlandfahne zu entfernen. Die ist doch das i-Tüpfelchen! Manch andere modebewusste Deutsche reagierten darauf, indem sie den goldenen Streifen abtrennten. So blieb nur das Schwarz-Rot übrig: die Farbkombination, die auf die syndikalistischen Anarchisten zurückgeht. +Bob Marley oder Che Guevara? In der Blüte ihrer Jahre dahingeraffte, sexy Männer vom Rande der eurozentrischen Welt mit ernsthaften Anliegen – seit Jesus ist das die Blaupause für Helden im Herzen von Teenagern. Und sein Herz trägt man als Teenager gerne auf dem T-Shirt. Ob man sich für den kiffenden Rastafari oderden Stalin verehrenden Revolutionär entscheidet, für Gitarre oder Gewehr, bleibt gehupft wie gesprungen. Mit einem Che-Guevara-Shirt hält man sich allerdings den musikalischen Rücken frei und kann sich statt zu Reggae auch zu Janis Joplin oder Green Day bekennen. Der größte Unterschied zwischen Bob und Che ergibt sich für die T-Shirt-Produzenten. Die Rechte am prominentesten Che-Porträt von Alberto Korda forderte der Fotograf zu seinen Lebzeiten nur ein einziges Mal ein, als nämlich ein Wodka damit beworben wurde, die an Bob-Fotos hingegen werden von seiner Familie gehalten und erhoben. Also ab mit dem Che-Motiv in die asiatische Massenproduktion. Dass die Che-Shirts unter genau denselben ausbeuterischen Bedingungen produziert werden, gegen die der marxistische Revolutionär ankämpfte, juckt die Fans nicht. +Jetzt wird es kompliziert. Spätestens seit den 1960er-Jahren ist es die gesellschaftliche Pflicht der Jugend zu rebellieren. Die Jugend stößt sich die Hörner ab, die Gesellschaft guckt ihnen frische Impulse ab. Aufstand ist Norm in der Freizeit- und Konsumgesellschaft, Rebellion ist Konformismus. Ist also Konformismus Rebellion? Das fragten sich die Popper seit den 1980er-Jahren und passten sich so an, dass der liberalen Erwachsenenwelt, die sich gerade Graffiti und Punkrock nutzbar gemacht hatte, ihr Orientierungskompass durchdrehte. Den konformistischsten Zeichensalat richteten die Popper mit der Kombination Cowboystiefel zu Trachtenjacke an: unten Helden-Patriotismus à la John Wayne ("John Wayne was a Nazi, he liked to play SS", US-amerikanische Hardcore-Band MDC), oben Helden-Patriotismus à la Luis Trenker (der sich den Nazis mit seinen Heimatfilmen andiente). Die grün wählenden Eltern ärgerten sich grün über ihre Kids. In der dekadenten Spätphase dieser Mode sägte man den Absatz der Cowboystiefel schräg ab, damit sie vorne höher ragten, und verzierte die Spitze mit einer Metallkappe. +Die klassische Motorradlederjacke in Schwarz mit diagonalem Reißverschluss und W-Kragen wurde schon Ende der 1920er-Jahre von der US-amerikanischen Firma Schott als "Modell Perfecto" lanciert. Zum weltweiten Synonym für authentisches Rebellentum avancierte sie erst durch die Mythenschmiede Hollywood. Marlon Brando irritierte als "The Wild One" 1953 auf einem Triumph-Motorrad und mit Perfecto-Lederjacke das Establishment einer amerikanischen Kleinstadt. Dass seine Rolle ihn weniger als Halbstarken-Helden denn als kläglichen Hanswurst, der doch nur nach Liebe und Orientierung sucht, dastehen lässt, wurde irgendwie von den Verehrern übersehen. Als symbolische Absage an die Gesellschaft hätte viel eher das Langarm-Shirt mit Blockstreifen von Brandos Gegenspieler Chino, gespielt von Lee Marvin, getaugt: Chino zeigt sich versoffen unversöhnlich, ein echter Anarcho-Aussätziger. Als unzweifelhaftes Helden-Accessoire wurde die schwarze Motorradlederjacke erst gute 30 Jahre später durch George Michael gerettet, der ein Modell von La Rocka! in seinem Video zu"Faith"trägt – so unauthentisch, wie es nur geht. +Kellnerjacken, Reiteroffiziersjacken, Trachtenjacken, Zirkusdirektorjacken, die linke Bohème hat sich seit den 1950er-Jahren eine Unzahl an Jacken aus den unterschiedlichsten Bereichen angeeignet und sie schelmisch kombiniert. Aber eine Mao-Jacke?Mao Zedong, der jahrzehntelange Vorsitzende der Kommunistischen Partei Chinas, dessen Politik mehreren Millionen Menschen den Tod brachte? Mao bekannte sich schon Ende der 1940er-Jahre offiziell zu dem kastigen, hochgeschlossenen, praktisch-spröden Kleidungsstück – und zwang sein Volk in diese antibürgerliche, antiwestliche Uniform. Als westlicher Stammtischrevoluzzer konnte man in Mao-Jacke seine Verachtung gegenüber bourgeoiser Individualität kundtun. So der Mythos. Es machte allerdings kaum jemand. Die Mao-Jacke ist in den westlichen Gegenkulturen immer nur Möglichkeit geblieben, aber nie breitere Realität geworden. Aktuell inszeniert sich die Laptop-Bohème als Modeverächter, indem sie sich für einen Bruder der Mao-Jacke entscheidet: den Blaumann. Der ist ideologisch weitaus unverfänglicher. +Seine Motorradlederjacke hat der Journalist und Autor Jan Joswig nicht nur so zum Spaß. Gerade fährt er nämlich mit seinem Motorad quer durch Rumänien diff --git a/fluter/vielfalt-filmbranche-studie-interview.txt b/fluter/vielfalt-filmbranche-studie-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bb33f75b2ac3b660ea555efdf645ee5aa26dcd32 --- /dev/null +++ b/fluter/vielfalt-filmbranche-studie-interview.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Haben Sie eine Erklärung dafür, warum es bis jetzt noch keine Daten dazu gab? +Wenn es um die Frage geht, ob man Daten zu diskriminierten Gruppen erheben sollte, wird oft mit der Zeit des Nationalsozialismus argumentiert, in der solche Daten missbraucht wurden. Dahinter steckt aber ein falscher Gedanke. Denn indem man Diskriminierung nicht offenlegt, wird sie toleriert. Die Communitys, die zum Beispiel rassistisch diskriminiert werden,sagen heute selbst, dass sie diese Daten haben wollen, um offenzulegen, wie stark der Rassismus ist und wie er strukturell wirkt. +Wie sind Sie bei der Studie genau vorgegangen? +Wir haben uns die Frage nach Vielfalt undDiskriminierung im Hinblick auf Mehrfachzugehörigkeitenangeschaut – also anhand aller Dimensionen, die im allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz genannt werden: Geschlechtsidentität, sexuelle Orientierung, Religion, Weltanschauungen, Behinderung oder Beeinträchtigung, rassistische Diskriminierung, Alter. Diesen Katalog haben wir um die Aspekte sozialer Status, DDR oder Ostsozialisation und Gewichtsdiskriminierung erweitert. Die meisten der Befragten haben ein bis drei Mehrfachzugehörigkeiten genannt. Deshalb ist diese Studie auch ein starkes Plädoyer dafür, mehr auf die Überschneidung von Diskriminierungskategorien, die sogenannteIntersektionalität, zu schauen. Diskriminierung lässt sich nur abbauen, wenn man die Zusammenhänge versteht. + +Für ihre Erhebung werteten Yildirim und ihr Team von der gemeinnützigen Organisation "Citizens for Europe" rund 5.500 online ausgefüllte anonyme Fragebögen aus. Die Antworten stammen von Menschen ab 16 Jahren aus 440unterschiedlichen Berufen vor und hinter der Kamera. Die Umfrage lief zwischen Juli und November 2020 und wurde unter anderem von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gefördert. Die ausführlichen Ergebnisse sindhiernachzulesen. +Gibt es Gruppen, die besonders stark diskriminiert werden? +Die meiste Diskriminierung wird von Frauen aufgrund ihres Geschlechts erlebt. Gleichzeitig muss man sagen: Während 80 Prozent der befragten Frauen angegeben haben, schon irgendwann einmal aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert worden zu sein, werden die 13 Prozent der Befragten, die rassistisch diskriminiert werden, regelmäßig diskriminiert. Und Menschen mit Rassismuserfahrung sind zugleich nur zu ungefähr 16 Prozent an der "Gestaltungsmacht" beteiligt – also der Frage, welche Geschichten erzählt werden. Bei der "Besetzungsmacht" – also der Frage, wer die Geschichten umsetzt – sind es nur neun Prozent. Dabei machen Menschen mit Migrationsgeschichte derzeit 26 Prozent der deutschen Bevölkerung aus. Da sehen wir also noch viel Luft nach oben. +Gleichzeitig ist Vielfalt nicht gleich Vielfalt: Oft wird zwar Diversität abgebildet, aber auch wieder nur in gängigen Klischees. +Ja, das hat unsere Umfrage bestätigt. Wir haben gefragt, inwieweit die Teilnehmenden zustimmen, dass bestimmte Gruppen klischeehaft dargestellt werden – zum Beispiel arabisch oder muslimisch gelesene Menschen oder Sinti und Roma, aber auchMenschen mit ostdeutschem Akzentoder solche mit Behinderung. Da haben wir für fast alle Gruppen sehr, sehr hohe Zustimmungswerte. Am höchsten liegen sie für arabisch und muslimisch gelesene Menschen und für Sinti und Roma. +Was für Klischees sind das? +Ein Befragter hat erzählt, dass ihm Caster und Agenten vorgeschlagen hätten, einen anderen, "weniger arabisch" klingenden Künstlernamen anzunehmen. Arabisch gelesene oder Schwarze Schauspieler bekommen außerdem oft nur Rollenangebote als Drogendealer oder Terrorist. Daran sieht man: Klischees sind einerseits noch weit verbreitet, und Schauspieler*innen sind andererseits einem Druck ausgesetzt, diese Stereotype darzustellen. Das Ergebnis ist oft, dass Film- und Fernsehen nicht die Lebensrealität dieser Gruppen abbilden. +Sie haben es gerade schon angedeutet: Ein großer Aspekt beim Thema Diskriminierung ist die sexuelle Belästigung. Zu welchen Ergebnissen kommt Ihre Studie da genau? +81 Prozent der Cis-Frauen, die an der Umfrage teilgenommen haben, haben bereits sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt – bei Frauen of Color war diese Zahl mit 83 Prozent noch etwas höher. Auch das Alter ist ein verschärfender Faktor: Frauen zwischen 25 und 35 Jahren haben zu 89 Prozent sexuelle Belästigung erlebt. Das sind sehr deutliche Zahlen, die zeigen, wie sehr sexuelle Belästigung in der Filmbranche strukturell verankert ist und wie sie das Arbeitsklima beeinträchtigt. +Was außerdem auffällt, ist, dass zwei von drei Personen, die sexuelle Belästigung erfahren haben, diese nicht gemeldet haben. +Das hat uns auch sehr überrascht. Ein Drittel der Befragten, die einen Vorfall gemeldet haben, berichteten außerdem, dass es nicht nur keine Konsequenzen gab, sondern dass sich die Belästigung sogar wiederholt hat. Dahinter stecken ganz bestimmte Strukturen, die das erst möglich machen: Sexuelle Belästigung geht in neun von zehn Fällen von Männern aus, die in Machtpositionen sitzen. Also genau von denen, die über Jobs entscheiden und eigentlich gewährleisten sollten, dass Arbeitsräume frei von Diskriminierung sind. Deshalb glauben wir, dass die Dunkelziffer extrem hoch sein muss. Denn wenn man immer wieder sieht, dass es für ein solches Verhalten keine Konsequenzen gibt, traut man sich nicht, so etwas zu melden – aus Angst, dann bei Castings oder anderen Jobs nicht zum Zug zu kommen. +Gibt es andere Ergebnisse, die Sie überrascht haben? +Mich hat generell das Ausmaß der Diskriminierungserfahrungen überrascht, aber auch, welche Unterschiede es mitunter gibt. Zum Beispiel, dass Menschen mit Beeinträchtigung viel mehr unentgeltlich arbeiten müssen als Menschen ohne Beeinträchtigung. Wichtig ist auch, darauf zu schauen, wer im Datensatz fehlt: zum Beispiel alleinerziehende Frauen. Das zeigt, dass die Diskriminierung schon vor dem eigentlichen Job anfängt, wenn bestimmte Personen gar nicht erst in die Branche reinkommen. +Welche Konsequenzen erhoffen Sie sich – jetzt, da die Zahlen vorliegen? +Die Betroffenen wissen selbst am besten, was sie brauchen. Ihnen ist zum Beispiel wichtig, dass es klare Konsequenzen für die Täter*innen gibt und schnellere Handlungsoptionen für den Akutfall. Wichtig wäre außerdem,dass Nackt- oder Intimszenen durch verbindliche Regeln gerahmt werden. Dass ein Caster zu einer Schauspielerin nicht einfach beim Casting sagen kann: "Ja, dann zieh dich jetzt mal aus." Man muss sich ja klarmachen: All diese diskriminierenden Verhaltensweisen verstoßen gegen Gesetze. Und die Führungskräfte sind dafür verantwortlich, dass diese Gesetze eingehalten werden. Jetzt, da wir sehen, dass es ein strukturelles Problem mit sexueller Belästigung und Diskriminierung in der Branche gibt, ist es an der Filmbranche und der Politik, einen Dialog zu starten – und sich eventuell weitere gesetzliche Regelungen zu überlegen. +Deniz Yıldırım, 39, hat Soziologie studiert und danach an den Universitäten Duisburg-Essen und Kassel geforscht. Bei "Citizens for Europe" arbeitet sie als "Head of Research" und beschäftigt sich vor allem mit der Frage, wie man soziale Ungleichheit messen kann. diff --git a/fluter/vier-feministinnen.txt b/fluter/vier-feministinnen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3473adffbdd82e4ff4c01c1d352b966f47a0bd43 --- /dev/null +++ b/fluter/vier-feministinnen.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Wüsste Simone de Beauvoir, dass der Ratgeber "Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken" ein echter Verkaufsschlager ist, wäre sie wahrscheinlich ziemlich aufgebracht. Denn in dem Buch, das im Jahr 2000 auf Deutsch erschien, wird genau das gemacht, was sie bereits 1949 in ihrem Werk "Das andere Geschlecht" abgelehnt hatte: nämlich die vermeintlichen Unterschiede zwischen Mann und Frau als durch die Natur bedingte Tatsachen darzustellen. +"Dass ich eine Frau bin, hat mich in keinster Weise behindert. Für michhat das sozusagen keine Rolle gespielt." Dies soll Simone de Beauvoir ihrem Lebenspartner, dem berühmten Philosophen Jean-Paul Sartre, gesagt haben, mit dem sie ein halbes Jahrhundert bis zu seinem Tod verbrachte. Mit Blick auf ihre Biografie erscheint das logisch. Als eine der ersten Frauen studierte sie an der Pariser Sorbonne Philosophie, Literatur und Mathematik. Eine gemeinsame Wohnung, Hochzeit, Kinder, Monogamie – das alles kam für sie und Sartre nicht infrage, an gesellschaftliche Konventionen hielten sich die beiden nicht. Für sie war klar: Nichts ist vorbestimmt, der Mensch schafft seine Existenz selbst. De Beauvoir wollte eine bekannte Schriftstellerin werden und wurde es. Nichtsdestotrotz ließ Sartre besagten Satz nicht unkommentiert: Jungen würden aber anders erzogen als Mädchen. Das wollte de Beauvoir genauer wissen und schrieb "Das andere Geschlecht", heute eines der bedeutendsten Werke des Feminismus. +Darin untersucht sie die Lage der Frauen in einer männerdominierten Welt. Ihr Fazit: "Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es." Ein Satz, hinter dem einiges steckt: De Beauvoir sieht nicht die Natur als Grund für die unterschiedlichen Geschlechterrollen. Dass eine Frau mit einer Vagina geboren wird, bedeutet ihrer Meinung nach erst mal gar nichts. Also auch nicht, dass sie per se fürsorglich ist oder sich lieber um Kinder kümmert, statt große Konzerne zu leiten – solche Eigenschaften ­schreibe ihr die Gesellschaft zu. +Simone de Beauvoir hat Geschlecht als "Doing Gender" begriffen: Geschlecht ist nicht, was wir sind, sondern was wir tun und entwerfen. Sie betonte, dass das, was unter weiblich/männlich verstanden werde, sozial konstruiert sei. Ohnehin fand sie: "Die Tatsache des Menschseins ist unendlich viel wichtiger als alle Besonderheiten, die Menschenwesen auszeichnen." +Die TheoretikerinName:Judith ButlerGeboren am:24.Februar 1956 in ClevelandBekannteste These:Das biologische Geschlecht (Sex) ist genauso konstruiert wie das soziale Geschlecht (Gender)Für den Feminismus wichtig, weil …sie darauf aufmerksam gemacht hat, dass es mehr als nur "weiblich" und "männlich" gibt +Mal angenommen, jemandem wird die Aufgabe gestellt, das Bild eines Paares zu malen. Ergebnis: Links sehen wir eine Person mit Vagina und Perlenkette, darüber steht "Frau" geschrieben. Rechts eine Person mit Penis und Krawatte, darüber steht "Mann" geschrieben. Ein realistisches Bild? "Nein – ein komplett konstruiertes", würde Judith Butler wohl sagen. Warum die US-amerikanische Philosophin zu diesem Schluss käme? Eine Antwort darauf lässt sich in ihrem Werk "Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity" ("Das Unbehagen der Geschlechter") finden, welches 1990 erschien und für reichlich Aufsehen sorgte. Butler legt darin dar, dass das biologische Geschlecht (Sex) keine naturgegebene Tatsache ist. Der Körper und damit die Geschlechtsidentität sei ein Produkt kultureller Markierungen, Sex genauso konstruiert wie Gender. Mit dieser Schlussfolgerung verabschiedete Butler die Differenz zwischen Sex und Gender, eine der Grundannahmen des Feminismus. +Auch die Kategorien "weiblich" und "männlich" sind für sie Konstruk­tionen – nach Meinung Butlers geschaffen, um Macht auszuüben und die Heterosexualität als Norm aufrechtzuerhalten. Damit hat sie auf den Ausschluss und die Diskriminierung all jener hingewiesen, die sich nicht in diese Kategorien einfügen können: zum Beispiel Schwule, Lesben und Transgender. Butlers Posi­tion ist ihnen gegenüber offen und akzeptierend. +Und was heißt das nun übertragen auf das zuvor erwähnte Bild? Die Perlenkette wird einer Frau zugeordnet, weil das einer verbreiteten gesellschaftlichen Vorstellung von weiblich entspricht. Auch die Tatsache, dass wir die Vagina in der Zeichnung als anatomisches Kennzeichen einer Frau ansehen, ist nur dem Umstand geschuldet, dass sich dieses Körperbild in unserer Gesellschaft so sehr durchgesetzt hat. In einer anderen Kultur könnte die Vagina hingegen schlicht als Körperpartie mit Haaren gedeutet werden. Das Gleiche gilt dafür, dass es sich um ein heterosexuelles Paar handelt – ebenfalls Resultat gängiger Vorstellungen. +Judith Butler ist eine Art "Superstar der Theorie", und deshalb ist es manchmal schwierig, sie auf Anhieb zu verstehen. Ihre Forderung ist jedoch ­eigentlich ganz einfach: Geschlechts­identität muss als etwas Veränderbares verstanden werden, denn die eine richtige Identität gibt es eben nicht. Gar nicht so abwegig, oder? +Die PromoterinName:Alice SchwarzerGeboren am:3.Dezember 1942in WuppertalDevise:"Ich kann nicht die Klappe halten und habe das auch nicht vor."Für den Feminismus wichtig, weil …sie die Belange von Frauen in die breite Öffentlichkeit geholt hat +Du bist nur ein kleinbürgerlicher Spießer", ein "Muttersohn", dessen Leben immer "eines auf dem Sofa" war. Dieser Diss gegen Rapper Bushido stammt nicht von Sido oder Kay One. Nein, es sind die Worte von Alice Schwarzer. Bushidos frauenverachtende Texte und sein Machogehabe waren ihr zuwider. Schwarzer schrieb ihm einen offenen Brief. Doch Bushido war nicht die einzige Person, mit der sich Schwarzer anlegte. So kritisierte sie zum Beispiel Verona Pooth, damals Feldbusch, dafür, dass sie "für eine hohe Gage die verfügbare Frau spielt". +Es ist wohl eines der Markenzeichen, wenn nicht das Markenzeichen von Alice Schwarzer, dass sie nie die Konfrontation scheut. Im Gegenteil: Ist die Journalistin und Verlegerin von einer Sache überzeugt, tritt sie für diese ein – in aller Öffentlichkeit und Schärfe. Vor allem, wenn es um Frauen geht. +Eine von Schwarzer initiierte Kampagne sorgte dafür, dass die Ende der 60er-Jahre entstandene "neue Frauenbewegung" einen weiteren Mobilisierungsschub bekam und über das universitäre Milieu hinauswuchs. Schwarzer sammelte 374 Unterschriften von Frauen, darunter auch Prominente wie Romy Schneider, die sich im "Stern" vom 6. Juni 1971 öffentlich dazu bekannten: "Wir haben abgetrieben." Damit kämpften sie für die Abschaffung des Paragrafen 218, der Abtreibung ­generell unter Strafe stellte. Probleme, die mit der Geschlechterrolle der Frau zusammenhingen, wurden nun in der breiten Öffentlichkeit diskutiert. +Stets suchte Schwarzer das Gespräch mit Frauen. So auch in ihrem 1975 erschienenen Buch "Der kleine Unterschied und seine großen Folgen". Darin finden sich Interviews mit 16 Frauen aus allen Schichten, die über ihren Alltag und von Gewalt- undUnterdrückungserfahrungen berichten. Erneut hatte Schwarzer auf die ­Situation von Frauen aufmerksam gemacht. +Im Jahr 1977 gründete sie dann die Zeitschrift "Emma", die heute noch zur Popularisierung und Vermittlung feministischer Konzepte beiträgt. Immer wieder bringt "Emma", unter Feder­führung Schwarzers, Kampagnen auf den Weg. Dazu gehört zum Beispiel der "Appell gegen Prostitution", mit dem die Zeitschrift im Herbst 2013 eine Änderung des Prostitutionsgesetzes forderte. Diese und andere Kampagnen waren nie unumstritten. Gleiches gilt vor allem auch für Alice Schwarzer selbst. +Eines kann ihr jedoch niemand vorwerfen: dass sie die Klappe gehalten hätte. +Die MeuterinName:Laurie PennyGeboren am:28.September 1986 in LondonDevise:"Wohlverhalten bringt uns nicht weiter."Für den Feminismus wichtig, weil …sie klarmacht, dass eine Frauenquote nicht reicht und es für alle anders werden muss +Ich bin verkleidet als queere feministische Antikapitalistin aus dem Internet und komme, um eure Kinder zu verderben. Das ist gruselig genug, nicht wahr?" ("I'm dressed as a queer feminist anti-capitalist from the internet, coming to corrupt your children. That's scary enough, right?"). Das twitterte die englische Journalistin und Bloggerin Laurie Penny am 31. Oktober 2015 passend zu Halloween. "Ich will eine Meuterei. Mit dem Irrglauben, wir befänden uns am Zielpunkt des feministischen Fortschritts, muss dringend aufgeräumt werden – und zwar schnell", schreibt Laurie Penny in ihrem Buch "Unspeakable Things.  Sex, Lies and Revolution" ("Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution"), das Anfang 2015 auf Deutsch erschienen ist. +Was ist ihr Problem? Das Bild vom Heimchen am Herd, an dessen Schürzenkittel zwei Kinder hängen, ist doch längst passé. Die Frau von heute jettet durch die Welt, macht Karriere, hat Kinder oder eben nicht. In Deutschland gilt ab 2016 eine ­Frauenquote von 30 Prozent bei der Neubesetzung von Aufsichtsräten von gut 100 börsennotierten Unternehmen. Für Penny ungenügend: Der Feminismus der letzten Jahre gelte nur für wenige, für gut verdienende ­weiße Frauen der Mittelschicht. Aber:  "Überrepräsentiert sind wir wie eh und je in schlecht bezahlten, unterbezahlten und unbezahlten Jobs." Die "emanzipierte Superfrau" bekäme ihr Leben nur mithilfe von anderen, geringer bezahlten Frauen auf die Reihe. Solche, die für sie putzen oder die Kinder betreuen. Penny will einen Feminismus, der andere Frauen nicht ausbeutet, sondern für alle gilt – unabhängig von Einkommen, Hautfarbe, Geschlecht oder sexuellen Vorlieben. +Außerdem seien die "Karriere­feministinnen" eine ideale Ressource des Kapitalismus, da sie sich der bedingungs­losen Leistungsbereitschaft ­verschrieben hätten. Wenn sie all den Ansprüchen gerecht werden würden ("akademisch erfolgreich, gesellschaftlich gewandt, körperlich attraktiv, sexuell verführerisch, aber nicht zu ,nuttig', ehrgeizig, aber bitte nicht ,penetrant'"), wären sie am Ende nicht glücklich, sondern unfassbar erschöpft. +Feminismus funktioniert bei Laurie Penny nicht, ohne auch das kapitalistische System radikal zu kritisieren. So auch in ihrem 2011 erschienenen Werk "Meat Market" ("Fleischmarkt"), in dem sie am Beispiel von Pornografie undsexistischer Werbung deutlich macht, wie die Konsumgesellschaft das Weibliche, vor allem den weiblichen Körper, als Projektionsfläche missbraucht. +Wenn sich ein Auto besser verkauft, weil eine halb nackte Frau aufihm liegt, ist das gruselig. Laurie Penny ist es nicht. diff --git a/fluter/viertelstunde.txt b/fluter/viertelstunde.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vietnamkrieg-die-folgen-von-agent-orange.txt b/fluter/vietnamkrieg-die-folgen-von-agent-orange.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..103cf804dc84981c063c8b025b4169c9f689af2c --- /dev/null +++ b/fluter/vietnamkrieg-die-folgen-von-agent-orange.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Hunderttausende erkrankten, vietnamesische Soldaten, amerikanische GIs, selbst ihre Nachkommen. Dabei begann die Geschichte von Agent Orange im Labor eines Mannes, der dem Leben zuarbeiten wollte, nicht dem Tod. +Nicht im Sinne des Erfinders: Arthur Galston hatte ursprünglich an einem Dünger für Sojabohnen geforscht. Auf Grundlage seiner Studien entwickelte das US-Militär das Entlaubungsmittel Agent Orange +Anfang der 1940er-Jahre war der junge US-Amerikaner Arthur Galston ein hoffnungsfroher Botaniker. Für seine Doktorarbeit an der Universität von Illinois forschte er an einem Dünger für Sojabohnen. Mit einem Stoff namens TIBA erzielte er die besten Ergebnisse. In geringen Mengen ließ er die Pflanzen schneller erblühen und rascher wachsen. Das Mittel wirkte wie ein Wachstumshormon. Bei Überdosierung aber verkehrte sich der Effekt überraschend in sein Gegenteil. Erst wuchs die Pflanze übermäßig schnell und unkontrolliert, dann welkten die Blätter und fielen als braune Krümel zu Boden. Für die Pflanzen bedeutete das den Tod. TIBA war Dünger und Unkrautvernichter in einem. +Im März 1965, rund 20 Jahre später, las Galston einen Artikel in der "New York Times". Es war ein Bericht aus einem Land am anderen Ende der Welt. Gegen kommunistische Guerillas im Vietnamkrieg, so schrieb der Autor, würden die US-Armee und südvietnamesische Truppen Unkrautvernichter anwenden. Zur Entlaubung – und um die Ernten zu zerstören, von denen sich die kommunistischen "Vietcong" ernährten. +Galston wusste, was das bedeutet. Auf der Grundlage seiner Studien, mit denen er den Hunger in der Welt bekämpfen wollte, hatte das US-Militär ein Entlaubungsmittel entwickelt, das es nun im Krieg einsetzte – und das Menschen hungern ließ. Galstons Erfindung war jetzt keine mehr, die der Menschheit nur Nutzen brachte. Sie war ein chemischer Kampfstoff in der Tradition von Chlorgas, Senfgas, Sarin. +Aus dem Botaniker Galston wurde an jenem Tag der engagierte Biologe, der sein Leben dem Kampf gegen Agent Orange widmen würde. Im September 1966 sandte Galston mit elf anderen Botanikern, darunter den erfahrensten Experten auf ihrem Gebiet, einen ersten Brief an den US-Präsidenten Lyndon B. Johnson. Sie erklärten, warum der Einsatz von Agent Orange ein Angriff auf die Schwächsten der Gesellschaft sei: Frauen und Kinder würden als Erste verhungern. Sie baten Johnson, den Einsatz zu überdenken. Die Antwort kam zwei Wochen später von einem Referatsleiter des Außenministers. Sie lautete sinngemäß: Ihr wart nicht in Vietnam, also habt ihr keine Ahnung. +Rund zehn Jahre zuvor hatte erstmals Großbritannien Entlaubungsmittel als Kriegswaffe eingesetzt. Über dem heutigen Malaysia versprühten Soldaten des Commonwealth tonnenweise Agent Orange. +Die Juristen des Landes kamen auf eine spitzfindige Begründung, um den Einsatz vor aller Welt zu legitimieren: Um nicht gegen die Genfer Protokolle zu verstoßen, wurde der Einsatz der Chemikalie als Mittel zur Zerstörung von Lebensmittelpflanzen gerechtfertigt. +Auch die US-Armee folgte in Vietnam dieser Logik. Im "Field Manual 27-10" hieß es, die Soldaten dürften "mit chemischen oder biologischen Mitteln, die für Menschen harmlos sind, Feldfrüchte zerstören, die allein der Ernährung feindlicher Truppen dienen". Militärisch gesehen ergab das Sinn. Wissenschaftlich gesehen war es Unfug – und ein gefährlicher noch dazu. Wer massenhaft Pflanzen tötet, tötet indirekt auch Menschen. Zudem wandten die US-Soldaten Agent Orange in dutzendfach höherer Konzentration an, als es im zivilen Bereich erlaubt gewesen wäre. +Auch Arthur Galston war Biologe genug, um zu wissen, welch verheerende Folgen eine massenhafte Entlaubung für das gesamte Ökosystem hat. Im Februar 1967 sandte er erneut eine Petition an Johnson. Diesmal unterschrieben mehr als 5.000 US-Wissenschaftler, darunter 17 Nobelpreisträger. Wieder wiegelte die US-Regierung ab. Erst zwei Jahre später verkündete die Regierung – nun unter Präsident Richard Nixon – ein Ende des Agent-Orange-Einsatzes. Galston und die wissenschaftliche Gemeinschaft hatten das Verteidigungsministerium darauf hingewiesen, dass Agent Orange auch Menschen schaden könnte – und damit auch den eigenen Soldaten. +Nicht das Agent Orange selbst war so gefährlich. Als Nebenprodukt einer massenhaften Herstellung enthielt die Chemikalie auch Dioxin. Die chlorhaltige Verbindung ist, wie Galston zeigte, eine der giftigsten Chemikalien, die die Menschheit je hergestellt hat. Neun Milligramm töten einen Labrador, oder anders ausgedrückt: Zwei Teelöffel voll Dioxin bringen etwa eine Million Hunde um. Wie tödlich Dioxin für Menschen ist, weiß man nicht genau. Es ist allerdings schwieriger aufzuzählen, für welche Schäden Dioxin noch nicht verantwortlich gemacht wurde, als das Gegenteil. +Chemikalien wie Dioxin könnten möglicherweise das Erbgut verändern, indem sie womöglich den Mechanismus angreifen, mit dem die Aktivität von Genen gesteuert wird. Werden etwa tumorhemmende Gene gestört, kann Krebs entstehen. Auch Fehlbildungen sind möglich. +Genschäden +Nicht nur Kriege, auch Medikamente und schwere Unglücke können bei Menschen Genschäden hervorrufen. In den 1950ern nahmen Zehntausende Menschen, auch Schwangere, gegen ihre Schlaflosigkeit Thalidomid. Der Arzneistoff ist besser bekannt unter dem Markennamen Contergan. Bis zu 10.000 Kinder wurden daraufhin mit verkürzten oder fehlenden Gliedmaßen geboren. Bei einer Chemiekatastrophe im indischen Bhopal wurden 1984 Dutzende Tonnen giftige Gase freigesetzt. Sie töteten Tausende Menschen. Die Kinder der Überlebenden leiden an Allergien. Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 zeigten Forscher in einer Studie, dass die Zahl der krebsbegünstigenden Mutationen bei Kindern auf das Doppelte anstieg. Vögel, die um Tschernobyl leben, weisen sogar zwei- bis zehnmal so viele Genveränderungen auf. +Ob und wie genau das Dioxin in Agent Orange die Nachkommen schädigt, ist umstritten und wird bis heute erforscht. Eine Metastudie der Universität Texas kam 2006 zu dem Schluss: Vor allem Fehlbildungen wie offene Rücken können auftreten, wenn die Eltern mit Agent Orange in Kontakt kamen. Mehr Forschung wäre nötig, aber dafür fehlt in Vietnam oft das Geld. +Erwiesen ist, dass Menschen in Südvietnam – dort, wo Agent Orange hauptsächlich eingesetzt wurde – im Durchschnitt mehr Spuren des Giftes in ihrem Blut tragen als Vietnamesen aus dem Norden. Belegt ist auch, dass in den Jahren nach dem Agent-Orange-Einsatz Frauen in Vietnam Kinder ohne Augen gebaren, Kinder mit nur einem Bein, Kinder mit Gesichtern wie Steinmenschen. In den USA bekamen die Soldaten Lungenkrebs. +Mehr als 300.000 Vietnamesen gelten heute offiziell als Opfer von Agent Orange. Das Vietnamesische Rote Kreuz beruft sich auf Studien, wonach sogar bis zu drei Millionen Menschen von den Folgen betroffen sind. Selbst mehr als 40 Jahre nach Ende des Vietnamkrieges gelten Böden im südlichen Teil des Landes als dioxinbelastet und damit giftig. +Entschädigungen erhielten nur die US-Soldaten: Chemiekonzerne wie Dow Chemical zahlten 52.000 Veteranen Entschädigungen von insgesamt 197 Millionen Dollar. +Fünf Jahre vor seinem Tod zog Arthur Galston nach einem langen Forscherleben gegenüber der "New York Times" Bilanz. "Niemand kann einem garantieren, dass das, was man in der Wissenschaft tut, der Menschheit auch hilft. Jede Entdeckung ist moralisch neutral", sagte er im Jahr 2003. "Sie kann benutzt werden, um Dinge aufzubauen – oder um sie zu zerstören. Aber das ist nicht der Fehler der Wissenschaft." +Bis heute sind Unkrautvernichtungsmittel im Krieg nicht endgültig verboten. +Titelbild: Photri/Polaris/laif diff --git a/fluter/voelkerball.txt b/fluter/voelkerball.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8daac89a877c1d5457ed6e0f864ad33095962236 --- /dev/null +++ b/fluter/voelkerball.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Aleviten und Sunniten sind Muslime, die Aleviten gelten als liberaler. Sie haben kein einheitliches religiöses Dogma und bauen ihren Glauben auch nicht auf den fünf Säulen des Islam auf – also der Ableistung des Glaubensbekenntnisses, dem Fastenmonat Ramadan, der Pilgerfahrt nach Mekka, regelmäßigem Beten und einer bestimmten Form von Abgaben. Aleviten beten nicht in der Moschee, sie treffen sich in einem Gemeindehaus oder Zuhause. Männer und Frauen, die sich übrigens nicht verschleiern, können an den Zeremonien gleichberechtigt teilnehmen. Außerdem lehnen die Aleviten die Scharia ab, die islamische Rechtsordnung, die das zivile und religiöse Leben regelt. Die Aleviten bilden mit etwa 20 Prozent die nach den Sunniten zweitgrößte Religionsgemeinschaft in der Türkei.Alevi bedeutet "Anhänger Alis". Ali ibn Abi Talib war der vierte Kalif und Schwiegersohn des Propheten Mohammed. In ihrer Verfassung ist die Türkei als demokratischer, sozialer und laizistischer Staat festgeschrieben. Also als Staat,in dem Kirche und Staat getrennt sind. Experten für Menschenrechtsfragenmeinen, dieses Prinzip werde durch das staatliche, rein sunnitische "Präsidium für Religionsangelegenheiten" unterlaufen. Keiner der 100 000 Beschäftigten istAlevit. Statt die Religion zu kontrollieren, habe die Behörde den Islam in Eigenregieübernommen und verwalte ihn. Damit sei die Türkei ansatzweise zu einer "sunnitischenRepublik" geworden. Die Sunniten bezweifeln – teilweise öffentlich –, dass Alevitenüberhaupt Muslime sind. Alevitische Schüler müssen den sunnitischen Religionsunterricht besuchen. Politisch zählen die meisten Aleviten zu denSozialdemokraten und den gemäßigten Linken. Obwohl jeder fünfte Bürger der TürkeiAlevit ist, sind ihre wichtigsten Forderungen bisher unerfüllt: staatliche Anerkennung, eine alevitische Abteilung im Präsidium für Religionsangelegenheiten, alevitischer Religionsunterricht in den Schulen. Im April 2005 gab aber erstmals ein türkischesGericht dem Antrag einer alevitischen Familie statt,die ihr Kind vom Religionsunterrichtbefreien wollte. Im Juli 2006 gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einem Vater recht, der Gleiches für seine Tochter forderte. Obligatorischer Religionsunterricht,so das Urteil, das laut der türkischen Zeitung Hürriyet im Herbst offiziell verkündet werden soll, verstoße gegen das Recht auf Religionsfreiheit und freie Meinungsäußerung. +In keinem anderen islamischen Land leben so viele Juden wie in der Türkei. Ende des 15. Jahrhunderts flohen Hunderttausende spanische Juden vor der Inquisition und auchwährend der Nazidiktatur nahm die Türkei jüdische Emigranten auf. In den Fünfzigerjahren wanderten viele Juden nach Israel aus. Heute leben etwa 22 000 Juden inder Türkei, 20 000 davon in Istanbul. Sie sind Ärzte, Händler, Journalisten und halten sich im öffentlichen Leben eher zurück.Antisemitismus hat in der Türkei – im Gegensatz zu anderen Ländern – keine Tradition und war daher lange eine Randerscheinung. Antisemitische Hassparolen islamischer Fundamentalisten fanden in der türkischenBevölkerung fast keine Resonanz. Im Istanbuler Stadtteil Kuzguncuk stehen sogar eine Moschee, eine Kirche und eine Synagoge in unmittelbarer Nähe zueinander und erinnern an das friedliche Miteinander von Türken, Armeniern und Juden. Zuletzt verschlechtertesich die Situation durch den Libanon-Konflikt. In den Straßen sind vermehrt antiisraelische und antisemitische Poster zu sehen, die Zeitung Turkish Daily News berichtet, dass sich Ladeninhaber in Istanbul geweigert hätten, jüdische Kunden zu bedienen. Verunsichert haben die jüdische Gemeinde die Anschläge islamischer Terroristen auf zwei Istanbuler Synagogen im Jahr 2003. Einer davon traf die größte Synagoge Istanbuls "Neve Shalom", insgesamt wurden 25 Menschen ermordet, über 300 verletzt. +Etwa 14 Millionen Kurden leben heute in der Türkei,manche schätzen ihre Zahl auf bis zu 20 Millionen. Eine genaue Zahl ist nicht bekannt, da bei Volkszählungen Ergebnisse fehlen oder nicht öffentlich gemacht werden. Die meisten Kurden leben in Südostanatolien, in den Provinzen Urfa, Batman und Diyarbakir – im Durchschnitt unter sehr schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen. Im Jahr 2003 lag nach Angaben des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung das Durchschnittseinkommen im Westen der Türkei bei 6000 US-Dollar. In den Kurdengebieten waren es dagegen nur 600 US-Dollar. Von einem möglichen Beitritt zur EU erhoffen sich die Kurden eine Stärkung ihrer Position und die Möglichkeit, ihre Kultur ohne jede staatliche Einschränkung leben zu können. Erst im April 1991 hat das türkische Parlament ein Gesetz aufgehoben, das die Verwendung der kurdischen Sprache unter Strafe gestellt hatte. Im Jahr 2002 erlaubte das türkische Parlament den Unterricht in kurdischer Sprache, allerdings nur in privatem Rahmen. Den kostenpflichtigen Unterricht können sich die meisten Kurden nicht leisten. Außerdem müssen die Schulungsräume hohen Bauauflagen entsprechen, was es sehr schwer macht, günstige Unterrichtsräume zu mieten und größere Schulen zu gründen. Seit vier Jahren darf Kurdisch auch im staatlichen Radio und Fernsehen gesprochen werden. Gesetzlich vorgeschrieben sind dabei türkische Untertitel. Ausgestrahlt werden diese Programme nur wenige Stunden in der Woche. Aber auch die kurze Sendezeit hat positive Auswirkungen auf die Musikszene: Kurdische Musik war lange verboten. Musiker sangen also auf Türkisch und verhielten sich unpolitisch. Wer auf Kurdisch singen wollte, ging ins westliche Ausland und veröffentlichte dort Kassetten, die in der Türkei unter der Hand weitergegeben wurden. Nun gibt es in der Türkei eine neue Generation junger Songwriter wie Aynur oder Rojin, die auch im Radio gespielt werden. Wenn im türkischen Fernsehen das Video einer kurdischen Band gespielt werden soll, wie Hülya Avsar (siehe Seite 5) das wollte, sorgt das für großes Aufsehen. +Die Armenier sind das älteste christliche Volk der Welt. Im 4. Jahrhundert wurde das Christentum im Königreich Armenien zur Staatsreligion ausgerufen. Knapp 3000 Jahre besiedelten die Armenier ein Gebiet zwischen Ostanatolien und dem Südkaukasus. Ab dem 14. Jahrhundert bis 1921 hatten die Armenier keinen eigenen Staat mehr. Die heutige Republik Armenien entstand erst nach dem Ersten Weltkrieg, gehörte aber bis 1991 zur Sowjetunion und erklärte sich nach deren Zerfall für unabhängig. Nur rund drei Millionen der weltweit etwa zehn Millionen Armenier wohnen in der Armenischen Republik, der Rest vor allem in Russland, Frankreich, den USA und im Nahen Osten. Außerhalb der armenischen Gemeinde in Istanbul mit ihren 46 000 Mitgliedern leben heute in der Türkei fast keine Armenier mehr. Zwischen 1915 und 1917 kamen bei der Vertreibung der Armenier aus ihren Wohngebieten im Osmanischen Reich bis zu 1,5 Millionen Armenier auf Todesmärschen und bei Massakern um. Das Europäische Parlament hat die türkische Regierung bei seiner Zustimmung zur Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen ausdrücklich aufgefordert, den Völkermord an den Armeniern als solchen anzuerkennen. Dagegen wehrt sich die türkische Regierung vehement. Die Türkei als Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reiches bestreitet bis heute, dass die Vertreibung der Armenier damals planmäßig und von der osmanischen Regierung beabsichtigt gewesen sei. Ein weiterer Streitpunkt ist der Schutz der alten armenischen Kirchen und Klöster in Anatolien. Das armenische Patriarchat in Istanbul zählte 1914 noch 210 Klöster und mehr als 2000 Kirchen. Nach Angeben des katholischen Hilfswerkes Missio stehen davon heute nur noch weniger als die Hälfte. Historiker werfen der türkischen Regierung vor, sie unternehme zu wenig,um armenische Bauten in der heutigen Türkei vor dem Verfall zu bewahren. diff --git a/fluter/voelkermord.txt b/fluter/voelkermord.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2fe0f4042fe2b671e2174bc14545611c807cd142 --- /dev/null +++ b/fluter/voelkermord.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Vor, während und nach dem Genozid sammelten Wissenschaftler und Militärärzte menschliche Schädel und schickten sie als Forschungsobjekte nach Deutschland. Die Untersuchungen dienten dazu, rassistische Theorien zu untermauern und den kolonialen Herrschaftsanspruch zu legitimieren. "Die Herero-Frauen mussten die Schädel damals kochen und mit Glasscherben säubern. Die Körper haben die Deutschen ins Meer geworfen und die Köpfe nach Deutschland gebracht. Das ist schwer zu verstehen", sagt Israel Kaunatjike. +Der 71-jährige Berliner Herero-Aktivist setzt sich seit mehr als 15 Jahren für die Aufarbeitung des Völkermords ein. Er besucht Schulen und klärt dort über Deutschlands koloniale Vergangenheit auf. Denn diese und Deutschlands erster Völkermord schienen im gesellschaftlichen Bewusstsein lange verdrängt zu sein. Doch seit dem 100. Jahrestag des Genozids 2004 werden die Stimmen der Nachfahren von Herero und Nama lauter, die seit vielen Jahren die Anerkennung des Genozids, eine Entschuldigung und Entschädigung fordern. +Seitdem wurde einiges erreicht: Ende August gab man zum dritten Mal geraubte menschliche Gebeine an Namibia zurück, bereits 2011 und 2014 gab es Rückführungen. "Die nächsten Schritte müssen die Anerkennung des Völkermords und eine offizielle Entschuldigung sein", sagt Israel Kaunatjike. "Wir wollen Anerkennung, Würde, Menschenwürde, das ist für uns das Wichtigste überhaupt. Es geht nicht nur um Geld, es geht um Respekt." +Doch auf eine offizielle Entschuldigung warten die Nachfahren von Herero und Nama bisher vergeblich. In den vergangenen Jahren haben sich zwar verschiedene deutsche Politiker bei den Herero und Nama für die "Gräueltaten" entschuldigt und den Kolonialkrieg als Völkermord bezeichnet. Doch die Bundesregierung hat den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts bis heute nicht offiziell anerkannt. Sie hat aber auf eine parlamentarische Anfrage der Linken hin bestätigt, dass die Einschätzung als Völkermord die offizielle Position der Bundesregierung sei, allerdings betont, dass es sich dabei um eine "historisch-politische" und keine "rechtliche Einschätzung" handle. Da die UN-Völkermordkonvention von 1948 nicht rückwirkend gelte, könnten keine Rechtsfolgen geltend gemacht werden. Grund für dieses Lavieren um das richtige Wort für den Genozid ist die Angst, dass rechtliche Ansprüche auf Entschädigungszahlungen entstehen könnten. +Und so verhandeln die deutsche und die namibische Regierung seit 2015 darüber, wie eine Entschuldigung for- muliert sein soll, wobei die Nachfahren der Herero und Nama nicht mit am Verhandlungstisch sitzen, was Aktivisten wie Israel Kaunatjike kritisieren. "Die namibische Regierung kann uns nicht vertreten, sie spricht nicht für uns", sagt er. Tatsächlich richtete sich der Vernichtungsbefehl damals explizit gegen die Herero und Nama; die Owambo, die heute mehrheitlich die Regierung stellen, waren vom Völkermord nicht betroffen. Weil sie sich von den Verhandlungen ausgeschlossen fühlten, haben Vertreter von Herero und Nama daher im Januar 2017 an einem Bundesbezirksgericht in New York eine Sammelklage gegen Deutschland eingereicht – und berufen sich dabei auf eine UN-Erklärung über die Rechte indigener Völker, wonach sie sich an Entscheidungsprozessen, die ihre Rechte berühren, beteiligen dürfen. Das Gericht in New York prüft derzeit, ob es für die Klage zuständig ist. Die Bundesregierung hält den Prozess für unzulässig und beruft sich auf den völkerrechtlichen Grundsatz der Staatenimmunität, wonach ein Land nicht über ein anderes richten darf. Zudem sei die jetzt lebende Generation der Urenkel nicht unmittelbar von dem Genozid betroffen und habe daher keinen Anspruch auf Entschädigung. +Immerhin: In dieser Legislaturperiode steht zum ersten Mal die Aufarbeitung des Kolonialismus im Koalitionsvertrag. Der Soziologe Reinhart Kößler, der zahlreiche Artikel und Bücher zur Aufarbeitung des Genozids veröffentlicht hat, hält nun eine Bundestagsresolution für geboten. "In der Resolution könnte stehen: Wir erkennen an, dass das passiert ist, es tut uns leid, wir würden es am liebsten ungeschehen machen, wir entschuldigen uns und sind bereit, darüber zu reden, was die Folgen sind", sagt Kößler. "Damit hat man sich in keiner Weise festgelegt, das ist nur eine Klärung der Atmosphäre." Die Verhandlungen mit Namibia nimmt Kößler als respektlos wahr. Es sei absurd, zu glauben, man müsse bei einer Entschuldigung mit dem, bei dem man sich entschuldigen will, verhandeln. "Wenn ich jemandem schweres Unrecht angetan habe, dann gibt es Konsequenzen. Die Täterposition kann nicht bestimmen, was passiert." +Bisher lehnt die Bundesregierung Entschädigungszahlungen auch mit der Begründung ab, dass man an Namibia aufgrund der "besonderen Verantwortung" das höchste Entwicklungsgeld pro Kopf zahle. Vertreter der Herero und Nama kritisieren jedoch, dass dieses Geld nicht bei ihnen ankomme. "Die Herero und Nama leben heute in völliger Armut. Wir wollen das Land zurück, auf dem wir früher gelebt haben", sagt Israel Kaunatjike. Das Farmland der Herero und Nama wurde nach dem Völkermord enteignet und an deutsche Siedler verkauft. Mehr als die Hälfte des kommerziellen Farmlands in Namibia gehört heute Weißen, die sechs Prozent der namibischen Bevölkerung ausmachen; viele von ihnen sind Nachfahren deutscher Siedler. "Es geht darum, den Schaden wiedergutzumachen, der angerichtet wurde", sagt Israel Kaunatjike. "Wir wollen Gerechtigkeit. Wir warten schon 100 Jahre, aber wir werden niemals aufgeben." diff --git a/fluter/voelkische-siedler.txt b/fluter/voelkische-siedler.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1d9a6afcafd10468860253b51b8425f957ad557c --- /dev/null +++ b/fluter/voelkische-siedler.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Der harmlos wirkende Lebensstil der völkischen Siedler müsse als gelebte Ideologie gedeutet werden, betont Marius Hellwig: Die Naturverbundenheit sei Ausdruck einer Blut- und Boden-Ideologie, der Kinderreichtum diene dem "Erhalt der weißen Rasse" und der "Reinhaltung des Blutes". Hellwig arbeitet für die Amadeu Antonio Stiftung, die eine Studie zur völkischen Szene veröffentlicht hat. Für Hellwig steht fest: "Völkischer Rechtsextremismus ist heute deutschlandweit verbreitet." Bundesweit hat die Stiftung 27 Orte ausgemacht, an denen völkische Rechte ansässig sind. Keine organisierte Massenbewegung, aber in der Tendenz steigend. Und: zunehmend vernetzt. "Zum Spektrum gehören Vereine, Verlage, Jugendbünde, Burschenschaften, Glaubensgemeinschaften beziehungsweise Sekten und völkische Sippen, die über Jahrzehnte ihr rechtsextremes Gedankengut von Generation zu Generation weitergeben." +Das Bundesinnenministerium sieht ebenfalls die Gefahr, dass völkische Siedler ihre rassistische Ideologie verbreiten könnten, betont aber zugleich, dass nicht alle Siedler rechtsextremistisch seien. Wo wie viele Siedler leben und wie aktiv sie sind, werde nicht erhoben, da die Bewegung nicht vom Verfassungsschutz beobachtet wird. +Neben der meist strengen Erziehung zu Hause schicken viele völkische Familien ihren Nachwuchs in Zeltlager, in denen sie ideologisch geschult und militärisch gedrillt werden. In der Vergangenheit wurden solche Zeltlager von neonazistischen Jugendverbänden wie der verbotenen Wiking-Jugend oder ihrer ebenfalls verbotenen Nachfolgeorganisation, der Heimattreuen Deutschen Jugend, veranstaltet. +"Das sind größtenteils neonazistisch geprägte Rechtsextreme, die sich gezielt in strukturschwachen Regionen niederlassen, um möglichst ungestört ihr menschen- und demokratiefeindliches Weltbild leben und ihre Kinder in diesem Geiste erziehen zu können", sagt Marius Hellwig. Die Bezeichnung Siedler sei jedoch nur in manchen Gegenden zutreffend, oft handele es sich vielmehr um alteingesessene Sippen. Und doch: Siedlertum, der Rückzug aufs Land, erfreue sich in weiten Kreisen der rechten Szene immer größerer Beliebtheit, erzählt Hellwig. Dass sich viele völkische Rechte in Mecklenburg-Vorpommern niederlassen, ist kein Zufall. Eine Keimzelle der Bewegung ist das mecklenburgische Dorf Koppelow, wo einst die sogenannten Artamanen siedelten. Der Bund Artam, gegründet 1926, war eine Bewegung mit völkischer, antisemitischer, bäuerlich-romantisierter Ausrichtung, die 1934 in die Hitlerjugend eingegliedert wurde. Die Ideologie der Artamanen ging im Nationalsozialismus auf, SS-Chef Heinrich Himmler und der Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß zählten zu ihren Anhängern. +In Hohnstorf im Landkreis Uelzen wohnt Familie M. Das inzwischen verstorbene Familienoberhaupt war Erstunterzeichner der Todesanzeige für Rudolf Heß. Die Familie wohnt in einem rot verklinkerten Bauernhaus mit geschnitzten Pferdeköpfen im Giebel. Im Garten blühen Kirschbäume, dazwischen "der schönste Gemüsegarten im Dorf", schwärmt Olaf Meyer. Landidylle. Doch Olaf Meyer kennt die Gesinnung der Familie. Im Vorgarten ruht ein Findling, darauf ein Wolfsangel-Zeichen, eine – vermeintlich germanische – Rune, die von den Nationalsozialisten als Abzeichen verwendet wurde. Es ist bis heute bei Neonazis beliebt und im Zusammenhang mit rechtsextremer Propaganda in Deutschland verboten. Zu Silvester schallte das Horst-Wessel-Lied vom Grundstück der Familie. Ein Nachbar erstattete Anzeige, denn das Kampflied der SA, verfasst vom Nationalsozialisten Horst Wessel, ist verboten. Außerdem würde auf dem Grundstück zu nazistischen Gedenktagen wie Hitlers Geburtstag oder dem Tag der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten die preußische Flagge gehisst. +Über die Jahre hat Olaf Meyer eine Reihe solch vielsagender Anekdoten archiviert. Da war etwa der Brand in einem alten reetgedeckten Haus, das seit Jahren von einer völkischen Familie bewohnt wird. Die Feuerwehr rettete eine ganze Sammlung von Nazi-Kultobjekten vor den Flammen. Beim Wiederaufbau des Hauses halfen Mitglieder der völkischen Szene aus der ganzen Region fleißig mit. "Darum geht es", schlussfolgert Olaf Meyer: "Die wollen eigene Strukturen aufbauen, autonom werden." +Auf dem Land fällt die Szene durchaus auf – aber nicht sofort negativ. Eine völkische Familie sei sehr aktiv im Leicht- athletikverein, andere engagierten sich bei der freiwilligen Feuerwehr. "Da fallen schon mal Äußerungen, bei denen man schlucken muss", erzählt Meyer. "Aber du kannst hier auf dem Dorf nicht jeden rausschmeißen, sonst stehst du ganz schnell allein da." Viele würden das rechte Weltbild daher lieber ignorieren, um den Dorffrieden zu wahren. Für manche seien die völkischen Familien nur fleißige Mitbürger. Andere hätten Angst vor ihnen. +Bislang zeigten die rechten Siedler "keinerlei Interesse, öffentlich für ihr Anliegen zu werben", berichtet Meyer. Die Veranstaltungen der Szene zur Feier ihres Kultes wurden im Geheimen organisiert. Eins der größten Netzwerktreffen der völkischen Rechten dokumentierte Meyer 2016 in einer Scheune in Edendorf. Hier kamen völkische Sippen aus ganz Norddeutschland zum Maitanz zusammen. Mit dabei: Mitglieder der rechtsextremen Identitären Bewegung und der NPD-Landeschef von Mecklenburg-Vorpommern. +Der Maitanz verdeutlicht, wie die sonst so zurückgezogen lebenden völkischen Siedler neuerdings die Nähe zu anderen rechten Milieus suchen, stellt Meyer fest. Bei einer AfD-Kundgebung in Hamburg tauchten 2015 erstmals ganze völkische Sippen in ihrer auffällig altertümlichen Kleidung auf. Bei einer Demo der rechtsradikalen Identitären tanzten sie in Trachten auf den Hamburger Landungsbrücken. +Olaf Meyer bereiten die neuen Verbindungen der völkischen Rechten Sorge: "Die warten seit Generationen auf die Rückkehr zum Tausendjährigen Reich." In der aktuellen Stimmung verspürten die völkischen Rechten Rückenwind, glaubt Meyer: "In der Szene denken offenbar viele: Die Zeit ist reif." Welches Selbstbild die Szene pflegt, schien bereits in der Todesanzeige zu Ehren Rudolf Heß' durch: "Wir sind vielleicht die Letzten von gestern, aber wir sind auch die Ersten von morgen." + +Anmerkung der Redaktion: Dieser Beitrag wurde am 03.12.2018 auf Hinweis eines Lesers nachträglich korrigiert. Familie M. lebt in Hohnstorf im Landkreis Uelzen, nicht im benachbarten Landkreis Lüneburg, wo es ebenfalls einen Ort namens Hohnstorf (Elbe) gibt. diff --git a/fluter/voellig-stehengeblieben.txt b/fluter/voellig-stehengeblieben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4bf15850c2139d662026626c82d7aade998227d4 --- /dev/null +++ b/fluter/voellig-stehengeblieben.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Dicht besiedelte Großstädte sind hierzulande klar die "Peak Car"-Trendsetter. Zwar steigt die Autodichte in Deutschland noch an: Mehr als eine Million Pkw kamen im vergangenen Jahr hinzu. 45,1 Millionen Pkw bilanzierte das Kraftfahrt-Bundesamt zu Beginn dieses Jahres. 1.000 Einwohner teilen sich insgesamt 672 Fahrzeuge. Aber insbesondere die Großstädter legen immer weniger Kilometer im Auto zurück. Und dieser Trend setzte zum Beispiel in London bereits Mitte der 1990er-Jahre ein. Für Verkehrsforscher, die die Definition der Autodichte über diese "Personenkilometer" bevorzugen, ist der "Peak Car" daher zumindest in Ländern wie Deutschland, Großbritannien und Japan schon seit Jahren überschritten. + + +Ob Personenkilometer oder Autodichte: Beide Parameter liefern Beweise für den "Peak Car". Mal ist er schon überschritten, mal steht er kurz bevor. "Ganz gleich, welche Messgröße wir zugrunde legen, wird Deutschland im kommenden Jahrzehnt einen Höhepunkt – auch Peak Car genannt – der Pkw-Motorisierung und Pkw-Nutzung erleben", sagt Jörg Adolf, Chefvolkswirt von Shell in Deutschland. Der Mineralölkonzern präsentierte 2014 eine viel beachtete Mobilitätsstudie – "Pkw-Szenarien bis 2040" –, die den "Peak Car" in Deutschland erst für das Jahr 2022 mit 45,2 Millionen Pkw prognostizierte. Doch angesichts der 45,1 Millionen Pkw schon Anfang 2016 eilt die Wirklichkeit der Studie offenbar um einige Jahre voraus. +Hohe Kosten, lange Stauzeiten, fehlende Parkplätze: Klar messbare Ursachen werden für den "Peak Car" angeführt. Ein ganz anderer Faktor, aber nach Einschätzung vieler Experten nicht weniger bedeutend, ist die Abkehr vom Auto als Statusobjekt. Zwar setzen Autohersteller im Marketing immer stärker auf Design und Emotion statt auf technische Details, um Begehrlichkeit für ihre Produkte zu wecken. Doch den 20- bis 29-jährigen Männern gelten Autos oft nur noch als Gebrauchsobjekt. Die Mehrheit der Frauen hat diese Einstellung sowieso schon länger, wie deren Vorliebe für eher praktische Fahrzeuge über Jahrzehnte belegt. Eine Identifikation mit dem eigenen Gefährt findet immer seltener statt. + + +Diese Entwicklung kann Stephan Rammler, Mobilitätsforscher und Gründungsdirektor des Instituts für Transportation Design an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, nur begrüßen. "Privatautos sind im doppelten Sinne ineffizient", sagt er und bezieht sich damit auf die benötigte Energie für Bau und Betrieb sowie den Platzbedarf der Fahrzeuge, die immer öfter ungenutzt herumstehen. "Kein Unternehmer würde seine Maschinen 22 bis 23 Stunden am Tag stillstehen lassen." +In der Zukunft nach dem "Peak Car" werde nicht mehr das Auto als Besitz im Mittelpunkt stehen, prognostiziert Rammler, sondern die reine Mobilität. Bahn, Bus, Auto, Fahrrad oder gar ein Segway – für jeden Zweck wird ein anderes Gefährt genutzt. Und dieses muss niemand mehr selbst besitzen. Einen Vorgeschmack auf diese "Wirtschaft des Teilens" bietet die steigende Anzahl von mittlerweile etwa 150 Carsharing-Angeboten in Deutschland mit 1,26 Millionen registrierten Kunden. Ende 2010 waren es nur 190.000. Begleitet wird der Trend von der Elektromobilität, auch wenn sie in Deutschland noch recht langsam Fahrt aufnimmt. +Ob der Staat Kaufprämien springen lässt oder nicht, die flächendeckende Verbreitung von Elektroautos wird sich mit besseren Akkus, sinkenden Kosten und steigender Reichweite in den kommenden Jahrzehnten kaum aufhalten lassen. Ohne eine Elektrifizierung des Verkehrs – gespeist mit regenerativ erzeugtem Strom – wird sich auch der Treibhausgasausstoß in diesem Segment nur schwer verringern lassen. "Städte, in denen gar keine Autos mit Verbrennungsmotoren mehr fahren, werden Wirklichkeit", ist Rammler überzeugt. So schließen der "Peak Car" und die Elektromobilität einander nicht aus, sondern befördern gemeinsam eine neue Ära einer klima- und menschenfreundlicheren Mobilität. Die derzeit niedrigen Spritpreise mögen die Entwicklung etwas bremsen, aufzuhalten ist sie nicht. + + +Mit Elektroautos und eigenen Carsharing-Konzepten haben viele Autohersteller von General Motors und BMW über Audi und PSA Peugeot Citroën bis Daimler und Toyota diesen Trend wahrgenommen. Aber ihr Kerngeschäft richten sie bisher nicht darauf aus. Auch nicht in den westlichen Industrienationen, wo das Phänomen "Peak Car" und die Idee der Sharing Economy sich bisher am deutlichsten zeigen. In China, Indonesien, Mexiko und anderen aufstrebenden Schwellenländern steigen die Zulassungszahlen privater Fahrzeuge rasant. Die größer werdende Mittelschicht will nicht auf eigene Autos verzichten. Wie lange das automobile Wachstum dort noch anhalten wird, ist fraglich.Schon heute leiden Städte wie Peking unter verstopften Straßen und hartnäckigem Smog, erste Fahrverbote wurden bereits verhängt. +In Europa gehen derweil Politiker und Stadtplaner dazu über, "Peak Car" als Realität zu akzeptieren. Städte wie Kopenhagen und Amsterdam legen breitere und längere Radwege an. In der Schweiz, Belgien und auch im Ruhrgebiet wird an einem dichten Netz an Radschnellwegen zwischen den Gemeinden geplant beziehungsweise gebaut. Nicht nur Fahrradfetischisten horten mittlerweile drei und mehr Räder in ihrem Keller – ein E-Bike für die Arbeit, ein Rennrad zum Training und ein Mountainbike für den Urlaub. Mag der "Peak Car" erreicht sein, der "Peak Bike" ist es längst noch nicht. +GIF: Toiletpaper Magazine diff --git a/fluter/voellig-umsonst.txt b/fluter/voellig-umsonst.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ee344685cdc2c28382232710713b8b0dce078f3f --- /dev/null +++ b/fluter/voellig-umsonst.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Diese kurze Szene zeigt: Wer Geld geschenkt bekommt, fängt an, sich Gedanken zu machen. Über den Wert dessen, was er da in den Händen hält, über die Möglichkeiten, die sich ihm eröffnen. Genau diesen Effekt erhoffen sich Aktivisten, Wirtschaftsprofessoren und Unternehmer, die derzeit auf der ganzen Welt für das Grundeinkommen kämpfen. Sie sind überzeugt: Wenn jeder Mensch einen Betrag erhält, der ihm ein Auskommen ohne Existenzängste ermöglicht, überlegt er sich von selbst, was er Sinnvolles mit diesem Geld anfangen soll. +Natürlich: So richtig ausprobiert hat das noch nie jemand. Keiner weiß, was es beispielsweise verändern würde, wenn sich jeder darauf verlassen könnte, jeden Monat 1000 Euro auf sein Konto zu bekommen. Jeder kann für sich selbst überlegen, was er mit dem Geld anfangen würde. Noch mal etwas ganz anderes studieren? Mit 18 von zu Hause ausziehen? Bei vielen Menschen würde das Geld zu einer Konzentration auf das Wesentliche führen. Die einen würden aufhören, neben dem Studium noch zu kellnern – die anderen gleich ein eigenes Start-up gründen. +Für die Berufswünsche junger Menschen könnte das Grundeinkommen entscheidend sein. Einen harten Job nur machen, um irgendwie Geld zu verdienen? Wer 1000 Euro garantiert hat, wird dafür weniger leicht zu begeistern sein. Allerdings: Wenn zu viele Menschen sich dafür entscheiden, einfach nichts zu tun, stößt der Staat schnell an seine Grenzen. Das bedingungslose Grundeinkommen funktioniert nur, wenn die Leute weiter ins Büro, auf die Baustelle, an die Supermarktkasse gehen. Aber Umfragen sagen: Ja, das werden sie tun. Kaum jemand möchte auf die Dauer zu Hause sitzen und den Topfpflanzen beim Verwelken zuschauen. +Auch die finanzielle Motivation, sich im Beruf anzustrengen, bleibt weiterhin bestehen: Wer mehr als 1000 Euro verdient, wird mit dem BGE nicht bessergestellt. Statt 3000 Euro Gehalt würde man zum Beispiel 1000 Euro Grundeinkommen und 2000 Euro Gehalt bekommen. Um sich etwas Teures leisten zu können, muss man immer noch arbeiten, sparen oder einen Kredit aufnehmen. +Der größte Unterschied ergäbe sich bei all jenen, die heute nur knapp auf 1000 Euro kommen oder deutlich weniger haben. Einige davon sind arbeitslos, andere arbeiten in schlecht bezahlten, manchmal auch gesundheitsschädlichen Jobs. Mit dem BGE hätten sie plötzlich eine Wahl. Sie könnten kündigen, bessere Löhne und Arbeitsbedingungen verlangen, ehrenamtlich arbeiten. In den Arbeitsämtern würde viel Bürokratie wegfallen. Niemand müsste mehr prüfen, ob eine Wohnung zwei Quadratmeter zu groß, der Besitz einige hundert Euro zu wertvoll ist. +Das würde mehr verändern als nur die Kontostände einiger Leute. Ihnen würde Vertrauen entgegengebracht, ein Signal: Jeder ist in der Lage, sinnvolle Entscheidungen zu treffen, auch ohne staatlichen Zwang. Ein solches Bild hat wohl jeder von sich selbst – die Aktivisten fordern uns dazu auf, es auch anderen Menschen zuzutrauen. +Charlotte Theile schreibt für die Süddeutsche Zeitung über die Schweiz. Dort sind sie schon ein bisschen weiter als in Deutschland: Die Bürger stimmen am 5. Juni über die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ab. +Lukas Wohner glaubt nicht ans BGE – derzeit. Ihm schwingen in der aktuellen Diskussion einfach noch zu viele Ungewissheiten mit. Wir sollten vielleicht lieber andere Dinge diskutieren, meint er +Na klar – eine monatliche Überweisung vom Staat, die alle Existenzängste ad acta legt – wer würde dazu schon Nein sagen? Ich ganz sicher nicht. Es ist klingt ja auch toll: Keine Armut mehr, keine Ausbeutung, stattdessen die Freiheit, nur das zu tun, worauf man wirklich Lust hat. Super! Selbstverständlich würde ich noch arbeiten gehen, das schon, aber mehr Freizeit würde ich mir auch gönnen, um lang gehegte Träume zu verwirklichen. Und von Zeit zu Zeit würde ich auch mal nichts tun. +Das Problem ist nur: Ich glaube nicht ans bedingungslose Grundeinkommen (BGE). Nicht, weil ich von dieser Idee an sich nichts hielte. Im Gegenteil: Ich finde sie hochspannend und unbedingt wert, diskutiert zu werden. Nur glaube ich nicht, dass die aktuellen Vorschläge in der Praxis funktionieren würden. +Da sind zunächst die Kosten. Die erhofften positiven Folgen treten erst ein, wenn das BGE relativ hoch ist, es müsste schon deutlich mehr sein als die derzeitige Grundsicherung. Das macht das Ganze dann aber sauteuer. Wo soll das Geld herkommen? Am Ende lässt es sich nur mit massiven Steuererhöhungen finanzieren. +Wenn das BGE für ein gutes Leben aber bereits ausreicht und jedes weitere Einkommen krass besteuert wird, wer geht dann noch arbeiten? Es müssten auf jeden Fall genug sein, um dem Staat die benötigten Steuern zu bescheren. Selbst wenn es so käme – Forscher sagen: Höhere Steuern, höhere Löhne, höhere Preise. Dann verschiebt sich aber auch das Existenzminimum. Ist das Ganze dann nicht irgendwie wirkungslos? +Dann ist da die Sache mit den Sozialleistungen. Befürworter des Grundeinkommens freuen sich, dass Bürokratie abgebaut würde. Von wegen schlanker Staat und so. Nur: Die Leistungen würden einfach gestrichen, kriegt ja eh jeder das BGE. Aber was ist mit Menschen, die darüber hinaus Hilfe benötigen? Die zahlen womöglich drauf – bloß wovon? Oder soll an dieser Stelle etwa das Ehrenamt einspringen? Das war's dann wohl mit dem Sozialstaat. +Und zu guter Letzt: Wenn ich mir mal so anschaue, was in Deutschland gerade abgeht, dann glaube ich einfach nicht, dass die Solidarität ausreicht, um als Gesellschaft auch Nichtstuer zu finanzieren. Und die wird es geben. +Vielleicht stellen wir uns das Ganze vor wie eine große WG mit einer Haushaltskasse, deren Inhalt gleichmäßig auf alle Mitbewohner verteilt wird. Es haben dann zwar immer noch einige mehr als andere, aber alle haben genug. Klingt so weit ganz gut. Das Problem: Die WG-Kasse wird nicht von allen im selben Maße befüllt. Wenn jemand mal krank ist und nicht so viel beitragen kann wie andere, mag das ja noch akzeptiert werden. Aber wenn jemand nur "auf der faulen Haut liegt"? Richtig, so etwas kann zu Spannungen führen. +Dieser Text enthält viele Fragezeichen. Es könnte natürlich helfen, das Ganze mal als möglichst realitätsnahes Experiment durchzuspielen, und es lässt sich sicher auch viel aus Beobachtungen lernen. Doch möglicherweise ist das BGE in seiner derzeit angedachten Form auch einfach nicht mehr als eine schöne Utopie. Der würde ich mich ja auch gern hingeben, ein bisschen träumen. Aber vielleicht sollten wir ein wenig näher am Hier und Jetzt bleiben und einfach mal wieder über mehr Grundsicherung oder höhere Mindestlöhne diskutieren. +Lukas Wohner war Volontär beim DUMMY Verlag. Für eine journalistische Ausbildung hätte er sich wohl auch entschieden, wenn ihm nach seinem Abitur ein bedingungsloses Grundeinkommen gewunken hätte. diff --git a/fluter/voll-abhaengig.txt b/fluter/voll-abhaengig.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6fc27995aca089d4c7d90908f01ad7b13b75e2f6 --- /dev/null +++ b/fluter/voll-abhaengig.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Die nikotinhaltigen Blätter sind das Haupterzeugnis eines Landes, das ansonsten auf Importe angewiesen ist. Malawi ist bitterarm. Die Hälfte der Bevölkerung lebt von weniger als einem Dollar am Tag. Um die Bevölkerung zu ernähren, benötigt die Regierung Devisen, von denen rund zwei Drittel durch den Tabakexport erwirtschaftet werden. Anders ausgedrückt: Malawi ist abhängig vom Tabak. +Diese Abhängigkeit rächte sich 2011, als die Tabakpreise einbrachen. Die Regierung konnte sich keine Ölimporte mehr leisten. Tagelang fuhr kaum ein Auto, die Preise für andere Güter des täglichen Bedarfs explodierten. Demons-tranten lieferten sich blutige Straßenschlachten mit der Polizei, mindestens 19 Menschen starben. Der Tabak, von vielen Ökonomen als "cash crop" gefeiert, als gewinnträchtiger Exportschlager, erwies sich als eine Ware, die mindestens eine Teilschuld an der Staatskrise trug. +Rauchen wird zunehmend uncool. Immer mehr Menschen verzichten aus Rücksicht auf ihre Gesundheit da-rauf, hohe Steuern erschweren den Zigarettenfirmen das Leben. Was, wenn die Nachfrage weiter sinkt? Auf der Suche nach Antworten reisen wir durch ein kleines Land, das mitten in einem großen Dilemma steckt: Wie raus aus der Abhängigkeit vom Tabak, der bislang die wichtigste Einnahmequelle ist? +Erisa Chisenga sitzt auf einer Bambusmatte im Schatten seiner Ernte. Unter einem Dach aus Plastikfolie, gedeckt mit Stroh, trocknet der Tabak. Tausende Blätter hängen wie eine Kolonie schlaffer, ledriger Fledermäuse in Reihen. Mit einer Stricknadel spießt er die frischen Blätter auf, zieht Schilfhalme durch die Löcher und verknotet sie zu Bündeln, die er zum Trocknen aufhängt. So geht das stundenlang. Machokero, der Name des Dorfes, bedeutet in der Landessprache Chichewa: der Grund, weshalb du gingst. Jungs hüten Ziegen, Mädchen helfen im Haushalt, statt in die Schule zu gehen. Erisa Chisenga wollte zumindest seine Kinder auf eine bessere Schule schicken. +Chisenga steht bei Alliance One International unter Vertrag, einem der größten Rohtabakhändler der Welt. Hauptabnehmer sind Philip Morris (mit Zigarettenmarken wie Marlboro und L&M) und British American Tobacco (unter anderem Lucky Strike). Das vermeintlich schnell verdiente Geld ist einer der größten Anreize, die viele Menschen zum Tabakanbau verlocken. Die armen Bauern benötigen kaum Geld zum Start: Alliance One gibt ihnen Saatgut und Pestizide auf Kredit. +Problematisch wird es, wenn die Bauern die Kredite zurückzahlen müssen. Die werden nämlich fällig, wenn der Tabak exportiert wird. Dann fließen vergleichsweise viele Devisen ins Land, und der Malawi-Kwacha verliert an Wert gegenüber dem US-Dollar. Für die Bauern bedeutet das: Sie müssen mehr Kwacha zurückzahlen, als sie sich ursprünglich geliehen haben. So geht ihnen viel vom erhofften Gewinn verloren. Die Tabakunternehmen hingegen profitieren. +Chisenga muss aufpassen. Findet der Tabakhändler zwischen den Blättern auch nur einen einzigen Plastikfetzen, kann er die gesamte Ernte zurückweisen. Dann bleibt der Bauer auf einem Haufen Tabak und einem noch größeren Haufen Schulden sitzen. Würde er Mais anbauen und diesen nicht loswerden,  könnte er ihn immer noch selbst essen. +Seinen eigenen Tabak hingegen raucht Chisenga nicht. Rauchen ist ungesund, sagt er. Doch er ahnt, dass selbst die Arbeit mit dem Tabak seine Gesundheit schädigt. Vom Nervengift Nikotin hat der Tabakbauer noch nie gehört. Er weiß nur, dass seine Haut nach einem langen Tag auf dem Feld juckt und dass er manchmal mit starken Kopfschmerzen nach Hause zurückkehrt. Andere Bauern leiden unter Herzrasen, Erbrechen und Durchfall. Ärzte sprechen von der "Grünen Tabakkrankheit". Tabakbauern ohne Schutzkleidung können an einem Erntetag in etwa so viel Nikotin über die Haut aufnehmen, wie in 50 Zigaretten enthalten ist, so eine Studie der University of Kentucky. Besonders gefährdet sind Kinder. Malawi gilt als das Land mit der höchsten Rate an Kinderarbeit in ganz Afrika. Die Kinderschutzorganisation Plan International schätzt, dass auf Malawis Tabakfeldern 78.000 Kinder schuften. Sie müssen ihren Eltern helfen, weil die sich erwachs-ene Erntehelfer nicht leisten können. +Traditionell eröffnet der Präsident von Malawi die jährliche Tabakauktion. Das ist in etwa so, wie wenn der Oberbürgermeister auf dem Oktoberfest das erste Bierfass ansticht. Wenn die Auktionshallen ihre Tore öffnen, stauen sich die Laster mit dem Tabak kilometerlang durch Malawis Hauptstadt Lilongwe. +Tabak sei in Malawi eine "political crop", sagt Finanzminister Goodall Gondwe, eine Pflanze als Politikum. Der Trubel zur Erntezeit dürfe jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Malawi raus aus der Abhängigkeit vom Tabak müsse, betont Gondwe: "Der Tabak ist dem Untergang geweiht." Malawi müsse seine Wirtschaft diversifizieren, also auch andere Produkte verkaufen. Soja zum Beispiel ist auf dem Weltmarkt gefragt. Gondwe träumt vom Absatzmarkt Indien. Das hungergeplagte Malawi als Kornkammer für die Boomwirtschaft Indien? +Andere halten am Tabak fest. Etwa die New Alliance for Food Security and Nutrition (NAFSN), zu Deutsch: Neue Allianz für Ernährungssicherheit und Ernährung. Die Initiative wurde 2012 von der G8, der Gruppe der wichtigsten Industrienationen, ins Leben gerufen. Auch die deutsche Bundesregierung beteiligt sich mit 500 Millionen Euro. Das Ziel: binnen zehn Jahren in zehn afrikanischen Ländern 50 Millionen Menschen aus der Armut zu befreien. Das Rezept dafür ist Public Private Partnership, kurz PPP, gemeinsame Investitionen öffentlicher Institutionen und privater Unternehmen. Mit dabei sind multinationale Großkonzerne wie Nestlé und Heineken, Bayer, Syngenta und Monsanto. Sie alle wollen in einigen der ärmsten Ländern der Welt investieren, nach eigenen Angaben über zehn Milliarden US-Dollar. In Malawi will man so 1,7 Millionen Menschen helfen, einem Zehntel der Bevölkerung. In etwa so viele Menschen leiden in Malawi chronisch an Hunger. Fast jedes zweite Kind ist wegen Mangelernährung unterentwickelt. Und die Bevölkerung wächst rasant, was das Ernährungsproblem weiter verschärft. +Aber wo Tabak wächst, ist kein Platz für Nahrungsmittel. Die Nichtregierungsorganisation UnfairTobacco schätzt, dass in Malawi 750.000 Menschen mehr ernährt werden könnten, wenn auf den Tabakfeldern Lebensmittel angebaut würden. Trotzdem kooperiert die New Alliance in Malawi unter anderem mit dem Tabakhändler Alliance One sowie Limbe Leaf, einem Tochterunternehmen der Universal Corporation, dem zweiten Giganten auf dem Markt für Rohtabak. Gemeinsam kaufen die beiden Unternehmen jedes Jahr etwa 90 Prozent der Tabakernte in Malawi. Mit Hilfe der New Alliance wollen sie ihr Geschäft ausweiten. +Alliance One will eigene Tabakforschungsinstitute gründen und in großem Stil neues Land erwerben.  Derzeit besitzt man 61.000 Hektar Land, 121.000 Hektar sollen es werden. Aber ist Malawi nicht jetzt schon zu abhängig vom Tabak? Ja, sagt Ronald Ngwira, Produktionsmanager bei Alliance One. Die Lösung sei aber nicht, das Land komplett vom Tabak abzubringen. Das Stichwort laute: "Diversifizierung mit Tabak", also der Anbau auch anderer Produkte. +Verschärft der Tabak das Hungerproblem? Ngwira ist eloquent, charismatisch. Er stellt eine Gegenfrage: "Sind wir eine Tabakfirma, oder sind wir eine Nahrungsmittelfirma?" Alliance One gebe den Bauern auch Saatgut und Dünger für Mais – ebenfalls auf Kredit. Das Unternehmen sorge also indirekt auch für den Nahrungsmittelanbau. +Mit der Tabakindustrie gegen Hunger? Rauchen für Malawi? +Für die Umsetzung der New Alliance in Malawi ist die Europäische Union zuständig. Die Grünen-Abgeordnete Maria Heubuch wurde vom Entwicklungsausschuss des EU-Parlaments beauftragt, Bericht zu erstatten. Heubuch empfiehlt der EU, aus der Initiative auszusteigen. Denn sie bezweifelt "die Fähigkeit großer Public Private Partnerships wie der New Alliance, zur Armutsreduzierung und Ernährungssicherung beizutragen, da die Ärmsten die Hauptleidtragenden sozialer und ökologischer Risiken dieses Vorhabens zu werden drohen". Dabei sollten vor allem die Kleinbauern profitieren. +Realitätsabgleich beim Tabakbauern Erisa Chisenga: Auch er sagt, dass er gern etwas anderes anbauen würde. Erst ein einziges Mal in fünf Jahren Tabak hat er einen kleinen Gewinn gemacht – wobei diese Rechnung nur aufgeht, wenn er seinen enormen Arbeitsaufwand nicht einberechnet. Die anderen Jahre hat er auf seinem Tabakfeld für nichts geschuftet und seine Gesundheit gefährdet. Der Tabak sollte eine bessere Zukunft für seine Frau und die fünf Kinder bringen. Doch die Familie wohnt noch immer in zwei winzigen Häusern aus roten Ziegeln, gekocht wird auf einem Kohleofen, gegessen werden der Mais und die Kürbisse, die sie neben dem Tabak zur Selbstversorgung anbauen. +Dieses Jahr hat Alliance One seine Ernte von 540 Kilo für einen Dollar pro Kilo gekauft. Seine Kosten beliefen sich auf 850 Dollar.  Nicht der Gewinn, seine Schulden sind gewachsen. +Unser Autor ist Mitarbeiter des Non-Profit-Recherchezentrums Correctiv.org, das sich investigativen Reportagen widmet und über Spenden und Mitgliedsbeiträge finanziert diff --git a/fluter/voll-analog-unser-schaubild-zu-typen-im-netz.txt b/fluter/voll-analog-unser-schaubild-zu-typen-im-netz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/voll-genial.txt b/fluter/voll-genial.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a31c214512ffa8030f89ca6a4ccfa7221fd6a30d --- /dev/null +++ b/fluter/voll-genial.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Er ist 30 Jahre alt, als er sein erstes offizielles Bewerbungsschreiben einreicht – und erstmals mit seinen Fähigkeiten als Ingenieur an die Öffentlichkeit geht. Im Schreiben von 1482 an den Herzog von Mailand empfiehlt er sich als "Meister in der Kunst des Erfindens von Kriegsgerät" zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Dabei schwärmt er vor allem von seinen Geschützen "von wunderbarem Effekt" und verspricht: "Je nach Erfordernis werde ich die Offensivwaffe bis ins Unendliche variieren." Seine Kenntnisse als Künstler erwähnt er nur am Rande. Tatsächlich ist hier der Krieg der Vater aller Dinge. Leonardo entwirft Kriegsschiffe und Tauchboote, die mit Schrauben den Rumpf gegnerischer Schiffe durchbohren sollen. Er erfindet einen fahrbereiten Panzer mit acht Bordkanonen und, als Aufklärungsfahrzeug, den Helikopter. In seinen Notizbüchern finden sich sogar Pläne für einen Fallschirm, der erst im Jahr 2000 nachgebaut und erfolgreich getestet wurde. +Überhaupt bringt er nur sehr wenig von dem, was er einmal in Angriff genommen hat, wirklich zur Vollendung. Er gilt als sehr langsamer Maler und noch langsamerer Bildhauer – ein Reiterstandbild wird auch nach mehr als 16 Jahren nicht vollendet. Die meisten Fragen interessieren ihn offenbar nur so lange, bis er sie theoretisch beantwortet hat. Ist ein Perpetuum mobile möglich? Wie könnte ein Taucheranzug funktionieren? Welche Form hat ein Wassertropfen – und warum? Was bedeuten die Gezeiten, und woher kommt die Brandung? Später werden andere Forscher, die ihm folgen, ein ganzes Leben brauchen für die Beantwortung einer einzigen dieser Fragen – Leonardo löst die Rätsel wie nebenbei in seinen Notizbüchern. Und wendet sich, kaum dass die Tinte trocken ist, wieder anderen Problemen zu. +Dabei ist er alles andere als ein Nerd, leidet aber vermutlich unter Hyperaktivität. Er soll sehr gut ausgesehen haben, extravagant gekleidet und wahrscheinlich schwul gewesen sein. Wegen seiner Herkunft bleibt ihm die Akademie – die klassische Aubildung – versagt, was er spöttisch sieht: "Wer zur Quelle gehen kann, gehe nicht zum Wassertopf." Die Zeiten, in denen er lebt, sind nicht gerade ruhig. In wechselnden Koalitionen bekriegen sich unaufhörlich die mächtigen Stadtstaaten der italienischen Halbinsel, und herrscht einmal Frieden, bricht auch schon die Pest aus (Leonardo entwirft prompt eine vernünftige Kanalisation). Und so wird er von den Wechselfällen der Geschichte von Wirkungsort zu Wirkungsort – Florenz, Mailand, Mantua, Venedig, Rom – geschleudert wie eine Flipperkugel. Am Ende wird er vom jungen französischen König Franz I. nach Amboise eingeladen, wo er sich ein letztes Mal gigantischen Projekten widmet. Landschaftsplanung, Städteplanung, ein Kanal zwischen Loire und Saône. Der wurde dann knapp 300 Jahre nach Leonardos Tod fertiggestellt. +Natürlich stand auch Leonardo auf den Schultern von Riesen wie Aristoteles, Archimedes, Vergil, Vitruv oder Brunelleschi. Renaissance, die Wiedergeburt der Antike: An vielen Orten in Italien bedurfte es buchstäblich nur weniger Spatenstiche, und zum Vorschein kamen Triumphbögen, Bäder und Straßen einer überlegenen Zivilisation. Es muss für ihn gewesen sein, als würde sich unter seinen Füßen plötzlich ein versunkenes Gebirge des Wissens erheben – und ihn sanft anheben, weg vom Mittelalter, der Moderne entgegen. Oder, wie der Psychoanalytiker Sigmund Freud schrieb: "Er glich einem Menschen, der in der Finsternis zu früh erwacht war, während die anderen noch alle schliefen." diff --git a/fluter/voll-im-bilde.txt b/fluter/voll-im-bilde.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3fe94e38ec443441a8b56594c061574f823e61ed --- /dev/null +++ b/fluter/voll-im-bilde.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +03 – Die Hundeverordnung beziehungsweise das Hundegesetz ist Ländersache und sieht für einige Rassen und deren Kreuzungen eine Leinen- und Maulkorbpflicht vor. In vielen Kommunen dürfen Hunde in Parks nur angeleint Gassi geführt werden. In manchen Bundesländern ist für gefährliche Hunde und läufige Hündinnen sogar die Länge der Leine begrenzt. +04 – Das Gaststättengesetz verbietet es unter anderem, offenbar Betrunkenen weiter Alkohol zu verkaufen. In manchen Bundesländern enthält es auch eine Sperrzeit. +05 – Laut Jugendschutzgesetz dürfen Jugendliche unter 16 nicht ohne Begleitung eines Sorge- oder Erziehungsberechtigten in Gaststätten – es sei denn, sie nehmen zwischen 5 und 23 Uhr ein Getränk oder ein Essen zu sich. Jugendliche ab 16 müssen um Mitternacht nach Hause. +06 – Die Schulpflicht regelt, dass Kinder in den meisten Bundesländern bis zur neunten Klasse in die Schule gehen müssen, in manchen auch bis zur zehnten. Die Schulordnung der meisten Schulen untersagt das Schneeballwerfen und Rauchen sowie das Verlassen des Schulgeländes, wenn die Schüler noch nicht volljährig sind. +07 – Die Straßenverkehrsordnung umfasst viele Seiten und regelt den Verkehr in Deutschland – und zwar vom Knöllchen bis zum Totalschaden. +08 – Die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel ohne Fahrschein heißt in schönstem Amtsdeutsch "Beförderungserschleichung". Zeigt der Ertappte einen nicht gültigen Fahrschein, kann er sogar wegen Betruges angeklagt werden. +09 – Die Bauordnungen der Länder schreiben so ziemlich alles vor: vom Abstand zur Straße bis zur Traufhöhe. +10 – Seit September 2007 gilt in Deutschland ein Rauchverbot (Bundesnichtraucherschutzgesetz) in Bundesbehörden, öffentlichen Verkehrsmitteln und Bahnhöfen. +11 – Das Anbringen von Plakaten, Anschlägen und anderen Werbemitteln jeder Art ist auf Flächen, die dem öffentlichen Nutzen dienen (zum Beispiel Laternenmasten), verboten – es sei denn, es liegt eine Sondernutzungserlaubnis vor. +12 – Ab 15 ist man mit einer Mofa-Prüfbescheinigung berechtigt, im Straßenverkehr auf einem motorisierten Zweirad mit einer Geschwindigkeit von maximal 25 km/h zu fahren. Ab 16 Jahren darf man 45 km/h fahren, bis man mit 18 allein Auto fahren darf. +13 – Die Panoramafreiheit ist ein Teil des Urheberrechts, die besagt, dass man Werke (zum Beispiel Bauwerke), die von öffentlichen Verkehrswegen aus zu sehen sind, bildlich wiedergeben darf. +14 – Wer ein gefälschtes Marken-T-Shirt verkauft, verletzt unter Umständen die Markenrechte, Urheberrechte, Patente und sonstigen Rechte des geistigen Eigentums und gewerblichen Rechtsschutzes. +15 – Das Überfliegen von Städten ist erlaubt. Die deutsche Flugsicherung achtet aber darauf, dass Flugzeuge in der Horizontalen einen Mindestabstand von 5,6 Kilometern einhalten. +16 – Abfall auf die Straße zu werfen ist grundsätzlich verboten. Selbst das Ausspucken eines Kaugummis kostet in manchen Kommunen Geld. Über das Urinieren in der Öffentlichkeit wollen wir gar nicht sprechen. diff --git a/fluter/voll-stoff.txt b/fluter/voll-stoff.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..78151033164fc58b0e3ffde8c257eaaaf762a9e1 --- /dev/null +++ b/fluter/voll-stoff.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Mit der genetisch veränderten Bt-Baumwolle von Monsanto sollte das Leben für die Bauern besser werden. Bt ist die Abkürzung für "Bacillus thuringiensis", ein Bakterium, dessen Gift die gefräßigen Raupen der Baumwoll-Kapseleule, eines Nachtfalters, tötet. Monsanto schaffte es, das für die Giftproduktion zuständige Gen in Baumwollpflanzen zu übertragen und sie dazu zu bringen, das Gift selbst herzustellen. Die Bt-Baumwolle schützt sich so selbst vor einem ihrer gefährlichsten Fressfeinde. +2008 wurde Bt-Baumwolle erstmals auf Feldern in Burkina Faso angebaut. Bereits 2013 wuchs die neue Sorte auf 70 Prozent aller Baumwollfelder des Landes. Die Bt-Baumwolle kam bei vielen Bauern gut an. Tatsächlich stiegen in den ersten Jahren die Ernteerträge. Statt wie früher bis zu sechs Mal pro Saison mussten die Bauern die Bt-Baumwolle nur noch zwei Mal mit Pestiziden spritzen. Das spart nicht nur Arbeit, sondern schont auch die Gesundheit, weil die Pestizide giftig sind. Viele Bauern machten größere Profite, obwohl das Saatgut für Bt-Baumwolle deutlich teurer ist als die Samen der konventionellen Sorten. +Doch nun scheinen sich die Hoffnungen zerschlagen zu haben. Burkina Faso hat nach Massenprotesten, einem gescheiterten Putschversuch und einer demokratischen Wahl im vergangenen Jahr einen neuen Präsidenten – und eine veränderte Einstellung zur Bt-Baumwolle. Kürzlich äußerte sich der neue Präsident Roch Marc Kaboré zu einem Problem, das auf den Baumwollfeldern seines Landes sichtbar wird: "Die Baumwolle, die wir heute produzieren, ist kurz geworden." Zu kurz. Kaboré sprach von den weißen Samenhaaren der Baumwolle, welche die Pflanze nach der Blütephase ausbildet und aus denen später die Fasern gesponnen werden. Nur lange Samenhaare eignen sich für die Herstellung von Kleidung, da sich aus ihnen glatte und stabile Fasern spinnen lassen. Die Samenhaare der Bt-Baumwolle in Burkina Faso aber werden von Jahr zu Jahr kürzer. Die Textilindustrie verlor das Interesse an der nun minderwertigen Baumwolle aus Burkina Faso. Eine Katastrophe für das arme Land. Die baumwollverarbeitenden Firmen in Burkina Faso bleiben auf den mangelhaften Fasern sitzen. Die Entwicklungswissenschaftler Brian Dowd-Uribe und Matthew Schnurr, die sich für einen Beitrag in der Fachzeitschrift "African Affairs" mit der Bt-Baumwolle beschäftigt haben, zitieren anonym einen leitenden Mitarbeiter der burkinischen Baumwollindustrie: "Was nützt es, Topproduzent zu sein, wenn man seine Baumwolle nicht verkaufen kann?" +Nun hat der Verband der burkinischen Baumwollproduzenten reagiert. In der kommenden Saison soll die Ausgabe des Bt-Saatguts an die Bauern auf einen Anteil von 30 Prozent reduziert werden. Spätestens 2018 soll dann wieder ausschließlich konventionelle Baumwolle auf den Feldern wachsen. Eine komplette Kehrtwende innerhalb von nur zehn Jahren. Außerdem hat der Verband den Hersteller der Bt-Baumwollsaat, den US-Konzern Monsanto, auf umgerechnet rund 74 Millionen Euro Schadenersatz verklagt. Die Verluste der Unternehmen seien innerhalb einer Saison von 60 Millionen Euro auf über 75 Millionen Euro gestiegen. "Wenn das so weitergeht, graben wir uns ein immer tieferes Grab", klagt Wilfried Yaméogo, Manager bei einem der burkinischen Baumwollproduzenten. Monsanto-Sprecher William Brennan erwiderte, die Verkürzung der Samenhaare könne auch bei konventionellen Sorten auftreten. Das Problem sei nicht allein genetisch, sondern auch klimatisch bedingt. Sein Kollege Kobus Steenekamp, Monsanto-Manager in Südafrika, warf der burkinischen Regierung vor, sie vernachlässige die Bauern mit ihrer "sehr dramatischen und schwerwiegenden Entscheidung", die Bt-Baumwolle aus dem Land zu verbannen. Die Entscheidung könnte allerdings Signalwirkung für den ganzen Kontinent haben. In 28 Ländern Afrikas werden jährlich etwa 1,3 Millionen Tonnen Baumwolle produziert, das sind rund 4,6 Prozent der weltweiten Baumwollernte – was aber 15 Prozent des weltweiten Baumwollexports ausmacht. Staaten wie Uganda, Kenia und Ghana wollen demnächst entscheiden, ob sie Bt-Baumwolle anbauen. +Auch viele Bauern sind die Bt-Baumwolle inzwischen leid. Bei ihnen waren die Ernteerträge bereits im zweiten und dritten Jahr nach Einführung der Bt-Baumwolle teils drastisch zurückgegangen. Außerdem erwies sich die Bt-Baumwolle als sehr anfällig für Dürren, wie sie in Burkina Faso immer wieder auftreten. Wenn die Keimlinge in der Hitze eingehen, müssen die Bauern erneut aussäen. Bei Bt-Baumwolle ist das besonders bitter. Denn das Bt-Baumwoll-Saatgut für einen Hektar kostet 60 Dollar, das konventionelle Saatgut für dieselbe Fläche nur zwei Dollar. Die Bt-Baumwolle hat noch mehr Nachteile. Bislang nutzten Bauern die nach der Ernte übrig gebliebenen konventionellen Baumwollsamen, um daraus Öl zum Kochen zu pressen oder sie an ihr Vieh zu verfüttern. Ein paar Samen behielten sie, um sie im nächsten Jahr auszusäen. Genau das aber verbietet Monsanto; das teure Saatgut muss jedes Jahr neu gekauft werden. Vor allem in armen Ländern kann das den Bauern zum Verhängnis werden, da sie womöglich höhere Schulden machen müssen. Immer wieder gibt es Berichte aus Indien, wo sich schon Baumwollbauern das Leben nahmen. Manche Gentechnikkritiker machen die Schuldenfalle bei genetisch veränderten Sorten für die Selbstmorde verantwortlich. +"Mit gentechnisch veränderten Pflanzen wird alles teuer", klagt auch die Nichtregierungsorganisation GRAIN, die Kleinbauern in Ländern des globalen Südens berät und burkinische Bauern zu ihren Erfahrungen mit Bt-Baumwolle befragt hat. GRAIN und viele burkinische Bauern begrüßen die Entscheidung, wieder auf konventionelle Baumwolle umzusteigen: Bei der konventionellen Baumwolle steigen die Ernteerträge nicht. Aber immerhin bleiben sie über die Jahre stabil. diff --git a/fluter/voller-einsatz.txt b/fluter/voller-einsatz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..eb7fae6cc6459945bc285e53519f77d2d4b397eb --- /dev/null +++ b/fluter/voller-einsatz.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Die seltsame Reise dieser Pendler zeigt, wie leicht man in einem Land wie den USA, in dem das Sozialsystem nur schwach ausgebaut ist, unter die Räder kommen kann. Der Fotograf Yeong-Ung Yang ist über mehrere Wochen in den Bussen mitgefahren und hat das Leben dieser Menschen dokumentiert. +Der Fotograf +Der Foto- und VideojournalistYeong-Ung Yangwurde 1984 in Daegu, Südkorea, geboren. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Dokumentation des Lebens von koreanischstämmigen Amerikanern im Raum New York. Seine Fotoreportage über die Bus-kkun veröffentlichte er erstmals im Herbst 2013 in der New York Times. Fürdie Multimedia-Aufarbeitungdieser Arbeit gewann er den ersten Platz beim "Northern Short Course Contest" der Fotografen-Vereinigung NPAA. +Ein Leben im Bus: Asiatische Migranten auf ihrem täglichen Weg ins Sands Casino in Bethlehem, Pennsylvania. +15 Dollar kostet die Fahrkarte. Dazu gibt es Gutscheine, die die Pendler an die Casinobesucher verkaufen können. So bestreiten sie ihren Lebensunterhalt. +Das Casino ist für die obdachlosen "Bus-Kkun" ein Wohnungsersatz. +Eine Reiseagentin von "Lucky 9 Enterprises" verkauft die Tickets in einer Bäckerei. +Einstieg in Flushing, einem Stadtteil im New Yorker Bezirk Queens. +Der Bus passiert die Manhattan Bridge. +Schlafen statt Zocken: Die Pendler haben kein Interesse am Glücksspiel. +Seltene Zerstreuung: Von weitem beobachten die Bus-Kkun eine Tanzshow in der Casinobar. Hinein gehen sie nicht – dort müssten sie sich ein Getränk kaufen. +Das Warten auf den Bus zurück nach New York. +Die Abfahrt vom Sands Casino. +Endlose Reise: Jeden Tag beginnt die Fahrt nach Bethlehem von neuem. diff --git a/fluter/voller-neid-und-missgunst.txt b/fluter/voller-neid-und-missgunst.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..434c2b48dcb3b3dc3d3610c2cc9b00092249a5a7 --- /dev/null +++ b/fluter/voller-neid-und-missgunst.txt @@ -0,0 +1,55 @@ +Wurde der Begriff ganz normal benutzt? +Ja. So wie man heute sagt "Ich bin für Ökologie" oder "Ich bin Veganer", konnte man damals im Sinne einer anerkannten Haltung sagen: "Ich bin Antisemit." Und die hatte im späten 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert mit den einschneidenden sozialen und ökonomischen Veränderungen zu tun. +Damals gingen viele Menschen in die Städte, wo die Fabriken standen. +Die Juden verfügten über beachtliche Vorteile: Fast alle konnten lesen und schreiben, viele beherrschten mehr als eine Sprache und bevorzugten das städtische Leben. Dort lockten wirtschaftliche Chancen, Gymnasien und Universitäten für die Kinder, die diese dank ihres besseren intellektuellen Trainings nutzen konnten, während die christlichen Altersgenossen erst einmal den weit verbreiteten Analphabetismus überwinden mussten. +Warum waren die Juden damals gebildeter? +Zur jüdischen Kultur gehörte schon immer die Bildung. Die Gesetze fordern die Fähigkeit des Lesens, damit jeder für sich die religiösen Schriften streitig auslegen kann. Anders als in christlichen Familien sagten jüdische Eltern niemals "Lesen verdirbt die Augen". Hinzu kamen die Erfahrungen jahrhundertelanger Verfolgung. Bildung ist transportabel, die kann man nicht enteignen. Der Vorsprung an Bildung und Bildungswillen führte zu wirtschaftlichen Vorsprüngen, zu erheblich schnellerer sozialer Aufwärtsmobilität. Vor 1914 waren die deutschen Juden im Schnitt wohlhabender als die christliche Mehrheit. Das zeigen die Steuerstatistiken. +Wieso kamen die Christen nicht nach? +In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schritt die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland schleppend voran, verglichen mit England, Belgien oder auch Teilen Frankreichs. Ich interpretiere das als Spätfolge der napoleonischen Kriege und der territorialen Zersplitterung. Doch ab 1860 verlief die industrielle Entwicklung doppelt so schnell wie in England, zumal in der Gründerzeit. Da hatten die Juden ungeheure Chancen. In Berlin gab es bei einer Million Einwohnern fünf Prozent Juden. Und 65 Prozent der jüdischen Kinder machten einen höheren Abschluss, während die Christen bei fünf Prozent verharrten. Die Juden bildeten eine eifrige, klug wirtschaftende Minderheit. +Und das schuf Neid? +Neid entsteht in der sozialen Nähe. Sobald die Zurückgebliebenen aufholen, wächst der Neid, weil die besseren gesellschaftlichen Positionen auch für sie erreichbar werden. Deswegen vergrößerten sich die Spannungen in der Weimarer Zeit. Infolge des Ersten Weltkriegs und der Inflation verloren viele Juden ihr Vermögen. Parallel dazu bewirkte die soziale Mobilisierung des Krieges und die gute Bildungspolitik der Weimarer Republik, dass sich die Zahl der Abiturienten verdreifachte, die Zahl derer, die mit mittleren Abschlüssen vorankommen wollten, stieg noch mehr. +Die sozialen Milieus gerieten in Bewegung. +Diese soziale Beweglichkeit in den 1920er-Jahren wird bis heute bewundert. Jedoch erhöhte die – mit Recht politisch erwünschte und geförderte – soziale Dynamik auch die Gefahr des Absturzes. Der Kampf um die gesellschaftlichen Positionen wurde härter. Deutlich lässt sich das an den Universitäten ablesen: Die Nationalsozialisten eroberten die Mehrheiten dort wesentlich früher als in den anderen Milieus der deutschen Gesellschaft. +Wieso entfaltete sich der Hass zuerst an den Unis? +Aus den christlichen Familien studierten überwiegend junge Leute, die noch ohne Bücher aufgewachsen waren, sich in der akademischen Welt und den entsprechenden Berufen nur tastend zurechtfanden. In dieser Situation tanzten hochgebildete, schlagfertige, leicht lernende Juden vor ihnen herum. Deshalb galten diese als "vorlaut", "oberflächlich", "hämisch" und "frech", während die Studenten der christlichen Mehrheit ihre Langsamkeit als "tiefsinnig" und "gefühlvoll" deuteten und sich in deutschtümelnden Kollektiven wohler fühlten als im individuellen Leistungswettbewerb. Wenn sie schon als Individuen nicht überlegen waren, dann wenigstens als Angehörige einer angeblich herausragenden völkischen Gemeinschaft oder Rasse. +Der nationalliberale Historiker Heinrich von Treitschke prägte 1879 den Satz "Die Juden sind unser Unglück", den sich später das nationalsozialistische Hetzblatt "Der Stürmer" zu eigen machte. +Treitschke formulierte diesen Satz als Frage, die sich immer mehr christliche Deutsche stellen würden. Er beantwortet sie auch und zwar so: Die ostjüdischen Zuwanderer kämen als "Schar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge" über die Grenze und deren "Kinder und Kindeskinder" würden "dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen". Treitschke, aber auch die antisemitischen Führer Wilhelm Marr und Adolf Stoecker thematisierten ständig den in der damaligen Zeit weit überdurchschnittlichen Aufstiegserfolg der Juden. +Wurden die Ressentiments in der Bevölkerung propagandistisch ausgeschlachtet? +Der protestantische Pfarrer Stoecker sprach in seinen Propagandareden und -schriften immer wieder vom "unheilvollen" Aufstiegswillen der Juden. Das klang dann so: Sie müssen "Schneider und Schuhmacher, Fabrikarbeiter und Diener, Mägde und Arbeiterinnen werden"; gelinge das nicht, würden sie, "je länger, je mehr Arbeitgeber werden, dagegen die Christen in ihrem Dienste arbeiten und von ihnen ausgebeutet werden". So verdeckten Antisemiten ihren Neid und ihr Phlegma. Neid darf man sich nicht eingestehen, sonst würde man das eigene Unvermögen bekennen. Deshalb entwickelt der Neider stets tarnende und selbstgnädige Hilfskonstruktionen: Er klassifiziert den Beneideten als niedrig, hinterhältig, oberflächlich oder unredlich. Auf diesem geistigen Boden entstanden die Ressentiments, die den modernen Antisemitismus kennzeichnen. +Wie wesentlich ist die Rassentheorie für die Propaganda? +Die Rassentheorie entwickelten Briten und Franzosen, und sie diente dem politischen und ökonomischen Zweck, Sklaven, Plantagenarbeiter und die Bevölkerungen in den Kolonien von den schon zur Norm gewordenen Allgemeinen Menschenrechten auszuschließen. +Wie bekam man das zusammen? +Joseph Arthur de Gobineaus "Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen" von 1853 bewies, dass die nicht aus Europa stammenden Menschen keine gleichberechtigten Menschen seien. Das Werk wurde sofort ins Englische übersetzt und fand vor allem im Süden der USA reißenden Absatz. Die Sklavenhalter dort empfanden das Werk als ein Geschenk des Himmels, das wissenschaftlich bewies, dass "der Neger" kein richtiger Mensch sei. Das war zweckgebundener Rassismus. +War das für die Deutschen der Anlass, Juden als Untermenschen abzustempeln? +Auch in dieser Hinsicht war Deutschland eine verspätete Nation. Die Deutschen übersetzten Gobineaus Werk erst 50 Jahre später. Die wirtschaftliche Ausbeutung von Kolonien interessierte sie wenig und erst sehr spät. Die Deutschen verwendeten die Rassentheorie anders: Sie richteten sie gegen konkurrierende Minderheiten im eigenen Land. +Gegen Slawen und dann vor allem gegen Juden. +In Deutschland blühte ein Rassismus, der die Minderwertigkeitsgefühle der christlichen Mehrheit ansprach. Mit Gobineau wurde behauptet, die (christlichen) Deutschen gehörten einer besonders edlen "germanischen Rasse" an. So entstand in Deutschland ein spezieller, kollektivistischer, wegen des Neides vielfach verborgener Judenhass. Es gab im 19. Jahrhundert keine Pogrome. Mehrheitlich fanden es die Deutschen aber wünschenswert, dass diese vorlauten, sich angeblich vordrängelnden Juden einen Dämpfer bekommen sollten. Genau diese Aufgabe übertrugen sie 1933 dem nationalsozialistisch geführten Staat. Dabei war der Antisemitismus keine Spezialität der NSDAP-Wähler, er integrierte sozialdemokratische und auch katholische Wähler. Den Kommunisten galten Juden nicht selten als Kapitalisten, Bürger oder Kleinbürger, die den Interessen der Arbeiter schaden würden. +Das eine waren die Parolen, das andere die Taten. Wie wichtig war die Propaganda der Tat? +1933 bis 1945, zwölf Jahre, davon gehörten die ersten beiden Jahre der Konsolidierung, die letzten zwei der Abwicklung, macht acht Jahre im Kern. Das ist geschichtlich eine Sekunde und selbst lebensgeschichtlich kurz. In dieser Zeit entfesselte die nationalsozialistische Regierung Deutschlands einen Krieg mit 50 Millionen Toten und beispiellosen Massenmorden. Und das alles ließ sich mit einem verhältnismäßig normalen, überwiegend gesitteten Volk veranstalten. +Wie kann man diese negative Energieentladung erzeugen? +Totalitarismus, Geschwindigkeit, national-soziale Utopie und Krieg bildeten die entscheidenden Elemente. Die Leute wurden im Dritten Reich dauernd in Atem gehalten. Täglich fielen Entscheidungen, wurden neue Gesetze verkündet, Aktionen gestartet, Massenversammlungen und Feierlichkeiten organisiert. Man wusste nicht, was der Führer demnächst tun würde, aber man wartete darauf in Hochspannung: Plötzlich schloss er Österreich an, ließ nach einer inszenierten, dramatisch erscheinenden Krise das Sudetenland besetzen, dann Memel und Prag. Ständig wurden die Deutschen der durchaus prickelnden Spannung Krieg oder Frieden ausgesetzt, Zukunft oder Untergang. Das Leben kam ihnen vor wie im Kino. +Eine Mischung aus Angst und Rausch? +Die Regierung Hitler verstand es, das Riesenkollektiv "Herrenvolk" in ständig beschleunigter Bewegung zu halten. Man durfte erstmals zum Urlaub an die Ostsee, gleichzeitig wurde der Sohn zum Militär eingezogen, dann lief der Krieg zuerst wie ein Sonntagsspaziergang. Überall erstrahlte nur das Größte und Schönste, ein Sieg jagte den anderen, neue Waffen stärkten die Siegesgewissheit. Die Soldaten schrieben begeisterte Briefe nach Hause, gingen in Paris ins Bordell und schickten ihren Bräuten Schweineschinken und Spitzenunterwäsche. +Wie wichtig war es für die Verbreitung der nationalsozialistischen Propaganda, die neuen Massenmedien einzusetzen wie etwa das Radio oder den Film? +Der Nationalsozialismus hat in den bildenden Künsten oder in der Literatur nichts Bleibendes hinterlassen, sehr wohl aber im Kino. Da sind Filme entstanden, die bis heute funktionieren. Mit großem Aufwand hergestellt, stilistisch großartig. +Wie die Filme von Leni Riefenstahl über die Olympischen Spiele von 1936 oder die Parteitage der NSDAP. +Oder auch der "Euthanasie"-Film "Ich klage an". Mit leichten Retuschen könnten Sie den auch heute zeigen, und die Leute würden die Vorstellung mit denselben Gedanken verlassen, die Joseph Goebbels ihnen 1941 auf sanfte Weise einträufeln wollte und konnte. +Mit dem Gefühl, dass man Behinderte umbringen sollte? +Nicht derart grob, sondern mit dem widersprüchlichen Gefühl, dass die damals so bezeichnete "Lebensunterbrechung" schwer behinderter oder leidender Menschen eine komplizierte moralische Frage sei, die im Sinne der Leidenden neu diskutiert werden müsse, und zwar unter den Stichwörtern "Selbstbestimmung über den eigenen Tod" und "Erlösung Schwerbehinderter und -kranker". +Welchen Stellenwert hatte für die Propaganda die seichte Unterhaltung?Also die Ablenkung von der Politik und später auch vom Grauen des Krieges? +Das gehörte essenziell dazu. Die Pflege der Musik, der systematische Neubau von Theatern und Stadien, begleitet von einer Propaganda, die in ihrer geschickten und modernen Art unterschätzt wird. Heutige Gedenkstätten und Schulbücher zeigen meistens die primitivsten Varianten der antijüdischen Propaganda und die Blut- und Bodenverherrlichung. +Die Fackelmärsche, das Germanische. +Das gab es auch, aber nicht nur. Das Fluffige, die Wohlfühl- Propaganda stand im Vordergrund, spezialisiert auf bestimmte Konsumentengruppen und unterschiedliche Geschmacksrichtungen. "Das Reich", eine 1940 von Goebbels gegründete Wochenzeitung, wurde 1946 zum grafischen Vorbild für "Die Zeit". Die Modezeitschrift "die neue linie" zeigte Fotostrecken mit sehr schicken Frauen. Das war keine Brutal-Propaganda. +Kann man sagen, dass banale Sachen hochgejauchzt und Brillantes wie die moderne Kunst runtergemacht wurden? +Das Credo lautete: Ihr, verehrte echtdeutsche Volksgenossinnen und Volksgenossen seid die Größten, die Schönsten, Kräftigsten, Begabtesten, euch gehört die Zukunft. Alles, was uns auf diesem manchmal beschwerlichen und Opfer erfordernden Weg zum nationalen Sonnenstaat stört, hat zu verschwinden. Dazu zählte das angeblich Zersetzende, Fremde und Unharmonische. +Aber von da ist der Schritt zu den Konzentrations- und Vernichtungslagern doch noch sehr groß. Wie bringt man einem Volk bei, dass auch das eine Lösung sei? +Das war kein einfacher Weg. Die wichtigste Voraussetzung dafür muss in der Ausnahmesituation Krieg gesucht werden. Er reduzierte die moralischen Normen schnell. Der Krieg ermöglichte die Identifikation des Judentums mit den Feinden. Hinfort galten Juden als besonders hinterhältige, im Inneren und oft verborgen wirkende Feinde. Da sie als "nicht wehrwürdig" galten, war es nur ein kurzer, für die damalige deutsche Öffentlichkeit weithin verständlicher Schritt, die Juden zum angeblichen "Arbeitseinsatz nach Osten" zu deportieren. +Und je mehr davon profitierten, desto selbstverständlicher wurde das. +Mit dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion ging es für die Deutschen um Leben und Tod. In diesem Moment hatten die Naziführer Brücken zur Umkehr abgebrochen. Von nun an nutzten sie die Politik des Verbrechens als Mittel zur innenpolitischen Festigung. Thomas Mann hat das im November 1941 in einer seiner Rundfunkreden genau beschrieben: "Das Unaussprechliche, das in Russland mit den Polen und Juden geschehen ist und geschieht, wisst ihr. Ihr wollt es aber lieber nicht wissen aus berechtigtem Grauen vor dem ebenfalls Unaussprechlichen, dem ins Riesenhafte gewachsenen Hass, der eines Tages, wenn eure Volks- und Maschinenkraft erlahmt, über euren Köpfen zusammenschlagen muss. Ja, Grauen vor diesem Tag ist am Platz, und eure Führer nutzen es aus." +Mitgefangen, mitgehangen. +Die NS-Führung verfuhr nach den Prinzipien einer kriminellen Organisation: Leute abhängig machen, ihnen kleinere oder größere Vorteile verschaffen, ihnen die Möglichkeit zur Umkehr versperren, sie derart an sich zu binden, dass der sogenannte Endsieg als der einzige, das eigene Überleben sichernde Weg erscheint. Dazu gehörte es, angebliche Verräter in den eigenen Reihen und Feinde gnadenlos zu verfolgen und zu töten. +Nach dem Krieg sagten viele, sie seien Verführte gewesen. +In dieser massenhaften Ausrede steckt auch etwas Wahres. Die Geschwindigkeit, mit der eine Aktion der anderen folgte, Siege errungen wurden und dann Niederlagen prasselten, nahm vielen Deutschen die Besinnung. Die Verbrechen wurden arbeitsteilig begangen. Sie galten als Geheimnis. Das bedeutet aber nur eines: Weil man von den Erschießungen und Vergasungen Hunderttausender Menschen nichts wissen durfte, brauchte man es nicht zu wissen, und vermied so die Belastung des eigenen Gewissens. Die damaligen Deutschen betrachteten das Ende als Zusammenbruch, als Katastrophe. Voller Angst warteten sie darauf, dass die Sieger all das rächen würden, was 18 Millionen Landser, SS-Männer und Besatzungsbeamte den Völkern Europas und den Juden angetan hatten. Blutjunge Wehrmachtsoldaten, die 1945 in Gefangenschaft gerieten, zur Desinfektion und zum Duschen geführt wurden, wussten plötzlich ganz genau: "Jetzt werden wir vergast." Das heißt: Viele hatten ein schlechtes Gewissen. +Was lernt man aus dem früheren Antisemitismus für heute? +Wir lernen aus dem Dritten Reich nur wenig für die Gegenwart, die ist immer anders. Thilo Sarrazin zum Beispiel liebt die zuwandernden Juden ausdrücklich wegen ihrer Intelligenz. Den in linken, liberalen und rechten Kreisen gepflegten Antizionismus interpretiere ich als Schuldabwehr. Diese Art des Ressentiments gründet notwendigerweise auf anderen Ursachen als der Antisemitismus vor 1945 und nutzt andere Ausdrucksformen als der gegen Flüchtlinge gerichtete Rassismus. In der ubiquitären, auch staatlichen Ignoranz gegenüber den deutschen Kriegsverbrechen in den besetzten Teilen der Sowjetunion lebt meines Erachtens die alte deutsche Geringschätzung gegenüber Slawen fort. Wieder anders verhält es sich mit der unter muslimischen Zuwanderern anzutreffenden Judenfeindschaft. Dann gibt es den kleinen Rassismus, den man auch als elterliche Fürsorge bezeichnen kann, in der eigenen mittelständischen, sich für aufgeklärt haltenden Familie: Sowohl in meiner Familie als auch in meinem Bekanntenkreis achten viele darauf, dass in den Kindergärten und Schulen, die sie für ihre Kinder aussuchen, nicht zu viele Achmeds und Ayşes sind. So gesehen erscheint es mir auch falsch, einfach zu behaupten: Rassisten sind immer nur die anderen. +Götz Aly ist Historiker und Journalist. Sehr lesenswert ist sein Buch "Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800–1933", das im Fischer-Verlag erschienen ist. Zuletzt erschien seine große Studie über die europäische Geschichte von Antisemitismus und Holocaust: "Europa gegen die Juden 1880–1945". diff --git a/fluter/vollgas-zurueck-zur-natur.txt b/fluter/vollgas-zurueck-zur-natur.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..40c8239d2f512709dfa7c5576642897b65735b7e --- /dev/null +++ b/fluter/vollgas-zurueck-zur-natur.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Es ist wohl kein Zufall, dass der Bekleidungshersteller Schöffel in einem Spot so wirbt: "An alle Proteindrinktrinker, Indoorstepper, Laufbandläufer... macht erst mal ohne mich weiter. Ich bin raus." Und dass ein neues Magazin mit dem Namen "Walden" vor kurzem gegründet wurde, Untertitel: "Die Natur will dich zurück". +Der Haken an der Sache: Es gibt viele Anzeichen dafür, dass das nicht stimmt. Die Natur kann den Menschen gar nicht zurückwollen, weil er, sobald er ihr näher rückt, sie zu zerstören beginnt. So argumentiert jedenfalls Edward Glaeser, Ökonomieprofessor an der amerikanischen Elite-Universität Harvard, und führt dafür in seinem 2011 erschienenen Buch "Triumph of the City" auch das Beispiel Thoreau an. Als der etwa nach dem Fischen ein Feuer machte, gingen gleich mehr als 120 Hektar Wald in Flammen auf. Glaesers Moral der Geschichte: "Wir sind eine destruktive Spezies, und wer die Natur liebt, sollte ihr fernbleiben. Die beste Weise, die Umwelt zu schützen, ist, im Herzen der Stadt zu leben." +Auch wenn es in der Praxis eher die Alltagsgewohnheiten in den Bereichen Verkehr und Konsum statt Lagerfeuer sind, welche die Umwelt bedrohen, macht diese These hellhörig. Und Glaeser liefert Zahlen zur Unterstützung seiner Thesen zumindest über die Situation in den USA: 40 Prozent der Treibhausgase, die ein US-Amerikaner freisetzt, stammen aus Autoauspuffen und dem Energieaufwand für das Haus (Strom, Gas und Heizung). Dass Menschen in den Vorstädten und auf dem Land mehr Auto fahren, verwundert nicht, schließlich gibt es keinen öffentlichen Nahverkehr, und viele pendeln lieber mit dem Auto als mit der Bahn. +Laut Glaeser ergibt sich daraus, dass ein städtischer Haushalt bis zu 3,4 Tonnen weniger CO2 pro Kopf und Jahr in die Luft bläst, als er es auf dem Land tun würde. Aber auch die Häuser verbrauchen mehr CO2 auf dem Land. Meist einfach deshalb, weil mehr Leute dort in Einfamilien- statt in Mehrfamilien- oder Reihenhäusern wohnen. Mehr Platz für sich zu haben ist ja für viele der Hauptgrund, überhaupt aufs Land zu ziehen. Deshalb verbrauchen sie aber auch mehr Energie: Allein der Stromverbrauch der ländlichen Haushalte in den USA ist im Durchschnitt um 88 Prozent höher als der von städtischen Haushalten. +Insgesamt ergibt sich aus dem höheren Heizungs- und Stromverbrauch ländlicher Haushalte in den USA eine Mehrbelastung der Umwelt von fast sechs Tonnen CO2 pro Haushalt, rechnet Glaeser aus. Und sechs Tonnen sind statistisch eine Menge. Zum Vergleich: Durchschnittlich verursacht ein US-Amerikaner 16 Tonnen CO2 im Jahr, ein EU-Bürger 6,8 Tonnen. Nun ist Glaeser einer von vielen Ökonomen, und in den Vereinigten Staaten unterscheiden sich die Verkehrsbedingungen von Deutschland. +Fragt man bei deutschen Experten nach, erfährt man, dass es Vergleichsstudien zwischen Stadt und Land wie die von Glaeser zwar hierzulande nicht gibt. Überrascht von seinen Thesen und Ergebnissen sind sie aber nicht. "In der Stadt ist es einfacher, umweltfreundlich zu leben, als auf dem Land", sagt Daniel Bleher der beim Öko-Institut, einem privaten Umweltforschungsinstitut in Freiburg, für Infrastruktur und Unternehmen zuständig ist. Vor allem liege das daran, dass die Menschen in ländlichen Regionen mehr Auto fahren. "Und das Autofahren macht nun einmal durchschnittlich ein Viertel des ökologischen Fußabdrucks eines jeden aus." +Christine Wenzl, Expertin für Nachhaltigkeitsstrategie beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), pflichtet ihm bei. Allerdings ist eine Flucht in die Stadt, wie Glaeser sie begrüßt, für Wenzl auch keine Lösung. "Die Umwelt in vielen ländlichen Gebieten leidet darunter, dass die Menschen wegziehen", sagt sie. Tatsächlich verlieren ländliche Regionen trotz all dem Outdoor-Enthusiasmus einiger Städter seit Jahren Einwohner – aufgrund der Abwanderung vieler junger Menschen in die größeren Zentren und einer niedrigen Geburtenrate. +Das Resultat: Die, die übrig geblieben sind, fahren noch mehr Auto. Je weniger Menschen in einem Ort wohnen, desto unwirtschaftlicher ist es dort für die alteingesessenen Einzelhändler. Die Zeiten sind vorbei, in denen auch in den kleinsten Dörfern der Tante-Emma-Laden die Bewohner mit dem Nötigsten versorgte. Dafür muss man heute meist in die größeren Gemeinden fahren. Ähnliches gilt für Arbeitsplätze und Ausbildung: Dienstleistungen, Gewerbe, Behörden und Schulen konzentrieren sich auf immer weniger zentrale Orte. Folgt man den Argumenten von Glaeser, scheint es ein Teufelskreis zu sein, der sich auch durch mehr Zuzug in die Städte nicht lösen lässt: Denn in der Stadt lässt es sich zwar weniger umweltschädigend leben. Gehen aber immer mehr Leute in die Stadt, schadet das der Umwelt auch, weil die auf dem Land Verbliebenen der Umwelt dann noch mehr schaden. +Aber es gibt auch Forschungsergebnisse, die ein anderes Bild zeichnen. Sie kommen aus Finnland, einem Sehnsuchtsort vieler Naturliebhaber. Jukka Heinonen, jetzt an der Universität Island in Reykjavík, hat mit Kollegen ebenfalls untersucht, ob Städter oder Dörfler den größeren CO2-Fußabdruck haben. Und er kommt zu ganz anderen Ergebnissen als Edward Glaeser in den USA. Die genaue Bilanz: 9,6 Tonnen pro Kopf und Jahr in den Städten, 9,5 Tonnen pro Jahr in semiurbanen Gebieten und 8,9 Tonnen in den ländlichen Gemeinden. +Heinonens Begründung: Stadtbewohner sind meist wohlhabender als Menschen in ländlichen Gebieten. Mit dem urbanen Lebensstil verbrauchen Städter mehr Waren und konsumieren mehr Dienstleistungen. Zwar benutzten sie mehr öffentliche Verkehrsmittel, dafür reisten sie aber öfter mit dem Flugzeug. Vielleicht kommt es also gar nicht so sehr darauf an, ob man in der Stadt oder auf dem Land lebt, um der Umwelt möglichst wenig zu schaden. Vielleicht sollte man einfach mehr darauf achten, wie man lebt. diff --git a/fluter/vom-kaempfen.txt b/fluter/vom-kaempfen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0f73ce22c9d9b5d26f4d90c5e747ae32a43ffc19 --- /dev/null +++ b/fluter/vom-kaempfen.txt @@ -0,0 +1,38 @@ +Natalja Kljutscharjowa: Das Potenzial und Talent meiner Mitmenschen, außergewöhnliche Dinge zu leisten. Doch wir nutzen diese Fähigkeiten, die in dem Volk und dem Land stecken, viel zu wenig und entwickeln sie nicht weiter. Stattdessen herrscht eine unheimliche Härte und Kälte untereinander. +Wie macht sich das bemerkbar? +Seitdem sich der Konflikt in der Ukraine zugespitzt hat, wächst der Graben zwischen denen, die hinter der russischen Führung stehen, und den wenigen, die dagegen sind. Man merkt selbst in den zwischenmenschlichen Beziehungen eine Nervosität. Manchmal sehe ich, wie sich alte Frauen vor den Eingängen der Häuser im Streit anbrüllen. +War das jemals anders? +Anfang der 90er-Jahre, kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, haben wir eine größere Freiheit verspürt. Der Alltag war freundlicher und optimistischer. Das Leben war schwer, aber die Menschen hatten keine Angst, ihre Meinung zu sagen, und suchten selbstbestimmt nach unterschiedlichen Möglichkeiten, ihr Leben zu führen. Aber das war nur ein kurzer Abschnitt unserer Geschichte. Jetzt ist es wieder riskant zu sagen, was man denkt. Die Propaganda bringt die Menschen auf den Kurs des Kremls. Wer Russland nicht so rosig sieht wie das Staatsfernsehen, gilt als Staatsfeind. +Machen die Repressionen die Menschen mundtot? +Nehmen wir zum Beispiel die Massenproteste im Jahr 2011, als Hunderttausende auf die Straße gegangen sind, um gegen die Wahlfälschungen zu demonstrieren. Viele von ihnen sind deswegen verhaftet und vor Gericht gezerrt worden, einige kamen ins Gefängnis. Das hat den Menschen gezeigt, was ihnen droht, wenn sie sich gegen die Staatsmacht auflehnen. Viele Oppositionelle haben das Land verlassen. Die wenigen, die noch für ihre Rechte kämpfen, haben keine Familie, um die sie sich sorgen müssten. Als ich noch 20 Jahre alt war, bin ich auch mit der Fahne auf die Straße gegangen. Heute mache ich das nicht mehr. +In Metropolen sieht man sagenhaften Reichtum, während die meisten Russen in trostlosen Vorstädten und vergessenen Dörfern leben. Wieso lassen sich das die Benachteiligten gefallen? +Sie sehen ihre Notlage, haben aber keine Hoffnung, etwas daran ändern zu können. Darum haben sich viele aufgegeben. Sie zerstören sich allmählich selbst. Sei es durch Drogen, Alkohol oder generell einen ungesunden Lebensstil. +Sie kritisieren mit Ihren Erzählungen und Essays das System und die gesellschaftlichen Zustände im Land. Haben Sie keine Angst vor staatlicher Verfolgung, schließlich haben Sie inzwischen zwei Kinder? +Eigentlich nicht. Ich persönlich bin noch nicht Ziel von Repressalien geworden. Aber es stimmt schon, die Bedrohung erscheint immer unmittelbarer – man nimmt sie nicht mehr wie früher nur vom Hörensagen wahr. Ein Beispiel: Eine Freundin engagiert sich in einer Organisation, die mit Hilfe aus Westeuropa lokale Projekte fördert. Ihr hat man nun klar zu verstehen gegeben, sämtliche Kontakte in den Westen abzubrechen. +Es gibt seit Ende 2012 ein Gesetz, das russische Organisationen mit finanzieller Unterstützung aus dem Ausland als sogenannte ausländische Agenten diskreditiert. Die Arbeit zivilgesellschaftlicher Initiativen wird so erschwert. +Es geht ja noch weiter. Die NGOs sollen nicht nur von westlichen Geldmitteln abgeschnitten werden, sondern ihre Zusammenarbeit mit Europa gänzlich einstellen. Sonst wird man sie aus dem Verkehr ziehen. +Welche Kraft besitzen aus Ihrer Sicht unabhängige Medien? +Nur ein äußerst geringer Anteil der Bevölkerung nimmt die wirklich kritischen Medien wahr. Von denen gibt es auch nur wenige. Eigentlich nur die Zeitung "Novaja Gazeta", der Radiosender "Echo Moskvy" und einige Plattformen im Internet. Die Mehrheit der Russen glaubt ihnen nicht, denn sie bekommen im Fernsehen ständig zu hören, dass diese Medien Feinde des Landes sind. +Abgesehen vom Internetsender "Doschd" besitzen die kremltreuen Sender in der TV-Landschaft ein absolutes Monopol. +Wenn ich mit Menschen rede, die ihre Informationen ausschließlich aus dem Fernsehen erhalten, denke ich, dass wir in zwei unterschiedlichen Ländern leben. In dem einen ist alles prima, und aus dem anderen fliehen die Menschen wie die Ratten vom sinkenden Schiff. +Manche Russen werden im Ausland als protzige Neureiche wahrgenommen. Sind Russen von Geld besessen? +Das Geld hat sich zu einem Selbstzweck entwickelt. Seit Jahren sind wirtschaftliche und juristische Studiengänge überfüllt, weil sie ein hohes Einkommen versprechen. Anderen Fakultäten bleiben die Studenten hingegen fern. Die meisten Menschen wählen einen Job mit dem Ziel, möglichst viel Geld zu verdienen, ohne Rücksicht auf die eigenen Talente und Interessen. Viele üben ihre Berufe ohne Können und Hingabe aus und sind unglücklich – selbst wenn sie viel verdienen. +Das ist im Westen möglicherweise nicht anders. +Der Wohlstand im Westen, sofern ich das beurteilen kann, ist aber in ein soziales Umfeld eingebunden, und zumindest der Idee nach stehen Arbeit und Verdienst in einem direkten Verhältnis. Die Arbeitswelt richtet sich nach den Menschen, in Russland ist es umgekehrt. Hier besitzen sie für die Marktwirtschaft außerhalb ihrer Arbeitsleistung keinerlei Wert. +Das erinnert an die Sowjetunion, wo das Individuum wenig zählte. +In der Erziehung ist das traditionelle sowjetische Modell immer noch vorherrschend: Die Eltern und die Familie erwarten von den Kindern Gehorsam. Das setzt sich in der Schule und an der Uni fort. So wachsen Menschen heran, deren zwischenmenschliche Beziehungen verkümmern. Immerhin kann man beobachten, dass immer mehr Menschen aufwachen: Sie schmeißen ihren ungeliebten Job hin und begeben sich auf die Suche nach ihrer eigentlichen Persönlichkeit. Dieses Downshifting ist besonders bei 20- bis 30-Jährigen beliebt – zumindest bei denen, die es sich leisten können. +Was muss geschehen, damit Russland ein demokratischer Staat wird? +Das ist ein Generationenprojekt. Es wird eine lange Zeit vergehen, bis wir es schaffen. Vielleicht werden unsere Kinder oder Enkelkinder in der Lage sein, eine demokratische Gemeinschaft aufzubauen – wenn wir uns alle sehr anstrengen. In der Gegenwart sehe ich dafür überhaupt keine Möglichkeiten. Auch die erste Generation, die Anfang der 90er-Jahre in einem freiheitlichen System geboren wurde, steht mittlerweile größtenteils unter dem Einfluss der autoritären Erziehung. +Wirkt sich die Stalin-Ära mit ihren Millionen Ermordeten noch auf die Gesellschaft aus? +Die humanitäre Katastrophe ist bis heute spürbar. Eine ungeheure Zahl von Menschen wurde getötet oder vertrieben, vor allem gebildete Menschen, Wissenschaftler und Künstler. Sie und ihre Nachkommen fehlen unserem Land jetzt, Menschen, die keine Angst haben, eigenständig zu denken und Dinge zu hinterfragen. +Nicht erst seit dem Ukraine-Konflikt sehen einige das derzeitige politische System als eine Art Neo-Stalinismus. Warum ist die Regierung und vor allem der Präsident trotzdem so beliebt? +Putin ist so populär, weil er den Wunsch vieler Menschen nach einer harten Hand befriedigt. Sie sehnen sich nach jemandem, der ihnen den Weg zeigt. Ich glaube nicht, dass sich das Volk trotz der aktuellen Krise von ihm abwenden wird. Die Propaganda funktioniert hervorragend. Das Staatsfernsehen sagt den Menschen: Nicht Putin und die Regierung sind schuld an der Krise, sondern das "verdammte Amerika". Und die Mehrheit glaubt es zu gern, denn das alte Freund-Feind-Schema aus der Zeit der Sowjetunion ist immer noch stark ausgeprägt. +Auch prominente russische Putin-Kritiker sehen vor allem im Hinblick auf den Krieg in der Ostukraine auch eine Schuld beim Westen. Gibt es darüber eine Debatte? +Eine objektive Diskussion existiert in Russland nicht. Niemand weiß so genau, was in der Ukraine geschieht. +Glauben Sie, dass westliche Medien in der Hinsicht verlässlicher sind? +Ich kann das nicht beurteilen. Aber so wie ich das von meinen Bekannten in Europa höre, ist auch bei ihnen die Berichterstattung sehr stark ideologisiert und nicht unbedingt objektiv. Inwieweit der Westen eine Mitschuld an den Ereignissen in der Ukraine trägt und sich dabei im Umgang mit Russland schuldig macht, kann ich nicht sagen. Es ist klar, dass in den kremltreuen Medien ein verzerrtes Bild wiedergegeben wird – und Kritikern, die mehr Informationen über den Konflikt haben, in der breiten Öffentlichkeit keine Möglichkeit gegeben wird, ihre Sicht der Dinge darzulegen. +Das klingt nach einer undankbaren Aufgabe für kritische Künstler und Journalisten. +Die Intelligenzija hat keinerlei Einfluss auf die breite öffentliche Meinung, wir bleiben unter uns. Ich persönlich spreche mit meinen Werken nur für einen kleinen Teil meiner Generation. Dennoch: Nicht alles ist schlecht bei uns. Hier leben Menschen, die sehr reflektiert mit der Lage in unserem Land umgehen. Sie fürchten sehr, isoliert zu werden, und suchen den Austausch mit dem Ausland. Europa kann uns dabei helfen – indem es die Beziehungen mit Russland aufrechterhält. +Haben Sie Angst vor einem neuen Krieg? +Sehr. Ich denke gerade praktisch an nichts anderes. +Natalja Kljutscharjowa (1981 in Perm geboren) studierte an der Pädagogischen Hochschule von Jaroslawl. Heute lebt und arbeitet die Autorin und Journalistin in Abramzewo bei Moskau. In ihren Erzählungen und Aufsätzen schildert sie schnörkellos die Abgründe des russischen Alltags und porträtiert Menschen, die sich gegen die Verwahrlosung der Gesellschaft auflehnen. Bei Suhrkamp sind in deutscher Übersetzung bisher ihre Romane "Endstation Russland" und "Dummendorf" erschienen. diff --git a/fluter/vom-kraftwerk-in-den-fisch.txt b/fluter/vom-kraftwerk-in-den-fisch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vom-kuenstlichen-aufregen.txt b/fluter/vom-kuenstlichen-aufregen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9ac493b8148990201a7fa21cdf3caf85c9c01879 --- /dev/null +++ b/fluter/vom-kuenstlichen-aufregen.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Lisa-Maria Neudert: Hinter manchen Bots stehen politische Akteure. In Syrien hat das Regime Bots eingesetzt, um Aufständische in die Irre zu führen. Oft kann man aber nur spekulieren. Ein Bot kann von offiziellen Institutionen oder Parteien geschaltet werden, aber genauso gut auch von Privatpersonen, die für eine bestimmte Seite Stimmung machen möchten. +Wie bedeutsam sind Meinungsroboter? +Wir haben festgestellt, dass bis zu 27 Prozent aller Tweets im US-Wahlkampf von Bots stammten, wobei das Trump-Lager sehr viel präsenter war. Bei der Entscheidung zum Brexit stammte ein Drittel aller Tweets von gerade einmal einem Prozent der Accounts. Rund um die Bundespräsidentenwahl in Deutschland haben wir 22 Bots finden können. +Das sind nicht besonders viele. +Das stimmt einerseits, vor allem wenn man sich vor Augen hält, wie heftig und fast schon hysterisch derzeit über die Manipulationsgefahr von Bots diskutiert wird. Andererseits ist die Bundespräsidentenwahl kein besonders brisantes Ereig- nis, zu dem viele Menschen twittern. Es kann gut sein, dass zur Bundestagswahl im September eine ganze Reihe Bots dazukom- men, die bisher gar nicht als politisch aufgefallen sind. Wir haben zum Beispiel Bots gefunden, die zu Sportwetten oder Shopping getwittert hatten und dann mit einem Mal Stim- mung für den AfD-Kandidaten bei der Bundespräsidentenwahl gemacht haben. Genauso wie es englischsprachige Bots aus dem Trump-Lager gab, die nach dem Attentat auf dem Berliner Breitscheidplatz plötzlich auf Deutsch gegen Merkels Flücht- lingspolitik gewettert haben. Ganze Bot-Armeen lassen sich im Nu umpolen. +Was haben Sie sonst noch bei Ihrer Analyse zur Bundesprä- sidentenwahl herausgefunden? +Auffällig war, dass die Unterstützung für den AfD-Kan- didaten deutlich überrepräsentiert war. Fast die Hälfte aller Tweets galt ihm, fast genauso viele wie Frank-Walter Steinmeier. Wir haben uns außerdem angesehen, auf welche Quellen in den Tweets verlinkt wurde. Auf vier Nachrichten aus verlässlichen Informationsquellen, etwa etablierten Medien, kam jeweils eine Junk-News-Quelle. Das ist erheblich. Während der US-Wahl war das Verhältnis sogar eins zu eins. +In den USA haben gezielte Falschmeldungen bereits zu Gewaltakten geführt. Im Dezember schoss ein Mann in einer Pizzeria um sich, nachdem in sozialen Netzwerken die Ver- schwörungstheorie die Runde gemacht hatte, Hillary Clinton betreibe in dem Lokal einen Kinderpornoring. Wie können solch abstruse Geschichten in den sozialen Netzen überhaupt Gläubige finden? +Das Problem entsteht nicht erst durch die sozialen Medien. Es gibt bei einem Teil der Menschen ein generelles Miss- trauen gegenüber den politischen Eliten, sodass Junk-Meldun- gen auf fruchtbaren Boden fallen. +Der Facebook-Algorithmus versorgt einen allerdings vor allem mit Meldungen, die das eigene Weltbild stützen. +Ja, aber die Filterblasen fangen schon in der Offline-Welt an. Wenn etwa die urbanen Akademiker in den USA in ihrer Timeline keine Pro-Trump-Posts finden, obwohl doch knapp die Hälfte der Wähler für ihn gestimmt hat, hat das vielleicht weniger mit dem Facebook-Algorithmus zu tun – sondern damit, in welchen Milieus und Freundeskreisen sie sich bewegen. Was im Netz stattfindet, ist auch ein Abbild der Wirk- lichkeit außerhalb. Facebook selbst hat übrigens 2015 eine Studie veröffentlicht, wonach die Filterblasen gar nicht so her- metisch sind. Die Nutzer wurden durchaus auch mit Nachrich- ten konfrontiert, die nicht zu ihrer politischen Einstellung passen. Mit der Studie wollte Facebook natürlich auch die Kritik an seinem Algorithmus entkräften. Ich würde dennoch keine Entwarnung geben. Denn auch durch einen kleinen al- gorithmischen Filter kann man in seinem Weltbild eingemau- ert werden. +Facebook will jetzt mit Faktencheckern gegen Falschmel- dungen ankämpfen. Eine gute Idee? +Ich finde Faktenchecker sehr problematisch, ganz egal ob Facebook sich selber darum kümmert oder Externe damit beauftragt. Wollen wir wirklich Facebook über Inhalte und deren Wahrheitsgehalt entscheiden lassen? Bei vielen Fake News ist es schwer zu beurteilen, wo die Grenze zwischen Fak- ten und Meinungen verläuft. +Einige fordern derzeit ein Verbot von Social Bots. Ist das sinnvoll? +Davon halte ich wenig. Es gibt nicht nur Hetz-Bots, sondern auch viele legitime, sinnvolle Bots. Chat-Bots beantworten Kundenanfragen, Blogger lassen ihre neu verfassten Beiträge automatisch bei Twitter einlaufen. Ich selbst folge Bot-Accounts, die mich regelmäßig über neue akademische Veröffentlichungen informieren. Will man die alle verbieten? +Wenn so viele schädliche Bots das Klima vergiften, muss man das vielleicht in Kauf nehmen. +Aber ist das Verhältnis tatsächlich so, dass es nur wenige gute und sehr viele schädliche gibt? Ich bin mir nicht sicher. +Was halten Sie davon, wenn es zumindest eine Kennzeich- nungspflicht für Bots gäbe? +Das wäre eine mögliche Maßnahme, ist aber mit vielen praktischen Problemen verbunden. Zum Beispiel: Ab welchem Grad der Automatisierung soll die Kennzeichnungspflicht grei- fen? Am allerwichtigsten ist aus meiner Sicht: mehr Medienkompetenz. +Was meinen Sie damit? +Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir im Netz nicht automatisch mit Menschen kommunizieren, sondern mitunter eben auch mit Chatrobotern. Wir müssen wissen, dass Bots uns oft gute Dienste erweisen, aber auch zur Stimmungsmache eingesetzt werden können. Algorithmen erleichtern vieles, aber filtern auch einen Teil unserer Wahrnehmung. Es gibt immer noch zu viele Menschen, die denken, eine Google-Suche liefere bei ihrem Nachbarn die gleichen Ergebnisse wie bei ihnen selbst. diff --git a/fluter/vom-mutfassen.txt b/fluter/vom-mutfassen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d99ecd529261bedfdb4a37b69edf48dd5e96751c --- /dev/null +++ b/fluter/vom-mutfassen.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Obwohl es harte Burschen gab. Die haben sich zielsicher nach links außen gesetzt. Sie wollten nicht zur Gruppe gehören, nicht angequatscht werden, den Blick starr auf die Tür gerichtet, man spürte förmlich die Faust in ihren Taschen. Sie waren am Ende diejenigen, die am schnellsten ihre Vorurteile abbauten. Hier war jeder im gleichen Boot. Man wollte sich nicht miteinander anlegen, man wollte Perspektiven. +Überhaupt war das Coming-out vieler Teilnehmer sehr berührend: Eine 20-jährige verwitwete Russin wagte auf Zuspruch von ein paar jungen Türken endlich einmal wieder, ein farbenfrohes Tuch statt Trauer zu tragen. Ein Kampfsportler, der viele Jahrzehnte auf allen Kontinenten herumgekommen war, weinte vor Rührung, als sich der Blätterwald in seiner Aldi-Tüte doch noch in so etwas wie einen Lebenslauf verwandelte. Ein träger Bauarbeiter, der vor Selbstmitleid erstarrte, dankte einer Physikerin, die jahrelang an einen Rollstuhl gefesselt war, für ihre Lebensfreude und ihren Optimismus. Ein iranischer Professor, der seinen Job an den Nagel gehängt hatte, um seine krebskranke Frau zu pflegen, verhalf einem Neonazi bei seiner Jobsuche im Internet zu einer neuen Stelle. +Und der schüchternste Mann im Hartz-IV-Universum blühte beim Rollenspiel zu einem umwerfend charmanten Adonis auf. Ich habe nur den Raum gegeben, sich zu begegnen, und zwei Regeln gesetzt: Niemand und nichts wird bewertet. Jeder macht in diesem Kurs nur das, was er kann und will. Den Raum hat jeder auf seine Art genutzt. Es war mehr als ein Bewerbungstraining. Für viele war es auch ein wenig Überlebenstraining. diff --git a/fluter/vom-reisen-gezeichnet.txt b/fluter/vom-reisen-gezeichnet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..60edec5b4766a1d9469c0b92b45aa3b3da2cce18 --- /dev/null +++ b/fluter/vom-reisen-gezeichnet.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Delisles erstes Buch "Shenzhen" beschreibt seinen Arbeitsaufenthalt in der chinesischen Sonderwirtschaftszone Ende der 1990er. Shenzhen ist für die sozialistische Volksrepublik ein marktwirtschaftliches Versuchslabor, das in den letzten 30 Jahren von einer Kleinstadt zur Millionenmetropole gewachsen ist. Ein weiterer Trickfilmstudio-Job führt ihn wenige Jahre später in Nordkoreas Hauptstadt Pjöngjang. In der Diktatur, die für nur wenige westliche Besucher offen ist, wird Delisle Zeuge des Personenkultes um Kim Jong-il und der teils bizarren Misswirtschaft seines Regimes – und handelt sich schon Ärger ein, als er einen Zettel an die Wand hängen will, die für die Porträts des Diktators Kim Jong-il und dessen Vater Kim Il-sung reserviert ist. +In seinen "Aufzeichnungen aus Birma" berichtet Delisle von einem Land, das ihm nach jahrzehntelanger Militärdiktatur mitunter wie gelähmt erscheint, dessen Bewohner ihm aber ausnehmend freundlich begegnen. Der inzwischen eingeleitete Öffnungsprozess Birmas war damals nicht mehr als eine Hoffnung, die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi stand noch unter Hausarrest. Das bisher letzte Buch – "Aufzeichnungen aus Jerusalem" –  schließlich spielt an einem Ort, an dem man den politischen und religiösen Themen gar nicht ausweichen kann: Auf seinen Touren durch Israel, Gaza und das Westjordanland wird Delisle immer wieder Zeuge der Gängelung und Ungleichbehandlung der Palästinenser durch den israelischen Staat. +Neben seinen Zufallsbegegnungen mit den politischen Verhältnissen referiert Delisle auch gezielt geschichtliche und wirtschaftliche Hintergründe – und kombiniert das alles mit – durchaus zum Teil selbstironischen – Schilderungen seines Alltags. Er erzählt vom Spielen mit seinem kleinen Sohn in Birma und wie er in Jerusalem seinen aus Schusseligkeit im Fahrstuhlschacht versenkt. In Shenzhen bestellt Delisle wegen seiner fehlenden Sprachkenntnisse immer das gleiche Essen und in Pjöngjang freut er sich, als er eine in Frankreich gefertigte Toilette entdeckt. Auch die skurrilen Blüten der Bürokratie, denen man offensichtlich nirgends auf der Welt entkommen kann, schildert er mit lakonischem Humor. Wie auch sonst soll man damit umgehen? +Ganz nebenbei werden in "Shenzhen" und "Pjöngjang" zudem Grundlagen der Trickfilmproduktion vermittelt, während wir in "Birma" und "Jerusalem" aufgrund der Arbeit von Delisles Frau einiges über die Organisationsstruktur von "Ärzte ohne Grenzen" lernen. Und in allen vier Büchern geht es auch immer wieder um die Welt der "Expats", der Expatriates. Das sind all die Abgesandten aus westlichen Firmen, NGOs und Kulturinstituten, die ein paar Monate bis ein paar Jahre gemeinsam in einer fremden Stadt leben und sich dort zu kleinen Parallelgesellschaften zusammenfinden. +Dieser stetige Wechsel zwischen den Erzählebenen schafft Authentizität und bewahrt Delisle davor, moralisierend oder schwer zu wirken. Auch an ernsten Stellen gelingt ihm auf diese Weise eine angenehme Leichtigkeit. Seine Zeichnungen sind einfach gehalten, die Figuren mit wenigen Strichen dargestellt, die Hintergründe minimalistisch, auch auf Farben verzichtet er weitestgehend. +Derart reduziert kann sich Delisle ganz dem Ikonischen widmen, gerne stellt er politische Zusammenhänge in kleinen Grafiken dar und lässt das Luxushotel für westliche Besucher in Pjöngjang auch mal wie ein Egoshooter-Level wirken. Mit all diesen Mitteln gelingt es ihm, seinen Alltag in China, Nordkorea, Birma und Israel auf unterhaltsame Weise spürbar zu machen. +Michael Brake, 33, ist Mitarbeiter von fluter.de und schreibt auch für die taz und Zeit Online über Comic-Themen. +"Aufzeichnungen aus Birma" +"Aufzeichnungen aus Birma" +"Aufzeichnungen aus Birma" +"Shenzhen" +"Shenzhen" +"Shenzhen" +"Shenzhen" +"Shenzhen" +"Pjöngjang" +"Pjöngjang" +"Aufzeichnungen aus Jerusalem" +"Aufzeichnungen aus Jerusalem" +"Aufzeichnungen aus Jerusalem" +"Aufzeichnungen aus Jerusalem" +"Aufzeichnungen aus Birma" +"Aufzeichnungen aus Birma" +"Aufzeichnungen aus Birma" +"Aufzeichnungen aus Birma" diff --git a/fluter/vom-schulabbrecher-zum-unternehmer.txt b/fluter/vom-schulabbrecher-zum-unternehmer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..31818a5857ad18f786d9beb7f0c4fa3d02a17a36 --- /dev/null +++ b/fluter/vom-schulabbrecher-zum-unternehmer.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Andere junge Menschen träumen vielleichtvon einer Influencerkarriere,einem Startupoder einem eigenen Café, Simon kam auf eine andere Idee: Er malte sich aus, wie es wäre, den Getränkemarkt zu übernehmen, wenn sein Chef mal in Rente gehen würde. Als er dem das erste Mal davon erzählte, lachte der nur. Aber nachdem Simon die Schule verlassen hatte, wirkte seine Idee plötzlich gar nicht mehr so seltsam. Um die Übernahme zu finanzieren, suchte er sich noch einen weiteren Job als Lagerarbeiter. Die komplette Summe konnte er so immer noch nicht aufbringen, darum lieh er sich das restliche Geld von seiner Familie. Und sein ehemaliger Chef ließ sich schließlich auf Ratenzahlung ein. Ein Jahr nach seinem Entschluss, nicht mehr zur Schule zu gehen, betrat Simon den Getränkemarkt als Geschäftsinhaber. + +Was macht man, ohne Abitur und Studium? Man kann zum Beispiel eine Berggaststätte pachten + +"Mein Dad ist selbstständig. Ich wollte wahrscheinlich ein bisschen in seine Fußstapfen treten", sagt er. Ironischerweise unterschied sich der neue Alltag gar nicht so sehr von dem, dem er entkommen wollte. Wie die Schule begann der Tag im Getränkemarkt um acht Uhr morgens – und wie zu Schulzeiten fiel es Simon immer noch schwer, früh aufzustehen. Aber konnte er dort manchmal erst zur dritten Stunde kommen, war das im Getränkemarkt nicht möglich. Schlief er, schlief schließlich auch das Geschäft. +Selbst das Büffeln blieb Programm. Nach zehn Stunden Arbeit saß er abends noch mit seinem Vater vor der Buchhaltung: Rechnungen, Versicherungen, Unterlagen vom Finanzamt. Auf nichts von alldem war er in der Schule vorbereitet worden. Nun lernte er eifriger als zuvor – die Disziplin kam mit der Motivation für den eigenen Laden. +Sechs Tage die Woche schuftete eram Anfang, nahm keinen Urlaub und ging kaum auf Partys. Erst allmählich wurde es entspannter, er stellte Aushilfen ein – selbst ein paar seiner Freunde fingen bei ihm an. Im zweiten Jahr stieg dann einer seiner Brüder ins Geschäft ein. Zusammen entwickelten sie weitere Ideen: einen Stand auf Straßenfesten oder Grillfisch vor dem Getränkemarkt für die Kunden. Das Geschäft sei so gut gelaufen, dass er bereits nach drei Jahren seine Schulden komplett abbezahlt hatte, sagt Simon. +Ein Jahr später beschloss er, den Getränkemarkt ganz seinem Bruder zu übergeben. Sechs Monate reiste er um die Welt, dann kehrte er zurück und stand wieder vor der Frage: Was mache ich nun? Schließlich stieß er auf eine Anzeige: Am Sendlinger Tor – mitten in der Münchner Innenstadt – wurde eine Bar verpachtet. Gastronomie war schon immer Simons großes Ziel, er wollte den Laden. Zusammen mit seinem Freund Norbert schrieb er ein Konzept und bewarb sich erfolgreich um einen privaten Kredit. Doch eine Stunde vor Vertragsunterzeichnung ging die Bar an einen Mitbewerber. Statt das Münchner Nachtleben mitzugestalten, fuhr Simon erst mal zu seiner Oma nach Ruhpolding in die Chiemgauer Alpen. Aus Langeweile suchte er auf einer Immobilienwebsite nach Angeboten in der Gegend und stieß auf eine Anzeige: "Berggasthof zu verpachten" – null Bilder. Simon machte einen Besichtigungstermin aus, eigentlich nur aus Jux, schließlich wollten er und Norbert eine urbane Bar aufmachen und kein Restaurant in einer Naturidylle. Doch die Entscheidung war schnell gefallen: Sie wollten die Alm pachten. Der Panoramablick und der alte Kachelofen im Gastraum waren einfach zu schön. +Nun sind Simon und Norbert Geschäftsführer des Gasthofs "Brandler Alm". Nur einen Monat Zeit hatten sie bis zur Eröffnung. Die kitschige Deko aus Herzen und Tieren musste verschwinden, ein Koch und Bedienungen gefunden werden und die Speisekarte "bayerischer" werden. Neben dem Wild, das von den örtlichen Jägern stammt, finden sich nun auch handgemachte Spätzle darauf. Im großen Garten wachsen Gemüse und Kräuter. + +Wer nix wird, wird Wirt – so hieß es früher. Simon sieht das anders + +Am Anfang hatten sie auch älteres Personal, heute sind alle in Simons Alter, also so um die 25. Er hat gemerkt, dass es schwer ist, wenn der Chef jünger ist als die Angestellten. Nun sind wieder ein paar alte Freundinnen und Freunde im Team. "Wir kochen auf Gastro-Niveau, aber halt trotzdem unter Freunden, das ist schon geil", freut er sich. +"Hätte ich damals einfach durchgezogen, besäße ich jetzt ein Abitur", sagt Simon rückblickend. Bei allem Erfolg hat er gemerkt, dass man ohne Ausbildung oder Abitur meist Umwege gehen muss, um Projekte umzusetzen. Gerade wenn es um die Finanzierung geht, wollen Banken einen Abschluss sehen. "Und damit steht und fällt einfach fast jedes Projekt." +Auch im Ausland habe man es ohne Abschluss schwerer. Gerade aber hat er herausgefunden, dass die Industrie- und Handelskammer eine besondere Abschlussprüfung anbietet, wenn man zuvor viereinhalb Jahre beruflich in einer Branche tätig war. Schon bald könnte Simon also ganz offiziell Einzelhandelskaufmann sein und damit einem seiner nächsten Träume noch ein bisschen näher kommen: nach Costa Rica gehen und dorteine ökologische Landwirtschaftaufmachen – mit angeschlossenem Hostel am Strand. diff --git a/fluter/vom-verschwinden.txt b/fluter/vom-verschwinden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4bbb8add221c75cabfcee09152469151aa2a4f62 --- /dev/null +++ b/fluter/vom-verschwinden.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Wann es genau begann, dass Theresa nur noch "die Fette" war, weiß sie heute nicht mehr. Aber sie weiß, dass sie darunter litt, dass niemand mehr mit ihr Kontakt haben wollte, sie ausgegrenzt, verlacht und gemieden wurde. "In der Schule habe ich so getan, als ob es mir nichts ausmacht. Erst zu Hause habe ich dann losgeheult", erinnert sie sich. Ihre Mutter habe natürlich gemerkt, dass es ihr nicht gut ging und sie nicht mehr in die Schule wollte. Theresa schob dann Bauchschmerzen vor, weil sie ihre Mutter, die sich allein um sie kümmerte und die "genug um die Ohren hatte", nicht mit ihren Problemen belasten wollte. "Mit Facebook wäre es garantiert noch viel schlimmer für mich gewesen, aber das war zum Glück noch nicht so verbreitet." Trotzdem belastete die Situation Theresa immer stärker: Sie begann mit Diäten, aß tagelang nur Erbsen und Möhren aus dem Glas. In der Schule konnte sie sich nicht wirklich konzentrieren – was sich wiederum auf die Zensuren auswirkte. +Weil sie den anderen keinen Anlass zum Lästern geben wollte, traute sie sich irgendwann gar nicht mehr, vor anderen zu essen. Erst abends überkamen sie Fressattacken, und sie stopfte alles in sich hinein, was sie im Kühlschrank finden konnte. Nur um sich anschließend auf der Toilette den Finger in den Hals zu stecken. "Eines Tages sah ich in den Spiegel und entdeckte kleine Bäckchen in meinem Gesicht. Mit der Zeit hatte ich richtige Muskeln vom ständigen Brechen bekommen." Trotz Bulimie wurde Theresa nicht dünner, und irgendwann in der neunten Klasse fing sie an, sich mit einem Cutter in die Haut zu schneiden. Erst unten in der Bikinizone, wo es keiner sah, dann am Oberarm, wo es jedem hätte auffallen können. Der Schmerz, den sie beim Ritzen empfand, war eine Art Erleichterung für sie. +Heute ist Theresa 24 Jahre alt, sie hat die Schule durchgestanden und nach dem Abitur eine Berufsausbildung gemacht. Sie ist glücklich mit ihrem Job, der sie in eine Großstadt verschlagen hat, in der sie das Leben genießt. Einen echten Freund hat sie bisher noch nicht gehabt, dafür aber viele gute Freunde, mit denen sie reden und Spaß haben kann. Nur zum Schwimmen an den See würde sie nie mit ihnen fahren. Immer noch schämt sie sich für ihren Körper und findet sich von der Hüfte abwärts viel zu dick. "Ich weiß genau, wie viele Kalorien ein Croissant, ein Stück Schokolade und ein Joghurt haben. Bis heute ist mein Verhältnis zum Essen komplett gestört." Doch Theresa ist ein von Grund auf positiver Mensch: Eigentlich hätte sie das jahrelange Mobbing nur stärker gemacht, glaubt sie. Und die, die sie früher nur "Fetti" genannt haben, sind heute oft in der WG, in der Theresa lebt – als Besucher und alte Schulkameraden, die "ihr Leben bis heute überhaupt nicht in den Griff bekommen haben". Vielleicht ist das ja die Ironie der Geschichte. +*Name von der Redaktion geändert diff --git a/fluter/von-berlin-nach-london.txt b/fluter/von-berlin-nach-london.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4766b2ba7fda427a4afe5a4af438bee4afdd29b8 --- /dev/null +++ b/fluter/von-berlin-nach-london.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Die einzigen Nachteile für sie in London: Sie vermisst ihre Familie, die zum Teil in Deutschland lebt. Und die Metropole ist teuer. Eine Wohnung im Zentrum ist dort unerschwinglich. "Die Wohnpreise sind so hoch, dass die Leute immer mehr in die Außenbezirke gedrängt werden", sagt die Schauspielerin, die sich ein Haus in einer WG mit vier anderen Leuten im Multi-Kulti-Bezirk Tottenham teilt – mit der U-Bahn eine knappe Viertelstunde bis ins Zentrum am Oxford Circus. Durch die Mitbewohner hat sie auch neue Freunde kennengelernt. +"Was die Arbeit vor der Kamera anbelangt, läuft das in England nicht anders ab als in Deutschland", berichtet sie. Auch sprachlich gab es keine Schwierigkeiten, da Englisch durch ihre Kindheit im Kongo ohnehin ihre zweite Muttersprache ist. Ihren amerikanischen Akzent von damals gewöhnte sie sich später als Jugendliche ab. "Ich habe dafür viel britische Musik gehört und Filme im Original angesehen – Jane-Austen-Verfilmungen zum Beispiel", sagt Stella. Mit ihrem britischen Akzent wird sie in England in der Regel als Engländerin besetzt. Sollte sie mit ihrer Karriere auch in ein paar Jahren noch nicht richtig durchstarten, will sie in Richtung Journalismus wechseln. Am liebsten zur BBC. Nach Deutschland zurückgehen würde sie nicht. "Ich habe hier in England nicht nur künstlerisch mein Zuhause gefunden." +Als Marian Mentrup 15 war, wollten seine Schulfreunde meist für einen Austausch in die USA. Für den mittlerweile 32-jährigen Sounddesigner und Komponisten war England aber damals schon viel interessanter – wegen der Kultur, der Musik, der Mode. Also ging er für ein Jahr auf eine Boarding School, ein Internat in der Nähe von Norwich und machte hin und wieder Abstecher nach London. "Schon damals dachte ich mir, dass es eine coole Stadt zum Leben wäre", erinnert er sich – und doch dauerte es noch eine Weile, bis er die Möglichkeit dazu bekam. Erst studierte er an der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) in Potsdam Ton. Danach zog er in Berlin mit ehemaligen Studienfreunden die Animationsfilmfirma Talking Animals auf. Vor zweieinhalb Jahren ergab sich dann tatsächlich eineMöglichkeit, nach London zu gehen: Als seine venezianische Freundin für ihr Masterstudium in die britische Hauptstadt ging, kam er einfach mit – im Prinzip kann er schließlich überall arbeiten, wo Musik und Sound gebraucht wird. "Die Sprache war dabei für mich nicht so das Problem", erklärte er. "Die Stadt ist sowieso ein großes Gemisch und die wichtigsten Höflichkeitsfloskeln hatte ich auch schnell gelernt." +In London hat Marian anfangs nichts überstürzt: Nach und nach holte er sein technisches Equipment aus Berlin, dann mietete er ein Studio und ein Büro. "Zu der Zeit arbeitete ich weiterhin freiberuflich als Sounddesigner und Komponist im Bereich Film und Werbung, wobei die meisten Projekte anfangs noch aus Berlin kamen", berichtet er. "Parallel dazu habe ich mit meinem alten Weggefährten Daniel Teige aus Basel an großformatigen Klanginstallationen und Soundkonzepten für Marken gearbeitet. " Aus dieser Zusammenarbeit entstand ihre gemeinsame Firma Hammersnail Sonic Research mit den zwei Niederlassungen in Basel und London. Als zusätzliches Standbein ist Marian aber nach wie vor an Talking Animals in Berlin beteiligt. Seine Aufträge bekommt er zwar meistens über Empfehlungen, Netzwerken ist für ihn aber trotzdem wichtig. "Und das ist hier professioneller und exzessiver als in Deutschland – und immer verpackt mit Höflichkeit." +In London arbeitet er lange Tage. "Aber hier arbeiten alle viel", sagt er und lacht. "Es geht hier alles schneller, aber man muss ja auch mehr Geld verdienen, um leben zu können." So viel abzuhängen wie in Berlin, ginge in London daher nicht. Auch beim Wohnen musste er sich umstellen. Von Berlin-Neukölln, wo er sich eine große Wohnung für sich allein leisten konnte, ging es zunächst in ein WG-Zimmer in London. Mittlerweile hat Marian im Hackney ein Apartment und ein Büro gemietet, in dem er noch eine Mitarbeiterin beschäftigt. Was die künstlerische Arbeit anbelangt, ist London für Marian ziemlich spannend. "Man ist selbst bei kommerziellen Projekten sehr offen und traut sich auch, Ideen zu realisieren, die experimenteller und radikaler sind." Das Business sei sehr progressiv, wo man es gar nicht erwarte. "Ein einfacher Imagefilm kann hier schon mal fast zur Kunstinstallation werden." +Die Stadt habe dabei durchaus einen Einfluss auf seinen kreativen Output, allein weil man natürlich von den Menschen beeinflusst wird, mit denen man zusammenarbeitet. Wenn Marian sagt, dass er vor London in Berlin gelebt hat, käme das in der Regel total gut an. "Das ist ein Vorteil – allein schon wegen der Clubkultur gucken viele Engländer neidisch rüber nach Berlin." Er selber vermisst neben Freunden und Familie auch die Lockerheit in Berlin, weil in London doch sehr viel auf Geld und Business ausgerichtet sei. "Daher ist es immer schön, nach Deutschland zurückzukommen", sagt er. "Doch die Situation in London stabilisiert sich immer mehr und im Moment genieße ich es hier sehr." Auch nach fast drei Jahren sei die Stadt für ihn unverändert aufregend. +Sascha Rettig ist Journalist in Berlin. diff --git a/fluter/von-der-kunst-anderen-auf-den-sack-zu-gehen.txt b/fluter/von-der-kunst-anderen-auf-den-sack-zu-gehen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..380d0897697f7fbb3254521c0a95ab602775fc4c --- /dev/null +++ b/fluter/von-der-kunst-anderen-auf-den-sack-zu-gehen.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +etwas sehr Besonderes +etwas sehr Lustiges +etwas sehr Ernsthaftes. +Absender waren die Yes Men. +Die Yes Men sind zwei Aktivisten aus New York, die in den vergangenen Jahren vor allem dadurch bekannt wurden, dass sie unter Pseudonymen auf Konferenzen zum Welthandel auftauchen und dort im Namen großer Konzerne oder Organisationen, die sie als ausbeuterisch beurteilen, die unglaublichsten Vorträge halten. Das Duo serviert seinen Gegnern PR-Desaster, indem es deren Verhalten ins Fratzenhafte verzerrt – oder ihnen plötzliche Selbsterkenntnis unterstellt: Als "offizielle Vertreter" der Welthandelsorganisation WTO kündigten die Yes Men auf einer Konferenz in Sydney mal deren Auflösung an ("Weil wir erkannt haben, dass unser System ungerecht ist und nur den Interessen multinationaler Firmen dient"); in Salzburg traten sie vor Wirtschaftsvertretern für den freien Handel mit Wählerstimmen ein (kein Widerspruch aus dem Publikum); auf einem Vortrag in Finnland überzeugten sie Textilhändler davon, ihre Standorte nach Gabun zu verlegen und die Produktion dort für ein paar hundert Dollar im Jahr von "modernen Sklaven" erledigen zu lassen ("Kosten für Ernährung und Unterkunft sind da schon mit drin"). Auch ein Siesta-Verbot in Spanien haben die Yes Men mal verlangt – sollte das Bruttoinlandsprodukt ankurbeln. +Mühsam eindringen wie Diebe in der Nacht mussten die Yes Men bei den Tagungen nie. Man lud sie ein, nachdem sie Websites ins Internet gestellt hatten, die denen von McDonald's, Shell oder Dick Cheneys Lieblings-Militärzulieferer Halliburton ähnelten. Die Veranstalter recherchieren meist nur oberflächlich, selten fragen sie genauer nach, wenn Vertreter von Exxon Mobil oder der WTO sich als Gäste bereitstellen – eher sind sie dankbar, dass so ein Marktgigant mal vorbeikommt. Verklagen konnte die Yes Men bislang keiner; es war ihnen nichts Kriminelles nachzuweisen. Dabeisein bei dieser Truppe will ich, seit ich vor ein paar Jahren einen Typen namens Jude Finisterra im Fernsehen sah. Er trat bei BBC World auf, angeblich Pressesprecher des Unternehmens Dow Chemical. Zum 20. Jahrestag der Chemie-Katastrophe von Bhopal, bei der 1984 aufgrund fahrlässiger Sparmaßnahmen tonnenweise Giftgas frei wurde und mehr als hunderttausend Menschen tötete oder verletzte, erklärte Finisterra überraschend: Dow Chemical übernehme nun endlich die volle Verantwortung und werde den Opfern eine "längst überfällige Entschädigung in Höhe von zwölf Milliarden USDollar" zahlen. BBC vermeldete das sofort als "Breaking News". +Jude Finisterra war Yes-Men-Gründer Andy Bichlbaum mit sauber gescheiteltem Haar und einem Anzug, den er sich zwei Tage vorher für 50 Dollar bei der Heilsarmee besorgt hatte. Das war Polit-Aktivismus, wie man ihn noch nicht gesehen hatte – schnell, smart, lässig. Es war wie etwas, was sich die Beastie Boys und die Pariser Situationisten-Künstlergruppe hätten ausdenken können: Hiphop-Aktivismus! Dass Jude Finisterra die Art Bösewicht- Name war, die sonst nur in "Star Wars"-Filmen vorkommt, hatte bei der BBC niemanden stutzig gemacht. Bichlbaum und sein Partner Mike Bonanno sollen mich heute zum Yes Man machen. Das Problem ist nur, dass jetzt – mittlerweile ist es zwanzig nach vier – noch immer keiner der beiden ans Telefon geht. +Dafür haben sich ein paar Leute eingefunden, die offenbar auch Yes Men werden wollen. Oder Yes Women. Sie alle wurden übers Internet benachrichtigt, das wichtigste Medium der Gruppe. Da ist Robert aus Texas, Student der Wirtschaftswissenschaften; da ist Kegan, ein Schauspieler aus Brooklyn; da ist die Rentnerin Jane, eine Psychologin, die schon bei den Studenten- Aktionen im Berkeley der sechziger Jahre dabei war; da sind Hans, Jonathan, Laura und Jeanne. Kaum eine Handvoll – aber die Typen, die 1789 die Pariser Bastille stürmten, waren am Anfang auch keine Armee. Nun allerdings, wo es immer später wird, regen sich Zweifel, ob überhaupt irgendwas passieren wird. "Die Polizeiwagen da drüben machen mich nervös", sagt Jane. "Was, wenn das eine Falle ist?" "Eine Falle von wem denn?", fragt Robert. "Den Rechten natürlich", sagt Jane. "Die infiltrieren doch momentan alles, um Obama zu schaden." "Und schreiben E-Mails und Twitter-News im Namen der Yes Men? Come on!", sagt Laura. "Kennt denn einer von uns einen der Yes Men persönlich?", will die kritische Jane wissen. +Weder weiß ich, wer die anderen sind, noch was wir gleich tun werden: Aufstand? Umsturz? +"Ja", sage ich und wähle Andys und Mikes Nummern erneut. Wieder nur die Mailbox. Erst vor ein paar Tagen hatte ich Andy getroffen, aber auch da war er praktisch kaum ansprechbar gewesen. Schwitzend saß er in dem kleinen Büro, das ihm die Kunstschule Parsons für seinen Job als Professor für Digital-Design bereitstellt. Ständig klingelte das Telefon, ständig gingen E-Mails ein, ständig starrte Andy auf den Bildschirm seines MacBook. Yes Man zu sein heißt mittlerweile auch, Stress Man zu sein. Andy kümmerte sich gleichzeitig um den Vertrieb des neuen Yes-Men-Films "The Yes Men Fix The World" (gewann auf der Berlinale 2009 den Publikumspreis); er war auf der Suche nach weiteren finanziellen Unterstützern (das meiste Geld bekommen sie von Stiftungen und privaten Spendern, einer soll der Trompeter Herb Alpert sein); und er bereitete die Aktion vor, die heute angeblich losgehen soll: das große, besondere, lustige, ernsthafte, mysteriöse New-York-Ding eben. +Viel ist passiert, seit Andy und Mike vor zehn Jahren die Yes Men gründeten. Andy sagt, es sei vor allem eine Geschichte von Zufällen. Ich finde, es ist eine Geschichte von Neuerfindung und Suche, vom lockeren Umgang mit Identitäten und von Pop, der eher spielerisch Politik wird. Eine sehr amerikanische Geschichte eigentlich. Es beginnt schon damit, dass keiner der Namen, weder Bonanno noch Bichlbaum, echt ist, obwohl mittlerweile alle sie so nennen, selbst Freunde. Beides sind Pseudonyme. Bonanno heißt eigentlich Igor Vamos, kommt aus der Videokunst-Szene und lehrt Medienkunst; Bichlbaums wahrer Name ist Jacques Servin. Aber auch der ist ein Konstrukt, den sich Bichlbaums Vater ausgedacht hat, ein belgischer Jude, der über Kanada in die USA eingewandert war. Seinen alten Nachnamen, Swicziwsky, mochte er nicht so. +Bichlbaum wuchs in Arizona auf, und nachdem er, Thomas-Pynchon-Fan, es eine Zeitlang als Science-Fiction-Autor versucht hatte, wurde er Computerprogrammierer, "weil es der freieste Job ist, den man sich denken kann. Niemand kontrolliert dich, weil niemand weiß, was du tust. Fast macht es Angst, darüber nachzudenken, wie viel Macht ein Programmierer hat." Bichlbaum, der es nie länger als zwei, drei Monate in einem Job aushielt, nutzte die Freiheit, indem er im Computerspiel "SimCopter" eine Belohnung fürs Erreichen des letzten Levels einbaute: den Anblick halbnackter, sich küssender Bodybuilder. Das Spiel war längst ausgeliefert, als die subversive Aktion bemerkt wurde, die das stereotype Männerbild in Computerspielen konterkarieren sollte; Bichlbaum wurde gefeuert. Ein paar Monate später stellten ihm Freunde einen Typen vor, der sich bei der Firma Mattel hatte anstellen lassen, um rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft die Sprachchips der Puppen Barbie und G.I. Joe zu vertauschen. G.I. Joe stöhnte nun: "Mathe ist so kompliziert!" Und Barbie sagte, wenn man sie zärtlich drückte: "Die Rache wird mein sein." Der Mattel- Mann war Mike Bonanno. Kurze Zeit später hatten die beiden ihre erste Fake-Website eingerichtet: Willkommen bei der Welthandelsorganisation! Es dauerte nicht lange, bis die ersten Anfragen kamen. "Wir mussten nur warten, wie beim Angeln", sagt Andy. +Es ist Bonanno, der jetzt, kurz nach halb fünf, endlich in einem dunklen Wagen am Columbus Circle bei den wartenden Yes Men und Women vorfährt. Mike trägt einen blauen Anzug, hat wirre Haare und etwas müde Augen – aber trotzdem Top-Laune. Er entschuldigt sich für die Verspätung, öffnet den Kofferraum und wirft 20 abgepackte Stapel der "New York Post" auf den Asphalt. Alle glotzen. Das Blatt ist die "Bild" von New York, die reaktionärste Boulevardzeitung der Stadt und erklärte Lieblings- Daily des Medientycoons Rupert Murdoch, der Feind also. "Es ist natürlich nicht die echte ,New York Post'", sagt Mike und zieht ein paar Exemplare aus dem Stapel. WE'RE SCREWED, boulevardesk übersetzt: WIR SIND AM ARSCH, steht in fetten Lettern auf der Titelseite, die der echten "New York Post" in Schriftart, Farbe und Layout gleicht. Nur drinnen sieht die Zeitung ein wenig anders aus: Statt reißerischer Sex-Crime- Celebrity-Storys stehen da von Wissenschaftlern und Fachjournalisten ausrecherchierte Texte zum Klimawandel: zum Schmelzen der Polkappen, zum Ende des Eisbärs, zur Kohleförderung, zum CO2- Ausstoß, zu alternativen Energiequellen – passend zur Klima-Woche, die gerade in New York stattfindet. 50 Grafiker und Autoren haben drei Monate lang, meist gratis, daran gearbeitet. Gesamtkosten: 20.000 Dollar. "Die verteilen wir jetzt zwei Millionen Mal in der Stadt, und zwar zuerst an Journalisten", sagt Mike. "Ihr müsst irgendwie versuchen, in die Redaktionen der Fernseh- und Radiosender reinzukommen, damit die als erste von der neuen ,Post' erfahren. Und die Tageszeitungen natürlich. Den Rest drücken wir jedem Fußgänger in die Hand. Ganz Manhattan muss geflutet werden." +Einige Leute wirken kurz etwas enttäuscht. Sie hatten wohl auf die lustigen SurvivaBalls gehofft, eine Art Hüpfball- Anzug mit Ohren, der in den letzten Wochen immer öfter in den Mails der Yes Men aufgetaucht war. Sie hatten vielleicht nicht erwartet, wieder eine Zeitung zu verteilen wie im November letzten Jahres, als die Yes Men unter großem Applaus eine gefälschte "New York Times" mit nur guten Nachrichten herausbrachten: "Irak-Krieg: vorbei" stand da, "Bush wegen Hochverrats angeklagt" und "Ölfirmen Exxon Mobil und Chevron Texaco verstaatlicht". Die "New York Post" heute morgen liefert nun das genaue Gegenteil: keine Träume, sondern Fakten. "Und was ist mit den SurvivaBalls?", fragt Hans. "Zuerst die Zeitungen", antwortet Mike. Und ist dann auch schon wieder weg, nachdem er die Adressen vergeben hat, wo verteilt werden soll. Joanne, Laura und ich stürmen das CNBC-Hauptgebäude. Na ja, stürmen – bis in die entscheidenden Etagen lässt uns der Concierge nicht, aber wir kriegen ihn so weit, dass er einen Stapel Zeitungen vom Hausboten hochtragen lässt. Die anderen drücken wir jedem Angestellten in die Hand, der in den nächsten Stunden das Gebäude betritt. Sie sind zuerst skeptisch, schließlich ist es die "Post", schauen dann aber genauer hin und sind überrascht: ein Mistblatt, das sich plötzlich für das Schicksal der Welt interessiert? Was ist da denn passiert? Und als Stunden später jeder zweite New Yorker mit der neuen "Post" durch Manhattan läuft und sich die Titelzeile ins Stadtbild schreibt, wirkt es, als sei es gar nicht so absurd, würde sich ein Boulevardblatt zur Klima-Woche mal mit wirklich überlebenswichtigen Themen beschäftigen. +Ein kurzes, schnell geschnittenes Spiel mit der Realität: So vor allem funktioniert die "Identitätskorrektur", die die Yes Men zur Perfektion gebracht haben. So war es auch bei der berühmten Dow-Chemical- Aktion. Natürlich dementierte der Konzern eine Stunde später die Nachricht, er würde zwölf Milliarden Dollar an die Opfer zahlen – aber es war ein sehr peinlicher Akt für die Firma. Und in dieser Stunde hatte Bichlbaums Auftritt viel erreicht. Er hatte geschafft, dass die Welt kurz daran geglaubt hatte, ein Konzern wie Dow könne auch mal was Gutes tun. Er hatte bewiesen, dass dies in der heutigen Marktwirtschaft sofort mit fallenden Aktienkursen bestraft wird – innerhalb von 25 Minuten verlor der Konzern zwei Milliarden USDollar an Wert. Und die Yes Men hatten die Welt erneut an Bhopal erinnert und an die Verantwortungslosigkeit der Firma. Auch in Indien waren ihm die Geschädigten dankbar. Zwar gab es am Ende kein Geld, aber endlich hatte mal wieder jemand an sie gedacht! +Der Wind bläst mir ins Gesicht. Ich muss mich beeilen. Ich bin jetzt ein Yes Man! +Die Yes Men haben eine alternative Denkmöglichkeit geschaffen. Mit dem, was sie tun, weisen sie uns darauf hin, dass die Realität, die uns umgibt, nichts Feststehendes ist. Sie ist veränderbar. Wenn wir handeln. "Und? Die ,Post' von heute schon gelesen?", frage ich meinen Tischnachbarn, als ich nach der Arbeit im Diner schnell ein Bagel mit Cream-Cheese esse. "Ja, aber heute war sie irgendwie komisch – nur Umweltzeugs drin. Ich wollte echte Nachrichten haben." "Aber was könnte denn echter sein als ein Bericht über die klimazerstörende Wirkung von Kohlekraftwerken? Manhattan wird untergehen, wenn der Meeresspiegel weiter steigt. Da kann Bruce Willis dann auch nix mehr machen." "Mag sein, dass Sie recht haben. Ich les es vielleicht später noch mal. Aber die Sportergebnisse hätten mich trotzdem interessiert." "Die Jets haben gewonnen." "Toll!" +Es fühlt sich gut an, hier zu sitzen, nachdem man ein Yes Man war. Man hatte irren Spaß, und die Bagel schmecken auch besser dann. Spaß allein aber genügt den Yes Men mittlerweile nicht mehr. Spätabends, bei einem Bier im "Schneider's" im East Village, erzählt Andy davon. Er ist erschöpft wie immer, aber im Großen und Ganzen zufrieden mit der Zeitungs-Aktion. Etwas über hundert Leute hätten teilgenommen, einem sei es gar gelungen, vor dem Gebäude der echten "New York Post" Rupert Murdoch persönlich ein Exemplar in die Hand zu drücken. Dafür war der Aktivist kurz vom Sicherheitsdienst festgesetzt worden. So was, meint Andy, müsse in Zukunft viel öfter passieren. "Die augenblickliche politische Situation in Amerika ist so reaktionär, dass man mit lustigen Medienaktionen allein nicht weiterkommt." "Sondern?" "Wir wollen, dass die Leute auf die Straße gehen." "Und gegen den Klimawandel demonstrieren? Gegen den Afghanistankrieg? Für höhere Löhne?" "Viel mehr noch. Sie müssen bereit sein, Risiken einzugehen. Straßensperren zu errichten, Banken zu belagern, zivilen Widerstand zu leisten, sich einsperren zu lassen." "Glaubst du, dass sie so weit gehen werden?" "Sie müssen. Weil sonst alles immer schlimmer wird." +Dann redet er von den wahren Zielen der Yes Men: tiefgehende gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen. Verstaatlichungen von Banken, Ausweitung des Gesundheitssystems, Kontrolle des Finanzmarkts, strikte Umweltschutzauflagen, mehr Arbeiterrechte. Er zitiert die amerikanische Soziologin Frances Fox Piven und ihre These, dass Gesellschaften sich immer nur dann wesentlich verändern, wenn die Leute so verzweifelt sind, dass sie sich offen gegen den Staat stellen: Roosevelts New Deal in den dreißiger Jahren, zu dem es nur kam, weil sich Bürgergruppen bildeten, die sich gegen Räumungen und Enteignungen wehrten; die Bürgerrechtsbewegung der Sechziger; die Weigerungen gegen die Vietnam-Einberufungsbefehle. "Die Zeit, die wir gerade erleben, unterscheidet sich in nicht viel von diesen Krisen", sagt Andy. "Und ich glaube, dass Obama sich insgeheim wünscht, dass das Volk aufsteht und sich gegen die Macht der Konzerne erhebt. Ich glaube, dass er uns braucht, um mehr zu erreichen als ein paar gute Slogans." "Ist Obama ein Yes Man, Andy?" "Das hoffe ich." +Am nächsten Tag, zehn Uhr morgens, kommt es am Ufer des East River auf Höhe der 23. Straße dann doch noch zum Einsatz der SurvivaBall-Überlebensbälle, die sich die Aktivisten so gewünscht hatten. Etwa 20 von ihnen sind in die grotesken Kostüme geschlüpft, die von den Yes Men als Schutzanzug-Karikatur für gefräßige Manager-Typen entwickelt wurden. Darin könne ein Umweltzerstörer die Umwelt fröhlich immer weiter zerstören, weil ihm weder Feuer, Sintflut, Erdbeben noch Atomverseuchung gefährlich würden. Allerdings muss er dann auch rumlaufen wie ein grauer Teletubby. Ob die Bälle funktionieren oder nicht, werden die Aktivisten gleich herausfinden, denn sie sollen ins Wasser des East River wackeln und zum etwa einen Kilometer entfernten UN-Hauptquartier rüberschwimmen, wo die Führer der Staaten dieser Welt gerade zum bevorstehenden Klimagipfel von Kopenhagen tagen. Dort sollen sich die SurvivaBalls ein paar Spitzenpolitiker greifen und dazu bringen, endlich bindenden Verträgen zuzustimmen. +Gerade, als sie ins Wasser wollen, passiert das, was Andy sich am Vortag gewünscht hat: Drei Boote der Küstenwache blockieren die Bälle, von der Straße aus tönen Polizeisirenen, über uns kreist ein Hubschrauber mit Scharfschützen. Der einsatzleitende Sergeant erklärt, er habe gerade einen Notruf bekommen, in dem es sinngemäß hieß, 20 übergroße Zwiebeln ungeklärter Herkunft hätten sich ins Wasser des East River begeben. Ob Mr. Bichlbaum das irgendwie spezifizieren könne. "Wir testen unsere Überlebensbälle für die nahende Umweltkatastrophe", sagt Andy. Er bleibt ganz ernst dabei, wie damals, als er bei der BBC Jude Finisterra war. "So so. Eine nicht angemeldete Demonstration und Störung also", sagt der Polizist, lässt sich Andys Ausweis geben und verschwindet kurz im Wagen. Als er zurückkommt, nimmt er Andy fest. Es liege noch ein früherer Haftbefehl gegen ihn vor. "Welcher denn?" fragt Andy. "Sie sind mal mit dem Fahrrad durch den Washington Square Park gefahren. Das ist verboten, dafür haben Sie ein Ticket bekommen und nie bezahlt." Ein Yes Man, der wegen falschen Radfahrens verhaftet wird – das ist so absurd, dass Andy zum ersten Mal an diesem Tag aus seiner Rolle fällt und lachen muss. Auch dann noch, als die Handschellen zuschnappen. Bevor der Sergeant ihn abführt, drückt mir Andy schnell seinen Fahrradschlüssel in die Hand; daran hängt auch ein USB-Stick mit Foto- und Filmdateien von dem Polizei-Einsatz. "Kümmerst du dich darum?" Die nächsten 24 Stunden wird er in Haft verbringen, ein treuer Märtyrer der Bewegung. Ich blicke Andy kurz nach, dann nehme ich sein Mountainbike und fahre los, quer durch New York zu Mike, der schon im Büro auf den Stick wartet. Der Wind bläst mir ins Gesicht, ich springe über Kantsteine, an Menschen, Hunden, Autos vorbei, schneller, immer schneller. Irgendjemand, den ich fast überfahren hätte, schreit mir was hinterher, aber ich drehe mich nicht um. Ich muss mich beeilen, ich bin ein Yes Man. + +* Marc Fischer hat im vorletzten fluter zum Thema Recht sehr anschaulich über einen Rechthaber geschrieben. Leider ist er im Frühjahr dieses Jahres mit nur 40 Jahren gestorben. diff --git a/fluter/von-der-rolle.txt b/fluter/von-der-rolle.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..253c97be1de871e10afeac310e0518c3124e217c --- /dev/null +++ b/fluter/von-der-rolle.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +MinionsGibt es Frauenrollen?Es gibt vier Frauen in sprechenden Rollen.Sprechen die Frauen miteinander?Zweimal im ganzen Film.Sprechen sie auch über andere Sachen als Männer?Erwartet man von einem Dialog, dass zwei Menschen miteinander sprechen, dann nein.Fazit:Einzige Erleichterung birgt der Gedanke, dass uns eine weitere Fortpflanzung der ausschließlich männlichen Minions erspart bleiben könnte. + +Fifty Shades of GreyGibt es Frauenrollen?Ja.Sprechen die Frauen miteinander?Nur, wenn es ihnen erlaubt ist.Sprechen sie auch über andere Sachen als Männer?Kaum. Manchmal über Schminke.Fazit:Der Mann zahlt, kauft, chauffiert,  bewacht, beherrscht, dirigiert und wird zum Mittelpunkt der Welt.Grey: "I want you to willingly surrender yourself to me."Anastasia: "Why would I do that?"Grey: "To please me." + +Fast & Furious 7Gibt es Frauenrollen?Es gibt einige Frauen, die ziemlich badass sind.Sprechen die Frauen miteinander?Ja.Sprechen sie auch über andere Sachen als Männer?Sie diskutieren über kämpfen, hacken und Drohnen.Fazit:Angesichts der vielen halb nackten Frauen mag es überraschen, aber der Film wehrt sich gegen genretypische Stereotype: Die Frauen kämpfen genauso hart, hacken um Längen besser und fahren ebenso wahnwitzig Auto wie ihre männlichen Kollegen. + +Jurrasic WorldGibt es Frauenrollen?Es gibt eine besorgte Mutter und eine karrieregeile Tante, die am Ende weich wird.Sprechen die Frauen miteinander?Vereinzelt.Sprechen sie auch über andere Sachen als Männer?Tiefgründig unterhalten sich vor allem die weiblichen Dinosaurier.Fazit:Es bleibt zu hoffen, dass Kinder "Jurassic World" weder als Tierdoku sehen, noch als Vorlage für ihr zukünftiges Rollenbild verwenden. + +SpectreGibt es Frauenrollen?Ja. Frauen stellen in Bonds Welt aber eine eher aussterbende Spezies dar.Sprechen die Frauen miteinander?Dafür müssten sie sich begegnen.Fazit:Ein entmündigender Film. Besonders als das Bondgirl im Abendkleid mit dem Satz "You shouldn't stare" Bonds machohaftes Verhalten kritisiert und dieser nur entgegnet: "Well, you shouldn't look like that." Große Ausnahme ist Miss Moneypenny: schlau, schwarz und unabhängig. diff --git a/fluter/von-einem-der-trotzdem-lacht.txt b/fluter/von-einem-der-trotzdem-lacht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2199d7f4f3774014e5e5724488daea8f0804a69f --- /dev/null +++ b/fluter/von-einem-der-trotzdem-lacht.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Al-Bunni, geboren 1988, hat in Syrien bis kurz nach dem Bachelor-Abschluss Internationale Beziehungen studiert und begreift sich als politischer Mensch. Er kündigte, als er einsah, mit seiner Arbeit nichts bewegen zu können. Wegen seiner regimekritischen Meinung, die er dann auf Blogs veröffentlichte, statt sie geheim zu halten, wurde er mehrfach bedroht. Im November 2011 hat man ihn nach einer Demonstration verhaftet: weil er Teil eines revolutionären Netzwerks sei, dessen Führer die Organisation von Kuwait aus mit britischen Pfund versorge. "Whatever!", sagt al-Bunni und lacht. Gar nicht lustig hingegen, was in den darauffolgenden 48 Stunden passierte. Die Folter fesselte ihn zwei Monate ans Krankenbett, erst nach einer Operation konnte er sein linkes Bein wieder richtig bewegen. +Du musst fort, sagten die Eltern. Um dem Militärdienst zu entgehen, flüchtete al-Bunni im April 2012 erst zu seinem Bruder nach China, dann über Malaysia nach Istanbul, wo er für den Master zugelassen wurde und erste Beiträge für den exilsyrischen Sender Baladna FM produzierte. "Fan al Mumken" – die Kunst des Möglichen, so hieß seine wöchentliche Polit-Sendung bei dem Sender, in der sich sein Sarkasmus fortan entlud. +Gut ein Jahr später erhielt er das Angebot der Nichtregierungsorganisation Media in Cooperation and Transition (MICT). Die gemeinnützige Gesellschaft macht Projekte im Bereich der medialen Entwicklung im Nahen Osten und Nordafrika und bot al-Bunni an, als Redakteur für mehrere Monate nach Berlin zu kommen. Hier wird Baladna FM mit Unterstützung von MICT produziert. "Das war eine große Chance", sagt al-Bunni. Während andere große Risiken in Kauf nehmen, um nach Europa zu gelangen, wurde er eingeladen – und kam ganz ohne Schlepper und musste nicht ins Flüchtlingsheim. Entgegen der Abmachung mit der NGO beantragte er jedoch Asyl und erlebte doch noch, was andere Flüchtlinge in Deutschland erleben. Nun arbeitet er beim MICT als Redakteur für das syrische Radionetzwerk Syrnet. +Will er zurück? "Absolut!" Er würde gern helfen, das Land wiederaufzubauen, den Kreislauf des Hasses zu durchbrechen und eine neue Gesellschaft mitzuformen. Aber erst, wenn die Lage es zulässt. Bis dahin möchte er vom Exil aus etwas bewegen. Und falls alle Stricke reißen? Majid al-Bunni überlegt kurz und antwortet mit seinem ganz eigenen Humor: Falls gar nichts geht, wolle er mit einer Ziege und Hühnern in die Berge Japans ziehen, fortan nur noch mit seinen Tieren sprechen – auf Japanisch, wohlgemerkt – und sarkastische Anti-alles-Lieder schreiben. +Lukas Wohner arbeitet neben dem Studium als freier Journalist in Berlin – wenn er nicht gerade fluter-Praktikant ist. Auch wenn's pathetisch klingt: Im Gespräch mit den verfolgten Kollegen wurde ihm klar, wie gut es Journalisten in Deutschland haben. diff --git a/fluter/von-oma-fuer-surfer.txt b/fluter/von-oma-fuer-surfer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..54f7d50e4065b6c9c38818b69d88c91ff7a8ee31 --- /dev/null +++ b/fluter/von-oma-fuer-surfer.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Mittlerweile haben die beiden Gründerinnen die "Alte Liebe" verkauft. Bernhard Weiß und Michael Habedank, Geschäftsführer einer Kasseler Werbeagentur, führen das Unternehmen weiter. Die beiden Werber kommen aus der Gegend, nun sei es an der Zeit gewesen, der Region langfristig etwas zurückzugeben. Also haben sie das Sozialunternehmen gekauft. Wie hoch der Betrag war, wollen sie nicht in den Medien lesen, doch für einen Appel und ein Ei haben sie es nicht bekommen. "Uns war einfach klar, die ‚Alte Liebe' darf nicht sterben." +Doch zunächst mussten sich die Neuen bei den Häkeldamen beweisen. Bernhard nahm seine Frau und seine zwei Kinder mit zu dem Treffen. Es war ein kalter Herbsttag, also trug die Familie Mützen – natürlich von der "Alten Liebe". "Das war reiner Zufall", beteuert Bernhard, "uns ist das an dem Tag nicht aufgefallen. Erst später erzählten mir die Damen, wie beeindruckt sie davon waren." Seitdem verknüpfen Bernhard und Michael ihr soziales Engagement mit dem Verkauf von Wollmützen. Sie tun Gutes und, sonst wären sie keine PR-Experten, reden auch darüber. Auf ihrer Facebook-Seite und ihrer Homepage weisen sie auf ihre "neueste Masche" hin –  ein bisschen Imagewerbung in eigener Sache. +Geld verdienen sie damit jedoch angeblich nicht. Der Gewinn fließt zurück ins Unternehmen, in Rohstoffe, Verpackungen, neue Kollektionen, und – ganz wichtig – mit ihm finanzieren sie Ausflüge, Feste und Konzertbesuche für die älteren Damen. Wohin es geht, entscheiden die "Häkelheldinnen", wie sie von den Geschäftsführern genannt werden, selbst. "Im Sommer waren die Damen am Edersee, machten eine Kräuterwanderung und eine Schiffsfahrt." +Für die älteren Damen, die in einer Kasseler Seniorenwohnanlage ihren eigenen Häkelraum haben, sind die sozialen Kontakte wichtig, auch das Rauskommen aus den eigenen vier Wänden. Sie verdienen kein Geld mit den Mützen, doch die gemeinsame Zeit ist manchmal mehr wert als Bares. Laut einer Forsa-Studie im Auftrag der Johanniter aus dem Jahr 2012 wollen 67 Prozent der Menschen zwischen 65 und 75, die sich zeitlich oder finanziell engagieren, ihr Leben mit Sinn erfüllen. Der Kontakt zu gleichgesinnten Menschen ist für 55 Prozent der Befragten ein Motiv für ihr Engagement. Wer mitmachen darf, liegt in den Händen der Seniorinnen, das Häkeltalent entscheidet. +Und die Häkeldamen bleiben nicht nur unter sich, sondern knüpfen mit ihrer Arbeit an jüngere Generationen an. Dauerwellen treffen auf Dreadlocks, Rollatoren auf Skateboards. Gerade erst machten die Kasseler Jungs von Milky Chance eine Stippvisite bei der Häkelgruppe, blieben statt einer gleich zwei Stunden, weil es so nett war. Nun unterstützen die zwei Musiker das Projekt und rühren auf ihrer Facebook-Seite die Werbetrommel: "Die gute alte Liebe zur Mütze muss gepflegt werden!", schreiben sie und verweisen auf die "wunderbare Handarbeit" der Seniorinnen. +Alle Mützen werden samt Postkarte im Pappkarton verschickt. Der Clou: Auf jedem Karton steht der Name der Frau, die die Mütze gehäkelt hat. Nun ist der Käufer an der Reihe, schickt er die Postkarte zurück, weiß die Häkeldame, wo ihre Arbeit gelandet ist und ob sie gut ankommt. Die Rücklaufquote liegt bei über 50 Prozent, immerhin, jede zweite Häkeldame darf sich über einen Gruß aus der Ferne freuen. +www.alte-liebe.com diff --git a/fluter/von-soehnen-und-toenen.txt b/fluter/von-soehnen-und-toenen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..45461a2775434f021fd51c89c20db3dd8dfa0ec5 --- /dev/null +++ b/fluter/von-soehnen-und-toenen.txt @@ -0,0 +1 @@ +Wesentlich günstiger für die Entwicklung eines individuellen Talents scheinen schofelige Behandlung und grobe Zurückweisung seitens des Vaters zu sein. Der bekannteste Rabenvater der jüngeren Popgeschichte ist zweifellos Loudon Wainwright III. Für seine Kinder Martha und Rufus Wainwright scheint er nicht nur in der – schnell zerrütteten – Ehe mit ihrer Mutter Kate McGarrigle ein rechtes Ekel gewesen zu sein. Um seine Exfrau zu treffen, hat Wainwright den Nachwuchs in seinen Songs auch gerne einmal öffentlich schlecht gemacht, etwa in dem Stück "Rufus is a Tit Man". Wofür die Kinder sich inzwischen ausgiebig revanchieren: "Bloody Motherfucking Asshole" hieß ein Song, mit dem Martha Wainwright 2005 an die Öffentlichkeit trat; er war natürlich für ihren Vater geschrieben. Auch Rufus kommt in seinen eigenen Songs immer wieder auf den Umstand zurück, dass sein Vater ein ebenso mittelmäßiger Songwriter wie herausragend schlechter Charakter war. "Poetry is no place for a heart that's a whore", wirft Mar-tha dem alternden Mann in ihrem Arschloch-Song als eine Verknüpfung beider Aspekte hinterher: "Für ein Herz, das eine Hure ist, ist Poesie nicht der richtige Ort." diff --git a/fluter/von-staatsfeinden-und-menschlichkeit.txt b/fluter/von-staatsfeinden-und-menschlichkeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..85bf233fa5accff643aea7cc322abea9cf6f9671 --- /dev/null +++ b/fluter/von-staatsfeinden-und-menschlichkeit.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Die These: +Das ungemein spannend erzählte Buch schließt mit den Worten "Habt Erbarmen". Bauers Reportage ist eine leidenschaftliche Anklage gegen den Krieg in Syrien – und gleichzeitig ein Appell für eine humanitäre Flüchtlingspolitik, die nicht jeden Einzelfall prüft, sondern alle Fliehenden unbürokratisch aufnimmt, sofern diese sich verpflichten, nach Beendigung des Konflikts in ihrer Heimat wieder dorthin zurückzukehren. +Der Autor: +Wolfgang Bauer ist Journalist und arbeitet als Reporter für die Wochenzeitung "Die Zeit". Für diese Reportage haben er und der Fotograf Stanislav Krupar sich als Flüchtlinge aus einer Kaukasus-Republik getarnt und in Ägypten einer Gruppe syrischer Flüchtlinge angeschlossen. +Wolfgang Bauer: "Über das Meer. Mit Syrern auf der Flucht nach Europa". Suhrkamp, Berlin 2014, 133 Seiten, 14 Euro +Das Thema: +Der Bauingenieur Hanna lebt bereits seit Jahrzehnten in Essen. Er besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft und ist gut integriert. Geboren ist er in Syrien, nahe der türkischen Grenze. Seit Beginn des Krieges in seinem Heimatland hat er 270 Landsleute nach Deutschland geschleust; die meisten kommen aus seiner Geburtsstadt und deren Umgebung. Er organisierte ein landsmannschaftliches Netzwerk, um anderen Syrern in Not zu helfen. Als das Netzwerk auffliegt, wird Hanna vorgeworfen, Pässe gefälscht, Grenzbeamte bestochen und Geld über Staatsgrenzen hinweg verschoben zu haben. +Die These: +Stefan Buchen stellt die Frage, wo die Grenze zwischen der moralischen Pflicht zu helfen und organisierter Kriminalität verläuft. Der deutschen Justiz wirft er vor, dass sie Helfer unnötig kriminalisiere. Migrationspolitik dürfe in Kriegszeiten kein Teil der Sicherheitspolitik sein; Vorrang müsse haben, bedrohte Menschenleben zu retten. Werden Grenzen aber hermetisch abgeriegelt, vertrauen sich die verzweifelten Fliehenden mafiösen Schleuserbanden an. +Der Autor: +Stefan Buchen, Journalist beim ARD-Politikmagazin Panorama, wurde für seine investigativen Berichte und Dokumentationen mit dem Leipziger "Preis für die Freiheit und Zukunft der Medien" ausgezeichnet sowie vom Medium Magazin im Jahr 2011 zum Reporter des Jahres gekürt. +Stefan Buchen: "Die neuen Staatsfeinde. Wie die Helfer syrischer Kriegsflüchtlinge in Deutschland kriminalisiert werden". Dietz-Verlag, Bonn 2014, 200 Seiten, 14,80 Euro +Das Thema: +Einwanderungspolitik sei eine Mischung aus viel Emotion und wenig Wissen, meint Paul Collier: Das Thema polarisiere stark, denn es sei ein sozialökonomisches Wespennest. Um die hitzige Debatte zu versachlichen, stellt er wirtschaftliche, aber auch sozialwissenschaftliche und moralphilosophische Fragen zu drei Themenbereichen: Was bedeutet Migration für die Migranten, was für die aufnehmenden Gesellschaften und was für die Staaten, aus denen sie kommen? +Die These: +Collier zufolge muss Migration in gelenkten Bahnen verlaufen. Deshalb plädiert er für eine durchaus restriktive Einwanderungspolitik in Zeiten zunehmender Migration. Offene Grenzen für jeden lehnt er ab, denn diese stellten vor allem für die entsendenden Staaten, meist Länder der "ärmsten Milliarde" der Weltbevölkerung, ein Problem dar, weil sie durch eine massenhafte Auswanderung erheblich geschwächt würden. Zwei Dinge dürfe eine Einwanderungspolitik nicht vermischen: die Pflicht reicher Länder, armen Gesellschaften zu helfen, mit dem gleichzeitigen Recht auf freie Bewegung. Den Armen zu helfen sei eine moralische Pflicht; einigen von ihnen erlauben zu kommen, sei eine Möglichkeit der Hilfe. Ein allgemeiner freier Grenzverkehr könne daraus aber nicht abgeleitet werden. +Der Autor: +Paul Collier ist Professor für Ökonomie und Direktor des Centre for the Study of African Economies an der Universität Oxford. Er forscht seit vielen Jahren über die ärmsten Länder der Erde. Für große internationale Aufmerksamkeit sorgte zuletzt sein Buch aus dem Jahr 2008: "Die unterste Milliarde: Warum die ärmsten Länder scheitern und was man dagegen tun kann". +Paul Collier: "Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen". Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. Siedler, Berlin 2014, 320 Seiten, 22,99 Euro +Das Thema: +Gerade mal 32 Seiten braucht Heribert Prantl, um mit der europäischen Flüchtlingspolitik der letzten 25 Jahre abzurechnen. Das "System Dublin", das seit 1990 die Aufnahme von Asylbewerbern in der EU regelt, sei ein Elend, schreibt Prantl. Diesem System zufolge ist der Staat, den der Flüchtling auf seiner Flucht zuerst betritt, für das Asylverfahren und die Aufnahme zuständig. Das System, so Prantl, sei auch von Deutschland erfunden worden, um die Flüchtlinge möglichst auf die Randstaaten der EU abzuwälzen. +Die These: +Das System Dublin sei ein Fehler, erklärt Prantl: nämlich ein Aufruf zu möglichst brutaler Flüchtlingsabwehr; Europa sei zu einer Festung geworden, das Mittelmeer zu einem Friedhof. Und daher müsse das "System Dublin" abgeschafft werden. Statt die Grenzen zu schützen, sollten die Flüchtlinge geschützt werden. Denn das gebiete die Menschlichkeit, sei aber auch wirtschaftlich sinnvoll. Eine gestaltende Flüchtlingspolitik müsse international gedacht werden, etwa durch Hilfe für Transitländer wie den Libanon, ein Land, in dem aktuell auf 4,5 Millionen Einwohner 1,2 Millionen syrische Flüchtlinge kommen. Weiterhin wichtig: sichere Routen nach Europa und die Möglichkeit für Flüchtlinge, frei zu wählen, in welchem Land sie Asyl beantragen wollen. +Der Autor: +Heribert Prantl leitet das Ressort Innenpolitik bei der "Süddeutschen Zeitung" und ist Mitglied der Chefredaktion. Er hat zahlreiche Leitartikel und Kommentare zur Flüchtlingspolitik verfasst. +Heribert Prantl: "Im Namen der Menschlichkeit. Rettet die Flüchtlinge". Ullstein, Hamburg 2015, 32 Seiten, 3,99 Euro diff --git a/fluter/von-texas-bis-albanien.txt b/fluter/von-texas-bis-albanien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e4c7ae1e7548bf7fb8458b48bc625b2b1c4fe871 --- /dev/null +++ b/fluter/von-texas-bis-albanien.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +"Vergine Giurata" ("Sworn Virgin"), I/CH/D/ALB/Kosovo 2015; Regie: Laura Bispuri; Drehbuch: Laura Bispuri, Francesca Manieri, mit Alba Rohrwacher, Flonja Kodheli, Lars Eidinger. Luan Jaha, Bruno Shllaku, Ilire Celaj, 90 Min.Um Geschlechtsidentitäten geht es auch im italienisch-albanischen Wettbewerbsbeitrag"Vergine giurata". Ausgangspunkt sind die Berge Albaniens, eine schroffe, kalte Gegend mit archaischem Rollenverständnis: Die Männer bestimmen, die Frauen dürfen hier im Prinzip gar nichts, nicht alleine raus, nicht reiten, nicht als erste reden und Teil ihrer Aussteuer ist eine Patrone, die ihr Ehemann im Zweifel einsetzen darf. Hana (Alba Rohrwacher) entzieht sich als Teenagerin diesem Gefängnis, in dem sie sich in ein anderes begibt: Sie wird zur "Geschworenen Jungfrau" und ist von nun an Mark, ein Mann, mit allen Freiheiten, nur lieben darf sie nicht. Das muss Hana erst wieder lernen, als sie 14 Jahre später ihrer Schwester hinterherreist, die inzwischen in Mailand mit Mann und Tochter lebt. Wie Hana quasi aus dem 19. Jahrhundert in eine moderne Metropole geworfen wird und dabei auch noch mit Anfang 30 ihre sexuelle Identität neu erwecken und entdecken muss, wird von Laura Bispuri mit wenig Worten, aber sehr anrührend erzählt +Zum besten Film der Berlinale wurde zum Abschluss"Taxi" gekürt, der Beitrag des iranischen Regisseurs Jafar Panahi gewann den Goldenen Bären. Aber welcher war unter den 441 gezeigten Filmen wohl der schlechteste?"Elixir"ist ein Kandidat. Es ist ein deutscher Film, aber alle reden Englisch. Das ist soweit realistisch, denn es geht um Künstlerexistenzen in Berlin. Sie – fast nur Männer – leben gemeinsam als Kommunensituation in einer erhaben heruntergekommen Fabriketage. Sofern sie nicht mit gruppeninternen Konflikten beschäftigt sind, planen sie einen Anschlag auf die "Art Week", die in einer futuristisch-schnöselhaften Agentur (Achtung, schreit das Setdesign: Die Antagonisten!) vorbereitet wird. Irgendwie soll das alles wohl ein Kommentar zur aktuellen Berliner Gentrifizierungsdebatte sein, nur wurde alles in so verquast-blasiert aufgesagte Dialoge verpackt, dass es unmöglich ist, bis zum Ende zuzuschauen. Nicht einmal als Satire auf den Kunstbetrieb taugt "Elixir", dafür ist der Film nämlich nicht lustig genug. +"Elixir", D/AUS 2015; Regie: Brodie Higgs, Drehbuch: Brodie Higgs, Anya Watroba, mit Rob Alec, Natasha Petrovic, Swann Arlaud, Peter Barron, Alexander Coggin, Lars Eidinger, Stipe Erceg, 111 Min +"Jun Zhong Le Yuan" ("Paradise in Service"), Taiwan 2014, Regie: Doze Niu Chen-Zer, Drehbuch: Doze Niu Chen-Zer, Li-ting Tseng, mit Ethan Juan, Chen Jianbin, Wan Qian, Chen Yi-Han, 133 Min.Der taiwanesische Beitrag"Paradise in Service"beginnt wie ein Standard-Armeefilm: Irgendwann Ende der 60er-Jahre tritt eine Gruppe junger Männer auf einer strategisch wichtigen Insel Kinmen ihren Wehrdienst an, einer von ihnen, Pao, landet in der Eliteeinheit "Sea Dragons". Hier gibt es Drill, pubertäre Kantinengespräche, Luftalarm, Briefe an die Verlobte daheim und hart-aber-herzliche Haudegen als Offiziere. Doch schnell stellt sich heraus, dass Pao gar nicht richtig schwimmen kann. Er wird versetzt, ins Soldatenbordell, als Aufpasser. Ein großes Glück für Pao und von nun an ist "Paradise in Service" kein typischer Armeefilm mehr, sondern ein allumfassendes, herzerwärmendes Melodram über die Wirrungen und Glücksmomente des Lebens. Pao freundet sich mit einer der Prostituierten an, die ein dunkles Geheimnis mit sich herumträgt. Der Harte-Hund-Offizier offenbart seine melancholischen Seiten und seinen Wunsch, ein Dumpling-Restaurant zu eröffnen. Das alles passiert in traumhafter Tropenkulisse und oft hart an und über der Grenze zum Kitsch, ist aber insgesamt ein schöner Film geworden – mit einem realen Hintergrund. Denn die Bordelle zur Steigerung der Moral im Kampf gegen das kommunistische Festlandchina sind ein tabuisierter Teil der taiwanesischen Geschichte, den Regisseur Doze Niu mit "Paradise in Service" seinen Landsleuten wieder ins Gedächtnis rufen will. +"Als wir träumten", D/F 2015, Regie: Andreas Dresen, Buch: Wolfgang Kohlhaase , mit Merlin Rose, Julius Nitschkoff, Joel Basman, Marcel Heuperman, Frederic Haselon, Ruby O. Fee, 117 Min.; Kinostart: 26.2.2015Sie rasen mit Vollgas durch ihre Pubertät. Das Auto ist geklaut, das Bier auch, der Bass ist voll aufgedreht und die Träume sind noch riesig: Dani, Mark, Rico, Pitbull und Paul aus Leipzig, aufgewachsen noch in der DDR, nun, 1993, entfesselt in einem Land voller Leerstellen. Andreas Dresen ("Halbe Treppe") hat mit"Als wir träumten"den gleichnamigen Roman von Clemens Meyer verfilmt. Es ist eine Coming-of-Age-Geschichte, aber keine, in der sich jeder wiederfinden kann. Diese Jungs spielen in einer anderen Liga. Sie machen einen Technoclub auf, sie prügeln sich mit Glatzen (allerdings den unpolitischten der deutschen Kinogeschichte), sie hauen Autos kaputt und irgendwann auch ihre Leben. Je heller eine Flamme ist, desto schneller ist sie ausgebrannt und so kippt der Film nach und nach. Am Ende ist die Zukunft längst Vergangenheit, einer von den fünf ist tot, einer muss ins Gefängnis, einer ist Dealer, und als Zuschauer hat man sich in diesem Rausch nie gelangweilt, auch dank der tollen Darsteller, neue, unverbrauchte Gesichter, von denen besonders Julius Nitschkoff als gefallenes Boxtalent Rico im Gedächtnis bleibt. +"Every Thing Will Be Fine", D/CAN/F/S/N 2015; Regie: Wim Wenders, Drehbuch: Bjørn Olaf Johannessen, mit James Franco, Rachel McAdams, Charlotte Gainsbourg, Marie-Josée Croze, Robert Naylor, 118 Min.; Kinostart: 2.4.2015Es ist die Wim-Wenders-Berlinale. Dem Mann, der einst den Himmel über Berlin vermessen hat, ist die diesjährige Retrospektive gewidmet, er hat auch seinen aktuellen Film mitgebracht."Every Thing Will Be Fine"läuft im Wettbewerb, aber außer Konkurrenz. Was schade ist, denn sonst hätte er einen Silbernen Bären schon sicher gehabt: Den für die unsympathischte Hauptfigur. Der kanadische Schriftsteller Tomas (James Franco) ist derart verschlossen, arrogant und empathiebefreit, das man ihm nach kurzer Zeit einfach nur ins Gesicht hauen will (erst am Ende des Films erbarmt sich jemand). Wofür aber nichtmal er etwas kann, ist ein Autounfall irgendwo auf dem Land, bei dem er einen kleinen Jungen überfährt. Wie dieses Ereignis in den darauffolgenden Jahren immer wieder das Leben von Tomas sowie der Mutter (Charlotte Gainsbourg) und des Bruders des toten Jungen heimsucht, zeigt Wenders in schön gestalteten 3D-Kinobildern, ohne dabei jemals mitzureißen. In meinem persönlichen Berlinale-Ranking liegt "Every Thing Will Be Fine" eher im unteren Mittelfeld. +"Petting Zoo", D/GR/USA 2015; Regie und Drehbuch: Micah Magee, mit Devon Keller, Austin Reed, Deztiny Gonzales, Jocko Sims, Kiowa Tucker, Adrienne Harrel, Emily Lape, Cory Criswell, 93 Min.Ganz oben in dieser Liste steht"Petting Zoo". Layla ist 17, aus San Antonio, lebt bei ihrer Oma und steht kurz vor ihrem High-School-Abschluss. Dann wird sie schwanger, von ihrem Kifferfreund, den sie längst abgeschossen hatte. Laylas Eltern verweigern ihr die Unterschrift für die Abtreibung und so zerplatzen Träume: Das Super-Stipendium an der Uni in Austin (aka die coolste Studentenstadt der USA) – muss sie zurückgeben. Der hübsche stille Junge, der sich offenbar für sie interessiert – lieber nicht drauf eingehen. Ihr Job im Callcenter – auch bald futsch. Doch deprimierend wird es nie, Layla bleibt aufrecht, sie schaut nach vorne und lässt sich auch von weiteren Wirrungen nicht umhauen. Eine tolle Figur in einem wunderschönen, leisen Film, mit dem die Regisseurin Micah Magee das bei der letzten Berlinale mit "Boyhood" eröffnete Mikro-Genre "sozialrealistische Adoleszenfilme aus der texanischen Mittelschicht" würdig fortführt. +"Thamaniat wa ushrun laylan wa bayt min al-sheir" ("Twenty-Eight Nights and A Poem"); LEB/F 2015; Regie: Akram Zaatari; 120 Min.Die seltsamsten Filme der Berlinale laufen in der Kategorie "Forum". Etwa"Thamaniat wa ushrun laylan wa bayt min al-sheir"("Twenty-Eight Nights and a Poem"), in dessen Vorführung ich eher zufällig geraten bin. Ausgehend von Hashem el Madani, der im Jahr 1953 in der libanesischen Hafenstadt Saïda ein Foto-Porträtstudio mit angeschlossenem Archiv eröffnet hat, entfaltet sich ein Essay über die Inszenierung des Menschen im Zeitalter der fotografischen Reproduzierbarkeit. Wir sehen el Madani in seinem Studio und im Interview, er erzählt, wie in den 60er-Jahren irgendwann die Männer mit Maschinenpistolen zum Posieren in sein Studio kamen und wie sich einmal, ein einziges Mal, eine Frau nackt vor seine Kamera stellte. Wir sehen Männer, die im Hafen von Saïda von den Klippen springen, früher und heute. Wir sehen Zwischentitel mit kurzen lexikalischen Erklärungen, wir sehen in steriler Schönheit inszenierte Tonbandgeräte, Kameras, Projektoren. Wir sehen Super-8-Aufnahmen unterlegt mit Musik von Michael Jackson und obskure Aufnahmen aus alten Fernsehshows. So etwas sieht man nur bei der Berlinale und das macht sie so besonders. +"Im Spinnwebhaus", D 2015, Regie: Mara Eibl-Eibesfeldt, Drehbuch: Johanna Stuttmann, mit Ben Litwinschuh, Lutz Simon Eilert, Helena Pieske. Ludwig Trepte, Sylvie Testud, 91 Min.Weil Kinofilme dauernd von Dramen erzählen, wird man irgendwann dünnhäutig: Gleich gibt es doch schon wieder Streit, kommt doch schon wieder einer um, bricht doch schon wieder alles zusammen! Besonders schlimm ist das"Im Spinnwebhaus"und das liegt am Thema: Eine Mutter, psychisch schwer instabil, lässt ihre Kinder allein zu Hause. Eigentlich will sie nur einige Tage in eine Klinik fahren, doch aus Tagen werden Wochen und Monate. Jonas, mit zwölf der älteste, ist nun der Chef und er kämpft in dieser Rolle, seinen kleinen hyperaktiven Bruder und die noch sehr junge Schwester zu versorgen. Man kennt diese Geschichten von verwahrlosten Kindern und ist dementsprechend in einer permanenten "Disaster waiting to happen"-Stimmung – wobei das dann gar nicht krachend hereinbricht, die meiste Zeit sind die Kinder ganz hoffnungsfroh, die Überforderung überkommt sie unscheinbar. So ist "Im Spinnwebhaus" bei weitem kein tieftrauriges Drama, was auch an der märchenhaften Inszenierung von Mara Eibl-Eibesfeldt liegt, in der Realität und Fiktion immer mehr verschwimmen und ein rätselhafter Vagabund, der in Reimen spricht, den Kindern zur Seite steht. Und die Moral? Unterschätze nie die Macht der Lüge! Auf keinen Fall, das hatte die Mutter bei der Abfahrt gesagt, dürften die Kinder verraten, dass sie alleine sind. Um den Schein einer nur bettlägerigen Mutter aufrechtzuerhalten verstrickt sich Jonas immer tiefer in einem Lügengespinst, viel stärker als in den titelgebenden Spinnweben, die überplakativ irgendwann das ganze Haus bedecken. + +Michael Brake, 34, ist Kulturredakteur bei fluter.de. Er ist zum ersten Mal für die Berlinale akkreditiert und findet die Programmfülle auch nach einer Woche noch leicht überfordernd. diff --git a/fluter/von-wegen-frohe-ostern.txt b/fluter/von-wegen-frohe-ostern.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c1afb566a779770d100dce3fa5f112191469e812 --- /dev/null +++ b/fluter/von-wegen-frohe-ostern.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Die Zahl stammt aus dem"Kakao-Barometer 2015", einem von mehreren NGOs herausgegebenen Branchenreport. Das "Kakao-Barometer" zeigt auch, dass der globale Kakaomarkt hoch konzentriert ist: Nur acht Händler und Vermahler kontrollieren etwa drei Viertel des Welthandels. Diese Strukturen gehen besonders zulasten der größtenteils unorganisierten Bauern. Obwohl eine Tonne Kakao derzeit für etwas mehr als 3.000 US-Dollar gehandelt wird – beinahe doppelt so viel wie vor zehn Jahren –, kommt bei den weltweit 5,5 Millionen Kakaobauern wenig davon an. +Die Folgen: Kinderarbeit, ein niedriges Bildungsniveau, Mangelernährung. Allein auf den Kakaoplantagen der Elfenbeinküste und in Ghana sollen laut dem Verein"Erklärung von Bern"530.000 Kinder unter missbräuchlichen Bedingungen arbeiten. Die US-amerikanischeTulane Universitygeht von mehr als zwei Millionen Kinderarbeitern in beiden Ländern aus. +Wer das beim Schokohasen-Kauf nicht unterstützen will, wählt wahrscheinlich Produkte mit einem Siegel, das Fairness und Nachhaltigkeit verspricht. Am bekanntesten sind die Zertifizierungen von Fairtrade, UTZ und Rainforest Alliance. Friedel Hütz-Adams betrachtet die Label jedoch mit gemischten Gefühlen. "Alleine werden sie es nicht schaffen, den Kakaomarkt nachhaltig zu machen", sagt der Experte vom Südwind-Institut, das das "Kakao-Barometer" mit herausgegeben hat. Grundlegendes deckten zwar alle drei Labels ab, sagt Hütz-Adams, also soziale Mindeststandards, das Verbot von Kinderarbeit und ökologische Anforderungen. Aber es sei fraglich, wie viel die Zertifizierungen den Kakaobauern am Ende wirklich nützen. +Zu wenig, ist sich der Unternehmer Christoph Inauen sicher: Die Auswirkungen der Labels auf den Markt seien sehr limitiert – besonders am Marketing der Schoko-Konzerne gemessen, die lächelnde Bauern auf ihren Verpackungen präsentieren. "Man darf nicht vergessen, dass diese Labels die Instrumente der Großen sind", sagt er. Selbst von den Mindestpreisen und Prämien, die ihnen die Labels verschaffen, könnten die Bauern seiner Meinung nach kaum leben. +Quelle: Kakao-Barometer 2015 +Inauen hat früher selbst bei einem der Großen gearbeitet, beim Schweizer Schokoladenhersteller "Chocolats Halba", der zur Einzelhandelsgruppe "coop" gehört. Dort hat er sich im Management um Kakaoeinkauf und Nachhaltigkeit gekümmert. Bis Inauen sich entschied, das Geschäft mit der Schokolade von Grund auf anders anzugehen. Gemeinsam mit dem Franzosen Eric Garnier gründete er 2015 "Choba Choba". +Mit ihrer Firma wollen sie das gängige Geschäftsmodell der Branche auf den Kopf stellen, denn die beiden Gründer beteiligen die Kakaoproduzenten am Unternehmen: 35 Bauernfamilien aus der peruanischen Region Alto Huayabamba halten derzeit sieben Prozent der Aktien. Bis 2020 soll es ein Drittel werden. Daneben erhalten die Bauern einen kleinen Teil des Erlöses jeder Tafel Schokolade. +"Ich wollte den internationalen Kakaopreis in Frage stellen", erzählt Gründer Christoph Inauen. Bei seinem alten Arbeitgeber ging das aber nicht. Die Bauern von "Choba Choba" bestimmen selbst, zu welchem Preis sie ihren Kakao verkaufen. Wie viel sie fordern können, überhaupt wie das Geschäft funktioniert, müssen sie noch lernen – schließlich haben sie nie BWL studiert. +Die Gründer haben deshalb ein Weiterbildungsprogramm aufgestellt. Sie wollen Vertreter der Bauern nach Europa holen, ihnen die Firma zeigen und gemeinsam den Markt analysieren. Zudem gebe es Workshops in Alto Huayabamba, und ab Sommer soll sich dort ein neuer Mitarbeiter ausschließlich dem Empowerment der Peruaner widmen. "Choba Choba" bedeutet in den peruanischen Anden übrigens so viel wie "Ich helfe dir, du hilfst mir". Bisher erreicht die "Schokoladen-Revolution", die "Choca Choba" ausgerufen hat, erst wenige Kakaoproduzenten. Inauen findet: "Lieber wenigen Leuten viel helfen als vielen wenig." Bis 2020 würde er aber doch gern mit 500 bis 1.000 Familien zusammenarbeiten, irgendwann auch in anderen Ländern als Peru. +Als reine Weltverbesserer-Schokolade will das Schweizer Unternehmen sein Produkt aber nicht verstanden wissen. Jede Tafel von "Choba Choba" wird aus den Kakaobohnen der Ernte eines einzigen Bauern hergestellt und in der Schweiz bei einem prämierten Chocolatier verarbeitet. Daraus folgt allerdings auch ein stolzer Preis für eine Tafel Schokolade: 100 Gramm kosten rund zehn Euro. +Muss faire Schokolade so viel kosten? Eigentlich müsste sie es nicht, der Preis hängt stark vom Segment ab, sagt Südwind-Experte Friedel Hütz-Adams: "Beim derzeitigen Weltmarktpreis steckt in einer gewöhnlichen Tafel Vollmilchschokolade Kakao im Wert von rund zehn Cent." Schon um die Einkommen der Bäuerinnen und Bauern deutlich zu erhöhen, müsse der Preis pro Tafel Schokolade nur um wenige Cent steigen. "Angesichts der niedrigen Schokoladenpreise können wir uns das durchaus leisten", findet er. +Hütz-Adams glaubt: Um der Masse der Kakaobauern zu helfen, müsse man von Pilotprojekten wie "Choba Choba" lernen. Generell mangelt es ihm an Transparenz. "Es muss erkennbar sein, ob Bäuerinnen und Bauern von dem Preis, den sie für ihr Produkt erhalten, tatsächlich menschenwürdig leben können", sagt Hütz-Adams. In aller Regel tun sie das nicht, auch weil die großen Player offenkundig nicht an einem höheren Kakaopreis interessiert sind. +Und wenn er eine einzige Sache am Kakao-Business ändern könnte? "Man sollte Unternehmen, die wissentlich Menschenrechtsverletzungen in ihrer Produktionskette in Kauf nehmen, verklagen können", findet Hütz-Adams. "Unternehmen müssen für das verantwortlich sein, was in ihrer Wertschöpfungskette passiert." Bei den undurchsichtigen Wertschöpfungsketten ist esderzeit allerdings juristisch schwierig, die Verantwortlichen auszumachen, geschweige denn zu sanktionieren. Es lohnt sich daher bei aller Undurchsichtigkeit der Branche, selbst die Augen offen zu halten, zu fragen, was hinter den Herstellern, den Kooperativen und Zertifizierungen steckt. Denn mit bewussten Kaufentscheidungen kann man den Menschen helfen, die in der Produktionskette am schwächsten sind. diff --git a/fluter/von-wegen.txt b/fluter/von-wegen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorgestellt-der-weg-nach-oxiana.txt b/fluter/vorgestellt-der-weg-nach-oxiana.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..72f3506d37d7a3aaf95815f9bb69e94e86f0dfa2 --- /dev/null +++ b/fluter/vorgestellt-der-weg-nach-oxiana.txt @@ -0,0 +1,15 @@ + +Die "Grand Tour" war immer wieder Romanthema. Zu den bekannteren Werken zählen "Zimmer mit Aussicht" und "Unterwegs nach Indien" von E.M. Forster sowie Paul Bowles' Maghreb-Texte. Und dann sind da die Dokumentarschreiber – wie Robert Byron, dessen "Weg nach Oxiana" 1937 erstmals erschien. +Dieses Reisebuch gilt als Klassiker. Denn Robert Byron, der glubschäugige Nachkomme des berühmten Spätromantikers Lord Byron (1788-1824), hatte sich schon zuvor als brillanter Kenner der Ziele europäischer Grand-Touristen ausgewiesen, mit Werken über Europa, Byzanz oder die Geburt westlicher Malerei. Die elfmonatige Reise, die er 1933 und 1934 unternahm – von Venedig über Zypern, Palästina, Syrien, Irak und Persien nach Afghanistan, zurück nach Persien, wieder nach Afghanistan und schließlich über die britische Kolonie Indien heim nach England – zeichnete eine Strecke vor, die heute einem breiten Trampelpfad gleicht. Zumindest abschnittsweise. Was zu Byrons Zeit keiner kannte, das steht heute in jedem Lonely Planet: Es ist der "Banana Pancake Trail", die Hostelroute der orientsüchtigen Backpacker. +Robert Byron ist Meister darin, sich amüsiert in sein Schicksal zu ergeben. Mit seinem Kompagnon Christopher Sykes ist Byron in einer Zeit unterwegs, in der die Autos noch Automobile hießen und in der Überlandtouren in den fernen Ländern einem Abenteuer gleich kamen, erst recht unmotorisiert. In Byrons Buch steht immer das Interesse am Alltag der Menschen in jenen damals unvorstellbar fremden Ländern im Vordergrund. +Usbekischer Schäfer +Die Wucht der Eindrücke rührt vor allem vom Stil: In dem Text vermischen sich die Genres in unglaublicher Fülle. So ist "Oxiana" ein Reisetagebuch mit den dafür üblichen stakkatohaften Einträgen. Allerdings versteht Byron es auf geniale Weise, in der Knappheit bildhafte Szenen hervorzurufen. Jedes Wort sitzt: "MS Maloja, 25. Juni. – Ein großes Schiff, 20.000 BRT*, durch ein pechschwarzes Meer stampfend. Gischtwolken; Salz und Schweiß und Langeweile allerorten. Das Geräusch von Würgen und ein leerer Speisesaal." +Aber daneben finden sich auch herrlich zynisch festgehaltene Szenen in Dialogform, versehen mit Regieanweisungen für Intonation, Mimik und Gesten der Sprechenden. Und dazu Passagen über den Clash der Kulturen, wie im Zusammenhang mit der überraschenden Festnahme seines Freundes Christopher Sykes in Teheran: "Auf wiederholte Anfragen wurde inzwischen auch ein Grund nachgeliefert, der – um den Außenminister zu zitieren – darin besteht, dass Mr. Sykes Gespräche mit Bauern führt. Dies kann, vermuten wir, nur eine versteckte Anspielung auf Christophers Gespräch mit Marjoribanks' Gärtner in Darbend sein." Bissiger kann man kaum durchblicken lassen, wie absurd man derlei Ansichten über das Miteinander der Kulturen und Klassen findet. + +Wie sehr ihn das Zusammenspiel der Völker interessierte, zeigt sich auch anderswo; etwa wenn Byron – kein Wunder bei seiner Vorgeschichte – sein phänomenales Wissen über Architektur beweist: Denn ob er eine Moschee oder ein Grabmal beschreibt, der Reiseliterat analysiert gleichzeitig den Unterschied der Kulturen – und erklärt so nebenher das Wesen der Europäer/innen. +Schwer vorstellbar, wieso Byrons "Oxiana" Jahrzehnte in Vergessenheit versank. Im März 2014 aber wurde es in den "Extradrucken der Anderen Bibliothek" zum Glück wiederaufgelegt, dankbarerweise mit Leidenschaft für das Authentische: Reisefotos, von Byron selbst geschossen, bebildern die Aufzeichnungen und mitten im Buch gibt es ausklappbare Karten der Reiseroute, auf rauem, ungebleichtem Papier. +Das Vorwort zu der deutschen Ausgabe stammt von dem großartigen britischen Reiseschriftsteller Bruce Chatwin, der in Byron seinen Meister fand: "Der Weg nach Oxiana" stellt er klar, dürfe "als das Werk eines Genies bezeichnet werden". Er habe das Buch vor langer Zeit zu einem "heiligen Text" erklärt: "Mein eigenes Exemplar, nach vier Reisen nach Zentralasien zerfleddert und fleckig, begleitet mich seit meinem fünfzehnten Lebensjahr", schreibt er. +Chatwin spricht für eine große Gruppe von Menschen, die nach wie vor "Oxiana" im Gepäck mit sich führen, als Inspiration und als Vorbild. Denn die Bildungsreisenden von heute sind die Backpacker. "Dass Reisen bildet, ist in diesem Milieu stark verankert. Sie sehen sich nicht als Touristen", sagt die Anthropologin Jana Binder, die in ihrer Doktorarbeit vor ein paar Jahren die Kultur der Rucksackreisenden untersuchte. "Es ist eine neue Qualifizierungsstrategie, nach dem Motto: Uni-Abschluss, Auslandssemester, Praktika – das haben sie alle. Ich setze noch eins drauf." Und da unterwegs jedes Gramm im Rucksack gut überlegt sein will, hier ein Tipp: Ein Buch genügt vollauf. Byrons "Oxiana" kann man immer wieder lesen. +Robert Byron: Der Weg nach Oxiana (Extradrucke der Anderen Bibliothek 2014, 440 S., übers. von Matthias Fienbork, 24 €)*BRT: Registertonne, eine veraltete Maßeinheit für Seeschiffe, entspricht 2,83 Kubikmeter +Auf umdiewelt.de kann man Reiseberichte lesen und selber einstellenSeite über den britischen Reiseschriftsteller Paul Bowles (engl.)Interview in der Zeit mit Jana Binder, die ihre Doktorarbeit über Rucksacktouristen/innenschrieb (2007) +Anne Haeming schreibt für Print- und Onlinemedien. Sie lebt in Berlin. diff --git a/fluter/vorgestellt-wir-sind-jetzt-hier.txt b/fluter/vorgestellt-wir-sind-jetzt-hier.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f9b322c3f1c461e8afc2c7faf2c11abfd5c7bfbe --- /dev/null +++ b/fluter/vorgestellt-wir-sind-jetzt-hier.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Das aber stimmte nun so gar nicht. Sei es der Blick über den See ins Unbestimmte, sei es die abwehrende Coolness dieser Replik: Die Autoren hatten Feuer gefangen. Und fassten einen Entschluss: Sie nahmen sich vor, Brandenburg besser kennenzulernen und zusammen ein Buch darüber zu schreiben. +Brandenburg sei gar nicht überall so, wie man denke, stellen beide es bei einem Gespräch in einem Berliner Café energisch klar. Also, dass da eben nichts los sei. Die Stadt Brandenburg zum Beispiel, Brandenburg an der Havel, habe eine sehr lebendige Kneipen- und Jugendszene. "In anderen Städten ist es ähnlich", sagt Tom Schulz. "Brandenburg besteht ja nicht nur aus Dörfern." +In Brandenburg/Havel, so kann man es im Buch nachlesen, gibt es zudem den traditionsreichen Fußballverein "Stahl Brandenburg" und einen gewaltigen Dom, den die Autoren eigens zu einer Aufführung des Brahms-Requiems heimgesucht haben. "Natürlich haben wir uns oft gezielt Anlässe gesucht, zu denen wir irgendwo hingefahren sind", erklärt Björn Kuhligk das Reisekonzept. "Wir wollten immerhin ein Buch schreiben, also haben wir dafür gesorgt, dass auf jeden Fall ein bisschen was passieren würde." +So kam es, dass die Autoren Silvester einmal in Neuruppin verbrachten, weil der dortige Fontane-Fanclub immer am Tag zuvor den Geburtstag des berühmtesten Neuruppiners begeht, und fast so etwas wie Freundschaft schlossen mit dem Kulturmanager der Stadt. Und an einem frostigen Ostersamstag saßen sie, ziemlich unterkühlt, im "ersten Kahn des Jahres", als in Lübben im Spreewald die Kahnsaison eröffnet wurde. +Aber halt! Fontane? Das Buch von Kuhligk und Schulz trägt den Untertitel "Neue Wanderungen durch die Mark Brandenburg". Haben sich die beiden Autoren eigentlich nur beim Titel an Theodor Fontanes fünfbändigen, vornehmlich kulturgeschichtlich interessierten "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" orientiert – oder sind sie dieselben Stationen angefahren wie der berühmte Kollege? Und was bedeutet der Begriff "Wanderung", wenn man, wie aus der Lektüre klar hervorgeht, doch überwiegend auf vier Rädern unterwegs ist? Nur ein einziger richtiger Fußmarsch kommt im Buch vor. +Björn Kuhligk sagt: "Fontane ist gar nicht gewandert! Er hat die ganze Zeit in der Kutsche gesessen." Schulz ergänzt: "Wir hatten häufig einen Mietwagen, waren aber auch auf Fahrrädern unterwegs." Das Unterwegssein mit dem Rad sei überhaupt das Beste gewesen: "Man ist einfach näher dran an allem, kann jederzeit anhalten." Und natürlich hätten sie das Werk von Fontane keineswegs komplett gelesen ("all diese Schlösser!"), aber sich geographisch schon grob an ihm orientiert. An fast allen besuchten Orten war Fontane einst nämlich auch. +Kann man eigentlich schon vom Reisen sprechen, wenn man von Berlin aus nach Brandenburg fährt? "Natürlich!" rufen beide wie aus einem Mund. Schulz: "Reisen fängt damit an, dass man sich auf den Weg macht, dass man das vertraute Umfeld verlässt." "Es fängt damit an, dass man woanders übernachtet", ergänzt Kuhligk. "Und zum Reisen gehört, dass man ein paar Tage unterwegs ist. Wir haben uns extra immer mehrere Tage Zeit genommen." +Dieses Sichzeitnehmen merkt man dem Buch an. Auch, dass die Autoren genau hingehört haben. Viele Dialoge sind eingeflossen in ihre Schilderungen von Land und Leuten; darunter Gesprächsfetzen, die sie den Personen am Nebentisch abgelauscht haben, vor allem aber Unterhaltungen, die sie bewusst gesucht haben – mit schrägen Vögeln und braven Bürgern, mit fleißigen Geschäftsleuten und frustrierten Arbeitslosen. Dialoge, die lautgetreu im Dialekt wiedergegeben werden – und die Brandenburger berlinern weitaus heftiger als die Berliner selbst. +Kuhligk und Schulz haben mit ihrem Nahreisebuch weder einen Reiseführer geschrieben noch eine Kulturhistorie im Fontaneschen Sinne. Was den beiden Lyrikern geglückt ist, ist eine Art atmosphärischer Momentaufnahme eines Bundeslands im Osten Deutschlands gut zwanzig Jahre nach der Wende. Neben Landschafts- und Ortsbeschreibungen und den O-Tönen der Bevölkerung kommen auch die Autoren selbst im Text vor. Leichte Irritationen angesichts schwieriger Gesprächspartner werden ebenso wenig verschwiegen wie körperliches Unbehagen aufgrund von Hitze, Kälte oder Insektenansturm. Man kann dieses subjektive Buch prima lesen, ohne eine Ahnung von oder ein Vorinteresse für Brandenburg zu haben. Aber sollte man dann doch mal dorthin kommen, könnte es passieren, dass einen das Gefühl beschleicht, man sei hier schon mal gewesen. +Ob sie denn nach all den Fünf-Tages-Trips nun erst einmal Pause machten vom Brandenburger Land, muss man die Großstadtdichter noch fragen. Absolut nicht, versichert Kuhligk. Er mache immer noch Ausflüge ins Umland. Derzeit ohne Übernachten. Schulz sinniert: "Also, ein Sehnsuchtsort ist Brandenburg für mich nicht geworden. Aber nach ganz bestimmten Orten sehne ich mich schon." Nach der unberührten Landschaft des Oderbruchs zum Beispiel oder dem Wittwesee bei Rheinsberg. +In einem sind beide sich mehr als einig: Was Brandenburg als Reiseziel wirklich attraktiv mache, seien weder die Kultur noch die Schlösser, die Fontane so ausdauernd beschrieb, sondern: "Die Natur!" Ja klar: "Es gibt andere Länder, wo richtig was los ist / Und es gibt Brandenburg", wie Rainald Grebe weiß, der berühmte Brandenburg-Experte unter den deutschen Liedermachern. Aber womit dieses Bundesland dafür eben richtig protzen kann, ist seine wunderbare, eiszeitlich geprägte Landschaft mit ihren vielen, vielen Seen. Für Berliner Stadtindianer auf jeden Fall das perfekte Nahreisegebiet. +Björn Kuhligk/Tom Schulz: Wir sind jetzt hier. Neue Wanderungen durch die Mark Brandenburg (Hanser Berlin 2014, 272 S., 17.90 €) diff --git a/fluter/vorgezogene-wahlen-in-der-t%C3%BCrkei.txt b/fluter/vorgezogene-wahlen-in-der-t%C3%BCrkei.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3a7cedef147bffcc04d52c2dd253edda36b47082 --- /dev/null +++ b/fluter/vorgezogene-wahlen-in-der-t%C3%BCrkei.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Es gibt vier relevante Kandidaten: der bisherige Staatspräsident und Parteivorsitzende der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) Recep Tayyip Erdoğan, Muharrem İnce, der Abgeordnete der Republikanischen Volkspartei (CHP), Meral Akşener, die Parteivorsitzende der neuen Guten Partei (IP), und Selahattin Demirtaş, der seit November 2016 inhaftierte ehemalige Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP). + +Recep Tayyip Erdoğan wird unterstützt durch eine Allianz der Regierungspartei AKP mit der türkisch-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) und steht für die Fortsetzung der bisherigen türkischen Regierungspolitik. Dies bedeutet die Einführung des – von vielen als autokratisch kritisierten – Präsidialsystems, Unterdrückung der Opposition, Verletzung von Menschenrechten, Offensiven in den kurdischen Gebieten der Türkei, Militärinterventionen in Nordsyrien und im Nordirak sowie einen EU-kritischen Kurs, der auf wirtschaftliche und nationale Stärke auch jenseits europäischer Partner setzt. Erdoğan verspricht seinem Volk Stabilität. In den Umfragen liegt er bei etwa 40 Prozent der Stimmen. +Muharrem İnce von der säkularen CHP wird als ein Kompromisskandidat der Erdoğan-GegnerInnen in der politischen Mitte gehandelt. İnce erreicht nicht nur die WählerInnen der eigenen Partei, sondern gilt sowohl für rechte, konservative als auch liberale und linke WählerInnen als eine realistische Alternative zu Erdoğan. Darüber hinaus hat es İnce geschafft, mit der HDP, die mehr Rechte für die kurdische Minderheit fordert, Gespräche aufzunehmen und so eine Unterstützung der HDP bei der wahrscheinlichen Stichwahl im Juli 2018 zu sichern. Bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahl könnte İnce etwa 30 Prozent der Stimmen erhalten und würde damit in der Stichwahl gegen Erdoğan kandidieren. Das Präsidialsystem will er gleich wieder abschaffen, den Ausnahmezustand aufheben und für bessere Bildung sorgen. + +Der jetzige Präsident: Recep Tayyip Erdoğan +Wurde anfänglich als Favoritin der Oppositionsseite gehandelt: Meral Akşener +Gilt als eine realistische Alternative: Muharrem İnce +Hat auch nicht die größten Chancen (und steckt außerdem im Knast): Selahattin Demirtaş +Meral Akşener von der IYI-Partei wurde zu Beginn des Wahlkampfs als die Favoritin auf der Oppositionsseite gehandelt, gerade weil sie die gleichen Wählergruppen wie Erdoğan anspricht: rechts, nationalistisch, konservativ. Aber sie hat, im Gegensatz zu Muharrem İnce, keine großen Chancen bei den liberalen, linken und kurdischen WählerInnen. Wie alle OppositionskandidatInnen verspricht sie eine Rückkehr zum parlamentarischen System, und außerdem: mehr Rechtsstaatlichkeit und eine wiederhergestellte Meinungsfreiheit. Inzwischen liegt Akşener bei den Umfragen nur noch bei etwa 12 Prozent der Stimmen und würde damit nicht in die zweite Runde kommen. +Selahattin Demirtaş kandiert für die HDP aus dem Gefängnis heraus, wodurch seine Möglichkeiten, Wahlkampf zu betreiben, stark eingeschränkt sind. Weil die übrigen KandidatInnen sich – vereinfacht ausgedrückt – eher im rechten Spielfeld befinden, könnte Demirtaş das prokurdische Lager und auch darüber hinausgehende Teile des linken Lagers für sich gewinnen. Auch die HDP lehnt das Präsidialsystem ab. Was sie von vielen anderen Parteien unterscheidet, ist der linksgerichtete Anspruch, die Türkei im Sinne einer vielfältigen Demokratie mit gleichen Rechten für verschiedene Bevölkerungsgruppen auszubauen. Vor allem die AKP und die MHP werfen einzelnen Parteimitgliedern jedoch vor, sich nicht genügend von der als Terrororganisation verbotenen PKK zu distanzieren. Demirtaş bleibt bei den Umfragen unter 15 Prozent der Stimmen und wird demzufolge für die Stichwahl ebenfalls nicht kandidieren können. + +Die Parlamentswahlen verlaufen diesmal deutlich anders als bei den vorherigen Wahlen. In der Türkei existiert eine Sperrklausel von 10 Prozent, wodurch kleinere Parteien bisher keine Chance hatten, ins Parlament zu ziehen. Für die jetzige Wahl wurden die Wahlgesetze verändert: Mehrere Parteien können eine gemeinsame Wahlliste bilden. Nun reicht es aus, wenn die Wahlliste insgesamt über 10 Prozent kommt – jede Partei erhält dann entsprechend ihrer Stimmenanteile eine bestimmte Anzahl an Sitzen. + +Die Regierungspartei AKP bildet gemeinsam mit der MHP die "Volksallianz"-Wahlliste. Sie liegt bei den aktuellen Umfragen zwischen 45 Prozent und 52 Prozent der Stimmen. Das "Bündnis der Nation" – die Wahlliste der Opposition – besteht aus CHP, IYI und der islamistischen Saadet-Partei. Das "Bündnis der Nation" könnte etwa 40 Prozent der Stimmen erhalten. Die HDP muss dagegen alleine antreten, weil die IYI-Partei verhindert hatte, dass die HDP an der Oppositionsliste teilnahm. Die rechte und türkisch-nationalistische IYI-Partei sieht die HDP, die sich insbesondere für die Interessen der Kurden und anderer Minderheiten einsetzt, als politische Gegnerin. Laut den Umfragen liegt die HDP zwischen 10 und 13 Prozent der Stimmen. + +Nach den aktuellen Umfragen sind zwei Szenarien wahrscheinlich und ein drittes eher unwahrscheinlich. Im ersten Szenario gewinnt Erdoğan die Stichwahl und wird zum Präsidenten gewählt. Gleichzeitig siegt in der Parlamentswahl die Opposition und erhält eine Mehrheit im Parlament. Dann würden sich der Präsident und das Parlament gegenseitig blockieren, und Neuwahlen wären sehr wahrscheinlich. Das zweite Szenario wäre, dass sowohl Erdoğan als auch die "Volksallianz"-Wahlliste in den jeweiligen Wahlen siegen. Damit hätte Erdoğan sowohl die Befugnisse als auch die sichtbar gewordene Unterstützung der türkischen WählerInnen, seinen Kurs weiterzuverfolgen. Auch das harsche Vorgehen gegen die PKK und KurdInnen würde höchstwahrscheinlich fortgesetzt werden. Im dritten Szenario, das deutlich unwahrscheinlicher ist, gewinnt Muharrem İnce die Präsidentschaftswahl und das "Bündnis der Nation" die Parlamentswahl, sodass das Land zum ersten Mal seit 16 Jahren weder von Erdoğan noch von der AKP dominiert würde. Die Einführung des Präsidialsystems könnte dann wieder rückgängig gemacht werden. + +Mehr zu den Wahlen in der Türkei: +http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/271113/praesidentschafts-und-parlamentswahl-in-der-tuerkei +http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/269452/neuwahlen-in-der-tuerkei-das-ende-der-republik +http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/253181/das-neue-politische-system-der-tuerkei + + +Titelbild: YASIN AKGUL/AFP/Getty Images, Portraits: picture-alliance / dpa diff --git a/fluter/vorreiter.txt b/fluter/vorreiter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d250410eb5fa0476314441697c879ab9f4df69af --- /dev/null +++ b/fluter/vorreiter.txt @@ -0,0 +1 @@ +Beschränkt man sich auf ein Charakteristikum von Trendsport – das Ausüben neuer Bewegungsaktivitäten mit neuen Geräten, wodurch sich die Akteure von der Norm absetzen –, so ist das nicht erst eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts. "Die ersten Snowboarder mit ihren komischen Brettern, an denen vorn Leinen hingen, haben bei der Bevölkerung vermutlich ähnlich Kopfschütteln ausgelöst wie Turnvater Jahn, als er zu Beginn des 19. Jahrhunderts die ersten ‚Turnpferde' aufstellte – und damit das Geräteturnen begründete", meint Christian Wopp.Ein Phänomen unserer Zeit ist allerdings, dass mittlerweile jede Altersgruppe nach Neuem sucht und Freizeitsport generell boomt. "Wir leben nicht mehr in so sicheren Strukturen wie früher, als jemand etwa jahrzehntelang den gleichen Beruf ausübte. Heute müssen viele patchworkmäßig verschiedene Lebensabschnitte gestalten", erklärt der Sportwissenschaftler Günter Breuer vom Institut für Bedarfsforschung (ZAK GmbH). "Das führt zu einem Identitätsverlust, den wir in der Freizeit durch die Rückbeziehung auf den Körper ausgleichen wollen."Die Betonung des Körpers erfolgt durch individuelle Aktivitäten. So zählt beim Skateboarding oder Parkour vor allem die saubere Bewegungsausführung. Das Modellieren des Körpers steht auch bei den über 35-Jährigen im Mittelpunkt – und aufgrund des demografischen Wandels werden künftig vor allem sie neue Sportarten etablieren. Älteren Aktiven kommt es auf Gesundheit, Ausdauer und Fitness an. Gründe hierfür: Wegen der Privatisierung vieler Gesundheitskosten sorgen viele besser für ihren Körper, um langfristig Geld zu sparen. Auch deshalb hat sich aus dem beliebtesten Freizeitsport der Deutschen, dem Wandern, das Nordic Walking entwickelt - derzeit die einzige große Trendsportart.Trends werden immer auch von Interessengruppen wie Industrie und Handel begünstigt. In ähnlicher Wechselwirkung wie Nordic Walking stehen auch schon die Medien und Parkour, denn die Sprünge der Traceurs könnten einmal gute Quoten garantieren. Im Moment ist die Sportbekleidungsindustrie allerdings noch unschlüssig, wie sich das finanziell nutzen lässt.Wie massentauglich Trendsportarten letztlich auch werden, sie verschwinden nicht mehr und werden irgendwann zum Retro-Trend. Das beste Beispiel ist das Surfen selbst. Kleinbusurlaube und die passende Musik sind nach wie vor ein fester Bestandteil der Jugend-kultur – seit fast fünfzig Jahren. diff --git a/fluter/vorschau-0.txt b/fluter/vorschau-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorschau-1.txt b/fluter/vorschau-1.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorschau-auf-den-naechsten-fluter-zum-thema-risiko.txt b/fluter/vorschau-auf-den-naechsten-fluter-zum-thema-risiko.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorschau-fluter-76-mode.txt b/fluter/vorschau-fluter-76-mode.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorschau-fluter-86-ukraine.txt b/fluter/vorschau-fluter-86-ukraine.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorschau-fluter-87-spiele.txt b/fluter/vorschau-fluter-87-spiele.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorschau-fluter-barrieren.txt b/fluter/vorschau-fluter-barrieren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorschau-fluter-heft-terror.txt b/fluter/vorschau-fluter-heft-terror.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorschau-fluter-klasse.txt b/fluter/vorschau-fluter-klasse.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorschau-fluter-liebe.txt b/fluter/vorschau-fluter-liebe.txt new file mode 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0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorschau-fluter-streiten.txt b/fluter/vorschau-fluter-streiten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorschau-fluter-verkehr.txt b/fluter/vorschau-fluter-verkehr.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorschau-heft-fluter-freundschaft.txt b/fluter/vorschau-heft-fluter-freundschaft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorschau-heft-fluter-wohnen.txt b/fluter/vorschau-heft-fluter-wohnen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorschau-heft-tiere.txt b/fluter/vorschau-heft-tiere.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorschau-meer.txt b/fluter/vorschau-meer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorschau-und-impressum-0.txt b/fluter/vorschau-und-impressum-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorschau-und-impressum-1.txt b/fluter/vorschau-und-impressum-1.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorschau-und-impressum-2.txt b/fluter/vorschau-und-impressum-2.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..da1a85255b57d4deacc7169e9333a971027931f5 --- /dev/null +++ b/fluter/vorschau-und-impressum-2.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Ungleichheit bewegt die Menschen, und viele fragen sich, wie +sich der Reichtum gerechter verteilen lässt? Nun kann man +Reichtum nicht nur in Geld bemessen: kulturelle Schätze und +Erfahrungen tragen ebenso dazu bei, Menschen zu bereichern. +Wir wollen im nächsten Heft den Blick erweitern und nicht nur +auf Geldvermögen schauen, sondern auch auf andere Formen +von Reichtum. Wir wünschen euch bereichernde Ferien. diff --git a/fluter/vorschau-und-impressum-3.txt b/fluter/vorschau-und-impressum-3.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorschau-und-impressum-4.txt b/fluter/vorschau-und-impressum-4.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorschau-und-impressum-5.txt b/fluter/vorschau-und-impressum-5.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorschau-und-impressum.txt b/fluter/vorschau-und-impressum.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorschau-zahlen.txt b/fluter/vorschau-zahlen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorschau.txt b/fluter/vorschau.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorschau_fluter77_wahrheit.txt b/fluter/vorschau_fluter77_wahrheit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorschau_fluter_nr71.txt b/fluter/vorschau_fluter_nr71.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorsicht-explosiv-0.txt b/fluter/vorsicht-explosiv-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/vorsicht-explosiv.txt b/fluter/vorsicht-explosiv.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c8692fbe0833b055651ac736bfe7294e8a800b8f --- /dev/null +++ b/fluter/vorsicht-explosiv.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Heckler & Koch produziert seine Waffen nicht alle am eigenen Standort, sondern verkauft auch Herstellungs-Lizenzen, zum Beispiel nach Saudi-Arabien. Das autokratische Regime, berüchtigt für seine Menschenrechtsverbrechen, darf seit 2011 seine eigenen deutschen Kleinwaffen produzieren. Vorher musste es aber versichern, die Gewehre nicht an andere Länder weiterzuverkaufen. +Saudi-Arabien bot das G36 allerdings schon auf einer internationalen Waffenmesse an. Auch in den Händen libyscher Rebellen tauchten die deutschen Waffen nach dem Fall von Diktator Gaddafi 2011 auf. Wie sie dorthin kommen, kann sich weder Heckler & Koch noch die Bundesregierung erklären. +Europäischer Marktführer in der Produktion von Rad- und Kettenfahrzeugen ist das Rüstungsunternehmen Krauss-Maffei Wegmann. Auch den Leopard-2-Panzer stellen die Münchner her. Ein echtes Erfolgsmodell, das in alle Erdteile exportiert wird. Auf der Website der Firma gibt es sogar einen "LEO-User-Club" – hört sich eher nach einem Lego-Spielzeug an. +Alle Panzer- und andere Waffenverkäufe ins Ausland müssen vor dem Export aus Deutschland erst vom Bundessicherheitsrat abgenickt werden. Das Gremium, in dem neben der Kanzlerin unter anderem die Verteidigungsministerin und der Wirtschaftsminister sitzen, entscheidet über umstrittene Exportgeschäfte. Die Protokolle der Sitzungen bleiben geheim. +Der Panzer wurde in 16 Länder exportiert, darunter Chile, Griechenland, Türkei. Saudi-Arabien hatte 270 Leopard 2 bestellt,dann aber 2013 nach öffentlicher Kritik in Deutschland und einer durch die Bundestagswahl verzögerten Entscheidung über den Deal den Kauf annulliert. Kritik gab es vor allem an den Verkäufen nach Katar und Saudi-Arabien inmitten des Arabischen Frühlings, weil eine Variante des Leo als effektiv zum Einsatz gegen Demonstranten angesehen wird. +Sogenannte Dual-Use-Güter sind immer eine knifflige Sache. Produkte wie Computer-Software, Elektronik oder auch Chemikalien können für alltägliche, friedfertige Ziele eingesetzt werden oder auch im Krieg. +Deutschland exportiert auch viele Dual-Use-Güter. Noch 2011, als der syrische Bürgerkrieg schon voll im Gange war, exportierten deutsche Unternehmen Fluoride nach Syrien. Die Chemikalie kann man für die Produktion von Solarpanels nutzen, aber auch für die Herstellung von Giftgas. +Ob beim Giftgaseinsatz der syrischen Armee im August 2013, bei dem 1.400 Menschen getötet wurden, allerdings Stoffe aus Deutschland verwendet wurden, ist unklar. Wo Dual-Use-Lieferungen nämlich nach dem Export landen, weiß niemand. diff --git a/fluter/vorstellungsrunde.txt b/fluter/vorstellungsrunde.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..303d6d92056ac0a50471a3f8b821d325d36c5c1c --- /dev/null +++ b/fluter/vorstellungsrunde.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Wie viel Zeit investierst du für Insan Haklari Dernegi?Ab und an helfe ich im Büro, bei Demonstrationen bin ich immer dabei. Aber momentan arbeite ich sechs Tage in der Woche für eine Filmproduktionsfirma, die vor allem Dokus macht. Eine über Folter in türkischen Gefängnissen hat in Deutschland schon Preise gewonnen.Ist das auch ein Thema in deinem Freundeskreis?Meine Freunde sind politisch engagiert, es ist mir wichtig, über solche Themen diskutieren zu können. Europa oder die Armenien-Frage sparen wir derzeit aus – wir haben einfach schon zu viel darüber geredet. +Gibt es in deinem Leben nur Politik?Ach was! Ich renoviere unsere Wohnung, sie soll freundlicher werden. Da wohne ich mit meiner Zwillingsschwester und einer Freundin. Und ich liebe experimentelle Musik! Aber ich bin überzeugt, dass mein Engagement helfen kann, die Welt ein bisschen besser zu machen. +Wie kamst du dazu, Modedesign zu studieren?Da hatte meine Mutter als Näherin großen Einfluss. Ich habe als Kind immer mit Stoff gespielt und wusste, dass ich später etwas Kreatives machen möchte. Mein Traum: Ich hätte gern mal meine eigene Marke, wie Vivienne Westwood.Ist es auch Teil des Studiums, ins Ausland zu gehen?In unserem letzten Ausbildungsjahr studieren wir in New York. Danach können wir dort eine befristete Arbeitsgenehmigung bekommen – da würde ich gerne noch bleiben. Aber ich mag Istanbul auch sehr gern. Die Stadt ist so modern, so lebendig, so farbenfroh! Die Menschen kommen von überall her. So etwas wie Istanbul gibt es nirgendwo sonst.Findest du, die Türkei sollte zur EU gehören?Bevor man über die EU spricht, muss man über das Image der Türkei sprechen. Ich glaube, dass im Ausland oft ein falsches oder negatives Bild von den Türken vermittelt wird. An der Uni hatten wir mal einen Dozenten aus den USA. Als der den Saal betrat, war er völlig überrascht und sagte: Ich dachte, ihr Türkinnen seid alle verhüllt!Wie stehst du zum Kopftuchverbot?Ich bin da neutral. Obwohl ich finde, dass es nicht wichtig ist, ein Kopftuch zu tragen. Ich bin Muslimin und gläubig, auch wenn ich nicht fünfmal am Tag bete. Aber ich versuche im Ramadan zu fasten. +Bist du in Istanbul geboren?Nein. Ich bin vor einem Jahr aus Elazig in Anatolien hierher gezogen. Jetzt wohne ich im unteren Teil von Beyoglu, einem Slum.Warum bist du in die Stadt gezogen?Ich musste. In Elazig gab es kaum Arbeitsmöglichkeiten. Hier habe ich jetzt den dritten Job innerhalb eines Jahres. Ich bin Kellner in einem Restaurant, oben in Beyoglu, sechs Tage in der Woche. Die Arbeit ist in Ordnung, zu uns kommen viele Touristen und Beamte. Die Touristen sind irgendwie bescheidener als die Türken.Fühlst du dich wohl hier?Ja,ich habe viele Freunde. Und zum nächsten Ramadan, wenn das Restaurant geschlossen hat, besuche ich meine Eltern in Elazig.Hast du einen Traum?Ich will Profi-Fußballer werden, am liebsten im Sturm spielen. Ich kann das wirklich gut! Ich habe auch schon zu Hause gespielt, aber mein Vater hat mir nicht erlaubt, Fußball zu meinem Beruf zu machen. Zurzeit spiele ich zwar nur mit Freunden auf der Straße. Aber Fußballstar zu werden bleibt mein Traum. Am liebsten bei meinem Lieblingsverein: Fenerbahce Istanbul! +Seit wann lebst du in Istanbul?Ich war zwei, als ich mit meiner Familie in die Türkei kam, wir sind aus Baglan im Nordosten Afghanistans. Daher auch mein Name: Özbek heißt Usbeke. In Istanbul selbst bin ich nur von April bis August, ich arbeite und wohne bei meinem Onkel. Eine tolerante Stadt! Den Rest des Jahres verbringe ich in Hatay bei meinen Eltern.Wie sieht deine Arbeit aus?Seit ich denken kann, schneidere ich diese Lederjacken, das ist unser Familiengeschäft, typisch afghanische Kleidung.Tagsüber arbeite ich im Atelier, abends ab halb neun verkaufe ich unsere Sachen hier am Hafen von Eminönü.Trägst du auch, was du verkaufst? +Meine Hosen und Jacken nähe ich selbst. Meine traditionelle Kleidung hängt bei meinen Eltern im Schrank, sie tragen die Gewänder jeden Tag. Ich ziehe das nur an, wenn ich bei ihnen bin. Dann gibt es auch mein Lieblingsessen: Reis mit Kichererbsen. An unsere Heimat erinnere ich mich kaum, ich kenne sie nur aus den Filmen, die Freunde von dort mitbringen.Sprichst du Usbekisch?Mit Freunden spreche ich Usbekisch, wenn uns keiner verstehen soll. Zum Beispiel, wenn es um Liebe geht: Ich bin mit einer Usbekin verlobt, nach Ramadan heiraten wir. Andere Pläne habe ich nicht, nur einen Traum: meinen Eltern eine Pilgerreise nach Mekka zu schenken. +Ich mag Kino. Zuletzt hab ich Fluch der Karibik gesehen, der hat mir gefallen, am besten fand ich Johnny Depp. Das Leben in Istanbul dagegen gefällt mir nicht, weil es keine Mittelschicht gibt. Entweder jemand ist sehr reich oder jemand ist sehr arm. Daher möchte ich nach der Schule auch raus aus der Stadt, am liebsten in England oder Deutschland Jura studieren. Vielleicht werde ich auch Lehrerin, aber nicht hier. Meine Familie ist ins alevitische Viertel gezogen, als ich acht Jahre alt war. Meine Freunde wohnen um die Ecke, anrufen muss ich fast nie jemanden, ich gehe einfach vorbei. Meine Handyrechnung ist trotzdem hoch – ich schreibe so gern SMS. Zum Glück bezahlen das noch meine Eltern. +Am liebsten hätte ich zwei Wohnsitze: ein Häuschen im Wald, auf der asiatischen Seite,und ein tolles Apartment hier in der Stadt mit Blick auf den Bosporus. Aber das kann ich mir noch nicht leisten. Ich bin erst seit anderthalb Monaten hier in der Firma, davor war ich Kuaför. Ich mag Abwechslung, meinen alten Job vermisse ich kein bisschen. Jetzt kaufe und verkaufe ich alles – von der einfachen Wohnung bis hin zu richtigen Palästen. Nach zwei Tagen in der Großstadt merke ich aber, dass ich wieder rausmuss. Sobald ich in den Bus steige, fühle ich mich wie im Urlaub, die Hektik der Stadt lasse ich hinter mir. Je weiter ich ins Grüne komme, desto mehr spüre ich eine wunderbare Leichtigkeit. +Zukunftsgedanken? Ich arbeite nur. Vor sechs Jahren kam ich von Siirt in Ostanatolien nach Istanbul, mit meinen Geschwistern wohne ich in Fatih. In meiner Heimat wird Mais angebaut, so kam ich auf die Idee, gebratene und gekochte Maiskolben zu verkaufen. Gott sei Dank verdiene ich genug, um zu leben. Den Maiswagen miete ich von der Stadt für hundert Lira im Monat. Ich stehe immer im Viertel Taksim, immer am gleichen Platz, von mittags bis zwei Uhr nachts. Für Hobbys bin ich nach der Arbeit zu müde. Wie gesagt: Ich arbeite nur. +Eigentlich bin ich Schmuckdesignerin. Aber hier interessiert sich keiner für neue Entwürfe. Vor zweieinhalb Jahren habe ich deshalb beschlossen, umzusatteln und endlich Geld zu verdienen. Seither bin ich Geschäftsführerin von "The House Café" in Tünel, in der feineren Ecke von Beyoglu. Beyoglu selbst ist mir zu heruntergekommen. Zu uns kommen vor allem Künstler und Schriftsteller. Im Herbst werde ich meinen Freund in Amsterdam besuchen – das wird das erste Mal sein, dass ich ins Ausland reise. Am liebsten würde ich mal nach St.Petersburg, wegen der Architektur. Dort passen sie auf ihre Kulturgüter auf, das imponiert mir. Istanbul wird nicht gepflegt, es ist verunstaltet und schroff. diff --git a/fluter/vorurteile-wie-tattoos-auf-menschen-wirken-koennen.txt b/fluter/vorurteile-wie-tattoos-auf-menschen-wirken-koennen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ce80083e38bdea91d6ecef9f5ba7c358fc0ba536 --- /dev/null +++ b/fluter/vorurteile-wie-tattoos-auf-menschen-wirken-koennen.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Wie anders die retuschierten Porträts auf den Betrachter wirken, überraschte nicht nur Steven Burton, sondern auch die Porträtierten selbst: Viele hatten sich Jahre oder sogar Jahrzehnte lang nicht mehr ohne Tattoos gesehen. Die Schriften und Bilder waren ein Teil von ihnen geworden – und blieben es, auch nachdem sie sich für ein Leben ohne Bandenkriege, Drogendeals und Drive-by-Shootings entschieden hatten. +Viele der Porträtierten schafften diesen Absprung mit Hilfe der Stiftung Homeboy Industries. Sie bietet ehemaligen Gangmitgliedern neben Lebens- und Rechtsberatung, Nachhilfe- und Arbeitsplätzen auch kostenlose Tattooentfernung an: Das Leben der Aussteiger werde dadurch weniger gefährlich und die Stigmatisierung durch die Gesellschaft weniger. +"The tattoos mean the life with the gentlemen, my homies you know. Brings a lot of death, sadness, hate and destruction. Sick, just out of control, eh. [...] This is a person [sieht sich das unretuschierte Foto an] that has been through a lot. [...] I call it a book you know. This is my book right here." – Marcos Luna + +"I look like I finally let go of a lot of stuff that I had on me. I want people to see me for me. Not to see my tattoos first. My tattoos don't say nothing about me no more. It is a past life." – Francisco Flores + +"Oh shit! Damn, what the fuck. Damn, this is what I could have looked like! Look at this shit; damn this is crazy! [...] I will see like old ladies and they will start grabbing their purse. I will see a couple in the street and a guy will pull his girl real close. It's like: ‚Dude relax! I am coming home from work.'" – Dennis Zamran + +"I've been out of prison now, I wanna say, about nine and a half months. I just finished doing nine years. So I'm just trying to stay on the right track now. [...] Father G. [Gründer von Homeboy Industries] helping me felt good, because no one else has ever been there to help me like that." – David Pina + +"I love to see my boy [...] He is already tripping on my tattoos and stuff, why I have horns and stuff. [...] Just, I don't know what to tell a five-year-old, you know. [...] He is going to want to know who I am and stuff. So it's just like – it's kind of hard." – David Williams + +"Nobody knows what will happen tomorrow. I am just living day-by-day, just hoping for the best, you know, move forward. I have to support myself, hopefully out for the good." – Vinson Ramos (✝) + +"Stereotyping is always going to be there like with the tattoos. I don't want you rolling up your window when you see me coming down the street. It's like: ‚Come on man! [...] You don't need to do all that. [...] I'm just passing right by you.'" – Calvin Hastings (✝) + +"I woke up today not in jail, I woke up today not in a casket. [...] Just breathing in the fresh air. Going outside and really looking at it. Life is beautiful. [...] I'm struggling with completely letting go of that [old] life. It's hard, it's just hard, you know." – Erin Echavarria + +"Usually, Father Greg helps. But he said to me this time: ‚[...] I can give you a car and I can give you a job. But that is not going to change what is going on with you. [...] You have to get clean.' [...] And I was like: ‚All right. I am going to let it go. I am going to go to rehab.' He said: ‚After those 90 days I promise you, I give you my word, everything is going to fall back in to place.' And I believe him." – Matthew Perez + +"Since I was like... what, ten, eleven? Since that age till now I have been in and out of jail [...] I really don't know how to live a regular life. I am trying to live [it] now. [...] My daughter is five, going to be six next month. She thinks I am her personal coloring book. When I first came home and I had this on me [ein Tattoo], she did nothing really. She knew, who I was. So she asked me, if she could color me. I said: ‚Yeah, go ahead.'" – Phillip Mendoza + +"Oh man. It's a big difference. So that's exactly how I would look without them. [...] I'm gonna give her [my grandmother] these [photos]. 'Cause when she first saw me [with the tattoos],[...] she started crying. And I think, that is why. She doesn't know too much about gangs and stuff, but yeah. [...] I'm just kind of lost for words." – Samuel Gonzales + +"The tattoo on my eyelids, well it says ‚the end', you know. I hope I live for a very long, long time. [...] I have more to give to the community, to help out. And I want to see my kids grow. [...] People who don't know me probably think I am smoking drugs, have a gun or that I am violent. But I am not like that no more. I left that all behind." – Mario Lundes diff --git a/fluter/vorwort-fluter-87-spiele.txt b/fluter/vorwort-fluter-87-spiele.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7f465288ac99ad138b0d8e66f7be4b0e19953f15 --- /dev/null +++ b/fluter/vorwort-fluter-87-spiele.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Unterschiedliche Interessen und Konflikte zeigen sich in der Gaming-Welt auch in anderen Bereichen. So ist der Spielekosmos von unfreien Machtverhältnissen gekennzeichnet – und von Versuchen, diese aufzubrechen: wie Sexismus im Bereich der Videospielproduktion, kolonialistische und rassistische Motive in Gesellschaftsspielen, Hass und Propaganda in Communitys. +Das ganze Heftfindet ihr hier. +Und doch können sich gerade Spiele solchen Ungleichheiten entziehen. Selbst wenn die Umstände und Voraussetzungen verschieden sind, Spiele gibt es überall auf der Welt und für alle. Dafür braucht es nicht zwangsläufig Geld und große Arenen, manchmal reichen die Hände. Ob in Form des Brettspiels, als Sport oder Videogame – die Möglichkeiten des Spiels gilt es zu bewahren. Manchmal auch gegen sich selbst. Dann nämlich, wenn das Spielen zur Sucht wird und der Abgleich mit der Außenwelt verloren geht. Dabei ist der Gewinn über sich selbst vielleicht der größte von allen. +Spiele können Trainingsplätze fürs Leben sein. Das von diesem Heft ebenfalls zu behaupten wäre vielleicht ein bisschen sehr viel Anspruch. Aber eines darf es gerne mit Spielen gemeinsam haben: den Spaß. diff --git a/fluter/vorwort-fluter-88-neukoelln.txt b/fluter/vorwort-fluter-88-neukoelln.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d2ab52abaad7addeb3248ee7585f65cc76d08cc0 --- /dev/null +++ b/fluter/vorwort-fluter-88-neukoelln.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Neukölln ist eine fast unmögliche Mixtur. Und sie funktioniert doch, irgendwie und meistens. Aber wie lange noch und zu welchem Preis? +Die Krisensymptome mehren sich. Der Kampf um den knapp gewordenen Wohnraum hat längst auch Neukölln erreicht, die Gentrifizierung schreitet fast ungebremst voran. In vielen öffentlichen Schulen nimmt die Krise des über Jahre vernachlässigten Bildungswesens inzwischen dramatische Formen an. Die öffentlichen Infrastrukturen geben oft auch in anderen Bereichen keinen sicheren Halt mehr. Dazu kommen die aktuellen globalen Krisen und ihre Auswirkungen. Die Mahlströme der unsicheren Verhältnisse schieben sich quer zu den Träumen und Plänen der Menschen mitten in die alltäglichen Kämpfe. Am härtesten trifft es gerade diejenigen, die am wenigsten Ressourcen haben, dagegenzuhalten. + +Das ganze Heftfindet ihr hier. +All das gibt es, aber es ist nicht alles. Wenn man den Menschen vor Ort zuhört, sie ins Gespräch kommen lässt, gibt es vieles zu entdecken. Es ist immer wieder beeindruckend, mit welch kritischem Realismus ganz normale Leute versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Hier im alltäglichen Zusammenleben zeigt sich die Kraft des Kommunalen. Sie kommt aus einem Gemeinsinn, der sich täglich neu findet und beweist. Es ist oft ein Humanismus der kleinen Dinge. Sei es in den eher flüchtigen Netzwerken der Nachbarschaft, in Vereinen, in karitativen, kulturellen oder politischen Initiativen. Aus Gegensätzen können Toleranzen werden, die Vereinbarkeit des scheinbar Unvereinbaren wird konkret erlebbar. Dieser Common Sense des normalen Alltags bleibt medial und politisch meistens unter dem Radar. Dabei ist es entscheidend für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, dass die Deutungshoheit über diesen spannenden sozialen Raum nicht den Populisten überlassen wird. +Denn trotz alledem: Neukölln lebt. diff --git a/fluter/vorwort-fluter-89-liebe.txt b/fluter/vorwort-fluter-89-liebe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2a1a62ae2ba8501b2fc9f9837627c15d1ee53934 --- /dev/null +++ b/fluter/vorwort-fluter-89-liebe.txt @@ -0,0 +1,7 @@ + +Das ganze Heftfindet ihr hier. +Früher war die Liebe ein pragmatisches Mittel, um die eigene Klasse zu wahren oder gar sozial aufzusteigen. Heute wird siemeist romantisch gedacht. Eine Perspektive, die die Welt des Marketings längst entdeckt und vielmehr auch geprägt hat. Sie beutet die Symbolik der Liebe nicht nur am Valentinstag aus. +Die Neurochemie zeigt, dass Liebe bei allen Menschen biologisch den gleichen Bedingungen unterliegt. Aber in vielen Gesellschaften ist die Liebe freier geworden. Vor allem für Menschen, die sich nicht in hetero-normative oder religiöse Schablonen zwängen lassen. Der monogame Standard, die Wir-zwei-für-immer-Beziehung, die in der Hochzeit gipfelt, kann genauso Ausdruck von Liebe seinwie eine polyamore Beziehung, die Leidenschaft für ein Idol oder die frühe Verantwortung, dieTeenagermütter für ihre Babys übernehmen. +Liebe bedeutet Kontrollverlust. Der zeigt sich gerade beim Verlieben. Das kribbelige Aufgeregtsein kann jede Person zu jeder Zeit und überall treffen. Besonders intensivwohl in der Jugend, wenn neue Dimensionen von Liebe in die Lebensrealität einschlagen. Von der Komplizenschaft mit Freundinnen und Freunden bis hin zum Flirten mit dem Crush: Liebe kann dann zum ersten Mal als betörend schöner Rausch erfahren werden. +Was sich hier früh zeigt, setzt sich im Leben fort: Wer liebt, muss die eigenen Bedürfnisse und die der anderen erkennen, aushandeln und respektieren. Liebe verlangt die Autonomie und Freiheit aller Beteiligten. Das akzeptieren manche nicht: Partnerschaften, in denen Machtstrukturen und Abhängigkeiten besonders wirkmächtig sind, können dann zu Orten psychischer wie physischer Gewalt werden, die vor allem Frauen trifft. +Wenn Liebe auch als Gedanke an das Wohl der anderen und nicht nur als Leidenschaft verstanden wird, ist sie der Richtwert, an dem wir uns in unserem Miteinander orientieren sollten. Es wird immer wieder versucht, Liebe zu kontrollieren, ihr durch Politik, Religion oder KonventionenGrenzen zu setzen. Aber klar ist: Liebe erschöpft sich nicht. Sie wird die Wucht bleiben, die befreit. diff --git a/fluter/vorwort-fluter-90-barrieren.txt b/fluter/vorwort-fluter-90-barrieren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..46805ee24a8ec0efa42643dfed288ea74c1f6984 --- /dev/null +++ b/fluter/vorwort-fluter-90-barrieren.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Auf Barrieren treffen alle Menschen, aber nicht alle gleich oft. Ich komme nicht überall dran, andere kämpfen täglich mit den Barrieren, die sie zu Ungleichen machen: bei der Chance auf eine Wohnung, einen Arbeitsplatz, faire Bezahlung oder eine Aufenthaltsgenehmigung. +Unser Cover zeigt die Künstlerin Charlie Fitz in einer Erwachsenenwindel. Darmerkrankungen wie Morbus Crohn treffen besonders häufig junge Menschen, darüber gesprochen wird aber nicht. Deshalb hat Fitz, die mit dem Ehlers-Danlos-Syndrom lebt, dieses Selbstporträt gemacht: "Scham verlernen: Darminkontinenz ist meine Normalität." Damit möglichst viele das Cover verstehen, haben wir auf den englischen Slogan verzichtet. +Zumganzen Heftgeht's hier. +Barrieren sind gesellschaftlich gemacht und damit veränderbar. Sie sind politisch, weil sie zeigen, wer die Deutungshoheit hat: Werhat Geld,ist schönund integriert genug? Wer darf mitreden, wer wird gehört? Die Antworten auf diese Fragen verraten immer auch, wer außen vor bleibt. +Nicht jede Barriere können wir mit unseren Augen sehen, mit den Händen greifen oder benennen. Dieses Heft soll eine Einladung sein, die Perspektive zu wechseln. Die Menschenerzählen hier vertrauensvollvonden Barrieren in ihrem Leben. Viele zeigen, wie man sie überwinden kann, dass man sienicht hinnehmen muss. Und sich die Frage stellen sollte: Käme ich darüber hinweg? Über diese Stufen? Die Scham, dieeine Krankheitmit sich bringt odermein Alter? Das Gefühl, nicht dazuzugehören? +Eine demokratische Gesellschaft, die Inklusion ernst nimmt, fängt alle auf: Spätestens im Alter sind wir auf Hilfe angewiesen, durch einen Unfall, Arbeitslosigkeit oder Schicksalsschläge können aber alle jederzeit ihre Selbstständigkeit verlieren. +Demokratie heißt: Alle müssen politisch mitbestimmen können und gehört werden. Für Teilhabe und gleiche Chancen gibt es Gesetze. Manche werden überarbeitet, andere neu erlassen. Im Alltag aber kommt es auf unser Bewusstsein für die Barrieren um und zwischen uns an. diff --git a/fluter/vorwort-fluter-91-streiten.txt b/fluter/vorwort-fluter-91-streiten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b778af081d0489b0029c95f79743a95b4dfa1225 --- /dev/null +++ b/fluter/vorwort-fluter-91-streiten.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Der hört auch dort auf, wo Streitigkeiten in Gewalt eskalieren. Dort, wo eine Seitemehr Macht hatund der anderen keine Augenhöhe zugesteht. Dort, wo sichdie Fronten so verhärtet haben, dass nicht mehr die Lösung zählt, sondern der größtmögliche Schaden beim Gegenüber. Aus solchen Streits mag eine oder einer als Gewinner hervorgehen, am Ende aber haben beide verloren. +Zum ganzen Heftgeht's hier. +Worüber wir als Gesellschaft streiten, zeigt, wo es Probleme gibt. Wie wir die Konflikte lösen, zeigt, ob wir uns als Gesellschaft weiterentwickeln. Deshalb gibt es feste Arenen des Streits. Hier ist er das legitime Werkzeug, weil gemeinsam gesetzte Regeln dem Streiten Grenzen und Ziele setzen. Sei esin Parlamentenoderim Arbeitskampf: Am Ende geht es allen um eine Einigung. Auch auf den Straßen wird demokratisch gestritten, für Mitbestimmung, Gerechtigkeit, Solidarität und für die Demokratie selbst. +Streiten ist wichtig, klar. Aber nicht nur, dass gestritten wird, ist zentral, sondern vor allem,wie gestritten wird. In der Auseinandersetzung für unsere Bedürfnisse und Werte sollten wir beharrlich sein, aber zugewandt bleiben. +Manchmal braucht es Streit, damit sich etwas verändert. Damit man einander verstehen und die Perspektive des Gegenübers zum Anlass nehmen kann, einen guten Kompromiss zu finden. Streitend wächst man aneinander. Und nicht zuletzt: Wer bereit ist, zu streiten, zeigt seinem Gegenüber auch: Du bist es mir wert. diff --git a/fluter/vorwort-fluter-92-verkehr.txt b/fluter/vorwort-fluter-92-verkehr.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..645c4e763ca56b3b8899be6191c310760fb6169e --- /dev/null +++ b/fluter/vorwort-fluter-92-verkehr.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Dieser Text istim fluter Nr. 92 "Verkehr"erschienen +Opa hat mit seinem Schiff einiges bewegt, meistens Kohle, Sand oder Kies. Verkehr sorgt dafür, dass wirkriegen, was wir brauchen. Oder hinkommen, wo wir hinwollen. Und zwar immer schneller: Statt mit dem Ochsen sind wir heutemit Drohnen unterwegs, statt mit der Kutschemit dem E-Bus, statt mit dem Zeppelinmit dem Linienflugzeug. Technische Errungenschaften haben unsere Welt größer gemacht und die Zeit verkürzt, die wir brauchen, um voranzukommen. +Nicht alle können gleichermaßen an diesem Fortschritt teilhaben: Wer kann sich ein Auto oder ein Bahnticket leisten?Wo hält der Bus, und wie komme ich auch als Fahrradfahrer, im Rollstuhl oder mit dem Kinderwagen sicher an? Jeder will mobil sein, aber dazu muss deröffentliche Raum so gestaltet werden, dass er den Bedürfnissen aller gerecht wird. +Heißt auch: Verkehr ist kein Zufall, er muss politisch gesteuert und reguliert werden. Wie überall ist auch hier der Klimawandel eine besondere Herausforderung. Neue Technologien helfen in der Anpassung. Aber es führt kein Weg daran vorbei, auch einst bewährte Konzepte zu überdenken und Routinen zu verändern. Damit dieser Wandel nicht von Millionen Menschen als Freiheitsverlust empfunden wird, müssen Alternativen geschaffen werden. Das geht beim Fahrradweg an der Landstraße los, bei den E-Ladesäulen in der Stadt oder besseren Bahnanbindungen im ländlichen Raum. +Opa hat die Kapitänsmütze irgendwann eingemottet, pünktlich, um meinen Kinderwagen zu schieben. Später hat er mich oft mit dem Roller von der Schule abgeholt. Das war ein grandioses Gefühl, wenn er vorfuhr und ich hinten aufsteigen durfte. Heute ist er nicht mehr so viel unterwegs. Gut für uns Enkel: Sein Auto ist trotzdem immer vollgetankt. diff --git a/fluter/vorwort-fluter-93-rap.txt b/fluter/vorwort-fluter-93-rap.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dbb39431ef4b08be7b2b6c21b015526fafd72430 --- /dev/null +++ b/fluter/vorwort-fluter-93-rap.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Für mich als Mädchen, das oft wütend war, aber nicht sein durfte, genau der richtige Sound. Die unnachgiebige Haltung der Rapperinnen und Rapper gab mir Selbstbewusstsein und ein Gespür dafür, wie politisch es ist, für die eigenen Anliegen einzustehen. +Keine Musikrichtung lebt so von den Geschichten, die die Künstlerinnen und Künstler erzählen. Vom Bordstein zur Skyline, rags to riches: Die Erzählung vom sozialen Aufstieg ist noch immer eine der häufigsten. Aber längst nicht mehr die einzige. Rap erzählt auch von denen, deren Situation sich nicht ändert. Die den ganzen Tag malochen und sich trotzdem keinen Urlaub leisten können. Rap kommtaus der Hochhaussiedlung, der Großstadt, der ostdeutschen Provinz oder aus dem Gefühl heraus, an einem Ort fremd zu sein. Ganz egal, ob Migrationsgeschichte oder nicht, ob Gymnasium oder Hauptschule. Rap gelingt, was gesellschaftlich noch versucht wird: die Vielfältigkeit der Menschen nicht nur anzuerkennen, sondern ihr ganz bewusst Raum zu geben. +Wer rappt und wie es klingt, lässt sich Rap nicht vorschreiben. Mal ist er hochpolitisch, mal tiefsinnig, mal traurig, mal einfachnur stumpfer Partywahnsinn, mal Underground, mal Megabusiness. In seiner Offenheitdominiert er Streamingplattformenwie die Charts: Rap ist von einer Schwarzen* Subkultur zu einem dererfolgreichsten Musikgenres der Weltgeworden. +Einen Beat nicht aus dem Ohr zu kriegen, sich in dem Song mit seinen Zeilen verstanden und aufgehoben zu fühlen sind wahnsinnig schöne und ermächtigende Gefühle. In diesem Sinne soll das Heft eine Einladung sein: an die, die keinen Rap hören und ihn hier kennenlernen können. Und an alle anderen, die sich bestätigt fühlen dürfen und ihre Musik auf neue Weise hören können. diff --git a/fluter/waagerecht.txt b/fluter/waagerecht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4a5588397067238b6eea41fedc08f8ee61b0e403 --- /dev/null +++ b/fluter/waagerecht.txt @@ -0,0 +1 @@ +Die Non-Egalitaristen, zu denen ich mich zähle, sehen das anders. Wir denken, dass Gleichheit nicht diesen Stellenwert hat. Bei Gerechtigkeit geht es im Wesentlichen darum, allen Menschen in einer Gesellschaft ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, ein Leben, das eine bestimmte Schwelle des guten Lebens erreicht. Also etwa, dass niemand in materieller Armut leben muss, dass keiner sozial ausgeschlossen, stigmatisiert wird, dass alle die Chance haben zu persönlichen Beziehungen und zu privater wie politischer Autonomie. Diese Schwelle markieren wir mit dem Begriff der Menschenwürde oder der Inklusion oder der Bürgerschaft. Oberhalb dieses Niveaus mag es Ungleichheiten geben, sogar große. Aus der Perspektive der Gerechtigkeit sind diese Ungleichheiten aber nicht unbedingt zu beanstanden.Und welche Waage wäre dann Ihre?Bei den Non-Egalitaristen könnte dies eine digitale Küchenwaage sein, bei der es einen roten und einen grünen Bereich gibt. Solange jemand im roten Bereich ist – also nicht genug zu essen hat, kein Auto, das er auf dem Land braucht,um flexibel genug für seine Arbeit zu sein, und so weiter –, herrscht Ungerechtigkeit. Sobald aber der Zeiger im grünen Bereich ist und dort verschieden stark ausschlägt, würde ich sagen: So what?Die Grenze zwischen rotem und grünem Bereich ist die Menschenwürde?Genau.Im Herzen der Gerechtigkeit steht das menschenwürdige Leben für alle. Meinetwegen kann man dies auch in der Gleichheitsterminologie ausdrücken. Wenn alle genug zu essen haben, sind alle in der Hinsicht gleich, dass sie genug zu essen haben. Aber es kommt auf das Essen an, nicht die Gleichheit!Ich kann am Egalitarismus noch immer keine Schwäche sehen.Egalitaristen betrachten alle Ungleichheiten unter dem folgenden Aspekt: Heben sie das Lebensniveau aller oder nicht? Und wenn nicht, müsse man sie nivellieren. Das ist ein ganz anderer Blickwinkel als der non-egalitaristische. Die Egalitaristen sagen nicht: Wenn jeder ein Auto hat, kann einer auch drei haben. Die Egalitaristen zwingen denjenigen, der drei Autos hat, das zu rechtfertigen, obwohl die anderen auch fahren können. Egalitaristen geht es nicht um die Tugend der Gerechtigkeit,sondern um Gier und Neid. So wie bei dem oft zitierten Kuchenbeispiel.Das Kuchenbeispiel?Der Egalitarismus arbeitet gern mit dem Kuchenbeispiel, weil er ja irgendwie begründen muss,warum Gleichheit eine so zentrale Rolle spielen soll in der Gerechtigkeit. Es gibt einen Kuchen, am Tisch sitzen die Kinder. Die Egalitaristen behaupten: Die Mutter muss offensichtlich jedem der Kinder ein gleich großes Stück Kuchen geben, dann kann man immer noch überlegen, ob es Ausnahmen gibt, auf die reagiert werden muss: Hat ein Kind mehr Hunger oder den Tisch gedeckt oder Geburtstag? Non-Egalitaristen lehnen das Kuchenbeispiel als irreführend ab. Kinder können von Süßigkeiten nie genug kriegen – was man ihnen, da sie Kinder sind, auch nicht verdenken kann. Gerechtigkeit handelt vorwiegend von der Verteilung von Lebensgütern unter Erwachsenen. Erwachsene wissen oder sollten wissen, wann sie genug haben. Außerdem suggeriert das Kuchenbeispiel eine unterkomplexe Situation. Kinder backen zum Beispiel nicht mit. Es gibt keine vergangenen oder zukünftigen Generationen, die zu berücksichtigen wären, und so weiter.Aber erst mal ist doch einfach wichtig, dass alle was vom Kuchen haben.Sicher. Egalitarismus und Non-Egalitarismus können im konkreten Fall zum selben Ergebnis führen: Der Kranke bekommt Medizin, der Arme Brot. Aber für eine Gesellschaft macht es einen Unterschied, ob sich die Politik darauf konzentriert, dass alle die Schwelle des menschenwürdigen Lebens erreichen. Oder ob sie viel Zeit und Ressourcen dafür aufwendet, Ungleichheiten einzuebnen. Reden wir über die Menschenwürde und darüber, was jemand wirklich braucht? Oder darüber, was wir im Vergleich zu anderen haben? Das muss eine Gesellschaft klären. Die Philosophie stellt in diesem Punkt ein gewisses Unterscheidungswissen zur Verfügung.Das Bundessozialgericht hat entschieden, dass 345 Euro im Monat für ein Leben in Menschenwürde ausreichen.Wie bestimmt man die Grenze zwischen rotem und grünem Bereich?Es gibt anthropologische Einsichten. Kein Mensch will hungern oder stigmatisiert werden. Konkreter muss man schauen,was man in einem Land wie Deutschland alles benötigt, um nicht ausgeschlossen zu sein. Man muss sich fragen:Braucht man ein Auto,einen Fernseher, eine Tageszeitung, wie groß muss die Wohnung sein,muss sie eine Dusche haben etc.?Kann man die Schwelle der Menschenwürde beliebig herabsetzen, wenn sich die Gesamtsituation verschlechtert?Es gibt durchaus einen gewissen Spielraum bei der materiellen Bestimmung der Schwelle. Mitunter ist der Gürtel tatsächlich enger zu schnallen.Die materielle Ebene wird aber überlagert von der immateriellen Ebene. Die entscheidende Frage lautet hier: Zählt man noch als volles Mitglied der Gesellschaft, wenn man keinen schwarzen Anzug für eine Beerdigung hat? Oder sich als Schülerin keine Markenjeans leisten kann?Was ist mit der Arbeitslosigkeit?Das Hauptproblem mit der Arbeitslosigkeit ist der soziale Ausschluss der Arbeitslosen in einer Gesellschaft wie der unsrigen, die Anerkennung oder soziale Zugehörigkeit über Arbeit vermittelt. Wenn Millionen von Menschen gar nicht die Chance haben zu arbeiten, ist dies ein moralischer Skandal. Damit befinden wir uns im roten Bereich.Wo ist der Millionär, der keine sozialen Kontakte hat? Roter Bereich? Grün?Gerechtigkeit verlangt nur, dass wir allen den Zugang zu einer bestimmten Schwelle des guten Lebens eröffnen. Der Millionär könnte sich ja bemühen, ein netter Mensch zu sein, und so Freunde oder einen Liebespartner finden. Solange er die Möglichkeit dazu hat, gibt es kein Gerechtigkeitsproblem. Also grün.Gehen wir noch ein paar Beispiele unter dem Aspekt der Gleichheit durch: Behandlung von Männern und Frauen am Arbeitsplatz.Wenn Frauen für die gleiche Arbeit immer noch schlechter bezahlt werden als Männer, haben wir es mit der Verletzung eines bestimmten Gerechtigkeitsstandards zu tun,nämlich dass Menschen nach Leistung zu bezahlen sind, nicht nach Geschlecht. Geschlecht, Hautfarbe und derartige Kriterien sollten für die Entlohnung irrelevant sein. Sie sehen, ich muss hier gar nicht über Gleichheit reden, weil es nicht darum geht,dass die Leistung der einen an der Leistung des anderen gemessen wird. Ein anderer Punkt kommt hinzu: Angesichts der Geschichte der Frauendiskriminierung ist auch heute noch mit ungleicher Entlohnung das Signal verbunden, dass Frauen Menschen zweiter Klasse sind. Dies wiederum hat mit der Menschenwürde zu tun, mit dem Recht der Frau auf volle gesellschaftliche Zugehörigkeit und nicht mit Gleichheit.Sind Frauenquoten dann sinnvoll?Wie brauchbar Quoten sind, ist eher eine soziopolitische Frage denn eine philosophische. Die Philosophin fragt: Gehört es zur Menschenwürde, nicht diskriminiert zu werden, und warum? Welche anderen Gerechtigkeitsstandards werden durch Diskriminierung verletzt? Sitzt eine Diskriminierung in einer Gesellschaft so tief, dass man für ihre Bekämpfung zu radikalen Maßnahmen greifen muss, dann können, für eine gewisse Zeit, Quoten gerechtfertigt sein. Aber kein Non-Egalitarist hat ein ungebrochenes Verhältnis zu Quoten. Denn es ist gerecht, dass sich Leistung auszahlt, nicht etwas anderes. Mit Quoten verunreinigen wir den Gerechtigkeitsstandard, der sagt: Es geht nur nach Leistung.Weiter: Managergehälter im Vergleich zum Durchschnittsangestelltenlohn.Neben den Kriterien des menschenwürdigen Lebens gibt es noch ein komplexes Netz von Verteilungskriterien,etwa das Leistungskriterium oder das Kriterium der Kompensation für besonders unangenehme Arbeit. Man muss sich fragen: Ist die Leistung eines Managers so viel größer? Muss er für seinen besonderen Stress Kompensation bekommen? Diese Fragen gehören in die Wirtschaftsethik. Was soll der Markt,was kann er? Wie bringt man Moral und Markt zusammen? Vor naiver Moralisierung und allzu einfachen Antworten muss man sich hier hüten.Zum Dritten: Muss das Arbeitslosengeld im Westen und Osten gleich hoch sein?Man kann das wollen, weil man gegen Diskriminierung ist und findet, dass ein signifikanter Unterschied im Arbeitslosengeld einen Status zweiter Klasse für die Menschen im Osten markiert. Auf der anderen Seite steht die größere Kaufkraft eines Euro im Osten. Man muss also beide Seiten prüfen und abwägen. Konkrete Beispiele werfen uns in eine komplexe Argumentationslandschaft. Sobald man diese Komplexität berücksichtigt, verlieren einfache Lösungen nach dem Motto "Gleichheit" ihre Schlagkraft.Werden sich Egalitaristen und Non-Egalitaristen auf einen Umgang mit dem Begriff "Gleichheit" einigen?Es wird vielleicht noch zehn oder zwanzig Jahre dauern, aber dann wird es argumentativ durchdekliniert sein: dass es der Gerechtigkeit im Kern um Menschenwürde und Verteilungsgerechtigkeit geht. Und dass Gleichheit damit nichts zu tun hatAngelika Krebs, 45, ist Professorin für Philosophie an der Universität Basel. Zuletzt erschien von ihr Arbeit und Liebe. Die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit. diff --git a/fluter/waehlen-schon-mit-16-pro-und-contra-im-video.txt b/fluter/waehlen-schon-mit-16-pro-und-contra-im-video.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/waermepumpen-installateur.txt b/fluter/waermepumpen-installateur.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d8bc4d20f444856f3d72beb9374e7a0e0550864c --- /dev/null +++ b/fluter/waermepumpen-installateur.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Ich muss mich mit so einigen Heizsystemen auskennen, weil sie im Laufe der Jahrevielfältiger und komplexer geworden sind. Mit der Wasser-Wasser-Wärmepumpe, der Sole-Wasser-Wärmepumpe, mit Kollektoren für Erdwärme und so weiter. Und natürlich mit der Luft-Wasser-Wärmepumpe. Die ist der Standard und funktioniert wie ein umgekehrter Kühlschrank: Irgendwo außerhalb des Hauses steht ein Kasten mit einem Ventilator darin. Der saugt Luft an, und deren Wärme wird über mehrere Ecken auf das Wasser in den Heizkörpern und Leitungen im Haus übertragen. +Mein Opa hat die Firma vor knapp fünfzig Jahren gegründet. Vor über dreißig Jahren hat sie mein Vater übernommen. Ich bin vor elf Jahren nach meiner Ausbildung dazugekommen. Heute leite ich den Bereich Heizung. Meine erste Baustelle ist deshalb jeden Tag um 7 Uhr mein E-Mail-Postfach. Fragen beantworten, Angebote schreiben, der Kollegin für Instagram und Facebook ein paar Infos geben. Erst danach schaue ich mir die Lage auf den Baustellen an und unterstütze die Kollegen hier und da. +Manche Kunden haben ihre erste Wärmepumpe noch von meinem Opa bekommen und von mir nun die zweite. Dann muss eine Viertelstunde Zeit fürs Ratschen sein, bevor um 16 Uhr alle zurück in die Firma kommen und ein Feierabendbier trinken – gerne auch mal alkoholfrei. Denn ich muss noch mal an den Schreibtisch oder mich mit möglichen Kunden treffen, die erst abends Zeit haben. +Alle zwei Monate veranstalte ich in unserer Firma einen Infoabend. Ich beantworte Fragen und versuche, Mythen rund um Wärmepumpen zu entkräften. Etwa die, dass Wärmepumpen nur mit einer Fußbodenheizung funktionieren und der Umbau 100.000 Euro oder mehr kostet. Oft ist es nicht mal die Hälfte davon. Aber die Leute sind verunsichert, ob oder wie sie ihre Heizung umbauen lassen sollen. Aus der Presse und von Politikern hören sie widersprüchliche Aussagen. Um Klarheit zu schaffen, teile ich seriöse Forschungsergebnisse, etwa die der Fraunhofer-Institute. Das kommt gut an, beim letzten Mal waren fünfzehn Leute da. +In der Heizungsbranche gehen gerade viele Boomer in Rente, es fehlen einige Zehntausend neue Leute. Die Ausbildung zum "Anlagenmechaniker/-in für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik" dauert dreieinhalb Jahre. Früher waren das zwei getrennte Ausbildungen, gleichzeitig ist die Technik heute viel komplexer. Rund die Hälfte der Azubis bricht ab oder fällt in der Abschlussprüfung durch. Ich habe mit meinen Lehrlingen Glück gehabt. Bisher ist nur einer gegangen, direkt zwei Wochen nach dem Start der Ausbildung. Er wollte lieber Postbote werden. +Bei uns in Bayern verdienen die Azubis 850 bis 1.100 Euro brutto im Monat. Nach der Ausbildung fängt man bei 18 Euro pro Stunde an, später sind es zwischen 20 und 25 Euro plus Weihnachtsgeld und Prämien. Davon kann man gut leben, denke ich, auch bei einer Viertagewoche, wie es manche Kollegen machen. +Unser ältester Installateur ist 35, die jüngste 16. Sie ist Azubi im ersten Lehrjahr. Zwei sind im zweiten Lehrjahr, und noch mal zwei haben heute ihre praktische Gesellenprüfung. Sie müssen an einer Installationswand Rohre verlegen. Später gehe ich noch vorbei, um sie mental zu unterstützen. Bei den Aufgaben darf ich ihnen natürlich nicht helfen. Sie sind aber technisch fit und haben Lust auf Neues. Das macht für mich einen guten Azubi aus. +Ich erlebe viel Anerkennung für meine Arbeit. Früher dafür, dass ich mich überhaupt an Wärmepumpen rangetraut habe. Heute dafür, dass Wärmepumpen so dringend für den Klimaschutz gebraucht werden. Fast ein Fünftel aller Emissionen in Deutschland entstehen laut dem Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft durch das Heizen. Die Kollegen und ich sind ein kleiner Teil der Lösung. Wenn mich meine zwei kleinen Söhne in fünfzehn Jahren fragen "Papa, was hast du gegen den Klimawandel getan?", habe ich eine Antwort. + diff --git a/fluter/waffen-die-geschichte-schrieben.txt b/fluter/waffen-die-geschichte-schrieben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5518eeae5cc6be0052149eef706acb65392efc70 --- /dev/null +++ b/fluter/waffen-die-geschichte-schrieben.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Es waren nicht immer Gewehre und Pistolen, die die Welt veränderten. Cäsar starb durch Dolche, Päpste oft durch Gift. Doch ganz gleich, mit welcher Waffe bei Attentaten gemordet wurde: Immer erzählt die Tatwaffe auch etwas über die Zeit, das Opfer, den Täter. +So wie an jenem Abend im Oktober 1960 in Japan. Inejiro Asanuma, Chef der japanischen Sozialisten, hielt gerade eine Wahlkampfrede. Plötzlich sprang ein rechtsextremer Jugendlicher auf die Bühne und stach mit einem Samuraischwert namens Wakizashi auf ihn ein, einer rituellen Waffe. Ein junger Fotograf stand vor der Bühne, sah, wie der Täter zustach, und drückte auf den Auslöser. Es wurde das Foto seines Lebens. Der Mord an Asanuma schockierte das Land. +In einem anderen, aktuellen Fall war die Schusswaffe zwar gewöhnlich – die Umstände aber nicht. Mit einem G3 von Heckler & Koch, das auch die Bundeswehr jahrzehntelang als Standardgewehr nutzte, tötete ein Mitglied einer paramilitärischen Spezialeinheit 2003 den serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic. Der Schütze legte aus einer Distanz von nahezu 200 Metern auf sein Opfer an, was etwa der Länge von zwei Fußballfeldern entspricht. Aus so großer Entfernung hat es noch nicht oft einen Prominenten getroffen. +Bei Geheimdiensten gelten meist andere Regeln. Kein Knall, kein Schrei und – wenn möglich – auch kein Blut: Nicht öffentlichkeitswirksam, sondern möglichst diskret will man sich der Gegner entledigen. Vor allem im Kalten Krieg bekamen die Ingenieure von KGB, CIA und Co. viel Freiraum für Kreativität. Für Georgi Markow, einen bulgarischen Schriftsteller und Dissidenten, erwies sich ihre Erfindungsgabe als tödlich. Am 7. September 1978 wartete Markow an einer Bushaltestelle in London, als er plötzlich einen Schmerz im Oberschenkel verspürte. Markow drehte sich um und sah, wie ein Mann einen Regenschirm aufhob und in ein Taxi stieg. Aus der Spitze des Regenschirms hatte der Attentäter eine millimetergroße Kapsel mit hochgiftigem Rizin in Markows Bein geschossen. Markow starb wenige Tage später. +Ähnlich lautlos verfuhr das Kommando, das Mahmud al-Mabhuh tötete. Al-Mabhuh galt als einer der wichtigsten Männer der Hamas. 1992 hatte er ihren bewaffneten Arm mitbegründet, die Kassam-Brigaden. In seinem Hotelzimmer in Dubai lauerten ihm im Jahr 2010 Agenten des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad auf, unter anderem als Tennisspieler verkleidet. Erst lähmten sie al-Mabhuh mit der Substanz Succinylcholin, dann erstickten sie ihn mit einem Kissen. +Mit eher explosiven Methoden versuchte einst das Apartheidsregime in Südafrika, einen Whistleblower zu töten. In einem Interview hatte sich Dirk Coetzee, ein ehemaliges Mitglied eines geheimen Killerkommandos namens C1, zu erkennen gegeben. Nun schickten ihm seine Exkollegen – mit falschem Absender – einen Walkman. Die Kopfhörer hatten sie mit Sprengstoff präpariert. Doch Coetzee holte das Paket nie bei der Post ab. Es ging zurück an den falschen Absender, der wunderte sich, öffnete das Paket, testete den Walkman – und starb. +Wie die Tatwaffe selbst Teil einer Verschwörungstheorie werden kann, zeigt der Mord an John F. Kennedy im Jahr 1963. Lee Harvey Oswald, der mutmaßliche Alleintäter, nutzte ein veraltetes italienisches Gewehr. Das "Carcano" war 1891 entwickelt und 1938 modifiziert worden. Oswald hatte es sich für 19,95 Dollar per Post schicken lassen. Wie aber sollte ein Schütze mit einem solchen Uraltmodell drei Schüsse in etwa acht Sekunden abfeuern? Und dazu noch ein fahrendes Ziel treffen? Dutzendfach kopierten amerikanische Hobby- und Berufsschützen das Szenario auf dem Schießstand. Das Ergebnis: Es geht – wenn das Gewehr keine Ladehemmung hat. +Fast 100 Jahre zuvor war erstmals ein amerikanischer Präsident erschossen worden. Die Nordstaaten der USA mit Abraham Lincoln als Oberbefehlshaber hatten die Südstaaten 1865 nahezu besiegt. John Wilkes Booth war ein fanatischer Anhänger der Südstaaten – und einer der bekanntesten Theaterschauspieler der USA. Lincoln hatte mehrfach versucht, ihn ins Weiße Haus einzuladen, aber stets vergeblich. Stattdessen kam Booth nun zu ihm. +Mit einem Derringer, einem heute uralt aussehenden Vorderlader, schlich Booth sich im April 1865 in das Theater, in dem er selbst oft spielte. In der Loge saß Abraham Lincoln und schaute sich "Our American Cousin" an, ein Stück, das Booth auswendig konnte. Er wartete auf die Stelle, an der das Publikum laut lachen würde, und drückte ab. Die Waffe hatte nur einen Schuss. Aber der war tödlich. Booth erschoss einen seiner größten Fans. +Jan Ludwig ist freier Journalist. Wenn er nicht gerade über den Nahen Osten, Geschichte oder unnützes Wissen schreibt, verfasst er Texte über nutzlose historische Anekdoten in Israel. diff --git a/fluter/waffen-gesetze-usa.txt b/fluter/waffen-gesetze-usa.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2c6f68a9a482a16277ad1f3ee447a6433b38a8ad --- /dev/null +++ b/fluter/waffen-gesetze-usa.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Was unterscheidet einen Anschlag von einem Amoklauf? +Diese Meldungen stammen aus dem US-Bundesstaat Texas und alle aus dem Herbst des Jahres 2021. Laut einer gerade veröffentlichten Statistik des FBI gab es 2020 mehr als 21.000 Tötungsdelikte in den USA, wobei drei Viertel der Opfer durch Schüsse ums Leben kamen. Es ist ein Anstieg um knapp 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr – der stärkste je gemessene jährliche Anstieg . Ausgerechnet jetzt erlaubt Texas das Tragen von Waffen ohne Genehmigung. Bisher waren ein Schießtraining, eine Prüfung sowie die Abgabe von Fingerabdrücken verpflichtend. Seit dem 1. September aber darf jede Texanerin und jeder Texaner über 21 eine Waffe führen. +Es gab in den vergangenen Jahrzehnten Momente, in denen strengere Waffengesetze in der Diskussion waren. Nach demMassaker von Parkland im Jahr 2018, als ein ehemaliger Schüler der dortigen High School 17 Menschen tötete, gingen Menschen im ganzen Land für eine kontrolliertere Abgabe von Waffen auf die Straße. Hunderttausende kamen alleine in der Hauptstadt Washington D.C. zusammen. Einzelne Aktivistinnen dieses March for Our Lives, wie Emma González, erlangten landesweite Bekanntheit.Das Rückgrat dieser Graswurzelbewegung sind Menschen, die in landesweiten Ortsgruppen für mehr Waffenkontrolle kämpfen. Menschen wie der 17-jährige George Tataris aus Houston. + + +An einem sonnigen Herbsttag trägt George ein blaues March-for-Our-Lives-Shirt. Er geht selbst noch in die High School, später will er Medizin studieren. In einem Café westlich der Metropole Houston erklärt er: "Es ist zwar noch zu früh zu sagen, wie genau sich das neue Gesetz in Texas auswirken wird. Aber es sendet schon jetzt ein fatales Signal an das ganze Land." Fatal wirke das Gesetz dabei nicht nur auf Waffenliebhaber, die sich ermuntert fühlen würden, sondern auch auf Aktivistinnen und Aktivisten, die entmutigt werden. "Es gab nach Parkland einen echten Motivationsschub. Wir waren mal sechs Aktive in meiner Klasse, irgendwann blieb nur noch ich." +Bei den großen Einzelhändlern wie Walmart liegen ein paar Gänge von Chips und Sandwiches entfernt Gewehre und Munition in den Regalen. Und auch in spezialisierten Geschäften und bei den unzähligen Waffenshows im ganzen Land werden Waffen niederschwellig feilgeboten. Die Waffenlobby in den USA ist mächtig, und ein Teil der Bevölkerung versteht es als ihr Recht auf Selbstverteidigung, Zugang zu Schusswaffen zu haben. Aktuell kursieren Schätzungen zufolge bereits etwa 400 Millionen Schusswaffen – bei etwa 330 Millionen Einwohnern. Nach Recherchen des Gun Violence Archive starben bis Mitte Oktober 2021 etwa 35.000 Menschen in den USA durch Schusswaffengewalt, Selbstmorde mit eingerechnet. +Warum ist die Anzahl der Tötungsdelikte so stark gestiegen? Georg vermutet die gleichen Ursachen wie Experten. Der Kriminologe Richard Rosenfeld von der University of Missouri–St. Louis nannte CNN zwei Gründe: zum einen die Corona-Pandemie, die ganze Bevölkerungsschichten verarmen ließ, zum anderen die vielen sozialen Brandherde nach dem Mord an George Floyd im Mai 2020. Seinen Aktivismus für mehr Waffenkontrolle begreift George deshalb vor allem auch als Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit. So würden er und seine Mitstreiter und Mitstreiterinnen in sozialen Brennpunkten über Jobangebote informieren. Außerdem haben sie ein Infoheft herausgegeben: Es zeigt in bunter, leicht zugänglicher Optik die tödlichen Effekte laxer Waffengesetze. Der Titel: "Das ABC der Prävention gegen Waffengewalt." +Wenn selbst Schulmassaker und Hunderttausende auf den Straßen der Hauptstadt nichts bewirken, ist dann nicht alles vergeblich? George zögert kurz, bevor er antwortet. Dann sagt er: "Irgendwo müssen wir ja anfangen." Und es gäbe durchaus Erfolge von March-for-Our-Lives: Der Kampf für einen restriktiveren Zugang zu einzelnen Komponenten, die online gekauft werden undaus denen Waffenliebhaberdann zu Hause ganze Pistolen und Gewehre bauen, sei erfolgreich gewesen. Viel mehr hätte US-Präsident Joe Biden trotz großer Versprechen bisher leider nicht umgesetzt – noch nicht. diff --git a/fluter/waffengewalt-die-vom-volke-ausgeht.txt b/fluter/waffengewalt-die-vom-volke-ausgeht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..02ca23248891ac3100ac5216f147d02b2aa45d0f --- /dev/null +++ b/fluter/waffengewalt-die-vom-volke-ausgeht.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +"Spinnst du total? Geh wieder rein!" +"Ja, ich puste dir ein Loch in die Fresse! Und dann geh ich wieder rein und schlafe wie ein Baby!" +Filmszenen wie diese aus"Gran Torino"sind in vielen Hollywood-Produktionen zu sehen. Aus der Luft gegriffen sind sie nicht. Der Small Arms Survey schätzt, dass 270 Millionen Schusswaffen in den USA in zivilen Händen sind, so viele wie in keinem anderen der 40 untersuchten Länder. +Schon der zweite Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten aus dem Jahr 1791 garantiert den Besitz und das Tragen von Schusswaffen. Ob jeder Bürger dieses Recht hat oder nur Militärangehörige und welche Waffen es betrifft, wird immer wieder heiß diskutiert. 2008 und 2010 hat der Supreme Court geurteilt: Ja, legale Schusswaffen dürfen zur Selbstverteidigung bereitgehalten werden. +Ansonsten ist das US-amerikanische Waffenrecht von den vielen Zusatzbestimmungen der Bundesstaaten, Bezirke und Gemeinden geprägt. Es gibt zum Beispiel sogenannte "Stand Your Ground Laws" ("nicht von der Stelle weichen"), die von Lobbyisten der National Rifle Association (NRA) mit angeschoben wurden. Demnach gilt mit Abstufungen: Wer von jemandem angegriffen wird oder sich bedroht fühlt, darf ihn direkt erschießen. Zuerst hat Florida vor rund neun Jahren ein solches Gesetz in den Katalog aufgenommen, heute findet man sie in fast der Hälfte der US-Bundesstaaten. Noch vor ein paar Monaten erschoss ein Mann in Montana einen 17-jährigen Austauschschüler aus Hamburg, der angeblich in seiner Garage etwas gesucht hatte. +Die Waffengesetze in den USA basieren auf dem historisch gewachsenen Verständnis, dass die Bürgerinnen und Bürger sich und ihren Besitz selbst verteidigen dürfen. Und zwar möglichst effektiv – also mit Waffen. Nicht der staatlichen Elite allein soll diese Macht zuteilwerden. Diese könnte sich ja auch mal gegen die Bürger richten. +Um das zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Gründungsphase der Staaten: Die Urgesetzgebung ist englisch beeinflusst. Die legendäre englische "Bill of Rights" aus dem Jahr 1689 gilt als Meilenstein zu einem parlamentarisierten Staat. Sie steckt nicht nur die Rechte des britischen Parlaments gegenüber dem Königtum ab, sondern macht auch den Waffenbesitz zum Bürgerrecht. Volksbewaffnung ist also auf der einen Seite als Abwehrrecht gegen herrschaftliche Willkür und Tyrannei zu verstehen. Auf der anderen Seite kann eine bewaffnete Bevölkerung auch dort für Sicherheit sorgen, wo Berufssoldaten und Polizei nicht ausreichen – zum Beispiel in dünn besiedelten Staaten wie damals in den USA. + +Wenn man sich Länder ansieht, in denen viele Menschen Gewehre und Pistolen zu Hause haben, muss man unterscheiden zwischen der privatrechtlichen Dimension und der sicherheitspolitischen. Einige Staaten rekrutieren bei Bedarf Teile der Bevölkerung für das Militär, zum Beispiel für Milizeinheiten. Privat geht es jedoch darum, wer aus der normalen Bevölkerung "nur für sich" Waffen besitzen darf und warum. In vielen Ländern steht, wie in den USA, der Selbstverteidigungsgedanke im Vordergrund, in anderen – wie zum Beispiel Finnland – geht es mehr um Traditionen wie Jagd und Sport. +Auch die Schweiz steht laut dem Small Arms Survey weit oben auf der Liste der Pro-Kopf-Waffen: Auf die gut acht Millionen Einwohner kommen hier etwa 3,4 Millionen Gewehre und Pistolen – so genau weiß man es nicht. Rein statistisch hat damit jeder Haushalt mindestens eine Waffe. +Einer der vielen Waffenbesitzer ist Benjamin Baumgartner, Sportschütze und Sammler. In seinem Waffenschrank im Keller verwahrt der 31-Jährige rund 20 Gewehre, Pistolen und Revolver. Manche sind so alt und wertvoll, dass man mit ihnen am besten keinen Schuss mehr abgibt. Es ist nicht schwer, in der Schweiz an Waffen zu kommen, auch wenn das Waffengesetz 2008 verschärft wurde. Volljährigen Schweizern, die nichts verbrochen haben, stellt der zuständige Kanton in der Regel einen Waffenerwerbsschein aus. Um Jagdwaffen oder einschüssige Gewehre zu kaufen, ist noch nicht einmal dieser Erwerbsschein notwendig. In der Schweiz gibt es rund 200.000 Sportschützen wie Baumgartner. +Aber nicht alle Schweizer Waffenbesitzer sind auch ausgemachte Waffenfans. Die Schweizer Armee beruht, wie auch das Parlament, auf dem Milizsystem: Sie besteht größtenteils aus Wehrdienstpflichtigen, die einen zivilen Job haben und nebenberuflich Soldaten sind, die über mehrere Wochen zumindest eine Grundausbildung, die Rekrutenschule, absolviert haben. Es handelt sich nicht um ein stehendes Heer. Wer hier Dienst leistet, muss seine persönliche Waffe zu Hause aufbewahren und kann sie am Ende der Wehrpflicht unter bestimmten Voraussetzungen behalten. +"Auch ich habe hier, wo ich jetzt sitze, in Griffnähe meine alte Pistole"‚ sagt Rudolf Jaun, Titularprofessor für Geschichte der Neuzeit und Militärgeschichte an der Uni Zürich. Funktional ließe sich nach seiner Einschätzung die sogenannte "Heimaufbewahrung" nicht mehr begründen. "Man hat lange gesagt: Solange es den Warschauer Pakt gibt, müssen wir schnell mobilisieren können. Jeder Wehrmann hatte 20 Schuss Taschenmunition zu Hause, mit der Idee, dass er vielleicht schon in einen Kampf verwickelt wird, bis er den Mobilmachungsplatz erreicht." Doch der Warschauer Pakt ist – wie die Sowjetunion – Geschichte. Und Munition wird seit ein paar Jahren auch nicht mehr mit der Dienstwaffe ausgegeben – wenngleich diese laut Jaun "einfach zu beschaffen" ist. +Also wozu das Ganze? Auch Waffensammler Baumgartner bezweifelt, dass es heute noch sinnvoll ist, Armeewaffen zu Hause aufzubewahren, aber für ihn gehören die Waffen "aus Tradition zur Schweiz". So wie er denken womöglich viele. Die Volksinitiative "Für den Schutz vor Waffengewalt" wollte die Heimaufbewahrung verbieten und das Waffenrecht verschärfen. Zu viele Suizide und Familienunglücke würden mit Waffen begangen, die eigentlich gar nicht im Haus sein müssten. Die Gegner der Initiative sagten: Wer Böses plant, wird das so oder so umsetzen. Im Februar 2011 lehnte das Volk – der Empfehlung von Bundesrat und Parlament folgend – das Vorhaben mit insgesamt 56 Prozent der Stimmen ab. "Die Milizarmee, die Heimaufbewahrung der persönlichen Waffe, das ganze Schützenwesen ist heute ein Bestandteil der Swissness. Das zeichnet die Schweizer aus, gerade in Zeiten der Globalisierung", sagt Geschichtsprofessor Jaun. +Schon vor rund 300 Jahren hatten einige eidgenössische Orte wie Bern und Schaffhausen die Regelung eingeführt, dass Männer, die heiraten wollten, erst nachweisen mussten, dass sie militärisch ausgerüstet waren. Dazu gehörte auch ein Gewehr. So richtig ideologisch und militärisch wurde es dann im 19. Jahrhundert, als sich die Schweiz als frischgebackene Nation gegen Großmächte behaupten wollte und eine Milizarmee aufbaute. Die Waffen bekamen die Wehrpflichtigen gratis. "Dieser Gedanke, dieser Mythos, dass die Gewalt im staatsrechtlichen Sinn dann beim Volk liegt, hat da stark reingespielt, neben dem Anspruch, in einem durch das Volk getragenen Verteidigungskriege zu bestehen", sagt Jaun. +Und dann gibt es noch Wilhelm Tell: "Der ist doch das Ursymbol des guten Schützen, der sich gegen den österreichisch-habsburgischen Tyrannen durchsetzt – indem er ihn erschießt." Baumgartner bestätigt das: "Irgendwo ist die Waffe für uns immer ein Symbol der Freiheit gewesen und hat unsere Geschichte geprägt", meint er. "Wenn nur eine Handvoll Leute Waffen besitzt, weiß man, die könnten einem immer etwas antun und dann kann man sich nicht wehren; bei uns muss man aber damit rechnen, dass einer zurückschießt." +In Deutschland hätte es übrigens ähnlich laufen können. Auch hier war der Waffenbesitz, besonders zur Jagd, lange Zeit sehr liberal geregelt. Während der Märzrevolution 1848 wurden dann auch Forderungen nach einer Volksbewaffnung laut. Besonders der Offizier Wilhelm Rüstow trat für die Volkswehr ein. Hier haben die Mächtigen die Waffengewalt jedoch nicht mit der breiten Bevölkerung teilen wollen. Rüstow wurde zu einer langen Festungshaft verurteilt – und setzte seine Ideen dann im Schweizer Exil um. + +Fotos: Mark Peterson/Redux/laif diff --git a/fluter/wahl-o-mat-entwicklerin.txt b/fluter/wahl-o-mat-entwicklerin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c58ae91cedb6f7434f7a053f8431abeea8042c07 --- /dev/null +++ b/fluter/wahl-o-mat-entwicklerin.txt @@ -0,0 +1,31 @@ +Wie stellt ihr sicher, dass es durch die starke Beteiligung dieser Altersgruppe keinen inhaltlichen Bias gibt? +Zu der Wahl-O-Mat-Redaktion gehören jedes Mal auch Expert/-innen aus Wissenschaft und Journalismus sowie mehrere Mitarbeitende der bpb und im Fall von Landtagswahlen der entsprechenden Landeszentralen. Damit sind auch viele andere Altersgruppen vertreten. Außerdem wird bei der Auswahl der jungen Teilnehmenden darauf geachtet, dass es eine möglichst diverse Gruppe ist – dass Schüler/-Innen ebenso dabei sind wie Studierende, Auszubildende und Berufstätige. Und dass die Leute aus verschiedenen Regionen Deutschlands kommen. +Wie kann man sich dafür bewerben? +Die bpb ruft dazu vor jeder Wahl über ihre Social-Media-Kanäle, Website und Newsletter auf. Mitwirken können grundsätzlich alle in Deutschland Wahlberechtigten zwischen 18 und 26 Jahren. +Wird im Bewerbungsverfahren auch die parteipolitische Präferenz der Bewerber/-innen abgefragt? +Es wird abgefragt, ob sie parteipolitisch organisiert sind. Sie dürfen Mitglied in einer Partei sein, sollten dort aber keine herausgehobene Position bekleiden. Es soll kein Gremium aus führenden ParteipolitikerInnen sein, das den Wahl-O-Mat inhaltlich entwickelt, sondern eine Gruppe von politisch interessierten jungen Menschen. +Bevor wir auf die Arbeit der Redaktion zu sprechen kommen: Was genau ist der Wahl-O-Mat eigentlich – ein Tool für Wahlempfehlungen? +Nein, eine Wahlempfehlung soll damit ausdrücklich nicht gegeben werden. Der Wahl-O-Mat soll dazu anregen, sich mit den antretenden Parteien und den im Wahlkampf diskutierten Themen zu beschäftigen. Man kann seine eigenen politischen Positionen abgleichen mit denen der Parteien und erkennt, wo es die meisten Übereinstimmungen gibt. +Wie funktioniert dieser Abgleich? +Ich klicke mich durch 38 politische Thesen und positioniere mich pro Forderung mit "Stimme zu", "Stimme nicht zu" oder "Neutral". Danach kann ich gewichten, welche Themen mir besonders am Herzen liegen. Am Ende bekomme ich für alle Parteien oder für eine bestimmte Auswahl, die ich zuvor selbst festgelegt habe, eine Rangfolge angezeigt: Welche Partei stimmt wie stark mit meinen Positionen überein? Grundsätzlich kann ich dabei alle Parteien einbeziehen, die zu der Wahl antreten. Anschließend kann ich mir auch ansehen, wie sich die Parteien zu den einzelnen Thesen positioniert haben und wie sie ihr Votum begründen. +Wieso ist das keine Wahlempfehlung? +Die Redaktion des Wahl-O-Mat setzt alles daran, die richtige Auswahl von Themen zu treffen – Themen, die von bundesweiter Relevanz sind, möglichst viele Bürger/-innen betreffen und die wichtigen Debatten des Wahlkampfs abbilden. Trotzdem sind die 38 Thesen nur ein begrenzter Ausschnitt aus einem großen Spektrum politischer Fragen. Zudem kann es noch andere Beweggründe für eine Wahlentscheidung geben – etwa wenn man bestimmte Kandidierende besonders gut findet oder einem ein bestimmtes Thema besonders am Herzen liegt. Deshalb: Das Tool gibt keine Wahlempfehlung, aber es bietet einen sehr guten Startpunkt für eine tiefergehende Beschäftigung mit der eigenen Wahlentscheidung. +Erlebt man dabei auch Überraschungen? +Ja, manche stellen fest, dass sie eine bestimmte Vorstellung von einer Partei hatten, die sich nicht deckt mit dem, was diese Partei aktuell fordert. Aber der Großteil der Nutzerinnen und Nutzer findet sich genau oder ungefähr bei den Parteien wieder, die sie schon davor im Kopf hatten. + + +Im Wahlkampf geht es um eine Vielzahl verschiedener Themen, und es treten diesmal 47 Parteien an. Wie läuft die redaktionelle Arbeit ab, sodass ihr dieser Fülle an Inhalten und Positionen am Ende mit 38 Thesen gerecht werdet? +Das geschieht im Wesentlichen bei zwei Workshops, zu denen die Redaktion zusammenkommt und die in diesem Jahrcoronabedingt onlinestattfinden. Der erste findet etwa drei Monate vor der Wahl statt und dauert drei Tage. Da sichten wir die Parteiprogramme und sprechen über aktuelle politische Debatten. Auch über Social Media fragen wir nach Hinweisen zu wichtigen Themen. Wir teilen uns in thematische Untergruppen wie "Bildung, Familie, Kultur und Religion" oder "Umwelt, Energie und Verkehr" auf und erarbeiten insgesamt 80 Thesen. Die werden anschließend den Parteien zugeschickt, und die Parteiführungen haben mehrere Wochen Zeit, sich dazu zu positionieren – ebenfalls mit den Antwortmöglichkeiten "Stimme zu", "Stimme nicht zu", "Neutral". Thesen überspringen können die Parteien allerdings nicht. Außerdem werden die Parteien aufgefordert, ihre Entscheidung zu begründen. Wenn alle ihre Positionierungen abgegeben haben, wird das von einem wissenschaftlichen Team statistisch ausgewertet: Welche Thesen sind kontrovers und unterscheiden die Parteien gut voneinander? Außerdem wird geschaut, ob alle Antworten und Inhalte stimmig sind. +Heißt das auch, dass die Texte inhaltlich noch bearbeitet werden? +Nein, es wird kein sprachlich-redaktioneller Einfluss genommen, die Hoheit über die Antworten liegt komplett bei den Parteien. Es werden nur Rechtschreibfehler korrigiert und geschaut, ob alles inhaltlich konsistent ist. Auch da können sich Flüchtigkeitsfehler einschleichen, etwa dass eine Partei zurForderung der Cannabis-Legalisierungversehentlich "Stimme zu" geklickt hat, aber in ihrer Begründung Argumente dagegen liefert. In diesem Fall weisen wir die Partei auf die Unstimmigkeit hin, aber sie trifft die Entscheidung über ihre Positionierung. +Noch sind es 80 Thesen. Wann und wie wird die endgültige Auswahl getroffen? +Das geschieht bei dem zweiten Workshop, zu dem wir Ende August zusammenkommen. Da diskutieren wir einen Tag lang noch mal alle Thesen und das Antwortverhalten der Parteien und treffen unsere Auswahl: die 38 Thesen, die am besten die wichtigen und vielfältigen Wahlkampfthemen abbilden und die Unterschiede zwischen den Parteien besonders deutlich machen. +Und wenn ein Thema besonders relevant ist, sich aber viele Parteien sehr ähnlich dazu positionieren? Zum Beispiel befürworten die meisten die Digitalisierung und den Breitbandausbau. +Es gehört zu den redaktionellen Herausforderungen, aufzuzeigen, dass hinter ähnlichen Forderungen nicht immer die gleichen politischen Argumente, Beweggründe und gesellschaftspolitischen Ziele stehen. Die allermeisten Parteien wollen das Klima schützen – in irgendeiner Art und Weise. Was aber heißt das konkret, wo liegen die Unterschiede? Eine gute These macht sie sichtbar. Sie spitzt weiter zu und destilliert so die dahinterliegenden Kontroversen heraus, die charakteristisch für die Parteilager sind. +Von Albert Einstein stammt das Zitat "Alles sollte so einfach wie möglich gemacht werden, aber nicht einfacher". Wie verhindert ihr, dass ihr komplexe politische Themen auf zu einfache Thesen herunterbrecht? +Unser Ziel sind natürlich immer knappe, griffige Thesen, die ohne Fachwissen verständlich sind. Bei manchen Themen ist das eine Herausforderung. Um die Komplexität angemessen zu reduzieren, aber Themen nicht unterkomplex und zu vereinfacht darzustellen, muss man sich dann erst mal eingehender mit diesen Themen beschäftigen. Darum drehen sich hier sehr viele Diskussionen. +Nichts verpassen:Hier gibt's unseren Newsletter +Der Wahl-O-Mat ist inzwischen fast 20 Jahre alt. Wird er seither immer nur neu befüllt? +Nein, das Tool wurde seit seinem Start fortwährend evaluiert und weiterentwickelt. Seit 2011 gibt es den Wahl-O-Mat beispielsweise nicht mehr nur im Browser, sondern auch als Smartphone-App, und auch dieses Jahr gibt es neue Features (siehe Kasten). Unter anderem kann man die eigenen politischen Positionen und Gewichtungen mit einem Klick verändern und direkt beobachten, wie sich das auf das eigene Ergebnis auswirkt. +Klingt fast ein bisschen spielerisch. +So ist es gedacht. Der Wahl-O-Mat soll ja Freude am demokratischen Prozess vermitteln und für Gesprächsstoff im Freundeskreis sorgen. diff --git a/fluter/wahlabend-phrasen.txt b/fluter/wahlabend-phrasen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e5c308d3fc461c9ae8d3a0b4949cf5b986f30fe2 --- /dev/null +++ b/fluter/wahlabend-phrasen.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Man könnte aber doch meinen, es wäre möglich, sich auf alle möglichen Szenarien inhaltlich gut vorzubereiten. +Das machen die Politikerinnen und Politiker natürlich auch. Durch Stichtagsbefragungen am Wahltag und Hochrechnungen weiß man ja auch schon, in welche Richtung es etwa geht. Da kann man Kommunikationsroutinen bereitlegen. Für eine tiefe Analyse ist aber in der Wahlberichterstattung gar keine Zeit. Das geht so: Schalte in Wahlzentrale A, Interview, Schalte in Wahlzentrale B, Interview, Hochrechnung. Wir haben das in unserer Forschung gemessen: Die ersten Interviews und Statements nach den Hochrechnungen sind zwischen 15 und 40 Sekunden lang. Da kann ich mich bei den Wählern und der Partei bedanken, noch den Satz mit der Analyse sagen, dann ist die Zeit vorbei. +Hört sich dann in etwa so an. Was bringt das ganze Tamtam überhaupt? +EineWahlist ein soziales Ereignis, und das will interpretiert werden. Es ist wie beim Fußball. Wenn es vier zu eins für Spanien steht, will ich nicht nur wissen, dass Spanien führt, sondern auch, warum. Das numerische Ergebnis muss sozial und politisch eingeordnet werden: Was bedeuten diese Zahlen? Wer ist tatsächlich Gewinner oder Verlierer? Wenn eine Partei bei der letzten Wahl acht Prozent hatte und dieses Mal zwölf hat, kann sie sich als Gewinner sehen, obwohl sie wahrscheinlich in der Opposition landen wird. Andererseits kann eine mögliche Regierungspartei, die deutlich unter den Erwartungen bleibt, als Verlierer hervorgehen. Wie das alles zu sehen und zu bewerten ist, muss ausgehandelt werden. Beim Fußball würde man auch fragen: War die Taktik gut? War die Besetzung gut? Hat der Trainer einen guten Job gemacht? + +Der Verweis auf die Gremien deutet aber schon an, dass man sich auch inhaltlich noch mit den Wahlergebnissen befassen wird. +Die tatsächliche Auswertung der Wahl vollzieht sich nachgelagert. Die Parteien schauen sich sehr genau an: Wie viele Wähler sind verloren gegangen? Wo sind die hingegangen? Womit waren sie zufrieden oder unzufrieden? Welche sozialen Gruppen haben wir angesprochen? Am Wahlabend kann man das so schnell gar nicht alles leisten. Und ohne das Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit werden andere Konsequenzen gezogen und gegebenenfalls auch eingestanden, dass man nicht die richtigen Themen gesetzt oder auf den falschen Kandidaten gewettet hat. Dann gibt es auch noch die wissenschaftliche Bilanz, die kommt zwei oder drei Jahre später. Da analysieren Politikwissenschaftler das Wahlgeschehen sehr genau. +Wie unterscheidet sich die Kommunikation des Gewinners von der des Verlierers am Wahlabend? +In der Sozialpsychologie gibt es die sogenannte Attributionstheorie. Sie analysiert, was Menschen als Ursachen für Ereignisse benennen. Ein Beispiel: Student X fällt durch eine Klausur. Was ist die Ursache? Der Student wird eher sagen, die Klausur war zu schwer, der Dozent doof und so weiter. Das nennen wir Externalisierung. Schreibt er eine gute Note, wird er nicht von Glück sprechen, sondern sich auf die Schulter klopfen und sagen: Das hab ich toll gemacht. Das ist die Internalisierung. So ist es auch in der politischen Kommunikation am Wahlabend. Gewinner werden internalisieren und sagen: Richtige Themen, richtiger Kandidat. Verlierer externalisieren: Das Hochwasser, unglückliche Umstände, der Wähler hat es nicht verstanden. Das ist ein ganz menschlicher Mechanismus, um den Selbstwert zu schützen. +Nur dass man schlecht den Wählerinnen und Wählern die Schuld geben kann. Das würde wahrscheinlich nicht so gut ankommen. +Das ist in der politischen Kommunikation eine Besonderheit. Privat kann ich stark externalisieren. Das geht im öffentlichen Diskurs nicht gut. Da muss ein bisschen Asche aufs Haupt. Es heißt dann eher: Wir konnten unsere Politik nicht so gut vermitteln, hatten nicht die richtige Strategie. Das ist der sogenannte Seriositätsdruck. +Was, wenn ein Kandidat oder eine Kandidatin das Ergebnis des Gegners interpretieren soll? +Da kehrt sich diese Logik um, da geht es wieder um Selbstwerterhalt. Dann werde ich nicht sagen: Die waren halt gut, starker Kandidat. Sondern: Die hatten eben Glück, die Umstände haben ihnen in die Karten gespielt. +Was ist dran an dieser Phrase? +Das werden sie oft und von vielen Parteien hören. Und es stimmt: Der Wähler hat sein Votum abgegeben und sich damit für seine Partei oder eine Koalition, die ein Regierungsbündnis bilden soll, ausgesprochen. Aber ob die aggregierten Stimmen – also die Koalition, die dann entsteht – tatsächlich der klare Auftrag des Wählers sind? Ich glaube nicht. Dahinter stehen sehr unterschiedliche Milieus und Weltanschauungen. Das kann meiner Meinung nach kein klarer Auftrag sein. Deshalb schließen Parteien vorher üblicherweise Koalitionen mit bestimmten Partnern aus oder streben diese explizit an,um ihre Wähler nicht zu verprellen. Manchmal klappt das besser und manchmal eben nicht. +GIFS: Renke Brandt diff --git a/fluter/wahlbeteiligung-frankreich-gruende.txt b/fluter/wahlbeteiligung-frankreich-gruende.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a5f530c7230fe4602601ac6140dc4143b618be4a --- /dev/null +++ b/fluter/wahlbeteiligung-frankreich-gruende.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Rothans Begründung mag extrem klingen, seine Schlussfolgerung aber teilen viele im Land: Bei den Präsidentschaftswahlen könnte der Anteil der Nichtwähler höher sein als je zuvor. Einer Umfrage zufolge erwägt fast jeder vierte wahlberechtigte Franzose, beim ersten Wahlgang am 10. April nicht abzustimmen. +In Kaltenhouse könnte die Wahlbeteiligung noch geringer ausfallen. Die Regionalwahlen 2021 nahmen mehr als 80 Prozent der Wahlberechtigten nicht wahr. Vor allem junge Menschen unter 35 Jahren stimmten kaum ab. Zeigt sich hier, in einem 2.500-Seelen-Ort ein paar Kilometer nördlich von Straßburg, wie die Franzosen sich leise von der Politik verabschieden? + +Julien Rothan nimmt ein Lachsfilet aus dem Kühlschrank. Über seinen Unterarm zieht sich das Tattoo eines Drachen, Rothans Haare sind auf einen Millimeter getrimmt, unter dem T-Shirt zeichnen sich Muskeln ab. "Ich stehe früh auf und arbeite hart", sagt er. Von den Steuererleichterungen für Unternehmer habe er zu Beginn seiner Selbstständigkeit profitiert, mittlerweile zahle er aber eine Menge Steuern. Wenn man ihn fragt, wer genau die "Marionette Macron" steuert, schüttelt Rothan den Kopf. Ob er einer Verschwörungserzählung aufgesessen ist oder bloß einen Spruch raushauen wollte? Wer weiß. +Das Problem mit den vielen Nichtwählern, die Franzosen nennen es "l'abstention", treibt die Politik schon länger um. Seit den 1970er-Jahren nimmt die Wahlbeteiligung tendenziell ab. Wenn immer weniger Menschen einem Abgeordneten ihre Stimme geben, verliert die repräsentative Demokratie ihre Legitimation. +In einemBerichtsuchten Abgeordnete der französischen Nationalversammlung im Dezember 2021 nach Ursachen für den Wahlunmut. Bildung und Alter spielen, so das Fazit, eine zentrale Rolle. Vereinfacht lässt sich sagen: Je höher der Bildungsabschluss, desto höher die Wahlbeteiligung. Und je älter, desto wahlbereiter. Laut dem Bericht ist die Wahlverweigerung vieler Junger nur zum Teil als Ausdruck einer Unzufriedenheit mit den Politikern und dem politischen System zu verstehen. Ein Faktor sei auch, dass sich viele Jüngere eher über Petitionen, Streiks oder Demonstrationen politisch engagieren statt über ihre Wahlstimme. +Als das Gespräch wieder auf die Politik zu sprechen kommt, relativiert Rothan plötzlich seine Entscheidung. "In der zweiten Runde werde ich Marine Le Pen wählen", sagt er. Die Kandidatin der rechtspopulistischen (manche sagen gar rechtsextremen) Partei "Rassemblement National" scheiterte 2017 in der Stichwahl gegen Emmanuel Macron. Die Wahlumfragen sehen sie derzeitauf Rang zwei. Mit Éric Zemmour gibt es einen weiteren Kandidaten vom äußeren rechten Rand, der noch rassistischer auftritt. Er lässt Le Pen zugleich harmloser erscheinen – was sie selbst nutzt, um bei Wählern aus der politischen Mitte zu punkten. +Rothan hält einen Flambierer über den Lachs. Er sei natürlich kein Rassist. Schließlich habe er Freunde mit arabischem und afrikanischem Hintergrund. Die Flamme zischt, das Fleisch färbt sich rosa. Dann schimpft Rothan über "Ausländer", die nach Frankreich kämen, um von Sozialhilfe zu leben und Verbrechen zu begehen. Belegen kann er das nicht. Es ist die rechtsextreme Rhetorik von Le Pen und Zemmour, die Wut schürt und viele zum Schimpfen bringt, aber eben nicht unbedingt zum Wählen. +Aus den Gärten von Kaltenhouse grüßen Gartenzwerge zwischen sorgsam bestellten Gemüsebeeten. An einem Jägerzaun warnt ein Schild vor dem Schäferhund, auf Deutsch und auf Französisch. Die Arbeitslosigkeit liegt hier unter dem Landesdurchschnitt. Viele Kaltenhousiens pendeln zum Arbeiten nach Deutschland, wo das Lohnniveau höher ist. Vor der Pandemie haben jedes Jahr mehr als 20 Millionen Touristen das Elsass besucht, die Gegend um Straßburg und sein gotisches Münster steht in fast jedem Reiseführer. Auch in Kaltenhouse vermieten viele Einwohner Ferienwohnungen und bewirten zur Saison Touristen. Kurz: Im Dorf geht es vielen gut, eigentlich. + + +Isabelle Wenger geht die Treppenstufen des Rathauses hinauf, vorbei an den Porträts der Präsidenten der Fünften Republik, eine Ahnenreihe von Charles de Gaulle bis Emmanuel Macron. Wenger ist 63 Jahre alt. Als Krankenschwester hat sie ihr Leben lang Menschen versorgt. Sie könnte ihren Ruhestand genießen, aber Ruhe findet die Bürgermeisterin von Kaltenhouse gerade selten. Wenger sorgt sich wegen der niedrigen Wahlbeteiligung. "Viele Leute haben die Schnauze voll von der Politik", sagt sie. "Das höre ich immer wieder." +Sie als Bürgermeisterin, die sich für bessere Busverbindungen und einen Radweg am Fluss eingesetzt hat, sei damit nicht gemeint. Der Groll richte sich gegen die Politiker in Paris, die sich in gepanzerten Limousinen durchs Land fahren ließen und ihren Amtsgeschäften in Palästen nachgingen, die einst für Könige gebaut wurden. +Wenger sieht aber auch lokale Gründe für die historisch schwache Beteiligung bei der letzten Regionalwahl. Zum ersten Mal haben die Kaltenhousiens für Abgeordnete der Region Grand Est gestimmt, einen Regionalzusammenschluss aus Elsass, Lothringen und Champagne-Ardenne. Mit dieser Fusion, sagt Wenger, seien viele stolze Elsässer nicht einverstanden gewesen. Manche hätten die zu wählenden Abgeordneten nicht gekannt und die Wahl deshalb boykottiert. Die Pandemie tat ihr Übriges: "Etliche Ältere sind nicht zur Wahl gegangen, weil sie Angst hatten, sich im Wahllokal mit demCoronaviruszu infizieren." Eine Briefwahl gibt es in Frankreich nicht. +Deshalb sei es umso wichtiger, die Menschen auf die Bedeutung von Wahlen einzuschwören, findet Wenger. Und zwar schon im Schulalter: "Früher hatten wir Unterricht in Gemeinschaftskunde. Da haben wir gelernt, dass es wichtig ist, wählen zu gehen." Heute hingegen konzentrierten sich die Lehrpläne auf abstraktere Werte wie Respekt und Freiheitsrechte, Meinungs- oder Religionsfreiheit. + +Die Politikwissenschaftlerin Céline Braconnier gibt Wenger recht. Sie fordert, dass Jugendliche in der Schule direkter auf ihre ersten Wahlen vorbereitet werden sollen. Das ginge schon damit los, dass sie den Weg zum Wahllokal finden und wissen, wie man abstimmt. Braconnier weist zudem auf ein strukturelles Problem hin: 7,6 Millionen Franzosen seien auf den falschen Wählerlisten eingetragen, sagt Braconnier. Wer umzieht, muss sich an seinem neuen Wohnort in eine neue Liste eintragen lassen, um wählen zu können. Das vergessen viele, sagt Braconnier. 15 Prozent der Wähler blieben allein dadurch aus, schätzt sie. Darunter viele Junge, die für ihre Ausbildung oder eine Arbeitsstelle von zu Hause wegziehen. +Bürgermeisterin Isabelle Wenger erinnert sich noch an die Zeiten, in denen sich Neu-Kaltenhousiens im Rathaus anmelden mussten und man sie praktischerweise direkt auf der neuen Wahlliste eintragen konnte. "Das geht heute nicht mehr", sagt Wenger. +Trotzdem schätzen Experten wie Braconnier, dass die extrem niedrigen Wahlbeteiligungen der Regionalwahlen 2021 eine Ausnahme bleiben. Präsidentschaftswahlen werden erfahrungsgemäß aufmerksamer verfolgt, auch medial. So wird die Wahlbeteiligung im April vermutlich steigen. Lokalpolitikerinnen wie Isabelle Wenger fürchten trotzdem, dass ein Spektakel wie die Präsidentschaftswahlen über die allgemeine Wahlmüdigkeit hinwegtäuschen und nötige Reformen des Wahlsystems verschleppen könnte. Die französische Demokratie ist ermüdet, da sind sich viele Beobachter einig.Auch weil von den Vorschlägen des Bürgerkonvents, den Macron nach den Gelbwesten-Protesten öffentlichkeitswirksam einberufen hatte, nur wenige umgesetzt wurden. +Vieles deutet jetzt auf einen Zweikampf: Die Entscheidung wird zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen fallen, zwischen Amtsinhaber und Herausforderin, zwischen einem Liberalen und einer Rechtsextremen. Notfalls im zweiten Wahlgang, bei dem dann auch Julien Rothan mitwählt. + +Update, 25. April: Nach der Stichwahl zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen ist klar: Macron bleibt im Amt. Die Wahlbeteiligung ist (wie erwartet) gering ausgefallen. Laut Schätzungen lag der Anteil der wahlberechtigten Bürger, die nicht bei der Stichwahl abgestimmt haben, bei mehr als 28 Prozent – so viel wie seit 1969 nicht mehr.Auf bpb.de lest ihr mehr zu den Wahlen in Frankreich. diff --git a/fluter/wahlen-wo-steht-die-gen-z-politisch.txt b/fluter/wahlen-wo-steht-die-gen-z-politisch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5f6cedca2e7eb7e963c75b6491b911045efabc88 --- /dev/null +++ b/fluter/wahlen-wo-steht-die-gen-z-politisch.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Inwiefern sind junge Menschen optimistisch, dass sie etwas verändern können? +Viele sind sehr unzufrieden mit dem Status quo, empfinden aber, dass die meisten Parteien diesen nur verteidigen. Aufgrund unserer alternden Bevölkerung haben junge Menschen auch tatsächlich weniger Einfluss darauf, welche Partei gewinnt oder verliert.Deswegen gibt es auch die Forderung nach einem Wahlrecht ab 16 Jahren– um unter anderem jungen Menschen in der Wahlentscheidung mehr Gewicht zu geben. +Wie zeigt sich diese Unzufriedenheit im Wahlverhalten? +Sie öffnet den Raum für Kleinstparteien oder neue Akteure und Bewegungen, insbesondere im Internet. Populistische Stimmen schaffen es momentan vermehrt, diese Unzufriedenheit mit ihren Narrativen zu befeuern und für sich nutzbar zu machen. +Sie haben in Ihrem Bericht zu den Landtagswahlen 2024 in Ostdeutschland beobachtet, dass vor allem die AfD und das BSW gepunktet haben. Auch unter jungen Menschen scheint die AfD an Zustimmung zu gewinnen. +Das könnte damit zusammenhängen, dass die heute 18-Jährigen in einer Zeit aufgewachsen sind, in der die AfD schon zum Parteienspektrum dazugehört hat. Dadurch sind rechte Themen in der gesellschaftlichen Debatte viel normalisierter. Gleichzeitig hatte auch Corona einen Effekt auf die politische Sozialisierung: Junge Menschen waren weniger in der Schule, in der Uni oder in Vereinen, wo die Bildung einer eigenen politischen Identität häufig stattfindet. Wo weniger Begegnung möglich war, sind Lücken entstanden,von denen populistische Akteure profitiert haben.Die zunehmende Unterstützung der AfD ist aber kein "Jugendphänomen", sondern ein gesamtgesellschaftliches. +Die letzten Bundestagswahlen 2021 waren geprägt von Covid und Fridays for Future. Vor allem junge Frauen haben die Grünen gewählt, während junge Männer der FDP ihre Stimme gegeben haben. Bestimmt das Geschlecht das Wahlverhalten? +Studien und Wahlanalysen deuten darauf hin, dass sich die politischen Präferenzen junger Männer und Frauen auseinanderentwickeln: Jüngere Frauen neigen häufiger zu linken, progressiven Parteien, während junge Männer stärker zu konservativen bis rechtspopulistischen Parteien tendieren. Das konnten wir auch bei denEuropawahlenund den Landtagswahlen inBrandenburg,ThüringenundSachsensehen. Wir können aber nicht ausschließlich von einem Männerphänomen sprechen: Auch der Anteil der Frauen, die die AfD gewählt haben, hat bei der Europawahl zugenommen. +Damals war die Wahlbeteiligung junger Menschen geringer als die der Gesamtbevölkerung. Können wir das auch dieses Jahr erwarten? +Tatsächlich ist 2021 die Wahlbeteiligung unter jungen Menschen sogar etwas gestiegen. Aber generell ist die Wahlbeteiligung unter jungen Menschen seit den 1950er-Jahren immer geringer gewesen als die der allgemeinen Bevölkerung. Junge Menschen treffen oft erst wenige Tage zuvor die Entscheidung, ob sie überhaupt zur Wahl gehen und welche Partei sie letztendlich wählen. Es gibt für junge Menschen nicht mehr die eine Partei, die man das ganze Leben lang schon wählt. +Woran liegt das? +Die Parteiensysteme in westlichen Demokratien haben sich in den letzten Jahrzehnten diversifiziert, hin zu mehr Zersplitterung. Auch in Deutschland dominieren nicht mehr zwei Volksparteien das System. Junge Menschen wachsen in einer Zeit auf, in der sie aus vielen politischen Optionen wählen können. Sie machen von diesen Möglichkeiten Gebrauch, oft, um einen Wunsch nach Veränderung auszudrücken. +Zurück zum Wahlkampf 2025. Inwiefern werden junge Menschen als potenzielle Wählergruppe gezielt angesprochen? +Parteien versuchen, sie strategisch anzusprechen mit Themen wie Ausbildung, Mobilität oder BAföG. Sie missachten dabei die Tatsache, dass jungen Menschen die großen gesellschaftlichen Fragen genauso wichtig sind. Traditionell hatten einige Parteien einen starken Jugendfokus, in denen die Parteijugenden eine wichtige Rolle spielten. Aber weil sich Parteimitgliedschaften generell verändern, braucht es neue Strategien, um junge Menschen gezielter anzusprechen und einzubinden. +Zum Beispiel über die sozialen Medien. +Im Unterschied zu 2021 haben viele Politiker:innen erkannt, dass sie stärker online präsent sein müssen, um an jüngere Menschen heranzutreten. Viele kommunizieren aber noch nicht effektiv über Social Media und fragen junge Menschen auch nicht, was sie eigentlich wollen. +Aber Parteien wie die AfD sind doch sehr erfolgreich auf TikTok? +Die AfD schafft es, junge Menschen gezielt über Social Media anzusprechen – besonders durch provokanten und polarisierenden Content. Häufig werden dabei populistische Aussagen eingesetzt und auch Fake News verbreitet, die einfache Antworten auf komplexe Fragen suggerieren. Auch etablierte demokratische Parteien wollen mit aufwendigen Social-Media-Strategien nachziehen. Diese erreichen aber oft nicht dieselbe Reichweite und Interaktion,weil sie sich nicht auf provokante populistische Inhalte einlassen wollen. +Inwiefern entgeht Politiker:innen etwas, wenn sie die junge Zielgruppe nicht erreichen? +Werden sie von Politiker:innen nicht angesprochen, führt das dazu, dass ein bedeutender Teil der Bevölkerung in Entscheidungsprozessen noch stärker außen vor bleibt – was für eine pluralistische Demokratie und eine generationengerechte Politik problematisch ist. Forschungsergebnisse belegen, dass das Wahlverhalten häufig bereits im Erstwähler:innenalter gefestigt wird. Wer in jungem Alter wählt, beteiligt sich auch später regelmäßiger an Wahlen. Politiker:innen gehen hier also nicht nur aktuelle, sondern langfristig potenzielle, regelmäßige Wähler:innen oder auch junge Politiker:innen verloren. +Bräuchte es mehr junge Politiker:innen? +Ja. Nicht unbedingt, weil sie zwangsläufig die Interessen junger Menschen vertreten, sondern in erster Linie, damit junge Menschen sich in "der Politik" wiedererkennen können. Es geht um Repräsentation. + +Neele Eilers (30) ist Politikwissenschaftlerin beim Berliner Thinktank d|part, wo sie zu politischer Partizipation und politischen Einstellungen junger Menschen in Europa forscht. + + diff --git a/fluter/wahlentscheidung-eltern-einfluss.txt b/fluter/wahlentscheidung-eltern-einfluss.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5eaeeeb4c0014af34c10c2c62fd6091c0f4b45da --- /dev/null +++ b/fluter/wahlentscheidung-eltern-einfluss.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +So gesehen war es gut, dass ich die schnelle Abfolge von Stolz, Anspannung und Ernüchterung schon kannte, als ich zum ersten Mal wählen ging. Denn meine erste Wahl verlief so unspektakulär wie unser Rugbyfinale: Ich wartete mit meinen Eltern in der Schlange. Dann war ich dran, mein Name wurde abgehakt, undich durfte mit dem Zettel in die Kabine.Danach habe ich meine Eltern gefragt, warum niemand sehen soll, was ich wähle. Manchen Leuten sei ihre Wahlentscheidung peinlich, sagten sie. Und dass es im Gegensatz zu Deutschland Länder gebe, in denen man besser nur die eine Partei wählt, wenn man nicht weggesperrt werden will. Dann gingen wir nach Hause. +Weiterlesen: +Den Wahl-O-Mat kennt an deutschen Schulen jeder.Aber wie entsteht er eigentlich? +Das sollte sie gewesen sein, meine erste Wahl? Zwei kurze Kreuze, nachdem sie uns in der Schule über Monate auf die Wahl eingeschworen hatten? Wir die Parteien kennengelernt, Wahlprogramme verglichen, Bundestag und Bundesrat voneinander getrennt und das Für und Wider der Briefwahl besprochen hatten? Wir sogar ausnahmsweise mal in den Computerraum der Schule gelassen wurden, um über den Wahl-O-Mat unsere Partei zu ermitteln? Mein Hirn hat viele Wahlerinnerungen überschrieben, aus Selbstschutz womöglich oder damit ich die nächste Wahl nicht auslasse. Aber an die Empfehlungen des Wahl-O-Mat erinnere ich mich bis heute: Linke, SPD oder Grüne sollten meine Interessen angeblich am besten vertreten. +Weil wir damals im Deutschunterricht an einem Schreibwettbewerb teilnahmen, bei dem es umden Regenwald ging, schien mir das Überleben des Orang-Utans wichtiger als ein höhererMindestlohnodersinkende Mieten. So wie ich mir mein Leben damals ausmalte, würde ich von beidem eh kaum profitieren: Ich wollte Künstler werden. Die verdienen sowieso nichts, dachte ich, und fand das auch gut so. Außerdem hatte mir meine Mutter von der Partei, zu der sie mir dann schlussendlich riet, erzählt, dass sie zwar schon mal mitregiert, aber noch nie eine Bundestagswahl gewonnen hatte. Das fand ich cool. Ich hasste damals schon Bayern-Fans und fand Kevin Kurányi cool, der gleich drei Peinlichkeiten vereinte: Er spielte für Schalke, trug ein komisches Bärtchen und war in der Nutella-Werbung. Dass ich eher für die Underdogs bin, wusste meine Mutter natürlich. Wenn man sich's genau besieht, fand die Beeinflussung durch mein Elternhaus damals ihren Höhepunkt. +Wie Eltern auf das Wahlverhalten ihrer Kinder einwirken, scheint Wahlforscher schon lange zu interessieren: Das sogenannte Michigan-Modell aus den 50er-Jahren ist bis heute eine der meistzitierten Veröffentlichungen der Wahlforschung. Damals wiesen Forscher in den USA empirisch nach, dass Eltern ihren Kindern nicht nur ihren krummen Rücken oder einen guten Musikgeschmack vererben, sondern auch eine Parteienidentifikation. Wenn wie in den USA nur zwei Parteien wirklich zur Wahl stehen, ist es natürlich wahrscheinlicher, dass ich wähle wie meine Eltern. Viele Studien für den deutschsprachigen Raum kommen aber zu ähnlichen Ergebnissen. +Schon die allerersten Erhebungen zur elterlichen Rolle bei der politischen Sozialisation zeigten in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren, dass die parteipolitische Übereinstimmung zwischen Eltern und Kindern hoch war. Damals hat diese parteipolitische Einigkeit der Generationen manche überrascht – schließlich standen sich ein Teil der Jungen und die Alten zur Zeit der 1968er-Studentenbewegung politisch eher feindlich gegenüber. Große Wahlkonflikte innerhalb einer Familie schienen trotzdem die Ausnahme. Neuere Studien bestätigen diese frühen Erkenntnisse: Befragungen im Rahmen der Schweizer Wahlstudie zeigten 2015 und 2019 beispielsweise, dass Eltern einen größeren Einfluss auf ihre Erstwählerkinder zu haben scheinen als etwa deren Freundeskreis, die Lieblingsapp oder die Schule. Laut den dort erhobenen Zahlen war die Wahlentscheidung junger Menschen treffender durch die Parteivorlieben der Eltern vorherzusagen als durch andere getestete Faktoren wie Alter, Bildungsgrad, Geschlecht oder Einkommen. Und selbst wenn die Kinder anders als ihre Eltern wählten, blieben sie tendenziell im gleichen politischen Spektrum. +Ich vermute, diese familiäre Wahlneigung ist heute eher noch stärker, weil Jugendliche ein immer intimeres und gleichberechtigteres Verhältnis zu ihren Eltern haben. Was man auchan den Fridays-for-Future-Demossieht, zu denen viele Erwachsene ihre Kinder und Enkel nicht nur aus Gründen der Aufsichtspflicht begleiten. Ich kann mir gut vorstellen, dass Jugendliche derzeit eher die Wahlentscheidung ihrer Eltern beeinflussen. +Im September steht meine zweite Bundestagswahl an. Ich habe die Enttäuschung der ersten Wahl überwunden, aber der Hype ist vorbei. Wann war ein zweiter Teil je besser als der erste? Was für so gut wie alle Filmsequels gilt, hat auch die Wahlforschung entdeckt. Sie nennt das den Erstwählersprung: Viele junge Wählerinnen und Wähler machen vonder ersten Wahlgelegenheithäufiger Gebrauch als von der zweiten. Und zwar vor allem aus zwei Gründen, wie Hans-Peter Kuhn, Professor für empirische Bildungsforschung, malin einem Interviewerklärt hat: Wählen fühlt sich verdammt erwachsen an. Und Erstwähler wohnen eben in der Regel noch zu Hause, wo die Eltern sie motivieren, ihre Stimme abzugeben. +Es ist seltsam: Jugendstudien zeigen, dass das politische Interesse von jungen Menschen mit jedem Lebensjahr eher zunimmt. Und trotzdem gehen viele junge Menschen beim zweiten Mal nicht mehr zur Wahl. Vielleicht hat das damit zu tun, dass sich nach der Erstwahl viele neu orientieren. Ein Umzug, neue Freunde oder längere Auslandsreisen können die Identität in ordentliche Krisen führen und zu einem neuen Selbstbild führen, das man dann wiederum von einer anderen Partei besser vertreten fühlt. In dieser Phase lässt meist auch der Einfluss der Eltern nach. Die – und das kommt hinzu – heute selbst oft weniger gefestigt sind in ihren Parteipräferenzen: Demoskopen beobachten, dass der Anteil der Wechselwähler in der Bevölkerung steigt. Professor Kuhn spricht sogar von einer allgemeinen Wechselwählerstimmung, weil es immer weniger Wähler gibt, die seit Jahrzehnten treu für dieselbe Partei stimmen. Wenn Eltern ihre politische Überzeugung ändern, geben sie sie auch weniger stark weiter. +Bei der letzten Europawahl habe ich eine ganz andere Partei gewählt als meine Eltern. Aber damals habe ich mich damit gut gefühlt, wie ein kleiner Wahlrebell. Mit leichtem Herzklopfen stand ich in der Wahlkabine und war froh, dass dank der Trennwand niemand meinen Verrat erkennen konnte – auch nicht meine Eltern. + diff --git a/fluter/wahlhelfer-protokoll.txt b/fluter/wahlhelfer-protokoll.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9df2d2a5b4d9a12a6e7d3124d4109a2cc672c59f --- /dev/null +++ b/fluter/wahlhelfer-protokoll.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Für mich stellte sich auch nie die Frage, ob ich wählen gehe oder nicht. Schließlich ist es ein Grundpfeiler unserer Demokratie. Als Wahlhelfer kann ich einen Blick hinter die Kulissen werfen und aktiv daran mitwirken, dass demokratische Prozesse geregelt ablaufen. Außerdem kann ich mich politisch engagieren, ohne viel Zeit und Energie investieren zu müssen. +Die Schicht im Wahllokal beginnt zwischen 7 und 7.30 Uhr. Vor meiner ersten Wahl war ich aufgeregt, weil ich nicht wusste, was mich erwartet, aber mit wildfremden Menschen im Team funktionieren musste. Je nach Größe des Wahlbezirks betreuen mindestens fünf und maximal neun Menschen die Wahl: Ein:e Wahlvorsteher:in, der oder die Schriftführer:in, jeweils ein:e Vertreter:in sowie die Beisitzer:innen. +Bevor die Wahllokale um 8 Uhr öffnen, teilt man sich den Tag ein: Eine Hälfte bleibt von 8 bis 13 Uhr, die andere von 13 bis 18 Uhr. Außerdem legt man den Eid ab, die Wahl neutral durchzuführen: Politische Äußerungen oder Wahlempfehlungen sind verboten. Vor 8 Uhr muss das Wahllokal mit Wahlkabinen, Urne, Stühlen und Tischen fertig eingerichtet sein. Zum Auszählen ab 18 Uhr sind alle Wahlhelfer:innen wieder vor Ort. +Je nach Positionhat man als Wahlhelfer:in unterschiedliche Aufgaben: Der oder die Wahlvorsteher:in leitet das Team sowie alles rund um die Stimmabgabe: Er oder sie eröffnet und schließt offiziell das Wahllokal, steht an der Urne, wenn der Wahlzettel eingeworfen wird, und koordiniert das Auszählen. Als Schriftführer:in überblickt man das Wähler:innenverzeichnis und setzt einen Haken, wenn jemand wählt. Bei der Auszählung notiert der oder die Schriftführer:in die Ergebnisse. Beisitzer:innen geben die Wahlzettel aus und helfen beim Auszählen. Alle Beteiligten erhalten eine kleine Aufwandsentschädigung für ihr Engagement. +Schon bei meiner ersten Wahl habe ich gemerkt, dass mir die Rolle als Beisitzer zu langweilig ist. Ich wollte mehr Verantwortung übernehmen. Seitdem war ich jedes Mal Schriftführer oder Wahlvorsteher. Nach der Auszählung fährt der oder die Wahlvorsteher:in, je nach Kommune auch gemeinsam mit Stellvertretung oder Schriftführer:in, den Koffer mit Stimmzetteln, Wahlscheinen, Wahlbenachrichtigungen und dem Protokoll zum Rathaus oder der Gemeindebehörde. Dort nimmt ihn jemand vom Wahlamt entgegen und checkt, ob alles korrekt aufgeschrieben wurde, welche Stimmen man für ungültig erklärt hat und ob die Zahlen stimmen. +Die Wahlen sind gut vor Fehlernoder gar Manipulationgeschützt: Sie sind öffentlich, das heißt, jede:r hat das Recht, im Wahllokal die Stimmabgabe und das Auszählen zu beobachten. Dafür muss man sich auch nicht anmelden. Beim Auszählen gilt das Vieraugenprinzip, und am Ende wird die Anzahl der Wahlzettel und abgegebenen Stimmen mit dem Wähler:innenverzeichnis abgestimmt. Fehler fallen da schnell auf. Und es schreckt ab, dass man sich bei Manipulation strafbar macht. Für Wahlbetrug kann man sogar eine Freiheitsstrafe bekommen. +Manchmal kann es bei der Auszählung stocken. Bei der Bundestagswahl muss man zum Beispiel erst die Zweitstimmen und dann die Erststimmen auszählen. Da kann es schon mal passieren, dass sich jemand verzählt. 2013 mussten wir dreimal nachzählen, bis die Anzahl der Stimmen mit der Anzahl der Wähler:innen des Wahllokals übereinstimmte. Dreieinhalb Stunden hat das gedauert. Spätestens nach der vierten Wahl in gleicher Zusammensetzung lief bei uns aber alles wie ein Uhrwerk, sodass wir bei der Europawahl 2019 schon nach 40 Minuten mit dem Auszählen durch waren. Danach haben wir mit einem Schnaps angestoßen. +Gerade das macht Wahlhelfer:in-Sein so besonders: Man trifft Menschen, die man sonst nie treffen würde. Am Wahltag sieht man einen groben Schnitt der Gesellschaft und hat Kontakt mit Menschen aus ganz anderen sozialen Bubbles. Auch wenn es nur kurze Begegnungen sind, lernt man, damit umzugehen. Das schult die sozialen Fähigkeiten. +Manchmal sind diese Begegnungen unangenehm. Es gibt Wähler:innen, die sich bei der Wahl abfällig zu Parteien oder bestimmten Politiker:innen äußern. Das hat in den vergangenen Jahren zugenommen. Trotzdem darf man als Wahlhelfer:in nicht darauf eingehen. Man sagt maximal so was wie "Das werden wir dann heute Abend sehen" und hofft, dass die Person schnell geht. Einmal bin ich mit einem Wähler aneinandergeraten, der außerhalb der Wahlkabine wählen wollte. Ich habe ihm den Wahlzettel abgenommen und ihn gebeten, geheim in der Wahlkabine zu wählen. Das hat ihn kurz aufgeregt, er hat es dann aber eingesehen. Die Leute bedanken sich weitaus häufiger, als dass sie einen anpöbeln. Ein "Danke für eure Arbeit" freut mich immer sehr. +Durch mein Engagement habe ich gelernt, wie gut Wahlen bei uns organisiert sind. Das System funktioniert so gut, dass im Verlauf des Wahlabends im Fernsehen, Radio, Internet und auf Social Media ein verlässliches Ergebnis verkündet werden kann. Ich habe großen Respekt vor all den Menschen, die diese logistische Leistung möglich machen. +Bei der Bundestagswahl im Februar bin ich zum neunten Mal Wahlhelfer. Da die meisten oft älter als 40 sind, bin ich weiterhin einer der Jüngsten. Aber wahrscheinlich werde auch ich das in 30 Jahren noch machen. +Titelbild: Hannes Jung / laif diff --git a/fluter/wahlkampf-digital-soziale-medien-usa.txt b/fluter/wahlkampf-digital-soziale-medien-usa.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e7e15c9746453400b89a5efaefdad3c57b10d5e3 --- /dev/null +++ b/fluter/wahlkampf-digital-soziale-medien-usa.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Donald Trump dagegen ist auf andere Art überall: Wie schon 2016 verbreiten sich seine Tweets und Clips nicht nur in den sozialen Netzwerken, sondern auch den etablierten Medien – anders aber als vor vier Jahren übernehmen diese längst nicht mehr so pflichtschuldig alle Reden des nun amtierenden Präsidenten. +Donald Trump gilt als König des Social-Media-Wahlkampfs. Bei Facebook kommt er auf 30 Millionen "Gefällt mir"-Angaben, Biden auf drei Millionen. In den Augen vieler Experten hat Trump 2016 deshalb gewonnen, weil er im entscheidenden Moment auf die umfangreicheren Datenbanken von Facebook zugreifen konnte. Das erlaubte ihm, gezielt Werbung für bestimmte Wählergruppen zu schalten. Die massiven Facebook-Aktivitäten bleiben weiter ein Eckpfeiler von Trumps Onlinestrategie. Die Anzeigen enthalten oft Fragen wie "Sollten Illegale deportiert werden?" oder dringend klingende Aufrufe wie "Jetzt bis 23.59 Uhr antworten, um in den offiziellen Ergebnissen berücksichtigt zu werden". Nach einem Klick öffnen sich Webseiten mit der Frage "Wie bewerten Sie Donald Trump?" (Antwortmöglichkeiten: Great/Good/Okay/Other) und einer Maske, die nach E-Mail-Adresse und Postleitzahl fragt. Das ermöglicht den Wahlkampfteams, mehrfach täglich Mails mit der Bitte um Wahlkampfspenden und Aufrufen zur Stimmabgabe zu verschicken. Im Juni ist Trump übrigens ins Facebook-Hintertreffen geraten: Joe Biden gibt auf der Plattform mehr Werbegeld aus als Donald Trump. +Sie treffen sich im oft martialisch benannten "War Room", und sie sind dafür da, auf Angriffe und offene Flanken des Gegners zu reagieren: In "Rapid Response"-Teams arbeiten Menschen, die als schnelle Eingreiftruppe in einer Breaking-News-Lage blitzschnell Content erstellen, den die eigenen Anhänger in ihren Kanälen weiterverteilen können. Fünf Stunden nachdem die "New York Times" ihre Investigativrecherche zu Donald Trumps Einkommensteuerzahlungen veröffentlicht hatte, lief bei @TeamJoe schonein 30-sekündiges Video, das die Steuerzahlungen von Donald Trump denen von Grundschullehrern, Feuerwehrleuten und Krankenpflegern gegenüberstellte. Nach einer Woche hatten den Clip vier Millionen Menschen gesehen. Wenn es nur um Memes und schnelle Grafiken geht, sind die Teams auf beiden Seiten oft noch sehr viel schneller. +Neben den offiziellen Mitarbeitern der Kampagnen gibt es darüber hinaus noch externe Kommunikatoren, die bei dieser Wahl besonders auffallen. Auf republikanischer Seite schreibt das "Lincoln Project" Schlagzeilen – eine Gruppe enttäuschter Republikaner, die ihre Ideale durch Trump verraten sehen und jetzt virale Anti-Trump-Videos produzieren. Bei den Demokraten kann das auch gerne mal eine Einzelperson sein, wie Comedian Sarah Cooper, die auf TikTok durch Lipsync-Clips von Trumps wildesten Aussagen zum Star wurde. Trump hingegen kann auf Dutzenderechte Webseiten wie Breitbartoder das "One America News Network" vertrauen, die seine Inhalte teilen. +Das "Lincoln Project" produziert täglich Anti-Trump-Videos – gegründet wurde es von enttäuschten Republikanern + +Manche Onlineaktivitäten sind bei den Trumps Familiensache. Jeden Abend gibt es bei "Team Trump Online!" Livesendungen auf Facebook, Twitter, Instagram und Twitch, meist moderiert von Schwiegertochter Lara Trump oder Vizepräsident Mike Pence. Oft sind die Sendungen mit nur einigen Zehntausend Klicks eher etwas für Hardcore-Fans. Aber Ausschnitte daraus werden weiterverteilt – und gehen manchmal viral. Thematisch orientieren sich die Sendungen oft an Inhalten, über die Trump gerne spricht: Covid-19 sei eine übertriebene Gefahr, den US-Innenstädten drohe das Chaos durch einen linken Mob, und dringend müsse etwas getan werden gegen Kinderhandel – Ansichten also, mit denen man besonders bei rechtskonservativen und nationalistischen US-Bürgern punkten dürfte. +"Volunteering" für Politiker hat in den USA Tradition und findet in diesem Jahr vor allem virtuell statt. Trump setzt erneut auf eine App, die laut Werbemails der Kampagne "anders [ist] als die lahmen Politik-Apps, die du kennst". Mit viel Gamification versucht das Team des Präsidenten die User zum Mitmachen zu bringen: Es gibt Punkte, wenn man aus der App heraus mit möglichen Unterstützern telefoniert, dafür sorgt, dass sich Wähler registrieren lassen, oder sein eigenes Telefonbuch freigibt – wodurch die Wahlkampfteams wiederum an die Daten von Millionen neuer Ansprechpartner kommen. +Eine ähnlich erfolgreiche App hat Joe Biden nicht, aber auch auf seiner Webseite können sich Volunteers melden, die je nach Interesse und Expertengebiet Textmessages verschicken oder Rechtshilfe geben, falls Stimmen abgewiesen werden oder sie am Wahltag den ordnungsgemäßen Ablauf der Stimmabgabe beobachten. +Um weitere Freiwillige zu gewinnen, setzt Bidens Team auch auf Medien, die ihm sehr wohlgesonnen sind: zum Beispiel der Podcast"Pod Save America", den ehemalige Obama-Mitarbeiter vor drei Jahren gestartet haben und der wöchentlich mehr als eine Million Hörer erreicht – nicht nur wenn der ehemalige Präsident persönlich zu Gast ist. Zur US-Wahl hat das Podcast-Team das Infoportal "Vote Save America" gestartet, wo Freiwillige bei der Aktion "Adopt a State" zu Wahlkampfhelfern in einem von sechs besonders umkämpften Staaten (Swing States) werden. Vier Wochen lang gab es für sie Trainings in erfolgreichem Argumentieren, der Organisation coronasicherer Ortsgruppen und dem Eintreiben von Spenden. Die Initiative hat Erfolg: Bis Mitte Oktober hatten sich schon 250.000 Menschen zur Hilfe in einem der Staaten verpflichtet. + diff --git a/fluter/wahlrecht-frauen-deutschland-einfuehrung.txt b/fluter/wahlrecht-frauen-deutschland-einfuehrung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..44b1555b50c7a3ac28f0ed02c7236846a693c0f4 --- /dev/null +++ b/fluter/wahlrecht-frauen-deutschland-einfuehrung.txt @@ -0,0 +1,4 @@ + +Wir verwenden die Bilder mit Dank an dasDigitale Deutsche Frauenarchiv, das wichtige analoge Bestände aus feministischen Archiven, Bibliotheken, Dokumentationsstellen und Privatnachlässen bündelt. So setzt das Archiv zahlreiche Akteurinnen der Frauenbewegung in Verbindung und zeigt deren politische Bedeutung – auch für die Gegenwart. + +Titelbild: Atelier Elvira/Wikimedia Commons diff --git a/fluter/wahlrecht-fuer-behinderte-menschen-film.txt b/fluter/wahlrecht-fuer-behinderte-menschen-film.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8ddc3fe5cf3d75ff7d18da2b66e8559863bec5ca --- /dev/null +++ b/fluter/wahlrecht-fuer-behinderte-menschen-film.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Das Bundesverfassungsgericht hat den Paragrafen im Aprilgekippt, das inklusive Wahlrecht galtbereits zur Europawahl. Trotzdem ist es weiter umstritten. Es verleihe, behaupten Kritiker, Menschen eine Stimme, die sich weder selbst eine Meinung bilden, noch ein Kreuz setzen können. Sie seien leicht manipulierbar, Wahlbetrug, zum Beispiel durch Wahlhelfer oder Betreuer, werde so erleichtert. Andererseits ist Wählen ein fundamentales Bürgerrecht und steht als solches im Grundgesetz (Art. 33 GG). Davon darf niemand ausgeschlossen werden, entschied das Bundesverfassungsgericht. +Zur Europawahl wurde vom neuen Wahlrecht nochwenig Gebrauch gemacht, Martin aber hat per Briefwahl gewählt. Viele Behinderte seien durchaus in der Lage, eine begründete Wahlentscheidung zu treffen, denken er und seine Betreuerin. Diskutiert werden müsse eher, wie man Vollbetreute informieren undbeim Wahlakt technisch unterstützenkann, ohne Einfluss zu nehmen. diff --git a/fluter/wahlrecht-fuer-menschen-mit-behinderung.txt b/fluter/wahlrecht-fuer-menschen-mit-behinderung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2b125b2524ab332cccfbc05db665591dc19c9d36 --- /dev/null +++ b/fluter/wahlrecht-fuer-menschen-mit-behinderung.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Dass ihr die Fähigkeit, bei der Bundestagswahl eine eigene politische Entscheidung zu treffen, abgesprochen wird, ärgert auch Svenja K. "Ich war doch erst im Mai wählen", sagt sie. Bei den diesjährigen Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen konnten auch Menschen mit Vollbetreuung wählen. Wenn sie dabei Unterstützung brauchten, durften sie einen Wahlhelfer oder einen Betreuer mit in die Kabine nehmen. Svenja K. war zusammen mit ihrer Mutter im Wahllokal. Für ihre Wahlentscheidung habe sich ihre Tochter viel Zeit gelassen, berichtet die Mutter. Sie besuchten gemeinsam mehrere Wahlkampfveranstaltungen und sprachen mit der Betreuerin über die Parteien. +Sicher sind nicht alle Menschen mit Vollbetreuung so handlungsfähig wie Svenja K. Sie trifft trotz Vollbetreuung im Alltag viele Entscheidungen selbst. Zahlreiche Menschen mit Behinderung, die ebenfalls vom Wahlausschluss betroffen sind, können dagegen nicht die Entscheidung, wählen zu gehen, artikulieren oder treffen. Dabei ist die Definition, wer eine Vollbetreuung braucht, nicht einheitlich. Eine Studie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zeigte im letzten Jahr, dass die Wahrscheinlichkeit, eine Betreuung in allen Angelegenheiten zu erhalten, in Bayern 26-mal so hoch ist wie in Bremen. +Aus Sicht von Befürwortern spielt der Grad der Behinderung bei der Forderung nach Gleichbehandlung aber keine Rolle. Verena Bentele, Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, bezeichnet das Wahlrecht für alle Menschen mit Behinderung als Chance und nicht als Gefahr für die Demokratie. +Diese Einschätzung teilt auch die Lebenshilfe in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen und sieht sich dabei durch die diesjährigen Landtagswahlen bestätigt. Zahlreiche Menschen mit Behinderung hätten die Informationsangebote in leichter Sprache sowie die Veranstaltungen mit den Kandidaten in den Einrichtungen wahrgenommen und seien später auch zur Wahl gegangen, heißt es vom Bundesverband. Umso größer sei das Unverständnis dieser Menschen über das Wahlverbot bei der Bundestagswahl. Exakte Zahlen, wie viele ihr neues Wahlrecht bei den Landtagswahlen genutzt haben, gibt es nicht. +Widerstand gegen die Aufhebung kommt aus Teilen der CDU. Ein Argument, dass in der Vergangenheit öfter mal genannt wurde, ist: Das Wahlrecht könnte durch Betreuer missbraucht werden – zum Beispiel, indem sie für ihre Klienten abstimmen. Eine der Gegenpositionen stammt aus einer Bundestagsrede von Reinhard Grindel (CDU) aus dem Jahr 2013. Darin sagt er: "Ein Ausschluss vom Wahlrecht ist nicht nur zulässig, sondern nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts immer dann geradezu geboten, wenn eine Person aufgrund ihres gegenwärtigen individuellen körperlichen oder geistigen Zustands unzweifelhaft keinerlei Einsichtsfähigkeit oder Verständnis dafür hat, worum es bei einer Wahl geht. Das ist der Maßstab". +Allerdings ist diese Forderung nach Wahlverständnis nicht konsequent. So können Demenzpatienten ihren Angehörigen eine Versorgungsvollmacht ausstellen und damit weiter wählen, sie sind nicht vom Wahlrechtsausschluss betroffen. +"Pessimistisch gesprochen ist keine Briefwahl vor Missbrauch sicher. Trotzdem halte ich die Gefahr für einen Missbrauch sehr gering", sagt die Juristin Leonhard von der Lebenshilfe. Für einen Menschen mit Behinderung zu wählen sei strafbar. Ein Betreuer würde mit solch einer Handlung vor allem seine berufliche Existenz riskieren, aber sicher keinen erheblichen Einfluss auf den Wahlausgang ausüben. +Ein weiteres starkes Argument gegen den Wahlausschluss kommt von den Vereinten Nationen. Die bisherige Regelung steht nämlich im Widerspruch zu der UN-Behindertenrechtskonvention, die vor zehn Jahren auch Deutschland unterschrieben hat. Laut Artikel 29 müssen die Vertragsstaaten sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können. In Italien, Großbritannien, Schweden und den Niederlanden beispielsweise dürfen auch Menschen mit einer Vollbetreuung ganz selbstverständlich wählen. +Dass Deutschland noch bis zur Bundestagswahl am 24. September nachziehen wird, gilt als unwahrscheinlich. Vor allem in der Unionsfraktion ist der Widerstand gegen eine schnelle Anpassung des Wahlrechts groß. Der letzte Vorstoß der SPD scheiterte im Frühjahr. Nun will man die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abwarten. Dort hatten einige Menschen gegen den Wahlausschluss geklagt. Über die Beschwerde soll noch in diesem Jahr befunden werden – Verhandlungstage stehen allerdings noch nicht fest. + + diff --git a/fluter/wahrheit-editorial-fluter.txt b/fluter/wahrheit-editorial-fluter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..32b514999707f178a69e6c53c653aaf5b2d12767 --- /dev/null +++ b/fluter/wahrheit-editorial-fluter.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Die offenen Gesellschaften sind dem nicht hilflos ausgeliefert, es gibt Gegenbewegungen. Der Blick in die Arenen der Wahrheitsfindung lohnt sich dafür. +Das beginnt im persönlichen Umfeld, wo Freundschaften Streit einhegen und ihm das Unerbittliche nehmen können. Wir lernen so im Alltag, wie wir Widersprüche und komplexe Situationen verstehen und aushalten können. Die eigenen Haltungen und Wertungen offen zu vertreten und kritisch zu hinterfragen verlangt Mut und ist selten bequem. Streit so zu organisieren, dass es für die Beteiligten annehmbare Lösungen gibt, formt unsere Haltungen in persönlichen Beziehungen. Die Beleuchtung der eigenen Familiengeschichte und deren dunklen Seiten ist verwandt mit den Neubestimmungen der nationalen Geschichte jenseits kolonialistischer und rassistischer Vorurteile. Die Wahrheitskommissionen bilden faszinierende Versuche, Gewaltgeschichte und unversöhnliche Feindschaften zugunsten des Friedens und der eigenen Zukunftsgestaltung zu verarbeiten. Die Rechtsprechung zeigt, wie in der fragilen Balance von Wahrheit und Gerechtigkeit Entscheidungen getroffen werden und sich zu bewähren haben. +Die klassischen geistigen Autoritäten – Wissenschaften, Religionen und Philosophien – haben eine lange Geschichte des Streits um die Begriffe der Wahrheit und die Regeln der Wahrheitsfindung. Diese Suchbewegungen können wir immer wieder neu entdecken und so unsere Vorstellungen von Wahrheit prüfen. Dabei sind die Geltungsbereiche unbestreitbarer, fixer Wahrheiten erfahrungsgemäß eher eng. Oft landet man im Dilemma oder ist mit den unvorhergesehenen Folgen getroffener Entscheidungen konfrontiert. +In demokratischen Gesellschaften ist es nie einfach, die Interessen der widerstrebenden Akteure unter einen Hut zu bringen. Jede Balance ist prekär, aber gerade die Dynamiken, die bei der Suche nach einer gemeinsamen Lösung entstehen, machen die Freiheitsgrade der Vielen aus. Letztlich liegt es an uns, wie wir die eigene moralische Orientierung und unsere persönliche Informationspolitik verantworten. Wahr bleibt aber auch: Wir können den autoritären Versuchungen widerstehen und dem kalten Hauch der Unterwerfung entkommen. diff --git a/fluter/wahrheit-gericht-strafprozess.txt b/fluter/wahrheit-gericht-strafprozess.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0ece2e7d4dc287c6597a398153566d8a3d531f71 --- /dev/null +++ b/fluter/wahrheit-gericht-strafprozess.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +Genditzki, der sich neben seinem Job als Hausmeister um Frau Kortüm kümmerte, holte sie am Mittag des 28. Oktober im Krankenhaus ab, wo sie wegen Durchfalls behandelt worden war, und brachte sie nach Hause. Im Gerichtsurteil steht, er habe danach noch seine eigene Mutter im Krankenhaus besuchen wollen. Deshalb sei Frau Kortüm eifersüchtig geworden und habe einen Streit angefangen. Genditzki habe sie daraufhin geschlagen oder geschubst und so verletzt, dass er Angst vor einer Anzeige hatte. Er habe sie dann in der Wanne ertränkt, um einen häuslichen Unfall vorzutäuschen. +"Hochgradig unwahrscheinlich" nennt die Münchner Anwältin Regina Rick diesen Tatablauf. Sie hat im Juni 2019 einen Wiederaufnahmeantrag gestellt: Sie will, dass noch einmal neu verhandelt wird und sie neue Beweise für Genditzkis Unschuld vorbringen kann. Es gibt auch eine Petition, die eine Wiederaufnahme fordert. Die mehr als tausend Menschen, die sie unterschrieben haben, sind wie Rick überzeugt: Dieser Mord ist nie passiert. +Was ist (die) Wahrheit? +In seinem Buch "Die Wahrheit vor Gericht" schreibt der Strafverteidiger Klaus Volk: "Ich würde nie beschwören, dass ich auch nur in einem einzigen meiner Fälle die ganze Wahrheit erfahren hätte. Ich will aber darauf bestehen, dass es meist gerecht zugegangen ist." Wahrheit und Gerechtigkeit hängen also nicht unmittelbar miteinander zusammen. Auch die Rechtswissenschaftlerin und -philosophin Frauke Ros­talski von der Universität Köln sagt: "Die Wahrheit ist nicht zwingend erforderlich für die Herstellung von Gerechtigkeit." Ein Urteil sei dann gerecht, wenn wir als Gesellschaft sagen könnten: "Auf dieser Grundlage können wir damit leben, auch wenn wir doch einen Fehler gemacht haben sollten und es eigentlich anders war." +Im Grundsatz gilt: "Im Zweifel für den Angeklagten." Genditzkis Anwältin ist der Meinung: In seinem Fall überwiegen die Zweifel. Das Urteil sei "willkürlich" und "völlig aus der Luft gegriffen". Sie glaubt, dass die Wahrheit ganz anders aussieht. +Aber welche Definition von Wahrheit gilt hier eigentlich? Das Bundesverfassungsgericht sagt, im Strafrecht werde die "materielle Wahrheit" erforscht, das bedeutet: die Übereinstimmung mit den Tatsachen und der Wirklichkeit. Aber Frauke Rostalski sagt, es sei unrealistisch, vor Gericht diese "materielle Wahrheit" herausfinden zu wollen. Es gehe vielmehr darum, die "prozessuale Wahrheit" zu ergründen: die Erkenntnis, die möglich ist, wenn alle Regeln im Verfahren  eingehalten werden. +Die Beweise #1:   Urkunden +In § 261 der Strafprozessordnung heißt es: "Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung." Zur Rekonstruktion des Falls sind im Strafprozess vier Beweismittel erlaubt: Zeugen, Gutachten von Sachverständigen (z. B. von einer Psychologin oder einem Gerichtsmediziner), Urkunden und Augenschein (z. B. Fotos oder Videoaufnahmen). +"Urkunden sind besonders verlässlich", sagt die Rechtsprofessorin Frauke Rostalski. Denn sie bilden die Wirklichkeit objektiv ab. In diesem Fall belegen Telefonprotokolle, dass Genditzki an Frau Kortüms Todestag um 14:57 Uhr zweimal kurz versucht hat, ihren Hausarzt zu erreichen, und um 15:09 Uhr ihren Pflegedienst anrief, um Bescheid zu sagen, dass sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Und es gibt einen Kassenzettel, der zeigt, dass Genditzki um 15:30 Uhr im Supermarkt eines Nachbarorts eingekauft hat. +Diese Beweismittel belegen Tatsachen. Die lassen sich allerdings unterschiedlich interpretieren. Das Gericht sagt: Genditzki hat Frau Kortüm im Streit auf den Kopf geschlagen oder sie gestoßen. Sie wurde bewusstlos oder war benommen, darum wollte er ihren Hausarzt anrufen. Aber aus Angst, sie könnte ihn wegen Körperverletzung anzeigen, legte er direkt wieder auf. Dann ertränkte er die Frau in der Wanne, um einen Unfall vorzutäuschen. Anschließend rief er den Pflegedienst an und kaufte ein, um sich ein Alibi zu verschaffen. +Diejenigen, die an dem Urteil zweifeln, sagen: Um 14:57 Uhr lebte Frau Kortüm noch, um 15:09 Uhr soll sie tot gewesen sein? Zwölf Minuten, um eine erwachsene Frau ins Bad zu schleppen, in die Wanne zu heben und zu ertränken? Das halten sie für sehr unwahrscheinlich. +Die Beweise #2:  Gutachten +Im Prozess gegen Genditzki im Jahr 2010 war vor allem das Gutachten des Gerichtsmediziners Wolfgang Keil wichtig. Er fand die Blutergüsse unter Frau Kortüms Kopfhaut. Und er simulierte mit einem selbst gebastelten Badewannenmodell, wie sie in die Position gekommen sein könnte, in der sie gefunden wurde. Keils Ergebnis: Ohne äußere Einwirkung sei das "höchst unwahrscheinlich". +Genditzkis Anwältin Regina Rick hat neue Gutachten anfertigen lassen. Eines, das ausgehend von der Wassertemperatur den Todeszeitpunkt neu eingrenzt – auf einen Zeitpunkt lange nachdem Genditzki die Wohnung verlassen hat. Und eine Computersimulation, die zeigt, dass es gut sein könnte, dass Frau Kortüm ausgerutscht und dann auf der rechten Seite in der Wanne gelandet ist, mit dem linken Bein links über dem Wannenrand. Diese Gutachten seien damals noch nicht möglich gewesen, sagt Rick, die Technik habe in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht. Sie geht davon aus, dass man die Wirklichkeit heute präziser rekon­struieren kann. Doch die Staatsanwaltschaft, die über den Wiederaufnahmeantrag entscheiden muss, will die neuen Gutachten nicht gelten lassen. Welche Seite recht hat, muss nun die 1. Strafkammer des Landgerichts München I prüfen. +Die Beweise #3:   Zeugen +Zeugen seien im Vergleich zu Urkunden oder Gutachten weniger verlässlich, sagt Frauke Rostalski von der Uni Köln, "weil oft Erinnerungslücken oder Wahrnehmungseinschränkungen vorliegen". Selbst wenn Zeugen die Wahrheit sagen – wozu sie vor Gericht verpflichtet sind –, kann es sein, dass ihre Aussage nicht der Wirklichkeit entspricht. Oder anders gesagt: Ein und dieselbe Wirklichkeit kann verschiedene Wahrheiten beinhalten, je nachdem, wer über sie spricht. +Im Prozess gegen Genditzki haben Zeugen ausgesagt und medizinische Protokolle gezeigt, dass Frau Kortüm in der Vergangenheit häufiger gestürzt ist. In ihrer Krankenakte waren in den Monaten vor ihrem Tod aber keine Stürze mehr dokumentiert. Unter anderem darum schloss das Gericht einen Unfall aus. +Eine Frage während der Verhandlung war, warum Frau Kortüm überhaupt an der mit Wasser gefüllten Wanne gestanden haben soll. Eine Zeugin hatte angegeben, dass sie nie badete. Die Verteidigung sagte: Sie wollte Wäsche einweichen, die durch ihren Durchfall schmutzig geworden war. Das Gericht hielt das für ausgeschlossen, weil "ausschließlich der Angeklagte behauptete, Frau Kortüm habe manchmal Wäsche in der Badewanne eingeweicht". +Der Wiederaufnahmeantrag von Regina Rick stützt sich, neben den neuen Gutachten, auch auf eine neue Zeugin. Die hat Frau Kortüm früher sehr gut gekannt und sagt, sie habe oft schmutzige Wäsche in der Wanne eingeweicht, bevor sie in die Waschmaschine kam. Das sei ihre "Macke" gewesen. Diese Zeugin sagt auch, dass Frau Kortüm oft plötzlich in Ohnmacht gefallen sei. Einmal habe sie sie bewusstlos in der vollen Badewanne gefunden. Die Staatsanwaltschaft hält die Zeugin aber nicht für geeignet, weil sie Frau Kortüm vor deren Tod lange nicht mehr gesehen hat. +Das Motiv +Eine wichtige Frage, um in einem Strafprozess die Wahrheit zu ergründen, ist die nach dem Motiv: Warum sollte Manfred Genditzki Lieselotte Kortüm umgebracht haben? Die Staatsanwaltschaft sagte anfangs, Genditzki habe Geld unterschlagen und Frau Kortüm habe ihn erwischt, darum der Streit und der Mord. Aber die Beweisaufnahme ergab, dass er kein Geld unterschlagen hat. Darum schwenkte die Staatsanwaltschaft auf das neue Motiv um: Frau Kortüms Eifersucht auf Genditzkis Mutter, darum der Streit und der Mord. Im Mai 2010 wird Genditzki verurteilt, aber der Bundesgerichtshof hebt das Urteil auf, weil man nicht mitten in der Verhandlung das Motiv wechseln könne. Also "aus verfahrensrechtlichen Gründen" – denn die "prozessuale Wahrheit" kann ja nur ergründet werden, wenn alle Regeln eingehalten werden. Es wurde neu verhandelt, mit dem zweiten Motiv als Grundlage. Und Manfred Genditzki wurde erneut verurteilt. +Der Verurteilte +Ist Manfred Genditzki schuldig oder nicht? Er sagt, er war es nicht. Aber es liegt nicht an ihm, was am Ende als "prozessuale Wahrheit" im Urteil steht. Das wäre noch nicht einmal so, wenn er den Mord gestehen würde. Das Geständnis, schreibt Klaus Volk, werde in unserer Gesellschaft "weit überschätzt". Denn eigentlich ist es nur ein Beweis unter vielen. Anders als Zeugen sind Angeklagte nicht mal verpflichtet, die Wahrheit zu sagen. Sie haben das Recht, zu schweigen. Sie dürfen sogar lügen – das ist zwar im Strafrecht nicht explizit erlaubt, aber eben auch nicht verboten. +Allein daran, dass die einen Manfred Genditzki für unschuldig halten und die anderen nicht, kann man sehen: Es gibt die eine Wirklichkeit, die Genditzki und Lieselotte Kortüm erlebt haben. Aber die eine Wahrheit über diese Wirklichkeit gibt es nicht. + + +Update, 20. August 2022 +Am 12. August 2022 wurde Manfred Genditzki aus der Haft entlassen, weil das Landgericht München I das Verfahren wieder aufnehmen lassen will: Die neuen Sachverständigengutachten, heißt es, seien in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen geeignet, zu einer für Genditzki günstigeren Entscheidung zu führen. Diese Erkenntnisse seien erst aufgrund der technischen Entwicklung der vergangenen Jahre möglich geworden. Daher handele es sich um neue Beweismittel im Sinne des Wiederaufnahmerechts. Ein Zeitpunkt für die erneute Hauptverhandlung steht noch nicht fest. diff --git a/fluter/wahrheit-wissenschaft-einsichten-platon-quantenlogik.txt b/fluter/wahrheit-wissenschaft-einsichten-platon-quantenlogik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fd2bceaa9fb082cb0183c9d64f2f6295dd6cfa38 --- /dev/null +++ b/fluter/wahrheit-wissenschaft-einsichten-platon-quantenlogik.txt @@ -0,0 +1,16 @@ + +Albert Einstein sagte einmal, er komme nur noch an sein Institut in Princeton, "um das Privileg zu haben, mit Gödel zu Fuß nach Hause gehen zu dürfen". Kurt Gödel, 27 Jahre jünger als Einstein, galt schon damals als "Mozart der Mathematik". +Seit der Antike, seit Pythagoras, war die Mathematik die etwas nerdige Schwester der Philosophie. Ihre unabweisbare Strenge hat Gödel, geboren 1906, ins Feld geführt, um die Wahrheit um eine zusätzliche Dimension zu erweitern: Es gibt nicht nur "wahr" und "falsch", sondern auch "unentscheidbar". Bewiesen hat er das in seinen beiden Unvollständigkeitssätzen. Sie waren eine Antwort auf einen anderen großen Mathematiker, David Hilbert. Der hatte sich bemüht, alle mathematischen Systeme als logische Folge stabiler Axiome (also: unhinterfragbarer Grundwahrheiten) anzusehen. In der Mathematik gäbe es kein "Wir wissen es nicht". +Gödel behauptete, es gebe Sätze, die zwar inhaltlich richtig, aber im System der klassischen Mathematik unbeweisbar sind. Die Goldbach'sche Vermutung beispielsweise, dass sich jede gerade Zahl größer als 2 als Summe zweier Primzahlen darstellen lasse (4 = 2 + 2, 6 = 3 + 3 und so weiter), ist seit dem 18. Jahrhundert weder widerlegt noch bewiesen worden. Man weiß es einfach nicht.Erklären lässt sich das anhand einer Behauptung wie "Dieser Satz ist falsch". Trifft der Satz zu, ist er falsch. Ist er aber falsch, wäre seine Aussage wahr. Was wiederum bedeutet, dass er nicht wahr ist. Seitdem müssen Mathematiker an die Widerspruchsfreiheit ihres Tuns glau­ben. Beweisen können sie es nicht, weil kein System wahre Aus­sagen über sich selbst hinaus treffen kann. + +Für den Philosophen Immanuel Kant war Wahrheit in einer "Übereinstimmung der Erkenntnis mit dem Gegenstand" gegeben. Umgekehrt ist eine Erkenntnis dann "falsch, wenn sie mit dem Gegenstande, worauf sie bezogen ist, nicht übereinstimmt". Simpel gesagt: Wenn wir eine Birne als Apfel bezeichnen. +Da aber das Objekt "außer mir" ist, die Erkenntnis als geistiger Vorgang aber "in mir", kann sich auf diese Weise immer nur die Erkenntnis von einem Gegenstand selbst bestätigen. Ich erkenne die Birne als Birne, wenn das meiner Erfahrung entspricht, aber auch dem Urteil anderer Menschen über den betreffenden Gegenstand. Die Wahrheit läge demnach im Zusammenhang zutreffender Urteile. In der Wissenschaft nennt man das "intersubjektive Überprüfbarkeit". Meine Erkenntnis wird von anderen Experten geteilt. +In diesem Punkt widersprach Georg Wilhelm Friedrich Hegel, indem er weit über Kant hinausging. In seiner "Phänomenologie des Geistes", 1807 und drei Jahre nach dem Tod von Kant veröffentlicht, erklärte Hegel: "Das Wahre ist das Ganze." Dabei ist das "Ganze" für Hegel nicht die Summe seiner Teile – sondern sozusagen der Gang zum Resultat, die Bewegung hin zum "Absoluten". +Im absoluten Wissen, so Hegel weiter, würden Subjekt und Objekt eins. Vereinfacht gesagt wäre Wahrheit demnach nicht in blitzartiger oder punktueller Erkenntnis zu haben, nicht als "richtiges" Urteil oder kohärenter Zusammenhang zutreffender Beobachtungen. Sondern nur als andauernde Arbeit am Begriff selbst. Friedrich Nietzsche wird zu dieser Frage später lakonisch schreiben, Wahrheit sei "die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte". + +Laut Ludwig Wittgenstein (geboren 1889 in Wien) ist die Sprache der Schlüssel zur Wahrheit. Deshalb habe sie logischen Gesetzen zu folgen. Die Wirklichkeit zerfällt laut Wittgenstein in Dinge, denen in der Sprache jeweils ein Name zugeordnet ist. Erst die Zusammenfassung dieser Namen in Sätzen verleiht ihnen Sinn. Deckt sich dieser Sinn mit den von den Namen bezeichneten Dingen, kann man von "wahren" Sätzen sprechen. Eine Behauptung wie "Die Temperatur des Wassers beträgt 20 Grad" ist schlicht dann wahr, wenn wirklich eine "Temperatur" von "20 Grad" im "Wasser" gemessen wurde. Analog zur Mathematik ist demnach ein "falscher" Satz, was sich nicht auf die Wirklichkeit anwenden lässt. Hinzu kommt ein Drittes, der Unsinn. Eine Aussage wie "Dieser Satz ist falsch" bezieht sich nicht auf ein Ding, sondern nur auf sich selbst – und ist daher "unsinnig". +Wittgenstein leistet von linguistischer Seite, was Gödel aus mathematischer Sicht formuliert hat. Er zeigt die Beschränktheit eines – hier sprachlichen – Systems. "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt." Für Metaphysik, Glaube oder Mutmaßungen ist bei Wittgenstein kein Platz: "Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen." + +In vielen physikalischen Experimenten stellen Quanten, also Einheiten von Energie, unser herkömmliches Verständnis der Naturgesetze auf den Kopf. Quanten tun nämlich nicht, was sie theoretisch tun müssten. So können Quanten mehrere, einander widersprechende Eigenschaften haben, etwa Welle und Teilchen zugleich sein. Miteinander "verschränkte" Teilchen nehmen zum Zeitpunkt einer Messung sogar den gleichen Zustand ein, auch wenn sie weit voneinander entfernt gemessen werden – als wohnte eine Seele in zwei Körperchen. +Nach den Gesetzen der Relativitätstheorie – wonach nichts schneller ist als das Licht, also auch keine "Information" über den Zustand eines Teilchens – kann das nicht sein. Albert Einstein selbst scherzte, da müsse eine "spukhafte Fernwirkung" am Werk sein. In diesen Grenzbereichen der Physik versagt nicht nur die menschliche Intuition. Offenbar ist etwas "wahr" und bis auf Weiteres beweisbar, was nicht wahr sein kann. Das ist nicht nur ein Dilemma, es ist sogar ein "Te­tralemma". Und dafür gibt es im westlichen Denken keinerlei Vorbilder – wohl aber in östlichen Philosophien. In buddhistischen Schriften können Dinge "wahr" und "falsch", aber auch "sowohl wahr als auch falsch" und, zu allem Überfluss, "weder wahr noch falsch" sein. Das behauptete etwa der Philosoph Nāgārjuna, ein bedeutender Vertreter des Mahāyāna-Buddhismus, im 2. Jahrhundert nach Christus. Es wäre auf der Suche nach der Wahrheit eine neue Logik zu entfalten, die mehr als nur zwei Wahrheitswerte kennt. + diff --git a/fluter/wahrheitskommissionen-s%C3%BCdafrika-s%C3%BCdamerika.txt b/fluter/wahrheitskommissionen-s%C3%BCdafrika-s%C3%BCdamerika.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9c4b9ec8056d650fcd945916bc72313b6cbb0be1 --- /dev/null +++ b/fluter/wahrheitskommissionen-s%C3%BCdafrika-s%C3%BCdamerika.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +"Eine Therapie für die Nation" nannte der damalige südafrikanische Verfassungsrichter Richard Goldstone das Wirken der Kommission. Auf dieses friedfertige Vorgehen hatte man sich nach den ersten freien Wahlen von 1994 geeinigt, als Justizminister Abdullah Omar erklärte, es werde in Südafrika weder eine Generalamnestie geben noch "Nürnberger Prozesse" – in Anspielung auf die Gerichtsprozesse gegen hochrangige Nationalsozialisten nach dem Zweiten Weltkrieg, die mit einigen Todesstrafen endeten. Stattdessen kündigte er die Einrichtung einer Wahrheitskommission an – mit dem Ziel "Versöhnung" und "nationale Einheit". Tutu nannte auch "Vergebung statt Vergeltung" als Leitmotiv. +Unumstritten war dieser Ansatz nicht. Denn untersucht wurde nicht allein der Terror des auf der sogenannten Rassentrennung beruhenden Apartheidsystems, sondern auch Verbrechen ihres Gegners, der Befreiungsbewegung des Afrika­nischen Nationalkongresses (ANC), zu der unter anderem Nelson Mandela gehörte. Kritik gab es auch, weil nur vergleichsweise wenigen Op­fern eine Entschädigung (von maximal 20.000 Eu­ro) für ihre Leiden zugesprochen wurde und der Kommission nur zweieinhalb Jahre zur Verfügung standen, um Tausende Fälle zu untersuchen. Dafür war die SATRC mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet. Sie konnte Tätern sogar Strafmilderung oder gar Straferlass gewähren, sofern diese vollständig und wahrheitsgemäß über die ihnen zur Last gelegten Verbrechen Rechenschaft ablegten. Von knapp 7.100 Amnestiegesuchen wurden schließlich 1.160 gebilligt. +Rund 7.000 Verbrechen konnte die SATRC aufklären. In ihrem Bericht schrieb sie, dass der Staat im Untersuchungszeitraum "der Hauptverantwortliche für schwere Menschenrechtsverletzungen" gewesen sei. Im Rückblick lässt sich sagen: Die SATRC hat die Nation zwar nicht "versöhnt", sie war aber ein wichtiger, vielleicht notwendiger Schritt im noch nicht abgeschlossenen Prozess auf dem Weg zu einer gesellschaftlichen Aussöhnung. +Die südafrikanische Wahrheitskommission ist zwar als bekannteste ihrer Art in die Geschichte eingegangen, entstanden ist dieses Konzept jedoch in Lateinamerika zu Beginn der 1980er-Jahre – als Reaktion auf die in vielen Ländern des Kontinents überwundenen Diktaturen und deren Verbrechen. So ließ manin Argentinienund Chile Oppositionelle und andere Gegner massenhaft verschwinden.Die 1983 in Argentinien gegründete "Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas" (CONADEP) trug dieses Verbrechen schon in ihrem Namen ("Desaparición", dt.: Verschwinden). Ihr Bericht mit dem Titel "Nunca más" (Nie wieder) legte die erste umfassende Darstellung der Repressionen der Militärdiktatur (1976 bis 1983) vor, die eine vorläufige Zahl von knapp 9.000 Opfern enthielt. + +Ruf nach Aufarbeitung: In Chile wehren sich viele gegen das Vergessen + +Die "Comisión Nacional de Verdad y Reconciliación" (CNVR) in Chile war schließlich 1990 die erste, welche die Bezeichnungen "Wahrheit" und "Versöhnung" im Namen trug. Das Beispiel Chile zeigt aber auch die widerstreitenden Interessen, denen sich die Kommissionen oft stellen müssen. Denn das Ende der Militärdiktatur (1973 bis 1990) war hier durch eine Volksabstimmung im Oktober 1988 eingeleitet worden, bei der sich noch rund 45 Prozent der Abstimmenden für den Verbleib des Diktators Augusto Pinochet als Staatschef aussprachen. "Am Tag, an dem einer meiner Männer angefasst wird, ist es vorbei mit dem Rechtsstaat", drohte Pinochet, der weiterhin Oberkommandierender des Heeres war, ganz unverblümt. Trotzdem war die Tätigkeit der CNVR mit ihrem umfassenden Ansatz ("Die ganze Wahrheit und so viel Gerechtigkeit wie möglich") und der Betonung auf der nationalen Aussöhnung ein erster Erfolg. +Wobei das, was genau unter Versöhnung verstanden wird, immer kulturabhängig ist. Das deutsche Wort Versöhnung leitet sich etwa von "Sühne" ab. Dem liegt die katholisch-christlich geprägte Idee zugrunde, dass Täter bereuen und eine Wiedergutmachung leisten. Die Schuld soll durch eine Strafe abgegolten werden. +Nach der Leitidee von "Ubuntu" – einer Philosophie, die in allen Bantu-Sprachen Afrikas verbreitet ist – gehört der Einzelne hingegen zu etwas "viel Größerem", wie Erzbischof Tutu es ausgedrückt hat. Ubuntu ist demnach die Bereitschaft aller, etwas für die Heilung der Gemeinschaft zu tun, wenn diese durch Einzelne verletzt wird. Ähnlich äußerte sich auch Cynthia Ngewu, die Mutter eines von der südafrikanischen Polizei vorsätzlich erschossenen Widerstandskämpfers. Wenn Versöhnung bedeute, dass der Mörder ihres Sohnes wieder ein Mensch werde, sagte sie, "sodass auch ich, dass wir alle unsere Menschlichkeit wiedererlangen", dann sei sie damit einverstanden. +Seither wurden weltweit zahlreiche weitere Wahrheitskommissionen ins Leben gerufen. Gerichtsverfahren ersetzen können sie nicht, dafür fehlen ihnen in der Regel die Befugnisse. Dennoch sind sie spätestens seit der Jahrtausendwende, nun oft unter Beteiligung der Vereinten Nationen, zu einem Standardinstrument bei der Untersuchung schwerer Menschenrechtsverletzungen geworden. Ein In­strument, das den Opfern eine Stimme verleiht – als ergänzendes Mittel zur strafrechtlichen Aufarbeitung. +Und allmählich geraten weiter zurückliegende Verbrechen, etwa aus der Zeit des Kolonialismus, in den Blick. Im Zuge der Black-Lives-Matter-Proteste in Belgien,bei denen auch Statuen von König Leopold II. beschädigt wurden,hat das Parlament beschlossen, dass eine Wahrheitskommission das besonders unmenschliche Regime der Belgier im einstigen "Freistaat Kongo" untersuchen soll. Zwischen 1885 und 1908 hatte der "Blut-König" Leopold II. das Land zu seiner persönlichen Kolonie gemacht; bis zu zehn Millionen Menschen, etwa die Hälfte der Bevölkerung, bezahlten das mit ihrem Leben. +Zur Aufklärung des von Truppen des deutschen Kaiserreichs begangenen und von der Bundesregierungso eingestuften Völkermords an den Herero und Nama in Namibiavon 1904 bis 1908 treibt derweil die deutsche NGO "European Center for Constitutional and Human Rights" (ECCHR) die Einsetzung einer Wahrheitskommission voran. Auch hier geht es nicht um eine schon feststehende Wahrheit, sondern um die kollektive Verständigung der Gesellschaft über Geschehnisse in der Vergangenheit. Und egal wie lange ein Verbrechen zurückliegt, die Wahrheit hat kein Verfallsdatum. + diff --git a/fluter/wakanda-forever-afrofuturismus-rezension.txt b/fluter/wakanda-forever-afrofuturismus-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..066a321dce02276da621493d297e6c862e5c9bcb --- /dev/null +++ b/fluter/wakanda-forever-afrofuturismus-rezension.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Einzigartig ist dieser zweite Teil der "Black Panther"-Reihe, weil er zeigt, wie seine Charaktere genauso mit einem Verlust fertig werden müssen wie Cast und Franchise selbst: Chadwick Boseman, der gefeierte T'Challa-Schauspieler aus Teil eins, verstarb im August 2020 an Krebs. Ryan Coogler, Bosemans Freund und Regisseur beider Black Panther-Filme, hat ihm ein Denkmal gesetzt. Die Windgeräusche aus dem Intro ziehen sich durch den Film als stete Erinnerung an den Verstorbenen;die Ebenen zwischen Schauspieler und Figur werden bewusst vermischt. + + +Bosemans Abwesenheit spiegelt sich auch anderweitig. "Wakanda Forever" ist eher als Ensemblefilm als über eine Hauptfigur erzählt. Dabei rücken die Frauen Wakandas in den Vordergrund: Okoye, Nakia, Shuri, Ramonda und neue Charaktere stellen sich den Herausforderungen und bringen jeweils eigene Perspektiven ein. Unterstützt werden sie wieder durch die weibliche Leibgarde des Königshofes. Wenn man zwischen allen überhaupt so etwas wie eine Protagonistin ausmachen kann, ist es wohl Shuri. Sie durchlebt im Verlauf der Geschichte die Trauerphasen Leugnen, Wut, Verhandeln, Depression und Akzeptanz, an denen sich auch die Dramaturgie des Films orientiert. Aus dem Comic-Relief-Charakter des ersten Teils ist eine traumatisierte, aber empathische Figur geworden, auch dank ihrer Darstellerin Letitia Wright. +"Black Panther 2" ist ein schwermütiger Film. Und trotzdem ist, wo Marvel draufsteht, natürlich auch Spektakel drin: Die Anspielungen auf das Marvel-Universum sind so dicht gestreut wie bedeutungsschwanger. Und auch in Sachen Optik nimmt es "Black Panther 2" spielend mit anderen Marvel-Pieces auf: Man würde der Kamera tagelang durch das nebelverhangene Wakanda oder den Unterwasserstaat Talocan folgen, auch ohne dieMusik des Rapper-Ehepaars Tobe und Fat Nwigwe, die eine der Verfolgungsjagden unterhämmert, aber noch lieber mit. +Der erste "Black Panther" wurde 2018 mit fast ausschließlich Schwarzem Cast zu einem der erfolgreichsten Filme der Kinogeschichte.(Anm. d. Red.: Wir schreiben "Schwarz" groß, um zu verdeutlichen, dass es keine Eigenschaft oder Hautfarbe ist, sondern eine politische Selbstbezeichnung.)Sein Einfluss war enorm. Der Film, so rühmten damals die Kritiken, soll verändert haben, wie Generationen Schwarzer Zuschauer*innen sich und ihre Zukunft in der Welt imaginieren. Er verankerte den Afrofuturismus endlich (Comics wie "Fantastic Four" erzählten bereits in den 1960er-Jahren afrofuturistisch) im Mainstream. Der Afrofuturismusentwirft postkoloniale Zukünfte: Hier sind PoC die Held*innen, stolz auf ihr Schwarzsein und eine gedeihende Schwarze Kultur. +Auch "Black Panther 2" ist unverkennbar afrofuturistisch inspiriert: Der Film vermengt Technologie, afrikanische Mythologie und Popkultur. Und er schreibt die Schwarze Ermächtigungsfantasie des ersten Teils konsequent fort: Nicht nur, dass Schwarze in Wakanda nie Unterdrückung erfahren haben, es ist das mächtigste und technologisch avancierteste Land der Erde. Auch Frankreich und die USA setzen viel daran, das kostbare Vibranium zu erschließen – bleiben aber ohne nennenswerte Erfolge. Die Weltgeschicke machen Wakanda und Talocan aus, eine afrikanische und eine aus der Inka-Tradition hervorgegangene Nation. + +"Black Panther: Wakanda Forever" läuft seit 9. November in den Kinos. + diff --git a/fluter/wald-in-der-wueste.txt b/fluter/wald-in-der-wueste.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d3c1bbae0d6d37618d8393020b41c03895dedbe8 --- /dev/null +++ b/fluter/wald-in-der-wueste.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Doch Rinaudos Bilanz macht Hoffnung: Seine Methode, als "Farmer Managed Natural Regeneration" bekannt, wird mittlerweile in mehr als 15 Ländern des Kontinents getestet – darunter Niger, Tschad, Burkina Faso, Äthio-pien und Mali. In Niger wurden auf diese Weise 200 Millionen Bäume hochgepäppelt und mehr als 50.000 Quadratkilometer Land wieder urbar gemacht. Denn Bäume wirken der Erosion entgegen, halten die Feuchtigkeit im Boden und spenden Schatten – das hilft beim Ackerbau, ist also gut für die Ernährungssicherheit, die auch durch die Folgen des Klimawandels in vielen afrikanischen Ländern gefährdet ist. +"Re-Greening Africa" heißt auch das Motto von Wissenschaftler Chris Reij, der auf eine Graswurzelbewegung setzt, um möglichst viele Bauern zum Mitmachen zu bewegen. "Wenn ich den Menschen sage, diese Methode ist gut, wären sie skeptisch", sagt er. "Aber wenn sie es von anderen Bauern hören, die unter ähnlichen Bedingungen arbeiten und gute Ergebnisse vorweisen können, dann kommt die Botschaft an." +Seit Jahren wird die Errichtung einer "grünen Mauer" in der Sahelzone diskutiert. Der 15 Kilometer breite und 7.000 Kilometer lange Grüngürtel soll die weitere Ausbreitung der Sahara nach Süden aufhalten und durch elf afrikanische Länder führen. diff --git a/fluter/waldbraende-technologie-bekaempfen.txt b/fluter/waldbraende-technologie-bekaempfen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cf1221683816b79eb56acfbe57ca61d3abe73de7 --- /dev/null +++ b/fluter/waldbraende-technologie-bekaempfen.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Der Zusammenhang zwischen den Feuerwalzen und dem Klimawandel wurd wissenschaftlich wiederholt belegt. Zuletzt durch eine Studie des Pacific Northwest National Laboratory, veröffentlicht im Fachmagazin "Nature Communications". Ein Team von Forschenden konnte nachweisen, dass die extreme Trockenheit im Westen der USA mit dem Eisschwund in der Tausende Kilometer entfernten Arktis zusammenhängt. Vereinfacht gesagt: Weil in bestimmten Gebieten heute statt heller Eisflächen dunkles Meerwasser dominiert, zirkuliert die Luft anders. Hochdruckgebiete breiten sich häufiger aus und begünstigen Trockenheit und Dürre, was wiederum zu Großbränden führt. Das gefährdet nicht nur Anwohner, sondern zuallererst die Natur. + +Zuletzt meldete die Nationalpark-Verwaltung, dass in diesem Jahr bereits etwa 3.600 Mammutbäume vernichtet oder irreparabel beschädigt worden sind. Zusammen mit den bis zu 10.400 im Jahr 2020 verbrannten Exemplaren macht das rund fünf Prozent der gesamten Bestände der weltweit größten Baumart aus. +Nun ist Kalifornien aber nicht nur für Waldbrände bekannt, sondern auch für seine vielenStart-ups. Manche von ihnen suchen Lösungen für die Großkrise. Die Firma Homebound zum Beispiel will Menschen beim Wiederaufbau ihrer Häuser helfen, indem sie ein Onlineportal entwickelt hat, das technische und bürokratische Hürden schneller abwickeln soll. Andere Firmen konzentrieren sich auf spezialisierte Wetterprognosen – und manche wollen durch effektivere Evakuierungen Menschen retten. +An einem grauen Herbsttag stößt Charlie Crocker die Tür zu einem Besprechungszimmer auf. Draußen, vor dem schmucklosen Gewerbebau unweit San Diegos, hat der Herbst Regen gebracht und so die Feuersaison abgeschwächt. Drinnen projiziert Crocker Landkarten auf eine Wand. "Bisher werden von Waldbränden betroffene Gemeinden oft evakuiert, indem sich Feuerwehrleute über Karten beugen, die auf dem Kühlergrill ihres Autos liegen", sagt Crocker. Und deutet auf eine Karte, die Kalifornien in viele kleine Gebiete zerlegt, die alle verschiedene Siedlungsstrukturen, Baumbestände und Straßennetze aufweisen. +Zonehaven heißt Crockers Firma. Sie will mithilfe von Wetterdaten, Windrichtungen, topografischen und soziodemografischen Besonderheiten vorhersagen, welches Gebiet wann evakuiert werden muss. Eine komplexe Aufgabe, erklärt Crocker. "Wenn es nachts in einer Kleinstadt mit mehreren Seniorenheimen brennt, ist die Situation natürlich eine andere, als wenn ein Industriegebiet betroffen ist, in dem niemand übernachtet." + + +Wenn Charlie Crocker so voller Energie auf Karten deutet, in seinen Laptop tippt und sehr bestimmt darüber redet, wie viele Menschenleben durch Zonehaven gerettet werden können, ist man leicht geneigt, ihm zu glauben. Es sei aber schwer, Gemeindevertreterinnen oder Bürgermeister von seinem Produkt zu überzeugen. Oft fehle es lokalen Entscheidungsträgern schlicht an finanziellen Mitteln, erklärt Crocker. Natürlich kostet die Kartierung durch Zonehaven Geld. "Die Leute kommen erst zu uns, wenn das Unglück schon geschehen ist." +So sei ein schweres Feuerunglück auch der Moment gewesen, der zur Gründung seiner Firma geführt habe: 2018 starben im "Butte County Camp Fire" 86 Menschen. Viele von ihnen kamen schlichtweg nicht schnell genug weg, weil Fluchtrouten nicht frei waren. Mittlerweile würden 13 Landkreise in Kalifornien Zonehaven benutzen, um künftig sowohl bei Feuerstürmen als auch bei anderenNaturkatastropheneffektiver evakuieren zu können. +Nicht nur Experten aus den USA erwarten, dass Waldbrände in Zukunft weiter zunehmen. Kai Fabian Fürstenberg, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut der Feuerwehr Nordrhein-Westfalen, beschäftigt sich hauptberuflich damit. "Wir behandeln zwar die Folgen des Klimawandels und können diese im Bereich Vegetationsbrand mit unseren Maßnahmen sogar abmildern", erklärt er. "Trotzdem ist leider in den kommenden Jahrzehnten eher mit einer weiteren Verschlechterung zu rechnen." Nur wenn alle Maßnahmen zum Klimaschutz, die derzeit in Deutschland diskutiert würden, auch umgesetzt werden, seien "kalifornische Verhältnisse" noch zu verhindern. Selbst vermeintlich gute Voraussetzungen, wie etwa ein regenreicher Monat, könnten manchmal kontraproduktiv sein. "Es entsteht ein Teufelskreislauf. Mehr Regen bedeutet mehr Vegetation. In der nächsten Trockenperiode gibt es also mehr Brennstoff." +Die Grundlagenforschung werde hierzulande stark staatlich finanziert, sagt Fürstenberg. Dabei seien privatwirtschaftliche Initiativen auch in Deutschland wichtig. Unter denen machte zuletzt das Münchener Start-up OroraTech von sich reden: Das Unternehmen erkennt Waldbrände per Satellit und will so die Löscharbeiten erleichtern. Wie dringend nötig Investitionen in den Katastrophenschutz von Kalifornien bis Deutschland sind, hat dieses Jahr die verhängnisvolle Flut in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz gezeigt. Obwohl vor den Wassermassen gewarnt wurde, starben mehr als 180 Menschen. Bei Wuppertal läutete tatsächlich noch ein Mönch eine Glocke, um Anwohnerinnen und Anwohner zu warnen. diff --git a/fluter/wann-bekommt-kosovo-visafreiheit.txt b/fluter/wann-bekommt-kosovo-visafreiheit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fd7f00500b755aed65ea98e6d91a481566dfda66 --- /dev/null +++ b/fluter/wann-bekommt-kosovo-visafreiheit.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +Kleinstadt im Erzgebirge? Nein, Priština, die jüngste Hauptstadt Europas. Von einem Kurztrip ins Nachtleben Berlins, Londons oder Paris' können die meisten jungen Kosovaren nur träumen + +Eine Ausreise aus Kosovo gen Schengen-Raum ist ein Privileg, auf das man monatelang warten muss. In den Nachbarstaaten des kleinen Balkanlandes sieht es anders aus. Für Albanien und Bosnien wurde die Visapflicht 2010 aufgehoben, für Serbien, Montenegro und Mazedonien bereits 2009. Der Kosovo bleibt das Schlusslicht. Das liegt auch daran, dass Kosovos Unabhängigkeit weltweit und auch innerhalb der Europäischen Union nach wie vor umstritten ist. Dabei hätte das Land einst so etwas wie das Prestigeprojekt der Europäischen Union und der USA auf dem Balkan werden können. Nachdem die NATO mittels Bombardements den Kosovokrieg von 1998/1999 beendet hatte, die Provinz Kosovo dann per UN-Resolution eine "substanzielle Autonomie" erhielt und die Vereinten Nationen die Interimsverwaltung UNMIK errichteten, erklärte Kosovo sich am 17. Februar 2008 zum "unabhängigen, souveränen und demokratischen Staat". Und obwohl seitdem Milliarden an Hilfsgeldern hierher geflossen sind, bleibt Kosovo eines der ärmsten Länder in Europa. Lange hat sich die albanische Bevölkerungsmehrheit diesen eigenen Staat herbeigesehnt, zum Ärger Serbiens, das seine ehemalige Provinz noch immer als Teil des eigenen Staatsgebietes betrachtet. Doch heute, zehn Jahre nach der Unabhängigkeit, wollen viele der Kinder und Enkelkinder jener, die für diesen Staat gekämpft haben, ihn auch einfach mal verlassen können. + +Vjosa, 19, studiert Deutsch und will Übersetzerin werden. Ein paar Monate in Deutschland zu verbringen würde ihren Sprachkenntnisse gut tun – ist nur momentan eher utopisch +Es sind Menschen wie Flamur, 25, und Vjosa, 19, beide Studenten in Priština. Er studiert Informatik und programmiert nebenbei Webseiten für ausländische Firmen, sie studiert Deutsch und will Übersetzerin werden. Als die beiden geboren wurden, war der sozialistische Vielvölkerstaat Jugoslawien bereits zerfallen. An den Krieg, der Hunderttausende Familien zur Flucht zwang, können sie sich nur vage bis gar nicht erinnern. Ihre Kindheit war geprägt vom Wiederaufbau, angefangen bei den zerstörten Häusern ihrer Familien bis hin zum Staat selbst, der bis heute um seinen Platz auf der internationalen Bühne ringt und von fünf EU-Mitgliedsländern – Griechenland, Slowakei, Zypern, Spanien, Rumänien – noch immer nicht anerkannt wird. Heute, da sich die Unabhängigkeit zum zehnten Mal jährt und Prištinas Zentrum in den Staatsfarben Blau und Gold erstrahlt, haben sie es satt, in der Heimat isoliert zu sein. Sie wollen europäische Städte sehen, Familie und Freunde im Ausland besuchen. Sie wollen nicht unbedingt auswandern, aber sie möchten zumindest die Möglichkeit haben, sich auch in einem ganz anderen Land eine Zukunft aufzubauen. +In einem Café der Stadt erzählen die beiden von ihren Wünschen und Träumen. Flamur möchte sein Informatik-Masterstudium in Wien absolvieren, doch er muss für das Visum nachweisen, dass er mindestens 6.000 Euro auf dem Konto hat. "So viel verdient im Kosovo nicht einmal eine Familie im Jahr", klagt er. Vjosa, die ihr Studium gerade erst begonnen hat, verfolgt andere Ziele. Sie möchte ein paar Monate in München arbeiten, wo derzeit ein Teil ihrer Familie lebt: "In einem Restaurant, in einer Bar oder einem Hotel. Ganz egal, Hauptsache, ich kann eine andere Stadt sehen", sagt sie. Vjosa und Flamur sind in ihrem Leben noch nie weiter als in die Nachbarländer gereist – nach Albanien, Mazedonien und Montenegro. + +Vjosa auf dem Gelände ihres Studentenheims. Lieber würde sie eines in München bewohnen +Geschichten wie die von Flamur und Vjosa sind oft zu hören in den Bars und Clubs von Priština, der Stadt, die auch als Teenager unter Europas Hauptstädten bezeichnet wird.Denn hier leben so viele Menschen unter 30 wie an wenigen anderen Orten Europas. Die hippen Bars, in denen man Veggie-Burger, Avocado-Sandwiches und frisch gepresste Orangensäfte bestellen kann, unterscheiden sich kaum von jenen in Berlin oder Hamburg. Als sogenannter "International" kann man hier für wenig Geld ein angenehmes Leben führen. Für die Kosovaren hingegen, deren Durchschnittseinkommen bei 300 Euro liegt, sind die im westeuropäischen Vergleich niedrigen Preise immer noch hoch: 1 Euro für Zigaretten, 3 Euro für ein Mittagessen, 350 Euro für eine große Wohnung im Zentrum. Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch, Sozialleistungen quasi nicht vorhanden. Was Kosovo am Leben hält, ist nicht nur die heimische Wirtschaft, sondern auch die Diaspora – ausgewanderte Kosovaren, die ihren Familienmitgliedern jeden Monat einen kleinen Euro-Betrag überweisen. Die jungen Menschen, die zurückbleiben, versuchen für die "Internationals" zu arbeiten – in Nichtregierungsorganisationen, Entwicklungsprojekten, Botschaften und Thinktanks. Abgesandte aus vielen EU-Mitgliedsländern kommen hierher, um europäische Werte zu vermitteln. Aber die Kosovaren, die dieses Europa gerne mal selbst erleben würden, dürfen nicht raus. + +Vorbereitungen für die Feierlichkeiten zum zehnten Unabhängigkeitstag. Weltweit und auch innerhalb der Europäischen Union ist Kosovos Autonomie aber nach wie vor umstritten + +Warum wird Kosovo bis heute als einzigem Land der Region die Visafreiheit für den Schengen-Raum verwehrt? Ein Land, das laut Balkan-Barometer als das proeuropäischste in Südosteuropa gilt. In Kosovo, wo die EU mit Flaggen und Infozentren omnipräsent ist, müssen die Bürger und Bürgerinnen das Gefühl haben, ihr näher zu sein, als sie es in Wirklichkeit sind. Die Frage ist nur: Wie lange bleiben sie der EU auch gewogen? Mit jedem Jahr, in dem die Visafreiheit auf sich warten lässt, verliert die EU an Popularität, während die Türkei als neuer Akteur schleichend ihren Einfluss ausdehnt, etwa durch den Kauf des Energieverteilungsnetzes und den Bau von Moscheen. An der Abwanderung kann das wenig ändern. Immer mehr Menschen verlassen das Land auf illegalem Wege. +2015 kam es zu einem regelrechten Massenexodus. 50.000 bis 60.000 Menschen sind in wenigen Monaten ausgewandert – von Serbien über Ungarn nach Deutschland, Österreich oder in die Schweiz. Nicht wenige von ihnen haben ihre Häuser verkauft, nur um Monate später zurück in den Kosovo abgeschoben zu werden, weil ihre Asylanträge abgelehnt wurden. + + +Seit der umjubelten Unabhängigkeitserklärung 2008 flossen Milliarden an Hilfsgeldern in den Kosovo. Doch noch immer ist das Land eines der ärmsten Europas + +Wer trägt Schuld daran, dass Menschen wie Vjosa und Flamur nicht ausreisen dürfen? Immerhin führt der Kosovo schon seit sechs Jahren einen Visa-Dialog mit der EU. Doch zwei Bedingungen der EU blieben lange unerfüllt: die Forderung nach der Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität sowie die nach einem Grenzabkommen mit Montenegro. Zumindest letztere Voraussetzung ist inzwischen erfüllt. Nach zweieinhalb Jahren kam gestern Abend im Parlament die nötige Mehrheit zur Ratifizierung zustande – trotz heftigem Protest der nationalistischen Oppositionspartei Vetevendosje: Abgeordnete versuchten, das Abkommen mit Tränengas zu stoppen; der Plenarsaal musste mehrfach geräumt werden. Nach fünf Anläufen aber stand das Ergebnis: 80 von 120 Abgeordneten stimmten für das Abkommen und besiegelten damit das Ende von "Jahrzehnten der Isolierung", wie der kosovarische Präsident auf Twitter schrieb. +Anfang Februar hat sich die EU auf den Kosovo zubewegt, indem dem Land, wie den anderen fünf Westbalkanländern auch, eine EU-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt wurde. Im Gegensatz zu Serbien und Montenegro, die bereits 2025 beitreten könnten, wurde für den Kosovo allerdings kein Zieltermin fixiert. Dass der Beitritt so schnell klappt, ist auf jeden Fall unwahrscheinlich, denn die Anforderungen auf dem Weg dorthin sind hoch. Aber es ist ein Signal, dass die EU den Kosovo nicht vergessen hat. + + +Flamur, 25, studiert Informatik und programmiert nebenher klischeekonform im Dunkeln Websites. Hätte er die Wahl, er würde seinen Master in Wien machen + +Einer der größten Bremsfaktoren bleibt am Ende der Europäische Rat, also die Versammlung der Regierungschefs aller Mitgliedsländer. Viele von ihnen fürchten sich vor einer Migrationswelle aus dem Kosovo. Die ehemalige Innenministerin Österreichs, Johanna Mikl-Leitner (ÖVP), reiste 2015 sogar persönlich nach Priština, um bei einer Pressekonferenz darüber zu informieren, dass es für Kosovaren kein Asyl in Österreich geben würde. Junge Menschen wie Flamur und Vjosa wollen jedoch gar nicht flüchten, sie wollen nur endlich ganz legal reisen können – und in den Genuss der Freiheit kommen, die für ihre Altersgenossen in der EU ganz normal ist. + diff --git a/fluter/wann-kommen-die-lieferdrohnen.txt b/fluter/wann-kommen-die-lieferdrohnen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..88875bd25d4820f9407004d7dac526b985a1abdc --- /dev/null +++ b/fluter/wann-kommen-die-lieferdrohnen.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Begonnen haben Theys und seine Kollegen im Jahr 2012, als der Hype um Lieferdrohnen losging. Zwei Ingenieure der Bewertungsplattform Yelp veröffentlichten damalsein Video des "Burrito-Bombers". Darin wird ein Burrito an eine Drohne montiert und per Minifallschirm über freiem Feld abgeworfen, wo ein hungriger Kunde sehnsüchtig auf seine Mahlzeit wartet. Bald stiegen die Erwartungen in luftige Höhen – Pizza, Tacos, Champagner, alles sollte bald per Quad- oder Octocopter geliefert werden. Und auch große Paketzusteller und Versandhändler verbreiteten bald Videos von ihren Lieferdrohnen. Das ist jetzt über drei Jahre her. Die Pizzadrohnen sind noch immer nicht in Sicht. +Evan Ackerman weiß warum: Der 33-jährige Astrogeologe schreibt seit fast zehn Jahren für das Magazin des US-Ingenieursverbands über Automation und Drohnen. Videos wie das über den Burrito-Burger oder auch die jüngsten Promo-Videos von Amazon und Google ärgern ihn, weil sie seiner Meinung nach unangemessene Erwartungen wecken. Im Unterschied zu Bart Theys glaubt er nämlich nicht, dass uns die Zukunft der Lieferdrohnen so unmittelbar bevorsteht: "Einen Burrito an einer Drohne zu befestigen und ihn irgendwo abwerfen? Natürlich – es gibt keinen Grund warum das technisch nicht klappen sollte." Aber es gebe eine ganze Reihe von Gründen, warum dieser Service bisher nicht marktfähig ist. Und über die spreche niemand. +Damit ein Drohnenliefersystem wirtschaftlich sinnvoll ist, müssten Drohnen zumindest teilweise autonom fliegen können. Aber bis sie das beherrschen, werde es laut Ackerman noch eine Weile dauern: "Die Welt ist ein komplizierter Ort, der für Roboter sehr schwer zu verstehen ist", sagt er. Besonders Start und Landung stellten die Drohnen vor große Schwierigkeiten. So einfach wie in dem Werbevideo von Amazons geplantem Service "Amazon Prime Air", in dem eine Drohne ein Päckchen mit dringend benötigten Fußballschuhen in die Einfahrt eines Hauses liefert, ist es jedenfalls nicht. "Dort wo ich lebe, verlaufen über der Einfahrt jede Menge sehr dünner schwarzer Stromkabel", sagt Ackerman. "Eine Drohne, die von oben kommt, hat echte Schwierigkeiten, diese über dem schwarzen Asphalt zu erkennen." +Dass solche Sorgen um die Seh- und Navigierfähigkeit von Roboter-Vehikeln nicht aus der Luft gegriffen sind, zeigt der Unfall eines autonomen Tesla-Wagens im Juli 2016. Sein Fahrer, der sich offenbar komplett auf den Autopiloten verlassen hatte, starb, weil dieser einen weißen Lastwagen vor hellem Himmel für ein Schild hielt. Die Umgebung richtig einzuschätzen, ist für autonome Fahr- wie auch Flugzeuge eine Herausforderung. Wobei es bei Autos noch das geringere Problem ist, zusätzliche Sensoren und Bauteile einzubauen. In der Luft hingegen zählt jedes Gramm Gewicht. +Die nähere Zukunft der Lieferdrohnen dürfte deshalb erstmal nicht in Städten liegen, sondern in weniger besiedelten Gebieten, meint Bart Theys, der belgische Drohnenbauer. Seine Drohne soll auch keine Standardpakete liefern, wie es etwa Amazon plant. Das Projekt orientiert sich stattdessen am Geschäftsmodell der US-Firma Matternet, die Drohnen für spezielle Anwendungsfälle entwickelt: So sollen etwa medizinische Produkte an Orte transportieren werden, wo es kaum Straßen gibt. Seinen größten Erfolg auf dem Weg zum kommerziellen Drohnen-Einsatz hat das Unternehmen aber in der Schweiz verbucht. Dort hat Matternet 2015 die  Erlaubnis bekommen, Drohnen außerhalb der Sichtweite von Piloten zu fliegen. Ziel der Schweizer war es, auf diese Weise entlegene Bergregionen zu beliefern. +Auch die Deutsche Post will mitmischen. Die DHL hat ihren selbstladenden "Paketkopter" im Frühjahr in Reit im Winkl in Bayern getestet, mit ähnlichen Absichten wie Matternet in der Schweiz. Doch wann ihr Drohnenprojekt richtig abhebt, hat die DHL nicht selbst in der Hand. In Deutschland müssen Drohnen laut den geltenden Vorschriften immer in Sichtweite ihrer Piloten sein, was die Nutzung und die Forschung ziemlich einschränkt. "Letztlich wird es auf den Gesetzgeber ankommen, welche weiteren Anwendungsfälle in der Zustellung möglich sein werden", schreibt uns die DHL. Zuständig ist Verkehrsminister Alexander Dobrindt. Der hat zwar unlängst Änderungen für kommerzielle Drohnen angekündigt, ein genauer Zeitplan fehlt allerdings noch. +Das ist in Belgien nicht anders, meint Bart Theys. Für ihn steht fest: die Technik für sichere Lieferdrohnen wird bereit sein, bevor die Politik die Rahmenbedingungen geschaffen hat. Aber, und da sind sich die Experten einig: Über kurz oder lang werden Drohnen überall sein. Auch in den Städten. Theys ist sich sicher, dass es in zehn Jahren feste, regelmäßig genutzte Drohnenverbindungen zwischen wichtigen Orten in der Stadt geben wird, etwa zwischen zwei Krankenhäusern. Die werden allerdings nicht den direkten Weg nehmen, sondern erst mal in ausgewiesenen Drohnenkorridoren, etwa am Rand der Hauptverkehrsadern. +Auch Wissenschaftsjournalist Ackerman glaubt an die Drohnenkorridore, nur beim Zeitplan ist er nicht ganz so optimistisch. Bis es so weit ist, müssten Drohnen erst absolut sicher sein. "Es reicht nicht aus, dass Drohnen meistens nicht vom Himmel fallen", sagt er. Das sind Bedenken, die Bart Theys nicht teilt: Natürlich müsse alles getan werden, um die Unfallgefahr zu minimieren. Doch auch die Teilnahme am gewöhnlichen Straßenverkehr sei ja schon ein Risiko. Und sicherer als Fahrradkuriere oder motorisierte Pizza-Flitzer seien die Drohnenlieferanten allemal. +GIFS: David Dörrast diff --git a/fluter/war-is-coming-home.txt b/fluter/war-is-coming-home.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..84802f5be96552a7c21710694fb49233532284a8 --- /dev/null +++ b/fluter/war-is-coming-home.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +So wie die sozialen Netzwerke heute noch ein relativ junges Medium sind, war es in den 1960er-Jahren, zu Zeiten des Vietnamkriegs, das Fernsehen. Damals griffen die US-Streitkräfte an der Seite des antikommunistischen Südens massiv in den Bürgerkrieg zwischen dem kommunistischen Nordvietnam und dem Süden ein. Und das Fernsehen war dabei. Der Vietnamkrieg gilt als der erste Krieg, der auch auf dem Bildschirm ausgefochten wurde. "Die Bilder vom Krieg im fernen Südostasien kamen in die Wohnzimmer und damit den Menschen so nah wie nie zuvor – auch wenn das natürlich noch längst keine Echtzeit-Berichterstattung war wie heute", sagt Gerhard Paul, Historiker von der Universität Flensburg, der mehrere Bücher über die Bilder des modernen Kriegs geschrieben hat. "Die Leute hatten quasi den blutenden Vietcong, den Kriegsgegner, im Wohnzimmer. So wurde der Krieg auf neue, direktere Weise privaten moralischen Wertmaßstäben unterworfen." +Der Vietnamkrieg dauerte für die USA seit ihrem Kriegseintritt 1964 bis zum Jahr 1973, und obwohl die USA bis zu 550.000 ihrer Soldaten einsetzten, konnten sie ihr Ziel, den Süden zu stabilisieren und den Kommunismus in Südostasien einzudämmen, nicht erreichen. 1973 zogen die letzten US-Streitkräfte ab, nachdem sie mit mehr als 58.000 Toten (auf Seiten der Vietnamesen waren es Schätzungen zufolge über fünf Millionen Opfer, davon 80 Prozent Zivilisten) schwere Verluste erlitten hatten und die US-Öffentlichkeit kriegsmüde geworden war. +Welche Rolle die Medien, insbesondere das Fernsehen, für den Meinungsumschwung gegen den Krieg, die Antikriegsproteste und den Abzug der USA spielten, ist bis heute umstritten. Um die Medienberichterstattung und ihren Einfluss ranken sich verschiedene Mythen. Viele sind widerlegt, aber sie wirken sich bis heute aus – etwa bei den Zensurmaßnahmen des US-Militärs. +Einer dieser Mythen ist, dass es das Fernsehen und seine drastischen Bilder von der Realität des Krieges waren, die zur Stimmungsänderung in der Bevölkerung führten und damit quasi den Krieg beendete. Diese Auffassung kann Forschern zufolge nicht aufrechterhalten werden. Zwar gab es aus Vietnam Bilder, die es während des Zweiten Weltkriegs oder des Koreakriegs nicht durch die US-Zensur geschafft hätten, schreibt der US-Politologe Daniel Hallin in einemEssay für das Fernseh- und Rundfunkmuseum von Chicago. Doch solche Bilder seien eher selten gewesen. Dazu gehören drei berühmte Schockbilder: 1965 zünden US-Soldaten mit ihren Zippo-Feuerzeugen Dorfhütten an; 1968 richtet der südvietnamesische Polizeichef Nguyen Ngoc Loan in Saigon einen Gefangenen auf offener Straße mit einem Kopfschuss hin; 1972 fliehen schreiende, verletzte Kinder vor einem südvietnamesischen Fehlangriff mit der Brandwaffe Napalm. Laut Hallin hat weniger als ein Viertel der TV-Beiträge Tote und Verwundete gezeigt, meist kurz und flüchtig und nicht besonders drastisch. Manche besonders schlimmen Grausamkeiten seien dem Publikum von den TV-Sendern absichtlich vorenthalten worden, von anderen seien gar keine Bilder verfügbar gewesen. +Ein anderer Mythos ist der vom Vietnamkrieg als "unzensiertem Krieg". Oder der, dass die Journalisten von Beginn an kritisch gewesen seien. "Die TV-Teams hatten damals einen relativ freien Zugang zu den Schlachtfeldern. Doch längst nicht alle Spielräume wurden genutzt", sagt der Historiker Gerhard Paul. "Daher sollte man die Rolle des Fernsehens auch nicht überschätzen." Eine neue, kritischere Qualität habe die TV-Berichterstattung erst im Zuge des Antikriegsprotests Ende der 1960er-Jahre bekommen. "Der Vietnamkrieg war ja bis dahin in den Medien im Großen und Ganzen akzeptiert gewesen. Das Fernsehen holte da eine Entwicklung nach." Es habe sich angepasst, als die Zweifel der Amerikaner am Krieg immer größer wurden. +Das sieht der Historiker Lars Klein von der Universität Göttingen ähnlich. Er hat Aufsätze und Bücher über Kriegspropaganda und den US-Journalismus im Vietnamkrieg geschrieben. "Ich würde die Bedeutung des Fernsehens, insbesondere der Bildwirkung, nicht zu hoch hängen. Denn es war ein noch relativ neues Massenmedium und noch stark ein Unterhaltungsmedium. Der Informationsanteil wurde langsam ausgebaut, und dieser war zunächst noch sehr wortlastig." So habe der US-Fernsehjournalist Walter Cronkite im CBS-Studio gesessen, als er 1968 seinen legendären Kommentar sprach: Die USA steckten, so Cronkite, nach blutigen Erfahrungen in einer Sackgasse fest, und der einzige Ausweg seien Verhandlungen, die man nicht als Sieger führen werde, sondern als ehrenhafte Menschen, die ihrem Versprechen, die Demokratie zu verteidigen, so gut sie konnten gerecht wurden. Damals war Cronkite von einer Reportage aus Vietnam zurückgekehrt. Der Historiker Klein meint: "Schwer zu sagen, was stärker wirkte, solche desillusionierenden Sätze oder schockierende Bilder von Blut und Leid." Enormen Einfluss hätten die Pressefotos desMassakers von My Laiim März 1968 gehabt, das die US-Armee zu vertuschen versuchte. Sie zeigten wie US-Soldaten rund 500 Zivilisten umbrachten. Die Fotos konnten, so Klein, "die Brutalität des Kriegs viel deutlicher zeigen, als das Fernsehen mit eigenen Mitteln es konnte". Die Fotos seien aber erst 1969 öffentlich geworden, als ein Meinungsumschwung bereits auszumachen war. + +Klein betont, dass "Vietnam keineswegs ein Krieg war, aus dem frei und unbehindert berichtet werden konnte, und auch keiner, in dem sich Journalisten und Militärs gleichberechtigt gegenüber standen." Einerseits habe es auch damals Zensur gegeben, andererseits seien sowohl TV- als auch Printjournalisten nicht so durchweg kritisch und ihre Berichterstattung nicht so wirkungsvoll gewesen, wie sie selbst es später gern darstellten. "Es waren letztlich die ausbleibenden militärischen Erfolge und die steigende Zahl eigener toter Soldaten, die den Meinungsumschwung gegen den Krieg brachten." +Dass es damals angeblich die Medien waren, die die "Heimatfront" aufweichten und so schuld an der Niederlage waren, machten sich allerdings US-Militärs und -Politiker als Dolchstoßlegende zunutzen. "Vietnam wird bis heute instrumentalisiert, um Medien zu disziplinieren", sagt Lars Klein. "Auch setzte sich eine rigide Medienpolitik durch, etwa bei den Invasionen in Grenada und in Panama in den 1980er-Jahren sowie im Golfkrieg von 1990." Die US-Militärzensur versucht zudem bis heute Bilder verwundeter oder toter Soldaten in "body bags" (Leichensäcken) zu verhindern. +Der Historiker Gerhard Paul verweist auch auf die spätere Strategie des kontrollierten Zugangs für Journalisten. Diese werden vom US-Militär in "Medienpools" zusammengefasst und an bestimmte Punkte des Kampfgebiets gebracht. Oder man integriert sie in militärische Einheiten ("embedded journalists"), wie etwa beim Irakkrieg 2003. So kontrolliert das Militär die Fortbewegungs- und Kommunikationsmittel der Journalisten. Allerdings wird die Medienpolitik der Militärs in den vergangenen Jahren herausgefordert: durch das Aufkommen neuer TV-Sender – etwa des arabischen Nachrichtensenders Al Jazeera – sowie die Möglichkeiten des Internets. Über soziale Netzwerke wie Twitter oder Video-Plattformen wie YouTube können andere Perspektiven verbreitet werden. So werden auch Kriegsschäden sichtbar, die die Verantwortlichen nicht gezeigt wissen wollen: zivile Opfer etwa oder zerstörte Häuser. +Der Vietnamkrieg war durch das Aufkommen des Fernsehens der erste "Wohnzimmer-Krieg". Seither ist die Zahl der Sender und auch deren Bilderhunger enorm gewachsen. Das nutzt das Militär aus: "Seit dem Golfkrieg 1990 werden zunehmend Aufnahmen von Zielkameras zur Verfügung gestellt, wo lasergesteuerte Raketen oder Bomben ins weit entfernte Ziel finden", sagt Gerhard Paul. "Eine saubere Darstellung ohne Blut, abgetrennte Körperteile oder Leichen." Bilder, die im Zeitalter des Drohnenkriegs kaum mehr zu unterscheiden sind von denen aus einem Video- oder Computerspiel. +Hans-Hermann Kotte hat schon öfter über Fragen von Krieg und Frieden geschrieben, etwa über totale Kriegsdienstverweigerer oder Wehrmachtsdeserteure. Als Kind hörte er eine wichtige Nachricht zum Vietnamkrieg im Autoradio, das war 1975, als die letzten US-Militärberater aus Saigon abzogen. Hubschrauber holten die amerikanischen Militärs damals vom Dach der US-Botschaft in Saigon ab. diff --git a/fluter/warm-dran.txt b/fluter/warm-dran.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5791e2d83423fe7e514efdc872413d363e97f55d --- /dev/null +++ b/fluter/warm-dran.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Statt von Klimaflüchtlingen sprechen Politiker lieber von "klimainduzierter Migration". Das klingt fast, als verließen diese Menschen ihre Heimat freiwillig. Und das heißt auch: Wer Asyl sucht, weil im Pazifik Inseln versinken oder in der afrikanischen Sahelzone die Ernte vertrocknet, darf abgeschoben werden. Dabei hat ja die westliche Industrialisierung durch den vermehrten Ausstoß von Treibhausgasen entscheidend zur Erderwärmung beigetragen. +Wie aber sollen diese Menschen überhaupt den Nachweis erbringen, dass der Klimawandel ihre Flucht verursacht hat? "Die Wissenschaft ist dazu nicht in der Lage", sagt Staatsrechtler Walter Kälin von der 2012 gegründeten Nansen-Initiative, die den Zusammenhang von Migration und Umweltkatastrophen untersucht. Selbst wenn es den Status "Klimaflüchtling" gäbe, könnten solche Asylgesuche leicht abgewiesen werden, so Kälin. Außerdem benachteilige der Begriff jene, die vor Naturkatastrophen wie Erdbeben fliehen. +Am ehesten lässt sich der Zusammenhang zwischen Klima und Flucht noch für Inselstaaten herstellen, die allmählich im Meer versinken. Doch die Menschen dort, berichtet Kälin, scherten sich nicht um den Flüchtlingstitel. Stattdessen forderten sie Maßnahmen: solche, die den Schaden der Klimaerwärmung möglichst gering halten, solche, die ihnen dabei helfen, möglichst lange auf ihren Inseln bleiben zu können, und solche, um im Ernstfall gut vorbereitet auswandern zu können. Die Nansen-Initiative, in der sich auch Deutschland engagiert, will deshalb eine erfahrungsbasierte Schutzagenda erstellen. Sie soll regeln, wie die internationale Gemeinschaft am besten mit Menschen umgeht, die trotz aller Vermeidungsstrategien wegen extremer Wetterereignisse ihre Heimat verlassen müssen. +Übrigens: Neuseeland hat 2014 einer Familie vom Inselstaat Tuvalu Asyl gewährt. Auch diese Menschen waren gekommen, weil sie die Folgen des Klimawandels fürchteten. Klimaflüchtlinge gibt es offiziell nicht, daran ändert auch dieses Urteil leider nichts. +Eine ganz eigene Strategie verfolgt Anote Tong. Der Präsident von Kiribati hat Land auf Fidschi gekauft. Sicher ist sicher. Denn 26 Zentimeter mehr sind wahrscheinlich, schlimmstenfalls könnten es auch 82 werden – bis zum Ende dieses Jahrhunderts im Vergleich zum Ende des vorigen Jahrhunderts. Das sagt der Weltklimarat über den Anstieg des Meeresspiegels infolge des Klimawandels. +Die wichtigsten Ursachen: Aufgrund der Erderwärmung dehnen sich die Ozeane aus, gleichzeitig schmilzt das Landeis ab. Das betrifft vor allem Insel- und tief liegende Küstennationen, von denen sich 44 zur Allianz kleiner Inselstaaten zusammengeschlossen haben. Sie fordern eine Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf maximal 1,5 Grad Celsius, sonst könnten schon einzelne Flutwellen ihren Lebensraum zerstören. Genau wie andere klimabedingte Wetterextreme – Wirbelstürme, Starkregen, Dürren – und die Versauerung der Ozeane. Der Staat Kiribati mit seinen 104.000 Einwohnern besteht aus 32 Atollen und einer Insel, die mehrheitlich keine zwei Meter über dem Meeresspiegel liegen. Der Klimawandel macht sich dort bereits bemerkbar: Erosionen, Flutwellen, steigender Meeresspiegel. +Wenn es so weitergeht, dürfte Kiribati eines der ersten Länder sein, das buchstäblich untergeht. Auch deshalb hat Präsident Anote Tong die rund 20 Quadratkilometer Land auf Fidschi gekauft. "Wir hoffen, dass wir nicht alle auf diesem Stück Land unterbringen müssen", sagte Tong einer Nachrichtenagentur. Eigentlich sei es eher als Einnahmequelle wie etwa für die Landwirtschaft gedacht. Kritiker halten das Ganze für eine Publicity-Aktion, die Aufmerksamkeit auf die Belange Kiribatis lenken soll. Auch die Malediven wollten einst Territorium in Indien oder Australien kaufen. Mittlerweile schütten sie ihre Inseln mit Sand auf. diff --git a/fluter/warmmachen-fuer-den-klimagipfel.txt b/fluter/warmmachen-fuer-den-klimagipfel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2dc9fb104ce75f67659bc967982a46c87c240d54 --- /dev/null +++ b/fluter/warmmachen-fuer-den-klimagipfel.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Was hat die Weltgemeinschaft bislang unternommen? Beim Erdgipfel in Rio de Janeiro im Jahr 1992 unterzeichneten 178 Staaten ein erstes Abkommen, allerdings ohne konkrete Ziele. Wichtigster Grundsatz: Die Industrieländer gehen beim Klimaschutz voran, die Entwicklungsländer werden nicht zu Maßnahmen verpflichtet. Im Jahr 1997 folgte dasKyoto-Protokoll: Die darin verpflichtenden Reduktionsziele sorgten leider nicht für eine Verbesserung der globalen Emissionsbilanz – auch, weil keine klaren Sanktionen vorgesehen waren. +Auf der UN-Klimakonferenz 2009 in Kopenhagen standen erstmals Reduktionsverpflichtungen für Entwicklungsländer zur Debatte, doch die Verhandlungen scheiterten. Seitdem dienten kleinere Konferenzen in Cancún, Durban, Doha, Warschau und Lima als Vorbereitung für den nun bevorstehenden Klimagipfel in Paris. Im Verlauf dieser Konferenzen hatte sich die Weltgemeinschaft darauf geeinigt, die Erderwärmung auf zwei Grad Celsius gegenüber dem Niveau vor der Industrialisierung zu begrenzen, um ihre Folgen handhabbar zu halten. Nicht beschlossen wurde allerdings, wie dieses Ziel überhaupt erreicht werden soll. +Im Vorfeld des Klimagipfels von Paris waren alle Staaten der Erde dazu aufgerufen, individuelle Selbstverpflichtungen zum Klimaschutz vorzulegen: die sogenannten "INDCs". Das wird einerseits von vielen als Fortschritt gewertet, da nationale Absichtserklärungen am Ende wirksamer sein könnten als von oben herab diktierte Einsparungsziele. Andererseits enthält der Selbstverpflichtungsprozess keine Sanktionen oder Vollzugsinstrumente bei Nichteinhaltung – und dieVereinten Nationen glauben, dass die bislang eingereichten Selbstverpflichtungen nicht ausreichenwerden, um das 2-Grad-Ziel zu erreichen. Es besteht also noch Nachbesserungsbedarf. +Ein großer Streitpunkt betrifft auch die Finanzierung: Die Industrieländer haben bereits im Jahr 2009 in Kopenhagen zugesagt, ab 2020jährlich 100 Milliarden US-Dollarzu investieren, um ärmere Staaten beim Klimaschutz und bei der Anpassung an den Klimawandel zu unterstützen. Ob die Zusagen auch erfüllt werden? Und wenn ja:wie und wofür genau? Auch darüber wird verhandelt werden müssen. +Außerdem brisant: Die Rolle der Schwellenländer. Als ehemalige Entwicklungsländer mussten Staaten wie China, Indien und Brasilien bisher nicht zur Abwendung der Klimakatastrophe beitragen. Nun sind sie wegen höherer Wirtschaftsleistungen aber selbst zu Groß-Emittenten geworden. In Paris werden die Industrieländer deshalb darauf drängen, dass sie mehr Verantwortung übernehmen. +Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wird – wie die meisten Staats- und Regierungschefs – nur am ersten Tag der Konferenz anwesend sein. Der deutsche Chef-Klimadiplomat heißt Karsten Sach und ist Leiter der Unterabteilung "Internationale Zusammenarbeit" beim Bundesumweltministerium (BMUB). Seine Chefin Barbara Hendricks (SPD) kommt erst in der zweiten Woche zum Gipfel. +Die Bundesumweltministerin ließ verlauten, Deutschland wolle in Paris "ein wegweisendes Klimaabkommen erreichen". Aber es gibt auch einige Kritik und politische Debatten darüber, ob Deutschland seine Vorreiterrolle im Klimaschutz abgegeben habe und das Vorzeigeprojekt "Energiewende" konsequent genug verfolge. Fakt ist: Die für 2020 selbstgesetztenKlimaziele wird Deutschland voraussichtlich nicht erreichen. Quasi im Gegenzug hat Deutschland die Verdopplung seiner Klimafinanzierung für Entwicklungsländer zugesagt. +Bei der Klimakonferenz in Paris wird Deutschland nicht als einzelnes Land auftreten, sondern im EU-Verbund, der für rund zehn Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich ist: keine Peanuts, aber auch nicht der Löwenanteil. Die Welt blickt stattdessen auf die USA und China, von denen zusammen fast 40 Prozent der weltweiten Emissionen ausgehen. Beide Länder sind in der Vergangenheit eher als Bremser in Erscheinung getreten, haben für Paris nun aber eine gemeinsame Initiative verkündet. Sollten sie tatsächlich ambitioniert vorangehen, wäre der Menschheit geholfen. +In Wahrheit gibt es in Paris nicht eine, sondern vier Verhandlungen: Es treffen sich eine "Ad-hoc Working Group", zwei technische Arbeitsgruppen sowie die Staaten, die das Kyoto-Protokoll ratifiziert haben – insgesamt mehr als 10.000 Klima-Diplomaten. Sie alle arbeiten daran, innerhalb von zwei Wochen aus dem Verhandlungstext einen Vertragstext zu formulieren, dem alle Länder zustimmen können – denn nur dann wird er gültig. Es gilt das Konsensprinzip, eine einzigeGegenstimme wirkt praktisch wie ein Veto. +Vom 1. bis 5. Dezember 2015 gehen die Unterhändler in den einzelnen Gruppen den Text Zeile für Zeile durch: Jede Änderung wird protokolliert und bis zum nächsten Tag in die sechs UN-Sprachen übersetzt: Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Russisch und Spanisch. Dann wird weiterverhandelt. Daneben gibt es informelle Treffen hinter verschlossenen Türen. Vom 6. bis 11. Dezember verhandeln dann die Minister der einzelnen Länder. Anfang 2016 soll das Abkommen schließlich unterzeichnet werden. +Dass Scheitern eigentlich keine Option ist, darauf wies Bundespräsident Joachim Gauck schon vor Monaten hin: Der "Preis des Nichthandelns" werde immer höher. Dennoch ist der Worst Case nicht ausgeschlossen. Die Hoffnungen für Paris sind zwar groß, größer ist jedoch die Skepsis: Werden am Ende nicht wieder nationale Interessen das Gemeinwohl verhindern? +"Wiederholte, komplizierte Verhandlungen auf globaler Ebene werden kaum rechtzeitig die nötigen Veränderungen für das 2°C-Ziel bringen", heißt esvonseiten eines deutschen Forschungsinstituts. Das meint also: Sollten sich die nötigen Maßnahmen mit den Mitteln der internationalen Diplomatie tatsächlich nicht herbeiführen lassen, wird es für einen weiteren Gipfel zu spät sein. +Und dann muss sich die Politik mehr denn je mit den Folgen des Klimawandels auseinandersetzen. Auch auf diese weist der Weltklimarat hin: noch größere soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten in der Welt, Konflikte, Massenflucht, Armut, Hunger. +Übrigens: Demonstrieren ist bei diesem Klimagipfel nicht erlaubt – wegen der Sicherheit, wie die französische Regierung ihre kurz nach den Anschlägen von Paris getroffene Entscheidung begründete. Geplante Großveranstaltungen wurden abgesagt. Die Zivilgesellschaft kann ihren Forderungen damit – zumindest in Frankreich – nur begrenzt Ausdruck verleihen. diff --git a/fluter/warrus-australien-aborigines.txt b/fluter/warrus-australien-aborigines.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9fa4da3e41c5f45c3da8359a0c263f60ff4d7019 --- /dev/null +++ b/fluter/warrus-australien-aborigines.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Als Warru-Ranger versucht Dodd zu retten, was zu retten ist: Noch vor einigen Jahrzehnten lebten zahlreiche Schwarzpfoten-Felskängurus in den roten Felshügeln im Anangu Pitjantjatjara Yankunytjatjara Land – kurz APY Land –, einem Wüstengebiet doppelt so groß wie Niedersachsen, das gänzlich im Eigentum indigener Australier ist. Doch dann jagten Katzen und Füchse,eingeschlepptvon europäischen Siedlern, die Felskängurus, und der Lebensraum wurde durch die Nutzung als Weideland und die Nahrungskonkurrenz durch Schafe und Ziegen knapp – bis sie in manchen Gebieten des Bundesstaates South Australia fast ausstarben. Ein besonderes Naturschutzprogramm will das rückgängig machen: Das 2007 gegründete Warru Recovery Team züchtet Schwarzpfoten-Felskängurus nach, wildert sie in ehemaligen Siedlungsgebieten wieder aus und untersucht jährlich die Populationen. +"Früher waren hier überall Warrus", sagt Dodd und deutet auf die umliegenden Felshügel, hinter denen sich flaches Land bis zum Horizont erstreckt. "Meine Großeltern jagten die Tiere und aßen sie, so viele gab es davon." Dodd hat seine Kontrollrunde beendet, bis auf einen Warru waren die Fallen an diesem Morgen leer – nichts Ungewöhnliches, denn wer die seltenen Tiere fangen möchte, braucht Geduld. Gemeinsam mit Wissenschaftlern und Projektkoordinatoren fangen Warru-Ranger wie Dodd die Tiere mit Lebendfallen, vermessen, wiegen und markieren sie und überprüfen so die Etablierung der ausgewilderten Population. Für Menschen wie Adrian Dodd ist das Projekt eine Möglichkeit, sich um das Land seiner Vorfahren zu kümmern – und einer bedeutungsvollen Arbeit nachzugehen. + +In den Gemeinden des indigenen Verwaltungsgebietes APY Land ist die Arbeitslosenquote hoch: 2021 lag sie bei knapp 30 Prozent – im Gegensatz zu rund fünf Prozent im restlichen Australien. Der Anteil an Menschen mit einem Bachelor- oder höherem Abschluss lag hier bei rund sieben Prozent. Australienweit betrug der Durchschnitt etwa 26 Prozent. Projekte wie das Warru-Schutzprogramm helfen der lokalen Bevölkerung, Arbeit zu finden. Vor kurzem verlängerte der australische Staat das Projekt und bewilligte mehr als acht Millionen australische Dollar. +"Es ist schön, Warrus zu sehen und dabei zu helfen, die Tiere wieder anzusiedeln, hier auf dem Land meiner Vorfahren", sagt Dodd und wirft eine Tierfalle auf die Ladefläche eines Pick-up-Trucks, dessen Lack der Wüstensand rot verfärbt hat. Das Fahrzeug rollt zurück Richtung Camp, über trockenes Wüstengras, vorbei an Schuppen ohne Dächer und einem Windrad, das schief auf einem Metallgerüst hängt. Überbleibsel einer Rinderfarm. Bevor die australische Regierung das APY Land 1981 der indigenen Bevölkerung zurückgab, betrieben Siedler Rinderfarmen in der Region, teils mehrere Tausend Quadratkilometer groß. +Im Camp qualmt ein Feuer neben Zelten, Wasser blubbert in großen Töpfen. Grant Nyaningu, ein Mann mit schwarzen Locken und Vollbart, schöpft mit einer Tasse kochendes Wasser aus einem der Töpfe. Nyaningu ist Vorsitzender des Warru Steering Committee, einem Komitee, das sich beim Warru-Projekt um indigene Belange kümmert. "Meine Großeltern haben gesagt: Du musst dich um die einheimischen Tiere kümmern", erzählt er. Nyaningu rührt mit einem Metalllöffel in seiner Tasse und blinzelt in die Sonne. "Ich bin stolz, ein Warru-Ranger zu sein." Die Arbeit in der Wüste mit einheimischen Tieren, so Nyaningu, schaffe ein Gefühl der Verbundenheit mit dem Land der Vorfahren. +Unterstützt werden die Warru-Ranger von Menschen wie Claire Hartvigsen-Power. Die 31-Jährige beugt sich in der Nähe der Feuerstelle über ein Satellitenfoto, das die umliegenden Hügel zeigt. Hartvigsen-Power ist Ökologin und arbeitet für Zoos South Australia als wissenschaftliche Partnerin des Warru-Projekts. "Wichtiger Bestandteil meiner Arbeit hier draußen ist die Überwachung der Warru-Population", sagt die Wissenschaftlerin. "Wie entwickeln sich die neu angesiedelten Tiere? Gewöhnen sie sich an ihre neue Umgebung?" Außerdem müssten immer wieder Felskängurus aus anderen Gebieten oder Gefangenschaft mit den ausgewilderten Tieren gekreuzt werden, da der natürliche Austausch mit anderen Regionen durch eingeschleppte Raubtiere nicht mehr möglich sei. +"Hier draußen in der Wüste zu arbeiten hat etwas Spirituelles, das sich schwer greifen lässt", sagt Hartvigsen-Power. Das Warru-Projekt bringe die indigene Bevölkerung und Wissenschaftler zusammen und lasse sie an einem gemeinsamen Ziel arbeiten: "Die Menschen vor Ort und ich als Ökologin möchten die Felskängurus vor dem Aussterben retten und die Umwelt schützen", sagt Hartvigsen-Power. "Je mehr indigenes Wissen wir mit der Wissenschaft verschränken, desto eher gelingt uns das." Die Symbiose aus westlicher Wissenschaft und indigenem Wissen zeige sich beispielsweise bei der Suche nach geeigneten Wiederaussiedlungsplätzen: "Die älteren Frauen in den Gemeinden kannten die Plätze, an denen früher Warrus lebten. Entweder durch Erzählungen oder teils noch persönliche Erfahrungen. Das hat uns bei der Suche nach neuen Siedlungsorten enorm geholfen." +Hartvigsen-Power deutet zur Feuerstelle, an der rund ein Dutzend Warru-Ranger Schutz vor dem Wind sucht, der nachmittags kalt über den Wüstenboden fegt. "Es hat eine Weile gedauert, aber in Australien fangen wir endlich an, mehr mit der indigenen Bevölkerung zusammenzuarbeiten." Dodd, der neben Hartvigsen-Power steht und seine Hände am Feuer wärmt, nickt: "Es ist schön, dass die Wissenschaftler hier sind. Mich macht es glücklich, dass wir gemeinsam die Warrus retten." +Ein paar Kilometer von Hartvigsen-Power, dem Camp und den dampfenden Wassertöpfen entfernt schiebt ein Mann ein Gewehr aus grauem Metall durch die offene Scheibe eines Pick-up-Trucks. Wenige Sekunden später kracht ein Schuss durch die Stille der Wüste. "Ein bisschen höher", murmelt der Mann und lädt das Gewehr nach. Ein weiterer Schuss, dann noch einer. "Jetzt sieht es gut aus." Ethan Dagg, 38, indigener Australier, ist von Beruf Jäger und erschießt Wildkatzen. "Diese Tiere gehören nicht hierher", sagt er, "sie bedrohen die heimische Tierwelt." Dagg nimmt das Magazin aus dem Gewehr, das er für die Jagd eingeschossen hat, und hebt zwei Käfigfallen von der Ladefläche des Pick-up-Trucks. + +Raub, Entführung, Mord: Die Geschichte derKolonialisierungAustraliens ist voller Gewalt und Unterdrückung. Bis heute wird die indigene Bevölkerung in der Verfassung des Landes nicht berücksichtigt. Ein Referendum könnte das bald ändern: Ende des Jahres steht das "Aboriginal and Torres Strait Islander Voice"-Referendum an. +Findet das Referendum ausreichend Zustimmung, würde die indigene Bevölkerung in der Verfassung Australiens anerkannt werden, indem ein Gremium geschaffen wird, das die Regierung in Fragen zu politischen Maßnahmen berät, die das Leben der First Peoples of Australia betreffen. Dessen Empfehlungen wären jedoch nicht bindend. +Die Befürworter hoffen, dass ein solches Gremium das Leben der indigenen Bevölkerung verbessert. Die australische Labor Party, die derzeit das Land regiert, und prominente indigene Gruppen befürworten das Referendum. Andere, wie die oppositionelle Liberal Party, hingegen lehnen das Referendum ab, da sie unter anderem eine Spaltung des Landes nach ethnischen Zugehörigkeiten befürchten. +Für ein erfolgreiches Referendum ist eine doppelte Mehrheit erforderlich: Sowohl die Mehrheit der Wähler auf nationaler Ebene als auch in mindestens vier der sechs Bundesstaaten muss dem Referendum zustimmen. +Ethan Dagg ist kein Teil des Warru-Teams, sondernselbstständiger Jäger, der von verschiedenen Gemeinden und Projekten gebucht wird. "Die Selbstständigkeit hilft mir, hier in der Wüste Arbeit zu finden", sagt Dagg und folgt einem kaum sichtbaren Pfad durch den Sand. Als Jäger kombiniert er altes Wissen über Landschaft und Tierwelt, das sein Vater ihm beigebracht hat, mit moderner Technik. Neben Nachtsichtgeräten und Käfigfallen nutzt Dagg für die Jagd Infrarotdrohnen, um Katzen und Füchse zu erlegen. "Was ich gelernt habe, zeige ich auch anderen Gemeindemitgliedern und hoffe, dass sie sich mit dem Wissen selbstständig machen können", erklärt Dagg. "Es ist wichtig, dass andere indigene Australier sehen: Du kannst als selbstständiger Unternehmer hier draußen in der Wüste überleben." +Behutsam stellt Dagg eine Falle auf den Boden und verkleidet sie mit Ästen, während die Sonne hinter den Hügeln mit den rotorangen Felsen untergeht. Er holt sein Smartphone aus der Tasche und schießt ein Foto vom Sonnenuntergang. diff --git a/fluter/warum-afd-mitglied-werden.txt b/fluter/warum-afd-mitglied-werden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..57a82d7b7584c860ccca47134baea0186fca7f1d --- /dev/null +++ b/fluter/warum-afd-mitglied-werden.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Das war einer der Gründe, die mich zur AfD gebracht haben. Dabei komme ich politisch aus einer ganz anderen Ecke. Als Jugendlicher in Magdeburg war ich in der linksalternativen Szene unterwegs. Ich war zehn Jahre Punk mit Iro, habe viel mit den Gothic- und Metall-Leuten rumgehangen. Als ich während meines Politikwissenschaftsstudiums in Halle und Magdeburg angefangen habe, mich für Parteien zu interessieren, bin ich zu den verschiedenen Stammtischen gegangen: CDU, SPD, selbst Piraten. Aus Neugierde bin ich auch zur AfD. Erst hat mir das nicht gefallen. Ich kann gar nicht mehr genau sagen, warum. Vielleicht waren es die Leute, vielleicht die Themen. Als ich dann 2015 noch mal hin bin, war die Atmosphäre ganz anders. Die Gespräche waren vernünftiger. Es waren auch mehr junge Leute dabei, von der Jungen Alternative (JA). Das hat es natürlich leichter gemacht. +Heute bin ich stellvertretender Landesvorsitzender der JA in Sachsen-Anhalt, Sprecher der Hochschulgruppe Campus Alternative an der Universität Magdeburg und auch Mitglied der AfD. Natürlich wähle ich bei der Bundestagswahl die AfD, wie schon 2016 bei der Landtagswahl. Ich helfe auch wieder aktiv im Wahlkampf mit. Ich mache das, weil ich in einem Land leben will, das frei und sicher ist. Und in dem es wieder okay ist, dass es einen rechten Diskurs gibt. Der gesellschaftliche Diskurs in Deutschland ist so weit nach links gerückt, es braucht ein rechtes Gegengewicht. Ich hoffe, dass sich der politische Austausch normalisiert und wir von der AfD nicht wegen unserer Meinung verteufelt werden. Dass unsere rechten Ansichten nicht automatisch als rechtsextrem gelten. +Als Student bin ich oft großem Druck ausgesetzt, weil meine Kommilitonen natürlich mitbekommen haben, wie ich politisch stehe. Zumindest in den Sozial- und Humanwissenschaften, wo ich studiere, ist die Ablehnung immens. Einmal sagte eine Studentin wutentbrannt zu mir: "Wie kannst du für die AfD sein und das mit deinem Gewissen vereinbaren? Mit deinem Studium!" Ich mache ja im Master Friedens- und Konfliktforschung. Eine gute Antwort wäre gewesen: Wie könnte ich nicht! Viele denken, die AfD ist ein Faktor der gesellschaftlichen Instabilität. Ich sehe das genau andersherum. Die Faktoren der Instabilität sind ganz woanders: wie die EU aufgebaut ist, wie wir über Schuldenrettung reden, über Grenzöffnung und Integration. Das sind die Faktoren, die meiner Meinung nach längerfristig die Sicherheit und Freiheit in diesem Land gefährden könnten. Die einzig praktikable Lösung sehe ich darin, mich bei der AfD zu engagieren. +Das heißt natürlich nicht einfach: Grenzen zu und zurück ins 19. Jahrhundert. Das wäre nicht zielführend. Im Moment bin ich auch nicht für einen EU-Austritt, sondern für tiefgreifende Reformen der EU. Aber so wie wir Deutschen gerade unsere politische und wirtschaftliche Macht ausnutzen, um einerseits südeuropäische Staaten zum Sparen zu zwingen, andererseits die osteuropäischen Länder zur Aufnahme von Flüchtlingen zu bewegen – das kann es auch nicht sein. +Ich weiß, dass viele mit den Provokationen der AfD ein Problem haben. Auch in Teilen meines Freundeskreises war es anfangs schwer. Ich musste mich für vieles rechtfertigen. Aber man sollte nicht aus den Augen lassen, um was es der AfD eigentlich geht. +Etwa im Falle der Äußerungen von Alexander Gauland über Aydan Özoğuz, die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung. Alle haben sich auf Gaulands etwas härtere Gangart gestürzt [Anm. der Redaktion: Der AfD-Spitzenkandidat sagte auf einer Wahlkampfveranstaltung Ende August, Özoğuz könne in Anatolien "entsorgt" werden]. Das Entscheidende ist doch: Es hat bis dahin niemanden interessiert, dass die Integrationsbeauftragte behauptet, eine spezifische deutsche Kultur jenseits der Sprache sei nicht identifizierbar. Erst nach Gaulands Kritik wurde darüber diskutiert. Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, auf so schwerwiegende inhaltliche Verfehlungen hinzuweisen, ist auch Gaulands Wortwahl meiner Meinung nach gerechtfertigt. + +Weil 42 Protokolle – so viele Parteien nehmen an der Bundestagswahl am 24.9. teil – ein bisschen viel wären, haben wir uns auf jene sieben Parteien beschränkt, die laut Umfragen eine realistische Chance auf den Einzug in den Bundestag haben. + diff --git a/fluter/warum-auf-malta-demonstriert-wird.txt b/fluter/warum-auf-malta-demonstriert-wird.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8ba8648f6181e9b888f3ffd990ae911882b4ea5f --- /dev/null +++ b/fluter/warum-auf-malta-demonstriert-wird.txt @@ -0,0 +1,15 @@ + +"Muss ich auf einer Demo schreien oder die Faust heben? Wir sind es nicht gewohnt, auf die Straße zu gehen", sagt Florinda +Mehr als zwei Jahre ist es jetzt her, dass die Journalistin Daphne Caruana Galizia vor ihrem Haus im Norden der Insel von einer Autobombe getötet wurde. Sie hatte im Rahmen der"Panama Papers"recherchiert, einem großen Daten-Leak,das international für Aufregung sorgteund unter anderem zeigte, dass zahlreiche namhafte Politiker in illegale Offshore-Geschäfte involviert waren. Auch Malta war betroffen, und Daphne Caruana Galizia deckte Korruptionsfälle bis in die höchsten Kreise der Regierung und in der Geschäftswelt auf. Ihr Blog "Running Commentary" war bereits davor berüchtigt, die Reichen und Mächtigen zu kritisieren. +Eine halbe Stunde bevor sie am 16. Oktober 2017 in ihr Auto stieg und die Bombe explodierte, schrieb sie auf ihrem Blog: "Überall, wo man hinschaut, sieht man heutzutage Schurken. Die Situation ist aussichtslos." Unmittelbar nach ihrer Ermordung entlud sich die Empörung in Demonstrationen und Kundgebungen, doch sie gingen allmählich im Inselalltag unter. Liest man ihren letzten Blogeintrag heute, klingt er wie der Slogan einer neuen Protestbewegung. Wer sich dieser Tage auf Maltas Straßen umhört, bekommt oft gesagt, dass es Proteste in solchem Ausmaß nie zuvor gegeben habe. Was war passiert? + +Seit im November brisante Details über die Ermordung ans Licht kamen, wird auf Maltas Straßen protestiert +Grablichter werden jeden Abend in Gedenken an Daphne Caruana Galizia angezündet – und jede Nacht von der Stadtreinigung weggeräumt + + +Ein Verdächtiger hatte gestanden, als Vermittler für den maltesischen Geschäftsmann Yorgen F. drei Mörder mit dem Bau der Bombe beauftragt zu haben.Er belastete aber auch den (mittlerweile Ex-)Stabschef des Premierministers, Keith Schembri.Schembri habe ihm Informationen über die Journalistin aus direkten Regierungskreisen bereitgestellt. Als der Skandal Ende November öffentlich wurde, trat Schembri von seinem Amt als Stabschef zurück, und Premierminister Joseph Muscat (Arbeiterpartei) kündigte seinen Rücktritt an – für Januar 2020. Doch vielen Menschen auf der Straße reicht das nicht. Sie fordern seine sofortige Abdankung und das Ende der Korruption, die laut Transparency International in den vergangenen zwei Jahren auf Malta deutlich zugenommen hat. +"In den 1990er-Jahren kam hier eine ‚Pro Business'-Attitüde auf", sagt André Callus, 33. "Zugunsten von Großunternehmern und deren Bauvorhaben wurden Land und Energieversorgung privatisiert." Er ist Teil des Movimento Graffiti, einem nicht unumstrittenen zivilgesellschaftlichen Bündnis, das die aktuellen Demonstrationen mitorganisiert. Graffiti-Aktivisten ketteten sich bereits in den 1990er-Jahren auf Baustellen an, um die Entstehung eines Vergnügungsviertels in einem Naturschutzgebiet zu verhindern. Ohne Erfolg. Während das Movimento Graffiti in der Vergangenheit selten mehr als zehn Menschen bei seinen Aktionen auf die Straßen brachte, sind es nun Hunderte, an Spitzentagen Tausende, die sich der wöchentlichen Demonstration der Organisation anschließen. +"Mafiöse Strukturen, die tief in der Politik verankert sind", vermutet Aktivist André Callus. Früher protestierte er meist mit zehn Menschen, heute mit Tausenden +"Die Politik dient nicht mehr den Menschen in Malta", sagt Florinda, die auch um zwei Uhr nachts noch vor dem Denkmal in der Innenstadt unter einem Regenschirm Kaffee verteilt. "Es hat eine Weile gedauert, das zu begreifen, aber wir sind endlich wütend genug, um nicht mehr weiter dabei zuzusehen." Zum Justizgebäude sind an diesem Abend so viele Menschen gekommen, dass der Wagen der Stadtreinigung um Mitternacht nur kurz vor den Kerzen und Blumen anhält – und dann weiterfährt. Die regennasse Menge jubelt. Zum ersten Mal wird die kleine Gedenkstätte für Daphne Caruana Galizia nicht geräumt. + + diff --git a/fluter/warum-cdu-mitglied-werden.txt b/fluter/warum-cdu-mitglied-werden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..14d72a029bd5d48ce3f369ca20f7179a515da1fd --- /dev/null +++ b/fluter/warum-cdu-mitglied-werden.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Ich bin Ortsvorstand der CDU in Berlin-Moabit und werde jetzt Bürgerdeputierter (Anm. der Redaktion: So werden Bürgerinnen oder Bürger genannt, die an der Arbeit der Ausschüsse einer Bezirksverordnetenversammlung in Berlin stimmberechtigt teilnehmen) für Integration. Schon in der Schule habe ich mich politisch engagiert – ich wurde in der Oberstufe zum Schülersprecher einer Sport-Eliteschule und in den Vorstand des obersten schulpolitischen Beirats in Berlin gewählt. Als Sprecher für 300.000 Schüler haben sich die Parteien natürlich für mich interessiert. Ich wurde zu diversen Empfängen und Gesprächen eingeladen. Fast alle Parteien waren anfangs auch potenzielle Alternativen für mich. Zum Beispiel konnte ich mich in der SPD wiederfinden. Abgeschreckt haben mich jedoch einige ihrer Mitglieder – etwa Thilo Sarrazin –, deren Ansichten und Auftreten meiner Meinung nach offensichtlich geduldet wurden. +Nachdem ich einige Jahre lang von außen beobachtet hatte, wie Parteien arbeiten, entschloss ich mich 2013, der CDU beizutreten. Sie imponiert mir mit ihren Richtlinien, ihrem Parteiprogramm, ihrer pragmatischen Art und den Persönlichkeiten, die sie repräsentieren. Man darf nicht vergessen: Politik wird nicht nur von Programmen, sondern vor allem von Menschen gemacht. +Überzeugt hat mich auch die Politik auf kommunaler Ebene. Zunächst einmal geht es mir um die Art und Weise, wie man Dinge anpackt: nicht von heute auf morgen eine Revolution anzuzetteln, wie es einige Parteien relativ blauäugig fordern, sondern angestrebte Veränderungen vorausschauend planen und zeitlich angemessen durchführen. Ein Beispiel ist der Atomausstieg bis 2022 – das ist ein realistisches Ziel. Wichtig ist, dass es dafür einen konkreten Plan gibt. Zwar bin auch ich ein hoffnungsloser Idealist, doch vor allem in der Opposition herrscht mir viel zu viel realitätsfremde Romantik. +Als Vizepräsident der Jüdischen Studierendenunion in Deutschland und Repräsentant der Jüdischen Gemeinde zu Berlin ist für mich die Distanzierung von Antisemitismus und die bedingungslose Anerkennung des Staates Israel auch ein persönlich wichtiges Thema. Innerparteilich engagiere ich mich in den Bereichen Kultur, Bildung und Religion mit Schwerpunkt Integration. Dabei brauche ich aber nicht immer die ganz großen Projekte, um mit Menschen in Kontakt zu kommen. Mit Flüchtlingen gehe ich zum Beispiel spontan Döner essen, um ihre Probleme und Bedürfnisse besser zu verstehen. Interreligiöse Zusammenkünfte oder interkulturelle Begegnungen gehören zu meinem Alltag. Ich bin mir im Klaren darüber, dass viele zu solchen Gesten noch nicht bereit sind. Allen voran Bürger aus der Mitte der Gesellschaft, die das Gefühl haben, ihre Ängste würden von der Politik überhört oder gar bewusst ignoriert. Das einzige Mittel gegen Vorurteile gegenüber Menschen ist meiner Meinung nach die persönliche Begegnung. Für sie setze ich mich verstärkt ein. Ich werde mich zukünftig auch außerparteilich bemühen, Menschen und Parteien zusammenzubringen, um Integration und Bildungsarbeit zu diskutieren. Ich finde es wichtig, dass gerade diese Themen von unterschiedlichen Standpunkten aus betrachtet werden. +Wenn FDP-Parteivorsitzender Christian Lindner das Wahlprogramm der CDU als "unambitioniert und mutlos" kritisiert, halte ich das für Quatsch. Im Gegensatz zu anderen Parteien denkt sie bereits an die nächsten Schritte in einer potenziell bald wiedererlangten Regierungsverantwortung und möchte so die Fehler und Lücken des aktuellen Systems schrittweise reformieren. Ich nenne das Programm der CDU nicht mutlos, sondern pragmatisch. +Ob ich konservativ bin? In einigen Bereichen sicher. Ich pflege gerne deutsche und jüdische Traditionen. Bierzelt? Auch okay. Ich sehe das als Teil meiner Kultur. Gemäßigter Patriotismus ist für mich ebenfalls in Ordnung. Ich bin außerdem ein großer Fan der Institution Familie, egal ob traditionell oder Patchwork, ob die Eltern hetero- oder homosexuell sind. Der Verbund der Familie sollte einen Status innerhalb unserer Gesetzgebung haben. +Ich strebe nicht primär bestimmte Posten in der Partei an – man kann aber nie wissen. Ich möchte einige Dinge einfach ein bisschen besser machen. Die CDU, so glaube ich, gibt mir dafür einen idealen Rahmen. +Mein politischer Traum ist eine Gesellschaft, in der es selbstverständlich ist, seine Kultur, seine Religion und seine Sexualität offen auszuleben. Dass sich alle hier als Bestandteil der Gesellschaft sehen. Ich will, dass Menschen respektvoll und freundschaftlich miteinander umgehen. Es ist wichtig, Gemeinsamkeiten zu finden, statt zu suchen, was uns trennt. + +Weil 42 Protokolle – so viele Parteien nehmen an der Bundestagswahl am 24.9. teil – ein bisschen viel wären, haben wir uns auf jene sieben Parteien beschränkt, die laut Umfragen eine realistische Chance auf den Einzug in den Bundestag haben. + diff --git a/fluter/warum-csu-mitglied-werden.txt b/fluter/warum-csu-mitglied-werden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1eda8faa92917c5e775d8f4eedf29a72a6b3af32 --- /dev/null +++ b/fluter/warum-csu-mitglied-werden.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +In meinem engeren Freundeskreis gibt es viele, die sagen: Ich finde es super, dass du dich da engagierst, aber für mich wäre das nichts. Dennoch sind sie grundsätzlich interessiert an den Themen der CSU und der JU. Genauso habe ich aber Freunde, die sagen, dass sie mit vielen Themen der CSU gar nichts anfangen können. Und ich sehe es auch nicht als meine Pflicht, sie von ihnen zu überzeugen. Natürlich vertrete ich meinen Standpunkt, wenn eine Diskussion entsteht. +Aber wenn ich weiß, dass jemand eine andere Ansicht hat, dann akzeptiere ich das.Das ist auch der Grund, weshalb es bei mir bislang keinen Punkt gibt, bei dem ich sagen könnte oder müsste, da stimme ich nicht mit der Partei überein. Politik betrifft so viele Themenfelder, und naturgemäß bin ich nicht in jedem Thema so tief drin, dass ich mir wirklich eine Meinung dazu bilden könnte. Bestimmt wird es solche Punkte geben, bloß haben sie mich bislang nicht berührt. Mir waren diese drei "Basispunkte" wichtig und wie die Parteien damit umgehen. +Migration ist eines der Themen, die mir besonders wichtig sind, nicht erst seit der Flüchtlingswelle im Jahr 2015. Ich finde es extrem wichtig, dass man Ideen und Wissen dazu sammelt, wie wir Menschen, die aus anderen Kulturkreisen zu uns einwandern, am besten integrieren können. Es geht ja nicht bloß darum, den Menschen zu erklären, dass es in Deutschland gewisse Grundwerte gibt. +Es geht auch darum, und das ist genauso wichtig, ihnen zu vermitteln, was ihnen das bringt. Integration bedeutet ja nicht, dass diese Menschen ihren Glauben oder irgendetwas aufgeben sollen. Sondern es sollte ihnen vermittelt werden, dass diese Grundwerte sie auch vor dem schützen, wovor sie aus ihrer Heimat geflohen sind: etwa weil sie verfolgt wurden, aus politischen Gründen, aus religiösen Gründen oder wegen ihrer sexuellen Orientierung. +Was dieses Thema betrifft, habe ich mich damals in einem Zwiespalt befunden. Einerseits habe ich die Bilder gesehen von den Menschen, die auf Booten zu uns kommen. Es ist selbstverständlich für mich, dass man diesen Menschen helfen muss. Zumal auf einem der reichsten und fortschrittlichsten Kontinente. Andererseits ist er mir eben auch wichtig, dass dabei – und das hat nicht in vollem Umfang funktioniert – im Land kein Chaos entsteht. Die CSU hat damals gesagt, es ist absolut wichtig und richtig und unsere Pflicht, dass wir helfen, aber es muss geordneter ablaufen, als es geschehen ist. Und das fand ich gut. Ich habe mich damals mit dieser Haltung identifiziert. Und ich habe gemerkt, dass ich mich zusätzlich zu meiner Stimme auch aktiv beteiligen möchte. +Natürlich muss das jeder für sich selbst wissen, ob er sich engagiert oder nicht. Auch die Wahl ist ja keine Verpflichtung. Aber ich finde es doch sehr, sehr wichtig, wählen zu gehen. Wählen ist die einfachste und beste Möglichkeit, zu bestimmen, in welche Richtung das Land gehen soll, in dem man lebt. +Das ist etwas, was in vielen anderen Ländern der Welt nicht selbstverständlich ist oder das es in vielen Ländern gar nicht gibt: die Chance, etwas zu verändern oder umgekehrt zu sagen, ich möchte, dass es so bleibt. Deshalb finde ich es sehr wichtig, dass man sich – auch wenn man sich darüber hinaus nicht politisch interessiert – zumindest alle vier Jahre mal bemüht und sagt, in welche Richtung das Land gehen soll. + +Weil 42 Protokolle – so viele Parteien nehmen an der Bundestagswahl am 24.9. teil – ein bisschen viel wären, haben wir uns auf jene sieben Parteien beschränkt, die laut Umfragen eine realistische Chance auf den Einzug in den Bundestag haben. + diff --git a/fluter/warum-der-klimawandel-bezweifelt-wird.txt b/fluter/warum-der-klimawandel-bezweifelt-wird.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..25b4b2d057d25fc454c26d648c265f55a28ac4b3 --- /dev/null +++ b/fluter/warum-der-klimawandel-bezweifelt-wird.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +Skeptiker hingegen lassen sich von dieser Einigkeit und den dahinterstehenden Argumenten wenig beeindrucken. Für sie ist die von Menschen verursachte Erderwärmung nur eine Theorie. Klimaschutzgesetze verstehen sie als Idee grüner Gutmenschen und Mittel staatlicher Willkür. Gegen wissenschaftlich fundierte Fakten sind diese Zweifler oft immun, wie der neue Leiter der amerikanischen Umweltschutzbehörde EPA und Ex-Kohle-Lobbyist Scott Pruitt zuletzt einige Male bewies. In einem Interview mit dem Sender NBC sagte er, dass er das Treibhausgas Kohlendioxid für keinen wesentlichen Verursacher der Erderwärmung halte. "Die Einschätzungen über das Ausmaß des Einflusses gehen erheblich auseinander. Ich glaube deswegen nicht, dass Kohlendioxid einer der Hauptverursacher der Erderwärmung ist, die wir erleben." Dabei ist genau dies inzwischen weltweiter Konsens und Teil des Pariser Klimaschutzabkommens. Skeptiker wie Pruitt vertrauen lieber ihrem Bauchgefühl und abseitigen Theorien. Doch obwohl die Beweise fehlen, wächst die Sympathie für "alternative" Klima-Fakten. Woran liegt das? + +Ahmed, Khairpur Nathan Shah
, Sindh, Pakistan, September 2010 +Jeff und Tracey Waters, Staines-upon-Thames, Surrey UK, Februar 2014 +Zweifel an der Wissenschaft: Wissenschaftliche Fakten werden immer häufiger in Frage gestellt – das gilt nicht nur für den Klimawandel, sondern beispielsweise auch für das Impfen oder die Ernährung. Grundsätzlich ist ein Hinterfragen stets gut. Immerhin ist Zweifeln eine wichtige Tugend auch der Forschung selber, und eine Theorie gilt immer nur so lange, bis sie widerlegt wird. Leider wird Studien oftmals nicht wegen methodischer Fehler oder fragwürdiger Finanzierung misstraut, sondern aus reinem Bauchgefühl. Das liegt keineswegs daran, dass die wissenschaftlichen Fakten für Laien zu kompliziert wären: Viele der Menschen, die der Wissenschaft heute misstrauen, verfügen selbst über eine akademische Ausbildung. +Vermeintlich angreifbar macht die Wissenschaft vor allem ihre eigene Fehlbarkeit. So versucht die Klimaforschung häufig mit Hilfe von Modellen und Computersimulationen, die zukünftigen Veränderungen unseres Klimas abzuschätzen. Es handelt sich hier natürlich um Prognosen, deren tatsächlicher Eintritt nicht zu 100 Prozent vorausgesagt werden kann oder soll. Diese Unsicherheiten führen Leugner des Klimawandels gerne als Gegenargumente ins Feld. Dabei wird die Fehlbarkeit von Prognosen von der Wissenschaft keineswegs verschwiegen – offene Fragen und künftiger Forschungsbedarf sind Thema in jeder Publikation. +Wissenschaftliche Mythen sind hartnäckige Gebilde: Natürlich haben die Skeptiker nicht nur Zweifel, sondern auch eigene Erklärungen für den Klimawandel. Die Bandbreite der Theorien ist groß: So glauben manche, dass die Sonne die Erde aufheize und damit den Klimawandel stärker beeinflusse als der Mensch. Tatsächlich waren Sonnenaktivitäten in langen Phasen der Erdgeschichte eng mit der Entwicklung der Erdtemperatur verbunden. Der Haken an dieser Theorie: In jüngster Zeit nahm die Sonnenaktivität ab – und die Erderwärmung schritt trotzdem voran. Schuld daran ist der vom Menschen verursachte Ausstoß von CO2. + +Lucas Williams, Lawshe Plantation, South Carolina USA, Oktober 2015 +João Pereira de Araújo, Taquari District, Rio Branco, Brasilen, März 2015 +Ein weiterer Mythos ist die angebliche Pause der Erderwärmung in den letzten zwei Jahrzehnten. Diese These wird allerdings durch eine aktuelle Studie der ETH Zürich entkräftet. Die scheinbare Unterbrechung der Klimaerwärmung von 1998 bis 2012 hat es dieser Untersuchung zufolge nicht gegeben, es handelte sich allenfalls um eine nicht signifikante Abschwächung der Erderwärmung. +Neben Erklärungsversuchen, die den Anschein erwecken wollen, wissenschaftlichen Argumentationsmustern zu folgen, gibt es aber auch sehr einfache, häufig verschwörungstheoretische Begründungen, warum uns die Wissenschaftler den menschengemachten Klimawandel angeblich vorgaukeln: etwa dass die Forscher den Klimawandel nur erfunden hätten, um an Steuergelder zu kommen. Ob auf den ersten Blick durchdacht oder völlig absurd – Falschinformationen verbreiten sich im Netz schnell und halten sich zäh. Ein Beispiel dafür ist die Oregon-Petition. Diese Unterschriftenaktion aus dem Jahre 1998 wird noch heute von Klimaskeptikern ins Feld geführt, um auf die Uneinigkeit der Klimaforscher hinzuweisen. Allerdings wurde diese Petition von der Industrie finanziert; nur 0,5 Prozent der Unterzeichner waren überhaupt Klimaforscher. Zudem fanden sich viele Namen von TV-Serien-Charakteren, Künstlern und sogar dem längst verstorbenen Charles Darwin auf der Unterschriftenliste. Doch aller Aufklärung zum Trotz bleibt sie als Argument präsent. + +J.B. Singh, Jawahar Nagar, Srinagar, Kashmir, Indien, Oktober 2014 +Brigitte und Friedhelm Totz, Elster, Sachsen Anhalt, Deutschland, Juni 2013 +Die eigene Filterblase: Die Kluft zwischen wissenschaftlichem Konsens und persönlicher Meinung wird für manche Menschen immer größer. Ein Grund dafür kann der Wunsch nach Bestätigung sein. Viele Menschen suchen insbesondere Informationen, die zu der eigenen Meinung, dem Selbstbild und dem individuellen sozialen Umfeld passen: Arbeite ich bei einem Ölkonzern, bin ich geneigt, am Klimawandel durch Menschenhand zu zweifeln – schon allein deshalb, weil zu viel Klimaschutz meinen Job bedroht. Die alte Weisheit "Gleich und gleich gesellt sich gern" gilt vor allem für das Internet. In Facebook-Gruppen, auf Blogs oder eigenen "Nachrichtenportalen" fällt es wesentlich leichter, die eigenen Ansichten zu verstärken, als zu Zeiten, in denen Tageszeitungen und Nachrichtensendungen die wichtigsten Informationsquellen bildeten. Der Filterblase sei Dank stammt das, was jemand liest und sieht, heute oft aus ähnlich ausgerichteten Quellen: nämlich denen, die man selbst für glaubwürdig hält. Fakten, die die eigene Meinung gefährden könnten, dringen entweder nicht mehr so schnell zu einem vor – oder sie verändern die wahrgenommene Wichtigkeit von Themen. +Einflussreiche Klimaskeptiker: … lassen sich vor allen in US-amerikanischen Diskursen finden: Anti-Klimawandel-Organisationen wie das "Committee for a Constructive Tomorrow" beziehen viel Geld aus der Kohle-, Automobil- oder Öl-Industrie und haben zahlreiche namhafte Anhänger in Politik und Medien. Gemeinsam verbreiten sie bewusst Desinformationen und säen Zweifel an Forschungsergebnissen. Dabei wird die Glaubwürdigkeit renommierter Wissenschaftler gezielt angegriffen. Seriösen und begutachteten Studien setzen die Lobbyorganisationen und Think-Tanks eigene Publikationen entgegen. Ihr Ziel ist nicht erst erreicht, wenn sie die "alternativen Fakten" etabliert haben – schon der Anschein einer Kontroverse unter den Wissenschaftlern genügt, um Unsicherheit in der Bevölkerung zu erzeugen. Damit verlieren Klimaschutzmaßnahmen an gesellschaftlichem Rückhalt, und Industrien könnten auf kurze Sicht Milliarden einsparen. + +Adlene Pierre, Savanne Desolé, Gonaïves, Haiti, September 2008 +Anchalee Koyama, Taweewattana District, Bangkok, Thailand, November 2011 +US-Präsident Donald Trump, der den Klimawandel bereits 2012 für eine Erfindung Chinas erklärt hatte, kündigte in diesem Jahr das Pariser Klimaabkommen. Zu seinem Umweltminister machte er einen bekennenden Klimaskeptiker. An vielen US-Schulen wird in Sachen Klimawandel nicht der aktuelle Stand der Forschung gelehrt. So einflussreich ist die Gruppe der Skeptiker in Deutschland nicht. Dennoch könnte auch in Deutschland mit der AfD eine Partei in den Bundestag einziehen, von der einige Politiker den menschengemachten Klimawandel leugnen. Unterstützt wird die Partei von der umstrittenen Institution "Europäisches Institut für Klima und Energie". +Diskurs ist anstrengend: Viele Klimaforscher scheuen den offenen Diskurs mit ihren Kritikern: Das Widerlegen von Verschwörungstheorien ist ein anstrengendes Unterfangen. Dabei kann es zielführender sein, Klimaskeptiker ernst zu nehmen und sich gut zu überlegen, wie man mit ihnen diskutiert. Schließlich hat der Irrglaube nur selten etwas mit einem Mangel an Wissen zu tun; in der Regel korrigieren Skeptiker ihre Weltanschauung nicht allein deshalb, weil sie mit besseren Informationen konfrontiert werden. Beim Widerlegen ist es daher wichtig, sich auf die Fakten zu konzentrieren und dabei leicht verständlich und prägnant zu argumentieren. + +Kingsley Isiakpere und Edna Silas, Igbogene, Bayelsa State, Nigeria, November 2012 +Johora, Chandanbaisa Village, Sariakandi Upazila, Bogra District, Bangladesh, September 2015 +Auf keinen Fall sollte die Diskussion die grundlegenden Überzeugungen des Gegenübers in Frage stellen. Ansonsten droht sonst ein umittelbarer Gegenangriff. Im Eifer eines solchen Shitstorms geht schnell der Blick auf die Fakten verloren. Das zeigt sich aktuell am Beispiel des Wissenschaftsjournalisten und Astrophysikers Harald Lesch, der sich kritisch mit den Klimapositionen im AfD-Parteiprogramm auseinandergesetzt hatte. Am Ende musste er sich trotz besserer Fakten selbst verteidigen und gab sich größte Mühe, die Argumente seines Gegenübers entkräften. +Der beste Weg ist sicher ein respektvoller Diskurs, der nicht nur verneint, sondern auch Alternativen zu den Theorien der Klimaskeptiker bieten kann – vorausgesetzt natürlich, das Gegenüber ist überhaupt offen für ein Gespräch. diff --git a/fluter/warum-die-gro%C3%9Fen-modefirmen-den-markt-beherrschen.txt b/fluter/warum-die-gro%C3%9Fen-modefirmen-den-markt-beherrschen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e4f21a39044baf0e14d54869d57f15a864756199 --- /dev/null +++ b/fluter/warum-die-gro%C3%9Fen-modefirmen-den-markt-beherrschen.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Sollte der 84-jährige Spanier noch selbst shoppen gehen, dann gehört er wohl eher zur Zielgruppe des Unternehmens, das Nike und Inditex auf dem dritten Platz folgt. Es ist das französische Luxuskonglomerat LVMH – ein Zusammenschluss des Lederwarenherstellers Louis Vuitton und der Produzenten von Moët & Chandon (Champagner) und Hennessy (Cognac). Unter dem Konzerndach finden sich neben Louis Vuit­ton unter anderem Marken wie Fendi, Celine, Dior, Givenchy und Hublot. Im Jahr 2018 stiegen die Gewinne von LVMH auf 1,9 Milliarden Euro. +Wie unterschiedlich die Konzerne agieren, sieht man an den Werbeausgaben. Während Nike rund drei Milliarden jährlich in Anzeigen und Verträge mit Sportstars steckt, machte Zara jahrelang so gut wie überhaupt keine Werbung. LVMH wiederum ist dafür bekannt, in den Medien luxuriöse Traumwelten zu inszenieren, um seine teuren Produkte zu verkaufen. +Und die deutschen Hersteller? Auch hierzulande gibt es namhafte Modemarken wie Boss, Seidensticker, Gerry Weber und s.Oliver. Die deutschen Unternehmen sind meist ein paar Nummern kleiner, mittelständisch geprägt und familiengeführt. Für sie wird es immer schwerer, mitzuhalten, seit global operierende Fast-Fashion-Ketten wie Primark, Zara oder H & M das Angebot immer schneller wechseln und zwischen ersten Designentwürfen und neuen Billighemden kaum noch zwei Wochen vergehen. So machte s.Oliver 2018 zum Beispiel mit 45 Millionen Euro nur noch halb so viel Gewinn wie im Vorjahr. Zusätzlich hat die Corona-Krise den Herstellern durch Ladenschließungen und nachlassende Kauflust zugesetzt. Im Homeoffice reichen eben auch Jogginghose und Schlabberpullover. Auf dem Markt ist offenbar immer weniger Platz für Mode, die nicht entweder spottbillig oder extrem prestigeträchtig und teuer ist. +Tatsächlich gehörte die deutsche Bekleidungsindustrie zu den ersten Branchen, die sich schon vor den 1970er-Jahren massiv durch die wirtschaftliche Globalisierung herausgefordert sahen. Im Laufe der Jahre verlegten immer mehr Hersteller Produktionsprozesse in Länder mit niedrigeren Lohnkosten. Seit den 1950er-Jahren bis heute sind rund 50.000 Arbeitsplätze in der deutschen Textilbranche verloren gegangen, und viele Betriebe, besonders die kleinen, mussten schließen. So betrachtet befindet sich die Branche schon seit Jahrzehnten in einer Art Krise. Aber auch wenn es heute nur noch knapp 29.000 Menschen sind, die in  Deutschland bei Bekleidungsherstellern arbeiten, wurden in den Jahren vor Corona immerhin noch um die sieben Milliarden Euro Jahresumsatz erwirtschaftet. +Beim Dachverband Textil und Mode gibt man sich hoffnungsfroh und verweist darauf, dass die deutsche Mode für Qualität, Langlebigkeit und gute Passform stehe – Eigenschaften, mit denen man in Zeiten steigenden Nachhaltigkeitsbewusstseins punkten möchte. So werden sich in Zukunft immer mehr Menschen im Zweifel für ein etwas teureres T-Shirt entscheiden, das dafür ein paar Jahre hält und nicht kurz nach der Plastiktüte im Müll landet – so die Hoffnung. +Mit fairen Produktionsmethoden können einige deutsche Unternehmen allerdings nicht punkten. Die Organisation Clean Clothes Campaign kritisiert deutsche Firmen, bei ihren Lieferanten aus osteuropäischen Ländern wie der Ukraine, Serbien und Kroatien Lohndumping und Menschenrechtsverletzungen zu tolerieren. "Keine Näherin bei den untersuchten Lieferanten deutscher Modemarken verdiente über der EU-Armutsschwelle", heißt es in einem umfangreichen Bericht. "Viele Verbraucherinnen und Verbraucher nehmen an, dass die Modeproduktion in Europa unter besseren Bedingungen geschieht als in Asien", so die Autoren der Studie – tatsächlich aber sei die Kluft zwischen der Bezahlung und einem existenzsichernden Lohn tendenziell sogar größer als in Asien. + diff --git a/fluter/warum-es-frauen-zum-is-verschlaegt.txt b/fluter/warum-es-frauen-zum-is-verschlaegt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8d432c07402a059714a61363a1a7493888ae5943 --- /dev/null +++ b/fluter/warum-es-frauen-zum-is-verschlaegt.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Doch eines ist aufgrund der geheimdienstlichen Erkenntnisse klar: Aqsa Mahmood ist Teil eines Systems, dessen Ziel es ist, Mädchen und junge Frauen aus dem Westen für Daesh zu rekrutieren. Eine amerikanische Frau namens Huda Muthawny scheint für Mädchen aus den USA zuständig zu sein, eine andere, von der nur der Vorname Bushra bekannt ist, konzentriert sich offenbar auf Italienerinnen. Von Saudi-Arabien aus macht sie Propaganda auf Italienisch. Ihre an die Frauen gerichtete PR zeigt Wirkung: Einrichtungen wie das International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence (ICSR) in London oder der Sicherheitsdienst Soufan schätzen, dass 700 der etwa 4.000 EU-Bürger,die sich Daesh angeschlossen haben,weiblich sind (18 Prozent). +Doch warum folgen so viele junge Frauen dem Ruf in ein Leben voller Entbehrungen und mit wenig Entfaltungsmöglichkeiten unter der strengen Auslegung der Scharia-Gesetze, wie Daesh sie verspricht? Und wie sieht die Realität bei Daesh für sie tatsächlich aus? Es ist schwer, überhaupt einen Eindruck vom dortigen Alltag zu gewinnen. Vor allem mit Hilfe von Online-Diensten wie Twitter, Tumblr, Telegram, LinkedIn und Kik – die viele Frauen westlicher Herkunft verwenden, um miteinander zu kommunizieren – lässt sich erahnen, wie es ihnen dort geht. +Verhüllte Kriegerinnen mit Knarre und Karre: Diese Collage, die eine Werberin von Daesh auf Twitter gepostet hat, zeichnet ein wenig realitätsgetreues Bild von der Situation der allermeisten Frauen. Mal abgesehen von der Vollverschleierung. +Das Londoner ICSR hat die Online-Aktivitäten mehrerer Frauen überprüft, ausgewertet und darausDossierszusammengestellt. Die Forscherinnen Erin Marie Saltman und Melanie Smith zeigen darin auf, dass die Daesh-Frauen komplexe Netzwerke über die verschiedenen Online-Plattformen etabliert haben. Wird ein Konto geschlossen oder gesperrt, taucht kurz darauf ein neues auf. Die Werberinnen wie Aqsa Mahmood oder Huda Muthawny nutzen verschiedene Propagandamittel. Dazu gehören Fotos von Sandstürmen oder gefährlichen Episoden bei der Einreise, die wohl die Abenteuerlust wecken sollen, und verklärende Gedichte, da die Poesie in arabischen Ländern einen hohen Stellenwert hat ("Nein! Sagt nicht: Wir brauchen keinen Dschihad. Denn es gibt kein gutes Leben, ohne dass wir unser Blut opfern", schreibt eine Syrerin, die sich Ahlam al-Nasr nennt, "Träumerin des Sieges"). Und es zählen praktische Empfehlungen dazu, etwa wie man im "Kalifat" – so nennen die Frauen die Herrschaft von Daesh – leckere Mahlzeiten zubereiten kann und wie sich die komplizierte Einreise nach Syrien bewerkstelligen lässt. +Das alles wird in einer Sprache vermittelt, die auf Teenager abgestimmt ist. Eine Komposition aus Slang, dem einen oder anderen Vers aus dem Koran und vor allem jeder Menge Emoticons. Das wichtigste Lockmittel ist aber die Ideologie. Frauen, die sich den Daesh-Kämpfern anschließen, wird ein sicherer Platz im Paradies und die Teilhabe am Aufbau des Kalifats als einer utopischen Gesellschaft versprochen. Ein frommes Leben, frei von den Zwängen der westlichen Konsumgesellschaft und sogar eine verquere Form der Selbstverwirklichung als Frau. +Auch dieses martialische Propaganda-Bild führt in die Irre. Die Aufgaben einer Frau bei Daesh sind: Ehefrau und Mutter sein, den Männern "Sesshaftigkeit, Ruhe und Stabilität" bieten. +Diese Selbstverwirklichung besteht aber hauptsächlich darin, Daesh-Kämpfer zu heiraten. Zwar gibt es für einige Frauen auch die Möglichkeit, aktiv am Heiligen Krieg teilzunehmen, indem sie Mitglied der weiblichen Al-Khansaa-Brigade werden. Deren Aufgabe ist es, in den Straßen der Daesh-Hochburgen wie Rakka und Mossul die religiöse Tugendhaftigkeit der Frauen zu bewachen. Vor allem aber geht es darum, dass die Frauen möglichst schnell heiraten und die ihnen zugedachte Rolle als Ehefrau und Mutter erfüllen. Sie sollen sicherstellen, dass die Daesh-Gebiete und das Gedankengut ihrer Bewohner über mehrere Generationen bestehen bleiben. Die Al-Khansaa-Brigade schreibt etwa in einem Manifest, dass sich die Frauen am besten am Heiligen Krieg beteiligen,indem sie ihren Männern "Sesshaftigkeit, Ruhe und Stabilität" bieten.Dass die Frauen sich manchmal gar nicht mit ihren Männern verständigen können, ist Nebensache. Solche weltlichen Hindernisse seien zu vernachlässigen, wenn es gelte, Allahs Willen zu folgen, schreiben die Werberinnen. +Die Frauen werden nach ihrer Ankunft im Daesh-Gebiet zuerst in einer Art Wohngemeinschaft, der Makar, untergebracht. In der Makar warten sie dann auf die Daesh-Kämpfer, die kommen, um sich ihre Frauen auszusuchen. Einige Frauen behaupten, dass sie frei entscheiden können, ob sie einen Antrag annehmen oder nicht. Ob das der Realität entspricht, ist zweifelhaft. Vielmehr legen die Erkenntnisse der ISCR-Mitarbeiterinnen Saltman und Smith nahe, dass sie den Kämpfern strikt nach deren Status zugeteilt werden. Das deckt sich auch mit denBerichten von Frauen, die aus dem Islamischen Staat geflüchtet sind. +Die Veränderung gefällt auch vielen Frauen nach einer gewissen Zeit bei Daesh nicht mehr. Doch eine Flucht ist lebensgefährlich. +Das erste "Zugriffsrecht" haben die Emirs, dann folgen ausländische Kämpfer. Die örtlichen, einfachen Kombattanten stehen am Ende der Kette. Je wichtiger der Ehemann ist, desto größer ist sein Haus und desto mehr besitzt auch seine Frau. Verschwiegen wird, was passiert, wenn der Ehemann stirbt. Zwar gilt es als höchst ehrenhaft und erstrebenswert, Witwe eines Märtyrers zu sein. Aber tritt dieser Fall ein, geht es für die Frauen zurück in den Makar zwecks Wiederheirat. Nur sind sie diesmal keine Jungfrauen mehr und gelten nicht mehr annähernd als so wertvoll wie vor ihrer ersten Zwangsheirat. +Kein Wunder, dass bei vielen Frauen genau an diesem Punkt die Desillusion einsetzt. Einige versuchen dann zu fliehen wie Samra Kesinovic und Sabina Selimovic, die beiden bosnischen Mädchen aus Wien. Ihre Spur hat sich verloren. Samra Kesinovic soll als Bestrafung für ihren Fluchtversuchzu Tode geschlagen worden sein. diff --git a/fluter/warum-es-immer-mehr-artensterben-gibt.txt b/fluter/warum-es-immer-mehr-artensterben-gibt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6f884755e7718b86959e1e82e6a806407e9d0029 --- /dev/null +++ b/fluter/warum-es-immer-mehr-artensterben-gibt.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +All diese verheerenden Zahlen hat der IPBES, der sogenannte Weltbiodiversitätsrat mit 132 Mitgliedstaaten, im Mai 2019 in seinem "Global Assessment" veröffentlicht. Das ist nicht irgendeine Studie, sondern wahrscheinlich die größte zum Thema Artenschutz und Biodiversität, die es jemals gab. Knapp 500 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben Erkenntnisse aus 15.000 Untersuchungen und wissenschaftlichen Arbeiten einfließen lassen und kamen zu einem eindeutigen Ergebnis: Die Gründe für das Artensterben sind menschengemacht – und vielfältig. Da ist zum einen die übermäßige Jagd auf Tiere, wie sie sich etwa in der Überfischung der Meere zeigt.Noch schlimmer ist aber, wie die Menschheit die Lebensräume von Tieren und Pflanzen immer weiter verkleinert oder ganz zerstört. Das tun wir vor allem, um unseren eigenen Nahrungsbedarf zu stillen. Doch fehlen auf großen Weideflächen oder in Monokulturen wie den quadratkilometergroßen Palmölplantagen die vielfältigen ökologischen Nischen, die vorher vielen Tieren und Pflanzen Lebensraum boten. +Auch die fortschreitende Urbanisierung spielt eine Rolle: Seit 1992 haben sich die städtischen Gebiete verdoppelt. Drei Viertel der Landfläche und zwei Drittel der Meere wurden durch den Menschen bereits entscheidend verändert. Insgesamt stellt der IPBES-Bericht einen Rückgang der natürlichen Ökosysteme um 47 Prozent im Vergleich zum uns bekannten Ursprungszustand fest. +Ein weiteres Problem sind die invasiven Arten: Tiere und Pflanzen, die im Gefolge des Menschen in eine andere Umgebung kommen, wo sie sich besser durchsetzen können als die vorhandenen – und diese zum Teil verdrängen. Auch die Umweltverschmutzung und dermenschengemachte Klimawandelbedrohen die Biodiversität: Schon ein leichter Anstieg der Temperatur und ein daraus resultierendes Absinken des pH-Werts der Meere können beispielsweise das Sterben von Korallen beschleunigen – was wiederum den Lebensraum für viele Fische und andere Spezies vernichtet. Denn mit jeder Tier- und Pflanzenart, die ausstirbt, sind weitere bedroht. Die Biosysteme befinden sich schließlich in einem fragilen Gleichgewicht, das durch jede Störung verändert wird. +Noch gibt es laut den Autoren der IPBES-Studie Hoffnung – aber nur, wenn ab sofort konsequent gehandelt wird. Der Mensch muss sich zurücknehmen, die Ressourcen nachhaltiger nutzen, deutlich weniger verbrauchen und so der Natur wieder mehr Raum geben. Das ist bisher nicht passiert. So werden viele der von der Staatengemeinschaft für das Jahr 2020 vereinbarten Ziele laut IPBES-Bericht höchstwahrscheinlich verfehlt – etwa die Überfischung der Meere zu stoppen oder den Verlust natürlicher Lebensräume mindestens zu halbieren. Bei alldem geht es nicht nur um das Wohlergehen der Tiere und Pflanzen. Immer wieder betont der IPBES-Bericht, wie sehr wir Menschen Teil des Ganzen und für unser eigenes Überleben und Wohlergehen auf funktionierende Ökosysteme angewiesen sind. Sie regulieren die Luftqualität und das Klima, dienen uns als Erholungsraum oder als Puffer bei Überschwemmungen oder Erdrutschen und vieles mehr. Ohne bestäubende Insekten wie Bienen und Hummeln geht die Lebensmittelproduktion zurück, auch diverse Arzneien haben eine pflanzliche Basis. Viele dieser Funktionen sind nicht künstlich zu ersetzen. Der Schutz der Ökosysteme ist auch ein Schutz der Gattung Mensch. + +Titelbild: David Chancellor diff --git a/fluter/warum-fdp-mitglied-werden.txt b/fluter/warum-fdp-mitglied-werden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..36042db88d9c5c89070face4360cdd7428a3e731 --- /dev/null +++ b/fluter/warum-fdp-mitglied-werden.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Dass ich die FDP wählen werde, weiß ich seit ungefähr einem Jahr. Ich habe mich zuvor relativ ausführlich mit den Parteien auseinandergesetzt, jedenfalls mit den größeren: CDU, SPD, FDP, Linke, Grüne et cetera. +Ich habe mir im Internet die Programme angesehen und geschaut, was die Parteien in den vergangenen Jahren gemacht haben, auch zur Bundestagswahl 2013. Und ich habe den Wahl-O-Mat gemacht. Er war bei mir aber nicht sehr aufschlussreich. Deshalb dachte ich mir, na ja, daneben sollte ich mich vielleicht selbst ein bisschen mehr mit den Parteien auseinandersetzen, damit das Ergebnis genauer wird. +Dabei habe ich mich stark daran orientiert, was ja vor ein, zwei Jahren ein ziemlich großes Thema war: die Verhandlungen zu den Freihandelsabkommen CETA und TTIP. In das Thema hatte ich mich ein bisschen eingearbeitet. Viele in meinem Alter waren komplett dagegen und haben gesagt, dass es absolut nicht sein kann, dass man solche Handelsbeziehungen führt. Ich war der Überzeugung, dass solche Freihandelsabkommen eher etwas Gutes sind – und da ist mir die FDP aufgefallen, weil die auch für die Verhandlungen argumentiert hat. +Außerdem hat mir auch sehr das Programm der FDP zur Bildungspolitik gefallen. Ich hatte selbst als Schülerin das Gefühl, dass vieles im Bildungssystem nicht so ist, wie es sein sollte. Bildung ist ja per Grundgesetz immer noch Ländersache, und ich bin der Meinung, dass mehr im Bund gemacht werden sollte. +Das Abitur zum Beispiel ist absolut nicht vergleichbar: Ich habe mich mit einem Abitur aus Schleswig-Holstein mit allen möglichen Abiturienten aus anderen Bundesländern an denselben Unis beworben. Und allein wenn man von einem Numerus clausus ausgeht, sieht man, dass die Statistiken nicht fair sind. Denn sowohl die Quoten der Einser-Abiture als auch die Durchfallquoten sind von Bundesland zu Bundesland anders, und schon das Fächerangebot ist ganz unterschiedlich – damit ist der Wissensstand überhaupt nicht vergleichbar. Ich finde, die FDP hat den Verbesserungsbedarf da am besten erkannt. +Neben dem eigentlichen politischen Programm hat bei mir noch ein Punkt eine Rolle gespielt. Mir fällt es leichter, mich mit Leuten in meinem Alter oder in einem ähnlichen Alter zu identifizieren. Und wenn ich mir das Alter der meisten Direktkandidaten angucke, sind das doch eher, na ja, ältere Leute. Ältere Erwachsene, als wir es sind, auf jeden Fall. Bei der FDP dagegen gibt es viele jüngere Leute, auch 18- oder 19- Jährige, die sich als Direktkandidaten aufstellen lassen. Ich habe den Kandidaten für Dresden beim Christopher Street Day am Infostand der FDP kennengelernt und fand ihn sehr nett – er ist Mitte 30 und vertritt eben auch eher "jüngere" Themen. Wir Jüngeren haben wohl ein anderes Politikverständnis: Vielleicht verstehen wir tatsächlich die Probleme der 60-Jährigen nicht. Aber umgekehrt verstehen die Älteren unsere Themen eben teilweise auch nicht. Wenn die Altersstruktur also etwas unterschiedlicher ist, kommen auch unterschiedliche Themen auf – und dann kann sich jeder wieder besser repräsentiert fühlen. +Es gibt auch immer mal wieder Themen, bei denen man nicht so ganz übereinstimmt. Ich bin seit März bei den Jungen Liberalen dabei, und natürlich diskutieren wir beim Stammtisch auch über kontroverse Themen. Man braucht ja nicht immer einer Meinung zu sein. In der Bundesbeschlusslage wurde jetzt zum Beispiel im Wahlprogramm das mit der Impfpflicht hinzugefügt, das ging ja auch groß durch die Presse. +Das ist ein Thema, das mir nicht ganz so passt. Ich finde Impfungen durchaus sinnvoll – aber ich bin absolut nicht dafür, dass man verpflichtend per Gesetz alle Kinder gegen bestimmte Krankheiten impfen lässt. Es gibt auch andere Wege, wie man eine Immunisierung erreichen kann. +Über die Wahl hinaus würde ich mir eine noch offenere Gesellschaft wünschen. Unter Angela Merkel sind da einige Themen wirklich zu kurz gekommen – die Homo-Ehe zum Beispiel wurde jetzt auf den letzten Drücker mal eben noch beschlossen. Ich finde, solche Themen sollten viel mehr behandelt werden, in den Vordergrund gerückt werden, denn wenn die Politiker sie an die Öffentlichkeit bringen, setzen sich die Leute viel stärker damit auseinander. Und wenn bestimmte Sachen legalisiert werden, ist die Stimmung in der Gesellschaft dazu gleich eine andere. + +Weil 42 Protokolle – so viele Parteien nehmen an der Bundestagswahl am 24.9. teil – ein bisschen viel wären, haben wir uns auf jene sieben Parteien beschränkt, die laut Umfragen eine realistische Chance auf den Einzug in den Bundestag haben. + diff --git a/fluter/warum-gibt-es-nichtwaehler.txt b/fluter/warum-gibt-es-nichtwaehler.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3d843a95c356c656a062967a0e0ff0838344ddc1 --- /dev/null +++ b/fluter/warum-gibt-es-nichtwaehler.txt @@ -0,0 +1,50 @@ +Wie wird dauerhaftes Nichtwählen begründet? +Manche haben schlicht kein Interesse an Politik, sind sich aber gleichzeitig nicht bewusst, was alles politisch ist. Wenn es keine Vorbilder gibt, wenn Eltern und Freunde nicht wählen gehen, sprich: wenn es nicht die soziale Norm um einen herum ist, wählen zu gehen, dann ist es auch unwahrscheinlicher, dass diese Menschen selbst wählen gehen. Andere Gründe sind: das Gefühl von politischer Machtlosigkeit oder der bewusste politische Protest – also der Wahlboykott als Denkzettel. Es bleibt abzuwarten, ob sich hier auch neue Protestmilieus herausbilden, die sich im "Widerstand gegen das System" sehen und die deshalb auch nicht wählen gehen. Kurz: Nicht wählen zu gehen kann sowohl mit Politikferne zu tun haben als auch eine sehr bewusste politische Entscheidung sein. + +Sebastian, 31 Jahre, IT-Experte: +"Ich bin der Auffassung, dass unser demokratischer Prozess nicht geeignet ist, die besten Menschen als Volksvertreter auszuwählen – moralisch und auch hinsichtlich ihrer Kompetenz. Das ist ein strukturelles Problem des politischen Systems. Statt um gute politische Willensbildung und Gestaltung geht es vor allem um Machtspielchen und Absprachen in Hinterzimmern. +Als die Demokratie erfunden wurde, war noch nicht absehbar, dass einmal über Themen wie Atomkraft entschieden werden muss. Das ist alles so hochdifferenziert und vielschichtig, dass es noch nicht mal Experten komplett überblicken. Wie sollen dann Bürger und Politiker sinnvoll über so ein Thema entscheiden? So ist das meiner Auffassung nach bei sehr vielen politischen Fragen. +Vielleicht wird es in Zukunft mal eine technische Lösung geben, mit der man datengetrieben herausfindet, welche politischen Entscheidungen sich die Menschen wirklich wünschen. Auf diese Weise könnte es möglicherweise gelingen, die wahren Präferenzen der Leute und ihre Wertehierarchie in Politik umzusetzen." (og) + +Sticht eine bestimmte Gruppe von Nichtwählerinnen und Nichtwählern heraus? +Überproportional häufig nicht wählen gehen Menschen aus prekären sozialen Milieus, jene mit niedriger Schulbildung, geringerem Einkommen und Berufsstatus. Wählen zu gehen ist in Deutschland sehr bildungsabhängig. Themen wie Wahlen und politische Beteiligung werden häufig in der Oberstufe der Schulen besprochen, manchmal auch in Schülerparlamenten eingeübt. Mit 18 zum ersten Mal wählen zu gehen kann dann geradezu ein Event sein: Man ist vielleicht ein bisschen aufgeregt, stolz und hat das Gefühl, nun endlich erwachsen zu sein. Wer aber mit 16 die Schule verlässt, bekommt davon oft nichts mit. Und wird sich vielleicht später nicht mehr damit auseinandersetzen. +Gibt es einen Trend bei jungen Erwachsenen, was die Wahlbeteiligung angeht? +Die Wahlbeteiligung ist insgesamt in den letzten Jahrzehnten gesunken, und Jüngere gehen generell seltener zur Wahl als Ältere. Bei der Bundestagswahl 2017 sind dann aber wieder mehr Jüngere wählen gegangen als zuvor. Die Wahlbeteiligung der unter 30-Jährigen lag bei fast 70 Prozent, insgesamt liegt sie bei 76 Prozent. Wie in fast allen Altersgruppen unter 60 Jahren gehen auch bei den Jüngeren Frauen etwas häufiger zur Wahl als Männer. Auch bei der Europawahl 2019 war die Wahlbeteiligung unter Jungen so hoch wie nie, vielleicht auch, weil Umweltschutz und der Brexit präsent waren – beides Themen, die besonders junge Menschen und ihre Zukunft betreffen. Ein Grundproblem bleibt: Demografisch gibt es doppelt so viele Wahlberechtigte ab 60 wie unter 30 Jahren. Das heißt, die Jüngeren haben tatsächlich wenig Einfluss aufs Wahlergebnis. Zumindest solange es die vielen Älteren noch gibt. + +Ivan, 34 Jahre, Unternehmensberater in Frankfurt: +"Früher bin ich wählen gegangen, zuletzt vor fünf Jahren, das war bei der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz. Die Schnittmenge zwischen mir und den sich zur Wahl stellenden Parteien ist aber immer kleiner geworden. Heute kann ich keine Partei mehr mit gutem Gewissen unterstützen. Das kleinste Übel wählen, um ein größeres zu verhindern? Das will ich auch nicht. +Viele meiner Ansichten sind links geprägt, weshalb der Großteil der Parteien für mich grundsätzlich unwählbar erscheint. Kleinstparteien will ich auch nicht wählen, da sich das für mich wegen der Fünf-Prozent-Hürde wie eine verschenkte Stimme anfühlt. Und selbst eine gründen? Da erscheint mir der Aufwand dann doch zu groß. +Um trotzdem politisch teilhaben zu können, gehe ich auf Demos. Eine Zeit lang habe ich auch ehrenamtlich in einem Verein gearbeitet, der in Schulen geht und politisch aufklärt. Ich fände es besser, wenn die Demokratie in Deutschland direkter wäre und es mehr Volksentscheide gäbe – so wie in der Schweiz. Dann würde ich auch wieder wählen gehen." (sg) + +Unsere Interviewpartnerinnen und -partner brachten durchweg politische Gründe fürs Nichtwählen vor. Sebastian etwa argumentiert, Themen wie Atomkraft seien so komplex, dass die Bürgerinnen und Bürger sowieso nur auf Basis von Halbwissen entscheiden würden. +Er hat recht: Die Themen sind in der Tat sehr komplex. Aber deswegen gibt es ja unter anderem die repräsentative Demokratie: damit sich gewählte Politikerinnen und Politiker hauptberuflich verschiedene Perspektiven anhören können. Man kann darüber streiten, wer eine Lobby hat und wer nicht. Aber ich würde Sebastian fragen: Wie stellt er sich das politische System sonst vor? Wir leben nun mal in einer hochkomplexen Gesellschaft und müssen die ordnen. Eben weil die Dinge kompliziert liegen, haben wir nicht eine Meinung zu allem, die man einfach abfragen kann. Wir müssen uns unsere Meinungen erst bilden. Im politischen Raum geht es ja darum, sich zunächst fundiert eine Position zu erarbeiten und dann eine Entscheidung zu treffen. +Interviewpartner Ivan würde wählen gehen, wenn es mehr direkte Demokratie gäbe. +Die Forderung an sich ist legitim und nicht per se populistisch. Man muss sich aber trotzdem genau anschauen, aus welcher Richtung sie kommt. Denn gefordert wird das auch von rechtspopulistischer Seite. "Direkte Demokratie" passt nämlich zur Grundlogik, dass die "Eliten" angeblich alle korrupt sind und "das Volk" dagegen moralisch rein und dass ein einziger Führer den vermeintlichen Volkswillen erfühlt und umsetzt, ohne Vermittlung durch Zwischeninstanzen wie öffentlich-rechtliche Medien und gewählte Repräsentanz. + +Moritz, 19 Jahre, Student aus München/Regensburg: +"Ich darf im September zum ersten Mal wählen, will aber nicht. Unsere repräsentative Demokratie finde ich gut und richtig. Und stünde eine rechte Partei vor der Mehrheit, würde ich doch noch wählen. Beides ändert aber nichts daran, dass ich mich durch keine der zur Wahl stehenden Parteien vertreten fühle. +Mir ist ökonomische Gleichheit besonders wichtig. Große Teile der Parteien verlieren sich jedoch zunehmend in Identitätspolitik: Viele sehen die Gesellschaft nur noch als Wettstreit der Kulturen und Ethnien, in dem die kämpferische Veränderung der Ungleichheit gar keine Option ist. +Mir fehlen bei allen großen Parteien eine Haltung zur sozialen Frage und Konzepte gegen wachsende Ungleichheit und ihre Ursachen. Die Parteien stehen gerade allenfalls für verschiedene Facetten des Neoliberalismus – eine Ideologie, die ich mit meiner Stimme nicht legitimieren will. Wählen würde ich eine Partei, die sich nicht in Symptompolitik und Reförmchen verliert; nicht versucht, im bestehenden System gerecht zu handeln, sondern ein gerechtes System schaffen will. Dass so eine Bewegung erfolgreich sein kann, sieht man zum Beispiel in Frankreich, wo die Klassenfrage gesellschaftlich viel mehr verankert ist." (ph) + +DieSchweiz als Musterland der direkten Demokratiehatte bei der letzten Nationalratswahl im Jahr 2019 eine Wahlbeteiligung von 45 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland gab es bei der letzten Bundestagswahl eine Wahlbeteiligung von 76 Prozent. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz? +Ein Grund dafür ist, dass die Menschen in der Schweiz sehr oft an die Urne gerufen werden, sowohl auf Bundesebene wie bei Entscheidungen in den Kantonen und Gemeinden. Sie mögen dann denken: In Dingen, die mir wichtig sind, habe ich schon direkt entschieden. Eine Herausforderung bei Volksentscheiden ist, dass hier hochkomplexe Themen auf ein einfaches "Ja oder Nein" heruntergebrochen werden. Man muss sich also vorher gut informieren, um nicht einfach nur eine Bauchmeinung zu haben. Wir können sehen, dass auch die Schweizerische Volkspartei, SVP, bei Volksentscheiden der populistischen Logik folgt und Volksentscheide nicht unbedingt in erster Linie unterstützt, um zu einer guten Sachentscheidung zu gelangen, sondern auch um Stimmung zu machen. Bei der sogenannten "Ausschaffungsinitiative", die in 2010 von der SVP zur Abstimmung gebracht und mit einer Mehrheit von 52,9 Prozent angenommen wurde, ging es um die Forderung,straffällig gewordeneAusländer sofort abzuschieben, auch wenn im Zielland Folter oder Todesstrafe drohen. Nach Ansicht der Gegenseite verstößt eine solche Forderung gegen das Völkerrecht, EU-Recht undGrundrechte. Nach jahrelangen Diskussionen im Parlament wurde schließlich eine Härtefallklausel ergänzt, um nicht gegen das Verfassungsprinzip der Verhältnismäßigkeit zu verstoßen. + +Teresa L., 27 Jahre, studiert soziale Arbeit +"Als ich begann, darüber nachzudenken, was es bedeutet, meine Stimme einer Partei zu geben, wurde mir klar: Damit legitimiere ich unser politisches System, das ich eigentlich ablehne, weil ich nicht möchte, dass wir kapitalistisch wirtschaften. Keine Partei kann mir zur Wahl stellen: Wir schauen mal, ob uns da was Besseres einfällt. Das wäre verfassungsfeindlich. Der Autor Marc-Uwe-Kling beschreibt das mit dem von ihm so genannten Tütensuppen-Totalitarismus: Ich kann wählen zwischen der Tütensuppe von Knorr und der von Nestlé. Nur was, wenn ich gar keinen Bock auf Tütensuppe habe? +Wir sollten in Diskussionen den Kapitalismus als Problemfaktor begreifen. Dass etwas schiefgeht, ist ja Konsens. Zumindest kenne ich keine Person, die das nicht so sieht, wenn Kinder verhungern. Manche versuchen, Probleme innerhalb des Systems zu lösen: wenn doch alle Müll trennen würden oder weniger Fleisch essen. Aber es gibt kein richtiges Leben im falschen. Mit so einer Meinung wird man schnell in die linksextreme Ecke gestellt. Das ist schade, ich will auch nicht im Kommunismus oder Sozialismus leben. Aber ich weigere mich anzunehmen, dass uns nichts Besseres einfällt als der Kapitalismus." (tm) + +Warum ziehen es einige vor, gar nicht zu wählen, statt eine ungültige Stimme abzugeben? Das wäre doch auch eine Form des Protests gegen das Angebot der politischen Parteien. +Das wäre ein deutlich höherer Aufwand. Und etliche wollen nicht nur die Wahl, sondern den ganzen Prozess boykottieren. Letztendlich gibt es zudem immer nur wenige ungültige Stimmen, sodass der Protest verhallt und keine Diskussion darüber stattfindet. Die findet eher über die Nichtwähler:innen statt. +Wie überzeugt man diese Menschen vom Wählen? +Das Wählengehen an sich ist nicht automatisch demokratisch. So können Bürger:innen zum Beispiel auf Bundes- und Landesebene zum Teil die verfassungsfeindliche NPD wählen. Frühere Nichtwähler:innen entscheiden sich vergleichsweise oft für eine rechtspopulistische Partei wie die AfD, wie Analysen von Wählerwanderungen etwa von infratest dimap belegen. Bevölkerungsbefragungen wie die von uns durchgeführte Mitte-Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert Stiftung liefern zudem Hinweise darauf, dass Nichtwähler:innen im Durchschnitt fremdenfeindlicher eingestellt sind als die Wähler:innen der etablierten Parteien und es der AfD in den letzten Jahren gelungen ist, gerade die fremdenfeindlich Eingestellten unter den Nichtwähler:innen für sich zu gewinnen. Dann kann Wählen bei manchen auch Ausdruck von gerichtetem Protest sein: Ich bin mit der liberalen Demokratie und der offenen Gesellschaft nicht einverstanden. + +Lisa, 24 Jahre, Assistentin für behinderte Menschen +"Ich habe kaum Vertrauen in die Politik. Zum einen finde ich, dass generell zu wenig Transparenz herrscht. Es wird immer viel versprochen, das letztendlich nie umgesetzt wird. Ich würde mir mehr direkte Partizipationsmöglichkeiten wünschen, sodass Bürger:innen unabhängig von den Wahlen und Parteien aktiv die Politik mitgestalten können. +Zum anderen haben Skandale wie die Ibiza-Affäre mein Vertrauen stark geschädigt – da konnte man als Wähler:in mal hinter die Fassade schauen und sehen, was wirklich los ist in der Politik. +Ich glaube auch nicht, dass echte politische Partizipation etwas mit Parteipolitik zu tun haben muss. Wir nehmen alle allein deswegen schon Einfluss, weil wir unterschiedliche Haltungen und Meinungen vertreten. Im Endeffekt kann man die Dinge am besten verändern, wenn man selbst mit anpackt. +Ich arbeite als persönliche Assistentin für Menschen mit Behinderungen und helfe ihnen, selbstbestimmt zu leben. Damit leiste ich einen Beitrag für eine inklusivere Gesellschaft. Für mich ist das auch ein politisches Statement." (nv) + +Anders formuliert: Wie schaffen wir es, dass mehr junge Menschen ihre Stimme für eine demokratisch gesinnte Partei abgeben? +Wichtig wäre es, potenzielle Erstwähler:innen anzusprechen. Und zwar nicht nur an den Gymnasien, sondern überall, etwa auch an den berufsbildenden Schulen. Es braucht zudem Vertrauenspersonen und Vorbilder in den unterschiedlichen Milieus. Und wir müssen mehr politische Kultur lernen und einüben: Was ist eine demokratische Auseinandersetzung? Wie findet man zu einem Kompromiss, und warum kann das so langwierig sein? Die Demokratie ist so viel mehr als nur wählen zu gehen. Was helfen würde: Wenn die Stimmabgabe zum Trend wird, wie zuletzt bei der Europawahl: Man geht zur Wahl, weil es ein hart erkämpftes Recht ist und große Möglichkeiten als Bürger:in bietet, wofür viele auf der Welt dankbar wären. +Beate Küpper ist Professorin für soziale Arbeit in Gruppen und Konfliktsituationen an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach. Über das Thema dieses Interviews hat sie viel geforscht und 2017 die Studie "Das Denken der Nichtwählerinnen und Nichtwähler: Einstellungsmuster und politische Präferenzen" veröffentlicht. + diff --git a/fluter/warum-gibt-es-tierversuche.txt b/fluter/warum-gibt-es-tierversuche.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..76e6167be1ba65405f7c5cffe207ff393db81888 --- /dev/null +++ b/fluter/warum-gibt-es-tierversuche.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Lohoff ist nicht der einzige Wissenschaftler, der im Namen der Forschung Krebszellen in Mäuse verpflanzt. 125.614 Tiere sind laut Bundesregierung im Jahr 2017 in der Krebsforschung eingesetzt worden. Insgesamt wurde an etwa 2,8 Millionen Tieren geforscht, vor allem an Mäusen, Ratten, Kaninchen und Fischen, aber auch an Tausenden Affen und Halbaffen. Laut Landwirtschaftsministerium waren dabei 27 Prozent der Tiere kurzzeitig mittelstarken Schmerzen oder Ängsten, fünf Prozent starken Schmerzen ausgesetzt, und neun Prozent starben nach einer Narkose. "Es ist unsere ethische Pflicht, die Entwicklung von Alternativen zu Tierversuchen zu beschleunigen", sagte die zuständige Ministerin Julia Klöckner (CDU) zu Amtsbeginn. Doch noch werden die allermeisten Versuchstiere anschließend getötet. So auch die "Krebsmäuse" in Marburg. +"Die Mäuse leiden, keine Frage", sagt Michael Lohoff. Allein die Blutentnahme und die "Fütterung" per Sonde stresse die Tiere. Wenn dann die Belastungen der Leukämie aber einen festgelegten Schweregrad erreichten oder die Tumore eine Größe von 1,5 Zentimeter überschritten, würden die Mäuse getötet. Was für Lohoff ein notweniges Übel seiner Forschung ist, halten Tierschutzgruppen wie Peta oder Vereine wie "Ärzte gegen Tierversuche" fürTierquälerei. + + +Viele Tests sind gesetzlich vorgeschrieben, etwa bei der Zulassung von Medikamenten, Chemikalien oder Pestiziden. Für alle übrigen Versuche muss der Forscher nachweisen können, dass der Tierversuch "unerlässlich" und "ethisch vertretbar" ist. So schreibt es das Tierschutzgesetz vor. +"Das Tierwohl wird hier der Befriedigung von Neugier der Wissenschaftler untergeordnet", kritisiert Anne Meinert, die bei Peta als Fachreferentin für den Bereich Tierversuche arbeitet. Zumal Wirkstoffe in Tieren oft ganz anders wirkten als im menschlichen Körper. Aspirin, eines der am meisten eingenommenen Schmerzmittel weltweit, ist für Katzen tödlich. Bei Hunden, Affen, Mäusen und Ratten führt das Medikament zu missgebildeten Nachkommen. Ein anderes beliebtes Schmerzmittel – Paracetamol – löst bei Nagetieren Krebs aus. Tatsächlich kommt es bei der Zulassung von Medikamenten immer wieder dazu, dass Tierversuche Nebenwirkungen am Menschen nicht zuverlässig voraussagen. 2016 starb in Frankreich sogar ein Proband an den Folgen eines Medikaments, das nach dem Tierversuch als unbedenklich galt. Für Peta-Referentin Meinert ein Grund mehr, vom Staat einen klaren Ausstiegsplan aus Tierversuchen wie in den Niederlanden zu fordern. "Tierversuche sind nicht nur ethisch verwerflich, sondern auch unwissenschaftlich." +Bei dieser Schlussfolgerung schüttelt der Marburger Immunologe Michael Lohoff entschieden den Kopf. Und dann holt er aus, um darzulegen, wie bedeutend Tierversuche in der Forschung seiner Meinung nach sind. Lohoff spricht von Eiweißen namens PD-1 und CTLA-4, von Mausversuchen in den Achtzigern und Neunzigern, ohne die die moderne Krebsforschung vielleicht nie darauf gekommen wäre, wie man Immunzellen in Tumorkiller verwandelt. Mit diesem Wissen hätten erstmals aussichtslose Fälle von bösartigem Hautkrebs erfolgreich behandelt werden können. "Wer da noch behauptet, Tierversuche seien ethisch nicht vertretbar, ist nicht mehr zu retten." +Lohoff stört an der Debatte um Tierversuche noch etwas anderes. Oft werde ihm unterstellt, sich leichtfertig zu Tierversuchen zu entschließen. "Meinen Sie, mir macht das Spaß, Mäusen Krebs zu spritzen und sie dann später umbringen zu müssen?" Allein der Aufwand für die Genehmigung sei abschreckend. Zuerst müsse er den Antrag bei der Tierschutzbeauftragten seiner Universität durchbekommen. Danach reicht er den Antrag bei der zuständigen Bezirksregierung in Wetzlar ein. Hat die keine Einwände, wird er von einer Tierversuchskommission begutachtet, in der neben Wissenschaftlern auch Vertreter von Tierschutzorganisationen sitzen. Die Kommission entscheidet, ob Lohoff überzeugend darlegen konnte, dass der Tierversuch für sein Forschungsvorhaben zwingend notwendig ist und dass er die Belastung für die Mäuse so gering wie möglich hält. Die Empfehlung der Kommission ist für die genehmigende Behörde allerdings nicht bindend. "Manchmal geht das schon mehrmals hin und her, bis ein Antrag genehmigt wird", sagt Lohoff und seufzt. + + +Gilbert Schönfelder schmunzelt, wenn man ihn auf Lohoffs Erfahrungen mit der Bezirksbehörde anspricht. "In der Forschung wird jede Form der Bürokratie schnell als Zumutung empfunden." Allerdings liegt die Ablehnungsquote laut "Ärzte gegen Tierversuche" bundesweit bei unter einem Prozent. Der Toxikologe von der Berliner Charité leitet das 2015 gegründete Deutsche Zentrum zum Schutz von Versuchstieren. Schönfelders Aufgabe dort: Tierversuche in Deutschland so weit wie möglich zu reduzieren, durch Alternativen zu ersetzen und – wenn das nicht möglich ist – Tierversuche so schonend wie möglich zu gestalten. Das alles sei die Folge einer breiten gesellschaftlichen Debatte, die hierzulande schon weiter sei als anderswo, erklärt Schönfelder. So seien Tierversuche zur Entwicklung von Waffen, Tabakerzeugnissen, Waschmitteln und Kosmetika in Deutschland seit vielen Jahren verboten. +Jährlich vergibt das Bildungsministerium rund fünf Millionen Euro für innovative Ideen. Das Bundesinstitut für Risikobewertung fördert Alternativen zudem mit circa 350.000 Euro im Jahr – zum Beispiel zur Entwicklung vonOrganmodellen aus 3-D-Druckern, die Studien an Tierlebern eines Tages überflüssig machen könnten. Zu wenig, findet Schönfelder. "Das Ziel muss aber klar sein, irgendwann komplett auf Tierversuche zu verzichten." +Noch aber werden Forscher eine Balance zwischen zwei imGrundgesetzverankerten Rechten finden müssen: dem Tierschutz und der Wissenschaftsfreiheit. "Es bleibt für Forscher ein Dilemma", sagt Schönfelder. Vor allem, wenn man bedenkt, dass 80 Prozent der aktuellen Tierversuche für die Erforschung und Heilung der menschlichen Volkskrankheiten verwendet würden. Also vorrangig für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Nervenleiden – und Krebs. +Am Tag 19 nach der Tumorspritze ist es so weit. Die "Krebsmäuse" im Tierstall der Philipps-Universität Marburg haben nun Leukämie. Michael Lohoff kann jetzt beginnen, die Wirksamkeit der Medikamente an den Mäusen zu testen. Los geht's mit Dexamethason. Lohoff ist optimistisch: "Bisher klappt's perfekt." In ein paar Wochen weiß der Forscher, ob seine Spur im Kampf gegen Leukämie heiß ist – oder nicht. Die Mäuse leben dann nicht mehr. + +Weiterlesen könnt ihr imbpb-Dossier zu tierethischen Positionen. diff --git a/fluter/warum-gruenen-mitglied-werden.txt b/fluter/warum-gruenen-mitglied-werden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3e6422a3ab27de729af99d4c3cf4e33cda2d7324 --- /dev/null +++ b/fluter/warum-gruenen-mitglied-werden.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Seit Oktober 2015 bin ich Bundessprecherin der Grünen Jugend. Einmal die Woche bin ich im Bundesvorstand der Grünen, und immer wenn Sitzungswoche ist, bin ich bei den Fraktionssitzungen der Grünen dabei. Dann bringe ich die Position der jungen Grünen ein. Außerdem organisiere ich für die Grüne Jugend Veranstaltungen auf Bundesebene und kümmere mich um Pressearbeit. Gerade eben war ich mit der Grünen Jugend Berlin im Treptower Park, um auf Gentrifizierung aufmerksam zu machen. +Vielerorts werden öffentliche Plätze auf einmal zu Orten mit Konsumzwang – dann muss man plötzlich ein Bier oder etwas zu essen kaufen, wo man vielleicht vor einer Woche noch sitzen konnte, ohne zu konsumieren. Das führt natürlich dazu, dass es auf einmal von deinem Geldbeutel abhängt, ob du an schönen Orten deine Zeit verbringen kannst. Mit unserer Kampagne zur Bundestagswahl wollen wir zeigen, dass Demokratie mehr ist, als nur ein Kreuz bei der Wahl zu machen. Wir wollen Menschen ermutigen, sich selbst für ihre Interessen einzusetzen. +Viele finden es erst mal komisch, wenn ich sage, dass ich bei einer Partei aktiv bin. Auch dann, wenn sie die Themen ansprechend finden. Manchmal muss ich mich auch in meinem Freundeskreis dafür rechtfertigen. Da wird mir schon mal vorgeworfen, dass ich Teil des Staatsapparats bin, mich anpasse und sowieso nur eingeschränkte Möglichkeiten habe, Dinge voranzubringen. Ich erkläre dann immer, dass es sinnvoll ist, bei einer Partei mitzumachen, weil man sich dort nun mal am wirksamsten für die Inhalte einsetzen kann. Ich finde nicht, dass sich das Engagement in Bewegungen oder Initiativen und Parteiarbeit gegenseitig ausschließen müssen. Vielmehr sollte man gut zusammenarbeiten und sich wechselseitig Impulse geben. +Natürlich ist es wichtig, dass Menschen kritische Nachfragen stellen. So kann man seine eigenen Positionen überdenken, schärfen und verbessern. Sich selbst zu reflektieren ist wichtig, gerade in der Politik. Aber natürlich gibt es bestimmte Grundüberzeugungen. Zum Beispiel ist es mir wichtig, dass die Bedürfnisse der Menschen und der Schutz ihrer Lebensgrundlagen Priorität haben und nicht die Profitinteressen der Wirtschaft. +Gerade jetzt finde ich es besonders wichtig, sich für grüne Themen zu engagieren und sich für Menschenrechte und gegen Diskriminierungsformen wie Rassismus, Homo- oder Transfeindlichkeit einzusetzen. Die Klimakrise und die Tatsache, dass laut UNHCR weltweit über 65 Millionen Menschen auf der Flucht sind, zeigen, wie wichtig es ist, humanitäre Antworten auf globale Krisen und neue Formen des Zusammenlebens zu finden. Man muss Probleme lösen und kann nicht einfach die Augen vor ihnen verschließen. Wir können nicht so weiterwirtschaften wie in den vergangenen Jahrzehnten und rücksichtslos die Lebensgrundlage vieler Menschen zerstören. Ich glaube, das ist auch für viele Leute, die in wohlhabenderen Verhältnissen leben, ein wichtiges Thema: einerseits aus einem Gerechtigkeitsempfinden heraus, andererseits, weil es eben irgendwann auch um die eigene Lebensgrundlage geht. Wir können uns von Problemen nicht einfach abschotten und hoffen, dass es von alleine besser wird. +Ich wünsche mir, dass in Zukunft immer mehr Leute den Mut haben, über den nationalen Tellerrand hinauszublicken. Ich will entschlossen für eine Gesellschaft kämpfen, in der die Menschen solidarisch zusammenleben und keine Angst haben müssen, anders zu sein. Ich möchte in einer Welt leben, in der niemand für das, was er oder sie ist, ausgegrenzt wird. + +Weil 42 Protokolle – so viele Parteien nehmen an der Bundestagswahl am 24.9. teil – ein bisschen viel wären, haben wir uns auf jene sieben Parteien beschränkt, die laut Umfragen eine realistische Chance auf den Einzug in den Bundestag haben. + diff --git a/fluter/warum-heute-jeder-ein-profil-hat.txt b/fluter/warum-heute-jeder-ein-profil-hat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..399e747b2e8d54a714fc68b93a912ac1f3eb1164 --- /dev/null +++ b/fluter/warum-heute-jeder-ein-profil-hat.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +fluter.de: Herr Bernard, Sie schreiben, dass bis vor 20 Jahren vor allem für Serienmörder oder Psychiatriepatienten Profile existierten. Das dürfte vielen Nutzern sozialer Medien nicht bewusst sein. +Andreas Bernard: Das Profil als biografische tabellarische Fassung eines Individuums hat im 20. Jahrhundert erst eine Karriere in der Psychotechnik gemacht. Es wurde erstellt, um abweichende Schüler zu untersuchen und einer Sonderschule zuzuweisen. Ab den 1960ern machte das Profil eine kriminalistische Karriere als Täterprofil. Mich hat die Frage interessiert, wie es kommt, dass dieses Format heute für Selbstdarstellung, Selbstverwirklichung und aktive Selbstgestaltung steht. +Und – wie lässt sich das erklären? +Erstens gibt es einen Zusammenhang zwischen Social Media und dem Arbeitsmarkt. Die Normal-Erwerbsbiografie, wie sie in der Bundesrepublik in den 1960ern und 1970ern noch typisch war – eine Anstellung das ganze Berufsleben lang –, hat sich rasant verändert. +Heute haben wir es mit einer Abfolge von befristeten Verträgen zu tun. Die Attraktivität der freiwilligen Profile hat sehr stark damit zu tun, dass diese Zerstückelung der Erwerbsbiografien eine Selbstprofilierung, eine ständige Selbstpräsentation als arbeitsuchende Person erfordert. Zweitens kann man fragen, warum die Paranoia vor dem Staat, der meine Daten will, dem Wunsch Platz gemacht hat, erfasst zu werden. Ich möchte auf Facebook meine Daten teilen. Ich möchte meine Daten auf dem Fitness-Armband sammeln. Ich möchte meine Position hundertmal am Tag orten. Diese Erfassungslust ist etwas Neues. Da hat sich was verschoben: Wenn der Staat früher unsere Daten wollte, hatte das etwas Gefährliches. Vor dem musste man Angst haben, er könnte uns unserer Rechte berauben. +Das haben wir im 20. Jahrhundert von den totalitären Systemen gelernt. +Richtig. Heute können Facebook, Google und Apple genauso schlimme Dinge mit deinen Daten anfangen wie der Staat. Diese Unternehmen verschwinden aber hinter den Communitys, die sie anbieten. Wenn wir heute unsere Daten ins Netz stellen, dann haben wir das Gefühl, wir tun das unter Freunden. Wir lernen die große Liebe kennen und finden verschollene Klassenkameraden wieder. + +Andreas Bernard: "Komplizen des Erkennungsdiensts. Das Selbst in der digitalen Kultur", Fischer, Frankfurt am Main 2017, 24 Euro +Im 19. Jahrhundert glaubten viele Wissenschaftler, durch Vermessung des Menschen könnte man auf seine angeborenen Eigenschaften schließen. +Der eine sagte, er könne an der Form des Schädels die Intelligenz messen. Der andere sagte, er könne daran den geborenen Verbrecher erkennen. Anhand der Schädelform sollte die vermeintlich niedere Intelligenz der amerikanischen Ureinwohner oder der Afrikaner festgemacht werden oder die latente "Geistesgestörtheit" aller Arten von Verbrechern. Als im frühen 20. Jahrhundert politische Ideologien wie der Faschismus und der Nationalsozialismus die Ausgrenzung von Menschengruppen zur Politik machten, lieferten diese Theorien die wissenschaftliche Legitimation. Umso irritierender ist es, dass all diese "Vermessungswissenschaften" heute in einerBewegung wie "Quantified Self"(Anm. d. Red.: Selbstvermessung über digitale Geräte) angelegt sind. Heute geht es nicht mehr darum, Kollektive auszugrenzen, sondern das eigene Selbst zu optimieren. Die Prozesse und Techniken der Vermessung sind aber sehr ähnlich. +Heute vermessen wir uns freiwillig selbst, und wir legen Profile an, um mit unseren Freunden zu kommunizieren. Wo ist das Problem? +Der Begriff der Freiwilligkeit ist zentral. Das Social-Media-Profil wird freiwillig erstellt. Das Fitness-Wearable wird freiwillig umgeschnallt. Aber was bedeutet das? Ist es eine Emanzipation von Autoritäten, oder ist es nicht eher eine vorauseilende Selbstproblematisierung? +Wir tun es, weil wir denken, dass wir es tun sollten? +Ich glaube, dass heute Prozesse der Normierung oder der Disziplinierung auf die Menschen selbst übergegangen sind. Das kann man anhand von vielen Beispielen belegen. Etwa die Pränataldiagnostik, die nach Defekten im Embryo sucht: Die führt zur Selektion von Leben, für die früher "Wissenschaften" wie die Eugenik oder die Rassenhygiene zuständig waren. Heute entscheiden sich die Paare oder die schwangeren Frauen freiwillig für einen Schwangerschaftsabbruch, wenn es heißt, das Kind könnte mit einem Down-Syndrom geboren werden. Dasselbe gilt für die Datenströme. Vor 30 Jahren gab es Proteste gegen die Volkszählung in Deutschland. Viele glaubten, der Staat würde den Einzelnen aussaugen und verfolgen. Heute stellen wir viel umfassendere und intimere Daten freiwillig ins Netz. +Aber es verändert sich was: Apps wie Snapchat sind das Gegenteil eines Profils. Es gibt auch dort Storys, die archiviert werden, aber das meiste, das dort gepostet wird, existiert im Netzwerk sichtbar nur für kurze Zeit. +Es wäre unoriginell, diese Entwicklung nur als Verfallsgeschichte zu beschreiben. Die Generation der heute 13-Jährigen bedient diese Apps beeindruckend souverän und schreckt mit instinktiver Sicherheit vor manchem zurück. Snapchat ist ein gutes Beispiel. Diese neuen Techniken scheinen etwas zurückzunehmen, wobei man natürlich nicht weiß, inwieweit wirklich gelöscht wird. Es wird gelöscht für die Sinne der Nutzer, aber werden die Protokolle nicht doch gespeichert? +Wie haben die sozialen Medien ihre Nutzer verändert? +Andreas Bernard +In den 1970er- und 1980er-Jahren galt es als eine Todsünde, sich selbst zu einer Sache zu machen. Die sozialen Netzwerke haben in den vergangenen 15 Jahren durchgesetzt, dass der marketinghafte Blick auf das eigene Selbst der absolute Standard geworden ist. Wenn ich heute ein Buch schreibe, eine Platte veröffentliche oder einen Kinofilm mache und nicht in den sozialen Netzwerken eine kleine Marketingagentur meiner selbst gründe, bin ich ein exotischer Vogel. +Man könnte aber auch sagen: Die Menschen sind realistischer geworden. Sie wissen, dass wir alle Produkte von vielfältigen Erwartungen und Vernetzungen sind. +Ich beobachte, dass sich die alte Paranoia vor der Erfassung in alle Winde zerstreut hat. Aber es gibt eine neue Angst, die man vielleicht Biografieangst nennen könnte. Die ständige Frage "Was wird mit mir, bin ich so gut wie die?" – das ist etwas, was sich definitiv in den vergangenen Jahrzehnten geändert hat. Sich selbst mit Marketingaugen zu sehen pflanzt eine Unsicherheit in die Menschen, die zu biografischen Ängsten führt. Mein Buch versucht auch, eine Geschichte dieser Ängste zu erzählen. + + +Titelbild: Thomas Rabsch/laif diff --git a/fluter/warum-ist-berlusconi-so-beliebt.txt b/fluter/warum-ist-berlusconi-so-beliebt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dd61a19b2835999b5ee70cf8aef8a39b1fbdac04 --- /dev/null +++ b/fluter/warum-ist-berlusconi-so-beliebt.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Wegen seiner Verurteilung wegen Steuerbetrugs kann Berlusconi diesmal nicht selbst zur Wahl antreten. Sein Name ist aber noch immer das Markenlogo der Partei Forza Italia. Sie hat sich mit der rechtspopulistischen Lega Nord und den nationalkonservativen bis postfaschistischen Fratelli d'Italia verbündet. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts SWG vom 8. Februar liegen diese drei Parteien mit zusammen rund 37 Prozent vorne. Wie kann ein Unternehmer mit solch schmutziger Weste Sympathieträger bleiben? Eine klare Antwort gibt es darauf nicht. Sehr wohl aber Beobachtungen. +Vielen Italienern geht es wirtschaftlich schlecht. Es fehlt Arbeit, vor allem im Süden sind viele junge Leute ohne Job und Perspektive. Etliche gehen ins Ausland. Die Italiener stöhnen über vergleichsweise hohe Steuern und Abgaben. Behördenanträge, Studium, zeitnahe Arztbehandlung – das alles kostet in Italien oft eine Menge Geld. Viele junge Familien halten sich mit der Hilfe ihrer Eltern und Großeltern über Wasser – in Form von Geld oder Kinderbetreuung. Zahlreiche kleine Unternehmen kämpfen gegen den Konkurs. +In Italien zu leben – sosehr das auch nach Klischee klingen mag – bedeutete lange Zeit, auf einem Netz aus gegenseitigen Gefälligkeiten unter Freunden, Bekannten und Verwandten zu balancieren. Und hin und wieder mit kleinen Tricks und Schummeleien nachzuhelfen. Es war wackelig, aber es lief. Leute, die nicht wohlhabend waren, konnten so überleben. Wer wohlhabend war, konnte Einfluss und Besitz vergrößern. + + + +Anfang der 1990er-Jahre veränderte das Antikorruptionsprogramm "Saubere Hände" die Parteienlandschaft Italiens massiv. Gegen Tausende Politiker wurden Untersuchungen eingeleitet, mehrere der damals stärksten Parteien lösten sich auf, die Ära "Tangentopoli", etwa "Schmiergeldprinzip", sollte für immer beendet werden. Die Ermittlungen ebneten den Weg für neue Bewegungen. Unter ihnen: die konservative Forza Italia, die 1994 prompt die Wahlen gewann. Die Partei des Unternehmers Silvio Berlusconi füllte eine große Lücke in der Parteienlandschaft und sorgte dafür, dass bestimmte Dinge – Stichwort Korruption – blieben, wie sie waren. Berlusconi konzentrierte die Medienmacht und konnte damit die öffentliche Meinung beeinflussen wie kaum einer vor ihm. Er verquickte seine Interessen als Großunternehmer und als Gesetze-Macher. Mit Unterbrechungen regierte er bis 2011 und trat zurück, als Italien und die EU immer tiefer in die Wirtschaftskrise rutschten. +Deutschland hat sich von der Krise erholt. Italien kaum. Alle Politiker und Bewegungen, die nach Berlusconi gekommen sind, von Mario Monti über Matteo Renzi bis zur Fünf-Sterne-Bewegung, haben große Verbesserungen versprochen. Nur gekommen sind sie, das sind sich die meisten einig, nicht. Viele Italiener haben den Eindruck: Wenn sich was geändert hat in den letzten Jahren, dann zu ihrem Nachteil. +Eine 2017 durchgeführte und im Januar veröffentlichte repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Demos zeigt: 95 Prozent der Italiener misstrauen den Parteien. Natürlich ist die Bevölkerung gegen Vetternwirtschaft, Korruption und gedankenlosen Regelbruch. Gleichzeitig empfinden aber viele Menschen gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten große Umbrüche auch als Bedrohung. +Berlusconi kündigt vereinfachte und niedrigere Steuern an, Steuerfreiheit für das erste Auto und das erste Haus. Wer unter der Armutsgrenze lebt, soll 1.000 Euro Grundeinkommen erhalten, die Mindestrente auf 1.000 Euro erhöht und die Zuwanderung eingeschränkt werden. Berlusconi ist längst nicht der einzige Politiker in Italien, der seinen Wählern das Blaue vom Himmel verspricht. Für viele ist er aber der einzige, dessen Entscheidungen und Handeln vorhersehbar sind. Wie ein alter Bekannter, dem man es irgendwie einfach abkauft, wenn er lächelnd garantiert: Leute, mit mir wird alles wie früher. Ihr könnt wieder euer Ding machen, und ich mache meins. + +Titelbild: Antonio Masiello/Getty Images diff --git a/fluter/warum-ist-das-game-fortnite-so-erfolgreich.txt b/fluter/warum-ist-das-game-fortnite-so-erfolgreich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a8ee700f85a49a1d74753200596ee1441db381e7 --- /dev/null +++ b/fluter/warum-ist-das-game-fortnite-so-erfolgreich.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Andere "Fortnite"-Jubel heißen "Bel Air" (die Arme werden abwechselnd wild nach links und rechts geworfen), "Electro Shuffle" (Ententanz zu Kirmestechno) oder "Ponyritt" (wild auf und ab springen und dabei ein imaginäres Lasso schwingen). Die meisten wurden schon als Torjubel zweckentfremdet. Angefangen hat damit übrigens der Karlsruher SC. Nach dem Tor kroch der überglückliche Schütze scheinbar schwer getroffen über das Spielfeld, ein hinzueigeeilter Mannschaftskamerad "erschlug" ihn daraufhin mit einer imaginären Spitzhacke. Für "Fortnite"-Spieler eine typische Spielszene, für den irritierten "Sportschau"-Kommentator hingegen der "schrägste Torjubel des Jahres". +Auch Antoine Griezmann freut sich à la "Fortnite" - hier bei seinem versenkten Elfer im WM-Finale + +Mittlerweile allerdings dürfte sich herumgesprochen haben, dass sich Fußballer gerne von "Fortnite" inspirieren lassen, einem Spiele-Hype des Jahres 2018. "Fortnite" ist streng genommen ein kooperativer Shooter in bonbonbunter Comic-Grafik, der eigentlich schon im Juli 2017 erschienen ist, nachdem er bereits eine gefühlte Ewigkeit in der Entwicklung war. Das Spiel war sofort ein Erfolg, aber so richtig durch die Decke ging es erst, als es die Programmierermit einem sogenannten Battle-Royal-Modusaufrüsteten. Battle Royal, das heißt: Bis zu 100 Spieler treten gegeneinander an, am Ende bleibt einer übrig, ähnlich wie in der gleichnamigen japanischen Romanvorlage; die meisten würden es wohl eher aus den "Hunger Games" kennen. Populär gemacht hat dieses Genre kurz zuvor ein anderer Shooter, nämlich "Playerunknown's Battlegrounds" (kurz "PUBG"). +Der Clou bei "PUBG": Die Spieler müssen sich innerhalb einer kreisförmigen Begrenzung aufhalten, sonst nehmen sie Schaden. Der Kreis taucht in einem bestimmten Zeitintervall immer an einer anderen Stelle auf und wird zudem kleiner. Damit müssen sich die Spieler permanent bewegen, zudem verleiht diese Mechanik dem Geschehen eine eingängige Dramaturgie, die unweigerlich auf einen Showdown hinausläuft, perfekt für Let's Plays auf Youtube und Streams auf Twitch. +Noch ein Effekt: Dieses Damoklesschwert des Digitalzeitalters sorgt alle paar Minuten für immense Spannung, denn wenn man Glück hat, taucht der Kreis genau dort auf, wo man sich ohnehin gerade befindet – oder eben nicht, und man muss sich irgendwie zum anderen Ende der Karte durchtanken. +Der Vorteil von Fortnite: Es ist ziemlich einsteigerfreundlich, wie dieses Let's Play zeigt. + +"Fortnite" kopierte schnell das "PUBG"-Prinzip, und der Hersteller wurde deswegen sogar verklagt. Mittlerweile wurde die Klage allerdings fallen gelassen, vielleicht, weilder chinesische Tech-Riese Tencentmit den Herstellern beider Spiele verbandelt ist, vielleicht aber auch, weil die Klage keine Aussicht hätte auf Erfolg. Denn einerseits hat "Fortnite" von "PUBG" zwar schamlos abgekupfert, andererseits gibt es aber auch Unterschiede: "Fortnite" spricht eher Gelegenheitsspieler an, und das wiederum hat "Fortnite" insgesamt 40 Millionen aktive Nutzer eingebracht  – und der Firma Epic Games eine Menge Geld. Denn "Fortnite" kann man zwar umsonst spielen, doch wer eine schicke Axt, einen stylischen Gleiter oder anderen kosmetischen Schnickschnack sein Eigen nennen möchte,der muss letztlich Geld ausgeben. +Laut der Analysefirma SuperData soll "Fortnite" allein im Mai mehr als 300 Millionen US-Dollar umgesetzt haben. Dem Spiel ist dabei das Kunststück gelungen, auf allen verfügbaren Plattformen erfolgreich zu werden; in der bunten Comicwelt battlen sich Spieler auf dem PC genauso wie auf der Nintendo Switch oder sogar auf dem Smartphone. +Dass sich "Fortnite" besonders auf Schulhöfen so schnell verbreitet hat, ist manchem ein Dorn im Auge. "Fortnite" war eigentlich ab zwölf Jahren freigegeben, doch der Battle-Royal-Modus, der mittlerweile auf manchen Plattformen als eigenes Spiel ausgekoppelt wurde, hat eine Altersempfehlung "ab 16" bekommen. Das trägt zur Beunruhigung vieler Eltern und Lehrenden bei. In einem ProSieben-Beitrag war die Rede von einem "wilden Gemetzel". Blut fließt in "Fortnite" zwar nicht. Doch das Spielprinzip, alle anderen zu töten, um selbst – oder zumindest die eigene Squad – der letzte Überlebende zu sein, ist dennoch umstritten. +Es ist unwahrscheinlich, dass die Diskussionen über Alter und Gewalt der Popularität schaden werden. Gefährlich werden könnte dem Shooter hingegen etwas anderes, nämlich: die Konkurrenz. Denn wie die "Fortnite"-Entwickler selbst aus erster Hand wissen, lässt sich das Battle-Royal-Prinzip sehr leicht kopieren, beispielswiese soll dem nächsten "Call of Duty" ein Battle-Royal-Modus spendiert werden. Und so könnte "Fortnite" irgendwann vielleicht in der Gunst der Spieler genauso absteigen wie der HSV aus der Ersten Bundesliga. diff --git a/fluter/warum-ist-die-schweiz-nicht-in-der-eu.txt b/fluter/warum-ist-die-schweiz-nicht-in-der-eu.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a9c03d7774ddbafebb1a0a1b00ff69a99e54dc2a --- /dev/null +++ b/fluter/warum-ist-die-schweiz-nicht-in-der-eu.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Vor allem die direkte Demokratie wird immer wieder als Argument angeführt. Inwiefern stehen sich diese Staatsform und ein EU-Beitritt im Weg? +Die Schweizer bräuchten bei jedem ausgehandelten Vertrag mit der EU noch eine Genehmigung durch eine Volksabstimmung. Jedes Mal wenn ein Schweizer einen Abschluss mit einem EU-Vertreter macht, sagt der EU-Vertreter: Wir müssen das noch vor das Europäische Parlament bringen beziehungsweise brauchen die Zustimmung der Mitgliedsstaaten. Und der Schweizer sagt: Ja, wir müssen das noch vor unser Parlament bringen und brauchen dann noch eine Volksabstimmung, wissen aber nicht, wie die ausgeht. Das ist in keinem der EU-Länder so. +Klingt aufwendig, aber nicht unüberwindbar. +Wir wollen die wirtschaftlichen Vorteile aus der europäischen Kooperation. Wir wollen die nationalstaatliche Souveränität, und wir wollen die für uns entscheidende Form der Demokratie. Alle drei Sachen kann man nicht immer im maximalen Maße für sich beanspruchen. Also muss man sich entscheiden: Will man Souveränität und Demokratie? Dann muss man auf gewisse wirtschaftliche Vorteile verzichten. Oder will man diese Vorteile plus seine nationalstaatliche Souveränität? Dann muss man möglicherweise bei der direkten Demokratie Abstriche machen. Den Schweizern sind alle drei Sachen wichtig, aber ganz sicher ist die Demokratie nicht das Unwichtigste. + + + +Ein Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) wurde 1992 mit 50,3 Prozent knapp abgelehnt. Heute würden laut Befragungen sogar nur noch 45 Prozent für einen EWR-Beitritt stimmen. Wären das nicht die wirtschaftlichen Vorteile, die die Schweiz will? +Es ist nicht so klar, ob die Schweizer einen EWR-Beitritt ablehnen würden, hätten wir die bilateralen Verträge nicht. Wir stimmen natürlich dagegen, solange wir diese Verträge haben, denn die sind für uns maßgeschneidert. +Im Moment regeln mehr als 120 dieser bilateralen Verträge die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU. Das soll sich bald mit einem sogenannten "Rahmenvertrag" ändern. Worum geht es darin? +Der Kernpunkt ist die dynamische Rechtsübernahme. Das heißt, die Schweiz muss Veränderungen des europäischen Rechts zwingend übernehmen. Da wird aus Schweizer Sicht wieder die Frage der Souveränität diskutiert. Man hat nun aber einen komplizierten Mechanismus für ein Schlichtungsverfahren gefunden. Demnach könnten wir auch Nein sagen, haben aber mit Konsequenzen zu rechnen. +Gerade kommt Kritik vor allem von den Gewerkschaften, also aus dem linken Spektrum, das sonst EU-freundlich ist. Es geht um den Schweizer Lohnschutz. Inwiefern wäre der in Gefahr? +Wir gehören in Europa zu den Ländern mit dem höchsten Durchschnittslohn. Deshalb ist es für ausländische Firmen nicht zwingend attraktiv, in der Schweiz Arbeit zu vergeben. Die Gewerkschaften haben bisher immer gesagt: Wir sind für die europäische Integration, solange Kontrollmöglichkeiten gegen Lohndumping bestehen. Das Problem ist vor allem in den Grenzgebieten akut. +Weil dort viele sogenannte Grenzgänger pendeln, etwa aus Italien oder auch Deutschland, um in der Schweiz zu arbeiten. Sie verdienen für die Verhältnisse in der Heimat sehr gut, für Schweizer Verhältnisse aber wenig. +Genau. Wenn ausländische Firmen hierherkommen und ausländische Arbeiter mitbringen, führt das zu Entlassungen – vor allem der Schweizer Mitarbeiter über 50, die einen zu hohen Lohn haben. Das ist zum Beispiel auf dem Bau ein zentrales Thema. Die Löhne in der Schweiz sind fürdeutsche Verhältnissefast schon paradiesisch. Bisher galt der Schweizer Lohnschutz mit Untergrenzen und vor allem mit Kontrollinstanzen. Diese Kontrollen würden mit dem Rahmenvertrag verringert. +Claude Longchamp ist Schweizer Politologe und Historiker. Er hat das Forschungsinstitut GFS Bern gegründet und lehrt an mehreren Schweizer Hochschulen +Wie stehen die Chancen für ein Rahmenabkommen? +Von den vier Regierungsparteien ist im Moment keine wirklich dafür. Zwei haben Vorbehalte, zwei sind dagegen. +Was, wenn kein Rahmenabkommen zustande kommt? +Die bilateralen Verträge werden nicht mehr erneuert. Die ersten sichtbaren Schwierigkeiten werden sich dann im Bereich der Krankenhäuser einstellen. Die sind international ausgerichtet. Die zweite heikle Stelle sind die Schweizer Universitäten, die sind angewiesen auf den Binnenmarkt und verstehen sich als Teil einer europäischen Gesellschaft. Wenn wir da Einschränkungen bekommen, ist die Forschung in der Schweiz gefährdet. Und dann stellt sich die Frage: Ist die Schweiz ein Land, das vom Kleingewerbe lebt, oder eines, das von der Forschung lebt? +Stellt sich – neben wirtschaftlichen Faktoren – nicht auch eine ideologische Frage: die nach einem geeinten Europa zum Beispiel? +Ich versuche nur zu erklären, weshalb es hier so läuft, wie es läuft. Da gibt es einen großen kulturellen Unterschied: Wir lieben unsere direkte Demokratie, aber wir wissen genau, dass wir nur ökonomisch günstige Entscheidungen treffen dürfen. Was in Deutschland, Frankreich oder Italien niemand versteht: Wenn wir darüber abstimmen können, ob alle sechs Wochen Ferien haben sollen, dann sagen wir: Nein. Wir wissen, das ist eine Belastung für gewisse Firmen, also sagen wir: Vier Wochen reichen auch. Das ist typisch schweizerisch. + +Fotos: Christian Beutler/Keystone/laif diff --git a/fluter/warum-ist-die-schweiz-so-reich.txt b/fluter/warum-ist-die-schweiz-so-reich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e247ea9244fcb1fa1e8b4d863b92178f10ead515 --- /dev/null +++ b/fluter/warum-ist-die-schweiz-so-reich.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Der Aufstieg des Landes begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als im Zuge der Industrialisierung der Eisenbahnbau und die Fabriken für Arbeitsplätze sorgten. Zudem wurde ein System von Sozialversicherungen aufgebaut, um Arbeiter und Bauern vor Armut zu bewahren. Doch das ist an sich nicht so ungewöhnlich – Ähnliches geschah damals auch in den Nachbarländern. +Was die Schweiz grundlegend von ihren Nachbarn unterschied und heute noch unterscheidet, ist ihre außenpolitische Situation. Auf dem Wiener Kongress im Jahr 1815 hatten die umliegenden Großmächte die Schweiz zur neutralen Pufferzone inmitten Europas erklärt. Das erwies sich als großer Vorteil, denn so wurde die Schweiz in der Folge weitgehend aus kriegerischen Konflikten herausgehalten. +1880 erschien das Kinderbuch "Heidi", das die Schweiz als idyllisches Bergland beschrieb, dabei war das Land schon da auf dem Weg vom Bauernstaat zur Handelsnation. Ohne Rücksicht auf politische und militärische Bündnisse nehmen zu müssen, exportierte man seine Produkte in alle Welt und kaufte international Rohstoffe ein. "Schweizerische Unternehmer, meist familiär organisiert, bauten in ganz Europa globale Marktbeobachtungskapazitäten auf und betrieben zudem eine erfolgreiche Geschäftsexpansion in Amerika, Asien und Afrika", schreibt der Historiker Jakob Tanner. +Ökonomen und Historiker sind sich relativ einig: Die frühe Internationalisierung der Schweizer Industrien, der Zugang zu ausländischen Märkten, Gütern und Dienstleistungen hat die Schweiz reich gemacht. Während andere europäische Nationen in Kriege verstrickt waren, baute das Land in Ruhe seine Volkswirtschaft auf. Die politische Neutralität sorgte für Beständigkeit und eine harte Währung: den Franken. +Allerdings war die Schweiz durch ihre Handelsverbindungen auch in den europäischen Kolonialismus involviert. Man besaß zwar keine Kolonien, aber Schweizer Unternehmen bewirtschafteten in Südamerika oder Afrika Plantagen. Und als auf dem Wiener Kongress die europäischen Großmächte die Abschaffung des Sklavenhandels beschlossen, zeigte sich die Schweiz unbeeindruckt. Schon 1740 handelten Baseler Geschäftsleute mit Sklaven und Kakao für den Exportschlager Schokolade. Und Alfred Escher, der Gründer der Schweizerischen Kreditanstalt (heute Credit Suisse), war Sprössling einer Patrizierfamilie, deren Stammbaum bis in die höchsten politischen Ebenen reichte. Das Geld, das Escher für den Aufbau seiner Geschäfte zur Verfügung stand, stammte aus dem Kolonialwarenhandel seines Vaters, nachweislich auch aus einer Kaffeeplantage, auf der Sklaven arbeiteten. +Für das Bankwesen war die Stabilität der Schweiz besonders förderlich. Dazu kam das Bankgeheimnis, das die Schweizer Banken zu einem Ort machte, wo auch Ausländer ihr Geld vor den Finanzämtern in ihren Ländern verstecken konnten. Immer wieder horteten neben dem europäischen Geldadel auch Diktatoren und korrupte Politiker illegale Gelder auf Schweizer Konten, etwa das frühere philippinische Präsidentenpaar Ferdinand und Imelda Marcos, der ehemalige haitianische Präsident Jean-Claude Duvalier oder der nigerianische General Sani Abacha. Als in den vergangenen Jahren mehrmals gestohlene Datensätze über auf Schweizer Banken geparkte Vermögen ausländischen Steuerbehörden zum Kauf angeboten wurden, führte das zu heftigen Auseinandersetzungen mit Staaten wie den USA oder Deutschland, die den Schweizern Beihilfe zum Steuerbetrug vorwarfen. Außerdem wurden die Schweizer Banken wiederholt für ihre Rolle im Zweiten Weltkrieg kritisiert, weil sie sich bei der Verwaltung von Vermögen von Opfern des Nationalsozialismus bereicherten. Die Aufarbeitung dieses Kapitels der Schweizer Wirtschaftsgeschichte fand erst in den 1990er-Jahren statt. +Neben den Banken ist die Schweiz heute Heimat vieler Großunternehmen, etwa der Chemie- und Pharmaindustrie. In Basel sind mit Roche und Novartis zwei der größten Konzerne beheimatet. Zudem gibt es erfolgreiche Unternehmen in der Leichtmetallindustrie, der Elektrotechnik, dem Maschinenbau und in der Lebensmittelbranche: Der Konzern Nestlé gilt heute als größter Lebensmittelhersteller der Welt, der beständig von Menschenrechtsorganisationen kritisiert wird, unter anderem weil er in manchen armen Ländern aus Wasser ein teures Produkt gemacht hat. +Dazu ließen sich viele ausländische Firmen in der Schweiz nieder, die die niedrigen Steuern und die wirtschaftsfreundliche Politik schätzen. Die umsatzstärksten Firmen der Schweiz sind die internationalen Rohstoffhändler Glencore, Vitol und Cargill. Sie machen ihre Milliarden oft, ohne dass die Rohstoffe je neutralen Schweizer Boden berühren – und lassen dafür, etwa in afrikanischen Minen, Arbeiter unter teils menschenunwürdigen Bedingungen schuften, was ihnen regelmäßig Kritik von NGOs einbringt. +Doch da ist immer noch das Mitspracherecht der Bevölkerung. Voraussichtlich 2018 werden die Bürger darüber abstimmen, ob Schweizer Unternehmen bei ihren Tätigkeiten im Ausland verbindliche Regeln zum Schutz von Menschenrechten und Umwelt einhalten müssen – wie sie im Inland schon bestehen. Wenn sich die Mehrheit für Ja entscheidet, wäre die Schweiz eines der ersten Länder, das die UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte gesetzlich festschreiben. Und das wiederum wäre ja auch nicht untypisch: Denn nicht zuletzt gehört zum Erfolg der Schweizer Wirtschaft auch ein gutes Stück Innovationsgeist. + + +Der American Express: James Dimon (61), Banker +James Dimon steht seit Jahren an der Spitze der US-Großbank J.P. Morgan Chase & Co. Er gehört zu den bestbezahlten Spitzenmanagern an der Wall Street. Schon 2011 bekam er 17 Millionen Dollar Bonuszahlungen, zusätzlich zu seinem Grundgehalt von einer Million Dollar. Nach einem Bachelor in Psychologie und Volkswirtschaft an der Tufts University und einem MBA an der Harvard Business School legte Dimon einen steilen Aufstieg hin, mit Stationen unter anderem bei American Express. Im Jahr 2005 rückte er dann an die Spitze von J.P. Morgan und manövrierte die Bank als eine der wenigen US-Großbanken ohne Verlust durch die Finanzkrise. So vollkommen aus dem Nichts kam dieser Erfolg gleichwohl nicht, denn Dimon war familiär vorgeprägt: Schon sein Vater und Großvater waren Wertpapierhändler. 2012 hat James Dimons Ansehen allerdings leicht gelitten, nachdem J.P.-Morgan-Händler innerhalb weniger Wochen etwa 2 Milliarden Dollar verspekuliert hatten und die Bank zudem mit 13 Milliarden Dollar für fragwürdige Hypotheken-Deals büßen musste. Das vergangene Geschäftsjahr (2016) hat J.P. Morgan dann aber wieder so erfolgreich abgeschlossen wie nie zuvor: Dimon erhielt dafür insgesamt 28 Millionen Dollar – und obendrein vermehrte er sein Aktienvermögen um mehr als 150 Millio nen Dollar, da die Aktien amerikanischer Banken nach der Wahl Donald Trumps einen rasanten Kursanstieg hingelegt haben. diff --git a/fluter/warum-juso-mitglied-werden.txt b/fluter/warum-juso-mitglied-werden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5570c5bbc1812e162bdb71df31db8dc47fa8b536 --- /dev/null +++ b/fluter/warum-juso-mitglied-werden.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Dass Darmstadt-Dieburg eine SPD-Hochburg ist, hat natürlich auch eine Rolle gespielt. Die Partei hat in der Geschichte des Kreistags nur ein Mal nicht den Landrat gestellt. Ich kannte die SPD durch meine Arbeit im Kreisschülerrat also schon gut und habe gemerkt, dass unser Wort dort immer viel gezählt hat und wir mitdiskutieren durften. +2007 habe ich direkt beim Wahlkampf mitgemacht. Das Duell damals: Andrea Ypsilanti von der SPD gegen Roland Koch von der CDU. Ich fand Ypsilanti damals nicht so cool, aber habe dann doch meine Jacke angezogen und Wahlkampf für sie gemacht; du kannst nicht immer alles toll finden in einer Partei. Trotzdem denke ich, dass man sich immer wieder fragen sollte, ob das noch das Richtige für einen ist. Am Anfang plappert man viel nach und ist auch einfach zu jung, um alles zu verstehen. Ich kenne Leute, die sind von der Linkspartei zur CDU gewechselt. Bei mir gab es aber nie große Zweifel. +Warum ich mich ausgerechnet in einer Partei engagiere und nicht zum Beispiel in einer NGO? Weil ich dort quasi direkt "an der Quelle" etwas verändern kann. Vor dem Studium war ich in meinem Heimatort in der Gemeindevertretung aktiv. Das war unheimlich lehrreich; man wird da ein bisschen auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. +Das Erste, was ich dort machen musste, war, die Kita-Gebühren zu erhöhen! Das passte so gar nicht mit meinem Juso-Herz zusammen, das doch kostenfreie Bildung für alle wollte. Und nun musste ich mit dafür stimmen, dass die Gebühren erhöht werden, weil sie zwölf Jahre lang nicht erhöht worden waren und wir die Finanzen nicht in den Griff bekommen konnten. Schließlich haben wir überlegt, wie man die Gebühren möglichst gerecht erhöhen kann. Das war eine wichtige Erfahrung: zu lernen, Kompromisse zu schließen. +Ich engagiere mich auch international, und zwar im Kontext des Israel-Palästina-Konflikts. Die Jusos haben in Jerusalem das Willy-Brandt-Zentrum, wo wir unter anderem Kontakte zwischen israelischen und palästinensischen Jugendlichen herstellen. Wir organisieren auch Reisen nach Deutschland, um einen geschützten Raum für Austausch zu schaffen – und umgekehrt gibt es Fahrten nach Israel und Palästina. Ich leite diese Austauschprojekte für Hessen-Süd. Da bin ich selbst über eine solche Reise dazu gekommen. Die Leute fahren dorthin und denken, sie hätten eine Ahnung von dem Konflikt. Und dann merken sie, dass es doch völlig anders ist als gedacht. Und diese Erfahrungen beeinflussen zu Hause ihre politische Arbeit. Ich möchte nicht nur Anträge schreiben, sondern auch konkret etwas verändern. Oft sind das ganz kleine Schritte – aber auch die verändern etwas. +Für mich ist es wichtig, immer einen Bezug nach außen zu haben, denn in einer Partei lebt man ja schon in einer Blase. Viele werden zum Beispiel innerhalb der Partei gefördert, als Mitarbeiter für Abgeordnete zum Beispiel. +Da arbeite ich lieber im Präsenzdienst in einem betreuten Wohnen für psychisch kranke Menschen in Freiburg. Wichtig finde ich: in Jobs reingucken, zu denen man als Student oder Studentin vielleicht nicht so viel Bezug hat. +Jetzt aber kommt die Bundestagswahl, und da geht es mir vor allem darum, unseren Direktkandidaten vor Ort zu unterstützen. Viele reden die SPD ja schon tot und sagen, dass es nur Merkel geben kann. Aber ich glaube, die Wahl ist noch nicht ganz verloren. Sicher wird sich die Ausrichtung der Partei nach der Bundestagswahl verändern. Und mal ehrlich: Opposition würde uns auch mal ganz guttun. + +Weil 42 Protokolle – so viele Parteien nehmen an der Bundestagswahl teil – ein bisschen viel wären, haben wir uns auf jene sieben Parteien beschränkt, die laut Umfragen eine realistische Chance auf den Einzug in den Bundestag haben. + diff --git a/fluter/warum-klimawandel-leugnen-in-den-usa-funktioniert.txt b/fluter/warum-klimawandel-leugnen-in-den-usa-funktioniert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8bddce4254bb4a6df4c97a68c608a2de3fec1df8 --- /dev/null +++ b/fluter/warum-klimawandel-leugnen-in-den-usa-funktioniert.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Was der Präsident dort infrage stellte, ist das "National Climate Assessment". Ein offizieller Bericht seiner Regierung, an dem über 300 Wissenschaftler und 13 Bundesbehörden zwei Jahre gearbeitet haben. Er kommt zu dem Ergebnis, dass der Klimawandel schon jetzt in den USA zu spüren ist und die Konsequenzen ohne ein Gegensteuern verheerend sein könnten. +DenKlimawandel und seine Folgen anzuzweifeln ist in den USA ein weit verbreitetes Phänomen. In einer Umfrage im Frühjahr 2018 gaben nur 64 Prozent der Befragten an, dass sie glaubten, die globale Erwärmung sei menschengemacht. Dabei hat dort die Zahl verheerender Umweltkatastrophen in den vergangenen Jahren zugenommen. Allein 2017 entstand dadurch ein Schaden von mehr als 300 Milliarden US-Dollar. +Um zu verstehen, warum in den USA dennoch viele Menschen eher "alternativen Fakten" glauben als wissenschaftlichen Studien, muss man etwas zurückschauen: Die moderne Umweltbewegung in den USA begann in den 1960er- und 1970er-Jahren. Bei zunehmendem Wohlstand der Gesellschaft beschäftigten sich erste Aktivisten mit Fragen, die sich um die Lebensqualität der Bürger drehten. Aus dieser Zeit stammen der Clean Air Act (1963) und der Clean Water Act (1972), 1970 wurde außerdem die Environmental Protection Agency (EPA) gegründet, eine Bundesbehörde, die Umweltschutz "als integralen Teil" der amerikanischen Wirtschaftspolitik betrachten soll. +Schnell stemmten sich jedoch große Unternehmen der Öl- und Gasindustrie gegen den wachsenden Einfluss der Umweltschützer. Aus Angst vor Einschränkungen ihrer Geschäftsaktivitäten bedienten sie sich eines Tricks, den sie sich bei der Tabakindustrie abgeguckt hatten:Wenn die Berichterstattung umschlägt, muss man der Geschichte wieder den richtigen Dreh verpassen. +Und so fing die Industrie an, eine Reihe von vordergründig unabhängig agierenden Institutionen zu finanzieren. Sogenannte Thinktanks, Forschungsinstitute, PR-Firmen und andere Interessenverbände wie das American Petroleum Institute positionierten Experten, um Forschungsergebnisse anzuzweifeln und eigene Daten zu präsentieren. Mithilfe von Artikeln, Berichten, Werbung und Veranstaltungen wurde die frohe Botschaft verbreitet, wie effizient und vergleichsweise sauber fossile Brennstoffe doch seien. +Heute gibt es mehrere Hundert dieser Interessenvertretungen, die in Washington Lobbyismus für die großen Konzerne betreiben. Eine davon ist das konservative Heartland Institute. Auf seiner Website werden die Abgeordneten, die bei den Wahlen im November 2018 neu ins Repräsentantenhaus gewählt wurden, herzlich begrüßt und darauf hingewiesen, dass "unser für Regierungsangelegenheiten zuständiges Vollzeitteam und mehr als 200 Experten bereitstehen, Ihnen in Politikfragen zu assistieren". +Wenn es nach dem Heartland Institute ginge, würden sich Politiker dort Tipps für ihre Politik holen. "Im Kongress haben die meisten Abgeordneten kleine Teams, die von Rente über Gesundheit bis Energiethemen alles abdecken müssen", sagt Robert Brulle, Professor an der Brown University in Rhode Island. "Diese Mitarbeiter sind keine Experten und müssen trotzdem alles verstehen." Also kommen die Lobbyisten zu ihnen und erklären, wie die Dinge funktionieren. "Die bringen Daten, Fakten und vorgefertigte Gesetzestexte gleich mit." Wenn laut einer Yale-Umfrage 70 Prozent der Amerikaner daran glauben, dass die globale Erwärmung real ist, spiegelt die Politik diese Mehrheitsmeinung kaum wider, sagt Brulle. +Die Gewichte in der Energiepolitik haben sich zusätzlich zugunsten der Industrie verschoben, seit mit dem Republikaner Trump ein Mann aus der Wirtschaft das Präsidentenamt bekleidet, der gar nicht erst von den Lobbyisten überzeugt werden muss. In den ersten 18 Monaten der neuen Regierung hat die Umweltbehörde EPA acht Prozent ihrer Mitarbeiter verloren – Trump wollte sogar jeden fünften entlassen. Und auch inhaltlich hat sich der Wind gedreht. Mit Andrew Wheeler hat Trump einen Mann zu ihrem kommissarischen Leiter bestimmt, der vorher als Lobbyist für die Kohleindustrie gearbeitet hat. So hat die EPA sich darangemacht, eine Vielzahl von klimafreundlichen Einschränkungen der Obama-Ära zurückzunehmen, wie etwa strengere Ausstoßvorgaben für die Stromerzeuger. +"Wir neigen zu übermäßiger Hysterie bei dem Thema", sagt H. Sterling Burnett. Er ist Energieexperte beim Heartland Institute und nimmt sich ausgesprochen viel Zeit, um zu erklären, warum die ganze Sache mit dieser Erderwärmung nur halb so wild ist: Alle redeten über schmelzende Eisberge, aber in der Antarktis entstünden jährlich Zehntausende Tonnen neues Eis. Der Eisbär sei vom Aussterben bedroht, lebe aber immer noch. Für jede von einer Mehrheit der Forscher anerkannte Klimawandel-Erkenntnis hat Burnett eine Gegenstatistik.Wenn man sie anschließend überprüft, findet man nicht für alles Quellen. Andere Daten stimmen, bloß werden sie auf besondere Weise interpretiert.Denn ja, es gibt noch Eisbären. Doch finden die bei schmelzendem Eis immer schlechter Nahrung – wie ebenfalls diverse Studien zeigen. +"Das Problem ist, dass mehr Republikaner auf das Heartland Institute hören als auf Wissenschaftler", sagt RL Miller. "Rund 60 Prozent der Republikaner im Kongress leugnen offen die Effekte des Klimawandels." Die Aktivistin hält den Umstand, dass dieMenschheit für verheerende Naturkatastrophen verantwortlich ist, nicht für eine Theorie, sondern für bittere Realität.Weshalb sie Climate Hawks Vote gegründet hat, eine Gruppe, die vor allem Politiker der Demokratischen Partei unterstützt, die sich für den Umweltschutz einsetzen. Millers Organisation hilft ihnen unter anderem im Wahlkampf, geht von Tür zu Tür, um Wahlprogramme zu verteilen, oder veranstaltet Kundgebungen für Kandidaten. +Die Mittel von Aktivistinnen wie RL Miller sind begrenzt. Robert Brulle hat in einer umfassenden Studie herausgearbeitet, dass zwischen 2000 und 2016 mehr als zwei Milliarden Dollar für Energielobbyarbeit im amerikanischen Kongress ausgegeben wurden. Das sind 3,9 Prozent aller Lobbygelder in diesem Zeitraum. Dabei übertrafen die Ausgaben der großen fossilen Industrien die von Umweltorganisationen um ein Zehnfaches. So erhielten 21 Senatoren der Republikanischen Partei, die Donald Trump im Sommer 2017 in einem Brief dazu aufforderten, dasPariser Klimaabkommenzu verlassen, in den vergangenen drei Wahlperioden insgesamt mehr als zehn Millionen Dollar an Wahlkampfspenden aus der Kohle-, Gas- und Ölindustrie. +Doch ist die monetäre Power der Industrielobby nicht der einzige Grund, warum die Ideen der Klimaskeptiker in Washington genau wie bei vielen Wählern auf fruchtbaren Boden fallen. Dafür muss man auch einen Blick in die DNA des Landes werfen: Die individuelle Freiheit steht im Selbstverständnis vieler US-Amerikaner noch immer an erster Stelle. Vor allem die rechtskonservative libertäre Bewegung beschwört die Ideologie eines schlanken Staats, pocht auf ein freies Spiel der Märkte und das Recht auf permanenten Konsum. +Selbst wenn viele dieser freiheitsliebenden Amerikaner die wissenschaftlichen Erkenntnisse sogar akzeptieren, werden Umweltschutzrichtlinien, die die Wirtschaft regulieren und das Individuum einschränken, als Gängelung empfunden. Sie sind ein absolutes No-Go. Oder wie es der frühere republikanische Präsident George H. W. Bush einmal zusammenfasste: "Der American Way of Life ist nicht verhandelbar." + +Seit etwas mehr als zehn Jahren sind die USA nicht mehr der weltgrößte CO₂-Produzent – sondern China. 2016 verursachte das Land mit 9,1 Milliarden Tonnen CO₂ rund doppelt so hohe Emissionen wie die USA mit 4,8 Milliarden Tonnen, es folgten Indien, Russland, Japan – und dann schon Deutschland. Pro Kopf lagen die USA bei knapp 15 Tonnen hingegen deutlich vor China, aber beispielsweise fast gleichauf mit Europas Spitzenreiter Luxemburg (14,51 Tonnen). Weltweit vorn waren die kleineren Golfstaaten wie Katar, Kuwait und Bahrain. Deutschland kam 2016 auf 8,9 Tonnen/Person, der Weltdurchschnitt lag bei 4,78 Tonnen. diff --git a/fluter/warum-kommen-viele-attentaeter-aus-tunesien.txt b/fluter/warum-kommen-viele-attentaeter-aus-tunesien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7d33139f4e5d3b612fd3a5c9b9f73bb0290e0334 --- /dev/null +++ b/fluter/warum-kommen-viele-attentaeter-aus-tunesien.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +Welche Faktoren sind es, die dazu führen, dass sich in Tunesien so viele junge Männer radikalisieren? +Eine Rolle spielt sicher die Diktatur bis 2011, die bis zum Arabischen Frühling in Tunesien herrschte. In dieser Diktatur unter dem Präsidenten Ben Ali waren überhaupt keine vom Staat unabhängigen religiösen Prediger oder Organisationen erlaubt. Wer sich dennoch engagierte, sah sich Repressalien ausgesetzt. +Jugendliche erlebten, wie ihre Väter im Gefängnis gefoltert wurden. Die dem Regime nahestehenden religiösen Autoritäten waren für sie kein Referenzpunkt. Sehr religiöse Jugendliche haben sich deshalb zum Teil im Internet an Predigern aus dem Ausland orientiert. Dabei gerieten sie auch an radikale salafistische Prediger. +Dr. Isabelle Werenfels leitet an der Stiftung Wissenschaft und Politik die Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika. Zu ihren geografischen Forschungsschwerpunkten zählt Tunesien, zu den inhaltlichen Schwerpunkten politische Transformation und politischer Islam. +Der Arabische Frühling und der Sturz von Ben Ali liegen inzwischen schon sechs Jahre zurück. Wirkt dieser Umbruch noch immer so entscheidend nach? +Ja, tatsächlich muss man weit zurückblicken, um die Radikalisierung vieler Tunesier zu verstehen. Viele der Ursachen hängen mit dem Umbruch zusammen. Zum einen kam mit dem Arabischen Frühling die große Freiheit – auch für radikale Islamisten: Es haben sich salafistische Gruppen gebildet, die sehr frei agieren und offen für den Dschihad werben konnten, selbst sehr radikale Prediger wurden aus dem Gefängnis freigelassen. Das alles ist passiert, weil die Übergangsregierung, in der auch moderate Islamisten saßen, gesagt hat: Wir wollen religiöse Gruppen nicht mehr länger unterdrücken, auch wenn sie etwas radikaler sind. Denn je mehr wir das tun, desto radikaler werden sie. Wenn wir sie einbinden, mäßigen sie sich. Dieser Ansatz ist mit Blick auf die militanten Salafisten letztendlich gescheitert. +Wie hat sich diese Zeit sonst noch ausgewirkt? +Manche Jugendliche haben damals, nach der erfolgreichen Revolution in Tunesien, aufmerksam beobachtet, dass auch in Syrien gegen einen Diktator gekämpft wird. Sie wollten sich an dieser neuen Revolution beteiligen, ein Teil von ihnen hat sich erst in Syrien radikalisiert. +Also eine Art Revolutionseuphorie nach dem Motto "Wir haben uns von einem Diktator befreit – jetzt helfen wir den Syrern dabei, dass sie das auch schaffen"? +Genau. Ein Teil dieser Personen ist sehr desillusioniert zurückgekommen aus Syrien. Überhaupt spielt Desillusionierung eine wichtige Rolle: In Tunesien waren nach der Revolution die Erwartungen groß, dass Freiheit und Demokratisierung quasi automatisch auch wirtschaftlichen Aufschwung bringen und einen höheren Lebensstandard. Tatsächlich kam aber eine wirtschaftliche Krise. Viele junge Tunesier finden bis heute keinen Job. + +Was bringt einen enttäuschten arbeitslosen Jugendlichen dazu, sich zu radikalisieren? +Es kommt darauf an, welche Angebote es gibt, mit dem Frust umzugehen. In Tunesien gibt es kaum Anlaufstellen oder Freizeitbeschäftigungen, die wenig oder nichts kosten. Gerade in armen Quartieren oder ländlichen Gegenden bieten einzig Moscheen einen Raum, um sich zu treffen und abzulenken – und manche von ihnen haben gleichzeitig auch aktiv für den Dschihad rekrutiert. Beim Islamischen Staat wurden zudem Gehälter gezahlt. Das ist natürlich attraktiv für arbeitslose Jugendliche. +Das klingt trotzdem erst mal kontraintuitiv: dass ein Land wie Tunesien, in dem der Islam von vielen modern und tolerant interpretiert und gelebt wird, besonders anfällig für den Dschihadismus und seine rückwärtsgewandte Ideologie ist. +Ja, die tunesische Gesellschaft ist im Vergleich mit anderen Ländern der Region modern. Frauen sind seit den 50er-Jahren rechtlich so gut wie gleichgestellt. Das heißt aber auch: Junge Männer sind in Tunesien nicht mehr unbedingt diejenigen, die das höchste Prestige zu Hause haben, sondern es ist möglicherweise auch die Schwester, die das Geld nach Hause bringt. Der Islamische Staat kann mit seiner Propaganda daher auch die Größenfantasien von manchem verunsicherten jungen Mann ansprechen: Bei uns kannst du dich im Kampf profilieren, du bist wieder wer! +Was unternimmt die tunesische Regierung gegen den radikalen Islamismus? +Die tunesische Regierung hat natürlich erkannt, wie dramatisch das Problem ist, und setzt alles daran, es in den Griff zu bekommen. Aber über die richtige Strategie wird viel diskutiert. Es gibt ja zwei große Fragen: Erstens, wie verhindert man Radikalisierung? Und zweitens, wie geht man mit den Rückkehrern um? Gerade hier ist man sich nicht einig. Die einen fordern, dass Rückkehrer resozialisiert werden sollen, dass man unterscheiden muss zwischen jenen, die wirklich gefährlich sind, und jenen, die man wieder eingliedern kann. Auf der anderen Seite gibt es dagegen Hardliner, die fordern: Staatsbürgerschaft entziehen und alle ins Gefängnis. +Was wird in Tunesien dafür getan, damit es erst gar nicht zu einer Radikalisierung kommt? +Eine ganze Menge. Zum einen mit sozioökonomischen Maßnahmen: Junge Tunesier sollen eine Arbeit finden und nicht in die Perspektivlosigkeit rutschen. Aus den Regionen, die wirtschaftlich schwächer sind, kommen tendenziell mehr Dschihadisten. Genau diese Regionen versucht man zu stärken, indem man Investitionen dorthin leitet, indem man die Infrastruktur dort verbessert, indem man alles vorantreibt, was Jobs generieren könnte. +Was gibt es noch für Antiradikalisierungsstrategien? +Einerseits stärkt die Regierung einen toleranten und moderaten Islam und hat die Freiräume für radikale Prediger geschlossen. Andererseits setzt die Regierung natürlich auf polizeilich-geheimdienstliche Maßnahmen. Teilweise schießt sie da auch übers Ziel hinaus. +Inwiefern? +Die Härte im Umgang mit Verdächtigen ist problematisch. Laut einem Bericht von Amnesty International kommt es zu willkürlichen Verhaftungen und Folter – Dinge, die man eigentlich mit der Diktatur Ben Alis verbindet. Es gibt auch den Wunsch, Terrorismusgesetze sehr weit auszulegen, so dass Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit eingeschränkt und dem Militär große Freiheiten in der Terrorismusbekämpfung eingeräumt werden. +Zeigen die tunesischen Strategien gegen Radikalisierung und im Umgang mit Rückkehrern schon Wirkung? +Es scheint, dass inzwischen weit weniger Tunesier nach Syrien ausreisen wollen als noch vor zwei, drei Jahren. Aber es ist schwierig zu beurteilen, woran das liegt – daran, dass der Islamische Staat in Syrien und Irak stark unter Druck geraten ist und in Libyen kaum mehr Territorium kontrolliert, oder aber an den tunesischen Maßnahmen. Ich vermute, es wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis wir abschließend beurteilen können, ob die Gegenstrategien erfolgreich waren. + +Titelbild: Lindsay Mackenzie/Redux/laif diff --git a/fluter/warum-latinos-trump-waehlen.txt b/fluter/warum-latinos-trump-waehlen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2b8aa81f9e6ac7ab267f3d8887d5381c6e8abb1c --- /dev/null +++ b/fluter/warum-latinos-trump-waehlen.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +"Latino Americans for Trump", ein Bündnis innerhalb Trumps Wahlkampflager, arbeitet seit dem Sommer unermüdlich daran. In einem spanischsprachigen Werbespot sieht man eine Latino-Familie mit Zahnpastalächeln im Eigenheim. In einem anderen läuft ein catchy Song, in dem eine Sängerin zu lateinamerikanischen Rhythmen singt: "La buena vida. La economía. ¡Hazlo por tu familia!" – "Das gute Leben. Die Wirtschaft. Tu es für deine Familie!" Trump, so sollen die Spots glauben machen, setze sich für Wohlstand und die Belange der Latino-Community ein. Der Fokus von Trumps Wahlkampf liegt allerdings auf der Migrationspolitik, unter anderem plant er Massenabschiebungen von, wie er es nennt, kriminellen Einwander:innen. "Diese Leute sind Tiere", sagte er auf einer Wahlkampfveranstaltung am 28. September. Und in einem Interview sagte er über Migrant:innen, die schwere Straftaten begangen haben: "Es liegt in ihren Genen ... Wir haben derzeit eine Menge schlechter Gene in unserem Land." +Seine Hetze gegen illegale und kriminelle Einwander:innen scheint nicht zwangsläufig abzuschrecken. Umfragen zeigen eine leichte Verschiebung unter Latino-Wähler:innen weg von der Demokratischen Partei. Zwar ist Donald Trump immer noch weit von einer Mehrheit entfernt, aber er hat unter Latinos, die in den vergangenen US-Wahlen immer entschieden demokratisch gewählt haben, an Raum gewonnen. Laut einer kürzlich von der "New York Times" und Siena, einem US-amerikanischen Umfrageninstitut, durchgeführten Umfrage gehen 37 Prozent der Latino-Stimmen an ihn, und nur noch 56 Prozent an die Vizepräsidentin unddemokratische Kandidatin Kamala Harris(12 Prozent weniger als 2016 an Clinton). Eine separate Umfrage des Pew Research Center kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Wichtig ist das vor allem, weil sie als große und stetig wachsende Bevölkerungsgruppe wahlentscheidend sein könnten: 36,2 Millionen wahlberechtigte Hispanoamerikaner:innen gibt es in diesem Jahr; das sind vier Millionen mehr als bei der letzten Wahl. Besonders hoch ist ihr Anteil bei den jungen Wähler:innen. In dem so wichtigen Swing State Arizona zum Beispiel machten Latinos 2022 41 Prozent der 18- bis 24-jährigen Wählerschaft aus. +Als ein Grund für die Zustimmung wird dieInflationangeführt, die seit der Pandemie das alltägliche Leben teurer gemacht hat. Mariá, die Tochter eines Exilkubaners und einer mexikanischen Einwanderin leitet in Lake Forest, Orange County, südlich von L.A., eine Zahnarztpraxis. "Trump wird die Preise wieder runterholen und die Jobs und Hersteller zurückbringen." Auch wenn Wirtschaftsdaten nicht belegen, dass es unter Trump besser war, ist Marias Wahrnehmung eine andere: "Wir hatten viel mehr Geld in der Tasche. Die Energiepreise waren viel niedriger und Benzin billiger." +Dass kubanische Einwander:innen und ihre Familien republikanisch wählen, hat auch einen historischen Hintergrund: Für viele Flüchtlinge sind ihre Erfahrungen in dem zentralistisch organisierten, sozialistischen Inselstaat und die damit verbundenen tiefsitzenden Ängste und ihre Abneigungen gegen alles Linke und Progressive ein wichtiger Handlungsantrieb. "Wir müssen aufpassen!", sagt María. "Wir sind immer nur eine Präsidentschaft davon entfernt, ein kommunistisches Land zu werden." +Auch von Julie, der Reiki-Heilerin, hört man im Gespräch diese Sätze der Alarmstimmung ("Die Leute müssen endlich aufwachen!"). Auch sie lebt in Orange County, auch sie kommt aus einer frustrierten Mittelklasse, der es gemessen an Haushaltseinkommen und Arbeitslosenquote so viel schlechter gar nicht geht. Julie sagt: "Als Trump im Amt war, war alles erschwinglicher. Die Menschen konnten Häuser und Autos kaufen, Urlaub machen, in Restaurants gehen und sich ihre Steaks im Supermarkt leisten." Auch wenn der Kosmetiksalon ihrer Tochter, in dem sie arbeitet, gut laufe, komme durch Steuern und Inflation weniger bei ihnen an. "Was wir brauchen, ist ein Mann, der das Land wie ein Business führt. Trump mag narzisstisch und arrogant sein, aber ob man ihn nun mag oder nicht, er weiß, wie das geht." +Ein zweiter starker Beweggrund ist für beide die Migrationspolitik. Das heißt all dieImmigranten, die, wie sie sagen, im Gegensatz zu ihren Eltern und Großeltern nicht "auf die korrekte Art" massenhaft und "ohne Überprüfung und Papiere" ins Land kommen und die Kriminalitätsraten in die Höhe treiben, ohne dass Biden und Harris etwas dagegen machen würden. Während der Amtszeit von Präsident Biden ist die Zahl illegaler Grenzübertritte stetig angestiegen und erreichte zwischen Oktober 2022 und September 2023 einen neuen Rekord. Daten der US-Grenzschutzbehörde zeigen allerdings, dass die Zahlen inzwischen zurückgegangen sind, seitdem Biden die Asylregeln verschärft hat. Mehrere Studien haben darüber hinaus gezeigt, dass illegale Einwander:innen im Durchschnitt weniger Gewaltverbrechen begehen als in denUSAgeborene Personen. Asylsuchende und illegale Immigrant:innen bekommen auch nicht alles geschenkt, wie die beiden sagen. "10.000 Dollar pro Monat an Lebensmittelmarken" behauptet Julie etwa. Illegale Einwander:innen ohne Dokumente haben in Kalifornien aber keinen Anspruch auf Lebensmittelmarken. +Warum sich so viele Latinos auf Trumps Anti-Immigrationsrhetorik einlassen, erklärt Professor Raúl Hinojosa-Ojeda im Videointerview so: "Viele Latinos glauben, dass Trump nicht über sie, sondern über die anderen, die schlechten Latinos spreche. Für sie ist die Unterstützung von Trump eine Möglichkeit, sich mit der weißen Mehrheit zu verbünden. Dahinter steht der Wunsch, von der Gesellschaft akzeptiert zu werden, die Menschen wie sie vernachlässigt." +Hinojosa-Ojeda forscht an der University of California in Los Angeles zu Einwanderungs- und Arbeitsmarktpolitik sowie zu sozialer Ungleichheit und ist Unterstützer von Harris. Er hat herausgefunden, dass auch der Bildungsgrad und der Social-Media-Konsum Einfluss auf die Wahlentscheidung haben: Je niedriger ersterer und je höher letzterer ist, desto wahrscheinlicher ist die Tendenz zu Trump. Entscheidend ist aber auch das Alter. Während die Anhängerschaft für die Demokraten in den älteren Latino-Generationen relativ stabil ist, würden identitätspolitische Aspekte für deren Kinder, die zweite oder dritte Einwanderergeneration, aber immer weniger eine Rolle spielen. Dass diese jungen Latinos keine eigene Migrationserfahrung gemacht haben, macht sich im Wahlergebnis bemerkbar. Hinojosa-Ojedas Untersuchungen zeigen, dass 2020 mehr als 20 Prozent aller hispanoamerikanischen Trump-Wähler:innen Neuwähler:innen waren. +Eine von diesen Gen-Z-Wählerinnen ist Elizabeth "Ellie" Santana-Zavala. Die 18-Jährige hat gerade die Highschool abgeschlossen, hat einen eigenen Podcast, ist Social-Media-erfahren und sehr engagiert in der Lokalpolitik. Laut ihren Social-Media-Profilen ist Ellie Christin, Pro-Life, also gegenAbtreibungen, und stolze Amerikanerin. Vor allem aber verbindet sie mit der demokratischen Partei keine alte Loyalität mehr. "Als meine Großeltern aus Mexiko kamen, wurde ihnen der amerikanische Traum verkauft: eine Familie, ein Haus, ein gutes Leben. Heute fühlt sich das immer weniger wie eine Realität an. Für meine Generation ist das scheiße." +Sie habe sich für Trump entschieden, weil er mehr mit ihren Werten übereinstimme, sagt Ellie. Vieles von dem, was er sage, werde von Demokraten und Medien falsch geframt. "Manchmal hat er keinen Filter, aber damit komme ich klar. Er ist kein Politiker, er ist ein Mensch, und vieles von dem, was er sagt, stimmt ja auch." +Kalifornien wird als "Blue State" sicher an die Demokraten gehen – genau wie die Mehrheit aller Latino-Stimmen. Aber die kleinen roten Punkte auf der Wahllandkarte werden mehr. + + +Titelbild: Jamie Kelter Davis/NYT/Redux/laif diff --git a/fluter/warum-man-mehr-ueber-geld-sprechen%20sollte.txt b/fluter/warum-man-mehr-ueber-geld-sprechen%20sollte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d9e91c4c749307ddfaa68f1a23c3da4571ed6aa6 --- /dev/null +++ b/fluter/warum-man-mehr-ueber-geld-sprechen%20sollte.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Das Gehalt ist so etwas wie das letzte Tabu des modernen Daseins. Viele scheinen bereitwilliger über ihr Sexleben zu plaudern als über die Summe, die sie Monat für Monat aufs Konto bekommen. Ich wollte mal von einem guten Freund wissen, was er in seinem neuen Versicherungsjob bekommt. Er meinte nur knapp, so etwas frage man nicht. +Darfs ein bisschen mehr sein? Ein Metzger verdient im Schnitt pro Monat zwischen 1.787 und 2.689* Euro brutto + +Als Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig vergangenes Jahr an dem Tabu rüttelte und (minimal) mehr Transparenz bei den Gehältern verordnen wollte, schlugen Lobbyisten Alarm, als drohte in den Büros der Bürgerkrieg: Die Stiftung der Familienunternehmen zum Beispiel warnte vor "Spannungen in der Belegschaft". +Mein Freund begründet es ganz ähnlich: Er verschweige sein Gehalt, um keine Missgunst zu provozieren. Mir scheint das ein schräges Argument zu sein: Nicht die Transparenz führt zu Unmut. Sondern allenfalls das, was sie enthüllt: die Unfairness, die Zufälligkeit, die Ungleichheit. +Der amerikanische Rechtswissenschaftler und Philosoph Jeremy Waldron hat einmal folgendesGedankenspielangestellt: Angenommen, wir erfahren, dass ein Gericht fünf Kriminelle einer organisierten Vereinigung zu einer gemeinsamen Haftstrafe von 200 Jahren verurteilt hat. Ist das Urteil gerecht? +Kinder, Kinder: Erzieher verdienen zwischen 2.302 und 3.121* Euro brutto pro Monat + +Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Es könnte sein, dass der Haupttäter nur 20 Jahre hinter Gitter muss, seine drei Gehilfen aber jeweils 60. Solange wir nicht das Strafmaß eines jeden Einzelnen kennen, können wir die Gerichtsentscheidung kaum beurteilen. +Bei der Frage, ob der Wohlstand in diesem Land gerecht verteilt wird, verhält es sich Waldron zufolge ganz ähnlich: Es gibt Statistiken, aus denen wir zum Beispiel ablesen können, dass Ärzte mehr verdienen als Krankenpfleger. Wir haben Näherungswerte für die Verteilung des Reichtums. Für die Frage nach der Gerechtigkeit aber, so Waldron, sei in letzter Konsequenz das Wohlergehen des Individuums entscheidender als das einer Gruppe: Es zählt, wie es jedem einzelnen Pfleger geht, nicht nur dem Durchschnitt aller Pfleger. Wir sollten die Frage der Gerechtigkeit nicht nur über den Daumen gepeilt beurteilen können, sondern auch in ihren letzten Feinheiten. Daraus folgt für Waldron: Wir müssen die Einkommen offenlegen. Alle. +Andere Baustelle: Straßenbauer bekommen monatlich zwischen 2.425 und 3.963* Euro brutto +Es gibt Länder, in denen das längst passiert. In Norwegen zum Beispiel legten die Behörden seit dem 19. Jahrhundert jedes Jahr im Oktober die Steuerdaten eines jeden Bürgers einige Wochen lang aus. Das Interesse daran war aber nicht sehr groß. Das änderte sich schlagartig, als das Land 2001 dazu überging, die Steuerdaten ins Internet zu stellen. Plötzlich war das Einkommen des Nachbarn, des Kollegen, des Chefs – genauso wie das aller anderen Norweger – nicht mehr einen Amtsbesuch, sondern nur noch einen Klick weit entfernt. +Die Wirtschaftswissenschaftlerinnen Mari Rege und Ingeborg Solli haben untersucht,wie dieser "Informationsschock" das Gehaltsgefüge der Norweger verändert hat. Ihr Ergebnis: Nachdem die Einkommen öffentlich wurden, stiegen die Löhne besonders in der niedrigsten Verdienstgruppe überdurchschnittlich, um 4,8 Prozent. +Interessanterweise scheint aber gerade die Gruppe, die am meisten von der Transparenz profitiert, am unglücklichsten damit zu sein, wie der amerikanische Ökonom Ricardo Perez-Truglia 2016in einer Studiefeststellte: Die Transparenz machte die Schlechterverdiener in Norwegen merklich unzufriedener. Die Reichen dagegen konnten mit den Blicken in ihre Geldbeutel offenbar gut leben. +Im Buchhandel verdient man zwischen 1.797 und 2.570* Euro brutto pro Monat. Ein Versandmitarbeiter bei Amazon bekommt 1.934 Euro +Vielleicht liegt darin ein weiterer Grund für das Schweigen: Besonders in einer Zeit, in der sich viele Menschen ganz wesentlich über die Arbeit definieren, drängt sich der Gedanke auf, dass die Gehaltsabrechnung vielleicht mehr sein könnte als eine Aneinanderreihung von Ziffern: nämlich eine Art Maß für den ökonomischen Wert einer Person. Gibt man sich diesem Gedanken hin, dann wird der Verdienst zum Gegenwert jener rund 40 Stunden unserer kostbaren Lebenszeit, die wir Woche für Woche im Job verbringen. Indem wir Gehälter offenlegen, hängen wir uns quasi ein "Preisschild" um und demaskieren uns damit selbst als ein Stück Humankapital, wie abgewogen an der Fleischtheke des Kapitalismus. +Fehlende Gehaltstransparenz mag schlecht Bezahlten ermöglichen, ihre Würde zu wahren. Sie kann allerdings auch dazu beitragen, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer bleiben, als sie es müssten. +Bei Buffer jedenfalls, dem hippen Internetunternehmen, steht neben den Löhnen auch die Formel, nach denen sie berechnet wurden. So muss man nicht darüber spekulieren, ob die Gehälter nach gerechten Kriterien zustande kommen, sondern kann offen darüber streiten. +Und unser Fotograf möchte lieber für sich behalten, was er für seine Bilder bekommt +Vielleicht muss sich in einer Welt der entblößten Gehälter die Vorstellung von Gerechtigkeit eben daran bemessen, dass sie erklärbar ist und niemanden entwertet. Beim "Lohn-FKK", und dafür gilt es zu kämpfen, soll sich keiner genieren müssen. + +* Diese Daten stammen von dem Gehaltsportal gehalt.de, das Arbeitnehmer und -geber befragt und die Angaben anschließend auf Plausibilität überprüft diff --git a/fluter/warum-man-statt-is-besser-daesh-sagen-sollte-von-arno-frank.txt b/fluter/warum-man-statt-is-besser-daesh-sagen-sollte-von-arno-frank.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..eca2ecd3a64889fceb0b91a30ea7cc7100390303 --- /dev/null +++ b/fluter/warum-man-statt-is-besser-daesh-sagen-sollte-von-arno-frank.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Ende Juni 2014 schließlich rief der Milizenführer Abu Bakr al-Baghdadi ein weltweites Kalifat aus – ein Verweis auf jene Einheit aus politischer und religiöser Regierung in der Nachfolge des Propheten, die offiziell erst 1924 mit dem endgültigen Untergang des Osmanischen Reiches zu Ende gegangen ist. In allen offiziellen Botschaften war von nun an nur noch von einem "Islamischen Staat" (IS) als Reich aller Reingläubigen die Rede. +Die Gruppe hat ihren Namen stets den politischen Bedürfnissen angepasst und darin ihren jeweiligen Anspruch zur Geltung gebracht. Wer das Kürzel "IS" benutzt, ist der terroristischen Propaganda bereits auf den Leim gegangen. Ein Grund für dieses Dilemma ist unsere Gewohnheit aus friedlichen Zeiten, bei Organisationen oder Marken den Namen zu verwenden, den sie sich selbst geben. Aber enthält ein "Balisto" wirklich viele Ballaststoffe, wie der Name suggeriert? Und ist die "Alternative für Deutschland" (AfD) wirklich eine Alternative für Deutschland? +Der Name ist also alles andere als eine Nebensächlichkeit. Gerade angesichts der entsetzlichen Taten des "IS" sollten westliche Medien darum bemüht sein, objektiv zu bleiben. Zumal die Welt vom "IS" ohnehin hauptsächlich nur das erfährt, was der "IS" die Welt über seine Kommunikationskanäle wissen lässt. In einer Rede auf der Herbsttagung des Bundeskriminalamtes erklärte unlängst der Experte und Journalist Yassin Musharbash ("Die Zeit"): "Wir sind Berichterstatter", für Erzählungen oder Gegen-Erzählungen – also für Propaganda dürften die Medien sich nicht hergeben. +Mit dem Islam hat der "IS" nur insofern zu tun, als er diesen politisch instrumentalisiert und höchstens eine extrem orthodoxe Zuspitzung dieser Religion darstellt – in radikaler Abgrenzung nicht nur von Ungläubigen, sondern auch von der Mehrheit aller gläubigen Muslime. Zwar fordert der "Kalif" die Gefolgschaft der kompletten und in sich höchst fragmentierten muslimischen Weltgemeinschaft ein. Tatsächlich folgen seinem Ruf – neben professionellen Gotteskriegern aus anderen Kriegsgebieten – vor allem verwirrte junge Menschen, auch aus westlichen Ländern. +In einem Gespräch mit der "FAZ" erklärt der Politologe Asiem El Difraoui diesen Zulauf mit psychologischen und familiären Problemen. Den jungen Menschen gehe es "gar nicht darum, Muslim zu werden und in der Spiritualität des Islams auf Sinnsuche zu gehen. Sondern man wird gleich Dschihadist." Diese Abkürzung in den Radikalismus entbindet sie demnach von der Mühe, sich ernsthaft mit dem metaphysischen System der Religion auseinanderzusetzen. Laut El Difraoui kommen die Verführer gerade orientierungslosen Jugendlichen noch entgegen, indem sie "die dschihadistische Ideologie mit Elementen europäischer Jugendkultur" durchsetzen. Das können Schlachtrufe sein, ein martialischer Schick oder einfach das Gefühl, für eine "richtige" Sache zu kämpfen. Eine radikalere Opposition gegen den Leistungs- und Konformitätsdruck westlicher Gesellschaften ist kaum denkbar. +Demnach wäre es schon falsch, bei einem Attentäter von einem "islamistischen Terroristen" zu sprechen. Es handelt sich beim "Gotteskrieger" um einen Verbrecher mit radikalen Methoden und Zielen, das schon. Wer dessen Taten aber im Einklang mit den Geboten des Islam sieht, folgt damit dem rhetorischen Programm des "IS". +Es mag sein, dass der religiöse Wahn der eigentlichen Befehlsgeber und Drahtzieher authentisch ist. Unser Zugeständnis, sie handelten "im Namen Allahs", haben sie sich damit jedoch nicht verdient. Im Gegenteil. Eine Wendung wie "islamistischer Terrorist" ist keine Verkürzung, sondern eine irreführende Verlängerung und damit Vernebelung des Sachverhalts, zumal damit immer noch ein sprachlicher Bogen zum Islam geschlagen wird. "Terrorist" reicht völlig, jedes weitere Wort würde ihm in die Hände spielen. +Ähnlich problematisch ist der "Staat" in "Islamischer Staat". Der "IS" hat auf seinem Territorium das, was man ein "Staatsvolk" nennt, acht Millionen Menschen sollen es sein. Und obgleich sein "Staatsgebiet" einem Flickenteppich gleicht, erhebt er dort Steuern, sorgt für Strom und volle Märkte, gewährleistet ein Gesundheitswesen, spricht Urteile, fördert und verkauft Rohstoffe. Experten wie der Politologe Volker Perthes sprechen dem "IS" die Staatlichkeit daher nicht ganz ab. Perthes spricht von einem "dschihadistischen Staatsbildungsprojekt". Es handele sich um einen totalitären Staat im Entstehen, der ganz auf Expansion angelegt ist. Eine zentrale Stelle in seiner Ideologie nimmt, noch vor der angestrebten Weltherrschaft, die Apokalypse ein – der heilige, endzeitliche Krieg. Ob ein solches Gebilde trotz einiger Parallelen zum modernen weltlichen Staatsgebilde aber "Staat" zu nennen ist, darf bezweifelt werden. +Wie also sprachlich umgehen mit der Zumutung des "Islamischen Staates"? Ist es ein "sogenannter islamischer sogenannter Staat"? Fest steht, dass wir ihm einen Gefallen tun, wenn wir ihn weiter "IS" nennen – mit oder ohne "sogenannt", mit oder ohne Anführungszeichen. Wir würden die Terroristen auch kaum "LFFM" nennen, tauften sie sich morgen in "Liga für Freiheit und Menschenrechte" um. +Aiman Mazyek vom Zentralrat der Muslime in Deutschland würde sich gerne mit "Antimuslimischer Staat" behelfen, denn es sei "ein Hohn auf Staat und Islam, was IS da betreibt". Eine bessere Lösung könnte "Daesh" sein, ausgesprochen: Da-esh. Das Wort geht auf die Übersetzung von "ISIL" zurück (Al-Daula al-Islamija fi-l-Irak wa-l-Scham) und erinnert an die arabische Umschreibung von "Zwietracht säen". +Einer Karriere dieses Namens stand bisher nur die Trägheit westlicher Medien im Weg. Nach den Anschlägen von Paris ging es ganz schnell, seitdem verwenden die französische Regierung und auch US-Behörden offensiv nur noch: Daesh. Um unbescholtene Anhänger des Islam nicht automatisch "mitzumeinen". Und um die Extremisten dort zu treffen, wo es sie wirklich schmerzt: in ihrem Selbstverständnis. +Im Herrschaftsbereich der Milizen ist es streng verboten, von Daesh zu reden. Wer es dennoch tut, dem wird nach Angaben der Nachrichtenagentur Associated Press die Zunge abgeschnitten. diff --git a/fluter/warum-menschen-bakterien-brauchen.txt b/fluter/warum-menschen-bakterien-brauchen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cc2b848cd698fb02a7fdc4149585c2361d8184a4 --- /dev/null +++ b/fluter/warum-menschen-bakterien-brauchen.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Die Erkenntnis, dass im menschlichen Körper Mikroorganismen leben, ist an sich nicht neu. Schon im 17. Jahrhundert entdeckte der niederländische Tuchhändler Antonie van Leeuwenhoek in einem Abstrich seines Zahnbelags mit einem selbst gebauten Mikroskop winzige Lebewesen, die er animalcules nannte. "Ich sah dann immer, mit großem Erstaunen, dass in dem besagten Material viele sehr kleine lebende animalcules waren, die sich sehr hübsch bewegten. Die größte Sorte zeigte eine starke und flinke Bewegung und schoss durch das Wasser (oder den Speichel) wie ein Hecht [...]", schrieb er. +Vor Bakterien und anderen Mikroben (zum Beispiel winzigen Pilzen und Algen) gibt es kein Entkommen. Als sich der Vormensch vor sieben Millionen Jahren ausbreitete, war sein Körper bereits auf das Zusammenleben mit diesen winzigen Organismen eingestellt, die die Erde seit Milliarden Jahren besiedeln. +Früher war die Suche nach Bakterien allerdings noch ein mühsames Geschäft. Im Jahr 1876 kultivierte der spätere Nobelpreisträger Robert Koch den Milzbranderreger Bacillus anthracis erstmals in einer Petrischale. Koch, der auch den Erreger der Tuberkulose fand, verursachte mit seiner Arbeit eine regelrechte Bakterienfurcht (im Gegensatz zu seinem Rivalen Louis Pasteur, der immerhin schon wusste, dass es ohne Bakterien in der Milch keinen Käse gäbe). Darmbakterien wurden fälschlicherweise anfangs als Zeichen einer Krankheit interpretiert. Der schottische Arzt Sir William Arbuthnot Lane empfahl seinen Patienten deswegen auch die vorsorgliche Amputation von Teilen des Dickdarms. Denn er wusste noch nicht, dass Bakterien uns bei der Verdauung behilflich sind. Im Darm leben zwar auch potenziell schädliche Bakterien, doch eine dicke Schleimschicht und eine Schutzwand verhindern bei gesunden Menschen, dass sie sich in anderen Bereichen des Körpers ausbreiten. +Unsere körpereigenen Bakterien wurden bis vor einigen Jahren komplett unterschätzt. Das liegt auch daran, dass man mit Mikroskopen und Petrischalen nur einen winzigen Ausschnitt aus der Welt der Mikroben erkunden konnte. Sogenannte metagenomische Untersuchungsmethoden haben bahnbrechende Erkenntnisse zutage gefördert. Seit man Bakterien nicht mehr sehen muss, sondern einfach ihr Erbgut sammeln und analysieren kann, ist klar geworden, wie unfassbar groß unser Nichtwissen ist. Bislang haben wir schätzungsweise mehr als 99 Prozent aller Mikroorganismen in unserem Körper übersehen. +Es ist eine Art Universum im Kleinen, das sich da aufgetan hat. Jede Stelle unseres Körpers ist von unzähligen Mikroben besiedelt, die vermutlich alle irgendwelche Aufgaben erfüllen. Zusammen bilden sie das Mikrobiom. Auf der Haut sollen es Milliarden Bakterien sein, in einem Gramm Darminhalt schon eine Billion. Gezählt hat sie natürlich niemand. Aber je nach Quelle schätzen Autoren, dass unsere Mikroben zusammengenommen zwischen ein paar hundert Gramm und 1,5 Kilogramm Gewicht haben. Angeblich soll es zehnmal mehr Bakterien als Körperzellen in einem Menschen geben. Es ist aber nicht bloß die Anzahl an Mikroben, sondern auch die Vielfalt, die atemberaubend ist. "Die Handflächenbakterien zweier Menschen stimmen nur zu 13 Prozent überein, ja, bei einer Person liegen die Übereinstimmungen zwischen rechter und linker Hand mit 17 Prozent nur unwesentlich höher", schreibt der Autor Bernhard Kegel. Allein im Mundraum sollen bis zu 25.000 verschiedene Arten von Bakterien zu finden sein. +Die Vorstellung, dass ein Mensch, ein Tier oder eine Pflanze so etwas wie ein Individuum sein kann, lässt sich mit diesem Wissen nicht mehr aufrechterhalten. Stattdessen setzt sich zunehmend die Bezeichnung Holobiont für eine Gemeinschaft aus dem Wirt und seinen Mitbewohnern durch. Wie genau diese unterschiedlichen Mikroorganismen zusammenarbeiten und welchen Einfluss sie auf unser Leben haben, ist bislang allerdings weitgehend unbekannt. +Experimente mit Mäusen, die per Kaiserschnitt geboren und in sterilen Umge- bungen aufgezogen wurden, legen nahe, dass das Mikrobiom das Verhalten der Tiere verändert. Mäuse ohne Bakterien im Körper sind weniger furchtsam und stürzen sich ins Risiko. Bei Tüpfelhyänen scheinen Bakterien eine so große Rolle zu spielen, dass man darüber spekulieren kann, ob diese ihre wahren Beherrscher sind. Mikroben im Aftersekret erzeugen Gerüche, die wiederum das komplette Sozialverhalten und die Kommunikation der Hyänen steuern (auch der Geruch von Menschen hängt übrigens von Bakterien ab). Mit jeder neuen Studie scheint die Bedeutung des Mikrobioms für unseren Körper zu wachsen. Die Bakterien im Darm kümmern sich zum Beispiel um viel mehr als nur die Verdauung. Sie sollen Einfluss auf so unterschiedliche Störungen wie Depression, Autismus oder Asthma haben. Kein Wunder, dass manche Forscher bereits behaupten, Mikroben seien ein Superorgan, vielleicht sogar so etwas wie unser zweites Gehirn. +Auf seiner Reise in Tansania hielt sich der Amerikaner Jeff Leach nicht lange mit kleinteiligen Fragestellungen auf. Weil er überzeugt war, dass die Hadza bessere Bakterien hatten als er selbst, entschloss er sich zu einem Selbstversuch. Er injizierte sich den Kot eines Spenders aus Tansania kurzerhand in den Darm. Obwohl er dafür von Kollegen als Spinner und Esoteriker kritisiert wurde, ist die Methode nicht abwegig. Immerhin setzten Ärzte Stuhltransplantationen bereits bei manchen Darmerkrankungen erfolgreich ein. Forscher aus Heidelberg fanden heraus, dass es, ähnlich wie bei Blutgruppen, drei Typen von Mikrobiomen gibt, was Transplantationen in Zukunft erleichtern soll. Dass wir uns dennoch noch nicht routinemäßig fremden Kot in den Hintern spritzen, hat neben dem Risiko, sich dadurch eine Krankheit einzufangen, auch einen weiteren Grund. Wir verstehen einfach immer noch nicht genau, wer unsere Mikroben sind. diff --git a/fluter/warum-mitglied-der-linken-werden.txt b/fluter/warum-mitglied-der-linken-werden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ab4c6f961491025cb7d8d72f51789805bbcb61d0 --- /dev/null +++ b/fluter/warum-mitglied-der-linken-werden.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Ich war immer schon jemand, der ungern Dinge mit sich machen lässt, sondern lieber Verantwortung übernimmt, sich mit anderen zusammentut, um etwas zu erreichen und mitzugestalten. So bin ich in der siebten Klasse zum Klassensprecher gewählt worden und war bis zur zehnten Pressesprecher vom Landesschülerausschuss. +Als Schülersprecher habe ich schnell gemerkt, dass man an seine Grenzen stößt. Zwar mussten uns Politiker anhören, wenn es um Lehrer als Quereinsteiger ging, um Lehrermangel oder um die Sanierung von unseren maroden Schulgebäuden, aber das hieß nicht, dass unsere Meinung einen Einfluss auf Entscheidungen hatte. Dass ich als Schüler in dieser Hinsicht nicht ernst genommen wurde, hat mich sehr gestört. +So etwas kann ja auch Politikverdrossenheit auslösen, wenn man im jungen Alter merkt, dass man in einem Gremium sitzt, das Beteiligung suggerieren soll, aber letzten Endes keinen interessiert. Bei mir aber stachelte diese Erfahrung meinen Ehrgeiz an. Also bin ich in die Politik. +Warum ich zu den Linken gegangen bin? Im Landesschülerausschuss hatte ich sehr viel mit Bildungspolitikern unterschiedlicher Parteien zu tun – und da habe ich schnell begriffen, dass es mir wichtig ist, Benachteiligte zu unterstützen und dass manche Menschen eben nicht verloren gegeben werden müssen, was bei leistungsorientierten Parteien wie der CDU oder der FDP anders gesehen wird. Unser Berliner Landesverband hat außerdem echt coole Leute wie Stefan Liebich oder Regina Kittler, mit denen ich schon als Schüler zu tun hatte und mit denen ich mich von Anfang an gut verstanden habe. +Seit vergangenem Oktober bin ich in der Bezirksverordnetenversammlung von Pankow, wo ich kinder- und jugendpolitischer Sprecher bin. Für dieses Thema brenne ich, da von den Kindern die Zukunft unserer Gesellschaft abhängt. Kinderarmut ist ein sehr aktuelles Thema, das mich umtreibt, weil es mir nicht in den Kopf will, dass ein reiches Land wie Deutschland Kinder hat, die ohne die Leistungen des Bildungspaketes nicht an Schulausflügen teilnehmen können, weil die Eltern arm sind. +Natürlich könnten sich noch mehr junge Leute politisch engagieren. Aber ich habe zumindest bei der Linken den Eindruck, dass es dort viele in meinem Alter gibt, weil ihnen das Soziale wichtig ist, weil sie sich für Queer- oder Netzpolitik interessieren. Die SPD hat sich seit der Agenda 2010 und ihren Regierungsbeteiligungen in den Großen Koalitionen stark von ihrer sozialen Politik entfernt. Überhaupt passiert mir zu wenig in Deutschland. Frau Merkel trägt international sicher nicht zu einer Eskalation bei, was gut ist. Andererseits fängt sie gerade innenpolitisch vieles wie eine Mauer ab. Die Linke zu wählen bedeutet deswegen auch, dass Bewegung kommt in Themen wie Rüstungsexporte, dem Hinterherhinken bei der Digitalisierung, der Drogenpolitik, dem bedingungslosen Grundeinkommen oder einer echten Sozialpolitik. Die Linke setzt auch ein Zeichen gegen Irre wie Erdoğan oder Trump, die zu Krisen beitragen, anstatt sie zu lösen. Die Linke steht für mich symbolisch für eine friedlichere und sozialere Welt, was aktuell sehr wichtig ist. Denn gerade in Ostdeutschland haben viele Angst vor dem Ungewissen, was sich leider auch in der Unterstützung der AfD ausdrückt. Umso wichtiger ist es, soziale Angebote zu machen, die Angst lindern können. Unsere Gesellschaft sollte künftig – das ist mein Traum – ohne rechte Ideologien auskommen, es darf keine Altersarmut geben, und Kinder – egal ob sie in Berlin oder in München geboren sind – müssen die gleichen Chancen haben. +Natürlich haben wir auch Politikerinnen wie Sahra Wagenknecht, die in mancher Hinsicht extreme Standpunkte vertritt. Aber solche Meinungsleuchttürme gibt es in jeder Partei. Uns wird ja häufig vorgeworfen, dass wir als SED-Nachfolgepartei noch nicht unsere Geschichte aufgearbeitet haben. +Aber der Nachwuchs sorgt dafür, dass die Partei moderner und unideologischer in ihrem Denken wird. Und die Linke hat auch in Landesregierungen schon bewiesen, dass sie regierungsfähig ist. Warum also nicht auch auf Bundesebene? Das wird vielleicht noch nicht bei der nächsten Wahl passieren. In Zukunft aber werden wir eine Regierung mitbilden. Da bin ich mir sicher. + +Weil 42 Protokolle – so viele Parteien nehmen an der Bundestagswahl am 24.9. teil – ein bisschen viel wären, haben wir uns auf jene sieben Parteien beschränkt, die laut Umfragen eine realistische Chance auf den Einzug in den Bundestag haben. + diff --git a/fluter/warum-profitieren-rechte-parteien-von-finanzkrisen-christoph-trebesch-interview.txt b/fluter/warum-profitieren-rechte-parteien-von-finanzkrisen-christoph-trebesch-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e12963cd7d451576866f708cf8c3b79e54047ab6 --- /dev/null +++ b/fluter/warum-profitieren-rechte-parteien-von-finanzkrisen-christoph-trebesch-interview.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Was macht diese extremen und populistischen Parteien aus? +Zum einen gibt es klassische faschistische oder kommunistische Gruppierungen, etwa in den 1930er-Jahren. Wir berücksichtigen aber auch rechts- und linkspopulistische Parteien. Nach unserer Definition sind Parteien populistisch, wenn sie einen Konflikt zwischen zwei Gruppen in der Bevölkerung heraufbeschwören. Auf der einen Seite steht dann das "wahre Volk" und auf der anderen die "korrupte Elite". Die politische Strategie ist oft komplett auf diesen scheinbaren Konflikt ausgerichtet, und Populisten beanspruchen, als Einzige für das "wahre Volk" zu sprechen. Sie nutzen rhetorische Mittel wie die Polarisierung ("wir" gegen "die"), die Elitenkritik und die Betonung des Nationalen. +Eines Ihrer Ergebnisse ist, dass rechte Parteien dabei deutlich stärker profitieren als linke. Wie kommt das? +Christoph Trebesch ist Professor am Kieler Institut für Weltwirtschaft +Das war für uns eine Überraschung. Wir hatten erwartet, dass kommunistische und linkspopulistische Parteien von einer solchen Situation stärker profitieren, da es ja um eine Krise auf dem Kapitalmarkt geht. Da denkt man doch, es müssten Parteien dazugewinnen, die den Kapitalismus als System infrage stellen. Aber dem ist nicht so. Stattdessen scheinen Wähler in Krisenzeiten besonders empfänglich für Politiker, die Migranten und Ausländer zu Sündenböcken machen. Es kommt also zu einer Verschiebung von einer Kritik am Finanzsystem hin zu einer Kritik an offenen Grenzen und offenen Gesellschaften. +Zehn Jahre nach der Finanzkrise 2008 sind rechtspopulistische Parteien in fast allen europäischen Ländern stark. Sie sagen, das sei ein Muster, das sich wiederholt. +Es ist ein Phänomen, das wir seit dem 19. Jahrhundert immer wieder beobachten. Parteien am rechten Rand haben von großen globalen Krisen profitiert, wie etwa die Depression nach 1929 oder der Bankenkollaps 2008. Die Effekte sind aber auch bei kleineren, regionaleren Finanzkrisen zu beobachten. +Bei anderen Wirtschaftseinbrüchen, die keine Finanzkrise zur Folge haben, gibt es das Phänomen nicht? +Wir haben Finanzkrisen mit anderen schweren Krisen verglichen, bei denen es zu einem Wirtschaftseinbruch kam, aber zu keinem Bankencrash. Die politischen Effekte treten fast ausschließlich dann auf, wenn es eine Finanzkrise gab, jedoch nicht bei anderen Arten von Wirtschaftskrisen und Rezessionen. +Wie erklären Sie sich das? +Unserer Interpretation nach gibt es dafür drei mögliche Gründe. Erstens: Eine Ölkrise wird von den Wählern noch eher als ein von außen kommender Schock wahrgenommen. Eine Finanzkrise dagegen gilt als unentschuldbar, denn Politiker haben bei der Regulierung der Banken offensichtlich das Falsche gemacht. Daher werden auch die etablierten Parteien so stark abgestraft. Der zweite Grund: Es kommt zu großen Rettungspaketen – zu sogenannten Bail-outs – und zeitgleich zu Kürzungen bei den Ausgaben für Sozialleistungen, Kultur oder Bildung. +Banken zu retten ist in der Krise oft das einzige Mittel, um noch Schlimmeres zu verhindern. Aber es entsteht der Eindruck, dass für die Banken immer Geld da ist, nicht aber für andere wichtige gesellschaftliche Zwecke. Das stärkt Protestwahlverhalten. Und drittens: Finanzkrisen stellen das System als Ganzes infrage – den Kapitalismus –, und auch daher tendieren Wähler dann dazu, systemkritische Parteien zu wählen. +Ebbt der Erfolg von populistischen Parteien nach dem Ende der Krise wieder ab? +Wir konnten in den Daten erkennen, dass das Erstarken der extremen und populistischen Parteien sich fünf bis zehn Jahre nach der Krise wieder abschwächt. Das scheint seit der Krise von 2008 aber bisher nicht so zu sein, im Gegenteil. Die Situation verfestigt sich, und die Parteien am rechten Rand werden eher noch stärker, so auch in Europa. Die Normalisierung der Politik bleibt aus. Wir steuern beunruhigend schnell auf eine neue populistische Ära zu. +Welche Lehren ziehen Sie aus dieser Studie? +Wir haben gelernt, dass die gesellschaftlichen Folgen von Finanzkrisen noch größer sind, als das gemeinhin von Ökonomen gesehen wird. Die Finanzmarktaufsicht, die Regulierungsbehörden, die Zentralbanken und die Regierungen tragen eine sehr große Verantwortung bei der Aufsicht von Banken und anderen Finanzakteuren. Sie sollten Finanzkrisen nicht nur bewältigen, sondern bestmöglich versuchen, ihnen vorzubeugen. Das ist schwierig, aber nicht unmöglich. Das Beispiel Kanada zeigt, dass man den heimischen Finanzsektor durchaus so regulieren kann, dass es nicht immer wieder zu Krisen kommt. Das Land hatte seit 1840 noch keinen einzigen Bankencrash, während die USA seitdem ganze zwölf Finanzkrisen durchgemacht haben. + diff --git a/fluter/warum-so-viele-venezolaner-nach-spanien-fluechten.txt b/fluter/warum-so-viele-venezolaner-nach-spanien-fluechten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b787a502f017a0a6110cf04aee7605d0d1de3ba5 --- /dev/null +++ b/fluter/warum-so-viele-venezolaner-nach-spanien-fluechten.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Die politische und wirtschaftliche Krise der vergangenen Jahre hat zu einem Massenexodus geführt, vier MillionenVenezolaner haben das Land bereits verlassen. Die meisten zog es in die Nachbarstaaten in Südamerika. Aber Schätzungen zufolge sind auch etwa 300.000 Venezolaner nach Spanien geflohen, zur ehemaligen Kolonialmacht. + +Einer von vielen: Mario Saldaña (28) kam vor drei Jahren nach Spanien. Allein vergangenes Jahr wurde etwa die Hälfte der spanischen Asylanträge von Venezolanern gestellt + +Mario beantragte hier politisches Asyl. Im Jahr 2018 wurde etwa die Hälfte derAsylanträgein Spanien von Venezolanern gestellt. Zwei Jahre lang besaß Mario die sogenannte "rote Karte" für Asylbewerber, die ihm erlaubte, arbeiten zu gehen. Der Telekommunikationsingenieur jobbte im Gastgewerbe und später – seiner Ausbildung entsprechend – bei einem Informatikprojekt von IBM. +Dann kam der Rückschlag. Als seine Arbeitsgenehmigung auslief, entschied sich Mario, schwarzzuarbeiten. Die spanischen Behörden hatten venezolanische Antragssteller nicht als politisch verfolgt anerkannt und ihnen kein entsprechendes Visum mit Arbeitsrecht ausgestellt. Die Sicherheitslage in Venezuela ist zwar allgemein angespannt, aber eine "Verfolgung" ist juristisch gesehen eine individuelle Sache. Seit Juni darf Mario sich wieder auf Stellen bewerben, weil er "aus humanitären Gründen" eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen hat. Wie Tausende seiner Landsleute profitierte er von einem im März verabschiedeten Gesetz der spanischen Minderheitsregierung. Aufgrund der schweren humanitären Krise in dem lateinamerikanischen Land schuf die Regierung eine Sonderregelung, die nur für Venezolaner gilt. + +Fühlt sich wie zu Hause: Virginia Pineda (32) genießt es, am Mercado de Maravillas heimische Töne zu hören + +Migration verändert ein Land – und seine Gastronomie. In der Madrider Innenstadt haben viele neue venezolanische Lokale aufgemacht. Genau dort, zwischen Spezialitäten wie Empanadas und Arepas, trifft man auch Virginia meist. Sie hat gerade Besuch von ihrer Familie aus Venezuela. Was sie ihr in Madrid unbedingt zeigen will: den Mercado de Maravillas, eine beliebte Markthalle im Tetuán-Viertel, wo seit Jahrzehnten eine der größten lateinamerikanischen Communitys zu Hause ist. Auch viele Venezolaner zogen hierher. Auf dem Markt wird mittlerweile jeder zehnte der 200 Stände von Venezolanern betrieben. +Virginia, 32 Jahre alt, ist dem wirtschaftlichen Chaos in der Heimat entkommen und hat nach einem Master in Finanzen in Madrid eine Stelle bei Vodafone gefunden. Ihrer privilegierten Situation ist sie sich bewusst: "Es gibt wahnsinnig viele Leute, die in Spanien keinen Job finden, der ihrem Ausbildungsniveau entspricht: Ärzte, Anwälte oder Ingenieure. Ihr wesentliches Problem sind die Papiere." Dieses Problem hatte Virginia nicht, weil sie dank ihrer spanischen Wurzeln einen spanischen Pass besitzt. +Unser Autor kommt aus Venezuela. Seit Jahren ist ihm klar: Er muss da raus. Leichter gesagt als getan,so eine Flucht +Wie die meisten Lateinamerikaner hat auch sie es leicht, sich sprachlich und kulturell in Spanien zurechtzufinden. Bis auf ein paar Wörter ist das Spanisch gleich. Brasilianern, Kolumbianern oder Argentiniern hört man schnell an, wo sie herkommen. Venezolaner haben wegen ihres Akzents einen Vorteil: "Ich werde oft für jemand von den Kanarischen Inseln gehalten." Seit dem 17. Jahrhundert bis in die 1950er-Jahre wanderten immer wieder Spanier von den Kanarischen Inseln nach Venezuela aus und beeinflussten den dortigen Akzent. "In letzter Zeit merkt man auf der Straße, dass es manchem vielleicht zu viel wird mit so vielen Einwanderern aus Südamerika", sagt sie. "Aber das ist ja auch normal. Die Spanier merken, dass es doch ganz schön viele sind, die in ihr Land gekommen sind." +Gerade möchte Virginia nicht zurückkehren, sondern sich ein stabiles Leben in Europa aufbauen. Und Mario? Der will seine in Spanien gesammelten Erfahrungen mit zurück nach Venezuela nehmen: "Um einen kleinen Teil dazu beizutragen, dass das Land wieder hochkommt. Ich hoffe, das wird schon bald sein." + + diff --git a/fluter/warum-wahlprognosen-oft-falsch-sind.txt b/fluter/warum-wahlprognosen-oft-falsch-sind.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..caf0eaff30a709a6cf46b69866b91526ce5902e7 --- /dev/null +++ b/fluter/warum-wahlprognosen-oft-falsch-sind.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +Karl-Rudolf Korte: Durchaus. Die Fehlertoleranz von Wahlumfragen liegt ungefähr bei drei Prozent. Unter den gegebenen Bedingungen – Empörung und Umbruch – hätte man diese drei Prozent ernster nehmen müssen. Doch ich habe in der Woche vor der Wahl bestimmt hundert Gespräche geführt: Kein einziges Institut, keine einzige Organisation hat Trump vorne gesehen. Das macht einen als Wissenschaftler schon sehr nachdenklich. +Nicht alle Meinungsforscher lagen bei der Trump-Wahl daneben – auch kurz vor der Wahl gab esUmfragen, die Trump vorne sahen. Und anders als viele deutsche Medien haben einige US-amerikanische Medien durchaus nuanciert über die Siegchancen beider Kandidaten berichtet. So zum Beispiel derDatenjournalismus-Blog FiveThirtyEight.comdes Statistikers und Publizisten Nate Silver. Mit einer ausgeklügelten statistischen Berechnungsmethode versuchten Silver und sein Team, möglichst genaue Wahlchancen für Donald Trump und Hillary Clinton in den einzelnen Bundesstaaten zu ermitteln. Kurz vor der Wahl ging das Modell von einer allgemeinen Siegchance Trumpsvon immerhin rund 30 Prozentaus. +Herrscht unter den Meinungsforschern etwa ein Herdentrieb? +Die Institute verdienen ihr Geld damit, dass sie die Dinge so präzise wie möglich messen. Wer am nächsten am tatsächlichen Ergebnis liegt, kann beim nächsten Mal mehr Geld verdienen. Deshalb: Bewusst verfälschen – das macht keiner. +Welche Fehler haben sie dann gemacht? +Die Institute haben das sozial Erwünschte gemessen und nicht das, was hätte eintreffen können. Sie haben die etablierten Instrumente benutzt, um antielitäre Wut zu messen. +Wahlprognosen basieren in der Regel auf einfachen Anrufen in den Haushalten. +Und da gibt es bereits Probleme, wenn die Angerufenen solche Meinungsumfragen ablehnen und nicht mitmachen. Vielen kommt der Anruf als Nachfrage aus der "politischen Zentrale" in Washington vor. Die Zahl der Festnetzanschlüsse geht zudem auch in den USA drastisch zurück, was die Callcenter vor große logistische Probleme stellt. Handyanrufe sind zwar möglich, im Falle der in den USA sehr häufig eingesetzten Umfrageroboter aber nicht erlaubt. Der Rücklauf an potenziellen Antworten sinkt somit, die repräsentative Zufallsstichprobe wird unter solchen Bedingungen immer mehr zur Seltenheit. Das sind die methodologischen Probleme. +Das ist also noch nicht alles. +Die Demoskopen müssen auch darüber nachdenken, ob man die neue heterogene Empörungsbewegung mit den klassischen Fragen überhaupt messen kann. Eine Alternative zum Anrufen wären Fokusgruppen, Kleingruppen und Gespräche, bei denen man merkt, welche verschiedenen Ursachen vorliegen und in welcher Sprache sich Protest Bahn bricht: Bei dieser Wahl zum Beispiel Abstiegsängste, Wohlstands-Chauvinismus, antielitäre Wut, kulturelle Ängste, Lust am Bestrafen, ein Wechselklima … Das kann man alles messen – wenn man es wahrhaben will. +Wir sind also nicht einfach nur schlecht darin, mit Wahrscheinlichkeiten umzugehen? +Wir sind schlecht darin, den Wandel und die Veränderung zu messen, uns von der Bevölkerung insgesamt ein Bild zu machen. Weil wir die Dinge zu sehr aus den Zentren der Macht heraus interpretieren. Weil wir uns immer auf der Seite des Guten wähnen. +Die Medien haben sich fast unisono für Clinton ausgesprochen … +… und über Monate kommuniziert, dass Clinton gewinnt. Und das hat natürlich Effekte bei den Wählern, vor allem bei den konjunkturellen Nichtwählern, die zur Wahl gehen, damit nicht das wahr wird, was alle prognostizieren. Gleichermaßen hat das die Mobilisierungskraft im Clinton-Lager gelähmt. Denn wenn klar ist, wer gewinnt, warum sollte ich dann auch noch meine Stimme für Clinton einbringen? +Aber auch große Medien wie die "New York Times" gingen detailliert auf die Chancen beider Seiten ein. So veröffentlichte die Zeitungeine interaktive Grafikzu den verschiedenen Wegen, auf denen Clinton oder Trump ins Weiße Haus gelangen können – also Kombinationen von Staaten, die gewonnen werden müssen, um genug Wahlmänner hinter sich zu versammeln. Auch hier lag Trump in einem Drittel der Fälle vorne. Einer davon war der, mit dem er schließlich auch die Wahl gewann, und zwar indem er die Wählerinnen und Wähler des sogenannten "Rust Belt" – in Pennsylvania, Ohio, Michigan und Wisconsin – von sich überzeugte. Ein Weg übrigens, den der Autor und Regisseur Michael Moore vor der Wahl in einemBeitrag auf seinem Bloggenau so beschrieben hatte. +Unabhängig von dieser Wahl: Welche anderen Effekte sind der Wissenschaft bekannt? +Man möchte bei den Siegern dabei sein, möchte sehen, wie die eigene Stimme sich auswirkt. Wenn die eigene Partei abgeschlagen ist und keine Chance hat, möchte man keine Stimme verschenken. +Werden diese Effekte in Wahlumfragen einberechnet? +Nein, die möglichen Auswirkungen der Demoskopie auf Wählermeinungen – ich nenne das gerne Echo-Demoskopie – spielen in den Verrechnungsmodellen bislang keine Rolle. Aber für das Wahlkampfmanagement sind sie durchaus eine entscheidende strategische Mobilisierungsgröße geworden. +Wie sinnvoll wäre es, kurz vor der Wahl keine Umfrageergebnisse mehr zu veröffentlichen, um das Verhalten der Wähler nicht zu beeinflussen? +Wenn wir Wissen haben, sollten wir das Wissen auch nutzen. Aus einem übergeordneten Interesse so tun, als hätte man wenige Tage vor der Wahl keine Ergebnisse mehr, oder Umfrageergebnisse gezielt intransparent halten finde ich falsch. Stattdessen sollte man systematisch und laut auf die Fehlertoleranz der Messungen hinweisen. Das hätte auch dieser Wahl gutgetan, bei der in wichtigen Bundesstaaten knappe Entscheidungen vorausgesagt wurden. Doch der US-Medienmarkt lebt extrem von Einschaltquoten, und so haben Zwischentöne, Reflexionen, Nachdenklichkeiten, Infragestellungen leider wenig Raum. +Zum Abschluss: Werden die veralteten Telefonumfragen bald begraben und durch neue Erhebungsmethoden ersetzt? Big-Data-Analysen vielleicht? +Damit hier kein falscher Eindruck entsteht: Im Gegensatz zu uns haben die Amerikaner schon jetzt ein sehr präzises Bild vom Wähler. Dessen Privatsphäre ist nicht im selben Maße geschützt wie hierzulande, und so können Unmengen an Daten gesammelt werden – von Benutzeroberflächen wie Google, Youtube und Facebook. Das Wissen ist also da, in Zukunft wird es mehr denn je darauf ankommen, was man damit macht. + + + +Zur Person: Univ.-Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte, Jahrgang 1958, ist seit 2006 Direktor der NRW School of Governance an der Universität Duisburg-Essen. Er veröffentlicht regelmäßig politische Analysen und tritt im Fernsehen als Wahlexperte auf. Sein Buch "Wahlen in Deutschland" erschien 2013 bei der Bundeszentrale für politische Bildung. + +Zusatzinformationen: Fabian Scheuermann diff --git a/fluter/warum-war-der-islamische-staat-erfolgreich.txt b/fluter/warum-war-der-islamische-staat-erfolgreich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d89b64fda69a5abf1cecb0c531e9c8418aed90f6 --- /dev/null +++ b/fluter/warum-war-der-islamische-staat-erfolgreich.txt @@ -0,0 +1,30 @@ + + + +Was man über diepolitische Lage im Irakwissen sollte +Was geschah damals? +Auf die Proteste der Sunniten angesprochen, beschimpfte der damalige irakische Premierminister Nuri al-Maliki die Demonstranten als Extremisten. Dann griffen Streitkräfte und Polizei die Protestierenden an, mehr als 60 Menschen starben. Alle unsere Umfragen zeigten in der Folge eineenorme Unzufriedenheit. Die Menschen verloren das Vertrauen in die Regierung, in die Polizei und in die Armee. Es war klar, dass es angesichts dieses Leids leicht sein würde, sie davon zu überzeugen, sich gegen die Zentralregierung zu stellen. +Ihre Umfragen verdeutlichen, dass sunnitische und schiitische Iraker ihre Lage damals unterschiedlich bewerteten. Den Schiiten schien es nach eigenem Empfinden besser zu gehen. +Maliki und seine Regierungbetrachteten die Lage im Land vor allem durch eine konfessionelle Brille. Sie hatten die fixe Idee, dass es den irakischen Sunniten nur darum gehen würde, die politische Macht zurückzugewinnen, die sie unter Saddam Hussein innehatten. In der Folge begannen viele Sunniten, sich als Bürger zweiter Klasse zu fühlen. Sie forderten grundlegende öffentliche Dienstleistungen, Jobs und Sicherheit auch für ihre Orte. Der IS goss dann gezielt Öl ins Feuer. +Infolgedessen sanken Ihren Umfragen zufolge die Zustimmungsraten für die Zentralregierung weiter, insbesondere in sunnitischen Gebieten. Wie hat die Regierung darauf reagiert? +Gar nicht. Seit gut 15 Jahren führe ich Meinungsumfragen im Irak durch. Aber erst seit kurzem hören die Behörden mir überhaupt zu. Davor wurde ich immer nur angegriffen. Mal hieß es, ich gehöre einer Sekte an, mal, dass ich ein Anhänger Saddam Husseins sei und Propaganda der Baath-Partei verbreite. Die Regierung selbst hat nie Umfragen erhoben. Sie wusste schlicht nicht, wie es den Menschen ging. +Wie hätte eine sinnvolle Politik aussehen können? +Munqith Dagher ist Geschäftsführer des von ihm 2003 nach dem Fall Saddam Husseins mitgegründeten Independent Institute for Administration and Civil Society Studies (IIACSS) +Der IS ist ein Symptom, nicht die Krankheit. Wer verhindern will, dass Menschen sich von Extremisten verführen lassen, muss ihre Lebensumstände verbessern – denn unglückliche Bürger fallen terroristischer Propaganda leichter zum Opfer. Der IS hat ihnen ein besseres Leben versprochen. Einer seiner größten Erfolge war es, die Menschen davon zu überzeugen, dass dieses bessere Leben nach dem Tag des Jüngsten Gerichts auf sie wartet. Die Regierung dagegen hätte den Menschen zeigen können, dass ihr jetziges Leben bereits lebenswert ist und dass sie, wenn sie sich anstrengen, etwas aus sich machen können. +Stattdessen hat die Regierung dem IS das Feld überlassen. Wie kam dessen Herrschaft bei den Menschen an? +Während der IS herrschte, vor allem in der Frühphase, zeigten die Umfragen deutlich, dass die Iraker die Schaffung von Sicherheit und die Einrichtung öffentlicher Dienstleistungen als große Erfolge der Extremisten bewerteten. Vielen Menschen in den eroberten Gebieten ging es unter der Herrschaft des IS schlicht besser. +Dennoch scheiterte das Projekt der Extremisten. Wie kam es dazu? +Die Menschen in den besetzten Gebieten hörten ständig diese Propaganda, wie der IS die Welt erobern und ein islamisches Reich errichten werde – in der Realität jedoch wurden sie von der internationalen Militärkoalition täglich bombardiert. Wieder fürchteten sie um ihr Leben. Und auch die Geldströme des IS, etwa durch den Handel mit Öl, versiegten. Damit schrumpften auch die Möglichkeiten der Extremisten, die Menschen zu versorgen. +Haben Sie eigentlich auch IS-Kämpfer befragt? +Ja, das habe ich. Und alle meine Interviews mit IS-Kämpfern zeigen, dass der sogenannte Islamische Staat auch für die Extremisten selbst weniger eine Ideologie als vielmehr ein Versprechen auf ein besseres Leben war. Tatsächlich interessierten sich die meisten überhaupt nicht für islamistische Ideologie. Oft mangelte es ihnen sogar an Grundlagenwissen über ihre eigene Religion. +Der Irak ist seit Jahren ein zersplittertes Land, das von Krieg und Unruhen gekennzeichnet ist. Wird es da nicht auch für einen Meinungsforscher gefährlich? +Oft mussten wir die Arbeit temporär einstellen, meine Mitarbeiter wurden verhaftet oder auf andere Art behindert. Ich brauchte Genehmigungen von verschiedenen Regierungsvertretern, musste aber auch mit Stammesführern und bewaffneten Gruppen verhandeln. In einer Stadt namens Tadschi, nördlich der Hauptstadt Bagdad, verlor ich 2007 sogar drei Mitarbeiter. Sie wurden von Al-Kaida-Mitgliedern enthauptet, als sie Leute befragten. Später musste ich zeitweise das Land verlassen, weil ich von allen Seiten bedroht wurde: Extremisten beschuldigten mich, aufseiten der US-Truppen und der irakischen Regierung zu stehen. Gleichzeitig erhielt ich Drohungen aus Regierungskreisen. Dort wurde behauptet, meine Arbeit rücke die Regierung in ein negatives Licht und würde den Terroristen helfen. +Wie gelingt es Ihnen, dass die Befragten in so einer angespannten politischen Situation ihre wahren Ansichten offenbaren? +Meine Mitarbeiter wissen, wie man die richtigen Fragen stellt und Körpersprache liest. Alle unsere Interviews werden von Angesicht zu Angesicht durchgeführt, das minimiert das Risiko, belogen zu werden. Darüber hinaus gibt es immer eine Fehlermarge, die jedoch statistisch berechnet werden kann. +Und was wissen Sie über die aktuelle Stimmung der Bevölkerung? +Die ehemalige Regierung unter Premierminister Abadi hat ihre Lektionen gelernt und strukturelle Veränderungen bei Armee und Polizei vorgenommen. Infolgedessen nahm das Vertrauen in die Regierung deutlich zu. Im Augenblick zeigen unsere Daten, dass Sunniten erstmals mehr Vertrauen in die Regierung haben als Schiiten – obwohl Abadi selber ein Schiit ist. Allerdings ist im Südirak, wo vor allem Schiiten wohnen, die Wahlbeteiligung stark zurückgegangen, und nun regen sich dort Proteste. Wieder geht es um Fragen der Grundversorgung, diesmal vor allem um ein stabiles Stromnetz. Bedrückende Signale kommen aber auch aus manchen sunnitisch dominierten Gebieten, auch dort verschlechtern sich die Lebensumstände. Es besteht also weiterhin die Gefahr, dass extremistische Gruppen die Lage ausnutzen. + +Der Autor Florian Guckelsberger ist Leitender Redakteur beimNahost-Magazin zenith. + + +Titelbild: Martyn Aim/Corbis via Getty Images diff --git a/fluter/warum-will-katalonien-die-unabhaengigkeit.txt b/fluter/warum-will-katalonien-die-unabhaengigkeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b480ffa8cc32329507a62c1393b0362a0598f825 --- /dev/null +++ b/fluter/warum-will-katalonien-die-unabhaengigkeit.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Mit der Nationenbildung sind oftmals Gründungsmythen verbunden. Solche Erzählungen können dem Individuum und der Gesellschaft einerseits eine Identität, Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen verleihen. Andererseits kann aus ihnen auch eine Pflicht abgeleitet werden: "Man hat sich der Heroen der Vergangenheit würdig zu erweisen", schrieb der Historiker Herfried Münkler einst. +Dies ist auch im Fall Kataloniens so. Wenn im Fußballstadion Camp Nou von Barcelona bei Ligaspielen exakt 17 Minuten und 14 Sekunden nach dem Anpfiff auf den Rängen der Ruf nach "Independencia", also Unabhängigkeit, erschallt, wird selbst der Fußball in den Dienst der Nation gestellt. Die Jahreszahl 1714 markiert das Datum, als die katalanischen Truppen sich nach verlorener Schlacht dem Sieger der Spanischen Erbfolgekriege und damit der bis heute herrschenden Dynastie der Bourbonen in Spanien ergeben mussten. Die katalanischen Institutionen wurden damals aufgelöst, die Selbstverwaltung verboten. Die Pflege der katalanischen Sprache war lange komplett untersagt. +Nach Lesart der Separatisten, die sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker berufen, hat sich an dieser Unterdrückung bis heute nichts geändert. Im Gegenteil: Die amtierende konservative Regierung in Madrid verkörpert für sie die Nachfolge der königstreuen Franco-Diktatur, die noch vor 50 Jahren die Einheit des spanischen Staates mit Gewalt gegen regionale Vielfalt zu erhalten versuchte. An diesem Narrativ der katalanischen Opferrolle kann auch die Tatsache nicht rütteln, dass mit dem Übergang zur Demokratie 1978 den unterschiedlichen Regionen in der spanischen Verfassung die Möglichkeit eingeräumt wurde, sich als autonome Gemeinschaft (Comunidad Autónoma) zu konstituieren – und die Katalanen dieser Regelung mit überwältigender Mehrheit zustimmten. Auch die Sprache fand nach und nach wieder Eingang in den öffentlichen Raum. 1983 wurde der erste katalanische Fernsehsender TV3 gegründet. 1998 setzte das Parlament von Katalonien die Neuregelung eines Gesetzes durch, das Katalanisch in Schulwesen, Verwaltung, aber auch Medien fest verankern sollte. So sollten im Fernsehen 50 Prozent der Programme auf Katalanisch ausgestrahlt werden. Kastilisch, das Spanisch der Amtssprache, wird heute in Katalonien hingegen als erste Fremdsprache gelehrt. Wer in Katalonien urlaubt, studieren oder Geschäfte machen will, kommt um das Katalanische nicht herum. +Kulturelles stand zunächst im Hintergrund, als die Sezessionsbewegung erstarkte. Nicht zufällig fiel das gesteigerte Nationalbewusstsein der Katalanen mit dem Platzen der Immobilienblase 2007 und der folgenden schweren Wirtschaftskrise in Spanien zusammen. Katalonien ist die wirtschaftlich stärkste Region Spaniens. Mit 16 Prozent der spanischen Bevölkerung erwirtschaftete sie 2016 19 Prozent des spanischen Bruttoinlandsprodukts – und trug überdurchschnittlich viel zum spanischen Finanzausgleich mit den wirtschaftlich schwächeren Regionen des Landes bei. Laut der Regionalregierung in Barcelona sind es jedes Jahr acht bis zehn Prozent des regionalen Bruttosozialproduktes, die Katalonien für den Finanzausgleich mehr hineingibt, als es herausbekommt. +Zu viel, klagen die Unabhängigkeitsbefürworter. "Madrid ens roba", hört man allerorten: Madrid bestiehlt uns. Dem Argument, Katalonien könnte ein blühender Landstrich sein, würde es sich nur endlich aus dem Königreich lösen, findet deshalb seit Jahren zunehmend Anhänger. Allerdings machen sich die Unabhängigkeitsbefürworter die Rechnung zu leicht, warnen Ökonomen wie Klaus Schrader, Spanien-Experte am Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Nach heutigem Stand hätte die Region zwar durchaus die kritische Größe, um auch als unabhängiger Staat wirtschaftlich zu prosperieren. Bedingung dafür ist allerdings, dass Katalonien in der EU bleibt, so Gabriel Felbermayr, Leiter des ifo Zentrums für Außenwirtschaft am ifo Institut in München. +Die Unabhängigkeitsbefürworter gehen fest davon aus, dass dies der Fall wäre und Katalonien damit weiter vom europäischen Binnenmarkt profitieren würde. Die Möglichkeit eines automatischen und nahtlosen Überganges sieht die EU-Kommission jedoch derzeit nicht. Das heißt, ein unabhängiges Katalonien wäre, insofern anerkannt, mit Blick auf den EU-Vertrag womöglich erst einmal ein Drittstaat, mit dem neue Regelungen gefunden werden müssten. + + +Einige Kommentatoren meinen, dass die Eskalation der vergangenen Wochen – die zahlreichen Proteste sowohl für als auch gegen die Unabhängigkeit Kataloniens, die Polizeigewalt, die kompromisslosen Positionierungen der Zentralregierung unter Ministerpräsident Mariano Rajoy einerseits und der katalanischen Regionalregierung unter Carles Puigdemont andererseits – hätte vermieden werden können, wenn die EU in dem Streit früher klar Position bezogen und damit den Unabhängigkeitsbefürwortern den Wind aus den Segeln genommen hätte. Doch auch die Zentralregierung in Madrid trage große Verantwortung, wie inzwischen einige Gegner einer Unabhängigkeit Kataloniens kritisch feststellen, darunter Rajoys Amtsvorgänger und Parteifreund José María Aznar. +Einen 2006 gefundenen Kompromiss für eine weiterreichende Autonomieregelung für Katalonien erklärte das spanische Verfassungsgericht 2010 aufgrund einer Klage der damaligen konservativen Opposition in Teilen für nicht rechtens. Als die Partido Popular (PP) von Ministerpräsident Mariano Rajoy im Jahr darauf an die Regierung kam, ließ sie die Möglichkeit zu einer verfassungsrechtlich sauberen Lösung verstreichen. Zudem lehnte sie seither immer wieder die Forderung der katalanischen Regionalregierung ab, über ihre Finanzen ähnlich autonom wie die Nachbarn aus dem Baskenland bestimmen zu dürfen. +Die Haltung der spanischen Regierung macht aus wirtschaftlicher Sicht Sinn. Das Baskenland trägt nur sechs Prozent zum spanischen BIP bei, das üppige Steueraufkommen aus Katalonien ist dagegen für den spanischen Haushalt unentbehrlich. Politisch aber ist der Streit teuer geworden. Neben der wirtschaftlichen Dimension steht die rechtliche. Das spanische Verfassungsgericht wollte das Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien stoppen, das am 1. Oktober trotzdem stattfand. Es verbot ebenfalls die Sitzung des katalanischen Parlaments, die erst für gestern und nun für heute Abend angesetzt ist. Die Zentralregierung konnte also mit Rechtsstaatlichkeit argumentieren, als sie gegen die katalanische Unabhängigkeitsbewegung vorging. Rajoy war im Recht, als er die Abhaltung eines Unabhängigkeitsreferendums – zumindest an dem Tag – für illegal erklärte, die Polizei schickte und damit drohte, die Regionalregierung des Amtes zu entheben. Doch die Fronten haben sich damit nur noch mehr verhärtet. Der Riss geht inzwischen selbst durch Familien. Auch die Eskalation der Gewalt auf den Straßen und die Bilder der Polizei, die während des Referendums mit Knüppeln und Gummigeschossen Menschen vom Wählen abhalten wollte, polarisierten. +Mit zur Schau getragenen Wahlurnen demonstrieren viele Katalanen für das Referendum +Wie viele Katalanen tatsächlich für eine Unabhängigkeit ihrer Region von Spanien sind, ist schwer zu sagen. Laut der Regionalregierung stimmten 90 Prozent der Wähler am 1. Oktober dafür. Allerdings gaben nur 42 Prozent der Wahlberechtigten ein Votum ab. Die Separatisten hatten in den vergangenen Jahren die Meinungshoheit – und mit dem öffentlichen, auf Katalanisch sendenden TV-Kanal TV3 ein mächtiges Sprachrohr. Gegner einer Sezession gingen dem Streit oft dadurch aus dem Weg, dass sie schwiegen – auch zahlreiche Unternehmer. Erst eine Woche nach dem Referendum zeigten auch sie ihr Gesicht in der Öffentlichkeit: Zehntausende demonstrierten für einen Dialog und gegen eine sofortige Unabhängigkeit. Die EU-Kommission meldete sich nun ebenfalls zu Wort, kritisierte die Gewalt und rief zum Dialog auf. Einige Großunternehmen entschieden sich bereits für eine Verlagerung ihres Firmensitzes in eine andere Region, und weitere erwägen diesen Schritt, um der rechtlichen Unsicherheit zu entgehen. Die Hälfte aller katalanischen Exporte geht in andere EU-Gebiete. Es gibt klare Risiken: Spanien ist einerseits wirtschaftlich auf Katalonien angewiesen. Kehren viele Unternehmen Katalonien den Rücken und scheidet die Region aus der EU aus, ist sie andererseits womöglich wirtschaftlich nur schwer überlebensfähig. + +Wie die Krise beigelegt werden kann, ist fraglich. Zwar verzichtete die Regionalregierung in Barcelona zunächst auf die einseitige Erklärung der Unabhängigkeit und versuchte zu deeskalieren – wohl auch unter dem starken Eindruck der Firmenverlagerungen. Entschlossene Separatisten drängen jedoch auf eine Entscheidung. Die spanische Zentralregierung und die katalanische Regionalregierung bleiben nach Jahren der Konfrontation unnachgiebig, auch weil sie meinen, dies ihrer jeweiligen Klientel zu schulden. Bewegt sich keine Seite, steuert Spanien auf eine veritable Staatskrise zu. Dies würde dann auch die EU in Mitleidenschaft ziehen. + +Titelbild: Juan Teixeira/Redux/laif diff --git a/fluter/warum-wird-man-kriegsfotograf.txt b/fluter/warum-wird-man-kriegsfotograf.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/was-al-jazeera-erreicht-hat-ist-unglaublich.txt b/fluter/was-al-jazeera-erreicht-hat-ist-unglaublich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..12aa0ce3c562af27125d919b1e8c289ded92349d --- /dev/null +++ b/fluter/was-al-jazeera-erreicht-hat-ist-unglaublich.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Bislang bekommen Afrikaner ihre Informationen nur über ausländische Sender. Wenn man "CNN" und "BBC" einschaltet, fängt man ja selbst an zu glauben, Afrika wäre ein verlorener Kontinent. +Auch wenn es viele lokale Dialekte gibt, drei oder vier Kernsprachen genügen, um in Afrika miteinander zu kommunizieren – Englisch, Französisch, Portugiesisch und Arabisch. Die große Frage ist viel eher, warum ein Nigerianer an einem Ereignis in Kenia interessiert sein sollte, oder ein Ägypter an der Situation in Südafrika. +Obwohl wir sehr verschieden sind, die Probleme des Kontinents sind meist sehr ähnlich. Ob Korruption, Bildung, Armut, Gesundheit, Aids oder Malaria, wir müssen voneinander lernen. Wir müssen verstehen, wie andere Länder Lösungen gefunden haben und wie wir diese Lösungen übertragen können. +Was "Al Jazeera" für die arabische Welt erreicht hat, ist unglaublich. "Al Jazeera" hat den Menschen im Mittleren Osten eine eigene Stimme gegeben, und so ein Gegenbild zu der westlichen Sichtweise geschaffen. Diese Entwicklung ist eine große Inspiration für uns. +Die neuen Medien spielen dabei eine ganz entscheidende Rolle, und Afrika entwickelt sich rasant. Noch dieses Jahr wird Kenia an das globale Glasfasernetz angeschlossen. Das eröffnet uns ganz neue Möglichkeiten. Wir denken Fernsehen vom Internet aus. Abrufbare Sendungen, über Internet und Mobiltelefone. +Die technologische Entwicklung ermöglicht uns, die Menschen überall zu erreichen, selbst die Massai-Krieger in der Steppe. Kurze Clips mit den zentralen Informationen. Noch vor ein paar Jahren schien dieser Traum unmöglich. Aber dank Internet und Satellit können wir heute unsere Filme viel einfacher verbreiten. Afrikanische Journalisten können ihre Geschichten endlich weltweit transportieren, was völlig neue Perspektiven ermöglicht. +Nehmen wir das Beispiel Robert Mugabe. Mehr als die Hälfte aller Afrikaner würde ihn als Helden bezeichnen. Im Westen gilt er ausschließlich als Despot. Dabei geht es uns nicht darum ihn zu verteidigen, schließlich kann jeder sehen, welche Folgen seine Wirtschaftspolitik für Simbabwe hat. Aber die Umverteilung des Landbesitzes ist eine richtige Idee. +Genau darum geht es ja. In vielen Ländern Afrikas sind Medien die einzige Möglichkeit für Opposition. Deshalb werden sie auch so häufi g von Regierungen zensiert und kontrolliert. Wenn es darum geht, Dinge zu verändern, dann haben Medien die Aufgabe, Menschen zu informieren, damit sie selbst frei entscheiden und wählen können. Solange wir diese Freiheit in Afrika nicht besitzen, bleiben wir auch in unserer Entwicklung gehemmt. Unser Afrikabild selbst zu beeinfl ussen ist der nächste Schritt zur Emanzipation von Fremdeinflüssen. diff --git a/fluter/was-aus-gorleben-geworden-ist.txt b/fluter/was-aus-gorleben-geworden-ist.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..90570e74e99b76cb0c8dd9e0ebdc44bf667b2330 --- /dev/null +++ b/fluter/was-aus-gorleben-geworden-ist.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Wer heute vom Wendland spricht, meint meist den Landkreis Lüchow-Dannenberg, der zwischen Hamburg und Berlin südlich der Elbe in einer sanft geschwungenen Hügellandschaft liegt. 50.000 Menschen wohnen hier im nordöstlichsten Zipfel Niedersachsens. Bis 1989 war der Landkreis von Grenzen umzogen, Zonenrandgebiet nannte man das, es fühlte sich an wie das Ende der Welt. +Die Wenden, auf die der Name zurückgeht, waren Slawen im deutschsprachigen Raum, eine Minderheit in der Region, anders als die anderen. Damit identifizierten sich viele Menschen, die ab den 1970er-Jahren hierherzogen: Künstler, Aktivisten, Freiheitsuchende. Ihre Utopie nannten sie "Wendland" – im Gedenken an den eigensinnigen, den wendischen Geist. Bis heute gibt es im Wendland keine Autobahn, kaum Industrie, kaum Handyempfang, nur ein paar verstreute Dörfchen, Wälder und Felder. Hier glauben die Menschen, dass die Strukturschwäche ihnen Glück gebracht hat: eine Chance auf die Entwicklung alternativer Strukturen. +Im Mai 1980 wurde auf einem zuvor abgebrannten Waldstück nahe der Tiefbohrstelle 1004, die der Vorbereitung des Endlagers dienen sollte, die "Republik Freies Wendland" ausgerufen. Die rund 1.000 Aktivisten wollten ein Zeichen gegen die Atompolitik setzen und basisdemokratisches Gemeinschaftsleben erproben. 33 Tage hielt die Republik, dann wurde die zeitweise auf 2.500 Menschen angewachsene Gruppe von der Polizei mit Bulldozern und Schlagstöcken aufgelöst – und der Mythos Wendland war geboren. Wurde der Protest bis dahin von linken Aktivisten aus Hamburg und Berlin getragen, traf er nun auf breite Zustimmung. Auch die alteingesessenen, eher konservativen Wendländer schlossen sich an. Aus linksökologischem Widerstand wurde im Laufe der Zeit eine Bürgerbewegung. +Zwischen 1995 und 2011 fuhren regelmäßig Castortransporte mit Atommüll aus Deutschland und Frankreich ins Wendland. Die fünfte Jahreszeit nannte man das hier. Landwirte, Aktivisten, Studenten und Künstler kamen zusammen, um die Zufahrtsstraßen und Bahngleise zu blockieren. 50.000 Demonstranten (die Polizei geht von der Hälfte aus) sollen es zuletzt gewesen sein. Die großen ungelösten Fragen der Atomenergie standen im Fokus der Proteste: Wie zukunftsträchtig ist eine Industrie, deren gefährlicher Müll noch nirgends sicher untergebracht werden kann? +Jedes Jahr wurde aufgerüstet: Wo sich Aktivisten in den ersten Jahren nur auf Gleise gesetzt hatten, ketteten sie sich später an oder verankerten ihre Körper an einer 600 Kilo schweren Pyramidenkonstruktion aus Beton und Rohren, die nicht mehr von den Gleisen zu bewegen war. Die Polizeikräfte, die aus dem ganzen Bundesgebiet entsandt wurden, galten vielen Wendländern als Besatzer. Es war viel los beim Castorkarneval. Diese Erfahrungen haben die Wendländer bis heute geprägt. +Familie Tempel steht stellvertretend für die wendländische Protestgeschichte. Um sie zu besuchen, passiert man auf immer schmaler werdenden Wegen Felder und Wälder, fährt vorbei an pittoresken Fachwerkhäusern, Pferdekoppeln, blühenden Obstbäumen. Ein Bullerbü-Idyll, das nur durch die gelben, x-förmigen Holzkreuze gebrochen wird. Am Tag X, so die Botschaft, steht man hier zusammen. Eine Verschwörung, die zum Mitmachen einlädt: Bist du mit uns? Gegen den Castor und für eine andere Art zu leben? +Katja Tempel lebt in einem Häuschen im Dorf Meußließen. Im Wohnzimmer brennt ein Holzofen – es ist ein regnerischer Tag. Eine graue Katze umstreicht ihre Beine, während sie erzählt: Ihre Eltern, Helga und Konrad Tempel, sind wichtige Vordenker der deutschen Friedensbewegung. Sie brachten die Ostermärsche gegen die atomare Bewaffnung nach Deutschland, gründeten 1980 die "Kurve", eine Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion in Wustrow, und gaben die erste deutsche Ausgabe von Henry David Thoreaus "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat" mit heraus. +Katja Tempel kam ins Wendland, um in der "Kurve" zu arbeiten, war von Beginn an bei den Protesten gegen die Castortransporte dabei, hat das Aktionsnetzwerk "X-tausendmal quer" gegründet. Ihre Tochter, Clara Tempel, war schon als Kind bei Demonstrationen dabei und gründete mit 17 Jahren das "Jugendnetzwerk für politische Aktionen", das mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet wurde. Der aktive Pazifismus gehörte bei den Tempels einfach dazu. +Als die Castortransporte eingestellt wurden, war das für Katja Tempel zunächst mehr Schock als Triumph. Sie stand in ihrer Küche und weinte. "Es war ein Endpunkt", sagt sie. Doch dann erkannte sie, dass es viel zu tun gab. "Wir begannen, die alten Seilschaften nicht nur gegen Castoren, sondern auch für Menschen zu nutzen." 2015 unterstützte Tempel als Hebamme Flüchtlinge in den drei Notunterkünften des Landkreises, setzte sich für deren Rechte ein. Ein kurzer Anruf und viele seien wieder zur Stelle gewesen, sagt Tempel. Es war keine neue Massenbewegung, aber ein erster Schritt zur Transformation der Widerstandskräfte. +Und die wirken heute weit über den Landkreis hinaus: Aktionsstrategien, die während der Zeit der Castortransporte erfunden und erprobt wurden, sind heute das Einmaleins des Widerstands. Wenn "Blockupy" die Frankfurter Innenstadt lahmlegt, um gegen die Politik der Europäischen Zentralbank zu protestieren, wenn "Ende Gelände" den Kohletagebau im Rheinland und in der Lausitz besetzt, um für den Klimaschutz Stimmung zu machen, dann passiert das auf Grundlage des wendländischen Widerstandswissens. "Es ist schön zu sehen, wie unser Wissen jetzt an anderer Stelle weiterwirkt", sagt Katja Tempel. Für sie ist der Widerstand Teil ihrer Identität geworden: "Wendländerin zu sein heißt politisch aktiv zu sein: nicht im Kreistag, sondern auf der Straße!" +Ein weiteres Zentrum dieser Entwicklung ist die Kommune Meuchefitz. Am Ende einer Straße voller Schlaglöcher taucht zwischen den Rapsfeldern wie aus dem Nichts ein imposantes Fachwerkhaus auf. Der Landgasthof wurde nach der Räumung der "Republik Freies Wendland" zu einem wichtigen Treffpunkt der politisch Aktiven. Seither trifft sich die Szene dort in der Donnerstagskneipe. Rund zehn Menschen leben in der Kommune und betreiben ein Tagungshaus und einen Gasthof. +Nach dem Ende der Castortransporte wollen sie nun neue politische Diskurse im Wendland anstoßen. Neu ist, dass die Themen sich nicht nur gegen einen übermächtigen Feind von außen wenden, sondern die Dörfer und ihre Bewohner selbst betreffen: Rassismus, Naturschutz, patriarchale Strukturen, Kapitalismus, Konsum. Jetzt wird der Streit persönlich. Künstler waren von Anfang an eine wichtige Kraft für die Proteste. Malerinnen wie Uta Helene Götz und Irmhild Schwarz prägten die äußere Ästhetik des Widerstandes, machten aus Flugblättern, auf denen alles draufstehen musste, Pla- kate, die bis heute wirken und ausgestellt werden. Aus politischen Kunstaktionen und Werkausstellungen entwickelte sich 1990 die KLP, die "Kulturelle Landpartie". "Wir wollten den Leuten da draußen zeigen: Guckt uns an, wir sind die Chaoten, von denen in der Presse zu lesen ist", sagt Michael Seelig. +Wie ein Chaot sieht der 76-Jährige nicht aus: Graues Haar, grauer Bart, Hemd, Pullover, ruhige Gesten – er trägt den Stil, den man heute mit dem Wendland verbin- det. 1974 zog der Kunst- und Werklehrer aus Hamburg ins Wendland, die Landpartie sei sein Kind, sagt er. +Heute ist die KLP auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für die Region: Schätzungsweise 60.000 Menschen kommen jedes Jahr zwischen Himmelfahrt und Pfingsten für zwölf Tage ins Wendland. In 88 Orten präsentieren knapp 1.000 Menschen ihre Kunst, ihr Handwerk, teilen ihr Interesse und öffnen ihre Türen, um Einblicke in ihr Leben zu ermöglichen. Es gibt mittlerweile Jodelkurse und Mondscheinsensen – darüber, wie politisch das Programm sein muss und wie kommerziell es sein darf, wird offen gestritten. Aber darum geht es im Wendland ja auch: ums Streiten. "Das Endlager hat ja Arbeitsplätze versprochen. Es war an uns, zu zeigen: Eine andere Entwicklung ist möglich – in der Energie, in der Landwirtschaft, im kulturellen Leben." +Diese Idee trägt Seelig bis heute voran. Manche sagen, er werde noch auf dem Sterbebett ein Projekt anstoßen. Seelig sagt, das sei der Fluch der Tat. Sein neuester Streich ist die "Grüne Werkstatt" in Lüchow. Der Verein hat im alten Postamt des Städtchens den ersten Coworking-Space im Landkreis eingerichtet und will über die Vernetzung von Hochschulen mit der regio- nalen Wirtschaft neue, frische Köpfe ins Wendland locken. +"Der Blick zurück, das Beschwören des früheren Widerstands, das hängt mir zum Halse raus", sagt Seelig. Er will die einzigartigen sozialen Strukturen, die Derivate des Streits um die Atompolitik, nutzen und weiterentwickeln. "Das sind die wirklichen Früchte des Widerstands", sagt er. Seit 2011 wird hier mehr erneuerbare Energie produziert als verbraucht – das Wendland ist seither unabhängig von Kohle- und Atomstrom. Außerdem ist es landesweit Spitzenreiter im ökologischen Anbau: In Niedersachsen werden weniger als vier Prozent der Fläche ökologisch bewirtschaftet – in Lüchow-Dannenberg sind es fast 14 Prozent. +Viele Landwirte, die in der bäuerlichen Notgemeinschaft organisiert sind und die Castorblockaden immer tatkräftig unterstützt haben, sind mittlerweile in der Agrarwende-Bewegung aktiv. Zu der jährlichen Demonstration "Wir haben es satt!" fahren sie mit dem Trecker über 200 Kilometer nach Berlin. +Die neueste Vision im Wendland: ein Modelldorf gegen Abwanderungen, das Menschen aller Generationen zusammenbringen will, egal ob alteingesessen oder in die Region geflüchtet. Auf dem 2,3 Hektar großen Feld am Rand von Hitzacker soll bis Mitte Juni das erste Haus stehen. Später soll der Ort wachsen und rund 300 Menschen beheimaten, die gemeinsam und basisdemokratisch herausfinden wollen, was es braucht, um auf dem Land gut zu leben und zu arbeiten. Obwohl vielerorts das Mondscheinsensen die Gleisbeset- zungen abgelöst hat und der Kuchenverkauf die Systemfrage, ist das Wendland bis heute ein Ort, an dem es sich trefflich streiten lässt – und leben. diff --git a/fluter/was-bedeuten-die-proteste-in-algerien.txt b/fluter/was-bedeuten-die-proteste-in-algerien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d86304f84b2d6d493bfcc3f65b072bf2ef16c60b --- /dev/null +++ b/fluter/was-bedeuten-die-proteste-in-algerien.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Studenten und Schüler, Gewerkschaften aus dem Gesundheits- und Bildungssektor, Anwaltsverbände, die Ultras der Hauptstadtclubs MCA und USMA, Oppositionsparteien oder der Jugendverband RAJ – so unterschiedlich sie sind, einte sie alle monatelang ein Ziel: das Ende der Präsidentschaft von Staatschef Abdelaziz Bouteflika. Algeriens junge Bevölkerung will einen tiefgreifenden Systemwechsel – jetzt könnte er kommen. +Auslöser dieser größten Proteste in Algerien seit mehr als 30 Jahren war die Kandidatur des 82-jährigen Staatschefs bei der für Mitte April geplanten Präsidentschaftswahl. Der seit 1999 amtierende Bouteflika gilt als kaum noch regierungsfähig, sitzt seit einem Schlaganfall 2013 im Rollstuhl und hat seit 2012 keine öffentliche Rede mehr gehalten. Bouteflika ist Vorsitzender der Regierungspartei "Nationale Befreiungsfront" (Front de Libération Nationale, FLN). Die FLN war als Widerstandsgruppe einst maßgeblich für die Unabhängigkeit Algeriens im Jahr 1962 verantwortlich, entwickelte sich jedoch zu einer sozialistischen autoritären Partei, die im Einparteiensystem bis 1991 an der ungeteilten Macht festhielt. Heute regiert das Land ein Geflecht aus Regierung, Geheimdienstlern, Unternehmern und Militärs, genannt "le pouvoir" – die Macht. Es hat seit Jahren die politische und wirtschaftliche Macht, auch Bouteflika gehört dazu. Die Ankündigung seiner erneuten Präsidentschaftskandidatur brachte das Fass zum Überlaufen. +Friedlich schwenken Demonstranten algerische Nationalflaggen. Was man auf diesem Foto nicht sieht: Die Polizei ist stets mit massiver Präsenz, Sondereinsätzen und Tränengas zur Stelle. Unterbunden werden die Demos aber nicht +Algeriens Gesellschaft erwacht aus einer Lethargie und politisiert sich mit voller Wucht. Vor allem junge Menschen, aber auch Rentner und Familien mit ihren Kindern, Arbeitslose ebenso wie Beschäftigte, Einkommensschwache und die Mittelschicht: Sie alle ziehen seit Wochen gemeinsam Algeriens Nationalfahne schwenkend und Parolen rufend durchs Land. Die Korruption der Eliten wird genauso angeklagt wie die Einmischung Frankreichs in algerische Angelegenheiten. "Auf der Asche eurer Korruption bauen wir unsere Zukunft" oder "Raus aus unserer Republik" war auf Plakaten zu lesen, während die Menge rief: "Es wird kein fünftes Mandat geben, Bouteflika." +Der Tonfall der Proteste war vielfältig, doch die Mittel, mit denen Algeriens Jugend den Status quo infrage stellte, sind weitgehend friedlich geblieben. Seit Beginn der Proteste gingen die Demonstranten allen Provokationsversuchen der Sicherheitskräfte aus dem Weg. Stellten sich Hundertschaften der Polizei einem Protestmarsch in den Weg und feuerten Tränengasgranaten ab, drehte sich die Menge um und änderte die Route. Es wurde von wenigen Verletzten oder Toten berichtet. +Gleichzeitig räumten die Demonstranten die Städte auf. Freiwillige sammelten während der Proteste den Müll von den Straßen. Am Abend erinnerten nur an Bäumen lehnende volle Müllsäcke daran, dass hier vor einigen Stunden noch Hunderttausende durch die Innenstadt von Algier gezogen waren. Viele Demonstrierende versuchen, aus der gewaltsamen Vergangenheit des Landes, aber auch den fehlgeschlagenen Revolten in der Region 2011 zu lernen. Algeriens letzte Massenrevolte 1988 führte das Land geradewegs in einen Bürgerkrieg, vor dessen erneutem Ausbrechen die ältere Generation seither warnt. +"Alles hat ein Limit, es reicht einfach", sagt Djelel Mohamed (25), ein Student aus Chlef in Nordalgerien, während einer Demonstration vor der Grande Poste im Herzen Algiers. Er ist sich sicher, dass sich durch die Proteste etwas ändern wird. +Und tatsächlich: Am Montag, dem 1. April, ließ Bouteflika verkünden, er werde sich noch vor dem Ende des Monats aus dem Amt zurückziehen – am 28. April endet laut Verfassung definitiv Bouteflikas Mandat. +Wenige Stunden später kursierte die Karikatur eines bekannten Zeichners, die einen auf Knien flehenden Mann zeigt: "Ich hoffe, das ist kein Aprilscherz!", steht da. Danach sieht es nicht aus. +Fest steht: Innerhalb von 90 Tagen müssen Neuwahlen erfolgen. Alles andere ist ungewiss. In der offiziellen Erklärung heißt es, Bouteflika werde wichtige Maßnahmen treffen müssen, um sicherzustellen, dass Algeriens staatliche Institutionen in einer "Übergangsphase" weiter funktionieren. Was genau das heißt, von welchen wichtigen Maßnahmen er spricht und wie genau diese Übergangsphase aussehen soll, wird nicht genannt, auch nicht der genaue Zeitpunkt von Bouteflikas Rücktritt. +Trotz der Proteste der letzten Monate kam die Nachricht doch überraschend – erst am Abend zuvor war im Namen Bouteflikas eine neue Regierung präsentiert worden. Armeechef Ahmed Gaid Salah bleibt weiterhin stellvertretender Verteidigungsminister, obwohl er seit letzter Woche öffentlich fordert, den Präsidenten aus gesundheitlichen Gründen für amtsunfähig zu erklären. Das zeigt vor allem, welche Macht die Militärs in Algerien besitzen. +Laut der algerischen Verfassung übernimmt beim Rücktritt des Präsidenten der Vorsitzende des Nationalrates, der 77-jährige Abdelkader Bensalah, die Amtsgeschäfte als Interims-Staatschef. Er muss innerhalb von drei Monaten Präsidentschaftswahlen ansetzen. Bis zu seinem Rücktritt und spätestens bis Ende April ist Bouteflika aber noch im Amt. Algeriens Zukunft ist ungewiss, schon seit Wochen. Mit dem Rücktritt Bouteflikas endet aber definitiv eine Ära. +In der Hauptstadt Algier ertönten nach der Ankündigung Autohupen. Wieder strömten die Menschen auf die Straße, schwenkten Fahnen ihres Landes – diesmal nicht, um zu protestieren, sondern um zu feiern. Zumindest für einen Moment: Den Demonstranten ist der Rücktritt Bouteflikas nämlich noch lange nicht genug. Sie wollen den ganz großen Umbruch – ein Ende der Machtelite. + +Titelbild: Zohra Bensemra/REUTERS diff --git a/fluter/was-bedeutet-das-ergebnis-der-europawahlen.txt b/fluter/was-bedeutet-das-ergebnis-der-europawahlen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..afdde929e31b3cf71a687c3b27dd3fffa7eb059a --- /dev/null +++ b/fluter/was-bedeutet-das-ergebnis-der-europawahlen.txt @@ -0,0 +1,33 @@ +Und im Parlament gibt es nach dieser Wahl erstmals "MEP Guides", 85 speziell ausgebildete Mitarbeiter, die Abgeordnete betreuen, ihnen das Gebäude zeigen, Abläufe erklären und Treffen anbieten, um Fragen zu klären. +Während die neuen Abgeordneten sich also schon mal im Gebäude verlaufen und über Inhalte und Ausschussarbeit sprechen, haben einige Wähler noch Fragen, was die Ergebnisse der Europawahl eigentlich bedeuten und was jetzt vom Parlament zu erwarten ist. Fünf davon wollen wir heute beantworten – statt eines "MEP Guide" also ein kleiner "EP Guide". + + + +Knapp 51 Prozentder Wahlberechtigten in der EU haben ihre Stimme abgegeben, das sind 8,4 Prozentpunkte mehr als 2014. In Deutschland waren es 61,4 Prozent und 13,3 Prozentpunkte Zuwachs. Damit ist auch die Legitimation des Europäischen Parlaments gestiegen. +Das könnte damit zu tun haben, dass im Vorfeld viele Wahlkämpfer und Medien von einer"Schicksalswahl"gesprochen haben. Es hieß, nach dem Brexit-Referendum und dem Erstarken der Nationalisten in vielen Mitgliedstaaten werde 2019 über die Zukunft der EU abgestimmt: Die gestiegene Wahlbeteiligung wird von manchen als "Ja" zu einem vereinten Europa interpretiert. Gleichzeitig haben EU-kritische Parteien viele Wähler mobilisiert – aber auch in ihren Reihen wollen die meisten die EU nicht abschaffen, sondern "nur" umbauen (siehe Frage 5). +Ein weiterer Grund war wohl eines der größten Wahlkampfthemen: die Klimapolitik. In einer Umfrage des Instituts Infratest Dimapgaben 48 Prozent der Befragten an, dass der Klima- und Umweltschutz das wichtigste Thema für die Wahlentscheidung war. Die Klimakrise macht nicht an der Grenze halt, sondern braucht in ihren Augen europäische Lösungen – und die kann nur mitbestimmen, wer wählen geht. Auch die soziale Sicherheit (43 Prozent), Friedenssicherung (35 Prozent) und Zuwanderung (25 Prozent) spielten für manche Wählerinnen und Wähler die größte Rolle bei ihrer Entscheidung. + + + +Die junge Generation hat sich politisiert, im Zuge derUrheberrechtsreformund derKlimastreiksauch auf europäischer Ebene. Europaweite Zahlen zur Wahlbeteiligung nach Altersgruppen gibt es noch nicht, aber wahrscheinlich werden sie auch bei den Jungen höher ausfallen als 2014 (damals haben nur 28 Prozent der 18- bis 24-Jährigen abgestimmt). Und wenn sie das Parlament stärker mitgeformt haben und ihre Stimmen weiterhin auf der Straße und im Netz hörbar machen, werden ihre Anliegen in den kommenden Jahren womöglich besser vertreten. "Da ist was in Bewegung geraten", sagt Moritz Körner, der nun einer der jüngsten Abgeordneten im Europaparlament ist. "Die alten Volksparteien müssen sich überlegen, wie sie die jungen Leute wieder erreichen können." +In Deutschland hat die Politisierung der Jungen vor allem den Grünen geholfen: 36 Prozent der Erstwähler*innen, 34 Prozent der 18- bis 24-Jährigen und 25 Prozent der 25- bis 34-Jährigen haben sie gewählt. Aber junge Europäer*innen wählen nicht automatisch grün und proeuropäisch. Zum Beispiel haben auch die rechtsextremeVlaams Belangin Belgien und die rechtspopulistischeVox in Spanien viele junge Anhänger. + + + + + + +Die Grüne/EFA-Fraktion im Europaparlament hat 19 Sitze dazugewonnen, ist aber insgesamt nur viertstärkste Fraktion. Die "grüne Welle" hat nicht ganz Europa erfasst, sondern vor allem den Norden und den Westen, neben Deutschland etwa Frankreich, Finnland und Irland. Milan Nič, Osteuropa-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, verweist darauf, dass es in den östlichen EU-Staaten keine umweltpolitische Tradition gibt. "Dieser Trend ist in Deutschland über 30, 40 Jahre gewachsen. Als die Grünen gegründet wurden, herrschte in den osteuropäischen Staaten noch der Kommunismus", sagt er. Trotzdem zögen auch aus diesen Staaten verschiedene Partner für den Klimaschutz ins Europäische Parlament ein. Denn vor und nach der Wahl haben sich nicht nur die Grünen, sondern fast alle Fraktionen des Parlaments, von links über die Mitte bis konservativ, für den Klimaschutz ausgesprochen. Ob am Ende allerdings gemeinsame Mehrheiten gefunden werden, ist fraglich: Die konkreten Lösungsansätze für die Klimakrise sind in den Fraktionen unterschiedlich. + + + +Die christdemokratische Europäische Volkspartei und die Sozialdemokraten haben zwar viele Mandate und die gemeinsame absolute Mehrheit verloren. Aber im Europäischen Parlament wurde schon immer viel diskutiert,weil es dort – anders als man es aus dem Bundestag kennt – keine Regierungsdisziplin gibt. Die Mehrheiten wechseln je nach Thema. Dem in den vergangenen Tagen so gerne benutzten Begriff der "Fragmentierung", also Zerstückelung, hat der niederländische EU-Experte Luuk van Middelaar einen bedenkenswerten Tweet gewidmet: "Können wir aufhören zu sagen, dass das neue Europaparlament ‚fragmentiert' ist? Als ob es eine Krankheit wäre. Wieso sagen wir nicht, dass es ‚repräsentativer', ‚pluralistisch' und ‚modern' ist?" + +Mit zur "Fragmentierung" beigetragen hat allerdings auch das gute Ergebnis für einige rechtspopulistische Parteien – und die könnten tatsächlich dafür sorgen, dass es mehr Streit im Parlament gibt. + + + +Die EU-Gegner haben zwar nicht so stark hinzugewonnen, wie erwartet (die hohe Wahlbeteiligung hat den Rechtsruck abgeschwächt), trotzdem gehören sie zu den Siegern dieser Wahl: Die EU-skeptische EFDD- und die rechtspopulistische ENF-Fraktion haben gemeinsam 34 Mandate hinzugewonnen. Matteo Salvini, Parteichef der italienischen Lega, will im EU-Parlament eine neue rechte Allianz gründen, unter anderem mit der AfD, der österreichischen FPÖ und dem französischen Rassemblement National. Viktor Orbán hat mittlerweile ausgeschlossen,dass der ungarische Fidesz sich anschließen wird. +"Ich erwarte nicht, dass die Rechtspopulisten eine kohärente Fraktion bilden", sagt dazu Almut Möller vomEuropean Council on Foreign Relations. Sie glaubt, dass die Haltungen der Parteien zu großen europapolitischen Fragen dafür zu verschieden sind. Zwar haben die meisten europäischen Rechten die Strategie gewechselt und wollen nicht mehr nur blockieren, sondern inhaltlich gestalten. Aber beim Thema Migration etwa will Salvini eine europäische Lösung erreichen, damit Geflüchtete auf die Mitgliedsstaaten verteilt werden. Ungarn und Polen lehnen das ab. "Ich denke, dass sich die Parteien eher aus taktischen Gründen immer wieder spontan zusammenfinden werden", sagt Möller. So könnten sie die Fraktionen der Mitte zu Kooperationen drängen und sie nach außen als "große Große Koalition" darstellen. "Die Rechtspopulisten können sich dann noch stärker als Alternative zu diesen ,etablierten Systemparteien' inszenieren und weitere Wähler mobilisieren." +Ein Sonderfall in den Reihen der Rechten ist die neue Brexit Party von Nigel Farage. Während die Lega, der RN oder die AfD die EU von innen heraus verändern wollen, wolle Farage "sie zerstören", sagt Almut Möller. Die 29 Abgeordneten der Brexit Party würden nach dem Brexit – so er denn vollzogen wird – das Parlament aber wieder verlassen.Der Plan, was mit den Sitzen aller Briten (immerhin 73) passiert, steht schon lange fest: 27 davon sollen auf 14 EU-Länder verteilt werden, die derzeit unterrepräsentiert sind. 46 sollen vorerst nicht besetzt werden – als Reserve für mögliche Erweiterungen der EU. + diff --git a/fluter/was-bedeutet-ein-no-deal-brexit.txt b/fluter/was-bedeutet-ein-no-deal-brexit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e16368904775352a2e0cc3b311a1e898b18c169a --- /dev/null +++ b/fluter/was-bedeutet-ein-no-deal-brexit.txt @@ -0,0 +1,30 @@ + +Für Briten könnte der Einkauf im Supermarkt teurer werden, importieren sie doch knapp 30 Prozent ihrer Lebensmittel aus der EU. All diese Waren könnten dann mehr kosten, wenn Großbritannien sich entscheidet, Zölle darauf zu erheben. Schon jetzt investiert die Regierung in mehr Hafenpersonal, Lagerkapazitäten und zusätzliche Lebensmittelbestände. Denn wie eingeleaktes Regierungsdokument verrät, geht man in London im Falle eines No Deal von Engpässen bei Medikamenten, Benzin, Nahrungsmitteln und einem Chaos an den Häfen aus. +Die EU-Bürger könnten übrigens ein Fischproblem bekommen: EU-Fischerboote dürften nicht mehr in britischen Gewässern fischen, was ein Vorteil für die britische Fischerei ist. Die verkauft einen Großteil ihres Fangs an EU-Länder, müsste dafür aber in Zukunft Zölle zahlen. Allerdings ist sie davon abhängig, dass der Transport in den Häfen zügig vonstattengeht – über Grenzen hinweg. + +Im Fall des No-Deal-Brexits entsteht eine EU-Außengrenze zwischen Irland, einem Mitglied der EU, und Nordirland, das mit dem Vereinigten Königreich austreten würde. Das heißt erst mal: generelle Grenzkontrollen für Personen und Waren. Umstritten wäre die Grenze vor allem politisch, weil sie den 1998 mühsam errungenen Frieden zwischen den beiden irischen Staaten gefährden könnte. + +No-Deal-Brexit bedeutet: ein Austritt Großbritanniens aus der EU, ohne dass vorher eine Einigung mit der EU erzielt wird, wie es mit Politikbereichen weitergeht, die bisher durch EU-Recht geregelt werden. Erst einmal fällt der Handel Großbritanniens dann unter die Regulierungen der Welthandelsorganisation: Die untersagen die Bevorzugung einzelner Handelspartner, zum Beispiel durch niedrige Zölle, und verlangen ein auf Gegenseitigkeit beruhendes Handelsschema. Langfristig führt das No-Deal-Szenario vermutlich zu sehr vielen Deals, wenn alle Unterbereiche im Austausch mit der EU und die britischen Handelsbeziehungen mit außereuropäischen Staaten einzeln ausgehandelt werden müssen. +Die noch von der EU und May geplante Backstop-Regelung würde die Grenze vorübergehend offen lassen, was allerdings bedeutet, dass Großbritannien übergangsweise in der Zollunion und im EU-Binnenmarkt bleibt  – und darauf möchte sich der britische Premierminister Johnson nicht einlassen. Brexiteers wie er befürchten, dass Großbritannien dadurch auf lange Zeit an die EU-Regeln gebunden bleibt. In diesem Zeitraum könnte das Vereinigte Königreich keine eigenen Handelsabkommen abschließen. + +Großbritanniens Forschung profitiert deutlich von den EU-Fördergeldern. Zwischen 2013 und 2017 gingen insgesamt 8,8 Milliarden Euro aus Brüssel an britische Universitäten, mehr als an die allermeisten anderen EU-Länder. Das kommt nicht von ungefähr: Britische Forschung gilt in vielen Bereichen als exzellent. Johnson meint, dank vereinfachter Visaregeln und mit neuen Förderprogrammen "die klügsten und besten Forscher" im Land halten zu können. Trotzdem verlassen bereits europäische und internationale Wissenschaftler*innen die Universitäten und bewerben sich im Ausland. + + + +Die Strategie des Premierministers für einen No-Deal-Brexit scheint darauf ausgelegt, die Staatsausgaben drastisch zu erhöhen. Laut BBC hat er 6,3 Milliarden Pfund (6,9 Milliarden Euro) für die Vorbereitung – etwa um Häfen auszubauen oder Medikamente einzulagern – eingeplant. Das Office for Budget Responsibility führt Aufsicht über die britische Haushaltsdisziplin und hat ausgerechnet, dass im Fall des No-Deal-Brexits womöglich mehr als 30 Milliarden Euro zusätzliche Kredite aufgenommen werden müssen – allein im kommenden Jahr. Johnson dagegen geht von "verschwindend geringen" Kosten aus. +Wie sehr höhere Staatsausgaben den Haushalt belasten würden, ist aktuell nicht absehbar. Auch in Großbritannien ist Geld dank niedriger Zinsen im Moment günstig zu leihen. Außerdem könnten höhere Ausgaben die Wirtschaftskraft ankurbeln, argumentiert Johnson. Aktuelle Zahlen zur britischen Wirtschaft zeigen jedoch, dass Großbritannien bereits auf eine Rezession zusteuert. Beunruhigend klingt die Prognose der Bank of England: Im Falle eines No Deal könnten die Immobilienpreise auf der Insel um 30 Prozent fallen. + +Festlandeuropäer*innen würden den No-Deal-Brexit nicht nur durch teureren Fisch zu spüren bekommen. Drei Beispiele: + +Banken suchen seit dem Brexit-Votum nach neuen Stützpunkten in der EU: Besonders beliebt sind Dublin, Luxemburg, Paris und Frankfurt. Anfangs ging man von 20.000 Angestellten aus, die vom Finanzzentrum London aufs Festland übersiedeln werden. Grund dafür ist, dass britische Banken ihren europäischen Pass, also ihre Zugangsrechte zum europäischen Markt, verlieren werden. Mittlerweile gibt es zwar Hinweise, dass die Zahl geringer ausfallen wird, weil die europäische Finanzaufsicht die Vorschriften gelockert hat. Dennoch werden etwa 2.000 Arbeitsplätze im Finanzsektor von der Themse an den Main wandern. Beruhigen dürfte das den ohnehin schon angespannten Wohnungsmarkt in Frankfurt nicht. + + + +Derzeit leben mehr als drei Millionen Europäer in Großbritannien. Sie dürfen auch im Falle eines No Deal im Land bleiben. Die Personenfreizügigkeit für EU-Bürger würde jedoch mit dem 31. Oktober enden, sagte eine Regierungssprecherin. Wer danach ins Land einreist, hat – anders als bisher – kein automatisches Aufenthaltsrecht. An den Details der Einreisebestimmungen arbeite man momentan. Für die Zeit nach dem Brexit hat Boris Johnson ein Punktesystem für Einwanderer angekündigt. Sie würden nach ihren Fähigkeiten und ihrem Nutzen für Großbritannien bewertet. +Die 1,3 Millionen Briten, die in anderen EU-Ländern leben, stehen vor einer ungewissen Zukunft. Mit jedem einzelnen Staat müsste Großbritannien ein Abkommen vereinbaren, wenn es zu einem ungeregelten EU-Austritt kommt.Auch für viele Europäer*innen, die auf der Insel studieren, ist unklar, wie es weitergeht.Im kommenden Studienjahr können sie in Großbritannien wie bisher studieren. Nur: Was kommt danach? Who knows! Eine Erasmusförderung wird es wohl wieder geben, schließlich nehmen auch jetzt bereits einige Nicht-EU-Staaten an dem Programm teil. Die Studiengebühren für EU-Studierende in Großbritannien könnten drastisch steigen, sollten sie nicht mehr wie britische Studierende behandelt werden. + +Auch an der europäischen Wirtschaft ginge ein harter Brexit nicht spurlos vorbei – in eine Wirtschaftskrise schlitterte sie dadurch aber wohl nicht. Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung hat errechnet, dass Exporte aus der EU nach Großbritannien um 25 Prozent sinken würden. In Deutschland verringerte sich das Bruttoinlandsprodukt um bis zu zehn Milliarden Euro, pro Einwohner um 115 Euro. +Eine Sprecherin der EU-Kommission sagte am Montag, dass man für alle Eventualitäten vorbereitet sei. Zwar würde ein ungeregelter EU-Austritt "erhebliche Störungen sowohl für Bürger als auch für Unternehmen verursachen". Doch träfen diese Großbritannien weit stärker als die übrigen 27 EU-Staaten. + + +Collagen: Bureau Chateau / Jannis Pätzold diff --git a/fluter/was-bedeutet-eu-ratspraesidentschaft.txt b/fluter/was-bedeutet-eu-ratspraesidentschaft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0a52049053166b3a9928b34b4f90cad755bfa45d --- /dev/null +++ b/fluter/was-bedeutet-eu-ratspraesidentschaft.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Während der EU-Ratspräsidentschaft leitet der oder die jeweilige Vertreter*in dieses Landes die Sitzungen: Wenn nun also Bundesumweltministerin Svenja Schulze an der Sitzung des Rats für Umwelt teilnimmt, übernimmt sie auch dessen Leitung. Eine Ausnahme bildet der Rat für Auswärtige Angelegenheiten, der in der Regel von dem oder der Hohe*n Vertreter*in der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, oder kürzer: von dem oder der Außenbeauftragten der EU, geleitet wird. Aktuell ist das der Spanier Josep Borrell. Weitere Aufgaben der Ratspräsidentschaft sind die Leitung und Moderation der Ratssitzungen, an der wiederum verschiedene Arbeitsgruppen und Ausschüsse beteiligt sind, sowie die Vertretung der Mitgliedstaaten gegenüber den anderen EU-Institutionen, vor allem gegenüber Kommission und Parlament +Achtung, noch mal Verwechslungsgefahr: Die EU-Ratspräsidentschaft istnicht dasselbe wie die Präsidentschaft des Europäischen Rats. Der oder die Präsident*in des Europäischen Rats leitet das Gremium der Staats- und Regierungschef*innen und wird von diesem für zweieinhalb Jahre gewählt. Aktueller Amtsinhaber ist der Belgier Charles Michel, der zum Beispiel dafür zuständig ist, Sondergipfel einzuberufen – wie auch den am 17. und 18. Juli, bei dem über den Aufbauplan zur Bewältigung der Covid-19-Krise und einen neuen langfristigen EU-Haushalt diskutiert wurde. +DerRat der Europäischen Unionoder auchEU-Ministerratist das Gremium der Fachminister*innen der 27 EU-Mitgliedstaaten. Die tagen allerdings nicht alle gemeinsam, sondern in zehn verschiedenen Ratsformationen mit bestimmten Schwerpunkten. Es gibt zum Beispiel den "Rat für Umwelt", den "Rat für Bildung, Jugend, Kultur und Sport" oder den "Rat für Wirtschaft und Finanzen". In ihnen wird die Politik der Mitgliedstaaten in dem jeweiligen Bereich abgestimmt. Zu jeder Sitzung entsenden die EU-Länder eine*n Vertreter*in des Fachressorts. Der "Rat für Allgemeine Angelegenheiten", in dem die für europäische Angelegenheiten zuständigen Ministerinnen und Minister aller EU-Mitgliedstaaten zusammenkommen, ist für bereichsübergreifende Themen wie die EU-Erweiterung und Beitrittsverhandlungen zuständig, koordiniert zudem die Arbeit der einzelnen Räte und bereitet die Tagungen des Europäischen Rates vor und nach. Gemeinsam mit dem Europäischen Parlament stimmt der EU-Ministerrat auch über Gesetze ab, die von der Europäischen Kommission vorgeschlagen werden. +DerEuropäische Ratist das Gremium der Staats- und Regierungschef*innen aller EU-Länder, in dem versucht wird, die allgemeine Ausrichtung der Politik der Europäischen Union festzulegen und Kompromisse zwischen den Mitgliedstaaten auszuhandeln. Dafür tritt er mindestens viermal im Jahr zum EU-Gipfel zusammen. Die Ergebnisse dieser Gipfel legen die Leitlinien der EU fest. +DerEuroparatist keine Institution der EU, sondern eine eigenständige, internationale Organisation, die den Dialog über europäische Themen fördert. 47 Staaten sind Mitglied im Europarat, darunter Deutschland, die Türkei, Russland und Aserbaidschan. + +Die Länder beginnen mit der Planung des Präsidentschaftsprogramms lange im Voraus – und Deutschland musste, ähnlich wie Kroatien, wegen des Coronavirus ziemlich spontan umplanen. Die Bewältigung der Covid-19-Pandemie steht nun ganz oben auf der Tagesordnung. +Bereits im Mai hatten Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron einen Wiederaufbaufonds vorgeschlagen, um vor allem den besonders vom Virus betroffenen Ländern zu helfen. Das Konzept der EU-Kommission für diesen Fonds umfasst 750 Milliarden Euro. Noch steht nicht fest, wie genau das Geld verteilt werden soll und wie viel davon als Zuschuss ausgegeben wird, der – anders als ein Kredit – nicht zurückgezahlt werden muss. Hier einen Kompromiss zu finden, dem alle Länder zustimmen, ist das wichtigste Ziel der deutschen Ratspräsidentschaft. +In ihrer Regierungserklärung und einer Rede im Europaparlament am 8. Juli hat die Kanzlerin weitere Prioritäten genannt: denKlimaschutzund den "European Green Deal", die Digitalisierung, Europas Verantwortung in der Welt und die Verbesserung der Beziehungen zu den USA, China und Großbritannien, das am 1. Februar aus der EU ausgeschieden ist, sowie das gemeinsame Vorgehen gegenantidemokratische Strömungen innerhalb der EU. + +Als Merkel am 8. Juli mit einer Rede im Europäischen Parlament das Programm für die Ratspräsidentschaft vorstellte, betonte sie den hohen Wert der Grundrechte und des europäischen Zusammenhalts in der Krise. Nach ihrem Auftritt trug sie, wie es aktuell auch im Plenarsaal Vorschrift ist, eine Mund-Nasen-Maske, auf die das Logo der deutschen Ratspräsidentschaft gedruckt war. Es erinnert an eine etwas krumm geratene Acht und stellt ein Möbiusband dar, eine geometrische Figur, die nur eine einzige Seite hat, obwohl es auf den ersten Blick nicht so aussieht. Das soll die Einigkeit und Verbundenheit der EU-Staaten symbolisieren. Schon seit den Achtzigerjahren gestalten die Staaten ein Logo für ihre jeweilige Ratspräsidentschaft,wobei schon sehr unterschiedliche Grafiken herausgekommen sind. diff --git a/fluter/was-bedeutet-freundschaft-interview.txt b/fluter/was-bedeutet-freundschaft-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d0ba0f266373f52128c8a4859184c8455c2a3347 --- /dev/null +++ b/fluter/was-bedeutet-freundschaft-interview.txt @@ -0,0 +1,41 @@ +Freundschaft wird wichtiger, und zugleich vereinsamen immer mehr Menschen? Wie kann das sein? +Tatsächlich wird Freundschaft als zu selbstverständlich betrachtet. Es wird zu wenig darüber gesprochen, dass es auch voraussetzungsvoll ist, Freundschaften zu führen. Wir können feststellen, dass mit steigendem sozialen Status die Freundeskreisgrößen wachsen. Man braucht also auch die nötigen Ressourcen, um Freundschaften zu pflegen. +Welche Art von Ressourcen? +Erst einmal finanzielle. Zusammen in die Kneipe gehen kostet ja schon Geld, erst recht ein gemeinsamer Ausflug oder Urlaub. Auch leben Freunde heute oft nicht mehr alle in der näheren Umgebung, man muss sich also auch die nötigeMobilitätleisten können. Außerdem braucht man Kommunikationskompetenzen und Konfliktfähigkeit, die man am besten schon früh erlernt. Wir beobachten bei höheren Bildungsschichten, dass die Eltern die Kontakte für ihre Kinder zunächst organisieren und sie unterstützen, wenn es mal Konflikte gibt. Das kommt bei den unteren sozialen Schichten seltener vor. + +#ohnefilter: Alles begann damit, dass der Fotograf Josh Kern seine Freunde beim Skaten fotografierte … + +Stichwort "soziales Kapital": Welche Vorteile bringen einem diese Fähigkeiten später im Leben? +Ich habe in meiner Studie Frauen aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten befragt, welche Bedeutung Freundschaften für sie haben. Besonders deutlich wurde an den Frauen in Leitungspositionen, die eine höhere Bildung haben und einem starken beruflichen Druck ausgesetzt sind, wie wichtig es für sie ist, einen großen und repräsentativen Freundeskreis zu haben. Und auch ein gutes berufliches Netzwerk vorweisen zu können, das vom Freundeskreis oft gar nicht mehr klar zu trennen ist. Eine Teilnehmerin, die im Kultursektor tätig ist, sagte, dass sie auf Veranstaltungen immer zeigen können müsse, dass sie die halbe Stadt und die wichtigen Leute kennt. Freunde sind schon etwas, das man heute haben muss. +Was bedeutet das für eine Freundschaft, wenn es nur noch um Networking geht? +Manche Studienteilnehmerinnen sagten wirklich, dass sie da gewisse Störgefühle haben, weil sie mit Freundschaft ja eigentlich etwas anderes verbinden. Ich denke, dass so eine Nutzenfreundschaft aber auch gut funktionieren kann, wenn man sich zu diesem Zweck trifft und einander sympathisch findet. Wenn beide Seiten damit offen umgehen, dann ist das keine Entwertung, sondern eben eine bestimmte Form von Freundschaft. +Sind die Kontakte in sozialen Netzwerken richtige Freunde? +Die große Befürchtung, dass durch das Aufkommen der sozialen Netzwerke irgendwann reale Freundschaften nicht mehr geführt werden, hat sich nicht bewahrheitet. Wir können eher positiv feststellen, dass mit Social Media ein zusätzlicher Rahmen entstanden ist, um Freundschaften zu pflegen. Meine Untersuchungen zeigen, dass die sozia­len Medien hauptsächlich dazu genutzt werden, bestehende Kontakte zu pflegen, und weniger, um neue aufzubauen. Wichtig ist nur, sich bewusst zu machen, dass das keine reale, sondern eine virtuelle Verbundenheit ist. + +… Jahre später ist daraus ein Tagebuch geworden, das das Leben seiner Clique zeigt – beim Feiern, in der U-Bahn, in der WG-Küche + +Was macht echte Verbundenheit und echte Freundschaft aus? +"Die große Geschichte der Freundschaft" wurde leider auch noch nicht geschrieben. Aber ein bis heute wichtiger Zugang ist immer noch Aristoteles' Unterscheidung von Zweckfreundschaften, die man um der Lust und um des Nutzens willen führt, und Tugendfreundschaften, die man um ihrer selbst willen führt. Dieses klassische Ideal der Verschmelzung mit dem anderen, das mit dem Freundschaftskult der deutschen Romantik im 18. Jahrhundert noch einmal stark wieder aufgelebt ist, prägt gerade den deutschen Freundschaftsbegriff bis heute. Das sind hehre Ansprüche, die an der heutigen Lebensrealität teilweise scheitern müssen. Der angelsächsische Freundschaftsbegriff ist da pragmatischer. Amerikaner etwa bezeichnen einen viel größeren Kreis von Menschen als "friends". +Und wenn man die Sache ganz nüchtern sozialwissenschaftlich betrachtet: Wie würden Sie Freundschaft definieren? +Aus einer soziologischen Perspektive lassen sich Freundschaften als freiwillige, gegenseitige und persönliche Beziehungen beschreiben. Auch Kriterien wie Ganzheitlichkeit, Vertrauen und Intimität werden oft genannt. +Macht der Umstand, dass es sich um eine freiwillige und informelle Beziehung handelt, für die es keine klaren Regeln gibt, Freundschaft eher stark oder eher verletzlich? +Dass Freundschaft nichts Institutionalisiertes wie etwa die Ehe ist, macht es zunächst schwieriger. Aber es gibt durchaus Regeln impliziter Natur. Dass man zum Beispiel, wenn eine Freundin in Not ist, alles stehen und liegen lässt und ihr zu Hilfe kommt. Die Freiwilligkeit und das Informelle machen dabei gerade die Attraktivität dieser Beziehung aus. +Der Soziologe Shmuel Eisenstadt sagte, dass darin auch ein subversives Potenzial steckt. Was ist gemeint? +Eisenstadt beschreibt, dass Freundschaft einen Ort bildet, an dem man über gesellschaftliche Normen hinausgehen und politischen Widerstand entwickeln kann. Freundschaft ist im Gegensatz zur Familie frei gewählt. Da komme ich mit meinesgleichen zusammen und bin eher geneigt, gemeinsam bestimmte Ideen zu verfolgen. Gerade inrepressiven Systemenist es natürlich umso wichtiger, dass Loyalität und Vertrauen als die Urkriterien von Freundschaft erfüllt sind. Aber diesen Geborgenheitsraum, den Freundschaft mit sich bringt, brauchen die Menschen auch in unserer Gesellschaft. Auch hier gibt es Härten, für die Freundschaft eine Kompensationsfunktion hat. Als ein Raum, in dem ich mich sozial sicher und anerkannt fühle, so wie ich bin. + +"Durch das Teilen dieser alten Notizen und Bilder, die sehr persönlich sind, will ich meine Angst vor Ablehnung überwinden", sagt Josh Kern, der in Dortmund Fotografie studiert + +Andererseits waren und sind Freundeskreise oft ein Mittel der Ausgrenzung. Gerade Männerbündeleien haben eine lange Tradition. +Das ist wahr. Die dominierende Stellung der Männer zeigt sich allerdings nicht nur in Bündeleien und Seilschaften, die sich gegenseitig begünstigen und andere, besonders Frauen, raushalten. Die ganze Geschichte der Freundschaft und was wir heute unter Freundschaft verstehen ist stark durch eine Männerperspektive beeinflusst worden. Und auch stark durch Mitglieder gehobener gesellschaftlicher Schichten. Männerfreundschaften, wie die zwischen Goethe und Schiller, sind historisch viel besser dokumentiert als Frauenfreundschaften. Die gab es natürlich auch immer, aber über sie wurde nicht viel geschrieben. Für Frauenfreundschaften gab es keinen offiziellen Raum. Die Frauen mussten sich das erst erkämpfen. +Gar nicht zu reden von Freundschaften zwischen Frauen und Männern, die sogar heute noch als schwierig gelten. Warum ist das so? +Zunächst einmal ist die Vorstellung, Frauenfreundschaften und Männerfreundschaften seien sehr unterschiedlich, immer noch weit verbreitet. Und ohne solche Differenzierung jetzt festschreiben zu wollen: Ja, Studien zeigen durchaus, dass es gewisse Unterschiede gibt. Frauen pflegen öfter sogenannte Face-to-Face-Freundschaften, Männer Side-by-Side-Freundschaften. Das heißt, Männerfreundschaften sind eher aktivitätsbezogen. Sie unternehmen etwas zusammen, und dadurch entsteht Nähe und Intimität. Aber es wird nicht groß gesprochen. Viele Frauen hingegen treffen sich lieber, um zu sprechen, auch über die Freundschaft selbst. +Aber vor allem wird doch immer unterstellt, dass der Sex dazwischenkommen muss. +Diese Vorbehalte gab es lange. Aber unsere Studien zeigen, dass gemischtgeschlechtliche Freundschaften immer öfter vorkommen und dass auch Sex immer weniger als Ausschlusskriterium betrachtet wird. Für Freundschaften, in denen auch sexueller Kontakt sein darf, gibt es mit "Freundschaft plus" inzwischen ja auch einen Begriff. Insgesamt beobachten wir, dass es zu einer Pluralisierung von Lebens- und Freundschaftsformen kommt und dabei auch die Grenze zwischen Liebe und Freundschaft durchlässiger wird. +Durchlässigkeit ist für Sie auch in anderer Hinsicht ein wichtiges Forschungsthema. Wie oft werden denn Freundschaften über Milieugrenzen hinweg geschlossen? +Das ist leiderimmer noch die große Ausnahme. In Wirklichkeit sind Freundeskreise recht homogen, was Milieu, Bildung, Einkommen und sozialen Status betrifft. Gleich und Gleich gesellt sich gern. Dieser Effekt ist leider stärker als die Überzeugung, Unterschiede zögen sich an. +Erika Alleweldt lehrt an der Hochschule für angewandte Pädagogik Berlin. Sie ist Mitherausgeberin einesBuchs zur Soziologie der Freundschaft(Foto: privat) +Wie ließe sich da gegensteuern? +Es gibt ein Konzept, das in den USA modellhaft praktiziert wird: Schulen organisieren, dass zu Kindergeburtstagen grundsätzlich immer alle Kinder aus einer Klasse eingeladen werden. Um so einem sozialen Ausschluss von vornherein entgegenzuwirken. Das hat dann noch den schönen Nebeneffekt, dass auch die Eltern sich bei solchen Gelegenheiten treffen. Aber das ist nur ein Beispiel. Niemand will Freundschaften verordnen. Es ist aber möglich, Bedingungen zu schaffen, in denen Freundschaft besser entstehen kann, sodass sich die Grenzen zwischen sozialen Milieus nicht noch weiter festigen. Überhaupt bin ich überzeugt, dass man durch ganz neue Institutionen alternative Lebenspraxen und damit auch neue Formen von Freundschaft entstehen lassen kann. +Zum Beispiel? +Zum Beispiel in Mehrgenerationenhäusern.Eine Freundschaft zwischen einer 90- und einer 40-Jährigen, die ihr im Alltag helfen kann, gibt es im normalen Leben leider selten. Hier kann sie sich entwickeln, und hier ist es auch vollkommen in Ordnung, dass sie auf so einer Hilfebeziehung beruht. Denn wer im Alter auf seine Freunde hofft, sollte sich klarmachen, dass dauerhafte Unterstützungsaufgaben innerhalb von bestehenden Freundschaften problematisch sind. Weil Freundschaft ja eigentlich vonReziprozität lebt, also davon, dass man das, was man bekommt, auch zurückgeben will. Und das funktioniert ab einem bestimmten Punkt nicht mehr, wenn man hilfsbedürftig ist. + diff --git a/fluter/was-bleibt-uns-uebrig.txt b/fluter/was-bleibt-uns-uebrig.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2936a0ea9d72633827400f9015a522bfdbd16add --- /dev/null +++ b/fluter/was-bleibt-uns-uebrig.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Das Problem ist, dass Wissen in den vergangenen Jahren nicht nur beweglicher, sondern auch flüchtiger geworden ist. Früher ritzten die Menschen Texte in Stein, der Jahrtausende überdauerte. Sie schrieben Bücher auf säurefreiem Papier, die sich Hunderte von Jahren lagern ließen. Heute speichern sie alles auf eine Festplatte, die durchschnittlich in fünf Jahren erledigt ist. "Wir leben im digitalen Dark Age – einem dunklen Zeitalter", prophezeit Danny Hillis deswegen. Später werde man kaum mehr etwas über uns wissen. Es ist paradox: Die digitale Technologie stellt einerseits in der Gegenwart so viele Informationen bereit, wie noch nie zuvor. Andererseits sorgt sie womöglich dafür, dass in zehn Jahren schon wieder vieles verschwunden ist. +Archivare, also diejenigen Menschen, die von Berufs wegen gegen das Vergessen kämpfen, stehen vor einem Problem, das größer ist als die Frage des Speichermediums."Wie isst man einen Elefanten?", so beschreibt Stephan Jockel von der Deutschen Nationalbibliothek das Unterfangen, die Informationsmassen einigermaßen gut zu verdauen. Und hat auch gleich die Antwort: "In vielen kleinen Stücken." Konkret heißt das: Seit 1969 sammelt sein Haus alle möglichen im Land erscheinenden, gedruckten Publikationen, die für ein Abbild der Gesellschaft relevant sein könnten. Seit ein paar Jahren müssten Jockel und seine Kollegen das eigentlich auch mit deutschen Webseiten machen. Eigentlich. "Wir können noch gar keine Webseiten sammeln, weil noch nicht klar ist, in welcher Form das passieren soll", sagt Jockel. Niemand weiß mehr, was wichtig ist und was nicht. +Bei der "Long Now Foundation" sind sie da schon einen Schritt weiter. In ihrem Umfeld gründete Brewster Kahle Mitte der Neunzigerjahre das "Internet-Archive" – eine gemeinnützige digitale Weltbibliothek. Spezielle Algorithmen grasen das World Wide Web permanent ab und speichern, was sie kriegen können, Begriffe wie "wichtig" oder "unwichtig" kennen diese Suchroboter nicht. 150 Milliarden Seiten haben sie momentan auf "archive. org" gesichert, darunter auch historische Schätze wie frühe Webseiten von "Spiegel Online" aus den Neunzigerjahren. Doch das Problem ist auch die Form, in der das kollektive Wissen aufbewahrt wird. Programme aus der Computerfrühzeit laufen heute nicht mehr. Auch Laufwerke für Floppy-Disketten, MiniDiscs und Videodiscs werden immer seltener. Ein bekanntes Beispiel ist die amerikanische Weltraumbehörde NASA. Sie hat massive Schwierigkeiten auf alte Magnetbänder zuzugreifen, weil es zum Teil keine Lesegeräte mehr dafür gibt. Insgesamt sollen über eine Million Datenträger betroffen sein, darunter die Aufzeichnungen, die die Sonde Pioneer 1979 vom Saturn zur Erde funkte. +Die Universität der Bundeswehr und das Computermuseum München errichten zurzeit in einem ehemaligen Hangar die "DatArena", ein riesiges Computer- und Softwarearchiv. Fast alle seit den Fünfzigerjahren gebauten Computermodelle samt Software sollen hier zur Verfügung stehen, falls irgendwo wichtige Daten nicht mehr gelesen werden können oder konvertiert werden müssen. "Das Hardware-Museum ist nur eine Lösung für ein paar Jahrzehnte", sagt der Initiator, Bundeswehrprofessor Frank Borghoff. "Auch Computerchips gehen irgendwann kaputt." +Das trifft leider auch auf CDs und DVDs zu. Die Redakteure der Computerzeitschrift "C't" testeten Rohlinge – die besten hatten lediglich eine Haltbarkeit zwischen drei und fünf Jahren. Im Deutschen Musikarchiv in Berlin, das fast 400.000 Musik-CDs und 30.000 DVDs in dunklen und kühlen Räumen lagert, haben Archivare eine Stichprobe von älteren CDs überprüft – bei vielen hatten sich Teile der Silberschicht aufgelöst, kaum eine war in Ordnung. Wegen der Kurzlebigkeit der neuen Speichermedien verwendet das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe noch heute eine in den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts entwickelte Methode, um Informationen zu sichern. Im Barbarastollen, einem stillgelegten Silberbergwerk im Schwarzwald, wird seit 1975 das nationale Kulturgut in rund 400 Metern Tiefe archiviert. Über dem Gelände herrscht Flugverbot. Der Stollen steht unter besonderem Schutz nach der Haager Konvention. Unter der Erde lagern in luftdichten Edelstahlbehältern 27.000 Kilometer Mikrofilm. Der Vertrag zum Westfälischen Frieden, die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler, die Krönungsurkunde Otto des Großen, der Bauplan des Kölner Doms – haltbar für mindestens 500 Jahre. Würde Deutschland von einem großen Meteoriten zerstört, könnte man mit dem Material aus dem Barbarastollen später vieles über die Kultur und Geschichte zumindest in Ansätzen rekonstruieren. +Doch gehören zur Kultur eines Landes mittlerweile nicht auch Software, Internetseiten, digitale Filme und digitale Musik? "Es ist nicht möglich, digitale Materialien mit vertretbarem Aufwand dauerhaft zu bewahren, weil Sie die ständig mit Pflege der Hard- und Software, mit Umkopieren und Emulation, mit einem gewaltigen wirtschaftlichen Aufwand am Leben erhalten müssen. Und das ist für den Barbarastollen schlicht nicht durchführbar. Für die Ewigkeit muss ich einen Schritt zurück machen und das Elektronische wieder verlassen", sagt Oberarchivrat Martin Luchterhandt, der für das Land Berlin bestimmt, was im Barbarastollen eingelagert wird und was nicht. Der Markt belohnt nach wie vor vor allem die kurzfristigen Ideen. USB-Speicher werden größer und billiger –länger als ein paar Jahre halten sie aber nicht. Die Firma Cranberry vermarktet ein Produkt namens "DiamonDisc" – eine angeblich 1.000 Jahre haltbare DVD. Doch woraus der Rohling wirklich besteht, ist unklar, mal ist von einem "steinartigen" und mal von einem "diamantartigen" Material die Rede. Bei der "Long Now Foundation" schwören sie auf ein Speichermedium namens Rosetta, eine jeweils mehrere Tausend Jahre haltbare Nickelplatte, auf die jeweils 14.000 Textseiten eingraviert werden können, die mit einemElektronenmikroskop zu lesen sein sollen. Doch digital ist das leider nicht. An der Universität Basel wurde jüngst ein Verfahren entwickelt, das alte und neue Technologie zusammenbringt. Einsen und Nullen werden in einen sehr feinen, zweidimensionalen Barcode aus hellen und dunklen Punkten verwandelt und dann auf Mikrofilm übertragen. Das Blöde ist nur: Wer diesen Film in 500 Jahren zum Leben erwecken will, braucht natürlich auch wieder ein Computerprogramm. +Okay, wir haben es nicht getestet. Aber wir vermuten, dass eine gedruckte Ausgabe dieses Magazins etwa 75 Jahre haltbar ist. Natürlich gibt es im Netz auch eine PDF-Version. Wie lange du die aufbewahren kannst, wissen wir nicht. Es hängt eben davon ab, wie viele Sicherheitskopien du von deiner Festplatte machen willst. diff --git a/fluter/was-bringt-der-digitalpakt-fuer-schueler.txt b/fluter/was-bringt-der-digitalpakt-fuer-schueler.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..faeb1e8c19c73ef2aa8be195db65343213169cf0 --- /dev/null +++ b/fluter/was-bringt-der-digitalpakt-fuer-schueler.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Pro Schule wären das rechnerisch gut 125.000 Euro. Sie sollen damit vor allem Hardware anschaffen: Tablets, Computer, Whiteboards, WLAN. Aber reicht das? +Es klingt nach viel Geld. Doch die Geräte altern schnell und stehen schon bald wie der alte Windows-XP-Rechner oder der OH-Projektor in der Ecke. Es ist gut, dass auch wir Schüler bald WLAN haben werden. Das Problem am Digitalpakt ist aber, dass es kein Geld gibt, um die Geräte zu warten oder einen Systemadministrator unbefristet einzustellen. Außerdem brauchen wir mehr Lehrerinnen und Lehrer, die sich mit der Technik auskennen und damit richtig guten Unterricht machen. +Mitja Eschweiler, 17 Jahre, geht in Berlin zur Schule. Gerade macht er ein Praktikum in der fluter.de-Redaktion +Damals im ITG-Unterricht haben eher wir den Lehrer unterrichtet als der Lehrer uns. Das einzige, woran ich mich erinnern kann: wie wir den Sensor der Maus mit Tesafilm überklebt haben, während unser Lehrer uns vorgeführt hat, wie man ein Word-Dokument öffnet. +Ein funktionierendes Whiteboard, Beamer im Klassenraum und neue Lern-Apps – das ist bestimmt hilfreich für den Schulalltag. Ich kann mir aber nicht vorstellen, wie die Technik den Unterricht revolutionieren soll. Die Lehrer werden uns leichter ein Lernvideo vorführen können oder auffordern, etwas auf eigene Faust zu recherchieren. Am Ende geht es aber um sie: die Lehrer. Sie müssen gut ausgebildet sein, um die teure Technik richtig einzusetzen. Ich finde den Unterricht gut, in dem ich wirklich das Gefühl habe, etwas zu lernen. Das klingt strebermäßig, aber es ist doch so: Egal, ob ich auf einem Tablet rumdrücke oder mir mit dem alten Bleistift Notizen mache – der Unterricht muss einfach gut gemacht sein. Die Technik kann helfen, muss aber nicht. + + +Warum gab es um den Digitalpakt so viel Diskussion? +Fünf Milliarden Euro vom Bund für Deutschlands Schulen – das geht nicht so einfach, wie es klingt. Für Konflikt sorgte der Grundsatz, dass Bildungspolitik in Deutschland Ländersache ist. Der Bund darf sich nicht direkt in Schule und Hochschule einmischen. Im Bundesrat hatten daher einige Bundesländer bedenken. Für eine solche Kooperation von Bund und Ländern muss das Grundgesetz geändert werden. Ein erster Entwurf sah außerdem vor, dass die Länder die Investitionen zur Hälfte mitfinanzieren müssen. Finanzschwache Bundesländer hatten Bedenken. Doch der Vermittlungsausschuss von Bundesrat und Bundestag einigte sich diese Woche auf einen neuen Text, der diese Klausel nicht mehr enthält. Dem hat das Parlament am Mittwoch mit der nötigen Zwei-Drittel-Mehrheit zugestimmt, 574 Ja-Stimmen zu 74 Nein-Stimmen. Am 15. März ist nun der Bundesrat dran, über den Digitalpakt zu entscheiden. Für eine Grundgesetzänderung ist auch hier eine Zweidrittelmehrheit notwendig. Eine Zustimmung gilt nach dem neuen Kompromiss als sehr wahrscheinlich. +Du willst es genauer wissen? Auf bpb.de geht es weiter: +Nina Roßmann: "In Tablet-Klassen kann der Unterricht offener, forschender und projektbezogener gestaltet werden" +Sandra Aßmann: Medienbildungspolitische Positionen, Forderungen und Strategien +Debatten und Positionen zu freien digitalen Bildungsmaterialien +Birgit Frost: Lehrende der Zukunft – Digitale Bildung zwischen Mensch und Maschine +Theresa Samuelis : Digitale Bildung als Geschäftsmodell – eine Einführung diff --git a/fluter/was-bringt-der-mietendeckel.txt b/fluter/was-bringt-der-mietendeckel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..39f2ccdea60cdbb002116d5dc73308d06584b375 --- /dev/null +++ b/fluter/was-bringt-der-mietendeckel.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Erstaunlich ist diese Entwicklung vor allem deshalb, weil San Francisco seit vielen Jahren ein strenges Mietkontrollgesetz hat – auch wenn der Mietendeckel, den der rot-rot-grüne Senat in Berlin kürzlich beschlossen hat, noch rigoroser ist, weil er sogar die Höhe der Mieten vorschreibt. Die Mietpreisbremse in San Francisco deckelt lediglich die Steigerungsraten und verschärft den Kündigungsschutz. Sie existiert hier seit Mitte der 1990er-Jahre. +der US-Amerikaner/-innen leben in ihrem Wohneigentum, Tendenz abnehmend. In Deutschland beträgt die Wohneigentumsquote bei 52%, Tendenz steigend. +Diskutiert wird über solche Eingriffe in den freien Markt freilich schon viel länger. Der liberale Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman kam bereits 1946 in seinem Text mit dem Titel "Roofs or Ceilings? The Current Housing Problem" zu dem Schluss: "Mietenkontrolle ist ein Gesetz, das Leuten helfen soll, die eine Wohnung haben. Und das tut es auch für Leute, die jetzt gerade in einer Wohnung wohnen. Aber der Effekt von Mietenkontrolle ist, dass sie Knappheit produziert und es schwer macht für andere Leute, eine Wohnung zu finden. +Eingeführt wurde die Mietpreisbremse in San Francisco 1995 – als die Stadt erstmals die Auswirkungen desTechnologiebooms im Silicon Valleyund die dadurch rasant steigenden Mieten zu spüren bekam. Sie schützt vor allem solche Menschen, die in Wohnungen leben, die 1979 und früher errichtet wurden (was für etwa 72 Prozent des Mietwohnraums der Stadt, das sind etwa 172.000 Wohnungen, zutrifft). Für Wohnungen, die nach 1995 errichtet wurden, gilt die Regelung nicht. Außerdem wirkt sie nicht bei Neuvermietungen. Vermietet ein Eigentümer eine Wohnung nach dem Auszug eines Mieters neu, kann er eine Miete ansetzen, die er für marktgerecht hält. Danach darf er die Miete einmal im Jahr im Rahmen eines jährlich neu festgesetzten Preisindexes erhöhen, der sich an der Inflationsrate orientiert. Zugleich sieht das Gesetz einen ausgeprägten Kündigungsschutz für die Mieter vor. + +Als Jana Sophia Nolle nach San Francisco kam, war sie geschockt von den vielen Obdachlosen, aber gleichzeitig fasziniert vom kreativen Überlebenswillen. So kam sie auf die Idee, die Hütten und Verschläge der ganz Armen in den Wohnungen reicher Leute aufzubauen + +Einem Mieter kann nun nur wegen sogenannter "berechtigter Gründe" gekündigt werden, unter anderem wenn der Besitzer Eigenbedarf nachweisen kann. In dem Fall steht den Mietern eine Entschädigung zu. +Im Frühjahr 2019 veröffentlichten die Ökonomen Rebecca Diamond, Tim McQuade und Franklin Qian von der Universität Stanford eine Studie, in der sie die langfristigen Auswirkungen des Mietkontrollgesetzes in San Francisco untersuchten. Ihr Fazit war zweischneidig: Einerseits habe der Mietendeckel dieGentrifizierungin der Stadt sogar beschleunigt, andererseits habe er gerade viele einkommensschwache Mieter davor bewahrt, ihre Wohnung verlassen zu müssen. Die Mietpreisbindung habe sich vor allem fürGeringverdienerin durchschnittlich attraktiven Wohnlagen vorteilhaft ausgewirkt. Die Mieter mit diesen günstigen und stabilen Mieten wohnten länger an einer Adresse, als dies in Gegenden ohne Mietpreisbindung der Fall sei. +Doch in attraktiveren Gegenden machte sich ein gegenteiliger Effektbemerkbar: Gerade in den teuersten Wohngegenden, so fanden die Wissenschaftler heraus, sei die Mieterfluktuation sogar bei angezogener Mietpreisbremse höher als ohne. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass die Mietpreisbremse Eigentümer dazu treibe, die Regelung zu unterlaufen – indem sie Wohnungen dem Mietmarkt entzögen und etwa in Eigentumswohnungen umwandelten und verkauften – oder aber gleich alte Gebäude abrissen und neue errichten ließen, die dann nach dem Gesetz keiner Preiskontrolle mehr unterlägen. Rund 15 Prozent der verfügbaren Mietwohnungen seien dem Markt so seit 1995 entzogen worden, und das treibt die Preise nach oben. Die Mieten stiegen seither durchschnittlich um sieben Prozent im Jahr. Die Mietpreisbindung machen die Autoren der Studie also verantwortlich für die Zunahme an Eigentumswohnungen und das Wachstum im Bereich des Neubaus von Luxusimmobilien, die nicht unter die Mietpreisbindung fallen. +Die Mietregulierung in San Francisco hat für einige sozial eher schwache Gruppen, die bereits eine Wohnung hatten, durchaus bezahlbare Mieten gesichert, doch die Zahl derjenigen, die durch diese Regelung langfristig Nachteile haben, überwiege, so die Autoren der Studie. Der Plan, die Mietendeckelung auf ganz Kalifornien auszudehnen, war im Herbst 2018 bei einer Volksabstimmung gescheitert. Gut 59 Prozent der Kalifornier waren nicht überzeugt davon, dass eine stärkere Regulierung zu einer Linderung der "Housing Crisis" führen könne. +Die San Francisco Tenants Union (SFTU), eine Art Mieterschutzbund, in deren Logo eine geballte linke Faust einen Haustürschlüssel in die Luft reckt, verteidigt die Mietenkontrolle dennoch und hält deren Gegner –Bauunternehmer, Immobilienfirmen, kommerzielle Vermieter – für "ideologisch motiviert". Langzeitstudien zeigten, dass die Mieten schon seit den 1950er-Jahren um jährlich knapp sieben Prozent gestiegen seien, daran habe der Mietendeckel wenig geändert. Doch zumindest der Schutz der Bestandsmieter habe sich drastisch verbessert. Der Interessenverband hält die Kontrolle der Mieten nach wie vor für ein wesentliches Mittel, um die Vertreibung vonArbeitern, Senioren, Migranten und People of Color vom Wohnungsmarktzu stoppen. +Einig sind sich viele Studien zumindest in einem Punkt: Mit Regulierung allein wird kein Quadratmeter bezahlbarer Wohnraum geschaffen. Der Schlüssel zur Linderung der Wohnungsnot, heißt es im (auch schon sechs Jahre alten) Thesenpapier der Non-Profit-Organisation SPUR, sei der Nachschub an neuem Wohnraum: "Wir sind in die Wohnungsnot geraten, weil San Francisco nicht genug Wohnungen hat, um die Nachfrage zu stillen." Die einzige Lösung, die möglichst vielen Leuten zugutekommen würde, müsse daher dafür sorgen, dass mehr bezahlbarer Wohnraum gebaut werde. Das zumindest ist auch auf andere Städte übertragbar. + +Fotos: Jana Sophia Nolle diff --git a/fluter/was-bringt-die-zeitumstellung.txt b/fluter/was-bringt-die-zeitumstellung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ab51dbc6b278b2e4c432088fa066db075946599e --- /dev/null +++ b/fluter/was-bringt-die-zeitumstellung.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Längere Sommertage sind gut gegen Depressionen, argumentieren Befürworter, zumindest aber eine angenehme Abwechslung. Weil die Wachphase der meisten Menschen in die helle Phase des Tages verschoben wird, bekommen sie automatisch mehr natürliches Licht ab. Ist es nach Feierabend noch hell und lau, steigt auch die Motivation, aktiv zu sein oder Sport zu treiben. +Das Argument, durch die saisonale Zeitumstellung würdeEnergie gespart, hält sich hartnäckig. Sowohl das deutsche Umweltbundesamt als auch der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft kommen aber zu dem Schluss, dass es keinen nennenswerten Effekt gibt. Zwar wird durch die verminderte Beleuchtung tatsächlich etwasStrom gespart– der "Mehrverbrauch an Heizenergie durch Vorverlegung der Hauptheizzeit" kompensiert das Ganze aber wieder, teilte die Bundesregierung mit. +Zum ersten Mal wurde die Uhrzeit am 30. April 1916 im Deutschen Reich und in Österreich-Ungarn umgestellt. Die Rüstungsindustrie verschlang große Mengen an Brennstoff, außerdem verhinderte die Seeblockade der britischen Royal Navy den Import von Petroleum (zum Befüllen von Lampen) und Paraffin (zum Ziehen von Kerzen). Auf Vorschlag Henry von Böttingers, Mitglied des Preußischen Herrenhauses, beschloss die Reichskanzlei schließlich, das Tageslicht in den Sommermonaten bestmöglich zu nutzen: Der Arbeitsalltag sollte bei natürlichem Licht beginnen und bei natürlichem Licht enden. Bald führten auch gegnerische Kriegsparteien die Sommerzeit ein. Nach Kriegsende schaffte man sie wieder ab – und führte sie im Zweiten Weltkrieg wieder ein. Die USA stellten während des Zweiten Weltkrieges die Uhren sogar ganzjährig vor und nannten die Praxis "War Time". In Deutschland galt in der Nachkriegszeit, genauer im Jahr 1947, gar eine "Hochsommerzeit": Für mehrere Wochen wurden die Uhren eine weitere Stunde vorgestellt. + + +1950 wurde die Sommerzeit in Deutschland abgeschafft und erst 30 Jahre später, als Reaktion auf die Ölkrise der 70er-Jahre, wieder eingeführt. Seit 1996 ist die Sommerzeit in allen Ländern der Europäischen Union einheitlich geregelt, um den Binnenmarkt zu harmonisieren. Davon abgesehen, dass eine EU-Richtlinie es untersagt: Die Sommerzeit im Alleingang wieder abzuschaffen würde handels- und reisetechnisch im Chaos enden. + +ByTimeZonesBoy-Own work,CC BY-SA 3.0,Link +Blau und orange markierte Länder stellen die Uhr zweimal im Jahr um, hellgraue haben die Sommerzeit abgeschafft, in dunkelgrauen wurde sie gar nicht erst eingeführt. + +Die saisonale Zeitumstellung ist vor allem in Europa und Nordamerika verbreitet, weltweit ist sie aber auf dem Rückzug. Russland etwa kehrte 2014 zur ganzjährigen Normalzeit zurück. Zuvor hatteWladimir PutinsVorgänger Dmitri Medwedew drei Jahre lang die ganzjährige Sommerzeit ausprobiert; das Experiment fand wenig Anklang, weil es dadurch im Winter morgens länger dunkel blieb. +Die Türkei wiederum erklärte 2016 die Sommerzeit zu ihrer Standardzeit. Und in Israel läuft es noch mal anders: Nach dem Zweiten Weltkrieg führten die Briten, unter deren Mandat Palästina damals stand, in der Region die Sommerzeit ein. Seit der israelischen Staatsgründung 1948 protestieren religiöse Vertreter dagegen – unter anderem, weil sich jüdische und muslimische Gebets- und Fastenzeiten nach dem Sonnenstand richten. 2005 einigten sich die säkularen und religiösen Parteien in der Knesset, die Sommerzeit immer vor dem Feiertag Jom Kippur zu beenden, damit das Warten auf das abendliche Fastenbrechen nicht zu lange dauert. Das Problem: Manchmal fällt der Feiertag auf Mitte September, manchmal auf Mitte Oktober. 2013 entschied man schließlich, die Uhren einfach immer am letzten Sonntag im Oktober umzustellen – so wie es mittlerweile auch alle EU-Mitgliedsstaaten machen. +Die Palästinensische Autonomiebehörde wiederum unterbrach 2011 die Sommerzeit kurzerhand für die Zeit des Ramadan. Und in der Geburtskirche in Bethlehem und in der Grabeskirche inJerusalemgilt die Sommerzeit überhaupt nicht – auf den Parkplätzen davor dann aber schon. + + diff --git a/fluter/was-bringt-recycling.txt b/fluter/was-bringt-recycling.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8ffab13e4faafc31e3c848b8c22a83fb7def24e3 --- /dev/null +++ b/fluter/was-bringt-recycling.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Die Spurensuche beginnt in Sachsen bei einem Recyclingunternehmer. Hier landet ein Teil unseres Mülls aus der Gelben Tonne, in Ballen gepresst, auf­ gereiht in einer riesigen Lagerhalle. Dieses Unternehmen stellt aus unseren alten Joghurtbechern und Käseverpa­ ckungen Gerüste für Spielplätze oder Parkbänke her. Dazu wird der Plastik­müll sortiert, gereinigt, klein geschnit­ten und eingeschmolzen. "Das Problem ist, dass wir nicht unendlich viele Park­bänke in der Republik aufstellen können", sagt der Chef des Unternehmens, der anonym bleiben möchte. +Solche Anwendungen finden sich für etwa die Hälfte unseres Plastikmülls, den Industrie und Behörden dann als "stofflich verwertet" oder auch als "re­cycelt" bezeichnen. Aus dem Joghurt­becher wird kein neuer Joghurtbecher, aber immerhin eine neue Parkbank. Was aber passiert mit der anderen Hälf­te aus der Gelben Tonne? +Auf die wartet kurz gesagt: das Feuer – oder, wie es offiziell heißt: die "thermische Verwertung". Weil Plastik gut brennt – und Entsorgungsbetriebe Geld dafür bezahlen, dass Abfall als Ersatzbrennstoff eingesetzt wird –, nut­zen es zum Beispiel Zement­ oder Industriekraftwerke anstelle von Kohle oder Öl. Das ist günstig für sie. Auch einige Städte betreiben Müllheizkraft­ werke, in denen aus Plastikmüll Fern­wärme wird. Doch Umweltschützer beklagen, dass trotz moderner Filter­ anlagen Schadstoffe bei der Verbrennung in die Umwelt gelangen und die hoch­ giftigen Schlacken, die übrig bleiben, später unterirdisch gelagert werden. Außerdem entstehen mit der Verbren­nung große Mengen Kohlendioxid, das den Klimawandel maßgeblich voran­ treibt. Trotzdem gilt auch dieses Ver­feuern der Abfälle als Recycling. +Hinter der sauberen und gewissenhaften Mülltrennung steckt also nicht unbe­dingt eine Kreislaufwirtschaft, sondern eher ein lineares Abfallsystem. Aber warum wird denn nun aus dem Joghurt­ becher kein neuer Joghurtbecher? Tat­sächlich wird allenfalls aus einer Shampooflasche eine neue Shampooflasche oder aus einer Waschmittelbox eine neue, weil dieses Hartplastik wirklich gut recycelt werden kann. Schätzungsweise weniger als zehn Prozent unseres Verpackungsmülls laufen so im Kreis. +Die meisten anderen Verpackungen lassen sich gar nicht mehr stofflich ver­werten, weil sie kaum oder gar nicht recyclingfähig sind. "Immer mehr Ver­packungen, die auf den Markt kommen, schränken das Recycling stark ein", sagt Norbert Völl vom "Grünen Punkt". Die Verpackungen bestünden aus verschie­denen Kunststoffschichten, die sich nicht mehr trennen lassen, sogenannte Verbundstoffe. Salatschalen oder Wurst­ verpackungen etwa sind aus Kunststoff, der mit anderen Kunststoffen überzogen und verklebt ist. "Da kann keiner mehr was mit machen", sagt Völl, "das geht alles in die Brenne." +Ein anderes Problem: Neuer Kunst­stoff ist aufgrund des niedrigen Ölprei­ses billiger als recyceltes Material, dessen Sammeln, Sortieren und Recy­celn viel Geld kostet. Auch aus diesem Grund setzen viele Unternehmen lieber auf sogenanntes Virgin Plastic, also auf frisches Plastik. "Die Industrie nimmt kein Geld in die Hand, um Ver­wertungswege für Altplastik auszu­bauen", sagt Völl. +Da es mit einer wahren stofflichen Wiederverwertung so schlecht läuft, hat sich die Abfallwirtschaft andere Möglich­keiten gesucht, den Verpackungsmüll loszuwerden. Neben dem Verbrennen wird ein großer Teil des Mülls in ande­re Länder verschickt. Den Plastikmüll aus unserem Gelben Sack betrifft das eher weniger, sondern vor allem industrielle Kunststoffabfälle. So exportierten deutsche Entsorger jahrelang ihren Müll nach China, Indonesien und Malaysia. Für Abfälle aus Verpackungen, die auf die Recyclingquoten angerechnet werden, muss das Recycling auch im Ausland nachgewiesen werden. Da dieser Markt aber stark globalisiert ist, ist Betrug beim Recycling leider nicht ausgeschlossen. +Mittlerweile weigern sich diese asiatischen Länder, Müll made in Ger­many, der nicht ihren Qualitätskriterien entspricht, anzunehmen. Seither wurde er in die Niederlande oder in die Türkei gebracht, oft auch nach Polen. +Damit ist der Müll aus unserem Blickfeld verschwunden. Die Folgen tragen aber die Menschen in ärmeren Ländern, in denen es oft nicht einmal eine funktionierende Mülltrennung gibt. So schimmelt in der Türkei seit über einem halben Jahr deutscher Müll in Containern vor sich hin, weil deut­sche Recyclingunternehmen den laut türkischem Umweltministerium illegal dorthin verschifften Müll nicht abholen. +"Das Recycling wird von der Industrie immer noch als Lösung verkauft, obwohl es die Ressourcenverschwendung und den Klimawandel nicht aufhält", sagt ein leitender Mitarbeiter der Umwelt­ und Klimaschutzabteilung der Europäischen Union, der sich dort um das Abfallrecht kümmert und seinen Namen lieber nicht in den Medien lesen will. Mit dem Recycling mache man allenfalls Trippelschritte hin zur Kreislaufwirt­ schaft. "Es hat sich in den letzten 30 Jah­ren eigentlich nichts geändert." +Immerhin verlangt die Europäische Union von allen Mitgliedstaaten,dass bis 2025 die Hälfte des Verpackungsmülls aus Kunststoff stofflich verwertet,also nicht verbrannt wird. Doch für den Ab­fallexperten der EU liegt die Wurzel des Übels weniger im Management des Mülls als vielmehr in der Art der Verpackungen. Eigentlich seien Plastikverpackungen nicht per se schlecht, sie machten Pro­dukte haltbar und stellten sicher, dass Menschen sich nicht an verkeimten Le­bensmitteln vergiften. Es gehe aber da­rum, die Vielzahl verschiedener Verpackungen ebenso einzudämmen wie die Verwendung von Verbundstoffen. +Und natürlich wäre alles viel einfacher, wenn nicht nur die Verbraucher, sondern vor allem die Konzerne die"Abfallpy­ramide"befolgen würden: An der Spit­ze steht dort die Vermeidung von Abfall. Also weg mit den doppelt verpackten Schokoriegeln und Zahnpastatuben. Dann folgt als zweitbeste Stufe die Wie­derverwendung: In den Becher aus dem Supermarkt könnte Eis vom Italiener um die Ecke kommen, entsprechend müsste er designt sein. Und warum nicht gleich standardisierte Käseverpackun­gen, die wir im Supermarkt wieder be­füllen können? +Erst an dritter Stelle steht die stoff­liche Verwertung, also das eigentliche Recycling. Und erst danach, wenn gar nichts anderes mehr geht, darf die ener­getische Verwertung kommen, also die Müllverbrennung, bei der Energie und Wärme gewonnen werden. +Manchmal liegt die Lösung des Verpackungsproblems aber schon recht nah, oft direkt daneben. Lose Tomaten und Paprika neben Paprika in Plastik­ netzen oder Tomaten in Plastikschalen. Nackter Käse an der Theke neben Käse in Folie. Gurken mit und ohne Plastik. Man muss nur richtig zulangen. + +Titelbild: imagebroker/IMAGO / Jonas Wresch diff --git a/fluter/was-daraus-wird.txt b/fluter/was-daraus-wird.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/was-darf-staat-gegen-coronavirus-tun.txt b/fluter/was-darf-staat-gegen-coronavirus-tun.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4160ecb4971e9b50edc8686785918e5ad98231fb --- /dev/null +++ b/fluter/was-darf-staat-gegen-coronavirus-tun.txt @@ -0,0 +1,41 @@ +Wer ist in Deutschland in Sachen Coronavirus zuständig? +Deutschland ist föderal organisiert, auch im Krisenfall: Den Infektionsschutz setzen die einzelnen Landesregierungen, Kommunen und rund 400 Gesundheitsämter durch. So kommt es auch, dass in Baden-Württemberg Flughäfen geschlossen werden, während sie in anderen Bundesländern in Betrieb bleiben. Oder dass einzelne Bundesländer wie Bayern oder eine kreisfreie Stadt wie Halle an der Saale den Katastrophenfall ausrufen, während andernorts noch um Normalität gerungen wird. + + +Der beste Infektionsschutz: Abstand, solide Information und ein bisschen Ablenkung.Unsere Linkliste zum Coronavirus +Wer was wann entscheiden darf, ist in den Pandemieplänen des Bundes, der Länder und Kommunen geregelt. Daneben gibt dasInfektionsschutzgesetzvor, was die Behörden tun müssen, um Infektionen frühestmöglich zu erkennen und Neuansteckungen zu verhindern. +Heißt in der Praxis: Wenn ein Labor in deiner Nähe einen Coronafall bestätigt, erfährt es zunächst das lokale Gesundheitsamt, das dann mit den Behörden des Bundeslandes die Maßnahmen abstimmt, also zum Beispiel die Schließung von Schulen oder die Absage von Veranstaltungen. Die Landesbehörden wiederum sprechen ihr Vorgehen mit der Bundesregierung ab. Die Kette der Zuständigkeiten beginnt also "ganz unten", bei den lokalen Gesundheitsämtern, nicht bei der Regierung in Berlin. + +Was macht denn dann die Bundesregierung? +Bundeskanzlerin Angela Merkel selbst hat bei der Eindämmung der Corona-Pandemieeine eher repräsentative Funktion. Operativ steht seit dem 27. Februar 2020 ein Krisenstab in Berlin in der Verantwortung, unter Führung von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und Innenminister Horst Seehofer (CSU). Die Gruppe tagt zweimal die Woche und lässt sich von Forschungseinrichtungen wie dem Robert Koch-Institut auf den neuesten Stand bringen. Sie kann Bund und Ländern nichts anordnen, sondern lediglich Empfehlungen für deren Vorgehen aussprechen. +DasRobert Koch-Institutist die zentrale Forschungseinrichtung für menschliche Infektionskrankheiten in Deutschland. Dort werden auch die Daten zur Corona-Pandemie erhoben und analysiert. Das Institut berät die Gesundheitsbehörden der Länder und das Bundesministerium für Gesundheit – Entscheidungen trifft es nicht. +Klar ist: Zentralistisch organisierte Länder können schneller handeln. In Frankreich etwa ließ Staatspräsident Emmanuel Macron per Dekret die Preise für Desinfektionsmittel deckeln und Schutzmasken beschlagnahmen.Dieser Schritt ist in Deutschland nicht so einfach.Ein Vorteil unserer föderalen Strukturen könnte es dagegen sein, effektiver und schneller auf lokale Entwicklungen reagieren zu können. Welches System besser zur Eindämmung der Pandemie geeignet ist, wird sich in den kommenden Wochen zeigen. + +Wie stark darf der deutsche Staat Bürger/-innenrechte einschränken? +Das Infektionsschutzgesetz besagt klar: Die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit, die Freiheit der Person, die Versammlungsfreiheit und die Unverletzlichkeit der Wohnung können eingeschränkt werden, wenn es der Eindämmung einer Pandemie dient. Die Behörden dürfen Personen im Verdachtsfall beobachten, sie zur Auskunft über ihren Gesundheitszustand und persönliche Lebensumstände verpflichten und Quarantänen auch gegen ihren Willen durchsetzen. + +Könnte die Regierung bald eine Ausgangssperre verhängen wie in Italien oder Frankreich? +Bislang wurde lediglich der Rückzug aus dem öffentlichen Leben empfohlen; eine "Ausgangssperre", wie sie in anderen Ländern durchgesetzt wird, kennt unser Grundgesetz nicht. Über ein Eilgesetz könnten Bundestag und Bundesrat aber bald eine Ausgangssperre ermöglichen, wenn die Pandemie diese Maßnahme rechtfertigt. Die Sperre zu überwachen, wäre dann die Aufgabe der Polizei. Die hat aufgrund der Absage von Großveranstaltungen Kapazitäten,heißt es aus dem Bundesinnenministerium. +Übrigens: Wer gegen eine solche Ausgangssperre verstößt, dürfte theoretisch mit einer Geldstrafe oder sogar einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren bestraft werden.In Frankreich kostet der Verstoß derzeit zwischen 38 und 135 Euro. + + +Könnten ganze Gebiete abgesperrt werden? +Ja. Und das ist in wenigen Fällen auch schon getan worden, etwa im besonders betroffenen Kreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen, in weiten Teilen der Gemeinde Neustadt (Dosse) in Brandenburg oder in der oberpfälzischen Kleinstadt Mitterteich. Eine Ausgangssperre für ganz Bayern wollte Ministerpräsident Markus Söder (CSU) zumindest nicht ausschließen. Wenn ein begründeter Infektionsverdacht besteht, können laut Infektionsschutzgesetz alle Orte, an denen sich Menschen befinden, abgeriegelt werden: Schulen, Unternehmen, Züge, Reisebusse, Schiffe, ganze Gebiete oder Städte. Das gilt natürlich nur, wenn es kein milderes Mittel zur Eindämmung des Virus gibt: Die Abriegelung ist das letzte Mittel des Infektionsschutzes. + +Die Regale mit Konserven oder Mehl sind ziemlich leer. Kann es passieren, dass unsere Lebensmittel rationiert werden? +Vorweg: In Deutschland ist eine Lebensmittelknappheit nicht in Aussicht. Leere Regale im Supermarkt machen zwar vielen Menschen Angst, sind aber nur das Ergebnis einer starken Nachfrage durch Hamsterkäufe. Da keine gravierenden Auswirkungen auf die Lieferkette zu erwarten sind, steht uns keine Lebensmittelknappheit bevor. +Sollte die Lage ernst werden, könnte der Staat aber immer noch eine sogenannte Versorgungskrise ausrufen. Er dürfte dann in die Arbeit der Ernährungs- und Landwirtschaft eingreifen, also auch Lebensmittel rationieren. Danebenhält der Staat für Krisenfälle selbst tonnenweise Getreidereserven vor. + +Unser krisentäglich Brot: Rund 640.000 Tonnen Weizen, 115.000 Tonnen Roggen und 86.000 Tonnen Hafer sollen die "Mehl- und Brotversorgung" Deutschlands in Notfällen sichern (Foto: Reto Klar) + +Diese Vorräte werden in der Nähe von Mühlen gelagert, die genauen Adressen der rund 150 Lagerorte sind aber nur den Behörden bekannt – um sie vor Plünderungen im Krisenfall zu schützen. Andere Güter wie Reis, Hülsenfrüchte, Vollmilchpulver und Kondensmilch hat der Staat ebenfalls eingelagert. Medikamente und Sanitätsmaterial sind in den Krankenhäusern, Apotheken und Pharmagroßhandlungen gelagert – und auch dieBundesländer haben Reserven für mehrere Wochen, um mögliche Lieferengpässe ausgleichen zu können. + +Macht man sich eigentlich strafbar, wenn man jemanden wissentlich ansteckt? +Wer in Deutschland eine Krankheit oder einen Krankheitserreger vorsätzlich (also im Wissen um mögliche Folgen) verbreitet, dem drohen laut Infektionsschutzgesetz bis zu fünf Jahre Freiheitsstrafe. Dazu zählen alle meldepflichtigen Krankheiten, etwa die Pest, Keuchhusten, Cholera, Tollwut oder die Masern. Wer die angeordnete Quarantäne verlässt und andere Personen ansteckt, könnte sich sogar der fahrlässigen Körperverletzung strafbar machen.Das gilt immer, nicht nur in Zeiten von Corona. + + +Wie wahrscheinlich ist ein "Ausnahmezustand" in Deutschland? +In derTürkeiwar er jahrelang in Kraft, in den USA ist er am Samstag, in Frankreich am Montag ausgerufen worden: der nationale Ausnahmezustand. Mit ihm können staatliche Prinzipien wie die Gewaltenteilung oder fundamentale Bürger-/innenrechte wie das Recht, sich frei bewegen zu dürfen außer Kraft gesetzt werden, damit der Staat in Notzeiten schneller reagieren kann.In Deutschland ist der Ausnahmezustand nicht vorgesehen– auch, weil ähnliche Gesetze den Nationalsozialisten 1933 zur Machtergreifung geholfen hatten. +Trotzdem gibt es gesetzliche Maßnahmen, die das staatliche Durchgreifen im Notfall vereinfachen: die Notstandsgesetze. Sie sind seit 1968 im Grundgesetz festgeschrieben und unterscheiden zwischen innerem Notstand, dem Verteidigungs-, Spannungs- und Katastrophenfall. Die Gesetze würden es dem Bund ermöglichen, den Ländern Weisungen zu erteilen (statt wie bisher nur Empfehlungen auszusprechen), Polizist/-innen über die Grenzen der Bundesländer zu bewegen oderdie Bundeswehr im Inneren einzusetzen, um die öffentliche Ordnung zu bewahren– etwa bei Plünderungen oder Belagerungen von Krankenhäusern. +Der Notstand kann aber erst ausgerufen werden, wenn ein oder mehrere Bundesländer die Auswirkung der Pandemie nicht mehr selbstständig bewältigen können. In der Geschichte der Bundesrepublik wurden die Notstandsgesetze noch nie angewandt. + diff --git a/fluter/was-deine-einrichtung-ueber-deine-generation-aussagt.txt b/fluter/was-deine-einrichtung-ueber-deine-generation-aussagt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a1cb945724a6a067cd5f1fbf74fa6ae328a0a0f6 --- /dev/null +++ b/fluter/was-deine-einrichtung-ueber-deine-generation-aussagt.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Als das Fernsehen Ende der 1950er-Jahre massenhaft Einzug ins Wohnzimmer hielt, begann auch die Serienproduktion der Fernsehtruhen. Darin flimmerten nicht nur die ersten großen TV-Shows, es flackerte auch der Wunsch nach ewig wachsendem Wohlstand auf +Kaum ein Möbel spart so viel Platz wie das Stockbett – ein Segen für viele Familien, die mehrere Kinder, aber wenig Platz haben. Der Streit, wer oben und wer unten liegt, dürfte ebenfalls ein Klassiker sein +Der weltberühmte Architekt Le Corbusier machte sich nicht nur Gedanken, wie man möglichst viele Menschen auf wenig Raum bequem unterbringen kann, sondern auch über die entsprechende Ausstattung. Seine LC4 Chaiselongue gehört zu den absoluten Designklassikern +Dieser 1978 entwickelte schlichte Verkaufsschlager war die Speerspitze, mit der IKEA das globale Mittelschichtwohnen vorangetrieben hat. Rund 77 Millionen Mal hat sich das Billy- Regal bisher weltweit verkauft. In den 1980er-Jahren wurde es auch in Zwangsarbeit von Häftlingen in Gefängnissen der DDR für den Konzern produziert +Einer der erfolgreichsten Möbel-Migranten. Mit einer mehr als tausendjährigen Geschichte im Rücken verschönerte der Perserteppich im Zuge von "Orient"-Sehnsucht und Gemütlichkeitsverlangen viele deutsche Fußböden +Der Nierentisch mit drei Beinen war in den 1950er-Jahren in vielen Wohnungen anzutreffen. In der Organform sahen viele eine Abkehr von den geraden Linien und der Starrheit des Nationalsozialismus +Eines der beliebtesten Möbelstücke im deutschen Wohnzimmer: Die Schrankwand. Ob schlicht, rustikal oder klassisch, bietet es Platz für Bücher, Geschirr, Stereoanlagen oder Nippes. Manchen zu spießig, für andere das Retromöbel +Einst von dem amerikanisch-japanischen Künstler Isamu Noguchi entwickelt und entsprechend teuer, sorgten die später massenproduzierten Ballonleuchten vielfach nicht nur in Studentenbuden für gemütliches Licht. Ein gutes Beispiel dafür, wie Design das Leben vieler bereichern kann +Der Arbeitstisch, den Egon Eiermann 1953 mit dem Gedanken an arme Studierende entworfen hat, steht auch für besonders effizientes Design, weil er seine Standfestigkeit mit geringem Materialeinsatz erreicht +So stellte man sich in den hedonistischen 1970er- Jahren Luxus vor: Das Jetbett mit integriertem Radiowecker und seitlichen Geheimverstecken für die Betthupferl, davor am besten ein Flokatiteppich. Heute als Zeitmaschine für wenig Geld erhältlich +Leicht, stapelbar und unverwüstlich steht der in den frühen 1970er-Jahren erfundene Monobloc-Chair nicht nur überall rum, sondern auch für die Globalisierung und Plastifizierung der Welt. Während er in einigen Ländern multifunktional eingesetzt wird, findet man ihn in Deutschland hauptsächlich im Garten +Verstellbar in Höhe und Fläche wurde der Mufuti (kurz für "Multifunktionstisch") in der DDR zum Symbol für den neuen Wohnwohlstand der Arbeiterklasse im Sozialismus. Dank der Abkürzung konnte man ihn auch als Wort ganz klein machen +Hier könnt ihr die Heftmitte ausfluter Wohnenin hoher Auflösung herunterladen: diff --git a/fluter/was-denken-franzosen-ueber-deutsche.txt b/fluter/was-denken-franzosen-ueber-deutsche.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0f61655df69647b23afdc14f3f55897a5067146b --- /dev/null +++ b/fluter/was-denken-franzosen-ueber-deutsche.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Auch ich habe mich in Berlin verliebt, wo ich vier Jahre lang gelebt habe. Ich kam um das Jahr 2000 herum, als die Regierung von Bonn nach Berlin umzog und sich die Mietshäuser im Prenzlauer Berg noch nach DDR anfühlten. Eine Zeit, in der der Ostteil der Stadt vom Reichtum weit entfernt war, in der Luxusgeschäfte noch undenkbar waren. Ich liebe auch die deutsche Sprache, musikalisch wie das Italienische, aber so kraftraubend zu lernen. Der deutschen Küche kann ich wenig abgewinnen, außer im Frühjahr zur Spargelzeit. +Seit Kriegsende blicken die Franzosen wohlwollend auf die Bundesrepublik. An ihrer florierenden Wirtschaft nahm man sich ein Beispiel, in der Freundschaft wurde man vom Bundeskanzler und vom Präsidenten bestärkt. Erst von de Gaulle und Adenauer, später von Giscard und Schmidt und Mitterrand und Kohl. Als ich noch Deutschlandkorrespondent war, war Kohl in der Bevölkerung wenig beliebt. Wir Franzosen aber liebten ihn. Er hatte Deutschland geeint, ohne Europa zerbrechen zu lassen. Er kämpfte für den Euro. Kohls Deutschland und Frankreich waren ebenbürtige europäische Partner. Das hat sich geändert. Viele Franzosen haben den Eindruck, dass die gute Beziehung zwischen beiden Ländern in den letzten Jahren zunehmend verkrampfter wurde. +Deutschland floriert zwar noch immer, was die Franzosen weiterhin bewundern, doch in die Bewunderung schleichen sich Neid und Missgunst. Der Vorwurf lautet, dass Deutschland die Europäische Union in ein deutsches Europa verwandelt hat und dass es Europa vor allem mit Blick auf die eigenen Belange führt. Nach Fukushima beschloss man die Energiewende und schmiss die Kohlekraftwerke wieder an, ohne es mit den europäischen Partnern abzusprechen. Man entschied sich im Alleingang für die Aufnahme von syrischen Flüchtlingen: Großzügig, aber die Sogwirkung der Entscheidung traf auch die europäischen Nachbarn. Deutschland möchte eine größere Rolle in der internationalen Diplomatie spielen, aber sobald es darum geht, Soldaten irgendwo hinzuschicken, sind die Deutschen plötzlich sehr still. +Exportrekorde, sinkende Arbeitslosigkeit, dazu noch ein großes Herz für Flüchtlinge – manchmal geht uns unser tugendhafter Nachbar ein bisschen auf die Nerven. Besonders dann, wenn wir den Eindruck haben, dass die Deutschenn europäischen Ländern vorschreiben, wie sie zu leben haben – oder besser: wie sie zu sparen haben. Und wir sehen auch ohne deutsche Überlegenheitsgesten, dass unsere Wirtschaft mittlerweile so abgehängt ist, dass wir auch politische Macht in Europa eingebüßt haben. Da tut es fast gut, wenn die tugendhaften Deutschen bei Betrügereien wie dem Volkswagen-Skandal erwischt werden. +Deutschlands Rolle in Frankreich ist größer geworden, das sieht man auch daran, dass es momentan in der Präsidentschaftswahl stets Thema ist. Nicht, dass wir noch über die Nazivergangenheit sprechen (das überlassen wir den Engländern, die sowieso nichts von deutsch-französischer Freundschaft verstehen), die Kritik an den Deutschen betrifft eher die Gegenwart – und sie kommt von ganz links und ganz rechts. Im Europäischen Parlament hat Marine Le Pen Ende 2015 den französischen Präsidenten François Hollande als "Vizekanzler unter Angela Merkel" bezeichnet, als "Verwalter der Provinz Frankreich". Sie warf ihm vor, sich von Berlin den Kurs diktieren zu lassen. Ganz links bezeichnet Jean-Luc Mélenchon, Kumpel von Oskar Lafontaine, die Deutschen als Imperialisten, die ihre Nachbarn mit Exportüberschüssen ruiniert haben. +Bei so viel Verbitterung zittern die Germanophilen in Frankreich. Sie wissen, dass es unumgänglich ist, offen mit den Deutschen zu sprechen, um eine neue Vertrauensbasis zu finden. Eine Bedingung dafür ist eine Sanierung Frankreichs. Das zumindest ist die These von einem der aussichtsreichsten Kandidaten für das Präsidentenamt, dem Sozialliberalen Emmanuel Macron. Die zweite Bedingung aber ist, dass sich Deutschland nicht im Status quo einrichtet. Dass auch Deutschland sich ändert, mehr an die anderen Länder denkt, weniger an die eigenen Interessen. Frankreich und Deutschland müssen die Union von Grund auf neu gestalten. Die gute Nachricht ist, dass ihre Verbindung stark genug ist, das zu schaffen. diff --git a/fluter/was-denkt-ihr-euch-bloss.txt b/fluter/was-denkt-ihr-euch-bloss.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b69b4e34c040d9032efcb2de96c55902420b9a26 --- /dev/null +++ b/fluter/was-denkt-ihr-euch-bloss.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Was heute ein bisschen kindisch klingt, war damals ein Affront gegen die Kirche, die in der Bibel die Antwort auf die Frage nach der Entstehung der Sprache sah. Inzwischen gibt es zwar unzählige Theorien, wie die Sprache ganz ohne Gott in die Welt kam – viel ausgefeilter als Herders Erzählung sind viele moderne Erklärungen aber auch nicht: Einige Forscher glauben, dass sich die Sprache im Laufe der Zeit aus Gesten entwickelte. Andere geben der Musik den Vorzug, zum Beispiel die US-amerikanische Anthropologin Dean Falk. Sie vertritt die These, dass sich die menschliche Sprache aus dem Singsang von Müttern entwickelt habe, die damit ihre Kinder beruhigten. Dagegen glaubt der amerikanische Linguist Derek Bickerton, dass der Ursprung der Sprache in der Nahrungsbeschaffung liegt. Vor etwa zwei Millionen Jahren habe der Urmensch angefangen, sich als Aasfresser zu ernähren. Um ein verendetes Mammut gegen andere Aasfresser zu verteidigen und die Riesen-Mahlzeit zu bewältigen, sei aber die Kooperation von vielen nötig gewesen (siehe auch das Interview auf Seite 5). Man könnte auch sagen: Der Mensch hat die Sprache erfunden, um mitteilen zu können, dass an einem weit entfernten Ort ein totes Tier liegt. +Die Geschichte der Sprache wird nach ihrem Ursprung noch komplizierter: Die mehr als 6000 verschiedenen Sprachen, die Wissenschaftler kennen, unterscheiden sich in ihren Lauten, den Wörtern, die aus diesen Lauten gebildet werden, und der Grammatik, die vorgibt, wie diese Wörter aneinandergereiht werden: Spanisch hat fünf Vokale, einige afrikanische Sprachen rund 20. Das Finnische hat 15 Fälle, das Deutsche nur vier. Unterschiedliche Sprachen miteinander zu vergleichen und daran einen Einfluss der Gesellschaft auf die Sprache zu beweisen ist sehr schwierig. Ein Beispiel dafür ist eben die Geschichte von den Schneewörtern der Eskimos. +Berühmt gemacht hat diesen Mythos der amerikanische Forscher Benjamin Lee Whorf, der eigentlich Chemieingenieur war, aber in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts an der Yale-Universität Linguistik studierte und dort auch selbst für einige Zeit Anthropologie lehrte. Whorf glaubte, mit der vermeintlichen Vielzahl von Frost-Vokabeln eine faszinierende These belegen zu können: dass nämlich Sprache und Denken Hand in Hand gehen, dass Wörter und Grammatik einen Einfluss darauf haben, was wir denken und glauben. Linguisten nennen das die "Sapir-Whorf-Hypothese". Sie würde bedeuten, dass manche Gedanken von jemandem, der eine andere Sprache als man selbst spricht, nicht nachvollzogen werden können. Und dass wir nicht denken können, was wir nicht in Worte gefasst haben. +Der englische Schriftsteller George Orwell hat sich von dieser Idee zur Kunstsprache "Neusprech" in seinem Roman "1984" inspirieren lassen. Diese Sprache ist in Orwells Vision ein wichtiges Herrschaftsinstrument des totalitären Regimes und soll einen Menschen daran hindern, verbotene Dinge auch nur zu denken: "Es würde viele Verbrechen und Fehler geben, die zu begehen er nicht imstande wäre, aus dem einfachen Grund, dass sie namenlos und daher unvorstellbar wären", heißt es in dem Buch. +Diese extreme Abhängigkeit unserer Gedanken von unserer Sprache ist zwar ein faszinierender Gedanke, aber sie ist auch falsch. Ein Mensch, dessen Muttersprache in ihrer Grammatik keine Zukunftsform kennt, dürfte dann nicht in der Lage sein, sich über morgen, übermorgen oder das nächste Jahr Gedanken zu machen. Und ein Engländer dürfte überhaupt keine Schadenfreude empfinden, fehlt ihm doch das Wort dafür. Und was ist mit uns Deutschen, wenn wir den Durst gestillt haben? Wie nennen wir das Gefühl? Ein Wort dafür gibt es nicht, und dennoch kennt jeder den entsprechenden Zustand. Es gibt also wenig Belege dafür, dass wir etwas nicht denken, nur weil wir es nicht benennen können. Dass unsere Sprache aber einen Einfluss darauf hat, was wir denken und wahrnehmen und woran wir uns erinnern können, dafür haben Forscher in den vergangenen Jahren einige Belege gefunden. Unter anderem im Bereich der Farbwörter. +So können sich zum Beispiel Engländer besser daran erinnern, ob ihnen eine grüne oder blaue Farbe gezeigt wurde, als die Mitglieder des Berinmo-Stammes in Papua-Neuguinea, deren Sprache zwischen Blau und Grün keinen Unterschied macht.Aber man muss gar nicht so weit gehen: Selbst zwischen Niederländern und Deutschen haben Forscher einen Unterschied in der Wahrnehmung gefunden – dank einer kleinen Abweichung: Zwar sind in Deutschland und den Niederlanden, EU-Normen sei Dank, die Farben von Verkehrsampeln exakt gleich. Im Niederländischen wird die mittlere Farbe aber als "Oranje" bezeichnet, im Deutschen als Gelb. Die Forscher zeigten einigen Versuchspersonen Bilder einer Verkehrsampel, mit sechs verschiedenen Farbtönen zwischen Gelb und Orange in der Mitte und baten, die Farbe entweder als gelb oder orange einzuordnen. Tatsächlich ordneten die Deutschen mehr Bilder der Farbe Gelb zu als ihre Landesnachbarn. Bilder einer Socke in den sechs verschiedenen Farbtönen wurden dagegen von den Testpersonen aus beiden Ländern gleich häufig als gelb oder orange bewertet. Für die Forscher ein Beweis, dass es nicht um eine allgemein andere Aufteilung von Gelb und Orange geht. +"Die Deutschen nehmen die Farbe einer Ampel tatsächlich anders wahr, weil sie anders heißt", sagt Psycholinguistin Asifa Majid vom Max-Planck-Institut im niederländischen Nijmegen. Auch das grammatikalische Geschlecht, das unsere Sprache den Dingen zuordnet, hat offenbar einen Effekt auf unsere Sicht der Dinge. Sprachforscher haben die Assoziationen von Spaniern und Deutschen angesichts bestimmter Gegenstände verglichen, die wie die Brücke im Spanischen männlich (el puente) und im Deutschen weiblich sind. Das Ergebnis: Deutsche gaben den Gegenständen "weiblichere" Attribute, zum Beispiel elegant und schlank, während die Spanier die Dinge eher mit "männlichen" Eigenschaften wie Stärke beschrieben. Das grammatische Geschlecht färbt also offenbar auf den Gegenstand ab. Zumindest denkbar, dass die Brücken in Spanien und Deutschland deswegen anders aussehen. Die Welt ist eben so, wie wir sie uns denken. Vielleicht. diff --git a/fluter/was-die-corona-krise-fuer-obdachlose-bedeutet.txt b/fluter/was-die-corona-krise-fuer-obdachlose-bedeutet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b2e7f0e8cc992811093a4d39165b44ef39d1e784 --- /dev/null +++ b/fluter/was-die-corona-krise-fuer-obdachlose-bedeutet.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Normalerweise ging Ceil morgens ins Internetcafé, um sich zu wärmen und Filme zu schauen. Eine Stunde ein Euro, die Kippe vierzig Cent. Das Geld dafür schnorrte ihr Freund zusammen. An diesem Morgen wickelt sie den Schlafsack um ihre Hüften, ihre Schultern hat sie nach vorne gezogen, sie friert. Schnee wirbelt um ihr Zelt. Daneben liegen gefütterte Schuhe, eine Sammlung von Plastikflaschen und ein Bücherstapel, ganz oben: "Das Polizei- und Ordnungsrecht", das sie auf der Straße gefunden hat, und ein paar Fotobände. Selbst gemalte Bilder lehnen an einem kopfhohen Metallzaun, der ihr zumindest das Gefühl von Schutz gibt.Sie ist eine, die sich eigentlich in ihrem Leben auf der Straße gut eingerichtet hat.In der Erde hat sie zehn Konservendosen vergraben. Suppe, Mischgemüse, Sardinen in Sonnenblumenöl: ein kleiner Corona-Hamsterkauf. Die Orte, an denen es sonst warmes Essen gibt, wie beispielweise bei der Tafel, werden immer weniger. Die Freiwilligen, oft selbst Risikogruppe, bleiben zu Hause. + +Zwischen Zaun und Baum: Ceil hat sich in einer Böschung eingerichtet … + + +Seit Ceil das erste Mal von Covid-19 hörte, kam zu den üblichen Sorgen noch eine größere hinzu: "Es fehlt uns nicht an Essen, sondern sozialen Kontakten", sagt sie im Schneidersitz vor ihrem Zelt und dreht sich eine Zigarette.An Berliner Zäunen hängen in diesen Tagen Tüten mit Lebensmitteln.Eine gut gemeinte Geste. Was sie ihr nicht geben können: Nähe. Auf der Straße bedeutet ein kurzer Blickkontakt zu Passanten derzeit, überhaupt Kontakt zu haben. Vor ein paar Tagen habe sie ein Mann angeschrien, als sie ihn mit ihrem Klapproller überholte, erzählt sie. Den Mittelfinger habe er ihr gezeigt. Sie hatte einen Meter Abstand gehalten. +Die Kontaktbeschränkungen gelten an diesem Tag in Berlin seit einer Woche.Eine Vorsichtsmaßnahme, mit der Bund und Länder die Ausbreitung des Coronavirus verlangsamen wollen.Aber wo sollen Wohnungslose hingehen, wenn sie Angst haben müssen, sich in Sammelunterkünften anzustecken? Wie sollen Obdachlose leben, seitdem das öffentliche Leben stillsteht und viele soziale Einrichtungen geschlossen sind? Die Corona-Krise wirft existenzielle Fragen auf für die, die durch das Netz des Wohlfahrtsstaats gefallen sind und sich irgendwie eingerichtet haben in einem improvisierten System aus Betteln, Mitleid und externer Hilfe. +Seit viereinhalb Jahren lebt Ceil auf der Straße, auf der es im Sommer schön und im Winter immerhin besser ist als dort, wo sie vorher war: in ihrer Pflegefamilie. Mit 18 Jahren ist sie auf dem Berliner Alexanderplatz gelandet. Ein Punk gab ihr einen Crashkurs. Sie lernte, im Schlafsack die Schuhe anzulassen, die Kapuze nachts bis über die Augen zu ziehen und dass es 15 Minuten dauert, bis der Körper sich von selbst erwärmt – aber auch, dass irgendwann ein Punkt kommt, an dem man genug hat vom Leben auf der Straße. + +… und auch eine Art Vorratskammer angelegt – für Corona-Zeiten + + +Für Ceil kam dieser Punkt vor zwei Wochen, als der Arzt ihr dringend eine Pause empfahl. Vom chronischen Stress und den Wintern auf offener Straße habe sie einen zu hohen Blutdruck. Der liegt normalerweise bei 120, ihrer bei 170. Ab 190 werde es lebensbedrohlich. Doch gerade zu dem Zeitpunkt, an dem sie sich um eine Wohnung bemühen will, einen Ort, an dem sie sich eine Mal-Ecke einrichten und so lange warm duschen könnte, wie sie will, häufen sich die Corona-Schlagzeilen. +Wie jeden Tag geht Ceil auch heute zur Anlaufstelle von Straßenkinder e.V. 80 Jugendliche gehen hier ein und aus. Sie werden nicht Obdachlose genannt, sondern Klient*innen. Die Einrichtung ist so etwas wie Ceils Lebensmittelpunkt, sagt sie und lehnt sich gegen die Wand. Der Ort, an dem sich Ceil normalerweise in Ruhe aufwärmt, zur Schuldnerberatung geht, Wäsche wäscht, duscht, nach einer Wohnung fragt oder einfach nur Kaffee trinken und quatschen kann. Früher hingen sie auf dem Grünstreifen vor dem Büro ab, erzählt Ceil. Es klingt so, als wäre dieses Früher Jahre her, dabei lässt es sich in Tagen zählen. +Fünf Jugendliche stehen vereinzelt auf dem Gehweg. Einer scrollt auf seinem Handy, sein Mund mit einem Halstuch bedeckt. Ein anderer knabbert Chips. "Wirst du mich im Rollstuhl schieben, wenn ich Corona habe?", fragt einer der Jugendlichen seinen Freund, und sie lachen. Die Tür geht auf. Ein Sozialarbeiter ermahnt die Jugendlichen: Sie sollen auseinandergehen. Ceil geht einige Meter weg. Sie habe Angst, dass sonst die Einrichtung auch noch schließen müsse. Schon jetzt fehle ein Drittel des Budgets, weil ein wichtiger Sponsor selbst gegen Verdienstausfälle kämpft, sagt Eckhard Baumann, der Vorsitzende des Vereins. Auf der Fensterfront steht: "Wir sind immer noch für euch am Start". Noch. Daneben hängt der von der Kontaktsperre ausgedünnte Wochenplan: die Ausflüge, der Friseur, die Rechtsanwaltsstunde und das Bouldern – alles abgesagt. + +Kontaktsperrzone: Das Ordnungsamt hat den Park, den Ceil ihr Zuhause nennt, geschlossen + +Drüben bei Instagramseht ihr Videointerviews mit Ceil +Einzeln werden die Jugendlichen hereingerufen. Statt Umarmung: Hände desinfizieren. Fünfzehn Minuten hat Ceil Zeit, um ihre Grundbedürfnisse abzuhandeln. Sie stellt ihre Bilder ab, lädt ihr Handy auf, geht auf Facebook. Als sie wenig später mit einem dampfenden Pappbecher voll Suppe wieder auf der Straße steht, fällt ihr auf, dass sie vergessen hat zu pinkeln. Ein anderes Grundbedürfnis käme jetzt auch zu kurz: "Zeit, um zu sprechen." +In eine Sammelunterkunft, die derBerliner Senat nun extra für die "pandemischen Zeiten" in einer Jugendherberge einrichtet,möchte sie nicht gehen. Sie fürchtet sich vor den älteren Alkoholikern und den Hautkrankheiten, die man sich dort einfangen könne. Corona scheint da nur wie eine weitere Gefahr. Hätte sie das Virus, würde sie in ihrem Zelt bleiben, sich nicht unter die Menschen mischen und sich auskurieren. Sie zuckt mit den Schultern. Vor Corona habe sie keine Angst, aber vor den Beamten, die sie verscheuchen könnten. Schon jetzt sei mehr Polizei unterwegs. +Einen Tag später wird das Ordnungsamt vor ihrem Lager stehen und ihr sagen, sie solle gehen. Aber wohin? Vor Corona fühlte sie sich an den Plätzen, wo sich das öffentliche Leben abspielt, sicher und gut. Seit Corona werden sie weniger. Sie werde mit ihrem Freund für ein bis zwei Tage einen neuen Ort suchen müssen, sagt sie am Telefon. Und dann in ihren Park zurückkehren, dieses Mal ein bisschen besser versteckt. diff --git a/fluter/was-die-energiewende-fuer-kommunen-und-stromanbieter-rwe-bedeutet.txt b/fluter/was-die-energiewende-fuer-kommunen-und-stromanbieter-rwe-bedeutet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f7926dda938b1a22ab6c932fd310ceeeccf27477 --- /dev/null +++ b/fluter/was-die-energiewende-fuer-kommunen-und-stromanbieter-rwe-bedeutet.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Könnte im Braunkohletagebau Hambach nicht wie geplant Braunkohle abgebaut werden, würden jährlich Umsätze im niedrigen dreistelligen Millionenbereich wegbrechen. Auch Arbeitsplätze seien in Gefahr. Die Börse reagierte schnell auf den Gerichtsentscheid zugunsten der Braunkohlegegner: Die RWE-Aktie verlor sieben Prozent. Und davon sind auch viele Städte betroffen, die RWE-Aktien besitzen. +Der seit Jahren bestehende und in den vergangenen Monaten verschärfte Streit zwischen dem Unternehmen und den Gegnern des Braunkohleabbaus betrifft nicht nur Demonstranten, Baumbesetzer, Bergleute und das Unternehmen RWE selbst. +Er hat auch Auswirkungen auf die über 100 Kommunen, Zweckverbände und kommunalen Unternehmen, die gemeinsam einen Anteil von ungefähr 23 Prozent an dem Energieversorger halten. +Nach seiner Gründung Ende des 19. Jahrhunderts beteiligten sich die Kommunen an dem Unternehmen und bauten gemeinsam mit ihm ihre Energieversorgung aus. Lange war das ein sicheres Geschäft: Bis 1998 teilten sich wenige Unternehmen, darunter RWE, den Strommarkt in Deutschland auf. In ihrem Gebiet hatten sie ein Monopol – sie waren der einzige Stromanbieter. Wer Strom bezog, kam an ihnen nicht vorbei. Teile der sicheren Gewinne flossen in die Kassen der Städte, die an RWE beteiligt waren. +Das ist lange her. In den ersten zehn Jahren nach Öffnung des Strommarktes 1998 war RWE ein sehr erfolgreiches Unternehmen und investierte viel im Ausland. Die Aktien wurden immer wertvoller: 1998 kostete eine RWE-Aktie um die 50 Euro, 2007 waren es dann schon bis zu 98 Euro.Doch weil sich der Energiemarkt durch die vom Staat geförderten erneuerbaren Energien veränderteund RWE vor allem auf Kohle- und Atomstrom gesetzt hatte und die Investitionen im Ausland nicht erfolgreich waren, verloren die Aktien schnell an Wert: 2016 kostete eine RWE-Aktie nur noch etwas über elf Euro. Zurzeit sind es, trotz des Urteils zum Hambacher Forst, etwa 18 Euro. + + + +Viele Städte machen sich Sorgen um ihre RWE-Beteiligungen. Sie fürchten, dass das Unternehmen weiter an Wert verliert und in Zukunft vielleicht keine oder nur eine geringe Dividende zahlt. Das Geld würde den meisten klammen Städten dann fehlen: für den Bau von Schulen, für Kulturausgaben oder die Sanierung alter Häuser. +Und mit diesem Geld rechnen vor allem die armen Städte im Ruhrgebiet fest, die am engsten mit RWE verbunden sind: Das Unternehmen hat seinen Sitz in Essen, Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) und die ehemalige Oberbürgermeisterin von Mülheim, Dagmar Mühlenfeld (SPD), sitzen sogar im Aufsichtsrat des Unternehmens. +Der Verband der kommunalen RWE-Aktionäre (VKA) antwortete auf Nachfrage von fluter.de, dass man nicht sofort mit Auswirkungen rechne: "Wir gehen davon aus, dass die Dividendenprognose für das Jahr 2018 von RWE gehalten wird. Mittelfristig müssen wir jedoch sowohl die Dividenden- wie auch die Kursprognosen aufmerksam beobachten." Städte, die im unmittelbaren Umfeld des Braunkohlereviers liegen, könnten durch die möglicherweise sinkenden Gewerbesteuereinnahmen und die eventuell steigende Arbeitslosigkeit, die ein wirtschaftlicher Abstieg von RWE auch nach sich ziehen könnte, sehr viel stärker betroffen sein als durch die Kursentwicklung der Aktien. +Einige Städte spielen schon länger mit dem Gedanken, ihre RWE-Aktien zu verkaufen – und manche haben dem auch schon Taten folgen lassen. In Bochum beschloss der Rat der Stadt 2016, ein erstes Paket mit rund 2,2 Millionen Aktien zu verkaufen und ein Jahr später noch mal ein ebenso großes Paket. Derzeit gebe es keine konkreten Verkaufspläne für die restlichen RWE-Aktien, teilte die Bochumer Stadtverwaltung auf Anfrage von fluter.de mit, aber man werde die Entwicklung bei RWE genau beobachten. +Aber auch wenn die Städte die Aktien nicht verkaufen, werden sie deren Wertverlust spüren: Die Aktien stehen nämlich in ihren Haushalten als Eigentum – mit dem Preis, denn sie beim Kauf hatten. Werden die Aktien teurer, ist das gut für die Kommunen. Verlieren die Aktien von RWE aber an Wert, sinkt damit auch der Wert ihres Eigentums. Und je weniger Eigentum eine Stadt hat, umso weniger Kredite darf sie aufnehmen – um sich nicht zu hoch zu verschulden. +Manuel Frondel, der Energieexperte des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen, hält schon lange nichts mehr davon, dass Städte an RWE beteiligt und damit vom Wohl und Wehe des Konzerns abhängig sind. "Die dahinterstehende Annahme, die Energieversorgung sei ein risikoloses Geschäft, hat sich spätestens mit der Energiewende 2011 als falsch erwiesen." Durch den Rodungsstopp würden auch die Haushalte der Kommunen in Mitleidenschaft gezogen werden, vor allem durch einen niedrigeren Aktienkurs von RWE. + +Titelbild: Bert Bostelmann/laif diff --git a/fluter/was-du-schon-immer-ueber-sex-wissen-wolltest.txt b/fluter/was-du-schon-immer-ueber-sex-wissen-wolltest.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9239295d2e768514399006bed1e2f2ae00bc5a20 --- /dev/null +++ b/fluter/was-du-schon-immer-ueber-sex-wissen-wolltest.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +So dürfen etwa die Kinder in bayerischen Grundschulen nicht einmal aufschreiben oder malen, was ihnen in Sexualkunde beigebracht wird, um "Stimulation oder Verängstigung" zu vermeiden, wie es im Lehrplan heißt. In Berlin dagegen wird neuerdings sogar ein "Aufklärungskoffer" im Unterricht verwendet – mit Anschauungsmaterial wie Kondomen, einem Penis aus Holz oder einer Vagina aus Plüsch. Auch Themen wie Homo- oder Transsexualität bleiben nicht ausgeklammert. Generell sollten Schulkinder spätestens ab der 7. Klasse mit dem Thema vertraut gemacht werden, und zwar nicht nur für eine oder zwei Unterrichtsstunden. Bei besonders heiklen Themen wird die Aufhebung der Koedukation empfohlen und die Klasse nach Geschlechtern geteilt. Auch ist Sexualaufklärung längst nicht mehr nur an "Bio" gekettet, sondern wird als "ein fächerübergreifend zu unterrichtendes Thema" verstanden, zu dem auch andere Fächer wie Chemie, Religion und Deutsch etwas beizutragen haben. +Manche Lehrerinnen und Lehrer kommen aber auch zu dem Thema wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind – so wie Susanne Ehrhardt*, die an einer Waldorfschule in Mecklenburg-Vorpommern die Klassen 6 und 7 unterrichtet. Auf einem Elternabend, erzählt Ehrhardt, kam die Frage auf, wie es mit der Aufklärung sei, und da hat sie sich "einfach in der Pflicht" gefühlt. Auf dem Lehrplan stand das Thema erst später. Ehrhardt stellte sich, gewappnet nur mit einem biologischen Nachschlagewerk aus dem Duden Schulbuchverlag, den Fragen ihrer 13-jährigen Schüler und Schülerinnen: "Das geschah indirekt, im Rahmen eines Projekts. Wir hatten die Organe durchgenommen, Auge, Ohr, Lunge, Verdauung, und ich dachte: In diesen Zusammenhang passt das gut. Die Kinder haben ihre Fragen auf anonymen Zetteln eingereicht und nur ihr Geschlecht angegeben. Danach habe ich versucht, die Fragen zu beantworten, und wir haben gemeinsam darüber gesprochen." Um irgendwelche Praktiken ging es dabei nicht: "Es waren sehr kindliche Fragen, vor allem nach Verhütung und Krankheiten." Weil die Lehrerin nicht Biologie studiert hat, musste sie sich bei manchen Fragen Rat von Experten einholen: "Aids beispielsweise ist ein sehr weites Feld, zu dem sich besser Fachleute äußern." Das war allerdings schwerer als gedacht. Das örtliche Pro-Familia-Büro (Pro Familia ist der größte Verband zu Fragen von Sexualität und Partnerschaft) fühlte sich auf die Schnelle nicht zuständig, aber "in der Frauenklinik gibt es eine sehr nette Ärztin, mit der wir dann noch mal eine gesonderte Veranstaltung zum Thema gemacht haben". +Dass das nicht immer so ist, weiß Eckhard Schroll von der BZgA. Mit der Websitewww.loveline.de betreibt die BZgA eine umfangreiche Plattform für seriöse Informationen rund um das Thema und legte schon mehrfach Studien zur "Jugendsexualität" vor, die regelmäßig mit Klischees zum Thema aufräumen (siehe auch Interview Seite 5). Für die jüngste Studie 2010 wurden 3.542 Mädchen und Jungen zwischen 14 und 17 befragt, und ein Großteil hielt sich selbst für allgemein und ausreichend aufgeklärt. "Sexualität ist ein Kulturgut, nicht nur ein biologisches Gut." Neben den Eltern und der Schule nennt Schroll als "Aufklärer" auch noch die "Peergroup", also den Freundeskreis. +Bücher hingegen siedeln oft auf dem schmalen Grat zwischen Information und Voyeurismus. Wie auch "Make Love", eine aktuelle Erscheinung, die vom Kultursender 3sat als "mit Abstand bestes Aufklärungsbuch seit den 70er-Jahren" bejubelt wurde. Hier haben die Autorinnen schlechterdings alles zum Thema versammelt, von Verführung bis Abtreibung, von Streicheltipps ("wie hundert Schmetterlinge, die kurz landen") bis zum angeblichen Szenejargon für bestimmte Oralsexpraktiken. Die weichgezeichneten Fotos zeigen "ganz normale junge Menschen" nicht nur beim Liebesspiel, sondern auch bei hartem Sex – freilich in leicht verklärter Indie-Ästhetik, an die uns Magazine wie "Jetzt" oder "Neon" gewöhnt haben. +Eckhard Schroll mag sich zu solchen "kommerziellen Angeboten" gar nicht äußern, gibt aber allgemein zu bedenken: "Jeder hat sein eigenes Timing, seine eigene Entwicklung, seinen eigenen Rhythmus. Wir wissen: Ein Drittel der Jugendlichen hat, wenn sie erwachsen werden, überhaupt noch keine sexuelle Erfahrung. Und wenn ich dann sehe oder lese, was ich alles tun muss, welche Erfahrungen ich schon gemacht haben müsste, dann setzt das natürlich alle unter Druck, die einfach noch keine Sexualität haben. Und das ist aus sexualwissenschaftlicher Sicht vollkommen kontraproduktiv. Denn sie dürfen ja selber ihren Zeitpunkt bestimmen – nicht die Medien und auch nicht wir." +Überhaupt scheint es heute keineswegs mehr die einzige Aufgabe der Aufklärung zu sein, Halbwissen in Wissen zu verwandeln. Bei Jungen geht es vor allem darum, ihnen den Erwartungsdruck zu nehmen, perfekte Liebhaber sein zu müssen. Und Mädchen wird vermittelt, dass es für ihre Rolle als Frau unerheblich ist, ob sie nun früher oder später den ersten Sex haben. Generell gilt, so Schroll: "Wir wollen den Druck der Jugendgruppe nehmen, dass alle schon Sex gehabt haben müssen." Auch wohlmeinende Publikationen zum Thema hätten stets eine Kehrseite: "Immer wenn man darüber berichtet, haben Jugendliche das Gefühl: Das ist ja normal, mit 16 habe ich bestimmt schon fünf Partner gehabt und kenne alle Sexualpraktiken in- und auswendig." +Ist Aufklärung heute also vor allem eine Beschwichtigungsübung? Nicht nur. Aktuell bleiben Fragen zur Schwangerschaftsverhütung und zur Vermeidung von Geschlechtskrankheiten. Überraschende Lücken hat Schroll bei solchen Menschen ausgemacht, von denen man meinen möchte, dass sie doch alles darüber wüssten: "Manche müssen auch aufgeklärt werden, weil sie mit 14 oder 15 ihren Partner oder ihre Partnerin des Lebens gefunden haben und nun mit 36 dastehen, weil das leider zerbrochen ist. Wie war das noch mal, wie lerne ich jemanden kennen, was muss ich beachten? Ehepartner, die sich seit dem 18. Lebensjahr um Themen wie Familienplanung gar nicht mehr gekümmert haben, fragen nach der Trennung: Was ist jetzt neu, auch im Hinblick auf Verhütung? Weil das in der Partnerschaft geklärt war. Und plötzlich ist alles wieder radikal offen." Und dann macht man sich erneut auf die Suche nach jemandem, der einen aufklären kann. Mit Magazinen, Ratgebern oder Online-Plattformen sollte man sich dabei nicht zu lange aufhalten. Denn Aufklärung ist wie die Sexualität selbst – dann am besten, wenn ein anderer Mensch im Spiel ist. +* Name geändert diff --git a/fluter/was-du-ueber-das-tuerkei-referendum-2017-wissen-musst.txt b/fluter/was-du-ueber-das-tuerkei-referendum-2017-wissen-musst.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0cdb9497634aac59267ed65b667db63df87784a9 --- /dev/null +++ b/fluter/was-du-ueber-das-tuerkei-referendum-2017-wissen-musst.txt @@ -0,0 +1,16 @@ + +Es geht um 18 Änderungen (von der Forschungsstelle für türkisches Recht an der Uni Erlangen hier rot markiert und übersetzt ) – mit wahrscheinlich zigfach so vielen Folgen. Welchen Machtzuwachs die Verfassungsänderung dem Präsidenten bescheren würde, zeigt #kurzerklärt: + +Beim Inforadiolassen sich die Folgen eines Ja oder Nein filtern – für Erdoğan, die Opposition, die Wirtschaft … +Und wer richtig tief ins Thema einsteigen möchte, wird imTürkei-Dossier der bpbfündig. + +Das Ergebnis ist auch kurz vor der Abstimmung nicht absehbar, Experten rechnen mit einem knappen Ausgang. Sorgen bereitete Wahlbeobachtern, dass die "Nein"-Kampagne der Opposition behindert worden sei, wie der Leiter der OSZE-Wahlbeobachtermission indiesem Interviewberichtet. +In Deutschland hat knapp die Hälfte der 1,4 Millionen wahlberechtigten Türken abgestimmt. Auch hier wird mit einem annähernden 50/50-Votum gerechnet. Wie kommt's? Journalist Eren Güvercin sagt: "Wir Deutschtürken ticken anders": +"Zündfunk": Ein Scherbenhaufen, mit dem wir Deutschtürken klarkommen müssen +Fest steht laut diesem Artikel aber auch, dass die türkische Regierungspartei AKP eine starke Lobby in Deutschland hat: +Tagesspiegel: Erdoğans Lobby in Deutschland + +Sunniten, Aleviten, Christen, Juden, Kurden – wir wussten, dass es problematisch ist, von "den Türken" zu sprechen (für einen schnellen Überblick einfach mal denWikipedia-Eintrag "Volksgruppen in der Türkei"checken), aber von den Afrotürken hatten wir noch nie gehört. Sogar viele Türken wissen nichts oder nur wenig über die Minderheit, schreibt das deutsch-türkische Kulturmagazin "Renk", das die Afrotürken vorstellt: +Renk: Afrotürken – im toten Winkel der Geschichte +Auch einenKlickBlick wert: NDR-Reporterin Yasemin Ergin war eine Woche lang in Istanbul unterwegs und hat mit vielen Menschen gesprochen – über den Terror, den Ausnahmezustand und die autoritäre Wende in der türkischen Politik: + diff --git a/fluter/was-duefen-journalisten-strache-video-ibiza.txt b/fluter/was-duefen-journalisten-strache-video-ibiza.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0ab512f94f8a81ce931a597227e9f8378362b110 --- /dev/null +++ b/fluter/was-duefen-journalisten-strache-video-ibiza.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +fluter.de: Hat es Sie nicht stutzig gemacht, dass das Video schon zwei Jahre lang existierte und mehreren Medien angeboten wurde, der "Zeit" etwa für eine siebenstellige Summe? +Wolf Wiedmann-Schmidt: Wie das alles in den zwei Jahren gelaufen ist, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass weder "Spiegel" noch "Süddeutsche Zeitung" dafür Geld bezahlt haben. Das war alles, was für uns zählte. Wir hatten das Material vorliegen, konnten es auswerten und verifizieren, es war authentisch, daran hatten wir nach intensiver Prüfung keine Zweifel. +Ihre Kollegen von der "SZ" erklärten, das Material sei "forensisch geprüft" worden. Wie darf man sich das vorstellen? +Wir hatten zwei externe Gutachter beauftragt. Der eine hat sich unter anderem angeschaut, ob das wirklich Heinz-Christian Strache und Johann Gudenus in dem Video sind. Mithilfe von Fotos hat er zum Beispiel die Ohren abgeglichen und kam zu dem Ergebnis, dass das Video mit sehr großer Sicherheit die Personen zeigt, um die es geht. Danach haben wir noch das Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie gebeten, uns bei zwei Fragen zu helfen. +Und zwar? +Die eine war, ob das tatsächlich der Ort ist, also die Finca auf Ibiza, in der das Video aufgenommen wurde. Die Gutachter haben öffentlich zugängliche Bilder mit dem verglichen, was man auf dem Video sieht, und kamen dann auch zu dem Schluss, dass das mit sehr hoher Sicherheit genau dieser Ort ist. Die zweite, noch wichtigere Frage war, ob es auf den verschiedenen Video- und Tonspuren irgendwelche Hinweise auf Manipulation gibt. Das war nicht der Fall. + +Die rund 1000 Euro pro Nacht scheinen sich zu lohnen: "Thank you for these unforgettable days", schreibt eine Airbnb-Nutzerin über ihren Aufenthalt in der Finca. Unforgettable, das war die vermeintliche Oligarchenvilla auch für Heinz-Christian Strache +Konnten Sie ausschließen, dass Ihre Quelle mit dem Video eigennützige Interessen oder eine politische Agenda verfolgt? +Zu unseren Quellen sagen wir nie etwas, das ist ein heiliges Prinzip. Wir hatten keine gesicherten Erkenntnisse, mit welchem Motiv dieses Video möglicherweise in Auftrag gegeben worden war. Es war aber offensichtlich, dass es eine Falle war, in die die beiden Politiker gelockt wurden. Die Inhalte des Videos – dass man sich durch öffentliche Aufträge für Wahlkampfhilfe erkenntlich zeigen würde, dass man sich einmischen will in die Unabhängigkeit der Medien und dass es möglicherweise eine illegale Form der Parteienfinanzierung gibt – waren für uns so massiv, dass wir gesagt haben, das müssen wir veröffentlichen. +Wenn Journalisten belastendes Material finden, konfrontieren sie die Betroffenen in der Regel vor Veröffentlichung mit den Vorwürfen. Sie haben auch Strache und Gudenus um Stellungnahme gebeten. +Richtig. Die beiden Politiker haben eingeräumt, dass es das Treffen gab, haben zu Protokoll gegeben, dass es bei einigem Alkohol in feuchtfröhlicher Urlaubsatmosphäre stattgefunden habe und es Sprachbarrieren mit der russischen Übersetzung gegeben habe. Sie haben betont, mehrfach darauf hingewiesen zu haben, dass alles rechtmäßig laufen müsse, wenn man ins Geschäft miteinander käme. +Strache ging nach der Veröffentlichung sofort zur Gegenoffensive über. Schon in seiner Rücktrittserklärung sprach er von einer "über das Ausland gespielten" Schmutzkübelkampagne. Was sagen Sie dazu? +In Österreich wird aktuell wahnsinnig viel spekuliert. Daran wollen wir uns nicht beteiligen. Wir haben auf diesen Bildern einen Politiker gesehen, den späteren Vizekanzler der Republik Österreich, der sich im Wahlkampf bereit erklärt, öffentliche Aufträge zu verhökern, wenn man ihm zur Kanzlerschaft verhilft. Darüber nicht zu berichten wäre unverantwortlich gewesen. +Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen schrieb in einem Kommentar vom "Triumph des analytischen, kühl recherchierenden Journalismus". +Triumph ist keine Kategorie, die ich als Journalist zum Maßstab habe. Wir üben eine Kontrollfunktion aus. Wenn wir Hinweise auf Missstände haben, auf Fehlverhalten von Politikern, dann müssen wir das veröffentlichen. Uns war natürlich klar, dass es Folgen haben wird. In der Form und Geschwindigkeit hat es mich persönlich aber überrascht. +Wie verändert es die eigene Arbeit, wenn man um die Tragweite weiß, die eine Veröffentlichung haben kann? +Wolf Wiedmann-Schmidt ist Teamleiter im Hauptstadtbüro des "Spiegel" in Berlin und Teil des Rechercheteams, das mit der Auswertung jenes Videos betraut ist. +Unsere Arbeit kann immer Auswirkungen haben – im Kleinen wie im Großen. Deshalb haben wir entschieden, nur Teile dieses Videomaterials zu veröffentlichen. Nämlich solche, in denen es um Dinge von politischer Brisanz und von hohem öffentlichen Interesse ging. Teilweise wurden aber auch Dinge besprochen,die in der Öffentlichkeit nichts verloren haben. +Der Datenschutzbeauftragte Baden-Württembergs, Stefan Brink, kritisierte via Twitter, dass es der politischen Kultur schade, wenn politische Gegner hintergangen, in ihrer Privatsphäre verletzt und kriminelles Unrecht begangen würde. Was entgegnen Sie diesen Vorwürfen? +Wir haben dieses Video ja nicht selbst erstellt. Das ist auch etwas, was Journalisten nie machen dürften: Wir dürfen Leute nicht täuschen. Wir dürfen auch keine Straftaten begehen. Aber wir haben dieses Video zugespielt bekommen und sind damit so umgegangen, wie Journalisten mit so etwas umgehen müssen. Wir sind all diese Schritte gegangen, um unserer Sorgfaltspflicht gerecht zu werden. Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, davon zu erfahren. +Auch der Zeitpunkt der Veröffentlichung wurde kritisiert: Es habe den Anschein erweckt, man wolle so kurz vor derEuropawahlauf die Wahlentscheidung der Wähler einwirken. Die ÖVP von Kanzler Kurz kam daraufhin auf fast 35 Prozent, die FPÖ auf gut 17 Prozent. Wäre die Wahl ohne die Enthüllungen anders ausgegangen? +Das ist Spekulation. Wir haben die Veröffentlichung nicht direkt vor der Europawahl platziert. Wenn diePrüfung des Materialslänger gedauert hätte oder wir an der Echtheit Zweifel gehabt hätten, dann hätten wir es nicht veröffentlicht. Aber die Prüfung war abgeschlossen, das Video war authentisch. Es wäre unjournalistisch gewesen, wenn wir die Veröffentlichung bewusst bis nach der Wahl zurückgehalten hätten. +Die FPÖ hat in den letzten Monaten immer wieder die Pressefreiheit attackiert: Sie will die Gebühren abschaffen, den ORF reglementieren und unbequeme Journalisten wie Armin Wolf loswerden. Ist es bezeichnend, dass die Enthüllung des Videos nun von deutschen Medien kommt? +Wichtiger ist, dass eine Wirkung zu sehen ist. Die "Kronen-Zeitung", von der im Video viel gesprochen wird, hat beispielsweise sehr massiv auf das Video reagiert und ihre Unabhängigkeit verteidigt. Aber auch die anderen Medien in Österreich haben möglicherweise einen Weckruf erhalten, dass einige Rechtspopulisten es ernst meinen, wenn sie sagen, dass sie sich eineMedienlandschaft wie in Ungarnwünschen, die nichts mehr mit den liberalen Werten zu tun hat, wie sie in Europa herrschen sollten. + + diff --git a/fluter/was-frauen-fuer-die-mode-auf-sich-nehmen-muessen.txt b/fluter/was-frauen-fuer-die-mode-auf-sich-nehmen-muessen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..835062d109db1a024b5eed3cb46f49b03de0a176 --- /dev/null +++ b/fluter/was-frauen-fuer-die-mode-auf-sich-nehmen-muessen.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Auch die Kleidermode hatte früh ihre extremen Ausprägungen: So fand der Reifrocktrend seinen Höhepunkt im 19. Jahrhundert in der Krinoline, einem gigantischen Unterrockgestell aus Rosshaar und später Federstahlbändern, mit einem Saumumfang von bis zu acht Metern. Er war nicht nur unpraktisch, sondern lebensgefährlich: Etliche Trendbewusste verfingen sich in Kutschrädern oder Maschinen. In den ersten beiden Jahrzehnten dieser Mode sollen allein in England rund 3.000 Frauen gestorben sein, weil ihre ausladenden Kleider in Brand gerieten. Auch Oscar Wildes Halbschwestern kamen so ums Leben: Auf einem Ball fing Marys Krinoline Feuer und entfachte das Kleid der zu Hilfe eilenden Emily gleich mit. Beide erlagen ihren Verletzungen. +Weniger breit, aber mindestens so bewegungsunfähig machte Anfang des 20. Jahrhunderts der Humpelrock seine Trägerinnen. Das lange, gen Knöchel eng zulaufende Kleidungsstück, auch Mumien- oder Fesselrock genannt, ließ die Frauen ebenfalls nur in Trippelschritten vorwärtskommen: Sie stürzten Treppen hinunter oder kamen nicht schnell genug über die Straße. Mit einem über die Oberschenkel verlängerten Korsett wurde gern die Bewegungsfreiheit der Beine zusätzlich beschränkt. Das sollte ein Reißen des Saumes verhindern, falls sich eine freche Trägerin allzu hastig bewegte. +Hastige Bewegungen waren mit der Korsettmode allerdings ohnehin nicht vereinbar. Die Preisliste für eine Sanduhrfigur war lang: Atemnot, Übelkeit, Ohnmacht, Muskelschwund, Quetschung und Verlagerung von Organen. Doch selbst Berichte über tragische Todesfälle konnten dem Trend nichts anhaben – so wurde Mitte des 19. Jahrhunderts per Autopsie der Tod einer jungen Pariserin aufgeklärt: Drei ihrer Rippen hatten ihre Leber durchbohrt. +Die Idee, dass Mode bei Frauen untrennbar mit einer Taille vom Umfang eines Halses, schmerzenden Füßen und eingeschränkter Bewegungsfreiheit zusammenhängt, hat sich zum Teil bis ins 21. Jahrhundert hinübergerettet. Kim Kardashian jedenfalls musste vor einem Galaauftritt im Korsett fleißig das Atmen üben, um einer Ohnmacht vorzubeugen, wie anno 1890. Und wenn Drill Sergeant Heidi Klum ihre "Germany's Next Topmodel"-Kandidatinnen ins Laufsteg-Training schickt, erinnert das an die chinesischen Lotusfüße: Da wackeln 16-jährige Mädchen in 16 Zentimeter hohen Stöckelschuhen wie auf Stelzen, immer knapp vor dem Bänderriss, immer hart an der Grenze zur Würdelosigkeit. Der Catwalk wird auch schon mal unter Wasser gesetzt oder auf einen Balken in 15 Metern Höhe verlegt. So also bereitet man Frauen auf eine Karriere in der Modebranche vor. Stil bedeutet: Disziplin! Sexyness bedeutet: Schmerz! Uralte Gleichungen, die hohe Einschaltquoten bekommen. +Sind weibliche Stilikonen denn auf immer dazu verdammt, sich für Wegstrecken über fünf Meter eine rettende männliche Armbeuge zu suchen? Müssen Körper durch den Stoff nicht nur geschmückt, sondern auch gleich noch in Form gepresst werden? Ja, auch mancher Mann schiebt sich in Slim-Fit-­Jeans, die den Umfang von Thrombosestrümpfen haben. Aber das bleibt doch eher die Ausnahme. Die Frauen sind auf diesem Gebiet die Expertinnen – aktuell krümmen sich einige von ihnen auch auf ihren Bürostühlen, weil die High-Waist-Mode im Sitzen den Bauch abschnürt. Und auch die beliebte Shapewear ist nicht ungefährlich: Die Formunterwäsche drückt nicht nur unerwünschte Fettpolster und Dellen weg, sondern auch die inneren Organe zusammen. In der Folge kann es zu Verdauungsbeschwerden, Sodbrennen, geschwächter Rumpfmuskulatur oder Durchblutungsstörungen kommen. +Inzwischen gibt es aber auch neue Role Models wie Billie Eilish: Im exzentrischen Schlabberlook trampelt die 18-jährige Sängerin mit Turnschuhen auf dem "Sex sells"-Dogma herum. Im Kurzfilm "Not My Responsibility" fragt sie: "Hättet ihr mich gern kleiner, schwächer, weicher? Wenn ich mich bequem kleide, bin ich keine Frau. Wenn ich die Hüllen fallen lasse, bin ich eine Schlampe. Für eure Meinung über mich bin ich nicht verantwortlich." + + diff --git a/fluter/was-frisches-aus-dem-einkaufsnetz.txt b/fluter/was-frisches-aus-dem-einkaufsnetz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6a66ac9be3e7cb132cf272e56ebffd532402914c --- /dev/null +++ b/fluter/was-frisches-aus-dem-einkaufsnetz.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Aus Amazon, dem Online-Buchhändler aus Seattle, ist binnen zweier Jahrzehnte ein riesiger Konzern geworden, der längst nicht mehr nur Bücher vertreibt. Er bietet inzwischen auch Logistik und Technik an, produziert eigene Filme und Serien, druckt Bücher, hat Cloud-Dienstleistungen und vieles mehr im Sortiment – in einigen US-Städten eben auch Lebensmittel. Amazon ist ein riesiges Labor für neue Ideen, ein Transformator, der ganzeBranchen umkrempelt, nicht weniger ambitioniert als Google, und macht allein in Deutschland rund 10 Milliarden Euro Umsatz. Auch auf Kosten des Buchhandels: So ist die Zahl der kleinen und mittleren Buchhandlungen in den vergangenen zehn Jahren um ein Viertel gesunken – vor allem wegen Amazon, wie der Börsenverein des Deutschen Buchhandels sagt. Vielleicht rührt die Sorge aus Beobachtungen wie dieser. +Die Einstellung der Deutschen zum Lebensmitteleinkauf im Internet lässt sich laut Marktforschern derzeit so zusammenfassen: Haltbares ja, Frisches lieber offline. Zwar gibt es bereits einige Online-Supermärkte, so zum Beispiel von Rewe, Kaiser's Tengelmann ("Bringmeister") oder DHL ("Allyouneed Fresh"), doch derzeit macht das Onlinesegment nur rund ein Prozent des gesamten Umsatzes des Lebensmitteleinzelhandels aus. Experten prognostizieren der Branche allerdings ein rapides Wachstum – und dabei könnte Amazon mit seinem Dienst "Fresh" eine entscheidende Rolle spielen. Aber: In den USA ist der 2013 gestartete Service derzeit bloß in sieben Städten verfügbar, womit Amazon hinter den Erwartungen einiger Analysten zurückgeblieben ist. +Die hiesige Handelsbranche beobachtet Medienberichten zufolge schon seit längerem, dass Amazon in Deutschland nach geeigneten Hallen und Mitarbeitern sucht, mutmaßlich wird noch in diesem Jahr in München oder Leipzig getestet. Um flexibler zu sein und Waren noch am selben Tag liefern zu können, ist Amazon außerdem im Begriff, einen eigenen Lieferdienst mit eigenen Packstationen aufzubauen. +Die Angst vor der Dominanz Amazons kann E-Commerce-Experte Jochen Krisch verstehen. Der selbstständige Branchenanalyst und Business Angel betreibt das Blog "Exciting Commerce" und ist Veranstalter einer Konferenz für Onlinehandel. Er sagt, es sei jedoch auch Skepsis angebracht: "Internationale Player setzen sich in Deutschland in der Regel nicht durch." Das habe man in der Vergangenheit zum Beispiel bei Wal-Mart beobachten können. Zu umkämpft sei der Markt mit seinen ohnehin geringen Margen. Deshalb erwartet er, dass Amazon zunächst ein kleiner Player mit beschränktem Angebot werde, statt mit einem großen Knall zu starten. Krisch kann sich außerdem vorstellen, dass Amazon nach der Etablierung von "Fresh" seine Verkaufsplattform auch für andere Anbieter öffnet. Davon könnten dann auch andere Unternehmen aus der Branche profitieren. +Marktforscher sind der Überzeugung, die Deutschen gehen zu gern einkaufen, als dass der stationäre Handel aussterben könnte. Stephan Becker-Sonnenschein, Geschäftsführer des Vereins "Die Lebensmittelwirtschaft", rechnet allerdings damit, dass die Anzahl der Supermärkte in den nächsten fünf bis zehn Jahren vor allem auf dem Land und in Kleinstädten abnehmen wird."Dass das Wegfallen des haptischen Erlebnisses den digitalen Wandel im Lebensmittelhandel aufhalten könnte, wage ich zu bezweifeln", sagt er. Durch die Gewöhnung, alles im Netz kaufen zu können, sei es ganz selbstverständlich, sich nun auch die Radieschen liefern zu lassen. +"Amazon wird massiven Einfluss auf die Erzeuger ausüben", sagt Jutta Sundermann. Sie engagiert sich bei der "Aktion Agrar", die sich für eine ökologische, nachhaltige und sozialverträgliche Landwirtschaft starkmacht. Neben hohem Preisdruck befürchtet Sundermann, dass Amazon die Qualitätsstandards der Branche senken könnte. +Allerdings steht schon jetzt auf dem deutschen Lebensmittelmarkt eine Handvoll Konzerne zwischen Abertausenden landwirtschaftlichen Betrieben und Millionen Konsumenten – eine Gruppe Gatekeeper mit ungeheurer Marktmacht: Edeka, Rewe, Aldi und Lidl-Eigentümer Schwarz teilen sich – gemessen am Absatz – derzeit mehr als 85 Prozent des deutschen Lebensmitteleinzelhandels . Ob Onlinehändler Amazon die Abhängigkeit der Bauern von den Gatekeepern daher tatsächlich verstärkt, bleibt abzuwarten. +Da sind Branchenkenner unterschiedlicher Meinung. Stephan Becker-Sonnenschein vom Verein "Die Lebensmittelwirtschaft" befürchtet, dass in Online-Supermärkten auf Grundlage zweier Fragen eine Angebotsauswahl vorgenommen wird: Welches Produkt hat sich am besten verkauft? Zu welchem Preis hat es sich am besten verkauft? Wer nicht das Durchschnittsbrot zum Durchschnittspreis wolle, werde mehr bezahlen müssen. Ein Angriff auch auf regionale Spezialitäten. "Die fallen dann irgendwann weg." +Das sei doch viel eher ein Problem des derzeitigen stationären Handels, sagt E-Commerce-Experte Jochen Krisch. "Wir haben einen Massenmarkt, auf dem der kleinste gemeinsame Nenner verkauft wird", sagt er. Online hingegen hätten Nischenprodukte viel größere Chancen. Deswegen hofft er auf neue Internet-Start-ups, die nicht dem großen Amazon hinterherhecheln, sondern eigene Wege gehen, zum Beispiel mit Alternativen zum datengetriebenen Ansatz von Amazon (siehe unten). Die es also anders machen als bestehende Offline-Unternehmen, die dem Online-Trend bislang nämlich nicht wirklich etwas entgegenzusetzen hatten – gut zu sehen im Buchhandel, aber auch in der Modebranche, deren Offline-Geschäft unter dem Erfolg von Zalando sehr gelitten hat. +Auch dass wir durch Amazons Vorschläge ("Kunden, die dieses Produkt gekauft haben, kauften auch...") nur noch bestimmte Produkte kaufen oder uns gar einseitig ernähren, glaubt Krisch nicht. "Das wäre für Amazon kontraproduktiv", sagt er und verweist auf dessen Buchgeschäft: Auch dort würde nicht nur die Einkaufshistorie des Kunden berücksichtigt, sondern immer auch Neuheiten vorgeschlagen – "bis hin zu Self-Publishing-Projekten, die es im normalen Buchhandel nicht geschafft hätten". +Neben den schlechten Arbeitsbedingungen der Angestellten und der möglicherweise eingestellten Steuervermeidungsstrategie wird oft auch Amazons umfängliche Datensammelei kritisiert. Um das zu verstehen, muss man sich bewusst machen, wie gut der Konzern seine Kunden kennt: ihre Bedürfnisse, ihre Vorlieben und den Inhalt ihres halben Haushalts – bald eben auch des Kühlschranks. Hinzu kommen Adressen, Konten und andere persönliche Informationen. Wahrscheinlich ist Amazon auch gar nicht schlecht darin, anhand von Einkäufen das Einkommen zu schätzen. Für Datenschützer ein Graus. +Dass Amazon auch im Lebensmittelbereich detaillierte Kundenprofile anlegen wird, bezweifelt E-Commerce-Experte Jochen Krisch folglich nicht. Aber er wirft die Frage auf, ob das nachteilig sein müsse – das könne man schließlich auch als Service empfinden. Und besitzt nicht ohnehin schon die halbe Nation Kundenkarten, mittels derer genau das geschieht: Datensammeln? +Ein weiterer Aspekt, der diskutiert wird, sobald Amazons grüne Trucks in Deutschland Essen ausliefern: der Klimaschutz. Moritz Mottschall ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Öko-Institut für angewandte Ökologie. Ob es weniger klimafreundlich sei, Lebensmittel online statt im Laden zu kaufen? Schwer zu sagen. "Da spielen viele Einflussfaktoren eine Rolle", gibt er zu bedenken, "die wichtigsten sind die Wahl des Verkehrsmittels, die zurückgelegte Entfernung und eine Veränderung des Mobilitäts- und Einkaufsverhaltens." Eine Handlungsempfehlung möchte er derzeit lieber nicht aussprechen. Und wenn doch, dann diese: "Wichtiger als die Frage nach dem Wie kann die Frage nach dem Was sein: Kaufe ich regionale Bio-Produkte oder konventionelle Erdbeeren aus Spanien?" +Wer sich übrigens gar nicht zu dem Thema äußert, ist Amazon selbst. Die Presseabteilung bedankt sich für das Interesse und verweist auf den erfolgreichen Launch in den USA. Was am Ende natürlich auch eine Aussage ist. diff --git a/fluter/was-geht-ab-bro.txt b/fluter/was-geht-ab-bro.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d0ad0bf20c4c08df22ebe1a6c145c20ed91b5567 --- /dev/null +++ b/fluter/was-geht-ab-bro.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +In Deutschland hört man familiäre Anreden häufig von Türkischstämmigen. "Abi" für älterer Bruder ist so ein Wort, das Wertschätzung ausdrückt und inzwischen auch von Jugendlichen ohne Migrationshintergrund verwendet wird. "Solche Anreden verbreiten sich zwischen den Jugendkulturen. So zeigt man, dass man zur selben Subkultur gehört", sagt Kommunikationsforscher Meyer. +Mit dem Stichwort "Familie" sei der Wunsch nach etwas Dauerhaftem und Verlässlichem verknüpft, sagt Kerstin Jürgens, Professorin für Mikrosoziologie an der Uni Kassel. Man hoffe auf "Solidarität, Liebe, Geborgenheit", die in Familien auf langjährigem Zusammenleben basieren. Klar, in Freundeskreisen würden keine Kinder erzogen, sie könnten aber durchaus wie Familien empfunden werden. +Auch das Zusammenleben in einer Wohngemeinschaft wie der von Barbara, 25. Ihre Wohngemeinschaft war bunt durchmischt was Alter und Herkunft betrifft: Inder, Franzosen, eine Litauerin und auch ein paar Deutsche waren dabei. "Die Wohnung war nicht besonders hübsch, die Mitbewohner haben aber so aufgeschlossen und familiär miteinander gewirkt, da wusste ich gleich: Da will ich einziehen", sagt Barbara. +"Klar gab's auch öfter Zoff, gerade weil wir so unterschiedliche Typen waren, aber das war nie so wichtig." Das Zusammengehörigkeitsgefühl sei stärker gewesen. "Wir haben uns so gut kennengelernt, dass wir schon eine kleine, etwas ausgeflippte Familie waren." +Die Soziologin Jürgens sieht auch in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen einen Grund für die Sehnsucht nach quasi familiärer Geborgenheit im Alltag. "Zukunftssorgen sind weit verbreitet. Das führt dazu, dass viele Menschen verstärkt nach Sicherheit in der Familie und auch bei Freunden suchen." Heute müsse man aber flexibel und mobil sein, und notfalls auch an einem andrem Ort seine Existenz neu aufbauen. +Keine guten Bedingungen für die Familienbeziehung, oder auch, um eine neue Familie zu gründen. Können stattdessen Freundschaften als Familienersatz herhalten? "Um in Freundschaften eine solche Solidarität aufzubauen, braucht es viel Zeit, gemeinsame Erfahrungen und vor allem Vertrauen. Über virtuelle Netzwerke lässt sich das nur bedingt bewerkstelligen, dafür ist Präsenz nötig", so Jürgens. "Aber falls wir keine eigene Familie haben, zum Beispiel, wenn wir älter sind, kommen wir dazu, uns Wahlgemeinschaften zu suchen, bei denen wir Geborgenheit finden und auf die wir auch im Notfall zählen können." diff --git a/fluter/was-geht-ab.txt b/fluter/was-geht-ab.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cb20e37c67260331d765662d4cd23560fbd730a8 --- /dev/null +++ b/fluter/was-geht-ab.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Doch nicht nur Zypern steht einer weiteren Annäherung im Weg: In ihrem neuesten Fortschrittsbericht kritisiert die EU, dass die Menschenrechtslage in der Türkei auf einem bedenklichen Niveau stagniere. So waren nach Angaben der türkischen Nachrichten-Website Bianet zu Jahresbeginn 68 Journalisten in der Türkei inhaftiert. Außerdem ließen die Behörden vor nicht allzu langer Zeit willkürlich Intellektuelle wie den Verleger Ragip Zarakolu und die Professorin Büsra Ersanli wegen angeblicher Unterstützung einer "illegalen Organisation" verhaften. +Allerdings ist die Haltung der EU alles andere als konsequent: Während lautstark Menschenrechte eingefordert werden, arbeitet man in der Flüchtlingspolitik zusammen. Als Nachbarland von Griechenland, Syrien, dem Irak und Iran ist die Türkei in den letzten Jahren zum wichtigsten Transitland für Flüchtlinge aus Afrika oder dem Nahen Osten geworden: 2010 überquerten schätzungsweise fast 50.000 Menschen die griechisch-türkische Grenze, um in Europa Asyl zu beantragen. Angesichts der rigorosen Abschottungspolitik bleiben die Flüchtlinge aber immer häufiger in Istanbul hängen – ohne Unterkunft und Aussicht auf Arbeit. Da die Türkei nichteuropäischen Flüchtlingen kein Asyl gewährt, droht den meisten die Abschiebung. Unklar ist auch die Zukunft Tausender Iraner, die nach der fehlgeschlagenen Revolution gegen das Regime 2010 aus dem Land flohen, weil ihnen Folter und Gefängnis drohten – und die nun in türkischen Satellitenstädten auf Asyl in Deutschland oder anderen EU-Staaten hoffen. In den meisten Fällen vergebens, obwohl viele Regierungschefs die Demokratiebewegung damals wortmächtig unterstützten. +Auf türkischer Seite wiederum scheint die EU kein Sehnsuchtsort mehr zu sein – auch wenn der türkische Ministerpräsident Erdogan über seinen EU-Minister verkünden lässt, dass ein Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft weiterhin höchste Priorität hat. Zu sehr liebäugelt man mit dem Aufstieg zur starken Nation inmitten einer wirtschaftlich und politisch fragilen Weltregion. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht – angesichts des langjährigen Wirtschaftsbooms, der sich unter anderem an immer waghalsigeren Bauprojekten in Istanbul zeigt. +Das neue Selbst- und Sendungsbewusstsein der Türkei bekommen auch die Staaten Nordafrikas zu spüren, die sich nach den Demokratiebewegungen des sogenannten Arabischen Frühlings um einen Neuanfang bemühen. Den Ägyptern empfahl Erdogan ein islamisch-demokratisches Staatsmodell – nach dem Vorbild der Türkei. Tatsächlich ist die Verbindung von Islam und Moderne, auf die sich Erdogans Partei AKP gerne beruft, zumindest in virtueller Hinsicht bereits ein Exportschlager: Rund 150 zumeist kitschige Fernsehserien zeigen das liberale Istanbuler Großstadtleben, aber auch historischen Stoff aus den Zeiten der Sultane. Sie werden bis nach Saudi-Arabien, Griechenland, Bosnien und Serbien ausgestrahlt. Bei der eigenen Bevölkerung kommt besonders die Rückbesinnung auf das mächtige Osmanische Reich gut an, gleichzeitig sinkt in der Bevölkerung die Begeisterung für einen Beitritt in die krisengeschüttelte EU. Aber einig sind sich auch die Türken nicht: Es gibt historisch gewachsene Gräben zwischen Linken und Rechten, zwischen Türken und Kurden, Nationalisten und Liberalen, Religiösen und Weltlichen. +Auch bei diesen inneren Konflikten macht die Türkei gleichzeitig Fort- und Rückschritte. So wird inzwischen offen über den Völkermord an den Armeniern diskutiert, der sich 2015 zum hundertsten Mal jährt. Auf der anderen Seite wurde der armenische Journalist Hrant Dink 2007 in Istanbul auf offener Straße erschossen. Im Mordprozess wurde 2012 einer von insgesamt 19 Angeklagten verurteilt. Hinweisen auf die Hintermänner der Tat im Sicherheitsapparat ging das Gericht nicht nach. Immerhin stehen nun neue Ermittlungen an. +Im Kurdenkonflikt bahnt sich sogar zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei eine friedliche Lösung an. 40.000 Menschen kamen in den letzten Jahrzehnten im Osten der Türkei durch den Konflikt ums Leben. Angesichts der kriegerischen Auseinandersetzungen in den Nachbarländern Syrien und Irak mit ihren großen kurdischen Minderheiten ist die Türkei gezwungen, mit der militanten Kurdenorganisation PKK zu verhandeln. Zudem werden die Antiterrorgesetze teilweise gelockert, auch wenn Menschenrechtlern viele der Reformen nicht weit genug gehen. Zum ersten Mal seit der Gründung der türkischen Republik wird sogar an manchen Universitäten Kurdisch unterrichtet; zahlreiche neue Sachbücher zur "Kurdenfrage" füllen die Regale in den Buchläden. +Verbessert wurde das Klima auch durch den Beschluss der Regierungspartei AKP, Kurden nicht mehr wie früher als "Bergtürken", sondern als islamische Glaubensbrüder zu betrachten. Die Religion wird im öffentlichen Leben des eigentlich streng säkularen Landes immer wichtiger. Das Kopftuchverbot an Universitäten wurde bereits ausgesetzt und fällt bald vermutlich auch für Lehrerinnen. Das Militär, das sich stets als Hüter der Trennung von Kirche und Staat begriff, wurde in den letzten Jahren von der Regierung weitgehend entmachtet. Kritiker von Erdogan fürchten eine weitere Islamisierung des Landes. Anfang des Jahres wurde der Komponist und Pianist Fazil Say von einem Istanbuler Gericht wegen "Herabsetzung religiöser Werte" zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Später wurde das Urteil wegen Verfahrensfehlern aufgehoben – vorerst. +Dass die Zivilgesellschaft immer wieder zwei Schritte nach vorne macht – und die Regierung einen Schritt zurück –, geht vielen Bürgern gegen den Strich. Ende Mai dieses Jahres entzündete sich an einem Bauprojekt in einem Park am Taksim-Platz im hippen Bezirk Beyoglu ein Protest, der in den Medien bereits als "türkischer Frühling" bezeichnet wurde. Tausende machten ihrem Ärger über das als autoritär empfundene Regime Luft – und als die Polizei mit Gewalt antwortete, wurde der Protest nur umso größer. Auch wenn die Türkei nicht in der EU ist – viele ihrer Bürger wollen genau die Freiheit, die dort herrscht. diff --git a/fluter/was-geht.txt b/fluter/was-geht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1b3c4ca187de933f5f4dbff1c2afb06b5dab23dd --- /dev/null +++ b/fluter/was-geht.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Gendiagnostikgesetz +"Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass wir uns für einen anderen Bewerber entschieden haben. Laut Ihrer genetischen Daten sind Sie nämlich nicht sonderlich fit." Totaler Quatsch, eine Absage mit einer solchen Begründung zu bekommen? Eigentlich nicht. Denn die Humangenetik macht immer mehr Fortschritte, und Forscher können unserem Erbgut immer mehr Informationen entnehmen. Dass trotzdem niemand eine solche Absage bekommt, liegt am Gendiagnostikgesetz (GenDG). Das am 1. Februar 2010 in Kraft getretene Gesetz regelt den Umgang mit Erbinformationen und hat das Ziel, die "mit der Untersuchung menschlicher genetischer Eigenschaften verbundenen möglichen Gefahren und genetische Diskriminierung zu verhindern". So dürfen Arbeitgeber von ihren Angestellten oder Versicherungen von ihren Kunden grundsätzlich keine Gentests verlangen. Auch ist es ihnen untersagt, bereits existierende Ergebnisse entgegenzunehmen oder zu verwenden (Paragraf 18 und 19). Es bleibt also bei den bekannten Absagefloskeln. +Embryonenschutzgesetz +In Deutschland ist fast jedes zehnte Paar zwischen 25 und 59 Jahren ungewollt kinderlos. Dank künstlicher Befruchtung bleibt es nicht bei allen so. Was dabei erlaubt ist und was nicht, regelt das Embryonenschutzgesetz (ESchG). Das Spenden von Eizellen und die Leihmutterschaft sind verboten, in der Ukraine zum Beispiel ist beides erlaubt – das lockt Paare aus ganz Europa, auch aus Deutschland. Die Gesetze in der Ukraine seien zu liberal, kritisieren die einen, die in Deutschland zu streng, die anderen. Seit Inkrafttreten des ESchG am 1. Januar 1991 wurde es immer wieder diskutiert und geändert – nicht zuletzt aufgrund des wissenschaftlichen Fortschritts. Nach dem ESchG ist jegliche Forschung an Embryonen untersagt. 2002 kam es durch das Stammzellgesetz (StZG) allerdings zu einer Art Ergänzung. Das StZG genehmigt nämlich die Einfuhr embryonaler Stammzellen aus dem Ausland, die vor dem 1. Mai 2007 gewonnen wurden. Einige deutsche Wissenschaftler kritisieren dennoch, dass sie mit der internationalen Forschung nicht mithalten könnten. Immer wieder verweisen sie dabei auf die Forschungs- und Wissenschaftsfreiheit, die im Grundgesetz festgehalten ist. Dort steht allerdings auch, dass Leben und Würde des Menschen geschützt werden müssen. +*TTIP ist ein geplanter Vertrag, durch den der Handel zwischen der EU und den USA einfacher werden soll. So sollen Zölle wegfallen, Verbraucher- und Umweltstandards vereinheitlicht werden. Befürworter hoffen, dass Firmen dadurch Geld sparen und mehr Handel betreiben. Das würde zu mehr Jobs führen. Gegner befürchten, dass Firmen zu viel Macht bekommen und sich an weniger Regeln, zum Beispiel beim Umweltschutz, halten. Sie kritisieren auch, dass die Verhandlungen größtenteils im Geheimen geführt werden. diff --git a/fluter/was-gibts.txt b/fluter/was-gibts.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/was-habt-ihr-vor.txt b/fluter/was-habt-ihr-vor.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f763f86793c967a098e43bb0113a4d6181b12ebd --- /dev/null +++ b/fluter/was-habt-ihr-vor.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Bereits 1997 wurde im sogenannten Kyoto-Protokoll festgeschrieben, die Emissionen der sechs wichtigsten Treibhausgase – darunter CO2, Methan und FCKW – im Zeitraum von 2008 bis 2012 um mindestens fünf Prozent unter das Niveau von 1990 zu senken; wenig später begannen innerhalb der EU Diskussionen darüber, wie diese Verpflichtungen umgesetzt werden könnten. Der Emissionshandel war die zentrale Idee. Dahinter steckte Folgendes: Unternehmen sollten Zertifikate erhalten, die ihnen einen bestimmten CO2-Ausstoß erlauben. Wer weniger Dreck verursachte, sollte mit den Zertifikaten handeln dürfen – und so belohnt werden. +Damals aber gab es weder verlässliche Zahlen über den CO2-Ausstoß Deutschlands noch irgendwelche Erfahrung mit dem Handel von derlei Zertifikaten. Daher rief die Regierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder im Jahr 2000 die Arbeitsgruppe "Emissionshandel zur Bekämpfung des Treibhauseffektes" ins Leben. Der Vorsitz lag beim Bundesumweltministerium, zur Gruppe gehörten neben Vertretern weiterer Bundesministerien auch Vertreter von rund 30 großen deutschen Unternehmen, Abgesandte von Wirtschaftsverbänden wie dem des deutschen Steinkohlebergbaus und dem der deutschen Elektrizitätswirtschaft. Zudem gemeinnützige Organisationen wie BUND, WWF und Germanwatch. +Bald entwickelte sich diese ursprünglich als Diskussionsplattform gedachte Arbeitsgruppe zum Schlachtfeld der Einflussnahme: Industrie und Stromerzeuger versuchten in den folgenden Jahren, einen Emissionshandel zur Verringerung des CO2-Ausstoßes komplett zu verhindern. Dann, als das scheiterte und auf europäischer Ebene eine Entscheidung ohne deutschen Einfluss drohte, versuchten die Vertreter von Unternehmen und Verbänden, den Emissionshandel wahlweise freiwillig zu gestalten oder durch sehr hoch angesetzte CO2-Richtwerte zu beeinflussen. +Um ihre Interessen durchzusetzen, das kann man in Matthias Corbachs Diplomarbeit nachlesen, drohten die Energieversorger mal mit geringeren Investitionen oder höheren Strompreisen, dann wieder warnte die Industrie vor dem Verlust von Tausenden von Arbeitsplätzen. In den Tageszeitungen wurden Anzeigen gegen den Emissionshandel veröffentlicht. Dazu kamen wissenschaftliche Studien, die beängstigende Zahlen verbreiteten: 56.000 Arbeitsplätze stünden auf dem Spiel, 15 Milliarden Euro würde diese Art des Klimaschutzes allein bis 2012 kosten. Ein in den Bundestag gewählter ehemaliger Bundesminister stand damals den großen Stromkonzernen als Berater zur Seite. +Insgesamt listet Corbach im Anhang seiner Diplomarbeit fast 40 Bundestagsabgeordnete auf, die auf die eine oder andere Art einer Nebentätigkeit für die Energiewirtschaft nachgingen. +Die Pointe dieses Politthrillers ist: Im Grunde ist alles genau so gedacht. Regierung und Parlament sollen sich, so sehen es die Regeln vor, mit den großen Interessengruppen des Landes zusammen- und auseinandersetzen. Die Politikwissenschaftler Werner Jann und Kai Wegrich nennen dieses Modell im "Lehrbuch der Politikfeldanalyse" den "kooperativen Staat": ein Staat also, der sich nicht einfach im stillen Kämmerlein Gesetze ausdenkt, die dann mit der Wirklichkeit zusammenprallen. Sondern einer, der all diejenigen, die von einem neuen Gesetz betroffen sind, auch fragt, was sie davon halten und was es für sie bedeutet. +Auch wenn der Begriff "Lobbyismus" in Deutschland einen schlechten Klang hat, bedeutet er nichts anderes als: Interessenvertretung mit dem Ziel, politische Entscheidungen zu beeinflussen – nicht mehr, nicht weniger. Es gibt sogar eine öffentliche Liste über die beim Bundestag registrierten Verbände und deren Vertreter, in der – laut Geschäftsordnung des Bundestages – alle Vertreter von Verbänden registriert sind, die man als Experten in den Bundestag laden kann. Die Idee dahinter: Wenn sich bei der Schaffung von Gesetzen nicht nur Politiker, sondern auch Experten einbringen, wird die Qualität neuer Gesetze und Regelungen besser. +In der Theorie klingt das gut, in der Praxis funktioniert es sehr mittelmäßig. So erfolgt die Aufnahme in die "öffentliche Liste" über die beim Bundestag registrierten Verbände und deren Vertreter auf Antrag, viele Interessengruppen fehlen. LobbyControl, eine Nichtregierungsorganisation (NGO), die sich unter anderem für mehr Transparenz in der Gesetzgebung einsetzt, kritisiert deswegen: "Die Verbändeliste erfasst weder die Lobbybüros der Unternehmen noch Lobby- und PR-Agenturen oder Anwaltskanzleien, die Lobbyarbeit im Auftrag wechselnder Kunden betreiben. Gerade bei diesen wäre es wichtig zu wissen, für wen sie eigentlich arbeiten." Für Christian Humborg, Geschäftsführer von Transparency International Deutschland, ist genau diese Grauzone zwischen klarer Interessenvertretung und undurchsichtigen politischen Runden das Problem, in der Abgeordnete und Minister bisweilen auch persönlich von den wechselseitigen Kontakten zu Lobbyisten profitieren. +Selten bekommt man wirklich Einblick, wie ein Gesetz in dieser Gemengelage von widerstreitenden Interessen entsteht. Das Beispiel des Emissionshandels ist da eine absolute Ausnahme. In den letzten 20 Jahren gibt es laut einem NGO-Geschäftsführer in ganz Deutschland gerade mal drei Fälle, die so gründlich aufgearbeitet wurden. +Transparency International Deutschland fordert deshalb seit einiger Zeit einen sogenannten legislativen Fußabdruck, bei dem im Anhang zu einem Gesetzentwurf alle Interessenvertreter aufgelistet werden, die Abgeordnete oder Ministerialbeamte bei ihrer Arbeit an einem Gesetz kontaktiert haben. Noch ist es nicht so weit, aber für Transparency-Mann Humborg ist es schon ein gutes Zeichen, dass das Thema Lobbyismus mittlerweile auf der Tagesordnung der Presse und in den Wahlprogrammen einiger Parteien angekommen ist. Und der Emissionshandel? Der wurde 2005 eingeführt. +Allerdings durften die Unternehmen so viel CO2 hinausblasen, dass der Handel mit den Verschmutzungslizenzen bis 2012 so gut wie nicht funktionierte. Es wurde sogar mehr CO2-Ausstoß erlaubt als überhaupt nötig. In der Folge sank der Preis pro Lizenz für eine Tonne CO2 von den erwarteten 30 auf grob fünf Euro. Doch das nächste Kapitel hat schon begonnen: Am 3. Juli 2013 stimmte das Europäische Parlament für eine zeitweilige Verknappung der CO2-Zertifikate. Der Kampf geht also weiter. diff --git a/fluter/was-halten-muslimische-frauen-von-islamic-fashion.txt b/fluter/was-halten-muslimische-frauen-von-islamic-fashion.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..51d47c04a973b91c977c7c88081b1d2a1949ef7c --- /dev/null +++ b/fluter/was-halten-muslimische-frauen-von-islamic-fashion.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +"How great that you're modelling with a hijab! What do think about ISIS?" – Interviewfragen an Mariah Idrissi, dem muslimischen Model aus dem H&M-Spot "Close the Loop", sind mal mehr, mal weniger reflektiert, wie Idrissi in diesem TED-Talk erzählt +Wie der Spot zu interpretieren ist, darüber ist sich die Modewelt bis heute nicht einig. Dass "Islamic Fashion" im westlichen Modebusiness angekommen ist, daran gibt es aber keinen Zweifel mehr. Vergangenes Jahr erklärte das Wirtschaftsmagazin "Fortune" muslimische Frauen als "nächsten großen unberührten Modemarkt". Einer der Gründe dafür:Die muslimische Bevölkerung wächst weltweit rapide, so das Forschungsinstitut "Pew Research Center". +Und auch die Liste der "Islamic Fashion" produzierenden Marken wächst und wächst: Den Anfang machte 2014 das US-amerikanische Label DKNY mit einer Ramadan-Kollektion. Ein Jahr später folgte das Modehaus Tommy Hilfiger. Im Januar dieses Jahres brachte dann das italienische Luxuslabel Dolce & Gabbana eine entsprechende Kollektion heraus: weite Kleider, bodenlange Mäntel und farblich abgestimmte Kopftücher. Und auch vergleichsweise günstige Modeketten wie Zara, Mango, Uniqlo und H&M sind dabei. +Während manche diese Entwicklung als Zeichen von Fortschritt, Respekt und Akzeptanz feiern, bemängeln Kritiker, dass ein Kopftuch und andere Formen der Verschleierung keine Kleidungsstücke wie andere seien. Pierre Bergé etwa, Mitbegründer des Modehauses Yves Saint Laurent, erklärte im Frühjahr: "Ich dachte immer, dass ein Modeschöpfer dazu da sei, Frauen schöner zu machen, ihnen Freiheit zu geben, und nicht Komplize dieser Diktatur zu sein, die Frauen dazu zwingt, sich zu verstecken." +Ähnlich wie bei der immer wiederkehrenden Grundsatzdebatte "Kopftuch: Ja oder nein?" und dem aktuellen Streit um Burka- und Hijabverbote ist auch in der Diskussion um die "Islamic Fashion"-Industrie eines besonders augenscheinlich: Sie wird fast immer ohne jene Personen geführt, die sie am meisten betrifft – kopftuchtragende muslimische Frauen. +Frauen wie Zeynep Mutlu, die sich über die neue Bewegung in der Modeindustrie freut. Die 32-jährige Hamburgerin betreibt zusammen mit einer Freundin denMode- und Lifestyleblog "Makzey". In mal kleineren, mal größeren Abständen zeigen die beiden darauf ihre Outfits, verraten, wie man grüne Bulgur-Dürüms macht und welche Gedanken sie sich um Fragen des täglichen Lebens machen. +Die kritische Aussage Pierre Bergés kann Mutlu verstehen: "Das Bild der unterdrückten muslimischen Frau ist in den Medien einfach sehr präsent. Gut möglich, dass Bergé gar keine Kontakte wie mich hat, die ihm auch ein anderes Bild vermitteln könnten." Dass ein Designer sein Handwerk als Ausdruck von Freiheit sehe, fände sie ganz logisch. Nicht nachvollziehen könne sie dagegen, warum diese Freiheit nur in eine Richtung gedacht werde: "Es kann doch auch Freiheit bedeuten, Mode für jene anzubieten, die ein bisschen mehr auf Körperbedeckung achten wollen als andere. Ich verstehe diese Doppelmoral nicht." Wenn sich eine Frau zum Beispiel aus Karrieregründen dafür entscheide, bei der Arbeit keinen Minirock zu tragen, ginge das voll okay – "sie will eben nicht auf ihren Körper reduziert werden". Wenn der Grund für einen die  Haut bedeckenden Kleidungsstil aber ihre Religion sei, würde sofort irgendwer mit der Unterdrückung der Frau ankommen, sagt Mutlu. +Blogs wie der von Zeynep Mutlu und ihrer Freundin sind im Netz längst keine Rarität mehr. Sogenannte Hijabistas – ein Wortkonstrukt aus "Fashionista" und "Hijab", dem arabischen Wort für "Schleier" – posten auf Instagram täglich neue Outfits – mal bescheiden, mal gewagt und manchmal blingbling. Bloggerinnen wie Ascia Farraj aus Kuwait oder Dina Torkia aus Großbritannienzählen auf Instagram bereits Hunderttausende Follower. "In Deutschland steckt ‚Islamic Fashion' noch in den Kinderschuhen", sagt Hasania Aqarrout aus Aschaffenburg. Die 28-Jährige betreibt seit zwei Jahren einenOnlineshop für muslimische Mode. +Im letzten Jahr gründete sie außerdemein Onlinemagazin namens "Basma". Zielgruppe der Publikation: modebewusste muslimische Frauen. "Wir wollen aber ganz bewusst offen sein für jedes Publikum", sagt Aqarrout. +Hasania Aqarrout findet es toll, dass Mode endlich als wirkungsvolles Mittel entdeckt wird, um Vorurteile gegenüber Muslimas abzubauen: "Mode ist wie Musik – sie ist keiner Sprache bedürftig", sagt Aqarrout. Die modernen Kollektionen der großen Modeketten würden es muslimischen Frauen einfacher machen, eine Balance zwischen muslimischer und nichtmuslimischer Gesellschaft zu finden. Doch bei allem Modebewusstsein – zum Accessoire dürfe ein Kopftuch nicht werden, sagt Aqarrout: "Dieser Spagat zwischen religiös motivierter Bescheidenheit und Ausdruck der eigenen Individualität ist schwierig zu meistern." +Hijabs erobern nicht nur Einkaufsmeilen, sondern auch Catwalks: Hier z.B. Entwürfe der indonesischen Designerin Anniesa Hasibuan auf der New York Fashion Week vor zwei Wochen +Nach einer2009 herausgegebenen Studie der Deutschen Islam Konferenz (DIK)tragen in Deutschland weniger als ein Drittel der Musliminnen ein Kopftuch. Bei den jungen Frauen zwischen 16 und 25 Jahren ist es nur jede Fünfte. Die Gründe, warum sich Musliminnen für oder gegen das Kopftuch entscheiden,sind zwar äußerst unterschiedlich. Bei vielen jungen religiösen Musliminnen jedoch, so die Studie, scheintdas Kopftuch Teil eines Selbstverständnisses geworden zu sein: Er soll demonstrieren, dass Modernität und Religion Hand in Hand gehen können. +Wie wichtig Mode für den einzelnen Menschen und die Gesellschaft als Ganzes auch sein mag – dass es der Modeindustrie mit "Islamic Fashion" vor allem um ein Streben nach Akzeptanz geht, darf nach Ansicht der Bloggerin Zeynep Mutlu bezweifelt werden. "Wie in jeder anderen Branche auch geht es den großen Modehäusern sicher in erster Linie einfach darum, möglichst viel Geld zu machen", sagt sie. Eine moralische Intention schließe das zwar nicht aus, "aber das ausschlaggebende Argument ist sicher ein anderes." +Verwerflich findet Zeynep Mutlu dieses wirtschaftliche Kalkül aber nicht: "Akzeptanz in der Gesellschaft hat ganz viel mit den Medien zu tun. Wenn islamische Mode nun seiner Wirtschaftlichkeit halber neutral dargestellt und konstruktiv besprochen wird, hat das ja auch etwas Gutes." +Illustration: Héctor Jiménez diff --git a/fluter/was-hat-das-zu-bedeuten.txt b/fluter/was-hat-das-zu-bedeuten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..858f8aef57b23a152bc50b5064a76b60045f5f56 --- /dev/null +++ b/fluter/was-hat-das-zu-bedeuten.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Das ist ein philosophischer und damit vielleicht auch typisch deutscher Gedanke, für den es in anderen Sprachen keine echte Entsprechung gibt. Im Englischen wäre der Zeitgeist unbeholfen mit "spirit of the age" oder unvollständig mit "social climate" zu übersetzen. Im Französischen bietet sich zwar das elegante "élan du jour" an, macht aber zu viel Worte. Der alte deutsche Zeitgeist, so scheint es, hat im Ausland eine Präzisionslücke gefüllt. Wie aber konnte er zum Modewort, zum Buzzword werden, das er heute ist? +Google-Volltextanalysenzeigen, dass sich das Wort erstmals zur Hochzeit des deutschen Idealismus im 19. Jahrhundert bis in anglophone Fachkreise herumgesprochen hat. Wenn ein englischsprachiger Philosoph oder Philologie in jenen Tagen etwas von Hegel, Goethe oder Max Weber liest, dem fällt dieses praktische Fremdwort auf und verwendet es weiter. Populiarisiert wurde das Wort durch den Dichter und Kulturkritiker Matthew Arnold, der damit 1848 die rasanten sozialen Veränderungen im viktorianischen England beschrieb. Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs steigt der Gebrauch des Wortes Zeitgeist kontinuierlich – doch mit dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland im Jahr 1933 erfährt seine Verbreitung einen empfindlichen Dämpfer, von dem es sich kaum mehr erholt. Die Sprache der Denker ist nun die Sprache der Henker. +Erst in den 1960er-Jahren beginnt der eigentliche Siegeszug des Wortes, und er beginnt mit dem modischen Auf- und Umbruch dieser Jahre. In dem Karussell saisonaler sich ablösender Trends kann das, was heute "en vogue" oder "in" ist, morgen schon "passé" oder "out" sein. Warum tragen Frauen plötzlich Nylonstrümpfe und Männer keine Hüte mehr? Wer ernsthaft über die tieferen Gründe für diese und andere Phänomene nachgrübelte, kam um den Zeitgeist als erklärenden Sammelbegriff für die Ideen, Überzeugungen und Interessen einer Mehrheit der Menschen zu einer bestimmten Zeit nicht mehr herum. +Nun ist Zeitgeist zwar griffiger, aber ähnlich schwammig wie "spirit of the age". Zugute kam ihm aber, dass seine Verwendung – zusammen mit anderen Germanismen – selbst zu einer Mode wurde. Schon immer setzten sich gebildete Kreise gerne durch die Verwendung von Fremdwörtern von der Allgemeinheit ab, und da machen Universitäten in New York, London, Paris oder Rom keine Ausnahme. Ebenso üblich ist das Durchsickern modischer Fachbegriffe in den alltäglichen Sprachgebrauch, wo sich mit korrekter Aussprache prunken und punkten lässt. Höhepunkt der Karriere eines Wortes endlich ist seine offizielle Einbürgerung in eine Alltagssprache, aus der es nicht mehr wegzudenken ist. Zeitgeist entspricht dem Zeitgeist. diff --git a/fluter/was-hat-der-mindestlohn-gebracht.txt b/fluter/was-hat-der-mindestlohn-gebracht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4f6791ba88f04674198caaac3693b75ad357abb2 --- /dev/null +++ b/fluter/was-hat-der-mindestlohn-gebracht.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Von Fällen dieser Art hatten Medien seit den Nullerjahren immer wieder berichtet. Immer öfter wurden (und werden) Löhne gezahlt, die nicht auf einem Tarif beruhen, also nicht von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen ausgehandelt worden sind. +EinMinijobist eine kurzfristige Beschäftigung, bei der Arbeitnehmer von vornherein nicht mehr als drei Monate oder nicht mehr als 70 Tage im Jahr arbeiten. Minijob nennt man auch eine geringfügig entlohnte Beschäftigung, bei der Arbeitnehmer durchschnittlich nicht mehr als 450 Euro im Monat verdienen dürfen. Der Verdienst ist für die Arbeitnehmer steuer- und abgabenfrei. Minijobber sind grundsätzlich versicherungsfrei – bis auf die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung, von denen sie sich jedoch auf Antrag befreien lassen können. Die Arbeitgeber dagegen müssen bei letztgenanntem Minijob pauschale Beiträge an die Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung zahlen. Für die kurzfristigen Beschäftigungsverhältnisse gelten wieder andere Regeln. +Die Große Koalition begründete den Mindestlohn damit, dass Arbeit "existenzsichernd" sein müsse. Das bedeutet: Wer in Vollzeit arbeitet, soll damit so viel verdienen, dass er nicht zusätzlich auf staatliche Leistungen angewiesen ist, um Miete, Essen, Kleidung und andere Dinge des täglichen Bedarfs zu bezahlen. Genau das war aber in Deutschland oft nicht mehr der Fall. 1,3 Millionen Arbeitnehmer in Deutschland erhielten 2013 zusätzlich Geld vom Staat, weil ihr Einkommen nicht ausreichte. Bereits 2010 hatte das Statistische Bundesamt festgehalten, dass es immer mehr Menschen gab, die erwerbstätig waren, aber dennoch armutsgefährdet. Gut jeder Fünfte arbeitete in Deutschland unterhalb der Niedriglohngrenze, vor allem im Taxigewerbe, in Friseur- oder Kosmetikstudios, als Gebäudereiniger oder eben im Hotel- und Gaststättengewerbe. Das Gros dieser Gruppe ging keiner klassischen Beschäftigung – in Vollzeit unbefristet und sozialversichert angestellt – mehr nach, sondern einer atypischen, flexiblen Beschäftigung: etwa als Zeitarbeiter, in Teilzeit oder als als sogenannte "Minijobber". +Sind durch den Mindestlohn Arbeitsplätze verloren gegangen? +Als sich abzeichnete, dass ein Mindestlohn kommen würde, reagierten die Arbeitgebervertreter mit Warnungen. Der damalige Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Dieter Hundt, hatte vor einer Gefährdung von 1,2 Millionen Arbeitsplätzen gewarnt. Hundt hatte sich dabei auf Vorhersagen eines Wirtschaftsforschungsinstituts gestützt. +Man spricht vonZeitarbeitoder Arbeitnehmerüberlassung, wenn eine Firma Menschen anstellt, um sie für eine bestimmte Zeit gegen Geld an andere Firmen zu "verleihen". Oft wird an diesem Modell kritisiert, dass Zeitarbeiter von den entsendenden Betrieben schlecht entlohnt, in Gastbetrieben als "Arbeiter zweiter Klasse" angesehen würden und unsichere Perspektiven hätten: Wie lange wird man in der Firma gebraucht? Und wohin geht es danach? +Diese Annahmen haben sich aber bis heute, rund zwei Jahre nach Einführung des Mindestlohns, nicht bestätigt. Im August 2016 stellte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) fest, die "weitreichenden Befürchtungen" hätten sich nicht bewahrheitet. Das ist die Kurzfassung. Die Langfassung enthält – Achtung! – viele Zahlen: Den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit zufolge gab es 2015 im Vergleich zu 2014 trotz Einführung des Mindestlohns 436.000 sozialversicherungspflichtig und geringfügig Beschäftigte mehr. 103.000 Menschen, die vorher ausschließlich geringfügig entlohnt beschäftigt waren ("Minijobber" auf 450-Euro-Basis), hatten zu Beginn 2015 eine ausschließlich sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Das waren doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Das IAB schreibt dazu in seinem Forschungsbericht 2016: "Dies bedeutet, dass eine ungewöhnlich hohe Zahl an Beschäftigten, die noch im Dezember 2014 geringfügig entlohnt wurden, im Januar 2015 auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gemeldet waren." Gleichzeitig wurden damals weniger als 4.000 Minijobber arbeitslos, obwohl 102.000 Minijobs mit der Einführung des Mindestlohns wegfielen. +Wie sehen die Arbeitgeber den Mindestlohn heute, zwei Jahre nach der Einführung? +Weiterhin kritisch. Die BDA mahnt, vor allem wegen der allgemein guten wirtschaftlichen Entwicklung führe der Mindestlohn bisher nicht zu mehr Arbeitslosigkeit. Dennoch bleibe der Mindestlohn "eine Belastung für den deutschen Arbeitsmarkt". Für Arbeitgeber bedeute er großen bürokratischen Aufwand. Vor allem das tägliche Erfassen und lange Archivieren der Arbeitszeit sei ein Problem. Dazu kämen rechtliche Unsicherheiten für Unternehmer, beispielsweise bei der Beschäftigung von Praktikanten oder Langzeitarbeitslosen. Die Unternehmen müssen sich dazu rechtlich beraten lassen, was zusätzliche Kosten bedeutet +Und: Eine Umfrage bei Unternehmen Anfang 2016 ergab, dass viele von ihnen seit Einführung des Mindestlohns weniger Praktika anbieten. Und das, obwohl Praktika von vielen Firmen als wichtiges Rekrutierungsinstrument angesehen werden. Der Mindestlohn, so argumentiert der BDA, bringe für Studenten Nachteile. Trotz dieser Kritik stimmten im Sommer neben den Arbeitnehmervertretern auch die Arbeitgebervertreter zu, den Mindestlohn zum Januar 2017 auf 8,84 Euro zu erhöhen – in Anlehnung an die tariflichen Entgeltanpassungen in Deutschland. +DerNiedriglohnist keine absolute Größe, sondern wird am mittleren Entgelt, auch Medianeinkommen genannt, gemessen: Würden sich alle Vollzeitbeschäftigten eines Landes ihrem Einkommen nach in einer Reihe aufstellen, stünde der Mensch mit dem Medianeinkommen genau in der Mitte. Die eine Hälfte der Beschäftigten bekommt weniger, die andere Hälfte mehr als das mittlere Entgelt. Wer mindestens ein Drittel weniger verdient als das Medianeinkommen, ist Niedriglöhner. Bei der letzten Verdienststrukturerhebung aus dem Jahr 2014, also vor Einführung des Mindestlohns, lag die Niedriglohnschwelle in Deutschland bei 10,00 Euro Bruttostundenlohn, also 1.993 Euro brutto im Monat. +Sind 8,84 Euro Mindestlohn genug? +Ulrike Mascher hält diesen Betrag noch für deutlich zu niedrig. Mascher ist Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland, der sich unter anderem auch für Senioren und Behinderte einsetzt. Sie sagt: "Es ist längst bewiesen, dass der derzeitige Mindestlohn nicht ausreicht, um eine Rente oberhalb der Grundsicherung zu bekommen." Der Vdk fordert, den Mindestlohn auf 11,60 Euro anzuheben. "Nur dann kann nach langjähriger Beitragszahlung auch eine Rente über dem Grundsicherungsniveau gewährleistet werden", erklärt Mascher. Dass der aktuelle Mindestlohn nicht ausreicht, um vor Altersarmut zu schützen, davor warnt auch Professor Dr. Oliver Holtemöller, Wirtschaftswissenschaftler und stellvertretender Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle. +Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales erklärt dazu per E-Mail, dass Altersarmut zurzeit kein Massenphänomen sei. Wer hilfsbedürftig sei, werde von der Grundsicherung im Alter aufgefangen. Außerdem betont das Ministerium, dass die vom Lohn abhängige gesetzliche Rente nicht den einzigen Schutz vor Altersarmut bildet, und verweist auf die seit 2014 geltenden Neuerungen zur Verbesserung niedriger Renten, etwa die "Mütterrente" oder die "Flexi-Rente". +Wem hilft der Mindestlohn? +Viele Menschen mit niedrigem Einkommen verdienen seit der Einführung des Mindestlohns mehr Geld: Laut Statistischem Bundesamt werden vier Millionen Jobs seitdem besser bezahlt, bei unveränderten Arbeitszeiten stiegen die Verdienste im Durchschnitt um 18 Prozent. Claudia Falk, Mindestlohnexpertin beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), betont: "Etwa die Hälfte der früheren Minijobs wurde in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung umgewandelt. Insbesondere Beschäftigte im Osten, in Dienstleistungsberufen und Frauen profitieren vom Mindestlohn." In der Gastronomie in Ostdeutschland etwa habe es zweistellige Verdienstzuwächse in der Gruppe der Un- und Angelernten gegeben, so Falk. "Das zeigt aber auch, wie stark ausgeprägt das Lohndumping in manchen Regionen war." +Wann ist es berechtigt, vonArmutzu sprechen? In der EU gilt als von strenger Armut betroffen, wem weniger als 40 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Einkommens in seinem Land zur Verfügung steht. Armutsgefährdet ist, wer weniger als 60 Prozent dessen zum Leben hat. In Deutschland zum Beispiel lag der Schwellenwert der Armutsgefährdung 2015 für einen Single bei 1.033 Euro pro Monat, bei einer Familie mit zwei Kindern bei 2.170 Euro. +Verhindert der Mindestlohn wirksam Armut? +Nicht immer reicht der Mindestlohn, um ohne finanzielle Unterstützung vom Staat auszukommen. Der Wirtschaftswissenschaftler Holtemöller betont, dass vom Mindestlohn vor allem geringfügig Beschäftigte (Minijobber) und Teilzeitbeschäftigte betroffen seien. Diese Menschen könnten jedoch auch mit Mindestlohn nicht von ihrem Verdienst leben. Sie seien weiterhin oft auf Transferleistungen des Staates angewiesen. Für Holtemöller ist der Mindestlohn daher eine "verteilungspolitische Nebelkerze". Er sei "kaum geeignet, Armut zu verringern". +"Menschen sind in Deutschland vor allem aus drei Gründen arm", erklärt Holtemöller, "wegen zu geringer Qualifikation und häufig auch fehlendem Schulabschluss, Krankheit oder fehlender Kinderbetreuung für Alleinerziehende, die deshalb nicht arbeiten gehen können." Diesen Personengruppen helfe der Mindestlohn nicht. Deshalb sei er auch nicht das richtige Mittel, um Armut zu bekämpfen. +Deshalb fordert Holtemöller von der Politik andere Maßnahmen, die an den Ursachen der Armut ansetzen, vor allem eine flexiblere Kinderbetreuung für Alleinerziehende sowie die frühe Förderung von Kindern und Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen. "In Ostdeutschland verlässt jeder zehnte Jugendliche die Schule ohne Abschluss", sagt Holtemöller. "Den jungen Leuten fehlen grundlegende Fähigkeiten, etwa im Bereich der Sprache." Beispiele seien Mängel bei Aussprache, Wortbildung und Grammatik – und das nicht nur bei Migranten. Auch die Gesundheit spiele eine Rolle, bei gesunder Ernährung und Drogenprävention ließen sich beispielsweise Verbesserungen erzielen. "Ein guter Schulabschluss ist die beste Armutsprävention und außerdem auch gesamtwirtschaftlich gut für die Gesellschaft", sagt Holtemöller. +Titelbild: Jan Q. Maschinski diff --git a/fluter/was-im-lehrplan-fehlt-umfragevideo-mit-schuelerinnen-und-schuelern.txt b/fluter/was-im-lehrplan-fehlt-umfragevideo-mit-schuelerinnen-und-schuelern.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/was-isst-du-denn-da.txt b/fluter/was-isst-du-denn-da.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a4517ae130e62b8870faff5039a13f940efc0497 --- /dev/null +++ b/fluter/was-isst-du-denn-da.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Fest steht, dass man nicht mal aus einem früheren Jahrhundert kommen muss, um mit der Entwicklung in der Nahrungsmittelbranche nicht mehr Schritt halten zu können. 30.000 neue Produkte werden jedes Jahr lanciert, darunter manche, die mit herkömmlichem Essen erst einmal nicht viel gemein haben: kleine Espressotüten, die sich beim Aufreißen von selbst erhitzen und mit Kaffee füllen, Fertigdöner aus der Tüte, Garnelen, die aus Krebsfleischimitat bestehen, oder Lutscher, die im Mund zu Brause implodieren. +An vieles hat man sich bereits gewöhnt: Dass manche vermeintlichen Säfte statt aus Früchten nur aus Zucker bestehen, dass in Chips haufenweise Geschmacksverstärker stecken und Schweine mit Medikamenten aufgepäppelt werden. Beim Aufzählen der Skandale kommen manche kaum noch hinterher: Rinderwahnsinn, Hühnergrippe, krebserregendes Acrylamid im Lebkuchen – weil die Gefahren anscheinend überall lauern, flüchten sich viele Konsumenten in eine Art Fatalismus: Augen zu und durch. Und manchen bleibt auch keine andere Wahl: Wer nicht genug verdient, um im Bio-Markt zu kaufen, dem bleibt oft nur der Griff zum Wein im Tetrapak, zu den Fertiggerichten aus der Kühltruhe und zum konventionellen Obst, das laut Statistik des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) zu einem Großteil durch Pflanzenschutzmittel belastet ist. +Und dennoch: Als vor wenigen Monaten bekannt wurde, dass der Käse, der so schön auf mancher Pizza verläuft, zum Großteil aus Pflanzenfett besteht und der Schinken oft aus Schlachtabfällen – hat das hartgesottenen Konsumenten den Appetit verdorben. Sie fühen sich hintergangen – zumal sie die Rückseite der Etiketten, auf der die Firmen Unmengen von meist künstlichen Zusatzstoffen auflisten, kaum verstehen. +"Ein transparenter Lebensmittelmarkt, mit einem echten Qualitätswettbewerb, in dem der ehrliche Anbieter nicht mehr der Dumme ist" – so beschreibt Thilo Bode das Ziel der Verbraucherschutzorganisation Foodwatch, die auf ihrer Website (www. abgespeist.de) den täglichen Etikettenschwindel anprangert und schon mal Passanten in der Fußgängerzone ihre Einkaufstüten ausleeren lässt, um auf besonders dreiste Mogelpackungen aufmerksam zu machen. +Zum Beispiel auf die Überdosis Zucker in dem als Gesundheitsdrink beworbenen Jogurt "Actimel" von Danone. Als Foodwatch eine angebliche Feinschmeckersuppe als völlig überteuertes Tütenprodukt entlarvte, gingen Tausende empörter Mails ein. Für den ehemaligen Greenpeace-Chef Bode sind das kleine Siege im Kampf gegen die gigantischen Nahrungsmittelkonzerne, die sich den Markt aufteilen: Der größte davon, Nestlé (Maggi, Herta, KitKat), machte im Jahr 2008 mit weltweit 283.000 Mitarbeitern rund 70 Milliarden Euro Umsatz. Der zweitplatzierte Kraft Foods (Milka, Miracoli, Philadelphia) immerhin noch 30 Milliarden (2008). Auch die Werbeaufwendungen der Firmen sind riesig: 2008 ließ man für einige Milliarden Euro glückliche Kühe mit Glocken läuten oder sportliche Models samt Schokoriegel in die Kamera lachen. +"Es geht immer darum, ein Produkt für den Kunden auf den Punkt zu bringen", sagt Dag Piper, dessen Meinung Gewicht hat – schließlich ist er der oberste Trendforscher in der europäischen Hauptstadt des Geschmacks – und die heißt schon lange nicht mehr Paris, sondern Holzminden. Mitten in der ostwestfälischen Provinz befindet sich die Zentrale von Symrise, eines weltweit operierenden Aromakonzerns, der in seinen Laboren mit Tausenden von Geschmackskomponenten viele bekannte Markenprodukte "veredelt", wie es gern heißt: Da wird Joghurt unter Zugabe von Aroma, das aus australischen Holzspänen gewonnen wird, zu Erdbeerjoghurt und unangenehme Beigeschmäcker der Natur mit einem "naturidentischen " anderen Aroma aus dem Reagenzglas übertüncht. Symrise macht aus Geschmäckern Marken. Denn eine Hühnersuppe soll nicht nur wie eine Hühnersuppe schmecken, sondern wie die Hühnersuppe einer bestimmten Marke. +Dass die Konsumenten von langen Zusatzstofflisten und verborgenen Aromen im Essen wenig begeistert sind, macht aber auch Piper nachdenklich. "Natürlichkeit ist ein massiver Trend", sagt er und fügt an: "Der heutige Konsument ist ein Hybridwesen. Der geht mit seiner Familie am Morgen auf den Biomarkt und am Abend zu McDonald's." Die Nahrungsaufnahme im Alltag "vertwittere ": Viele kleine Hunger zwischendurch müssen befriedigt werden – durch mundgerechte Häppchen aus dem Regal mit den Fertigprodukten. +Damit die beim kritischer werdenden Konsumenten Absatz finden, braucht es manchmal eine Extraportion Natur: So sollen Gingko, Mandelkern und grüner Tee vielen Produkten einen Touch von Gesundheit und Wellness liefern. Als "Functional Food" muss der Müsliriegel nicht nur satt machen, sondern obendrein fit, wach, schlau und schön. In einer jüngst durchgeführten "Natürlichkeitsstudie " untersuchte Symrise, welche Aromastoffe am ehesten nach Gesundheit schmecken. Denn, so Geschmacksguru Piper: "Es macht ja überhaupt keinen Sinn, ein natürliches Produkt zu haben, das dann nicht schmeckt." +Ist also alles halb so wild? Können künstliche Aromen und Zusatzstoffe durchaus zu einem vernünftigen Ernährungsmix beitragen? Ersetzen sie nicht sogar das, was durch die industrielle Produktion an Geschmack verloren gegangen ist, wie von den Firmen behauptet wird? Hans-Ulrich Grimm, der die Lebensmittelindustrie schon ein paar Jahre beobachtet und das Buch "Die Suppe lügt" schrieb, ist kritisch: "Man muss sich klarmachen, dass Nestlé, Danone, Symrise und wie sie alle heißen, eher Chemiefabriken und keine Gärtnereien sind. Etwas Natürliches haben und können die nicht." Für Grimm ist der Fall klar: Die industrielle Herstellung von Lebensmitteln für den Verdrängungswettbewerb im Supermarkt, wo jeder Regalmeter Profit abwerfen muss, verträgt sich nicht mit dem, was Baum, Ähre und grasendes Vieh aus freien Stücken beizutragen haben. +Es ist verboten, Lebensmittel unter irreführender Bezeichnung, Angabe oder Aufmachung gewerbsmäßig in den Verkehr zu bringen oder für Lebensmittel allgemein oder im Einzelfall mit irreführenden Darstellungen oder sonstigen Aussagen zu werben – so steht es eigentlich recht eindeutig im §11 des Lebensmittelgesetzes. Doch ganz so klar ist die Sache nicht. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass Kalbsleberwurst oft nicht aus Kalbsleber besteht, sondern aus Schweineleber und Kalbsfleisch. Vor dem Gesetz gilt das nicht mal als Irreführung. Die Lebensmittelkonzerne verweisen zudem gern darauf, dass sie doch alle Zutaten auf der Verpackung angeben. Ist der Verbraucher also selbst schuld, wenn er die grasende Kuh vorne auf der Packung für bare Münze nimmt, anstatt die Minischrift auf der Rückseite zu studieren? "Die meisten Etiketten kann nur entschlüsseln, wer Lebensmittelchemiker und Sprachwissenschaftler in einem ist und am besten noch das deutsche Lebensmittelgesetzbuch dabeihat", sagt Martin Rücker von Foodwatch. +So würden etwa Zuckerbomben durch irgendein Wort auf die Endung "-ose" – Glukose, Fructose, Saccharose – kaschiert. Oder die wahre Herkunft der Produkte mit Bioparolen wie "Natur pur" (nicht geschützt) und "kontrollierter Anbau" verschleiert. Foodwatch fordert nun, dass zweifelhafte Zusatzstoffe sofort aus dem Verkehr gezogen und alle anderen Stoffe klar auf der Packung angegeben werden. Was die wichtigsten Nährwerte angeht, soll eine staatlich kontrollierte "Ampel" dem mündigen Verbraucher den Weg weisen: Der sieht dann auf einem Blick, ob der Fett- oder Zuckergehalt auf Rot steht. Doch so weit ist es noch nicht. Noch muss der Konsument selber rätseln, ob sich hinter dem Grillfleisch in Ranchero-Marinade nicht doch eine Portion Gammelfleisch verbirgt. Bei etwa jedem vierten Fleischlieferanten gab es in der Vergangenheit Beanstandungen. +Der Körper des Konsumenten, seit Jahrtausenden auf die Gaben der Natur programmiert, verstehe die Lebensmittelwelt nicht mehr, so Sachbuchautor Grimm. Wenn uns die Natur nur vorgegaukelt werde, sei die Steuerungsfähigkeit des Gehirns beim Essen schachmatt. So komme es etwa zu dem wundersamen Zivilisationsphänomen, dass Menschen gleichzeitig übergewichtig und mangelernährt sind. +Tatsächlich haben Studien ergeben, dass der Geschmacksverirrte Bitteres, das vor Schadstoffen warnen soll, nicht mehr erkennt, weil es mit Geschmacksverstärkern und Aromen verdeckt wird. Er will auch mehr von allem – mehr Zucker und mehr Farbstoffe. Schlimmer noch: Nicht wenige Neurowissenschaftler sagen, das allgegenwärtige Glutamat habe eine verheerende Wirkung. Führt ein direkter Weg vom Supermarkt zu Alzheimer und anderen Krankheiten? "Das Gesamtrisiko ist schwer zu erforschen", sagt Grimm, "erwiesen ist aber, dass in der Südsee, seit dort die westliche Nahrung Einzug gehalten hat, die Raten bestimmter Erkrankungen schlagartig hochgeschnellt sind. Diabetes zum Beispiel auf der Insel Nauru von unter einem Prozent 1925 auf über 40 Prozent heute." +Immerhin: Bei manchem Anbieter gibt es mittlerweile ein Umdenken. So hat ein Backproduktkonzern versprochen, seinen "Zitronen-Kuchen", in dem kein bisschen Zitrone, dafür aber viel des Zusatzstoffs E330 steckt, nicht mehr mit frischen Früchten auf der Verpackung zu bewerben. Derselbe Stoff steckt übrigens auch in anderen Produkten – zum Beispiel in WC-Reinigern. +Unser Autor Oliver Geyer verbrannte bei der Recherche und beim Schreiben insgesamt 8.000 Kalorien – so viel wie bei einem Marathonlauf. Tatsächlich benötigt der Körper bei geistiger Anstrengung oft mehr Energie als beim Sport. diff --git a/fluter/was-ist-afrofuturismus-janelle-mon%C3%A1e.txt b/fluter/was-ist-afrofuturismus-janelle-mon%C3%A1e.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..139597f9cb07c5d48bed18984ec4747f4b4f3438 --- /dev/null +++ b/fluter/was-ist-afrofuturismus-janelle-mon%C3%A1e.txt @@ -0,0 +1,2 @@ + + diff --git a/fluter/was-ist-aus-dem-bitcoin-geworden.txt b/fluter/was-ist-aus-dem-bitcoin-geworden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ccb7b60362ab193d6753ef08d4de65cfb7b17937 --- /dev/null +++ b/fluter/was-ist-aus-dem-bitcoin-geworden.txt @@ -0,0 +1,31 @@ +Aktuell etwa 20 Millionen. Diese lassen sich wiederum jeweils in 100 Millionen einzelne nach ihrem Erfinder benannte "Satoshi"-Einheiten unterteilen. Auf Handelsbörsen ist ein Bitcoin Anfang 2024 etwa 40.000 Euro wert. + +Ein "Wallet"-Programm, das man sich herunterladen kann, dient als Aufbewahrungsmöglichkeit für die digitalen Coins. Dafür erzeugt es auf dem eigenen Rechner verschiedene Bitcoin-Nummernkonten sowie dazugehörige Schlüssel – sehr lange Passwörter. Über eine solche Wallet kann man Bitcoins empfangen und an andere senden. Das bedeutet: Verliert man den Zugang zu dem Rechner mit dem Wallet, verliert man auch den Zugriff auf seine Bitcoins. Deshalb parken einige Bitcoin-Nutzer*innen ihre Coins auf großen Handelsbörsen. Das kann allerdings auch schiefgehen, da nicht alle Börsenanbieter seriös sind. + +Der eigentliche Geniestreich hinter dem Bitcoin ist eine Art Kassenbuch, dieBlockchain. In der ist detailliert vermerkt, welches Nummernkonto welchen Coin oder Coin-Bruchteil wann an wen überwiesen hat. Diese dezentrale Datenbank besteht aus einer Kette miteinander verknüpfter Blocks ("Chain") und liegt auf Tausenden Rechnern. + +Will ich einen Bitcoin an ein anderes Konto schicken, prüfen Rechner im Bitcoin-Netzwerk, ob alles korrekt zugeht: Gehört der Coin wirklich gerade meinem Konto? Ungefähr alle zehn Minuten wird ein weiterer Block an das Kassenbuch gehängt, er enthält die neuesten Transaktionen. Diese Arbeit übernehmen sogenannte Miner – Einzelpersonen mit einzelnen Geräten oder spezialisierte Firmen mit gigantischen Rechnerfarmen. Diese kommerziell motivierten Netzwerkteilnehmer stellen für die Verifizierung von Bitcoin-Überweisungen ihre Rechenkapazitäten zur Verfügung und nehmen gleichzeitig an einer Art mathematischer Lotterie teil. Mithilfe eines Algorithmus, der nicht vorhersehbare Ergebnisse produziert, rechnen sie so lange zufällig ausgewählte Zahlen um, bis sie einen vom System festgelegten Zielwert gefunden haben. Wer den Zielwert als Erster "findet" – das heißt zufällig errechnet –, gewinnt und erhält als Belohnung unter anderem eine bestimmte Zahl neuer Coins, die mit jedem neuen Block hinzukommen. Aktuell entstehen auf diese Art alle zehn Minuten zusätzliche 6,25 Bitcoins. Die Anzahl neuer Bitcoins halbiert sich in großen Abständen immer wieder. Ab Mitte April werden es pro Block nur noch 3,125 neue Bitcoin-Einheiten sein. Je mehr Rechenleistung die Miner dem Bitcoin-Netzwerk zur Verfügung stellen, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie gewinnen. + +Die mathematischen Rechenspiele, auf denen diese Lotterie basiert, verbrauchen immens viel Energie.Laut Schätzungenliegt der Energieverbrauch des Bitcoin-Netzwerks über jenem kleiner Staaten (zum Beispiel der Niederlande). + +Theoretisch überallin der digitalen Welt.In der Praxisakzeptieren allerdings nur wenige (legale) Webshops den Bitcoin als Zahlungsmittel. Aufgrund stark steigender (und wieder fallender) Wechselkurse ist der Bitcoin aber vor allem auch als spekulative Geldanlage beliebt – und gerade fürInvestitionsanfänger nur bedingt zu empfehlen. + +Eine Community, der sich theoretisch jeder anschließen kann, entwickelt die Software "Bitcoin Core". Das formal oberste Community-Gremium ist eine Gruppe von fünf sogenannten Maintainern, deren Namenöffentlich sind. Sie leisten die meiste Entwicklungsarbeit und können Software-Änderungsvorschläge anderer umsetzen oder verwerfen. + +Weiterlesen +Digitale Währung – digitale Welt: Im Metaverse kann manGrundstücke kaufen und Festivals veranstalten +Mittlerweile gibt es Hunderte Bitcoin-Klone und -Weiterentwicklungen, die beispielsweise Ether, Monero, Dai, XRP oder Toncoin heißen. Deren Gesamtwerte (Marktkapitalisierungen) bewegen sich teilweise ebenfalls im Multimilliardenbereich. Einige dieser alternativen Coins sind vor allem digitale Zahlungsmittel. Andere versuchen, die Blockchain-Technologie für andere Zwecke nutzbar zu machen. + +Darauf hat sich unter anderem die blockchainbasierte Plattform Ethereum spezialisiert. Über die eingebaute Kryptowährung Ether bezahlen externe Dienste und Anwendungen, etwa ethereumbasierte Unterwährungen, das Netzwerk für den Speicherplatz und die Rechenkapazität, die sie beanspruchen. Auf Basis der Ethereum-Blockchain ist vieles möglich:NFTs, Smart Contracts (siehe nächster Punkt) oder Stablecoins (übernächster Punkt). + +Bei diesen "schlauen" Verträgen sind Vertragsbedingungen in der Blockchain vermerkt. Das Paradebeispiel ist eine landwirtschaftliche Unwetterversicherung. Die schließe ich ab, indem ich einen Betrag x an das Nummernkonto des Smart Contract überweise. Rechner im Ethereum-Netzwerk checken zu einem bestimmten Datum, wie viel Regen in den letzten vier Wochen gefallen ist. Wurde eine vorher definierte Regenmenge überschritten, transferiert das Netzwerk einen festgelegten Betrag vom Nummernkonto des Smart Contract auf mein Konto. + +Diese blockchainbasierten Unterwährungen orientieren sich an klassischen Währungen wie dem Dollar oder dem Euro. Der Vorteil: Es handelt sich um Kryptowährungen, die Staaten nur schwer kontrollieren könnten – allerdings ohne die typischen Kursschwankungen, wie man sie etwa vom Bitcoin kennt. Beim Stablecoin-Modell überweise ich beispielsweise einen "echten" Dollar an das Unternehmen hinter dem Stablecoin und erhalte im Gegenzug eine Art digitalen Schuldschein. Den kann ich auf Börsen handeln, per Blockchain damit bezahlen oder ihn an das Unternehmen zurückgeben und einen Dollar zurückerhalten. Zumindest wenn das Unternehmen hinter dem Stablecoin die eingenommenen Euros oder Dollars tatsächlich – wie versprochen – in Reserve hält. + +Non-Fungible Tokens sindein findiger Trick, um per Blockchain mit digitaler Kunst Geld zu verdienen: Jedes NFT-Kunstwerk hat eine Nummer. Auf einem NFT-Marktplatz kann ich mir das dazugehörige digitale Kunstwerk anzeigen lassen. In der vom NFT genutzten Blockchain ist vermerkt, welches Nummernkonto gerade welchem*r Inhaber*in zuzuordnen ist. In den Anfangszeiten des Blockchain-Hypes wurden teilweise Millionenbeträge für diese angeblich so innovative Pixelkunst bezahlt. Heute sind die meisten davonwertlos. +Eine Währung mit Nummernkonten und ohne zentralen Kontrolleur? Das macht Kryptowährungen interessant für verschiedenste illegale Geschäfte. Deswegen sind sie unter anderem das Standardzahlungsmittel auf Drogenmarktplätzen im Darknet und bei Lösegeldforderungen, wenn Cyberkriminelle Unternehmen hacken und deren Daten verschlüsseln. + +Mittlerweile existiert nicht nur eine vom klassischen Geldsystem unabhängige Digitalwährung, sondernTausendeverschiedene Versionen davon. Mit dem Vorhaben, ein alternatives Finanzsystem ohne Machtballungen zu ermöglichen, hat es jedoch nicht so richtig geklappt. Das System ist vielen Laien weiterhin zu komplex und deshalb nur einem bestimmten Personenkreis zugänglich. Außerdem sind neue zentrale Akteure hinzugekommen: Das sind zum einen die wenigen großen Börsen, über die viele Nutzer*innen Coins kaufen, verkaufen und auf denen sie sie parken. Zum anderen ist auch die Gruppe der Kontrolleure, die auf den verschiedenen Blockchains Transaktionen überprüfen und aufzeichnen, überschaubar. Beim Bitcoin stellen zwei große Miner-Zusammenschlüsse mehr als 50 Prozent der insgesamt zur Verfügung gestellten Rechenpower. Die Bilanz ist also gemischt. Und hat der Bitcoin in den letzten 15 Jahren die Welt insgesamt zu einem besseren und freieren Ort gemacht? Das würden nur wenige, sehr überzeugte Krypto-Fans behaupten. + +Der IT-Journalist Stefan Mey recherchiert seit Jahren zu freien Digitalprojekten mit all ihren Widersprüchen. Während einesMercator-Journalist-in-Residence-Aufenthaltsam Zentrum verantwortungsbewusste Digitalisierung (ZEVEDI) hat er sich einen Monat lang mit der seiner Meinung nach irrsinnig spannenden Welt der Kryptowährungenund ihren Hintergründenbeschäftigt. +Collage: Bureau Chateau / Jannis Pätzold diff --git a/fluter/was-ist-cancel-culture.txt b/fluter/was-ist-cancel-culture.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5f85259f6463b8a2758a0d5038a415f9ea40c778 --- /dev/null +++ b/fluter/was-ist-cancel-culture.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Hinter @haralduhlig steckt Professor Harald Uhlig, er lehrt Wirtschaft an der Universität von Chicago und ist leitender Redakteur des "Journal of Political Economy". Genauer gesagt: Er war es bis zum 12. Juni 2020. Denn schon kurz nach seinem Tweet fordern mehr als 500 Menschen in einer Onlinepetition mit ihren Unterschriften den Rücktritt des deutschen Professors. Warum? +fangen und zu verbreiten", heißt es im Artikel 19rklärun der Allgemeinen Erklärung der Msondicagor Gründung verschrieben: Das Prinzip .Weil sie so denken wie @hsmlion, der schreibt: "Einflussreiche Menschen sind Meinungsmacher. Dieser Typ ist gestört. Muss gehen. Worte haben Konsequenzen." Dabei ist der Tweet zur Polizei nicht der einzige Auslöser. Dazu kommt ein weitererShitstorm auf Twitter,ausgelöst von einem früheren Schwarzen Studenten Uhligs, der schreibt, Uhlig habe sich in einer Vorlesung über Martin Luther King lustig gemacht und ihn anschließend gefragt, ob er jetzt beleidigt sei. +fangen und zu verbreiten", heißt es im Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Es gibt Orte, die in besonderem Maße für dieses Recht stehen, etwa die Universitäten. Sie leben von en A Prinzip der totalen freien Rede für alle sei fundamental und könäät dertt dertne weder jetzt noch in Zukunft in Frage gestellt werden, sagte Präsident William Rainey HcxAm 12. Juni bezieht die Universität Stellung: "Die Universität von Chicago toleriert kein einschüchterndes, feindliches oder offensiv diskriminierendes Verhalten […]." Sie überprüft die Vorwürfe gegen Uhlig, das "Journal of Political Economy" beurlaubt ihn. Uhlig verliert auch seinen Job als Berater der Federal Reserve Bank of Chicago und wird zum ersten Mal mit einem Begriff konfrontiert, der immer häufiger auftaucht: Cancel Culture. +So sehen zensierte Dokumente aus, in denen Textelemente geschwärzt wurden, weil sie geheime Informationen enthalten. Bei uns steckt aber nix dahinter! +Die Definition von "Cancelled" im Onlinewörterbuch "Urban Dictionary" lautet: "Wenn ein wütender Online-Mob dein legales Recht auf freie Rede untergräbt, indem er organisierten Druck auf deinen Arbeitgeber/deine Businesspartner ausübt, um dein Arbeitsverhältnis zu beenden." +Die deutsche Autorin Samira El Ouassil beschreibt es differenzierter: "Je nachdem, wen man fragt, scheint ‚Cancel Culture' ein niedrigschwelliges Instrument von Online-AktivistInnen zu sein, ein destruktiver Boykott-Aufruf, der systematische Kampf, unliebsame Meinungen aus dem Diskurs zu verbannen, oder gar der Versuch, Menschen sozial zu vernichten." +Eine Art sozialer Vernichtung sahen manche in den Boykottaufrufen gegen Künstler im Rahmen der#MeToo-Bewegung, die erfolgreich sexuelle Gewalterfahrungen sichtbar machte und Opfern eine Stimme gab. Sie kritisierten, dass  der Schauspieler Kevin Spacey nach Vorwürfen sexueller Belästigung aus Filmen rausgeschnitten wurde – oder  Woody Allens Werk in den USA kaum noch gezeigt werde, nachdem mehr als 25 Jahre alte Missbrauchsvorwürfe neu thematisiert wurden, obwohl sie immer noch unbewiesen seien. +Mit der Zeit wurden aber auch Menschen boykottiert, die nicht im Verdacht standen, eine Straftat begangen zu haben. Die Autorin J. K. Rowling, weil sie sich angeblich transphob geäußert hat, Dieter Nuhr, weil er die Einstellung der Fridays-for-Future-Bewegung zur Wissenschaft kritisierte, Kanye West, weil er sich weigerte, seinerseits Donald Trump zu canceln. Und schließlich dehnte sich die Debatte auch noch auf schon gestorbene Künstler aus – und gipfelte in der Frage: Kann man ein Gemälde von Caravaggio noch in einem Museum ausstellen, wenn man weiß, dass er ein Mörder war? Und darf man Richard Wagner noch hören trotz seiner antisemitischen Einstellung? +"Eine Verbannung aus dem öffentlichen Leben als Strafmaß für Verstöße gegen die politische Korrektheit" nennt der "Tagesspiegel" Cancel Culture, namhafte Schriftstellerinnen wie Margaret Atwood und J. K. Rowling beklagten in einem offenen Brief, dass der freie Austausch von Informationen und Meinungen jeden Tag mehr beschränkt werde. Die Intoleranz gegenüber entgegengesetzten Ansichten nehme zu, und Ächtung sei zur Mode geworden. Um schlechte Ansichten zu bezwingen, solle man sie aber lieber diskutieren, anstatt sie einfach auszuradieren. +"Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten", heißt es in Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Es gibt Orte, die in besonderem Maße für dieses Recht stehen, etwa die Universitäten. Sie leben von Diskussionen und vom Aufeinandertreffen Andersdenkender. Die Universität von Chicago, an der Harald Uhlig lehrt, hat sich diesem Recht sogar seit ihrer Gründung verschrieben: Das Prinzip der völligen Redefreiheit zu allen Themen sei fundamental und könne weder jetzt noch in Zukunft infrage gestellt werden, sagte Präsident William Rainey Harper bereits 1902.Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Es gibt Orte,n Andersdenkender. Die Universität  die in besonderem Mkussionen und voie schrieben: Das Prinzip der totalen freien Rede für alle sei fundental und könne weder jetzt noch in Zukunft in Frage gestellt werden, sagte Präsident William Rainey Harper bereits 1902. +Dennoch häufen sich gerade an Universitäten Vorfälle, bei denen Personen ausgeladen und ihre Vorträge abgesagt werden: Ivanka Trump durfte ihren Vortrag an der Wichita State University Tech nicht halten, an der Uni Hamburg musste AfD-Gründer Bernd Lucke zwei Vorlesungen abbrechen, weil er immer wieder beschimpft und unterbrochen wurde. Harald Uhlig schreibt, die Grenzen der freien Rede sollte man weit ziehen, insbesondere an Universitäten. "Die Grenzen werden derzeit immer enger, gerade dort. Viele Kollegen äußern sich lieber gar nicht mehr." +Am 22. Juni 2020 veröffentlichte die Universität von Chicago ein Update zu seinem Fall. Es gebe keine Basis für weitere Untersuchungen dazu, ob sich Uhlig im Seminarraum rassistisch geäußert habe. Daraufhin stellte das "Journal of Political Economy" Harald Uhlig wieder ein.gen und zu verbreiten",  im Artikel heißt es im Artikel 19 deen: . fangen und zu verbreiten",Trotzdem ist Uhlig seitdem vorsichtiger geworden, Anfragen beantwortet er vage und lieber per Mail. Auf die Frage, wie er sich gefühlt habe, als Hunderte mit ihren Unterschriften forderten, er solle seinen Job verlieren, schreibt er: "Ich vermute, es ging eher darum, mich und andere mit ähnlichen Auffassungen mundtot zu machen. Das war insofern effektiv, als es auch heftige Reaktionen innerhalb der University of Chicago gab: Das hatte ich so nicht erwartet, und die haben mich am meisten berührt." +Mittlerweile ist Cancel Culture auch in der Politik angekommen, wo es oft als Kampfbegriff genutzt wird, um gegen eine als übermäßig empfundene politische Korrektheit vorzugehen, die auf jede Empfindlichkeit Rücksicht nimmt. US-Präsident Trump hat sich dabei zur Galionsfigur derer gemacht, die schon in der Kritik an Polizeigewalt und Racial Profiling einen unpatriotischen Angriff auf die Nation sehen. Dabei war es Trump, der auf Wahlkampfveranstaltungen dazu aufrief, seine demokratischen Gegner ins Gefängnis zu sperren. diff --git a/fluter/was-ist-ceta.txt b/fluter/was-ist-ceta.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/was-ist-das-hygge-lebensgefuehl.txt b/fluter/was-ist-das-hygge-lebensgefuehl.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a10bb72176165a873ad88b31e8976eefab7b88fb --- /dev/null +++ b/fluter/was-ist-das-hygge-lebensgefuehl.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Gibt es eine Erklärung dafür, warum hygge ausgerechnet in den skandinavischen Ländern entstanden ist? +Keine endgültige, aber es gibt einige Bedingungen, die typisch für Skandinavien sind und die damit die Entstehung vonhyggeals Kulturphänomen unterstützen. Da ist die Fokussierung auf das Zuhause als Ort, um sich mit anderen Menschen zu versammeln oder sich zurückzuziehen.Hyggedeckt vieles ab, was mit dem Zuhause verbunden wird. So wie das eher kühle Klima und das dunkle Licht zur Herbstzeit, wenn man sich ins Wohlig-Warme zurückzieht. Es gibt Menschen ein physisches Verständnis davon, was draußen und was drinnen ist. Undhyggebezieht sich eben vor allem auf die Atmosphäre dieses Drinnenseins. +Zudem wird das Leben in Skandinavien vor allem von der Mittelschicht geprägt, bei dem Familien eine große Rolle spielen. Entsprechend gilt das Zuhause als sicherer Hafen, der vom risikoreicheren öffentlichen Raum getrennt ist. Außerdem ist die Gleichberechtigung im Wohlfahrtsstaat wichtig. So setzt auchHyggeauf flache Hierarchien. Dänemark ist ein relativ kleines und auch flaches Land, das für die meiste Zeit des 20. Jahrhunderts darauf bedacht war, sich aus internationalen Konflikten herauszuhalten. Nationale Werte sind häufig mit politischen Ideen verbunden. Für die USA ist Freiheit so ein Konzept, für Dänen ist eshygge. Es ist eine friedliche Kultur: Man muss einfach nur ein paar Kerzen kaufen und eine heiße Schokolade machen, sich mit netten Leuten umgeben. +Wir sprechen also von einer Gesellschaftsphilosophie, nicht von einem Design? +Genau.Hyggehat nie nur ein bestimmtes Design umschrieben. Dass es nun als solches wahrgenommen wird, hat damit zu tun, dass in den vergangenen zwei, drei Jahren sehr viele Bücher überhyggegeschrieben wurden. Sie versprechen, dass man Glück designen kann. Daraus ist eine ganze Industrie entstanden – mit Kerzen, Kissen und anderen Ausstattungsdingen. Und ein Hype. In dieser Hinsicht isthyggeeine Marke geworden, die skandinavisches Design mit einer Lebenseinstellung der Gemütlichkeit verkauft. In Kopenhagen gibt es sogarHygge-Touren. +Man könnte den Hygge-Hype auch als kultivierte Realitätsflucht beschreiben. Die Menschen sind mit den komplexen Konflikten unserer Zeit überfordert und ziehen sich ins wohlig designte Privatleben zurück … +Genau das ist es. Auf individueller Ebene funktionierthygge, wenn man sich darüber Gedanken macht, wie man sich Räume schafft, in denen man Energie tankt.Hyggebedeutet auch, dass man aufmerksamer ist – gegenüber der eigenen Befindlichkeit und gegenüber anderen Menschen. +Bedeutet der übersteigerte Rückzug ins Private und das Vermeiden von Konflikten eine Gefahr für eine demokratische Gesellschaft? +Es wäre sicher zu stark, wenn man behauptet,hyggesei eine Bedrohung für die Demokratie. Philosophisch gesprochen besteht eine Gefahr darin, wenn man sich mit den Komplexitäten der Welt nicht mehr auseinandersetzen will, sich in das Private zurückzieht und nur noch nach starken Männern ruft, die einemmit einfachen Worten die Welt erklären. Das scheint mir aktuell eine globale Tendenz zu sein, aberhyggeist nicht ihr Motor. + +Jeppe Linnet hat über hygge promoviert und arbeitet heute als Unternehmensberater. Was er tut, wenn er es hyggelig haben will: "Ich treffe mich mit alten Freunden, gehe zu Orten, die mit bestimmten Erinnerungen verbunden sind. Oder ich bin in meinem Landhaus zusammen mit meinen Töchtern und meiner Katze und genieße einfach das Leben." + + +Illustration: Renke Brandt diff --git a/fluter/was-ist-das-meer.txt b/fluter/was-ist-das-meer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1a426c36022b435a7a2d9e217882d4d42b21708b --- /dev/null +++ b/fluter/was-ist-das-meer.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Diese Wassermassen bedecken rund 70 Prozent der Erdoberfläche und sind der größte belebte Raum des Planeten. Millionen Arten werden darin vermutet, von beinah unsichtbaren Mikroben, die 11.000 Meter unter der Wasseroberfläche von dem leben, was zu ihnen hinabschwebt,über farbenfrohe Schwämme und Korallenriffebis hin zu riesenhaften Walen, die nomadisch die Ozeane durchstreifen. Wie viele Tier- und Pflanzenarten jedoch genau in der lichtlosen Tiefsee leben, weiß niemand zu sagen. +"In der Tiefsee herrscht ein anderes Tempo als an der Erdoberfläche, viele Lebewesen dort werden sehr alt und wachsen nur langsam", erzählt die Meeresbiologin Antje Boetius, die bis auf 3.450 Meter hinabgetaucht ist. Sie besucht Orte, die noch nie ein Mensch zuvor gesehen hat. "In der Tiefsee leben einzigartige Lebensformen, von denen viele wie Fantasiewesen aussehen", in der absoluten Dunkelheit begegneten ihr leuchtende Meeresbewohner, die ihr eigenes Licht produzieren, die durch Strömung, Töne oder chemische Signale kommunizieren. Boetius' Beschreibungen klingen wie aus einer anderen Welt – und stammen doch nur aus einigen Hundert Metern Tiefe. +So fremd den meisten Menschen die von Kälte, Sauerstoffmangel, Druck und Finsternis geprägte Meereswelt ist, es gibt auch eine weitreichende Verbundenheit. Wer dem wiegenden Rhythmus des Wellengangs zuhört, seinem Gluckern, Schlagen und Rauschen, fühlt sich nicht umsonst an den eigenen Herzschlag erinnert: Nicht nur besteht der Mensch überwiegend aus Wasser, auch das Mengenverhältnis von Natrium-, Chlorid-, Kalium- und Kalziumionen ist im Meerwasser und im menschlichen Blutplasma sehr ähnlich. Würde man sich reines Blutplasma auf die Zunge legen, schmeckte es wohl nach Meer – eine Spur zu den Anfängen des Lebens auf der Erde, als Einzeller vor 3,5 Milliarden Jahren im Meer schwebten und sich dabei dem Salzwasser der Ozeane anpassten. +Und nicht nur unser Körper, auch unsere gesamte Umwelt ist mit den Meeren unmittelbar verbunden: In den Ozeanen passieren Stoffkreisläufe, die für uns und den Rest der Welt überlebenswichtig sind. So ist alles Wasser auf der Erde miteinander verbunden, wird aus den Meeren, aus Seen, Flüssen und kleinsten Pfützen durch Verdunstung, Wind, Niederschlag und Versickerung immer wieder neu auf der Erde verteilt. Die Meere helfen uns beim Atmen, denn etwa die Hälfte des Sauerstoffs in der Atmosphäre wird von Phytoplankton produziert. Und sie regulieren das Klima: 34.000 Gigatonnen Kohlenstoff wurden zwischen 1994 und 2007 in den Weltmeeren gebunden, die Ozeane "schluckten" damit etwa ein Drittelder menschengemachten CO₂-Emissionenund bremsten die Erderwärmung ab. +Unser Leben ist nicht ohne das Meer und das Meer nicht ohne seine Tiefe zu begreifen. Wir, die wir nur an seinen Rändern planschen, vom Liegestuhl auf seine Oberfläche starren und auf seinen Wellen reiten, können seine Abgründe und deren Bedeutung nur erahnen. Der Schriftsteller Albert Camus beschrieb dieses Gefühl in seinem Tagebuch so: "Das Festland ist letzten Endes nur eine sehr dünne Platte auf dem Meer. Eines Tages wird der Ozean herrschen." diff --git a/fluter/was-ist-denn-das-mit-dem.txt b/fluter/was-ist-denn-das-mit-dem.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7b3420e46411ea1378c172e40da5d82c0a8e35d4 --- /dev/null +++ b/fluter/was-ist-denn-das-mit-dem.txt @@ -0,0 +1,33 @@ +Bescheidene Unterkunft: Donald Trumps Florida-Wohnsitz Mar-a-Lago bietet 118 Zimmer, fünf Tennisplätze und ein goldgerahmtes Porträt des Hausherrn in der Bar des Anwesens + +Amy Patton, 37 Jahre, wurde in Austin, Texas geboren. Seit zehn Jahren lebt und arbeitet sie als Künstlerin in Berlin, wo sie auch studiert hat. +Trump ist wie ein Autounfall. Man will nicht hinsehen, aber man muss einfach. Er passt zum 21. Jahrhundert wie jemand aus einer Reality-TV-Show. Der Stereotyp einer reichen Person. Weil er so grotesk, grell und seltsam ist, berichten die Medien gerne über ihn. Die Menschen, die sich von Trump angezogen fühlen, haben sehr wenig Geld. Die arbeitende Klasse in den USA ist schockierend arm, auch weil es kein Sozialsystem wie in Deutschland gibt. Für ihre Probleme bietet Trump einfache Lösungen an, wie zum Beispiel: alle Mexikaner loswerden. Manche bewundern ihn auch für seinen Reichtum. +Als ob Donald Trump sich jemals mit einem von ihnen abgeben würde! Aber sie fühlen sich vollkommen machtlos und dann ist es reizvoll, dass dieser Typ respektlos ist und einfach sagt "Fuck you all!" Abgesehen vom Rassismus ist bei den Unterstützern auch eine Menge Sexismus im Spiel. Wenn Trump Präsident wird, würde ich mich ausbürgern lassen, I don't give a fuck. Meine Freunde denken da wie ich, das ist also entspannt. Meine Eltern dagegen sind sehr konservativ und ein bisschen rassistisch. Sie leben in Texas und sind definitiv gegen einen starken Staat und für Krieg – niemand soll sich mit "ihrem Land" anlegen. Die Gesellschaft scheint polarisiert zu sein, es scheint keine Meinungen mehr dazwischen zu geben, nur noch Extreme. + +Davey Frankel, 46 Jahre, ist Filmemacher und wirkt im Berliner Bezirk Neukölln in einem Restaurant mit, das für sein California-Style-Breakfast bekannt ist. +Donald Trump hat jahrelange Erfahrung darin, sich vor der Kamera in Szene zu setzen. Bei diesem Foto-Shooting im Nomvember 1993 posiert er zusammen mit Models für einen Kalender +Viele Menschen in den USA fühlen sich von der herrschenden Klasse missachtet und betrogen. Wenn ich mir die AfD in Deutschland ansehe, dann rührt die in demselben Topf herum. Dabei denke ich gar nicht, dass es ein bewusstes Bestreben der Eliten gab, Teile der Bevölkerung zurückzusetzen – es war der Gang der Dinge in der Globalisierung. Und Trump schürt nun diesen Zorn auf die Eliten. Wobei er ja absurderweise selbst dazugehört. Die Frage ist, warum das bei weißen Männern mit geringer Bildung auf einen so fruchtbaren Boden fällt. Ich denke: weil Teile der Republikanischen Partei in den vergangenen Jahren wie eine gigantische Produktionsmaschine für Ängste waren. Und sie haben dieses Land schlechtgeredet. Sogar viele Konservative bestätigen, dass die Republikaner das Phänomen Trump selbst geschaffen haben. Dann haben sie noch gehofft, dass das sich von selbst erledigt, aber Trump ist immer mehr in Fahrt gekommen. Sollte er wirklich Präsident werden, darf man aber erwarten, dass er sich an das politische System mit seinen Checks and Balances anpassen muss und auch in gewisser Weise von ihm gezähmt werden wird. Andererseits befürchte ich: Wenn dann seine Unzufriedenheit zunimmt, wird er verstärkt das tun, was die Republikaner sowieso schon seit Jahren machen: alles torpedieren, das politische System dysfunktional machen, Panik schüren. + +Kerry Reddington, 50 Jahre alt, ist Unternehmer im Bereich Eventservices und als Mitglied der Kommunalen Ausländervertretung der Stadt Frankfurt am Main auch politisch aktiv. +Die Leute haben keinen Bock mehr auf Politiker. Gucken wir uns die Welt mal an: Wir haben Ärger mit Russland, Krieg in Syrien, wir haben überall Probleme – und die können nicht alle von George Bush sein (lacht). Trumps Vorteil: Er ist kein Politiker, sondern Geschäftsmann. Das macht ihn nicht besser oder schlechter. Aber er ist nicht vom System korrumpiert, er ist nicht käuflich. Jetzt zurzeit jedenfalls nicht (lacht wieder). Im Ernst: Er hat zwar weniger Erfahrung mit der Politik, aber wie jeder gute Geschäftsmann wird er sich ein Team zusammenstellen. Ich bin selbst Unternehmer und hole mir Experten. Man kann nicht alles wissen. Ein guter Leader weiß, wann er Experten braucht. +Donald Trump hat außerdem die Eier, es so zu sagen, wie es ist: Als der Papst gesagt hat, die USA dürften keine Mauer bauen, hat Trump zum Papst gesagt, er solle erst mal seine eigenen Mauern um den Vatikan abbauen. Da hat der Papst sich entschuldigt. Alle entschuldigen sich. Weil Trump recht hat. Bei all der Kritik wird nämlich zu viel aus dem Kontext gerissen. Eine junge Studentin hat mir kürzlich gesagt, Trump wolle eine Mauer um das gesamte Land bauen (lacht). Die Leute sind meistens einfach uninformiert. Auch viele Menschen in meinem Umfeld sagen, er sei der größte Verbrecher, ein Rassist, Frauenhasser… Das versuche ich dann mit Fakten zu entkräften: Wie viele Frauen beschäftigt Trump, wie viele sind im Vorstand? Dann sind immer alle überrascht, wie viele Frauen da sind. Es ist jetzt der Zeitpunkt für einen Wechsel. Nehmen wir Ronald Reagan, der war auch ein Schauspieler, ein Filmstar. Wenn er Präsident werden konnte, kann Trump das auch. + +Thomas Leiser, 61 Jahre, lebt im hessischen Gießen, ist mit einer Deutschen verheiratet und engagiert sich als ehrenamtlicher Präsident der "Republicans Abroad Germany". +Trump ist nicht meine erste Wahl. Eigentlich ist die Philosophie der Republikanischen Partei in den USA: sehr geringe Einflussnahme der Politik auf das Leben des Einzelnen. Trump spricht aber davon, dass er viele Handelsangelegenheiten ändern will, er sagt, dass er verschiedene Sozialprogramme neu in Angriff nehmen will, er sagt, dass er eine große Mauer bauen will, um Zuwanderer fernzuhalten. Er zeichnet sich durch schnell wechselnde Positionen aus. Das ist für mich schwer zu akzeptieren. Für einen US-Präsidenten ist Unberechenbarkeit ein Unding. Dabei wären da gute andere Kandidaten mit sehr klar definierten Konzepten und Zielen. Aber es scheint ja eine ganze Menge Amerikaner zu geben, die Trumps Ansatz befürworten. Sich über die Eliten zu beschweren, ist immer ein sicherer Weg, damit einem viele Leute zuhören. Es gibt eine große Anzahl von Verlierern der Globalisierung. +Trump, nicht Duck: Dieser Donald pflegt das Image des Machers, dem einfach alles gelingt +Und die sind anfällig für die Botschaft: Das ist so, weil eure derzeitigen politischen Führer falsche Entscheidungen getroffen haben. In der Tat wurden auch in der Republikanischen Partei diese Menschen zu lange übersehen. Und sicher war auch die Tea-Party-Bewegung viel zu extrem und hat viele Leute angestachelt. Es gibt ein grundsätzliches Problem in den USA mit ihrem Zweiparteiensystem: Das Land ist politisch in zwei gleich große Hälften geteilt. Eine ist immer der Verlierer auf ganzer Linie und die Regierungspartei befindet sich stets im Konflikt mit der einen Hälfte des Landes. Das ist in einem Mehrparteiensystem wie in Deutschland völlig anders. Wenn Trump nun wirklich nominiert wird, wird sich wohl auch ein Großteil der Republikanischen Partei hinter ihn stellen. Aber bei jeder Wahl gibt es auch Abweichler. Ich selbst habe mich noch nicht entschieden. Es hängt auch davon ab, wen die Demokraten schlussendlich aufstellen werden. + +Shannon Smith, 32 Jahre, ist verantwortlich für die "User Experience" bei der grünen Suchmaschine ecosia.org in Berlin. +Jetzt schämen sich die Republikaner zwar für die Trump-Anhänger, aber wenn eine Partei sich nicht um das kümmert, was den Leuten wirklich fehlt, dann werden die eben extrem. Will man diese Leute davon abhalten, Trump zu wählen, dann kann man noch so gut argumentieren. Auch John Olivers virales Video war viel zu elitär, viel zu anspruchsvoll und ging am Thema vorbei. Ein großer Teil unseres Landes – sowohl rechts als auch links – fühlt sich weder repräsentiert noch verstanden. 300 Millionen Einwohner sind zu viele und zwei Parteien zu wenig. Und gleichzeitig geschehen so unfassbare Dinge in der Welt – Terroranschläge, kaputte Wirtschaftssysteme, Kriege, zerfallende Staaten. +Da ist etwas aus dem Gleichgewicht geraten und das macht vielen Amerikanern Angst. Darum geht es. Nur können sie das nicht so recht ausdrücken. Und alle sagen ihnen, sie seien Rassisten, statt ihnen im Umgang mit ihren Ängsten und ihrer Wut zu helfen [Video] .Das nutzt Trump aus, ein Idiot, der sehr einfache Sachen sagt, wieder und wieder. Der trifft da einen Nerv, viele Leute fühlen sich durch ihn in ihren Gefühlen bestätigt. Ich finde das schlimm, aber es überrascht mich nicht. Auch bei vielen Menschen in meiner Familie würde es mich nicht wundern, wenn sie Trump wählen. Sie würden wahrscheinlich sagen, dass er ein Idiot ist – aber hey, er hat ein paar gute Ideen und: "Ich mag seine Attitüde!" + +Jenna Krumminga, 32 Jahre, ist Autorin und Übersetzerin. Zurzeit arbeitet sie an ihrer Promotion in Geschichte. Sie pendelt zwischen New York und Berlin. +"Trump macht Rassismus, Fremden- und Frauenfeindlichkeit salonfähig, ge, von denen die amerikanische Kultur schon lange geplagt ist, die aber ein paar Jahrzehnte von der Bildfläche verschwunden waren. Einige Leute sind ihm offenbar dankbar dafür. Hinzu kommt: Amerikaner lieben Außenseiter – bei Trump ist das natürlich ironisch, weil er ja kaum mehr verstrickt sein könnte in jene politisch-wirtschaftliche Oligarchie, die seine Unterstützer so verachten. Dieser Hass ist die Quelle, aus der Trump seine Popularität zieht – übrigens dieselbe, die auch Bernie Sanders von den Demokraten anzapft: eine tiefe Überzeugung, dass da ein falsches Spiel läuft, dass das System nur die Eliten stützt und Wirtschaft, Politik und Medien miteinander klüngeln, um ihre Macht zu erhalten. Trumps Reichtum erlaubt ihm, eine Immunität zu behaupten gegen Lobbyisten und Interessenvertretungen. Und weil er gegen die republikanische Elite zetert, kann er sich als Anti-Establishment verkaufen, was ja lächerlich ist. Und so erleben wir gerade das absurde Spektakel, dass eine Schlüsselfigur der Finanzelite auf einer Welle des Populismus Richtung Weißes Haus reitet. + +Brenda E. Stevenson ist Fellow an der American Academy in Berlin, die sich für einen intellektuellen und kulturellen Austausch zwischen den USA und Deutschland einsetzt. +Hast du die Eier, dich mit Donald Trump anzulegen? +Ich glaube nicht, dass Donald Trump bei der breiten Masse tatsächlich so gut ankommt. Ich denke, er ist vor allem ein Medienphänomen. Denn er ist exzellent darin, sich medienwirksam zu inszenieren: als erfolgreicher Geschäftsmann, als frech, wohlhabend und als Kandidat, der sich von anderen Politikern unterscheidet. Trump hat sich zur Marke gemacht, er war schon vor dem Wahlkampf eine Art Promi. Seine Fans meinen deshalb, ihn zu kennen, zu wissen, was sie von einem Präsidenten Trump zu erwarten haben.Trump erinnert sie an die vermeintlich "gute alte Zeit" – die Zeit, in der die weißen, christlichen, wohlhabenden Männer allein über dieses Land bestimmt haben. Ob seine Fans auch sein politisches Programm unterstützen? Der Durchschnittsamerikaner weiß gar nicht, wofür Trump steht. Er hat ja auch keine klare Agenda und kaum konkrete politische Pläne. Mal abgesehen von seinem Vorhaben, eine Mauer an der Grenze zu Mexiko zu bauen. Indem sich Trump selten klar in eine bestimmte Ecke stellt, können seine Unterstützer denken, dass er schon das will, was sie auch wollen. + +Paul Hockenos, Journalist und Autor, schreibt unter anderem für die New York Times und den Spiegel und lebt in Berlin. +Es gibt viele Erklärungen für das Phänomen Trump. Was die Europäer wenig wahrnehmen, ist, wie viel dieser Radikalismus mit dem allgemeinen Rechtsruck der Republikaner in den letzten Jahrzehnten zu tun hat. In den 1970er-Jahren dachte man, konservativer als unter Nixon kann's nicht werden. Dann kam aber Reagan und schließlich der zweite George Bush. Das schien wirklich nicht mehr steigerbar. Dann aber doch, mit Trump. +Eigentlich ist das nicht überraschend, wenn man sich die Entwicklung der Republikanischen Partei genauer ansieht. Ihre Haltung zum Klimawandel, der Entstehung der Welt, der Frage, wann das Leben anfängt und damit der Abtreibung – da basiert ganz wenig auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und Rationalität. Das sind heute eher Glaubenssätze, in denen kein Kompromiss ausgehandelt werden kann. Und jeder, der die anzweifelt, gilt als Verräter. Gleichzeitig ist das republikanische Establishment mit seiner dogmatischen Politik immer wieder gescheitert. Anders als Obama. Er hat ja sogar mit einem Kongress, in dem die Republikaner die Mehrheit hatten, sein Programm durchbekommen. Das sind große Erfolge, und die Republikaner haben nichts Vergleichbares vorzuweisen – außer Verhinderungspolitik. Weil das republikanische Establishment so einen schlechten Job gemacht und die Demokraten von Clinton bis Obama dämonisiert hat, musste einer wie Trump kommen, der außerhalb dieses Establishments steht und den rechten Rand mobilisiert. diff --git a/fluter/was-ist-der-ccc.txt b/fluter/was-ist-der-ccc.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/was-ist-die-energiewende.txt b/fluter/was-ist-die-energiewende.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..201566c43cb8ecddb0dd708eaa7a79ee22d0381a --- /dev/null +++ b/fluter/was-ist-die-energiewende.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Lange Zeit waren daher viele Experten der Auffassung, dass für die Energiewende viele Speicherkraftwerke benötigt würden. Doch 2014 haben Forscher mit der "Roadmap Speicher" aufgezeigt, dass man bis zu einem Anteil von 90 Prozent erneuerbarer Energien weitgehend ohne Stromspeicher auskomme. Gleichwohl könnten verschiedene Technologien wie Power-to-Gas, Pumpspeicherkraftwerke oder Batteriespeicher helfen, Stromspitzen zu bunkern – allerdings nur als Notfallpuffer. Denn Strom zu speichern ist teuer, und bei der Umwandlung geht ein Teil der Energie verloren. Klimafreundlich ist das nicht. +Noch wichtiger ist deswegen der Ausbau des Stromnetzes. Ohne ihn, so warnt die Bundesnetzagentur, kann es durchaus zu Engpässen kommen. Allein 5.900 Kilometer neue Leitungen bzw. Netzverstärkungen sollen deshalb verlegt werden. Aber dieser Ausbau kommt nur schleppend voran.Betroffene Bürger setzen sich vielerorts zur Wehr, etwa aus Angst vor Elektrosmog oder weil Lebensräume seltener Arten zerstört werden. +Dennoch: Den Schlüssel zu einer sicheren Stromversorgung sehen die Befürworter der Energiewende in einem weiträumigen Stromnetz, das intelligent gesteuert wird. Denn Wind und Sonne liefern zwar kein gleichbleibendes Stromangebot, aber sie können, so die Argumentation, aufeinander abgestimmt werden. Wenn etwa Windräder in NRW stillstehen, drehen sie sich an der Nordseeküste oft trotzdem. +Dass die Voraussetzungen für diesen wechselseitigen Ausgleich gut sind, zeigt eine neue Studie des Deutschen Wetterdienstes: Statistisch gesehen kommt es in Deutschland nur an zwei Tagen im Jahr zu einer Wetterlage, bei der über 48 Stunden keine Sonne scheint und nicht genug Wind weht. Allerdings ist und bleibt das Wetter eine unberechenbare Sache. Deshalb empfiehlt die Studie, mit Reservekapazitäten vorzusorgen. Sonst könnte es notwendig sein, an Tagen mit "Dunkelflaute" Strom aus Nachbarstaaten zu importieren, womöglich sogar Kohle- oder Atomstrom. +Eine permanente Koordination verschiedener Anlagen geschieht schon heute. Alle 15 Minuten entscheiden Händler neu, wie der Strom in Europa verteilt wird. Sie tun dies aber nicht nur, um die Frequenz stabil zu halten, sondern auch, um jeweils das günstigste Angebot zu nutzen. Eine neue Studie des Göttinger Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation zeigt, dass dieser finanziell getriebene Stromhandel in den vergangenen Jahren in höherem Maße zu Stromschwankungen geführt hat als die erneuerbaren Energien. +Betrachtet man die Zahlen der Bundesnetzagentur, dann ist Deutschland auf einem guten Weg: Die Zahl der länger als drei Minuten anhaltenden Stromausfälle nahm von 2006 bis 2015 um rund 30 Prozent ab. Teuer wird es aber trotzdem werden: Laut Bundesregierung sind für die Energiewende Investitionen von 550 Milliarden Euro bis zur Mitte des Jahrhunderts notwendig. Sie will verhindern, dass der Strompreis dadurch zu stark steigt. Das wäre vielleicht gut fürs Klima, aber nicht sozial gerecht. Dann würde Strom doch noch zum Luxus. diff --git a/fluter/was-ist-die-kontrollgesellschaft.txt b/fluter/was-ist-die-kontrollgesellschaft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..69dbc963109c1f1faa7f269a5f23ffc252af6780 --- /dev/null +++ b/fluter/was-ist-die-kontrollgesellschaft.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +In seiner berühmten Untersuchung "Überwachen und Strafen" (1975), einem Buch über die Entwicklung des französischen Strafsystems, analysiert der französische Philosoph und studierte Psychologe Michel Foucault (1926-1984) die Entwicklungen disziplinarischer Maßnahmen des 18. und. 19. Jahrhunderts. Dreh- und Angelpunkt in "Überwachen und Strafen" ist der menschliche Körper als Ort dessen, was als "Seele", "Individuum" oder "Subjekt" bezeichnet wird. Foucault geht es dabei um den Zusammenhang zwischen dem ökonomischen Wert des Körpers und dem ökonomischen Nutzen, der sich aus dessen Arbeitskraft ergibt: "Der Körper steht [...] unmittelbar im Feld des Politischen; die Machtverhältnisse legen ihre Hand auf ihn; sie umkleiden ihn, markieren ihn, dressieren ihn, martern ihn, zwingen ihn zu Arbeiten, verpflichten ihn zu Zeremonien, verlangen von ihm Zeichen."Die Ablösung der Marter durch die Haft beschreibt Foucault als Prozess der Entdeckung des Individuums. Dazu gehört dann auch eine Entdeckung der Seele beziehungsweise des "Subjektes". Diese Reformen des Strafsystems setzten dabei nicht so sehr auf gerechtere Prinzipien, sondern auf die "Etablierung einer neuen 'Ökonomie' der Strafgewalt und die Gewährleistung einer besseren Verteilung der Gewalt". Diese Zweckmäßigkeit und Effizienz durchdrang, so Foucault, den Gesellschaftskörper von da an gleichmäßig. Und zwar auch außerhalb der Gefängnisse, nämlich in den Körpern aller Subjekte der Gesellschaft. Die Gesellschaft selbst ist zur "Disziplinargesellschaft", zum Gefängnis geworden, so könnte man Foucaults These verknappen. +An dieser Stelle setzt der Text Gilles Deleuzes zur Kontrollgesellschaft an. Deleuze, der mit Foucault freundschaftlich verbunden war und dessen gemeinsam mit Félix Guattari verfasstes Buch "Anti-Ödipus" von Foucault als eine Quelle für "Überwachen und Strafen" genannt wird, geht davon aus, dass die bei Foucault beschriebenen disziplinierenden "totalen Institutionen", Schule, Kirche, Krankenhaus, Gefängnis und Familie, in eine Krise geraten sind und nur durch beständige Reformen künstlich am Leben erhalten werden: "Eine Reform nach der anderen wird von den zuständigen Ministern für notwendig erklärt: Schulreform, Industriereform, Krankenhausreform, Armeereform, Gefängnisreform. Aber jeder weiß, dass diese Institutionen über kurz oder lang am Ende sind. Es handelt sich nur noch darum, ihre Agonie zu verwalten und die Leute zu beschäftigen, bis die neuen Kräfte, die schon an die Türe klopfen, ihren Platz eingenommen haben."Dass es sich bei diesen neuen Kräften nicht mehr – nur – um Organe staatlicher Machtausübung handelt, macht Deleuze unmissverständlich klar: "Die Eroberung des Marktes geschieht durch Kontrollergreifung und nicht mehr durch Disziplinierung", schreibt er. Damit ist auch gesagt, dass sich Macht nicht mehr (nur) durch Strafe oder deren Androhung regelt, sondern vor allem durch den Verbrauch von Waren und einer Vorstellung, als Subjekt selbst Ware zu sein, die einer andauernden Selbstkontrolle unterliegt: "In den Disziplinargesellschaften hörte man nie auf anzufangen (von der Schule in die Kaserne, von der Kaserne in die Fabrik), während man in den Kontrollgesellschaften nie mit irgend etwas fertig wird: Unternehmen, Weiterbildung, Dienstleistung." +Diese Aussage griffen die Autoren Tom Holert und Mark Terkessidis 1996 in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband "Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft" auf. Der Reader, in dem rund ein Dutzend Autorinnen und Autoren über Cultural Studies, Schlager, Techno oder Science Fiction unter dem Aspekt der Kontrollgesellschaft schrieben, geht von der Beobachtung aus, dass Spaß "eine endloseRessource sowohl für Produktion als auch Konsumption" geworden sei. Denn "während in der Disziplinargesellschaft Arbeit und Erholung strikt getrennt waren, sieht Arbeit heute aus wie Freizeit und Freizeit wie Arbeit".Fragen wie "Sehe ich noch gut genug aus? Bin ich noch beweglich genug? Bin ich nicht zu alt für einen neuen Job? Habe ich diese Tapete nicht schon seit Jahren?" würden dabei als Instrument ständiger (Selbst-)Kontrolle nicht nur einer auf Konsum getrimmten Gesellschaft Jugendlichkeit als Zielvorgabe setzen, sondern trügen dadurch auch zur Abschaffung von Jugend bei. Seitdem, lautet die Schlussfolgerung, ist auch Pop ganz schön alt geworden.Dabei mag dies nicht einmal das größte Problem des Lebens in der Kontrollgesellschaft sein. Denn für das technische Szenario absoluter Kontrolle erahnt Deleuze eine Stadt, "in der jeder seine Wohnung, seine Straße, sein Viertel dank seiner elektronischen (dividuellen) Karte verlassen kann, durch die diese oder jene Schranke sich öffnet; aber die Karte könnte auch an einem bestimmten Tag oder für bestimmte Stunden ungültig sein; was zählt, ist nicht die Barriere, sondern der Computer, der die – erlaubte oder unerlaubte – Position jedes Einzelnen erfasst und eine universelle Modulation durchführt."Die Anzahl der Chipkarten, die man als Individuum im Alltag benötigt, hat sich seit 1990 tatsächlich ebenso vervielfacht wie die Möglichkeiten, auf die Chipkartenbesitzer/innen Kontrolle auszuüben: zum Beispiel die Praxis der Erstellung von Kundinnen- und Kundenprofilen über so genannte Payback-Karten. Wenn Deleuze von "dividuellen", also teilbaren Karten spricht, fallen jedoch auch andere akuelle Kartentypen ein, die einer noch effizienteren Kontrollsituation zuarbeiten könnten: die "Google Street View"-Autos, die dieser Tage durch die Städte fahren, um Ansichten von Straßenpanoramen digital auf Google Mapsund Google Earth verfügbar zu machen, erstellen Karten, die "dividueller", also weltweit teilbarer sind, als dies vor knapp 20 Jahren denkbar gewesen wäre.Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (Suhrkamp Taschenbuch 1993, 408 S., 11.50 €)Gilles Deleuze: Unterhandlungen 1972–1990, darin: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften (Edition Suhrkamp 1993, 272 S., 11 €)Tom Holert/Mark Terkessidis (Hg.): Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft (Edition ID Archiv 1996, 190 S., vergriffen, gebraucht bei zvab.de oder amazon.com). +http://querdurch.hfbk.netVirtualität und Kontrolle. Internationales Symposium zu den Kontrollgesellschaften vom November 2008www.surveillance-studies.orgTechnologie und Kontrolle: Surveillance Studies. Das Forschungsnetzwerk zu Überwachungwww.nadir.orgGilles Deleuze: "Postskriptum über die Kontrollgesellschaften" +Martin Conrads lebt als Journalist in Berlin. diff --git a/fluter/was-ist-ein-europa-der-regionen.txt b/fluter/was-ist-ein-europa-der-regionen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..97fb4e01ae5e303f4bc67df3a486350915bd5ef8 --- /dev/null +++ b/fluter/was-ist-ein-europa-der-regionen.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +"Die Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre hat zu einer Legitimationskrise des Nationalstaats geführt", sagt Philipp Ther. Der Historiker von der Universität Wien hat Europas Regionalismen erforscht. Seine Bilanz: Krisen zerren am Zentralstaat. In wirtschaftlich schweren Zeiten wachse die Lust, sich vom Zentrum loszusagen. So erfuhr zum Beispiel Kataloniens Regionalismus um 1900 einen ersten Aufschwung: Nach dem verlorenen Krieg gegen die USA musste sich Spanien 1898 von seinen letzten bedeutenden Kolonien in Übersee, etwa Kuba, Puerto Rico und Guam, trennen. Die Hafenstadt Barcelona litt besonders unter dem wegbrechenden Handel – und strebte weg von der kriselnden Monarchie in Madrid. Heute sind es die Nachwirkungen der Eurokrise, die Spanien plagen. +"Der alte Nationalstaat als politischer Körper ist ausgehöhlt", sagt Ulrike Guérot. Die deutsch-französische Politikwissenschaftlerin lehrt an der Donau-Universität Krems in Österreich und gilt als "Europa-Aktivistin". 2013 verfasste sie mit dem Schriftsteller Robert Menasse ein Manifest für die Begründung einer europäischen Republik, die ihrer Meinung nach schon in wenigen Jahrzenten kommt. "Ich halte den 9. Mai 2045 für realistisch", sagte sie der "Zeit". 2016 legte Guérot mit ihrem Buch "Warum Europa eine Republik werden muss", Untertitel: "Eine politische Utopie", ein engagiertes Plädoyer für ein Europa der Regionen nach. Ihr wichtigstes Argument: "Die Region ist der natürliche politische Organisationsrahmen." +Die Analyse der europäischen Verhältnisse in Guérots Buch geht so: Der Nationalstaat steckt in der Krise. Globalisierung (und EU) knabbern von oben an seiner Souveränität. Von unten fordert die Zivilgesellschaft mehr Mitsprache und Transparenz. Das Internet bietet neue Beteiligungswege, die Bindekraft der Parteien sinkt. Nur die Demokratie setze weiter auf Methoden aus dem 19. Jahrhundert: Repräsentation und Nationalstaat. "Die Frage ist: Wie wollen wir den Modernisierungsschub überstehen – nur durch nationalstaatliche Regression oder durch etwas Neues?", fragt Guérot provokant. Was sie an der Diskussion um Katalonien störe, sei die völlige Verengung einer Diskussion ohne mögliche Alternativen: "Entweder unabhängig und raus aus der EU oder drinnen in der EU und in Spaniens Zentralstaat." +Sie plädiert für einen dritten Weg: ein Europa der Regionen. Guérot verweist auf europäische Landkarten – mit den Stadtrepubliken aus dem Mittelalter und von heute. Was die kleingliedrige Einteilung betrifft, sind die Abbildungen fast deckungsgleich. 50 bis 60 Regionen sind darauf zu sehen mit je fünf bis zehn Millionen Einwohnern. Sie sind im Verlauf der Geschichte rund um urbane Wirtschaftszentren wie Barcelona, Mailand oder Venedig gewachsen und ökonomisch ungefähr gleich stark. In Deutschland könnte sich etwa eine Region Sachsen rund um die Zentren Dresden und Leipzig konstituieren. + +In einer EU-50-plus, in der alle gleich mächtig sind, so die Unterstützer der Idee, gäbe es keine Großen mehr, die die Richtung vorgeben wie zuletzt Deutschland in der Eurokrise. Zwischen Riesen haben Kleine oft nicht viel zu melden: Schon jetzt zeichnet sich ab, dass sich die EU nach dem Brexit über weite Strecken wie bereits mehrmals in ihrer Geschichte auf der Achse Paris und Berlin ausrichten könnte. Eine EU-50-plus böte immer neue Mehrheiten entlang von Sachfragen und somit keine dauerhaften Niederlagen Einzelner, sondern wechselnde Gewinner. Ein "Paradigmenwechsel von nationalem Interesse zu gesellschaftlichen Präferenzen", sagt Guérot. +Ihr geht es in kritischen Zeiten für Demokratie und Europäische Union um mehr Mitbestimmung, am besten über Selbstverwaltung auf regionaler Ebene. "Die Politikräume müssen enthomogenisiert, regionalisiert und politisiert werden", fordert Guérot. Sprich: Der Nationalstaat gibt Zuständigkeiten nach oben (an die EU) und nach unten (an die Regionen) ab. Von "Glokalisierung" – ein Hybrid aus den Wörtern Globalisierung und Lokalisierung  – spricht Bart De Wever , Vorsitzender der flämischen N-VA und Bürgermeister Antwerpens. Die Aufgabe der EU könnte es zum Beispiel sein, Verteidigung und Außenvertretung zu übernehmen. Angelegenheiten wie Steuer- oder Schulpolitik – in Bildungseinrichtungen etwa sollte in der jeweiligen Regionalsprache gelehrt werden dürfen – könnten die Regionen selbstständig regeln. +Doch wie soll das gehen, eine EU-50-plus, wo schon die heutigen 28 Staaten keinen Konsens finden? Guérots Vorschlag lautet: mit einer europäischen Republik. An der Spitze steht ein direkt gewählter EU-Präsident mit seinem Kabinett – vergleichbar mit der heutigen EU-Kommission. Die Europäische Abgeordnetenkammer (das heutige EU-Parlament) würde durch eine zweite Kammer, den "Europäischen Senat", ergänzt. In diesen entsendet jede Region je zwei Senatoren. Klingt verwegen? "Funktioniert in den USA doch auch", sagt Guérot mit Blick auf das Zwei-Kammer-System der Vereinigten Staaten knapp. +Bisher ist diese Idee wohlgemerkt nur eine Zukunftsvision einiger weniger. Gegnerinnen und Gegner warnen zum Beispiel vor Zersplitterung, Instabilität und einem enormen Verwaltungs- und Abstimmungsaufwand. Zumindest eine der Voraussetzungen für eine potenzielle Umsetzung ist aber grundsätzlich gegeben, und zwar durch die Gemeinschaft selbst. "Die EU liefert kleinen Nationalstaaten mit Handelsabkommen und Verteidigungsbündnissen erst den organisatorischen Rahmen, damit sie in einer globalisierten Welt überleben können", so der Historiker Philipp Ther. Im Jahr 1992 schafften es Tschechien und die Slowakei, sich friedlich zu trennen. Beide Länder haben heute besonders niedrige Arbeitslosenzahlen – Tschechien führt die Liste an, die Slowakei liegt immerhin unter dem EU-Durchschnitt  – und zeigen, dass auch kleine Staaten erfolgreich sein können, wenn sie vom Know-how und der Unterstützung der EU profitieren. +Natürlich gehe es bei den Autonomiebestrebungen auch um Verteilungsfragen, räumt Ulrike Guérot ein. Schottland ist reich an Erdöl, rund um Antwerpens Hafen in Flandern sitzen Belgiens Exportindustrien, und auch Katalonien mag seinen Reichtum in der Krise ungern mit dem landwirtschaftlich geprägten Andalusien teilen. Die reiche spanische Region führt laut Schätzungen jährlich rund 16 Milliarden Euro an Steuern und Abgaben an die Zentralregierung ab. "Spanien beklaut uns", lautet daher einer der Schlachtrufe der katalanischen Unabhängigkeitsbefürworter. +"Eine solche Rhetorik teilt Menschen ein zwischen ‚Uns' und ‚Denen'. Du gehörst zur einen Gruppe oder zur anderen", warnt der britische Kolumnist Simon Kuper. Der serbisch-amerikanische Ökonom Branko Milanović erinnert in diesem Zusammenhang an den schmerzlichen Zerfall Jugoslawiens in den 1990er-Jahren und mahnt zu einem Verhalten, das auch abseits von Unabhängigkeitsbestrebungen nicht verkehrt ist: "Seid rücksichtsvoll. Denkt vom Gegenüber als Menschen. Und belegt sie nicht mit Vorurteilen." + + +Peter Riesbeck arbeitete von 2012 bis 2017 als Korrespondent in Europas "einzigartig interkulturellem Lernort Brüssel", wie er es nennt, unter anderem für "Cicero", "NZZ am Sonntag" und die "Kleine Zeitung" aus Graz +Hier gibt es weiterführendeInformationenundGrafikenzur Europäischen Union +Titelbild: Gunnar Knechtel/laif diff --git a/fluter/was-ist-eine-utopie.txt b/fluter/was-ist-eine-utopie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/was-ist-freundschaft.txt b/fluter/was-ist-freundschaft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c669be70a208904876b6cd272f1d644ee4756fc5 --- /dev/null +++ b/fluter/was-ist-freundschaft.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Auch auf der Bühne der großen Politik gibt es sehr verschiedene Formen der Freundschaft – sei es, dass Entfeindungen das Ziel generationenübergreifender Friedensprozesse werden, sei es, dass Freundschaft ein anderer Name für Fügsamkeit im Bündnis mit einer Übermacht ist. +In autoritären Gesellschaften werden aus Freundeskreisen immer wieder Plattformen des Dissidentischen, sie bilden rare Zonen der Freiheit und des riskanten Engagements. In den westlichen Konkurrenzgesellschaften sind viele Freundschaften eher Erlebniszonen auf der Jagd nach dem kleinen, feinen Unterschied. Aber auch hier können Freundeskreise dazu dienen, Vertrauen zu wagen, Solidarität und Hingabe zu erfahren und zu gestalten. +Freundschaft kann auch einengen. Dann werden die Grenzen meiner Freundeskreise die Grenzen meiner Welt. Dabei sind Ausgrenzungen, Herabwürdigungen bis hin zu offenen und gewaltsamen Feindschaften ein probates Mittel der inneren Mobilisierung dieser Gemeinschaften. Das ist einer der Resonanzräume fürPopulismusund autoritäre Regimes. +Den Entwurf eines eigenen, selbstbestimmten Lebens dagegenzusetzen, neue soziale Beziehungen zu suchen, Kritik auch an Freundinnen und Freunden zu üben kann befreiend wirken. Diese Offenheit macht weitere eigene Entwicklungen möglich, jenseits von Glaubensgrenzen und fixen Ideologien. Freundschaften sind deshalb oft auch ein Mittel gegen die inzwischen allgegenwärtige autoritäre und identitäre Versuchung. +Was wir aus Freundschaften machen, sagt einiges über unser Verständnis, unsere Aneignung sozialer Verhältnisse aus. Entscheidende Fragen werden dabei aktiviert: Auf wen kann ich mich verlassen, selbst wenn alle sich abwenden, wer vertraut mir warum, und wem will ich, wie weit will ich vertrauen? Was macht und hält uns stark? Aber auch die eigenen Interessen werden erprobt – wer nützt mir, wem nutze ich, was soll als Nutzen gelten: der soziale Aufstieg, eine bessere Ökonomie und/oder die gemeinsame Erkundung von Sinn, Wahrheit, Achtung? Wie werden die radikalen Medien Macht, Ruhm, Geld in Freundschaften verarbeitet, ausgelebt oder aber auch überwunden? Sollen und können Freundschaften überhaupt von den Zwängen dieser Kräfte frei gehalten werden? Oder werden sie letztlich immer wieder zur emotional erweiterten Reproduktion der herrschenden Verhältnisse? +Die allgegenwärtigen digitalen Medien schärfen diese Fragen noch und geben dem "sozialen Kapital" völlig neue Verwertungszyklen. Wenn Waren Freunde werden, wir Daten daten, die Informationen über unsere persönlichen Beziehungen zu Wertanlagen globaler Konzerne geraten, ist die "Schöne neue Welt" schon da. Sie ist aber weder neu noch schön. Auch darüber lohnt es sich mit Freunden zu streiten. diff --git a/fluter/was-ist-inflation.txt b/fluter/was-ist-inflation.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8a9703a257c854b1854c05d8a1ebff2b8f14f3d2 --- /dev/null +++ b/fluter/was-ist-inflation.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Besonders Menschen mitniedrigem Einkommen. Zum einen sind in den vergangenen Monaten vor allem die Preise für lebenswichtige Dinge wie Heizen, Transport und Lebensmittel stark gestiegen. Da Menschen mit niedrigerem Einkommen einen größeren Anteil ihres Einkommens für diese Dinge ausgeben, sind sie stärker von den gestiegenen Preisen betroffen. Die Inflation wird von ihnen deshalb als höher empfunden – und trifft sie auch tatsächlich stärker –, als es die offizielle Inflationsrate ausdrückt. Eigentlich müsste man also für unterschiedliche Einkommensgruppen unterschiedliche Inflationsraten berechnen – wie es beispielsweise im Inflationsrechner des "Wall Street Journal" möglich ist. +Zum anderen haben Zentralbanken, um auf die Inflation zu reagieren, die Zinssätze stark erhöht. Wenn die Zinsen steigen, wird es für Unternehmen und auch für Privatpersonen teurer, Kredite aufzunehmen, da sie mehr Zinsen zurückzahlen müssen. Sogar Studierende, die zu Zeiten von sehr niedrigen Zinsen Studienkredite aufgenommen haben, sind im Zuge der Zinserhöhungen in echte Probleme geraten, weil sie plötzlich viel mehr zurückzahlen müssen. So können Menschen weniger investieren. Das wiederum wirkt sich auf Löhne und Arbeitslosigkeit aus: Sinken die Investitionen, gibt es weniger zu tun und damit weniger Arbeitsplätze. DieArbeitslosigkeitnimmt zu. Die höhere Arbeitslosigkeit führt wieder zu niedrigeren Löhnen: Wenn viele Menschen um eine Stelle konkurrieren, sind die Bewerber:innen eher bereit, auch für wenig Geld zu arbeiten. Bei hoher Arbeitslosigkeit können sie also keine höheren Löhne fordern. +Das heißt, mit steigenden Zinsen können Zentralbanken Druck auf Löhne ausüben und damit eine Lohn-Preis-Spirale verhindern. Die Entstehung eines sich selbst verstärkenden Teufelskreises soll so verhindert werden – auf Kosten derjenigen, die dadurch weniger verdienen, arbeitslos werden oder ihre Kredite nun mit höheren Zinsen abzahlen müssen. Den momentanen Preisschock durch gestiegene Energiepreise können Zentralbanken mit höheren Zinsen allerdings nicht beeinflussen. +Die gestiegenen Preise haben in den vergangenen zwei Jahren unter Wirtschaftswissenschaftler:innen grundlegendeDebattenausgelöst über die Ursachen und richtigen Maßnahmen, um die Inflation abzuschwächen. Es wurde darüber diskutiert, was Inflation eigentlich bedeutet und wodurch sie aktuell vornehmlich ausgelöst wurde: der Energiepreisschock durch den Ukrainekrieg, eine Lohn-Preis-Spirale, staatliche Corona-Hilfen oder Übergewinne. Allerdings zeigen mehrere Analysen – unter anderem vom Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz an der Columbia-Universität –, dass die Energiekrise wesentlich stärker für die aktuellen Preisanstiege verantwortlich ist als staatliche Hilfszahlungen oder eine Lohn-Preis-Spirale – insbesondere in Europa. +Abgeschlossen sind diese Debatten jedoch noch nicht. Am strittigsten ist die Rolle von Übergewinnen als Ursache der höheren Preise. Die Ökonomin Isabella Weber erregte besondere Aufmerksamkeit, indem sie sagte, dass die aktuelle Inflation zum großen Teil durch übermäßige Profite vonUnternehmengetrieben sei: Unternehmen könnten ihre Preise stärker erhöhen, als es die gestiegenen Energiekosten erfordern. Konsument:innen haben oft nicht die nötigen Einblicke, um das nachzuvollziehen. +Trotz zunehmender Hinweise durch etablierte Wirtschaftsinstitutionen ist noch nicht abschließend geklärt, inwieweit die Inflation durch Extraprofite von Firmen getrieben ist. In den Medien hat sich dennoch schon das Wort "Gierflation" für Webers Argument etabliert. Dabei geht sie aber gar nicht von gierigen CEOs aus, sondern von strukturellen Anreizen in einer besonderen wirtschaftlichen Situation: einem Preisschock. Einige etablierte Ökonom:innen reagierten kritisch auf diese Analyse und Webers Forderung nach Preiskontrollen. +Es herrscht also Uneinigkeit unter Ökonom:innen. Analysen deuten auf verschiedene Ursachen hin und verlangen jeweils entsprechend andere politische Reaktionen – mit sehr unterschiedlich verteilten Gewinnen, Verlusten oder Kosten. Die plötzlichen Zinserhöhungen vieler Zentralbanken gingen vor allem zulasten von Menschen mit geringem Einkommen; Preiskontrollen und das Abschöpfen von Übergewinnen – wie es Isabella Weber vorschlägt – wären hingegen vornehmlich auf Kosten von Unternehmen und Staaten gegangen. Die Inflation polarisiert, weil sie grundlegendeVerteilungsfragenan Politik und Wirtschaft stellt. + diff --git a/fluter/was-ist-klimagerechtigkeit-bericht-eines-betroffenen.txt b/fluter/was-ist-klimagerechtigkeit-bericht-eines-betroffenen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b9c990504245fd16bc9953195f5e5db81fc6b937 --- /dev/null +++ b/fluter/was-ist-klimagerechtigkeit-bericht-eines-betroffenen.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Ghana muss die ökonomischen, sozialen und ökologischen Kosten für etwas tragen, das es gar nicht selbst verursacht hat. Diese Situation – ich denke, da sind wir uns einig – ist ungerecht. +Geht es um den Klimawandel, dann wird meines Erachtens zu selten überKlimagerechtigkeitgesprochen. Auf globaler Ebene gibt es dramatische Appelle und hochtrabende Ziele, die dann aber oft nicht erfüllt werden. Es stimmt ja, wir müssen die Welt retten und den Klimawandel begrenzen. Aber dabei sollten wir die Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass die Erderwärmung manche Menschen auf diesem Planeten härter trifft als andere – zumeist in den sogenannten Entwicklungs- undSchwellenländern. Länder wie Ghana, die nicht schon vor vielen Jahrzehnten durch den Ausstoß von Unmengen CO₂ zu Wirtschaftsmächten geworden sind. Diese Staaten des globalen Südens, die kaum etwas zum Klimawandel beigetragen haben, müssen nun umso härter mit seinen Folgen kämpfen. Weil ihnen das nötige Geld, die Technologie und die Infrastruktur fehlen. +Deshalb denke ich, dass die internationalen Klimarettungspläne einer gründlichen Überarbeitung bedürfen – anhand des Verursacherprinzips: Die Industrienationen müssen die Kosten ihres Tuns tragen, und dabei sollten auch ihre historischen Emissionen berücksichtigt werden. Mit Forderungen an die Länder des globalen Südens sollte man sich hingegen erst mal zurückhalten. Das legen schon die Größenverhältnisse nahe: Ghanas CO₂-Fußabdruck ist unbedeutend im globalen Vergleich. Selbst wenn wir unseren Ausstoß von Treibhausgasen verzehnfachen würden, käme es noch nicht zu einer spürbaren Erhöhung des Gesamtausstoßes der Welt. +Dafür hätte ein Anstieg unserer Emissionen erhebliche Vorteile. Vorteile, die indirekt auch der Welt zugutekämen: Wir würden dadurch die wirtschaftliche Stärke erlangen, die wir benötigen, um die anstehenden Herausforderungen meistern zu können. Zum Beispiel Zuwanderer aus anderen afrikanischen Ländern wie Mali aufzunehmen, dieihre Heimat in Zukunft vermutlich verlassen werden, weil sie noch härter als wir vom Klimawandel betroffen sind. Ebenso dringlich: unserer Bevölkerung eine bessere Bildung ermöglichen – Voraussetzung dafür, dass sie ihr Umweltbewusstsein weiterentwickelt. +Stattdessen werden wir oft ermahnt, wir dürften jetzt nicht die Ressourcen verschlingenden Konsumgewohnheiten des Westens übernehmen. Sicher haben viele Ghanaer einen ähnlich großen Appetit auf Konsum wie die Menschen im Westen. Wer es sich leisten kann, importiert schon heute Autos, Konsumgüter und den ganzen Lifestyle von dort. Aber unser Konsum wird meines Erachtens nie die Zerstörungskraft erreichen wie der, den die Menschen in den alten Industriestaaten jahrzehntelang praktiziert haben. So viel Schwung wird unsere wirtschaftliche Entwicklung gar nicht aufnehmen. Und sie wird mit viel moderneren Technologien vonstattengehen. +Ein Auto hat heute nicht mehr den gleichen Verbrauch wie vor 40 Jahren. Vielleicht werden wir ja sogar selbst einmal neue grüne Technologien entwickeln können. Aber dafür müssen wir wirtschaftlich erst mal auf die Beine kommen. Wenn man uns jetzt direkt erhebliche CO₂-Restriktionen auferlegt, wird uns das nicht gelingen. +Manchmal wirken die Forderungen der Industrienationen an uns wie eine Ablenkungstaktik. Anstatt erst mal ihre eigenen Klimaziele zu erfüllen, haben sie uns in Klimaverträge eingebunden, die unsere langfristigen Industrialisierungspläne behindern. Und warum unterzeichnen wir? Wir haben keine andere Wahl. Denn kurzfristig benötigen wir immer noch ihre Entwicklungshilfezahlungen. Das alles ist für mich das exakte Gegenteil von Klimagerechtigkeit. +Ich denke, ich spreche für viele Entwicklungsländer, wenn ich sage: Uns sollten flexiblere Regeln zugesprochen werden, bis wir ein gewisses Entwicklungsniveau erreicht haben. Derweil sollten die aktuellen Chef-Weltverpesterihren Worten Taten folgen lassen. Sie haben die Stärke, wirklich etwas zu ändern, sich von den fossilen Energien zu verabschieden und ihren Ausstoß erheblich zu drosseln. Und sie sollten die Länder des globalen Südens dabei unterstützen, mit den Folgen des Klimawandels zurechtzukommen. +Erst dann kann die Debatte über Klimagerechtigkeit eine aufrichtige sein. Und: Wie sollen wir die nötige Zuversicht entwickeln, irgendwann einmal mit grünen Technologien unsere Wirtschaft prosperieren zu lassen, wenn sogar diejenigen, die in relativem Wohlstand leben, nicht bereit sind zu ernsthaften Zusagen und Veränderungen? diff --git a/fluter/was-ist-kuenstliche-intelligenz.txt b/fluter/was-ist-kuenstliche-intelligenz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9dbfd25ffcbb65ac33b9af2267eceb9843bdf7d6 --- /dev/null +++ b/fluter/was-ist-kuenstliche-intelligenz.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Heute erscheint uns das nicht mehr abwegig, damals jedoch fehlte den Computern noch einiges, zum Beispiel die Rechenkraft. Erst in den 1990er-Jahren kamen Computer auf den Markt, die unseren modernen Rechnern ähneln. 1997 besiegte der IBM-Computer Deep Blue Schachweltmeister Garry Kasparow, 2011 gewann derIBM-Computer Watsondie US-Spielshow "Jeopardy", und 2016 schlug ein Google-Rechner einen der weltweit besten Go-Spieler. Letzteres galt bis dato als unmöglich. Vor kurzem haben die Entwickler noch einen draufgesetzt und einen überarbeitetenAlgorithmusherausgebracht, mit dem der Computer sich das Spiel selbst beigebracht hat. Damit ist ein entscheidender Fortschritt gelungen: ein Algorithmus, der selbstständig lernen kann. +Doch so beeindruckend diese Erfolge auch klingen mögen, die Maschinen besitzen bisher nur, was man als "schwache künstliche Intelligenz" bezeichnet. Schwache künstliche Intelligenz ist nur in der Lage, ganz bestimmte Aufgaben zu lösen – dies jedoch meist besser als ein Mensch. Eine "starke künstliche Intelligenz" hingegen könnte – ganz wie der Mensch – völlig unterschiedliche Probleme lösen: Schach spielen, Gedichte schreiben, Auto fahren, dabei auf spontane Hindernisse reagieren und Unterhaltungen führen sowie auf implizites Wissen zurückgreifen. +Spätestens hier stößt man auf Fragen, die nicht mehr nur die Informatiker, sondern auch Philosophen, Soziologen und Psychologen interessieren: Hat eine Superintelligenz ein Bewusstsein? Lebt sie? Hat sie also auch Rechte? Obwohl die Entwicklung in den letzten Jahren rasant vorangeschritten ist, glauben die meisten Forscher nicht, dass es in den nächsten Jahrzehnten gelingen wird, eine wirklich starke künstliche Intelligenz zu entwickeln. diff --git a/fluter/was-ist-schon-normal.txt b/fluter/was-ist-schon-normal.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a3626f666f6e0d7e2afa808b9b5acded8230603e --- /dev/null +++ b/fluter/was-ist-schon-normal.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Die Vorbehalte und Zweifel gegenüber den Eltern mit Handicap sind dennoch groß, dabei ist die Entscheidung für oder gegen Kinder ein Menschenrecht und nicht abhängig von körperlichen Einschränkungen oder Lernbehinderungen. "Die Vorurteile halten sich sehr hartnäckig. Selbst in manchen Jugendämtern wird Eltern mit geistiger Behinderung noch mit der sofortigen Wegnahme des Kindes gedroht", sagt Ursula Pixa-Kettner. Die Psychologin forschte lange Zeit an der Universität Bremen zum Thema "Familien mit geistiger Behinderung". Erst das Betreuungsgesetz vom 1. Januar 1992 verbot die Sterilisation im "Interesse der Allgemeinheit" oder im Interesse von Verwandten; eine Sterilisation gegen den Willen der betroffenen Person durfte nicht mehr durchgeführt werden. +Auch so wurde oft über den Kopf der behinderten Menschen hinwegentschieden. Wenn diese ein Kind bekamen, wurde das oft innerhalb der Familie geregelt. Plötzlich wurde aus der Tante die Mutter, oder das Kind kam in eine Pflegefamilie. Auch heute noch gebe es in vielen Behin- derteneinrichtungen Zwangsverhütung, etwa durch die unbemerkte Verabreichung der Pille, sagt Pixa-Kettner. "Das Thema ist längst noch nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Zum Beispiel gibt es ein klares Nord-Süd-Gefälle; in Bayern gibt es nur wenige Stellen, die sich um Familien mit Handicap kümmern." +Als die ersten Einrichtungen zur Unterstützung geistig behinderter Eltern entstanden, waren die Anfeindungen groß, inzwischen gibt es gerade in Norddeutschland einige etablierte Betreuungsangebote. Für Sarah und Sven Maier war das die Lösung. Ein Weg, wie sie ihre Kinder behalten konnten. "Wir wollen doch gute Eltern sein, und dafür muss man ja nicht lesen können oder so was", sagt Sarah. Das Jugendamt gab den beiden die Adresse einer Einrichtung in Hamburg. In einem Haus der Evangelischen Stiftung Alsterdorf war gerade eine Wohnung frei geworden. +"Schön ist es hier", sagt Sven und umklammert seine Kaffeetasse. "Nur etwas weit vom Schuss." Ein wenig müde wirkt der 32-Jährige, dunkel zeichnen sich die Augenringe ab. Seine kleine Tochter, gerade ein paar Monate alt, schläft neben ihm im Kindersitz, die ältere blickt nach draußen in den Garten, wo das Laub die Spielecke fast vollständig bedeckt hat. "Noch vor ein paar Jahren wollte ich keine Kinder. Heute ist es zwar oft anstrengend, aber ein tolles Gefühl." +Derzeit leben elf Familien im Haus – alle in eigenen Wohnungen. "Wir helfen den Eltern dabei, eine Beziehung zu ihren Kindern aufzubauen, und unterstützen sie bei allen Aspekten des Elternseins. Die Erziehung der Kinder nehmen wir ihnen aber nicht aus der Hand", sagt Leiterin Elfriede Ruzanska. Morgens und abends schauen die Betreuer nach den Kindern, bei Babys oder bei einer Krankheit auch mal öfter. 24 Stunden, sieben Tage die Woche ist das Mitarbeiterbüro im Erdgeschoss besetzt. Fragen im Alltag der Familien gibt es genug. Das beginnt beim Wickeln und Baden der Babys und endet bei der gesunden Ernährung, wettergerechter Kleidung und der richtigen Uhrzeit für den Kindergarten. Auch bei Behördengängen und Arztbesuchen hilft man den Eltern. Finanziert wird das alles hauptsächlich durch die Wiedereingliederungshilfe und andere Zuschüsse von Jugend- und Sozialamt. +Spätestens nach fünf Jahren müssen die Familien die Einrichtung verlassen. "Unser Ziel ist es, den Eltern die nötige Stabilität für ein unabhängiges Familienleben zu geben", sagt Ruzanska. Allein gelassen werden die Familien aber auch nach dem Auszug nicht, dafür gibt es ambulante Familiendienste wie den in Hamburg-Bramfeld. +Die Häuserblocks des ehemaligen Arbeiterviertels sind groß, die Modernisierung läuft eher schleppend, weshalb der Wohnraum noch erschwinglich ist. Zwölf Familien werden von dem kleinen Büro der Alsterdorf-Assistenz betreut. Sie bekommen, wenn nötig, Hilfe im Haushalt oder auch bei Behördengängen. +Vier- bis fünfmal pro Woche hat das fünfköpfige Pädagogenteam auch mit Familie Schmidt Kontakt. "Im Haushalt hat sich unser Leben eingespielt, Hilfe brauche ich eigentlich vor allem bei den Behördensachen, manche Anträge versteht man einfach nicht. Auch beim Arzt ist das oft schwer", sagt Maike Schmidt, deren achtjährige Tochter in die zweite Klasse geht. Weil ihre Mutter nicht gut lesen und rechnen kann, hilft eine Betreuerin regelmäßig bei den Hausaufgaben. Außerdem gehen die beiden einmal pro Woche in die Bücherei und lesen gemeinsam. "Ich möchte, dass meine Tochter besser lesen kann als ich und dass sie die Schule schafft." +"Wenn die Eltern einen sehr eingeschränkten Wortschatz haben, wirkt sich das auch auf das Kind aus", sagt die Wissenschaftlerin Pixa-Kettner. Ausgleichen lässt sich das durch den Kontakt zu anderen Kindern im Kindergarten und in der Schule, zudem gibt es in vielen Einrichtungen eine gezielte Förderung. +Und dann kommt irgendwann der Punkt, an dem die Kinder ihre Eltern über- flügeln, sie plötzlich besser lesen und rechnen können. Sie entdecken dann die Grenzen ihrer Eltern und dass sie anders sind als die Eltern ihrer Freunde. Das ist nicht immer leicht. +Dass das Familienleben auch bei Menschen mit Behinderung funktioniert, davon ist Pixa-Kettner fest überzeugt. Auch wenn es Fälle gibt, bei denen dazu ein engmaschiges Netz aus Hilfsangeboten nötig ist. Viele behinderte Menschen sind gewohnt, Unterstützung anzunehmen, und befinden sich meist seit Langem in einem Hilfesystem, wenn sie Kinder bekommen. Die Einrichtungen erhöhen auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder gut versorgt sind, und erleichtern den Jugendämtern die Arbeit. Bei vielen anderen Familien in sogenannten Problemvierteln ist dieser Zugang deutlich schwerer, und keiner kann genau sagen, was hinter verschlossenen Türen passiert. diff --git a/fluter/was-ist-terror-editorial.txt b/fluter/was-ist-terror-editorial.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9711308b8a5d1db03d39ad062a1fa61b4c4e3bf8 --- /dev/null +++ b/fluter/was-ist-terror-editorial.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Die eigenen Begründungen für diese extreme Gewalt können sehr verschieden sein: autoritäre, rassistische Rechtsideologien, Antisemitismus, religiöser Fanatismus, linksextreme Erlösungsideologien oder ethnisch-nationalistischer Aktivismus. Aber auch die Empfindung der eigenen Minderwertigkeit, Einsamkeit und fehlende Beachtung können als Antrieb wirken. +Für die angegriffenen Menschen und Gesellschaften ist das Motiv der Angreifer egal und wichtig. Es ist zunächst egal, weil im Moment der Tat die Gewalt unmittelbare Folgen hat, die Todesdrohung absolut ist. Es ist wichtig, die Motive zu erkennen, weil deutlich wird, dass der Terrorismus nicht einfach von außen kommt. Er ist uns fremd, aber er kommt oft aus unserer Mitte. Die digitalen Medien verstärken dabei die Radikalisierung, Vernetzung und Propaganda. +Im Angesicht des Terrors stellen sich Fragen an die angegriffenen Gesellschaften – was ist uns das Leben und Überleben wert? Mit welchen Mitteln wollen wir dem begegnen und uns verteidigen? Wie müssen wir die angemessenen Haltungen und Werte organisieren, um sie durchsetzen zu können? Was setzen wir der Politik der Angst entgegen? +Es gibt ein Leben nach der Tat. Die Toten zu ehren, den Überlebenden beizustehen ist ein erster Schritt. Denn gerade die Würde der Opfer und ihrer Angehörigen ist antastbar. Sie als Maß des Handelns zu beachten und sie zu schützen gibt auch Orientierung in der Frage, wie wir den Alltag weiter organisieren, wie wir die Widersprüche und Risse der eigenen Verhältnisse erkennen und angehen. Alltäglicher Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Homophobie, Vereinsamung, soziale und kulturelle Spaltung – das, was wir ignorieren und hinnehmen, begegnet uns auch im Extrem der terroristischen Gewalt wieder. +Dagegen braucht es Polizei, Justiz und zum Teil Militär, das ist notwendig, aber es reicht nicht. Was der Terrorismus bedroht, die offene Gesellschaft, Gewaltenteilung, kulturelle Vielfalt, friedliche Lösung von Konflikten – das kann und muss politisch verteidigt werden. Allerdings reichen die dafür entscheidenden Dimensionen des Politischen bis weit in unseren alltäglichen Umgang miteinander. Vielleicht entscheidet im Kampf gegen den Terror letztlich die Arbeit an der Freundlichkeit der Welt. diff --git a/fluter/was-ist-was-die-zeitreise.txt b/fluter/was-ist-was-die-zeitreise.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/was-ist-was-freiheit.txt b/fluter/was-ist-was-freiheit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/was-k%C3%B6nnen-wir-gegen-plastik-tun.txt b/fluter/was-k%C3%B6nnen-wir-gegen-plastik-tun.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1d86c7c75efbf014700f8ab6574a2e1318688564 --- /dev/null +++ b/fluter/was-k%C3%B6nnen-wir-gegen-plastik-tun.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Wie gelangt der Plastikmüll in die Weltmeere? +Etwa 80 Prozent des Meeresplastiks kommt vom Land über große Flüsse ins Meer. Der Rest stammt aus der Schifffahrt und der Fischerei. Dort werden Plastikabfälle einfach über Bord geworfen, oder Fischernetze gehen verloren und werden nicht wieder geborgen. +Aus welchen Ländern stammt der Plastikmüll? +Ein Großteil kommt aus Ländern, in denen der Müll nicht richtig eingesammelt wird, also Länder in Afrika, Südamerika und vor allem Südostasien. Die Abfälle werden oft einfach in die Flüsse geworfen. Viele illegale Müllkippen liegen in der Nähe von Meeren und Flüssen. Mit der Strömung treibt der Abfall schnell weg und bleibt nicht vor der eigenen Haustür liegen. Entsprechend groß ist der Anteil dieser Länder am Meeresplastik. In Deutschland funktionieren die Mülltrennung und das Recycling besser. Natürlich wird auch an unseren Stränden achtlos Müll liegen gelassen, allerdings ist die Menge deutlich geringer. + + +Welche unterschiedlichen Arten von Plastik gibt es in den Meeren? +Ein Problem ist das Mikroplastik. Das sind kleinste Plastikteilchen, die entweder Kosmetikprodukten bewusst beigemengt werden oder durch Abrieb zum Beispiel beim Waschen von Kunststofftextilien entstehen. Das Mikroplastik gelangt über Abwassersysteme in die Flüsse und Meere. Die größeren Teile sind Plastiktüten oder Verpackungen. Auch sie haben negative Auswirkungen auf maritime Ökosysteme. +Was sind das für Auswirkungen? +Meeresschildkröten verwechseln Plastiktüten mit Quallen und fressen sie. Aus der Fischerei gelangen Taue und Netze in die Meere. Darin können sich Meeressäuger wie Delfine oder Robben verfangen und sterben, weil sie nicht mehr zum Atmen an die Oberfläche kommen können. Wale nehmen Plastikmüll auf, wenn sie mit ihrem Maul Plankton aus dem Wasser filtern. Meeresvögel fressen regelmäßig Plastik, weil sie den Abfall mit Nahrung verwechseln. Die Folgen sind dramatisch. Scharfkantige Teile können den Magen-Darm-Trakt verletzen. Plastiktüten verstopfen den Darm und erzeugen ein falsches "Sättigungsgefühl". Am Ende können die Abfallreste nicht mehr richtig ausgeschieden werden und verstopfen das Verdauungssystem. Über kurz oder lang können die Tiere an dem aufgenommenen Müll sterben. Auch an den artenreichen Korallenriffen kann man die Auswirkungen gut beobachten. Der Müll lagert sich auf Korallen ab und stört dieses fragile Ökosystem. In der Tiefsee zerstört der Plastikmüll wichtigen Lebensraum und gefährdet die oftmals noch unerforschte Artenvielfalt. +Gelangt das Meeresplastik durch die Fische auch auf unsere Teller? +Dr. Bernhard Bauske, geboren 1958, betreut für den WWF Deutschland seit 2016 das Thema Plastikmüll in den Weltmeeren. Er hat von 1980 bis 1987 Biologie an der Uni Hamburg studiert und promovierte 1994. Seit 1993 arbeitet er für den WWF und war vor seinem Wechsel zum Meeresschutz für Unternehmenskooperationen des WWF Deutschland zuständig +Die meisten Fische werden vor dem Verzehr ausgenommen und damit auch potenzieller Plastikmüll entfernt. Anders ist es bei Meeresfrüchten wie Austern oder Muscheln. Über sie nehmen wir auch Mikroplastik auf. Möglicherweise sind diese kleinen Plastikteilchen Träger von Schadstoffen. Ob dies auch bedeutende Auswirkungen auf unsere Gesundheit haben kann, ist bisher unklar. +Es gibt zahlreiche Projekte, die den Plastikmüll aus dem Meer fischen wollen – zum Beispiel mit großen Netzen. Wie erfolgversprechend sind solche Ansätze? +Grundsätzlich ist das Einsammeln von Müll am Strand oder auf dem Meer eine gute Sache. Wir gehen aber im Moment davon aus, dass etwa 90 Prozent des Plastikmülls in die Tiefen der Meere absinkt. Das Abfischen an und direkt unter der Oberfläche löst nur einen kleinen Teil des Problems. Effektiver wäre es, den Müll an den Flussmündungen abzufischen. Dort gelangt in einigen Regionen nämlich massiv Müll in die Meere. Die beste Lösung ist aus meiner Sicht allerdings die Bekämpfung der Ursachen. Wir müssen deutlich weniger Abfall produzieren und den globalen Müllberg verringern. Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass die Entsorgungssysteme auf der gesamten Welt funktionieren – auch in Ostasien, Afrika und Lateinamerika. Dafür sollten sich auch die globalen Unternehmen, die in diesen Ländern produzieren, am Aufbau und einer Finanzierung der Abfallsysteme beteiligen. +Was kann jeder von uns gegen den Plastikmüll im Meer tun? +Auch in Deutschland nimmt die Menge der Verpackungen immer mehr zu – zum Beispiel durch den Boom des Onlinehandels oder Kauf und Verzehr von Essen und Getränken unterwegs. Dadurch wächst der Müllberg, und der weltweite Ressourcenverbrauch, zum Beispiel von Erdöl, steigt. Deshalb sollte sich jeder Verbraucher, aber auch die Industrie, dringend Gedanken darüber machen, wie man Verpackungsmüll reduzieren kann. Ich selbst kann mit einer Jutetasche einkaufen gehen, unverpacktes Obst und Gemüse kaufen oder auf den Coffee to go verzichten. Und natürlich sollte man seinen Müll richtig trennen und entsorgen. Nur so kann der Abfall richtig recycelt werden und muss nicht verbrannt werden. + +Titelbild: Francois PERRI/REA/laif diff --git a/fluter/was-kommt-denn-jetzt-0.txt b/fluter/was-kommt-denn-jetzt-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f3f7676bc51f177d208cf7a0516f60d8c011ad93 --- /dev/null +++ b/fluter/was-kommt-denn-jetzt-0.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Manchmal aber geht alles so schnell, dass man regelrecht zuschauen kann. Dabei sind evolutive Anpassungen dort am häufigsten, wo simpel konstruierte Tiere sich besonders rasch vermehren. Genetiker schwören deshalb auf die Fruchtfliege. Ein aktuelles Beispiel allerdings ist der ganz besonders gefräßige asiatische Marienkäfer – eine Art, die in unseren Breiten nie heimisch war, sich in den letzten Jahren aber zu einer regelrechten Plage entwickelt hat. Äußerlich von einheimischen Sieben- Punkt-Arten nur durch seine bis zu 19 schwarzen Punkte und ein M auf seinem Halsschild zu unterscheiden, wurde "Harmonia axyridis", so der wissenschaftliche Name, in den Achtzigerjahren als "Nützling" aus China nach Belgien und Frankreich importiert – wo er, als freundliche Alternative zur chemischen Keule, in Gewächshäusern Blattläuse und andere Schädlinge vertilgen sollte. Sorgen, dass die Art sich eines Tages in Europa verbreiten konnte, machte man sich damals keine. Irgendwie ist es ihm aber gelungen, durch ein offenes Fenster derWelt der Gewächshäuser zu entkommen. Seitdem breitet sich der Käfer überfallartig in Europa aus. Angeblich soll er neuerdings sogar in der Lage sein, zu beißen. Dass "Harmonia axyridis" inzwischen von seinem flugunfähigen Kollegen "Coccibelle" abgelöst wurde, wird seinen Siegeszug in freier Wildbahn nicht aufhalten. Sorgen, dass auch "Coccibelle" eine ähnliche Karriere hinlegen könnte, macht sich derzeit niemand. +Eine andere Kreatur, die überfallartig ausgeschwärmt ist und der heute nicht nur ihr eigener Genpool sowie der ganze Planet, sondern auch Teile des Sonnensystems zu Füßen liegen, das ist der Mensch. Dieses aggressivste Raubtier aller Zeiten hat die Bedingungen seiner eigenen Aufzucht inzwischen zivilisatorisch so weit optimiert, dass keine großen Entwicklungen mehr zu erwarten sind. Mag sein, dass Frauen im Jahr 2020 durchschnittlich einen Zentimeter kleiner sein und einen niedrigeren Cholesterinspiegel haben werden. Flügel dürften ihnen so schnell keine mehr wachsen, dazu ist die Population von sechs Milliarden Exemplaren einfach zu groß und träge. Zwar hatte Charles Darwin in "Die Entstehung der Arten" erstmals die Wichtigkeit von Werden und Vergehenfür das Ausdifferenzieren alles Lebendigen erkannt. Was aber die treibende Kraft dahinter sein sollte, der Sinn des Ganzen, blieb weiterhin im Dunkeln. Dort nahmen dann Philosophen die Frage auf oder formulierten sie, wie Martin Heidegger, neu: "Warum istüberhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?" +So ist noch immer ungeklärt, wie die ersten Eiweißbausteine entstanden sein könnten – und warum. Seit neuester Zeit wird vermutet, diese komplexen organischen Moleküle könnten unter dem Einfluss von ultraviolettem Licht aus anorganischen Bausteinen entstanden sein. Und zwar im Weltall, von wo sie mit Kometen – immerhin die ältesten Reste jenes Sternenstaubs, aus dem alle Materie besteht – auf die Erde gelangt sein könnten, diese gigantische Petrischale mit ihren idealen Bedingungen zur Weiterentwicklung von Angelegtem. Mehr zu dieser Theorie werden wir wohl 2014 erfahren, wenn die "Rosetta"-Mission der Europäischen Raumfahrtagentur (ESA) den Kometen 67P/Tschurjumow-Gerasimenko näher erforschen wird – unter anderem darauf, ob die Theorie der stellaren Herkunft des Lebens plausibel sein könnte. +Denn tatsächlich ist das Leben als solches vor allem eines, nämlich fast schon grotesk unwahrscheinlich. Eine schön rührende Antwort glaubte 1907 der französische Philosoph Henri Bergson gefunden zu haben, als er in allem Lebenden eine schöpferische Kraft vermutete, den "élan vital", also den "Lebensschwung". Demnach mache sich das Leben die Energie anorganischer Materie zunutze, wobei das Anorganische an sich immer Verfall repräsentiere, das Organische dagegen immer den Aufschwung, das Werden. Viel schlauer ist man da heute auch nicht. Im Gegenteil: Bergson gilt inzwischen als wichtiger gedanklicher Vorreiter des "biologischen Jahrhunderts", in das wir mit unserer Nano-, Informations- und Biotechnologie gegenwärtig einschwenken. +Was wird sein? Wie geht's weiter, wenn wir uns doch von den Zwängen der natürlichen Auslese befreit haben? Hier gehen die Meinungen meilenweit auseinander. Pessimisten sehen uns wahlweise als Opfer unserer eigenen "unnatürlichen Selektion" auf einem ruinierten Planeten vegetieren – oder als Haustiere jener künstlichen Intelligenzen, deren Entwicklung wir gerade selbst angestoßen haben. Optimisten sehen uns – oder unsere robotischen Schützlinge – noch immer unverdrossen ins Weltall aufbrechen. So oder so wird entscheidend sein, ob unser auch schon 30.000 Jahre altes Gehirn imstande ist, sich auf die exponentiell beschleunigte Wissensproduktion einzustellen. Unsere zukünftige Entwicklung hängt also einfach davon ab, ob wir sie in ihrer Singularität überhaupt noch begreifen und damit gestalten können – oder ob wir diese Macht an unsere Werkzeuge abgeben, die uns jetzt schon über den Kopf wachsen. +Optimistische Transhumanisten wie Ronald Bailey beispielsweise gehen davon aus, dass der Mensch demnächst mit einem eigenmächtigen Schritt über sich selbst hinausgehen wird. Der Mensch tritt in eine postdarwinistische Phase ein, wo er seine künftige Entwicklung selbst steuern kann – wohin auch immer. Eine der abenteuerlichsten Prognosen besteht darin, dass wir unseren hinfälligen Körper gewissermaßen abstreifen und den Kern unseres Seins – das Bewusstsein – eines fernen Tages auf digitale Speicher laden werden. Das Leben findet eben immer einen Weg. Die Frage ist nur: Wäre das dann noch ein Leben? diff --git a/fluter/was-kommt-mit-der-groko.txt b/fluter/was-kommt-mit-der-groko.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b23a7d64f1d93ba382c720421fc131ec2e8f551f --- /dev/null +++ b/fluter/was-kommt-mit-der-groko.txt @@ -0,0 +1,27 @@ + +Pflege:Ähnlich verhält es sich beim Thema Pflege. Auch hier gilt:In Zukunft wird es mehr pflegebedürftige Alte geben und weniger Junge, die sie finanzieren können. Und pflegen!Denn dieArbeitsbedingungen in der Altenpflege laden nicht gerade dazu ein, diesen Job zu ergreifen. Er verspricht niedrigen Lohn bei hoher Belastung. Die Koalition will nun immerhin Pflegekräfte besser entlohnen und 8.000 neue Stellen in der Pflege schaffen. + +Klima:Mir reicht's, ich schmeiß hin: Das dachte sich Energiestaatssekretär Rainer Baake, bisheriger Klimaexperte im Bundeswirtschaftsministerium, als er las, was die neue Große Koalition in Sachen Klima plant. Nämlich nicht viel, so bemängeln es auch andere Umweltexperten. Das Ziel, bis 2020 40 Prozent weniger Treibhausgase in die Luft zu blasen als 1990, haben die Koalitionäre offenbar aufgegeben. Es sollen lediglich Maßnahmen erarbeitet werden, die Lücke zur Erreichung des Ziels weitestmöglich zu schließen. Immerhin: Bis 2030 sollen 65 Prozent unseres Stroms aus erneuerbaren Energien stammen, aktuell sind es 38 Prozent. Ein Datum für den Ausstieg aus der Versorgung mit Kohlestrom steht im Koalitionsvertrag nicht. Und wer muss es ausbaden? Richtig, diejenigen, die noch ein Weilchen auf diesem Planeten leben wollen. So monieren es die vielen Kritiker dieses Kapitels des Koalitionsvertrags. + + + +Europa:Ein lautes "Yippie" zum neuen Koalitionsvertrag kam aus Brüssel. Das erste Kapitel ist nämlich ganz dem Thema Europa gewidmet. Die EU soll stärker werden, einheitlicher, demokratischer, transparenter. Die deutsche Regierung will sich vor allem mit Frankreich über Reformen der Eurozone abstimmen. Der Euro-Rettungsfonds soll zu einem Währungsfonds ausgebaut werden, um Mitglieder zu unterstützen, die in Schwierigkeiten geraten sind. Das lindert ein wenig die Befürchtungen junger Europa-Enthusiasten, die EU könnte nach dem Brexit auseinanderfallen. Offen bleibt aber weiterhin, wer den britischen Anteil am EU-Haushalt übernimmt – die neue deutsche Regierung hat zumindest schon signalisiert, mehr als bisher einzahlen zu wollen. + +Bildung:Einen Riesenknaller enthält der Koalitionsvertrag in der Bildung. Er schafft nämlich das sogenannte Kooperationsverbot ab. Bisher durfte der Bund trotz voller Kassen nur bei finanzschwachen Kommunen Gelder zuschießen. Bildung bleibt damit Sache der Länder, aber der Bund könnte größere Projekte wie die Digitalisierung der Schulen finanziell unterstützen und vorantreiben. Zwei Milliarden Euro will die Regierung in den Ausbau der Ganztagsschule stecken, Familien sollen einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter bekommen. Außerdem will die Große Koalition das Bafög ausbauen, für besseres Essen in Schulen und Kitas sorgen und fünf Milliarden Euro für die Digitalisierung von Schulen bereitstellen. Da sagen diese jungen Leute wirklich mal: Danke! + +Wohnen:Auch das Wohnen lässt sich die neue Große Koalition einiges kosten. Familien soll es mithilfe eines "Baukindergelds" von 1.200 Euro pro Jahr und Kind leichter gemacht werden, eine Immobilie zu bauen oder zu kaufen. Die Mietpreisbremse soll verschärft werden, und zwei Milliarden Euro mehr in den sozialen Wohnungsbau will die Regierung auch stecken. Das hilft neben Familien auch jungen Menschen mit geringem Einkommen, wie zum Beispiel Studenten oder Alleinerziehenden. + +Familien:Für Familien gibt es weitere gute Nachrichten. Das Kindergeld soll um 25 Euro im Monat erhöht werden. Eltern, die wegen ihrer Kinder ihre Arbeitszeit verringern, sollen einen Anspruch auf eine zuvor festgelegte Rückkehr in Vollzeit bekommen – allerdings hängt der Rechtsanspruch von der Unternehmensgröße ab. Und: Kinderrechte sollen im Grundgesetz verankert werden. + + + +Digitalisierung:Auch bei einem Thema, das der jungen Generation besonders am Herzen liegt, soll es endlich vorangehen: der Digitalisierung. Bis 2025 soll es überall in Deutschland Gigabit-Internet geben. Außerdem sollen Bürger nicht mehr stundenlang in Behörden anstehen müssen, sondern online aufs Amt gehen können. Kritiker sagen allerdings: Große Versprechungen zur Digitalisierung hat's im vergangenen Koalitionsvertrag auch schon gegeben. Passiert ist zu wenig. Internet mit 50 Mbit pro Sekunde liegt vielerorts in Deutschland immer noch in weiter Ferne. Digitalexperten hätten daher gerne ein eigenes Ministerium gehabt, das sich um diese wichtigen Fragen kümmert. Doch sie wurden enttäuscht. Einerseits. Andererseits besänftigte eine Personalie einige Kritiker: Dorothee Bär, als CSU-Netzexpertin über die Parteigrenzen hinweg respektiert, soll Staatsministerin für Digitales im Kanzleramt werden. Sie gilt unter anderem als Kennerin und Förderin der Computerspielbranche. Da freut sich der Gamer. Zuletzt hat sie allerdings einigen Spott im Netz geerntet, als sie in einem Interview mit Marietta Slomka über Breitbandinternet in ländlichen Regionen von einem Flugtaxi sprach. + +Arbeit:Hart haben sich die Koalitionäre über das Thema Arbeit gestritten. Die SPD wollte verbieten, dass Arbeitgeber die Arbeitsverträge ohne Grund befristen. Eine Praxis, die vor allem Berufsanfängern vertraut ist. Diesen jungen Leuten eben. Die fragen: Wie soll ich denn eine Familie gründen, wenn ich nicht mal weiß, ob ich nächstes Jahr noch einen Job habe? Am Ende landete ein Kompromiss im Koalitionsvertrag. Die sachgrundlosen Befristungen wurden eingeschränkt, aber nicht ganz abgeschafft. + +Migration:Und schließlich gerieten sich die Koalitionäre noch über das Thema Migration und Flüchtlingspolitik mächtig in die Haare. Es ging dabei hauptsächlich um die Frage, ob Flüchtlinge mit subsidiärem Schutzstatus ihre Familien nachholen dürfen. Das sind zum Beispiel Menschen, die aus einem Bürgerkriegsland nach Deutschland kommen, aber in ihrer Heimat nicht persönlich verfolgt werden. Viele davon sind Minderjährige, die nun ohne ihre Eltern in Deutschland leben. Der Kompromiss im Koalitionsvertrag sieht so aus: Ab August sollen pro Monat 1.000 Familienangehörige nachkommen dürfen, über Härtefälle wird gesondert entschieden. Insgesamt soll die Zuwanderung sich aber pro Jahr in einer Spanne von 180.000 bis 220.000 Personen bewegen. Um Migration besser steuern zu können, wollen Union und SPD ein Zuwanderungsgesetz erarbeiten. Damit könnten hochqualifizierte Fachkräfte einfacher legal nach Deutschland einreisen. + + +Wie immer in der Politik geht's in der Diskussion über die neue Große Koalition nicht nur um Inhalte. Sondern auch darum: Wer setzt die Inhalte um? Hier sind sich Jusos und Junge Union ausnahmsweise mal einig: Ein Generationenwechsel muss her! +Ein Ziel haben die jungen Mitglieder der Union bereits erreicht: Neben der schon erwähnten Staatsministerin Dorothee Bär, 39 Jahre, wird auch Merkel-Kritiker Jens Spahn von der CDU, 37 Jahre, im Kabinett sitzen. Und zwar als Gesundheitsminister. Die Jusos hingegen müssen noch ein wenig warten, bis sie erfahren, wer den von ihnen kritisierten Koalitionsvertrag in der Regierung umsetzen darf. Oder je nach Position: muss. + diff --git a/fluter/was-kostet-die-energiewende.txt b/fluter/was-kostet-die-energiewende.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..88eb951adb646f9fc7c2da9d111769579c26993c --- /dev/null +++ b/fluter/was-kostet-die-energiewende.txt @@ -0,0 +1,37 @@ +Trotzdem gibt es von Ihnen ein Buch mit dem Titel "Die andere Klima-Zukunft – Innovation statt Depression". Sind Sie jetzt, zehn Jahre später, immer noch so optimistisch? +Klar! Auch wenn es langsam geht und es manchmal Rückschritte gibt, zeigt sich immer deutlicher: Ein Umstieg auf grüne Technologien bringt große ökonomische Chancen, viele zukunftsfähige Jobs und neue Märkte. Die alternativen Energien sind weiterentwickelt und immer preiswerter geworden. Und zum Glück gibt es auch politisch zahlreiche Fortschritte: Auf den Weltklimakonferenzen wurde international verbindlich beschlossen, mehr für den Klimaschutz zu tun. Es geht da jetzt um den gesamten Instrumentenkasten der Politik, also nicht nur den Umbau der Energieversorgung, sondern etwa auch der Bereiche Verkehr, Landwirtschaft, Gebäudedämmung und so weiter. +Warum gibt es, wenn das alles so klar ist, immer noch so viel Widerstand und Zweifel? Zweifel sogar, ob der Mensch den Klimawandel überhaupt verursacht. +Es gibt eine Vielzahl von Akteuren, die sich darauf spezialisiert haben, Fehlinformationen zu verbreiten. Und die werden durch die sozialen Medien noch verstärkt, weil viele Menschen die Welt gerne einfacher hätten. Dahinter stehen oftmals Interessen der Kohle-, Gas- und Mineralölindustrie, deren Geschäftsmodelle schwinden und die nun alle Hebel in Bewegung setzen, um noch möglichst viel zu retten – durch bezahlte politische Einflussnahme und PR-Kampagnen. Dabei gibt man sich gerne einen wissenschaftlichen Anstrich, verbreitet in Wahrheit aber oft interessengeleitete Mythen. Wir alle, Gesellschaft, Medien und Politik, müssen in diesen schnelllebigen Zeiten lernen, hier sauber zu unterscheiden. Man sieht derzeit in Amerika, wie erfolgreich simpel gestrickte Verschwörungstheorien fundierte Fakten verdrängen. +Tolle Atmosphäre: Es ist eine sehr dünne Gasschicht, die uns Erdenbewohner atmen und leben lässt. Die gilt es zu schützen + +Gibt es in der Wissenschaft selbst noch Kontroversen zum Klimawandel? +Natürlich, Diskurs gehört zum Wesen der Wissenschaft. Aber wir streiten nur noch darüber, wie die Auswirkungen des Klimawandels genau aussehen werden – immerhin geht es um Simulationen für sehr lange Zeiträume. Im Grundsatz gibt es aber kein Erkenntnisproblem. Der menschengemachte Klimawandel gilt als zu 97 Prozent sicher. Manche fordern 100 Prozent Gewissheit. Gut, kann man machen. Nur: Wer würde in ein Flugzeug einsteigen, das mit einer Wahrscheinlichkeit von 97 Prozent abstürzen wird? +Sie haben die Kohlekommission beraten, die einen Kompromiss für den deutschen Kohleausstieg erarbeitet hat: 2038 soll das letzte Kraftwerk vom Netz gehen, die Betreiber sollen Entschädigungen bekommen und die Kohleregionen Unterstützungen für den Strukturwandel. Was sagen Sie einem Kohlearbeiter, der um seinen Arbeitsplatz bangt? +Genau darum ging es in der Kommission: Indem man die Sichtweise der direkt Betroffenen einbezogen und Strukturhilfen vereinbart hat, soll dieser gesellschaftliche Konflikt befrie­det werden. Die Menschen haben sehr wertvolle Arbeit geleis­ tet und können das auch in Zukunft tun. Rund 20 Jahre sind für alle genug Zeit, um sich abhängig von Qualifikation und Alter neue Zukunftsperspektiven zu erarbeiten. Gefährlich ist es, wenn man zu lange an der Vergangenheit festhält. Dann muss man den Menschen irgendwann wirklich große Härten zumuten. +Profitieren von den neuen Märkten und Technologien nur die Industrieländer? Was ist mit den Staaten des globalen Südens? +Gerade in den Entwicklungsländern gibt es enorme Chancen. Solarenergie zum Beispiel ist als dezentrale Energieversorgung vor allem in den Regionen besonders gut geeignet, in denen die Menschen bisher keinen Strom haben. Das Beste daran: Zugang zu Energie heißt auch Zugang zu mehr Partizipation, Demokratie und Wohlstand. +Das klingt gut. Aber die Entwicklungs- und Schwellenländer werden eher zu den Verlierern des Klimawandels gezählt. +Vorsicht: Klimawandel und Klimaschutz sind nicht dasselbe! Wenn es um die Folgen des Klimawandels geht, dann sind in der Tat viele dieser Regionen be­nachteiligt. Gerade Afrika, wo ganze Landstriche durch extreme Hitze und Dürre unbewohnbar werden. Industriestaaten wie Deutschland können mit Extremwetterereignissen immer noch besser umgehen. Deshalb müssen sie den Ländern des globalen Südens bei der Anpassung helfen. Die Chancen des Klimaschutzes hingegen sehe ich für alle Länder. +Zur globalen Perspektive gehört auch, dass es das sogenannte Trittbrettfahrer-Dilemma gibt: Alle Länder profitieren davon, wenn sich möglichst viele Staaten zu CO₂-Einsparungen verpflichten. Doch zugleich ist es für jedes einzelne Land immer noch von Vorteil, die eigene Wirtschaft anzukurbeln, ohne auf den CO₂-Ausstoß zu achten. Wie kann das gelöst werden? +Indem wir uns auf die genannten Chancen kon­zentrieren: Gerade in den USA sieht man ja, dass die erneuerbaren Energien schon heute für Inves­toren attraktiver sind. Obwohl die ofizielle Poli­tik den Klimaschutz nicht mehr für notwendig hält, findet er dort statt – indem immer mehr Geld aus der fossilen Industrie abgezogen wird und in die Erneuerbaren fließt. Das sind wichtige Marktsi­gnale. Auch wenn die US-­Regierung und andere Staatschefs das derzeit nicht wahrhaben wollen: Klimaschutz zahlt sich aus! + +Müsste gleich grün werden: Viele Menschen hoffen auf Klima­schutz durch "Green Technology" +Sie glauben hier offenbar sehr an die Marktkräfte. +Tatsächlich ist der Markt heute so weit, dass der Klimaschutz im Grunde gar nicht mehr aufzuhal­ten ist. Aber dem sind auch 20 Jahre vorausge­gangen, in denen man politisch die nötigen Rahmenbedingun­gen schaffen musste. Da hat Deutschland mit der Förderung alternativer Energien viel geleistet. Dadurch sind sie erst wett­bewerbsfähig geworden. +Aber Deutschland verpasst auch sein selbst gestecktes Ziel, den CO₂-Ausstoß bis 2020 um 40 Prozent zu reduzieren. Ist die deutsche Klimapolitik gescheitert? +Gescheitert ist das falsche Wort. Es ist mühsam, aber es geht voran. Wir haben die Erneuerbaren erfolgreich gefördert und haben jetzt den Kohlekompromiss. Nun muss die restliche Wirtschaft CO₂­-frei werden. Das ist noch ein langer Weg, aber die 2030er­Ziele – also die Reduktion der Treibhausgas-­Emis­sionen um mindestens 55 Prozent im Vergleich zu 1990 – sind erreichbar. Mich stimmt optimistisch, dass die Bevölkerung sehr klar mehr Klimaschutz fordert und dass auch immer mehr Kommunen und öffentliche Einrichtungen auf alternative Energien setzen. Eine weitere wichtige Maßnahme wäre eine CO2­-Steuer. Allerdings muss man dabei die sozialen Verwer­fungen im Blick haben, zu denen das führen kann, wie man an den französischen Gelbwesten sieht. Da braucht es kluge Ausgleichsmaßnahmen. +Auf der anderen Seite steht: Heute kostet die Kilowattstunde Strom gut doppelt so viel wie im Jahr 2000 – und das, obwohl erneuerbare Energien immer günstiger werden. Hauptpreistreiber neben den Netzentgelten ist die Umlage für erneuerbare Energien, die aktuell 23,6 Prozent des Strompreises ausmacht. +Moment, Sie gehen gerade den fossilen Lobbyisten auf den Leim! Der Strompreis steigt ja nicht wegen der erneuerbaren Energien, diese werden nämlich immer billiger. Allerdings werden die gesunkenen Kosten nicht an die Verbraucher weitergereicht. Schlimmer noch: Die erneuerbaren Energien senken die Börsenstrompreise. Das wird aber nicht sichtbar, weil die EEG-Umlage (EEG = Erneuerbare-Energien-Gesetz) – und das ist politisch gewollt – sich automatisch erhöht, wenn der Börsenpreis sinkt. +Je niedriger der Börsenpreis, desto höher die Umlage. Was die Netzumlage tatsächlich explodieren lässt, sind Kohleabwrackprämien, Traumrenditen für Netzbetreiber und sonstige Geschenke für die konventionelle Energiewirtschaft. Nur wird darüber nicht berichtet. Es ist einfacher, die erneuerbaren Energien als Sündenbock für angebliche Strompreissteigerungen zu stigmatisieren. Technisch und ökonomisch ist die Energiewende kein Problem, eher politisch: Wer will, findet Wege; wer nicht will, findet Gründe. +Es gibt auch Experten, die bezweifeln, dass die Erneuerbaren mit der nötigen Verlässlichkeit Strom liefern können. In letzter Zeit wurde berichtet, dass Industriebetriebe ihre Anlagen vorübergehend abschalten mussten, weil weniger Strom aus Erneuerbaren da war, als erwartet wurde. +Auch das ist Lobbyisten-Latein: Den erneuerbaren Energien wird hier erneut der Schwarze Peter zugeschoben. Denn versorgungssicher sind die erneuerbaren Energien allemal. Klar scheint nicht immer die Sonne und weht nicht immer der Wind. Aber erneuerbare Energien sind Teamplayer. Mal liefert die eine, mal die andere Quelle mehr Energie. Man muss sie bloß klug miteinander verzahnen, also dezentral, intelligent und flexibel. Genau dies tun beispielsweise sogenannte virtuelle Kraftwerke. Auch Speicher werden künftig eine wichtigere Rolle spielen. Die Versorgungssicherheit wird nicht durch den Wechsel der Energiequelle gefährdet, sondern weil fossile Lobbyisten kluge Lösungen und günstige Rahmenbedingungen für virtuelle Kraftwerke blockieren. +Claudia Kemfert leitet die Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung +Und was ist mit dem Rebound-Effekt? Treibhausgas-Ein- sparungen verpuffen oft, weil der Konsum mit den neuen Technologien insgesamt zunimmt. +Das Problem ist ernst zu nehmen. Bekanntlich sind die deutschen Automotoren in den letzten Jahren viel effzienter geworden, doch zugleich haben die Hersteller immer größere und schwerere Fahrzeuge gebaut. Damit verbesserte Energieeffizienz auch zu reduziertem Verbrauch führt, brauchen wir einen breiten Instrumentenkasten: etwa eine Erhöhung der Dieselsteuer, eine Quote für Elektroautos, die Förderung des ÖPNV, eine CO₂-Bepreisung, aber auch ein Tempolimit. +Würden die Bürger, aber auch Unternehmen und Institutionen diese Maßnahmen nicht als Zumutungen empfinden? +Ich mag diese Verzichtsdebatten nicht. Statt zu jammern, was alles nicht mehr geht, sollten wir uns freuen: Mit Klimaschutz bleibt die Welt lebenswert. Klimaschutz macht Spaß. Und nachhaltig konsumieren ist einfach. +Leider zeigt die Statistik, dass ausgerechnet die einkommensstarken Haushalte besonders zum Klimawandel beitragen. Dabei hätten gerade sie es leicht, das zu ändern. Klar muss man dafür seine Konsumgewohnheiten überdenken. Das ist keine Frage des Geldes, sondern des Geistes. +Was tun Sie denn selbst für den Klimaschutz, und was macht daran Spaß? +Für mich ist das ein Lebensgefühl. Klimaschutz ist gesund und schont den Geldbeutel. Meine Klimabilanz ist ganz okay. Ich fahre Fahrrad, ich kaufe regionale Produkte, ich achte generell auf die Ökobilanz meines Konsums. Leider muss ich beruflich viel in die weite Welt fliegen. Um die Emissionen wenigstens zu kompensieren, spende ich an internationale Klimaschutzprojekte wie etwa Waldaufforstungen. +Lässt es Sie nicht verzweifeln, dass immer noch große wirtschaftliche und politische Strukturen gegen den Klimaschutz stehen? +Nein, nach 25 Jahren in der Wissenschaft weiß ich, dass es immer wieder auf und ab geht. Besonders ermutigend finde ich aktuell die ungeheuer starke demokratische Klimaschutzbewegung von jungen Leuten rund um den Globus. Diesen Druck von unten brauchen wir! diff --git a/fluter/was-machen-banker-lehren-aus-der-finanzkrise.txt b/fluter/was-machen-banker-lehren-aus-der-finanzkrise.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bf7d7ea2ce9ea7bbe02a16c8bfc5201929aa8c2a --- /dev/null +++ b/fluter/was-machen-banker-lehren-aus-der-finanzkrise.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +"Dass die guten Zeiten bald ein Ende haben würden, hätte damals kaum jemand gedacht" +Es kam zur Katastrophe: Als ich am Montag, den 15. September, in die Bank kam, warLehman pleite. Die Rettungsaktion war gescheitert, die Kurse an den Börsen rutschten sofort runter. Ich war in der Abteilung Treasury, die sich um die Finanzierung der Bank kümmert. An dem Tag verfolgten wir alle gebannt die Nachrichten: Was passiert in den USA? Heißt das, dass bald noch mehr Banken zusammenbrechen? Schwappt die Krise auch nach Europa über? Was bedeutet das für uns? +Ein Jahr zuvor hatte ich ein Praktikum bei einer Investmentbank in Frankfurt gemacht. Wir Praktikanten wurden einmal für einen Tag nach London in die Zentrale geflogen, abends hin, am nächsten Tag zurück. Das war damals nichts Ungewöhnliches. In London trafen wir Vertreter des Managements. Sie präsentierten ihre Bank, und alle erzählten uns, wie gut es gerade lief. Die Banken warben ihre Nachwuchskräfte direkt von der Uni ab. Dass die guten Zeiten bald ein Ende haben würden, hätte damals kaum jemand gedacht. +Als ich 2010 mit meinem BWL-Studium fertig war, warben nur noch wenige Banken Absolventen direkt von der Uni ab. Ich weiß nicht mehr, wie viele Bewerbungen ich geschrieben habe, aber zwei Dutzend oder mehr werden es gewesen sein. Aufgeben wollte ich meinen Berufswunsch Fondsmanager trotzdem nicht. Die Geschichte hat gezeigt, dass es auf den Finanzmärkten immer wieder Krisen gibt. Es geht auf und ab. Das auszuhalten gehört zu unserem Beruf. +Als ich dann richtig in den Beruf startete, dachte man: Diese Krise wird sehr, sehr lange dauern. Aber nach den ersten Schockwellen hatten die Zentralbanken reagiert und federten die Krise ab. Natürlich waren die Folgen trotzdem in vielerlei Hinsicht fatal, aber an der Börse begann eine der besten Phasen überhaupt, und es gab eine regelrechte Rally. +Heute arbeite ich bei einer Privatbank in Frankfurt als Fondsmanager für Aktien. Wir verwalten das Vermögen von Privatleuten – vom einfachen Sparer bis hin zu den sehr Reichen – und von Institutionen wie zum Beispiel Versorgungswerken. In meinem Team sind wir zu fünft für einige hundert Millionen Euro zuständig. Ich bin dafür verantwortlich, dass Menschen am Ende ihres Berufslebens ihre Rente bekommen. Da kann und darf man nicht leichtfertig handeln. +"Es tut sich etwas" – Anzug und 60-Stunden-Woche gehören aber immer noch zum Bankerjob +Ich lese täglich Geschäftsberichte, telefoniere mit Unternehmen und Branchenexperten, analysiere Daten und überlege gemeinsam mit meinen Kollegen, welche Firmen überragende Geschäftsmodelle haben und damit in den kommenden Jahren gute Gewinne erwirtschaften werden. In die investieren wir dann das Geld unserer Kunden. Grundsätzlich verändert hat sich das Anlegen durch die Finanzkrise für Fondsmanager wie mich deshalb kaum. Aber natürlich hat sich durch die Regulierung einiges verändert, zum Beispielder reduzierte Eigenhandelbei Banken oder die Dokumentationspflichten der Berater. Viele Anleger fragen auch mehr nach und vertrauen ihrem Berater nicht mehr blind. +Sicher ist vor der Finanzkrise einiges falsch gelaufen. Kunden wurden Anlagen verkauft, die sie kaum verstanden und deren Risiko ihnen nicht bewusst war. Was kann eine Rentnerin im Schwarzwald schon über den amerikanischen Immobilienmarkt wissen, in den sie investieren soll? Manche Bank hat diese Unwissenheit ausgenutzt. Aber es tut sich etwas. +Ich habe eine Fortbildung als "Chartered Financial Analyst" gemacht. Dabei lernt man viel über theoretische und praktische Aspekte der Finanzmärkte und des Investierens. Es geht aber auch um ethische Fragen des Jobs. Wer diese Ausbildung abschließt, muss jedes Jahr aufs Neue einen Ethikkodex unterschreiben. Es geht vor allem um Verantwortung und richtiges Handeln, für die Kunden und für das Unternehmen. +Schlimmstenfalls wird einem der "CFA" wieder aberkannt. Den Kodex gab es schon vor der Krise, aber ich glaube, dass solche Standards inzwischen viel relevanter geworden sind. Das sieht man auch daran, dass die Anzahl der CFA Charterholder und der Kandidaten für das Programm jährlich stark wächst. Die Nachfrage ist groß, weil Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der Finanzbranche wissen, dass mehr getan werden muss, um das Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen. Auch deswegen bin ich bei diesem Job geblieben: So kann ich immerhin ein Stück dazu beitragen, dass es in Zukunft besser läuft. + diff --git a/fluter/was-macht-das.txt b/fluter/was-macht-das.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/was-macht-der-bundespraesident-faq.txt b/fluter/was-macht-der-bundespraesident-faq.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..86f2b4c03d4fcd1d11c74117227afeb7ffcc342d --- /dev/null +++ b/fluter/was-macht-der-bundespraesident-faq.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Eine Amtszeit dauert fünf Jahre – und man darf danach nur noch ein Mal wiedergewählt werden. Maximal ist man also für zehn Jahre im Amt. +Hände schütteln, Orden verleihen, freundlich winken:Vieles von dem, was in Großbritannien die Queen macht,macht in Deutschland der Bundespräsident. Es gibt zwar entscheidende Unterschiede zwischen beiden Ämtern, aber große Gemeinsamkeiten: Frank-Walter Steinmeier und Königin Elisabeth II. repräsentieren ihre Länder, regieren sie aber nicht. Und sie sind parteipolitisch neutral. +Doch, er hat – im In- wie im Ausland – schon gut zu tun. International hält der Präsident beispielsweise Reden, schließt im Namen des Bundes Verträge mit anderen Staaten oder empfängt Staatsgäste und Diplomaten. Man spricht von repräsentativen und völkerrechtlichen Aufgaben. Zudem gibt's am Kabinettstisch sowie im Bundessicherheitsrat einen Sitz für das Amt. +Seine Aufgabeninnerhalb der Bundesrepublik regelt das Grundgesetz. Sie sind vielfältig. +Hier ein paar Beispiele. Er... +... schlägt dem Bundestag einen Kandidaten für die Kanzlerwahl vor (üblicherweise nicht irgendjemanden, sondern eine Person, die mit einer Mehrheit im Bundestag rechnen kann, etwa weil ihre Partei die Bundestagswahl gewonnen hat); +... ernennt Bundeskanzler:innen, Bundesminister:innen, Bundesrichter:innen, Bundesbeamt:innen, Offizier:innen, Unteroffizier:innen – und entlässt sie auch wieder; +... löst den Bundestag auf, wenn der dasVertrauenin den oder die Bundeskanzler:in verliert (die Vertrauensfrage wurde, sagen Kritiker, aber auch schon als Mittel zum Erreichen von Neuwahlen benutzt)oder bei der Wahl des bzw. der Bundeskanzler:indie vorgeschlagene Person für dieses Amt im dritten Wahlgang nur eine relative Mehrheit erhält; +... entlässt den oder die Bundeskanzler:in nach einem Rücktrittsgesuch; +... kann Straf- oder Disziplinarurteile aufheben oder mildern (laut sogenanntemBegnadigungsrecht), also zum Beispiel entscheiden, dass ein Straftäter seine Gefängnisstrafe nicht bis zum Ende absitzen muss. Dabei geht es allerdings nur um Straftaten auf Bundesebene wie Spionage oder Terrorismus; für andere Strafgefangene haben die Ministerpräsident:innen oder Justizminister:innen das Begnadigungsrecht; +... unterzeichnet Gesetze. +Ja, ohne die Unterschrift des Bundespräsidenten gelten Gesetze oder Gesetzesänderungen nicht. 2020 unterzeichnete Frank-Walter Steinmeier das Gesetz zur Bekämpfung desRechtsextremismus und der Hasskriminalitätzunächst nicht, weil sein Bundespräsidialamt es für unvereinbar mit dem Grundgesetz hielt. (Das überarbeitete Gesetz unterschrieb Steinmeier dann ein paar Monate später.) Der Bundespräsident ist also nah dran am politischen Geschehen – auch wenn er nicht mitregiert. +Das war eine Lehre der Geschichte: In der politisch instabilen Weimarer Republik gewann der Präsident (damals Paul von Hindenburg) an Einfluss, Regierung und Parla­ment wurden schwä­cher. Ab 1930 ernannte Hindenburg eigenmächtig mehrere Reichskanzler, die per Notverordnungen regierten und das Par­lament praktisch ausschalteten. Im Januar 1933 berief Hindenburg schließlich Hitler zum Kanzler, der kaum zwei Monate später die Rechte des Parlaments – das in Teilen daran mitwirkte – mit dem sogenannten Ermächti­gungsgesetz außer Kraft setzte. In Deutschland entschied man sich nach dem Zweiten Weltkrieg dafür, die politische Macht auf viele (den Bundestag und die Regierung) zu verteilen und gegenseitige Kontrollmechanismen einzurichten. Zudem hat der Bundespräsident nicht mehr die Befehlskraft über die Streitkräfte, die liegt heute beim Verteidigungsministerium. +Ja, in vielen Staaten wie Brasilien, der Türkei, den USA oder Frankreich hat der Präsident mehr Macht.Unser Nachbar Frankreich wählt im April seinen Präsidenten,der dann als Staatsoberhaupt den Premierminister ernennen, das Parlament auflösen oder bewaffnete Einsätze anordnen kann. Diese politischen Systeme nennt man dann auch "präsidentielle Demokratien", unseres nennt man "parlamentarische Demokratie". +Das Gehalt orientiert sich an den Bezügen des Bundeskanzlers: Der Bundespräsident erhält Amtsbezüge in Höhe von zehn Neunteln der Bezüge des Bundeskanzlers. Das sind derzeit monatlich etwa 20.000 Euro. Zusätzlich erhält das Staatsoberhaupt einen Dienstwagen (Mercedes S-Klasse) mit Fahrer und ein Aufwandsgeld von jährlich 78.000 Euro, um etwa Hausangestellte zu bezahlen. Nebenverdienste sind dafür verboten, genauso Chef-, Aufsichts- oder Beratungsposten: Das deutsche Staatsoberhaupt soll unabhängig und überparteilich sein. Auch nach dem Ausscheiden aus dem Amt steht dem Bundespräsidenten ein sogenannter "Ehrensold" zu. +Das Schloss Bellevue in Berlin und die Villa Hammerschmidt in Bonn sind zwar die Amtssitze des Präsidenten, die Amtsträger wohnen dort aber üblicherweise nicht. Roman Herzog war der einzige Präsident, der im Schloss Bellevue residierte. (Fürstlich ging es dort nicht immer zu, Herzog klagte über häufigen Stromausfall.) +Dass in diesem FAQ der Bundespräsident nicht gegendert wird, hat übrigens einen Grund: Seit Bestehen der BRD haben nur Männer das Amt besetzt. An Bewerberinnen mangelte es nicht: Acht Frauen standen bislang zur Wahl, die SPD-Politikerin Gesine Schwan sogar zweimal. +Weil ihre Wohnung umfassenden Sicherheitsbestimmungen entsprechen muss, leben die Bundespräsidenten seit 2004 üblicherweise in der Villa Wurmbach in Berlin-Dahlem. Frank-Walter Steinmeier wies in seiner ersten Amtszeit an,die Geschichte des Dienstanwesens aufzuarbeiten:Der jüdische Vorbesitzer Hugo Heymann hatte das Haus einst unter dem politischen Druck der Nationalsozialistenverkauft. + diff --git a/fluter/was-macht-der-strassenprotest-gegen-trump.txt b/fluter/was-macht-der-strassenprotest-gegen-trump.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..747ccf68168b70bfacad0e4b7632b02065eaf69c --- /dev/null +++ b/fluter/was-macht-der-strassenprotest-gegen-trump.txt @@ -0,0 +1,45 @@ +fluter.de: Woher kam das Bedürfnis, die Anti-Trump-Demonstrationen zu begleiten? +Ken Schles: Zunächst ein mal war die Wahl ein Schock. Für New York, für mich und für meine Familie hier im progressiven Brooklyn. Es herrschte eine Stimmung zwischen Unglaube und Verdrängung. Meine Kinder, 13 und 17 Jahre alt, kannten das Land ja quasi nur mit einem afroamerikanischen Präsidenten. Ich hatte also das Gefühl, etwas tun zu müssen. Und gemeinsam im öffentlichen Raum zu sein hat ja auch was von Katharsis. Mich hat interessiert, was für Leute kommen. + +Als Trump per Dekret einen Einreisestopp für Bürger bestimmter muslimisch geprägter Länder erlassen wollte, gingen innerhalb weniger Stunden Tausende auf die Straße und protestierten gegen den "Muslim Ban" + +Und was für Leute kamen? +Es war überwiegend die Mittelschicht. Viele Familien, Eltern mit Kindern auf den Schultern. Menschen, die das Privileg und die Zeit haben, zu protestieren. Für Leute mit zwei drei Jobs ist es schwierig, sich zu organisieren. + + +Glauben Sie, dass die Proteste in New York besonders aufgeladen sind, weil es Trumps Heimatstadt ist? +Die Leute hier hassen ihn. Und das schon immer. Die Antwort lautet also: ja. Viele denken: Das ist unsere Heimatstadt und du, Donald, bist zum Kotzen. +Auf Ihren Fotos sieht man Wut, Verzweiflung, aber auch Freude und Ironie. Menschen umarmen sich. Eine junge Frau mit Mütze hält ein Schild hoch, auf dem steht: "Ich bin so wütend, dass ich diese Mütze gestrickt habe." Was für eine Stimmung haben Sie beobachtet? +Phasenweise war die Stimmung ganz schön aufgeheizt +Die ersten großen Proteste, zum Beispiel der Women's March nach der Amtseinweihung, fühlten sich wie Staatstrauer an. Meine grundsätzliche Beobachtung ist, dass der etablierte politische Prozess die Stimmung und Sorgen vieler Leute nicht wahrnimmt, nicht widerspiegelt. Und dass die Proteste Gelegenheit waren, diesen Frust auszudrücken. +Die Proteste der vergangenen zwölf Monate haben sich gegen Trump gerichtet, aber auch gegen strukturelle Gesellschaftsprobleme: Sexismus, Rassismus, Klimawandel, Polizeigewalt. Probleme, die auch unter einer Präsidentin Hillary Clinton fortbestanden hätten. +In dieser Hinsicht ist Trump großartig, ja, auf seltsame Weise. Er ist jemand, den man bekämpfen kann, die Verkörperung vieler Probleme. Aber er allein ist nicht das Problem. Das sind die Strukturen. Nehmen wir die Demokratische Partei und den New Yorker Senator Charles Schumer. Der hat sich den Protesten zwar angeschlossen, aber er selbst ist bestimmt kein Revolutionär. Er ist ein Neoliberaler, der Fortschritt oft genug verhindert hat. Auch Bernie Sanders ist ein bisschen zu alt, um das alles voranzutreiben. Es fehlen frische, visionäre Gesichter in der Partei. + + +Zurück zu den Demonstrationen. Wie haben die sich über das Jahr hinweg verändert? +Zu Beginn sah es so aus, als wäre es radikal. Ich erinnere mich an noch den Protest gegen den "Muslim Ban" am Flughafen JFK im Januar. Innerhalb weniger Stunden kamen Tausende. Ein spontaner Aufstand, die Polizei wirkte kampfbereit. Doch plötzlich fand ein Stimmungswechsel statt, und zwar mit dem Moment, als sich Cuomo (New Yorks Gouverneur, Anm.) einschaltete. Er stellte sich hinter die Demonstranten und entzog dem Protest in gewisser Weise die Spannung. +Protestiert hat hauptsächlich die Mittelschicht. Menschen, die die Zeit haben, sich zu organisieren +Dass Politiker Protest vereinnahmen, ist nichts Neues. +Richtig. In New York haben die Politiker schnell verstanden, die Proteste für sich zu nutzen. Sie nutzen es für ihre Agenda. Aber verändern tut sich nichts. +War eine gewisse Normalisierung unvermeidbar? +Definitiv. Die Leute spüren, dass sie ihr Leben auf die Reihe bekommen müssen, dass sie weiterleben müssen. Und natürlich brauchen politische Bewegungen auch Zeit. Das Civil Rights Movement, zum Beispiel, das waren nicht nurder Marsch nach Selma, Martin Luther KingundKumbaya. Das begann in den 1950er-Jahren und die Black Panthers gehörten genauso dazu. Das System bewegt sich langsam. +In New York City agiert die Polizei bei Protesten mittlerweile extrem professionell. Krawallbilder werden verhindert ... +... und sie überlegen sich vorher, wie viele Festnahmen sie wollen. Vieles läuft nach Drehbuch. + +Ist das dann überhaupt Protest, wenn alles orchestriert ist? +Ich bin gespalten. Einerseits ist es großartig, dass Protest so fest zu diesem Land gehört, dass er in der Mitte akzeptiert wird. Andererseits gibt es nicht genug Drang nach wirklichem Wandel. Was wir bräuchten, ist eine sozio-ökonomische Neugestaltung. Zu viele Menschen in diesem Land sind mit dem Status quo verheiratet. Die Linke, allgemein betrachtet, ist angesichts Trumps zu konservativ. Trump will zerstören, und die Linke will bewahren. +Werden Sie die Widerstandsbewegung denn weiter fotografisch begleiten? +Das ist eine gute Frage. Es wurde mit der Zeit weniger interessant, die Proteste zu fotografieren. +Warum? +Ich habe das Gefühl, dass es sich etwas erschöpft hat. Die rhetorische Funktion von vor ein paar Monaten ist nicht mehr gegeben. Die Proteste wirken zu selbstgerecht. Wie toll, dass wir hier sind. Wir feiern, wer wir sind. Es ist alles sehr nett. Es ist alles so verdammt nett. + +Gewandelt hat sich auch ein wenig das Klima der Proteste: von radikal zu selbstgerecht – findet Ken Schles + +Womit wir wieder beim Thema wären. Sollen, dürfen Proteste auch Spaß machen? +Ja, sollen sie. Man will ja nicht allein im Apartment herumgrummeln. Insofern haben die Proteste ihren Sinn erfüllt, sie haben den Menschen eine Plattform gegeben. Jetzt geht es um den nächsten Schritt. Proteste allein werden nichts verändern. Sie müssen in eine Bewegung münden, die auch Einfluss auf die Legislatur hat. Und so können Proteste und Fotos die gleiche Funktion haben: ein Gespräch öffnen, etwas in Gang setzen. +Nicht immer ist der Protest moderat und familienfreundlich + +Wieso haben Sie sich dafür entschieden, neben Anti-Trump-Protestlern auch die andere Seite, die Nationalisten, zu fotografieren? +So viele von denen gibt es in New York ja nicht. Der "Marsch gegen Scharia" war das Größte, was ich gesehen hab. Da stand eine Gruppe von jungen Männern, die zu"Identity Evropa"gehörten. Dümmliche Jungs in adretten Poloshirts, die rumalberten, als ich sie fotografierte und ansprach. Bis der Anführer meinte: "Wir reden nicht mit dir." Dann schauten sie plötzlich alle grimmig. Es war erbärmlich. Und schaurig zugleich. +Im Bronx Documentary Center fand Anfang des Jahres eine Protest-Ausstellung mit dem Titel"Whose Streets? Our Streets"statt. Im Whitney Museum läuft derzeit die Ausstellung"An Incomplete History of Protest". Das Thema ist präsent. +Ich glaube, die Institutionen wollen ihren Beitrag leisten. Wichtig ist ja auch, zu zeigen, dass es Protest-Vorbilder gibt, dass 2017 im langen Kontext steht. diff --git a/fluter/was-macht-eine-eu-analystin-von-desinformationen.txt b/fluter/was-macht-eine-eu-analystin-von-desinformationen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9d1713d26454234ce71ef3563c50ef81c02ea192 --- /dev/null +++ b/fluter/was-macht-eine-eu-analystin-von-desinformationen.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Für diese Analysen verwende ich nur öffentlich zugängliche Informationen. Es gibt Arten, wie sich Debatten im Internet natürlich entwickeln. Und wie es läuft, wenn eine Debatte absichtlich und geplant nach vorne gebracht wird. Dabei hilft es, dass wir in unserem Team aus ganz Europa kommen und viele Sprachen sprechen. Das macht außerdem Spaß, weil man gleichzeitig den eigenen Horizont erweitert. Das habe ich auch schon bei meinem vorherigen Job, als Datenanalystin bei der UNESCO, sehr geschätzt. Meist arbeiten wir auf Englisch, manchmal arbeite ich auf Deutsch. Ansonsten lese ich viel auf Französisch und Spanisch. Und ich lerne, in weiteren Sprachen zu lesen oder Schlagworte wie "Wahlmanipulation" zu erkennen. +Als Nationen, die womöglich durch manipulierte Informationen Abläufe in der EU beeinflussen wollen, haben die EuropaabgeordnetenRusslandundChinaeingestuft. Verschiedene Akteure haben ein Interesse daran, das politische System der Europäischen Union zu destabilisieren. Aber es geht oft auch grundsätzlicher darum, das Vertrauen in die EU-Institutionen, in die Demokratie und Wahlprozesse zu untergraben. +Einmal zum Beispiel hat eine große Anzahl von Accounts ein Video auf X (ehemals Twitter) und anderen Onlineplattformen verbreitet. Es zeigte einen Bundestagsabgeordneten, der Schnupftabak konsumiert. Das Video wurde aber so bearbeitet, dass man nicht mehr richtig erkennen konnte, wo die Szenen aufgenommen wurden. Der Titel des Videos suggerierte, dass ein Europaabgeordneter Kokain im Europaparlament zieht. So etwas kann Wahlentscheidungen beeinflussen. Auf jeden Fall fördert es kein Vertrauen in die EU. Weil das Thema so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte,stellte unser Parlamentssprecher es öffentlich richtig. +Um Desinformationskampagnen nicht nur zu verfolgen, sondern ihnen vorzubeugen, haben wir uns auf die Europawahlen vorbereitet. Wenn eine Desinformationskampagne erst mal im Netz ist, ist es viel schwieriger, die Informationen wieder richtigzustellen, als im Vorfeld EU-Bürger:innen mit relevanten Infos zu versorgen. +Also haben wir uns angesehen, welche Desinformationen es in den letzten Jahren bei nationalen Wahlen in den Mitgliedsländern gegeben hat. Dabei fiel uns auf, dass es sehr viele Desinformationen zu organisatorischen Details wie zur Briefwahl oder Onlineabstimmungen gab. Solche falsch verbreiteten Details werden gerne verwendet, um Zweifel zu säen, dass etwas nicht ganz rundläuft. Damit über die Europawahlen erst gar keine Unsicherheit entsteht, haben wir solche Informationen auf einer Webseite zu den Wahlen angegeben. Und wir haben eine Videoserie gedreht, die zeigt, wie man selbst Desinformationen erkennen kann. +Aber diese irreführenden Infos betreffen ja nicht nur das Europaparlament, sondern die EU generell. Deshalb arbeiten wir eng mit der Europäischen Kommission, dem Europäischen Auswärtigen Dienst und den 27 Mitgliedstaaten zusammen. Es gibt ein Schnellwarnsystem, mit dem wir uns über Desinformationskampagnen austauschen und uns über Reaktionen auf diese abstimmen. Es wurde zum Beispiel bei den letzten Europawahlen 2019 genutzt und um während der Corona-Pandemie gegen falsche Informationen anzugehen. +Manchmal sorgen sich Bürger:innen, dass das Europaparlament mit dem Beobachten von Desinformationskampagnen die freie Meinungsäußerung gefährden könnte. Aber in meiner Arbeit geht es ausschließlich darum, koordinierte Kampagnen zu verfolgen. Wenn es um das Löschen von Hassrede oder möglicherweise illegalen Inhalten geht, können das Bürger:innen mit demneuen Gesetz über digitale Dienste (DSA)sogar selbst machen. Große Onlineplattformen sind jetzt dazu verpflichtet, nach einer Meldung solche Inhalte schnell zu entfernen. +Gleichzeitig denken manche, dass wir das Problem mit mehr Analysen oder mehr Ressourcen schnell lösen können. Das ist natürlich wichtig. Aber um erfolgreich gegen Desinformationen vorzugehen, ist die ganze Gesellschaft gefragt: Also Medien, Schulen und jede:r Einzelne müssen sich in Debatten einbringen. diff --git a/fluter/was-macht-eine-eu-parlamentspraesidentin.txt b/fluter/was-macht-eine-eu-parlamentspraesidentin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8d1ac2d883ac0b836eae98c39fb797e9d84b94d0 --- /dev/null +++ b/fluter/was-macht-eine-eu-parlamentspraesidentin.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Die Gesetze, die wir verabschieden, beeinflussen das Leben der Bürger:innen in vielerlei Hinsicht. Wir haben zum BeispielCorona-Impfstoffefür alle EU-Bürger:innen beschafft. Wir unterstützen entschlossen dieUkraine. Unsere neuen Klimagesetze werden für sauberere Luft und gesündere Flüsse und Meere sorgen. Denn mit dem auf den Weg gebrachtenGreen Dealwill die EU bis 2050 klimaneutral sein. Und das EU-Parlament hat sich als erstes weltweit für Regeln fürkünstliche Intelligenzeingesetzt. +Unter meiner Präsidentschaft hat das Parlament auch immer wieder gefordert, dass sich alle Mitgliedstaaten wirklich an demokratische Prinzipien und Medienfreiheit halten. Diese Forderungen trage ich im Namen des Parlaments auch nach außen. Etwa wenn ich mich mit den anderen EU-Spitzen treffe, der Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel. Oder wenn sich bei EU-Gipfeln Bundeskanzler Olaf Scholz und seine Amtskolleg:innen der anderen Mitgliedstaaten treffen. Dann präsentiere ich ihnen die Forderungen des Europäischen Parlaments. Zum Beispiel hatte sich das Europäische Parlament als erstes dafür ausgesprochen, dass dieEU Beitrittsverhandlungenmit der Ukraine und Moldau beginnt. +Auch im Ausland vertrete ich das Haus. Während meiner Amtszeit bin ich zum Beispiel in die Ukraine nach Kiew (Kyiv) und Lemberg (Lwiw) gereist. Im Mai 2023 nahm ich in Moldau an massiven Kundgebungen für einen EU-Beitritt des südosteuropäischen Landes teil. Das waren Momente, in denen ich stolz auf Europa war. Für mich hat Europa immer Zukunft, Chancen und Hoffnung bedeutet. +Jedes Mal wenn ich junge Menschen eine EU-Flagge als Symbol der Freiheit schwenken sehe, so wie auch derzeit in Georgien, weiß ich, dass Europa ein Projekt für das Gute ist. Wir haben eine Verantwortung denjenigen gegenüber, die auf die Europäische Union als Hoffnungsschimmer blicken. +Bald sindEuropawahlen. Das ist der Moment, in dem die Bürger:innen entscheiden, wer sie vertreten soll. Es ist auch der Moment, in dem die Europaabgeordneten daran erinnert werden, wer ihnen ihr Mandat erteilt hat. Aber auch über die Wahlen hinaus finde ich es wichtig, dass Bürger:innen ihre Stimme erheben. Es liegt an uns allen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und Europa zu gestalten. Europa kann mehr, wenn wir das gemeinsam machen. + +Roberta Metsola ist 45 Jahre alt und kommt aus Malta. Seit April 2013 ist sie Mitglied des Europäischen Parlaments, seit 18. Januar 2022 EU-Parlamentspräsidentin. + diff --git a/fluter/was-macht-man-als-schlachter.txt b/fluter/was-macht-man-als-schlachter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..472823f11b4bf31d24d9cae210fbdbc83ab7b4ab --- /dev/null +++ b/fluter/was-macht-man-als-schlachter.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Danach folgt eine bizarre Choreografie. Zusammen mit seinen zwei Kollegen nimmt Schmidt das Tier in weniger als einer halben Stunde vollständig auseinander. Dazwischen schreitet die Tierärztin mit weißer Gummischürze durch den gefliesten Raum, kontrolliert Gehirn und Organe des Tiers. +Schmidt kann sich nicht erinnern, wann er diese Handgriffe zum ersten Mal gemacht hat. Schon als Kleinkind schaute er dem Vater zu, wie er auf den Schwarzwaldhöfen der Umgebung Ziegen, Schafe und Rinder schlachtete. Er erinnert sich aber an die erste eigenständige Schlachtung. Er war erst 14, die Eltern im Urlaub und ein Bauer aus der Umgebung verzweifelt: Beinbruch bei einer Kuh, Notschlachtung. Man holte Schmidt junior mit dem Auto ab, der schlachtete das Tier vor Ort, wie er es schon Hunderte Male beobachtet hatte. "Ist eh alles gut gegangen", sagt er heute, "war eben ein Notfall." +Damals hatten die Bauern noch eigene Wurstkessel und Räucheranlagen. Doch die Hausschlachtung ist für viele Kleinbetriebe nicht rentabel. Nachwuchsprobleme und Dumpingpreise im Supermarkt für Fleisch aus industriellen Betrieben machen den Kleinbauern das Leben schwer. Viele stiegen deshalb auf Bio- oder die strenge Demeter-Landwirtschaft um. Qualität statt Quantität. Ihre Tiere bringen die meisten heute zu Schmidt, der sich als Schlachter von Biofleisch spezialisiert hat. +Solange Menschen weiterhin gerne Fleisch essen, müssen Tiere sterben, aber für Schmidt ist wichtig, dass die Tiere vorher ein gutes Leben führen – oder zumindest ein besseres als die armen Schweine und Rinder in den Massenbetrieben. Schmidt hat viele Kunden, vor allem junge Familien, die seine Arbeitsethik schätzen: "Am wichtigsten ist es, dass man mit den Tieren als Lebewesen ordentlich umgeht." Für ihn heißt das: artgerechte, kurze Transportwege, kein Aufeinandertreffen mit Tieren aus anderen Höfen, kein Warten, kein Stress. Dass das Fleisch zur Billigware verkommen ist, findet Schmidt fatal. Für Mensch und Tier sei es besser, eher weniger und dafür besseres Fleisch zu essen. "Man schmeckt es ja auch." +Für Schmidt ist das Schlachten ein Handwerk, das er so gut beherrschen will, dass die Tiere nicht leiden. Er hofft, dass einer seiner zwei Söhne irgendwann den Familienbetrieb übernimmt. Bei seiner vierjährigen Tochter macht er sich weniger Hoffnung. Die habe schon erklärt, dass sie Vegetarierin sei, sagt er. "Aber Bolognese isst sie immerhin noch." + diff --git a/fluter/was-macht-tiktok-besonders.txt b/fluter/was-macht-tiktok-besonders.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0e56920fa79871c2bd1739ea408dd04101361fc9 --- /dev/null +++ b/fluter/was-macht-tiktok-besonders.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Soziale Medien nutze ich, freundlich ausgedrückt, intensiv. Auf Facebook tausche ich mich mit dem älteren Teil meines Freundeskreises aus, auf Instagram mit dem jüngeren, auf Twitter mit fremden Menschen und Kollegen. Auf TikTok kenne ich quasi niemanden. Dabei hat die App im Herbst 2021 nach eigener Aussage die Marke von einer Milliarde monatlich aktiver Menschen geknackt. Was zwar immer noch weniger sind als bei Facebook, Instagram oder YouTube, aber: Keiner von denen hat das so schnell geschafft. Auch immer mehr Firmen und Medien glauben, auf TikTok präsent sein zu müssen. +Ich will wissen, ob mich der Algorithmus von TikTok kriegt, also die Formel, die festlegt, welche Videos mir auf dem Startbildschirm angezeigt werden. Algorithmen sind so etwas wie das Coca-Cola-Rezept des Internets:Man kann sich zwar ungefähr vorstellen, wie sie aussehen, aber ihre ganz genaue Zusammensetzung bleibt das Geschäftsgeheimnis der Tech-Konzerne. Der Algorithmus von TikTok gilt dabei als besonders ausgefuchst, wobei das, was im Dezember 2021 durch ein Leak über ihn bekannt wurde, gar nicht so spektakulär erscheint. Sehr stark vereinfacht soll er so aussehen: Plike x Vlike + Pcomment x Vcomment + Eplaytime x Vplaytime + Pplay x Vplay. +Was auch immer genau E, V und P hier bedeuten mögen: Die Menge an Likes, Kommentaren und wie oft Videos angefangen und auch beendet wurden, spielt also eine Rolle – okay. Zusätzlich soll verhindert werden, dass ich zu viele ähnliche Videos nacheinander gezeigt bekomme – selbst wenn jedes einzelne perfekt für mich wäre –, damit sich kein Ermüdungseffekt einstellt. Außerdem sind die Hashtags, mit denen von mir gern gesehene Videos versehen sind, wichtig – das gute alte "Nutzer, die X kauften, kaufen auch Y"-Prinzip also. Wobei TikTok als kleine Starthilfe direkt bei der Anmeldung einige meiner Interessen abgefragt hat. +Die App verlangt auch sonst einiges von mir. Andere Netzwerke kann ich nebenbei durchscannen und -scrollen, TikTok will meine volle Aufmerksamkeit, und dabei soll ich möglichst auch noch den Ton anmachen. Häufig fehlt mir dafür die Geduld. Schrecklicher Verdacht: Könnte meine Aufmerksamkeitsspanne gar zu gering für TikTok sein? Aber nach und nach finde ich Dinge, die mir gefallen, dabei drücke ich eifrig den ❤-Button und folge allen Kanälen, die mir halbwegs interessant erscheinen, um der Sache eine Richtung zu geben. +Nach einiger Zeit weiß der Algorithmus, dass mir folgende Dinge gefallen: 1. Die Zubereitung von Essen, die hier häufig in Dutzende extrem schnell und elegant geschnittene Einzelschritte zerlegt ist. 2. Gelungene Aktionen aus Fußballspielen oder -trainingseinheiten. 3. Kurze Parodieeinlagen oder auch Sketche, bei denen eine Person stets sämtliche Rollen übernimmt, ein sehr genuines TikTok-Humorformat. +Denn das ist überhaupt sehr auffällig hier. Egal ob getanzt, gekocht, geprankt, gezaubert, gezeichnet oder aufs Fußballtor geschossen wird – fast immer sind die Creators, wie sie im TikTok-Kosmos heißen, mit im Bild, ja: im Mittelpunkt. Das gab und gibt es natürlich auch bei YouTube und Instagram und hat dasBerufsbild des Influencersja erst hervorgebracht – doch was dort ein Genre unter vielen ist, ist hier der Standard. +Welch bedeutende Rolle die Creators spielen, zeigt auch ein Blick in die Statistik. Die Listen der reichweitenstärksten Instagram- und Facebook-Kanäle bzw. -Seiten bestehen größtenteils aus Fußballern, Musikern, Marken und Models. Die meisten der großen TikToker hingegen sind durch die App und mit ihr groß geworden. Die aktuellen Top 3 sind: Charli D'Amelio, eine 17-Jährige aus Connecticut (mehr als 136 Millionen Abonnentinnen und Abonnenten), die vor allem durch ihre Dance-Skills berühmt wurde; Khaby Lame, ein in Italien lebender 22-jähriger Senegalese, der als Comedian die Nutzlosigkeit scheinbar sinnvoller Lifehacks parodiert – und die philippinisch-US-amerikanische Sängerin Bella Poarch, die mit 25 schon am oberen Ende der Creator-Altersspanne steht und vor dem Beginn ihrer TikTok-Karriere im Frühjahr 2020 mehrere Jahre bei der US Navy diente. +Dass es hier so viele Unbekannte schaffen, soll auch wieder am Algorithmus liegen, der nach Angaben von TikTok keinen Wert auf die Followerzahl eines Creators legt. Nichtsdestotrotz: Fast alle Videos, die mir zufällig gezeigt werden, haben schon Zigtausende bis Millionen Abrufe und Likes. Selber einen Überraschungshit zu landen erscheint mir im Umkehrschluss ziemlich schwer. Und überhaupt ist guten Content zu produzieren deutlich komplexer als etwa auf Twitter oder Instagram, wo ein paar geniale Momente ausreichen können. Ein mittelkomplexes TikTok-Video zu schneiden erfordert solides Handwerk und kostet einige Zeit. Für TikTok-Stars kann das schnell zum Vollzeitjob werden, den sie sich unter anderem mit Product-Placement und Werbepartnerschaften oder aber durch direkte Spenden ihrer Fans in Form einer In-App-Währung finanzieren. +Noch etwas ist an TikTok besonders: Es ist das erste global bedeutende Soziale Netzwerk, das nicht in den Vereinigten Staaten erfunden wurde – sondern in China.2016 veröffentlichte das Pekinger Unternehmen ByteDance die App Douyin, deren Klon für den internationalen Markt seit 2017 TikTok ist. Seit dem letzten Jahr redet die chinesische Regierung bei TikTok mit und sorgte wohl dafür, dass ein Video einer Nutzerin, die sich kritisch gegenüber dem chinesischen Staat äußerte, gesperrt wurde. +2018 integrierte ByteDance kurzerhand die rund 200 Millionen Nutzerinnen und Nutzer von Musical.ly in TikTok – einer App, die darauf basierte, dass Popsongs lippensynchron nachgesungen und nachgetanzt werden. Der Ursprung findet sich bis heute in der DNA von TikTok. Bei jedem Video wird angezeigt, was gerade auf der Tonspur los ist, und man kann mit dem Sound sofort einen eigenen Clip erstellen. So fördert TikTok ganz bewusst das, was das Social-Media-Wesen ausmacht: digitale Massenaktionen, das gemeinsame Erschaffen, Abwandeln und Verfeinern von Memes, von kurzzeitig aufbrandenden Trends und Hashtags. +Dazu gehört bei TikTok auch eine Zitat- und Duettfunktion, die zwei Creators miteinander verbindet. TikTok wimmelt nur so von Filmchen, bei denen alle den gleichen Tanzschritt, die gleiche Challenge oder die gleiche digital erzeugte Spielerei ausprobieren. Das schafft Verbindung, auch wenn die App auf den ersten Blick so aussehen mag, als wäre es ein großes narzisstisches Dancing on my own. +Seit meiner Anmeldung sind ein paar Wochen vergangen, und ich kann inzwischen herrlich Zeit auf TikTok verplempern, von einigen populären Soundschnipseln habe ich Ohrwürmer (hallo, "Monkeys spinning Monkeys"!). Die Videos entwickeln einen Sog, weil sie so kurz sind. Und weil man so schnell zum nächsten kommt. Das kann man doch noch eben schauen. Und dann noch eins. Und noch eins. Nur noch eins! Diesen Effekt kannte ich allerdings auch schon von den Endlos-Timelines auf Twitter und Instagram. +Bloß der Algorithmus überzeugt mich nicht so wirklich: Noch immer ist auf meiner Startseite extrem viel Trash dabei. Gefällt mir allerdings ein Video, dann schau ich gern mehr von seinem Creator oder auch einen Clip gleich in Dauerschleife. Und hin und wieder finde ich echte Perlen, wie etwaSavanah Moss, die verworrene, traumsequenz­artige Minifilme dreht, die auch David Lynch gefallen würden. Oder daskomplett talentfreie Berliner Zaubererduo Siegfried and Joy. Das alles rettet nicht die Welt, kann sie aber für 15 Sekunden ein wenig bunter machen. diff --git a/fluter/was-man-ueber-das-ende-vom-steinkohlenbergbau-wissen-sollte.txt b/fluter/was-man-ueber-das-ende-vom-steinkohlenbergbau-wissen-sollte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..53beee72afc24d7705d26f86529ea74c2a2f7bbd --- /dev/null +++ b/fluter/was-man-ueber-das-ende-vom-steinkohlenbergbau-wissen-sollte.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Ende der 50er-Jahre führen der Verfall des Kohlepreises und billiges Erdöl als neue Energiequelle zu einer Krise im Ruhrgebiet. Hier wird der Abbau nun zu teuer. Auf die Entlassungswellen folgen Proteste und landesweite Solidarität mit den Kumpels. Doch der Niedergang der Steinkohleindustrie ist nicht aufzuhalten: Zechen schließen, und im Ruhrgebiet wandelt sich alles. Eine neue Struktur aus Universitätsstädten, Kulturinstitutionen und pragmatischem Mittelstand entsteht. +Ab den 60er-Jahren trägt ein allmählich aufkeimendes umweltpolitisches Denken seinen Teil zum Strukturwandel in der Region bei: "Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden", fordert 1961 der SPD-Kanzlerkandidat Willy Brandt. Die Folgen der grauen Rauchschwaden aus den Schornsteinen waren deutlich sichtbar, schrieb damals der "Spiegel": "… von säurehaltigen Abgasen und Ammon-Salpeterstaub verbrannte Wiesen und Äcker, verdorrende Bäume und Sträucher, vom Rost zerfressene Zäune und Mauerwerk …" +Der deutsche Steinkohlebergbau stand zu dieser Zeit vor zwei großen Aufgaben: den entlassenen Bergarbeitern neue Jobs zu beschaffen und die sogenannten Ewigkeitsaufgaben zu organisieren, wie zum Beispiel die Schachtpflege. Im November 1968 schlossen sich deswegen fast alle deutschen Bergbaubetriebe zur sogenannten "Ruhrkohle" zusammen. Mittlerweile umbenannt in RAG Aktiengesellschaft, kümmert sich deren Stiftung um die Finanzierung der Ewigkeitsaufgaben, sie betreibt aber auch einen "weißen Bereich" (also Nicht-Steinkohlesparten wie Chemie, Immobilien und Energie). +Der Bergbau hat im Ruhrgebiet Spuren in der Umwelt hinterlassen, die nicht einfach beseitigt werden können: Es drohen Überschwemmungen, und auch von unten bereitet Wasser Probleme: In die Stollen dringt vor allem Grubenwasser ein. Sammelt sich in den ehemaligen Abbautunneln das Wasser, läuft der Schacht nach und nach voll. Der Boden weicht auf, und das Wasser selbst ist meist stark belastet und sauer. Es enthält die Chemikalie PCB, die früher in den Bergbaumaschinen als Hydrauliköl verwendet wurde. Sie steht im Verdacht, krebserregend zu sein. Vermischt sie sich in höheren Schichten mit Grundwasser, wird das als Trinkwasser unbrauchbar. +Im Moment wird das Grubenwasser in einer Tiefe von 1100 Metern abgepumpt und in die Flüsse geleitet. Nach Ende des Bergbaus will RAG das Wasser auf 600 Meter ansteigen lassen, das Grubenwasser soll dem Trinkwasser dabei aber nicht näher als 150 Meter kommen. Umweltschützer und Anwohner halten diesen Abstand für zu gering. Sie befürchten, dass das Trinkwasser verunreinigt wird. +Der lange Kampf der Bergmänner für ihre Rechte und die durch sie begründeten Gewerkschaften spielten eine große Rolle in der Entstehung des Sozialstaats Ende des 19. Jahrhunderts. Ab Ende der 1960er-Jahre wurde der Steinkohleabbau jahrzehntelang staatlich subventioniert. Politik und RAG versuchten, die Übergänge für die Arbeiter leichter zu gestalten, und finanzierten neue Ausbildungsberufe. Nicht allen gelang der Umstieg, einige ehemalige Bergmänner fühlen sich im Stich gelassen. +Das Ende der staatlichen Subventionen wurde 2007 beschlossen, seitdem wissen alle, dass ab dem 21.12.2018 für die Steinkohle überall und endgültig "Schicht im Schacht" ist. +Die bis zuletzt verbliebenen Kumpels sind ca. 1.600 Arbeiter von Prosper-Haniel. Bergmänner sind qualifizierte Fachkräfte. Einen neuen Job zu finden in der engmaschigen Industriestruktur in NRW kann gelingen. Auch denen, die nicht zu den spezialisierten gehören. Im Bergbau gab es auch die einfachen Mitarbeiter. Manche haben schon Anschlussverträge bei der Feuerwehr oder der Bahn. Zwar gibt es im Ruhrgebiet die fünfthöchste Arbeitslosenquote Deutschlands, die letzten Bergmänner bekommen aber Unterstützung von der RAG: "Mitarbeiter, die nicht im Zuge des Auslaufs des Steinkohlebergbaus in den Ruhestand wechseln können, oder jene, die nicht für die Zukunftsaufgaben benötigt werden, werden in neue Arbeitsverhältnisse vermittelt." Bis zum Ende unbefristet Beschäftigte erhalten zudem Abfindungen. +Das Ende des Steinkohleabbaus ist ein emotionaler Schritt für viele Menschen im Ruhrgebiet. Das verdeutlicht die Aktion des WDR #lichtbeidernacht: Bewohner sollen in einer Mitmachaktion die Bergmänner verabschieden, indem sie eine Schablone ausdrucken, die Umrisse des Förderturms ausschneiden und am 21. Dezember in ihr beleuchtetes Fenster hängen. +Ganz Schluss mit der Kohle ist in Deutschland aber noch nicht. In Berlin diskutiert die sogenannte Kohlekommission darüber, wann der Abbau von Braunkohle enden soll (dass er enden soll, steht fest) und wie die betroffenen Regionen dafür entschädigt werden könnten. Braunkohle gilt als klimaschädlich, sorgt aber aktuell noch für ca. 20.000 Jobs. +Die zweiteilige Dokumentation "Steinkohle – Das Ende einer Ära" ist bei Arte zu sehen. +Wie wir die Folgen des Bergbaus bewältigen,sieht man hier, Auskunft zumWasserproblem gibt diese Studie. +Außerdem veröffentlichte die bpb Dossiers zumAbschied vom Steinkohle-Bergbauund zurVerteilung der nachgewiesenen Kohle-Reserven. + diff --git a/fluter/was-man-ueber-den-gazastreifen-wissen-sollte.txt b/fluter/was-man-ueber-den-gazastreifen-wissen-sollte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..187bd4d03b22ca373ca8e692020569744f9f1494 --- /dev/null +++ b/fluter/was-man-ueber-den-gazastreifen-wissen-sollte.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Das Gazagebiet ist seit der frühen Antike eine bedeutende Schnittstelle zwischen Afrika, Asien und Europa. Es gehörte über die Jahrhunderte hinweg unter anderem abwechselnd zu Persien, Ägypten und dem Osmanischen Reich. Großbritannien hatte das Gebiet 1917 besetzt, das Verwaltungsmandat aber nach zunehmenden Unabhängigkeitsbestrebungen der Bevölkerung an die UN zurückgegeben. Diese hatten vorgeschlagen, Palästina in einen arabischen und einen jüdischen Staat aufzuteilen – mit Jerusalem als neutralem Ort unter internationaler Verwaltung. Die Pläne konnten nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg 1948/1949, aus dem Israel als Sieger hervorging, nicht verwirklicht werden. Der Krieg gab dem Gazastreifen seine heutige geografische Form. +Im Sechstagekrieg 1967 wurde der Gazastreifen, der seit dem Krieg 1948/1949 von Ägypten kontrolliert wurde, von Israel besetzt. Die israelische Regierung genehmigte im Süden von Gaza den Bau von Siedlungen, diese wurden Gusch Katif genannt und waren für die arabischen Bewohner nur erschwert oder gar nicht zugänglich. Nach innenpolitischen Auseinandersetzungen ordnete der damalige israelische Ministerpräsident Ariel Scharon im August 2005 den Abzug der etwa 6.500 Siedler an. Innerhalb weniger Wochen verließen die letzten Israelis das Gebiet. +Unter anderem die hohe Arbeitslosigkeit, die schlechte Infrastruktur und die wirtschaftlich desaströse Lage tragen dazu bei, dass große Teile der Bevölkerung in Gaza unter sehr harten Bedingungen leben.Bis 2020, so warnte ein UN-Bericht im Juli 2017, könnte das Gebiet "unbewohnbar" werden.Die Gesundheitsversorgung, das Bildungssystem und das öffentliche Leben funktionierten bereits nicht mehr ausreichend, hieß es in dem Bericht.Im Jahr 2000 hatten noch 98 Prozent der Einwohner von Gaza Zugang zu sauberem Trinkwasser, 2014 war dieser Anteil auf 10,5 Prozent gesunken. Auch Strom ist in Gaza für nur rund vier Stunden am Tag verfügbar. +Für die Gesamtlage in Gaza verantwortlich ist auch die seit über zehn Jahren anhaltende Blockade durch Israel und Ägypten. Denn auch Ägypten fürchtet sich vor der Hamas, vor allem davor, dass gewaltbereite Salafisten aus Gaza in den Sinai reisen. Viele Menschen in Gaza leiden zudem unter den Folgen der drei militärischen Konflikte mit Israel in den Jahren 2008, 2012 und 2014. Nach UN-Angaben wurden bis zu 18.000 Häuser durch Bomben zerstört oder beschädigt. Das führte zu einer halben Million Binnenflüchtlinge innerhalb des Streifens. +Hiergibt es mehr zur Geschichte des Nahostkonflikts. +…mehr zurBeziehung zwischen Israelis und Paläsinensern. +…und zu demDilemma innertsaatlicher Konflike. +Unter dem Namen "Osloer Friedensprozess" wurde vor 25 Jahren versucht, ein friedliches Nebeneinander Israels und Palästinas zu verhandeln.Darum ist es bis heute nur bei der Idee geblieben. +…mehr zur palästinensischen Diasporaund dazu, wie manche einenUmgang mit den schwierigen Lebensumständen gefunden haben: Gaza Surf Club. + +Titelbild: Ali Jadallah/Anadolu Agency/Getty Images diff --git a/fluter/was-man-zur-bundestagswahl-wissen-muss.txt b/fluter/was-man-zur-bundestagswahl-wissen-muss.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8a97bb961cfd80900c68471a57e8ad159f7f193c --- /dev/null +++ b/fluter/was-man-zur-bundestagswahl-wissen-muss.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Mit Behinderung und Vollbetreuung hatte Martin lange kein Wahlrecht.Unsere Filmemacher haben Martin vor seiner ersten Wahl getroffen +Dasselbe gilt für das passive Wahlrecht, also für diejenigen, die in den Bundestag gewählt werden wollen. Bei derBundestagswahl 2017waren knapp 62 Millionen Deutsche wahlberechtigt. Unter bestimmten Voraussetzungen können volljährige Deutsche ihr Wahlrecht auch verlieren.Bis vor kurzem zählten dazu beispielsweise noch Menschen, die sich wegen einer Behinderung in Vollbetreuung befinden. Weiter gilt das für Menschen, die wegen bestimmter politischer Straftaten verurteilt worden sind. 2017 wurden knapp 85.000 Personen von der Bundestagswahl ausgeschlossen. + + +In Deutschland gilt die sogenannte personalisierte Verhältniswahl. Das bedeutet: Bei der Bundestagswahl darf jeder Wähler und jede Wählerinzwei Kreuze auf den Stimmzettel setzen: Mit der Erststimme wählen sie je einen Politiker oder eine Politikerin aus dem eigenen Wahlkreis direkt in den Bundestag. Abgeordnete beziehungsweise Abgeordneter wird, wer in dem entsprechenden Wahlkreis die meisten Stimmen holt. Und tatsächlich auch nur die Person mit den meisten Stimmen – alle anderen bekommen keinen Sitz. Das wird auch "The winner takes it all"-Prinzip genannt. Die Hälfte der Sitze im Bundestag wird über diese sogenannten Direktmandate vergeben. Meistens gehören diese Abgeordneten auch einer Partei an. Das ist aber kein Muss. +Mit dem zweiten Kreuz wählt man eine der 47 Parteien, die für die Wahl zugelassen wurden und auch an ihr teilnehmen. Die Zweitstimme ist für die Machtverhältnisse im Parlament maßgeblich. Je mehr Zweitstimmen eine Partei holt, desto mehr Sitze im Bundestag erhält sie. Bei 20 Prozent der Zweitstimmen stehen ihr also auch 20 Prozent der Sitze zu, bei 13,3 Prozent 13,3 Prozent der Sitze und so weiter. Einzige Ausnahme: Wenn eine Partei bei den Zweitstimmenunter fünf Prozentbleibt und nicht mindestens drei Wahlkreise gewinnt, bekommt sie gar keinen Sitz – beziehungsweise nur die Sitze, die sie gegebenenfalls über Direktmandate gewinnt. Diese Sperrklausel soll verhindern, dass zu viele kleine Parteien im Parlament sind und die Regierungsbildung erschweren. + + +Eigentlich ist die Zahl der Bundestagsabgeordneten auf 598 festgelegt. Aus den 299 Wahlkreisen kommen die (299) direkt gewählten Abgeordneten, also die, die mit der Erststimme gewählt werden. Die übrigen 299 Sitze werden gemäß der Zweitstimme über die jeweiligen Landeslisten der Parteien aufgefüllt, auf denen vor der Wahl die entsprechenden Kandidaten festgelegt werden müssen. Je besser das Wahlergebnis einer Partei (also je mehr Zweitstimmen sie bekommen hat), desto mehr Kandidaten der Liste "rutschen" in den Bundestag. Wer sich für die Details interessiert: Jedem Bundesland wird bereits vor der Wahl die Anzahl der Sitze im Parlament zugeteilt, die dessen Bevölkerungsanteil proportional entspricht. Gemäß dem Wahlergebnis in diesem Bundesland erhalten die Parteien ihren Anteil dieses Kontingents zugeordnet. So weit die Theorie. +In der Praxis wird der Bundestag immer größer. Das liegt an den sogenanntenÜberhangmandaten. Sie entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate erhält, als ihr (anteilig an den Zweitstimmen) Sitze im Bundestag zustehen. Um diese Verzerrung auszugleichen, erhalten die anderen Parteien sogenannte Ausgleichsmandate. Die Folge: Die Zahl der Bundestagsabgeordneten übersteigt nach der Wahl regelmäßig die vorgesehenen 598. Aktuell sind es 709. Im nächsten Bundestag könnten es sogar mehr als 800 sein, wieModellrechnungenzeigen. Grund für diese Entwicklung ist, dass manche Parteien zuletzt weniger Zweitstimmen holten, gleichzeitig aber immer noch viele Wahlkreise über Erststimmen gewinnen. + + + +Erstens, ganz banal: Der Platz im Bundestag und den dazugehörigen Gebäuden für Büros ist begrenzt. Das heißt, dass vielleicht neue Räume oder Sitzgelegenheiten hermüssen. Zweitens wird der Bundestag durch mehr Abgeordnete und deren Teams teurer. Drittens könnten die Verhandlungen und Koordinierungsprozesse im Bundestag durch immer mehr Abgeordnete erschwert werden. Die aktuelle Bundesregierung konnte sich auf eineminimale Reform des Wahlrechtsverständigen. So werden bei der anstehenden Bundestagswahl bis zu drei Überhangmandate nicht ausgeglichen, wenn die Regelgröße des Bundestags von 598 Abgeordneten überschritten wird.Eine größere Reform soll erst 2025 folgen. Geplant ist unter anderem eine Reduzierung der Wahlkreise. + + +In Deutschland gibt es im Gegensatz zu manchen anderen Ländern keine Wahlpflicht. Damit dennoch möglichst viele Wahlberechtigte an der Wahl teilnehmen, werden Wahlbenachrichtigungen automatisch mehrere Wochen vor der Wahl verschickt, die Wahlen in der Regel auf Sonntage gelegt und alternativ zum Urnengang eine unkomplizierte Briefwahl angeboten. Informationsangebote wie derWahl-O-Matsollen den Bürgern und Bürgerinnen Orientierung für ihre Wahlentscheidung geben. Natürlich gibt es trotz alledem Menschen, die ihre Interessen durch keine Parteien vertreten sehen – oder aus anderen Gründen nicht wählen. Bei der Bundestagswahl 2017 war das bei fast jedem und jeder vierten Wahlberechtigten der Fall. +Weiterlesen +Wie gelingt es, komplexe Politik auf 38 knackige Thesen herunterzubrechen?So entsteht der Wahl-o-Mat +Verglichen mit anderen Demokratienist der Anteil der Nichtwähler in Deutschland zwar eher niedrig. Dennoch führen Wahlen mit niedriger Beteiligung zu einer repräsentativen Schieflage: Aus derWahlforschungist bekannt, dass eher Menschen aus sozial benachteiligten Familien und Jüngere – mit Ausnahme der Erstwähler – nicht wählen. Im Umkehrschluss heißt das, dass bei einer geringeren Wahlbeteiligung die Interessen der Älteren und der sozial Begünstigten stärker im Parlament vertreten sind. Wenn bei der Bundestagswahl 2017 alle Nichtwählerinnen und Nichtwähler dieselbe Partei gewählt hätten, hätte diese Partei damit fast den Wahlsieg errungen, so viele Stimmen machen die Nichtwähler aus. Wer nicht wählt, stärkt automatisch die Parteien, die es in den Bundestag schaffen. Zuletzt ist die Wahlbeteiligung bei den Bundestagswahlen aber deutlich gestiegen. +Und noch etwas spricht dafür, dass dieser Trend anhält: An immer mehr Schulen in Deutschland finden parallel zu Bundestags- oder LandtagswahlenSpielwahlenstatt, bei denen sich die Jugendlichen mit den verschiedenen Parteien auseinandersetzen. Wieerste Studienzeigen, erhöhen sie nicht nur die Wahlbeteiligung bei den Erstwählern von morgen – sondern sogar bei deren Eltern. + +Titelbild: Hannes Jung/laif diff --git a/fluter/was-muellforscher-ueber-unsere-gesellschaft-sagen.txt b/fluter/was-muellforscher-ueber-unsere-gesellschaft-sagen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6da3999f6da03d91f6014a31d239d9cbb78eaeb1 --- /dev/null +++ b/fluter/was-muellforscher-ueber-unsere-gesellschaft-sagen.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Oder sie warfen ihre Abfälle ein­fach ins Wasser. Zum Beispiel im Hafen von Haithabu in Schleswig-­Holstein. Im Mittelalter war der Ort ein wichtiges Handelszentrum zwischen Nord-­ und Ostsee. Viele Kaufleute handelten direkt auf den Stegen, an denen die Schiffe anlegten. Bis heute liegt im Schlamm darunter alles, was die Menschen da­mals entweder verloren oder bewusst über Bord geworfen haben. "Wir finden hier Tierknochen, Münzen und Schwerter, die vielleicht nach Kämpfen ins Wasser fielen", sagt Jens Schneeweiß. "Der Hafen ist eine wahre Fundgrube, sogar ein halbes Schiff liegt dort auf dem Boden." Aus diesen Entdeckungen lässt sich unter anderem auf die Han­delsbeziehungen Haithabus schließen. +Einblicke in den Alltag vergangener Zeiten geben oft auch die lehmigen Bö­den der Straßen und Häuser, in denen sich weggeworfener Müll festgetreten hat. Im Lehmboden einer römischen Küche kommen Pflanzenreste, Fisch­schuppen und Knochensplitter zum Vorschein. Manchmal wurden die Kü­chen auch mit Asche ausgestreut, die den entstehenden Gestank überdecken sollte. "Wir lernen sehr viel aus solchem Abfall", sagt Günther Thüry. "Zum Beispiel: Was wurde da gegessen, und wo kamen die Zutaten überhaupt her?" +Angesichts der Entdeckungen, die Archäologinnen und Archäologen im Müll vergangener Zeiten machten, wuchs bei manchen von ihnen das In­teresse, auch die Gegenwart mit diesen aufschlussreichen Methoden zu unter­ suchen – zum Beispiel bei der deutschen Archäologin Eva Becker. +Dazu inspiriert hat sie die Geschich­te von William Rathje, der als Pionier der Müllarchäologie gilt. Zusammen mit seinem Team untersuchte er in den 1970er-­Jahren die Deponie Fresh Kills in New York, damals die größte Müll­kippe der Erde. Ausgangspunkt seiner Untersuchungen waren Umfragen unter den Einwohnerinnen und Einwohnern New Yorks nach deren Konsumgewohn­heiten. Sie behaupteten, sich relativ be­wusst und gesund zu ernähren, also viel Obst und Gemüse und wenig Fett und Alkohol zu sich zu nehmen. Die Ana­lyse des Mülls hingegen zeichnete ein völlig anderes Bild. Viele Fast-­Food­-Verpackungen kamen zum Vorschein und "neben leeren Chipstüten einige wenige angebissene Äpfel", wie Eva Becker sagt. Was sie daran fasziniert? "Solche Hinter­lassenschaften zeigen, was die Menschen wirklich tun, nicht verzerrt durch Falsch­aussagen oder Selbsttäuschungen." +Seit Eva Becker vor mehr als zehn Jahren von den Forschungen Rathjes hörte, zieht sie mit ihrer Kamera durch Städte, Dörfer und übers Land. Dabei fotografiert sie den Müll, den sie auf die­sen Erkundungstouren findet. Eine ihrer Erkenntnisse: Zwar sind viele Menschen offenbar zu faul, einen leeren Pappbecher oder die Zigarettenkippe zum nächsten Mülleimer zu tragen. Aber ganz offen auf die Straße wollen sie ihren Abfall auch nicht werfen. Also verstecken sie ihn lie­ber in Hecken und Büschen. Erst im Herbst, wenn die Blätter fallen, werden die Müllmengen deutlich, die sich im Sommer dort angesammelt haben. +Aber auch Menschen in vergangenen Zeiten gingen oft wenig verantwortungs­voll mit ihrer Umwelt um, wie Archäo­loginnen und Archäologen herausgefun­den haben. Schon in der Bronzezeit um das Jahr 1800 v. Chr. wurde beispiels­weise bei Bruszczewo im heutigen Polen ein See als Müllkippe und Abwasserbecken benutzt, berichtet Jens Schneeweiß. Schließlich kippte er um und war von da an als Frischwasserquelle und zum Fisch­fang nicht mehr zu gebrauchen. Krank­heiten brachen aus, die die Menschen mit Heilkräutern behandelten – der Zusam­menhang mit der Wasserverschmutzung war ihnen offenbar nicht bewusst. Im antiken Rom wiederum entsorgten Kauf­leute Amphoren aus Ton, in denen sie Wein, Öl oder Fischsoße importiert hatten, manchmal schon nach einmaligem Gebrauch. So schufen sie einen heute noch beeindruckenden Müllberg, den soge­nannten Monte Testaccio bei Rom, der vollständig aus Scherben besteht. +Doch auch wenn die Wegwerfgesell­schaft unserer Zeit damals schon vorge­zeichnet schien: Die Müllmenge, die jede und jeder von uns heute produziert, ist längst viel größer, als es sich die Menschen der Vergangenheit vorstellen konnten. Zu­dem bestimmen nicht mehr Tonscherben und Knochen unseren Abfall, sondern Kunststoffe wie Styropor, Blechdosen und Pizzakartons. Für Eva Becker wäre es folgerichtig, würden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Zukunft unserer Epoche deshalb einen griffigen und ein­prägsamen Namen geben: Auf die Stein­, Bronze­ und Eisenzeit müsste dann die heutige "Papier-­Plastik-­Zeit" folgen. diff --git a/fluter/was-muss-ich-wissen-zum-thema-rente.txt b/fluter/was-muss-ich-wissen-zum-thema-rente.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8516f87ec3edf9c5e67b4b923c04700c383adb50 --- /dev/null +++ b/fluter/was-muss-ich-wissen-zum-thema-rente.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Wer heute geboren wird, muss länger arbeiten – bis 2029 wird das Renteneintrittsalter schrittweise angehoben. Alle, die nach 1964 geboren sind, können mit 67 in den Ruhestand gehen. Früher lag es schon mal bei 60 Jahren. Noch eine Möglichkeit, auf die demografischen Veränderungen zu reagieren, ist die Senkung des sogenannten Rentenniveaus, also das Verhältnis von Standardrente zu Durchschnittseinkommen. 2030 wird die Rente voraussichtlich nur noch bei 44,3 Prozent des durchschnittlichen Jahresgehalts liegen. Vor 15 Jahren lag das Rentenniveau noch bei 52,9 Prozent. +Da ist es wieder, das Schreckgespenst "Altersarmut". Besonders problematisch wird es im Ruhestand für Geringverdiener: Sie haben im Arbeitsleben meist kaum Geld übrig, um fürs Alter etwas anzusparen. +Dann springt der Staat mit der Grundsicherung ein – eine Sozialleistung, die aus Steuermitteln finanziert wird. Sie soll ein menschenwürdiges Leben über dem Existenzminimum ermöglichen. Als Faustregel gilt: Wenn das gesamte Einkommen unter 823 Euro liegt, hat man mit hoher Wahrscheinlichkeit Anspruch auf Grundsicherung. Hierzu eine kleine Rechnung: Wer sein ganzes Erwerbsleben hindurch den Mindestlohn von derzeit 8,84 Euro pro Stunde verdient, hat nach 45 Arbeitsjahren Anspruch auf gerade mal 668 Euro Rente – vor Steuern. Der Staat zahlt nur dazu, was zur Grundsicherung noch fehlt, wenn man selbst nicht genug sparen konnte. +Wirklich sichere Prognosen gibt es nicht, denn zu viel ist unklar: Wird die Bevölkerungszahl steigen? In welcher Form gibt es die Rente in 50 Jahren überhaupt noch? Wie lange werden wir in Zukunft arbeiten? Sicher ist nur, dass wir uns nicht allein auf die Rente verlassen können. Außerdem bleibt von der Rente weniger übrig. Ab 2040 wird die nämlich vollständig versteuert und nicht mehr nur zu 74 Prozent wie heute. Vielleicht bekommen wir aber auch keine Rente, wenn wir alt sind, sondern ein bedingungsloses Grundeinkommen. Also "Geld für alle" vom Staat, ohne Gegenleistung, zur Sicherung des Existenzminimums. Ein bedingungsloses Grundeinkommen könnte beispielsweise auf einer Finanzierung basieren, die auch die Wertschöpfung von Robotern miteinbezieht, sagt der Ökonom Thomas Straubhaar. Alle, die Einkommen erwirtschaften, zahlen dann gleichermaßen Steuern, auch die Eigentümer der Roboter. Auch die Sozialversicherungspflicht entfällt – das Grundeinkommen erhalten alle, nicht wie heute, wo nur diejenigen eine gesetzliche Rente bekommen, die vorher Sozialabgaben geleistet haben. +Wenn die Anzahl der Rentner wächst, muss das Rentenniveau sinken. Aber ist das wirklich der einzige Weg? Schließlich hat sich der Anteil der Rentner im letzten Jahrhundert mehr als verdreifacht, die Rente aber ist in diesen 100 Jahren immer nur gestiegen. Was stimmt also nicht an der These vom demografischen Wandel? Ganz einfach: Der Produktivitätsfortschritt unserer Gesellschaft wird gar nicht beachtet – dabei werden wir immer effizienter. +Zum Beispiel durch die Arbeit am Fließband: Autos, Nähmaschinen oder ganze Flugzeugcockpits werden immer schneller und billiger hergestellt. Der Finanzmathematiker Gerd Bosbach hat ausgerechnet: "Beträgt der Produktivitätsfortschritt in den nächsten 50 Jahren durchschnittlich nur ein Prozent – und das ist eine sehr pessimistische Prognose für unsere Wettbewerbswirtschaft –, so würden im Jahr 2060 in jeder Arbeitsstunde zwei Drittel mehr als heute hergestellt. +Damit wäre ein Arbeitnehmer in der Lage, seinen Anteil für die gesetzliche Rente auf 20 Prozent zu verdoppeln und hätte trotzdem noch fast 50 Prozent mehr in der Tasche." Die Digitalisierung könnte in Zukunft für große Produktivitätssprünge sorgen – und so unsere Rente sichern. +So spießig es auch klingt, die Devise lautet erst mal: sparen! Vielleicht wird die Rente bald durch ein bedingungsloses Grundeinkommen ersetzt. Sicher ist aber: Irgendwann erreicht jeder das Alter, in dem er auf die Rente angewiesen ist. Bis dahin sollte man aber nicht warten, um sich Gedanken über den eigenen Ruhestand zu machen – den Generationenvertrag kann man nämlich nicht einfach kündigen. + +Titelbild: Adelaide Ivánova diff --git a/fluter/was-passiert-bei-den-midterms.txt b/fluter/was-passiert-bei-den-midterms.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d33d9060c83414b05e58c51de716e3d02d600c94 --- /dev/null +++ b/fluter/was-passiert-bei-den-midterms.txt @@ -0,0 +1,17 @@ + +Sie entscheiden, welche Politik in den kommenden Jahren möglich ist. Der Senat ist derzeit zwischen Demokraten und Republikanern 50:50 aufgeteilt, bei einem Gleichstand bei Abstimmungen kann aber Vizepräsidentin Kamala Harris mit ihrer Stimme den Demokraten eine hauchdünne Mehrheit verschaffen. Auch das Repräsentantenhaus wird von der Demokratischen Partei mit knapper Mehrheit angeführt. In beiden Kammern ist ein Machtwechsel möglich. Wissen sollte man dazu: Der Präsident in den USA verfügt zwar über Exekutivrechte, mit denen er manche Dinge im Alleingang entscheiden kann – strukturell bedeutende Veränderungen kommen aber fast alle über den Kongress zustande. Sollten die Republikaner also eine oder gar beide Kammern gewinnen, kann man sich auf eines einstellen: dass Joe Biden und seine Partei es schwer haben werden, in den kommenden Jahren große Reformprojekte durchzusetzen. + +Vieles spricht dafür. Und das liegt vor allem daran, dass manche Republikaner eine antidemokratische Politik verfolgen. In einigen Bundesstaaten geht es rechtsradikalen Republikanern nicht nur darum, Mehrheiten zu gewinnen, um entsprechende Gesetze verabschieden zu können. Sie sind auch dabei, demokratische Mechanismen abzubauen, um so den politischen Gegner lahmzulegen. + +Seit der Wahl 2020 wurden in von Republikanern regierten Bundesstaaten insgesamt56 neue Gesetze erlassen, die die Teilnahme an Wahlen erschweren. In manchen Fällen sind die vorzeitige Stimmabgabe und Briefwahl eingeschränkt. In anderen Fällen werden Wahlberechtigte kurzfristig und oft aus kaum nachvollziehbaren Gründen von den Listen genommen. Dazu kommen absurde Restriktionen: In Georgia beispielsweise ist es verboten, den Leuten vor dem Wahllokal Wasser zu reichen, selbst wenn sie dort stundenlang anstehen müssen. + +Doch. Bei diesen Midterms ist deshalb auch die Wahl der Secretaries of State – vergleichbar mit den deutschen Innenministern – wichtig. Sie überwachen in den einzelnen Bundesstaaten die Wahlvorgänge. Je mehr dieser Posten von antidemokratischen Kandidaten besetzt werden, desto unsicherer werden zukünftige Wahlen. Wie das aussieht, konnte man schon 2020 beobachten, als Bidens Sieg von vielen rechten Kräften nicht anerkannt und aggressiv angefochten wurde. Über die Hälfte der diesjährigen republikanischen Kandidatenverbreitet weiterhin die Lüge, dass Donald Trump die Wahl gestohlen worden sei. + +Als der Oberste Gerichtshof Ende Juni das landesweite Abtreibungsrecht kippte, sah es kurz so aus, als könnte dieses Thema auch die Midterms dominieren. Seit Monaten aber sagen nahezu alle Umfragen, dass die Wirtschaftslage und insbesondere die gestiegenen Lebenshaltungskosten für die Bevölkerung die wichtigsten Themen sind. Eigentlich nur logisch: Wer sich Miete und Essen nicht mehr leisten kann, wird über wenig anderes nachdenken. Das ist vielleicht auch ein Grund dafür, dass die skizzierten möglichenBedrohungen für die Demokratiefür viele Menschen keine Priorität haben. Das Gleiche gilt für Außenpolitisches und Klimafragen. + +Weiterhin eine sehr große. Das wird schon dadurch deutlich, dass sich alle in der Republikanischen Partei – von konservativ bis rechtsextrem – zu ihm verhalten müssen. Bist du für oder gegen Trump? Das ist die Gretchenfrage. Der Ex-Präsident tourt derweil seit Monaten durch das Land, um "seine" Leute zu unterstützen. Sollten die meisten der "Make America Great Again"-Kandidaten gewinnen, geht Trump gestärkt aus den Midterms heraus. Verliert das MAGA-Lager , werden sich die Funktionäre der Republikaner wohl überlegen, ob sie für 2024 besser auf einen anderen Kandidaten setzen. + +Häufig verliert die Partei, die den aktuellen Präsidenten stellt, bei den Midterms Sitze. Darauf läuft es wohl auch in diesem Jahr hinaus. Als sehr wahrscheinlich gilt, dass das Repräsentantenhaus an die Republikaner gehen wird. Um die Kontrolle im kommenden Senat ist das Rennen offener, wobei auch hier die Republikaner nach Umfragen mittlerweile knapp vorne liegen. Dafür spricht auch, dass Joe Biden im Vergleich zu früheren Präsidenten geringe Zustimmungswerte hat – sie lagen zuletzt bei nur rund 40 Prozent. Auch unter registrierten Demokraten hat Biden seit Amtsantritt spürbar Unterstützung verloren, vor allem bei jungen Wählenden. + +Behalten die Demokraten wider Erwarten die Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses, liegt es an ihnen, in den kommenden zwei Jahren substanzielle Veränderungen auf den Weg zu bringen. Wirtschafts- und Klimapolitik haben womöglich Vorrang. Gewinnen die Republikaner, droht ein ständiger "deadlock": Jedes Gesetzesvorhaben könnte theoretisch geblockt werden. +Dazu stellt sich nicht nur bei den Republikanern die Frage nach dem sogenannten "Frontrunner", also einem neuen, verheißungsvollen Präsidentschaftskandidaten. Sondern auch bei den Demokraten. Tritt Biden, der am Ende einer zweiten Amtszeit 86 Jahre alt wäre, nochmal an? Und falls nicht: Wer sonst? diff --git a/fluter/was-passiert-eigentlich-bei-einem-klimagipfel.txt b/fluter/was-passiert-eigentlich-bei-einem-klimagipfel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dec66bc4646e224d8f8f4ddaa254028566fc3320 --- /dev/null +++ b/fluter/was-passiert-eigentlich-bei-einem-klimagipfel.txt @@ -0,0 +1,49 @@ + +1995 in Berlin. Damals beschlossen die Delegierten ein Verhandlungsmandat, mit dem zwei Jahre später in Kyoto (Japan) ein Weltklimavertrag gefunden werden sollte – das Kyoto-Protokoll. Konferenzpräsidentin war damals übrigens die deutsche Umweltministerin Angela Merkel (CDU), ihr Chef Helmut Kohl versprach der Welt, dass Deutschland seine Treibhausgase bis zum Jahr 2005 freiwillig um 25 Prozent – verglichen mit 1990 – senken wird. Das hat die Delegierten so beeindruckt, dass sie den Sitz desUN-Klimasekretariatsin Deutschland, konkret in Bonn, ansiedelten. Allerdings wurde Helmut Kohls Ziel krachend verfehlt. + +Die Umwelt-Nichtregierungsorganisationen sind dieEngos, die "environmental non-governmental organization". Das sind zum Beispiel Greenpeace, Brot für die Welt oder Friends of the Earth. +Bingos(Business-friendly international NGO) nennen sich die Business-Nichtregierungsorganisationen, zum Beispiel der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), das Europäische Atomforum oder das American Council On Renewable Energy (ACORE) +AlsRingoshaben sich Wissenschaftler aus Research-NGOs zusammengeschlossen – zum Beispiel das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, die Universität East Anglia, aber auch "Klimaskeptiker". +Youngossind Jugendvertreter, Tungos Gewerkschafter, Handelslobbyisten, Entwicklungs-NGOs, es gibt zudem Vertreter der Indigenen, Bauernvertreter, Vertreterinnen von Frauenrechten. +Zunächst die Unterhändler der 197 Vertragsparteien (196 Staaten und die Europäische Union). Schnell wachsen die Regierungsdelegationen auf über 100 Köpfe an, weil die Verhandlungen sehr komplex sind, die Landwirtschaft betreffen, den Verkehrssektor, die Wirtschaft, die Entwicklungszusammenarbeit, das Versicherungswesen. Dazu kommen die Politiker mit ihren Mitarbeitern, die letztlich die Entscheidungen fällen müssen. Für Deutschland beispielsweise sind derzeit in Bonn über 200 Unterhändler und Politiker akkreditiert, insgesamt kommen so mehr als 11.300 Unterhändler zusammen. +Und: Jede Menge Journalisten sind vor Ort. Auf dem Klimagipfel in Bonn sind 1.633 Medienvertreter zugelassen.Außerdem gilt ein zivilgesellschaftliches Prinzip der UN: Weil hier die Zukunft der Erde behandelt wird, sind Nichtregierungsorganisationen (NGOs) als Beobachter zugelassen. Sie beobachten aber natürlich nicht nur, sie versuchen, selbst die Verhandlungen zu beeinflussen. In Bonn zugelassen sind derzeit knapp 6.200 Beobachter. + +Zunächst: Es herrscht das UN-Prinzip der Einstimmigkeit. Das bedeutet: Kein Staat darf dagegen sein. Und weil alles miteinander zusammenhängt, ist es schwierig, einen Kompromiss zu finden. Ein Klimagipfel ist nämlich die Summe aus sehr vielen Einzelgipfeln, die gleichzeitig stattfinden: +Die UN-Klimakonferenz ist die jährlich stattfindende Vertragsstaatenkonferenz (Conference of the Parties, kurzCOP). Oder: Das, was man in den Medien eben "Klimagipfel" nennt. +DieCMPist "Conference of the Parties serving as the meeting of the Parties to the Kyoto Protocol" ist die Konferenz der Unterzeichner des Kyoto-Protokolls. Hier wird beraten, wie das erste verbindliche Umweltabkommen von 1997 weiter entwickelt werden soll. +DieCMAdient als Tagung der Vertragsparteien des Pariser Übereinkommens und ist das oberste Organ. Die CMA überwacht die Umsetzung des Übereinkommens und trifft Entscheidungen, um die Umsetzung zu fördern. Alle Staaten, die Vertragsparteien des Pariser Übereinkommens sind, sind auf der Konferenz vertreten. +DieSBSTAist, vereinfacht gesagt, eine Unterkonferenz der COP, die sich mit "Wissen" beschäftigt, also mit Fragen wie: Speichert ein Kiefernwald genau so viel CO2 wie ein Regenwald? +DasSBIist ebenfalls eine Unterkonferenz der COP, die sich mit "Verwaltung" beschäftigt, also Fragen wie: "Wer ist berechtigt, Geld aus welchem Fonds zu beantragen?" +Geld spielt nämlich eine große Rolle auf den Klimagipfeln: Die Industriestaaten haben zugesagt, dass sie ab 2020 jährlich 100 Milliarden US-Dollar in den globalen Süden transferieren, damit sich diese Länder an die Folgen der Erderwärmung anpassen können. Dazu wurde derGreen Climate Fundsgegründet. +Unterverhandlungsgruppen gibt es außerdem zu speziellen Themen wie Waldschutz, Landnutzung, Klimaversicherungen, Anpassung. All diese Unterverhandlungen korrespondieren miteinander, weshalb ein Kompromiss zum Schluss immer schwer wird. Nicht selten werden deshalb am Ende des Klimagipfels die Uhren angehalten. Dann wird so lange dauerverhandelt, bis auch der letzte Staat seinen Widerstand aufgibt. + +Das Pariser Abkommen ist der 2015 beschlossene und am 4. November 2016 in Kraft getretene Weltklimavertrag in Nachfolge des Kyoto-Protokolls. Darin verpflichten sich die Vertragsstaaten, den "Anstieg der durchschnittlichen Erdtemperatur  deutlich  unter  2 °C über dem vorindustriellen  Niveau" zu halten und Anstrengungen zu unternehmen, um den Temperaturanstieg  auf  1,5 °C  über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. +Um das zu erreichen, durfte jeder Staat erklären, welchen Beitrag er dafür zu leisten bereit ist. Deutschland beispielsweise hat erklärt, seine Treibhausgase bis 2020 um 40 Prozent unter das Niveau von 1990 zu senken. Allerdings droht der Bundesregierung dieses Ziel nicht mehr schaffen. +Zuletzt traten ihm Nicaragua und Syrien – trotz Krieg – bei, weshalb jetzt alle Staaten der Erde den neuen Weltklimavertrag in Nationales Recht umgesetzt haben.Allerdings hat das US-Außenministerium auf Initiative von Präsident Donald Trump im August 2017 erklärt, aus dem Paris-Protokoll auszutreten. Das ist allerdings erst nach langen Übergangsfristen möglich – frühestens im November 2020, kurz vor der nächsten US-Präsidentschaftswahl. + +In erster Linie um Regeln: Um das Pariser Abkommen überhaupt umsetzen zu können, braucht es zunächst einmal Richtlinien. Dazu gehören zum Beispiel Maßstäbe, um die nationalen Klimaschutzpläne (NDC) vergleichen zu können. Also die Frage: Macht Deutschland für den Klimaschutz genug? +Es geht um Transparenzregeln: Ist das Geld, was der Norden in den Süden bezahlt auch wirklich zusätzlich? Oder stammt die zugesagte Klimafinanzierung aus dem Topf der Entwicklungshilfe? +Und es geht um die Frage: Reicht das, was die Staaten der Welt als freiwilligen Beitrag zum Klimaschutz und zur Klimafinanzierung bislang zugesagt haben eigentlich aus, um die Ziele des Paris-Protokolls einzuhalten? Und weil die Antwort ganz klar "Nein!" lautet, geht es darum, wer mehr Verantwortung übernimmt. + +Getreu der UN-Arithmetik "wandert" die Konferenz der Vertragsstaaten – die COP – über den Planeten: Nach einem Industrieland aus Westeuropa oder Nordamerika richtet ein Staat aus Mittel- oder Südamerika den Klimagipfel aus, dann geht es nach Afrika, gefolgt von Asien/Ozeanien, bevor ein osteuropäischer oder Nachfolgestaat der Sowjetunion Gipfelgastgeber wird. Im Westen beginnt der Zyklus dann von Neuem. Das ist wichtig, denn jeder Gastgeber setzt eigene Schwerpunkte: Afrikanische Länder machen die Anpassung an den Klimawandel sehr stark zum Thema – sie sind besonders betroffen, Gastgeber wie Indonesien den Waldschutz. Fidschi thematisiert in diesem Jahr sehr stark den Anstieg des Meeresspiegels. Die Besonderheit ist, dass es in dem Inselstaat mit seinen 890.000 Einwohnern kein geeignetes Konferenzzentrum für die knapp 20.000 Gipfelteilnehmer gibt, weshalb Bonn als Ersatzheimat eingesprungen ist, weil dort das UN-Klimasekretariat sitzt. + +Wegen des Weltgipfels von Rio. 1992 trafen sich in Rio de Janeiro (Brasilien) gut 17.000 Experten und Politiker, Vordenker und Staatschefs, um den Zustand der Erde zu analysieren. Ergebnis: Es läuft etwas schief mit der menschlichen Entwicklung. In der Rio-Erklärung über Umwelt und Entwicklung heißt es deshalb: "Die Staaten werden … die Gesundheit und die Unversehrtheit des Ökosystems der Erde … schützen und wiederherstellen". +Als "Medizin" beschlossen die Vereinten Nationen fünf Dokumente: +- DieAgenda 21, ein weltweites Nachhaltigkeits-Aktionsprogramm für das 21. Jahrhundert, um einer weiteren Verschlechterung der Situation des Menschen und der Umwelt entgegenzuwirken und eine nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen sicherzustellen; +- dieBiodiversitätskonvention, dieConvention on Biological Diversity,  mit der das weltweite Artensterben gestoppt werden soll; +- dieKonvention zur Bekämpfung der Wüstenbildungin den von Dürre und/oder Wüstenbildung schwer betroffenen Ländern, insbesondere in Afrika um die bestehende Ackerfläche zu erhalten; +- eineDeklaration zum Schutz der Wälderund +- dieKlimarahmenkonvention, dieUnited Nations Framework Convention on Climate Change, abgekürzt UNFCCC, mit der die Erderwärmung offiziell zur akutesten Bedrohung der Menschheit erklärt wurde. +In allen Konventionen sind "Konferenzen der Vertragsstaaten" vorgeschrieben,"Conferences the Parties". Die COPs sollen Instrumente suchen, mit der die Ziele der Konventionen eingehalten werden können. + +COP 3: In Kyoto (Japan) wurde 1997 das Kyoto-Protokoll beschlossen, mit dem die Industriestaaten ihren Treibhausgas-Ausstoß bis zum Jahr 2012 um 5,2 Prozent senken mussten. +COP 13: Auf  Bali 2007, auf der mit derBali Road Mapein Verhandlungsmandat zu einem neuen Weltklimavertrag – einem Anschlussvertrag an das Kyoto-Protokoll – beschlossen wurde. +COP 15: In Kopenhagen. Der Weltgipfel 2009 sollte einen neuen Weltklimavertrag bringen, scheiterte aber kläglich. +COP 17:  In Durban (Südafrika) beschlossen die Vertragsstaaten 2011 ein neues Verhandlungsmandat, das diesmal einen neuen Vertrag bringen soll. +COP 21: Im Jahr 2015 in Paris. Mit dem Paris-Protokoll wurde ein neuer Weltklimavertrag geschlossen: Die Erderwärmung soll auf "unter 2 °C" begrenzt werden. + + +Nick Reimer ist Journalist und Autor, unter anderem veröffentlichte er das Buch "Schlusskonferenz. Geschichte und Zukunft der Klimadiplomatie". Er ist Mitbegründer des Magazinsklimaretter.info. + + +Titelbild: Getty Images diff --git a/fluter/was-passiert-im-bundestag.txt b/fluter/was-passiert-im-bundestag.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..399c4f68f1ebe1b9c2d845263d74ca2c7f4a7903 --- /dev/null +++ b/fluter/was-passiert-im-bundestag.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Für alle, die es nicht bis zum Plenarsaal schaffen: Einfach "Bundestag-Text" gucken, steht in den meisten Gängen und ist ob seiner 90er-Jahre-Größe nicht zu übersehen +Dabei haben sich die Architekten des Bundestags extra eine Art Ampelsystem ausgedacht. Man muss nur auf die Farbe der Türrahmen achten: Blau heißt stehen, Grün heißt gehen. Die Plenarsaalebene im ersten Stock, Türrahmenfarbe Blau, ist den Abgeordneten, ihren Mitarbeitern und Mitgliedern der Bundesregierung vorbehalten. Der zweite Stock, Türrahmenfarbe Dunkelgrün, ist für Besucher und Journalisten, die sich auf den 430 vorhandenen Plätzen bitte angemessen verhalten (angeblich, wir wollen aber nicht mit dem Finger drauf zeigen, wurden schon MedienvertreterInnen für ihr Herumlungern zurechtgewiesen). Darüber die Präsidialebene – Türrahmenfarbe Burgunderrot – und schließlich der Besuchermagnet: die begehbare Kuppel. Aber dazu ein andermal. Heute lieber noch mal Tacheles: Plenarebene. Nach dem dritten Anlauf ist auch der Passierschein A38 organisiert, und die Presseterrasse pünktlich zum Gongschlag gefunden. + + +"Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte nehmen Sie Platz. Die Sitzung ist eröffnet", bricht Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble die ehrfürchtige Stille. Die Teens auf der Besucherterrasse trauen sich wieder zu atmen, es geht los. +In jeder Wahlperiode werden durch Beschluss des Bundestages zahlreiche ständige Ausschüsse eingesetzt, in denen die Fraktionen ihrer Stärke entsprechend vertreten sind. Ihre Aufgabe ist es, Gesetzesvorlagen inhaltlich zu beraten und Beschlüsse des Plenums vorzubereiten. + +In der Regel steht jedem Bundesministerium ein Fachausschuss des Bundestages gegenüber. Grundgesetzlich vorgeschrieben ist die Einsetzung der Ausschüsse für Verteidigung, Auswärtiges, die Angelegenheiten der Europäischen Union und des Petitionsausschusses. (www.bundestag.de) +Tagesordnungspunkt 1: Abstimmung über drei Anträge zur Einsetzung und Umbenennung von Ausschüssen. Erstens beantragten CDU/CSU, SPD, AfD, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen – also alle außer der FDP –, dass es künftig einen Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen gibt. Diskussionen sind keine vorgesehen, Schäuble geht sofort zur Abstimmung über. "Wer stimmt für diesen Antrag?" Alle Hände schießen nach oben, die Stenografinnen notieren heftig. "Wer stimmt dagegen?" Keiner. "Enthaltungen?" Keine. "Dann isch des einstimmig so beschlossen", verkündet Schäuble. Ab sofort hat Deutschland also einen 24-köpfigen ständigen Bau-Ausschuss. Oder sehr bald zumindest. +Zweitens wünscht sich Die Linke einen Ausschuss für "Gleichwertige Lebensverhältnisse" und meint damit eine einheitlichere deutsche Einheit. "Wer stimmt für diesen Antrag?" Die Hände der Linken schnellen nach oben. "Wer stimmt dagegen?" Quasi alle anderen. "Wer enthält sich?" Ein paar vereinzelte. Antrag abgelehnt! +Und drittens wollen die Grünen, wohl als ein Zeugnis des demografischen Wandels, den Ausschuss für Gesundheit in "Ausschuss für Gesundheit und Pflege" umbenennen. Selbes Spiel noch mal. Hände rauf, Hände runter, Hände rauf, Hände runter. +Diesmal gibt es Verwirrung: Haben die Grünen jetzt für oder gegen den Antrag gestimmt? Uneinigkeit und Gemurmel im Saal. "Sollen wir noch mal abstimmen?", fragt Schäuble, Hand am Kinn, und mahnt, seine Meinung doch bitte gut ersichtlich zu erkennen zu geben. Es wären nur vereinzelte Grüne dagegen gewesen, klärt einer von den Grünen auf. Fällt aber eh nicht ins Gewicht – eine Mehrheit aus CDU/CSU, SPD und AfD war gegen die Umbenennung. Und schneller, als man Ausschuss für Gesundheit und Pflege sagen kann, ist das Thema vom Tisch. Es ist 13.03 Uhr. +Der Bundestag ist beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist. Vor Beginn der Abstimmung kann die Beschlussfähigkeit von einer Fraktion oder von anwesenden fünf Prozent der Abgeordneten angezweifelt werden. Wird sie auch vom Sitzungsvorstand nicht einmütig bejaht, ist in Verbindung mit der Abstimmung die Beschlussfähigkeit durch Zählen der Stimmen festzustellen. Stimmenthaltungen und ungültige Stimmen zählen dabei mit. (www.bundestag.de) +Die Besuchertribünen sind heute besser besucht als die Plenarebene. Gelten die Abstimmungen eigentlich, wenn nur so wenige Abgeordnete im Plenum sitzen? + +In mindestens 20 Wochen pro Jahr finden Sitzungen statt. An Sitzungstagen besteht für die Mitglieder des Bundestages Präsenzpflicht; am Eingang gibt es einen Tisch mit Anwesenheitslisten und baumelnden Kulis zum Unterschreiben. Fehlt ein Abgeordneter an einem Tag, werden ihm 100 Euro von seiner Kostenpauschale abgezogen. Bei unentschuldigtem Fehlen 200. Bleibt der Sessel eines Abgeordneten einmal leer, heißt das aber nicht unbedingt, dass er schwänzt. Oft finden parallel zum Plenum Ausschusssitzungen oder Anhörungen statt. Vielleicht sitzt er aber auch in der Cafeteria. +Apropos: Zeit für eine Pause. + +Günstiger als in der Uni-Mensa: Vegetarisches Mittagsgericht, 4,50 Euro + +In der Cafeteria esse ich das gleiche wie Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen): Spinat-Quiche mit Kalamata-Oliven, Tomatenpesto, Salat und feiner Joghurt-Vinaigrette für unschlagbare 4,50 Euro. "Viele sind gerade auf einem vegetarischen Trip", erzählt eine der Damen hinter der Theke, über ihr zwei Bildschirme mit Live-Übertragung aus dem Plenarsaal. Der Ton ist aber leise gedreht, beim Essen spricht man nicht über Politik. Am Nebentisch sitzt Alexander Gauland von der AfD und isst ein Croissant. Noch einen Tisch weiter mittagt Thomas Kemmerich von der FDP (Hühnerbrust). Im Schnitt trinken nach meiner Beobachtung hier zwei von dreien Bio-Zisch-Rhabarberschorle. Und mindestens drei von vieren nachher noch einen Kaffee, aus einer weißen Tasse mit kleinen Marienkäfern drauf. Egal wie man zu Glyphosat und den Taliban oder zu Migration und Wohnungsbau steht, in der Kantine sind alle gleich. + + + + +Dieser Text wurde veröffentlicht unter der LizenzCC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden. diff --git a/fluter/was-passiert-im-koerper-bei-grippe.txt b/fluter/was-passiert-im-koerper-bei-grippe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..20ffddb93ffa925300557fd9da15586e0c91a0a3 --- /dev/null +++ b/fluter/was-passiert-im-koerper-bei-grippe.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Viren können sich nicht, wie Bakterien, durch Zellteilung selbst vermehren, sondern bestehen fast nur aus Erbinformationen. Sie brauchen Wirtszellen, in die sie eindringen, um zu überleben und sich zu reproduzieren. Dabei sind die Influenzaviren so etwas wie die Stars unter den Viren: Auf besonders effektive Art sind sie mit nur drei verschiedenen Virustypen die Erzeuger der Grippe (im Gegensatz zur Erkältung, dem "grippalen Infekt", der durch ungefähr 200 unterschiedliche Virusarten ausgelöst werden kann, aber viel harmloser verläuft und nach wenigen Tagen wieder ausgestanden ist). +Ist das Influenzavirus im Körper, sucht es sich in den Atemwegen Schleimhautzellen, an die es andocken kann. Es dringt in ihren Zellkern ein, schreibt das Erbgut um und programmiert die Zelle zu einer Virenfabrik um. Sobald neue Viren hergestellt sind, verlassen sie die Wirtszelle, um weitere Zellen zu befallen. Im Körper beginnt ein Krieg, der die Botenstoffe aktiviert, die wiederum das Immunsystem alarmieren. Die erste schnelle Abwehr startet: Killerzellen rücken an und zerstören die befallenen Zellen, die der Körper dann über Husten und Schnupfen abtransportiert. Gleichzeitig steigt die Körpertemperatur auf über 38 °C, um den Stoffwechsel zu beschleunigen und maßgeschneiderte Antikörper zu produzieren, die gegen exakt dieses Virus helfen. Der Grippekampf ist für das Immunsystem eine Kraftprobe. Denn bei jedem Vermehrungszyklus verändern sich die Influenzaviren im Körper und es dauert wieder einige Tage, bis die richtigen Antikörper einsatzbereit sind. Glück gehabt hat man, wenn der Kampf nach einer Woche ausgefochten ist. Allerdings enden die durch Influenzaviren hervorgerufenen Atemwegserkrankungen pro Jahr in bis zu 650.000 Fällen weltweit tödlich. In Deutschland forderte die Grippe in den vergangenen drei Jahrzehnten zwischen null und 25.000 Menschenleben je Grippesaison. Gefährdet sind vor allem alte Menschen: Mehr als 90 Prozent der Opfer, die das Influenzavirus hierzulande umbringt, sind über 60 Jahre alt. Nur knapp die Hälfte der Geimpften über alle Altersgruppen schützte die Grippeimpfung in der Saison 2017/2018 bisher. Bei Alten, der größten Risikogruppe, ist der Impfstoff noch ineffizienter. +Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass alljährlich Experten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen Impfstoff zusammenstellen, der gegen die am häufigsten auftretenden Influenzaviren helfen soll. Im besten Falle wird der Geimpfte dann nicht krank und trägt die Viren nicht in die Gesellschaft. Virenerkrankungen wie Masern, Pocken oder Kinderlähmung sind in Europa durch das Impfen weitgehend ausgerottet. Die Influenza konnte bisher nicht ausgelöscht werden – zu wandlungsfähig sind ihre Erreger. +Es ist fast so etwas wie eine Wette, die die Wissenschaftler der WHO daher abschließen: Ein halbes Jahr bevor auf der nördlichen Erdhalbkugel die Grippesaison beginnt, schauen sie sich an, welche Virenstämme während des Winters auf der Südhalbkugel dominant waren, und mutmaßen, welche sich nördlich des Äquators ausbreiten könnten. Im besten Fall trainiert der hergestellte Impfstoff mit den drei bis vier ausgewählten Grippevirustypen das Immunsystem. Wenn unsere Abwehrkräfte dann auf ein "echtes" Grippevirus treffen, können sie den Kampf viel schneller und effizienter führen. Allerdings sind sechs Monate für Viren eine sehr lange Zeit. Sie verändern sich während der Reproduktion im Körper, aber auch, wenn sich menschliche und tierische Viren zusammentun oder durch unser weltweites Reisen in Kontakt mit Virentypen aus anderen Regionen kommen. Nach der WHO-Empfehlung im Februar und März können sie sich noch so stark verändern, dass der Impfstoff im Herbst nicht mehr passt. Ein Impfstoff, der gegen alle Influenzatypen gleichzeitig schützt, konnte noch nicht gefunden werden. +Für die Grippesaison 2017/2018 hat die WHO ihre Wette leider nicht gewonnen: Es grassierten vor allem B/Yamagataviren. A/Michigan, A/Hong Kong und B/Brisbane waren im aktuellen Standard-Dreifach-Impfstoff also nicht der beste Schutz. So liefen auch in diesem Winter die Virenfabriken wieder heiß. diff --git a/fluter/was-sagen-motive-auf-banknoten-ueber-staaten-aus.txt b/fluter/was-sagen-motive-auf-banknoten-ueber-staaten-aus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0fc2c40f7aa54a322f36ce336838dee3e13508e3 --- /dev/null +++ b/fluter/was-sagen-motive-auf-banknoten-ueber-staaten-aus.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Bevor man beim nächsten Einkauf einen Euroschein über den Tresen schiebt, kann es deshalb durchaus lohnend sein, kurz mal näher hinzugucken. Von Nennwert und Sicherheitsmerkmalen wie Wasserzeichen oder Folienelementen abgesehen: Was ist auf allen sieben Scheinen sonst noch zu sehen? Und vor allem: warum? Vielleicht finden sich dort wertvolle Hinweise auf die Frage, was heute die kollektive europäische Identität ausmacht. + +Schottland + +Malediven +Links: Biafra, rechts: Nordkorea +Links: Polen, rechts: Irland +Peru +Links: Ruanda, rechts: Senegal +Links: Bolivien, rechts: Luxemburg +Links: Suriname, rechts: Cookinseln +Guatemala +Sambia +Links: Niederlande, rechts: Zaire (heute Demokratische Republik Kongo) +Links: Brasilien, rechts: Marokko +Links: Russland, rechts: Vereinigte Staaten von Amerika +Luxemburg +Links: Brunei, rechts: Indien +Links: Schottland, rechts: Philippinen +Links: Bahamas, rechts: Brasilien diff --git a/fluter/was-sagt-abfall-ueber-gesellschaft-aus.txt b/fluter/was-sagt-abfall-ueber-gesellschaft-aus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3f6247fbad8384e2bf2e22ecf94c2628d4f5078a --- /dev/null +++ b/fluter/was-sagt-abfall-ueber-gesellschaft-aus.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Müll ist für Sie aber mehr als nur ein Hobby. +Schon in meiner Diplomarbeit ging es darum, den Begriff "Abfall" zu hinterfragen: Eigentlich gibt es nämlich gar keinen Abfall. Das ist so wie mit dem Begriff "Ausländer": Damit wird nur das Verhältnis einer Person zu dem Ort beschrieben, an dem sie sich gerade aufhält. + +Das bisschen Müll läppert sich: Der US-amerikanische Fotograf Gregg Segal bat Freunde, Familie und Nachbarn, eine Woche lang ihre eigenen Abfälle zu sammeln – und sich anschließend in die daraus entstandenen Müllhalden zu legen +Ist das nicht ein etwas geschmackloser Vergleich? +Es geht nur darum: In beiden Fällen handelt es sich nicht um die Bezeichnung einer Eigenschaft, die jemandem oder einer Sache anhaftet, sondern um eine Beziehung zu einem Kontext. Abfall ist eine Materie, die aufgrund des Ortes, an dem sie sich gerade befindet, von den meisten als unnütz und unbrauchbar definiert wird. Ich habe mir auch angesehen, wie dieser Abfalldiskurs in Bezug auf gesellschaftliche Randgruppen funktioniert: Psychiatrien, Schlachthöfe, Gefängnisse – der "soziale Abfall", wie manchmal sogar gesagt wurde, ist genauso wie der materielle in vielen Städten an die Ränder verfrachtet worden. Irgendwann hat sich das geändert: Durch die Industrialisierung im 19. Jahrhundert kam es zu großen Reformen im Strafrecht, weil gesagt wurde, dass man die Leute nicht mehr einsperren darf, um keine Arbeitskräfte zu vergeuden. Heute wiederum dürfen wir wieder Müll produzieren, weil Konzerne mit dessen Verarbeitung so viel verdienen, dass fast niemand mehr von Abfallvermeidung spricht. Müll wurde zum Wertstoff. Es ist sehr interessant in diesem Zusammenhang zu sehen, dass sich vieles in unserer Gesellschaft um Nutzbarkeit und Nützlichkeit dreht. +Als Garbologe oder Müllforscher beschäftigen Sie sich auch damit, was der Müll über jene aussagt, die ihn produzieren. +Ein amerikanischer Professor (Archäologe William Rathje von der University of Arizona, Anm. der Redaktion) hat bereits in den 1970er-Jahren Siedlungsmüll untersucht und im Laufe seines Garbage-Projekts erkannt, dass die Untersuchung einer Mülldeponie mehr über das Konsumverhalten einer Gesellschaft aussagt als viele andere Methoden. Während etwa KonsumentInnenbefragungen und Verkaufszahlen aus dem Lebensmittelhandel suggerieren, dass viel Obst und Gemüse gegessen wird, kommt man zu einem anderen Ergebnis, wenn man den Müll untersucht und erkennt, dass der Anteil an organischem Abfall viel höher ist, als er sein sollte. Das Obst wird also viel gekauft, gegessen wird es aber offensichtlich oft nicht. Ein simples Beispiel, das zeigt, dass man aus dem Müll sehr viel über soziale Strukturen und das Verhalten der Menschen herauslesen kann. Für mich war das ein Heureka-Erlebnis. + +Die entstandene Fotoserie "7 Days of Garbage" soll auf das Müllproblem der USA aufmerksam machen – das Segals Meinung nach viel zu oft ignoriert wird +Viel von dem, was als "recycelbar" gekennzeichnet sei, werde gar nicht wiederverwertet, kritisiert Segal das Recyclingsystem der USA. Doch auch die Bevölkerung habe Dreck am Stecken: Ihre Bereitschaft, Müll zu reduzieren, halte sich in Grenzen +Wie gehen Sie als Garbologe vor? +Ich durchsuche etwa regelmäßig Mülleimer an den immer gleichen öffentlichen Plätzen. Anhand des Abfalls erkenne ich, was Tablettenabhängige konsumieren, und ich weiß, dass jene, die sich mit Supermarktbier betrinken, dazu gerne Sternanis-Schnaps dazu mixen. Dank meiner Besuche an Autobahnraststätten weiß ich auch einiges über das Konsumverhalten von Fernfahrern: Es wird ungesund gegessen, gar nicht so wenig Alkohol getrunken, und Pornozeitschriften werden immer öfter durch DVDs ersetzt. Außerdem werden PET-Flaschen häufig für das Urinieren während der Fahrt benutzt. +Welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen, und wie kann man darauf konkret reagieren? +Müll lügt nicht, während befragte Personen Wahrheiten, die ihnen unangenehm sind, häufig nicht gerne preisgeben. Das heißt, unser Müll ist eine unglaublich große Datenmenge von hoher Qualität, die aber oft ungenutzt bleibt. Die Politik könnte etwa bei einer großflächigen Untersuchung des Mülls zuverlässigere Zahlen über das Konsumverhalten der Menschen bekommen und darauf zum Beispiel mit einer Gesundheitskampagne reagieren. Oder auch mit einem Gesundheitsförderprogramm für Fernfahrer. Neben dem Müll, der auf eine ungesunde Ernährung schließen lässt, zeugt die Tatsache, dass häufig nicht angehalten wird, um auf die Toilette zu gehen, von einer sehr stressigen Arbeitssituation der Fahrer. Hier sagt der Müll also auch sehr viel über die Lebenssituation eines bestimmten sozialen Milieus aus, das vielleicht sogar von ArbeitgeberInnen unter Druck gesetzt wird, um solche unangenehmen Wahrheiten nicht publik zu machen. +Wie der Garbologe Joachim Hainzl sieht auch der Fotograf Gregg Segal seine Arbeit als "instant archaeology" – als eine Art Gegenwartsarchäologie, die viel über heutige Lebensstile verrät +Joachim Hainzl ist Sozialpädagoge, Sozialhistoriker, Garbologe und Kunstschaffender im öffentlichen Raum in Graz. 1992 schrieb er seine Diplomarbeit "Zur Topologie des Abfalls in der Stadt am Beispiel Graz. Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten im Umgang zwischen materiellem und sozialem Abfall". Als Müllforscher und Künstler befasst er sich bis heute mit dem Thema Abfall +Wie wissenschaftlich ist Ihre Arbeit? +Ich gehe empirisch vor. Was ich mache, ist eine Art Gegenwartsarchäologie. Natürlich versuche ich auch, meine Funde durch andere Quellen einzuordnen, indem ich mich zum Beispiel mit Drogenstreetworkern unterhalte. Ich traue mich zu sagen, dass ich mir so ein Wissen angeeignet habe, an das andere nicht herankommen. Aus den empirischen Ergebnissen meiner Feldforschung ergeben sich Fragestellungen, die dann etwa in einen Fragebogen einfließen können, um Ergebnisse richtig interpretieren und einordnen zu können. +Sieht der Inhalt einer Mülltonne in Berlin anders aus als in Wien, Peking oder New York? +Der Müll hat vielmehr etwas mit der sozialen Schicht zu tun. Das Diplomatenviertel in Cotonou in Benin war zum Beispiel so etwas von sauber – dagegen sind gewisse Teile westeuropäischer Städte Dreckslöcher. Bei unserem Projekt toys|ontour in mehreren afrikanischen Staaten  war es auch faszinierend zu sehen, dass vieles, das bei uns Müll ist, dort kein Abfall ist. "Reusing" spielt eine wichtige Rolle: Alte Flaschen werden etwa nicht weggeworfen, sondern zum Beispiel mit Nüssen befüllt. Und in Lagos in Nigeria findet man kaum Zigarettenschachteln – vor allem, weil Zigaretten fast nur einzeln gekauft werden, da sie teuer sind. Nach dem Ende des Kommunismus war ich außerdem mehrere Male in den baltischen Staaten und konnte dort beobachten, dass die Müllproduktion insgesamt deutlich angestiegen ist: Zum Wohlstand gehört, dass man auch etwas wegwerfen kann. +Wie werden Sie beim Mülldurchstöbern von Ihrer Umgebung wahrgenommen? +Mir wurden schon Äpfel oder Joghurts angeboten, weil die Leute dachten, ich sei ein Obdachloser. Von einem Moment auf den anderen werde ich so vom relativ normalen Akademiker zum Außenseiter, vor dem andere zwei Schritte zurückweichen. + + diff --git a/fluter/was-sagt-man-dazu.txt b/fluter/was-sagt-man-dazu.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8adf46b7757248b7cec47adc28e567ee70eef74d --- /dev/null +++ b/fluter/was-sagt-man-dazu.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Was eigentlich Thema war, wird schnell vergessen. Und was eine Debatte sein könnte, verwandelt sich zusehends in ein Schlachtfeld aus Gedankentrümmern und Meinungsmorast, in dem nur noch die widerlichsten Stilblüten blühen. Zumal ein wütender Leser viel eher als ein zufriedener Leser geneigt ist, sich spontan im Internet zu äußern. Er hält dies für demokratische Teilhabe, sein gutes Recht, will aber doch lieber im Schutz der Anonymität teilnehmen. Denn so lässt sich in den Foren ein Ton anschlagen, wie man ihn höchstens vom Schulhof kennt. Dabei kann der ursprüngliche Autor noch von Glück reden, wenn sich die ihm nachsetzende Meute irgendwann gegenseitig an die Gurgel geht. Hier moderierend und damit mäßigend eingreifen zu wollen entspricht dem Versuch, einen Schwarm attackierender Piranhas mit guten Worten zur Umkehr zu bewegen. Der Schwarm aber kennt naturgemäß keine Intelligenz. Nur Affekte. Deshalb wird jeder Artikel über Rassismus zuverlässig von rassistischen Kommentaren unterspült, zieht jeder Text über Sexismus einen Rattenschwanz an sexistischen Beleidigungen hinter sich her. +Es ist ein Elend. Und jeder Blogger, jeder Journalist kennt dieses Elend. Trotzdem tun alle Beteiligten so, als könnte man "mit dem Publikum auf Augenhöhe" in einen für beide Seiten fruchtbaren Dialog treten. Trotzdem geben sich alle Beteiligten den Anschein, das Netz wäre ein platonisches Plenum, in dem alle Akteure ein gemeinsames Ziel verfolgen. Als müssten eben nur schnell "die schlimmsten Einträge" gelöscht werden, so wie man nebenbei Unkraut rupft. Wenn das keine Zensur ist, so ist es doch mindestens eine verfälschende Beschönigung. Durch das Herausfiltern der Trolle und Irren ist der Diskurs aber nicht mehr zu retten, weil er eben nicht mehr repräsentativ ist – weil das Gesamtbild durch die Löschung der schlimmen Beiträge so verzerrt wird, dass es am Ende nur so scheint, als würden die gemäßigten Stimmen überwiegen. +Wenn uns aber systematisch – und sei es aus noch so guten Gründen – eine Minderheit als Mehrheit vorgegaukelt wird, läuft etwas schief. Dann kann von einem demokratischen Diskurs keine Rede sein. Es ist eben nicht die radikale Minderheit, die sich im Netz in eine Meute verwandelt. Es ist die Mehrheit. diff --git a/fluter/was-sich-junge-iraner-von-der-wahl-erhoffen.txt b/fluter/was-sich-junge-iraner-von-der-wahl-erhoffen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..160d3de4ee81243e32e0592993890d437235acfc --- /dev/null +++ b/fluter/was-sich-junge-iraner-von-der-wahl-erhoffen.txt @@ -0,0 +1,33 @@ +Die Präsidentschaftswahl findet zum zwölften Mal seit der Islamischen Revolution 1979 statt. Seit dieser Zäsur hat sich die Gesellschaft stark gewandelt: Anfang der Achtziger zum Beispiel bekamen die Iranerinnen im Schnitt knapp sechs Kinder, heute nicht einmal mehr zwei. Bemerkenswert ist auch, wie jung die Bevölkerung ist: Etwa die Hälfte der Iraner*innen ist unter 30. +Fünf junge Iraner*innen haben uns verraten, welchen Präsidentschaftskandidaten sie heute wählen werden und was sie sich von ihm erhoffen: + + + + + + +Milad* ist 26 und kommt aus Isfahan. Momentan schreibt er an seiner Masterarbeit +Ich bin noch nicht ganz sicher, aber höchstwahrscheinlich werde ich für den jetzigen Präsidenten Hassan Rohani stimmen. Wenn ich mir anhöre, was die anderen Kandidaten so von sich geben, bleibt mir auch gar nichts anderes übrig: Ich kaufe ihnen nicht einmal die Hälfte ihrer Wahlversprechen ab. Dass Rohani nichts als die Wahrheit sagt, glaube ich natürlich auch nicht. Aber ich vertraue ihm mehr als den anderen. Vor allem hoffe ich, dass durch seine Bemühungen die iranische Wirtschaft wächst. Mehr Handelsbeziehungen mit dem Ausland – das wäre schon toll! Wir Studenten hätten dadurch vielleicht auch ein wenig bessere Karrierechancen als momentan. Allerdings befürchte ich, dass auch der Geistliche Ebrahim Raisi gute Chancen hat. Immerhin ist er ein enger Vertrauter des politischen und religiösen Führers Ali Chamenei und hat nicht nur viel Geld zur Verfügung, sondern auch viele Unterstützer. Davon abgesehen, dass der von Chamenei eingesetzte Wächterrat entscheidet, welche Bewerber antreten dürfen und welche nicht, schätze ich die Wahl aber schon als demokratisch ein. Zumindest zu 95 Prozent oder so. + + +Dina*, 30, ist Universitätsdozentin in Teheran +Für mich ist Religion sehr wichtig, denn ohne Glauben gibt es kein gesundes Leben. Genauso wichtig ist mir meine Familie: Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder. Aus diesen persönlichen Gründen werde ich für Raisi stimmen. Ich vertraue ihm. Er ist ein sehr ruhiger Mann, der auch die Rolle der Frauen genau im Blick hat – und zwar auf zwei Ebenen: in der Familie und in der Gesellschaft. Er wird dafür sorgen, dass Mütter mehr unterstützt werden. Frauen sollen leichter von zu Hause aus arbeiten können, Stichwort Telearbeit. Und auf dem Land und in den entlegenen Gebieten sollen die Gesundheitsversorgung verbessert und mehr Jobs für Mütter geschaffen werden. Raisi wäre ein sehr guter Präsident, denn er hat auch das Vertrauen des religiösen Führers Ali Chamenei. Manche sagen sogar, dass er sein Nachfolger wird. Das ist doch das Wichtigste: dass alles koordiniert abläuft im Land und es kein Chaos gibt. + + + + +Seit vier Monaten lebt Shirin* an der US-amerikanischen Ostküste und forscht für ihre Doktorarbeit +Auch wenn ich den Wahlkampf nur aus der Ferne miterlebe, habe ich das Gefühl, hautnah dabei zu sein: Meine Freunde schicken mir Links zu viel diskutierten Artikeln, ich skype täglich mit meiner Familie und bin in mehreren Telegram-Gruppen [Anm.: Telegram ist ein verschlüsselter, im Iran besonders populärer Messengerdienst]. Da debattieren schon mal 4.000 User gemeinsam über die neuesten Statements der Kandidaten! Natürlich ist auch viel Spam und Sinnloses dabei, aber ich finde es schön zu sehen, wie viele Menschen sich aktiv an der Diskussion beteiligen. Vor allem während der TV-Debatten geht es richtig ab: Die Konfrontationen werden live übertragen und erlauben, freiheraus seine Meinung zu sagen – eine absolute Besonderheit im Iran, wo sogar Sportübertragungen live zensiert werden! Während die meisten Kandidaten diese Chance dafür nutzten, sich gegenseitig zu beschimpfen, stellte unser Präsident Hassan Rohani seine Pläne für die Zukunft Irans vor: Er will das Land stabilisieren, weiter öffnen und modernisieren. Ich denke, es lohnt sich, ihn noch weitere vier Jahre im Amt zu haben. Die anderen Kandidaten kommen für mich überhaupt nicht infrage. Allein schon deshalb, weil ich gläubig bin und nicht mit ansehen kann, wie sie den Islam dafür missbrauchen, ihre eigene Agenda zu legitimieren. + + +Amir*, 31, lebt in Teheran und war bis vor Kurzem Staatsbediensteter. Er arbeitete bei einer Jugendbehörde +Ich werde für Ebrahim Raisi stimmen, weil er ein guter Mann ist. Er ist der Hüter des Heiligen Schreins in Maschhad, deshalb mögen ihn auch so viele, weil er sich dort um das Andenken an Imam Reza kümmert, den achten schiitischen Imam. Die Leute stimmen für Raisi, weil sie wollen, dass der Islam wichtig bleibt in Iran. Außerdem wird er endlich Jobs schaffen, er tut jetzt schon viel für die Armen. Mir ist aufgefallen, dass er bei den Fernsehdebatten viel höflicher war als die anderen Kandidaten. Was hat die Rohani-Regierung überhaupt erreicht? Den Atomdeal mit dem Westen, sicher. Aber wollen wir wirklich eine Puppe der USA sein? Der Atomdeal, so hat es Raisi gesagt, ist wie ein Scheck, den die Regierung nicht eingelöst hat – die dadurch versprochenen Verbesserungen sind noch nicht bei uns Bürgern angekommen. Und die Freiheiten, von denen Rohani spricht, können leider leicht in die falsche Richtung gehen. Es ist nicht richtig, dass die Leute Wein trinken und Jungs und Mädchen zusammen auf Konzerten tanzen. Und Frauen haben sich zu bedecken, daran dürfen wir nicht rütteln. + + + + +Anahita*, 26, wohnt im Süden Irans. Sie hat in Indien studiert und will möglichst bald wieder ins Ausland. Noch fünf Monate pauken, so hofft sie, und ihr Sprachniveau könnte hoch genug sein, um sich auf einen Studienplatz in Deutschland zu bewerben +Eigentlich wollte ich nicht wählen gehen. Ich halte von dem politischen System im Iran nämlich überhaupt nichts. Mit ansehen, wie der konservative Hardliner Ebrahim Raisi gewinnt – ein Mann, der viel zu viele Gemeinsamkeiten mit unserem früheren Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad hat –, kann ich aber auch nicht. Deshalb stimme ich für Rohani. Als ich vor sieben Jahren zum Studieren nach Indien gegangen bin, regierte Ahmadinedschad unser Land. Fünf Jahre später kam ich zurück und war erstaunt: Unter Rohani wurde der Iran zu einem viel offeneren Land, einem, in dem ich das Internet freier nutzen kann, mein Kopftuch nicht so streng sitzen muss und es meiner Meinung nach auch ein halbwegs gutes Gesundheitssystem gibt. Raisi würde einen Rückschritt bedeuten: Er ist gegen politische Reformen und eine weitere Öffnung des Irans. Viele Leute, besonders Studenten, sind deshalb gegen ihn. Ein bisschen erinnert mich die Situation an die Grüne Bewegung im Sommer 2009: Damals protestierten Millionen Iraner, auch viele meiner Freunde, gegen die Wiederwahl von Ahmadinedschad. Leider waren sie nicht erfolgreich. Viele Menschen wurden getötet oder sitzen bis heute im Gefängnis. Ich glaube aber nicht, dass es wieder so weit kommt – wir werden nicht zulassen, dass noch einmal jemand wie Ahmadinedschad durch eine Wahl an die Macht kommt. + +* Zwar wären fast alle Gesprächspartner bereit gewesen, ihr Protokoll unter Echtnamen zu veröffentlichen. Weil man im Iran aber für manches, was darin zu lesen ist, großen Ärger bekommen kann, haben wir uns dazu entschieden, alle Namen zu ändern. +Titelbild: Ali Mohammadi/UPI/laif diff --git a/fluter/was-sie-nicht-sagen.txt b/fluter/was-sie-nicht-sagen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5d809def5de39cb69ab69543a415fb43b9c30214 --- /dev/null +++ b/fluter/was-sie-nicht-sagen.txt @@ -0,0 +1 @@ +Genau deshalb sehen zivilgesellschaftliche Gruppen in Israel den neuen Gesetzentwurf besonders kritisch. Lila Margalit, eine Anwältin der Vereinigung für Bürgerrechte in Israel (ACRI), schrieb in einer Protestnote an das Parlament: "Gerade wegen der zentralen Bedeutung des Holocaust ist der Versuch, zu regeln, wann und in welchem Umfeld darauf Bezug genommen werden darf, sehr problematisch." Die erste Hürde hat das Gesetz aber bereits genommen: Das missbräuchliche Tragen eines gelben Davidsterns oder einer KZ-Uniform soll in Zukunft genauso strafbar sein wie die Unterstellung, jemand würde die Ziele der Nationalsozialisten verfolgen, sowie die Beschimpfung anderer als Nazis. Einen entsprechenden Entwurf hat ein Ausschuss des Regierungskabinetts gebilligt. Ausnahmen vom Gesetz sollen lediglich für Studien- oder Dokumentationszwecke und historische Aufarbeitungen gelten – und natürlich für den Fall, dass jemand tatsächlich und nachgewiesenermaßen ein Nazi ist. diff --git a/fluter/was-sie-uns-vorspielten.txt b/fluter/was-sie-uns-vorspielten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/was-sind-die-midterm-elections-usa.txt b/fluter/was-sind-die-midterm-elections-usa.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..41056ac7ded3dfcfc42f52ed1a99347de7f2de91 --- /dev/null +++ b/fluter/was-sind-die-midterm-elections-usa.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Nein, der US-Präsident ist Regierungschef, aber kein Abgeordneter. Der Präsident ist Staatsoberhaupt und Oberbefehlshaber der Streitkräfte zugleich. Damit verkörpert er die Exekutive. Beide Kammern des Kongresses (United States Senate und United States House of Representatives) sowie die Bundesgerichte überwachen seine Arbeit. +Bei den landesweiten Wahlen wird abgestimmt, welche Abgeordneten und Senatoren ins Parlament in Washington einziehen. Momentan hält Trumps Partei, die Republikanische Partei, die Mehrheit in beiden Kammern. Sollte die Demokratische Partei in einer oder beiden Kammern die Mehrheit erlangen, wäre es für den Präsidenten schwieriger, seine politische Agenda durchzusetzen. Denn Gesetzesvorlagen müssen vom Senat und Abgeordnetenhaus bestätigt werden, bevor sie in Kraft treten können. Außerdem hätten die Demokraten die Möglichkeit, Trumps Politik stärker zu torpedieren. +Die Prozedur wurde von den Erfindern der amerikanischen Verfassung extra kompliziert und langwierig angelegt. Sie ist als letzte Instanz gedacht und bedarf einer guten Begründung, damit nicht der Verdacht entsteht, man könne einen demokratisch gewählten Präsidenten einfach so aus dem Amt jagen. Falls die Demokraten das Repräsentantenhaus zurückerobern sollten, besteht für sie tatsächlich die Möglichkeit, ein solches Verfahren gegen den Präsidenten einzuleiten. Eine einfache Mehrheit würde sogar reichen, um den Fall an den Senat weiterzuleiten. Dort ist allerdings eine Zweidrittelmehrheit notwendig, um einen Präsidenten schlussendlich seines Amtes zu entheben. +Nach dem überraschenden Brexit-Votum und Donald Trumps Sieg bei der Präsidentschaftswahl im November 2016 ist die politische Vorhersage etwas in Verruf geraten. Wenige Tage vor der Wahl sagen Wahlforscher jedoch voraus, dass die Demokraten dieses Mal die Mehrheit im Abgeordnetenhaus zurückholen könnten. Damit das klappt, müssten die Demokraten 25 Sitze dazugewinnen. Die Republikaner werden den Prognosen zufolge die Mehrheit im Senat halten, denn es stehen wesentlich mehr Sitze zur Wahl, die derzeit von Demokraten (24) besetzt werden, als von den Republikanern (9). Um die Mehrheit zu übernehmen, müssten die Demokraten ihre Sitze verteidigen und noch zwei Senatssitze hinzugewinnen. +Das Gesundheitssystem ist bei vielen Wählern Thema Nummer eins, auch Einwanderung, Arbeitslosigkeit, Bildung und die Steuerreform waren wichtige Anliegen in den vergangenen Wochen. Häufig wird die Wahl auch als Stimmungsbild für die Arbeit des Präsidenten angesehen ("Denkzettelwahl"). +Ja! 2018 könnte als neues "Year of the Woman" in die Geschichtsbücher eingehen. Insgesamt 257 Frauen gehen ins Rennen um Sitze im Senat und Abgeordnetenhaus – ein neuer Rekord. + + diff --git a/fluter/was-sind-klimafluechtlinge.txt b/fluter/was-sind-klimafluechtlinge.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..55f86896d78352b182bf4f6ac3fc538c90804c53 --- /dev/null +++ b/fluter/was-sind-klimafluechtlinge.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Trotz der Kontroversen lässt sich aber feststellen: Klimabedingte Ressourcenknappheit kann durchaus erheblich zu Migration und Flucht beitragen, ist jedoch selten der einzige Faktor. Das wird am Beispiel des Krieges in Syrien deutlich, vor dem seit 2011 etwa 5,7 Millionen Menschen geflohen sind. Ab 2006 kam es in der Region zu einer Dürreperiode, was die ohnehin angespannte wirtschaftliche Situation dort verschärfte. Eine Reihe von Missernten trieb Tausende Menschen vom Land in die Städte, wo viele von ihnen keine Arbeit fanden. Die Unzufriedenheit wuchs, mindestens ein Drittel der unter 25-Jährigen waren 2011 trotz guter Ausbildung arbeitslos. Im Zuge des sogenannten Arabischen Frühlings waren viele Syrer bereit, gegen die Verhältnisse in ihrem Land auf die Straße zu gehen. Der Protest, der im März 2011 in der südsyrischen Stadt Daraa stattfand, gilt als der Beginn des Konfliktes, der sich zum Bürgerkrieg entwickelte. +Während des Krieges wurde Wasserknappheit sogar als Waffe eingesetzt. 2016 zum Beispiel seien 30 absichtliche Unterbrechungen der Wasserversorgung bekannt geworden, sagt Andreas Knapp vom UNICEF-Wasserprogramm in Syrien. 70 Prozent der Bevölkerung haben lange keinen regulären Zugang zu sauberem Wasser gehabt. Daesh, der sogenannte Islamische Staat, erlangte phasenweise Macht über Wasserinfrastrukturen wie Dämme und Pumpstationen und nutzte sie aus, um Menschen gezielt durch Wasserverknappung zu vertreiben. Die Islamisten konnten dadurch auch einen großen Druck ausüben, weil die Machthaber in Syrien und im Irak es zuvor lange versäumt hatten, eine flächendeckende Wasser- und Energieversorgung aufzubauen. +Dennoch: In Syrien ist die lange Dürreperiode, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf den menschengemachten Klimawandel zurückgeht, eben nur eine von mehreren Ursachen für den Krieg und die daraus resultierende Flucht. Andere Nöte wie Ernährungsunsicherheit, wirtschaftliche Perspektivlosigkeit und ideologische Kämpfe haben eine wichtige Rolle gespielt. Weil die Regierung nicht in der Lage war, die Folgen der Dürre abzumildern, wurde der Klimawandel zum Risikomultiplikator. In erster Linie gelten die 5,7 Millionen Menschen, die Syrien seit 2011 verlassen haben, als Bürgerkriegsflüchtlinge. +Von Klimaflüchtlingen im engeren Sinne wird in Zukunft aber sicher noch zu sprechen sein. Etwa wenn der Meeresspiegel durch den Klimawandel wirklich so stark steigt, dass die Bevölkerung ganzer Südseeinselstaaten zur Flucht gezwungen sein wird. diff --git a/fluter/was-soll-das-ganze.txt b/fluter/was-soll-das-ganze.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b4bc71a93252d9753b7ded5de6028a18f67ef3f7 --- /dev/null +++ b/fluter/was-soll-das-ganze.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Einwände und Komplikationen dieser und anderer Art sollten Nicht-Philosophen/innen freilich kaum davon abhalten, nach klaren, möglichst einfachen Antworten zu suchen, vor allem in Momenten großen Unglücks, starker Bedrängnis oder anhaltender Ratlosigkeit. Da fragt man dann durchaus: Was soll das alles? Wo liegt der Sinn des Ganzen? Warum leide ich? Warum passiert – ausgerechnet – mir das?Sigmund Freud, der Begründer der klassischen Psychoanalyse, notierte einmal, dass, wer die Frage nach dem Sinn des Lebens stelle, krank sei. Diese Einschätzung ist vielleicht etwas übertrieben. Sie zielt aber exakt auf jenen existentiell geprägten Ernst, der in der Frage nach dem Sinn des Lebens häufig steckt oder der, negativ formuliert, der überwältigenden Sinnlosigkeit des Lebens Ausdruck zu verleihen sucht. In der unter dem Einfluss des Zweiten Weltkrieges stehenden Philosophie und Prosa des Existentialismus von Jean-Paul Sartre oder Albert Camus wird dieser starke Anschein von Sinnlosigkeit nicht selten ins Absurde gewendet. Wodurch sich der Eindruck der Sinnlosigkeit zusätzlich verstärkt. +Absurd komisch geht es in Douglas Adams' Roman "Per Anhalter durch die Galaxis" zu: Siebeneinhalb Millionen Jahre braucht der Supercomputer Deep Thought für die letztgültige Antwort auf die Frage nach dem Universum. Die Antwort lautet "42", nützt aber niemandem, da keiner mehr weiß, wie die Frage hieß. Also baut man einen noch leistungsfähigeren Computer, um die ursprüngliche Frage herauszufinden. Das Leben ist, so könnte man diese Passage im Roman interpretieren, anscheinend ein bisschen komplizierter, als dass man ihm mit einer mathematischen Lösung oder einer allzu einfachen Antwort auf die Schliche kommen könnte. +Auch die Komikergruppe Monty Python nimmt in ihrem legendären Episodenfilm "Der Sinn des Lebens" die Frage aller Fragen aufs Korn, mit viel Klamauk und britischem Understatement. Ausgesprochen niedlich ist der Schluss des Films, wo eine völlig entmystifizierte, geradezu triviale, aber nicht unbedingt falsche Antwort geliefert wird: "Nun, dies ist das Ende des Films. Und hier kommt der Sinn des Lebens. [Man reicht der Darstellerin einen Umschlag.] Danke, Brigitte. [Sie liest.] Ach ja, das ist nichts Besonderes. Seien Sie nett zu Ihren Nachbarn, vermeiden Sie fettes Essen. Lesen Sie ein paar gute Bücher, machen Sie ein paar Spaziergänge und versuchen Sie, in Frieden und Harmonie mit Menschen jeden Glaubens und jeder Nation zu leben."Der Engländer Julian Baggini, einer der wenigen Philosophen der Gegenwart, die sich ausführlich mit der Frage nach dem Sinn des Lebens beschäftigt haben, zitiert dieses Filmende am Schluss seines Buches "Der Sinn des Lebens. Philosophie des Alltags". Baggini geht es nicht nur um eine gute Pointe. Auch er findet, dass der Sinn des Lebens etwas ist, das "für alle erkenn- und erreichbar" ist.Baggini versteht sich als demokratischer Atheist. Es freut ihn durchaus, die "selbsternannten Hüter dieses Sinns" zu ärgern, "die Priester, Gurus und Lehrer, die uns glauben machen wollen, er entziehe sich dem Verständnis Normalsterblicher". Deshalb plädiert er gerade nicht für einen fixen Sinn des Lebens – etwa dafür, ein gottgefälliges Leben zu führen –, sondern dafür, "den Sinn des Lebens selbst zu entdecken und auch zum Teil selbst zu definieren". Er findet, da wir alle sehr verschieden sind, sollten wir uns der Fragilität, Unvorhersehbarkeit und Zufälligkeit des Lebens stellen, um das Beste daraus zu machen.Befreit von der Macht des Sinn-Mysteriums und dadurch bereit, unterschiedliche Formen dieses Sinns zu entdecken, können wir, so Baggini, erkennen, dass "Glück wertvoll, aber nicht alles ist", können wir lernen, "die Vergnügungen des Lebens zu schätzen, ohne Sklave von Gelüsten zu werden, die sich nicht befriedigen lassen", oder "anderen helfen, ohne uns vom Altruismus auffressen zu lassen". Ob Bagginis sehr allgemein gehaltene Einsichten in schwere existentielle Not geratenen Sinnsuchern/innen weiterhelfen, steht auf einem anderen Blatt. +Aber geht es denn wirklich weniger allgemein, ohne priesterlich dogmatisch oder esoterisch verblasen daherzureden? Liest man den englischen Literaturwissenschaftler Terry Eagleton, geht es zumindest anders. Auch Eagletons Buch heißt "Der Sinn des Lebens" und führt, philologisch gewieft und philosophisch kundig mit viel Wittgenstein im Gepäck und nicht ohne Humor, über zahlreiche Fragen zu immer besseren Fragestellungen.Eagleton ist sich ziemlich sicher, dass der Sinn des Lebens etwas ist, was das Leben lebenswert macht, "eine bestimmte Qualität, Tiefe, Fülle und Intensität des Lebens" selbst, und keinesfalls etwas Metaphysisches, vom normalen Leben Losgelöstes, was ja schließlich auch möglich wäre. Er hält viel von der nicht erotischen, sehr prosaischen Form der selbstlosen Liebe, bei der es darum geht, "den Hungernden zu essen und den Dürstenden zu trinken zu geben, Fremde freundlich aufzunehmen und Gefangene zu besuchen". So zu leben, schreibt der 1943 geborene britische Autor, "bedeutet nicht nur Leben zu haben, sondern es in Fülle zu haben".Auf das große Ganze bezogen wünscht sich Eagleton, ein erklärter Marxist, eine Gesellschaft als Gemeinschaft größeren Maßstabs, in der es keinen Konflikt zwischen den Freiheiten des Einzelnen und dem Wohl des Ganzen gibt. Ein utopisches Ziel, wie er selbst es auch sagt. Und er fügt hinzu: "Aber darum ist es ja noch nicht schlecht." Der Mann hat recht. +Michael Saager schreibt für verschiedene Magazine und Zeitungen, ist leitender Redakteur des Magazins pony und lebt in Berlin. diff --git a/fluter/was-soll-der-rotz.txt b/fluter/was-soll-der-rotz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..446f61f1f358e8a771f7e4dda491dc34bbc6f46d --- /dev/null +++ b/fluter/was-soll-der-rotz.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Informationen über die DNA eines Menschen werden in Zukunft sehr gefragt sein, so wie es heute schon die privaten Dinge sind, die die Menschen in den sozialen Netzwerken bereitwillig ausplaudern. Was jetzt noch wie Science-Fiction klingt, ist durch die Sammlung umfangreicher Gen-Datensätze einer Bevölkerung durchaus vorstellbar. So könnten in Zukunft etwa Krankenversicherungen Zugriff auf die Datenbank erhalten und für all die Personen einen höheren Beitragssatz verlangen, deren Gen-Daten ein höheres Risiko für bestimmte Krankheiten vermuten lassen. Bekämen Arbeitgeber Einsicht in die Daten, könnten sie ihre Einstellungspolitik davon abhängig machen, wem eine besonders gesunde Zukunft vorausgesagt wird – und andere ausschließen. +Bei alldem müssten zwar die Gesetzgeber mitspielen, zur Zeit wäre es in den meisten Ländern der Welt illegal. Heutzutage ist allerdings durchaus vorstellbar, dass etwa Versicherungen für die Einsendung einer Speichelprobe Vergünstigungen anbieten. Und selbst wenn man die eigenen Gen-Daten nicht zur Verfügung stellt, landen persönliche Gen-Sequenzen womöglich trotzdem in einer Datenbank. Entscheiden sich nämlich nahe Verwandte, im Extremfall sogar ein Zwilling, dazu, ihre Gen-Daten weiterzugeben, ist ein großer Teil der eigenen DNA automatisch mit dabei. Mitgefangen, mitgehangen. +Es gibt noch weitere Einsatzmöglichkeiten der Gen- Datenbanken. So könnten genetische Fingerabdrücke in nicht allzu ferner Zukunft als Ersatz für Ausweiskontrollen fungieren. Das zeigte das Online-Projekt "Genetic Access Control", das 2015 veröffentlicht wurde und das es den Nutzern (bis zu seiner Deaktivierung) ermöglichte, den Zugriff auf eine Website per Gen-Ausweis zu kontrollieren. Wie man es von Websites und Apps kennt, die sich mit Google oder Facebook verbinden und dafür Zugriff auf die Zugangsdaten des Accounts haben wollen, griff "Genetic Access Control" auf Nutzerkonten bei 23andMe zu, um die Besucher der Seite zu checken. Wenn aber bestimmte Websites nur besucht werden können, wenn eine spezielle DNA vorliegt, ist es natürlich möglich, Personengruppen zu diskriminieren. Beispielsweise wäre es durch Prüfung des Gen-Codes möglich, nur Männern oder nur Frauen das Surfen auf eine Website zu erlauben oder Personen mit Gen-Merkmalen aus einer bestimmten Weltregion vom Zugriff auszuschließen. +Die Macher des Projekts warben unter anderem damit, dass Gen-Sequenzen relativ fälschungssicher sind, da sie sich nicht ändern. Allerdings können sie missbraucht werden. Selbst die Meisterhacker des amerikanischen Nachrichtendienstes NSA mussten in jüngster Vergangenheit erhebliche Datenlecks reparieren, von großen Unternehmen wie Sony ganz zu schweigen. Dass also die Gen-Daten einiger Teile der Bevölkerung irgendwann auch frei im Internet gefunden werden können, erscheint nicht besonders unwahrscheinlich. diff --git a/fluter/was-staatsgeschenke-bedeuten.txt b/fluter/was-staatsgeschenke-bedeuten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..16d12856d445cd376a9ff5a634585fceafcd467e --- /dev/null +++ b/fluter/was-staatsgeschenke-bedeuten.txt @@ -0,0 +1,36 @@ + +Was?Federschmuck +Wann?1956 +Von wem für wen?Von indigenen Völkern in Wisconsin für Bundeskanzler Konrad Adenauer +Warum?Weil es auf Fotos was hermachte +Ehrendoktor in Yale, Ehrendoktor in Milwaukee, dazu ein kurzes Treffen mit dem US-Präsidenten: Über zu wenig Anerkennung konnte sich Bundeskanzler Konrad Adenauer auf seiner Reise in die Vereinigten Staaten von Amerika 1956 nicht beklagen. Eine besondere Geste für Adenauer (der großer Karl-May-Fan gewesen sein soll) war aber womöglich die Aufnahme in die "Consolidated tribes of American Indians" von Milwaukee, Wisconsin. Mit deren Häuptling Morris Wheelock rauchte er die "Friedenspfeife", was von vielen Medien als große Ehre interpretiert wurde. Das Foto vom "Alten Häuptling" Adenauer ging damals um die Welt. Heute –Stichwort "kulturelle Aneignung"– würde ein solches Foto womöglich anders diskutiert werden. Zumindest dann, wenn der Stamm bei der Verleihung des Kopfschmucks kein echtes Mitspracherecht hatte. + + +Was?Sturmgewehr "Kalaschnikow" +Wann?2015 +Von wem für wen?Von Russlands Präsident Wladimir Putin für Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi +Warum?Bromance zwischen autoritären Herrschern +Mehr als 70 Millionen Exemplare des Sturmgewehrs "Kalaschnikow" wurden seit den 1940ern produziert. Geschossen wurde damit seither in unzähligen Konflikten und Kriegen fast überall auf der Welt. Die Taliban in Afghanistan nutzen das leicht zu erwerbende Sturmgewehr aus russischer Entwicklung ebenso wieGuerillatruppen in Kolumbien. +Auf seiner Reise nach Ägypten im Jahr 2015 brachte Russlands Präsident Wladimir Putin dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi ein Exemplar mit. Es war ein Symbol für die Loyalität und die Geschäfte zwischen den zwei Ländern: Russland lieferte damals massenhaft Waffen nach Ägypten – während die USA nach dem Militärputsch 2013 mit ihrer Unterstützung zögerlicher geworden waren, denn unter der Führung von al-Sisi wurden Hunderte von Menschen ermordet. + + +Was?Ein Stoffhund +Wann?2006 +Von wem für wen?Von Russlands Präsident Wladimir Putin für Bundeskanzlerin Angela Merkel +Warum?Demonstration von Stärke +Das Wort "Kompromat" kommt aus dem Russischen, im KGB-Jargon stand es für Informationen, die eine Person erpressbar machen. Vielleicht erinnerte sich ja im Jahr 2006 Wladimir Putin, ehemaliger KGB-Agent und heutiger russischer Präsident, an das, was er einst im Geheimdienst gelernt hat. Denn warum überreichte er Angela Merkel bei ihrem Antrittsbesuch in Moskau einen schwarz-weißen Plüschhund? Vielleicht um ihr zu zeigen: Wir kennen deine Schwächen. Merkel wurde 1995 beim Fahrradfahren von einem Jagdhund ins Knie gebissen. Seither hat sie eine "gewisse Sorge" vor Hunden, wie sie selbst sagt. Nur ein Jahr nach dem scheinbar harmlosen Geschenkwollte Putin ihr dann mit einem echten Labrador eine Freude machen– so jedenfalls erklärte er es später. Bei Merkels Besuch in Sotschi 2007 tapste Putins Hund Koni zur Kanzlerin und beschnupperte sie, auch am Knie. Merkels Miene gefror, Putin lächelte. Sie habe sich tapfer bemüht, "Richtung Putin zu gucken und nicht Richtung Hund", sagte Merkel später. + + +Was?Komodowaran +Wann?1990 +Von wem für wen?Von Indonesiens Präsident Suharto für US-Präsident George H. W. Bush +Warum?Weil nur er es kann (die Riesenechsen gibt es nur in Indonesien) +Fast drei Meter lang, rund 90 Kilo schwer, scharfe Zähne und giftiger Speichel: Allein von diesem Steckbrief her wäre ein Komodowaran ein wertvoller Mitarbeiter des Secret Service. Das war aber wohl nicht der Grund, warum Indonesiens diktatorischer Präsident Suharto, der in seinen Tagen als General für die Ermordung Hunderttausender Menschen verantwortlich war, seinem US-Amtskollegen George Bush eine solche Riesenechse schenkte. +Er dürfte dabei vor allem die guten Handelskontakte zu den USA im Blick gehabt haben. Das Reptil namens Naga war scheu gegenüber Menschen, so wie alle seine Artgenossen. Bush spendete Naga dem Zoo von Cincinnati, wo es in Gesellschaft der Kodomowaran-Dame Sabat heranwuchs und 32 Nachkommen seiner gefährdeten Art hinterließ. + +Was?Schwerer Eichenschreibtisch +Wann?1880 +Von wem für wen?Von Queen Victoria für US-Präsident Rutherford B. Hayes +Warum?Zeichen des Friedens +Der Name kommt nicht von ungefähr: Der "Resolute Desk" wurde vor mehr als 140 Jahren aus einem britischen Segelschiff gezimmert, und im Zeichen des Friedens dem Weißen Haus geschenkt +Die schönsten Präsente sind die, von denen man lange zehrt. Dazu gehört sicherlich der "Resolute Desk" im Weißen Haus. 140 Jahre nach der Schenkung schmückt der Schreibtisch noch immer das Oval Office des US-Präsidenten. Ursprünglich war der rund 500 Kilo schwere Tisch als ein Friedensgeschenk gedacht. Mitte des 19. Jahrhunderts stritten die Vereinigten Staaten und Großbritannien um Gebiete in Nordamerika. 1855 fand dann ein US-amerikanischer Walfänger ein verschollenes britisches Segelschiff namens "HMS Resolute" in der Arktis. Das Schiff wurde geborgen und den erfreuten Briten übergeben. Aus den alten Holzbohlen zimmerte ein Schreiner anschließend den Tisch für die US-Amerikaner. Queen Victoria ließ das Möbelstück 1880 dem damaligen US-Präsidenten Rutherford B. Hayes per Schiff zukommen. Persönlich begegnet sind Victoria und Rutherford sich nie. diff --git a/fluter/was-steht-im-klimapaket-der-bundesregierung.txt b/fluter/was-steht-im-klimapaket-der-bundesregierung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dec111c1eea35394f74076ec31c705bad3048b9d --- /dev/null +++ b/fluter/was-steht-im-klimapaket-der-bundesregierung.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +CO₂-Preis +Das zentrale Instrument des Klimapaketes ist, dass Kohlendioxid ab 2021 einen Preis bekommt. Jede Tonne, die aus einem Auto oder einer Fabrik entweicht, kostet dann zunächst zehn Euro. Das sind umgerechnet ungefähr 3 Cent je Liter Kraftstoff – genauer: Diesel, Benzin, Erdgas und Heizöl. Wer das Klima belastet, soll dafür also mehr bezahlen. Bis 2025 soll der Preis bis auf 35 Euro angehoben werden. Das soll einen Anreiz für saubere Technologien wie Elektrofahrzeuge oder moderne Heizungssysteme setzen. +Die Bundesregierung hat im März 2019das Klimakabinetteingesetzt, das gewährleisten soll, dass Deutschland seine Klimaziele für 2030 beziehungsweise 2050 einhält. Der Ausschuss besteht aus der Bundeskanzlerin und den Ministerinnen und Ministern für Verkehr, Umwelt, Finanzen, Wirtschaft, Bau und Landwirtschaft. Auch der Kanzleramtschef und der Regierungssprecher gehören dazu. Die deutschen Klimaziele beziehen sich auf dasPariser Abkommen aus dem Jahr 2015. Bei der UN-Weltklimakonferenz in der französischen Hauptstadt verpflichteten sich die Vertragsstaaten vor vier Jahren völkerrechtlich bindend dazu, den "Anstieg der durchschnittlichen Erdtemperatur deutlich unter 2 °C über dem vorindustriellen Niveau" zu halten undAnstrengungen zu unternehmen, um den Temperaturanstieg auf 1,5 °C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen. +Autos, Bahn und Co. +Da die Emissionen im Bereich Verkehr einen erheblichen Anteil am gesamten Treibhausgasausstoß haben, zielt eine Reihe von Maßnahmen auf diesen Sektor:Elektrofahrzeugewerden noch stärker als bisher steuerlich begünstigt. Die Ladesäuleninfrastruktur wird bis 2030 auf eine Million Stationen aufgestockt. Bahnfahren wird billiger, weil der Mehrwertsteuersatz für die Tickets sinkt. Das klimaschädliche Fliegen soll indes über eine höhere Luftverkehrsteuer teurer werden. +Gebäude und Energie +Im Bereich der Gebäude wird die Sanierung steuerlich stärker gefördert, da dieser Sektor einen Anteil von 14 Prozent an den CO₂-Emissionen hat. Der Austausch alter Ölheizungen wird ebenfalls gefördert; ab 2026 dürfen keine Ölheizungen mehr verbaut werden. +Die erneuerbaren Energien sollen bis 2030 auf einen Anteil von 65 Prozent am Stromverbrauch ausgebaut werden. In ihrem Klimaprogramm bekräftigt die Bundesregierung nochmals den Beschluss zum Kohleausstieg bis 2038. +Entlastungen +Flankiert wird diese Neuerung vor allem von einem Finanzpaket in Höhe von über 50 Milliarden Euro."Um soziale Härten zu vermeiden", wie Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier erläuterte, bekommen beispielsweise Pendler ab dem 21. Kilometer ab 2021 fünf Cent je Kilometer mehr. Eine geringere Ökostromabgabe soll dafür sorgen, dass der Strompreis sinkt. + +Wie hat sich der Ausstoß von Treibhausgasen in Deutschland seit 1990 entwickelt? +Quelle: UBA +Die deutschen Treibhausgas-Emissionen sind zwischen 1990 und 2018 um rund 31 % gesunken. Bis 2020 sollen sie um mindestens 40 % und bis 2030 um mindestens 55 % gegenüber den Emissionen von 1990 zurückgehen, so sieht es der "Klimaschutzplan 2050" der Bundesregierung vor. Mitte des Jahrhunderts soll Deutschland "weitgehend treibhausneutral" sein, also keine Treibhausgase verursachen bzw. alle Emissionen vollständig kompensieren können. +Ganz und gar erfreut zeigte sich vor allem eine: Die Deutsche Bahn darf bis 2030 mit 20 Milliarden Euro zusätzlich rechnen. Es handle sich um "das größte Investitions- und Wachstumsprogramm in der über 180-jährigen Bahngeschichte", hieß es aus dem Unternehmen. Die Senkung der Mehrwertsteuer für Bahntickets von 19 auf 7 Prozent wolle man direkt an die Kunden weitergeben. +Von anderen Seiten wurde die Bundesregierung für das Paket kritisiert. Das Umweltbundesamt, eine staatliche Bundesoberbehörde, erwartet, dass die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens mit dem Paket verfehlt werden. Greenpeace mutmaßt, dass Deutschland die im Pariser Klimaabkommen vereinbarten Ziele "krachend verfehlen" werde. +Viele Kritiker erachten den Einstiegspreis für eine Tonne CO₂ als zu gering.Das Verhalten der Verbraucher ändere man dadurch nicht, sagte etwa Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. Wissenschaftler hatten für einen Preis von mindestens 40 Euro je Tonne plädiert. Eine vergleichbare Abgabe gibt es bereits in mehreren europäischen Ländern, der Preis variiert jedoch enorm: In Polen liegt der Tonnenpreis für CO₂ derzeit bei umgerechnet 7 Cent, in Frankreich bei 44,50 Euro und in Schweden bei 115 Euro. Kritisiert wird auch, dass die Maßnahmen sozial ungerecht seien, weil von Entlastungen wie der Pendlerpauschale Geringverdiener nicht profitieren. +Moderater fällt das Urteil von Wirtschaftsvertretern aus. Der Bundesverband der Deutschen Industrie sprach von einer "wichtigen Weichenstellung", aber "keinem großen Wurf". Nun warte man auf die konkrete Umsetzung. +Die sieht unter anderem ein regelmäßiges Monitoring vor. Das Klimakabinett der Bundesregierung soll jährlich prüfen, wie wirksam die Maßnahmen in den verschiedenen Bereichen (etwa Verkehr, Gebäude, Industrie) sind. Gegebenenfalls müssen die zuständigen Ministerien ein "Sofortprogramm zur Nachsteuerung" vorlegen. Das finden sogar viele Kritiker des Klimapakets gut. + +DasKlimapaket bildet die Grundlagefür das "Klimaschutzprogramm 2030", das in den kommenden Wochen von der Bundesregierung fertiggestellt wird. Das Programm soll dann von Bundestag und Bundesrat in Gesetze gegossen werden und noch in diesem Jahr in Kraft treten. Im Bundesrat ist die Große Koalition allerdings auf die Zustimmung von Oppositionsparteien angewiesen. +Bundeskanzlerin Angela Merkel reiste am Sonntag mit den Beschlüssen des Klimakabinetts im Gepäck zur UN-Klimakonferenz nach New York. Dort kündigte sie den Staats- und Regierungschefs an, dass Deutschland 2050 klimaneutral sein werde – mithilfe der Maßnahmen, die das Klimapaket vorsieht. + + diff --git a/fluter/was-steht-im-koalitionsvertrag-klima-wahlrecht.txt b/fluter/was-steht-im-koalitionsvertrag-klima-wahlrecht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1988706721e0b7fa878e3c24541988898c9d2a71 --- /dev/null +++ b/fluter/was-steht-im-koalitionsvertrag-klima-wahlrecht.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Die Senkung des Wahlalters ist eines der zentralen Versprechen von SPD, Grünen und FDP für Jugendliche. Seit 1972 darf man in Deutschland mit 18 Jahren wählen (vorher mit 21 Jahren). Bisher erlauben elf Bundesländer 16- und 17-Jährigen, ihre Stimme bei Kommunal- und teils auch bei Landtagswahlen abzugeben, gerade erst senkte Baden-Württemberg das Wahlalter bei Landtagswahlen. +Die Absenkung des allgemeinen Wahlalters auf 16 wäre auf Bundesebene aber ein Novum.In der EU sind bisher erst Österreich und Malta diesen Schritt gegangen. Für eine Absenkung des Wahlalters spräche vor allem die Demografie in Deutschland: Während etwa ein Drittel der Wähler:innen älter als 60 Jahre ist, blieben, so das Argument der Befürworter:innen, rund 13 Millionen Kinder und Jugendliche bei Wahlen unterrepräsentiert, und das gerade bei zukunftsträchtigen Entscheidungen wie etwa zumKlimawandel. +Ob bei den nächsten Bundestagswahlen im Herbst 2025 tatsächlich 16-Jährige teilnehmen dürfen, ist aber fraglich. Um das Wahlalter bei der Bundestagswahl zu ändern, bedarf es einer Grundgesetzänderung – also auch einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag und Bundesrat. SPD, Grüne und FDP sind davon weit entfernt. Die Ampel wäre trotz der Stimmen der Linkspartei (die auch für die Absenkung des Wahlalters ist) noch auf Unterstützung aus der AfD oder der Union angewiesen. Beide Parteien stehen dem Vorhaben bislang ablehnend gegenüber. Als Gründe führen sie unter anderem die aus ihrer Sicht mangelnde Reife von 16-Jährigen für eine Wahlentscheidung an. Es sei zudem unlogisch, mit 16 wählen zu dürfen, aber beispielsweise erst mit 18 voll straffähig zu sein. Die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung empfiehlt in einer gerade veröffentlichtenExpertise, das Wahlalter weiter an die Volljährigkeit zu koppeln. +Aber: Gut möglich, dass die Ampelparteien das Wahlalter für die Europawahl absenken können. Dafür reicht die einfache Mehrheit, die schon durch die Stimmen der eigenen Bundestagsfraktionen gegeben wäre. Will die Ampelkoalition den Gesetzentwurf rechtzeitig einbringen, muss sie sich beeilen: Die nächste Europawahlsteht im Frühjahr 2024 an. + + +"Wir werden das Klimaschutzgesetz noch im Jahr 2022 konsequent weiterentwickeln und ein Klimaschutz-Sofortprogramm mit allen notwendigen Gesetzen, Verordnungen und Maßnahmen auf den Weg bringen." (Seite 55) + +Der Klimawandel bereitet den meisten jungen Menschen Sorgen. 56 Prozent der 14- bis 29-Jährigen gaben das in der jüngstenTrendstudie "Jugend in Deutschland"an. Ob die Ampel ihnen die Sorgen nehmen kann, ist ungewiss. Im Koalitionsvertrag formuliert sie jedenfalls ehrgeizige Klimaziele: Unter anderem sollen erneuerbare Energien 2030 schon 80 Prozent des Stroms liefern statt wie bislang vereinbart 65 Prozent. (Zum Vergleich: 2021 stammten nur rund 41 Prozent aus erneuerbaren Energien). SPD, Grüne und FDP wollen auch den Kohleausstieg schon bis 2030 hinbekommen und im selben Zeitraum auch beim Heizen den Anteil klimaneutraler Energien auf 50 Prozent erhöhen. Überhaupt verspricht die neue Bundesregierung, ihre gesamte "Klima-, Energie- und Wirtschaftspolitik am 1,5-Grad-Pfad ausrichten" zu wollen. Bis 2030 muss Deutschland 65 Prozent seiner CO2-Emissionen gegenüber dem Jahr 1990 reduzieren, 2045 dann klimaneutral sein. +Um diese Ziele zu erreichen, wolle die Ampel bis Ende des Jahres alle notwendigen Maßnahmen auf den Weg bringen, kündigte Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck im Januar an. Anfang April hat sein Ministerium mit dem "Osterpaket" einen ersten Aufschlag gemacht, um den Ausbau der erneuerbaren Energien zu forcieren: unter anderem mit besseren Konditionen für Betreiber und vereinfachter Zulassung auch für Wasserstoffanlagen. Zuletzt war vor allem der Zubau von Windanlagen drastisch eingebrochen, weil die entsprechenden Flächen fehlen. Expert:innen halten es technisch für möglich, die Öko-Energien so schnell auszubauen wie von der Ampel skizziert – aber nur im günstigsten Fall. +Skeptischer sind Wissenschaftler:innen bei der Frage, ob die Ampel wirklich das 1,5-Grad-Ziel einhält. Die Skepsis fängt beim "Osterpaket" an. Die FDP jedenfalls hat schon angekündigt, den eigenen Gesetzentwurf im Bundestag "nachbessern" zu wollen. Was von dem Paket übrig bleibt, ist offen. Zudem sind viele der angekündigten Maßnahmen vage. So sollen Solaranlagen bei Privathäusern "zur Regel werden" oder der Kohleausstieg "idealerweise" schon 2030 gelingen. An striktere Maßnahmen wie höhere CO2-Preise auf fossile Brennstoffe, den konsequenten Abbau von klimaschädlichen Subventionen (wie etwa Steuervergünstigungen bei Firmenwagen) oder den Verzicht auf die Brückentechnologie Erdgas hat sich die Ampel nicht gewagt. + diff --git a/fluter/was-stimmt-in-der-syrien-berichterstattung.txt b/fluter/was-stimmt-in-der-syrien-berichterstattung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..99c858d4a164fca9c9d8d8905868618da2d8816c --- /dev/null +++ b/fluter/was-stimmt-in-der-syrien-berichterstattung.txt @@ -0,0 +1,34 @@ +Wie frei können Sie in Syrien recherchieren? +Die österreichische Journalistin Petra Ramsauer berichtet seit rund 20 Jahren aus Kriegs- und Krisengebieten. Außer in Syrien hat sie beispielsweise auch in Afghanistan, Irak und Sub-Sahara-Afrika gearbeitet, unter anderem für Zeit Online, "NZZ am Sonntag" und den ORF +Momentan – und damit meine ich seit 2015 – gar nicht. Es gibt die Möglichkeit, mit einem Journalistenvisum der Regierung ins Land zu kommen. Das bedeutet aber, sich gänzlich den Vorgaben des Informationsministeriums Baschar al-Assads zu unterwerfen. Zu sagen "Ich miet' mir jetzt ein Auto, schau mir dieses an oder spreche mit jenem" – das geht nicht. +Journalisten wird genau vorgegeben, mit wem sie wo und über was reden? +Richtig. Ich bekam stets einen Übersetzer beziehungsweise einen Mitarbeiter des Informationsministeriums zugewiesen und wurde eindringlich daran erinnert, mich nur mit diesem zu bewegen. Die Begleitperson wählt Gesprächspartner aus oder ist bei Interviews zumindest immer mit dabei – nicht besonders angenehm. +Manche Reporter entscheiden sich dafür, ohne Journalistenvisum nach Syrien zu gehen. Auch Sie waren schon auf eigene Faust unterwegs … +Ja. Ohne Visum – also illegal – nach und in Syrien zu reisen setzt aber voraus, eine enge Zusammenarbeit mit der FSA, der Freien Syrischen Armee, einzugehen: Wegen der Entführungsgefahr durch den IS kann man seit ein paar Jahren nicht mehr ohne bewaffnete Kämpfer recherchieren. Bei meiner letzten Reise nach Aleppo, Ende 2014, wurde mir das zum Verhängnis: Ich wollte in das kurdische Viertel Scheich Maksud, in das ich früher problemlos konnte. Doch mit Kämpfern der FSA als meine Beschützer kam ich nicht mehr rein. + + +Wenn die Journalisten vor Ort nur eingeschränkt recherchieren können – wie verlässlich ist dann die Nachrichtenlage überhaupt? +Meiner Meinung nach ist die Nachrichtenlage viel klarer, als immer getan wird. +Widerspricht das nicht dem, was Sie gerade erzählt haben? +Die Quellenlage ist schwer einzuschätzen, klar, aber sie ist dennoch sehr gut. Wir Reporter haben durch frühere Reisen sehr viele Kontakte, die wir laufend per Telefon und Internet über die aktuelle Lage befragen. Ich kenne die Hintergründe meiner Kontakte sehr gut und kann die Qualität des Materials einschätzen, das sie liefern. Große Redaktionen wie die der "New York Times" in Beirut kontaktieren über WhatsApp und Co. täglich um die 200 Quellen! Sie holen Informationen ein, vergleichen Aussagen, prüfen Bildmaterial … +… und doch gibt es immer wieder Meldungen, die sich im Nachhinein als falsch herausstellen. +Ich mache den Job jetzt seit 25 Jahren und kann mich erinnern, dass es immer wieder Falschmeldungen geschafft haben, als Wahrheit dargestellt zu werden. Heute beschäftigen große Medien aber immerhin eigene Datenforensiker, die die Herkunft von Fotos oder Videos überprüfen. Was ich für viel bedenklicher halte als das Risiko einer Falschmeldung: Die schwierigen Fragen, wie Akteure und der Kriegsverlauf einzuschätzen sind, werden vermischt mit einer anderen Frage, die nicht schwierig ist: ob humanitäre Hilfe notwendig ist. +Sie schneiden an,was Sie auch in einem Kommentar im Wiener "Falter" kritisierten: Institutionen würden, sich auf die unklare Lage berufend, ihrer humanitären Verantwortung entziehen. +Richtig, es hätte schon lange eine Entscheidung des Sicherheitsrates geben müssen, dass internationale Hilfslieferungen nach Syrien geschickt werden, die Ausreise ermöglicht wird etc. Die internationale Diplomatie hat hier versagt. Dadurch ist eine verheerende Dynamik entstanden: Hilfe wurde zu einer Waffe. Aus meiner Sicht gibt es nur eine Front in Syrien: zwischen den kriegführenden Parteien und der Zivilbevölkerung. Viel zu oft wird so getan, als wären die Zivilisten – jene, die aufseiten Assads, und jene, die aufseiten der Opposition leben – tatsächlich auch politisch mit dieser Gruppe verbunden. Meine Erfahrung: Das stimmt überhaupt nicht. + + +In Ihrem Buch "Siegen heißt, den Tag überleben" schreiben Sie, dass es nicht nur Schätzungen zu Menschenrechtsverletzungen gäbe, sondern handfeste Zahlen und Beweise. Das Assad-Regime etwa führe über seine Folterpraxis exakt Buch, was Dokumente belegen würden. Warum finden Kriegsverbrechen so wenig Beachtung? +Die Debatte um die Einschränkung von Grundrechten wird sehr locker geführt, sobald es um Terror geht. Der Kampf gegen ihn schwächt unser Unrechtsempfinden. In der Darstellung des Syrienkriegs hat sich auch durchgesetzt, die Verurteilung von Gräueltaten sofort mit dem Verweis darauf abzuschwächen, dass die andere Seite ja auch welche begehe. Wenn zum Beispiel Berichte über Folter durch das Assad-Regime erscheinen, folgen Reaktionen wie: "Aber die Opposition hat ja auch …", "Aber der Islamische Staat tut ja auch …" So als wäre die Folter dadurch weniger schlimm. +Der IS legt die Latte zudem schmerzhaft hoch, was das Ausmaß der Brutalität angeht. +Der IS hat uns vieles angetan. Besonders bemerkenswert ist aber, wie fürchterlich abgebrüht er uns gemacht hat. +Wie bewerten Sie Onlinetools wie die Liveuamap, anhand derer man Fotos, Videos und Tweets zu Konfliktherden in Echtzeit verfolgen kann? +Ich wage zu bezweifeln, dass jemand, der sich nicht intensiv mit dem Syrienkonflikt befasst, sehr viel davon hat. Wer da hineingerät, ist quasi im Zentrum der Info-Warfront. Ich selbst schaue mir – wie auch alle meine Kollegen – täglich sieben oder acht Satellitenaufnahmen an, stehe immer mit mehreren Informanten in Kontakt. Die Informationen, die ich von der syrischen Liveuamap bekomme, kenne ich deshalb meistens schon. Da frag ich mich: Wer ist die Zielgruppe? + +Kann Social Media dabei helfen, zu einem ausgewogeneren Bild zu kommen? +Das Transportmedium der Nachricht entscheidet ja noch nicht über seine Qualität. Fakt ist, dass es noch keinen Krieg gegeben hat, in dem soziale Medien so eine große Rolle gespielt haben. Und auch, dass Menschen durch diese leichter Zugang zu Primärquellen haben. + +Mit denen nicht unbedingt jeder User umzugehen weiß. +Genau. Die lesen auf irgendwelchen Plattformen: Person X sagt dieses, Person Y sagt jenes. Und raus kommt die große Verwirrung. Es ist so, als wären die Medienkonsumenten plötzlich mitten in der Recherche. Die Qualität von Journalismus sollte sein, Nachrichten nicht nur zu übermitteln, sondern auch zu gewichten und auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Das können soziale Medien nicht bieten. +Sie sehen in Social Media also eher eine Gefahr der Desinformation? +Wer sich in die sozialen Medien begibt, um Geschichte auf eigene Faust zu beobachten, sollte auf jeden Fall sehr achtsam sein: Vonseiten Russlands zum Beispiel wird ein regelrechter Propagandakrieg geführt. Da werden sehr professionell falsche Twitterprofile erstellt und konsequent Falschinformationen erzeugt. + diff --git a/fluter/was-tun-gegen-smartphone-sucht.txt b/fluter/was-tun-gegen-smartphone-sucht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a79888e7586cc0281b5919064c5a271b428f7cb6 --- /dev/null +++ b/fluter/was-tun-gegen-smartphone-sucht.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Und tatsächlich: Auch mein Smartphone-Nutzungsverhalten hat etwas zunehmend Zwanghaftes. Dieses ständige Handy-aus-der-Hose-Zuppeln. Die PIN-Eingabe. Das Absuchen der Statusleiste. Ja, neue Mails. Nein, nichts Wichtiges. 76-mal täglich entsperren wir unser Smartphone im Durchschnitt, ermittelte letztes Jahr eine – wenngleich nicht repräsentative – US-Studie. Tendenz steigend. Ich las, dass unsere Telefone mittlerweile sogar ein Fall für die Drogenbeauftragte der Bundesregierung sind, Stichwort: "Onlinesucht". +Allein unter Jugendlichen in Deutschland hat sich die Zahl der Internetabhängigen zwischen 2011 und 2015 auf 270.000 etwa verdoppelt. Größter Suchtfaktor: das Smartphone (77,1 Prozent der Fälle), mit teils ernsthaften Folgen für Gesundheit und Gesellschaft. Eine exzessive Nutzung digitaler Medien hängt demnach statistisch zusammen mit gestörtem Sozialverhalten, Problemen in der Schule, Angst- und Schlafstörungen, Störungen von Konzentration und Sprachentwicklung sowie Fettleibigkeit. Von den möglichen Auswirkungen auf unsere Privatsphäre und den Datenschutz ganz zu schweigen. + +Was lässt sich dagegen tun? Wie kommen wir da wieder raus? Wir, die Gesellschaft, aber auch wir: meine Frau und ich? Wer kann uns helfen? Ich stoße auf die Website der "Radikalen Anti Smartphone Front" (RASF). Radikal klingt – angesichts des extremen Problems – schon mal gut. Gleich auf der Startseite lese ich Parolen wie "Tanzen statt Twittern!", "Lieben statt Liken!" und, oha: "Ficken statt Facebook!" Lustiger Hipster-Content oder ein ernstes Anliegen? +Die Macher, zwei junge Männer aus Berlin-Neukölln, haben ein Manifest verfasst, das mit über 2.000 Wörtern die Exzesse des digitalen Wandels geißelt, selbst eine englische Version gibt es. Und wenn auch die Aktionen und Demos (1. Mai, Tag der offenen Gesellschaft) eine noch sehr überschaubare Anzahl an Gleichgesinnten zu begeistern scheinen, hat die RASF doch schon ein Echo erzeugt. Auf Gruenderszene.de etwa machte sich der Chefredakteur die Mühe, auf zehn ihrer Thesen zu antworten – und sie teils scharf zu kontern. Die "oft beschworene [Filter-]Blase" sei "nur eine Legende", die Gründer der RASF womöglich bloß neidisch auf das in sozialen Netzwerken geteilte "bunte, erfüllte Leben der anderen", weil sie selber keines hätten. +Ein Anruf also bei Wenzel Gerstner, einem der beiden Initiatoren der Bewegung. Seine Stimme klingt zu Beginn so gar nicht radikal, eher sanft und verständnisvoll, ich meine, einen leichten schwäbischen Einschlag zu hören. +Nein, ironisch sei die Bewegung keineswegs, stellt er gleich zu Anfang fest: "Die Sache ist sehr ernst." Gerstner, 27, ist gerade mit dem VWL-Master fertig und macht bei "Abgeordnetenwatch" ein längeres Praktikum. Ja, die RASF-Sprüche seien lässig-flippig, aber die Message dahinter eine wichtige: "Das Smartphone hat in alle Lebensbereiche Einzug gehalten", sagt Gerstner. Entstanden sei das Projekt vor zwei Jahren, als er mit einem Studienfreund feststellte, "wie uns das ankotzt, dass die Leute nur noch vor dem Smartphone sind". Ich fühle mich verstanden. +Eine "Zeigefingerbewegung" wollen sie allerdings nicht werden, sondern einfach "zum Denken anregen", betont der Gründer, und radikal sei die RASF nur im eigentlichen Wortsinne von lateinisch "radix", die Wurzel. Das heißt: das Problem an der Wurzel packen. Dogmatisch seien sie nicht, auch Smartphone-Nutzer dürften sich selbstverständlich engagieren. Er selbst besitze aber ein Nokia 3310, sagt Gerstner, also einen von den ganz alten Knochen. +Okay. Zeit für Geständnisse. Ich hole tief Luft. "Meine Frau ist Smartphone-süchtig", bekenne ich. "Und ich glaube, ich auch. Was können wir da machen?" Gerstner scheint die Frage nicht zum ersten Mal zu hören. "Smartphone-freie Zonen im Haus etablieren", legt er gleich los. "Im Schlafzimmer besonders." Ich denke an meinen ersten Griff morgens zum Telefon auf dem Nachttisch. An den Schein des iPhone-Bildschirms abends im Dunkeln neben mir. Keine Telefone im Bett, überlege ich, ja, das wäre ein Anfang. +Wenzel Gerstner ist schon beim nächsten Punkt. Wir sollten uns eine App zur Aufzeichnung der Handynutzung herunterladen, etwa die von "Menthal Balance". So könnten wir erfahren, wie oft wir welche App aufgerufen haben, jeder Klick wird aufgezeichnet. "Im Schnitt nutzen wir unsere Telefone zweieinhalb Stunden am Tag", erklärt Gerstner, "aber nur sieben Minuten davon für Telefonate." Der Rest? "Vor allem diese ganzen Zeitkiller-Apps", erwidert er. +Candy Crush, Quizduell, Angry Birds – habe ich aber alles gar nicht auf meinem Telefon. Eigentlich nur die Basics: E-Mail, Nachrichtendienste, Webbrowser. Macht mein Leben leichter. Mit Freunden in Kalifornien und Singapur bleibe ich locker in Kontakt. Wichtige Mails kann ich in Echtzeit beantworten, aus der Bahn, im Café. Eine schnelle Online-Recherche, eine Verabredung für später, easy. Auch den Auftrag für diesen Artikel habe ich auf meinem Telefon entgegengenommen, auf dem Weg zu einem Freund. +Im RASF-Manifest heißt es: "Sobald wir nur mit dem kleinsten Anflug von Langeweile konfrontiert sind, greifen wir routiniert in die Hosentasche und lesen etwas nach, das wir nach fünf Minuten wieder vergessen haben." Die Gefahr: "Wer nicht gelangweilt ist, wird nicht kreativ, um neue Wege zu gehen oder Gedanken zu entwickeln, die länger als 140 Zeichen sind." +Ich erinnere mich: In der Zeit, als ich meinen Roman fertigschreiben musste, reagierte ich höchst allergisch auf jegliche Ablenkung, schmiss erst WhatsApp, anschließend das Mail-Programm, dann auch noch den Browser vom Telefon. Eine wunderbar konzentrierte Zeit. Mittlerweile ist längst alles wieder installiert. +Wenzel Gerstner empfiehlt mir die Zeitspar-App "Offtime". Mit ihr lassen sich zeitweilig alle ablenkenden und süchtig machenden Applikationen und sozialen Medien abschalten. "Jedes Mal, wenn man das Smartphone rausholt, kriegt man eine kleine Befriedigung", sagt er, sei es ein Like, ein Kommentar, eine Antwort von irgendwem. Die Message: Da ist noch jemand, der dich liebt. "Das hat absolut Suchtcharakter", warnt Gerstner, "da muss man für sich strikte Grenzen ziehen." Experten gingen davon aus, dass derzeit zweieinhalb Millionen Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland suchtgefährdet, 600.000 bereits süchtig sind. +Wir reden über eine halbe Stunde lang. Als ich auflege, fühle ich mich gut, irgendwie befreit. Jetzt kommt allerdings der schwierige Teil: die Umsetzung. Ich will das alles ausprobieren und auch meiner Frau vorschlagen, derzeit warte ich aber noch auf den passenden Moment. Meist sind wir beschäftigt, mit Arbeit, den Kindern oder … nun ja. +Ihr iPhone hat sie übrigens nicht mehr gefunden an jenem Morgen. Sie wirkte sehr niedergeschlagen, meine Frau, als wir uns unten vor dem Haus verabschiedeten. Ich entdeckte es später zwischen der Matratze und der Rückseite unseres Betts. Es glänzte weiß, sah sehr klein und unschuldig aus. + diff --git a/fluter/was-uns-ausmacht.txt b/fluter/was-uns-ausmacht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/was-von-der-wm-uebrig-blieb.txt b/fluter/was-von-der-wm-uebrig-blieb.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..bae82b66fb8faded21dbe7de7e76a1575c94bf36 --- /dev/null +++ b/fluter/was-von-der-wm-uebrig-blieb.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Die FNB-Arena in Johannesburg. Der Umbau für die WM hat 312 Millionen Euro gekostet +Nun war die Saison für die Kaizer Chiefs bereits gelaufen. Sie standen auf einem guten dritten Platz, aber die Meisterschaft konnten sie in diesem Jahr nicht mehr gewinnen. Südafrikaner hatten uns gewarnt, dass das Spiel nicht sonderlich begehrt sein würde. Als wir in der Ticketschlange die Einzigen sind, sind wir dann aber doch irritiert. Gemeinsam mit wenigen Fans in den orangefarbenen Trikots der Kaizer Chiefs gehen wir hinein. +Vom Eingang aus kann ich bereits die vielen bunten Schilder sehen, die frittiertes Huhn, Bier und Steaks versprechen. Doch die Jalousien der Buden sind verschlossen, nur ein paar fliegende Händler bieten Fanartikel an, die sie auf Decken auf dem Boden ausgebreitet haben. Erst nach einigem Umherirren finden wir einen geöffneten Essensstand, eine ältere Frau steht darin, sie grillt in einem Pappkarton. Die Speisekarte gelte heute nicht, sagt sie: "Middle of the month, no money for people." +Bilder von Menschen, die am Monatsersten in langen Schlangen vor den Geldautomaten standen, kommen mir in den Kopf. Überall in den südafrikanischen Städten hatte ich sie gesehen. Zwar kostet ein Ticket nur 40 Rand, das sind rund 2,70 Euro. Doch das ist eben auch ein Drittel der monatlichen Miete in einem Township-Mehrbettzimmer, wie ein Einheimischer uns erzählt hatte. Und 45 Prozent der schwarzen Südafrikaner leben unterhalb der oberen Armutsgrenze von 7.500 Rand im Jahr, das sind etwa 515 Euro. +Fußballbegeisterung hat Südafrika längst erfasst. Der versprochene Wirtschaftsaufschwung aufgrund der WM ist bei der Bevölkerung nie angekommen +Wir kaufen der Frau ihre einzigen beiden Steaks ab. Sie erzählt, dass das Stadion seit der WM kein einziges Mal mehr voll gewesen sei. Die WM habe zwar bis heute Touristen nach Südafrika gebracht – doch dass sie sich hierher verirren, sei eher selten. Auch am Bierstand herrscht Leere: Zehn junge Männer stehen hinter dem Tresen, bereit, ihre einzigen Gäste zu bedienen. Einer von ihnen jubelt kurz auf, als wir uns für ihn entscheiden. +Dabei ist Soccer City das einzige der zehn WM-Stadien, das schwarze Zahlen schreibt – dafür sorgen etwa die besser besuchten Heimspiele der Kaizer Chiefs und Parteiveranstaltungen des regierenden African National Congress. Alle anderen Stadien machen Verluste, viele gelten als "Weiße Elefanten", fremd wie Ufos stehen sie in den Städten herum und finden fast keine Nutzer. Potenzielle Mieter wie die populären Rugbyvereine in Kapstadt und Durban möchten lieber in ihren angestammten Heimspielstätten bleiben. +Vor allem das effektvoll an den Fuß des Tafelberges gebaute Stadion in Kapstadt belastet die öffentlichen Kassen, mehrere Millionen Euro Unterhaltungskosten sind es im Jahr. Ein Schicksal, das auch einigen Spielstätten der WM 2014 in Brasilien prophezeit wird, vor allem der Bau der Arena da Amazônia in der Urwaldstadt Manaus wurde oft kritisiert – entworfen wurde sie übrigens vom deutschen Architekturbüro Gerkan, Marg und Partner, das auch die südafrikanischen Stadien in Kapstadt, Port Elizabeth und Durban geplant hatte. +Auch zum Spiel der Kaizer Chiefs sind an diesem Mittwochabend nur rund 2.000 Menschen erschienen. Diese sind allerdings fröhlich: Viele lächeln uns an, fragen, woher wir kommen. Ob wir für "Bayern Munich" oder "Dortmund" seien. Ein Vortänzer turnt in den Pausen auf dem Rasen herum, als Reaktion bekommt er Vuvuzela-Getute. Am Ende verlieren die Kaizer Chiefs 0:1, aber so richtig sauer scheint niemand zu sein. +Zurück in Deutschland, lesen wir viel nach über die Folgen der WM in Südafrika. Tatsächlich kommen seit dem sportlichen Großereignis mehr Touristen ins Land. Die Durchschnittsbürger bekommen von dieser positiven Entwicklung allerdings nur wenig mit. Noch immer kann sich ab Monatsmitte kaum ein Südafrikaner eine Eintrittskarte für das Stadion von Johannesburg leisten. Bei einer Sache hatte die Frau mit dem Pappkarton allerdings unrecht: Das Stadion war seit der WM sehr wohl noch einmal gut gefüllt gewesen. Das war vor drei Monaten, bei der Trauerfeier für Nelson Mandela. +Charlotte Haunhorst arbeitet als freie Journalistin in München. Nicht alles, was sie in ihrem Urlaub in Südafrika erlebt hat, war so unspektakulär wie das Fußballspiel in Johannesburg. Als sie ihr erstes wildes Nilpferd sah, war sie sie so aufgeregt, dass eine beistehende Südafrikanerin sie irritiert fragte, ob es in Deutschland denn keine Nilpferde in freier Wildbahn gäbe. diff --git a/fluter/was-waehlen-in-oesterreich.txt b/fluter/was-waehlen-in-oesterreich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..05c947ad0596c88dad1c0f97af104aea48be60e8 --- /dev/null +++ b/fluter/was-waehlen-in-oesterreich.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Felix Oblin, 20 (links) und Josef Huber, 20 sind zwei von mehr als zehn Autoren von "daskleineeinmaleins" +Im Kernteam des kleinen Einmaleins ist keiner über 20 Jahre alt. Die meisten sind entweder frisch von der Schule oder haben gerade ihr Studium begonnen. Simon Nehrer und seine Freunde fühlen sich privilegiert, weil sie wissen, wie sie sich wo informieren können, und weil sie Zeit haben, sich mit Politik auseinanderzusetzen. Sie wissen auch, dass es nicht allen Altersgenossen so geht. Deshalb wollen sie ihr Wissen teilen. Im Einmaleins werden die wichtigsten Themen der Wahl erklärt und die Positionen der Parteien aufgelistet. Dazu gibt's eine Parteienübersicht, Manifeste zur Demokratie und zu Europa, Streitbares zu Wohlstand, Neoliberalismus und Freiheit. "Haben wir alles selbst gedacht und gemacht, auch die Seite", sagt Nehrer. +Sie haben Texte geschrieben, Freunde mit ins Team geholt und dann Unterstützung bekommen von Eltern, Journalisten und verschiedenen Experten wie beispielsweise dem Thinktank Agenda Austria. Das Unterstützerkomitee hat über alles drübergeschaut und Anmerkungen gegeben. Die Parteien wurden aber nicht gefragt, ob sie von den Positionen repräsentiert werden. Anders als ähnliche Angebote, die sich eine umfangreiche Qualitätssicherung leisten können, steht hier keine große Institution im Hintergrund. +Eines der meistgenutzten Wahl-Orientierungstools in Österreich ist übrigenswahlkabine.at, dasdem deutschen Wahl-O-Matähnelt. Es wurde gemeinsam von diversen politikwissenschaftlichen Instituten, unter anderem dem Institut für Neue Kulturtechnologien, erstellt. +Beimkleinen Einmaleinswollen die jungen Autoren nach eigenem Ermessen dafür sorgen, dass möglichst viele verschiedene Meinungen und Einstellungen nebeneinander Platz finden. Die Texte richten sich an junge Erwachsene. Aufklären, anstacheln zum Selberdenken – aber ohne erhobenen Zeigefinger, das ist der Selbstanspruch. "Uns geht es darum, dass Wähler wissen, was auf dem Spiel steht", sagt Nehrer. +Viele Inhalte sind in den letzten Wochen in den Hintergrund gerückt. Der Wahlkampf wurde zusehends durch Skandale getrieben. Da gab es die sogenannte "Schmutzkübelkampagne", in der auf Facebook-Seiten mit einschlägigen Videos gegen Sebastian Kurz Stimmung gemacht wurde. Das soll auf das Konto der SPÖ unter der Leitung des – mittlerweile aus anderen Gründen geschassten – Beraters Tal Silberstein gegangen sein. Hinzu kommt die Polemik der Debatten, von der am Ende die Rechtspopulisten der FPÖ profitieren. +Ob sie bei den nächsten Wahlen noch mal Guides machen, das wissen Simon Nehrer und die anderen noch nicht. Erst mal wollen sie den Sonntag abwarten. diff --git a/fluter/was-war-und-was-bleibt.txt b/fluter/was-war-und-was-bleibt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..50e33e75ddd853a86c59bf443adbf838b98053ec --- /dev/null +++ b/fluter/was-war-und-was-bleibt.txt @@ -0,0 +1,65 @@ +Das Mädchen mit den blonden Haaren lächelte. "Ich bin Jaelyn", sagte sie. +Das Mädchen mit den schwarzen Haaren lächelte zurück. "Ich bin Sabika." Und sie erzählte, dass sie eine Austauschschülerin aus Pakistan sei. +"Das ist ja cool", antwortete Jaelyn. "Pakistan." +Die Mädchen unterhielten sich weiter. Jaelyn erzählte Sabika, dass sie mit vollem Namen Jaelyn Cogburn hieß. Sie war 15, ebenfalls neu an der Schule und kannte noch nicht viele Leute. Auch Sabika nannte ihren vollen Namen und ihr Alter, Sabika Sheikh, 16. Sie kannte noch niemanden. +Wir haben vier Schülerinnen getroffen, die in den USAfür schärfere Waffengesetze kämpfen +Die Glocke läutete. Jaelyn und Sabika zogen weiter zu ihren nächsten Unterrichtsstunden. Am Ende des Schultages lief Jaelyn zum Parkplatz, wo ihre Mutter Joleen schon wartete. Während sie auf den Beifahrersitz kletterte, erzählte sie von dem Mädchen, das sie im Sportunterricht kennengelernt hatte. "Mom", fragte sie, "wo ist Pakistan?" +"Das liegt auf der anderen Seite der Welt", sagte Joleen. Sie blickte ihre Tochter etwas verwundert an. "Bist du dir sicher, dass sie Pakistan gesagt hat?" +Trotz der Nähe zu Houston fühlt sich Santa Fe mit seinen 13.000 Einwohnern immer nochsehr nach Kleinstadt an. Joleen, 35 Jahre alt, und ihr Mann Ja­son, 46, leben mit ihren sechs Kindern, von denen drei adoptiert sind, auf dreieinhalb Hektar in einem gemütlichen zweistöckigen Haus neben einem kleinen Teich. Ihre Nachbarn bauen Gemüse an und besitzen ihr eigenes Vieh. "Um ehrlich zu sein, passiert in unserer Gegend nicht viel", sagte Joleen eines Nachmittags an ihrem Küchentisch. Sie schmunzelte. "Na ja, unser Pastor ist mal auf dem Weg zur Kirche gegen eine Kuh gelaufen." +Wie alle Kinder der Familie Cogburn wurde auch Jaelyn, das älteste eigene Kind, zu Hause von Joleen unterrichtet, die sich in ihrem Lehrplanan der Bibel orientierte. Jaelyn war schüchtern. Abgesehen von der Gesellschaft ihrer Geschwister und ein paar Mädchen aus ihrer kirchlichen Jugendgruppe war sie meistens für sich. Doch irgendwann hatte sie ihre Eltern mit dem Beschluss überrascht, dass sie nun neue Leute kennenlernen wollte. Sie sagte, Gott habe es ihrem "Herzen aufgetragen", auf die Highschool in Santa Fe zu gehen. +Joleen und Jason erwarteten, dass es ihrer Tochter schwerfallen würde, sich an das Leben an einer öffentlichen Schule mit 1.500 Schülern zu gewöhnen. Das Gegenteil war der Fall. Jaelyn kam am ersten Schultag strahlend nach Hause und berichtete ganz aufgeregt von dem Mädchen aus Pakistan. Als Joleen sich an das Abendessen machte, zog sich Jaelyn in ihr Schlafzimmer zurück, wo fünf Bibeln in ihrem Bücherregal aufgereiht waren. Sie googelte Pakistan und erfuhr, dass es in Südasien liegt. Dass es auf der einen Seite anIndienundChinagrenzt und auf der anderen an Afghanistan und Iran. Sie las, dass fast alle 200 Millionen Einwohner Pakistans Muslime sind. Jaelyn ging wieder nach unten, lief in die Küche und erklärte Joleen, dass Sabikawahrscheinlich Musliminsei. "Weißt du, Mom", sagte sie, "ich habe bis jetzt noch nie einen Muslim getroffen." +"Tja, vielleicht hat Gott euch ja nicht ohne Grund zusammengebracht", antwortete Joleen. "Wer weiß? Vielleicht werdet ihr beiden Freundinnen." +Am selben Abend ging Sabika im Haus ihrer Gastfamilie, einem in Pakis­tan geborenen muslimischen Paar, das schon seit Jahren ein ruhiges Leben in Santa Fe führte, in ihr Zimmer und rief ihre Eltern an – im über 13.000 Kilometer entfernten Karatschi. + +Sabika und Jaelyn (ganz links) mit Freundinnen + +In der weitläufigen Hafenstadt im Süden Pakistans hatte der nächste Tag schon begonnen. Sabikas Mutter Farah und ihr Vater Aziz waren seit der Morgendämmerung mit ihren anderen drei Kindern wach. Wie jeden Morgen hatte sie der Gebetsruf geweckt, der aus den Lautsprechern des Minaretts der benachbarten Moschee kam. "Aschhadu an laa ilaha illa'Llah" ("Ich bezeuge, dass es keinen Gott außer dem einen Allah gibt"), sang der Muezzin, und seine Stimme hallte durch die Straßen. +Sabika erzählte ihren Eltern von ihrem ersten Tag an der amerikanischen Highschool. +"Und wirst du gut behandelt?", fragte Aziz sie. +"Ja, Baba", sagte Sabika, "sehr gut." +Seit Sabika ein kleines Mädchen war, hatten Aziz und Farah sie die islamischen Gebote für ein tugendhaftes Leben gelehrt. Zum Beispiel, dass sie Wut, Gier, Unehrlichkeit oder Misstrauen nicht in ihrem Herzen tragen sollte und dass sie, wenn sie Barmherzigkeit von Allah erwartete, auch anderen gegenüber barmherzig sein sollte. +Sabika war eine hervorragende Schülerin. Bereits am Ende ihrer Grundschulzeit sprach sie fließend Englisch. In der weiterführenden Schule gewann sie den Golden Pen Award für kreatives Schreiben und war die Zweitbeste ihrer Klasse bei den Abschlussprüfungen. Freundschaften zu schließen fiel ihr leicht. +Am Telefon machte sich Sabika mit ihren Freundinnen über pakistanische Fernsehserien und über Popsänger lustig, die in der Musiksendung "Coke Studio Pakistan" aufgetreten waren. Sie sprachen über amerikanische Fernsehsendungen, die sie auf YouTube angeschaut hatten – "American Idol", "America's Got Talent", "Friends" und die "Ellen DeGeneres Show". Und manchmal fragten sie sich, wie das Leben in Amerika wohl wirklich ist. +Im Herbst 2016 erfuhr Sabika von ihrer älteren Cousine Shaheera von einem Austauschprogramm des US-amerikanischen Außenministeriums, das nach dem11. September 2001vom Kongress ins Leben gerufen worden war, um die kulturellen Beziehungen zur muslimischen Welt zu stärken. Sabika zögerte nicht lange und erzählte ihren Eltern, dass sie sich dafür bewerben wollte. +Im Januar 2017 bekam sie die Nachricht, dass sie eine von etwa 900 Schülerinnen und Schülern war, die ausgewählt worden waren. "Ich bin wie eine Verrückte herumgesprungen", sagte sie damals in einem YouTube-Video, das sie für ihre Freundinnen aufgenommen hatte. Obwohl sie ihren Eltern versichert hatte, dass ihre ersten Tage an der Santa Fe High gut verlaufen waren, vertraute Sabika ihrer Cousine an, dass es ihr schwerfiel, sich dort einzuleben. Sie konnte den Witzen ihrer Klassenkameraden und den Anspielungen auf Filme und Songs kaum folgen. Sie spürte auch, dass sich andere Schüler um sie herum unwohl fühlten und sie wegen ihres Akzents nicht verstanden. +Die einzige Ausnahme, so erzählte sie Shaheera, war ein schüchternes Mädchen in ihrem Sportunterricht – Jaelyn Cogburn. Jeden Tag in der vierten Stunde lief Jaelyn mit Sabika die Aufwärmrunden in der Sporthalle und stellte ihr dabei Fragen, die auf dem basierten, was sie im Internet recherchiert hatte. Durfte Sabika tatsächlich kein Schweinefleisch essen, weil es als unrein galt? (Richtig.) Würde sie ihren Eltern erlauben, ihre Ehe zu arrangieren? (Höchstwahrscheinlich, obwohl sie den Mann zuerst würde treffen wollen.) Und glaubte sie wirklich, dass der Koran das letzte Wort Gottes war? (Natürlich, sagte Sabika.) +Das Ganze funktionierte auch umgekehrt, und auch Sabika, die zuvor noch nie einen Christen getroffen hatte, fragte Jaelyn nach ihrem Glauben. Jaelyn erklärte, dass sie im Alter von fünf Jahren ihr Leben Jesus Christus gewidmet hatte. Sie zeigte Sabika die Bibel-App auf ihrem Handy, Sabika öffnete ihre Koran-App zusammen mit dem digitalen Kompass ihres Telefons. Er war ihr verlässlicher Begleiter, damit sie bei ihren täglichen Gebeten immer nach Osten in Richtung Mekka blickte. +Jaelyn und Sabika trafen sich nun jeden Tag zum Mittagessen in der Schulkantine. Im Oktober lud Jaelyn Sabika zu sich nach Hause ein. "Willkommen in Texas!", sagte Joleen und umarmte sie. Für Sabika war Joleen wie alle amerikanischen Mütter, die sie im Fernsehen gesehen hatte – hübsch, aufgeschlossen und immer bereit, alles stehen und liegen zu lassen, um einem ihrer Kinder zu helfen. +Anfang Dezember erwähnte Sabika gegenüber Jaelyn, dass sie gern in eine neue Gastfamilie umziehen würde und deshalb die Stipendienorganisation kontaktiert habe. Ihre jetzigen Gasteltern seien sehr nett, aber sie wolle unbedingt erleben, wie das Leben in einer nichtmuslimischen amerikanischen Familie aussehe. Am selben Abend fragte Jaelyn ihre Eltern, ob sie Sabika aufnehmen könnten. "Schatz, ich muss schon sechs Kinder großziehen", war Joleens prompte Antwort. Aber sie bemerkte Jaelyns flehenden Blick. + +Sabika bekam in Pakistan Auszeichnungen für ihre schulischen Leistungen +Schließlich bekam Sabika ein Schlafzimmer im Obergeschoss. Sie hängte eine pakistanische Flagge an die Wand und klebte eine ihrer Lieblingspassagen aus dem Koran an das Kopfteil ihres Bettes. +Ihren Freunden erzählten Jason und Joleen erst später von dem neuen Gast. Sie konnten sich deren Reaktion bereits vorstellen: "Was macht ihr dennmit einem muslimischen Mädchen aus einem Land, in dem Terroristen leben?" +Als sich Heiligabend näherte, äußerte Sabika den Wunsch, zusammenmit der Familie zur Kirche zu gehen. Gekleidet in ein knöchellanges traditionelles pakistanisches Kleid setzte sie sich neben Jaelyn. Verblüfft hörte sie zu, als der Pastor davon sprach, dass Jesus in einem Stall von einer Jungfrau geboren worden war. Sie beobachtete, wie die Gläubigen das Abendmahl feierten, und sie erhob sich mit allen anderen, um christliche Lieder zu singen. +Am nächsten Tag feierte Sabika Weihnachten mit den Cogburns, in der Woche darauf besuchten sie zusammen ein christliches Treffen. Dort verbreitete sich die Nachricht, dass sie eine praktizierende Muslimin sei. Ein Teenager fragte Sabika, ob sie eine Terroristin sei. "Hör auf damit!", fauchte Jaelyn, "Sabika ist meine Freundin!" +"Du bist mit ihr befreundet?" Der Junge ließ nicht locker. +"Wir sind beste Freundinnen", konterte Jaelyn. +Genauso wie in Pakistan war Sabika auch in den USA eine gute Schülerin. In Physik hatte sieBestnoten. Für den Englischunterricht las sie pflichtbewusst amerikanische Klassiker und schrieb eine Arbeit über die#MeToo-Bewegung. In Geschichte hielt sie eine Präsentation über Pakistan, in der sie von den freundlichen Menschen und dem leckeren Essen schwärmte. Auch in anderer Hinsicht hinterließ sie einen bleibenden Eindruck. "Ich weiß nicht, wie ich das genau erklären soll, aber man hat sich in Sabikas Gesellschaft einfach wohlgefühlt", sagte ihr Sportlehrer. "Sie hat nie gestritten, und sie war nie verärgert. Sie war eine Friedensstifterin." +Jeden Abend lag sie mit Jaelyn auf ihrem Bett – Sabikas Kopf an einem Ende, Jaelyns am anderen. Mithilfe ihrer Smartphone-Apps zitierte Jaelyn die Bibel und Sabika den Koran. So ging es stundenlang, bis sie schließlich das Thema wechselten und sich darüber austauschten, was an diesem Tag in der Schule passiert war. +Manchmal wurde Sabika aber auch mit tragischen Aspekten des Lebens in den USA konfrontiert. Im Januar erfuhren sie und Jaelyn, dass ein Schüler der Santa Fe High Selbstmord begangen hatte. Am Valentinstag erhielten sie auf ihren Handys Eilmeldungen, dass es eineSchießerei an einer Highschoolin Florida gegeben hatte. Ein 19-jähriger Ex-Schüler hatte 17 Schüler und Mitarbeiter getötet, weitere 17 verwundet. +Sabika war mit Gewalt an Schulen vertraut. Im Laufe der Jahre hatten die Taliban in den Stammesgebieten Pakistans die Schulen gewaltsam geschlossen, an denen Mädchen unterrichtet wurden. Im Jahr 2014 überfielen bewaffnete Männer eine Schule in der Stadt Peschawar und töteten 149 Menschen, darunter 132 Schüler. Doch das, was in Parkland, Florida, geschehen war, konnte Sabika nicht verstehen. Warum, fragte sie Jaelyn, lief ein amerikanischer Junge, der mit Privilegien gesegnet war, die die meisten Pakistanis nur aus dem Fernsehen kennen,Amok? +Der Frühling begann. Da ihre Zeit in den USA langsam zu Ende ging, versuchte Sabika, noch möglichst viel vor ihrer Rückreise nach Pakistan zu unternehmen. Sie trug Jaelyns Cowboystiefel zum Rodeo in Houston, und sie versuchte das Fahrradfahren zu lernen. +Aber sie hatte auch Heimweh und sah sich online Kricketspiele der pakis­tanischen Nationalmannschaft gegen Indien an. Sie streamte die Fernsehshow "Coke Studio Pakistan". Dann schrieb sie einen Brief an Jaelyn. "Ich weiß wirklich nicht, wie ich deine Abwesenheit ertragen soll, wenn ich wieder in Pakis­tan bin. Du bist toll, witzig, fürsorglich, sensibel, gottliebend, menschenliebend, eine Frohnatur, positiv und einfach nur fantastisch." +Sabikas Rückkehr nach Karatschi war für den 9. Juni geplant. Am 18. Mai, noch bevor die Sonne aufging, aßen Sabika und Jaelyn schnell ihr Frühstück und fuhren dann mit dem alten grünen Pick-up der Familie zur Schule. Jaelyn hatte zwar keinen Führerschein, aber die Schule war weniger als eine Meile entfernt, und der Weg führte über eine Nebenstraße. Auf dem Weg vom Parkplatz zu den Unterrichtsräumen verabschiedeten sie sich voneinander. +Wenige Minuten nachdem Jaelyn sich im Biologieunterricht an ihren Platz gesetzt hatte, ertönte der Feueralarm. "Das ist wahrscheinlich nur eine Übung", sagte die Lehrerin. "Lasst all eure Sachen bei euren Tischen." +Jaelyn verließ die Schule zusammen mit ihren Klassenkameraden durch eine Seitentür. Draußen rasten mehrere Polizeiautos mit lautem Sirenengeheul vorbei. Ein Lehrer erzählte von einer Schießerei im Kunstraum, und in der Ferne sah Jaelyn ein Mädchen, das aus der Schule humpelte. Sie versuchte mehrfach, Sabika anzurufen, doch es meldete sich immer nur die Mailbox. Die lokalen Fernsehsender unterbrachen ihre laufenden Sendungen und warnten davor, dass sich ein Amokläufer an der Highschool in Santa Fe aufhielt. +In Karatschi hatten Aziz, Farah und ihre Kinder gerade zu Abend gegessen. Aziz schaltete den Fernseher ein, um sich die neuesten Nachrichten des Senders Pakistan 92 anzusehen. Er las im Newsticker von einer Schießerei an einer texanischen Schule und wechselte zu CNN. Auf dem Bildschirm erschien ein Foto der Highschool, die seine Tochter besuchte. +Aziz rief Sabika an, 24 Mal in Folge. Schließlich versuchte er es bei Jason, der inzwischen mit Joleen zur Highschool gefahren war. Die beiden Männer hatten noch nie zuvor miteinander gesprochen. Jason sprach langsam, damit Aziz ihn verstehen konnte. Er sagte, Sabika werde vermisst, und sobald er mehr Informationen habe, werde er zurückrufen. +Jason, Joleen und Jaelyn wurden in ein nahe gelegenes Schulgebäude geschickt, genauso wie andere Familien, die noch auf der Suche nach ihren Kindern waren. Immer wieder kam ein Bus mit Schülern an, die noch in der Highschool gewesen waren. Die Cogburns sahen sich jede Schülerin an, die aus dem Bus stieg, in der Hoffnung, dass Sabika auftauchen würde. Der letzte Bus kam um 13:30 Uhr, in ihm saßen die Schüler aus dem Kunstraum. Joleen fragte, ob jemand Sabika gesehen habe. Eine Schülerin erzählte, dass sie mitbekommen habe, wie Sabika morgens zum Kunstunterricht gegangen war, aber nicht, dass sie den Raum wieder verlassen hatte. Dann bekam Jason einen Anruf von einem Freund im Krankenhaus. Er nahm Jaelyn und Joleen mit in einen leeren Raum, um ihnen zu sagen, dass Sabika tot war. Jaelyn brach zusammen, und Joleen begann zu schreien. + +Sabikas Grab in Karatschi wird nicht nur von ihrem Vater oft besucht- sondern auch von Freunden + +Nachdem die Cogburns nach Hause gefahren waren, ging Jason nach draußen und rief Aziz an. Dieser stand in Karatschi in seinem Wohnzimmer, umgeben von Freunden und Verwandten, die von der Schießerei gehört hatten. Farah saß mit den Kindern auf dem Sofa. Nachdem er mit Jason gesprochen hatte, legte Aziz das Telefon nieder. Er wandte sich an alle im Raum und sagte: "Sabika lebt nicht mehr." +Acht Schüler und zwei Lehrer starben an diesem Tag an der Santa Fe High, 13 weitere wurden verwundet. Der 17-jährige Schüler Dimitrios Pagourtzis wurde verhaftet. Er gestand die Morde. +Dimitrios war nicht vorbestraft. Als Kind war er Mitglied einer Tanzgruppe der griechisch-orthodoxen Gemeinde. Später spielte er in einem der Footballteams der Schule. Er war ein ruhiger Typ, viele Schüler kannten ihn überhaupt nicht. Jaelyn und Sabika waren ihm zuvor nie begegnet, aber ihre Freundin Samantha hatte schon ein paar Mal versucht, mit ihm zu reden; sie machte ihm einmal ein Kompliment wegen derKampfstiefel, die er oft in der Schule trug. Aber er hatte sie stehen lassen, ohne ihr eine Antwort zu geben. +Angeblich führte eine Begegnung mit einer 16-jährigen Schülerin zu Dimitrios' Tat. In diesem Frühjahr hatte Dimitrios mehrmals versucht, sich mit ihr anzufreunden, doch sie hatte ihn immer wieder abblitzen lassen. Nach Aussagen ihrer Mutter habe sie Dimitrios vor den Augen mehrerer Mitschüler zurückgewiesen – wenige Tage vor der Schießerei. +Sabika gehörte zu denen, die versucht hatten, zu fliehen. Dimitrios schoss ihr in die rechte Schulter, in die Stirn und die Wange. Dann ging er hinaus auf den Flur und zielte auf weitere Schüler, einen Lehrer und einen Sicherheitsmann der Schule. Schließlich, 30 Minuten nachdem er die ersten Schüsse abgefeuert hatte, gab er auf. +Ein paar Tage nach der Schießerei fuhren Jaelyn und ihre Familie zu einem Bestattungsinstitut. Sie sahen Sabikas Körper, der gewaschen, in weiße Leinentücher gewickelt und in einen schlichten Holzsarg gelegt worden war. Die Einschusslöcher in ihrem Gesicht waren überschminkt. Sabikas Sarg wurde in die grün-weiße Flagge Pakistans gehüllt und nach Karatschi geflogen, wo eine pakistanische Ehrengarde wartete. Später wurde ihr Körper von der Wohnung ihrer Eltern zu einem kleinen Friedhof gebracht, aus dem Sarg genommen und in ein flaches Grab unweit des Grabes ihrer Großeltern gelegt. Aziz drehte Sabikas Gesicht nach Osten, sodass sie immer nach Mekka blicken würde. +In ganz Südasien war Sabikas Tod auf den Titelseiten der Zeitungen. Reporter beschrieben sie als Pakistans Märtyrerin –eine idealistische junge Frau, die nach Amerika gereist war, gespannt darauf, das Beste der Kultur kennenzulernen, nur um das Schlimmste zu erleiden. Wütende Pakistanis erklärten, dass die Vereinigten Staaten kein Recht hätten, andere Länder als terroristisch zu denunzieren, während sie selbst unter ihrer ganz eigenen Version des Terrorismus litten. +Aziz war nie politisch aktiv, aber jetzt gab er Interviews, in denen er Präsident Trump bat, Gesetze zu erlassen, die amerikanische Teenager daran hindern,Schusswaffen zu erwerben. "Keine anderen Eltern sollten jemals diese unerträgliche Trauer erleben müssen", sagten Aziz und Farah in einer Pressemitteilung. "Sabikas Bild ist jeden Moment vor unseren Augen, und ihre Stimme und ihr Lachen hallen in unseren Ohren. Für eine Mutter und einen Vater bleiben dieses Trauma und diese Trauer bestehen bis zum letzten Atemzug." +Die Cogburns wandten sich an ihre Kirche, um Trost zu finden. Ende Mai bat Joleen den Pastor, einen Trauergottesdienst für Sabika abzuhalten. Es war eine besondere Bitte – eine Gedenkfeier für eine Muslimin in einer evangelikalen Kirche. Mehr als 100 Personen nahmen daran teil. Sie sangen die christlichen Lieder, die Sabika am liebsten gemocht hatte, "Reckless Love" und "What a Beautiful Name". +Nach dem Gottesdienst war Jaelyn in etwas besserer Verfassung. Im Laufe der folgenden Tage hatte sie jedoch Schwierigkeiten, sich auf etwas anderes als Sabikas Tod zu konzentrieren. Sie schickte Textnachrichten an Sabikas Mutter, und eines Abends rief sie Farah an, nur um ihre Stimme zu hören. Doch Farah klang so sehr nach ihrer Tochter, dass Jaelyn zusammenbrach. +Jaelyn wurde von einem immer wiederkehrenden Traum gequält. Sie würde nach Karatschi reisen, um ihre Freundin zu sehen, aber jedes Mal, wenn Jaelyn versuchte, sich ihr zu nähern, drehte sich Sabika um und rannte weg. Sabikas Gesicht sah aus, als wäre es verbrannt. "Ich will nicht mit dir reden!", schrie Sabika im Traum. "Lass mich in Ruhe!" Jaelyn würde ihr nachlaufen, doch Sabika würde jedes Mal verschwinden. +Aus dem Englischen von Claudia Eberlein +Titelbild: Courtesy of the Coburn family +© Texas Monthly 2019 diff --git a/fluter/was-weisst-du-denn-schon.txt b/fluter/was-weisst-du-denn-schon.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0c87f87f310cc303eb9395e6d7ad2ed243baeb0e --- /dev/null +++ b/fluter/was-weisst-du-denn-schon.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Der untersuchte Adidas-Fußballschuh "Predator" etwa, den Fußball-Weltmeister Mesut Özil auf riesigen Werbeplakaten trug, enthält 14,5 Mikrogramm pro Quadratmeter der zu den umweltschädlichen und bioakkumulativen (sich im Körper anreichernden) PFC gehörenden Perfluoroctansäure (PFOA) – das ist fast das 14-fache des Grenzwertes, den Adidas selbst intern für seine Produkte festgelegt hat. Sogar im "Brazuca"-Ball steckten pro Kilogramm 20 Milligramm Nonylphenolethoxylate. +Es ist nicht auszuschließen, dass die gefundenen Konzentrationen eine Folge von technisch bedingten Verunreinigungen sind, weil etwa die Maschinen zwischen der Herstellung von Produkten unterschiedlicher Produzenten nicht gereinigt wurden. So erklären zumindest Adidas, Nike und Puma die Testergebnisse von Greenpeace und verweisen darauf, dass sie bestimmte Chemikalien gar nicht einsetzen und bei anderen Stoffen die Grenzwerte strikt einhalten würden. Adidas sicherte ferner zu, dass 90 Prozent aller ihrer weltweit vertriebenen Produkte frei von PFC sind. Außerdem verpflichtete sich der Konzern, die Anzahl der PFC-freien Produkte bis Ende 2017 auf 99 Prozent zu steigern; bis 2020 sollen alle Produkte sauber sein. +Doch die Greenpeace-Studie ist kein Einzelfall. Werden Alltagsprodukte auf chemische Inhaltsstoffe untersucht, sind die Ergebnisse immer wieder gleich erschreckend. Ob Haushaltswaren, Sportartikel, Möbel, Spielzeug, Heimwerkerprodukte, Elektro- und Elektronikgeräte, Fahrzeuge oder Verpackungen – jeder Kauf solcher Produkte scheint heute ein Gesundheitsrisiko einzuschließen. +Ein wenig Abhilfe immerhin gibt es inzwischen: Seit Juni vergangenen Jahres kann man im Internet auf einer Informationsseite des Umweltbundesamtes eine Verbraucheranfrage stellen, um herauszufinden, ob in einem von europäischen Unternehmen hergestellten oder vertriebenen Alltagsprodukt als besonders besorgniserregend registrierte Chemikalien enthalten sind oder nicht. Für Spontankäufe eignet sich diese Auskunftsmöglichkeit allerdings nicht – der Hersteller hat nämlich 45 Tage Zeit, um auf die Anfrage zu antworten. +Dennoch ist die Auskunftspflicht der Hersteller ein großer Fortschritt für die Verbraucher, betont Eva Becker, Chemieexpertin im Umweltbundesamt. "Es ist das erste Mal, dass es eine solche Möglichkeit gibt", sagt sie. "Man kann die Verbraucher nur ermutigen, das zu nutzen, weil man auf diese Weise auch Hersteller und Händler dafür sensibilisiert, mehr Sorgfalt auf Herstellung und Auswahl ihrer Produkte zu legen." Tatsächlich ist die Resonanz auf die Auskunftspflicht bislang recht gut. Nach dem Einrichten des Onlineformulars im Juni letzten Jahres gingen in den ersten sechs Monaten rund 5.000 Produktanfragen über das Formular an Hersteller und Importeure. +Die Auskunftspflicht der Unternehmen ist das für die Verbraucher bislang sichtbarste Ergebnis einer kleinen Revolution, die sich von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt in den letzten Jahren vollzogen hat. Die Rede ist von REACH, der 2007 in Kraft getretenen Europäischen Chemikalienverordnung. REACH steht dabei für "Regulation Concerning the Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals", also die Verordnung zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe. Erstmals ist damit das bis dato in eine Vielzahl von europäischen Richtlinien und Verordnungen wie auch nationale Rechtsvorschriften zersplitterte Chemikalienrecht in einem in ganz Europa unmittelbar geltenden Regelwerk zusammengefasst worden. +Es ist ein Jahrhundertvorhaben, das die Europäische Union der Industrie abgerungen hat. Auch wenn Kritiker monieren, dass die Lobbyverbände der Wirtschaft den ursprünglich rigiden Ansatz der Verordnung stark verwässert haben, gilt REACH inzwischen dennoch als eines der strengsten Chemikaliengesetze der Welt. +Ursprünglich sollte REACH mehr als 100.000 Chemikalien ins Visier nehmen, die seit Jahrzehnten in unseren Industriegesellschaften produziert werden und in unzähligen Alltagsprodukten enthalten sind. In der Erarbeitungsphase des Programms hat man sich aber schließlich auf die gebräuchlichsten rund 30.000 Substanzen beschränkt. Über viele ältere dieser Chemikalien, die zum Beispiel auch in Textilien, Möbeln, Kosmetika oder Spielzeug zu finden sind, lagen bis dahin keine oder nur unzureichende Informationen vor. Denn vor 1981 mussten neue Substanzen vor ihrer Markteinführung nicht auf mögliche Umwelt- und Gesundheitsgefahren getestet werden. +Diese Informationslücken will REACH stopfen. Betroffen von dem Regelwerk sind dabei nicht nur Großkonzerne der chemischen Industrie, sondern auch Importeure von Chemikalien und Tausende von mittleren und kleinen Unternehmen wie Textilfabrikanten, Malerbetriebe, Bauhandwerker und chemischen Reinigungen in ganz Europa. +Und so existiert im Gebäude der ECHA (European Chemicals Agency) in Helsinki mittlerweile die größte Chemiedatenbank der Welt. Schon in der 2008 erfolgten Vorregistrierungsphase hatten rund 40.000 Unternehmen aus der EU, darunter allein über 6.700 Firmen aus Deutschland, alle chemischen Substanzen angezeigt, die sie produzieren oder anwenden. +Nach dieser ersten großen Inventur begann 2009 die eigentliche Registrierung jener Chemikalien, die in Mengen von mehr als einer Tonne jährlich hergestellt oder importiert werden. Dieser mehrstufige Prozess ist teilweise noch im Gange und wird erst 2018 vollständig abgeschlossen sein. Im Zuge der Registrierung müssen Hersteller, Lieferanten und Anwender jeweils Menge, Zusammensetzung und Gefährlichkeit der von ihnen in größerem Umfang benutzten Chemikalien angeben. Diese Daten werden von der ECHA verwaltet und teilweise geprüft. +Auf große Gegenliebe bei Unternehmern und Lobbyverbänden stieß die Registrierungspflicht allerdings nicht. Zum einen, weil der bürokratische Aufwand für die Anmeldung der Chemikalien recht hoch ist. Zum anderen aber auch aus Sorge vor der Konkurrenz: Viele Unternehmen fürchten, durch zu viel Offenheit Mitbewerbern Hinweise auf die gut gehüteten Rezepturen für ihre Produkte zu geben. +Parallel zu dieser Registrierung erarbeiten die ECHA und die EU-Mitgliedsländer eine Liste von "besonders besorgniserregenden Stoffen", den sogenannten SVHC (Substances of Very High Concern). Diese Verbindungen stehen zum Beispiel im Verdacht, krebserregend zu sein, die Umwelt oder das Erbgut zu schädigen. Vorschläge darüber, welche Stoffe auf diese Liste gelangen, können von der ECHA oder den EU-Mitgliedsstaaten eingebracht werden. +Die Stoffe, die nach der Entscheidung des Ausschusses der Mitgliedsstaaten auf die SVHC-Listegesetzt werden, unterliegen einem generellen Verwendungsverbot. Kann ein Unternehmen allerdings nachweisen, dass die Risiken der Chemikalie beherrscht werden oder dass der sozioökonomische Nutzen der Verwendung größer ist als das Risiko, dann kann die EU-Kommission eine Zulassungsgenehmigung erteilen. Derzeit enthält die im Internet veröffentlichte Liste der "besonders besorgniserregenden Stoffe" insgesamt 155 Substanzen. Viel zu wenig, wie Greenpeace, der WWF und andere Umweltverbände kritisieren. "Wir wissen heute schon von einigen hundert Chemikalien, dass sie hochgefährlich sind", sagt eine WWF-Sprecherin. +Auch wissenschaftliche Studien machen deutlich, wie weit REACH von ihrem erklärten Ziel eines hohen Schutzniveaus für die menschliche Gesundheit und die Umwelt noch entfernt ist. So warnten erst kürzlich führende Neurologen in einem von der Fachzeitschrift "The Lancet Neurology" veröffentlichten Appell vor einer "lautlosen Epidemie" von Hirnentwicklungsstörungen bei Kindern, die durch Chemikalien in Alltagsgegenständen verursacht werden. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit würden mehr Stoffe als bisher bekannt wie Nervengifte wirken, weil die giftigen Auswirkungen von Zehntausenden Industriechemikalien auf Fötus und Kind nie geprüft worden seien. diff --git a/fluter/was-willst-du-waehler.txt b/fluter/was-willst-du-waehler.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1e6a117bd7b9449cc50b5ba21ab5d76d60c79186 --- /dev/null +++ b/fluter/was-willst-du-waehler.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Das Ergebnis erfährt man dann auf den Webseiten von ARD und ZDF, in Tageszeitungen, Online-Magazinen und natürlich auch im TV selbst. Zur besten Sendezeit berichten der "ARD-Deutschlandtrend" und das "ZDF-Politbarometer", wie die angeblichen politischen Neigungen der Bundesbürger sind. Das Problem: Umstritten sind die Erhebung an sich, ebenso die Einordnung der Werte und letztlich auch der Nutzen solcher Umfragen. +Es beginnt mit der Befragung: Die ARD lässt von Infratest dimap "mindestens 1.000 Bundesbürger" befragen, das ZDF durch die Forschungsgruppe Wahlen "rund 1.250 Wahlberechtigte". Aus diesen Zahlen werden dann die Prozentwerte für die Parteien hochgerechnet. Heraus kommen gerundete Angaben (so wiehieroderhier). +Je höher der prozentuale Wert ist, desto stärker kann das tatsächliche Wahlergebnis davon abweichen. Ein Sprecher des ZDF stellt deshalb klar: "Auch repräsentative Umfragen sind immer Wahrscheinlichkeitsaussagen. Sie können nie hundertprozentig genau sein." Er erklärt anhand der ZDF-Umfrage zum "Politbarometer": Wenn sich 40 Prozent der Befragten für eine Partei entscheiden, dann belaufe sich die sogenannte Fehlertoleranz meist auf rund drei Prozentpunkte. "Das heißt, der Anteil dieser Partei bei allen Wahlberechtigten liegt zwischen 37 und 43 Prozent." Bei einem Parteianteil von zehn Prozent beträgt die Fehlertoleranz rund zwei Prozentpunkte. +Allerdings, so erklärt das ZDF, sei es durchaus wahrscheinlicher, dass der wahre Wert "im Zentrum des Intervalls" liege, also beispielsweise eher bei 40 Prozent als bei 37 oder 43 Prozent. Die Fehlertoleranz ist jedenfalls groß, denn für eine Partei wie die CDU, die derzeit oft bei 40 Prozent in den Umfragewerten liegt, wäre es am Wahltag ein Unterschied wie Tag und Nacht, ob letztlich 43 Prozent oder 37 Prozent erreicht würden. +Ein weiteres Problem sind die Antworten der Befragten an sich. Denn nicht immer sagen sie die Wahrheit. Wer zur Wahl einer rechtsextremen oder nicht etablierten und eventuell umstrittenen Partei neigt, teilt das nicht so gern am Telefon mit, wie mehrere Demoskopen sagen. +So ergaben sich in der Vergangenheit teilweise unerwartet hohe Prozentwerte für kleinere Parteien. Unerwartet – weil sich alle an den Befragungen der Meinungsforscher orientiert hatten. Bei der Landtagswahl 2014 in Sachsen erreichte die AfD am 31. August 9,7 Prozent. Zehn Tage vor der Wahl lag die AfD laut der "Sonntagsfrage" von Infratest dimap bei nur 7 Prozent, ein krasser Unterschied von 2,7 Prozentpunkten. +Klaus-Peter Schöppner, ehemaliger Geschäftsführer der TNS Emnid Medien- und Sozialforschung, verdeutlicht eine Tatsache, die oft aus dem Blick gerät: "Die aktuelle ‚Sonntagsfrage' kann nur aktuelle Einstellungen messen, keine zukünftigen Verhaltensweisen." Demoskopen sprechen von einer sogenannten "Einstellungsfrage". Und die Einstellung kann sich ändern, vor allem wenn vor Wahlen noch etwas geschieht, etwa ein Atomkraftwerk Probleme bereitet. +Meinungsforscher und Medien sagen ganz klar, dass es sich bei der "Sonntagsfrage" nicht um eine Wahlprognose handele. Infratest dimap: "Rückschlüsse auf den Wahlausgang sind damit nur bedingt möglich." Nur: Beim Verkünden der Zahlen im TV oder auch in Zeitungen kann diese ganz wesentliche Information bei den Wählern leicht aus dem Blick geraten, vor allem kurz vor Wahlen. +Sogenannte taktische Wähler verfolgen die Umfragen und machen ihr Kreuz beispielsweise eher bei der FDP, wenn sie hoffen, dass sie die Fünf-Prozent-Hürde schafft und in ein Parlament einzieht. Somit können Umfragen die Meinung von Wählern durchaus beeinflussen, sagt Torsten Schneider-Haase vom Meinungsforschungsinstitut TNS Emnid. Allerdings täten das auch viele andere Informationen vor der Wahl. "Das ist also nicht manipulativ, sondern ein gemessener Wert."Das ZDF sieht es genauso. Vor der vergangenen Bundestagswahl 2013 brachte das ZDF erstmals ein "Politbarometer" drei Tage vor dem Urnengang, also am Donnerstag vor dem Wahlsonntag. Das ZDF wollte damit das Recht "des Wählers auf die bestmögliche Information" einlösen. Frank Brettschneider, Kommunikationswissenschaftler der Universität Hohenheim, begrüßt dieses Vorgehen des ZDF. "Direkte Effekte von veröffentlichten Umfragen auf Wählerinnen und Wähler sind übrigens nicht empirisch nachgewiesen", sagt Brettschneider.Die ARD hingegen teilt mit, sie habe sich bewusst entschieden, zehn Tage vor einer Wahl die letzte Umfrage zu veröffentlichen. Denn, so erklärt die ARD: "Mehr als ein Drittel der Wählerinnen und Wähler entscheidet sich mittlerweile erst kurze Zeit vor der Wahl. Diese Phase sollte aus Sicht der ARD nicht von neuen Umfrageergebnissen geprägt sein. Angesichts der immer geringeren Parteibindung der Wählerinnen und Wähler hat das taktische Wählen mittlerweile eine hohe Relevanz. Weitere veröffentlichte Umfragen unmittelbar vor dem Wahltag könnten einen Kreislauf zwischen taktischer Wahlentscheidung und neuer Entscheidungsgrundlage durch Umfragen in Gang setzen, der dem demokratischen Prozess nicht förderlich ist." +Da fehlen einem die Worte: Manchmal sind Plakatschmierereien recht präzise Wahlprognosen +Auch diese Auffassung der ARD wird von einem Experten bestärkt. Carsten Reinemann, Kommunikationswissenschaftler und Medienforscher der Ludwig-Maximilians-Universität München, erklärt, dass sich unentschlossene Wähler unter Umständen an bestehenden Mehrheiten orientieren: "Vor allem Personen, die sich unsicher sind, sich nicht intensiv mit einer Sache befasst haben oder keine feste Meinung haben, greifen auf soziale Hinweisreize zurück, wenn sie sich entscheiden müssen.". Der Demoskop Klaus-Peter Schöppner sagt: "Die Befunde der Forschung sind widersprüchlich. Es scheint so zu sein, dass der Bandwagon-Effekt (zum Sieger zu gehören) vom Mitleidseffekt neutralisiert wird." Nachweisbar sei allerdings: "Ein knappes Ergebnis um die fünf Prozent beflügelt bei einer Fünf-Prozent-Klausel die Wahl einer kleinen, eventuell strategisch wichtigen Partei." Ein sehr schwaches oder starkes Umfrageergebnis behindere das. +Auch im Bundestag gehen die Meinungen zur "Sonntagsfrage" weit auseinander. Der Politikprofessor und Bundestagsabgeordnete Matthias Zimmer (CDU) sagt auf Anfrage von fluter, ihm selbst helfe die "Sonntagsfrage" "im eigentlichen Sinne nicht". Immerhin könnten die Zahlen beruhigen, wenn sie gut seien. "Schlechte Werte zeigen bisweilen, dass die Gründe und Ziele von Entscheidungen nicht hinreichend gut kommuniziert worden sind", sagt Zimmer. Er sehe jedoch nicht die Gefahr, dass der ständige Abgleich mit Zustimmungswerten auch weit vor Wahlen die Entscheidungsfindung von Politikern stark beeinflussen könne, beispielsweise in die Richtung einer Entscheidung, die höchstens als zweitbeste Lösung angesehen wird. +Vielleicht eine Vorahnung, dass nach den ersten Hochrechnungen der eine oder andere erstmal einen Drink gebrauchen könnte +Anders nimmt es Sven-Christian Kindler wahr, Bundestagsabgeordneter der Grünen. Er empfindet die "Sonntagsfrage" lediglich als hilfreich zur Orientierung, wo die eigene Partei steht. "Eine echte Hilfe für die Arbeit sind sie allerdings oft nicht, da die Werte nicht beantworten, warum sie steigen oder fallen."Kindler kritisiert, durch die große Orientierung an Umfragen werde der Bundestag, aber auch die Bundesregierung "völlig entpolitisiert". Es gebe die Gefahr, dass schleichend "eine gefährliche Pseudodemokratie" entstehe, "gelenkt von meist um die 1.000 zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern". Die Ergebnisse der Umfrageinstitute unterschieden sich zudem oft. "Gerade komplexe Themen lassen sich nicht mit ‚Ja' oder ‚Nein' beantworten und alle Facetten mit einer zugespitzten Frage abdecken", sagt Kindler mit Verweis darauf, dass ARD, ZDF und andere Medien auch danach fragen lassen, was die Bürger über einzelne politische Fragen denken, etwa: "Soll Griechenland in der Euro-Zone bleiben?" +Wer plakativ wirbt, muss damit rechnen, dass seine Werbung plakativ umgetextet wird +So präzise sie klingen mit ihren Hinterkommastellen, sind Umfragewerte eine unsichere Sache. Liegen sie weit daneben, ist das nicht nur für die Demoskopen unangenehm. Es kann auch im Nachhinein für taktische Wähler oder Unentschlossene, die sich an der Mehrheit orientieren, bedeuten, dass sie anders stimmten als ursprünglich geplant. +Umso wichtiger ist es für den Wähler, die Umfragen mit Bedacht zu lesen – und auch die Medienberichte. Gerade direkt vor Wahlen sind Umfragen umstritten. Kurz vor dem Urnengang liefern sie eine weitere Information, statt dem Wähler nach wochenlanger Berichterstattung einfach Ruhe zu gönnen. Und die braucht er, damit er seine Entscheidung fällen kann. +Felix Ehring arbeitet als freier Journalist. Bei der Recherche wurde ihm von Zahl zu Zahl klarer: Ob es nun um Armut, Geburten, Arbeitslosigkeit oder Klimaschutz geht – Interessengruppen führen eine teilweise erbitterte Debatte um die Deutungshoheit dieser Zahlen. Und: Einige Journalisten vermelden amtliche Zahlen einfach, ohne sie zu hinterfragen und einzuordnen. Dabei gilt für jede Zahl: Sie sagt nicht nur etwas aus, sie verschweigt auch etwas. diff --git a/fluter/was-wir-nicht-sehen.txt b/fluter/was-wir-nicht-sehen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f1e8e5c87dbe880a38a493e3e897a421e0b37ba8 --- /dev/null +++ b/fluter/was-wir-nicht-sehen.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Dennoch ist das Vorurteil, dass der muslimische Mann seine Triebe nicht beherrschen kann, immer noch weit verbreitet. Was freilich mehr über den Westen sagt als über den Islam. Solange in Deutschland noch eine prüde, christlich geprägte Sexualmoral herrschte, wurde diese als Garant für Fortschritt und Zivilisation und in Abgrenzung zur "dekadenten" muslimischen Sexualmoral idealisiert. Gleichzeitig war der Orient eine Projektionsfläche für die Fantasien des weißen Mannes: ein Ort ungehemmter Haremserotik. Der Islam eine unzivilisierte Religion der erotischen Libertinage. Doch durch die sexuelle Revolution in den 60er-Jahren änderte sich das Bild. Plötzlich wurde in Deutschland eine selbstbestimmte und freie Sexualität propagiert. Und nun galt der Islam als rigide, lust- und körperfeindlich. Das Bild, das damals wie heute vom Islam gezeichnet wird, sagt mehr darüber aus, wie wir uns selbst sehen möchten, als über die vielfältige sogenannte islamische Welt. +"Was ist der Geist von Europa? Auf jeden Fall gehört zu ihm die Hochachtung der Frau – ein großer Unterschied zur arabischen Tradition. Und das müssen die Flüchtlinge akzeptieren", schreibt die Tageszeitung "Die Welt" angesichts der Flüchtlingsströme. Die Überlegenheit der europäischen Kultur gründe auf der Tatsache, dass die "Europäer Maskulinität in Schach zu halten wussten", da sie sich selbst auf den "Geist der Galanterie" verpflichtet hatten. Der Europäer als edler Kavalier also, der Muslim als unzivilisierter Mensch, der Frauen unterdrückt. Angesichts fanatischer Islamisten mag eine derartige bipolare Sicht naheliegen, doch gerade die vereinfachende Aufteilung der Welt in Gut und Böse macht ein fundamentalistisches Weltbild aus. +Sicherlich kann nicht geleugnet werden, dass es autoritäre islamische Staaten gibt, die Menschenrechte missachten und Frauen strukturell diskriminieren. Körperliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen ist jedoch weltweit derart verbreitet, dass die Weltgesundheitsorganisation von einem "epidemischen Ausmaß" spricht. Sie kommt in allen Ländern und in allen Schichten vor. Ob wir an den Aufruhr nach den Vergewaltigungsskandalen im hinduistischen Indien denken oder eben an häusliche und sexuelle Gewalt in Deutschland: Gewalt gegen Frauen und Sexismus sind globale Massenphänomene, die ihre Ursachen oft in sozialen Missständen haben. +Und dennoch ist der öffentliche Diskurs davon geprägt, Diskriminierung von Frauen zu einem Spezifikum des Islam zu erklären. Die Religion sei es, die den geistigen Humus für eine patriarchale Mentalität bilde. In der Wochenzeitung "Die Zeit" problematisierte ein Pädagoge das Vorkommen sexueller Belästigung in Flüchtlingsunterkünften, musste aber zugeben, dass es keine genauen Zahlen gibt. Als Hauptursache für sexuelle Übergriffe machte er das traditionell Verständnis der jungen muslimischen Männer aus. Dabei verkennt er, dass es einen Unterschied zwischen patriarchalen Kulturpraktiken gibt, die gerade in ländlichen Regionen tatsächlich global verbreitet sind, und der islamischen Religion, die zwar mitunter als Label benutzt wird, um solche Praktiken zu legitimieren, ursprünglich einmal aber ein anderes Anliegen hatte. +Mohammed, der Prophet des Islam, versuchte trotz heftigen Widerstands die Unterdrückung der Frau zu bekämpfen. "Die Besten unter euch werden die sein, die am besten zu ihren Frauen sind." Das sind seine Worte. Mohammeds erste Frau Khadija war eine emanzipierte, erfolgreiche Kauffrau. Eine der wichtigsten Gelehrten des Islam ist eine Frau: Aischa, die schon im Frühislam Männer unterrichtete. Ihrem Vorbild folgend wurde 859 in Marokko eine der weltweit ersten und ältesten Universitäten von der Muslimin Fatima al-Fihri gegründet. Auf die Bildung von Frauen legte Mohammed viel Wert: "Wer zwei Töchter hat, sie gut aufzieht und ihnen Bildung zukommen lässt und die Söhne nicht bevorzugt, der erwirbt dadurch das Paradies." Allerdings gibt es auch frauenfeindliche Überlieferungen, die dem Propheten zugeschrieben werden, die nicht selten von einer männlichen Orthodoxie zitiert werden, um Frauen zu benachteiligen. +Dass es weltweit muslimische Feministinnen gibt, die sich gegen die Vereinnahmung des Islam durch eine frauenfeindliche Orthodoxie wehren, ist oft ebenso wenig bekannt wie die Tatsache, dass alle drei muslimischen Frauen, die in den letzten Jahren den Friedensnobelpreis bekommen haben, dafür plädieren, die Lehre des Islam als Mittel gegen patriarchale Strukturen einzusetzen. Zwei von ihnen tragen dabei ein Kopftuch. +Für die Frontfrau der deutschen Frauenbewegung, Alice Schwarzer, ist dieses Stück Stoff ein politisches Symbol der Frauenunterdrückung. Sie übernimmt damit die Meinung derer, die tatsächlich versuchen, den Islam für politische Interessen zu instrumentalisieren. Viele muslimische Frauen möchten aber nicht zulassen, dass die Deutungshoheit über ihre Religion von Ideologen bestimmt wird. Sie leben einen spirituellen Islam, der die Gleichheit von Mann und Frau betont. Für beide Geschlechter gilt die Philosophie, die den Islam im Kern ausmacht: die Überwindung des Egos, um sich Gott hingeben zu können. Dazu gehört, leidenschaftliche Triebe mit der Vernunft zu steuern, um moralische Eigenschaften zu entwickeln. Der oft missbrauchte Begriff "Dschihad" meint ursprünglich diesen Kampf des Menschen gegen sein eigenes Ego, gegen niedere Leidenschaften. +Die Narration vom triebgesteuerten muslimischen Mann wird jedoch gebraucht, um den westlichen Mann trotz durchsexualisierter Massenkultur als besonders zivilisiert und aufgeklärt darstellen zu können. Patriarchale Dominanz und Sexismus? Darum brauchen wir uns dann in unseren Reihen nicht mehr so sehr zu kümmern, es wird als Problem ausgelagert und auf den muslimischen Mann projiziert. Laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung finden zwar 76,1 Prozent der befragten Deutschen, dass die muslimischen Ansichten über Frauen den westlichen Werten widersprechen würden, gleichzeitig sind aber 52,7 Prozent derselben Befragten der Meinung, dass Frauen ihre Rolle als Ehefrau und Mutter ernster nehmen müssten. +Stutzig machen sollte auch die Tatsache, dass sich im aktuellen Diskurs über Flüchtlinge nun ausgerechnet diejenigen den Kampf gegen das Patriarchat auf die Fahnen schreiben, die bisher eher mit antifeministischen Positionen aufgefallen sind. Darunter rechtspopulistische Aktivisten, die die Frau sonst an den Herd wünschen. Spätestens hier dürfte deutlich werden: Die neuen alten Ressentiments gegen den muslimischen Mann sind auch Ausdruck eines 
Kulturchauvinismus, der den Feminismus 
vereinnahmt, um vom eigenen Sexismus und Rassismus abzulenken. diff --git a/fluter/was-wird-aus-woodstock.txt b/fluter/was-wird-aus-woodstock.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ecd3386b0e143ac9ce5b4ac510b264d20f2e6131 --- /dev/null +++ b/fluter/was-wird-aus-woodstock.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Dieses Jahr fielen die Attacken auf das GOCC besonders bösartig aus. "Wir haben eine Chance alle garstigen Owsiaks und die anderen menschlichen Parasiten loszuwerden," schrieb die national-konservativ geprägte Zeitung "Gazeta Polska" und bediente sich eines Wortspiels, das Owsiaks Namen dem polnischen Wort "owsik" gleichsetze, was übersetzt "Fadenwurm" bedeutet. Hinzu kamen mehr oder weniger absurde Anschuldigungen in Richtung Owsiak, etwa dass er für den chinesischen Geheimdienst arbeite. Ein PiS-Abgeordneter, Stanisław Pięta, drohte: "Wenn irgendein Beamter an dem GOCC-Chutzpah ("Dreistigkeit" – Anm. d. Red.) teilnimmt, kann er genauso gut am nächsten Morgen seine Kündigung einreichen." Das wiegt schwer, denn über die Jahre haben öffentliche Stellen eine wichtige Rolle bei der Spendensammlung des GOCC gespielt und sie tatkräftig unterstützt. +Jerzy Owsiaks beantwortete den Pieta-Tweet betont unaufgeregt und sachlich: "Ich habe eine Bitte an Mr. Pieta und jeden, der seine Ansichten teilt und unsere Spendenaktion eine Chutzpah nennt: Bitte lass uns unseren Job machen. Die Ausrüstung, die wir kaufen, hält Kinder am Leben." +Tatsächlich stiegen nach der Drohung des Abgeordneten einige Beamte als Unterstützer des GOCC aus. Doch dann schien es fast, als hätten die Angriffe das Projekt erstmal gestärkt: Das Weihnachtsorchester stellte einen neuen Spendensammel-Rekord auf. Beim 24. "Grand Finale" waren es gut 4,5 Millionen Euro mehr als im Jahr 2015. +Nun jedoch könnte die Luft dünn werden für das Festival "Woodstock Poland", das für die GOCC-Helfer alljährlich als Dankeschön veranstaltet wird. Benannt nach dem legendären amerikanischen Hippiefestival von 1969 fand es 1995 im Zeichen der Befreiung und Demokratisierung Polens zum ersten Mal statt. Seitdem hat es sich prächtig entwickelt: Waren es zunächst 30.000 Besucher, so kamen vier Jahre später schon 200.000 – bis zu dem Zuschauerrekord von 750.000 Menschen im Jahr 2014. +Von Anfang an ging es beim "Woodstock Poland" nicht nur um Musik (und das Herumtollen im Schlamm), sondern auch um ein Statement für Weltoffenheit. Es gab dort ein "Krishna-Friedensdorf", ein Fußballturnier namens "Let's Kick Racism" oder Vorträge von Intellektuellen, Künstlern, Journalisten und Geistlichen verschiedener Religionen. +Aus der lokalen Bevölkerung hatte es zuweilen Widerstand gegen das Festival gegeben, das immer an verschiedenen Orten stattfindet. Im Jahr 2000 etwa in dem 35.000-Seelen-Städtchen Lębork, wo von einigen Anwohnern ein Komitee zur "moralischen Verteidigung des Dorfs" initiiert wurde und die lokalen Behörden das Event tatsächlich absagten. Die Festivalbesucher zeigten sich damals unbeeindruckt: Über 1.000 Menschen kamen trotzdem und stellten ein spontanes Rock'n'Roll-Picknick auf die Beine. +Zum Problem könnte für das Festival etwas anderes als das Kulturkampf-Thema "Moral" werden – auch wenn die Abgeordnete Krystyna Pawłowicz unlängst die Umbenennung in "Satan Woodstock" vorgeschlagen hat. Die Sicherheit sei das schwierigere Thema, fürchten die Betreiber. Und das hat eine Vorgeschichte. 2006 hat es zwei Todesopfer gegeben und noch 2011 hat die Band "The Prodigy" mehr Schutzgeländer gefordert. +Gegenwärtig arbeitet die Regierung an einer "Richtlinie zur Organisation von Massenevents", die Teil eines neuen Anti-Terror-Gesetzes ist. Die Details des Gesetzes sind bisher ebenso unbekannt wie ein Abstimmungsdatum. Umso heftiger wird von den Fans des Festivals derzeit gemutmaßt und geunkt. Da hilft es nicht viel, dass der PiS-Abgeordnete Marek Ast in einem Radiointerview beteuerte: "Es ist nicht unser Ziel, Dinge wie Woodstock zu verhindern". Aber es könnte dennoch passieren. "Die polnische Gesetzgebung hat sich über die Jahre wegen der EU-Standards insgesamt zum Besseren verändert", sagt GOCC-Gründer Owsiak. "Aber es gibt eben auch Zeiten, in denen Politiker versuchen, diese Gesetze gegen uns zu verwenden". Natürlich könnten neue Auflagen für Massenveranstaltungen das Festival sehr behindern oder gar zu seiner Absage führen. Aber bis irgendetwas konkret entschieden ist, gibt sich Owsiak hoffnungsfroh und auch ein bisschen ironisch: "Jüngere Untersuchungen haben ergeben, dass auch unter konservativen Wählern der gesunde Menschenverstand weit verbreitet sei. Obwohl nicht viele von ihnen Rock'n'Roll-Fans sind, befürworten 75 Prozent der Wähler von ‚Recht und Gerechtigkeit' die Arbeit des GOCC", sagt er. +Vom 14. bis 16. Juli soll die 22. Ausgabe von "Woodstock Festival Poland" stattfinden. Jedenfalls wenn es nach Owsiak geht. diff --git a/fluter/was-wird-bei-der-europawahl-gewaehlt.txt b/fluter/was-wird-bei-der-europawahl-gewaehlt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5fcb184e171d2f77182594ba6287ab829bd56951 --- /dev/null +++ b/fluter/was-wird-bei-der-europawahl-gewaehlt.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +2. Was genau macht das Europäische Parlament? +Das Europäische Parlament mit Sitz in Straßburg ist das einzige Organ der EU, das direkt von den Bürgern gewählt wird. Das kommt nicht von ungefähr, schließlich soll das Parlament ihre Interessen vertreten. Zusammen mit dem Rat der EU (auch nur "Rat" oder auch "Ministerrat" genannt), in dem die jeweiligen Fachminister aller Mitgliedstaaten sitzen, beschließt das Parlament Gesetze. Außerdem kontrolliert es, wie und wofür die EU ihr Geld ausgibt. Deutschland wird im Parlament durch 96 Abgeordnete vertreten – und besitzt als einwohnerstärkstes Land die höchste Abgeordnetenzahl aller Mitgliedstaaten. +Darüber hinaus wählt das Europäische Parlament den Präsidenten der Europäischen Kommission, die als Exekutivorgan – mit Sitz in Brüssel – regierungsähnliche Aufgaben erfüllt und in fast allen Bereichen als einzige Institution das Recht hat, Gesetzesinitiativen einzubringen. Noch bis Oktober 2019 ist der Luxemburger Jean-Claude Juncker Präsident, er gehört zur konservativen Europäischen Volkspartei (EVP). Zur EVP-Fraktion im EU-Parlament zählen etwa CDU und CSU – aber auch die europafeindliche ungarische Regierungspartei Fidesz mit ihrem Vorsitzenden Viktor Orbán. +3. Wer ist stimmberechtigt? +Grundsätzlichsind alle Bürger der Europäischen Union wahlberechtigt, die mindestens 18 Jahre alt sind (nur in Österreich und in Malta darf man schon ab 16 Jahren wählen). Das sind rund 400 Millionen Menschen. +Im EU-Ausland lebende Bürger können entweder in ihrem Herkunftsland oder am Ort ihres Wohnsitzes wählen, wenn sie sich dort ins Wählerverzeichnis aufnehmen lassen. Falls sie in einem Land wählen, in dem sie nicht Staatsangehörige sind, müssen sie dieselben Bedingungen erfüllen wie Staatsangehörige dieses Landes. Und wer einen Doppelpass besitzt, muss sich für ein Land, in dem er oder sie bei der Europawahl abstimmen möchte, entscheiden. +4. Wie hoch ist die Wahlbeteiligung? +Das Motto der Informationskampagne der EU "Diesmal wähle ich!" lässt erahnen, dass eine geringe Wahlbeteiligung erwartet wird. Bei der letzten Europawahl gaben 42,6 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Bei den 21- bis 24-Jährigen waren es nur 35,3 Prozent. Eine vergleichsweise hohe Wahlbeteiligung haben Länder, in denen generell eine Wahlpflicht besteht. Das sind Belgien, Zypern, Griechenland, Bulgarien und Luxemburg. +5. Wie wird gewählt? +Jeder Wahlberechtigte hat eine Stimme. Mit dieser wählt er keine Einzelperson, sondern eine Partei. Diese schickt dann gemäß ihrer Liste Abgeordnete ins EU-Parlament. Wenn man in seinem Heimatland wählt, kann man nur diejenigen wählen, die sich dort zur Wahl stellen. Ist man in einem anderen EU-Land gemeldet, kann man sich aussuchen, ob man die Kandidierenden aus dem Heimatland oder Wohnsitzland wählt. Klingt kompliziert?Hier kann mansich ganz einfach durch die verschiedenen Möglichkeiten klicken. +6. Wer wird gewählt? +In Deutschland dürfen sich Bürger*innen ab 18 Jahren zur Wahl stellen. Kandidieren kann man in Deutschland nur auf Bundes- oder Landeslisten von Parteien oder politischen Vereinigungen. +7. Wer zieht ein? +Im Gegensatz zur Bundestagswahl, bei der mindestens fünf Prozent der Stimmen erreicht werden müssen, um Mandate zu erhalten, gibt es bei der Wahl zum EU-Parlament in Deutschland keine Sperrklausel – kleine Parteien können davon profitieren. In anderen EU-Ländern sieht dies durchaus anders aus: In Frankreich oder Kroatien gibt es beispielsweise Fünf-Prozent-Klauseln. +8. Warum gibt es verschiedene Termine für die Europawahl? +Während beispielsweise in den Niederlanden traditionell an einem Donnerstag gewählt wird, ist es in vielen anderen Staaten üblich, an Sonntagen zu wählen. Aus diesem Grund finden die Europawahlen an insgesamt vier Tagen, von Donnerstag bis Sonntag, statt. In Deutschland stehen die Wahllokale am 26. Mai offen. Um eine Beeinflussung der Wähler zu verhindern, werden die amtlichen Ergebnisse in allen Ländern erst am Sonntagabend nach Schließung des letzten Wahllokals veröffentlicht. +9. Was ist mit Großbritannien? +Wenn es wie aktuell geplant am 12. April zum Brexit kommt, wird die Europawahl zum ersten Mal ohne Großbritannien stattfinden. Statt 28 EU-Mitgliedstaaten wird es nur noch 27 geben, und die Zahl der Abgeordneten im EU-Parlament wird sinken. Die Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), rechtskonservative und drittgrößte Fraktion im Europäischen Parlament, wird mit dem Brexit ihre größte Mitgliedspartei, die britischen Tories, verlieren. +Sollte der Brexit allerdings weiter nach hinten verschoben werden, könnte Großbritannien an der Europawahl teilnehmen müssen. Sonst würde das Recht der britischen Staatsbürger*innen, aktiv und passiv an der Wahl teilzunehmen, verletzt.Die Entscheidung darüber ist an die Länge des Aufschubs gekoppelt. Wie sinnvoll es ist, dass ein Land über die Zukunft des Europäischen Parlaments, den nächsten Haushalt und vieles mehr mitentscheidet, das gar nicht mehr mitmachen will, ist mehr als umstritten. +10. Warum gilt diese Europawahl als besonders wichtig? +Aktuell stehen mehrere große Aufgaben wie derKlimaschutzoder dieIntegration von Geflüchtetenan. Viele Beobachter sind sich einig, dass sie nicht von einzelnen Ländern allein bewältigt werden können und eine gute Zusammenarbeit deshalb noch wichtiger wird. +Das sehen aber nicht alle so. Europaweit legen rechtspopulistische und EU-skeptische Parteien zu – wie zum Beispiel die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ), die rechtspopulistische Lega Nord in Italien oder die AfD in Deutschland. Im EU-Parlament sind die EU-skeptischen und rechtspopulistischen Parteien derzeit auf drei Fraktionen aufgeteilt: die bereits genannte EKR (Europäische Konservative und Reformer), die ENF (Europa der Nationen und der Freiheit) und die EFDD (Europa der Freiheit und der direkten Demokratie). Es besteht die Möglichkeit, dass sie nach der Wahl eine Allianz bilden und damit Mehrheitsverhältnisse entscheidend verändern. Einige der beteiligten Parteien lehnen die jetzige Form der EU ab, andere das gesamte Projekt. + +Titelbild:  Michael Trippel/laif diff --git a/fluter/was-wird-da-nur-serviert.txt b/fluter/was-wird-da-nur-serviert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..518aa3034b504b4e945e6c57524eb2be80064f1a --- /dev/null +++ b/fluter/was-wird-da-nur-serviert.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Fast 1,4 Milliarden Nutzer weltweit zählt das soziale Netzwerk laut eigener Angabe, mehr als 28 Millionen sollen allein aus Deutschland stammen. Medienmacher sind auf diese gigantische Reichweite scharf. Facebook hat die Nutzer, die Zeitungen und Magazine haben die Inhalte. Keine Frage: Eine Kooperation, wie hier mit dem "National Geographic"-Magazin, bietet sich  an. In einem aufwändigen Promo-Video werben beide Seiten für das neue Miteinander. +Der Fotograf der Bienen zum Beispiel, Anand Varma, erklärt: "Wenn du jemanden davon überzeugen willst, dass er sich Zeit für Bienen nehmen soll, dann sollte dem keine Ladezeit im Weg stehen." Todd James, der Fotochef von "National Geographic"  mahnt gar: "Wenn das zehn Sekunden dauert, dann sind die Leute weg." Beide wollen mit ihrem Journalismus direkt auf Facebook, damit Nutzer, also ihre Leser,  nicht mehr umständlich auf die Websites der Verlage wechseln müssen. +Diese Fusion von Plattform und Inhalten nennt Facebook "Instant Articles". Derzeit befindet sich das noch im Test. In Deutschland machen zunächst "Bild" und "Spiegel Online" mit. Auch sie stellen einzelne Artikel direkt in das soziale Netzwerk, damit Fans, also Nutzer, nicht mehr auf bild.de und spiegel.de gehen müssen. +Die große Frage ist nun: Ist das eine gute Sache oder gibt der Journalismus hier nicht ein hohes Gut aus der Hand, nämlich  die Macht, zu entscheiden, welche Inhalte Leser sehen und welche nicht? Entscheidet am Ende Facebooks Algorithmus? +Facebook zeigt Nutzern schon seit Jahren gar nicht all das an, was ihre Freunde und Lieblingsseiten auf die Plattform stellen. Laut offiziellen Facebook-Angaben bleiben etwa 80 Prozent aller Meldungen, die sie eigentlich abonniert haben, den Nutzern in der Regel verborgen –  und das, obwohl sie sich mit den jeweiligen Profilen befreundet oder mit einer Seite eines Promis oder einer Redaktion verbandelt haben, indem sie dort auf "Gefällt mir!" gedrückt haben. +Facebook bietet Nutzern zwar die Möglichkeit, diesen Filter auszuschalten. Die Funktion, den individuellen Nachrichtenmix von den reduzierten "Hauptmeldungen" auf die vollständigen "Neuesten Meldungen" auszudehnen, hat Facebook jedoch gut versteckt. Der börsennotierte Konzern verdient unter anderem daran, dass sich Unternehmen Reichweite kaufen und damit dafür sorgen, dass auch wirklich all ihre Fans eine bestimmte Neuigkeit sehen. Der Vorfilter ist also Teil des Geschäftsmodells. +Wie genau dieser Algorithmus funktioniert, ist Facebooks Geheimnis. Das Unternehmen gibt nur grobe Kriterien begannt. Entscheidend ist demnach vor allem, wie gut erste Nutzer auf einen neuen Inhalt anspringen –  ob sie ihn "liken", kommentieren oder sogar so interessant finden, dass sie ihn mit ihren Freunden teilen. Die Nutzer müssen reagieren. +Den Medienmachern, die bei dem Projekt "Instant Articles" bereits mitmachen dürfen, sind diese Mechanismen klar. Etwa Torsten Beeck, der sich um die Präsenz des "Spiegel"-Magazins in sozialen Netzwerken kümmert. In einer ersten Diskussion zu "Instant Articles" antwortete er auf die Frage, wie Medien denn beeinflussen könnten, ob ihre Fans die eingestellten Texte sehen: "Indem wir gute Geschichten machen, mit denen viele Nutzer interagieren." +Damit ist zumindest klar: Journalisten müssen die Emotionen ihrer Leser ansprechen, Empörung oder ein Lachen auslösen. Unauffällige Geschichten haben auf Facebook keine Chance. Wen das stört, den verweist Beeck launisch auf "diese praktische Sammelseite, auf der die aktuellen Artikel nach Relevanz sortiert werden" – womit er die klassische Website meint, auf der die Meldungen weiterhin nach ihrem Nachrichtenwert sortiert werden. +Tatsächlich kommt Facebook den Medienmachern entgegen: Sie bekommen etwas von den Einnahmen aus der Werbung ab, die Facebook um die Artikel herum platziert. Medien können sogar eigene Werbung mitbringen. Allerdings: Ob dieses Paket eine der viel beschworenen "Win-win-Situationen" ist, bei denen es keine Verlierer gibt, darf bezweifelt werden. Es spricht einiges dafür, dass Medienmacher auch jenseits der Frage, ob einzelne Geschichten überhaupt noch eine Chance haben, ein großes Risiko eingehen. +Die Nutzer werden "Instant Articles" natürlich lieben. Für sie ist das bequem: Sie kommen schneller an spannende Geschichten. Sie dürften sich aber auch sehr schnell daran gewöhnen, dass sie auf Facebook nicht mehr wie bisher nur ein paar launige Anreißer für Artikel finden, sondern gleich die ganzen Geschichten. +Die Folgen sind absehbar: Die Nutzer werden sich immer seltener auf die eigentlichen Portale der Zeitungen, Magazine und Sender verirren und sich mit ihrem Informationsstand noch mehr in Abhängigkeit vom Facebook-Algorithmus begeben. Je besser das Projekt "Instant Articles" läuft, desto schwerer werden es die herkömmlichen Medienangebote haben. Wer braucht noch eine klassische Website oder Nachrichten-App, wenn – gefühlt –  ohnehin alles im sozialen Netzwerk steht? +So verlockend Projekte wie "Instant Articles" sind: Medien und Nutzer helfen Facebook damit dabei, zu werden, was das Portal seit jeher gerne wäre: ein streng überwachter Raum, der so tut, als sei er das freie Internet. +Facebook ist für Journalisten Fluch und Segen zugleich – auch für Daniel Bouhs, der von Berlin und Hamburg aus als freier Journalist arbeitet. Er ist einer der 1,4 Milliarden Facebook-Nutzer und stöbert bei fast jeder Gelegenheit in dem für ihn zugeschnittenen Nachrichtenstrom. Seine Geschichten verbreitet er ebenfalls dort. Am liebsten hält er sie dann aber doch auf Papier in den Händen – digitale Revolution hin oder her. diff --git a/fluter/was-wisst-ihr-denn-schon.txt b/fluter/was-wisst-ihr-denn-schon.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ef040db014091eba92c09c5078e7d7920a3522dd --- /dev/null +++ b/fluter/was-wisst-ihr-denn-schon.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Irgendwann kam den beiden die Idee, das Nachschlagewerk für die Masse zu öffnen. Sanger schlug vor,ndafür "Wiki"-Software ("wiki" heißtauf hawaiianisch "schnell") zu benutzen, die das leichte Editieren von Webseiten ermöglicht. Das Ergebnis war Wikipedia, das Lexikon, das mittlerweile laut Wales einen Milliardenbetrag wert ist. Weil aber die Beteiligten bis beute nichts von Kommerz wissen wollen, sind die Artikel weiterhin frei verfügbar, das Lexikon ist als Stiftung nach US-Recht organisiert. Bis 2006 trieb die Wikimedia Foundation ihre Spenden unter dem Vorsitz von Jimmy Wales ein. Jetzt fungiert er nur noch als unbezahlter Ehrenpräsident eines Führungsgremiums, dessen sieben Mitglieder teils von der Community gewählt und teil von Wales selber bestimmt sind. Der Gründer, der entgegen vieler Vermutungen laut dem renommieren Wirtschaftsmagazin "the economist" kein Millionär geworden ist, sagt, er wisse bis heute nicht, ob es "die dümmste oder die klügste Entscheidung" seines Lebens gewesen sei, Wikipedia als unkommerzielles Unternehmen zu starten. +Reich ist er nicht geworden, doch dafür so etwas wie das Gesicht der international am siebthäufigsten besuchten Website. Die englische Wikipedia-Seite enthält fast drei Millionen Beiträge, die deutsche – die zweitgrößte – nähert sich der Million-Marke. Und nicht nur Schüler nutzen Wikipedia. Der Tourist, der etwas über die Kleinstadt Eutin erfahren will, wird dort ebenso fündig wie ein Kranker, der vor dem Arztbesuch wissen will, was überhaupt ein Radiologe ist. Es ist ohne Frage das umfassendste Wissensprojekt der Geschichte, bei dem, das ist das Entscheidende, im Prinzip jeder mitmachen kann. Die Menschen nutzen die Freiheit, sich selbst aufzuklären, ein Urtraum der Aufklärung, Immanuel Kant hätte gejubelt – das sagen die Einen. Kritiker wie der Online-Pionier Andrew Keene sprechen von einem intellektuell irreführenden Kult des Amateurs, der dort zelebriert würde. Robert McHenry, ehemaliger Chefredakteur der "Encyplopaedia Britannica", vergleicht den virtuellen Konkurrenten gar mit einer öffentlichen Toilette. Da wisse der Nutzer auch nicht, wer dort zuvor welchen Dreck hinterlassen habe. Allerdings schnitt Wikipedia bei einem von der Zeitschrift "nature" angestellten Vergleich mit der "Encyclopaedia Britannica" recht gut ab: 2005 verglich "nature" 42 wissenschaftliche Artikel beider Lexika, und die Fehlerquoten unterschieden sich kaum. Auch bei Vergleichen mit anderen Lexika schneidet Wikipedia stets gut ab – was den traditionellen Lexikon-Verlagen Alpträume beschert. Die einst 2.000 Euro teure Gesamtausgabe der Britannica gibt es heute bereits für 30 Euro als CD-Rom, der Verkauf des deutschen Brockhaus ist stark zurückgegangen. +Ein anderer entscheidender Unterschied: Während andere Nachschlagewerke Fehler erst nach einem langwierigen Prozess und in einer späteren Ausgabe korrigieren können,reagiert Wikipedia sofort. Es dauert im Schnitt drei Stunden, bis erkannte Fehler korrigiert werden. Und auch in puncto Aktualität setzt Wikipedia Maßstäbe, weil Neuigkeiten sofort hinzugefügt werden. +Das kann jeder, doch jeder wird auch überwacht. Jaan-Cornelius ist einer von 329 sogenannten Administratoren in Deutschland, die das tun. Er kann Einträge löschen und Seiten überwachen. Administrator wird nur, wer lange dabei ist und sich aktiv beteiligt hat. Gewählt wird er von den erfahrensten Autoren. Erst kürzlich hat Jaan-Cornelius bei einem Artikel über eine portugiesische Stadt den Namen des Bürgermeisters verbessert, nachdem er sich bei mehreren Quellen, vor allem online, abgesichert hatte. Sollte jetzt jemand anderes Zweifel anmelden, muss er eine Diskussion beginnen. In Härtefällen kann das bis zum "Arbitration Committee" gehen, eine Art Schiedsgericht, dem in Deutschland zehn Mitglieder angehören. Früher traf Wales noch eigenmächtig Entscheidungen, doch auch sein Einfluss wurde beschränkt. Neulich schrieb er einen Eintrag über ein Restaurant, den ein anderer Administrator wegen "Irrelevanz" kurzerhand löschte. Um "relevant" zu sein, muss ein Artikel mehrere Kriterien erfüllen. Auch sie sind das Ergebnis langwieriger Diskussionen, wie alles bei Wikipedia. +Bei Artikeln über "Pflanzenmorphologie" oder "Leitungsschutzhalter" wird natürlich wenig diskutiert, anders bei "George W. Bush", "Homöopathie" oder "Globale Erwärmung", die teilweise 50.000 Buchstaben enthalten (dieser Artikel hat gut 8.000), sieht das schon anders aus. Um die Auswüchse zu kappen, hat Wikipedia mittlerweile reagiert und einen Teil des Konzepts der steten Erweiterung aufgegeben. Bei vielen Seiten funktioniert der Menüpunkt "bearbeiten" nicht mehr, sie sind gesperrt. Schwieriger ist der Umgang mit PR-Firmen und Lobbyisten, die auch mitmachen. Von einem Rechner des Stromkonzerns RWE etwa kam die Meldung, der Umgang mit einem Störfall im AKW Biblis hätte "wieder einmal bewiesen, dass das Kraftwerk sehr sicher ist." Für solche Fälle wurde die Spezialsoftware "Wikiscanner" entwickelt, die zuordnen kann, von welchen Rechnern aus Manipulationen vorgenommen werden. +Der Vorteil, dass Wikipedia das Wissen möglichst vieler Menschen sammelt, ist zugleich auch der größte Vorwurf: So bezeichnet der amerikanische Computerwissenschaftler und Künstler Jaron Lanier solche Ansätze im Internet als "Digitalen Maoismus". Nur eine Minderheit verfüge über Fachwissen, die aber von der Mehrheit korrigiert werden könne. So setzten sich Vorurteile stärker durch. Sein australischer Kollege Mathieu O'Neil pflichtet ihm bei: "In Wahrheit setzen sich häufig die hartnäckigsten durch, beziehungsweise diejenigen, die den Jargon und die Vorschriften am besten beherrschen." +Doch Wikipedia reagiert auf solche Beurteilungen ganz offen: "Der Gefahr, dass die Inhalte der Wikipedia nicht den Wissensstand der Gesellschaft entsprechen, ist auch durch administrative Vorgänge und korrektives Eingreifen von Autoren nicht vollständig beizukommen", heißt es auf der Seite. Und noch immer begreift sich das Nachschlagewerk als "Projekt für eine Enzyklopädie", die keinen Anspruch auf Vollständigkeit und Richtigkeit stelle. Das versuchen sie auch den Schülern und den skeptischen Lehrern beizubringen. Immer öfter gehen Wikipedia-Mitglieder an die Schulen, mit dicken Ordnern im Gepäck. Gefüllt sind sie mit Beispielen dafür, wie fehlerhaft Wikipediatatsächlich ist. Soviel Ehrlichkeit würden man sich von den Journalisten, die Wikipedia immer wieder als Ort des Halbwissens beschimpfen, wünschen. diff --git a/fluter/was-ziehen-die-hier-ab.txt b/fluter/was-ziehen-die-hier-ab.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..df37ddc900bcd88bd3f5aaba8642371ac5e20e7e --- /dev/null +++ b/fluter/was-ziehen-die-hier-ab.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Es ist keine einfache Frage. Und es ist vielleicht auch keine Frage, die man in Fußgängerzonen beantworten kann. "Mich wundert, dass beim Strafrecht selbst bei komplizierten Fällen Menschen mitreden, die weder die Akten gelesen noch ein paar Semester Jura studiert haben, aber genau wissen, welche Strafe angemessen ist." Das sagt der Anwalt Patric von Minden, der seit rund 15 Jahren Jugendliche verteidigt – vom kleinen Dieb, der für ein bisschen Marihuana Handys klaut, bis hin zu einem Brüderpaar, das vor knapp sechs Jahren in Ahrensburg eine Lehrerin ermordete. Damals hatte von Minden für einen der Täter vor dem Landgericht eine Verurteilung lediglich wegen gefährlicher Körperverletzung erreicht. Das Gericht sah es als nicht erwiesen an, dass der Junge an den tödlichen Verletzungen Mitschuld trug. Die Empörung schlug hoch, und tatsächlich ordnete der Bundesgerichtshof eine Revision an. Am Ende des zweiten Prozesses hieß das Urteil schließlich achteinhalb Jahre Haft. Trotz dieser Schlappe fällt von Mindens Blick auf die Justiz versöhnlich aus. Wenn er auf die 15 Jahre vor Gericht, bei Mandantenbesuchen im Gefängnis und Unterhaltungen hier in seinem Büro zurückblickt, kommt er zu einem Urteil, das so gar nicht zu den Schlagzeilen passen will. Die Jugendrichter, so von Minden, würden insgesamt eine gute Arbeit leisten, mit Augenmaß urteilen und dem erzieherischen Gedanken Rechnung tragen. Was sie nicht täten: "Sich von der Stimmung in den Medien und im Volk beeinflussen lassen." +Schon im Jahre 1997 stellte die Bundesregierung fest, dass "keine empirischen Erkenntnisse vorliegen, dass durch eine härtere Bestrafung von Gewalttätern eine erhöhte generelle Abschreckungswirkung des Jugendstrafrechts gegenüber jungen Menschen erzielt werden kann". Das gilt bis heute. Tatsächlich haben die Richter neben der sogenannten Jugendstrafe – also einer Gefängnisstrafe mit und ohne Bewährung – viele andere Möglichkeiten, jugendliche Straftäter zu maßregeln: Sie können eine Sozialarbeit anordnen oder zu den sogenannten Zuchtmitteln greifen, die am Ende von rund drei Viertel aller Fälle stehen: Dazu gehören Verwarnungen, Geldbußen und der Arrest, der bis zu vier Wochen dauern kann. Oft wird auch Freizeitarrest angeordnet – bei dem die Verurteilten ein Wochenende lang in die Zelle kommen. Die Wirkung dieser Maßnahmen sei sehr stark von der sozialen Herkunft abhängig, sagt Anwalt von Minden. Wer Eltern habe, die ihre Tage trinkend und streitend vor dem Fernseher verbringen, der werde sich von ein paar Tagen in der rauen Welt eines Gefängnisses nicht einschüchtern lassen. "Aber einen Gymnasiasten kann so ein Wochenende hinter Gittern schon aus seiner heilen Welt holen", sagt von Minden. "Die wissen dann, wo der Hammer hängt." Aber natürlich gebe es auch Wiederholungstäter, die keine Sozialarbeit, kein Arrest stoppen kann. Manchmal will es von Minden einfach nicht wahrhaben, dass da schon wieder einer vor ihm sitzt, den er eben erst rausgepaukt hat. Einer, dem der Richter doch klipp und klar zu verstehen gegeben hat, dass beim nächsten Mal Schluss mit lustig ist. Und dann war das nächste Mal schon direkt nach der Verhandlung. +Dass das Jugendstrafrecht im Großen und Ganzen funktioniert – dafür könnte die Strafverfolgungsstatistik ein Indiz sein, nach der die Anzahl der von Jugendlichen begangenen Delikte seit Jahrzehnten annähernd stagniert. Am gewalttätigsten war die Jugend in den fünfziger Jahren, als man sich noch regelmäßig zur Keilerei verabredete. Heute besteht das Massendelikt eher aus dem Raub von Handys oder MP3-Playern, die fast jeder Jugendliche mit sich herumträgt, was gerade Schwächere und Jüngere zu potenziellen Opfern macht. "Das nennt sich dann ganz harmlos ,abziehen'", sagt von Minden, "dabei ist das ein ganz klarer Raub." Gesunken sei auch die Hemmschwelle bei Körperverletzungen. Oft werde noch zugeschlagen, wenn sich das Opfer nicht mehr wehren kann. "Das kann einen schon sprachlos machen." Vor einigen Monaten war es wieder so weit – da schlug von Minden die Zeitung auf und las den Namen eines alten Bekannten. Eines Mannes, den er schon als 15-Jährigen kannte und der damals bereits auf die schiefe Bahn geriet. Nun stand er in der Zeitung als Bestie, als Mörder einer Nachtpflegerin, die er in einer psychiatrischen Einrichtung umgebracht hatte. Wäre ein derart krasser Fall nicht der Beweis dafür, dass die Justiz zu milde ist? Dass sie gemeingefährliche Menschen nicht sicher genug wegsperrt, dass sie unfähig ist, die Bürger sinnvoll zu schützen? Niemand könne wissen, ob ein Täter, der aufgrund einer günstigen Sozialprognose entlassen wird, nicht doch wieder rückfällig werde, sagt Anwalt von Minden. "Deswegen heißt es ja Prognose." Aber wenn nur 20 Prozent Bewährungsversager seien, dann sei das ein guter Wert. +20 Prozent – das ist so eine Zahl: Man könnte sagen, es ist der Preis dafür, dass sich diese Gesellschaft erlaubt, mit vermeintlichen Unmenschen menschlich umzugehen. Sie nicht aufzugeben. An das Gute in ihnen zu glauben. Jeder fünfte bedankt sich für das Vertrauen mit einer neuen Tat, im schlimmsten Fall mit einem Mord. Andererseits ist die Alternative nicht besser. Sie hieße – auf das Jugendstrafrecht angewandt –, den Erziehungsgedanken hintanzustellen und stattdessen Vergeltung zu üben. Aber bekäme man dann weniger Straftäter? In Norwegen gibt es ein Experiment. Statt ins Gefängnis müssen die Verurteilten auf eine Insel, wo sie sich frei bewegen können. Sie müssen quasi auf sich selbst aufpassen. Die Fluchtquote liegt bei null, die der Rückfalltäter soll deutlich niedriger sein als bei normalen Gefängnissen. Die Gleichung harte Strafen gleich weniger Taten geht wohl nirgendwo auf der Welt auf. Im September vergangenen Jahres trafen sich auf dem Jugendgerichtstag in Münster Juristen und Kriminologen, um über die neusten Entwicklungen im Strafrecht zu sprechen. Der Kriminologe Wolfgang Heinz sagte dort, weltweite Studien hätten gezeigt, dass frühe und harte Eingriffe die Gefährlichkeit der Täter noch erhöhten. "Milde", so Heinz' Fazit, zahle sich aus. Das hofft in einem ganz speziellen Fall auch von Minden. Es geht um den Jungen, der zusammen mit seinem Bruder eine Lehrerin ermordete, weil sie ihm schlechte Noten gegeben hatte. Das sah das Gericht als erwiesen an. Der Junge kam nach dem Verbüßen von zwei Dritteln der Strafe wieder frei. Neulich traf ihn von Minden überraschend in der Fußgängerzone. Der einst wegen Mordes Verurteilte erzählte ihm, dass er nun sein Abitur macht. "Ich habe ein gutes Gefühl", sagt von Minden. Aber er weiß: Absolute Sicherheit gibt es nicht. diff --git a/fluter/wasser-marsch.txt b/fluter/wasser-marsch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4aa8a17e01c90f6b736ef159fe006ca18dfb9cea --- /dev/null +++ b/fluter/wasser-marsch.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Brennstoffzelle +Bei der klassischen Brennstoffzelle wird Wasserstoff mit Sauerstoff angereichert und gibt dabei Elektronen ab, die über einen Verbraucher fließen, zum Beispiel den Glühdraht einer Glühbirne. Eine solche Zelle kann – je nach Größe – zehn bis hundert Kilowatt erzeugen. Die Brennstoffzelle hat mehrere Vorteile: Sie ist sehr leistungsstark, mobil und emissionsfrei.Das Problem: Bisher kann Wasserstoff in großen Mengen nicht auf umweltfreundliche, sparsame Art hergestellt werden. Angelika Heinzel, Geschäftsführerin des Zentrums für Brennstoffzellen Technik in Duisburg, sagt: "Im militärischen Bereich wird die Brennstoffzelle bereits genutzt, technisch gesehen könnte man sie auch im Alltag schon einsetzen. Die Technik ist zwar noch etwas teuer, aber 2010 werden die ersten stationären Systeme fertig, zum Beispiel an Krankenhäusern. Wann sich die Brennstoffzelle durchsetzt, hängt von den Entwicklungen bei Solar- oder Windkraft ab und davon, ob wir Wasserstoff umweltfreundlich gewinnen können." +Kurbel +Was für Fahrradleuchten funktioniert, ist auch für Handys und bald sogar Computer möglich: Eine Kurbel treibt einen Dynamo an, der mechanische Energie in Strom umwandelt. Mobiltelefonhersteller bieten für die Notversorgung leerer Akkus bereits die so genannte Handykurbel an. Das 100-Dollar-Notebook, das Nicholas Negroponte, Leiter des Media Lab des Massachusetts Institute of Technology, für die Dritte Welt entwickelt hat, soll ab 2007 auf den Markt kommen und ebenfalls mit einer Kurbel angetrieben werden können – dabei ergibt eine Minute Kurbeln Strom für 30 Minuten. +Meeresenergie +Ein Viertel des weltweiten Energiebedarfs könnte durch das Meer gedeckt werden. Klassische Gezeitenkraftwerke funktionieren bisher nach dem Staudammprinzip, es muss also eine ganze Bucht verbaut werden, um die Strömung nutzbar zu machen. Das sieht nicht nur unschön aus, es schadet auch der Umwelt. Effizienter und ökologisch sinnvoller sind dagegen Kraftwerke, die Wellen und Strömung nutzen. Derzeit werden Modelle entwickelt, die mit Unterwasserrotoren arbeiten – ähnlich wie Windanlagen. Bisher ist es auf diese Weise allerdings nicht gelungen, Strom in relevanten Mengen zu erzeugen. Jochen Bard vom Institut für Elektrische Energietechnik der Universität Kassel sagt: "Deutschland hat kaum Küste und das Wasser ist relativ flach. Deswegen werden nasse Technologien hier wohl keine besonders große Rolle spielen.Das theoretische Potenzial liegt bei etwa fünf Prozent des Strombedarfs. Großbritannien hat das Vierfache." +Kernfusion +Sonnenhitze entsteht durch die Fusion der Wasserstoffarten Deuterium und Tritium zu Helium. Forscher versuchen, diesen Prozess künstlich in Gang zu bringen. Gelänge es, hätte das große Vorteile: Die Strahlungsgefahr ist aufgrund des Materials, das für den Bau eines Fusionskraftwerks verwendet würde, wesentlich geringer als bei einem Kernkraftwerk.Und: Deuterium und Tritium sind in Meerwasser beziehungsweise Feldsteinen praktisch unbegrenzt verfügbar. Das Problem: Atomkerne fusionieren bei knapp zehn Millionen Grad Celsius. Die zu erzeugen kostet bislang weit mehr Energie, als dann gewonnen wird. Eine Lösung dafür will man im ITER (Internationaler Thermonuklearer Versuchsreaktor) finden, dessen Bau noch 2006 in Cadarache in Südfrankreich beginnen soll. Dr. Alexander Bradshaw, Direktor des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik: "Der Bau von ITER dauert etwa zehn Jahre,danach dauert es einige Jahre,bis wir sicher sein können, dass Kernfusion kraftwerkstauglich ist. Wenn ein Demonstrationskraftwerk gebaut werden kann, rechnen wir damit, dass die Fusion ab Mitte unseres Jahrhunderts in der Energiewirtschaft eine Rolle spielt. Bis 2100 kann Kernfusion, wenn die notwendigen politischen Schritte geschehen,20 bis 30 Prozent des europäischen Strombedarfs decken." +Geothermie (Erdwärme) +Die Wärme, die im oberen Teil der Erdkruste gespeichert ist, ist einige Milliarden Jahre alt. Sie stammt aus der Zeit der Entstehung des Planeten sowie aus noch andauernden radioaktiven Zerfallsprozessen in der Erdkruste und ist theoretisch die größte Energiequelle überhaupt. Erdwärme kann direkt zum Heizen, zur Erzeugung von elektrischem Strom oder in einer Kraft-Wärme-Kopplung genutzt werden. Weltweit werden etwa zehn Gigawatt aus klassischer Erdwärme – also mithilfe von Wassersystemen, die bereits im Boden vorhanden sind, wie zum Beispiel Grundwasser – gewonnen, das entspricht der Leistung von zehn Kernkraftwerken. In Deutschland werden mit Geothermie bislang fast ausschließlich Häuser beheizt. Von 30 Anlagen erzeugt bisher nur das Kraftwerk Neustadt-Glewe tatsächlich Strom und versorgt damit 500 Haushalte. Dr.Reinhard Jung vom Hannoveraner Institut für Geowissenschaftliche Gemeinschaftsaufgaben: "Um mit Geothermie ein einziges AKW zu ersetzen, wären rund 300 Anlagen nötig. Das bedeutet auch mindestens 300 Bohrungen und einen finanziellen Aufwand von etwa 7,5 Milliarden Euro in 15 Jahren. Für die Bohrindustrie wäre das ein riesiger Kraftakt, das Geld ist auch nicht einfach zu bekommen – schließlich besteht immer das Risiko, dass man bohrt und auf unbrauchbares Gestein stößt. Wir setzen unsere Hoffnung daher auf die Erforschung neuer Anlagetechnologien." diff --git a/fluter/wasseraktien-etfs-investieren.txt b/fluter/wasseraktien-etfs-investieren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b2cb61940c8391383e380608e098c876a849a9e5 --- /dev/null +++ b/fluter/wasseraktien-etfs-investieren.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Nur, ist es auch okay, in etwas zu investieren, das unser aller Lebensgrundlage bildet? Klaus Gabriel ist Wirtschaftsethiker und findet es prinzipiell sinnvoll, dass Wasser ein Preisschild haben kann. "Wenn Wasser nichts kostet, wässern die Leute ihren Garten auch in der prallen Mittagssonne. Erst wenn auch der Preis zeigt, wie kostbar Wasser ist, fangen Menschen an, zu sparen und es wertzuschätzen", sagt Gabriel. Wichtig ist: Es darf kein Monopol entstehen und weil der Zugang zu sauberem Wasser ein Grundrecht ist, muss jeder Mensch auch darüber verfügen können. Wenn also nur noch einzelne über alles Trinkwasser auf der Erde verfügten, wäre das ein Riesenproblem. Dann könnten die Preise ins Unermessliche steigen. +Dass Unternehmen, die mit Wasser handeln, das nicht immer im besten ökologischen Sinne tun, sieht man zum Beispiel an Nestlé. Der größte Nahrungsmittelkonzern der Welt macht viel Geld mit Grundwasser und steht dafür regelmäßig in der Kritik, wobei der Konzern die Vorwürfe bestreitet. Das Schweizer Unternehmen hat nämlich in verschiedenen Gegenden der Welt Rechte am Grundwasser erworben. Das füllt Nestlé dann in Flaschen und verkauft es teuer. Und zwar in so großem Stil, dass (im Zusammenspiel mit anderen Faktoren) der Grundwasserspiegel oft stark sinkt und Regionen, etwa in Indien, langsam austrocknen. So ein Investment kommt für mich nicht infrage. +Aber ich habe eine Hoffnung: Wenn ich mir die richtigen Aktien oder Wasser-ETFs rauspicke,kann ich mit meinem Investment auch etwas bewirkenund so "die Guten" oder zumindest die innovativen Unternehmen fördern. Was meint Wirtschaftsethiker Gabriel dazu? "Die weltweite Wasserknappheit ist ein komplexes Problem, das wir dringend angehen müssen. Und dabei können wir auch Marktmechanismen für uns nutzen." Das heißt: Die Börse ist nicht nur ein Ort für Spekulation, sondern kann auch einen Beitrag zur Lösung im Umgang mit knappen Gütern sein. Sie gibt Unternehmen auch eine Chance, belohnt sie, wenn sie gut wirtschaften und zum Beispiel Probleme lösen – und straft sie ab, wenn sie es nicht tun. +Damit das eigene Investment im Bestfall etwas Gutes bewirkt, hat Klaus Gabriel einen Tipp: Unternehmen herauspicken, die versuchen, den Wassermangel zu lindern, und zukunftsfähige Lösungen aufbauen. Nicht in Unternehmen investieren, die sich nur für eine trockene Zukunft absichern und dann zum Beispielmit ihren heute günstig erworbenen Wasserrechten Kasse machen. +Ich suche also gezielt nach Wasser-ETFs und schaue, in welche Unternehmen die Fonds investieren. Die Unternehmen darin erscheinen mir auf den ersten Blick in Ordnung: Viele sind auf dem Markt schon lange etabliert. Ein Blick auf den Aktienchart verrät, wo die Aktie gerade steht und wie sich ihr Wert in der Vergangenheit entwickelt hat. Ich will zwar gerne nachhaltige und zukunftsorientierte Wasserunternehmen mit meinem Investment unterstützen. Aber im Bestfall auch profitieren, die Aktie oder den Fondsanteil also irgendwann gewinnbringend verkaufen. +In den USA wird seit Ende 2020 sogar an der Börse von Chicago mit Wasser spekuliert. Bislang waren sogenannteFutures, oder auch Terminkontrakte, auf Rohstoffe wie Öl oder Weizen limitiert. Kurz erklärt heißt das: Investor:innen können Wetten auf den Rohstoffpreis zu einem bestimmten Zeitpunkt abschließen. Steht der Börsenpreis zu dem gewählten Zeitpunkt höher, haben sie gewonnen und können günstiger einkaufen oder ihr Einkaufsrecht verkaufen. Steht der Preis niedriger, müssen sie dem Hersteller oder Bauern mehr zahlen. Solche Spekulationen haben einen schlechten Ruf, denn sie können den Preis in die Höhe treiben oder in den Keller fallen lassen. Sie dienen aber auch ganz einfach als Absicherung für Landwirte. +Für die Wasserspekulationen gilt eine wichtige Einschränkung: Wer richtig wettet, bekommt nur Geld und kein Wasser geliefert. Das soll verhindern, dass beispielsweise Spekulant:innen aus aller Welt kalifornisches Wasser horten. Nutzen Farmer:innen die Futures, kaufen sie sich also nur Preissicherheit für einen gewissen Zeitpunkt und nicht das echte Wasser. +Für die Farmer:innen vor Ort kann das nützlich sein, wenn sie sich schon ein Jahr vorher günstige Preise für die Sommermonate sichern können. Ethiker Gabriel ist grundsätzlich ein Unterstützer der Futures: "Bisher sehen wir nur positive Aspekte: Die Landwirte schätzen die neue Handelsmöglichkeit, und zusätzlich ist der Wasserverbrauch in der Region gesunken. Das Preisschild hat gewirkt." Es gibt aber auch kritische Stimmen: "Wir müssen über die potenziellen direkten und indirekten negativen Konsequenzen nachdenken, wenn wir Wasser als Ware und nicht als Ressource behandeln", sagte zum Beispiel Simon Puleston Jones, ehemaliger Europa-Chef der US-Handelsorganisation Futures Industry Association (FIA),der "Financial Times". Damit die Terminkontrakte nicht zur Spekulation missbraucht werden, ist der politische Rahmen für die Geschäfte wichtig. +Für mich als Kleinanlegerin ist das aber erst mal unerheblich. Ich finde: Gerade weil Wasser so ein knappes Gut ist, sollte man sorgfältig ausgewählte Unternehmen finanziell in ihrer Mission unterstützen. Meine Investments sind dabei keine Spekulations-, sondern eher Renditeobjekte. +Klar ist es super, wenn sich das eigene Investment am Ende auch bezahlt macht und die Anteile meiner Wassser-ETFs oder -unternehmen irgendwann mehr wert sind. Aber bleiben wir mal nüchtern: Investieren ist immer riskant. Geld zu verlieren sollte eingepreist werden. Deshalb sollte man nur Summen investieren, auf die man im schlimmsten Fall verzichten könnte. Und falls mein Investment nicht die erhoffte Rendite abwirft, kann ich es immer noch uminterpretieren: als eine Art Spende an ein Unternehmen, das versucht hat, die Wasserknappheit zu bekämpfen. So kann ich damit gut leben. + +Titelbild: Jan Q. Maschinski diff --git a/fluter/wasserbomben.txt b/fluter/wasserbomben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/wasserdruck.txt b/fluter/wasserdruck.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..417ab61c096ee7fcc5361ce520ab054fe1ab9623 --- /dev/null +++ b/fluter/wasserdruck.txt @@ -0,0 +1 @@ +Offiziell beschränken sich Institutionen wie die Weltbank oder der Internationale Währungsfonds darauf, sogenannte Empfehlungen zu geben. Aber dann sagen sie den Regierun-gen: Wenn ihr unseren Empfehlungen nicht folgt, verlängern wir eure Kredite nicht. Letztlich akzeptieren die jeweiligen Regierungen diese Dynamik der Drohungen.Und was geschieht dann?Die Weltbank zum Beispiel finanziert alle Projekte, die mit Staudämmen zu tun haben. Dann werden die jeweiligen lokalen Regierungen unter Druck gesetzt, sich finanziell zu beteiligen. Dafür müssen sie wieder internationale Kredite aufnehmen. Den Bauauftrag bekommen dann große westliche Unternehmen, weil nur sie solche Projekte stemmen können. Es machen also alle ein gutes Geschäft: internationale Kreditgeber und die Wirtschaft in den Ländern, die diese Organisationen kontrollieren.In der südmexikanischen Provinz Chia-pas geraten seit einiger Zeit die indigene Bevölkerung und Coca-Cola aneinander. Der Konzern kauft riesige Flächen Land auf und schneidet den Menschen den Zugang zum Wasser ab. Wie ist es so weit gekommen?Das hängt mit den Privatisierungstendenzen in allen Bereichen zusammen. Zudem ist laut mexikanischer Verfassung die Exekutive zuständig für die Verwaltung des Wassers und kann diese auch Dritten übertragen. Präsident Calderón interpretiert das so, dass er in seinen Entscheidungen nicht parlamentarisch gebunden ist. Das ist nicht korrekt, aber Coca-Cola war ja auch einer seiner Hauptgeldgeber im letzten Wahlkampf.Solche Lobbyarbeit ist weit verbreitet.Aber das Wasser wird so zu einer Angelegenheit der nationalen Sicherheit Mexikos. Die Gesundheit und das Überleben der Bevölkerung erfordern eine staatliche Garantie auf den Zugang zu sauberem Trinkwasser für alle. Dazu kommt die Angst vor einer Wasserkrise mit den USA.Mexiko bezahlt seit 2001 seine Schulden zum Teil mit Wasser aus dem Rio Bravo.Ja, der Fluss entspringt auf US-Staatsgebiet und erreicht sein höchstes Volumen in Mexiko. In den letzten Jahren konnte die mexikanische Regierung, wegen großer Hitze oder Trockenheit, die Zahlungen nicht immer leisten. Die USA haben daraufhin damit gedroht, den Fluss einfach auf eigenem Gebiet abzuschöpfen. Das gefährdet Mexikos Sicherheit.Gian Carlo Delgado, 29, ist Wirtschaftswissenschaftler an der Universi-dád Autónoma de México in Mexico City und Autor des Buches Agua y Seguridad Nacional (2005). Er trinkt am liebsten stilles Wasser. diff --git a/fluter/wasserknappheit-deutschland-loesungen.txt b/fluter/wasserknappheit-deutschland-loesungen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..321e307e23df94ce79d788db9138ad7f82bcc34c --- /dev/null +++ b/fluter/wasserknappheit-deutschland-loesungen.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +… und vergangenen Sommer brannten in Sachsen und Brandenburg wieder die Wälder. +Wie überall in Europa. Sehr wahrscheinlich Folgen desKlimawandelsund erste Warnzeichen, was in Zukunft droht. Militär und Katastrophenschutz versorgten hier einige Regionen mit Wasser, zum Beispiel Weidevieh in den Alpen. Das sind Entwicklungen, die mich besorgen. +Seit mehr als zwei Jahrzehnten befassen Sie sich mit Wassermanagement. Was bedeutet das genau? +Es ist ein Konzept zum nachhaltigen Umgang mit Wasserressourcen, das gleichermaßendas Wohl der Umwelt, der Gesellschaft und der Wirtschaft berücksichtigt. Es geht um Wasserknappheit durch Dürren auf der einen, umHochwasser wie 2021 im Ahrtalauf der anderen Seite. Durch Wassermanagement versuchen wir, solche Extreme auszubalancieren. +Nehmen wir den Wassermangel: Die Erdoberfläche istzu zwei Dritteln mit Wasser bedeckt. Warum ist es nötig, weltweit gegenzusteuern? +Klimawandel, Bevölkerungswachstum, wirtschaftliche Entwicklung undder Verlust an Biodiversitäterhöhen den Druck auf die bereits übernutzten Wasserressourcen weltweit. Wie viel Wasser für welche Zwecke verfügbar ist, hängt von diversen Faktoren ab: etwa wie wir Flächen nutzen, wie die Ressource bei Mangel verteilt wird. Es genügt nicht, auf das Bad im privaten Pool im Garten zu verzichten – oder solche Arten der Wassernutzung während Extremphasen zu verbieten. +Was dann? +Wir brauchen ganzheitliche Ansätze, ein Zusammenspiel: Politik und vor allem auch die Land- und Forstwirtschaft sind nun in der Pflicht. Landkreise können zwar Verbote erlassen, Wasserentnahmerechte vergeben. Aber ebenso brauchen wir Strategien, die für mehr Wasser sorgen. +An wen oder was denken Sie? +Es muss beispielsweise darum gehen, mehr Wasser in der Fläche zu halten. Wir müssen der Bodenversiegelung entgegenwirken. Aber es geht auch um die Qualität: Wasser ist knapp und dann auch noch belastet durch Gülle aus der Massentierhaltung. Die Landwirtschaft verbraucht viel Wasser. Ackerflächen sind entwässert worden, damit schwere Maschinen auf den Böden rangieren können. Dem müssen wir entgegensteuern, etwa indem wir Wasser in die Felder leiten. + + +Und wie sieht es mit den Wäldern aus? +Unsere Wäldersind dem Klimawandel nicht gewachsen. Forstwirtschaftlich genutzte Wälder sammeln wenig Wasser, da es abgeleitet wird. Außerdem speichern die weit verbreiteten Nadelbäume kaum Feuchtigkeit. +Das hört sich pessimistisch an. +Aktuell ändert sich viel, um Wälder zukunftsfähig zu gestalten: weg von Monokulturen, hin zu klimastabilen Mischwäldern. Ebenfalls bedeutsam sind Moore, die viel Wasser speichern können. Dort sollte der Wasserstand wieder angehoben werden. Trockengelegte Auenlandschaften sollten renaturiert werden. Dass sich hier einiges tut, macht Hoffnung. Aber die Renaturierung dauert lange. +Gibt es Länder, von denen wir lernen können? +In Israel war die Lage vor einigen Jahren bedrohlich: ausgetrocknete Flüsse und Seen, fallender Grundwasserspiegel. Mithilfe von Forschung, moderner Bewässerungstechnologien, rechnergestützter Bewässerungssysteme und Abwassernutzung hat Israel es aber geschafft, die Bewässerung in der Landwirtschaft nachhaltiger zu gestalten. Heute gehört das Land zu den führenden in der Wasseraufbereitung. Dort setzt man auch auf die Entsalzung von Meerwasser. +Was können wir als Einzelne tun? +Ich appelliere an unsere Eigenverantwortung. Einerseits müssen wir uns anpassen, schonender mit den Ressourcen umgehen, Wasser sparen. Andererseits müssen wir mehr Wasser speichern. Wir brauchen mehr Wertschätzung für das Wasser, das bei uns so selbstverständlich aus dem Hahn kommt. Ein Hebel ist etwa die Ernährung. Bei der Produktion von Fleisch zum Beispiel braucht man wahnsinnig viel Wasser. +Über welche Größenordnung sprechen wir? +Für die Produktion von einem Kilogramm Rindfleisch sind es circa 15.000 Liter Wasser. Das ist mehr als das 100-Fache des durchschnittlichen täglichen Wasserbedarfs von circa 125 Litern pro Person. Dabei berücksichtigt man den gesamten Wasserbedarf bei allen Produktionsschritten inklusive den für die Produktion der Futtermittel. Sich vegetarisch zu ernähren ist ein Ansatz. Auch beim Bepflanzen des Gartens können wir darauf achten und durch weniger Gießen und den Verzicht auf Rasensprenger und Anlage von Naturgärten viel Wasser sparen. Es hilft auch, Regenwasser aufzufangen und zu nutzen. Das Umweltbundesamt rät zudem, Wasserspararmaturen einzubauen für die Toilette und Dusche.Und nicht zuletzt: andere aufmerksam machen auf das Problem. +Experten sagen seit Jahrzehnten voraus, dass Kriege im 21. Jahrhundert nicht mehr um Öl geführt werden, sondern um Wasser. Drohen uns auch in Deutschland Konflikte? +Konflikte um die Verteilung von Wassergibt es heute immer mehr, ein Fall mit nationaler Aufmerksamkeit beispielsweise in Grünheide, wo der Elektroautobauer Tesla ein Werk eröffnet hat mit enorm hohem Wasserverbrauch – in einer Region mit wenig Niederschlägen. Es gab Proteste. Und immer wieder gibt es in solchen Fällen Verhandlungen vor Gericht. +Wie sieht Ihre Prognose für die Zukunft aus? +Das Bundesumweltministerium hat seinen Entwurf für eine"Nationale Wasserstrategie"vorgestellt. Damit will die Politik das Wassermanagement verbessern, unter anderem mit mehr Daten. Der Entwurf zeigt, dass den Politikerinnen und Politikern der Ernst der Lage bewusst ist. Aber der Bund hat wenig Einfluss. Umsetzen müssen die Strategien die Länder. Und wir Menschen müssten ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass wir alle davon profitieren, mit der Natur – und nicht gegen sie – zu arbeiten. Ich bleibe Optimistin. Ich fürchte nur, dass vieles zu langsam geht. + +Claudia Pahl-Wostl ist Professorin für Ressourcenmanagement. Sie arbeitet am Institut für Geographie und am Institut für Umweltsystemforschung der Universität Osnabrück. Dort beschäftigt sich mit Wassermangel und den Lösungen.Derzeit erforscht sie, wie sich die Digitalisierung für ein anpassungsfähiges Wassermanagement nutzen lässt. (Foto: Manfred Pollert) + diff --git a/fluter/wasserkreislauf.txt b/fluter/wasserkreislauf.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/wasserstoff-energiewende-zukunft.txt b/fluter/wasserstoff-energiewende-zukunft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..17c0964c72c1c4727502a504307bee13905a68c5 --- /dev/null +++ b/fluter/wasserstoff-energiewende-zukunft.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Mit Wasserstoff, so liest es sich manchmal, ist dasKlimaproblemim Handumdrehen gelöst. Doch wie realistisch ist das wirklich? +Besonders für die Schwerindustrie ist Wasserstoff interessant – also überall dort, wo Fabriken viel Energie in Form von Hitze brauchen. In den Hochöfen der Stahlindustrie zum Beispiel reagiert Koks, also Kohlenstoff, mitEisenerz. Der Koks ließe sich durch Wasserstoff ersetzen, die Stahlproduktion könnte damit emissionsfrei sein. Die Salzgitter AG, einer von Deutschlands größten Stahlproduzenten, testete dazu bereits zwischen 2019 und 2022 ein Verfahren, bei dem sie den Wasserstoff in ihren Glühprozessen und Verzinkungsanlagen einsetzte. Und die Thyssenkrupp AG plant, 2026 ihren ersten wasserstoffbetriebenen Hochofen in Betrieb zu nehmen. +Auch in der Glasindustrie müssen Öfen hohe Temperaturen erzeugen, meist wird dazu Erdgas verbrannt. "Das sind Bereiche der Industrie, die schwer zu elektrifizieren sind", sagt Dana Kirchem, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Denn so hohe Temperaturen lassen sich nicht einfach mit einer elektrischen Heizspirale generieren. Auch hier könnte die Lösung Wasserstoff sein: Ein kürzlich abgeschlossenes Forschungsprojekt in Nordrhein-Westfalen, an dem auch der Bundesverband der Glasindustrie beteiligt war, fand heraus, dass die Ofentemperatur durch den Einsatz von Wasserstoff ebenso konstant gehalten werden kann. +Allerdings kam es dabei zum Beispiel zu Schwankungen in der Glasqualität. Zudem sind große Investitionen nötig, um die Industrie umzurüsten, und die Verfahren sind bisher nicht wirtschaftlich, es geht schleppend voran. Daher beschränkt sich der Einsatz von Wasserstoff sowohl in Stahl- als auch Glaswerken bisher auf Testprojekte – meist mithilfe von Fördergeldern. +Auch im Bereich der Mobilität ist der Einsatz von Wasserstoff denkbar. Denn auf der Straße, der Schiene, den Ozeanen und Flüssen müsste man nicht ganze Fabriken umbauen, sondern lediglich den Antrieb der jeweiligen Gefährte: Treibt Wasserstoff über eine Brennstoffzelle einen Elektromotor an, so dreht sich die Schiffsschraube, rollen die Reifen, rattern die Räder. Das zumindest ist die Theorie. +In der Praxis fährt jedoch bisher kein Schiff mit Wasserstoff. Nur Testprojekte gibt es – wie das Binnenfrachtschiff "Elektra" auf der Havel. Aber die benötigten Brennstoffzellen müssen sehr leistungsfähig sein – und das ist bisher viel zu teuer im Vergleich zu Schweröl. +Da ist man bei Autos schon weiter, da sie weniger Leistung benötigen: Hyundai und Toyota haben bereits serienmäßige Wasserstoffautos auf den Markt gebracht. Außerdem entwickeln einige Forschungseinrichtungen und Unternehmen synthetische Kraftstoffe, die wasserstoffbasiert sind. Erdölbasiertes Benzin oder Diesel wären damit vermutlich abgemeldet. Der Vorteil der synthetischen Kraftstoffe: Tanklaster, Rohrleitungen und Antriebe blieben die gleichen, nur der Kraftstoff darin würde sich verändern. Aber auch hier gibt es zwar Testprojekte, so weit das Auge reicht – doch nur wenige Autohersteller bringen die Entwicklung ernsthaft voran. +Besser läuft es schon auf der Schiene, zumindest bei Bremerhaven. Da fährt seit Sommer 2022 der Wasserstoffzug "Coradia iLint" der Firma Alstom. Der Regionalzug fährt dort, wo nur schwer elektrische Oberleitungen installiert werden können. Immerhin: kein Testbetrieb, sondern nach Fahrplan, inklusive Passagiere. +Die größte Herausforderung des Wasserstoffs ist seine Produktion. Denn er lässt sich nicht einfach aus der Erdkruste fördern und anschließend verbrennen wieErdgasoder Erdöl. Stattdessen muss man ihn erst aus Wasser herauslösen. +Abhängig davon, wie genau das gemacht wird, gibt es unterschiedliche Formen des Wasserstoffs. + + +Bevor man also die Energie des Wasserstoffs nutzen kann, muss man Energie investieren. Kommt die Energie – wie beim grauen Wasserstoff – aus Erdgas, ist wenig gewonnen: Es besteht weiterhin eine Abhängigkeit von ausländischen Erdgaslieferanten wie Russland. Und es gibt wenig Fortschritt beim Klimaschutz, da Emissionen entstehen. + +Anders hingegen beim grünen Wasserstoff: Ein Windrad erzeugt Strom. Dieser spaltet bei der Elektrolyse Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff auf. Und der gewonnene Wasserstoff wiederum ersetzt im Stahlwerk den Koks, in der Glashütte das Erdgas oder treibt über eine Brennstoffzelle ein Elektroauto an. Emissionsfrei – abgesehen natürlich von der Produktion der Windräder, Brennstoffzellenautos und Elektrolyseure selbst. Industrieverbände, Bundesregierung, Klimaschutzinitiativen sind sich einig: wenn Wasserstoff, dann in Grün. +Doch von diesem Ziel ist die Realität aktuell weit entfernt. "Die Nachfrage nach grünem Wasserstoff ist noch nicht hoch, da er noch zu teuer ist", sagt Dana Kirchem vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Denn eine großflächige Serienproduktion gibt es noch nicht, erst langsam werden geförderte Forschungsprojekte zu einem lukrativen Industriezweig. Wenig Angebot also – und damit wenig Nachfrage. In Deutschland wird deshalb zu über 90 Prozent grauer Wasserstoff eingesetzt. Nach den Plänen der Bundesregierung soll sich das ändern. +Dafür gibt es aber bisher zu wenig Strom aus erneuerbaren Energien. "Grünstrom ist knapp", sagt Dana Kirchem. Und überall dort, wo der Strom aus Windrad oder Solarpanel genutzt wird, um Wasserstoff herzustellen, geht Strom verloren. Nicht immer sei das sinnvoll. "Wir sollten ihn direkt nutzen, wo es möglich ist." Besser sei es, mit dem erneuerbaren Strom direkt die Wärmepumpen oder das Elektroauto anzutreiben, ohne den Umweg über Wasserstoff. In vielen Bereichen ginge es also auch völlig ohne Wasserstoff viel effizienter. +Dana Kirchem plädiert deswegen dafür, sich erst um den Ausbau der erneuerbaren Energien zu kümmern: mehr Windparks, mehrSolarparks, und zwar schnell. "Sonst sind alle unsere Pläne von der direkten Stromnutzung bis hin zum Wasserstoff bedeutungslos", sagt sie. +Die Energiekrise dürfte dem Vorhaben Rückenwind geben: Deutschland bekommt kaum noch Erdgaslieferungen aus Russland, Ende April sollendie verbliebenen drei Kernkraftwerke herunterfahren, und auch derBraunkohleabbausoll nur noch maximal 15 Jahre Energie liefern. Das wird wohl den Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigen – und damit indirekt auch das Vorhaben der Wasserstoffnutzung. Denn wo mehr Windparks und Solarpanels stehen, da gibt es auch mehr Möglichkeiten, den Grünstrom für die Wasserstoffherstellung einzusetzen. +Dabei könnten auch neue Märkte weltweit eine Rolle spielen. In Nordafrika und dem Nahen Osten zum Beispiel werden bereits diverse Solaranlagen betrieben, viele weitere sind geplant. Sie könnten Grünstrom per Überseekabel auch nach Deutschland liefern. Und an manchen Standorten in Nord- und Westafrika soll bereits Ende dieses Jahrzehnts grüner Wasserstoff produziert werden – der dann per Schiff nach Deutschland kommen könnte. In Zukunft könnten wir also nicht mehr nur mit Öl und Gas aus dem Ausland versorgt werden, sondern auch mit Strom oder grünem Wasserstoff aus Wind- oder Sonnenkraft. +Die Infrastruktur für die Herstellung des Wasserstoffs hier vor Ort in Deutschland ist jedoch eine Herausforderung. Wo sollen zum Beispiel Elektrolyseure, also die Orte, an denen der Wasserstoff mithilfe des Grünstroms gewonnen wird, stehen? Direkt neben der Tankstelle? Oder doch schon am Windpark selbst? Und wie transportiert man den Wasserstoff am besten, der in flüssiger Form auf etwa minus 250 Grad Celsius oder gasförmig bei sehr hohem Druck gehalten werden muss? "Da wird noch viel geforscht und diskutiert. Aber vieles ist noch nicht klar", sagt Dana Kirchem. "Wir sollten uns nicht darauf einrichten, dass wir in zehn Jahren eine wasserstoffbasierte Energiewirtschaft haben." +Ein Fazit, das so mancher Lobesrede einen Dämpfer geben dürfte. Und auch so mancher Aussage von Unternehmen, die im Wasserstoff die schnelle und einfache Lösung für die Klimakrise sehen. +So schön die Vorstellung von einem reinen, emissionsfreien Energieträger auch ist: Bevor Wasserstoff unsere Energieträume Wirklichkeit werden lässt, braucht es noch Zeit – und vor allem viel erneuerbare Energie. diff --git a/fluter/watch-me-sex-sells-serie-zdf-rezension.txt b/fluter/watch-me-sex-sells-serie-zdf-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2630b34569cbcae6702c87f04a66adae60b47451 --- /dev/null +++ b/fluter/watch-me-sex-sells-serie-zdf-rezension.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Um die Erkundung dieser Welt, ohne ein Urteil über sie zu fällen.Kontroverse Meinungen über Plattformen wie OnlyFansgibt es ja ohnehin schon genug:Während die Creator:innen den Zuwachs an Selbstbestimmung loben, sehen Kritiker:innen in ihnen häufig nur neue Formen der Ausbeutung. In diesem Spannungsraum erzählt die Serie die Geschichten von Malaika, Tim und Toni. Ein großes Thema ist die gesellschaftliche Akzeptanz ihrer Arbeit. Konsens ein anderes. Wir lernen: Je expliziter die Inhalte, desto mehr kann man auf "WatchMe" verdienen. Und das erzeugt natürlich Druck. Wie verschiebbar, fragt die Serie, sind persönliche Grenzen, wenn es darum geht, Abo-Zahlen zu maximieren? Wie käuflich sind die Creator:innen am Ende? Welche strukturellen Abhängigkeiten erzeugt die Plattform mit ihrem Geschäftsmodell? + +Es gibt durchaus nackte Haut und explizite Sexszenen zu sehen. Und es sollte erwähnt sein, dass die Serie mit FSK 16 bewertet ist. Allerdings vermeidet "WatchMe – Sex sells"einen objektivierenden Blick auf die Körperder Figuren. Am faszinierendsten ist es, ihnen dabei zuzuschauen, wie sie ihre eigene Nacktheit für "WatchMe" inszenieren. Der Eindruck von "Sexyness" ist fragil und kann von einer Sekunde auf die nächste in sich zusammenfallen. Unterhaltsam ist etwa die Szene, in der Toni zum ersten Mal Unterwäsche-Selfies vor dem Badezimmerspiegel schießt. Sie erlaubt sich hier einen kleinen Moment des Ausbruchs, des spielerischen Umgangs mit ihrem Körper. Gerade als sie sich in einer besonders albernen Pose befindet, steht plötzlich ihr Sohn im Türrahmen. "Was machst du da, Mama?", fragt er. "Ach, gar nichts", entgegnet Toni, sichtlich verschämt. Es ist eine Stärke der Serie, dass sie die Figuren eben nicht nur dabei zeigt, wie sie Content für die Plattform produzieren, sondern durch Einblicke in ihren Alltag Nahbarkeit herstellt. + + +"WatchMe – Sex sells" ist eine hochaktuelle Serie, die versucht, sich einer Wirklichkeit zu nähern, die sich am besten in Zahlen beschreiben lässt. Denn die Creator-Economy ist – auch bedingt durch die Einschränkungen der Corona-Pandemie – in den vergangenen Jahren rasant gewachsen: Die Anzahl der registrierten Nutzer:innen von OnlyFans stieg laut Unternehmen von einer Million im Jahr 2017 auf derzeit mehr als 150 Millionen. + +Wie schwer es sein muss, eine Unterhose anzuziehen, wenn man dabei etwa 15 cm Zentimeter hohe Stilettos trägt? Das will man sich eigentlich gar nicht vorstellen! Maddy Forst, die Malaika spielt, meistert die Szene mit so viel Bravour, dass die Aktion völlig lässig wirkt und nicht in einen Cringe-Moment abrutscht. Krasse Leistung! + +Einmal posiert Malaika in einem glitzernden Bikini auf ihrem Bett, ihr Körper ist in den schmeichelhaften Schein einer Ringleuchte getaucht. Während sie laszive Selfies schießt, kommt ihre Oma ganz beiläufig mit einem Wäschekorb in ihr Zimmer und fragt die Enkelin, ob sie noch Wäsche für die Waschmaschine habe. Diese entspannte Interaktion erzeugt das Gefühl, dass Malaikas Job eben auch nur ein "Job wie jeder andere auch" sein kann. + +Die Serie ist ausgezeichnet besetzt, unterhaltsam inszeniert und schafft es, das Thema Plattform-Sexarbeit aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu zeigen, ohne sich auf eine Seite zu schlagen. Und obwohl die Serie von pornografischen Inhalten erzählt, blickt sie nicht mit einem voyeuristischen Blick darauf. Vielleicht liegt es auch daran, dass es am Set eine Intimitätskoordinatorin gab? Ein Standard, den man sich für Filmproduktionen der Zukunft wünschen würde. + +"WatchMe – Sex sells" (Regie: Alison Kuhn, Drehbuch: Jonas Bock, Christian Hödl, Lene Pottgiesser) läuft seit dem 12. Mai 2023 in der ZDF-Mediathek und wird ab dem 3. Juni auf ZDFneo ausgestrahlt. diff --git a/fluter/we-will-not-fade-away-kovalenko-donbass-doku.txt b/fluter/we-will-not-fade-away-kovalenko-donbass-doku.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6e113aa538d893e626338f8b2504b4f23612f991 --- /dev/null +++ b/fluter/we-will-not-fade-away-kovalenko-donbass-doku.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +fluter.de: Ihre Dokumentation "We will not fade away" spielt im Donbass, allerdings vor Beginndes russischen Angriffskriegs.Wissen Sie, wie es aktuell dort aussieht? +Alisa Kovalenko: Manche Teile sind komplett zerstört, da ist niemand mehr. Andere sind besetzt. Dort werden die Menschen mit russischer Propaganda übersät, auch an den Schulen. Im Unterricht sollen diese Kinder lernen, Russland zu lieben. Die meisten Teenager*innen sind proukrainisch eingestellt und haben deshalb große Angst, ins Visier der Polizei oder der russischen Sicherheitsbehörde zu geraten. Es ist sehr bedrückend. +Das Gebiet ist seit 2014 umkämpft. Die Jugendlichen, die Sie in Ihrem Film porträtieren, können sich kaum an Zeiten ohne Kriegsgeschehen erinnern. Wie unterscheiden sich ihre Leben von denen anderer Heranwachsender? +Sie haben dieselben Probleme wie andere Jugendliche. Da kommen der Krieg und das Leben in einer abgeschotteten Region halt nur obendrauf. Sie alle haben ein Kriegstrauma, auch wenn sie das nicht unbedingt realisieren, und trotzdem versuchen sie, Spaß zu haben in ihrem Leben. Aber wegen der traumatischen Erfahrungen fällt es ihnen schwer, an sich selbst zu glauben. Zum Beispiel, dass sie es an die Uni schaffen könnten. Deswegen wiederholt Andriy im Film auch: "Ich werde nie etwas im Leben erreichen." +Wie muss ich mir das ganz konkret vorstellen, im Donbass aufzuwachsen? +Das Problem ist nicht nur der Krieg. Natürlich sind es harte Umstände mit den andauernden Kampfhandlungen, aber es kommt der Moment, an dem man sich als junger Mensch daran gewöhnt hat. Gleichzeitig leben Jugendliche dort ziemlich isoliert, weit weg von großen Städten. Es fehlt an Infrastruktur, etwa an guten Schulen. Diese Gegend entwickelt sich nicht, sie stirbt eher aus. Das Problem gibt es auch anderswo, aber der Krieg beschleunigt das Aussterben dieses ehemaligen Industriestandorts. Im Donbass gibt es viele Kohleminen, die meisten sollen allerdings in den nächsten Jahren schließen. Fast alle Eltern der Jugendlichen aus dem Film haben in den Minen gearbeitet. Die junge Generation will das nicht, sie will andere Orte entdecken. Aber wie sollst du dir das leisten, nach Kiew oder in eine andere Großstadt zu ziehen, wenn du aus armen Verhältnissen stammst? Junge Menschen aus dem Donbass müssen wirklich für ihre Träume kämpfen, mehr als andere Kinder. +Sie haben die Jugendlichen über etwa drei Jahre begleitet, unter anderem auf eine Reise in den Himalaja. Inwiefern hat dieses Filmprojekt sich auf die fünf ausgewirkt? +Ich denke, es hat ihnen geholfen. Die Jugendlichen und ich hatten eine starke emotionale Bindung. Ich glaube fest an sie, und das habe ich ihnen auch gezeigt. Und zu sehen, dass jemand an sie glaubt, hat ihnen geholfen, mehr an sich selbst zu glauben. Dazu hat auch die Expedition beigetragen: Da konnten sie nicht nur mal durchatmen, in eine andere Welt eintauchen und die nepalesischen Berge sehen. Symbolisch ging es genauso darum, seine eigenen Gipfel zu bezwingen. Sie haben das Gefühl bekommen, dass sie wirklich etwas erreichen können in ihrem Leben. Das hat ihnen Hoffnung und inneren Halt gegeben. + + +Der Film endet mit dem Beginn derrussischen Invasion der Ukrainevor einem Jahr. +Wir saßen gerade am Rohschnitt des Films, als sich die Situation an der Grenze zuspitzte. Ich hatte bereits geplant, für weitere Soundaufnahmen noch mal in den Donbass zu fahren, und wollte auch die Stimmung der Jugendlichen einfangen. Als der Krieg ausbrach, saß ich gerade im Nachtzug Richtung Donbass. Bei der Ankunft holten Andriy und sein Vater mich am Bahnhof ab. Es war total surreal: Auf der Autofahrt wurde im Radio zur Evakuierung der ganzen Gegend aufgerufen. Alle Geschäfte waren schon geschlossen, keine Menschen zu sehen, nur Panzer auf der Straße. Und wir fuhren in Richtung Front, weil deren Dorf sich halt dort befindet. Nach einem Tag hatte ich das Gefühl, nicht mehr filmen zu können. Emotional war das sehr hart. Ich blieb eine Weile da. Ruslan lebt in der Nähe, deswegen konnte ich auch mit ihm Zeit verbringen. Ich wollte ihnen helfen zu fliehen, aber sie wollten nicht. Der Wohnort der anderen Jugendlichen fiel nach drei Tagen unter russische Besatzung. Es wurde unmöglich, da hinzukommen. Letztendlich gelang es mir, Liza zu evakuieren. Danach hatte ich das Gefühl, den Glauben an das Kino zu verlieren, und ging an die Front, um zu kämpfen. +Nach vier Monaten bei einerfreiwilligen Kampfeinheit der ukrainischen Streitkräfteverließen Sie die Front wieder, um den Film fertigzustellen. Was hat Sie umgestimmt? +Ich ließ mich überzeugen, dass ich eine Verantwortung habe, den Film fertigzustellen, gerade den Mitwirkenden gegenüber. Und natürlich gibt es auch eine kulturelle Front: Es ist wichtig, den Film und seine Botschaft unter die Leute zu bringen. +Was für eine Botschaft ist das? +Der Ursprungsgedanke war, einen Film über die Kraft von Träumen zu machen. Nun wurden durch den Angriffskrieg viele Hoffnungen genommen und Träume zerstört. Aber du musst trotzdem daran glauben, dass du mit der Strahlkraft deiner Träume auch alles andere aufleuchten lassen kannst. +Am Ende des Films erfahren wir, dass der Kontakt zu Ruslan und Illia abgebrochen ist. Haben Sie seither etwas von ihnen gehört? +Nein. Mit Ruslan und seiner Familie stand ich noch im Austausch, als ich an der Front war. Weil ich die Situation dort miterlebte, versuchte ich immer wieder, sie zum Gehen zu überreden. Aber dann brach auf einmal jeglicher Kontakt ab. Ich weiß, dass ihr Wohnort unter russischer Besatzung ist. Von Illia hatte ich ein paar Anrufe erhalten, und dann verschwand auch er von der Bildfläche. Er hatte sehr große Angst um seine Großeltern, bei denen er lebt. Ich mache mir große Sorgen um ihn. Ich glaube nicht, dass er die russischen Checkpoints überqueren kann. Ihm bleiben nur illegale Wege. Und die sind sehr gefährlich. + +Das Interview wurde aus dem Englischen übersetzt. "We will not fade away" (My ne zgasnemo) ist nocham 24. und 25. Februar auf der Berlinale zu sehen. + diff --git a/fluter/weber.txt b/fluter/weber.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a651e8057ddc0c55a09479c8d69aae33f92b95e1 --- /dev/null +++ b/fluter/weber.txt @@ -0,0 +1,39 @@ +Andreas Weber: Ganz zentral ist das Prinzip der Gegenseitigkeit, verstanden als Beziehungsfähigkeit des Menschen in einem weit gesteckten Sinne: nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch mit den anderen Lebewesen und Organismen der Erde. Ich möchte, dass wir uns wieder als Teil der Weltlebewesengemeinschaft verstehen und in eine Ökologie der Gegenseitigkeit eintreten, die die Bedürfnisse aller achtet. +Klingt erst mal ziemlich utopisch. +Ihr Satz suggeriert, dass es sich um den schönen Traum von etwas Unmöglichem handelt. Nein, es geht um eine Vision für eine andere Form des Zusammenlebens! Klar ist das eine Utopie. Sie ist aus der Erfahrung geboren, dass wir ein Leitbild brauchen, um etwas zu verändern, das auf schreckliche Weise nicht funktioniert. + +Das Natur uns guttut, davon hat jeder schon mal gehört. Wie genau das funktioniert, erforschen WissenschaftlerInnen der Universität Utah, indem sie die Gehirnaktivitäten in verschiedenen natürlichen Umgebungen messen + +Was funktioniert denn Ihrer Meinung nach nicht? +Der Mensch hat sich über alle anderen Organismen der Weltlebewesengemeinschaft gestellt. Er missachtet ihre Bedürfnisse und beutet sie im großen Stil aus. Gegenseitigkeit ist es, was unserer Welt heute in allen Bereichen wohl am meisten fehlt. In der abendländischen Kultur sind wir darauf gepolt, vor allem unseren Eigennutz zu verfolgen und die anderen zu überflügeln, wobei wir sehr fixiert auf unsere eigene Wirkung sind.Viele indigene Kulturen dagegen leben so, dass die ökologische Gegenseitigkeit erhalten bleibt.Deshalb nenne ich das "Indigenialität": Was wir brauchen, ist eine neue ökologische Lebenskunst, die sich daran orientiert. +Viele indigene Menschen haben auch animistische Vorstellungen: Sie treten zu anderen Lebewesen in Kontakt, als wären es Personen, und sie kommunizieren mit Bäumen und Bergen. Sollen wir das auch übernehmen? +Wir im sogenannten Westen neigen dazu, wegen der naturnahen Lebensweise von Indigenen zu übersehen, dass diese Menschen beachtliche intellektuelle Leistungen hervorgebracht haben. Ich denke da etwa an die komplexen oralen Traditionen vieler pazifischer Volksgruppen oder wie dort tagelang ohne technische Hilfsmittel über das offene Meer navigiert wurde. Der Animismus ist nur ein Teil dieser Kulturen. Und tatsächlich denke ich, dass wir Menschen, die in modernen industrialisierten Nationen leben, eine neue Form von Animismus brauchen, der grundsätzlich anerkennt, dass die anderen Lebewesen eine Art von Bewusstsein haben – meines Erachtens nicht nur die Tiere, sondern auch Pflanzen und sogar Berge. Das basiert auf der einfachen Erkenntnis, dass wir im Grunde nicht anders beschaffen sein können als die uns umgebende Welt. Wir müssen diese Anderen wieder als Subjekte anerkennenund ihnen Gleichberechtigung gewähren. +Ist das wirklich eine Utopie? Es klingt sehr nach einer Rückbesinnung auf die naturverbundene Lebensweise von Indigenen. +Einfach nur zurück zu dieser naturverbundenen Lebensweise möchte ich gewiss nicht. Man stellt oft fest, dass es früher doch nicht so toll war, wie man gedacht hat. Ich möchte aber, dass wir unsere emotionale Wahrnehmung der anderen Wesen wieder ernst nehmen. Ich gebe mal ein einfaches Beispiel:Wenn ich mir eine als "biologisch" gelabelte, aber immer noch industrielle Hühnerhaltung ansehe,die darauf aus ist, Hühner als Produkt massenweise zu vermehren und zu verkaufen, dann weiß ich sofort, dass es diesen Lebewesen damit nicht gut geht. Wir brauchen diese Wahrnehmung, um den gemeinsam bewohnten Kosmos fruchtbar zu erhalten. + +In Singapur lebt die gesamte Bevölkerung urban. Deshalb fördert der Stadtstaat Projekte wie dieses Hotel, das versucht, die Natur wieder zurück in die Stadt zu bringen + +Wenn Sie sich die Umweltbewegung ansehen oder Fridays for Future und neue Modelle für nachhaltige Kreislaufwirtschaft – geht das für Sie schon in die richtige Richtung? +Nur zum Teil. Meines Erachtens stecken diese Bewegungen noch in dem alten Paradigma fest, das Mensch und Nichtmensch, also "die Natur", voneinander trennt. Paradoxerweise mangelt es gerade dem Nachhaltigkeitsdenken an einer tiefergehenden Wahrnehmung dafür, dass wir in einer einzigen, von allen Lebewesen geteilten Welt leben. Das Wort Nachhaltigkeit kommt ja aus der Forstwirtschaft und bezeichnet die ökonomische Nutzung des Waldes, sodass diese unbegrenzt weiter fortschreiten kann. Dieses Nachhaltigkeitskonzept ist also im Grunde ein Effizienzkonzept und damit lediglich eine gutmeinende Variante ökonomischen Denkens.Gleichzeitig hat gerade Fridays for Future diese Energie der Echtheit, die jungen Menschen zu eigen ist.Aber es herrscht dort eben noch die Sichtweise vor, die Natur sei ein großes Objekt, das wir retten müssen. +Was ist daran falsch? Muss die Natur Ihrer Ansicht nach nicht gerettet werden? +Dass wir überhaupt von "der Natur" sprechen, ist für mich Teil des Problems. In Wahrheit ist die sogenannte Natur das lebendige, sich in Gegenseitigkeit entfaltende Ganze, in dem wir ohnehin enthalten sind. Das müssen wir wieder anerkennen. Solange wir Menschen uns im Gegensatz zur Natur sehen, können wir keine wirkliche Gegenseitigkeit und auch keine Solidarität in politischen Belangen aufbauen. Wir bleiben in dem gleichen Dualismus Mensch-Natur verhaftet, der die Natur zu einem Ding macht – einer Sache, die man nutzen, ausbeuten und missbrauchen kann. Übrigens ist wirklich auffällig, dass kein mir bekanntes indigenes Volk je von "der Natur" spricht. +Der rationale Blick auf die Welt als Objekt ist auch jener der Aufklärung und der modernen Naturwissenschaft. Wollen Sie den abschaffen? +Ich bin selbst studierter Biologe und möchte das auf keinen Fall abschaffen. Der Naturwissenschaft geht es, richtig verstanden, immer darum, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Wie wichtig das ist, sieht man in Corona-Zeiten besonders deutlich. Nur hat sich der naturwissenschaftliche Zugang zur Welt – nämlich durch Messen, Zählen und Beobachten – vollständig kapern lassen von der Ideologie, dass alles, was wir beobachten, Dinge sind. Und ja, sicher hat die Wissenschaft diese Ideologie auch stark mit vorangetrieben. Aber wir betreiben doch Wissenschaft ursprünglich deswegen, weil uns zum Beispiel Tiere anziehen und wir sie als Subjekte wahrgenommen haben. Es war ein großer konzeptueller Fehler der Naturwissenschaft, das völlig auszuklammern. So zeichnet sie das verzerrte Bild einer rein dinglichen Welt. + +Nördlich der Hauptstadt Alaskas, erstreckt sich das 3800 km² große "Juneau Icefield". Jeden Sommer durchqueren es ForscherInnen und untersuchen die Gletscher – dieser hier ist dabei zu schmelzen + +Was bedeutet das für die Klimabewegung und ihre Forderung, man solle die Erkenntnisse der Wissenschaft ernst nehmen? +Die soll man auch unbedingt ernst nehmen, aber man muss den Blick weiten. Der enge Fokus auf Messdaten wie Temperaturanstieg und CO2-Konzentration ist eine Verkürzung und Verkennung des Gegenseitigkeitsaspekts. Dabei ist die Atmosphäre als Raum unseres geteilten Atems der Raum von Gegenseitigkeit schlechthin.Die Klimakriseist von der ökologischen Krise als ganzer nicht zu trennen. Wenn wir über das Klima reden, müssen wir auch über die Frösche im Regenwald reden. Mit einem stärkeren Bewusstsein für das lebendige Ganze und einem neuen Animismus hätte die Klimabewegung eine noch viel größere Hebelwirkung. +Was sagen Sie zu der Kritik, ein romantisches Bild von naturverbundenen Lebensweisen zu zeichnen? Immerhin gehören ja auch Jäger dazu, die Tiere töten. +Ja, aber gleichzeitig geht es darum, ein sehr behutsames Verhältnis zu anderen Wesen einzurichten und sich um die Fruchtbarkeit des Ganzen zu sorgen – auch in den Mythologien und Riten von Stämmen sieht man, dass sie sich mit ihren Jagdtieren in ein harmonisches Verhältnis setzen wollen, sie sogar um Entschuldigung bitten. Ich romantisiere da nichts. Bei Begriffen wie "romantisch" oder "Naturromantik" ist ohnehin Vorsicht geboten. Damit wird im deutschsprachigen Raum die Tatsache, dass es auch einen emotionalen Zugang zur Wahrheit und zur Welt braucht, gerne als sentimental abqualifiziert, sodass alle wieder ungestört zur ökonomischen Verwertungslogik zurückkehren können. +Wie könnte dieser "neue Animismus" im Zusammenhang mitdem globalen Thema Klimaaussehen? +Von dem amerikanischen Biophysiker James Lovelock stammt die sogenannte Gaia-Hypothese. Demnach kann man die Erde selbst als eine Art großes Lebewesen betrachten, das aus vielen einzelnen selbstorganisierenden Organismen besteht – ein dynamisches System, das sich als Gesamtbiosphäre stabilisiert. Würden wir den Planeten in dieser Gesamtheit wahrnehmen und eine Empathie dafür entwickeln, wären wir weniger geneigt, an einzelnen Symptomen wie dem CO2-Gehalt und dem Temperaturanstieg herumzudoktern. Wir würden das komplexe Krankheitsbild deutlicher erkennen und eine bessere Kooperation mit dem gesamten Leben anstreben. + +Matt ist eigentlich Maschinenbauingenieur, hat aber zwei Jahre ohne industrielle Produkte in der Wildnis gelebt. Nicht mal Klamotten hat er mitgenommen + +Angenommen, Ihre Thesen treffen zu. Was kann dann der Einzelne tun? +Jeder kann bei sich selber anfangen.Der europäische Mensch hat mit seinem Imperialismus nicht nur viele Länder und Völker kolonialisiert,in denen der Animismus oft noch lebendiger war. Er hat auch unser Innenleben einer bestimmten dominanten Weltsicht unterworfen. In dieser inneren Kolonialisierung wurde ein zentrales seelisches Vermögen für unmöglich erklärt und bekämpft – nämlich die Fähigkeit, emotional in Kontakt zur Realität zu treten und so zu erfahren, was die Gemeinschaft alles Lebendigen wirklich braucht. Das hat man für wahlweise absurd, utopisch, unsachlich oder sentimental erklärt. Trotzdem gibt es noch Anknüpfungsmöglichkeiten:Die Tierliebe der Menschen ist partiell noch sehr lebendig – sozusagen als animistischer Realbestand, bei dem wir uns das noch erlauben.Auch wenn wir in den Wald gehen, betreten wir diesen Gegenseitigkeitszusammenhang und fühlen uns davon angezogen. Das zeigt, dass der Homo sapiens eigentlich ein Homo biophilos ist, ein das Leben liebender Mensch. Jeder kann diese Intuition bei sich wieder mehr zu Wort kommen zu lassen. +So schmackhaft Sie Ihren Lesern das mit einem Begriff wie "ökologische Lebenskunst" machen wollen – müssten wir nicht auf viele Annehmlichkeiten verzichten? +Gegenseitigkeit heißt, den anderen und ihren Bedürfnissen mehr Raum zu lassen und uns nicht als Menschen unbegrenzt auf diesem Planeten breitzumachen. Natürlich müssen wir dafür abgeben. Aber es ist doch so: Wenn wir immer weitermachen wie bisher, verlieren wir langfristig noch viel mehr. Und ob der Verzicht so schlimm ist, bezweifle ich. Die meisten Berichte von Kulturen mit Selbstversorgerwirtschaft zeichnen diese als ziemlich zufriedene Menschen. Ihr Leben ist zwar vergleichsweise streng reguliert, aber ihr Glück spricht dafür, dass der Mensch im Grunde auf Kooperation und Rücksichtnahme angelegt ist. Unsere Abweichung davon halte ich für einen kulturellen Irrweg. Zu dieser indigenen Lebenszufriedenheit gehört meines Erachtens auch, dass diese Menschen nicht wie wir vor der Tatsache des Todes und des Leidens davonlaufen, sondern ihren Frieden damit haben. Infolge der Corona-Pandemie sind wir nun ohnehin dazu verdammt, zumindest schon mal gegenüber unseren Artgenossen das Gebot der Gegenseitigkeit mehr zu beachten. Wenn man dem etwas Positives abgewinnen möchte, könnte man sagen: eine gute Übung für einen Wandel, den wir sowieso dringend nötig haben. + +Die Bilder aus diesem Artikel stammen von dem US-amerikanischen Fotografen Lucas Foglia , der in seinem Fotoband"Human Nature"unsere Beziehung zur Natur dokumentiert. Seine Fotos erzählen von einer eigentlich banalen Weisheit: Wir Menschen brauchen die Natur und müssen uns dementsprechend auch um sie kümmern. diff --git a/fluter/wehrdienst.txt b/fluter/wehrdienst.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..857d5f5ef4165f4f3f8835992d017b5e7ed39bf3 --- /dev/null +++ b/fluter/wehrdienst.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +"Der 7. Oktober hat mich nur darin bestätigt, dass wir den Nahostkonflikt diplomatisch lösen müssen", sagt Yona. Schon als kleines Kind hätten ihre Eltern sie auf Demonstrationen mitgenommen, die sich etwa gegendie israelische Besatzungspolitik im Westjordanlandrichteten. Mit den aufkeimenden Massenprotesten, die 2020 durch Korruptionsvorwürfe gegen Netanjahu entfacht wurden und sich in einer zweiten Welle gegen eine geplante Justizreform richteten, sei Yona dann selbst politisch aktiv geworden und habe schließlich einen Entschluss gefasst, der in ihrem Umfeld nun für viel Unverständnis sorgt: den Wehrdienst in der israelischen Armee zu verweigern. +Ab dem 18. Lebensjahr müssen alle Staatsbürger:innen und Einwohner:innen Israels Wehrdienst leisten. Männer dienen in der Regel zwei Jahre und acht Monate, Frauen zwei Jahre. Laut einem Gesetzentwurf, den das Parlament noch billigen muss, soll der Wehrdienst für Männer künftig länger dauern, nämlich drei Jahre. Die Militärführung habe laut Medienberichten erklärt, die Armee benötige mehr Personal für den Krieg gegen die Terrororganisation Hamas im Gazastreifen und die Auseinandersetzungen mit der libanesischen Hisbollah-Miliz. +Es gibt jedoch Ausnahmen, etwa aus religiösen Gründen oder wegen gesundheitlicher Einschränkungen. Auch werden Unterschiede bezüglich Minderheiten in Israel gemacht: So müssen drusische und tscherkessische Männer dienen, während viele arabische Muslim:innen und Christ:innen in Israel vom Wehrdienst befreit sind. Sie können sich jedoch freiwillig zur Einberufung melden und auf freiwilliger Basis einen Zivildienst leisten. Nach dem regulären Wehrdienst sind Reservist:innen weiterhin verpflichtet und können zu regelmäßigen Übungen sowie im Notfall bis zu ihrem 40. Lebensjahr einberufen werden. +Seit Juni 2024 sind auch ultraorthodoxe Juden in Israel zum Wehrdienst verpflichtet, das entschied der Oberste Gerichtshof einstimmig. Begründet wurde dieser Schritt seitens des Militärs mit Personalmangel bei der Armee. Jahrzehntelang galten Ausnahmen für ultraorthodoxe Männer bei der Wehrpflicht, über die seit Jahren gestritten wird. +In Israel müssen mit wenigen Ausnahmen alle Männer und Frauen Wehrdienst leisten. Viele Refuseniks, wie die Wehrdienstverweiger:innen auch genannt werden, lassen sich psychische Probleme bescheinigen. Denn damit kann man den Dienst an der Waffe umgehen. Yona aber möchte das nicht. Ihre aktive Verweigerung sei eine Art politisches Statement, sagt sie: gegen den Gazakrieg und in Solidarität mit ihren palästinensischen Freund:innen. Selbst wenn Yona dafür in Israel Anfeindungen und sogar Haft drohen. + + +Ganz leicht ist Yona diese Entscheidung nicht gefallen, sagt sie. Noch bei der ersten Musterung, die für alle 16-jährigen Teenager in Israel – auch wenn sie gerade im Ausland leben – verpflichtend ist und aus körperlichen und psychologischen Tests besteht, sei sie unentschlossen gewesen. Denn der Armeedienst ist tief im israelischen Bewusstsein verankert. Nicht selten beginnen Gespräche unter jungen Israelis und auch im späteren Leben mit der Frage, in welcher Einheit man gedient hat. +Von jeder Generation werde immerhin erwartet, "einen Teil zur Gesellschaft beizutragen", wie Yona es ausdrückt: "Ich habe mich schuldig gefühlt, darüber nachzudenken, meinen Teil nicht zu leisten", sagt sie. Wenn Yona darauf angesprochen wird, antwortet sie meist, dass sie zunächst ein Jahr Freiwilligenarbeit leisten wird. Nur wenn sie spürt, dass ehrliches Interesse ihres Gegenübers besteht, erwähnt sie ihren Plan, den Militärdienst zu verweigern. +Erzählungen darüber, dass ein "wertvoller Dienst" zu einem erfolgreichen Leben beiträgt, sind in Israel ebenso verbreitet wie Gerüchte darüber, dass das Nichtdienen in der Armee das weitere Leben negativ beeinflussen könnte. Man werde Schwierigkeiten haben, einen Führerschein zu bekommen oder eine Zulassung zur Universität zu erhalten, oder Arbeitgeber:innen würden einen seltsam anschauen, wenn sie erfahren, dass man nicht gedient hat, heißt es etwa. Das israelische Gesetz verbietet es jedoch, den Militärdienst als Voraussetzung in Stellenanzeigen anzugeben, es sei denn, dieser ist für die Ausübung der Position zwingend erforderlich. +Bei der Musterung sei ihr eine mögliche Offizierslaufbahn in Aussicht gestellt worden, sagt Yona. Dass sie trans ist, sei für die Armee kein Problem gewesen. So habe man ihr die Nummer einer Gender-Beauftragten gegeben, um mit ihr über ihre Bedürfnisse zu sprechen. "Aber ich habe dort nie angerufen", meint sie. "Wenn man ein so großes System wie die Geschlechterordnung hinterfragt, schöpft man Mut, auch andere Systeme zu hinterfragen." + +Das System Wehrdienst hatten Teenager seit den 1970er-Jahren in Israel immer wieder öffentlich infrage gestellt und ihren Unmut in offenen Briefen ausgedrückt. Im September 2023, also kurz vor Ausbruch des Gazakrieges, hatte ein solcher Brief für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Denn dieses Mal hatten ihn 230 Teenager:innen unterschrieben, deutlich mehr als in der Vergangenheit. Sogar Israels Generalstabschef bezog dazu während einer Militärzeremonie Stellung. +Einige Unterzeichnende gehörten "Mesarvot" an, einem Netzwerk junger Refuseniks, bei dem sich auch Yona engagiert. Seit Ausbruch des Krieges wurden drei Mesarvot-Mitglieder aufgrund ihrer Verweigerung zu Gefängnisstrafen verurteilt. Denn wer öffentlich verweigert, wird nicht selten in ein Militärgefängnis gesteckt, um seine Meinung zu ändern und andere abzuschrecken. Die Zeit im Gefängnis, die unterschiedlich lang sein kann, endet meist damit, dass die Dienstuntauglichkeit aus sozialen oder psychologischen Gründen bescheinigt wird. +Mesarvot hat Yona die Angst vor der Haft und dem damit verbundenen Stigma genommen. Ihren Teil zur Gesellschaft will sie nun in Form eines Gemeindienstes beitragen, durch den sie auch die Einberufung zur Armee und eine potenzielle Haft bei Verweigerung ein Jahr hinauszögern kann. Sie wird in einer Kommune in Haifa leben und zusammen mit anderen Freiwilligen arbeiten, die alle später derselben Einheit beitreten sollen. Am Ende dieses Jahres wird sie ihren Dienst verweigern, während der Rest der Gruppe eingezogen wird. +Unterdessen lernt Yonas bester Freund David, der eigentlich anders heißt, bereits Flugzeugteile und Checklisten auswendig. So erzählt es der 18-Jährige zwei Tage später in einem anderen Café. Im Gegensatz zu Yona hat sich David für den Wehrdienst entschieden. Schon bald wird er ihn bei der israelischen Luftwaffe antreten. +Yona und David kennen sich bereits seit dem Kindergarten. Sie sind im selben Dorf in der Nähe von Haifa aufgewachsen. Später in der Schule sind sie dann beste Freunde geworden. Neben ihrer gemeinsamen Leidenschaft für Videospiele gab es zwischen ihnen schon immer viele Unterschiede: Statt sich wie Yona für Politik und Philosophie zu interessieren, mag David Physik und Naturwissenschaften. Ein Problem war das bisher nicht, sie können immer über alles diskutieren, das gefällt David an Yona. Auch wenn ihre Positionen beim Thema Wehrpflicht konträr zueinander stehen. + + +"In der jetzigen Situation brauchen wir eine Armee", sagt David. Was ihn wütend mache, das seien diejenigen, die sagen, dass sie mit der Armee nicht ihre Zeit verschwenden wollen, aber sonst keinen Grund haben, nicht zum Wehrdienst zu gehen. Denn der Schutz Israels sei schon immer eine gemeinsame Anstrengung gewesen. Für Menschen wie Yona, die aus politischen und moralischen Gründen verweigern, habe er ein wenig mehr Verständnis. Aber anders als seine Freundin habe er die Richtigkeit des Dienstes nie hinterfragt, daran habe auch der aktuelle Krieg in Gaza nichts geändert. "Die Ziele von Yona und mir sind eigentlich die gleichen", sagt David: "Wir beide wollen ein Ende des Konflikts in der Region." Nur die Wege, dieses Ziel zu erreichen, seien unterschiedlich. +Die Luftwaffe war nicht Davids erste Wahl. Mittlerweile verspüre er jedoch so etwas wie Vorfreude – wegen der Herausforderungen und wegen der vielen jungen Menschen aus ganz Israel, die er nun bald kennenlernen wird. Aber David hat auch ein wenig Angst davor, was es heißt, in einer Kriegssituation mit all ihren Gefahren zu dienen. Nach der fast dreijährigen Grundausbildung schließen sich in der Luftwaffe etwa sechs weitere Jahre an, für die sich David verpflichtet hat. Dass so die nächsten neun Jahre seines Lebens für ihn vorgezeichnet sind, empfindet er nicht als Last, sondern eher als Stabilität und Erleichterung. +Ob er in der Logistik landet oder zum Kampfpiloten ausgebildet wird, weiß David noch nicht. "Ich schließe bislang nichts für mich aus", sagt er. Wie es ihm mit der Aussicht geht, später vielleicht einmal Bomben abzuwerfen? Das sei nicht so einfach, sagt David: "Manchmal gehört das eben dazu." Man müsse lernen, auf die Befehle von oben zu vertrauen. Wer dieses Vertrauen nicht habe, der müsse aufhören zu dienen, meint er. +Seit September lebt Yona nicht mehr zu Hause, sondern in einer Freiwilligenkommune in Haifa. Zunächst arbeitete sie in einer Grundschule und in einem Jugendzentrum. Aber seit sich die Konfrontation zwischen Israel und der Hisbollah weiter verschärft hat, haben andere Aufgaben Priorität. Etwa das Aufräumen von Luftschutzbunkern und das Verpacken von Lebensmitteln. Andere Freiwillige dort wissen, dass Yona nach dem einjährigen Programm ihren Wehrdienst verweigern wird. Einige hätten damit kein Problem, andere sehen ihre Entscheidung kritisch, sagt Yona. +Kontakt zu David, der seinen Wehrdienst mittlerweile angetreten hat, hält sie weiterhin. Er ruft sie manchmal an, wenn er zwischendurch Zeit hat. Einige Male haben sie sich zudem getroffen, wenn David an seinen freien Wochenenden zu Hause war und Yona auch gerade ihre Familie besuchte. Dann würden sie über alles reden, sagt Yona. So wie früher. diff --git a/fluter/weihnachtsbaum-recyclen-wiederverwenden.txt b/fluter/weihnachtsbaum-recyclen-wiederverwenden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0023bb74b219504616cf8c1cf670703d272537e7 --- /dev/null +++ b/fluter/weihnachtsbaum-recyclen-wiederverwenden.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Ganze Tannenzweige können wiederum Beete oder Blumenkästen vor Frost schützen. Auch sind sie gut geeignet, einen Komposthaufen zu strukturieren: Legt man die Zweige lagenweise zwischen die Essensabfälle, verbessern sie die Luftzirkulation und so die Kompostierung. Wer einen Kamin hat, kann das Holz des Stammes verfeuern – vorher sollte es allerdings erst mal gut trocknen, am besten mehrere Monate lang. Und wer einen Häcksler besitzt, kann aus dem Stamm Mulch für die Gartenbeete machen. +Eine andere Möglichkeit ist das Upcycling: aus dem alten Baum etwas Neues schaffen. Das erfordert etwas Geschick, aber immerhin ist Nadelholz relativ weich und so leichter schnitz- und formbar. Bei Nordmanntannen – die mit Abstand beliebteste Christbaumsorte in Deutschland – wachsen die Zweige ringförmig um den Stamm. Aus diesen Segmenten lassen sich gut Kleiderhaken basteln. Oder auch einKüchenquirl. Auch ein Schlitten oder Möbel aus alten Weihnachtsbäumen sind denkbar – wenn man Zeit, Muße und die richtigen Werkzeuge zur Hand hat. + + + +Wer weder Kamin noch Bedarf an selbst gemachtem Mulch hat, muss trotzdem kein schlechtes Gewissen haben: Aus Sicht der Entsorgungswirtschaft sind Weihnachtsbäume "Grüngutabfälle", das Gros wird kompostiert, ein Teil landet in Biomasse-Kraftwerken, einige werden auch verbrannt. Viele Müllabfuhren sind auf die Christbaumschwemme im Januar vorbereitet und holen, meist an festgelegten Tagen und Orten, die Bäume ab. Diese sollten unzerhackt, ungeschmückt und unverpackt sein. +So wie in Berlin, wo die BSR jedes Jahr durchschnittlich 350.000 Bäume schreddert. Regionale Biomasse-Kraftwerke verarbeiten die Reste zu Fernwärme und Strom. Das deckt den Jahresbedarf von 500 Berliner Haushalten. Im schleswig-holsteinischen Eckernförde helfen die Bäume seit fast 40 Jahren sogar dabei, die Strandpromenade im Winter vor Sand und Überspülung zu schützen: Ihre Zweige werden zu Bündeln geschnürt und verstärken den Sandfangzaun. +Wo alte Weihnachtsbäume hingegen nicht landen: im Zoo. Zwar stimmt es, dass Elefanten und auch andere Zootiere gerne Christbäume essen. Serviert bekommen sie aber nur unverkaufte Exemplare, bei denen ausgeschlossen ist, dass Rückstände von Lametta oder anderem Christbaumschmuck die Tiere gefährden können. +Letztlich ist das Problem bei deutschen Weihnachtsbäumen aber weniger die Entsorgung als der Anbau. Zwar stammen 90 Prozent der in Deutschland verkauften Bäume aus regionalem Anbau: Die Hochburgen der Weihnachtsbaumwirtschaft sind Nordrhein-Westfalen (Sauerland), Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Doch die meisten Bäume werden in Monokulturen gezüchtet, was ökologisch gesehen problematisch ist. Dazu kommt, dass nur rund 60 Prozent der Tannen bilderbuchartig wachsen. Wer einen Baum mit schiefem Stamm kauft, bewahrt ihn davor, direkt wieder entsorgt zu werden. + + +Ende 2017 hatte der BUND die Nadeln von 17 Weihnachtsbäumen untersuchen lassen und in 13 von ihnen Rückstände von Pestiziden gefunden, in neun davon sogar das auch für Menschen bei Verzehr schädliche Insektizid Lambda-Cyhalothrin. Aus diesem Grund sollte man auch für all die oben genannten Möglichkeiten der Weiterverwertung unbedingt die Herkunft seines Baumes kennen. +Der BUND und andere Umweltverbände empfehlen Bio-Weihnachtstannen, etwa von Bioland und Demeter, oder FSC-zertifizierte Bäume. (FSC steht für "Forest Stewardship Council" und ist ein internationales Zertifizierungssystem für nachhaltigere Waldwirtschaft, das auch bei Möbeln, Spielzeug usw. aus Holz zum Einsatz kommt.) +Wer sich dazu noch um die Arbeitsbedingungen georgischer Saatgutproduzenten kümmern möchte – denn aus Georgien stammt die Nordmanntanne ursprünglich, und dort steigen Tannenzapfenpflücker für Billiglöhne in bis zu 30 Meter hohe Bäume –, der achtet zusätzlich darauf, dass er einen Fair-Trade-Weihnachtsbaum kauft. Bisher sind aber nur eine Handvoll deutsche Händler – und die TOOM-Baumärkte – Teil der 2007 in Dänemark gegründeten Fair-Trees-Initiative. Und: Nicht jeder "Fair Tree" ist automatisch auch bio. +Noch nachhaltiger sind natürlich Tannen und Fichten, die man nach dem Fest wieder einpflanzt. Lebende Weihnachtsbäume sollte man nicht zu lange im Wohnzimmer stehen haben und sie vorher in einem kühleren Raum akklimatisieren. Solche Bäume kann man auch mieten; einfach mal bei den Baumschulen und Förstereien in der Nähe nachfragen. Dazu kommen überregionale Anbieter wiePaderbäumchen(für Deutschland),Ecosapin(für die Schweiz) oderGreentree(agieren in und um München, Wien und Graz). +Oder man verzichtet einfach mal komplett auf einen echten Christbaum. Ob Pyramiden aus LED-verzierten Büchern, Tannenzweig-Mobiles, Tape-Art an der Wand, bunt verzierte Zimmerpflanzen – das Internet ist voll mit Bastelanleitungen für ein baumloses Weihnachtsfest. Zum einen brauchen sie keine acht bis zwölf Jahre Vorbereitung, zum anderen nadeln sie auch weniger. + diff --git a/fluter/weihnachtsfilme-diversitaet-klischees.txt b/fluter/weihnachtsfilme-diversitaet-klischees.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ae88b65211d85344a019344206d475b292f6ca9d --- /dev/null +++ b/fluter/weihnachtsfilme-diversitaet-klischees.txt @@ -0,0 +1,67 @@ + + +Worum geht's? +Zwei Auftragskiller versemmeln einen Job und müssen untertauchen – ausgerechnet im "beschissenen" vorweihnachtlichen Brügge. +Größtes Geschenk: +Niemand rettet das Fest, entpuppt sich als Santa oder predigt Nächstenliebe. "Brügge sehen …" ist ein Film für alle Grantler*innen, die die Weihnachtszeit allenfalls wegen des Daydrinkings schätzen. Das Fest ist trotzdem handlungtreibend: Ray, der jüngere der beiden Killer, gespielt von Colin Farrell, rutscht in der kopfsteingepflasterten, kerzenerleuchteten Besinnlichkeitskulisse Brügges in eine Identitätskrise – die anschlussfähig sein dürfte für viele, die plötzlich wieder in ihrer Kleinstadt festsitzen. Ein paar festliche Motive wie Liebe, Erlösung und religiöse Moral grast der Film auch ab, letztlich wollen die Protagonisten aber vor allem eins: am Leben bleiben. Für ein Weihnachtsfest nach knapp einem Jahr Pandemie keine ganz falsche Message. +Für alle, die … +… mit einer Laufbahn als Auftragskiller*in liebäugeln. So verlockend sich die Stellenausschreibung liest: Ray und Ken (fantastisch: Brendan Gleeson) haben Stress mit dem Chef, zweifeln zunehmend an der Sinnhaftigkeit ihres Jobs, balancieren am Rand des Burn-outs und müssen auch an Weihnachten arbeiten. Es geht ihnen also kaum besser als den meisten ganz normalen Angestellten. + +"Brügge sehen und sterben" (Großbritannien/USA 2008) gibt es unter anderem bei Itunes, Netflix und Amazon zu sehen. + + + + + +Worum geht's? +Oscar und Simon sind ein Paar und haben sich gerade – zusammen mit ihrer Freundin Cissi – ein Haus außerhalb von Stockholm gekauft, in das sie ihre Familien zu Heiligabend einladen. Die Weihnachtsüberraschung: Cissi ist im neunten Monat schwanger. Von einem der beiden. +Für alle, die … +… sich gerne durchhomophobeundrassistischeÄußerungen quälen. Und für die, die zur Abwechslung mal einer anderen Familie dabei zuschauen wollen, wie sie sich unterm Tannenbaum verkracht. Strengen sich anfangs noch alle an, ihre Ressentiments wegzulächeln (Oscars Vater: "Gibt es dort auch keinen Weihnachtsschinken? Ist das vielleicht auch zu heterosexuell?" Oscars Mutter: "Und wenn wir dort nur Kebab kriegen, wir werden den Mund halten"), löst sich die Hyggeligkeit bald in Luft auf. Oscars faschistisch angehauchte Mutter schaut auf Simons griechischen Vater herab. Der macht sich über deren konservativen Mann lustig. Letzterer wiederum spricht der berufstätigen Cissi ab, eine gute Mutter sein zu können, und schafft es sogar, die Bausubstanz des neuen Heims zu beleidigen. "Das ist kein Haus, das ist ein Brutkasten!" +Würde ich umtauschen: +Es ist erfrischend, wie offen die in der Küche versammelten Frauen über Inkontinenz während der Schwangerschaft reden. Wie die Großmutter keinen Hehl daraus macht, ihre Familienmitglieder nur betrunken auszuhalten, und Cissi ihrem Insta-freudigen Quasi-Neffen droht, ihn mit der Nabelschnur zu erwürgen. Irgendwann aber werden die Beleidigungen zu brutal, sodass man den fünf versöhnlichen Schlussminuten nicht abkauft, echten Weihnachtsfrieden zu stiften. Die Skandinavier*innen scheinen da weniger nachtragend: In Schweden war Helena Bergströms Film 2015 ein Kassenschlager. + +"Eine schöne Bescherung" (Schweden 2015) läuft bei Amazon Prime. + + + + + +Worum geht's? +Um Johanne, 30, die beim Adventsessen wieder neben ihre einjährigen Neffen gesetzt wurde, weil sie als Einzige aus der Familie noch Single ist. Aus Wut darüber erfindet sie einen Freund und hat dann vier Wochen Zeit, um eine reale Entsprechung für Heiligabend zu finden. +Größtes Geschenk: +Auf den ersten Blick könnte man meinen, "Weihnachten zu Hause" funktioniere nach dem Schema, das den allermeisten Weihnachtsfilmen zugrunde liegt: Ein einsamer Mensch sehnt sich nach Liebe und findet sie unterm Tannenbaum. Doch je länger sich Johanne durch ihre Katastrophendates quält (Fremdschamhöhepunkt: der Typ, der den Escape Room in Stücke haut), desto mehr Fragen kommen ihr: Was will sie von einem Partner? Will sie überhaupt einen? Oder könnte ihr bisheriges Leben mit guten Freund*innen und einem erfüllenden Job nicht mehr als genug sein? +Für alle, die … +… allweihnachtlich von der übergriffigen Großtante gelöchert werden, wie es mit Partner*innensuche und Familienplanung aussieht. Besagte Großtante sollte gleich mitgucken, sie fände einige Argumente gegen das von ihr besungene Lebensmodell: Wie sich herausstellt, haben nicht wenige der Paare, die Johanne ein schlechtes Gewissen für ihr Singledasein einreden wollen, ernst zu nehmende Beziehungsprobleme. Vielleicht hat also doch Johannes glücklich alleinstehende Patientin recht, die sagt: "Mit das Beste im Leben ist, niesen zu können ohne Hand vorm Mund." + +Die Serie "Weihnachten zu Hause" (Norwegen 2019, sechs Folgen) läuft bei Netflix. Die zweite Staffel ist am 18. Dezember gestartet. + + + + + +Worum geht's? +Der berühmte Spielzeugmacher Jeronicus Jangle verliert alles, als ihm sein Gehilfe Gustafson seine bisher größte Erfindung stiehlt. Doch Jahre später bekommt er über Weihnachten unverhofften Besuch von seiner talentierten Enkelin Journey, die wieder Schwung in sein Leben und Schaffen bringt. +Größtes Geschenk: +"Jingle Jangle Journey" hat für Weihnachts-Fantasyfilm-Verhältnisseeinen ungewohnt diversen Cast. So fällt einem erst richtig auf, wie Weiß vergleichbare Filme wie "Der Grinch" oder "Charlie und die Schokoladenfabrik" eigentlich sind. Dabei sollte eine diverse Besetzung doch im Fantasygenre besonders naheliegend sein: Hier können schließlich die gesellschaftlichen Ungleichheiten der realen Welt außer Kraft gesetzt und eine neue, bessere Vision der Verhältnisse erdacht werden. +Würde ich umtauschen: +Die Einsichten, die Jeronicus und Co. im Laufe des Films erlangen, sind leider Standardplattitüden ("Du musst nur an dich glauben"), die man in solchen Filmen einfach zu oft gehört hat. +Für alle, die … +… Musicals lieben und eine hohe Toleranzgrenze für Kitsch haben. + +"Jingle Jangle Journey: Abenteuerliche Weihnachten!" (USA 2020) läuft bei Netflix. + + + + + +Worum geht's? +79 Minuten, 56 Szenen, 0 Kamerabewegung: Der Arthouse-Film zeigt in einer Mischung aus fiktiven und dokumentarischen Mini-Episoden, wie die Isländer*innen sich auf die Weihnachtszeit vorbereiten – und ist dabei erstaunlich unterhaltsam. +Größtes Geschenk: +"Echo" schafft es, die Weihnachtszeit gleichzeitig zu ver- und entzaubern. Da gibt es einerseits Heimeligkeitsbilder, wenn im Hyggehaus blonde Mädchen Klavier üben oder eine Oma unterm Weihnachtsbaum beglückt eine VR-Brille ausprobiert. Dazwischen aber bricht immer wieder die Realität herein: Die unbewegte Kamerablickt auf Obdachlosebeim Monopoly-Spielen, ein SUV wälzt sich in Echtzeit für den Weihnachtsputz durch die Waschstraße, und ein Mann fackelt sein geerbtes Haus ab, weil ein Fertigbau aus Polen billiger ist als zu renovieren. Wenn dann die Familie diskutiert, ob es zum großen Familienessen wirklich wieder Walfleisch geben muss und man quälend lange Sekunden der Müllabfuhr beim Leeren der vom Fest gefüllten Tonnen zuschaut, ist auch dem Letzten klar: Ziemlich banal, die Weihnachtszeit. Keine schlechte Nachricht für dieses Jahr. +Für alle, die … +… sich nicht entscheiden können, ob sie Weihnachten lieben oder hassen, und die genug haben von Hochglanz-Dramaturgien à la Netflix, Amazon und HBO. Dieser Film tröstet über ein vercoronisiertes Weihnachten hinweg. + +"Echo" (Island, Frankreich, Schweiz 2019) läuft bei Mubi. + + +Texte: Paul Hofmann, Sara Geisler, Luise Checchin, Nikita Vaillant, Niklas Prenzel diff --git a/fluter/weil-wir-alles-billiger-haben-wollen.txt b/fluter/weil-wir-alles-billiger-haben-wollen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fd2693bb707ed5270d5d1d8ffe01f5388b9bed9b --- /dev/null +++ b/fluter/weil-wir-alles-billiger-haben-wollen.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Warum sträubt sich die westliche Textilbranche so, Verantwortung für die Folgen katastrophaler Produktionsbedingungen im Ausland zu übernehmen? +Die Firmen fürchten, in Haftung genommen zu werden. Wenn sie Entschädigungen zahlen, ist dies ein Eingeständnis der Mitverantwortung. In Deutschland gibt es bisher keine gesetzlich bindende Haftung. Wir fordern das seit langem. Dass Unternehmen mit einem jährlichen Umsatz von zusammen über 20 Milliarden US-Dollar zwei Jahre brauchen, um 30 Millionen US-Dollar zusammenzutragen, ist das skandalöse Ergebnis der freiwilligen Sozialverantwortung von Unternehmen. +Hunderte Geschädigte von Rana Plaza können nicht mehr arbeiten, weil sie körperlich oder psychisch versehrt sind. Wer kommt für ihre dauerhafte Versorgung auf? +Neben dem Entschädigungsfonds der Firmen hat Bangladeschs Regierung kleinere Summen gezahlt, was allerdings sehr wenig ist. Auch der nationale Unternehmensverband hat kaum Geld gegeben – die Fabrikbesitzer und der Besitzer des Rana-Plaza-Gebäudes nichts. +Die Internationale Arbeitsorganisation ILO unterstützt Initiativen, die die Arbeitsbedingungen in den Fabriken verbessern sollen. Etwa indem Unfallversicherungen abgeschlossen oder Gewerkschaften zugelassen werden. Wie wirksam sind diese Bemühungen? +Die Idee einer Versicherung ist interessant. Es kommt darauf an, wie sie an die Verhältnisse in Bangladesch angepasst wird. Die Zulassung von Gewerkschaften wurde vor allem durch den internationalen Druck ermöglicht. Ein Jahr nach Rana Plaza konnten sich daher einige Betriebsgewerkschaften gründen, derzeit werden allerdings kaum neue Gewerkschaften zugelassen. +Warum ist das so? +Die Gewerkschaften müssen die Namen ihrer Mitglieder dem Arbeitsministerium vorlegen. Das Arbeitsministerium gibt die Liste jedoch an die Fabrikbesitzer weiter. Das ist ein Unding. Sobald die Fabrikbesitzer die Namen der organisierten Arbeiterinnen erfahren, werden diese entlassen. +Welche Möglichkeit bleibt den Arbeiterinnen, für ihre Rechte zu kämpfen? +Sie kämpfen schon hart, in Deutschland erfährt man davon jedoch wenig. Der internationale Druck muss aufrechterhalten werden, damit die Regierung in Bangladesch Gewerkschaften zulässt und die rechtlichen Rahmenbedingungen verbessert. Seit drei Jahren fehlen die Umsetzungsbestimmungen für das Arbeitsgesetz. Zusätzlich müsste das Arbeitsgesetz weiter reformiert werden. In der jetzigen Fassung entspricht es nicht allen Anforderungen der ILO. +Haben sich die Arbeitsbedingungen in Textilfabriken seit Rana Plaza überhaupt in irgendeiner Weise verbessert? +Die Arbeitsbedingungen selber nicht, aber die Sicherheit der Fabriken hat zugenommen. Rund 200 Unternehmen haben das Gebäude- und Brandschutzabkommen "Accord" unterzeichnet. Somit darf rund die Hälfte der Textilfabriken in Bangladesch kontrolliert werden. Und zwar im Hinblick auf Statik, Elektrizität und Feuerschutzmaßnahmen. Dennoch: Frauen bleiben in diesem Land schlecht bezahlt und werden diskriminiert. In den Fabriken werden sie oft beschimpft. Und das gilt nicht nur für Fabriken, in denen Billigmarken produzieren lassen, sondern auch für die, in denen Kleidung für teure Labels wie Hugo Boss hergestellt wird. +Katastrophale Arbeitsbedingungen herrschen auch in anderen Textilien produzierenden Ländern. Derzeit versucht das Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte, den deutschen Textildiscounter KiK für den Tod von 259 Arbeiter/-innen in Pakistan verantwortlich zu machen. Für wie aussichtsreich halten Sie die Klage? +Allein der Versuch ist sehr lohnenswert. Schließlich behauptet KiK immer, die Fabriken zu prüfen, bevor sie Aufträge vergeben. Das kann hier nicht der Fall gewesen sein. Es hätte auffallen müssen, dass es keine Notausgänge oder Feuerleitern gab. Es ist ein trauriges und erschreckendes Beispiel, wie wenig sich Unternehmen darum scheren, unter welchen Bedingungen ihre Ware produziert wird. +Können europäische Gerichte heimische Textilfirmen für ihre fehlende Verantwortung im Ausland haftbar machen? +Bisher nicht, weil die Gerichte die Verantwortung einer einzelnen Firma für eine Fabrik nicht so einfach nachweisen können. Es lassen ja in der Regel mehrere Auftraggeber in einer Fabrik produzieren. In dem Fall, den Sie angesprochen haben, ist die Lage jedoch anders, weil KiK der Hauptauftraggeber war. Nun muss das Gericht entscheiden. Ich würde mir wünschen, dass Unternehmen haften müssen, wenn sie ihrer Sorgfaltspflicht nicht nachkommen. Dann würde sich schlagartig viel ändern. +Wie können die Konsumenten in Deutschland für bessere Arbeitsbedingungen für Näherinnen in Bangladesch sorgen? +Unser Konsumverhalten ist entscheidend. Inzwischen kostet ein T-Shirt bei der Billigkette Primark weniger als eine Tasse Kaffee oder eine Busfahrt. Dadurch ist die Achtung vor der Arbeit einer Näherin verloren gegangen. Jeder sollte wissen: Weil wir alles billiger haben wollen, müssen beispielsweise Menschen in Bangladesch dafür leiden. Anstatt Wegwerfmode zu kaufen, sollten wir weniger und bewusster kaufen. Es gibt einige wenige Siegel wie Fairtrade für Baumwolle oder GOTS für Umweltstandards, auf die man achten sollte. Erfreulicherweise lässt sich ein Wandel bei einem Teil der Bevölkerung feststellen: Ethischer Konsum nimmt zu. +Gisela Burckhardt ist Vorstandsvorsitzende von FEMNET (ein Verein, der sich für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte von Frauen weltweit einsetzt) und Unterstützerin der Kampagne für Saubere Kleidung. 2014 erschien ihr Buch "Todschick: Edle Labels, billige Mode – unmenschlich produziert". diff --git a/fluter/weisses-rauschen-film-netflix-rezension.txt b/fluter/weisses-rauschen-film-netflix-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9de5e03a5288e156be7535831d7d78b13181b1e1 --- /dev/null +++ b/fluter/weisses-rauschen-film-netflix-rezension.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +In drei ziemlich abwechslungsreichen Kapiteln. Der Film fängt als College-Satire an, wirkt zwischenzeitlich wie ein durchaus berührendes Familiendrama, nimmt dann eine Wendung zum Katastrophenfilm – nur um wesentliche Plotpoints immer wieder links liegen zu lassen. Starbesetzte Filme mit dieser Freiheit sind in Hollywood selten geworden, und es bleibt offen, ob dieser fast zweieinhalbstündige Film, der in keine Schublade passt und bis zum Ende überrascht, bei Netflix überhaupt ein Publikum findet. Noah Baumbach, der sonst eher realistisch erzählt, scheint sich bei Regisseuren wie David Lynch und den Coen-Brüdern inspiriert zu haben, die auf Künstlichkeit und Absurditäten setzen. Dazwischen dürfen die herausragenden Darsteller*innen um Adam Driver, Greta Gerwig und Don Cheadle sich gegenseitig mit den schwülstigen DeLillo-Dialogen an die Wand spielen: "Elvis ist mein Hitler", sagt Cheadles Figur, Anwärter auf eine sogenannte Elvis-Professur, einmal mit hinreißendem Pathos. +"Weißes Rauschen" ist ein Begriff aus der Akustik und bezeichnet ein konstant wahrnehmbares Störgeräusch. In diesem Fall: den Sound des Todes im Leben der Gladneys. +Ohne zu spoilern, lässt sich sagen, dass der Film zweifellos eine der besten Abspannsequenzen seit langem hat. Während die Credits anlaufen, veranstalten die handelnden Figuren zu einem extra für den Film komponierten Song von LCD Soundsystem eine wunderbar choreografierte Tanzeinlage im Supermarkt. So spendet "Weißes Rauschen" bei aller Düsterkeit am Ende doch ein wenig Hoffnung. Blöd nur, dass die meisten Menschen diese Sequenz vermutlich auf Netflix sehen werden, wo zum Abspann ein automatisch verkleinertes Videofenster erscheint, das von übergroßen Werbebannern für weiteren Streaming-Content eingerahmt wird. +"Das weiße Rauschen" (2001) mit dem jungen Daniel Brühl in der Rolle eines drogenaffinen Studenten, der auf einem Trip hängen bleibt und plötzlich Stimmen hört. Und ja, den Film vonHans Weingartnergibt es auch bei Netflix – es bleibt verwirrend. + +"Weißes Rauschen" läuft in ausgewählten deutschen Kinos und ab dem 30. Dezember auf Netflix. + diff --git a/fluter/weissu-is-krasse-sprache.txt b/fluter/weissu-is-krasse-sprache.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b393b9a8ee6cf1d07f7daa8eb1485aa8f43c609e --- /dev/null +++ b/fluter/weissu-is-krasse-sprache.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Begrüßungen, Verabschiedungen, Schimpfwörter, Drohformeln oder Flirtsprüche: Im Ethnolekt schrumpft der deutsche Gesamtwortschatz kontinuierlich zusammen. Einfache Satzkonstruktionen werden aus Subjekt, Prädikat und Objekt gebildet, Artikelformen und Präpositionen weggelassen ("wenn wir Hochzeit gehen"), Genera verändert ("son großer Plakat"), und oft fehlen die Pronomen ("die haben mir beigebracht"). Beim sogenannten Codeswitching werden mitten im Satz türkische, arabische oder serbokroatische Lehnwörter eingebunden: "yalla" für "auf geht's" oder "wallah" (bei Gott), wenn etwas mit Nachdruck versichert wird. "Isch schwör" bekräftigt eine Aussage, alles in Ordnung heißt "Tamam", und Einschübe wie "Lan" oder "Moruk" sind im Ethnolekt ebenso geläufig wie die deutsche Entsprechung: "Alda". Außerdem zählen Ausrufe wie "weissu", "krass" oder "korrekt" dazu. Wichtig bei der Aussprache ist die spezielle Stakkato-Intonation – und typisch die sogenannte Koronalisierung des Ich-Lauts: Isch, misch, disch. Ein mustergültiger Satz lautet: "Isch geh gleisch U-Bahn." +In Zeiten von Anglizismen und Computersprache verbringen Linguisten viel Zeit damit, Jugendlichen zuzuhören, ihre Unterhaltungen aufzuzeichnen und auszuwerten und Bücher über ihren phonetischen Sprachmischmasch zu schreiben. Sprachforscher wie der Germanist Peter Auer von der Freiburger Uni unterscheiden zwischen drei Formen des Ethnolekts: dem primären, sekundären und tertiären. Ersterer sei vor nahezu zwanzig Jahren in Großstädten entstanden, bezeichne ein unbewusstes Sprachverhalten und werde hauptsächlich von türkischstämmigen Jugendlichen der zweiten und dritten Generation gesprochen. Der sekundäre wird als mediengesteuerte Reaktion auf Ersteren verstanden, der frei erweitert, hochgradig stilisiert und in Filmen, Comedys oder Comics eingesetzt wird. Bekannte Sprecher sind Comedians wie Erkan und Stefan, das Duo Mundstuhl mit seinen Figuren Dragan oder Kaya Yanar. Letzterer etablierte die Figur des türkischen Diskotürstehers und seinen Slogan "Ey Alder, du kommst hier net rein". Und seit Ende der Neunziger gilt das Buch "Kanak Sprak – 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft" des türkischstämmigen Schriftstellers Feridun Zaimoglu als Mainstream-Lektüre zum Thema. +Auch deutsche und drittethnische Jugendliche sprechen Ethnolekt – die tertiäre Form. Es heißt, dass sich diejenigen, die ihn dabei mit einer auffälligen Betonung überzeichnen und sich damit darüber lustig machen, von den echten Sprechern abgrenzen wollen. Nehmen sie den Ethnolekt jedoch in ihre Umgangssprache auf und unterscheiden beim Sprechen nicht mehr zwischen fremdem und eigenem Stil, wird er zum Soziolekt. Sprachforscher Jannis Androutsopoulos bezeichnet den Verlauf: "von der Straße auf den Bildschirm und wieder zurück". +Ethnolekt ist nicht nur ein stilistisches Mittel, sondern steht charakteristisch auch für die Beziehung der Jugendlichen untereinander und ihren Versuch, ihre eigene, besondere Identität zu bestimmen. Ein Merkmal dafür sind beispielsweise verbale Duelle untereinander, die nur möglich sind in einer gefestigten Gruppe und einem gemeinsamen Wissen darüber, was erlaubt ist und was nicht. "Er signalisiert, dass sie sich zugehörig fühlen und nah sind, aber auch, dass sie sich nicht erst integrieren müssen, sondern es bereits sind", sagt Wiese. +Auch ist Ethnolekt nicht neu oder eine rein deutsche Erscheinung. In Ländern wie Frankreich, England, Schweden stellen Linguisten ähnliche Strukturen fest. Rap sei das CNN junger Schwarzer, erklärte einst Chuck D von Public Enemy. In den Vororten Frankreichs, wo viele Menschen afrikanischer Herkunft leben, hat sich in den sechziger und siebziger Jahren die sogenannte Sprache der Banlieue entwickelt. Die salonfähige Varietät des Französischen ist wie in Deutschland medialer Inhalt geworden. Eine besondere Ausprägung davon heißt "verlan". Dabei werden einzelne Wörter im Satz betont und verschlüsselt, indem ein Wort in Silben zerlegt und in umgekehrter Reihenfolge wieder zusammengesetzt wird. So wird bonjour zu jurbon, français zu cefran und musique zu siquema. +"Jede Zeit hat ihre Wörter. Manche kommen und gehen, andere halten sich", sagt die 19-jährige Renata. Sie besucht ein Gymnasium in Berlin-Kreuzberg. Ob sich eine Floskel halte, entscheide die Mehrheit der Sprecher. Zudem käme es darauf an, in welchem Kiez man sich aufhalte. "In Wilmersdorf sagen sie andere Sachen als hier bei uns", sagt Renata, "das Wort ‚gebügelt' bedeutet da ‚übertrieben'." In Kreuzberg würde das niemand benutzen. In Berlin, Frankfurt und anderen Großstädten zeigt sich, dass der Ethnolekt nicht von der Herkunft oder der Muttersprache abhängig ist, sondern vom Wohnort der Sprecher – und dem, was gerade angesagt ist. Das sagt auch Renatas Freundin Betül: ",Mies' ist gerade angesagt in Kreuzberg." Es bedeutet so viel wie "abgefahren" oder "der Hammer". Begriffe wie "cüs" (türkisch für pfui) oder "Bombe" hingegen hätten ausgedient. +"Wir wissen, wie wir mit wem reden müssen. Mit einem Lehrer oder meinen Eltern würde ich nicht so sprechen. Aber nicht alle könnten switchen", sagt Samira aus Frankfurt, die mühelos zwischen Ethnolekt und Standarddeutsch (Hochdeutsch) hin und her wechseln kann. Die 17-Jährige glaubt, dass es auf die sprachlichen Einflüsse ankommt, mit denen man aufgewachsen ist. "Manche kennen eben nur diese eine Sprache." Samiras Einschätzung belegen auch Untersuchungen. Und sie zeigen noch etwas anderes. Nämlich, dass für viele Außenstehende Ethnolekt oft mit Aggression und kriminellen Jugendlichen assoziiert wird. "Dass die Sprechart vielen beim Zuhören aufstößt, liegt an der generellen Einstellung gegenüber Dialekten", sagt Wiese. Nicht nur, dass bestimmte Bilder mit ihnen assoziiert würden, sie würden auch als falsches Deutsch empfunden, weil sie nicht dem offiziellen Standarddeutsch entsprechen. +Samy, ein Kind nigerianischer Eltern, habe sich die Redeweise nach dem Wechsel von der Schule an die Uni nach und nach abtrainiert. "Anfangs habe ich die dummen Kommentare nicht ernst genommen, später hat es mich gestört", sagt der 23-Jährige. Wie lange es gedauert habe? "Irgendwann war es weg", sagt der Student. Es sei ein Nachteil gewesen, draußen so zu sprechen. Doch wer Standarddeutsch spreche, gerate in der Clique schnell in den Verdacht, arrogant zu sein, sagt Samira. Über diesen Punkt hat Renata noch nie wirklich nachgedacht: "Bei uns denkt keiner darüber nach, ob es falsches oder richtiges Deutsch ist." Zudem sei es bequemer, nicht immer ganze Sätze sagen zu müssen, ergänzt Nilüfer. "Wir verstehen uns einfach mit wenigen Worten." diff --git a/fluter/weiterlernen.txt b/fluter/weiterlernen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/weitermachen.txt b/fluter/weitermachen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8072542efaf42e7eb309cf9303f34a64f1d13aef --- /dev/null +++ b/fluter/weitermachen.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Dabei ist das längst geschehen. In rund 200 argentinischen Fabriken haben Arbeiter seit der Wirtschaftskrise 2001 das Kommando übernommen – Zanón ist die bekannteste von ihnen. "Wir mussten weitermachen", sagt Alejandro und wen- det den Blick nicht vom Fließband. Neben ihm steht eine kleine Gasheizung, deren Wärme sich in der hohen Halle schnell verliert. "Wo hätten wir sonst Arbeit finden sollen?" Für Arbeitslose gibt es in Argentinien nach zwölf Monaten Arbeitslosengeld so gut wie keine staatlichen Hilfen mehr. +In der Fabrik, in der es keinen Chef mehr gibt, stampft und donnert es. Alle Maschinen sind besetzt. Hinten in der Hal- le, wo die rötliche Tonerde angeliefert wird, ist es staubig. Dort, wo sie in Fliesenform gepresst wird, trocken und laut. "Pfffft" macht die Presse, 230 Kilo pro Quadratzentimeter drücken auf den Lehm. Frisch gestanzte Vierecke fahren dann auf einem Fließband durch die Halle. Zu Alejandro, der die braungraue Glasur kontrolliert, mit der sie bedeckt werden. +Als er vor fast zwanzig Jahren in der Fabrik anfing, stand über dem Eingangsportal: "Bei Zanón zu arbeiten ist ein Privileg." "Schönes Privileg", dachte Alejandro, als wenig später Stellen und Gehälter gekürzt wurden, obwohl die Fabrik gut lief. Bis zu 16 Stunden am Stück musste er arbeiten. Auf Metallgerüsten standen Aufpasser. +Nur selten lief Fabrikchef Luigi Zanón selbst durch die Hallen, grüßte freundlich und legte ausgewählten Arbeitern jovial die Hand auf die Schulter. Das war seine Art, den Aufpassern zu zeigen, wer ihm nicht gefiel. Wenig später wurden diese Arbeiter entlassen. Die meiste Zeit regierte Zanón die Fabrik von einem bequemen Ledersessel aus, immer ein Lächeln auf den Lippen. Der Fabrikboss soll die Gewinne außer Landes geschafft haben. "Er wollte rausholen, was ging, und dann dicht machen", sagt Alejandro. "Vom Staat hatte er Millionenkredite bekommen und dachte nicht daran, das Geld zurückzuzahlen." Den Flachbau mit begrüntem Innenhof, in dem der Firmenboss saß, nennen die Arbeiter heute noch das "Pentagon", wie das amerikanische Verteidigungsministerium – das Zentrum der Macht. +Als 120 Angestellte entlassen werden sollten, rumorte es in der Fabrik. Weil sie dort nicht in Ruhe reden konnten, organi- sierten die Arbeiter ein Fußballturnier. Bei Bier und Grillwürstchen planten sie die Abwahl der bisherigen Gewerkschafter, die vermutlich für ihr Stillhalten bezahlt wurden. "Dann gingen wir zu Luigi Zánon und forderten bessere Arbeitsbedingungen", erzählt Alejandro. Doch der Fabrikbesitzer versuchte gar nicht erst zu verhandeln. Er bat die Abgesandten lediglich, die anderen Arbeiter ruhig zu halten. Er bot ihnen Geld und lud sie auf eine Italienreise ein. "Aber wir waren nicht bestechlich", sagt Alejandro. +Nach dieser Unterredung zahlte der Fabrikchef den Arbeitern monatelang keine Löhne aus. Noch aber hielten die Arbeiter still. Erst als der 20-jährige Angestellte Daniel Ferrás nach einem Kreislaufstillstand starb, weil die Sauerstoffflaschen im Erste-Hilfe-Raum leer waren, gingen die Arbeiter auf die Straße. Die Folge: Luigi Zanón schloss die Fabrik, meldete Konkurs an und kündigte allen Mitarbeitern. Doch die ließen sich nicht vertreiben: Sechs Monate zelteten sie aus Protest vor den Hallen. Die Menschen in Neuquén brachten ihnen Essen, die Leh- rergewerkschaft demonstrierte mit. Anfangs bewachten Zanóns Sicherheitsleute noch das Gelände, doch auch sie wurden irgendwann nicht mehr bezahlt und gingen. "Dann", sagt Alejandro, "besetzten wir die Fabrik und brachten die Maschinen wieder in Gang." +Das war im März 2002. Seitdem sind die Brennöfen in Dauerbetrieb. Die Arbeiter kommen in drei Schichten. Pünktlich, 15 Minuten vor Arbeitsbeginn, obwohl kein Chef auf die Uhr schaut. Wer oft zu spät ist, krank feiert oder mit den Compañeros streitet, muss sich vor der Betriebsversammlung rechtfertigen. "Das wollen die wenigsten", sagt Alejandro. In den ersten Jahren hatte er einen führenden Posten. Doch damit es in der Kooperative keine Chefs und Untergebenen gibt, rotieren die Jobs. "Seit einem Jahr stehe ich wieder an der Maschine." Es ist die gleiche wie vor fast zwanzig Jahren. Aber alles ist anders. +Konzentriert schaut Alejandro auf die Fliesen, die auf dem Band an ihm vorbeifahren, bis zu 50 pro Minute. Wenn einer eine Ecke fehlt, wirft er sie auf eine Schubkarre. Neben ihm steht ein kleiner Tisch, darauf ein Becher mit Mate-Tee. "Der hilft mir, die Nachtschicht durchzustehen. Früher durften wir keine Getränke am Platz haben." +Die anderen nennen Alejandro "Cabezón". Dickschädel heißt das, aber auch "großer Kopf". Ein Arbeiter am Band ne- benan tippt sich bewundernd an die Stirn: "Weil da viel bei ihm drin ist." Er selbst sei zuerst gegen die Besetzung gewesen. "Ich bin gegangen, ich glaubte nicht an den Erfolg. Aber dann brauchten sie Fachkräfte und stellten mich wieder ein." Auf seiner Jacke steht der neue Name der Fabrik: Zanón heißt jetzt auch Fasinpat, das steht für Fábrica Sin Patrón, Fabrik ohne Chef. Als die Fabrik pleiteging, hatte Zanón 240 Arbeiter. Heute, ohne Boss, sind es 431. Zanón ist in Argentinien berühmt, auf dem Hinterhof finden Rockkonzerte statt, zu der Band "Attaque77" kamen 15000 Fans. Seit einem Jahr ist neben der Kantine eine Abendschule untergebracht, 25 Arbeiter gehen nach Schichtende aufs Gymnasium. Im Pentagon, in dem einst Luigi Zanón herrschte, gibt es jetzt Fanartikel für Besucher: Jacken, Pullis und Basecaps mit dem Fasinpat-Logo. "Als wir nach Buenos Aires fuhren, konnte ich es nicht fassen", sagt ein Mechaniker, den alle nur "Foca" nennen, die Robbe. "Die Leute in der U-Bahn sahen unsere Fabrikkleidung und feierten uns, als wären wir die Nationalelf." Die Heldensage der mutigen Arbeiter von Zanón sprach sich herum, längst bitten die Belegschaften anderer Fabriken um Rat. Ein Kinderbuch erzählt die Geschichte der Fabrikbesetzung, damit sie auch die Kleinsten verstehen. +Doch die wahre Geschichte von Zanón ist kein fröhliches Sommermärchen: Als die Arbeiter die Fabrik besetzten, drang die Polizei in die Wohnung von Alejandros Freund Raúl ein und bedrohte dessen Töchter. Die Ehefrauen von zwei Arbeitern wurden entführt und verprügelt. Bei einer Demo schossen Polizisten mit scharfer Munition auf einen Teilnehmer, der ein Auge verlor. Und das sind nur drei von vielen Episoden. Mehrfach hatten Richter entschieden, dass die Fabrik zwangsgeräumt werden soll. "Doch die Menschen kamen zu Tausenden, hielten sich an den Händen und stellten sich vor die Fabrik", sagt Alejandro. Die Gerichts- vollzieher fuhren wieder ab. "Die Leute sind auf unserer Seite. Wir kennen uns aus dem Supermarkt, von der Bushaltestelle. Sie wissen, dass wir keine Verbrecher sind und die Fabrik nicht für uns wollen. Wir fordern eine Verstaatlichung, Gewinne sollen an die Gemeinde gehen. Schließlich schuldet Luigi Zanón dem Staat Millionen." +Als bei einer Demonstration ein Polizist einen Lehrer erschoss, war die Bevölkerung die Politik der harten Hand endgültig leid, und auch die Provinzregierung schwenkte um. Ein Richter entschied am 12. August 2009: Die Fabrik muss enteignet und den Arbeitern übergeben werden. Doch bisher hat die Provinzregierung den Beschluss nicht umgesetzt. "Die Politiker spielen auf Zeit", sagt Alejandro. "Sie hoffen, dass wir pleitegehen, bevor die Fabrik uns gehört. Wir greifen die Interessen des Kapitals an, deshalb sind wir für viele Feinde. Seit wir die Fabrik leiten, kauft die Provinz keine Fliesen mehr bei Zanón." +Es ist 22 Uhr, Beginn der Nachtschicht. Im Licht der Neonröhren treffen sich die Arbeiter zur Krisensitzung in der Kantine. Die internationale Finanzkrise hat auch die Fliesenfabrik getroffen. Es wird weniger gebaut in Argentinien, und die Konkurrenz aus China ist billiger. Der Einkauf stockt, weil Geld fehlt, die Tonerde reicht nur noch für wenige Tage. Ohne Tonerde keine Produktion. Die Lohnbuchhaltung ist bald zahlungsunfähig, weil seit Monaten zu wenig Geld reinkommt. +Die Maschinen bei Zanón sind bis zu 20 Jahre alt. Sie sind langsam und brauchen viel teure Energie. "Die private Fliesenfabrik nebenan bekam einen Milli- onenkredit. Mit einer einzigen neuen Anlage stellen die so viele Fliesen her wie wir mit zehn", sagt Alejandro. "Wir brauchen dringend neue Technologie, damit wir mehr und billiger produzieren können." "Seit zehn Jahren flicken wir an den Maschinen herum", beschwert sich auch Robbe, der Mechaniker. "Wir bräuchten zumindest neue Ersatzteile." Doch so lange die Enteignung rechtlich nicht durch ist, können die Arbeiter den Banken keine Sicherheiten bieten. Keine Sicherheiten, kein Kredit, keine neuen Maschinen. +Für Unmut sorgt auch das Thema Lohn. Alle bekommen den gleichen, egal ob sie viel oder wenig produzieren. Wer macht schon gerne Nachtschicht, arbeitet freiwillig am Wochenende? "Leute, wir müssen zusammenhalten", sagt Alejandro. "Lasst uns nicht gegeneinander kämpfen. Wir müssen produzieren und allen zeigen, dass wir es können." Tatsächlich haben die Arbeiter keine Wahl. Welcher Unternehmer stellt schon einen ehemaligen Fabrikbesetzer ein? Erst weit nach Mitternacht ist die Sitzung vorbei. Am Ende steht fest: Die Arbeiter gehen wieder auf die Straße. Sie wollen demonstrieren und die Durchsetzung der Enteignung fordern. Ohne Kredite haben sie keine Chance. +Minuten später steht Alejandro wieder an der Maschine, prüft die Dicke der Glasur der Fliesen. "Es ist keine einfache Situation. Aber jetzt entscheiden wir wenigstens selbst über unser Schicksal." Bedächtig trinkt er einen Schluck Mate-Tee. Kein Aufpasser hindert ihn daran. +Unsere Autorin Karen Naundorf arbeitete als Cowgirl in Disneyland und renovierte Lehmwände von nepalesischen Landschulen mit einer Mischung aus Erde und Kuhmist, bevor sie studierte, auf die Journalistenschule ging und dann nach Südamerika zog, um dort als Korrespondentin zu arbeiten. diff --git a/fluter/welche-bedeutung-hat-wohnen.txt b/fluter/welche-bedeutung-hat-wohnen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cbfb2089a0c8ed84a1105a5e1963b9c49140507b --- /dev/null +++ b/fluter/welche-bedeutung-hat-wohnen.txt @@ -0,0 +1,38 @@ +Sehen Sie da ähnliche Muster und Gewohnheiten wie beim Wohnen in Wohnungen und Eigenheimen? +Das ist alles Teil des gesellschaftlichen Wohnwissens, das ich erforsche. Damit meine ich nicht in erster Linie das Know-how der Experten, also von Architekten oderMöbeldesignern. Mich interessiert mehr das Wissen der wohnenden Menschen selbst, das eher ein eingeübtes Handeln ist. Es geht um die Gemengelage zwischen den vorgegebenen Wohnnormen und dem, was wir als Personen damit tun. Und das können eben auch ganz abseitige Dinge sein. +Was für Dinge meinen Sie beispielsweise? +Wohnen wird in der Außendarstellung überwiegend positiv gecodet: Schaut her, das ist unsere neue Wohnung, ist sie nicht schön? In Wahrheit beinhaltet Wohnen ja auch viel, was wir lieber verborgen halten: Krankheiten, psychische Befindlichkeiten, Ängste, Gewalt. Auch das ist Wohnwissen, das in der öffentlichen Repräsentation des Wohnens aber nicht vorkommt. +Wie werden uns die Normen des Wohnens vermittelt? +Wir schauen eine Serie, und da hält sich eine Frau in einem sorgfältig ausgestatteten Wohnraum auf oder ein Mann in einem soundso gestalteten Büro. Es entstehen Verschränkungen von Subjekten und Geschlechtern mit Räumen, die wir durch Medienrezeption aufnehmen und dann selbst praktizieren. + +Kaum eine andere Wohnform verbindet man so mit der DDR wie die Platte. Mit vorgefertigten Betonplatten schaffte man in Zeiten der Wohnungsknappheit schnell und viel Raum für Menschen, die oft froh waren, aus kaputten Altbauten in einen Neubau ziehen zu können. Die 2010 verstorbene Fotografin Sibylle Bergemann zeigte, wie unterschiedlich die Menschen mit ihren (vom Grundriss her) normierten Wohnungen umgegangen sind. + +Und wie sehen diese Normen aus? +Es gibt nie nur die eine Norm. Aber das gängige Wohnkonzept in Deutschland und Österreich ist im Grunde immer noch das der Kleinfamilie, mit der üblichen Aufteilung: Wohnzimmer, Elternschlafzimmer, Kinderzimmer, Küche, Bad und so weiter. Auch wenn inzwischen viele neue Wohnformen wieKommunen, Baugruppen, WGs oder Mehrgenerationenhäuser existieren und es eine wachsende Zahl von Singlehaushalten und Patchworkfamilien gibt –der Kleinfamilienhaushalt bildet immer noch den Grundstock des Wohnens. +Warum ist dieses Modell so langlebig? +Die Kleinfamilie mit Vater, Mutter, Kindern ist eine kalkulierbare Einheit für die Gesellschaft und die Gesellschaftspolitik. Außerdem muss man bedenken, dass der Familienhaushalt der Kern des privaten Warenkonsums ist. Es gibt also auch ein ökonomisches Interesse an diesem Lebens- und Wohnmodell. Je ausdifferenzierter das alles wird, mit Kinderzimmern für Jungen und Mädchen, mit Jugendzimmern, Wohnzimmern und Esszimmern, desto mehr Objekte kann ich an den Mann oder an die Frau bringen. +Vielleicht entspricht diese bürgerliche Privatsphäre einfach einem menschlichen Bedürfnis. +Stimmt, es ist wichtig, dass wir nicht immer auf die anderen zeigen: DIE wollen so leben. Auch ich komme abends manchmal nach Hause und sage: Puh, bin ich froh, dass ich die Tür hinter mir zumachen kann. Gleichzeitig kann ich aber Kritik üben, weil ich weiß, dass diese Wohnform gekoppelt ist an bestimmte Vorstellungen, die ich ablehne. +Welche sind das? +Nehmen wir ein aktuelles Beispiel: Alexa, den häuslichen Sprachassistenten von Amazon. Da schleichen sich im Hype der Digitalisierung unserer Wohnungen durch die Hintertür wiederganz alte Geschlechtervorstellungen ein: Alexa hat die Stimme einer jungen Frau, die mit ihrer freundlichen Hilfsbereitschaft ganz dem traditionellen Bild der Hausfrau entspricht– der Hausfrau, die früher vollständig von ihrem Ehemann abhängig und häuslicher Gewalt schutzlos ausgeliefert war. Und leider ist das immer noch aktuell. Trotz aller Fortschritte bei der Gleichberechtigung ist häusliche Gewalt weiter ein Problem.Und immer noch erledigen die Frauen den Großteil der unbezahlten Hausarbeit:Essen machen, Angehörige pflegen, da sein, wenn jemand krank ist. +Auch wenn das Wohnmodell der Kleinfamilie von großer Beständigkeit ist: Unterliegt es nicht dennoch einem steten Wandel, wie Menschen wohnen wollen? +Ich sehe wirklich nicht, dass sich so wahnsinnig viel verändert hat. Aber es gibt natürlich Trends und Zeitströmungen. Zum Beispiel dieses große Es-sich-gemütlich-Machen und die Lounge-Kultur, die mit ihren Möbeln zum Reinfläzen fast schon an die Liegewiesen der 1970er-Jahre erinnert. Interessant ist, dass das in den öffentlichen Raum der Städte einsickert – wie man etwa an den Möbeln in Bars und Kaffeehäusern sehen kann. +Auch Hygge, die skandinavische Form der großen Gemütlichkeit, liegt voll im Trend. +Ich halte das für eine Reaktion auf eineneoliberale Gesellschaft, in der Arbeitsverhältnisse unsichererund staatliche Sozialleistungen abgebaut werden. Wo Globalisierung undZuwanderungden Menschen Verlustängste bereiten.Darauf wird mit Entspannungsfantasien reagiert.Die sind wie eine Art Schutzmantel. +Auf der anderen Seite dringt die neue Arbeitswelt durch digitale Erreichbarkeit und Homeoffice verstärkt in unser privates Wohnumfeld ein. Wie wirkt sich das aus? +Ich sehe nicht, dass die Arbeit hereinkommt und das Private verschwindet. Vielmehr dehnen sich das Öffentliche und das Private auf unterschiedliche Weise aus und durchdringen einander – wie man auch an den Lounge-Möbeln im öffentlichen Raum sieht. Was dabei herauskommt, ist aber auch nicht völlig neu. Die Frauen haben immer schon sehr viel Arbeit zu Hause erledigt: unbezahlte häusliche Arbeit und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zum Teil auch Lohnstückarbeit, zum Beispiel für dieTextilbranche. Und für die unteren sozialen Schichten gab es so etwas wie eine geschützte Privat- und Intimsphäre ohnehin lange Zeit nicht. Das hat sich erst im Laufe des 20.Jahrhunderts entwickelt. +Wie war es davor? +Das kleinfamiliäre Wohnen ist aus der bürgerlichen Familie entstanden, die sich bis Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt hat und dann zunehmend als Modell auf die proletarischen Schichten ausgedehnt wurde. Vorher hatten dort viele Generationen auf engstem Raum zusammengelebt. Oft gab es für alle gemeinsam gerade mal eine Küche und ein Schlafzimmer. Die heutigen Normen von Wohnen und Privatsphäre galten da natürlich nicht. Es ist zum Beispiel kein universelles Gesetz, dass wir uns bei der Körperhygiene einschließen und uns dabei anderen lieber nicht zeigen. Im beengten proletarischen Wohnen holte man sich seinen Eimer Wasser in die Küche, um sich dort zu waschen – vor den Augen der anderen. +Ist es ein Gewinn an Lebensqualität, wenn Menschen mehr Privatsphäre haben? +Selbstverständlich müssen Menschen sanitäre Anlagen haben, in denen sie ungestört und sicher Körperpflege betreiben können. Aber schon im Zuge der sozialen Bewegungen der 1920er-Jahre, als es um die staatliche Wohnbauförderung ging, gab es Kritik: Ein weitgehender Rückzug ins Private entpolitisiere die Leute. Ich will mich nicht festlegen, ob das immer zwingend so sein muss. Aber es spricht durchaus etwas dafür, dass Wohnkonzepte, die an einer größeren Form von Gemeinschaft orientiert sind, auch Menschen anziehen und hervorbringen, die ein bewussteres Verhältnis zur Gesellschaft haben. Auch damals gab es ja schon Konzepte wie Einküchenhäuser, die sich aber nicht durchgesetzt haben. +Wird heute ausreichend berücksichtigt, dass es sich beim Wohnen um ein wichtiges gesellschaftliches Gut handelt? +Wohnen wird meines Erachtens heute zu sehr als Ware behandelt.Erst neuerdings setzt wieder ein Umdenken ein. Vorher gab es in Deutschland lange eine Politik, in deren Rahmen viel ehemals sozialer Wohnungsbau an große Wohnunternehmen verkauft wurde – weshalb heute in vielen großen Städten bezahlbarer Wohnraum fehlt. Auch das genossenschaftliche Modell hat man nicht mehr genug gefördert. Es gab zwar immer tolle Einzelobjekte, aber nicht die nötige Masse. + + +Innovative gemeinschaftliche Ansätze wie Baugruppen und Soli-WGs sind solche Modelle, entstehen aber eher durch private Initiativen. +Aber organisiert werden sie oft genossenschaftlich. Ich selbst wohne, wenn ich in Wien bin, in so einem Wohnprojekt. Ich bezweifle, dass solche Modelle heute genug vom Staat gefördert werden, dafür muss von sozialen Bewegungen gekämpft werden. Politiker, die ein soziales Anliegen haben, sollten das unterstützen. Wobei immer zu bedenken ist, dass diese Konzepte sehr oft in bestimmten sozialen Milieus entstehen, einer kulturellen Wissenselite, die über die nötigen Mittel verfügt und eben weiß, wie man das überhaupt anstellt. Aber auch die anderen Milieus müssen mitbedacht werden, auch denen müssen Angebote gemacht werden. +Was können wir eigentlich von anderen Wohnkulturen der Welt lernen? +Der Blick in die große, weite Wohnwelt ist nicht automatisch horizonterweiternd. Das globalisierte Mittelschichtswohnen sieht inzwischen fast überall aus wie bei IKEA. Traditionelle Wohnkulturen existieren natürlich auch noch, aber die solltenwir nicht romantisieren.Was kann ich aus einer mongolischen Jurte lernen?Auf den ersten Blick nur, dass man eben auch ganz anders wohnen kann. Wirklich etwas erfahren würde ich nur, wenn ich es mal selbst ausprobiere. Aufgrund der Zuwanderung kann ich mir andere Wohnkulturen aber auch im eigenen Land ansehen. Da könnten wir offen und nicht so wertend sein. Zum Beispiel wenn es um ornamentreiche Einrichtungen geht, die in den verschiedenen orientalischen Kulturen beliebt sind – während hier in Mitteleuropa, sehr allgemein gesprochen, das Diktum des Klaren und Reduzierten vorherrscht. +Irene Nierhaus ist Professorin der Uni Bremen und leitet das Mariann Steegmann Instituts. Sie stammt aus einer Stadt, die für sozialen Wohnungsbau berühmt ist: Wien. (Foto: privat) +Gerade aufInstagramwerden ja heute viel private Wohnumgebungen präsentiert. Was lässt sich aus diesen Wohnbildern schließen? +Die Bilder zeigen durchkomponierte Arrangements, die in ihrem Aufbau und ihrer Ästhetik in der Kontinuität von Wohnzeitschriften stehen. Nur dass heute die Bewohner selber Autoren ihrer Homestorys sind. Gezeigt werden abermals sehr geschönte Bilder des Wohnens: Man sieht keinen Staub, kein ungespültes Geschirr und keine Hausarbeit. Auch das Konflikthafte von Zusammenleben und Arbeitsteilung wird nicht thematisiert. Das verkennt natürlich viele Realitäten. Etwa auch die des prekären und beengten Wohnens, steigender Mietpreise und der Gentrifizierung. Oftmals ist auch nicht auszumachen, wer noch bloggt oder schon verkauft. Es dominiert die Warenförmigkeit des Wohnens überdas Wohnen als ein politisches und gesellschaftliches Feld diff --git a/fluter/welche-chancen-haben-migrantenkinder.txt b/fluter/welche-chancen-haben-migrantenkinder.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8b9d1dba08153c5a57c14b0fcb4eddb4bc8c8785 --- /dev/null +++ b/fluter/welche-chancen-haben-migrantenkinder.txt @@ -0,0 +1,25 @@ + +Realschule +Auch in der Realschule war ich gut. In der neunten Klasse kam eine Berufsberaterin von der Arbeitsagentur an unsere Schule. An das Gespräch erinnere ich mich bis heute: "Ich will Architekt werden." – "Du weißt aber schon, dass man dafür studieren muss." "Okay", habe ich gesagt, "dann werde ich studieren." Und sie: "Ich glaube, du bist gut bedient, wenn du über eine Ausbildung nachdenkst." Die hat wahrscheinlich gedacht: Wie soll das arme Migrantenkind an der Uni überleben? + +Gesamtschule +Wieso aufs Gymnasium wechseln, wenn ich sowieso ein Einser-Abi brauche, um Architektur an meiner Wunsch-Uni, der RWTH Aachen, zu studieren? Das schaff ich doch eher auf einer Gesamtschule. Mit diesem Gedanken bin ich dann dorthin gewechselt, und ich habe mich angestrengt, weil ich wusste, dass meine Eltern Tag und Nacht geschuftet haben, um mir die Schule zu ermöglichen. +Schon während des Abiturs habe ich dann angefangen, nebenher zu arbeiten. Als Bürohilfe bei einem Bauingenieur, der erst vor wenigen Jahren aus der Türkei gekommen war. Das war gut. Da habe ich viel gelernt. Wie füllt man einen Bauantrag aus? Oder: Was sind Abstandsflächen? So habe ich den Wortschatz gelernt, den andere vielleicht von zu Hause mitkriegen oder in entsprechenden Praktika. +In meiner Familie war ich der Erste mit Abitur. Als ich meinen Eltern erzählte, dass ich Architektur an der RWTH Aachen studieren will, hat mich meine Mutter sofort unterstützt. Mein Vater war zurückhaltender. Er war zum Arbeiten nach Deutschland gekommen und baute Motoren in einer Fabrik. Sein Chef hatte in Aachen studiert. Wie sollte sein kleiner Sohn das schaffen? + + +Hochschule +Beim Studium war das Migrant-Sein endlich kein Thema mehr. Ich hatte Professoren, die in der ganzen Welt unterwegs waren. Für die zählte nur, was du leistest, nicht, woher du kommst. Meine Professoren haben mich sehr unterstützt, weil sie gesehen haben: Da ist einer, der für die Sache brennt. Trotzdem musste ich weiter nebenher arbeiten. Ein Auslandsaufenthalt während des Studiums war nicht drin. Ich musste mir ja meine Wohnung finanzieren. Bald hatte ich einen kleinen Freundeskreis: ein Afghane, ein Türke und ich. Nicht, weil wir alle drei einen Migrationshintergrund hatten, sondern weil wir weniger wussten als die anderen. Wenn jemand aus einer Akademikerfamilie kommt, dann kennt er sich besser aus mit dem Studieren. Das ist etwas anderes, als wenn man nur seinen Traum hat. + +Masterstudium +Mein Masterstudium lief gut, und ich habe noch vor der Regelstudienzeit abgeschlossen, und zwar mit "Sehr gut". Mit einer Arbeit über die "Theodosianische Mauer", einer jahrhundertealten Befestigungsanlage in Istanbul. +Als wir uns für die ersten Jobs beworben haben, habe ich mit einer Kommilitonin ein Experiment gemacht: Wir haben die gleiche Bewerbung an zehn verschiedene Architekturbüros geschickt, mit den gleichen Qualifikationen, aber mit unserem eigenen Foto und Namen. Bei ihr hat man den Migrationshintergrund nicht gleich erkannt, weder am Foto noch am Namen – anders als vielleicht bei mir. Das Ergebnis: Sie hat acht Einladungen zu Bewerbungsgesprächen bekommen und ich keine einzige. Das hat mir klargemacht, dass es nicht einfach würde. +Als ein renommiertes Architekturbüro kurzfristig jemanden für einen Wettbewerb in China suchte, haben sie mich angerufen. Ich saß bis in die Nacht hinein am Schreibtisch und habe gezeichnet und Entwürfe gemacht. Irgendwann kam der Chef zu mir und sagte: "Das ist das erste Mal seit 20 Jahren, dass ich einen jungen Architekten mit dem Bleistift entwerfen sehe." Ich habe ihm dann erzählt, dass ich früh hatte arbeiten müssen. Und dass ich das da so gelernt hatte. Ein paar Tage später hat er mich gefragt, ob ich bleiben will. + + +Doktorarbeit +Ich schreibe jetzt an meiner Doktorarbeit. Mit einem Stipendium von Avicenna, dem ersten muslimischen Begabtenförderungswerk. Das Wichtigste daran ist mir der Austausch mit anderen Stipendiaten. Wenn man nicht aus einem akademischen Umfeld kommt, fehlen einem oft die Kontakte. +Das Thema meiner Doktorarbeit: Hinterhofmoscheen in Deutschland, die besonders zur Zeit der Gastarbeiter entstanden sind. Das betrifft einen ganz großen Teil der etwa 2.700 Moscheen hierzulande. Leider weiß man nur sehr wenig über sie, weil es oft nur um die Konflikte geht, wenn neue Moscheen gebaut werden. Dabei sind die meisten Moscheen längst ein ganz normaler Teil Deutschlands und ein wichtiger Teil unseres kulturellen Erbes." + +(Quelle für alle Zahlen:Bildungsreport 2020) +Titelbild: viavisio.de diff --git a/fluter/welche-jobs-die-digitalisierung-schafft.txt b/fluter/welche-jobs-die-digitalisierung-schafft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..583977397471bfd0d4b61122c570a3e2500e871c --- /dev/null +++ b/fluter/welche-jobs-die-digitalisierung-schafft.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Ich suche dabei nach Mustern in den Zellinformationen. Eine Zelle umfasst etwa 20.000Gene. Ich analysiere unter anderem, wie stark ein Gen bei einem bestimmten Krebstyp in der Zelle vertreten ist. Am längsten dauert das Programmieren und die Datenbereinigung. Wenn die Daten fehlerhaft sind, wird das Ergebnis das am Ende auch sein, nur merkt man davon vorher oft nichts. Daher müssen wir höllisch aufpassen, wenn wir die Daten aufbereiten und versuchen, Fehler auszumerzen. Das nimmt den größten Teil meiner Arbeitszeit in Anspruch. Die Rechnerei, also die Analyse am Ende, dauert dann noch mal zwei Tage. Dafür nutze ich Machine Learning: DieAlgorithmenlernen also im Zuge der Analyse und versuchen davon ausgehend selbstständig Muster in den Zellinformationen zu erkennen. +Für Wucherungen, wie sie im Fall von Krebs auftreten, müssen Abwehrmechanismen des Körpers außer Kraft gesetzt werden. Dafür ist eine bestimmte Kombination von Genen verantwortlich. Ich möchte herausfinden, welche Kombinationen das sind. Das Ziel dieser Forschung besteht in einer Art personalisierter Medizin. Wenn man weiß, welche Mutationen den Krebs auslösen, kann man ihn auch sehr individuell behandeln. Das ist bisher aber noch Zukunftsmusik. + +Frank Beckhäuser, Roboterprogrammierer und Leiter der Programmiergruppe bei FANUC Deutschland +In unserem japanischen Mutterkonzern werden Industrieroboter hergestellt. Jede Maschine wird von uns Roboterprogrammierern individuell programmiert. Es gibt verschiedene Arten von Robotern: in der Automobilindustrie zum Beispiel Schweißroboter oder Lackierroboter. Wir Programmierer schreiben Bewegungsprogramme für diese Roboter. +In der Software des Roboters ist hinterlegt, wie er verfahren soll. Damit der Roboter weiß, welche Tätigkeit er ausüben soll – Handling, Schweißen, Lackieren –, muss ich die Befehle in eine Sprache übersetzen, die er lesen kann. Roboterprogrammierer ist kein Lehrberuf. Meist kommen Quereinsteiger aus dem Mechatronik-Bereich und bilden sich dann weiter. Ich bin gelernter Elektrotechniker und dann eher so reingerutscht. +Ich glaube, Roboterprogrammierer werden immer wichtiger. Es wird viel automatisiert, immer mehr Aufgaben können Roboter für uns erledigen. Das verspricht schnellere Arbeitsabläufe und eine hohe Genauigkeit. Dafür müssen die Roboter eben vorher mit passgenauen Daten programmiert werden. Es entstehen also auch Arbeitsplätze. + +Heute muss keiner mehr in eine Fabrik einbrechen. Es reicht, ins Unternehmensnetz vorzudringen, um Schaden anzurichten. Solche "Einbrüche" zu verhindern ist Aufgabe des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Dort arbeite ich im Nationalen IT-Lagezentrum. Wir sind so etwas wie eine Notrufzentrale für Cyberangriffe. Wir erhalten Meldungen aus Verwaltung und Wirtschaft über Angriffe auf ihre internen Netzwerke, Sicherheitslücken auf Websites und Ähnliches. Die meisten Meldungen sind harmlos. Zum Glück werden nicht jeden Tag die persönlichen Daten Hunderter Politiker im Internet veröffentlicht. In solchen Fällen ist unsere wichtigste Aufgabe, die Betroffenen zu informieren und ihnen möglichst konkrete Hilfestellung zu bieten. +Jana Boltersdorf, Technische Referentin beim Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), Zentrale Meldestelle und Nationales IT-Lagezentrum +Eine unserer wichtigsten Aufgaben ist der Schutz der Regierungsnetze und der Bundesverwaltung. Diese hat eine Meldepflicht gegenüber dem BSI. Das heißt, wenn dort eine Schwachstelle, ein Angriff oder eine Datenlücke festgestellt wird, erfahren wir umgehend davon. Das BSI ist mittlerweile personell stark gewachsen. Das Thema "Informationssicherheit" wird wichtiger, weil unser Alltag immer stärker digitalisiert und von Technik durchdrungen ist. Nehmen wir die Beispiele Smarthome oder autonomes Fahren. +Diese Technologien bringen viel Nutzen, es entstehen aber auch neue Angriffsflächen – auch solche, die auf den ersten Blick harmlos erscheinen. Zum Beispiel gab es einmal einen Fall, in dem jemand über ein Aquariumthermometer, das ans WLAN angeschlossen war, in das Netzwerk eines Casinos eindringen konnte. Das verdeutlicht: Eine Schwachstelle, die auf den ersten Blick abwegig erscheint, kann als Angriffspunkt ausreichen, um sich so weiteren Zugang im Netzwerk zu verschaffen. + +Als Datenanalyst in der Stadt- und Regionalforschungwerte ich vor allem offizielle Statistiken aus. Für das Innenministerium von Rheinland-Pfalz untersuchen wir aktuell zum Beispiel, welche Kriterien Menschen dazu bewegen, im ländlichen Raum zu wohnen. Der Trend ist momentan ja eher gegenläufig: Menschen wandern aus ländlichen Regionen ab in die Städte. Wir suchen die Faktoren, die dafür verantwortlich sind, wo Menschen wohnen wollen. Wir haben einen umfangreichen Datensatz erstellt, der 160 mögliche Erklärungsfaktoren mit einschließt. Die entscheidenden Zusammenhänge gilt es nun herauszufinden. +Marco Schmandt, Datenanalyst beim Empirica-Institut +Ich arbeite also statistisch mit Daten. Ich suche diese, stelle sie zusammen, bereite sie auf und untersuche sie anschließend. Entscheidend für meine Arbeit sind vor allem sozialräumliche Daten.  Ein anderes wichtiges Feld in diesem Bereich sind Bevölkerungsprognosen. Um diese zu erstellen, muss man mit sehr umfangreichen Datenmengen zu Bevölkerungsbewegung und -entwicklung arbeiten. +Wir führen diese Informationen dann zu einem Datensatz zusammen und schauen uns die Zusammenhänge an. Zusätzlich arbeiten wir mit lernenden Algorithmen, umDatenlückenzu füllen. Es ist beispielsweise sehr schwer, im Detail die genauen Preise für Immobilien zu bestimmen. Ein Algorithmus schätzt diese Preise dann für uns, wo uns entsprechende Angaben fehlen. + +Illustrationen: Christoph Kleinstück diff --git a/fluter/welche-menschenrechte-gibt-es-faq.txt b/fluter/welche-menschenrechte-gibt-es-faq.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d0d84bcab80a0366e1cc6984fae1591b83ec23af --- /dev/null +++ b/fluter/welche-menschenrechte-gibt-es-faq.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit seiner Person. Jeder hat das Recht, überall als rechtsfähig anerkannt zu werden. Niemand darf willkürlich festgenommen oder des Landes verwiesen werden. Alle Menschen haben das Recht, sich friedlich zu versammeln. Jeder hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Alle diese Sätze stammen aus derUN-Menschenrechtscharta. +Am 10. Dezember 1948 – also heute vor genau 70 Jahren – wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen vorgetragen und von dieser verabschiedet. Diese sogenannte Menschenrechtscharta der UN umfasst 30 Artikel und gilt heute als bedeutendstes Menschenrechtsdokument. +Die Idee unveräußerlicher Grundrechte ist viel älter, sie geht teils bis in die Antike zurück. Konkret wurde sie im 18. Jahrhundert, im Zeitalter der Aufklärung, und mit der Entstehung moderner Demokratien. Die Erklärung von 1948 markiert trotzdem einen Wendepunkt: So grundlegend niedergeschrieben und von der gesamten Staatengemeinschaft anerkannt wurden die Menschenrechte vorher nicht. +Von den Staaten extra dafür eingesetzte Diplomaten, Ethiker, Juristen und Philosophen. Die Schwierigkeit ihrer Aufgabe bestand vorrangig darin, die Menschenrechte wirklich allgemeingültig zu formulieren und eine Erklärung zu verfassen, die möglichst von allen anderen Staaten anerkannt wird. Sonst hätte sie keinen Wert. Im Ergebnis klingen Menschenrechte dann oft unkonkret. + +Kneipenwissen: Ein Komitee aus neun Juristen, Politikern, Diplomaten und Ethikern erarbeitete die UN-Menschenrechtscharta. Den Vorsitz hatte übrigens Eleanor Roosevelt, die einzige Frau im Komitee – der afrikanische Kontinent war überhaupt nicht vertreten. + +Nein, es gibt noch mehr Menschenrechte, die erst später von den Vereinten Nationen aufgenommen wurden. Etwa der Zugang zu sauberem Wasser, der erst 2010 von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde. "Die Menschenrechte" als klar definierte Liste gibt es nicht, genauso wenig wie eine Instanz, die allein abgrenzt, ab wann ein Recht ein Menschenrecht ist. Menschenrechte sind vor allem eine Idee. +Auch beim Wahlrecht wird Deutschland von Menschenrechtlern kritisiert: Artikel 21 des AEMR legt ein "allgemeines und gleiches Wahlrecht" fest, rundum betreuteMenschen mit Behinderung dürfen aber in Deutschland nicht wählen +Das ist kompliziert: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist tatsächlich eine reine Willenserklärung ohne verbindliche Wirkung. In der Folge wurden von den Vereinten Nationen allerdings mehrere Menschenrechtsabkommen beschlossen, die für die Unterzeichnerstaaten rechtlich bindend sein sollen. Die wichtigsten sind zum Beispiel der UN-Sozialpakt und der UN-Zivilpakt von 1966, die UN-Antifolterkonvention (1984) oder die UN-Kinderrechtskonvention (1989), die viele der Rechte aus der AEMR durchsetzen sollen. Zudem finden sich die Menschenrechte in vielen Ländern in der Verfassung wieder, in Deutschland etwa durch die ersten Artikel des Grundgesetzes. Für die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention gibt es den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. +Nein. Willkürliche Verhaftungen, sexuelle Diskriminierung, Kinderarbeit oder willkürliche staatliche Überwachung sind bittere Realität in vielen Teilen der Welt. Aus diesem Grund gibt es Menschenrechts-NGOs, die Missstände öffentlich machen und gesellschaftlichen und politischen Druck aufbauen, damit sich etwas ändert. +Zum größten Teil, aber auch Deutschland wird manchmal der Verletzung der Menschenrechte bezichtigt: Menschenrechts-NGOs sehen etwa die Residenzpflicht kritisch, die Asylsuchende und Geduldete für einen gewissen Zeitraum verpflichtet, sich nur an einembestimmten Ort aufzuhalten– meist im Bezirk oder Bundesland ihrer zuständigen Asylbehörde. Damit steht die Residenzpflicht im Widerspruch zu Artikel 13 der AEMR. Demnach hat jeder das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen. +Die Frage ergibt sich aus der Situation in Deutschland: Es geht uns sehr gut. Viele der Menschenrechte sind hier selbstverständlich, während in anderen Staaten nicht sicher ist, dass Kinder zur Schule gehen können (Artikel 26 der AEMR: Recht auf Bildung) oder dass eine Frau sich aussuchen kann, wen sie heiraten will (Artikel 16). Dass wir in unserem Alltag nicht dauernd an die Menschenrechte denken, zeigt auch, wie erfolgreich die Idee war und ist. + + +Du willst es genauer wissen? Mehr Informationen über die Menschenrechte gibt esauf bpb.de + +Das Titelbild von ADAM DEAN (NYT/Redux/laif) zeigt Rohingya, ein Volk, dem dieses FAQ wie ein schlechter Scherz erscheinen muss: Die Rohingya sind eine muslimische Minderheit, die in ihrer Heimat Myanmar verfolgt wird und auch anderswo unerwünscht ist. diff --git a/fluter/welche-neuen-feiertage-brauchen-wir.txt b/fluter/welche-neuen-feiertage-brauchen-wir.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7ab25f2050143268c5c1dd803d3e23c70a7d89c1 --- /dev/null +++ b/fluter/welche-neuen-feiertage-brauchen-wir.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Das sind die Favoriten unserer Leser*innen aufFacebookundInstagram. + +Der einzige Feiertag, der länderübergreifend gesetzlich festgesetzt wurde, ist der Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober jeden Jahres. Formal werden alle anderen freien Tage durch die Feiertagsgesetze der Länder bestimmt. Außer dem 3. Oktober gelten nur acht Feiertage in allen Bundesländern einheitlich: Neujahrstag (1. Januar), Karfreitag, Ostermontag, Christi Himmelfahrt, Pfingstmontag, Tag der Arbeit (1. Mai) sowie der erste und zweite Weihnachtsfeiertag (25. und 26. Dezember). +Übrigens: Neue Feiertage sind nicht nur politisch umstritten, man muss sie sich auch leisten wollen. Die Bundesbank berechnete, dass ein zusätzlicher freier Tag ca. 0,12 Prozent des Bruttoinlandsprodukts kostet. +Dazu gibt es auch Ausnahmen: 2011 beschloss der Bundestag zum Beispiel parteiübergreifend, dass der Reformationstag zum 500-jährigen Jubiläum 2017 einmalig ein bundesweiter Feiertag wird.  Diesen Beschluss nahmen die Norddeutschen zum Anlass, die ungleiche Verteilung von Feiertagen zwischen Nord und Süd erneut zu hinterfragen. Die Landtage in Bremen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg beschlossen 2018, dass der Reformationstag von nun an in diesen Bundesländern gesetzlicher Feiertag ist. +Nur in Berlin tat man sich mit der Entscheidung nicht so leicht: Ein neuer Feiertag, sagte der Bürgermeister Michael Müller im April 2018, sei auch für Berlin fällig. Doch es folgte eine monatelange Debatte im Berliner Parlament: In einer Stadt, in der nur noch 15,9 Prozent der Menschen Mitglied in der evangelischen Kirche sind, sei der Reformationstag als gesetzlicher Feiertag nicht angemessen. +Ohnehin wird der christliche Hintergrund der meisten deutschen Feiertage diskutiert. Denn zu den bundesweit vermehrt erfolgenden Kirchenaustritten kommt die zunehmende kulturelle Diversität. Die Zahl der Konfessionslosen nimmt immer weiter zu. Waren 1950 noch gut 96 Prozent der westdeutschen Bevölkerung (ohne Berlin und Saarland) Mitglied in einer christlichen Kirche, sind es heute – auch durch die Wiedervereinigung mit den überwiegend konfessionslosen Bürgern der neuen Bundesländer – nur noch knapp 60 Prozent. Außerdem leben in Deutschland heute ca. 5,5 Prozent Muslime. +Ob ihnen als größte religiöse Minderheit ein Feiertag zugestanden werden sollte, wird von verschiedenen Seiten debattiert. Der Zentralrat der Muslime in Deutschland fordert dies schon seit 2013. Als der damalige Innenminister Thomas de Maizière 2017 öffentlich über die Einführung eines muslimischen Feiertags nachdachte, stieß er auf Widerspruch aus den eigenen Reihen, ruderte zurück und sagte: "Generell sind unsere Feiertage christlich geprägt, und das soll auch so bleiben." +Dabei gibt es in den meisten Bundesländern bereits gesetzliche Regelungen, mit denen sich muslimische Schüler und Schülerinnen zum Opfer- und Zuckerfest vom Unterricht befreien lassen können. Das gilt auch für jüdische Kinder und in manchen Teilen Deutschlands für Aleviten an ihren Feiertagen. +So haben sich die Berliner Regierungsfraktionen nun auch auf einen weltlichen Feiertag geeinigt: Im Januar soll das Parlament dann den 8. März, den Weltfrauentag, als neuen Feiertag beschließen. Bis zu Augsburger Feiertagsverhältnissen ist es aber noch ein weiter Weg. + +Update: Seit dem Erscheinen des Textes hat das Land Berlin tatsächlich den 8. März als zehnten Feiertag eingeführt. + diff --git a/fluter/welche-rechte-haben-tiere-vor-gericht.txt b/fluter/welche-rechte-haben-tiere-vor-gericht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..291eab6079a34cc881e1434f8c5b598d96cc5ec3 --- /dev/null +++ b/fluter/welche-rechte-haben-tiere-vor-gericht.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Naruto hat natürlich nicht selbst geklagt. Peta, eine Tierschutzorgani­sation, die immer wieder mit spektakulären Aktionen auf sich aufmerksam macht, hat das in seinem Namen getan. Es stand also auch die Frage im Raum: Können Menschen vor Gericht für Tiere klagen? +Juristen stehen beim Tierschutz vor einem Problem. Normalerweise kann vor einem Gericht nur klagen, wer sich selbst in seinen Rechten verletzt fühlt. Tiere können das naturgemäß nicht. Wer sorgt dann aber für ihren Schutz? +Zum Beispiel Evelyn Ofensberger. Sie leitet die Rechtsabteilung der größten Tierschutzdachorganisation in Deutschland, des Deutschen Tierschutzbunds. In sieben Bundesländern können in Deutschland Tierschutzverbände im Namen von Tieren klagen. Man kann das ausgleichende Gerechtigkeit nennen. Tiernutzer, etwa Bauern oder Haustierhalter, können für ihre Rechte klagen – die Tiere nicht. "Die industrialisierte Tierhaltung hat eine starke Lobbyund auch Wissenschaftler, die Tierversuche durchführen wollen", sagt Ofensberger. +Ihr Team prüft nach eigenen Angaben Tausende Fälle jährlich, beantragt Akteneinsicht und schreibt Stellungnahmen. Oft geht es um Tierversuche oder Mastanlagen, manchmal aber auch um Reitschulen, um Hundezüchter oder um Tauben in der Großstadt. + + + + +In anderthalb Jahren haben Ofensberger und ihre Kollegen allein in Baden-Württemberg über 1.800 Fälle analysiert und mehr als 200 Stellungnahmen geschrieben. Geklagt haben sie nur selten – wenn die Fälle von grundsätzlicher Bedeutung waren. Denn das dauert und kostet Geld. Momentan klagt der Tierschutzbund in Nordrhein-Westfalen gegen eine Putenmastanlage. Ein anderes Verfahren um eine Schweinezucht in Brandenburg zieht sich schon seit 15 Jahren hin. Solange die Anlage nicht gebaut ist, leiden keine Schweine. Man könnte meinen, dass Ofensberger zufrieden ist. Sie aber will ein schnelles Ende: "Wir wollen niemanden behindern. Uns geht es darum, dass die Gesetze eingehalten und die Tiere geschützt werden." +Nicht immer war der Tierschutz in Deutschland so ausgeprägt. Vor über 30 Jahren klagten Umweltorganisationen vor einem Hamburger Gericht für die Robben in der Nordsee und gegen die Bundesrepublik Deutschland. Diverse Unternehmen verklappten damals Giftmüll und Dünnsäure in der Nordsee, woran die Robben laut Klage starben. Die Bundesregierung sollte das unterbinden. Das Gericht stellte fest: Robben sind – wie alle anderen Tiere auch – im juristischen Sinne Sachen und somit nicht klagefähig. Ein Rückschlag für die Tierschützer. +Doch seitdem hat sich der Tierschutz immer weiter in die Gesetze geschrieben. Der Grundgedanke: Tiere sind Mitgeschöpfe des Menschen, empfinden genauso wie der Mensch Leid, Angst oder Schmerz. Seit 2002 stehen Tiere sogar im Grundgesetz. Nicht ausführlich, in Artikel 20 a heißt es neben anderen Staatszielen lediglich, dass der Staat die Tiere schützt. Konkrete Rechte leiten sich daraus nicht ab, aber Juristen können sich in ihren Argumentationen darauf berufen. +Viele Details regelt das Tierschutzgesetz. Dort steht als Grundregel: "Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen." Vernünftige Gründe allerdings gibt es viele: das Geschäftsinteresse eines Schlachthofs etwa oder die Entwicklung eines neuen Medikaments, für das Tierversuche nötig sind. +Trotzdem sagt der Schweizer Anwalt Antoine Goetschel: "Deutschland steht im internationalen Vergleich sehr gut da, was den Tierschutz betrifft." Goetschel steht nicht im Verdacht, dass ihm das Wohl der Tiere egal ist, im Gegenteil: Es ist seine Lebensaufgabe. Er hat im Schweizer Kanton Zürich als weltweit einziger "Tieranwalt" Tierquälereien verfolgt. In drei Jahren sind 700 Fälle zusammengekommen. Mittlerweile leitet er eine NGO, die das Tierschutzrecht weltweit vergleicht und für einen globalen Tierschutzvertrag innerhalb der Vereinten Nationen wirbt. Goetschels Mission: den Tieren eine Stimme geben. +Genauso kritisch sieht er aber auch die Arbeit vieler Tierschutzorganisationen. Die würden mit emotio­nalen Kampagnen oft genau diese Beamten angreifen, obwohl sie diejenigen seien, die etwas ändern könnten. "Wenn man den Beamten mit warmem Herzen und kühlem Kopf begegnen würde, mit überzeugenden Gutachten statt mit ideologischen Kampagnen, dann würden die gern mitwirken", sagt Goetschel.Das Gesetz sei gut, sagt Goetschel, aber es hapere an der Umsetzung. Zum Beispiel seien Veterinärämter für den Tierschutz zuständig, müssten gleichzeitig aber mit Schweinezüchtern oder Putenmästern eng zusammenarbeiten. "Da entstehen ganz automatisch Inte­ressenkonflikte." +Mehr Vernunft, weniger Emotionen, mehr Recht, weniger Ideologie. So könnte man Goetschels Ansatz zusammenfassen. Deshalb sind auch seine Forderungen nicht verwunderlich: eine eigene Tierschutzbehörde, in der Anwälte im Sinne der Tiere arbeiten. Oder mehr Lehrstühle für Tierschutzrecht an Universitäten. +Bei einer Frage aber ist sich der Tieranwalt Goetschel sicher: Von Tierrechten zu sprechen sei leichtsinnig – und sogar gefährlich. "Nirgends auf der Welt haben Tiere irgendwelche Rechte im Rechtssinne. Wenn wir von Tierrechten sprechen, dann laufen wir Gefahr, missverstanden zu werden, dann verschließen sich Türen." +Was er damit meint, wird am besten an einem Beispiel deutlich: Alle Tiere haben einen Überlebensdrang, kein Tier will freiwillig sterben. Hätten Tiere Rechte, dann wäre das fundamentalste Recht wohl das Recht auf Leben. Aber dürften wir dann Medikamente an Tieren testen, von denen wir noch nicht wissen, wie sie wirken? Dürften wir Insekten töten? Dürften wir Tiere essen? Vor allem Tiernutzer fürchten, dass sich unser Leben dramatisch verändern würde, wenn wir Tieren individuelle Rechte verleihen. Und Goetschel hat Angst, dass dann gar keine Diskussion über den Tierschutz mehr möglich ist. +Die Juristin Saskia Stucki hält dagegen: "Individuelle Rechte sind wichtig, weil sie besser durchsetzbar sind. Ein Recht kann man grundsätzlich vor Gericht einklagen." Stucki ist eine renommierte Wissenschaftlerin, sie arbeitet am Max-Planck-Institut für Völkerrecht und forscht zurzeit an der Harvard Law School in den USA. +Wenn Tiere individuelle Rechte hätten, glaubt Stucki, dann könnten Anwälte diese auch leichter einklagen. Ähnlich wie Tieranwalt Goetschel, nur dass Goetschel das lediglich bei strafrechtlich relevanten Fällen, etwa Tierquälerei, durfte. +Einige mögliche Rechte zählt Stucki auf: das Recht auf Leben, das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit. Oder das Recht, sich frei zu bewegen. Man müsste dann etwa viel genauer prüfen, unter welchen Bedingungen man Tiere in Ställen oder auf Weiden hält. Stucki kann sich sogar vorstellen, dass es neben natürlichen Personen (Menschen) und juristischen Personen (vor allem Unternehmen) auch "tierliche Personen" im Recht geben könnte. +Aber sie weiß auch, dass das in naher Zukunft nicht umsetzbar ist. "Es steht nicht gut um den Tierschutz", sagt sie deshalb folgerichtig. "Aber die Tendenz geht in die richtige Richtung." Immer mehr Menschen seien gegen Massentierhaltung, vegane Ernährung liege im Trend. +Und sie nennt Beispiele aus anderen Ländern: In Argentinien musste ein Affe aus einem Zoo freigelassen werden, weil ein Gericht entschied, dass er dort wie in einem Gefängnis saß. Die Kläger hatten ein uraltes und weltweit verbreitetes Recht genutzt, wonach ein Mensch vor einen Richter geführt werden muss, wenn er inhaftiert wird. Dieses Recht haben die Richter auf ein Tier übertragen – für Juristen ist das eine Sensation. In Kolumbien entscheidet demnächst das Verfassungsgericht darüber, ob der Brillenbär "Chucho" zu Unrecht im Zoo in Gefangenschaft sitzt. Die Anwälte berufen sich auf dasselbe Recht. In Deutschland, sagt Stucki, werden die Gesetze aber viel strenger ausgelegt. Dort seien solche Urteile nicht in Aussicht. +Und Naruto, der technisch versierte Affe im indonesischen Urwald? Hat kein Recht am eigenen Bild. Das entschied schlussendlich ein Gericht in San Francisco. Nicht der Fotograf habe die Rechte des Tieres verletzt, vielmehr habe Peta den Affen als "ahnungslose Marionette" benutzt. + diff --git a/fluter/welche-rechte-haben-und-fordern-frauen-im-iran.txt b/fluter/welche-rechte-haben-und-fordern-frauen-im-iran.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7fa71b567c16b4b84b420da99b54a255a4517af1 --- /dev/null +++ b/fluter/welche-rechte-haben-und-fordern-frauen-im-iran.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Seit der Revolution 1979 gilt im Iran eine strenge Kleiderordnung. Frauen müssen als Zeichen der Reinheit ihre Haare und den Körper vollständig bedecken. Doch diese jungen und selbstbewussten Frauen lassen sich von den strengen Sittenregeln nicht beeindrucken. Sie lassen das Kopftuch weit nach hinten rutschen, schminken sich stark, signalisieren so: Mein Körper gehört mir. +Auch die Zahl der Schönheitsoperationen, die im Iran zu den höchsten weltweit gehört, ist einSynonym für die Selbstbestimmungüber den eigenen Körper. Wer im Iran ein Operationspflaster auf der Nase trägt, gilt als stiller Revoluzzer. +Das Regime fürchtet den weiblichen Widerstand, weil er friedlich und mutig ist, im In- und Ausland auf viel Solidarität stößt – und weil er außer Kontrolle geraten kann. Denn er ist ein Ausdruck des politischen Protests gegen die Machthaber und gilt fast als gefährlicher als ein Feind von außen. Auch wenn die USA weitere Sanktionen verhängen und immer wieder mit "regime change" drohen. Die Machthaber in Teheran wissen: Sobald Drohungen von außen kommen, solidarisiert sich die Bevölkerung meist mit ihnen. Veränderungen "gehen nur mit Reformen, und die müssen von innen kommen", sagte Amir Hassan Cheheltan, ein bekannter zeitgenössischer Schriftsteller. +Der Kampf um alltägliche Freiheiten wie Meinungsfreiheit oder die Abschaffung der Zensur im Innern ist deshalb effektiver, weil er von unten kommt, die Masse erreicht und Forderungen nach einem Regimewechsel mit sich bringen kann. Das haben die Proteste der Grünen Bewegung 2009 oder auch die Unruhen zum Jahreswechsel 2017/2018 gezeigt. Das Regime reagierte darauf mit Härte, Einschüchterung und Verhaftungen, so auch wieder gegen die Frauen. Die Anwältin der "Mädchen der Revolutionsstraße", Nasrin Sotoudeh, sitzt jetzt neben vielen anderen Aktivistinnen in Haft. Inzwischen wendet das Regime gar "mafiöse Methoden" an, um Regimekritiker und Andersdenkende zum Schweigen zu bringen, beklagt die in Deutschland lebende Künstlerin Parastou Forouhar. Ihre Eltern – bekannte Oppositionelle – wurden einst brutal vom iranischen Geheimdienst ermordet. +Der Kampf der Frauen findet nicht nur auf der Straße statt, sondern überall. So bilden Frauen inzwischen eine deutliche Mehrheit an den Universitäten, und mehr als die Hälfte der Absolventen sind Frauen. Das hat dazu geführt, dass es inzwischen eine Männerquote gibt. 80 Prozent der Frauen insgesamt können lesen und schreiben, viele haben sich in der Gesellschaft etabliertund üben einen Beruf aus, anders als in den meisten islamischen Ländern. +Im öffentlichen Leben stellen sie knapp ein Drittel der Arbeitskräfte, und im iranischen Parlament sitzen 21 Frauen. Tabuzonen wie den Sport haben sie mittlerweile zum Kampfplatz erklärt. Ob Karate oder Nordic Walking – der Iran verfügt inzwischen über eine offizielle Frauensportbewegung. +Dabei wird oft vergessen, dass die Emanzipation schon vor der Islamischen Revolution von 1979 begann. Der vorletzte Schah verordnete 1936 die Zwangsentschleierung. Sein Sohn, Mohammad Reza Pahlavi, gab den Frauen in den 60er-Jahren das Wahlrecht und das Scheidungsrecht, und auch das Sorgerecht verbesserte er zu ihren Gunsten. Das kam vor allem säkular eingestellten Familien und Frauen zugute, nicht aber denen in konservativen Familien. Denn die wollten ihre Töchter nicht ohne Schleier in Schulen und Universitäten schicken, in denen beide Geschlechter zusammen unterrichtet wurden. +So verhalf die Islamische Revolution von 1979 zunächst Frauen aus solchen Familien zu Bildung und Emanzipation. Sie erlebten die Verschleierungspflicht der Frau als eine Art Befreiung. Ausgerechnet der Schleier, das Mittel der heutigen Repression, hat vielen Iranerinnen das Tor zur gesellschaftlichen Teilhabe eröffnet. +Nach islamischem Recht sind Frauen gegenüber Männern im Iran klar benachteiligt. Ab dem Alter von neun Jahren müssen Frauen laut Gesetz ein Kopftuch tragen, sie erben weniger als Männer, dürfen in der Öffentlichkeit weder Fahrrad fahren noch rennen und können ab dem Alter von 13 Jahren verheiratet werden. Diese Diskriminierungen tragen mit dazu bei,dass die Selbstmordrate von Frauen in Iran zu den höchsten weltweit gehört. +Unterschiedliche Arten der Diskriminierung gehören immer noch zum Alltag der Frauen. Aber sie wehren sich zunehmend. Nur nicht immer so laut, dass es alle sofort hören. Doch die über 40 Millionen Frauen des Landes sind eine soziale und politische Kraft, die kein Politiker und kein religiöser Führer mehr ignorieren kann. + +Titelbild: Tuul & Bruno Morandi/laif diff --git a/fluter/welche-rolle-spielt-die-militaerbasis-ramstein-im-drohnenkrieg-der-usa.txt b/fluter/welche-rolle-spielt-die-militaerbasis-ramstein-im-drohnenkrieg-der-usa.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4d1bb992a4686a6eceddb08d7f886c36575ad0ae --- /dev/null +++ b/fluter/welche-rolle-spielt-die-militaerbasis-ramstein-im-drohnenkrieg-der-usa.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Ramstein – das ist die größte US-Militärbasis Europas, eine Art Drehscheibe für Soldaten und Kampfgerät. Über 50.000 US-Amerikaner arbeiten und leben dort und in benachbarten Einrichtungen. Blickt man von einem Aussichtspunkt auf das Gelände, sieht man Start- und Landebahnen, Flugzeuge und Hangars. Aber auch Wohnblocks, Schulen und ein Einkaufszentrum – es gibt sogar einen Golfplatz. "Little America" wird die Gegend westlich von Kaiserslautern deswegen auch genannt. + + + +Dass Ramstein eine maßgebliche Rolle im US-Drohnenkrieg spielen könnte, kam 2013 durch Recherchen des ARD-Magazins "Panorama" und der "Süddeutschen Zeitung" an die breite Öffentlichkeit. Damals wurde berichtet, dass Informationen über die Ziele der Drohnen seit 2011 über eine Flugleitzentrale in Ramstein geleitet würden. Auch eine Einrichtung in Stuttgart soll involviert sein. 2014 wurde in Berichten dann der ehemalige Drohnenpilot Brandon Bryant zitiert: "Ohne Deutschland", so Bryant in einem Interview, "wäre der gesamte Drohnenkrieg des US-Militärs nicht möglich." +"Seitdem kann keiner mehr sagen, er hätte von nichts gewusst", sagt Reiner Braun von der Kampagne "Stopp Ramstein". Die Bundesregierung hat die Rolle Ramsteins im Drohnenkrieg der USA bis heute nicht bestätigt. In derAntwort auf eine Kleine Anfrage der Linken im Bundestag aus dem Jahr 2013steht, dass der Bundesregierung zum Thema "keine eigenen gesicherten Erkenntnisse" vorliegen. US-Präsident Barack Obama habe jedoch klargestellt, dass Deutschland nicht Ausgangspunkt für den Einsatz von Drohnen sei. + +Darum geht es jedoch gar nicht – sondern um die besagte Relaisstation. Auf Nachfrage von fluter.de schreibt das Auswärtige Amt, dass "sämtliche Aktivitäten in Ramstein in Einklang mit geltendem deutschen und Völkerrecht" stünden. Keine Stellungnahme gibt es von der rheinland-pfälzischen Landesregierung und dem US-Konsulat. +Konkretere Informationen bekommt man von offizieller Seite nicht. Kritiker monieren das immer wieder: Weil sie die Drohneneinsätze als völkerrechtswidrig einschätzen, fordern sie klare Auskünfte zur Rolle Ramsteins. Manche halten es auch ohne offizielle Bestätigung für ausgemacht, dass der Drohnenkrieg der USA ohne die Basis in der Pfalz so nicht möglich wäre – dieser Meinung sind auch mehrere Bundestagsabgeordnete. + +Gemalte Anklage: Ein Graffiti an einer Mauer in Sanaa, der Hauptstadt Jemens, prangert den Drohnenkrieg der USA an +Ebenso das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), das 2014 vor dem Verwaltungsgericht Köln gegen die Bundesrepublik geklagt hat – im Namen dreier jemenitischer Überlebender eines US-Drohnenangriffs auf Al-Qaida-Vertreter, bei dem auch zwei Männer umkamen, die wohl nichts mit al-Qaida zu tun hatten. Die Klage wurde abgelehnt. Die Bundesregierung sei nicht verpflichtet, den USA die Nutzung der Basis in Ramstein für die Durchführung von Drohnenangriffen zu untersagen, hieß es in der mündlichen Urteilsbegründung laut netzpolitik.org. "Das heutige Urteil erlaubt der Bundesregierung, weiter die Rolle der Ahnungslosen einzunehmen", sagte ECCHR-Generalsekretär Wolfgang Kaleck nach der Urteilsverkündung. Ein anderer Prozess läuft noch. +Im Juli haben die USA nun erstmals Zahlen zu den von Drohnen getöteten Zivilisten in den vier Ländern Jemen, Libyen, Pakistan und Somalia veröffentlicht. Seit 2009 seien dort demnach zwischen 64 und 116 Zivilisten getötet worden – zudem rund 2.500 Islamisten. Das "Bureau of Investigative Journalism" weist die Zahlen aber als zu niedrig zurück. Laut der Journalistenorganisation seien von Anfang 2009 bis Ende 2015 zwischen 380 und 801 Zivilisten bei Angriffen von US-Drohnen ums Leben gekommen – auch Kinder und schwangere Frauen. Und Länder wie Afghanistan, in denen die USA ebenfalls an Militäroperationen beteiligt sind, kommen in der Statistik gar nicht vor. +Barack Obama, der den Drohnenangriffen in letzter Instanz zustimmen muss, sagte 2013 in einem ausführlichen Statement, dass derlei gezielte Schläge sinnvoller seien als ein Bodenkrieg und dass der Tod von Zivilisten ein Risiko sei, das in jedem Krieg existiere. Auf die verbreitete Kritik, dass zivile Opfer den Terrorismus noch befördern könnten, antwortete Obama, dass die Zahl der durch Terrorakte getöteten Zivilisten jede Schätzung ziviler Opfer von Drohnenangriffen "zwergenhaft klein" erscheinen lasse. Und angesichts des weltweiten Terrorismus nichts zu tun, das sei nun einmal "keine Option". +Es wird also weiterhin Drohneneinsätze geben. "Ich glaube, dass uns das Drohnenthema die nächsten Jahre erhalten bleibt", glaubt auch der Aktivist Reiner Braun. "Stopp Ramstein" plane deshalb weitere Aktionen wie eine Demo vor dem Bundeskanzleramt im Herbst und einen Plakatwettbewerb. +Dass der Drohnenkrieg auch unabhängig von Ramstein weiter auf der Tagesordnung bleibt, ist wahrscheinlich: Denn bis 2025 will Deutschland gemeinsam mit Frankreich und Italien eine einsatzbereite eigene Kampfdrohne entwickeln – und davor als Übergangslösung bewaffnungsfähige Drohnen kaufen. +Titelbild: JEAN-CHRISTOPHE VERHAEGEN/AFP/Getty Images diff --git a/fluter/welcher-messenger-ist-sicher.txt b/fluter/welcher-messenger-ist-sicher.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4b829701acac4135a7d9ff241d11e640b90d8cd3 --- /dev/null +++ b/fluter/welcher-messenger-ist-sicher.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Signal ist ebenfalls verschlüsselt, aber anders als Whats-App: Open Source. Auch ein Signal-Profil muss man mit einer Telefonnummer verknüpfen. Die Signal-Daten gehen unter anderem über die Cloud von Amazon. Hinter Signal steht die Signal Foundation, die 2018 von WhatsApp-Mitgründer Brian Acton gegründet wurde. Generell finanziert sich der Dienst über Spenden. Da es sich um eine gemeinnützige Stiftung handelt, haben die Betreiber keinen Grund, personenbezogene Daten zu sammeln und zu verkaufen. Signal ist auf der Suche nach einem Modell, um die Kosten auf Dauer selbst zu tragen. Der Messenger bittet auf seiner Webseite und in der App um Spenden. 2021 hat Signal ein Bezahlsystem über eine Digitalwährung namens MobileCoin eingeführt. Noch ist unklar, inwiefern Signal davon profitiert. +Telegram hat im Gegensatz zu anderen Messengern keine voreingestellte Verschlüsselung. Der App-Anbieter hat somit Einblick in den Inhalt der Nachrichten. Bei Zweierchats lässt sich ein verschlüsselter "geheimer Chat" einrichten, bei Gruppenchats geht das nicht. Auch Telegram muss man mit einer Telefonnummer verknüpfen. Welchen Cloudanbieter Telegram nutzt, ist nicht bekannt. In den Datenschutzbestimmungen heißt es nur, dass Rechenzentren externer Anbieter in den Niederlanden genutzt werden. Auch Telegram ist auf der Suche nach einem nachhaltigen Geschäftsmodell. Seit Ende 2021 können Unternehmen erstmals Werbung auf bestimmten Telegram-Kanälen schalten. Außerdem wurde 2021 bekannt, dass Telegram Anleihen – eine Möglichkeit der Unternehmensfinanzierung, die ähnlich wie ein Kredit funktioniert – in Höhe von einer Milliarde US-Dollar ausgegeben hat.Da der Messenger gern von Rechtsextremen und Verschwörungstheoretikern genutzt wirdund in manchen Gruppen sogar Mordaufrufe verbreitet werden, gab es immer wieder Anfragen der Bundesregierung, bestimmte Inhalte zu löschen, die nicht beantwortet wurden. Erst als die Bundesregierung mit Strafzahlungen von 55 Millionen Euro drohte, sperrte Telegram die Kanäle einzelner Verschwörungstheoretiker. Telegram wurde vom russischen IT-Unternehmer Pawel Durow gegründet. Die Firma hinter dem Messenger, die Telegram FZ-LLC, sitzt formal in Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Das Mutterunternehmen Telegram Group Inc. ist hingegen auf den britischen Jungferninseln angemeldet. +Threema ist unter Datenschutzaspekten ein sehr sicherer Messenger: Er ist verschlüsselt, Open Source und das Profil nicht mit einer Telefonnummer verknüpft. Stattdessen erfolgt die Registrierung über eine randomisierte ID. Threema ist als einziger der vorgestellten Messenger kostenpflichtig – man bezahlt einmalig 3,99 Euro. Nach Aussagen von Threema deckt dieser Betrag die Kosten für den Betrieb. Geld verdient Threema vor allem über Firmenkunden, die den Messenger als Kommunikationskanal im Unternehmen einsetzen. Die Firmenlösung "Threema Work" nutzen beispielsweise der Automobilkonzern Daimler und die Stadt Frankfurt. Hinter Threema steht die Schweizer Firma Threema Holding AG, die Mehrheit der Firmenanteile hält eine Münchener Beteiligungsgesellschaft. Threema betreibt seine Server eigenständig im Rechenzentrum eines Schweizer IT-Anbieters. +Auch Wire ist verschlüsselt und Open Source. Ein Profil muss man entweder mit einer Telefonnummer oder einer E-Mail-Adresse verknüpfen. Anbieterin ist die Schweizer Wire Swiss GmbH. Das Mutterunternehmen Wire Group Holdings GmbH sitzt zwar nicht in den USA – anders als WhatsApp und Signal –, sondern in Berlin. Aber trotzdem ist das amerikanische Datenrecht mit im Spiel. Die Wire-Chatdaten gehen über ein Rechenzentrum von Amazon in Luxemburg. Und der US-amerikanische "Cloud Act" regelt, dass US-Behörden auch dann Zugriff auf Daten von US-Unternehmen haben, wenn sie in Rechenzentren außerhalb der USA anfallen. Wire ist ein klassisches Start-up: Ein Gründer sowie der Chief Operating und der Chief Revenue Officer halten Minderheitenanteile an der Holding. Ansonsten sind verschiedene Investoren beteiligt. Da der Messenger kostenlos ist, finanziert sich das Unternehmen ausschließlich über Firmen- und Verwaltungskunden, die Wire für die interne Kommunikation einsetzen. +Auf den ersten Blick ist Element ein ganz normaler Messenger. Man legt sich mit einer Mailadresse ein Profil an und kann kommunizieren. Es gibt jedoch ein paar Besonderheiten: In der Standardeinstellung verwendet Element die Datenbank der US-Cloudanbieter Amazon und Cloudflare. Anders als bei Signal oder Wire kann man beim Einrichten festlegen, dass Chatdaten stattdessen über einen lokalen Anbieter gehen, dem man vertraut. Der Verein Digital­courage empfiehlt zur Auswahl beispielsweise eine Übersicht auf hello-matrix.net mit 14 verschiedenen Servern, etwa das deutsche tchncs.de. Element-Nutzer können über Schnittstellen auch mit Freunden kommunizieren, die andere Messenger wie Telegram, Signal oder WhatsApp nutzen. Dabei gibt es aber keine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, und es gelten dann die AGBs der anderen Dienste. Zudem kostet der Dienst dann fünf Euro im Monat. Hinter Element steht das britische Start-up New Vector Ltd. Das finanziert sich wie Threema und Wire vor allem über Firmenkunden. Neben Unternehmen nutzen auch einige staatliche Akteure die Technologie, unter anderem die französische Regierung und die deutsche Bundeswehr. +Denkt man über Alternativen zu WhatsApp nach, drängt sich ein Gedanke auf: "Ich könnte den Messenger nutzen. Aber niemand wird mir folgen." Das stimmt. Ein Umstieg funktioniert nur, wenn andere mitziehen. Das Schöne ist: Man kann problemlos mehrere Messenger nebeneinander nutzen, auch für verschiedene Zwecke und Gruppen. WhatsApp ist heute der mit Abstand meistgenutzte Messenger. Man hat aber eine Wahl. diff --git a/fluter/welt-ohne-ende-klimawandel-comic-jancovici-blain.txt b/fluter/welt-ohne-ende-klimawandel-comic-jancovici-blain.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6077fef38b2d0c2361532367ec7716f11aef2aba --- /dev/null +++ b/fluter/welt-ohne-ende-klimawandel-comic-jancovici-blain.txt @@ -0,0 +1,8 @@ + + +Umweltkatastrophen wie die Überschwemmungen im Ahrtal oder in Australien zeigen: Die zerstörerischen Folgen des Klimawandels nehmen zuund müssen dringend eingedämmt werden, damit künftig nicht noch mehr Menschen, Tiere und Pflanzen darunter leiden. Als wesentliche Ursache der Erwärmung nennt Jancovici den wachsenden Rohstoff- und Energiebedarf der technisch immer weiter entwickelten Welt. Viele Regierungen werden dabei wohl auch 2030 noch auf fossile Brennstoffe setzen und damitdas Ziel des Pariser Klimaabkommens, den globalen Temperaturanstieg auf 1,5 bis zwei Grad im Vergleich zu der Zeit vor der Industrialisierung zu begrenzen, verfehlen. Abhilfe schaffen könnten nach Meinung vieler Expert:innen erneuerbare Energien wie Wind oder Sonne. Jancovici macht dagegen klar, dass für ihn Atomkraft derzeit der einzige Weg ist, die Energiewende schnell zu meistern und Teile der komplexen westlichen Wohlstandsgesellschaften zumindest noch eine Zeit lang aufrechtzuerhalten. Damit positioniert er sich ähnlich wiedie EU-Kommission, die im Februar dieses Jahres Investitionen in neue Gas- und Atomkraftwerke unter bestimmten Auflagen als "nachhaltig" einstufte. Jancovici begründet seine Haltung mit dem vergleichsweise geringeren CO2-Ausstoß und Flächenbedarf von Kernkraftwerken gegenüber anderen Energieträgern wie Braunkohle oder Wind. +Ob Atomkraft ein Mittel sein kann, um die Erderwärmung aufzuhalten, darüber wird derzeit kontrovers gestritten. Dafür spricht sich etwa die französische Regierung aus:Frankreich deckt seinen Strombedarf zu mehr als zwei Dritteln aus Atomkraftund will sogar noch neue Reaktoren bauen. Die deutsche Bundesregierung hält dagegen nach aktuellem Stand weiter am Atomausstieg bis zum Ende des Jahres fest – obwohl wegen der Abhängigkeit von russischem Erdgas zuletzt wieder verstärkt über eine längere Laufzeit der letzten drei deutschen Reaktoren diskutiert wurde. Ein Argument der Atomkraftgegner:innen: In kriegerischen Auseinandersetzungen,wie derzeit im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, könne die Sicherheit von Reaktoren nicht garantiert werden. Anfang März hatten russische Soldaten zum Beispiel das größte europäische Atomkraftwerk Saporischschja in der Ukraine beschossen. Gegen Kernkraft spricht aus Sicht ihrer Kritiker:innen auch die ungeklärte Frage nach Endlagern. Darauf gibt Jancovici zwarmit der Planung des Endlagers nahe der ostfranzösischen Gemeinde Bureeine Antwort. Allerdings handelt es sich dabei bisher nur um ein Pilotprojekt, die eigentliche Lagerung des Atommülls hat noch gar nicht begonnen. + + +… alle, die das komplexe Thema Klimawandel einfach, unterhaltsam und in allen Facetten erklärt bekommen wollen. Und die dabei vor allem die Argumente der Atomkraftbefürworter:innen kennenlernen möchten und nicht davor zurückschrecken, die deutsche Energiepolitik mal kritisch von außen zu betrachten. Auch auf andere Klimathemen wie beispielsweise die Ernährung gehen Jancovici und Blain ein, bleiben dabei aber stark auf Frankreich fixiert. Manche Vorschläge wie die Idee, wenige, aber dafür höherwertige Bio-Milchprodukte zu konsumieren, könnten trotzdem auch für deutsche Leser:innen interessant sein – und sei es nur, um für eine lebhafte Diskussion am Esstisch zu sorgen. +"Welt ohne Ende – Vom Energiewunder zum Klimawandel" von Jean-Marc Jancovici und Zeichner Christophe Blain ist im Verlag Reprodukt erschienen. diff --git a/fluter/weltklimarat-faq.txt b/fluter/weltklimarat-faq.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..934e2d7ad3279ff5faef87167327e27297c78a88 --- /dev/null +++ b/fluter/weltklimarat-faq.txt @@ -0,0 +1,17 @@ + +Offiziell heißt der Weltklimarat "Intergovernmental Panel on Climate Change" (kurz: IPCC) – übersetzt: Zwischenstaatlicher Ausschuss für Klimaänderungen. Gegründet wurde das UN-Gremium 1988 vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen und der Weltorganisation für Meteorologie. Anlass waren schon damals immer mehr besorgniserregende Erkenntnisse zum menschgemachten Klimawandel. +Heute gibt es 195 Mitgliedsländer, im Gremium vertreten sind aber nur Wissenschaftler:innen und keine Politiker:innen. Zusätzlich gibt es etwa 170 UN-Institutionen und internationale Organisationen als Beobachtende – darunter sind Verbände der Industrie, die EU, aber auch Umweltschutzorganisationen wie der WWF oder Greenpeace. Im Auftrag des IPCC tragen Forschende aus aller Welt alle fünf bis sieben Jahre den aktuellen Forschungsstand zum Klimawandel zusammen und bewerten ihn aus wissenschaftlicher Sicht. Bisher gab es fünf Sachstandsberichte (1990, 1995, 2001, 2007 und 2014). Der erste Teil des sechsten Berichts ist im August 2021 erschienen;2022 folgen seine zwei weiteren Teile und ein Abschlussbericht. 2007 bekam der Weltklimarat für seine Arbeit den Friedensnobelpreis. + +Rund sechs Jahre arbeiten die Forschenden an den Texten. Im ersten Schritt dürfen die Mitgliedsländer, Beobachterorganisationen und beteiligte Fachleute Themen zum Klimawandel vorschlagen. Auf Basis der Vorschläge wird dann im IPCC-Plenum eine Gliederung beschlossen. Allein dieser Prozess dauerte zuletzt anderthalb Jahre. Danach beginnt die eigentliche Arbeit. Es gibt drei Arbeitsgruppen aus Forschenden. Je nach Umfang arbeiten rund 200 Expert:innen als Autor:innen an jedem Berichtsteil, für besondere Fragen werden viele weitere Fachleute hinzugezogen. +Die erste Arbeitsgruppe beschäftigte sich mit den physikalischen Grundlagen des Klimawandels. Die zweite mit den Folgen des Klimawandels für die Menschen und die Natur und hielt dabei Ausschau nach Möglichkeiten der Anpassung. Die dritte Arbeitsgruppe befasste sich mitpolitischen und technischen Möglichkeiten, den Klimawandel auszubremsen. Eigene Forschung betreibt der IPCC nicht, die Forschenden werten stattdessen viele Tausend Studien sowie Industrie- und Regierungsberichte aus. + +Er beschäftigt sich mit den physikalischen Grundlagen des Klimawandels. Dazu gehören unter anderem Temperaturveränderungen auf dem Land, in der Luft und im Meer, Auswirkungen auf die Gletscher und das Eis, die Ozeane und den Meeresspiegel, sowie Wasser- und Kohlenstoffkreisläufe und Treibhausgase in der Luft. Die Voraussage der Forschenden: Die Erde könnte sich bereits 2030 um 1,5 oder mehr Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit erwärmen, vor allem dann, wenn wir die Treibhausgasemissionen nicht schnell und umfassend verringern. Das Pariser Klimaabkommen würde aktuell also deutlich verfehlt werden, die Prognosen gehen sogar davon aus, dass die Erwärmung um zwei Grad bereits bis 2050 erreicht wird. +Die Erderwärmung hat Folgen für uns alle: Wetterextreme wird es häufiger geben, und zwar überall auf der Welt und mit besondershoher Wahrscheinlichkeit in Afrika und Asien. Außerdem sagt der Bericht voraus, dass der Meeresspiegel wahrscheinlich deutlich steigen wird, im Falle hoher Emissionen bis zu einem Meter bis zum Jahr 2100. Entwicklungen wie diese, die Erwärmung des Ozeans und das Abschmelzen der Eisschilde, seien nicht mehr aufzuhalten. +Im Februar, März und September 2022 erscheinen die restlichen Beiträge der zweiten und dritten Arbeitsgruppe sowie der Abschlussbericht. Die noch ausstehenden Teilberichte befassen sich stärker mit politischen Fragen – wie sich die Folgen des Klimawandels zum Beispiel auf die Wirtschaft einzelner Regionen auswirken oder welchen Einflussder Lebensstil in den Industrienationenauf den Rest der Welt hat. +Ein Berichtsentwurf der Arbeitsgruppe III wurde bereits im Vorfeld von der Organisation Scientist Rebellion geleakt. Die Aktivist:innen befürchten, dass die Schlussfassung durch Politiker:innen verwässert werden könnte. Im Bericht sehen die Autor:innen vor allem Wohlstandsländer in der Verantwortung, ihre Politik zu ändern – immerhin sei der stärkste Emissionstreiber der ständige Anstieg des Bruttosozialprodukts dieser Länder. + +An den Berichten des Weltklimarates arbeiten viele renommierte Wissenschaftler:innen mit. Auch hier gibt es klare Regeln: Die Mitgliedsländer und die Beobachterorganisationen können Expert:innen vorschlagen, daraus stellt der IPCC-Vorstand die Expert:innen-Teams für die einzelnen Kapitel zusammen. Für den aktuellen Bericht waren mehr als 2.800 Forschende nominiert, am Ende wurden 721 Autor:innen aus 90 Staaten ausgewählt. +Bei dem aktuellen Bericht waren 33 Prozent der beteiligten Expert:innen Frauen, 44 Prozent wiederum stammen laut IPCC-Angaben aus "Entwicklungs- und Schwellenländern". Zusätzlich gibt es Hunderte Spezialist:innen, die bei Unklarheiten befragt werden oder dabei helfen, Ergebnisse einzuordnen. Alle Texte werden danach von externen Gutachter:innen geprüft. Eine Bezahlung gibt es für diese Arbeit übrigens nicht, die Forschenden werden von den Instituten ihrer Universitäten oder Forschungseinrichtungen für die Mitarbeit freigestellt und weiterbezahlt oder arbeiten ehrenamtlich – für sogenannte Entwicklungsländer kann der IPCC-Treuhandfonds Mittel bereitstellen. + +Die Berichte des Weltklimarates sind politisch relevant, beinhalten aber keine politischen Empfehlungen, heißt es auf der IPCC-Website. Zu den wissenschaftlichen Zusammenfassungen gibt es auch kürzere Berichte für die Regierungen in aller Welt. Diese "Summarys for Policymakers" werden von allen Mitgliedstaaten und Experten Zeile für Zeile geprüft und verabschiedet. Dadurch genießen diese Berichte eine hohe Akzeptanz in der Politik und bekommen viel Aufmerksamkeit in Medien und Gesellschaft. Dazu kommt, dass alle Aussagen, alle Szenarien von führenden Forschenden ihrer Fachgebiete zusammengetragen und geprüft werden. Durch die genaue Prüfung und ihre eigene Zustimmung können sich die Regierungen am Ende in Sachen Klimaschutz nicht mehr so leicht herausreden. + diff --git a/fluter/weltraumarchitektur-liquifer-interview.txt b/fluter/weltraumarchitektur-liquifer-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..69d044799b1c9555a3c4c57eb9718b16a906826f --- /dev/null +++ b/fluter/weltraumarchitektur-liquifer-interview.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +fluter.de: Wie wird man Weltraumarchitektin? +Barbara Imhof: Durchs Machen. Ich habe in Wien an der Universität für angewandte Kunst beim Architekten Wolf Prix studiert. Er animierte uns, unserem Denken keine Grenzen zu setzen. Später habe ich einen "Master of Space Studies" absolviert. Mittlerweile kann man Weltraumarchitektur studieren, zum Beispiel an der Universität in Houston, Texas. +Waltraut Hoheneder: Wolf Prix hat uns angetrieben, utopisch zu denken, größer, langfristiger. Mich hat das Thema Nachhaltigkeit beschäftigt, das in den 1990ern noch nicht so gängig war,heute aber auch für den Weltraum sehr relevant ist. +Kann man aus der Weltraumarchitektur fürs Bauen auf der Erde lernen? +Imhof: Das Prinzip ist dasselbe: Wir bauen Umwelten für Menschen. Derzeit auf der Erde, später für die Erdumlaufbahn, für den Mond und in weiterer Folge für den Mars. Dabei gibt es drei Überlebensparameter: Luft, Wasser, Nahrung. Lebenswichtige Systeme wie Heizung oder Lüftung müssen im All zwingend in einem Kreislauf geführt werden. Mit diesem Konzept kann man auch ein Gebäude oder eine ganze Stadt planen. Das Konzept der "City As A Spaceship", also einer Erde, auf der wir alle gemeinsam Raumschiffcrew sind und gemeinsam unser Überleben sichern müssen, ist mehr als zehn Jahre alt. +Hoheneder: Das Konzept ist vor allem für Megacitys interessant, die aufwendige Versorgungs- und Entsorgungsstrukturen unterhalten. Man kann sich fragen: Ist das wirklich notwendig? Oder geht das auch autark? In manchen Regionen haben wir so viel Sonne, dass dort mit Solarenergie theoretisch jedes Gebäude so viel Energie erzeugen könnte, wie es verbraucht. +Sie hatten erst diese Woche eine Besprechung mit der Europäischen Weltraumorganisation ESA. Worum ging's? +Imhof:Ums Recycling von Bauelementen.Wir haben zum Beispiel über modulare Boxen gesprochen, die für wissenschaftliche Experimente in der Raumfahrt genutzt werden. Diese Boxen haben Schutzdeckel aus einem hochwertigen Material, werden aber nicht weiterverwendet. Dabei könnte man daraus Trennwände bauen oder Möbel. +Hoheneder: Recycling ist wichtig, weil es so teuer ist, Material in den Weltraum zu bringen. Wir überlegen uns: Welches Material und welche Energie können wir vor Ort nutzen? Aber auch: Welche Teile können wir möglicherweise anderweitig wiederverwenden? +Imhof: Plastikteile zum Beispiel. Wir arbeiten mit zwei deutschen Weltraumfirmen an einer Maschine, in die man Plastik einspeist, um daraus 3-D drucken zu können. +Gibt es Reibungspunkte zwischen Architekt:innen und Ingenieur:innen? +Imhof: Klar. Auf der Erde sind Installationen wie Wasser, Elektrik, Heizung oder Lüftung der Architekturplanung untergeordnet. Im Weltraum ist es genau umgekehrt: Wir arbeiten mit dem Raum, der überbleibt, nachdem alle lebenswichtigen Systeme untergebracht wurden. Der ist manchmal mehr Maschine als Wohnraum. Das wollen wir ändern. +Welche Aspekte müssen Sie dabei bedenken? +Hoheneder: Persönliche Rückzugsräume für die Besatzung sind wichtig. Wir testen in Modellen, wie wir Räume personalisieren können, mit Farben, mit Licht oder Bildern, also Projektionen. Oder auch akustisch: Nicht jeder will mit Vogelgezwitscher aufwachen. +Imhof: Licht ist ein gutes Beispiel. Licht wiegt nichts, kann aber ganz unterschiedliche Raumatmosphären schaffen. Auf der "Internationalen Raumstation" (ISS), die seit mehr als 20 Jahren im All ist, hat unsere Branche dahin gehend viel gelernt: Früher wurde alles vom Boden aus kontrolliert, jetzt versucht man, der Besatzung mehr Kontrolle zu überlassen. Etwa wie stark die Lüftung gerade ist. +Kriegen Sie auch Feedback von den Astronaut:innen? +Imhof: Die testen die Entwürfe mit Modellen oder VR-Brillen, machen aber auch selbst Vorschläge. Etwa beim Schlafsack, den wir designt haben. +Hoheneder: Der ist wie eine Art großes Briefkuvert, in das man sich reinsteckt. Der Schlafsack wird befestigt, damit die Astronaut:innen während des Schlafs nicht abtreiben. In der Schwerelosigkeit nimmt man eine andere neutrale Körperhaltung an, eine Art Embryonalstellung. Deswegen haben wir in unserem Schlafsack mehr Raum gelassen. Und es gibt eine Kapuze, einfach weil man es von der Erde gewohnt ist, mit einem Kissen zu schlafen. +Welche Rolle spielen eigentlich private Raumfahrtunternehmer wie Elon Musk für Ihre Arbeit? +Imhof: Die NASA hat immer viele Technologien selbst entwickelt, die ESA nicht. Sie hat Aufträge an die einzelnen Mitgliedsstaaten und deren Industrie verteilt. Kommerzielle Anbieter gab es in Europa also schon immer. Man muss aber auch sagen: Musks Unternehmen SpaceX hat den Markt durch ein völlig anderes Preisniveau revolutioniert, sie sind effizienter und billiger. Aber schlussendlich fliegt Musk seine Dragon-Kapseln durch opulente NASA-Aufträge auch dank Steuergeldern durchs All. +Werden Menschen in 50 Jahren auf dem Mond leben? Oder sogar auf dem Mars? +Imhof: Die chinesische Raumfahrtbehörde, deren Zeitplan bisher perfekt funktioniert hat, wird in den frühen 2030er-Jahren Menschen auf den Mond schicken. Dann werden andere Nationen und Kooperationen wohl nachziehen. Ob es gelingt, eine nachhaltige Basis aufzubauen, so wie eine Forschungsstation in der Antarktis, weiß ich nicht. Aber möglich ist es. +Hoheneder: 50 Jahre – das halte ich für sehr wahrscheinlich. +Imhof: Wenn man auf dem Mond eine nachhaltige Basis aufbauen kann, ist man auch dem Mars einen Riesenschritt näher. Dann muss man eigentlich nur noch die Reise bewältigen. Das könnte noch im Folgejahrzehnt passieren. +Frau Imhof, Frau Hoheneder, was würden Sie machen, wenn Sie nicht Weltraumarchitektinnen wären? +Imhof: Ich habe mir nie was anderes als Architektur vorstellen können. +Hoheneder: Ich bin da, wo ich hinwollte: in der Forschung. Schade nur, dass ich nicht 2.000 Jahre alt werden kann, um alle technischen Entwicklungen zu erleben. + +Das Titelbild zeigt den Entwurf einer Mondsiedlung, deren Einzelelemente durch 3-D-Druckverfahren hergestellt würden. (Credit: RegoLight Consortium, Visualisierung: LIQUIFER) diff --git a/fluter/weltrechtsprinzip-syrien-klagen-jarmuk.txt b/fluter/weltrechtsprinzip-syrien-klagen-jarmuk.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..be260f1cd557e9eef7e4810a5f7edd1e3b63ee94 --- /dev/null +++ b/fluter/weltrechtsprinzip-syrien-klagen-jarmuk.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Im Februar dieses Jahres verurteilte das Berliner Kammergericht Moafak D. zu lebenslanger Haft. Er war einer der Assad-treuen Milizionäre, die Jarmuks Belagerung durchgesetzt hatten. Das Gericht sieht es als bewiesen an, dass Moafak D. im März 2014 mit einem Granatwerfer in eine unbewaffnete Gruppe von Zivilist*innen schoss, die für Lebensmittelpakete anstanden. Mindestens vier Morde und zwei versuchte Morde soll Moafak D. an diesem Tag begangen haben. Laut Urteil ist der Angriff mit einer militärischen Waffe auf Zivilist*innen ein schweres Kriegsverbrechen. +Ammar Hajou überlebte D.s Attacke schwer verletzt. Und trat acht Jahre später als Nebenkläger im Prozess gegen Moafak D. auf. Am achten Prozesstag im September 2022 erzählte Hajou im Berliner Gerichtssaal, was er in Jarmuk erlebt hat. Die Bundesanwaltschaft zeigte auch das Video von ihm auf der Krankenliege. Mehr als drei Stunden lang beantwortete Hajou die Fragen der Anwält*innen und Richter*innen. Er und die anderen Zeug*innen hatten das Gericht an den insgesamt 33 Prozesstagen immer wieder angehalten, die Verbrechen von Moafak D. nicht isoliert zu sehen, sondern im Zusammenhang mit der Belagerung: Die Überlebenden berichteten, wie sehr sie Hunger gelitten hatten, wie vollständig sie der Gewalt der Milizen ausgeliefert gewesen waren. "Die Menschen haben Katzen und Hunde gegessen, Gras und Kakteen. Es gab keine Medikamente. Wer verletzt wurde, starb meistens", erzählt Hajou knapp vier Monate nach Prozessende.Verurteilt wurde Moafak D.letztlich nicht für die Belagerung, sondern für seine Einzeltat, den mehrfachen Mord. +Während des Prozesses saß Ammar Hajou still im holzgetäfelten Saal, den Oberkörper auf dem Tisch abgestützt, den Blick oft ins Leere gerichtet. Beim Besuch in seiner Wohnung in Salzgitter ist der 49-Jährige dagegen lebhaft und gesprächig. Wenn Hajou erzählt, schwört er häufig zu Gott und betont, dass er nicht übertreibe. Auch er selbst habe Katzen gegessen, sagt er nüchtern, während seine Frau Kaffee und Gebäck auf den Wohnzimmertisch stellt. +Hajou und seine Frau sind staatenlose Palästinenser*innen, beide sind in Jarmuk aufgewachsen. Wie viele andere flüchteten sie Ende 2012, als das Assad-Regime ihr Viertel aus der Luft bombardierte. Nur 18.000 der 160.000 Bewohner*innen blieben. Hajou kehrte allein zurück, um als Sanitäter zu arbeiten. Als Jarmuk von der Außenwelt abgeschnitten wurde, im Juli 2013, wusste er nicht, dass er seine Frau und seine zwei kleinen Kinder für Monate nicht sehen würde, obwohl sie in derselben Stadt lebten; dass er in einem Lager gefangen sein würde, das der ehemalige UN-Generalsekretär Ban Ki-moon die "tiefste Hölle" nannte. +Ab Anfang 2014 verteilten die UN Hilfsgüter. Doch die Ausgabe wurde von den Milizen kontrolliert, die Jarmuk belagerten. Wer Pakete holen ging, begab sich in Lebensgefahr, erzählt Hajou, viele seien festgenommen oder beschossen worden. "Die Lebensmittelpakete hießen bei uns ‚Kartons des Todes'." Aber wenn der Hunger zu groß wurde, hätten die Bewohner*innen das Risiko in Kauf genommen. +An jenem Märzmorgen ging auch er zur Hilfsgüterverteilung am nördlichen Rand des Viertels. Hajou wartete Stunden. Auf dem Heimweg, das Paket in den Armen, er hatte den Milizionären schon den Rücken gekehrt, hörte er ein Sausen, dann eine Explosion. Hajou spürte, dass ihn etwas Scharfes am Bein getroffen hatte, und stürzte zu Boden. Aus seiner Zeit als Sanitäter wusste er, was zu tun war, und zwar schnell: Er band die Wunde mit einem Kabel ab, ein herbeigeeilter Mann schob ihn auf dem Fahrrad ins Krankenhaus. Hajou überlebte. Aber er schaffte es erst 2015, aus dem besetzten Lager zu fliehen. +Zu dem Zeitpunkt kontrollierteder sogenannte Islamische StaatJarmuk. Heftige Straßenkämpfe mit der syrischen Regierung verschlimmerten die Lage für die Bevölkerung. Er und seine Familie seien über die Türkei nach Deutschland geflohen, erzählt Hajou. Dort habe er von Freunden gehört, dass Moafak D. in Berlin sei. "Ich kannte ihn aus Jarmuk, er ging dort ein und aus." Schon direkt nach dem Angriff habe man im Viertel darüber gesprochen, dass Moafak D. der Täter sei. +Hajou wandte sich an den syrischen Anwalt Anwar al-Bunni, der die deutschen Behörden bei ihren Ermittlungen zu Syrien unterstützt. Al-Bunni vermittelte Hajou an die Bundesanwaltschaft, die ihn befragte. Schließlich entschied er, sein Recht als Opfer der Tat in Anspruch zu nehmen: Hajou wurde im Prozess gegen Moafak D. zum Nebenkläger. +Seit Jahren setzen sich deutsche Gerichte mit Verbrechen auseinander, die seit Beginn der Massenproteste gegen Präsident Baschar al-Assad in Syrien 2011 begangen wurden. Solche Prozesse fußen auf dem Weltrechtsprinzip. Das erlaubt allen Staaten, Kernverbrechen des Völkerstrafrechts vor Gericht zu bringen, auch wenn sie nicht an oder von ihren Staatsbürger*innen (Personalitätsprinzip) oder auf ihrem Staatsgebiet (Territorialprinzip) verübt wurden. Der Gedanke dahinter : Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression (etwa ein Angriffskrieg) wiegen so schwer, dass sie die Weltgemeinschaft als ganze betreffen. +Bislang haben sich diese Prozesse vor allem mit (mutmaßlichen) Täter*innen befasst, die in Deutschland leben. Denn für einen Prozess muss der Angeklagte anwesend sein, und Staaten wie Deutschland ist es wichtig, Völkerrechtsverbrecher*innen keine Zuflucht zu bieten. +Mit den Verfahren gegen syrische Kriegsverbrecher nimmt Deutschland eine besondere Rolle ein. Denn für die Gewalttaten in Syrien gibt es keine umfassende Strafverfolgung. Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag werden durch Länder wie Russland und China blockiert. Die Bundesanwaltschaft betonte im Rahmen eines Prozesses in Koblenz, dass es Deutschland aufgrund seiner historischen Verantwortung wichtig sei, Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht hinzunehmen. 2020 wurden dort vor dem Oberlandesgericht zwei ehemalige syrische Geheimdienstmitarbeiter wegen Folter und Mordes an politischen Gefangenen angeklagt und später wegen ihrer Beteiligung an Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. In Frankfurt steht seit Januar 2022 ein syrischer Arzt vor Gericht, der Gefangene gefoltert haben soll. +Die Prozesse sind wichtige Signale, dass Kriegsverbrecher*innen überall auf der Welt Strafverfolgung droht, findet Ammar Hajou. Seit der Belagerung habe er die Freude am Leben verloren, erzählt er in Salzgitter. Er leide bis heute unter den körperlichen und psychischen Folgen. Aber der Prozess und das Urteil hätten ihn stolz gemacht. +Ob die Prozesse in Syrien ähnlich aufgenommen wurden, ist schwer zu sagen. Sich im Land dazu zu äußern ist lebensgefährlich. Das Regime scheint genau hinzusehen: Laut eigener Aussage wurden Angehörige von Zeug*innen aus den Verfahren in Koblenz und Frankfurt vom Geheimdienst bedroht. In der Diaspora sind die Gefühle gemischt: In den sozialen Medien sehen viele keinen Sinn in den Verfahren, solange Assad an der Macht bleibt; anderen bedeutet es viel, dass das Unrecht teilweise aufgearbeitet wird und so eine offizielle Geschichte geschrieben wird, die der Propaganda des Assad-Regimes widerspricht. Sie hoffen, dass all die gesammelten Beweise eines Tages genutzt werden können, um auch die höchsten Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. +Zehn Jahre ist es her, dass Jarmuk abgeriegelt und seine Bewohner*innen systematisch ausgehungert wurden. Auch das sei ein Kriegsverbrechen, sagt Hajou, und die Täter seien bekannt. Das syrische Regime, seine Armee und Geheimdienste, palästinensische und irakische Milizen, die Hisbollah, wieder und wieder zählt Hajou die Verantwortlichen auf. Bislang wurde niemand für die Belagerung verurteilt. Aber einige der Täter, da ist Hajou sicher, sind in Europa. diff --git a/fluter/weltumseglung-meeresungeheuer.txt b/fluter/weltumseglung-meeresungeheuer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/weltweit-goethe.txt b/fluter/weltweit-goethe.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/weltweite-stiftungen.txt b/fluter/weltweite-stiftungen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..684c3def7cf29a95d0b3048758e64ac506734e81 --- /dev/null +++ b/fluter/weltweite-stiftungen.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Bill Gates und der Großspender Warren Buffett haben 2010 die Kampagne "The Giving Pledge" gestartet. Sie will insbesondere Wohlhabende dazu motivieren, den größten Teil ihres Vermögens für mildtätige Zwecke zu spenden. Der indische Magnat und Investor Azim Premji, dem sein ITDienstleister Wipro ein Privatvermögen von aktuell geschätzten gut 13,5 Milliarden Euro beschert hat, hat ebenfalls "The Giving Pledge" unterzeichnet. Reich zu sein reize ihn nicht, sagte Premji und stattete seine Foundation mit 1,9 Milliarden Euro aus. Die Stiftung finanziert Programme zur Ausbildung indischer Lehrer und stattet Grundschulen in ländlichen Regionen, wo mangels Material oft kein Unterricht stattfinden kann, mit Tafeln, Tischen oder Büchern aus. Seit 2010 betreibt die Premji Foundation in Bangalore sogar eine eigene Universität, an der Studenten unter anderem Pädagogik, Verwaltungswissenschaften oder Biologie studieren können. Premjis großes Ziel: die Bildung in seinem riesigen Heimatland verbessern. +Stiftungen sind allerdings keineswegs immer dazu da, der Allgemeinheit Gutes zu tun. So hatte der Aldi-Gründer Karl Albrecht etwas anderes im Sinn, als er 1973 im oberbayerischen Eichenau die Siepmann- Stiftung gründete, benannt nach dem Mädchennamen seiner Mutter. Seine Stiftung fällt unter den Fachbegriff "privatnützig", da nur Privatpersonen von ihr profitieren. Denn sie verwaltet das Vermögen des Aldi-Konzerns aus der südlichen Hälfte Deutschlands – inklusive der Konzernzentrale von Aldi Süd und circa 5.000 Aldi-Süd-Filialen weltweit. Zweck der Stiftung ist es, "die gemeinsamen Interessen der Angehörigen der Familie Albrecht zu wahren und zu fördern". Als Albrecht 2014 mit 94 Jahren starb, hinterließ er geschätzte 20 Milliarden Euro – vermutlich der größte Nachlass, der je in Deutschland vererbt wurde. Durch die Stiftung haben seine Erben jedoch keine Chance, das ganze Geld zu verjubeln: Die Stiftung überweist ihnen lediglich Unterhalt, das Unternehmen bleibt in Stiftungshand. Karls Bruder Theo, 2010 gestorben, hielt es im Norden Deutschlands ebenso mit seiner Markus-Stiftung. +Noch raffinierter ging der milliardenschwere Schwede Ingvar Kamprad vor, der ein riesiges Vermögen mit seinen Ikea-Möbelhäusern gemacht hat. Im Jahr 1982 hob er in den Niederlanden die Stichting INGKA Foundation aus der Taufe. Ursprünglich war es offizieller Zweck der Stiftung, "Innovationen auf dem Feld der Architektur und der Inneneinrichtung zu fördern und zu unterstützen". Eigentlich aber ist sie Eigentümerin der meisten Ikea-Möbelhäuser und darum eine der reichsten Stiftungen weltweit. Genaue Zahlen? Gibt es nicht. Denn die Stiftung hilft Ikea – zusammen mit einem undurchschaubaren Geflecht aus weiteren Gesellschaften in Steuerparadiesen wie Luxemburg oder Liechtenstein –, Gewinne zu verlagern und Steuern zu vermeiden. Steuereffizienz sei schließlich "ein natürlicher Teil der Niedrigkostenkultur des Unternehmens", erklärte Kamprad einst ungerührt. Nachdem es vor einigen Jahren Proteste hagelte, spendet die Stiftung inzwischen Geld für das Flüchtlingslager Dadaab in Kenia oder an verschiedene UN-Organisationen – und erspart dem Möbelkonzern nebenbei jedes Jahr einen Riesenhaufen an Steuern. diff --git a/fluter/wem-gehoert-der-wald.txt b/fluter/wem-gehoert-der-wald.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..023849238180648880a1fde565adb41ef60a044e --- /dev/null +++ b/fluter/wem-gehoert-der-wald.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Noch im Mittelalter durfte sich jeder im Wald bedienen, Holz schlagen, Pflanzen ausreißen oder Tiere jagen. Irgendwann nahmen die Wälder dadurch Schaden, die Nutzungsrechte wurden eingeschränkt, die Besitzverhältnisse geklärt. Einen guten Teil des Waldes beanspruchten die Könige für sich und vergaben Lehen an geistliche und weltliche Herrscher. Bis heute gehören manche Adelshäuser zu dengrößten Waldbesitzern: Die Thurn und Taxis haben 20.000 Hektar, die Fürstenbergs 18.000 und die Hohenzollern 15.000. +AlsErfinderdes nachhaltigen Umgangs mit dem Wald gilt Hans Carl von Carlowitz. In seinem Buch "Sylvicultura Oeconomica" (1713) schreibt der Kenner des Forstwesens, dass es wichtig sei, zu wissen, "wie eine sothane Conservation und Anbau des Holtzes anzustellen / daß es eine continuierliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe". Nutzen und Schützen gilt seitdem als Grundsatz der Forstwirtschaft. +Immer wieder ist der Wald auch ein Politikum. Als Folge von durch Luftverschmutzung verursachtem sogenannten sauren Regen wird 1979 in Deutschland das Waldsterben prophezeit, was der Ökologiebewegung großen Zulauf von Naturfreunden beschert. Um den Waldbestand zu schützen, fördert der Bund aufwendige Kalkbehandlungen der Waldflächen. Teil der Schutzmaßnahmen sind seit 1986 auch die Bundeswaldinventuren (BWI). Dabei wird etwa alle zehn Jahre untersucht, wie es um die Wälder steht. Im Jahr 2012 hat die letzte Inspektion unter anderemgezeigt, dass insbesondere der Bestand an Fichten im Vergleich zu 2002 zurückgegangen ist. Gründe hierfür sind Stürme, Insekten und die durch den Klimawandel zunehmende Trockenheit. Nicht gut für die Holzindustrie, denn die Fichte ist ihr wichtigster Baum. "Um diese Entwicklungen zu beobachten, läuft gerade eine kleine Inventur, die Ergebnisse gibt es Anfang 2019", sagt Heino Polley, wissenschaftlicher Koordinator der BWI. +Der Schutz des Waldes soll nicht nur Spaziergängern und Pilzsammlern zugutekommen, er sorgt auch dafür, dass mit dem Holz Geld gemacht wird. Die Holzwirtschaft setzt jährlich 180 Milliarden Euro um. Und damit der Bau- und Brennstoff nicht ausgeht, muss sorgfältig aufgeforstet werden. +Die wenigsten Waldbesitzer können vom Holzverkauf leben, denn im Schnitt gehören jedem nur drei Hektar. "Viele schließen sich in Forstbetriebsgemeinschaften oder zu Forstgenossenschaften zusammen", erklärt Michael Blaschke vom Landesbetrieb "Wald und Holz NRW". Der Wald verpflichtet seine Besitzer schließlich zur nachhaltigen Pflege. Wer sich davon nicht abschrecken lässt, kann Wald relativ günstig erwerben: Den Quadratmeter bekommt man für rund zwei Euro. Aber warum sollte man ihn kaufen, wenn man das Naturerlebnis völlig umsonst haben kann. + +Titelbild: Malte Jaeger/laif diff --git a/fluter/wen-waehlen-junge-italiener-ins-parlament.txt b/fluter/wen-waehlen-junge-italiener-ins-parlament.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..413841a0cfef0e2911c557e32baef120a44c1938 --- /dev/null +++ b/fluter/wen-waehlen-junge-italiener-ins-parlament.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +Die konservative "Forza Italia", die rechtspopulistische "Lega" und die nationalistische Partei "Fratelli d'Italia" (Brüder Italiens) haben sich zu einem losen Bündnis zusammengetan – angeführt vom ehemaligen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi. Der 81-Jährige darf zwar aufgrundseiner Verurteilung wegen Steuerhinterziehung kein öffentliches Amt bekleiden. Eine entscheidende politische Rolle spielt er aber trotzdem. + +Am 24. Februar fanden in vielen italienischen Städten Demonstrationen statt, in Mailand unter anderem eine Anti-Migrations-Kundgebung mit dem Slogan "Zuerst die Italiener". Geht gar nicht, fanden linke Aktivisten (Foto) und organisierten einen Gegen-Marsch + +Gute Chancen, die Wahl zu gewinnen, werden außerdem der europakritischen Fünf-Sterne-Bewegung eingeräumt. Auch sie wird aber einen Koalitionspartner brauchen. Wer das sein könnte, ist noch offen. "Wir werden die passenden Entscheidungen am Tag nach der Wahl treffen", sagte der Komiker Beppe Grillo, Gründer der Partei, der Deutschen Presse-Agentur. +Die linken Parteien sind in Lager zersplittert. Aus Matteo Renzis Mitte-Links-Bündnis "Partito Democratico (PD)", das bisher regierte, sind Mitglieder ausgetreten und haben eine eigene Partei gegründet: "Frei und Gleich (Liberi e Uguali)". Sie ist weiter links angesiedelt als die Partito Democratico, will sich auf den Arbeitsmarkt konzentrieren und Arbeitsmarktreformen rückgängig machen. +Wir haben uns in Mailand umgehört: Was erhoffen sich junge Leute von den Kandidaten? Und welche Veränderungen wünschen sie sich für ihr Land? + +Dario, 25, studiert Statistik +Weil ich gerade sehr viel für mein Studium machen muss, habe ich mich erst in den letzten Tagen näher mit den aktuellen politischen Fragen und den Parteiprogrammen beschäftigt. Ich war mir aber schon vorher ziemlich sicher, wen ich wählen werde. Die Demokratische Partei ist für mich die am wenigsten schlechte Option. Mir graut vor der Vorstellung, dass Matteo Salvini von der Lega eine tragende Rolle in der Regierung spielen könnte. Die Fünf-Sterne-Bewegung mag ich auch nicht, vor allem wegen ihrer unklaren Haltung gegenüber eingetragenen Partnerschaften. Was die Einwanderungsthematik betrifft, bin ich zwiegespalten. Das belastet mich. Auf der einen Seite stimme ich denen zu, die sagen, dass wir nicht alle Menschen unterbringen können. Illegale Einwanderung zu stoppen ist meiner Meinung nach auch eine Möglichkeit, gegen Schlepper vorzugehen. Auf der anderen Seite weiß ich auch, dass wir einem globalen Phänomen gegenüberstehen. Es lässt sich nur gemeinsam lösen. + + +Alessandra, 23, studiert Fremdsprachen +Ich werde für die Lega stimmen, wegen ihrer Vorschläge im Bereich Sicherheit. In letzter Zeit häufen sich die Einbrüche in der Stadt, in der ich lebe. Bei mir zu Hause waren wir gezwungen, Gitterstäbe an die Fenster zu montieren. Die Bürger haben Angst. Ich lebe in Legnano, einer Stadt mit 60.000 Einwohnern, rund 30 Kilometer von Mailand entfernt. Aber ich empfinde dieses Gefühl der Unsicherheit auch in Mailand, und ich denke, es hängt alles mit der unkontrollierten Einwanderung zusammen. Natürlich sind nicht alle Kriminellen Einwanderer, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass das Leben in Italien vor fünf oder sechs Jahren sicherer war. Ich gehe davon aus, dass Salvini und die Lega etwas tun werden, um die Situation zu verbessern. + + +Nicolò, 26, ist Optiker +Meiner Meinung nach ist die politische Elite unser größtes Problem. Sie hat sich immer nur um ihre eigenen Interessen gekümmert. Für mich steht deshalb ganz klar fest, dass ich nicht die alten Parteien wählen werde. Ich möchte mich nicht weitere fünf Jahre ekeln. Ein System, das nicht funktioniert, muss eines tun: alles löschen und neu starten. Deshalb werde ich wahrscheinlich für die Fünf-Sterne-Bewegung stimmen. Ich habe das Glück, eine Arbeit gefunden zu haben. Es ist zwar nicht mein Traumjob, aber wenn ich mir die Jugendarbeitslosigkeit so ansehe, schätze ich mich sehr glücklich. Was Einwanderung betrifft, glaube ich, dass wir – die Italiener – das Problem sind. Ich will kein Comeback des Faschismus. Ich würde es nicht ertragen, dass sich hier Rassismus ausbreitet. Wenn Berlusconi und Matteo Salvini gewinnen werden, überlege ich mir auszuwandern. Kein Witz! + + +Beatrice, 23, studiert Recht +Ich wähle 100-prozentig Mitte-Rechts. Aber ich bin noch ein wenig unentschlossen, welche Partei genau. Einige Standpunkte der Lega sind für mich wirklich unerträglich, zum Beispiel ihre Abneigung gegenüber obligatorischen Impfungen. Wenn wir die Zahlen und Statistiken zu Infektionskrankheiten anschauen, sind sie ganz einfach notwendig. Also werde ich Forza Italia wählen. Was ich über Silvio Berlusconi denke? Er ist alt und nicht mehr als ein Aushängeschild. Er kann ja nicht selbst antreten. Ich stimme nicht seinetwegen für Forza Italia. Ich glaube, dass Einwanderung ein echtes Problem ist, vor allem, wenn es darum geht, wie sicher wir uns fühlen. + + +Alessandro, 25, arbeitet im Finanzwesen +Ich bin enttäuscht vom System und vom allgemeinen Tonfall in den Wahlkampagnen, deren Niveau Tag für Tag sinkt. Ich habe mich noch nicht entschieden, werde aber wohl das kleinste Übel wählen. Es gibt eine politische Partei, die ich zumindest nicht ablehne: "+Europa", angeführt von Emma Bonino. Aber finde nicht gut, dass sie sich dafür entschieden hat, eine Koalition mit Matteo Renzis Demokratischer Partei einzugehen. Meiner Meinung nach wäre es viel besser, wenn sie alleine angetreten wäre. Ich mag ihre starken und mutigen Kämpfe für Bürgerrechte und dass sie in ihren Aussagen so konkret ist. Und sie verspricht keine utopischen Dinge – im Gegensatz zu den meisten anderen Kandidaten. +Aus dem Englischen übersetzt diff --git a/fluter/weniger-artenreichtum.txt b/fluter/weniger-artenreichtum.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0eeb3d318bbbc16aa12cb40aa12c384833077915 --- /dev/null +++ b/fluter/weniger-artenreichtum.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +"Dies ist die Arche Noah der Samen", sagt Cary Fowler. Der US-amerikanische Agrarwissenschaftler gilt als Vater des Svalbard Global Seed Vault. Sein "globaler Samenspeicher" ist eine Art Rückversicherung für Saatgut- oder Gendatenbanken. In solchen Einrichtungen bewahren Forscher und Züchter weltweit Proben von Pflanzensamen auf. Ihre überschüssigen Samen können sie kostenlos auf Spitzbergen, auf Norwegisch: Svalbard, lagern. Für den Notfall. +In den rund 13.000 Jahren, in denen die Menschheit nun schon gezielt Landwirtschaft betreibt, hat sie über Zucht und Auswahl eine riesige Vielfalt an Nutzpflanzen geschaffen. Diese sind oft perfekt an die lokalen Begebenheiten angepasst. So unterscheiden sich je nach Herkunftsland etwa Kartoffelsorten in ihrer Widerstandskraft gegen Nässe oder Hitze, Schädlinge oder bestimmte Krankheiten. +Das Seed Vault liegt 130 Meter über dem Meeresspiegel. Hier lagern Schätze aus 13.000 Jahren Landwirtschaft +Doch rund um die Erde gehen zunehmend Arten verloren, die Vielfalt wird zur Einfalt. Ein wichtiger Grund: Die Agrarindustrie setzt auf die immer gleichen Sorten. Experten schätzen, dass im vergangenen Jahrhundert weltweit bereits die Hälfte aller Nutzpflanzen verschwunden ist. So waren 1903 in den USA 408 Erbsenarten in Gebrauch, 1983 waren es nur noch 25. Und an lediglich zwölf unterschiedlichen Pflanzen hängt das Gros der globalen Lebensmittelversorgung. +Apropos Artenschutz +Der Artenschutzbericht des Bundesamts für Naturschutz sieht nicht gut aus: Von den rund 71.500 bekannten Tier-, Pflanzen- und Pilzarten hierzulande stehen 32.000 auf den Roten Listen, die Auskunft über das aktuelle Ausmaß ihrer Gefährdung geben. Fast ein Drittel dieser Arten ist bestandsgefährdet, und 5,6 Prozent sind bereits ausgestorben oder verschollen. Weltweit verschwinden jährlich 50.000 Tier- und Pflanzenarten – so viele wie noch nie in der geologischen Geschichte der Erde. Für den Schwund gibt es viele Gründe. Ein wichtiger: die intensive Landwirtschaft mit einigen wenigen Pflanzen- und Tierarten. Weitere Faktoren sind Baumaßnahmen wie neue Wohn- und Gewerbegebiete oder neue Autobahnen. Dazu kommen Fischerei, Umweltverschmutzung oder Freizeitaktivitäten, die Ökosysteme stören. So lassen sich die zahlreichen Faktoren für den Rückgang des Artenreichtums auf einen Verursacher zurückführen: den Menschen. +Hier kommen die weltweit rund 1.750 Saatgutbanken ins Spiel, darunter die deutsche Gendatenbank in Gatersleben im Nordharz. In ihren Gefriertruhen lagern häufig noch Samen von Sorten, die längst nicht mehr genutzt werden. Auf diesen Reichtum können Züchter zurückgreifen, wenn sie neue Sorten erstellen wollen. Im Erbgut der Samen finden sich zahllose Eigenschaften, die in Zukunft vielleicht einmal nützlich sein werden – beispielsweise Immunität gegen bestimmte Schimmelpilze oder Schädlinge, die eines Tages die globale Versorgung mit Reis oder Weizen bedrohen könnten. Der Artenreichtum, den Saatgutbanken verwalten, kann darum den Unterschied ausmachen zwischen Essen und Hungern. "Ohne die Vielfalt, die sich in den Saatgutsammlungen findet, wird die Landwirtschaft scheitern", sagt Cary Fowler. +Doch Naturkatastrophen oder Kriege bedrohen weltweit die Sammlungen, die oft einzigartige Pflanzensamen beinhalten – und noch häufiger schlichter Geldmangel. So galt eine Gen-Datenbank auf den Philippinen wegen ihrer klapprigen Kühltruhen lange als Sorgenkind: Wenn die Kühlung ausfällt, werden die Samen unbrauchbar. Bei solchen Notfällen können Züchter oder Forscher nun auf Spitzbergen Spitzbergen anrufen. Der Global Seed Vault, der überwiegend von der Bill und Melinda Gates Stiftung finanziert wird, lagert die Schätze kostenlos in den Tresorräumen. Und die Eigentümer können ihr Samen- Back-up jederzeit zurückverlangen. +Bis dahin sind die Samen vergleichs weise sicher aufbewahrt. So wurde die insgesamt rund 1.000 Quadratmeter große Anlage in stabilen Sandstein gesprengt. Der eiskalte Fels kann die Samen auch dann vor dem Auftauen bewahren, wenn die Kühlsysteme der Anlage mal ausfallen sollten. Erdbeben sind in der Region keine zu erwarten. +Und nicht zuletzt kommen im abgeschiedenen Longyearbyen nur selten Fremde vorbei, die Böses im Schilde führen. Und wenn doch, würden sie in dem winzigen Kaff schnell auffallen.Die Lage des Seed Vault 130 Meter über dem Meeresspiegel müsste nach Berechnungen von Fowler und seinen Kollegen sogar ausreichen, falls eines Tages sämtliches Eis der Polkappen und Grönlands abgeschmolzen sein sollte. Dann stiege der Meeresspiegel nämlich um 70 Meter. Allerdings ist schon mehrmals Wasser in die Anlage gelaufen, weil ringsum im Permafrostboden kein Permafrost mehr herrscht, er also nicht mehr ohne Unterbrechung gefroren ist. Schon im Eröffnungsjahr 2008 verformte sich dadurch die Stahlummantelung des Eingangstunnels. Und erst kürzlich lief Wasser hinein, das zu Eis wurde. Das mussten Arbeiter dann mühsam mit Spitzhacken entfernen. Künftig aber sollen Gräben und Trennwände jedes Tau- und Regenwasser abhalten. Sicher ist sicher. + + diff --git a/fluter/weniger-ist-mehr-0.txt b/fluter/weniger-ist-mehr-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..13dbf1d263f9a12e0580eb4d4c224bf6a6089f26 --- /dev/null +++ b/fluter/weniger-ist-mehr-0.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +In ihrem Styleguide "Pariser Chic", 2011 auf Deutsch veröffentlicht, verspricht Madame de la Fressange, ihre Leser/innen in die Geheimnisse und die Praxis der schicken Pariser/innen einzuweihen. Sie selber hat die kurzen Texte geschrieben, die Illustrationen gezeichnet und die Fotos geschossen, die ihre Lieblingsboutiquen zeigen – ein Shoppingführer darf in diesem Buch natürlich nicht fehlen. Mit Nine d'Urso, einer ihrer zwei bildhübschen Töchter, wurden die Styling-Tipps inszeniert. Es sind Fotos aus der Tele-Perspektive, wie sie gute Paparazzis von Promis schießen – oder Modeblogger von schicken Passanten. +Die wichtigsten Grundsätze des Pariser Chics sind schnell erklärt: Ein Edelteil mit Billigwaren und Altem mischen, nie ein Label von Kopf bis Fuß, Dunkelblau oder Weiß geht immer. Wichtiger als Makeup ist die tägliche akkurate Körperpflege. Wer sich wohl fühlt, bewegt sich besser und spürt instinktiv, was ihm oder ihr steht. +Inès de la Fressange im Büro des Modeschöpfers Roger Vivier in Paris + +Kurz: Es geht um einen Look, der mühelos aussieht, es aber nicht unbedingt ist. Oder, wie Inès de la Fressange es ausdrückt: "Temps en temps, moins, c'est mieux." Mitunter ist weniger mehr. Das gewisse Etwas – "un certain je ne sais quoi" – stellt sich, mit Glück, dann von selber ein. +Grundlage dieses Looks ist die Reduktion. Als "die sieben Klassiker" einer Pariser Garderobe nennt de la Fressange Männerjackett, Trenchcoat, dunkelblauen Pullover, Tanktop, kleines Schwarzes, Jeans und Lederjacke. Die meisten dieser Sachen kauft man, meint das Model, besser in der Herrenabteilung – oder im besseren Second-Hand-Geschäft. +Es ist also kein Zufall, dass Nine d'Urso die "Key Pieces" förmlich um den schmalen Leib zu flattern scheinen. Das soll so aussehen. Erst mit den Accessoires wird daraus ein femininer Look: einer ausgesuchten Handtasche, Lippen in Chanels klassischem "New York Red", dezentem Schmuck. Funktionieren soll das, laut de la Fressange, für praktisch jedes Alter. +In Frankreich wird der "mühelose Schick" von Kindesbeinen an geübt und gefördert. Französische Kinder werden von ihren Eltern dazu angehalten, sich ein Auge für Farben und Proportionen zu erarbeiten. Im Zweifelsfall machen konservative, zurückhaltende Farben das Rennen – auf keinen Fall jedoch "Rosa für Mädchen, Hellblau für Jungs"! Agnes B. war die erste Designerin, die in den 1970er-Jahren Kinder komplett in Schwarz ausstaffierte. Ein Affront damals – und eine Super-Idee, findet Inès de la Fressange. +Nine d'Urso, die Tochter der Autorin, trägt einen klassischen Trenchcoat + +Eine reduzierte Grundgarderobe, auch "Capsule Wardrobe" oder "10 Item Wardrobe", genannt, ist im Netz zurzeit ein heißes Thema. Der "Pariser Chic" steht Pate dafür. Auf zahlreichen Modeblogs geht es darum, wie der Kleiderschrank ausgemistet werden kann, was die ein, zwei Must-Haves der Saison sind und wie man Raw Denim, also unbehandeltes Denim ohne Stretchzusätze – gerne bei A.P.C. im superhippen Stadtviertel Saint Germain des Pres gekauft – pflegt. Man kann ziemlich sicher sein, dass die Mehrzahl dieser Blogger und Bloggerinnen im Bioladen einkauft und weiß, welche Makeup-Produkte ohne Tierversuche hergestellt werden. +Oft ist der Blick von außen nicht der Schlechteste. Eine der begabtesten Bloggerinnen zum Thema Pariser Stil ist jedenfalls Dead Fleurette. Wie sie selber angibt, ist sie eine zwanzigjährige Norwegerin, die in Oslo als Klavierlehrerin arbeitet. So oft sie kann, fährt Dead Fleurette nach Paris. Ihre Kleidung ersteht sie möglichst ausschließlich dort. +Ihr Blog ist nicht gerade lustig, denn sie verfolgt eine Mission: "Im Mittelpunkt dieses Blogs steht der Aufbau einer Grundgarderobe, das Streben nach Perfektion, Qualität statt Quantität, Konsumkritik, zeitlose Ästhetik und persönlicher Stil." Ach ja, diese ernsthafte junge Dame hat auch ein Motto: Es ist, nicht verwunderlich, "weniger ist mehr". +Dass der reduzierte Look auch mit einer gewissenhaften Körperpflege, Ernährung, Inneneinrichtung, kurz: mit einer äußerst bewussten Lebensführung einhergeht – alles auch Themen in dem Buch von Inès de la Fressange –, hat die amerikanische Bloggerin Jennifer L. Scott bestens verinnerlicht. In ihrem You-Tube-Channel konzentriert Scott sich vor allem auf "Le No Makeup Look", die reduzierte französische Gesichtsbemalung. Ihr Jahr bei einer großbürgerlichen Familie in Paris, das ihren grundamerikanischen Lebensstil gründlich auf den Kopf stellte, beschrieb sie in ihrem mit autobiographischen Anekdoten gespickten Sachbuch "Lessons from Madame Chic". +Das in Eigenregie verlegte Buch, dass es für eine Hand voll Dollars auch als E-Book gab, brachte ihr Glück: Diesen Herbst erscheint ihr französisch inspirierter Style-Führer beim New Yorker Verlag Simon & Schuster. Ein garantierter Bestseller. Die hymnische Buchvorstellung in der New York Times – merke: die Buchrezension zu einer selbstverlegten Publikation! – wird da geholfen haben. +In Zeiten der Dauerverfügbarkeit von Waren scheinen viele Menschen nach Orientierung zu suchen. Der "Pariser Chic" ist nichts Neues, wird zurzeit aber umfassender rezipiert. Mit seinem Minimalismus trifft er den Nerv der Zeit. +Das haben nicht nur Inès de la Fressange, Jennifer L. Scott oder Dead Fleurette erkannt. Schon die amerikanische Journalistin Ellen Wallace, die Dead Fleurette in ihrem Blog zitiert, hat mit ihremCosmopolitan-Artikel "Secrets of French Girls", nach umfassender Recherche in Paris 1982, erkannt, worauf es ankommt. +Warum bloß, fragt Wallace sich konsterniert, sehen die Französinnen, egal welchen Alters, immer so gut aus? Was ist ihr Geheimnis? Pascale, eine Restaurantmanagerin, erklärt es ihr: "Eleganz ist etwas anderes als Schick. Eleganz hat mit Geld zu tun, mit Freizeit, Erziehung und Bildung. Die schicke Frau sieht natürlich aus, nicht aufgedonnert. Chic hat nichts mit Geld zu tun. Chic bedeutet, dass es, von Kopf bis Fuß, ein Gefühl für Proportionen gibt." +Stephanie Wurster ist freie Autorin und fluter.de-Redakteurin. Sie findet die Idee der "10 Item Wardrobe" inspirierend, aber sehr schwer umzusetzen. diff --git a/fluter/weniger-ist-mehr.txt b/fluter/weniger-ist-mehr.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..78e6cee025e09cc106228bc3d751a3de69118fc1 --- /dev/null +++ b/fluter/weniger-ist-mehr.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Während an der Frühstückstafel in ständig wechselnden Zusammensetzungen miteinander geredet wird, starren die meisten der übrigen Cafébesucher an den Tischen ringsum konzentriert auf ihre Laptops. Durch eine massive Tür neben dem Tresen gelangt man zu einem alten Lastenaufzug, der zu den weitläufigen Gemeinschaftsbüros in den oberen Etagen führt, wo rund 200 Kreative aus den verschiedensten Disziplinen ihren Projekten nachgehen. "Co-Working-Space" nennt man das, wenn Freiberufler, Existenzgründer und Jungunternehmer, die sich kein eigenes Büro leisten können, eine Arbeitsfläche teilen. Die Tische mit den roten Aufklebern sind fest vermietet, die mit den grünen Aufklebern sind gerade frei. Der Mitgliedsbeitrag beläuft sich auf monatlich zehn Euro, ein flexibler Arbeitsplatz ist für zwölf Euro am Tag zu haben. +Allein in Berlin gibt es inzwischen rund 50 Co-Working-Einrichtungen, die nach demselben Prinzip funktionieren, und längst haben Trendgurus das vernetzte Arbeiten außerhalb herkömmlicher Unternehmenshierarchien zum Lebensentwurf der Zukunft ausgerufen. Durch das Buch "Wir nennen es Arbeit" wurde vor ein paar Jahren der Begriff "Digitale Bohème" populär. Er bezeichnet eine Generation von Journalisten, Fotografen, Designern, Architekten, Programmierern und Filmemachern, die über viele Freiheiten verfügen, aber mit unsicheren Einkommensverhältnissen leben müssen: kreative Nomaden ohne festes Gehalt, aber mit ständigem Zugang zum Internet. Berlins Regierender Bürgermeister prägte schon 2003 den Slogan von Berlin: arm, aber sexy. Das brachte ihm nicht nur Beifall ein. Manche warfen ihm vor, er verpasse seiner Schuldenmetropole ein schickes Image und mache sich über Leute lustig, die so eben über die Runden kommen. Tatsächlich ist der Übergang von der Selbstverwirklichung zum Selbstbetrug fließend; so mancher Freiberufler hat den Weg in die Selbstständigkeit nur aus Mangel an Alternativen eingeschlagen und wurstelt nun am Existenzminimum herum. Andere machen ein Praktikum nach dem anderen, oft ohne überhaupt etwas dafür zu bekommen. +Wie kommt man also als digitaler Unternehmer über die Runden? "Puh, das ist eine schwierige Frage", sagt Benjamin Tincq. Der Franzose reist derzeit quer durch Europa, um sein Projekt bekannt zu machen: eine Internetplattform für Leute, die an die unterschiedlichsten Formen von Zusammenarbeit und unkommerziellem Austausch glauben – vom Wohnungstausch übers Lastenfahrrad bis zur Bauanleitung für Kühlschränke. Geld verdient Tincq damit nicht, deshalb hofft er auf eine Förderung durch die EU. Ab und zu hält er Vorträge für Mitarbeiter großer Unternehmen, die etwas über digitale Netzwerke und kollaboratives Arbeiten lernen wollen, dabei kommt ein bisschen was an Honoraren zusammen. Für seine neue Mission hat er einen gut bezahlten Job in einer Beratungsfirma aufgegeben. "Geld ist nicht alles", sagt er. "Ich wollte lieber etwas Sinnvolles machen – etwas, das mir persönlich wichtig ist." +Auch Anthony Forsans gibt sich mit einem vergleichsweise niedrigen Einkommen zufrieden, weil er an seine Sache glaubt. Neun Monate lang haben sein Geschäftspartner und er von einem Gründungszuschuss des Arbeitsamts gelebt, für weitere sechs Monate erhalten sie nun eine Förderung der TU Berlin, die von der EU mitfinanziert wird. "Das reicht für Miete, Wasser und Brot, aber viel mehr ist gerade nicht drin", sagt Forsans. Der studierte Wirtschaftsingenieur hat bei einem renommierten Beratungsunternehmen gekündigt, um ein neuartiges Schließfachsystem zu entwickeln, das sich über Smartphones steuern lässt und in dem man zum Beispiel seine schmutzigen Hemden ablegen kann, damit sie von einem Mitarbeiter einer Reinigung abgeholt werden. Den ersten Prototypen haben die beiden in einer Werkstatt zusammengeschraubt. Ein paar Tausend Euro aus ihren Ersparnissen hat das Ding gekostet, jetzt ist es bereit zum Ausprobieren. +Auch bei Benjamin Emde ist es der Unternehmergeist, der ihn auf vieles verzichten lässt. Kürzlich hat der 25-Jährige seinen Master in IT-Systems Engineering gemacht, seit ein paar Wochen sitzt er nun als Teil eines fünfköpfi gen Teams an einem der Schreibtische und arbeitet am Aufbau einer Website, die Reisenden quer durch Europa dabei helfen soll, möglichst schnell und möglichst günstig von einem Ort zum anderen zu kommen, indem sie gleichzeitig nach Bus-, Bahn- und Flugverbindungen sucht. Programmierer wie Emde sind derzeit gefragt, deshalb hat er in der jungen Start-up-Firma gleich eine Anstellung bekommen; allerdings arbeitet er fast 60 Stunden pro Woche und bekommt dafür deutlich weniger als das Einstiegsgehalt, das in einem großen Software-Unternehmen bei etwa 45.000 Euro im Jahr liegen würde. Emde ist noch so jung, dass er es sich leisten kann, nicht viel zu verdienen. "Es ist ja nicht so, dass ich auf irgendwas verzichten müsste", sagt er. "Mein Lebensstandard entspricht noch dem eines Studenten, und in Berlin kann man auch mit wenig Geld ganz gut auskommen." Viele Start-up-Firmen gibt es nach einem Jahr nicht mehr, doch dieses Risiko geht Benjamin Emde ein. "Bei einem Start-up lernt man als Entwickler viel mehr als in einem alteingesessenen Unternehmen. Wenn ich mich irgendwann mal woanders bewerbe, dann kann ich sagen, dass ich schon mal etwas von Grund auf mit aufgebaut habe. Das ist viel wert." diff --git a/fluter/wenn-beide-eltern-in-der-stasi-aktiv-waren.txt b/fluter/wenn-beide-eltern-in-der-stasi-aktiv-waren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e0608d598cd8ed7a1783667497b9956e798443b9 --- /dev/null +++ b/fluter/wenn-beide-eltern-in-der-stasi-aktiv-waren.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Wie alle Kinder von Stasi-Leuten wächst Thorsten Richter in privilegierten Verhältnissen auf. Die Richters verdienen überdurchschnittlich gut, leben in einer komfortablen Wohnung, haben Telefon, Auto, Wochenendhaus. "Nach außen hin musste immer alles mustergültig aussehen", sagt er. Die Richters sind "Genossen erster Kategorie", Vater und Mutter arbeiten genau wie sein Großvater in der "Firma", so nannte man intern das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). +Mitarbeiter dieser Organisation zu werden, die die DDR gegen innere und äußere Feinde schützen sollte, bedeutete, Teil einer Elite zu sein. Bei den Demonstrationen zum 1. Mai marschiert Thorsten Richter durch seine Heimatstadt. Die anderen winken ins Nirgendwo, aber er hat immer die Tribüne im Blick, auf der sein Opa steht. Der hat noch mit Ernst Thälmann, dem Parteivorsitzenden der KPD von 1925 - 1933, gekämpft und erzählt mit leuchtenden Augen vom Paradies. Im Jahr 2000, verspricht der Opa, werde das Geld abgeschafft. Jeder bekomme das zum Leben, was er braucht. "Wir haben in einer Blase innerhalb der DDR gelebt", sagt Thorsten Richter heute. Bis zum Jahr 1989 habe er keine Sekunde lang Westfernsehen geschaut. +Der Vater ist bei den "Rückwärtigen Diensten", hat mit Immobilien und Logistik zu tun. Die Mutter arbeitet in der Abteilung für "Kader" und kümmert sich um das Personal. Was genau seine Familie bei der Stasi wirklich macht, erfährt er nie. Die Eltern sprechen kaum darüber, denn sie sind ständiger Überwachung und Kontrolle durch den Arbeitgeber ausgesetzt. +Es gibt Spitzel, die nur dazu da sind, andere Spitzel zu überwachen. Wird er in der Schule nach dem Beruf seiner Eltern gefragt, antwortet Thorsten Richter das, was allen Stasi-Kindern aufgetragen wird: "Die sind beim Ministerium des Inneren angestellt." Natürlich ahnen seine Lehrer und Mitschüler, dass das nicht die Wahrheit ist. Sie brauchen ja nur seine Adresse zu sehen, dann ist eigentlich alles klar. In ihrem Haus, einem gerade fertiggestellten Neubau, leben ausschließlich Mitarbeiter des MfS. +Für Thorsten Richter ist durch den Beruf seiner Eltern ein Leben als Außenseiter vorbestimmt. Blättert man durch sein Familienalbum, fällt auf, dass auf keinem Foto andere Kinder zu sehen sind. Spione lauerten überall, die Paranoia der Staatssicherheit machte auch vor den eigenen Kindern nicht halt. Nie darf Thorsten Richter jemanden aus der Schule zum Spielen mitbringen. Freundschaften sind für ihn tabu. Ein einziges Mal ist er zum Geburtstag einer Klassenkameradin eingeladen. Er sei erstaunt gewesen, was für eine liebevolle und lockere Atmosphäre zwischen deren Eltern geherrscht habe, sagt er heute. +Manche Kinder aus Stasi-Familien begehrten auf. Sie begannen zu diskutieren und kritische Fragen zu stellen, hörten Musik aus dem Westen und suchten sich ihre Freunde und Geliebten auch gegen den Willen der Eltern aus. Die Journalistin Ruth Hoffmann beschreibt in ihrem Buch "Stasi-Kinder" zahlreiche Jugendliche aus Thorsten Richters Generation, die den Mut aufbrachten, sich über die Verbote ihrer Familien hinwegzusetzen, und dafür verstoßen und regelrecht kaputtgemacht wurden. Thorsten Richter war jedoch einer von der anderen Sorte. Er funktionierte genau so, wie es von ihm verlangt wurde. Er hatte gute Noten, trieb Sport, glaubte an den Kommunismus und das System der DDR. "Ich war ein richtiges Vieh", sagt Thorsten Richter, wenn er alte Aufnahmen von sich sieht. Muskelbepackt, Flaum auf der Oberlippe, eine große Metallbrille wie der junge Bill Gates. +Die Stasi, "Schild und Schwert der Partei", wächst seit ihrer Gründung im Jahr 1950 kontinuierlich. Alle zehn Jahre verdoppelt sich die Zahl ihrer Mitarbeiter. Der enorme Personalbedarf der Organisation lässt sich ab den 1970er-Jahren nur noch dadurch decken, dass das MfS seinen Nachwuchs verstärkt in den eigenen Familien rekrutiert. Wer hier arbeitet, muss besser als die anderen sein. Tausendprozentig. Ohne Kontakte in den Westen, ideologisch besonders gefestigt, zu bedingungslosem Gehorsam bereit. +Wenn Thorsten Richter über sich als jungen Mann spricht, klingt es manchmal, als rede er über eine komplett fremde Person. In seiner Erzählung wirkt es, als sei er durch sein Leben geschlafwandelt und irgendwann im November 1989 aufgewacht. Wie genau es kam, dass er die Familientradition fortsetzte und nicht nur er selbst, sondern auch noch seine Ehefrau Kerstin*, die er mit 19 heiratete, für die Stasi zu arbeiten begann, das fragt er sich heute. "Ich wollte meiner geliebten DDR etwas Gutes tun. Für den Frieden arbeiten. Die Kapitalisten mit dem Geheimdienst stoppen." Bei den meisten Stasi-Kindern stellten die Eltern im Hintergrund die Weichen und sorgten dafür, dass auch sie in die "Firma" kamen. +Seine Schwester Miriam* fängt 1987 in der Abteilung Postkontrolle an, damals typische Frauenarbeit, pro Tag kontrolliert sie 800 Briefe von DDR-Bürgern. "Eine richtig kranke Sache", sagt sie heute dazu. Thorsten ist für Höheres bestimmt, schon als Jugendlicher nimmt er an paramilitärischen Lagern zur Vorbereitung auf den Eintritt in die Stasi teil. Der Ausbilder ist ein Bekannter des Vaters, die Atmosphäre familiär. Man begrüßt ihn und die anderen Anwärter mit dem Spruch: "Ihr seid Diamanten und müsst geschliffen werden." Als er 18 wird, folgt der nächste Schritt. Er wird auf der Stasi-Hochschule in Potsdam angenommen, um eine Offiziersausbildung zu machen. Thorsten lernt alle Techniken, die ein richtiger Agent braucht. Von "Zersetzung" und Observation politischer Feinde bis hin zu Schießübungen und Selbstverteidigung. Einmal sitzt er auch in einer konspirativen Wohnung und belauscht mit einer Wanze die Gespräche der Nachbarsfamilie. Was diese Menschen nach Ansicht der Stasi verbrochen hatten und was dort geredet wurde, weiß er heute nicht mehr. +Dann gibt es die Momente zaghaften Aufbegehrens. Thorsten und Miriam Richter finden wie viele andere Teenager der DDR Gorbatschow und seine Perestroika-Politik gut. Miriam heftete sich irgendwann, ohne groß darüber nachzudenken, einen Gorbi-Sticker an die Jacke und wird dafür wochenlang von ihren eigenen Kollegen verhört. Als bei den Demonstrationen in Leipzig und Berlin 1989 der Ruf "Stasi raus!" ertönt, hält Thorsten das für ein Missverständnis, das sich noch ausräumen lässt. Er will auf eine Demo fahren und dort eine Rede darüber halten, dass er und die Anderen doch eigentlich gute Menschen sind, doch seine Vorgesetzten halten ihn auf. +Die Fernsehbilder von Helmut Kohl und Lothar de Maizière, die die Wiedervereinigung Deutschlands und das Ende der DDR besiegeln, verfolgt Thorsten Richter vom Fußboden aus. Er liegt einfach nur da und schüttet eine Flasche Whisky in sich rein. Er sei nicht traurig gewesen an diesem Tag, sagt er heute, sondern einfach nur komplett verwirrt. Konnte es sein, dass alles, an das er geglaubt hatte, falsch gewesen ist? +Die Eltern gleiten erstaunlich geschmeidig hinüber in die neue Zeit. Sie haben im Gegensatz zu ihren Kindern Geld und gute Verbindungen. Der Vater wird Therapeut in der geschlossenen Psychiatrie. Thorsten Richter selbst kommt deutlich schlechter zurecht. Das Problem ist nicht so sehr, dass er bis heute jedem Arbeitgeber ehrlich sagt, dass er drei Jahre lang bei der Stasi war. Das Problem ist eher, dass er, der als Jugendlicher niemals gegen Staat und Familie aufgemuckt hat, sich im wiedervereinigten Deutschland nicht mehr länger anpassen kann oder will. Erst kürzlich versuchte er, eine Umschulung zum Erzieher zu machen, aber das funktionierte nicht recht. Er hielt die Zustände im Kindergarten einfach nicht aus. Dort, erzählt er, sollten die Kleinen einfach nur funktionieren und zum Gehorsam gezwungen werden, und dagegen habe er sich gewehrt. Die Kollegen erwiderten: "Du schleppst dauernd deine Vergangenheit mir dir rum, das hält ja kein Mensch aus!" Thorsten Richter und seine Ehefrau engagieren sich in den Jahren nach der Wiedervereinigung in der Umweltbewegung. Sie stehen an einem Stand von Greenpeace auf dem Marktplatz ihrer Heimatstadt, als der Vater eines Tages mit dem Auto vorfährt. "Da seid ihr ja bei einer verfassungsfeindlichen Organisation", sagt er. "Welche Verfassung meinst du? Redest du von der DDR?", fragt Thorsten zurück. Sobald er versucht, über die Vergangenheit zu sprechen, machen die Eltern zu. Bis heute sagt die Mutter: "Darüber rede ich nicht." +Mitte der 1990er-Jahre finden Thorsten und Miriam Richter allmählich die Kraft, sich mit ihrer Herkunft zu beschäftigen. Sie schauen Dokumentationen, lernen Opfer kennen, sind entsetzt, wie grausam die Stasi mit ihren Gefangenen umging. "Das glaubt mir ja keiner, aber ich habe das alles nicht gewusst", sagt Thorsten Richter. "Wir waren Teil einer menschenverachtenden Maschinerie", sagt Miriam Richter. "Das geht unser Leben lang nicht weg." Ob sie selber anderen Menschen geschadet haben, wissen sie nicht. Aber ausschließen, sagt Thorsten Richter, könne er das natürlich nicht. Seit er das Buch von Ruth Hoffmann über die Stasi- Kinder in die Finger bekommen hat, geht er ab und zu in eine Selbsthilfegruppe in Berlin und lernt dort andere Menschen kennen, denen es ähnlich ergangen ist. "Wir sind die Generation, die durch eine klare Konditionierung jede Kritikfähigkeit verloren hat. Durch den Wendeprozess, durch den Bruch, sind wir aufgewacht", sagt Thorsten Richter. Noch immer leiden viele von ihnen unter der Erziehung ihrer linientreuen und strengen Eltern. Sie berichten von Schlägen und dem Zwang zum Gehorsam, von Einsamkeit, mangelnder Liebe und Indoktrination. Als Nächstes will Thorsten Richter seine Akte von der Stasi-Unterlagenbehörde anfordern. Es wird noch ein oder zwei Jahre dauern, bis er sie lesen kann, aber er ist sicher, dass ihn das weiterbringen wird. Er hofft, dass darin nicht nur etwas über ihn selbst, sondern auch über seine schweigende Familie steht. +*Namen geändert diff --git a/fluter/wenn-comicfiguren-streiken.txt b/fluter/wenn-comicfiguren-streiken.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f5a9207056c0620e7382cfe518603eb4ccebb8f2 --- /dev/null +++ b/fluter/wenn-comicfiguren-streiken.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Die Wege, mit denen sich die 13 Zeichnerinnen dem Thema nähern, sind visuell wie erzählerisch von einer enormen Bandbreite. So hat Doris Freigofas japanische Haikus, kurze Gedichte, über die unmöglichen gesellschaftlichen Anforderungen an berufstätige Mütter verfasst und illustriert. +Birgit Weyhe interpretiert einen Essay von Susan Sontag über das Wesen der freiberuflichen Kreativarbeit. In einer anderen Geschichte von Weyhe werden ihre Comicfiguren lebendig und machen mit ihr einen Ausflug zum Hamburger Hafen, doch dort verdirbt Weyhe ihnen mit Vorträgen über die Ausbeutung von Hafenarbeitern und Kindern in der Kakaoproduktion so sehr den Spaß, dass die Comicwesen schließlich in den Streik treten. +Jul Gordon zeigt trostlose Impressionen aus Großraumbüros, zwischen Kantinentalk und Immergrünpflanzen, Karin Stangl zeichnet Grimms Märchen von den drei Spinnerinnen, wo ausnahmsweise mal die Faulheit siegt, Larissa Bertonasco legt ein sehr persönliches Protokoll ihres Burn-Outs vor. +Optisch ist das Magazin eine Wucht, mit seitenfüllenden Bildern und satten Strichen, noch verstärkt durch die Reduktion auf die drei kontrastreichen Druckfarben Schwarz, Neonorange und Marineblau. Es finden sich fließende Wimmelbilder voller kleiner Fantasiewesen von Moki, schattenrisshafte, an die Vorspänne von 1960er-Jahre-Filme erinnernde Illustrationen von Stephanie Wunderlich, Surreales von Katharina Gschwendtner … klar, kaum jemand wird sämtliche Zeichenstile mögen. Aber es gibt viel zu entdecken. +So unterschiedlich die Ansätze sind, gibt es auch ein paar Gemeinsamkeiten, die sich allein schon aus der relativen Homogenität des Zeichnerinnenkollektivs ergeben. Die meisten Autorinnen gehören zu einer Generation, die sich jenseits der klar vorgezeichneten Erwerbsbiografien ihrer Eltern bewegt, in einem Arbeitsmarkt, in dem der Konkurrenzkampf härter geworden ist, wo Selbstoptimierung bis -ausbeutung immer selbstverständlicher dazu gehört – erst recht für Freiberuflerinnen. +So eint viele Beiträge ein kapitalismuskritischer Blick, speziell auf die Leistungsethik der Arbeitswelt. Und natürlich ein weiblicher. Frauen haben in der Arbeitswelt bis heute mit vielfachen Diskriminierungen zu kämpfen, ob es um die gleiche Bezahlung für den gleichen Job geht, um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz oder das Geschlechterverhältnis auf den Führungs- und Entscheidungsebenen. +Vielleicht liegt es daran, dass das Heft in seiner Gesamtheit manchmal eine Spur zu didaktisch, ein wenig zu vorhersehbar geraten ist. Es dürfte gern noch ein wenig mehr Überraschung, mehr Binnenkontroverse, auch etwas mehr Sinnlichkeit sein. Lesenswert ist das Heft aber allemal. + +Spring (Hrsg.): SPRING#15 – Arbeit. mairisch Verlag, Hamburg 2018, 228 Seiten, 20 Euro diff --git a/fluter/wenn-die-familie-rechts-waehlt.txt b/fluter/wenn-die-familie-rechts-waehlt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b82cd769f4e42b7297458bb1ee582165e60cd334 --- /dev/null +++ b/fluter/wenn-die-familie-rechts-waehlt.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Mein Cousin ist 25, vier Jahre jünger als ich. Wir kennen uns, seit wir klein sind. Wenn er nun "ihr Deutsche" sagt, dann klingt das vorwurfsvoll, als hätte sich etwas zwischen uns geändert. Anders geworden ist auf jeden Fall das, was er "wir Franzosen" nennt. Franzosen nämlich, sagt mein Cousin, kümmerten sich zuerst um Franzosen, danach um Fremde. D'abord la France, Frankreich zuerst! +Er verallgemeinert, weil er sich in der Mehrheit weiß. Am Tisch auf jeden Fall, im Dorf und der Region wahrscheinlich auch. Und wenn alles so läuft, wie er sich das wünscht, vielleicht bald in ganz Frankreich. Die Franzosen wählen 2017 einen neuen Präsidenten. Der erste Wahlgang ist am 23. April, der zweite, entscheidende am 7. Mai. Allen Prognosen nach wird der Front National (FN) in den zweiten Wahlgang gelangen. Eine Partei, die man schwer ins übliche Spektrum einordnen kann, irgendwie rechtsextrem und irgendwie sozialistisch. "Patriotisch" nennt sich der FN selbst. +Was mein Cousin so erzählt, klingt nach den Parolen des Front National. Etwa, dass sich Franzosen zuerst um Franzosen kümmern sollen, wobei mit Franzosen nicht unbedingt alle mit französischer Staatsbürgerschaft gemeint sind, zumindest nicht, wenn sie eine andere Hautfarbe haben. +Die Älteren, also mein Onkel, die Nachbarn, die Kollegen meines Onkels, schweigen, wenn man sie fragt, was sie wählen werden; ein Zeichen, dass auch sie den Front National favorisieren. Sie schämen sich wohl noch ein bisschen. Wie aber konnte es passieren, dass Teile meiner Familie eine rechtsextreme Partei wählen? +Als Jean-Marie Le Pen den Front National 1972 gründete, war es die Partei der ehemaligen Nazikollaborateure, antirepublikanisch, dogmatisch, neoliberal. Für die Mehrheit galt er als unwählbar. Einen einzigen nennenswerten Wahlerfolg erzielte Le Pen, als er 2002 einen schwachen linken Kandidaten schlug und in die Stichwahl gelangte. Ein breites republikanisches Bündnis versammelte sich anschließend hinter dem Kandidaten der Gaullisten, Jacques Chirac, um den Front National zu verhindern. +Danach versank der FN in der Bedeutungslosigkeit. 2011 übernahm schließlich die Tochter des Gründers: Marine Le Pen orientiert sich an nordeuropäischen Rechtspopulisten, arbeitet mit Provokation, mit der Selbstdarstellung als Opfer und als Verteidigerin der Tradition. Ihre Forderungen: Zuwanderungsstopp und Zölle, raus aus der NATO, raus aus dem Euro, raus aus dem Schengenraum, Schnellgerichte und Todesstrafe. Letztere hat sie zwar mittlerweile aus ihrem Wahlprogramm gestrichen. Sie will aber Volksinitiativen in Frankreich einführen – und regt an, darüber eine Rückkehr zur Todesstrafe zu beschließen. Nach Donald Trumps Wahlsieg kündigte sie an, auch Frankreich wieder "great" zu machen, Franzosen sollten eine "Weltzivilisation im 21. Jahrhundert" werden. Mit diesem Programm beherrscht der FN den politischen Diskurs. Bei der Europawahl 2009 wählten ihn gerade mal gut sechs Prozent der Franzosen. Fünf Jahre später war er mit rund 25 Prozent stärkste Partei. +Mein Cousin poltert von Einwanderung, Laizität und den Werten der Republik. Wenn ich nachfrage, zeigt sich, dass dahinter eher wenig steckt. Es klingt vielmehr, als wiederhole er Schlagworte direkt aus den Reden von Marine Le Pen. Spricht er aber darüber, wie er und seine Freunde nach der Ausbildung keine Arbeitsverträge bekamen, stattdessen von Job zu Job springen mussten, schlecht bezahlte und stupide Arbeit verrichteten oder wie er und seine Freunde die Tage mit Rumhängen verbringen, weil es außer Jobs an der Kasse von irgendeinem Supermarkt in der Region nichts gibt, dann klingt das anders. Das klingt authentisch, erlebt. Es klingt so, dass ich seine Verzweiflung verstehen kann. +Das Dorf, in dem wir uns am Küchentisch streiten, liegt im Osten Frankreichs, südlich von Lyon. Bei den Regionalwahlen 2015 wählten hier 32,9 Prozent der Einwohner im ersten Wahlgang den Kandidaten des Front National. Dieses Dorf steht für viele vergessene Dörfer auf dem Land, wo die jungen Menschen wegziehen, weil es keine Arbeit mehr gibt. Auch für meine Familie nicht. +1960 übernahm meine Großmutter von meinem Urgroßvater ein Bistro in einer etwas abgelegenen Straße am Rande einer Bergbausiedlung. Der Förderturm des Puits Charles ragte davor in die Luft, eine der sechs Kohlegruben des Ortes. Man arbeitete unter Tage in drei Schichten, rund um die Uhr. Und nach der Schicht kamen die Arbeiter in das Bistro meiner Familie und tranken. Sie strömten in den Gastraum, gefolgt von ihren Frauen, die einen Teil des Tagelohns in Sicherheit brachten, bevor alles versoffen war. Die ganz Betrunkenen fuhr mein Großvater später nach Hause und verdiente sich so als Taxifahrer etwas dazu. +Die Minen liefen so gut, dass die Bergbauunternehmen mehr Leute brauchten. Erst kamen polnische Bergarbeiter, denen man provisorische Unterkünfte zuwies, später bekamen sie die gleichen einfachen Siedlungshäuser wie die Franzosen. Die Polen tranken viel, also lief das Geschäft meiner Oma gut. Sie veranstalteten große Familienfeste und trafen sich zum Tanzen. Franzosen und Polen beäugten sich anfangs, dann lernte man sich näher kennen und feierte zusammen. +1964 kamen die Algerier. Erst brachte man sie in provisorische Unterkünfte, dann baute man ihnen eine Siedlung – weit abgelegen bei den Minen. Die Kinder lernten sich in der Schule kennen, die Eltern begegneten sich so gut wie nie. Eine algerische Familie mietete später das Dachgeschoss des Bistros. Nur manchmal kamen sie runter in den Gastraum, sie tranken keinen Alkohol. +Ab 1962 kamen die Rückkehrer aus dem Algerienkrieg, in dem Schätzungen zufolge 400.000 Algerier getötet wurden und 25.000 französische Soldaten (siehe Artikel "das Trauma" aus dem Heft Seite 28). Viele Soldaten kamen in ihre Dörfer zurück und suchten Arbeit, zum Beispiel in den Minen. Über viele Jahre herrschte eine gewisse Spannung, meist aber ignorierten sich die ehemaligen Soldaten und die algerischen Zuwanderer, manchmal gab es Schlägereien. Jeden Montag um 18 Uhr kam der Lokalpolitiker der Kommunisten ins Bistro. Und da standen sie dann, die Franzosen, die Polen und die Algerier, und lasen dieselben Pamphlete, hörten dieselben Reden vom Arbeiterkampf und von der internationalen Solidarität. Man hielt zusammen, man stritt für gleiche Arbeit, gleiche Rechte, gleiche Pflichten, für die gleiche Partei. Die kommunistische. +Dann schloss die erste Mine, das war 1965. Elf Jahre später schloss die letzte. Und mit den Minen verschwand die Solidarität. +"Die Eigenschaft, Franzose zu sein, wurde zum zentralen Element der einfachen Leute und löste als solches das Arbeitersein oder Linkssein ab", so der Soziologe Didier Eribon in seinem Buch "Rückkehr nach Reims", in dem er genau das beschreibt, was mit meiner Familie geschah – nämlich wie aus stolzen Kommunisten Wähler des Front National wurden. +Die Wählerschaft des Front National ist der der Kommunistischen Partei der 1960er- und 1970er- Jahren sehr ähnlich. Laut Umfrageinstitut Ipsos wählten bei den Regionalwahlen 2015 43 Prozent der Arbeiter und 36 Prozent der Angestellten den Front National, 36 Prozent der FN-Wähler haben keine höhere Schulbildung. Früher wählte man die Kommunistische Partei, weil sie die Probleme der Arbeiter verstand. Doch mit der Arbeit verschwand auch die Kommunistische Partei. Von 22 Prozent 1967 fiel sie auf unter zehn Prozent in den 1990er-Jahren. Mit dem Zerfall der Sowjetunion, von der sie unterstützt wurde, versank sie in der Bedeutungslosigkeit. Fortan wählte man entweder die Sozialisten, dabei war das eher die Partei der Lehrer, Beamten und Büroangestellten, oder die konservative UMP, die politische Heimat der Bauern, Rentner und Kaufleute. So leidenschaftslos, wie sie gewählt wurden, so wenig Interesse zeigten beide Parteien an ihren neuen Wählern und den Problemen der ländlichen Regionen. +Nach dem Verschwinden der Minen leerte sich das Dorf meiner Großmutter. In den 1990ern wurde es mit einem Nachbarort zusammengelegt und verlor sogar seinen Namen. Die Geschäfte schlossen, selbst der Markt öffnete seltener. Die jungen Leute zogen weg, die Alten blieben. Auch meine Mutter verließ die Region, weil sie sich in einen Deutschen verliebte. Die Bevölkerung in ihrer Heimat schrumpfte, die Arbeitslosigkeit stieg – besonders bei den Jugendlichen. Schlecht ausgebildete Menschen wie mein Cousin waren zum Nichtstun verurteilt. Die Schließung der Zechen, die Krise der Autohersteller, die Automatisierung in vielen Betrieben, das alles hat dazu geführt, dass große Teile seiner Generation ihr Land eigentlich nur im Abschwung kennen. In solch einer Situation erscheint es mir nachvollziehbar, dass die Menschen für die einfachen Rezepte des Front National empfänglich sind. Du bekommst wieder Arbeit, wenn die Migranten weg sind, alles wird gut, wenn wir aus der von Deutschland dominierten EU austreten und den Vormarsch des Islam stoppen. So einfach. +Vor einigen Wochen ploppte eine Mail auf meinem Telefon auf, Betreff "Inscription Liste Electorale". Meine Mutter schickte mir einen Link zur Seite des französischen Wahlleiters. Man kann sich dort auf der Wahlliste eintragen lassen, als sogenannter Auslandsfranzose muss man sich registrieren. Seit sie vor 35 Jahren Frankreich verließ, hat sie nicht mehr gewählt. Wem sie diesmal ihre Stimme gibt, weiß sie noch nicht. Hauptsache gegen Marine Le Pen. +Ihr Bruder, mein Onkel also, wird am Wahltag wohl wie jeden Tag in seinem Bistro stehen, das er vor zehn Jahren am Marktplatz eröffnet hat. Dort treffen sich heute auch wieder die Trinker, diesmal aber keine Minenarbeiter. Es kommen die Alten und die Übriggebliebenen, jene, die es sich leisten können, hierzubleiben, weil sie Rente oder Arbeitslosengeld beziehen. Bei meinem letzten Besuch stand auch mein Cousin noch hinter dem Tresen. Verdiente sich ein wenig Geld dazu. Inzwischen ist er in den Süden gegangen, arbeitet dort in Cafés, in Bars. Wieder einer weniger im Dorf meiner Großmutter. diff --git a/fluter/wenn-es-knallt.txt b/fluter/wenn-es-knallt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c1452dbc6e152d816ad255ec19834e7ff75f6b60 --- /dev/null +++ b/fluter/wenn-es-knallt.txt @@ -0,0 +1,31 @@ +Tine Fink arbeitet jetzt seit sieben Jahren in diesem Klotz. Sie ist eine fast mädchenhaft wirkende 34-jährige Sozialpädagogin. Jeansrock, rosa Perlmuttohrringe, Hello-Kitty-Gürtelschnalle, Piercing im Mund. Von ihrem Schreibtisch im achten Stock aus hat sie einen weiten Blick über Ostberlin. Hinter den Sandbergen, den Frachtcontainern, den Strommasten, bei den Wohntürmen da hinten irgendwo ist ihr Revier. Es ist eine Gegend, in der die Vermieter noch keine Einkommensnachweise fordern. Die Menschen, die da leben, haben nicht viel Geld. In etwa 75 Prozent der Haushalte, mit denen sie zu tun hat, so schätzt sie, arbeitet kein Elternteil. +Mit ihrer Büronachbarin Sabine Bunzel, genannt Sabinchen, möchte sie trotzdem nicht tauschen. Die ist für die feinen Leute aus den Villen und Einfamilienhäusern im äußersten Süden Lichtenbergs zuständig. Die Gelackten, die nicht unbedingt weniger, nur anderen Ärger haben als die armen Schlucker. Die sich gegenseitig ihre Anwälte auf den Hals hetzen und sich vom Jugendamt nicht reinreden lassen, wenn es ihren Töchtern und Söhnen dabei dreckig geht. Tine Fink hat eine Wand in ihrem Büro mit Dankespostkarten und Kinderzeichnungen geschmückt. Sie sagt: "Ich mag meine Familien. Ich habe ein tolles Gebiet." +Etwa 80 Fälle betreut jede Sozialpädagogin hier parallel. Die Schränke sind voll, manche Akten sind so dick wie eine Kaffeekanne, Gerichtsprozess folgt auf Gerichtsprozess, andere beinhalten nicht mehr als ein, zwei Seiten Papier. Man mag es gar nicht glauben, aber jede Meldung, die beim Jugendamt eingeht, wird verfolgt. Viele Informationen sind wertvoll. Manche sind es nicht. In einem der Ordner liegt ein anonymer handgeschriebener Brief. Im Stile eines pensionierten Stasi-Agenten listet ein Herr auf, was alles bei seinen Nachbarn, denen er offenbar hinterherspioniert, im Argen liegt. +An sich geht es den Staat nichts an, was in den Familien passiert. Doch wenn Kinder und Jugendliche in Gefahr sind, wenn sie misshandelt, geschlagen, psychisch gequält werden oder sonstwie unter ihren Eltern leiden, sieht die Sache anders aus. Dann schreiten Tine Fink, Sabinchen, Mölli und die anderen Kolleginnen des Jugendamts im Namen des achten Teils des Sozialgesetzbuches der Bundesrepublik Deutschland ein. Intervenieren in den Familien, organisieren das, was auf Behördendeutsch ganz harmlos "Hilfe zur Erziehung" heißt und in Wahrheit unzählige Therapiearten, Beratungen, Betreuungsinstitutionen meint. +Die Akten hier sind auch so etwas wie ein Kompendium der familiären Abgründe ihres Stadtbezirks. Eine 13-Jährige bekommt ein Baby von einem Elfjährigen. Eine Mutter ließ ihre Kinder regelmäßig wie Tiere vom Boden essen. Eine Kindergärtnerin fragte sich, warum ein kleiner Junge wohl ständig Hakenkreuze malt. Ein Mann wurde nachts wiederholt im Bett seiner Stieftochter erwischt. Die Sozialpädagoginnen betraten eine Wohnung, in der Maden an der Decke krochen, Wellensittiche in Schwärmen durch die Räume flatterten, Dutzende Hunde und Katzen herumtollten und inmitten des Kots ein hungernder Junge herumstand. +Ein Polizist sagt: "Mit Ihnen möchte ich wirklich nicht tauschen, das ist mir zu hart." Ein Bewährungshelfer sagt: "Ich habe unglaubliche Hochachtung vor Ihrer Arbeit." Wieder mal ein Fall verschärfter Pubertät. Auch da müssen sie ran. Tine Fink sagt: "Ich habe den besten Beruf der Welt." Sie ist eine unfassbar fröhliche Frau, aber natürlich schlägt ihr das alles auch manchmal aufs Gemüt. Kinderschänder zum Beispiel. Das sind einfach Menschen, für die sie nur schwer Verständnis aufbringen kann. Manchmal sitzt sie in einem Gespräch mit einem Mann, der früher mal seine Söhne vergewaltigt hat, und ertappt sich dabei, wie sie denkt: "Schwein! Schwein!" Aber sie lässt sich das nicht anmerken. Sie ist hier, um zu helfen. Alle sind gleich oder: müssen es sein. +Tine Fink und die anderen quatschen sich den ganzen Mist einfach von der Seele. Eine klebt den Smiley auf ihre Tür, das heißt: Komm rein, trink Kaffee, sprich mit mir. Sie nehmen sich gegenseitig in den Arm. "Oh Hase, bei mir knallt's. Bei dir auch?" Und dann sitzen sie zum Beispiel bei Frau Schubert alias Schubi unter dem großen Bild des Schlosses Neuschwanstein, grüne Wiesen und Berge, weit weg von Lichtenberg, ziemlich menschenleer und heile Welt, reden über die Bürger da draußen. Grausam, verrückt, manchmal aber auch ganz wunderbar. "Psychohygiene", nennt Tine Fink das. "Löschen. Neustart. Weiter geht's." +Um kurz vor elf trägt sie die Akten durch den mit Linoleum ausgelegten und mit Fotos von graffitisprühenden Jugendlichen dekorierten Flur im achten Stock des Klotzes und präsentiert im Konferenzraum ihr neuestes Problem. Mal wieder ein Fall verschärfter Pubertät. Die Mutter eines 14-jährigen Jungen hat Angst, dass es bald irgendeine Art von Katastrophe in ihrer Familie geben wird. Der Sohn sei, so hört man, ein "tickendet Pulverfass". Hockt zu Hause und spielt Computer. Benimmt sich wie Sau. Behauptet, er möchte lieber ins Heim, weil es da mehr Taschengeld gibt. Hat Mitschüler geschlagen und erpresst. Sagt, dass er Machtkämpfe liebt. Und später will er mal irgendwas mit Waffen machen, einen Beruf, in dem er schießen kann. Bundeswehr vielleicht. Die Mutter, erzählt Tine Fink, habe mit folgenden Worten um Hilfe gebeten: "Ick bin zu jeder Schandtat bereit." +Zur mentalen Grundausstattung ihres Berufs gehört der unbedingte Glaube daran, dass das Schicksal eines Menschen nicht festgeschrieben ist. Dass es zwar Prägungen in den Biografien gibt, vererbte und erlernte Verhaltensmuster, aber jeder sich zum Besseren ändern kann. Immer wieder hört man hier jemanden von Weichen sprechen. Als seien die Menschen Lokomotiven und das Jugendamt das Stellwerk, sagen manche beim Blick auf einen besonders verworrenen Fall: "Es wurden die falschen Weichen gestellt." Tine Fink meint: "Wenn ich nur einem von zehn Kindern helfen kann, dann hat es sich schon gelohnt." +Eine Stunde lang diskutieren sieben Sozialpädagoginnen und ein Psychologe über diesen pubertierenden Jugendlichen und seine Situation. "Es ist bei denen im Moment wie in einem Waffenstillstand", sagt der Psychologe. "Kein Frieden, aber auch kein Krieg." Dann kommen sie gemeinsam zum Schluss, dass dem Jungen vermutlich am besten mit einem Erziehungsbeistand, optimalerweise männlich, geholfen werden kann. +Am nächsten Arbeitstag ist bei Tine Fink eigentlich ein junger Mann angemeldet. Er hat die Mutter seines ungeborenen Kindes, das Kind selbst und den neuen Freund kürzlich per SMS mit dem Tod bedroht. Nun möchte er erklären, dass er sich Sorgen um sein Kind macht und die Mutter wegen ihres Drogenkonsums für verantwortungslos hält. Doch es kommt etwas dazwischen, was man in der Sprache des Jugendamts eine Krise nennt. "Konnte nich'. Hab 'ne Krise gehabt. Krise geht vor. Und wat macht deine Krise?" So reden sie hier im Klotz. +Die Polizei meldet Tine Fink einen Fall von häuslicher Gewalt. Ein Mann in ihrem Zuständigkeitsgebiet hat seine Frau "geflickt", das heißt verprügelt, richtig mit den Fäusten auf sie drauf. Weil er dabei den einjährigen Sohn geschüttelt, an den Armen gepackt und durch den Raum geschleudert haben soll, ist es automatisch eine Angelegenheit des Jugendamts. Das Kind könnte bleibende Gehirnschäden erlitten haben, es muss schnellstmöglich ins Krankenhaus. +Tine Fink und ihre Kollegin Schuki steigen in den silbernen Skoda Fabia. Ein Privatauto, Dienstwagen gibt es hier nicht. Sie fahren immer der Sonne entgegen, 20 Minuten lang durch eine nicht enden wollende Häuserschlucht. Vor einer roten Mietskaserne, wo schon der wartende Spezialist für Kindesmisshandlung steht, parken sie und steigen aus. "Bezirksamt Lichtenberg, können wir mal reinkommen?" +Die Wohnung wirkt auf den ersten Blick kaum wie der Ort eines Verbrechens. Nicht heruntergekommen, nicht böse, sondern sauber, ordentlich, wie aus dem Ikea-Katalog. +Studentin Nastasia aus der Ukraine, eine zierliche Frau mit langen blonden Haaren, erst auf den zweiten Blick sieht man, dass sie Schrammen und blaue Flecken auf den Armen hat. Nastasia lernt gerade Chemie. Was denn dem Kind bei der Schlägerei passiert sei, fragen Tine Fink und Schuki. "Hingefallen? Aus welcher Höhe? Auf welches Körperteil?" +"Nichts passiert. Alles gut", sagt die Frau. "Ich bin Mutter, ich kenne Sergej. Er hat nichts." +"Haben Sie Angst?" "Njet." +Dann bricht sie in Tränen aus und gesteht, sie habe noch Kopfweh. Ihr Mann schlage sie immer absichtlich auf den Kopf, ihr wichtigster Körperteil, weil sie doch studieren muss. +Die Sozialpädagoginnen fahren mit ihr und dem Kind ins Krankenhaus, aber die Ärztin stellt keine Verletzungen bei Sergej fest. Trotzdem wird die Frau gebeten, noch einmal am frühen Abend ins Jugendamt zu kommen, am besten gemeinsam mit ihrem Mann. +Kurz vor dem Termin postieren sich zwei Polizisten bei angelehnter Tür im Nebenraum. Niemand kann einschätzen, wie gewalttätig der Vater wirklich ist. Sie haben keinen eigenen Wachdienst im Jugendamt, obwohl es immer wieder mal brenzlig wird. Im Büro von Miriam Zetsche steht ein Schrank, der eine tiefe fleischwundenartige Schramme im Eichenholzimitat aufweist. Letzte Woche rastete hier ein Jugendlicher in einer Besprechung aus und brüllte: "Ich töte euch alle!" Dann schmiss er einen Stuhl nach Frau Zetsche und traf das Mobiliar. Im vergangenen Jahr, erzählt der Amtsleiter, gab es auch fast mal einen Amoklauf, und sie hatten das Sonderein- satzkommando zu Besuch. +Die Polizisten im Nebenzimmer können diesmal ihren Kaffee in Ruhe trinken, denn sie müssen nicht ran. Die Ukrainerin und ihr Mann tauchen nämlich überhaupt nicht auf. Stattdessen klingelt das Telefon. Nastasia erzählt irgendwas von Nachtdienst, der Vater war da oder auch nicht, die Hilfe des Jugendamts sei nicht mehr nötig, vielen Dank auch, kein Problem, es habe sich alles geklärt. +"Die verarschen uns", sagt Tine Fink. +"Na klar", sagt Andrea Schmadtke, die man auch Schmati nennt. +"Die verarschen uns gerade mächtig, und wir sind uns nicht sicher, dass dem Kind heute Abend nichts mehr passieren wird." +Im Jugendamt sind sie es gewöhnt, dass man sie beschimpft, anlügt, abwimmeln will. "Dieset Spiel, dieset Scheißspiel der Eltern", flucht einer. So schnell verkauft ihnen hier keiner die schöne heile Familienwelt. Sie sind stolz darauf, dass in ihrem Bezirk bislang noch kein Kind ermordet worden ist. "Toi, toi, toi!", sagen sie, wenn man sie danach fragt, und klopfen mit dem Fingerknöchel auf den Tisch. Aber sie alle wissen, dass es jeden Tag passieren kann. Und wenn morgen eine Babyleiche in einem Lichtenberger Kühlschrank gefunden wird, dann sind sie dran. +Tine Fink fordert weitere Polizisten an. Mit Schuki steigt sie wieder in den Skoda Fabia, die anderen nehmen ein Taxi, es ist mittlerweile dunkel auf den Straßen, später Abend, und sie brausen an dem neuen Riesenplakat von Dildoking vorbei in Richtung Wohnung der geflickten Frau. Vier Polizisten postieren sich im Treppenhaus, noch immer ist völlig unklar, wie gefährlich es hier werden kann. Tine Fink betritt mit ihren Kolleginnen Anke Möllers und Andrea Schmadke die Wohnung. "Lassen Sie uns in Ruhe! Was wollen von uns?" Nastasia hat gerade gestillt, der Mann ist nicht da. Auf dem Boden sitzt Sergej, normal süßes Baby, hallo, Puschel, hallo, kleiner Mann, und wirft der Mölli seinen Luftballon hin. Tine Fink versucht die Frau zu überzeugen, dass sie alleine ihren Sohn vor den Schlägen unmöglich schützen kann. Der Vater habe einen Schlüssel zur Wohnung und könne jeden Moment wiederkommen. Sie diskutieren eine halbe Stunde mit der Ukrainerin, dann machen sie das, was man auch Konfrontation oder Butter bei die Fische nennt. In dem Moment, in dem Nastasia realisiert, dass das Jugendamt in Notsituationen das Baby auch gegen den Willen der Mutter in Obhut nehmen kann, stößt sie einen erstickten Schrei aus. Wahrscheinlich ist das der schlimmste Laut der Welt, eine Mischung aus Ohnmacht und Entsetzen kommt da aus ihrer Kehle raus, markerschütternd, selbst der hartgesottenen Sozialpädagogin Mölli treibt es die Tränen in die Augen. "Egal wie lange man schon hier arbeitet", sagt sie, "daran gewöhnt man sich nie." +In ihrem Revier nimmt Tine Fink jedes Jahr nur aus einer Handvoll Familien, in denen es Probleme gibt, Kinder kurz- oder längerfristig heraus. Keine Mitarbeiterin trifft so eine Entscheidung alleine, es passiert immer im Kollektiv. "Das ist die größte Sünde der Welt", schreit die heulende Mutter. "Ich lasse ihn nicht los! Das schaffen Sie nicht! Nicht mal die Polizei! Ich gebe Sergej niemals her!" +"Wir wollen Ihnen Ihr Kind nicht wegnehmen, aber wir müssen gewährleisten, dass Sergej heute abend in Sicherheit ist", sagt Andrea Schmadtke. Zornig packt Nastasia schließlich ein, die Polizisten bringen sie gemeinsam mit ihrem Sohn in ein Frauenhaus am anderen Ende der Stadt. +Der nächste Tag beginnt für Tine Fink mit einem gefolterten und vergewaltigten Mädchen und seiner Mutter aus Tschetschenien. Außerdem steht ein Hausbesuch bei einer Familie auf dem Programm, die ein bisschen verwahrlost ist und das Jugendamt gerne abschütteln will. Zwischen den Fällen liegen oft nur zwei oder drei Minuten. Das Mittagessen fällt aus. Die Kaffeepause fällt aus. Die Zeit reicht nie für alles, deswegen pfeift man sich halt vor dem Monitor noch schnell eine Banane rein. +Die Ukrainerin öffnet die Tür und schiebt ihren Kinderwagen ins Büro. Setzt sich so weit es geht von ihrem Mann entfernt auf einen Stuhl. Zwischen ihnen nimmt ein Psychologe Platz. Sergej krabbelt unter dem Tisch zwischen Mutter und Vater hin und her. Während oben das Drama ihres gemeinsamen Lebens verhandelt wird, spielen unten die Hände der Eltern mit dem Kind. Schnell wird klar, dass es auch in diesem Fall keine einfache Wahrheit gibt. Nur Hass, Enttäuschung, Hilflosigkeit. Der Mann ist kein roher Schläger, sondern ein Mensch am Ende seiner Kräfte. Jeder ist hier irgendwie arm dran. Die Mutter zittert und flennt. Der Vater zittert und flennt. Sagt, er habe Angst vor sich selber und werde ausziehen. Er wolle, dass das nie wieder passiert. +Niemand herrscht ihn an: "Du Arschkrampe, sag, wie konntest du?" Kein Vorwurf wird laut. Der Psychologe erklärt ihnen mit Engelszungen, dass er die HOFFNUNG in ihren Erzählungen hört. Dass er ihre ANGST spüren kann. Dass Sergej trotz allem, was passiert ist, zwei TOLLE ELTERN hat. Er wird sich in Zukunft einmal pro Woche mit jedem der beiden einzeln treffen und sie beraten, damit das alles wieder besser wird. Tine Fink schiebt ein Formular aus gräulichem Recy- clingpapier über den Tisch. "Antrag auf: Hilfe zur Erziehung", rechts oben steht "be Berlin". Der Mann unterschreibt es hastig. Die Frau unterschreibt es auch. Getrennt voneinander betreten sie den Fahrstuhl und verlassen den Klotz. Draußen weht ein kühler Wind. Später fängt es zu nieseln an. diff --git a/fluter/wenn-extremisten-die-seiten-wechseln.txt b/fluter/wenn-extremisten-die-seiten-wechseln.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..48f97f054026b61e67144837e31ab30bd8e3a79e --- /dev/null +++ b/fluter/wenn-extremisten-die-seiten-wechseln.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Zwei Aussagen. Zwei Botschaften. Zwei politische Lager, die, auf den ersten Blick, gegensätzlicher kaum sein könnten. Hierein Treuebekenntnis zur linksextremen Szene, verpackt als Songtextauf dem 2008 veröffentlichten Album "Alarmstufe Rot". Dort der Hohn eines überzeugten Neonazis in Richtung Antifa. Das Überraschende an diesen Zitaten ist, dass hinter beiden ein und dieselbe Person steht: der Musiker Julian Fritsch, geboren 1988, alias MaKss Damage. +Zwischen beiden Aussagen liegen knapp drei Jahre. Und ein Gesinnungswandel quer über das politische Spektrum. Dass Extremisten ihre Gruppen verlassen, ist bekannt. Doch manchmal folgt auf den Ausstieg keine Abkehr vom gewalttätigen Aktivismus – sondern der Übertritt ins zuvor "feindliche" Lager. +Der Politikwissenschaftler Daniel Köhler, der 2014 das Deutsche Institut für Radikalisierungs- und Deradikalisierungsforschung gründete, sagt, dass Extremisten die Seiten wechseln, sei ein bislang wenig beachtetes Phänomen: "Doch diese Fälle helfen uns, besser zu verstehen, wie diese Szenen funktionieren und ob es sogar verbindende Elemente gibt." +Dafür hat Köhler zum Beispiel den Lebenslauf von Horst Mahler studiert, dem wohl bekanntesten Überläufer der 68er-Bewegung, der einen ähnlichen ideologischen Weg wie Julian Fritsch ging. Mahler hatte sich in den Sechzigerjahren der linksextremen Szene angeschlossen und war 1970 an der Gründung derRoten Armee Fraktionbeteiligt, deren frühe Mitglieder er zunächst als Anwalt vor Gericht verteidigte, bevor er selbst in den bewaffneten Untergrund ging. Während seiner Zeit im Gefängnis kam es zum Bruch mit seinen einstigen Verbündeten. Seit den späten Neunzigerjahren tritt Mahler offen als Rechtsextremist auf, derden Holocaustleugnet und davon spricht, dass "Hitler der Erlöser des deutschen Volkes" war und "Gott will, dass das Deutsche Reich wieder aufersteht und den Judaismus überwindet". +Mahler selbst erklärte die scheinbare 180-Grad-Wende seiner politischen Gesinnung nicht als Übertritt von links nach rechts, sondern als eine "Entwicklung". Und die ist es im Grunde auch: vom antisemitischen, antiimperialistischen Kommunisten hin zum antisemitischen, antiimperialistischen nationalen Sozialisten. Als "Wechsel ohne Wandel" bezeichnet der Politologe Köhler diese Art Rechtfertigung. In den Augen der Überläufer haben nicht sie sich verändert – sondern die alten Kameraden, die die "wahren Ziele" aus den Augen verloren haben. +Derzeit analysiert Köhler über 40 Überläufer-Fälle aus aller Welt – und fand dabei heraus, dass ein Weltbild voller Intoleranz gegenüber dem Judentum und dem westlichen Kapitalismus sowohl im Links- als auch im Rechtsextremismus eine zentrale Rolle spielt. Außerdem geht es häufig um die Ablehnung insbesondere westlicher staatlicher Autoritäten – beispielsweise der Polizei oder des Parteiensystems. Beim Wechsel von extrem rechts nach extrem links steht oft auch die Abrechnung mit der alten Gruppe im Fokus. Etwas komplexer wird es bei Überläufern zumSalafismus, denn hier vollzieht sich auch eine religiöse Konversion, die es so bei den anderen politischen Lagern nicht gibt. +Beim Wechsel in ein einstmals feindliches extremes Umfeld gehe es auch darum, so Köhler, sich selbst als starken Charakter mit ehrenhaften Überzeugungen darzustellen. Nicht man selbst ist Verräter, sondern die anderen. So spricht auch der Neonazi und Ex-Linksradikale Julian Fritsch in einem Interview von "ständigen Intrigen", von fehlender Kameradschaft und mangelndem Aktionismus in seiner einstigen Szene. Auf eine Ideologie, die ihren Worten keine Taten folgen lasse, könne er verzichten. Deshalb habe er aufgehört, sich selbst zu belügen, und sei zu den "wirklichen Patrioten" gekommen. Auch im rechtsextremen Milieu ist Fritsch allerdings schon angeeckt. Unter anderem bezichtigte er Kameraden, mit der Polizei zu kooperieren und die rechte Ideologie nur zum Geldverdienen zu nutzen. +Der gebürtige Londoner Matthew Collins, der einst zu den mächtigsten Personen der rechtsextremen Partei British National Front (BNF) und der militanten Gruppierung Combat 18 gehörte, wechselte ins linksextreme Lager.Als Teenager kam er erstmals mit der extrem rechten Szene in Kontakt.Dort fühlte er sich aufgehoben, verstanden, unterstützt. Und rutschte immer tiefer in den rechten Sumpf, Gewalt stand auf der Tagesordnung. Sie habe ihm auch "Spaß gemacht", so Collins. Bis zu einem Sommerabend 1989. Gemeinsam mit 39 Kameraden stürmte er die Bibliothek des Londoner Stadtteils Welling. Dort hatten sich Bürger versammelt, die besprechen wollten, was man gegen die Präsenz der rechten British National Party in ihrem Viertel tun könnte. "Wir sind da reingestürmt, haben Türen eingetreten, manche von uns hatten Hämmer dabei. Wir wollten nicht diskutieren oder protestieren, sondern diese Leute, dieses Treffen einfach nur zerstören", sagt Collins. 17 Opfer kamen mit teils schweren Verletzungen ins Krankenhaus. +Als seine Kameraden den Überfall anschließend als heldenhafte Tat verkauften, begann in Collins ein Umdenken: "Dieser Angriff war völlig unverhältnismäßig und unser Umgang damit absolut daneben. Plötzlich dachte ich: Diese Leute erzählen mir auch, der Holocaust hätte nicht stattgefunden. Was, wenn das ebenso gelogen ist?" Daraufhin vertraute sich Collins dem antifaschistischen Magazin "Searchlight" an. Drei Jahre lang lieferte er dem "Gegner" Namen, Gesprächsprotokolle, Angriffspläne und Details über Geldtransfers. Collins hatte nur ein Ziel: die BNF zu zerstören. +1992 war der Informant Collins Teil einer Dokumentation über die Aktivitäten von Combat 18. Obwohl er von einem Schauspieler gemimt wurde, ahnten seine alten Kameraden schnell, wer der Maulwurf war. Eine Woche nach Ausstrahlung der Doku musste Collins das Land verlassen. Zehn Jahre lang versteckte er sich in Australien, ehe er nach London zurückkehrte. Noch heute engagiert er sich in der linksextremen Szene. +Der Ideologiewechsel kann in alle Richtungen stattfinden: von links nach rechts, von rechts nach links, aber auch von links oder rechts zum radikalen Islamismus. Der 29-jährige Sascha L. etwa wandelte sich vom Neonazi zum Salafisten. Aufgewachsen mit häuslicher Gewalt, Drogen und psychischen Problemen, wurde er 2010 im rechtsextremen Umfeld aktiv, hetzte online als "Peter Unsterblich" gegen Muslime, Einwanderer und die jüdische Gemeinschaft. Seine Freunde im rechtsextremen Milieu versuchte er von den ideologischen Parallelen zum Islam zu überzeugen, allerdings stieß er auf Ablehnung – und entfernte sich von seiner alten Gruppe. +Eine neue Radikalisierung folgte. L. teilte ein Video mit der Fahne des sogenannten "Islamischen Staates" (IS), legte den Treueschwur des IS ab und erklärte, Muslime, die diesen Eid nicht leisten würden, seien genauso "abzuschlachten wie die Ungläubigen". 2017 wurde er wegen der "Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat und Verstoß gegen das Sprengstoffgesetz" zu 39 Monaten Haft verurteilt. +Die typische Persönlichkeit für einen radikalen Ideologiewechsel gäbe es nicht, sagt Terrorismusforscher Köhler. Er habe aber festgestellt, dass fast ausschließlich Männer von einem Extrem ins andere abwandern. Manche von ihnen suchten weiter nach einem Umfeld, in dem sie Gewalt und Macht ausüben können, andere würden sich lange mit einem Sinneswandel beschäftigen. "Bei eher militanten, actionsuchenden Gewalttätern vollzieht sich der Wechsel innerhalb weniger Monate oder Jahre, bei eher intellektuellen Überläufern wie Mahler dauert es mitunter Jahrzehnte", sagt Köhler. +Trotzdem stellte er eine Gemeinsamkeit fest: Die Grenzen zwischen verfeindeten extremistischen Gruppen seien durchlässiger, als Forschung und Gesellschaft bislang angenommen haben. Vor allem Judenhass und Antiimperialismus dienen als eine Art Schnellstraße zwischen feindlichen Lagern. + diff --git a/fluter/wenn-ich-etwas-will-hole-ich-es-mir.txt b/fluter/wenn-ich-etwas-will-hole-ich-es-mir.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d750b1126f1f7611662dc52c29e913e055a44d2b --- /dev/null +++ b/fluter/wenn-ich-etwas-will-hole-ich-es-mir.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Zu zwei Jahren und zehn Monaten. Nach der Hälfte der Zeit bin ich dann auf Bewährung freigekommen. +Im Nachhinein denke ich, hart genug. Ich habe daraus gelernt, das wäre ohne Strafe wohl nicht passiert. Allerdings ist es schon unfair: Es gibt Vergewaltiger, die niedrigere Strafen als ich bekommen. +Der Richter war streng. Aber es kam auch dadurch, dass ich die Sachen nicht alle auf einmal gestohlen habe, sondern nach und nach. Die erste Straftat habe ich mit 14 begangen und dann ging es erst mal so weiter. +Beim ersten Mal schon. Aber beim zweiten, dritten Mal und danach war Adrenalin da, das mich angespornt hat. +Ne, das würde ich auch nicht zulassen. +Das nicht. Wenn aber jemand versuchen würde, mir etwas zu klauen, würde das ein Nachspiel haben. Es ist immer schlimm, wenn man etwas klaut. +Eigentlich gar nicht. Mein Hintergedanke war, dass ich Geld brauche. +Einen Fernseher, einen Roller, ein Auto, ein Motorrad – das ist schon wertvoll. +Ja, wenn ich etwas haben will, dann hole ich es mir. Ein Handy zu haben, ist für mich schon wichtig. Viele Dinge, die Leute besitzen, sind aber gar nichts wert, eine Playstation zum Beispiel. +Relativ. Glücklich ist man dann, wenn man gute Sachen besitzt. Aber so ist das in der Gesellschaft: Wenn einer Maserati fährt, sind alle Opel-Fahrer scheiße. Die wollen dann mitmachen im Wettbewerb und auch einen Maserati. +Theoretisch nicht, denn manche Reiche haben schließlich für ihr Geld gearbeitet. Gerechtfertigt wäre es aber zum Beispiel, bei den Kindern von Stars, die reich aufwachsen und nichts für ihren Reichtum getan haben. +Nein. Dann könnte man ja auf nichts mehr stolz sein. +* Name von der Redaktion geändert +** 31er: Anm. d. Red: So werden im Knastjargon "Verräter" genannt, also Menschen, die mit ihrer Zeugenaussage andere belasten. Die Bezeichnung bezieht sich auf einen Paragrafen aus dem Betäubungsmittelgesetz. diff --git a/fluter/wenn-ich-gross-bin-werd-ich-kapitaen-0.txt b/fluter/wenn-ich-gross-bin-werd-ich-kapitaen-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cf2b7d6947469c3b1f9cdb84b967c11d9dc07657 --- /dev/null +++ b/fluter/wenn-ich-gross-bin-werd-ich-kapitaen-0.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Ein Shuttlebus bringt mich vom Hafentor zum Hamburger Burchardkai und entlässt mich neben der "CSAV Peru". Hier wird gegabelt und gestapelt, Laster brummen in dieselschwerer Luft, Kranbrücken bimmeln. Eine ausgeklügelte Logistik versetzt Berge aus Containern, lässt sie schrumpfen oder wachsen, zentimetergenau und nie ohne Gepolter. Die Container tragen Kürzel wie MSC, CMA CGM oder HAPAG. CSAV steht für Compañía Sud Americana de Vapores; die chilenische Großreederei hat die "Peru" von einem norddeutschen Familienunternehmen gechartert. +Ich klettere die Gangway hinauf und folge einem philippinischen Matrosen in den Officier's Recreation Room. Der dient den europäischen Besatzungsmitgliedern während den Freiwachen in mehrfacher Funktion: Er ist Stammkneipe, Debattierclub, Treffpunkt und bietet Fernseher, Musikanlage, DVD-Player sowie ein Bücherregal. Die philippinische Crew hat ihren eigenen, identisch ausgestatteten Raum. +Kurz darauf treffe ich Kapitän Hansen, er hat für ein paar Minuten seinen Schreibtisch verlassen, um mich zu begrüßen. Ein Mittfünfziger, der seit fast 40 Jahren zur See fährt. Wir schütteln uns die Hände, dann weist er mir meine Lotsen-Kammer unterhalb des Brückendecks zu. Und eilt wieder von dannen. Mein erster Tag auf See als Auszubildender. +Seemanns-Deutsch als Fremdsprache +Genau: Die Sprache der Seeleute ist so eine Sache. Als Kammer bezeichnet man ein Zimmer, achtern meint hinten und gegessen wird in der Messe. Die verschiedenen Lager heißen Lasten oder Stores; ist ein Schiff "voll abgeladen", dann ist es voll beladen. Aber so was lernt man hier schnell. +In der Kammer findet sich alles, was der oder die zur See Fahrende braucht. Bett (Koje), Tisch (Back), Stühle, ein Sofa, ein Schreibtisch und Einbauschränke. Zu jeder Kammer gehört ein kleines Bad mit Waschbecken, Toilette und Dusche. +Dann schaue ich mich an Deck um. An der Backbord-Seite (links) hat ein Bunkerboot festgemacht und pumpt Schweröl in die "Peru". Von der rechten Seite (Steuerbord) kommen die letzten Container an Deck. Nachdem der Lotse an Bord ist, wird die Gangway eingeholt. Wenig später machen vorn und achtern Schlepper fest und ziehen die "Peru" aus dem Hafenbecken auf die Elbe. +Ein langer Weg zum Kapitän +Am Abend lerne ich Simon kennen: Der 24-Jährige studiert Nautik in Rostock und will Kapitän werden. "Schon mein Großvater war Kapitän und mein Vater fuhr 20 Jahre als Bootsmann", erzählt er. Zurzeit macht Simon sein zweisemestriges Bordpraktikum; er unterstützt den Chef in der Maschine, arbeitet an Deck unter den wachen Augen des Bootsmanns und geht auf der Brücke mit Kapitän Hansen Wache. Vier Jahre dauert die Ausbildung zum "Bachelor of Science und Befähigung zum Nautischen Wachoffizier". Der Studienplan ist vollgepackt – er reicht von A wie Allgemeines Recht bis W wie Werkstofftechnik. "Und dann bist du Kapitän?" frage ich. Simon schüttelt den Kopf. "Zum Kapitän wird man durch Erfahrung und durch Bewährung. Man fährt einige Jahre als Offizier – und ist die Reederei zufrieden, wird man zum Kapitän ernannt." +Normalerweise dauert ein Studium an einer Fach- oder Fachhochschule hierzulande acht Semester, normalerweise bewerben sich mehr Männer als Frauen, die sind aber ausdrücklich erwünscht. Geprüft wird außerdem, ob eine Bewerberin oder ein Bewerber seediensttauglich ist, das macht ein Arzt der See-Berufsgenossenschaft. Weil der welt-weite Warenaustausch per Schiff stark zugenommen hat, wird mehr Personal gebraucht – deshalb ist der Bedarf an Nachwuchs-Nautikern hoch, die Verdienstmöglichkeiten sind oft rosig. Allein Deutschland importiert 60 Prozent seiner Waren per Seeweg. +Die Arbeitszeiten auf hoher See diktiert dann der Fahrplan der Frachtschiffe; er gibt den Tagesablauf vor und stellt an jeden Mitarbeiter ganz andere Anforderungen als an Land. Arbeitszeiten werden variabel geregelt. An Bord herrscht eine klare Hierarchie – was der Kapitän sagt, ist weder eine Bitte noch eine Weisung. Es ist ein Befehl. Wer meint, dieses Prinzip hinterfragen zu müssen, ist hier falsch. +Wenn das Smartphone schweigt +Wir nähern uns Antwerpen. Schnarrende Kommandos auf Englisch, dann klatschen arm-dicke Festmacherleinen ins Wasser, werden von Arbeitern an Land gezogen und auf Poller gelegt. Langsam wird das Schiff gehoben. Die Matrosen haben Zeit für belegte Brote und einen Pott Kaffee. Nach sechs Stunden verlässt die "Peru" Antwerpen wieder und passiert die Schleuse erneut, alle sind im Einsatz. Jetzt geht es über Le Havre und Bilbao nach Brasilien. Bis Santos in Sao Paulo werden wir zwölf Tage unterwegs sein. Das hektische Europa liegt hinter uns. Die Matrosen befreien den Schiffskörper vom allgegenwärtigen Rost, Simon repariert eine defekte Winde. Tage später passieren wir die Kapverdischen Inseln. Wer wachfrei hat, steht auf dem Peildeck, mit dem Handy am Ohr, um die Liebsten zu erreichen; das nächste Netz erreichen wir erst an der brasilianischen Küste. Für Simon ist das kein Problem – er hat es so gewollt. + +Wer sich für einen Beruf in der Seefahrt interessiert, der findet hier weitere Informationen: +www.berufsbildung-see.de +www.hs-wismar.de +www.hs-bremen.de +www.seefahrtschule.eu +www.seefahrtschule-cuxhaven.de + diff --git a/fluter/wenn-ich-gross-bin-werd-ich-kapitaen.txt b/fluter/wenn-ich-gross-bin-werd-ich-kapitaen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..44ef194e96b3d6e48716d1771b0360b98d8c92a4 --- /dev/null +++ b/fluter/wenn-ich-gross-bin-werd-ich-kapitaen.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Ich klettere die Gangway hinauf und folge einem philippinischen Matrosen in den Officier's Recreation Room. Der dient den europäischen Besatzungsmitgliedern während den Freiwachen in mehrfacher Funktion: Er ist Stammkneipe, Debattierclub, Treffpunkt und bietet Fernseher, Musikanlage, DVD-Player sowie ein Bücherregal. Die philippinische Crew hat ihren eigenen, identisch ausgestatteten Raum. +Kurz darauf treffe ich Kapitän Hansen, er hat für ein paar Minuten seinen Schreibtisch verlassen, um mich zu begrüßen. Ein Mittfünfziger, der seit fast 40 Jahren zur See fährt. Wir schütteln uns die Hände, dann weist er mir meine Lotsen-Kammer unterhalb des Brückendecks zu. Und eilt wieder von dannen. Mein erster Tag auf See als Auszubildender. +Genau: Die Sprache der Seeleute ist so eine Sache. Als Kammer bezeichnet man ein Zimmer, achtern meint hinten und gegessen wird in der Messe. Die verschiedenen Lager heißen Lasten oder Stores; ist ein Schiff "voll abgeladen", dann ist es voll beladen. Aber so was lernt man hier schnell. +In der Kammer findet sich alles, was der oder die zur See Fahrende braucht. Bett (Koje), Tisch (Back), Stühle, ein Sofa, ein Schreibtisch und Einbauschränke. Zu jeder Kammer gehört ein kleines Bad mit Waschbecken, Toilette und Dusche. +Dann schaue ich mich an Deck um. An der Backbord-Seite (links) hat ein Bunkerboot festgemacht und pumpt Schweröl in die "Peru". Von der rechten Seite (Steuerbord) kommen die letzten Container an Deck. Nachdem der Lotse an Bord ist, wird die Gangway eingeholt. Wenig später machen vorn und achtern Schlepper fest und ziehen die "Peru" aus dem Hafenbecken auf die Elbe. +Am Abend lerne ich Simon kennen: Der 24-Jährige studiert Nautik in Rostock und will Kapitän werden. "Schon mein Großvater war Kapitän und mein Vater fuhr 20 Jahre als Bootsmann", erzählt er. Zurzeit macht Simon sein zweisemestriges Bordpraktikum; er unterstützt den Chef in der Maschine, arbeitet an Deck unter den wachen Augen des Bootsmanns und geht auf der Brücke mit Kapitän Hansen Wache. Vier Jahre dauert die Ausbildung zum "Bachelor of Science und Befähigung zum Nautischen Wachoffizier". Der Studienplan ist vollgepackt – er reicht von A wie Allgemeines Recht bis W wie Werkstofftechnik. "Und dann bist du Kapitän?" frage ich. Simon schüttelt den Kopf. "Zum Kapitän wird man durch Erfahrung und durch Bewährung. Man fährt einige Jahre als Offizier – und ist die Reederei zufrieden, wird man zum Kapitän ernannt." +Normalerweise dauert ein Studium an einer Fach- oder Fachhochschule hierzulande acht Semester, normalerweise bewerben sich mehr Männer als Frauen, die sind aber ausdrücklich erwünscht. Geprüft wird außerdem, ob eine Bewerberin oder ein Bewerber seediensttauglich ist, das macht ein Arzt der See-Berufsgenossenschaft. Weil der welt-weite Warenaustausch per Schiff stark zugenommen hat, wird mehr Personal gebraucht – deshalb ist der Bedarf an Nachwuchs-Nautikern hoch, die Verdienstmöglichkeiten sind oft rosig. Allein Deutschland importiert 60 Prozent seiner Waren per Seeweg. +Die Arbeitszeiten auf hoher See diktiert dann der Fahrplan der Frachtschiffe; er gibt den Tagesablauf vor und stellt an jeden Mitarbeiter ganz andere Anforderungen als an Land. Arbeitszeiten werden variabel geregelt. An Bord herrscht eine klare Hierarchie – was der Kapitän sagt, ist weder eine Bitte noch eine Weisung. Es ist ein Befehl. Wer meint, dieses Prinzip hinterfragen zu müssen, ist hier falsch. +Wir nähern uns Antwerpen. Schnarrende Kommandos auf Englisch, dann klatschen arm-dicke Festmacherleinen ins Wasser, werden von Arbeitern an Land gezogen und auf Poller gelegt. Langsam wird das Schiff gehoben. Die Matrosen haben Zeit für belegte Brote und einen Pott Kaffee. Nach sechs Stunden verlässt die "Peru" Antwerpen wieder und passiert die Schleuse erneut, alle sind im Einsatz. Jetzt geht es über Le Havre und Bilbao nach Brasilien. Bis Santos in Sao Paulo werden wir zwölf Tage unterwegs sein. Das hektische Europa liegt hinter uns. Die Matrosen befreien den Schiffskörper vom allgegenwärtigen Rost, Simon repariert eine defekte Winde. Tage später passieren wir die Kapverdischen Inseln. Wer wachfrei hat, steht auf dem Peildeck, mit dem Handy am Ohr, um die Liebsten zu erreichen; das nächste Netz erreichen wir erst an der brasilianischen Küste. Für Simon ist das kein Problem – er hat es so gewollt. +Wer sich für einen Beruf in der Seefahrt interessiert, der findet hier weitere Informationen: +www.berufsbildung-see.de +www.hs-wismar.de +www.hs-bremen.de +www.seefahrtschule.eu +www.seefahrtschule-cuxhaven.de + +Wegen ihres Tiefgangs wird die "CSAV Peru" nie in ihrem Heimathafen festmachen können. Hier liegt sie in Antwerpen, die Lösch- und Ladearbeiten sind fast beendet. Da kommt … +… pünktlich auf die Minute noch etwas Proviant-Nachschub für die Kombüse. Nach wenigen Stunden Liegezeit … +… übernehmen Schlepper die Leinen und bugsieren das Schiff aus dem Hafenbecken. Sind die anstrengenden europäischen Häfen … +… und der Englische Kanal absolviert, verläuft das Bordleben in ruhigeren Bahnen. Schiffsführung und Passagiere treffen sich zum Feierabendbier neben dem Arbeitsboot. Gleichzeitig laufen … +… auf dem Achterdeck unter lebhafter Anteilnahme der Besatzung die Vorbereitungen für den Grillabend. Der Koch … +… stellt einmal mehr sein Können unter Beweis. Manche meinen, er sei nach dem Kapitän der wichtigste Mann an Bord. Ob das Miguel … +… auch so sieht? Der philippinische Matrose fährt schon elf Jahre zur See. Konservierungsarbeiten sind seine Hauptaufgabe. Aber auch beim An- und Ablegen ist er … +… mit seinen Kollegen gefordert. Jetzt heißt es "Leinen los!" im brasilianischen Pecém. Von hier geht die Reise weiter nach Santos. diff --git a/fluter/wenn-ich-in-versuchung-gerate-hilft-tatsaechlich-beten.txt b/fluter/wenn-ich-in-versuchung-gerate-hilft-tatsaechlich-beten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..90d436f84ab60979ad4afc4847ae99c2f074c347 --- /dev/null +++ b/fluter/wenn-ich-in-versuchung-gerate-hilft-tatsaechlich-beten.txt @@ -0,0 +1,40 @@ +Wie bist du überhaupt darauf gekommen, Priester zu werden? +Während meines ersten Studiums hat sich mein Leben radikal geändert. Ich dachte: Wenn es Gott so sehr gibt, wie er sich mir persönlich zu erkennen gegeben hat, dann muss das Konsequenzen haben. Wo ist mein Platz, wo möchte er mich einsetzen? Das zu erkennen war eine lange Entwicklung. Es brauchte mehrere Jahre, bis es klick gemacht hat: Gott schien mich zum Priestertum zu rufen. So habe ich beschlossen, den neuen Weg zu gehen und mich für das Priesterseminar zu bewerben. +Warst du denn wie jeder andere auch mal verliebt? +Zum ersten Mal habe ich mich mit 16 verliebt und danach häufiger, mehr oder weniger stark. Bei den ersten Malen musste ich kämpfen, von der anderen Seite kam da nicht so viel zurück. Es war alles überschaubar, und daraus ist auch nichts Großes entstanden. Im BWL-Studium gab es dann zwei etwas längere Beziehungen, die aber auch nicht über Jahre gingen. +Was ist schiefgegangen? +Schiefgegangen ist nichts, es waren gute Freundschaften. Ich habe nur gemerkt, dass eine heute von vielen gelebte Form von Sexualität meinem eigenen Anspruch, meiner Würde und der meiner Partnerinnen nicht entspricht. Irgendwann habe ich mich dann gegen die üblichen Liebeleien entschieden. Die Veränderung in meinem Leben hatte viele Facetten. Die Sexualität war da ein Bereich, der sich mir in einem neuen Licht gezeigt hat. +Wie zeigt sich Sex, wenn man keinen Sex hat? +Ich leugne meine Geschlechtlichkeit auch heute nicht. Dass ich sie nicht auslebe, heißt nicht, dass ich sie unterdrücke. Das darf und kann ich nicht. Denn dann schneide ich etwas ab, was für meine Person ganz wesentlich ist. Die Sexualität ist ein wunderbares Geschenk, der Geschlechtsakt ist die größte Form körperlichen Sich-Schenkens. Auch die Lust ist eine Gabe Gottes! Die Sexualität zu verdrängen ist unnatürlich und ungesund. Sie gehört zu Mann und Frau dazu, man kann sie nicht einfach wegmachen. Die Frage ist, wie ich mit ihr umgehe. +Nämlich wie? +Auch verheiratete Menschen müssen mit Rücksicht aufeinander und auf die Natur enthaltsam leben können. Wenn sie dann mal nicht zusammenkommen können, wird der nächste Geschlechtsakt zu einer umso größeren Lust und Freude. Was Frau und Mann in der Ehe manchmal aushalten müssen, muss ich halt permanent einüben. Mit der Zeit werde ich aber auch immer weniger versucht. +Wie schafft man es, so diszipliniert zu bleiben? +Die sehr lebendige Beziehung zu Gott und zu vielen Menschen hilft mir dabei. Ich hätte es vor 15 Jahren auch nicht geglaubt, dass ich jemals so frei und ausgeglichen mit der sexuellen Begierde in Enthaltsamkeit leben kann. Ja, ich bin nach wie vor ein ganzer Mann, aber ich kann eine sexuelle Versuchung schnell überwinden. Wenn ich in Versuchung gerate, dann hilft es mir tatsächlich, zu beten. +Eine Art Ersatzbefriedigung? +Die Spiritualität hat ja auch eine körperliche Seite – wir sind nur Mensch als Ganzes. Die Seele braucht einen gesunden "Behälter". Im Umgang mit Menschen kann ich meine Affektivität leben und Gefühle zeigen, Gefühle von anderen aufnehmen und als körperlicher Mensch auftreten. +Als gut aussehender junger Mann in einer exponierten Position übst du auf Frauen sicher eine gewisse Attraktivität aus. +Es gibt ja auch umgekehrt viele attraktive Frauen, die das kirchliche Leben mitgestalten, und es ist eine schöne Erfahrung, von ihnen beispielsweise ein Lob für eine Predigt zu bekommen. Ich kann heute sagen: Ich freue mich einfach über dieses Geschöpf Gottes. Wenn eine Frau einen herausfordert, muss man natürlich aufpassen. Ich mache das Spiel nur innerhalb der nötigen Grenzen mit: Ich erwidere die positive Haltung und die Sympathie, bleibe aber auch distanziert und wahre meine Rolle. +Aber wozu überhaupt die ganze Mühe? +Mein persönliches Motiv: Ich will ganz Gott gehören und ganz da sein für die Menschen – ungeteilt. Das kann ich nur dann, wenn ich niemanden sonst an meiner Seite habe. Das ist das Hauptargument für den Zölibat als eine Art der Keuschheit. Diese Tugend kennt heute fast keiner mehr. Allerdings sollte jeder Mensch "keusch" leben, denn das heißt, bewusst seine Sexualität aus Liebe leben, um immer reifer und freier zu werden. Das kann ich nur, wenn ich die Grenzen in meiner Geschlechtlichkeit kenne. +Was spricht gegen freie Liebe? +Wenn ich zum Beispiel eine Frau habe, mit der ich Kinder zeuge, eine andere, mit der ich meine Lust auslebe, und eine dritte, die ich personal liebe, also geistig und platonisch. Wenn ich diese drei Ziele und Inhalte einer guten Ehe trenne und wahllos auf verschiedene Menschen aufteile, dann habe ich nicht die Ordnung, die unserer menschlichen Sehnsucht entspricht. Diese drei Prinzipien kann der reife Mensch nur in einer einzigen Beziehung vereinen. +Lady Gaga singt in einem ihrer Songs über Sex mit Jesus. Ein komischer Gedanke, oder? +Allerdings! Der christliche Glaube beruht darauf, dass Gott in Jesus von Nazareth auf die Erde kommt, das ganze menschliche Leid durchmacht, aus Liebe zu uns stirbt und dies durch seine Auferstehung von den Toten "beweist". Jesus ist nicht jemand, den ich unter sexuellen Vorzeichen lieben kann. Das ist für mich eine gruselige Vorstellung, weil dann ein ganz falsches Verhältnis zu ihm, dem Sohn Gottes, entstanden ist. +Die katholische Kirche ist in ihrer Sexualmoral seit Jahrzehnten unnachgiebig. Zu Recht? +Es ist ein Ideal, das sich an der Wahrheit orientiert. Wenn die Kirche an der Sexualmoral rütteln würde, ganz unabhängig von der Frage des Zölibats, dann wäre ein Garant für moralische Wertmaßstäbe einfach weg. Es muss eine klare, anspruchsvolle Orientierungslinie geben, gerade für Jugendliche. Denn die Welt gaukelt ihnen vor, es sei alles möglich. Das ist nicht wahr. Die junge Generation wird es in zehn Jahren sehr schwer haben, ihr Leben selbst zu bestimmen. Es gibt so viel Verunsicherung. Eine Kirche, die klare Orientierung für lebenswichtige Entscheidungen gibt, ist da sehr wichtig. +Aber passt ihre Strenge ins liberale 21. Jahrhundert? +Mit unseren Werten und Prinzipien laufen wir natürlich total gegen den Zeitgeist. Wenn ein Geistlicher oder eine Ordensschwester in einer Talkshow sitzt und sagt, dass er oder sie zölibatär lebt, ist es ein Anstoß, eine Provokation. Aber die öffentliche Einstellung wandelt sich. Zur Zeit der sogenannten sexuellen Revolution wären Zölibatäre verständnislos ausgepfiffen worden. Mittlerweile erntet jemand doch mehr Respekt, wenn er gut begründet aufsteht und sagt: Ich entscheide mich bewusst für ein Leben in Enthaltsamkeit. +Den Zölibat hat es selbst in der katholischen Kirche nicht immer gegeben. +Man könnte den Zölibat lockern, aber da würde man etwas Großartiges verlieren: nämlich ein deutliches Zeichen für Gottes ungeteilte Liebe zu uns Menschen. Dann würde man auch die Werte der unterschiedlichen Stände aufgeben. Verheiratete lernen von den Zölibatären und umgekehrt. Wenn Priester den Zölibat nicht einhalten können, ist nach meiner Beobachtung in aller Regel etwas faul geworden in ihrer Beziehung zu Gott und zu den Menschen. Sie schauen dann meines Erachtens zu sehr auf sich, anstatt weiter den geistlichen Weg der Ganzhingabe zu gehen, um ihren Auftrag zu erfüllen. +Manche sagen, dass die priesterliche Enthaltsamkeit ein Grund für die Missbrauchsfälle in der Kirche ist. +Nein, es ist inzwischen wissenschaftlich erwiesen, dass es da keine Korrelation gibt. Es ist ja auch belegt, dass nichtzölibatäre Männer in weitaus höherem Maße Missbrauch betrieben haben als Priester. Dieses Ergebnis ist zwar eine Entlastung für die Kirche, mildert aber nicht die Schwere der Vergehen ihrer Mitarbeiter. +Wie werden Priesterseminaristen auf die "Entsagung fleischlicher Gelüste" vorbereitet? +Vielfältig. An erster Stelle durch das Zusammenleben in der Seminargemeinschaft, das auf bestimmten Prinzipien aufgebaut ist: zum Beispiel auf Treue, Nächstenliebe, Demut. Auch gibt es in jedem Seminar einen sogenannten Spiritual, der ein absolutes Vertrauensverhältnis zu den Studenten haben muss und wie ein Arzt zum Schweigen verpflichtet ist. Der kann ihnen auf ihrem Weg helfen und spricht auch von sich aus regelmäßig das breite Thema der Sexualität an. Auch die Beichte gehört dazu. +Was hört der Beichtvater dann so? +In der Beichte kann man wieder von Neuem anfangen, wenn man gefallen ist. Da kommen auch die sexuellen Sünden zur Sprache. Wenn sich ein Student beispielsweise vorgestellt hat, wie eine bestimmte Frau nackt aussehen würde, und dann masturbiert hat. +Gibt es Momente, in denen es dir schwerfällt, das Versprechen gegenüber der Kirche zu halten? +Wenn es mir allgemein schlechter geht, wenn ich träge, faul und unmotiviert bin, bin ich auf allen Ebenen angreifbarer. Da habe ich weniger Lust zu beten und weniger Lust, meinen Diensten in der Gemeinde nachzugehen. Und dann besteht die Gefahr, dass man auch bei der eigenen Keuschheit die Disziplin verliert und nicht in der nötigen Spannung lebt. Es gibt Situationen, in denen ich länger kämpfe. Wie jeder Mann muss auch ich beim Umgang mit einer Frau achtsam sein, damit ich meine Aufmerksamkeit auf ihr Wesen lenke und nicht auf ihre äußerlichen Reize. +Redet man mit den Seminaristen über seine zölibatären Herausforderungen? +Nein, zumindest in deutschen Seminaren nicht so viel. Wenn, dann nur unter ausgesuchten Freunden. Sexualität ist nun mal auch ein sehr intimes Thema. Wenn aber mal einer der Mitbrüder auffällig ist, wenn sich zum Beispiel jemand permanent mit derselben Frau zeigt, da überlegen wir schon gemeinsam, wie wir ihm "helfen" können. +Was vermisst du am Eheleben am meisten? +Ganz klar die eigenen Kinder. Hin und wieder kommt bei mir schon eine Art Neid auf, wenn ich auf Freunde blicke, die schon eine ganze Familie gegründet haben. Manchmal denke ich mir natürlich auch, wie es wäre, wenn ich eine Frau hätte. Aber wenn ich verheiratet wäre, würde ich womöglich denken, dass es doch schön wäre, Priester zu sein. diff --git a/fluter/wenn-kollegen-freunde-sein-sollen.txt b/fluter/wenn-kollegen-freunde-sein-sollen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..76448ad4e788d6ed4e1014e9fd65b9370cbacb8d --- /dev/null +++ b/fluter/wenn-kollegen-freunde-sein-sollen.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Jeden Morgen treffen sich hier alle zum großen Miteinander. Jetzt gerade steht da eine Handvoll Erwachsener, reißt die Arme dreimal in die Höhe und ruft: "Umsatz!" Dann umarmen sie sich – und gehen an die Arbeit. "Unser Betriebsklima zeichnet sich durch Wahrhaftigkeit, Achtsamkeit und Freundschaft aus", heißt es in einer Sidoun-Broschüre. Der Geschäftsführer nennt sich selbst "Samma". Den Namen habe ihm sein Meister gegeben, sagt er – der verstorbene indische Guru Bhagwan, den er mit Anfang 20 in Indien kennengelernt hat und der seinen Anhängern Meditation und ein Leben ohne viel privaten Besitz predigte; wobei er selbst schon mal mit einem seiner 93 Rolls-Royce vorfuhr. +Zum Mittagessen gibt es Spaghetti Bolognese, frisch zubereitet von der Betriebsköchin Frau Jäger. Sie ist die Einzige, die bei Sidoun nicht mit Vornamen und "du" angesprochen wird. Die meisten Mitarbeiter essen schnell und gehen dann zurück an die Arbeit. So wie Martina, die seit 22 Jahren bei Sidoun arbeitet. Sie ist damit eine der Dienstältesten, ihr Gehalt ist trotzdem eines der niedrigsten. Etwa 1.800 Euro netto landen im Monat auf ihrem Konto, sagt sie. "Wenn ich in den Urlaub fahre oder mir die Zähne machen lasse, dann hole ich mir schon einmal was extra", sagt sie. "Ansonsten brauche ich das nicht." +Seine Mitarbeiter bezeichnet Gérard Sidoun als "Mitunternehmer". Denn: Jeder bekommt zwar monatlich einen fixen Betrag ausgezahlt, aber einmal im Monat wird in einer Konferenz die Finanzlage des Unternehmens offengelegt. Danach können alle per E-Mail angeben, ob sie in diesem Monat zusätzlich Geld ausbezahlt bekommen möchten. +Bei Sidoun arbeite man füreinander. Nicht nur mitei­nander. So steht es in einer Mappe, die jeder Angestellte bekommt. "Freundschaftlichkeit" nennt Martina diesen Pfeiler der Unternehmenskultur. Neben ihrer Tätigkeit im Vertrieb leitet sie sogenannte Kaizen-Sitzungen. Nach dem japanischen Konzept soll sich das Betriebsklima durch Vertrauens- und Kommunikationsübungen ständig zum Besseren verändern. Die Kaizen-Sitzungen hätten ihr geholfen, sich im Arbeitsalltag von Sidoun zurechtzufinden, sagt die 29-jährige Jessi, die aus dem öffentlichen Dienst zu Sidoun gewechselt ist. Der Umgang miteinander hier sei gewöhnungsbedürftig, aber schön: "Ich kann meinem Chef um die Ohren knallen, was mir auf dem Herzen liegt. Dann diskutiert man das aus, und danach ist es gegessen." +Neben Freundschaftlichkeit und Achtsamkeit, daraus macht Geschäftsführer Sidoun kein Geheimnis, zählt im Unternehmen vor allem Leistung. Auf Tafeln im Flur steht, welcher Vertriebsmitarbeiter in welchem Monat wie viel Umsatz gemacht hat. Bei großen Aufträgen darf der Verkäufer einen goldenen Gong schlagen. +Sidoun will Marktführer im Bereich der Baumanagement-Software werden. Warum? "Ich will einfach immer der Beste sein", sagt Gérard Sidoun. Überreste seiner Erziehung. Er ist studierter Mathematiker, ein strategisch denkender Mann. Meditation nennt er ein "interessantes Werkzeug". Unter diese Kategorie fallen auch Mitbestimmungsrechte und flache Hierarchien, enge soziale Kontakte – oder zumindest die Idee von alldem: Das schaffe ein großes Verantwortungsgefühl für die Firma und führe im besten Fall zum beherzten Einsatz aller Mitarbeiter. +Es sei nicht einfach, die richtigen Leute für so ein Unternehmen zu finden. Sidoun sagt, er achte beim Bewerbungsgespräch darauf, ob jemand "mit sich in Kontakt" sei. Das verrate ihm die Körpersprache oder – ganz einfach – die Antwort auf die Frage: "Wie geht's?". Doch auch von denen, die beim ersten Eindruck überzeugt haben und eingestellt wurden, sind viele nach kurzer Zeit wieder gegangen. Vertriebsleiterin Karoline, die 2005 bei Sidoun angefangen hat, sagt, aus ihrem alten Team arbeite kaum noch jemand in der Firma. Ein anderer Mitarbeiter sagt, die Belegschaft habe sich im letzten Jahr wie eine Schlange gehäutet. +Einfach bleiben und Dienst nach Vorschrift machen, das sei bei Sidoun dauerhaft keine Option. Die meisten, sagt Martina, gingen von allein, wenn sie merkten, dass sie hier nicht hinpassten. Die Achtsamkeit, die Umarmungen, das gemeinsame Kaizen – für manche ist es wohl einfach ein bisschen viel der "Freundschaft". + + diff --git a/fluter/wenn-mann-kleid-traegt-vorurteile.txt b/fluter/wenn-mann-kleid-traegt-vorurteile.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ee01d22f4c6cb300d3936527ec7626d46088e3c3 --- /dev/null +++ b/fluter/wenn-mann-kleid-traegt-vorurteile.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Natürlich war es kein Zufall, dass mein erstes Kleid in die Zeit fiel, in der ich nach einem Vierteljahrhundert auf dieser Welt das erste Mal Männlichkeit kritisch zu hinterfragen begann:Wann war ein Mann ein richtiger Mann?Und bald darauf: War ich denn überhaupt einer? +Ein Mann, so wie ich es gelernt hatte, war ein Mensch, der seinen Kumpels bei der Begrüßung dreimal fest auf den Rücken schlug, um den Anschein von Zärtlichkeit zu vermeiden. Der auf die Frage "Wie geht's dir?" seinen bisherigen Tagesverlauf schilderte. Der in der S-Bahn die Beine so weit spreizte, als gehörte ihm der ganze Waggon. Ein Mann weinte nicht (und wenn, dann nur vor Freundinnen), und ein Kleid trug er schon gar nicht. +Dabei gab es eine Zeit, in der nicht in erster Linie das Geschlecht die Kleidung bestimmte. Bis ins 18. Jahrhundert war sie zuallererst Ausdruck der Standeszugehörigkeit. Und während Zweckmäßigkeit und Nüchternheit den Stil des aufsteigenden Bürgertums prägten, stellte der Adel den Luxus zur Schau: Man trug Perücken, Röcke und hohe Schuhe. Ganz gleich, ob Mann oder Frau. Doch über Jahrhunderte veränderte sich die Kleiderordnung kontinuierlich. Sie diente jedoch stets dem Erhalt bestehender Machtverhältnisse. +Und diese veränderten sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts, als sich das Bürgertum gegen den Adel auflehnte und schließlich durchsetzte. "So wurde mit dem Adel auch dessen Kleidung abwertend feminisiert, das Bürgertum sowie seine Lebensführung und Moral wurden hingegen als männlich definiert und idealisiert", schreibt die Schweizer Geschlechterforscherin Michela Seggiani. Das Bürgertum schuf dadurch ein unverrückbares Zwei-Geschlechter-Modell, in dem Mann Frau, vermeintlich von Natur aus, überlegen war. Männlichkeit definierte sich fortan über Arbeit und Verstand. Weiblichkeit über "das Mindere". Und um beides zu unterscheiden, trug Mann Hose und Frau Kleid. Erdachte Geschlechterrollen, geronnen in der Mode der Zeit. +Gut 200 Jahre später. Bei meiner Mutti zu Hause an der Wohnzimmerwand hängt seit Kurzem eine Collage von Kinderfotos meiner jüngeren Schwester und mir: zwei pausbäckig grinsende Rotschöpfe, die Fremde gut und gern für Zwillinge halten könnten. Die sich optisch durch fast nichts unterscheiden – außer ihrem Style: Sie trägt Dirndl und Baumwollkleidchen und dann und wann eine Hose. Ich trage Cordhosen, Lederhosen, kurze Hosen, gelbe Hosen, Schneeanzug. Auf keinem Bild trage ich ein Kleid. +Frauen hatten sich im vergangenen Jahrhundert das Recht erkämpft, zu wählen, waren an die Universitäten geströmt und in die Politik. Sie hatten dafür gekämpft, Hosen tragen zu dürfen, und spätestens mit Coco Chanel wurde das auch en vogue. Und Männer? Waren Männer geblieben. Als hätten sie seit 1800 nichts anderes versucht, als die Emanzipation der Frauen zu verhindern – anstatt sich um die eigene zu scheren. Wo waren sie, die Männer mit Kleid? Ich suchte sie – ich fand sie nicht. Nicht auf der Straße, nicht im Film und auch nicht in derSuchmaske bei Zalando. +"Weibliche Kleidung hat absolut kein soziales Kapital für einen Mann, weil sie eine Reihe von Eigenschaften verkörpert, die unsere Gesellschaft geringschätzt", sagt Marjorie Jolles, Associate Professor of Women's and Gender Studies an der Roosevelt University in Chicago. "Ein Mann, der die Codes einer unterdrückten Klasse nachahmt, ist vor allem eines: lächerlich." +So war auch der Schauspieler und Musiker Billy Porter vor Hohn nicht gefeit, als er bei der Oscarverleihung 2019 mit einem ausgefallenen Smokingkleid aus schwarzem Samt über den roten Teppich stolzierte. Prompt schrieb der Moderator Piers Morgan auf Twitter: "Darf ich sagen, dass das absolut lächerlich aussieht?" +Billy Porter antwortete darauf später in Stephen Colberts "Late Show": "Wenn Frauen Hosen tragen, dann ist das powerful, dann ist das stark, gesellschaftlich akzeptiert, und es ist mit dem Patriarchat und Männlichsein assoziiert. Wenn aber ein Mann ein Kleid anzieht, dann ist das widerlich. Was sagst du mir damit: Männer sind stark – Frauen sind widerlich?" +Wie wir Hosen und wie wir Kleider sehen, sagt verdammt viel darüber, welchen Stellenwert "Weiblichkeit" und "Männlichkeit" in unserer Gesellschaft noch immer haben. Und wer mit der geschlechtlich genormten Kleiderordnung bricht, bricht mit der Hierarchie als Ganzem. Das ist für viele Menschen ein Grund, all jene zu verspotten, deren Aussehen und Kleidung unpassend scheinen: etwa trans Personen oder queere Menschen. +Dass meine Kleider mehr waren als ein modisches Statement, bemerkte ich bald an mir selbst: Mit Kleid fühlte ich mich frei und verletzlich; ich bewegte mich graziler, und die Leute auf dem Gehweg wichen mir nicht mehr aus. Die Blicke der anderen: überrascht und belustigt. Nicht selten aber auch verwirrt und verächtlich. Unterbewusst teilte ich die Welt bald auf in Orte, wo es mir angenehm war, Kleider zu tragen – und wo nicht: gern in Berlin-Neukölln, den Donauauen, bei Hausfeten – nicht so gern in Oberbayern, in U-Bahnen, in Eckkneipen. Irgendwo dazwischen die Wiener Innenstadt. +Anfang Juni. Die Nacht war warm. Ich war zu einer Party eingeladen und hatte mir mein neues Lieblingskleid angezogen. Weit ausgeschnitten, eng und mit bunten Punkten, die wie Wasserfarbentupfer ineinanderliefen. Die Freundin, mit der ich an diesem Abend unterwegs war, hatte mir ein Kompliment gemacht. Wir gingen die Gumpendorfer Straße in Wien hinunter, wo sich im Sommer Straßenlokal an Straßenlokal reiht. +Die Bombe zündete, als wir ein Lokal passierten, vor dem sich zehn Raucher zusammengeschart hatten: Beim Anblick des Kleides fingen die Männer an zu johlen, zu pfeifen, zu schreien, zu drohen (die genauen Worte verstand ich nicht). Erst stieg Angst in mir auf, dann Wut, schließlich kam langsam die Euphorie zurück. Und als ich am nächsten Morgen vor meiner Kleiderstange stand, hatte ich die Wahl: Hose oder Kleid, Mann oder Nichtmann, Mitläufer oder Deserteur. Diese Wahl haben die meisten nicht. + diff --git a/fluter/wenn-sie-wieder-auftauchen-sind-sie-tot.txt b/fluter/wenn-sie-wieder-auftauchen-sind-sie-tot.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..43066f6158d02c7129d9b1725dcb2ad8731f8dab --- /dev/null +++ b/fluter/wenn-sie-wieder-auftauchen-sind-sie-tot.txt @@ -0,0 +1,35 @@ +fluter.de: Amtlichen Zahlen zufolge ist der Verbleib von mehr als 27.000 Personen in Mexiko unbekannt. Warum verschwinden so viele Menschen? +Carlos Zazueta: An den offiziellen Zahlen lässt sich nicht klar ablesen, wie viele Fälle vermutlich Verbrechen sind. Nicht klar ist ebenso, in wie vielen Fällen staatliche und nichtstaatliche Akteure involviert sind, und wie oft Menschen aus eigenem Willen untertauchen – auch das ist ja möglich. Die Regierung argumentiert, dass ein Großteil der Vermissten freiwillig verschwindet. +Es bleibt nur ein Foto: Dieser Mann zeigt einen von über 27.000 Menschen in Mexiko, deren Verbleib ungeklärt ist. +Aber das glauben Sie nicht? +Nein, da überall im Land Leichen auftauchen. Letztes Jahr haben wir 10.000 Leichen gezählt, die die Behörden nicht identifizieren konnten. Bei 27.000 verschwundenen Menschen und 10.000 unidentifizierten Leichen kann man nicht behaupten, dass diese Leute mehrheitlich nur den Kontakt zu ihrer Familie abbrechen wollten. Das sind Verbrechen, die vor allem im Zusammenhang mit der organisierten Kriminalität im Drogenhandel stehen. Manchmal sind auch staatliche Organe involviert. Solange es so einfach ist in Mexiko, jemanden verschwinden zu lassen, ohne dass es Konsequenzen hat, wird es weiterhin passieren. + + +Inwiefern hat es keine Konsequenzen? +Bis auf sehr wenige Ausnahmen wird das Verschwindenlassen nicht bestraft. Wenn es irgendein Problem gibt, sagen wir im Drogenhandel oder ein politisches Problem, dann kann es günstig erscheinen, dieses Problem zu lösen, indem man jemanden verschwinden lässt. Niemand außer den Angehörigen wird ernsthaft versuchen, die Person zu finden. +Sind bestimmte Menschen besonders gefährdet, Opfer einer solchen "Problemlösungsstrategie" zu werden? +Das mit letzter Sicherheit zu sagen ist schwierig, da die amtlichen Statistiken fehlerhaft sind. Es scheint, dass junge Männer zwischen 15 und 25 besonders oft Opfer des Verschwindenlassens werden. Es gibt aber auch viele weibliche Opfer, besonders in Fällen, die im Zusammenhang mit Menschenhandel stehen. +Wann und wie hat es begonnen, dass so viele Menschen verschwinden? +Die ersten Fälle gab es Anfang der 70er-Jahre. Die waren politisch motiviert, in Lateinamerika war das in dieser Zeit üblich. Während der 90er-Jahre gab es deutlich weniger Fälle. Doch vor etwa zehn Jahren begann eine neue bundesstaatliche Strategie im Kampf gegen das organisierte Verbrechen, der "War on Drugs" (Kampf gegen die Drogen). Seitdem nimmt das Verschwindenlassen wieder zu. Knapp die Hälfte der 27.000 Vermissten ist in den letzten Jahren unter der Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto verschwunden. +Was hat sich während seiner Regierungszeit geändert? +Das Problem ist, was sich nicht geändert hat. Er hat die Strategie des "War on Drugs" fortgesetzt. Allerdings hat der Präsident zuletzt begonnen, diese Politik zu überdenken und zu korrigieren. + + +Wie genau führt die Strategie im Kampf gegen die Drogen dazu, dass so viele Menschen verschwinden? +Es war eine politische Entscheidung, dass auch die Armee und die Marine direkt gegen die Drogenkartelle vorgehen sollen. Soldaten sollten ein Problem beseitigen, für dessen Lösung andere besser geeignet sind. Sie sind Soldaten, keine Polizisten und erst recht keine Staatsanwälte. Sie sind nicht dazu ausgebildet, Verbrechen zu untersuchen, sondern dazu, das Land vor Feinden zu schützen. Wenn sie so jemanden losschicken, um sehr komplexe Verbrechen zu lösen, wird es Missbrauch geben. +Amnesty International berichtet, dass die als vermisst Gemeldeten in vielen Fällen zuletzt gesehen wurden, wie sie von Polizei oder Militär festgenommen wurden. Was geschieht vermutlich in solchen Fällen? +Das ist schwierig zu beurteilen ohne die spezifischen Informationen zu einem Fall. Um ein Beispiel zu nennen: Im Norden Mexikos war es 2009 und 2010 üblich, dass die Polizei jemanden festgenommen hat und es wirkte wie eine normale, vielleicht etwas willkürliche Festnahme. Die Leute dachten, das Problem mit der Polizei könnten sie lösen, indem sie sich später einen Anwalt nehmen. Aber die Festgenommenen kamen niemals auf der Polizeistation an, weil sie an kriminelle Banden übergeben wurden. Eine andere Möglichkeit in einem solchen Fall ist, dass die Festgenommenen gefoltert wurden, um von ihnen Informationen über Verbrechen vor Ort zu bekommen. Es wurde dabei womöglich nicht mal angenommen, dass sie selbst kriminell sind, sondern nur, dass sie mitbekommen, was passiert. In solchen Fällen tauchen später nur ihre Leichen auf, die Spuren von Folter tragen. +Polizei und Militär sind in manchen Fällen also involviert? +Unserer Einschätzung nach ist es ziemlich üblich, dass beim Verschwinden von Personen staatliche Organe zu einem gewissen Grad involviert sind. Manchmal direkt, wie bei den Festnahmen. Manchmal indirekt, weil sie wissen, dass an einem Ort Menschen durch kriminelle Organisationen verschwinden, aber nichts unternehmen, um weitere Fälle zu verhindern. Außerdem ist es in jedem Fall ihre Aufgabe, diese Verbrechen zu untersuchen, so dass die Verantwortlichen vor Gericht kommen. + + +Wie beeinflusst das massenhafte Verschwinden von Personen das Leben der Menschen in Mexiko? +Es kommt auf die Region an. In manchen Teilen Mexikos haben die Leute so viel Angst, dass sie ihr Leben ändern, um Risiken zu minimieren. Sie verlassen nachts nicht mehr das Haus, sie gehen am Wochenende nicht mehr mit Freunden trinken. Und sie fahren im Dunkeln nicht mehr mit dem Auto von einer Stadt zu einer anderen. Denn das könnte verdächtig wirken, auf die Kriminellen und auf die Behörden, die sie anhalten würden und vermuten könnten, dass sie mit dem organisierten Verbrechen zu tun haben. An anderen Orten, an denen nicht so viele Menschen verschwinden, haben die Leute ihr Leben nicht groß geändert. Aber sie demonstrieren zusammen mit den Familien der Opfer und stellen die Politik der Regierung in Frage. +Was passiert, wenn Angehörige zur Polizei gehen und jemanden als vermisst melden? +Üblicherweise wird ihr Anliegen von der Polizei erstmal ignoriert. Die Polizei lässt sich Zeit, einen Bericht zu schreiben und die Suche nach dem Vermissten zu beginnen. Oft bis zu drei Tage lang, dabei sollte sie augenblicklich starten, sonst sind die Chancen gering, die Person zu finden. Außerdem findet die Suche oft nur auf dem Papier statt. Es kommt auch manchmal vor, dass Behörden behaupten, Opfer seien kriminell gewesen oder in gewisser Weise selbst schuld: etwa dass jemand zum Drogenkartell gehört hat oder mit Kartellmitgliedern befreundet war. Diese Behauptungen entbehren oft jeder Grundlage. Aber sie beschämen und verletzen die Angehörigen und können dazu führen, dass die Familien aufhören, nach dem Opfer zu suchen und Gerechtigkeit einzufordern. + + +Der Fall der 43 Lehramtsstudenten, die im September 2014 verschwunden sind, hat die ganze Welt aufgerüttelt. Die internationalen Experten, die die Untersuchung dieses Falls begleiten, beklagen, dass die Regierung den Zugang zu neuen Informationen begrenzt, und haben die Zusammenarbeit mit der Regierung mittlerweile aufgekündigt. Was genau passiert da? +Wenn beispielsweise die Staatsanwaltschaft Angehörige des Militärs befragt, dürfen sie nicht dabei sein. Auf Informationen, die das Militär über die Nacht der Tat hat, dürfen sie nicht zugreifen. Dazu kommt, dass es eine extrem komplexe Untersuchung ist: Das Verschwinden der Studenten hängt mit anderen Verbrechen zusammen. Aber zu den Ermittlungen in diesen Fällen bekommen die Experten keinen Zugang. Die Ermittler erklären, dass diese Fälle nicht mit dem Verschwinden der Studenten verbunden seien und sie deshalb offiziell nicht zur Untersuchung gehören. +Wie oft tauchen Verschwundene wieder auf? +Es kommt darauf an. Wenn sie nicht freiwillig untergetaucht sind, nur in einem kleinen Prozentsatz der Fälle. Die meisten kehren nicht zurück. Und wenn sie wiederauftauchen, sind sie tot. diff --git a/fluter/wenn-uns-andere-als-radikal-bezeichnen-ist-mir-das-egal.txt b/fluter/wenn-uns-andere-als-radikal-bezeichnen-ist-mir-das-egal.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3fd481c76956afed3232790a194170ea2cea8527 --- /dev/null +++ b/fluter/wenn-uns-andere-als-radikal-bezeichnen-ist-mir-das-egal.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Khoury heißt eigentlich anders. Nur anonym hat er sich bereit erklärt, seine Ansichten über seine Religion und das Leben in Deutschland zu äußern, die die meisten Deutschen wohl als ziemlich radikal einordnen würden. Wobei das auch schon wieder so ein Wort ist, das Khoury aufregt. "Wenn uns andere als radikal bezeichnen, ist mir das egal. In Deutschland glauben die Menschen nichts. Die wollen Christen sein, aber sie sind gar nichts." +Ein Getränk lehnt Khoury ab, wie er sich ohnehin vor dem Café nicht ganz wohl zu fühlen scheint, viel auf dem Stuhl hin und her rutscht. Er sei 22 und gehe seit drei Jahren in eine Moschee. Er habe es damals nicht mehr ausgehalten, "wie schlecht alle in Deutschland über den Islam reden". Khoury erzählt von einer Talkshow, in der Muslime mit Vorwürfen überhäuft worden seien. Dort habe es geheißen, der Islam sei konservativ und frauenfeindlich. "Für mich bedeutet konservativ etwas Gutes. Wer soll denn die Kinder erziehen? Die Frauen!" +Am Kottbusser Tor herrscht an diesem späten Nachmittag wie immer viel Bewegung, Menschen aller Länder, Ansichten und Religionen machen ihre Einkäufe. Für Khoury ist das aber alles nur Fassade. "Es geht nicht gerecht zu in Deutschland." Er erzählt aufgeregt von einem etwas älteren Freund, der immer gut in der Schule gewesen sei, aber jetzt bei einer Versicherung arbeite und noch nicht mal ein Auto besitze. "Er sagt mir immer: ‚Bruder, die lassen uns nicht nach oben. Die gute Arbeit kriegen immer nur die Deutschen.'" +Einwände mag Khoury nicht so gern. Dass auch viele Deutsche kein Auto besitzen, obwohl sie arbeiten, ist für ihn kein Gegenargument. "Hier bin ich immer nur Ausländer, obwohl ich in Deutschland geboren bin. Dabei war ich noch nie im Libanon, wo meine Eltern herkommen." +Angesprochen auf den "Islamischen Staat", erzählt Khoury von einem Bekannten, der nach Syrien habe reisen wollen, um dort für den IS zu kämpfen. Er sei aber in der Türkei gestoppt und nach Hause geschickt worden. "Ich finde es nicht gut, dass der IS so viele Menschen tötet, aber ich verstehe, warum die das machen. Die USA töten schließlich auch viele Menschen, noch mehr als der IS." +Auf die Frage nach seinem Auskommen reagiert Khoury ausweichend. Er suche gerade etwas Neues. Zuvor habe er Pakete ausgetragen. Auf keinen Fall werde er bei McDonald's arbeiten. "Ein Freund von mir sagt immer: ‚Diese Drecksarbeit, damit bist du da, wo sie dich haben wollen!'" +An der Bushaltestelle laufen Mädchen vorbei, sie lachen laut. "Ich bin dafür, dass in Deutschland strenge Regeln gelten", sagt Khoury. Er macht eine Pause und sagt: "Ich weiß nicht, ob jede Frau immer Kopftuch tragen muss. Aber Respekt vor dem Mann haben, das muss jede Frau." Am Kotti wird es mit jeder Minute voller, lauter, bunter. Khoury entschuldigt sich. Er müsse jetzt los. diff --git a/fluter/wenn-wir-sie-verlieren-wird-es-hier-ungemuetlich.txt b/fluter/wenn-wir-sie-verlieren-wird-es-hier-ungemuetlich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f893c2d03ac000cf5f1b9be04502f9d1fe585172 --- /dev/null +++ b/fluter/wenn-wir-sie-verlieren-wird-es-hier-ungemuetlich.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +fluter.de: Herr Mansour, seit Jahren beraten Sie muslimische und nichtmuslimische Eltern, die sich sorgen, ihre Kinder könnten sich radikalisieren. Was raten Sie ihnen? +Ahmad Mansour: Die Eltern, die bei uns anrufen, haben Zweifel und Ängste, weil sie ihr Kind nicht mehr erreichen. Die Kommunikation in der Familie funktioniert nicht mehr. Viele wissen nicht mehr weiter. Da geht es erst mal darum, ihnen zuzuhören. Wenn wir dann tatsächlich radikale Tendenzen feststellen, überlegen wir gemeinsam mit den Eltern eine Strategie, wie wir die jungen Menschen zurückgewinnen können. Wichtig dabei ist, die Eltern wieder zu Bezugspersonen zu machen, ohne gleich das Thema Religion anzusprechen. Eine gesunde Kommunikation ist die Grundlage dafür, deradikalisierend auf das Kind einwirken zu können. Dahinter steckt oft eine langjährige Arbeit von Berater/-innen und Eltern. +Woran erkennt man Ihrer Erfahrung nach, dass sich ein Jugendlicher radikalisiert? +Auf jeden Fall nicht an der Kleidung oder der Bartlänge. Dafür sind ausführliche Gespräche mit den Jugendlichen notwendig. Ob sie sich radikalisiert haben, erkennt man zum Beispiel an ihrer Rhetorik, an ihrer Argumentation und an ihrem Verhalten dem anderen Geschlecht gegenüber. Wenn Jugendliche andere Lebensstile verteufeln, ihr Umfeld von ihren eigenen Einstellungen überzeugen wollen, wenn sie ihren Alltag komplett nach strengen Regeln zu organisieren beginnen oder selbst ihre Gefühle nur auf Basis der Ideologie leben, dann kann man von radikalen Tendenzen sprechen. +Sie selbst haben sich in Israel von gewaltverherrlichenden Muslimbrüdern faszinieren lassen. Wie schwer ist es für junge Menschen, sich ohne fremde Hilfe wieder von radikalen Gruppierungen zu lösen? +Wenn man einer sektenartigen Gruppierung beitritt, verliert man viele andere soziale Kontakte.Als ich damals bei dieser Gruppe war, hatte ich nur mit diesen Leuten zu tun. Sie waren meine Freunde, meine Brüder. Als ich ausgestiegen bin, ist meine ganze soziale Struktur zusammengebrochen. Oft verhindert die Angst vor genau dieser Situation, dass Jugendliche aussteigen. Dafür brauchen sie Hilfe von außen. Die Motivation zum Ausstieg muss aber von ihnen selbst kommen. Und dafür müssen sie Zweifel an ihrer Gruppierung und Ideologie zulassen und lernen, kritische Fragen zu stellen. Das hängt sehr von der Persönlichkeit ab. +Wie kann man verhindern, dass sich Jugendliche überhaupt von radikalen Botschaften angesprochen fühlen? +Man kann sie immunisieren, indem man ihr kritisches und reflektiertes Denken fördert und ihr Selbstwertgefühl stärkt. Und zwar nicht erst, wenn die Jugendlichen in Kontakt mit radikalen Ideologien gekommen sind, sondern schon viel früher. +Haben sich die Anfragen an Ihre Beratungsstelle "Hayat" erhöht, seitdem der sogenannte Islamische Staat auch deutsche Jugendliche zum Dschihad verführen konnte? +Seit Sommer 2014 haben wir so viele Anfragen, dass wir sie kaum noch bewältigen können. Damit ist Hayat nicht allein. In manchen Bundesländern gibt es für Beratungsstellen im Bereich Deradikalisierung Wartelisten. Das darf nicht sein. Eine Familie braucht sofortige Unterstützung, wenn der Sohn ausreisen will, um sich dem Dschihad anzuschließen. Ich will aber betonen, dass der IS nur die Spitze des Eisbergs ist. Wir müssen auch die Radikalen erreichen, die mitten unter uns leben, aber unsere gesellschaftlichen Werte ablehnen. Nicht nur diejenigen, die sich dem IS anschließen, sind eine Gefahr für unsere Gesellschaft. +Diese Terrororganisation lebt Gewalt gegen Andersdenkende auf grausame Weise vor. Wie kann es sein, dass die Hassbotschaften auch in demokratischen Gesellschaften verfangen? +Nur ein Teil der Gesellschaft ist für radikale Botschaften empfänglich. Man muss aber auch sehen, dass die Propagandamaschinerie des IS die Terrororganisation nicht nur beim Ausüben von Gewalt zeigt. Sie spricht verschiedene Zielgruppen an. In hochemotionalen Bildern werden zum Beispiel sterbende Kinder gezeigt. Damit spricht sie all diejenigen an, die dem syrischen Volk helfen wollen. Andere reisen aus, weil sie islamisch leben wollen. Der IS verspricht: "Komm her, hier kannst du unter Gleichen leben." Das spricht auch Frauen an, die sich für das Tragen der Burka nicht rechtfertigen wollen. Der IS zeichnet ein Opferbild des Islam – als eine Religion, die im Westen unterdrückt wird. Wer den Kampf für einen Islam oder eine Ideologie als legitim empfindet, wer die Werte unserer Gesellschaft ablehnt, abwertet und verteufelt, für den ist der Schritt, Gewalt anzuwenden, nicht mehr so weit weg. +Die IS-Propaganda findet vor allem in den sozialen Medien großen Zuspruch. Angenommen, Innenminister Thomas de Maizière würde Sie mit einer Gegenpropaganda beauftragen, was würde darin vorkommen? +Die meisten Jugendlichen radikalisieren sich durch ihre Bezugspersonen im realen Leben. Das sollte man nicht vergessen. Das Internet ist aber ein Brandbeschleuniger. Auch dort müssen wir Sozialarbeit leisten. Jugendlichen, die sich für den Nahost- oder den Syrienkonflikt interessieren, müssen wir ein Gegennarrativ bieten. Es ist authentisch, wenn Aussteiger, die in der islamistischen Szene aktiv waren, über ihre Erfahrungen sprechen. Es können auch Muslime sein, die sagen: Meine Religion ist anders. Und sie verträgt sich mit dem Grundgesetz dieses Landes. Und natürlich müssen wir die Jugendlichen, die mit der Ideologie des IS vertraut sind, über dessen Lügen aufklären. +Für die Sicherheitsbehörden sind zum Beispiel aus Syrien zurückkehrende Dschihadisten potenzielle Attentäter. Das Innenministerium geht derzeit von 420 Gefährdern aus. Wie soll der Staat mit diesen Personen umgehen? +Diese Personen sind in der Regel hochgefährlich und müssen observiert werden. Das trifft aber nicht auf alle zu, die aus Syrien zurückkehren. Wir müssen auch die Aussteiger und die Traumatisierten wahrnehmen, müssen sie für die Gegenpropaganda verwenden und ihnen bei Bedarf psychologisch und therapeutisch zur Seite stehen. +In Ihrem Buch "Generation Allah" bezeichnen Sie muslimische Jugendliche, die sich offen über ihre Religion definieren, als mögliche Basis für eine extreme Auslegung des Islam. Stigmatisieren Sie die Jugendlichen damit nicht? +Der Begriff "Generation Allah" ist nicht nur negativ gemeint. Die Jugendlichen sollen ja auch nicht vom Verfassungsschutz beobachtet oder als radikal abgestempelt werden. Ich spreche von Jugendlichen, die in sich Werte tragen, die problematisch sein können. Auch wenn sie Geschlechtergerechtigkeit ablehnen, antisemitische Einstellungen haben, ihre Religion als ausschließende Ideologie verstehen, an einen bestrafenden Gott glauben und keine Kritik daran zulassen, sind sie dennoch Teil unserer Gesellschaft. Wir müssen sie gewinnen, bevor das die Islamisten tun. +Und wie genau soll das gehen? +Es reicht jedenfalls nicht, dem IS den Krieg zu erklären. Mich stört, dass wir seit Wochen nur von den Ausreisenden und Rückkehrern sprechen. Wir müssen auf die schauen, die anfällig für radikale Botschaften sind und sich von unserer Gesellschaft entfernen. Dafür müssen wir unser Schulsystem reformieren, um die Jugendlichen zur kritischen Reflexion zu erziehen. Und wir brauchen eine Sozialarbeit, die auch im Internet agiert, nicht nur im Jugendzentrum um die Ecke. Und wir brauchen eine nachhaltige Debatte über einen Islam, der radikale Ideologien klar von sich weist. Wenn wir diese Jugendlichen verlieren, wird es hier ungemütlich. +Der Psychologe Ahmad Mansour (39) ist ein bekannter Islamismus-Experte. Der arabische Israeli lebt seit 2004 in Deutschland und engagiert sich Projekten und Initiativen, die Extremismus bekämpfen und Toleranz fördern. Dafür wurde er 2014 mit dem Moses-Mendelssohn-Preis ausgezeichnet. Dieses Jahr erschien sein Buch "Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen". diff --git a/fluter/wenns-nicht-so-traurig-ware.txt b/fluter/wenns-nicht-so-traurig-ware.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/wer-bekommt-corona-impfstoff-zuerst.txt b/fluter/wer-bekommt-corona-impfstoff-zuerst.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..40d5bcec24f898edcd4771a653222f7573df9b18 --- /dev/null +++ b/fluter/wer-bekommt-corona-impfstoff-zuerst.txt @@ -0,0 +1,37 @@ +fluter.de: Die Welt wartet auf einen Impfstoff gegen Covid-19. Warum ist die Entwicklung so langwierig und teuer, Frau Vieira? +Marcela Vieira: Bevor Medikamente, Impfstoffe und Medizintechnik beim Patienten ankommen, müssen sie viele Hindernisse nehmen. Eine Krankheit wieCovid-19muss im ersten Schritt erforscht werden, um sie zu verstehen. Jede zündende Idee wird in präklinischen Studien gestetet: Das Reagenzglas oderTierversuchezeigen, ob das Mittel wirklich heilt oder der Krankheit vorbeugt. In der dritten Phase, der klinischen Studie, wird die Entdeckung am Menschen getestet. Erst dann kann das Medikament in größeren Mengen produziert werden. Weil die Forscher in der Corona-Krise unter enormem Druck stehen, werden viele Forschungsansätze gleichzeitig verfolgt und wieder verworfen. Das kostet Milliarden. +Anfang Mai hat eineAllianz aus mehr als 40 Ländern und Organisationen7,4 Milliarden Euro für die Forschung an Corona-Medikamenten gesammelt. Wohin geht dieses Geld? Und wem stünde der daraus entstehende Impfstoff zu? +Das ist die Millionen-Euro-Frage. Wir wissen nicht genau, wie das Geld verteilt werden soll. Einige Länder wie Frankreich und Deutschland haben sich schon dafür ausgesprochen, dass der Impfstoff ein "Global Public Good" wird, also allen Menschen gleichermaßen zusteht. Auch die WHO fordert in einer Resolution, dass Covid-19-Medikamente möglichst schnell, weltweit und fair verteilt werden. Das sind wichtige Zeichen – die den Wettbewerb der Nationalstaaten um den ersten marktfertigen Impfstoff bremsen könnten. +In der Weltgesundheitsorganisation (WHO) haben sich unter dem Dach der Vereinten Nationen 194 Mitgliedsstaaten versammelt, die gemeinsame für das bestmögliche Gesundheitsniveau bei allen Menschen sorgen wollen. Dafür bekämpft die WHO z.B. Krankheiten oder baut weltweit Gesundheitssysteme auf und aus. Die Organisation finanziert sich über die festen Beiträge der Mitgliedsländer und Spenden. +Sie meinen, manche Staaten wollen sich mit dem Impfstoff einen Vorteil verschaffen? +Ja. Die USA scheinen sich bereits bei mehreren Pharmakonzernen um exklusive Impfstoff-Lieferungen zu bemühen. Staatenmit einem starken Pharmasektorwie die USA, Großbritannien oder die Schweiz sehen einen öffentlichen Impfstoff kritisch, weil das geistige Eigentum der Pharmakonzerne eingeschränkt werden könnte. Schließlich lässt er sich nicht exklusiv verkaufen, wenn alle Anspruch auf den Impfstoff haben. Wir wissen heute noch nicht, wie die Entwicklung, Lizenzierung und Produktion dieser internationalen Allianz ablaufen wird. Die Erklärung der WHO ist nicht bindend und lässt den Staaten große Spielräume. +Der Zugang zu Medikamenten war bislang ein Problem armer Länder, keines für Industrienationen wie Deutschland oder die USA. +Moment, da muss ich widersprechen. Der pharmazeutische Markt ist auch für reiche Länder problematisch, nur ist das für uns weniger sichtbar. Im globalen Süden sterben Menschen, weil die Forschung an Krankheiten wie Tollwut, Denguefieber oder Lepra für die Pharmafirmen nicht lukrativ genug ist. Und selbst wenn es Medikamente gibt, können sie sich viele Menschen nicht leisten. Letzteres beobachten wir zunehmend auch in Industrienationen. +Haben Sie ein Beispiel? +In den USA können sich viele ihre lebenswichtige Insulinbehandlung nicht mehr leisten,weil sie über 1.000 Dollar zuzahlen müssten. Nun werden Sie sagen, das marode Gesundheitssystem in den USA sei bekannt. Aber selbst Deutschland hat solche Fälle: 2013 wurde mit dem Medikament Sovaldi erstmals eine Therapie auf den Markt gebracht, die Hepatitis C zuverlässig heilen kann. Eine zwölfwöchige Therapie sollte rund 43.000 Euro kosten – obwohlForscher gezeigt haben, dass der Hersteller Gilead selbst bei einem Preis von 43 Euro noch Profit macht. Solche Mondpreise stehen in keinem Verhältnis zur medizinischen Innovation, sind aber heute normal und setzen die Gesundheitssysteme zunehmend unter Druck. + + + +Dann kann die Diskussion um die Verteilung eines Corona-Impfstoffs doch vielleicht helfen, diese Missstände aufzuzeigen? +Ich hoffe sehr, dass die öffentliche Auseinandersetzung die Gesundheitssysteme gerechter macht. Eigentlich ist doch klar, dass es bei der Produktion von Medikamenten nicht um Profit-, sondern um Gesundheitsmaximierung gehen sollte. Wir müssen jetzt darüber sprechen, was sich dafür ändern muss. +Ist das nicht ganz einfach: Wer die Entwicklung von Medikamenten zahlt, dem gehören sie. +Nur kommen bei Medikamenten zwei Dinge zusammen: Man braucht viele fähige Menschen und viel Geld. Oft finden die ersten Forschungen an öffentlichen, steuerfinanzierten Forschungseinrichtungen statt, spätestens die klinischen Studien werden aber durch Pharmafirmen finanziert, die selbst viel Kapital oder Investoren haben und Lizenzen exklusiv ankaufen. Der fertige Impfstoff gehört dann dem Pharmakonzern – genau wie die Gewinne. +Mehr Risiken & Nebenwirkungen +Ob im Parlament oder in der Arztpraxis: Pharmaunternehmen sind einflussreich. Das liegt vor allem angeschickter Lobbyarbeit +Bei Medikamenten wie einem Impfstoff gegen Covid-19 geht es um das Leben von Millionen Menschen. Wer legt den Preis für so ein Medikament fest? +Den bestimmt meist der Hersteller, also eine Pharmafirma. Und es gibt keine Grenze nach oben. Das Problem ist: Medikamente sind kein Gut wie jedes andere. Ihr Preis regelt sich nicht einfach über Angebot und Nachfrage wie bei einem Turnschuh. Denn wer krank ist, ist bereit, jeden Preis zu zahlen. Erst vor einem Jahr erhielt der Pharmakonzern Novartis in den USA die Zulassung für die teuerste Arznei der Welt: Das Medikament Zolgensma kann Kinder mit einer oft tödlichen Erbkrankheit heilen. Wenn Ihr Kind diese Krankheit hätte, welchen Preis würden Sie bezahlen, um es zu retten? +Jeden. +Genau. Weil es kein anderes System zur Medikamentenproduktion gibt, nehmen wir hin, dass Menschenleben ein Preisschild bekommen. Eine Dosis Zolgensma kostet rund zwei Millionen Dollar. +Sind solche Preise gerechtfertigt? +Das lässt sich kaum sagen, weil die Pharmafirmen ihre Kosten nicht transparent machen. Experten schätzen aber, dass sich die Preise nicht an den tatsächlichen Kosten orientieren, sondern eher daran, was die Gesundheitssysteme zu zahlen bereit sind. Sie variieren von Land zu Land, je nachdem, wie zahlungskräftig die Bevölkerung ist. In Deutschland können Pharmafirmen andere Preise abrufen als in Brasilien. Wenn die Länder sich nicht kritisch über die Preise austauschen, gewinnen bei diesem Spiel nur die Pharmafirmen. +Welchen Anreiz hat ein Pharmakonzern überhaupt, mit mehreren Ländern zusammenzuarbeiten? Ist es für sie nicht einfacher und lukrativer, einem Staat exklusiv die Rechte einzuräumen? +Stellen Sie sich vor, ein Unternehmen findet den Covid-19-Impfstoff und gibt seine Lösung der globalen Krise nicht weiter. Wie würde dieses Unternehmen in den Augen der Welt dastehen? Außerdem hat kein Unternehmen der Welt allein genügend Produktionskapazität für die Herstellung des Impfstoffes. Ohne Kooperation schafft es niemand dauerhaft aus der Corona-Krise. Ich glaube, wir müssen einfach einen Weg finden, die geistigen Eigentumsrechte der Pharmafirmen mit dem Recht auf Gesundheit zu vereinbaren. Die internationale Forschergemeinschaft zeigt übrigens gerade, wie so eine faire Zusammenarbeit aussehen kann: Normalerweise dauert es viele Jahre, manchmal gar Jahrzehnte, um einen Impfstoff zu entwickeln. Bei Covid-19 könnten wir es in einem Jahr schaffen. +Wem sollte der Covid-19-Impfstoff ihrer Meinung nach gehören? +Niemandem. Und allen. Der Impfstoff darf auf keinen Fall exklusiv für ein Unternehmen lizenziert werden. Jetzt, wo öffentliche Mittel in die Forschung fließen, könnten die Regierungen das auch zur Bedingung machen: Die 7,4 Milliarden der internationalen Allianz sollten in Forschung fließen, deren Ergebnisse weltweit zur Verfügung stehen. Denkbar wäre auch das Modell eines "Technologiepools", bei dem Forscher ihre Informationen und Patente gegen eine Nutzungsgebühr weitergeben. Dieses Modell wird heute schon in der HIV- und Tuberkuloseforschung angewandt. +Was schätzen Sie: Welches Land hat den Covid-19-Impfstoff zuerst? +Die USA oder China. Beide testen ihre Impfstoffe schon in klinischen Studien. China hat angekündigt, den Impfstoff offen lizenzieren zu wollen, was bei den USA eher unwahrscheinlich ist. Natürlich ist das auch eine politische Inszenierung: China erhebt Anspruch auf eine internationale Führungsrolle, aus der sich die USA gerade zurückziehen. +Dazu passt dieAnkündigungvon Donald Trump, die Beziehungen zur WHO abzubrechen. +Für Trump stehen baldWahlenan, ein Erfolg bei der Jagd nach dem Impfstoff kann entscheidend sein. Im Angesicht einer globalen Gesundheitskrise wäre meiner Meinung nach aber ein chinesischer oder deutscher Impfstoff wünschenswert. Wenn wir endlich ein Medikament haben, dann bitte eines, auf das nicht nur eine Nation, sondern alle Welt Zugriff hat. + +Die Juristin Marcela Vieira arbeitet am Global Health Centre in Genf, einem Thinktank für globale Gesundheitspolitik. Vieira erforscht, wie Innovationen im Medizinbereich gefördert und möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht werden können. (Foto: privat) + diff --git a/fluter/wer-bestimmt-trend-mode.txt b/fluter/wer-bestimmt-trend-mode.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dfc262ac4cbb808055ada735f8c07b2b916a377d --- /dev/null +++ b/fluter/wer-bestimmt-trend-mode.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Rebellisch verhielten sich auch die Hippie- und die Punkbewegung – Mode- und Lebensstil beeinflussten sich dabei gegenseitig. "Ein Hippie hat sich keine Modeschauen angeschaut oder die ‚Vogue' gelesen – da haben Musiker die Trends gesetzt", sagt Wuttke. War damals die Sängerin Janis Joplin Trendsetterin für Schlaghosen, so ist es heute Billie Eilish für "Genderfree"-Klamotten, ein Trend, dem sich vermehrt große Modemarken zuwenden. Feste Geschlechterrollen sind bei vielen schon lange nicht mehr angesagt. +Während Modetrends in den vergangenen Jahren sowohl schnelllebiger als auch bewusster geworden sind, ist der Einfluss von Subkulturen eher verloren gegangen. Noch bis in die Neunziger hinein ließen sich Designer vor allem von Streetwear in London und New York inspirieren. Trendforscher lasen Trends regelrecht von der Straße auf. Sie erstellten Styleguides, in denen sie ihre Beobachtungen festhielten – und auf deren Basis Designer wiederum ihre Kollektionen bestückten. So wurden aus der Acid-House- und Rave-Kultur heraus die Raver-Hose und Camouflage-Muster zum Trend auserkoren. Inzwischen ist Streetwear bei Jugendlichen in migrantischen Communitys verbreitet – dort dient sie nicht nur als Kommunikations- und Orientierungshilfe, sondern wird benutzt, um Zugehörigkeit zu demonstrieren. Trendforscher, wie beispielsweise solche vom World's Global Style Network (WGSN), das weltweit von über 6.000 Unternehmen genutzt wird, schauen dort genau hin. Dabei lassen sie sich inzwischen von allen möglichen Einflüssen inspirieren, um Trends zu prognostizieren: Weltweit analysieren sie nicht nur die Mode auf der Straße und auf Laufstegen, sondern beobachten Essen, Autos, Architektur, Technologie und Inneneinrichtung – alles beeinflusst sich gegenseitig. +Verstärkt werden auchInfluencerin die Analyse miteinbezogen. Denn viel von dem, was früher auf der Straße stattgefunden hat, findet sich heute auf Social Media wieder. Besonders junge Menschen ließen sich nicht mehr von großen Labels Trends vorgeben, beobachtet das WGSN. Vielmehr gehe es darum, den eigenen Freunden zu gefallen – der Austausch darüber finde im Kleinen und auf Sozialen Netzwerken statt. Noch bevor heute ein Modemagazin Bilder einer Modenschau abdrucken kann, von Models und Kollektionen, landen sie auf Instagram. "Die Sozialen Medien haben das Modebusiness weniger elitär und viel nahbarer gemacht, man kann aktiver mitbestimmen", sagt Farina Opoku. Die 29-jährige Designerin aus Köln zählt mit ihren gut 1,2 Millionen Followern auf Instagram zu Deutschlands erfolgreichsten Modeinfluencern. Modemagazine haben ihr ehemaliges Monopol auf Trendsetting durch Social Media zu einem erheblichen Maße eingebüßt – und Konsumenten somit mehr Macht erhalten. +Nur wenn sich ein Kleidungsstück über einen längeren Zeitraum halten kann und weltweit als massentauglich erweist, kann es mehr werden als nur eine kurzfristige Modeerscheinung. Dafür darf es aber nicht nur für Gucci-Kunden erschwinglich sein, sondern auch für H & M-Käufer. Ist ein Trend dann im Mainstream angekommen, ist er kein Trend mehr, sondern Mode. Manche Trends können sich aber über mehrere Saisons ziehen, zum Teil bleiben Kleidungsstücke dann noch populär, wenn sie laut Modezeitschriften gar nicht mehr "in" sind – wie die "Skinny Jeans", die als beliebteste Hosenform bei Frauen gilt. Damit ein Trend den Trend überdauert, sei vor allem die Qualität der Marke ausschlaggebend, so Wuttke. Außerdem müsse ein Trendstück stets weiterentwickelt werden. Läuft es hingegen richtig gut für ein Kleidungsstück, dann kann es zum Klassiker avancieren –so wie der weiße Sneaker, der schon lange nicht nur in der Hip-Hop-Szene ein echtes "Must-have" ist. diff --git a/fluter/wer-den-spot-hat.txt b/fluter/wer-den-spot-hat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..859ecc144bd741c69e7945dc50f2e42f21c972ac --- /dev/null +++ b/fluter/wer-den-spot-hat.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Als vor sechs Jahren die Werbekampagne gegen das Brennen von MusikCDs unter dem Titel "Copy Kills Music" startete, freute sich der Bundesverband der phonographischen Wirtschaft, wie nah man mit dem "unkonventionellen Slogan" an den "Kids" dran sei:"falsches Englisch mit richtiger Botschaft: knackig, eingängig und irgendwie international". Feico Derschow, der über fünfzig Auszeichnungen als Art Director und Creative Director für Werbeagenturen wie Saatchi & Saatchi gewonnen hat und inzwischen als Leiter der "Masterclass Art Direction" junge Werber ausbildet, zweifelt daran, dass Werbung überhaupt jemanden vom Schwarz-fahren abhalten kann: "Moralische Fragen sind doch eigentlich Fragen der Erziehung", sagt der gebürtige Niederländer mit über 35 Jahren Werbeerfahrung. "Das muss als gesellschaftliches Verhalten vorgelebt werden, draußen oder in der Familie. Momentan wird moralisches Handeln auf demselben Weg beworben wie ein Prepaid-Handy - ehrlich gesagt, finde ich das krank." +Das dritte Problem moralischer Werbung ist die starke Fixierung auf Schuldgefühle - egal ob diese angebracht sind oder nicht. Derschow spricht von einer "Vorverurteilung", der österreichische Medienforscher Wolfgang Pauser bringt es noch präziser auf den Punkt: "Wer mit Moral werben will, kommt an der Anschuldigung des Konsumenten nicht vorbei", schreibt er in seinem Essay Wie moralisch ist die Vermarktung der Moral?. Philipp Keller, bei der Agentur "Zum Goldenen Hirschen" verantwortlicher Text-Kreativchef für die provokante Kampagne "Raubkopierer sind Verbrecher", erklärt: "Die Vorgängerkampagne Copy Kills Music war auf Verständnis ausgelegt - weil sie erklärte ,dass kein Geld mehr für die Förderung kleiner Bands da ist, wenn alle sich die CDs brennen. Aber das hat die meisten leider nicht interessiert." Daher, so der 30-jährige Kölner, sei bei der Kampagne gegen Filmraubkopien die Strategie geändert worden. Statt auf Einsicht werde nun auf Abschreckung gesetzt und die Gefängnisstrafe betont, die Raubkopierern droht :"Argumente wirken leider nur bedingt, die Leute sind mehrheitlich zu egoistisch. Wenn ab morgen Autodiebstahl straffrei wäre, würde ja kein Auto mehr stehen bleiben - obwohl alle wissen ,dass es falsch ist zu stehlen."Die Kampagne, die auch mit Gefängniszellen über deutsche Marktplätze reiste und RAF-artige Fahndungsplakate mit (falschen) Raubkopierer-Visagen nutzte, sorgte trotzdem dafür, dass sich viele pauschal und zu Unrecht kriminalisiert fühlten. Das vierte Problem ist die Art und Weise, wie Werbung für moralisches Handeln in die Privatsphäre eindringt. Wir wollen uns ja auch nicht via Werbefilm sagen lassen, wie wir um Verstorbene zu trauern haben oder wie wir mit unserem Partner Schluss machen sollen. Ebenso unangenehm berührt es uns, wenn ein Werbespot für Zivilcourage unser Verhalten bei einer U-Bahn-Pöbelei hinterfragt oder unsere Entscheidung für oder gegen den Besuch eines Wasserzoos plötzlich eine öffentliche Angelegenheit wird. Eine Werbung, die auf intelligente Weise an das Gewissen potenzieller Kunden appelliert, wird derzeit in den USA plakatiert: "Wir sollen Ihnen einen schönen Gruß von Ihrem Mitbewohner aus dem Studium ausrichten", steht da, "und Sie daran erinnern, wie glücklich Sie damals waren, als Sie noch kein Geld hatten." Es ist die Anzeige einer Bank. Schwarzfahren? - Nein D:)nke! diff --git a/fluter/wer-ermittelt-gegen-hass-im-internet.txt b/fluter/wer-ermittelt-gegen-hass-im-internet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..75b72d297195d8b5c235daa99cb84af56ac93776 --- /dev/null +++ b/fluter/wer-ermittelt-gegen-hass-im-internet.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Die Kommentare sind bis heute öffentlich und damit auch die Namen der Absender. Wenig Pseudonyme, so scheint es, sondern die tatsächlichen Namen. Da ist Guido, der auf seinem Profilfoto mit seinem kleinen Sohn posiert, Manuela, die sich erst um die Kulturbranche sorgte und jetzt verkündet, ungeimpft zu bleiben, und Yasemin, die Armbänder aus Alpakawolle verkauft. Solche Menschen wünschen Dario Schramm, 21 Jahre alt, Schmerzen, Verletzungen und manche sogar den Tod. Er bekommt Morddrohungen per Privatnachricht oder E-Mail. "Alle Postfächer sind übergequollen", sagt er. +Wer sich öffentlich äußert, auf einem Podium, in der Zeitung oder im Internet, kennt diesen Hass. Die Kommunalpolitikerin kennt ihn genauso wie der Musiker, die Influencerin oder der Sportler. Hass auf Twitter, Hass auf Instagram, Hass auf Telegram,TikTokund Facebook. Und während Instagram enorm schnell ist, weibliche Brustwarzen zu identifizieren und zu sperren, bleibt Hass oft einfach stehen. Wer ist da eigentlich noch zuständig? +Es geht schon los mit der Benennung: Hass im Netz. Hatespeech. Das klingt harmlos. Es sind doch nur Worte im Internet. Dabei sind es ganz oft Straftaten: Beleidigung ist eine Straftat. Bedrohung ebenfalls. Und Volksverhetzung kann mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. +Wer den Holocaust verharmlost oder gegen Ausländer hetzt oder den Tod aller Schulsprecher fordert, der muss damit rechnen, dass diese Äußerungen nicht die Dorfpolizei bearbeitet, sondern dass das beim Staatsschutz landet. +Erst der Zuzug vieler Flüchtender im Jahr 2015, dann die Corona­pandemie – beides habe die Zahl der Beschimpfungen und Drohungen in die Höhe getrieben, sagt Thomas Georgi vom Landeskriminalamt Baden-Württemberg. +Wie schnell aus verbalen Übergriffen physische Gewalt werden kann, zeigte der Mord an dem Politiker Walter Lübcke, der vor seinem Tod in Netzwerken Morddrohungen bekam. Trotzdem melden viele Menschen, die bedroht werden, es nicht mal den Behörden. +Weiterlesen +Es kann jeden treffen.Besonders oft aber richtet sich Hate-Speech im Netz gegen Frauen +Wie Dario Schramm. Er hat nichts von dem, was an ihn adressiert war, angezeigt. "Da wird eh nichts draus, und der Aufwand ist nicht gerechtfertigt", sagt er. "Das klingt schlimm, aber der Hass ist für mich fast selbstverständlich." So wie ihm geht es den meisten. Manche helfen sich selbst durch Wortfilter, sodass sie bestimmte Beleidigungen nicht mehr sehen, andere öffnen ihre Nachrichten einfach nicht mehr. Sie achten darauf, nichts zu posten, wodurch man ihren Wohnort erkennt, oder teilen Fotos vom Restaurantbesuch nur zeitversetzt. +Was sie nicht machen, macht zum Beispiel Leonhardt Träumer. Er ist der Gründer von "Hassmelden".Auf der Website kann jeder Postings oder Kommentare melden, die er oder sie für gesetzeswidrig hält, und das Team von "Hassmelden" zeigt diese an, wenn es den Inhalt als strafbar bewertet. +Über 500.000 Meldungen sind es mittlerweile. Gratuliert man da? "Eher nicht", sagt Leonhardt Träumer, als er mit unterdrückter Nummer anruft. Das passiert oft in dieser Recherche: unterdrückte Nummern, nur der Vorname oder gleich ein Pseudonym – wie Leonhardt Träumer. Denn er möchte seinen richtigen Namen nicht bekanntgeben. "Wir haben das Gefühl, dass es nicht ganz ungefährlich ist, was wir machen", sagt er. +Jede dritte Meldung bringt "Hassmelden" im Schnitt zur Anzeige und damit im Idealfall den Absender vor Gericht. "Wir machen das, weil es jemand machen muss", sagt Träumer. "Aber es sollte nicht unsere Aufgabe sein." Das gesamte Team arbeitet ehrenamtlich, sie bekommen keine Gelder von öffentlichen Stellen. Sie wollen keine. Nur so könne man komplett unabhängig bleiben, so Träumer. Das heißt aber auch, dass ihre Kräfte endlich sind. +"Hassmelden" gibt es jetzt seit drei Jahren. Länger als viele Sondereinheiten bei Polizei und Staatsanwaltschaft. Ist der Hass in den Sozialen Medien wirklich schlimmer geworden, oder denkt man das nur? "Es ist das Henne-Ei-Problem: Gibt es mehr Hass, oder melden die Menschen einfach mehr?", fragt Träumer. Eines fällt aber auch ihm auf: "Morddrohungen sind deutlich häufiger geworden als vor zwei, drei Jahren." +Ein Versuch, Ordnung in die Sozialen Netzwerke zu bringen, war das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG). Seit 2017 müssen die Netzwerke rechtswidrige Inhalte löschen, wenn sie ihnen gemeldet werden. Was gelöscht wird, ist zwar weg, aber es ist eben auch: weg ohne jegliche Konsequenzen. Deswegen gilt seit Februar 2022 eine Änderung dieses Gesetzes: Die Netzwerke müssen potenziell rechtswidrige Posts nicht mehr nur löschen, sondern sind jetzt auch verpflichtet, alle Inhalte, die User bei ihnen als Verstoß gegen das NetzDG melden, zu prüfen und, wenn sie sie ebenfalls als strafbar einschätzen, ans Bundeskriminalamt weiterzuleiten – inklusive letzter bekannter IP-Adresse. +Für diese Meldungen hat das BKA eine neue Sektion geschaffen: die ZMI, die "Zentrale Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet". Ansgar Tolle leitet diese Abteilung aus rund 200 Kriminalbeamten. Am Ende der ersten offiziellen Arbeitswoche telefonieren wir. TikTok klagt gegen die Änderung des NetzDG, Facebook, Google, YouTube und Twitter auch. "Ja, wir haben diese Woche keine Daten erhalten und werden das am Montag auch nicht", sagt Tolle. Trotzdem arbeite die Abteilung: Sie prüft die Meldungen, die über Plattformen und Bürger eingehen, und ermittelt, wenn der Inhalt justiziabel ist, den Absender. +Denn eines der größten Probleme bei der Ermittlung ist, dass man in vielen Fällen nicht weiß, wer hinter dem Account steckt. Das Team um Tolle sucht also nach Informationen über die Identität, es gleicht Hinweise mit Personendatenbanken ab. "Sind wir erfolgreich, schicken wir den Fall zum zuständigen LKA", erklärt er. +Gelingt ihnen das nicht, kommt die Abteilung von Frank Heimann dazu. Er arbeitet im Bereich Staatsschutz des BKA. Sein Team ermittelte beim Attentat in Hanau – und dann beim Anschlag auf die Synagoge in Halle. Und wenn die Identität von Verfassern politisch motivierter Straftaten, zum Beispiel Volksverhetzung, nicht so leicht herauszufinden ist. "Der erste Schritt ist eine OSINT-Recherche", sagt Heimann. OSINT steht für "Open Source Intelligence". Das Team sucht also nach öffentlich zugänglichen Informationen. Vielleicht hat jemand ein Foto mit Autokennzeichen gepostet, vielleicht erkennt man etwas am Halsband des Hundes auf dem Foto. "Wir haben noch mehr, aber dazu kann ich aus taktischen Gründen nichts sagen", so Heimann. +Schon ohne ein neues Gesetz gibt es theoretisch die Möglichkeit, Nutzerdaten bei den Sozialen Medien abzufragen. Welche E-Mail-Adresse ist hinterlegt? Welche Handynummer? Das Problem ist aber, dass die Netzwerke selber beurteilen wollen, was sie strafbar finden und was nicht. Hakenkreuze zu verbreiten ist in Deutschland eine Straftat, in denUSA, wo beispielsweise Meta sitzt, nicht. +Das BKA spricht von mehreren Stunden reiner Arbeitszeit für einen Fall. Die Wartezeiten, bis irgendeine Stelle antwortet, sind da nicht mit eingerechnet. So können Monate vergehen, bis ein Fall an die Staatsanwaltschaft übergeben wird. Lohnt sich das Warten? Ein Blick in die Aufklärungsquoten der BKA-Statistik: 76 Prozent der Beleidigungen im Internet, 82 Prozent der Fälle von Volksverhetzung und 85 Prozent der Bedrohungen konnte die Polizei aufklären. Doch damit ist noch niemand verurteilt, denn oft verpufft die Arbeit der Beamten vor Gericht – etwa wenn Richter Hass und Hetze als erlaubte Meinungsäußerungen einstufen. Der LKA-Mann Georgi wünscht sich deshalb "eine Gerichtsbarkeit, die sich klar positioniert". +Wenn die Posts zwar voller Hass, aber noch nicht strafbar sind, gibt es die sogenannte Gefährderansprache oder das Gefährderanschreiben. Das heißt: Polizisten sprechen die Verfasserinnen und Verfasser von Hateposts an – zu Hause oder schriftlich –, um ihnen zu sagen, dass jetzt auch mal gut ist und sonst Konsequenzen drohen. +Aber wer sind diese Menschen, die Drohungen verfassen, Politiker ins KZ schicken wollen oder eine Beleidigung nach der anderen ins Internet schreiben? Es sind: alle. Die junge Mutter, die im Internet völlig ausrastet und dann überrascht ist, wenn wirklich mal die Polizei bei ihr steht, der Rechtsradikale, der sehr genau weiß, was er dort schreibt. Auch unter Jugendlichen ermittelt die Polizei immer öfter. Hakenkreuze und Hitlerbilder, die per WhatsApp herumgeschickt werden, Beleidigung auf Instagram oder TikTok. Ist doch nur ein Witz, war doch nicht so gemeint, ist doch nur im Internet, hören die Beamten oft. Das soll keine Ausrede mehr sein. +Als Dario Schramm als Vertreter der Bundesschülerkonferenz forderte, die Schulen wieder zu öffnen, erreichte ihn wieder der geballte Hass. Diesmal seien es keine Coronaleugner und Impfgegner gewesen, sondern Eltern, die ihre Kinder mit Homeschooling vor dem Virus schützen wollten. "Leute, die mir vorgeworfen haben, ich brächte ihre Kinder um. Die sind genauso wie die Querdenker ausgeflippt", erzählt er. +Je mehr Hass man im Internet liest, desto drängender möchte man die Leute fragen, ob sie darüber in irgendeiner Form nachdenken. Also schreibe ich sie einfach an. Eine halbe Stunde scrolle ich mich durch Facebook und melde mich bei denen, die mir auffallen. "Finden Sie dieses Verhalten angemessen?", frage ich. Lange bleibt es still. Dann meldet sich doch noch jemand: ein Account mit Pseudonym, ein hellblaues Profilbild, auf dem "Für unsere Kinder" steht, keine Information außer "männlich". Immer wieder hatte ich ihn unter Dario Schramms Postings gesehen, "Arsch", "Volldepp". Warum beleidigt ein Vater einen Abiturienten im Internet? "Wenn die bescheuerten Schulsprecher hier Panik schieben, kann man diese Deppen sogar noch viel mehr als beleidigen", schreibt er mir zurück. +Wie er das meint, will er mir nicht sagen. diff --git a/fluter/wer-hat-das-kommen-sehen.txt b/fluter/wer-hat-das-kommen-sehen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..de711e90afd71a377281b551af94d1744eb21260 --- /dev/null +++ b/fluter/wer-hat-das-kommen-sehen.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Ich besuche Fashion Weeks in Berlin, London, Paris oder Tokio, schaue mir Shows und Messen an. Dort analysiere ich den Status quo: Was ist auf den Laufstegen zu sehen, was ist in den Läden los, was kaufen die Leute, was tragen sie? Das Wichtigste: Ich beobachte meine Umgebung ständig. +Beobachten können Sie nur, was schon da ist. Wie leiten sie daraus ab, was kommen wird? +Dadurch, dass ich immer viel aufsauge, sehe ich, wovon schon zu viel da ist. Das ist langweilig. Im Moment zum Beispiel die 70er-Jahre-Klamotten. Die sind schon so oft wiedergekommen, dass der Trend eigentlich vorbei ist, bevor er richtig angefangen hat. Wenn mir aber etwas auffällt, das man lange nicht gesehen hat oder was man so noch nicht gesehen hat, dann weiß ich: Das hat Potenzial. +Die Mode hat sich enorm beschleunigt. Modebedürfnisse entstehen heute eher durch Blogs und Instagram-Posts von Celebritys als durch die Ideen von Designern. Trends sind kurzlebiger. Was bedeutet das für Ihre Arbeit? +Ich arbeite unter anderem für einen Fashion-Forecasting-Service für Designer, Hersteller und Händler. Hier erarbeiten wir inzwischen zwölf Trends im Jahr statt zwei großen Vorschauen, weil das dem Rhythmus der Industrie besser entspricht. Außerdem berate ich Kunden individuell. Für die erarbeite ich zweimal im Jahr eine Präsentation mit Bildern, Texten, Keywords und Produkt- und Vermarktungsvorschlägen, die speziell auf das Firmenprofil zugeschnitten ist. Hier geht es eher darum, herauszuarbeiten, wofür die Firma steht. +Warum ist das wichtig? +Ich denke, das Trendconsulting bewegt sich weg vom rein Visuellen. Es geht mehr darum, Langzeittrends vorherzusagen. Dafür fange ich nicht mit Mode an, sondern viel allgemeiner mit soziokulturellen und politischen Entwicklungen. Da geht es um sogenannte Consumer Insights, also um Konsumentenverhalten, aber auch ganz allgemein darum, wie wir leben wollen. +Inwiefern finden sich soziokulturelle oder politische Entwicklungen in einem Schuh wieder? +Ich habe für einen Schuhhersteller ein Thema entwickelt, das ich "Re-Connect, Re-Charge, Re-Duce" genannt habe. Ich habe festgestellt, dass es eine Gegenbewegung zur immer schnelleren, immer öffentlicheren digitalen Welt gibt. Menschen ziehen sich mehr ins Private zurück. Und wer sich ins Private zurückzieht, will nicht auffallen, bevorzugt pastellige Farben und schätzt an einem Produkt hochwertige Materialien und handwerkliche Qualität. +Denken Sie, dass sich nachhaltige Produktion durchsetzen wird? +Ich glaube, Nachhaltigkeit und gute Produktion werden sich immer mehr durchsetzen. Schon jetzt gibt es immer mehr Modelabel, die Slow Fashion produzieren, und der Konsument wird auch immer bewusster in Bezug auf Fragen, wo seine Kleidung herkommt, welche Materialien benutzt werden und wie produziert wird. Dadurch wird sich natürlich auch das Konsumverhalten ändern, und wir werden weniger, aber dafür bessere Qualität kaufen. +Welcher Modetrend wird uns in Zukunft beschäftigen? +Im Augenblick gibt es viele Gender-Diskussionen auf den Social-Media-Plattformen. Der Gedanke "Was ist feminin, was ist maskulin?" ist nicht mehr aktuell, unsere Gesellschaft ist viel breiter gefächert. Man will sich nicht mehr in Schubladen stecken lassen, und das zeigt sich auch in der Mode. Die Male-Models von Guccis kommender Frühlings- und Sommer-Kollektion trugen Spitze und verspielte Blusen, und im großen Londoner Kaufhaus Selfridges gab es in diesem Frühjahr als sechswöchiges Projekt eine "Agender"-Abteilung, wo man geschlechterunspezifische Teile finden konnte. +Anne Berneckerhat Modedesign in Trier und London studiert, für verschiedene Designer wie Versace, Markus Lupfer und Strenesse gearbeitet. Sie unterrichtet in Düsseldorf an der "Akademie Mode & Design", betreibt einen Streetstyle-Blog und arbeitet als Trend Consultant. + +Bettina Homann schreibt über Mode und betreut als Redakteurin das Modebuch des Berliner Stadtmagazins "zitty". Als Jugendliche wurde sie von ihren Popperfreunden auf dem Schulparkplatz mit einem Griff an den Kragen begrüßt (mit dem Label und Material eines Kleidungsstücks geprüft wurden) und hat seit damals eine Obsession für Äußerlichkeiten. diff --git a/fluter/wer-hat-meinen-schokoriegel-manipuliert.txt b/fluter/wer-hat-meinen-schokoriegel-manipuliert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8cf185fbd1e916cd7ac5d794cc8c5f45c60a44e1 --- /dev/null +++ b/fluter/wer-hat-meinen-schokoriegel-manipuliert.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Caspary sitzt im 15. Stock des Europaparlaments in Brüssel, der CDU-Abgeordnete ist Mitglied im Handelsausschuss und befasst sich dort auch mit dem geplanten Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA. Beim Versuch, die Idee des Freihandels plastisch zu beschreiben, muss Caspary nicht lange suchen: "In Europa müssen die Blinklichter eines Autos gelb sein, in den USA rot. Ein Autobauer muss sowohl in Europa als auch in den USA einen erfolgreichen Crashtest absolvieren. Es macht also Sinn, gemeinsame Standards für die EU und Amerika zu definieren. Von den niedrigeren Kosten profitieren auch die Verbraucher." Ein Auto, das in den USA genehmigt worden ist, könnte dann ohne weitere Tests auch auf deutschen Straßen rollen. Es geht aber nicht allein um gemeinsame Standards, auch die Zollschranken sollen fallen. Die sind zwischen der EU und den USA zwar eh nicht so hoch, aber Caspary rechnet vor: "Der transatlantische Handel hat ein Volumen von jährlich rund 700 Milliarden Euro. Bei durchschnittlichen Zöllen von drei Prozent macht das mehr als 20 Milliarden Euro pro Jahr." +Nach Angaben der EU-Kommission kann die EU durch ein Freihandelsabkommen jährlich auf 0,5 Prozent zusätzliches Wachstum hoffen, die US-Wirtschaft auf 0,4 Prozent. Der zuständige EU-Handelskommissar Karel De Gucht schwärmt vom "besten Wachstumspaket, das man sich vorstellen kann". Und er nennt auch gleich Zahlen. Auf 545 Euro pro Jahr beziffert seine Behörde den jährlichen Vorteil für einen Vier-Personen-Haushalt in der EU. Die Summe von 545 Euro pro Jahr will Johannes Kleis gar nicht bestreiten. Dennoch spricht der Mitarbeiter der Europäischen Verbraucherorganisation BEUC lieber von Hormonfleisch, genetisch veränderten Lebensmitteln und Chlorhühnchen. In den USA werden Chicken, bevor sie als Nuggets enden, im Chlorwasser behandelt. +Das Chlorhühnchen ist so eine Art Wappentier derjenigen geworden, die davor warnen, dass ihr Land in Zukunft mit gesundheitsschädlichen Nahrungsmitteln überschwemmt wird – und die gibt es nicht nur in Europa. So wollen viele Konsumenten in den USA keinen französischen Roquefortkäse, weil sie sich vor den Blauschimmelpilzen fürchten. Und während Amerikas Farmer auf genetisch veränderten Mais oder Soja setzen, will der Großteil von Europas Verbrauchern davon nichts essen. "Ein Schokoriegel aus genetisch veränderten Zutaten wäre heute schon ohne das geplante Abkommen in der EU erlaubt – natürlich entsprechend gekennzeichnet. Der Verbraucher kann heute und künftig selbst entscheiden, zu welchem Riegel er greift", sagt der Freihandelsbefürworter Caspary. +Verbraucherschützer Kleis aber fürchtet einen Dammbruch. Er hätte die Gen-Riegel und andere genveränderte Lebensmittel am liebsten gar nicht erst im Regal. "In Europa gilt das Unbedenklichkeitsprinzip, sprich, ein Produkt landet erst im Handel, wenn auch nachgewiesen ist, dass es nicht die Gesundheit der Verbraucher gefährdet", sagt er. "Die USA handeln nach dem Machbarkeitsprinzip." Ein weiterer Streitpunkt ist die Frage nach der Transparenz: Abwechselnd wird in Brüssel und Washington getagt, es gibt 25 Arbeitsgruppen mit rund 150 Unterhändlern, die über die Details verhandeln. Strittige Fragen landen schließlich ganz oben bei EU-Handelskommissar Karel De Gucht und seinem US-Gegenüber Michael Froman. +Auch die Grünen-Europaparlamentsabgeordnete Ska Keller gehört dem Handelsausschuss an. Sie spricht von "Geheimniskrämerei" und klagt: "Auf viele unserer Fragen kriegen wir überhaupt keine oder nur eine unzureichende Antwort." Europas Verbraucherschützer waren zunächst gänzlich ausgeschlossen, während es in den USA für Interessenverbände wenigstens die Chance gibt, die Verhandlungsprotokolle in einem Lesesaal einzusehen. "Aber unter den Lesefreudigen sind 600 Industrieverbände zugelassen und nur eine Verbraucherschutzorganisation", beklagt Verbraucherschützer Kleis das Ungleichgewicht. +Immerhin, die EU-Kommission reagiert auf die wachsende Kritik. Eine Beobachtergruppe soll eingesetzt werden, mit Vertretern aus Industrie und Verbrauchergruppen. Und dann gibt es noch den Streit um die sogenannten Schiedsgerichte, die keiner nationalen Gesetzgebung und Kontrolle unterworfen sind. Auch deswegen hat die Internetplattform Campact, die sich für mehr Transparenz in der Politik einsetzt, innerhalb weniger Wochen mehr als 339.000 Unterschriften gegen das Abkommen gesammelt. +Campact geht es unter anderem darum, wer bei Handelsstreitigkeiten eigentlich schlichtet: nationale Gerichte oder eben ein internationales Schiedsgericht? Die Hauptkritik fasst die Grünen-Abgeordnete Ska Keller wie folgt zusammen: "Die staatliche Souveränität wird ausgehöhlt. Gegen die Willkür der Schiedsgerichte gibt es keinen Schutz." Ein abschreckendes Beispiel gibt es bereits: So verklagte der US-amerikanische Öl- und Gaskonzern Lone Pine Resources die kanadische Provinz Quebec vor einem im Geheimen tagenden Schiedsgericht auf 250 Millionen Dollar Schadenersatz, weil er die Förderung von Schiefergas eingeschränkt und seine Investitionen gefährdet sah. "Amerikanische Investoren bekämen so weitreichende Klagemöglichkeiten gegen europäische Staaten", fürchtet Keller. "Die vagen Klauseln machen es möglich, auch gegen Umwelt- und Sozialgesetzgebung zu klagen und hohe Entschädigungssummen einzukassieren." +Die EU-Kommission hat mittlerweile reagiert. Von März an sollen mögliche Bedenken öffentlich diskutiert werden. Die Grüne Ska Keller fürchtet vor allem Auswirkungen auf afrikanische Staaten und andere Entwicklungsländer, wenn Europa und die USA Standards setzen, denen Schwellen- und Entwicklungsländer ausgeliefert sind. "Wir wollen eine faire Handelsordnung, die Rücksicht nimmt auf die Menschen und die Umwelt. Wir wollen kein Abkommen, in denen EU und USA für alle mal eben die Regeln festsetzen." Der CDU-Abgeordnete Caspary mag aber nicht nur auf die Zahlen schauen. "Uns verbindet mit den USA mehr als nur der Handel, sondern auch gemeinsame Werte. Bei allen bestehenden Problemen gibt es in der Welt nicht viele Partner, die uns näher stehen." +Ökonomen des Ifo-Instituts haben für die Bertelsmann Stiftung berechnet, wer eigentlich von einem Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA profitiert. Kurz gesagt: vor allem die USA. Zwei Millionen zusätzliche Jobs könnten entstehen, davon rund 1,1 Millionen in den USA. In Europa würden laut Ifo-Institut vor allem Großbritannien, Finnland und Schweden von dem Abkommen profitieren. In Deutschland würden rund 181.000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Auch die Krisenländer im Süden Europas könnten zu den Gewinnern zählen. Die Verlierer schauen von außen auf das Bündnis. diff --git a/fluter/wer-hat-welche-daten-von-mir.txt b/fluter/wer-hat-welche-daten-von-mir.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ef533242372a18477840e5919cdf4aec779e494c --- /dev/null +++ b/fluter/wer-hat-welche-daten-von-mir.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Adress- und Datenhandel ist ein großes Geschäft, rund 610 Millionen Euro wurden damit im Jahr 2014 in Deutschland umgesetzt, heißt es in einer Studie für das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Und die Post wirbt damit, einen besonders großen Datenschatz zu besitzen: Mit 46 Millionen Adressen decke sie "nahezu den gesamten Markt an Privathaushalten ab", heißt es auf der Homepage. Aber womit handelt die Post eigentlich genau? +Ich richte mir bei Deutsche Post Direkt ein Benutzerkonto ein – als Unternehmer, der online Kundenadressen kaufen will. Und ich staune, was sich alles auswählen lässt. Ich kann Haustierbesitzer herausfiltern und die Leserinnen von Frauenzeitschriften, Menschen mit und ohne Doktortitel. Ich kann auswählen, ob ich lieber eine Adresse aus einer Straße mit vielen oder wenigen Autobesitzern will. Klicke ich in der Auswahlliste auf das Fragezeichensymbol, erklärt mir die Post, woher sie ihre Informationen bekommt. Das Alter der Bewohner zum Beispiel "wird über die Vornamensanalyse der Person ermittelt" – eine Julia ist wahrscheinlich jünger als eine Roswitha. Ob an einer Anschrift die Bewohner häufig wechseln, lässt sich wiederum aus den Nachsendeaufträgen schließen. Rund 150 "Zielgruppenmerkmale" bietet die Post zur Auswahl an, 1.000 Adressen gibt es bereits zum Preis von 84 Euro. +Es klingelt an der Tür. Der Paketbote bittet mich, eine Sendung für den Nachbarn anzunehmen – mal wieder. Ich arbeite oft zu Hause, deswegen werden die Amazon-Bestellungen aus dem ganzen Haus regelmäßig in meinem Wohnungsflur zwischengeparkt. Der Bote fragt mich nach meinem Namen, hält mir das Gerät hin, damit ich auf dem Display gegenzeichne. Aber diesmal zögere ich kurz. Wer erfährt eigentlich alles, dass ich ständig Pakete für andere annehme? Die Nachbarn, klar. Und sonst? +Ich erkundige mich beim Bundesverband Paket und Expresslogistik. Mein Name werde in der Sendungsverfolgung dokumentiert, erklärt mir eine Verbandssprecherin. Die Paketunternehmen würden die Informationen aber nicht auswerten und bald nach der Zustellung wieder löschen: Als Dauer-Pakete-für-andere-Annehmer würde ich also nicht gespeichert. Allerdings haben auch die Versender Zugriff auf die Informationen. Theoretisch also könnte auch Amazon meine regelmäßige Mithilfe bei der Zustellung seiner Lieferungen mit der Zeit auffallen. Vielleicht mag man mir beim nächsten Einkauf für meine Hilfe ja mal einen Rabatt geben? + +Pling! In meinem E-Mail-Eingang findet sich eine neue Nachricht, Betreff: "Ihr Geld steht bereit". Ich bin genervt. Woher kommen die ganzen Spam-Nachrichten? +Auf der Internetseite des Hasso-Plattner-Instituts für Digital Engineering der Uni Potsdam kann ich überprüfen, ob meine E-Mail-Adresse in einem der Datensätze auftaucht, mit denen Kriminelle handeln. Vielleicht finde ich hier die Antwort auf die Flut an Müllnachrichten. Ich gebe meine E-Mail- Adresse ein. Und pling, schon finde ich die Auswertung des Hasso-Plattner-Instituts in meinem Postfach: Meine Adresse sei "in mindestens einer gestohlenen und unrechtmäßig veröffentlichten Identitätsdatenbank" enthalten, lese ich da. Außerdem: mein Passwort! Gleich in fünf Datenbanken! Ich bin erschrocken. +Ich rufe David Jaeger an, der am Hasso-Plattner-Institut promoviert und den E-Mail-Check mitbetreut. So wie mir geht es offenbar sehr vielen. "Bis zu 40 Prozent derjenigen, die ihre Mail-Adresse mit unserem Tool überprüfen, tauchen in irgend- einer dieser Datenbanken auf", sagt er. Und erklärt mir die Ökonomie des Onlinebetrugs, die über mehrere Etappen läuft. Es beginnt damit, dass Kriminelle über verschiedene Wege Daten sammeln – etwa über Spähsoftware, die man nichtsahnend auf seinen Rechner lädt, oder indem sie Onlinedienste wie das Karriereportal LinkedIn hacken und dort Nutzerkennwörter stehlen. In geschlossenen Foren bieten sie ihre Beute schließlich zum Kauf an. Die Käufer zielen vor allem auf die wenigen Personen, zu denen zum Beispiel auch Kreditkartennummern oder Bankverbindungen hinterlegt sind – auf die leichten und lukrativen Opfer sozusagen. "Am Anfang wird alles genutzt, was sich sehr unmittelbar zu Geld machen lässt", sagt Jaeger. Ist das abgegrast, wird der Datensatz weiterverkauft, jetzt schon für weniger Geld. Die zweite Riege der kriminellen Käufer versucht zum Beispiel, mit Kombinationen aus Passwörtern und E-Mail-Adressen Amazon-Konten zu kapern und in fremdem Namen Waren zu bestellen – was oft klappt, weil viele Menschen immer dasselbe Passwort benutzen; mit einem bei LinkedIn gestohlenen Kennwort kann ein Betrüger sich oft auch in andere Konten einloggen. Irgendwann ist der Datensatz ausgepresst wie eine Zitrone, und irgendjemand am Ende der Kette stellt ihn frei ins Netz. Dann klappern die Spam-Bots ihn ab und verschicken massenhaft Angebote für Viagra oder dubiose Nahrungsergänzungsmittel, und dort finden ihn auch die Potsdamer Forscher. Bis dahin können aber Jahre vergehen. "Ihre E-Mail-Adresse kann also noch in diversen anderen Listen stehen, von denen wir bisher gar nichts wissen", sagt Jaeger. +Einer der Datensätze, in denen laut dem Check des Hasso- Plattner-Instituts meine Mail-Adresse stehen soll, heißt "Exploit.In", öffentlich geworden ist er 2016. Ich google ein bisschen. Und tatsächlich. In einem Reddit-Forum finde ich eine Dateikennung, mit der ich die Liste bei einem Filesharing- Dienst herunterladen kann. Eine halbe Stunde dauert es, dann habe ich einen Ordner auf meiner Festplatte, 24 Gigabyte groß, fast 687 Millionen E-Mail-Adressen samt Passwort, verteilt auf 111 Textdateien, in denen Nutzerinnen und Nutzer aufgelistet sind. In einer dieser Dateien finde ich in Zeile 6.444.965: mich. Meine E-Mail-Adresse – und ein Passwort, das ich vor Jahren einmal benutzt habe. Mit dem man sich vielleicht immer noch irgendwo einloggen könnte. Mir wird mulmig. Wann war ich zuletzt bei StudiVZ? + +Den potenziell größten Spion trage ich ständig in der Hosentasche mit mir herum. Er verfügt über ein Mikrofon, das mich abhören, eine Kamera, die mich beobachten kann, Bewegungssensoren und GPS-Empfänger: mein Handy. Außerdem ist es voller Apps, mit denen ich meinen Alltag manage. Aber wem geben diese vielen kleinen Programme weiter, was sie dabei über mich erfahren? +Ich lade "Lumen Privacy Monitor" herunter, eine Android-App, die Forscher der Universität Berkeley entwickelt haben. Sie soll aufdecken, mit wem die übrigen Apps auf meinem Handy still und unbemerkt im Hintergrund kommunizieren. Eine Art Superspitzel also, den ich auf die vielen anderen kleinen Spione auf meinem Smartphone ansetze. +Dass die Apps mit ihren jeweiligen Herstellern Kontakt halten, "Spotify" mit Spotify und "Jodel" mit Jodel, überrascht mich nicht. Aber "Lumen" zeigt mir an, dass da noch viele andere sind, an die ständig Daten geschickt werden. Etwa an Google. Oder an Facebook. "Die Apps kommunizieren mit externen Dienstleistern, über die zum Beispiel Werbung eingespielt wird. Oder einfach nur der Teilen-Button von Facebook", erklärt Christian Kreibich, ein deutscher Computerwissenschaftler in Berkeley, der "Lumen" mitentwickelt hat. "Weil die verschiedenen Apps oft dieselben wenigen Dienstleister benutzen, können die ein sehr genaues Bild eines Nutzers bekommen und davon, was der mit seinem Gerät macht." Sie sind wahre Datensammelstellen, in denen viele Informationen über mich zusammenfließen. +Was genau, das kann mir auch Kreibich nicht sagen. Der Superspion "Lumen" tappt im Dunkeln, weil die Kommunikation zwischen den Apps und den Diensten in der Regel verschlüsselt wird – was im Prinzip eine gute Sache ist. Manchmal entdeckt "Lumen" aber doch, dass ziemlich sensible Daten abfließen: "WhatsApp" zum Beispiel hat offenbar mehrere Male mein Gerätemodell an Google gesendet. Besonders mitteilungsfreudig war "Clean Master", eine vorinstallierte App, mit der ich den Speicherplatz auf meinem Telefon aufräumen kann. Sie leitet neben dem Gerätemodell auch meine Zeitzone ("Europe/Berlin") an den Hersteller und andere Dienste weiter – und meine Android-ID, also die, über die ich eindeutig zu identifizieren bin. Für das, was die App eigentlich leisten soll, ist das völlig unerheblich. Kreibich bezeichnet sie daher als regelrechten Spitzel. +Ironischerweise ist auch "Lumen" selbst ein äußerst neugieriger Späher – aber immerhin im Dienste der Wissenschaft. Was die App auf meinem Handy feststellt, übermittelt sie in einem Datensatz an die Forscher in Kalifornien. Mit den Informationen von Tausenden Handynutzern konnten Kreibich und seine Kollegen kürzlich in einer Studie feststellen, welche Apps besonders häufig Daten weiterleiten: Es sind kostenlose Handyspiele und Bildungs-Apps. + +"Haben Sie eine Payback-Karte?", fragt die Kassiererin. Es ist einer der wenigen Momente, in denen ich mich wie ein Mensch fühle, der den Datenschutz ernst nimmt. Wie ein Kunde, der sich bewusst verhüllt, statt sich gläsern zu machen. "Nein", sage ich mit voller Überzeugung. "Natürlich nicht." +Ich weiß ja, was der Handel mit Rabattkarten bezweckt: Er will mich ausforschen. Die amerikanische Supermarktkette Target fand mithilfe solcher Kundenkartendaten zum Beispiel heraus, wie man schon ziemlich früh schwangere Frauen identifiziert: Ab einem gewissen Zeitpunkt neigen sie unter anderem dazu, parfümfreie Körperpflegeprodukte zu kaufen. Je früher die Händler werdende Mütter erkennen, desto gezielter können sie sie umwerben. Das führte bereits zu kuriosen Situationen: Eines Tages kam ein Vater empört in den Laden, weil die Supermarktkette seiner Tochter Gutscheine für Babykleidung geschickt hatte. Sie gehe doch noch zur Schule, schimpfte der Vater. Target wusste bereits von der Schwangerschaft, bevor die junge Frau es ihrer Familie sagte. +Auch die Deutschen helfen dem Handel sehr bereitwillig beim Datensammeln. Payback, der größte Rabattkartenanbieter, hat nach eigenen Angaben hierzulande 30 Millionen aktive Nutzerinnen und Nutzer. Aber sind die anderen, die sich nicht von ein paar Prämien locken lassen, wirklich so gut getarnt? +Die Händler mit Ladenlokal lassen sich inzwischen einiges einfallen, um ihre Kunden so zu durchleuchten wie die Konkurrenten im Internet. Die Supermarktkette Real erfasste zum Beispiel eine Zeit lang die Gesichter der Kunden an der Kasse, wenn sie auf Werbebildschirme schauten. So lässt sich personalisierte Werbung ausspielen – wie im Internet. Erst nach öffentlichem Protest wurde das Projekt eingestellt, in einigen Filialen der Deutschen Post ist es weiterhin aktiv. +Eine besonders verbreitete Methode macht sich zunutze, dass viele Menschen die WLAN-Funktion ihres Handys nicht ausschalten, wenn sie den Laden betreten. Ein Smartphone sucht in der Regel automatisch nach Netzen in der Nähe und schickt dem WLAN-Sender dabei eine persönliche Identifikationsnummer des Gerätes, die sogenannte MAC-Adresse. Aus der Signalstärke können die WLAN-Sender in den Läden wiederum ermitteln, wo der Kunde sich gerade befindet: Bleibt er besonders lange an der Wursttheke stehen? Traut er sich nur dann an das Regal mit den Kondomen, wenn gerade keine anderen Kunden in der Nähe sind? Oder greift er ganz schambefreit zu? Und wie oft kommt er überhaupt in den Laden? Jeden Tag? Oder nur einmal in der Woche zum Großeinkauf? +Das EHI Retail Institute aus Köln, eine Forschungsein- richtung des Handels, hat kürzlich 44 Handelsketten befragt. Zehn gaben dabei an, die Laufwege der Kunden bereits zu erfassen, 16 planen es für die Zukunft. Das Bayerische Landesamt für Datenschutzaufsicht befürchtet, dass Funksignale des Handys auch mit anderen Informationen verknüpft werden können, etwa mit Angaben zur EC-Kartenzahlung. Dann wüssten die Händler ziemlich schnell, welches Bewegungsprofil zu welchem Menschen gehört, und statt einer MAC-Adresse, die zweimal in der Woche abends zwischen den Regalen herumirrt, sähen sie dann plötzlich: mich. Auch ganz ohne Payback-Karte. +Bei meinem nächsten Ladenbesuch achte ich darauf, welche WLAN-Netze mein Handy in der Nähe findet. Auch mein Supermarkt taucht in der Liste auf. Am Abend schleppe ich meine Einkäufe nach Hause und schalte zur Erholung Netflix ein. Der Streamingdienst kennt meine Vorlieben schon sehr genau – und schlägt mir "Black Mirror" vor, eine Serie, die oft von den Überwachungsmöglichkeiten der nahen Zukunft erzählt. Ich nehme mir vor: Von nun an stelle ich das Smartphone öfter aus, sobald ich aus dem Haus gehe. diff --git a/fluter/wer-ist-bernie-sanders.txt b/fluter/wer-ist-bernie-sanders.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7d58aebcc1b964255058b16e9ca4bdd187799da5 --- /dev/null +++ b/fluter/wer-ist-bernie-sanders.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +Sollte Bernie Sanders die Vorwahlen der Demokraten im nächsten Jahr gewinnen und anschließend auch Donald Trump schlagen, wäre er zum Amtsantritt 79 Jahre alt. Ein weißer und sehr alter Mann also. Dass das nicht optimal ist, geben selbst seine Fans zu. Abgesehen davon hat wohl kein anderer Kandidat eine solch leidenschaftlich involvierte Anhängerschaft wie der gebürtige New Yorker. +Sanders ist in den vergangenen Jahren zum Liebling der US-Linken avanciert, er hat die meisten Follower bei Twitter und Facebook unter den Präsidentschaftskandidaten der Demokraten, sammelt mehr Spenden als die Konkurrenten, und seine Graswurzelorganisation "Our Revolution" hat sich mittlerweile im ganzen Land verbreitet. Sanders möchte bei der kommenden Wahl das nachholen, was ihm 2016 misslang: erster US-Präsident in der Geschichte werden, der sich selbst als "demokratischer Sozialist" bezeichnet. Und genau davor warnen seine Gegner panisch. + +Alter: 77 +Position:Senator aus Vermont +Wahlkampfthemen:Staatliche Krankenversicherung für alle, kostenloser Zugang zu Universitäten, höhere Besteuerung der Reichen, landesweiter Mindestlohn, Vollbeschäftigung +Basis:Linke, Stadtbewohner*innen, Student*innen, Arbeiter*innen, Geringverdiener, People of Color +Wahlkampfspenden:21 Millionen Dollar + +Seine politische Karriere startete Sanders vor fast 40 Jahren als Bürgermeister von Burlington, der größten Stadt Vermonts. 1990 wurde er ins US-Repräsentantenhaus gewählt, 2006 in den Senat, und zwar jeweils als independent, als unabhängiger Abgeordneter. Sanders tritt nun für die Demokraten an, weil Kandidaten, die keiner der zwei großen Parteien zugehören, bei großen Wahlen keine Chance haben. +Wenn er Reden hält, zieht er regelmäßig Tausende Zuschauer an. "Feel the Bern" steht auf ihren Plakaten und Klamotten – oder schlicht "Bernie", so nennen ihn seine Fans. Als er Anfang März den Wahlkampfauftakt in seiner New Yorker Heimat Brooklyn bestritt, standen die Besucher stundenlang im Schnee Schlange. In der Rede wurde Sanders ungewohnt persönlich. Er erzählte von den finanziellen Problemen seiner Familie, von seinem jüdischen Vater, der Anfang der 1920er-Jahre aus Polen in die USA emigriert war, und von seiner Mutter, die starb, als Sanders gerade frisch auf dem College war. "Ich weiß, wo ich herkomme", rief er den 13.000 Zuschauern zu. + + +Sanders hat sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten nicht nur mitdem "Establishment" von Washington,den Republikanern und Donald Trump angelegt, sondern auch mit dem Zentrum der Demokratischen Partei. In den Augen vieler Parteifunktionäre ist Sanders zu radikal und verbissen. Obwohl ihm Unterstützung aus der Mitte der Partei fehlte, unterlag er Hillary Clinton im Vorwahlkampf 2016 überraschend knapp. Viele moderate Demokraten befürchten, dass Sanders' linke Politik in großen (und konservativen) Teilen des Landes nicht angenommen werde. Wer in den Südstaaten unterwegs ist und gewisse Radiosender einschaltet, könnte jedenfalls den Eindruck bekommen, die USAstünden kurz vor der kommunistischen Revolution, angeführt natürlich von Bernie Sanders. +Und sonst so?Diese Kandidat*innen habengute Chancen, 2020 gegen Donald Trump antreten zu dürfen +Sanders, derin Umfragen derzeitauf Platz vier steht, trommelt verlässlich für die immer gleichen Themen: kostenlose Bildung, weniger Macht für die Wall Street, eine Reform des Strafjustizsystems, mehr Arbeitnehmerrechte. Einige seiner Gesetzesinitiativen wurden vor Jahren noch als Spinnereien abgetan; heute erhalten sie breitere Unterstützung. Bestes Beispiel ist "Medicare for All", Sanders' Idee einer steuerfinanzierten staatlichen Krankenversicherung, die mittlerweile laut Umfragen sogar von einigen Republikanern befürwortet wird. +In der Kritik stand Sanders zuletzt, als er Mitte April seine Steuerunterlagen der letzten zehn Jahre veröffentlichte und dadurch publik wurde, dass er es mit seinen Büchern und Events zum Millionär gebracht hat. "Bernie gehört zum einen Prozent", schrieb die "New York Times", gemeint war die Einkommensspitze der USA, gegen deren Einfluss in der Politik Sanders ja seit langem kämpft. "Falls irgendjemand denkt, dass ich mich dafür entschuldigen sollte, dass ich ein Buch geschrieben habe, das sich gut verkauft, tut mir leid, das werde ich nicht tun!", sagte Sanders kurz darauf im Fernsehen. Man könnte das als stur bezeichnen. Oder als konsequent, schließlich fordert kein anderer Kandidat so vehement eine stärkere Besteuerung Reicher. + +Titelbild: Kevin Dietsch/UPI/laif diff --git a/fluter/wer-ist-bill-weld.txt b/fluter/wer-ist-bill-weld.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9f5946e5c18e5ab4e0612c04d904fcb7ef1b9123 --- /dev/null +++ b/fluter/wer-ist-bill-weld.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Demokraten gegen Donald Trump – so könnte man den US-Wahlkampf betiteln. Stimmt in etwa, aber nicht ganz. Auch bei den Republikanern regt sich Opposition gegen die amtierende Regierung. Zumindest eine kleine. +William "Bill" Weld heißt der Mann, der schaffen möchte, was keinem Kandidaten seit 1852 gelungen ist: den Präsidenten aus der eigenen Partei entmachten. +Die Chancen des 73-Jährigen sind minimal – das weiß er, das weiß Trump, das wissen eigentlich alle. Und doch tingelt Weld, der von 1991 bis 1997 Gouverneur von Massachusetts war, seit einigen Monaten von Town Halls zu Radiostationen zu Kneipen, um seinen Protest unters Volk zu bringen. Trump sei böse, sagt Weld, aber nicht alle Republikaner seien wie Trump. + +Alter:73 +Position:Ehemaliger Gouverneur von Massachusetts +Wahlkampfthemen:Außenpolitische Beziehungen zu westlichen Ländern, Klimaschutz, Steuersenkungen +Basis:Republikaner, die Trump nicht ausstehen können +Wahlkampfspenden:688.000 Dollar + +"Washington versinkt gegenwärtig im Chaos, Wahrheit bedeutet nichts mehr, doch Amerika hat die Wahl", heißt es in einem seiner Wahlkampfvideos. In Interviews, auf Veranstaltungen und bei Twitter wird Weld deutlicher: Trump sei gefährlich, ein Krimineller, nicht "fit for office" und müsse deshalb des Amtes enthoben werden. Sogar mit Diktatoren wie Nero oder Caligula hat Weld den amtierenden Präsidenten schon verglichen. In puncto Attacken schießt Weld schärfer als die 20 Kandidat*innen der Demokratischen Partei. +Wer ist dieser Mann, der sich mit dem Präsidenten und der eigenen Partei anlegen möchte? Einer, "der nichts zu verlieren hat", sagt Weld selbst. Er wurde im Bundesstaat New York geboren, studierte in Harvard und Oxford, verbrachte den größten Teil seines Lebens in Massachusetts und arbeitet bis heute als Anwalt. Unter dem Präsidenten Ronald Reagan Präsident arbeitete Weld im Justizministerium. Ein paar Jahrzehnte später sprach er sich dafür aus, dass Barack Obama ins Weiße Haus einzieht, ehe er sich 2012 wieder hinter den republikanischen Kandidaten Mitt Romney stellte. 2016 trat Weld schließlich als "Running Mate" (Kandidat für die Vizepräsidentschaft) des Libertären Gary Johnson an. + +Man könnte Weld als Querdenker bezeichnen. Oder als Wirrkopf. Loyalität gegenüber seiner Partei scheint er jedenfalls nicht zu verspüren. + +Und sonst so?Diese Kandidat*innenhaben gute Chancen, 2020 gegen Donald Trump antreten zu dürfen +Wenn es um Wirtschaftspolitik geht, ist Weld aber ein typischer Republikaner: niedrige Steuern, wenig staatliche Regulationen, freier Handel und Markt – das ist seine Vision. Bei gesellschaftspolitischen Fragen zeigt er sich liberaler. Weld befürwortet die gleichgeschlechtliche Ehe, setzt sich für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch ein, Umweltschutz und den medizinischen Einsatz von Marihuana. So verzerrt die Perspektive für manche Beobachter auch sein mag: Konservative Republikaner sehen in Bill Weld einen Linken, nicht unterscheidbar von den meisten Demokraten. Besonders besorgt gibt sich Weld bezüglich der US-amerikanischen Außenpolitik. Während Trump "Verbündete beleidigt", kuschle er gleichzeitig mit "despotischen Führern". +Weld möchte die Republikaner vor Trump retten. Doch will sich seine Partei überhaupt retten lassen? Viele Kollegen, glaubt Weld, ständen dem Präsidenten kritisch gegenüber, trauten sich aber nicht, ihn öffentlich zu kritisieren. Und die Wähler? In Umfragen geben meist zwischen 80 und 90 Prozent der befragten Republikaner an, dass sie Trump wiederwählen werden. +Weld ist so etwas wie der äußerste Außenseiter, eine Hoffnung aber bleibt ihm: eine öffentliche TV-Debatte mit Trump. "Ich verspreche euch, im nächsten Jahr werde ich bei weit über 15 Prozent in den Umfragen stehen", sagte er Ende Juni in einem Interview, "was bedeuten würde, dass mir nach den Vorschriften eine Debatte mit Mr. Trump zusteht." + +Titelfoto: Suzanne Kreiter/The Boston Globe via Getty Images diff --git a/fluter/wer-ist-elizabeth-warren.txt b/fluter/wer-ist-elizabeth-warren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a57201a76e3916865ce0485a52e34b7142c84da9 --- /dev/null +++ b/fluter/wer-ist-elizabeth-warren.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Vielleicht wird Elizabeth Warren irgendwann auf die erste Woche im Juni 2019 zurückblicken und in ihr so etwas wie einen Zündungsmoment erkennen. Es nahm seinen Anfang mit einer Wahlumfrage, die Warren bei den demokratischen Präsidentschaftsbewerbern auf Platz drei – fast gleichauf mit Bernie Sanders – sah. Anschließend durfte sie in der "New York Times" eine Kolumne des Journalisten Farhad Manjoo über sich lesen, die Warrens PR-Abteilung nicht besser hätte formulieren können. "Ich möchte in Elizabeth Warrens Amerika leben", lautete die Überschrift. Kurz darauf wurde sie dann sogar vom rechten "Fox News"-Moderator Tucker Carlson in dessen Primetime-Sendung für ihren "ökonomischen Patriotismus" gelobt, den sich, so Carlson, kein einziger Politiker der Republikaner trauen würde. Und einen Tag später staunte der Comedian Trevor Noah in seiner Late-Night-Show, dass es Warren gelungen sei, "aus dem überfüllten Feld herauszustechen, weil sie als Einzige die Strategie fährt, einen Plan zu haben". +Das Image hat sich mittlerweile verfestigt: Warren ist die mit dem Plan. Beziehungsweise: die mit den Plänen. Fast im Wochentakt präsentiert die 70-Jährige Gesetzentwürfe, in denen Probleme und Lösungen nicht nur grob skizziert, sondern bis ins Detail ausformuliert und finanziell durchgerechnet sind. Warren, die erste Präsidentin in der Geschichte der USA werden möchte, gilt als "wonk", was man mit Fachspezialistin, Streberin oder "Aktenfresserin" übersetzen kann. Die Frage ist, ob ihre Pläne auch genug US-Amerikaner erreichen. Eine breite, diverse Anhängerschaft fehlt ihr nämlich noch. + +Alter: 70 +Position:Senatorin aus Massachusetts +Wahlkampfthemen:Regulierung der Finanzwelt, höhere Steuern für Vermögen ab 50 Millionen Dollar, Stärkung der Mittelschicht, nachhaltige Wirtschaft +Basis:Kapitalismuskritiker*innen; weiße Student*innen, Politiknerds; Linke, die Sanders nicht mögen, Vorstadtbewohner*innen +Spenden:16,5 Millionen Dollar + +Was die politische Agenda angeht, unterscheiden sich Warren und ihr Mitstreiter Bernie Sanders kaum voneinander. Beide gehören zum linken Flügel der Demokraten. Man könnte auch sagen, sie stehen sich dort gegenseitig im Weg. Sanders hat allerdings, so widersprüchlich es klingen mag, den Vorteil einer gescheiterten Kandidatur. Während seine Basis stark gewachsen ist, seit er in den Vorwahlen 2016 Hillary Clinton unterlag, muss Warren noch um Bekanntheit kämpfen. +Was genau will Warren? Unter anderem deutlich mehr Steuern für Millionäre ab 50 Millionen Dollar Vermögen, deutlich weniger Einfluss vonLobbyisten, einen Erlass vonStudienschulden, ein Aufbrechen derTechnologie-Giganten, eine stärkere Regulierung derFinanzmärkte, eine allgemeine Krankenversicherung und eineErhöhung des Mindestlohns. Kurz: eine deutliche Umverteilung von Geld und Macht. Doch ob all das auch zu mehr sozialer Gerechtigkeit führt, bezweifeln Ökonomen. So könnte der Erlass von Studienschulden beispielsweise genau das Gegenteil bewirken, weil davon überproportional Absolventen besonders teurerStudiengänge wie Medizinoder Jura profitieren würden. Die verdienen später allerdings auch am meisten und kommen oft aus reichen Familien. + +Kürzlich stellte Warren ihren "Green Manufacturing Plan for America" vor, ein umfassendes Programm, das Klimaschutz mit neuen Arbeitsplätzen verbinden soll. Auch das Thema Abtreibungen ist für sie zentral,gerade jetzt, wo die Republikaner elementare Rechte wieder zurücknehmen wollen. "Vermögende Frauen werden auch weiter Zugang zu Abtreibungen haben. Wer es nicht haben wird, sind arme Frauen, arbeitende Frauen; Frauen, die es sich nicht erlauben können, drei Tage freizunehmen", sagte Warren kürzlich in einer TV-Sendung. +Und sonst so?Diese Kandidat*innenhaben gute Chancen, 2020 gegen Donald Trump antreten zu dürfen +Warren identifiziert sich mit denen,die prekär leben; vielleicht, weil sie diese Verhältnisse selbst kennt. Als sie zwölf Jahre alt war, erlitt ihr Vater einen Herzinfarkt. Ihre Mutter wurde mit einem Mindestlohnjob zur Alleinernährerin. Warren selbst war die längste Zeit ihres Lebens Juraprofessorin, erst nach der Finanzkrise vor zehn Jahren entschloss sich die Mutter zweier Kinder für den Wechsel in die Politik, seit 2012 sitzt sie im US-Kongress. +Zu ihrer Geschichte gehört auch, dass sie noch in den 90er-Jahren registrierte Republikanerin war, was ihr manche Demokraten heute übel nehmen. Den schärfsten Gegenwind spürte Warren jedoch im vergangenen Jahr, als sie mittels eines DNA-Tests ihre indigene Herkunft nachwies. Diese hatte Donald Trump zuvor bezweifelt. Weil sie nur zu höchstens einem Vierundsechzigstel "native American" ist, nennt er sie auch weiterhin "Pocahontas" oder "Fake Indian". Und was sagt Warren über Trump? Dass er längstim Gefängnis sitzenwürde, wäre er nicht gerade US-Präsident. + +Titelbild: Marco Bello/Bloomberg via Getty Images diff --git a/fluter/wer-ist-hier-der-spasti.txt b/fluter/wer-ist-hier-der-spasti.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fcb218e62783d77f7a9f52385a828d740cb178bf --- /dev/null +++ b/fluter/wer-ist-hier-der-spasti.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Meine Mutter hat mal als Ärztin in so einer Einrichtung gearbeitet. Die Lehrer, die ich da getroffen habe, waren zwar engagiert, aber sie haben die Schüler zum Teil überbehütet. Man muss Menschen mit Behinderung auch dadurch fördern, dass man ihnen ab und zu in den Arsch tritt. Ich habe da zum Beispiel ein Mädchen kennengelernt, das gerade seinen Abschluss machte und sich an der Filmhochschule bewerben wollte. Der Film, den sie mir zeigte, war aber so schlecht, dass mir völlig klar war, warum sie später permanent von der Hochschule abgelehnt wurde. Nicht mal der Ton war synchron. Aber das hat ihr eben niemand gesagt. Das passiert in solchen Systemen, in denen Behinderte unter sich sind: Man verliert die Messlatte. Eine Sache habe ich aber in meiner integrierten Schulklasse nicht gelernt: mich mal ein bisschen zu entspannen. Ich verausgabte mich permanent zu 120 Prozent, um mit denen mitzuhalten, die nicht behindert waren. Erst ab der elften Klasse habe ich beim Schulrat beantragt, dass ich mehr Zeit für Klausuren kriege als die anderen, weil meine Hände und Arme einfach kürzer sind und deswegen das Schreiben auch schwerer ist. +Für mein Selbstbewusstsein war es aber sehr gut, in einer integrativen Klasse zu sein. Ich hatte bis zu meinem Vordiplom an der Uni keine behinderten Freunde. Die Schule hat mich voll ausgefüllt, meine Freunde haben mich voll ausgefüllt. Ich bin erst mal der Ansicht, man sollte alle Förderschulen abschaffen und dann mal gucken, ob diese nicht inkludierbaren Menschen überhaupt existieren. Wer den Erhalt dieser Schulen unterstützt, ist zu faul, darüber nachzudenken, welche Alternativen es gibt. Ich glaube, dass auch ein schwerst mehrfach behindertes Kind ein Recht darauf hat, nichtbehinderte Menschen zu sehen und zu treffen. Und auch Nichtbehinderte haben das Recht, schwerst mehrfach behinderte Menschen zu sehen. Niemand will in Watte gepackt werden. Auch ein behindertes Kind muss mal Frust aushalten, so wie alle anderen auch. + +Ich bin in Hamburg aufgewachsen und habe ab der ersten Klasse gemeinsam mit Behinderten gelernt. Das war natürlich die Entscheidung meiner Eltern. Sie hatten sich dieses Modell ausgesucht, weil sie fanden, dass meine Schwester und ich so bestimmte soziale Kompetenzen vermittelt bekommen. Wir hatten insgesamt drei Behinderte in der Klasse. Johnny war Spastiker, der ist immer auf Zehenspitzen gegangen, weil er verkürzte Achillessehnen hatte. Auch seine Hände waren so ein bisschen beeinträchtigt. Bei den anderen beiden hat man es nicht so stark gesehen. Martin war Autist, aber das habe ich eigentlich erst später mitbekommen. Er redete manchmal ein bisschen wirres Zeug, sang irgendwelche Kinderlieder, und ab und an flatterte er so mit den Händen, wenn er sich freute. Sobald es ihm in unserer Klasse zu viel wurde, kam er in eine reizärmere Umgebung, einen Nebenraum, wo er dann alleine spielen konnte. Und dann gab es da auch noch Mesut. Er hatte eine geistige Behinderung, war verhaltensauffällig, aggressiv und minderintelligent. +Wir hatten zwei, manchmal auch drei Lehrer, einer kümmerte sich immer speziell um die Behinderten. Mit Martin verstand ich mich besonders gut, wir waren befreundet. Ich lud ihn damals zum Kindergeburtstag ein und er mich auch. Natürlich war es nicht immer ganz einfach. Auf dem Pausenhof gab es schon ab und zu blöde Sprüche. Johnny war kognitiv am reifsten, der hat am meisten unter Beleidigungen gelitten. Meistens hat der Rest der Klasse es aber gut aufgefangen, wenn ein Nichtbehinderter einen Behinderten blöd angemacht hat. Normalerweise bin ich oder ein anderer aus der Klasse dazwischengegangen. +Öfter wurden wir aber auch als Ganzes von Schülern aus anderen Klassen angegriffen, in denen es keine Behinderten gab. Wir wurden als Behindertenklasse verspottet. Für mich war das aber nicht schlimm, im Gegenteil: Das hat unseren Zusammenhalt nur noch verstärkt. Und von den Leistungen war unsere Klasse sowieso eine der besten. Gestört oder aufgehalten haben die Behinderten uns eigentlich so gut wie nie. Na ja, beim Fußballspielen war es schon manchmal ein bisschen schwierig, und es hat schon mal genervt, wenn Mesut den Ball weggekickt hat. +Ich denke, dass ich auch viel von den Behinderten gelernt habe. Ich kann Heterogenität und das Andersartige von Menschen besser akzeptieren. Ich habe kapiert, dass jeder sein eigenes Arbeitstempo hat, seine Stärken und Schwächen und genauso viel wert ist wie der andere Mensch. Behinderte wollen kein Mitleid, sondern einfach nur integriert sein. Für mich ist der Umgang mit ihnen seit meiner Schulzeit völlig selbstverständlich. Ich finde, integrierte Schulklassen sind ein gutes Modell, aber auch Förderschulen haben ihre Berechtigung. In Baden-Württemberg, wo ich lebe, können alle Eltern ihre Kinder in eine normale Schulklasse geben, aber sicher ist es bei manchen Schülern auch sinnvoll, wenn sie auf eine Förderschule kommen, weil sie da intensiver betreut werden können und ausgebildetes Fachpersonal haben. Sonderpädagogen können sie einfach besser unterstützen als Lehrer, die unter Umständen noch nie mit Behinderten gearbeitet haben. Leider habe ich nach der siebten Klasse, in der wir uns spezialisieren mussten, allmählich den Kontakt zu den Behinderten verloren. Von Mesut weiß ich noch, dass er später in einer Autowerkstatt von Verwandten oder Bekannten gearbeitet hat. Von Martin habe ich erfahren, dass er in einem betreuten Wohnprojekt lebte. Und bei Johnny bin ich mir sicher, dass er seinen Hauptschulabschluss gekriegt hat. diff --git a/fluter/wer-ist-joe-biden.txt b/fluter/wer-ist-joe-biden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7d937aed237b7baeae4b3a31dbacecc4e5b011a9 --- /dev/null +++ b/fluter/wer-ist-joe-biden.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +"Uncle Joe" wird er genannt – von Unterstützern und Gegnern. Für viele US-Amerikaner symbolisiert Joe Biden, was dem aktuellen Präsidenten Donald Trump fehlt: Verlässlichkeit, Charme, die Fähigkeit zur Diplomatie. Biden isst gerne Eis und kann nett lächeln, seine Pilotenbrille ist legendär, das Internet scheint ihm fremd, der gute alte Onkel Joe eben. +Doch Biden hat sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten noch einen anderen Ruf verdient: den des aufdringlichen Onkels. +Im Internet finden sich massenweise Videos, die Biden dabei zeigen, wie er Frauen und Mädchen in der Öffentlichkeit etwaszu nahe kommt: Mal betätschelt er sie, mal küsst er sie auf den Kopf, mal knetet er ihre Schultern. Im Frühjahr berichteten mehrere Frauen in den Medien über Belästigungen durch Biden. Wirklich geschadet hat ihm das anscheinend nicht: Der Politveteran steht weiterhin in allen Umfragen der demokratischen Präsidentschaftskandidaten auf Platz eins. Die meisten Demokraten sehen in Biden offenbar den einzigen Kandidaten, der Trump gewachsen ist. + +Alter: 76 +Position:Ehemaliger Vizepräsident und Senator aus Delaware +Wahlkampfthemen:Investitionen in die Bildung, Obamacare, Mindestlohn +Basis:Ältere und afroamerikanische Wähler, Gewerkschaftler aus dem Mittleren Westen, Obama-Fans, alle Demokraten, die die Partei in der politischen Mitte sehen, Christen +Spenden:19,8 Millionen Dollar + +Als Biden Ende April in einem Onlinevideo mit ernstem Ton seine Präsidentschaftskandidatur verkündete, gab er sich überzeugt davon, dass die Menschen in den vier Trump-Jahren irgendwann eine "Abweichung in der Geschichte" erkennen würden. Nostalgie ist ein entscheidender Faktor in seiner Kampagne, er möchte das "Rückgrat von Amerika wiederherstellen". + +Wer Biden zuhört oder seine Kampagnenwebsite besucht, bekommt dagegen ein eher unpräzises Programm präsentiert: Höhere Steuern für Reiche? Ja, aber nur ein bisschen.Medicare for all? Nur als freiwillige Option. Beim Klimaschutz legte er erst nach parteiinterner Kritik einen detaillierten eigenen Plan vor. Demnach will Biden, dass die USA bis 2050 CO2-neutral und gleichzeitig Millionen neue Jobs geschaffen werden. Auch beim Thema Bildung liefert er schon eine detaillierte Agenda: mehr Gehalt für Lehrer, Aufwertung derSchulen in sozialen Brennpunkten, kostenloses Community College. +Abgesehen davon wirkt es so, als würde sich Biden stark darauf verlassen, dass das Land ihn als netten Kumpel von Obama sieht und schätzt. Auf Twitter postete Biden Anfang Juni zum wiederholten Male dasselbe Foto seines Joe-&-Barack-Freundschaftsbändchens. "Das ist ein Witz, oder?", antwortete der ehemalige Obama-Berater David Axelrod. War es aber nicht. +Seine erste Wahlkampfveranstaltung hielt Biden in Pittsburgh, Pennsylvania, ab. Dort, im Mittleren Westen, sieht Biden, der von 1973 bis 2009 für Delaware im Senat saß, seine Stammwählerschaft: Arbeiter, Gewerkschaftler, Wechselwähler. +Und sonst so?Diese Kandidat*innenhaben gute Chancen, 2020 gegen Donald Trump antreten zu dürfen +Biden ist kein begnadeter Redner – er tappt immer wieder in Fettnäpfchen und verrennt sich in Rechtfertigungen. Nachder ersten TV-Debatte der Demokraten verlor er massiv an Zustimmung. Und trotzdem schafft Biden es, viele Leute für sich zu erwärmen. Als 2015 sein Sohn Beau an einem Hirntumor starb, litten auch politische Gegner mit dem damaligen Vizepräsidenten. Es war nicht die erste Schicksalsnachricht für Biden: 1972 starben seine erste Ehefrau Neilia und seine Tochter Naomi bei einem Verkehrsunfall. "Wie Trauer zu Joe Bidens ‚Superkraft' wurde", schrieb das Magazin "Politico" Anfang dieses Jahres zynisch. +Biden steht für den "third way", den dritten Weg, der eine Art Kompromiss zwischen linken Demokraten und rechten Republikanern markiert. Auf diesem Weg geht er in seine dritte Kandidatur: Bereits 1988 und 2008 versuchte Biden, Präsident zu werden, scheiterte aber frühzeitig. 2020 ist seine letzte Chance, bei Amtsantritt wäre er mit 78 Jahren der älteste US-Präsident der Geschichte. Seine lange Politikerkarriere ist somit vielleicht auch sein größter Schwachpunkt, denn Biden steht eher für die Vergangenheit als für die Zukunft. Während andere Kandidaten in den Medien gehypt, aber von den allermeisten Wählern ignoriert werden, wird Biden in den Medien stark kritisiert, aber von vielen Wählern geschätzt. Das erinnert in gewisser Weise an Trump. + +Titelbild: Ronen Tivony/SOPA Images/LightRocket via Getty Images diff --git a/fluter/wer-ist-kamala-harris.txt b/fluter/wer-ist-kamala-harris.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fff9ef749eb92f45908a5212268c687cd17e0e73 --- /dev/null +++ b/fluter/wer-ist-kamala-harris.txt @@ -0,0 +1,22 @@ + +Ein Gospelchor singt die Nationalhymne, ein schwarzes Mädchen hält den "Pledge of Allegiance", das Treuegelöbnis auf die US-Flagge, ein afroamerikanischer Pastor spricht über Rassismus und Zusammengehörigkeit in den USA. Rund 20.000 Menschen haben sich an diesem symbolbeladenen Sonntagnachmittag in der Innenstadt von Oakland, Kalifornien, versammelt. Doch es dauert und dauert, bis der Song über die Lautsprecher läuft, auf den alle gewartet haben: "Work That" von Mary J. Blige, das Startsignal für Kamala Harris. Es ist eines ihrer Lieblingslieder, zu dem sie auf die Bühne schreitet und der Masse entgegenstrahlt. +Harris wuchs in den 60er-Jahren in Oakland auf, hier soll auch ihr Wahlkampf beginnen. Harris erzählt von ihrer Mutter, einer Einwanderin aus Indien, und von ihrem Vater, der aus Jamaika kommt. Sie spricht mehrfach vom "amerikanischen Traum", der für viele Menschen nicht mehr erreichbar sei. "Das sind keine gewöhnlichen Zeiten. Und das wird keine gewöhnliche Wahl", sagt Harris. Ihre Kandidatur hatte sie eine Woche zuvor in der ABC-Sendung "Good Morning America" bekannt gegeben, präzise getimt, amMartin-Luther-King-Tag. Harris will nicht nur die erste Präsidentin werden, sie will die erste schwarze Frau an der Spitze des Landes sein. + +Alter: 54 +Position:Senatorin aus Kalifornien +Wahlkampfthemen:Verschärfung der Waffengesetze, Reform des Strafjustizsystems, Kredite für ärmere Familien +Basis:Frauen, People of Color, Young Professionals an den Küsten +Spenden:13,2 Millionen Dollar + +Dafür machte Harris im Januar als eine der ersten Demokraten ihre Bewerbung offiziell. Buzzfeed bezeichnete sie damals als "Antithese zu Donald Trump". Ein halbes Jahr später zählt die 54-Jährige immer noch zu den fünf Topkandidaten, obwohl sich das Feld mittlerweile auf über 20 Politikerinnen und Politiker vergrößert hat. +#ForThePeople lautet Harris' Wahlkampfslogan. Wer genau diese People sind, für die sich Harris einsetzen will, ist vielen US-Amerikanern nicht ganz klar. Harris gehört weder zum linken Flügel der Partei, dafür sind ihre Forderungen zu moderat, noch zum alten Zentrum der Demokraten, wie beispielsweise Joe Biden. Harris gilt als Pragmatikerin, die vor allem mit ihrer Biografie Fortschritt verkörpert. Nur: Reicht das? +Zu ihren Forderungen zählen ein schärferes Waffengesetz und einMindestlohnvon 15 Dollar pro Stunde, sie möchteGewerkschaftenstärken und plant eine Reform des Gesundheitssystems. So weit, so demokratisch. Doch deutlich genug absetzen kann sie sich damit nicht, sagen Kritiker. Kandidaten wie Elizabeth Warren oder Bernie Sanders besetzen das Thema soziale Gerechtigkeit glaubhafter und detaillierter. + +Am umstrittensten ist wohl Harris' Justizpolitik. Bevor die selbst ernannte "fröhliche Kriegerin" 2017 Senatorin in Washington wurde, arbeitete sie als Staatsanwältin und Justizministerin von Kalifornien. In dieser Zeit fiel sie immer wieder mit Entscheidungen auf, die von Kritikern als autoritär und repressiv bewertet wurden. Zum Beispiel bei der harten Bestrafung von Eltern von Schulschwänzern oder bei derKriminalisierung von Prostitution(heute fordert sie eine Dekriminalisierung). Auch in ihrem 2009 veröffentlichten Buch "Smart on Crime" beschreibt Harris, wie wichtig starke Polizeipräsenz undstrenge Rechtsvollstreckungseien. "Kamala Harris war keine ‚progressive Staatsanwältin'", schrieb die "New York Times" im Januar und erklärte, dass unter ihrer Law-and-Order-Praxis vor allem People of Color gelitten hätten. Manche fühlen sich an Barack Obama erinnert, dessen progressives Image oft nicht mit seiner Realpolitik übereinstimmte. +Zu ihrem Wahlkampfteam gehören zahlreiche ehemalige Berater Hillary Clintons. Genau wie die Kandidatin von 2016 bezieht auch Harris vergleichsweise viele Großspenden. Und genau wie Clinton positioniert sich Harris gegen Donald Trump als Kämpferin für "die Wahrheit". Auf Twitter schrieb sie neulich: "Während unsere Staatsoberhäupter weiter lügen und unsere demokratischen Institutionen untergraben, weiß ich, dass wir es besser können." +Für Aufsehen sorgte Harris vor zwei Jahren, als sie den damaligen Justizminister Jeff Sessions im Rechtsausschuss des Kongresses aggressiv zu möglichen Russlandkontakten verhörte. Anfang Mai dieses Jahres kam dann Sessions' Nachfolger William Barr in Bedrängnis, als er von Harris zu einem ähnlichen Thema ausgefragt wurde. Weiße Männer sehen neben Harris manchmal ziemlich alt aus. +Und sonst so?Diese Kandidat*innenhaben gute Chancen, 2020 gegen Donald Trump antreten zu dürfen +Eine Erfahrung, die auch ihrKonkurrent Joe Bidenbei der TV-Debatte Ende Juni machte: Harris sagte, sie glaube zwar nicht, dass Biden ein Rassist wäre – dass er sich nicht von zwei seiner ehemaligen Kollegen distanziere, die einst für die Rassentrennung eintraten, täte aber weh. Harris warf dem ehemaligen Senator und Vizepräsidenten außerdem vor, in den 70er-Jahren das sogenannte "bussing" abgelehnt zu haben: Um gegen den Fortbestand der Rassentrennung anzukämpfen, wurden schwarze Kinder (Harris war eines von ihnen) aus ärmeren Vierteln zu Schulen gefahren, in die überwiegend weiße Kinder gingen. +Biden schaute bedröppelt, während Harris Applaus bekam. Mehrere Medien sprachen von einem "Schlüsselmoment". Während Biden laut einer Umfrage des Instituts Morning Consult fünf Prozentpunkte verlor (aktuell: 33 Prozent), legte Harris um sechs Punkte (aktuell: 12 Prozent) zu. + + diff --git a/fluter/wer-ist-pete-buttigieg.txt b/fluter/wer-ist-pete-buttigieg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..84edd1da48944e22f5ed0dd1429140e86d0b9bb1 --- /dev/null +++ b/fluter/wer-ist-pete-buttigieg.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Plötzlich war der Mann mit dem ungewöhnlichen Namen überall. Auf dem Cover des "Time Magazine", in den Late-Night-Shows von Trevor Noah und Jimmy Fallon, schwarz-weiß in der "Vogue", auf den großen Bühnen von Kalifornien bis New Hampshire. Kein anderer Präsidentschaftskandidat wurde in den vergangenen Monaten so gehypt wie Pete Buttigieg. Der Newcomer unter den demokratischen Anwärtern aufs Weiße Haus macht sich dem Land gerade erst bekannt. Diese Frische könnte sein Vorteil sein, die Unerfahrenheit ihn aber auch bremsen. +Buttigieg, 1982 in South Bend, Indiana, geboren, wäre nicht nur der jüngste US-Präsident aller Zeiten, er wäre auchder erste offen homosexuelle. In Umfragen steht er derzeit zwischen Platz drei und sechs, was schon jetzt eine kleine Sensation ist angesichts der Tatsache, dass Buttigieg ja nur ein Lokalpolitiker ist. Seinen maltesischen Nachnamen – von dort kam sein kürzlich verstorbener Vater Joseph – spricht man Boot-edge-edge aus, auch das muss Buttigieg bei seinen Auftritten immer noch erklären. + +Alter: 37 +Position:Bürgermeister von South Bend, Indiana +Wahlkampfthemen:LGBTQ-Rechte, Reform des Wahl- und Justizsystems +Basis:Weiße Männer, ältere Wähler, Menschen mit Uniabschluss, Besserverdienende +Spenden:31,8 Millionen Dollar* + +In South Bend, der 100.000-Einwohner-Stadt, die Buttigieg seit 2012 und noch bis Ende des Jahres als Bürgermeister regiert, nennen sie ihn Mayor Pete, das ist einfacher. Allerdings sind dort die Meinungen über ihn gespalten. Seine Unterstützer loben, dass er das Stadtzentrum freundlicher, sicherer und lebendiger gestaltet habe. Seine Kritiker weisen darauf hin, dass Buttigiegs Aufräumpolitik zur Verdrängung ärmerer und afroamerikanischer Bewohner geführt habe. Manche Menschen in South Bend sind stolz auf den berühmten Sohn der Stadt, auf seine Bilderbuchbiografie. Andere sehen in Buttigieg nur den nächsten weißen elitären Politiker. Bei weißen Wählern ist er in Umfragen jedenfalls deutlich beliebter als beiPeople of Color. +Was macht den Mann "aus dem Nichts", wie es derzeit immer wieder heißt, aus? Buttigieg kann Abschlüsse in Harvard und Oxford vorweisen, er arbeitete drei Jahre beim Beratungsunternehmen McKinsey, außerdem spricht er acht Sprachen, spielt Klavier und ist einer der wenigen Kandidaten mit Militärerfahrung. 2014 war er sechs Monate lang in Afghanistan stationiert. "In vieler Hinsicht ist Buttigieg das genaue Gegenteil von Trump: jünger, streberhafter, kleiner, besonnener und mit einem Mann verheiratet", schrieb "Time" in seiner Titelgeschichte. + +Buttigieg gibt sich als Brückenbauer. Zwischen Jung und Alt, Land und Stadt, Arbeitern und Anzugträgern. Rhetorisch ist er fast allen Mitstreitern überlegen. Doch seine politische Agenda bleibt weiterhin vage. Als er zu Beginn einer Town-Hall-Sendung von Fox News Ende Mai von einem Zuschauer gefragt wurde, wie er sich mit seinem Programm von den anderen Kandidaten und Kandidatinnen unterscheide, nannte Buttigieg keinen einzigen konkreten Programmpunkt. "Mein Gesicht ist die Botschaft", hat Buttigieg mal in einem Interview gesagt. +Er will das Wahlsystem, den Obersten Gerichtshof und das Immigrationssystem reformieren, so steht es auf seiner Website. Doch wie, das erklärt er nicht in Details. Buttigieg geht es darum, einen Neuanfang zu symbolisieren. Es sei Zeit für eine "neue Generation der Führungskräfte", sagt er bei seinen Events. Manche fühlen sich sogar an Barack Obama erinnert, der 2008 mit "Hope", "Yes, we can" und viel Aufbruchstimmung Massen begeisterte. +Und sonst so?Diese Kandidat*innenhaben gute Chancen, 2020 gegen Donald Trump antreten zu dürfen +Einen nicht unbedeutenden Vorteil hat Buttigieg durch seine Heimat,den Rust Belt, jene von Arbeitslosigkeit geplagte Industrieregion, die schon bei der letzten Wahl mitentscheidend war und auch 2020 enorm wichtig sein wird. Donald Trump gewann 2016 die meistenBundesstaaten im Mittleren Westen. Wer auch immer für die Demokraten antritt, er oder sie muss die Bewohner des Rust Belt überzeugen. +Von Trump wurde Buttigieg neulich übrigens als Alfred E. Neuman verspottet – so heißt die Witzfigur aus dem US-Satiremagazin "Mad". Der 37-jährige Demokrat reagierte locker: Der Name sage ihm nichts, "muss wohl eine Generationensache sein". + +* Anm. d. Red.: In der ersten Version dieses Porträts schrieben wir hier von 7 Millionen Dollar Wahlkampfspenden. Diese Angabe bezog sich auf das erste Quartal 2019. Wie sein Kampagnenteam mitteilte, konnte Buttigieg seit April 2019 weitere 24,8 Millionen Dollar einsammeln. Die Spendenzahlen anderer Demokrat*innen für das zweite Quartal waren zum Zeitpunkt der Bearbeitung noch nicht öffentlich. +Titelbild: Mark Peterson/Redux/laif diff --git a/fluter/wer-kann-schon-deutschvokabeln-lernen.txt b/fluter/wer-kann-schon-deutschvokabeln-lernen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ce66a44054082506725a587d09fc2526e176eebf --- /dev/null +++ b/fluter/wer-kann-schon-deutschvokabeln-lernen.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Flashbacks, wie Elina sie erfährt, wenn sie den Tod ihres Vaters immer wieder aufs Neue erlebt, sind typisch. "Die Erkrankten werden von Erinnerungen überrollt, gegen die sie hilflos sind und in denen sie festhängen", sagt Claudia Bergner vom "Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin". Die junge Therapeutin arbeitet dort im sogenannten Wohnverbund: Hier werden 45 Frauen therapiert und tagsüber in einer geschützten Umgebung betreut, in Sport-, Garten-, Frühstücks- und Bastelgruppen. "Flashbacks können so intensiv sein, dass der Klient nicht mehr ansprechbar ist und dissoziiert, also nicht mehr im Hier und Jetzt lebt", erklärt sie. +Das ist belastend und auch gefährlich. Über die Straße laufen, wenn gerade ein Flashback einsetzt – das will man lieber nicht. Zudem entwickeln viele Betroffene Schlafstörungen, leiden unter Albträumen, Panikattacken und Persönlichkeitsveränderungen. Manche misstrauen in der Folge jedem und allem oder werden aggressiv – Symptome also, die für eine erfolgreiche Integration wenig förderlich sind. Und: die vor allem von alleine meist nicht wieder weggehen. +Das Mittel, um über schwere Traumata hinwegzukommen, ist professionelle Hilfe. Bei Elina, dem Mädchen aus Tschetschenien, hat das geklappt: In der Kinder- und Jugendabteilung hat sie in den vergangenen zwei Jahren gelernt, welche Auslöser bei ihr Flashbacks provozieren und was sie tun kann, damit Gewitter und Flugzeuggeräusche keine Panik mehr auslösen, der Puls nicht mehr rast und kein Schweiß ausbricht. Elina hat gelernt, wie sie Klavier spielend ihre Gefühle ausdrücken kann, wie man an schlechten Tagen eine Handpuppe für sich sprechen lässt und es durch Entspannungsübungen schafft, auch mal eine Nacht durchzuschlafen. Sie kann sich besser konzentrieren, schreibt bessere Noten, kommt besser mit ihren Mitschülern klar. Aus der "Willkommensklasse" konnte sie in eine reguläre Schulklasse wechseln. Doch nur etwa vier Prozent der psychisch kranken Flüchtlinge bekommen therapeutische Hilfe. Es fehlt an Therapieplätzen, an Therapeuten und an Dolmetschern. +Wenn traumatisierte Flüchtlinge Hilfe bekommen, dann meist in den rund 30 Einrichtungen, die die "Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer", kurz BAfF, miteinander vernetzt. Die finanzieren sich vor allem aus Spenden, Stiftungs- und Projektgeldern. Tatsächlich haben Flüchtlinge in den ersten 15 Monaten ihres Aufenthalts kaum Chancen auf einen Therapieplatz. In dieser Zeit beschränkt das Asylbewerberleistungsgesetz ärztliche Behandlungen nämlich auf die Notversorgung. Eine Blinddarm-OP wird bezahlt, eine Psychotherapie nicht. Zwar gibt es die Möglichkeit, beim Sozialamt Hilfe zu beantragen, aber allzu oft wird daraus nichts – weil Sachbearbeiter oder fachfremde Ärzte den Antrag prüfen oder weil es dem Flüchtling wegen seiner Störung nicht gelingt, seinen Fall schlüssig darzulegen. Traumatisierte Flüchtlinge aus sogenannten sicheren Herkunftsländern haben zudem im Fall ihrer Ablehnung meist nur eine Woche Zeit, um sich einen Anwalt zu suchen und ihre Argumente erneut vorzubringen. "Dabei braucht das Schutz und Zeit", sagt Elise Bittenbinder, Vorsitzende der BAfF. Es gibt aber Hoffnung, dass bald zumindest mehr Geld da ist: In Notfällen können Psychotherapeuten und Ärzte beantragen, ihre Behandlungen eine Zeit lang über die Krankenkasse abrechnen zu dürfen. Die Situation könnte sich also entspannen. Dolmetscherkosten werden allerdings nicht übernommen. Doch selbst wenn man einen Dolmetscher organisiert, bleibt das Problem, dass eine dritte Person in der Regel den Beziehungsaufbau zum Therapeuten erschwert, sagt Bergner: "Wir versuchen mit unseren Klienten deshalb so schnell wie möglich Deutsch zu sprechen." +Nach 15 Monaten Aufenthalt bekommen Flüchtlinge ihre Gesundheitskarte und haben dadurch unbürokratischen Zugang zu Psychotherapie, zumindest grundsätzlich. Hat ein Flüchtling allerdings einen Ausbildungsplatz, Arbeit oder Asyl bekommen, muss er seine Therapie wieder abbrechen. Er fällt dann nicht mehr unter das Asylbewerberleistungsgesetz, die Voraussetzung für die psychotherapeutischen Leistungen fehlt damit. Mit einem sicheren Aufenthaltsstatus kann er aber eine neue beginnen. +Bergner hat Patientinnen, die schon im fünften Jahr behandelt werden. "Aber nicht jede braucht eine Langzeittherapie", sagt sie, "einige können schnell wieder ein selbstständiges Leben führen." Oft helfen schon einfache Tricks und Hilfsmittel wie die "Igelbälle" – Gummibälle mit dicken Noppen, die man knetet, wenn ein Flashback droht. Solche äußeren Reize halten einen in der Realität, signalisieren: "Stopp, das ist nur ein Tagtraum!", und allmählich kehrt die Kontrolle zurück. diff --git a/fluter/wer-lesen-kann-ist-klar-im-vorteil.txt b/fluter/wer-lesen-kann-ist-klar-im-vorteil.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5458e9fbf79f4e2c5de77e931a3f337a6e792f60 --- /dev/null +++ b/fluter/wer-lesen-kann-ist-klar-im-vorteil.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +7,5 Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben, hat die Universität Hamburg in einer Studie herausgefunden. Zumindest keine Texte, die länger als ein paar Sätze sind. Auf dem Amt ein Formular auszufüllen oder einen Artikel in einem Magazin zu lesen, überfordert sie. Das macht sie zu"funktionalen Analphabeten", wie Bildungsforscher sagen. 7,5 Millionen Menschen – das sind so viele wie die Einwohner von Köln, Hamburg, München und Berlin zusammen.Sieben dieser 7,5 Millionen Menschen fahren jeden Morgen mit dem Bus in die Dresdner Neustadt, wo man weit über die Elbe blicken kann. Sie laufen die Stauffenbergallee entlang, vorbei an herrschaftlichen Villen. Um acht Uhr beginnt ihr Unterricht in der Schreibakademie: Hier lernen sie richtig lesen und schreiben. Finanziert wird der Alphabetisierungskurs vom Europäischen Sozialfonds. Das DPFA-Bildungszentrum in Dresden ist einer der Träger, hier findet der Kurs statt. Auch Sophia Müller ist heute da, so wie jeden Tag, von Montag bis Freitag. +Nicht mal ein Prozent aller funktionalen Analphabeten in Deutschland nimmt an einem solchen Kurs teil. Warum es nur so wenige sind, weiß man nicht. Vielleicht, weil sie nichts von den Angeboten wissen, vielleicht, weil sie sich mit Grauen an ihre Schulzeit erinnern. Vielleicht haben sie sich auch in einem Leben ohne Schrift arrangiert – rund die Hälfte der funktionalen Analphabeten hat einen Job. Warum also noch mal zur Schule gehen?Außer Sophia Müller ist da Melanie Schulze, die jetzt 25 ist und auch "Mutti", wie sie sagt. Ihre Tochter wurde geboren, als sie 17 war. Sie möchte gerne irgendwann Altenpflegerin werden. Nur das mit dem Lesen und Schreiben muss vorher noch besser werden.Da ist Andy Schneider, der viel schweigt. Nur manchmal schimpft er über die Ausländer, die am Hauptbahnhof Drogen verkaufen. Er stottert stark, ringt manchmal sekundenlang um ein Wort. Dafür ist er der Schnellste im Kurs. Wenn die anderen noch überlegen, hat er schon die Antwort. Er hilft den anderen dann.Da ist Frank Hoffmann, der früher Fleischer war und die Würste an der Farbe der Etiketten unterschieden hat. Er hat auch einen Staplerschein, erzählt er. Darüber freuen sich immer die neuen Arbeitgeber, wenn er sich bei ihnen vorstellt. Aber er wird nie eingestellt. Er habe große Schwächen beim Lesen und Schreiben, stand in seinem letzten Praktikumszeugnis.Auch ihre Namen sind verändert – bis auf den von Frank Hofmann.Und da ist Cornelia Wehner, die diesen Kurs donnerstags und freitags leitet. Eine Kommunikationspsychologin. Sie arbeitet schon einige Jahre mit Analphabeten und nimmt dafür immer wieder an Seminaren zur Weiterbildung teil, erzählt sie. +Sie hat Arbeitsblätter mitgebracht, auf die sie kleine Fotos gedruckt hat. Ein Mann mit Rührgerät. "Was tut er da?", fragt sie. "Er rührt Teig", schlägt Melanie Schulze vor. "Wie schreibt man rührt?", fragt Cornelia Wehner. "Klein." "Warum?" "Weil es ein Tätigkeitswort ist."Ein anderes Bild: drei Kinder, die bunte Boxen in den Händen halten. "Die Kinder packen Geschenke", sagt Frank Hoffmann. Melanie Schulze schreibt "kinter".Cornelia Wehner sagt später, dass es bei vielen im Kurs eine Mischung aus Lese-Rechtschreib-Schwäche und Konzentrationsschwierigkeiten ist, die zu funktionalem Analphabetismus führt. Wenn die Kinder dann in großen Klassen lernen, in denen die Lehrer wenig Zeit für die Probleme Einzelner haben und auch die Eltern sich nicht kümmern oder kümmern können, dann werden diese Lücken oft immer größer. +Sophia Müller erzählt, dass sie schon in der Schule nie wusste, wo der Punkt hinkommt, was kleingeschrieben wird und was groß. Sie war auf einer Förderschule. Ihre Eltern haben sich immer wieder mit ihr hingesetzt, aber so richtig gezündet hat es nie.Sophia Müller hatte einen Tumor an der Leber, deshalb darf sie nur fünf Stunden am Tag arbeiten und kann die verpasste Berufsausbildung nicht mehr nachholen. Das Arbeitsamt steckte sie in Maßnahmen, aber irgendwann wurde sie gefragt, was sie denn hier mache, wenn sie nicht richtig lesen und schreiben kann. So begann sie vor drei Jahren einen Alphabetisierungskurs an der IHK. Seit einem Jahr ist sie bei der Schreibakademie in Dresden. Inzwischen ist sie Gruppensprecherin.Die Betroffenen seien sehr gut darin, ein Netzwerk zu bilden, das ihnen hilft, erzählt Wehner. "Sie wissen, wer was wo weiß." Fremden gegenüber kommen oft die typischen Ausreden: Sie hätten ihre Brille nicht dabei, sie hätten Kopfschmerzen. "Die Menschen haben eine lebensbejahende Cleverness."Trotzdem leben alle sieben Teilnehmer von staatlichen Leistungen. Für ihre Teilnahme bekommen die Kursmitglieder fünf Euro am Tag und eine Monatsfahrkarte. "Ein großer Anreiz", sagt Cornelia Wehner. +Sie wirft sich ein Kopftuch über, dann setzt sie sich auf einen Stuhl etwas abseits der Gruppe und ruft: "Ich bin Germanin! Ich fahre über das raue Meer nach England, und ich bringe Pflaumen mit." Dann steht sie auf, läuft zum Flipchart und schreibt das Wort "Pflaume" dort hin. Darunter: "plum". "Das f", sagt sie, "das wollten die Engländer nicht haben. Wenn ihr euch einige englische Wörter genauer anschaut, werdet ihr merken, wie ähnlich sie den deutschen sind." +Ein bisschen Deutsch, ein bisschen Englisch, dann kommt ein bisschen Mathe. Wenn jemand im Jahr 2000 15 Jahre alt war, wie alt war er dann im Jahr 1988? Niemand weiß es. "So viele Lücken", sagt Cornelia Wehner.Trotzdem, sagt sie. "Die meisten führen ein ganz normales Leben." Nur dass es eben finanziell nicht reicht. Manchmal gibt es am Ende des Monats dann keine Stulle zum Mittagessen.In den vergangenen Monaten haben sie im Kurs ein Buch gestaltet, das sie am 3. März vorstellen wollen: Es ist eine Sammlung mit ihren Lieblingsgerichten, die nicht viel kosten. Die Rezepte sind in sehr einfacher Sprache verfasst. "Für unseresgleichen", sagt Frank Hoffmann. diff --git a/fluter/wer-profitiert-vom-nicaragua-kanal.txt b/fluter/wer-profitiert-vom-nicaragua-kanal.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9a915a7fa9dcca19b589c537f485053846535f27 --- /dev/null +++ b/fluter/wer-profitiert-vom-nicaragua-kanal.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Über die Jahrhunderte wurden verschiedene Routen für einen Nicaraguakanal vorgeschlagen. Der HKND-Kanal folgt der grünen Route. Jede der Atlantik-Pazifik-Verbindungen durch Nicaragua wäre länger als der orangerot eingezeichnete Panamakanal +Präsident Daniel Ortega, der zwar demokratisch gewählt wurde, aber wegen seines Regierungsstils oft als autokratisch kritisiert wird, schloss 2013 einen Vertrag mit der Hong Kong Nicaragua Canal Development Group (HKND) für den Kanalbau. Dieses Unternehmen gehört dem chinesischen Milliardär Wang Jing, einem Mann, der nun ebenfalls von Teilen der Öffentlichkeit Nicaraguas und der Welt kritisch beäugt wird. +Es gibt Zweifel an den wahren Motiven der beiden. Nicht zuletzt deshalb, weil von einem Kanal noch immer nicht viel zu sehen ist, obwohl der Bau offiziell schon im Dezember 2014 begann und der Betriebsbeginn für 2020 vorgesehen ist. Offiziell geplant ist er als das größte Infrastrukturprojekt der Welt. 278 Kilometer lang, 230 bis 520 Meter breit und 27 bis 30 Meter tief soll der Kanal werden. Damit wäre er dreimal so lang wie der Panamakanal. Er soll 2020 bis zu 3.576 und 2050 sogar bis zu 5.100 Frachtschiffen und Tankern mit einem Fassungsvermögen von bis zu 400.000 Tonnen die Durchfahrt in 30 Stunden ermöglichen. +Und auch drum herum soll eine Menge entstehen: zwei Häfen, ein Flughafen, einige Straßen, eine eigene Freihandelszone und Touristenresorts sowie die benötigte Infrastruktur für die Durchführung des Projekts. Kostenpunkt insgesamt: 50 Milliarden US-Dollar. +Und so gibt es viele Spekulationen, ob dahinter nicht noch ganz andere als die offiziell verlautbarten Absichten liegen. Vor allem die Rolle der chinesischen HKND-Gruppe und Wang Jings ist unklar. Margaret Myers, China-Expertin des Thinktanks Inter-American Dialogue, der sich um eine Verbesserung der Beziehung zwischen den USA und Lateinamerika bemüht, sagt: "Das gesamte Projekt durchzieht eine notorische Intransparenz." +Es könnte sogar sein, dass das Projekt aufgrund der fehlenden Finanzierung bereits begraben sei, auch wenn alle Beteiligten stets das Gegenteil beteuern. Aber so genau wisse das keiner, wie Myers auch anführt.Wang Jing selbst soll 2015 80 bis 85 Prozent seines auf zehn Milliarden Dollar geschätzten Privatvermögens an der Börse verloren haben. Was Zweifel an der benötigten Liquidität für das Projekt nährt. Daher ihre Vermutung, dass er nicht viel mehr als ein Strohmann der chinesischen Regierung sei, für die der Kanal eine geopolitische Bedeutung hätte. Der Fernsehsender Al Jazeera ging den Gerüchten in einer aufwendig produzierten Web-Reportage nach. +Auch die "South China Morning Post" beteiligte sich an solchen Spekulationen. Ohnehin vergrößert das Reich der Mitte seinen Einfluss in Lateinamerika schon seit Jahren. Der Aufschwung Brasiliens etwa ist eng mit stetigen Investitionen aus Fernost verknüpft. +Ein zweiter Kanal in Zentralamerika würde China als Handelspartner unabhängig vom Panamakanal machen, der seit seinem Bau eng mit den USA verwoben ist. So haben die Vereinigten Staaten noch heute ein Interventionsrecht, das ihnen erlaubt, den Kanal unter bestimmten Umständen zu schließen. Spekulationen, China würde mit dem Bau eines neuen Kanals geostrategische Ziele verfolgen, wurden von offizieller Seite stets dementiert, das Land ist aber dafür bekannt, sich in solchen Angelegenheiten sehr bedeckt zu halten. +Wang Jing selbst bestreitet ohnehin, dass es irgendein staatliches Engagement gebe, und betont immer, er sei ein Privatmann, der ein privates Unternehmen betreibe. In einem seiner seltenen Interviews sagte er der BBC, er würde statt Worte Taten sprechen lassen. Und bald schon würden die alle Zweifler überzeugt haben. +Auf dem Internetportal von Bloomberg wurde derweil gemutmaßt, dass der Kanal selbst nie gebaut werden soll. Vielmehr gehe es der HKND-Gruppe hauptsächlich um die exklusiven Rechte an den Subprojekten, also an den Häfen und Resorts, für die der Kanal demnach nur einen Vorwand hergeben soll. Denn sie erfordern weitreichende Enteignungen, die sich mit dem Argument des Kanalbaus besser durchsetzen ließen – auch für Präsident Ortega. +Ihm wird obendrein vorgeworfen,unter anderem von seinem früheren Vizepräsidenten Sergio Ramírez, sich durch Enteignungen im Rahmen des Projekts möglicherweise auch selbst bereichern zu wollen. Aus juristischer Sicht könnte der Vertrag zwischen der Regierung und der HKND-Gruppe mit allen Steuerbefreiungen und sonstigen Vorteilen womöglich auch weiterbestehen, wenn der Kanal nicht fertig gebaut würde. +Die große Mehrheit der Bevölkerung Nicaraguas steht immer noch hinter dem Projekt, das zeigen Umfragen wie die von Al Jazeera zitierte von M&R Consultants. Doch dort, wo bald die Bagger anrollen sollen, steht an vielen Hauswänden "Chinesen, haut ab", und die meisten Wahlplakate Ortegas, der im November dieses Jahres wiedergewählt werden will, sind mit schwarzer Farbe übermalt. Der Vertrag zwischen der Regierung und HKND sieht vor, dass für die benötigten Ländereien für den Kanalbau nur der im Grundbuch eingetragene Preis gezahlt werden muss, was nach Ansicht von Experten nur fünf Prozent des Marktpreises entspräche. Und Umweltschützer warnen vor allem vor den Folgen der geplanten Vertiefung des Cocibolca-Sees, dem zweitgrößten Süßwassersee Lateinamerikas mit einem sehr empfindlichen Ökosystem, der zudem 200.000 Menschen mit Trinkwasser versorgt. +Ganz schön da, an der Pazifikküste von Nicaragua: Noch wird hier gebadet, aber bald sollen die Bauarbeiten für den Kanal begonnen werden +Selbst eine Studie, die das international tätige Beratungsinstitut ERM im Auftrag der HKND erstellt hat, kommt zu dem Schluss,dass das Projekt von "Risiken und Unsicherheiten durchzogen" ist. +Nur wenn die Finanzierung gesichert sei und internationale Standards eingehalten würden, könne Nicaragua langfristig profitieren, heißt es da. Sonst wäre es für das Land besser, "nichts zu tun". Dort, wo Wang Jing den ersten symbolischen Spatenstich vollzog, um den Kanalbau feierlich zu eröffnen, grasen jetzt erst mal doch wieder Kühe. +Titlbild: NurPhoto/NurPhoto via Getty Images diff --git a/fluter/wer-profitiert-von-eu-subventionen-in-landwirtschaft.txt b/fluter/wer-profitiert-von-eu-subventionen-in-landwirtschaft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ad5279859804c22925799534c21fe9cb11492516 --- /dev/null +++ b/fluter/wer-profitiert-von-eu-subventionen-in-landwirtschaft.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Innerhalb der EU geht das meiste Geld an süd- und osteuropäische Länder. Unangefochten an der Spitze steht Frankreich. Aber auch die deutschen Bauern bekommen viel Unterstützung aus Brüssel, 2016 waren es rund 6,3 Milliarden Euro. +Die EU verteilt die Gelder nach zwei Prinzipien: Direktzahlungen und Förderprogramme. Je mehr Hektar Land ein Betrieb hat, umso mehr Subventionen gibt's von der EU. Was auf den Feldern angebaut wird, spielte früher keine Rolle. Erst seit 2015 ist ein Teil der Subventionen an bestimmte Umweltschutzmaßnahmen gekoppelt. Dadurch sollen die Artenvielfalt und die Böden geschützt werden. Um die Subventionen voll zu erhalten, muss ein Landwirt mindestens fünf Prozent seiner Anbaufläche als Pufferfläche frei halten oder darauf beispielsweise Hecken pflanzen, Dauergrünlandflächen wie Weiden und Wiesen erhalten und vielfältige Pflanzenkulturen anbauen. 2017 gab es von der EU pro Hektar Land 280 Euro. Viele landwirtschaftliche Betriebe sind auf diese Zahlungen angewiesen, im Durchschnitt machen die Direktzahlungen rund 40 Prozent ihres Einkommens aus. Anders als die Direktzahlungen sind die Förderprogramme nicht unbedingt unmittelbar auf die Landwirtschaft ausgerichtet, sondern sollen den ländlichen Raum allgemein fit für die Zukunft machen. Die Gelder fließen beispielsweise in den Ökolandbau, in Klimaschutzmaßnahmen oder den Tourismus. Im Gegensatz zu den Direktzahlungen kommt nur ein Teil des Geldes von der EU, den Rest zahlt das jeweilige Mitgliedsland. +Kritiker werfen der aktuellen EU-Agrarpolitik vor, dass Fehlanreize entstünden, immer mehr Ackerland zu schaffen und riesige Mastbetriebe zu bauen – schließlich werde Masse statt Klasse finanziell belohnt. Diese Koppelung der Subventionen an die Ackerfläche führe zu einem Ungleichgewicht im Markt. Die großen Betriebe bekämen immer mehr Gelder und würden noch größer, die kleinen verschwänden nach und nach vom Markt. Tatsächlich bekommen die zehn Prozent der Betriebe mit dem höchsten Einkommen über die Hälfte der EU-Direktzahlungen. Rund ein Siebtel des gesamten EU-Haushalts geht damit an etwa 750.000 Landwirtschaftsbetriebe, denen es sowieso schon gut geht. Wer viel Land hat, der bekommt viele Subventionen. Das war nicht immer so. Bis 2003 vergab die EU ihre Gelder nach der produzierten Menge. Dadurch entstanden die berühmten Milchseen und Butterberge, und in den 1980er-Jahren überschwemmten über den europäischen Bedarf hinaus produzierte subventionierte Produkte die Märkte unter anderem in Entwicklungsländern. +Auf afrikanischen Märkten landen zum Beispiel Hähnchenflügel aus Holland oder Tomatenmark aus Italien. Produkte, die in Europa mit Fördergeldern produziert wurden. Zwar wird der Export von zu viel hergestellten Lebensmitteln nicht mehr – wie noch bis 2015 – direkt bezuschusst, aber durch die Fördergelder für den Anbau sind die europäischen Produkte trotzdem konkurrenzlos günstig und verdrängen in den importierenden Ländern regionale Produkte. +Zurzeit fließen fast 80 Prozent der EU- Subventionen über Direktzahlungen an die Bauern, mit mehr oder weniger geringen Auflagen. Kritiker wie zum Beispiel der Naturschutzbund Deutschland fordern deshalb eine Abschaffung der Direktzahlungen. Ihrer Meinung nach sollten Subventionen nur noch an die Betriebe gehen, die eine Leistung für die Gesellschaft erbringen – sich also um den Umweltschutz kümmern und nachhaltig die Felder bewirtschaften. +Weil Großbritannien rund 12 Milliarden Euro pro Jahr zum EU-Haushalt beigetragen hat, muss die EU sparen. Der Entwurf für den neuen Haushalt ab 2021 sieht vor, die Agrarsubventionen um fünf Prozent zurückzufahren und Großbetriebe weniger zu fördern. Dafür sollen die Direktzahlungen bei maximal 100.000 Euro pro Betrieb gedeckelt werden, kleinere und mittlere Betriebe sollen mehr Fördergelder pro Hektar bekommen. Auch die Umweltauflagen will die EU erhöhen. Wie die genau aussehen, darf aber jeder Nationalstaat selbst entscheiden. Umweltverbände halten die Vorschläge deswegen für unzureichend. Sie fordern, Subventionen nur noch für umweltfreundliche Landwirtschaft zu vergeben. diff --git a/fluter/wer-sind-die-gelbwesten-in-frankreich.txt b/fluter/wer-sind-die-gelbwesten-in-frankreich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0e3cd8927fdaeb661d7ad2cfed4f981d0a764a13 --- /dev/null +++ b/fluter/wer-sind-die-gelbwesten-in-frankreich.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Bekannt wurden die Gelbwesten nicht nur durch die Größe ihrer Proteste, sondern auch durchSachschädenund Gewalt. In ganz Frankreich sind an den vergangenen Wochenenden Hunderttausende Gelbwesten auf die Straßen gegangen. In Paris und anderen Orten zündeten Demonstrierende Barrikaden und Autos an, schlugen Fensterscheiben ein und gerieten in Konflikt mit der Polizei. Allein letzten Samstag wurden 264 Menschen verletzt und über 1.700 festgenommen. Die Bilder von brennenden Autos, zerstörten Kunstwerken und Tränengaseinsätzen gingen um die Welt. +Wie mit ihnen verhandeln? Immer wieder gibt es Einzelne, die sich aus der Masse als Sprecher*innen hervortun, wie Éric Drouet, der Lkw-Fahrer, und Priscillia Ludosky, eine Kosmektikverkäuferin, die mit einer Petition für eine Senkung der Treibstoffpreise an den Zapfsäulen viel Unterstützung bekommen hatte. In den sozialen Netzen gibt es jedoch jedes Mal einen Aufschrei, wenn jemand sich als Vertreter*in der Gilets Jaunes ausgibt. Als die beiden mit sechs anderen Personen ein Gespräch mit dem Premierminister zusagen, müssen sie sich vor einem wütenden Online-Publikum rechtfertigen. +Die Gelbwesten sind sehr heterogen. Einige hängen linken, andere rechten Ideen an. Wieder andere sagen von sich, dass sie eigentlich unpolitisch seien. Inzwischen haben sich kleine Abspaltungen gebildet, wie etwa die "Gilets Jaunes libres", die "freien Gelbwesten": Sie sprechen sich gegen Gewalt aus und wollen mit der Regierung verhandeln. Andere finden die Ausschreitungen als Zeichen der Revolte wiederum richtig. Schüler*innen tun sich zusammen und gehen in großen Gruppen auf die Straße. Bei einem "Marsch für das Klima" am 8. Dezember angesichts der Weltklimakonferenz trugen auch die Öko-Demonstrant*innen gelbe Westen. +Sowohl links- als auch rechtsradikale Politiker*innen versuchen, die Bewegung für sich zu vereinnahmen. "Ich unterstütze die Gelbwesten", sagte die Vorsitzende der teils als rechtspopulistisch, teils als rechtsextrem eingeordneten Partei Rassemblement National (bis Juni 2018: Front National),Marine Le Pen, dem Fernsehsender BFMTV bereits am 26. November. +Auch die linksradikale ParteiLa France Insoumise unter Jean-Luc Mélenchonsolidarisiert sich mit den Gelbwesten, besonders in der Person des populären Abgeordneten François Ruffin, der in Videos seine Solidarität bekundet, an Protesten teilnimmt oder sie besucht. Abseits der Parteipolitik unterstützen auch Linksintellektuelle wie der Ökonom Frédéric Lordon oder der Schriftsteller Édouard Louis die Bewegung der Gelbwesten. +Die vielen Untergruppen und das Fehlen von Anführer*innen zeigen, dass die Bewegung sich gerade durch ihre Führungslosigkeit auszeichnet. Damit erklärt sich womöglich der große Zulauf aus allen Ecken. Es gibt nur eine gemeinsame Idee, die den Protest eint: Die Menschen sind gegen die Politik von Präsident Macron und verlangen mehr soziale Gerechtigkeit. Auffällig ist außerdem, dass besonders viele Menschen in ländlichen Regionen an den Protesten beteiligt sind. + + +Die Arbeitslosenquote in Frankreich liegt aktuell bei 9,1 Prozent – und ist damit fast dreimal so hoch wie in Deutschland. Es herrscht seit Jahren große Unzufriedenheit über soziale Ungleichheit in Frankreich. Gleichnach seinem Amtsantrittbrachte Macron eine Arbeitsmarktreform auf den Weg, die vor allem in einer Entlastung der Arbeitgeber*innen bestand: So wurde etwa eine Höchstgrenze für die Abfindungssummen bei Entlassungen eingeführt und das Kündigungsgesetz gelockert. +Wir haben vier Demonstranten in Paris gefragt,warum sie auf die Straße gehen +Unbeliebt gemacht hat sich Macron bei den sozial schwachen Schichten, als er das Wohngeld gekürzt und fast zeitgleich die Vermögenssteuer quasi abgeschafft hat – vielen gilt er seither als "Präsident der Reichen". Zu den Forderungen der Gelbwesten gehören eine stärkere politische Beteiligung der Bevölkerung, mehr Studienplätze, kostenloser Nahverkehr und höhere Renten und Mindestlöhne. +Die absolute Mehrheit, mit der Emmanuel Macron 2017 zum Präsidenten gewählt wurde, ist komplizierter, als sie scheint. Laut Umfragen von Ipsos/Sopra wählten ihn 43 Prozent der Menschen bei der Stichwahl nur deshalb, weil sieeinen Sieg der rechtsextremen Marine Le Pen verhindernwollten. Ein Viertel der Franzosen war gar nicht erst zur Wahl gegangen. Seit 1969 hatte es in keiner Stichwahl eine so geringe Wahlbeteiligung in Frankreich gegeben. +Als Macron 2017 die Präsidentschaft antritt, vergibt er die Ministerposten an Vertreter*innen aus dem Privatsektor. Arbeitsministerin wird etwa Muriel Pénicaud, die keine politische Laufbahn hinter sich hat und vorher bei dem Konzern Danone arbeitete. Die aktuelle Verkehrsministerin Élisabeth Borne hat vorher beim Transportunternehmen SNCF und dann beim Bauunternehmen Eiffage gearbeitet. Viele Menschen in Frankreich haben das Gefühl, dass ihre Interessen in der Politik nicht repräsentiert werden. +Der Druck auf Macron und seine Regierung ist enorm und verschärft sich zusätzlich durch die internationale Medienaufmerksamkeit. Am 4. Dezember, nach einem Wochenende, an dem die Gewalt in mehreren französischen Städten eskalierte, kündigte Premierminister Édouard Philippe an, die Steuererhöhung auf Benzin vorerst zurückzunehmen. Doch bei dem Protest scheint es längst um etwas anderes zu gehen. +"Macron démission" ("Macron, tritt zurück") ist einer der Slogans, die an den Wochenenden durch die Straßen hallen oder an die Wände geschrieben werden. Demonstrant*innen sprechen in Medienbeiträgen von "Revolution", Karikaturen und Memes zeigen Macron als Ludwig XVI., der sein Volk gegen sich hat. Der Hass, den viele gegen den Präsidenten hegen, erklärt sich durch den Abbau des Sozialstaats, den Macron weiter vorantreibt – der Präsident sieht darin notwendige Reformen im Kampf gegen die hohe Arbeitslosigkeit. +Am 10. Dezember hat sich Macron zum ersten Mal öffentlich zu den Gilets Jaunes geäußert. Er zeigte Verständnis für die Proteste und kündigte soziale Maßnahmen für Geringverdiener an, die den Haushalt, nach Angaben aus Regierungskreisen, zehn Milliarden Euro kosten werden. Mindestlohnverdiener sollen einen monatlichen Zuschuss von maximal 100 Euro und Rentner Steuererleichterungen erhalten. "Es ist zu wenig und kommt zu spät", sagte der Lastwagenfahrer Éric Drouet, der die Proteste in den sozialen Medien maßgeblich angestoßen hatte. Für den kommenden Samstag haben die Gilets Jaunes erneut zu landesweiten Demonstrationen aufgerufen. + +Titelbild: Michael Bunel/Polaris/laif diff --git a/fluter/wer-sind-die-neue-rechte.txt b/fluter/wer-sind-die-neue-rechte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ac55ad766dbe1bc4a5609145b1cdae004ea14c0c --- /dev/null +++ b/fluter/wer-sind-die-neue-rechte.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +Worum geht es in der neurechten theoretischen Arbeit? +Vor allem um Metapolitik  –  also darum, auf gesellschaftliche Debatten einzuwirken. Denkmuster und Beurteilungskriterien von gesellschaftlichen Themen wie zum Beispiel Migration sollen verändert und das, was sagbar ist, systematisch ausgeweitet werden. Für einen langfristigen Erfolg ihrer Arbeit ist zentral, dass möglichst viele Menschen die durch die68erund die alliierteRe-educationerreichten Demokratisierungsgserfolge zumindest infrage stellen. +Welche Rolle spielt dabei der Nationalsozialismus? +Lange Zeit lehnten neue wie alte Rechte jede kritische Betrachtung der deutschen Vergangenheit als "Schuldkult" ab. Die Aufarbeitung der Shoah wurde, so eine Formulierung Armin Mohlers, als "Nasenring" begriffen, an dem die Deutschen von den Siegermächten vorgeführt würden. Mit dem Verweis auf die Meinungsfreiheit setzten sich neue Rechte für Holocaustleugner ein. Die direkte Leugnung überließ man aber den Neonazis. + +In Halle hat die "Identitäre Bewegung" Deutschland ihr Hauptquartier. Die Gruppe gehört der Neuen Rechten an und wird vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet +Mario Müller ist einer der prominentesten Köpfe der "Identitären Bewegung" und verbreitet mit popkulturellen Inhalten menschenfeindliches Gedankengut +Und heute? +Zeigt man sich zu Konzessionen bereit. So hat IfS-Leiter Götz Kubitschek gegenüber dem "Spiegel" die Singularität der Shoah anerkannt. Er hatte sich vorher noch nie dazu geäußert. Gleichzeitig publiziert er in seinem Antaios Verlag Texte von Armin Mohler, darunter auch einen Essay zur Shoah-Leugnung, wegen dem Mohlers Zusammenarbeit mit der neurechten Wochenzeitung "Junge Freiheit" endete. Mit "Finis Germania" von Rolf Peter Sieferle hat Kubitschek 2017 zudem ein Traktat gegen die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit veröffentlicht. Und eine jüngst in der IfS-Zeitschrift "Sezession" geführte Debatte verdeutlicht, dass den Juden auch der Staat Israel zum Teil nicht gegönnt wird. Selbst aus der rassistischen Weltsicht des sogenannten Ethnopluralismus, der jedem Volk Raum, Kultur und Eigenschaften zuweist, fallen Juden oft genug heraus. +Nicht nur Neue Rechte betreiben Erinnerungspolitik. Wie würden Sie den Umgang mit dem Nationalsozialismus in Deutschland insgesamt charakterisieren? +Häufig bedeutet deutsche Erinnerungspolitik schlicht die Forderung nach einem Schlussstrich. Der Welt soll gezeigt werden: "Wir sind jetzt geläutert." In den letzten Jahrzehnten bekennt sich die Gesellschaft aber zunehmend zu ihrer Geschichte, eine Bagatellisierung wird auch im bürgerlichen Konservatismus nicht geduldet. Das war in der alten Bundesrepublik anders, da waren Äußerungen wie von Björn Höcke oder Alexander Gauland auch aus den Reihen anderer Parteien zu hören. +Immer wieder wird aber kritisiert – zum Beispiel von Seiten des Internationalen Auschwitz Komitees –, dass das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus mehr und mehr ritualisiert und trivialisiert wird. +Ja, oft geht es eher um Lippenbekenntnisse als um Reflexion. Ich halte Formen derRitualisierung des Gedenkensan die Opfer des Nationalsozialismus für problematisch. Aktuell erleben wir zum Beispiel,wie zwei Rappereinen Gedenkstättenbesuch in Auschwitz machen, als sei das ein Reinigungsritual. +Gibt es Überschneidungen zwischen der Neuen Rechten und der AfD? +Mit der AfD-Gründung und auch dem Erfolg von Pegida befindet sich die deutsche Neue Rechte in einer anderen operativen Phase. Inzwischen ist es möglich, Metapolitik in konkrete Politik umzuwandeln. Die kontinuierliche Radikalisierung der AfD hängt durchaus mit der Aktivität von Neurechten zusammen. Man steht nicht in der ersten Reihe der Partei, schafft es aber, wichtige Posten zu besetzen – so wie Erik Lehnert, der nun nicht mehr nur als Geschäftsführer des IfS, sondern auch in einem AfD-Bundestagsbüro tätig ist. Ein weiteres Beispiel: Mit Björn Höcke kommt ein Frontmann des extrem rechten Parteiflügels direkt aus dem Milieu des IfS. Mit der Neuen Rechten und der AfD haben sich Theoretiker und Praktiker gefunden – das macht die heutige Situation so gefährlich. + +"Blühe, deutsches Vaterland… " – Zum Abschluss einer AfD-Demo in Jena singen die Demonstration die Nationalhymne. Ob auch Strophe eins und zwei des Deutschlandlieds gesungen wurde, geht aus dem Foto nicht hervor +Welche Probleme erkennen Sie, wenn Sie nach links und auf die "Mitte" schauen? +Zum Beispiel die große Ignoranz gegenüber dem sehr aggressiven muslimischen und arabischen Antisemitismus, gerade seitens multikulturell eingestellter Milieus. Dieser wird teilweise mit antirassistischen Begründungen und unter Verweis auf Lehren aus der deutschen Geschichte verschwiegen: eine Steilvorlage für manche Rechtspopulisten, die sichnun als einzige Kraft inszenieren, die das Problem in den Blick nimmt– allerdings unter Ausblendung des Antisemitismus in den eigenen Reihen. Es sollte viel stärker in den Fokus geraten, wie ähnlich sich diese beiden autoritären Gruppen –Islamistenund Rechte – eigentlich sind. +Welche Rolle spielt der Begriff "Identität" im Weltbild der Neuen Rechten? +Sie ist Dreh- und Angelpunkt: ein propagandistisch gebrauchter Abwehrbegriff gegen die "zersetzenden" Kräfte der Globalisierung und der Migration. Die großen Demokratisierungsschübe werden als negative Meilensteine für den beschworenen Identitätsverlust gesehen. Dazu kommt die für viele Menschen gefühlt verstärkte Migration nach Deutschland in den letzten Jahrzehnten, die aktuell vor allem Angela Merkel angelastet wird. +Volker Weiß ist Historiker und Publizist. Er hat das Buch "Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes" geschrieben +Daneben gibt es inzwischen auch eine europäische Ebene rechter Identitätspolitik. +Genau, man bezieht sich auf das "christliche Abendland" als Bollwerk gegen den Islam. Damit wird eine Konstruktion neu ausgerichtet, die während des 20. Jahrhunderts eigentlich gegen dieSowjetunionpositioniert war. Russland und den Osten entdeckt man heute als Quelle der eigenenIdentitätneu. Plötzlich sindPutinundOrbánVorbilder. +Welchen Umgang empfehlen Sie mit den Neuen Rechten? +Die Öffentlichkeit sollte nicht über jedes Stöckchen springen. Aber es ist sehr wichtig, deutlich auf gefährliche Inhalte hinzuweisen – sachlich und unaufgeregt. Die Neurechten und dieRechtspopulisten haben erkannt, dass die Gesellschaft nach der Logik des Spektakelsfunktioniert. Diese sollte man durchbrechen – und dabei die Dinge beim Namen nennen. In den meisten Fällen sind sie schlicht: faschistisch. + + +Fotos: Thomas Victor diff --git a/fluter/wer-sind-wir-denn.txt b/fluter/wer-sind-wir-denn.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cc9265ea3ef3a6786f82ba99ae1e3641285efd13 --- /dev/null +++ b/fluter/wer-sind-wir-denn.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +In unserem Recht haben Tiere einen widersprüchlichen Status. Im Bürgerlichen Gesetzbuch steht, dass Tiere keine Sachen sind, man sie jedoch rechtlich wie Sachen zu behandeln hat. Der Schutz der Tiere steht seit 2002 sogar als Staatsziel im Grundgesetz, und die Gerichte fällen mitunter drastische Urteile: In Bünde in Ostwestfalen wurde im vergangenen Jahr ein Mann zu zwölf Monaten Gefängnis verurteilt, weil er seinem Schäferhund die Schnauze mit Folie abgeklebt hatte und das Tier ersticken ließ. Paragraf 17 des Tierschutzgesetzes sieht Geld- und Freiheitsstrafen für denjenigen vor, der "ein Wirbeltier ohne vernünftigen Grund tötet" oder quält. Ein vernünftiger Grund ist zum Beispiel die Herstellung billiger Schnitzel. Die Gesetzestexte lesen sich, als hätte sie jemand geschrieben, der Tiere zwar ganz gerne isst, aber niemals mitansehen könnte, wie eines von ihnen stirbt. +Was gebührt dem Tier? So recht scheint sich unsere Gesellschaft nicht entscheiden zu können. Aber auffallend ist, dass sich immer mehr Menschen Gedanken darüber machen, ob es moralisch verantwortbar ist, Tiere massenweise auf brutalste Art zu vernichten, damit an jedem Tag der Woche Fleisch auf dem Tisch steht. In den Buchläden wird derzeit gern nach Büchern gegriffen, in denen die Autoren schreiben, wie wohl sie sich ohne Fleischkonsum fühlen. Vegetarismus wird nicht mehr als Spleen Körner mümmelnder Ökos gesehen, sondern als moderner Lebensstil. +Es ist 2.28 Uhr. Stößers weißer Polo ruckelt einen Wirtschaftsweg voller Schlaglöcher hinauf. Auf dem Beifahrersitz kündigt Stefan an, die nächste Anlage sei "super geeignet" für Tierbefreiungen. "Etwas abgelegen und sehr gut zugänglich." Stößer nickt. Wir parken an einem Seitenpfad und holen uns nasse Füße beim Weg über die Wiese. Nach einigen Minuten Marsch sehen wir in der Dunkelheit die leuchtenden Fenster der Halle. Unten an der Mauer sind Holzklappen, die sich öffnen lassen, damit die Legehennen auf einen wenige Meter schmalen Erdstreifen hinaus können. Freilandhaltung nennt sich diese Konstruktion. Achim Stößer hebt eine der Klappen. Stefan bückt sich, steigt als erster durch die Luke und lässt sich den Rucksack nachreichen. Drinnen in dem Korridor gackern Hunderte Legehennen. Wir gehen durch, Stößer macht Fotos, Stefan filmt. +Dann bricht plötzlich Panik aus, unzählige Hennen quellen aus dem halboffenen, vergitterten Verschlag, in dem sich ihre Nester und Sitzstangen befinden, peitschen mit den Flügeln. Die Luft trübt sich gelb vor Staub. Federreste landen auf den Jackenärmeln und dem Mundschutz. "Durch die Überzüchtung sind die Hühner extrem stressanfällig", erklärt Stefan. Ein falscher Flügelschlag und schon geraten sie in Aufregung. Während Achim Stößer Fotos von seiner Digitalkamera löscht, um Speicherplatz für neue Aufnahmen zu schaffen, pickt ein Huhn an seinem Schuh, das nicht gerade wie eine glückliche Freilandhenne aussieht. Das hintere Drittel des Vogels ist nackt, die Haut um die Kloake herum pulsiert rot. Zum Schluss, nach etwa einem Jahr Legeleben, sind die Hennen oft vollkommen federlos und legen kaum noch Eier. Dann werden sie getötet und durch neue ersetzt, berichtet Stößer. Wenn sie überhaupt so lange durchhalten. Auch hier liegen tote Tiere auf den Gitterböden zwischen den Sitzstangen. Zwei Hühner versuchen Federn aus einem der Kadaver zu reißen. +Szenen wie diese haben Stößer zum radikalen Veganer werden lassen. Auf Fleisch zu verzichten, reiche nicht. Wer Tierrechte ernst nehme, der dürfe auch keine Eier und keinen Käse essen, denn auch dafür leiden und sterben Tiere, schreibt er in einem Artikel, dem er die Überschrift "Vegetarier sind Mörder" gegeben hat. Der Titel ist eine Provokation, selbst in der Tierrechtsszene. Die Schriftstellerin Karen Duve hat Stößer in ihrem Selbstversuchsbestseller "Anständig essen" gerade als einen der strengsten Veganer Deutschlands beschrieben, dessen Härte selbst sie erzittern ließ. Stößer argumentiert mit leiser, unaufgeregter Stimme, aber umso rigoroser im Inhalt. Es gibt kein Recht des Menschen an anderen Tieren. Das ist der Grundsatz, auf den er besteht. Egal was man dagegen einzuwenden versucht. Dass andere Tiere doch auch Fleisch essen? "Ist keine Rechtfertigung dafür, dass wir uns genauso verhalten." Dass Millionen Hühner und Schweine ihre Existenz überhaupt erst der Massentierhaltung zu verdanken haben? "Ein hinfälliges Argument. Jemand, der nicht existiert, hätte auch kein Lebensinteresse." Und wenn man wenigstens die Haltung verbessern würde, den Hühnern mehr Auslauf gäbe als diesen einen schmalen Streifen neben dem Stall? "Als Tierrechtler wollen wir die Ausbeutung nicht reformieren, sondern ganz abschaffen", sagt Stößer. "Sklaverei wird nicht ethisch vertretbarer, indem man die Bedingungen der Sklaven verbessert." +Es sind solche Sätze, bei denen man schlucken muss. Wenn Stößer Tierhaltung und Sklaverei in einem Atemzug nennt. Oder wenn er sagt, dass er persönlich genauso wenig mit Rassisten wie mit Nichtveganern befreundet sein wolle und zwischen beiden keinen Unterschied erkennen könne: "Die Hautfarbe ist ethisch genauso irrelevant wie die Anzahl der Beine." Denn was sollte begründen, dass Menschen ihrerseits vor Eingriffen in ihre Freiheit und ihr Leben geschützt sind, aber über das Leben anderer Lebewesen frei verfügen dürfen? Die Fähigkeit zu eigenständigen Entscheidungen? Ihre Intelligenz? In Stößers Augen sind das willkürliche Kriterien, die man letztlich auch gegen den Menschen wenden kann: Wenn ein erwachsener Schimpanse vernünftiger handle als ein Dreijähriger, müsste man dem Kind dann nicht weniger Rechte zusprechen? Tierrechtler schlagen daher vor, nicht die Vernunft, sondern die Empfindungsfähigkeit eines Lebewesens zum Ausgangspunkt der Ethik zu machen. Wer Schmerz spüren kann, sollte allein deswegen ein Recht auf Leidensfreiheit und auf körperliche und psychische Unversehrtheit haben. Wer zu Todesangst in der Lage ist, einen Willen zum Leben zeigt, hat ein Recht darauf, dass andere Wesen ihm dieses nicht einfach rauben. Zumindest einsichtige Wesen sollten das nicht tun. +Außerhalb der Voliere entdeckt Stefan eine Henne, die unter dem Bodengitter umherirrt. "Guck mal, die dürfte da gar nicht sein", sagt er. "Die kommt da unten überhaupt nicht an Wasser oder Futter. Sie würde verdursten." Stefan entscheidet spontan, die Henne mitzunehmen nach Hause, in seine Veganer-WG in einem hessischen Dorf. Fünf menschliche und an die 30 nichtmenschliche Bewohner leben auf dem kleinen Hof, darunter neun Hühner. Für eines wäre noch Platz. "Hast du etwas dabei, um sie zu transportieren?", fragt Stößer. "Ich halt sie einfach fest während der Fahrt." Stößer nickt, nimmt eine Schippe, die an der Wand lehnt, und versucht das Tier mit dem Stiel unter den Gittern und Förderbändern langsam wegzutreiben. Stefan hebt es auf den Arm, streichelt das zerpflückte Gefieder. Das Huhn gackert in sich hinein. "Ist gut, ist gut." diff --git a/fluter/wer-soll-das-bezahlen.txt b/fluter/wer-soll-das-bezahlen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..34dd71dd3af56f66f2d00164e9e06fc050c71268 --- /dev/null +++ b/fluter/wer-soll-das-bezahlen.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Die Munich Re hat den Versicherungskonzernen in den vergangenen Jahrzehnten so großen Appetit gemacht, dass sie zum größten Rückversicherer der Welt aufgestiegen ist. Im vergangenen Jahr machte sie nach vorläufigen Berechnungen einen Gewinn von knapp 2,6 Milliarden Euro, eine Milliarde mehr als im Vorjahr. Das lag allerdings weniger daran, dass Schmid und seine Mitarbeiter ein außergewöhnlich sicheres Händchen gehabt hätten mit ihren Risikoprognosen. Der Grund war vielmehr: 2009 verliefen die Naturkatastrophen vergleichsweise glimpflich, auch wenn mit 850 mehr Katastrophen registriert wurden als im langjährigen Durchschnitt – aber es gab halt weniger große. Vor fünf Jahren sah das zum Beispiel ganz anders aus: Nachdem der Hurrikan Katrina New Orleans in Apocalypse City verwandelt hatte, summierten sich die im Jahr 2005 weltweit entstandenen Schäden auf 2,6 Milliarden Euro. Katrina hatte die gesamte Versicherungsbranche in eine Art Klimaschock versetzt. Doch schon im darauffolgenden Jahr belief sich die Schadenssumme wieder nur auf 139 Millionen Euro. Ein solcher Rückgang sei aber kein Grund zur Entwarnung, findet Schmid: "Wir spüren aber deutlich den Trend, dass die durch Naturkatastrophen verursachten Schäden zunehmen", sagt Schmid. "Es gibt klare Fakten." Und tatsächlich wurde den Münchenern in diesem Jahr vom Wintersturm "Xynthia" bereits die Bilanz verhagelt. Laut "Financial Times Deutschland" wird der Orkan die Versicherungsbranche mit bis zu 2,5 Milliarden Euro belasten, das Erdbeben in Chile könnte sogar das Dreifache kosten. +Schmid, Typ dunkler Anzug und silberne Manschettenknöpfe, sitzt an einem kleinen Tisch in der Mitte der "Emerging-Risk-Management"-Werkstatt. An den Wänden hängt ein sogenanntes Risiko-Universum, aufgeteilt nach den Themenfeldern Natur, Gesellschaft, Infrastruktur, Wirtschaft und Technik, und auf der gegenüberliegenden Seite eine Liste mit 80 hypothetischen Ereignissen: vom Zusammenbruch des Dollars bis zum Bankrott eines Staates. Darüber hat Schmid den Dreiklang "Erkennen – Verstehen – Handeln" geschrieben. Hier versuchen der Betriebswirtschaftler und seine Kollegen, Zusammenhänge zu erkennen, wo andere nur ein Gewirr an Begriffen und Linien sehen. "Die Frage, auf die wir hier eine Antwort suchen, heißt: Haben wir ein Thema wirklich ausreichend verstanden, sodass wir zu einer Einschätzung kommen können?"Was passiert zum Beispiel, wenn in einem Land wie Deutschland länger als 48 Stunden der Strom ausfiele? Welche Auswirkungen hätte das auf die Computernetze, auf den Kapitalmarkt, auf die Infrastruktur? Hätten die Tankstellen überhaupt genug Stromaggregate, um das Benzin aus den Tanks in die Autos zu pumpen? Und was wären die Konsequenzen, wenn der Verkehr zusammenbräche? Keine dieser Folgenunberücksichtigt zu lassen, zu erkennen, wie die Dinge miteinander in Verbindung stehen, und am Ende einer solchen Analyse zu einem Ergebnis zu kommen, das mit Fakten und Zahlen untermauert ist – das ist die Herausforderung. Denn ganz zum Schluss muss an jedem Risiko ein Preisschild hängen. Der Betrag, den eine Versicherung im Falle eines Stromausfalls dem versicherten Staat zahlen muss. Einer, der der Munich Re nicht das Genick bricht, wenn in Deutschland morgen tatsächlich die Lichter ausgingen.Schmid lebt in einer Was-wäre-wenn-Welt und er ist darin nicht allein. Ihm steht ein Heer an Experten zur Verfügung, neben Physikern und Klimaforschern auch Mediziner, Sozialwissenschaftler und Soziologen. Gemeinsam spielen sie auf allen Feldern Szenarien durch, die für das Geschäft der Munich Re von Belang sind. Wie geht es weiter mit dem Klimawandel, wie entwickelt sich der Missbrauch sensibler Daten im Internet, erlebt die Familie mit den Möglichkeiten des Netzes eine Renaissance im Virtuellen? +Er berät sich aber auch mit dem Bundeskriminalamt oder der Bundeswehr, etwa um einschätzen zu können, wie die Sicherheitslage in Afghanistan in ein paar Jahren aussehen wird und wie es um die Terrororganisation Al-Kaida bestellt sein könnte. Um möglichst keine Entwicklung zu verpassen, haben Linguisten außerdem eine eigene Suchmaschine programmiert, eine Art Risiko-Google. Sie durchforscht das Internet nach Schlüsselbegriffen, sucht auf Seiten von Anwälten (zum Beispiel um herauszufinden, wo auf der Welt Gerichtsprozesse zur Nanotechnologie laufen), genauso wie auf Wissenschaftsportalen, auf denen neue Forschungsergebnisse präsentiert werden. "Uns interessiert: Welche Entwicklungen gibt es in Natur, Technik und Gesellschaft und auf welchen Gebieten entsteht eine neue Dynamik?", sagt Schmid. +Er arbeitet wie ein Komponist, der all die Informationen, die die Spezialisten zusammentragen, zu einem dissonanzfreien Stück zusammensetzen muss. Dazu gehört auch zu erkennen, welchen Einfluss die Wahrnehmung eines Risikos darauf hat, wie eine Gesellschaft damit umgeht. Beispiel Klimawandel: Noch vor ein paar Jahren war in der Wissenschaft umstritten, ob es einen vom Menschen verursachten Effekt aufs Klima überhaupt gibt. Die Diskussion unter Forschern hatte Einfluss auf die Berichterstattung in den Medien, was wiederum Auswirkungen darauf hatte, wie die Politik mit dem Klimawandel umging. Heute gilt, dass die klimatischen Veränderungen längst eingesetzt haben, die Frage ist nur noch, inwieweit es gelingt, die Folgen unter Kontrolle zu halten. Damit ist der Druck auf die Politik gestiegen, Entscheidungen zu treffen. Und wenn eine Klimakonferenz wie die von Kopenhagen im vergangenen Dezember ohne konkrete Beschlüsse zu Ende geht, schlägt das wiederum auf die Wahrnehmung der Menschen durch. Ein Risiko ist immer auch das, was eine Gesellschaft dafür hält. +Die Munich Re hat nun beschlossen, nicht länger ein reiner Beobachter sein zu wollen, der seine Geschäfte mit dem Risiko macht und gelegentlich von Politik und Wirtschaft als Ratgeber herangezogen wird. Im vergangenen Juli hat sie angekündigt, mit Partnern ein Investitionskonzept für ein riesiges Solarkraftwerk zu erarbeiten, das langfristig einen Teil der Energieversorgung in Europa sichern soll. Das Projekt trägt den Namen Desertec, die Federführung liegt bei der dafür gegründeten "Desertec Industrial Initiative" (DII). Dafür sollen in der Wüste Nordafrikas und im Nahen Osten Solarthermikkraftwerke entstehen, die Sonnenenergie in Strom verwandeln. Das Investitionsvolumen wird auf 400 Milliarden Euro geschätzt. Zu den Gründern gehörten zu Beginn zwölf Unternehmen, neben der Munich Re auch der Konzern Siemens. Eine Fläche von 300 mal 300 Kilometern mit Parabolspiegeln in der Sahara würde bereits ausreichen, um den gesamten Energiebedarf der Erde zu decken, rechnete ein Siemens-Sprecher vor. +Ob und wann Desertec Sonnenstrahlen tatsächlich in Strom verwandeln wird, liegt allerdings noch in dichtem Nebel: Im Moment ist das Konsortium dabei, einen Businessplan zu entwerfen, und auch die Munich Re hält es sich noch offen, als Investor in das Projekt einzusteigen. Einer der Knackpunkte dürften die hohen Kosten sein. Die Europäische Vereinigung für Erneuerbare Energien, Eurosolar, etwa hat Zweifel, dass das angegebene Investitionsvolumen ausreichen wird. Schmid ist sich darüber im Klaren, dass seiner Arbeit Grenzen gesetzt sind. Er hat keine Glaskugel, in die er schauen könnte. Und in einer immer komplexer werdenden Welt, in der sich Kommunikationsnetze über den gesamten Globus spannen und Finanzströme kaum noch zu überblicken sind, wird es zunehmend schwierig, den Verlauf eines bestimmten Ereignisses exakt vorherzusagen. Schon im Jahr 2007 machten sich die Experten beispielsweise Gedanken darüber, was passieren würde, wenn die Weltwirtschaft in eine Rezession schlittert. Dann kam die Finanzkrise, und ihr Ausmaß übertraf alle Erwartungen. Dass eine Investmentbank wie Lehman Brothers Insolvenz anmeldet und mit AIG der weltgrößte Versicherungskonzern nur mit Milliardenhilfe gerettet werden kann, hatten die Experten genauso wenig auf dem Schirm wie die milliardenschweren Rettungsprogramme, die die Regierungen weltweit auflegten, um den Zusammenbruch zu verhindern. +Kann man aus der Krise Lehren ziehen, um einen derartigen Crash zukünftig zu verhindern? "Man kann von dieser Wirtschaftskrise lernen, aber wird die nächste Krise genauso ablaufen? Nein, sie wird anders sein." Und so lautet eine von Schmids Prognosen für die Zukunft: Es wird Risiken geben, die nicht mehr kalkulierbar sind. Und damit auch nicht mehr versicherbar. Das Geschäft hat sich gegenüber dem vergangenen Jahrhundert verändert, als es noch ausreichte, die Schäden der Vergangenheit anzusehen und auf deren Basis die Risiken der Zukunft zu kalkulieren. Aber niemand solle sich von der Ungewissheit verrückt machen lassen, sagt Schmid. "Überraschungen gehören zum Menschsein, man kann sich nicht gegen alles absichern." Er klappt die Mappe mit dem "Global Risk Report 2010" zu, die das "World Economic Forum" vor Kurzem veröffentlicht hat. Das Leben lasse sich nicht vollständig in Modelle pressen, und man müsse akzeptieren, dass es Dinge gibt, von denen niemand weiß, wie sie ausgehen. In "Die Physiker" von Friedrich Dürrenmatt heißt es: Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer trifft sie der Zufall. +Kai Schächtele (35) hat sich schon früh in seinem Leben vertraut gemacht mit dem Risiko. Beim Brettspiel gleichen Namens lautete seine Philosophie stets: Sobald mir die ganze Welt gehört, kann mir nichts mehr passieren. An dieser Strategie hat sich seitdem wenig geändert. diff --git a/fluter/wer-unter-fast-fashion-leidet.txt b/fluter/wer-unter-fast-fashion-leidet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8b137891791fe96927ad78e64b0aad7bded08bdc --- /dev/null +++ b/fluter/wer-unter-fast-fashion-leidet.txt @@ -0,0 +1 @@ + diff --git a/fluter/wer-verdient-olympia-faq.txt b/fluter/wer-verdient-olympia-faq.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..79a66e2e6d8d98b9f227a70d78dc72039119408b --- /dev/null +++ b/fluter/wer-verdient-olympia-faq.txt @@ -0,0 +1,27 @@ + +Das Budget ist mit gut 4 Milliarden US-Dollar vergleichsweise niedrig angesetzt. Unter anderem, weil die Stadt schon für die Sommerspiele 2008 in seine Infrastruktur investiert hat. Die Kosten könnten das offizielle Budget aber deutlich übersteigen, manche Experten schätzen sogar, dass die Spiele zehn Mal so teuer waren. +Olympische Spiele können übrigens auch für Städte teuer werden, die sie dann gar nicht ausrichten: Allein die Bewerbungsphase kostet sechsstellige Beträge.* + +Beim IOC. Das "Internationale Olympische Komitee" ist eine Non-Profit-Organisation, die die Spiele seit 1894 organisiert. Im Komitee sitzen 101 Mitglieder, allesamt Sportfunktionäre aus verschiedenen Ländern. Die arbeiten aber nicht als Delegierte ihres Heimatlandes, sondern vertreten – umgekehrt – dort die Interessen des IOC. + +Genau. Laut IOC stimmen die Mitglieder geheim über den Austragungsort ab. Die Stadt mit der Mehrheit der Stimmen gewinnt. Mitglieder, deren Herkunftsländer als Kandidatinnen zur Wahl stehen, müssen sich enthalten.Für die anstehenden Olympischen Winterspiele standen übrigens letztlich nur Peking und das kasachische Almaty zur Wahl. + + + + + +Ja, zum Beispiel durch die Bewerbungsgebühren der Länder. Den Großteil nimmt das IOC aber ein, indem es Ausstrahlungsrechte und Vermarktungsrechte verkauft. Kurz: Wer die Disziplinen übertragen will, zahlt; wer die olympischen Ringe auf ein Plüschtier sticken will, zahlt auch. Dazu unterhält das IOC Partnerschaften mit Großkonzernen wie der Allianz, Coca-Cola oder Airbnb. Die unterstützen das IOC finanziell und materiell, um ihre Produkte bei den Spielen bewerben zu können. +So hat das IOC in der Olympiade 2013 bis 2016 5,7 Milliarden US-Dollar eingenommen. (Der Jahresbericht für die Olympiade 2017 bis 2020 ist –Corona!– noch nicht erschienen.) + +Genau. Noch genauer: eine steuerbegünstigte Stiftung nach Schweizer Recht. Offiziell darf das IOC aber mit seinen Einnahmen Rücklagen bilden, um +Die Paralympischen Spiele laufen immer direkt nach den Olympischen Spielen und am selben Austragungsort. Sie werden seit 1960 organisiert und seit 1989 vom Internationalen Paralympischen Komitee (IPC) ausgerichtet, das nicht zum IOC gehört. (Das IOC untersagte den Paralympics sogar, die olympischen Ringe für ihr Logo zu nutzen.) Wie das IOC verdient auch das IPC vor allem mit Ausstrahlungs- und Vermarktungsrechten, wenn auch im kleineren Rahmen. 2020/2021 machte das IPC nur knapp 15.000 US-Dollar Gewinn. + +Für die lohnt sich Olympia. Zwar kosten die Ausstrahlungsrechte Millionen von Euro, bei hohen Einschaltquoten werden die über Fernsehwerbung aber wieder reingeholt. ARD und ZDF zum Beispiel verdienten an den Sommerspielen 2016 zehn Millionen Euro, ein Rekordwert. + +Wenig. Die berüchtigte IOC-Regel 40 untersagte Aktiven lange, mit eigenen Sponsoren anzutreten, die nicht genehmigt sind. Seit 2019 dürfen sie immerhin auf Social Media werben. Bei den Paralympics ist Sponsoring erlaubt, solange keine "Verbindung zwischen dem beworbenen Unternehmen und den Paralympics impliziert wird".Teilnehmende leben meist von einem regulären Gehalt. Viele deutsche Athletinnen und Athleten sind bei der Bundeswehr, Polizei oder dem Zoll angestellt und dort in Sportfördergruppen des Bundes aktiv.Laut Bundesregierungverdienten sie 2019 durchschnittlich 2.500 Euro brutto (pro Monat) – plus kleinere Zuschüsse der Deutschen Sporthilfe. + +Nicht vom IOC. Aber es gibt in vielen Ländern Boni für Medaillen. Deutsche Athletinnen und Athleten bekommen für Gold 20.000 Euro, bei Silber 15.000 und bei Bronze 10.000. Andere Länder, andere Dimensionen: In Singapur gibt es für eine Goldmedaille umgerechnet bis zu 880.000 Euro. + +Titelbild: Kevin Frayer/Getty Images + +* Korrektur, 7. März 2024:In einer früheren Version hieß es, die Bewerberstädte würden 100.000 US-Dollar zahlen, um ihre Bewerbung einreichen zu können. Diese Kosten werden nicht mehr fällig. Wir haben das korrigiert. diff --git a/fluter/wer-war-anne-frank.txt b/fluter/wer-war-anne-frank.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..804203f01334ddfa8b350f241d4222ac852a0d3c --- /dev/null +++ b/fluter/wer-war-anne-frank.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Eine Woche später kommt das Ehepaar van Pels mit ihrem Sohn hinzu, im November dann Fritz Pfeffer, mit dem sich Anne ein Zimmer teilt. Im März des darauffolgenden Jahres ruft die Exilregierung dazu auf, Tagebücher als Kriegsdokumentation aufzubewahren. Anne, willensstark und gefasst, beschließt, ihr eigenes nach Kriegsende zu veröffentlichen. +Am 4. August 1944 fliegt das ohne den Dachboden rund 60 Quadratmeter große Versteck in der Prinsengracht auf. Bislang wurde ein Verrat angenommen, neue Forschungen legen aber nahe, dass es auch ein trauriger Zufall gewesen sein könnte. Alle Bewohner werden deportiert. Die Schwestern Anne und Margot kommen Ende Oktober im Konzentrationslager Bergen-Belsen an. Im Februar oder März 1945 – das genaue Datum ist ungeklärt – sterben beide an Krankheit und Entkräftung. Im Juni 1945 kehrt Annes Vater als einziger Überlebender der acht Untergetauchten des Verstecks nach Amsterdam zurück. Zwei Jahre später veröffentlicht er das Tagebuch seiner Tochter in niederländischer Sprache, bis auf wenige von ihm gestrichene Passagen. Das Buch wird ein Welterfolg, in rund 70 Sprachen übersetzt und macht Anne zu einem der bekanntesten Opfer des Holocausts. + +Hiergehts zur Besprechung der Graphic Novel, die es zu Anne Franks Tagebuch gibt. diff --git a/fluter/wer-war-die-raf.txt b/fluter/wer-war-die-raf.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8c698b4637f094640186d2bc3c8374e6f13e5697 --- /dev/null +++ b/fluter/wer-war-die-raf.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Als im April 1968 der Studentenführer Rudi Dutschke von einem Rechtsradikalen auf dem Ku'damm angeschossen wird, eskaliert die Situation. Tausende Menschen versammeln sich vor dem Hochhaus des Springer-Verlags, dessen "Bild"-Zeitung seit Jahren gegen die Studenten und besonders Dutschke ("Polit-Gammler") hetzt, werfen Steine und stecken Fahrzeuge in Brand. "Wirft man einen Stein, so ist das eine strafbare Handlung. Werden tausend Steine geworfen, ist das eine politische Aktion", sagt Ulrike Meinhof damals auf einer Versammlung. +Zwei Jahre später ist die einst angesehene Journalistin eine gesuchte Kriminelle, deren Bild nach der Baader-Befreiung Fahndungsplakate schmückt ("10.000 Mark Belohnung"). Meinhof hält aus dem Untergrund dagegen: "Wir sagen, natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in der Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch … und natürlich kann geschossen werden." Diesen Worten lässt die RAF vor allem im Mai 1972 Taten folgen. Bei Anschlägen auf zwei Quartiere der US-Armee in Deutschland, einen Bundesrichter und das Springer-Verlagsgebäude in Hamburg werden vier Menschen getötet und 41 verletzt. +RAF Fahndungsplakat des Bundeskriminalamts, 1972 +Doch schon wenig später scheint der Spuk bereits vorbei zu sein. Die Polizei nimmt im Juni 1972 die führenden RAF-Terroristen fest: Neben Baader und Meinhof sind das Gudrun Ensslin, Holger Meins und Jan-Carl Raspe. Sie alle werden bis 1974 in die JVA Stammheim bei Stuttgart gebracht. Doch auch aus dem Gefängnis heraus führt die RAF ihren Kampf weiter: Es gelingt ihr, die Gefangenen in der Öffentlichkeit nicht als Terroristen, sondern als politische Gefangene darzustellen, die im Gefängnis psychischer Folter ausgesetzt sind. Viele Jahre später wird bekannt, dass Baader und Co. sogar mehr Freiheiten als alle anderen Häftlinge hatten – doch damals ist der Mythos von der "Vernichtungshaft" das beste Mittel, um neue Terroristen zu rekrutieren. +Für die sogenannte zweite Generation der RAF wird die Befreiung der Gefangenen zum Leitthema – vom Kampf für soziale Gerechtigkeit, der in früheren Bekennerschreiben beschworen wurde, ist nicht mehr die Rede. Um die Genossen im Gefängnis freizupressen, überzieht die RAF das Land mit einer neuen Welle der Gewalt: Im April 1977 wird Generalbundesanwalt Siegfried Buback erschossen, im Juli der Dresdner-Bank-Vorstandsvorsitzende Jürgen Ponto. +Die Zeit von September bis Oktober geht schließlich als "Deutscher Herbst" in die Geschichte ein: Zunächst wird der Präsident des Arbeitgeberverbandes, Hanns Martin Schleyer, entführt und dabei sein Fahrer ebenso wie seine drei Bodyguards erschossen. Die Täter drohen damit, auch ihn zu erschießen (was sie später tun), sollten die Häftlinge in Stammheim nicht freigelassen werden. Das wollen auch die palästinensischen Terroristen, die am 13. Oktober auf Mallorca eine Lufthansa-Maschine kapern – mit mehr als 80 deutschen Touristen an Bord. Nach einem Irrflug landet die Maschine im somalischen Mogadischu, wo die Geiselnahme von der deutschen Antiterroreinheit GSG 9 beendet und die Geiseln befreit werden. Als die Häftlinge in Stammheim von der gescheiterten Freipressung erfahren, begehen Baader, Ensslin und Raspe Suizid, ihre Mitgefangene Irmgard Möller wird schwer verletzt in ihrer Zelle aufgefunden. Der nächste Mythos entsteht – diesmal der vom staatlichen Mord an den Häftlingen. Und auch dieser wird zum Mittel, um junge Menschen für den bewaffneten Kampf im Untergrund zu gewinnen. +Bereits 1976 waren neue Gesetze erlassen worden, um die Suche nach den Terroristen zu erleichtern. Kern der sogenannten Antiterrorgesetze ist der neue Paragraf 129a, der die Mitgliedschaft in einer "terroristischen Vereinigung" unter Strafe stellt. Die weitreichenden Möglichkeiten der Polizei, Verdächtige zu kontrollieren, werden in Teilen der Bevölkerung als Angriff auf die bürgerlichen Freiheiten gesehen. Doch der massive Fahndungsdruck führt zum Erfolg. Im November 1982 werden die führenden Köpfe der RAF festgenommen: Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar. +Der Terror ist damit allerdings nicht vorbei, im Gegenteil: Die dritte Generation der RAF erweist sich als äußerst brutal. So richten ihre Mitglieder – nur um an einen Ausweis zu kommen – einen jungen US-Soldaten mit einem Kopfschuss regelrecht hin. Neben Militärs rücken nun Bankmanager, Politiker und Industrielle ins Visier des Terrors. Ermordet werden der Rüstungsmanager Ernst Zimmermann, der Forschungsleiter der Siemens AG, Karl Heinz Beckurts, und sein Fahrer sowie der Di­plomat Gerold von Braunmühl. Am 30. 11. 1989 stirbt der Sprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, durch eine Autobombe, und am 1. 4. 1991 wirdder Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohweddermit einem Schuss durch ein Fenster in seiner Villa getötet. +Zu diesem Zeitpunkt aber nehmen bereits die Zweifel am bewaffneten Kampf innerhalb der RAF zu. Unterstützer beklagen die unnützen Opfer, und manche der inhaftierten Mitglieder fordern aus dem Gefängnis heraus die Auflösung der Terrorgruppe. Doch die lässt noch einige Jahre auf sich warten: Erst am 20. 4. 1998 geht bei der Nachrichtenagentur Reuters ein Schreiben ein, in dem die RAF ihr Ende verkündet. "Vor fast 28 Jahren, am 14. Mai 1970, entstand in einer Befreiungsaktion die RAF. Heute beenden wir dieses Projekt. Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte", heißt es darin, dazu die Namen der 26 RAF-Terroristen, die im Kampf ihr Leben verloren. Die 34 Opfer werden hingegen mit keinem einzigen Wort erwähnt. +Das bleibt auch bis heute so. Von den inhaftierten RAF-Terroristen trugen in den vergangenen 20 Jahren nur wenige zur Aufklärung der Verbrechen bei – viele Taten, besonders die der dritten Generation, sind bis heute unaufgeklärt, was für die Angehörigen der Ermordeten den Umgang mit dem Geschehenen zusätzlich erschwert. Dasselbe gilt mitunter, wenn die Verbrechen in Büchern oder Filmen als Kulisse herhalten müssen und die Mörder als tollkühne Polit-Desperados gezeigt werden. Denn der RAF-Terror hatte nichts Glamouröses, sondern ließ zahlreiche Leben einfach erlöschen. diff --git a/fluter/wer-was-macht.txt b/fluter/wer-was-macht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/wer-wenn-nicht-wir.txt b/fluter/wer-wenn-nicht-wir.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5a7f075b29bd8a3a49c80f190f64c42421dca567 --- /dev/null +++ b/fluter/wer-wenn-nicht-wir.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +"Die gemeinsam gehen" kamen nicht vom Fleck. Man verstand sich als Bewahrer der russischen Kultur, führte Klage gegen zeitgenössische Schriftsteller wegen der angeblichen Verbreitung von Pornografie und versenkte die Werke des Schriftstellers Wladimir Sorokin öffentlichkeitswirksam in einer überdimensionalen Kloschüssel. Je prominenter die Opfer im westlichen Europa waren, desto größer der Zorn, der sie traf. Doch solch alberne Happenings brachten der Organisation mehr Spott als ernsthafte Beachtung ein. +Erst mit dem Namen "Naschi" schien die Idee Form anzunehmen. Die Unseren bedeutet: Es gibt ein "Wir", das die anderen ausschließt. Dass alle außen vor lässt, die nicht mitmarschieren, die nicht dazugehören wollen. Eine simple, im Russland Wladimir Putins aber überaus machtvolle Idee, als deren Urheber der damalige Vize der Kreml-Administration, Wladislaw Surkow, gilt – eine Art Regisseur der gelenkten Demokratie. Bis zur Präsidentenwahl 2008 sollte mit der neuen Jugendorganisation die Basis für eine ebenfalls neu zu gründende "Partei der Macht" geschaffen werden. Deren Ziel: Demokratiebewegungen nach serbischem, georgischem oder ukrainischem Vorbild verhindern. +In den folgenden Jahren bis 2008 genoss die Organisation die Unterstützung des Kreml. Die Tradition des alljährlichen Sommerlagers am Selger See wurde begründet, handverlesene Vertreter der Bewegung von Putin in dessen privater Datscha empfangen. Die Unseren waren ganz die Seinen: Regelmäßige Großdemonstrationen von Naschi forderten unter dem Motto "Mit dem Präsidenten verbunden" eine dritte Amtszeit für Putin. Zeitgleich sorgte ein neues Parteiengesetz dafür, dass die oppositionellen Parteien, die anderen also, aus dem politischen Spektrum Russlands verschwanden. +Die spektakulärste Aktion der kremltreuen Jugend in diesen Jahren war die Belagerung der estnischen Botschaft in Moskau im April und Mai 2007. Die Regierung in Tallinn hatte beschlossen, ein sowjetisches Ehrenmal aus dem Stadtzentrum auf einen Soldatenfriedhof am Stadtrand umzusetzen. In der Folge blockierten aufgebrachte Naschi-Anhänger wochenlang die estnische Botschaft in Moskau, schwenkten Transparente, auf denen das Bild der estnischen Botschafterin mit Hakenkreuzen versehen war, und forderten die "Demontage" der Vertretung des "faschistischen" Estland. +Die Aktion endete damit, dass Estland Einreiseverbote gegen Naschi-Mitglieder verhängte – eine in der EU umstrittene Maßnahme, da aufgrund des Schengen-Abkommens ein solches Einreiseverbot für einen Großteil der EU-Länder gilt. Auch zu Cyberattacken gegen die Webseiten der estnischen Regierung im Sommer 2007 bekannten sich Naschi. +Jahre später, im Februar 2012, gab es Berichte, dass Naschi außerdem ein Netzwerk von Bloggern unterhalten habe. Der frühere Naschi-Vorsitzende und Organisator Wassili Jakemenko, inzwischen staatlich bestellter Leiter der russischen "Jugend-Behörde", habe demnach monatlich umgerechnet bis zu 15.000 Euro aus seinem Budget für regierungskonforme Posts bezahlt. Der Initiator soll auch in diesem Fall der Chefideologe des Kreml, Wladislaw Surkow, gewesen sein. +2008 ging das Amt des russischen Präsidenten von Wladimir Putin auf Dmitri Medwedew über, Putin wurde Ministerpräsident. Die Rochade verlief reibungslos. Noch im Januar 2008 meldete die russische Zeitung "Kommersant", die "Unsrigen" stünden vor großen strukturellen Veränderungen. Der Kreml wolle die Organisation nicht mehr als föderales Projekt fördern. Mit anderen Worten: Die Zeit großzügiger finanzieller Förderung war vorbei. Offenbar hatte die Polit-Komparserie mit dem erfolgreichen Amtswechsel ausgedient. Von 50 Naschi-Büros in den Regionen blieben nur fünf erhalten. +Die Sommerlager am Seliger See dagegen wurden fortgesetzt. Sie sind seit 2005 die Konstante der Jugendarbeit des Kreml. In den patriotischen Unterweisungen und der Wehrerziehung dieser Camps zeigen sich inhaltliche und strukturelle Parallelen zu Bewegungen in faschistischen Staaten wie etwa der Hitlerjugend. Russische Gegner von Naschi sprechen daher auch gern von der Putin-Jugend. +Wie erfolgreich patriotische Erbauung sein kann, zeigen die Karrieren zweier regelmäßiger Teilnehmer des Camps: Andrej Purgin ist heute Parlamentsvorsitzender der "Volksrepublik Donezk" in der abtrünnigen Ostukraine, und Pawel Gubarjew, bis Oktober 2014 "Volksgouverneur" von Donezk. Auf ihre Aufgaben eingeschworen wurden sie am Seliger See. diff --git a/fluter/wer-zaehlt-dazu.txt b/fluter/wer-zaehlt-dazu.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..45cb8377a096eb471874d056847026bacab62137 --- /dev/null +++ b/fluter/wer-zaehlt-dazu.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Das Problem: Der Begriff Ausländer suggeriert, dass jemand nicht dazugehört, da er keine deutsche Staatsangehörigkeit hat. Viele Begriffe erweitern diese Ab- bzw. Ausgrenzung: Ausländergesetz, Ausländerkriminalität, Ausländerwahlrecht. Rechtspopulisten können sich das zunutze machen. +Migrationsforscher Canan erklärt, der Begriff "Ausländer" entspräche bei den meisten gesellschaftlichen Themen eine Scheinkategorie und sei nicht hilfreich, beispielsweise beim Beurteilen des schulischen und beruflichen Erfolgs: "Bei zwei Personen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland geboren wurden, hier das Erziehungssystem durchlaufen und gleiche Qualifikationen erreicht haben, sich jedoch lediglich in ihrer Staatsbürgerschaft unterscheiden, nämlich deutsch und nicht deutsch, erscheint es absurd, eine Unterscheidung nach dem Merkmal der Staatsbürgerschaft vorzunehmen." +Dort, wo es auf die Staatsbürgerschaft ankomme, zum Beispiel beim Wahlrecht, könne man stattdessen von Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit sprechen. +Eine eindeutige Zahl der in Deutschland lebenden Ausländer gibt es übrigens nicht. Laut Statistischem Bundesamt lag der Wert zum Jahresende 2014 bei 7,2 Millionen Personen, das ist ein Anteil von 8,9 Prozent. Die Zahl stammt aus der Volkszählung "Zensus 2011", deren Werte aktualisiert werden. Legt man hingegen die Zahl des Ausländerzentralregisters zugrunde, die ebenfalls regelmäßig von den Medien vermeldet wird, dann leben 8,2 Millionen Ausländer in Deutschland. Dieser Wert wird allerdings vonFachleuten des Statistischen Bundesamtesals etwas zu hoch eingestuft. Eines ist jedenfalls klar: Deutschland ist unbestritten ein Einwanderungsland, ebenso wie viele andere Staaten auf der Welt. +Felix Ehring arbeitet als freier Journalist. Bei der Recherche wurde ihm von Zahl zu Zahl klarer: Ob es nun um Armut, Geburten, Arbeitslosigkeit oder Klimaschutz geht – Interessengruppen führen eine teilweise erbitterte Debatte um die Deutungshoheit dieser Zahlen. Und: Einige Journalisten vermelden amtliche Zahlen einfach, ohne sie zu hinterfragen und einzuordnen. Dabei gilt für jede Zahl: Sie sagt nicht nur etwas aus, sie verschweigt auch etwas. diff --git a/fluter/wer-zahlt-polizei-beim-fu%C3%9Fall.txt b/fluter/wer-zahlt-polizei-beim-fu%C3%9Fall.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4e72142be92d74066e0aa73f54683b85bb50bd00 --- /dev/null +++ b/fluter/wer-zahlt-polizei-beim-fu%C3%9Fall.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Als Hochrisikospiel gelten vor allem Derbys zwischen rivalisierenden Vereinen aus der gleichen Region – wie Dortmund gegen Schalke, Hannover gegen Braunschweig oder eben der HSV gegen Bremen. Dort ist mit Ausschreitungen und Krawallen der Fangruppen zu rechnen, die Polizei rückt deswegen mit dem doppelten bis dreifachen Aufgebot aus, wenn ein solches Spiel in der Stadt ansteht. Die Einsatzkräfte unterstützen die Vereine im Stadion, außerdem zeigen sie Präsenz an Gefahren-Hotspots wie Bahnhöfen und den Wegen zur Arena. Eben überall da, wo die Fans aufeinandertreffen könnten. +Bis jetzt zahlen solche Einsätze die Bundesländer, die mit ihren Polizeikräften für die öffentliche Sicherheit sorgen. Die Fußballclubs sind fein raus und streichen die Ticketeinnahmen ein. Das Land Bremen fand das unfair und klagte. Mit Erfolg: Kürzlich entschied das Oberverwaltungsgericht Bremen, dass sich die Deutsche Fußball Liga (DFL), der Dachverband der Bundesligaclubs, an den Mehrkosten beteiligen muss. Denn schließlich seien die Fußballspiele nur deshalb wirtschaftlich so erfolgreich, weil die Polizei für Ordnung sorge. +Die DFL sieht das natürlich anders: "Die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ist ausschließlich die Sache des Staates", sagte DFL-Präsident Reinhard Rauball. Im und direkt ums Stadion hat der jeweilige Verein Hausrecht und setzt das mit seinem privaten Sicherheitsdienst mit der Unterstützung der Polizei durch – das ultimative Mittel ist das Stadionverbot. Für DFB-Präsident Reinhard Grindel tun die Vereine damit genug. "Der Fußball ist nicht Störer. Störer sind Gewalttäter, die die Plattform des Fußballs ausnutzen." Die DFL hat schon Revision gegen das Urteil eingelegt, entscheiden muss nun das Bundesverwaltungsgericht. Verliert der Ligaverband, will er die Kosten an die jeweils betroffenen Vereine weiterreichen. +Im vergangenen Sommer: Braunschweiger Fans stürmen nach Spielende den Platz. Die Polizei verhindert, dass sie auch den Fanblock des VfL Wolfsburg stürmen + + +Im Kern geht es dabei aber gar nicht um den Fußball, sondern um die Frage, ob der Staat bedingungslos für die Sicherheit im öffentlichen Raum verantwortlich ist oder ob er kommerzielle Veranstalter an den Kosten beteiligen kann. Denn Großveranstaltungen sind teuer. Vor allem aber Fußballspiele. Allein die Polizeieinsätze zu den Spielen der Bundesligaclubs der obersten beiden deutschen Ligen schlagen mit rund 70 Millionen Euro oder 1,4 Millionen Arbeitsstunden bei der Polizei pro Jahr zu Buche. Zum Vergleich: Der Polizeieinsatz für ein Open-Air-Konzert von Robbie Williams im Stuttgarter Stadion im August 2013 kostete das Land Baden-Württemberg rund 18.000 Euro, alle Eishockey-Heimspiele der Adler Mannheim in der Saison 2012/2013 rund 137.000 Euro. +Eigentlich also eine faire Sache, wenn die reichen Fußballclubs einen Teil der Kosten tragen, oder? Ganz so einfach ist das nicht, denn während die Top-Vereine der Liga wie die Bayern oder der BVB diese Mehrkosten womöglich tragen könnten, sieht es bei den finanziell schwächeren Clubs, zu denen auch Bremen und Hamburg gehören, anders aus. Die Rechnung würden am Ende vermutlich die Fans zahlen – mit höheren Ticketpreisen oder Aufschlägen für Hochrisikospiele. Und einen Teil der Kosten tragen die Vereine indirekt jetzt schon: 2017 zahlten alle Bundesligaclubs zusammen rund eine Milliarde Euro Steuern und Abgaben an das Finanzamt und an die Sozial- und Unfallversicherungen. +Offen bleibt, wie weit die Clubs für ihre Fans verantwortlich sind. Im Stadion ist die Sache klar, aber wer ist vor und nach der Partie zuständig, wenn der größte Teil der Ausschreitungen stattfindet? "Ist es die Verantwortung von Werder Bremen, wenn Fußballfans im IC aus Hamburg randalieren?", fragt "Spiegel Online". "Wo läge sonst die Grenze der Verantwortung? Soll es eine bundesweite DNA-basierte Fandatei geben, mit der Straftaten Vereinen zugeordnet werden können? Tragen Gewalttäter Kutten mit HSV-Wappen, muss dann der Verein HSV sich an den Polizeikosten beteiligen? Was, wenn es Hooligans sind, die unauffällig gekleidet waren, die aber Werder-Fans attackiert haben?" +In einem ersten Schritt könnten die Fußballclubs solche Fans, die durch Gewalt auffallen, konsequenter als bisher aus den Stadien verbannen. Ganz nach der Logik: Wer gar nicht erst anreist, kann später auch nicht randalieren. Im Gegenzug würden die Vereine nicht an den Polizeikosten beteiligt. Aber lässt sich das Problem so einfach lösen? Wer an einem Bundesligasamstag randalieren will, kann das auch ohne Eintrittskarte. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann kann sich den Ansatz zumindest vorstellen – mit einer Ergänzung: "Unser Ziel ist, verstärkt die Gewalttäter selbst zur Kostenerstattung heranzuziehen." +So unklar die genaue Regelung jetzt noch ist, eines steht schon fest: Gewinnt das Bundesland Bremen den Prozess, wäre der Verwaltungsaufwand in Zukunft enorm. Denn theoretisch müssten für jedes Spiel separat die Kosten berechnet werden. Rainer Wendt, der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft im Deutschen Beamtenbund, schlägt deswegen eine pauschale Summe vor, auf die sich Bund, Länder und die DFL einigen: "50 Millionen Euro pro Saison wären angemessen." +Ganz schön viel Geld, um das es da für die Bundesländer gehen könnte. Und das ist noch nicht alles: Denn das Urteil würde auch andere kommerzielle Großveranstaltungen wie Festivals oder Konzerte betreffen. Immer wenn ein Mehraufwand der Polizei vonnöten ist, könnten die Veranstalter in Zukunft zur Kasse gebeten werden. Allein Demonstrationen und Versammlungen, die vom Grundgesetz geschützt sind, wären dann nochall inclusive. + + diff --git a/fluter/werbeagentur-des-terrors.txt b/fluter/werbeagentur-des-terrors.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..84ed63ffd9cb661dd5e4ba20a47c2a123dab8916 --- /dev/null +++ b/fluter/werbeagentur-des-terrors.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Denn Cantlie litt vermutlich während des gesamten Videodrehs Todesängste. Seit 2012 ist er Geisel des IS. Er arbeitete als Fotograf im Irak und in Syrien und wurde dort zusammen mit dem US-amerikanischen Journalisten James Fowley entführt. Fowley haben die IS-Kämpfer ermordet, seine Tötung wurde aufgezeichnet und als sogenanntes Hinrichtungsvideo verbreitet. Mittlerweile bezweifeln Experten die Echtheit der gezeigten Hinrichtung. Fowley wurde wohl auf andere Weise ermordet. +Cantlie haben die Dschihadisten am Leben gelassen – bisher. Anscheinend nur, um die IS-Ideologie zu verbreiten. In anderen Videos trat Cantlie in einem an die Kleidung der Guantánamo-Häftlinge erinnernden orangefarbenen Overall auf und beschimpfte den Westen und die USA. Das Anfang Januar auf YouTube gepostete Video aus Mossul ist das zweite seit seiner Entführung, das ihn in ziviler Kleidung zeigt. Und das Erschreckende daran ist, wie professionell es gemacht ist. +Das Orange der hingerichteten Geiseln – wohl ein Verweis auf die Häftlingskleidung in Guantánamo +Es ist Teil einer innovativen und effektiven Propaganda des IS für den Dschihad, den heiligen Krieg. Das Terrornetzwerk al-Qaida hatte seine Statements noch oft mit körnigen Videos auf VHS-Kassetten verbreitet, in denen alte Männer mit Maschinengewehren in Höhlen sitzen und ermüdende Monologe halten. Der IS dagegen dreht dynamische Videos und verbreitet seine Ideologie über Facebook, Twitter und Instagram. Wie professionelle Werber scheinen die IS-Leute verstanden zu haben, worauf es dabei ankommt: einen guten Mix an Emotionen. So gibt es Instagram-Fotos von Kämpfern mit Kalaschnikows und Katzen auf dem Arm. Über Twitter oder das Frage-Portal Ask.fm traten die Dschihadisten in Kontakt mit Sympathisanten. In einem Atemzug redeten sie davon, welcher Kamerad ihnen gerade ihre Süßigkeiten geklaut hat  und wie man "Ungläubige" tötet. +Auch mit dem Computerhacken kennen sich die Propagandisten scheinbar aus. So haben sie offenbar am 12. Januar den Twitter-Account und denYouTube-Kanal des zentralen Einsatzkommandos der US-Streitkräfte übernommen. Und als Twitter im Sommer letzten Jahres begann, ihre Konten zu löschen, machten sie eben neue auf – und kreierten eigene Apps, die es Sympathisanten erlaubten, ihre Konten dem IS zur Verfügung zu stellen. Bei den Tweets handelt es sich nicht nur um "lustige" Bilddateien oder Low-Budget-YouTube-Videos. "Flames of war" (Flammen des Kriegs) heißt eine krude Mischung aus "Dokumentation" und Spielfilm, aber aufwendig produziert in HD. "Es ist eine tödliche Mischung aus Dschihad-Ideologie und westlicher Jugendkultur", sagt Asiem El Difraoui. Der ägyptisch-deutsche Politologe und Journalist gilt als Fachmann für dschihadistische Internetpropaganda. +Doch woher kommt diese Expertise in moderner Internetpropaganda? Zum einen kauft sich der IS nach Einschätzung El Difraouis die nötigen Fachkräfte einfach ein. Im vergangenen Jahr ist die Organisation enorm gewachsen und verfügt dank der Finanzierung durch reiche Privatleute sowie durch Erpressung, Kunstraub, Schmuggelgeschäfte und die Ölquellen in den eroberten Gebieten über ein nicht zu unterschätzendes Einkommen. Das macht den IS in den armen Nahost-Gebieten als Arbeitgeber attraktiv. Über Twitter suchte der IS 2014 konkret nach Toningenieuren und Experten in 3ds Max, einem Grafikprogramm. Dazu kommen Rekruten, die wahrscheinlich die Ideologie angelockt hat, wie der deutsche Gangsta-Rapper Dennis Cuspert alias Deso Dogg oder sein Londoner Pendant Jihadi John (Abd al-Madsched). Politologe El Difraoui nennt sie "Ikonen des Facebook-Dschihads". Sie würden die Codes, Gesten und die Ästhetik europäischer Jugendsubkultur nutzen und damit die Propaganda des IS entscheidend prägen. "Die IS-Führer wissen ganz genau, dass die jungen Leute aus dem Westen mit Smartphone und Kamera meist besser umgehen können als mit Sturmgewehren", sagt El Difraoui. Wer es kann, wird für den Medienkrieg im weltweiten Netz ausgewählt. +Auch ein klassisches Magazin gehört zum schauerlichen Kommunikationsmix der Terrormiliz +Gegen all diese Medienexpertise des IS wirkt al-Qaida hoffnungslos altbacken und reaktionär. Doch El Difraoui warnt vor vorschnellen Urteilen. Vielmehr sei die IS-Propaganda vor allem eine Weiterführung von Al-Qaida-Strategien. Auch diese hätten sich geändert. Bereits 2004 hat einer der Al-Qaida-Chefideologen, der Syrer Abu Musab al-Suri, den Strategiewechsel beschrieben. Ziel sei es nicht mehr, zentral durch Medienabteilungen dschihadistischer Organisationen zu kommunizieren, sondern eine Propagandablaupause zu erstellen, die weltweit von Sympathisanten für jede Zielgruppe übernommen werden kann. +Der seit 2003 (damals allerdings noch unter anderem Namen) aktive IS und die rund 15 Jahre ältere Terrororganisation al-Qaida mögen heute Rivalen sein, sagt El Difraoui. In ihrer Propaganda gehe es aber beiden um das Gleiche: einen "Epos" zu schaffen, in dem der Märtyrertod von Selbstmordattentätern als Hauptwaffe der asymmetrischen Kriegsführung im Mittelpunkt steht. Diese Art des Krieges, die darauf aus ist, einem vermeintlich überlegenen Gegner mit nadelstichartigen Angriffen zuzusetzen und ihn zu zermürben, ist die bevorzugte Taktik sehr vieler Terroristen, nicht nur jener des IS. Und nicht zu vergessen: Das größte Medienereignis durch Terror hat mit den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA immer noch al-Qaida produziert. diff --git a/fluter/werden-anwohnerinnen-in-buenaventura-verdraengt.txt b/fluter/werden-anwohnerinnen-in-buenaventura-verdraengt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5b8434ce40f2216123ee9aa270c78e7e12c6888f --- /dev/null +++ b/fluter/werden-anwohnerinnen-in-buenaventura-verdraengt.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +Es war nie einfach, hier zu leben, sagt sie – und meint die Comuna 6, einen Bezirk am Wasser. Er verbindet die Innenstadt, die auf einer Art Halbinsel liegt, mit dem Festland. Es gibt kaum fließend Wasser, der Strom funktioniert meist nur einige Stunden am Tag. Unpraktisch, ja. Doch in den letzten Monaten bekomme sie es zusätzlich mit der Angst zu tun. Es kämen Leute, die den Bewohnern für kleines Geld ihre Häuser abkaufen wollten. "Wer nicht zustimmt, wird bedroht", sagt sie. Viele ihrer Nachbarn seien schon umgezogen +Bis ihre Kinder mit der Schule fertig sind, will die 28-jährige Norfalia Trompeta ihr Viertel nicht verlassen +Seit Beginn des Jahres erleben die Menschen hier ein Ausmaß an Gewalt wie lange nicht: Mehr als 40 Tote, mindestens 13 Vermisste und über 8.000 Vertriebene zählt die UNO bis Mitte März allein in der Stadt und der näheren Umgebung. Im Vergleich: 2020 zählte die NGO Indepaz nur sechs Todesopfer. +Als Grund werden immer wieder die Machtkämpfe der bewaffneten Gruppen angeführt, "Los Chotas" und "Espartanos" heißen sie. Es gehtum Drogenhandel,um illegale Waffengeschäfte. Doch Aktivisten und Bewohner zeichnen ein anderes Bild: Der Hafen, in dem mehr als die Hälfte des internationalen Handels stattfindet, soll expandieren. Und die Nachbarn sind im Weg. +"Natürlich gibt esDrogenhandelund bewaffnete Gruppen", sagt Danelly Estupiñán. "Doch die kämpfen normalerweise unter sich. Hier gibt es Angriffe und Einschüchterungsversuche gegen Bewohner in Vierteln, die wirtschaftlich interessant sind." Estupiñán ist Menschenrechtsaktivistin in Buenaventura. Immer wieder erhält sie Todesdrohungen. Als 2019 ein Mordkomplott gegen sie aufflog, verließ Estupiñán für einige Zeit das Land. +Ausschließlich kriminelle Gruppen für die Gewalt verantwortlich zu machen greift für sie zu kurz: "Das Ausmaß der Gewalt, das wir mit dem Ausbau legaler wirtschaftlicher Projekte wie der Hafenzone erleben, ist nicht im Ansatz vergleichbar mit den Kriegen zwischen Drogenbanden." Sie glaubt, dass es Verflechtungen gibt: Die Banden werden ihrer Meinung nach bezahlt, um Gewalt in den Vierteln zu schüren. +Norfalia Trompeta läuft zu einem der Meeresarme, die sich rund um die Bucht tief in die Küste graben. Ihre Tochter Aileen klettert die Böschung hinunter und planscht mit einigen Nachbarskindern am Ufer. "Früher sind meine Kinder hier noch richtig schwimmen gegangen, das aber geht nicht mehr", sagt Trompeta. Irgendwann seien Männer aufgetaucht und hätten gesagt, die Meeresarme wären jetzt privat. Wer sie geschickt hat, kann sie nicht mit Sicherheit sagen. Aber sie habe eine Ahnung, sogar mehr als nur das: Mit dem Kinn deutet Trompeta Richtung Wald. +Dort, wo die Bäume den Horizont unverdeckt lassen, blitzt ein Container mit der Aufschrift "Hamburg Süd" durch das Grün. In den vergangenen Jahren wurden rund um dieses Gebiet Containerterminals gebaut. Entlang der Vía Alterna Interna, die den Hafen mit dem Landesinneren verbindet. Sie führt heute mitten durch die Comuna 6. Mit dem Bau der Straße kam das Interesse am Bezirk. +Anders als Trompeta haben viele der Bewohner, die bereits Jahrzehnte hier leben, keine Besitzurkunden für die Grundstücke, auf denen ihre Häuser stehen. In Kolumbien ist das gerade in ärmeren Schichten nicht üblich. Ein Problem, als plötzlich Firmen und Anwälte auftauchten, die scheinbar aus dem Nichts Besitzansprüche vorlegten. Ob das rechtens war, lässt sich nicht oder nur schwer nachvollziehen. Auf alle Fälle kamen mit den Besitzansprüchen mehr Waffen, mehr Einschüchterung und auch mehr tatsächliche Gewalt. + +In Buenaventura leben über 400.000 Menschen – viele von ihnen in Vierteln wie diesem. Fließend Wasser und Stromversorgung sind hier keine Selbstverständlichkeit + +Doch nicht alle lassen sich einschüchtern. Da ist zum Beispiel Temístocles Machado, ein Bewohner der Comuna 6, der sich lautstark wehrte. Er sammelte Dokumente und setzte sich eine Zeit lang erfolgreich dafür ein, dass den Bewohnern offizielle Besitzurkunden ausgestellt werden. 2018 wurde er erschossen – nur etwa 20 Meter Luftlinie von Trompetas Haus entfernt. Seit dem Mord an Machado haben viele Grundstücksbesitzer, die auf ihre Besitzurkunde warten, weder von der regionalen Baubehörde noch vom Stadtrat gehört. +Trotz solcher Unklarheiten spricht der Präsident der Hafengesellschaft von Expansion. Es gibt laut Angaben der nationalen Baubehörde ANI derzeit vier Expansionsprojekte. Eines davon direkt im Estero El Aguacate, dem Meeresarm, der an die Comuna 6 angrenzt. Auf eine Anfrage antwortet die Behörde knapp, dass man die Belange der Bewohner in die Planung miteinbeziehe. Weitere Anfragen für diesen Artikel – etwa an die Hafengesellschaft, das Innenministerium und die Verwaltung eines Containerterminals – blieben unbeantwortet. +Für Olga Araújo Casanova ist das keine Überraschung. Sie arbeitet für Nomadesc, eine NGO, die sich seit mehr als 20 Jahren mit der Pazifikregion Kolumbiens beschäftigt. "Schweigen gehört hier zur Strategie", sagt sie. "Wir beobachten seit Jahren eine Vertreibung der Bevölkerung am Wasser, aber niemand will es gewesen sein. In der Zwischenzeit wird fleißig weitergebaut." +Den Einsatz für Grundstückstitel findet sie zwar richtig, glaubt aber nicht daran, dass die Vertreibungen damit gestoppt würden. "Ständig unter Verwahrlosung und Gewalt zu leben macht Menschen mürbe", sagt sie. "Ich sehe darin eine Strategie." Denn anstatt an nachhaltigen Lösungen zu arbeiten, schicke das Innenministerium vor allem Militärs und rühme sich, wenn einzelne Bandenmitglieder gefasst würden. +Ob es wirklich einen Zusammenhang zwischen der Gewalt und dem Hafenausbau gibt, lässt sich schwer beweisen. "Das Narrativ der NGOs vor Ort ist verständlich", sagt Felipe Fernández Lozano, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Lateinamerika-Instituts der Freien Universität Berlin. "Doch ob die Hafenbetreiber und die bewaffneten Gruppen gemeinsame Sache machen, wie gern angedeutet wird, ist anzuzweifeln." Es könne ebenso gut sein, dass sich die Interessen gleichen: Was den Gruppen hilft, hilft auch dem Hafen. Denn auch der Drogenhandel, durch den sich die Gruppen finanzieren, profitiert von der Kontrolle der Gebiete in Hafennähe. "Trotzdem kann man davon ausgehen, dass die Hafengesellschaft mit den Vertreibungen rechnet und dementsprechend plant." +Ob gemeinsame Sache oder nicht: Aufgeben oder standhalten, das ist eine Entscheidung, die die Menschen hier jeden Tag aufs Neue treffen müssen. +Hinzu kommen die schwierigen Umstände in Buenaventura: 41 Prozent der Bevölkerung leben nach einer Umfrage des nationalen Statistikamtes DANE in Armut, 89 Prozent arbeiten im informellen Sektor, also schwarz. Die Chancen auf Arbeit, die ein Hafen normalerweise mit sich bringt, bleiben aus. Höchstens als Wachmann oder Betonmischer würden einige wenige Bewohner angestellt – schlecht bezahlt und auch nur tageweise, erzählt Trompeta. Der Grund, den viele hier anführen: derRassismusim Land. Etwa 90 Prozent der Bevölkerung Buenaventuras sind schwarz. "Eher werden weiße Ingenieure aus Bogotá geholt, als den Posten einem Schwarzen zu überlassen", sagt Trompeta. +Auf Hilfe von ihren politischen Vertretern konnte sich die Bevölkerung in der Vergangenheit nicht verlassen: Die letzten vier Bürgermeister landeten wegen Korruption im Gefängnis. Doch als vor einem Jahr Victor Hugo Vidal ins Amt gewählt wurde, ein ehemaliger Aktivist, hatten viele die Hoffnung, dass sich etwas ändert. +Nach einem Jahr im Amt zeigt sich Vidal ernüchtert. Bei einem Besuch internationaler Organisationen und von Botschaftsmitarbeitern unter anderem der EU, Deutschlands und Frankreichs im Februar sagte er: "Ich habe als Bürgermeister in Buenaventura nicht die Durchsetzungskraft, gegen regionale und nationale Strukturen anzukommen, die hier eine Rolle spielen." Und an seinen internationalen Besuch gewandt: "Die Gewalt in Buenaventura ist auch ein internationales Problem." +Denn Exportunternehmen, aber auch Reedereien wie Hamburg Süd und Maersk profitieren von einem Hafenausbau. In Buenaventura kollidieren nationale und internationale Interessen mit denen vieler Anwohner:innen, und ihre Sicherheit kann am Ende nicht gewährleistet werden. +Schon 2017 erkannten die Bewohner Buenaventuras darin eine Machtposition: Sie blockierten die Stadt und ihre Zufahrtsstraßen. 22 Tage lag der Hafen während des "paro cívico", dem "Zivilstreik", still. Bis die Regierung sich mit den Streikenden einigte: auf Investitionen in Gesundheit und Bildung, aber auch auf ein Mitspracherecht der Bevölkerung bei Bauvorhaben. +Bis heute sind viele Punkte dieser Einigung nicht erfüllt. Und die Bevölkerung macht nun wieder auf sich aufmerksam: Seit Jahresbeginn gibt es immer wieder Proteste. Im Februar bildeten Demonstrierende eine 21 Kilometer lange Menschenkette für den Frieden und ein Leben mit Menschenwürde. +Die Bewohner haben durch den "paro cívico" verstanden, dass der Hafen ihnen auch eine Chance bietet: Mit einer Blockade können sie sich Gehör verschaffen. "Wenn die Versprechen der Politik an die Bevölkerung nach dem ‚paro cívico' nicht eingehalten werden, bleibt uns nichts anderes übrig, als zu Blockaden zurückzukehren", sagt der Protestsprecher Leonard Rentería. +Für Norfalia Trompeta sind diese Proteste die einzige Hoffnung. Vor einigen Tagen seien nachts Männer gekommen, die ein Haus direkt gegenüber von ihrem Eingang zerstört haben. Anders als viele Nachbarn will sie trotz ihrer Angst nicht von hier weg – zumindest bis ihr Bruder und ihre Kinder die Schule abgeschlossen haben. +Alleine würde sie sich nicht trauen, gegen die Zustände vorzugehen.Zu häufig wurden Menschen umgebracht, die den Mund aufgemacht haben.Doch wenn alle gemeinsam aufstehen, glaubt sie, kann sie niemand mehr zum Schweigen bringen. + diff --git a/fluter/werkstatt-menschen-behinderung-kritik-reform.txt b/fluter/werkstatt-menschen-behinderung-kritik-reform.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fdca5f854178523f072868e53eefb048a122dc56 --- /dev/null +++ b/fluter/werkstatt-menschen-behinderung-kritik-reform.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Andreas Lausberg fährt jeden Morgen mit dem Fahrrad nach "drinnen". Das Café Südpark liegt neben einem Streichelzoo, Lausbergs Gäste sind vor allem Familien, sie bestellen Kaffee, Limo und Kuchen. Lausberg ist bei einer "Werkstatt für angepasste Arbeit" beschäftigt. Das bedeutet weniger Arbeitsstress, aber nur einen Bruchteil des Lohns, den er in einem Café in der Innenstadt verdienen würde. +Dass er mal hier arbeiten würde, hätte sich Lausberg früher nicht vorstellen können. Als Hotelkaufmann arbeitete er in Berlin, auf den Malediven und auf einem Kreuzfahrtschiff. Dann erlitt er einen Burn-out. Im Café begann er als Aushilfe. Dann kam der Vorschlag, in Vollzeit einzusteigen. "Da war ich, das sage ich ganz ehrlich, total schockiert", erinnert sich Lausberg. +Laut Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten arbeiten 315.000 Menschen in solchen Einrichtugen. Viele denken vor allem an Menschen mit geistiger Behinderung. Dabeisteigt der Anteil von Menschen mit Depressionen, Suchterkrankungen oder anderen psychischen Beeinträchtigungen unter den Werkstattbeschäftigtenseit Jahren. Zu den heute etwa 21 Prozent gehört auch Andreas Lausberg. + + +Nach vielen Gesprächen schob er seine Vorurteile beiseite. "Es ist das Beste, was mir passieren konnte", sagt Lausberg heute, vier Jahre später. Die 35-Stunden-Arbeitswoche gibt ihm Stabilität. Wird es zu stressig, kann er Auszeiten nehmen. "Ich stehe hier nicht so unter Druck wie in der freien Wirtschaft. Hier sagt niemand: Mensch, reiß dich zusammen." Das System der Werkstätten ist für ihn mehr als nur Arbeit. "Es ist für viele die Chance, an einem Leben in der Gesellschaft teilzunehmen. Ein Teil davon zu sein. Im Sinne von: Ich gehe arbeiten für mein Geld." +Viele Kritiker*innen sehen das anders. Sie werfen den Werkstätten Ausbeutung vor, weil ein Großteil der Werkstattbeschäftigten nur einen Bruchteil des Mindestlohns verdient. 2019 betrug das Monatsentgelt durchschnittlich 220 Euro. +Schon da wird es kompliziert: Formal war die Beschäftigung in Werkstätten nie als Lohnarbeit gedacht. Werkstätten sind laut Gesetz Orte der Rehabilitation. Sie sollen auf den ersten Arbeitsmarkt vorbereiten. Wer dort arbeitet, tritt in ein "arbeitnehmer-ähnliches Beschäftigungs-Verhältnis" ein. Die Abstufung "ähnlich" hat zur Folge, dass kein Mindestlohn gezahlt werden muss. Die Beschäftigten bekommen oft zusätzlich Grundsicherung und Erwerbsminderungsrente, von denen Miete und Lebensunterhalt finanziert werden sollen. In der Praxis macht die Regelung viele Beschäftigte abhängig von der Grundsicherung und nimmt ihnen die Möglichkeit, Vermögen aufzubauen. +Weiterschauen +Blinde wollen sich auch gut anziehen, klar. Warum macht es ihnen die Modebranche dann so schwer? Eine fluter-Videoreportage +Einige fordern deshalb den Mindestlohn für die Beschäftigten, andere mehr Anreize für die Vermittlung auf den ersten Arbeitsmarkt. Manche wollen die Werkstätten ganz abschaffen. Wovon die Beschäftigten am meisten profitieren würden, ist umstritten. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales lässt die Frage, wie das System inklusiver werden könnte, derzeit in einer Studie untersuchen. +Das 2018 eingeführte "Budget für Arbeit" sollte genau das bewirken: mehr Inklusion, also gleichberechtigtere Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Mit dem Programmbeteiligt sich der Staat mit bis zu 75 Prozent am Lohn, wenn Werkstattbeschäftigte auf dem ersten Arbeitsmarkt eingestellt werden. +Wolfgang Trost hat das probiert. Er ist Judoka mit schwarzem Gürtel. Trost weiß, was Inklusion ist. Für die Wettkämpfe trainiert er mit Menschen mit und ohne Behinderung. "Das macht viel aus", sagt er. "Wenn man gemeinsam trainiert, wird man besser und kann sich selbst ganz anders entwickeln." Im Job war das lange anders. +Mehr als 15 Jahre hat Trost in den Düsseldorfer Werkstätten gearbeitet. Er hat Drogerieartikel verpackt und einen Staplerschein gemacht. 2021 fasste er den Entschluss, es trotz seiner Lese-Rechtschreibschwäche auf dem ersten Arbeitsmarkt zu versuchen. Ein erstes Praktikum lief nicht wie erhofft. "Das Unternehmen war sehr auf Leistung ausgelegt", erklärt Ina Groesdonk. Als Integrationsfachkraft begleitet sie Trost beim Weg aus der Werkstatt. Man könne an der Arbeit teilhaben, ohne im klassischen Sinne genauso produktiv zu sein, sagt Groesdonk. "An den Gedanken müssen sich viele Unternehmen aber erst gewöhnen." + + +Dass es nicht nur bei ihm an der Umsetzung des "Budgets für Arbeit" hakte, bestätigen Hochrechnungen. 2020, zwei Jahre nach der Einführung, hatten es schätzungsweise 1.000 Menschen mit dem Programm auf den ersten Arbeitsmarkt geschafft, also 0,32 Prozent aller Werkstattbeschäftigten. +Bei Wolfgang Trost hat es noch geklappt. Nach seinem dritten Praktikum bekam er einen betriebsintegrierten Arbeitsplatz beim "Biertaxi", einem Getränkelieferservice in Düsseldorf. Die Zeit in der Werkstatt bereut Trost nicht. "Ich hatte tolle Gruppenleiter und habe viel gelernt", sagt er. Er weiß aber auch: Er ist eine Ausnahme. Nur wenige schaffen den Sprung von der Werkstatt auf den ersten Arbeitsmarkt. Obwohl die als Sprungbrett gedacht sind. +Das kritisiert auch Anne Gersdorff. "Wir dümpeln seit Jahrzehnten unter einem Prozent bei den Übergängen. Das ist im Grunde eine Erfolgsquote von null Prozent – und wir halten trotzdem daran fest." Gersdorff ist Referentin beim Verein Sozialhelden e.V., der sich für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung einsetzt. "Ich möchte nicht von heute auf morgen alle Werkstätten schließen", sagt sie. "Aber wir müssen den Einstieg in den Ausstieg schaffen." +Im Verein leben sie diese Inklusion vor. Sven Papenbrock hat 13 Jahre lang in verschiedenen Berliner Werkstätten gearbeitet. Heute testet er für den Verein die Barrierefreiheit von Arztpraxen. "Ich habe endlich erreicht, was ich immer wollte", sagt er. +In den Werkstätten kontrollierte Papenbrock CDs auf Kratzer oder setzte Waschmaschinenteile zusammen. Die Arbeit war oft eintönig. "In den neun Monaten in meinem neuen Job habe ich ein Vielfaches dessen gelernt, was ich in der Werkstatt in Jahren gelernt habe." Auch das Entgelt empfand er als unfair: "Alle müssten Mindestlohn bekommen." Außerdem fordert er hohe Strafen, wenn Unternehmen ihrer gesetzlichen Pflicht, Menschen mit Behinderung einzustellen, nicht nachkommen. Aktuell können sich Unternehmen davon freikaufen. Auch das würde Papenbrock abschaffen. +Wenn man Anne Gersdorff fragt, wie Arbeit für Menschen mit Behinderung in zehn Jahren aussehen sollte, überlegt sie keine Sekunde. "Ich würde mir wünschen, dass Werkstätten dann die Ausnahme sind, nicht die Regel." +In einemZwischenberichtder Studie des Bundesarbeitsministeriums steht: "Bei den Behindertenwerkstätten soll es sich um eine Übergangserscheinung handeln, bis der allgemeine Arbeitsmarkt […] so inklusiv, offen und zugänglich gestaltet ist, dass er allen Menschen mit Behinderungen offensteht." In Deutschland dauert diese Übergangserscheinung mittlerweile 50 Jahre. diff --git a/fluter/wettbueros-deutsche-innenstaedte.txt b/fluter/wettbueros-deutsche-innenstaedte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2b9c48c8821677a489476151cc120fd25cd933a2 --- /dev/null +++ b/fluter/wettbueros-deutsche-innenstaedte.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Allein in Brackwede, einem Stadtbezirk mit rund 40.000 Menschen, gibt es vier weitere Wettbüros, dazu einige Automatencasinos. Dort, wo früher Bäcker oder Textilgeschäfte waren, sind die Schaufenster nun zugeklebt mit Bildern fröhlicher Menschen beim Zocken. So wie hier sieht es mittlerweile in vielen deutschen Innenstädten aus – und so wie hier regt sich Kritik. "Wildwuchs bei Wettbüros und Spielhallen",schlagzeilte schon vor Jahrendas hier ansässige "Westfalen-Blatt". +Von 2014 bis 2019 boomten Sportwetten in Deutschland. Der Jahresumsatz der Branche stieg von 4,5 auf 9,3 Milliarden Euro. Durch Corona erlebte die Branche 2020 allerdings einen Einbruch auf 7,8 Milliarden Euro. Neben dem großen Onlineangebot gibt es auch jede Menge Wettbüros. Kritiker warnen schon lange vor den sozialen Folgen. Laut einer Studieder Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärunggibt es rund 430.000 Menschen in Deutschland, die von einem problematischen Glücksspielverhalten oder einer Glücksspielsucht betroffen sind. Erste Stimmen werden laut, die ein Verbot von Sportwetten-Werbung fordern, aber noch springen einem die Wettanbieter in Werbespots, auf Fußballtrikots oder großen Bannern entgegen. + + +Die Hauptzielgruppe der Wettanbieter sind junge Männer. Womöglich vor allem solche, die wenig Geld haben und von viel mehr Geld träumen. Denn, so ein anderer Kritikpunkt: Die Wettbüros und Spielcasinos würden vor allem dort eröffnen, wo sozial benachteiligte Menschen für die Verheißungen des Glücksspiels besonders empfänglich sind. In Bielefeld-Brackwede lagen die Arbeitslosenquote und die Quote der Menschen, die besondere Sozialleistungen beziehen, Ende 2020 nur minimal höher als in Bielefeld insgesamt – aber deutlich höher als im deutschen Durchschnitt zu der Zeit. +Einwohner suchen den Grund für die vielen Wettbüros auchim Schwinden des Einzelhandels. "Früher gab es in Brackwede für jeden Bedarf ein Geschäft. Die Leute brauchten gar nicht in die Innenstadt zu fahren. Doch seit immer mehr im Internet eingekauft wird, mussten viele Einzelhändler aufgeben", sagt Frank Becker vom alteingesessenen Schreibwarengeschäft Bröker. Er war lange der Vorsitzende der Brackweder Werbegemeinschaft, in der sich die lokalen Einzelhändler zusammen um die Attraktivität ihrer Einkaufsmeile kümmern. In die leeren Läden zögen oft Wettbüros oder Spielcasinos, sagt Becker. "Trading-down-Effekt" heißt diese Entwicklung in der Stadtplanung: Wo früher das Leben pulsierte, stehen nun Läden leer oder es wird hinter zugeklebten Schaufenstern gezockt. +Das Geschäft mit Sportwetten ist in Deutschland Ländersache. Lange Zeit hatte der staatliche Anbieter Oddset eine Monopolstellung. Die Länder sicherten dieses Monopol durch ihre jeweilige Gesetzgebung ab – unrechtmäßig, wie das Bundesverfassungsgericht 2006 urteilte. Es folgte 2008 der Glücksspielstaatsvertrag, der wiederum durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs 2012 in den ersten Glücksspieländerungsvertrag mündete, den alle Länder, mit Ausnahme von Schleswig-Holstein, ratifizierten. Darin wurden – zunächst einmal für sieben Jahre – auch private Sportwetten-Anbieter unter Auflagen zugelassen und Spielbank-Werbung erlaubt. In weiteren Verträgen wurden in den folgenden Jahren auch das Auswahlverfahren für die Lizenzvergabe und das Onlineglücksspiel geregelt. + +Mehr als 30 Anbieter haben heute die offizielle deutsche Lizenz. Allerdings gilt die Branche bei den Behörden als notorisch anfällig für kriminelle Machenschaften. Eine Studie der UN-Behörde zur Bekämpfung der Kriminalität (UNODC) berichtet von internationalen Netzwerken, die Sportereignisse manipulieren, um mit Sportwetten Kasse zu machen. Es gab bereits staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen Wettbüros, bei denen es darum ging, woher das Geld für die Eröffnung stammte. Lauteiner Studie der Universität Hamburgeignet sich Glücksspiel besonders gut zur Geldwäsche, und die Polizei von Nordrhein-Westfalen hat 2019 ein großes Ermittlungsverfahren eingeleitet. Sie stieß auf mehrere Fälle, in denen Einnahmen aus Automatencasinos unversteuert in die Taschen der Betreiber flossen. +Im Kampf gegen eine Monokultur aus Spielcasinos und Wettbüros forderte der Senat in Bremen auf Basis des neuen Glücksspielvertrags vom Sommer 2021 die Wettveranstalter dazu auf, nachzuweisen, woher das Gründungskapital ihrer Franchisenehmer (Betreiber) zur Geschäftseröffnung stammt. Für die meisten Wettbüros waren sie dazu bisher nicht in der Lage. Sie mussten vorerst schließen. Die Stadt Wuppertal hat schon 2012ein "Konzept zur städtebaulichen Steuerung von Spielhallen und Wettbüros"erstellt, das unter anderem einen Mindestabstand zueinander und zu schützenswerten Einrichtungen wie Schulen und Kirchen durchsetzen soll. +Und in Bielefeld? "Wettbüros und Spielhallen sind vor allem ein Symptom des Strukturwandels in den Zentren, wo alte Nutzungen wegbrechen", sagt Sven Dodenhoff, bei der Kommunalverwaltung zuständig für gesamträumliche Planung und Stadtentwicklung. Man müsse sich dringend gemeinsam mit Immobilieneigentümern, Mietern und potenziellen Interessenten Gedanken über neue Nutzungskonzepte machen. In der Stadtplanung nennt man das "kuratiertes Erdgeschossmanagement": die Eigentümer dafür gewinnen, geringere Mieteinnahmen zu akzeptieren, und dafür eine buntere Mischung von Nutzungen ermöglichen, die den Bezirk wieder attraktiver machen. Denn eines ist auch in Brackwede klar: Es steht viel auf dem Spiel. + +Dieser Text ist im fluter Nr. 87 "Spiele" erschienen.Das ganze Heftfindet ihr hier. diff --git a/fluter/wetterbericht.txt b/fluter/wetterbericht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/what-goes-on.txt b/fluter/what-goes-on.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..fc47de08582efc88ea6ec8e33b8cb377d463fa80 --- /dev/null +++ b/fluter/what-goes-on.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Murrays These folgte eine Welle der Empörung, schließlich verletzte sie den amerikanischen Sinn für Gleichheit. Viele zweifelten daran, dass man Intelligenz oder die Vererbung von Intelligenz derart eindeutig messen kann, und bezeichneten die Kategorisierung der durchschnittlichen Intelligenzquotienten ganzer Gruppen als puren Rassismus. Einer der schärfsten Kritiker war der Harvard-Professor William Julius Wilson, der bestritt, dass es so etwas wie einen unveränderlichen Intelligenzfaktor gibt, der von Generation zu Generation weitergereicht wird. Laut Wilson seien es vielmehr historische, gesellschaftliche Prozesse, die bestimmte Gruppen – zum Beispiel die Schwarzen in den Industriestädten des Nordens – nachhaltig zermürbten. Arme Menschen gerieten nicht in Schwierigkeiten, weil sie für alle Ewigkeit minderbemittelt seien, sondern weil die Armut in ihnen selbst und in ihren Vorfahren ein katastrophales Erbe hinterlassen habe. +Damit entstand eine neue Debatte über die Vererbbarkeit der Armut, die nicht darauf abzielte, den Armen soziale Dienstleistungen zu entziehen, sondern, im Gegenteil, die ein Appell war, endlich ernsthaft in die ärmsten Regionen Amerikas zu investieren. Wie in den 60er-Jahren, als die Demokraten den "War on Poverty" ausriefen – allerdings waren die finanziellen Mittel zu knapp, um in sozial schwachen Gebieten wie der New Yorker Bronx oder den Appalachen beispielsweise das Niveau der Schulbildung dauerhaft anzuheben. +Studien der letzten Jahre, wie etwa die von Eric Turkheimer von der Universität Virginia, stellen fest, dass der genetische Einfluss auf messbare Intelligenz nur in Haushalten der Mittelklasse und Oberschicht groß war. In armen Haushalten dagegen waren die schlechtere Ernährung, das Bildungsdefizit und die Erfahrungen mit Gewalt und Drogen viel ausschlaggebender. Sein Fazit: Nicht die Eltern, die in Armut leben, sondern die Lebensumstände selbst bestimmen die Intelligenz der Kinder. Die Forscher des berühmten Mount Sinai Hospital in New York gehen noch weiter. Sie behaupten aufgrund von Experimenten mit Mäusen, dass die Lebensgewohnheiten der Väter die Kinder prägen. Wenn Männer vor der Pubertät entweder sehr viel oder sehr wenig gegessen haben, weisen ihre Kinder später entsprechende Gesundheitsproblematiken auf. Genauso wie sich Gifte und Drogen, die von den Vätern konsumiert wurden, an der nächsten Generation rächen. +Eric Nestler vom Mount Sinai machte dazu folgendes Experiment mit männlichen Mäusen: Kleine Männchen wurden wiederholt mit größeren und aggressiveren Mäusen in Käfige gesetzt, bis sich vielfältige Symptome von Depression und posttraumatischen Belastungsstörungen zeigten. Die Nachkommen dieser bedauernswerten Probanden neigten ebenfalls stark zu Stress und Ängstlichkeit, verweigerten oft die Nahrung und mieden Artgenossen. Was besagt das über Menschen? Nestler betrachtet es als Hinweis dafür, dass die Erfahrungen der in Armut lebenden Väter an Kinder vererbt werden. +Wissenschaftler sind überzeugt, dass sich das Aufwachsen in Gegenden mit konzentrierter Armut besonders ungünstig auswirkt. Ist eine Gegend von Armut geprägt, haben die Kinder laut einer Studie der Pew Charitable Trusts ein erhöhtes Risiko des sozialen Abstiegs. Nur sechs Prozent der weißen Kinder Amerikas wohnen dauerhaft in solchen Gegenden, aber 66 Prozent der schwarzen. Aufgrund solch verheerender Zahlen empfiehlt Professor William Julius Wilson Projekte wie die "Harlem Children's Zone", die in 97 City-Blocks in Harlem Sozial- und Bildungsleistungen anbietet, um die Lebensqualität der Kinder zu erhöhen. Das Experiment gilt als so erfolgreich, dass USPräsident Obama nun ähnliche Projekte in 20 anderen Städten aufbauen will. Doch in der Wirtschaftskrise könnte das Geld für dieses Projekt leider knapp werden. diff --git a/fluter/why-we-matter-emilia-roig-rezension.txt b/fluter/why-we-matter-emilia-roig-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..de2519578ca74ce615c5d5c392dbf700190a036f --- /dev/null +++ b/fluter/why-we-matter-emilia-roig-rezension.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Oft bezieht sie sich aber auch auf ihre eigenen Erfahrungen. Roig, die bei Paris geboren ist, bezeichnet sich selbst als "Produkt des französischen Kolonialismus", als "hybride Identität". Ihre Mutter ist in Martinique geboren und hat afrikanische Wurzeln. Sie trägt noch den Nachnamen des Sklavenhalters ihrer Vorfahren, Griffit. Roigs Großmutter väterlicherseits war Jüdin, ihr Großvater väterlicherseits ein sogenannter pied-noir. Darunter versteht man europäische Siedler, die nach der Eroberung Algeriens durch Frankreich in das Land zogen – es also kolonialisierten – und es nach dem algerischen Unabhängigkeitskrieg 1962 wieder verlassen mussten. +"Why We Matter. Das Ende der Unterdrückung" (397 Seiten, 22 Euro) von Emilia Roig ist im Aufbau Verlag erschienen +In dieser komplexen Familiengeschichte versammeln sich nicht nur verschiedenste Identitäten. So wie Roig die Schicksale ihrer Großeltern und Eltern schildert, entsteht dadurch auch ein Spannungsfeld aus Privilegien und Unterdrückung: Kolonialismus, Antisemitismus, Rassismus, die Erfahrung von Migration, Flucht und vermeintlicher Fremdheit. +Roig benennt Unterdrückungsmechanismen in ihrem Buch aber nicht nur. Sie zeigt auch, auf welchen künstlichen Vorstellungen diese Diskriminierungsformen basieren – um dann daran zu arbeiten, sie zu durchbrechen. Diese "scheinbar biologischen, naturgegebenen Merkmale", schreibt sie, seien zum Großteil konstruiert: "Sie wurden definiert, organisiert und verhandelt – und zwar so, dass sie Ungleichheiten in unseren Gesellschaften rechtfertigen." Das gelte für Unterschiede zwischen den Geschlechtern genauso wie zwischen vermeintlichen "Ethnien" oder Menschen mit und ohne Behinderung. Doch anstatt diese Ungleichheiten zu bekämpfen, werden sie laut Roig noch viel zu oft als normal angesehen. Wie der Fisch das Wasser nicht infrage stelle, erkenne die Gesellschaft klassische Normen und Hierarchien einfach an, auch wenn sie falsch seien. +Viele Punkte, die "Why We Matter" anspricht, sind nicht neu. Dennoch schafft es Roig, sie zu vereinen, Verschränkungen aufzuzeigen und dabei sehr komplexe Zusammenhänge und Theorien so darzustellen, dass Einsteiger*innen in das Thema ihrer Argumentation gut folgen können. Sie erklärt sehr persönlich und prägnant, klar und verständlich, weshalb für sie das Dreieck ausKolonialismus,Patriarchatund Kapitalismus für die Unterdrückung vieler Menschen verantwortlich ist. Dabei zitiert sie eine Fülle an (Vor-)Denker*innen, dienicht zum klassischen Schul- oder Uni-Kanon gehören– etwa die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Aktivistin bell hooks (die sich selbst immer kleinschrieb) oder den portugiesischen Soziologen Boaventura de Sousa Santos. +Doch nicht alle Sachverhalte sind so eindeutig, wie Roig sie darstellt. Wenn sie beispielsweise schreibt, der "Konservatismus" sei "eine politische Sicht, die die Ungerechtigkeit, die Verfolgung, die Ermordung und die systemische Diskriminierung, die minorisierte Gruppen – gestern und heute – täglich erfahren, negiert", ist das unzulässig pauschalisierend. +Noch strittiger erscheint Roigs These, die Exzeptionalisierung des Holocaust – also dieEinzigartigkeit des Genozidsan der jüdischen Bevölkerung in Europa – sei "insofern problematisch, als sie eine tiefe Auseinandersetzung mit Rassismus häufig verhindert". Die Exzeptionalisierung der Shoah könne, so Roig, "mit einer künstlichen Trennung von Antisemitismus und Rassismus einhergehen" und von den historischen Kontinuitäten ablenken, die zum Genozid geführt hätten. Diese Analyse ist in Teilen nachvollziehbar: Natürlich ist es wichtig zu fragen, welche Verbindungen es etwa zwischendem Völkermord von 1904 bis 1908 im heutigen Namibia an den Herero und Namadurch deutsche Kolonialtruppen und dem Genozid der NS-Zeit gibt. Und es ist auch richtig, dass das institutionalisierte Gedenken in Deutschland ein – in Roigs Worten – "selektiver Prozess" ist, derden Kolonialverbrechen in den Augen vieler Menschen noch zu wenig Platz einräumt. Roigs Kritik ist aber bisweilen so unscharf formuliert, dass es klingt, als wolle sie eine Art Opferkonkurrenz aufmachen. Dabei sollte es doch darum gehen, die Einzigartigkeit der Shoah als Extrembeispiel der Verletzung der Menschenwürde zu erinnern – ohne dabei die Opfer anderer historischer Verbrechen zu vergessen. +Auch Roigs Vorschläge, was gegen die von ihr beschriebenen Unterdrückungsmechanismen zu tun sei, wollen am Ende nicht wirklich überzeugen. Roig bezeichnet Selbstliebe als "größte Stärke und Waffe gegen Unterdrückung", als etwas Revolutionäres. Damit mag sie recht haben. Doch Selbstliebe braucht eben nicht nur "Zeit, Hingabe und Arbeit" von einem selbst, sondern vor allem die Möglichkeit dazu, die einem von außen gegeben wird. Wie soll man sich selbst lieben, wenn einen die Gesellschaft unterdrückt? Die These weckt eine ungute Erwartungshaltung: Dass man als Minderheit vor allem an seiner Selbstliebe arbeiten muss, um gegen das System zu kämpfen. Doch das ist schwer, wenn die Gesellschaft einem die Kraft dazu nicht gibt. + diff --git a/fluter/wichtig-ist-neben-dem-platz.txt b/fluter/wichtig-ist-neben-dem-platz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c128b1996d5af886cc71d0ac0297d7b4588902fc --- /dev/null +++ b/fluter/wichtig-ist-neben-dem-platz.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Die Einschaltquoten für das EM-Finale in Portugal 2004 waren in Indien überdurchschnittlich hoch. Grund war der deutsche Schiedsrichter, der dort ein hohes Ansehen genießt. Seit Jahrzehnten fährt Markus Merk mit seiner Frau nach Indien in den Urlaub, wobei es sich eigentlich nicht um Urlaub handelt. Der 44-jährige Zahnarzt geht dort seinem ursprünglichen Job nach und richtet jenen Menschen die Zähne, die es sich niemals leisten könnten, dafür zu zahlen. Markus Merk half mit, die vor 15 Jahren gegründete "Indienhilfe Kaiserslautern" effizienter zu machen, es blieb nicht nur beim Zähnerichten. Mittlerweile wurden fünf Waisenhäuser, drei Schulen und ein Altenheim gebaut. Ganz nebenbei gilt Merk als erfolgreichster Schiedsrichter der Welt, schon mehrmals wurde er als solcher ausgezeichnet. Solange er das bleibt, wird auch das Indienprojekt erfolgreich weiterwachsen.www.merk-es-dir.de +Pablo Thiam, Profi beim VfL Wolfsburg, packt selbst mit an: Für das "Kinderprojekt Arche" spendet er nicht nur, er gibt den Kindern auch Fußballtrainingsstunden. Die etwa 150 Mädchen und Jungen, die in Berlin-Hellersdorf täglich zu der christlichen Einrichtung kommen, sind die sichtbaren Opfer der steigenden Armut in Deutschland. Bei der "Arche" bekommen sie warme Mahlzeiten, schulische Unterstützung und, wenn nötig, auch Schutz vor den eigenen Eltern. Thiams Ehefrau arbeitet dort aushilfsweise mit. "Ich weiß, wie gut es mir und meiner Familie geht, und ich weiß auch, dass es Kinder und Jugendliche gibt, denen ich helfen kann. Deswegen setzen wir uns für die Arche ein", sagt Pablo Thiam. So können auch Feriencamps finanziert werden, um den Kindern Abwechslung zu bieten. Eine Gruppenreise übernahm Thiam auch schon selbst: 25 Kinder durften zu einem Spiel des VfL Wolfsburg, inklusive Stadionführung. Mit Happyend: Wolfsburg gewann 2:1 gegen Kaiserslautern.www.kinderprojekt-arche.de +Eigentlich war Kaplan Jochen Reidegeld FC-Bayern-Fan. Doch weil er im Münsterland wohnt, fragte er vor fünf Jahren einmal beim viel näher gelegenen Verein Borussia Dortmund an. Er hoffte, Spieler für den "Roten Keil" gewinnen zu können, ein Netzwerk gegen internationale Kinderprostitution. Der Kaplan war sehr erfolgreich. Mittlerweile helfen viele Sportler und Sportreporter (Marcel Reif, Dieter Kürten) dem Netzwerk bei der Öffentlichkeitsarbeit und Fredi Bobic, Sebastian Kehl und Christoph Metzelder sind sogar die ersten Gesichter, die man auf der Homepage des "Roten Keils" zu sehen bekommt. Vor allem der 25-jährige BVB-Verteidiger und Nationalspieler Metzelder engagiert sich regelmäßig für das Projekt: Er übernahm nicht nur die Schirmherrschaft für Benefizspiele, sondern auch Patenschaften für ausländische Schulen. Der "Rote Keil" arbeitet aber auch im eigenen Land: "Deutschland ist nicht nur ein Land der Täter, sondern auch der Opfer", schreibt Metzelder in einem Buch, das er gerade gemeinsam mit Kaplan Reidegeld zusammenstellt. Der Kaplan ist jetzt übrigens nicht mehr Bayern-, sondern Dortmund-Fan. "Da hat tatsächlich eine Bekehrung stattgefunden", sagt er.www.roterkeil.net diff --git a/fluter/wichtige-fragen-sechs-feministinnen.txt b/fluter/wichtige-fragen-sechs-feministinnen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..71d450d04098646729e49894cf17e65e9723375d --- /dev/null +++ b/fluter/wichtige-fragen-sechs-feministinnen.txt @@ -0,0 +1,60 @@ +Mirna:Feminismus ist für mich der Versuch, durch emanzipatorische Entwicklungen Mann und Frau gleichberechtigt miteinander in dieser Gesellschaft leben zu lassen. +Phenix:Die Gleichstellung und Gleichberechtigung aller Geschlechter. +Şeyda:Feminismus ist der Kampf für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung für alle Geschlechter auf der Welt. +Anne:Feminismus ist eine politische Bewegung und Haltung, um eine sozial gerechte Welt und ein gutes Leben für alle zu schaffen, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Behinderungen, sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität und all diesen Identitätskategorien, die sich natürlich immer auch überschneiden und beeinflussen. + +Ilse:Ich könnte zehn Vorbilder nennen! Angela Davis und die Black Panther waren unheimlich wichtig in Deutschland in den 1970ern. Dann Yayori Matsui, eine japanische Feministin und Journalistin, die amerikanische Anarchistin und Feministin Emma Goldman, Schwarze Befreiungskämpferinnen ... +Natasha:Audre Lorde. Weil sie sich regelmäßig in Deutschland aufhielt und die Initialzündung für die Wiederbelebung der Schwarzen deutschen Community gegeben hat. +Mirna:Ich lehne Vorbilder ab und will auch selbst keines sein. Es geht mir viel mehr darum, selbst zu werden, als irgendeinem anderen nachzueifern. +Phenix:Meine Mutter. Sie kann zu ihren Fehlern stehen und akzeptieren, dass Menschen unterschiedliche Realitäten haben. +Şeyda:Ein Zusammenspiel aus vielem. Angefangen bei der kurdischen Befreiungsbewegung, die eine feministische Revolution ist, hin zu Schwarzen lesbischen sozialistischen Feminist*innen wie Audre Lorde oder bell hooks. Dann die kommunistischen Frauenbewegungen mit Clara Zetkin oder Rosa Luxemburg, der migrantische Feminismus in Deutschland, aber auch Freund*innen, Mütter, Schwestern ... +Anne:Schuld daran, dass ich mich selbst Feministin nenne, ist Jaclyn Friedman aus den USA. Sie betreibt Aufklärung gegen sexualisierte Gewalt. 2010 habe ichin ihrem Blog gelesen, wie Casual Dating sie nach einer Trennung in ihrer sexuellen Freiheit bestärkt hat. Das fand ich beeindruckend. + +Ilse:Grundsätzlich widerspreche ich bei rassistischem Feminismus, Anti-trans und allen Formen des Feminismus, die sich unsensibel und unreflektiert zu anderen Feministinnen und Denkformen verhalten. +Natasha:Über ihren Rassismus. Weiße Feministinnen verstecken sich gern hinter ihrer Unterdrückung als Frau, vergessen aber, dass sie in anderen Kontexten auf der Täterinnenseite stehen. +Mirna:Care-Arbeit!Ich lehne den Begriff ab, weil ich es nicht nachvollziehen kann, warum man sein Kind zur Arbeit umdeuten muss, um dem Partner zu erklären, dass er sich hälftig am Alltag zu beteiligen hat. +Phenix:In meinen Kreisen sind wir viel zu friedliebend, um zu streiten, wir diskutieren nur. Über die Grenzen des Genderns zum Beispiel. Ist das Wort Freundeskreis inklusiv, was ist mit Bürgersteig? +Şeyda:Ich versuche, Menschen daran zu erinnern, was eigentlich unsere große Vision am Ende ist. Ein Beispiel: Wir lebenin einer patriarchalen Gesellschaft, und die Körper von Frauen oder Queers stehen unter ständiger Bedrohung. Ich möchte lieber eine Gesellschaft, die nicht auf einem System von Polizeikontrolle und Bestrafung beruht. +Anne:Gerade leider am meistenüber Transgeschlechtlichkeit. Für mich grenzt es an faschistisch geprägtes Denken, wenn man infrage stellt, dass trans* Personen existieren und dass sie Menschenrechte haben. + +Ilse:Manchmal ist Zuhören wichtiger als Diskutieren. Wenn mir jemand Erfahrungen von Unterdrückung schildert und ich das nicht ganz nachvollziehen kann, will ich nicht diskutieren, sondern zuhören und dieser Position die Definitionsmacht lassen. +Natasha:Gar nicht. Ich bin redefreudig. Traumata werden vererbt, das weiß die Psychologie inzwischen, so auch Rassismus. Er ist in unserer DNA. Also gibt es kein Ende der Debatten. +Mirna:Ich würde alle Themen mitdebattieren und finde es wichtig, da keine Grenze zu setzen. Schluss ist natürlich, wenn ich beleidigt werde und man nicht in der Lage ist, meine Sozialisation mitzudenken. Ich bin eine ostdeutsche, jüdische Frau, und viele, auch intersektionale Feministinnen, können nicht verstehen, dass ich dadurch ein anderes Frauenbild als das westdeutsche habe. +Phenix:Ich streite mich nicht mit Menschen, die mir meine Lebensrealität und mein Dasein absprechen. Ich diskutiere doch nicht darüber, ob es mich gibt oder nicht. +Şeyda:Sobald ich merke, es geht dem Gegenüber nur darum, die eigene Menschenfeindlichkeit großzumachen. +Anne:Beim Thema Transgeschlechtlichkeit irgendwann. "Wann" ist in Zeiten von Social Media und Aufmerksamkeitsökonomie ohnehin eine klare Strategiefrage: Wem schenke ich meine Aufmerksamkeit und wie? Ist es produktiv oder generiert es nur Klicks für die gegnerische Seite? + +Ilse:Die Geschichte in den Parteien hat gezeigt, dassdie Frauenquotenotwendig ist. +Natasha:Frauenquoten sind ein Meilenstein auf dem Weg zur intersektionalen Gerechtigkeit. Aber sie sind nicht das Ziel. +Mirna:Schwierig. Ich wünsche mir auch mehr Frauen in hohen Positionen, gleichzeitig sind in diesem Land nur gut ein Drittel der Erwerbstätigen in Vollzeit Frauen. Wie sollen sie so in diese Positionen kommen? +Phenix:Ich bin pro Quote, weil wir in einer Welt leben, die Frauen und andere Marginalisierte strukturell lange benachteiligt hat und noch immer tut. +Şeyda:Es sollte besser gar keine Unternehmensvorstände geben. +Anne:Sie sind ein notwendiges Werkzeug, dienen aber in erster Linie weißen privilegierten cis Frauen. + +Ilse:Sterne sollten immer Hoffnung geben, nicht Verbote transportieren. Deswegen denke ich, diese Form von Sprache sollte freiwillig sein und so attraktiv, dass die anderen sie auch benutzen. +Natasha:Ich nutze es immer und finde es sehr wichtig. Sprachveränderungen sind ein Abbild der Gesellschaftsveränderungen. +Mirna:Ich benutze das generische Maskulinum, als Schriftstellerin könnte ich auch nie einen gegenderten Roman schreiben. +Phenix:Ich bin auf jeden Fall dafür, es zu nutzen, aber die größte Freundin bin ich davon nicht. Ich denke, inklusive Sprache wird sich noch sehr verändern und weiterentwickeln müssen. Aber aktuell ist das einfach die beste Lösung, die wir haben. +Şeyda:Ich benutze Gendersternchen, um das System der Zweigeschlechtlichkeit zu stören – und um Leerstellen sichtbar zu machen, auch in meinem eigenen Denken. +Anne:Ich war erst abgeneigt, aber je mehr ich mich damit beschäftigt habe, desto mehr habe ich verstanden, dass meine Ablehnung verinnerlichter Sexismus war. Heute schreibe ich mit Gender_Gap. + +Ilse:Ich bin gegen ein Verbot. Aber wer Geld hat, hat Macht, und die Frage der Sexualität sollte keinem Profitdenken unterworfen sein. Wenn Schätzungen zufolge etwa 60 bis 70 Prozent der Prostituierten in Deutschland eine Migrationsgeschichte haben, herrschen da offensichtlich große Machtungleichgewichte. +Natasha:Auf keinen Fall. Warum? An solchen Debatten beteilige ich mich oft nicht, weil ich sie so absurd finde. Wenn eine Frau das freiwillig macht, ist es für mich eine Dienstleistung wie jede andere auch. Wenn nicht, sind wir wieder auf der strukturellen Ebene: Es liegt nicht an der Frau, dass sie gezwungen wird. Also muss gegen Menschenhandel vorgegangen werden. +Mirna:Nein, mir ist es wichtig, dass Menschen eigene Entscheidungen treffen. Ich wünsche mir eine Welt, in der Frauen ihren Körper nicht verkaufen müssen, aber es dürfen, wenn sie es möchten. +Phenix:Feminismus ist auch, Menschen allen Geschlechts machen zu lassen, was sie wollen. Und das bedeutet auch, die volle Macht über den eigenen Körper zu haben.Strukturen, in denen das unter Zwang passiert, sind zu verurteilen. Aber Sexarbeitist ja zum Beispiel auch Onlyfans, das muss nicht alles verboten werden. +Şeyda:Ich bin pro Solidarität mit Sexarbeiter*innen und gegen die Prostitutionsindustrie. Solange keine Geschlechtergerechtigkeit herrscht, wird diese fast immer ausbeuterisch sein. Wenn es tatsächlich helfen würde, hätte ich nichts gegen ein Verbot. Aber wo Sexkauf verboten ist, gehen die Freier eben in andere Länder. +Anne:Klares Nein – körperliche Selbstbestimmung. Aber ein klares Ja dafür, die Arbeitsbedingungen für Sexarbeitende zu verbessern. + +Ilse:Kann, muss aber nicht. Es sollte immer eine freie Entscheidung sein, wie man anderen den Körper zeigen möchte. Das gilt auch für das Kopftuchtragen. +Natasha:Natürlich. Das ist so klassische old-white-women-feministische Kritik. Ich bin gegenGewaltherrschaften wie im Iran, aber das Problem liegt nicht am Kopftuch, sondern an der herrschenden Machtstruktur. +Mirna:Ich denke, es ist wichtig, zu verstehen, dass das Kopftuch nur da ein empowerndes Symbol sein kann, wo Religionsfreiheit herrscht. +Phenix:Einer Frau, einem Menschen sollte es freigestellt sein, was er oder sie trägt. Wenn das ein Kopftuch ist, dann ist es ein Kopftuch. +Şeyda:Es hindert dich nichts daran, ein Kopftuch zu tragen und gleichzeitig für das Recht aller Frauen einzustehen, sich durch die Welt zu bewegen, ohne dass ständig Gewalt auf ihre Körper ausgeübt wird. +Anne:Ja, absolut. + +Ilse:Es kann feministische Formen geben, den eigenen Körper auszustellen, und sexistische. Wenn das Foto hegemoniale Stereotype stützt, finde ich es nicht feministisch. Aber Travestie, Kritik, autonome Erotik? Warum sollte feministische Erotik bei Instagram aufhören? +Natasha:Body positivity ist doch seit jeher das Feministischste. Sich von langen zu kurzen Röcken zu bewegen war eine historische Form der Emanzipation. Und wenn eine Frau heute ihre Brüste zeigen will, auch für Klicks, soll sie es machen. Auch hier ist es wichtig, dass dies freiwillig geschieht. +Mirna:Klar! Wenn Feminismus Verbote heißt und Begrenzung, dann ist es keiner. +Phenix:Go for it, free the nipple! Zu verurteilen sind die Vorurteile und die Sexualisierung, die in unserer Gesellschaft mit einem freizügigen Auftreten verbunden sind. Auch wenn es nicht in einem sexuellen Kontext passiert. +Şeyda:Ja, auf jeden Fall, weil zum Patriarchat dazugehört, freizügige Weiblichkeit zu unterdrücken. Es kann empowernd sein, den eigenen Körper so zu präsentieren, wie man möchte. Aber man sollte Mechanismen von Social Media wie sex sells trotzdem kritisieren können. +Anne:Ja, klar. Trotzdem ist es wichtig, zu gucken, welche gesellschaftlichen Zwänge gerade auch junge Frauen dazu bringen, sich sexualisiert darzustellen. diff --git a/fluter/wie-abgefahren-autofahrer-lassen-fussgaenger-vor.txt b/fluter/wie-abgefahren-autofahrer-lassen-fussgaenger-vor.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ff34e4da33a1aaa56b53606622348138f29bb4d5 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-abgefahren-autofahrer-lassen-fussgaenger-vor.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +"In Europa werden Dörfer überraschenderweise nicht hässlicher und ärmer, je weiter aufs Land man fährt. Im Gegenteil, je kleiner der Ort, desto putziger ist er." +"In Europa lassen Autos den Menschen Vortritt und nicht umgekehrt! Besonders in Skandinavien, Deutschland und den Benelux-Ländern nehmen die Autofahrer Rücksicht. Anders ist es in Südeuropa, dort fahren die Leute genauso gern über Rot wie in China." +"Wer den Rhein entlangfährt, bekommt drei Länder auf einmal geboten: Frankreich hat leckeres Essen und schöne Frauen, Deutschland saubere Hotels und Einkaufsstraßen, die Schweiz Berglandschaften und ulkige Dorffeste." +"Berlin, Amsterdam und London liegen auf ungefähr demselben Breitengrad wie Peking, trotzdem ist das Wetter dort viel besser. Im Sommer ist es nicht zu heiß, im Winter nicht zu kalt, und Sandstürme wehen dort auch nicht." +"Am Eiffelturm, vor dem Kolosseum in Rom und an berühmten Sehenswürdigkeiten, wo sich viele Touristen drängen, sollte man sich vor Schwarzen und Arabern in Acht nehmen. Oft sind es Taschendiebe oder Gauner." +"Ein beliebter Trick von Betrügern in Europa ist es, sich als Polizist auszugeben und ahnungslose Touristen nach Ausweis und Geldbeutel zu fragen. In so einem Fall sollte man den Polizisten bitten, sich selbst auszuweisen." diff --git a/fluter/wie-arbeiten-r%C3%BCckversicherer.txt b/fluter/wie-arbeiten-r%C3%BCckversicherer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2cd5b3fb6d8d1db73344e02dff6137bf7b783344 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-arbeiten-r%C3%BCckversicherer.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +Weiterlesen +Sind die vermehrten Extremwetter eine Folge des Klimawandels? Eine junge deutsche Forscherin hat ein Modell entwickelt, mit dem sich der Zusammenhang stichhaltig berechnen lassen soll:Klick! +Fischer arbeitet in einer speziellen Branche, die sich die Berechnung des Risikos zum Geschäft gemacht hat. Und die ein wenig um die Ecke gedacht funktioniert, denn seine Kunden sind keine Einzelpersonen, die ihre Einfamilienhäuser gegen Orkane wappnen wollen, sondern andere Versicherungsunternehmen. +Die Grundidee einer Versicherung ist einfach: Es gibt im Leben einige Gefahren und Risiken, die zwar ziemlich selten sind – aber wenn sie eintreffen, dann wird es für den Betroffenen richtig teuer. Ein Hausbrand, ein Autounfall oder eine schwere Krankheit können den finanziellen Ruin bedeuten. Daher sichern sich viele Menschen lieber ab: Sie zahlen einen jährlichen Beitrag an eine Versicherung, zum Beispiel an ihre Haftpflicht- oder Hausratversicherung. Von dem eingezahlten Geld profitieren dann am Ende die wenigen Unglücklichen, bei denen das Haus wirklich gebrannt hat. Das Risiko wird also verteilt. +Versicherungen sehen zu, dass sie immer ausreichend gefüllte Kassen für den Ernstfall haben – und noch Gewinne machen. Die Versicherungswirtschaft ist eine finanzstarke Branche, doch auch für sie gibt es Ereignisse, die ihre Reserven überschreiten. Wo durch eine Naturkatastrophe oder auchmenschengemachte Ereignisse wie Terroranschlägeoder Brändesehr großer Schaden auf einmal entsteht, kommen Rückversicherungen ins Spiel. Sie versichern die Versicherungen, sind also gewissermaßen die Großhändler des Risikos, und lassen sich das ebenfalls gut bezahlen: Der internationale Branchenführer Munich Re machte 2020 mit dem Geschäftsfeld Rückversicherung einen Bruttoumsatz von 37,3 Milliarden Euro. + + + + +Dabei ist der Arbeitsalltag der Rückversicherer eine Mischung aus höherer Mathematik mit Schwerpunkt Wahrscheinlichkeitsrechnung, Ingenieurwissen, Geografie undKlimaforschung. +Markus Brück arbeitet seit 30 Jahren für die Deutsche Rück. Er handelt spezielle Verträge für riesige Gebäude oder Anlagen mit einem außergewöhnlichen Gefahrenpotenzial aus. "Große Einzelschäden sind in Deutschland meistens Brände oder Explosionen in Großobjekten", sagt Brück. "So etwas passiert durchschnittlich drei- bis fünfmal im Jahr." 2021 war das bisher ein Feuer in einer Galvanikanlage mit wahrscheinlich mehr als 250 Millionen Euro Schaden. +Wenn Brück von seiner Arbeit erzählt, fallen schon mal Sätze wie: "Jetzt habe ich als Beispiel ein relativ kleines Risiko von 40 Millionen Euro genommen." Denn es gibt eben auch Fälle wie nationale Eisenbahngesellschaften: "Die haben Anlagen und Gebäude im Zig-Milliarden-Bereich, die wird man nie zum vollen Wert versichern können. Aber dass alle diese Werte auf einen Schlag untergehen, ist ja auch sehr unwahrscheinlich." +Die Risikomanager der Kunden und die beratenden Versicherer machen sich deswegen gemeinsam Gedanken: Wie viel kann bei einem Schadenereignis, beispielsweise einem Großfeuer, wirklich auf einen Schlag zerstört werden? +In seltenen Fällen fährt Brück auch selbst zu einer Industrieanlage, einem Flughafen oder einem Krankenhaus und lässt sich das Objekt zeigen. "Bei besonders komplexen Risiken muss man Ingenieure befragen, die dann Szenarien erstellen, ein Explosionsszenario in einem Kraftwerk beispielsweise", sagt er. +Sind alle Daten auf dem Tisch, ergibt sich am Ende ein "wahrscheinlicher Höchstschaden", und der Rückversicherer muss entscheiden, wie viel er davon übernimmt. "Läge der Höchstschaden zum Beispiel bei zwei Milliarden Euro, wären es schon eine ganze Reihe von Versicherern und Rückversicherern, die sich das Risiko teilen", sagt Brück. Denn auch die Rückversicherer kommen irgendwo an ihre Grenzen – und sichern sich wiederum bei anderen Rückversicherern ab. In der Summe ergibt sich so ein komplexes Netz der Risikoverteilung und -abfederung. +Aber es geht nicht immer nur um einzelne große, teure Fälle wie ein Kraftwerk oder einen Flughafen. Oft ist es auch eine Ansammlung von einzelnen kleinen Objekten, die alle bei einem Unternehmen versichert sind und eine räumliche Nähe haben – und sich so zu einem großen Schadensfall aufaddieren können. "Kumul" nennt sich so was im Versicherungsdeutsch. + + + +Weltweit sind es vor allem große tropische Wirbelstürme, verheerende Erdbeben oder Waldbrände wie zuletzt in Australien, die derartige Kumul-Ereignisse auslösen. In Deutschland, das katastrophentechnisch bislang weitgehend verschont geblieben ist, sind es eher Hochwasser an Rhein oder Elbe und vor allem (Hagel-)Stürme: Kyrill 2007, Andreas 2013, Ela 2014, Sabine 2020 – wer in der Rückversicherungsbranche arbeitet, ist mit ihnen allen auf Du und Du. +Einer der größten Schäden in der Geschichte der deutschen Versicherungswirtschaft wurde allerdings nicht durch Wind oder Wasser verursacht, sondern durch Hagel. Am 12. Juli 1984 zog eine Unwetterfront über den Großraum München, danach waren Ernten vernichtet, Gebäude beschädigt, 200.000 Autos verbeult und den Versicherungsunternehmen wortwörtlich die Bilanzen verhagelt. +Im Programm von Thomas Fischer steckt ein Katalog von Zigtausenden Sturmverläufen, auch historischen. So ist im Modell unter anderem der verheerende Orkan Kyrill nachgebaut. "Und dann gibt es den gleichen Sturm noch mal, aber 100 Kilometer weiter nach Norden verschoben. Oder mit einer anderen Windgeschwindigkeit, 0,5 Meter weniger pro Sekunde", sagt Fischer. All diese Konstellationen sind theoretisch denkbar, wenn auch unterschiedlich wahrscheinlich – beispielsweise ziehen die Stürme in Mitteleuropa deutlich häufiger von Westen nach Osten als umgekehrt, Gebirge und Meere beeinflussen ihren Verlauf. +Nun ist das eine, zu wissen, wie wahrscheinlich welcher Sturm ist. Das andere ist, welchen Schaden er anrichtet, und zwar nicht nur insgesamt, sondern auch an den einzelnen Gebäuden, Gegenständen und Fahrzeugen, die bei den Kunden versichert sind. Um das herauszufinden, überträgt Fischer die Informationen zu den Objekten ins Modell, so detailliert wie möglich. "Im besten Fall haben wir die exakten Koordinaten eines versicherten Hauses. Manchmal weiß man aber auch nur, dass in einem Postleitzahlenbereich an die 2.000 versicherte Objekte liegen", sagt er. +Weil die Software immer besser wird, steigen auch Fischers Möglichkeiten: "Das ist kein Vergleich zu dem, womit ich vor rund sieben Jahren angefangen habe. Inzwischen kann man mitunter sogar angeben, ob ein Haus ein Flachdach hat – was die Schadenswahrscheinlichkeit verringert." +Schließlich kombiniert Fischer die Objekte mit den vielen möglichen Ereignissen aus dem Sturmkatalog und schaut sich an, wie viel Schaden jeweils entstehen könnte. Den daraus ermittelten Durchschnittswert für eine Region nutzt er dann, um den Jahresbeitrag für die Rückversicherung festzulegen. Beim Modellieren muss Fischerauch den Klimawandelim Auge behalten. Die Erderwärmung ist ein großes Thema für die Rückversicherungsbranche, denn mit ihr steigt die Chance auf extreme Wetterereignisse. Eine erhöhte Meerestemperatur beeinflusst die Aktivität von Wirbelstürmen. In Deutschland nimmt wiederum Starkregen zu, der zu Schäden an Häusern selbst in höheren Lagen führen kann. +Neben dem Klimawandel sind auch Cyberrisiken ein Zukunftsthema der Branche. "Ein Sturm passiert maximal auf einem Kontinent, Cyberkriminalität und -terrorismus könnten das erste weltweite Kumul-Ereignis sein", sagt Markus Brück. Bei seiner Rückversicherung wurde deswegen bereits ein Cybermodell entwickelt. "Vernetzung allgemein ist sicherlich die Herausforderung der Zeit. Neben Serverausfällenund Hackerangriffenbetrifft das auch globale Lieferketten." Sind die lahmgelegt, etwa weil eine Pandemie oder ein im Suezkanal feststeckendes Schiff den Verkehr zum Erliegen bringt, drohen hohe Ausfälle. +Oder es passiert etwas, das selbst für Experten des Risikos unerwartet kommt. Für Brück war das der Terroranschlag vom 11. September 2001. "Dass das möglich ist, daran hat man im Entferntesten schon mal gedacht", sagt er. "Aber dass es wirklich eintritt, hat nicht nur die Welt, sondern auch die Rückversicherungswelt und unsere Sichtweisen auf Risiken deutlich verändert." Seitdem gibt es Spezialunternehmen für solche Fälle – aber auch öfter mal das Eingeständnis, dass man diesen Schaden einfach nicht abdecken kann. + diff --git a/fluter/wie-aus-freundschaft-geld-gemacht-wird.txt b/fluter/wie-aus-freundschaft-geld-gemacht-wird.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3d1106b90e4d7a0edab2603c84fdb3f97879eba4 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-aus-freundschaft-geld-gemacht-wird.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Meine Freunde und ich gehören zu einer Generation, für die Kaufempfehlungen schon immer (oder zumindest seitdem wir genug Geld verdienen) aus dem Internet kamen. Indem wir teilen, kommentieren, bewerten und empfehlen, sind wir Teil dieses Werbesystems –bewusst oder unbewusst. 87 Prozent der 18-bis 24-jährigen Deutschen empfehlen Produkte und Marken in sozialen Medien weiter. +Empfehlungsmarketing nennen Unternehmen das. Im Englischen: Word-of-Mouth-Marketing. Was ihre Kunden im Internet über sie sagen und wie sie ihre Produkte bewerten, entscheidet heutzutage über Erfolg oder Nichterfolg einer Marke. Denn genau dort holen sich die Menschen ihre Informationen: 91 Prozent der deutschen Internetnutzer suchen online nach Waren und Dienstleistungen. Und bei Kaufentscheidungen ist die Meinung anderer längst viel wichtiger als klassische Anzeigen in Printmedien, im Fernsehenoder auf Onlinebannern: Einer Studie aus dem Jahr 2015 zufolge verlassen sich 78 Prozent der befragten Deutschen auf die Empfehlung von Freunden und Bekannten und immer noch 62 Prozent auf die Bewertungen anderer Konsumenten im Internet. +Gerade in einer Zeit, in der die Angebots-und Informationswelten immer unübersichtlicher werden, ist Vertrauen eine wichtige Währung. Das zeigen auch wissenschaftliche Untersuchungen zur Wirkung von sozialen Medien auf unser Konsumverhalten: Wenn wir einer Empfehlung vertrauen, wenn sie also glaubhaft oder neutral auf uns wirkt, dann steigt unsere Kaufabsicht signifikant an. +Und genau hier kommen unsere Kontakte in den sozialen Medien ins Spiel: all die Freunde, Nachbarn und Kollegen, aber auch Influencer und Promis, denen wir auf Facebook, Twitter und Instagram folgen. Das wissen auch die Unternehmen. Ihre Marketingstrategien auf private Onlinebeziehungen zu konzentrieren ist kostengünstiger, als Millionen in teure Werbekampagnen zu stecken oder ganze Großstädte zu plakatieren. Und es gilt auch als die wirkungsvollste Form der Neukundengewinnung. +Schafft es ein Unternehmen, die eigene Weiterempfehlungsrate um nur zehn Prozent zu erhöhen, kann das zu einem Umsatzgewinn von bis zu 1,5 Prozent führen. Wie viel Geld jedes Jahr durch diese Form des Marketings umgesetzt wird, dazu gibt es verschiedene Schätzungen. Die "Word of Mouth Marketing Association" spricht von insgesamt sechs Billionen US-Dollar. +Allein auf Facebook werden täglich mehr als drei Milliarden Likes vergeben. Der Durchschnitts-User verteilt jeden Monat zehn Likes. Je mehr man als Unternehmen davon abgreift, desto besser für den Marktwert: Dieser erhöhte sich schon 2013 bei großen Marken im Durchschnitt um 174 US-Dollar je Facebook-Fan. +Aber warum machen wir das eigentlich? Warum versenden wir Links zu Interior-Stores, posten auf Instagram unsere neuen Sneaker beim Sonntagsspaziergang und werben mit unseren Likes für Fernsehshows? Warum schreiben wir bei Amazon-Bewertungen unter antihaftversiegelte Aluminiumpfannen und raten Freundinnen zu einer bestimmten Zyklus-App?Was treibt uns dazu? +Erstens meinen wir das natürlich gut. Wir helfen unseren Freunden gern dabei, sich einen Durchblick zu verschaffen, weil wir wissen, wie dankbar wir dafür manchmal selbst in einer übersättigten Warenwelt sind. Daneben stillt das Weiterempfehlen auch unser Mitteilungs-und Selbstdarstellungsbedürfnis: Uns selbst im Kontext bestimmter Produkte zu präsentieren verleiht uns Persönlichkeit und Coolness, weist uns als Insider oder als Teileiner bestimmten Szeneaus. Und wir verteilen Likes, weil wir selbst welche bekommen wollen. Geben und nehmen, die Abwägung von Wohlwollen und Nützlichkeit. +Die Unternehmen forcieren dieses Verhalten, wo sie nur können: Sie interagieren mit den Kunden, also uns, schenken uns Aufmerksamkeit, fordern uns gezielt zum Bewerten auf ("Deine Meinung ist uns wichtig!") und belohnen uns, wenn wir Freunde anwerben. +Aber wie vertrauenswürdig sind die Tipps unserer Social-Media-Freunde, wenn man ihr Bedürfnis nach Selbstdarstellung einbezieht? Was sagt es mir über eine Freundin, dass sie einen Post über die Soja-Bolognese einer Biomarke gelikt hat? Dass sie ihr schmeckt? Oder viel eher, dass sie sich für all die Aspekte, die da mitschwingen – Gesundheit, Lifestyle, Tierschutz – eine Bestätigung wünscht? Noch verzwickter wird es mit der digitalen Mundpropaganda,weil Unternehmen zum Teil Blogger und Influencer für deren Empfehlungen bezahlenund sie sich so zunutze machen. Wenn die dann auf ihren YouTube-Channels und Instagram-Accountsvon einem Auto oder einer veganen Hautcreme schwärmen, fühlt sich das für die meisten Follower trotzdem an wie der Tipp eines guten Freundes. + diff --git a/fluter/wie-beeinflusst-digitale-revolution-unser-leben.txt b/fluter/wie-beeinflusst-digitale-revolution-unser-leben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..10797bd1400be2973e7252bedd29793e7a456c62 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-beeinflusst-digitale-revolution-unser-leben.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Ob und wie sehr man sich darauf freuen sollte, testet jeweils Moderatorin Helen Fares. Während der sieben Folgen steuert sie zum Beispiel eine Drohne mit ihren Gedanken, schaut zu, wie ein Pornostar Sex mit einem Roboter hat, singt vor einemVirtual-Reality-Publikum und testet, ob sie ihre beste Freundin auch als Hologramm noch gut findet. +Eine der Fragen, denen Helen stellvertretend für uns nachgeht: Sind wir bald alle mit künstlichen Intelligenzen befreundet oder sogar in romantischen Beziehungen mit ihnen? In mancher Hinsicht wäre das natürlich sehr praktisch: Computer versuchen es einem immer recht zu machen, sie beschweren sich nicht, wenn man mal keine Zeit hat, und der Wunschmann oder die Wunschfrau lässt sich genau so designen, wie man ihn oder sie am liebsten hat. +Ein Land, in dem das schon seit ein paar Jahren in ist, ist Japan. Dort hat man das Prinzip Tamagotchi von Haustieren längst auf Menschen übertragen: So wie die Japanerin "Lisa", die nur noch mit künstlichen Intelligenzen befreundet ist. Wenn sie dann doch mal menschlichen Kontakt braucht, mietet sie einfach einen Tag lang eine Freundin. +Ähnlich bemerkenswert wie Lisas Sozialleben ist das eines jungen japanischen Mannes, der behauptet, dass die Transformers-ähnliche Actionfigur Gundam sein bester Freund sei. Chatfreundschaften unterhält er nur mit intelligenten Bots. Menschen machen ihm Angst, besonders Frauen. +Das Tinderdate wohnt am anderen Ende der Stadt? No Problemo – in Zukunft muss keiner mehr sein Haus verlassen + + +Chatbots haben in den letzten Jahren beeindruckende Fortschritte gemacht. Im chinesischen Messenger WeChat sind Chatbots zum Beispiel schon ganz normal und helfen beim Shoppen. Wir kennen Gespräche mit ihnen aber hauptsächlich von "Siri", "Okay Google" und Co.Und die sind meistens eher mühsam,wenn sie sich nicht auf ganz Wesentliches beschränken: "Mama anrufen!" Da fragt man sich womöglich, ob die beiden Japaner, die "Homo Digitalis" da porträtiert, nicht vielleicht einen an der Klatsche haben. +Ziemlich schaurig sind dann aber die DNA-Experimente, die Forscher heute mitder DNA-Schere CRISPRdurchführen können: Im Labor des Ars Electronica Futurelab in Linz wird Helens DNA mit der einer Qualle gemischt. Die Moderatorin muss dafür einfach in ein Röhrchen spucken, dazu kommt die Quallen-DNA. Am Ende kommt alles in einen seltsamen Kasten, der Geräusche von sich gibt wie ein Mixer – und fertig. +Jetzt müsse man die Mix-DNA nur wieder in Helens Körper zurückspritzen, sagt der Experte.Mit dieser Technik ist es schon heute möglich, Kaninchen zu züchten, die im Dunkeln grün leuchten. Theoretisch sind solche Experimente auch mit Menschen machbar. Praktisch spricht aber für viele Menschen einiges dagegen: Menschenrechte zum Beispiel. +Rund um die Gentechnik-Debatte stellt sich eine ganze Menge ethischer Fragen: Wer wird es sich leisten können, sein Erbgut zu optimieren? Wer entscheidet darüber, was wünschenswerte Merkmale sind? Wird es eine Art "Übermensch" geben, der nicht mehr altert? Was passiert mit der Idee einer pluralen Gesellschaft? Welche unerwünschten Nebenwirkungen könnte es geben? Darüber erfahren wir in "Homo Digitalis" recht wenig – die zehn Minuten, die für jedes Thema angesetzt sind, lassen auch kaum Platz dafür. +Vieles, das "Homo Digitalis" vorstellt, hat man schon anderswo gesehen. Die Webdoku bekommt allerdings Fleißpunkte dafür, so ziemlich alle heute absehbaren Auswirkungen der Digitalisierung einmal kurz anzureißen. Für einen kurzen Überblick, der nicht wehtut, ist das genug. Aber so fancy die Ausstattung des Ars-Electronica-Labors auch sein mag – wer Lust auf Zukunftsvisionen hat, der ist von dem, was man heute in Dokus zeigen kann, vermutlich eher enttäuscht. Science-Fiction-Filme und Serien sind da besser geeignet: Holodeck? Gibt's bei "Star-Trek" und sieht deutlich besser aus als die Visualisierung heutiger VR-Brillen. Roboter? Sind bei "Blade Runner" und "Terminator" irgendwie cooler als im echten Leben. Und die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz werden bei "Her" und "Ex Machina" glaubhaft auf die Spitze getrieben. Wer übrigens ohnehin davon überzeugt ist, dass Computer unser Untergang sein werden, der ist bei der britischen Science-Fiction-Serie "Black Mirror" deutlich besser aufgehoben. + diff --git a/fluter/wie-bekommt-man-von-anderen-respekt.txt b/fluter/wie-bekommt-man-von-anderen-respekt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b9a286a0ee7276487fea5b8f945b974234fe4bcb --- /dev/null +++ b/fluter/wie-bekommt-man-von-anderen-respekt.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Warum ist Respekt so wichtig für den Zusammenhalt in der Gesellschaft? +Wer respektvoll behandelt wird, hat das Gefühl, nicht übergangen zu werden, ernst genommen und gehört zu werden. Es ist ein grundlegender Wert unseres Miteinanders und ermöglicht Autonomie, Partizipation und die Identifikation als gemeinsame Gruppe. Respekt, und auch andere Formen sozialer Anerkennung, prägen unser Selbstbild von frühester Kindheit an und sind für eine gesunde Identitätsentwicklung wichtig. +Warum bekommen manche Menschen mehr und manche weniger Respekt? +Wer von "Respektsperson" spricht, meint eine Definition von Respekt, die Leistung oder Autorität zugrunde legt. Der Bundespräsident, eine Polizistin oder ein Lehrer erhält zum Beispiel Anerkennung für ihre besondere Leistung oder Rolle. Gleichheitsbasierter Respekt sollte hingegen nicht unterschiedlich verteilt sein, da er sich auf die Anerkennung von grundlegenden Rechten bezieht. In einer gerechten Gesellschaft sollte jeder das Gefühl bekommen: "Du bist gleichberechtigt und wirst ernst genommen." +Darf ich denn auch mal jemanden richtig blöd finden und nicht respektieren? +Respekt heißt doch nicht, gleicher Meinung sein zu müssen und sich sympathisch zu finden! Ich kann ablehnen, für was du stehst, und schlecht finden, was du machst oder denkst. Aber ich sehe dich trotzdem als gleichberechtigten Teil der Gesellschaft an und gestehe dir zu, deine Meinung kundzutun. Was dabei herauskommt, nennen wir Toleranz: Toleranz ist Ablehnung, die durch Respekt gebändigt wurde. +Aber ich kann doch niemanden respektieren, der andere schlecht behandelt. Sollte nicht auch gelten:  Keine Toleranz der Intoleranz? +Toleranz kann durchaus da aufhören, wo demokratische Grundwerte angegriffen werden, dann würde man von berechtigter Zurückweisung sprechen. Es ist ein Spannungsfeld, in das Menschen geraten können, und es ist Aufgabe der Gesellschaft, die Regeln festzulegen, ab wann ein bestimmtes Verhalten nicht mehr tolerierbar ist. +Was kann man dagegen tun, wenn einem wenig Respekt entgegengebracht wird? +Wichtig ist, seine Forderungen zu artikulieren. Bei Respektlosigkeiten immer zu schweigen, ist problematisch für die Psyche. Meine Forschungen haben gezeigt, dass Menschen mit hohem Selbstrespekt eher für ihre Rechte eintreten. +Was bedeutet Selbstrespekt? +Es ist die Überzeugung, wirklich grundlegend gleichberechtigt und gleichwertig zu sein. Menschen, die viel Respekt erfahren, bilden ihn stärker aus. Selbstrespekt entsteht durch die Internalisierung von Respekterfahrungen und ermöglicht selbstbehauptendes Verhalten. Wenn ich zum Beispiel einer Minderheit angehöre und aufgrund meiner Hautfarbe diskriminiert werde, ist hoher Selbstrespekt förderlich, um etwas dagegen zu sagen. Menschen, die wenig Achtung erfahren haben, können dieses Selbstbild nicht verinnerlichen und tun sich schwer damit, für ihre Rechte einzutreten oder einfach mal nur "nein" zu sagen. Erst ein respektvolleres Umfeld kann sie mit den Fähigkeiten ausstatten, irgendwann besser für ihre Rechte eintreten zu können. +Die Black-Power-Bewegung wählte in den 1960er-Jahren Aretha Franklins "Respect" zu ihrer inoffiziellen Hymne. Zuletzt forderten unter #MeToo Frauen und unter #MeTwo Migranten mehr Respekt ein. +Diese Bewegungen haben gegen respektlose Behandlung und für mehr Gleichberechtigung gekämpft. Der Begriff Res- pekt passt dort also ganz gut. Zumindest dann, wenn der Kampf nicht vor allem darauf ausgelegt ist, anderen zu schaden. Bei der #MeToo-Bewegung gab es zum Beispiel einige Frauen, die nicht nur mehr Respekt und Rechte für Frauen wollten, sondern vor allem, dass alle Männer einen auf den Deckel bekommen. Das hat dann weniger etwas mit dem Einfordern von Respekt zu tun, als vielmehr mit Anspruchsdenken und Racheverhalten. +Aber es ist doch schon so, dass Frauen mit weniger Respekt begegnet wird. +Es ist richtig, dass Frauen in vielen Kontexten nicht gleichberechtigt werden. Klassische Rollenbilder legen sie immer noch oft auf bestimmte Bereiche fest und erschweren so den Zugang zu anderen. Übrigens leiden auch Männer unter den Geschlechterrollenbildern. So werden Frauen aus männertypischen und Männer aus frauentypischen Berufen ausgeschlossen – unabhängig davon, ob sie als Personen für diesen Beruf geeignet wären. Es hängt sehr davon ab, welche Möglichkeiten im Alltag vorgelebt werden. Wenn in Filmen meist der Mann der Held und die Frau nur die schöne Begleitung ist, werden dadurch bestimmte Stereotype verstärkt. Frauen sind eher passiv, Männer die Entscheider, die zum Beispiel für Führungspositionen in Frage kommen. +Wenn man sich die Beschimpfungen und die Erregungen auf Twitter oder Facebook anschaut, hat man den Eindruck, dass die Respektlosigkeiten zunehmen. +Wir leben in einer Zeit, in der vielfältige soziale und politische Positionen aufeinandertreffen und entsprechend häufig gegensätzliche Meinungen vertreten werden. Die Anonymität des Internets erleichtert respektloses Verhalten, da man sich dort nicht in die Augen schauen muss. Aber einige Tendenzen zeigen sich auch offline. Der Ton in gesellschaftlichen Debatten wird rauer und die Grenze des Respekts häufiger überschritten. +Selbst Politiker gehen in Debatten im Bundestag oder in politischen Talkshows oft respektlos miteinander um. +Ich habe den Eindruck, dass einige Politiker Respektlosigkeit quasi als Strategie der politischen Auseinandersetzung nutzen. Klar, sie sind unterschiedlicher Meinung zu Themen, aber sie sollten sich an Normen und Regeln halten und sich als Interaktionspartner/innen respektieren. So ist ein demokratischer Austausch möglich. +Gibt es auch Beispiele für mehr Respekt? +Seit letztem Jahr sind Homosexuelle bei der Ehe gleichberechtigt. Der Kampf um Anerkennung ist ein ständiger Aushandlungsprozess: Wer soll zur Gesellschaft dazugehören, wem sollen gleiche Rechte zugestanden werden? Es muss immer wieder neu hinterfragt werden, wie viel Respekt welche Gruppe in der Gesellschaft bekommt. Vor 120 Jahren konnten Frauen nicht studieren und wählen. Da hat der Kampf für gleiche Rechte sehr viel gebracht. +Welche Rolle spielt Respekt in einer Einwanderungsgesellschaft? +Gegenseitiger Respekt ist eine wichtige Grundlage, um zu einer gemeinsamen Identität zu kommen. Wir haben unser Grundgesetz und unseren Rechtsstaat als Basis. Die Gesellschaft kann erwarten, dass das respektiert wird und die Gesetze befolgt werden. In die Gesellschaft kommen dabei auch Einflüsse, die man noch nicht kannte und an die man sich gewöhnen muss. Toleranz, und damit auch Respekt, erfordert das Aushalten und Akzeptieren von Zumutungen. Das Gute daran: Wenn ich Respekt bekomme, bin ich eher bereit, ihn zu geben. Aber jemand muss den Anfang machen. +Mündiger Bürger oder mündige Bürgerin kann nur sein, wer gesell- schaftliche Anerkennung erfahren hat. Wie diese entsteht und wie sie sich äußert, das untersucht Dr. phil. Daniela Renger mit ihren Studenten an der Christian- Albrechts-Universität zu Kiel. diff --git a/fluter/wie-der-rio-bogota-in-kolumbien-gerettet-werden-soll.txt b/fluter/wie-der-rio-bogota-in-kolumbien-gerettet-werden-soll.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..082a02102897e87ae9083f3110935ab4e2b503fa --- /dev/null +++ b/fluter/wie-der-rio-bogota-in-kolumbien-gerettet-werden-soll.txt @@ -0,0 +1,56 @@ + +Die erste Wasserprobe haben die Autor*innen an der Quelle des Río entnommen. Die zweite ca. 80 Kilometer später, wenn er Bogotá durchflossen hat + + +Wenn der Fluss 80 Kilometer weiter südlich Bogotá erreicht, ist sein Wasser tot, das heißt: fast ohne Sauerstoff. Keine Fische schwimmen, keine Pflanzen wachsen darin. Dafür entströmt ihm ein Geruch von Fäkalien und Chemie, je nach Temperatur und Sonneneinstrahlung süßlich bis kopfweherzeugend. Gäbe es eine Steigerung von tot, so könnte man sagen: Bogotá macht den Fluss noch toter. Die kolumbianische Hauptstadt hat mehr als neun Millionen Einwohner*innen undeine einzige uralte Kläranlage. Diese behandelt von dem Abwasser, das Menschen und Industrie erzeugen, nur rund ein Drittel – und das mangelhaft. Über die drei Stadtflüsse, die in den Río Bogotá münden, landen tonnenweise Müll in ihm. Somit ist die Hauptstadt mit ihren 68 Flusskilometern für 80 Prozent der Verschmutzung verantwortlich. + +Kahl, kalt, klar: Über der Baumgrenze, auf 3.300 Meter Höhe, entspringt der Río Bogotá glasklar in den Anden +Das geht auf eine Kuhhaut: Zum Färben und Gerben von Leder sind Chemikalien nötig … +… die teils giftig für Natur und Menschen sind +Oft landen die Abwässer der Gerbereien direkt im Fluss. Dadurch ist der Río Bogotá kurz hinter seiner Quelle bereits eine Kloake +Villapinzón, elf Kilometer südlich der Quelle, zählt 21.000 Einwohner*innen und 120 Gerbereien. Nur in der Hauptstadt Bogotá gibt es mehr Lederbetriebe +Gina Garzón kocht das Mittagessen für ihre Familie – mit Wasser aus dem Fluss. Die Familie wohnt direkt am Ufer, 40 Kilometer vor Bogotá, und nutzt das Wasser zum Duschen, Waschen und Trinken. Vorher reinigt Garzón es mit ein paar Gramm Aluminiumsulfat +Es steht schlecht um den Fluss. Und umso wahnwitziger klingt die Vision von Bogotás Bürgermeister Enrique Peñalosa: Der Fluss, der am Rand der Stadt vorbeifließt, soll zur Entwicklungsachse der immer weiter wachsenden Metropolregion Bogotá werden. In acht Jahren, so versprach es der Bürgermeister 2017, werden darin Menschen baden, Boote schwimmen und sein Ufer zu einer 60 Kilometer langen Mischung aus Park und Promenade ausgebaut sein. Das Ganze praktisch zum Nulltarif: Schicke Wohnungen und steigende Grundstückspreise würden das Mammutprojekt gegenfinanzieren. + +Wie in London, Amsterdam oder Zürich: Bogotás Bürgermeister Enrique Peñalosa träumt von einer Stadt, deren Herz der Fluss ist. In dem Werbe-Video von 2015 erklärt er seine Vision für die "Ciudad Río", den neuen Stadtteil, der am entgifteten Río entstehen soll – mit Promenaden, Radwegen, Booten und noblen Wohngebieten + +Das Entwicklungsprojekt ist Peñalosas Vision. Dass der Fluss sauber wird, seine Pflicht: Bereits 2004 wurden die Stadt und einige Behörden verurteilt, weil sie die öffentlichen Gesundheitsprobleme nicht lösen. Geklagt hatte eine Gemeinde südlich von Bogotá, die massiv unter einem mit verseuchtem Flusswasser gespeisten Stausee litt. +Der Masterplan zur Flussreinigung: die alte Kläranlage vergrößern und eine neue bauen. Während die Arbeiten für die Erweiterung einigermaßen im Zeitplan liegen, wurde der Baubeginn der neuen Anlage mehrfach nach hinten geschoben. Nun soll sie 2025 fertig werden. +Für Abwasser und Kanalisation ist in Kolumbien der Staat zuständig. Das bedeutet auch: Dieser Bereich ist anfällig für Korruption, und mit den Wahlen wechseln die zuständigen Beamt*innen. Im Fall des Río Bogotá müssen zudem unterschiedliche staatliche Einrichtungen und Gemeinden über regionale Grenzen hinweg zusammenarbeiten. So kommt es zu Verzögerungen, die sich Bogotá nicht mehr leisten dürfte. + +Kein Überfluss: Bisher hat der Río Bogotá keinen guten Ruf in der Hauptstadt. An seinen Ufern leben vor allem Arme und Vertriebene, die wegen des bewaffneten Konflikts mit der FARC ihre Heimatregionen verlassen mussten +Viele der Anwohner*innen verdienten ihr Geld als Müllsammler*innen. Das Unbrauchbare landete oft im Río. Für die Aufwertung des Flusses hat die Umweltbehörde Recyclingplätze angelegt und einen Großteil der Ufer-Bewohnerschaft in ein Neubaugebiet umgesiedelt +Wollen die nur spielen? Ein Mann jagt in Bogotás Armenviertel, am Ufer des Flusses, einem Hund hinterher +Voll wetzend: In Bogotás Lederviertel bereitet ein Arbeiter sein Werkzeug vor … +… ein anderer kocht die Reste aus der Lederverarbeitung zusammen mit anderen Chemikalien auf und stellt daraus Seife her. Der flüssige Rest wird weggekippt – in den Fluss +Geldfluss: Die Umweltbehörde der Stadt lädt Journalist*innen und potenzielle Geldgeber*innen zur Infofahrt über den ausgebaggerten und verbreiterten Abschnitt des Río Bogotá ein +Für die neue Kläranlage brauche man ausländisches Knowhow, erklärt ein Mitarbeiter der Umweltbehörde. In Kolumbien gebe es keine entsprechenden Firmen +Zum Sportunterricht gehen die Schüler in den neuen Park am Flussufer. Manchmal riecht es dort so stark, dass die Schüler stinkefrei bekommen + +Die bisherigen Maßnahmen sind eher kosmetischer Natur: Tonnen von Müll und Sedimenten hat die Umweltbehörde aus dem Flussbett der Stadt gebaggert, es verbreitert und vertieft, Land gekauft und künstliche Überschwemmungsflächen geschaffen, um dem Hochwasser in der Regenzeit etwas entgegenzusetzen. Die Umweltbehörde pflanzte 120.000 Bäume, hat Menschen umgesiedelt, erste Radwege und Parkanlagen entlang des Flusses gebaut. Weil die Kläranlagen aber noch nicht fertig sind, ist das Wasser immer noch genauso dreckig wie vorher. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis sich wieder tonnenweise kontaminierter Schlamm und Müll auf seinem Grund absetzen und die Baggerei von vorne beginnen muss. +Eine mindestens ebenso große Herausforderung ist der Imagewandel. Die Ufer des Flusses sollen zur begehrten Wohngegend werden. Seit Jahrzehnten ist der Río für die Bewohner*innen Bogotás aber nicht mehr als eine verdrängte Kloake am Rande der Stadt. Dort ließen sich Arme und Menschen nieder,die der mehr als 50 Jahre währende bewaffnete Konflikt mit der FARC-Guerillaaus ihren Heimatdörfern vertrieben hatte. Viele Viertel am Fluss sind zudem gefährlich wegen der bewaffneten Banden. Fremde betreten sie selten. + + + +Bogotás Einwohner*innen atmen nicht nur die Abgase der Welt-Stau-Hauptstadt und den Gestank des Flusses weiter ein, sie ernähren sich auch von seinem Gift. Die Hochebene, auf der Bogotá liegt, gehört zu den besten Anbaugebieten des Landes. Ein Großteil des Gemüses für die Hauptstadtbewohner*innen stammt aus dem 13.140 Hektar großen Bewässerungsdistrikt La Ramada. + +Großstadtpflanzen: Ein Arbeiter in La Ramada düngt Gemüse, das mit Wasser aus dem Río bewässert und größtenteils nach Bogotá geliefert wird +Zu viele Nährstoffe: eine schöne Beschreibung für einen Fluss ohne Sauerstoff. Der invasiven Wasserpflanze "Buchón" bieten sie ideale Lebensbedingungen +Expert*innen raten dazu, das Gemüse vor dem Verzehr mit Essig oder Chlor zu waschen, um wenigstens die Keime und Parasiten zu entfernen. Salat würden Bogotáner*innen in den Restaurants selten bestellen, sagt Bauer Ramírez. "Sie sollten lieber Blumen essen!" Die wachsen ebenfalls in La Ramada, doch brauchen sie für den Export in die USA und nach Europa das grüne Umweltsiegel. "Wer das erfüllen will, verwendet kein Wasser aus dem Fluss, sondern aus dem Brunnen." So wie er und seine Frau für ihr eigenes Gemüse. In den Brunnen befinde sich immer weniger Wasser, sagt Ramírez. Für den großflächigen Anbau reiche es kaum – und überhaupt: Oft ist sogar das Grundwasser kontaminiert, auch wenn es aus mehreren Hundert Metern Tiefe geschöpft wird. + + +Luis Alejandro Camacho Botero beschäftigt sich an der Universidad de los Andes seit etwa 20 Jahren mit dem Río. Die Hoffnung, dass sein Kind das Wasser noch sauber erleben wird, hat er längst aufgegeben. Er ist nicht der einzige Wissenschaftler, der traurig klingt, wenn er über den Río spricht. Seit Jahren würden wechselnde Behördenleitungen immer neue Studien von den Unis anfordern. Sie liefern stets dasselbe ernüchternde Ergebnis: keine Verbesserung, weil viel zu wenig getan werde. Bis das Megaprojekt komplett umgesetzt ist, werden die Kläranlagen schon wieder zu klein sein. Noch mehr Menschen werden dann den Fluss verschmutzen. "Das nützt ohnehin alles wenig, wenn man nicht von oben nach unten den Fluss säubert", sagt Botero. +Ob sie das Wasser noch sauber erleben werden? Ein junges Paar sitzt auf einem Baum, den das Hochwasser zu Fall gebracht hat +Der Ort Sibaté liegt an einem Stausee, der mit dem verseuchten Wasser des Río gespeist wird. Wegen der gesundheitlichen Folgen und einer Mückenplage klagte die Gemeinde. Das Gericht verurteilte daraufhin die Verursacher: den Hauptstadtdistrikt Bogotá, seine Abwasserbetriebe, die regionale Umweltbehörde und ein Wasserkraftunternehmen +Edgar Rey arbeitet als Tagelöhner am Stausee. Wenn es heiß ist, brennen ihm abends die Augen und das Atmen fällt schwer, sagt er. Seit der See vier Mal im Jahr mit Chemikalien besprüht wird, ist zumindest die Mückenplage weg +Hat die Nase voll: Die Familie von Marta Lucía Rodríquez lebt direkt am Fluss, 40 Kilometer von der Mündung entfernt. Ihr Haus wird immer wieder überschwemmt. Die Familie hofft seit Jahren auf eine Sozialwohnung. Die öffentlichen Gelder dafür seien wegen Korruption verschwunden, klagt Rodríquez +Evidalia Torres lebt mit ihrer Familie dort, wo der Río Bogotá in den großen Río Magdalena mündet. Neben ihrem Haus führt ein Kanal entlang. Er transportiert das Abwasser des gesamten Viertels in den Fluss. Im Sommer ist der Gestank auch im Haus fast nicht auszuhalten + +Der Gerber Eduardo González, 57, versucht eine Genehmigung zu bekommen – bisher vergebens +Dort oben in Villapinzón sind auch die wenigen genehmigten Betriebe nicht ganz sauber, meint der Gerber Eduardo González. Die Tanks seien zu klein für die Menge an Chemikalien. Im Dorf erzählt man sich, dass die Betriebe zu später Stunde die Abwässer in den Fluss leiten. Der Schaum, die Farbe und der Gestank würden sie verraten. +Unter einem Blechdach vor seinem Haus hatte er eine Gerberei betrieben – bis die Umweltbehörde sie entdeckte. Mindestens zehn seiner Kollegen sitzen im Gefängnis, sagt er. Mit einer Sondergenehmigung macht González weiter. Die Abwässer holt alle paar Wochen ein Lastwagen und bringt sie nach Bogotá zur Entsorgung. Das ist teuer. Daher hat er sich mit mehreren Kollegen zusammengeschlossen und einen Investor aufgetan, der ihnen eine kleine Kläranlage finanzieren würde. "Wir haben alle Pläne eingereicht, warten aber seit drei Jahren auf die Genehmigung der Umweltbehörde, um das gesäuberte Wasser in den Fluss leiten zu dürfen", sagt er. Zuletzt hätten die Beamten alle Papiere verloren. González und seine Kollegen müssen jetzt von vorne anfangen. + + + +Einen Monat lang reisten Katharina Wojczenko und Nick Jaussi den Río Bogotá entlang. In Gachancipá, noch bevor der Fluss Bogotá erreicht, probierte Katharina das Wasser, wie es eine Familie dort täglich trinkt: nachdem sie es über Nacht mit Aluminiumsulfat gereinigt hatte. Es schmeckte erstaunlich gut. +Das Titelbild ist kurz vor der Mündung des Río Bogotá entstanden und zeigt Juan García (19). Weil die nächste Brücke zu Fuß eine Stunde entfernt ist, schwimmt er auf die andere Seite. Seine Freundin wohnt dort. diff --git a/fluter/wie-die-coronapandemie-in-filme-kommt.txt b/fluter/wie-die-coronapandemie-in-filme-kommt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..aa681eb5527e41dc79890004f2a980b69fea7891 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-die-coronapandemie-in-filme-kommt.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Die pandemische Realität, die den diesjährigen Festivalablauf dominiert, ist in den Filmen jedenfalls nur bedingt präsent. Natürlich sind Masken, die unzweifelhaften Markierungen der Gegenwart, in den Dokumentarfilmen zu sehen. Kurios wirken da im Rückblick die Bilder der ersten Corona-Wochen, wo zunächst niemand Maske trägt, aber im Minutentakt alles desinfiziert wird. Etwa in dem österreichischen Beitrag "Für die Vielen", der vor und nach dem Einbruch der Pandemie gedreht wurde und die Wiener Arbeiterkammer (AK) porträtiert, eine Institution für die Interessen von Arbeiter*innen und Angestellten. Ein faszinierend repräsentativer Blick auf die Arbeitswelt ist das, weil nicht nur die Kernfunktion der AK – persönliche Beratung vor Ort – jäh unterbrochen wird, sondern weil die Arbeitsrechtler*innen dort sofort die fatalen Folgen auf dem gesamten Arbeitsmarkt beobachten: Löhne werden nicht ausgezahlt, die Arbeitslosigkeit nimmt zu, Mütter werdendurch die Situation benachteiligt. +Welche Spuren aber hinterlässt die Pandemie im Spielfilm? Bis zum jetzigen Zeitpunkt haben sehr wenige Werke im Kino oder auf den großen Streamingdiensten von den Umbrüchen der vergangenen zwei Jahre erzählt. Das hat Gründe. Einerseits sind manche Produktionen, die heute veröffentlicht werden, noch vor Corona abgedreht worden. Andererseits ist die Pandemie aber auch ein leidiges Thema – und Masken sind nicht unbedingt förderlich für große Leinwandgefühle. Der ungarische Filmtheoretiker Béla Balázs hat vor knapp 100 Jahren schon geschrieben, dass die Großaufnahme eines Gesichts das ganze Drama enthalte. Wie soll das funktionieren, wenn man nur die Augen der Darsteller*innen sehen kann? +In dieser Hinsicht zeigen sich auf der Berlinale drei Arten von Filmen. Die meisten Arbeiten, die im Hier und Jetzt spielen, ignorieren das Thema. In anderen Filmen, wie im südkoreanischen Wettbewerbsbeitrag "The Novelist's Film", sind Masken bloß beiläufige Requisiten der Gegenwart. Ein paar Werke aber interessieren sich ganz wesentlich für die Absurditäten und Verstörungen der Pandemie-Erfahrung. Sie fragen nach den Auswirkungen für Arbeit und Soziales, Familie und Liebe. Sie betonen, trotz aller Unterschiede zwischen den Ländern, die universellen Emotionen der sozialen Distanz. Und sie tragen der Tatsache Rechnung, dass der Verzicht auf Begegnungen fürjunge Menschen besonders traumatisch ist. "Ich will etwas in die Luft sprengen und jemanden umbringen!", schreit die jugendliche Protagonistin des französischen Films "Coma" einmal allein in ihrem Zimmer. +Der Film von Bertrand Bonello und die argentinische Produktion "The Middle Ages" (Regie: Alejo Moguillansky, Luciana Acuña) sind vor ähnlichen Hintergründen entstanden. Die staatlich verordneten Lockdowns, die sowohl in Frankreich als auch in Argentinien sehr streng ausgelegt wurden, werden hier alsdieeinschneidende Erfahrung dargestellt. In beiden Fällen fiktionalisieren die Filmschaffenden jeweils die Perspektive der eigenen Kinder: Bonello lässt seine Tochter in "Coma" von der Schauspielerin Louise Labeque verkörpern und in Tagträume und Influencerwelten abdriften. In "The Middle Ages" spielt die zehnjährige Cleo, das tatsächliche Kind des Regieduos, selbst die Hauptrolle. +Langeweile, Frust, die ewigen Videokonferenzen: Das alles erscheint in beiden Filmen in einer antirealistischen, grotesk zugespitzten Form. So kann sich Cleo kaum aufsHomeschoolingkonzentrieren, weil ihre Mutter, eine im Lockdown beschäftigungslose Tänzerin, in Slapstickmanier durch die Wohnung springt. Samuel Becketts "Warten auf Godot" dient in "The Middle Ages" als Folie für den ewig gleichen Pandemie-Alltag. Den Klassiker des absurden Theaters liest Cleo gemeinsam mit demPaketzustellerMoto, dem sie heimlich den Hausstand ihrer Eltern verkauft. Der scheinbar leichtfüßigen Lockdown-Komödie sind große Fragen eingeschrieben: Gefährdet die Pandemie nicht nur die ökonomische Existenz der Künstlerfamilie, sondern auch den Sinn ihrer Arbeit, wenn es für Kunst keine Bühne mehr gibt? +Leicht surrealistisch entrückt ist die pandemische Lage auch in "Three Tidy Tigers Tied a Tie Tighter". Aus Schutz vor einer "goldenen" Virusvariante – sie soll Gedächtnisverlust hervorrufen – laufen manche Leute in einem Ganzkörper-Gummiball durch die Stadt, und Desinfektionsmittel sprüht man sich hier in den Mund. Der Film von Gustavo Vinagre erzählt von der Sehnsucht nach körperlichen Begegnungen aus der Perspektive von drei jungen queeren Menschen, die sich durch São Paulo treiben lassen. +So lässt sich die Hauptfigur Jonata an einem Straßenstand die Augen schminken, damit über der Maske wenigstens eine Gesichtspartie zur Geltung kommt, und schmiegt sich Rücken an Rücken an einen Fremden auf der Straße ("Küssen dürfen wir ja nicht"). Aus dem Vergleich mit dem HI-Virus, mit dem Betroffene, wie in der Geschichte Jonata, heute weitgehend ohne Einschränkungen leben können, schöpft der Film auch eine Vision für das Ende der aktuellen Corona-Pandemie. "Nicht du hast das Virus vergessen", sagt eine Ärztin am Schluss des Films zu Jonata. "Das Virus hat dich vergessen." + +Titelbild: Three Tidy Tigers / Cris Lyra diff --git a/fluter/wie-die-tuerkische-waehrungskrise-zustande-gekommen-ist.txt b/fluter/wie-die-tuerkische-waehrungskrise-zustande-gekommen-ist.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..53ebe05971debb1901b1959a2b6485a7e9af9c22 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-die-tuerkische-waehrungskrise-zustande-gekommen-ist.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Die alleinige Verantwortung tragen die USA nicht an der derzeitigen Währungskrise, aber sie spielen tatsächlich eine gewisse Rolle. Als Auslöser für den extremen Wertverfall der Lira sehen Erdoğan und viele seiner Anhänger die amerikanischen Strafzölle auf Stahl- und Aluminiumimporte aus der Türkei. Die hatten die USA verhängt, nachdem ihre Forderung zurückgewiesen worden war, den in der Türkei festgehaltenen (seit kurzem steht er nur noch unter Hausarrest) evangelikalen Pastor Andrew Brunson freizulassen. Er steht seit Oktober 2016 unter Spionage- und Terrorverdacht. Erdoğan fordert im Austausch für Brunson die Auslieferung von Fethullah Gülen, einem ehemaligen Weggefährten, den er inzwischen zum Staatsfeind erklärt hat. Der lebt in den USA im Exil und wird von der türkischen Regierung für den missglückten Putschversuch im Sommer 2016 verantwortlich gemacht. +Was viele nicht wissen: Unabhängig von den jüngsten Querelen zwischen der Türkei und den USA gibt es eine längere Vorgeschichte der aktuellen Währungskrise. Die Fehlentwicklungen, die dazu geführt haben, sind schon seit Jahren bekannt. Auch infolge des Konflikts mit den USA haben nun Kreditgeber und Investoren das Vertrauen in die Wirtschaftspolitik der türkischen Regierung verloren. Die türkische Wirtschaft wird oft nicht mehr für eine profitable Anlegeoption gehalten. +Die Lira-Krise dauert bereits über neun Monate an. Ende 2017 stieg die Inflation auf 14 Prozent und erreichte damit den höchsten Wert seit der Weltwirtschaftskrise 2007. Während die Lira zuerst nur leicht an Wert verlor, sorgte Anfang April 2018 die Entscheidung des Staatspräsidenten Erdoğan gegen eine Leitzinserhöhung für eine Eskalation. Mit dieser Entscheidung verletzte Erdoğan faktisch die Unabhängigkeit der türkischen Zentralbank. Mitte Mai 2018 gab Erdoğan nach, und die Zentralbank durfte die Leitzinsen von 13,5 Prozent auf 16,5 Prozent erhöhen. Dies sorgte zwar für eine kurze Entspannung, aber Äußerungen von Erdoğan, wonach der Leitzins wieder gesenkt werden sollte, ließen die Lira erneut abstürzen. Zum vorläufigen Höhepunkt der Lira-Krise kam es am 10. August 2018, als die USA die Strafzölle gegen die Türkei verhängten. +Dem scheinbar ungebrochenen Wirtschaftswachstum, das der jetzigen Krise über viele Jahre vorausging, fehlte eine solide Grundlage. Es beruhte zum Teil nur darauf, dass es anderswo größere ökonomische Krisen gab. Kredite und Investoren wanderten von Ländern wie Griechenland oder Portugal in die Türkei ab, weil sie glaubten, ihr Geld dort profitabler anlegen zu können. Weil der Stern anderer Volkswirtschaften verblasste, erschien der türkische Halbmond für ein paar Jahre heller, als er wirklich war. Denn diese finanziellen Ressourcen wurden in der Türkei nicht genutzt, um die Wirtschaft so umzugestalten, dass profitable Sektoren gestärkt werden. Zu viel Geld verschwand im Konsum und in zahlreichen Großbauprojekten. All den Krediten und Investitionen zum Trotz blieb das Außenhandelsdefizit der Türkei hoch: Das Land musste weiterhin deutlich mehr Güter importieren, als es selbst ins Ausland exportierte. +Die Stabilität war trügerisch. Solange Investoren darauf vertrauen konnten, dass sich in der türkischen Wirtschaftspolitik so schnell nicht viel änderte, blieb die Schieflage weitgehend unbeachtet. Auch der zunehmend autoritäre Kurs der türkischen Regierung, der sich spätestens 2013 mit der brutalen Niederschlagung der Gezi-Proteste zeigte, führte nicht dazu, dass Investoren der Türkei den Rücken zukehrten. + +Nach dem Putschversuch im Juli 2016 gerieten jedoch viele Unternehmen mit Verbindungen zur dafür verantwortlich gemachten Gülen-Bewegung (dessen geistliches Oberhaupt Gülen ist) ins Visier der Regierung. Sie wurden beschlagnahmt oder unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt, Gülen-nahe Unternehmer wurden verhaftet oder mussten ins Exil. Gleichzeitig verschärfte die Regierung ihre Kritik an westlichen Staaten, unter anderem, um so mehr konservative Wählerstimmen für sich zu gewinnen. Doch genau diese antiwestliche Rhetorik wird nun zu einem Problem für die Regierung, weil die Türkei (anders als in der Erzählung der AKP) auf westliche Investitionen und auf die politische Zusammenarbeit mit dem Westen angewiesen ist. So sorgen dieselben teils verschwörungstheoretischen, teils antiwestlichen Erzählungen, mit denen die türkische Regierung innenpolitisch punkten konnte, nun dafür, dass die nötige wirtschaftliche Hilfe aus dem Ausland vorerst ausbleibt. +Um die Lira-Krise zu beenden, wäre wahrscheinlich eine deutliche Leitzinserhöhung notwendig. Dies wird aber von Staatspräsident Erdoğan abgelehnt. Am 13. September verkündete die Notenbank wieder Erwarten dennoch, dass sie den Leitzins von 17,75 auf 24 Prozent anhebt. Ob dies der Befreiungsschlag für die Lira sein könnte, bleibt abzuwarten. Schließlich besteht auch weiterhin das Problem, dass das Wachstum schwach ist. + + diff --git a/fluter/wie-drohnen-ueberwachung-veraendern.txt b/fluter/wie-drohnen-ueberwachung-veraendern.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7268f4fceb2401c48f3bd447f5835d0d55efd7b6 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-drohnen-ueberwachung-veraendern.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Tom Hillenbrand ist Journalist und Schriftsteller. Er beschäftigt sich vor allem mit dem Einfluss von Technologie auf die Gesellschaft, mit Drohnen, Kampfrobotern, Algorithmen und künstlicher Intelligenz. Außerdem hat er 2014 mit "Drachenväter" ein Buch über Rollenspiele herausgebracht. +Vor drei Jahren hat die Deutsche Bahn für Empörung gesorgt als herauskam, dass sie Graffitisprayer mit Drohnen überwacht. Ist das ein Einzelfall? +Es kann durchaus sein, dass große Unternehmen auf ihrem Betriebsgelände Drohnen einsetzen, aber wissen tun wir das nicht. Die Rechtslage ist ja momentan so, dass man über seinem Privatgelände Drohnen steigen lassen darf, ohne irgendjemanden darüber informieren zu müssen. +Was ist mit NSA, BND & Co.? In welchem Umfang setzen Geheimdienste bereits auf Überwachungsdrohnen? +Das ist schwer zu sagen. Aber eines scheint sicher: Wenn Geheimdienste Drohnen einsetzen, dann nicht diese kleinen Drohnen, die in niedriger Höhe fliegen – das würde bei der Bevölkerung keine Begeisterungsstürme auslösen. Für Geheimdienste sind eher Fluggeräte interessant, die recht groß sind, dafür aber weit über unseren Köpfen operieren. Diese Drohnen erinnern an jene berüchtigten Predator-Kriegsdrohen [eine Aufklärungs- und Kriegsdrohne, die vor allem von der US-Armee eingesetzt wird, Anm. d. Red.], die wir aus Einsätzen in Afghanistan und anderen Krisengebieten kennen. Durch ihre hochauflösenden Kameras sind diese Drohnen in der Lage größere Bereiche, etwa eine Stadt von der Größe Amsterdams, abzufilmen. Da kann man dann reinzoomen und gucken, wer sich wann wo aufgehalten hat. Und das ist nicht etwa Science Fiction, das gibt es jetzt schon. +Viel ist zurzeit ja die Rede von künstlicher Intelligenz, es wird an selbstfahrenden Autos geforscht und an Chatbots, die uns im Alltag schlaue Ratschläge erteilen sollen. Wie klug sind Überwachungsdrohnen? +Künstliche Intelligenz ist auf jeden Fall ein Schwerpunkt der Entwicklung. Aus der Sicht von Geheimdiensten sind Drohen ja vor allem Datenstaubsauger: Es geht weniger um aktuelle Livebilder als darum, erst einmal alles zu sammeln und das ganze dann per Big Dataauszuwerten. Wir wissen heute alle, dass man das Internet abschnorcheln kann. Für die reale Welt galt das bislang noch nicht. Wer nicht abgehört werden will, kann heute immer noch in den Stadtwald gehen. Hier schließt die Drohnen eine Überwachungslücke. Würde man die Daten sehr vieler Drohnen auslesen, dann bekäme man eine Art "Google Street View" auf Steroiden. +Wenn es um Kampfdrohnen geht, wird ja viel über Autonomie diskutiert. Sprich: Darf eine Maschine eigenständig töten, muss ein Mensch den Auslöser drücken, muss der Präsident vorher unterschreiben und so weiter. Wie ist das denn bei Überwachungsdrohnen? +Das ist eine zentrale Frage. Nehmen wir das Beispiel Frankreich: Dort zählt das französische Innenministerium über achttausend sogenannterGefährder, also Menschen, die als radikal islamisiert gelten. Um jeden einzelnen von ihnen zu überwachen, bräuchte man wohl Tausende von Polizisten. Das ist kaum machbar. Für solche Fälle werden autonom agierende Überwachungsdrohnen natürlich zu einer Art Heilsversprechen: Sie überwachen Personen eigenständig und geben Alarm, sobald die Algorithmen etwas Auffälliges bemerken. Aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden ist das so praktisch, dass ich mir sicher bin: Das wird kommen! +Terroranschläge zu verhindern, das klingt ja erstmal positiv. Wo ist der Haken? +Bei den aktuellen Terroranschlägen hat sich gezeigt, dass viele der Attentäter bereits aktenkundig waren. Lückenlos observieren konnte man sie allerdings nicht. In dieser jetzigen Situation fällt es deshalb wahrscheinlich selbst Erzliberalen schwer, Überwachung per Drohne zu kritisieren. Die Gefahr ist, dass immer mehr Personengruppen überwacht werden, dass man sagt: "Okay, die Terroristen haben wir im Griff. Aber was ist mit Mördern? Was mit den Bankräubern? Was mit den Falschparkern?" Diese Liste könnte man unendlich weiterspinnen und irgendwann ist plötzlich jeder betroffen. Das wäre es dann mit den bürgerlichen Freiheitsrechten. +Wie kann man sich gegen absolute Überwachung wehren? +Es wird mit Sicherheit bald gut funktionierende Drohnenabwehrsysteme geben. Dennoch wird es schwierig werden, dem Ganzen zu entrinnen. Eric Schmidt, ehemaliger Geschäftsführer von Google, hat ja mal richtig Ärger bekommen als er sagte: "Wenn Sie nicht wollen, dass jemand mitbekommt, was sie tun, dann sollten sie es nicht tun". Ich glaube, sehr viel bewegt sich genau in diese Richtung einer kontrollierten Gesellschaft. In Zukunft wird man uns immer erkennen können, an unserem Gesicht, an unserem Gang, an unserem Verhalten. +Aber was ist mit der guten alten Blockhütte im Wald? +Zivilisationsflucht ist möglicherweise eine Option, dort ist die Drohnendichte geringer… +Geht es vielleicht auch eine Idee optimistischer? +Nun, wer diese Form der Komplettüberwachung nicht möchte, muss ganz altmodisch auf seine Grundrechte pochen, darauf, dass Geheimdienste wirksam kontrolliert werden und der Einzelne sich gegen Überwachungsmaßnahmen des Staates zur Wehr setzen kann. Und davon abgesehen haben Drohnen ja auch Vorzüge: Durch sie kann auch der Staat selbst besser kontrolliert werden, etwa indem man Polizeiübergriffe auf Demos dokumentiert. Drohnen können also auch Transparenz schaffen. Es liegt wie so oft auch an uns, ob eine neue Technologie am Ende ein Segen ist oder ein Fluch. +Titelbild: PHILIPPE HUGUEN/AFP/Getty Images diff --git a/fluter/wie-dumm-ist-das-denn.txt b/fluter/wie-dumm-ist-das-denn.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..faf2e0b87c2d4b17b636e67d777b160401116fc7 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-dumm-ist-das-denn.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +So ein großes Universum und kaum Zeit, es sich genau anzuschauen. Ein NASA-Forscherteam berichtete 2017 von einem Deep-Learning-Programm, das Sonnenstürme auf Bildern erkennen sollte. Das genaueste Programm war letztlich eines, das grundsätzlich anzeigte, dass auf einem Bild kein Sonnensturm zu sehen ist. Starke Sonnenstürme sind nämlich sehr selten. +Der US-Konzern Microsoft wollte 2016 zeigen, wie clever lernende Systeme sein können – stattdessen bewies er mit seinemTwitter-Bot"Tay" unfreiwillig das Gegenteil. Die ursprüngliche Idee war, dass der Bot durch Chats mit anderen Usern dazulernt. Je mehr er mit anderen interagiert, desto mehr kann er sich abschauen und desto schlauer wird er. Das war die Theorie. Letztlich dauerte es aber weniger als 24 Stunden, bis "Tay" zur Rassismusschleuder wurde. "Hitler was right I hate the jews", twitterte der Bot, leugnete den Holocaust und verbreitete Verschwörungstheorien zu den Terroranschlägen auf das World Trade Center in New York. Microsoft schaltete den Bot schnell wieder ab. +Forscher am MIT Lincoln Lab testeten 2013 ein Computerprogramm, das lernen sollte, eine Liste von Nummern zu sortieren. Es erreichte schließlich tatsächlich einen perfekten Score. Um das zu schaffen, löschte das Programm einfach die Liste. Das entsprach den Anforderungen, wenn auch nicht ganz wie gedacht: Keine Nummern mehr, keine Unordnung. +"Alexa, kauf mir ein Puppenhaus!" Eine Sechsjährige in den USA bestellte im vergangenen Jahr per Sprachsteuerung von Amazon Echo neues Spielzeug. Das ärgerte ihre Eltern, und der örtliche Lokalsender in San Diego berichtete darüber. Blöd nur, dass der Reporter die Worte des Kindes live wiederholte. Das aktivierte nämlich bei zahlreichen Zuschauern die Sprachsteuerung von Amazon Echo und löste ungewöhnlich viele Bestellungen von Puppenhäusern im Raum San Diego aus. +Sicherheit? Kann man auch mit Robotern machen, dachte sich im vergangenen Jahr eine Sicherheitsfirma in Washington, D.C.. Sie ließ einen Sicherheitsroboter durch ein Bürogebäude patrouillieren, angelehnt ans Äußere des "Star Wars"-Droiden R2D2, aber bestückt mit Kamera und Sensoren. Offenbar gefiel dem Roboter sein Dasein jedoch nicht: Er ertränkte sich in dem Brunnen im Foyer. Ein weiteres Modell des Roboters hatte 2016 in einer Einkaufsmall bereits ein 16 Monate altes Kind umgefahren – und hielt danach nicht einmal an. + diff --git a/fluter/wie-eine-amerikanisch-israelische-juedin-berlin-erlebt.txt b/fluter/wie-eine-amerikanisch-israelische-juedin-berlin-erlebt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c8955ac6d80198a9da058a6acb25a56547bb403f --- /dev/null +++ b/fluter/wie-eine-amerikanisch-israelische-juedin-berlin-erlebt.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Ich gebe zu, als ich das erste Mal durch die Straßen Berlins spazierte, hatte ich keine moderne Stadt vor Augen. Ich musste mir ständig riesige Nazi-Transparente vorstellen, die an Gebäuden und quer über den Straßen hingen. Ich stellte mir unentwegt die Frage, aus welchen dieser bezaubernden Altbauwohnungen Juden verschleppt worden waren. Hörte ich die deutsche Sprache, war das die Sprache der Menschen, die die Familie meiner Großeltern ermordet hatten. Stieg ich in eine Bahn – zu welchem Todeslager fuhr sie? Diese ständige Anwesenheit des Holocausts war furchterregend, aber vermutlich ist sie typisch für Juden, die zum ersten Mal in Berlin sind. +Ist der eigentlich koscher? Skeptisch beäugt Orit ihren Schokopudding im Café Kotti in Berlin-Kreuzberg. Ein aus Israel stammender Berliner hat vor ein paar Jahren anhand der Preise von Schokopudding gezeigt, wie teuer das Leben in Israel ist - und wie viel bezahlbarer in Deutschland +Erst als ich dann ein Jahr später erneut nach Berlin kam, um mit einem Freund an einem Musikprojekt zu arbeiten, begann ich wirklich zu verstehen, warum es junge Israelis scharenweise nach Berlin zog. +Denn als ich den obligatorischen Besuch des Holocaust-Mahnmals und des Dokumentationszentrums "Topographie des Terrors" hinter mir hatte, konnte ich mich ganz der kreativen, avantgardistischen und dabei so erstaunlich erschwinglichen Stadt zuwenden, die Berlin auch ist. Gelegentlich machten meine Freundin und ich noch Holocaust-Witze (etwa wenn uns ein verblüffend blauäugiger und blonder Deutscher über den Weg lief, der wie ein "arischer" Posterboy aussah). Aber im Großen und Ganzen ging es jetzt eher darum, auszugehen und nette Einheimische kennenzulernen – ungeachtet dessen, dass sich in dieser Stadt einmal das Hauptquartier der SS befunden hatte. +Während ich begann, Berlin immer mehr zu mögen, führte ich einige Interviews mit jungen Deutschen, die in Tel Aviv lebten, was ja in gewisser Weise Berlins israelische Schwesterstadt ist. Ich wollte herausfinden, ob diese Anziehung auf Gegenseitigkeit beruht. Selbstverständlich kam auch hier die Rede wieder schnell auf den Holocaust. Eine Frau sagte, ich könne ihre Generation nicht für die Sünden ihrer Väter und Großväter beschuldigen. "Ich war noch gar nicht geboren, als das geschehen ist", sagte sie und beeilte sich einzuräumen, durchaus eine besondere Verantwortung für die Sicherheit der Juden von heute zu empfinden. +Mir wurde klar: Deutsche und Israelis sind sich im Grunde recht ähnlich. Wir sind zwei Völker, die darum ringen, nach einem großen Trauma eine gestörte, aber irgendwie auch hochfliegende nationale Identität wiederaufzubauen. Und auch wenn wir von entgegengesetzten Seiten kommen, auch wenn wir einst Verfolger und Opfer waren, haben wir als die dritte Generation in beiden Ländern ein Päckchen zu tragen, das wir am besten zusammen auspacken. +Auf einem Flohmarkt in Berlin hat Orit dieses alte Fotoalbum gefunden, das sie mit einer gewissen Faszination durchblättert: Zwischen fröhlichen Familienfotos taucht ganz selbstverständlich immer mal wieder ein Bild auf, das jemanden in einer Nazi-Uniform zeigt +Die kreativen Schwingungen, der historische Reichtum (aber auch die Narben), die Leichtigkeit, mit der man sich durch die Stadt bewegen kann, und natürlich die im Vergleich zu Israel irrsinnig günstigen Lebensmittel und das ebenso billige Bier, das alles macht Berlin so beliebt bei jungen Leuten aus aller Welt: Australiern, Argentiniern, Briten und so weiter.Trotzdem, für einige meiner patriotischen israelischen Bekannten war es ein Schock, als ich ihnen eröffnete, meinen Sommer 2016 in Berlin verbringen zu wollen. Sie werden sich die Haare gerauft haben, als ich sogar damit anfing, in meinem Facebook-Status Herzchen-Emojis um Berlin herum einzubauen. Bis ich schließlich ankündigte, bleiben zu wollen – auf unbestimmte Zeit. +Aber die Freude, die ich dabei empfinde, wenn ich hier durch die Straßen schlendere, ist tiefer. Es ist wie eine Umwandlung der Schmerzen und Ängste vor Deportation, Folter und Tod, die Juden hier früher empfunden haben müssen. Ängste, die ich nicht mehr haben muss. Statt Nazi-Transparenten sehe ich jetzt nur noch lauter schöne Schriftzüge von Cafés. Ich sehe auch keine "arisierten" Wohnungen mehr, sondern Apartments, in denen ich gerne selber wohnen würde. Höre ich die deutsche Sprache, dann ist das für mich nur noch: eine Herausforderung. Nehme ich eine Bahn – zu welcher Party soll es gehen? +Während ich in den USA aufwuchs, hörte ich über Deutschland mindestens so viele Horrorgeschichten wie über Israel Heldenlegenden. Daher wohl meine seltsame Vertrautheit und Verbundenheit mit diesem Land. Sosehr der jüdische Staat für mich ein modernes Wunder ist, so sehr gilt das auch für die Wiederverwandlung von Berlin in eine Kraft der Freiheit. +Die Journalistin und Autorin Orit Arfa wurde in Los Angeles geboren und zog 1999 nach Israel, wo sie viel über die israelische Gesellschaft geschrieben hat. Ihr Debütroman "The Settler" handelt von einer jungen Israelin, die 2005 gezwungen wird, ihr Haus in Gaza zu verlassen. In Berlin arbeitet sie derzeit an ihrem zweiten Roman, einer israelisch-deutschen Liebesgeschichte. www.oritarfa.com diff --git a/fluter/wie-entstand-eigentlich-der-rap.txt b/fluter/wie-entstand-eigentlich-der-rap.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0bd4955fc70facd5a6cce5be8cda72b0b6ca09a7 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-entstand-eigentlich-der-rap.txt @@ -0,0 +1,31 @@ +(Schwebe wie ein Schmetterling, stich wie eine Biene / +seine Hände können nicht treffen, was sie nicht sehen) +Ist das vielleicht der allererste dokumentierte Rap? Mag sein. Steckt ja schon eine Menge drin: Es reimt sich, es ist lustig und poetisch, es ist eine Schmähung. Einzig – der Zweizeiler aus dem Jahr 1974 stammt nicht von einem Rapper, sondern einem Boxer: Muhammad Ali. Der war auch ein Großmeister des verbalen Punches – und damit ein Pionier des Rap. Einer von vielen, denn der rhythmisierte, gereimte Sprechgesang, der im HipHop zum Markenzeichen wurde, hat einen ziemlich weitverzweigten Stammbaum. +Manche sehen die Wurzeln des Rap in Westafrika. Das tut etwa David Toop. Der britische Musiker und Journalist hat mit "Rap Attack. African Jive to New York Hip Hop" 1984 einen Klassiker des Musikjournalismus geschrieben, der in den folgenden 16 Jahren dreimal neu aufgelegt, aktualisiert und ergänzt wurde. Die Urahnen des Rap sieht Toop in den Griots, eine Art Berufssänger, Berater und Geschichtenerzähler. Diese Musikerkaste bildete eine Mischung aus lebendem Geschichtsbuch und Tageszeitung und pflegte somit eine mündliche Überlieferung mit musikalischen Mitteln, die bisweilen mit den Mächtigen kritisch oder polemisch ins Gericht ging. Auch die Yoruba-Frauen in Nigeria reimen Spottgedichte, die sie mitunter als öffentliches Streitmittel einsetzen. +Elijah Wald wiederum, Blues-Musiker und Musikhistoriker, hat eine andere Traditionslinie des Rap erforscht: die des afroamerikanischen Schmähgedichts, die unter den Namen Signifyin' oder als The Dozens bekannt sind. Wer sich jemals gewundert hat, wo die "Deine Mudda"-Sprüche herkommen, der wird Walds Buch "Talking 'Bout Your Mama. The Dozens, Snaps, and the Deep Roots of Rap" ein paar überraschende historische Antworten finden. Mit den fiesen Versen, die zum ersten Mal 1917 auch in Songs auftauchten, wurden regelrechte Wettbewerbe ausgetragen – quasi Urformen des MC-Battles –, bei dem derjenige gewinnt, der den besten Reim auf Lager hat. +Wald und viele andere sind sich einig darin, dass und wie stark der HipHop die Tradition des Blues fortschreibt. Sie wurzelt in den Worksongs der aus Afrika verschleppten Sklaven, die diese auf den Feldern im Süden der USA sangen. Schon damals wechselten sich gesungene und gesprochene Parts ab, und auch das "Call and Response" entstand, eine Interaktion zwischen Sänger und Chor, oder – später – auch zwischen Sänger und Publikum. Wie wichtig das im frühen HipHop war, kann man derzeit auf Netflix sehen: als fiktionale Variante in der Oldschool-Serie "The Get Down" von Baz Luhrmann, dessen zweite Staffel im Frühjahr angelaufen ist. Und in der Doku-Variante "Hip-Hop Evolution", einem Vierteiler, der den Weg des Hip-Hop von seinen bescheidenen Anfängen in der Bronx bis zu seinem Durchmarsch in den Mainstream Anfang der 1990er-Jahre beschreibt. +Unbestritten ist ebenso, dass göttlicher Beistand bei der Entstehung des Rap eine wichtige Rolle spielte. Denn in den afroamerikanischen Kirchen prägte nicht nur das Singen, sondern auch der Sprechgesang die Gottesdienste, was sich dann in der Popkultur ebenfalls niederschlug: In den Soul-Platten der 1960er- und 1970er-Jahre gibt es viele Spoken-word-Passagen. Besonders James Brown, Millie Jackson und Isaak Hayes machten davon reichlich Gebrauch. +Und auch im Radio wurde seit den 1940er-Jahren fleißig zur Musik gereimt. Diese Tradition kam aus dem Jazz. Im sogenannten Scat-Gesang wurde die Stimme als Instrument eingesetzt. Beim Jive Scat wurde dabei aktueller Straßenslang inkorporiert. Den wiederum entwickelten manche Radio-DJs weiter, um der aufgenommenen Musik, die sie abspielten, etwas mehr Leben einhauchen. Diesen Radio-Jive, bei dem oft neue Worte erfunden wurden, griff später die jamaikanische Soundsystem-Kultur auf. Daraus entwickelte sich das "Toasting", bei dem – Vorsicht: terminologisch verwirrend! – der sogenannte Disc Jockey über die Dub-Versionen der laufenden Platten spricht, singt, reimt – manchmal improvisiert und manchmal die Gesangsstimme nachahmend, während der Selector die Platten auflegt. +Das lyrische Erbe des Rap betont Mark Greif, Literaturwissenschaftler und Herausgeber des Magazinsn+1. In seinem fulminanten Essay "Rappen lernen" schreibt er, HipHop sei kein Gesang, sondern Sprache – und die sei eine Wiederbelebung der metrischen, reimbasierten Lyrik, die in den 1920er-Jahren zu Ende ging. +Der Rap kennt also viele Quellen, das macht ihn ebenso lebendig wie langlebig. So stimmt wohl eine der schönsten Zeilen, die der deutsche Rap hervorgebracht hat: "Wer HipHop macht, aber nur HipHop hört, betreibt Inzest." Das näselt Jan Delay in dem Song "Fäule" von den Beginnern. Und daher ist es auch kein Wunder, dass Muhammad Alis klassischer Reim, den er einst seinem Gegner George Foreman an den Kopf knallte, bald im HipHop weiter verarbeitet wurde. Die CC Crew dichtete 1980: +"I float like a butterfly, sting like a bee / +There ain't no motherfucker that can rap like me" + +Glaubt man HipHop-Fans der alten Schule, dann besteht ihre Kultur aus vier Elementen: +Rapping +Wer "HipHop" sagt, denkt vor allem an Jay-Z oder Nas, Future oder Stormzy, also an MCs. Das lässt sich je nach Glaubensrichtung als "Master of Ceremonies" oder "Microphone Controller" ausschreiben und meint natürlich: Rapper – der Begriff ist heute quasi deckungsgleich mit "HipHopper". Der rhythmische Sprechgesang ist zwar das bekannteste Element von Hip-Hop, aber längst nicht das einzige. +Zum Beispiel: Chuck D, MC Lyte, Kanye West + +DJ-ing +Früher war kein Rapper ohne seinen DJ auf der Bühne, der im Hintergrund live von Vinylschallplatten die Basisstücke auflegte, über die dann der Künstler mit dem Mikrofon seine Reime legte. Zwischendurch erhielt der DJ als echter Turntablist mit Scratch-Soli und sonstigen Kunststückchen auch seine eigenen 15 Minuten Ruhm. Inzwischen ist er meist nur noch ein Dekorationsobjekt, die Beats kommen vom Band. +Zum Beispiel: Kool DJ Herc, Grandmaster Flash, DJ Jazzy Jeff + +Breakdancing +Wer sich heute ein altes HipHop-Video aus den Achtzigern oder frühen Neunzigern ansieht, wird ziemlich sicher Breakdancer zu Gesicht bekommen. Auf "Jams", bei denen früher im Gegensatz zu einfachen Livekonzerten alle Elemente der Kultur zusammentrafen, gehörten Tanzfiguren wie Windmill und -stile, beispielsweise Electric Boogie der Breaker-Crews, zu den raumgreifendsten Beiträgen. Heute tauchen sie höchstens noch in Werbeclips auf. +Zum Beispiel: Rock Steady Crew, Second 2 None, Flying Steps + +Graffiti +Graffiti ist der älteste Bestandteil der HipHop-Kultur: Mit Tags vollgebombte U-Bahn-Wagen fuhren schon durch New York, als Rapper nicht mehr als Ansager für eine Party waren. Noch heute finden sich die – überwiegend illegalen – Graffiti-Tags und größere Pieces in Städten wie auf dem Land, an Autobahnbrücken, Hauswänden oder U-Bahn-Wagen. Ihre Gestaltung hat sowohl Plattencover als auch die Hip-Hop-Kleidung geprägt. +Zum Beispiel: Futura 2000, Zephyr, DAIM +(Florian Sievers) +Titelbild: Naftali Hilger/laif diff --git a/fluter/wie-entstehen-preise-weizen.txt b/fluter/wie-entstehen-preise-weizen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b5843f77500cfc945b35691b689a46b5c3b581b2 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-entstehen-preise-weizen.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Wegen des mangelnden Angebots ist der Weizenpreisseit Beginn des Krieges in der Ukrainenoch einmal rapide in die Höhe geschnellt. Denn sowohl Russland als auch die Ukraine gehören zu den wichtigsten Weizenexporteuren der Welt. Nun werden beide Kriegsgegner vorerst nicht liefern. Eine Verknappung hat indes großen Einfluss auf den Teil des Weizens, der an Börsen gehandelt wird – das ist rund ein Viertel des weltweit angebauten Weizens. Das Ergebnis: Ende April 2022 hat eine Tonne Weizen an der Pariser Terminbörse, der wichtigsten Leitbörse für deutsche und europäische Landwirte, knapp 420 Euro gekostet – rund 45 Prozent mehr als am 25. Februar. Die Verbraucher merken den Preisanstieg vor allem beim Bäcker und im Supermarkt. +Wenn Rohstoffe wie Gold, Silber, Kaffee, Kakao oder eben Weizen über die globalen Handelsplattformen gehandelt werden, funktioniert das so: Die Landwirte verkaufen ihre Erzeugnisse an den jeweiligen Börsen – für Weizen ist das zum Beispiel die MATIF in Paris. Sie stehen dabei allerdings nicht mit Tausenden von Weizensäcken in einer Markthalle, sondern vertreiben den Weizen in Form von Verträgen. Diese sogenannten Kontrakte sind Abnahmeverträge für festgelegte Mengen zu einem bestimmten Preis. Der Vertrag hat außerdem ein End- beziehungsweise Lieferdatum, darum nennt man das auch Warentermingeschäft. Die Abnehmer sichern sich heute den Weizen, bekommen ihn aber erst Monate später. +Franz Sinabell, Agrarökonom am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) in Wien, erklärt das so: "Ein Müller weiß schon im Herbst, dass er im Dezember viel Mehl für das Weihnachtsgeschäft der Bäcker braucht, die er beliefert." Über diese Menge schließt er einen Kontrakt ab. "Das verschafft sowohl dem Müller als auch dem Bäcker Planungssicherheit für die Weihnachtszeit", sagt Sinabell. Das bedeutet aber auch: Wenn der Müller dem Landwirt Weizen für eine bestimmte Summe pro Tonne abkauft und der Weizen zum Liefertermin viel teurer ist, hat der Landwirt ein schlechtes und der Müller ein gutes Geschäft gemacht. Warentermingeschäfte sind also Sicherheit und Wette zugleich. +Dieses Spiel mit dem Risiko lockt Finanzspekulanten. Denn Rohstoffe, die an der Börse gehandelt werden, können nicht nur diejenigen einkaufen, die diese Rohstoffe wirklich brauchen. Spekulanten sind Menschen oder Unternehmen, die auf kurzfristige Preisentwicklungen wetten und ihr Geld an der Börse vermehren möchten. Das gelingt ihnen zum Beispiel, wenn sie jetzt Weizenkontrakte kaufen und sie, wenn der Preis gestiegen ist, wieder verkaufen. +In den Jahren 2007 und 2008, als es zu einer Preiskrise in der Nahrungsmittelindustrie kam und auch Weizen sehr teuer wurde, hatten Spekulanten die Preise für Weizen hochgetrieben.Wegen der Finanzkrisewollten sie das Geld nicht mehr in Aktien und Immobilien anlegen und investierten stattdessen in Rohstoffe. +Aus dieser Nahrungsmittelkrise hat die EU ihre Lehren gezogen. Nun gibt es strengere Regeln, die Spekulationen mit Lebensmitteln einschränken. Zum Beispiel dürfen Weizenkäufer an der Börse kurzfristig immer nur eine begrenzte Anzahl an Verträgen halten. "Solche Regeln sind wichtig, denn kurzfristige starke Preisschwankungen erhöhen die Unsicherheit in den Märkten", sagt Matin Qaim, Agrarökonom und Direktor des Zentrums für Entwicklungsforschung (ZEF) der Universität Bonn. "Das sorgt dafür, dass die Marktteilnehmer, die wirklich Weizen kaufen oder verkaufen und nicht damit spekulieren wollen, weniger Planungssicherheit haben und deshalb auch weniger in Maschinen und Technologien investieren. Solche Investitionen sind aber ganz wichtig für produktive Erzeugung und effiziente Marktabläufe." +Agrarökonom Qaim ist wie auch die Welthungerhilfe der Meinung, dass der rasante Weizenpreisanstieg der vergangenen Monate ein Ende finden muss. Denn sonst könnten seinen Schätzungen zufolge bald bis zu 100 Millionen Menschen mehr an Hunger leiden. Doch wie können Preise wieder sinken? Zum Beispiel durch politische Maßnahmen. Beim Weizen kann das bedeuten, trotz der Engpässe weiter zu exportieren. "Es ist wichtig, dass Exportländer ihre Grenzen offen halten und nicht der Verlockung erliegen, nur die eigene Bevölkerung abzusichern", sagt Qaim. "Dann würden die importabhängigen Länder gar keinen Weizen mehr bekommen." Außerdem gebe es Stellen, an denen der Konsum eingeschränkt werden könnte. So wird zum Beispiel viel Getreide an Tiere verfüttert. Es würde also helfen, weniger Fleisch zu essen, so Qaim. Er rät auch dazu, so wenig Getreide wie möglich für Biokraftstoffe zu verwenden. +Die Welthungerhilfe, die wie Qaim angesichts der hohen Weizenpreise vor einer steigenden Zahl hungernder Menschen warnt, verlangt von der deutschen Regierung, dass sie mehr Geld in Nahrungsmittelhilfe steckt. Agrarökonom Sinabell aus Wien verfolgt einen ähnlichen Ansatz: "Wenn Menschen von Hunger bedroht sind, müssen reiche Länder Weizen kaufen und ihn günstiger an Hilfsorganisationen in jene Länder abgeben, in denen sich Menschen Mehl zum gängigen Preis nicht mehr leisten können." + diff --git a/fluter/wie-entsteht-der-wahl-o-mat.txt b/fluter/wie-entsteht-der-wahl-o-mat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..03f3aa795c5c9b85177f4ba2e74cea5c8b772353 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-entsteht-der-wahl-o-mat.txt @@ -0,0 +1,12 @@ + +Auch wenn zwei Drittel der Wahl-O-Mat-Nutzer über 30 Jahre alt sind, ist das Tool vor allem als Angebot für junge Menschen gedacht. Deshalb werden die Thesen des Wahl-O-Mats auch von einer jungen Redaktion entwickelt: Alle waren zwischen 18 und 26 Jahre alt. Ich gehörte mit meinen 24 schon zu den Ältesten. +Vom Alter mal abgesehen war das Team aber wirklich sehr gemischt: Es waren einige Studierende dabei – und die kamen auch nicht alle aus der Politikwissenschaft, sondern genauso aus Fächern wie Medizin und Architektur. Dann waren natürlich Azubis dabei. Und außerdem einige Leute, die – so wie ich – schon arbeiten, zum Beispiel als Journalistin oder Friseurin. Zu unserem relativ bunten Haufen von rund 25 Leuten kam noch ein zehnköpfiges Begleitteam von der bpb dazu, das uns fachlich und wissenschaftlich unterstützte. +Die Redaktion hat zwei Workshops gemacht. Beim ersten Mal kamen wir für ein Wochenende zusammen. Zwei Tage lang haben wir uns in die Arbeit gestürzt, um am Ende 80 Thesen für den Wahl-O-Mat zu liefern. Die gingen dann erst mal an die Parteien, die zu den Thesen Stellung beziehen sollten: Stimmen sie einer These zu, finden sie die Aussage falsch, oder stehen sie ihr neutral gegenüber und warum? Danach traf sich die Redaktion ein zweites Mal und wählte 38 finale Thesen aus – da konnte ich wegen eines anderen Termins aber leider nicht dabei sein. +Für unseren ersten Redaktionsworkshop trafen wir uns in Bonn in einem Hotel. Am Freitagnachmittag sind alle eingetrudelt, und nach einem gemeinsamen Start mit der gesamten Redaktion haben wir uns dann in kleinere Gruppen aufgeteilt. Insgesamt waren wir fünf Teams, thematisch organisiert: In meiner Gruppe ging es um Steuern, Wirtschaft und Landwirtschaft. Erst steckten wir die Themen grob ab. Wir beschlossen zum Beispiel, dass es im Wahl-O-Mat Thesen zu Freihandelsabkommen und Erbschaftssteuer geben sollte. Dazu haben wir uns dann Feedback von den anderen geholt, haben anschließend erste Thesen entwickelt, diese wieder präsentiert, die Thesen daraufhin verfeinert … So ging es hin und her zwischen der Arbeit in der Kleingruppe und der Diskussion mit der gesamten Redaktion. Am Sonntag hatten wir gemeinsam fast 130 Thesen aufgestellt, aus denen wir schließlich 80 auswählten, die wir anschließend an die Parteien weitergaben. +Wir achteten beim Auswählen der Thesen vor allem auf zwei Fragen: Welche Themen sind gesamtgesellschaftlich relevant? Und mit welchen Thesen kann man Parteien gut voneinander unterscheiden? Wenn wir zum Beispiel schon einige Thesen gesammelt hatten, die Unterschiede zwischen SPD und CDU aufzeigen, dann suchten wir im Anschluss nach solchen, die linke und liberale Parteien differenzieren. +Es ist echt gar nicht so einfach und auch durchaus zeitaufwendig, eine gute These für den Wahl-O-Mat zu entwickeln. Einzelne Worte machen oft einen großen Unterschied und können ausschlaggebend dafür sein, ob Parteien einer These zustimmen oder nicht. +Generell hätte ich nicht gedacht, dass so viel Arbeit hinter dem Wahl-O-Mat steckt. Vor den Workshops hatte das wissenschaftliche Begleitteam ja schon die Wahlprogramme aller Parteien ausgewertet. Und dann passiert ja auch noch ganz viel Technisches rund um das Webtool. +Ich bin zwar ein politisch interessierter Mensch, aber durch die Arbeit im Redaktionsteam habe ich noch mal viel über Parteien gelernt. Vorher hatte ich keinen Überblick über die vielen kleinen Parteien und wusste nicht, wofür sie eigentlich genau stehen. Insgesamt war es ein anstrengendes, aber wunderbares Wochenende; ich würde sofort wieder mitmachen. +Vor der Bundestagswahl werden viele Menschen den Wahl-O-Mat nutzen. Daher bin ich ganz froh, dass wir als großes Team daran gearbeitet haben und die damit verbundene Verantwortung gemeinsam tragen. Ich stehe aber total hinter unserem Ergebnis: Ich weiß, wie gewissenhaft die Thesen zustande gekommen sind, und freue mich darauf, dass der Wahl-O-Mat endlich veröffentlicht wird. +Manuel Wiemann, 24, arbeitet als Projektkoordinator. + diff --git a/fluter/wie-erinnern-wir-uns.txt b/fluter/wie-erinnern-wir-uns.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1e17117821457eed7583dc78329ffb239c980084 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-erinnern-wir-uns.txt @@ -0,0 +1,28 @@ +Oliver Dimbath: Natürlich müssen wir uns im Alltagsleben auf unser Erinnerungsvermögen verlassen können – sonst wäre es unmöglich, Erfahrungen zu machen und aus Erlebnissen etwas zu lernen. Aber wenn man sich mit den Voraussetzungen des individuellen Erinnerns länger beschäftigt, würde ich zur Vorsicht raten. +Warum? +Aus erinnerungspsychologischer Sicht ist jedes Erinnern kein Rückgriff auf die Vergangenheit. Ich kann ja nicht in eine Zeitmaschine springen. Weil wir immer nur in der Gegenwart sein können, bleibt uns nichts übrig, als auf die Spuren unserer Wahrnehmungen zurückzugreifen, die bestimmte Erlebnisse in unserem Bewusstsein oder unserem Organismus hinterlassen haben. Das wiederum heißt: Wir können gar nicht authentisch auf ein vergangenes Ereignis zugreifen. Denn immer wenn wir daran denken, bearbeiten wir diese Erzählung aufs Neue. +Schilderungen von Zeitzeugen sind also mit Vorsicht zu genießen? Sie gelten den Laien ja oft als besonders glaubwürdige historische Informationsgeber. +Zeitzeugen haben eine andere Funktion. Sie stehen für eine bestimmte Sicht auf die Vergangenheit, die sie durch ihr eigenes Erleben authentisch und mit besonderem Recht vertreten können. Aber sie werden nicht umsonst als die "natürlichen Feinde der Historiker" bezeichnet, weil ihre Erinnerungen immer aus den Belangen ihrer gegenwärtigen Situation gespeist sind. Da kann das Interview mit einem Biografieforscher zu anderen Aussagen führen als die gleiche Geschichte am Bett der Enkel. + +Gefährdete Erinnerungen: Aufgrund eines Kabelbrands ist im Jahr 2004 ist die Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar abgebrannt. 1600 Bücher, die durch den Brand schwer beschädigt wurden, sind danach unter ganz bestimmten klimatischen Bedingungen archiviert worden und harren nun ihrer Restaurierung. Die Bilder auf dieser Seite stammen von dem Fotografen Johannes Heinke. Sie zeigen die Kartons, in denen die Bücher aufbewahrt werden + +Wenn die eigene Erinnerung schon sehr trügerisch ist, wie kann dann ein gesellschaftliches Erinnern funktionieren? +Das gemeinsame Erinnern ist anders als das persönliche Erinnern nicht zufällig, sondern wird geplant. Für den Zusammenhalt einer Gruppe kann es wichtig sein, sich an die Gründe ihres Zusammenseins zu erinnern. Sie schafft dann einen meist durch Rituale oder Feiern organisierten Raum für gemeinsame Vergangenheitsbezüge. Vielleicht kann man das so sagen: Je seltener sich die Mitglieder einer Gruppe begegnen, desto wichtiger sind gemeinsame Erinnerungsrituale, die den Gruppenzusammenhalt stärken. Die Nation feiert deshalb ihr Gründungsjubiläum mit einem Feiertag, an dem die Arbeit ruhen soll. Gesellschaftliches Erinnern dient der Erhaltung von etwas, das man als Gruppen- oder als kollektive Identität bezeichnen kann. Und die Geschichtsschreibung ist ein Teil dieser Funktion. Sie ist eine Form des Erinnerns, wobei aus der Sicht des Geschichtsschreibers Wissen erzeugt und in der Regel schriftlich festgehalten wird. Wenn er über die Ausbildung des Historikers verfügt, wird er um Quellentreue bemüht sein. Trotzdem konstruiert er eine Geschichte über die Vergangenheit. + + +Besteht, wenn es um geplantes Erinnern geht, auch die Gefahr der Verzerrung? +In demokratischen Systemen ist die Chance höher, dass in der Geschichtsschreibung unterschiedliche Perspektiven auf Vergangenes erhalten bleiben. In autoritären Systemen müssen all jene Geschichten verschwinden, die nicht zum vorherrschenden politischen Willen passen. Oder anders gesagt: Das politisch-kulturelle System prägt die Art und Weise der Geschichtsschreibung und ihrer Verwendung. + + + +Und was ist mit der Religion? Die schafft doch auch Erzählungen über Vergangenes. +Die Entstehung der Religion ist eng mit dieser Motivation verbunden, sich gemeinsam zu erinnern. Die Christenheit feiert Weihnachten, um sich des fortbestehenden Bekenntnisses zum christlichen Glauben zu versichern. Durch die Festlegung eines Kanons heiliger Schriften wird geklärt, welche Dokumente im Rahmen von rituellen Feiern verwendet werden, um die Gruppe an das zu erinnern, was ihre Welt im Innersten zusammenhält. Ein solches Erinnern bildet Mythen aus, die sich von den eigentlichen Ereignissen immer weiter entfernen können. Wichtig ist nicht die historische Wahrheit, sondern die gesellschaftliche Funktion. Rituale des gemeinsamen oder sozialen Erinnerns stiften die Ordnung der Gemeinschaft. Aber so ist das auch mit der heutigen Erinnerungskultur, die für unser demokratisches Zusammenleben als sinnstiftend erachtet wird. Bei uns wird die Erinnerungskultur allerdings nicht von oben bestimmt, sondern sie ist Teil eines transparenten und komplexen Diskussionsprozesses. So kann die Gefahr einer Ideologisierung im Zaum gehalten werden. +Was halten Sie für ein zeitgemäßes Konzept des gesellschaftlichen Erinnerns? +In Demokratien ist die Frage nach den Ereignissen, an die man sich gemeinsam erinnern will, legitimationsbedürftig und immer strittig. Ungewöhnlich ist zum Beispiel die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, eine Erinnerungskultur auszubilden, die nicht heroisch, triumphalistisch auf die Großartigkeit der Nation gerichtet ist. Wir Deutsche kennen auch den nationalen "Helden" einer schlimmen Vergangenheit. Deutsche Erinnerungskultur pflegt aus gutem Grund auch die Erinnerung an die Krisen der Gemeinschaft. Im Vergleich mit anderen Erinnerungskulturen ist die daraus hervorgehende Entwicklung einer spezifisch deutschen Identität schon etwas Besonderes, was man als zivilisatorischen Fortschritt verstehen kann. + + +Wie verändert das Internet und die Schnelllebigkeit der Datenströme unser Erinnern? +Schon Platon klagt über die Erfindung der Schrift, dass sie dazu verleite, sich nichts mehr merken zu müssen. Der Soziologe Max Weber hat am Übergang ins 20. Jahrhundert angemerkt, dass es nicht mehr nötig sei, alles Mögliche zu wissen. Vielmehr sei wichtig zu wissen, wo man nachschlagen kann. Tatsächlich verändert sich dadurch etwas in der Kultur des Vergangenheitsbezugs. Sich an möglichst viele Geschichten zu erinnern ist vielleicht keine lebenswichtige Fähigkeit mehr. Heute erscheint es wichtiger, sich die Organisation der Informationsbeschaffung selbst bewusst zu machen. Wir können uns das Wissen im Netz beschaffen. Allerdings müssen wir damit rechnen, dass die Organisation dieses Wissens durch irgendetwas gesteuert wird. Nur wenn wir wissen, wer nach welchen Regeln auswählt und als soziales Gedächtnis tätig wird, haben wir Kontrolle über das, was unser eigenes Erinnern beeinflusst. +Gibt es etwas, wovon Sie sagen: Daran müssten wir uns als Gesellschaft wieder viel mehr erinnern? +Ich will nicht nostalgisch klingen. Deswegen sage ich: Wichtig erscheint mir, dass Gesellschaften über ihr kollektives Erinnern nachdenken und diskutieren. Und es ist gut, dass mehrere Perspektiven zugelassen und als Geschichtsschreibung archiviert werden. Die Zukünftigen können dann besser entscheiden, welche Vergangenheit sie für sich als wichtig erachten. + diff --git a/fluter/wie-es-ist-in-der-pflege-zu-arbeiten.txt b/fluter/wie-es-ist-in-der-pflege-zu-arbeiten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ece6603d3fce0447948cdf850443d113f3d70a9b --- /dev/null +++ b/fluter/wie-es-ist-in-der-pflege-zu-arbeiten.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Doch viel Zeit, mich um sie zu kümmern, habe ich nicht. Manchmal betreut eine einzige Person in der Spätschicht – das ist von 16 bis 24 Uhr – 15 Patienten und Patientinnen. Oder Kunden, wie ich immer sage. Das kann mal gut gehen, wenn alle ruhig sind, aber das kommt so gut wie nie vor. Meistens wollen alle gleichzeitig etwas und klingeln nach mir. Mal geht es um Medikamente, mal um einen Tee, irgendjemand hat Schmerzen oder die Windeln voll. Ich sag mal so: Ich wische hier euren Opas den Po ab. +Am Anfang der Coronapandemie wurde viel darüber gesprochen, dass es ohne uns nicht geht.Allerdings hat das an unserer alltäglichen Situation nichts geändert. Es gibt nach wie vor viel zu wenig Personal, und die angeblich so wichtige Arbeit ist zu schlecht bezahlt. +Für 40 Stunden in der Woche bleiben mir 1.100 Euro. 750 zahle ich für meine Wohnung. Der Rest reicht gerade so, aber nicht, um auch mal in den Urlaub zu fahren oder ins Kino zu gehen. Deswegen arbeite ich regelmäßig am Wochenende. Besonders ungerecht finde ich, dass die Plätze in diesem Pflegeheim bis zu 6.000 Euro im Monat kosten. Ich weiß, dass der Betrieb eines Heimes viel kostet, aber ich schätze mal, dass da ziemlich viel Gewinn übrig bleibt. +Es wäre also eigentlich genug Geld für die Mitarbeiter da. Allerdings findet man derzeit eh kaum welche. Die meisten wissen ja, wie die Pflegesituation in Deutschland aussieht, und machen lieber etwas anderes. +Die geplante Lohnerhöhung ist für mich ein echter Lichtblick, aber angemessen finde ich die Bezahlung immer noch nicht. Denn die Arbeit mit alten Menschen ist nicht nur emotional, sondern auch körperlich belastend. Manchmal muss ich Männer, die 100 Kilogramm wiegen, aus dem Bett wuchten. Eigentlich sollen das zwei Pflegekräfte machen, aber wie gesagt bin ich oft allein auf der Station. Kein Wunder, dass der Krankenstand bei uns hoch ist und die Personalpläne ständig umgeschrieben werden. Es ist ein Teufelskreis: Wenige Pflegerinnen und Pfelgerer kümmern sich um viel zu viele Patienten und riskieren dabei selbst ihre Gesundheit. Ich habe bald einen Termin beim Orthopäden. Ich habe mich wohl zu oft gebückt, um Thrombosestrümpfe zu wechseln. +Manchmal bereue ich es, diesen Beruf ergriffen zu haben. Aufhören werde ich wohl dennoch nicht. Ich kann doch meine Kunden nicht im Stich lassen. +* Alle Namen wurden auf Dankas Wunsch geändert. +Titelbild: Patricia Kühfuss/laif diff --git a/fluter/wie-es-ist-mobbing-opfer-zu-sein.txt b/fluter/wie-es-ist-mobbing-opfer-zu-sein.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c1eb85981c4822e9a1f6a0826c23633d001b03a1 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-es-ist-mobbing-opfer-zu-sein.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Als Kind habe ich gern mit Puppen gespielt, wollte Tierarzt werden und gründete mit einer Freundin den "Tier-und-Pflanz-Club". Als mich meine Eltern in einen Fußballverein steckten, pflückte ich während der Spielzeit lieber Blumen, statt den Ball meinen Mitspielern zuzuspielen. Später war ich der einzige Junge im Turnverein, großer Fan von den No Angels und liebte es, Theater zu spielen. Auch wenn es mir damals noch nicht bewusst war: Für viele war ich wohl ein wandelndes schwules Klischee. +Da ich nicht dem Rollenbild eines männlichen Teenagers entsprach, konnte ich in der Pubertät auch den Erwartungen der Jungs aus meiner Klasse nicht gerecht werden. Und so wurde ich zum ersten Mal mit meiner sexuellen Orientierung konfrontiert. Oder besser gesagt: der Außenwahrnehmung davon. Anfangs war die Ausgrenzung noch subtil, doch das änderte sich, als ich in der siebten Klasse vom Gymnasium auf eine Realschule wechselte. +Zunächst freute ich mich auf den Schulwechsel. Doch bereits als ich den Klassenraum betrat, hatte ich das Gefühl, dass mich viele Schülerinnen und Schüler misstrauisch musterten. Sie sahen in mir nicht nur den Neuen und denjenigen, der zu schlecht fürs Gymnasium war, sondern auch einen Sonderling. +Um in das Schulgebäude zu gelangen, musste man den Pausenhof überqueren, auf dem alle auf das Läuten der Schulglocke warteten. Ich hasste diesen Moment. Denn jedes Mal drehten sich Jungs oder Mädchen um und machten sich über meinen Gang oder meine Stimme lustig. Manche grölten mir "Schwuchtel" hinterher und lachten darüber. Die großen Pausen verbrachte ich allein im Treppenhaus. Ich war ein Außenseiter und ein leichtes Opfer noch dazu. Wehren konnte ich mich nicht, und ich hatte niemanden, der mich verteidigte. Ich fühlte mich verloren. + +Viele Schüler*innen leiden unter Mobbing, das zu Depressionen führen kann. +Das Schlimmste war der wöchentliche Sportunterricht, der nach Geschlechtern getrennt war. Es waren zwar nur zwei Stunden, doch vor diesen fürchtete ich mich die gesamte Woche. Ich schämte mich. Niemand wollte mich im Team haben. Ich würde mich wie ein Mädchen bewegen, sagten meine Mitschüler und machten sich in der Umkleide über mich lustig. Woche um Woche dachte ich über eine neue Ausrede nach, um nicht zum Sportunterricht gehen zu müssen. Unzählige Male erklärte ich meinem Lehrer, wieso ich schon wieder verschlafen oder meine Sportkleidung vergessen hatte. +Am liebsten wäre ich komplett zu Hause geblieben oder hätte zumindest auf jede einzelne Minute außerhalb des Unterrichts verzichtet. Wenn ich zwischen den Stunden die Tafel wischen musste, hörte ich, wie Mitschüler hinter meinem Rücken flüsterten und über mich lachten. Oder bildete ich mir das irgendwann nur noch ein? Ich wurde paranoid. Jeder Blick schien mir zu gelten, alle waren gegen mich. +Meinen Eltern erzählte ich fast nie von den Schikanen. Ich berichtete aber von dem Jungen, der seinen Kopf gegen meinen schlug. Als mich mein Vater eines Morgens zur Schule brachte und ich ihm den Jungen zeigte, hielt er neben ihm, stieg aus dem Auto und packte ihn am Kragen. "Wenn du meinen Sohn nicht in Ruhe lässt, bekommst du richtig Ärger. Hast du das verstanden?", drohte er ihm. "Okay", stammelte der Junge. Danach ließ er mich in Ruhe. +Es dauerte nicht lange, bis ich anfing, den Status des Außenseiters für mich zu nutzen. Ich grenzte mich mit meiner Kleidung absichtlich von den anderen ab und färbte meine Haare. Ich errichtete eine Mauer um mich, an der die Witze abprallten, und war stolz darauf, nicht in der Masse unterzugehen. So wie die anderen wollte ich eh nicht sein. Ich wollte nichts mit dem, was sie mir an den Kopf warfen, zu tun haben. Die anderen verstanden mich einfach nicht, dachte ich – mich in meinem Anderssein. Und eins stand für mich fest: Schwul war ich nicht. Schwule Männer wurden berechtigterweise aus der Gesellschaft ausgeschlossen, im Gegensatz zu mir, dachte ich.Wieso sonst leitete meine Lehrerin im Sexualkundeunterricht das Thema Analsex mit den Worten "Das ist ziemlich unangenehm, aber ich muss das mit euch besprechen" ein, worüber dann alle lachten. Ich war nicht schwul, die anderen wollten mich nur beleidigen. +Bis die Fassade bröckelte: Es fiel mir immer schwerer, meine sexuelle Orientierung zu verleugnen. Schaute ich mir Pornos an, erregte mich nicht die Frau, sondern der Penis des Darstellers. Aber wieso auch nicht, dachte ich. Schließlich stelle ich mir vor, dieser Mann zu sein, der mit einer Frau schläft. So jedenfalls mein Versuch, mich von meiner vermeintlichen Heterosexualität zu überzeugen. InternalisierteHomofeindlichkeitnennt sich das, wie ich heute weiß. Das Mobbing trug sicherlich einen Teil dazu bei. Ich hasste das, was ich selbst war. +Heute weiß ich, dass das Mobbing zur Folge hatte, dass ich einen großen Teil meiner Persönlichkeit lange Zeit komplett unterdrückte. Hätte ich mich früher mit meinen Gefühlen beschäftigt, wenn mich niemand fertiggemacht hätte? Gut möglich. Die Beleidigungen ebbten jedenfalls irgendwann ab, einen genauen Zeitpunkt kann ich nicht mehr ausmachen. Erst Jahre später, als ich dieGedanken über meine sexuelle Orientierungzum ersten Mal zuließ, wurde alles besser. +Wenn ich heute an meine Schulzeit zurückdenke, sind manche Erinnerungen verblasst. Aber ich entsinne mich gut einzelner Momente, zum Beispiel wie ich mich nach der Schule oft weinend aufs Bett schmiss. Ich weiß aber oft nicht mehr genau, wie ich mich fühlte, was ich dachte und was mich beschäftigte. Ich habe einen Großteil meiner Jugend verdrängt, um mit meiner täglichen Realität klarzukommen. + diff --git a/fluter/wie-es-mit-dem-Brexit-weitergeht.txt b/fluter/wie-es-mit-dem-Brexit-weitergeht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e351b6b5889a1cb0bc34d8ba359328dddc40d441 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-es-mit-dem-Brexit-weitergeht.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Der Beitritt in die EU ist klar geregelt, der Austritt in Artikel 50 des EU-Vertrags nur grob umrissen – warum hat die EU für den Austrittsfall keine klaren Regeln entwickelt? +Dr. Nicolai von Ondarza ist stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Schwerpunkte seiner Forschung sind unter anderem die Themen Großbritannien, EU-Institutionen und Grundsatzfragen europäischer Integration. +Weil das bei der Konstruktion der EU nie vorgesehen war. Die EU selbst versteht sich ja als Union von Bürgern und Staaten, die immer enger zusammenwachsen sollen. Seit Beginn der Integration in den 1950er-Jahren kannte die EU immer nur eine Richtung: eine weitere Integration und mehr Souveränitätsabgabe nach Brüssel. Der Austrittsartikel im EU-Vertrag, dieser Artikel 50, war im Grunde ein rein symbolischer Artikel. Niemand hat damit gerechnet, dass er jemals angewendet würde. Deshalb gibt er nur einen sehr losen Rahmen für einen Austritt vor. Der muss nun mit Inhalt gefüllt werden. +Für welche Ziele werden Großbritannien und die EU bei den Verhandlungen kämpfen? +Das kann man bisher nur erahnen. Die EU-27, also die übrigen Mitgliedstaaten, haben bis dato die Position: Wenn Großbritannien weiter am Binnenmarkt teilnehmen will, muss es alle vier Freiheiten des Binnenmarkts akzeptieren, also nicht nur den freien Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehr, sondern auch den freien Personenverkehr, der die Einwanderung nach Großbritannien ermöglicht. Auch müsste Großbritannien EU-Regeln weiter umsetzen, etwa in der Finanzmarktregulierung. Auf der Gegenseite schält sich jetzt die Strategie der britischen Regierung heraus, die genau das Gegenteil will. Die sagen: "Wir wollen weiter mit der EU Handel treiben und wirtschaftlich zusammenarbeiten, aber ohne Freizügigkeit, das heißt, wir wollen die Einwanderung klar begrenzen. Wir wollen das unsere Regeln im britischen Parlament gemacht werden und uns nicht an Urteile des Europäischen Gerichtshof halten." Damit hat man zu Beginn der Verhandlungen einen ganz klaren Interessenkonflikt. +Mit welcher Folge? +Ich gehe davon aus, dass es einen "harten Brexit" geben wird. Dann wäre Großbritannien nicht wie zum Beispiel Norwegen oder die Schweiz weiter in den Binnenmarkt integriert, sondern die Trennung zwischen der EU und Großbritannien würde sehr viel härter. Beispielsweise könnten zwischen der EU und Großbritannien wieder Handelshemmnisse aufgebaut werden. +Nicht alle Briten waren für den Austritt aus der EU, sondern nur 51 Prozent. Welche Rolle wird die Opposition in Großbritannien bei den künftigen Verhandlungen spielen? +Wie stark die Opposition die Regierung beim Brexit kontrollieren kann, ist noch offen. Nach jetzigem Stand sagt die neue Premierministerin May, dass es ein klares Mandat für den Brexit gibt, dass die Regierung entschlossen ist, den Brexit durchzuführen – und zwar ohne Parlamentsbeteiligung. Sie beruft sich dabei auf die sogenannten "königlichen Vorrechte", die die britische Regierung im Namen der Krone ausübt. Damit könnte die Regierung alleine den Brexit aushandeln. Die Opposition und auch Teile der Regierungsparlamentarier hingegen wollen durchsetzen, dass das Parlament sehr viel stärker in die Verhandlungen eingebunden wird und die Strategie für den Brexit festlegt. Dann hätte die Opposition auch wesentlich mehr Möglichkeiten, den Austritt mitzugestalten. Dieser Kampf wird gerade im Parlament und vor britischen Gerichten ausgefochten. + + +Im Anschluss an das Referendum gab es viele Forderungen nach einem zweiten Referendum. Wird das Volk nochmal Ja oder Nein zum Brexit sagen können? +Ein zweites Referendum ist unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Der Punkt, an dem die Bevölkerung einen Richtungswandel durchsetzen könnte, wären die nächsten regulären Parlamentswahlen. Die sind in Großbritannien aber erst für Mai 2020 angesetzt, und nach dem jetzigen Zeitplan wollen die Briten im März 2017 den Austritt beantragen. Aufgrund der Zweijahresfrist würde das bedeuten, dass sie Anfang 2019 vollständig austreten würden, noch deutlich vor der Parlamentswahl. Falls die Verhandlungen mit der EU aber verlängert werden, besteht natürlich die Möglichkeit, dass man das mit in den Wahlkampf nimmt. Oder wenn aus irgendeinem Grund die Parlamentswahlen vorgezogen werden. Danach sieht es aber aktuell nicht aus, denn nicht nur die konservative Partei, sondern auch die Labour-Partei, die größte Oppositionspartei, scheint das Votum der Bevölkerung akzeptieren zu wollen. +Viele haben nach der Entscheidung der Briten gefordert, man könne jetzt nicht zur Tagesordnung übergehen, die EU müsse sich wandeln – hat sie damit begonnen? +Nur sehr zögerlich. Man kann es so zusammenfassen, dass das Brexit-Votum zu einem Nachdenken, aber noch nicht zu einem Umdenken in der EU geführt hat. Es gab im September ein erstes Treffen der Staats- und Regierungschefs, wo die nächsten Schritte besprochen werden sollten. Aber was da auf der Agenda stand, ist alles auch früher schon diskutiert worden: Wie kann man den Grenzschutz stärken? Wie sollen wir zukünftig mit der Migration umgehen? Und wie können wir in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik mehr zusammenarbeiten? Was sich aber geändert hat: Viele – auch Brüsseler – Spitzenpolitiker, sehen ein, dass die EU tatsächlich in einer existenziellen Krise ist und dass sie, wenn sie nicht das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen kann, in ihrem Bestand bedroht ist. Aber einen radikalen Kurswechsel in der Flüchtlingspolitik oder in der Eurozonenpolitik sehe ich nicht. +Wie kann die EU das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen? +Die EU müsste den Bürgern zeigen, dass sie tatsächlich hilft, die großen Herausforderungen zu bewältigen. In zwei großen Integrationsprojekten, in der Eurozone und im Schengen-Raum mit den offenen Binnengrenzen und dem gemeinsamen Außengrenzen, ist die EU seit Jahren in Krisen gefangen. Und sie hat es nicht geschafft, dem Bürger zu zeigen, dass sie in der Lage ist, diese Probleme zu lösen. Was die EU jetzt nicht braucht, ist eine neue Debatte, was noch an Kompetenzen nach Brüssel verlagert werden soll oder was die Europäer mehr gemeinsam machen müssen. Stattdessen sind kleine Schritte nötig, mit denen die EU klar zeigt, wie sie etwa bei der Grenzsicherung so helfen kann, dass die Sorgen der Bürger bei der Migration ernst genommen werden und sie trotzdem ihrer humanitären Verantwortung gerecht wird. Solche praktischen Lösungen sind in Brüssel aus meiner Sicht in den letzten Jahren nicht gelungen. diff --git a/fluter/wie-freundschaft-auf-den-koerper-wirkt.txt b/fluter/wie-freundschaft-auf-den-koerper-wirkt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0d1aee01b3e0cc1c7d449008b0244097c921f1df --- /dev/null +++ b/fluter/wie-freundschaft-auf-den-koerper-wirkt.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Nun kommt die Wissenschaft dem Hormon auch in seiner Bedeutung für Freundschaften und unseren Umgang mit Menschen ganz allgemein auf die Schliche. Es sorgt für angenehme Gefühle, wenn Menschen, die sich mögen, zusammen sind. Und sogarbei Hundehaltern steigt der Oxytocinspiegel, während sie mit den Vierbeinern kuscheln, und zwar ganz besonders, wenn sich Tier und Mensch dabei intensiv in die Augen sehen. Oxytocin begünstigt Freundschaften, die wiederum die Ausschüttung von Oxytocin steigern. Eine runde Sache also, bei der man Ursache und Wirkung nicht immer klar auseinanderhalten kann. +Umgekehrt mindert Oxytocin offenbar auch sozialen Stress. Schließlich haben wir es nicht immer nur mit Leuten zu tun, die wir mögen. Wer durch seine Freundschaften ein hohes Oxytocinlevel aufrechterhält, kann zwischendrin auch unangenehme soziale Situationen leichter bewältigen und ist damit weniger anfällig für Stresssymptome wie Depressionen, Burnout oder Magenprobleme. Kein Wunder also, dass Freundschaften immens wichtig sind fürs allgemeine Wohlbefinden und die Gesundheit. +Studien haben Zusammenhänge zwischen dem Sozialleben von Menschen und Biomarkern wie Blutdruck, Diabetes, Übergewicht und Entzündungswerten im Körper festgestellt. Diejenigen mit funktionierendem Freundeskreis schnitten bei allen Werten besser ab als eher isolierte Personen. Das wirkt sich letztendlich auch auf die Lebenserwartung aus: Manche Forscher sagen sogar, dass Freundschaften für ein langes Leben noch wichtiger sind alseine gesunde Ernährungund regelmäßige Bewegung. +Ein interessanter Nebenaspekt dabei ist unser Mikrobiom. Das sind die Bakterien, die unseren Darm, aber zum Beispiel auch Haut und Schleimhäute besiedeln. Ein erwachsener Mensch beherbergt Billionen solcher Mikroben. Ihre Zahl und Zusammensetzung bestimmen unser körperliches und psychisches Befinden maßgeblich mit, zum Beispiel, indem sie die Produktion von Hormonen beeinflussen –wie etwa Oxytocin. Entscheidend geprägt wird das Mikrobiom durch den sozialen Umgang mit Menschen (oder auch Tieren). Und der Austausch körperlicher Nähe funktioniert bekanntlich nur analog. Denn unsere altmodischen Mikroben reisen weder per Telefon noch via WhatsApp oder Instagram. Also: Meet and greet your friends + diff --git a/fluter/wie-funktionieren-sanktionen-belarus.txt b/fluter/wie-funktionieren-sanktionen-belarus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cfdef7dfd23b156328dfd879a02fe0aead0d4037 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-funktionieren-sanktionen-belarus.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Andere Regierungen haben nicht viele Möglichkeiten einzugreifen, wenn ein totalitärer Staatschef die Leute im eigenen Land foltert. Sie können das diplomatische Gespräch suchen – oder sich um ein UN-Mandat oder eine NATO-Mission bemühen, um ihre Armee einmarschieren zu lassen. Aber verbale Kritik und Diskussionen bringen oft nicht viel, und einen Krieg anzuzetteln ist – zum Glück – meist auch nicht das Mittel der Wahl. Deshalb nutzen Regierungen häufig sogenannte Sanktionen. Das sind Strafmaßnahmen, die ein Staat allein oder gemeinsam mit anderen Staaten beschließen kann – etwa als Teil der Vereinten Nationen oder der Europäischen Union. Die Maßnahmen sollen den sanktionierten Regierungen klarmachen, dass sie die Werte der Europäischen Union verletzen, und sie im besten Fall dazu bringen, ihr Verhalten zu ändern. +Kurze Geschichtsstunde: Anfang der Neunzigerjahre begann das Zeitalter der Sanktionen. Während des Kalten Krieges hattendie USA und ihre Verbündeten auf der einen sowie die Sowjetunion und ihre Verbündeten auf der anderen Seite den Weltsicherheitsratoft blockiert, weil sie meistens gegeneinander gestimmt haben. Nach Ende des Kalten Krieges konnten sie sich häufiger auf Strafmaßnahmen einigen, etwa bei den Sanktionen 1990 gegen den Irak und dessen Diktator Saddam Hussein. Der war mit seiner Armee in den Nachbarstaat Kuwait einmarschiert. Wie damals üblich, belegten die Vereinten Nationen die irakische Wirtschaft mit einer Totalblockade. So wollten sie den Diktator in die Knie zwingen. Nur: Während Hussein im Amt blieb, starben laut einer UNICEF-Studie knapp eine halbe Million Kinder, weil sie weder Essen noch Medikamente bekamen. Deshalb gibt es heute kaum noch Totalblockaden, dafür sogenannte smarte Sanktionen, die einzelne Personengruppen und Wirtschaftsbereiche,nicht aber den Großteil der zivilen Bevölkerung treffen sollen. Dann werden zum Beispiel Konten wichtiger Akteure eingefroren, Visa gestrichen oder der Import und Export bestimmter Waren und Rohstoffe verboten. +Sanktionen gehören zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Wie viele Abläufe in der EU erfordern auch diese Sanktionsmechanismen, dass viele Akteure mitmachen. Neue Strafmaßnahmen beginnen meist mit einem Vorschlag des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell. Wenn alle Mitgliedstaaten zustimmen, erarbeitet die Finanzdirektion der EU-Kommission die Maßnahmen. Diese werden dann in den Arbeitsgruppen des Rates besprochen, bevor die Staats- und Regierungschefs erneut alle zustimmen müssen. Das passiert recht oft.Nur die USA verhängen mehrSanktionen als die EU. Laut Daten des Hamburger Leibniz-Instituts für Globale und Regionale Studien beschloss die EU zwischen 1990 und 2015 insgesamt 75 Strafmaßnahmen. Aktuell gelten unter anderem Kontensperrungen, Visabeschränkungen oder Waffenexportverbote für etwa 30 Staaten, darunter Iran, Libyen, Nordkorea, Syrien – und Belarus. +Zwischen der Europäischen Union und Belarus ist es schon länger kompliziert. Das erste Mal verhängte die EU im September 2004 Sanktionen, weil mehrere Oppositionelle entführt worden waren. Als das Regime dann über die Jahre immer wieder nachweislich Wahlen fälschen ließ, wurde die Liste der Sanktionierten länger und länger, bis im Jahr 2013 auch der Name des Präsidenten, Alexander Lukaschenko, darauf landete. Problem nur: Die EU war auf Lukaschenko angewiesen. Nachdem Russland im Jahr 2014 den Osten der Ukraine angegriffen und die Halbinsel Krim annektiert hatte, trat der belarussische Regent als neutraler Vermittler auf. Für die Gespräche lud er in seine Heimat. Das Ergebnis war eine Vereinbarung, die den Frieden sichern sollte, das "Minsker Abkommen". Die EU nahm infolgedessen 2016 fast alle Sanktionen zurück. +Das Regime in Belarus hatte in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Wahlen beeinflussen oder sogar fälschen lassen. Doch die Gewalt,mit der die Polizei bei den Präsidentschaftswahlen im August 2020 gegen Zehntausende Demonstranten im Land vorging, war beispiellos. +Im Oktober ließen die EU-Staats- und Regierungschefs etwa 40 Personen auf eine Sanktionsliste setzen, die friedlich Demonstrierende, Journalistinnen und Journalisten und Oppositionsmitglieder unterdrückt und eingeschüchtert haben sollen. Deren Konten wurden gesperrt und Visa gestrichen. Lukaschenkos engste Unterstützer konnten nun nicht mehr in Paris einkaufen oder an der Côte d'Azur urlauben. Wenige Monate später, im November 2020, nicht lange nach der letzten Präsidentschaftswahl, stand dann auch der Name des Präsidenten selbst sowie der seines Sohnes, Viktor Lukaschenko, auf der Liste; er ist Sicherheitsberater des Regimes. Aktuell umfasst die Liste 166 Belarussinnen und Belarussen aus Lukaschenkos Umfeld. +Die Brüsseler Bürokraten müssen gut belegen, warum der Name einer Person auf der Liste landet. Denn in der Vergangenheit hatten mehrfach Menschen gegen ihren Listenplatz geklagt – und das zuweilen mit Erfolg. Im Jahr 2013 bestätigte der Gerichtshof der Europäischen Union sein Urteil, dass ein angeblicher Al-Kaida-Unterstützer von einer Sanktionsliste gestrichen werden musste. Die Gründe waren nicht ausreichend. +Als Lukaschenko Ende Mai eine Ryanair-Maschine zur Landung zwingen ließ, um den oppositionellen Blogger Roman Protassewitsch festnehmen zu lassen, wurden die Sanktionen erweitert. Neben einzelnen Personen hat die EU auch Strafmaßnahmen für bestimmte Wirtschaftssektoren beschlossen. So wurde der Handel mit Mineralölprodukten und Düngemitteln eingeschränkt – beides für Belarus wichtige Wirtschaftsgüter. Beobachter meinen, dass die Wirtschaft des Landes um zwei bis drei Prozent schrumpfen könnte. Die Folgen würden die gesamte belarussische Bevölkerung treffen. +Bisher nicht. Während der Olympischen Spiele in Tokio sollen belarussische Behörden versucht haben, eine Athletin zu entführen, da sie sich öffentlich kritisch über die belarussischen Sportfunktionäre geäußert hatte. Wenige Wochen später, am Jahrestag der gefälschten Wahlen, demonstrierte aus Angst vor Folter und Festnahmen niemand auf den Straßen Minsks. +Der niederländische Sanktionsforscher Peter van Bergeijk kam vor einigen Jahren bei der Auswertung einer Sanktionsdatenbank zu dem Ergebnis, nur eine von drei EU-Sanktionsmaßnahmen sei erfolgreich gewesen. Allerdings: Niemand weiß, was ohne die Sanktionen gewesen wäre. Es ist unklar, ob Lukaschenko nicht vielleicht noch brutaler gegen seine Kritikerinnen und Kritiker vorgegangen wäre, wenn die EU sein Verhalten nicht bestraft hätte. Zudem sollen Sanktionen nie "nur" das Verhalten eines Regimes ändern. Den Staats- und Regierungschefs der EU dürfte klar sein, dass Lukaschenko nicht zurücktreten wird, weil ein paar Konten seiner Unterstützer gesperrt und ein paar Visa gestrichen worden sind. Stattdessen wollten sie Signale senden. An die EU-Bevölkerung: dass die Mitgliedsländer die eigenen Werte verteidigen. An die belarussische Opposition: dass die EU an ihrer Seite steht. An die belarussische Regierung: dass die EU die Verbrechen nicht duldet. An Regime anderswo: dass Menschenrechtsbrüche nicht folgenlos bleiben. +Unlängst versuchte Lukaschenko, die Europäische Union sogar an den Verhandlungstisch zu zwingen. Er schickte seit Jahresbeginn Tausende Geflüchtete aus dem Irak und Syrien weiter über die Grenze nach Litauen. Das stürzt die EU-Staaten in ein Dilemma: Sollen sie ihre harte Grenzpolitik aufrechterhalten oder den Menschen humanitäre Hilfe anbieten, die unter teils unerträglichen Bedingungen an der Grenze ausharren? Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell stellte "weitere Maßnahmen" in Aussicht. Sanktion folgt auf Sanktion. Und so könnte es noch eine Weile weitergehen. + diff --git a/fluter/wie-funktioniert-ein-drohnenkrieg-und-was-sind-seine-folgen.txt b/fluter/wie-funktioniert-ein-drohnenkrieg-und-was-sind-seine-folgen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a49cf024fb86311483e8b3cde3821fe6f185bb4c --- /dev/null +++ b/fluter/wie-funktioniert-ein-drohnenkrieg-und-was-sind-seine-folgen.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Die Menschen dort sehen die Drohnen nicht. Sie hören sie auch nicht. Gibt der Hauptmann im Büro in Nevada den Schießbefehl, ertönt ein kurzes Wummern, wie Überlebende solcher Angriffe berichten. Dann folgt die Detonation. +Sechs Jahre machte Bryant seinen Job. Heute leidet er an einerposttraumatischen Belastungsstörung. Vieles, was man heute über den weitgehend im Geheimen stattfindenden US-Drohnenkrieg weiß, stammt von dem Whistleblower. Über wie viele Drohnen die US-Armee verfügt, ist nicht bekannt. Nur, dass es Tausende sind – und sie die Zukunft des Krieges sein werden. +Seit 2012 bildet das amerikanische Militär mehr Drohnenoperatoren aus als Kampfflugzeugpiloten. Während die Militärausgaben sinken und die Truppe verkleinert wird, steigt das Budget für die unbemannten und bewaffneten Luftfahrzeuge. Die ferngesteuerten Flugobjekte, die mit Waffensystemen und Kameras ausgerüstet sind, gelten als eine der entscheidenden Waffe im "War on Terror", den die USA seit anderthalb Jahrzehnten führt. Der gesamte Datenverkehr, der dazu nötig ist, läuft über die US-Militärbasis in Ramstein in Rheinland-Pfalz. +Wie sieht eine Drohne die Welt? Vor sechs Jahren zum Beispiel so! Diese Luftaufnahme zeigt ein Gebäude irgendwo in Wasiristan, einer umkämpften Bergregion Pakistans. Die GEO-Daten wurden von der Washington Post entfernt. Wo genau sich das Gebäude befindet, ob es heute noch steht und ob die sieben darin markierten Personen noch leben, wissen wir nicht +Es gibt viele Arten von Drohnen. Die unbemannten Fluggeräte sind eine Erfindung, die unseren Alltag in Zukunft prägen wird. Bald könnten sie Pakete bringen, Organspenden transportieren, öffentliche Plätze und Grenzen überwachen. Schon jetzt helfen sie Bauern bei der Arbeit und verändern die Ästhetik des Films. Wie so oft, wenn neue Techniken in den Alltag finden,gehen militärische Nutzungen voraus. Im Grunde beginnt die Geschichte der Drohnen schon 1849. Die österreichischen Brüder Uchatius setzten im Kampf gegen das abtrünnige Venedig unbemannte Ballons mit 15 Kilo schweren Sprengladungen ein, die mit einer langsam brennenden Zündschnur quasi einen Zeitzünder hatten. Die Detonation verursachte zwar nicht viel Schaden, löste aber einen gehörigen Schrecken aus. +Das große Problem mit den unbemannten Ballons: Sie ließen sich nicht steuern – manche, die die Gebrüder Uchatius in die Luft schickten, blies der Wind hinter die eigenen Reihen. Das Problem löste erst eine Erfindung von Nikola Tesla: die Funkfernsteuerung. Auf der Weltausstellung 1898 in New York präsentierte er ein Modellschiff, das sich über Radiowellen steuern lies. Tesla sah darin großes militärisches Potenzial: Es hätte nicht nur eine zuverlässige Zerstörungskraft, sondern sei auch ein Mittel der Friedenssicherung. Bis Drohnen entscheidend in den Krieg eingriffen, dauerte es noch recht lange. Nicht nur ihre Steuerbarkeit musste funktionieren, sie brauchten auch Augen – in Form von leistungsstarken Kameras. +Während des Vietnamkriegs in den 1960er- und 1970er-Jahren setzte das US-Militär Drohnen zur Aufklärung ein. Mit ihnen konnte man die Stellungen des Feindes ausmachen. Erst seit 2001 und dem Anschlag der Al-Qaida auf das World Trade Center wurden Drohnen auch systematisch zum Töten, als Scharfschützen vom Himmel eingesetzt. Zwischen 2001 und 2013 sollen mindestens 1.670 Drohnenangriffe allein in Afghanistan geflogen worden sein. Bislang haben sieben Staaten bewaffnete Drohnen eingesetzt. Neben den USA noch etwa Großbritannien und Israel. Von Israel least die Bundeswehr Drohnen des Typs Heron, die allerdings bislang nur zu Aufklärungszwecken verwendet werden. Die Anschaffung von bewaffneten Systemen ist in der Diskussion. +Drohnen gelten als perfektes Kriegsgerät. Sie sind nicht nur so gut wie unsichtbar und für den Gegner unerreichbar, der Angreifer kann auch nicht verletzt geschweige denn getötet werden. Vergleichsweise billig sind sie obendrein. Jedenfalls verglichen mit Kampfjets oder Hubschraubern. +Auch deshalb sind sie bei Menschenrechtsorganisationen so umstritten. Der amerikanische Moralphilosoph Michael Walzer befürchtet, dass sie die Hemmschwelle zum Abschuss der Raketen heruntersetzen könnten. Durch die Entgrenzung von Kampf und Kämpfer sei es schlicht zu einfach und risikolos geworden zu töten. Auch die Auswahl der Piloten ist problematisch. Die CIA, die viele der gezielten Tötungen leitet, sucht nach Talenten in der Videospiel-Szene, wie es in dem 2014 erschienenen Dokumentarfilm "Drohne" zu sehen ist. +Ein weiteres Problem: Trotz all der Daten, die die Drohnen liefern, sind sie unzuverlässig. Da im völkerrechtlich umstrittenen Drohnenkrieg nicht die Streitkräfte von Staaten gegeneinander kämpfen, sondern die USA gegen Terrorgruppen, sind die Gegner meist nicht leicht zu erkennen. Oft werden sie durch die Sim-Karte im Handy identifiziert, manchmal auch über ihr Aussehen und Verhalten. Das etwa wurde Daraz Khan zum Verhängnis. Der Afghane war mit 1,80 Meter größer als die meisten seiner Landsleute, aber trotzdem einen Kopf kleiner als Osama bin Laden, für den ihn die C.I.A. hielt und ihn auf Grundlage der Videobilder zum Abschuss freigab. Zwei Männer hätten ihn mit einer gewissen Ehrerbietung behandelt, sagte das Pentagon. Belege, dass es sich um bewaffnete Kämpfer handelte, gab es keine. +Wie viele Menschen durch Drohnenangriffe gestorben sind, ist umstritten. Ebenso unklar ist, wie viele unschuldige Zivilisten dabei starben. Am 1. Juli 2016 räumte die US-Regierung erstmals ein, dass seit 2009 bei den rund 500 Angriffen von Drohnen in Libyen, Pakistan, Somalia und im Jemen bis zu 116 Zivilisten getötet wurden. Hinzukommt, dass zwischen Kämpfern und Zivilisten selbst nur schwer zu unterscheiden ist. Laut der Menschenrechtsorganisation Reprieve kommen auf jeden Terrorverdächtigen, der durch eine Drohne exekutiert wird, 28 getötete Zivilisten. +Wie viele Tote es in Afghanistan, Syrien oder dem Irak waren, sagte die US-Regierung nicht. Ebenso wenig, wie viele Menschen in den Jahren zuvor starben. Auch gibt es höher angesetzte Schätzungen von Nichtregierungsorganisationen. +Immerhin seien es viel weniger als in einem konventionellen Krieg, betonte Präsident Obama, in dessen Regierungszeit die Einsätze stark ausgeweitet wurden, bei einem Vortrag an der Universität Chicago. Brandon Bryant hat er damit nicht überzeugt. "The US-Government is full of shit" twitterte der ehemalige Drohnen-Lenker, als die Zahlen im Juli veröffentlicht wurden. +Wie es weitergehen kann? Autonome Drohnen, die sich selbst per Algorithmus steuern und in Schwärmen angreifen. An dieser Technologie experimentiert das US-Militär schon seit ein paar Jahren. Das moralische Dilemma, das dieses mit künstlicher Intelligenz operierende Kriegsgerät stellt, wird dadurch nicht kleiner. Im Gegenteil. diff --git a/fluter/wie-funktioniert-feministische-aussenpolitik.txt b/fluter/wie-funktioniert-feministische-aussenpolitik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..39b2c3c54f509ca0a2094a037e275e605f4b8bc8 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-funktioniert-feministische-aussenpolitik.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +"3R+D", so heißt die Formel,die das Auswärtige Amt in Deutschland dazu nennt. 3R steht für die Förderung der Rechte von Frauen und marginalisierten Gruppen, ihrer Repräsentation und ihrer Ressourcen. Das D steht für Diversität. Und das klingt tatsächlich nach Change, schließlich geht es in der Außenpolitik seltener, als man es sich wünschen würde, um humanitäre Fragen, sondern häufig darum, wie man Kriege und militärische Bündnisse, Handelsverträge, Strategien und Geopolitik gewinnbringend nutzen kann. Die Gleichstellung einzelner Gruppen stand bisher weniger im Vordergrund, vielleicht weil sie Männer im Alltag weniger oft betrifft als Frauen. +Weiterhören +Luxshi Vimalarajah vermittelt in internationalen Konflikten.Im fluter-Podcasterklärt sie, wie sie mit Terroristen spricht, welche Witze in Friedensverhandlungen funktionieren und warum man mit Wladimir Putin verhandeln muss +Eine feministische Außenpolitik soll also den Blick auf die Welt verändern. Wie sie konkret umgesetzt wird, lässt sich bisher nicht so leicht sagen. Es gibt nicht die eine feministische Außenpolitik. Aber es passt gut ins Bild, dass Schweden nur wenige Monate nach Wallströms Amtsantritt einen millionenschweren Vertrag über eine militärische Zusammenarbeit mit Saudi-Arabien aufkündigte, von der auch schwedische Firmen profitierten. Zuvor hatte Wallström die Menschenrechtssituation in Saudi-Arabien öffentlich kritisiert. +Die schwedische Regierung hat mit ihrer feministischen Außenpolitik in Konfliktregionen den Blick auf die Menschenrechtslage gelenkt – und auf die Einflussmöglichkeiten von Frauen auf politische Entscheidungen. Schließlich gehört zur feministischen Außenpolitik mehr Repräsentation – also beispielsweisemehr Frauen als Botschafterinnen zu entsendenund erst recht an die Verhandlungstische von internationalen Konflikten zu bringen. +Diese Absicht wurde bereits im Jahr 2000 in der Resolution 1325 des UN-Sicherheitsrats einstimmig verabschiedet, die als Meilenstein auf dem Weg zu einer feministischen Außenpolitik gilt. Bei Friedensverhandlungen bisher jedoch noch ohne Erfolg: Zwischen 1992 und 2019 lag der Anteil der Frauen in verhandlungsführenden Rollen bei durchschnittlich gerade einmal 13 Prozent. Dabei gibt es inzwischeneine Untersuchung der Vereinten Nationen, dass sich die Chance, dass ein Friedensabkommen länger als zwei Jahre hält, um 20 Prozent erhöht, wenn Frauen mitverhandeln. +Dabei gilt wie in allen Bereichen: Am effektivsten lassen sich die Bedürfnisse von einzelnen Gruppen erkennen, wenn sie selbst zu Wort kommen. Während Männer in Kriegen und Konflikten häufig direkt an der Front kämpfen, sind Frauen auf andere – und oft weniger sichtbare – Weise betroffen: Sie müssen beispielsweise unter höchstem persönlichen Risiko die Verantwortung für Kinder und Alte übernehmen, werden vertrieben und müssen fliehen. Sie sind außerdem auch der Gefahr von sexualisierter Gewalt und Vergewaltigungenausgesetzt, die Armeen oft systematisch als Kriegsstrategie einsetzen. Auch die schlechtere medizinische Versorgungslage,etwa für schwangere Frauen, ist in Kriegsgebieten ein zusätzliches Risiko. Diese Gefahren, denen Frauen in solchen Regionen tagtäglich ausgesetzt sind und deren Konsequenzen oftmals über das Kriegsende hinweg nachwirken, werden bei Friedensverhandlungen heute häufig noch nicht mitgedacht. +Einige Vertreterinnen der feministischen Außenpolitik gehen noch weiter. Sie verlangen eine Abkehr vom sogenannten "Realismus": Diese politische Weltsicht geht davon aus, dass jeder Staat auf sich allein gestellt ist und Stärke aufbauen und demonstrieren muss, um international gut dazustehen.Auch Rüstungsexporteseien daher kaum mit einer feministischen Agenda vereinbar. Diese Position wird gerade angesichts Russlands Angriff auf die Ukraine kontrovers diskutiert. Und auch sonst muss sich erst zeigen, wie sich feministische Perspektiven auf die reale Politik übertragen lassen: Würde Deutschland beispielsweise die Beziehungen zu allen Staaten, die wenig auf Frauenrechte geben, aus Prinzip einstellen, hätte es ziemlich wenige Gesprächspartner auf der Welt. +Ausgerechnet in Schweden, dem Geburtsland der feministischen Außenpolitik, wurde das Konzept von der neuen Regierung im Oktober 2022 gekippt. Begründung: Es sei nur ein Etikett, und solche Etiketten hätten die Tendenz, den "Inhalt zu verschleiern". + +Titelbild: Jockel Fink/Associated Press/picture alliance diff --git a/fluter/wie-funktioniert-gemeinwohl-oekonomie.txt b/fluter/wie-funktioniert-gemeinwohl-oekonomie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..308f0955ff7addfd483c49e037ef0745b45853cf --- /dev/null +++ b/fluter/wie-funktioniert-gemeinwohl-oekonomie.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Heinrich Staudinger, 65, ist Geschäftsführer der Firma GEA, die heute 55 Geschäfte in Österreich, Deutschland und der Schweiz betreibt und in drei Standorten in Österreich, Tschechien und Ungarn produziert. Rund 300 Mitarbeiter erwirtschafteten 2017 einen Umsatz von 32 Millionen Euro. Neben Schuhen verkauft der Ökobetrieb auch Matratzen, Taschen und Möbel. In der Schremser Schuhfabrik verteilt Staudinger Bio-Lebensmittel an Mitarbeiter, er investiert in Solaranlagen und bezieht selbst eigenen Angaben nach keinen festen Lohn. Wenn er mal was braucht, geht er zur Kasse in der Jurte und lässt sich ein paar Hunderter geben, sagt er. Arbeit und Leben, das sei bei Heini eines. Kann ein Unternehmer so denken? +Unterstützer sehen Heinrich Staudinger als einen, der Ideen der Gemeinwohlökonomie lebt. Den Begriff prägte vor allem der österreichische Aktivist Christian Felber, der für ein Wirtschaftsmodell eintritt, bei dem nicht der reine Profit, sondern Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit im Vordergrund stehen. Manche Firmen erstellen nach seiner Idee Gemeinwohl-Bilanzen, die Lebensqualität und Fairness zählen. Messbar ist das freilich nur schwierig. Geld nicht als Selbstzweck zu sehen, sondern als Mittel für ein gutes Leben – so jedenfalls beschreibt Heinrich Staudinger das Ziel seines Wirtschaftens. +Von wegen herumschustern: 18 Auszubildende lernen bei GEA Waldviertel das Handwerk – mehr als die Hälfte aller Schuhmacherlehrlinge in ganz Österreich + +Staudingers Kritiker halten ihn für einen naiven Idealisten und Dickschädel, mit dem sich nicht diskutieren lässt; tatsächlich differenziert Staudinger nicht immer gern. Das hat auch viel mit seinem Konflikt mit der Finanzmarktaufsicht (FMA) zu tun, der ihn vor sechs Jahren über die Grenzen Österreichs hinaus bekannt machte und ihm die Bezeichnung Finanzrebell einbrachte. Ein "zorniges Schlitzohr", nannte ihn das Wirtschaftsmagazin brand eins damals. Staudinger selbst nennt sich "einen der populärsten Rechtsbrecher Österreichs". +Als eine Bank Staudinger einen Kredit verwehrte, bat er Freunde und Bekannte, später auch Mitarbeiter und Kunden um Geld. Er gründete einen "Sparverein", sammelte ab 2003 drei Millionen Euro und zahlte regelmäßig Zinsen aus. Bis sich 2008 die FMA bei ihm meldete: Staudinger betreibe Bankgeschäfte ohne Bankenkonzession, er müsse das Geld zurückzahlen. Es ging dabei vor allem um den Anlegerschutz: Wenn Banken pleite gehen, bürgt der Staat für Einlagen. Doch wer Staudinger Geld lieh, hatte diesen Schutz +Staudinger blieb stur, nannte den "Sparverein" in "Apfelbäumchen-Club" um, schimpfte öffentlich und rückte zum Behördentermin mit seinen Unterstützern an. Vielen Bürgern war unverständlich, warum ausgerechnet jetzt – nach derLehman-Pleiteund dem Beginn einerweltweiten Wirtschaftskrise, in der Banken milliardenschwere Finanzspritzen erhielten– ein kleiner niederösterreichischer Schuhunternehmer in die Mangel genommen werden sollte. +Staudinger verlor vor Gericht und musste eine Strafe von 2.626 Euro zahlen. Doch der Fall traf einen Nerv, und machte ihn über Österreichs Grenzen hinaus bekannt. Der Umsatz seines Unternehmens verdreifachte sich von 10 auf rund 30 Millionen Euro. +Ins Schuhgeschäft kam Heinrich Staudinger eher zufällig. Aufgewachsen im Salzkammergut, fuhr er nach der Schule mit dem Moped bis nach Tansania; bis heute reist er in das ostafrikanische Land und unterstützt dort Hilfsprojekte. Zurück in Österreich scheiterte er an einem Medizin-Studium. Als er in den siebziger Jahren in einem Münchner Geschäft "Earth Shoes" entdeckte, beschloss er – ganz spontan –, so erzählt er es, diese zu importieren und zu verkaufen. Die Gesundheitsschuhe wurden von einer dänischen Yogalehrerin erfunden und waren bald so beliebt, dass die Nachfrage die Produktion überstieg. Als Staudinger keine zuverlässigen Lieferanten mehr fand, kaufte er 1991 eine kleine Schuhwerkstatt im Waldviertel, für einen symbolischen Schilling. +Die ersten Jahre waren ein Kampf – die Region Waldviertel ist das,was Ökonomen strukturschwach nennen. Früher arbeiteten Tausende Menschen in der Textilindustie, dann wanderte die Produktion in asiatische Billiglohnländer ab. Geblieben ist die Landesberufsschule in Schrems. Heute lernen dort 31 Lehrlinge das Handwerk des Schuhmachers, davon 18 in seinem Betrieb. +Dass Leute extra nach Schrems fahren, um vor Ort einzukaufen, hätte Staudinger, wie er beteuert, vor 20 Jahren selbst nicht geglaubt. Aber da war er auch noch kein Experte in Markenbranding, und auch das mit der List hat er erst später professionalisiert. Aktuell verbreitet er zum Beispiel gern: "Schrems ist das Zentrum. Es liegt zwischen Wien und Prag. Zwischen Budapest und Berlin. Zwischen Kiew und Barcelona." Dass das nicht stimmt? Geschenkt. "Immer mehr Leute glauben das aber", sagt Staudinger. +Dank der hohen Nachfrage lässt Staudinger neben Schrems mittlerweile auch in Ungarn und im nahen Tschechien produzieren; ganz entkommt er der globalen Wirtschaftslogik also nicht. Leidenschaftlich schimpft er über die österreichischen Lohnnebenkosten. Seiner Meinung nach sind sie viel zu hoch. +Doch der Erfolg bestätigt ihn, weiterzumachen. Sein nächstes Ziel: GEAin eine Genossenschaftnach Vorbild der Tageszeitung taz umbauen. Seit 2015 sammelt Staudinger legal Geld, gedeckt durch das österreichische Alternativfinanzierungs-Gesetz, das durch seinen Streit mit der FMA ins Rollen gebracht wurde. Sein Apfelbäumchen-Club besteht nach wie vor. Mittlerweile stünden Hunderte auf einer Warteliste, die ihm Geld leihen wollen, sagt er. Aber Heinrich Staudinger, der Heini, hat vorerst genug. diff --git a/fluter/wie-funktioniert-kreislaufwirtschaft.txt b/fluter/wie-funktioniert-kreislaufwirtschaft.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d09a9d202c2998f39c3a1818b6ccf7db2ce7e4e3 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-funktioniert-kreislaufwirtschaft.txt @@ -0,0 +1,32 @@ +Die meisten Menschen fordern weniger Müll, Sie dagegen fordern, dass es gar keinen Müll mehr gibt. Wie soll das gehen? +Die Idee der Müllvermeidung ist schon das Problem. Denn dabei denken Sie ja immer noch an Müll. Ich denke dagegen ausschließlich an Nährstoffe. Alles, was uns umgibt, ist Nähr­stoff, für die Biosphäre oder die Technosphäre. Alles, was verschleißt – Schuhsohlen, Bremsbeläge, Autoreifen –, sollten wir so gestalten, dass es nicht nur nicht giftig, sondern auch noch nützlich ist. Hinter der Forderung nach Müllvermeidung steckt ein grundlegend falsches Verständnis von Umweltschutz. Wir schützen die Umwelt nicht,wenn wir sie ein bisschen weniger zerstörenoder ein bisschen weniger Müll machen. Es geht darum, alles neu zu denken. Der Abfall ist die Ab­weichung vom Normalen. +Wie sieht das neue System aus, das Sie etablieren wollen? +Die Idee von "Cradle to Cradle" ist, die Menschen als Chance für diesen Planeten zu beschreiben und nicht als Belastung. Es geht nicht darum, den ökologischen Fußabdruck zu mi­nimieren, sondern einen möglichst großen Fußabdruck zu haben – der aber ein Feuchtgebiet ist. Das bedeutet, dass alles, was wir verwenden, nach dem Verschleiß als biologischeoder technische Nährstoffe genutzt werden sollte. Und das funktioniert zum Beispiel so: Statt einer Waschmaschine verkauft der Hersteller nur die Dienstleistung "3000 ­mal waschen", statt eines Fensters mit Aluminiumrahmen nur "10 Jahre durchgucken". Wenn man das macht, kann das Unternehmen für die Herstellung das qualitativ beste Mate­rial verwenden, weil man weiß, dass das Material in zehn Jahren zurückkommt.Statt 40 billiger Kunststoffe, die man später nur noch zu Parkbänken "downcyceln" kann, können die Hersteller drei gute Kunststoffe verwenden, die praktisch endlos wieder eingesetzt werden können. + +Auf der Müllkippe von Ghazipur im indischen Delhi lagern 14 Millionen Tonnen Abfall. Sie ist fast 70 Meter hoch und erstreckt sich über 29 Hektar. Der französische Fotograf Robin Tutenges hat die Menschen porträtiert, die jeden Tag im Müll nach Verwertbarem suchen + +Bisher ist es ja so: Ich kaufe ein Fenster mit Aluminiumrahmen, und was später mit dem Metall passiert, ist dem Hersteller egal. Was ist der Anreizfür ein Unternehmen, es anders zu machen? +Das ist ganz einfach: Stoffe wie Aluminium sind sehr viel wert. Und der Wert steigt immer weiter, weil die energie­ intensive Herstellung durch die CO2­-Bepreisung immer teurer wird. Bei anderen Materialien ist die Seltenheit ein Faktor: Wenn ich zum Beispiel Indium in einem Gerät ver­baue, muss ich wissen: Das hat die Menschheit vielleicht noch für zehn Jahre zur Verfügung. Wie kann ich so blöd sein, das zu verkaufen, wenn ich es als Hersteller doch dringend brauche. Die Lösung ist: Ich leihe das Indium an den Konsumenten nur aus. Das Motiv für ein Umdenken ist also rein wirtschaftlich. +Und warum handelt dann derzeit kaum ein Unternehmen nach diesem Ansatz? +Die Generation von Menschen, die jetzt Entscheidungen treffen, hat das Eigentum lange angebetet wie einen Gott. Junge Leute wollen dagegen nur Dienstleistungen, die wollen das ganze Zeug nicht am Hals haben. Doch die Marktwirt­schaft kommt dem noch nicht nach, weil die alten Leute noch immer so fixiert sind auf Eigentum, auf das "Habenmüssen". +Sollte man Hersteller also einfach verpflichten, ihren Müll zurückzunehmen? +Nein, denn in meiner Vorstellung bleibt der Hersteller die ganze Zeit Eigentümer, und ich kaufe nur die Nutzungsdau­er. Wenn ein Unternehmen etwas herstellt, das nicht ver­brennbar oder kompostierbar ist und nicht in der Umwelt landen darf, dann bleibt das Produkt das Eigentum des Unternehmens. Und wenn ich irgendwo etwas davon finde, kann ich den Hersteller wegen der Vermüllung und der che­mischen Belästigung verklagen. + + + + +Aber wenn in Tieren gefährliche Chemikalien gefunden werden, weiß ja niemand, wer der Verursacher ist. +In diesem Fall teile ich den Konzernen Quoten zu und sage: So viel habt ihr in Umlauf gebracht, das ist euer Problem, bezahlt dafür. +Derzeit stehen wir ja real vor riesigen Müllbergen in der Welt. Wie kann Ihr Konzept da helfen? +Die Reihenfolge der Aufgaben ist doch klar: Bei einer Flutkatastrophe muss man auch erst die Flut stoppen, bevor manmit den Aufräumarbeiten beginnt. Darum müssen wir auch die Müllproduktion erst stoppen und dann aufräumen. Wir haben zum Beispiel eine studentische Firma gegründet, die eine Maske entwickelt hat, die perfekt biologisch abbaubar ist. Wenn die in die Meere gelangt, ist das kein Problem, im Gegensatz zu den jetzigen medizinischen Masken, von denen mittlerweile über 2,5 Milliardenin den Weltmeeren herum­ schwimmenund sich dort 300 Jahre lang halten. Natürlich muss ich mich fragen, wie ich dieses Plastik wieder aus den Meeren rausbekomme – aber davor steht doch die Aufgabe, den weiteren Zustrom zu stoppen. +Müll entsteht nicht nur bei der Herstellung von komplexen Produkten, sondern fälltbei jedem Supermarkteinkaufmassenweise an. Wie lässt sich dieser Abfall Ihrer Meinung nach vermeiden? +Ich habe in Hamburg den Müll untersucht, und 20 Prozent des Restmülls waren Windeln. Ein Baby braucht 3.000 Ein­ wegwindeln – statt eines Müllberges kann daraus aber auch ein Wald entstehen. Biologisch abbaubare "Cradle to Cradle"­ Windeln enthalten zellulosebasierte Superabsorber, von denen ein Gramm über einen Liter Wasser speichert. Mit dem Windelverbrauch eines Babys kann man 250 Bäume in regen­ armen Gebieten pflanzen – und das Baby wirkt mit seinem "Abfall" klimapositiv. Da, wo so eine produktive Zweitnutzung nicht möglich ist, muss man für Verpackungen Hightech­ materialien verwenden. Wenn auf alle Verpackungen, auch die von Salzstangen und Chips, ein Pfand erhoben würde, würden die Verpackungen zurück in den Laden und zu den Herstellern kommen – und könnten dann praktisch endlos wieder eingesetzt werden. + + +Echtes Recycling ist oft deshalb nicht möglich, weil zu viele verschiedene Materialien verbunden werden, die am Ende nicht mehr sauber getrennt werden können. Geht es bei "Cradle to Cradle" also einfach um schlichteres Design? +In den meisten Verpackungen sind fünf bis sieben verschie­dene Kunststoffe zusammengefasst. Da ist wenig mit Recycling, darum landet das Zeug dann in Bergwerken oder in Vietnam – dort läuft man meterhoch durch deutsche Verpackungsab­fälle. Das ist Kolonialismus pur. Was wir stattdessen brauchen, sind Verpackungen, die nur aus einem Material bestehen und auf die ein Pfand erhoben wird. Derzeit wird überall das bil­ligste Material eingesetzt, und dadurch wird es für die Gesell­schaft viel, viel teurer. Die Gewinne bleiben bei den Unter­nehmen, die Risiken werden vergesellschaftet. +Stößt die Suche nach "müllarmen" Produktdesigns in Deutschland auf besonderes Interesse? +Es gibt viele Kulturen, in denen eherin Kreisläufen gedacht wird. In Deutschland dagegen betrachten wir nie Kreis­läufe, sondern denken immer nur linear. Ich nutze Deutsch­land eher als abschreckendes Beispiel, denn die Leute denken hier, sie machen Umweltschutz, wenn sie Verbren­nungsanlagen bauen. Das Böse, der Müll, soll mit Feuer ausgelöscht werden. Und dann wird die Energie aus der Müllverbrennung noch als erneuerbare Energie ausgegeben – und wir werden für unsere Müllvernichtungsfähigkeit auf der ganzen Welt bewundert. +Ein bisschen scheint es so, als würden Sie mit dem "Cradle to Cradle"-Prinzip eine Art Perpetuum mobile für das konsumistische Zeitalter versprechen.Wir dürfen alle weitershoppen, nur ohne die zerstörerischen Auswirkungen. Das klingt ein bisschen zu schön, um wahr zu sein. +In der jetzigen Umweltdiskussion heißt es oft: "Du musst vermeiden, sparen, verzichten." Wenn man aber den Leuten sagt, dass sie etwas nicht haben können, dann wollen sie es erst recht haben – und denken sich: "Bevor es mir jemand ver­bietet, schaff ich es mir noch selber an." Man erreicht also genau das Gegenteil. Ich glaube, wir brauchen eine Kultur der Großzügigkeit, die zur Bescheidenheit führt – das ist zwar ein Paradox, aber so funktioniert der Mensch nun mal. +Michael Braungart ist Professor an der Erasmus-Universität Rotterdam und an der Leuphana Universität Lüneburg. Außerdem ist er wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Umweltinstituts. Er gilt als Miterfinder des "Cradle to Cradle"-Prinzips, das eine müllfreie Kreislaufwirtschaft zum Ziel hat. diff --git a/fluter/wie-gefaehrlich-ist-der-digitale-kapitalismus.txt b/fluter/wie-gefaehrlich-ist-der-digitale-kapitalismus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..53919363155646f6f745210c400fb618f9538c70 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-gefaehrlich-ist-der-digitale-kapitalismus.txt @@ -0,0 +1,33 @@ +Bei allen Bequemlichkeiten des Digitalen – deine persönlichen Daten solltest du schützen.Wie, erfährst du hier +Timo Daum: Die digitale Ökonomie verändert unser Leben und unsere Gesellschaft gerade radikal. Auf den ersten Blick ist es wirklich so eine Art Schlaraffenland. Informationen, dazu zähle ich jetzt auch mal Musik undFilme, sind frei verfügbaroder kosten sehr wenig Geld. Technisch gesehen funktioniert alles sehr gut, und auch kulturell ist das eine riesige Errungenschaft. Bloß: Wie können Unternehmen Geld verdienen? Wir haben es beim digitalen Kapitalismus mit einer Neudefinition von Arbeitsprozessen und Ausbeutung zu tun. Eine Plattform wie Facebook hat Milliarden Nutzerinnen und Nutzer, diese sind einerseits so etwas wie Kunden, gleichzeitig aber auch unbezahlte Arbeiter. Denn die User sind es ja, die die Daten liefern, mit denen die Plattform am Ende Geld verdient. +Als Kunde bekomme ich gar nicht mit, was im Maschinenraum passiert. Welche Rolle spielen die Algorithmen im Hintergrund? +Ich vergleiche Algorithmen mit den Maschinen in einer klassischen Fabrik, wie Henry Ford sie erfand. Algorithmen erzeugen aus dem Rohstoff Daten Informationen, die sich im digitalen Kapitalismus verwerten lassen. Das machen Googles Such-Algorithmen, die Matching-Algorithmen eines Fahrvermittlungsdienstes wie Uber oder auchPartnervermittlungen. Das ist der Kernprozess des digitalen Kapitalismus. +Sind Algorithmen denn neutral? +Es ist offensichtlich, dass sie nicht neutral sind. Natürlich dienenall diese Algorithmenund Künstliche-Intelligenz-Anwendungen, die da in unser Haus eindringen, den Konzernen. Sie helfen ihnen, aus Daten verwertbare Informationen zu generieren. Soziale Netzwerke etwa sind so designt, dass wir das Gefühl kriegen: Ich muss die ganze Zeit aktiv sein. Ein Strom von Daten soll generiert werden, was ich sage, ist egal. Dem wird alles andere untergeordnet. + + + + +InChina wird gerade ein Sozialpunktesystem eingeführt, bei dem die Menschen anhand ihrer Daten bewertet und in gute und schlechte Bürger eingeteilt werden. Wächst mit Big Data die Möglichkeit, Menschen zu kontrollieren? +Selbstverständlich. Interessant ist jedoch zweierlei: Wer bekommt diese Daten, und wer bestimmt, was mit ihnen geschieht und zu welchem Zweck? Was tun wir, wenn eine App uns fragt: Dürfen wir auf deine Kontakte oder deinen aktuellen Standort zugreifen, um dir einen besseren Service, eine bessere User-Experience zu bieten? Nach kurzem Zögern antworten wir meist mit "Ja". Wir wissen also sehr wohl, dass wir ab sofort getrackt werden, Bewegungsprofile erstellt werden, unsere Sozialkontakte verwertbare Informationen für Werbetreibende oder eben für Regierungsstellen liefern, die ein soziales Scoring veranstalten. Wir wissen es, und wir tun es trotzdem. Weil es so bequem ist. Ich denke, es gibt kein Zurück in die Zeiten vor Big Data und umfassender Echtzeitüberwachung. Die Frage ist vielmehr, ob wir diesen Datenschatz, der zu unserer wichtigsten Ressource überhaupt wird, weiterhin Geheimdiensten und privaten Firmen überlassen wollen. Oder ob wir eine Datenrevolution veranstalten, durch die wir die Souveränität über diese zurückgewinnen, aber nicht als einzelne Individuen im Sinne von "Meine Daten gehören mir", sondern als Gemeinschaft: "Unsere Daten gehören allen." +Immer wieder hört man, dass Daten das "Öl" des 21. Jahrhunderts sind. Mittlerweile gilt das nicht nur für Geschäfte im Internet. Die Hotelbranche, die Autobranche, überall scheint es nur noch um Daten zu gehen. +Ich glaube, der digitale Kapitalismus ist in den letzten zehn Jahren gereift. Jetzt erleben wir so etwas wie eine neue Stufe. Die mächtigsten Unternehmen haben sich in verschiedenen Bereichen etabliert und dringen in neue Gebiete vor. Beim Verkehr in den Städten wird das Auto als Produkt zum Beispiel langfristig an Bedeutung verlieren. +Wichtiger werden hingegen Informationen, die in Echtzeit darüber Auskunft geben, wer unterwegs ist und wohin er will. Im Energiesektor wird die große Fabrik, in der Strom produziert wird, zum Auslaufmodell. Stattdessen speisen viele dezentrale Einheiten erneuerbare Energie ein. Die entscheidende Frage wird sein, wer in Zukunft den Stromhandel mit Daten und Algorithmen managt. Oder nehmen wir den Gesundheitsbereich: Die Firma IBM hat gerade in den USA Analysefirmen gekauft, um an Daten von Patienten zu kommen. IBM will seine künstliche Intelligenz, Watson, in diesem Bereich trainieren und Diagnosewerkzeuge entwickeln. +Viele Branchen haben es durch die Konkurrenz der großen Plattformen zunehmend schwer, zu überleben. Einzelhandel, Journalismus, Taxigewerbe, Hotels und viele andere Branchen werden durch die neuen Geschäftsmodelle herausgefordert und bedroht. Wie verändert die Digitalisierung denn unsere Arbeitswelt? +Gerade im Wirtschaftswunderland Deutschland waren die Arbeitsverhältnisse lange Zeit vergleichsweise idyllisch. Es gab lineare Arbeitsbiografien, Festanstellung, Sozialversicherung, Teilhabe am Wohlstand. In diese Welt sticht der digitale Kapitalismus rein und macht vieles kaputt. Es wird deutlich, dass das eine relativ kurze historische Phase war. Durch Plattformen wie Uber, Foodora oder Amazon entsteht eine neue, fragmentierte Mikroarbeiterklasse, die bei null anfangen muss, was Arbeitnehmerrechte und soziale Absicherung angeht. + + +Schafft die digitale Ökonomie mehr Ungleichheit? +Ja, die durch Lohnarbeit finanzierten Sozialsysteme geraten definitiv in die Krise. Viele Manager aus dem Silicon Valley glauben, dass sie in Zukunft immer weniger Menschen beschäftigen werden. Genau deswegen finden sie auch die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens so gut. Der Internetvordenker Jaron Lanier prognostizierte schon vor vielen Jahren, dass die Mittelklasse aussterben wird, weil die neuen Internetfirmen viel weniger Arbeitsplätze anbieten als ihre Vorgänger. Der digitale Kapitalismus erfordert neue sozialpolitische Diskussionen. Das Modell Festanstellung wird meiner Meinung nach dahinschmelzen wie die Gletscher in der Sonne durch die Klimaerwärmung. +Da wünscht man sich ja fast, das Internet wäre nie erfunden worden! +Timo Daum ist Hochschullehrer für IT und digitale Wirtschaft. 2017 erschien sein Buch "Das Kapital sind wir: Zur Kritik der digitalen Ökonomie" (Foto: privat) +Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Ich will nicht sagen, der digitale Kapitalismus ist böse, und wir müssen jetzt zum alten Kapitalismus zurück. Früher war auch nicht alles besser. Der alte Kapitalismus hat zum Beispiel eine unverantwortliche Wachstumsideologie propagiert. Er hat Raubbau an der Natur betrieben und ärmere Länder ausgebeutet, um Wohlstand zu generieren. Die alte Arbeitswelt ist durch Gender-Ungerechtigkeit, überkommene Rollenmodelle und Arbeitsfetischismus geprägt. Ich bin froh, dass das gerade abgewickelt wird. Heute gibt es in der Sharing Economy durchaus Ansätze, die besser sind. Zum Beispiel, wenn ein Geschäftsmodell nicht mehr darauf setzt, noch mehr Autos zu produzieren, die dann die meiste Zeit ungenutzt in den Städten stehen, sondern Ideen entwickelt, wie man die bereits existierenden Autos besser auslasten kann. +Die Staaten tun sich bislang schwer, das Geschäft mit den Daten zu regulieren. Es gibt zwar die neue Europäische Datenschutzgrundverordnung, die die EU-Datenschutzrichtlinie ersetzt, aber ihre Wirkung ist noch ungewiss. Kann denn der einzelne Nutzer etwas tun? +Es gibt darauf zwei typische Reaktionen. Die einen sagen: Die haben doch eh meine Daten, jetzt ist es auch schon egal. Die anderen verweigern sich. Sie melden sich bei Facebook ab und treten in den Widerstand. Ich halte beides für falsch. Ich würde dafür plädieren, an den Debatten teilzunehmen. Wir müssen verstehen, wie die Sachen funktionieren, um Alternativen zu entwickeln. Ich denke, es braucht eine neue Bewegung, die sagt: Algorithmen ja, Daten ja, Plattformen ja, aber in öffentlicher Hand, unter öffentlicher Kontrolle. + +Wie sieht denn eine öffentliche Kontrolle der Daten konkret aus? Ein soziales Netzwerk als Genossenschaft? +Bisher scheiterten die meisten Alternativmodelle zu kommerziellen sozialen Netzwerken, oder sie dümpeln in der Bedeutungslosigkeit herum. Was ich dagegen inspirierend finde, sind Städte und Kommunen, die erkannt haben, dass Daten immer wichtiger werden. In Barcelona werden Daten, die für die Stadtbewohner wichtig sind, in öffentlicher Hand behalten und nicht kommerziellen Anbietern überlassen. Die Stadt hat zum Beispiel ein kommunales Fahrradverleihsystem. Alle Daten, die daraus generiert werden, werden für Stadt- und Verkehrsplanung benutzt. In Berlin gibt es dagegen viele verschiedene Privatunternehmen, die Leihräder anbieten. Das führt zu Chaos und dazu, dass die Stadtverwaltung überhaupt keine Ahnung von ihrem Verkehr hat. Mag sein, dass das erst mal nach einem kleinen Anfang klingt. Aber ich glaube, dass die Städte in Zukunft mehr Bedeutung bekommen werden und die Macht der Nationalstaaten schrumpft. +In Ihrem Buch stellen Sie sich die Ausgangsfrage, was Karl Marx wohl vom digitalen Kapitalismus halten würde. Was haben Sie herausgefunden? Wäre er ein Gegner oder ein Fan? +Beides. Marx liebte Technologie, wusste aber auch, dass sie zur Ausbeutung der Arbeiter genutzt wurde. Er hat den Kapitalismus für seinen technologischen Fortschritt bewundert und war begeistert davon, wie er alte Ordnungen zerstörte und die Pfaffen und Könige davonjagte. Das wäre heute auch noch so. Marx fände es toll, dass wir uns so leicht weltweit vernetzen und Wissen erwerben können. Er würde sich aber auch die Augen reiben und fragen: Es sind 150 Jahre vergangen, und ihr habt es immer noch nicht geschafft, dieses System durch etwas Rationaleres zu ersetzen? Nachdem er ein Selfie gemacht und verstanden hätte, wie Google funktioniert, wäre er wahrscheinlich in die British Library zurückgekehrt, hätte den vierten Band des "Kapitals" angefangen und nebenbei versucht, Clickworker zu organisieren und sie zur Revolution aufzurufen. + +Titelbild: Nikita Teryoshi/OSTKREUZ diff --git a/fluter/wie-geht-es-deniz-yuecel.txt b/fluter/wie-geht-es-deniz-yuecel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6d730a850ac59e60f5d033f94986e49d7f71761b --- /dev/null +++ b/fluter/wie-geht-es-deniz-yuecel.txt @@ -0,0 +1,33 @@ +Sie waren in der Türkei, als noch nicht ganz klar war, ob er nach dem Polizeigewahrsam freigelassen wird oder ob es einen Haftbefehl geben wird. War das der letzte direkte Kontakt? +Am 28. Februar. Das war der Tag, an dem Deniz dem Staatsanwalt im Justizpalast von Istanbul vorgeführt wurde. Ich war dort mit Deniz' Frau, seinen Anwälten und einem Kollegen der WELT. Wir haben uns vor das Büro des Staatsanwalts gestellt, wo Deniz verhört werden sollte. Irgendwann kam er, umringt von sechs Polizisten. Es hat mir buchstäblich den Atem geraubt. Es war einerseits wunderbar, ihn heil und unversehrt zu sehen. Andererseits war es ein schrecklicher Moment, weil klar war, dass er gleich wieder weg sein würde. Die Polizisten haben uns ein paar Minuten mit ihm reden lassen, wir konnten ihn umarmen. Aber keiner von uns hat ein Wort rausgebracht. Es war Deniz, der als Erster diese surreale Situation auflöste. Er zeigte uns seinen Raucherfinger – der Fingernagel war nicht mal mehr bis zur Hälfte braun – und sagte: "Gefängnis hat auch was Gutes" und lachte. Das ist Deniz. Dann wurden wir von den Sicherheitsbehörden freundlich gebeten, den Gang zu verlassen. Inzwischen waren aber weitere türkische Kollegen und Freunde, der deutsche Generalkonsul, Oppositionspolitiker gekommen. Alle zusammen haben wir zehn Stunden in dem riesigen Justizgebäude verbracht. + +Deutsch-türkische Spannungen +Die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sind momentan äußerst angespannt. Im Frühjahr wollte der türkische Präsident Tayyip Erdoğanmit einem umstrittenen Verfassungsreferendumseinenpolitischen Einfluss weiter ausbauenund konnte es dann auch für sich entscheiden.Im Vorfeld hatten Auftrittsverbote für türkische Politiker in Deutschland für Streit und sogar Nazi-Vergleiche gesorgt: Erdoğan selbst hatte Bundeskanzlerin Merkel Nazi-Methoden vorgeworfen. Nachdem die türkische Regierung deutsche Abgeordnete daran gehindert hatte, deutsche Soldaten am Luftwaffenstützpunkt im türkischen Incirlik zu besuchen, beschloss der Bundestag, die Bundeswehr von dort abzuziehen. Auch zum Nato-Stützpunkt in Konya wurde den deutschen Parlamentariern der Zugang verwehrt. Die Bundesregierung kritisiert dieses Vorgehen von Präsident Erdoğan scharf, insbesondere aber die Missachtungen von Menschenrechten wie Presse- und Meinungsfreiheit. +Stunden, in denen Sie sehr zuversichtlich waren … +Ja, denn die Nachrichten, die wir aus dem Gerichtssaal bekamen, klangen gut. Staatsanwalt und Haftrichter befragten ihn fast ausschließlich zu seinen Texten. Es war keine Rede von Terrormitgliedschaft, Spionage oder Ähnlichem. Als dann gegen späten Abend verkündet wurde, dass es ein Hafturteil gibt und er ins Gefängnis muss, fühlte sich das an, als hätte mir jemand ein Beil ins Genick gejagt. Mir wurde schlagartig eiskalt und ich konnte mich nicht bewegen. Doch nach wenigen Sekunden war das weg. Ich musste funktionieren, meine Zeitung (Anm.: die taz) anrufen, berichten, Medien riefen an, wollten Interviews, vor dem Gebäude warteten Freunde, Journalisten, Oppositionspolitiker, denen wir jetzt erzählen mussten, was wir selbst noch gar nicht richtig verstanden hatten. Und so geht das seitdem quasi jeden Tag. + +Emotional muss das extrem belastend sein, auch für Sie und seine Familie. +Ja und nein. Es ist natürlich alles der reine Wahnsinn, weil sich die Situation nicht beruhigt. Im Gegenteil, alle paar Tage gibt es neue Hiobsbotschaften seitens der türkischen Regierung. Als Erdoğan Deniz zum ersten Mal öffentlich erwähnte und als Agenten bezeichnete, war uns klar: Okay, es handelt sich hier nicht um ein dummes Missverständnis. Das ist alles so gewollt. Das war die Hölle. Nicht nur, aber auch um dieses Gefühl der Ohnmacht und der Hilflosigkeit zu überwinden, haben wir in Deutschland die Autokorsos veranstaltet. In Flörsheim, Deniz' Heimatstadt, fuhren nicht nur Journalisten und Freunde mit, sondern gefühlt die ganze Stadt. Deniz' Schwester hat den Korso organisiert, und der SPD-Bürgermeister stand auf der Straße und hat die Autos rausgewunken. Solche Momente sind wahnsinnig bewegend und geben sehr viel Kraft. +Wie arbeitet der "Freundeskreis Deniz Yücel"? +Die Mobilisierung läuft über unsere Facebook-Seite und Twitter. Aber natürlich auch über die Medien, die vorab und im Nachhinein über die Veranstaltungen berichten. Wir sind etwa 20 Freunde, ehemalige Kollegen und Weggefährten. Nachdem bekannt wurde, dass sich Deniz in Polizeigewahrsam befindet, haben wir uns in einer Kneipe in Berlin getroffen und überlegt, was wir tun können. Denn dass wir etwas tun müssen, war uns sofort klar. Und klar war uns auch, dass wir keine Schweigeminuten oder Mahnwachen veranstalten wollen. Da hat doch niemand mehr Lust drauf. Und das passt auch einfach nicht zu Deniz. Wir haben uns gefragt: Was würde Deniz machen? "Er würde Autokorso fahren wollen, wie immer", witzelte jemand. Und dann haben wir innerhalb von zwölf Stunden den wahrscheinlich ersten politischen Autokorso Deutschlands organisiert. In allererster Linie machen wir das alles für Deniz. Damit er weiß, dass wir ihn nicht vergessen und damit er über uns lachen kann. Deshalb die Korsos, das Konzert vor dem Brandenburger Tor am Internationalen Tag der Pressefreiheit und die Lesungen, auf denen Prominente Deniz' Texte lesen. Das ist unsere Form von Demo. Es ist unser Weg, die Situation von Deniz und die Situation in der Türkei, die Einschränkung der Pressefreiheit, der Meinungsfreiheit, der Demokratie weiter in der Öffentlichkeit zu halten. Wir versuchen, dafür auch Leute zu gewinnen, die sonst nicht unbedingt auf Demos gehen. Es war uns von Anfang an wichtig, dass wir mit dem Hashtag #FreeDeniz auch alle anderen inhaftierten Journalisten in der Türkei meinen. Deniz ist kein Einzelfall, er ist einer von Tausenden. Wir machen das Ganze ja auch in der Hoffnung, diejenigen, die in der Türkei für Gerechtigkeit und Demokratie kämpfen, zumindest symbolisch zu unterstützen. +Sie sind von Beruf Journalistin, also eine Beobachterin und Analystin, die nun mitten in eine politische Krise reingerutscht ist, die Sie absolut persönlich betrifft. Wie gehen Sie damit um? +Es ist ja nicht so, dass ich und die Kollegen von #FreeDeniz vorher unpolitische Menschen gewesen sind. Auch als Journalistin bin ich ja nie einfach nur Beobachterin – ist kein Journalist. Es ist sogar die Aufgabe des Journalismus, Empathie zu zeigen, wo Unrecht passiert. Aber klar, es ist natürlich was anderes, wenn auf einmal der beste Freund oder ein enger Bekannter zum politischen Gefangenen wird. Denn zum ersten Mal muss ich über die Situation eines Menschen sprechen, mit dem ich seit fast 30 Jahren über alles Mögliche spreche und auf dessen Einschätzung, dessen Meinung, dessen Humor ich mich immer verlassen konnte. Das hat Tayyip Erdoğan schon ganz richtig erkannt, dass wir schlafen gehen, aufstehen und an Deniz denken, wie er es in dem ZEIT-Interview formuliert hat. Aber es ist ja eben nicht einfach nur Deniz, an den wir denken. Es sind ja so viele Leute betroffen und involviert: die Familie in Deutschland, die Familie in der Türkei, die Ehefrau, die Anwälte, sein Arbeitgeber, die WELT, mein Arbeitgeber, die taz, Freunde, Leser, politische Gruppen, die Kollegen anderer Medien. +Für mich ist das alles einerseits ein selbstverständlicher Freundschaftsdienst, andererseits empfinde ich aber das, was ich mache, auch als Verpflichtung gegenüber meinem Beruf: Die Vorwürfe, die in der Türkei gegen Deniz erhoben werden, sind irre. Aber sie stehen in gewisser Weise gerade in einem weltweiten Trend: In Deutschland heißen sie Lügenpresse, in den USA Fake News. +Seit demgescheiterten Militärputschin der Nacht zum 16. Juli 2016 wurden in der Türkei über 100.000 Menschen verhaftet oder von ihrer Arbeit suspendiert –darunter zahlreiche Journalisten,Lehrer, Richter und Soldaten, aber auch Mitarbeiter internationaler Hilfsorganisationen. So sitzt seit Anfang Juli der Berliner Menschenrechtler Peter Steudtner in Untersuchungshaft. Die aus Ulm stammende Journalistin Mesale Tolu muss sich mit über 20 anderen Frauen eine Zelle teilen und hat sogar ihren zweijährigen Sohn mit im Gefängnis. Wie vielen anderen auch – etwa 17 Mitarbeitern der regierungskritischen Zeitung "Cumhuriyet", denen gerade in Istanbul der Prozess gemacht wird – wirft man Steudtner und Tolu vor, eine Terrororganisation zu unterstützen. Ähnlich lautende Vorwürfe gegen deutsche Firmen wie BASF und Daimler hat die türkische Regierung inzwischen zurückgenommen. Der diplomatische Konflikt zwischen den beiden Staaten ist damit aber längst nicht beigelegt: Dievom Auswärtigen Amt herausgegebenen Sicherheitshinweise für Reisen in die Türkeibleiben bis auf Weiteres bestehen. +Kennt der Protest Grenzen? +Wir versuchen zu vermeiden, Erdoğan eine Vorlage zu liefern, die er gegen Deniz oder die Anwälte oder die Familie benutzen kann. + +Wie erleben Sie das mediale Interesse an dem Fall Deniz Yücel? Es gibt ja auch immer wieder Kritik, er bekomme zu viel Aufmerksamkeit und andere zu wenig … +Die Medien haben die Verhaftung von Deniz zum Anlass genommen, sofort die Gesamtsituation in den Blick zu nehmen, selbst die BILD hat in den ersten Tagen danach eine Doppelseite mit allen Namen verhafteter Journalisten in der Türkei gedruckt. Schon vorher haben wir bei der taz die taz.-gazete gegründet und Can Dündar und Kollegen das Exil-Magazin Özgürüz – beides hatte nichts mit Deniz' Verhaftung zu tun. Das Thema Türkei ist absolut präsent. Wenn uns Leute dafür kritisieren, dass wir uns nicht für alle einsetzen, finde ich die Kritik unberechtigt. Zum einen macht mich das traurig, weil ich immer hoffe, dass das, was wir machen, auch andere motiviert, sich für andere einzusetzen. Zum anderen haben wir von Anfang an betont, dass unsere Forderung nach Freiheit allen inhaftierten Journalisten gilt. Klar sind die Lesungen, die Korsos eine Form, die zustande kam, die, um es mal so zu sagen, sich an Deniz orientiert. Ich kenne die Texte der türkischen Journalisten viel zu wenig, um ernsthaft eine Lesung mit deren Texten zu veranstalten. Und na ja, es wäre auch anmaßend, wenn ich das tun würde. Außerdem bin ich hauptberuflich nicht Campaignerin, sondern mache #FreeDeniz nach Redaktionsschluss, also nach Feierabend. + +Haben Sie auch manchmal Sorge, die Aktionen könnten Deniz' Situation mehr schaden als nutzen? +Wir fragen uns das bei jeder Aktion. Bei allem, was ich sage oder schreibe, denke ich darüber nach, ob das irgendwie gegen ihn verwendet werden kann. Das ist nicht leicht. Aber gleichzeitig will ich mir selbst nicht irgendwann vorwerfen müssen, dass ich mir von Erdoğan habe vorschreiben lassen, wie ich zu meinem Freund stehe, und den Mund gehalten zu haben. +Gibt es Kontakt zur Bundesregierung? +Nein. Jedenfalls hat sich bei mir noch niemand gemeldet. Müssen sie aber auch nicht. Ich denke, wenn es ernsthafte Sorgen gäbe, dass das, was wir machen, Deniz schaden könnte, würde sich sicher jemand melden. +Erdoğan verweist auf die unabhängige Justiz in der Türkei, die sich des Falles annehmen werde. Er könne da nichts machen … +Doris Akrap (Foto: privat) ist mit ihrem ehemaligen taz-Kollegen Deniz Yücel gut befreundet. Unter anderem sind sie zusammen bei der Veranstaltungsreihe Hate Poetry aufgetreten +Wenn das so ist, müsste die Justiz langsam mal in die Pötte kommen. Mit Unabhängigkeit zu begründen, dass hunderte Journalisten ohne Anklage und unter absurden Vorwürfen seit Monaten inhaftiert sind, stinkt. Und die ganze Welt hat das inzwischen gerochen. Das Mindeste ist doch, dass es eine Anklageschrift gibt, damit man wenigstens weiß, was die Vorwürfe sind. Glücklicherweise hat der Europäische Menschenrechtsgerichtshof den Fall Deniz bereits angenommen. Die deutsche Regierung hat angekündigt, dem Gericht eine Stellungnahme abzugeben. Die türkische Seite hat dazu noch bis Mitte Oktober Zeit. Wir können nur hoffen, dass der zuständige Staatsanwalt in der Türkei, der Deniz' Anklage verfasst und noch im Urlaub ist, seinen Text schon früher fertig hat und es bald zu einem Prozesstermin kommt. Dann wird sich zeigen, wie unabhängig die Justiz in der Türkei ist. Jeder unabhängige Richter dieser Welt müsste Deniz freisprechen. Dazu muss man freilich ein Richter sein, der keine Angst davor haben muss, für sein Urteil im Gefängnis zu landen. +Wie geht es weiter? +Deniz hat am 10. September Geburtstag. Wenn wir den nicht mit ihm zusammen feiern können, dann werden wir eine große Geburtstagsfeier in etwas anderer Form schmeißen. + +Titelbild: Privat/Deniz Yücel/dpa diff --git a/fluter/wie-geht-es-weiter-in-syrien.txt b/fluter/wie-geht-es-weiter-in-syrien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b3fc907f04efec83a85d0f45746d408aee1aa58f --- /dev/null +++ b/fluter/wie-geht-es-weiter-in-syrien.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +In letzter Zeit konzentriert sich der öffentliche Diskurs auch auf eine Zeit nach einem möglichen Kriegsende. Wie weit sind wir aktuell von diesem entfernt? +Das Assad-Regime und Russland behaupten ja schon seit Mitte letzten Jahres, dass der Bürgerkrieg im Grunde beendet sei und es jetzt nur noch darum gehe, Terrorismus zu bekämpfen. Die Realität ist freilich anders: Das Assad-Regime und seine Verbündeten kontrollieren aktuell rund 60 Prozent des Territoriums. Das heißt aber auch: 40 Prozent sind eben nicht unter der Kontrolle des Regimes. Es gibt weiterhin Zonen im nordwestlichen und südwestlichen Syrien, sogenannte Deeskalationszonen, die unter Kontrolle der Rebellen sind. Kurdisch dominiert sind aktuell etwa 25 Prozent im Nordosten des Landes. Hinzu kommt, dass auch noch kleinere Gebiete unter Kontrolle des sogenannten Islamischen Staates sind. Das Assad-Regime ist jedoch fest entschlossen, das gesamte Staatsgebiet zu dominieren. Der Krieg ist also noch nicht ausgefochten. + + +Ein dauerhafter Waffenstillstand wäre ein wichtiger Schritt auf dem Weg des Friedensprozesses – wie weit sind wir Ihrer Meinung nach aktuell davon entfernt? +Ich denke, davon sind wir – im günstigen Falle – noch ein bis zwei Jahre entfernt. Dass die Stabilisierung nachhaltig sein wird, ist aber fraglich. +Wie sinnvoll sind Diskussionen über die Zeit nach dem Kriegsende überhaupt? +Ich finde sie durchaus sinnvoll, weil es dabei auch um eine Regelung des Konfliktes geht. Für eine solche Regelung müssen ja Vorkehrungen getroffen werden, damit nicht nur die Waffen schweigen, sondern auch Frieden herrscht. Also muss zum Beispiel überlegt werden: Wie kann man nach solch grausamer Gewalt wieder friedlich zusammenleben? Wie kann man die einzelnen Bevölkerungsgruppen aussöhnen? Wie ist mitKriegsverbrechernumzugehen? +Die Luftangriffe des Westens auf Syrien als Vergeltungsmaßnahme für den Einsatz von Chemiewaffen haben viel Kritik hervorgerufen. Wie schätzen Sie diese Maßnahme ein? +Meiner Meinung nach waren diese Vergeltungsmaßnahmen nicht sehr hilfreich. Es wäre sinnvoll gewesen, zunächst die Ergebnisse der Untersuchungskommission der Organisation für das Verbot chemischer Waffen abzuwarten. Der westliche Militäreinsatz gepaart mit den Verzögerungen und Maßnahmen von russischer Seite könnte dazu führen, dass man nun gar nicht mehr genau feststellen kann, was Anfang April in Duma passiert ist: Wurden überhaupt Chemiewaffen eingesetzt und wenn ja, von wem? Darüber hinaus ist es fragwürdig, wenn Staaten einen vermuteten Völkerrechtsbruch ahnden, indem sie selbst zu Maßnahmen greifen, die keine völkerrechtliche Legitimation haben. + + + + +Welche Rolle spielt der Konflikt zwischen Israel und dem Iran in der zukünftigen Entwicklung des Krieges? +Es sieht so aus, als ob eine größere direkte Konfrontation zwischen Israel und dem Iran zunächst abgewendet werden konnte. Nach wie vor besteht aber die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung, weil die beiden Parteien unvereinbare Ordnungsvorstellungen für Syrien haben. +Wie geht es jetzt nach Syrien-Konferenz, Angriffswellen und angekündigtem Vergeltungsschlag in Syrien weiter? +Die bewaffneten Auseinandersetzungen sind wie gesagt noch nicht beendet, sowohl zwischen den syrischen Konfliktparteien als auch zwischen den internationalen Akteuren. Die Aushandlung einer politischen Konfliktregelung zwischen den syrischen Parteien halte ich aktuell für äußerst unwahrscheinlich. +Warum? +Weil sowohl das Assad-Regime als auch ein Teil der Rebellen nach wie vor auf einen militärischen Sieg setzen. Auch wenn es zu einem Sieg des Regimes kommt, wird es keine nachhaltige Stabilisierung in Syrien geben. + +Weshalb kann ein militärisches Kriegsende in Syrien keine nachhaltige Lösung sein? +Verstehen Sie mich nicht falsch: Das Ende des Krieges wäre ein riesiger Fortschritt gegenüber der jetzigen Situation. Natürlich muss das Ziel sein, so schnell wie möglich zu erreichen, dass die Waffen schweigen. Aber das ist nicht automatisch ein Garant dafür, dass Frieden herrscht. Das Regime ist zu einer verhandelten Konfliktregelung, die auch nur minimale Forderungen der Opposition aufnimmt, nicht bereit. Das hat es bei den von den UN geführten Gesprächen in Genf deutlich gezeigt. Hinzu kommt, dass das Assad-Regime sich im Bürgerkrieg sehr stark auf ausländische Kämpfer und einheimische Milizen stützt. Es wird schwierig sein, die wieder loszuwerden beziehungsweise zu entwaffnen. Meine Einschätzung ist, dass wir auch nach Kriegsende über lange Zeit eine Herrschaft von Milizen in Syrien beobachten werden. +Wie wird sich das aufdas Leben der syrischen Bevölkerungauswirken? +Neben der Milizenherrschaft dürfte sich auch die Kriegswirtschaft fortsetzen, gepaart mit einem hohen Ausmaß an Korruption und Vetternwirtschaft. Das Regime wird versuchen, seine Kontrolle durchzusetzen, indem es zivilgesellschaftliche Initiativen und Opposition unterdrückt. Es wird rückkehrwillige Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge nicht mit offenen Armen empfangen. Zu erwarten ist auch, dass aus den Überresten der Rebellengruppen und des IS eine neue Aufstandsbewegung entsteht. Der syrischen Bevölkerung steht eine schwierige Zeit bevor. + +Muriel Asseburg ist Politologin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und forscht zum Nahen und Mittleren Osten. diff --git a/fluter/wie-geld-die-us-politik-bestimmt.txt b/fluter/wie-geld-die-us-politik-bestimmt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d985ba8e3548ddc38f2008e79d8954802e1bf915 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-geld-die-us-politik-bestimmt.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Mit einem geschätzten Vermögen von jeweils über 41 Milliarden Euro zählen Charles und David Koch zu den reichsten Menschen der Welt. Und sie nutzen ihr Geld, um die USA gemäß ihrer libertären Agenda zu formen – längst nicht nur mit großzügigen Wahlkampfspenden. +Seit den 1970er-Jahren haben die Kochs ein riesiges Netzwerk aufgebaut, das ihre marktradikalen Ideen weiterverbreitet. Kritiker nennen das unübersichtliche Geflecht aus Lobbygruppen, Thinktanks, gesponserten Lehrstühlen, Stiftungen und Vereinen den "Kochtopus", also einen Oktopus. Der eine Tentakel baut politische Aktivisten auf – die Kochs haben Millionen in die rechte Tea-Party-Bewegung gepumpt –, der andere Tentakel produziert Forschungsergebnisse, die ihnen nützen. Die Kochs haben es so nicht nur geschafft, Zweifel an der Existenz des menschengemachten Klimawandels zu säen, sondern schließlich auch mit dazu beigetragen, dass sich die USA aus dem Pariser Klimaschutzabkommen zurückziehen. Über die Jahre haben sich die Republikanische Partei und die Koch- Brüder immer weiter angenähert. +Sie sind längst nicht die einzigen Amerikaner, die mit ihrem Reichtum politischen Einfluss ausüben. Doch in ihrer Dimension ist die Einflussnahme der Koch-Brüder einzigartig, eine vergleichbare Organisation aufseiten der Demokraten gibt es nicht. Überhaupt unterstützen die meisten Multimillio näre und Milliardäre eher die Republikaner. Allerdings haben auch die Demokraten äußerst wohlhabende Großspender, etwa den Investor George Soros. +Viel vom Geld der Superreichen fließt in die Wahlkämpfe. Zwar darf in den USA niemand einen Kandidaten direkt mit mehr als 2.700 Dollar pro Wahl unterstützen. Doch der Oberste Gerichtshof hat die Regeln in den vergangenen Jahren mit mehreren umstrittenen Urteilen immer weiter gelockert. Auch Spenden, so die Argumentation der Richter, seien eine Form der freien Meinungsäußerung. Die Folge: Wer einen Kandidaten oder ein Thema unterstützen will, gibt Millionen an die sogenannten Super-PACs, Spendensammelvereine mit klingenden Namen wie "Right to Rise" oder "Make America Number 1". Sie müssen offiziell unabhängig von den Kandidaten sein, für die sie Kampagnen machen, faktisch aber gibt es enge Verflechtungen. +Gleichzeitig ermöglichen die Super-PACs den reichen Großspendern, massiv für ihre Lieblingsthemen zu werben und so die politische Debatte zu prägen. Ihr Geld wird zum Megafon, mit dem sie die Stimmen anderer übertönen können – oder einander gegenseitig. Der Hedgefonds-Milliardär Tom Steyer beispielsweise verfolgte mit seinem mehr als 91 Millionen Dollar schweren Super-PAC vor allem das Ziel, dass wieder über die Verantwortung des Menschen für den Klimawandel diskutiert wird – nachdem die Kochs viel dafür getan hatten, das Problem zu negieren. +Abschlag im Schlafzimmer: Das Golfspielen gehört nach wie vor zu den exklusiven Sportarten + +Wie viel Macht Menschen mit viel Geld in der amerikanischen Politik haben, wird auch daran deutlich, wer eigentlich die wichtigen Ämter bekleidet. Präsident Donald Trump hat ein Kabinett der Millionäre und Milliardäre um sich geschart: Banker, Investoren, Hedgefonds- Manager. Als Trump im Dezember 2016 die ersten 17 Kandidaten für seine Regierung benannte, rechnete ein amerikanisches Online- Magazin aus, dass die Auserwählten insgesamt auf ein Vermögen von 9,5 Milliarden US-Dollar kommen. Das sei mehr, als die ärmsten 43 Millionen US-Haushalte zusammengenommen haben. Schon vor drei Jahren zeigte das "Center for Responsive Politics" zudem: Die Abgeordneten im Kongress sind seit Langem wesentlich wohlhabender als der durchschnittliche Amerikaner, und 2013 waren erstmals mehr als die Hälfte von ihnen Millionäre. Politiker der Demokraten waren im Schnitt sogar noch einen Tick reicher als die der Republikaner. +Werden die Interessen der Reichen von Reichen auch stärker berücksichtigt? Die Politikwissenschaftler Martin Gilens und Benjamin Page haben zwei Datensätze miteinander verglichen: einerseits knapp 1.800 Umfragen, in denen die Meinung der US-Amerikaner zu konkreten politischen Entscheidungen erhoben wurde; andererseits, wie Washington tatsächlich über diese Fragen entschieden hat. Es ging um Gesetzesvorhaben aus 20 Jahren US-Politik, ob zu Steuern, Bildung oder Umweltschutz. Mal regierte ein Präsident der Demokraten, mal ein Republikaner. +Das Ergebnis der beiden Wissenschaftler: Es ist völlig egal, was der amerikanische Durchschnittsverdiener über ein geplantes Gesetz denkt. Unabhängig davon, ob viele oder wenige Angehörige der Mittelschicht hinter einem Gesetz stehen, die Wahrscheinlichkeit, dass es verabschiedet wird, bleibt immer ungefähr gleich. Nicht egal dagegen: die Meinung der reichsten 10 Prozent der Amerikaner. Wenn sie ein Gesetz unterstützen, stehen die Chancen, dass es durchkommt, deutlich besser. Wenn sie ein Gesetz ablehnen, dann sagt auch der Kongress in mehr als vier von fünf Fällen in Washington Nein. +Mein Haus, meine Frau, mein Thron: männliche Inszenierung von Reichtum. Als die Fotografin erst mal da war, zeigten viele Reiche stolz ihr Hab und Gut +Dass die Amerikaner es bislang hingenommen haben oder gar unterstützen, dass sich Superreiche politischen Einfluss kaufen und Gesetze den Interessen der Wohlhabenden entsprechen, lässt sich wohl nur damit erklären, dass Reichtum – auch exzessiver Reichtum – in den USA viel positiver besetzt ist als in Deutschland. "Leute wie Bill Gates und Mark Zuckerberg sind amerikanische Helden, denen neidet fast niemand ihr Geld", sagt Martin Klepper, Professor für amerikanischer Literatur und Kultur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Verantwortlich dafür sei der amerikanische Mythos vom selfmade man, also der unbedingte Glaube: Wer klug und tüchtig ist, der schafft es schon nach oben. Das traditionell gute Image der Reichen hat auch religiöse Wurzeln. Die Pilgerväter, die im 17. Jahrhundert auf dem Gebiet der heutigen USA siedelten, sahen Wohlstand als Beweis eines gott gefälligen Lebens. +"Mein Gefühl ist aber, dass diese unbedingte Zustimmung zum Reichtum inzwischen bröckelt", meint Klepper, "dass zunehmend kritisch hinterfragt wird, im Interesse welcher kleinen Gruppe da Politik gemacht wird." Denn jeder könne sehen, dass der Graben zwischen Arm und Reich in den USA immer größer wird. Tatsächlich findet mittlerweile eine überwältigende Mehrheit der Amerikaner, dass Geld im Wahlkampf eine zu große Rolle spielt und sich die Finanzierung der Kampagnen grundsätzlich verändern muss. Lawrence Lessig, ein Juraprofessor von der Harvard University, fordert seit Langem, den Einfluss der Großspender zu begrenzen. Einer seiner Vorschläge ist, dass jede Kleinspende aus Steuermitteln verdoppelt wird, damit sich Politiker vermehrt darum bemühen. +2015 kündigte er sogar seine Präsidentschaftskandidatur für die Demokraten an. Sollte er das Amt bekommen, so Lessig, würde er als Erstes die umstrittene Wahlkampffinanzierung ändern – und dann zurücktreten, schließlich sei damit die wichtigste Reform auf den Weg gebracht, um die USA vor den Superreichen zu retten. Ob das stimmt, wird man erst mal nicht erfahren. Wenige Monate später warf Lessig hin, und mit Donald Trump wurde später ein Liebling der Milliardäre Präsident. + + diff --git a/fluter/wie-haben-erstwaehler-gewaehlt.txt b/fluter/wie-haben-erstwaehler-gewaehlt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2863f9e52ca214b7f764e0c6fc8f6947006d4560 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-haben-erstwaehler-gewaehlt.txt @@ -0,0 +1,34 @@ +Woran liegt das? +Generell ist die Wahlbeteiligung bei jungen Menschen niedriger. Meist, wie auch diesmal, um die zehn Prozent. Die Beteiligung hängt davon ab, ob Themen verhandelt werden, die junge Menschen besonders ansprechen, ob Parteien antreten, die Jugendliche ansprechen und wie der Wahlkampf verlaufen ist. Wenn das alles nicht stattfindet, gibt es auch keine Zunahme bei der Wahlbeteiligung. +Warum haben die Parteien in Deutschland es nicht geschafft, junge Wähler zu motivieren? +Die Parteien zielen sehr stark auf ältere Menschen – wohlwissend, dass ein Drittel der Wählerinnen und Wähler älter als 60 Jahre ist. Dann weiß man von dieser Altersgruppe auch noch, dass sie eher wählen geht. Klar berücksichtigt man sie dann in der Wahlwerbung besonders stark. Einerseits liegt das Desinteresse der Jungen also am Wahlkampf. Andererseits auch am parteipolitischen Angebot. Die Grünen waren mal eine jugendliche Partei, sie schneiden bei jungen Leuten auch immer noch sehr gut ab, aber nicht mehr so wie früher. Und eine sehr jugendliche Partei, wie zum Beispiel die Piraten es waren, hat es diesmal nicht geschafft. Die allgemeine Mobilisierung ist offensichtlich an der Gruppe der Erstwähler vorbeigegangen. + +Was heißt das für die Zukunft derer, die jetzt Erstwähler waren? +Generell gibt es die Regel: Wer beim ersten Mal nicht wählen geht, bei dem besteht die hohe Gefahr, dass er beim zweiten Mal auch nicht geht. Die Wahlbeteiligung geht in der Gruppe zwischen 21 und 25 Jahren noch einmal runter, also bei den Zweitwählern. Da ist sie üblicherweise am niedrigsten. Die erste Wahl ist was Neues, Spannendes. Dieses Moment fällt dann weg. Bei den älteren Generationen gibt es die sogenannte "Wahlnorm", die Haltung, dass man wählen gehen soll, weil es Bürgerpflicht ist. Das ist ein Verständnis einer staatsbürgerschaftlichen Rolle, die bei Jüngeren nicht so ausgeprägt ist. Das kann dazu führen, dass man Wählen als weniger wichtig wahrnimmt. Man entscheidet von Wahl zu Wahl, ob es sich lohnt. +Ist für junge Wähler die Demokratie zu selbstverständlich? +Die Frage, die wir uns stellen ist: Warum nimmt die Wahlnorm ab? Insgesamt gibt es eine abnehmende Partei-Identifikation. Junge Menschen legen viel mehr Wert auf Freiheit und Ungebundenheit, auch politisch. Man kann sagen: Der Wähler ist wählerischer geworden. +Welche Rolle spielt das soziale Umfeld dabei, ob und wem ein Erstwähler seine Stimme abgibt? +Es gibt noch immer Milieuzusammenhänge. Man orientiert sich daran, was die Eltern machen oder die Freunde. Wer in einem Milieu aufwächst, in dem man wählen geht, der wird natürlich auch selbst eher wählen. Die Wahlbeteiligung hängt vom Grad der Bildung, des Einkommens und so weiter. ab. Bei der Wahl der Partei spielt das Elternhaus keine große Rolle. +Bei dieser Wahl haben mehr Menschen aus arbeiternahen Milieus abgestimmt. Mit Ausnahme der Jungen. Warum? +Das ist ein Rätsel. Ja, gerade bei den Arbeiterinnen und Arbeitern ist die AfD eine Alternative zur SPD und Linkspartei, aber auch zur CDU geworden. Die AfD hat es geschafft, als Partei der kleinen Leute interessant zu werden. Das trifft bei jungen Menschen nicht so zu. Da liegt der Wert unter dem bundesweiten. Das meine ich, wenn ich sage, dass ungleichmäßig mobilisiert wurde. Die AfD war für viele Ältere eine Alternative, für Jüngere eher nicht. Und es gibt einen großen Unterschied zwischen Ost und West. + +Zum Wählen mobilisiert haben die Parteien, vor allem die AfD. Nur bei den jungen Wählern kam davon wenig an +Wie sieht der aus? +Der Stimmenanteil der AfD unter den Erstwählern liegt in den alten Bundesländern bei 7, in den neuen bei 17 Prozent. Das ist schon spektakulär. Wir gehen immer davon aus, dass fast 30 Jahre nach der Wende auch mal Schluss ist mit den Unterschieden. Jetzt sieht man, dass das nicht der Fall ist. Das überträgt sich auch auf junge Menschen. +Warum findet kein Ausgleich statt? +Das hängt wahrscheinlich mit der Frage zusammen, welche Perspektiven sich junge Menschen im Osten und im Westen ausrechnen. Wir haben im Osten immer noch ein größeres Problem mit Arbeitslosigkeit, die wirtschaftliche Situation ist schlechter. Da entsteht vielleicht auch bei jungen Menschen eher der Eindruck von Perspektivlosigkeit. Gerade junge Männer neigen dann dazu, Rechtsaußen zu wählen. Sie haben das Gefühl abgehängt zu werden, fühlen sich von Migration stärker bedroht. + +Was kann man tun, um alle jungen Bürger gleichermaßen zum Wählen zu motivieren? +Es gibt eine Debatte um die Frage, ob Wählen zur Pflicht werden sollte. Ich denke aber, das passt nicht in ein Bild vom Bürger, der frei entscheidet. Die zweite Option sind selbstbewusste Kampagnen. Da ist einiges versucht worden vor dieser Wahl, zum Beispiel die Youtuber-Interviews mit den Kanzlerkandidaten. Die wurden zwar in den klassischen Medien nicht so positiv wahrgenommen. In der Community haben das aber immerhin drei bis vier Millionen junge Menschen gesehen. Am wichtigsten ist: Man geht dann wählen, wenn man das Gefühl hat, dass die eigene Stimme etwas bewirkt. Wenn Großbritannien zum Beispiel nochmal über den Brexit abstimmen würde – ich denke, sehr viele junge Menschen würden sich diesmal daran beteiligen. Es muss klar sein: Es ist nicht egal, wer regiert. Es gibt Unterschiede zwischen den Parteien. +Stefan Marschall ist Politologe an der Uni Düsseldorf. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem der Wahl-O-Mat und damit vor allem junge Wähler +Wie unterscheidet sich die jetzige Generation von Erstwählern von denen der letzten drei Bundestagswahlen? +Das Thema Arbeitslosigkeit ist viel weniger präsent. Darunter leidet vor allem die SPD. Dafür gibt es andere Unsicherheiten, die dazu führen, dass auch die CDU/CSU unter jungen Leuten wählbar wird. Das war früher ganz anders. Verlässlichkeit und Stabilität sind wichtiger geworden. Die Digitalisierung ist ein Riesenthema. Deswegen hat auch die FDP diesmal bei den Erstwählern ganz gut abgeschnitten. +Laut den bisherigen Zahlen hat die FDP mit 13 Prozent sogar am stärksten bei den Wählern zwischen 18 und 29 zugelegt. Was hat die Partei da richtiggemacht? +Zum einen hatte sie eine relativ schlaue Kampagne, auch vom Design und – ich sag mal – "Style" her. Das Zweite ist eben die Digitalisierungsthematik. Bei jungen Menschen braucht man nicht mit Steuersenkungen anzukommen. Die Digitalisierung betrifft die Wirtschaft, die Bildung und die persönliche Kommunikation der Erstwähler. Es ist noch nicht einmal ein kontroverses Thema, es gibt keine grundlegenden Unterschiede zwischen den Parteien. Die FDP hat sich das aber als Markenthema zunutze gemacht. +Bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich haben besonders die jungen Leute Linksaußen gewählt. 30 Prozent erzielte da etwa der linke Jean-Luc Mélenchon in der ersten Runde. In Deutschland hat es die Linke bei den unter 25-Jährigen auf gerade mal elf Prozent geschafft. +Solche Parteien haben es schwerer in wirtschaftlich stabilen Zeiten. In Frankreich ist die Jugendarbeitslosigkeit viel höher, da zieht eine links-außen-Argumentation stärker. Auch in Großbritannien haben junge Menschen mehr auf Corbyn reagiert als hier auf Schulz. Hier sind Ängste und Besorgnisse, was die Umwelt angeht zum Beispiel, gerade größer. Die Grünen haben bei den Erstwählern 15 Prozent. Und wieder das Thema: Verlässlichkeit. Sodass auch die Jungen mit der Kanzlerin übereinstimmen (Anm. d. Redaktion: Die CDU hat laut Forschungsgruppe Wahlen 25 Prozent bei Wählern zwischen 18 und 29). +Wie würde die kommende Regierung aussehen, wenn nur Jungwähler gewählt hätten? +Vielleicht hätten wir dann ein anderes Parlament, eines mit noch mehr Parteien. Die großen Volksparteien haben bei den jungen Leuten noch schlechter abgeschnitten, es würde noch nicht mal für eine Große Koalition reichen. Jamaika würde recht gut funktionieren. + + +Titelbild:  Micahel Debets/Pacific Press/LightRocket via Getty Images diff --git a/fluter/wie-hat-sich-lebenslauf-veraendert-studie.txt b/fluter/wie-hat-sich-lebenslauf-veraendert-studie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1fff82ba3e7ea5642bda05913090e3522cedd0bd --- /dev/null +++ b/fluter/wie-hat-sich-lebenslauf-veraendert-studie.txt @@ -0,0 +1,40 @@ +Und das sollte Eindruck beim Bewerbungskomitee machen? +Kaltenbrunner: Das Ziel war es eben, eine konsistente Geschichte zu erzählen. Zu der gehörten auch Brüche, der persönliche Weg aus einer Krise. +Julian Hamann: Diese Erzählform entwickelte einen Zwang zur Kohärenz: Alles musste in die Erzählung passen. Es genügte nicht, wie heute, die professionelle Persona zu zeigen, die Bewerber*innen mussten sich komplett preisgeben – bis ins Allerprivateste. +Hamann und Kaltenbrunner haben 80 Bewerbungsschreiben für Professuren in den Fächern Germanistik und Geschichtswissenschaft untersucht. Und dabei drei markante Veränderungen ausgemacht: Lebensläufe sind heute (1.) um ein Vielfaches länger, haben sich (2.) von einer durchgehenden Erzählung zur Liste entwickelt und (3.) ihre Erzählrichtung geändert: Heute beginnen sie mit den jüngsten Projekten, nicht mehr mit Geburt und Jugend +Wie hat sich diese Privatheit in den Folgejahrzehnten aus dem Lebenslauf verabschiedet? +Hamann: Wir konnten insgesamt vier Formate unterscheiden, die der Lebenslauf seit den 50er-Jahren angenommen hat. Dem eben beschriebenen narrativen Format folgte das segmentierte Format, also mehrere kleine Erzählungen in thematischen Kapiteln. Dann kam die Listenform, und erst seit etwa 2010 beobachten wir eine Form, die wir die "überdifferenzierte Listenform" nennen. +Zeigt diese Lebensliste von heute, dass der Druck in der Arbeitswelt gestiegen ist? + +Kaltenbrunner: Unter anderem. In der Wissenschaft konkurrieren heute viel mehr Menschen um anteilig weniger Stellen und Mittel. Der Wettbewerb ist größer geworden und mit ihm der Bedarf an Komplexitätsreduktion. In Listenform lassen sich Lebensläufe leichter und systematischer vergleichen, oder zumindest scheinen sie vergleichbarer. +Hamann: Daneben ist der Druck gestiegen, die eigene Performance sichtbar zu machen. Die Selbstdarstellung von Wissenschaftler*innen hat sich professionalisiert und definiert sich heute stärker über Leistung. Aber die Listenform wirkt auch auf die Wissenschaftler*innen zurück: Sie versuchen nicht mehr nur, ihr Leben in Stichpunkten zu beschreiben, sondern müssen diese Listen auch erst mal lang werden lassen und buchstäblich mit Leben füllen. +Kaltenbrunner: Wissenschaftler*innen haben die ständige Bewertung ihres Tuns heute verinnerlicht. Man könnte fast sagen, sie haben ihren CV (Curriculum Vitae,die im Englischen übliche Bezeichnung für den Lebenslauf, Anm. d. Red.) nicht mehr, um Wissenschaft zu betreiben, sondern betreiben Wissenschaft, um einen CV zu haben. +Sie haben unter anderem festgestellt, dass sich im Laufe der Jahrzehnte die Erzählrichtung gedreht hat. Statt mit der Geburt beginnen Lebensläufe heute mit der jüngsten Publikation und verlaufen dann antichronologisch. Hat die Herkunft der Bewerber*innen an Bedeutung verloren? +Hamann: Spätestens mit den 60er-Jahren wollte manin der Wissenschaft die Errungenschaften von den biografischen Wurzeln abkoppeln, sie als Leistungen für sich stellen. Das gilt aber nur für den Lebenslauf. Empirisch ist die soziale Herkunft nach wie vor wichtig für eine wissenschaftliche Karriere. Die Information, woher jemand kommt, ist eben nur in informellere Bereiche verschoben worden, etwa ins Vorstellungsgespräch.Da bekommt die eigene Klasse dann durch Sprache oder Auftreten immer noch ihren Raum. +Dann wird heute informeller diskriminiert. +Hamann: Früher waren andere Argumente aktenfähig. Da konnte man jemandem offiziell Manieren, ein repräsentatives Auftreten oder "Historikerblut" attestieren. Heute wird so was immer noch gesagt, aber eher in der Kaffeepause. Die offiziellen Argumente müssen sich auf die Leistung beziehen. +Sie haben eine dritte Tendenz ausgemacht: Die Lebensläufe sind über die Jahrzehnte deutlich länger geworden. +Hamann: Bei unserer Untersuchung ist der Durchschnittslebenslauf von Germanist*innen von anderthalb auf 17 Seiten angewachsen. Das liegt auch daran, dass immer mehr Aspekte der wissenschaftlichen Tätigkeit als Leistung sichtbar gemacht werden. +Und hat zur "überdifferenzierten Listenform" geführt, die Sie heute beobachten? +Hamann: Genau. Was früher nebenbei gemacht wurde, etwa die Betreuung von Doktorand*innen, ist heute eine Leistungskategorie. Dazu kommen neue Aspekte, zum Beispiel der Outreach, also dass man Aufmerksamkeit für seine Arbeit erzielt. Dieses Interview hier werde ich mir natürlich später auch in den CV schreiben. + +Die Studie wurdeim Journal "Research Evaluation" veröffentlicht +Wenn sich die Biografien weiter in dem Tempo aufblähen, sind wir in 20 Jahren bei 100 Seiten Lebenslauf. Zieht da jemand eine Grenze? +Hamann: Einige Forschungsförderungen beschränken die Zahl der Publikationen, die man angeben darf, bereits auf zehn. Da lohnt es sich weniger, wie blöd auf Masse zu publizieren. +Kaltenbrunner: Daneben gibt es europaweit Experimente, in denen versucht wird, zu narrativen Formaten zurückzukehren. Der Evaluationswahnsinn mit zu viel Wettbewerbsdruck und Wissenschaftler*innen, die Publikationen spammen, wird schon länger kritisch gesehen und diskutiert. Die Idee ist: weniger wissenschaftliche Leistungsdaten, kürzere Listen, mehr substanzielle Geschichten. +Ihre Studie hat sich mit akademischen Lebensläufen befasst. Lassen sich die Ergebnisse trotzdem auf nichtakademische Gruppen anwenden? +Julian Hamann: Ohne das untersucht zu haben, würde ich vermuten, dass sich unsere Ergebnisse im Wesentlichen übertragen lassen. Es gibt schließlich allgemeine Entwicklungen, die auch für nichtakademische Arbeitsmärkte gelten. Zum Beispiel die Ausdifferenzierung der Leistungskategorien und der Evaluationsformate, die diese Leistungen bewerten. Oder die sogenannte Dynamisierung der Arbeitsverhältnisse, durch die Arbeitnehmer*innen in ihrem Erwerbsleben häufiger in Bewertungs- und Bewerbungssituationen kommen. +Wolfgang Kaltenbrunner: Ich kann mir auch gut vorstellen, dass sich die von uns beschriebenen Entwicklungen auf jedem Arbeitsmarkt beobachten lassen, der – wie der akademische – durch ein Missverhältnis zwischen der Anzahl der Bewerber*innen und der verfügbaren Stellen gekennzeichnet ist. +Wie lang sind Ihre Lebensläufe? +Kaltenbrunner: Meiner ist sehr kurz. Ich bin zu faul, ihn aktuell halten. Meistens vergesse ich irgendwas. +Hamann: Ich pflege meinen Lebenslauf kontinuierlich. Wenn ich mich bewerbe, kürze ich. Aber für mich ist das ein Verzeichnis dessen, was ich gemacht habe. Deswegen sind es bei mir 20 Seiten. +Würden Sie sagen, dass Sie Ihre Lebensläufe aufgeblasen haben? +Kaltenbrunner: Nein. +Hamann: Die Frage ist für mich nicht so einfach … In meinem Lebenslauf steht schon viel. Aber nicht weil ich es toll finde, mich darzustellen, sondern weil ich weiß, dass es die Anforderung eines Systems ist, in dem ich gern bleiben will. Ich sag's mal so: Don't hate the player, hate the game! + + +Wolfgang Kaltenbrunner ist Senior Researcher am Centre for Science & Technology Studies der Universität Leiden. Er arbeitet zu wissenschaftlicher Kommunikation und Peer Review. + + +Julian Hamann, Juniorprofessor für Hochschulforschung an der Humboldt-Universität Berlin, forscht vor allem zu Bewertungen und Fachkulturen im Rahmen akademischer Karrieren. + diff --git a/fluter/wie-ihr.txt b/fluter/wie-ihr.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..918797bd2079be75b38c7b58aa627b75438368eb --- /dev/null +++ b/fluter/wie-ihr.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Meiner Familie war Charly, wie wir sie bald nannten, auch sofort sympathisch. Auf dem Geburtstag meines Bruders tanzte sie zu den Takten von Azonto. Traditionelle Musik kombiniert mit elektronischen Beats. Okay, als sie zum Tanzen in die Hocke ging, tat sie das mit der Eleganz eines die Treppe hinunterfallenden Kühlschranks. Aber sie tanzte, und das gefiel meiner Familie. Charly mochte es, so zu tun, als sei sie eine von uns. Und das mochte ich anfangs auch an ihr. +Über euch Schwarze existieren nur Klischees bei uns, sagte sie. +Das Wort Schwarze darf man eigentlich gar nicht verwenden, sagte sie. +Ich respektiere eure Kultur, sagte sie. +Sie wolle leben wie die Afrikaner, sie brauche diesen ganzen Schnickschnack nicht. +Als wir mal eine Nacht in einem Hotel verbrachten, bestand Charly darauf, im billigsten Zimmer zu schlafen. Der Mann an der Rezeption war irritiert. Er lotste uns schließlich in ein stickiges Kabuff ohne Ventilator, Moskitonetz und mit Ritze im Doppelbett. Am Ende habe ich heimlich ein paar Geldscheine draufgelegt, damit wir ein besseres Zimmer bekamen. Charly drohte mir, sie würde am Strand übernachten. Und so schliefen wir in dem Zimmer, das sie für uns ausgesucht hatte. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. +An einem anderen Tag wollten wir einen Ausflug zu einem Wasserfall machen. Wir trafen uns an der zentralen Bussta-tion in Accra, einem der geschäftigsten Orte in ganz Ghana. Ich sah sie natürlich trotzdem sofort. Denn wie hätte ich die neongrüne Hose mit blau-roten Dreiecken übersehen können. Keiner meiner ghanaischen Freunde hätte so einen scheußlichen Stoff freiwillig getragen. Einmal, als wir meine Eltern besuchten, bat ich sie, ihre bunte Bluse auszuziehen. +Zum Wasserfall nahmen wir schließlich einen normalen Bus statt einen der unwesentlich teureren mit Klimaanlage, weswegen ich völlig verschwitzt war, als wir ankamen. Aber es gab ja eine Erfrischung. +Später wollte Charly meine Sachen waschen – mit der Hand. Dabei hätte man die Kleidung für wenig Geld der Wäscherin, die auch die Bettlaken der Hotelgäste wusch, überlassen können. "Für so was habt ihr in Deutschland doch Maschinen, das hast du noch nie selber gemacht", sagte ich. Bis zum Abend redete sie kein Wort mehr mit mir. +Nachdem sie die letzte ihrer bunten Jogginghosen gewaschen hatte, kam sie ins Zimmer. Ich saß längst geduscht und mit frischen Kleidern auf dem Bett und checkte meine WhatsApp-Nachrichten. Ich erinnere mich noch genau, wie sie dastand, als ich aufblickte. Mit ihren vom Waschen schrumpeligen Händen, den verfilzten Zöpfen und dem wilden Blick. So, bloß in Schwarz, müsst ihr euch in Deutschland die Afrikaner vorstellen, dachte ich. +Eine Woche später war sie dann auch schon weg. Ich brachte sie zum Flughafen. Dort verabschiedete sie sich von ihren weißen Freunden, die auch alle diese grellen, weiten Hosen hatten, und natürlich von mir. Dass sie jetzt zurück nach Deutschland müsse, würde gar nichts zwischen uns verändern, sagte sie. +Am Anfang haben wir viel geskypt, dann immer weniger. Zuerst verschwanden die bunten Kleider, dann die Rastalocken und zuletzt ihr Lächeln auf dem Bildschirm. Seit einem halben Jahr habe ich nichts mehr von ihr gehört. Aber vielleicht kommt sie ja eines Tages wieder, meine weiße Freundin. diff --git a/fluter/wie-im-film.txt b/fluter/wie-im-film.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..53d7b16d9038065e7135e77a40b0df709d2cdd7a --- /dev/null +++ b/fluter/wie-im-film.txt @@ -0,0 +1,13 @@ + +In "Nichts ist wahr und alles ist möglich" beschreibt der Journalist Peter Pomerantsev seine Erlebnisse in Putins Russland als eine Reality-Show, in der Propaganda nicht nur als Wahrheit verkauft, sondern von der breiten Bevölkerung auch als solche geglaubt wird. Wer verstehen will, wie der russische TV-Sender Kanal 1 den Fall der verschwundenen Lisa in Berlin so ausschlachten konnte, dass es in Deutschland vielerorts zu Demonstrationen aufgebrachter Russlanddeutscher kam, obwohl die Geschichte der Vergewaltigung an jenem Abend allem Anschein nach erfunden war, der kommt an Pomerantsevs Buch nicht vorbei. +Um es gleich zu sagen: Es ist das derzeit beste Buch über die Mechanismen dieser "postmodernen Diktatur" (Pomerantsev). Der Autor tut dies nicht wie all die Polit-Experten, die vorgeben, in Putins Kopf blicken zu können, also analysierend, sondern erzählend: plastisch und packend, mit einer rockigen, coolen Sprache, deren Wörter und Bilder bewegen und verstören. Und das, ohne den Namen des russischen Präsidenten nennen zu müssen. Auch das hat Methode. Denn Putin ist der Geist, der diesem System der Dauerinszenierung Leben einhaucht. +Aber eins nach dem anderen. Pomerantsev ist das Kind russisch-ukrainischer Dissidenten, die in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre nach London auswanderten. Fasziniert von dem Russland, das Anfang der Jahrhundertwende – angetrieben von Öl-Milliarden und einem jungen, selbstbewussten Präsidenten – die wirtschaftlichen Abgründe der 1990er-Jahre hinter sich lässt, zieht er nach Moskau. Dort beginnt er in der zentralen TV-Schaltstelle. +Für den Unterhaltungssender TNT produziert er Reality-Formate und Dokus. So beispielsweise über die sogenannten Golddigger, junge Frauen, die sich darauf spezialisiert haben, sich einen der schwerreichen Oligarchen zu angeln – oder über einen Gangster aus Wladiwostok, der sein Leben in trashigen Filmen und später in Schundromanen inszeniert. Als Mann aus London wird "Piiitr", wie er von seinen Kollegen auf Russisch genannt wird, mit offenen Armen empfangen. Die Filme, die bei TNT produziert werden, sollen positiv unterhalten. Sie dürfen nicht zu pessimistisch und vor allem nicht politisch sein. +"Völlige Freiheit für völliges Mundhalten", schreibt Pomerantsev, der gleich zu Beginn seiner Arbeit einem Meeting beiwohnen darf, bei dem einer der wichtigsten Fernsehmacher des Landes die Spielregeln erklärt: "Wir wissen doch alle, dass es keine echte Politik geben wird. Aber wir müssen unseren Zuschauern trotzdem das Gefühl vermitteln, das irgendwas passiert. Die müssen unterhalten werden. Also, womit sollen wir rumspielen? Die Oligarchen attackieren? Wer ist der Feind der Woche? Politik muss sich anfühlen wie … wie ein Film." +Ein Film über eine junge Unternehmerin, die aufgrund eines internen Machtkampfes zwischen dem Geheimdienst FSB und der nationalen Drogenpolizei im Gefängnis landet und nur freikommt, weil Medien und Menschenrechtler diesen Machtkampf öffentlich zu inszenieren wissen, darf natürlich nur in abgeschwächter Version gesendet werden. Wie auch die todtraurige Geschichte über das Model Ruslana Korschunowa, die in die Fänge einer sektenähnlichen Gruppierung geriet und sich 2008 mit einem Sprung von einem New Yorker Hochhaus das Leben nahm. All das hat damit zu tun, dass das System auf den inszenierten Schein als Kontroll- und Machtmittel setzt, dass die Menschen sich in diverse Identitäten aufspalten (müssen), die sie ganz nach Zweck abstellen und aktivieren können, um Korruption, Betrug und andere Verbrechen vor sich selbst rechtfertigen zu können. "Ich bin Liberaler … das kann alles heißen", zitiert Pomerantsev einen jungen "Naschi"-Aktivisten der Putin-Jugend, womit er auch zeigt, dass Begriffe wie Nationalist, Faschist oder Linker in solch einem System bis zur Bedeutungslosigkeit gedehnt werden können. + + +"Theatervorstellung – das war wohl das Wort, das die Stadt am besten beschrieb: eine Welt, in der Gangster sich als Künstler verstanden, in der die Glückssucher Puschkin zitierten und Hell's Angels glaubten, sie seien Heilige. Russland hatte schon so viele Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle in einer ungeheuren Geschwindigkeit kommen und gehen sehen – Kommunismus, Perestroika, Schocktherapie, Verelendung, Oligarchie, maßloser Reichtum –, dass seine neuen Helden glauben mussten, das Leben sei nichts weiter als Maskerade ..." +Pomerantsev beschreibt im Reportage-Stil, wie diese Inszenierungen funktionieren, wer sie in den Neunzigern erdacht und wer sie unter Putin – der von einer "grauen Motte in einen Macho-Staatsführer" verwandelt wurde – professionalisiert hat, wer von ihnen profitiert und welche Folgen sie haben. Er selbst kehrte 2011 nach England zurück, weil er nicht mehr in einer Welt leben wollte, in der "Worte nie das bedeuten, was sie zu bedeuten vorgeben". +Peter Pomerantsev: "Nichts ist wahr und alles ist möglich. Abenteuer in Putins Russland". DVA, München 2015, 304 S., 21,99 Euro +Ingo Petz hat in Russland und Köln Osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert. Seit über 15 Jahren arbeitet er als freier Journalist und Autor. Seitdem er sich 1994 in Weißrussland verliebte, lässt ihn das östliche Europa nicht mehr los. diff --git a/fluter/wie-intelligent-sind-kraken.txt b/fluter/wie-intelligent-sind-kraken.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3703100a298e2ed2a659b5522b8bebc98a229fd2 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-intelligent-sind-kraken.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Im Sea Star Aquarium in Coburg hat ein Krake Steine von innen gegen das Glas geschlagen und wiederholt Kurzschlüsse ausgelöst, indem er vom Beckenrand aus Wasserfontänen gegen Lampen im Raum spritzte. Kein Einzelfall: Aus Neuseeland ist ein nahezu identischer Fall dokumentiert. Kraken mögen kein helles Licht, und diese beiden haben es kurzerhand ausgeschaltet. +Die Intelligenz der Kraken ist an sich schon eine Laune der Evolution, denn andere Weichtiere wie Schnecken und Muscheln haben in kognitiver Hinsicht nur wenig zu bieten. Der letzte gemeinsame Vorfahre von Kraken und Menschen war wohl irgendein namenloser Wurm vor 600 Millionen Jahren. Ihre Intelligenz hat sich damit auf ganz anderen evolutionären Pfaden entwickelt als die der Wirbeltiere und ist deshalb für uns viel unverständlicher als die von näheren Verwandten wie Affen oder auch Delfinen. +Zwar haben Kraken nicht neun Gehirne, sondern durchaus ein Zentralgehirn, aber ihre acht Arme besitzen mehr Nervenzellen als ihr Hirn, können selber riechen und schmecken, auf die Jagd gehen und Entscheidungen treffen. Kraken denken also nicht nur mit dem Kopf, sondern mit der Gesamtheit ihres weichen Körpers, weshalb ihre Erfahrungswelt und ihre Art, Informationen zu verarbeiten, eine komplett andere ist als unsere. In der Betrachtung des Kraken kämen wir der Begegnung mit einer außerirdischen Intelligenz am nächsten, meint Peter Godfrey-Smith, Wissenschaftsphilosoph und Autor des Buches "Der Krake, das Meer und die tiefen Ursprünge des Bewusstseins". +Durchaus außerirdisch mutet auch der Krakensex an. Beim männlichen Oktopus schwillt bei der Fortpflanzung einer seiner acht Arme an, ähnlich wie ein Penis. Er streckt ihn nach dem Weibchen aus und deponiert eine Spermienkapsel in ihrem Körper. Gerade bei den größeren, langarmigen Arten bleiben die beiden dabei möglichst auf Abstand, was speziell im Interesse des Männchens ist, denn es soll vorkommen, dass dieses anschließend vom Weibchen stranguliert wird. +Es geht aber noch unromantischer: Bei einer anderen Krakenart lösen die kleinen Männchen ihren Penisarm gleich ganz vom restlichen Körper, worauf dieser selbstständig zu einem der viel größeren Weibchen schwimmt und sich dort einnistet. Beim Löcherkraken wiederum ist das Männchen gerade mal so groß wie eine Pupille des Weibchens. Nachdem es seine Spermien samt Arm losgeschickt hat, stirbt das Männchen. Das Weibchen hingegen sammelt die winzigen Ärmchen diverser Männer, bis es sich – Release the Kraken! – irgendwann zur Fortpflanzung entschließt. Danach stirbt auch das Weibchen. Es folgt eine neue Krakengeneration. + diff --git a/fluter/wie-island-sein-drogenproblem-geloest-hat.txt b/fluter/wie-island-sein-drogenproblem-geloest-hat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ffc3afede5b287f5da498a7700fb9cee28b50869 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-island-sein-drogenproblem-geloest-hat.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Bis vor 25 Jahren war das Eiland im Nordatlantik ein vollkommen abgeschiedener Ort, an dem die meisten Jugendlichen vor allem eines wollten: weg von hier. Und wenn sie nicht wegkamen, flüchteten sie sich in den Rausch.Heute ist Island längst kein trister Ort mehr. Das Leben in den Bars und Kneipen brummt, die nur wenige Flugstunden sowohl von den meisten Metropolen Europas als auch der amerikanischen Ostküste entfernt liegen. Island hat eines der schnellsten Datennetze der Welt. Weg von hier wollen nicht mehr viele. Das liegt auch an einem Sozialexperiment, das vor über 20 Jahren begann. +Damals war fast die Hälfte aller isländischen Teenager einmal im Monat betrunken. Heute holt sich nur noch jeder vierzehnte Jugendliche diesen Kick pro Monat. Ebenfalls stark reduzierte sich der Konsum von Nikotin und Cannabis. Von ehemals fast einem Viertel der Jugendlichen rauchen heute nur noch drei Prozent. +Sport ist auch eine Lösung: Die Jugendlichen sollten lernen, wie sie sich ohne Drogen in Rausch versetzen können +2018 qualifizierte sich die isländische Fußballnationalmannschaft sogar für die Weltmeisterschaft – ein Verdienst des Sozialexperiments? +Mit dem Plan "Jugend in Island" wirkte ab 1999 eine konzertierte Bewegung bis in Jugendgruppen, Sportvereine und Schulen hinein. Sie nannten es "Lebenswandelschule". Hier lernten die Jugendlichen im Sportverein, was es bedeutet, den Rausch durch Drogen mit dem Adrenalinkick beim Sprinten zu ersetzen, oder in den Musikschulen, wie viel Spaß es macht, ein Instrument zu spielen. Parallel dazu erfährt eine ganze Generation im Schulunterricht, was in ihren Gehirnen passiert, wenn der Körper nach Rausch schreit. +"Drogensucht ist eine Verhaltenssucht", sagte der Psychologe Harvey Milkman, der an der Universität von Reykjavík lehrte, schon vor 20 Jahren. Damals galt er mit seinen Thesen als Außenseiter, heute weiß man, dass erhöhter Zuckerkonsum oder Kaufsucht ähnliche Highzustände im Hirn erzeugen wie Drogen oder zu viel Alkohol. Der Kick, den die jungen Leute bei ihrer allerersten Drogenerfahrung gemacht hatten, wurde gezielt auf Sport und Kreativität umgelenkt. Sie erwarben in Schule und Sportverein ein Wissen, wie man auch ohne den Griff zur Flasche oder Joint in Rausch kommt. +Die isländischen WissenschaftlerInnen entwickelten eine einzigartige Mischung aus Freiheit und Grenzen, wo sie vorher mit Verboten gescheitert waren: "Welchen Sport würdest du gerne ausüben?", "Wer möchtest du einmal sein?" waren Fragen, die jede/r Jugendliche nun hörte. +Doch die "Lebenswandelschule" zielte nicht nur auf die Jugendlichen. Die ForscherInnen erkannten schnell, wo ein wesentlicher Grund für den hohen Drogenkonsum lag: Die Jugendlichen verbrachten kaum Zeit mit ihren Eltern. Diese sollten ihre Kinder wieder öfter sehen, durften ihnen keinen Alkohol und kein Nikotin mehr zugänglich machen – und mussten dafür sorgen, dass 13- bis 16-Jährige ab 22 Uhr nicht mehr auf die Straße gingen. Im Sommer, wenn die Sonne am Polarkreis nicht mehr untergeht, war ihre Zeit bis Mitternacht erweitert. Heute verbringen isländische Mütter und Väter wochentags doppelt so viel Zeit mit ihren Kindern wie vor dem Start der "Lebenswandelschule." +Für den Forscher Harvey Milkman wurde die "Lebenswandelschule" zu einem einzigartigen Versuchslabor, zu einem Traum seines Forscherlebens: Denn die Bedingungen in einer Gesellschaft wie der isländischen waren paradiesisch. Heute leben gut 360.000 Menschen im Land, das ist eine Communitygröße, in der sich gesellschaftlicher Wandel leicht bewerkstelligen und erforschen lässt. +Special: Wissen +Hier liest du weitere Artikelaus unserem Wissen-Schwerpunkt +Die jährlichen Befragungen des damals gegründeten Instituts zeigen, wie viel glücklicher Jugendliche in Island heute sind. In keinem anderen Land der Welt leben Teenager so drogenfrei wie in und um Reykjavík. Das "Isländische Modell" entwickelte sich zu einem pädagogischen Exportschlager für Kommunen in aller Welt und wird inzwischen in 21 Ländern in verschiedenen Gemeinden praktiziert, darunter in Rumänien, auf Malta, den Faröern und in Litauen. +Wohin das Programm auch führte, zeigt das "Versuchslabor" Island nun der ganzen Welt: Das isländische Fußballwunder begann mit der Frühförderung unerkannter Sporttalente der "Lebenswandelschule" und endete in der Weltmeisterschaft 2018, für die sich die Nationalmannschaft erstmals qualifiziert hatte.Und dass eine isländische Komponistin in diesem Jahr den Oscar für den besten Soundtrack des Jahres erhielt– auch diese Geschichte nahm ihren Anfang in einem kleinen Vorort von Reykjavík, in dem ein Mädchen sich ein Cello aussuchte, ohne große Kosten dabei zu verursachen. +"Mein Vater hat mir davon erzählt, dass die jungen Leute früher immer ziemlich viel soffen", sagt Bjarni, für den Sport alles ist. Eine Frage können seine Eltern ihm nicht erklären: "Auf was konntet ihr damals denn stolz sein, wenn ihr gesoffen habt?" + diff --git a/fluter/wie-ist-es-als-paketbote.txt b/fluter/wie-ist-es-als-paketbote.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e5ff1380b716d3a6e607b52c3dd9add52b02befc --- /dev/null +++ b/fluter/wie-ist-es-als-paketbote.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Sobald ich im Auto sitze, bin ich nur noch damit beschäftigt, so schnell wie möglich meine Pakete loszuwerden. Man hat nämlich erst Feierabend, wenn alles ausgeliefert ist, was ziemlich nerven kann: Oft arbeite ich über elf Stunden. Die Viertelstunde Pause, zu der man verpflichtet ist, mache ich dann auf dem Weg zur nächsten Straße, um keine Zeit zu verlieren. +Als Zusatzkraft liefere ich im Schnitt 120 Pakete aus. Das sind ungefähr 80 verschiedene Adressen, die ich abklappern muss. Man ist die ganze Zeit im Stress, muss aber trotzdem sicher fahren. Natürlich parkt man sein Auto nicht jedes Mal ordentlich, das geht ja gar nicht. Vom Arbeitgeber wird das in Kauf genommen; nur wir müssen dafür den Kopf hinhalten. +Ich muss mit anderen Autofahrern diskutieren, die hinter mir hupen, mit Kunden, die unzufrieden sind, und häufig auch mit dem Ordnungsamt. Man realisiert schnell, dass man überhaupt nicht auf alle Rücksicht nehmen kann – sonst wird man die Pakete nicht vor Mitternacht los. +Mit 14 Euro die Stunde ist der Lohn okay. Aber wenn man überlegt, dass man eine gewisse Verantwortung für dieses riesige Auto trägt, ist es schon dünn bezahlt. Wegen des Jobs werde ich ständig geblitzt, muss Strafzettel bezahlen und hab schon zwei Punkte in Flensburg. Unfallschäden bezahlt zum Glück die Versicherung. +Was mir gefällt, ist das Klima unter den Fahrern. Man bringt sich Kaffee und teilt Kippen vorm Lagerhaus und lässt sich generell wenig von den Vorarbeitern gefallen, lässt sich zum Beispiel keine Extrapakete aufdrücken, wenn das den Feierabend noch weiter verzögert. Morgendliche Besprechungen fühlen sich immer ein bisschen an, als wäre man in einer Fußballmannschaft. Dazu muss man auch sagen: Diesen Job machen eigentlich nur Männer. +Für die älteren etablierten Fahrer ist der Arbeitsalltag viel geregelter. Die fahren meist um acht los und sind um 16 Uhr fertig. Jeder hat seinen Stammbezirk, in dem sie alle mit Vor- und Nachnamen kennen. Aber auch sie stört es, dass der Job wenig Anerkennung bekommt und man nicht immer ernst genommen wird. Früher war das ja mal ein Ausbildungsberuf, als Postbote warst du sogar Beamter.Heute lassen Firmen wie Amazon von Freelancern ohne Arbeitsvertrag liefern, die für Versicherung und andere Ausgaben selbst aufkommen müssen." +* Name geändert diff --git a/fluter/wie-ist-es-als-sterbebegleiter.txt b/fluter/wie-ist-es-als-sterbebegleiter.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2ce197fa4d63902cb1b2ca24d057540f2c5bb3f2 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-ist-es-als-sterbebegleiter.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Amelie hat diesen Kurs im letzten Frühjahr besucht. An drei Wochenenden und elf Abenden ging es um Trauerphasen, Demenz, Nahtoderfahrungen, Spiritualität und Körper, die verfallen. Und um die Ehrenamtlichen selbst. "Hospizarbeit ist vor allem auch Arbeit an sich selbst", erklärt Elvira Gahr vom Hospizkreis Minden. Zu ihren Aufgaben gehört es, für Sterbende die jeweils passende Begleitung zu finden. Damit sie das kann, muss sie die Ehrenamtlichen gut kennen – und diese sich selbst. "Sie müssen wissen, wo ihre eigenen Ängste und Grenzen liegen, bevor sie sich mit den Ängsten und Grenzen anderer Menschen auseinandersetzen können." Selbsterfahrung und -erkenntnis sind zentral. Amelie weiß das. Ihr ist klar, was sie will und kann. "Junge Menschen zu betreuen würde mir sehr schwerfallen. Mit älteren Menschen, die an Krebs erkrankt sind, habe ich dagegen gar kein Problem." +Amelie hat Soziale Arbeit studiert und danach für zwei Jahre im Sozialdienst auf einer onkologischen Station gearbeitet. "Ich hatte auf der Station mit Menschen zu tun, denen der Tod ins Gesicht geschrieben stand. Und das meine ich wörtlich." Ein Mann habe eine Krebserkrankung im Mund- und Rachen- bereich gehabt, sie hatten ihm ein Stück seiner Zunge wegge- schnitten. "Ich fand das schon schlimm", sagt sie, um dann ganz schnell hinzuzufügen: "Aber das ist nun mal eine Ebene des Verfalls vom menschlichen Körper." Dass Menschen aufgrund ihrer Erkrankung äußerlich entstellt sind, ist aber eher die Ausnahme, weiß Elvira Gahr aus Erfahrung. Sie hat es noch nie erlebt, dass jemand aus Ekel die Begleitung abgebrochen hat. "Die meisten Ehrenamtlichen haben eine gute Selbstdisziplin und sehen die Umstände als normal an. Für sie steht der Mensch im Vordergrund und nicht irgendein Tumor." +Wenn man Amelie fragt, wie Frau D. am Lebensende ausgesehen hat, muss sie länger überlegen. "Sie hatte einen gelblichen Hautton, aber sie war kein dünnes Skelett. Eher eine kernige Person." Amelie lacht: "So wie ich." Dass die alte Dame im Sterben lag, konnte Amelie aber dennoch am Körper der 83-Jährigen ablesen, mit jedem Besuch ein wenig mehr. Als Amelie das zweite Mal kam, aßen sie keinen Kuchen mehr zusammen, und auch gesprochen wurde nicht mehr viel. Die meiste Zeit während der anderthalb Stunden, die Amelie bei ihr war, schlief Frau D. Ihre Bewegungen und Bedürfnisse wurden immer weniger. "Erst konnte sie sich noch bewegen und selbst im Bett aufsetzen." Irgendwann war damit Schluss. Schließlich kam das Pflegepersonal, um sie mal auf die eine Seite, mal auf die andere zu drehen. Am Ende habe sie gar nicht mehr getrunken und gesprochen, nur manchmal noch gewimmert. "Wenn du beobachtest, dass der Körper eigentlich nichts mehr macht außer zu atmen, ist das viel härter, als die äußeren Merkmale des Verfalls mit anzusehen." +Wie geht man mit einem Menschen, der weder reden noch sich bewegen kann? Das ist eine der zentralen Fragen, mit denen sich die Ehrenamtlichen während des Befähigungskurses auseinandersetzen. Sie lernen, bewusst miteinander zu schweigen, mitunter einen halben Tag lang. "Schweigen ist nicht immer eine Schwelle, sondern kann auch eine gefühlte Verbindung, eine Brücke zu der sterbenden Person sein", erklärt Elvira Gahr. Schweigen kann helfen, tatsächlich mit all seinen Gedanken bei dem Menschen zu sein, der vor einem im Bett liegt. Bei einem ihrer letzten Besuche hat Amelie in der ersten halben Stunde nichts anderes gemacht, als zu beobachten, ob und wie sich die Bettdecke von Frau D. hebt und wieder senkt. "Man schwingt miteinander", sagt Frau Gahr dazu. Durch das Konzentrieren auf die Atmung des anderen soll eine Verbindung zwischen den beiden Menschen entstehen, sie werden zu einer Einheit. +"Man muss lernen, die Ruhe auszuhalten, und sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass man nicht überflüssig ist. Auch wenn das Gegenüber nichts mehr kann", sagt Amelie. Irgendwann habe sie die Hand von Frau D. genommen – "ich habe sie einfach nur gehalten und war da." Streicheln oder andere Berührungen sind nicht ihr Ding. Das ist ihr im Befähigungskurs bewusst geworden. Sie bekamen zwei Zeichnungen von Körpern und sollten sich vorstellen, dass sie selbst im Sterben liegen. Wo würden sie gern berührt werden? "Bei mir gab es vor allem Tabuzonen", erzählt Amelie. Lediglich ihre Hände und Unterarme waren "öffentliche Zonen". Dass sie keiner Person durchs Gesicht streichelt, die sie betreut, hat für Amelie nichts mit Scheu oder Ekel vor einem anderen Menschen zu tun. Sie würde es selbst nicht wollen, also macht sie es auch nicht bei anderen. Ihr Auftrag sei ja auch nicht reden oder streicheln. "Zeit – das ist der eigentliche Auftrag." Und das ist für Amelie das Wundervolle an ihrer ehrenamtlichen Arbeit. "Dieses Gefühl, mit einem so einfachen Mittel etwas so Großartiges zu tun, ist unbezahlbar." +Amelie und Frau D. hatten nur fünf Besuche miteinander. "Ich habe bei Frau D. zum ersten Mal bewusst erlebt, wie ein Körper geht." Die Stunden mit Frau D. seien mit die lehrreichsten in ihrem bisherigen Leben gewesen. Ihr Blick auf den Tod sei seitdem ein anderer. "Ich habe ein Verständnis dafür bekommen, dass der Tod zum Leben dazugehört. Er verliert von seinem Schrecken, wenn du dich einmal ganz bewusst mit ihm auseinandergesetzt hast." Dass ein Körper nicht immer schön aussieht und irgendwann nicht mehr richtig funktioniert, "wird zur Normalität. Du realisierst, dass es gar nicht so schlimm ist, wie du es dir vielleicht immer vorgestellt hast". Für Amelie steht fest, dass sie weiterhin Menschen betreuen möchte. "Ich weiß, es klingt komisch, aber: Ich freue mich darauf, den nächsten Menschen beim Sterben zu begleiten." diff --git a/fluter/wie-ist-es-bisexuell-zu-sein.txt b/fluter/wie-ist-es-bisexuell-zu-sein.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..df13a4642dd9852bed7bf80d691494d7a54e29c5 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-ist-es-bisexuell-zu-sein.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Als ich mit 16 meinen Eltern gesagt habe, dass ich Frauen mag, war das in Ordnung für sie. Aber so richtig ernst genommen haben sie mich nicht. "Ist bestimmt eine Phase, du bist ja noch jung", hieß es. Ihre Erleichterung war groß, als ich ihnen zwei Jahre später erzählt habe, dass ich bisexuell bin. Sie meinten das nicht böse, aber so gab es noch die Chance auf einen Schwiegersohn und Enkelkinder. Was sie mir damit im Kleinen gezeigt haben, sehe ich als gesellschaftliches Problem: Kaum jemand akzeptiert Bisexualität als "echte" Orientierung. +Als bisexueller Mensch gehörst du selbst in der Queerszene zu den Außenseitern. Ich habe in dem Umfeld alles erlebt, von "Entscheide dich halt mal" über "Nicht homo genug" bis hin zu hässlichen Beschimpfungen. Auch dass ich verletzlich bin, wird mir von vielen abgesprochen: Oft lädt man mich plump zu einem Dreier ein oder fragt nach sehr intimen Dingen, zum Beispiel, ob ich beim Masturbieren an Männer oder an Frauen denke. +Bei Heterofreunden muss ich immer klar sagen, auf wen ich stehe und was rein platonisch ist. Deshalb habe ich auch verlernt zu flirten, weil ich mich sehr darauf konzentrierte, meinen Heterofreunden das Gefühl zu geben, dass ihnen von mir keine "Gefahr droht".Weil ich es allen immer recht machen wollte, habe ich fast das Gespür für meine eigene Sexualität verloren. +Ich bekomme immer wieder das Gefühl vermittelt, falsch zu sein. In einer monogamen Beziehung gelte ich für viele eben entweder als lesbisch oder "normal", nicht als bi. Wenn ich nun wechselnde Partner/-innen habe, dann werde ich zwar als bi anerkannt, aber gelte gleichzeitig als gierig und illoyal. Wer soll mir denn vertrauen, wenn potenziell jede/r infrage kommt? Es fühlt sich schlecht an, wenn du nicht ernst genommen wirst und es an Respekt für dein Inneres fehlt. + diff --git a/fluter/wie-ist-es-langzeitarbeitslos-zu-sein.txt b/fluter/wie-ist-es-langzeitarbeitslos-zu-sein.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..00346bde94b14ed30487082ed5677b1de04bb078 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-ist-es-langzeitarbeitslos-zu-sein.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Heute wohnt Wolff, mittlerweile 41, mit ihrer Mutter und ihrem Bruder zusammen. Die Familie bildet eine sogenannte "Haushaltsgemeinschaft". Bei der wird davon ausgegangen, dass die Familienmitglieder"aus einem Topf wirtschaften", also im Zweifel finanziell füreinander aufkommen. Als in einer Haushaltsgemeinschaft Lebende bekam Wolff viele Jahre 45 Euro weniger als den Hartz-IV-Regelsatz: 401 Euro im Monat. +Mehr als ein Alltag am Existenzminimum sei davon nicht drin, sagt Wolff. Schlimmer sei aber das sinkende Selbstwertgefühl: "Niemand brauchte mich, niemand hatte Interesse an mir", sagt Wolff. "Ich habe mich nicht zugehörig gefühlt." +Finanzielle Probleme würden oft von psychischen und sozialen begleitet, sagt Karsten Paul. Er forscht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zu den Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit. Als langzeitarbeitslos gilt, wer ein Jahr oder länger ohne Anstellung ist. Mit der Corona-Pandemie betraf das immer mehr Menschen, trotz Kurzarbeitsprogrammen. 2019 waren laut dem Statistikdienst statista 727.500 Menschen langzeitarbeitslos, 2021 noch mal gut 300.000 Menschen mehr. "Viele Langzeitarbeitslose entwickeln Depressionssymptome und Angstgefühle", erklärt Paul. "Die Frage, wie es mit dem eigenen Leben weitergehen soll, nimmt dann immer mehr Raum ein." +Paul beobachtet, dass die psychische Gesundheit im Laufe der Langzeitarbeitslosigkeit in der Regel schlechter werde, bis sie sich auf einem niedrigen Niveau stabilisiert. Natürlich gelte das nicht für alle Langzeitarbeitslosen. Einigen gehe es sehr gut ohne Job – auch auf lange Zeit. "Bei vielen entwickelt sich aber erst mit einer geregelten Erwerbstätigkeit ein Gefühl von Sinnhaftigkeit im Leben", so Paul. Wenn sich alle um einen herum über ihren Beruf definieren und ihrem Arbeitsalltag nachgehen, raube einem die Arbeitslosigkeit mit der Zeit jedes Selbstvertrauen, sagt Melanie Wolff. +Sie ist gelernte Floristin und besuchte eine kaufmännische Wirtschaftsschule. Bevor sie beschloss, sich Vollzeit um den Haushalt zu kümmern, leitete sie acht Jahre lang die Filiale einer Bäckerei in der Nähe von Stuttgart. Nach der Scheidung probierte sie verschiedene Berufe aus. Auch in Zeitarbeit. Nichts passte so richtig: In ihren Zeitarbeitsstellen sei nicht nur die Bezahlung mies gewesen, erzählt Wolff, sondern auch die Wertschätzung. Festangestellte hätten immer mehr gegolten als Zeitarbeitskräfte. +Sie versuchte, in den Unternehmen von Zeitarbeit auf eine Festanstellung zu wechseln. Mit jedem gescheiterten Versuch stieg der Druck. "Man denkt, das sei ein kleines Tief und man kommt da von alleine wieder raus", sagt Wolff. "Aber so leicht ist das nicht." Wie Wolff geht es vielen Langzeitarbeitslosen: Laut Bundesarbeitsagentur gelingt nur wenigen die Rückkehr in einen regulären Job. +Bei Melanie Wolff wurden dieExistenzängstemit der Zeit immer größer. Irgendwann kamen depressive Schübe. Dauerhaft einen Beruf aufzunehmen wurde so immer schwerer. "Ich hatte Angst vor Vorstellungsgesprächen, vor unangenehmen Fragen. Sobald man das Wort ‚Depression' oder ‚Langzeitarbeitslosigkeit' in den Mund nimmt, ist man raus." Als vor vier Jahren Wolffs Vater verstarb, ging es ihr so schlecht, dass sie sich in einer Tagesklinik in Therapie begab. + + + + +Über die Jahre der Jobsuche wurde Wolff einsamer. Sie verlor Freunde und Freundinnen. "Mir fehlte das Geld, um an ihrem Lebensstil teilzunehmen." Wolff hat auch den Verdacht, dass sich manche ihrer Freunde und Freundinnen für eine Arbeitslose im Freundeskreis schämen. "Vor der Hochzeit von Freunden wurde mir verboten zu sagen, dass ich Hartz IV empfange." Sie solle sich einen Beruf ausdenken oder dem Thema aus dem Weg gehen. +Die Pandemie sei ihr deshalb erst mal ganz gelegen gekommen, erzählt Wolff: Sie musste nicht länger Ausreden suchen, warum sie nicht verreist oder ins Restaurant geht.Allerdings sei es im Lockdown schwerer als ohnehin schon, einem Leben ohne feste Arbeitszeit eine Struktur zu geben.Und neuerdings seien auch die Ämter schwerer zu erreichen, sagt Wolff. Das macht es vielen schwerer, Fragen zu ihren Hartz-IV-Sätzen zu stellen. +Diese Sätze wurden gerade erhöht. Seit Januar 2021 erhalten Erwachsene einen Hartz-IV-Regelsatz von 449 Euro, Jugendliche 376 Euro – drei Euro mehr. Als in einer Bedarfsgemeinschaft Lebende bekäme Wolff nun 404 Euro im Monat. "Witzlos", nennt Wolff die Erhöhung. "Die drei Euro können sie behalten." +Wofür wird Hartz-IV gezahlt?Der "Regelbedarf" beim Arbeitslosengeld II soll den Lebensunterhalt sichern. Also vor allem die monatlichen Kosten für Ernährung, Kleidung, Hygieneprodukte und Hausrat decken. Auch die Aufwände für Wohnung und Heizung werden in der Regel übernommen, wenn sie vom Amt als "angemessen" eingestuft werden. Für Kinder, Jugendliche und Erwachsene bis 25 können zusätzlich Zuschüsse für Schulausflüge, Nachhilfe oder Sportvereine beantragt werden. +Vier Jahre verdiente sich Wolff durch eine Arbeitsgelegenheit monatlich 100 bis 200 Euro dazu. Der Job bei der Tafel gab ihrem Alltag Struktur, sie traf Leute. Und die Tafel stellte ein Busticket, das sie auch privat nutzen durfte. "Allein das Ticket hat sehr viel Druck rausgenommen", sagt Wolff. Mit dem Zuverdienst und dem Ticket sei sie zwar über den Monat gekommen. Aber die Lebenskosten steigen, sagt Wolff, und wer kein Geld zurücklegen könne, gehe ein dauerhaftes Risiko ein: Geht morgen ihre Waschmaschine kaputt, hat sie ein Problem. Dazu ist Wolff Diabetikerin und übergewichtig. Sie will sich gesünder ernähren. Am Ende mancher Monate reiche es aber nur noch für Fertiggerichte, erzählt sie. "Oder ich gehe zur Tafel essen. Da kann ich mir aber nicht aussuchen, was ich bekomme." +Statt der drei Euro hält Wolff eine Erhöhung um 100 Euro für sinnvoll: "Von 550 Euro kann man anständig leben." Wichtig sei für Langzeitarbeitsloseaber auch Unterstützung, die über die Arbeitsvermittlung hinausgeht.Wolff hat erst in der Therapie gelernt, wie sie ihrem Tag Abläufe gibt. Mit einer festen Tagesstruktur lebt sie gesünder. Mittlerweile gehe sie jeden Tag 15 Kilometer spazieren, erzählt Wolf am Telefon. "Ich habe einen Partner, ich habe Freunde. Ich mache etwas aus mir." +Anfang Dezember vermittelt ihr der Bundesfreiwilligendienst eine Stelle: Melanie Wolff betreut Kinder in einem Waldkindergarten. Mit Zuschüssen kommt sie auf etwa 600 Euro. Aber Wolff ist zufrieden. Sie hofft, endlich einen Beruf gefunden zu haben, in dem sie bleiben kann. Nach dem Freiwilligendienst will sie in Stuttgart eine Ausbildung zur sozialpädagogischen Assistentin anfangen. diff --git a/fluter/wie-ist-es-schoeffe-zu-sein-protokoll.txt b/fluter/wie-ist-es-schoeffe-zu-sein-protokoll.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..18f4275708b5546f8ea3581794ed51658f105de1 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-ist-es-schoeffe-zu-sein-protokoll.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Deutsche Gerichte sprechen ihre Urteile "im Namen des Volkes". Die Schöff/-innen sind das Volk. Sobald es zu einer Hauptverhandlung in einem Strafverfahren in Amts- und Landgerichten kommt – die Tat also keine Kleinigkeit mehr ist –, sitzen neben den Berufsrichter/-innen auch solche Laienrichter/-innen. Es gibt auch an anderen Gerichten Laienrichter/-innen, die werden aber anders genannt. +Schöff/-innen sind von der Anklage bis zum Urteilsspruch dabei und bestimmen gleichberechtigt über das Strafmaß mit. Mitmachen kann jede Person zwischen 25 und 70 Jahren, die die deutsche Staatsbürgerschaft hat und nicht vorbestraft ist. Laut Ausschreibung sollten Schöffen vorurteilsfrei und logisch denken können, verantwortungsbewusst sein und über Menschenkenntnis verfügen. Als Jugendschöff/-in sollte man außerdem Erfahrung in der Jugenderziehung haben. Es gibt rund 60.000 Schöffinnen und Schöffen in Deutschland; sie werden immer für fünf Jahre gewählt. +Mögliche Verhandlungstermine kriege ich ein Jahr im Voraus, im Schnitt zwei bis drei Verhandlungen pro Monat. Weil sich Täter und Angeklagte natürlich nicht nach diesem Kalender richten, werde ich tatsächlich nur zu etwa zwölf Verhandlungen im Jahr einberufen. Das sind mal drei in einem Monat und dann wieder zwei Monate kein einziger. Egal wie, die Termine sind bindend, Schöffe ist ein verpflichtendes Ehrenamt. Wer da nicht erscheinen will, braucht einen verdammt guten Grund. Ich habe nie gefehlt. +Ein paar Tage vor der Verhandlung kriege ich per Post eine Liste der Zeugen und Angeklagten: Ich muss prüfen, ob ich jemanden davon kenne, also befangen sein könnte. Worum es geht, erfahre ich aber erst vor Ort – und 20 Minuten vor Beginn. Bei uns am Jugendgericht sind es meist Diebstähle und Prügeleien. Die müssen allerdings schon gehäuft aufgetreten sein, damit ein Fall bei uns landet. Unsere Klientel ist jung, aber selten das erste Mal im Konflikt mit dem Gesetz. Am Jugendschöffengericht urteilen zwei Schöffen und ein Richterin (bei mir waren es bisher immer Frauen). Los geht's in der Regel um neun Uhr morgens. +Vor Gericht trage ich keine Robe, das dürfen nur Richter. Ich ziehe mich ordentlich an, aber nicht Anzug und Krawatte, um keine unnötige Distanz zu den Angeklagten zu schaffen. BeimJugendgericht geht es nicht um Bestrafung, sondern um Erziehung. Wir sollen den Jugendlichen auch zeigen, dass wir ihre Taten ernst nehmen, dass die nicht mehr unter kindlichen Leichtsinn fallen, sondern Konsequenzen haben. Wir wollen verhindern, dass es zu weiteren Straftaten kommt. Einmal hat mich ein Angeklagter vor der Verhandlung unwirsch gefragt: "Was bist du denn für einer? Was machst du hier?" Ich hatte keine Zeit, ihm zu antworten, aber als er mich später vorne neben der Richterin gesehen hat, ist ihm die Kinnlade runtergeklappt. +Während der Verhandlung habe ich dieselben Rechte wie die Richterin. Ich darf einhaken, ich darf Fragen an alle Beteiligten stellen. Dabei muss ich aber aufpassen: Wenn ich einen Fehler mache, den die Verteidiger nutzen können, platzt im schlimmsten Fall die ganze Verhandlung. In heiklen Fällen bitte ich also lieber um eine kurze Unterbrechung und versichere mich bei der Richterin, ob ich die Frage so stellen kann oder ob ich sie umformulieren sollte. +Nach der Beweisaufnahme und den Schlussplädoyers ziehen wir Laien uns mit der Richterin zur Beratung zurück. Jeder von uns hat eine Stimme. Theoretisch könnten wir zwei Schöffen also die Richterin überstimmen. Praktisch habe ich so eine sogenannte Kampfabstimmung noch nie erlebt, das sind immer konstruktive Gespräche. Die können zwischen zehn Minuten und zwei Stunden dauern. Währenddessen kann man seine Meinung ändern, wenn die anderen gute Argumente haben – das gilt auch für die Richter. Am Ende müssen alle drei das Urteil tragen. +Mit den Geschworenen in den USA oder dem Gerichtsspektakel im deutschen Privatfernsehen, das ich früher natürlich auch geschaut habe, hat die Wirklichkeit herzlich wenig zu tun. Im echten Leben verhalten sich Verteidiger und Staatsanwältinnen sehr kollegial, sie gehen nicht aufeinander los wie bei Barbara Salesch. Würde man eine echte Verhandlung im TV ausstrahlen, wäre das eine sehr langweilige Sendung. Das mag aber auch daran liegen, dass ich am Amtsgericht bin. Da werden nicht die richtig harten Fälle verhandelt. Meine Wahl fiel damals zufällig auf das Amtsgericht. Heute bin ich aber froh, die Schicksale hinter den Fällen belasten einen schon. +Über Details darf ich nicht sprechen, aber mein härtester Fall war eine Vergewaltigung. Das medizinische Gutachten wird laut verlesen, in allen Einzelheiten. Daneben wird das Leben des Opfers haarklein vor allen Anwesenden ausgebreitet und die ganze Tat besprochen. Die Nacherzählung war schon für mich als Zuhörer kaum zu ertragen; ich kann mir nicht ausmalen, wie sich das für das Opfer angefühlt haben muss. +Es gibt aber auch leichtere Tage am Gericht. Einmal hatten wir einen jungen Mann, der sich darauf spezialisiert hatte, Elektroroller zu klauen. Als er merkte, dass wir uns für seine Taten interessierten (die er sofort gestand), weckte das in ihm die Berufsehre. Er erklärte minutiös, wie man welchen Rollertyp am besten klaut. Der war nicht mehr zu stoppen. Danach hätten alle Zuhörer draußen sofort einen Elektroroller klauen können. +Für meinen Einsatz als Schöffe kriege ich eine kleine Aufwandsentschädigung: sieben Euro pro Stunde. Außerdem muss der Arbeitgeber einem bezahlten Urlaub geben für die Zeit. Da ich selbstständig bin, kriege ich dafür eine kleine Sonderentschädigung. Insgesamt ist das viel weniger als mein normaler Stundenlohn, aber ich mache es ja nicht des Geldes wegen. Die Arbeit gibt mir das Gefühl, als kleines Rad im Maschinenraum des großen demokratischen Gefüges mitzuarbeiten. Mein Menschenbild hat das Gericht nicht verändert. Ich habe mir aber angewöhnt, die Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Meine Frau bringt das manchmal auf die Palme. Aber ich habe gelernt, dass Taten manchmal ihre Gründe haben. Das entschuldigt sie nicht, lässt sie aber in einem anderen Licht erscheinen. + diff --git a/fluter/wie-jedes-jahr-die-miss-venezuela-gewaehlt-wird.txt b/fluter/wie-jedes-jahr-die-miss-venezuela-gewaehlt-wird.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cb65dc58499210eea007364a80344b9e2f659e64 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-jedes-jahr-die-miss-venezuela-gewaehlt-wird.txt @@ -0,0 +1,32 @@ +2018 zählte Venezuela mehr als 23.000 Morde und die höchste Inflation weltweit: 930.000 Prozent. Die Wirtschaft ist am Boden, die Staatskassen sind leer, Millionen hungern. In all der Ungewissheit über die Zukunft des Landes ist nur eine Konstante geblieben: die Schönheit der Frauen. Sie scheint stabiler als jede Währung zu sein. Kein anderes Land hat so viele internationale Schönheitstitel gewonnen, in 66 Jahren waren es: siebenmal Miss Universum, sechsmal Miss World, achtmal Miss International. +Von den 1.300 registrierten Kandidatinnen sind 24 bis in die letzte Runde vorgedrungen. Unter ihnen Isabella Rodríguez, Studentin der Industriesicherheit. Geboren und aufgewachsen in Petare, dem größten Slum Venezuelas und einer der gefährlichsten Gegenden von Caracas. Isabella, 25 Jahre, 178 Zentimeter, ist die Älteste und Größte unter den Kandidatinnen. Grüne Augen. Dünne, lange Beine. Ihre Haut ist dunkler als die der anderen, das krause Haar geglättet. Unter Experten des Wettbewerbs gilt sie als Außenseiterin. +Im Land der Knappheit verbindet sie derselbe Traum mit all den anderen Mädchen. Denn der Titel der schönsten Frau ist nicht nur ein Krönchen. Er ist Sprungbrett und Türöffner in die Welt der Medien, der Mode und der Politik. Schönheitswettbewerbe genießen in Venezuela ein hohes Prestige, sind Nationalstolz. +Die Show moderieren eine Frau Anfang 30, selbst Ex-Miss-Kandidatin, und zwei Männer mit glatten Gesichtern und Zahnpastalächeln. Sie nennen die 24 Misses in dieser Nacht meist nicht bei ihrem Namen, sondern bei dem des Bundesstaates, den sie repräsentieren. Isabella ist Miss Portuguesa. Zwei Monate vor der Show, bei der offiziellen Vorstellung der Kandidatinnen, ist die Zuordnung per Los entschieden worden + +Für viele junge Frauen sind die Schönheitswettbewerbe der einzige Weg aus der Armut + +Gelber Rüschenrock mit Beinausschnitt, darunter ein mit Blumen bestickter Badeanzug und große runde Ohrringe. Das zweite Outfit der Misses. Während sie sich zu karibischer Merengue-Musik drehen und eine ihren Rock verliert, singt ein Mann: "Spritz mir deine Liebe wie Insulin." Kurz darauf läuft jede einzeln über den Laufsteg, in Badeanzug und High Heels. Langsam fährt die Kamera an ihrem Körper hoch, die Maße werden groß eingeblendet. Isabella: 82 – 62 – 90. +Isabella genießt die Blicke, kontrolliert besser als andere Gestik und Haltung, spricht souverän und routiniert. Monatelang ist sie mit ihren 23 Mitstreiterinnen in der Miss-Villa, der "Fabrik der Königinnen", in "Schönheitspflege, Sport und sozialer Verantwortung" unterrichtet worden. + +In Venezuela fehlt es an Nahrung, Medizin und Jobs. Unserem Autor ist ewig klar: Er muss da raus.Leichter gesagt als getan +Spätabends fuhr sie in ihr Viertel zurück. Petare ist ein Slum mit geschätzt 400.000 Einwohnern im Osten von Caracas, das Elend Venezuelas unterm Brennglas. Dünne Kinderbeine in zu großen Hosen. 13-jährige Mädchen mit runden Bäuchen, weil ihnen niemand etwas von Verhütung erzählt hat. Gealterte, ausgezehrte Körper. An einem Ort wie Petare kommt schon die Teilnahme am Schönheitswettbewerb einem Märchen gleich. +Von diesem Märchen geträumt hat Isabellas Mutter, Mary Isabel Guzman de Rodríguez, 51. Mit ihrem Mann Kike hat sie das schönste Haus in José Félix Riva, Zona 7, mit Blick über Kabelgewusel und auf Hügel gebaute Backsteinhütten. Ihr Leben hat sie der Familie, den drei Kindern gewidmet. Jahrelang sagte sie sich: "Eines Tages wird meine Tochter Miss Venezuela sein." +Die Trophäen, die Isabella seit ihrem 17. Lebensjahr sammelt, stellt Mary auf einem Tischchen im Wohnzimmer aus, damit sie niemand übersieht. Isabella war Miss ihres Viertels, eines Karnevalsvereins, eines Kaufhauses. Der schma-le Gang zwischen Küche und Wohnzimmer war ihr Laufsteg. "Ich habe Tisch und Stühle beiseitegeräumt und Platz gemacht für Isabella." Sollte sie nun den wichtigsten aller Schönheitswettbewerbe gewinnen, wäre das auch Marys Sieg. +Nicht weit entfernt von ihrem Zuhause verharren andere für günstige Kleidung aus zweiter Hand und selbst gemachte Reinigungsmittel an ambulanten Verkaufsständen stundenlang in der Sonne. Das ganze Land wirkt wie ein einziger großer Wartesaal. Meist sind es Frauen, die nach Lebensmitteln oder Medikamenten suchen für sich und ihre Familien. Sie sind am meisten von der Krise betroffen, leiden besonders unter Arbeitslosigkeit und Armut, in der fast 90 Prozent der Venezolaner leben. +Auch die Miss-Show hat schon bessere Zeiten gesehen. 1952 fand sie zum ersten Mal statt, schnell wurde sie zur nationalen Obsession. Ein Stadion mit bis zu 20.000 Besuchern, das war früher der Austragungsort. Mit Einschaltquoten von über 90 Prozent, heute hält man die Zuschauerzahlen lieber geheim. Früher traten internationale Stars auf, heute nationale Folkloremusiker. +Wie ein Mantra wiederholen die Moderatoren die Bedeutung der Nacht, sagen Sätze wie: "Miss Venezuela ist eine der schönsten Traditionen, die uns das Leben erfrischen." Außerhalb der Bühne hat die Realität den Sender längst eingeholt. Auf dem WC fehlt das Klopapier, die Tür lässt sich nicht schließen. Aus dem Hahn tropft kein Wasser, minutenlang gibt es an diesem Abend in ganz Caracas kein Licht. +Miss Venezuela wird finanziert durch die Cisneros-Gruppe, Venezuelas größter privater Medienkonzern, zu dem der Sender Venevisión gehört. Dieser organisiert und vermarktet die Miss-Wettbewerbe. Venevisión ist einer der ältesten TV-Kanäle des Landes: 2013 zählte er noch 4.000 Angestellte, fünf Jahre später weniger als 800. Eine Tendenz, die überall zu beobachten ist. 2018 sank das Bruttoinlandsprodukt in Venezuela nach IWF-Schätzungen um rund 18 Prozent gegenüber dem Vorjahr. +Im Studio 5 sind die Plastikstühle dicht aneinandergereiht, Sponsoren sitzen neben Presseleuten. Statt Sekt und Häppchen gibt es für sie einen halben Liter Wasser in der Plastikflasche. Isabellas Mutter Mary hat ihr rosarotes Kostüm in einem besseren Viertel von Caracas gekauft. Wie die meisten Venezolaner hat sie durch die Krise abgenommen. Elf Kilo hat jeder Bürger im Schnitt 2017 verloren. Das ergab eine Studie venezolanischer Universitäten. "Maduro-Diät" nennen es die Venezolaner ironisch, nach dem nach wie vor dicken Diktator. +Schön zu sein, das war in Venezuela lange leistbar für alle, auch für die Frauen in den Armenvierteln. Heute erkennt man den Niedergang des Landes nicht nur an den leeren Restaurants und Supermärkten, sondern auch an unmanikürten Fingernägeln und verfilzten Haaren. Vielen fehlt selbst das Geld für Shampoo. Die Standards für Miss-Kandidatinnen, etwa die Mindestgröße von 1,70 Meter, werden sich in Zukunft ändern müssen. Durch den Hunger und die Fehlernährung der Schwangeren kommen viele venezolanische Babys viel zu klein zur Welt. +In den letzten Jahren haben knapp vier Millionen Venezolaner das Land verlassen. Die aktuelle Miss Chile ist in Venezuela geboren. Fast alle, die einmal zur schönsten Frau gekürt wurden, leben heute im Ausland. Sie nutzten den Titel Miss Venezuela, um Venezuela zu verlassen. +Isabella, deren zwei Geschwister nach Peru ausgewandert sind, möchte in Venezuela bleiben, "weil ich Optimistin bin". Doch ihre Kinder, sagt sie, sollen nicht in Petare aufwachsen. "Es ist nicht mehr das Viertel von früher." + +Erst die Schönste, dann die Flucht wählen: Viele Preisträgerinnen nutzen ihren Ruhm, um ins Ausland zu gehen + +Als die 24 Kandidatinnen auf zehn Halbfinalistinnen und wenig später auf fünf reduziert werden, ist Isabella immer noch dabei. In verschiedenfarbigen Abendkleidern stehen sie auf der Bühne. Der Moderator bittet sie einzeln nach vorn: "Wenn du heute Miss Venezuela wirst, verwandelst du dich automatisch in ein Vorbild für viele. Wie würdest du die Macht deiner Stimme nutzen, um das Leben anderer zu verbessern?" + + +Der NameVenezuela– "Klein-Venedig" – geht angeblich auf den italienischen Seefahrer Amerigo Vespucci zurück, der auf einer Expedition 1499 die Pfahlbauten im Maracaibo-See entdeckte, die ihn an die Lagunenstadt erinnerten. Venezuela hat rund 30 Millionen Einwohner. Mehr als die Hälfte des Landes sind Naturschutzgebiete. +Isabella sagt: "Ich denke, diese Macht habe ich bereits, wenn man bedenkt, woher ich komme, aus José Félix Rivas, Zona 7. Dort bin ich Vorbild für viele junge Mädchen." Es gibt in diesem Jahr auch andere arme Miss-Kandidatinnen, aber sie vermeiden es, über ihre Herkunft zu reden. Isabella sagt voll Stolz: "Von Petare in die Welt." Es ist der Satz des Abends. +Übrig sind nur noch drei Kandidatinnen. Miss Hauptstadt, Arantxa Barazarte, eine blonde 23-Jährige. Miss Vargas, Juliette Lemoine, 20, wohlhabende Psychologiestudentin und für viele Favoritin. Und Miss Portuguesa, Isabella Rodríguez. Die drei halten einander an den Händen. +Die Nachricht liest der Moderator von einem Zettel ab. "Miss Venezuela ist …" Trommelwirbel. Licht aus. Scheinwerfer an. "Miss Portuguesaaa." Isabella ist die Siegerin. Sie kriegt die Schleife um den Hals gelegt und die Krone aufgesetzt. Und mit der Krone kommen die Tränen. "Jetzt bist du Venezuela", sagt der Moderator zu ihr. diff --git a/fluter/wie-jugendliche-mit-scharia-gesetz-in-indonesien-aceh-leben.txt b/fluter/wie-jugendliche-mit-scharia-gesetz-in-indonesien-aceh-leben.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8a9b05af31d5d8e60d40f4707d8d7475dd106664 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-jugendliche-mit-scharia-gesetz-in-indonesien-aceh-leben.txt @@ -0,0 +1,31 @@ +Salim Indri heißt eigentlich anders, doch Religion ist für ihn ein riskantes Thema, deswegen möchte er nicht erkannt werden. Salim nippt an seinem schwarzen Kaffee und blickt in die Sterne. Geht Salim in die Moschee? Er lacht verlegen. Na ja, nicht so oft. + + +Banda Aceh, 250.000 Einwohner, ist die Hauptstadt der Provinz Aceh. Hier gilt die Scharia, islamisches Recht, das den Anspruch erhebt, sich aus dem Koran ableiten zu lassen. Alkohol, Sex oder Küssen ohne Trauschein, homosexuelle Kontakte – verboten. Wer sich nicht daran hält, dem droht Cambuk, die Prügelstrafe. Wenn Jugendliche in den Coffeeshops beim Pornogucken erwischt werden, wird der Ortschaft das WLAN abgestellt. Die Regeln werden von der staatlichen Scharia-Polizei kontrolliert, die am Abend auf Trucks mit offener Ladefläche durch die Stadt patrouilliert. +FAQ: Was ist die Scharia? +Salim hat ein gespaltenes Verhältnis zur Scharia. "Die Scharia ist Teil unserer Kultur, und wir sind stolz, dass wir sie haben." Wie genau sie in Aceh angewendet wird, findet er aber unfair. "Mir wäre eine Scharia wie in Saudi-Arabien lieber." Das heißt für ihn auch: dass Diebstahl etwa mit dem Abschneiden der Hände bestraft werden sollte. In Saudi-Arabien ist die Scharia auch Gesetzbuch, in Aceh umfasst sie nur "sittenwidriges" Verhalten, das sich vor allem auf Kleidung, Sexleben und Drogen bezieht – nicht aber auf Verbrechen wie Diebstahl oder die in Indonesien stark verbreitete Korruption. "Wenn ein Pärchen rummacht, ist es doch deren Sache, sie müssen sich vor Gott rechtfertigen." Außerdem könnten Familien auch zur Selbstjustiz greifen: zum Beispiel, indem sie Abwasser, das vor den Wohnhäusern in Banda Aceh entlangläuft, über unverheiratete Pärchen kippen. +Und dann ist da noch ein anderer Salim, "ein weiteres Herz, das in meiner Brust schlägt". Nach der Ausbildung im islamischen Internat zog er zum Studium nach Bandung in der Nähe der Hauptstadt Jakarta, in der das Nachtleben pulsiert. Dort hatte er Freundinnen, dort ging er in Clubs. Wenn er abends unterwegs war, mit einem Bier in der Hand, hatte er immer Angst, er könnte Verwandten begegnen, die ihn bei seiner Familie verpetzen. + + +Zurück in Banda Aceh, ist das Leben langweilig und frustrierend. Karaokebars oder Theater werden so gut wie nie genehmigt, Kinos sind als small hotels verschrien und verboten, weil die jungen Leute im Dunkeln fummeln, sagt Salim. Wie Salim geht es vielen jungen Acehnesen. Sie fühlen sich zerrissen zwischen den Vorstellungen ihrer Eltern, ihrer Religion, der Scharia und all dem, was sie im Internet sehen. +Viele fahren wochenends in die Hauptstadt der liberaleren Nachbarprovinz, nach Medan, wo sie sich in Hotels mit Freundinnen treffen und gemeinsam in die Clubs der Stadt gehen. Wie passt das mit ihrem Glauben zusammen? "Wir sind eben opportunistisch", sagt Salim. Außerhalb Acehs sei der Konsum von Alkohol erlaubt – und damit in Ordnung. Mittlerweile ist ein regelrechter Pendelverkehr entstanden. Weil in Banda Aceh Feuerwerke verboten sind, fahre an Silvester gleich die ganze Stadt nach Medan. Zumindest jener Teil, der es sich leisten kann. +Fast drei von vier indonesischen Muslimen begrüßen einer Studie zufolge die Scharia in ihrem Land.Dass gerade in Aceh islamisches Recht gilt, liegt an Menschen wie Mustafa Woyla. Der 35-jährige Religionslehrer läuft hektisch über den Campus eines islamischen Internats, weit vor den Toren Banda Acehs. Hier steht eine Moschee neben der anderen, manchmal ist der erste Stock noch im Bau, dann liegt das Megafon des Muezzins zwischen den Stahlträgern. + + +Mustafa Woyla ist nicht nur Lehrer, sondern auch Sprecher der FPI in Aceh, der "Islamischen Verteidigungsfront", eine Bewegungder islamistischen Muslimbrüdermit Kontakten nach Saudi-Arabien. Während eines Stromausfalls sitzt Woyla im Dunkeln eines Arbeitszimmers im Internat, das Notstromaggregat piept alle fünf Sekunden. Er erklärt: Das Hauptziel der rund 5.000 aktiven Mitglieder sei es, die Scharia gegen jene zu verteidigen, die das islamische Recht brechen. Dafür würde die FPI "Konflikte in der Gemeinschaft" an ihre Partner bei der Scharia-Polizei melden. "Wenn die Scharia-Polizei untätig bleibt, machen wir Druck." +Als vor 15 Jahren der Tsunami über Aceh hereinbrach und Hunderttausende starben, habe die FPI viel Gutes getan, sagt Woyla. Zum Beispiel Tote eingesammelt und bestattet sowie Häuser wiederaufgebaut. Diese Menschlichkeit habe ihn begeistert.Damals kämpfte die militante "Bewegung Freies Aceh" (GAM) um Unabhängigkeit von Indonesien.Für Woyla war dieser bewaffnete Kampf ein Zeichen dafür, dass die Region vom islamischen Weg abkommt. Eine schlimme Vorstellung für Woyla, wo doch der Tsunami eine direkte Strafe Gottes gewesen sei. +Das Strafrecht in Indonesien orientiert sich eigentlich am niederländischen Modell. 2005, ein Jahr nach der Katastrophe und nach langwierigen Verhandlungen mit der GAM, sprach die indonesische Regierung der Provinz Aceh aber nicht nur Autonomie, sondern in einigen Rechtsbereichen auch die Scharia zu – auch auf Druck der FPI. +Ein Instrument, um die Scharia durchzusetzen, ist die öffentliche Prügelstrafe. Gerade streiten die Behörden in Aceh aber darum, ob Cambuk weiterhin öffentlich stattfinden soll oder nur noch hinter Gittern. Zu groß ist der Imageschaden durch Berichte in westlichen Medien, fürchten die Gouverneure von Aceh. + + +"Die Strafe verliert ihre Wirkung, wenn sie nicht mehr in der Öffentlichkeit stattfindet", sagt Woyla. Doch im Grunde sei er zuversichtlich, dass sie selbst dann noch eine Wirkung haben wird: "Irgendjemand wird filmen und die Videos in sozialen Medien teilen. Und dann sieht es jeder. Inschallah", so Gott will, sagt Woyla. +Eine Gegenbewegung zur FPI in Aceh ist ein loses Bündnis von etwa 50 AktivistInnen, die sich "Gesellschaft zur Pflege der Scharia" nennen. Eine von ihnen ist Maya, 42, die hier nicht mit echtem Namen auftauchen darf, weil sie als Christin vor ein paar Jahren wegen ihrer Kritik an der Scharia verfolgt wurde. +Maya trägt Brille und Kopftuch und sitzt in einem kleinen Coffeeshop in Banda Aceh. Sie sagt: "Wir wollen Bildung statt Bestrafung." Auch im Islam gehe es um Vergebung, darum, den "guten Charakter des Menschen zu fördern". Die Bilder der öffentlichen Bestrafung würden völlig falsche Signale senden. Zum einen erlebten junge Menschen Gewalt als Problemlösung, zum anderen überkäme sie in der Pubertät der "religiöse Schock": "Sie fahren nach Medan und tun so, als sei ein anderes Ich hingefahren. Wie sollen sie lernen, mit den Verlockungen der Welt umzugehen, wenn sie nur Bestrafung kennen?", fragt Maya. Außerdem kosten die teuren Auspeitschungen die Behörden viel Geld, das in der Bildung fehle. Denn Bühne, Büfett und religiöse Richter wollen bezahlt werden. +Tagsüber trägt André eine blaue Weste. Er ist Parkwächter: Für ungefähr einen Euro pro Stunde weist er mit Trillerpfeife Autos im zähen Verkehr ein und aus. Abends ist er Punk. Sein bester Freund Pita bettelt bis zum gemeinsamen Treffen mit Gitarre in der Hand um ein paar Cent vor den Coffeeshops. "Wir wollen Frieden und gute Laune verbreiten", sagt er. + + +Bei den Beamten sorgt ihr Verhalten eher für schlechte Laune. Punk ist die einzige Subkultur in der Region. Ihre Irokesen müssen André und Pita unter Schirmkappen verstecken, damit ihnen die Scharia-Polizei nicht wieder die Haare rasiert. André zeigt auf seine gespaltenen Ohrläppchen: Die Scharia-Polizisten hätten ihm die Ringe herausgerissen. +Nachts treffen sich André, Pita und die anderen Punks an einer vermüllten Uferpromenade. Sie trinken Brandy, den sie den Batak, einem christlichen Volksstamm, abgekauft haben, und kiffen. Die Provinz ist in Indonesien bekannt für ihr Cannabis, das aus den Bergen seinen Weg in das ganze Land findet – als Erstes vorbei an den jungen Acehnesen. +"Wir hassen Aceh, können hier aber nicht so einfach weg", sagen die Punks. Für die Männer der Scharia-Polizei haben sie nur ein Rotzen auf den Boden übrig: "Jene, die das islamische Recht ausführen, brechen die Gesetze als Erste", sagen sie. +Später in der Nacht werden noch drei Scharia-Polizisten an das Ufer des Flusses kommen. Sie werden mit stechendem Blick ihre Ärmel hochkrempeln und angriffslustig ihre Lippen zusammenpressen. Passieren aber wird nichts. Manchmal ist es eine gute Versicherung, einen Reporter aus Europa dabeizuhaben. + diff --git a/fluter/wie-kam-es-zur-bankenkrise.txt b/fluter/wie-kam-es-zur-bankenkrise.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/wie-kann-ich-meine-daten-im-internet-schuetzen.txt b/fluter/wie-kann-ich-meine-daten-im-internet-schuetzen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..650061bcea2a96f68ee914ea98a4adaeb00a3809 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-kann-ich-meine-daten-im-internet-schuetzen.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Andererseits muss der Staat Daten über die Bürger erheben, um zu funktionieren. Ohne zu wissen, wie viele Menschen unter welchen Lebensumständen im Land leben, lässt sich schlecht Politik machen. Auch die Polizei ist auf manche persönliche Information angewiesen, um die Sicherheit zu gewährleisten. Der Datenschutz muss also zwischen dem Anspruch der Bürger auf Privatsphäre und dem Wunsch der Behörden nach statistischen Kenntnissen vermitteln. +Die ersten weltweiten Debatten über Datenschutz gab es in den 1960er-Jahren, als klar wurde, dass die neue Computertechnologie das Sammeln von Daten wesentlich erleichtern würde und in den USA die Einrichtung eines nationalen Datenzentrums erwogen wurde. Das erste Datenschutzgesetz der Welt wurde 1970 in Hessen erlassen, 1977 folgte der Bund mit dem Bundesdatenschutzgesetz (BDSG). In Bund und Ländern wurden Datenschutzbeauftragte ernannt, die sich um das Einhalten des gesetzlichen Datenschutzes kümmern. +Als besonders einschneidend in der Geschichte des Datenschutzes erwies sich die sogenannte Volkszählung 1987. Zuvor hatte es jahrelang Proteste dagegen gegeben, weil sich viele Bürger vom Staat ausspioniert fühlten. Im sogenannten Volkszählungsurteil schuf das Bundesverfassungsgericht bereits im Vorfeld 1983 das "Recht auf informationelle Selbstbestimmung", durch das jeder Einzelne grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner personenbezogenen Daten bestimmen kann. Auf dieser Grundlage darf jeder Bürger bei der Polizei oder den Geheimdiensten nachfragen, was sie über ihn gespeichert haben. Dann wird auch geprüft, ob die Daten korrekt sind und überhaupt weiter gespeichert werden dürfen. +Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist bis heute Kern des BDSG, das in diesem Jahr weitgehend durch die Europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) ersetzt wurde. Die ist auch eine Reaktion darauf, dass heute nicht nur Regierungen umfangreich Informationen horten, sondern große Internetkonzerne das Verkaufen von Nutzerdaten zum globalen Geschäft gemacht haben. Suchmaschinen, soziale Netzwerke, aber auch Shoppingseiten wie Amazon – sie alle müssen auf Anfrage mitteilen, welche Daten sie über dich gespeichert haben und an wen sie weitergeleitet werden. Daneben besteht ein Recht auf Löschung der Daten, falls die Speicherung nicht mehr notwendig ist. Das Problem: Unternehmen wie Facebook oder dessen Tochtergesellschaft Instagram drängen ihre Nutzer zur Zustimmung zu ihren Geschäftsbedingungen, die umstrittene Punkte wie etwa die Gesichtserkennung enthalten. Die Zustimmung ist freiwillig, aber wer sie nicht gibt, kann die Dienste nicht nutzen. +Als "Zwangszustimmung" bezeichnet das der Datenschutz-Aktivist Max Schrems, der im vergangen Jahr die Non-Profit-Organisation NOYB (none of your business) gründete, die sich um die Durchsetzung von Datenschutzrechten kümmert. Im Mai, kurz nach Inkraftreten der DSGVO, reichte Schrems Beschwerde gegen Google, Facebook, Instagram und Whatsapp ein – wegen der Nichteinhaltung der europäischen Gesetze, die die Zwangszustimmungen durch das "Kopplungsverbot" eigentlich ausschließen. Mit Klagen hat Schrems Erfahrung. Bekannt wurde er, weil er in einer Art David-gegen-Goliath-Feldzug jahrelang Facebook wegen der Nichtachtung von Daten- schutzbestimmungen vor Gericht zerrte. Anders als Josef in Kafkas Roman weiß Max immerhin, wer seine Rechte verletzt. diff --git a/fluter/wie-klimafluechtlinge-leben-muessen.txt b/fluter/wie-klimafluechtlinge-leben-muessen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f74463cdf8800bde21c5f77dd86f9b48693557d1 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-klimafluechtlinge-leben-muessen.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Der FotografAlessandro Grassanihat das Leben von Klimaflüchtlingen in Ulan-Bator (Mongolei), Nairobi (Kenia), Dhaka (Bangladesch) und Port-au-Prince (Haiti) dokumentiert. Er zeigt in der Fotostrecke "Die letzte Illusion", wie sich Menschen mit den Folgen des Klimawandels abzufinden versuchen. + +In der mongolischen Provinz Archangai-Aimag ist das Überleben nicht nur für die Menschen schwer. Es ist auch für viele Tiere zu kalt geworden. Allein 2010 starben acht Millionen Schafe, Kühe, Pferde und Kamele in der Mongolei. Den Hirten bleibt nichts anderes übrig, als in andere Regionen des Landes zu ziehen in der Hoffnung, dass der Winter dort milder ist +Weil ihre Tiere in der Kälte starben, musste die Familie Jigjjav in die Stadt ziehen. Als Hirten finden sie jedoch keine neue Arbeit und müssen deshalb in ärmlichen Verhältnissen wie diesen hausen +Familie Tsamba tut alles, um die noch verbliebenen Tiere ihrer Herde am Leben zu halten. Die unter der Kälte leidenden Schafe müssen im Wohnraum der Familie betreut werden +Die eine Hälfte der Stadtbevölkerung wohnt in hohen Häusern, die andere im Slum drum herum. "Ger" heißt der Bezirk der Armen, der Name entstand in Anlehnung an "Gher", das klassische Zelt der mongolischen Landbevölkerung. Oft finden die Zugezogenen in Ger keine Arbeit und noch weniger Anschluss an das Leben in der Stadt. Zurück können sie aber auch nicht, weil es für ihr altes Leben zu kalt geworden ist + +Die Fotos dokumentieren, dass die globale Erwärmung auch kalt sein kann, zu kalt zum Beispiel für die Schafe in der Mongolei; sie zeigen, dass ein Zyklon den Boden derart versalzen zurückgelassen hat, dass dort nichts mehr wächst; dass der Wasserspiegel steigt und große Landflächen unbewohnbar macht und Inseln im Meer zu verschwinden drohen. + +Mittlerweile haben sich die Menschen in Satkhira, Bangladesh, fast schon daran gewöhnt, fünf Monate im Jahr mit permanenter Überschwemmung zu leben +Einst diente die zerfurchte Erde in Dacope der Landwirtschaft. Seit mit dem Zyklon Aila im Mai 2009 so viel Salzwasser in den Boden geriet, ist alles verdorrt, und nichts mehr will wachsen +In Dhaka wohnen viele Menschen in Slums. Entlang der Schienen bauen sie sich mehr schlecht als stabil ein Dach über dem Kopf. Drum herum findet das alltägliche Leben statt, so auch der Kawran-Markt + +Derzeit betreffen die Folgen des Klimawandels vor allem die Lebensbedingungen der armen Landbevölkerung. Was ihr von der Heimat bleibt, sind beispielsweise Bilder von Palmstümpfen, die wie Mahnmahle aus dem Wasser ragen. Und im neuen Leben sind es dann die Zelte oder zugigen Wellblechhütten, die im Schatten großer Gebäude stehen. Der Familienzusammenhalt wird auf die Probe gestellt, weil die Not unter den Geflüchteten schwer auszuhalten ist. + +Weil sie in ihrem Dorf und der Umgebung durch die Dürre nicht mehr überleben konnten, zog Rose mit ihrer Familie nach Nairobi. Ihr Mann verließ sie, und jetzt muss sie sich allein um sechs Kinder kümmern und die Heimatlosigkeit ertragen +Wenn das Wasser nicht mehr fließt, müssen sie bis zum Grundwasser graben. Um sich und ihre Herden zu tränken, müssen die Hirten schwere körperliche Arbeit leisten +Weil nicht genug Platz für alle ist, müssen die Menschen auf engstem Raum zusammenleben +Hirten ziehen mit ihren Herden von Äthiopien nach Kenia auf der Suche nach einer besseren Zukunft + +Dass Menschen letztlich migrieren oder aus ihrer Heimat fliehen, hat vielschichtige Gründe. Den Klimawandel als Ursache gibt es zwar, aber dennoch produziert dieser (noch) keine 200 Millionen Flüchtlinge, wie beispielsweise der Stifter des Alternativen Nobelpreises, Jakob von Uexküll, prognostizierte. Denn mehr Klimawandel heißt nicht gleich mehr internationale Migration. Was aber ungeachtet der Zahlen dringend nötig ist, sind Diskussionen über verbesserte Lebensbedingungen für die Klimaflüchtlinge. + +In Port-au-Prince (Haiti) leben mittlerweile viele Menschen und kämpfen um ihr tägliches Wasser. Früher einmal ging es ihnen gut, sie bauten Reis und Gemüse an und verkauften es. Doch dann schien die Sonne öfter und der Regen kam seltener, und irgendwann gab es kaum noch etwas zu ernten +Der Etang Saumâtre, besser bekannt als Azuéi-See, ist in den letzten Jahren zu groß geworden. Durch den steigenden Wasserspiegel zerstört er Felder und Dörfer +Um das tägliche Leben zu bewerkstelligen, benutzt man auf Haiti Holzkohle. Dafür müssen viele Bäume gefällt werden. Dadurch schreitet die Abholzung der Wälder derart voran, sodass Naturkatastrophen ungebremst über das Land hereinbrechen können +Weil das Land kaum noch geschützt ist vor den Gefahren aus der Natur, flüchten viele Menschen in die Hauptstadt Port-au-Prince. Dort wiederum müssen sie oft mit chaotischen Zuständen zurechtkommen diff --git a/fluter/wie-koennte-man-hartz-iv-verbessern.txt b/fluter/wie-koennte-man-hartz-iv-verbessern.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5914216cb6584b1b8a1114f61881da431638c575 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-koennte-man-hartz-iv-verbessern.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Aktuell erhalten Alleinstehende 446 Euro pro Monat zum Leben (ohne Unterkunft und Heizung). 2022 steigt dieser Satz um drei Euro auf 449 Euro. Vor allem Sozialverbände kritisieren sowohl die Höhe der Leistungen als auch die minimalen Steigerungen. Für Stein­haus ist aber die Sanktionierung das Kernproblem. Bis zu 100 Prozent der Leistungen konnten gekürzt werden, wenn man beispielsweise zum wiederholten Male einen Termin beim Amt verpasst oder einen angebotenen Job ablehnt. Im äußersten Fall konnten die Sozialleistun­gen sogar ganz wegfallen. +2019 entschied das Bundesverfas­sungsgericht, dass manche Sanktionen zum Teil verfassungswidrig sind, weil sie das Existenzminimum unterschreiten. Laut dem Gericht dürften Hartz­-IV- Empfangenden nur noch bis zu maximal 30 Prozent abgezogen werden. Obwohl auf dem Urteil basierend noch kein neuen Gesetz erlassen worden ist, gilt eine Übergangsregelung nach der Sanktionen von mehr als 30 Prozent faktisch nicht mehr möglich sind. +"Sanktionen führen meistens eher dazu, dass sich Menschen unter Androhungen in Jobs pressen las­sen, dann aber drei Monate später wieder im Jobcenter landen", sagt Steinhaus. Tatsächlich finden viele Vermittelte häu­fig nur im Niedriglohnsektor einen Job und müssen dann mit Hartz IV aufstocken. +Auch Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschafts­forschung, ist davon überzeugt, dass Sanktionen kontraproduktiv sind. Statt­dessen müssten prekäre Beschäftigungs­verhältnisse abgeschafft und ein höherer Mindestlohn sowie mehr Angebote für Kinderbetreuung eingeführt werden. +"Man bräuchte zusätzlich Sozialarbeite­rinnen und Sozialarbeiter, die zu den Menschen nach Hause gehen und sie individuell in ihrer Lebensphase unter­stützen. Es muss mehr gefördert und weniger gefordert werden", sagt Fratz­scher. Wie das aussehen könnte, zeigt das Pilotprojekt "Solidarisches Grund­einkommen" in Berlin. Alle 1.000 teil­nehmenden Langzeitarbeitslosen be­kommen dabei einen unbefristeten Vollzeitjob, der mit dem Mindestlohn vergütet wird. Allerdings sind nur ge­meinwohlorientierte Tätigkeiten erlaubt. +"Fordern und Fördern" lautet der Grundgedanke des Hartz­-IV-­Gesetzes, das zum 1. Januar 2005 in Kraft trat. In ganz Deutschland beziehen heute fünf Millionen Menschen diese finanzielle Unterstützung vom Staat (dazu zählen rund 1,4 Millionen Kinder und Jugend­liche bis 15 Jahre). Nicht alle sind arbeits­los, doch die meisten leben an der Ar­mutsgrenze und brauchen zusätzlich zum Job staatliche Hilfe. +"Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft!" lautete die An­sage des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) im Jahr 2001. Noch heute hält sich das Vorurteil hart­näckig, Hartz­-IV­Beziehende seien faul und wollten nicht arbeiten. Laut einer Forsa­Umfrage vom März 2020 glauben 51 Prozent der Bevölkerung, dass Men­schen, die von Hartz IV leben, "nichts Richtiges zu tun hätten". 31 Prozent stimmen der Aussage zu, dass Hartz­-IV­-Beziehende gar nicht arbeiten wollen. +Diese Stigmatisierung hat Helena Steinhaus selbst erlebt.  Ihre Mutter war alleinerziehend und hat nach einem Burnout ihre Arbeit als Erzieherin aufgegeben. Um Hartz IV zu bekommen, müssen Antragstellende nachweislich hilfsbedürftig sein, sich also nicht mit ihren eigenen finanziellen Mitteln existenziell absichern können. Schon mit 17 lernte Helena Steinhaus daher, wie man einen Hartz-­IV-­Antrag ausfüllt, was eine "Bedarfsgemeinschaft" ist, was sich hinter "Vermittlungshemm­ nissen" verbirgt und vor allem, wie sich Sanktionen anfühlen. +"Sanktionsfrei" plädiert dafür, dass alle Bedürftigen eine Grundsicherung von mindestens 600 Euro erhalten – ohne Leistungskürzungen. Es brauche ein System, das die Menschen unter­ stütze, ihnen Mut mache, heißt es auf der Kampagnen­-Website. Dazu gehöre auch eine Reform der Jobcenter, findet Steinhaus. Ihr Wunsch: "Idealerweise soll man mit einem guten Gefühl zum Jobcenter gehen, weil man weiß, dass einem dort geholfen wird." +Die neue Bundesregierung ver­spricht, Hartz IV durch ein "Bürgergeld" zu ersetzen. "Das klingt für mich nur wie eine kosmetische Anpassung", sagt Helena Steinhaus. "Das Festhalten an den Mitwirkungspflichten heißt, dass Sanktionen bleiben." Für sie steht fest: Nur wenn der Regelsatz deutlich erhöht, Sanktionen abgeschafft sowie Energie­kosten ausnahmslos übernommen wer­den, könnte ein solches Bürgergeld tat­sächlich vor Armut schützen. Hartz IV kann es nicht. + diff --git a/fluter/wie-komme-ich-zum-film.txt b/fluter/wie-komme-ich-zum-film.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/wie-kommt-kokain-nach-deutschland-infografik.txt b/fluter/wie-kommt-kokain-nach-deutschland-infografik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4ce3da8ff41fbfab71e4227554c280b8e29ea3b5 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-kommt-kokain-nach-deutschland-infografik.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Auf ganzer Linie: Bis aus derKoka-Ernteein Geschäft auf deutschen Straßen wird, durchläuft der Stoff mehrere Stationen undLänder. Auf dem Weg zum Konsumenten wird das Kokain immer unreiner – und immer teurer. + + + + + +Wer Drogen nimmt,scheidetRückstände aus – so simpel ist das Prinzip dieser Statistik. Die Substanzen im Abwasser, die auf Drogenkonsum schließen lassen, sind zwar winzig, für Chemiker aber immer noch groß genug. Anhand der Abbauprodukte können sie darauf schließen, wie viel von einer Droge in einer Stadt konsumiert wird. Nach Razzien, in denen schon mal kiloweise Kokain die Toilette runtergespült wird, kann der Wert allerdings sprunghaft steigen. + + + +Kokain ist die Droge, die nach Cannabis und Heroin am häufigsten konsumiert wird … +… bei in Deutschland durchschnittlich 73 Euro pro Gramm wohl aber eher von Besserverdienenden. + + + +Laut dem jährlichen World Drug Report wurde nie mehr Koka angepflanzt als im Jahr 2017. Das liegt vor allem am Großerzeuger Kolumbien. Nach demFriedensabkommen zwischen der Regierung und der linken FARC-Guerilla, die sich durch die Kokainproduktion finanzierte, war zwar ein Rückgang der Koka-Ernte erwartet worden.  Da der Staat die früheren FARC-Gebiete aber nicht direkt übernommen hat, ist dort ein Machtvakuum entstanden, in demkriminelle Bandenheute mehr anbauen als zuvor. + + +Mit diesen Zahlen ist das so eine Sache: Obwohl die Fahnderimmer mehr Kokain sicherstellen, machen diese Funde nur einen Bruchteil dessen aus,was nach Deutschland geschleust wird. Kartelle und Händler haben eine komplexe Logistik aufgebaut – und weit raffiniertere Schmuggelmethoden als die Sporttasche. Zum Beispiel schlucken Körperschmuggler das Kokain in kleinen Latexbeuteln, die sie im Zielland wieder ausscheiden. 2016 wurde in Frankfurt sogar eine junge Kolumbianerin festgenommen, derBrustimplantatemit über einem Kilo Kokain eingesetzt worden waren. + + +UN World Drug Report 2019 +European Drug Report 2019 +Polizeiliche Kriminalstatistik +Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht diff --git a/fluter/wie-kommt-man-in-den-bundestag.txt b/fluter/wie-kommt-man-in-den-bundestag.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b3ab115674f872afdade5641088f35cf98bdc24a --- /dev/null +++ b/fluter/wie-kommt-man-in-den-bundestag.txt @@ -0,0 +1,23 @@ + +Wenn ich im Bundestag rede, verspüre ich auch jetzt noch eine gewisse Aufregung. Das ist schon eine besondere Situation. Besonders schwer ist es, ein Thema gut rüberzubringen, das auch noch abstrakt ist. Im Bundestag müssen wir versuchen, verständlich zu machen, was im Gesetzestext oft ganz kompliziert beschrieben ist. +Wie werde ich Bundestagsabgeordnete*r? +Prinzipiell gilt: Am besten ausprobieren, ob man gern politisch aktiv ist – als Klassensprecher, in der Kirche, im Verein und natürlich in einer politischen Jugendorganisation. Außerdem bietet es sich an, Praktika bei Abgeordneten zu machen. Das geht im Bundestag, aber auch – dort geht es etwas familiärer zu – im Landtag. Politik ist das Richtige? Dann klein anfangen, im Stadt- oder Kreisrat.Später gibt es zwei Wege in den Bundestag: +1. Über eine Direktkandidatur in einem der 299 Wahlkreise. Wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und älter als 18 Jahre ist, kann sich von einer Partei zur Wahl aufstellen lassen (das geht auch, ohne Mitglied der Partei zu sein). Unabhängige können sich ebenfalls um ein Direktmandat bewerben, dafür benötigen sie die Unterschriften von mindestens 200 Wahlberechtigten des Wahlkreises. Den Platz im Parlament erhält, wer die meisten Erststimmen im Wahlkreis erhält. +2. Über die Landesliste einer Partei, über deren Zusammensetzung auf dem Wahlparteitag oder einer Delegiertenkonferenz abgestimmt wird. Je weiter oben auf der Liste, desto besser die Chancen. Von den mindestens 598 Sitzen im Bundesparlament werden 299 (plus eventuelle Überhangmandate) über diese Landeslisten vergeben, es zählen die Zweitstimmen auf dem Wahlzettel. +Wir Abgeordneten sitzen aber gar nicht immer im Plenum. Natürlich versucht man besonders bei den Themen, die den eigenen Hauptausschuss betreffen, bei den Debatten im Plenum da zu sein. Mein Hauptausschuss ist der Gesundheitsausschuss, und daneben bin ich noch stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft und im Verteidigungsausschuss. Aber auch Reden der Kanzlerin, der Landesgruppenvorsitzenden und selbstverständlich die namentlichen Abstimmungen sind Termine, bei denen ich im Plenum bin. Aber dauernd anwesend sein, das ist bei unserem Arbeitspensum gar nicht möglich, da käme man zu nichts anderem mehr.  Weil das Plenum am Donnerstag zum Beispiel von neun Uhr morgens bis nachts um 1.30 Uhr angesetzt. + + +Meistens beginnt mein Arbeitstag früh um acht. Ich treffe mich dann mit CSU-Kollegen, in der Jungen Gruppe oder der Gruppe der Frauen zum Beispiel. Oft stehen auch Veranstaltungen von Interessengruppen an oder ein parlamentarisches Frühstück einer Forschungseinrichtung. Im Laufe des Tages treffe ich mich regelmäßig mit politischen Entscheidern. Zum Beispiel mit Ministern oder heute unter anderem auch mit dem Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND). Abends gibt es noch mehr Veranstaltungen von Gruppen, die ihre Themen politisch platzieren möchten. Aber da ich jetzt eine Tochter habe, bleibe ich da nicht, wie manche andere, bis elf oder zwölf Uhr. Zwischendurch habe ich viele Telefonate, schreibe E-Mails und Briefe, um meine Themen voranzubringen. Doch oft sind eben auch persönliche Gespräche nötig, um den Anliegen besonderen Nachdruck zu verleihen, sodass ich diese auch noch in den Tagen unterbringen muss. Da ich meine Arbeit aber sehr gerne mache, empfinde ich das eigentlich nicht als ein "Muss", sondern es macht mir Freude. +Das Wichtigste bei den ganzen Treffen ist, dass man als Abgeordnete – ich bin ja dem Gemeinwohl verpflichtet – im Hinterkopf behält, dass diese Gruppen einen nicht einladen, weil man besonders nett ist, sondern dass es immer um Interessen geht. Das ist nichts Verwerfliches – ich habe ja selbst Interessen –, man darf es nur nicht vergessen. +In Berlin bin ich in den 22 Sitzungswochen des Bundestags, den Rest der Zeit verbringe ich im Wahlkreis. In meinen zwei Wahlkreisbüros in Kulmbach und Lichtenfels kümmere ich mich mit meinen Mitarbeiterinnen um die Anfragen, die seitens der Kommunen auf uns zukommen – von den Bürgermeistern, von Unternehmern, aber auch von Einzelpersonen. Und klar, es gibt auch die typischen gesellschaftlichen Veranstaltungen, bei denen Ehrenbürger ernannt oder Unternehmen eingeweiht werden. + + +Insgesamt ist das schon viel Arbeit. Man kann sich mal zwei oder drei Tage rausnehmen und tut gut daran, im Sommer mal fünf Tage wegzufahren. Aber gerade am Anfang nimmt man sich auch wenig frei, weil man Leistung bringen will und sich ein Standing erarbeiten möchte. Man sollte also stressresistent sein und – das gilt besonders für Politiker in Spitzenämtern – mit wenig Schlaf auskommen. Weitere Grundvoraussetzungen sind für mich Fleiß, Integrität, Offenheit und Unabhängigkeit. Selbstbewusstsein? Nicht unbedingt. Manchmal nerven gerade die besonders selbstbewussten, selbstverliebten Politiker. Stellen sich vorne hin, sprechen in jedes Mikrofon, aber im Ausschuss sagen sie nichts. Dann doch lieber andersherum! +Was verdienen Bundestagsabgeordnete? +Abgeordnete haben laut Artikel 48 Absatz 3 des Grundgesetzes "Anspruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung". Der Betrag ist im Gesetz nicht festgelegt, er muss nur der Bedeutung des besonderen Amts und der damit verbundenen Verantwortung und Belastung gerecht werden. Im Abgeordnetengesetz aus dem Jahr 1977 werden als Orientierung die Bezüge von einfachen Richtern an obersten Bundesgerichtshöfen herangezogen.So viel wie diese Richter verdienen die Mitglieder des Bundestages aufgrund mehrerer Nullrunden – die Entschädigung kann jährlich angepasst werden – allerdings nicht: Die Abgeordnetenentschädigung beträgt seit dem 1. Juli 2016 monatlich 9.327,21 Euro brutto, jährliche Sonderzahlungen gibt es nicht. Nebentätigkeiten sind erlaubt, Abgeordnete müssen damit erzielte Einkünfte ab 1.000 Euro im Monat oder 10.000 Euro im Jahr offenlegen. +Es klingt vielleicht provinziell, aber einer der schönsten Momente in meinem bisherigen Berufsleben war der Spatenstich für eine Ortsumgehungsstraße in Untersteinach. Die war in 30 Jahren nicht gebaut worden, und erst durch harte Arbeit und Nichtlockerlassen an den richtigen Stellen haben wir die alles entscheidende Finanzierung bekommen. Wenn ich jetzt durch die Ortschaft fahre und sehe, dass der eine oder andere an dieser Durchfahrtsstraße sein Haus schön herrichtet, dann bilde ich mir natürlich ein, dass das wegen der Straße ist und weil die Leute jetzt wieder eine Perspektive haben. Da bin ich, wie Horst Seehofer über sich sagt, "verliebt ins Gelingen". Ich möchte, dass ein Plan funktioniert. +Weniger schön: Bei manchen Themen hat man das Gefühl, dass, egal was man macht, man einfach nicht gewinnen kann – außer natürlich, man handelt gegen die eigenen Überzeugungen und gibt den Kritikern einfach nach. Doch das empfinde ich als zu leichten Weg, und es würde mir auch nicht entsprechen. Das typische Beispiel ist hier die Legalisierung von Cannabis. In diesem Bereich habe ich mich sehr dafür eingesetzt, dass in Deutschland endlich Cannabis als Medizin vom Arzt verschrieben werden darf. Das war ein sehr wichtiger Schritt für viele Schwerkranke und Sterbende. Auch wenn das ein Riesenerfolg war, so werde ich bei diesem Thema nach einer Rede im Bundestag von bestimmten Medien, auch in den sozialen Medien, zerrissen, weil wir dennoch weiter gegen die Legalisierung von Cannabis zum Freizeitgebrauch sind. + + +Das Thema Drogen und Sucht ruft jedes Mal sehr viele negative Reaktionen hervor. Der erste Shitstorm, der war schon sehr befremdlich. Manchmal denke ich, dass man sich dann irgendwann nicht mehr wundern darf, wenn der eine oder andere Politiker zum Roboter wird und nicht mehr sagt, was er wirklich denkt und fühlt, sondern nur noch mit Standardantworten kommt. Das soll mir aber nicht passieren. Da lege ich mir lieber ein noch dickeres Fell zu! +Trotzdem lohnt es sich, sich politisch zu engagieren! Eine Pfarrerin hat mal zu mir gesagt: Verantwortung macht schön. So empfinde ich das auch seit meinen ersten Erfahrungen als Klassensprecherin und Mitglied der Jungen Union. Am Ende muss man sich halt trauen. Keine Angst haben, auch keine Angst vor Niederlagen. Die kommen ohnehin. Die Kunst ist es, danach aufzustehen und weiterzumachen. Und wie so oft im Leben gibt es dann mal eine Chance, die man ergreifen muss: Das Mandat von Karl-Theodor zu Guttenberg wurde frei, da habe ich einfach meinen Hut in den Ring geworfen. diff --git a/fluter/wie-kommt-ware-supermarkt-logistik.txt b/fluter/wie-kommt-ware-supermarkt-logistik.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/wie-krank-ist-das-denn-0.txt b/fluter/wie-krank-ist-das-denn-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5ce50054d7085d450770875bbe544c7590440ebe --- /dev/null +++ b/fluter/wie-krank-ist-das-denn-0.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Weil aber viele Fotos von anderen Blogs und Seiten geklaut zu sein schienen, kamen Wright Zweifel, ob es die Dirr-Familie überhaupt gibt. So gründete sie einen eigenen Blog, die "Warrior Eli Hoax Group", und veröffentlichte die Ergebnisse ihrer Suche. Bald schon besuchten täglich haufenweise Menschen ihre Seite, und schnell kam heraus: Die gesamte Familie Dirr und ihre harten Schicksalsschläge waren die Erfindung der 22-jährigen Medizinstudentin Emily Dirr. Sie habe die Leidensgeschichten über Jahre aus Langeweile erdacht, schrieb sie auf Wrights Blog und bat alle um Entschuldigung. +Du siehst aber schlecht aus: Im Internet... +Wright selbst war sich sicher, dass Emily Dirr nicht die Einzige war, die mit unglaublichen Krankheitsgeschichten im Internet Aufmerksamkeit erregte. Sie ging auf die Jagd und mit ihr Hunderte Mitstreiter, die schon bald fündig wurden. Schlagzeilen machte etwa der Fall der Australierin Belle Gibson, die angeblich an Krebs litt. Von ihrem Leiden, von den Ängsten und Hoffnungen berichtete sie auf Twitter und Instagram. Zehntausende folgten – und fieberten mit, als endlich eine Therapie anschlug. Ein exotischer Mix aus vitaminreicher Ernährung, Sauerstoffinhalation, Darmspülungen und Ayurveda- Behandlungen habe ihr geholfen, verbreitete Gibson. Damit andere Betroffene ihren gesunden Lebensstil nachahmen konnten, entwickelte sie eine App mit genauen Instruktionen. Diese App verkaufte sich mehr als 300.000 Mal, und die Zeitschrift "Elle" kürte Gibson zur inspirierendsten Frau des Jahres 2014. Kurz darauf kam heraus, dass alles gelogen war. Belle Gibson hatte nie Krebs gehabt. +In den meisten fiktiven Krankheitsgeschichten, auf die Wright stieß, schien es nicht um Geld, sondern eher um Aufmerksamkeit zu gehen. Münchhausen-Syndrom nennen es Psychologen, wenn Menschen körperliche Beschwerden erfinden oder sich sogar selbst verursachen, um sich dann an ihre Mitmenschen zu wenden. Mit dem Internet gibt es eine Plattform, die es den Betroffenen leicht macht, weltweit Aufmerksamkeit zu erregen und Mitgefühl zu bekommen. +Mehr als 100 Fälle der Internetvariante des Syndroms hat Marc D. Feldman, Psychologie-Professor an der Universität von Alabama, untersucht. "Die Menschen sehnen sich danach, das Gefühl zu haben, von anderen Menschen umsorgt zu werden. Dieses Gefühl können sie auf andere Weise nicht bekommen", sagt Feldman. Hätten sie einmal damit angefangen, wäre es schwierig, wieder aufzuhören. "Das Mitleid und die Bewunderung für ihre Tapferkeit, die sie in einem Forum oder einem Blog bekommen, ist für sie wie eine Sucht, auch wenn sie nicht wirklich leiden." Die Vortäuschung sei ein weiterer entscheidender Faktor. Sie gebe den Betroffenen das Gefühl, sich selbst und andere kontrollieren zu können. Oft hätten die Betroffenen genau die Anteilnahme, die sie im Internet bekommen, in ihrer Kindheit vermisst. Komplett bizarr wird es, wenn die Menschen sogar das Münchhausen-Syndrom vortäuschen. Auch davon hätte er einige Fälle gehabt, sagt Feldman. +In der Realität eine Krankheit glaubhaft vorzutäuschen ist gar nicht so einfach. Nicht zuletzt, weil man dafür Menschen ins Gesicht lügen muss. Das ist virtuell nicht nötig. Eine Online-Identität ist anonym, verformbar und leicht zu erzeugen. Es ist auch kein Problem, medizinische Fachliteratur im Internet zu finden, um die vermeintlichen Krankheiten realitätsnah darzustellen. "Niemand muss in Bibliotheken gehen, um sich sein Wissen über die jeweilige Krankheit anzueignen. Ein paar Klicks bei Wikipedia reichen aus", sagt Feldman. +...kursieren viele fiktive Krankheitsgeschichten +Doch die Anonymität des Internets verstärkt offenbar auch die Wut derer, die auf die vermeintlich Kranken hereingefallen sind. So sah sich Emily Dirr über Wochen einem regelrechten Shitstorm gegenüber. Mit einer weiteren Bestrafung musste sie aber nicht rechnen. Das reine Vortäuschen einer falschen Identität auf einer Facebook-Seite ist nur in den seltensten Fällen strafrechtlich von Belang und wird dementsprechend auch nicht verfolgt. +Taryn Wright selbst hat ihre Blogeinträge deutlich zurückgefahren. Statt Hunderter Online-Detektive sind nur noch vier Bekannte von ihr an der Jagd auf die falschen Kranken beteiligt. Meist veröffentlicht die Gruppe aufgeklärte Fälle gar nicht mehr, sondern informiert die Betrüger und schlägt ihnen vor, sich psychisch behandeln zu lassen. "Wir möchten die Menschen nicht diffamieren", sagte eine Aktivistin des Blogs einer Reporterin des britischen "Guardian". "Sie leiden an einer geistigen Erkrankung. Ich hoffe für sie, dass wir sie dazu bringen können, damit aufzuhören und ein besseres Leben zu führen." diff --git a/fluter/wie-kriegt-man-das-geregelt.txt b/fluter/wie-kriegt-man-das-geregelt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8b507c7ef158f3e314908a8b0084087dea1332f0 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-kriegt-man-das-geregelt.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Der ausufernde Opiumhandel sollte 1929 in Deutschland ein Ende haben – mit der Einführung des Opiumgesetzes. 1972 wurde dies durch das heutige "Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln" (BtMG) abgelöst, das alles von Herstellung über Handel bis Strafen bei Verstößen regelt. Wie jedes Gesetz ist das BtMG demokratisch legitimiert, es hat das Ziel, Missbrauch, Abhängigkeit zu verhindern und gleichzeitig die medizinische Versorgung zu sichern. Basis sind das "Einheitsabkommen über die Betäubungsmittel" der Vereinten Nationen sowie zwei ergänzende Abkommen. Mit diesen internationalen Verträgen verpflichteten sich die Staaten zu einer einheitlichen Drogenkontrolle und zur Bekämpfung von organisierter Drogenkriminalität. In seinen Anlagen I bis III unterscheidet das BtMG Kategorien von Betäubungsmitteln: Die der ersten, deren Handel und Abgabe in jeder Form verboten ist, heißen "nicht verkehrsfähig" (die meisten bekannten illegalen Drogen wie LSD). Die nächsten sind verkehrsfähige, aber nicht verschreibungsfähige Substanzen, beispielsweise Grundstoffe für Medikamente. Anlage III führt die verkehrsfähigen und verschreibungsfähigen Betäubungsmittel auf wie Morphin, die Ärzte per Betäubungsmittelrezept verordnen können. Diskussionen drehen sich meist um den Anhang: Was kommt rein, was darf raus? Alkohol und Nikotin stehen nicht drin und werden durch das Jugendschutzgesetz geregelt. Bis heute wurde das Betäubungsmittelgesetz vielfach geändert, vor allem, um neue synthetische Drogen aufzunehmen. +Was unter das Betäubungsmittelgesetz fällt und als illegale Droge gilt, entscheidet das Bundesministerium für Gesundheit auf Grundlage der Empfehlung eines Expertenausschusses. Entscheidend ist, ob ein Stoff Missbrauchspotenzial besitzt und gefährlich ist. Die Änderung des BtMG beschließt das Bundeskabinett, wobei der Bundesrat zustimmen muss. Außerdem gelten die Abkommen der UN, weshalb darin vermerkte Stoffe wie Heroin, Kokain oder Cannabis nicht so einfach legalisiert werden können. Änderungen werden unter anderem auch durch die Deutsche und die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht angestoßen. Die in "Spice" vorkommenden synthetischen Cannabinoide sowie das Amphetamin Merphedron wurden zuletzt neu in die BtMG-Anhänge aufgenommen. Zuvor waren sie im Internet unter den unverfänglichen Bezeichnungen "Kräutermischung" oder "Badesalz" erhältlich. +Singapur fährt in puncto Drogendelikte eine Zero-Tolerance-Politik: Todesstrafe, Stockschläge, lebenslange Haft. Bis zu zehn Jahre Gefängnis und/oder Geld- Strafe gibt es für Cannabis- oder Ecstasybesitz; der Handel mit mehr als 500 Gramm Cannabis oder 15 Gramm Heroin führt zum Todesurteil. Welches Land am drastischsten gegen Drogen vorgeht, ist trotzdem schwer zu sagen, da Besitz, Schmuggel und die verschiedenen Stoffe sehr unterschiedlich bestraft werden. Tatsächlich vollstreckt wird die Todesstrafe für Drogendelikte in Malaysia, Thailand, Indonesien, Iran und weiteren Staaten. Einige Länder mit strengen Gesetzen gehen aber dazu über, für Konsumenten Therapie statt Haft anzuordnen. Indonesien hingegen hat seine Gesetze erst 2009 wieder verschärft. Nun drohen Eltern Strafen, die ihr drogenabhängiges Kind nicht den Behörden melden. +Tschechien überholt Holland", lautete die Nachricht Anfang 2010. Da legte das Land fest, dass eine kleine Menge an Drogen nur noch als Ordnungswidrigkeit geahndet wird. In den Niederlanden bleibt Cannabis zwar illegal, wird in bestimmten Mengen und unter Auflagen (wie Abgabe in Coffeeshops nur an über 18-Jährige) aber nicht strafrechtlich verfolgt. In beiden Ländern gilt: Drogenbesitz und -handel bleiben zwei verschiedene Paar Schuhe. +Nicht vertun: Besitz und Anbau von Cannabis und anderen Drogen sowie der Handel damit stehen bei uns unter Strafe. Es kann bei einer geringen Menge zum Eigenverbrauch – die Höhe regeln die Bundesländer – ausnahmsweise Straffreiheit geben. Bei Cannabis liegt die durchschnittliche Menge, bei der von der Strafverfolgung abgesehen werden kann, bei rund sechs Gramm. Ein Freifahrtschein ist das nicht. Eigenverbrauchsmengen sind immer "ohne Gewähr": die Staatsanwaltschaft entscheidet von Fall zu Fall, wobei noch andere Kriterien z.B. der Wiederholungsfall eine Rolle spielen. + +9,5 Millionen Menschen in Deutschland konsumieren Alkohol in gesundheitlich riskanter Form. Etwa 1,3 Millionen Menschen gelten als alkoholabhängig. Jedes Jahr sterben in Deutschland nach neuen Berechnungen mindestens 73.000 Menschen an den Folgen ihres Alkoholmissbrauchs. Rund zwei Millionen vor allem junger Menschen konsumieren in Deutschland regelmäßig Cannabis, etwa 600.000 von ihnen weisen einen missbräuchlichen oder abhängigen Konsum auf. Schätzungen gehen davon aus, dass rund 200.000 Menschen in Deutschland illegale Drogen, das heißt Opiate, Kokain und Amphetamine, sehr riskant konsumieren. +Quelle: Bundesministerium für Gesundheit, Drogen- u. Suchtbericht 2009 + +Einnahmen des Staates durch die Alkoholsteuer 2009: 3,3 Milliarden Euro +Quelle: Statistisches Bundesamt + +Kosten, die der Allgemeinheit durch Akoholsucht entstehen: insgesamt 26,7 Milliarden Euro Davon: 3,6 Milliarden ambulante Versorgung 2,7 Milliarden stationäre Behandlung Produktivitätsverlust durch Todesfall: In Haushalt und Ehrenamt: 6,5 Milliarden Im Job: 5,0 Milliarden Frühverrentungskosten: 3,2 Milliarden +Quelle: Universität Hamburg, Institut für Recht der Wirtschaft, 2010 + +Anteil der Menschen, die finden, dass Drogenkonsum kriminell ist: 60 % Anteil unter den 14- bis 29-Jährigen, die das glauben: 54 % Anteil der Menschen, die finden, dass Drogen verboten bleiben sollen: Gesamt: 70 % Unter den 14- bis 29-Jährigen: 75 % +Quelle: Infratest/dimap für "Rolling Stone", Befragung von 1.000 Personen ab 14 Jahren; 2010 diff --git a/fluter/wie-laeuft-eine-organspende-ab.txt b/fluter/wie-laeuft-eine-organspende-ab.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d85f3242306682c41ffaec8fcbe8d5a4f14fedfb --- /dev/null +++ b/fluter/wie-laeuft-eine-organspende-ab.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +Im letzten Jahr spendeten in Deutschland nur 797 Menschen nach dem Tod ihre Organe, der niedrigste Stand seit 20 Jahren. Das hat viele Gründe: Das Vertrauen der Menschen in die Organspende wurde immer wieder durch Skandale erschüttert. Zudem ist die eigene Sterblichkeit zu Lebzeiten ein unbeliebtes Thema, rund 40 Prozent der Deutschen sind noch unentschieden, ob sie Organspender sein wollen oder nicht. Und es gibt strukturelle Hürden: Die Kliniken meldeten in den vergangenen Jahren nur sehr wenige potenzielle Spender an die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) – das mag auch an der Arbeitsverdichtung und dem wachsenden wirtschaftlichen Druck auf den Intensivstationen liegen. +Fakt ist: Täglich sterben durchschnittlich drei Patienten, die vergeblich auf ein Spenderorgan gewartet haben. Wer in Deutschland Organe spenden will, muss das nämlich vor seinem Tod schriftlich festlegen. In der Diskussion ist deswegen immer wieder eine Opt-Out-Lösung, wie sie in den Niederlanden eingeführt wird: Alle Volljährigen sollen dort als potenzielle Spender erfasst werden, solange sie nicht widersprechen. +Helmut Kirschner klingelt an der Tür zur Intensivstation. Der Koordinator der DSO ist Gast hier und muss wie alle Besucher warten. Er organisiert im Auftrag der gemeinnützigen Stiftung die Organspenden in Norddeutschland – ein Handlungsreisender für Organe. Kirschner läuft zielstrebig durch die Intensivstation, ein Reich aus unzähligen Fluren und Krankenzimmern. Alle tragen hier grüne Schutz- und Arbeitskleidung, die Angehörigen erkennt man an den angespannten Gesichtern. Kirschner betritt das Stationszimmer, man kennt sich, man grüßt sich. Ist schon wieder jemand gestorben?, fragt ein Arzt. Kirschners Erscheinen bedeutet immer auch, dass jemand nicht mehr gerettet werden konnte. Doch Kirschner lässt sich davon nicht beirren – er ist für die Lebenden hier. Wenn ein Mensch hirntot ist, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten, sagt er, gleich die Maschinen abstellen oder vor dem Abschalten noch Organe spenden. Mehr Optionen gibt es nicht. Wenn man es nüchtern betrachtet, dann kann der Tod des einen das Leben des anderen bedeuten, sagt Kirschner. Er sieht die Sache nüchtern, das ist sein Markenzeichen. + +Der Koordinator lässt sich von einer Schwester in das Zimmer seines heutigen Falls führen, einer hirntoten Spenderin. Sie ist fast 80 Jahre alt. Nichts als ein kleines Pflaster am Kopf zeugt von dem Sturz, der sie hierhergebracht hat. Nur wer länger hinsieht, bemerkt: Vor jedem Atemzug piept das Gerät neben dem Bett, das Heben und Senken des Brustkorbes wirkt mechanisch, das Ausatmen klingt pfeifend. Die Frau ist tot, doch ihr Herz-Kreislauf-System kann mit den Mitteln der Intensivmedizin für begrenzte Zeit aufrechterhalten werden. Dieser neue Zustand wurde 1959 erstmals von den französischen Ärzten Pierre Mollaret und Maurice Goulon beschrieben, sie nannten ihn "Coma dépassé". In den folgenden Jahren untersuchten Forscher auf der ganzen Welt das Phänomen. 1968 erklärte eine Ad-hoc-Kommission aus Theologen, Juristen und Medizinern der Harvard Medical School diesen irreversiblen Funktionsausfall zum Hirntod. Er sollte den Kreislaufstillstand als Todesdefinition ablösen. Als lebendig gilt man seitdem nur noch, wenn auch im Hirn noch Funktionen nachweisbar sind. +Kirschner nimmt der Patientin Blut ab und schickt es ins Labor der DSO zur erneuten Bestimmung der Blutgruppe und zur Untersuchung auf Virusinfektionen. Seine Handgriffe sind ruhig, fast bedächtig. Die Patientin ist stabil, da verbreiten wir keine Hektik, sagt Kirschner mit einer sanften süddeutschen Sprachfärbung. Er beugt sich wieder über die Patientenakte. Bis zur Meldung an Eurotransplant, wo die Verteilung der Organspenden für acht europäische Länder koordiniert wird, gibt es für Kirschner nur Daten und Kaffee. Er hat seit dem Frühstück nichts gegessen. Äußerlich hat der Koordinator Ähnlichkeit mit Loriot: das graue, schüttere Haar, die sehr aufrechte Körperhaltung, die kleinen, wachen Augen. Seine Aufgabe verlangt die Zähigkeit eines Langstreckenläufers, manchmal sind die Koordinatoren der DSO bis zu 24 Stunden mit einer Organspende beschäftigt. Viele Menschenleben hängen von Kirschners Arbeit ab. +Ein Internist betritt das Zimmer, um die Organe mit Ultraschall zu untersuchen. Er schiebt das Hemd der Frau hoch und legt den Bauch frei. Das wird jetzt kurz kalt, sagt er zu der Hirntoten und trägt das Kontaktgel auf. Der Arzt weiß, dass sie ihn nicht hören kann. Doch die Ansprache, die mitfühlende Warnung ist so sehr Teil seiner Routine, dass sie vor dem Hirntod nicht haltmacht. Für den Internisten ist die Spenderin, für die es keine Rettung mehr gibt, immer auch noch eine Patientin. +Nach zahlreichen Untersuchungen, Gesprächen mit den behandelnden Ärzten und dem Hausarzt der Spenderin kommt Kirschner zu dem Schluss, dass nur Leber und Nieren für die Spende infrage kommen – die restlichen Organe sind schon zu stark beeinträchtigt. Leicht fällt diese Entscheidung nicht angesichts der immer weniger werdenden Spenden. Fast jeder ist bereit, sich ein fremdes Organ transplantieren zu lassen, wenn es ihn rettet, sagt Kirschner. Leider sind zu wenige Menschen im Gegenzug bereit, ihre Organe nach ihrem Tod zu spenden. 20 Jahre lang hat Helmut Kirschner als Chirurg gearbeitet, bis er dem Angebot folgte, die Deutsche Stiftung Organtransplantation Region Nord aufzubauen, nun steht der 65-Jährige kurz vor seiner Pensionierung. Ruhig bleiben, das lernt man mit den Jahren, sagt er. Er fährt fort, die Werte der Spenderin in seinen Laptop zu tippen, mit zwei Fingern. Ihre Lebensgeschichte verdichtet sich zu Zahlenreihen. +Sieben Stunden dauert das Prozedere aus Untersuchungen, Datensammlung, Abstimmungen. Dann geht alles ganz schnell. Helmut Kirschner schickt die Meldung mit einem Klick an Eurotransplant und setzt damit einen mächtigen, acht Länder umfassenden Mechanismus in Bewegung. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. + + +Die Schaltzentrale der Organverteilung sitzt in Leiden, in den Niederlanden: ein überschaubarer Büroraum, in der Mitte ein großer Tisch, sechs Arbeitsplätze mit Computern und Telefonen, an der Wand ein Bildschirm mit eingehenden Organspenden. Live, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, aus Belgien, den Niederlanden, Luxemburg, Österreich, Slowenien, Ungarn, Kroatien und Deutschland. +Allocation Duty Officer, so heißen die Menschen, die hier Organe verteilen. Einer von ihnen ist Annemieke Vijverberg-Poot. Wenn an einem Tag sechs Organspenden auf einmal reinkommen, sind das potenziell 54 Organe, die vermittelt werden müssen, dann brennt im Büro die Luft, sagt Vijverberg-Poot und lacht fröhlich. Diese Tage machen ihr am meisten Spaß. Sie mag Stress. Sechs Spendermeldungen pro Tag, das war 2017 der Durchschnitt bei Eurotransplant. Wenn die Meldungen einmal da sind, hat Vijverberg-Poot nur wenige Stunden Zeit, um die Organe zu vermitteln. +Die Basis für die Organvermittlung, die "Allokation", wie es hier heißt, ist das Matching. Es ist wie bei einer Internet-Partnerbörse, nur dass es beim Organmatching die Liebe auf den ersten Blick sein muss – eine zweite Chance gibt es nicht. Das Matching basiert auf Algorithmen, die auf Grundlage der Organverteilungsrichtlinien programmiert wurden. Die Ärzteschaft der Mitgliedsländer legt die medizinischen Vergabekriterien fest. Die Liste ist lang: Blutgruppe, Gewicht, Größe, Alter sind entscheidend, aber auch die Logistik: Eine undurchblutete Lunge kann nur maximal sechs Stunden überleben, eine Niere je nach Alter bis zu 24 Stunden. Die zwei wichtigsten Fragen sind: Wie dringend braucht der Patient ein neues Organ – und wie hoch sind die Chancen auf Erfolg? Die Wartezeit des Empfängers und die nationale Organaustauschbilanz, die dafür sorgt, dass kein Land zu viele Organe abgibt oder bekommt, stehen bei der Vermittlung hintenan. Am Ende des Prozesses existiert eine Liste, auf der mögliche Empfänger stehen. +Annemieke Vijverberg-Poot geht die Liste durch und informiert die Transplantationszentren der Reihe nach, immer zwei gleichzeitig, sodass bei einer Absage so wenig Zeit wie möglich verloren geht. Hier, in der Schaltzentrale in Leiden, rettet ihr Sprach- und Kommunikationstalent Leben. + +Helmut Kirschner steht vor der Klinik, vertritt sich die Beine. Frische Luft nach der Arbeit auf der klimatisierten Intensivstation, etwas Ruhe nach dem Trubel der vergangenen Stunden. Draußen ist es Nacht geworden. Doch bald fängt es wieder an, im Minutentakt klingelt sein Handy – die Transplantationszentren wollen sich mit dem erfahrenen Koordinator besprechen, nebenbei wird schon die Logistik in die Wege geleitet: Für die Nieren bestellt die DSO Fahrer und Fahrzeuge, die Leber soll mit einem Kleinflugzeug abgeholt werden. Wohin, das muss geheim bleiben. Das deutsche Transplantationsgesetz fordert einen strengen Datenschutz, der sowohl die Angehörigen der Spender als auch die Empfänger schützen soll. +Um 23 Uhr wird die Spenderin in den OP gefahren. Ein Entnahmeteam ist extra dafür angereist: erfahrene Chirurgen von Transplantationszentren, die an diesem Tag, wie Kirschner, Bereitschaftsdienst haben. +Auf den ersten Blick erweckt alles den Eindruck einer ganz normalen OP, grelles Licht, grüne Kittel, Operationsbesteck. Und doch ist alles anders: Der kommende Eingriff hat nicht den Zweck, die Frau auf dem Operationstisch zu heilen, sondern andere. Ihr Körper wird geöffnet, die Leber und die Nieren freigelegt und noch mal in Augenschein genommen. Dann die Enttäuschung: Die Leber kann doch nicht verwendet werden. Obwohl die Werte unauffällig waren, ist das Organ doch zu stark geschädigt für eine Transplantation. Weil wir so ein geringes Spendenaufkommen haben, drehen wir jedes Organ dreimal um, bevor wir uns gegen eine Entnahme entscheiden, sagt eine Ärztin. Aber hier ist nichts zu machen. Helmut Kirschner läuft mit dem Handy raus, um die schlechte Nachricht weiterzugeben. Ein Mensch verliert für heute Nacht die Chance auf einen Neuanfang. Bleiben noch die beiden Nieren. +Bevor sie dem Körper der Spenderin entnommen werden, wird über die Bauchaorta eine gekühlte Konservierungslösung in den Körper gepumpt, die Organe durchgespült. Das Herz der Spenderin hört auf zu schlagen, die Beatmung wird gestoppt. Der Körper wird nun mithilfe von eiskalter Kochsalzlösung schnell heruntergekühlt und die Nieren entnommen. Die Haut der Spenderin wirkt im grellen Licht der Operationsleuchten fast weiß. Rund 72 Stunden nach der Hirntoddiagnose kommt nun auch ihr Körper zur Ruhe. +Im Vorraum des Operationssaals nehmen die studentischen Mitarbeiter der DSO die Nieren entgegen: etwas mehr als eine Handvoll rosa-gelblichen Gewebes. Es schwimmt in einer Lösung in einem durchsichtigen Plastikbeutel. Vorsichtig, fast andächtig werden sie einzeln auf steriles zerstoßenes Eis gebettet, das in einer Polystyroltruhe liegt. Auch solche Nachtschichten kommen irgendwann zu einem Ende, sagt Kirschner, während er die versiegelten Pakete auf einem quietschenden Wägelchen durch die Katakomben der Klinik fährt. +Er wirkt jetzt müde, man sieht ihm die Anstrengung der letzten 13 Stunden an. Vor der Tür der Klinik übergibt er die Pakete den Fahrern, die die Organe durch die Nacht zu den Wartenden bringen werden. Ihre Reise beginnt jetzt. +In den Transplantationszentren wird derweil schon alles für den nächsten Schritt vorbereitet: die Verpflanzung des Organs in den neuen Körper. Transplantationskoordinatoren wie Robert Kütemeier am Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg sind die Überbringer der frohen Botschaft für die Empfänger. Viele warten schon seit Jahren auf unseren Anruf, sagt er, wir arbeiten hier am Happy End der Geschichte. Vielleicht die dankbarste Aufgabe in diesem Dreischritt der Organtransplantation. +Kütemeier organisiert die schnelle Anreise der Patienten, informiert das Transplantationsteam und sichert einen freien OP für die Organverpflanzung. Für kurzfristige Absprachen ruft er auch noch bei Annemieke Vijverberg-Poot und ihren Kollegen von Eurotransplant an oder bespricht sich mit den Koordinatoren der DSO wie Helmut Kirschner. Und dann wird das Organ dem Empfänger eingepflanzt. Kütemeier, der jahrelang als Pfleger auf der Intensivstation gearbeitet hat, lächelt, wenn er über gelungene Transplantationen spricht. Bei dieser Arbeit müssen Sie sich niemals die Sinnfrage stellen, sagt er. Die Menschen, die das Transplantationszentrum gesund verlassen, feierten noch einmal Geburtstag. +Ein Jahr ist es her, dass Anita Wolf die Hand ihres Mannes losgelassen hat. Er lag im Bett, wie schlafend. Dann wurden ihm Herz, Nieren und Leber entnommen und drei Menschen mit seinen Organen gerettet. Nach sechs Wochen kam ein Dankesbrief der DSO: Die Transplantationen seien erfolgreich gewesen, die Empfänger hätten die Kliniken verlassen, es gehe ihnen gut. Sein Tod hat so einen Sinn bekommen, sagt Anita Wolf, sie weint dabei. Die Trauer um ihren Mann, sie ist durch die Organspende nicht weniger geworden. Aber die Spende war eine Öffnung hin zum Leben, sagt sie. Das Herz ihres Mannes schlägt weiter. Irgendwo. + +Fotos: Gaetan Bally/Keystone Schweiz/laif diff --git a/fluter/wie-lebt-es-sich-auf-dem-dorf.txt b/fluter/wie-lebt-es-sich-auf-dem-dorf.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..140a6aa16e31173e4aaaca316c16ee221484f254 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-lebt-es-sich-auf-dem-dorf.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Es war die Nacht vom 30. April auf den 1. Mai, ich saß in Niederbayern auf dem Land und bewachte einen Baum, besser: eine 28-Meter-Fichte auf dem Dorfplatz in Gaindorf, aus der später ein Maibaum wurde. Die Landjugend hatte Bierbänke aufgestellt und Schilder entlang der Dorfstraße, auf denen stand: "Du hupst, wir trinken!" Ständig hupte einer, wir tranken Bier, die Fahrer Cola-Mix. 150 Mitglieder hat die Landjugend, 90 sind aktiv. Erzieherinnen und Optikerinnen die Frauen, Landwirte, Schweinemäster und Käser die Männer. Der Rest arbeitet bei BMW, jeden Morgen um halb sieben fährt der Werksbus über die Höfe, transportiert die Arbeiter vom Land nach München und am Abend wieder zurück. "Wenn BMW noch mal hustet, dann hat die Region a Riesenproblem", sagte einer. +Die Jugendlichen in Gaindorf tragen entweder Bauern-Prada von Engelbert Strauss oder Landjugendpullover in Schwarz mit dem identitätsstiftenden Wappen: ein Kreuz, ein Pflug, ein Acker. Die Burschen dazu Lederhosen, die zwei Weltkriege überlebt haben. Maskuline Statussymbole, von den Großvätern vererbt. So ist das in Bayern auf dem Land: Der Vater ist Schreiner, du übernimmst die Schreinerei, der Vater ist Bauer, du übernimmst den Hof. Und mit dem Betrieb wird ein Stück Familienstolz gleich mitvererbt. +"Manche gehen halt in d' Stadt, weil des jetzt so a Art Trend ist: nach Minga, Rengschburg, Dingolfing. Wir bleim dahoam, weil's dahoam am scheensten ist", sagt Lucas und fügt an: "Der Nonplusultra-Punkt ist die GMIATLICHKEIT." Jetzt darf man nicht den Fehler machen und Gmiatlichkeit der Einfachheit wegen mit Gemütlichkeit übersetzen. Es ist mehr eine tiefe, ehrliche Zufriedenheit, wenn man morgens vors Hoftor tritt, in die Weite blickt, die Alpen am Horizont, und sich krumm freut, dass man geboren wurde. +Gmiatlichkeit ist auch: die Entschädigung für harte Arbeit, so sagt es der Hinteregger Martin. Ein Mannsbild von Typ mit gerötetem Gesicht und fleischwolfartigem Händedruck. Zusammen mit dem Vater schmeißt er eine Schweinemast. +Ich stand irgendwann am Straßenrand und pinkelte gegen einen Baum, als der Hinteregger Martin kommentierte: "Schaut's a mal her, der lasst sein Brunzbursch'n so richtig aussahenga!" Es war zwei Uhr morgens, fast alle in Deutschland hatten an diesem Tag, dem Tag der Arbeit, frei, nur der Hinteregger Martin nicht. "I werd um sechs Uhr aufstehn, d' Sau fuadan." +Und wann machst du frei? +"Sechs Tag im Jahr fahr i auf d' Berghütt'n, mehr is ned drin." +Hast du dir mal ein anderes Leben erträumt? +"Na, nie. Aber oans woaß i gewiss: Bevor i in die Stod geh, schiaß i mia ins Knia!" diff --git a/fluter/wie-lebt-es-sich-mit-hartz-4.txt b/fluter/wie-lebt-es-sich-mit-hartz-4.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f39f1312f5dad5f2cc53bb5210636c299fcf5202 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-lebt-es-sich-mit-hartz-4.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Ich habe meinen Schulabschluss erst auf dem zweiten Bildungsweg gemacht.Aber faul war ich nie.Ich bin Elektriker geworden und war bei Zeitarbeitsfirmen angestellt. Auf den Baustellen habe ich immer mein Bestes gegeben. Eines Tages bin ich auf eine 13 Meter hohe Leiter geklettert, habe aber das Gleichgewicht verloren. Wenn da nicht zufällig Dämmmaterialien gelegen hätten, wäre ich tot gewesen. So waren Nerven und Muskeln zerstört. Körperlich arbeiten kann ich bis heute nicht mehr. Die Zeitarbeitsfirma zahlte mir noch ein paar Wochen weiter Gehalt und schmiss mich dann raus. So landete ich schließlich beim Jobcenter und irgendwann bei Hartz IV. Für die Berater dort war ich nur eine Nummer, die haben mich gar nicht behandelt wie ein Mensch. +Schnell wurde ich in die erstbeste Maßnahme gesteckt. Ich musste zu einem sogenannten Bewerbungstraining. Acht Stunden am Tag gemeinsam mit 30 anderen in einem Raum sitzen und einem inkompetenten Dozenten zuhören, der erklärte, wie man eine Bewerbung schreibt. Arbeit habe ich dadurch keine gefunden. Am liebsten hätte ich eine Umschulung gemacht, aber davon wollten sie im Jobcenter nichts hören. +Eine kleine Erbschaft hat mich vorerst gerettet. Ich habe jetzt ein bisschen Geld und bin dabei, mich selbstständig zu machen. Weil ich weiß, wie ohnmächtig man als Arbeitsloser ist, berate ich ehrenamtlich Leute, die Ärger mit dem Jobcenter haben. Oft hilft nur eine Klage, um sich gegen die Willkür und die Fehler der Mitarbeiter dort zu wehren. + diff --git a/fluter/wie-lebt-man-mit-dem-terror.txt b/fluter/wie-lebt-man-mit-dem-terror.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..06c393be6593aa49a58bb6ce3613460065e0a8ad --- /dev/null +++ b/fluter/wie-lebt-man-mit-dem-terror.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Mir wurde bewusst, dass meine Freunde und meine Familie zu Hause in Deutschland ja nun genau von diesem Ort, dem Damaskustor in Jerusalem, hören. "Meinem" Tor: Ich, seit viereinhalb Jahren Tel Aviverin, habe davor ein halbes Jahr in Jerusalem gelebt, die Hälfte der Zeit in der Altstadt Jerusalems. Ich bin damals nahezu täglich durch das Damaskustor gelaufen: vorbei an den arabischen Frauen, die auf dem Boden sitzend manchmal Salbei und manchmal Weintrauben verkaufen. Ich passierte die Essens-, Kleidungs- und Schnickschnack-Läden, lief anschließend durch den arabischen Stadtteil Sheikh Jarrah, den Berg hinauf bis zur Universität, wo ich Hebräisch lernte. Das Damaskustor war für mich ein Ort wie für Münchener der Stachus und wie für Berliner der Alexanderplatz: alltäglich, normal, vertraut. Terror hin oder her – wenn ich in Jerusalem bin, gehe ich dort noch immer entlang. +So ist Israel. Wie die meisten Israelis versuche ich, mich vom Terror nicht einschränken zu lassen. Ich gehe shoppen, ich fahre mit dem Bus. Das Leben geht weiter. Hier gehört es eben dazu, dass Sicherheitsbeamte an den Eingängen zu Kaufhäusern und Bahnhöfen kontrollieren und dabei auch in meinen Rucksack schauen, prüfen dass ich weder Messer noch Waffen oder Sprengstoff bei mir trage. Ich treffe mich weiterhin mit Freunden in Cafés und Bars, auch wenn diese einmal Orte des Terrors waren. Wir gehen für das unschlagbare Happy-Hour-Angebot in die Simta-Bar auf der Tel Aviver Dizengoff-Straße. Dort erschoss im Januar 2016 ein Terrorist zwei junge Männer. +Ich tue all das nicht, weil ich besonders mutig oder töricht wäre, sondern weil all diese Orte längst Teil meines Lebens geworden sind. Ich lebe ja hier, mittendrin. +Ich habe in Israel ein Gottvertrauen und eine Gelassenheit entwickelt, die ich vorher nicht von mir kannte. Ja, ich bin wachsam, ich lebe mit dem Wissen, dass theoretisch etwas passieren könnte. Ich schaue im Kaufhaus, im Bus oder auf der Straße genau hin, wenn mir jemand merkwürdig vorkommt. Doch so vorsichtig ich auch bin: Ich kann nicht wissen, ob ich heute zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort sein werde. Darum sage ich mir, was viele Israelis gerne sagen: Hacol ihie beseder – alles wird gut. +"Unsere größte Herausforderung ist es, ein normales Leben zu führen", hat der israelische Psychologe und Traumaexperte Yotam Dagan mal diagnostiziert. "Das heißt: widerstandsfähig zu sein und zur Normalität zurückzukehren. Stunden nach einer Terrorattacke sind die Straßen meist wieder aufgeräumt, die Läden geöffnet. Man hört noch ein paar Stunden, einen Tag lang, in den Nachrichten darüber. 2013 habe ich die Terrorattacke beim Boston Marathon erlebt. Dort war die Innenstadt für Tage gesperrt." +Israelis haben es zu oft erlebt, als dass sie sich jedes Mal einen Ausnahmezustand erlauben könnten – weder auf den Straßen noch im Herzen. Es wäre ja auch unerträglich, angsterstarrt durchs Leben zu gehen – oder noch schlimmer: zu Hause zu bleiben. Seit ich in Israel lebe, sind zwei Gazakriege geführt worden, seit September vergangenen Jahres haben Terroristen 156 Mal versucht, Menschen zu erstechen, 98 Mal sie zu erschießen, und 46 Mal, sie mit dem Auto zu überfahren. 40 Menschen sind dabei ums Leben gekommen, so teilt es das israelische Außenministerium mit. +Dennoch wäre es falsch zu behaupten, dass der Terror spurlos an den Israelis vorbeigeht – gerade heutzutage, wo Bilder und Videos sofort und ungefiltert in den sozialen Netzwerken geteilt werden. Das sagt auch Yotam Dagan: "Der Stress liegt in der Luft. Als Gesellschaft sind wir sehr impulsiv, laut, wir planen nicht gut im Voraus und sind nicht immer so freundlich. Selbst die Parkplatzsuche auf dem Weg zum Strand ist manchmal kriegerisch. Aber wir sind auch sehr warm und innovativ." +Doch noch etwas macht der Terror mit einer Gesellschaft: Er befördert Stereotype und Rassismus. Immer wieder habe ich vor allem in den Straßen von Jerusalem beobachtet, wie hauptsächlich junge arabische Männer von der Polizei kontrolliert wurden: Taschen leeren, Schuhe aus, Hände an die Wand, Beine auseinander – dann wird abgetastet. Was für eine Schmach für einen Halbstarken, dessen Hass auf die Polizei und Israel dadurch sicher nicht kleiner wird, habe ich mir oft gedacht. Aber was, wenn er gefährlich ist? Auch mich kostet es unheimlich viel Geisteskraft, nicht gleich jemanden zu verdächtigen, nur weil er ins Täterprofil passt. Aber wie sollen, ja: können wir und die Sicherheitskräfte anders damit umgehen, wenn doch die meisten der Täter junge arabische Männer sind? Für viele Israelis stellen sich solche Fragen nicht mehr, Sicherheit geht vor. Ich lebe damit, dass ich keine Antwort gefunden habe. +Lissy Kaufmann arbeitet seit 2011 als Reporterin in Israel. Sie kam als Stipendiatin der Herbert Quandt-Stiftung zunächst für ein halbes Jahr nach Jerusalem und wollte danach nicht mehr aus Israel weg. Heute lebt sie in Tel Aviv und stöbert Geschichten rund um Gesellschaft, Politik und Religion für Radio, Magazine und Zeitungen auf. diff --git a/fluter/wie-nachhaltig-sind-festivals-roskilde.txt b/fluter/wie-nachhaltig-sind-festivals-roskilde.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d1605e148e79747816f58dd0341b26b829574366 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-nachhaltig-sind-festivals-roskilde.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Festivals sind zudem Emissionsschleudern: Die CO₂-Bilanz für das diesjährige Roskilde-Festival liegt grob geschätzt laut einem CO₂-Rechner bei 3.860 Tonnen. Rund die Hälfte davon geht auf die An- und Abreise der Gäste. Zum Vergleich: Der durchschnittliche CO₂-Verbrauch eines Deutschen beträgt jährlich rund neun Tonnen. Im nächsten Jahr wollen die Veranstalter eigene Zahlen veröffentlichen. Doch was rechnet man da eigentlich mit ein? Janelle Monáe etwa kommt aus den USA, spielt aber noch andere Konzerte in Europa. Wie gewichtet man dann etwa die Anreise? +Ob das alternative Fusion Festival (D) oder das ökologische Roskilde (DK), alle haben das gleiche Problem: Einen Löwenanteil des Mülls verursachen zurückgelassene Campingsachen, besonders Zelte. Auf Festivals in Großbritannien lassen im Schnitt bis zu 80 Prozent der Besucher ihre Zelte zurück, bei deutschen Festivals sind es laut Schätzungen um die 30 Prozent. Kommt schon irgendeiner zum Aufräumen, mag sich mancher denken. +Und tatsächlich gibt es Initiativen, die die Zelte retten, aber laut den Aktivisten von "Love your Tent" können von 15.000 Zelten nur um die 50 Stück von Wohltätigkeitsorganisationen wiederverwendet werden. Der Rest landet auf dem Müll. Der erste Schritt, um persönlich dazu beizutragen, ein Festival nachhaltig zu feiern, sieht so aus: "Bring eine gute Campingausrüstung mit und vor allem: verwende sie wieder", sagt Sanne Stephansen, Nachhaltigkeitsmanagerin des Roskilde-Festivals. Gemeinsam mit den jungen Aktivisten der "Grønne Studenterbevægelse" (Grüne Studentenbewegung) hat sie eineAnleitung für einen nachhaltigen Festivalbesuchgeschrieben. Ihr Ziel: nicht nur mit dem Müll umgehen, sondern zu fragen, wodurch überhaupt so viel Müll zustande kommt und wie das zu vermeiden ist. +Wäre es bei all den ökologischen Problemen, die die Festivals verursachen, nicht besser, man verzichtete auf die Sause und ginge stattdessen auf einzelne Konzerte? Die Ökobilanz bei Konzerten ist in der Regel besser, weil die Reisewege der Besucher kürzer sind. Denn anders als bei großen Festivals sind Konzertorte ja oft innerstädtisch oder zumindest mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut zu erreichen. Welchen Unterschied das machen kann, zeigt das Beispiel Radiohead. Die Briten waren die erste Band,die eine umfassende CO₂-Messung von zwei Touren unternommen hat. Dabei hatte die Tour mit mehreren Konzerten an kleineren Spielstätten die deutlich bessere Klimabilanz. Seither sind Radiohead Vorreiter, was Green Touring angeht. Unter anderem können Fans, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln angereist sind, früher in die Halle. Längst organisieren auch andere Künstler wie Jack Johnson oder Clueso ihre Touren nachhaltig. +Bloß: Konzerte und Festivals sind eben doch grundverschiedene Erlebnisse. Man könne sie nicht so ohne Weiteres vergleichen: "Ganzheitlich betrachtet bietet ein Festival mehr als Konzerte. Hier entsteht eine Gemeinschaft, in der politische Debatten stattfinden, man an Workshops teilnehmen und andere Kunst erleben kann", sagt Sanne Stephansen. Außerdem sehen bei Festivals mehr Leute mehr Aufführungen als bei einem einzelnen Konzert. +Politik und Festivalveranstalter können Anreize für ökologisches Verhalten schaffen wie Plastikverbot, Müllpfand oder die CO₂-Bilanz des Essens sichtbar machen, wie das in Roskilde passiert. Doch dem Einfluss sind Grenzen gesetzt, letztlich müssen die Besucher schon mitmachen und vor allem klimafreundlich anreisen. Bewegungen wie "Fridays for Future" fördern ein ganzheitliches Umdenken, sagt Sanne Stephansen. 12.000 freiwillige junge Helfer in grünen Westen sammeln dieses Jahr den Müll auf dem Roskilde-Festival ein und starten Achtsamkeitskampagnen. Vielleicht lassen dann auch weniger Leute ihre Bierdose fallen, wenn sie zum nächsten Gig wanken. + diff --git a/fluter/wie-nazis-tiere-als-propaganda-einsetzten.txt b/fluter/wie-nazis-tiere-als-propaganda-einsetzten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c3d6f080bec40c391679a692f9833d00851f3159 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-nazis-tiere-als-propaganda-einsetzten.txt @@ -0,0 +1,21 @@ +Kurz nach der Machtübertragung 1933 verabschiedeten die Nazis ein "Reichstierschutzgesetz". Ging es denen wirklich ums Tierwohl? +Es diente auch dazu, sich bei der Bevölkerung beliebt zu machen. Im Krieg wurden die Gesetze zum Teil wieder gelockert, zum Beispiel Jagdverbote aufgehoben, um das Volk bei Laune zu halten und den Krieg zu gewinnen. Das Reichstierschutzgesetz sah zwar vor, dass Tiere nicht unnötig gequält werden –wissenschaftlich geführten Instituten waren Tierversuche jedoch erlaubt, solange ein Erkenntnisgewinn in Aussicht stand.Mit diesem Argument haben die Nazis im Grunde alles legitimiert. Auch Versuche an Menschen. +In dem ambivalenten Verhältnis zur Katze spiegeln sich Teile der nationalsozialistischen Ideologie besonders deutlich wider. +Die einen sahen in der Katze einen "hygienischen Helfer" bei der Volksgesundheit, die anderen einen Streuner, der Vögel tötet – und dafür eingesperrt, ja sogar abgeschossen werden muss. Dazu kam der ideologische Unterbau: Weil die Katze ursprünglich aus dem "Orient" stammt, hielten Katzengegner sie für ein "jüdisches Tier". Manche meinten sogar, sie stecke mit dem Teufel unter einer Decke,weil sie sich nicht zähmen lässt und ein "lasterhaftes" Leben führt. +Welche Rolle spielte der Hund im "Dritten Reich"? +An der Seite des "Führers" war der Hund vor allem Propagandamittel und sollte Hitler als nahbaren Tierfreund zeigen. Dass es Hitler, wenn es drauf ankam, weniger um Hundeliebe als um Unterordnung ging, zeigt das Beispiel vom Tod seiner Schäferhündin Blondi. Hitler wollte partout nicht, dass sein Hund nach seinem eigenen Tod irgendwem – womöglich den Russen – in die Hände fällt, genauso wie er selbst nicht in einem Panoptikum im Moskauer Zoo enden wollte. Er verlangte, dass seine Liebsten mit ihm gehen, und ordnete die Tötung seiner Hündin und deren Welpen mit Zyankali an. In Blondis verkohltem Halsband fand man später die Inschrift "Immer mit dir". +Auch die Fotos von Hitler mit seinen dressierten Schäferhunden demonstrierten, wie sehr er sie unter Kontrolle hatte. +Der Schäferhund war in der NS-Diktatur ein bedeutendes Statussymbol: ein reinrassiger deutscher Hund, der gehorcht und auch noch ein bisschen aussieht wie ein Wolf. +In privaten Kreisen ließ sich Hitler mit dem Decknamen "Wolf" anreden, sein Hauptquartier nannte er "Wolfsschanze". +Kein Tier haben die Nazis mehr angehimmelt.Der Wolf steht für die "Urwildnis" Germaniens,er hat für sie etwas Blutrünstiges und Unerbittliches. Goebbels hat schon 1928, als es darum ging, in den Reichstag einzuziehen, gesagt: "Wir kommen nicht als Freunde (…), wir kommen als Feinde, wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir." Paradoxerweise haben die Nazis den Wolf aber nicht geschützt, weil man dadurch mit den Landwirten eine große Anhängerschaft vergrämt hätte. Sobald mal ein Wolf nach Ostpreußen eingewandert ist, wurde er zur Strecke gebracht. + +Ganz in der Nähe des Konzentrationslagers Buchenwald gab es einen Zoo, finanziert aus erzwungenen Spenden der Häftlinge. Er sollte den SS-Männern "Zerstreuung und Unterhaltung" bieten + +Die NS-Rassenideologie durchzog selbst die unverdächtigsten Lebenswelten. Wie ließen sich Insekten ideologisch vereinnahmen? +Das beste Beispiel dafür sind Kartoffelkäfer und Seidenraupen. Der Kartoffelkäfer stand symbolisch für den "Erbfeind" Frankreich. Er fraß der Bevölkerung die Ernte weg. Sogenannte "Abwehrdienste" sammelten sie vom Feld und vernichteten sie. Für die Zucht der Seidenraupen dagegen wurden unter anderem von Schülern extra Maulbeerbaumhaine angelegt. Mit der Seide aus deren ausgekochten Kokons sollten Fallschirme für die Luftwaffe produziert werden. Schon Schulkinder lernten so, wer vermeintlich Schädling und wer Nützling ist. +In der Weltanschauung der Nazis ließ sich dieses Schema auch auf den Menschen übertragen. +Ja. In Karikaturen oder auf Plakaten wurden zum Beispiel Läuse mit Juden gleichgesetzt – indem man sie mit vermeintlich jüdischen Attributen zeichnete. Menschen, die in dieser Zeit aufgewachsen sind, sollten logisch schlussfolgern, dass Juden, ebenso wie Läuse, vernichtet werden müssen. +Welche Geschichte hat Sie bei der Recherche am meisten überrascht? +Die Geschichte über den Zoo im KZ Buchenwald, nur einen Steinwurf vom Krematorium entfernt. Es gibt kaum ein drastischeres Bild für das Tier- und Menschenbild der Nazis: ein Zoo mit einem Bärenzwinger zur Unterhaltung der KZ-Wärter, in dem Bären mit Hackfleisch und Honig verwöhnt wurden, während ein paar Meter weiter Menschen zu Tausenden ermordet wurden. +Jan Mohnhaupt ist Sachbuchautor und freier Journalist. 2017 erschien sein Buch "Der Zoo der Anderen". Bei der Recherche dazu ist er auf das Thema für sein aktuelles Buch "Tiere im Nationalsozialismus" gestoßen. + diff --git a/fluter/wie-nich-mal-wurst.txt b/fluter/wie-nich-mal-wurst.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c56b6c48415bca2b656fd9ea86d7820165e86368 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-nich-mal-wurst.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Hattest du schon lange Fleischekel oder wie kam das? +Als ich aufhörte, hatte ich noch gar keinen Ekel. Meine Eltern haben mich auch oft daran erinnert, dass ich doch mal so ein guter Fleischesser gewesen sei. Mittlerweile ist der Ekel aber ganz massiv. Ich kann das schon nicht riechen und nicht sehen. Es gab ein Schlüsselerlebnis. +Was ist passiert? +Das war mit 15 ungefähr. Ich hatte komische Klamotten an und war in dem hässlichen Großdorf vor meiner Heimatstadt in einem Jugendklub zum "Antifasching", wobei die As eingekreist waren, um anzuzeigen, dass das auf jeden Fall eine ganz linke und subversive Veranstaltung ist … Es wurde Pogo getanzt und auf ein paar Bildschirmen liefen ohne Ton Schlachthaus-Splatter-Filme: Transport- und Schlachtungsszenen der übelsten Sorte, mit pornografischer Lust an expliziten Details. Aber ich war ja viel zu cool, um das anzunehmen und bin erst einmal mit meinen Kumpels gegenüber einen Döner essengegangen. Weil ich mich ja von der billigen Propaganda überhaupt nicht kleinkriegen lassen wollte … Ich habe aber die Bilder dann doch nicht mehr ganz weggekriegt. Und als mir dann klar wurde, dass die Schnitzel im Supermarkt auch solche Schlachthaus- Wege hinter sich haben, hat sich der Grundzweifel festgesetzt. +Wie hast du die Umstellung überstanden? Mutter hat den Braten auf den Tisch gestellt und für dich gab's'ne Stulle? +Ich komme aus einem kulinarischen Komponentenhaushalt, wo Gemüse und Kartoffeln zu Fleisch mit Soße serviert wurden. Für mich gab's dann eben nur noch Kartoffeln und Gemüse. Nervig sind immer wieder Leute, die fragen: "Wie? Nich' mal Wurst? Aber dann Wild!?" Dass man immer wieder auf Unverständnis trifft, ist manchmal schon anstrengend. Anfangs gab's auch den Vorwurf, ich sei ein Modevegetarier oder würde nur eine getarnte Diät machen. Das war für mich auch ein Ansporn, es jetzt erst recht zu tun. +Bist du auch "missionarisch" unterwegs? +Zum Missionieren selber habe ich ein sehr kritisches Verhältnis, weil ich es selbst zu schätzen weiß, in bestimmten Bereichen auch in Ruhe gelassen zu werden und selber zu entscheiden, was ich tue. Dementsprechend versuche ich auch anderen nicht auf die Nerven zu fallen. Aber ich bin diskussionsbereit, was solche Sachen angeht. Ich habe auch wunderbare Argumente, wenn da jemand mit mir sprechen will. Nur zwinge ich das niemandem auf. +Kann man auch ganz entspannt mit dir essen gehen und ein Spanferkel bestellen? +Das tun einige Leute. Natürlich bin ich davon nicht begeistert, aber das lasse ich die Menschen nicht spüren. Es gibt auch einfach noch wichtigere Sachen in sozialen Beziehungen als das Tierethikthema. diff --git a/fluter/wie-pfleger-und-aerzte-mit-der-angst-vor-corona-umgehen.txt b/fluter/wie-pfleger-und-aerzte-mit-der-angst-vor-corona-umgehen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8d91475d68cd5f4508d2f58b48d13cabf1ff3d81 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-pfleger-und-aerzte-mit-der-angst-vor-corona-umgehen.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Frau Holst, Herr Hacikoglu, seit mehr als einem Jahr behandeln Sie auf Ihrer Intensivstation Coronapatientinnen und -patienten. Wie geht es denn Ihnen selbst damit? +Holst: Viele Menschen da draußen verstehen nicht, dass Covid-Patienten für uns sehr belastend sind und sehr viele Ressourcen binden. Nahezu alle Krankenhäuser haben ein komplettes Besuchsverbot. Dadurch haben schwer kranke Patienten keine Freunde und keine Familie am Bett. Stattdessen müssen wir sie mit unserer Empathie und unserer Fürsorge durch die Zeit tragen. Das geht einem schon nahe. +Ihre Arbeit birgt auch für Sie selbst Gefahren.Sind Sie mittlerweile geimpft? +Holst: Ja, beide.Hacikoglu: Sogar als einer der Ersten. +Ist Ihre Angst, sich bei den Kranken zu infizieren, dadurch gesunken? +Holst: Ich würde es eher Respekt nennen, wir haben ja unsere Schutzausrüstung. Auch sonst gehen wir mit hochinfektiösen Patienten um. Das ist für uns nicht neu. Neu ist, dass man sich acht Stunden lang extrem schützen muss. Wir können nicht einfach in ein Zimmer reinrennen, wenn wir sehen, dass der Patient Luftnot hat. Erst müssen wir uns selbst schützen. Diese 30 Sekunden auszuhalten, in denen es dem Patienten schlecht geht, in denen er vielleicht Todesangst hat, um unsere Schutzkleidung anzuziehen: Das fiel vielen schwer. Aber Eigenschutz geht vor. Das Risiko liegt ja auch jetzt nicht bei null Prozent. Wir dürfen nicht nachlassen in der eigenen Vorsicht. +Fühlen Sie sich auch vom Rest der Bevölkerung genug geschützt? +Hacikoglu: Es ist schon manchmal beängstigend, wie leichtfertig Leute damit umgehen. Sie sind sich nicht darüber im Klaren, was diese Krankheit mit sich bringen kann. Früher dachte man: Na ja, es sind die Alten und Vorerkrankten. Aber das hat sich sehr drastisch geändert. Auch wirklich junge, die nicht vorerkrankt sind, können einen schweren Verlauf haben. + + +Erschwert es Ihnen die Arbeit, wenn Sie sehen, dass da teils auch jüngere Patienten liegen? +Hacikoglu: Das ist natürlich ein Problem. Wenn da ein Ende-30-Jähriger liegt und man betreut ihn als Pfleger mit Mitte zwanzig, dann merkt man schon, wie nahe einen diese Krankheit auch persönlich betreffen kann. +Holst: Die Patienten haben Familie, die haben einen Job, vielleicht haben sie sich gerade ein Haus gekauft. Es gibt einen Zeitraum zwischen 7 und 14 Tagen, in denen sich entscheidet, ob ein Patient über einen Schlauch beatmet werden muss oder nicht. In diesen Tagen trägt man die Patienten, die in Todesangst sind, mit Worten und Gesten durch die Zeit. Mit solchen Existenzfragen konfrontiert zu werden ist natürlich auch für unsere jungen Pflegekräfte eine erhebliche Belastung. Wir haben kein Medikament, das man geben kann, und dann wendet es sich zum Guten. Wir haben nur Medikamente zur Unterstützung. Man steht also daneben und wartet, in welche Richtung der Mensch gewissermaßen kippt. Auch das muss man aushalten können. +Hat die Pandemie auch Ihr Leben jenseits des Jobs verändert? +Hacikoglu: Ich bin nebenher Fußballtrainer, dem kann ich jetzt natürlich nicht nachkommen. Ich werde immer wieder mal von meinen 15- und 16-jährigen Spielern angeschrieben, weil die das nicht nachvollziehen können. Als Trainer ist man natürlich auch Vorbild und erklärt dann, warum, weshalb und wieso. Man ist schon so eine Art Anlaufstelle für Freunde und Familie. +Holst: In der ersten Coronawelle war es so, dass manche Ärztinnen oder Pfleger in ihrem Bekanntenkreis nicht gern gesehen waren, weil man Angst davor hatte, sich bei ihnen zu infizieren. Dann war man komplett isoliert. Immerhin konnten wir zur Arbeit gehen und uns mit Kollegen austauschen. Die Beziehungen innerhalb des Teams sind dadurch viel enger geworden. +Es gibt immer noch Menschen, sogar einzelne Mediziner, die das Coronavirus als harmlos abtun. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie das hören? +Holst: Ich würdeCoronaleugnergerne mal in eine Reha schicken. Da können sie sehen, was es mit Menschen um die dreißig macht, die einen "milden" Verlauf haben und danach nicht mehr arbeitsfähig sind. Es ist ja nicht nur die Lungenkrankheit Corona. Ich habe viel mehr Angst davor, einen milden Verlauf und dann neurologische Symptome zu haben. Diese krassen neurologischen Ausfälle, dass man nicht mal mehr zwei Zeilen lesen kann. +Fühlen Sie sich heute wertgeschätzter in Ihrer Arbeit als vor der Pandemie? +Hacikoglu: Ich persönlich fühle mich wertgeschätzt, Klatschaktion hin oder her. Ich mache meine Arbeit liebend gern. Aber diese Pandemie sollte uns eine Lehre sein,dass die Sparmaßnahmen den Gesundheitssektor an seine Grenzen bringen. +Was würden Sie sich für die Zeit nach der Pandemie wünschen? +Holst: Dass vieles mehr wertgeschätzt wird. Dass man dem alten Nachbarn beim Einkauf hilft. Dass man sich auf Verabredungen freut. Dass man sagt: Dieser Moment ist mir wichtig, du bist mir als Mensch wichtig, also packe ich mein Telefon weg, um mich auf die Situation zu konzentrieren. Dieser Blick für den anderen, der offene Blick. Dass der erhalten bleibt, das würde ich mir wünschen. + +Fotos: Patricia Kühfuss/laif diff --git a/fluter/wie-punk-entstand.txt b/fluter/wie-punk-entstand.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8c1409255802df0fd0a103fdf3d504952e7f5dee --- /dev/null +++ b/fluter/wie-punk-entstand.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Es herrschte Endzeitstimmung in dem Jahr, in dem der Punk laut rülpsend und pöbelnd die Weltbühne betrat. Punk war ein Aufstand gegen den dekadent gewordenen Rock der Hippiegeneration. Er war aber genauso eine Reaktion auf die gesellschaftliche Krise. +Das stinkt doch zum Himmel. Müllberge gehörten in London Mitte der 70er-Jahre zum Stadtpanorama – und wurden zum Symbol der drückenden Krise (Foto: Janine Wiedel Photolibrary / Alamy Stock Photo) +In Großbritannien lagen jedenfalls die Nerven blank. Die Arbeitslosigkeit stieg auf ein Rekordhoch, die Inflation galoppierte, Streiks und Kurzarbeit wechselten sich ab, dauernd fiel der Strom aus, die Schuldenkrise trieb Großbritannien an den Rand des Staatsbankrotts. Und zu allem Überfluss kam noch die Terrorangst wegen des Nordirland-Konflikts dazu:Die IRA (Irish Republican Army) kündigte den Waffenstillstand auf. +Schlechte Nachrichten gab's an jeder Ecke.Das Land, das noch vor wenigen Jahren als Siegermacht des Zweiten Weltkriegs und Weltmacht mit vielen überseeischen Gebieten voller Stolz auf sich blickte,war ganz unten angekommen. +Ohne diese Krise kann man nicht verstehen, warum die schnellen, hart gespielten Akkorde der Ramones aus New York solche Wellen schlugen, als sie am 4. Juli im Roundhouse in Camden auftraten. Im Publikum waren ziemlich viele, die kurze Zeit später Punk zu einem der langlebigsten Phänomene der Popkultur machten. Sie waren geflasht von dem aggressiven Sound, der sich da in Amerika entwickelt hatte. Erst in den Garagen in und um Detroit, später in der New Yorker Lower East Side, die damals auch nicht viel einladender aussah als viele Ecken von London. Dort wurde Punk dann zum Massenphänomen. +Auf Krawall gebürstet. Die Sex Pistols gaben dem englischen Punk sein zorniges Gesicht (Foto: picture alliance/AP Images) +Es war unüberhörbar. Die Wut kehrte zurück in den Pop. Das Swinging London der 1960er-Jahre, optimistisch, friedfertig, leicht bekifft, war lange vorbei. Und der Punk brachte die raue Stimmung auf den Punkt: "Eigentlich stehen wir nicht auf Musik. Wir stehen auf Chaos ", sagten die Sex Pistols in ihrem ersten Interview. Sie bekamen im Oktober 1976 einen Plattenvertrag bei der EMI, einem Major-Label. Das hatte keine Punk-Band zuvor geschafft. Ihre Single "Anarchy in the UK", die am 26.11.1976 erschien, löste ein Erdbeben aus. Sie war laut, vulgär, voll niederträchtiger Freude an der Zerstörung. Die ganze Perspektivlosigkeit der britischen Jugend steckte in dem wütenden Song. Als die Pistols in einer Fernsehsendung den Moderator anpöbelten, weigerten sich die Radiostationen, den Song zu spielen. Er soll damals nur fünf Mal im Radio gelaufen sein. Und ist heute dennoch einer der einflussreichsten Songs überhaupt. +The Clash, die andere große Band des UK-Punk, kam bei CBS unter. Sie waren genauso wütend, aber weniger nihilistisch. Sie sprachen die vielen sozialen Probleme an, die England quälten. Der Schlüsselmoment für ihren ersten Hit war der Notting Hill Carnival, der immer am letzten Wochenende im August stattfindet. Hier feiern die Einwanderer aus der Karibik, die nach dem Zweiten Weltkrieg ins "Mutterland" des British Empire gekommen waren. +Oft wurden sie Ziel von Ausgrenzung und rassistischer Diskriminierung. Schon Ende der 1960er-Jahre nahmen die Übergriffe auf die Minderheiten zu. Gleichzeitig erstarkte die extreme Rechte, die in Großbritannien lange Zeit eine untergeordnete politische Rolle gespielt hatte. Ende der 1970er-Jahre war die National Front die viertstärkste politische Kraft im Land. Über Weimarer Zustände sorgte man sich in Westminster hinter vorgehaltener Hand. +There's a riot going on. Auf dem Notting Hill Carnival 1976 brachen heftige Straßenkämpfe aus. Die schwarze Bevölkerung Londons wollte sich die Gängelung durch die Polizei nicht mehr gefallen lassen (Foto: Kypros / Alamy Stock Photo) +Am Ende des heißen Sommers 1976 entluden sich die Spannungen in einer zweitägigen Straßenschlacht beim Notting Hill Carnival. Joe Strummer, der Sänger von The Clash, war mittendrin und schrieb danach den Song "White Riot", die erste Single seiner Band. Der Titel klingt missverständlich. Als ginge es um einen weißen Aufstand gegen die Schwarzen. Doch The Clash hatten das Gegenteil im Sinn. Genau wie sich die Schwarzen gegen die Zumutungen der Polizei wehrten, so sollten sich auch die Weißen gegen die Missstände im Land auflehnen. The Clash hatten ihr Thema gefunden. Nicht nur in Songs, sondern auch mit Auftritten auf Festivals wie Rock against Racism wehrten sie sich gegen Unterdrückung und Diskriminierung. +Die Punks waren nicht die Einzigen, die aus der gesellschaftlichen Krise Großbritanniens hervorgingen. Das tat auch Margaret Thatcher. Die erzkonservative und umstrittene Premierministerin sagte Sätze wie "There is no such thing as a society". Ein Satz, den auch Johnny Rotten mit seinem maliziös gerollten R hätte ausspucken können. 1979, nach dem "Winter of Discontent", wurde die "Iron Lady" zur Premierministerin gewählt und krempelte das Land kräftig um. Sie zwang die mächtigen Gewerkschaften in die Knie, wickelte die Schwerindustrie ab, privatisierte und deregulierte die Wirtschaft und sollte – wie der Punk – die kommenden Jahre nachhaltig prägen. +Felix Denk ist Kulturredakteur bei fluter.de. Seine Lieblingsband aus der Punk-Zeit ist James Chance and the Contortions. Da tauschten einmal pro Monat die Musiker die Instrumente, um bloß nicht zu professionell klingen. diff --git a/fluter/wie-queer-sind-computerspiele.txt b/fluter/wie-queer-sind-computerspiele.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3da0d6efdcebd3e04f71f1ee8ff9d3cab374d300 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-queer-sind-computerspiele.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +1989 erscheint mit "Caper in the Castro" sogar das erste eindeutig aus lesbischer Perspektive erzählte Spiel, ein Detektivinnen-Adventure, das im Schwulen- und Lesbenviertel von San Francisco spielt. Auch in der frühen Adventure-Serie "Leisure Suit Larry" tummeln sich mehrere – zum Teil allerdings diskriminierend dargestellte – LGBTQ-Charaktere, Gleiches gilt für die bis heute populäre "Grand Theft Auto"-Reihe. Auch in Spielen, in denen die Charaktere komplexere Entwicklungen durchlaufen, werden gleichgeschlechtliche Beziehungsoptionen immer häufiger zur Selbstverständlichkeit – etwa bei den "Sims" oder in Rollenspielreihen wie "Dragon Age" oder "Fable". +Die Drag Queen Tessy LaFamme wurde entführt - und die lesbische Detektivin Tracker McDyke soll den Fall lösen. Gut möglich, dass "Caper in the Castro" aus dem Jahr 1989 das erste LGBTQ-Game ist. +Doch beantwortet "Rainbow Arcade" die Eingangsfrage auch mit Ja: Videospiele sind schon verdammt heteronormativ. Aus über 30 Jahren Gaming-Geschichte und sicherlich Zigtausenden Spielen sind letztlich nicht besonders viele queere Beispiele zusammengekommen. +Das liegt nun natürlich auch daran, dass die sexuelle Orientierung in vielen Spielen keine oder kaum eine Rolle einnimmt. LGBT-Charaktere – das ist auch in der Ausstellung so – lassen sich oft nur durch visuelle Codes identifizieren, und das häufig nur über Klischees. Ist beispielsweise Zangief aus "Street Fighter II" schwul? Oder "sieht er nur so aus"? +Doch es ist nicht nur das. Nintendo etwa kontrolliert strikt, welche Spiele auf seinen Geräten erscheinen dürfen, und achtet darauf, dass sie so wenig wie möglich mit Sex zu tun haben – wozu nach der Firmenlogik auch die sexuelle Orientierung zählt. Die Angst, dass "Homo-Inhalte" den Verkauf schmälern, hat sicherlich viele Publisher von einem liberaleren Umgang mit LGBTQ-Inhalten abgehalten – und tut es bis heute. +Das Spiel "Butterfly Soup" (2017) von Brianna Lei handelt von vier queeren Teenagern mit asiatischen Wurzeln in ihrem ersten Jahr in der High School. +Besser sieht es mit der Repräsentation auf dem wachsenden Sektor der Indie-Spiele aus, denen "Rainbow Arcade" viel Platz einräumt. Klar: Wenn ein Spiel keine Millionenproduktion eines Riesenteams ist und mit weniger Erfolgsdruck auf den Markt kommt, steigt die gestalterische Freiheit. Das erfolgreichste Beispiel dürfte dabei das Adventure "Gone Home" aus dem Jahr 2013 sein, das unter anderem mit dem British Academy Games Award ausgezeichnet wurde. Hier ist die Romanze von zwei Teenagerinnen im US-amerikanischen Nordwesten einer der zentralen Storyinhalte. +Dann gibt es natürlich noch den Content, den Gamer*innen selbst beisteuern. So fand im Multiplayer-Online-Rollenspielhit "World of Warcraft" viele Jahre eine digitale Gay Pride Parade statt. Als 2017 dann allerdings Jagex, der Publisher des Rollenspiels "RuneScape", eine ähnliche Parade in seinem Spiel veranstaltete, liefen homophobe Spieler Sturm und verabredeten sich zu einer Art Gegendemonstration. Manche traten als Ku-Klux-Klan-Men auf und wurden später aus dem Spiel ausgeschlossen. Denn das ist auch ein Problem:Die "Gamerszene" nimmt nicht gerade eine Avantgarde-Rolle in Sachen Toleranz gegenüber emanzipativen Lebensentwürfen ein– wie sich in der Vergangenheit unter anderem beim sexistischenGamergate-Skandalzeigte. +Im Indie-Game "Genital Jousting" (2018) geht es weder um Bananen, Karotten, Gurken noch um Würstchen. +"Rainbow Arcade" macht aber noch mehr, als alte Spiele zu durchforsten. Die Ausstellung stellt unter anderem mehrere LGBTQ-Programmierer*innen aus dem Mainstream- und dem Indie-Bereich vor, etwa Robert Yang. Sie beschäftigt sich auch mit Homo- und Transphobie in Computerspielen – oftmals werden stereotype, vor allem schwule Charaktere als unheimliche Gegenspieler inszeniert – und gibt einen Einblick in die queere Gaming-Community. Und spielen kann man natürlich auch. +Ganz schön viel Stoff, dessen Aufbereitung leider nicht optimal gelungen ist: Oft mangelt es an Stringenz und Struktur, viel zu viele Themen werden nur angerissen.  Während mitunter winzige Details umständlich ausgebreitet werden, sind anderswodurchaus bedeutende Schritte für LGBTQ-Repräsentationin Halbsätzen versteckt. Zudem sind die Texttafeln recht lieblos ins Deutsche übersetzt (wer kann, sollte die englischen Texte lesen) und typografisch eine mittlere Zumutung (weiß auf orange ist keine gute Idee). +So ist "Rainbow Arcade" vor allem ein Startpunkt in ein bisher unterrepräsentiertes Thema, auf dem andere nun aufbauen können – und sollten. Denn die Diversität in Videospielen wird garantiert zunehmen. + + +"Rainbow Arcade: Queere Videospielgeschichte 1985–2018".Schwules Museum, Lützowstraße 73, Berlin. Kurator*innen: Adrienne Shaw, Jan Schnorrenberg, Sarah Rudolph. Die Ausstellung läuft noch bis zum 13. Mai. Wer es bis dahin nicht nach Berlin schafft: Am 10. April wird ein Katalog zur Ausstellung erscheinen. Diesen ließ sich das Museum über eineKickstarter-Kampagnefinanzieren und schaffte es, in nur vier Wochen 25.000 Euro einzunehmen. diff --git a/fluter/wie-rechter-terror-in-deutschland-ignoriert-wurde.txt b/fluter/wie-rechter-terror-in-deutschland-ignoriert-wurde.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..77b6806553089bd8bce5bd1843789893bcf96bc2 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-rechter-terror-in-deutschland-ignoriert-wurde.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Die größte und gefährlichste Terrorgruppe gründete sich 1973. Der damals 35-jährige Neonazi Karl-Heinz Hoffmann scharte rund 400 junge Mitglieder um sich und führte jahrelang mit scharfen Waffen, Stahlhelmen und NS-Uniformen paramilitärische Übungen in den bayerischen Wäldern durch. Erst 1980 wurde dieWehrsportgruppe Hoffmann (WSG)verboten und 18 Lastwagenladungen mit Waffen, Propagandamaterial und Sprengstoff beschlagnahmt. Acht Monate später verübte WSG-Anhänger Gundolf Köhler den bis heute blutigsten terroristischen Anschlag der Bundesrepublik. Auf dem Münchener Oktoberfest zündete Köhler eine Rohrbombe. 13 Menschen starben, mehr als 200 wurden verletzt. Wenige Wochen später wurden in Erlangen der jüdische Verleger Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke erschossen. Der Täter, Uwe Behrendt, war ein wichtiger Mann in Hoffmanns Terrorgruppe. Hoffmann selbst wurde nach seiner Flucht ins Ausland 1984 wegen Verstößen gegen das Waffen- und Sprengstoffgesetz, Körperverletzung und Freiheitsberaubung zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt. +In den 1970er-Jahren hatten sich noch viele weitere rechtsextreme Gruppen für den Weg in den Terrorismus entschieden. 1979 fand in Bückeburg der erste große Prozess gegen drei dieser Gruppen statt. Angeklagt waren Mitglieder der Wehrsportgruppe Rohwer, Wehrsportgruppe Werwolf und der Aktionsfront Nationaler Sozialisten um den Neonazi Michael Kühnen. 1977 hatten sie eine Kaserne bei Hamburg überfallen und ein Maschinengewehr erbeutet. Später raubte die Gruppe einen Bauunternehmer in Köln und eine Sparkasse in Hamburg aus. Ein Jahr danach folgte ein Überfall auf einen NATO-Truppenübungsplatz, bei dem vier Maschinenpistolen entwendet wurden. Als Nächstes hatten die Rechtsterroristen die Befreiung von Hitler-Stellvertreter Ru­dolf Heß geplant, der eine lebenslange Haftstrafe absaß, sowie einen Anschlag auf die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen – sie flogen jedoch vorher auf. +Urteile gegen Rechtsterroristen waren zu der Zeit ungewöhnlich mild. So wurde Kühnen zwar für seine Taten, jedoch nicht wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Das befeuerte andere Rechtsextreme, jetzt erst recht weiterzumachen. "Für Polizei, Geheimdienste und Bundesregierungen stand der Feind links", sagt der Berliner Rechtsterrorismus-Experte Sebastian Wehrhahn. Zu sehr war man zu diesem Zeitpunkt mit der RAF und anderen linksextremen und linken Gruppen beschäftigt. Der rechte Terror ging derweil weiter. +1980 versuchte ein Mitglied der neonazistischen Volkssozialistischen Bewegung Deutschlands, Waffen über die Schweizer Grenze zu schmuggeln. Bei seiner Entdeckung schoss er sofort, zwei Schweizer Polizisten starben. Gegründet worden war der Vorläufer der Gruppe 1971 von Friedhelm Busse, einem glühenden Nazi, der sich als 15-Jähriger noch kurz vor Kriegsende freiwillig für die Waffen-SS gemeldet hatte. Sein Kommando Omega lieferte sich 1981 in München bei einem versuchten Banküberfall einen Schusswechsel mit der Polizei. Zwei Neonazis wurden erschossen. Zwar wurde Busse anschließend unter anderem wegen "Begünstigung von Bankräubern" verurteilt, der Vorwurf der Gründung einer terroristischen Vereinigung wurde jedoch fallen gelassen. Die überraschende Begründung der Staatsanwaltschaft lautete, dass Busse schließlich aus "einer wirtschaftlichen Notlage" heraus gehandelt hätte. Zu seiner Beerdigung 2008 in Passau kam auch der damalige NPD-Chef Udo Voigt. +Auch der Rechtsterrorist Peter Naumann war eng mit der NPD verbunden. Bereits mit 18 Jahren trat er der NPD-Jugendorganisation bei. Mit seinem Komplizen Heinz Lembke verübte er 1978 einen Sprengstoffanschlag auf ein Denkmal in den Ardeatinischen Höhlen bei Rom, das an ein Massaker der Waffen-SS im Zweiten Weltkrieg erinnert. Ein Jahr später war Naumann an der Sprengung von zwei TV-Sendeanlagen beteiligt, um die Ausstrahlung einer US-Fernsehserie über den Holocaust zu verhindern. Naumann wurde wegen drei Sprengstoffanschlägen, Verabredung zum Mord und Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Die NPD schloss ihn aus der Partei aus. Trotzdem konnte Naumann von 2007 bis 2008 als "Parlamentarischer Berater" für die NPD-Fraktion im sächsischen Landtag arbeiten. +Ebenfalls in den 1980er-Jahren aktiv waren die Deutschen Aktionsgruppen des Altnazis Manfred Roeder. Auch sie verübten Bomben- und Brandanschläge. In Hamburg starben dabei 1980 zwei junge vietnamesische Flüchtlinge. Roeder wurde wegen Gründung einer terroristischen Vereinigung zu 13 Jahren Haft verurteilt, kam wegen guter Führung aber bereits nach acht Jahren frei. +Die rechtsextreme Hepp-Kexel-Gruppe raubte 1982 fünf Banken aus. Es folgten drei Autobombenanschläge auf US-amerikanische Militärangehörige in Frankfurt, Butzbach und Darmstadt. 1985 wurden die Täter zu Strafen zwischen fünf Jahren Jugendstrafe und 14 Jahren Haft verurteilt. +Schaut man sich den rechten Terror von 1945 bis Anfang der 1990er-Jahre an, wird deutlich, dass derNSUnur die Fortführung dessen war, was die Szene schon seit Jahrzehnten unbeachtet tat. +Ganz öffentlich fanden nach der Wende rechtsextreme Krawalle statt. So attackierten Neonazis 1991 in Hoyerswerda Migranten und Flüchtlinge, 1992 machten Rechtsradikale in Rostock Lichtenhagen Jagd auf vietnamesische Vertragsarbeiter – teilweise unter dem Beifall von Anwohnern. "Rechter Terror", so Experte Wehrhahn, "wurde nie als gesellschaftliche Bedrohung verstanden, weil die Opfer eben meist Angehörige von Minderheiten und nicht Vertreter der Mehrheitsgesellschaft sind." + +Das Titelbild (WEREK/imago) zeigt das Münchner Oktoberfest nach dem Anschlag von 1980. diff --git a/fluter/wie-s%C3%BCdseeinseln-durch-den-klimwandel-bedroht-sind.txt b/fluter/wie-s%C3%BCdseeinseln-durch-den-klimwandel-bedroht-sind.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dcebad62598c18bb6ffe62e6f6493318e17f15dc --- /dev/null +++ b/fluter/wie-s%C3%BCdseeinseln-durch-den-klimwandel-bedroht-sind.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Was tun die Menschen auf Fidschi dagegen? +Sie bringen die Bedrohungen oft nicht direkt mit dem globalen Klimawandel in Verbindung. Es müsste noch viel mehr Aufklärungs- und vor allem Forschungsarbeit auf den Inseln geleistet werden. Man ist sich aber im Klaren darüber, dass man vielleicht wegziehen muss. Das ist für viele zu teuer. Wenn es gar nicht mehr anders geht, werden sie wahrscheinlich auf eine der vielen vulkanischen Inseln ziehen, wie Tahiti oder Moorea, und dort die Hänge besiedeln. +Für dein Ozeanbuch hast du Zahlen und Fakten über die Ozeane und den Klimawandel gesammelt. Ist es wirklich so schlimm? +Es ist vermutlich noch schlimmer. Ich sehe mein Buch eher als Spitze des Eisbergs, es macht einen kleinen Bruchteil dessen sichtbar, was Forscher in den letzten Jahrzehnten über die Meeresökosysteme und die menschengemachten Probleme der Meere herausgefunden haben. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass die Ozeane und die Tiefsee noch zu 95 Prozent unerforscht sind. Wir Menschen und das gesamte Leben auf unserem Planeten sind von der Gesundheit der Ozeane abhängig. +Wissenschaftler gehen davon aus, dass noch in diesem Jahrhundert große Ballungsgebiete wie Miami oder Bangladesch umgesiedelt werden müssen. Welche anderen Folgen werden in naher Zukunft zu spüren sein? +Viele Menschen aus dem globalen Süden werden vor den Folgen des Klimawandels flüchten. Es sind die ärmeren Länder im Gürtel der Hurrikane und Zyklongebiete, die am stärksten betroffen sein werden. Ich bin keine Wissenschaftlerin, aber es ist klar: Das wahre Ausmaß wird sicher sehr viele Lebensbereiche berühren. Zwei praktische Beispiele: +Die Zerstörung der Riffe, die Ausbreitung von Sauerstoff-Minimum-Zonen im Ozean und die Versauerung der Meere tragen dazu bei, dass es immer weniger Fische gibt. Der Preis für Fisch wird also steigen oder Fisch sogar als Nahrungsquelle ganz wegbrechen. Auch andere Lebensmittel werden teurer: Überflutungen, Stürme und Dürren vernichten Ernten und lassen die Preise für Obst, Getreide und Gemüse weltweit steigen. Das wird vermutlich Millionen Menschenleben – besonders auf der Südhalbkugel – kosten. +Müssen wir uns von unserer Bequemlichkeit verabschieden und unser Verhalten ändern? +Klar, die Frage ist nur: Wie können wir den Übergang hin zu einer Gesellschaft gestalten, die die Ressourcen unseres Planeten respektiert und nicht gnadenlos ausbeutet? Das wird eine große Frage sein in der Zukunft. Während ich am Ozeanbuch gearbeitet habe, habe ich sechs Monate lang auf einem kleinen Segelboot gelebt. Ich brauchte nur zwei Solarpaneele für die gesamte Energie und 25 Liter Süßwasser pro Woche. +Du musstest für die Recherche auf einem Boot leben? +Esther Gonstalla: Das Ozean-Buch. Über die Bedrohung der Meere, oekom verlag, München 2017, 24 Euro. +Nein, das war nicht nötig für die Recherche (lacht). Das ist mein Lebensstil: Ich bin digitale Nomadin. Als freie Grafikerin ist es egal, wo auf der Welt ich lebe. Auf dem Ozean im Boot zu leben hat mir gezeigt, in was für einem unnützen Überfluss ich vorher gelebt habe und wie kostbar unsere Ressourcen sind. Das Prinzip lebe ich seitdem weiter, es macht glücklich, wenige Ressourcen zu verbrauchen und damit einen kleinen, bescheidenen Beitrag geleistet zu haben. Jeder Einzelne kann mit seiner Konsumentscheidung oder -verzicht große Veränderungen bewirken. Daran müssen wir glauben, und danach sollten wir handeln. +Und was erwartest du von der internationalen Politik? Bei dem Gipfel in Bonn wird über die konkrete Umsetzung des Klimaschutzabkommens von Paris verhandelt. Ein Hoffnungsschimmer? +Ich würde mir wünschen, dass große Industrienationen wie Deutschland, die schon weit gekommen sind im Umweltschutz, mit gutem Beispiel vorangehen und die Vereinbarungen umsetzen. Statt den beschlossenen 40 Prozent schafft die Bundesregierung aber wahrscheinlich nur eine CO2-Reduktion um 30 Prozent bis 2020 im Vergleich zum Jahr 1990. Für mich ist das ein Skandal! Genauso sieht es bei fast allen anderen Ländern aus, die vor zwei Jahren das Pariser Klimaschutzabkommen unterschrieben haben. Donald Trump hat diesen Sommer ja sogar angekündigt, das Abkommen komplett aufzukündigen. +Blicken die Menschen auf Fidschi und Moorea gespannt auf den Bonner Gipfel? +Esther Gonstalla hat die Bedrohung durch den Klimawandel in Französisch-Polynesien täglich vor Augen. Mit ihren Infografiken möchte sie Umweltthemen für alle anschaulich machen +Ehrlich gesagt habe ich nicht das Gefühl, dass sich hier viele Menschen dafür interessieren. In der Tageszeitung von Tahiti gab es nur einen Bericht zum Gipfel. Man sucht vergeblich einen Hintergrundartikel darüber, wie Französisch-Polynesien, wo Moorea liegt, vom Klimawandel betroffen sein könnte. Ich denke, das liegt an der fehlenden Forschung. Es gibt dadurch keine öffentliche Debatte und keine öffentliche Aufklärung. Der letzte offizielle Klimabericht zu Französisch-Polynesien ist von 2010 und geht in den wichtigen Punkten nicht ins Detail. Oft wird schlicht darauf verwiesen, dass es keine Daten und Fakten gibt. Das liegt auch daran, dass aus Frankreich, zu dessen Staatsgebiet die Inseln gehören, keine finanzielle Hilfe kommt. Es gibt keine Strategie, um die vielen Inseln Polynesiens auf die negativen Auswirkungen des Klimawandels vorzubereiten. + + +Titelbild: Kadir van Lohuizen / laif diff --git a/fluter/wie-sich-rechtsextreme-vernetzen.txt b/fluter/wie-sich-rechtsextreme-vernetzen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6ba44996248886c2c259ae5c44fcc8300578592a --- /dev/null +++ b/fluter/wie-sich-rechtsextreme-vernetzen.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Die militante Neonaziszene ist weltweit vernetzt. Besonders deutsche Rechtsextreme sind viel unterwegs, um an internationalen Veranstaltungen teilzunehmen, und scheinen ihre Auftritte im Ausland zu genießen. Hitlergruß und NS-Symbolik sind hier – anders als in Deutschland – meist straffrei. Gegenproteste gibt es selten, und auch die Polizei lässt die Rechtsextremen in der Regel gewähren. Noch wichtiger als die öffentlichen Aufmärsche sind jedoch dieRechtsrockkonzertehinter verschlossenen Türen. Von Geheimkonzerten mit 100 Gästen bis zu Großveranstaltungen mit Tausenden Zuschauern ist alles dabei. "Vor allem die großen Festivals in Italien, Frankreich, Ungarn und der Ukraine sind die Treffpunkte für die internationale Naziszene", sagt Musikwissenschaftler Thorsten Hindrichs von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Er beobachtet seit Jahren, wie hier internationale Führungsköpfe der Szene Absprachen treffen, Geld sammeln und Geschäfte machen. +Die Texte der Rechtsrockbands klingen wie Blaupausen für rechten Terror. "Bald bist du endlich dran. Wir warten ungeduldig, bereit für diesen Kampf, du wirst grausam sterben", singt die Schweizer Band Erschießungskommando über die Thüringer Landtagsabgeordnete Katharina König-Preuss (Die Linke). Die bekannteste deutsche Neonazi-Band Landser bezeichnete sich selbst stolz als "Terroristen mit E-Gitarren". 2003 wurde sie als kriminelle Vereinigung verboten. +Die schnellste und stärkste Vernetzung der Szene findet im Internet statt. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen organisierten Rechtsextremen,Verschwörungstheoretikernund Menschenhassern. Ob auf Twitter, YouTube, Facebook oder Instagram, überall gibt es gut laufende rechtsextreme Propagandakanäle. Wer tiefer in die rechtsextreme Blase im Netz eintaucht, landet schnell in geschlossenen Foren und Telegram-Kanälen. Rechtsextreme aus der ganzen Welt tauschen sich hier aus. Von Todeslisten politischer Gegner über Anleitungen zum Bombenbau bis hin zu Plänen, wie man mit einem 3D-Drucker Schusswaffen herstellt, findet sich hier alles. Der antisemitische Attentäter von Halle hatte genau so einen Teil seiner Mordwaffen selbst hergestellt. + diff --git a/fluter/wie-sich-terrorgruppen-aufloesen-interview-terrorismusforscherin.txt b/fluter/wie-sich-terrorgruppen-aufloesen-interview-terrorismusforscherin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..12c3a2f923889cecf09750d5b2280f5f5f460e91 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-sich-terrorgruppen-aufloesen-interview-terrorismusforscherin.txt @@ -0,0 +1,31 @@ +Sie meinen das persönliche Umfeld? +Ja, genau. Oft ist es eine Frage der Leute, die man kennt, und der Gruppen, in die man hineingerät. Diese Netzwerke sind entscheidend. Manchmal sind das Verwandte oder Freunde. Gerade Menschen, die ihr gewohntes Umfeld verlassen und alleine vor Herausforderungen stehen, sind anfällig für Gruppendruck.Das nutzen zum Beispiel radikale Islamisten. +Spielt das Alter eine Rolle? +Auch das ist entscheidend. Wenn man zwischen 20 und 30 oder noch jünger ist, will man sich ja oft von den Eltern abgrenzen. In diesem Alter ist Rebellion auch ganz normal. Bei der Gamaa Islamija … +Das ist eine radikale Islamistengruppe in Ägypten. +… haben die Anführer im Gefängnis im Rückblick gesagt: Wir waren damals jung und dumm. Es gibt auch Studien zurIRA, die für die Unabhängigkeit von Nordirland und die Einheit Irlands gekämpft hat. In diesen Studien wurde festgestellt, dass das Gespräch zwischen den Generationen, von Jung und Alt, den dortigen Friedensprozess befördert hat. + + +Sie sagen, dass das persönliche Umfeld eine Rolle spielt. Ist es dann Zufall, welcher politischen Richtung man sich anschließt? +Tatsächlich ist es oft auch Zufall. Wenn man sich Links- und Rechtsextremismus und dann noch den radikalen Islamismus anschaut, gibt es ja auch Ähnlichkeiten. Bei den Rechten ist etwa der Frieden unmännlich, "weibisch", das ist bei den Islamisten ähnlich. Auch die Idee, dass der Einzelne in einem System – zumal einem kapitalistischen – austauschbar ist, findet man öfter. Terrorgruppen lernen auch von anderen Terrorgruppen. Die Idee von der "Propaganda der Tat" etwa, also mit einer schockierenden Tat die Massen aufzuwecken, kommt ursprünglich von den linken Anarchisten im Russland des 19. Jahrhunderts und wird nun von Rechtsextremen wie demAttentäter von Christchurchverwendet. +Sie haben mit Terroristen gesprochen, die den bewaffneten Kampf beendet haben. Was hat dazu geführt? +Obwohl Gefängnisse oft als Brutstätten für Radikalisierung fungieren, kann es gerade dort auch zur Deradikalisierung kommen. Wenn in Gefängnissen die Möglichkeit zum Austausch mit Andersdenkenden besteht und die Insassen Reflexions- und Selbstbildungsprozesse durchlaufen, kann paradoxerweise die "Isolation" im Gefängnis mit einer Öffnung für neue Ideen einhergehen.Bei der IRAgab es im Gefängnis richtige Lesezirkel, die sich mit den Theorien von Mao, Che Guevara oder Karl Marx befasst und dann beschlossen haben, ihre Sichtweisen zu überdenken. +Das klingt zu schön. Bücher gegen Bomben … +Das ist natürlich nicht alles. Aber Gefängnisse sind manchmal tatsächlich Orte der Öffnung. Die IRA-Häftlinge wurden auch von Mitgliedern des südafrikanischen Afri­can National Congress (ANC) besucht, die ja lange im Untergrund waren und nun die Regierung stellen. Es gibt oft einen Schulterschluss von Organisationen, die sich weniger als Terroristen und vielmehr als Unterdrückte wahrnehmen. Gemeinsam sprachen Mitgliederder IRAund des ANC darüber, wie man einen friedlichen Weg einschlagen kann. Bei der Gamaa Islamija in Ägypten trafen die Anführer im Gefängnis Andersdenkende und mussten sich plötzlich mit Liberalen oder Atheisten austauschen. Die ägyptische Regierung hat diesen Dialog stark gefördert. Im Austausch mit Andersdenkenden sind die Radikalen schließlich zu der Einsicht gelangt, dass ihr Konstrukt nicht stimmig war. +Nicht jeder Täter ist zur Einsicht fähig.Bei der RAF kam es beispielsweise nie in größerem Umfang zum Nach­denken über den Terror, den man verbreitet hat. Was die Aufarbeitung der Attentate bis heute erschwert. +Dennoch gibt es das auch bei Linksextremisten, zum Beispiel bei den Roten Brigaden in Italien. Da haben ehemalige Mitglieder mit Opfern zusammengesessen und versucht, eine Art Aussöhnungsprozess zu initiieren. Der ist natürlich auch für die Täter eine extreme Herausforderung. Sie müssen sich ihren Taten stellen. Ein Mitglied der Roten Brigaden brachte es auf den Punkt: Es sei eine Sache, die Gefängniszelle zu verlassen, eine andere, aus dem mentalen Gefängnis auszubrechen. +Warum gelingt es einigen und anderen nicht? +Nicht alle haben die Möglichkeit. Ein ehemaliges Mitglied der Roten Brigaden hat gesagt, dass sie der Kampf zu einem Objekt gemacht habe und ihr im Grunde alle Freiheiten genommen habe, auch die zur Reflexion. Sie war nur noch in der Funktion der Kämpferin existent und nicht mehr als eigenständig denkendes Wesen. + + +Soll man eigentlich mit Terroristen verhandeln, um Frieden zu erreichen? +Staaten, die die Verhandlungsoption in Betracht ziehen, haben mehr Spielraum im Umgang mit Terrororganisationen. Die Nichtverhandlungsdoktrin besagt ja, man solle nicht reden, keine Zugeständnisse machen. Der ehemalige US-Außenminister und Sicherheitsberater Henry Kissinger hat diese vertreten. Er ging davon aus, dass man vielleicht das Leben von ein paar Menschen rettet, wenn man verhandelt, aber das Leben vieler anderer riskiert, weil Nachahmer denken könnten, dass sich Terrorismus lohnt. +Klingt plausibel. +Durch solche Sichtweisen wird die Verhandlungsoption kategorisch ausgeschlossen. Dabei können Staaten durch Verhandlungen durchaus an Einflussspielraum gewinnen. Ich habe die Nichtverhandlungsdoktrin in meiner Doktorarbeit untersucht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es so einfach, wie die Hypothese vom Dominoeffekt suggeriert, nicht ist. Die Reaktionen von Terrorgruppen sind viel komplexer. So wird eben oft nicht nur Gewalt kopiert, sondern auch die Abkehr von Gewalt. Es könnte also auch zu einem Dominoeffekt von Deradikalisierung kommen, wie es zum Beispiel mit dem "Ägyptischen Islamischen Dschihad" der Fall war. Diese Gruppe hat sich gemäßigt, nachdem die Gamaa Islamija ihre Friedensinitiative verkündet hatte. +In Deutschland wollte man mit der RAF nicht verhandeln. Stattdessen setzte der Staat auf Unnachgiebigkeit und neue Gesetze. Dennoch hielt der RAF-Terror das Land fast drei Jahrzehnte in Atem – und bis heute gibt es unter den ehemaligen Mitgliedern der RAF ein Schweigegelübde. Hat diese Haltung das Problem RAF verschärft? +Je mehr eine Gruppe in den Untergrund getrieben wird, desto radikaler wird sie. Der Schriftsteller Heinrich Böll hat im Fall der RAF von einem "Krieg von sechs gegen 60 Millionen" gesprochen. Ein ehemaliges Mitglied der IRA grenzte sich in einem Interview auch genau mit diesem Argument von der RAF ab und sagte: "Wir haben echtes Gewicht, wir sind eine Stimme für viele, nicht wie die RAF." Das heißt, die RAF hatte nicht die gleiche Unterstützung in der Bevölkerung. Man kann sagen, dass Gruppen, die mehr Menschen repräsentieren, mehr Öffentlichkeit und mehr Politik bewegen, sich auch dieser Verantwortung stellen müssen. Verantwortung wirkt oft mäßigend. +DieIRAwar traditionell mit der irischen und nordirischen Partei Sinn Féin verbunden, die lange als ihr politischer Arm galt.Auch die Hamas ist nicht nur eine Terrorgruppe, sondern auch eine politische Partei. Kann dieser Schritt in die Legalität dazu beitragen, dass sich Terroristen mäßigen? +Ja, denn wenn man den Akteuren den politischen Weg verwehrt, belohnt man die Radikalen und bestraft die Moderaten. Mediatoren, die mit Terroristen verhandeln, sagen sehr oft: Ohne Druck nehmen Terroristen nicht den Weg nach draußen, aber ohne einen Weg nach draußen funktioniert der Druck nicht. + + +Dr. Carolin Görzig leitet am Max-Planck- Institut für ethnologische Forschung die Forschungsgruppe "Wie ‚Terroristen' lernen". diff --git a/fluter/wie-sieht-der-alltag-gefluechteter-in-italien-aus.txt b/fluter/wie-sieht-der-alltag-gefluechteter-in-italien-aus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5640bef916a9c45ab107445d9338ad06d0438bdf --- /dev/null +++ b/fluter/wie-sieht-der-alltag-gefluechteter-in-italien-aus.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Sind die Flüchtlinge einmal in Sizilien angekommen, werden sie in temporäre Unterkünfte in ganz Italien überführt, wo sie manchmal bis zu zwei Jahre darauf warten, dass über ihren Asylantrag entschieden wird. +Malick wurde nach Biella im Norden von Italien gebracht, wo er seither lebt. Die Fotoarbeit "The European Dream" von César Dezfuli dokumentiert seinen Alltag dort. Das Leben, das Malick in Biella führt, sieht der Fotograf als repräsentativ an für die Situation der meisten Asylsuchenden, die in den letzten Jahren nach Italien gekommen sind. Dezfuli hat die Geschichte von Malick Jeng weiterverfolgt, nachdem er im Rahmen einer anderen Reportage dessen Rettung aus dem Mittelmeer fotografiert hatte. + +An Bord des Rettungsschiffes "Iuventa", das für die NGO Jugend Rettet im Einsatz ist, warten Flüchtlinge auf die italienische Küstenwache, die sie nach Italien bringen soll. Sie sind 20 Seemeilen vor der libyschen Küste aus einem Schlauchboot gerettet worden, in dem sich über 100 Menschen befanden. +Ein Porträt von Malick, der hier gerade aus der Dusche kommt. Aufgenommen wurde es in seinem Zimmer in dem zum temporären Flüchtlingsheim umfunktionierten Hotel Colibri. Wie die meisten der Flüchtlingsunterkünfte in Italien wird das Haus von einer privaten Firma betrieben, die pro Tag pro Bewohner 35 Euro vom italienischen Staat bekommt. Das Gebäude ist immer noch genauso eingerichtet, wie es das auch schon als Hotel war. Es ist ganz schön in die Jahre gekommen. Oft gibt es kein warmes Wasser. +Die Flüchtlinge verbringen den Großteil ihrer Zeit zwischen ihren Zimmern und den gemeinschaftlich genutzten Räumen, speziell dem Treppenhaus: Dort ist die WLAN-Verbindung besser. Oft telefonieren sie auf den Stufen sitzend mit ihren Familien. +Malick, hier in der Mitte, geht jeden Freitag in der Moschee Al Huda beten. Die Al Huda ist eine von drei Moscheen in Biella. Gegründet wurde sie von Migranten aus den Maghreb-Staaten, die in den vergangenen Jahrzehnten hergekommen sind. Durch die starken Fluchtbewegungen der letzten Jahre haben die Gemeinden viele neue Mitglieder hinzugewonnen. Viele von ihnen stammen aus Ländern südlich der Sahara. Religion ist für die Asylsuchenden eine Möglichkeit, wenigstens für Momente ihre Lebenssituation zu vergessen. +Im Flüchtlingsheim guckt Malick oft Fernsehen. Der Raum, in dem der Fernseher steht, war früher mal die Lobby des Hotels, bevor das Haus vor zehn Jahren geschlossen wurde. Als das Gebäude 2016 als Unterkunft für Asylsuchende wieder in Betrieb genommen wurde, hat man die meisten Möbel drin gelassen, aber die Lobby zum Fernsehzimmer umfunktioniert. +Im ehemaligen Hotel Colibri finden bis zu 55 Menschen Platz. Während des laufenden Asylverfahrens, das in Italien oft bis zu zwei Jahre dauert, hat Malick das Recht, hier zu bleiben. Alle Bewohner des Flüchtlingsheims kommen aus Ländern südlich der Sahara und sind in Zweier- oder Viererzimmern untergebracht. Unterkünfte wie diese werden von privaten Firmen und Kooperativen in ganz Italien betrieben. +Mamadou aus dem Senegal isst im Hotel Colibri zu Mittag. Das Asylzentrum stellt drei Mahlzeiten pro Tag. Der Speiseplan ist immer sehr ähnlich: Tee und Brot zum Frühstück, Reis mit Fleisch und Obst zu Mittag und Reis mit Fleisch oder Fisch zum Abendessen. +Malick und Mohammed gehen nach dem Fußballspielen durch den Park nach Hause. Er wird hauptsächlich von älteren Menschen aus den angrenzenden Mietshäusern besucht. Der Altersdurchschnitt der Bevölkerung von Biella wird immer höher, weil viele junge Menschen von hier fortziehen, um in größeren Städten zu studieren und Karriere zu machen. Viele Menschen in Biella vertreten ein konservatives Weltbild und sehen die Aufnahme von Flüchtlingen eher skeptisch. +Come stai? Zusammen mit anderen in Biella lebenden Flüchtlingen lernt Malick Italienisch. Zweimal die Woche findet ein Sprachkurs statt, der ihnen dabei helfen soll, italienische Grundkenntnisse aufzubauen und im täglichen Leben besser zurechtzukommen. Außerdem lernen sie dort, wie man eine Bewerbung und einen Lebenslauf schreibt. +Die Bewohner dürfen keine Besucher von außerhalb in ihren Zimmern empfangen, schon gar nicht, wenn sie vom anderen Geschlecht sind. Manchmal machen sie es trotzdem – solange, bis es einer der Verantwortlichen des Hotels bemerkt. Hier bittet Alexio, der die Unterkunft mitbetreibt, ein paar Gäste, das Gebäude zu verlassen. +Nach einem Besuch im Park ist Malick auf dem Weg zurück in seine Unterkunft. Er trägt einen Lautsprecher, mit dem er und seine Freunde Musik hören, während sie Sport machen oder zusammensitzen. Einer von Malicks Freunden hat ihn mit seinem Taschengeld gekauft: Monatlich gibt es pro Person 75 Euro. +Seinen Schlafraum teilt Malick mit drei anderen Flüchtlingen aus Gambia und dem Senegal. +Erinnerungen an die Flucht über das Mittelmeer, aber auch an die Verfolgung in Libyen begleiten die Flüchtlinge in ihrem neuen Leben in Italien. Die Rauchfahne, die in dem Bild aufsteigt, stammt von dem Schlauchboot, mit dem Malick das Mittelmeer überquert hat. Entdecken die Behörden Flüchtlingsboote, stecken sie diese nach der Evakuierung der Passagiere in Brand oder machen sie auf eine andere Weise unbrauchbar. Sie sollen nicht noch einmal für Überfahrten verwendet werden. diff --git a/fluter/wie-sollen-Endlager-gekennzeichnet-werden.txt b/fluter/wie-sollen-Endlager-gekennzeichnet-werden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cb9b18948d206dffe5589115673ad5da79c0ccfa --- /dev/null +++ b/fluter/wie-sollen-Endlager-gekennzeichnet-werden.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Wir sprechen über Hunderttausende von Jahren, also einen unvorstellbar langen Zeitraum, in dem die Evolution auf der Erde in einem heute nicht abschätzbaren Umfang voranschreitet. Linguisten etwa schätzen, dass alle heute gesprochenen Sprachen nach spätestens 10.000 Jahren keinerlei erkennbare Verwandtschaft mehr zu ihren Wurzeln aufweisen. Auch Warnsymbole werden demnach von Kultur zu Kultur unterschiedlich interpretiert. Deshalb lassen sich viele Probleme der Kommunikation mit Menschen oder menschenähnlichen Wesen der Nachwelt nicht ausschließen: Werden sie über gleiche oder vergleichbare Wahrnehmungsorgane verfügen oder möglicherweise über Sinne, die außerhalb unserer heutigen Vorstellungen liegen? Kann ihre Art der Sinnesdaten-Rezeption mit der unseren verglichen werden? Kann überhaupt von einer gemeinsamen Wissensbasis ausgegangen werden oder nicht? +Die Atomsemiotik ist umstritten. In den 1980er-Jahren wollten einige Ihrer Wissenschaftskollegen Atomblumen züchten, die nur in Gebieten mit radioaktiver Strahlung blühen. Auch genetisch veränderte Katzen wurden ins Spiel gebracht, deren Fell zu leuchten anfangen soll, wenn sie mit Atomstrahlung in Berührung kommen. Kann man solche Ideen ernst nehmen? +Strahlt die Katze, freut sich der Mensch: Sogar genetisch veränderte Katzen wurden schon in Erwägung gezogen, die zu leuchten beginnen, wenn sie in die Nähe radioaktiven Materials kommen +Wir sprechen hierbei von einer biologischen Option der Informationsweitergabe. Man kann über den Sinn von Atomblumen und -katzen natürlich streiten. Aber es zeigt auch, dass wir für alle Möglichkeiten offen sein müssen. Es geht doch darum, über einen enormen Zeitraum hinweg unsere Nachfahren zu informieren und zu warnen. Dazu müssen wir kommunikative Zeichen entwickeln, die Informationen zur Atomenergie und zum Atommüll enthalten, einen Ratschlag oder eine Warnung ausdrücken sowie auf mögliche destabilisierende Reaktionen beim In-Kontakt-Treten mit Atommüll verweisen.Wie könnte denn ein solches Warnschild der Zukunft aussehen?Im Gebiet eines Endlagers sollten Warnschilder mit kodierten und dekodierbaren Botschaften versehen werden, die antizipierte Adressaten entschlüsseln können. Das heißt, die Schilder sollten unter Verwendung ikonischer, also auf Ähnlichkeit basierender Zeichen und indexikalischer Zeichen wie etwa Bilder, Piktogramme und Aktogramme einen "Eindringling" unter anderem zu folgenden Schlüssen veranlassen: "Wenn ich hier jetzt weiter vordringe, entsteht ein bestimmter Sachverhalt. Dieser Sachverhalt hat Folgen, die den Zweck meines weiteren Vordringens zunichtemachen. Dieser Zeichenträger ist mit der Absicht produziert worden, mir das mitzuteilen." Wenn also jemand einen Zeichenträger in dieser Weise interpretiert, dann versteht er ihn als Mitteilung, und wir können von einer gelungenen Kommunikation sprechen. +Aber bei der Kommunikation mit der Nachwelt kann es ja nicht nur um Warnschilder gehen. +Das ist richtig. Für die Wartung eines Endlagers und seiner Barrieren etwa reichen solche ikonischen und indexikalischen Zeichen aufgrund ihres Mangels an Komplexität und Differenziertheit der Information nicht aus. Hierfür muss eine komplexere Form kommunikativer Zeichen entwickelt werden. Eine zusätzliche Verwendung symbolisch kodierter, im besten Fall sprachlicher Zeichen hätte also den Vorteil, den Anforderungen nach Warnung und Wartung gerecht werden zu können. +Ganz sicher sprechen die Menschen in ein paar Tausend Jahren nicht mehr unsere Sprache. Irgendwann sind es vielleicht keine Menschen im heutigen Sinne mehr. Aber es gibt eine gewisse Chance, dass sich auch in ferner Zukunft noch über leuchtende Katzen gewundert wird +Aber auch diese "Sprache" müsste über die Jahrtausende hinweg betreut werden, oder? +Der emeritierte Professor Roland Posner, der an der Technischen Universität in Berlin die Arbeitsstelle für Semiotik leitet, hat schon vor zwei Jahrzehnten die Schaffung einer gesellschaftlichen Institution angeregt, die ein atomares Endlager betreut und die in all der Zeit, in der es Menschen und andere Lebewesen bedroht, funktionsfähig bleibt. Nach seinen Vorstellungen soll ein aus 60 vom Volk gewählten Abgeordneten bestehender Zukunftsrat, der wie eine dritte Kammer neben Bundestag und Bundesrat existieren könnte, unter anderem mit der kontinuierlichen Übertragung von Warnungen und Informationen in die neueste Sprachentwicklung und mit der Wartung von Endlagern betraut werden. +Also eine Art Endlager-Regierung? +Egal, wie man es auch nennen will. Posner hat hierzu eine mögliche Erweiterung des Grundgesetzes angeregt. Er beruft sich dabei auf Artikel 20a des Grundgesetzes, nach dem Maßnahmen zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlage des Menschen zu treffen sind. Darüber sollte die Gesellschaft auch diskutieren, wenn wir uns jetzt endlich auf die Suche nach einem atomaren Endlager in Deutschland begeben. +Christian Trautsch forscht am Institut für Sprache und Kommunikation der TU Berlin zu dem Thema "Atomsemiotik – semiotische Probleme von Atommüll und Zeichen als Warnungen an die ferne Zukunft" +Grundgesetzänderung, eine Art "Rat der Atom-Weisen" – laufen Sie und Ihre Kollegen bei solchen Konzepten nicht Gefahr, dass man Ihnen Realitätsferne vorwirft? +Meine bisherigen Erfahrungen, die ich auf Kongressen zur Endlagerfrage sammeln konnte, bestätigen Ihre Vermutung. Wenn ich dort aber – neben Referenten aus den Fachbereichen Physik, Chemie und Philosophie – Vorträge über die Atomsemiotik gehalten habe, dann wurde weniger die Idee eines Zukunftsrates belächelt als vielmehr die biologische Optionen, die in Richtung Atomblumen und Strahlenkatzen gingen. Eine Erweiterung des Grundgesetzes hingegen, auch das ist meine Erfahrung aus Diskussionen auf diesen Kongressen, wird eher weniger als ein Ding der Unmöglichkeit bewertet. Die Bedeutung und Wichtigkeit dieses Konzepts muss nur von Seiten der Politik auch erkannt werden. + +Unser Artikel"Wir suchen ein Endlager"erklärt den weltweit einzigartigen Entscheidungsprozess, mit dem ein Standort für ein deutsches Atommüll-Endlager gefunden werden soll. Ein Standort, auf den sich alle einigen können. + diff --git a/fluter/wie-statistiken-gefaelscht-werden.txt b/fluter/wie-statistiken-gefaelscht-werden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..450e510fbeb4ae180baca5560a03ef0d0e74751d --- /dev/null +++ b/fluter/wie-statistiken-gefaelscht-werden.txt @@ -0,0 +1,16 @@ + +Überall treffen wir auf Zahlen – in den Nachrichten, in den Talkshows, im Netz. Zahlen machen Politik. Das Problem: Auf den ersten Blick erscheinen sie vertrauenswürdig. Doch man sieht ihnen nicht an, was hinter ihnen steckt. Und wer. Und mit welcher Absicht. Dafür muss man genauer hinschauen. +Beispiel Burka:Als im Sommer 2016 Politiker über ein Burka-Verbot diskutierten, tauchten in Zeitungen und Talkshows auch Zahlen zu Burka- Trägerinnen in Deutschland auf. Besonders häufig kam die 300 vor. Sie geht auf eine Aussage des Politologen Hamed Abdel-Samad zurück. Eine Nachfrage der Wochenzeitung "Die Zeit" ergab aber: Der hatte schlicht geschätzt, einfach aufgrund seiner eigenen Sichtungen von "Frauen mit Vollverschleierung", und wohlgemerkt: Nicht jede Vollverschleierung ist eine Burka. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime bot daraufhin eine Wette an: "Einen Kasten Ayran, dass niemand hier in Deutschland mehr als fünf Burka- Trägerinnen auffindet." Ein Fall also von Pi-mal- Daumen-Schätzung inklusive Definitionsproblem plus "stille Post": Die Zahl wurde wieder und wieder genannt, doch wie sie zustande gekommen war, diese entscheidende Information ging dabei verloren. +Beispiel Wurst:Die 18 Prozent stammen aus einer Untersuchung der Krebsforschungsagentur IARC der Weltgesundheitsorganisation (WHO), also einer durchaus seriösen Quelle. Entscheidend ist aber nicht, wie stark das Risiko steigt – sondern wie groß es am Ende ist: Wer keine Wurst isst, hat ein Risiko von fünf Prozent, an Darmkrebs zu erkranken. Für Wurstesser liegt das Risiko laut den Ergebnissen der IARC bei 5,9 Prozent, das heißt nicht einmal einen Prozentpunkt höher. Diesem absoluten Anstieg entspricht aber ein relativer Anstieg von 18 Prozent. Das Beispiel zeigt: Eine Zahl kann stimmen und doch in die Irre führen. Besonders beliebt ist dieser Trick bei Panikmachern. +Beispiel Algorithmus:"Verblüffend zuverlässige Schlüsse" könne ein Programm der Firma Cambridge Analytica aus dem Verhalten von Nutzern auf Facebook ziehen, hieß es Ende vergangenen Jahres in diversen Medien. Der Algorithmus habe damit sogar Donald Trump zum Wahlsieg verholfen, weil er einen besonders gezielten Wahlkampf möglich gemacht habe. Viele Medien stellten das infrage. "Doch warum wird nicht auch der Algorithmus selbst hinterfragt?", kritisierte die Statistikerin Katharina Schüller in der "Unstatistik des Monats". Darin zerpflücken Zahlenexperten schlecht gemachte Statistiken und falsche Interpretationen. Was ist also das Problem bei den 88 Prozent? Die Zahl beziffere – laut Schüller – gar nicht die Genauigkeit der Prognose. Sie besage lediglich Folgendes: Nimmt man je einen hetero- und einen homosexuellen Mann, dann kann der Algorithmus sie mit einer Wahrscheinlichkeit von 88 Prozent der richtigen Gruppe zuordnen. "Das ist aber keine Prognose, die sexuelle Orientierung ist ja bekannt", erklärt die Statistikerin. Kennt man die sexuelle Orientierung jedoch nicht, dann ist es mit der Treffsicherheit des Algorithmus nicht weit her. + + +Wer die Welt mit den Augen eines kritischen Bürgers sieht, der sollte also ein Verständnis davon haben, wie Statistik funktioniert. Es hilft auch schon, eine Ahnung davon zu haben, wie sie nicht funktioniert. Und sich ein paar Fragen zu stellen: +1. Hat der Produzent der Zahl ein plausibles Interesse, will er ein Phänomen groß oder klein erscheinen lassen? +2. Geht es um ein Phänomen, bei dem es schwierig ist, ehrliche Antworten zu bekommen? +3. Ist das Ergebnis politisch opportun? +4. Wer wurde befragt? Und vor allem: Wer nicht? +5. Ist das Phänomen klar definiert? +6. Sind auch absolute Häufigkeiten angegeben oder nur relative Veränderungen? + +Titelbild: Jan Q. Maschinski diff --git a/fluter/wie-syrer-die-schergen-assads-auf-facebook-enttarnen.txt b/fluter/wie-syrer-die-schergen-assads-auf-facebook-enttarnen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..571f0ee379e6e5037761d9b95be305057caf697f --- /dev/null +++ b/fluter/wie-syrer-die-schergen-assads-auf-facebook-enttarnen.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Schon länger ist es unter weltweit über vier Millionen Exilsyrer üblich, sich in den sozialen Netzwerken zu warnen, etwa, indem man Fotos von scheinbar ins Ausland geflüchteten Verbrechern postet. Dass der "Islamische Staat" die Flüchtlingsroute nutzt, um Attentäter nach Europa zu schicken, ist allerdings unwahrscheinlich. Er hat – wie Paris auf tragische Weise bestätigt hat – bereits genug Anhänger auf dem Kontinent. +Viele Exilsyrer fühlen sich vor allem von anderer Seite bedroht: von den ehemaligen Schergen Baschar al-Assads. Dem syrischen Diktator gehen die Soldaten aus. Zehntausende sind seit März 2011 aus der syrischen Armee desertiert oder haben ihren Dienst gar nicht erst angetreten. Viele, so ist zu vermuten, sind nach Europa geflohen. +Eines der Netzwerke, mit denen sie und andere Anhänger Assads aufgespürt werden sollen, ist dieFacebook-Gruppe "Murderers not refugees". Ein Netzwerk, das wie ein digitaler Pranger funktioniert: Mitglieder posten Fotos vermeintlicher Soldaten und Milizionäre, die sich ins Ausland abgesetzt haben. Wer sie erkennt oder sich in dem selben Land aufhält, soll sie den Behörden melden. Knapp 900 Mitglieder zählt das Netzwerk derzeit, die meisten von ihnen sind Syrer, die im Ausland leben. +Die Fotos sind verstörend, auch für uns. Weil sie unsere Wahrnehmung der Flüchtlinge betreffen. Man sieht junge Männer und Frauen, freundlich lächelnd vor dem Brandenburger Tor, auf deutschen Bahnhöfen, neben deutschen Polizisten. Es sind Bilder, wie wir sie aus den Nachrichten kennen: Bilder von Menschen, die glücklich sind, Europa erreicht zu haben. Direkt daneben jedoch: ältere Fotos derselben Menschen – diesmal in Militäruniform, mit Gewehren in der Hand. Manchmal vor zerstörten Häusern, manchmal vor einem Berg von Leichen. Oft mit Stolz im Gesicht. Bei vielen Männern auf den Fotos, so die Facebook-Gruppe, könnte es sich um Mitglieder der Schabiha-Milizen handeln, einer alawitischen Kampfgruppe, die im Auftrag von Assads Cousins gemordet und gefoltert hat. In Syrien gelten sie als die "Geister des Regimes". +Das Netzwerk lebe von der Dummheit dieser Leute, sagt Mahmoud, der das Forum regelmäßig nutzt. Viele ehemalige Milizionäre hätten ihre Gräueltaten auf Facebook gepostet und würden dort nun auch ihren aktuellen Wohnort in Europa angeben. Fünf Fälle habe er bereits zur Anzeige gebracht, sagt er. Allerdings mit wenig Aussicht auf Erfolg. Die Verfolgung steht vor vielen Hürden, ob die Vorwürfe tatsächlich stimmen, ist schwierig zu ermitteln. Foto- und Videoaufnahmen sind zwar ein wichtiges Beweismittel, für eine Verurteilung reichen sie – nicht zuletzt, weil man sie manipulieren kann – jedoch meist nicht aus. Dafür braucht es die Aussagen von Zeugen oder Opfern. +Zudem ist es schwer, die Menschen überhaupt ausfindig zu machen. Seit für syrische Flüchtlinge in Deutschland das beschleunigte Asylverfahren gilt, müssen sie nicht mehr zu den sonst üblichen persönlichen Anhörungen erscheinen. Es genügt, einen Fragebogen auszufüllen, bei dem sie etwa ankreuzen müssen, ob sie in der Heimat Mitglied der Armee oder einer sonstigen bewaffneten Gruppierung waren. Überprüft werden die Angaben nicht. Ein Schlupfloch? +Syrische Terroristen und Kriegsverbrecher sind unter den Asylbewerbern in Deutschland die absolute Ausnahme. 140 derartige Hinweise sind beim Bundeskriminalamt bislang eingegangen, die meisten seien nach Angaben einer Sprecherin Verwechslungen und falsche Behauptungen. In 20 Fällen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet. Demgegenüber stehen über rund 290.000 syrische Flüchtlinge, die allein dieses Jahr in Deutschland registriert wurden. Hinzu kommen weitere zigtausend, die noch nicht erfasst sind. +Für Mahmoud ist das jedoch kein Argument, von seiner Suche abzulassen. "Diese Menschen waren der Grund, warum ich mein Land verlassen musste", sagt er. "Ich verstehe nicht, warum sich niemand ernsthaft mit ihnen befasst." Er wünscht sich eine Rückkehr zu strengeren Prüfverfahren. Solange es die nicht gibt, würden er und andere Aktivisten auf eigene Faust weitersuchen – im Netz. +Sascha Lübbe ist Redakteur der drehscheibe, des Magazins für Lokaljournalismus der bpb, und freier Journalist. In seinen Artikeln befasst er sich vor allem mit der Situation von Flüchtlingen weltweit. diff --git a/fluter/wie-tuerkische-wissenschaftler-nach-deutschland-fliehen.txt b/fluter/wie-tuerkische-wissenschaftler-nach-deutschland-fliehen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..97d1bd4aac5cdd30996ae4aee83c59cb5fc4fb7b --- /dev/null +++ b/fluter/wie-tuerkische-wissenschaftler-nach-deutschland-fliehen.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Und damit habe sie noch Glück gehabt, sagt Hunler heute. Denn sie reiste noch vor derPutschnacht vom 15. Juli 2016aus der Türkei aus – und damit bevor die Regierung in Ankara dazu überging, Staatsbeamten bei der Entlassung systematisch den Pass abzunehmen. Seit dem ersten Notstandsdekret Anfang September 2016 wurden 4.811 Akademiker aus 112 verschiedenen Universitäten auf diese Weise gefeuert, ihre vollen Namen wurden mit dem jeweiligen Dekret veröffentlicht. Damit wurden sie nicht nur öffentlich angeprangert – sondern de facto im eigenen Land festgesetzt. Hünler hat sich gerade noch rechtzeitig ins Exil geflüchtet. Und zwar nach Bremen. + +An der Universität von Ankara protestierten am 10. Februar Wissenschaftler, Studenten und Oppositionspolitiker gemeinsam gegen die Entlassung hunderter Dozenten +Seit August forscht sie an der Universität dort als Philipp-Schwartz-Stipendiatin. Eigentlich ist das Programm, das die Alexander von Humboldt-Stiftung mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes ins Leben gerufen hat, für bedrohte Forscher aus Syrien gedacht. Aber unter den ersten 23 Stipendiaten waren bereits sechs aus der Türkei, und in der zweiten Runde Ende des Jahres waren es schon 21. Für die anstehende dritte Runde rechnet die Alexander von Humboldt-Stiftung mit einem erneuten Anstieg türkischer Stipendiaten. "Viele der entlassenen türkischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler suchen nun nach Wegen, ihre wissenschaftliche Laufbahn in einem anderen Land fortzusetzen", beobachtet Referatsleiterin Barbara Sheldon. +Die Stipendien richten sich also an jene Wissenschaftler, die noch vor den Notstandsdekreten entlassen worden sind – und ihren Pass behalten durften wie Olga Hunler. Oder solche, die heute mit ihrer Entlassung rechnen.Und dabei können deutsche Hochschulen erneut helfen. Bis zum 21. April haben sie Zeit, für die Kollegen aus der Türkei Stipendienanträge zu stellen. Immer vorausgesetzt, dass ihnen noch nicht die Pässe entzogen wurden. Bisher konnten fast alle Stipendiaten auch tatsächlich ausreisen, in einigen Fällen intervenierte das Auswärtige Amt. Doch Sheldon weiß auch: "Die Möglichkeiten enden im Fall von Passentzug." +Auch die Universität Bremen will weiter agieren, solange es noch geht. Bisher hat sie über die Philipp-Schwartz-Initiative fünf bedrohte Wissenschaftler aufgenommen, so viele wie keine andere deutsche Hochschule. Schon in den 70er-Jahren beherbergte die Universität Bremen chilenische Forscher, die vor derPinochet-Diktaturgeflüchtet waren. +Dass heute überwiegend Türken in Bremen Zuflucht finden, liegt auch an Yasemin Karakaşoğlu. Die Konrektorin, die neben dem deutschen auch den türkischen Pass besitzt, hat in Bremen die Partnerschaften mit mehreren türkischen Universitäten auf- und ausgebaut. Seitdem dort aber ganze Hochschulleitungen ausgetauscht und Kollegen wegen ihrer politischen Haltung entlassen wurden, hat Karakaşoğlu die Kooperationen aus Protest ausgesetzt. +Ihre Solidarität gilt den bedrohten Kollegen. An ihrem Lehrstuhl für Erziehungs- und Bildungswissenschaften hat sie bereits eine Genderforscherin untergebracht, die sie von einer Tagung aus der Türkei kennt. Für eine zweite Wissenschaftlerin sucht Karakaşoğlu gerade eine Geldquelle, um sie zumindest für ein Jahr anstellen zu können. Auch andere Kollegen würden versuchen, Stellen umzuwidmen oder Drittmittelprojekte an Land zu ziehen. + +Die Demonstration gegen die Massenentlassungen war zuvor von den Behörden verboten worden. Sicherheitskräfte lösten die Proteste gewaltsam auf +"Wir sehen uns verantwortlich für die Kollegen aus der Türkei", sagt Karakaşoğlu. Insgesamt, so die Turkologin, haben an der Universität Bremen schon zehn Wissenschaftler aus der Türkei vorübergehend Zuflucht gefunden. +Wie viele bedrohte Forscher neben den bald etwa 100 Philipp-Schwartz-Stipendiaten an deutschen Hochschulen untergekommen sind, ist schwer zu sagen. Fragt man bei den Hochschulen nach, hört man oft: Man wolle das Thema zum Schutz der Betroffenen nicht an die große Glocke hängen. +Jedenfalls schaffen die Hochschulen mit Stipendien oder Stellenumwidmungen, was das deutsche Asylrecht Türken selten gewährt: Schutz in Deutschland. Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) haben vergangenes Jahr 5.742 Türken Asyl beantragt, mehr als dreimal so viel wie 2015. Die Schutzquote für Türken sank hingegen von 14,7 auf 8,2 Prozent. Sie könnte jedoch in Zukunft steigen. Derzeit überarbeitet das Bamf mithilfe des Auswärtigen Amtes die Leitsätze für die Türkei, auf deren Grundlage Asylanträge entschieden werden. Nach einem Bericht des "Spiegel" sieht die Behörde derzeit "deutliche Anhaltspunkte für eine systematische Verfolgung vermeintlicher Anhänger der Gülen-Bewegung". +Dass ihre Kollegen in der Heimat schutzwürdig sind, daran hat Olga Hunler keinen Zweifel. "Erdoğan will jede Form der Opposition ausschalten. Auch Akademiker, die nicht uneingeschränkt hinter ihm stehen." Was sie aber erstaunt: Einige der "Akademiker für den Frieden" sind bis heute nicht entlassen worden. Die Kehrseite: Verlieren sie morgen ihren Job, nimmt ihnen der türkische Staat auch den Pass weg und verhindert ihre Ausreise. Dann rückt das Exil in weite Ferne. Trotz eines Stipendiums. + diff --git a/fluter/wie-veraendert-dich-corona.txt b/fluter/wie-veraendert-dich-corona.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/wie-vernachlaessigte-krankheiten-bekaempft-werden.txt b/fluter/wie-vernachlaessigte-krankheiten-bekaempft-werden.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..124db311bbccd7130b3a3f17c0ae52a6c025d6f3 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-vernachlaessigte-krankheiten-bekaempft-werden.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +In Deutschland hat man die Krankheit durch Impfkampagnen und orale Impfungen bei Füchsen ausrotten können. Doch nach Schätzungen der WHO sterben weltweit noch immer jährlich rund 60.000 Menschen an Tollwut – 95 Prozent der Fälle treten in Asien und Afrika auf. +Tollwut ist eine von mittlerweile 20 Krankheiten, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als sogenannte vernachlässigte tropische Krankheiten (engl.: Neglected Tropical Diseases, kurz: NTDs), klassifiziert hat. Das Konzept der vernachlässigten Tropenkrankheiten kam erstmals in den frühen Nullerjahren auf, um auf eine Gruppe von Krankheiten aufmerksam zu machen, die deutlich weniger Aufmerksamkeit bekommen als Aids, Malaria oder Tuberkulose, von denen aber arme Menschen unverhältnismäßig stark betroffen sind. +Auslöser dieser Krankheiten sind Bakterien, Viren oder Parasiten. Sie werden von Tieren auf den Menschen übertragen oder gelangen durch verunreinigtes Trinkwasser in den Körper. Dass diese Krankheiten vernachlässigt werden, liegt nicht daran, dass wenige Menschen erkranken – im Gegenteil: Gut 1,7 Milliarden Menschen in rund 150 Ländern sind von NTDs betroffen. Das ist mehr als jeder fünfte Mensch auf der Welt. Weitere zwei Milliarden Menschen sind dem Risiko zu erkranken ausgesetzt, weil sie in einem betroffenen Gebiet leben. Dennoch haben Forschung, Pharmaindustrie und Gesundheitspolitik den NTDs in den vergangenen Jahrzehnten wenig Beachtung geschenkt. Medikamente, Impfstoffe und Behandlungsmethoden gegen NTDs sind bis heute rar. Der Grund: Sie betreffen fast immer Menschen, die in Armut leben.Für Pharmaunternehmen gibt es daher wenig zu verdienen. +Marco Alves spricht von Marktversagen. Er koordiniert die Medikamentenkampagne von Ärzte ohne Grenzen – eine Organisation, die mit insgesamt 65.000 Mitarbeitenden in gut 70 Ländern weltweit im Einsatz ist, vor allem in Kriegs- und Krisenregionen. Sie versucht, Druck auf die Politik auszuüben und auf systemische Probleme in der Gesundheitsversorgung aufmerksam zu machen. "Wir haben in unseren Projekten beobachtet, dass den Menschen oft der Zugang zu einfachsten Medikamenten fehlt oder sie nicht bezahlbar sind", sagt Alves. +Jahrelang forderte Ärzte ohne Grenzen die WHO zum Beispiel auf, auch Schlangenbisse in die Liste der NTDs aufzunehmen. Im Mai 2017 war es dann so weit. "Das war ein wichtiger Schritt. Denn jedes Jahr sterben 100.000 Menschen, weil sie von einer Giftschlange gebissen wurden – mehr als bei jeder anderen vernachlässigten Krankheit", sagt Alves. Betroffen sind vor allem Bauern, die barfuß auf dem Feld arbeiten, oder Menschen, die vor Konflikten oder Gewalt fliehen, oft durch den Urwald. Nur schätzungsweise zwei Prozent der Menschen, die in Subsahara-Afrika von Giftschlangen gebissen werden, erhalten ein hochwertiges Gegengift. +Zwischen 2000 und 2011 war nur rund ein Prozent der neu zugelassenen Wirkstoffe für vernachlässigte Krankheiten bestimmt, obwohl diese elf Prozent aller Krankheiten weltweit ausmachen. "Die Forschung an Medikamenten oder Impfungen gegen NTDs bringt wenig Geld, weil Betroffene nicht viel zahlen können. Deshalb sind sie für Pharmaunternehmen uninteressant", sagt John Amuasi, Geschäftsführer des African Research Network for NTDs. "Armut ist der gemeinsame Nenner dieser Krankheiten. Und diejenigen, die keine Stimme haben, sind am gefährdetsten." Das Netzwerk will in Afrika das erreichen, was Europa schon geschafft hat: den eigenen Kontinent von NTDs befreien. Seit fast 20 Jahren beschäftigt sich Amuasi mit der Bekämpfung tropischer Krankheiten. +"DieCoronapandemiehat uns gezeigt, dass es möglich ist, viele Lösungen in sehr kurzer Zeit zu finden. Das beweist, dass wir es besser machen können. Globale Gesundheit und Pandemievorsorge stehen nun ganz oben auf der Agenda. Aber wir müssen sicherstellen, dass wir auch den NTDs genügend Aufmerksamkeit schenken." +Doch mehr Forschung und eine bessere Gesundheitsversorgung allein reichen im Kampf gegen tropische Krankheiten nicht aus. "Wenn wir Armut nicht beenden, werden sich diese Krankheiten niemals ausrotten lassen." +Dabei ist genau das das Ziel der Weltgemeinschaft: Bis 2030 wollen die Vereinten Nationen mit den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung unter anderem Armut in all ihren Ausprägungen beenden (Ziel 1) und Gesundheit und Wohlergehen weltweit stärken (Ziel 3) – unter anderem, indem bis 2030 sämtliche vernachlässigten Tropenkrankheiten beseitigt werden. +Mittlerweile haben internationale Organisationen und Akteure das Problem erkannt. Angelehnt an die Ziele der UN hat die WHO gemeinsam mit Regierungen, Nichtregierungsorganisationen und Interessengruppen im November 2020 einen globalen Fahrplan veröffentlicht. Er soll unter anderem dabei helfen, dass mindestens 100 Länder wenigstens eine NTD beseitigen. Der Fahrplan sei ein wichtiger Schritt, meint Tasiame. Doch solche Abkommen allein reichten noch nicht. "Die Lage in den betroffenen Ländern ist ganz unterschiedlich. Deshalb spielen die Regierungen eine zentrale Rolle bei der Bekämpfung von Krankheiten. In Ghana haben wir zwar einen Plan, aber die Regierung hat keine Mittel, den Plan wirklich umzusetzen", sagt Tasiame. "In den 1970er-Jahren gab es in Ghana die letzte von der Regierung initiierte Impfkampagne gegen Tollwut. Seitdem ist kaum noch etwas passiert." Das Impfen von Hunden ist die effektivste vorbeugende Maßnahme zum Schutz vor Tollwut. Mit Plakaten, Aufrufen im Radio und durch Mund-zu-Mund-Propaganda sammelt Tasiame Spenden – und informiert die Bevölkerung über die Impfaktion. In mehr als 95 Prozent der Fälle sind Hunde die Überträger des Virus. "Je mehr Hunde wir impfen, desto besser können wir Menschen schützen." +Dafür fährt Tasiame mindestens einmal im Jahr in die ländliche Region im Norden Ghanas. Weit weg von der Hauptstadt Accra, nah der Grenze zu Burkina Faso, leben viele Menschen ohne Strom und fließendes Wasser. Anlässlich des Welttollwuttages am 28. September 2020 hat Tasiames Team auf Dorfplätzen mehr als 2.500 Hunde geimpft. "Das ist ein großer Erfolg – und dennoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein." Laut Statistiken gibt es in Ghana mehr als 1,4 Millionen Hunde, so Tasiame. Mindestens 70 Prozent der Hunde müssten geimpft sein, um Infektionen zu verhindern. +Während im Kampf gegen Tollwut in den vergangenen Jahrzehnten schon viel erreicht wurde, sind einige vernachlässigte Tropenkrankheiten noch deutlich verbreiteter: Elefantiasis, Flussblindheit, Trachom, Bilharziose und der Befall mit den Darmwürmern Helminthen sind die sogenannten Big Five. Sie sind für 90 Prozent aller NTD-Erkrankungen verantwortlich. +In Madagaskar forscht Daniela Fusco, Forscherin am Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin, an Bilharziose. Der Inselstaat an der afrikanischen Südostküste hat eine der höchsten Bilharzioseraten weltweit. Die Krankheit beeinträchtigt die Entwicklung von Kindern und die körperliche Leistungsfähigkeit von Erwachsenen. Eine besondere Art der Bilharziose kann bei Frauen zudem HIV begünstigen – und zu Unfruchtbarkeit führen. +"Diese Form der Bilharziose ist quasi die am stärksten vernachlässigte Ausprägung einer vernachlässigten Tropenkrankheit", sagt Daniela Fusco. "Das hat für die betroffenen Frauen nicht nur gesundheitliche, sondern auch soziale Folgen. Wenn sie unfruchtbar sind, werden sie von ihren Gemeinden diskriminiert oder verstoßen." +Im Rahmen ihrer Studie versucht Fusco, Frauen über die Krankheit aufzuklären und kostenlose Behandlung anzubieten. Auch wollen sie und ihr Team mehr über die Übertragungswege der Krankheit erfahren. So nehmen Mütter ihre Babys mit zur Erntearbeit auf die Felder, oder die Kinder planschen beim Wäschewaschen im verdreckten Wasser und stecken sich dabei an. +"Alles ist schwerer, wenn es um die Bekämpfung von NTDs geht – es fehlt die Sichtbarkeit, die Lobby, die Infrastruktur, die Gesundheitsversorgung", sagt Fusco. "Wir könnten mit wenig so viel erreichen. Aber was es wirklich braucht, ist der politische Wille." diff --git a/fluter/wie-viel-haben-superreiche.txt b/fluter/wie-viel-haben-superreiche.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cffa93bd81593925e8f51a7c3aa1ee53f506ebd3 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-viel-haben-superreiche.txt @@ -0,0 +1,18 @@ +Schon als Kind bekam Tobias Lütke von seinen Eltern einen Heimcomputer geschenkt, für den es allerdings kaum Spiele gab. Die musste er selbst programmieren. Nach der Mittleren Reife begann er dann eine Ausbildung zum Fachinformatiker, wenig später ging er wegen seiner Freundin nach Kanada und gründete dort einen Onlinehandel für Snowboards. Weil das technisch recht kompliziert war, erfand er eine simple Software für E-Commerce. Das war der Anfang von Shopify – ein Softwareunternehmen, das im vergangenen November mit 160 Milliarden Euro an der Börse bewertet wurde. Bei allem Wachstum sei ihm besonders wichtig, dass seine Firma möglichst ökologisch agiere, so Tobias Lütke. Und sein Lifestyle? Wirkt eher brav. Er hat eine Schwäche für Schiebermützen aus Tweed. Auf seinem Instagram-Account postet er mal das Bild eines Porsche 911, auf einem anderem düst er mit einem sogenannten Fliteboard über die Wellen. Verglichen mit den Superjachten anderer Milliardäre ein sehr bescheidenes Hobby. +Neulich war Stephan K.* wieder in Amsterdam, um ein Haus zu kaufen. Es steht an einer Gracht mitten in der Stadt – also dort, wo die Immobilienpreise am höchsten sind. 2,4 Millionen Euro sollte es kosten, letztlich zahlte er 2,1 Millionen. +"Die Holländer lieben es, zu handeln", sagt K., "ganz anders als die Deutschen." Wenn K. von seinem Immobilienbesitz spricht, ist seine Leidenschaft zu spüren. Es geht dann um alte Bausubstanz, um Holzfenster, denkmalgeschützte Bauten und deren Erhalt. Selten geht es um Geld. Denn das ist einfach da. Vor zwei Jahren verstarb K.s Vater, der Gastronom war und seit den 1960er-Jahren in Immobilien investierte. Insgesamt vererbte er seinen drei Kindern Immobilien im Wert von fast 100 Millionen Euro. Während sich seine Geschwister monatlich einen Teil der Mieteinnahmen auszahlen lassen, kümmert sich Stephan K. um die Geschäfte. Er hat eine Stiftung gegründet und die Zahl der Häuser in den letzten beiden Jahren vermehrt. +Was K. mit all dem Geld anfangen will? Das von seinem Vater gegründete Vermögen soll auch den nächsten Generationen ein gutes Leben ermöglichen, sagt er. Er überlege sogar, per Stiftungsstatut zu verhindern, dass jemals eine der Immobilien verkauft wird – nur um schnell mal ein paar Millionen flüssig zu haben. Er selbst wohnt übrigens in einem 100 Quadratmeter großen Haus am recht unglamourösen Rand einer deutschen Großstadt. +Spätestens seit Mai dieses Jahres steht ihr Name für Klassen­verrat. So konnte es Marlene Engelhorn vor einigen Monaten in einer Tageszeitung lesen. Worin ihr Verrat besteht? Die 29-jährige Studentin will mindestens 90 Prozent ihres Erbes freiwillig an den Staat abgeben. Immerhin dürfte es sich bei Engelhorns Erbe um einen zweistelligen Millionenbetrag handeln, ihre Vorfahren erwirtschafteten das Vermögen in der Pharmaindustrie. +Weiterlesen +Das Haus seiner Eltern war das Zuhause, das unser Autor jedem wünscht. Warum er es trotzdem nicht erben möchte,lest ihr hier +Engelhorn ist Mitbegründerin der Initiative "Tax Me Now", bei der sich mehr als 50 Millionärinnen und Millionäre für eine Vermögenssteuer und höhere Erbschaftssteuern einsetzen. "Demokratiegefährdender Machtkonzentration in Form von Kapital und Einfluss von wenigen steht wachsende materielle Unsicherheit von vielen gegenüber", steht auf der Homepage der Kampagne. +Marlene Engelhorn studiert noch, Germanistik an der Uni Wien, und arbeitet bei der Guerrilla Foundation, die Aktionen für mehr soziale Gerechtigkeit und gegen Diskriminierung unterstützt. Mit dem Teil des Vermögens, den sie behält, will die Millionenerbin dafür sorgen, dass weniger privilegierte Menschen ähnliche Lebenschancen wie sie selbst haben. + + +Tobias Lütke, Stephan K., Marlene Engelhorn: Drei sehr Reiche, die mit ihren Vermögen nicht protzen, sondern eine Verantwortung spüren – sei es für die eigene Familie, für ihr Unternehmen oder für die Gesellschaft. Natürlich gibt es auch die anderen, die man in den Klatschspalten der Presse sieht. Die sich auf Partys mit viel Bling-Bling in Szene setzen, stolz ihre großen Autos zeigen oder in Luxusrestaurants vergoldete Steaks essen. Meist sind das Stars aus dem Showbiz, Spitzensportler oder Influencer. Aber wer sind all die anderen? +Die Reichen in Deutschland neigen seit jeher zur Verschwiegenheit. Erst in letzter Zeit machten sich Forscher und Forscherinnen die Mühe, die Reichen und Superreichen in Deutschland näher zu betrachten. Die jetzt vorliegenden Daten zeigen zunächst, dass immer weniger Menschen immer mehr Vermögen haben. So besitzt das reichste Prozent der deutschen Bevölkerung rund 35 Prozent des individuellen Nettovermögens. Auf die oberen zehn Prozent entfallen 67 Prozent. Kein Wunder, dass der sogenannte Gini-Koeffizient, ein statistisches Maß zur Messung von sozialer Ungleichheit, in Deutschland auf 0,83 stieg. Bei null wären alle Vermögen genau gleich verteilt, bei eins würde alles einer einzigen Person gehören. Verglichen mit anderen Industriestaaten ein hoher Wert. Die Vermögensungleichheit verstärkt sich zudem durch Erbschaften. Laut einer Studie erben oft Menschen, die bereits privilegiert sind. Fast 25 Prozent der Erbschaften gehen an Personen, die eh schon zu den obersten zehn Prozent gehören. +Was die Studien auch zeigen:Wer risikofreudiger ist und gern Neues ausprobiert, bringt es eher zu großem Wohlstandals Menschen, die eine sichere Festanstellung bevorzugen. Dieser Unternehmergeist hat durch die Digitalisierung einen Schub erfahren. Kurz gesagt: Der Weg zum Reichtum ist kürzer geworden. Während alte Industrien über Jahre wuchsen,sammeln Start-ups heute in wenigen Monaten Milliarden ein– manchmal für nicht viel mehr als eine Idee. "Früher machte vor allem die Vergangenheit reich, jetzt die Zukunft", sagt der Vermögensforscher Thomas Druyen. Dabei hätten die Statussymbole der alten Oberschicht bei der digitalen Elite an Wert verloren. "Bei jungen Erfolgreichen wird deutlich, dass der sinnvolle Einsatz von Vermögen wichtiger ist als egomane Besitzansprüche." +Etwas anders sieht es der Autor Björn Vedder, dessen Buch "Reicher Pöbel – Über die Monster des Kapitalismus" heißt. Er wohnt in der Nähe von München am Ammersee, wo einige der reichsten Gemeinden Deutschlands liegen. Dort, so Vedder, beobachte er Menschen, die so reich sind, dass sie glauben, auf Staat und Gesellschaft nicht mehr angewiesen zu sein. "Ansprüche von dieser Seite erscheinen schnell als Zumutung. Man glaubt, sich alles selbst zu verdanken." +Es scheint sie also alle gleichzeitig zu geben: die arro­ganten SUV­-Fahrer wie die reichen Erben, die über das Spenden nachdenken. Die nerdigen Internetunternehmer unddie Mega-Influencermit dem goldenen Lamborghini. Es ist eben mit den Vermögenden wie mit den anderen Klassen auch: Die Oberschicht ist längst kein homogenes Milieu mehr, sondern reich an Facetten. + +* Name geändert diff --git a/fluter/wie-viel-muell-macht-ein-smartphone.txt b/fluter/wie-viel-muell-macht-ein-smartphone.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..eba6122cf9792551393f2a21741dca034513e713 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-viel-muell-macht-ein-smartphone.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +86 Kilogramm schwer wäre ein Rucksack, wenn man den Abfall, der bei der Produktion eines durchschnittlichen Smart­phones entsteht, mit sich herumschleppen müsste. Das hat eine Studie des schwedischen Abfallwirtschafts­ und Recy­clingverbands Avfall Sverige ergeben. +Die Herstellung eines Smartphones aus Hunderten Ein­zelteilen sorgt für eine Müllmischung aus Säuren, radioaktiven Abwässern und Plastik. Außerdem verursacht sie enorme Mengen anTreibhausgasen. Allein ein eher simples Bauteil wie das Gehäuse hinterlässt einen beachtlichen Müllhaufen, wie Diplom-­Ingenieur Karsten Schischke vom Fraunhofer­ Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration IZM erläu­tert, der zur Ökobilanz von Smartphones forscht: "Hochwer­tige Smartphones werden aus einem massiven Metallblock gefräst. Das allermeiste Material nimmt man weg, weil dünne Wandungen gewünscht werden." Selbst wenn diese Abfälle auf Umwegen wieder zurück in die Produktion gelangen, er­fordert das sehr viel Energie beim Einschmelzen und dem Fräsen. Schischke merkt an, dass es längst sparsame Ansätze gäbe, das Gehäuse so zu gießen, dass das Ergebnis bereits sehr nah an die gewünschte Form herankomme. +Wirklich dreckig wird es aber ausgerechnet bei der hoch­ reinen Produktion von Mikrochips. Die Schritte, die dem Smartphone seine Intelligenz einhauchen, benötigen den Einsatz von über 100 verschiedenen Chemikalien in großen Mengen. Säuren und Gase ätzen Strukturen im Nanometer­bereich. Diese Präzision erfordert aber, dass die gesamte Umgebung höchst steril sein muss: Bei der Halbleiterfertigung dürfen sich nur so wenige Partikel in einem Kubikmeter Luft befinden, dass deren Anteil einem einzigen Kirschkern im Bodensee entspräche. Sobald die Säuren einmal zum Einsatz kommen, können sie kein zweites Mal verwendet werden. Sie landen in der Untertagedeponie – also in alten Bergwerken. Für einen einzigen Mikroprozessor sind das mehrere Kilo­gramm Chemieabfall. +Das Smartphone in seiner jetzigen Form ist eine Materialsackgasse: Es wird produziert, gekauft, kurz genutzt (im Schnitt keine drei Jahre) und weggeschmissen. Die meisten Rohstoffe und die vielen noch funktionierenden Bestand­teile gehen damit verloren. Dabei ist so ein "Fast Phone" ein halbes Periodensystem im Hosentaschenformat. Es besteht im Schnitt aus über 60 chemischen Elementen. Was, wenn man aus diesem Abfall durch Recycling möglichst viele Roh­stoffe zurückgewinnen könnte? +Mehr als die Hälfte der Deutschen hat durchschnittlich drei ausgediente Handys in Schubladen herumliegen. Das sind über 200 Millionen, die laut der Deutschen Rohstoff­agentur insgesamt ohne Akku grob 3,4 Tonnen Gold, 1.300 Ton­nen Kupfer und 380 Kilogramm Palladium enthalten, die recycelt werden könnten. So betrachtet ist dieser Müll ein Rohstoff, der am falschen Ort gelagert wird. Allerdings gehen derzeit selbst beim Recycling nach höchsten Standards ent­scheidende Substanzen verloren. +Nachhaltigkeitsforscher Schischke macht eine ernüch­ternde Rechnung auf: "Der reine Materialwert eines Smart­phones beträgt etwa einen Euro. Davon lassen sich cir­ca 90 Cent zurückgewinnen. Nur 10 Cent gehen also verloren. Was sich aus ökonomischer Perspektive gut anhört, fällt auf ökologischer Ebene durch: Denn nur etwa 15 Prozent des Materials werden aktuell recycelt." Ausgerechnet die soge­nannten seltenen Erden wie etwa Neodym, das für die Vibration sorgt, lassen sich nicht oder nur sehr aufwendig und unwirtschaftlich aus Altgeräten zurückgewinnen, dabei sind es gerade diese Rohstoffe, deren Abbau etwa in der Inneren Mongolei zu verseuchtem Grundwasser führt. Für ein paar Gramm dieser Metalle müssen tonnenweise Erdmassen ab­getragen und chemisch behandelt werden, da sie nur in win­zigen Konzentrationen im Gestein vorkommen. +Jede Strategie, die auf eine Lebensdauerverlängerung abzielt, ist darum sinnvoll, denn dann müssten weniger Ge­räte hergestellt werden. Die Lebenszyklen von Smartphones sind derzeit so kurz, dass die Herstellung der Geräte fast drei Viertel ihres gesamten CO2­Ausstoßes ausmacht. In einigen Fällen verursacht allein der Transport während der Produktion fünf bis zehn Prozent der gesamten Treibhausgasemissionen. +Techniksoziologe Sühlmann­-Faul sieht den entscheiden­den politischen Hebel darum in einem Recht der Verbrau­cherinnen und Verbraucher auf Reparatur. Die Möglichkeit, defekte Geräte auseinandernehmen und unkompliziert repa­rieren zu können, müsse in die europäische Ökodesign-Richt­linie aufgenommen werden. +Doch auch die EU­-Politik könnte selbst mit strengsten Ökodesign­Richtlinien lediglich das Endgerät, nicht jedoch die Fertigung Hunderter Einzelteile rund um den Globus beeinflussen, meint Sühlmann-­Faul. Das wollen die Brüder Samuel und Carsten Waldeck ändern: Die Hersteller des in Deutschland entwickelten "Shiftphones" versuchen sich an der Produktion eines möglichst nachhaltigen Geräts. Dafür setzen sie auf Modularität: Während etwa das Verkleben von Geräten fast immer dazu führt, dass ein schlich­ter Reparaturfall ein wirtschaftlicher Totalschaden ist, lassen sich die Komponenten ihrer Smartphones kinderleicht mit einem Schraubendreher austauschen. Zudem arbeitet das gemeinwohlorientierte Unternehmen mit einem Rückkauf­programm, Gerätepfand und der Weiternutzung funktio­nierender Einzelteile aus Altgeräten. Auch beim Transport wollen die Brüder Müll vermeiden. So kommen die Hightech­teile allesamt einzeln in festen Plastikschalen. Shiftphone stapelt diese robusten Schalen kompakt und gibt sie dem Hersteller zur Wiederverwendung zurück. "Damit sparen wir über 90 Prozent des Verpackungsmülls ein, der von den Zu­lieferern kommt. Bei einigen Herstellern konnten wir anregen, dass diese auch die Verpackungsmaterialien ihrer Zulieferer wiederverwenden", sagt Carsten Waldeck. +So wertvoll längere Nutzungsdauern und Reparierbarkeit auch sein mögen, letztlich macht das hohe Innovationstempo bei Smartphones das Müllproblem zusätzlich komplizierter. Wenn jedes Jahr ein neues Gerät mit neuen Funktionen auf den Markt kommt, das alle unbedingt haben wollen, wird der Müllberg immer größer. Dabei verspricht so ein schickes neues Gerät zwar kurzfristig mehr Spaß, eine dauerhafte Zufriedenheit stellt sich aber durch die ständig neuen An­gebote eher selten ein. diff --git a/fluter/wie-viel-plastik-wird-weltweit-produziert.txt b/fluter/wie-viel-plastik-wird-weltweit-produziert.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f19b27048fa30d85e08dbde9940b20d2b4fef2af --- /dev/null +++ b/fluter/wie-viel-plastik-wird-weltweit-produziert.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Dem Umweltmagazin der Yale University zufolge planen Chemiekonzerne, mit billigem Fracking­-Gas aus den USA die Plastikproduktion in Europa weiter anzuheizen. +Titelbild: Richard John Seymour diff --git a/fluter/wie-viele-denn-nun.txt b/fluter/wie-viele-denn-nun.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..09655bd5c7bcca990d5cd141742bf9c141648383 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-viele-denn-nun.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Rechnet man all jene ohne Arbeit zusammen, die derzeit nicht als Arbeitslose und somit Suchende zählen, aber unterbeschäftigt sind, dann ergibt sich für den April die Zahl von3,7 Millionen Unterbeschäftigten. Die Bundesagentur für Arbeit erhebt diese Zahl, sie wird jedoch weit weniger verbreitet als die Arbeitslosenzahl. Johannes Jakob kritisiert: "Es schaffen nicht genügend Arbeitslose den Sprung in den Arbeitsmarkt." Eine Sprecherin des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales sagt zur Kritik des DGB: "Die Vorhaltungen sind nicht neu, sie werden in regelmäßigen Abständen von verschiedenen Seiten wiederholt. Sie verkennen jedoch geltendes Recht bezüglich der Frage, wer bei uns als arbeitslos gilt." Ebenso werde die Tatsache, dass selbstverständlich neben der Arbeitslosigkeit im strengen, engeren Sinne auch die Unterbeschäftigung minutiös Monat für Monat durch die Bundesagentur  für Arbeit ausgewiesen werde, zwar gerne genutzt, "dann aber in einen Manipulationsvorwurf umgemünzt". Von fehlender Transparenz könne jedoch keine Rede sein.Johannes Jakob ist Arbeitsmarktexperte beim DGB. Er sagt: Aus der Arbeitslosenzahl werden bestimmte Gruppen herausgerechnet, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stünden und Arbeit suchen. Aussagekräftiger sei ein Blick auf die Gruppe der Unterbeschäftigten. Dazu gehören zusätzlich zu den 2,8 Millionen Arbeitslosen auch Menschen über 58 Jahre, die seit mehr als einem Jahr Arbeitslosengeld II beziehen und kein Jobangebot mehr erhalten haben, sowie Menschen, die an bestimmten Weiterbildungen teilnehmen. "Wer an einer Aktivierung oder Weiterbildung teilnimmt oder älter als 58 Jahre ist, sucht Arbeit und steht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Deshalb müsste er eingerechnet werden", fordert DGB-Experte Jakob. Als offiziell nicht arbeitslos gelten außerdem die sogenannten Ein-Euro-Jobber. Auch die Grünen und die Partei Die Linke hatten diese Regelungen in der Vergangenheit kritisiert. +Viele Medien vermelden die offiziellen Arbeitslosenzahlen, ohne sie einzuordnen, auch die ARD. Die "Tagesschau" zum Beispiel verweist zwar in einem älteren Text auf dieSchwächen der Berechnung, gibt in einemaktuellen Berichtaber die staatliche Lesart unkommentiert wieder. +Im Unterschied zur Arbeitslosenzahl der Bundesagentur für Arbeit veröffentlicht das Statistische Bundesamt seit 2005 die Erwerbslosenzahl, ein Wert, der sich aus dem sogenannten Labour-Force-Konzept der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ergibt. Diese Zahl ist international besser vergleichbar und kann nicht durch ein Gesetz einer Regierung in Deutschland verändert werden. Weil aber bereits eine bezahlte Arbeit ab einer Wochenstunde als Erwerbstätigkeit gezählt wird, sagt die Erwerbslosenzahl wenig über die Qualität der Beschäftigung aus. Einen umfassenden Überblick zur Messung von Arbeitslosigkeit gibt eshier. +Felix Ehring arbeitet als freier Journalist. Bei der Recherche wurde ihm von Zahl zu Zahl klarer: Ob es nun um Armut, Geburten, Arbeitslosigkeit oder Klimaschutz geht – Interessengruppen führen eine teilweise erbitterte Debatte um die Deutungshoheit dieser Zahlen. Und: Einige Journalisten vermelden amtliche Zahlen einfach, ohne sie zu hinterfragen und einzuordnen. Dabei gilt für jede Zahl: Sie sagt nicht nur etwas aus, sie verschweigt auch etwas. diff --git a/fluter/wie-viele-tote.txt b/fluter/wie-viele-tote.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4c5298aed9bc397439d780e195e9557e9ba8b2bc --- /dev/null +++ b/fluter/wie-viele-tote.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Wenn irgendwo auf der Welt Bomben fallen, geben uns die Nachrichten Zahlen: Wir erfahren, wie viele Tote es gab, wie viele Verletzte, wer Zivilist war und wer Kämpfer. Die Angaben klingen so genau, dass man sie glauben will. Was wir seltener lesen, weil die Medien es schon aus Platzgründen nicht immer mitliefern können, ist das Kleingedruckte. Woher die Angaben kommen, ob sie überprüft wurden und von wem. In den Wirren eines Krieges lassen sich Zahlen wie diese in Wahrheit kaum herausfinden, erst recht nicht nach ein paar Stunden. Sie täuschen eine Objektivität und Messbarkeit vor, die es nicht gibt. Nicht in Syrien, nicht in der Ukraine. Und auch nicht in Gaza. +Mohammed Abu Eisha lebt nur noch wenige Minuten nach dem Abschuss. Sein Vater, der den Knall kaum überhören konnte, eilt herbei, wartet bei seinem Sohn, bis der Krankenwagen kommt. Auch palästinensische Menschenrechtsorganisationen, die die Opfer in Gaza zählen, erfahren von dem Angriff. Als Abu Eisha im Krankenhaus eingetroffen ist, sprechen Mitarbeiter dieser Organisationen mit Ärzten und Verwandten, sie fragen: Trug er eine Uniform? Eine Waffe? War er Mitglied in der Armee? Dann geben die Mitarbeiter telefonisch durch: Mohammed Abu Eisha, Radiomacher, Zivilist, tot. Sein Kollege und Freund Hussan: ebenfalls tot. Über die palästinensischen NGOs gehen die Angaben weiter an die Vereinten Nationen, die sie mit anderen Zahlen abgleichen und dann als ihre eigenen ausgeben. Am nächsten Abend läuft es in den Nachrichten: Journalist in Gaza getötet. Quelle: UN. +Wer als Zivilist gilt und wer als Soldat, ist völkerrechtlich geregelt, in diesem Fall von der Genfer Konvention. Vereinfacht gesagt ist demnach ein Kämpfer, wer eine Uniform trägt und Befehlen gehorcht. Alle anderen sind Zivilisten. Kämpfer darf man angreifen, Zivilisten nicht. So weit die Theorie. +Als im Jahr 1864 die erste Konvention in Genf unterzeichnet wurde, kämpfte man allerdings in weiten Teilen der Welt immer noch mit dem Säbel und zu Pferde. Armeen bekriegten sich in Formationen wie mit dem Lineal gezogen, in Rauten, Quadraten und schnurgeraden Reihen. Krieg war blutige Geometrie. Je bunter die Uniform, desto besser. Man wollte ja sehen, wer Freund ist und wer Feind. +Heute kämpft niemand mehr mit Säbeln. Die Geometrie von einst ist der Asymmetrie von 2015 gewichen. Staatliche Armee gegen kleine und große Milizen (Syrien), Soldaten ohne Hoheitszeichen gegen Paramilitärs (Ukraine) – die Unterscheidung zwischen Zivilisten und sogenannten Kombattanten war nie so schwer wie heute. Kämpfer ist, wer eine Uniform trägt: Das war einmal. +Als die Nachricht über seinen Tod um die Welt geht, wird Mohammed Abu Eisha gerade beerdigt. Doch die Flaggen, die bei seiner Beerdigung geschwenkt werden, zeigen keine Kameras. Sie zeigen Gewehrläufe und einen stilisierten Panzer. Abu Eisha arbeitete nicht nur als Journalist, er war – in Teilzeit – auch Kämpfer der Al-Quds-Brigaden der Terrororganisation "Islamischer Dschihad", Artilleriebataillon Gaza-Mitte. Wie konnte es passieren, dass die Medien, sogar Ban Ki-moon, ihn trotzdem einen Zivilisten nannten? +Als er getötet wurde, trug Abu Eisha zwar keine Uniform und keine Waffe. Moderne Völkerrechtler haben das Recht solchen Umständen angepasst. Heute gilt: Auch wer nur in Teilzeit kämpft, macht sich schuldig, ob mit Uniform oder ohne. Und vielleicht haben die Eltern von Abu Eisha, als sie gefragt wurden, seine Mitgliedschaft in der Miliz bestritten. Oder die Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisationen vor Ort haben ihre Arbeit nicht richtig gemacht. So wurde aus Abu Eisha fälschlicherweise ein unbeteiligter Zivilist. +Kriege werden nicht nur mit Waffen geführt, sondern auch mit Zahlen. Jede Seite hat ein Interesse daran, sich gut darzustellen. Verwundete Kämpfer werden verschwiegen, damit der Gegner nicht weiß, wie viele er getroffen hat. Getötete Zivilisten werden hingegen hervorgehoben. Nach dem Motto: Seht her, so brutal ist der Gegner. +Um das zu vermeiden, wird oft gefordert, dass neutrale Beobachter das Zählen übernehmen. Doch auch sie sind auf die Mitwirkung der Kriegsparteien angewiesen. Zuverlässige Zahlen lassen sich deshalb beispielsweise auch in der Ukraine kaum ermitteln. Die Vereinten Nationen veröffentlichen zwar regelmäßig eigene Reports, zum Beispiel für den Winter 2014/2015. Ihre Quelle: ukrainische Behörden sowie ukrainische Krankenhäuser in den Separatistengebieten. Von mindestens 5.665 Toten ist in dem Report die Rede – aber mit Fußnote. Wörtlich steht da: "Die tatsächliche Zahl der Opfer ist vermutlich viel höher, denn militärische und zivile Opfer werden oft nicht gemeldet." +Nach Syrien wiederum trauen sich nur noch wenige Journalisten und Hilfsorganisationen. Es wurden auch schon Blauhelme von ihrer Mission abgezogen, und selbst UN-Organisationen haben etwa in das Flüchtlingslager Jarmuk keinen Zugang. Einige kämpfen für Assad, andere gegen ihn, und dann ist da auch noch der "Islamische Staat": Wer sollte in einer solchen Gegend objektiv arbeiten? +Ob bei der BBC, im Nachrichtenmagazin "Spiegel" oder im Deutschlandfunk, viele Medien vertrauten – mangels Alternativen – in den ersten Monaten des Krieges der "Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte". Was wie ein Institut klingt, besteht in Wahrheit aus einem einzigen Exilsyrer im englischen Coventry. Mit seinem Handy trägt er die Daten seiner Informanten aus Syrien zusammen. Auch er wurde schon wegen Parteilichkeit kritisiert. Kämpfer der syrischen Opposition hätte er als Zivilisten deklariert, weil sie keine Uniform trugen. Den Vereinten Nationen wurden solche Opferangaben bald schlicht zu unzuverlässig. Zum Jahresbeginn 2014 hörten sie deshalb zwischenzeitlich auf, die Toten in Syrien zu zählen. +Der Künstler Sebastian ErraZuriz hatte eine Zahl herausgefunden, die ihn bestürzte: Etwa doppelt so viele US-Soldaten sterben durch Suizid nach dem Kampfeinsatz als durch feindliches Feuer währenddessen. Um diese Zahl möglichst öffentlichkeitswirksam zu machen, hat er sie für die Kamera inszeniert – und auch ein bisschen was damit bewirkt: Aufgrund seiner Fotos gab es eine Reihe von Diskussionen auf dem US-Nachrichtensender CNN und einigen Wirbel im Internet.www.meetsebastian.com diff --git a/fluter/wie-warm-wirds-faq-zur-klimaforschung.txt b/fluter/wie-warm-wirds-faq-zur-klimaforschung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0a3a14ccd25b0ec0955f55a4d1c27b0f30848534 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-warm-wirds-faq-zur-klimaforschung.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Vereinfacht gesagt: Klima ist das durchschnittliche Wetter über einen längeren Zeitraum – in der Regel 30 Jahre – betrachtet. Wetter ist eine Momentaufnahme, der klimatische Zustand an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt – es hängt von sich permanent ändernden Bedingungen wie Luftdruck, Wolkenfeldern oder der Windrichtung ab. Deswegen kann es jederzeit Ausreißer geben, die nicht zum Gesamtklima passen – ein verregneter Sommer ist noch kein Beweis gegen den Klimawandel, ein warmer Herbst ist keiner dafür. +Seit etwa 1880 werden Temperaturen strukturiert gemessen, seitdem sind sie um 0,8 bis 1 Grad im weltweiten Durchschnitt gestiegen, in Deutschland sogar um 1,4 Grad. Der größte Teil dieses Anstiegs ist in den vergangenen 50 Jahren passiert. 17 der 18 wärmsten jemals gemessenen Jahre fallen ins 21. Jahrhundert. +Darüber herrscht Uneinigkeit – einfach weil es von zu vielen Faktoren abhängt und man nur Modellrechnungen am Computer als Grundlage hat. Es gibt schließlich keine Versuchserde für Forschungszwecke, an der man das alles mal ausprobieren kann. Im allerbesten Fall, glauben Wissenschaftler, kann die Erwärmung auf 1,5 bis 2 Grad beschränkt werden. Dafür müssten die Menschen ihren Treibhausgasausstoß so weit senken, dass spätestens um das Jahr 2070 herum der CO₂-Anteil in der Atmosphäre stabil bleibt. Negativszenarien prognostizieren einen Anstieg von 4 bis 5 Grad bis zum Jahr 2100 – oder noch höher, wenn bestimmte "Kipppunkte" erreicht werden oder selbstverstärkende Effekte einsetzen. +Kipppunkte sind sensible Stellen im globalen Ökosystem, deren Veränderung ab einem bestimmten Umfang nicht mehr rückgängig zu machen ist. So wird etwa beim Nordatlantikstrom oder dem indischen Monsun befürchtet, dass sie vom Klimawandel verstärkt, verlangsamt oder aber zum Stoppen gebracht werden. Auch die Eisschilde an den Polen und das Grönlandeis sind Kipppunkte. Wird es zu warm, können Schmelzvorgänge in Gang gesetzt werden, die sich nicht mehr aufhalten lassen. Hier zeigt sich zudem, welche selbstverstärkenden Dynamiken der Klimawandel hat: Während das helle Eis wenig Sonnenstrahlung aufnimmt, wird diese von dunkleren Böden oder dem Meerwasser gut absorbiert. Je mehr Eis verschwindet, desto mehr "Angriffsfläche" hat das Sonnenlicht, die Umgebung des Eises aufzuheizen und den Schmelzvorgang zu beschleunigen. Ein weiteres Beispiel: Tauen die Permafrostböden Russlands und Nordamerikas durch die Klimaerwärmung nach und nach auf, können Mikroorganismen die fossilen Tier- und Pflanzenreste im Boden schneller zersetzen – dabei werden CO₂ und Methan freigesetzt. +Ja. Das Festlandeis an den Polen sowie Gebirgsgletscher schmelzen durch die Wärme immer schneller. Zwischen 250 und 300 Milliarden Tonnen Eis verliert allein Grönland pro Jahr. Und der Meeresspiegel steigt bereits: Im 20. Jahrhundert waren es insgesamt 20 Zentimeter, seit Anfang der 1990er-Jahre im Jahresmittel schon gut 3 Millimeter, und es wird davon ausgegangen, dass er noch stärker pro Jahr steigen wird. Forscher gehen bei Einhaltung des Zwei-Grad-Ziels von einem Anstieg von etwa einem halben Meter bis zum Jahr 2100 aus. Erwärmt sich die Erde um 3 bis 4 Grad, könnte es, je nach Szenario, fast ein Meter oder sogar mehr sein. Die exakten Auswirkungen sind dabei auch deswegen schwer zu bestimmen, weil sich der Anstieg nicht überall gleichmäßig vollzieht: Auf den Philippinen sorgen beispielsweise Passatwinde dafür, dass der Meeresspiegel überdurchschnittlich steigt. In Skandina­vien sinkt er hingegen sogar – weil sich hier das Festland seit der letzten Eiszeit, befreit vom Gewicht der Eismassen, langsam aus dem Wasser hebt. +Es beschreibt die Begrenzung des Temperaturanstiegs auf maximal 2 Grad Celsius – vom Beginn der Industrialisierung an gerechnet, es dürfte aktuell also nur noch etwa ein Grad hinzukommen. Erstmals formuliert wurde das Zwei-Grad-Ziel 1975 vom Klimaökonomen William D. Nordhaus. In den 1990er-Jahren wurde in einem Bericht des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung formuliert, dass bei 2 Grad die Grenze dessen liegt, was unser Ökosystem noch verkraften kann, danach drohen einschneidende Veränderungen. Da alle Modelle für Klimafolgen nur mit Näherungswerten arbeiten, ist das Ziel vor allem ein Symbol – aber ein wirksames: 1996 legte die EU das Zwei-Grad-Ziel als Richtlinie der europäischen Klimapolitik fest. Bei der Weltklimakonferenz in Paris wurde es 2015 in einem völkerrechtlichen Vertrag verankert. Einige Staaten wie die Marshallinseln hatten sogar 1,5 Grad gefordert. Die aktuellen Zusagen der Vertragsstaaten zum Klimaschutz reichen allerdings nicht mal aus, um das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen. +Ja, die gab es, als mögliche Ursachen gelten vulkanische Aktivitäten, veränderte Meeresströmungen infolge von Kontinentalverschiebungen und eine schwankende Sonnenaktivität. Erdgeschichtlich gesehen leben wir sogar in ziemlich kalten Zeiten. Nach aktuellem Forschungsstand machten den Großteil der letzten 500 Millionen Jahre Warmklimata aus, also Perioden, in denen die Pole der Erde nicht vereist sind. So lag die durchschnittliche Erdoberflächentemperatur mitunter 15 Grad über den heutigen 15 Grad. Damals war auch die CO₂-Konzentration in der Atmosphäre deutlich höher. Während der letzten Eiszeit war es hingegen rund 5 bis 6 Grad kälter. +Die bisherigen Klimaschwankungen vollzogen sich über Zeiträume von Zehn- bis Hunderttausenden Jahren. Ein Anstieg von etwa einem Grad innerhalb von weniger als 150 Jahren deutet sehr darauf hin, dass ein zusätzlicher Faktor im Spiel ist – der Mensch. Rund 97 Prozent der Klimaforscher gehen davon aus, und auch die Konzentration des CO₂ in der Atmosphäre lässt darauf schließen. Aktuell sind es etwa 0,04 Prozent beziehungsweise 410 ppm (410 Millionstel) – klingt wenig, aber vor rund 250 Jahren waren es nur 280 ppm und in den 650.000 Jahren zuvor nie mehr als 300 ppm. Schuld ist die Verfeuerung von Kohle, Erdöl und Erdgas im Zuge der Industrialisierung. +Für die Erde gibt es kein Problem. Nur für die Lebewesen, die aktuell auf ihr leben – also auch für uns. Das aktuelle ökologische Gleichgewicht wird mit zunehmender Erwärmung immer weiter durcheinandergebracht. Wenn beispielsweise die Siebenschläfer früher aus ihrem Winterschlaf erwachen, fressen sie Vogeleier, die einst zu diesem Zeitpunkt bereits ausgebrütet waren. Nach einem Negativszenario könnte ein Sechstel aller Arten klimawandelbedingt noch in diesem Jahrhundert aussterben. Da sich auch hier die Effekte gegenseitig verstärken, könnte die Folge ein Massenaussterben sein, von dem es in der Erdgeschichte schon einige gab – zuletzt vor ca. 65 Mil­lionen Jahren, als die Zeit der Dinosaurier endete. diff --git a/fluter/wie-werde-ich-redenschreiber-fuer-politiker.txt b/fluter/wie-werde-ich-redenschreiber-fuer-politiker.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..835d17752520295efcc4f4e8cd869c0b1252c757 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-werde-ich-redenschreiber-fuer-politiker.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Die Bezeichnung "Redenschreiber" ist nicht geschützt, eine klassische Ausbildung gibt es nicht. Die meisten freien Redenschreiber kommen aus den schreibenden Berufen, etwa Journalismus oder Öffentlichkeitsarbeit, und bieten das Redenschreiben zusätzlich an. Fest angestellte Redenschreiber gibt es in der Politik und in der Wirtschaft, meist schreiben sie dann für einen bestimmten Redner. +Was verdiene ich da? +Sehr unterschiedlich. Redenschreiber im politischen Bereich können im öffentlichem Dienst angestellt oder verbeamtet sein. Wer beispielsweise als Redenschreiber auf Bundesebene nach der Entgeldgruppe E 12 TvöD bezahlt wird (Voraussetzung: mit Bachelor abgeschlossenes Fachstudium und Erfahrung im Redenschreiben), verdient zu Beginn mindestens 3.204,27 Euro brutto. Für freie Redenschreiber lohnt es sich, Aufträge aus der Politik mit besser bezahlten Aufträgen aus der Wirtschaft zu mischen. Der Verband der Redenschreiber deutscher Sprache (www.vrds.de) empfiehlt freien Redenschreibern, das Honorar für eine Rede nach Redezeit, Redeanlass und Rechercheaufwand zu beziffern, und nennt Beträge zwischen 500 Euro für eine kurze private Rede und 5.000 Euro für eine lange geschäftliche Rede. +Mein jetziger Chef hat zwei persönliche Redenschreiber, und ich bin eine davon. Bei bestimmten Themen werden noch weitere hinzugezogen. Früher hatte ich ein wenig Sorge, dass ich Dinge schreiben müsste, hinter denen ich nicht stehen kann oder für die ich mich sogar schämen müsste – das möchte ich nicht. Die Sorge hat sich aber aufgelöst, weil mein Auftraggeber und ich grundsätzlich auf einer Linie sind. +Gerade wenn man langfristig zusammenarbeitet, ist es wichtig, dass Auftraggeber und Redenschreiber zusammenpassen. Deshalb würde ich mich mit Auftraggebern immer zu einem längeren Gespräch treffen, bevor ich einen Auftrag annehme. Ob beide wirklich gut zusammenarbeiten, zeigt sich erst mit der Zeit. Für mich als Redenschreiberin ist es sehr wichtig, dass ich in den wichtigen Punkten hinter der Sache und Person stehe, sonst würde es nicht funktionieren. Ich muss mich schließlich einfühlen und vor allem reindenken können. Ich muss verstehen, wie jemand tickt. +Bei mir hat es sich nie ergeben, dass ich in dem Bereich auf Akquise gegangen bin, dass ich also auf andere Politiker zugegangen und ihnen meine Dienste als Redenschreiberin angeboten hätte. Akquise ist in diesem Bereich etwas heikel. Einerseits kommt es auf die Namen der Auftraggeber an – ein ranghoher Politiker macht natürlich etwas her –, andererseits können Ghostwriter kaum mit Referenzen arbeiten. Wer für prominente Redner schreibt, darf dennoch nicht darüber sprechen. +Eigentlich müsste es jedem klar sein, dass ein Politiker nicht jede Rede selbst schreiben kann, trotzdem wird das sehr diskret behandelt. Auch Arbeitsproben vorzulegen ist schwierig, weil Verschwiegenheit vorausgesetzt wird und bei den Texten außerdem nie klar ist, was überhaupt vom Redenschreiber stammt. Oft gibt es große Veränderungen zwischen verschiedenen Fassungen. +Wie fängt man an? Man schreibt, sammelt Arbeitsproben und tastet sich langsam ran. Das meiste ist Learning by Doing. Ich habe zurzeit einen jungen Kollegen, mit dem ich seine Reden bespreche. Wie baue ich eine Rede auf? Wie komme ich rein, wie komme ich raus, wo setze ich eine Zäsur? Wie erzeuge ich einerseits einen Fluss und setze andererseits mal eine Pointe, eine Überraschung. Vieles ist normale Textarbeit, nur dass ich es mit einer bestimmten Form zu tun habe. Zum Handwerk gehört auch das Wissen, wie man Quellen findet. Ein schönes Beispiel sind Zitate. Mit Zitaten wird gerne gearbeitet. Aber nicht jeder Philosoph passt zu jedem Redner. So etwas muss ich beurteilen können. +Wenn ein Auftrag kommt, läuft das meistens folgendermaßen ab: Es gibt unterschiedliche Anlässe, zum Beispiel eine Einweihung. Das klingt einfach, ist aber nicht zu unterschätzen, weil oft wichtige Themen dahinterstehen, etwa Bildungsthemen hinter der Eröffnung einer Schule. Zuerst stelle ich mir dann die Frage: Wer ist mein Publikum? Was erwartet es, was ist der Redeanlass und was die Botschaft? Manchmal bekomme ich eine Richtung vorgegeben, und manchmal schlage ich etwas vor. Im besten Fall haben wir Zeit, um zu besprechen, wo die Rede hinführen soll. Für das Inhaltliche arbeite ich auch mit Kollegen aus den Fachabteilungen zusammen, die für bestimmte Politikfelder zuständig sind. Diese prüfen den Entwurf dann auch noch einmal. +Wenn ich die erste Fassung einer Rede abgebe, bekomme ich sie in der Regel noch mal zurück. Der Redner muss die Rede schließlich für sich anpassen. So ist es auch schon vorgekommen, dass es in einer halben Stunde losgehen sollte, aber ich die Rede noch mal überarbeiten musste. Da entsteht natürlich ein gewisser Termindruck. Der gehört aber dazu, und man muss ihn für sich zu nutzen wissen. +Bis eine Rede wirklich fertig ist und gehalten wird, geht sie also meist durch mehrere Hände. Da wird sehr sorgfältig gearbeitet. Das ist mir sehr wichtig. Ein Fehler kann in dem Bereich andere Konsequenzen haben als zum Beispiel ein Fehler in einer Radiosendung. Da würde ich mich ärgern, aber wissen, dass es sich meist "versendet"(Journalistenslang für "Fehler wird nach der Sendung vergessen", Anmerkung der Redaktion). Bei einem Politiker versendet sich nichts. Der wird sofort angreifbar. +Sorgfalt ist also eine wichtige Eigenschaft von Redenschreibern. Kreativität gehört natürlich auch dazu. Es gibt nichts Schlimmeres als eine langweilige Rede. Das inhaltliche Arbeiten ist die Pflicht, aber das andere ist mehr als nur die Kür. Eine Rede soll interessant sein, unterhaltsam und auf einer intellektuellen Ebene satisfaktionsfähig. Zusätzlich zu allem, was fachlich stimmen muss, soll sie die Zuhörer emotional erreichen. Da sollte mal ein Witz drin sein oder eine Bemerkung nebenher. Nur wenn die Idee, der Sprachduktus und das Fachliche zusammenkommen, ist es eine gute Sache. +Was mich an dem Beruf nervt, ist die Einsamkeit. Ich habe vorher viel kommunikativer gearbeitet und hatte mehr Austausch. Jetzt sitze ich den ganzen Tag am Schreibtisch. Mein Job ist an die Präsenz geknüpft. Eigentlich könnte ich genauso zu Hause oder in einem Café schreiben. Allerdings muss ich für meinen Chef erreichbar sein. Wenn der gerade ein Zeitfenster hat, muss es mit unseren Besprechungen schon mal schnell gehen. +Manchmal werde ich gefragt, ob es einen Unterschied macht, ob ich für einen Mann oder eine Frau schreibe. Macht es nicht. Ich glaube, dass Geschlechtsunterschiede überbewertet werden. Viel wichtiger ist die Frage, was der andere für einen Humor hat und wie er auf Menschen zugeht. Eine Frau, die eine gute Rede halten will, macht das nicht grundsätzlich anders als ein Mann. Eine gute Rede ist eine gute Rede. Dazu gehört, dass die Rede zu demjenigen passt, der sie hält. +* Zum Beruf des Redenschreibers gehört ein hohes Maß an Diskretion. Deshalb möchte unsere Interviewpartnerin anonym bleiben. diff --git a/fluter/wie-werde-ich-wahlkampfhelfer.txt b/fluter/wie-werde-ich-wahlkampfhelfer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d609f1decbf3999feba833b1c91dc4ce3f9e37cc --- /dev/null +++ b/fluter/wie-werde-ich-wahlkampfhelfer.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Man würde denken, dass diese Arbeit ziemlich einfach ist und sich nebenbei erledigen lässt, aber sie ist doch ziemlich, ziemlich zeitaufwendig. Jetzt im Wahlkampf nimmt dieser Orga-Kram bestimmt 20 Stunden pro Woche ein. Die muss man aufbringen und zudem sehr gewissenhaft arbeiten. Das Privatleben leidet da auf jeden Fall ein bisschen. +Wie werde ich professionelle Wahlkämpferin? +Auch wenn es mittlerweile Studiengänge gibt, die sich gezielt mit politischer Kommunikation befassen: Viele Wahlkampfmanager haben ganz klassisch Politik- oder Sozialwissenschaften studiert. Von Vorteil ist Erfahrung in Journalismus und Werbung – Texte schreiben, Videos produzieren und Grafiken entwerfen zu können, das ist auch im Wahlkampf gefragt. Der Einstieg in den Job ist von Partei zu Partei unterschiedlich und hängt auch davon ab, ob man auf Kommunal-, Landes- oder Bundesebene tätig sein will. Grundsätzlich aber gilt: Wer Kontakte hat, schon in der Bundesgeschäftsstelle einer Partei oder in einem Abgeordnetenbüro gearbeitet hat, hat sicher keine schlechten Karten. Übrigens: Die Wahlkampfteams werden in der Regel gut ein Jahr vor der Wahl aufgestockt – schrumpfen danach aber auch wieder. +Und dabei ist das alles auch noch ehrenamtlich. Unser Wahlkampfteam war schon ein bisschen traurig, als wir im Winter Unterschriften für die Offenhaltung des Flughafens Tegel gesammelt haben und alle Leute dachten, wir würden dafür bezahlt. Schön wär's! Wir haben halt Bock, politisch was mitzugestalten, weil wir die liberale Idee gut finden. +Ende August geht es richtig los mit den gezielten Wahlkampfaktionen, und ich bin auch auf der Straße mit dabei. Ich flyere gerne, aber natürlich kommt es immer drauf an, wo man mit seinem Stand platziert ist. An manchen Orten macht die Arbeit viel Spaß: An der Schlossstraße (Einkaufsstraße im Berlin Steglitz Zehlendorf, Anm. d. Red.) sind die Leute ziemlich nett. Wir mussten aber auch schon mal die Polizei rufen, als wir einen Stand an der Warschauer Straße (Partymeile in Berlin-Friedrichshain, Anm. d. Red.) aufgestellt hatten. +Als Wahlkampfhelferin will man Leute überzeugen. Manche von uns sprechen wenige Leute an, aber unterhalten sich lange mit ihnen. Andere versuchen, einfach möglichst viele Flyer unter die Leute zu bringen. Ich bin mir noch unsicher, welche die bessere Methode ist. +So oder so finde ich es am besten, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Das eine Mal wird man beschimpft, das andere Mal dafür gelobt, dass man sich für etwas einsetzt. Manchmal werde ich mit guten Gesprächen und Zustimmung belohnt, manchmal kriege ich verbal eins auf die Fresse. +Was verdiene ich da? +Da die Stellen oft mit Freiberuflern besetzt werden, hängt das nicht zuletzt vom individuellen Verhandlungsgeschick und der Berufserfahrung ab. Allerdings orientiert sich die Bezahlung in der Regel grob am Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst, und da kann Insidern zufolge – Beispiel  Wahlkampfleiter auf Bundesebene – die Besoldung eines Abteilungsleiters einer mittelgroßen Behörde als Anhaltspunkt dienen (liegt aktuell bei 6.000 bis 8.000 Euro monatlich). Gerade bei den großen Parteien könne die Bezahlung aber durchaus höher ausfallen, sagt der Wahlkampfmanager, der uns für diesen Infokasten Rede und Antwort stand. Er hat schon einmal einen Europawahlkampf geleitet und möchte lieber anonym bleiben. +Im Wahlkampf mitzuhelfen ist eine gute Schule fürs Leben. Zum Beispiel lernt man, ein bisschen frecher und lockerer zu sein. Alle von einem Wahlprogramm zu überzeugen? Das funktioniert eh nicht. Ich versuche immer, so höflich wie möglich zu sein – schließlich geht es um Menschen –, manchen scheint Anstand aber auch komplett egal zu sein. Mir wurde erzählt, dass die Julis nach der desaströsen Bundestagswahl 2013 von Passanten zum Teil mit Gegenständen beschmissen wurden. Aber jetzt ist die Stimmung uns gegenüber relativ wohlwollend. +Die Arbeit braucht schon ein bisschen Mut – fremde Leute auf der Straße anzusprechen kostet Überwindung. Außerdem ist ein gewisses Level an Ruhe ganz gut, schließlich läuft nicht alles immer so, wie man es plant. Damit muss man lernen umzugehen. +Wer auch im Wahlkampf mithelfen will, wendet sich am besten an die Jugendorganisation der jeweiligen Partei. Die sind alle relativ niederschwellig organisiert, und Neumitglieder werden schnell eingebunden – natürlich besonders gern im Wahlkampf. Einfach mal im Netz oder vor Ort vorbeischauen. + diff --git a/fluter/wie-wir-den-amazonas-regenwald-retten-koennen.txt b/fluter/wie-wir-den-amazonas-regenwald-retten-koennen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5efef76aa0171400ec9748fe1c01e4e1ad85575b --- /dev/null +++ b/fluter/wie-wir-den-amazonas-regenwald-retten-koennen.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +Deutschland und Norwegen haben die Mittel für den Amazonas-Fonds, der brasilianische Wald- und Klimaschutzprojekte unterstützt, wegen der massiven Abholzungen eingefroren. Welche Folgen wird das haben? +Die Nichtregierungsorganisationen (NRO) wird das weiter schwächen. Sie setzen sich für den Schutz des Waldes ein, arbeiten mit indigenen Gemeinden, schulen sogar Farmer, um Feuer sorgsam einzusetzen.Bolsonaro sieht die NRO als Feinde an. Viele werden aus dem Amazonas-Fonds finanziert. Norwegen und Deutschland haben in den vergangenen zehn Jahren zusammen 1,2 Milliarden Dollar gegeben. Zwischen den Geldgebern des Fonds und der jetzigen brasilianischen Regierung gab es aber keine Einigung über die Verwendung der Gelder. Dieses Jahr wurden deshalb keine neuen Projekte genehmigt. +Was kann die internationale Gemeinschaft tun, um die Wälder zu schützen? +Tropische Wälder speichern riesige Mengen Kohlenstoff.Der Amazonas-Fonds hat gut funktioniert. Er basiert auf dem REDD+-Mechanismus, der Regierungen belohnt, wenn sie Wald bewahren. Diese Ökosystemdienstleistung muss aufgewertet und der derzeitige Preis verfünf- bis verzehnfacht werden. Damit könnten wir eine ganz andere Entwicklung gestalten. + + + + +REDD+(Reducing Emissions from Deforestation and Forest Degradation) bezeichnet einen Finanzierungsmechanismus, um den Schutz von Wäldern als Kohlenstoffspeicher attraktiver zu machen. Pro Tonne CO2, die nicht durch Waldzerstörung in die Atmosphäre gelangt ist, sollen die Regierungen des globalen Südens und die lokale Bevölkerung Geld erhalten. +Wie sähe diese andere Entwicklung aus? +Langfristig lässt sich der Amazonas-Regenwald nur mit einer neuen, nachhaltigen Wirtschaft retten. Ich nenne sie "Amazonas 4.0": einMittelweg zwischen absolutem Umweltschutz und ressourcenintensiver Entwicklung, wie sie die meisten Amazonas-Länder anstreben. Das schaffen wir, wenn wir die Biodiversität des Regenwalds als Grundlage nehmen und mit moderner Technologie und traditionellem Wissen verbinden. Schon heute werden von der Agrarforstwirtschaft im brasilianischen Amazonas-Regenwald mit der Açai-"Wunderbeere", Kakao und ein paar anderen Produkten 1,8 Milliarden Dollar erwirtschaftet. Dabei werden sie erst auf 4.000 Quadratkilometern angebaut. +Lohnt sich das tatsächlich mehr als Soja und Viehzucht? +Was meine Berechnungen zeigen: Rinderzucht und Sojaanbau belegen im brasilianischen Amazonas-Gebiet etwa 240.000 Quadratkilometer und erwirtschaften "nur" 3,5 Milliarden Dollar im Jahr. Die Ineffizienz der Rinderzucht im Amazonas-Gebiet ist enorm. +Warum glauben dann so viele immer noch, dass Rinder die Lösung sind? +Das ist ein kulturelles Problem – und tatsächlichKolonialismus! 500 Jahre nachdem die Portugiesen und Spanier Abholzung, Monokulturen und Rinderzucht brachten, haben wir immer noch keine eigene südamerikanische Amazonas-Kultur entwickelt, um all dieses biologische Kapital zu nutzen und neue Produkte zu entwickeln. Dieses Wirtschaften nutzt den Wald und schützt ihn gleichzeitig.Auch die Indigenen werden eingebunden.Sie sind die besten Beschützer des Regenwalds. Wenn ich indigene brasilianische Anführer treffe, tragen sie oft traditionellen Kopfschmuck – und besitzen gleichzeitig Smartphones! + + + + + +Welche Rolle spielt die Technologie dabei? +Im Amazonas-Gebiet gibt es 3.000 Gemeinschaften, Dörfer und kleine Städte. Wir wollen Einheimische in mobilen Amazonas-Kreativlaboren ausbilden und neue Produkte entwickeln. Dievierte industrielle Revolutionbringt der Welt smarte, günstige und flexible Technologien – die nützen auch dem Regenwald. Ein Beispiel ist Schokolade aus der Cupuaçu-Frucht: Dieser Kakao wächst im Regenwald. Aus ihm kann vor Ort mit einem 3-D-Drucker Schokolade hergestellt werden. Lastendrohnen könnten logistische Herausforderungen überwinden. Über eine digitale Plattform können sich lokale Produzenten direkt mit potenziellen Kunden verbinden. +Diese neue Bio-Ökonomie würde einen Machtwechsel bedeuten. Die Holzfirmen, Rinderzüchter und Sojabauern, die von auswärts kommen und den Regenwald ausbeuten, wollen schnellen Profit und bestimmen die brasilianische Politik mit. Vom "Amazonas 4.0" profitieren aber langfristig Menschen, die in der Region beheimatet sind. +Absolut. Das Konzept lässt sich in ganz Amazonien anwenden. Nächstes Jahr werden wir manche dieser Ideen erstmals testen. Ich arbeite derzeit sehr hart daran, dafür Geldgeber zu gewinnen. Bevor diese Regierung gewählt wurde, habe ich es dem Amazonas-Fonds vorgestellt. Der war begeistert, wir planten ein ehrgeiziges Vierjahresprojekt. Aber dann wurde der Fonds eingefroren. +Können wir Europäer*innen, abseits von Hilfsgeldern, etwas Gutes für den Amazonas tun? +Vermeidet Produkte aus dem Amazonas-Gebiet von Erzeugern, die nicht lückenlos nachweisen, dass dafür kein Regenwald abgeholzt wurde. Ändert eure Ernährungsgewohnheiten: keine Rindfleisch- und Sojaimporte aus Amazonas-Regionen. Kauft stattdessen Açai und Amazonas-Kakao, um diese nachhaltige Wirtschaft im Waldbestand zum Laufen zu bringen.Am Ende bestimmen die Konsumenten über die Zukunft des Amazonas – viel mehr als Regierungen. + +Carlos Nobre (68) forscht an der Universität São Paulo und ist ein weltweit anerkannter Klimatologe. Lange Jahre arbeitete er am brasilianischen Institut für Weltraumforschung (INPE), das mit Satelliten den Amazonas-Wald überwacht + diff --git a/fluter/wie-wir-nur-reicher.txt b/fluter/wie-wir-nur-reicher.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5cf1c2c13d0c63654b66a4c130e141a9470aeeb0 --- /dev/null +++ b/fluter/wie-wir-nur-reicher.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Anzahl englischsprachiger EU-Bürger: 53 Mio. +Anzahl deutschsprachiger EU-Bürger: 100 Mio. +Anteil EU an der weltweiten Landfläche: 2,9 Prozent +Anteil EU an der Weltbevölkerung: 7,3 Prozent +Anteil EU an CO2-Ausstoß: 11,1 Prozent +Budget des "External Borders Fund" für 2007-2013 zur Sicherung der EU-Außengrenze: 1,8 Mrd. Euro +Budget des "European Fund for the Integration of Third Country Nationals" im selben Zeitraum: 825 Mio. Euro + +Die Karte gibt nicht die Meinung der Redaktion wieder. Sie ist eine Idee des bulgarischen Grafikers Yanko Tsvetkov, der ein ganzes Buch damit gemacht hat: den "Atlas der Vorurteile", erschienen im Knesebeck Verlag +Karte: Yanko Tsvetkov, Quelle: Eurostat, freedomhouse.org, Auswärtiges Amt diff --git a/fluter/wie-wird-das-unwort-des-jahres-gewaehlt.txt b/fluter/wie-wird-das-unwort-des-jahres-gewaehlt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a306dde7607ce2c20aa34d1ce8dfb88a5aaf216f --- /dev/null +++ b/fluter/wie-wird-das-unwort-des-jahres-gewaehlt.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Machen wir uns zu wenig Gedanken über Sprache und deren Wirkung? +Pauschal kann man das so nicht sagen. Manche Menschen, die Unwörter verwenden, machen sich sehr wohl Gedanken über die Sprache und benutzen diese auch strategisch. Genau deshalb ist eine Kritik notwendig. Unsere Kritik bezieht sich auf Begriffe, die diffamieren, verhüllen oder verschleiern, die gegen die Menschenwürde verstoßen oder die den demokratischen Prinzipien widersprechen, indem sie Positionen als alternativlos darstellen. Die Kritik richtet sich sowohl gegen die Intentionen derer, die solche Worte absichtlich für ihre Zwecke nutzen, als auch an diejenigen, die die Worte dann womöglich verwenden, ohne darüber nachzudenken, was sie da eigentlich sagen. +Steckt denn immer eine Intention dahinter, wenn Begriffe entstehen, die später zum Unwort des Jahres gewählt werden? +Es gibt sicherlich auch manche Ausdrücke, die eher aus Unachtsamkeit in den öffentlichen Sprachgebrauch kommen. "Döner-Morde" ist vielleicht so ein Fall. Das hat mal jemand aufgebracht, dann wurde es weiterverwendet, und niemand hat groß nachgedacht. Zumindest war das mein Eindruck im Gespräch mit Journalisten. Aber das ist auch eines der Wörter, die seitdem kaum mehr verwendet wurden. Meistens aber werden Unwörter so gebraucht, dass die Verwender damit etwas ganz Bestimmtes bezwecken möchten. Es geht nicht darum – das ist ein häufiger Vorwurf gegen diese Aktion –, man dürfe nicht mehr sagen, was man denkt. Aber man sollte sich schon überlegen, welche Haltung, auch gegenüber den Mitmenschen und Gesprächspartnern, dahintersteckt, wenn man bestimmte Wörter verwendet. Es sollte in jeder Diskussion – auch in einer harten Debatte – möglich sein, respektvoll miteinander umzugehen. + + +Wenn man sich die Unwörter der letzten Jahre anschaut – alternative Fakten (2017), Volksverräter (2016), Gutmensch (2015), Lügenpresse (2014), Sozialtourismus (2013) –, dann scheinen diese Ausdrücke in erster Linie eher in rechten beziehungsweise rechtskonservativen Zusammenhängen zu entstehen. Warum ist das so? +Das fragen wir uns auch immer wieder, weil es so zu klassischen Vorwürfen gegen uns kommt: Erstens, dass wir immer die gleiche politische Richtung kritisieren würden, und zweitens, dass wir, also die Jury, selbst "links-rot-grün versifft" seien. +Vier Jurymitglieder kommen aus den Sprachwissenschaften, eines aus dem Journalismus, und ein jährlich wechselndes Mitglied ist im öffentlichen Kultur- und Medienbetrieb tätig. Bei der Wahl zum Unwort des Jahres 2017 war das die Street-Art-KünstlerinBarbara, die sich mit ihrer Kunst klar gegen rechts positioniert. Stimmt der Vorwurf also? +Wir sind natürlich auch Menschen mit einer politischen Haltung, es kann also schon sein. Aber wir versuchen auf der Ebene der Sprache zu argumentieren und zu diskutieren und nicht von der politischen Haltung her. Möglich ist aber auch, dass es an den Einsendern liegt, denn wir wählen nur aus den Wörtern aus, die uns geschickt werden. Wir bestimmen also nicht darüber, welche Begriffe zur Auswahl stehen. Die Jurymitglieder stehen unterschiedlichen politischen Parteien nahe. Wir sind also durchaus darum bemüht, mit der Auswahl keine politische Richtung vorzugeben. Fest steht aber auch: Wir würden wahrscheinlich keinen AfD-Politiker in die Jury einladen, nur um eine ausgewogenere Debatte zu bekommen. +Nina Janich, Professorin für Deutsche Linguistik an der TU Darmstadt, ist seit 2011 die Sprecherin der Jury, die das Unwort des Jahres wählt. +Wer Sprachkritik betreibt, ist auch schnell dem Vorwurf ausgesetzt, die selbst ernannte "Sprachpolizei" zu sein, die auf "politisch korrekte" Begriffe drängt. Die Antwort ist meist: "Das wird man ja wohl noch sagen dürfen" – was dann nach Freiheit und Selbstbestimmung klingt. Wie stehen Sie dazu? +Das ist eine Grundsatzdebatte, mit der wir uns als Sprachwissenschaftler auch in unserem Beruf immer wieder auseinandersetzen müssen. Man kann nicht wegdiskutieren, dass zwischen Sprache und Denken ein schwieriges Spannungsverhältnis besteht. Die entscheidende Frage ist: Muss sich erst die Haltung ändern, bevor sich auch die Sprache ändert? Oder kann sich durch das bewusste Nachdenken über Sprache die Haltung verändern? Wir Sprachwissenschaftler in der Jury verfolgen einen konstruktivistischen Ansatz und sind der Meinung, dass Sprache Wirklichkeit prägt. Daraus folgt, dass man durch das Nachdenken über und das Kritisieren von Sprache auf die Haltung von Menschen einwirken kann. +Die Sprach- und Kognitionswissenschaftlerin Elisabeth Wehling forscht an der Universität Berkeley zum Thema "Politisches Framing". Sie sagt, es sei im Grunde egal, wie man einen fragwürdigen Begriff benutzt, ob man ihn also unterstützt oder kritisiert. In dem Moment, in dem man ihn wiedergibt, befördere man die dahinterstehende Erzählung. Was meinen Sie dazu? +Das ist auch ein häufiger Vorwurf gegen das Unwort: Unsere Wahl würde die Begriffe erst bekannt machen. Und es stimmt natürlich: Alles, was man in die Debatte wirft, ist dort ein Thema. Aber im Rahmen von Sprachkritik als Wortkritik kann man damit meiner Meinung nach nicht gut arbeiten: Wenn man Sprachkritik betreibt, muss man den Begriff, den man kritisiert, auch nennen. Ich habe vielmehr den Eindruck, dass unsere Wahl durchaus etwas bewirkt. Und zwar versehen wir die ausgewählten Wörter mit der kritischen Konnotation "war mal Unwort des Jahres". Und das denken die Menschen dann mit, wenn sie den Begriff hören oder lesen. Er ist entsprechend markiert. + + +Sprache und Denken +Sprache hat die Macht, unsere Vorstellung von Wirklichkeit und unser Denken zu prägen. Darin ist sich die Sprachforschung weitestgehend einig. Aber ob unser Denken nur mit Sprache funktioniert oder ob es auch unabhängig stattfindet und wie Sprache, Wirklichkeit und Handeln genau zusammenhängen – das sind schon lange große Streitfragen. +Viele Studien zeigen, dass Worte unsere Wahrnehmung direkt prägen. Verschiedene Sprachen erzeugen unterschiedliche Weltanschauungen und -wahrnehmungen. Laut einer Studie derFU Berlintrauen sich Kinder eher zu, einen Beruf zu erreichen, wenn die weibliche und männliche Berufsbezeichnung verwendet wird (Ingenieurinnen und Ingenieure statt Ingenieure). Wird ein Wort in einer Sprache mit neutralem, weiblichem oder männlichem Artikel verwendet, weckt der Gegenstand in verschiedenen Sprachen unterschiedliche Assoziationen. Gut möglich also, dass Schotten sehr vielschichtig über Schnee nachdenken können. Das Schottische kennt 421 Wörter für ihn – mehr noch als Inuit-Sprachen. +Einen guten Einstieg ins Thema bietet derTED-Talk von Lera Boroditsky. Mehr zum Thema "Sprache und Politik" findest Du auchhier. + diff --git a/fluter/wie-wird-man-lobbyist.txt b/fluter/wie-wird-man-lobbyist.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..047728d2ee19afc3297747da220f6bac86265deb --- /dev/null +++ b/fluter/wie-wird-man-lobbyist.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Ich kümmere mich seit dem vergangenen Jahr beim Bundesverband Deutsche Startups um Kommunikation und PR. In dieser Funktion bin ich Pressesprecher, mache aber auch klassische Lobbyarbeit: Das heißt, ich tausche mich regelmäßig mit den Gründern aus, die in unserem Verband vertreten sind, und gebe deren Wünsche und Interessen an Politiker weiter. +Wie wird man Lobbyist? +Um für ein Unternehmen oder einen Verband Lobbyarbeit zu betreiben, muss man keine bestimmte Ausbildung machen oder ein spezielles Fach studieren. Zwar gibt es an manchen Hochschulen, etwa in Berlin oder Maastricht, Public-Affairs-Studiengänge, die Studenten auf eine Karriere als Lobbyist vorbereiten sollen. Wer Lobbyist/in werden möchte, kann aber auch Jura, Wirtschafts-, Politik- oder Kommunikationswissenschaften studieren – oder ein Fach, das zu der Branche passt, deren Interessen man später einmal vertreten möchte. Wichtiger als das Studienfach ist es, dass Lobbyisten kommunikativ sind und nachvollziehen können, wie Politik funktioniert. Diese Kompetenzen kann man schon früh erlernen: zum Beispiel als Mitglied in einem Verein, der Jugendorganisation einer Partei oder einem Jugendparlament. +Seit ich denken kann, habe ich immer Zeitung gelesen und mich für politische Themen interessiert. Da lag es nahe, später mal einen Beruf zu ergreifen, der im weitesten Sinne mit Politik zu tun hat. Ich habe im Bachelor Medienwirtschaft und im Master Europäische Wirtschaft studiert und als Werkstudent in einem Fintech, in einem Start-up in der Finanzbranche, gearbeitet. Jetzt im Verband arbeite ich an der Schnittstelle zwischen Politik und Wirtschaft – und finde diese Mischung eigentlich optimal. +An einem Arbeitstag sitze ich von morgens bis abends im Büro und bearbeite Anfragen, an einem anderen bin ich die ganze Zeit unterwegs und spreche mit unseren Mitgliederunternehmen oder treffe mich mit Mitgliedern des Bundestags in Abgeordnetenbüros, der Bundestagskantine oder bei uns im Büro. Dabei versuche ich, den Politikern nahezubringen, welche Probleme die Start-ups in Deutschland bewältigen müssen und wie die Politik die Rahmenbedingungen verbessern könnte. Unter anderem wollen wir erreichen, dass Gründer leichter an Kapital kommen können, um ihre Geschäftsideen zu finanzieren. Dabei argumentiere ich zum Beispiel, dass es nicht im Interesse der deutschen Politik sein kann, wenn Gründer ins Silicon Valley abwandern. Dort kommen sie derzeit nämlich leichter an Geld von Wagniskapitalgebern als hierzulande. +Ich glaube, dass aber auch die Abgeordneten etwas davon haben, mit uns Interessenvertretern zu sprechen. Wir stellen den inhaltlichen Draht zur Branche her und weisen auf Themen und Probleme hin, die sie bis dahin vielleicht noch nicht auf dem Schirm hatten. +Wenn ich mich mit Abgeordneten treffe, läuft das meist recht formell ab. Man trifft sich zwar auch mal auf einem Sommerempfang zu einem Bier, aber das Inhaltliche besprechen wir eher während der Arbeitszeit. Es kommt aber schon mal vor, dass ich mich über Twitter mit einem Politiker zum Gespräch verabrede, weil er gerade etwas zu einem Thema gepostet hat, das unsere Branche betrifft. Wir sind ein kleiner Verband mit 15 Leuten. Wir können keine Feste mit Kaviar für die Politiker ausrichten, so wie man sich das vielleicht klischeehaft vorstellt. +Ich habe das Privileg, in einer Hype-Branche zu arbeiten. Mit Themen wie Tabak, Rüstung oder Atomenergie schmückt sich kein Politiker gerne, mit Start-ups hingegen schon. Deshalb melden sich viele Journalisten und Politiker aktiv bei uns. Das öffnet manche Tür, doch wenn es ums Handfeste geht, also darum, dass unsere Vorschläge auch umgesetzt werden, klappt nicht mehr alles so einfach. Das ist ja auch richtig, denn ein neues Gesetz mag unserer Branche nützen, aber beispielsweise für große Konzerne nicht unbedingt von Vorteil sein. Daher besteht Politik eben aus Kompromissen. +Was verdienen Lobbyisten? +In Deutschland können Berufsanfänger mit einem Brutto-Einstiegsgehalt ab etwa 35.000 Euro pro Jahr rechnen. Mit den Berufsjahren steigt auch das Gehalt: Erfahrene Lobbyisten in Spitzenfunktionen können mehrere Hunderttausend Euro verdienen. +In meinem Job muss man das beherrschen, was man Social Hopping nennt:mit den unterschiedlichsten Charakteren klar kommen und Freude daran haben, mit ihnen zu kommunizieren. Vom jungen, hippen Gründer bis hin zum alteingesessenen Bundestagsabgeordneten. Mir hilft dabei, dass ich selbst in einer Partei bin und dadurch vielleicht ein bisschen besser nachvollziehen kann, wie Politiker ticken: Ich bin vor ein paar Jahren in die SPD eingetreten und engagiere mich in Berlin bei den Jusos. +Man muss auf keinen Fall in einer Partei sein, wenn man Lobbyist werden möchte. Aber es kommt in unserer Berufsgruppe öfter vor, weil wir sicherlich überdurchschnittlich politisch interessiert sind. Im Alltag schauen mich die Abgeordneten anderer Parteien wegen meiner Parteizugehörigkeit nicht schief an oder begegnen mir anders. Und es gibt gewisse Vorteile: Da sich alle SPD-Mitglieder untereinander duzen, ist Herr Gabriel für mich automatisch der Sigmar. So kann man gleich viel persönlicher und lockerer miteinander reden. +Ähnlich wie Politiker könnten wir Lobbyisten uns theoretisch jeden Abend zwischen fünf verschiedenen Veranstaltungen entscheiden: Events von Start-ups, Empfänge von anderen Verbänden, Partys von Parteien und Fraktionen. Es macht zwar Spaß, ein Teil dieser Berliner Politikblase zu sein, aber man muss auch aufpassen, sich nicht nur noch darin zu bewegen. Allein schon, weil es jedes Mal viel zu essen und Alkohol gibt. Mir hilft, dass meine Freundin mit mir in Berlin lebt und ich allein schon ihretwegen nicht jeden Abend zu Veranstaltungen gehe. Seit Kurzem haben wir einen Sohn, deshalb sind für mich inzwischen vor allem Frühstücksevents angesagt. + diff --git a/fluter/wie-wohnen-wir-editorial-fluter-wohnen.txt b/fluter/wie-wohnen-wir-editorial-fluter-wohnen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9c075da85fa5aa5e4e3cc8cde44132f36ebc27fd --- /dev/null +++ b/fluter/wie-wohnen-wir-editorial-fluter-wohnen.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Es gibt aber immer noch andere Möglichkeiten und Mutige, die sie ergreifen. So sind in den letzten Jahren neue Wohnformen und Utopien entstanden und wiederentdeckt worden – wie die solidarische WG oder genossenschaftliche Wohngemeinschaften. Sie erproben dabei auch verschiedene Vorstellungen davon, was Eigentum ist und sein sollte. Dabei kann es helfen, sich andere Formen von Wohnen – abseits unserer westlich geprägten Vorstellungen – anzuschauen. +Wohnen ist aber nicht nur im Nahraum sozial. Wir wohnen immer in der Gesellschaft, in der wir leben. Die konkreten wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen bestimmen auch unsere Wohnverhältnisse. +Während vor allem in Ostdeutschland und ländlichen Gebieten Wohnungen leer stehen und die Hauspreise fallen, gibt es in vielen Universitätsstädten und Ballungsräumen akuten Wohnraummangel. Dazu kommt, dass die Wohnungspolitik noch bis vor einigen Jahren die Wohnungsfrage als gelöst ansah und dem Markt die weitere Entwicklung in die Hände gab. Dessen Gesetze sind brutal einfach, die Folgen teilweise monströs: Wenn Knappheit herrscht, steigen die Preise, wer die nicht bezahlen kann, fällt raus. Das geht hin bis zu offenem Rassismus und gewaltsamen Verdrängungspraktiken. +Es herrscht eine zunehmende Spaltung zwischen Eigentümern und Mietern und zwischen denen, die sich hohe Mieten leisten können, und denen, die auf günstigen Wohnraum angewiesen sind. Auch in Deutschland kehrt so in ganzen Regionen die Wohnungsfrage als soziale Frage mit neuer Vehemenz zurück. Die Kämpfe werden härter, die Fragen an die Politik drängender. Und der Blick in andere Metropolen der Welt zeigt, dass es noch viel schlimmer werden kann. +Deutschland hat in der Nachkriegszeit, gerade im Westen, eine beeindruckende Bilanz des Bauens und Gestaltens vorzuweisen. Wie kann es gelingen, hier anzuknüpfen? Brauchen wir eine Renaissance des öffentlichen, gemeinwohlorientierten Bauens und Wohnens? Welche Beteiligungsmodelle sollen entwickelt werden? Wie können auch in den umkämpften Städten neue Lebensentwürfe Raum finden? Wie gestalten wir Wohnen angesichts der Klimakrise nachhaltiger und gerechter? Wenn es gelingt, diese Debatten so zu führen, dass die Wohnungspolitik sozial und zeitgemäß weiterentwickelt wird, können wir uns auch beim Wohnen auf die entscheidende Frage konzentrieren: Wie wollen wir leben? diff --git a/fluter/wieder-typisch.txt b/fluter/wieder-typisch.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..24f87764c8a20e8142360d40c19459e3607f1dd0 --- /dev/null +++ b/fluter/wieder-typisch.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Da sind zum Beispiel die Augen: Männer sind von der Rot-Grün-Sehschwäche, bei der die zwei Farben nur schlecht voneinander unterschieden werden können, viel häufiger betroffen als Frauen. Etwa jeder zehnte Mann leidet daran – aber nur eine von 100 Frauen. Das liegt daran, dass das für die angeborene Sehschwäche verantwortliche Gen auf dem X-Chromosom liegt. Frauen haben zwei davon, sodass die defekte Variante kompensiert werden kann. Männer hingegen haben kein zweites X-, sondern stattdessen ein Y-Chromosom – und das kann den Sehfehler nicht ausgleichen. Aus demselben Grund haben fast nur Männer die sogenannte Bluterkrankheit, bei der die Blutgerinnung gestört ist. "Aus der biologischen Perspektive bietet die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht einfach eine Art Schutzschirm", schreibt die Psychologin Susan Pinker in ihrem Buch "Das Geschlechterparadox: Über begabte Mädchen, schwierige Jungs und den wahren Unterschied zwischen Männern und Frauen". +Ein weiterer biologischer Unterschied zwischen Männern und Frauen sind die Hormone: Testosteron, das bei 
Männern in besonders hohen Dosen vorkommt, kann die 
Aggressivität und Risikofreudigkeit erhöhen. Zudem hängt 
das Hormon möglicherweise mit einer höheren Anfälligkeit für diverse chronische Krankheiten zusammen. Pinker spricht deshalb von der "Fragilität der Männer". Die niedrigere Lebenserwartung scheint ihr recht zu geben: Wer in Deutschland als Mann geboren wird, lebt im Schnitt 77,7 Jahre, Frauen dagegen 82,8 Jahre. Die Höhe des Testosteronspiegels im Mutterleib ist vermutlich zudem der Grund dafür, dass die Ringfinger von Männern häufig ein Stückchen länger sind als ihre Zeigefinger – während hier bei Frauen meist kein Unterschied erkennbar ist. +Genetische Ursachen wiederum lassen sich für Legasthenie ausmachen. Der Pädagogischen Hochschule Heidelberg zufolge haben drei- bis viermal so viele Jungen wie Mädchen die Lese-Rechtschreib-Schwäche. Eine Erklärung dafür lieferte die Neurowissenschaftlerin Sandra Witelson bereits in den 90er-Jahren. Das weibliche Gehirn sei zwar proportional etwas kleiner als das männliche – dafür aber für sprachliche Prozesse stärker vernetzt. Auch Psychologin Pinker spricht von einer "allgemeinen weiblichen Überlegenheit in der Sprachflüssigkeit und Rechtschreibung". Das männliche Gehirn sei schlicht "weniger vielseitig als das weibliche". Dafür hätten Männer ein besseres räumliches Vorstellungsvermögen, sagen manche Wissenschaftler. +Cordelia Fine wehrt sich gegen solch pauschale Feststellungen. Mit ihrem Buch "Die Geschlechterlüge: Die Macht der Vorurteile über Frau und Mann" führt die kanadisch-britische Psychologin und Neurowissenschaftlerin einen argumentativen Feldzug gegen Autoren, die biologische Gründe für Verhaltensunterschiede ausmachen. Die wissenschaftlichen Ergebnisse seien in vielen Fällen nicht korrekt interpretiert worden, schreibt Fine. Es seien eher Umwelteinflüsse oder Lernprozesse, die das eigene Denken und Verhalten beeinflussen. +Dabei ist durchaus denkbar, dass zum Beispiel die Sozialisation eines Menschen biologische Folgen haben kann. Die Epigenetik geht davon aus, dass chemische Veränderungen am Erbgut – sogenannte epigenetische Marker – vererbt werden können. Die Lebensweise der Großeltern und Eltern und ihre besonderen Eigenschaften könnten Einfluss auf den Organismus der Nachkommen haben. Das würde bedeuten, dass ein Mann, dessen männliche Vorfahren über Generationen hinweg ein bestimmtes Muster gelebt haben, erblich in diese Richtung vorbelastet wäre. Klingt plausibel, doch belastbare Forschungsergebnisse gibt es dazu bislang kaum. diff --git a/fluter/wiederaufbau-in-mossul.txt b/fluter/wiederaufbau-in-mossul.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..09d29aa49f74f8a420bcd469a1ab48de85706523 --- /dev/null +++ b/fluter/wiederaufbau-in-mossul.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Ermöglicht wird das von einem Projekt namens United For Peace (Gemeinsam für den Frieden), das von der italienischen NGOUn Ponte Per,von derGesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ)und dem deutschenBundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ)finanziert und aufgebaut wurde, um den sozialen Zusammenhalt in der Ninive-Ebene zu stärken. +In Ninive ist Rausgehen und Volleyballspielen viele Jahre alles andere als normal gewesen, erzählt Ranin. Sie ist heute 17 Jahre alt und hat hier in der Provinz gelebt, bis die Kämpfer des IS in ihr Dorf einfielen. "Als wir geflohen sind, habe ich nicht daran geglaubt, dass wir jemals wieder zurückkommen werden", erinnert sich Ranin. +"Mein Vater wurde vom IS entführt. Wir wissen bis heute nicht, was mit ihm passiert ist." Ihre 19-jährige Freundin Nargez hat eine ähnliche Geschichte zu erzählen: "Der IS hat unser Land und unsere Häuser besetzt. Ich bin mit meiner Familie in der Nacht geflohen, und wir sind tagelang durch die Berge geirrt." +Nargez und Ranin sind zwei von Tausenden Jesidinnen und Jesiden, die vor dem IS fliehen mussten.Im Juni 2014 eroberten die Terroristen des Islamischen Staats die Provinzhauptstadt Mossulund brachten fast die gesamte Region unter ihre Kontrolle. Laut Amnesty International hat der IS im Nordirak "ethnische Säuberungen" von historischem Ausmaß durchgeführt, als die Terroristen nichtarabische und nichtsunnitische Gemeinden angriffen, Tausende Menschen ermordeten und mehr als 830.000 in die Flucht trieben. +Zuvor hatten hier in Ninive ethnische und religiöse Minderheiten wie assyrische Christen, turkmenische Schiiten, Schabaken, Jesidinnen, Kakai oder Mandäer gemeinsam und in Frieden zusammengelebt. Heute, vier Jahre nach Abzug des IS, ist die Versöhnung all dieser Gruppen eine der größten Herausforderungen für die Region. Und noch immer leben rund 250.000 Irakerinnen und Iraker, die vor dem IS sind, in den Geflüchtetenlagern im Norden des Landes. Viele von ihnen können oder wollen nicht nach Hause zurückkehren, weil in ihren Dörfern inzwischen Milizen die Kontrolle übernommen haben. So wie in Ranins Heimatdorf, das nun von der regierungsnahen schiitischen Miliz Shi'ite al-Hashd al-Sha'bī beherrscht wird. +Vor allem einige junge Leute hoffen nun, dass Sport, Kunst und Kultur dazu beitragen können, die zerrissene Gesellschaft wieder zu vereinen. "Der Prozess des Dialogs ist für ein Land wie den Irak schwierig, weil es in den letzten Jahren so viel Gewalt gegeben hat und bei vielen noch immer der Wunsch nach Rache an den Tätern oder vermeintlichen Tätern besteht", erklärt Martina Pignatti Morano, Leiterin des Peacebuilding-Programms der NGO Un Ponte Per. "Gerade junge Menschen haben aber kreative Ideen und Lösungen, um die Versöhnung zu fördern, und deshalb ist es wichtig, sie dabei zu unterstützen. Kunst, Sport, Kultur und Bildung sind ein Weg, um Extremismus vorzubeugen." +Am Straßenrand auf dem Weg in die Provinzhauptstadt Mossul stehen nacheinander Posten kurdischer Milizen, der irakischen Armee, schiitischer Milizen, dann wieder jene der irakischen Armee. Am Eingang der Stadt malt eine Gruppe junger Menschen in weißen Umhängen Graffitis an eine Wand. Sie malen die Köpfe von Jack Sparrow, Salvador Dalí und der irakisch-britischen Architektin Zaha Hadid. "Nach dem IS, nach all dem Leid, das wir erlebt haben, wollten wir uns wieder als Teil dieser Gemeinschaft fühlen", sagt Rasul, 20, Literaturstudent aus Mossul. "Wir wollen sie besser machen, wir wollen sie bunt anmalen, und wir wollen Verantwortung übernehmen für den Ort, an dem wir leben." +Rasul ist Teil des 7Arts Collective, einer Gruppe von Studierenden, die sich 2017 zusammengefunden hat. Jede Woche treffen sich die Freiwilligen, um Farbe in die heruntergekommenen Stadtviertel Mossuls zu bringen. "Während der IS-Zeit war diese Wand voll von IS-Slogans und Einschusslöchern", sagt Rasul, als er vor der frisch bemalten Wand steht. "Wenn die Menschen heute an unseren Graffitis vorbeigehen und die Farben sehen, dann freuen sie sich. Sie bleiben stehen, machen Selfies und teilen die Farben auf Social Media. Wo früher schwarz war, wird jetzt alles bunt." +Younis Shash will mit dem Café Qantara Mossul wieder ein bisschen mehr zu dem machen, was es einmal war – die Wiege der irakischen Kultur +Auch Kultur und Literatur blühen inzwischen wieder langsam auf in Mossul. Das ist vor allem einer Gruppe junger Menschen zu verdanken, die in der Innenstadt ein kleines Kulturcafé mit dem Namen Qantara eröffnet haben. "Qantara ist eine Idee, die uns schon während der IS-Besetzung gekommen ist", erzählt Younis Shash, einer der Gründer. "Der IS hat unsere Gesellschaft gespalten, und unser Traum ist es, sie an diesem Ort wieder zu vereinen." Deshalb haben sie das Café Qantara genannt, was übersetzt "Brücke" heißt. Hier sind Männer und Frauen und Menschen aller Konfessionen willkommen. In den Regalen stehen Bücher auf Arabisch und Englisch, Karl Marx, die Bibel, arabische Gedichtbände und Bücher über die verschiedenen Gemeinschaften des Irak. +Immer wieder organisieren Younis und seine Freunde Lesungen und Konzerte mit lokalen Musiker:innen. Gemeinsam wollen sie Mossul wieder zur Wiege der irakischen Kultur machen. Schon 2003, während der US-Invasion, hat die Terrorgruppe al-Qaida Musiker und Künstlerinnen in Mossul angegriffen. Als dann der IS im Jahr 2014 in Mossul sein Kalifat ausrief, wurden Kunst und das kulturelle Leben komplett unterdrückt. +"Die Hauptidee dieses Ortes ist es, Menschen mithilfe der Kultur zusammenzubringen", sagt Younis. Während er mit sanfter Stimme die Geschichte von Qantara erzählt, hat sich in einer Ecke des Cafés eine hitzige Diskussion entfacht. Die Stimmen der Männer beben, in den Händen halten sie Bücher und Zigaretten. "Wir kommen her, um über Literatur, Natur und Politik zu diskutieren, denn all das beeinflusst unser politisches Leben", erklärt einer von ihnen. "Wir tun das, weil wir hier eine Art von Freiheit verspüren. Nach so vielen Jahren der Stille und des Leids können wir endlich wieder diskutieren und miteinander streiten." diff --git a/fluter/wiederbelebt.txt b/fluter/wiederbelebt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/wiederbelebung-erfolgreich-patient-tot.txt b/fluter/wiederbelebung-erfolgreich-patient-tot.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..52c74d0790684799c73cb13806d62e15b7fd17e0 --- /dev/null +++ b/fluter/wiederbelebung-erfolgreich-patient-tot.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Alex hat nicht viel Geld und ist auf eine niedrige Miete angewiesen – wie die jungen Familien oder die Rentner, die in den Sozialwohnungen leben, aus denen die Siedlung zum großen Teil besteht. Viele der Menschen hier haben Wurzeln in der indischen Provinz Bengal. "Als wir hierhergezogen sind, gab es in Spitalfields nur Secondhand-Flohmärkte und billige Basare", erzählt Alex. Aber das ist schon lange vorbei. +In den vergangenen Jahrzehnten wurden in England massiv Arbeitsplätze in der Industrie abgebaut, stattdessen setzte die Regierung vor allem auf den Finanzsektor. So wurde London neben New York zur weltweit wichtigsten Finanzmetropole und zum Tummelplatz wohlhabender Banker – mit entsprechend überhöhten Immobilienpreisen. Heruntergekommene Gegenden, in denen früher Künstler ihre Ateliers hatten und sich auch Menschen mit kleineren Gehältern eine Wohnung leisten konnten, wurden nach und nach von Besser­verdienenden entdeckt – wie Shoreditch oder Hackney, wo schicke Boutiquen und Coffeeshops die alteingesessenen Bewohner an die Ränder der Stadt gedrängt haben. Ein Prozess, den man Gentrifizierung nennt und der in vielen Großstädten zu beobachten ist, aber in kaum einer Metropole so ­rigoros von der Stadt selbst betrieben wird und das Stadtbild so massiv verändert wie in London. +Vor gut einem Jahr lag schließlich in Alex' Briefkasten eine Nachricht der Wohnungsgesellschaft. Seine Siedlung soll abgerissen und durch einen Hochhauskomplex ersetzt werden. "Es scheint, als säßen wir inzwischen auf dem wahrscheinlich wertvollsten Land, das unser Bezirk besitzt", sagt der junge Familienvater, der an der University of London urbane Soziologie lehrt. +Tatsächlich ist der Verkauf öffentlicher Ländereien und Immobilien nicht nur in England ein beliebtes Mittel, um die Kassen der Rathäuser zu füllen, die durch Steuersenkungen oder Wirtschaftskrisen häufig recht leer sind. Auch in deutschen Städten wurden etliche städtische Gebäude und Grundstücke privatisiert, sodass bezahlbarer Wohnraum oft schwer zu finden ist. Allerdings sind die Summen, um die es in London geht, ungleich höher, und es ist nur allzu verlockend für die Stadt, immer neue Bauplätze zu finden, für die Investoren ­viele Millionen hinlegen. +Oft lässt sich Boris Johnson, Londons strubbeliger Bürgermeister, mit gewinnendem Lächeln als Herr der Glitzermetropole feiern. Erst im vergangenen Jahr eröffnete ein 160-Meter-Büroturm, der wegen seiner Plumpheit von den Londonern spöttisch "Walkie-Talkie" genannt wird und dessen gläserne, konkave Fassade die Sonne dermaßen bündelt, dass auf dem Bürgersteig gegenüber die Plastikstühle schmolzen. +Dabei hat der soziale Wohnungsbau in Englands Hauptstadt eine große Tradition. Als die Trümmer der im Zweiten Weltkrieg zerbombten Häuser weggeräumt waren, klafften überall Lücken. Die Bezirksverwaltungen – die sogenannten Councils – verstaatlichten sie, um dort bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Die Menschen konnten die Wohnungen dann sogar – meist als Erbpacht – kaufen. Egal ob im nun reichen Kensington oder im bisher noch recht ärmlichen Tower Hamlets, überall gab es Wohnsiedlungen, die sich in öffentlicher Hand befanden. Doch diese sogenannten Council Estates wurden nach Jahren der Vernachlässigung plötzlich begehrte Objekte in einer Stadt, deren Einwohnerzahl seit 2000 von ca. 7,2 auf über 8,5 Millionen gestiegen ist – als wäre ganz München in dieser Zeit hinzugezogen. Inzwischen fehlen in London jährlich über hunderttausend Wohnungen. +Die Antwort darauf heißt seit geraumer Zeit: bauen, bauen, bauen nach dem Konzept der "Regeneration" (Wiederbelebung). Die Idee dahinter: Der Council verkauft Grund­stücke und Gebäude an private, multinationale Baukonzerne. Diese helfen im Gegenzug, Schulen und öffentliche Parks zu sanieren, oder sie verpflichten sich, eine bestimmte Anzahl von Sozialwohnungen zu bauen. Im Idealfall profitieren davon alle: Die Stadt bekommt Geld für den Erhalt der Infrastruktur, die alten, häufig baufälligen Häuser werden durch neue ersetzt, in denen auch ärmere Menschen Platz finden. Allerdings sind die wenigen Sozialwohnungen oft nur ein Feigenblatt für das Profitstreben der Unternehmen. +Bereits beim ersten großen Regenerationsprojekt zeigte sich, dass es nicht darum geht, Wohnraum für Londoner zu schaffen: Die Plattenbausiedlung Heygate im Süden Londons umfasste rund 1.200 Wohnungen – in Häusern, die allmählich verfielen. Da der Bezirk kein Geld für die Sanierung hatte, verkaufte er das Objekt um die Jahrtausendwende an das australische Unternehmen Lend Lease. Schon damals protestierten die Anwohner und verweigerten den Auszug. Den Council kostete allein der Kampf um die Räumungen letztlich 60 Millionen Euro: Wohnungen wurden den Anwohnern abgekauft, es folgte deren Umsiedlung. Manche zogen an den Stadtrand oder in andere große Städte wie Manchester. Es gab sogar Fälle, in denen Familien jahrelang in einem Bed and Breakfast lebten. 2011 wurde begonnen, die Häuser der Heygate-Siedlung abzureißen – über zehn Jahre nach dem Beginn der Maßnahme. +Heute werben Plakate an der Baustelle für das Regenerationsprojekt. "Werde Teil davon" lautet der Werbespruch von Lend Lease. Doch die ehemaligen Bewohner von Heygate sind damit wohl nicht gemeint. Im "Elephant Park", wie Heygate nach der Fertigstellung heißen wird, kostet eine Ein-Zimmer-Wohnung bis zu eine halbe Million Euro. Und während im alten Heygate fast nur ­Sozialwohnungen existierten, sind in den neuen Apartmentblöcken gerade einmal vier Prozent dafür vorgesehen – und selbst die werden versteckt, um die reichere Klientel nicht durch arme Nachbarn zu verschrecken. So gibt es in einem Apartmenthaus mit dem Namen "One Commercial Street" zwei Eingänge: einen mit Pförtner und mattem Glas an der Vorderseite, einen anderen in einer Seitenstraße – für die Bewohner der billigen Apartments. +Doch es ist nicht nur die Stadt, die mit dem Handel von Immobilien gern verdient. Angesichts der exorbitanten Preise werden auch manche Wohnungsinhaber schwach, die die städtischen Wohnungen einst günstig erwerben konnten. In der Nähe von Covent Garden wurde gerade eine Drei-Zimmer-Wohnung, die 1990 noch 130.000 Pfund gekostet hatte, für 1,2 Millionen Pfund verkauft – ein Wertzuwachs von 800 Prozent. Schätzungen gehen davon aus, dass derzeit Land in der Größe von 140 Fußballfeldern in der Millionenmetropole privatisiert wird. Den Wohnungen von rund 170.000 Menschen droht der Abriss. +Allmählich wird die Kritik immer lauter – an einer Stadtregierung, die lieber an eine neue, wohlhabende Klientel aus Saudi-Arabien oder Russland als an die alteingesessene Bevölkerung denkt, die ganze Viertel an Bauunternehmen verhökert und die Milieumischung zugunsten einer Monokultur von Neureichen aufgibt. Dabei sind es längst nicht nur die Armen, die auf die Straße gehen, sondern auch die bürgerliche Mitte – Menschen, die im Jahr über 100.000 Euro verdienen und zuweilen dennoch in kleinen Apartments mit wenig Licht wohnen müssen. +An einem sonnigen Samstag macht Alex, mit Megafon und Warnweste ausgestattet, eine Führung durch sein Viertel und zeigt, wie es sich verändert hat. "Der Wohnblock eines Jungen in meiner Klasse sollte regeneriert werden, und Mutter, Sohn und Tochter mussten in ein Bed and Breakfast ziehen", berichtet eine Lehrerin. Andere erzählen sich, dass auf der Warteliste für Sozialwohnungen im Bezirk mittlerweile über 20.000 Namen stünden. Doch man spricht auch über Beispiele für eine gelungene Wiederbelebung alter Wohnviertel – so wie in der ehemaligen Arbeitersiedlung Woodberry Down im Nordosten Londons. Dort setzt das Bauunternehmen Berkeley Homes bis 2031 insgesamt 5.500 Wohnungen an die Stelle von alten bezirkseigenen Plattenbauten, 1.088 davon Sozialwohnungen, 1.177 zumindest erschwinglicher Wohnraum. +Obwohl es dort keine "Armentüren" geben wird, werden wohl nicht viele Kontakte zwischen den ärmeren Lon­donern und ihren reichen Nachbarn entstehen. Mehr als die Hälfte der Ein- bis Drei-Zimmer-Apartments wurden nämlich als Investitionsobjekte an Kunden im Ausland verkauft. Und etliche davon sind, wenn überhaupt, nur für ein paar Wochenenden im Jahr in London. +Fotos:  Dan Kitwood/Getty Images diff --git a/fluter/wikipedia-wissensluecken-schreiben-zu-wenige-frauen.txt b/fluter/wikipedia-wissensluecken-schreiben-zu-wenige-frauen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..47ec0b48af234ffc08dbe448401956077b793ec4 --- /dev/null +++ b/fluter/wikipedia-wissensluecken-schreiben-zu-wenige-frauen.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Wikipedia wird von Freiwilligen gemacht. Dazu gehört auch die Schreibgruppe in Berlin-Kreuzberg. Denn auf Wikipedia darf jede*r Wissen beisteuern. Doch es sind Männer, die Wikipedias Inhalte maßgeblich bestimmen. Der Anteil schreibender Frauen liegt laut Wikimedia Foundation bei etwa 10 bis 20 Prozent. Auch wenn exakte Zahlen schwer zu bestimmen sind und je nach Erhebungsmethode variieren: Auf Wikipedia sind Frauen unterrepräsentiert. + +Bis zur Quelle: Je weniger Belege die Editor*innen in einem Artikel nennen, desto angreifbarer ist der Eintrag. In der Schreibwerkstatt sind Bücher zum Nachschlagen daher unentbehrlich + +"Das Selbstbewusstsein, eigenes Wissen darzustellen, zu veröffentlichen oder mit anderen zu teilen, ist in unserer Gesellschaft ungleich verteilt", meint Hannah Schmedes, die an der Universität Potsdam studiert. Wer bei Wikipedia mitmachen will, brauche Zeit. Und davon hätten viele Frauen mit Kindern in ihrem Alltag oft zu wenig. Der Online-Enzyklopädie würden die Frauen aber auch inhaltlich fehlen: Nur etwa 16 Prozent aller Biografien auf der deutschsprachigen Wikipedia handeln von ihnen. +"Das Wissen, das uns in Schulen vermittelt wird und sich heute in Wikipedia-Artikeln wiederfindet, ist noch immer vor allem eine Erzählung der Welt von Männern aus Europa und Nordamerika", heißt es in einemStatementvon Wikimedia Deutschland. Dieser gemeinnützige Verein ist die nationale Vertretung der Wikimedia Foundation, die als Organisation hinter Wikipedia steht. Er erkennt offen an, dass Frauen sowie Personen weiterer Gesellschaftsgruppen (z.B. aus der LGBTI-Community, Migrant*innen oder Personen ohne akademische Ausbildung) als Editor*innen unterrepräsentiert sind. Um die weibliche Beteiligung zu erhöhen, unterstützen die Wikimedia Foundation und Wikimedia Deutschland Editorinnen durch konkrete Maßnahmen wiekollektive Schreibaktionen. +Dass eine relativ homogene Gruppe das Wissen von Wikipedia verwaltet, hat Folgen: "Uns ist immer häufiger aufgefallen, dass manche Personen oder Themen hier gar nicht vorkommen", sagt Hannah Schmedes. "Und in diese Leerstelle haben wir uns eingeklinkt." Fast 20 Jahre nach ihrer Gründung im Jahr 2001 klaffen auf Wikipedia noch Wissenslücken. Mit ihren beiden Mitstreiterinnen hat Hannah Schmedes vor kurzem die "Feministische Schreibwerkstatt" in Berlin-Kreuzberggegründet. Heute findet sie zum dritten Mal statt. Zusammen bearbeiten die Teilnehmenden existierende Artikel oder erstellen neue: Sie wollen vor allem über Frauen aus Wissenschaft und Kunst schreiben. Von allen Wissenschaftler*innen-Biografien auf Wikipedia handeln momentan nur etwa neun Prozent von Frauen – was auch daran liegt, dass Frauen der Zugang zu den Wissenschaften lange verwehrt blieb. Doch über die Wissenschaftlerinnen, die es gibt und gab, muss erst mal jemand bewusst schreiben wollen. + +Wussten nicht mehr weiter: Eva Königshofen, Lena Wassermeier und Hannah Schmedes haben eine Schreibwerkstatt gegründet, um Wikipedia-Artikel über Frauen aus Wissenschaft und Kunst zu schreiben + +"Die Gefahr, von der Plattform enttäuscht zu werden, ist enorm hoch", findet Hannah Schmedes: vor allem wenn man gerade einen aufwendig recherchierten Artikel veröffentlicht hat, der wegen angeblich ungenügender Relevanzkriterien auf einmal gelöscht werden soll. Die Relevanzkriterien von Wikipedia sindErgebnisse langjähriger Konsensfindung. Dennoch sind sie umstritten. Denn nicht alle Editor*innen beurteilen alle Themen als gleich wichtig. +Special: Wissen +Hier liest du weitere Artikelaus unserem Wissen-Schwerpunkt +Um die Suche nach deutschsprachigen Science-Fiction-Autorinnen zu vereinfachen, erstellte die Editorin Theresa Hannig einmal auf Wikipedia eine Liste über diese Frauen. Wenig später wurde diese Liste zur Löschung vorgeschlagen, da der Artikel "nicht relevant" sei. Der Fall schaffte es sogar ins "Neo Magazin Royale" mit Jan Böhmermann, der daran erinnert, dass auf Wikipedia hingegen auch Artikel existieren dürfen wie: "Listevon weitesten Schussentfernungen zur Tötung von Menschen durch Scharfschützen" oder die "Listevon Schiffen mit dem Namen Amazone". +An den Relevanzkriterien können also auch gut recherchierte Artikel scheitern – wenn nicht genügend Gegenstimmen für die Relevanz des Artikels eintreten. Im schlimmsten Fall hat ein Löschantrag Erfolg – dann wird der Artikel aus Wikipedia entfernt. Nach einem Hin und Her setzte sich Theresa Hannig durch. Die "Liste deutschsprachiger Science-Fiction-Autorinnen" besteht auf Wikipedia nach wie vor. +In Berlin wird es langsam dunkel, das Licht des Laptopscreens erleuchtet die Gesichter der Schreiberinnen. "Kann ich den Artikel so veröffentlichen?", fragt eine Teilnehmerin und zeigt Lena Wassermeier den Artikel über eine Schriftstellerin, an dem sie die vergangenen zwei Stunden gearbeitet hat. Er geht online – zusammen mit Einträgen über eine US-amerikanische Anthropologin, eine ruandisch-schweizerische Regisseurin und eine deutsche Theaterautorin. Sie haben Wissen geschaffen, das bisher gefehlt hat. + + + +In sieben Schritten zum Wikipedia-Artikel:Hier erklären wir, wie du Editorin oder Editor bei Wikipedia wirst diff --git a/fluter/wildwechsel.txt b/fluter/wildwechsel.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9b6791ed7a95dda70455225e5aea79e5220b1cdd --- /dev/null +++ b/fluter/wildwechsel.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Dabei ist es keine Seltenheit, dass Tiere in Metropolen ziehen. In Zürich leben zehnmal so viele Füchse, Dachse und Igel pro Quadratmeter wie in den ländlichen Gegenden der Schweiz. In New York wird seit Ende der Neunziger eine wachsende Anzahl von Wanderfalken beobachtet, die in der Stadt brüten. Und wartet man im Münchner Osten zu später Stunde auf die Nachttram, kommt eher ein Igel vorbei denn ein Mensch. +Einer Schätzung des Naturschutzbunds Berlin (NABU) zufolge gibt es in der Hauptstadt 53 Säugetier- und 180 Vogelarten. Die Zahlen sind in den letzten fünfzig Jahren deutlich angestiegen. "Etwa 5000 bis 8000 Wildschweine leben hier", schätzt Marc Franusch vom Landesforstamt Berlin. Die Tiere merken sich Plätze, an denen sie zu fressen fanden, und kehren dorthin zurück. Nicht alle verlegen ihren Lebensmittelpunkt vollständig in die Stadt: Wildschweine machen auf der Suche nach Nahrung nur Ausflüge in besiedelte Gegenden. Von Tauben, Ratten und mittlerweile auch von Füchsen gibt es jedoch "reine" Stadtexemplare. +"Man nennt Füchse, die hier geboren werden, tatsächlich Stadtfüchse", sagt Marc Franusch. Etwa 1000 bis 2000 gibt es in Berlin. "Ein Stadtfuchs wird, solange ihm nicht die Lebensgrundlage entzogen wird, auch nicht wieder aufs Land zurückgehen", erklärt Franusch weiter. Das Verhalten des Tieres habe sich auf die neue Umgebung eingestellt: mit neu entwickelten Nahrungsstrategien und einem veränderten Lebensrhythmus. Manche Füchse tauchen in bestimmten Straßenzügen gezielt an den Tagen auf, an denen der Müll abgeholt wird. "Einige harren am Straßenrand aus, weil sie gelernt haben, dass hier regelmäßig andere Tiere überfahren werden", erklärt Franusch. Deren Kadaver sind Fressen für die Bordsteinfüchse. +Eine ähnliche Entwicklung wie der Fuchs nimmt die Ringeltaube. Ihre Artverwandten, die wir gemeinhin aus den Städten kennen, sind einst aus verwilderten Haustauben hervorgegangen. Während diese den Umgang mit Menschen aus der Erfahrung gelernt hatten, handle es sich bei der Ringeltaube um ein Wildtier, sagt Andreas Kinser, Referent für Forst- und Jagdpolitik der Deutschen Wildtier Stiftung: "Sie ist ursprünglich ein sehr scheuer Waldvogel." Mittlerweile komme sie jedoch immer öfter auch in die Stadt, um hier zu brüten. "Wenn man sich ihren Artgenossen im Wald nähert, fliegen diese sofort weg", so Kinser, "ihre Verwandten in der Stadt lassen sich von Spaziergängern nicht mehr aufschrecken." +Bei Elstern und Krähen sei das ähnlich. All diese Tiere haben erfahren, dass Menschen keine unmittelbare Gefahr darstellen. Ganz im Gegenteil: Für Allesfresser (wie Fuchs oder Wildschwein) ist die Großstadt ein Schlaraffenland mit nicht versiegenden Nahrungsquellen. "Manchmal scheint es, dass sich Tiere leichter auf Menschen einstellen können als umgekehrt", sagt Kinser. In Berlin wurde reagiert: mit der Einrichtung einer Beratungsstelle. Das Wildtiertelefon klingelt im Durchschnitt etwa zehnmal am Tag. +Und es gibt weitere Vorzüge der Städte gegenüber ländlichen Gebieten. Auf engem Raum findet sich ein Mosaik unterschiedlicher Lebensräume: Gärten, Teiche, Parks, Hecken, kleine Wälder. Laut Marc Franusch sei gerade die Durchgrünung Berlins ein Standortvorteil für Tiere: "Fast 20 Prozent hier sind Wälder, der Tiergarten und die übrigen Parks nicht mitgerechnet. Und die Biotope sind untereinander äußerst gut vernetzt." +Zudem herrschen in Städten verschiedene klimatische Bedingungen. Ein Beispiel: Im Alten Rangierbahnhof auf dem Schöneberger Südgelände gibt es zehnmal so viele Schmetterlingsarten wie auf landwirtschaftlichen Nutzflächen – dort drinnen ist es trocken und gerade im Sommer sehr heiß.Manchmal geht die Anpassung einer tierischen Art so schnell, dass sie sich selbst dabei in Gefahr begibt. So gibt es in Berlin das Phänomen der Balkonenten. +Die häufigste, allseits bekannte Art, die Stockente, weicht aus Mangel an natürlichen Brutplätzen zunehmend auf Balkone aus. Man muss sie jedoch umsiedeln, da der noch nicht flugtüchtige Nachwuchs in die Tiefe stürzen könnte. Die Zahl der Tiere, die von dort geborgen wurden, hat sich zwischen 2003 und 2006 auf mehr als 1200 verdoppelt. +Trotz dieser Zahlen: Eine vollständige Landflucht der Tiere ist nicht zu befürchten. Auf ein Miteinander müssen sich beide, Mensch und Tier, jedoch einrichten. Ihre Einwohnerzahlen steigen gemeinsam stetig an. Meist klappt das Zusammenleben auch überraschend gut. Und sollten plötzlich vierzig Wildschweine die Straße blockieren, hilft immer noch: weglaufen. diff --git a/fluter/wir-haben-da-noch-eine-kolonie.txt b/fluter/wir-haben-da-noch-eine-kolonie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5ce2ba72d39e78697cbcd64c2de7dc38a3548800 --- /dev/null +++ b/fluter/wir-haben-da-noch-eine-kolonie.txt @@ -0,0 +1,6 @@ + +Anzahl der noch existierenden Kolonien unter europäischer Kontrolle: 11 +Anzahl der afrikanischen Staaten, die nie von europäischen Mächten kolonialisiert wurden: 2 +Anzahl der Staaten, in die Großbritannien noch nie einmarschiert ist: 22 +Anzahl noch bestehender britischer Überseegebiete: 14 +Anzahl noch bestehender französischer Überseegebiete: 12 diff --git a/fluter/wir-haben-das-sagen.txt b/fluter/wir-haben-das-sagen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cdb7a995e2934e54f43d2d97a4bdc42f65b8030b --- /dev/null +++ b/fluter/wir-haben-das-sagen.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Von wegen versäumte Weltrettung – das Gegenteil traf für Ramesh zu! In den Augen des Umweltministers waren Indien und China in Kopenhagen gerade noch der Erpressung des Westens entkommen. Beinahe hätten sie sich neuen Regeln unterworfen, die womöglich dazu geführt hätten, künftiges Wirtschaftswachstum in Indien und China zu unterbinden. Und hätte das dem Klimaschutz überhaupt gedient? Ramesh, wie die meisten indischen und chinesischen Experten, glaubt bis heute nicht daran. Sogar Umweltschützer in Asien sehen das ähnlich. Natürlich habe die Welt auf der Klimakonferenz eine Gelegenheit verpasst, räumt Li Yan ein, ein erfahrener Kampagnenmanager von Greenpeace. Dennoch hätten China und Indien in Kopenhagen ihre gemeinsame Effizienz bewiesen und den reichen Ländern ehrgeizigere und genauere CO2-Reduktionsziele abverlangt, als diese zugestehen wollten. Für Li ist das ein gutes Omen für die Zukunft: "Durch eine engere Klimakooperation können China und Indien ein Modell für das Wachstum mit wenig CO2-Emissionen schaffen", prophezeit der Greenpeace-Mann. Nichts anderes würden die übrigen Entwicklungsländer heute von China und Indien erwarten. Eine Schimäre? Blindes Wunschdenken nach eigenem Versagen? "Nein", sagt Li, "eine historische Gelegenheit!" +Den gleichen Ton trifft Kushal Pal Singh Yadav, Klimaexperte beim Zentrum für Wissenschaft und Umwelt in Neu-Delhi, einer international renommierten indischen Nichtregierungsorganisation. "Die westliche Vorstellung, dass Indien und China für das Scheitern von Kopenhagen verantwortlich seien, ist vollkommen falsch", sagt Yadav. Was die EU und die USA in Kopenhagen als verbindliche Ziele für den CO2-Abbau bis 2050 gefordert hätten, wäre in Wirklichkeit ein unverbindliches Langfristangebot gewesen, das sich um die teuren kurz- und mittelfristigen Ziele drückte. Zudem hätte man die nicht eingehaltenen Versprechen des Kyoto-Protokolls schlicht übergangen. Zu Recht hätten Indien und China den Deal deshalb abgelehnt, sagt Yadav und fügt an: "Delhi und Peking machen das Notwendige." Sowohl Yadav in Neu-Delhi wie auch Li in Peking erinnern daran, dass China und Indien schon vor Kopenhagen über ihre Schatten gesprungen wären. Beide Länder legten 2009 umfangreiche Emissionsbegrenzungsprogramme auf, die national, aber nicht international bindend sind. Zugleich nahmen sie von ihren alten, unausgesprochenen Überzeugungen Abstand, dass sich Klima- und Wachstumspolitik widersprächen und im Zweifel das Wachstum vorgehe. Eben deshalb sind Yadav und Li optimistisch: Hauptsache, die Riesenreiche Indien und China unternehmen wirklich etwas für den Klimaschutz, ob nun mit oder ohne internationales Abkommen. + +Daran aber gibt es kaum Zweifel: Vor allem die erneuerbaren Energien in beiden Ländern boomen. "Indien hat ein riesiges neues Solarprogramm mit vielen dezentralen Anreizen für die Industrie. Davon kann China lernen", beobachtet Li in Peking. Yadav hingegen lobt China als das Land, das Solar- und Windenergie mit billiger Technik und einem großen Markt überhaupt erst global wettbewerbsfähig gemacht habe. "Doch nicht einmal bei den erneuerbaren Energien sehen die Europäer China als Partner, sondern als Bedrohung für ihre Industrie", sagt Yadav. Ihn stört, dass der Westen ständig Angst vor weltpolitischen Veränderungen habe, wenn es um China gehe. +China spielt in einer anderen Liga als Indien +Für den indischen Ökonom und Philosophen Prem Shankar Jha, Autor zweier Bücher über die Beziehungen zwischen Indien und China, steht die Klimapolitik ohnehin im Rahmen größerer wirtschaftlicher Verschiebungen. "Die Leute, die heute noch Macht in den internationalen Institutionen haben, haben sie in der wirtschaftlichen Realität längst nicht mehr", sagt Jha. Kopenhagen sei für ihn das beste Beispiel dafür. Wichtig sei eben nicht, was Europa tue, da Europas Emissionsanteil gering ist. Aber ausgerechnet Europa hätte in Kopenhagen die Klimagesetze für die ganze Welt schreiben wollen. Wichtiger sei, was China und Indien jetzt in den Klimaschutz investierten. Dafür aber wolle der Westen zu wenig tun. Schon beim Technologietransfer nach China mache er nicht mehr mit. Das führe bereits heute zu einem grundsätzlichen Vertrauensverlust: "Indien und China fürchten einen Handelskrieg mit CO2-Steuern, für den der Westen die Klimafrage zum Vorwand macht", sagt Jha. +Vor allem in Peking nötigt die Kopenhagen-Erfahrung der Regierung ein Umdenken ab: China spielt ökonomisch in einer anderen Liga als Indien, deshalb nahm man den südlichen Nachbarn bislang eher am Rande wahr. Doch nun erkannte das Parteiblatt China Daily beim Ramesh-Besuch in Peking: "China und Indien haben gemeinsame Interessen beim Aufbau ihrernationalenÖkonomien und ihre Volkswirtschaften ergänzen sich zunehmend." Solche allgemeinen Bekenntnisse zu Indien hatte die KP bisher immer vermieden. Indien ignorierte man. Das ist jetzt vorbei. Kopenhagen gab dafür einen entscheidenden Anstoß. Denn schon einmal scheiterte der Versuch, beide Länder energiepolitisch enger aneinanderzubinden. 2006 wollte der damalige indische Ölminister Mani Shankar Aiyar ein Kartell der asiatischen ölimportierenden Länder gründen. Dafür unterzeichnete er in Peking eine bilaterale Vereinbarung – die jedoch im Sande verlief, als Aiyar gefeuert wurde. Denn um die Ölquellen konkurrieren Indien und China. Anders beim Klimaschutz und den erneuerbaren Energien: "China und Indien werden Technologieführer bei den erneuerbaren Energien sein, aber sie werden nicht ohne gegenseitigen Technologietransfer auskommen. Zudem wollen sie beide Technologie vom Westen", sagt die Chinaexpertin Alka Acharya von der Jawaharlal-Nehru-Universität in Neu-Delhi. Dieses gemeinsame Empfinden für die Herausforderungen des Klimaschutzes sei für Delhi und Peking noch ganz neu. "Vor Kopenhagen war alles nur Gerede. Jetzt ist es handfest", beobachtet Acharya. Was der "Geist von Kopenhagen" wirklich bedeute? "Der Geist besagt: Wir Inder und Chinesen sind flexibel!", sagt Acharya, "aber wir können gemeinsam Stopp sagen, wenn wir uns bedroht fühlen." + diff --git a/fluter/wir-haben-einfluss-auf-500-millionen-1-von-2.txt b/fluter/wir-haben-einfluss-auf-500-millionen-1-von-2.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2db1e64ff5fd05aa789b1b4d7daec87ace821edf --- /dev/null +++ b/fluter/wir-haben-einfluss-auf-500-millionen-1-von-2.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +fluter: Ein großer Teil des für uns in Deutschland geltenden Rechts wird mittlerweile in Europa gemacht. Können Sie verstehen, dass das manchen Menschen Angst macht? +Möllers: Ach, Angst finde ich übertrieben. Man muss sich klar machen, dass Europa auch wir sind. Es gibt eigentlich keine europäische Rechtssetzung ohne die Bundesrepublik Deutschland. Wir haben einen veritablen Einfluss auf das von rund 500 Millionen Einwohnern bevölkerte Gebiet. Das ist zu bedenken, bevor man anfängt sich zu beklagen, was Europa ist. +Deutschland wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen seiner Praxis gerügt, Gefangene nach dem Verbüßen ihrer Haftstrafen in nachträgliche Sicherungsverwahrung zu nehmen. +Das ist ein Fall, in dem der politische Prozess eindeutig versagt hat. Da haben sich in Deutschland Medien und Politik gegenseitig hochgeschaukelt, um ein populäres Bedürfnis zu befriedigen – und damit ist man letztendlich gescheitert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in einer nicht ganz so überraschenden Weise zugeschlagen und festgestellt, dass Deutschland gegen die Menschenrechtskonvention verstößt. Es ist ein gutes Zeichen, dass das so kontrolliert wird. +Gibt es in unserer globalisierten Gesellschaft eigentlich noch so etwas wie rechtsfreie Räume? Das Internet wird ja immer als ein solcher Raum bezeichnet. +Nein, so etwas gibt es per Definition eigentlich nicht. Umgekehrt könnte man aber auch sagen: Jeder geregelte Raum ist potenziell frei. Regeln gelten zwar überall, aber sie haben immer eine eingeschränkte Bedeutung. Sie determinieren nicht alles, sondern lassen viel Luft. Im Internet haben wir ganz sicher keinen rechtsfreien Raum. Dort gelten Strafregeln und Grundrechte. Wir haben aber ein Problem damit, Straftaten zu verfolgen oder alte Grundrechtsgarantien wie den Schutz der Telekommunikation auf neue Techniken zu übersetzen. Das ist ein ganz normaler Vorgang, der mit jedem technologischen Schub wieder passiert. +Gilt das Recht eigentlich nur für Menschen, oder wird es sich ausweiten auf Tiere oder Roboter? An der Uni Würzburg gibt es ein Forschungsprojekt, das unter anderem die Schuldfähigkeit von Maschinen untersucht. +Wenn wir Organisationen wie zum Beispiel der Deutschen Bank Rechte geben, können wir theoretisch auch anderen Lebewesen und Maschinen Rechte geben. Wir tun es ja bis zu einem gewissen Grad auch bei Tieren. Ein Hund kann nicht klagen, aber wir haben ein sehr ausgefeiltes Tierschutzrecht. Man könnte sich vorstellen, dass Maschinen eines Tages so komplex werden, dass sie im Grunde anthropomorph sind. Dann stellt sich die Frage, inwieweit wir den Maschinen auch gewisse Rechtspositionen einräumen müssen. Ich denke, das wird passieren, wir können es uns aber gegenwärtig noch nicht wirklich vorstellen. +Wie simultan entwickelt sich denn das Recht weltweit? Kann man an einzelnen Ländern überhaupt noch so etwas wie Rechtskulturen festmachen? +Die Unterschiede sind immens! Wenn man sich zum Beispiel die Verwaltungsorganisation in Frankreich ansieht, dann kann man schon verzweifeln. Das Experimentieren mit und das Interpretieren von Recht verläuft weltweit sehr unterschiedlich. In Indien werden Dinge mit Grundrechten gemacht, die es bei uns so nicht gibt: Anwälte klagen für Gefangene, die selbst nicht lesen und schreiben können, und von der Klage nichts wissen. Das ist faszinierend, und davon können wir noch etwas lernen. +Den zweiten Teil des Gesprächs lest ihr auf Seite 40 diff --git a/fluter/wir-haben-einfluss-auf-500-millionen-2-von-2.txt b/fluter/wir-haben-einfluss-auf-500-millionen-2-von-2.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..0952cf9018560c7ecf64a21c766815b2c7717453 --- /dev/null +++ b/fluter/wir-haben-einfluss-auf-500-millionen-2-von-2.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Aber das Strafrecht ermöglicht ja nichts, sondern verbietet nur. +Das Strafrecht ist ein Ausnahmerecht, das wir aus symbolischen Gründen haben, von dem wir aber überhaupt nicht wissen, ob es erfolgreich ist. Denken Sie nur an den Bereich der Drogen. Offensichtlich sind wir nicht in der Lage, das mit dem Strafrecht zu bewältigen. +Funktioniert Abschreckung mithilfe des Rechts denn gar nicht? +Man weiß es eben nicht. Die Forschung darüber ist doch sehr durchwachsen, sie hat nie zu wirklichen Ergebnissen geführt. Gerade das Recht, das am schärfsten begrenzt, also das Strafrecht, ist das, dessen Erfolge am wenigsten gewiss erscheinen. +Trotzdem wird ja immer wieder gefordert, die Strafen zu verschärfen und auch schon Unter-14-Jährige zu belangen, die ja nach geltendem Recht noch nicht schuldfähig sind. +Generell ist mein Eindruck, dass das Bedürfnis nach Strafe nichts damit zu tun hat, wie sicher man lebt. Wir führen in Deutschland immer noch einen Diskurs, der vergleichsweise rational verläuft. Ich glaube etwa nicht, dass die Leute mehrheitlich für die Todesstrafe wären, wenn darüber abgestimmt würde. +Historisch betrachtet kann man feststellen, dass die Strafen bei uns immer milder wurden. Früher gab es Todesurteile, Folter, den Pranger … +Ambivalent! Wenn man es langfristig betrachtet, sind sie sicher milder geworden. In den letzten zwanzig, dreißig Jahren bezweifle ich das aber. Man sieht auch, dass wir bestimmte Delikte gerne unter Strafe stellen würden, aber eine Bestrafung gar nicht möglich ist, weil kein Einzelner so zur Rechenschaft gezogen werden kann, wie wir es gerne hätten. Zum Beispiel im Wirtschaftsstrafrecht. Da sieht man Menschen, die riskant mit dem Kapital anderer Leute umgehen und sich daran bereichern. Wir würden das gerne unter Strafe stellen, aber die zugehörigen Delikte sind zu unscharf, und die Organisationsstrukturen sind zu kompliziert. Es gibt keine eindeutige Schuldzurechnung, man kann nicht mehr sagen, der war's jetzt. +Sind das für Sie als Jurist eigentlich interessante Zeiten, in denen Sie leben? +Ja! Wenn man das global betrachtet, leben wir in einer zweiten Phase nach 1989. Damals ist unglaublich viel passiert, etwa, dass unser Modell einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit sehr erfolgreich in Mittel- und Osteuropa oder in Südafrika war. Aber auch, dass der Glaube an die Internationalisierung des Rechts sehr groß war. Dieser Glaube an internationale Lösungen besteht in der Form nicht mehr. Heute würden die USA nicht mehr der Welthandelsorganisation beitreten, Russland würde nicht mehr der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten und so weiter. +Immerhin scheint der Internationale Strafgerichtshof nicht in der Krise zu sein. Im Gegenteil: Er hat eben erst Ermittlungen gegen den libyschen Diktator Gaddafi aufgenommen. +Das ist natürlich besonders faszinierend, weil der Internationale Strafgerichtshof gerade noch so in der Blüte der Internationalisierung des Rechts nach 1989 entstanden ist. Und jetzt ist diese Institution da, obwohl der politische Wille der Staaten eigentlich gar nicht mehr so groß ist, mit ihm zu arbeiten. Es wird sich zeigen, wie sich diese Organisation durchsetzen kann. +Aber rein theoretisch ist durch den Internationalen Strafgerichtshof jetzt kein Mensch mehr sicher vor dem Recht. +Das kann man positiv und negativ sehen. Einerseits haben wir keine Machthaber mehr, die sich immunisieren können gegen bestimmte Regeln wie Menschenrechte. Es hat aber auch den anderen Nebeneffekt, dass sehr unerfahrene politische Institutionen in Nationalstaaten intervenieren und damit vielleicht auch Krisen hervorrufen können, weil sie gar nicht wissen, was sie da tun. diff --git a/fluter/wir-kriegen-dich-du-schwein.txt b/fluter/wir-kriegen-dich-du-schwein.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f2d906cd8b41e9d2c934a8c62ecd14eae719e9ef --- /dev/null +++ b/fluter/wir-kriegen-dich-du-schwein.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Wir hatten einen eigenen Raum zum Rumhängen, einen Probenraum mit Bar. Dort trafen sich antifaschistische Skinheads, Punks, Hippies, Skater. Alle, die genug hatten vom Mief um uns herum. In einer Nacht fuhren ein paar Nazis vor. Wir waren zu zwölft, mein Adrenalinpegel stieg. Die Nazis warfen ein paar Flaschen und gingen wieder. Sie wollten nur drohen. Uns zeigen, dass sie wissen, wo wir sind. Aus meiner Angst wurde irgendwann Wut und der Drang, mich zu wehren. Weil du siehst, dass du nichts machen kannst, außer zurückzuschlagen. Natürlich werden die Hände feucht. Du spürst, wie heftig dein Herz schlägt. Das klingt jetzt so, als ob ich mich immer geprügelt hätte. Das ist falsch. Meistens bin ich geflohen, in neun von zehn Fällen. Meine Beine waren meine treuesten Begleiter. Wie oft ich angegriffen wurde, kann ich nicht zählen. Es waren sicher zehn, fünfzehn Attacken dabei, die ich als heftig in Erinnerung habe. Meistens war es ja so, dass eine Horde Nazis besser trainiert war als ein Haufen wilder Punks. Einmal lauerten ein paar Nazis einem Punk im Zug auf. Sie trieben ihn in den Wald, fesselten ihn an einen Baum und pissten ihn an.Es waren aber nicht immer körperliche Übergriffe. Manchmal reichte es schon, wenn ich am Bahnhof ausstieg. Da saßen dann wieder die fünf trinkenden Faschos, die sagten: "Diesmal holen wir dich auf dem Rückweg." Das war Psychoterror, der mir meine Hilflosigkeit vor Augen führte. +Als ich 16 war, gab es in unserer Stadt ein selbst organisiertes Konzert. Nach dem Konzert traten die Nazis auf unsere Autos ein und blockierten sie. Ich schrie die Nazis an. Als die auf mich loswollten, bin ich gerannt. Dann flog eine Flasche, sie traf mich im Gesicht, mein Auge schwoll zu. Im Krankenhaus befragte mich die Polizei. Es war einer der wenigen Fälle, der zu einer Verurteilung führte. Der Typ war ein Dorfproll, er gehörte nicht zum harten Kern. Deshalb konnten wir gegen ihn vorgehen. Bis heute überweist er mir Schmerzensgeld. Natürlich hatte ich oft Angst. Ich bekomme jetzt noch eine Gänsehaut, wenn ich an die Zeit denke. Mit 17 war ich so weit, dass ich mir das nicht mehr gefallen lassen wollte. Wenn du nur auf die Fresse kriegst, dann haust du irgendwann zurück. Aus Angst wird Offensive. Zum Beispiel, als bei einem Punkrock-Konzert plötzlich Nazis aufmarschierten, bis an die Zähne bewaffnet: Baseballschläger, Stangen, Ketten, zähnefletschend, Schaum vorm Maul. Wir trieben alle Zuschauer, 200 mindestens, in einen Raum, der nur über eine Treppe zu erreichen war, und verbarrikadierten die Treppe. Als die Nazis da waren und die Tür eintraten, warfen wir mit allem, was wir fanden. Uns gelang es, den Raum zu verteidigen. An diesen Tag denke ich bis heute.Die Polizei zu rufen war keine Option. Die nächsten Einsatzhundertschaften sitzen in Chemnitz. Bis ins Gebirge brauchen die eine halbe Stunde. Wenn du am Telefon sagst, dass du von Neonazis attackiert wirst, dauert es eine ganze Weile. Eine Anzeige ist auch keine Option. Spätestens der Anwalt, den die sich besorgen, bekommt unsere Adressen raus und gibt sie weiter. +In meiner Stadt hat die Gewalt mittlerweile etwas abgenommen, aber viel hat sich aus meiner Sicht nicht ge­ändert. Vorletztes Jahr hat jemand versucht, einen Döner-Laden anzuzünden. Und neulich wurden über eine Strecke von 20 Kilometern Hakenkreuze gesprüht. Kürzlich habe ich im Zug beobachtet, wie ein Nazi ein Metaller-Pärchen angemacht hat. Der Nazi war dermaßen aggressiv, der war wahrscheinlich auf Crystal Meth. Er ging dem Mann an die Gurgel und würgte ihn. Seine Freundin holte Hilfe. Ein Polizist, der zufällig im Abteil war, ging dazwischen. Als der junge Mann, der attackiert wurde, weinte, habe ich ihn getröstet. Ich schaute den Nazi an und sagte: "Ich werde derjenige sein, der gegen dich aussagt." Als ich aus dem Zug stieg, hob er seinen Arm zum Hitlergruß.Mehr Angst als um mich habe ich, wenn ich sehe, wie sich Rechte und Menschen aus der bürgerlichen Mitte verbünden. Wenn ich davon lese, wie gegen Asylbewerber demonstriert wird. Da ist für mich nicht mehr der einzelne Nazi das Problem, sondern Teile der Gesellschaft. Dagegen kann man sich mit Pfefferspray nicht wehren. +Felix Dachsel, 27, studiert am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Der Mut, den Konstantin aufbringt, hat ihn nachhaltig beeindruckt. diff --git a/fluter/wir-leben-in-friedlicher-koexistenz.txt b/fluter/wir-leben-in-friedlicher-koexistenz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cfefe2c1eeaaa9ff25288444447100a9be0a6f38 --- /dev/null +++ b/fluter/wir-leben-in-friedlicher-koexistenz.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Und zweitens? +Zweitens identifizieren sich Ost- und Westdeutsche immer noch mehr mit ihrer Region und weniger mit ihrer Nation. Auch in der gegenseitigen Wahrnehmung zwischen Ost und West gibt es immer noch deutliche Unterschiede. Psychologisch ist das ganz verständlich: Schließlich haben wir 40 Jahre lang in zwei verschiedenen Kulturen gelebt, das wirkt bis heute nach. +Sie selbst haben in Ost- und Westdeutschland gelebt. Was ist schlimmer: Wenn ich Sie Ossi oder Wessi nenne? +Wessi ist nicht so schlimm wie Ossi. Aber beides kann nett gemeint sein, solange man auf gleicher Augenhöhe ist. Aber unsere Daten zeigen, dass wir das nicht sind: 64 Prozent der Ostdeutschen empfinden sich als Bürger zweiter Klasse. +Es wurde doch viel in den Osten investiert, der Lebensstandard dort ist stark gestiegen. Woher rührt dieses Minderwertigkeitsgefühl? +In Ostdeutschland sind immer noch viele Menschen arbeitslos. Sie haben Angst, am Rand der Gesellschaft zu stehen und nicht teilhaben zu können. Dabei war das Benachteiligungsgefühl anfangs gar nicht so stark ausgeprägt. Aber noch heute gilt der Osten als Entwicklungsland. Es gibt den "Aufbau Ost", den Solidaritätszuschlag – wir haben also einen Teil Deutschlands, der besonderer Hilfe bedarf. Und wenn man dort lebt, fühlt man sich eben wie ein Hartz-IV-Empfänger. +Gilt das auch für den ostdeutschen Porschefahrer? +Tatsächlich ja. Im Osten gibt es viele Leute, denen es ökonomisch zwar gut geht, die sich aber dennoch benachteiligt fühlen. Wenn sie dort einen Porsche fahren, können sie immer noch darüber jammern, dass die Straßen dort nicht gut genug sind. +Woher kommt dieser Frust? +Helmut Kohls Versprechen der "blühenden Landschaften " und das Versprechen, das kapitalistische System werde die Lage im Osten ganz schnell verbessern, haben sich negativ ausgewirkt. Wenn die Hoffnung jedoch idealisiert wird und das Ideal der Realität davonläuft, dann setzt Frustration ein. +Was wünscht sich der Rest zurück, der sagt, vor der Wende war es besser? +Die Leute vergessen oder verklären Geschichte so leicht, die massive Kontrolle, Reglementierung, die Stasi. Sehr viele Menschen sagen auch, dass ihnen der gesellschaftliche Wandel zu schnell geht und fühlen sich desorientiert. Das ist ein klassisches Einfallstor für Populisten. Mehr als 60 Prozent der Ostdeutschen klagen über mangelnde Anerkennung der Westdeutschen. Da ist ein großes Bedürfnis, die Leistungen und Opfer für die Einheit mehr gewürdigt zu sehen. Das ist ein Zwei-Klassen-System: Die einen sind oben und die anderen stehen etwas darunter, und das sind die Ostdeutschen. +Gibt es denn Themen, wo wir einig sind?Gerade aktuell in der Sorge um die Zukunft: In der wirtschaftlichen Krise rücken Ost und West ganz nah zusammen. +Ist die Krise also eine Chance für eine gesellschaftliche Einheit?Vielleicht kann es den Effekt haben, wenn wir ähnliche Probleme gemeinsam bewältigen. Doch was passiert, wenn Eisenach gefördert wird und Bochum nicht, dann wird die Frage nach dem Solidaritätspakt laut.Können wir in Bezug auf die Einheit vielleicht von anderen Ländern lernen?In England gibt es eine Reihe von Studien, die besagen, dass die meisten Konflikte in Irland und Nordirland auf mangelndem Vertrauen beruhen. Vertrauensbildende Maßnahmen sind also ein gutes Vereinigungsinstrument.Der Umzug der Regierung nach Berlin, war ein Einheitsymbol vor allem für das Ausland. Ist Bundeskanzlerin Angela Merkel, die in der DDR aufwuchs, ein Einheitssymbol für die Deutschen?Ich glaube ja. Sie ist eine größere Kanzlerin der Einheit, als es Kohl gewesen ist, und wird auch als solche wahrgenommen und zitiert. Merkel hält die Ostthemen hoch. Auch Bundesminister Wolfgang Tiefensee vermittelt in seinen Reden zum Tag der Deutschen Einheit gut die Alltagsrealitäten und Verbesserungen in Ost wie in West; er spricht immer über beide Seiten ausgleichend. Ein gutes Symbol wäre vielleicht auch, die Einheitsfeiern am dritten Oktober viel stärker in der Lokalpolitik zu verorten. Sodass wir auch in Ostwestfalen merken, dieser Tag ist ein Einheitstag.War der Beitritt des Ostens auch eine Chance für den Westen?Einige Studien zeigen, dass die Einheit dem Westen am Anfang erst mal einen Selbstwert beschert hat. Dort waren eben die Bürger "erster Klasse". Der Westen hat sich als Unterstützer erleben können, auch wenn es inzwischen viel Kritik um den Soli-Zuschlag gab. Jetzt aber gibt es Regionen im Westen, die durch die massiven Kosten der Einheit nun in einer ähnlich desolaten Situation sind, wie Teile des Ostens. Auch der Westen hat dazugelernt: Einige kleinere Gemeinden in Westdeutschland pflegen Partnerschaften zu Ostkommunen. Sie haben deren Eigeninitiative beobachtet und davon gelernt, wie die Bürger in den neuen Bundesländern Alltagsprobleme selber lösen.Ost-West-Freundschaften gibt es allerdings kaum, wie sie herausgefunden haben. Die negativen Stereotype verhärten sich demnach immer weiter.Stereotype verhärten sich in dem Ausmaß, wie wir nur zusammen leben, aber keinen Kontakt haben. Wir leben praktisch in ökonomisch friedlicher Koexistenz. Wir können da von der Integration der Ausländer lernen: Unser Bild von Türken und Italienern im Westen hat sich ebenfalls durch Kontakte verbessert. Das Wissen um die Sorgen, die Ängste, aber auch die positiven Seiten des Alltages der anderen baut Vorurteile ab.In Ihrer Studie haben sie auch die Rollenklischees hinterfragt. Im Osten gibt es demnach die selbstbewussteren Frauen und weniger Machos.Im Osten war eben die Gleichberechtigung der Frau weiter fortgeschritten – etwa im Berufsleben und in der Kindesbetreuung. Allerdings wurde diese Gleichstellung mit dem Beitritt zum Westen infrage gestellt, viele Frauen verloren nach der Wende ihren Job. Das war ein Werteumbruch.Was erwarten Sie sich vom 20. Geburtstagsjahr des vereinigten Deutschlands?Es ist eine Chance, sich über den Zustand der Gesellschaft und die noch vorhandene gesellschaftliche Teilung zu verständigen. Der Osten fühlt sich immer noch zu stark benachteiligt, da muss man was tun.Wie lange werden wir auf eine echte Einheit noch warten müssen?In zwanzig Jahren werden wir eine Generation von Menschen haben, die sich als Europäer verstehen. Die Fragen gestellt haben über die nationalsozialistische Vergangenheit, Stasi, Sozialismus und Kontrolle und die daraus gelernt haben. Ich wünsche mir weniger Autoritarismus in Ost wie in West.Also mehr Selbstdenker?Genau. Menschen, die nicht verstehen, wie man 2009 so große Unterschiede zwischen Minderheiten und Mehrheiten gemacht hat. +Andreas Zick ist Professor für Sozialisation und Konfliktforschung an der Universität Bielefeld. Gemeinsam mit Wilhelm Heitmeyer untersucht er seit 2002 die Einstellungsmuster der Bundesbü̈rger. diff --git a/fluter/wir-muessen-was-tun.txt b/fluter/wir-muessen-was-tun.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..67ff10e3739195882239e4dec54209ef0938de7b --- /dev/null +++ b/fluter/wir-muessen-was-tun.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Es war im Frühjahr 2008, als ich und einige andere freie Journalisten fanden, dass es so nicht weitergeht, dass wir für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen müssen. Wir entwickelten die Idee, freie Journalisten zu einer Stimme zusammenzuschließen, die mehr Gewicht haben würde als die jedes einzelnen. Mit 140 Kollegen, die wir für die Idee gewinnen konnten, gründeten wir einen Verein, die "Freischreiber", den Berufsverband freier Journalistinnen und Journalisten. Die bestehenden Gewerkschaften DJV (Deutscher Journalisten-Verband) und DJU (Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union) vertreten zwar auch sowohl freie Journalisten wie angestellte Redakteure, doch wir wollten uns dezidiert um die Belange der Freien kümmern. Viele prophezeiten uns damals, dass unsere Energie bald in sich zusammenfallen würde. Freie Journalisten seien Individualisten, die sich gern hinter ihren Computern ver- schanzen und ihren Ärger in wütende E-Mails packen, aber kein großes Interesse daran haben, sich übermäßig für die eigenen Interessen zu engagieren. +Inzwischen haben wir knapp 350 Mitglieder, das sind deutlich mehr, als man uns anfangs zugetraut hat, doch weniger, als wir in unserer Euphorie damals dachten. Aber die anderen kriegen wir schon noch. Um zu zeigen, wie wichtig unsere Arbeit ist, starteten wir die "Freiflächen"-Kampagne: In Animationen, die wir auf unserer Website präsentierten, konnte man auf einen Blick sehen, wie wenig von Tageszeitungen und Magazinen übrig bliebe, wenn Freie von heute auf morgen ihre Arbeit einstellen würden. Man muss sich das, was mit Freischreiber entstanden ist, vorstellen wie einen Apparat, der Ärger in Tatkraft verwandelt. Auf der einen Seite wird er mit allem gespeist, was den Beruf des freien Journalisten so beschwerlich macht, auf der anderen Seite spuckt er regelmäßig etwas aus, was einem den Spaß an diesem Beruf zurückgibt. Jetzt müssen nur noch mehr Journalisten begreifen, dass ein solcher Apparat umso bessere Ergebnisse erzielt, je mehr Leute daran mitbauen. diff --git a/fluter/wir-sind-alle-afrikaner.txt b/fluter/wir-sind-alle-afrikaner.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..20839b44510f9c9127b57a25ac0539de180d5be9 --- /dev/null +++ b/fluter/wir-sind-alle-afrikaner.txt @@ -0,0 +1 @@ +Vor nicht allzu langer Zeit dachte man noch, dass es eine ziemlich klare Linie vom ersten menschlichen Wesen bis hin zum modernen Menschen gibt. Dann wiesen Erbgutanalysen und Knochenfunde darauf hin, dass sich die verschiedenen frühen Menschenformen immer wieder vermischten und ihre Gene austauschten. Der Mensch hat also nicht einen, sondern ziemlich viele Vorfahren, aber alle sind aus Afrika. diff --git a/fluter/wir-sind-bank.txt b/fluter/wir-sind-bank.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..77e7ac235be595e54360717bc9ba3e7a00326d71 --- /dev/null +++ b/fluter/wir-sind-bank.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Die Seite wirkt auf den ersten Blick wie eine Online-Dating-Seite. Die potenziellen Kreditnehmer stellen sich mit Name, Alter und einem Foto vor. Da ist also zum Beispiel Amori Ayebazibwe aus Uganda. Ein 30-jähriger Mann, der in stolzer Pose vor dem Regal seines kleinen Kiosks steht, den er seit neun Jahren in der Stadt Lyantonde in der Mbarara-Provinz betreibt. Er will sich 550 Dollar, umgerechnet 1.400.000 Uganda-Schillinge, leihen, um mehr Waren und Lebensmittel kaufen und ein Lager bauen zu können. Er träumt davon, in naher Zukunft einen kleinen Supermarkt zu eröffnen. Kurz: Er setzt auf Wachstum – und braucht dazu meine Hilfe. Neben dem Foto ist ein roter Button angebracht – "Lend now!". In einem Drop-down-Menü kann ich die gewünschte Summe anklicken, 25, 50, 100, 200, dann geht es weiter zum Warenkorb – möchten Sie weitere Kredite geben? –, und gezahlt wird mit Kreditkarte oder dem universellen Online-Bezahlservice Paypal. Internet-Routine. Schon spektakulär, denke ich: Im 21. Jahrhundert ist es ebenso einfach, in ein afrikanisches Kiosk-Start-up zu investieren, wie eine CD im Internet zu kaufen. +Ein grüner Balken zeigt an, wie viel Geld dem Kreditnehmer bereits von anderen Investoren zugesagt wurde. Amoris Balken steht zurzeit bei 50 Prozent. Es fehlen noch 275 Dollar. Ich möchte den Bank-Balken aufladen, damit Amori die Kraft hat, seine Ziele zu erreichen. Aber zuvor sind noch ein paar Details zu klären: Der Kredit läuft über 14 Monate. Die Tilgung erfolgt monatlich. Kiva steht nicht direkt in Kontakt mit den Kreditnehmern, sondern arbeitet mit sogenannten Field Partners zusammen. Diese lokalen Helfer sind meist NGOs, Kooperativen oder Mikrokredit-Banken, die die Kreditwürdigkeit des Antragstellers einschätzen, das Geld auszahlen und die Rückzahlungen eintreiben. Wenn Amori scheitert, ist mein Geld weg. Vielleicht ist das der Grund, warum ich plötzlich beginne, wie ein Kreditbanker zu denken. Ich führe ein imaginäres Interview mit Amori: Ist der Einzelhandel in Uganda denn eine Wachstumsbranche, will ich ihn fragen. Wie unterscheiden Sie sich von all den anderen Kleinhändlern? Was ist Ihr Alleinstellungsmerkmal? Wie entwickelt sich die Kaufkraft der lokalen Bevölkerung? Und: Wäre es nicht besser, in eine Zukunftsindustrie zu investieren, ein Internetcafé zum Beispiel? Das sind natürlich blöde Fragen. Aber sie sind auch ein Zeichen des wachsenden Interesses. +Kiva liefert keine Marktdaten. Stattdessen erfährt man, dass Amori verheiratet ist und einen kleinen Sohn hat, er sei angesehen in seiner Gemeinde und ein guter Fußballspieler, verrät das Profil. Eine Bank interessiert sich nicht für solche Informationen. Sie kennt nur die Zahlen. Die persönlichen Daten und die Fotos auf Kiva sollen Nähe herstellen. Am unteren Ende der Webseite sind die Kiva-Mitglieder aufgeführt, die sich an dem Kollektivkredit beteiligt haben. Man lernt, dass auch Arvid aus Schweden und Walter aus Pennsylvania in die Unternehmung von Amori investiert haben. Die Fotos, Profile und Kommunikation erschaffen ein soziales Netz, das wichtiger ist als die volkswirtschaftlichen Makrofaktoren. Ich drücke auf den roten Knopf. Der grüne Balken wächst ein wenig. Amori fehlen nur noch 225 Dollar. Ein gutes Gefühl. +Der Erfolg von Kiva.org erklärt sich dadurch, dass der Mensch, der berühmte Homo oeconomicus, eben nicht nur als rationaler Akteur auf den Märkten agiert, sondern auch ein soziales Tier ist. Auf den Kontoauszügen der Kiva-Nutzer tauchen nicht nur kühle Zahlen und Ratenzahlungen auf, sondern auch der Satz: Du hast einem Menschen geholfen. Diese soziale Rendite ist den Kiva-Nutzern mehr wert als ein hoher Zinssatz. In dem Investment- Portfolio sammeln sich keine Fonds-Anteile, sondern Biografien und persönliche Geschichten. Nach einer Woche besuche ich die Kiva-Seite erneut. Amori hat seinen Kreditbalken nun zu 63 Prozent aufgefüllt. Im Januar 2012 will er mit der Tilgung beginnen. Ich schaue mich weiter auf der Seite um. Investiere wenig später 50 Dollar in einen Call-Shop auf den Philippinen – Telekommunikation, absoluter Wachstumsmarkt, klar – und stolpere dann über die Anfrage von Shinebayar Enkhtaivan, einer 26-jährigen Frau aus der Mongolei. Shinebayar ist keine arme Frau, sie hat studiert und bewohnt eine Mietwohnung in der Hauptstadt Ulan-Bator. Aber ihr fehlt das Kapital, um eine gute Idee umzusetzen. Ich brauche 1.950 Dollar, erzählt sie auf der Kiva-Seite, um die Autowerkstatt meiner Familie zu erweitern. Ihre Strategie ist zumindest in meinen Augen ungewöhnlich: Da es in der Mongolei offenbar einen Mangel an kompetenten Mechanikern gibt, will sie zwei erfahrene Arbeiter aus Vietnam einfliegen – "Ich habe während des Studiums ein paar Vietnamesen kennengelernt, und das soll sich nun auszahlen." Shinebayar braucht das Geld, um die Visa und Flugkosten der Arbeiter zu bezahlen. +Das Engagement auf der Kiva-Seite ist auch ein Proseminar in angewandter Globalisierung: Da investiert ein Individuum in Europa, den USA oder Argentinien eine kleine Summe, die um die Welt reist, um eine Frau in Zentralasien in die Lage zu versetzen, ein paar Gastarbeiter aus Vietnam zu engagieren. Ich drücke den roten Knopf. Die unendliche Finanzkrise ist nicht nur eine volkswirtschaftliche Katastrophe, sondern auch ein Image-Debakel für die Bankindustrie. Der sympathische Bankdirektor, der den lokalen Fußballverein unterstützt und seine Kunden mit Namen kennt, ist in den vergangenen Jahren in manchen Köpfen zu einem zynischen Zocker mutiert, der die Weizenpreise in die Höhe treibt und finanzielle Angriffskriege gegen südeuropäische Staaten führt. "Die Krise hat die Menschen zum Nachdenken darüber gebracht, was die Banken eigentlich mit ihrem Geld machen", sagt Alexander Artopé, der die P2P-Bank Smava führt. "Davon profitiert das soziale Banking, weil Geldgeschäfte hier direkt und transparent möglich sind." +Die Losung des Internetzeitalters lautet: Eliminate the middleman – schalte den Vermittler aus. Die Bürger haben Zugang zu mehr Informationen als jemals zuvor und neue Werkzeuge, um Einfluss auszuüben. Klassisch-autoritäre Institutionen wie Zeitungsverlage, Kaufhäuser oder Banken merken das. Die Do-it-yourself-Mentalität der Netznutzer beschränkt sich längst nicht mehr auf Filme, Lexikon- Produktion oder Nachrichtenvermittlung, sondern nun auch auf Gelddienstleistungen. 2006 bekam der bangladeschische Ökonom Muhammed Yunus den Friedensnobelpreis für seine Idee des Mikrokredits und sein Engagement für ein Bankenwesen, das jenen hilft, die bislang keine Hilfe der Finanzbranche zu erwarten hatten. Einige Jahre später gab es beunruhigende Hinweise, dass auch Mikrokredite einen unmenschlichen Rückzahlungsdruck ausüben können. So war es in Indien sogar zu Selbstmorden von 17 Frauen gekommen, die Mikrokredite in Anspruch genommen hatten. +2011 zeigte dann aber die erste größere Feldstudie des Massachusetts Institute of Technology und der Universität Yale zur Wirkung von Kleinstkrediten, dass sie die Lebensbedingungen von Menschen in Entwicklungsländern deutlich verbessern. In Regionen, in denen viele Mikrokredit-Institutionen existieren, zeigten die Forscher, werden mehr Unternehmen gegründet, die Kinderarbeit nimmt ab, und auch die Konsumgewohnheiten der Bevölkerung verändern sich: Die Nachfrage nach Investitionsgütern steigt, die nach Alkohol und Tabak sinkt. +Kiva ist Kopfkino: Ich stelle mir vor, was mit meinem Geld in Uganda und der Mongolei passiert, wie Amori und Shinebayar das Geld ausbezahlt bekommen, es investieren und so die Dinge ins Rollen bringen. Ich will natürlich kein finanzemotionaler Spanner sein, aber fast finde ich es schade, dass man die Unternehmensentwicklung nicht direkter mitverfolgen kann. Nur die regelmäßigen Ratenzahlungen, die auf dem Konto eintreffen, sind ein Indiz dafür, dass die Projekte der Kreditnehmer voranschreiten. Ein Kiva-Aktivist, der sich die Sache genauer angesehen hat, ist der amerikanische Reiseschriftsteller Bob Harris: Er hat in den vergangenen zwei Jahren mehr als 2.000 Kleinkredite vergeben und zusammen mit seiner Gruppe "Friends of Bob Harris" weit mehr als eine Million Dollar gesammelt. Kürzlich ist er von einer Weltreise zurückgekehrt, die ihn unter anderem nach Bosnien, Peru und Kambodscha geführt hat. "Ich wollte sehen, welchen Unterschied meine Investitionen gemacht haben", sagt er. Seine Erfahrungen verarbeitet er nun in dem Buch "The First International Bank of Bob". Der Titel ist kein Witz. Im 21. Jahrhundert kann jeder ins globale Geldgeschäft einsteigen. Wir sind Bank. diff --git a/fluter/wir-sind-griechenland.txt b/fluter/wir-sind-griechenland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..9a46fe325b0a7aeb93d772510ec9bd59e9b3ffd8 --- /dev/null +++ b/fluter/wir-sind-griechenland.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Und dann, Anfang der 90er-Jahre, war es plötzlich vorbei. Zuerst traf es, wie im ganzen Ruhrgebiet, den subventionierten Bergbau. Ein Verlust, den man womöglich noch hätte abfedern können. Wichtige Unternehmen aus dem Chemiepark wechselten nach der Wende in den Osten, wo üppige Fördergelder zur Ansiedlung neuer Industrien lockten. Die Folge war ein drastischer Einbruch der Einnahmen aus der Gewerbe- und Einkommenssteuer. Seit 1991 hat Marl keinen ausgeglichenen Haushalt mehr vorweisen können, die Gesamtschulden belaufen sich wohl auf mehr als 500 Millionen Euro. Längst gibt es kein "Tafelsilber" mehr, das sich zu Geld machen ließe. Und Ende 2015 schließt auch noch die Zeche Auguste Victoria, der letzte große Arbeitgeber vor Ort. Direkt betroffen sind 3.700 Mitarbeiter, bei den Zulieferern noch mehr. +"Uns sind die Hände gebunden", seufzt Bürgermeister Werner Arndt in seinem Büro, während der Kaff ee kalt wird. Belastend ist nicht nur das Schuldengebirge, das Arndt von seinen Vorgängern geerbt hat, sondern auch der Versuch der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, dieses Gebirge abzutragen. Sie hat einen "Stärkungspakt" aufgelegt, um die Kommunen aus der Schuldenspirale zu holen. 27 hochverschuldete Gemeinden können daran freiwillig teilnehmen, 34 überschuldete wurden dazu gezwungen – darunter Marl. +"Wir bekommen einen Zuschuss vom Land, müssen dafür aber einen Sanierungsplan vorlegen", erklärt Arndt. Ansonsten würde die Stadt ihre kommunale Selbstbestimmung verlieren und künftig von einem "Sparkommissar" verwaltet. Der Sparplan allerdings zwingt zu Kürzungen nicht nur in der Infrastruktur und im Straßenbau, sondern vor allem im sozialen und kulturellen Bereich: Schulen, Kindergärten, Fahrradwege – alles muss zusammengelegt, aufgeschoben oder ganz gestrichen werden. "Dazu kommen Verpflichtungen, die uns der Bund überträgt, wie die Bereitstellung von Kita-Plätzen oder der Solidaritätszuschlag für Kommunen in den neuen Ländern." So erhält Marl aus dem Stärkungspakt jährlich sechs Millionen Euro, von denen die Stadt fünf Millionen gleich wieder in den Osten überweisen muss. Da werde Finanzpolitik "nicht nach Bedürftigkeit, sondern nach der Kompassnadel" gemacht, meint Arndt. +Aufgerufen sind auch die Bürger, im Internet ihre Sparvorschläge einzubringen. Da wird angeregt, die Ampeln auf LED umzustellen, die Laternen ab 22 Uhr abzuschalten, die Grundsteuer zu erhöhen, mehr Strafzettel zu verteilen oder in der Verwaltung auf Farbausdrucke zu verzichten. Viele Bürger stören sich am Dienstwagen des Bürgermeisters, einem Audi A6, dabei sei das laut Arndt ein "sehr gutes Leasing-Angebot". Neuerdings gäbe es sogar ein noch günstigeres Angebot – aus Stuttgart. Aber wie solle er es seinen Bürgern erklären, wenn er plötzlich mit einem Mercedes zu seinen Terminen erscheint? +Um die beiden Rathaustürme mit dem Skulpturenmuseum gruppieren sich die gigantischen Riegel mehrerer Hochhäuser, wie sie in den 70er-Jahren schick gewesen sein mögen. Als Anziehungspunkt gedacht war die hochmoderne Mall namens "Marler Stern", wo sich unter dem größten Luftkissendach Europas rund 130 Geschäfte ansiedeln sollten. E-Plus, Reno oder Takko sind noch da, vom ehemaligen Hauptmieter Karstadt kündet nur noch der phantomhafte Schriftzug auf dem Waschbeton an der Fassade – dort, wo die Lettern einst prangten. Spätestens dieser Verlust machte den "Marler Stern" zu einem Einkaufszentrumszombie. "Wer soll denn hier einkaufen?", fragt die resolute Bedienung eines kleinen Restaurants, das sich in einem der leeren, viel zu großen Räume eingemietet hat: "Was soll denn eingekauft werden? Nein, das wird nicht besser!" +Ebenfalls im Zentrum, gleich neben dem denkmalgeschützten Gebäude des Adolf-Grimme-Instituts, steht in einem verwilderten Park ein weiteres Zeichen dafür, dass es hier auch einmal ganz andere Zeiten gegeben hat. Kühn und kantig erhebt sich da zwischen wuchernden Hecken das Hallenbad aus den 60er-Jahren. Seit 2001 ist es wegen Baufälligkeit geschlossen, sogar zum Abriss fehlt seitdem das Geld. Die gläserne Fassade ist an vielen Stellen von Steinwürfen zersplittert und notdürftig mit Holzplatten abgedichtet, auf der Terrasse steht hüfthoch das Gras, und zwischen den blauen Schleifen der Wasserrutsche sind gleichmütig die Bäume gewachsen. +"Datt is 'ne Tragödie, da habe ich seinerzeit noch schwimmen gelernt", erinnert sich Claus Lanczek und schüttelt den Kopf. Er sagt "datt" statt "das", wie das die Menschen im Ruhrpott eben so machen und was immer so klingt, als würde mit der flachen Hand auf den Tisch gehauen. Datt. Zupackend und bestimmt. Hauptberuflich arbeitet Lanczek unter Tage im Bergwerk, demnächst winkt die Rente. Ehrenamtlich ist er der "Fußballchef" der Stadt. Und einer ihrer Bürger, die der Misere nicht tatenlos zusehen wollen. Er hat sie am eigenen Leib erfahren, als die Spielstätten für seinen alten Verein zusehends verfielen. Kein Geld für Investitionen, kein Geld für Reparaturen. Elf Fußballvereine gab es einmal, Bergarbeitervereine, Chemievereine, Gastarbeitervereine. Geblieben sind nur wenige. +"Da haben wir uns mal zusammengesetzt und überlegt, was wir der Stadt anbieten können", sagt Lanczek. Drei Vereine boten an, zu einem neuen Verein zu fusionieren und der Stadt ihre Sportplätze zu überlassen, damit sie eingeebnet und die Grundstücke verkauft werden können. Bedingung war, dass im Gegenzug eine moderne Spielstätte errichtet werden sollte. Es war ein Angebot, das die Stadt nicht ablehnen konnte. 2005 wurde die Fusion beschlossen. Erst heute, sieben Jahre sowie "69 Treffen mit dem Amt" später, sitzt Lanczek zufrieden an einem Tisch im neuen Vereinsheim. Die neue Mannschaft heißt selbstbewusst FC Marl 2011 und spielt derzeit im Mittelfeld der Bezirksliga. Kein Aufstieg in Sicht, aber auch nicht vom Abstieg bedroht. +Hinter Lanczek liegt auf einem Plateau der neue Fußballplatz mit Flutlicht, Tribüne und pflegeleichtem Kunstrasen. Ein einsamer Laubbläser dreht seine Runden. Daneben üben sich Schüler des benachbarten Albert-Schweitzer-Gymnasiums auf einem ebenfalls neuen Rasenplatz im Speerwurf. Ein dritter Kunstrasenplatz ist noch im Bau, Arbeiter sind keine zu sehen, Bagger auch nicht. Der Wind trägt in Zeitlupe bleiche Sandhaufen ab. "Datt dauert", sagt Lanczek mit bewährtem Gleichmut, "aber datt wird." diff --git a/fluter/wir-sind-keine-radios.txt b/fluter/wir-sind-keine-radios.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..21cb204bd60e837f6f69e51509fef41ce27deda6 --- /dev/null +++ b/fluter/wir-sind-keine-radios.txt @@ -0,0 +1,27 @@ +In meiner Klasse sind 20 Schüler, darunter Yves aus Haiti, der schon Englisch und Französisch beherrscht und bei einer Hotelreservierungswebsite arbeitet. Oder Diego aus der Dominikanischen Republik, der schon in der ersten Stunde seinen Tisch ganz nach hinten in die Ecke schiebt und immer mit einem Stock herumläuft, unter den er einen gelben Schwamm geklebt hat. Oder Hafiz, der Syrer, der mir in der vierten Stunde zuflüstert, dass dieser Schwamm stinkt. Und zwar in einwandfreiem Deutsch. +Neben Yves, Diego, Hafiz und mir gibt es noch zwei iranische Schüler, zwei Türkinnen, zwei Polen, zwei Kenianer und jeweils einen Schüler oder eine Schülerin aus dem Libanon, Brasilien, Guinea, der Slowakei, Serbien, Angola, Syrien, Litauen und der Dominikanischen Republik. Kein Land wird also von mehr als zwei Leuten vertreten. "Zum Glück. Weil sich sonst störende Parallelgespräche entwickeln", sagt Stefan, der Lehrer, den ich nach der fünften Stunde schon ziemlich gut beschreiben kann: Er trägt eine Brille, hat kurze, hellbraune Haare, Sandalen, ein oranges Hemd und Shorts. Und er ist sehr, sehr geduldig. +"Hat jemand Fragen?", fragt Stefan nach einer Lektion über Körperteile, bei der ich ein neues Wort gelernt habe: Handteller! +"Ja!", meldet sich Diego aus seiner Ecke. +"Wir haben diese Decke? Warum? Diese Decke." +Stefan guckt etwas ratlos. +"Diese Decke!" Diego zeigt auf seinen Arm. +"Diego, was denn für eine Decke?" +Diego überlegt und korrigiert sich (was, das hab ich mal gehört, ein gutes Zeichen ist bei jemandem, der eine Sprache lernt): "Haut! Warum haben wir diese Haut?" +Wir anderen gucken uns an. +"Weil ein Radio funktioniert auch ohne so eine Decke." +Diego ist nicht zum ersten Mal im Kurs. Er wohnt schon seit über 20 Jahren in Deutschland, und Stefan kennt ihn schon länger. +"Ja, aber wir sind ja auch keine Radios, Diego", sagt er souverän. Diego scheint unzufrieden mit der Antwort, fragt aber nicht weiter. +Dann spielen wir ein Brettspiel, bei dem wir Sätze aus verschiedenen Elementen bilden müssen. "Die braunen Handschuhe finde ich schön", oder: "Einen hellblauen Mantel wollte ich schon immer." Ich spiele mit der polnischen Magda, die tagsüber Kinder betreut und abends hierherkommt. Sie findet den Kurs sehr anstrengend, aber sie will unbedingt in Deutschland bleiben. Ich verliere das Spiel, weil es – wie so oft in der Integrationsklasse – um Endungen von Adjektiven geht: ein schönes Auto, ein schöner Baum, einen schönen Tag noch ... Wie schön einfach Englisch doch ist! "Achten Sie auf die Endungen!", ruft Stefan. +Wenn ich in meinem sonnigen Berliner Ausländerleben ausnahmsweise mal Deutsch sprechen muss, dann versuche ich immer, die Endungen zu vernuscheln. Das hat bisher immer geklappt. Leider hilft das im Integrationskurs überhaupt nicht. Und plötzlich fühle ich mich wie auf einer Zeitreise – zurück in meine Kindheit. +Ich sitze auf der Schulbank in Manchester, neben mir der blöde, schwitzende Jason, und im Gesicht habe ich eine juckende Akne. Ich kann die Pickel hier und heute, Jahrzehnte später spüren. Eine deutsche Grammatiktafel hat gereicht, um sie zurückzubringen. Dann habe ich einen kurzen Tagtraum, in dem mir Thilo Sarrazin erscheint und mit einem Zeigestock auf eine gigantische Adjektiv-Endungen-Tabelle pocht. "Achtung! Achten Sie auf die Endungen!", ruft er. Poch, poch, poch! +"Hat jemand Fragen?" Wieder Stefan. +"Ja, ich!" meldet sich Diego noch mal. "Aber ist zu schwer." "Ist es eine Frage zur Aufgabe oder zum Leben, Diego?" +"Zum Leben." +"Dann heute nicht." +Weil mir die rund 500 Stunden, die ich noch vor mir habe, endlos erscheinen und ich endlich mehr über die deutsche Kultur wissen will, besuche ich einen Orientierungskurs an einer Volkshochschule. Es soll um die "grundlegenden Werte der deutschen Gesellschaft" gehen, um die Geschichte, das "politische System" und die "Rechtsordnung". Der Lehrer Ralf ist nett. Sein Unterrichtsstil besteht hauptsächlich darin, so oft wie möglich zu erklären, welche Frage bei der Prüfung, die am Ende der Mühen steht, gestellt werden und was wir antworten sollen. An der Orientierung soll die Integration nicht scheitern. +Ich verrate hier nichts. Aber ehrlich gesagt sind die Fragen nicht besonders schwer. Kein Wunder, dass die Schüler deutlich entspannter sind als im Sprachkurs. Aber eine Schwierigkeit gibt es doch: Ralf sagt, dass die Farben der deutschen Fahne Schwarz-Rot-Gold seien, worauf es im Klassenzimmer Protest gibt. "Aber sie ist doch unten gelb!", sagt ein Pole, und wir anderen stimmen ihm zu. +"Es ist Gold", sagt Ralf. "Es kann nur Gold sein." +"Es sieht nicht wie Gold aus", meldet sich jemand aus Afrika. +"Aber die Fahne heißt ,Schwarz-Rot-Gold'", beharrt Ralf. +Und alle denken nur das eine: Wie schwer kann eine Sprache sein, wenn in ihr Gelb ein anderes Wort für Gold ist? Ich glaube, ich lern's nie. +Unser Autor Ben ging in Manchester zur Schule, wo er immerhin fünf Jahre Französisch lernte. Dennoch kann er gerade mal ein Baguette kaufen. Apropos: Am absurdesten findet Ben in Deutschland, dass hier niemand verbrannten Toast essen will, weil man davon Krebs bekommen könnte. diff --git a/fluter/wir-sind-pokerspieler-unserer-existenz.txt b/fluter/wir-sind-pokerspieler-unserer-existenz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..4b2e9a01468f5110a1d0161b3328866ed82ea978 --- /dev/null +++ b/fluter/wir-sind-pokerspieler-unserer-existenz.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Was ist das überhaupt für ein Ding, dieses Geld, das die Welt derzeit so in Atem hält? +Es ist ja oft gar kein Ding mehr, sondern hat sich entmaterialisiert. Nur noch rund elf Prozent aller US-Dollar existieren als Bargeld, der Rest besteht aus elektronischen Zahlenströmen. Gerade wegen dieser Unsichtbarwerdung, so meine These, kann das Geld seine Logik der Gesellschaft ja umso wirkungsvoller aufprägen. Ökonomisch kann man das Geld relativ schlicht durch drei fundamentale Geldfunktionen definieren: Tauschen, Messen und Werte bewahren. Damit ist das Geld als ökonomisches Werkzeug beschrieben. Mich interessiert aber viel mehr seine Rolle als Leitmedium der Moderne. Geld ist ein symbolisches und diabolisches Medium. Es ist symbolisch, weil es Dinge zusammenbringt, die nicht unbedingt zusammengehören – wenn etwa der Freier zur Prostituierten geht statt zu einer Geliebten. Und es ist ein diabolisches Medium, das alles Urwüchsige wie Freundschaften und Verwandtschaftsverhältnisse auseinanderbringen kann. Es wirkt wie ein Spaltpilz – zum Beispiel hat das Geld die Fürsorge für Alte, die früher innerhalb der Großfamilie geregelt wurde, in eine Ware verwandelt. So hat es die Menschen vereinsamen lassen. +Und daran soll ernsthaft das Geld schuld sein? +In der Moderne kommt der diabolische Aspekt des Geldes als Medium der Vereinzelung voll zum Durchbruch. Das hat mit dem Schuldbegriff zu tun. Eine Freundschaft war ursprünglich mal ein zweiseitiges Schuldverhältnis. Man hat vom Freund alle möglichen Leistungen erhalten und stand danach in seiner Schuld und umgekehrt. Nur war dieses Gefühl nicht negativ besetzt. Man begrüßte diese Bindung, die einem Sicherheit gab. Heute dagegen wollen alle nur noch miteinander quitt sein und können kaum noch akzeptieren, wenn ihnen jemand unentgeltlich bei irgendetwas hilft. Wir sind zu Pokerspielern unserer Existenzen geworden. Und Geld ist das letzte Band, das die Gesellschaft noch verbindet. +Laut einer Studie ist jenseits eines Jahreseinkommens von rund 60.000 Euro kein Zugewinn an Glück zu erwarten. Dennoch wollen die meisten Menschen immer mehr Geld haben. +Geld ist der Universalversicherer gegen alle Unbilden des Lebens geworden. Ich glaube dennoch nicht, dass der Mensch ein ausgesprochen gieriges Wesen ist. Die neusten Entdeckungen in den Neurowissenschaften und in der experimentellen Ökonomie deuten darauf hin, dass der Mensch eigentlich ein zutiefst prosoziales Wesen ist. Es gibt auch die These, dass die altruistischen Tendenzen des Menschen mit zunehmender Differenzierung der Gesellschaft wieder anwachsen werden. +Wenn es nicht die Gier ist, ist es dann vielleicht die Angst, die uns vom Reichtum träumen lässt? +Wer kennt das nicht, dass man aufgrund von Geldsorgen nicht schlafen kann? Diese Angst hat damit zu tun, dass wir von einem unsichtbaren System abhängen, in dem wir nicht mehr intervenieren können. Früher konnte man mit seinem Bankberater ja noch reden. Heute sagt einem das Fräulein in der Hotline nach ewiger Warterei: "Entschuldigung, aber der Computer schluckt das nicht." Ich weiß, wovon ich rede, ich habe praktisch auch mein ganzes Leben lang mit schwierigen Monatsenden zu kämpfen gehabt. +Wie hat Geld den Charakter der Menschen verändert? +Eigentlich verbietet die Bibel den Wucher, und jetzt gibt es eine gigantische Bankenindustrie. Man hat jahrhundertelang darum gerungen, dieses Wucherverbot aufzulösen. Der Soziologe Benjamin Nelson sagte, dass die Zinsbefreiung die Entwicklung von der Brüdergesellschaft zur universalen Gesellschaft der Individuen ist. Und das ist nicht falsch. Der Zins haucht dem Geld, das eigentlich ein Werkzeug sein soll, Leben ein: eine Schöpfung aus dem Nichts. Ihm Leben einzuhauchen ist ein magischer Vorgang, den zuerst Goethe im "Faust II" ausformulierte. Heute brauchen wir eine neue Zinsdebatte. Je mehr der Zins befreit wird, desto mehr fördert man faustische Figuren wie die Banken zutage. Heute hat der Faust noch viel zu viel Freiheit. Deshalb denke ich, dass in einer zukünftigen Wirtschaft der Bankensektor ganz massiv gesetzlich eingerahmt werden und Finanzströme fiskalisch belastet werden müssen. Um die Banken wieder zu einem Mindestmaß an gesellschaftlicher Solidarität zu bringen. +In Ihrem Buch argumentieren Sie, dass der entscheidende Bruch erst Anfang der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts stattgefunden hat. +Die Zeit der späten sechziger Jahre mit ihren gesellschaftlichen Realutopien und Pophelden wie Bob Dylan, Jim Morrison und Janis Joplin, die gehört für mich noch zu einer Ära, die ich als "Softmoderne" bezeichne. Aber Anfang der siebziger Jahre kam es zu einem Bruch: Die Wirtschaft gelangte an ihre natürliche Wachstumsgrenze, und die Ressourcen wurden mit der Ölkrise erstmals spürbar knapp. Nun wurde der Geldhahn wahnsinnig aufgedreht – durch den privaten Kredit, durch die Liberalisierung des Bankensektors und indem man das Geld von jeglicher materiellen Bindung abkoppelte. Es kam zur großen Elektronifizierung der Zahlungsströme. Die Wirtschaft bahnte sich einen neuen Weg, indem sie nicht mehr nur die Natur, sondern mit diversen Dienstleistungen nun auch den zwischenmenschlichen Bereich ausbeutete. Der Kapitalismus verwandelte symbolische Güter in Waren. Wenn man diese Zeit von vielleicht 18 Monaten mit all ihren Ereignissen zusammennimmt – übrigens auch die geballten Suizide unserer damaligen Pophelden –, dann kommt man zu dem Schluss: Hier ist etwas in die Brüche gegangen. Hier ist eine "Schwellenzeit" zu verzeichnen, die noch kaum ins Bewusstsein der Menschen getreten ist. +Teilen Sie die weit verbreitete Angst vor der Pleite von Banken? +Ja sicher, denn das ist mit viel Leid verbunden. Überhaupt sind wir heute alle umgeben von einem existenziellen Sorgenschleier. Jedes Mal wenn wir die Zeitung aufschlagen, sagen wir: "Oh nein, der Dax ist wieder ein Stück weiter in die Tiefe gerutscht!" Also, mich bedrückt das, obschon ich nie Börsianer war und diesen Index mit Argusaugen betrachte. Diese Geldsorgen überdecken mittlerweile völlig die wahren existenziellen Sorgen, wie etwa den Gedanken an den Tod. Und sie schneiden uns damit auch vom richtigen Leben ab. Aber es ist eben so, dass beide Ängste in der Moderne zusammenhängen, dass also die existenzielle Angst an den Besitz von Geld geknüpft ist. Je weiter unten in der Gesellschaft jemand lebt, desto existenzieller ist diese Angst. +Mal aus der Perspektive eines Zeitreisenden betrachtet, der zufällig in der Gegenwart landet: Er hört, dass ganze Staaten vom Bankrott bedroht sind. Er erfährt, dass auch Banken reihenweise vor dem Aus stehen. Und dann heißt es, dass beide Seiten sich gegenseitig retten sollen – mit etwas, das man nicht einmal sehen kann: Geld. Wie würden Sie ihm das erklären? +Das sind zwei Schiffbrüchige, die glauben, dass sie über ein Floß verfügen. Das Einzige, was aber noch existiert, ist ihr gemeinsames Vertrauen, dass es irgendwo ein Floß gibt. Und dieses Floß sollte der Staat sein. Der Staat entsteht heute neu als letzter Kreditgeber – die letzte Instanz, aus der noch Vertrauen geschöpft werden kann. Aber das ist nur noch eine Fiktion. Man spricht schon lange vom Ende der Regierbarkeit. Ich möchte nicht in der Haut eines Politikers stecken, der versucht, dieser Fiktion Substanz zu geben. +Wie kann es eigentlich sein, dass etwas, das sich so wie das Geld vermehrt hat, heute überall fehlt? +Wir haben ein Wirtschaftssystem, das in unwahrscheinlicher Weise Geld schöpft und es dorthin bringt, wo man es nicht braucht – während das Geld dort, wo man es brauchen könnte, immer fehlt. Das Geld wird zunehmend dort reingesteckt, wo es absolut unwirtschaftlich ist: in Riesenspektakel, Riesenfilme, Olympiaden und Autorennen. Wir haben einen zusammenbrechenden Planeten, und man schöpft Geld, um es in diesen Millionen verschlingenden Unsinn zu stecken. Dort hingegen, wo man noch die Ressourcen hat, um wirtschaftliche Güter herzustellen, da fehlt es. Das ist völlig irrsinnig. +Hatte Karl Marx also recht, und Geld ist das Werkzeug der Ausbeutung? +In vielen Belangen hatte Marx recht. Er hat bereits gesehen, dass Geld immer mehr Geld heckt. Aber für ihn musste das aufgrund seiner Theorie immer auf dem Buckel der Arbeiter stattfinden. Er hat noch nicht sehen können, dass Geld eine "creatio ex nihilo", eine Schöpfung aus dem Nichts ist – nicht mehr nur Werkzeug zur Ausbeutung der Arbeiter, sondern autonomes Medium, das die gesamte gesellschaftliche Kommunikation überformt. Man könnte daher sagen: Mit dem vollen Durchbruch der monetären Dynamik Anfang der siebziger Jahre ist Marx eine historische Theorie geworden, die nicht mehr die nötigen Denkmittel zur Verfügung stellt, um unsere heutige Situation zu begreifen. +Und wie sollen wir aus der Misere wieder herauskommen? Mit dem von der Politik so oft beschworenen Wirtschaftswachstum? +Mein Lehrer Hans Christoph Binswanger hat schon in den frühen siebziger Jahren über die Unvereinbarkeiten von Ökologie und Ökonomie geschrieben. Binswanger ist kein radikaler Querulant, sondern ein vernünftiger Denker, der gezeigt hat, dass ein materielles Wachstum aufgrund der knapper werdenden Ressourcen nur noch sehr beschränkt möglich ist. Vielmehr muss über ein Wirtschaftssystem mit beschränkten Mitteln nachgedacht werden und im Zuge dessen auch über das ganze Geldwesen. Und das tun viele Menschen ja auch schon. Es entstehen immer mehr autonome Tauschringe, wie zum Beispiel der Talente-Tauschkreis Vorarlberg. Das sind in keinster Weise Revoluzzer, sondern Kleinunternehmer und Handwerker, die über neue Formen der Marktwirtschaft nachdenken, um die Ressourcen an den Ort ihrer bestmöglichen Verwendung zu bringen. +Sehen Sie das Heil also in einer optimierten Marktwirtschaft? +Ich bin kein flammender Verfechter der Marktwirtschaft. Der Markt hat immer mit Erfrierung von Sozialbeziehungen zu tun. Aber ökonomisch gesehen ist uns bislang kein besseres System zur Verteilung von wirtschaftlichen Größen eingefallen. Und in der derzeitigen Lage können wir uns auf gesamtgesellschaftlicher Ebene auch keinen experimentellen Luxus erlauben. Erstmal heißt es weitermachen mit diesem System. Aber wenn die Krise überwunden ist, muss man noch mal über grundsätzliche Veränderungen nachdenken: Brauchen wir Elemente einer Planwirtschaft? Wollen wir "small is beautiful"? Bis dahin ist der Markt eine provisorische Maßnahme. +Und was kann der Einzelne tun? +In ersten Ansätzen wird ja bereits wieder an die Realutopien der frühen siebziger Jahre angeknüpft, die jahrelang nur als Verrücktheiten von Spinnern galten. Ich denke da an die genannten Tauschringe, aber auch an Formen des einfacheren Lebens und die Forderung nach einem garantierten Mindesteinkommen, das durchaus finanzierbar wäre. Man wird einen Passus finden müssen, der moderne Technologien mit einer Form von sanfter Askese verbindet. Ein Lebensstil, der den Menschen weniger Arbeitszeit aufbürdet und ihnen wieder mehr Freiraum lässt. diff --git a/fluter/wir-sind-suechtig-nach-geschwindigkeit.txt b/fluter/wir-sind-suechtig-nach-geschwindigkeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/wir-sind-unverwuestlich.txt b/fluter/wir-sind-unverwuestlich.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a7bde1f2fc481010270014948f4e0940b9e3b501 --- /dev/null +++ b/fluter/wir-sind-unverwuestlich.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Wie erleben Sie die Auswirkungen des Klimawandels auf Fakaofo? +Die Zahl der Zyklone hat erheblich zugenommen. Zudem sind die Stürme wesentlich intensiver geworden. Für diese Saison wurden elf Zyklone vorhergesagt, vier hatten wir schon. Überall kämpfen wir heute schon mit den Folgen von Überschwemmungen und Erosion. An manchen Stellen haben wir in den vergangenen fünf Jahren bis zu drei Meter Land verloren. Außerdem ist es heißer geworden, das Wasser ist wärmer, was zur Folge hat, dass so manche Fischart, wie sie früher in der Lagune vorkam, verschwunden ist. +Überall in Fakaofo sieht man Schutzmauern gegen den steigenden Meeresspiegel. Gibt es denn überhaupt eine Hoffnung für Tokelau? +Wir Bewohner von Tokelau sind unverwüstlich. Wir leben schon viele Jahrhunderte hier auf unseren kleinen Atollen. Trotz der Herausforderungen, mit denen uns die Natur konfrontiert. Aber der Klimawandel wurde durch menschliche Gier verursacht. Die großen Industrienationen müssen lernen, bescheiden und demütig zu leben. Sie müssen sich eingestehen, dass sie den Klimawandel verursachen und endlich die Treibhausgasemissionen in den Griff bekommen. Das würde auch den kleinen Nationen wie Tokelau Hoffnung geben. Auch wenn wir eine kleine Nation sind und wir nur einen minimalen Anteil an dem Unglück haben, wollen wir mit gutem Beispiel vorangehen. Bis Ende 2010 haben wir uns vorgenommen, unsere Energie vollständig aus erneuerbaren Energien zu beziehen. +Wohin werden Sie gehen wollen, wenn Tokelau tatsächlich so sehr bedroht ist, dass sie die Insel verlassen müssen? +Daran will ich nicht denken. Die ganze Welt weiß doch um die Folgen des Klimawandels. Die Regierungen müssen endlich handeln. +Haben Sie Angst vor der Zukunft? +Natürlich habe ich Angst vor der Zukunft. Es kann sein, dass es für uns zu spät sein wird, wenn die Welt sich endlich entschließt, gegen den Klimawandel gemeinsam vorzugehen. Ich fühle mich sehr hilflos, weil ich nichts für meine Kinder und Enkel tun kann. Aber ich glaube fest daran, dass wir eine Zukunft haben, wenn der Kampf gegen den Klimawandel jetzt beginnt. +Foua Toloa (56) lebt mit seiner Frau und seinen sechs Kindern auf der Hauptinsel Fale des Atolls Fakaofo im Südpazifik. Das Eiland gehört zum Archipel Tokelau und liegt nahe am Äquator, 480 Kilometer von Samoa entfernt. Toloa ist der derzeitige Ulu seines Landes, der höchste Repräsentant, ein Amt das jährlich unter den drei Inselchefs rotiert. diff --git a/fluter/wir-tun-nicht-was-wir-wissen.txt b/fluter/wir-tun-nicht-was-wir-wissen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..300bdf02186dc268a21dc081c55172c459f973e7 --- /dev/null +++ b/fluter/wir-tun-nicht-was-wir-wissen.txt @@ -0,0 +1,39 @@ +Kommt nicht aber sowieso immer etwas dazwischen? +Deshalb versuchen wir für eine realistische Zukunftsgestaltung etwa durch negative und positive Zukunftsszenarien, Simulationsmodelle und durch die Darstellung nicht nur wahrscheinlicher Zukunftsbilder, sondern auch prinzipiell möglicher und wünschbarer Zukunftsoptionen Entwicklungen aufzuzeigen. Dabei werden auch Störfaktoren mit einbezogen. Etwa durch die Wild-Card-Methode: eine ökonomische Wild Card wäre z. B. der Zusammenbruch des globalen Finanzsystems oder eine Ölpreiskrise. +Zukunftsforscher reden gern von Trends. Welche sehen Sie? +Es kann keinen Zweifel geben, dass ein Megatrend die wissenschaftlichen und technologischen Innovationen der Zukunft sein werden, ein anderer die Umweltbelastungen und der Raubbau an den Naturressourcen. Die größte Aufgabe des 21. Jahrhunderts besteht darin, die hocheffizienten Zukunftstechnologien nicht weiter in ökologisch und sozial zerstörerischer Weise, sondern im Sinne einer nachhaltig zukunftsfähigen Entwicklung zu nutzen. Dass das prinzipiell möglich ist, steht außer Frage. +In Deutschland werden die Menschen immer älter, es gibt zu wenig Nachwuchs und in vielen Bereichen einen Reformstau. Wo sehen Sie denn bei uns den Aufbruch? +Wir sind leider auf einem schlechteren Weg als noch vor zehn Jahren. Ich hoffe aber, dass die globale Erwärmung jedem zu denken gibt und die Notwendigkeit regenerativer Energien, neuer Stromspeichertechnologien und Nahwärmesysteme klar wird. Ich bin optimistisch, weil wir vor drei bis vier Jahren den Break-even erreicht haben – also den Punkt, an dem die Entwicklung hin zu einem technologischen und volkswirtschaftlichen Fortschritt durch Nachhaltigkeit unumkehrbar geworden ist. Wir sind auf dem Zukunftskurs, und die großen Energieversorger, die uns jahrelang die Beine weggeschlagen haben, sind auf dem Rückzug. Die Versuche, die dezentralen regenerativen Energien zu sabotieren oder die Atomkraft aufleben zu lassen, sind letzte Zuckungen eines veralteten Denkens. +Die Zukunft als technologischer Marktführer könnte doch so einfach sein: ein sauberes Land, das seine saubere Technik in alle Welt exportiert. Wo ist das Problem? +Das ist fast schon eine kuriose Situation. Noch bis vor wenigen Jahren hat die Politik dieses Zukunftsfeld oft weggeschoben. Wenn Politiker – egal welcher Partei – heute über Arbeitsplätze reden und über die Zukunft der Wirtschaft, dann kommen sie immer nur auf Umwelttechnologien. Deswegen ist es schon grotesk, das immer noch zu negieren. Vor einiger Zeit gab es einen Artikel im "Handelsblatt": "Wirtschaft pocht auf strengen Klimaschutz." So eine Schlagzeile hätte es vor fünf Jahren nicht gegeben. +Das Erreichen der Klimaziele liegt doch aber nicht nur an den Unternehmen. Gibt es nicht noch zu viele Bürger, die ihr Verhalten nicht ändern? +Ich bin sicher, dass wir schon zwischen 2030 bis 2040 eine vollständige Versorgung mit regenerativen Energien schaffen könnten, aber dafür müssen alle weniger Strom verbrauchen. Nicht nur die Industrie. Aber das ist ja durchaus möglich, weil die ganzen Geräte dafür da sind. +Eine andere Aufgabe für die Zukunft ist die Bekämpfung der Armut und des Welthungers. Müsste man nicht vielen Ländern der Dritten Welt die Schul­ den erlassen, um die Flüchtlingsströme zu verhindern, die die Welt ja langfristig viel mehr kosten – genau wie die Kriege, die in diesen Regionen ausbrechen. +Ja, das wäre in die Zukunft gedacht. Aber stattdessen baut man lieber immer höhere Zäune. Das ist ein klassisches Beispiel für Realitätsverweigerung. +Der Kampf gegen die Armut und die Erderwärmung sind sehr große, langfristige Ziele. Politiker werden aber immer nur für relativ kurze Zeiträume gewählt. Ist das nicht ein großes Problem? +Absolut: Es gibt kaum Langfrist-Denken und kaum Langfrist-Strategien. Das ist in dieser Zeit des Klimawandels, der Vernichtung von Boden, der sozialen Verwerfungen zwischen Erster und Dritter Welt und der Globalisierung das Schlimmste. Bei diesen Herkulesaufgaben ist es mit Kurzfrist-Denken nicht mehr getan. Viele Firmen gehen pleite, weil nur auf schnelle Gewinne geschaut wurde, anstatt an die Zukunft zu denken. Deswegen ist ja unter anderem die deutsche Autoindustrie in einem schrecklichen Zustand. +Weil sie anstatt Hybridautos entworfen zu haben, auf immer größere Motoren und Karossen setzte? +Ja, da wurde an der gesellschaftlichen Realität vorbeientwickelt. Die meisten Konzerne wollen unter dem Druck der Aktionäre nicht übermorgen und gar in fünf Jahren Gewinne machen, sondern sofort. Das führt zu kurzen Innovationszyklen, und meistens sind das gar keine richtigen Innovationen. Statt sparsame Motoren zu entwickeln, haben viele Autobauer kurzfristige Gewinne gemacht – mit Autos, an denen vielleicht das Design eines Scheinwerfers neu war, anstatt mit Produkten, die die Ressourcen schonen. Man muss sich mal vorstellen: ein Geländewagen, der zwei Tonnen wiegt, verbraucht bei der Produktion das 20-fache an Rohstoffen. Wir haben zu unserer großen Überraschung festgestellt, dass sogar in kleineren, mittelständischen Unternehmen nur in Rhythmen von drei bis fünf Jahren gedacht wird. Aber eine Erfindung in der Pharmazie oder im Maschinenbau braucht oft doppelt so lang, bis sie marktreif ist. Da reicht das kurzfristige Denken nicht. +Manager denken an die Aktionäre, Politiker an die Wähler. Wo ist der Unterschied? +Was das kurzfristige Denken anbelangt, ist der Unterschied nicht groß. Die Regierungsperiode ist vier Jahre lang. Zu Beginn gibt es langwierige Koalitionsverhandlungen, im letzten Jahr denkt man schon wieder an Wahlkampf. Da bleiben vielleicht drei Jahre zum Gestalten übrig. +Wie kann man das ändern? Mit längeren Legislaturperioden? +Man könnte natürlich auf fünf oder sechs Jahre verlängern, das wäre nicht schlecht. Aber vor allem würde ich mir eine größere Unabhängigkeit bei Entscheidungen wünschen. Weniger Gruppenbildung oder Einbindung in Fraktionen. Die Politiker müssten mehr fachlichen Sachverstand haben und weniger Angst, bei einer Abwahl in ein schwarzes Loch zu fallen. Wir benötigen ein größeres Spektrum an aktiven Menschen unterschiedlicher Disziplinen. Heute haben wir circa 150 Juristen im Bundestag und 110 Lehrer.  Viele, die andere Berufe erfolgreich ausüben oder Unternehmer sind, fürchten das schlechte Image der Politik. +Lassen Sie uns über Jugendliche sprechen, schließlich machen doch die unsere Zukunft aus. Wie zukunftsfähig sind sie denn? +Leider hat sich das ausgeprägte egoistische und konsumtive Verhalten von früher kaum geändert. Eher das Gegenteil. Wir haben heute eine extrem ich- bezogene Jugend. Es gibt natürlich viele Ausnahmen, aber viele sind nicht mehr in der Lage, das Wichtige vomUnwichtigen zu unterscheiden und sich in der Informationsflut im Internet zurechtzufinden. Dann schwimmt man eben mit dem Strom und macht das nach, was die anderen vormachen. +Gibt es deswegen so viele Revival­ Wellen? Dass also auf einmal viele Jugendliche herumlaufen wie in den 80ern oder 90ern? +Das hat sicher damit zu tun. Etwas, das schon mal da war, nachzuahmen, ist wesentlich bequemer als neue Welten zu entdecken. +Wie muss sich denn die Bildung ändern, um den Schülern die Zukunft schmackhafter zu machen? +An den Schulen wird viel zu wenig Wert auf soziale Kompetenzen gelegt, auf Mentalitätskompetenz und Kulturverständnis. Egal, um welchen Erdteil es geht: Die Menschen sind nicht auf internationale Verbindungen und Netzwerke vorbereitet. Es wird zwar immer viel von Globalisierung geredet, aber da steckt wenig dahinter. Man braucht ein solides Fachwissen und die Fähigkeit zu vernetztem Denken – ein Denken über den eigenen Fachbereich hinaus und vor allem Orientierung. +Die Globalisierung findet vor allem im Internet statt. Es gibt so viele Informationen wie noch nie zuvor, und dennoch wird die Welt von einer Krise wie dem Zusammenbruch der Banken überrascht. Wie kann es sein, dass niemand so etwas kommen sieht? +Viele Menschen und Institutionen wie etwa die Weltbank oder die Bundesbank mussten wissen, dass die Blase platzt. Wir hatten 2007 einen  gigantischen Anstieg von Spekulationen. Täglich wurden Tausende Milliarden Dollar virtuell durch die Welt geschoben. Die Kontrollen dafür gingen gegen null. Das waren Leute, die nur an ihrem Computer saßen und riesige Gehälter kassierten, mit denen sie sich Autos, Häuser und Schiffe kauften, ohne einen einzigen Dollar an Wert zu schaffen. So etwas kann ja gar nicht funktionieren. Und die Banken haben dieses Spiel mitgespielt und sich Finanzprodukte ausgedacht, die zu einer Kaskade von Krediten führten. Es war eine reine Luftnummer. +Momentan bekommen manche Banker schon wieder riesige Bonuszahlungen, nachdem ihre Institute mit staatlichen Milliarden gerettet wurden. Ist die Welt nicht lernfähig? +Der Finanzsektor ist der einzige Wirtschaftsbereich, der ungeregelt ist. Man muss sich malvorstellen, wenn der Pharmasektor ungeregelt wäre. Da gäbe es wahrscheinlich einen Contergan-Fall nach dem anderen. Oder die Chemiebranche oder die Atomwirtschaft. Es gäbe Katastrophen noch und nöcher. +Bisher galt ein Land als gesund, wenn die Wirtschaft wächst. Momentan tut sie das nicht. Ist ein immerwährendes Wachstum überhaupt realistisch und auch in Zukunft der richtige Gradmesser für die Gesundheit einer Volkswirtschaft? +Es gibt nicht eine Größe auf der ganzen Erde, die immer nur wächst. Das ist eine abstruse Geschichte. Ich war Mitglied in der Deutschen Delegation bei der Rio-Konferenz 1992, bei der zum ersten Mal Umwelt- und Wirtschaftsfragen im globalen Rahmen erörtert wurden. Schon damals haben wir den Begriff "Entwicklung" eingeführt. Die Erde entwickelt sich, aber sie wächst nicht ständig. Es geht nicht um schiere Größe, sondern um ein Gleichgewicht zwischen Natur und Mensch. Wir können uns die ganze Menschheitsentwicklung anschauen: Es hat immer Wachstum und Schrumpfung gegeben, aber wir sind aus dem Gleichgewicht rausgesprungen. Wir müssen schauen, dass wir wieder hineinkommen. Dieser Wachstumsfetischismus hat uns ja die ganze Zerstörung der Lebensräume eingebrockt und dennoch beharren manche Leute darauf. Dabei hat die Lebensqualität seit 1976 trotz Wachstum auch in den Industrieländern abgenommen. Was wollen wir denn mit dem Wachstum? +Werden wir 2020 weiter sein? +Wir sind ja eigentlich schon ziemlich weit. Aber wir tun nicht, was wir wissen. Wir müssen die guten Ansätze weiterverfolgen. Die Erkenntnisse der Nachhaltigkeitsforschung liegen auf dem Tisch, in Berichten der UN stehen hervorragende Perspektiven und Anweisungen zum Handeln – nur, umgesetzt werden vielleicht fünf Prozent davon. +Wie wichtig ist der einzelne Bürger in diesem Prozess? +Sehr. Aber wenn ich das Verhalten der Menschen betrachte, habe ich ein ambivalentes Gefühl. Wir haben gute Ansätze im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements, in Verbraucherorganisationen oder NGOs. Wenn wir diesen  individuellen Enthusiasmus nicht hätten, dann wären wir schon an die Wand gefahren. Die eigentlichen Innovationen in der Gesellschaft kommen fast nur aus diesem Bereich. Andererseits gibt es viele Menschen, denen die Zukunft völlig egal ist. Wenn ich diese riesigen SUVs sehen, denke ich immer: Ja, sind wir denn in der Atacama-Wüste? Die verbrauchen zwischen 18 und 24 Liter Benzin, aber die Besitzer kaufen ihre Lebensmittel beim Biosupermarkt. Da verliert man den Glauben an den Verstand der Leute. +Kann die Zukunftsforschung dazu beitragen, die Gesellschaft mitzugestalten? +Unternehmen und Politiker erkennen allmählich, wie wichtig der Blick in die Zukunft ist. Wir können die Zukunft nicht voraussagen, aber wir wissen mehr darüber, als viele Menschen glauben. Dennoch benötigen wir noch mehr Akzeptanz. Es gibt vielleicht fünfoder sechs Institute wie uns, keines da- von wird öffentlich gefördert. Aber es gibt in Deutschland über 3.000 Institutionen, die sich wissenschaftlich mit der Vergangenheit beschäftigen. +Dr. Rolf Kreibich (71) ist Direktor des Instituts für Zukunftsstudien und Technologiebewertung in Berlin, das Politiker und Unternehmen berät. Mit 30 war er bereits Präsident der FU Berlin – also stets früh dran. Auch, was die Zukunft anbelangt, gehört Kreibich zu den anerkannten Vordenkern diff --git a/fluter/wir-waren-bargeld-auf-zwei-beinen.txt b/fluter/wir-waren-bargeld-auf-zwei-beinen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a7dbb169ddb32292310b8446d24ce8c579cf26db --- /dev/null +++ b/fluter/wir-waren-bargeld-auf-zwei-beinen.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Werner Wallert: … und das, obwohl der Bundesnachrichtendienst (BND), wie ich später erfuhr, bereits ein Dreivierteljahr vor unserer Geiselhaft wusste, dass Abu Sayyaf westliche Touristen entführen wollte. Dass die philippinischen Terroristen sich ihre Geiseln in Malaysia holen würden, wo auch viele Philippiner leben, damit hatten die vom BND schlichtweg nicht gerechnet. +Ab welchem Moment wurde Ihnen bewusst, dass Sie da wohl nicht mehr so schnell rauskommen würden? +Das Ganze hatte wirklich etwas Surreales. Da saßen wir im einen Moment abends noch mit einem Drink in der Hand, unterhielten uns, leise schlugen die Wellen an den Strand und über uns dieser atemberaubende Sternenhimmel. Im nächsten Moment saßen wir dann zusammengepfercht in einem kleinen Boot, die Waffen auf uns gerichtet. Ich dachte, dass wir ausgeraubt werden und dann zurückschwimmen müssen. Aber als ich den Leuchtturm nicht mehr sah, habe ich den Anführer gefragt, wie lang es denn noch dauert. Ich meinte damit die Überfahrt. Er aber sagte zu mir: drei Monate. +Wurden Sie von Ihrer Familie getrennt, nachdem Sie nach 20 Stunden Fahrt in Jolo ankamen? +Nein, wir waren bis zu dem Zeitpunkt, als meine Frau als erste Geisel entlassen wurde, immer zusammen. Eine emotional besonders schwierige Situation war aber, als ich nach 127 Tagen vor meinem Sohn freikam. Ich habe versucht, mich gegen ihn eintauschen zu lassen – zwecklos. Als Geisel ist man auf die Gnade von schwer bewaffneten Fanatikern angewiesen, da hat man nichts zu melden. Ich habe dann meinen Sohn gefragt, ob es in Ordnung ist, wenn ich jetzt gehe, und er meinte: Ist okay, wir sind ja noch vier. Dramatisch war es aber dann kurz vor dem Ende, als der Anführer unseren Sohn als letzte Geisel im Dschungel behalten wollte. Wir fürchteten, wenn Marc jetzt nicht freikommt, stirbt er wahrscheinlich durch den Angriff des philippinischen Militärs. +Das philippinische Militär war gegen Lösegeldzahlungen und gegen Verhandlungen mit den Terroristen. Sie wollten die Geiseln mit Gewalt befreien. +Das Militär war sicher eine größere Bedrohung für unser Leben als die Entführer, denn für die waren wir ja wertvoll, quasi Bargeld auf zwei Beinen. Uns wurde später oft die Frage gestellt, ob man an irgendeinem Punkt seine Entführer mag. Man nennt das das Stockholm-Syndrom. Das ist natürlich völliger Quatsch. Aber wenn man von der philippinischen Armee angegriffen wird, ist man erst einmal auf der Seite der Beschossenen. +Marion Bacher volontiert bei der bpb im Fachbereich Multimedia diff --git a/fluter/wir-werden-alle-in-einen-topf-geworfen.txt b/fluter/wir-werden-alle-in-einen-topf-geworfen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/wir-wollen-mitmischen.txt b/fluter/wir-wollen-mitmischen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2b51d3e82ebdd54d2f1ad4dab682b160f84cbc92 --- /dev/null +++ b/fluter/wir-wollen-mitmischen.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Auch Zayner stand bis vor ein paar Monaten noch in einem Labor, arbeitete innerhalb der Strukturen, gegen die er heute kämpft. Nach seinem Abschluss an der Universität Chicago heuerte er als Biophysiker bei der NASA im Silicon Valley nahe San José an. Dort forschte er zur geplanten Mission zum Mars, etwa an plastikabbauenden Bakterien, um den gewaltigen Plastikabfall, der auf dieser monatelangen Reise anfallen würde, recycelbar zu machen. Dafür veränderte er Organismen, auch und gerade mit CRISPR – der neuesten, vielleicht auch größte Hoffnung der Genforscher. Wohl nicht aus Zufall ähnelt CRISPR dem englischen Wort "crisp" für knusprig, frisch. Denn mit dieser neuen, eben frischen Technologie kann man ganz gezielt ausgesuchte Gene an- oder ausschalten (siehe Interview auf S. 40 im Heft-pdf). +Von Zayners Ideen zu diesem Thema wollte sein Forschungsleiter allerdings nichts hören. "Meine Bosse erlaubten mir einfach nicht, Wissenschaft zu machen, die ein bisschen verrückt und außergewöhnlich denkt. Aber genau die brauchst du für wirkliche Fortschritte. Dann habe ich angefangen, genau diese Experimente zu Hause zu machen." Erst nach Feierabend, dann am Wochenende. +Er nahm aus dem Labor ein paar Petrischalen und Pipetten mit und stand immer häufiger in der eigenen Küche zwischen Mikroskopen, Zentrifugen und Zellkulturen. So tauchte Zayner ein in die Szene der Biohacker. Eine Gruppe aus ambitionierten Forschern, vernetzt durch Google und Facebook, die zusammen mit eigenen Ideen und eigenem Wissen Antworten suchen auf die großen Fragen der Wissenschaft. Freie, autonome Forscher, gegen die Standards. +Zayner zieht gerne Parallelen zu den Computerhackern, zum Chaos Computer Club, zu den Entwicklern des Betriebssystems Linux. Gerade sie erzielten Fortschritte, weil sie ihr Wissen, ihre Ideen mit anderen Enthusiasten tauschten und teilten. Open Access gegen die Norm, gegen die Hierarchien. Wie Zayner, der mit seinen mal blau, mal blond gefärbten Haaren und seinen Lippenpiercings an einen Punk erinnert. "Jeder, der will, kann und soll experimentieren. Und wenn ich es kann, kann es jeder. Man braucht kein Genie zu sein, um Wissenschaft zu machen. Man braucht nur das Werkzeug." +Jeder Einzelne soll zum Wissen beitragen können. Und Zayner liefert die Werkzeuge. Per Crowdfunding sammelte er das nötige Geld, über 70.000 Dollar, um "The ODIN" zu gründen. Nun verkauft er aus seiner Garage heraus eigene CRISPR-Bausätze. Für 160 Dollar kann jeder in den eigenen vier Wänden DNA und Gene austauschen – allerdings nur bei Hefebakterien. Zayner liefert alles, was man braucht, um deren Gene zu bearbeiten, das Werkzeug, die Bakterien und DVDs mit genauen Anleitungen. Ein Einsteigerset. Denn die veränderten Bakterien bleiben harmlos, ändern nicht viel mehr als ihre Farbe oder ihren Geruch, dann sterben sie ab. Allerdings: Ob Hefebakterien, Viren oder menschliche Gene – die CRISPR-Technik bleibt im Prinzip die gleiche. +Zayners Baukasten ist nicht unumstritten. Manche Wissenschaftler finden ihn brandgefährlich. "Ich sehe das kritisch, weil eventuell Sicherheitsstandards weder eingehalten noch kon trolliert werden können", mahnt Günter Stock, ehemaliger Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und früherer Forschungschef des Pharmaunternehmens Schering. "Aufgrund mangelnder umfassender Kenntnis der möglichen Folgen könnte es also zu unerwünschten Nebeneffekten kommen, was wiederum der Wissenschaft selbst schaden könnte." +Auch wenn Zayners Hefebakterien harmlos sind – es ist das Grundwissen der Technik, das Zayner in die Hände aller gibt. In die Hände von Enthusiasten und Hobbywissenschaftlern. Aber vielleicht auch von Durchgedrehten und womöglich gar Bio-Terroristen. Für Zayner ist das Paranoia. "Es ist wahrscheinlicher, dass Leute etwas Gutes mit den Bausätzen anstellen. Gefährliche Viren herzustellen, das ist wirklich komplex und braucht ganz andere Mittel. Im Grunde bringe ich die normalen Leute dazu, dass sie sich stärker mit der Gentechnik befassen." +Zayner selbst nutzt sein Wissen über Hefebakterien inzwischen für eine Kooperation mit einem Bierbrauer. Zusammen ändern sie mit CRISPR die Geschwindigkeit des Gärprozesses, experimentieren mit neuen Geschmacksrichtungen. Und stellen Bier her, das im Dunkeln leuchtet. Und noch immer packt Zayner vor allem Kartons mit den Baukästen und schickt sie aus seiner Garage hinaus in die Welt. Auf seinem linken Unterarm prangt der tätowierte Schriftzug "Build Something Beautiful". Es ist seine Vision. Aber vielleicht auch seine Mahnung. diff --git a/fluter/wird-trump-2020-noch-mal-praesident.txt b/fluter/wird-trump-2020-noch-mal-praesident.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6b51774add1186e23b5ff914a0b171ef62d88d95 --- /dev/null +++ b/fluter/wird-trump-2020-noch-mal-praesident.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Noch sind es fast anderthalb Jahre, aber allmählich stellt sich die Frage, ob die USA bei der Wahl im November 2020 auch ein Comeback von Trump erleben werden. Zurzeit sieht es nicht nach einem Selbstläufer für den amtierenden Präsidenten aus. Wie es um seine Wiederwahl steht, kann zu diesem frühen Zeitpunkt zwar niemand seriös beantworten. Was man aber tun kann: ein paar Zeichen deuten, Trumps Stärken und Schwächen aus den ersten vier Amtsjahren abwägen. +Und sonst so?Das sind die aussichtsreichsten Kandidat*innenbei der Wahl zum US-Präsidenten 2020 +Da wären zuerst einmal die Umfragewerte des Präsidenten: Der Zuspruch für Trumps Arbeit liegt Mitte Juni bei 43 Prozent, seit Amtsantritt ist der Präsident nie über 46 Prozent gekommen, aber auch nie unter 35 Prozent gefallen. So gering der Ausschlag ist, so gering ist Trumps Beliebtheit im Gegensatz zu einigen seiner jüngsten Vorgänger. Zum annähernd gleichen Zeitpunkt in seiner Präsidentschaft lag Barack Obama bei 46 Prozent Zustimmung, George W. Bush bei 63 Prozent, George H.W. Bush sogar bei 72 Prozent. Nur Jimmy Carter lag mit 29 Prozent noch niedriger als Trump jetzt. +Unter Republikanern genießt er nach wie vor großen Zuspruch. Vergleicht man ihn mit seinen Herausforderern, sieht die Sache etwas anders aus: In einer aktuellen Umfrage würden sich bei einer Direktwahl 53 Prozent für Joe Biden, Obamas damaligen Vizepräsidenten, entscheiden, nur 40 Prozent für Trump. Gegen die sechs aussichtsreichen Kandidat*innen bei den Demokraten hätte der Präsident zurzeit durch die Bank das Nachsehen. Als großer innenpolitischer Versöhner hat Trump sich bislang nicht aufgespielt, und vielleicht sind die Umfrageergebnisse ein Fingerzeig, dass ein gewisser Teil der US-amerikanischen Bevölkerung sich nach jemanden sehnt, der das Land auf eine andere Art führt. Laut einer "Politico"-Umfrage vom Februar halten nur 36 Prozent Trump für ehrlich und haben das Gefühl, dass er sich um Menschen wie sie kümmert. +Was uns zuTrumps Bilanz als Staatschefbringt. Die Mauer an der Grenze zu Mexiko steht noch nicht. Vom Kongress bekam Trump lediglich einen Bruchteil der Summe, die er für den Mauerbau gefordert hatte. Auch konnte er die angespannte Situation an den Grenzübergängen großenteils nicht entspannen. Trumps Wahlversprechen, Obamas Gesundheitsreform rückgängig zu machen, scheiterte im Senat. +Viele seiner Anhänger halten dem Präsidenten hingegen zugute, dass er es geschafft hat, zwei Richter am Supreme Court zu installieren. Brett Kavanaugh und Neil Gorsuch bringen eine konservativere Gesetzesauslegung an das höchste Gericht im Lande, was für republikanische Wähler mit traditionellen Wertvorstellungen ein wichtiger Faktor ist. Trump brachte eine versprochene Steuerreform im Senat durch, und er hat einen Trumpf in der Hand: Die amerikanische Wirtschaft wächst unter Trump weiter kräftig, und das trotz Strafzöllen und einem drohenden Handelskrieg mit China. +Und dennoch wirft gerade diese Tatsache zwei Fragen auf, die man sich im Hinblick auf Trumps mögliche Wiederwahl stellen sollte. Erstens: Warum sind seine Zuspruchswerte relativ niedrig, obwohl die Konjunktur brummt und jeden Monat im Schnitt fast 200.000 neue Jobs entstehen? Zweitens: Was passiert, wenn das Wachstum sich abschwächt, wenn weniger Stellen geschaffen beziehungsweise besetzt werden können, wie einige Firmen fürs nächste Jahr befürchten? Mit welchen Erfolgsmeldungen will Trump dann in den Wahlkampf ziehen? +Bis November 2020 sind es noch 17 lange Monate. Viel kann passieren, was seine Wiederwahl gefährden könnte – zum Beispiel eine Eskalationdes Konflikts mit Iran. Ein Krieg könnte in den Augen der Wählerschaft sein Versprechen brechen, die Rolle der USA als Weltpolizist zu beenden, und unabsehbare Folgen für die Weltwirtschaft haben. Umschifft Trump mögliche Krisen, hat er als Amtsinhaber einen Bonus: Beliebtheit, Bekanntheit, Spendenbereitschaft, politische Errungenschaften, all das spricht normalerweise für den Mann im Weißen Haus. +Auch ist noch nicht klar, wen die Demokraten als Gegenkandidaten nominieren und ob die Partei sich bis dahin vielleicht in Flügelkämpfen zwischen dem progressiven Lager (u.a. Bernie Sanders, Elizabeth Warren) und der eher moderaten Fraktion (u.a. Joe Biden) aufreibt und am Ende uneins gegen den Präsidenten auftritt. +Im Rosengarten, während der Lobrede auf Comeback-Star Tiger Woods, setzte Trump zu einer ausführlichen Nacherzählung an, wie sich der geschundene Profi an jenem Nachmittag an die Spitze des Feldes zurückgekämpft hat, um das Turnier doch noch zu gewinnen. Dass man Donald Trump nicht unterschätzen sollte und er sich gegen den klaren Favoriten durchsetzen kann, hat er schon einmal bewiesen –im November 2016.Sein Motto für den Wahlkampf 2020 hat er bereits ausgerufen: "Keep America great". + diff --git a/fluter/wirklich-gewollt.txt b/fluter/wirklich-gewollt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6c44784d835dc456d990c5e621b6beb2de7f03e5 --- /dev/null +++ b/fluter/wirklich-gewollt.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Selbst Regierungsvertreter haben allerdings in den vergangenen Jahren angezweifelt, dass sie das 0,7-Prozent-Ziel erreichen werden. Im Jahr 2012 bezeichnete der damalige Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel (FDP), das Ziel gegenüber der "Rheinischen Post" als "Lebenslüge". Ein stabiler Haushalt sei dem Bundestag wichtiger als die Erhöhung der ODA-Quote, sagte Niebel. +Die aktuelle entwicklungspolitische Sprecherin der CDU, Sibylle Pfeiffer, sagt gegenüber fluter, sie halte das Ziel für wichtig, deshalb stehe es auch im Koalitionsvertrag. Andere Faktoren könnten aber mindestens genauso relevant für die Entwicklungsländer sein. "Insofern finde ich das 0,7-Prozent-Ziel nach wie vor wichtig, sehe aber auch, dass andere Faktoren für das Erreichen von Zielen und Ergebnissen bedeutender sein können – etwa die sogenannten Rücküberweisungen, also jenes Geld, das Migranten an ihre Angehörigen in Entwicklungsländern transferieren." +Felix Ehring arbeitet als freier Journalist. Bei der Recherche wurde ihm von Zahl zu Zahl klarer: Ob es nun um Armut, Geburten, Arbeitslosigkeit oder Klimaschutz geht – Interessengruppen führen eine teilweise erbitterte Debatte um die Deutungshoheit dieser Zahlen. Und: Einige Journalisten vermelden amtliche Zahlen einfach, ohne sie zu hinterfragen und einzuordnen. Dabei gilt für jede Zahl: Sie sagt nicht nur etwas aus, sie verschweigt auch etwas. diff --git a/fluter/wirtschaft-in-deutschland.txt b/fluter/wirtschaft-in-deutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8c801ae604d9b64dffb2f15519e1c2366f91fcc6 --- /dev/null +++ b/fluter/wirtschaft-in-deutschland.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +"Unbestritten ist, dass sich die wirtschaftliche Lage für viele Menschen in den vergangenen zehn Jahren teils deutlich verbessert hat. Fast sechs Millionen Menschen haben seit 2005 eine Arbeit gefunden, viele davon gute Arbeit, und die Einkommen sind für die Mehrheit der Beschäftigten gestiegen", schreibt der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Marcel Fratzscher, ergänzt aber, dass nicht alle an diesem Aufschwung teilhatten. "Auf der einen Seite steht eine große Mehrheit, der es heute besser geht. Auf der anderen Seite steht jedoch ein nicht gerade kleiner Teil der Bevölkerung, der von Aufschwung und quasi Vollbeschäftigung nicht profitiert." +Die Ungleichheit der Verteilung von Einkommen und Vermögen wird auch in einer neuen Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung im Auftrag der Bertelsmann Stiftung betrachtet. Demnach stiegen die höchsten Haushaltseinkommen zwischen 1991 und 2014 jährlich um 1,3 Prozent, während das durchschnittliche Wachstum bei 0,6 Prozent lag. Bei mehr als zehn Prozent der Menschen schrumpften sie sogar. Noch ungleicher verteilt sich laut ZEW-Studie der Wohlstand, wenn man die Vermögen betrachtet – also das, was die Menschen besitzen. 12,8 Billionen Euro betrug 2015 das Gesamtvermögen deutscher Haushalte. Davon gehören den vermögendsten zehn Prozent über die Hälfte, Tendenz steigend. Die unteren 40 Prozent besaßen 1993 gerade mal 1,8 Prozent des Gesamtvermögens, nun sind es minus 0,8 Prozent. Das heißt: Im Schnitt haben sie Schulden. +Wer armutsgefährdet ist, macht das Statistische Amt der Europäischen Union an Einkommensmittelwerten fest: Das ist das Haushaltseinkommen, das genau in der Mitte liegt und die Gesellschaft teilt. Wer weniger als 60 Prozent dieses verfügbaren "Median-Äquivalenzeinkommens nach Sozialleistungen" bekommt, gilt als arm. In Westdeutschland lag die Armutsrisikoquote zwischen 1960 und dem Mauerfall einigermaßen konstant bei zehn Prozent, bis 2014 stieg sie auf ca. 14 Prozent, was auch mit der Wiedervereinigung zu tun hat. So kletterte das Armutsrisiko in den Neuen Bundesländern nach 1990 auf 35 Prozent, fiel bis zum Jahr 2000 auf zwölf und liegt heute bei 15 für die alten und 18,4 Prozent für die neuen Bundesländer. +Waren es in früheren Jahrzehnten noch vor allem ältere alleinstehende Menschen, die arm waren, sind es heute oft Alleinstehende im erwerbstätigen Alter. Und noch immer bestimmt auch die Herkunft die Chancen auf ein besseres Leben. Das heißt, wer aus einem ärmeren Haushalt kommt, bleibt eher arm als jemand, dessen Eltern wohlhabender sind. Die Chancengleichheit bei den Geschlechtern hat sich laut ZEW-Studie dagegen deutlich verbessert. Frauen verdienen heute deutlich mehr als früher und sind häufiger vollbeschäftigt. +Das Fazit der Forscher des ZEW lautet, dass es uns als Land noch nie so gut ging wie heute. Und dennoch komme der Wohlstand bei zu vielen nicht an, ist das Versprechen der Sozialen Marktwirtschaft immer wieder eine Herausforderung für die Politik, die etwa mit Steuergesetzen oder Bildungsausgaben für mehr Gerechtigkeit sorgen könne. +Dieses Ziel sehen Ökonomen noch durch eine andere Entwicklung gefährdet. So wird der Anteil der Löhne am volkswirtschaftlichen Einkommen, die sogenannte Lohnquote, immer kleiner, während der Anteil der Kapitalbesitzer ständig steigt. Manche Ökonomen erklären das damit, dass kapitalstarke, börsennotierte Firmen durch den globalen Kapitalmarkt zu Superfirmen wachsen, bei denen der Anteil der Lohnarbeit immer weniger ins Gewicht fällt. Dass diese Firmen kleinere Mitbewerber immer weiter hinter sich lassen, könnte dem Wettbewerb schaden und die Gesellschaft weiter spalten. So betrug die Lohnquote in Deutschland im vergangenen Jahr 68,7 Prozent, 2000 waren es noch 72 Prozent. diff --git a/fluter/wirtschaft-ukraine-krieg.txt b/fluter/wirtschaft-ukraine-krieg.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..191007f383f769bc23ba26788232bc7ae9ca5422 --- /dev/null +++ b/fluter/wirtschaft-ukraine-krieg.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Diese Rolle als "Kornkammer der Welt" führte unmittelbar nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 zueinem spürbaren Anstieg der Getreidepreiseauf dem Weltmarkt. Denn seitdem blockiert die russische Marine eineder wichtigsten ukrainischen Handelsrouten: den Seeweg über das Schwarze Meer, der die Ukraine mit dem Mittelmeer und dem Rest der Welt verbindet. Zusätzlich sind die ukrainischen Häfen – der größte befindet sich in Odesa – ein bevorzugtes Ziel russischer Angriffe. +Es dauerte nicht lange, da warnte die Welternährungsorganisation FAO vor Hungersnöten in Nordafrika, dem Nahen und dem Mittleren Osten infolge des Krieges. Unter anderem Indonesien, Bangladesch und Pakistan importieren viel Getreide aus der Ukraine. Mehrere Länder in Afrika beziehen fast ihren gesamten Weizen aus der Ukraine und Russland. Die Sorge um die globale Ernährungssicherung war von so weitreichender Bedeutung, dass sich die beiden Länder in diesem einen Punkt tatsächlich zu Verhandlungen trafen und schließlich einen Kompromiss fanden. Seit August 2022 verkehren wieder Getreidefrachter zu und von den ukrainischen Häfen – unter Aufsicht der Türkei, die den Bosporus, die Meerenge zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer, kontrolliert, und anderen UN-Staaten, die die Ladung der Frachter inspizieren. +Lebensmittel sind das eine große Exportgut der Ukraine. Das andere ist Metall, vor allem in Form von Eisenerz, Eisen und Stahl, aber auch weiterverarbeiteten Produkten wie Kabeln. Der Bergbau hat eine lange Tradition, schon seit dem 19. Jahrhundert wird in der zentral gelegenen Krywbas-Region Eisenerz gefördert. Aus dem Donbas, im Osten des Landes, kam die Kohle, mit der die Hochöfen der Metallproduktion befeuert werden. Auch seltene Mineralien befinden sich im ukrainischen Boden, so soll es im Donbas große unerschlossene Lithiumvorkommen geben. Wie viel von der ukrainischen Metallindustrie nach dem Krieg noch übrig sein wird, ist kaum abzusehen. Der Donbas liegt direkt an der Kriegsfront, größtenteils sogarim von Russland besetzten Gebiet. So war eines der größten Stahlwerke des Landes in Mariupol zwischen März und Mai 2022 Schauplatz erbitterter Kämpfe und wurde größtenteils zerstört. +Dabei stand der Osten der Ukraine dank seiner Industrie vor dem Krieg wirtschaftlich am besten da. Die durchschnittlichen Monatslöhne im Land waren hier, von der Hauptstadt Kyjiw einmal abgesehen, höher als im Rest des Landes – das allerdings auf einem insgesamt ziemlich niedrigen Niveau. Im europäischen Vergleich landet die Ukraine auf dem letzten Platz. Das Bruttonationaleinkommen pro Kopf (BNE) lag 2021 durchschnittlich bei weniger als 350 US-Dollar im Monat. Das sind 4.120 US-Dollar im Jahr – weniger als der deutsche Durchschnittsbürger im Monat verdient. Und auch in Nachbarländern wie Polen, Rumänien, ja sogar in Belarus lag das BNE deutlich höher. Dabei hatten diese Staaten 1992 – als auch sie nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa vor einem riesigen wirtschaftlichen Umbruch standen – noch beinahe die gleichen Werte. +In der Ukraine führte diese ungeordnete Zeit der 1990er-Jahre so wie in Russland zum Aufstieg der sogenannten Oligarchen. Diese Männer bauten mit mehr oder weniger dubiosen Methoden große Firmenimperien auf, sie kauften sich Medien und Fußballvereine und wurden zu Milliardären mit viel Einfluss in der ukrainischen Politik und Gesellschaft. +Weiterlesen +Durch den Krieg sind die Weizenpreise weltweit gestiegen. Aber wie entstehen Preise überhaupt? Warum steigen oder fallen sie? Daserklären wir hier. +Zu ihnen gehören unter anderem: Rinat Achmetow, Sohn eines Bergmanns und ehemaliger Profiboxer aus dem Donbas, der vor allem mit Kohle und Stahl sein Vermögen verdiente. Wiktor Pintschuk, der Schwiegersohn des zweiten ukrainischen Präsidenten, dessen Vermögen auf dem Bau von Pipelines und Stahlrohrleitungen beruht. Dann Ihor Kolomojskyj, Gründer der ehemals größten ukrainischen Bank, außerdem aktiv in der Stahl-, Öl-, Chemie-, Energie- und Nahrungsmittelindustrie und Besitzer diverser Medien – auf einem seiner Fernsehsender lief übrigens die Serie "Diener des Volkes", in der Wolodymyr Selenskyj den ukrainischen Präsidenten schonvor seinem Wahlsieg 2019spielte. Und auch Selenskyjs Vorgänger Petro Poroschenko ist Milliardär. Er machte sein Vermögen vor allem mit Süßwaren. +Durch den Krieg haben die Oligarchen viel von ihrem Vermögen verloren, sind aber weiterhin die reichsten Männer des Landes. Ihr Einfluss könnte noch weiter abnehmen, wenn es der ukrainischen Regierung gelingt, die Korruption im Land besser zu bekämpfen. ImKorruptionswahrnehmungsindex von Transparency Internationalliegt die Ukraine für das Jahr 2022 auf Platz 116 von 180 – allein schon, damit der ukrainische Traum einer EU-Mitgliedschaft möglich werden kann, müsste sich das ändern. +Doch dafür muss wohl erst der Krieg beendet werden, und der setzt der ukrainischen Wirtschaft sehr zu. 2022 ist das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine um ein Drittel gesunken. Im Juni soll die Arbeitslosenquote bei 35 Prozent gelegen haben. Schon jetzt bekommt das Land mehrere Milliarden Euro pro Monat aus der EU und den USA zur Stabilisierung. Die Kosten für den Wiederaufbau des Landes werden auf einen dreistelligen Milliardenbetrag geschätzt, in welchem Umfang sich daran andere Staaten beteiligen, ist offen. +Sicher scheint nur, dass sich die Ukraine in Zukunft auch wirtschaftlich noch mehr in Richtung Westen öffnen wird. Schon jetzt ist die Europäische Union mit einem Anteil von mehr als 40 Prozent der wichtigste Handelspartner, und innerhalb der EU sind es vor allem Deutschland und Polen. Auch China und die Türkei spielen eine wichtige Rolle. Die wirtschaftliche Bedeutung Russlands war hingegen schon vor dem Krieg deutlich gesunken. Ging 2010 noch ein Viertel der Exporte nach Russland, lag der Wert 2019 nur noch im einstelligen Prozentbereich. +Seit dem vergangenen Jahr versucht Deutschland, von russischem Gas unabhängig zu werden durch Einsparungen, Alternativen und Importe aus anderen Ländern. Eines davon könnte auch die Ukraine sein, wenn auch nicht sofort. Denn tatsächlich gibt es im Land große bekannte Erdgasvorkommen, die zwar im Vergleich zu den russischen überschaubar sind – aber wesentlich größer als das, was zum Beispiel im deutschen Boden liegt. In Europa hat nur Norwegen mehr. Allerdings wird ukrainisches Gas bisher kaum gefördert, stattdessen hat die Ukraine sogar Erdgas importiert. +Die Kombination aus Gasvorkommen und -speichern, unterstützt von europäischen Ländern, die nach neuen Gashandelspartnern suchen, könnte für die Ukraine eine Chance sein, nach dem Krieg ökonomisch schneller wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Denn ob Regenwurm, Schwarzerde, Eisenerz oder Erdgas – das wirtschaftliche Glück der Ukraine liegt unter der Erde. diff --git a/fluter/wirtschaftliche-geschichte-venezuelas.txt b/fluter/wirtschaftliche-geschichte-venezuelas.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f11e96d9d0b633679b47a019b59c6b591eeca99d --- /dev/null +++ b/fluter/wirtschaftliche-geschichte-venezuelas.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Was tun mit den vielen Petrodollars? Marcos Pérez Jiménez, der junge General, der sich 1952 selbst zum Präsidenten ernennt, lässt Architekten aus den USA und Europa einfliegen, die eine Autobahn durch einen Berg zum Flughafen bauen sowie riesige Viadukte und Wolkenkratzer. Die Hauptstadt Caracas, in der es noch viele Lehmhütten gibt, wird zu einer futuristischen Metropole. Im ganzen Land errichtet man Elektrizitätswerke und Krankenhäuser, die Malaria wird deutlich eingedämmt. All das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Venezuela vom Rohstofffluch befallen ist, wie Ökonomen es nennen: Das Land hängt von einem einzigen Exportgut ab, dem Öl, das inzwischen aus mehr als 9.000 Bohrlöchern gepumpt wird. Und das ist gar nicht gesund, weil man vom Ölkurs abhängig ist und der Rest der Wirtschaft vernachlässigt wird. +An der ersten Ölkrise 1973 kann man ablesen, wie mächtig die OPEC ist, der Zusammenschluss erdölfördernder Länder, bei dem Venezuela 1960 Gründungsmitglied war. Einige der Mitglieder beschließen, die Ölpreise in die Höhe zu treiben und gleichzeitig ein Embargo gegen Israel- freundliche Staaten zu verhängen. Während in den USA und der Bundesrepublik die Autos stehen bleiben, fließt in Venezuela das Geld. Das venezolanische Pro-Kopf-Einkommen ist ähnlich hoch wie in der Bundesrepublik. Es wächst eine Mittelschicht heran, die das schöne Leben entdeckt. Der demokratisch gewählte Präsident Carlos Andrés Pérez entwirft den Plan von einem "Großen Venezuela", das sich nachhaltig wirtschaftlich entwickeln soll. Er verstaatlicht die Ölreserven, führt Sozialleistungen ein und investiert in Bildung. Die zweite Ölkrise in den 1980er- Jahren – ausgelöst von der Revolution in Iran und dem ersten Golfkrieg – macht dies zunichte. Der Ölpreis fällt in den Keller, 1983 wird der Bolívar massiv abgewertet, in Venezuela wird alles teurer. Als aufgrund der gestiegenen Benzinpreise auch die für Bustickets über Nacht erhöht werden, gehen die Leute auf die Straße. Die Ausschreitungen im Jahr 1989 werden brutal niedergeschlagen und enden mit vielen Toten. Lange Zeit wird sich keine Regierung an den Benzinpreis trauen. Benzin ist bald billiger als Wasser. +1992 hatte der Oberstleutnant Hugo Chávez Frías noch versucht, per Militärputsch an die Macht zu kommen. Auf demokratischem Weg hat er im Jahr 1998 Erfolg. Als Präsident will er das Land von der verkrusteten Parteienlandschaft befreien, lässt eine neue Verfassung ausarbeiten. "Venezuela verfügt über so viel Reichtum, der ein Jahrhundert lang an die Weltmächte verschenkt wurde, und uns blieb nur das Elend", sagt Chávez in olivgrüner Uniform in einer Ausgabe seiner Fernsehsendung "Aló, Presidente", in der er sonntags stundenlang seine Politik erklärt. Jetzt endlich soll das Erdöl für alle Ernte abwerfen, verspricht er. Nachdem er 2002 kurzzeitig aus dem Amt geputscht wird – vermutet wird eine Beteiligung der USA – und einen zweimonatigen Massenstreik übersteht, entlässt Chávez Tausende von Arbeitern des staatlichen Ölkonzerns und ersetzt sie mit regierungstreuen Leuten. Dabei geht viel Know-how verloren. Weil der Ölpreis stark steigt – um das Fünffache allein in den ersten fünf Jahren seiner Präsidentschaft – und die Einnahmen so hoch sind wie nie, hat er Gestaltungsspielraum. Chávez richtet Sozialprogramme ein. In den Armenvierteln versehen Ärzte aus Kuba ihren Dienst, Sozialwohnungen werden gebaut, Strom und Wasser subventioniert. Seinen Anhängern gefällt das, Chávez gewinnt eine Wahl nach der anderen. Die Zahlen geben ihm recht: Armut, Ungleichheit und Kindersterblichkeit gehen zurück, mehr Venezolaner können lesen und schreiben. Doch weiterhin wird wenig in andere Wirtschaftssektoren investiert, die Abhängigkeit vom Öl bleibt. Die Kriminalität bekommt die Regierung jedoch nicht in den Griff. Mit jährlich mehr als 100 Morden pro 100.000 Einwohner ist Caracas eine der gefährlichsten Städte der Welt. Und es bleibt das Importproblem: 70 Prozent der verkauften Produkte werden eingeführt. Essen, Klamotten, Handys. Damit die Preise nicht explodieren, führt die Regierung für die Güter des täglichen Bedarfs Festpreise ein. Es rentiert sich, nicht nur Benzin über die Grenze nach Kolumbien zu schmuggeln, sondern auch Mehl oder Milchpulver. Sparen hingegen lohnt sich nicht wegen der hohen Inflation, deshalb kauft, wer kann, harte Währungen. Weil dadurch der Bolívarkurs weiter sinkt, führt die Regierung einen fixen Dollarkurs ein. Wer zu diesem Kurs Dollars eintauschen darf, da er beispielsweise Medikamente importieren soll, kann wie von Zauberhand sein Geld vermehren, wenn er stattdessen die Dollars auf dem Schwarzmarkt zurück in Bolívars tauscht. Denn der Bolívar ist in der Realität viel weniger wert, als die Regierung es gern hätte: Auf dem Schwarzmarkt bekommt man ein Zigfaches vom offiziellen Kurs, später sogar hundertmal so viel. Ab 2007 führt Chávez den "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" ein, nach und nach werden private Unternehmen enteignet. Gleichzeitig versucht er, seine Revolution nach ganz Lateinamerika zu exportieren, verteilt großzügig Öl – und übernimmt sich dabei. Denn nachdem der Ölpreis 2008 seinen Höhepunkt erreicht hat, stürzt er ab. Was hoch bleibt, sind die Staatsausgaben und die Korruption. Im Jahr 2012 sollen allein durch Wechselbetrug 20 Milliarden Dollar versickert sein. +Nachdem Hugo Chávez Anfang 2013 an Krebs gestorben ist, kommt Vizepräsident Nicolás Maduro an die Macht. Der frühere Busfahrer mit dem markanten Schnauzbart ist im Vergleich zu Chávez ein langweiliger Redner ohne greifbare Vision. Obwohl nicht beliebt, kann er sich halten, weil er das Militär hinter sich weiß, die Opposition zersplittert ist und er das Erbe von Chávez bewahrt, dem viele nachtrauern. Die Menschen haben jetzt sogar Schwierigkeiten, Klopapier zu kaufen. Hier zeigt sich die gesamte Misere der Wirtschaft. Die Herstellerfirmen bekommen keine Dollars zum offiziellen Kurs von der Bank, um die Rohstoffe zu beziehen. Und wenn sie welche importieren können, müssen sie oft Schmiergelder bezahlen. Da die Regierung die Verkaufspreise sehr niedrig festgelegt hat, zahlen die Hersteller am Ende häufig sogar drauf. Die Händler horten Rollen, um sie teuer an die ungeduldigen Kunden weiterzuverkaufen. Diese decken sich mit viel mehr Toilettenpapier ein, als sie brauchen, sobald es irgendwo welches gibt. Die leeren Regale werden zum Politikum. "Wollt ihr das Vaterland, oder wollt ihr Klopapier?", fragt der Außenminister. Der Chef der Statistikbehörde argumentiert: Der Mangel an Klopapier belege doch nur, dass die Venezolaner jetzt mehr aufs Klo müssen. Weil sie mehr zu essen hätten. +Venezuela wird abgehängt, nach und nach stellen internationale Airlines ihre Flüge dorthin ein. Die Lufthansa beispielsweise, für die Caracas einst ein wichtiges Drehkreuz war, landet dort im Sommer 2016 zum letzten Mal. Der Grund: Die Regierung schuldet den Airlines Millionen aus Ticketverkäufen, da sie es nicht schafft, genügend Bolívares in Dollar umzutauschen. Eigene Fehler will die Maduro- Regierung nicht wahrhaben, sie präsentiert sich als Opfer in einem Wirtschaftskrieg mit den USA, die mit sicherheitspolitischer Begründung mehrfach Sanktionen gegen das Land verhängten, darunter ein eingeschränktes Ölembargo im Jahr 2011. Dass man selbst nicht in der Lage ist, die verstaatlichten Firmen ordentlich zu führen, und Strom und Wasser regelmäßig abgestellt werden, verschweigt man lieber. Viele Menschen haben nicht genügend zu essen. In den staatlichen Supermärkten ist der Verkauf streng rationiert, einkaufen darf man nur einmal die Woche nach langem Schlangestehen. Ein neuer Berufszweig ist entstanden: Die "Bachaqueros", die Schwarzmarkthändler, kaufen Shampoo oder Nudeln billig ein und verticken sie weiter, zehnmal so teuer. Zwei Pakete Maismehl, aus dem die Venezolaner traditionell ihre Frühstücksfladen backen, verschlingen den Lohn einer Woche. In den Krankenhäusern und Apotheken gibt es kaum noch Medikamente. Viele Kinder sind unterernährt, weil sie vor allem Mangos essen. Wer im Café einen Kaffee trinken will, muss einen ganzen Stapel 100-Bolívar-Scheine auf den Tisch blättern. 2017 wird die Inflationsrate auf 500 bis 700 Prozent gegenüber dem Vorjahr klettern, je nach Schätzung. +Wie schon 2014 protestieren Hunderttausende im Land gegen die Regierung, mehr als hundert Menschen werden dabei getötet. Maduro lässt eine verfassungsgebende Versammlung wählen, die das Parlament ersetzt und ihm mehr Macht sichern soll. Das Land droht in einen Bürgerkrieg abzugleiten. Erdöl kann immer weniger gefördert werden, weil die Anlagen marode sind. Theoretisch würden die Vorräte noch mindestens drei Jahrhunderte reichen. + + +Titelbild: Fabiola Ferrero/El Estímulo diff --git a/fluter/wirtschaftskrise-in-venezuela.txt b/fluter/wirtschaftskrise-in-venezuela.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c60917ac57d94a0a32d17f74a05d045ade16eead --- /dev/null +++ b/fluter/wirtschaftskrise-in-venezuela.txt @@ -0,0 +1,22 @@ +Anfang Februar wertete die Regierung den Bolívar in der Hoffnung auf einen wirtschaftlichen Aufschwung massiv ab. Schon vorher lag die Teuerungsrate in Venezuela bei über 2.600 Prozent. Hyperinflation, die strikte Währungskontrolle, eine steigende Kriminalitätsrate, Proteste, Versorgungsengpässe und niedrige Gehälter sind aber nur ein paar der Probleme, mit denen das Land zu kämpfen hat: Die Opposition wirft Präsident Nicolás Maduro vor, sein Land in eine Diktatur zu verwandeln. Im August 2017 hatte er das Parlament, in dem die Opposition die Mehrheit hat, entmachtet und durch eine verfassungsgebende Versammlung ersetzt. Wegen der Verletzung demokratischer Prinzipien verhängten Kanada und die USA in den vergangenen Monaten Sanktionen gegen ihn und andere Funktionäre, die EU erließ ein Waffenembargo. +Die eigentlich für Dezember geplante Präsidentschaftswahl will die sozialistische Regierung um Maduro nun im Mai durchführen. Der Präsident, so befürchten Kritiker, will damit einen für ihn günstigen Moment nutzen: Drei der größten Oppositionsparteien wurden im Dezember von der Wahl ausgeschlossen, führende Oppositionspolitiker sitzen gerade im Knast oder sind ins Ausland geflohen. +Vier junge Venezolanerinnen und Venezolaner haben uns erzählt, wie die Krise ihren Alltag und ihre Zukunftspläne beeinflusst. + +Cesar, 26, hat einen Master in Geschichte und einen Vollzeitjob in einer Nachrichtenagentur. Seine Miete oder regelmäßige Supermarkteinkäufe kann er mit seinem Lohn nicht bezahlen +Meine Eltern waren große Unterstützer des 2013 verstorbenen sozialistischen Präsidenten Hugo Chávez, der unter anderem Tausende Unternehmen verstaatlicht hat. Sie haben sogar eine Zeit lang für die Regierung gearbeitet. Inzwischen sind sie ausgewandert, genauso wie mein Bruder. +Ich habe einen Job, aber er bringt nicht genug Geld ein, um ein normales Leben führen zu können. Ich bekomme Hilfe von Verwandten aus dem Ausland. Mit ihrer Hilfe kann ich überleben. Dinge zu kaufen, die kein Essen sind, Schuhe zum Beispiel oder Hosen? Unmöglich! Der einzige Grund, warum ich noch arbeite, ist, weil ich so zumindest eine Beschäftigung habe. Größere Projekte wie "ein Haus bauen" oder "einen besseren Job finden" sind komplett unrealistisch. Deshalb lebe ich von Tag zu Tag. Wenn du mich fragst, dann sieht die politische Zukunft Venezuelas sehr düster aus. Klar, alles kann passieren. Vielleicht werden auch Posten in der Regierung neu besetzt. Aber ich denke nicht, dass man sehr bald damit rechnen sollte. +Claudia, 21, studiert an der Katholischen Universität von Monteávila. Nebenbei arbeitet sie in einem Klamottenladen und an eigenen Fotoprojekten. Sie lebt bei ihren Eltern +Ich kann nicht das Leben führen, das ein durchschnittlicher junger Mensch führt. Ich habe kein Geld, um Drinks zu kaufen, kein Geld, um feiern zu gehen oder ins Kino oder einfach nur irgendetwas anderes mit meinen Freunden zu unternehmen, als abzuhängen. Und selbst wenn ich Geld hätte: Caracas ist eine der gefährlichsten Städte der Welt. Ausgelassene Abende stehen da nicht wirklich auf dem Plan. Es gibt so viele Probleme. Sie machen es fast unmöglich, sich als junger Erwachsener in diesem Land natürlich und unbeschwert zu entwickeln. +Ich kann mich sehr glücklich schätzen, weil meine Grundbedürfnisse gedeckt sind. Aber auch nur, weil meine Eltern mich immer noch unterstützen. Alleine würde ich absolut nicht zurechtkommen. Ich bin völlig von meinen Eltern abhängig, und zwar in fast allem, was ich mache. +Ich habe auch den Eindruck, dass die meisten jungen Leute hier nicht verstehen, wie Politik funktioniert oder funktionieren könnte. Das liegt hauptsächlich daran, dass die Politik in Venezuela auf eine Frage reduziert wird: Bist du für die Regierung oder gegen sie? Andere Fragen – inhaltliche Fragen – werden kaum diskutiert. Themen wie Frauenrechte oder LGBT-Rechte kommen praktisch in keiner Agenda vor. + +Roberto, 22, studiert an der Universidad Central de Venezuela, der größten Hochschule Venezuelas. Momentan hat er keine feste Arbeit, aber er übernimmt oft Gelegenheitsjobs. Roberto wohnt mit seinen zwei Schwestern und seiner Freundin bei seinen Eltern +Venezuela macht gerade schwere Zeiten durch, aber wir dürfen nicht aufgeben oder Menschen erlauben, uns zu täuschen. Die meisten Probleme, denen wir gegenüberstehen, werden meiner Meinung nach durch geopolitische Dynamiken, die Opposition und Unternehmen verursacht. Sie sind diejenigen, die gegen unsere Regierung und die Bevölkerung arbeiten und die jede Woche die Preise für Lebensmittel erhöhen. Deshalb sehen wir, wie Menschen aus der Oberschicht in exklusiven Läden einkaufen, während wir Normalos nichts zu essen haben. +Vor Chávez hatten arme Menschen in Venezuela keine Stimme. Während er Präsident war, hat sich vieles verbessert: die Sozialpolitik, Essen, Krankenhäuser und Schulen. Das hat es vorher alles nicht gegeben! Bevor Chávez gestorben ist, hat er gesagt, dass wir Nicolás Maduro, dem jetzigen Präsidenten, vertrauen sollen. Ich weiß, dass die Dinge gerade schlecht aussehen, aber wir müssen darauf vertrauen, dass alles wieder gut wird! + +Daniela, 24, ist Redakteurin in einer Marketingagentur. Vergangenes Jahr verdiente sie damit 30 US-Dollar im Monat, seit diesem Jahr wird sie projektbasiert bezahlt: 3 US-Dollar pro Auftrag. Daniela hat einen Uni-Abschluss in Literaturwissenschaften und wohnt bei ihren Eltern +Jeder einzelne Teil meines Lebens ist von der Krise betroffen. Sie ist zum zentralen Gesprächsthema geworden, egal ob ich mit meiner Familie rede, mit Freunden, Bekannten oder Fremden auf der Straße. Es gibt keinen Ort und keine Aktivität, die durch das, was in diesem Land passiert, nicht verändert wurde. +Zukunftspläne zu schmieden – auch nur für die nächsten paar Tage – ist quasi unmöglich. Ich kann nicht planen, mit meinem Partner zusammenzuziehen und ein gemeinsames Leben zu führen. Ich kann keine Pläne für einen Ausflug zum Strand machen. Ich kann nicht mal Pläne für ein Abendessen machen! Um zu überleben, bin ich auf das wenige angewiesen, das ich von den Nahrungsmittelverteilungsprogrammen der Regierung bekomme. Politiker entscheiden, wann und was ich esse. Dasselbe gilt für den Großteil der Bevölkerung. +Ich habe Angst davor, krank zu werden. Selbst die gängigsten Medikamente sind schwer zu finden und sehr teuer. Meine Versicherung deckt die meisten Ausgaben nicht ab. Verhütungsmittel zu bekommen ist schon eine riesige Herausforderung: Kondome zum Beispiel sind unerschwinglich oder überhaupt nicht verfügbar. Die Regierung hat die Kontrolle über alle politischen Institutionen. Die Opposition ist nicht in der Lage, den Menschen eine Alternative zu bieten. Sehr viele Menschen haben ihr Vertrauen in sie verloren und sind überzeugt, dass die Opposition zur Komplizin der Regierung wurde. Auch ich habe das Gefühl, dass sie uns betrogen hat. Sie ist einer der Gründe, warum korrupte Politiker in der Regierung ihre Macht so lange halten konnten. + +Aus dem Englischen übersetzt diff --git a/fluter/wissen-als-privateigentum-ist-absurd.txt b/fluter/wissen-als-privateigentum-ist-absurd.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f7122d17a9687f53bf83f25f4d773e2905ac01db --- /dev/null +++ b/fluter/wissen-als-privateigentum-ist-absurd.txt @@ -0,0 +1,16 @@ +Überhaupt nicht. Da stoßen ganz verschiedene Traditionen und Philosophien aufeinander. Die Bewegung der Staaten, alles zu privatisieren, gehtauf den klassischen Liberalismus des 17. Jahrhunderts zurück. Die Idee ist: Privatpersonen sind besser geeignet, gemeinschaftliche Ressourcen im Interesse aller auszubeuten, als solche schwerfälligen Institutionen wie Staaten. +Das würde ich auch nicht von vornherein leugnen. Ich bin selbst gewissermaßen ein ziemlich harter Liberaler. Das Treppenhaus, das nicht gekehrt wird, ist ein schönes Beispiel dafür, dass gemeinsame Ressourcen nicht im besten Sinne genutzt werden, wenn sie als Gemeineigentum aller betrachtet werden. Ein anderes Beispiel, das in der Philosophie und auch in der Ökonomie immer benützt wird, ist ein Teich mit vielen Fischen darin. Wenn der als Gemeineigentum betrachtet wird, dann ist er bald überfischt. +Genau. Auf der anderen Seite gibt es aber auch die "Tragik des Privatbesitzes ". Wenn Güter als Privateigentum betrachtet werden, kann es ebenso zu einer Übernutzung der Ressourcen kommen, ohne dass ein gleichwertiger Ersatz bereitgestellt wird. So wie das heute etwa mit dem Erdöl geschieht. Viele haben schon vor Jahrzehnten gesagt, dass es sinnvoll wäre, die Preise so zu erhöhen, dass der besondere Wert des Erdöls auch geschützt werden kann. +Ja, dem ist in der Philosophie schon sehr früh Rechnung getragen worden. Zum Beispiel bei John Locke. Der hatte die Idee, dass Gemeineigentum, dort wo es gut ist, privat genutzt werden sollte, aber nur unter der Bedingung, dass dadurch niemand, der nicht zu den Nutzern dieser Ressourcen gehört, benachteiligt wird. +Genossenschaften waren zum Beispiel Versuche, den Raubbau an der Natur zu verhindern. Sie sind langfristig organisiert und berücksichtigen künftige Generationen. +Nein, das kann man in der Philosophie sehr schön ablesen. Der Begriff des privaten Eigentums entsteht erst in der Antike, besonders deutlich wird das bei Cicero. Cicero ist sich sehr klar darüber, dass es Privateigentum geben soll, weil das der Gesellschaft insgesamt nutzt. Aber bestimmte Ressourcen wie Grund und Boden können kein Privateigentum sein. Und die Vorstellung, dass es ein natürliches Recht auf Eigentum gibt, wird sogar explizit bei Cicero verworfen. Bei ihm heißt es: Eigentum ist immer Eigentum einer Gesellschaft. +Einerseits verpflichtet Eigentum dazu, für künftige Generationen hauszuhalten. Andererseits dazu, denjenigen zu helfen, die aus irgendwelchen Gründen gar kein Eigentum besitzen und sich nicht selbst versorgen können. Darauf gründet ja die Idee des Sozialstaates. +In der heutigen Gesetzgebung soweit ich weiß nicht. Die, die starke Schultern haben, müssen die mit schwachen Schultern tragen. Darüber hinaus gilt aber das Recht von Individuen, sich alles anzueignen, was an natürlichen und kulturellen Ressourcen gegeben ist. +Nein, das sollen sie nicht. Eigentum dient dazu, die Ressourcen einer Gesellschaft so zu gebrauchen, dass es im Interesse aller ist. Man sollte nicht davon ausgehen, dass Eigentum nur ein ursprüngliches Recht von Individuen ist. Es ist ein Instrument der Gesellschaft, um die Verhältnisse zwischen den Menschen zu regulieren. +Zum Teil ja. Es gibt empirische Untersuchungen darüber, wie durch Patentrechte die gesamte Ökonomie behindert wird. Auf der anderen Seite ist es natürlich so, dass Erfinder einen Anreiz für ihre Arbeit haben, wenn sie wissen, dass ihre Erfindung geschützt ist und sie reich werden können. Das hat in der Vergangenheit bei Innovationen natürlich immer eine Rolle gespielt. Das Problem heute ist, dass so viele Erfindungen, zum Beispiel in der Chemie oder der Physik, am Band produziert werden. Man kann da eigentlich niemanden mehr individuell verantwortlich machen, das ist ein globaler Prozess – und diejenigen, die zufällig die Ersten sind, sind die großen Gewinner. +Das zeigt einfach, dass die Vorstellung von Privateigentum an Wissen mehr und mehr absurd wird. +Ja, klar. Aber anderseits können sie durch das Runterladen ja eine noch größere Verbreitung bekommen, als es vorher möglich war. +Natürlich sollten diejenigen, die besonders geniale Musiker sind, auch einen Lohn dafür bekommen. Ich bin ja nicht dafür, dass alles nivelliert wird. Aber das kann man auch durch andere Mittel erreichen. Man kann messen, wie oft jemand runtergeladen wird, man kann Zähler einbauen, und dann sollten alle Internetuser oder die Computerproduzenten Geld in einen Fonds einzahlen, der dann an die entsprechenden Künstler ausgeschüttet wird. +Das hat historische Gründe. Die erste Generation von modernen Softwareproduzenten hat zusammengearbeitet, die haben nicht daran gedacht, dass sie als Privateigentümer der Entdeckung betrachtet werden können, die sie gemacht haben. Es war eine kleine Gruppe von ein paar Hundert Leuten, die sich kannten und sich ständig über die Schulter guckten. Richard Stallman war wie seine Kollegen einer, der für die Eigentümer dieser wenigen riesigen Computer, die es damals gab, Software geschrieben hat. Zu Beginn der Achtzigerjahre gingen die Eigentümer der Computer dazu über, die Softwareproduzenten als ihre Angestellten zu betrachten. Sie sagten: Was ihr da macht, ist unser Eigentum, wir entscheiden, ob ihr anderen eure Ergebnisse geben dürft oder nicht. Richard Stallman gehörte zu den wenigen, die sich geweigert haben. Und er hat sich dann durchgebissen und wurde somit zu einem der Begründer der sogenannten Freien-Software-Bewegung. +Ich denke schon. Es gibt viele Leute, die Interesse haben, ihre Arbeit unentgeltlich in ein schickes Unternehmen zu stecken. Wikipedia ist ein hervorragendes Lexikon. Es gibt so viele Leute, die einfach stolz sind, etwas an eine Institution geben zu können, die für jeden zugänglich ist. Natürlich muss man sich das leisten können. Aber es gäbe diese ökonomische Notwendigkeit gar nicht mehr, wenn jeder zum Beispiel ein bedingungsloses Grundeinkommen vom Staat bekäme. Dann errichtet man einem ein Denkmal und sagt, du hast das geschafft. Diese Form der Anerkennung reicht doch völlig aus. +Ulrich Steinvorth (67) lehrt an der Bilkent Universität in Ankara Philosophie. Er hat ein Manifest mitverfasst, das eine gesellschaftliche Debatte über Gemeingüter anstoßen soll. diff --git a/fluter/wissen-ist-markt.txt b/fluter/wissen-ist-markt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..55821b881c919b810b358875fd7d854e77979c55 --- /dev/null +++ b/fluter/wissen-ist-markt.txt @@ -0,0 +1,3 @@ ++++ 17,2 Prozent der 20- bis 24-Jährigen haben einen Hund im Haushalt +++ 4 Prozent der 20- bis 24-Jährigen haben Vögel im Haushalt +++ 62 Prozent der 20- bis 24-jährigen jungen Frauen benutzen mindestens einmal pro Woche Augen-Make-up +++ 60 Prozent der 14- bis 19-jährigen Jungen haben in den letzten sieben Tagen Haargel verwendet +++ 33 Prozent der 12- bis 25-Jährigen gehen in ihrer Freizeit einem bezahlten Job nach +++ 24-/25-Jährige arbeiten pro Woche sieben Stunden +++ 39 Prozent der 12- bis 25-Jährigen trinken mindestens einmal pro Woche Alkohol +++ 56 Prozent der 12- bis 25-jährigen Mädchen und 40 Prozent der Jungs essen täglich Obst +++ 31 Prozent der 12- bis 25-jährigen Mädchen und 25 Prozent der Jungen essen täglich Süßigkeiten ++++ 54 Prozent der 14- bis 29-Jährigen halten soziale Gerechtigkeit für wichtig und erstrebenswert +++ 7 Prozent der 14- bis 29-Jährigen halten es für wichtig und erstrebenswert, politisch aktiv zu sein +++ 35 Prozent der 14- bis 29-Jährigen lesen fremdsprachige Bücher +++ 11 Prozent der 14- bis 29-Jährigen haben gute oder sehr gute Französischkenntnisse +++ 41 Prozent der 14- bis 29-Jährigen wollen einen Bausparvertrag abschließen +++ 64 Prozent der 12- bis 19-Jährigen besitzen einen eigenen Fernseher +++ 14- bis 29-Jährige sehen pro Tag durchschnittlich 140 Minuten fern +++ Beliebtester Fernsehsender der 12- bis 19-Jährigen: Pro7 mit 37 Prozent ++++ 18 Prozent der 12- bis 19-Jährigen bezeichnen Die Simpsons als ihre Lieblingssendung +++ Die beliebtesten Marken ihrer Art bei den 18- bis 29-Jährigen: Coca-Cola, Nutella und Nokia +++ 45 Prozent der 20- bis 29-Jährigen kaufen gern Kleidung oder andere Sachen, die in der eigenen Gruppe "in" sind +++ 26 Prozent der 20- bis 29-Jährigen verfügen über eine private Rentenversicherung +++ 11 Prozent der 14- bis 29-Jährigen halten Religion für wichtig und erstrebenswert +++ 91 Prozent der 14- bis 29-Jährigen halten es für erstrebenswert, Freunde zu haben +++ 49 Prozent der 14- bis 29-Jährigen halten es für wichtig und erstrebenswert, Menschen zu helfen +++ 57 Prozent der 20- bis 29-Jährigen surfen über eine Flatrate +++ Jeder sechste Jugendliche oder junge Erwachsene lebt in unzureichenden Einkommensverhältnissen +++ 1 Prozent der 14- bis 17-Jährigen besitzt Aktien +++ 5 Prozent der 18- bis 24-Jährigen besitzen Aktien +++ 69 Prozent der 14- bis 29-Jährigen halten Erfolg im Beruf für erstrebenswert. diff --git a/fluter/wissensarbeit-wandel-berufe-interview.txt b/fluter/wissensarbeit-wandel-berufe-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8022655ee2230fce6e4fdf1dbca6fc73005244bd --- /dev/null +++ b/fluter/wissensarbeit-wandel-berufe-interview.txt @@ -0,0 +1,35 @@ + +fluter.de: Man hört immer wieder, dass aus der Industriegesellschaft eine Wissensgesellschaft wird. An welchem Punkt dieses Übergangs sind wir? +Philipp Staab: Wichtig ist zunächst, dass solche Begriffe immer nur Teilaspekte des gesellschaftlichen und ökonomischen Wandels abdecken. In den Industriestaaten sprechen wir schon länger von uns als Dienstleistungsgesellschaften. Und zumindest in Westdeutschland hat die Mehrheit der Beschäftigten spätestens seit den 80er-Jahren nicht mehr Produkte, sondern Services erbracht. Die Wissensarbeit unterscheidet sich von industriellen oder manuellen Arbeiten mit ihren sich ständig wiederholenden Arbeitsabläufen, weil sie eine gute Ausbildung und kreatives Denken erfordert. Die Wissensberufe sind in den vergangenen 50 Jahren tendenziell mehr geworden,während andere Berufe weniger werden, auch weil wir sie automatisieren. +Die Europäische Kommission und die OECD schätzen, dass ein Land umso besser für die Wissensgesellschaft gerüstet ist, je mehr Jugendliche dort studieren. Werden Menschen ohne Bildungszugang in Zukunft noch stärker abgehängt? +Tendenziell ja. Wenn wir über die Transformation zur Wissensgesellschaft sprechen, blenden wir oft aus, dass in diesem Prozess nicht alle gleichermaßen profitieren. Es entsteht ein modernes Dienstleistungsproletariat, zu dem etwa Pfleger*innen oder Kassierer*innen zählen. Interessanterweise also Menschen in Berufen, die seit Jahren fehlende Anerkennung oder sogar sozialen Abstieg erfahren, in derCorona-Kriseaber plötzlich als "systemrelevant" erkannt wurden. + + +Wissensarbeit geht überall und jederzeit, schließlich haben wir unseren Kopf immer dabei. Warum sitzt der Großteil der Arbeitnehmer*innen trotzdem immer noch von "nine to five" auf demselben Bürostuhl? +Der Achtstundentag ist durch Tarifverträge, Gewerkschaften und das Arbeitsrecht institutionell abgesichert. Diese Stabilität ist aus Arbeitnehmer*innensicht erst mal zu begrüßen. In der Arbeitsforschung geht man auch davon aus,dass die Veränderung von Arbeitszeiten die Belastung eher steigert. Ich bin mir ziemlich sicher, dass viele, die wegen der Corona-Krise nur im Homeoffice arbeiten, sich wünschen, dass die Kinder in die Kita gehen und sie zu ihrem Arbeitsalltag zurückkehren können. Gleichzeitigschätzen Menschen die Flexibilität bei der Planung der eigenen Lebenszeit. Nach meinen Beobachtungen wollen die wenigsten das Büro ganz abschaffen, begrüßen es aber, wenn der Chef ihnen anbietet, donnerstags und freitags zu Hause zu arbeiten. +Agilität +Statt einen festgenagelten Projektplan zu verfolgen, darf bei agilem Arbeiten nachjustiert werden: Wichtig ist die Flexibilität. +Arbeit 4.0 +Der Begriff geht von einer vierten industriellen Revolution aus, die unser Leben und Arbeiten digitalisiert und globalisiert. Mit dem Wandel zur Arbeit 4.0 müssen viele Arbeitsabläufe und Funktionen neu gedacht werden. +Holokratie +Statt einer starren Führung durch Manager*innen werden in diesem relativ neuen Arbeitsmodell alle Mitarbeiter*innen gleichermaßen in Arbeits- und Entscheidungsprozesse eingebunden. +Jobsharing +Als Jobsharing wird ein Arbeitszeitmodell bezeichnet, bei dem sich zwei oder mehrere Arbeitnehmer*innen eine Vollzeitstelle teilen, zum Beispiel im Verhältnis 50:50 oder 70:30. +New Work +Den Begriff hat der Philosoph Frithjof Bergmann schon in den 1970er-Jahren geprägt, um ein neues Arbeitsverständnis zu beschreiben: Die Menschen sollten sich aus der Knechtschaft der Lohnarbeit befreien und mehr Zeit für Teilhabe an der Gemeinschaft haben. Heute versteht man unter New Work vor allem den Wandel der Arbeit aufgrund der Digitalisierung und Globalisierung. +Remote +"Remote" Arbeiten steht für mobiles, flexibles und ortsungebundenes Arbeiten, zum Beispiel im Homeoffice. +Dann ist der 100 Jahre alte Achtstundentag nicht reformbedürftig? +Wenn man damit meint, dass man ab neun Uhr stoisch seine acht Stunden absitzt, ist der Achtstundentag sicherlich überholt. Das geht flexibler und selbstbestimmter. Aber welche Instanzen blockieren das eigentlich? In der realen Arbeitswelt sind das nicht die Gewerkschaften oder die Politik, sondern ein mittleres Management, dessen wesentlicher Job es ist, Arbeitnehmer*innen zu kontrollieren. Und das geht nun mal leichter, wenn alle zur selben Zeit am selben Platz sitzen. +Führen solche Zwänge zum Begriff der "Bullshit Jobs", der zuletzt Karriere gemacht hat? Viele Menschen scheinen zu erkennen, dass ihre Jobs sinnlos sind oder zunehmend sinnloser werden. +Die Arbeitsforschung zeigt, dass wir ein massives Problem mit sinnentleerter Arbeit haben. Unten haben wir das Problem von zu wenig Zeit für zu viel Arbeit – zum Beispiel in der Pflege, in der ein großer Teil der Beschäftigten unbezahlte Überstunden macht. Oben haben wir es häufig mit Jobs zu tun, bei denen man auch von "empty labor" spricht, also leerer Arbeit. Was gibt der regionale Salesmanager eines Produkts, das sich eigentlich von selbst verkauft, an die Gesellschaft zurück? Es scheint immer mehr solcher gefühlt unnützer Arbeitsstellen zu geben – und das, obwohl die Gesellschaft sonst so auf Effizienz gepolt ist. +Diese Jobs werden auch nicht sinnvoller, nur weil man sie flexibel erledigen kann. +Im Gegenteil. Die Leute unterschätzen den sozialen Aspekt der Arbeit, wenn sie denken, dass man Dinge digital in gleicher Qualität abbilden könne wie analog. Das ist nicht der Fall: Digitale Meetings bilden nur die Oberfläche von Arbeitsprozessen ab. Menschen gehen ja nicht zur Arbeit, um besonders effizient durch ein Meeting zu kommen – was bei Zoom oder Skype durchaus leicht ist. Sie gehen ins Büro,um sich in der Kaffeepause mit Kolleg*innen über ihre Hunde zu unterhalten, auf Konferenzen ihre Buddys zu treffen, sich abends mal zu betrinken und informelle Netzwerke fürs eigene Weiterkommen zu pflegen. Das alles wird gebraucht, fällt aber weg. Das Homeoffice lebt von Ressourcen, die es selbst nicht schaffen kann. + + +Dieser soziale Austausch ist digital nicht möglich? +Ich glaube nicht, dass diese Medien das Vertrauen abbilden können, das bei Face-to-Face-Meetings entsteht. Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem Zoom-Meeting. Nach und nach schalten immer mehr Kolleg*innen ihre Kameras aus, manche gehen aufs Klo, andere erledigen nebenher den Haushalt. Am Ende redet man gegen ein Meer schwarzer Bildschirme an, ohne zu wissen, wer überhaupt noch da ist und zuhört. Das ist tief unsozial. +Special: Wissen +Hier liest du weitere Artikelaus unserem Wissen-Schwerpunkt +Haben die Corona-Beschränkungen der Wissensgesellschaft trotzdem Türen geöffnet? +Eine Gegenwart ortsunabhängiger Arbeit gab es schon vor der Corona-Pandemie. Der Übergang konnte nur deshalb so gut klappen, weil die Infrastruktur vielerorts vorhanden war. Sicherlich haben wir einen kleinen Schub fürs Modell Homeoffice beobachten können, die ganz große Veränderung sehe ich aber nicht. diff --git a/fluter/wissenschaft-geschichte-philosophinnen.txt b/fluter/wissenschaft-geschichte-philosophinnen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7861426bbb92803caf5bdd61d8d5c73dd3ac320a --- /dev/null +++ b/fluter/wissenschaft-geschichte-philosophinnen.txt @@ -0,0 +1,21 @@ + +Wie ist das passiert? +Das war ein allmählicher, willentlicher Ausschluss. Nach einer Epoche, in der Frauen in der Öffentlichkeit sichtbar waren, kam mit der Ermordung von Olympe de Gouges der Anfang des Ausschlusses. Die Französin forderte 1791 in ihrer "Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin" eine Gleichstellung von Frauen. Weil der Staat aus Frauen und Männern bestünde, müssten beide zu gleichen Teilen repräsentiert werden. Die Revolutionäre gingen gegen die Frauen vor, und de Gouges landete unter der Guillotine. Und es wäre falsch zu denken, dass Frauen wie sie Einzelfälle gewesen wären: Institutionen wie Universitäten, Parlamente, Schulen haben Frauen ausgeschlossen und ihre Leistungen verschwiegen. Wir haben deswegen heute eine westliche Wissenschafts- und Philosophiegeschichte, die nahezu nur von Männern handelt. Natürlich ist es in anderen Kulturen nicht anders. +Haben Sie dafür ein Beispiel? +Das lässt sich schön zeigen an Goethes Roman "Die Leiden des jungen Werther": Der hat eine Vorlage, nämlich die "Geschichte des Fräuleins von Sternheim" von Sophie von La Roche. Das war der erste deutschsprachige Briefroman. Goethe aber begründete mit dem "Werther" seinen Weltruhm. In dieser Zeit ging in Deutschland diese große systematische Verdrängung der Frauen los, ganz Europa erlebte einen politischen Shift. Es kamen mehrere Faktoren zusammen: die Industrialisierung und Kapitalisierung der Gesellschaften, Napoleon und nach ihmdie Restauration– die Herstellung der alten Ordnung in Europa. In der Philosophie kam mit Kant, Hegel und Fichte der Deutsche Idealismus auf, der sich frauenfeindlich zeigte. In Hegel und Fichte finden sich zahlreiche Strategien der Unterwerfung der Frauen. Fichte behauptete, die Frauen würden sich "aus Liebe" unterwerfen. Frauen wurden aus Bildungsinstitutionen und öffentlichen Institutionen ausgeschlossen, die in dieser Epoche entstanden. +Wir reden immer noch vor allem von weißen, europäischen Philosophinnen. Nichtweiße Philosophinnen wurden noch öfter unter den Tisch gekehrt. +Wir wissen mittlerweile, dass es einen Austausch gab zwischen Frauen aus Europa, Lateinamerika und Indien. Wir sind gerade dabei, diese Texte wiederzuentdecken, stehen aber noch am Anfang. +In der Schule war Ethik mein Lieblingsfach, und wir haben über viele Philosophen gesprochen. Ich kann mich nicht erinnern, dassaußer Hannah Arendtjemals eine Frau erwähnt wurde. Was geht dadurch verloren? +Wir lernen eine Verdrängungsgeschichte als einzige Wahrheit. Deshalb wachsen wir in einer frauenlosen Kulturgeschichte auf. Wenn Newton nur jeden zweiten Planeten vermessen hätte, um deren Dynamik zu erklären, dann hätten wir heute ein falsches Verständnis vom Sonnensystem. Nicht anders ist es in der Philosophie: Wir lehren eine falsche Beschreibung der Wirklichkeit und der Geschichte. +Wie würden wir die Wirklichkeit sehen, wenn wir uns auf Frauen beziehen würden? +In mancher Hinsicht wäre diese Wissenschaft inhaltlich anders, in mancher inhaltlich gleich. Nehmen wir das Beispiel Hildegard von Bingen im 12. Jahrhundert: Sie hat eine ausgeklügelte und differenzierte Auffassung von der Verschiedenheit der Körper von Mann und Frau formuliert. Diese Einsicht und alle Erkenntnisse daraus, zum Beispiel, dass für Männer und Frauen dadurchunterschiedliche medizinische Betreuung notwendig ist, gingen verloren, weil sie nicht Teil der Lehre in den Universitäten wurden. Noch heute wird überwiegend an männlichen Mäusen geforscht, weil es einfacher und der weibliche Körper komplexer ist. Heute wissen wir,dieses medizinische Defizit ist eklatant. Andererseits, was bleibt gleich? In der Forschung ist bestätigt, dass Kopernikus die Kommentare der Hypatia las, als er in Florenz war. Sie gehörte zu den antiken Denkerinnen, die dasheliozentrische Weltbildvertraten. Im 18. und 19. Jahrhundert haben Frauen wichtige Beiträge geleistet um die Gesellschaft und die Wirtschaft neu zu strukturieren. Es war eine Frau, Hazel Kyrk, die die Idee der nachhaltigen Verwertung von Rohstoffen undihre Rückkehr in den Wirtschaftskreislaufentwickelte. Hier lassen sich zahlreiche Beispiele anführen und eine ganz neue Art der Ökonomie denken. +Es geht Ihnen also gar nicht nur um Geschlechtergerechtigkeit, sondern vor allem darum, dass vieles faktisch nicht stimmt, was wir lernen. Ist das Thema in Ihrem Hörsaal? +Als ich, damals noch an der Universität zu Köln, begann, die Geschichte dieser Frauen zu lehren, stieß ich damit auf Widerstand. Professoren für antike Philosophie hatten sich nie mit der Frage beschäftigt, warum Platon forderte, dass in seinem idealen Staat Männer und Frauen gleich erzogen werden. So entstehteine falsche Geschichtsschreibung. Um diesem Mangel zu begegnen, habe ich das Zentrum zur Erforschung der Geschichte der Philosophinnen gegründet, als ich meine Professur an der Universität in Paderborn antrat. + +Angenommen, Sie könnten jetzt sofort eine Sache an den Lehrplänen bundesweit ändern … +Ich würde antike Philosophinnen einbeziehen – wie etwa Diotima, die vielleicht die erste bekannte Philosophin überhaupt war. Sie wurde als Lehrerin von Sokrates zum Vorbild aller Philosophinnen. Damit wird die abendländische Geschichte neu gerahmt. Hildegard von Bingen, die von 1098 bis 1179 lebte, ist eine großartige Philosophin und Naturwissenschaftlerin. Wäre sie Teil in unserem Lehrplan, würden die jungen Menschen sofort ein neues Verständnis für den Menschen und seinen Umgang mit der Natur lernen. Wir wissen heute wieder, dass Platons Mutter Periktione selbst als Philosophin angesehen wurde. Wir wissen von Theano, die den Goldenen Schnitt gefunden haben soll. Der französische Philologe Gilles Ménage schrieb schon 1690 ein Buch, in dem er 65 antike Philosophinnen mit Werken und Quellen zusammenstellte. Faktisch ist dieses Wissen also nicht verschwunden. Nur in der Lehre wird es bis heute ignoriert. +Sind wir heute auf einem guten Weg? +Mein früherer Prof hat immer gesagt: Frau Hagengruber, wir leben im Mittelalter. Je mehr ich über die Vergangenheit lerne, sehe ich, was er damit meinte. Frauenhass ist immer noch ein Teil aller Gesellschaften. Aber ich bin trotzdem optimistisch. Man muss bedenken: Es wurde auch 900 Jahre kein Platon gelesen. Die Rückkehr der platonischen Philosophie in den Westen zeigt, es ist schon einmal gelungen, den Kanon zu verändern. Das hat zu einer erheblichen wissenschaftlichen Erneuerung in der Renaissance geführt. Wir brauchen eine solche zweite Renaissance. + +Ruth Hagengruber ist Professorin und Inhaberin des Lehrstuhls für Philosophie sowie Leiterin des Center for the History of Women Philosophers an der Universität Paderborn. Ihr Buch "Teaching Women Philosophers. Ideas and Concepts from Women Philosophers' Writings Over 2000 Years" ist 2024 erschienen. Ihre Vorlesung zur Geschichte der Philosophinnen kann manauf YouTube anschauen. + diff --git a/fluter/wissensquelle.txt b/fluter/wissensquelle.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3e7280a6755666315b24e339d12656df7102ccd9 --- /dev/null +++ b/fluter/wissensquelle.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Klingt kitschig? Ist aber so. Etwa 1,4 Billiarden Liter schwimmen, fließen und plätschern auf der Erde. Damit sind gut 70 Prozent unseres Planeten mit Wasser bedeckt. Bei etwa 97 Prozent handelt es sich um Salzwasser, rund zwei Prozent sind an den Polen und in Gletschern gefroren. Nur weniger als ein Prozent steht uns tatsächlich für die Nutzung zur Verfügung – zum Trinken, Waschen, in der Landwirtschaft und der Industrie. Auch wir Menschen sind echte Wasserwesen: Unsere Körper bestehen zu rund zwei Dritteln aus der Flüssigkeit, ohne die auf der Erde nichts funktionieren würde. +Dieser Überzeugung war der griechische Gelehrte Thales von Milet (ca. 625–547v. Chr.). Heute wissen wir, was das Wasser im Innersten zusammenhält. Es ist das häufigste Molekül auf der Erde und setzt sich aus zwei Wasserstoffatomen und einem Sauerstoffatom zusammen, die in der Struktur ein gleichschenkliges Dreieck bilden – ähnlich einem V. Die chemische Formel: H2O. Während das Sauerstoffatom eine negative Teilladung besitzt, hat das Wasserstoffatom eine positive. Durch den winkligen Aufbau entsteht ein sogenanntes Dipolmoment. Zwischen den teilgeladenen Wassermolekülen kann es nun zu Wechselwirkungen kommen: Gleiche Ladungen stoßen sich ab, unterschiedliche ziehen sich an. Durch diese Wasserstoffbrückenbindungen bilden mehrere Moleküle zusammen dreidimensional verknüpfte Cluster. Die Verkettung der Moleküle durch diese Brückenbindungen ist der Grund dafür, dass Wasser unter Normalbedingungen flüssig ist. +Im Althochdeutschen hatte es genau diese Bedeutung. Es wurde wazzar genannt, auf diesen Begriff geht unser Wort Wasser zurück. In fast allen indoeuropäischen Sprachen gab und gibt es verschiedene Formen des Begriffs: Im Hethitischen sprach man von watar, im Litauischen sagt man vanduo, uda heißt Wasser auf Sanskrit. Aus dem altgriechischen hydor leiten sich viele Fremdwörter ab, etwa der Hydrant oder die Hydraulik. Das lateinische Wort aqua findet sich in den meisten romanischen Sprachen wieder. Übrigens: Auf Russisch nennt man Wasser voda. Wem aber in Russland ein Wässerchen angeboten wird, der sollte aufpassen: Bei dieser Verniedlichung des Wortes handelt es sich um nichts anderes als hochprozentigen Wodka. +Forscher unterscheiden rund vierzig Anomalien, das heißt Abweichungen von naturwissenschaftlich erwartbarem Verhalten. Kein Wunder also, dass immer wieder merkwürdige Thesen über das Wasser auftauchen. 1988 publizierte etwa Jacques Benveniste im Fachmagazin Nature, Wasser habe ein Gedächtnis. Leider zeigte sich sein flüssiger Proband jedoch höchst vergesslich, als der Wissenschaftler seinen Versuch zum Beweis wiederholen sollte. Das hielt den japanischen Alternativmediziner Masaro Emoto nicht davon ab zu behaupten, Wasser könne zwischen guter und schlechter Musik unterscheiden, die Gefühlslage der Menschen widerspiegeln und obendrein auch noch lesen. Die Beweise dafür fehlen bisher allerdings. +Trotz weißer Schwimmbadkacheln schimmert es im Becken bläulich. Schuld daran ist das Licht. Seine Strahlen bestehen aus Wellen unterschiedlicher Länge, und damit aus verschiedenen Farben. Alle Farben zusammen ergeben weißes Licht. Treffen die Strahlen auf einen Gegenstand, wird ein Teil davon geschluckt, ein Teil reflektiert. Letzterer bestimmt unseren Farbeindruck. Wassermoleküle absorbieren den roten Anteil des Lichts, der reflektierte blaue wird von unseren Augen wahrgenommen. Je tiefer das Wasser, umso intensiver das Blau. Als Schnee wird Wasser aber plötzlich weiß. Denn Schneekristalle absorbieren überhaupt keine Lichtwellen, sie werfen die Strahlen mit all ihren Farben zurück. diff --git a/fluter/witz-im-deutschen-film-es-war-einmal-indianerland.txt b/fluter/witz-im-deutschen-film-es-war-einmal-indianerland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..8e52ccd5afce63cc48727234cc26de7c680cd900 --- /dev/null +++ b/fluter/witz-im-deutschen-film-es-war-einmal-indianerland.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Da rasen die Bilder im Zeitraffer über die Leinwand, wenn der Film blitzschnell vor- und wieder zurückgespult wird, weil der notorisch unzuverlässige Erzähler noch mal neu ansetzen muss. Die ständig wechselnde Brennweite der Kamera, die Bildstörungen und Jump Cuts setzen die jugendliche Verunsicherung von Mauser (Leonard Scheicher) effektvoll in Szene. Gründe für einen 17-Jährigen, verwirrt zu sein, häuft der Film jedenfalls schon in den ersten fünf Minuten an: Mauser verliebt sich Hals über Kopf in das Abziehbild eines Instagram-Models, wichtige Boxkämpfe stehen an, sein Nachbar Kondor macht ihm Stress und eine neue Nachbarin komische Avancen – und zu allem Überfluss erwürgt Vater "Zöllner" aus Versehen seine Lebensgefährtin. +Klar, der Plot klingt jetzt nach einem bleischweren Sozialdrama, zumal "Indianerland" in einer Hochhaussiedlung am Stadtrand spielt. Das heißt im deutschen Kino meist nichts Gutes. Solche Filme tragen Titel wie "Knallhart", um zu betonen, wieheavyundrealsie sind. Çatak und Mohl machen hier aber etwas völlig anderes. Sie entziehen dem Stoff mit ihrer immer leicht ironischen Fabulierlust die Schwere – auch wenn die Handlungskonflikte dadurch ein wenig verwässern. Sie erzählen überzeichnet, aber nicht unglaubwürdig von Techno-Festivals und heimlichen Poolpartys. Und sie schicken ihre Figuren in Wortgefechte, in denen Quatschsätze fallen wie: "Das Wildschwein ist der Bison des kleinen Mannes." Genau diese Haltung fällt in einigen deutschen Nachwuchsfilmen auf und sie bringt gelegentlich etwas hervor, das man hierzulande im Kino kaum kennt: Witz. +Hierfür ist keine Gruppe von Filmschaffenden verantwortlich, die eine gemeinsame Idee vom Kino verfolgt oder unter ähnlichen Umständen produziert. Vielmehr sind in formal sehr unterschiedlichen Filmen Ähnlichkeiten in der Darstellung von Jugendlichkeit zu beobachten, die sich vielleicht am ehesten auf den folgenden gemeinsamen Nenner bringen lassen: Schwere Themen werden leicht, meist komödiantisch inszeniert; die Protagonisten sind Außenseiter, Sonderlinge und Draufgänger, sie sprechen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, wollen ihre Grenzen austesten und feiern an irgendeinem Punkt des Films auf einer heimlichen Poolparty. Wie in Çataks Film diente nämlich auch schon im Coming-of-Age-Horror "Der Nachtmahr" (2016) eine nächtliche Partyszene im Schwimmbad dazu, die jugendliche Lebenswelt der 2010er-Jahre zu beschreiben. +Wenn es um das Anarchische und den Witz in der Figurenzeichnung geht, verfolgen die Mumblecore-Filme der BrüderJakobundTom Lasseine eigene Strategie. Die Jugendlichen in "Love Steaks" (Jakob Lass, 2013), "Käpt'n Peng" (Tom Lass, 2013) und zuletzt in "Blind & Hässlich" (Tom Lass, 2017) wirken gerade deshalb so lebendig, weil sie sich so skurril und teils wider jede Drehbuchlogik verhalten – wohl auch, weil es kein Drehbuch gibt. So stellt sich Jona im neuesten Lass-Film blind, um in einem Sehbehindertenwohnheim unterzukommen und sich dem soziophoben Ferdi besser annähern zu können. Aus dieser Grundkonstellation und einer lose montierten Sammlung improvisierter Szenen entwickelt "Blind & Hässlich" eine schräge Komik, die immer wieder die erwartete Dramaturgie unterläuft. +Auf die junge Generation ist man derweil auch bei Constantin aufmerksam geworden, der größten deutschen Filmproduktionsfirma. Jakob Lass hat seinen letzten Film "Tiger Girl" dort herausgebracht, sein nächster Film wird von Constantin sogar produziert. "Bunt, wild und unangepasst", das nimmt man beim deutschen Branchenführer so wörtlich, dass Tabubrüche im Jugendfilm schon routinemäßig eingebaut werden: In Helene Hegemanns eigener Romanverfilmung"Axolotl Overkill"(2017) driftet eine 16-Jährige durch die zugekokste Berliner Kulturschickeria und fantasiert darüber, sich "mal so richtig vergewaltigen zu lassen". Und in"Tigermilch", einem heillos überfrachteten Coming-of-Age, provozieren zwei Mädchen auf offener Straße mit "Nazi! Fotze! Jude!". Dies sind dann Filme, deren Nonkonformismus eine Behauptung bleibt. Anders als etwa in "Es war einmal Indianerland" wirkt es hier, als finde die Poolparty mit Bademeister und Erziehungsberechtigten statt. +"Es war einmal Indianerland", Deutschland 2017; Regie: İlker Çatak, Buch: Nils Mohl, mit: Leonard Scheicher, Johanna Polley, Emilia Schüle, Joel Basman; 97 Minuten + diff --git a/fluter/wlada-kolosowa-ueber-lesbische-liebe-in-russland.txt b/fluter/wlada-kolosowa-ueber-lesbische-liebe-in-russland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..519bc565545c5ed0ab84f865826d6a7a2538984d --- /dev/null +++ b/fluter/wlada-kolosowa-ueber-lesbische-liebe-in-russland.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Deine beiden Protagonistinnen leben in einer trostlosen Trabantenstadt von Sankt Petersburg. Bist du in einem ähnlichen Vorort groß geworden? +Ich bin in Sankt Petersburg geboren, aber in einer Siedlung hinter dem Polarkreis aufgewachsen. Später habe ich in einer Kleinstadt bei Tula gewohnt. Plattenbauten, Alkoholiker im Hof, tratschende Großmütter auf der Bank vor dem Haus – das kenne ich alles gut. Krylatowo, der Ort der Handlung, ist zwar fiktiv, aber aus vielen realen Details zusammengestückelt. +Wlada Kolosowa: Fliegende Hunde. 2018 bei Ullstein Fünf erschienen, 224 Seiten lang +In "Fliegende Hunde" reißt du zahlreiche aktuelle Phänomene an, von gefährlichen Diät-Plattformen bis zur ausbeuterischen Modelbranche. +Auf beiden Gebieten habe ich als Journalistin recherchiert. Auf das letzte Thema bin ich gekommen, als ich für eine Reportage ein weißrussisches Model ein Jahr lang begleitet habe. Natürlich ist längst nicht bei allen Agenturen der Grat zwischen Modeln und Prostitution so schmal wie in meiner Geschichte. Aber die Arbeitsbedingungen sind oft schlecht.Erst letztes Jahr ist eine 14-jährige Russin nach einer Modenschau in Schanghai gestorben. Sie war ernsthaft krank, wurde aber nicht rechtzeitig ins Krankenhaus gebracht, möglicherweise, weil ihre Agentur keine Versicherung für sie abgeschlossen hatte. +In einer Szene sprechen die Eltern der Mädchen vom "sittenlosen Europa" und sorgen sich darum, dass das Ausland Lena verderben könnte. Ist der russische Blick auf Europa tatsächlich so kritisch? +Natürlich sehen das nicht alle Russen so. Aber die Meinung, dass die Bevölkerung Europas – von manchen auch "Gayropa" genannt – durch die gleichgeschlechtliche Ehe aussterben wird, habe ich mehr als nur einmal gehört. +Wie steht man in Russland zur Liebe zwischen Frauen, wie sie zwischen Lena und Oksana entsteht? +Lesbische Frauen stehen weniger in Gefahr, körperlich angegriffen zu werden, als schwule Männer. Das liegt daran, dass man ihre Liebe nicht ernst nimmt. Ich habe schon knutschende Frauen in russischen Clubs gesehen. Das geht okay, weil davon ausgegangen wird, dass sie sich nur küssen, um Männer heiß zu machen. Öffentlich ein Paar zu sein oder eine Familie zu gründen ist dagegen sehr schwer. In Russland darfst du nur dann lesbisch leben, wenn du ganz leise bist. Ein Frauenpaar, mit dem ich gesprochen habe, schläft zum Beispiel in getrennten Zimmern, seit sie Eltern sind. Einerseits, damit ihre Kinder nicht erzählen, dass Mama und Tanja sich ein Bett teilen. Andererseits wollen sie ihnen kein "schlechtes Beispiel" sein. Da wurde quasi die gesellschaftliche Ablehnung ins Privatleben übernommen. +Im Juni 2013 hat Russlands wiedergewählter Präsident Wladimir Putin ein Gesetz unterzeichnet, das "homosexuelle Propaganda" unter Strafe stellt. +Wlada Kolosowa, 31, wurde in Sankt Petersburg geboren und kam mit zwölf nach Deutschland. Vor ein paar Jahren begann sie ihre russische Heimat wiederzuentdecken und darüber zu schreiben. Heute lebt sie in Berlin und ist Redakteurin bei Zeit Online. "Fliegende Hunde" ist ihr erster Roman +Wer sich in Russland vor Minderjährigen positiv über Themen wie Homo-, Bi- oder Transsexualität äußert, kann dafür eine Geldstrafe bekommen. Aber noch schlimmer als dieses Gesetz finde ich die Brutalität, die Homosexuelle zum Teil auch aus der Zivilbevölkerung erfahren. Ein Beispiel ist die Gruppe Occupy Pedofiljaj in dem sozialen Netzwerk VKontakte. Diese Leute setzen Homosexualität mit Pädophilie gleich. Ihre Mitglieder verabreden sich online mit homosexuellen Männern, um sie dann zusammenzuschlagen. +Neben gleichgeschlechtlicher Liebe schreibst du auch noch über ein anderes heikles Thema: die Blockade von Leningrad. +Leningrad – heute Sankt Petersburg – war während des Zweiten Weltkriegs fast zweieinhalb Jahre lang von der deutschen Wehrmacht eingeschlossen. Etwa eine Million Menschen sind damals verhungert. Viele Menschen wollen nicht über diese schlimme Episode in der Geschichte reden. In meinem Roman ahmt eine Online-Community die Hungerblockade nach, um abzunehmen. Tatsächlich gibt es viele Foren, in denen Mädchen einander in ihrer Magersucht anspornen. Die Community hinter der "Leningrad-Diät" ist allerdings fiktiv. Es ist eine grausame, totalitäre Gruppe. Oksana ist dieser Community verfallen und kocht Blockaderezepte wie Gürtelsuppe oder Pudding aus Tischlerleim nach. +Wurde das wirklich während der Blockade gegessen? +Es sind keine Rezepte, die man nachkochen sollte. Aber sie basieren auf Aufzeichnungen, die ich in Archiven und Zeitzeugenberichten gefunden habe. Im Blockademuseum in Sankt Petersburg kann man sich die winzigen Brot-Tagesrationen ansehen, die die Menschen zugeteilt bekommen haben. Die Menschen haben in ihrer Verzweiflung alles gegessen, was organischen Ursprungs war: Tapetenkleister, Vaseline oder ihre eigenen Haustiere. + diff --git a/fluter/wm-katar-boykottieren-streit.txt b/fluter/wm-katar-boykottieren-streit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..58962acfc8cd578f25caaca8b3beca498981dda3 --- /dev/null +++ b/fluter/wm-katar-boykottieren-streit.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Dazu liebe ich diese Turniere zu sehr, vor allem die K.-o.-Spiele, die Dramen mit Verlängerung und Elfmeterschießen. Und ich bin Fan dieser Nationalelf, obwohl sie es mir zuletzt nicht leicht gemacht hat. Allein das Vorrundenaus bei der Weltmeisterschaft in Russland! Aber ich freue mich auf die Dribblings von Jamal Musiala, die Dynamik von Kai Havertz, die Grätschen von Antonio Rüdiger. Ich bin neugierig, ob diese Einzelkönner während des Turniers zu einer Mannschaft zusammenwachsen. Ich hoffe auf verrückte Spiele und Sensationen. Wie den Sieg Islands gegen England im Achtelfinale der Euro 2016. +Ich weiß: Das sind alles keine Argumente gegen den Boykott. Eher das Eingeständnis, dass Appelle an den Verstand bei mir in Sachen Fußball nicht fruchten. Vom Kopf her finde ich wie viele Fans, dass ein Boykott diesmal angemessen wäre. Denn das ist definitiv nicht meine WM. +Ich weiß: Katar will mit Mega-Sportevents sein Image aufpolieren. Auf WM-Baustellen sind viele Arbeiter gestorben.Homosexualität kann mit Gefängnis oder Auspeitschen bestraft werden.Von der Klimabilanz ganz zu schweigen: Weil das kleine Katar nicht genug Hotelbetten hat, werden Fans in Dubai einquartiert und für die Spiele eingeflogen. Klimaanlagen in den Stadien. Ein Wahnsinn! +Aber das Turnier wird nun mal stattfinden, und viele Millionen schauen am Bildschirm zu. Da kann man die Bühne Fußball auch nutzen. Im Vorfeld bringen die Medien fast jeden Tag eine Doku oder eine Diskussion zu Katar. Das darf nicht aufhören, wenn der Ball erst einmal rollt. ZDF-Reporter Jochen Breyer hat uns Fans das auch versprochen. Der öffentliche Druck könnte etwas bewirken, hat es auch schon getan. Katar hat das Kafala-System abgeschafft, eine Art moderne Sklaverei, zumindest auf dem Papier. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Das rechtfertigt auch nachträglich nicht die Entscheidung, das Turnier überhaupt an dieses Land zu vergeben. +Was aber wichtig ist: Die Opfer dieser WM müssen entschädigt werden. Dafür hat Human Rights Watch die Initiative #PayUpFIFA gestartet, da mach ich mit. Ich habe eben im Internet einen Brief an FIFA-Chef Gianni Infantino unterzeichnet, der die politische Diskussion abwürgen will. Und der von den 32 Teilnehmerländern verlangt, sie sollten sich auf den Fußball konzentrieren. Damit darf er nicht durchkommen. Die FIFA muss einen Fonds einrichten, aus dem Arbeiter und ihre Familien entschädigt werden. 440 Millionen Dollar sollten es mindestens sein – so viel zahlt die FIFA auch als Preisgeld an die teilnehmenden Teams. +Und noch etwas: Katar ist nicht das erste despotische Land, an das die FIFA ein Turnier vergibt.Wie war das vor vier Jahren mit Russland?Oder schon 1978 mit Argentinien, das damals eine brutale Militärdiktatur hatte? Künftig braucht es einen Kriterienkatalog für die Vergabe. Ein Land, in dem die Menschenrechte nicht zählen, darf nicht die Bühne bekommen, sich der Welt als Gastgeber zu präsentieren. Nach dem Turnier ist vor dem Turnier: Saudi-Arabien erwägt bereits, sich als Gastgeber für die Weltmeisterschaft 2030 zu bewerben. + +Martina Keller istWissenschaftsjournalistin und hat ein Buch über ihr Leben als Hobby-Fußballerin geschrieben. Sie kickt aktuell in der zweiten Frauen-Mannschaft von Grün-Weiß Eimsbüttel + +findet Volkan Ağar +Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, dann strukturiere ich meine Erinnerung mithilfe von Fußballweltmeisterschaften. 1998, als die legendäre französische Équipe Tricolore um Lilian Thuram und Zinedine Zidane Brasilien im WM-Finale mit 3:0 bezwang, war ich acht Jahre alt und gerade mit meinen Eltern in eine neue Stadt gezogen. Das Finale schaute ich mit Nachbarskindern, die ich erst an diesem Julitag kennengelernt hatte. 2002, ich war in der sechsten Klasse, schaffte es die türkische Mannschaft bei der WM in Japan und Südkorea bis ins Halbfinale – es gab eine große Party in meiner Kleinstadt, in der viele andere türkeistämmige Familien leben. 2010 war es endlich soweit: Mit dem Abitur in der Tasche reiste ich für einen Freiwilligendienst nach Südafrika. Im Johannesburger Soccer-City-Stadion konnte ich Lionel Messi beim Dribbeln zusehen und miterleben, wie beim Spiel Deutschland gegen Ghana die Boateng-Brüder aufeinandertrafen. +Und 2022? Werde ich die WM zum ersten Mal boykottieren. Weil ich Fußball liebe. Und weil mit der WM in Katar all die Entwicklungen einen neuen Höhepunkt erreichen, die meinen Fußball existenziell bedrohen. +Zu meinem Fußball gehören Gleichberechtigung, Fairness und Gemeinschaft. Als Kind habe ich mich nur an einem Ort stets als bedingungsloser Teil einer Gruppe gefühlt, ganz unabhängig von meiner Herkunft, meinem Aussehen und Namen: auf dem Fußballplatz. +Die WM in Katar aber findet in einem autokratisch geführten Land statt, in dem Homosexualität strafbar ist, in dem Frauen nicht die gleichen Rechte haben wie Männer, in dem Menschen ausgebeutet werden wie in kaum einem anderen Land. Immer wieder standen die unmenschlichen, sklavereiähnlichen Arbeitsbedingungen von Gastarbeitern im Fokus kritischer Berichterstattung.Die britische Zeitung Guardian schrieb 2021 von 6.500 Arbeitsmigranten, die seit der Vergabe der WM an Katar vor über zehn Jahren gestorben sind. Weitere Zahlen kursieren. Wie viele Menschen am Ende wirklich für diese WM geopfert wurden, das wissen wohl nicht einmal die katarischen Behörden. Und falls doch, wir werden es nie erfahren. +Das wären Gründe genug gewesen, um schon die Bewerbung des Wüstenstaates auszuschlagen. Aber nicht Vernunft, demokratische Werte oder die Liebe zum Fußball haben über den Austragungsort dieser WM entschieden, sondern: Geld. Katar hat diese WM gekauft. Und die Funktionäre, die die WM an Katar verkauften, haben davon finanziell profitiert. Zahlreiche Recherchen, Dokumentarfilme und Podcasts haben mittlerweile aufgearbeitet, dass das Emirat Personen im Exekutivkomitee des Weltfußballverbandes FIFA wohl großzügig bezahlt hat, um den Zuschlag für das Turnier zu erhalten. +Die WM in Katar ist längst nicht das einzige Problem. Der Profifußball hat mit seinen horrenden Finanzströmen auch ohne sie schon jeden Bezug zur Realität gewöhnlicher Menschen verloren. Und die WM in Katar ist nicht die einzige, die gekauft wurde. Auch bei anderen Vergaben – wie die der WM 2006 an Deutschland – war das vermutlich der Fall. +In Katar verdichten sich Korruption und Kommerzialisierung des Fußballs in einem bisher ungekannten Maße. Die WM 2022 ist die logische und traurige Zuspitzung dessen, was schon seit Jahrzehnten falsch läuft. Wer diese WM schaut, macht diejenigen reicher und mächtiger, die die demokratische Kraft des Fußballs endgültig zerstören wollen; der macht sich auch mitschuldig am Sportswashing einer Autokratie, die Menschenrechte mit Füßen tritt. Wenn mich jemand in zehn Jahren nach der WM 2022 in Katar fragt, dann möchte ich antworten können, dass ich mich nicht an sie erinnere. Weil ich sie nicht geschaut habe. + +Volkan Ağar ist Redakteur bei der "taz" und schreibt dort normalerweise auch über Fußball. Er wird nicht über die Spiele dieser WM berichten (können) +Collagen: Renke Brandt diff --git a/fluter/wo-es-anfing.txt b/fluter/wo-es-anfing.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/wo-es-endet.txt b/fluter/wo-es-endet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b458cd84f2282fe29937446fa222e8267ed074d2 --- /dev/null +++ b/fluter/wo-es-endet.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Auch Justin Wolfes Anwalt hat während der Verhandlung viele Fehler gemacht. Wolfe ist 26 Jahre alt, trägt einen blonden Vollbart und sitzt in einem Gefängnis in Virginia, dem Bundesstaat mit den meisten Hinrichtungen nach Texas. Sein Fall erregte vor sechs Jahren großes Aufsehen – zum einen, weil durch ihn einer der größten Drogenringe in der Geschichte des Bundesstaates aufgeflogen war, zum anderen, weil es weiße, gut ausgebildete Vorstadtkinder waren, die diesen Drogenring aufgebaut hatten, und keine schwarzen Getto-Kids. +Justin Wolfe war 19 Jahre alt, ein Jahr zuvor von der Highschool abgegangen, als er sich in der Wohnung einer Freundin mit seinem Dealer traf, dem 21jährigen Danny Petrole. Petrole brachte einen großen Matchbeutel voller chronic mit – hochwirksames Marihuana. Wolfe nahm es an sich, versteckte es und ging dann mit Freunden in einen Club, während Petrole in eine benachbarte Kleinstadt fuhr, in der er sich vor Kurzem ein Haus gekauft hatte. Als Petrole einparken wollte, kam ihm ein Wagen in die Quere, versperrte ihm den Weg und ein Mann mit Kapuzenpulli stieg aus. Neun Schüsse fielen aus wenigen Metern Entfernung durch das Beifahrerfenster. Der Mörder setzte sich einige Tage später nach Kalifornien ab, wo ihn die Polizei festnahm.Er hieß Owen Barber und hatte sich mit Wolfe in der Highschool angefreundet. Barber gab zu, Petrole ermordet zu haben, sagte aber aus, dass Wolfe ihn beauftragt habe. Barbers Freundin und andere Dealer bekräftigten die Geschichte. Wolfe beteuerte, dass er unschuldig sei, doch die Jury glaubte ihm nicht. Als sie ihre Entscheidung verkündete, sackte Wolfe zusammen und murmelte "Wow".Plötzlich war er der jüngste Todeskandidat, den es in Virginia je gegeben hatte. Sechs Jahre ist das jetzt her, und noch immer klingt Wolfes Stimme ungläubig, als er sich an diesen Augenblick erinnert: "Ich weiß nicht. Was hätte ich denn sagen sollen? Ich bin unschuldig." Wolfe spricht ruhig und überlegt. Damals vor Gericht wirkte er noch wie ein Junge, der kicherte, wenn man ihn auf das Geld, die Partys und seine Frauengeschichten ansprach. Doch dem Staatsanwalt gelang es, ihn als kaltblütig berechnenden Drogenpaten darzustellen. Es gelang ihm auch deshalb, weil Wolfes Anwalt noch nie in einem Mordprozess verteidigt hatte. Die Anwaltskammer entzog ihm wenige Monate später die Lizenz.Mittlerweile hat Wolfe einen überzeugenden Beweis für seine Unschuld – einen Beweis, den er dem Zufall verdankt. Als einer von Barbers Zellengenossen vor drei Jahren las, dass ein Termin für Wolfes Hinrichtung angesetzt worden war, meldete er sich bei Wolfes Anwälten und erklärte, dass ihm Barber gestanden habe, den Mord ohne Wolfes Wissen geplant zu haben. Daraufhin besuchte ein privater Ermittler Barber im Gefängnis und ließ ihn ein neues Geständnis unterschreiben. Da Barber es später widerrief, wurde es nicht als Beweisstück angenommen. Für Wolfe könnte es dennoch der erste Schritt in die Freiheit sein. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.In den Vereinigten Staaten ist es üblich, dass Anwälte jede Möglichkeit, das Urteil anzufechten, ausschöpfen. Jeder Berufungsantrag durchläuft mehrere Ebenen, bis er beim Obersten Gerichtshof landet. Im Durchschnitt verbringt ein Verurteilter zwölf Jahre in der Todeszelle, bevor er hingerichtet wird. Justin Wolfe hatte schon zwei Exekutionstermine, aber seine Anwälte erwirkten, dass beide verschoben wurden. Es ist ein Rennen gegen die Zeit: Sollte das Gericht seine letzten Berufungsanträge ablehnen, könnte er im nächsten Jahr sterben.Vor fast zehn Jahren befand sich John Thompson in derselben Lage. Seine Hinrichtung war angesetzt – da erhielten seine Anwälte einen Anruf einer privaten Ermittlerin, die für sie arbeitete. Sie hatte Blutspuren gefunden, die dazu führten, dass Thompsons Fall neu aufgerollt wurde und er heute im siebten Stock eines Luxushotels in New Orleans sitzen und an einer Konferenz teilnehmen kann, bei der es um die Todesstrafe geht. Er ist ein kahler, hagerer Mann Mitte 40, trägt ein Polohemd, eine weite Baumwollhose und ist schwarz – auch das ist immer ein Thema, wenn es um die Todesstrafe geht. Studien zeigen, dass mehr als 40 Prozent aller Todeskandidaten schwarz sind – ein Prozentsatz, der dreimal höher als der schwarze Bevölkerungsanteil ist.Thompson holt ein großes Foto aus einer Mappe. Es zeigt einen weißen Mann, der vor einem Schreibtisch posiert. Dieser Mann heißt Jim Williams, er ist der Staatsanwalt, der gegen John Thompson geklagt hatte. Das Foto erschien in den 90er-Jahren in einer amerikanischen Männerzeitschrift. Williams sieht selbstsicher in die Kamera, auf einer Seite seines Schreibtisches steht das Miniaturmodell eines elektrischen Stuhls. Fünf Köpfe von Verurteilten kleben auf ihm. Alle hatte Williams in die Todeszelle gebracht, alle Urteile wurden später aufgehoben. Der Kopf in der Mitte gehört Thompson. Auf dem Foto trägt er Afrolocken. 22 war er damals.Wenn heute über die Todesstrafe debattiert wird, geht es immer öfter auch um DNA-Beweise. 16 Todeskandidaten sind bereits freigelassen worden, weil sie so ihre Unschuld beweisen konnten. Bei Thompson reichte ein Abgleich von Blutgruppen. Die Polizei hatte Kleidung mit Blutspuren unterschlagen – nachdem die Kleidung erneut analysiert wurde, war klar, dass die Blutgruppen nicht übereinstimmten. Der Mord wurde erneut verhandelt und Thompson freigesprochen. Er klagte auf eine Entschädigung und bekam 14 Millionen Dollar zugesprochen – fast eine Million für jedes Jahr in der Zelle. Demnächst wird sein Fall verfilmt: Matt Damon und Ben Affleck sollen die Anwälte spielen. Solche Geschichten haben dazu geführt, dass die Unterstützung für die Todesstrafe seit den späten 90er-Jahren schwindet. Sie ist immer noch hoch, aber es ist ein Anfang. Auch die Staatsanwaltschaften sind gewissenhafter geworden. Seit 1999 hat sich die Zahl der Vollstreckungen halbiert: 42 waren es im vergangenen Jahr – 1999, auf dem Höchststand, wurden noch 98 Menschen hingerichtet. Die Zahl der Verurteilungen hat sich sogar fast gedrittelt: 1995 waren es 326, 2007 nur noch 110. Und es gibt Staaten, die sich ganz von der Todesstrafe abwenden: New Jersey hat sie im Dezember 2007 abgeschafft, Maryland, New Mexico und Nebraska könnten folgen. "Auf lange Sicht", sagt Richard Dieter vom Death Penalty Information Center, "wird die Todesstrafe verschwinden, und die Geschichten über unschuldig Verurteilte werden großen Anteil daran haben."Es ist schon Nachmittag, als Thompson auf der Konferenz drei Freunde bittet, vorzutreten, und die Jahre nennt, die sie unschuldig im Gefängnis verbracht haben. Das Publikum klatscht und jubelt den Männern zu, als wären sie Hollywoodstars. Es ist eine unwirkliche Szene, aber sie tut diesen Männern gut, die so viele Jahre im Gefängnis verbracht haben. 43 Jahre insgesamt. +AlaskaMassachusettsNew YorkWest VirginiaHawaiiMichiganNorth DakotaWisconsinDistrict of ColumbiaIowaMinnesotaRhode IslandMaineNew JerseyVermontGesamt 14 Staaten, ein DistriktQuelle: DEATH PENALTY INFORMATION CENTER,Washington D.C. +China 470+Iran 317+Saudiarabien 143+Pakistan 135+USA 42Quelle: Amnesty Internationaldas Pluszeichen steht für die steigende Tendenz diff --git a/fluter/wo-gehts-hin.txt b/fluter/wo-gehts-hin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1ad64148f8fda9ce48c1553d1bd61f3077a4c421 --- /dev/null +++ b/fluter/wo-gehts-hin.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Die Freiheit der Reise ist in den Kanon der Menschenrechte aufgenommen. Das Verlangen danach kann zu einem sehr mächtigen Antrieb für gesellschaftliche Veränderungen werden. Wie viele dieser Rechte ist auch das Recht der Reisefreiheit durchaus prekär, ist längst nicht für alle Menschen schon eine lebbare Wirklichkeit. Und in Zeiten des weltweiten Terrorismus, gesellschaftlicher Unruhen und aufflammender Bürgerkriege wird auch der Tourismus in diese Konflikte hineingezogen. Die Weltgewandtheit der einen wird zur sicherheitspolitischen Herausforderung für die anderen. +Wenn Reisen gelingt, werden Erfahrungen gemacht, die auch das eigene Leben prägen. Reisen kann helfen, sich selbst zu bilden. Dazu gehört oft nicht viel, nur die Bereitschaft, sich zur Welt zu öffnen. Wenn sich diese auch auf die verborgenen Grundlagen und die verdrängten Kehrseiten der eigenen Praxis auswirkt, kann Reisen für alle ein Gewinn werden. diff --git a/fluter/wo-helfen-geaechtet-ist.txt b/fluter/wo-helfen-geaechtet-ist.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3511a8c2f1b4ce40fad9611215f2e60557bd0276 --- /dev/null +++ b/fluter/wo-helfen-geaechtet-ist.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Es ist sehr windig an diesem Dienstagnachmittag. Die Regentropfen trommeln gegen die Scheiben des Eiscafés. Draußen: Kleinstadtgrau. Drinnen bestellt sich Anke Richter einen Nussbecher und eine heiße Schokolade. Sie ist eine üppige Frau, ihr T-Shirt glitzert silbern. Wenn sie spricht, schließt sie die Augen. +Anke Richter arbeitet in einer Stadt in Sachsen, in der über Monate die Gewalt gegen Flüchtlinge und Flüchtlingshelfer eskaliert ist. Mehrere Flüchtlinge wurden auf offener Straße verprügelt und mit Pfefferspray angegriffen. Es gab Angriffe auf Büros und Privateigentum von asylfreundlichen Politikern und auf Flüchtlingshelfer, auch mit Sprengstoff. Wer sich hier um die Neuankömmlinge kümmert, muss sehr vorsichtig sein. +Wer es tut, ist es gewohnt, sich zu rechtfertigen. "Die Leute sind eh da", sagt Anke Richter, "ob ich mich um sie kümmere oder nicht." Seitdem sie sich für die Flüchtlinge einsetzt, haben sich mehrere Freunde von ihr abgewandt, erzählt sie. Manche haben ihr gesagt, dass sie nie von ihr gedacht hätten, dass sie sich "mit denen" einlässt. +Richter hat in den vergangenen Monaten eine ehrenamtliche Ambulanz gegründet, direkt in der Erstaufnahmeeinrichtung. Sie behandelt Menschen, die 2.000 Kilometer gelaufen sind und danach Gelenkbeschwerden haben. Leute mit entzündeten Wunden. Schwangere. Aber auch chronisch Kranke: Diabetiker, Asthmatiker. Und Folteropfer. Mit Händen, Füßen und ein bisschen Englisch verständigt sie sich mit ihren Patienten. +Anfangs war sie täglich in der Ambulanz, inzwischen kommt sie einmal pro Woche: Sie hat fünf weitere Ehrenamtliche gefunden, die sie unterstützen. Weil die Helfer für ihre Arbeit dort nicht bezahlt werden, können sie Menschen unabhängig von ihrem Aufenthaltstitel behandeln: Die Flüchtlinge brauchen keine Behandlungsscheine. Die Ärzt/-innen haften mit ihrer privaten Arzthaftpflichtversicherung. Sollte diese keine Behandlung von Flüchtlingen abdecken, springt die Kommune ein. +Eigentlich ist Anke Richter Ärztin auf einer Intensivstation eines großen Krankenhauses. Der genaue Name und der Standort müssen ebenfalls geheim bleiben. Das Krankenhaus wünscht, nicht in Zusammenhang mit ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit gebracht zu werden. +Auf der Intensivstation dieses Krankenhauses arbeitete Anke Richter, als dort im Sommer 2015 ein Flüchtling eingeliefert wurde. Er bekam keine Luft mehr. Fast wäre der Mann gestorben, erzählt sie, weil der Rettungswagen nicht zur Erstaufnahmeeinrichtung durchkam. Es war die Zeit, als gerade Hunderte wütende Menschen vor der Einrichtung demonstrierten. +Anke Richter kümmerte sich um ihn. Er habe eine schwere chronische Krankheit, berichtet sie, die sie wegen ihrer Schweigepflicht nicht näher benennen will. Ihr war klar: Wenn man den Mann jetzt entlässt, dann dauert es nicht lange, bis er wieder eingeliefert wird. Er bräuchte eine Reha, sagt sie, eine Überweisung zum Facharzt oder zumindest eine hausärztliche Weiterbetreuung. Sie versuchte, einen Arzt zu finden, der ihn ambulant versorgt. Das Finanzielle war geklärt, da er in einer Erstaufnahmeeinrichtung lebte, hätte der Bund die Kosten übernommen. Aber niemand wollte den Mann behandeln. +Bis heute versorgt Richter ihn selbst. Um solche Situationen künftig zu vermeiden, hat sie "mit viel Mühe" ein Netzwerk aus Ärzt/-innen, Psycholog/-innen und Hebammen aufgebaut, die sich bereiterklärten, Flüchtlinge nach einem Krankenhausaufenthalt weiter zu betreuen. +Es gibt in dieser Stadt Ärzte, die mit Asylbewerbern nichts zu tun haben wollen, erzählt Richter. Und sogar welche, die sagen: In meine Praxis setzt kein Ausländer seinen Fuß. Auch im Krankenhaus, in dem Anke Richter arbeitet, gebe es Ablehnung. Kolleginnen und Kollegen sind unfreundlich geworden. Sie grüßen nicht mehr. Setzen sich an einen anderen Tisch, wenn sie kommt, sagt Richter. Als sie einmal von Kollegen die Akten von Flüchtlingen haben wollte, um deren Anschlussbehandlung zu organisieren, wurde sie fast aus der Station geworfen, erzählt sie. +Eine Krankenschwester, die in der Flüchtlingsambulanz mitarbeitet, bat Anke Richter, über ihr Engagement dort zu schweigen. Das solle niemand erfahren, habe sie gesagt. Das wisse nicht mal ihre Familie. "Erst als Merkel die Grenzen geöffnet hat und 300 Leute täglich hier in diesem kleinen Ort standen, hatte ich ein konstruktives Gespräch mit der Geschäftsführung des Krankenhauses", erklärt Anke Richter. Ihr wurde Unterstützung zugesichert. Seitdem darf sie Verbandsmaterial über das Krankenhaus bestellen, Handschuhe und Kompressen, und das Krankenhaus bezahlt. Offiziell ist das aber nicht. Auch das Krankenhaus hilft lieber heimlich. +Überall in Deutschland erfahren Flüchtlingshelfer nicht nur Anerkennung, sondern auch Ablehnung, passiert ihnen Ähnliches wie Anke Richter. Aber in dem Ort, in dem Anke Richter arbeitet, sei die Stimmung ihnen gegenüber besonders schlecht. "Hier treten die Rassisten deutlich aggressiver auf, als wir es in anderen sächsischen Orten bisher beobachten konnten", sagt Andrea Hübler von der Beratungsstelle für Betroffene rechter Gewalt in Dresden. In den letzten Monaten habe es eine ganze Reihe von Übergriffen gegeben. Mehrere Körperverletzungen, Brandanschläge und Sprengstoffanschläge. +Auch zwei Stadträte, die sich für Flüchtlinge engagieren, erzählen von starken Anfeindungen bis hin zu Morddrohungen. Sie wurden auf Facebook immer wieder aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Sie vermissen Unterstützung aus dem Rathaus, sagen sie. Der Bürgermeister der Stadt äußert sich kaum zu den Vorfällen, obwohl es auch schon gegen ihn Morddrohungen gegeben hat. +Anke Richter bewegt sich vorsichtiger als früher, sie schaut sich öfter um. Trotzdem würde sie die vergangenen Monate nicht rückgängig machen wollen. "Sie waren aufregend, aber sehr bereichernd." Und sie hat durch ihre ehrenamtliche Arbeit viele neue Freunde dazugewonnen: deutsche und ausländische. +Ein paar Tage nach den sexuellen Übergriffen in der Kölner Silvesternacht standen zehn Männer vor ihrer Tür, erzählt sie. Jeder hielt eine Rose in der Hand. Sie wollten ihr sagen, dass sie die Vorfälle schrecklich finden. Und dass sie hoffen, dass sie die Flüchtlinge weiterhin unterstützt. Dann hätten die Männer ihr die Rosen gegeben. Und ihr gesagt, dass sie sie beschützen werden. diff --git a/fluter/wo-ist-claire.txt b/fluter/wo-ist-claire.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3622acb0296798c2c8f94762a058130c5566aa8b --- /dev/null +++ b/fluter/wo-ist-claire.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Bei ihrer überstürzten Abreise hatte Claire neben dem schmutzigen Geschirr in der Spüle offensichtlich auch ihr Handy im Zimmer vergessen. Das klingelt in den kommenden drei Tagen unaufhörlich. Ich traue mich aber nicht ranzugehen. Nach drei Nächten verlasse ich die Wohnung, lege die Schlüssel auf den Esstisch und ziehe die Tür hinter mir zu. +Arne Semsrott kennt keine Berührungsängste mit anderen Kulturen. Er hat zeitweise in der Türkei studiert und ist ständig unterwegs. Im zweiten Teil von "Abenteuer Couchsurfing" wird ihn seine Reise nach Tallinn führen, wo er Bekanntschaft mit der Tierwelt Estlands macht.    / Illustration: Jindrich Novotny diff --git a/fluter/wo-ist-denn-hier-noch-platz.txt b/fluter/wo-ist-denn-hier-noch-platz.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..22cde36416049259f7fe2aa64f20a0f81ebaf6bd --- /dev/null +++ b/fluter/wo-ist-denn-hier-noch-platz.txt @@ -0,0 +1,38 @@ +Sollte es Stadtplanern nicht eher darum gehen, alle Bewohner einer Stadt glücklich zu machen? +Natürlich sollte es das. Aber im Modernismus haben sie alles vom Flugzeug aus geplant und sich die schönen Muster angeschaut, die sie erschufen. Um die Menschen auf dem Boden hat sich niemand geschert. Die konnte man von so weit oben ja auch gar nicht sehen. Mit dieser Methode waren die Planer sehr effizient darin, die Städte wenig einladend zu machen. +Was sagen Sie heute der Verwaltung einer Stadt, wie sie etwas verbessern kann? +Man muss sich viel mehr damit beschäftigen, welche Architektur wirklich funktioniert und welche nicht. Viel zu lange ging es in der Architektur nur darum, modische, beeindruckende Gebäude in die Städte zu setzen. Was diese mit den Städten machten, war nicht so wichtig und wurde kaum untersucht. +Woran liegt das? +An vielen Universitäten wird Architektur mit großem Fokus auf Form und Ästhetik einzelner Bauten gelehrt – vor allem in Europa. Die Studenten lernen nicht viel über die Konsequenzen ihrer Arbeit in einer Stadt. Wenn man Architektur nur als Kunst begreift, hat man ein Problem. Denn wie soll man mit einem Künstler diskutieren, seine städtebauliche Arbeit kritisieren? Nach dem Motto: "Seien Sie doch froh, dassFrank Gehry hier in Ihrer Stadt ein Gebäude errichtet. Und jetzt halten Sie die Klappe!" +War das überall so? +Nein, in Kopenhagen zum Beispiel gab es früh eine systematische Erhebung über die Bewohner und ihr öffentliches Leben: für jeden Teil des Jahres, der Woche und des Tages. Wir haben einen kompletten Überblick bekommen, wie Menschen eine moderne Stadt nutzen. Wir haben verstanden, was passiert, wenn wir Dinge verändern. Wenn wir mehr Bäume pflanzen, mehr Bänke aufstellen, mehr Fußgängerzonen etablieren. So konnten wir genau verstehen, wie wir das Leben in einer Stadt zum Besseren ändern können. +Helfen diese Erhebungen dabei, mehr politische Unterstützung für Ihre Vorschläge zu bekommen? +Genau an diesem Punkt wird es für Politiker interessant: Wenn es nachweisbare Erfolge gibt, wollen sie schnell mehr davon. Als ich mich von der Kopenhagener Universität verabschiedet habe, schickte mir der Bürgermeister einen Brief mit den Worten: "Wenn Sie uns nicht mit Ihren Daten gezeigt hätten, wie die Stadt funktioniert, hätten wir Politiker niemals gewagt, Kopenhagen zu einer der lebenswertesten Städte der Welt zu machen." +Dabei scheint es doch naheliegend, Daten über die eigene Stadt zu erheben … +Wir wussten lange Zeit absolut nichts darüber, wie Menschen Architektur und Städte nutzen. Niemand war an solch einem Wissen interessiert. Doch das hat sich – zum Glück – seit einiger Zeit geändert. Wir erleben gerade eine riesige Umwälzung in der Stadtplanung – mit Fokus auf Lebensqualität, Klimaschutz und Gesundheit. Wir beschäftigen uns jetzt viel intensiver mit dem Wohlbefinden der Menschen, die in der Stadt leben. +Was passierte eigentlich vor Modernismus und Motorismus? +Die traditionelle Stadtplanung war viel langsamer und kontinuierlicher. Von Generation zu Generation wurde weitergegeben, was die besten Dimensionen für Straßen und Gebäude sind. Bis in die 1960er-Jahre hinein beruhte Stadtplanung in den meisten Fällen auf Tradition und Erfahrung. Und dann haben wir all das weggeworfen und gesagt: Der moderne Mensch braucht das nicht mehr. Man dachte, es sei rational, Städte großflächig am Reißbrett zu planen und gigantische Siedlungen mit Hochhäusern wie Plattenbauten zu errichten. Aber die Menschen sind nicht rational. Sie stimmen mit den Füßen ab und gehen dorthin, wo es lebenswert ist. Deshalb gelten solche ­Hochhausviertel heute auch als ziemlich unattraktiv. +Sie können natürlich alles abreißen und etwas Besseres bauen. Oder – vielleicht der bessere Weg – sie reißen nur Teile ab, machen die Häuser niedriger und bauen kleinere Gebäude dazwischen. Und versuchen, die Erdgeschosse mit Leben zu füllen, mit Ateliers, Bars, Geschäften. Das ist ein guter Weg, um die Architektur wieder auf humane Maße zurückzuholen. +Sind sie noch zu retten?​ +Für die Lebensqualität spielt Sicherheit eine große Rolle. In einigen Städten versucht man die durch lückenlose Kameraüberwachung herzustellen. +Kann die Stadtplanung da andere Lösungen finden? +Ja, indem sie lebendigere Städte schafft. Wenn die Menschen mehr Zeit im öffentlichen Raum verbringen, wenn sie mehr Rad fahren und zu Fuß gehen, weil wir sie stärker dazu animieren, dann sind die Viertel belebter, und die Menschen werden stärker darauf achten, was um sie herum passiert. Und wenn die anderen Menschen sich sicherer fühlen, werden auch Sie selbst ein besseres Sicherheitsgefühl haben. Sobald Plätze aber verlassen und leer sind, steigt auch das Gefühl der Unsicherheit. Statt Gated Communities – also abgeschottete Wohnkomplexe – zu erschaffen, sollten wir deshalb lieber "Lively Communities" bauen. +Wie demokratisch sollte Stadtplanung sein, wie viel Mitbestimmung kann es da geben? +Es ist sehr gut, so etwas demokratisch zu entscheiden. Es ist dabei unheimlich wichtig, die Menschen so gut und so vollständig zu informieren wie möglich. Worum geht es genau? Was haben an­dere Städte gemacht? Was sind die konkreten Optionen, zwischen denen die Bürger wählen können? Wie könnten sie von der Maßnahme genau profitieren? Wenn man ein Referendum abhält, das auf zu wenigen Informationen und zu simplen Fragen basiert, wird es kein besonders progressives Ergebnis geben. Das habe ich zum Beispiel in der Schweiz gesehen, wo es aus diesem Grund leider oft halbgare Kompromisslösungen gibt. Menschen treffen aber meist sehr vernünftige Entscheidungen, wenn sie gut informiert worden sind. +Junge Menschen verzichten zunehmend auf Autos. Zudem nimmt die Zahl der Alten in jedem Jahr zu, die sich in der Stadt bewegen müssen. Was folgt daraus für die Städte? +Sie sollten es den Bewohnern leicht machen, zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs zu sein. Man sollte ohne Probleme ohne Auto zurechtkommen. +Gibt es spezielle Maßnahmen für Ältere, um das Leben in der Stadt für sie angenehmer zu machen? +Wenn eine Stadt sich grundsätzlich stärker am Menschen orientiert, wird sie auch besser für ältere Menschen sein, weil diese sich dort besser und sicherer bewegen können. Man braucht Plätze, die gut vor Wind geschützt sind, wo es viele Möglichkeiten zum Sitzen und Ausruhen gibt, mit kleinteiliger Bebauung. Das bringt allen etwas. +Die schönen, attraktiven, lebendigen Stadtteile sind auch jene, die am meisten von Gentrifizierung betroffen sind. Ärmere Bewohner ziehen also fort, wohlhabendere kommen. Wie kriegen wir es hin, dass nicht nur die Besserverdienenden etwas von intelligenter Stadtplanung haben? +Was man auf jeden Fall nicht machen sollte: aufhören, bessere und menschenwürdigere Stadtplanung umzusetzen. Wenn man nichts verbessert, weil man Angst vor Gentrifizierung oder vor den Besserverdienenden hat, begibt man sich in eine Abwärtsspirale, und das ist für alle schlecht. Wir sollten Stadtteile verbessern und aufwerten. Aber wir sollten auch den Effekten der Gentrifizierung entgegenwirken. +Was kann man dagegen unternehmen? +Da gibt es eine ganze Reihe von Möglichkeiten. In neu gebauten Vierteln könnte man zum Beispiel vorschreiben, dass 20 oder 30 Prozent der Wohnungen günstige Mieten haben müssen. Man kann auch gezielt Bauprojekte in Aufwertungsgebieten an öffentliche Genossenschaften vergeben. +Gibt es denn gelungene Beispiele für so eine soziale Durchmischung? +Ich halte viel von den Anstrengungen mancher Städte, in allen Teilen der Stadt das Wohnen zu erschwinglichen Preisen zu ermöglichen. Sinnvoll finde ich auch, was einige australische Städte machen: Diese bauen in Gegenden mit Sozialwohnungen gezielt kleine Häuser für Familien. Solch eine Diversität scheint sich sehr positiv auf die Viertel auszuwirken. Städte in Austra­lien sind ohnehin sehr fortschrittlich, was moderne Stadtplanung betrifft. Die sind allerdings auch finanziell gut ausgestattet. +Das ist ja längst nicht überall so. Oft schwimmen Städte nicht gerade in Geld. +In den USA zum Beispiel sind die Städte selbst oft mehr oder weniger mittellos. An die Stelle der öffentlichen Hand treten dann meist gemeinnützige Stiftungen, die etwas verbessern wollen. Und die oft eine sehr gute Arbeit leisten. +Es gibt aber auch Städte, die privaten Investoren das Feld überlassen … +Es ist extrem wichtig, dass es eine starke Stadtverwaltung gibt, die genau weiß, wo sie hinwill und privaten Investoren klare Vorgaben macht, was geht und was nicht geht, wo Unterstützung erwünscht ist und in welchem Rahmen. Wenn wir Städte komplett dem freien Markt überlassen, würden sie sich ziemlich schnell in riesige Shopping-Malls verwandeln. +Wie viel sollte man in einer Stadt grundsätzlich dem Markt überlassen, wo muss die öffentliche Hand eingreifen? +Ich habe ein tiefes Misstrauen dem Markt gegenüber. Wenn wir alles dem freien Markt überlassen, werden meist rückwärtsgewandte Dinge herauskommen. Wer ein kommerzielles Projekt baut, schaut meist, was in der Vergangenheit gemacht wurde, um dann das Gleiche zu machen. Es gibt nur sehr wenige Bauträger, die Experimente wagen oder etwas Neues ausprobieren. Diese Unternehmen wollen immer auf Nummer sicher gehen. Wir brauchen aber neue Ideen, die unsere Städte lebenswerter machen. Und nicht die alten, mit denen wir sie lebensfeindlich gemacht haben. +Jan Gehl ist Architekt, Stadtplaner und emeritierter Professor der Königlichen Dänischen Kunstakademie. Mit seiner Firma Gehl Architects berät er Städte weltweit, um diese sicherer, gesünder und nachhaltiger zu machen. diff --git a/fluter/wo-ist-die-antwort.txt b/fluter/wo-ist-die-antwort.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/wo-kommst-du-eigentlich-her.txt b/fluter/wo-kommst-du-eigentlich-her.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b8c03e1e89ec77e66bc3e1104f9f270325a9e394 --- /dev/null +++ b/fluter/wo-kommst-du-eigentlich-her.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Die Eltern von Reinke sind vor mehr als 50 Jahren aus Marokko eingewandert. Ihre Tochter engagiert sich als stellvertretende Vorsitzende beim Verein "Deutscher.Soldat.", einer Initiative von Bundeswehrsoldaten aus Einwandererfamilien. Der Verein will Menschen auch außerhalb des Militärs zum Nachdenken darüber bringen, was Deutschsein bedeutet. "Ich möchte nicht, dass meine Kinder noch anders angeguckt und behandelt werden, so wie das mir teilweise passiert ist", sagt Reinke. Innerhalb der Bundeswehr habe sie solche Erlebnisse allerdings kaum gehabt. "Wenn du drei Tage zusammen durchs Unterholz kriechst, müde bist und frierst, da spielt die Herkunft keine Rolle mehr. Da musst du einfach zusammenhalten."Nariman Reinke ist Hauptfeldwebel bei der Bundeswehr. Pünktlich, diszipliniert, gründlich, so sieht sie sich selbst. Doch wer sie nicht kennt, sieht oft zuerst ihre schwarzen Haare, die dunklen Augen und gibt sich mit der Antwort, dass die Soldatin aus Hannover kommt, nicht zufrieden. +Der Verein "Deutscher.Soldat." ist eine von vielen Organisationen, die sich in den vergangenen Jahren neu gegründet haben, die gegen Rassismus kämpfen und deren Mitglieder sich nicht mehr als Migranten bezeichnen lassen wollen. Weil sie in Deutschland geboren wurden, deutsche Staatsbürger sind, sich hier zugehörig fühlen. Diesen Anspruch tragen die Initiativen häufig auch im Namen: Sie heißen "Typisch Deutsch", "DeutschPlus", "Buntesrepublik". Anfang 2015 haben sie sich unter dem Label "Neue Deutsche Organisationen" zusammengeschlossen. +Nicht alle Organisationen betonen das Deutschsein gleichermaßen. Wer sich gegen Rassismus engagiert, steht oft auch dem Konzept der Nationalität skeptisch gegenüber. Ferda Ataman von den "Neuen deutschen Medienmachern" versteht die Kritik, auch wenn sie selbst Fan des Begriffs "neue Deutsche" ist: "Für mich ist das ein republikanischer Begriff. Wir sind in Deutschland, und Menschen, die in Deutschland leben und sich zugehörig fühlen, sind für mich erst mal Deutsche." +Die "Neuen deutschen Medienmacher" sind vor allem Journalisten mit Migrationshintergrund, auch Ataman, deren Eltern aus der Türkei kommen, hat in der Branche gearbeitet. Die Organisation hat ein Programm für junge Journalisten aus Einwandererfamilien gestartet, um mehr "neue Deutsche" in die vornehmlich weiß besetzten Redaktionen zu bringen. "Ich will nie wieder eine Talkshow sehen, in der über Integration gesprochen wird, und in der Runde sitzt kein einziger neuer Deutscher." Als Ataman vor zehn Jahren angefangen hat, als Journalistin zu arbeiten, kannte sie nur eine andere Kollegin mit türkischem Namen. Seitdem habe sich in den Redaktionen zwar vieles verbessert, "besonders vor den Kameras sieht man mehr Journalisten aus Einwandererfamilien", sagt Ataman. Aber gerade praktizierende Muslime hätten es schwer in der Branche. "Wenn jemand eingestellt wird, dann sind das Leute wie ich, die einen sehr hohen Anpassungsgrad haben, Hipsterbrille tragen und mittrinken, wenn angestoßen wird." +"Wer anders aussieht, darf nur als Gastarbeiter auf die Bühne", sagt der indischstämmige Schauspieler Murali Perumal. "Von Dramaturgen und Intendanten heißt es immer: Sie sind so ein spezieller Typ. Es gibt keine Rollen für Sie außer Othello." Auch Perumal engagiert sich bei einer "Neuen deutschen Organisation", dem "Göthe Protokoll", einem Netzwerk von Kulturschaffenden. Er setzt sich für mehr Vielfalt im Theater und im Film ein. Er hat beobachtet, dass es nicht alle Schauspieler aus Einwande-rerfamilien gleich schwer haben: "Der Türke ist langsam angekommen, aber der Schwarze ist noch ein Alien. Und der Asiate macht nur Karatefilme." +Bild: Ludwig Schöpfer diff --git a/fluter/wo-terroristen-regieren.txt b/fluter/wo-terroristen-regieren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b2c02db5cd61d29d0bb62ef931667c5a3c806259 --- /dev/null +++ b/fluter/wo-terroristen-regieren.txt @@ -0,0 +1,41 @@ +In der aktuellen Regierung stellt sie zwei Minister – unter anderem im Gesundheitsministerium, das über eines der höchsten Budgets verfügt. Die Partei unterhält eigene Krankenhäuser und Gesundheitszentren, Schulen, Jugendprogramme und vor allem eine Kampforganisation, die der libanesischen Armee überlegen ist und Israel droht. Mehr als 20 Jahre hatte Israel den Süden Libanons besetzt gehalten, um seine Bürger vor Eindringlingen und Raketenangriffen zu schützen. Diese Rolle als "Widerstandskraft" gegen Israel hat der Hisbollah enorme Anerkennung verschafft, auch bei Nichtschiiten, erklärt Joseph Daher, Autor und Experte für islamistische Milizen. +Der Aufstieg der Hisbollah gründe außerdem darauf, dass die Schiiten in den 1970er-Jahren eine eigene politische Identität ausbildeten und der mehrheitlich schiitische Iran die Hisbollah massiv unterstützt: Durch die finanziellen und logistischen Hilfen kann die Hisbollah ihren Unterstützern mehr bieten als andere Parteien im Libanon. + + +Mittlerweile habe im hochkorrupten Land aber auch die Hisbollah Imageprobleme, sagt Daher: "Die Menschen sehen, dass die Hisbollah ihre Leute bevorteilt und öffentliche Aufträge an ihr nahestehende Geschäftsleute vergibt." Seit der ersten Regierungsbeteiligung 2005 habe die Politik der Hisbollah nicht wie erhofft aufgeräumt, sondern die neoliberale Ordnung im Land sogar gestützt. Noch weiß die Hisbollah eine Mehrheit der Schiiten hinter sich. Aber eine neue, progressive und einigende schiitische Macht,die aus den aktuellen Protesten oder sozialen Bewegungen hervorgehen könnte, bekämpft die Partei, sagt Daher. "Sie könnte die Macht der Hisbollah gefährden." + + +Vorläufer der heutigenTerrorgruppe "Islamischer Staat"gründeten sich bereits 2003, als Widerstand gegen die US-Militäroperation im Irak. 2013 rief der Terrorist Abu Bakr al-Baghdadi den "Islamischen Staat im Irak und der Levante" (ISIL) aus: Im Gegensatz zu anderen Kommandeuren wollte al-Baghdadi die Operationen des IS nicht auf den Irak beschränken, sondern auf das Bürgerkriegsland Syrien ausweiten. 2014verkündete der IS in der nordirakischen Stadt Mossul ein "Kalifat". Zu Zeiten der größten Ausdehnung beherrschte der IS ein Gebiet mit etwa fünf Millionen Einwohnern. +"Die größte Stärke der Islamisten ist die Schwäche der Zentralregierungen im Irak und in Syrien", sagt Dr. Renad Mansour vom Thinktank Chatham House in London. Die Menschen in der Region hätten unter der chaotischen Herrschaft von Rebellen, dem massenmörderischen Assad-Regime, schiitischen Milizen oder der Unterdrückung durch die irakische Regierung sehr gelitten, sagt Mansour. Bis sich der IS – besonders "in der Honeymoon-Phase" zu Beginn – um Sicherheit bemühte, um saubere Straßen und das ökonomische Wohl der Bevölkerungsteile, die ihm folgten. Die Islamisten gründeten auch Ministerien, etwa für islamische Kultur und Landwirtschaft. + + +Tatsächlich sei der IS aber nie in der Lage gewesen, einen funktionierenden Staat zu ersetzen, sagt Mansour. "Die Straßen zu kehren und ein islamisches Rechtssystem aufzubauen ist verhältnismäßig einfach." Zumal der IS dabei noch erbeutetes Geld ausgeben konnte. Als das ausging, mussten die Islamisten die Steuern erhöhen und setzten ihre Herrschaft wieder mittels Repressionen, Massakern und öffentlichen Hinrichtungen durch. "Letztlich", sagt Mansour, "ist der IS eine bewaffnete Gruppe. Ein Gebiet zu erobern ist eine ganz andere Herausforderung, als es dauerhaft zu beherrschen." +Seit 2019 gilt der IS als besiegt, zumindest militärisch. Die Bevölkerung im Nordirak sei zunächst froh gewesen über die Rückkehr des Zentralstaats, sagt Mansour. Aber die Hoffnungen auf eine bessere Verwaltung seien früh enttäuscht worden. "Wir sehen, dass der IS deshalb wieder erstarkt." + +Die Hamas (das steht für Islamische Widerstandsbewegung) schätzt die EU seit fast zwei Jahrzehnten als Terrororganisation ein: Die Islamisten wollen den Staat Israel mit Gewalt beseitigen und stattdessen einen islamischen Staat errichten. Seit 2006 herrscht die Hamas über denGazastreifen, ein hart umkämpftes Küstengebiet zwischen Israel und Ägypten, in dem zwei Millionen Menschen dicht gedrängt leben müssen. +Ihre Herrschaft ist durch die Gaza-Blockaden stark beschränkt: Infolge der Machtübernahme der Hamas schotteten Israel und Ägypten das Gebiet ab, um Anschläge und die Einfuhr von Waffen zu unterbinden. Mehr als die Hälfte der Menschen im Gazastreifen lebt laut dem Zentralen Palästinensischen Statistikamt in Armut. Die Arbeitslosigkeit lag schon vor der Corona-Krise bei rund 70 Prozent. Proteste gegen die katastrophalen wirtschaftlichen Verhältnisse – und damit gegen die eigene Herrschaft – schlug die Hamas brutal nieder, zuletzt 2019. Eine echte Opposition duldet sie nicht. + + +Dabei sind die Herrscher auf Hilfe angewiesen, um die Bevölkerung zu versorgen. So unterhält etwa die UNRWA (United Nations Reliefs and Works Agency) 22 Gesundheitszentren und 276 Schulen in Gaza. Das neutrale UN-Hilfswerk sorgt für die Grundversorgung der 1,4 Millionen als palästinensische Flüchtlinge registrierten Bürger. +2017 publizierte die Hamas eine Charta, in der die Gruppe erstmals erklärt, einen palästinensischen Staat an der Seite Israels zu akzeptieren. Nur hätten weder die Hamas noch ihre Rivalen von der gemäßigten Palästinenserpartei Fatah einen Plan, wie dieses Ziel erreicht werden soll, sagt Joseph Daher. "Beide sind mehr daran interessiert, in ihren Gebieten an der Macht zu bleiben." +Laut dem Palestinian Center for Policy and Survey Research (PSR), das seit bald 30 Jahren Meinungsumfragen unter der palästinensischen Bevölkerung erhebt, hält die Mehrheit der Palästinenser die Hamas und die Fatah für korrupt. Beispielsweise wegen der Schmuggeltunnel nach Ägypten und Israel, an denen die Hamas viel Geld verdient habe, sagt Joseph Daher. Durch Hunderte von Tunneln schmuggeln die Islamisten Waffen nach Gaza – aber auch Gegenstände des täglichen Bedarfs, die sie mit Gewinn und "Zoll" an dielokale Bevölkerungverkaufen. + + +Gegründet von afghanischen Flüchtlingen in Pakistan, eroberten die islamistischen Taliban (Arabisch für "Koranschüler") ab 1994 weite Teile Afghanistans und gewährten Dschihadisten Unterschlupf. +Als sich die Taliban nach demAttentat vom 11. September 2001weigerten, Osama bin Laden auszuliefern, griffen die USA Afghanistan an und stürzten das Taliban-Regime. Doch unter der Nachfolgeregierung nahmen die Korruption und die Unterdrückung einzelner ethnischer Gruppen zu. "Das hat die Stimmung im Land kippen lassen", sagt Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network (AAN). Heute kontrollieren die Taliban wieder die Hälfte des Landes. + + +Dabei achten die selbst ernannten "Gotteskrieger" auf die strenge Durchsetzung der Scharia – des islamischen Rechts, das sich aus dem Koran ableitet. Wer gegen die Scharia verstößt, muss mit Ächtung und Gewaltstrafen rechnen. Selbst grausame Strafen wie Amputationen oder Steinigungen empfinden manche als angemessen. Das zeige auch, dass die neue alte Macht der Taliban stark auf Angst gründet, sagt Thomas Ruttig. "Sie werden nicht als Partei gesehen, sondern als militante Gruppierung." +Trotzdem basiert die Taliban-Herrschaft nicht nur auf Unterdrückung. "Die politische Ordnung, die die Taliban aufgebaut haben, ist wesentlich umfangreicher und komplexer, als ihnen generell zugeschrieben wird", beobachtet etwa das USIP, eine US-amerikanische Bundeseinrichtung zur Erforschung gewaltsamer Konflikte. Landesweite Befragungen, die Thomas Ruttigs AAN kürzlich organisiert hat, zeigen beispielsweise, dass grundlegende "Staatsleistungen" wie Bildung, Telekommunikation und Gesundheitsversorgung in den Taliban-Regionen besser funktionieren. Die Islamisten haben sogar ein Meldesystem für Beschwerden eingeführt. "Wenn die Versorgung stimmt, ist den Leuten letztlich egal, wer an der Macht ist – vor allem nach den langen Jahren im Krieg", schätzt Ruttig. Im Zuge des Friedensprozesses mit den USA und der Zentralregierung in Kabul sieht er für die Taliban "weiter eine reelle Chance auf die Macht im Land". + +Update, August 2021:Nach dem Abzug der US- und NATO-Truppen haben die Taliban innerhalb weniger Wochen wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Mitte August besetzten sie in der Hauptstad Kabul den Palast des bisherigen Präsidenten Aschraf Ghani, der zuvor ins Ausland geflohen war. Bislang geben sich die Islamisten betont tolerant und offen. + + +Seit 2015 tobt im Jemen ein Krieg, der häufig als Stellvertreterkrieg zwischen Saudi-Arabien und den schiitischen Huthis beschrieben wird, die vom Iran unterstützt werden (was der Iran bestreitet). Aber die Huthi-Miliz – benannt nach ihrem Gründer Hussein Badreddin al-Huthi – ist mehr als nur ein Hilfsarbeiter: Sie hat sich innerhalb weniger Jahre von einer lokalen religiösen Bewegung zur dominanten revolutionären Kraft entwickelt. Seit die Huthis 2015 Jemens Präsidenten Abed Rabbo Mansur Hadi ins saudische Asyl trieben, regieren sie den Jemen. + + +Obwohl die Huthis nicht über die finanziellen und militärischen Ressourcen ihres Kontrahenten Saudi-Arabien verfügen, kontrollieren sie heute ein Drittel des Landes, inklusive bevölkerungsreicher Großstädte. "Politisch haben sich die Huthis geschickt als Alternative zu den etablierten Parteien positioniert", sagt Dr. Jens Heibach vom GIGA Institut für Nahost-Studien in Hamburg. Schon vor ihrer Machtübernahme hätten die Huthis Unterstützer gehabt, weil sie quasistaatliche Aufgaben in der Rechtsprechung und Sicherheitsfragen übernahmen, sagt Heibach. Nun profilieren sie sich als Kraft gegen Korruption, Dschihadismus und die Aggressionen aus Saudi-Arabien – was die Zahl der Unterstützer noch mal vergrößert habe. +Ihre Herrschaft funktioniert über die politische Kontrolle der Justiz und ein System aus Lokalräten: Die Huthis ernennen in jedem Distrikt "Aufseher", die eigenverantwortlich entscheiden. Im Fokus stehen die Sicherheit und die Rekrutierung neuer Kämpfer. Dabei beteiligen die Huthis zwar die verschiedenen jemenitischen Gruppierungen, aber verfolgen und unterdrücken politisch Andersdenkende. +Den Einfluss der Huthis scheint selbst die fürchterliche Situation im Jemen nicht zu schmälern, den die UN als "schlimmste humanitäre Katastrophe der Welt" beschreiben. Durch den Krieg, eine Handelsblockade und nun auch die Corona-Krise ist die Versorgungslage katastrophal. Obwohl sich die Huthis gern als Antikorruptionskraft verkaufen, beobachtet Heibach ein System, das ihnen wichtige Ressourcen sichert und so die Macht der Huthi-Miliz festigt. "Ohne die Huthis ist im Jemen kein Staat zu machen." + +Auf dem Titelbild passieren zwei Jungen eine Taliban-Elitetruppe. (Foto: Jim Huylebroek/NYT/Redux/laif) diff --git a/fluter/wo-werden-christen-heute-verfolgt.txt b/fluter/wo-werden-christen-heute-verfolgt.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ac24a200de440ca0666c6828735b88e807a4ce32 --- /dev/null +++ b/fluter/wo-werden-christen-heute-verfolgt.txt @@ -0,0 +1,21 @@ + +Im frühen 20. Jahrhundert soll das heutige Nordkorea ein Hort des Christentums gewesen sein. Wegen der vielen Kirchen und der aktiven Gemeinden bekam Pjöngjang den Beinamen "Jerusalem des Ostens". Sogar der Staatsgründer Kim Il-sung hat christliche Wurzeln: Seine Eltern bekannten sich zum Christentum, sein Großvater arbeitete als Geistlicher. +Imstalinistischen Regime, das Kim Il-sung im Norden der koreanischen Halbinsel errichtete, war für Religion allgemein allerdings bald kein Platz mehr: Der Glaube an andere Götter drohte den Personenkult um den "Ewigen Präsidenten" zu stören. Praktizierende Christen werden laut Hilfsorganisationen, auch Open Doors, in Arbeitslager verschleppt oder sogar getötet – auch weil das Regime sie für Verbündete der USA oder Südkoreas hält. Die Rangliste von Open Doors steht immer wieder in der Kritik, weil schwer nachzuvollziehen ist, wie die Organisation zu ihren Schlüssen kommt. +Aus Nordkorea dringen kaum Einzelheiten nach außen. Fest steht: Offiziell spielt das Christentum in Nordkorea kaum eine Rolle. In der Hauptstadt Pjöngjang, dem einstigen Jerusalem des Ostens, gibt es heute noch vier Kirchen – die allesamt vom Regime kontrolliert sein sollen, um ausländischen Gästen Religionsfreiheit vorzugaukeln. + +An einem heißen Sommertag im Jahr 2009 in einem Dorf im Osten Pakistans: Die Katholikin Asia Bibi soll für andere Frauen, mit denen sie gemeinsam auf einem Feld als Erntehelferin arbeitet, Wasser holen. Doch die muslimischen Arbeiterinnen weigern sich, es zu trinken; es sei unrein, Bibi müsse sich erst zum Islam bekennen. Irgendwann im Laufe der Auseinandersetzung soll Bibi gesagt haben, nicht Mohammed, sondern Jesus sei der wahre Prophet. Wie genau der Streit ablief, ist unklar. Bibi bestreitet den Satz. Sie wird dennoch wegen Gotteslästerung zum Tode verurteilt. +Im muslimischen Pakistan sind abwertende Äußerungen über den Islam ein schweres Verbrechen. Das Blasphemie-Gesetz gilt als eines der schärfsten weltweit. Am häufigsten wird das Gesetz jedoch gegen Muslime angewendet, die die Mehrheit in Pakistan bilden. "Die Zahl der christlichen Opfer ist aber bedeutend höher, als ihrem Bevölkerungsanteil entsprechen würde", schreibt die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte. Das heißt: Christen werden in ihrem Umfeld offenbar schnell der Gotteslästerung bezichtigt. Das Gesetz "ist zwar auch eine Bedrohung für muslimische Brüder, aber besonders gefährlich ist es für Christen", sagt Asia Bibis Ehemann. "Wenn es Streit um Land oder persönliche Missgunst gibt, dann nutzen Muslime Blasphemie für Schuldzuweisungen." +Ende Oktober dieses Jahres urteilte der Oberste Gerichtshof in Pakistan,dass Asia Bibi das Gefängnis verlassen darf, und sprach sie von allen Vorwürfen frei – nach neun Jahren Gefangenschaft. In mehreren Städten protestierten Islamisten gegen das Urteil, woraufhin die Regierung einer Berufung zustimmte. Die radikalislamische Partei Tehrik e Labaik kündigte an, im Falle eines Freispruchs das Land lahmlegen zu wollen. + + +Isayas Afewerki regiert seit 1993 autoritär über Eritrea. Die Bevölkerung besteht zu gleichen Teilen aus Christen und Muslimen – doch die Religionsfreiheit ist unter Afewerki stark eingeschränkt. Im Mai 2002 bestimmte die Regierung per Erlass, dass nur noch vier Glaubensgemeinschaften im Land erlaubt sind: die orthodoxe, katholische und lutherisch-protestantische Kirche sowie der Islam. +Manche Beobachter sehen in dem Erlass den Beginn einer Verfolgung von Mitgliedern anderer Religionsgemeinschaften, etwa auch von Mitgliedern evangelikaler Freikirchen. Machthaber Afewerki befürchtet, dass von den Freikirchen eine Oppositionsbewegung gegen das Regime ausgehen könnte. Inzwischen stehen selbst die offiziell zugelassenen Kirchen unter Druck. +Den Patriarchen der eritreisch-orthodoxen Kirche drängte die Regierung 2007 aus dem Amt; seither steht er unter Hausarrest. Er hatte gegen die Einmischung des Staates in die Angelegenheiten der Kirche protestiert und sich dem Wunsch der Regierung verweigert, 3.000 Mitglieder einer orthodoxen Erneuerungsbewegung aus seiner Kirche auszuschließen. + +Seit Anfang 2018 gilt im kommunistischen Vietnam ein neues Religionsgesetz. Es garantiert den Bürgerinnen und Bürgern des Landes die Ausübung ihres Glaubens, gleichzeitig beinhaltet es strenge Auflagen. So müssen sich Religionsgemeinschaften registrieren und ihre Aktivitäten im Voraus von den Behörden vor Ort genehmigen lassen. Auf diesem Weg kann der Staat leicht Druck auf alle Glaubensgemeinschaften ausüben. Am 23. Januar erklärten die lokalen Behörden im Norden des Landes zum Beispiel eine katholische Messe für "illegal", weil sie nicht zuvor registriert wurde. Unter der religionsfeindlichen Politik der Kommunistischen Partei in Vietnam hat auch die buddhistische Bevölkerungsmehrheit zu leiden. + +In Mexiko ist das Christentum die dominante Religion. Trotzdem bezeichnet das katholische Hilfswerk Kirche in Not Mexiko als besonders gefährliches Land für Geistliche. In keinem anderen Land der Welt würden Jahr für Jahr so viele katholische Priester ermordet wie in Mexiko. Vier waren es demnach allein 2017, 884 Geistliche mussten Drohungen und Erpressungen erleiden. 2018 wurden bereits mindestens sieben Priester ermordet, im Oktober wurde in Tijuana die Leiche eines an Händen und Füßen gefesselten Geistlichen gefunden. Die Leiche wies Folterspuren auf. +Der Grund dürfte weniger ein Religionskrieg sein als einDrogenkrieg, bei dem auch Geistliche zwischen die Fronten geraten. Rankings religiöser Organisationen, die Mexiko ganz oben auf der Verfolgungsliste platzieren, sind besonders umstritten, da in dem Land über 80 Prozent der Bevölkerung katholisch sind. Die Priestermorde seien deswegen eher als Versuch der Drogenkartelle zu sehen, ihre Macht zu festigen, betont Reiner Wilhelm, Referent bei Adveniat, dem Lateinamerika-Hilfswerk der katholischen Kirche in Deutschland. "Die Priester sind gut vernetzt und erfahren auch durch die Beichte sehr viel. Ihr Wissen und ihr soziales Engagement können den Kartellen gefährlich werden." + + +Das Titelbild von Marco Gualazzini (/contrasto/laif) zeigt die St. Antony Church in Islamabad. diff --git a/fluter/wo-zeitunglesen-fuer-die-katz-ist.txt b/fluter/wo-zeitunglesen-fuer-die-katz-ist.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f2b3ff5a1a016005342f177ec3ae3beb49ac0738 --- /dev/null +++ b/fluter/wo-zeitunglesen-fuer-die-katz-ist.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +In ihrer Heimat wird unterdessen am 12. Juni das milliardenschwere Sportspektakel der European Games eröffnet. Aserbaidschans Hauptstadt Baku richtet eine Art Olympischer Spiele aus, mit weniger Sportarten und nur mit europäischen Sportlern. Nach Ansicht von Kritikern sind die Spiele vor allem einPrestigeprojektfür das repressive Regime, zumal Aserbaidschan mit seinen Bewerbungen für die Olympischen Spiele 2016 und 2020 erfolglos geblieben ist. Wie schon beim Eurovision Song Contest 2012 sollte das Land als modern und weltoffen präsentiert werden. +Deshalb wird hier im Kreuzberger Büro von Meydan TV die Lage in Aserbaidschan derzeit mit besonderer Spannung beobachtet. Der Journalist Emin Milli ist 2013 mit seiner Frau in die deutsche Hauptstadt gezogen, um ein TV-Programm auf die Beine zu stellen, das sich kritisch mit den politischen Vorgängen in seiner Heimat auseinandersetzt. Meydan TV sendet bislang im Web. Die Idee, auch über Satellit zu senden, wurde wieder verworfen. "Das haben wir einmal gemacht", berichtet Milli, "und da wurde das Sendesignal gestört." In Aserbaidschan hätte ein Projekt wie Meydan TV überhaupt keine Überlebenschance. Emin Milli selbst hat dort länger als 16 Monate im Gefängnis gesessen, weil er es als Blogger gewagt hatte, sich mit einem Video über korrupte Politiker lustig zu machen. Wie es in dieser Hinsicht um das Land bestellt ist, zeigt derKorruptionswahrnehmungsindexvon Transparency International – dort rangiert Aserbaidschan im korruptesten Drittel der aufgeführten Länder. +Gerade ist Milli von einer Vortragsreihe aus London, New York und Warschau zurückgekehrt, bei der er über die Arbeit von Meydan TV und die Lage in Aserbaidschan berichtete. Der Mittdreißiger sieht etwas müde aus. "Ich lebe eigentlich gar nicht in Berlin", sagt er auf Deutsch und lässt sich in einen Sessel fallen. "Ich bin viel unterwegs. Und wenn ich in Berlin bin, telefoniere ich mit Leuten in Baku und mit Aserbaidschanern in anderen Ländern. Alles dreht sich um Aserbaidschan." Das Exilmedium Meydan TV hat sich mit einer Handvoll Mitarbeiter in Berlin und einem weit verzweigten internationalen Netzwerk zu einer kleinen Institution in der Medienlandschaft Aserbaidschans entwickelt, die größtenteils durch Staatsmedien und regimenahe Medien geprägt ist. +Oppositionelle und unabhängige Medien können unter dem Druck des Regimes kaum noch existieren. Im Mai 2014 musste die Zeitung "Zerkalo" (Spiegel) ihre Printausgabe einstellen, im Dezember 2014 wurde das Büro von Azadliq, dem azerisprachigen Dienst des US-finanzierten Radiosenders Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL), geschlossen. In den vergangenen zwei Jahren vor den European Games wurden Dutzende von Regimekritikern und Journalisten aufgrund von fingierten, mit langen Haftstrafen verbundenen Anschuldigungen festgenommen, kritisiert die MenschenrechtsorganisationHuman Rights Watch. Auf derRangliste der Pressefreiheit 2015von Reporter ohne Grenzen rangiert Aserbaidschan auf Platz 162 von 180 Ländern. +Die größte internationale Kritik gab es nach der Verhaftung der mutigen JournalistinKhadija Ismajilowaim Dezember 2014. Sie hatte millionenschwere Geschäfte der Alijew-Familie aufgedeckt. Die 39-Jährige war sich immer im Klaren darüber gewesen, dass ihre Arbeit sie irgendwann ins Gefängnis bringen würde. Ismajilowa wird nunvorgeworfen, einen freien Journalisten zu einem Selbstmordversuch getrieben zu haben. Der hat mittlerweile zugegeben, dass er diese Anschuldigung unter Druck fabriziert hat. +Geschöhnte Wahrheiten: Nicht leicht, den Dingen hier in Baku auf den Grund zu gehen +"Mittlerweile sind alle Journalisten oder Menschenrechtler, die während des Eurovision Song Contest 2012 in Baku mit internationalen Journalisten gesprochen haben, im Gefängnis oder ins Ausland geflohen", sagt Milli. Der ESC war die erste große internationale Veranstaltung, die das Alijew-Regime nutzte, um sich als modernes und weltoffenes Land zu präsentieren – und als westlich orientierter Stabilitätsfaktor in einer geostrategisch wichtigen Region, die in der Einflusssphäre Russlands und des Iran liegt. Kritik, die an diesem polierten Image kratzt, ist unerwünscht. +Im Zuge des ESC gab es viel Kritik am Regime, das seine Ölmilliarden dazu nutzt, auch westliche Politiker durch die sogenannte"Kaviar-Diplomatie"für sich zu instrumentalisieren. Man kann sagen: Das Regime nahm die Kritik persönlich. Vor allem im vergangenen Jahr wurde eine ganze Reihe von Journalisten und Kritikern verhaftet. Und das, obwohl die aserbaidschanische Regierung 2014 für sechs Monate den Vorsitz des Europarates innehatte. Die internationale Kritik fiel verhalten aus. +"Mich macht das sehr wütend", sagt Milli. "Die westliche Welt steht für Freiheit, setzt sich aber nur bedingt für sie ein. Die sogenannte Realpolitik mit ihrer Doppelmoral dominiert immer mehr die internationale Politik und die der EU. Das ist sehr besorgniserregend für solche Leute wie mich, die sich für Menschenrechte und Meinungsfreiheit einsetzen. Denn letzten Endes bedeutet dies auch eine Einschränkung der Freiheit im Westen." Milli hält nichts davon, große sportliche Veranstaltungen an diktatorische oder autokratische Länder wie Aserbaidschan zu vergeben, "wenn Leute im Gefängnis leiden müssen, die für Freiheit kämpfen". +Geschätzte sechs Milliarden Euro gibt das Alijew-Regime nun für die European Games aus, man will sich großzügig und offenherzig geben. Die Reisekosten der Athleten aus den teilnehmenden Nationen werden größtenteils übernommen. 6.000 Sportler wollen kommen, darunter rund 270 aus Deutschland. Auch künftig plant das Alijew-Regime, sich mit dekorativen Sportveranstaltungen selbst zu bewerben. 2016 soll ein Formel-1-Rennen in Baku stattfinden, 2020 mehrere Gruppenspiele und ein Viertelfinale der Fußball-EM. +Diejenigen, die sich vom PR-Image des Regimes nicht blenden lassen wollen und dennoch den Mund aufmachen, gelten als undankbare Verräter. Leute wie Milli leben also gefährlich. "Im Dezember haben wir unser Büro in Baku geschlossen", berichtet Milli. "Denjenigen, die mit uns kooperieren, können wir einfach keine Sicherheit garantieren. Dass das Regime zu allem in der Lage ist, um seine Interessen durchzusetzen und zu schützen, zeigt die Vergangenheit." +Deswegen bleibt auch der Ort der Redaktion von Meydan TV im Berliner Stadtteil Kreuzberg geheim. "Vergangenen Dezember hat der zweitwichtigste Mann Aserbaidschans, der Leiter der Präsidialverwaltung, uns vorgeworfen, wir wollten die verfassungsmäßige Ordnung in Aserbaidschan gewaltsam stürzen." Milli lächelt ob einer solch absurden Anschuldigung. Dann sagt er: "Allein die Tatsache, dass uns – die wir ja nur wenige sind – dieses schwerreiche Regime mit so viel Energie, Aufmerksamkeit und Geld bekämpft, zeigt doch, wie wichtig unser Anliegen ist." Milli macht eine kurze Pause. "Es zeigt, wie groß deren Angst vor der Freiheit ist." +Ingo Petz arbeitet seit über 15 Jahren als freier Journalist. Als studierter Slawist hat er eine besondere Vorliebe für osteuropäische Themen. diff --git a/fluter/woher-kommt-der-hass-auf-muslime-interview-iman-attia.txt b/fluter/woher-kommt-der-hass-auf-muslime-interview-iman-attia.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1a04b7a292c26198111f9864358df0659ce9945e --- /dev/null +++ b/fluter/woher-kommt-der-hass-auf-muslime-interview-iman-attia.txt @@ -0,0 +1,40 @@ +Was würden Sie jemandem antworten, der sagt: "Es gibt keinen antimuslimischen Rassismus, denn der Islam ist ja keine Rasse ." +Das ist Unsinn, dennbiologisch gibt es ohnehin keine "Rassen". Im Rassismus geht es auch nicht um "Rassen", sondern darum, dass Menschen aufgrund eines Merkmals "rassifiziert", also zu einer einheitlichen Gruppe gemacht werden. Dabei kann es mal die Religion sein, die der Grund dafür ist, dass Menschen als "anders" wahrgenommen werden. Mal ist es die Kultur, mal die Biologie. Aber die Logik ist immer dieselbe. +Nämlich? +Rassismus funktioniert nach einem Dreiklang: Erstens: "Sie müssen alle so sein, weil ihre Religion/Kultur/Biologie ihnen das vorschreibt" (Essentialisierung). Zweitens: "Sie sind alle gleich" (Homogenisierung). Drittens: "Sie sind anders als wir" (Dichotomisierung). Und meist bedeutet "anders" eben auch "weniger gebildet, fortschrittlich, zivilisiert". +In den Medien liest man die unterschiedlichsten Begriffe, wenn es um Vorurteile gegen Muslime geht: Islamfeindlichkeit, Muslimfeindlichkeit, Islamophobie. +Diese Begriffe betrachten eher die Spitze des Eisbergs: nämlich die körperlichen und verbalen Übergriffe. Sie lenken den Blick eher auf die Vorurteile des Einzelnen. Dieser Blick bestimmt dann auch, welche Maßnahmen sie dagegen empfehlen: Programme, die Menschen helfen sollen, ihre Einstellungen zu überdenken. +Sie selbst benutzen eher den Begriff des "antimuslimischen Rassismus". Warum? +Hinter dem Begriff "Rassismus" steht die Idee, dass nicht nur der oder die Einzelne das Problem ist. Und dass wir viel früher ansetzen müssen, um zu verstehen, woher Hass und Übergriffe auf Muslime kommen. Es gibt Diskurse und eine Gesellschaftsstruktur, die dafür sorgen, dass die Konsequenzen meines Handelns rassistisch sein können – selbst wenn ich das gar nicht will. + + + +Können Sie ein Beispiel für diesen unbewussten Rassismus geben? +Wenn Sie aufgrund Ihres Namens eine Wohnung kriegen und ich nicht, haben Sie nicht gewollt rassistisch gehandelt. Trotzdem haben Sie von Rassismus profitiert. + +Wäre ein Programm, das unserem fiktiven Vermieter hilft, seine Vorurteile zu überdenken, dann nicht eine gute Idee? +Ja, aber es reicht eben nicht.Viele Jugendliche machen Rassismuserfahrungen in der Schule. Natürlich würde ich auch sagen, wir müssen der Lehrerin klarmachen, dass sie Kinder nicht aufgrund ihrer Herkunft anders behandeln soll. Doch selbst die sensibilisierteste Lehrerin wird irgendwann aufgeben, wenn sie ein Curriculum unterrichten muss, das Rassismus reproduziert. Deshalb sage ich: Wir müssen die Strukturen anschauen. Und die historischen Bedingungen, die diese Strukturen begünstigt haben. + +Mehr gibt'sdrüben bei Instagram +Dann lassen Sie uns das tun: Wo liegen die Ursprünge des antimuslimischen Rassismus? +Kurz gesagt: im Jahr 1492. +Also in dem Jahr, in dem die "Reconquista" – die Rückeroberung der Iberischen Halbinsel durch die Christen – mit der Einnahme Granadas endete? +Ja, nur dass es eben keine "Rückeroberung" war, sondern eine erstmalige Eroberung. Der Begriff "Reconquista" ist erst hinterher geprägt worden. Er ist eine Interpretation, und dass Sie ihn so übersetzen, zeigt, wie tief diese Wahrnehmung verankert ist: "Europa war schon immer christlich, und Muslime sind von außen eingedrungen." Dabei gab es damals keine Einheit, die sich als christliches Spanien definiert hätte und die es "zurückzuerobern" galt. +Ist es nicht normal, dass Christen die neu ankommenden Muslime zumindest anfangs als "anders" wahrgenommen haben? +Der Mittelmeerraum war seit Jahrhunderten ein geteilter Kulturraum. Man kannte sich. Seit dem Jahr 711 herrschten arabische Muslime über große Teile der Iberischen Halbinsel. Fast 800 Jahre lang lebten Juden, Christen und Muslime dann unter muslimischer Herrschaft vergleichsweise friedlich zusammen. Es gab viele Kooperationen, die Wissenschaft blühte, man heiratete,konvertierte, trieb Handel. Natürlich waren nicht alle gleich und gleichberechtigt, aber das System ist für die damalige Zeit doch revolutionär gewesen. +Was änderte sich 1492? +Vorher verliefen die Loyalitäten nicht unbedingt entlang der Religion. Christen verbanden sich mit Muslimen gegen andere Christen. Es gab eine gewisse Durchlässigkeit. Wenn jemand konvertierte, zählte die Person von da an zu der neuen Gemeinschaft. Nach 1492 wurde die Religionszugehörigkeit plötzlich zu einer Art unveränderlichem Wesensmerkmal – wie eine "Rasse" eben. Man konnte sie nicht mehr loswerden. Und:Judenund Muslime standen plötzlich unter dem Generalverdacht, aufgrund ihrer Religion der christlichen Krone gegenüber gar nicht loyal sein zu können. +Was waren die Folgen? +Es gab erst Zwangskonversionen, dann Vertreibungen und schließlich Deportationen. Zunächst von Juden und Jüdinnen, später auch der Muslime und Musliminnen, die damit aus Europa fast vollständig entfernt worden sind. Das Geld, das dabei konfisziert worden ist, wurde übrigens verwendet, um Amerika zu erobern. + +Iman Attia ist Erziehungswissenschaftlerin und Professorin für Critical Diversity Studies mit dem Schwerpunkt Rassismus an der Alice Salomon Hochschule in Berlin. +Wie viel haben diese Ursprünge mit dem heutigen antimuslimischen Rassismus zu tun? +All das Wissen und die Bilder von Muslimen, die damals entstanden sind, haben sich in Liedern, Romanen, wissenschaftlichen Texten und so weiter festgesetzt. Ein bestimmtes Wissen über "uns" und "die Muslime" wurde zur Wirklichkeit. Wie oft hören wir heute noch die Unterstellung, Muslime könnten sich nicht "integrieren", weil sie kulturell so anders seien! + +Was entgegnen Sie Islamkritikern, die sagen: "Es muss aber möglich sein, den Islam zu kritisieren"? +Wenn jemand unbedingt "den Islam" kritisieren will, werde ich misstrauisch.Es gibt Hunderte Interpretationen und Lebensformen. Wogegen genau habe ich also eigentlich etwas? Natürlich muss es möglich sein, konkrete Praktiken von Muslimen oder Glaubensüberzeugungen zu kritisieren. Doch selbst bei den katholischen Missbrauchsfällen, die ja durchaus auch strukturelle Gründe wie das Zölibat haben, käme keiner auf die Idee, von "Katholizismuskritik" zu sprechen. Sie sagen ja nicht "Ich will den Katholizismus kritisieren" und suchen dann nach Bibelstellen und Personen, die Ihnen nicht passen. Daher sollte man das auch beim Islam vermeiden. +Auf bpb.de geht's weiter: +–Was ist Rassismus, wie ist er entstanden und warum glauben eigentlich immer noch viele von uns, es gebe Rassen? +–Postmigrantisches Deutschland? Rassismus, Fremdheit und die Mitte der Gesellschaft + +Titelbild: Daniel Biskup/laif diff --git a/fluter/woher-kommt-lachs-in-deutschland.txt b/fluter/woher-kommt-lachs-in-deutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..deae07848c5fb7eda98403a8bc56502e69c0b691 --- /dev/null +++ b/fluter/woher-kommt-lachs-in-deutschland.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Der Atlantische Lachs ist ein Star unter den Speisefischen: Der Deutsche Angelfischerverband hat den "anspruchsvollen Wanderfisch" schon dreimal zum Fisch des Jahres erklärt, zuletzt 2019. Mit dem wanderlustigen Lachs aus den Flüssen – das ahne ich bereits – hat das, was auf meinem Brot liegt, wahrscheinlich nicht viel gemeinsam. Auf der Verpackung steht "aus Aquakultur". Aber was heißt das eigentlich? +Ich gebe eine Nummer, die auf der Verpackung meines "Premium-Räucherlachses" steht, auf der Website eines deutschen Discounters ein. Dort erfahre ich, dass dieser mein Filet von Hanseatic Delifood mit Sitz in Schenefeld bei Hamburg einkauft – der Importeur des fertig geräucherten Fischs. Unter "Aquakulturmethode" steht, dass der Lachs in "Netzgehege und Käfiganlage" mit dem "Intensitätsgrad intensiv" gehalten wurde. Und ich finde heraus, dass die Heimat meines Fischs in der Provinz Nordland im Norden von Norwegen liegt. +Die Wanderung meines Frühstücksfischs beginnt dort oben nicht in einem Fluss, sondern in einem mit Süßwasser gefüllten Tank des Unternehmens Nordnorsk Stamfisk AS in der Kommune Steigen. Bis zu 7.000 nach speziellen genetischen Merkmalen ausgewählte "Elternlachse" produzieren hier jährlich an die 200 Millionen orangefarbene, stecknadelkopfgroße Eier, die als "Rogen" bezeichnet werden. Wenn im Rogen nach einigen Wochen kleine schwarze Punkte zu sehen sind, kommt der ungeschlüpfte Nachwuchs in eine Aufzuchtstation der Firma Nordlaks, die in der Nähe liegt. Am Boden mehrerer großer, mit kaltem Süßwasser gefüllter Tanks liegen dort nach dem Schlüpfen unzählige winzige Jungtiere, die sich innerhalb von 8 bis 14 Monaten zu Fischen entwickeln, die auch äußerlich als Lachse erkennbar sind. +Durch ein System von Rohren und Schläuchen werden die Lachse auf ein "Wellboat" gepumpt, ein Spezialschiff für den Transport lebender Fische. Dieses fährt zu einer der 40 Aquakulturen, die Nordlaks in den Fjorden und vor der Atlantikküste Nordnorwegens betreibt, und pumpt die Fische dort ins salzige Meerwasser. Die Aquakulturen sind immer ähnlich aufgebaut: Runde oder rechteckige Netze sind von der Wasseroberfläche bis zum Meeresboden gespannt mit Durchmessern von bis zu 65 und einer Tiefe von bis zu 50 Metern. In diesen Käfigen schwimmen dann die Lachse – einige Zehntausend Fische pro Käfig. Weil die meisten Aquakulturen aus mehreren Käfigen bestehen, schwimmen häufig Hunderttausende Fische in einer einzigen Anlage. +Die Norweger sind in Deutschland klare Marktführer: Neun von zehn der Atlantischen Lachse in deutschen Supermärkten kommen aus dem Land, der überwiegende Teil davon aus den industriellen Zuchtfarmen in den Fjorden und vor der norwegischen Atlantikküste. Im Jahr 2018 schwammen in den norwegischen Aquakulturen insgesamt 402.759.000 Zuchtlachse und warteten auf ihre Verarbeitung zu Räucherfisch und Tiefkühlfilet. Im selben Jahr starben oder entkamen allerdings auch mehr als 50 Millionen Lachse, bevor die Fischproduzenten sie verarbeiten konnten. +Gefüttert werden die Fische in den Lachsfarmen mit kleinen Pellets, die meist ein über dem Käfig angebrachter drehbarer Arm ins Wasser streut – gesteuert von einer Kontrollstation, in der ein kleines Team allesper Video- und Datenverbindung überwacht. + + +Während wilde Lachse sich von Fischen und Krebstieren ernähren, enthalten die Pellets nur noch gut ein Fünftel Fischöl und Fischmehl. Zum größten Teil besteht das Futter aus pflanzlichem Proteinkonzentrat und Pflanzenölen – meist hergestellt aus brasilianischem Soja, dessen Anbau unter Verdacht steht,die Abholzung des Regenwaldes im Amazonaszu beschleunigen. Durch das vegetarische Futter nimmt der Anteil der als besonders gesund geltenden Omega-3-Fettsäuren im Zuchtlachs immer weiter ab. Um den Filets die schöne und verkaufsfördernde orangerosa Farbe zu geben, setzen die Produzenten des Futters das meist synthetisch erzeugte Pigment Astaxanthin zu; sonst wäre das Fleisch der Lachse grau. In freier Wildbahn entsteht die Farbe, weil die Lachse kleine Krebse fressen – und diese sich von bestimmten Algen ernähren, die natürlicherweise Astaxanthin bilden. +Und noch etwas anderes ist in den Pellets enthalten: Damit die Öle im Futter nicht ranzig werden und sich beim Transport nicht entzünden, setzen die Futtermittelproduzenten einen Stoff namens Ethoxyquin zu. Die Substanz war in den 1920er-Jahren entwickelt worden, um Reifen aus Naturkautschuk haltbarer zu machen. Ab den 1950ern vermarktete der heute zu Bayer gehörende US-Konzern Monsanto den Stoff dann als Pflanzenschutz. In der EU ist Ethoxyquinals Pestizid verboten, im Lachsfutter ist es als Zusatz nach wie vor erlaubt. Bei Lachsen reichert sich das Ethoxyquin vor allem im Fettgewebe an und ist auch im fertigen Produkt nachweisbar. Ist das nicht bedenklich? +Ich frage beim Fischereiwissenschaftler Fabian Schäfer nach, der beim Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei in Berlin arbeitet: "In Versuchen mit Säugetieren hat sich gezeigt, dass diese bei vergleichsweise hohen Dosen empfindlich auf Ethoxyquin im Futter reagieren. Aber eine abschließende Aussage zu treffen ist schwierig: Wir haben dazu einfach zu wenige Daten", sagt Schäfer. Für Fleisch und Hundefutter gibt es in der EU Ethoxyquin-Grenzwerte, für Speisefisch nicht. Eine systematische Forschung zu dem Thema gibt es bisher kaum. Die europäische Lebensmittelsicherheitsbehörde EFSA will deshalb bis Ende März 2020 auch für Futtermittel die Zulassung von Ethoxyquin schrittweise aussetzen. +Der größte Feind der Aquakulturbetreiber allerdings ist ein wenige Millimeter großes, ziemlich hässliches Tier, das den Namen Lepeophtheirus salmonis trägt – die Lachslaus. Dieser maritime Parasit findet in Lachsfarmen paradiesische Bedingungen vor. Er verbreitet sich extrem schnell, ernährt sich von Blut und Schleimhäuten der Lachse und kann jüngere Exemplare auch töten. +Um die Plage einzudämmen, nutzen die Lachsfarmer – neben Putzerfischen wie Klippenbarschen – verschiedene Chemikalien, mit denen sie die Fische behandeln. Durch die Gifte sterben zwar die Läuse ab; sie können allerdings auch tödlich für Krill und andere Krebse in der Umgebung der Aquakulturen sein. +Dabei haben die Ökosysteme, die sich in direkter Nähe befinden, ohnehin schon mit den Ausscheidungen der Lachse und den Futterabfällen zu kämpfen. Diese werden durch Bakterien zersetzt, die dabei so viel Sauerstoff verbrauchen, dass dieser für andere Meeresbewohner nicht mehr zur Verfügung steht. +Ein weiteres Problem sei, dass immer wieder Lachse aus den Farmen entkämen, sagt Fabian Schäfer: "Die Zuchtfische unterscheiden sich manchmal massiv von ihren wilden Verwandten. Sie können beispielsweise auf die wilden Bestände Krankheiten übertragen." +Antibiotika hingegen werden in norwegischen Aquakulturen heute kaum noch eingesetzt. Kamen 1987 auf eine Tonne Lachs durchschnittlich fünf Kilo Antibiotika, hat sich die Menge 2016 nach Schätzungen des Thünen-Instituts auf weniger als ein Gramm reduziert. Stattdessen werden die Lachse geimpft, wenn sie etwa handgroß sind; das macht die Medikamente überflüssig. +Inzwischen sind in der Aquakultur in Nordnorwegen etwas mehr als anderthalb Jahre vergangen. Der letzte Abschnitt seiner gänzlich industrialisierten Wanderung führt meinen Frühstücksfisch wieder durch die Schläuche und Rohre auf das Spezialschiff, das jetzt mit ihm zur Fischfabrik an die Küste fährt. Dort pumpt das Schiff Zigtausende Lachse in große Ruhebecken, in denen sie sich vor der Schlachtung von den Strapazen ihrer letzten Reise erholen sollen. +Nach einigen Tagen werden sie von dort in die Schlachtanlage gepumpt, mit Elektroschocks betäubt, mit einem Kiemenschnitt getötet und zu verschiedenen Produkten weiterverarbeitet. Von dort gehen die Fische, Filets und Steaks an die Kunden. In meinem Fall an eine Firma in Litauen, die den Fisch räuchert, verpackt und schließlich nach Deutschland exportiert. +Für Norwegen ist die Lachszucht der zweitwichtigste Wirtschaftszweig nach dem Erdölexport. Bis 2050 soll sich die Zucht der Fische verfünffachen. Norwegische Unternehmen sind auch in Chile vertreten und kümmern sich – anders als in der Heimat – oft nicht um Umwelt- und Arbeiterschutz. +Aquakulturen sind aber kein Phänomen, das sich auf Norwegen oder die Fischart Lachs beschränkt. Die Haltungsform ist längst weltweit verbreitet – die Welternährungsorganisation FAO schätzt, dass heute bereits knapp die Hälfte aller Speisefische aus Aquakulturen stammt. +Also künftig lieber keinen Fisch mehr auf dem Teller? Umweltschonendere Alternativen gibt es, zum Beispiel ökologische Aquafarmen, bei denen die Hälfte des Futters aus dem Meer kommt und unter anderem aus Krebsen und Algen besteht. Noch besser wären aber Aquakulturen an Land oder hermetisch abgeriegelt im Wasser. Sonst belasten Futterabfälle oder Ausscheidungen der Fische immer die umliegenden Ökosysteme. Vielleicht ist es aber auch Zeit, ein neues Ritual einzuführen und sonntags mal eine Forelle aus dem Fluss aufs Brot zu legen. + +Titelbild: Doug Plummer / Getty Images diff --git a/fluter/wohin-liefert-deutschland-waffen.txt b/fluter/wohin-liefert-deutschland-waffen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3e1a814ae9aa7d1456a770f3ad35e0e2e95d73b2 --- /dev/null +++ b/fluter/wohin-liefert-deutschland-waffen.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Gemessen am Bruttoinlandsprodukt: nicht besonders. Im Jahr 2016 exportierte Deutschland Waren im Wert von 1203,8 Milliarden Euro – der Wert der Rüstungsgüter machte gerade mal 0,6 Prozent aus. + +Und was für Sonderausstattung hat deiner so? Auf der Rüstungsmesse Eurosatory bei Paris zeigen alle zwei Jahre Hersteller aus ca. 60 Ländern, was sie in Sachen Luft- und Landwaffensystemen in der Hose haben. Hier im Bild: ein Panzer deutschen Fabrikats + +Unter den Top Ten deutscher Waffenempfänger befanden sich 2017, nach vorläufigen Zahlen der Bundesregierung, die NATO-Partner USA und Großbritannien und die EU-Mitgliedsstaaten Litauen und Niederlande. Die sechs anderen sind Drittstaaten, unter ihnen die beiden Spitzenempfänger Algerien und Ägypten sowie Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Für diese Länder wurden vergangenes Jahr Ausfuhrgenehmigungen unter anderem für Torpedos und Flugkörper (Ägypten), Fregatten und Unterwassergranaten (Algerien), Pionierpanzer, Minenfahrzeuge und Teile für Kampfpanzer (Vereinigte Arabische Emirate) sowie Patrouillenboote (Saudi-Arabien) erteilt. Zuvor kauften diese Länder unter anderem auch schon U-Boote, Lenkflugkörper, Flugzeugteile sowie diverse Kleinfeuerwaffen. Auch gepanzerte Fahrzeuge für das Kinderhilfswerk UNICEF, die UN-Flüchtlingshilfe und das Welternährungsprogramm fallen unter diese Lieferungen. + +Zuerst die involvierten Ministerien, das sind bei Kriegswaffen in der Regel das Wirtschafts-, Verteidigungs- und Außenministerium. Sind die sich einig, wird der Export durch die Bundesregierung genehmigt, gibt es Meinungsverschiedenheiten, kommt der Bundessicherheitsrat ins Spiel. Neben der Bundeskanzlerin gehören diesem Gremium acht Kabinettsmitglieder an, darunter der Verteidigungs-, der Außen-, Innen- und der Wirtschaftsminister. Mitarbeiter von Sicherheitsbehörden können zu Beratungen hinzubestellt werden. Besonders an dem Gremium ist, dass es geheim tagt und die Mitglieder zur Verschwiegenheit verpflichtet sind. Seine Entscheidungen unterliegen keiner parlamentarischen Kontrolle. Manche Entscheidungen werden unter einer anderen Regierung umgesetzt, als sie getroffen wurden. +Eine Nachfolgeregierung kann die Ausfuhrgenehmigungen des Bundessicherheitsrats wieder zurücknehmen, in der Praxis kann dieses jedoch mit Nachteilen verbunden sein. Als 2015 der Jemenkrieg begann, wurde Kritik an den Panzerlieferungen an den Kriegsteilnehmer Katar laut. Da die Exporte 2013 noch unter Schwarz-Gelb genehmigt worden waren, hätte die darauffolgende Bundesregierung sie zurücknehmen können. Sie entschied sich aber dagegen, unter anderem, weil sie dem betroffenen Unternehmen sonst Schadensersatz hätte zahlen müssen. Immer wieder lehnt der Bundessicherheitsrat Exporte aber von vornherein ab. So etwa bei mehreren Anträgen für Handfeuerwaffen und Munition durch die Türkei seit Ende 2016. Die Begründung: unklare Menschenrechtslage, bewaffnete Konflikte im Land und die Gefahr, dass die Waffen am Ende in den falschen Händen landen. + +Wer seine Drohnen-Bestellungen lieber diskret aufgeben will, kann sich auf der Messe auch gleich mit Cryptophones eindecken. Zum Beispiel vom Berliner Hersteller GSMK + +Die Bundesregierung sagt: Ja. Sie versichert, eine "restriktive und verantwortungsvolle Rüstungsexportpolitik" zu verfolgen. Tanja Alemany Sanchez de León, Pressesprecherin des Wirtschaftsministeriums, betonte im Januar 2018, dass jeder Einzelfall geprüft werde und Deutschland "eines der weltweit restriktivsten Kontrollsysteme" habe. Sie verwies auf die zwei jährlichen Rüstungsexportberichte, die öffentlich für Transparenz sorgten, und auf Post-Shipment-Kontrollen, mit denen Deutschland prüfen will, wo die Waffen tatsächlich landen. Die Bundesregierung verspricht: "Der Beachtung der Menschenrechte wird bei Rüstungsexportentscheidungen ein besonderes Gewicht beigemessen." Die Opposition und mehrere Menschenrechtsgruppen zweifeln das an. Laut Amnesty International sind die Menschen- und Freiheitsrechte in Algerien, Ägypten, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten teilweise massiv eingeschränkt. Sigmar Gabriel (SPD) erklärte 2014, als damals zuständiger Bundeswirtschaftsminister, dass es keine Waffenlieferungen mehr an Unrechtsregime geben solle, die ihre Bevölkerung unterdrücken. Gabriel hat ebenfalls versprochen, die deutschen Waffenexporte zu reduzieren. Die Zahlen sind seit 2015 zwar wieder leicht rückläufig, bleiben aber auf einem sehr hohen Niveau im Jahresvergleich. + +Um den Einfluss Deutschlands in Krisen- und Kriegsgebieten. Der NATO-Partner Türkei setzt deutsche Panzer in Syrien ein – unter anderem gegen kurdische Milizen, wie Ende Januar bekannt wurde. Die kurdischen Peschmerga wiederum erhielten im Kampf gegen den IS deutsche Panzerabwehrraketen, Handgranaten und Sturmgewehre. Vor allem aber geht es in der aktuellen Diskussion um den Jemen. Dort kämpft seit Ende 2014 eine Militärallianz sunnitisch geprägter Staaten gegen schiitische Huthi-Rebellen. Millionen Menschen haben kein sauberes Trinkwasser, drohen zu verhungern und sind innerhalb des Landes auf der Flucht. Laut UNO ist diese humanitäre Katastrophe das direkte Ergebnis der Kriegsführung der Konfliktparteien. Drei von ihnen stehen auf der Top-Ten-Liste deutscher Waffenabnehmer: Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Ägypten. + +Delegiertes Windowshopping: Unter den rund 57.000 Besucher der letzten Messe 2016 waren auch mehrere Hundert offiziell Gesandte, ein paar Dutzend Verteidigungsminister und Staatssekretäre + + +Nein. So tauchten etwa G36-Gewehre aus deutscher Herstellung bei Polizeieinheiten im mexikanischen Bundesstaat Guerrero auf, obwohl das dem Kriegswaffenkontrollgesetz (KrWaffG) und dem Außenwirtschaftsgesetz (AWG) widerspricht. Demnach sollen keine Waffen in Gebiete exportiert werden, in denen die Menschenrechte nicht gewahrt werden oder die politisch instabil sind. Bei Drittländern wird das besonders intensiv geprüft. Der Bundesstaat Guerrero galt aufgrund der Auseinandersetzungen im Drogenkrieg als zu unruhig und durfte deswegen eigentlich seit 2006 keine deutschen Waffen mehr erhalten. + +Ende Januar haben sich SPD und Union während der Sondierungsgespräche für eine mögliche Neuauflage der Großen Koalition darauf geeinigt, künftig keine Rüstungsexporte in Länder mehr zu genehmigen, die am Krieg im Jemen teilnehmen. Außerdem sollen die Rüstungsexportrichtlinien aus dem Jahr 2000 verschärft und Rüstungsexporte "weiter" eingeschränkt werden. Was das genau bedeuten wird, ist noch unklar. + + diff --git a/fluter/wohnen-auf-kleinem-raum.txt b/fluter/wohnen-auf-kleinem-raum.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2b129ea3fa41f988685018aab3fb1d11b76e7faf --- /dev/null +++ b/fluter/wohnen-auf-kleinem-raum.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Wir teilen uns zwei gleich große Räume mit Lehmwänden, einem Wellblechdach, ohne Fenster. Jeder Raum misst ungefähr vier Meter mal vier Meter. Den einen nutzen die Mädchen nur zum Schlafen, den anderen – unser "Haupthaus" – haben wir in der Mitte mit einer Gardine abgeteilt. Auf der einen Seite schlafen meine Frau und ich mit dem Kleinen, auf der anderen Seite stehen unsere Sofas und ein Tisch, Kocher, Geschirr, Kleidung, Fernseher. Die zwei Fahrräder der Kinder stapeln wir in den freien Ecken. Vor Kurzem ist auch noch eine streunende Katze bei uns eingezogen. Nachts parke ich auch noch mein Motorrad im Haus, sonst würde es mir geklaut werden. Davon abgesehen mache ich mir aber keine Gedanken um Sicherheit. Die Leute in Kibera wohnen eng beieinander, sie erkennen sofort, wer hier nicht hergehört. So passen wir aufeinander auf. +Da meine Frau nicht arbeitet, sorge ich finanziell allein für uns. Die beiden Räume kosten umgerechnet 50 Euro Miete im Monat. Mit neun anderen Familien, die in ähnlichen Räumen wohnen wie wir, teilen wir uns Plumpsklo und Dusche. Die Dusche ist nur ein Verschlag mit einem Abfluss für das Wasser, das wir selbst mitbringen müssen. Wir verbrauchen als Familie etwa 60 Liter Wasser pro Tag zum Trinken, Kochen, Duschen und Waschen. Meine Frau kauft es in 20-Liter-Kanistern in einem Laden ein paar Minuten entfernt und trägt es nach Hause. Dafür geben wir etwa acht Euro im Monat aus. +Zum Glück haben wir einen Stromanschluss direkt im Haus. Der versorgt eine Glühbirne gleich neben dem Eingang. Zwei Steckdosen liefern Strom für den Fernseher, das Radio, das Bügeleisen und um mein Handy aufzuladen. Das kostet noch einmal fünf Euro pro Monat. Die Mahlzeiten bereitet meine Frau auf dem Kerosinkocher zu. Wir frühstücken alle zusammen um sieben Uhr früh süßen Tee und Weißbrot, bevor die Kinder zur Schule gehen und ich zur Arbeit. +Ich schicke meine Kinder auf kleine private Schulen, für die ich Gebühren zahle. Die sind zwar kaum besser als die kostenlosen öffentlichen Schulen, aber die Klassen sind dort mit bis zu 100 Schülern viel zu groß. Meine Kinder sollen das beste Lernumfeld haben, das ich mir leisten kann, damit sie mal nicht so enden wie ich: Ich bin nur fünf Jahre zur Schule gegangen, weil ich keine Lust hatte aufs Lernen und zu stur war, um auf meine Eltern zu hören. Als Motorrad-Taxifahrer habe ich vielleicht zehn Fahrten am Tag. Es ist ein täglicher Kampf, aber wir schaffen es irgendwie. + +Titelbild: Paul Kariuki Munene diff --git a/fluter/wohnen-lebensverhaeltnisse-junge-menschen.txt b/fluter/wohnen-lebensverhaeltnisse-junge-menschen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/wohngruppe-jugendliche-berlin.txt b/fluter/wohngruppe-jugendliche-berlin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..957dc66c9b0fc30d8f994da2622a72172ce2233b --- /dev/null +++ b/fluter/wohngruppe-jugendliche-berlin.txt @@ -0,0 +1,27 @@ + +Anne ist 15 und als Letzte in die WG gekommen, vergangenen Sommer. Sie mag es hier. "Es fühlt sich wie ein Zuhause an." Ein Gefühl, das sie bisher in keiner Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung verspürt hat. Das will was heißen, Anne hat schon in fünf gelebt. Als sie sieben war, holte sie der Kindernotdienst eines Tages von der Schule ab. Seitdem wohnt sie nicht mehr bei ihren Eltern. Die Zeit vor der Jugendhilfe nennt sie "chaotisch". Ihre Eltern waren suchtkrank, Alkohol, Heroin. Das machte sie unberechenbar: Sie wurden aus dem Nichts aggressiv und stritten. Dann wieder Gleichgültigkeit. Was Anne machte, war zu Hause völlig egal. +Vor drei Jahren ist ihr Vater an einer Lungenembolie gestorben. Zu ihrer Mutter hielt sie lange Kontakt. Anne hörte zu,kümmerte sich. Da war lange die Hoffnung, zu ihr zurückzukönnen. Heute weiß Anne, dass die Trennung richtig war. Damals konnte sie das nicht begreifen: Es gab zu Hause auch Nähe und Zuneigung, nie Gewalt. Anders als an dem Ort, an den sie gebracht wurde. +In Annes erster Wohngruppe in Brandenburg lebten Vier- bis Achtjährige. Sie hatte nicht das Gefühl, dass die Erzieher das kümmerte. "Kein Körperkontakt, keine Umarmung, nichts. Du konntest weinen, so viel du wolltest." Ganz im Gegenteil: Die Menschen, die dort Elternersatz hätten sein sollen, hätten die Kinder provoziert, sagt Anne, sie beschimpft, ihnen bizarre Streiche gespielt. Einmal habe sie zugesehen, wie ein Kind geschlagen wurde. +So schlimm wie die erste Einrichtung war keine, wirklich schön war es erst hier in der WG am Berliner Ostkreuz. Man freundet sich durchaus mit anderen an, sagt Anne, aber selten sind diese Verbindungen dauerhaft. Viele kriegen die Gewalt, die Suchtanfälligkeit und das Misstrauen, das ihnen im Elternhaus vorgelebt wurde, nicht mehr aus den Knochen. "Ich habe gelernt, mich nur auf mich selbst zu verlassen", sagt Anne. +Und jetzt? Anne findet, ihr Leben wird besser. Sie schwärmt, dass sich in der WG tatsächlich umarmt wird, dass die Erzieher merken, wenn es ihr schlecht geht. Dass sie hier ermutigt wird, ihr Leben zu gestalten. Die Wand im gemeinsamen Wohnzimmer zum Beispiel, die war ihnen zu kahl, und jetzt malt Anne mit ihren beiden Mitbewohnerinnen einen Dschungel mit Regenbogen darauf. Sicher, Kleinigkeiten. Aber wichtig, sagt Anne. +So richtig leuchten ihre Augen, als sievon ihrer besten Freundinerzählt. Sie nennt sie ihr "Gegenstück". Sie hat denselben Scheiß durch wie Anne. Das macht es leichter, darüber zu sprechen. Sie müssen sich bestimmte Dinge gar nicht erklären, sagt Anne, und verurteilen einander nicht. Sie hätten auch schon zusammen "Scheiße gebaut", unter anderem was mit Drogen. Eigentlich wollte Anne nie welche anrühren, jetzt sei es eben doch dazu gekommen. Angst, süchtig zu werden, hat sie aber nicht: Das Beispiel ihrer Eltern sei zu abschreckend. +Annes Plan: Abitur. Und falls nicht, Sozialassistentin werden. Wer, wenn nicht sie, wüsste, was elternlose Kinder von einer Erzieherin brauchen? + + +Neben Annes Zimmer ist das von Leoni, 17. Klein ist es, dunkel, aber gemütlich. Auf dem Bett türmen sich Kuscheltiere. Das größte, einen gewaltigen Teddy, hat sie gerade erst gekauft. Sie sei einsam in letzter Zeit. +Leoni hat ihre Ausbildung abgebrochen, wegenihrer Depression und einer Angststörung. Irgendwann hat Leoni es immer seltener geschafft, morgens aufzustehen, die Fehltage haben sich gehäuft. Sie will Sozialassistentin werden, wie Anne und wie ihre Stiefmutter, die sie bewundert. "Die weiß wirklich, wie man mit Kindern umgeht." Es ist klar, an wen Leoni bei diesem Satz noch denkt. Im März 2022 hat ihre Mutter sie rausgeschmissen, nach Jahren des Streits. +Ihre Mutter weigere sich, ihre eigene psychische Erkrankung einzusehen, sagt Leoni. Manchmal war sie richtig obsessiv, hat mehrmals am Tag gestaubsaugt und den Kindern kaum zu erfüllende Hygieneregeln aufgestellt. Das Geld hatte sie weniger im Griff. "Für eine neue Hose war nie was da, aber wir Kinder hatten immer ein oder zwei Smartphones, weil meine Mutter sich immer wieder neue gekauft hat." Von ihrem Vater habe die Mutter sie ferngehalten. +"Ich habe immer nach Aufmerksamkeit und Liebe geschrien", erinnert sich Leoni. Manchmal hat sie versucht, die Sauberkeitsvorstellungen ihrer Mutter für ein liebes Wort überzuerfüllen. Ihre eigene psychische Gesundheit litt darunter. Mit 15 war Leoni in einer Klinik. Während der drei Monate hatten sie keinen Kontakt. Aber als Leoni wieder einzog, hatte ihre Mutter ihren Handyvertrag gekündigt. Beiden war klar, dass das nicht mehr funktioniert. Leoni meldete sich bei der Jugendhilfe, kam in eine Kriseneinrichtung, in der die Jugendlichen untereinander gewalttätig wurden, zog wieder zu ihrer Mutter, wurde wieder rausgeschmissen, kam in die WG. +Sie hätte lieber alleine gewohnt, ist aber froh, nette Leute um sich zu haben. Trotzdem ist da die Einsamkeit.Freunde habe sie keine, sagt sie. Nur ihren Freund. Dave und sie haben sich in der Klinik kennengelernt. Er gibt ihr Halt. Sie hat durch ihn gelernt, ihrem Schicksal mit Humor zu begegnen. Ihren Vater sieht sie jetzt auch wieder, mehrmals die Woche, sie verbringt Zeit mit ihrer zweijährigen Schwester, die sie über alles liebt. Aber insgesamt fehlt ihr etwas. +Neulich hatte Leoni einen Albtraum: Sie hat Zwillinge bekommen. "Das hat mir Angst gemacht", sagt sie: Sollte sie wirklich Kinder bekommen, habe sie denen nichts zu bieten. "Im Moment jedenfalls." + +Man hat Ljuba, 18, kaum begrüßt, da warnt er: "Sie müssen mich unterbrechen, wenn ich zu viel rede!" Das ist ein guter Hinweis: Ljuba verliert sich in Details, will alles möglichst präzise beschreiben. Er hat viel erlebt. +Ljuba kam mit 14. Von Deutschland hat er sich ehrlich gesagt ein bisschen mehr erhofft +Auf das "Sie" besteht er. Den Anstand hat ihm sein Vater beigebracht. Von ihm spricht Ljuba mal fast bewundernd, mal enttäuscht. Ein schwieriger Mensch sei das, unberechenbar, auch wegen seines langjährigen Cannabiskonsums. Gewalt? Ja, gegen ihn, seine Geschwister, seine Mutter, die Gewalt war immer da. Andererseits half ihm der Vater immer mit Geld aus, wenn er ihn darum bat. "Das ist aber nicht das, was ich wirklich gebraucht habe", sagt Ljuba. Lieber als eine Playstation hätte er jemanden gehabt, der mit ihm Hausaufgaben macht. +Ljuba ist bei seinem Vater mit zwei Geschwistern in Serbien aufgewachsen. Die Eltern haben sich früh getrennt. In seinem Dorf habe er nie ganz dazugehört. Die anderen Kinder hätten ihn wegen seiner dunklen Hautfarbe gehänselt. Ljuba beschäftigte sich oft mit sich selbst. Das ist bis heute so. Gleichzeitig wünscht er sich, anderen nah zu sein. Er möchte gefallen, sagt er, nützlich sein. Immer wieder erwähnt Ljuba seine Fähigkeiten. Er könne gut Dinge reparieren, sei ziemlich gut im Fußball gewesen, bringe sich ständig Neues bei. Jetzt beatboxt Ljuba. Das hat er in You-Tube-Tutorials gelernt, und es klingt wirklich gut. +Von Deutschland hat er sich eine bessere Zukunft erhofft. Als er 14 war, zogen sie nach München. Teile der Familie waren schon dort. Aber es war schwierig. Er wurde herumgereicht, vom Onkel zu einer Tante, zu einer Cousine, zur Schwester seines Vaters nach Berlin. Dort habe er zum ersten Mal erlebt, wie gut sich eine Familie anfühlen kann. Nur bleiben durfte er nicht. +Im Frühling kam Ljuba in die WG. Die Jungs-WG, das sind jetzt er, ein junger Ukrainer und ein Afghane. Und unten die Mädchen. Als die Rede auf sie kommt, druckst Ljuba. Er glaubt, dass er sich die Nähe, die er von seinen Eltern nicht bekommen hat, oft bei seinen Partnerinnen zurückzuholen versucht. Gleichzeitig sei seine größte Angst, sich auf jemanden einzulassen und wieder enttäuscht zu werden. Mit einem der Mädels hier hatte er kurz nach seinem Einzug was laufen. Lang ging das nicht, und am Ende war Ljuba wieder am Boden zerstört und für lange Gespräche mit den Erziehern hier im "Raum 101". +Dieser Text istim fluter Nr. 89 "Liebe"erschienen +Solche Erlebnisse führen dazu, dass sich Ljuba zurückzieht. Aus seinem Mund klingt "Einsamkeit", als sei sie ein Ort. "Menschen, die einmal in der Einsamkeit sind, finden nie wirklich aus ihr heraus", sagt er. Wenn Ljuba dort ist, fängt das Grübeln an. Er kreist um die Vergangenheit, die Ablehnung und Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren sind. Er kifft dann wieder mehr, nimmt ab, hasst sich dafür. +Gerade erzählt er von diesen finsteren Momenten, da klopft es an der Tür: Leoni. Sie müsse Ljuba kurz was fragen. Die beiden tuscheln, irgendein WG-Gossip. Einrichtungen wie die WG können Leoni, Anne und Ljubadie elterliche Liebenicht ersetzen. Aber sie merken dort, dass es andere gibt wie sie. Und dass sie zusammen versuchen können, doch noch ein bisschen jung zu sein. + diff --git a/fluter/wohnungsmarkt-muenchen-wie-teuer.txt b/fluter/wohnungsmarkt-muenchen-wie-teuer.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b26270dda83394685148c51a0f3382b4a0b4d0ab --- /dev/null +++ b/fluter/wohnungsmarkt-muenchen-wie-teuer.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +Die Wohnung liegt unterm Dach, durch die niedrigen Decken wirkt die recht groß gewachsene Hannah nahezu riesig. "Toller Boden, oder?", sagt sie und deutet auf die braune Schaumfolie mit Holzaufdruck, weder Laminat noch Parkett, in manchen Ecken hat sich die Folie bereits abgelöst. Ein Bett, eine Kommode, einen Kleiderschrank und ein Fernsehtischchen hat ihr die Eigentümerin in diese 1,5-Zimmer-Wohnung gestellt – damit galt sie als möbliert: 1.100 Euro warm für 30 Quadratmeter. +Die Wohnung hat ihre Mutter organisiert, von Salzburg aus fuhr sie 18-mal nach München zu Besichtigungsterminen, wo sie dann ihr Smartphone auspackte und Hannah per Facetime durch die Wohnungen führte. Der hohe Mietpreis erschien Hannah in Ordnung,der Ruf der Stadt München als Mieten-Rekordstadt eilte ihr voraus– was viele Vermieter ausnutzen, um die Latte gleich noch ein paar Hundert Euro höher zu legen. Erst als sie einzog und sich mit Nachbarn und den neuen Kolleginnen austauschte, merkte Hannah, dass ihre Wohnung selbst für Münchner Verhältnisse heillos überteuert war. Nachbarn, die auch erst seit zwei Jahren in der Stadt wohnten, zahlten für ihre gleich geschnittene Wohnung nur 650 Euro. +Für allein lebende Menschen ist die Mietbelastung in München, nach alleinerziehenden Eltern, die zweithöchste: 31 Prozent ihres Einkommens geben Erstere allein für die Miete aus, womit sie im Durchschnitt bereits über dem von Sozialwissenschaftlern als kritisch eingestuften Maß von 30 Prozent liegen. Hannah liegt weit über diesem Durchschnitt, sie überweist die Hälfte ihres Einkommens an die Vermieterin. +Bei ihrer aktuellen Suche hat sie bereits über 60 Besichtigungen hinter sich, seit einiger Zeit zahlt Hannah 30 Euro im Monat für einen sogenannten Premiumaccount auf einer Anzeigenwebsite. Die Seite verspricht zahlungswilligen Nutzern höhere Sichtbarkeit bei Vermietern, im Gegenzug müssen diese all ihre Daten,von Einkommensnachweisen bis zum Schufa-Auszug, bei der Plattform hochladen. Auf diese kann dann theoretisch jeder Vermieter zugreifen oder wer auch immer sich als solcher ausgibt. Macht sich Hannah, die bis zu ihrem Umzug noch nie von der Schufa gehört hatte, keine Sorgen um ihre Daten? "Natürlich ist das grenzwertig, manche Vermieter wollen ja sogar noch eine Kopie meines Ausweises geschickt bekommen. Und wenn sie das dann alles haben, werde ich am Ende trotzdem nicht zur Besichtigung eingeladen." Neulich hat Hannah gezählt, wie viele Nachrichten sie bereits auf der Plattform verschickt hat: 500. Antworten: zehn. +der Deutschen leben in Großstädten, also in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern, 27% in mittelgroßen Städten (20.000 bis 100.000), 27% in Klein-städten mit 5.000 bis 20.000 Einwohnern und 15% auf dem Land. +In einschlägigen Facebook-Gruppen mit Namen wie "Wohnen trotz München" bieten Privatpersonen schuhschachtelgroße Souterrainzimmer in angeblich "angesagten" Vierteln an, die selbst eingeborene Münchner auf der Karte suchen müssen. Oder das Angebot besteht aus einem nur durch einen Vorhang abgetrennten Schlafbereich, der aus einer 1-Zimmer-Wohnung eine 2-Zimmer-WG macht – für je 750 Euro im Monat. Doch egal wie dreist das Angebot ist, unter jeder Anzeige finden sich stets mindestens fünf Interessenten mit dem Satz "Großes Interesse, habe dir eine private Nachricht geschickt!". +Hannah hat in diesen Gruppen einiges erlebt: Der aktuelle Mieter einer Wohnung wollte sie seinem Vermieter nur dann vorschlagen, wenn sie ihm garantieren würde, dass sie für 9.000 Euro seine Möbel übernähme: Bett, Schrank, Küche. In lokalen Medien finden sich sogar Berichte von Menschen, denen gegen sexuelle Handlungen eine Bevorzugung bei der Auswahl oder auch eine Mietminderung im WG-Zusammenleben versprochen wurde. +"Das Traurige: Egal wie dreist, teuer oder abgefuckt die Wohnung ist, es gibt immer jemanden, der sie nimmt", sagt Hannah.Sieht sie die Politik in der Verantwortung?"Natürlich ist es nicht so einfach, bei dem Zuzug hier für genug Wohnraum zu sorgen", meint sie. Trotzdem wundere sie sich sehr darüber, dass, wann immer sie Baustellen sehe, es sich meistens um teure Luxuswohnungen handele. "Warum baut man nicht mal für die Allgemeinheit? Oder genehmigt wenigstens entsprechende Projekte? Ich glaube nicht, dass die Politik da machtlos ist." Auch einen Mietendeckel, wie er in Berlin beschlossen wurde, würde sie befürworten. Obwohl das Wohnen in München seit Jahren Dauerthema ist – eine Wende ist nicht in Sicht. +Die Stadtregierung hat mittlerweile ein paar klassische Maßnahmen ergriffen: Mietpreisbremse, Vorkaufsrecht für Mieter, Initiativen für Wohnungsbau und mit 870 Millionen Euro immerhin das größte kommunale Wohnungsbauprogramm in Deutschland. 2018 lag der Anteil der fertiggestellten gemeinnützigen Wohnungen bei rund 17 Prozent. +Derweil vertreiben Wohnungsknappheit und hohe Mieten zunehmend Menschen aus der Stadt. Vor allem solche mit Berufen, die dringend gebraucht werden: Pflegekräfte, Erzieher, Handwerker, Künstler. +Der Wohnungsmangel verschlimmert damit auch andere Probleme, wie etwa denPflegenotstandoder das Aussterben der Kulturszene abseits der großen staatlichen Institutionen. 2018 gingen immerhin 7.000 Menschen unter dem Motto #ausspekuliert auf die Straße – gegen den Wohnungsmangel und die hohen Mieten. +Nachdem Hannah Ende Februar zusammengerechnet hat, dass ihr Premiumaccount im Web sie bisher 240 Euro gekostet und so gut wie keine Vorteile beschert hat, meldete sie sich ab. Die neue Strategie: "Ich werde jetzt einfach alle Leute volllabern, die ich kenne!" +Wenige Tage später unterhält sie sich im Englischen Garten mit einer Bekannten über ihr Leid. Eine alte Dame rückt im Laufe des Gesprächs immer näher an sie heran und stellt sich schließlich vor: Sie sei Hausverwalterin, habe mehrere Wohnungen in der Schellingstraße zu vergeben, eine der begehrtesten Lagen der Stadt. Eine Woche später unterschreibt Hannah ihren Mietvertrag – und kann ihr Glück kaum fassen: 600 Euro kalt für 48 Quadratmeter. +Für Münchner Verhältnisse ein echtes Schnäppchen. + diff --git a/fluter/wolf-gefahr-debatte-deutschland.txt b/fluter/wolf-gefahr-debatte-deutschland.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..1c45564c09e4aed8dba56118ee7388dce1927d19 --- /dev/null +++ b/fluter/wolf-gefahr-debatte-deutschland.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +18 Jahre später ist der Wolf nicht mehr nur in Sachsen heimisch. Im Jahr 2018 wurden Einzeltiere oder Rudel in fast ganz Deutschland gesichtet. Als biologische Opportunisten sind Wölfe anpassungsfähig. Zum Leben brauchen sie nicht zwingend unberührte Wildnis. Kulturlandschaften oder ein Truppenübungsplatz sind genauso geeignet, sofern sie ein paar Rückzugsorte und genug Futter finden – und das gibt es in Deutschland mit seinen großen Wildbeständen reichlich. Durch seine Anpassungsfähigkeit war der Wolf lange Zeit auf der gesamten Nordhalbkugel verbreitet und ist schon seit Jahrtausenden ein sehr präsenter Begleiter der Menschen. So eng ist die Verbindung, dass die Menschen Wölfe domestizierten und aus ihnen sogar eine eigene Unterart züchteten: die Hunde. +In der jüngeren Geschichte war der Wolf inEuropaaber vor allem als böses Tier verschrien. In der Bibel schickt Jesus seine Jünger wie Schafe mitten unter die Wölfe, in Märchen frisst der Wolf die Großmutter. Die Anti-Wolfs-Propaganda hatte auch ökonomische Gründe. Wölfe waren Nahrungskonkurrenten, sie jagten die gleichen Tiere wie die Menschen – oder fraßen gleich ihr Vieh. In der Folge wurde der Wolf in großen Teilen des Kontinents ausgerottet. +Ein derart schlechtes Image bleibt hängen. Auch in den heutigen Debatten wird immer wieder vor der Gefahr durch Wölfe gewarnt. Dass gesunde Tiere den Menschen meiden und in den letzten 50 Jahren Wölfe in Europa nur vier Personen getötet haben, hilft kaum gegen irrationale Ängste. So verbreiten sich Gerüchte über vermeintliche Wolfsangriffe als Jägerlatein 2.0 in WhatsApp-Gruppen,Rechtspopulistenhaben ihren Kampf gegen Migration längst auf den vierbeinigen Einwanderer aus dem Osten ausgeweitet. Schäfer und Bauern fürchten, dass ihnen der Wolf die Existenzgrundlage wegfrisst – selbst wenn sie Entschädigungen für gerissene Tiere bekommen. Andere haben Angst, dass Touristen wegbleiben. Dabei ist der Wolf eigentlich ein wichtiger Bestandteil des Ökosystems: Er frisst kranke und schwache Rehe und Hirsche. Dadurch bleibt deren restliche Herde gesund. +Die Landesregierungen begegnen den Vorbehalten und Ängsten der Menschen mit Wolfsmanagern. Eine neue Berufsgruppe: Sie sind Ansprechpartner für besorgte Bürger, aber auch für Schäfer, denen sie Tipps geben, wie sie ihre Herdentiere schützen können. Eigentlich dürfen Wölfe gar nicht abgeschossen werden, weil die vom Aussterben bedrohten Tiere in Europa seit 1979 unter strengem Artenschutz durch die Berner Konvention stehen. Doch es gibt einige Ausnahmen, "Problemwölfe" etwa, die krank sind oder sich aggressiv verhalten. +In Zukunft sollen die Tiere sogar schon bei ernsten und nicht mehr nur bei existenzbedrohenden Schäden getötet werden dürfen, zum Beispiel wenn mehrere Schafe gerissen werden. So plant es die Bundesregierung mit einer umstrittenen Änderung des Naturschutzgesetzes. Wie viele Tiere es in Deutschland gibt? Das Bundesamt für Naturschutz spricht von rund 150 Tieren, der Deutsche Jagdverband e. V. von über 1.000. + diff --git a/fluter/wolf-haas-roman-junger-mann-rezension.txt b/fluter/wolf-haas-roman-junger-mann-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..105da9c297c8f5fbc654ebb6a07f61c0f551381e --- /dev/null +++ b/fluter/wolf-haas-roman-junger-mann-rezension.txt @@ -0,0 +1,18 @@ + +Wo sind wir? +Die Diät spielt im Österreich der 1970er-Jahre, in einer Zeit, in der man an der Grenze zu Deutschland noch den Pass zeigen musste und Ärzte im Behandlungsraum rauchten. Und die Figuren in diesem Buch auch neben der Zapfsäule: Der Protagonist jobbt an einer Tankstelle, wo er von Kunden immer wieder mit "Fräulein" angesprochen wird, weil es sich unter seiner Jacke so vielversprechend wölbt. Hier trifft er zum ersten Mal die fesche Elsa. Dummerweise aber auch ihren Mann, den Fernfahrer Joe. Der schreibt sich Tscho und erinnert ein bisschen anTschick: Er ist so cool und entspannt, dass er sich selbst in brenzligen Situationen die Zeit nimmt, erst einmal den Rotz hochzuziehen, bevor er etwas sagt. + +Wie wird's erzählt? +Wolf Haas, Junger Mann, Hoffmann und Campe, 2018, 240 Seiten, 22 Euro +Wolf Haas ist vor allem für seine verfilmten Krimis rund um den Privatdetektiv Brenner (Josef Hader) bekannt. In "Junger Mann" dagegen gibt es weder Mörder noch Grantler: Haas wollte einen Roman schreiben, in dem alle Figuren sympathisch sind. Klingt nach Fantasy, ist aber halb Coming-of-age, halb Road Novel, erzählt aus der Ich-Perspektive. Der schüchterne Protagonist ist dabei namenlos, nur einmal, ganz am Rande, wird sein Vater in der Suchtklinik mit "Herr Haas" angesprochen. +Wolf Haas jobbte als Teenager selbst an einer Tanke, war übergewichtig und nahm wie der Protagonist mit einer Fernsehshow namens "Schlank mit Wir" ab. Wie viel Autobiografisches und wie viel Erfundenes in dem Roman stecken, lässt sich so leicht nicht sagen. Sein Protagonist jedenfalls kann die Brennwerte von 100 Gramm Banane, Endiviensalat oder Cornetto im Schlaf aufsagen. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit führt er über seine Kalorieneinnahme Buch und hält sich unbarmherzig an selbst auferlegte Regeln. Selbst auf die Waage steigt er nur zu bestimmten Zeiten. + +Was zeigt uns das? +Dass auch Jungs nicht davor gefeit sind, ihr Selbstwertgefühl an eine Körperwaage zu binden. Dass LKW-Fahrer manchmal mehr Sprachen sprechen als Akademiker. Und dass es gar nicht mal so schlimm wäre, wenn alle Menschen sympathisch wären. + +Schade … +Ein Zurückdenken an vergangene Sommerferien kommt ohne ein gewisses Maß an Verklärung wohl nie aus; es tut auch nicht weh, das Bum Bum größer in Erinnerung zu haben, als es tatsächlich war. Schade nur, dass sich in "Junger Mann" selbst das Tragische nicht wirklich tragisch anfühlt. Dem Vater, der zu gerne trinkt und spielt, der Mutter, die sich ständig sorgt, dem Tscho, den ein eigenes Schicksal plagt – ihnen allen kommt man nur nahe, wenn man sehr, sehr angestrengt zwischen den Zeilen liest. + +Stärkster Satz +An fein orchestrierten Pointen mangelt es in diesem Buch nicht. Schöner sind die raren Erkenntnisse, die man als junger Mensch macht – und dann meist wieder vergisst. Zum Beispiel: "Wenn es unter dem Gips juckt, kann man sich nicht kratzen. Aber irgendwann hört es von selbst wieder auf." + diff --git a/fluter/wolkiger-verdacht.txt b/fluter/wolkiger-verdacht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..af87370ce17b36e20cf5a81e9691dba664c67188 --- /dev/null +++ b/fluter/wolkiger-verdacht.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Ihre Annahme: Bei heimlichen Sprühaktionen werden winzige Metallpartikel, Bariumsalze etwa oder pulverisiertes Aluminiumoxid, ausgebracht. Dies sei ein Fall von Geo-Engineering – die Sonneneinstrahlung soll vermindert und der Treibhauseffekt kompensiert werden. Chemtrails, so die Theorie, stoppen die Erderwärmung. An sich eine tolle Sache. Doch: Dahinter stecke die US-Regierung, die ihren industriefreundlichen Kurs nicht einer drohenden Klimakatastrophe opfern will. Es gibt auch andere Theorien um die künstlichen Wolken. Etwa dass die ausgestoßenen Gifte unfruchtbar machen würden, ältere Menschen vergiftet und Staaten damit erpresst würden. +Auch der Handy-Filmer Chris Bovey schürte den Eindruck, dass finstere Mächte an einem Komplott arbeiten. Nach der Landung, so gab er an, sei er acht Stunden von der Polizei verhört worden. Dabei sei auch sein Handy beschlagnahmt worden. Zufällig hatte er den Film jedoch auf seinen Laptop geladen. Den hätten die Behörden wiederum nicht beschlagnahmt. +Naturwissenschaftler, die mit Verschwörungstheorien wenig am Hut haben, kommen zu ganz anderen Ergebnissen: Chemtrails würden die Erde nicht kühler machen. Im Gegenteil: Sie würden sie sogar eher erwärmen. Denn die Partikel in den künstlichen Wolken sorgen für Infrarotemissionen und damit für eine Wärmestrahlung, die die umgebende Luft aufheizt. Auch das Argument, dass es früher viel weniger Kondensstreifen am Himmel gegeben habe, greift zu kurz. Der Flugverkehr hat sich in den vergangenen Jahren vervielfacht. In Deutschland alleine gibt es jährlich rund 2,5 Millionen Flugbewegungen, also Starts und Landungen – etwa viermal mehr als noch vor 30 Jahren. +Aber was ist mit den komischen Formen der Kondensstreifen? Sie sind unterbrochen, mal dick, dann wieder dünn. Und sie bleiben oft so lange am Himmel. Die Luftmassen in dieser Höhe sind nicht homogen, erklären Meteorologen. Temperatursprünge von zehn Grad und Windsprünge von 100 Stundenkilometern sind in den oberen Luftschichten normal. Das verzerrt die Form der Wolken. Ganz zu schweigen von den Kosten, die solche heimliche Sprühaktion bedeuten würde. +Chris Bovey glaubte zu keinem Zeitpunkt, die große Weltverschwörung aufgedeckt zu haben. Er wollte mit seinem Video nur einen Witz machen, sagte er später. Die mysteriöse Flüssigkeit, die aus dem Flügel austrat, war nichts anderes als Kerosin. Das hatte einen einfachen Grund. Die Maschine musste kurz nach dem Start in Buenos Aires in São Paulo notlanden. Um eine sichere Landung zu gewährleisten, musste das Gewicht der vollgetankten Maschine reduziert werden. Deshalb wurde der Treibstoff ausgestoßen. Ein Standart-Procedere in so einem Fall. Als Bovey schließlich zugab, die Geschichte mit der Polizei erfunden zu haben, gab es nicht nur wüste Verwünschungen, es kursierten wieder neue Verschwörungstheorien durchs Netz: Wieviel Geld hat Bovey bekommen, dass er die Geschichte nun dementiert? +Felix Denk hat vor allem ein ästhetisches Verhältnis zu Wolken. Er schaut sie wahnsinnig gerne an. Insofern war er beruhigt, dass das Umweltbundesamt, der Deutsche Wetterdienst, das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt, aber auch die Weltgesundheitsorgansiation nichts von vergifteten Wolken wissen. diff --git a/fluter/womit-hab-ich-das-verdient.txt b/fluter/womit-hab-ich-das-verdient.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..abecabc1b1c7ee3c8d191ac6283805b22cebb633 --- /dev/null +++ b/fluter/womit-hab-ich-das-verdient.txt @@ -0,0 +1 @@ +"Ich hatte das Ausmaß des Reichtums meiner Familie nicht verstanden ", sagt Jamie Johnson, "über so etwas wurde bei uns zu Hause nicht gesprochen." Er aber wollte reden, nicht nur mit seinen Eltern, auch mit anderen Kindern reicher Eltern, nachdem er sich nur in seinem Freundeskreis umsehen musste, der voll davon war: Söhne und Töchter, die auf Edelinternate gingen, die jede Gegend der Welt bereist hatten, Rennpferde besaßen und in Kinderzimmern mit Blick auf den Central Park groß geworden waren. Und von denen die meisten nicht sonderlich glücklich wirkten. Jamie wollte, dass seine Freunde über ihr Leben reden – vor der Kamera. Also drehte er einen Dokumentarfilm über sie: "Born Rich" wurde vom US-Fernsehsender HBO ausgestrahlt und für mehrere Auszeichnungen nominiert. Wie ist es, wenn man mit dem Rolls-Royce von der Schule abgeholt wird? Wenn einem der Vater mit 14 erzählt, dass der Familie die New Yorker Central Station gehört und zum 18. Geburtstag einen Stapel Papiere auf den Tisch legt, aus denen hervorgeht, dass man sich alles kaufen kann. Den meisten von Jamies Freunden ist anzumerken, wie schwer es für sie ist, auf diese Fragen Antworten zu geben. Sie haben Angst davor, als faule Schnösel zu gelten, die ihr Erbe sinnlos verprassen und die Wut derer auf sich ziehen, die weniger haben. "Als man in der Schule erfuhr, wer ich war, hat man mich erstmal rumgeschubst, und als ich völlig fertig nach Hause kam, hat das mein Vater nicht mal gemerkt", erzählt Josiah Hornblower aus der Vanderbilt- Familie, denen früher die Eisenbahn in den USA gehörte. S. I. Newhouse IV wiederum, dessen Vater ein wahres Zeitschriftenimperium gehört (Vanity Fair, GQ, New Yorker), erinnert sich, wie er die Kinder beneidete, die in den Sommerferien ihr eigenes Geld verdienten. "Geld hält die Kinder von Entdeckungen ab", sagt ein anderer Berufs-Sohn im Film – andere berichten von Drogen, die sie gegen die Langeweile ihres Lebens nahmen.Vielleicht umtrieb das auch Dash Snow, dessen Familie einst mit Ausrüstungen für Erdölbohrungen reich wurde, und der schon früh zuhause wegrannte und auf der Straße lebte. Als Künstler verteilte er schließlich seinen Samen auf Zeitungen und zeigte sich am liebsten mit Totenköpfen und Stinkefinger. Mit seiner radikalen Attitüde gefiel er ironischerweise dem Grossbürgertum umso besser: Das Wall Street Journal jedenfalls sprach 2006 eine Investitionsempfehlung für seine Werke aus. Viel Zeit blieb ihm da nicht mehr. Mit 27 starb Dash in diesem Juli an einer Überdosis Heroin. "Er hatte auch ein sehr schwieriges Leben zu bewältigen. Die Drogen stellten für ihn normalerweise eine Art da, mit seinem Leben fertigzuwerden", sagt ein enger Vertrauter. Jamie Johnson hat mit Drogen nichts am Hut. Es scheint, als habe er mit der Filmerei etwas Besseres gefunden, um seinem Leben als Erbe einen Sinn zu geben. Nach "Born Rich" machte er mit "The One Percent" einen Film über die Ungerechtigkeit, dass in den USA einem Prozent der Bevölkerung 40 Prozent des Vermögens gehört. "Ich habe zwar keine eindeutigen Antworten auf alle meine Fragen gefunden, aber gemerkt, wie wichtig es ist, Fragen zu stellen", sagt er. Klingt auf jeden Fall spannender als das Sammeln alter Landkarten. diff --git a/fluter/wonder-woman-feminismus.txt b/fluter/wonder-woman-feminismus.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..5001bb175892633af416d8c71e4097e4788f5ca0 --- /dev/null +++ b/fluter/wonder-woman-feminismus.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Und dass Wonder Woman nun erstmals auf der großen Leinwand kämpft, ist durchaus ein kleines – ja: Wunder. Immerhin ist der Film der erste Blockbuster mit einer Superheldin als Protagonistin und von einer weiblichen Regisseurin, Patty Jenkins. Die letzten Comic-Verfilmungen mit weiblichen Hauptrollen, Catwoman und Elektra, floppten gleichermaßen bei der Kritik und an der Kasse (außerdem gelten beide nicht als Superheldinnen). + +Lange sah es aus, als würde Wonder Woman nie auf die Leinwand kommen. Seit 1996 war der Film in Planung, immer wieder wurde er verschoben. Regisseure und Regisseurinnen kamen und gingen, Hauptdarstellerinnen ebenso. Schließlich wurde im Herbst 2015 angefangen zu drehen. +Damit begannen auch die Debatten. Die Hauptdarstellerin Gal Gadot wurde in einem Fernsehinterview gefragt, ob sie die richtigen Brüste für den Job habe. Eine Frage, die natürlich gar nicht geht – auch nicht für eine Amazone. Dann gab es einen Shitstorm, weil es in einer Kampfszene so aussah, als seien Gadots Achselhaare nachträglich retuschiert worden. Letzten Herbst sorgte Greg Rucka für Aufsehen, der für DC Comics die Wonder-Woman-Geschichten schreibt. Er sagte, dass die Prinzessin aus Themyscira bisexuell sei – was ja nur logisch wäre, immerhin wohnen auf dem feministischen Inselparadies keine Männer. Und zu einem echten Paradies gehört nun mal auch das Liebesglück. Aber würde das auch im Film vorkommen? (Spoiler: nein). Und schließlich platzte noch die News von der Konkurrenz von Marvel rein, laut der sich Hefte mit weiblichen Protagonistinnen schlechter verkaufen würden. Die Sorge, dass "Wonder Woman" floppen könnte, war da schon groß. +Aber unberechtigt. Das erste Wochenende in den USA spielte laut Variety über 100 Millionen Dollar ein. Damit gilt "Wonder Woman" als Hit und schlug Thor, Captain America und Doctor Strange. +Wonder Woman zieht nicht nur das Interesse der Kinobesucher auf sich, sondern auch der Wissenschaft. Sie sei der Missing Link des Feminismus des 20. Jahrhunderts, argumentiert die Harvard-Historikerin Jill Lepore in ihrem Buch "The Secret History of Wonder Woman". Die Amazonen-Prinzessin verbinde die erste Generation Feministinnen Anfang des 20. Jahrhunderts, die etwa das Frauenwahlrecht erkämpften, mit der Frauenbewegung, die nach 1968 losging und für eine gesellschaftliche Gleichstellung stritt. +Ihr Erfinder William Moulton Marston war Feminist, der viele Ideen für die Comics aus der damaligen Frauenbewegung bezog. Amazonen etwa waren ein beliebtes Motiv in der damaligen utopischen feministischen Literatur. Genau wie die Insel, auf der nur Frauen leben. Im Roman "Herland" (1915) vor von Charlotte Perkins Gilman ist die eingeschlechtlichen Fortpflanzung, die Parthenogenese, ein Thema, das auch in Wonder Woman, die aus Lehm geformt ist, vorkommt. Das Schlagwort der Geburtenkontrolle entwickelte damals politische Schlagkraft. Die Krankenschwester und Frauenrechtlerin Margaret Sanger machte sich für die Idee stark, sie war mit Marston verwandt. + +Gleichzeitig lebte Marston ein nicht unbedingt normatives Familienmodell: Er war mit zwei Frauen zusammen, mit denen er vier Kinder aufzog. Diese polyamouröse Konstellation kostete ihn zwar seine akademische Karriere, gab ihm aber den Freiraum, Comics zu schreiben. Dabei waren auch seine seine beiden Frauen, Elizabeth Holloway Marston und Olivie Byrne, beteiligt. Letztere war auch eine Inspiration für den Look von Wonder Woman, weil sie gerne große Armreifen trug. Das Lasso wiederum, mit dem Wonder Woman den Gefesselten zwingt, die Wahrheit zu sagen, bezieht sich auf eine andere berühmte Erfindung Marstons: den Lügendetektor. +Als Marston 1947 starb, änderte das auch das Leben von Wonder Woman. Nachfolgende Autoren der Serie schrieben sie um. Von Empowerment war da nicht mehr viel übrig. 1943 kandidierte sie in einem Comic noch als US-Präsidentin. In den 1950er-Jahren arbeitete sie als Babysitterin, Model und Schauspielerin – wenn sie denn arbeitete. Es dauerte bis in die 1970er-Jahre, dass Wonder Woman von den Feministen als eine von ihnen wiederentdeckt wurde. Und bis 2017, dass sie endlich auch im Popcorn-Kino kämpfen darf. Zu tun gibt es nach wie vor genug für sie. +"Wonder Woman", Regie: Patty Jenkins, mit: Gal Gadot, Chris Pine, Robin Wright, David Thewlis, USA 2017, 141 Min. +Titelbild: picture alliance / AP Photo diff --git a/fluter/worauf-schauen-chefs.txt b/fluter/worauf-schauen-chefs.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d848e5a07ea717cd1dc04f8efcda2338b2cab329 --- /dev/null +++ b/fluter/worauf-schauen-chefs.txt @@ -0,0 +1,20 @@ +Klaus Nagel ist Personalchef des weltweit renommiertenDeutschen Herzzentrumsin Berlin. Zusammen mit seiner Stellvertreterin Regina Schäfer kümmert er sich um die Belange der 1.100 Mitarbeiter des Krankenhauses. Im Jahr gehen zwischen 500 und 1.000 Bewerbungen ein, auch die für die gut sechzig Ausbildungsplätze im medizinischen Bereich. +Schon beim allerersten Schritt passieren einigen Bewerbern Fehler – wissen die Personaler vonHerzzentrumundCaritas. +Da geht es zunächst um Äußerlichkeiten: "Unsauberkeit macht einen schlechten Eindruck – beispielsweise ein Kaffeefleck auf den Bewerbungsunterlagen", meint Alexander Müller-Benz. "Nicht so ansprechend ist, wenn jede Seite in einer einzelnen Hülle verpackt ist", erzählt Klaus Nagel. Genauso ginge es weder, die Bewerbung mit dem Briefkopf des Noch-Arbeitgebers einzuschicken, noch, dessen Frankiergerät dafür zu nutzen. Der optische Eindruck ist eben der erste und kann deshalb schon entscheidend sein. +Außerdem muss die Bewerbung übersichtlich gegliedert sein, meint Müller-Benz: "Wenn der Lebenslauf Kraut und Rüben ist und die Stationen wegen einer schlechten Gliederung durcheinander erscheinen, vermittelt das sofort den Eindruck von Unordnung." Wichtig ist das vor allem, wenn man bedenkt, wie wenig Zeit Personalchefs für eine Bewerbung haben. Klaus Nagel kennt Fälle mit 600 Bewerbungen auf eine Stelle: "Im ersten Durchgang brauche ich pro Bewerbung 90 Sekunden, da checke ich die angefragten Punkte ab. Wenn viele Bewerbungen eingehen, ist eine Einzelne da ganz schnell draußen." +Das kennt auch Alexander Müller-Benz und meint: "Es ist gut, wenn ich bei einer Bewerbung nicht lange suchen muss, um die wichtigsten Dinge zu erfahren, sondern sie schnell erkennbar sind." Deshalb sollten bestimmte Informationen auch nicht fehlen, so Müller Benz. Nach den persönlichen Angaben seien das vor allem Schulbildung, Abschlüsse und Berufserfahrung. Bei Letzterer ist es empfehlenswert mehr als Arbeitgeber und Position zu nennen: "Es sollte in drei oder vier Stichpunkten dargestellt werden, was der Inhalt der Tätigkeit war", rät er. +Lücken im Lebenslauf machen Personaler misstrauisch. Man dürfe nicht versuchen, Dinge zu verheimlichen, sondern sollte sie erklären können, ist das allgemeine Credo. Nach einer solchen Lücke hätte sie neulich einen Bewerber im Gespräch gefragt, erzählt Regina Schäfer. "Da stellte sich heraus, dass derjenige in der Türkei als Animateur gearbeitet hat – was er auch sehr gut begründen konnte." Der Bewerber hatte es wahrscheinlich aus Unsicherheit, welchen Eindruck dieser Job machen könnte, weggelassen. Seine Ehrlichkeit im Gespräch hat sich dann aber ausgezahlt: "Wir haben ihn eingestellt", so Schäfer. +Wichtig, erklärt Klaus Nagel, seien für ihn die Zeugnisse – möglichst mehrere, wenn vorhanden. Erst daraus ergebe sich ein deutliches Gesamtbild. Vortastende Briefe, in denen Bewerber anbieten, auf Nachfrage eine komplette Bewerbungsmappe einzuschicken, seien zu aufwändig, so Nagel: "Wir wollen ja nicht erst eine große Korrespondenz starten." +Beim Bewerbungsfoto sind Innovationen und Kreativität eher nicht gewünscht: "Weil der erste Eindruck einer Person immer wichtig ist, sollte das Foto nicht am Strand oder in der Disco aufgenommen sein. Das Foto sollte eine gewisse Seriosität zur Geltung bringen. An einem schlechten Foto sieht man bereits, welchen Stellenwert die Bewerbung für den Bewerber hat", erläutert Alexander Müller-Benz. Dabei muss ein gutes Foto nicht teuer sein. Man sollte einfach jemanden aus dem persönlichen Umfeld mit einer Digitalkamera fragen, gibt Klaus Nagel als praktischen Tipp mit auf den Weg. +Im Anschreiben der Bewerbung sollte man auf die Ausschreibung Bezug nehmen und deutlich machen, warum man sich auf die Stelle bewirbt und dafür geeignet ist. Eine 08/15 angefertigte Bewerbung erkennt der Profi sofort, wie Klaus Nagel berichtet: "Ich frage mich bei Bewerbungen manchmal ganz bewusst: Könnte diese Bewerbung auch so an ein anderes Unternehmen gerichtet sein? Es ist schlecht, wenn die Bewerbung auch an ein Unternehmen gerichtet sein könnte, dass Schokolade produziert. Ein Stück besser ist der Eindruck, dass die Bewerbung an verschiedene Krankenhäuser gerichtet sein könnte. Wenn die Bewerbung gut ist, dann geht sie konkret auf die Annonce und das Herzzentrum ein." +Zum Schluss gilt für die gesamte Bewerbung: korrekte Rechtschreibung und Grammatik sind eine Grundvoraussetzung – im Zweifelsfall also noch einmal jemanden über Lebenslauf, Anschreiben und sonstige Texte blicken lassen. +Bei dieser ersten Hürde gilt es, zu überzeugen: "Man muss sich interessant darstellen, sodass der Leser denkt: Ach, den würde ich gerne mal sehen", erklärt Klaus Nagel die Formel einer erfolgreichen Bewerbung, "Ich kann nur jedem raten, Mühe zu investieren." +Auch dabei, so lehrt die Erfahrung unserer Experten, geht noch viel zu viel Vermeidbares schief. "Der Klassiker: Wenn jemand zu spät kommt und nicht anruft, das erweckt einen negativen Eindruck. Es kann ja passieren, dass man sich aus guten Gründen verspätet, aber dann sollte man darauf achten, dass man kurz Bescheid gibt", erzählt Alexander Müller-Benz. Auch Klaus Nagel meint: "Tugenden wie Pünktlichkeit und Findigkeit sind gefragt." +Anstelle des Bewerbungsfotos tritt beim Gespräch die Kleidung. "Durchaus gepflegt, nicht super gestylt" müsse man auftreten, erklärt Nagel. Gut geputzte Schuhe machten da besseren Eindruck als welche, die nach einer Wanderung durch das Berliner Umland aussehen. Alexander Müller-Benz erläutert: "Wenn ich auf einen Geburtstag eingeladen bin, ziehe ich mich ja auch besser an, als wenn ich daheim auf dem Sofa liege. Ich bringe damit eine Wertschätzung dem Gesprächspartner gegenüber zum Ausdruck." +Für die Personaler kommt es vor allem darauf an, sich ein Bild von der Persönlichkeit des Bewerbers zu machen. Dabei sei es vor allem wichtig, erklärt Müller-Benz, nicht in Extreme auszuschlagen: Weder sehr schüchtern und introvertiert noch zu überzeugt von sich selbst sollte man auftreten: "Der goldene Mittelweg muss es sein." Auch Regina Schäfer hat solche Erfahrungen: "Ein Bewerber hat im Gespräch bei uns rhetorisch sehr brilliert, sich gut selbst dargestellt. Trotzdem haben wir uns dann für den Zweitplatzierten entschieden, der ruhiger aufgetreten ist und fachlich noch nicht so weit war, weil er besser ins Team passte." Das zeigt, dass der objektiv beste Bewerber subjektiv für das Unternehmen nicht immer der beste sein muss. +Tipps für das Gespräch gibt es auch noch: "Dass das Handy klingelt, geht gar nicht", warnt Alexander Müller-Benz. Klaus Nagel rät ab von Kritik über den alten Arbeitgeber: "Da fragt man sich dann: Wird der auch mal genauso über uns sprechen? Inwieweit ist er reflektionsfähig oder sucht er die Schuld vielleicht immer bei anderen?" +Weil all die Bedenken vielleicht nervös machen, zum Schluss noch guter Zuspruch: Alexander Müller-Benz aus der Caritas meint, richtige Vorbereitung sei das A und O. Den Lebenslauf gut kennen, ruhig auch mal Freunden vortragen als Übung. Außerdem sollte man sich über das Unternehmen im Internet informieren. Bei der Caritas herrscht beispielsweise eine katholische Grundordnung, was im Zweifelsfall bedeutet, dass Atheisten, nach einer Scheidung Wiederverheiratete oder Menschen, die in einer homosexuellen Partnerschaft leben, nicht als Erstes gefragt werden. +Wenn die mangelnde Vorbereitung im Gespräch deutlich wird, bleibt Alexander Müller-Benz danach oft ratlos zurück: "Bei jungen Menschen frage ich mich oft, wie es kommt, dass sie so leichtfertig Chancen vertun?" +Im Deutschen Herzzentrum betont Klaus Nagel, dass das Gespräch menschlich bleiben soll. Deshalb empfiehlt er, in sich zu vertrauen und bei sich selbst zu bleiben: "Es macht Sinn, sich im Vorstellungsgespräch nicht zu verstellen. Denn selbst wenn man es schaffen würde, sein Gegenüber mit etwas anderem zu täuschen, dann muss man ihn auch künftig im Job täuschen, sonst enttäuscht man ihn." +Wer kurz vor Bewerbungen steht, sollte sich von den vielen Tipps und Hinweisen aber nicht einschüchtern lassen. Es gilt, sich mit Mut, Sorgfalt und Zuversicht um den Traumjob zu bewerben. Dann führen Gewissenhaftigkeit bei der Anfertigung der Bewerbung und aufrichtiges Interesse für einen bestimmten Beruf früher oder später zum Erfolg. Wer von sich selbst überzeugt ist, schafft es dann nämlich auch, andere für sich einzunehmen. +Karoline Kuhla schreibt für Magazine und Zeitungen. Sie lebt in Berlin. diff --git a/fluter/words-dont-come-easy.txt b/fluter/words-dont-come-easy.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..48bf9836673b96391d25f1dbd51d06c5fdbbf306 --- /dev/null +++ b/fluter/words-dont-come-easy.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Ich kenne gar keinen richtigen Stotterer. Dafür begegnen mir oft andere Stockende, meistens Jungs wie ich, darunter viele mit kreativen Berufen. Ob ich an der Schule oft gehänselt wurde? Eigentlich nicht. Weil ich andere Sachen gut konnte und darum respektiert wurde. Ich war in der Hochbegabtenförderung und habe beim Sport viele Wettkämpfe absolviert. Ich kenne niemanden, der den Auslöser oder Grund für sein Stocken kennt, das meist im Kindergartenalter beginnt. Ich war vier Jahre alt, aber ein einschneidendes Erlebnis gab es damals nicht in meinem Leben. Zumindest keins, von dem ich wüsste. Die Wissenschaft bezeichnete das als idiopathisch – also ohne fassbare Ursache. Letztlich erscheint mir die Wissenschaft ahnungs- und ratlos. Als Kind haben mir die verschiedenen Therapieansätze wenig geholfen, ich fand sie manchmal ziemlich nervig. +Ich weiß nicht, was mit mir los ist, aber ich habe ein Gefühl dafür bekommen. So hängt mein Redefluss sehr von meiner Stimmung ab. Mein stockendes Sprechen ist mir unangenehm, ich habe Angst davor. Doch je größer die Scham, desto stockender spreche ich. Es ist eine Art sich selbst erfüllender Prophezeiung, ein Teufelskreis auch. Mein Sprachfehler hat viel mit Selbstbewusstsein und Selbstwert zu tun. Vor Freunden fällt es mir leicht, die große Klappe zu haben, vor allem nach einer vollbrachten Leistung. Diesen Stolz kennt wohl jeder, genauso wie die Unruhe oder Anspannung, durch die man kleinlaut wird. Anerkennung und Akzeptanz sind also die besten Garanten dafür, dass ich flüssig spreche. Wahrscheinlich stört mich mein Stocken sowieso mehr als manchen meiner Gesprächspartner, die schon aus Höflichkeit oft Geduld mit mir haben. Dabei fühle ich mich am besten, wenn sie mir dann doch ins Wort fallen. Denn das heißt ja, dass sie mir gut zugehört haben. diff --git a/fluter/work-life-balance-comic-franz-rezension.txt b/fluter/work-life-balance-comic-franz-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a86aa20a3cf9eb765cd8ee61d536d9d1c9f712bb --- /dev/null +++ b/fluter/work-life-balance-comic-franz-rezension.txt @@ -0,0 +1,10 @@ + + +Hauptfigur Nummer drei, Rex, ist Programmierer, Asthmatiker und mit der Miete im Rückstand. Er sollte für Agileal eine virtuelle Welt für Psychotherapiesitzungen bauen. Nur leider wird ihm nach monatelanger unbezahlter Vorarbeit in einem verkrampft-lockeren Meeting eröffnet, dass man das Ganze nun doch lieber "inhouse" machen will. +Schlechte Bezahlung, befristete Verträge,die Frage wie "bullshittig" der eigene Job eigentlich ist:Das sind Themen, mit denen sich viele, vor allem jüngere Menschen heute rumplagen – und die auch der Autorin von "Work-Life-Balance" nicht fremd sind: Franz, Jahrgang 1984 und wohnhaft in Berlin, macht schließlich nicht nur Comics (davon kann man in Deutschland nur in den allerseltensten Fällen leben), sie ist auch Illustratorin und hat einen Lehrauftrag an der Kunsthochschule Kassel. Die Patchwork-Arbeitsbiografien ihrer Protagonist:innen stattet Franz dabei mit sehr Gegenwärtigem aus: Die Figuren schauen Marie-Kondo-Aufräum-Sendungen, essen Poke Bowls, trinken georgischen Naturwein und inszenieren sich in Morgenroutine-Videos.Auch Lieferdienste mit quadratischen Rucksäckenund wie Kinderspielplätze anmutende Bürolandschaften kommen vor. +Diese Versatzstücke sind nicht unbedingt originell, zum Teil gar hart an der Klischeegrenze, und dennoch gelingt es Franz, daraus eine kritische und gleichzeitig humorvoll-leichte Geschichte zu formen. Ihr Zeichenstil ist dabei wortwörtlich comichaft: Die Nasen sind knubbelig, die Augen rund, die Hände oft klobig, die Gliedmaßen schlauchartig. Dabei nimmt sich Franz immer wieder den Raum für Details in Großaufnahme und dafür, winzige Handlungen über mehrere Einzelbilder zu strecken – etwa wenn sich die Therapeutin die Hände eincremt und so die ganze Zwanghaftigkeit der Figuren zum Ausdruck bringt. + + +Es ist dieser Sinn für das Nebensächliche, Absurde, der "Work-Life Balance" auszeichnet und seinen Hang zum Surrealen noch verstärkt. Der findet sich auch in zahlreichen Rückblenden- und Tagtraum-Sequenzen sowie Dialogen ("Pantoffeln?" – "Wir sind ein schuhfreies Office") und gipfelt in der sphinxhaften Dr. Sharifi. Bei ihren Sitzungen trägt die wunderliche Therapeutin einen Jumpsuit, glotzt herrlich ignorant in ihr Handy, futtert Chips oder erzählt von ihren eigenen Problemen – und gibt ihren Patient:innen am Ende einfach irgendwelche Tabletten. Sind sie schließlich wieder weg, macht Dr. Sharifi Yoga oder meditiert. +Sie, die Älteste, hat ihre Work-Life-Balance gefunden. Es gibt also noch Hoffnung. +"Work-Life-Balance" von Aisha Franz (256 Seiten, 29 Euro) erscheint im Reprodukt-Verlag. diff --git a/fluter/work-life-balance-wenn-ich-das-schon-hoere.txt b/fluter/work-life-balance-wenn-ich-das-schon-hoere.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..29aa24a585cbf78b30706a79e575ff6aa41135a3 --- /dev/null +++ b/fluter/work-life-balance-wenn-ich-das-schon-hoere.txt @@ -0,0 +1,31 @@ +Thomä: Familie ist der Kern der Gesellschaft, in dem etwas Besonderes passiert: Alte und Junge leben zusammen, die einen treten auf, die anderen treten ab. In dieser Keimzelle steckt eine ungeheure Dynamik. +Im Gegensatz zu den Freunden kann man sich seine Familie nicht aussuchen. Streiten sich Kinder deshalb so oft mit ihren Eltern? +Die Eltern kann man sich nicht backen. Aber dass man nicht alles selbst bestimmen kann, ist gar nicht so schlecht. In der Familie muss ich nicht dauernd einen unübersichtlichen Statuskrieg führen, nicht dauernd stark sein und mich ständig behaupten. +Augenblick mal. Jugendliche streiten sich doch ständig mit ihren Eltern über die Rollen in der Familie. Zum Beispiel darüber, ob man noch ein Kind ist, das sich alles sagen lassen muss. +Es gibt ja zwei Seiten der Medaille. Auf der einen Seite ist da ein tiefes Gefühl von Verbundenheit. Wenn es einem richtig dreckig geht – dann gibt es wenige Beziehungen, die so verlässlich sind wie die familiären. Aber gerade weil man so vorbehaltlos bejaht wird, gibt es dann auch wieder furchtbare Enttäuschungen. Weil man im Konfliktfall denkt: Gerade die müssten mich doch verstehen. Weil die emotionale Abhängigkeit so groß ist, ist auch die Verletzung viel größer. Das kennt man außerhalb der Familie nur bei Liebesgeschichten. Da ist man auch manchmal himmelhochjauchzend und dann wieder zu Tode betrübt. +Wie wichtig sind denn Reibereien in der Familie? +Reibung erzeugt Wärme – eben Reibungswärme. Wenn man in der Schule oder am Arbeitsplatz Zoff hat, wird es kalt um einen herum, ungemütlich. Wenn es in der Familie Streit gibt, ist das oft ein Zeichen, dass es keine Gleichgültigkeit gibt. Da macht sich also jemand Gedanken um einen. Es gibt auch Familien, wo jeder macht, was er will. Die Eltern arbeiten den ganzen Tag, die Kinder backen sich eine Pizza auf. Das ist heikel, weil die Familie ihren Sinn und Zweck verliert. Da schleicht sich in der Tat Kälte ein. +Kann man es nicht auch tolerant nennen? Jeder macht sein Ding. +Für mich ist das Toleranz aus Bequemlichkeit – dass man also den anderen machen lässt, sich aber auch gar nicht für ihn interessiert. Mir geht diese partnerschaftliche Lesart auf den Keks. Damit tun die Eltern so, als wären sie die Kumpel der Kinder. Nach dem Motto: Ich lebe mein Leben, du deins. Das mag okay sein, wenn die Kinder 30 sind, aber davor sollte man die Beziehung nicht zu einer unter vielen machen, die so ähnlich ist wie eine Freundschaft. +Sind nicht die meisten Kinder froh, wenn sie von den Eltern in Ruhe gelassen werden? +Das glaube ich nicht. Die vermissen manchmal klare Ansagen, auch wenn sie die im ersten Moment nicht verstehen. Ich bin absolut gegen so eine faule Entspannungspolitik in der Familie. Man kennt sich nicht, wenn man nicht gemeinsam Konflikte durchsteht. Erst knifflige Situationen schweißen zusammen. +Es scheint so zu sein, dass die Jugendlichen viel weniger gegen ihre Eltern rebellieren als früher. Erlahmt der Widerstandsgeist? +Die momentane Stimmungslage ist verwirrend. Es gibt Befunde, dass das Band zwischen den Generationen lockerer wird. Dass sich Jugendliche an Gleichaltrigen orientieren und ihnen die Eltern egal sind. Auf der anderen Seite sagen viele Kinder, dass sie ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern haben und gar nicht ausziehen wollen. +Trägt zu dieser Verwirrung auch bei, dass Eltern nicht erwachsen werden wollen und sich zum Beispiel wie Jugendliche anziehen? +Da fehlen natürlich Vorbilder, wenn die notwendigen Unterschiede zwischen den Generationen allmählich verschwinden. Als ich in der Pubertät war, fühlte ich mich zwar oft ganz toll, aber tief in mir drin wusste ich doch, dass mit mir nicht alles stimmte, dass ich noch unfertig war, mich noch entwickeln musste. Heute haben Jugendliche das Gefühl, dass sich eine Gesellschaft im Jugend- wahn nach ihnen richtet. Das führt nicht nur zu einer Art Selbstgefälligkeit, sondern auch zu Ent- täuschung. Ich vergleiche das immer mit einer Bergtour. Als Jugendlicher befindet man sich am Fuß des Berges und ist gespannt auf den Gipfel. Und dann kommen einem die Erwachsenen ent- gegen auf ihrem Rückweg vom Gipfel und erzählen, dass sich der Aufstieg nicht lohnt und sie lieber wieder dahin zurückkehren, wo die Jugendlichen sind. Das ist doch schlimm. +Viele Kinder haben schon die zweite Stiefmutter oder den dritten Stiefvater. Trotzdem wünschen sich die meisten Jugendlichen später selbst eine intakte Familie. Führen die vielen Scheidungen zur Sehnsucht nach einem fast kleinbürgerlichen Idyll? +Wenn die aus den Patchworkverhältnissen eine heile Familie wollen – bedeutet das dann, dass sich die anderen aus den heilen Familien nach dem wilden Durcheinander sehnen? Das halte ich für Unsinn. Wir träumen doch alle von der großen Liebe, vom familiären Frieden. Den kann es ja auch mit den Stiefeltern geben. +Bei den 68ern hieß es, dass auch die nach außen intakten Familien kleine Höllen sind. Dass hinter den Gardinen Gleichgültigkeit herrscht und grenzenloser Frust. Deswegen ist man ausgezogen, die Menschen davon zu befreien. +Und heute gibt es das große Durcheinander, es existieren ganz viele Lebensformen nebeneinander. Das halte ich aber nicht für problematisch. Das wird es nur, wenn es um die Familienpolitik geht: Welches Familienmodell will man eigentlich fördern? +Sagen Sie es uns. +Man kann ja nur eines mit Bestimmtheit sagen: Der Staat will, dass die Menschen mehr Kinder bekommen, schon aus wirtschaftlichen Gründen. Weil er sonst nicht weiß, wer für die Alten später mal die Rente zahlen soll. Für dieses Ziel gibt er irrsinnig viel Geld aus, mehrere Milliarden. Doch das Ergebnis ist gleich null. Seit Jahren ändert sich nichts. Die Deutschen bekommen nicht mehr Kinder. Und weshalb? Weil widersprüchliche Signale ausgesendet werden. Auf der einen Seite gibt es Unterstützung, wenn man zu Hause bleibt und sich um die Kinder kümmert, dann werden mehr Kitaplätze versprochen. Frauen, die arbeiten und Kinder bekommen wollen, werden noch viel zu wenig gefördert. Viele warten also lieber, bis sie beruflich so etabliert sind, dass sie keine Angst haben müssen, nach fünf Jahren Kinderpause wieder einen Job zu finden. Es ist doch sehr auffällig, dass in Frankreich und Skandinavien, wo Frauen mehr staatliche Unterstützung bei der Kindererziehung erhalten, die Geburtenrate viel höher ist. In Deutschland müssen Frauen nach wie vor ihre beruflichen Ambitionen zurückstellen. +Viele Paare trennen sich, wenn sie Kinder bekommen haben. Frisst der Alltag die Liebe? +Früher hat der Mann seine Frau irgendwann Mutti genannt, da wusste man: Es ist eigentlich vorbei, auch wenn man zusammenbleibt. Es gibt keine Gemeinsamkeit jenseits der Tatsache, dass man zusammen Kinder hat. Auch wenn sich die Paare heute nicht mehr Mutti und Vati nennen würden, wird man doch oft aufgesogen vom Alltag. Kinder sind vereinnahmend und zeitaufwendig, sodass sich manche Eltern irgendwann fragen, wann sie eigentlich das letzte Mal zusammen im Bett waren. Dem Kinderhaben ist das Normale abhandengekommen. Ich kenne Eltern, die wochenlang darüber grübeln, in welche Schule sie die Kinder schicken. Das wird natürlich mühsam, zumal das ja nur eine Entscheidung unter vielen ist. Ich plädiere für mehr Gelassenheit und Konzentration auf das Wichtige. Sich um die Kinder kümmern heißt einfach: da sein, wenn sie einen brauchen, quatschen, Vorbild sein. Der Rest wird sich zeigen. Das Kind wird es schon schaffen. +Wie kommt es, dass Eltern immer älter werden? +Es gibt so eine Art Verschiebebahnhof der Wünsche: Der Großteil der Menschen will eine Familie, aber viele sagen auch, dass ihnen der Beruf wichtig ist. Dann arbeiten sie erst einmal, weil sie denken, dass sie ja immer noch eine Familie gründen können. Ich entscheide mich also nicht bewusst gegen die Familie, ich schieb's nur raus. Das ist sehr bequem, weil man sich nicht entscheiden muss. Wenn ich aber nur ein Kind bekommen will, wenn die Situation perfekt ist, bekomme ich vielleicht nie eins. +Vielleicht will man auch nicht, weil das Land nicht wirklich familienfreundlich ist. Die Menschen strahlen einen ja nicht gerade an, wenn man mit vier Kindern um die Ecke kommt. Und an manchen Spielplätzen stehen sogar Öffnungszeiten. +Stimmt. Da sind andere Länder familienfreundlicher. Zum Beispiel die USA, wo die Geburtenrate höher ist, obwohl für die staatliche Versorgung viel weniger Geld ausgegeben wird. Ich denke, dass man dort in Kindern eher neue Menschen sieht, die die Gesellschaft voranbringen. Die etwas machen, womit man noch nicht gerechnet hat. Das wird positiver aufgenommen als bei uns. +Halten wir mal fest: Früher war die Familie Erziehungsanstalt und ein Raum, der einem half, auch wirtschaftlich zu überleben. Heute scheint es eine Lebensform zu sein, in der sich die meisten zwei sehr emotionale Wünsche erfüllen wollen: Geborgenheit und Selbstverwirklichung. Klingt beides schwierig. +Bereits im Bürgertum haben sich starke Hoffnungen auf die Familie gerichtet. Nur beim Adel war das anders: Da gab es die Ehefrau und die Mätresse, also die biologische Reproduktion und das Emotionale. Es gibt bis heute in vielen Kulturen eine Entkopplung. In der bürgerlichen Welt hat man versucht, das zusammenzubringen. Wenn es gelingt, ist es besonders gut, wahrscheinlich toller als alles andere. Wenn es schiefgeht, liegt eben alles in Scherben. +Wie bekommt man denn die richtige Work-Life- Balance hin? +Wenn ich das schon höre. Ich hasse dieses Wort. Es heißt ja, dass ich nicht lebe, wenn ich arbeite, und umgekehrt. Okay, ich nehm's zurück. Wie bekommt man die Doppelbelastung in den Griff? Ich würde viel lieber von Doppelerfüllung sprechen, denn die Konstellation Familie/Arbeit hätte durchaus das Zeug dazu. Zufriedenheit im Job führt zu Zufriedenheit in der Freizeit. Umgekehrt kann man in der Familie Kraft tanken. Das muss jeder Einzelne erkennen, und die Politik muss die Möglichkeiten für diese Erkenntnis schaffen. diff --git a/fluter/wort-und-totschlag.txt b/fluter/wort-und-totschlag.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..024bfd4f62125eb5c97f547a72fd10de0017fadf --- /dev/null +++ b/fluter/wort-und-totschlag.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Der Steckbrief, mit dem das Anführungszeichen als Nazi zur Fahndung ausgeschrieben wurde, findet sich in Klemperers Buch "LTI" – die Abkürzung steht für "Lingua Tertii Imperii", lateinisch für "Sprache des Dritten Reichs". Es erschien zum ersten Mal 1947. Dieses "Notizbuch eines Philologen" beruht auf Aufzeichnungen, die der 1881 geborene Sprachwissenschaftler schon während der Nazizeit gemacht hatte. Heimlich. Weil solche Schriften für einen Juden das Todesurteil bedeutet hätten, wenn sie bei einer der Hausdurchsuchung durch die Gestapo gefunden worden wären. +Für Klemperer war die Beschäftigung mit der Sprache der Diktatur ein Kampf um seine wissenschaftliche Selbstachtung. Denn dem Dresdner Professor für Romanistik war von den Nazis nicht nur 1935 der Lehrstuhl entzogen worden – in "LTI" beschreibt er, dass schon vorher nur noch sehr wenige Studenten den Mut hatten, in seine Seminare zu kommen. Später war es ihm als Juden verboten, in Bibliotheken Bücher auszuleihen oder Zeitschriften zu abonnieren. Seine private Bibliothek ging verloren bei der Vertreibung aus dem Haus in Dresden-Dölzschen im Jahr 1940 und bei den Umzügen von einem "Judenhaus" zum anderen, wo man die wenigen überlebenden "Nicht-Arier" zusammenpferchte. Juden durften nur "jüdische" Bücher besitzen. Klemperer schildert, wie es eine Leidensgenossin schaffte, sogar ihre Ausgaben deutscher Klassiker zu behalten, indem sie deren Herausgeber bei der Gestapo als Juden "entlarvte". +Also musste Klemperer einen Forschungsgegenstand finden, der leicht zugänglich war. Aus dem Meer der Sprache fischte er sich die allgegenwärtigen Begriffe eines spezifischen Nazi-Deutschs heraus und verfasste ihre Steckbriefe. Berühmt ist der Abschnitt, in dem er die Umwertung des ursprünglich im 18. Jahrhundert auf religiöse Eiferer bezogenen Wortes "fanatisch" beschreibt: "Fanatique oder fanatisme sind Wörter, die von den französischen Aufklärern durchweg im äußersten Tadelsinn (...) angewandt werden." Doch bei den Nazis wird "fanatisch" zu einem positiven Attribut. Während der gesamten Ära des Dritten Reiches, so Klemperer, sei es "superlativisch anerkennendes Beiwort" gewesen: "Es bedeutet die Übersteigerung der Begriffe tapfer, hingebungsvoll, beharrlich, genauer: eine glorios verschmelzende Gesamtaussage all dieser Tugenden (...)." +Klemperer ist auch der erste, der nach dem Kriege über Wörter wie "gleichschalten" (im Sinne von "das gesamte öffentliche Leben auf Parteilinie bringen") oder "Weltanschauung" (als Ersatz für "Philosophie") oder "aufziehen" (in der Bedeutung "veranstalten", Goebbels spricht immer von "groß aufgezogenen Aktionen und Propagandakampagnen") schreibt. Aber der Wissenschaftler notiert auch Kulturgeschichtliches, das über die bloße Linguistik hinausgeht. So gibt es in "LTI" Beobachtungen und Gedanken über die Mode der germanischen Namen und über die Runenzeichen, die von 1933 bis 1945 in Gebrauch kommen – nicht nur bei der SS, sondern auch in Familienanzeigen, wo die aufwärts weisende "Fackel"-Rune den Geburtsstern und – nach unten gerichtet – das Todeskreuz ersetzte. +Klemperers "LTI" ist bis heute nicht nur eine herausragende historische Quelle und das Grundlagenwerk, mit dem die wissenschaftliche Erforschung der Nazis und ihrer Propagandasprache begann. Sie ist auch ein berührendes Zeugnis der Einsamkeit eines Überlebenden. Einsam ist Klemperer aus vielen Gründen: In den Judenhäusern ist er nicht nur vom gesellschaftlichen Verkehr und den akademischen Debatten abgeschnitten. Seine Hellhörigkeit trennt ihn sogar von den wohlwollenden Menschen, die ihn am Arbeitsplatz heimlich ihrer Solidarität versichern oder ihm etwas zu Essen zustecken – und dann trotzdem Floskeln und Wörter der Nazi-Propaganda ganz selbstverständlich herunterleiern, ohne es zu bemerken. Und er wird auch in einem ganz düsteren Sinne immer einsamer: In "LTI" beschreibt Klemperer, dass er die wenigen verbliebenen Bücher sehr häufig von anderen Bewohnern der Judenhäuser "geerbt" habe, die längst in die Vernichtungslager gebracht und ermordet worden sind. Vor diesem Schicksal schützte ihn bis zuletzt die Liebe seiner nichtjüdischen Frau Eva, die sich hartnäckig weigerte, in eine Scheidung einzuwilligen und stattdessen alle Leiden ihres als minderwertig eingestuften Mannes teilte, der zur Zwangsarbeit am Dresdner Güterbahnhof eingesetzt wurde. +Nie hätte sich der assimilierte Klemperer, der 1912 sogar zum Protestantismus übergetreten war, eine solche Barbarei vorstellen können. Er hatte für Deutschland im Ersten Weltkrieg gekämpft, hatte in Frankreich und Italien gelebt. Sein Jüdisch-sein spielte für ihn keine große Rolle: "Ich war meines Deutschtums, meines Europäertums, meines Menschentums, meines zwanzigsten Jahrhunderts so sicher." +Für Klemperer war die Erforschung der Nazi-Sprache nicht nur eine wissenschaftliche Beschäftigungstherapie, bei der er die Wörter wie bizarre Käfer bestaunte, die aufgespießt in einer Glasvitrine gesammelt lagen. Nein, er hielt die Begriffe auch für Erreger, die geholfen hatten, ein ganzes Volk mit dem Geist der Nazis zu infizieren – bis zur allgemeinen Entmenschlichung. All diese Wörter hat es schon vorher gegeben, aber "alles ist übernommen, und doch ist alles neu und gehört der LTI für immer an, denn es ist (...) ganz durchgiftet worden mit nazistischer Grundtendenz." +Deshalb war Klemperer, der nach dem Krieg zurück nach Dresden zog, erschrocken über jedes Relikt der LTI, das er in den Nachkriegsjahren aus dem Munde ganz unverdächtiger Menschen zu hören bekam – selbst in der DDR, in der er den besseren deutschen Staat sah. Wie viele andere Gegner und Opfer des Hitlerregimes glaubte er, der Westen sei ein Sammelbecken für ehemalige Nazis. Auch Dankbarkeit für die russischen Befreier und die roten Arbeiter, die ihn bei der Zwangsarbeit menschlich behandelt hatten, spielte wohl eine Rolle. Bald nach Kriegsende trat er der KPD bei. Schon in "LTI" drückt er an vielen Stellen seine Sympathie für den Bolschewismus aus. So schreibt er einmal: "Seitdem sich der Marxismus zum Marxismus-Leninismus weiterentwickelt hat, ist der Schwerpunkt des geistigen Europäertums nach Moskau verlagert." So lange die Wörter der Nazis nicht ausgerottet waren, glaubt er, lebte ihre Ideologie noch in den Köpfen der Menschen weiter. Er beruft sich auf das Schillersche Wort von der "Sprache, die für dich dichtet und denkt". Und er glaubte, dass es eben auch die Sprache ist, die für uns mordet und henkt. Oder doch, dass sie zumindest langfristig Menschen so abstumpfen und verrohen kann, dass aus ihnen Mörder und Henker werden. +Der Wachsamkeit in sprachlichen Dingen, die Klemperer noch als DDR-Bürger auszeichnete, entsprach in Westdeutschland die Arbeit von Dolf Sternberger. Dieser gab 1957 das "Wörterbuch des Unmenschen" heraus, eine Sammlung von Zeitungsartikeln, die sich mit Wörtern beschäftigt, die durch die Nationalsozialisten eine bräunlich-propagandistische Färbung bekommen hatten. Manche davon hatte auch schon Klemperer angezeigt, wie etwa "charakterlich", bei anderen ist der spezifisch faschistische Gebrauch erst durch Sternberger und seine Mitautoren Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind herausgestellt worden, beispielsweise bei "betreuen", das in der Tarnsprache der Nazis so viel bedeutete wie "Behinderte umbringen". Sternbergers "Wörterbuch des Unmenschen" war in Westdeutschland so einflussreich, dass angehenden Journalisten zu Beginn ihrer Ausbildung Listen von Wörtern vorgelegt wurden, deren Gebrauch es zu vermeiden galt. +Dagegen waren Klemperer und sein "LTI"-Buch im Westen fast nur Sprachwissenschaftlern bekannt. Berühmt wurde Klemperer erst in den neunziger Jahren, als seine zweite, 45 Jahre jüngere Frau Hadwig Kirchner seine Tagebücher aus der Nazi-Zeit herausgeben ließ. "Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten" wurde ein Überraschungs-Bestseller, der auch Vorlage für einen großen Fernseh-Mehrteiler war. +Zur Sprache der neuen Diktatur hat er sich niemals öffentlich geäußert. Erst die 1999 postum veröffentlichten Tagebücher der Jahre 1945 bis 1959 lassen erkennen, dass ihn seine Hellhörigkeit nicht verlassen hatte. So schreibt er bereits im Juni 1945: "Ich muss langsam anfangen, systematisch auf die Sprache des vierten Reiches zu achten. Sie scheint mir manchmal weniger von der des dritten unterschieden als etwa das Dresdener Sächsische vom Leipziger. Wenn etwa Marschall Stalin der Größte der derzeit Lebenden ist, der genialste Stratege usw." Unter dem Kürzel "LQI" (Lingua Quarti Imperii) finden sich dann immer wieder Notizen zum Propagandajargon sowohl des Westens als auch des Ostens. Die einen brandmarken kommunistische Funktionäre als "russenhörig" und nennen Ostdeutschland nur "drüben" und den Kulturbund den "verlängerten Arm" der SED. Die anderen verunglimpfen den Frankfurter "Wirtschaftsrat" der englisch- amerikanischen Bizone als "das deutsche Vichy" und beschimpfen Unternehmer als "Monopolherren". +Ein Tagebucheintrag vom 12. Oktober 1949, fünf Tage nach Gründung der DDR, lässt zunehmende Zweifel erkennen: ",Die Deutsche Demokratische Republik'. Das tobt seit gestern im Rundfunk. Die Präsidentenwahl, die Aufmärsche, die Reden. (...) Mir ist nicht wohl dabei. Ich weiß, dass es nazistisch genau so geklungen hat u. zugegangen ist." Zu einer Distanzierung von der DDR konnte sich Klemperer aber nicht aufraffen. 1950 wurde er Abgeordneter der Volkskammer, 1956 nahm er von Präsident Wilhelm Pieck den Vaterländischen Verdienstorden entgegen. Innerlich aber empfand er zunehmend Resignation. In seinem Tagebuch steht: "Deutschland ist ein in zwei Stücke zerfahrener Regenwurm; beide Teile krümmen sich, beide vom gleichen Faschismus verseucht, jeder auf seine Weise." Nach einem überzeugten Kommunisten klingt das nicht. diff --git a/fluter/wortgefechte.txt b/fluter/wortgefechte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/worum-geht-es-im-krieg-in-der-ukraine.txt b/fluter/worum-geht-es-im-krieg-in-der-ukraine.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b6e69fc4aefb4939e0de6e313a1dcc49247fce10 --- /dev/null +++ b/fluter/worum-geht-es-im-krieg-in-der-ukraine.txt @@ -0,0 +1,25 @@ +Und dann? Was ist das Ziel Putins, will er in Kiew eine russische Scheinregierung nach dem Vorbild der "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk installieren? +Die "Volksrepubliken"Donezkund Luhansk sind Militärdiktaturen von stalinistischer Ausprägung, in denen abweichende Meinungen – zum Beispiel proukrainische aber auch nationalistische – hart bestraft werden. Wer sie trotzdem äußert, sitzt schnell in Verliesen und wird möglicherweise gefoltert. Selbst wenn es den Russen gelingen sollte, das Land militärisch und mit einem schrecklichen Blutzoll zu erobern, wie soll danach eine politische Machtausübung funktionieren? Welcher vom Kreml geduldete beziehungsweise eingesetzte Anführer könnte dort nach so einem Krieg überhaupt Politik machen und von einer Mehrheit der ukrainischen Gesellschaft akzeptiert werden? Es wird keine prorussische Regierung in der Ukraine geben können, die sich auch nur einen Tag lang am Leben hält, ohne eine massive militärische Präsenz, die der Bevölkerung das Gewehr vor die Brust hält. + + +Putin hat im Juli 2021 in einem viel diskutiertenAufsatzseine These vom "geeinten Volk" dargelegt, historische Fakten verzerrt und der Ukraine ihre nationale Souveränität abgesprochen. Haben die EU-Regierungen diese Drohungen nicht ernstgenommen? +Sie haben durchaus gesehen, dass Putins Ansichten sehr gefährlich sind. Und während des ersten großen Truppenaufmarsches im Frühjahr 2021 über einen möglichen Großangriff debattiert. Die Folgen waren aber so unüberblickbar, dass man hoffte: Selbst wenn Putin seine hobbyhistorischen Aufsätze schreibt, wird er doch wenigstens von seinen Generälen den Rat bekommen, die Ukraine nicht anzugreifen. Jetzt wissen wir, dass das nicht stimmte. +Was kann die internationale Gemeinschaft jetzt tun? +Was die aktuelle Kriegssituation angeht, ist meiner Meinung nach völlig klar, dass es keine direkte militärische Antwort geben kann. Im Augenblick scheint es schwierig, den nötigen politischen Willen für ein Eingreifen der NATO zu finden. Abgesehen davon lässt der Zustand der Streitkräfte von Ländern wie Deutschland das auch nicht realistisch erscheinen. Die Eskalationsgefahr wäre schlichtweg zu groß – deswegen bleibt nur die Reaktion im Bereich derWirtschaftssanktionen. +Halten Sie einen EU- bzw. NATO-Beitritt der Ukraine, wie er von manchen gefordert wird, in absehbarer Zeit für realistisch? +Wir sehen gerade, dass Putin mit seinem wahnsinnigen Krieg die öffentliche Meinung in Europa umkrempelt. Viele fordern nun den Beitritt der Ukraine zur EU. Ein EU-Beitritt ist eigentlich die logische Konsequenz des Euromaidans – das wurde lange Zeit ignoriert. Sollte die Ukraine in irgendeiner Form überleben, wird der EU-Beitritt möglicherweise kommen. Ich erwarte auch, dass die Rufe nach einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine lauter werden. Putin ist ein Judokämpfer, aber er ist kein Schachspieler – er mag also ein gewiefter Taktiker sein, aber er ist ein miserabler Stratege. Gerade torpediert er genau das, was er eigentlich wollte. Niemand hat die Ukraine so stark in Richtung Westen bewegt wie Putin selber. Die Russen waren in den ersten Tagen des Großangriffs erstaunlich langsam. Die Kremlideologen und Militärführer haben wohl erwartet, dass die Ukraine von selbst zusammenbricht, sobald sie eindringen, dass sie gar nicht kämpfen müssen, sondern die Ukrainer ihre Waffen wegschmeißen. Aber das taten sie nicht. + + +Putin stellt diesen Angriffskrieg wahlweise als "Befreiung", "Entmilitarisierung" oder "Entnazifizierung" der Ukraine dar. Welcher Ideologie bedient er sich? +Dahinter steht ein krankhaft verändertes Verständnis von Staatlichkeit und nationaler Identität der ehemaligen sowjetischen Republiken gegenüber der Ukraine, aber auchBelarus. Das lässt sich vielleicht mit der in der Sowjetunion vorherrschenden Ideologie erklären: "Wer die Sowjetunion aus den ethnischen Teilrepubliken heraus kritisiert, ist vermutlich Nationalist, diesen Nationalismus muss man bekämpfen." Spätestens seit dem Aufsatz vom vergangenen Juli ist klar, dass in Putins Kopf die Eigenständigkeit der ukrainischen Nation nicht existiert. Er findet, dass die ukrainische Nation ein Kunstgebilde ist, das lieber heute als morgen abgeschafft werden muss. +Wie erfolgreich hat sich der ukrainische Präsident Selenskyj als Gegenmodell zum Putin-Regime installiert? +Selenskyj ist angetreten als ein Mann des Ausgleichs. Es herrschte die Erwartung, dass jetzt einer kommt, der nicht mehr dogmatisch denkt und lenkt wie sein Vorgänger, der Oligarch Poroschenko. Sondern einer, der pragmatisch ist. Man hoffte, dass es auch in den Minsker Verhandlungen um eine friedliche Lösung mit Russland Fortschritte geben würde. Selenskyj bekam aus der Bevölkerung einen massiven Vertrauensvorschuss, auch wenn viele Beobachter sehr skeptisch waren,weil der Präsident eben nicht aus der Politik, sondern aus dem Showbusiness kommt. + + +Warum sprechen die Medien nicht von "Russlands" sondern von "Putins Krieg"? +Es gibt viele Hinweise darauf, dass auch in der Kremlführung keine Einigkeit über die Angriffe herrscht. In der öffentlichen Sitzung des russischen Sicherheitsrates am 21. Februar wurde klar, dass selbst enge Putin-Vertraute wie Auslandsgeheimdienst-Chef Naryschkin Zweifel hatten – und da ging es eigentlich "nur" um die Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Die Tatsache, dass die US-Geheimdienste vor einem solchen Angriff gewarnt haben, legt auch nahe, dass aus Putins Umfeld Informationen geleakt wurden – von Eingeweihten, die verstanden, dass das Wahnsinn ist. Ich kann es nur wiederholen: Putin erreicht mit seinem Krieg in der internationalen öffentlichen Meinung genau das Gegenteil dessen, was er eigentlich vorhatte. +Kann sich die russische Gesellschaft von seiner Propaganda emanzipieren? +Die Schlüsselfrage lautet, wie lange Putin die russische Öffentlichkeit hinters Licht führen kann. Es gibt vielleicht Leute im Kreml, die sagen: Wenn wir es in Donezk und Luhansk geschafft haben, ein Terrorregime zu installieren, gelingt es uns vielleicht auch in der ganzen Ukraine. Ich denke aber, es ist unvorstellbar, dass das in der ganzen Ukraine, ja in ganz Russland gelingen kann. 2014/2015, als der Krieg im Donbass wütete, sind sehr viele Russen, zum Teil reguläre Soldaten, zum Teil Freiwillige, gestorben. Die Berichterstattung über ihre Beerdigungen wurde in Russland zensiert. Der Tschetschenienkrieg hat gezeigt, dass tote Soldatenbedeutsame oppositionelle Bewegung in der Zivilgesellschaftanstoßen können. Aktuell sehen wir, dass versucht wird, unabhängige Berichterstattung mit allen Mitteln zu bekämpfen. Aber die Opfer gibt es – am 2. März meldete Moskau erstmals tote Soldaten –, und das ist wohl nur der Anfang. Man darf diesen Faktor nicht unterschätzen: Die russische Gesellschaft wird Kriegstote nicht ohne Weiteres hinnehmen. Darin liegt, so tragisch das ist, vielleicht eine große Hoffnung. + +Nikolaus von Twickel ist Redakteur im Zentrum Liberale Moderne und betreut die Websites "Russland verstehen" und und"Ukraine verstehen". 2015/2016 war von Twickel Medienverbindungsoffizier für eine Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im ostukrainischen Donezk. + diff --git a/fluter/wovon-wir-traeumen-lin-hierse-roman.txt b/fluter/wovon-wir-traeumen-lin-hierse-roman.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..dfae29252ef1895d6a78cdea701ebc517840a4f6 --- /dev/null +++ b/fluter/wovon-wir-traeumen-lin-hierse-roman.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +Die zweite wichtige Figur ist Lins "Ma", die als Dolmetscherin für einen großen deutschen Autohersteller arbeitet. Als junge Frau packte sie in China alles, was sie für einen Neuanfang brauchte, in einen roten Hartschalenkoffer und begab sich auf die Suche nach einem neuen Leben – nach Deutschland. Sie nahm damit selbst in die Hand, wo ihre Heimat sein soll. Für Mas Mutter Ab'u, mit deren Beerdigung der Roman beginnt, lag diese inmitten von Bambuswäldern auf einem Berg im ostchinesischen Shaoxing. +"Wovon wir träumen" von Lin Hierse (240 Seiten, 18 Euro) ist im Piper Verlag erschienen. +Die Beisetzung gibt im Roman auch den Anstoß für Lins eigeneIdentitätssuche. In kurzen, chronologisch nicht geordneten Anekdoten erzählt Hierse die Geschichte von Mutter und Tochter. Warum ist die Mutter ausgewandert,wie hat die Migrationserfahrung ihr Leben geprägt– und wie das der Tochter? +Das Verhältnis der beiden Protagonistinnen ist dabei zwiegespalten. Ihre Mutter ist für Lin mal Freundin, mal Verbündete, mal Vorbild. Sie ist ihr "Kompass der Welt", der sie vor allem durch China navigiert. Für Konflikte sorgt jedoch die Frage nach Zugehörigkeit, die die Protagonistin umtreibt. Ihren schlimmsten Streit haben sie, als die Mutter der Tochter vorwirft, keine "echte Chinesin" zu sein. Noch nie zuvor, heißt es, war ihr so direkt attestiert worden, ein "Fremdkörper" zu sein. Mit dem Vorwurf trifft Ma einen wunden Punkt bei ihrer Tochter. +Der Wechsel zwischen den Sprachen und Identitäten strengt Lin an. Vom ständigen Übersetzen kommen nach Einschätzung der Mutter auch die Kopfschmerzen, die die Protagonistin plagen. "Von Mas Migration habe ich Anekdoten, Gefühle und Gegenstände geerbt", sagt Lin. Selbst im Traum lässt sie ihre Herkunft nicht los. +Mehrmals begegnet sie in Traumsequenzen längst verstorbenen Verwandten, mit denen sie gemeinsam isst oder Karten spielt. Für die Protagonistin sind es gute Träume, bis sie die Toten zurücklassen, ohne ihr zu verraten, wo sie hingehen. +Hierse erzählt das alles in einer klaren, reduzierten Sprache. Die Bilder, die sie einstreut, sind dafür umso anschaulicher. Zum Beispiel wenn die Protagonistin sagt, die Müdigkeit habe sich "um ihren Körper gewickelt wie ein nasses Handtuch". Oder wenn sie nach der beschwerlichen Reise nach Shaoxing einen Schluck von der "guten" Sojamilch nimmt und das Gefühl hat, ihr Magen werde "von innen umarmt". Besonders anschaulich beschreibt Hierse Sprache. Wörter sind in Lins bilingualer Welt greifbare, aktive Subjekte. Sie "rollen auf den Boden", legen sich schlafen oder fliegen stumm aus dem Mund "wie in Watte gepackt". +Feinsinnig erzählt Hierse so die Geschichte einer jungen Frau, die versucht, ganz anders zu sein als ihre Mutter, und trotzdem immer wieder bei ihr ankommt. Lin tut absichtlich Dinge, die ihre Ma nicht mag, indem sie ihre Haare kurz trägt oder Zigaretten raucht. Dass die kurzen Haare ihrer Mutter nicht gefallen, verletzt Lin, und die Zigaretten schmecken ihr nicht. Je mehr sie sich aber mit der Biografie und Gedankenwelt ihrer Mutter auseinandersetzt, desto inniger wirkt die Verbindung der Frauen. Der Weg dorthin ist manchmal schmerzhaft und untrennbar mit der Migrationsgeschichte der Mutter verbunden. Er ist aber auch beglückend und bereichernd – für die Protagonistin und die Leser:innen. +Titelbild: Amelie Kahn-Ackermann diff --git a/fluter/wozu-eigentlich-studieren.txt b/fluter/wozu-eigentlich-studieren.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6d3c3d6b7abb59dcb6f08655789d347b05f48133 --- /dev/null +++ b/fluter/wozu-eigentlich-studieren.txt @@ -0,0 +1,15 @@ +So sehr Robert für sich den traditionellen Bildungsweg ablehnt, so deutlich sagt er aber auch, dass er für andere funktionieren könne – wenn sie im Studium wirklich das lernten, was sie für ihr weiteres Leben brauchen. Er will anderen Mut machen, ihren eigenen Weg auch gegen gesellschaftliche Konvention zu gehen; allerdings nicht zum Selbstzweck, sondern immer nach reiflicher Überlegung und mit einem Ziel vor Augen. +Mich hat das Unternehmersein schon immer interessiert. Mein Vater hat in Gera einen kleinen Handwerksbetrieb mit zehn, zwölf Mitarbeitern und meine Mutter hat ein Yogastudio aufgebaut. Mit Unternehmertum bin ich also aufgewachsen. +Nach dem Abi 2010 wusste ich allerdings noch nicht genau, was ich beruflich machen will. Irgendetwas mit Tourismus, das war klar. International sollte es sein. Ich hatte nach der zehnten Klasse ein Jahr in Chile verbracht. Seitdem wusste ich auch, dass ich nach dem Abi ein Jahr im Ausland verbringen wollte. Ich war dann in Kanada, zwei Jahre. Bin durchs Land gereist und habe das mit Jobs finanziert, die ich mir selbst organisiert hatte. Danach wollte ich studieren, wie die meisten meiner Freunde. +Ich habe grundsätzlich nichts gegen ein Studium, aber meine Erwartungen wurden enttäuscht. Ich habe mich für den Studiengang "International Tourism Management" in Leeuwarden in den Niederlanden entschieden. Dort studiert man viel in Gruppen und die Unterrichtssprache ist Englisch. Ich dachte, dass das Studium dadurch besonders effektiv ist und mich gut auf das Berufsleben vorbereitet. Die Realität war enttäuschend: Die Uni stellte sich als eine kleine FH heraus. Das Unterrichtsniveau war bescheiden. Ich hatte ohne großen Aufwand gute Noten, aber das Gefühl, nichts Relevantes für mich daraus mitzunehmen. +Das kann am Fach liegen, dachte ich und habe nach einem Semester gewechselt – zu "International Business and Management Studies". Der Zusatzslogan des Studiengangs: "Top of Holland". Für mich war das aber alles andere als top. Ich wollte mit dem Gelernten verstehen, wie ich erfolgreich in der Businesswelt agieren kann, warum das Geld wie wohin geht, um etwas verändern zu können. Aber das Wissen, was dort vermittelt wurde, stammte aus den 80er-Jahren. Wer heute erfolgreich sein will, braucht anderes Wissen. +Durch Zufall habe ich auf dem Campus einen Kommilitonen aus Polen kennengelernt, der in seiner Heimat gerade ein Startup aufbaute. Zusammen mit einer Gruppe von Freunden haben wir in Leeuwarden an einem ersten Projekt gearbeitet. Ziel war es, eine Online-Plattform zu schaffen, auf der sich die neuen Studierenden in Leeuwarden austauschen und vernetzen können. Das Projekt ist zwar gescheitert, aber ich habe unheimlich viel über Team-Dynamiken gelernt und darüber, wie man eine Unternehmensidee umsetzt. +Und da habe ich irgendwie Feuer gefangen. Das Studium lief zwar noch und ich hatte wieder gute Ergebnisse, aber der Frust war groß. Was ich in meiner Freizeit gelernt hatte, hätte ich eigentlich dort lernen sollen. Es gibt sicher Studiengänge, in denen man wirklich Relevantes lernt – Chemie zum Beispiel oder auch Literaturwissenschaften, wenn man sich dafür interessiert. +Im Dezember 2013 habe ich das Studium abgebrochen. Die meisten meiner Freunde hatten überhaupt kein Verständnis. Auch meine Eltern machen sich Sorgen. Ich denke, es ist normal, dass sich Eltern finanzielle Sicherheit für ihr Kind wünschen. Aber sie wissen, dass ich so glücklicher bin und unterstützen mich und meinen Weg weiterhin. Und wer weiß: Vielleicht studiere ich in zehn Jahren doch noch, wenn meine Projekte scheitern. Aber zurzeit wäre ein Studium für mich Zeitverschwendung. Meine Energie möchte ich für Wichtigeres einsetzen. +Der Freund aus Polen hatte mir vom Erasmus-Programm für "Young Entrepreneurs" erzählt. Man hat dort die Möglichkeit, vor Ort bei einem erfahrenen Unternehmer aus einem EU-Land zu hospitieren und ihn als Mentor für die eigene Business-Idee zu gewinnen. Seit Januar lebe ich jetzt in Polen und unterstütze einen Unternehmer mit meinen Ideen im Bereich Marketing. Wir stehen täglich in Kontakt, aber ich habe viel Zeit, um mein eigenes Projekt voranzubringen: eine App zum Thema "Business Model Innovation", die Unternehmen dabei unterstützt, ihr bisheriges Geschäftsmodell zu verbessern. +Die Studienfreunde Henning, Robert, Janes während eines Startup Wochenendes in Leeuwarden. +Dass ich nicht mehr studiere, heißt nicht, dass ich nicht hart arbeite. Meist sind es zehn bis zwölf Stunden pro Tag. Aber das mache ich gerne. Ich lerne permanent dazu. Aus Gesprächen mit Business-Partnern meines Mentors, aber auch durch Bücher, die ich lese oder durch Online-Kurse, die ich belege. Ob ich diese Art zu Lernen anderen auch empfehlen würde? Ich denke, eine Pauschallösung gibt es nicht. Jeder muss seinen Weg finden, der zu ihm passt. +In Polen bin ich, über das Erasmus-Programm, insgesamt fünf Monate. Bis zum Ende dieser Zeit sollte ich erste Einnahmen erzielen. Noch reicht das Stipendium für die Lebenshaltungskosten. Falls ich nicht rechtzeitig in die Gewinnzone komme, habe ich aber einen Plan B. Dann gehe ich nach Australien und arbeite eine Zeitlang in den Goldminen. Die App-Entwicklung ist ohnehin nur ein Zwischenschritt. +Mein großes berufliches Ziel ist ein ganz anderes. Ich möchte nach Kanada auswandern und dort eine nachhaltig orientierte Ferienanlage für Kurz-und Langzeit-Touristen aufzubauen. Klar habe ich auch Angst, dass meine Pläne scheitern, aber ich glaube, das ist normal. Das Wichtigste ist wohl, dass mich die Angst nicht abhält, meine Ziele zu verfolgen. + +Erasmus-Programm "Young Entrepreneurs"Der Studiengang"International Business und Management Studies"wird in Kooperation von drei Hochschulen in Leeuwarden (Holland) angeboten.Das regelmäßigin Berlin stattfindende "Idea Camp" unterstützt Gründungsinteressierte dabei, Business-Ideen zu entwickeln und am Markt zu testen. diff --git a/fluter/wozu-sind-fliegen-gut.txt b/fluter/wozu-sind-fliegen-gut.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..551e79911e53a66eda47743651ab37e45b297d49 --- /dev/null +++ b/fluter/wozu-sind-fliegen-gut.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Bereits im Larvenstadium ist die Fliege, im Gegensatz zur Biene, ziemlich aktiv. Die Eier werden in Müll oder Lebensmittel, aber auch auf tote Tiere oder Kot gelegt, damit sich die Larven dort von den organischen Substanzen ernähren können. Dabei zersetzen sie diese und helfen bei der Produktion von Humus, sprich: fruchtbarem Boden. Ebenso töten sie Schädlinge und sind Futter für Vögel. Als ausgewachsene Fliegen knabbern sie weiter genüsslich unter anderem an all dem, was wir Menschen und viele andere Tiere nicht mehr essen würden, bereits gegessen haben oder was nach dem Tod von uns übrig bleibt. Der Aufräumtrupp sozusagen. +Erfreut über ihre Anwesenheit sind wir dennoch nicht. Denn sie symbolisiert Gestank und Tod, aber auch Hartnäckigkeit. Der Renaissancemaler Giotto di Bondone po­sitionierte in einigen seiner Gemälde Fliegen, die nichts mit dem Bildkonzept gemein hatten, um bei den Betrachtenden Verwirrung zu stiften und die Frage auszulösen: Echt oder nicht echt? Totklatschen oder leben lassen? +Die Jagd nach einer Fliege scheitert meist krachend. Das liegt daran, dass unsere Hand beim Versuch, eine Fliege zu erwischen, aus deren Sicht nicht auf sie zurast. Sie ruckelt eher. In etwa so, als würde man sich einen Diavortrag ansehen. Grund dafür ist, dass die Fliege 200 Bilder pro Sekunde wahrnehmen kann, der Mensch nur 20. Bewegungen sieht sie also quasi in Zeitlupe. Ebenso hat sie alles im Blick. Mit ihren Facettenaugen kann sie beinahe 360 Grad um sich schauen. Aber sie ist nicht immer nur die Gejagte, sondern manchmal auch die Jägerin. Die Gruppe der Raubfliegen erbeutet durch Injektion ihres starken Giftes sogar andere, größere Insekten wie Wespen. +Fliegen sind weltweit Lebensbegleiterinnen. Vom Anfang bis zum Ende und darüber hinaus. Sobald ein Mensch oder ein Tier stirbt, sind sie als Erste zur Stelle. Anhand der Fliegen-Entwicklungsphase können Forensiker erkennen, wie lange jemand bereits tot ist. Und beim Erforschen von Demenz helfen sie auch noch. Denn die DNA der Fliege ähnelt zu 60 Prozent der des Menschen. Statt an Mäusen werden daher auch Versuche an Fliegen durchgeführt. Das spart Zeit, da Fliegen eine kürzere Lebensdauer haben und sich schneller vermehren. Ebenso schützt das deutsche Tierschutzgesetz sie weniger stark als Wirbeltiere. Sind ja nur Fliegen. + diff --git a/fluter/wrestling-indien-maedchen-olympia.txt b/fluter/wrestling-indien-maedchen-olympia.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/wurst-case-szenario.txt b/fluter/wurst-case-szenario.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b82310743abcc7785661f3668d87c6f7be775009 --- /dev/null +++ b/fluter/wurst-case-szenario.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +Das Szenario der Forscher: Alle US-Amerikaner verzichten auf einen Schlag auf ihre geliebten Burger und Steaks und ernähren sich nur noch von Obst und Gemüse. Davon ausgehend untersuchten sie, wie viel Energie und Ressourcen für den Anbau, die Verarbeitung und den Transport eines Nahrungsmittels nötig sind, um am Ende jeweils 1.000 Kilokalorien (kcal) zu erhalten. Der Clou: Die meisten Gemüse- und Obstsorten sind im Vergleich zu Fleisch eher kalorienarm. 100 Gramm Salat bestehen vor allem aus Wasser und haben einen Brennwert von nur etwa 13 kcal, die gleiche Menge Speck kommt dagegen auf 350 kcal. Folglich müsste deutlich mehr Gemüse angebaut werden, würden die USA plötzlich eine Nation von Vegetariern. So würden die Veggie-Amerikaner laut den Forschern 38 Prozent mehr Energie und 10 Prozent mehr Wasser als heute verbrauchen. Auch der von ihnen zu verantwortende Ausstoß von Treibhausgasen wäre höher. +Doch halt: Diese Forschungsergebnisse sind noch kein Grund, erschrocken den glutenfreien Weizengras-Smoothie beiseitezustellen und auf dem Smartphone eilig die nächste Fleischerei zu googeln. Die US-Forscher sind mit ihren Ergebnissen ziemlich allein auf weiter Flur. 2012 veröffentlichte die Umweltorganisation WWF eine Studie mit dem Titel "Klimawandel auf dem Teller". Ihr Ergebnis: Knapp 70 Prozent der direkten Treibhausgas-Emissionen unserer Ernährung sind auf tierische Produkte wie Fleisch, Milch und Eier zurückzuführen, auf Obst und Gemüse dagegen nur knapp ein Drittel. Berücksichtigt wurden dabei Emissionen durch Viehhaltung und Bewirtschaftung der Felder sowie Weiterverarbeitung, Transport und Lagerung der Produkte. Und die Vereinten Nationen kommen in ihrem Bericht "Livestock's Long Shadow" zu dem Ergebnis, dass die industrielle Viehzucht mehr Klimagase produziert als der gesamte Verkehrssektor an Land, in der Luft und auf dem Wasser zusammen. So gehe knapp ein Fünftel der globalen Treibhausgas-Emissionen – gemessen in CO2-Äquivalenten – auf das Konto der Viehwirtschaft. +Doch wie kamen die Wissenschaftler der Carnegie Mellon University dann zu ihrem Ergebnis? Die Antwort darauf steckt im Detail. Zum einen ist ihre Ausgangsannahme, alle Amerikaner würden plötzlich (!) Vegetarier, sehr speziell gewählt. Damit verliert die Studie an Aussagekraft für die Praxis. Zum anderen ließen die Forscher den Import von Futtermitteln und die damit verbundenen Emissionen außen vor und gingen von einem Anbau im eigenen Land aus – auch das ist realitätsfern. Dass für Acker- und Weideland Regenwald abgeholzt wird, blieb ebenso unberücksichtigt. Zudem untersuchten die Forscher die Emissionen und den Ressourcenverbrauch von Fleisch und Gemüse nicht selbst, sondern verglichen nur die Ergebnisse von anderen Studien. Die Hintergründe ihrer Auswahl und Bewertung der Daten bleiben so allerdings im Dunkeln, transparenter wäre eine eigene Erhebung gewesen. Schließlich kommt es sehr darauf an, welche Zahlen man im Einzelnen heranzieht – mit der Auswahl steht und fällt das Ergebnis der eigenen Studie. Und abseits der steilen und in Medien viel zitierten These "Salat ist dreimal schlechter für das Klima als Bacon" finden sich am Ende der Studie doch Hinweise darauf, dass gerade die Produktion von Rindfleisch für höhere Treibhausgas-Emissionen sorgt als jedes Gemüse. +Unter dem Strich ist die trügerische Klimarechnerei der Studie also eine schlechte Grundlage für die Antwort auf eine hochkomplexe und wichtige Frage: Wie isst man denn nun klimafreundlich? Man sollte bewusst und maßvoll konsumieren und dabei auf regionale und saisonale Produkte setzen. Durch kürzere Transportwege und Lagerzeiten werden die Emissionen nämlich deutlich reduziert. Denn Erdbeeren im Winter oder Fisch aus Übersee belasten das Klima ähnlich stark wie jeden Tag ein saftiges Steak auf dem Teller. diff --git a/fluter/xavier-naidoos-orientierung-nach-rechts.txt b/fluter/xavier-naidoos-orientierung-nach-rechts.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..15c49d6c73314e52432ba9a96dbe425afd92eec0 --- /dev/null +++ b/fluter/xavier-naidoos-orientierung-nach-rechts.txt @@ -0,0 +1,38 @@ +Brothers Keepers: "Adriano (Letzte Warnung)" (2001) +Sein bis dato erfolgreichstes Album war gleich sein Debüt. 1998 veröffentlichte Xavier Naidoo "Nicht von dieser Welt". Die Mischung aus Pop und Soul mit deutsch gesungenen, religiös motivierten Texten war damals eine Neuheit. Besonders bekannt wurde der kurz danach erschienene Song "Sie sieht mich nicht", ein Liebeslied, das im Film "Asterix und Obelix gegen Cäsar" lief. Seine Popularität nutzte der Mannheimer bald, um sich gegen Rechtsextremismus und Rassismus in Deutschland zu engagieren. Das tat er etwa mit der Band Brothers Keepers, ein Zusammenschluss von afrodeutschen Musikern. In dem Song "Adriano – Letzte Warnung" singt er den Refrain: +"Dies ist so was wie eine letzte Warnung/Denn unser Rückschlag ist längst in Planung/Wir fall'n dort ein, wo ihr auffallt/Gebieten eurer braunen Scheiße endlich Aufhalt" +Das Lied ist Alberto Adriano gewidmet. Der Dessauer Fleischer mit Wurzeln in Mosambik wurde im Juni 2000 von drei Neonazis im Stadtpark totgeschlagen. Wegen seiner kämpferischen Botschaft gegen rechte Gewalt wurde der Song oft auf Antifa-Demos gespielt. Einzelne Mitglieder der Brothers Keepers reisten durch die neuen Bundesländer, um mit Schülern über Rassismus zu diskutieren. + +Söhne Mannheims: "Babylon System" (2004) +Naidoo trat auch bei "Rock gegen Rechts"-Konzerten auf. Dass er Fan von Bob Marley ist, einer Ikone Linker auf der ganzen Welt, zeigte sich etwa in dem Song "Babylon System". Auch Marley schrieb ein Lied mit diesem Titel. Babylon ist ein festes Bild im Reggae, das aus der Rastafari-Religion stammt und an diebiblische Darstellung Babels als Sündenpfuhl und Ort der Gotteslästerungangelehnt ist. Im Reggae steht Babylon meist für die Unterdrückung durch die korrupte westliche Welt, gegen die man aufbegehren muss. In seinem Song beschwört Naidoo den baldigen Niedergang des "Babylon System", um das es auch in der Johannesoffenbarung am Ende des Neuen Testaments geht. Und er besingt seine grundsätzliche Ablehnung von (fast) allen Formen von Staatlichkeit: +"Denn jeder Staat/Außer dem Ameisenstaat/Ist mein Feind./Hier ist jeder gemeint/Kommunisten-, Nationalisten-, Kapitalistenschwein/Es tritt ein Ende ein" + +Xavier Naidoo: "Abgrund" (2005) +Mit dem Album "Telegramm für X", das 2005 erschien, schlug Naidoo neue Töne an. Weniger christliche Lieder, mehr politische Themen prägen das Album. So etwa im Song "Abgrund", in dem Naidoo eine aggressive, wenn auch richtungslose Systemkritik äußert, die wieder Anklänge an libertäre Ideen zeigt:Libertäre fordern eine radikale Beschränkung staatlicher Macht bis hin zur Auflösung des Staates. +"Und jetzt scheiß ich auf eure Demokratie/Ich glaub, so ungerecht wie heutzutage war sie noch nie/Ich scheiß auf Diäten mit Jojo-Effekt/Ihr wollt aufs Volk scheißen und denkt, ihr werdet sauber geleckt/Wem's schmeckt/Ich hab kein Bock auf eure ungerechten Steuern/Genauso gut könnt ich mein Geld im Backofen verfeuern." + + + +Xavier Naidoo: "Raus aus dem Reichstag" (2009) +Einen deutlich antisemitischen Zungenschlag haben die Reime in dem Song "Raus aus dem Reichstag" aus dem Jahr 2009. Hier singt er von korrupten Politikern und über die Macht der Banken. +"Baron Totschild gibt den Ton an, und er scheißt auf euch Gockel/ Der Schmock ist 'n Fuchs und ihr seid nur Trottel" +Baron Totschild ist eine Anspielung auf die jüdische Bankiersfamilie Rothschild, um die sich zahlreiche Verschwörungstheorien ranken. Die Verunglimpfung jüdischer Namen war fester Bestandteil der Nazihetze, etwa in Zeitungen wie dem "Stürmer". Schmock ist eine meist negative jiddische Bezeichnung für einen Menschen aus gehobener Gesellschaftsschicht. + +Xavas: "Wo sind sie jetzt" (2012) +Ein Tabu bricht Naidoo auch im Duett mit Kool Savas in dem Song "Wo sind sie jetzt". In dem Text wird Kindesmissbrauch in einen Zusammenhang mit Homosexualität gestellt. Mit ihrem Song handelten die beiden Musiker sich eine Anzeige wegen des Verdachts auf Volksverhetzung sowie des Aufrufs zum Totschlag und der schweren Körperverletzung ein. Naidoo hat zu dem Thema einen persönlichen Bezug. Er wurde selbst als Kind Opfer von Missbrauch. + +Straßenunterhaltungsdienst: "Die Wahrheit" (2014) +Im Oktober 2014 geriet Xavier Naidoo in die Schlagzeilen,weil er am Tag der Deutschen Einheit in Berlin auf einer Demo der Reichsbürger auftauchte und einen Spontanvortrag mit Gesangseinlage darbot. Kurz zuvor war sein Song "Die Wahrheit" erschienen, den Naidoo unter dem Pseudonym Straßenunterhaltungsdienst veröffentlicht hatte. Hier bekennt er sich nun dezidiert zum Libertarismus. "Haben wir nicht bald alle Staatsformen ausprobiert?", fragt Naidoo. Und schiebt nach: +"Ich seh' mich, glaub' ich, am ehesten als libertären gläubigen Menschen. Libertär, das kann man nachschlagen, Rothbard hat das definiert und es gibt ein Buch von Oliver Janich, das heißt: ‚Die Vereinigten Staaten von Europa' – lest mal nach, so seh' ich's auch." +Okay – wir lesen nach. Worum es geht, steht gleich im Vorwort: "Unsere heutige Gesellschaftsform ist inhärent bösartig. Das heißt, das Böse wohnt ihr inne. Wir leben in einer pathologischen Plutokratie, der Herrschaft einiger weniger Psychopathen." +Das Ziel der angeblichen Plutokraten, so Janisch in seinem verschwörungstheoretischem Buch, sei die Errichtung eines Europäischen Superstaates, der die Bürger gängelt und entmündigt. Nach dem Vorbild dieses Superstaats soll dann eine neue Weltordnung entstehen. + +Söhne Mannheims: "Marionetten" (2017) +Im aktuellen Aufreger-Song "Marionetten" von Naidoo und den Söhnen Mannheims wimmelt es von Bildern und Worten, die auch die neuen Rechten verwenden. Volksverräter etwa ist ein Schlüsselbegriff, der auf Pegida-Demonstrationen häufig skandiert wird. Der Text enthältviele zentrale Merkmale des Populismuswie Anti-Elitarismus, Institutionenfeindlichkeit sowie Moralisierung, Polarisierung und Personalisierung der Politik. Dazu kommen Bilder eines gewalttätigen Umsturzes. +Der Titel des Songs, der sich als Leitmotiv durch den ganzen Text zieht, bedient ein altes antisemitisches Klischee. Die "Marionetten" sind bei Verschwörungstheoretikern die Erfüllungsgehilfen einer angeblichen jüdischen Weltverschwörung, die wie "Puppenspieler" im Verborgenen die Strippen ziehen. + +Mehr Informationen +Dossier Antisemitismusder Bundeszentrale für politische Bildung +Dossier Rechtsextremismus: Die "Neue Rechte" in der Bundesrepublik + +Titelbild: ullstein bild - Brill diff --git a/fluter/years-and-years-serie-zdf-neo-rezension.txt b/fluter/years-and-years-serie-zdf-neo-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6868a841cd8d9bb0315936e3fa6493d4248df6ee --- /dev/null +++ b/fluter/years-and-years-serie-zdf-neo-rezension.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Die Serie spielt zwar in der Zukunft, viele Details kommen einem aber schon jetzt bekannt vor. Unberechenbare Politiker zum Beispiel, die Nachrichten, die ihnen nicht passen, als"Fake News"abstempeln undÄngste der Bevölkerung für ihre Propaganda instrumentalisieren. Geflüchtete,die in Europa unter menschenunwürdigen Bedingungen leben. DerKlimawandel. In "Years and Years" spitzt sich unsere Gegenwart gefährlich zu. Jede Folge ist eine Warnung. Dabei gerät nicht nur der Weltfrieden, sondern auch der familiäre Frieden der Lyons immer mehr in Gefahr: Stephen (Rory Kinnear) und seine Familie verlieren in der Finanzkrise ihr Haus und ihr gesamtes Vermögen. Die Aktivistin Edith (Jessica Hynes) überlebt aus nächster Nähe die Atombombenexplosion. Bei der Arbeit für die Geflüchtetenhilfe verliebt sich Daniel (Russell Tovey) in einen Migranten und kämpft gegen seine Abschiebung. Rosie (Ruth Madeley) wiederum ist alleinerziehende Mutter, sitzt im Rollstuhl und ist von Vivienne Rooks Politik stärker angetan, als sie ihrer Familie gegenüber zugibt. + +Politische Science-Fiction stellt oft die Entscheider in den Mittelpunkt. "Years and Years" dagegen bleibt größtenteils bei den Lyons, die mit den Entscheidungen von Politik und Wirtschaft klarkommen müssen. Es ist diese Nähe zur Lebensrealität der allermeisten Menschen, die die Serie so erschütternd macht. Einziger Schwachpunkt: Wegen der vielen einzelnen Handlungsstränge kommen manche leider etwas zu kurz. + +"Das ist die Welt, die wir erschaffen haben", sagt Oma Muriel, als sie mit ihrer Familie am Esstisch sitzt. In einem Monolog erklärt sie, dass jedes Billig-T-Shirt, das man kauft, jede Stimme, die man bei der Wahl abgibt, jede einzelne alltägliche Entscheidung Konsequenzen habe: nicht nur in der Familie, Partnerschaft oder am Arbeitsplatz, sondern auch im großen Ganzen. + + +"Years and Years" ist intensiv und berührend erzählt, gerade wenn man die Parallelen zur aktuellen Nachrichtenlage im Kopf hat – vom Sturm auf das Kapitol und Donald Trumps letzten Versuchen, Joe Bidens Präsidentschaft zu verhindern, bis zum Brexit-Deal. Toll ist auch, wie selbstverständlich divers die Protagonisten sind – sexuell, kulturell und politisch. + +Fans von technologiekritischen Serien wie "Black Mirror". Die dürfte in "Years and Years" zum Beispiel der Erzählstrang rund um Stephens Tochter Bethany (Lydia West) interessieren, die davon träumt, "transhuman" zu werden. Mithilfe von kybernetischen Implantaten will sie mit der Cloud verschmelzen und ewig leben. Das Problem: Manche Implantationen gehen schief, und künstliche Intelligenz sorgt in "Years and Years" außerdem dafür, dass zahlreiche Jobs überflüssig werden. Auch Fans von dystopischen Serien wie "The Handmaid's Tale" oder "The Man in the High Castle" dürfte die Serie gefallen. Kurz: allen, die sich von alternativen, finsteren Zukunftsszenarien etwas über die Gegenwart erzählen lassen wollen. + +"Years and Years" läuft am 14. Januar bei ZDF neo (alle sechs Folgen am Stück im Zweikanalton, auf Deutsch und im englischen Originalton) und ab 15. Januar in der ZDF-Mediathek (nur auf Deutsch). +Titelbild: ZDF/Matt Squire diff --git a/fluter/yes-we-camp.txt b/fluter/yes-we-camp.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..09af3e124b71e475f03b31f17ef4cd583b0e74a0 --- /dev/null +++ b/fluter/yes-we-camp.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Schon im vergangenen Jahr protestierten Zehntausende Studenten gegen Studiengebühren und Kürzungen im Hochschuletat, warfen Scheiben ein und stürmten die Zentrale der Konservativen Partei in London. Angesichts von rund 20 % Jugendarbeitslosigkeit sprachen Beobachter schon damals von einer sozialen Schieflage im Königreich. Zum Vergleich: In Deutschland lag die Jugendarbeitslosigkeit im August bei 9,6 %. Im Sommer 2011 schließlich kam es zu gewaltsamen Krawallen in London, Birmingham und anderen großen Städten. Dabei wurden Häuser angezündet und Läden geplündert. In Birmingham wurden drei junge Männer, die ihr Viertel vor Übergriffen schützen wollten, überfahren. Das Ausmaß der Brutalität hat dabei die gerechtfertigte Kritik von friedlichen Demonstranten, wie den Aktivisten der Bewegung UK Uncut, an der Kluft zwischen Reich und Arm überschattet. UK Uncut, von zehn jungen Leuten in einem Pub gegründet, hat als Verursacher des gesellschaftlichen Missstands neben den Politikern noch weitere Übeltäter im Auge: Firmen, die sich um Steuern drücken, und Banken, die für schrumpfende Sozialleistungen verantwortlich gemacht werden. Über Facebook und Twitter verabreden sich die Aktivisten, um Filialen von Mobilfunkbetreibern zu besetzen, Krankenstationen vor Bankschaltern zu eröffnen und um sich mit Sekundenkleber an die Fensterscheiben der Geschäfte bekannter Markenartikler zu kleben. +Seit Monaten proben die Griechen den Aufstand gegen die Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen der konservativen Regierung. Vor allem die Einschnitte beim öffentlichen Dienst treffen die Jugendlichen hart – schon jetzt ist die Jugendarbeitslosigkeit mit 38,5 % die dritthöchste in Europa. Im Frühsommer 2011 richteten die jungen Leute ihren Zorn auf alles, was sich ihnen in den Weg stellte, und lieferten sich mit der Polizei regelrechte Straßenschlachten: Schwarz vermummt zogen sie mit Schlagstöcken und Molotow-Cocktails über den Athener Syntagma- Platz, warfen Steine und schlugen Schaufenster ein. Mit Tränengas und Blendgranaten hielt der Staat dagegen. Ende Juni standen sich 20.000 Demonstranten und 5.000 Polizisten gegenüber, am Tag darauf redete Ministerpräsident Papandreous Stellvertreter davon, Panzer einzusetzen. Gespart wird in Griechenland weiter. +Auch in Portugal demonstrierten Hunderttausende gegen Jobunsicherheit, prekäre Verhältnisse und die Sparmaßnahmen der Regierung. Mehr als jeder Vierte zwischen 15 und 24 Jahren ist arbeitslos – insgesamt 27,2 %. Im März 2011 gründeten vier junge Portugiesen deshalb die Facebook- Gruppe Geração à rasca (Verlorene Generation) und schrieben ein Manifest. Bei der Movimiento 12 de Marzo (Bewegung des 12. März) gingen fast 300.000 Leute auf die Straße. Nach weiteren Protesten zog die konservative Opposition ihre Unterstützung für das Kürzungsprogramm der Regierung zurück. Die Sparpläne wurden daraufhin im Parlament abgelehnt. diff --git a/fluter/yes-we-clan.txt b/fluter/yes-we-clan.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..768196d7bfc6ad0fd307a8a276e78ab01a9bc941 --- /dev/null +++ b/fluter/yes-we-clan.txt @@ -0,0 +1,32 @@ +In ihrem Dorf in Mazedonien ist die Familie so groß, dass sie gar nicht genau sagen können, wie groß sie ist: Mit allen Onkeln und Tanten, Geschwistern, Cousinen und Cousins, mit allen Kindern. 60, vielleicht 70? Sie müssten mal zählen. +Çhelopek, so heißt ihr Dorf in Mazedonien. "Tschellopek", das C hat einen Haken im Albanischen, Abdulla Ramadani zeichnet ihn in die Luft. Abdulla Ramadani, 38, rot kariertes Hemd über weißem Unterhemd: ein bedächtiger Mann mit klugen Antworten, selbst wenn man ihn nach Offensichtlichem fragt, nach eigentlich Naheliegendem. Wenn man, beispielsweise, nach dem Wert der Großfamilie fragt. +Er sitzt in einer Erdgeschosswohnung in Hamburg-Farmsen, einem Stadtteil der roten Backsteinhäuser. In einer Stadt, in der die Sommer selten Sommer sind und die Winter selten Winter. In einem Land, in das sein Vater vor 40 Jahren einwanderte, um Arbeit zu finden und später die Familie nachzuholen. Erst war der Vater Bauarbeiter, dann kontrollierte er Maschinen in einer Schokoladenfabrik, Smarties- Abteilung. 30 Jahre lang, für das Geld, für die Familie, jetzt kann er Schokolade nicht mehr sehen. +Es ist eines der seltenen Wochenenden, an denen der HSV auswärts gewinnt, drei Tore gegen Freiburg durch drei Fehler des gegnerischen Torwarts: Einmal hat er über den Ball gegriffen, einmal ist er drüber gestolpert, einmal ist er drunter hinweggerutscht. An diesem Wochenende denkt Abdulla Ramadani an Fußball. Wenn Abdulla Ramadani an Fußball denkt, dann beginnt er über seinen Sohn nachzudenken: zentrales defensives Mittelfeld, ein guter Fußballer, SC Condor, Hamburg-Farmsen, für eine Zeit auch Kapitän, erfolgversprechend, wäre nicht die Pubertät gekommen, die Faulheit, die Lethargie. +Der Sohn sagt: Es waren die Verletzungen, die Schulter. +Der Vater sagt: Ich mache mir Sorgen um den Jungen. +Der Sohn sagt: Ich schicke Bewerbungen ab. +Ramadani sitzt auf einem Teppichboden, der gerade erst gesaugt wurde, mit dem Rücken lehnt er am Wohnzimmerschrank, Stickkunst an der Wand, schwere Gardinen vor den Fenstern. +Seine Familie sitzt um ihn herum, erste Generation, zweite Generation, dritte Generation: sein Sohn, der Fußballer, sein Vater, der Mann mit den Smarties, der aufrecht im Sessel sitzt und regelmäßig die Armbanduhr prüft, seine Mutter, Kopftuch, rote Wangen, seine Frau, zurückhaltend, die Frau seines Bruders, still, die Tochter seines Bruders, der Sohn seines Bruders, die zweite Tochter seines Bruders, seine Tochter, der zweite Sohn, der sich den Arm gebrochen hat, sein Bruder. Die Frauen zurückhaltender als die Männer. +Zwölf Menschen, die sich jedes Wochenende sehen und fast jeden Tag. Die Kinder rennen durch die Wohnung. Die Erwachsenen schauen Filme. Sie fahren bei gutem Wetter in den Heide-Park Soltau, zum Hamburger Dom, Autoscooter, Riesenrad, Fußball. Die Großmutter macht albanische Bohnensuppe, die Kinder wollen die Suppe nicht, sie wollen Nudeln. +Das Prinzip der Familie Ramadani heißt: Jeder hilft, wo Hilfe nötig ist. Jeder tut, was er kann. +Abdulla geht mit seinen Eltern auf die Ausländerbehörde, den Pass erneuern. Abdulla hilft seinem Vater bei der Suche nach einer guten Kfz-Versicherung, er füllt ihm die Formulare für die Krankenkasse aus. Sein Vater kann Deutsch, aber das Deutsch der Formulare ist ein anderes. Wenn sein Vater frühmorgens auf den Fischmarkt geht, bringt er Obst für die ganze Familie mit. Wenn einer der Brüder ein neues Auto kaufen will, leiht ihm der andere Bruder Geld. Wenn Winterreifen auf die Autos müssen, dann schrauben sie zu dritt. Und wenn eines der Kinder in Mathe Schwierigkeiten hat, dann fragen sie Zubejda, Abdullas Tochter, siebte Klasse, Gymnasium. +"Welchen Sinn hat das Leben ohne Familie?", fragt Abdulla. Für ihn ist das eine rhetorische Frage. Und wenn es eine Antwort gibt, dann nur eine: keinen. +Was ist Familie? Die Familie schweigt: erste Generation, zweite Generation, dritte Generation. Sie sitzt im Wohnzimmer und schweigt. Vielleicht ist die Frage dumm. +Als fragte man: Warum dreht sich die Erde? Warum fließt Wasser bergab? Was ist Wetter? +Dann sagt Zelfi, der Fußballer, nach Auskunft des Vaters erst kürzlich der Pubertät entkommen, 17 Jahre alt, drei Streifen auf der Trainingsjacke, ein strahlender Mensch: Familie ist, wenn immer jemand da ist. +Dann sagt Abdulla, sein Vater: Wir schicken die Alten nicht in Heime. Das ist Familie. Abdulla sagt, dass sich auch sein Sohn am wohlsten in Çhelopek fühle, in ihrem Dorf in Mazedonien. +Deutschland, das ist das Land der kleinen Familien, der Scheidungen, der sinkenden Geburtenraten, der Singles, der Altenheime. Das Land, in dem Alleinstehende Lasagne in die Mikrowelle schieben, während Abdulla Ramadani mit zwölf Menschen in einem Raum sitzt, Verbindungen aus Blut und Liebe, jedes Wochenende, wie jetzt. +Deutschland, das ist auch das Land von Thilo Sarrazin, sagt Abdulla. Und er erzählt, wie seine Mutter, die Kopftuch trägt, an einer Hamburger U-Bahn-Station einmal einen Passanten nach dem Weg fragte. Und wie der Passant geantwortet habe: Mit dummen Menschen rede ich nicht. +Abdulla denkt über seinen Sohn nach: In Çhelopek kann er Traktor fahren. Fußball spielen. Nichts tun. Ihm geht es besser dort, denkt Abdulla. Irgendwann einmal sollten wir aufs Land ziehen, denkt Abdulla. Wo es große Häuser gibt für wenig Geld. Deutschland, das ist das Land von Frühjahr, Herbst und Winter. Mazedonien, das ist das Land des Sommers, das Land der großen Ferien: Dann fahren sie in Hamburg-Farmsen los, zwei Autos, zehn Personen, 2.200 Kilometer, Übernachtung in Linz bei einem Cousin, nicht weit von der Autobahn weg, dann weiterfahren, nach zwei Tagen Fahrt steigen sie in Çhelopek aus: Sie rollen die Läden hoch in ihrem Haus. Sie lüften durch. Im Juli und im August liegen die Durchschnittstemperaturen in Çhelopek bei 30 Grad. Neben ihrem Haus stehen vier weitere Häuser, sie gehören der Großfamilie, 5.000 Quadratmeter Land. Im Sommer sind sie 60, vielleicht 70 Personen. Sie grillen. Zelfi, der Fußballer, darf Traktor fahren. Mit seinem Smartphone macht er Bilder vom Haus. +Abdulla denkt weiter über seinen Sohn nach: Er soll eine Ausbildung machen, einen Job finden. Was ist mit einer Freundin? Erst die Ausbildung, der Job. Was ist mit Ausziehen, einer eigenen Wohnung? Erst die Ausbildung, der Job. Bei der Arbeit spricht Abdulla mit einem Kollegen. "Ich habe Probleme mit meinem Sohn", sagt sein Kollege. "Die Probleme sind überall die gleichen", sagt Abdulla. +An einem Montag sitzt Abdulla Ramadani auf seiner Couch in Hamburg-Farmsen, vor zehn Jahren ist er bei seinen Eltern ausgezogen, ein paar hundert Meter weiter ist er gezogen, weniger als eine Minute läuft er zum Haus der Eltern, in dem auch der Bruder mit seiner Familie lebt. Es ist der Tag, nachdem sich die Familie zu zwölft getroffen und darüber gesprochen hatte, wie es ist, eine Familie zu sein, eine so große. Der Tenor war: Es ist sehr gut, eine so große Familie zu sein. Es ist wie ein Kreislauf. Abdullas Eltern sind noch nicht pflegebedürftig, aber wenn sie es sind, dann will Abdulla helfen, selbstverständlich. Vielleicht sind die Eltern dann sechs Monate im Jahr bei ihm, sechs Monate bei seinem Bruder. Oder die Eltern entscheiden, bei wem sie leben wollen. Seine Frau bringt schwarzen Kaffee. Milch. Schokoladenkekse. Kitkat. +Der Kaffee schwappt in den Bechern, als sie ihn auf den Wohnzimmertisch stellt. Abdulla zeichnet ein Diagramm: seine Familie. Das Diagramm hat drei Ebenen, jede Ebene eine Generation. Abdulla reibt sich das Gesicht. Er hat kaum geschlafen, wie er selten gut schläft am Wochenanfang. Montags wechselt seine Schicht, von der Frühschicht zur Spätschicht, von der Spätschicht zur Nachtschicht, von der Nachtschicht zur Frühschicht. "Ich arbeite für die Familie", sagt Abdulla. Frühschicht, Spätschicht, Nachtschicht. Frühschicht, Spätschicht, Nachtschicht. Frühschicht, Spätschicht, Nachtschicht. "Wofür arbeitet man, wenn nicht für die Familie?", fragt Abdulla. +Abdulla muss mit den Schichten arbeiten, doch die Schichten arbeiten gegen ihn. Sie arbeiten gegen die Familie. Und sie arbeiten gegen seine Religion. +Er wischt über sein Smartphone, wenn er die Gebetszeiten nachschauen will: 6.20 Uhr, 12.11 Uhr, 14.30 Uhr, 17.04 Uhr, 18.35 Uhr. Wenn er bei der Arbeit ist, dann kann er nicht beten. Aber er bete, sooft es geht. Er klingt fast entschuldigend. +Seine Frau kann den Koran auf Arabisch lesen. Die Kinder lesen den Koran auf Arabisch. Er ist noch nicht so weit, aber er will bald so weit sein. Wieder klingt er fast entschuldigend. Der Koran lehnt im Wohnzimmerregal, neben dem Fernseher, aufgerichtet, von bunten Post-its durchzogen, jede Sure griffbereit. +Eine Sure besagt, dass man der Familie helfen muss. +Sein Sohn Isa kommt in den Raum, geboren 2007, er hat keine Schule, weil er krankgeschrieben ist, der linke Arm ist unter seinem Pullover an den Körper gebunden, zwei Drähte stecken im Knochen: Er pendelt vom Wohnzimmer zur Küche, von seiner Mutter zu seinem Vater, sein Vater legt Isa eine Hand auf den Kopf. +Abdulla denkt über Isa nach: Vielleicht sollte er anfangen, in einem Verein Fußball zu spielen. +Letzte Woche war Isa durch die Wohnung gerannt und so hingefallen, dass ein Knochen splitterte. Er musste operiert werden. Isa lag fünf Tage im Krankenhaus. Die Ärzte beschwerten sich, weil jeden Tag Isas Familie kam und kleine Geschenke brachte, das war den Ärzten zu viel: die Eltern, die Großeltern, die Tante, der Onkel, Cousinen, Cousins, die Geschwister. +Neben Isa lag ein Junge im selben Alter, ein deutscher Junge, sagt Abdulla. Der deutsche Junge habe nur einmal Besuch bekommen, von seiner Mutter. "Wo ist Papa?", habe der deutsche Junge gefragt. "Wo ist Opa?" +Abdulla war es peinlich, wie viele Geschenke sie Isa brachten. Doch vor allem war es ihm peinlich, wie einsam der deutsche Junge war. diff --git a/fluter/you-are-welcome.txt b/fluter/you-are-welcome.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..325c0526c5f9c7ab3706f11e2489afaca371d12d --- /dev/null +++ b/fluter/you-are-welcome.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Ich wurde 1921 in Mannheim geboren. Meine Eltern waren Juden, aber sie lebten nicht orthodox. Bis ich 17 Jahre alt war, bin ich zur Schule gegangen. A ls die Pogromnacht war, im November 1938, ging das nicht mehr. Zwei Jahre später wurden meine Mutter und ich in ein Konzentrationslager in Frankreich deportiert. Nach 21 Monaten hat mich das Schweizer Kinderhilfswerk aus dem Lager geholt, später bin ich in die Schweiz geflohen. Alle anderen wurden nach Auschwitz gebracht. Alle – meine Mutter, mein Vater und meine Schwiegermutter – sind dort ermordet worden. Nach dem Krieg wollte ich in der Schweiz arbeiten, aber ich bekam keine Arbeitserlaubnis. Also beschlossen meine Frau und ich, in die USA auszuwandern, dort hatten wir Verwandte. Im März 1948 sind wir mit unserer zweijährigen Tochter an Bord der Queen Mary gegangen. Meine Frau war die ganze Zeit seekrank. In den USA habe ich nach einer Woche einen Job gefunden – in einem Büro, damit kannte ich mich ja aus. Eines Tages hat meine Frau Blut gespuckt. Wir hatten beide Tuberkulose. Zwei Jahre lang mussten wir in einem Sanatorium leben. Unsere Tochter kam in eine Pflegefamilie. Als ich wieder gesund war, durften wir in eine Sozialwohnung ziehen. Der Staat hat mir eine Ausbildung zum Buchhalter bezahlt. +Ich bin mit meinem älteren Bruder in einem buddhistischen Tempel aufgewachsen, auf der Insel Hokkaido in Japan. Mein Vater war früher ein kommunistischer Aktivist, heute ist er ein Priester. Außer dem Tempel gab es in unserem Dorf nur Reisfelder. In der Schule habe ich eine Kunst-AG gegründet. Die Aufnahmeprüfung für die Kunsthochschule war mir aber zu krass. Im Jahr 2000 hab ich eine Anzeige von der New School in New York gelesen und mich dort beworben. In New York hat mich ein großer Typ wegen meines T-Shirts beschimpft. In Japan tragen alle Shirts mit englischen Sprüchen drauf, aber wir betrachten das nicht als Wörter. Auf meinem T-Shirt stand "Fuck off!". Seit meinem Diplom zeichne ich Operationen für Medizinbücher. Gerade ist mein erstes Buch rausgekommen, es heißt "Kameratechnik bei Blinddarmoperationen ". Nächstes Jahr will ich in eine kleinere Stadt ziehen, vielleicht nach Memphis. Da sind die Menschen freundlicher und es gibt irgendwie keine Gesetze. Ich komme aus einem solchen Ort, deshalb denke ich, dass ich damit gut umgehen kann. diff --git a/fluter/youtube-gaona-bauern-kolumbien.txt b/fluter/youtube-gaona-bauern-kolumbien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..65fa8ff52557880cdc413c699ce60e6ec41a0219 --- /dev/null +++ b/fluter/youtube-gaona-bauern-kolumbien.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +"Nubia und Söhne" ist ein Social-Media-Phänomen, das es wohl nur inCorona-Zeitengeben kann. Die Pandemie hat die Situation der Kleinbauernfamilien in Kolumbien dramatisch verschlechtert. Zwar durften die Landwirte trotz der landesweiten Quarantäne in den meisten Gegenden weiter produzieren, aber sie haben es sehr viel schwerer als vorher: Ausgerechnet jetzt plagen Dürren und Stürme manche Regionen, der steigende Dollarkurs hat die Kosten für importierte Betriebsmittel wie Dünger in die Höhe getrieben; Großabnehmer wie Restaurants, Imbisse und Mensen sind geschlossen. Während in der Stadt die Preise für Lebensmittel wegen Corona immer weiter steigen, lassen Kleinbauern die Ernte auf Feldern und Obstbäumen verrotten: Der Gewinn wäre so gering, dass es sich nicht lohnt, Erntehelfer zu beschäftigen. Die staatlichen Essenspakete für Notleidende bestückt die Regierung hauptsächlich mit Industrieware, statt den Kleinbauern die Ware abzukaufen. Also mussten sich die Gaonas eine neue Einnahmequelle suchen. +"Solche YouTuber sollen die sozialen Netzwerke erobern," kommentiert ein Zuschauer. Ihre Fanbase erstreckt sich mittlerweile von Kolumbien, über die USA bis nach Saudi-Arabien +Sie haben eine gefunden. In ihren Tutorials erklären sie Städter*innen, wie man richtig gärtnert, und werben für ein von ihnen zusammengestelltes Pflanzset für umgerechnet 4,50 Euro. "Viele Menschen brauchen gerade jetzt etwas Gesundes zu essen", sagt Nubia. Ohne Romantisierung und große Inszenierung filmt die Familie ihren Alltag und macht damit deutlich, welche Folgen das Wirtschaftssystem hat. "Wir wollten den Leuten zeigen, wie das Leben der Menschen auf dem Land ist, wie schwer sie es haben und was sie Schönes erleben", sagt David, Nubias ältester Sohn. +In vielen Regionen Kolumbiens ist staatliche Unterstützung bis heute Mangelware, selbst in denArmenvierteln von Bogotákommt kaum staatliche Hilfe an. Fast die Hälfte der Kolumbianer*innen hat keinerlei Absicherung und arbeitet "informell", verkauft ihre Waren also zum Beispiel auf der Straße. Während der Pandemie, in der einige Branchen Arbeitsverbote verhängt haben, haben viele weitere ihre Jobs verloren. +Umso begeisterter sind die Kolumbianer*innen, dass Familie Gaona nicht auf Hilfe wartet, sondern aktiv wird. Auf YouTube überschütten ihre Fans sie – aus Kolumbien, den USA oder Saudi-Arabien – mit Liebe und Likes. "Solche YouTuber sollen die sozialen Netzwerke erobern, aufrechte Leute mit viel Schwung und Kraft!", kommentiert ein Zuschauer.Warum ihr erstes Video rasend schnell viral ging, erklären Expert*innen mit der Erfolgsformel aus Gefühl, Fröhlichkeit, Bescheidenheit – und dass es eine konkrete Lösung für ein Problem bietet. +Kleingärtnerei Nubia & Söhne: 1.500 Pflanzsets haben Alejandro, Nubia und David schon verkauft +Nubias Mann starb vor zwei Jahren, seither muss sie sich und ihre Söhne selbst versorgen +Ein Sozialunternehmen, das ehemalige Nachbarn der Gaonas gegründet haben, hilft der Familie. Sonst gibt esKleinbauern in der Region Krediteoder sucht für sie Direktabnehmer, um Zwischenhändler zu vermeiden und stabile Preise zu garantieren. Jetzt managt der Chef Sigifredo Moreno die Anfragen aus aller Welt und die Logistik; seine Frau Juliana Zapata macht Kamera und Schnitt und lädt daheim in Bogotá die Videos hoch. +In den ersten drei Tagen gingen 6.000 Anfragen auf der angegebenen WhatsApp-Nummer ein. Die Internetseite des Sozialunternehmens brach zusammen. Mittlerweile unterstützt sie ein Team. 1.500 Pflanzsets haben sie schon verkauft, der angepriesene Käse und die Karamellcreme des Nachbarbauern sind aus. Wenn sie wüssten, wie sie die Sets gut ins Ausland verschicken, hätten sie schon viel mehr verkauft. Der Erfolg ist so groß, dass auf YouTube, Twitter, Facebook und Instagram ständig Fake-Accounts eröffnen, die suggerieren, die Gaonas zu sein. +Wie viel Geld und Spenden sie eingenommen haben, wollen sie nicht sagen. Einen Computer hat die Familie allerdings schon kaufen können. Fans haben sich gemeldet, um den Jungs Englischunterricht zu geben. Und als Alejandro in seinen löchrigen Stiefeln Zwiebeln pflanzte, meldete sich ein Gummstiefel-Hersteller als Sponsor. Vor ein paar Tagen bekam die Familie sogar Strom – nach über zehn Jahren Wartezeit. Gut möglich, dass das mit ihrer neuen Bekanntheit zu tun hat, sagt Nubia. In den alten Videos sieht man sie noch, wie sie abends Kerzen anzündet. + diff --git a/fluter/zahlen-bitte.txt b/fluter/zahlen-bitte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b6dbf7f8750d1bbeca428ac4517760973a20fc07 --- /dev/null +++ b/fluter/zahlen-bitte.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +"Fräulein" zum Beispiel. Warum ist das machomäßige Kleinmachen einer Frau überall sonst aus gutem Grund verpönt? Aber zu einer Kellnerin dürfen ältere Herren und Damen diese verbale Entgleisung noch sagen? Versteh ich nicht. Aber wir waren beim "Zahlen, bitte!". Wer das sagt, ob nun mit oder ohne "Fräulein" vorne dran, der hat es in der Regel sehr, sehr eilig.Woher die Eile rührt, ist nicht immer eindeutig zu erkennen. Manchmal müssen die Menschen einfach nur schnell irgendwohin. Ins Kino oder ins Theater, oder auch dringend in die Horizontale mit dem- oder derjenigen, der oder die ihnen gegenübersitzt.Oft sind die Gäste auch einfach nur vollgefressen und sehr müde, weil all das Blut, das sonst durch ihr Hirn zirkuliert, plötzlich dringend zur Verdauung benötigt wird. Oder sie haben sich alles erzählt, und bevor eine unangenehme Stille eintritt, die keiner mehr mit Worten zu füllen vermag, müssen sie schnell weg. Weg von diesem Tisch im Restaurant oder im Café, weil sie es offenbar nur unter seelischen Qualen noch länger dort aushalten können.In jedem Fall ist der einmal gefasste und dann auch ausgesprochene Wunsch "Zahlen, bitte!" trotz des zweiten Wortes meist keine Bitte, sondern ein Befehl, dem schnellstmöglich Folge zu leisen ist, sonst sinkt die Laune am Tisch rapide.Betretenes Schweigen, gesenkte Blicke. Da wird Wachs vom Kerzenständer gepult, leere Zuckertütchen aus Papier klitzeklein gefaltet, es wird mit den Füßen gescharrt, "Tok, tok, tok" mit der Ecke der EC-Karte auf die Tischplatte geklopft – bis die Bedienung es endlich mit der Rechnung an den Tisch geschafft hat. Dabei wusste die bis vor Sekunden noch gar nichts von dem dringenden Bedürfnis, hatte womöglich andere Tische zu bedienen, an denen hungrige oder durstige und deshalb ebenfalls ungeduldige Gäste sitzen. "Himmelherrgott, wo bleibt sie denn?", murmelt es erst, dann lauter: "Hallo? Haben Sie uns vergessen?"Schwierig ist das Verhältnis zwischen Bedienung und Gast, geradezu fragil. Denn – und das ist die große Tücke jedweder zwischenmenschlichen Interaktion – wer sich wie zu verhalten hat, ist nirgends eindeutig festgelegt. Keine zehn goldenen Regeln für den Restaurantbesuch, die man auswendig lernen oder hübsch eingerahmt irgendwo aufhängen könnte, auf dass sich alle daran halten. Stattdessen eine Menge Raum für Interpretation. Und Erwartungen. Und die sind ja immer Gift, vor allem dann, wenn sie unausgesprochen bleiben und man sie zwar vielleicht mit viel Empathie erahnen könnte, in jedem Fall aber sehr leicht enttäuschen kann.Es bedarf also guter Manieren. Und die sind auch schwierig, denn sie entstammen dem Bereich der Sitte. Spätestens dort wird es undurchsichtig wie ein Badezimmerspiegel nach dem Duschen. Bemühen wir zunächst eine Definition: Sitten sind tradierte (was zählt heute noch die Tradition?), nicht als Gesetz fixierte (also nicht einklagbare) Normen einer Gesellschaft (zu dumm, dass wir alle Individuen sind), die in Form gelebter alltäglicher Regeln das soziale Handeln bestimmen. Das mag hilfreich gewesen sein, solange die Zahl der Menschen, die man kennt, überschaubar und das Leben durch die soziale Kontrolle anderer bestimmt war. Das aber ist nicht mehr der Fall. Gäbe es heute eine Webseite, bei der man sich als Gast vor dem Restaurantbesuch anmelden müsste und auf der die Kellnerin nach dem Besuch eine Bewertung hinterlassen könnte, dann sähe die Welt bestimmt ganz anders aus. Gibt es aber nicht. Wird es wohl auch nie. Wäre ja Überwachung. +Gute Manieren also. Auf beiden Seiten. Die hat man zwar – so prinzipiell. Aber man wendet sie nicht immer an. Besonders dann nicht, wenn man Hunger oder es eilig hat. Oder zu viele Gäste, die Hunger oder es eilig haben. Je nachdem. Vor allem aber dann nicht, wenn man generell ein Ekel ist oder ein netter Mensch mit einem schlechten Tag.Besonders spannend wäre bei dem imaginierten Bewertungssystem übrigens der Punkt "Tip", Trinkgeld. Denn darum geht es schließlich beim Zahlen, ums Geld. Das des Gastes, das er gut investiert wissen will. Und eben auch um das Geld der Bedienung. Schließlich bezahlt er für das, was er bekommt.Der englische Begriff "tip" wird von einem sehr schönen Entstehungsmythos begleitet, der sich allerdings nicht eindeutig belegen lässt. "To ensure promptness", soll ein gewisser Edward Lloyd, der 1688 in London ein Kaffeehaus eröffnete, dort auf eine Blechdose geschrieben haben. Ob das nun stimmt oder nicht: Die Geschichte ist interessant. Denn offenbar musste man damals vor dem Service Trinkgeld geben. Vorher. Nicht nachher. Eine Art Bestechungsgeld also, um etwas zu erhalten, was in der gewöhnlichen Leistung nicht vorgesehen war. Nämlich Schnelligkeit.An welchem Punkt das genau schiefgelaufen ist und sich alles derart unlogisch verdreht hat, so dass man heute erst am Ende Trinkgeld gibt, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. In jedem Fall ist es höchst bedauerlich. So muss die Bedienung in Vorleistung gehen und trotz gänzlich ungewissem Ausgang auf ein gutes Trinkgeld spekulieren. Freundlich sein, schnell sein, lächeln, ein paar charmante Bemerkungen machen, all so was eben. Nur um dann oft genug der Schusseligkeit der Gäste ausgeliefert zu sein – "Ach, bei EC-Kartenzahlung kann man auch Trinkgeld geben?" Oder dem Sadismus – "Die Kleine ist jünger als ich und sieht auch noch besser aus. Pah! Der zeig ich's." Das alles könnte man sich sparen, wenn folgende einfache Regel gelten würde: Gutes Trinkgeld, guter Service. Schlechtes Trinkgeld, Service as usual. Und alle wüssten wieder Bescheid. +Marlene Halser, Jahrgang 1977, ist Journalistin, jobbte aber seit Beginn ihres Studiums immer wieder in der Gastronomie. Vielleicht gefällt ihr deshalb auch eine Szene aus der Wolf-Haas-Verfilmung "Der Knochenmann" so gut. Da stellt der Wirt das Motto vom Kunden, der König ist, auf den Kopf: "Dös is koa Gasthaus, sondern a Wirtshaus", knarzt er seiner Kundschaft entgegen und lässt sie kurzerhand mit all ihren unerfüllten Bestellungswünschen am Tresen stehen. diff --git a/fluter/zahlen-fakten-neukoelln.txt b/fluter/zahlen-fakten-neukoelln.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/zahlen-in-der-krise.txt b/fluter/zahlen-in-der-krise.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..525b1dbd590a8c566938bb1ccd1cf194f6f3bc55 --- /dev/null +++ b/fluter/zahlen-in-der-krise.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +So werden viele junge Erwachsene gerade zu den eigentlichen Experten des Kontinents – und trotzdem bleiben Stereotype.EUROPOLY begibt sich mit Film- und Theaterproduktionen auf die Reise, um von diesem neuen Europa zu erzählen. Ausgangspunkt der Filme sind Statistiken. Datenmaterial, das zum Leben erweckt werden soll. +Die Idee zu EUROPOLY hatte Johanna Keller, bis vor kurzem Leiterin des Goethe-Instituts in Litauen. Sie hatte sich über die Vorurteile geärgert, die ihr über Land und Leute begegnet sind – ebenso wie ihre Kollegen aus den benachbarten Instituten in Mittel- und Osteuropa. "Da haben wir uns gefragt: Wie können wir ein überraschendes Bild von Europa zeichnen?" +Besonders wenn es um die Finanzkrise gehe, sei schnell nur von den "großen Playern" die Rede, befand sie, offensichtliche oder vermeintliche Fronten wie "Deutschland gegen Griechenland" würden gebildet. Keller und ihre Kollegen machten sich zunutze, dass in der EU viele Daten erhoben werden: "Wir wollten Paare gegenüberstellen, die man so nicht erwartet hätte." +Umgedrehte Ethnographie +In einem allerersten Brainstorming überlegten sie, welche Statistiken spannend wären: Wo gibt es die meisten Selbstmorde? Wo die meisten Waffen? Wo wird am meisten Joghurt gegessen? Bei der Recherche stießen sieauf  YouTube-Videos, in denen Statistiken von Moderatoren erklärt werden: "Das war sehr kurzweilig", sagt Keller. Die Gruppe merkte, dass sie keine nackten Zahlen präsentieren wollte: Sie wollte über Statistiken Kurzfilme drehen. +Der erste Schritt: Die Gruppe engagierte Dorothee Wenner, eine in Berlin lebende Filmemacherin, die auch als Kuratorin für die Berlinale arbeitet. Sie sollte sich auf die Suche begeben nach geeigneten Filmemachern und Protagonisten sowie spannenden Statistiken. Wovon Wenner im ersten Moment alles andere als begeistert war: "Wenn ich vor mir eine Statistik habe, dann entsteht vor meinem inneren Auge erstmal kein Film." Aber dann erdachte sie einen Twist, der aus den Zahlen eine Geschichte macht: Eine bekannte Persönlichkeit aus dem Land des einen statistischen Extrems wird ins Land des anderen Extrems geschickt, um dessen Erfolge oder Misserfolge zu erforschen. Und die Kamera ist mit dabei. Wenner nennt das "umgedrehte Ethnografie". +Ein Beispiel: In einer Statistik haben Italiener angegeben, niemanden fragen zu können, wenn sie Hilfe brauchen. Dänen hingegen stellten sich als die Gruppe mit dem besten sozialen Netzwerk heraus. Also schickten sie einen jungen Schriftsteller aus Italien nach Dänemark und lassen das von einer jungen dänischen Regisseurin filmen. +Die Methode war gefunden, doch der Weg zu den geeigneten Statistiken mühsam: "In der Praxis habe ich mich im Zahlendschungel verloren", sagt Wenner. "Ich konnte mich bald nicht mehr zurechtfinden zwischen ‚konsumiertem Rindfleisch pro hunderttausend Einwohnern' und ‚Zement pro Haus in Quadratmeter'." Schnell wird ihr klar: Sie braucht strenge Auswahlkriterien. Die Statistiken dürfen nicht vor Beginn der Finanzkrise 2009 veröffentlicht worden sein und müssen mit stereotypen Erwartungen brechen. Das Wichtigste aber ist, dass sie den Filmemachern das Erzählen ermöglichen. +"Deutschland ist immer im Mittelfeld" +Da möglichst viele Länder vorkommen und sich immer die Extreme treffen sollten, waren die Probleme vorprogrammiert: "Deutschland ist immer im Mittelfeld", sagt Wenner. "Dänemark ist immer Klassenbester und Rumänien immer ganz unten." Sie war froh, als sie endlich Statistiken fand, in denen auch diese Länder an interessanter Stelle in den Extrempositionen stehen. +Eine dieser Statistiken ist die der WHO über Schlaflosigkeit: In Deutschland schlafen die Menschen außerordentlich schlecht, in der Türkei hingegen sehr gut – dabei erlebte das Land große soziale Auseinandersetzungen wie die Gezi-Park-Proteste und den Kurdenkonflikt, nicht zuletzt leben die Menschen in direkter Nähe zum islamischen Terror des IS. "Normalerweise denkt man doch: Wenn alles in Ordnung ist, schläft man besser", sagt Wenner. "Man hat ein Haus, ein stabiles Einkommen. Man braucht sich keine Sorgen zu machen, ob man morgen etwas zum Frühstück hat. Man kann relativ sicher sein, dass einem kein Terroranschlag das Ende des Lebens beschert. Und ausgerechnet da, wo alles sicher, normal und beständig zu sein scheint, schläft der Einzelne nicht mehr. Das finde ich total verblüffend." +Um herauszufinden, ob eine Statistik überraschend ist, macht Wenner den Test: "Ich hab Freunde gefragt: ‚Wo glauben die Leute, dass Ausländer gut integriert sind?'" Namen wie London, Kopenhagen und Paris fielen. Nur einer der Befragten war von der statistischen Wahrheit nicht überrascht – er lebte lange Zeit in Cluj, Rumänien. Langsam wird klar: Es scheint eine gefühlte Wahrheit über Europa zu geben, die über unsere Vorurteile mehr aussagt als über die Fakten. +Tatsache: In der Türkei schlafen die Menschen am besten, allen sozialen Konflikten um Gezi und Co. zum Trotz +Doch es gab auch Statistiken, die die Kuratorin ablehnte, weil sie ihrer Meinung nach ein verzerrtes Bild erzeugen, obwohl sie ja Fakten präsentieren. So befand eine im Mai 2014 veröffentlichte OECD-Studie, Deutschland sei zweitbeliebtestes Einwanderungsland nach den USA. Wenner erinnerte sich an den triumphalen Medienrummel, der nach der Veröffentlichung einsetzte. "Ich finde das ziemlich verlogen in einem Land, das gerade erst so richtig anfängt, sich mit Einwanderung zu beschäftigen." +Die Kuratorin gibt zudem zu bedenken, dass viele Statistiken von privaten Unternehmen in Auftrag gegeben werden: "Leute leben davon." Die meisten Statistiken über Haustiere gebe es von Kleintierfutterfirmen. "Auch wenn ich in einem Autoliebhabermagazin etwas über die beliebtesten Kleinwagen lese, ist das nicht besonders abgesichert." Laut offiziellen Zahlen gibt es in Zypern die meisten Waffen pro Einwohner, osteuropäische Länder wie Ungarn, Litauen und Slowenien folgen. Wenner traf auch auf eine Schweizer NGO, die das in Frage stellte. "Da geht es um Zählmethoden", sagt Wenner. "Und man muss sich fragen, wer ein Interesse daran hat, wie konkret die Statistiken sind." +Auch die dänische Filmemacherin Vibeke Bryld hat sich zunächst sehr über die ihr zugedachte Statistik gewundert, wonach sich ihre Landsleute im Bedarfsfall fast immer an Nachbarn, Freunde oder Familie wenden können: "Es gehört zum Allgemeinwissen, dass eines der größten sozialen Probleme in Dänemark die Einsamkeit ist", sagt sie. +Die wichtigen Details finden sich im Kleingedruckten +Bryld schaute deshalb noch einmal genauer in die 2010 veröffentlichte Untersuchung von Eurostat – dem Statistischen Amt der Europäischen Union. Und siehe da: Im Begleittext steht eine Einschränkung, die das Ergebnis in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt. Die Bezugsperson, nach der gefragt wurde, muss sich außerhalb des eigenen Haushaltes befinden. Bryld vermutet, dass in Italien viele Menschen in Familien leben, Dänen hingegen leben oft allein. +"Statistiken sind unglaublich irreführend, weil sie so tun, als ob sie eine objektive Wahrheit präsentieren", sagt die Filmemacherin. "Aber wenn man sie sich genauer anschaut, gibt es einen Kontext, kleine Anmerkungen oder Umstände, die es unglaublich schwierig machen, eine Schlussfolgerung zu ziehen." +Und tatsächlich: Schaut man in die Fußnoten der Statistik, werden weitere Einschränkungen aufgelistet. So ist vermerkt, dass es bei der Befragung der Dänen einen "Programmierfehler" gab: Die anderen Aussagen, die in diesem Kontext entscheidend waren – dass man sich nie mit Freunden oder Verwandten treffe, dass man nie Kontakt mit Freunden oder Verwandten habe oder sogar alles zusammen zuträfe –, wurden gar nicht zur Wahl gestellt. In Frankreich wurde eine spezifische Untergruppe befragt – Menschen, die tatsächlich akut Hilfe benötigten. Die Antworten aus Großbritannien wurden gar nicht erst gewertet, bezeichnenderweise heißt es zur Begründung: "Die Frage unterschied sich zu sehr von der, die in anderen Ländern gestellt wurde." +Das sagt jedenfalls die Statistik. Doch manchmal fokussiert sie sich auf Zahlen, ohne das Umfeld zu offenbaren. Ohne Kontext kann man den Gehalt einer Zahl nur schwer erfassen +Bryld gibt zu bedenken, dass es auch kulturelle und individuelle Unterschiede gebe, Hilfsbedürftigkeit zu definieren: "Manche denken vielleicht: Wenn ich Möbel rücken oder einen Nagel in die Wand schlagen muss, kann ich da jemanden anrufen? Andere denken: Wenn ich in die Notaufnahme muss oder kurz davor bin zu sterben, kann ich da jemanden um Hilfe bitten?" +Wie also mit solchen Zahlen umgehen, zumal künstlerisch? Bryld hatte gleich den Impuls, die Statistik in Frage zu stellen. "Ich werde bestimmt keinen Film darüber drehen, warum Dänen sich gegenseitig so gut helfen", sagt sie. Eine Idee sei, einen sehr abstrakten Film zu drehen. Sie habe darüber nachgedacht, in einem einfachen, selbstgebastelten Haus aus Papier zu filmen, wie es das Cover eines Buches des italienischen Schriftstellers ziert, der der Protagonist ihres Filmes werden soll. Eine andere Idee sei, an dem für sie glücklichsten Tag des Jahres zu drehen – Mittsommernacht. "Das Schöne an Mittsommer ist – im Gegensatz zu Weihnachten, Ostern oder Silvester – dass man nicht eingeladen werden muss", sagt sie. "Man kann ganz einfach kommen." +Ellen Wesemüller ist freie Journalistin. Für das Projekt EUROPOLY arbeitet sie als Online-Redakteurin. diff --git a/fluter/zahlen-politische-bedeutung.txt b/fluter/zahlen-politische-bedeutung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e31eb85fe474660c93474495ecf096e2130ed51e --- /dev/null +++ b/fluter/zahlen-politische-bedeutung.txt @@ -0,0 +1,33 @@ +Wann wurden Zahlen überhaupt für die Menschheit wichtig? +In dem Moment, als die Wirtschaft komplexer wurde. Statt zu jagen und zu sammeln, fingen die Menschen an, sesshafter zu werden, sie legten Vorräte an und bildeten erste Verwaltungsstrukturen. Man brauchte ein intellektuelles Werkzeug, um mit der neuen sozialen Komplexität umgehen zu können. Das ist die Stärke von Zahlen. +Und ihre Schwäche? +Zahlen sind mächtig, weil sie Komplexität herunterbrechen. Aber Komplexität herunterzubrechen bedeutet auch immer die Gefahr, Fehler zu begünstigen und falsche Entscheidungen zu treffen. Wir müssen immer den Kontext der Zahlen kennen, um die richtigen Schlüsse aus ihnen zu ziehen. Es ist das große utopische Versprechen von Zahlen, dass wir alle Uneindeutigkeiten ausschließen, alles mit einem Rechner erledigen können – im Sinne einer Kosten-Nutzen-Rechnung. Wenn dem so wäre, bräuchten wir kein Parlament mehr, keine Politiker. + + +Brauchen wir auch ein anderes Verhältnis zur Mathematik? +Nun, worin besteht denn Mathematik? Wir denken uns Zahlensysteme aus und studieren ihre Gesetzmäßigkeiten. Im Grunde ist die Mathematik eine Beschäftigung des Geistes mit seinen eigenen Erfindungen und steht damit Literatur und Philosophie eigentlich näher als den Naturwissenschaften! In der Praxis kommt die Mathematik aber erst dann ins Spiel, wenn die Welt schon in Zahlen übersetzt ist.Dann können wir die Antworten auf unsere Fragen einfach ausrechnen.Aber die Übersetzung und der Glaube, dass sich alles in Zahlen übersetzen ließe, sind der kritische Punkt. +Gibt es Gesellschaften, die nicht so zahlenfixiert sind wie unsere? +Zahlen sind in allen sogenannten Hochkulturen präsent. Man denke nur an Kalender, Maße und Zahlenmystiken. Aber es gibt innerhalb der Kulturen immer Zeiten, wo der Zahlengebrauch exzessiv wird. Die Planwirtschaften im Sozialismus sind ein gutes Beispiel dafür, aber auch unsere momentane kapitalistische Gesellschaft, in der die quantitativen Methoden des betriebswirtschaftlichen Managements als Allheilmittel gelten. Aber mächtig waren sie schon immer. Seit sie kurz nach der neolithischen Revolution entstanden sind, lassen sie uns nicht mehr los. Sie begleiten uns und sind unentbehrlich geworden. +Heute anscheinend mehr denn je: von der Anzahl der Follower und Likes in Sozialen Medien bis hin zu Fitness-Apps, die unsere Schritte zählen. Wird die Macht der Zahlen in unserem Leben zu groß? +Diese Entwicklung ist nicht per se schlecht. Es ist ja tatsächlich ein Problem, dass wir uns zu wenig bewegen. Wenn wir also aufgrund einer App 10.000 Schritte am Tag machen, ist das gut. Zum Problem wird es, wenn ich aufgrund der Zahlen persönlich haftbar dafür gemacht werde, dass ich mich nicht genug bewege. Dabei bewege ich mich nicht genug, weil ich Teil der modernen Industriegesellschaft bin – und die ist so eingerichtet, dass wir wenig laufen. Diese Ursache blenden die Zahlen aus. Stattdessen wird mit ihnen an mich als Individuum appelliert, das Problem zu lösen. So kommt es zu einer Entsolidarisierung aufgrund von Daten. In anderen Lebensbereichen – etwa bei der Zahl der Follower – gibt es keine geltende Norm zur Orientierung, sondern nur den Fetisch des Wachstums. Und ich will nicht nur mehr Follower als gestern haben, sondern mehr als andere. Damit zieht der Wettbewerb in alle möglichen Lebensbereiche ein. + + +Dieses "Mehr, mehr, mehr" gilt auch weiterhin inder Wirtschaft.Obwohl jemand, der mit dem Auto einen Schaden verursacht, mehr zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) beiträgt als jemand, der immer Fahrrad fährt und sich nachhaltig verhält. Ist Wachstum immer noch eine Art Fetisch? +Auf einer gewissen Ebene sehen wir ein, dass es so nicht weitergehen kann. Aber individuell hängen wir dennoch weiter am Wachstum. Es bedeutet Chancen für uns. Es steht für den nächsten Arbeitsvertrag, das nächste Gehalt. +Zerstören wir unsere Lebensgrundlagen nicht eher durch das Wachstum? +Viele VWLer erkennen die Herausforderungen durch den Klimawandel an, aber sie schließen daraus, dass wir unseren Kindern die finanziellen Mittel hinterlassen müssen, um mit den Problemen umzugehen. Wir benötigen Geld für Dämme, um uns gegen steigende Meeresspiegel zu wappnen, oder für neue Technologien. So gesehen wäre eine Abkehr vom Wachstum Selbstmord, weil der Menschheit dann finanzielle Mittel fehlen, um gegen den Klimawandel vorzugehen. Andererseits gäbe es den Klimawandel nicht, wenn wir nicht so wachsen würden. Es geht also um konkurrierende Vorstellungen von Verantwortung. In Zahlen ausgedrückt: 1,5 Grad versus BIP. +Es gibt aber auch Alternativen zum BIP – etwa den "Happy Planet Index", bei dem Lebenserwartung, Zufriedenheit und ökologischer Fußabdruck einen Wert ergeben. Aber kann man doppelt so glücklich sein wie jemand anders? +Der Happy Planet Index kommt so daher, als wäre er nicht kontrovers. Aber man sieht sofort, dass er eine ganz bestimmte Vorstellung von Glück meint. Menschenrechte etwa oder politische Freiheit spielen keine Rolle. Außerdem lässt man sich damit auf die quantitative Sprache des BIP ein. Mich erinnert das an einen Satz von Erich Kästner. "Dich liebe ich noch einen Zentimeter mehr als das schöne Wetter", heißt es in einem seiner Kinderbücher. +Müssen wir also noch mehr den Respekt vor Zahlen verlieren? +Den falschen Respekt auf jeden Fall. Wir müssen verstehen, dass Zahlen eine Form von Technik sind. Es sind reine menschliche Instrumente, die wir uns geschaffen haben, um manches besser in den Griff zu bekommen. Was macht die Zahl sichtbar und was nicht? Neben dieser Kernfrage geht es auch um die Transparenz von Messtechniken. Wenn wir ein Fieberthermometer benutzen oder im Supermarkt Obst auf die Waage legen, dann wissen wir, wie die Werte entstehen. Aber bei den Zahlen im politischen Raum – wie etwa dem BIPoder bei Grenzwerten für Chemikalien im Gemüse– sind die Messtechniken oft unsichtbar. Man weiß nicht so genau, wo sie herkommen. Ein kritischer und reflektierter Umgang mit den Zahlen besteht darin, dass wir die Maschinerie sichtbar machen, die die Zahlen hervorbringt. + + +Ist das nicht oft zu kompliziert? Für Grenzwerte etwa werden über Jahre Studien ausgetauscht. +Aber wir können dennoch verstehen, dass Grenzwerte eine Art Handel sind. Der Grenzwert heißt nicht, dass wir auf der sicheren Seite stehen, sondern dass die Schäden noch nicht übermäßig skandalös sind. Man trifft da auf einen recht zynischen Pragmatismus. +Spätestens angesichts der Milliardensummen am Finanzmarkt haben viele Menschen das Gefühl, dass sie die Entstehung der Zahlen nicht mehr verstehen. +Da treffen wir auf Magie oder besser: Alchemie – im Gegensatz zu einer Praxis, die wir von Grund auf beherrschen. Die Zahlen sind da, sie werden von den Märkten geliefert in Form von Preisen oder Gewinnen. Aber dann kommen die Finanzjongleure und manipulieren dieses System, um eine Zeit lang davon zu profitieren. Und bei jedem Finanzcrash sehen wir, dass es auch für sie eine Blackbox ist. Hier müsste der Staat regulieren, aber der glaubt ja selbst an den Markt und die Preise. +Apropos Staat: In den 1980er-Jahren gab es in Deutschland riesige Proteste gegen die sogenannte Volkszählung. Die Menschen wollten nichts von sich preisgeben. Heute werden Daten freimütig weggegeben an Konzerne und den Staat. +Die meisten Menschen haben mit ihren Daten einen relativ unbefangenen Umgang, weil sie sie als Teil ihrer objektiven Realität akzeptieren. Sie nicht herzugeben hieße fast, einen Teil der Wirklichkeit zu verschleiern oder sogar zu lügen. Mein Verdacht ist, dass es in den Achtzigern ein gesünderes Misstrauen gegenüber Daten gab und den Stellen, die sie sammeln. Es bestand ein größeres Bewusstsein dafür, dass die Daten eben nicht die objektive Realität widerspiegeln, sondern auch Herrschaftsinstrumente sind – zur Domestizierung und Zähmung. In dem Moment, in dem man uns misst, verwandeln wir uns. Man kann uns ausrechnen. +Heißt das, dass wir unpolitischer geworden sind? +Unser komfortables Leben wird durch Zahlen erst möglich. Vieles funktioniert aufgrund von Algorithmen. Dann zahlen wir eben den Preis dafür und geben unsere Daten her, damit es so bleibt. Die Frage ist: Wogegen haben wir unsere Freiheit eingetauscht? In früheren Epochen bekamen die Menschen für die Freiheit immerhin so etwas wie Sicherheit – sie waren als Untertanen von König und Kirche durch diese geschützt. Das hatte einen großen Wert. Im Vergleich dazu machen wir heute ein recht schlechtes Tauschgeschäft.Für unsere Daten bekommen wir einen recht kindischen Komfortund drohen unversehens in eine Überwachungsgesellschaft im Wohlfühlmodus zu schlittern. +"Die politischen Zahlen" heißt das Buch, das Oliver Schlaudt geschrieben hat. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg und arbeitet zu Fragen der Ökonomie, Technik und kulturellen Evolution. diff --git a/fluter/zahlmeister.txt b/fluter/zahlmeister.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/zaza-burchuladze-roman-touristenfruestueck.txt b/fluter/zaza-burchuladze-roman-touristenfruestueck.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..3f8daa8bd56ac667fadfc084ed19dccd0800c996 --- /dev/null +++ b/fluter/zaza-burchuladze-roman-touristenfruestueck.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Zaza Burchuladze: Touristenfrühstück. Aus dem Georgischen von Natia Mikeladse-Bachsoliani. Blumenbar Verlag, Berlin 2016. 176 S., 18 Euro +"Für mich ist es ein Zeichen von Dummheit, an einen Gott zu glauben", erklärt er jetzt, nachdem er seinen Cappuccino in einem ziemlich passablen Deutsch bestellt hat. In Georgien aber habe der Patriarch der orthodoxen Kirche einen Einfluss, der ans "Göttliche" grenzt. Und sogar die junge Generation glaube mehrheitlich daran, dass man nach dem Tod entweder ins Paradies oder in die Hölle kommt. "Es gibt eine georgische Redewendung, die übersetzt werden kann mit ‚Gott ist hier'. Ich habe ein Wortspiel daraus gemacht. Man muss nämlich nur einen einzigen Laut verändern, dann lautet der Satz ‚Gott stinkt'." Danach spricht er beide Sätze gaanz langsam auf Georgisch vor. Sie hören sich genau gleich an. +Zaza Burchuladzes letztes in Georgien entstandenes Buch war der drastische Roman "Adibas" (auf Deutsch 2015 im Blumenbar Verlag erschienen), der das Partyleben der Tbilisser Jugend während des Kaukasus-Kriegs mit Russland umkreist. Nun ist kürzlich "Touristenfrühstück" erschienen, sein erstes im Exil geschriebenes Buch. Wobei man dazu fragen kann: Würde er es "Exil" nennen? "Emigration"? Oder welchen Status hat man als einer, dem in der Heimat großer Ärger droht, aber nicht unbedingt staatliche Verfolgung? "Es ist weder Exil noch Emigration", erklärt er entschieden. "Eher ist es eine neue Art zu leben, wie sie heute eben möglich ist. Ein Leben, in dem es die Grenzen von früher nicht mehr gibt, in dem es nicht mehr so wichtig ist, aus welchem Land man kommt." +Auch wenn er gerade hart an seiner dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland arbeitet, Georgien aber bleibt sein zentrales Thema. "Touristenfrühstück" ist ein Erzählen aus der Lücke zwischen hier und dort, mit der Biografie des Autors als Basismaterial. Versatzstücke seines Berliner Lebens verzahnt er mit Erinnerungen an Georgien, das eine gleitet in das andere über, häufig vermittelt durch Bilder auf dem Smartphone des Ich-Erzählers (der auch Zaza Burchuladze heißt) – unter anderem Bilder seiner letzten Hochzeit, die noch in Tbilissi stattfand. +Nun aber ist der Erzähler in Berlin und geht mit seiner Tochter im Berliner Humboldthain spazieren, wo ein seltsames Vogelsterben im Gange ist. Überall finden die beiden Kadaver, sogar auf dem Spielplatz gräbt das kleine Mädchen einen toten Vogel aus dem Sand. Der alte Flakturm, der die Gegend überragt, dient als kuriose wie morbide Kulisse. + +Metapher und Wirklichkeit. Das mysteriöse Vogelsterben im Berliner Humboldthain gibt es nicht nur in "Touristenfrühstück", wie Zazas Handyfoto beweist +"O doch, doch, die toten Vögel entsprechen der Realität", versichert der Autor sehr ernsthaft: "Ich habe Bilder." Bilder spielen eine immens wichtige Rolle in "Touristenfrühstück": außer den Handyfotos immer wieder auch bewegte Bilder, vor allem in Gestalt jener oft schwer verdaulichen Arthouse-Filme, die der Erzähler gemeinsam mit seiner cineastischen Ehefrau gucken muss. Mit einer Art filmischer Montagetechnik arbeitet auch der Roman: Gegen die Berliner Szenen werden Bilder aus Tbilissi geschnitten, als assoziatives Mosaik aus Kindheitserinnerungen und Erlebnissen in der Kulturszene. +Einmal begegnet er dem französischen Regisseur Leos Carax auf dem Tbilisser Filmfestival, was eine Kettenreaktion surrealer kleiner Szenen in Gang setzt. Weil nämlich der Franzose gern kiffen möchte, in Tbilissi "was zum Rauchen" aber nicht so einfach zu besorgen ist wie dort, wo er herkommt, müssen der Erzähler und sein ausländischer Gast eine Odyssee durch die Stadt unternehmen und stranden dabei unter anderem bei einer traditionellen georgischen Totenwache. +"I love Berlin", erklärt Zaza Burchuladze. Nach drei Jahren habe er das Gefühl, hier so etwas wie eine neue Heimat gefunden zu haben. Er gehe gern durch die Straßen in Prenzlauer Berg spazieren und fühle sich in seiner Umgebung sehr wohl. "Aber andererseits bin ich auch noch nicht ganz wirklich hier. Es ist ein Zwischenzustand." Offenbar einer, aus dem sich produktive Funken schlagen lassen. +Zaza Burchuladze: "Touristenfrühstück". Aus dem Georgischen von Natia Mikeladse-Bachsoliani. Blumenbar Verlag, Berlin 2016, 176 S., 18 Euro +Titelbild: David Meskhi diff --git a/fluter/zdf-serie-himmel-erde-ukraine.txt b/fluter/zdf-serie-himmel-erde-ukraine.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a0ab48b50fe3dd7399815b7475c895378f7ffb93 --- /dev/null +++ b/fluter/zdf-serie-himmel-erde-ukraine.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +"Himmel & Erde – Небо та Земля" ist keine subtile Serie. Dafür ist die Zeit von gerade einmal 20 Minuten pro Geschichte auch zu knapp. In den kleinen Ausschnitten zeichnen sich die Themen, die die Protagonist*innen umtreiben, klar und deutlich an der Oberfläche ab. Was aber nicht bedeutet, dass die Serie oberflächlich ist. Die Perspektive liegt ganz auf den Gefühlswelten der Ukrainer*innen zwischen Krieg zu Hause, Alltag in der Fremde, Ohnmacht und Hoffnung. Aber es geht auch um den Blick der Deutschen, die ihnen begegnen: die Frau vom Sozialamt, die das Gesetz nicht brechen kann, aber trotzdem aus ihrem bürokratischen Korsett ausbricht. Der pazifistische Mitbewohner,der Waffenlieferungen skeptisch siehtund Putin "ein bisschen" entgegenkommen will. Das Thema Solidarität – wo sie beginnt, wie aufrichtig sie ist und wo sie endet – ist das Fundament, auf dem die gesamte Produktion aufbaut. + +Der Sender ZDFneo hat den kreativen Raum gänzlich den Stimmen und Perspektiven der Betroffenen überlassen. Alle Beteiligten – von Drehbuch über Regie und Kamera bis zu Licht und Ton, Maske und Kostüm, Schnitt und Musik – sindukrainische Filmschaffende, die selbst nach Deutschland geflohen sind oder schon länger im Land leben. Beachtlich ist außerdem, wie wenig die einzelnen Episoden in ihrer Tonalität schwanken. Vor allem wenn man bedenkt, in welch kurzer Zeit die Serie entwickelt wurde. Die Dreharbeiten starteten im Juli, zwischen erster Idee und Veröffentlichung lagen nur wenige Monate. + +…  sind die, in denen "Himmel & Erde – Небо та Земля" sich auf die Kraft von kleinen Gesten verlässt und seine Bilder sprechen lässt. Wenn der zögerliche Nestor in einem Laden für Militärausrüstung zuerst die einzige kugelsichere Weste anprobiert, sie dann aber doch einer Frau überlässt, die sie für ihren Sohn in der Ukraine braucht, spürt man seine Zerrissenheit, ganz ohne viele Worte. + +… dass die Serie an anderen Stellen leider zu viele Worte verliert. Zum Beispiel wenn Nestor seine finale Entscheidung in einen langen und abstrakten Monolog über Demokratie und Freiheit verpackt. Ein kleines bisschen weniger Erklären und mehr Vertrauen in die Welten zwischen den Zeilen hätte die emotionale Wucht von "Himmel & Erde – Небо та Земля" noch verstärkt. + +Wen das aktuelle Nachrichtengeschehen abgestumpft hat, der sollte unbedingt "Himmel & Erde – Небо та Земля" schauen. Mit viel Empathie erzählt die Serie ganz dicht an der Realität von geflüchteten Ukrainer*innen. Das kann in den Nebencharakteren manchmal etwas schablonen- und klischeehaft werden, ändert aber nichts an der unmittelbaren Wirkung dieser Serie und ihrer Botschaft: dass der Ausnahmezustand des Krieges niemals als normal akzeptiert werden sollte. Und dass es an uns allen liegt, das zu verhindern. + +"Himmel & Erde – Небо та Земля" ist ab dem 6. Oktober in der ZDF-Mediathek zu sehen. Alle Folgen laufen auch am 25. Oktober ab 20.15 Uhr bei ZDFneo. + diff --git a/fluter/zehn-dinge-die-du-wissen-solltest.txt b/fluter/zehn-dinge-die-du-wissen-solltest.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e984baa9d02d8ed44dae2023874d375cb456dd83 --- /dev/null +++ b/fluter/zehn-dinge-die-du-wissen-solltest.txt @@ -0,0 +1,9 @@ +[ 2 ] Eine Tasse Espresso enthält absolut betrachtet weniger Koffein als eine Tasse Filterkaffee, wenn beide aus derselben Menge Kaffeemehl zubereitet werden +[ 3 ] Durch vorheriges Rollen kannst du mit der Hand mehr Saft aus Zitronen pressen +[ 4 ] In den USA wird Hühnerfleisch in einem Chlorbad desinfiziert und dann verkauft. In der EU ist das verboten +[ 5 ] Welker Salat wird wieder frisch, wenn du ihn für kurze Zeit in eiskaltes Wasser legst +[ 6 ] Kräutertee enthält keine Teeblätter +[ 7 ] Gesalzenes Wasser kocht nicht schneller als ungesalzenes +[ 8 ] Aufgewärmter Spinat ist nicht giftig, wenn er zwischen Kochen und Aufwärmen kühl gelagert wurde +[ 9 ] Der Bierbauch kommt nicht vom Bier allein. Ein Glas Bier hat weniger Kalorien als ein Glas Weißwein oder Sekt +[ 10 ] Tomaten und Zucchini sind Obst. Rhabarber ist ein Gemüse diff --git a/fluter/zeichenlehre.txt b/fluter/zeichenlehre.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/zeig-mir-dein-gesicht.txt b/fluter/zeig-mir-dein-gesicht.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..18f26d7aff3df5a1bf6d2dcb43d89fd7a9b28b6b --- /dev/null +++ b/fluter/zeig-mir-dein-gesicht.txt @@ -0,0 +1,19 @@ +"Racial Profiling ist meines Erachtens jeder verdachtsunabhängige staatliche Eingriff – typischerweise im Wege polizeilicher Identitätskontrollen –, der durch rassistische Zuschreibungen begründet ist", erklärt Alexander Tischbirek von der Juristischen Fakultät der Humboldt Universität in Berlin. "Ethnic Profiling" liege hingegen nicht vor, wenn die Polizei gezielt eine bestimmte Person mit bestimmten äußeren Merkmalen sucht – etwa aufgrund einer Täterbeschreibung. Denn dann sei das "Profiling" nicht mehr verdachtsunabhängig. +A. reicht beim zuständigenVerwaltungsgerichtin Köln eine sogenannte Fortsetzungsfeststellungsklage ein, mit der man die Rechtswidrigkeit einer behördlichen Handlung gerichtlich feststellen lassen kann. +Am 13. Juni 2013 entscheidet das Verwaltungsgericht Köln, dass die Kontrolle durch die Bundespolizisten A. "in seinen Rechten verletzt" hat und durch das Bundespolizeigesetz "nicht gedeckt" war. A. sei einer Identitätskontrolle unterzogen worden, obwohl die Bedingungen dafür offenkundig nicht vorgelegen hätten. Nach dem Bundespolizeigesetz können Polizisten die Identität von Personen feststellen, wenn dies etwa zur "Abwehr einer Gefahr" oder zum "Schutz privater Rechte" notwendig ist. Es habe aber keinerlei Anhaltspunkte dafür gegeben, dass die Aufforderung an A., seinen Personalausweis auszuhändigen "zur Erfüllung von Aufgaben der Bundespolizei, insbesondere zur Verhinderung illegaler Einreisen erforderlich geworden" wäre. Die Identitätsfeststellung sei eine polizeiliche Maßnahme, "die in das Grundrecht des Klägers auf informationelle Selbstbestimmung" nach Artikel 2 des Grundgesetzes eingegriffen habe, wonach jeder selbst bestimmen kann, ob er personenbezogene Daten preisgeben will. +Für Betroffene wie A., der sich keiner Schuld bewusst war, ist so eine Kontrolle nicht nur ärgerlich. Dem Gericht gegenüber erklärt er, dass er das Verhalten der Beamten als herabwürdigend empfand. +Die Bundespolizei beantragte, A.s Klage abzuweisen. Sie gab an, dass es sich bei der Bahnstrecke Bielefeld – Dortmund um eine Hauptroute von illegaler Migration und Schleuserkriminalität handle. "Lageerkenntnisse und grenzpolizeiliche Erfahrungswerte" führten zu der Annahme, dass die Bahnverbindung "zur unerlaubten Einreise bzw. zur Durch- und Weiterreise genutzt werde", heißt es zum Standpunkt der Bundespolizei in dem Urteil. Deshalb hätten die Polizeibeamten A. "auch nach dem äußeren Erscheinungsbild", also nach seiner dunkleren Haut, für eine Kontrolle auswählen dürfen. +Nach Paragraf 22 Absatz 1a des Bundespolizeigesetzes dürfen Bundespolizisten ohne konkreten Anlass auf Flughäfen, Bahnhöfen und in Zügen Personen kontrollieren, wenn diese sogenannten "Lageerkenntnisse" vorliegen. Auf der Homepage der Bundespolizei heißt es: Es sei "ein klassisches Dilemma", in dem man bei der Thematik "Ethnic Profiling" stecke: "Der gesetzliche Auftrag besteht in der Bekämpfung der irregulären Migration nach Deutschland." Es sei aber schwierig, in einem Land mit vielen Einwanderern, die Befragungen und Kontrollen nach den Paragrafen 22 ("Befragung und Auskunftspflicht") und 23 ("Identitätsfeststellung und Prüfung von ") im Bundespolizeigesetz differenziert durchzuführen. +Auf eine Kleine Anfrage der Grünen von Juli 2011 hatte die letzte Bundesregierung in ihrer Antwort klargestellt: Im Rahmen der Befugnisse von Polizeiarbeit zu verdachtsunabhängigen Kontrollen sei "eine unterschiedliche Behandlung von Personen in Abhängigkeit von Rasse, Herkunft oder Religion […] im BPOlG sowie den weiteren für die Bundespolizei geltenden Vorschriften und Erlassen schon deshalb nicht enthalten, weil solche Methoden unvereinbar mit dem Verständnis von Polizeiarbeit in einem demokratischenRechtsstaatsind." +Das Deutsche Institut fürMenschenrechtestellte Ende Juni 2013 eine Studie zum Thema "Ethnic Profiling" vor. Das Institut wurde 2001 auf Empfehlung des Bundestages gegründet. Es informiert über die Lage der Menschenrechte im In- und Ausland und soll den Schutz der Menschenrechte fördern. Direktorin Beate Rudolf forderte anlässlich der Veröffentlichung der Studie die "Abschaffung rassistischer Personenkontrollen durch die Bundespolizei". Paragraf 22 Absatz 1a verstoße nämlich "gegen dasDiskriminierungsverbotimGrundgesetzund gegen internationale Menschenrechtsverträge." Die Bundespolizei könne, so steht es in der Studie des Instituts, im Rahmen solcher Kontrollen "völlig frei und 'aus dem Bauch heraus' handeln." Deshalb will man die Streichung der Gesetzesnorm – denn diese bildet ja die Grundlage der Kontrollen. +Auch dieEuropäische KommissiongegenRassismusund Intoleranz (ECRI) sprach in einem Bericht Handlungsempfehlungen für Deutschland aus. ECRI ist ein unabhängiges Gremium, das vom Europarat mit dem Ziel eingerichtet wurde, Rassismus und ähnliche Formen von Diskriminierung sowie Intoleranz zu überwachen. Alle fünf Jahre veröffentlicht ECRI länderspezifische Berichte, in denen die Situationen in den Mitgliedsstaaten des Europarats analysiert werden. Im letzten Bericht über Deutschland von 2009 stellte ECRI fest, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen im Alltag in vielen Lebensbereichen von Diskriminierung betroffen sind, "insbesondere Muslime, Türken und Schwarze sowie Sinti und Roma." +Unter dem Punkt "Verhalten der Polizei" unterstreicht der Bericht, wie wichtig ein unabhängiges Untersuchungsverfahren wäre, um Anschuldigungen zu polizeilichem Fehlverhalten nachzugehen und die Schuldigen notfalls vor Gericht zu bringen. In anderen Ländern wie Großbritannien existieren bereits unabhängige Kommissionen, die Beschwerden über polizeiliches Fehlverhalten nachgehen. +Im Januar 2013 wurde durch einen Bericht des Magazins Der Spiegel eine Liste mit 57 Fällen bekannt, in denen sich Menschen beklagten, aufgrund ihrer ausländischen Herkunft oder ihrer Hautfarbe von Bundespolizisten diskriminiert worden seien. Zum Vergleich: Im Jahr 2011 gab es nach Angaben der Bundesregierung 460.273 Befragungen der Bundespolizei nach § 22 Absatz 1a aus dem Bundespolizeigesetz. 57 Beschwerden klingen im Vergleich dazu wenig. Die Zahl ungemeldeter Fälle ist vermutlich höher. +Fehler durch die eigenen Beamten räumte die Bundespolizei nur in zwei der 57 Fälle ein. In allen anderen waren die Beschwerden an einzelne Bundespolizeidirektionen nach eigener Prüfung unbegründet. Einmal hielten die Beamten fest, "Verhalten des betroffenen Beamten" sei "nach Sachverhaltsprüfung nicht korrekt" gewesen. Den Beschwerdeführern – sie empfanden das Verhalten eines Beamten als ausländerfeindlich – sei eine Entschuldigung ausgesprochen worden. "Vorwurf derAusländerfeindlichkeit" habe sich jedoch nicht bestätigt. +Ethnic Profilingbezeichnet eine Methode von Polizei-, Sicherheits-, Einwanderungsbehörden oder Zoll, das physische Erscheinungsbild einer Person, wie etwa die Hautfarbe, als Entscheidungsgrundlage für eine behördliche Maßnahme, z.B. einer Personenkontrolle, Befragung, Ermittlung, Durchsuchung oder Überwachung, heranzuziehen. +Der zweite aus der Liste der 57 Beschwerdeführer war Anwalt A. Da es sich in seinem Fall nicht um eine strafrechtliche Angelegenheit handelte, stellte das Gericht hier "bloß" eine Fehlhandlung fest. Verurteilt wurde niemand. Zu einer Entschuldigung, so A., "war die Bundespolizei bis zum heutigen Tage nicht bereit." +Kritiker von "Ethnic Profiling" fordern ein Nachdenken der Gesellschaft über das Vorkommen der Kontrollen, bei denen Menschen vereinzelt allein wegen ihrer Hautfarbe durchsucht und so in ihren Grundrechten verletzt werden können. Bislang, so heißt es in der Studie des Instituts für Menschenrechte, werde "Ethnic Profiling" in der Politik und der breiten Öffentlichkeit noch relativ wenig thematisiert. Das Institut will das ändern. +Links +- DieStudie des Deutschen Instituts für Menschenrechtezu Ethnic Profiling- DieMonitoring-Berichte der Europäischen Kommissiongegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) zur Situation in Deutschland- DieLandkarte des Misstrauensder Wochenzeitung "Der Freitag"- Spiegel-Bericht zur Bundespolizei-Listemit Beschwerdefällen- EinKommentar zum Themaim Berliner Tagesspiegel + +Marvin Oppong ist freier Journalist in Bonn. diff --git a/fluter/zeit-und-raum.txt b/fluter/zeit-und-raum.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a5e78812611f2cd0e668ed24a44f527aed940091 --- /dev/null +++ b/fluter/zeit-und-raum.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Asylbewerber und Geduldete können bis zu sechs Monate lang verpflichtet werden, in der Erstaufnahmeeinrichtung zu wohnen. Aufgrund der sogenannten Residenzpflicht dürfen sie grundsätzlich drei Monate lang ihren zugewiesenen Wohnsitz nicht verlassen. Danach legen Landesregelungen fest, wo sie sich bewegen und wohnen dürfen. Wer aber erst mal Asyl erhalten hat, kann deutschlandweit umziehen. Die Große Koalition erwägt nun aber eine Wohnsitzauflage, um auch sie eine Zeit lang an einen bestimmten Ort zu binden. Denn: Die meisten zieht es dann in große Städte, die für Toleranz und Offenheit stehen und oft schon ethnische Communitys haben. So leben viele Flüchtlinge aus Eritrea in Frankfurt am Main, Syrer in Berlin, Iraker in Köln oder Bielefeld. Alles Städte, in denen Studenten und Menschen mit wenig Geld um günstige Wohnungen konkurrieren. Flüchtlinge gehen da oft unter, und wer überhaupt fündig wird, muss sich oft mit der letzten Absteige abfinden. +Dabei sind woanders Wohnungen frei, aber eben nicht in den attraktiven Gegenden: Laut dem Berliner Empirica-Institut gibt es rund 1,7 Millionen leer stehende Wohnungen überwiegend außerhalb der Ballungsgebiete, Zehntausende allein in Sachsen. In Brandenburg oder Sachsen-Anhalt beziffern einige Städte und Wohnungsbaugesellschaften den Leerstand auf mehr als zehn Prozent. Auch in manchen Städten in NRW gibt es unvermietete Wohnungen. "Wenn sich die neuen Flüchtlinge so verteilen würden wie die bisherigen Immigranten, könnten immerhin 43 Prozent von ihnen in leer stehenden Wohnungen leben", sagt Harald Simons von Empirica. Das hieße demzufolge auch: Wenn sie gezielter als bisherige Zuwanderer aufs Land und in die unbeliebten Städte gingen, könnten es sogar noch mehr sein. +Manche Kommune würde sich über den Zuzug freuen – Gemeinden wie Goslar zum Beispiel. Zum ersten Mal seit 1996 ist die Stadt im vergangenen Jahr wieder mal gewachsen – auch durch die Flüchtlinge. "Es gibt einen Wettbewerb um integra-tionswillige Flüchtlinge. Als tendenziell kleiner werdende Stadt müssen wir doch ein ganz egoistisches Interesse daran haben, diese Leute hier zu halten", sagt Goslars Oberbürgermeister Oliver Junk. Nur wenn eine Kleinstadt zügig echte Anreize biete, einen Job, eine Wohnung, Anschluss, würden die Ballungsräume ihre Anziehungskraft verlieren. +Arbeitsmarktexperten vom Bonner Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit oder von Pro Asyl sind skeptisch, ob es auf dem Land genügend Arbeitsplätze gibt, um für Neubürger auf Dauer attraktiv zu sein. Das Empirica-Institut widerspricht. "Der ländliche Raum hat einen großen Arbeitskräftemangel", heißt es dort. In einem Papier verweist das Institut auf viele offene Stellen, zum Beispiel in Thüringen. +In brandenburgischen Städten wie Cottbus, Frankfurt (Oder) oder Eisenhüttenstadt könnten rund 4.000 Wohnungen vor allem in leer stehenden Plattenbauten bewohnbar gemacht werden. Andere setzen auf Neubau-Komplexe. Jürgen Friedrichs, emeritierter Stadtsoziologe aus Köln, hält solche Großprojekte für problematisch. "Wir bauen Siedlungen, die zwar Probleme der Unterkunft lösen, aber neue Konflikte rund um die Integration aufwerfen." Er spricht sich dafür aus, keine neuen Großsiedlungen zu schaffen, sondern kleinere Gruppen von Flüchtlingen über die Städte zu verteilen – am besten nicht dort, wo andere arme Menschen wohnen, sondern in wohlhabenderen Stadtteilen. "Wir wissen, dass die Vorurteile gegenüber Migranten umso größer sind, je geringer die Schulbildung ist." diff --git a/fluter/zeit-verbrechen-shariat-love-by-proxy-interview.txt b/fluter/zeit-verbrechen-shariat-love-by-proxy-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/zeiten-der-langeweile-roman-jenifer-becker-internet.txt b/fluter/zeiten-der-langeweile-roman-jenifer-becker-internet.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..2a592a0dd00d19979074285f7d2b36453c8c899b --- /dev/null +++ b/fluter/zeiten-der-langeweile-roman-jenifer-becker-internet.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Auf immer abgelegeneren Seiten des Internets sucht Mila nach Spuren von sich. Nach Foreneinträgen und Fotos, auf denen sie im Hintergrund zu sehen sein könnte, nach einem Artikel, der auf sie verweist, oder nach einem Pseudonym, unter dem sie einen frühen Text veröffentlicht hat. Rigoros lässt sie alles entfernen. Kämpft mit den Betreiber:innen der Websites um ihrRecht auf Vergessenwerden. Und der digitale Rückzug hat zunehmend auch Konsequenzen in ihrem analogen Leben. So kündigt sie ihren Lehrauftrag an der Universität, weil die ihr Foto nicht von der Website nehmen will, solange sie dort unterrichtet. Arbeitslos, verlässt Mila kaum noch ihre kleine Wohnung im Ballungsgebiet Berlins. Sie meidet Tourist:innen und Teenager, umgeht sämtliche Orte, die als Fotomotiv herhalten und später mit ihr im Hintergrund online gehen könnten. So geht sie bald nur noch nachts einkaufen, und erst mit der anbrechenden Dunkelheit schleicht sie sich in ein 24-Stunden-Fitnessstudio. +Was als Geste der Selbstermächtigung beginnt, wird zu der Geschichte eines unkontrollierten Kontrollversuchs, einer über 200 Seiten langen Irrfahrt in die Einsamkeit. Die Angst, alles zu verlieren, wenn der Internetzugang verloren geht, wird hier durchgespielt. Was dieses Gedankenspiel in den Leser:innen auslösen kann, lässt sich vielleicht am besten bildlich beschreiben: Man könnte sagen, die digitale Sphäre ist für viele Menschen längst zu ihrem natürlichen Lebensraum geworden. Doch wie Fische,die nichts von dem Wasser wissen, das sie umgibt, weil sie es ja nicht anders kennen, nehmen die Menschen diesen Lebensraum nicht wahr. Beckers waghalsiger Vorstoß mit diesem Roman besteht darin zu sagen: Das ist Wasser. Hier ist eine Strömung. Da ist es wärmer, hier kälter. Und da geht es ganz tief runter. Und so fühlt sich das Lesen bald auch wie ein Selbstversuch an, bei dem sich immer mehr die Frage aufdrängt: Wo beginnt Wahnsinn? Wenn Fische nicht wissen, dass sie im Wasser sind, oder wenn ein Fisch versucht, an Land zu gehen? +Die Sprache, die Becker dafür findet, lebt von einer gegenwartsgesättigten Detaildichte, die voller Humor ist und von großer Leichtigkeit. Es sind Sätze, die auf dem festen Boden des Alltags stehen und jederzeit bereit sind, sich in philosophische Höhen abzustoßen. Das klingt dann so: "Mir fiel jetzt erst auf, wie viel Zeit ich in den letzten Jahren scrollend verbracht hatte. Auf einmal erstreckte sich der Tag vor mir wie eine fünfte Dimension, die ich eigentlich irgendwann in meiner Kindheit verlassen hatte." Doch die titelgebende Langeweile, die hier anklingt, ist kein Sehnsuchtsort, keine Vorstufe zenbuddhis­­tischer Verheißung, sondern ein rasender Zustand der Ungeduld. Eine Aufregung, die sich auf die Leser:in überträgt und um die Hauptfigur bangen lässt, als die sich schließlich auf einer abgelegenen Insel im norwegischen Meer wiederfindet. +"Zeiten der Langeweile" ist ein raffinierter Roman voller Referenzen. Er ist die deutsche Antwort aufOttessa Moshfeghs Welterfolg "Mein Jahr der Ruhe und Entspannung", in dem eine Frau versucht, ihr Leben ein Jahr lang mit Schlaftabletten zu pausieren. Gleichzeitig ist er auch eine Variation der "Robinsonade" – dieser uralten Geschichte von Robinson Crusoe, der auf einer einsamen Insel landet, abgeschnitten von der Zivilisation, die er aus eigener Kraft wiederherstellen muss. Becker stellt in ihrem Debüt das ganze Genre auf den Kopf. In ihrer umgekehrten Robinsonade geht es nicht um die Wiederherstellung der Zivilisationstechniken, um die Neuerfindung des Feuers und einen Ausweg von einer Insel. Es geht um den Ausbruch aus einer allumfassenden Technologie und den Aufbruch zu alten Ufern. Es geht um die Suche nach der Insel in dem Wasser, das uns umgibt. + +Titelbild: Delfina Carmona / Connected Archives diff --git a/fluter/zeiten-des-aufruhrs.txt b/fluter/zeiten-des-aufruhrs.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..745dd5a117e62ab1c7ba3e3b0798e6567851043e --- /dev/null +++ b/fluter/zeiten-des-aufruhrs.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Die Stasi-Angst sitzt tief in der DDR. Die Republik ist noch jung, da schlagen die Tschekisten (hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter) schon ungestüm los: Allein in den ersten sechs Monaten 1953 werden 4.200 politische Gefangene gemacht und sechs davon hingerichtet. 1955 weitere sechzehn. Und das ist nur der Anfang. Die Staatssicherheit, "Schild und Schwert der sozialistischen Einheitspartei", wähnt sich ganz weit vorne im Lauf der Weltgeschichte. Sie hilft der marxschen Formel vom sicheren "Stasi weg, hat kein Zweck!", riefen die Demonstranten von draußen. Um 20 Uhr durfte die erste Delegation des Neuen Forums das "Schreckenshaus" betreten Thema: DDR — 23 Sieg des Proletariats im Klassenkampf mit Fallbeil und Genickschuss nach. Erst als Erich Honecker Anfang der 70er-Jahre mehr internationale Anerkennung und bessere Handelsbeziehungen für sein Land erwirken will, muss der Staatsterror subtileraufgezogen und an die "unsichtbare Front" verlegt werden. Die als "Juristische Hochschule" verbrämte Stasi-Uni in Potsdam setzt das Thema "Psychologische Zersetzung" aufs Curriculum. Die Lektionen für die gehobene Unterdrückerlaufbahn lautet nun: Karrieren verbauen, Kinder von Eltern entfremden, in Ehen Misstrauen säen, Bewegungsfreiheit rauben – zum Beispiel durch Führerscheinentzug. Die Stasi ist vernetzt mit allen Staats- und Verwaltungsorganen. Gewaltenteilung, jenes demokratische, für staatlich organisierten Terror so lästige Hindernis, gibt es nicht. 91.000 hauptamtliche Mitarbeiter und zuletzt ca. 200.000 IMs haben freie Bahn, das Leben kritischer Geister von innen und außen aufzubohren. +Die Hollitzers warnen ihren Sohn vor dem Protestieren: Ob er denn nicht wisse, wie am 17. Juni 1953 die Aufstände niedergeprügelt wurden? Aber es hilft nichts, Tobias gehört zu den ersten, die 1989 gegen das Regime auf die Straße gehen. Bei den jungen Oppositionellen funktioniert die alte Drohkulisse nicht mehr so lückenlos. Vielleicht fehlt dazu die Erinnerung an die physische Brutalität der frühen Jahre. Jedenfalls sind sie es, die den alten Angstgegner auf den Montagsmärschen als Erste schon mal verbal attackieren. Erste Rufe "Stasi weg, hat kein Zweck!" kommen auf. Als im Laufe des Novembers die SED-Macht in Berlin zusehends bröckelt, stimmen mehr Menschen ein. Es wird lauter: "Stasi weg, hat kein Zweck!" Die Stasi-Oberen zeigen Nerven. Sie warnen das Neue Forum vor Übergriffen. Weil Gewaltlosigkeit in Leipzig oberste Maxime ist, baut sich eine Abordnung der Bürgerrechtler als friedlicher Puffer vor der Runden Ecke auf.Doch selbst die vom eigenen Gegner geschützte Stasi bleibt lernschwach. Ihre Dreistigkeit wird in der neuen Konstellation sogar erst richtig plakativ: Hinter dem Rücken der Bürgerrechtler läuft in der Runden Ecke die ganz große Aktenvernichtung an. Das liegt in der Luft: Lastwagen verlassen das Areal und aus Kaminen steigt Rauch. Mit jeder Schwade steigen auch die Erwartungen der Straße an die revolutionäre Initiative des Neuen Forums. Das große Vorbild ist allerdings schon längst nicht mehr Lenin, sondern eine Erfurter Frauengruppe. Die hat, um den in der dortigen Stasi-Kreisdienststelle ebenfalls angelaufenen Akten-Abtransport zu stoppen, einen Bagger samt Führer gekapertund angeordnet, die Eingänge des Gebäudes mit Betonplatten und Baustellensand zu verrammeln. Die Nachricht der Ereignisse vom Montagvormittag erreichen die Leipziger blitzschnell, natürlich auch die Stasi, die ja immer alles weiß. Nur für den bevorstehendenAbend weiß sie keinen Rat. Die Herren Tschekisten laufen im Büro des Neuen Forums auf und fordern großspurig eine "Sicherheitspartnerschaft". Doch mit Fordern sind jetzt die anderen dran. Die Ansage des Neuen Forums lautet: "Stoppt die Aktenvernichtung und legt noch heute Abend alles offen, dann bleibt es friedlich. Oder ihr bekommt Besuch von voraussichtlich 250.000 Demonstranten. " Das Ministerium der Angst willigt ein. +Gegen 20 Uhr betritt die erste Delegation des Neuen Forums das Gebäude, um das die Leipziger fast 40 Jahre lang einen großen Bogen gemacht haben. Tobias Hollitzers Anspannung entlädt sich, wie gesagt, erst mal in Übersprungslachen. Die Räume des verhassten "VEB Horch und Guck" erinnern eher an die Heimwerkstatt eines Verfolgungswahn-Psychotikers, als an die Zentrale einer gefürchteten Geheimpolizei. Da stehen selbst gezimmerte Geräte zum Briefe öffnen und schließen, Schräglichtlampen zumEntziffern von Geheimcodes, mit Kameras präparierte Handtaschen und falsche Bäuche. In den Telefonabhöranlagen leiern aus Westpaketen geklaute Audiokassetten. Da gibt es verschiedene Bastelecken: zum Personalausweisefälschen, zum Perückenknüpfen oder zum Kneten von falschen Nasen. Der Rest des Gebäudes ist rammelvoll mit Akten, die mithilfe solcher Tarnungen gefüllt worden sind. Zehn laufende Kilometer Ordner sind es,wie sich später herausstellt. Den Mitgliedern des Neuen Forums wird klar: Der Feierabend fällt flach, jetzt ist Revolution. Aktive Besetzung ist gefordert, um die weitere Vernichtung von Beweismaterial zu verhindern. Noch in derselben Nacht gründet sich das Bürgerkomitee zur Sicherung der Stasi-Akten. Nicht ohne Gegenwehr. +"Die wollten uns ständig einwickeln", erinnert sich Tobias Hollitzer, "wenn wir dazu aufforderten, einen Panzerschrank zu öffnen, konterten sie: "Ihr wollt doch Rechtstaatlichkeit, jetzt werdet euch doch nicht untreu"". Historisch einmalig ist auch, wie viele Schlüssel in dieser Nacht angeblich gerade mit einem anderen Mitarbeiter unterwegs sind. Erst mal bedarf es Verhandlungsgeschick: im Umgang mit der Stasi, aber auch mit der Volkspolizei, die das Gebäude ab jetzt von außen sichern soll. Die Vopos haben Angst vor den aufgebrachten Massen und machen erst mit, als das Neue Forum die ungewöhnliche Kooperation zwischen Polizei und Dissidenten auf einem Transparent draußen am Gebäude gut sichtbar absegnet. Dann muss die DDR-Staatsanwaltschaft eingeschaltet werden und Räume versiegeln. Das Neue Forum muss zusätzlich eigene Siegel basteln, weil auch der Staatsanwaltschaft nicht zu trauen ist. Raum für Raum müssen sie sichern – immer, wenn in der Runden Ecke ein weiteres Licht aufleuchtet, jubeln draußen die Demonstranten. Sie sind jetzt wirklich das Volk, von dem alle Gewalt ausgeht, und sie wollen Erfolge sehen. Regelmäßig berichtet einer der Besetzer über Megafon von den neusten Entdeckungen. Erst nach und nach wird die ganze Dimension sichtbar: +Ein Großteil der Briefpost im Raum Leipzig musste zuerst durch das Nadelöhr der Stasi. Sämtliche Telegramme liefen parallel in der Runden Ecke vom Ticker. Bisweilen reichten kleinste Anzeichen von Regimekritik, damit die Verfolgungsmaschine anlief: Wie bei der Leipzigerin, die im Café neben einen Zeitungsartikel eine kritische Notiz geschrieben hatte. Ein anderer Fall: Jemand bot Westbesuchern der Leipziger Frühjahrsmesse seine Privatunterkunft und freundete sich mit einem an. Der neue Freund und seine späteren Briefe kamen jedoch nicht aus Hamburg, sondern von der Stasi. Er sollte dem Leipziger eindeutige Kritik am System entlocken. Verdächtige wie er wurden unter Vorwänden auf Amtsstuben geladen, nur damit sie auf präparierten Stühlen ihre Geruchsprobe hinterließen. Vergleichshunde brachten Tatgegenstände wie Flugblätter mit den archivierten Duftmustern zusammen und zerstörten so mitunter Menschenleben. Stasi-Untersuchungshaft trat man nicht an, man verschwand darin: Die Stasi machte Gefangene nach der Verhaftung orientierungslos, isolierte sie strikt und verwehrte ihnen jeden Kontakt nach draußen. Freigang gab es nur in gemauerten Käfigen von wenigen Quadratmetern. Nachts wurde ständig das Licht in den Zellen an- und ausgeknipst. Auch kranke Gefangene kauerten in unbeheizten Räumen, einige mussten angekettet in ihren eigenen Exkrementen liegen. Der Unterdrückungsapparat war zu einer Parallelgesellschaft ausgewuchert mit eigener Sparkasse, Sauna, Klinik unterm eigenen Dach. Die Stasi hatte eigene Finanzquellen: rund 32 Millionen D-Mark Beutegut aus Plünderung von Westpost und viel mehr noch aus dem Waffenhandel. +Die aktive Besetzung ist für Tobias Hollitzer eine bizarre Erfahrung. "Man entdeckte eine Scheußlichkeit nach der anderen und zugleich entstand so eine merkwürdige Nähe", erinnert er sich. "Wenn man ein paar Tage zusammenarbeiten muss, bleibt es nicht aus, dass man irgendwann auch über andere Dinge redet. Da sind ja auch Leute dabei, die Kinder haben." Doch die Gefahr, sein Feindbild, oder besser gesagt den festen inhaltlichen Standpunkt vorschnell zu verlieren, ist in diesen Tagen nie wirklich groß. Bald kommt der "Plan X" ans Licht, den die beiden obersten Erichs des Landes, Mielke und Honecker, bis in den späten Herbst 89 in der Schublade bereithielten, immer noch auf eine günstige Gelegenheit hoffend. Die "Direktive 1/67" sah vor, "zur Bewältigung von Krisensituationen ", innerhalb von 24 Stunden das ganze Land mit Lagern zu überziehen, in denen Personen mit "verfestigter feindlich-negativer Einstellung" zu "internieren", "isolieren" und "liquidieren" waren. Die Gelegenheit bleibt aus, weil zu viele Menschen im Lande Mut beweisen. Die Macht haben jetzt die anderen, die mit der verfestigten Einstellung. Nach wenigen Tagen ist die Selbstauflösung der Leipziger Stasi-Bezirksverwaltung beurkundet. Weitere Bezirksverwaltungen und die Berliner Zentrale folgen. Sechs Monate später organisiert das Neue Forum die erste öffentliche Stasi-Ausstellung der Welt auf dem Sachsenplatz. +"Dass wir mit so vielen Menschen vernünftig handeln konnten und so ein diffiziles Problem gelöst haben, war für mich schon wie ein Wunder", sagt Tobias Hollitzer. Überhaupt sieht er als politisch engagierter Mensch wunderbare Zeiten anbrechen zum Jahreswechsel 89/90. An den Runden Tischen lassen sich die ehedem fest betonierten politischen Strukturen formen wie weich gekneteter Ton. Doch auch im neuen, demokratischeren System weht ein kalter Wind, der die Verhältnisse wieder erhärten lässt. Da ist der Plan des damaligen Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble, die Stasi- Akten vor der Wiedervereinigung zu vernichten, damit die alten Streitigkeiten nicht den Wiederaufbau und die Zukunft der neuen Bundesländer belasten – so seine Begründung. Erst die frei gewählte Volkskammer erwirkte die dauerhafte Öffnung der Stasi-Aufzeichnungen. Und dann ist da der ständige Geldmangel, der die Arbeit der Gedenkstätte in der Runden Ecke bedroht, obwohl der Besucherstrom und das Informationsbedürfnis zusehends wachsen. Über eine Million Menschen kamen bis Oktober 2008 in die Runde Ecke. Trotzdem muss Tobias Hollitzer auch im Jahr 20 nach der Wende mit Kulturstaatsminister Bernd Neumann förderpolitische Fragen diskutieren und für die weitere Kofinanzierung durch Bund, Land und Kommune kämpfen. "Revolution macht eben auch viel Arbeit", ist so ein Lieblingsspruch von Tobias Hollitzer, der irgendwie immer noch passt. diff --git a/fluter/zeitstrahl-wichtigste-stationen-der-finanzkrise-und-schuldenkrise-2008.txt b/fluter/zeitstrahl-wichtigste-stationen-der-finanzkrise-und-schuldenkrise-2008.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..7be8faf059e0ebf0adf80d806997b30444c57f4e --- /dev/null +++ b/fluter/zeitstrahl-wichtigste-stationen-der-finanzkrise-und-schuldenkrise-2008.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +Titelbild: Ben Graville / eyevine / laif +Zuerst aufbpb.deerschienen, für fluter.de aktualisiert und ergänzt von Elisa Simantke diff --git a/fluter/zeitumstellung.txt b/fluter/zeitumstellung.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/zentralrat-der-asozialen.txt b/fluter/zentralrat-der-asozialen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e3c6e899f8299e5f72e14ae099f010d4fa5205e9 --- /dev/null +++ b/fluter/zentralrat-der-asozialen.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Allerdings ist das Ganze vollkommen ernst gemeint. Als "Asoziale" stigmatisierten und verfolgten die Nazis während ihrer Herrschaft eine ganze Reihe von Gruppen: Bettler, Obdachlose, Suchtkranke, Prostituierte und sogenannte "Arbeitsscheue", um nur einige zu nennen. In den Konzentrationslagern mussten sie schwarze Dreiecke auf ihrer Kleidung tragen. Nach 1945 wurden die Verbrechen an den sogenannten "Asozialen" weder anerkannt noch entschädigt. Das Bundesentschädigungsgesetz von 1953 ließ sie außen vor, die heterogene Opfergruppe ging einfach unter. +Deshalb hat sich im März 2015 in Hamburg der Zentralrat der Asozialen in Deutschland (ZAiD) gegründet. Deshalb pflanzt eine Handvoll Engagierter schwarzen Dreiecksklee. "Wir wollen nicht noch einen Stein nach Berlin-Mitte stellen", sagt Tucké Royale, der Erste Sprecher. Stattdessen hat der Zentralrat einen Forderungskatalog aufgestellt – "vollmundig, aber aufrichtig", wie Royale sagt. Darin enthalten: die Entschädigung der als "asozial" Verfolgten (bzw. ihrer Nachfahren) und die angemessene Erwähnung der Opfergruppe im Geschichtsunterricht, auch geeigneter Wohnraum für Wohnungslose sowie die Abschaffung der Hartz-IV-Gesetze. +Der Berliner Performer Tucké Royale ist der selbsternannte Sprecher des ZAiD +Der Kritik, Royale missbrauche das Thema für eine bloße Kunstperformance, steht dessen Engagement gegenüber: In den vergangenen Monaten hat er den Zentralrat gegründet, Interview um Interview gegeben und erste Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt. Auch Workshops und eine Publikation zu den vergessenen NS-Opfern sind geplant. Und bei den sogenannten Seilschaftstreffen werden regelmäßig Angehörige, Freiwillige und Wissenschaftler an einen Tisch gebracht. Dabei ging es anfangs zunächst um einen Gedankenaustausch, es wurde diskutiert, wie man am besten auf das Thema aufmerksam macht. Oder wie legitim es ist, wenn sich Nichtbetroffene wie der in den 80er-Jahren geborene Royale für die "Asozialen" engagieren.Doch der ZAiD hat es nicht leicht, Reaktionen von Seiten der Politik blieben bislang aus. Das mag daran liegen, dass die "Asozialen" nicht eindeutig zuzuordnen sind, dass Überschneidungen mit anderen Opfergruppen wie Homosexuellen, Juden, Sinti und Roma bestehen, die ebenfalls lange zu großen Teilen von Entschädigungen ausgeschlossen wurden. Im Gegensatz zu diesen hatten die "Asozialen" keine Lobby, wegen Zwangssterilisationen fehlt es oft auch an Nachfahren, die sich engagieren könnten. Zumal die Scham noch immer groß ist. Und dann ist der selbst ernannte Sprecher Tucké Royale, seines Zeichens Berliner Performer, mit seinen wasserstoffblonden Haaren und auffälligen Outfits natürlich ein leichtes Opfer für alle, die dem ZAiD die Ernsthaftigkeit absprechen wollen. +Laut eigener Aussage ist seine Arbeit ein Vollzeitjob, besonders der Kontakt zu den Angehörigen, die oft viel zu erzählen haben. "Ganz klar, dass solche Telefonate nicht in 20 Minuten geführt sind", sagt Royale. Den Anrufern gehe es meist um Anerkennung. "Sie wünschen sich vor allem moralische Entschädigung – Geld ist für sie nebensächlich." +Dreiecksklee als Symbol des ZAiD +So könnte man meinen, die Arbeit des ZAiD sei getan, sobald die Bundesregierung sich zu allen Opfern des Nationalsozialismus bekennt. Doch im Grunde dürfte auch urbaner Lebensraum nicht privatisiert und Bettler nicht kriminalisiert werden, sagt Royale, ohne Analogien zu den Verbrechen der Nationalsozialisten herstellen zu wollen. Eigentlich bedürfe es einer gesellschaftlichen Debatte: Produktivität, als vorzeigbar geltende Arbeit, Konsum – sollten wir uns daran orientieren? Was Royale mit seinem Zentralrat anstrebt, ist letztlich nicht weniger als ein Paradigmenwechsel. "Aber so größenwahnsinnig sind wir dann doch nicht." diff --git a/fluter/zero-waste-restaurant-berlin.txt b/fluter/zero-waste-restaurant-berlin.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..486c17498fae3752f191a9601c07028b58cb26a3 --- /dev/null +++ b/fluter/zero-waste-restaurant-berlin.txt @@ -0,0 +1,18 @@ + +Sieht nach einem ziemlich normalen Restaurant in Berlin-Mitte aus … +… wäre da nicht die Kompostiermaschine "Gersi", die aus den Küchenabfällen Erde herstellt +"Gersi" steht in einer Ecke, kurz vor den Toiletten, und läuft 24 Stunden am Tag. "30 Kilo Müll passen hinein, etwa drei Kilo Erde macht sie daraus", erklärt David Suchy, der sich zusammen mit seiner Freundin Jasmin Martin das Konzept ausgedacht hat. Er hebt den Deckel auf der Oberseite der viereckigen Maschine. "Da kommen alle Schalen und Reste rein, also alles, was nicht fermentiert, eingelegt, eingekocht oder sonst wie weiterverarbeitet werden kann." Ein kleines dunkles Häufchen Erde liegt unten in der Trommel. Es riecht süßlich nach Waldboden. Einmal die Woche nimmt die "Wilde Gärtnerei", ein Lieferant aus dem Umland, die Erde mit. Die Kräuter, die darauf wachsen, wandern wieder zurück ins Restaurant und landen auf den Tellern der Gäste. +Mit diesem Kreislauf will das Restaurant auf ein wachsendes Problem antworten. Wie gehen wir mit dem Müll, der tagtäglich anfällt, um, und vor allem: Wie kann Verpackungsabfall vermieden werden?Denn davon produzierte jeder Mensch in Deutschland 2017 durchschnittlich 226,5 Kilo, 23 Prozent mehr als noch im Jahr 2000. Die Deutschenproduzieren riesige Müllberge, und das Gastgewerbe mischt da ganz vorne mit. Aber wie viel Müll genau produziert ein Restaurant? +Kein Müll: Restaurants produzieren eine Menge Abfall. David Suchy möchte es anders machen … +Darüber gibt es nur ungefähre und recht unterschiedliche Schätzungen. Das Bundesumweltamt hat in einer Studie 2014 errechnet, dass pro Person jährlich 53,3 Kilogramm Lebensmittel in Restaurants, Großküchen oder bei Veranstaltungen bereitgehalten werden. Davon landen 23,6 Kilogramm vorzeitig im Abfall. David Suchy geht davon aus, dass ein Restaurant in fünf Tagen so viel verbraucht wie eine Privatperson in einem Jahr. Letztlich hängt das von vielen Faktoren ab: Größe, Öffnungszeiten, Zahl der Gäste – und natürlich davon, was man kocht und wie die Zutaten geliefert werden. + +… und lässt (fast) alle Zutaten unverpackt aus der Region liefern + +Vorne hält der Lieferwagen einer Markthalle, die Produkte regionaler Kleinbauern vertreibt. Der Fahrer öffnet den Kofferraum und trägt Kisten mit Tomaten, Paprika, Bohnen und Maiskolben zum Tresen, dort übernehmen die Köche und geben dem Fahrer leere Kisten vom Vortag zurück.Das meiste, was sie beziehen, kommt aus der Region.Praktisch alles ist unverpackt. Das haben sich Suchy und sein Team als Bedingung ausgehandelt. Eine Ausnahme machen sie bei Papierverpackungen: "Buchweizen, Mehl und Sonnenblumenkerne bekommen wir in großen Papiertüten. Die sind 100 Prozent recycelbar, das sehen wir nicht als Müll." +Auch ohne Verpackungsmüll haben sie im Frea beide Hände voll zu tun +In der Küche wird das Gemüse dann gleich verarbeitet. Fast alles, was hier auf den Teller kommt, ist selbst gemacht. Neben Sauerteigbrot und Pasta auch Schokolade, Haselnussmus und -milch sowie Kombucha und Wasserkefir. In eigenproduzierten Lebensmitteln sieht Suchy noch einen weiteren Vorteil: "Alles, was man selber macht, spart Transportwege. Verarbeitete Produkte haben oft eine ewige Lieferkette. Die Zutaten müssen vom Produzenten zum Weiterverarbeiten, zur Verpackung, zum Vertrieb." +Frische Lebensmittel haben hingegen nachweislich eine deutlich bessere Klimabilanz. "Wir fragen uns bei jeder Zutat: Wie groß ist der CO2-Fußabdruck bei der Produktion, wie kommt sie zu uns?" Unter anderem deshalb gebe es keine tierischen Produkte, da sie einen großen ökologischen Rucksack mit sich tragen. Auch Avocados und Mandeln verwendet das Restaurant nicht,weil diese beiden Lebensmittel viel Wasser im Anbau benötigen. Dogmatisch will das Restaurant indes nicht wirken. Ingwer, Kaffee- und Kakaobohnen ließen sich nicht regional beziehen, seien aber unentbehrlich, findet Suchy. + +Das Zero-Waste-Konzept stößt manchmal an seine Grenzen: Wein wird in Flaschen verkauft, Glukosesirup in Plastikbehältern. Aber zu dogmatisch wollen Suchy und sein Team nicht sein + +Zum Teil stößt dieses Zero-Waste-Konzept auch an seine Grenzen: Auf der Toilette etwa gibt es einen Mülleimer für die Gäste. Und den Wein bekommt man nicht in Mehrwegflaschen. Im "Silo", dem Zero-Waste-Restaurant in Brighton, stellen sie aus den leeren Flaschen Teller her. So weit geht man im "Frea" nicht. Manchmal muss die Küche improvisieren: Für Eis braucht man etwa Glukosezucker, den gibt es aber nur in großen Plastikbehältern. "Wenn man einfachen Zucker nimmt, bekommt man nicht dasselbe Ergebnis", sagt Koch Kluften, der das als Herausforderung nimmt – und eben eine andere Lösung sucht, um das Eis schön cremig zu bekommen. diff --git a/fluter/zieh-dir-mal-was-ueber.txt b/fluter/zieh-dir-mal-was-ueber.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..89ae34dcf505095d4cf310d82ed3b12b5394c97e --- /dev/null +++ b/fluter/zieh-dir-mal-was-ueber.txt @@ -0,0 +1,4 @@ +So etwas denkt sich frau, weil sie denkt: Ich bin dem Typen egal, wenn er nicht einmal Kondome benutzen kann, wie kann er dann meine sensiblen Stellen finden? Wie kann ich mich auf ihn verlassen, wie soll ich denn so einen Orgasmus bekommen? So einfach ist das. +Redet jemand von Verhütung, dann denken die meisten ans Schwangerwerden. Das ist für Schwule ja nun kein Thema. Kondome sollten trotzdem für alle ein Thema sein, denn sie dienen schließlich auch zur Abwehr des HI-Virus und zur Risikominderung, Geschlechtskrankheiten mit so unangenehmen Namen wie Tripper oder Syphilis zu bekommen. Gut, wenn man weiß, wie man ein Kondom benutzt. Und zwar nicht nur theoretisch. Also ruhig mal üben. Gut auch, wenn man gelernt hat, Kondome anzusprechen, falls man an einen gerät, der meint, es gehe auch ohne. +Seit in grauer Vorzeit, Anfang der 1980er-Jahre, Aids auftauchte, hat es allein in Deutschland laut Robert Koch Institut bis Ende 2010 etwa 29.000 Aidstote gegeben. Weil die Krankheit zunächst bei Schwulen festgestellt wurde, fühlten sich Heteros oft nicht betroffen, doch ziemlich bald wurde klar, dass das Kondom für alle der einzig wirksame Schutz ist. Trotzdem gibt es auch unter Schwulen welche, die extra keine Kondome benutzen, weil sie das sogenannte Bare Backing (wörtlich: Reiten ohne Sattel) für ein Abenteuer halten, weil ihnen das Risiko einen Kick gibt, weil sie auf einem Selbstzerstörungs-Trip sind oder weil sie einfach finden, dass Sex und Vernünftigsein nicht zusammenpassen. +Aber es geht halt nicht um Vernunft, sondern um Verantwortung. Für sich selber und für den anderen. Wenn mir was an mir liegt, dann benutze ich ein Kondom. Logisch. Ich kann schließlich nicht in den anderen reinsehen, und von außen erkennt man leider nicht, ob jemand infiziert ist. Aber auch zum Sex ohne Kondom gehören immer (mindestens) zwei. Und wenn unsere Gesetze den einen – der weiß, dass er krank ist und trotzdem ohne Kondom Sex hat – wegen Körperverletzung vor Gericht bringen können, dann sollte der andere eigentlich wegen Dummheit gleich mitverurteilt werden. Dafür gibt's aber leider noch keinen Paragrafen. So einfach ist das. diff --git a/fluter/zieht-euch-warm-an-0.txt b/fluter/zieht-euch-warm-an-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f70c822a6e91fbf2adf643717457cc5a3856c632 --- /dev/null +++ b/fluter/zieht-euch-warm-an-0.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Dass das Eis der Pole als Folge des Klimawandels taut, hat Regionen für die Förderung von Rohstoffen interessant gemacht, die wegen der extremen Kälte bislang weder für Bohrungen noch für den Transport infrage kamen. Nun befahren Schiffe Routen, die einst latent lebensmüden Abenteurern vorbehalten waren, Regierungen lassen die einsamsten Häfen vertiefen und teure Forschungsschiffe bauen, und Ölkonzerne zahlen horrende Summen für Bohrlizenzen. In den optimistischsten Gutachten steht, dass 25 Prozent der weltweit nicht entdeckten Öl- und Kohlevorkommen in der Arktis liegen könnten. Aber über allem schwebt eine große Frage: Wem gehört das alles? +Wie groß das Konfliktpotenzial ist, belegt das Beispiel Kanada (dessen Regierung Boote für Polarpatrouillen im Wert von 3,1 Milliarden Dollar in Auftrag gab). Mit Russland streitet man um mehrere Seegebiete und einige Inseln, mit Dänemark um einen fast anderthalb Quadratkilometer großen Felsbrocken namens "Hans" und mit den USA und der Europäischen Union um die legendäre Nordwestpassage, die man als eine Art kanadisches Binnengewässer betrachtet. Was nach kanadischer Interpretation heißt, dass sich Schiffe anderer Nationen vor der Durchreise anmelden und eine Gebühr entrichten müssten. Bis heute haben kaum 100 Schiffe die Reise riskiert, aber bald, wenn das Eis geschmolzen ist, werden es Tausende sein, denn die Fahrzeit von Europa nach Asien halbiert sich. Schon entwerfen manche Beratungsagenturen Szenarien, in denen Soldaten Bohrplattformen und Claims bewachen und der Kalte Krieg in eine aufgewärmte Welt zurückkehrt. +Eine russische Expedition zeigte im August 2007 Flagge, ein Modell aus Acryl an einem Ständer aus Titan, etwa einen Meter hoch, das von einer Tauchkapsel aus in 4261 Metern Tiefe auf den gelblichen Schlamm der Tiefsee gesteckt wurde. Was rechtlich ungefähr so viel Sinn macht, als schraube man das eigene Türschild an einen Laternenmast und warte drauf, dass die Straße umbenannt wird – doch erneut geht es um die Kraft des Symbols. Die kleine Fahne steht für den russischen Anspruch auf insgesamt 1,2 Millionen Quadratkilometer Meeresboden, und vom damaligen Präsidenten Wladimir Putin und seinen Großmachtsadmirälen bekamen die Tiefseetaucher Applaus. +"Wir müssen ein wildes Wettrennen um die Arktis verhindern", erklärte Dänemarks Außenminister Per Stig Møller, als er Amtskollegen wenige Monate später nach Grönland einlud. Nur die Ureinwohner, die Inuit, hatte man auf dieser Konferenz "vergessen", die mit einer blumig formulierten "Erklärung von Ilulissat" endete und dem Versprechen, Streitfragen von den Vereinten Nationen klären zu lassen. Dazu präsentierte man eine Karte, in der die von Arktis- Anrainern beanspruchten Gebiete farbig markiert waren – was im Ergebnis an die Skizze einer Kindergartenmalgruppe erinnerte. Auf die "Festlandsockelgrenzkommission " der Vereinten Nationen (offizieller Name: "Commission on the Limits of the Continental Shelf"), die solche Fragen berät, kommt einiger Diskussionsstoff zu. 51 Länder haben Anträge auf Erweiterung ihrer Hoheitszonen eingereicht – ein Arbeitspensum, das sie vermutlich bis ins Jahr 2030 beschäftigen wird. +Völkerrechtlich ist die Lage klar: Bodenschätze auf Hoher See gehören dem "gemeinsamen Erbe der Menschheit ", doch innerhalb einer Grenze von 200 Seemeilen, der "Ausschließlichen Wirtschaftszone", darf nur der Küstenstaat ausbeuten und forschen. In Artikel 76 des Seerechtsübereinkommens, ist allerdings eine Ausnahme festgelegt: Kann ein Staat beweisen, dass sich die eigene Landmasse unter Wasser als ein "erweiterter Festlandsockel " fortsetzt, darf er seinen Einflussbereich auf 350 Seemeilen ausdehnen – und in Einzelfällen sogar noch weiter. Wer sein Gebiet vergrößern will, benötigt also Kenntnisse über die unterseeischen Rücken. Den "Lomonossow"-Rücken zum Beispiel – auf den die Russen ihr Fähnchen platzierten – interpretiert man in Moskau als direkte Verbindung von Sibirien zum Nordpol, während die Kanadier fest an ein Anhängsel ihrer "Ellesmere"-Insel glauben und die Dänen überzeugt sind, dass sich Grönland auf einer Kruste fortsetzt. Alle haben gewissermaßen "Rücken", alle im selben Gebiet, und alle besitzen geologische Gutachten, die ihre Thesen belegen sollen.21 Vertreter gehören zur "Festlandsockelgrenzkommission ", nach Proporz auf Kontinente verteilt; mehrmals im Jahr tagt das Gremium abgeschottet in einem fensterlosen Raum im Hochhaus der Vereinten Nationen, 760 United Nations Plaza, New York. Kritiker erinnert das konspirative Treiben an Zeiten, als Kolonialmächte die Welt aufteilten. "Die Öffentlichkeit hat kaum Zutritt", moniert der international renommierte Geophysiker Karl Hinz, der als letzter Deutscher der Vertretung bis 2002 angehörte. Von den Ergebnissen werden nur dünne Zusammenfassungen publiziert, die selbst für Experten nicht immer nachvollziehbar sind – obwohl es in manchen Fällen um Rohstoffvorkommen im Wert von vielen Milliarden Dollar gehen kann. Wie die Kommission zu ihren Entscheidungen kommt? Was überhaupt in den Unterlagen steht? "Streng geheim ", lautet stets die Antwort. +Wer Hinz, 75, zuhört, einem Professor mit donnernder Bassstimme, der seit seiner Pensionierung ein Büro in Hannover unterhält und unter anderem die Regierungen von Ghana, Fiji oder Argentinien berät, hat bald den Eindruck, dass sich Diskussionen der Kommission nicht immer nur um wissenschaftliche Aspekte drehen. Neben echten Experten gehören ihr auch echte Bürokraten an, die von ihren Regierungen auf einen Posten verschoben wurden. "Wissen Sie was? Der Einzige, der in der letzten Runde wirklich neutral war", sagt Hinz, "das war ich!" In den Arbeitsgruppen soll es um Themen wie seismische Profile gehen, um Sedimentschichten, die Struktur des Ozeanbodens und Tiefendaten – doch politische Landkarten spielen dabei ebenfalls eine wichtige Rolle. Am Ende entscheidet die Kommission mit Zweidrittelmehrheit und spricht eine Empfehlung aus, die von den Staaten umgesetzt wird. +Australien zum Beispiel hat vor einem Jahr 2,5 Millionen Quadratkilometer Meeresboden dazubekommen, riesige Gebiete, auch an der Nordwestküste, wo man ein Erdöllager vermutet. Das Tempo, mit der die Entscheidung durchgewunken wurde, trotz eines Mangels an nachhaltigen Beweisen, regt Geologen auf. Hinz, der Niedersachse, spricht von "einer bedrohlichen Entwicklung". Er ließ seinerzeit den Antrag der Russen auf Anerkennung von Polargebieten am "Lomonossow-Rücken" abblitzen, weil ihm die Qualität der Daten nicht ausreichte und die Antragssteller nicht verraten wollten, ob die Untersuchungen von einem U-Boot stammten. Sein Nachfolger für den Sitz in der Kommission – wie Hinz ein sachlich korrekter Fachmann der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) – fiel später in mehreren Wahlgängen durch. +Fachleute rechnen damit, dass die USA, die das Seerechtü̈bereinkommen bislang ablehnten, dieses nun während der Präsidentschaft von Barack Obama ratifizieren werden, und ebenfalls Anträge an die Festlandsockelgrenzkommission stellen – was einen weiteren Spieler ins Monopoly um die Arktis einsteigen lässt. Ob sich die Diskussionen und Bemühungen wirklich für alle Gebiete lohnen, halten Wissenschaftler indes für fragü̈rdig. Hermann-Rudolf Kudraß von der BGR beispielsweise hält es wegen der dünnen Sedimentschicht in den Meeresbecken rund um den Pol für unwahrscheinlich, dass Erdöl oder Erdgas in einer Menge zu finden sind, die eine Förderung wirtschaftlich sinnvoll macht. Und Spitzbergen? "Da ist, Stand heute, nix zu holen", urteilt Hinz. Als zweifelsfrei ergiebig gelten Gebiete am Rande Sibiriens, zum Beispiel im Delta der Lena, die in die "Ausschließliche Wirtschaftszone " Russlands gehören, auch ohne "Rückendiagnosen". +Was die Förderung des Öls angeht, sind andere Probleme ungeklärt: Mag die Arktis während der Sommer eines nahen Tages eisfrei sein, so friert das Eis in den Wintermonaten wieder meterhoch und bedroht jede Pipeline oder macht auch die Arbeit auf Ölplattformen unmöglich. Wissenschaftler fantasieren über ferngesteuerte, unbemannte Kapseln am Meeresboden oder äußerst mobile Bohrinseln – deren Entwicklung astronomische Summen verschlingt. Im Falle einer Ölhavarie, so warnen zudem Umweltschützer, droht eine Katastrophe, denn es dürfte unmöglich sein, den Teppich zu beseitigen. Obendrein enthält das Meereis Poren, in denen sich Öl festsetzt, und es fehlen in diesen Gewässern viele jener Mikroorganismen, die Öl abbauen können. Jeder Unfall könnte ganze Tierpopulationen ausrotten – und den Inuit ihre Lebensgrundlage entziehen. So anders die klimatischen Umstände dieses Wettlaufs um Rohstoffe also sind, eines ist wieder gleich: Er geht vor allem auf Kosten der Natur. +Stefan Krücken (34) war schon einige Male in der eisigen Kälte des Polarmeers und würde nun gern mal eine Reportage aus wärmeren Gefilden machen. diff --git a/fluter/zieht-euch-warm-an.txt b/fluter/zieht-euch-warm-an.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..f70c822a6e91fbf2adf643717457cc5a3856c632 --- /dev/null +++ b/fluter/zieht-euch-warm-an.txt @@ -0,0 +1,10 @@ +Dass das Eis der Pole als Folge des Klimawandels taut, hat Regionen für die Förderung von Rohstoffen interessant gemacht, die wegen der extremen Kälte bislang weder für Bohrungen noch für den Transport infrage kamen. Nun befahren Schiffe Routen, die einst latent lebensmüden Abenteurern vorbehalten waren, Regierungen lassen die einsamsten Häfen vertiefen und teure Forschungsschiffe bauen, und Ölkonzerne zahlen horrende Summen für Bohrlizenzen. In den optimistischsten Gutachten steht, dass 25 Prozent der weltweit nicht entdeckten Öl- und Kohlevorkommen in der Arktis liegen könnten. Aber über allem schwebt eine große Frage: Wem gehört das alles? +Wie groß das Konfliktpotenzial ist, belegt das Beispiel Kanada (dessen Regierung Boote für Polarpatrouillen im Wert von 3,1 Milliarden Dollar in Auftrag gab). Mit Russland streitet man um mehrere Seegebiete und einige Inseln, mit Dänemark um einen fast anderthalb Quadratkilometer großen Felsbrocken namens "Hans" und mit den USA und der Europäischen Union um die legendäre Nordwestpassage, die man als eine Art kanadisches Binnengewässer betrachtet. Was nach kanadischer Interpretation heißt, dass sich Schiffe anderer Nationen vor der Durchreise anmelden und eine Gebühr entrichten müssten. Bis heute haben kaum 100 Schiffe die Reise riskiert, aber bald, wenn das Eis geschmolzen ist, werden es Tausende sein, denn die Fahrzeit von Europa nach Asien halbiert sich. Schon entwerfen manche Beratungsagenturen Szenarien, in denen Soldaten Bohrplattformen und Claims bewachen und der Kalte Krieg in eine aufgewärmte Welt zurückkehrt. +Eine russische Expedition zeigte im August 2007 Flagge, ein Modell aus Acryl an einem Ständer aus Titan, etwa einen Meter hoch, das von einer Tauchkapsel aus in 4261 Metern Tiefe auf den gelblichen Schlamm der Tiefsee gesteckt wurde. Was rechtlich ungefähr so viel Sinn macht, als schraube man das eigene Türschild an einen Laternenmast und warte drauf, dass die Straße umbenannt wird – doch erneut geht es um die Kraft des Symbols. Die kleine Fahne steht für den russischen Anspruch auf insgesamt 1,2 Millionen Quadratkilometer Meeresboden, und vom damaligen Präsidenten Wladimir Putin und seinen Großmachtsadmirälen bekamen die Tiefseetaucher Applaus. +"Wir müssen ein wildes Wettrennen um die Arktis verhindern", erklärte Dänemarks Außenminister Per Stig Møller, als er Amtskollegen wenige Monate später nach Grönland einlud. Nur die Ureinwohner, die Inuit, hatte man auf dieser Konferenz "vergessen", die mit einer blumig formulierten "Erklärung von Ilulissat" endete und dem Versprechen, Streitfragen von den Vereinten Nationen klären zu lassen. Dazu präsentierte man eine Karte, in der die von Arktis- Anrainern beanspruchten Gebiete farbig markiert waren – was im Ergebnis an die Skizze einer Kindergartenmalgruppe erinnerte. Auf die "Festlandsockelgrenzkommission " der Vereinten Nationen (offizieller Name: "Commission on the Limits of the Continental Shelf"), die solche Fragen berät, kommt einiger Diskussionsstoff zu. 51 Länder haben Anträge auf Erweiterung ihrer Hoheitszonen eingereicht – ein Arbeitspensum, das sie vermutlich bis ins Jahr 2030 beschäftigen wird. +Völkerrechtlich ist die Lage klar: Bodenschätze auf Hoher See gehören dem "gemeinsamen Erbe der Menschheit ", doch innerhalb einer Grenze von 200 Seemeilen, der "Ausschließlichen Wirtschaftszone", darf nur der Küstenstaat ausbeuten und forschen. In Artikel 76 des Seerechtsübereinkommens, ist allerdings eine Ausnahme festgelegt: Kann ein Staat beweisen, dass sich die eigene Landmasse unter Wasser als ein "erweiterter Festlandsockel " fortsetzt, darf er seinen Einflussbereich auf 350 Seemeilen ausdehnen – und in Einzelfällen sogar noch weiter. Wer sein Gebiet vergrößern will, benötigt also Kenntnisse über die unterseeischen Rücken. Den "Lomonossow"-Rücken zum Beispiel – auf den die Russen ihr Fähnchen platzierten – interpretiert man in Moskau als direkte Verbindung von Sibirien zum Nordpol, während die Kanadier fest an ein Anhängsel ihrer "Ellesmere"-Insel glauben und die Dänen überzeugt sind, dass sich Grönland auf einer Kruste fortsetzt. Alle haben gewissermaßen "Rücken", alle im selben Gebiet, und alle besitzen geologische Gutachten, die ihre Thesen belegen sollen.21 Vertreter gehören zur "Festlandsockelgrenzkommission ", nach Proporz auf Kontinente verteilt; mehrmals im Jahr tagt das Gremium abgeschottet in einem fensterlosen Raum im Hochhaus der Vereinten Nationen, 760 United Nations Plaza, New York. Kritiker erinnert das konspirative Treiben an Zeiten, als Kolonialmächte die Welt aufteilten. "Die Öffentlichkeit hat kaum Zutritt", moniert der international renommierte Geophysiker Karl Hinz, der als letzter Deutscher der Vertretung bis 2002 angehörte. Von den Ergebnissen werden nur dünne Zusammenfassungen publiziert, die selbst für Experten nicht immer nachvollziehbar sind – obwohl es in manchen Fällen um Rohstoffvorkommen im Wert von vielen Milliarden Dollar gehen kann. Wie die Kommission zu ihren Entscheidungen kommt? Was überhaupt in den Unterlagen steht? "Streng geheim ", lautet stets die Antwort. +Wer Hinz, 75, zuhört, einem Professor mit donnernder Bassstimme, der seit seiner Pensionierung ein Büro in Hannover unterhält und unter anderem die Regierungen von Ghana, Fiji oder Argentinien berät, hat bald den Eindruck, dass sich Diskussionen der Kommission nicht immer nur um wissenschaftliche Aspekte drehen. Neben echten Experten gehören ihr auch echte Bürokraten an, die von ihren Regierungen auf einen Posten verschoben wurden. "Wissen Sie was? Der Einzige, der in der letzten Runde wirklich neutral war", sagt Hinz, "das war ich!" In den Arbeitsgruppen soll es um Themen wie seismische Profile gehen, um Sedimentschichten, die Struktur des Ozeanbodens und Tiefendaten – doch politische Landkarten spielen dabei ebenfalls eine wichtige Rolle. Am Ende entscheidet die Kommission mit Zweidrittelmehrheit und spricht eine Empfehlung aus, die von den Staaten umgesetzt wird. +Australien zum Beispiel hat vor einem Jahr 2,5 Millionen Quadratkilometer Meeresboden dazubekommen, riesige Gebiete, auch an der Nordwestküste, wo man ein Erdöllager vermutet. Das Tempo, mit der die Entscheidung durchgewunken wurde, trotz eines Mangels an nachhaltigen Beweisen, regt Geologen auf. Hinz, der Niedersachse, spricht von "einer bedrohlichen Entwicklung". Er ließ seinerzeit den Antrag der Russen auf Anerkennung von Polargebieten am "Lomonossow-Rücken" abblitzen, weil ihm die Qualität der Daten nicht ausreichte und die Antragssteller nicht verraten wollten, ob die Untersuchungen von einem U-Boot stammten. Sein Nachfolger für den Sitz in der Kommission – wie Hinz ein sachlich korrekter Fachmann der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) – fiel später in mehreren Wahlgängen durch. +Fachleute rechnen damit, dass die USA, die das Seerechtü̈bereinkommen bislang ablehnten, dieses nun während der Präsidentschaft von Barack Obama ratifizieren werden, und ebenfalls Anträge an die Festlandsockelgrenzkommission stellen – was einen weiteren Spieler ins Monopoly um die Arktis einsteigen lässt. Ob sich die Diskussionen und Bemühungen wirklich für alle Gebiete lohnen, halten Wissenschaftler indes für fragü̈rdig. Hermann-Rudolf Kudraß von der BGR beispielsweise hält es wegen der dünnen Sedimentschicht in den Meeresbecken rund um den Pol für unwahrscheinlich, dass Erdöl oder Erdgas in einer Menge zu finden sind, die eine Förderung wirtschaftlich sinnvoll macht. Und Spitzbergen? "Da ist, Stand heute, nix zu holen", urteilt Hinz. Als zweifelsfrei ergiebig gelten Gebiete am Rande Sibiriens, zum Beispiel im Delta der Lena, die in die "Ausschließliche Wirtschaftszone " Russlands gehören, auch ohne "Rückendiagnosen". +Was die Förderung des Öls angeht, sind andere Probleme ungeklärt: Mag die Arktis während der Sommer eines nahen Tages eisfrei sein, so friert das Eis in den Wintermonaten wieder meterhoch und bedroht jede Pipeline oder macht auch die Arbeit auf Ölplattformen unmöglich. Wissenschaftler fantasieren über ferngesteuerte, unbemannte Kapseln am Meeresboden oder äußerst mobile Bohrinseln – deren Entwicklung astronomische Summen verschlingt. Im Falle einer Ölhavarie, so warnen zudem Umweltschützer, droht eine Katastrophe, denn es dürfte unmöglich sein, den Teppich zu beseitigen. Obendrein enthält das Meereis Poren, in denen sich Öl festsetzt, und es fehlen in diesen Gewässern viele jener Mikroorganismen, die Öl abbauen können. Jeder Unfall könnte ganze Tierpopulationen ausrotten – und den Inuit ihre Lebensgrundlage entziehen. So anders die klimatischen Umstände dieses Wettlaufs um Rohstoffe also sind, eines ist wieder gleich: Er geht vor allem auf Kosten der Natur. +Stefan Krücken (34) war schon einige Male in der eisigen Kälte des Polarmeers und würde nun gern mal eine Reportage aus wärmeren Gefilden machen. diff --git a/fluter/ziemlich-0815-hier.txt b/fluter/ziemlich-0815-hier.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c42d13e30bbe01264e7150e74998124dff5f4eb7 --- /dev/null +++ b/fluter/ziemlich-0815-hier.txt @@ -0,0 +1,23 @@ +Schicksal spielen 3.400 Haushalte, deren Einkaufsverhalten mit Hilfe von Chipkarten im Supermarkt gemessen wird. Die GfK, die Gesellschaft für Konsumforschung, wertet die Ergebnisse aus. Die Auftraggeber lassen sich das einiges kosten. Ein Produkttest schlägt schon mal mit einem sechsstelligen Betrag zu Buche. Datenschützer sind freilich wenig begeistert. Der gläserne Konsument ist ein Haßlocher. +Die Prämie, die die Testhaushalte bekommen, ist ziemlich "08/15": Ein Gratisabo der "Hörzu" gibt es, die allerdings mit präparierter Werbung versehen ist, und einen jährlichen Zuschuss von 46 Euro für die Gebühr fürs Kabelfernsehen, in das allerdings besondere Werbespots nur für die Haßlocher eingespeist werden. Zum Test. +Ironie der Marktforschungsgeschichte: Auf Haßloch fiel die Wahl Mitte der 1980er-Jahre nicht allein, weil es so durchschnittlich ist. Durchschnittliche Städte gibt es in Deutschland viele. Ausschlaggebend war, dass der Ort auch ein Vorreiter war: Er war 1986 schon weitgehend verkabelt. Es spielten aber auch andere Faktoren eine Rolle. Die guten Einkaufsmöglichkeiten etwa. Wer in Haßloch wohnt, kauft auch dort ein. +Eine Woche verbrachte der FotografChristian Prottein diesem Musterdorf des Mittelmaßes. Er dokumentierte dabei nicht nur die alles durchdringende Durchschnittlichkeit, sondern auch die vorsichtigen Fluchtversuche der Haßlocher aus dem Gewöhnlichen. + +Über jedem Haßlocher hängt der Normalo-Verdacht? Es gibt sehr verschiedene Strategien, damit umzugehen. +In dem Ort im Pfälzischen leben die am besten vermessenen Konsumenten der Republik. +Manchmal kommt der Durchschnitt auch in schrillen Farben daher. +Alles weichgespült hier: Zum Beispiel ließ der Konsumgüter-Konzern Procter & Gamble in Haßloch das Produkt "Lenor" testen. +Die 3.400 Testhaushalte sind so ausgewählt, dass sie die deutsche Bevölkerung repräsentieren. Da dürfen auch Senioren mit Wohnmobil nicht fehlen. +Du bist Deutschland. Ob seiner vielen statistischen Mittelwerte ist Haßloch die Bundesrepublik im Kleinen. +Für perfekten Durchschnitt braucht es auch die wohlkalkulierte Abweichung. +Weg damit. 70 Prozent der Produktideen, die in den Supermärkten Haßlochs getestet werden, verwerfen die Hersteller nach einem Jahr wieder. Was in Haßloch durchfällt, heißt es, setzt sich auf dem Markt nicht durch. +Sechs Supermärkte und ebenso viele Drogerien gibt es hier für die Marktforschung. Welche Sorten der Eisverkäufer am häufigsten verkauft, wird hingegen nicht gemessen. +Der Test einer neuen Veranstaltungsreihe? Nee nee, die Jesusnight soll hier seit über 10 Jahren ein Renner sein +Auch er ist eine Zielgruppe. Die GfK wertet das Kaufverhalten aus und erstellt für die Auftraggeber Profile typischer Konsumenten. +Typisch deutsch? Haßloch ist ein nach amerikanischem Vorbild aufgebauter Testmarkt. +Nett ist die kleine Schwester von durchschnittlich: Annegret und ihr Hund. +Die Marktforscher wissen, ob ein Vier-Personen-Haushalt mit niedrigem Einkommen lieber zu Großpackungen greift. Aber wonach hier gegriffen wird, ahnen nichtmal sie. +Was in Haßloch getestet wird, sieht man kurze Zeit später vielleicht überall. Zum Beispiel sehr kurze Krawatten. +Ein Tortendiagramm der Marktforschung? Man kann sich da auch reinsteigern. +Bis zu 200.000 Euro, so viel wie der Preis eines Kleinfamilienhauses, lassen sich Konzerne einen Produkt-Probelauf hier kosten. Das Scheitern des Produktes wäre indes deutlich teurer. +Mittags wird es ruhig auf den Straßen von Haßloch. Denn hier ist es durchaus noch üblich, dass Betriebe Mittags für zwei Stunden schließen. diff --git a/fluter/ziemlich-treffend.txt b/fluter/ziemlich-treffend.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cb9f8f1efc22dfcd3ec4133e4c646ae78c793b5f --- /dev/null +++ b/fluter/ziemlich-treffend.txt @@ -0,0 +1,5 @@ +Nach Massenmorden wie dem in einemNachtclub der LGBT-Community in Orlandosind "Thoughts" und "Prayers" Begriffe, mit denen sich Politiker und Bürger ein ums andere Mal halfen, um in Reden, Statements und Hashtags ihrer Anteilnahme Ausdruck zu verleihen – nach der Formel: "Unsere Gedanken sind bei den Opfern und ihren Angehörigen, wir beten für sie."Das Spiel "Thoughts and Prayers"macht indessen mit einfachsten Mitteln deutlich: Gedanken und Gebete reichen nicht, um das Problem zu lösen. Das in Amerika verfassungsmäßig gesicherte Recht eines jeden Erwachsenen, eine Waffe zu tragen, wird immer wieder missbraucht. Hunderte Menschen mussten dafür ihr Leben lassen. Müsste man nicht also ebendieses Recht einschränken und neue Waffengesetze erlassen? +Ja, müsste man. So sehen das jedenfalls viele Politiker, meist von der Demokratischen Partei, die dann auch immer wieder Entwürfe für ein strikteres Waffengesetz vorlegen – und damit regelmäßig scheitern. Auch das spiegelt das Spiel"Thoughts and Prayers"wider. Denn neben "T" und "P" erscheint nach einigen Sekunden, in denen das Spiel bereits läuft und die Uhr tickt, noch ein dritter Button, auf dem steht "Verbiete den Verkauf von Angriffswaffen". Jedoch: Wer diesen Knopf drückt, wird in Form von Texteinblendungen umgehend konfrontiert mit den immer ähnlich lautenden Entgegnungen jener Politiker, die unbeirrt für ein liberales Waffengesetz eintreten – und die oft zur Republikanischen Partei gehören. "Das ist unamerikanisch." "Schwach!" "Dafür bekommt Ihr nicht unsere Stimmen." Und falls mal ein Politiker der Republikaner mit einer Verschärfung der Waffengesetze liebäugeln sollte, erinnert ihn "Thoughts and Prayers" an die politischen Spielregeln: "Denk dran, du bist abhängig von den Spenden der NRA." Das ist die Abkürzung für National Rifle Association, der in den USA sehr mächtigen Waffenlobby-Organisation. +Mike Lacher gehört zu der Gruppe von Spieleentwicklern der Firma "Everyday Arcade", die das Online-Spiel programmiert haben. Er sagt, dass der Massenmord in Orlando und die Reaktionen darauf den Anstoß gegeben haben, "Thoughts and Prayers" zu entwickeln – um den Menschen vor Augen zu halten, wie ineffektiv die Debatte um eine Verschärfung der Waffengesetze ist. Und wie groß die Frustration vieler Menschen in den USA ist, dass die Politik nicht endlich etwas unternimmt, um das Töten zu beenden. +Vielleicht hat dieses Spiel dazu beigetragen, dass nun offenbar doch neuer Schwung in die festgefahrene Debatte kommt. Etwa 200 Abgeordnete und Senatoren der Demokratischen Partei sind im Kongress am Mittwoch den 22. Juni in einen Sitzstreik getreten, den sie erst aufgeben wollen, wenn über ein schärferes Waffengesetz abgestimmt wird. Die Mehrheitsfraktion der Republikaner widersetzt sich dem vehement. Der republikanische Sprecher des Repräsentantenhauses, Paul Ryan, erklärte: "Was die Demokraten hier machen, ist eine Publicity-Nummer." Nach seiner Auffassung habe in Orlando radikal-militanter Islamismus die Hauptrolle gespielt und keinesfalls ein angeblich zu einfacher Zugang zu Waffen. +Am frühen Donnerstagmorgen (Ortszeit) haben die Republikaner dann beschlossen, die Sitzung bis Juli zu vertagen. Die Politiker der Demokraten blieben zwar auch danach im Sitzungssaal, werden dort aber vermutlich nicht bis zu einer Abstimmung ausharren. Auch wenn jetzt mit härteren politischen und symbolischen Bandagen gekämpft wird, bleiben die Argumente doch die gleichen. Ob wirklich Bewegung in die inhaltlich festgefahrene politische Debatte kommt, bleibt abzuwarten. diff --git a/fluter/zirkus-kabul-afghanistan.txt b/fluter/zirkus-kabul-afghanistan.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d492c5357767ea86abef912e468a52157f59af50 --- /dev/null +++ b/fluter/zirkus-kabul-afghanistan.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +Das Zirkuskollektiv, in dem Amira und ihre Schwestern übten, löste sich auf. In Kabul trainieren gerade nur noch zehn junge Männer und die Schwestern. Vor der Machtübernahme der Taliban waren sie 1.800 Artist:innen. Während die Männer in einer angemieteten Halle trainieren und zwischendurch Fußball spielen, um nicht aufzufallen, üben die vier Schwestern heimlich zu Hause. Sie haben Angst, verprügelt oder verschleppt zu werden, sollten die Taliban sie erwischen. Bleibt es bei den aktuellen Machtverhältnissen, werden sie in Afghanistan vermutlich nie wieder in einem Zirkus auftreten. Aber die Schwestern üben weiter. +Vom Zirkus hatte ihnen ein Cousin erzählt, vor etwa zwölf Jahren. Sie trainierten zweimal täglich in einem Trainingscenter in Kabul. Das bot den Schwestern alles, was sie brauchten: professionelle Trainer, Riesenbälle, Drahtseile, Einräder, Stelzen. Ela, mit 14 Jahren die zweitjüngste der Schwestern, mochte Stelzen besonders gerne, erzählt sie, weil sie damit groß war und alles überblicken konnte. "Das letzte Mal stand ich vor sechs Monaten auf Stelzen." Ob sie denkt, dass sie es noch kann, das Gehen auf Stelzen? Ela schüttelt den Kopf. "Wir werden jeden Tag schlechter." +Amira steht neben ihrer Schwester und wirft die brennenden Fackeln in die Luft. Bei jedem Wurf zischen die Flammen leise, schwarzer Rauch qualmt. Amira sagt: "Das Training hier reicht nicht aus." Sie war die beste Jongleurin des Zirkus, die beste, die ihr Trainer kannte. "Vor drei Jahren stand ich noch in Deutschland auf der Bühne vor Tausenden Zuschauern, in Frankfurt am Main, beim Weihnachtszirkus", erzählt sie. Wie ihre Schwestern liebt sie den Zirkus, weil sie damit Menschen zum Lachen bringen konnte. "Ich hasse die Taliban, weil sie zwölf Jahre Training zerstört haben", sagt Amira. Gerade bleibt den Schwestern neben ihrem Vorgarten nur noch ein alter Schuppen, in dem sie verstecken, was ihnen vom Zirkus geblieben ist: abgegriffene Bälle, Keulen, drei Fackeln. Das Trainieren werde immer schwieriger, manchmal streiten sich die Schwestern, immer häufiger käme die Frage: Warum sollen wir weiterüben? +Eine halbe Stunde Autofahrt vom Garten der Schwestern entfernt halten sich die zehn Jungs des ehemaligen Zirkus fit. Hinter schweren Toren aus Stahlrohren liegt eine Trainingshalle, die Trainer Abdul zweimal die Woche für 90 Minuten mietet. Durch die offenen Fenster dringt der Lärm des Straßenverkehrs, Smog und Rauch füllen den Innenraum, bald auch der Geruch von Schweiß. +Auf dem harten Linoleumboden liegen ähnliche Bälle, Keulen und Kochlöffel wie bei den vier Schwestern, daneben ein Fußball, von dem sich das Leder schält. Die Jungs greifen nach den Bällen, werfen sie in die Luft, hüpfen auf und ab, einer tritt den Ball gegen die Wand. Abdul ruft Kommandos durch den Raum. 1.300 US-Dollar Spenden habe er im Dezember erhalten, erzählt Abdul. 400 seien für das Training übrig. Er wisse nicht, wie es danach weitergeht. Aber den Jungs erzähle er davon nichts. +Einer von ihnen ist Sahib. Der 17-Jährige jongliert seit zwei Jahren. Sein Ziel: der beste Jongleur der Welt zu werden. "Ich möchte an internationalen Wettbewerben teilnehmen und der Welt zeigen, dass Afghanistan voller Talente ist", sagt Samim. Vor der Machtübernahme der Taliban war er jeden Tag im Trainingscenter, übte von sieben Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags. "Ich habe hart gearbeitet für meine Träume", sagt er. All das sei durch die Taliban zerstört worden. +Vor drei Monaten, sagt er, sei er zurück ins alte Trainingscenter, um Equipment zu holen. Auf seinem Smartphone zeigt er Videos von einem weitläufigen Areal, auf dem bunt angemalte Container stehen. Staub liegt auf Geländern, Plakate liegen im Dreck. In Samims Augen sammeln sich Tränen. "Wenn die Taliban an der Macht bleiben, werde ich fliehen", sagt er. Über Pakistan in die USA oder nach Deutschland gelangen. Dort wolle er weiterjonglieren, bis er irgendwann Weltmeister sei. +Zurück im Garten der Schwestern wirft Liah drei bunte Bälle in die Luft, erst einzeln nacheinander, dann alle gleichzeitig. Die Zwölfjährige ist die jüngste der Schwestern. Ihre Augen blicken geradeaus, nur kurz berühren ihre Hände die Bälle, dann fliegen sie wieder hoch, drehen sich in der Luft. Anders als ihre Schwestern will Liah keine Zirkusartistin werden."Wenn ich groß bin", sagt sie, "will ich Astronautin werden.Ich will wissen, was im Weltraum ist." Sie glaubt, dass in den Sternen andere Menschen leben, nur Frauen, keine Männer – und die Frauen können fliegen, wohin sie wollen. Und sie dürfen in Zirkussen auftreten. "Ich bin mir sicher, dass ich eines Tages zu den Sternen fliegen werde", sagt Liah. +Inzwischen ist es hell geworden, die Sonne scheint in den Garten und erwärmt die rissige Erde. Zeit, das Training draußen zu beenden. Die Schwestern packen Bälle und Keulen ein, die Fackeln lehnen dampfend an der Hauswand und kühlen aus. Morgen wollen sie wieder üben, wenn das Wetter passt. "Unsere Zukunft fühlt sich Tag für Tag düsterer an", sagt Amira. "Aber wir müssen üben, damit wir gut in etwas sind, wenn all das hier vorbei ist." Und wer jongliert, denkt nicht an Krieg und Terror. + +*Alle Namen von der Redaktion geändert diff --git a/fluter/zivilbevoelkerung-rojava-dokumentation.txt b/fluter/zivilbevoelkerung-rojava-dokumentation.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/zivilcourage-beweisen-angst-protokoll.txt b/fluter/zivilcourage-beweisen-angst-protokoll.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..6919d83f9616844d48e4bcac57d5615cf6a13437 --- /dev/null +++ b/fluter/zivilcourage-beweisen-angst-protokoll.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Ich lief auf den Mann zu, packte ihn am Arm und versuchte, ihn zu beruhigen. Doch als er auch mich anschrie, wurde ich lauter. "So darfst du nicht mit deiner Mutter reden!", sagte ich in bestimmtem Ton. Dann beruhigte er sich. Einen kurzen Moment später umarmte er weinend seine Mutter. Ich stieg dann in die Bahn, weil ich spürte, dass niemand mehr in Gefahr war. +Wie sich herausstellte, war der junge Mann 20 Jahre alt und psychisch krank. Mehrmals musste ich zur Polizei und aussagen, sogar vor Gericht.Kameras am Bahnsteighatten die Szene aufgenommen, und man sah, dass alle anderen Reisenden wegschauten, als der Mann seine Mutter auf die Gleise zerren wollte. Als der Richter sich bei mir bedankte und mich fragte, warum ich das gemacht habe, bekam ich einen ganz roten Kopf. Ich habe ja nur das getan, was mir beigebracht wurde. In Syrien habe ich gelernt, dass Kinder respektvoll mit ihren Eltern umgehen. +Am 17. September 2020 erhielt ich von der Stadt Ludwigsburg den Zivilcourage-Preis. Gleichzeitig wurde ich gefragt, ob ich mir denn etwas wünschen würde. Ich wollte eigentlich gar nichts. Mir war es ja nur darum gegangen, etwas Schlimmes zu verhindern. Aber sie wollten mir unbedingt etwas geben, also erzählte ich, dass ich gernin einem Tonstudio etwas aufnehmen würde. Ich mache nämlich professionell Musik – das habe ich an einem Konservatorium in Suweida studiert, meiner Geburtsstadt im Süden Syriens. Ich nahm ein Gedicht von Friedrich Schiller auf, "Das Mädchen aus der Fremde". Ich habe es mit arabischer Musik unterlegt, singe aber auf Deutsch.Musik verbindet.Das weiß ich heute noch mal mehr als früher. + +Zivilcourage beweisen, seine Träume verfolgen oder Ängste bezwingen – ein bisschen Risiko kann sich lohnen. In unserer Reihe berichteten neben MazenzweiweitereMenschen vom Wagnis ihres Lebens. + diff --git a/fluter/zivilgesellschaft-ukraine.txt b/fluter/zivilgesellschaft-ukraine.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..ba2991a22c28aa1c0a4a534636052e44df6944ae --- /dev/null +++ b/fluter/zivilgesellschaft-ukraine.txt @@ -0,0 +1,14 @@ +Im Februar 2022 erwachten die Ukrainer im Krieg. Unzählige Menschensind seitdem geflohen, Wohnungen und Häuser sind zerstört, vielerorts fällt der Strom häufig aus, es ist kalt, ständig heulen Sirenen, und die Angst vor dem, was noch kommen mag, ist allgegenwärtig. Und doch rücken die Menschen nicht voneinander weg, sondern näher zusammen. "Es dauerte eine Weile, bis wir begriffen, dass es keine Rückkehr zu dem Leben geben wird, das wir vor dem Krieg geführt haben. Aber wir fanden die Kraft, sofort mit der Unterstützung der am stärksten benachteiligten Gemeinschaften zu beginnen", sagt Schewtschenko. +Direkt nach Kriegsbeginn organisierten NGOs, aber auch spontane lokale Netzwerke Lebensmittel, Medizin und Hilfstransporte. In vielen Orten gründeten sich Nachbarschaftshilfen und Bürgerwehren. Dass dies gelang, liegt auch daran, dass sich die Zivilgesellschaft in den letzten Jahren sehr verändert hat. Die Zahl der NGOs stieg immer weiter an. +Das war nicht immer so. Als die Ukraine Teil der Sowjetunion war, gab es keine autonomen Organisationen, da diese zwangsweise in staatliche Institutionen integriert waren. Mit dem Zerfall der Sowjetunion änderte sich das. + + +Zum Erweckungserlebnis wurde der Euromajdan 2013/14. Gemeinsam spürten die Menschen, dass sie etwas verändern können –ihre Protestezwangen schließlich den damaligen Präsidenten Janukowytsch zum Rücktritt. Ein Umsturz unter dem gemeinsamen Druck der Bevölkerung, der vielen Ukrainern ein Gefühl der Selbstwirksamkeit verlieh. In der Zeit danach ersetzten zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich damals gegründet hatten, einige staatlichen Funktionen, da die Behörden damit vielfach überfordert waren. Ein Beispiel dafür ist die Unterstützung der Binnenflüchtenden. +Am 1. Januar 2022 waren über 90.000 öffentliche Vereine in der Ukraine registriert. Die Regierung hat in den letzten Jahren die Bedingungen für zivile Organisationen verbessert. Trotzdem gibt es häufig noch ein gegenseitiges Misstrauen zwischen Zivilgesellschaft und staatlicher Ebene. Hinzu kommen bürokratische Hürden und eine starke Abhängigkeit von externer Finanzierung. +Iryna Tschernysch kämpfte mit ihrer Organisation "SaveDnipro" vor dem Krieg gegen die Gesundheits- und Umweltbelastungen durch die Kohleindustrie im Land. Als die russischen Truppen nach ihrem Einmarsch in der Tschernobyl-Zone kontaminierte Erde aufwirbelten, herrschte große Unsicherheit, ob dadurch die radioaktive Strahlung in der Umgebung ansteigen könnte. "SaveDnipro" konnte genau feststellen, wie hoch die Belastung war. "Unser System hat funktioniert",sagt Tschernysch der "taz". Weil die ukrainische Regierung wegen des geltenden Kriegsrechts kaum Umweltdaten veröffentlicht, sammelt die Organisation Daten zu Umweltbelastungen, die Bürgern in Gefahrensituationen wie in Tschernobyl helfen sollen. +Denn einige NGOs übernehmen auch im Krieg wichtige Aufgaben, denen die Regierung gerade nicht nachkommen kann. Und sie schauen besonders jetzt genau hin. Trotz des Ausnahmezustands wird in der Ukraine immer noch auch normale Politik gemacht, die nichts mit dem Kriegsgeschehen zu tun hat. Daher sind NGOs auch jetzt weiterhin wachsam und arbeiten daran, Gesetzesänderungen und politische Entscheidungen genau zu überwachen und zu prüfen – und, wenn nötig, öffentlich zu kritisieren. +Hannah Landwehr arbeitet als Leiterin des Ukraine-Programms der deutschen Friedensorganisation "Forum Ziviler Friedensdienst" seit Jahren mit Organisationen vor Ort zusammen. Ihr ist wichtig: "Innergesellschaftliche Konflikte, die es vor dem Krieg gab, sind auch im Krieg nicht einfach verschwunden und werden nach dem Krieg vermutlich wieder verstärkt zum Vorschein kommen." Deshalb müssten in der Zivilgesellschaft weiterhin auch andere Perspektiven möglich sein. "Auch für den Wiederaufbau wird eine plurale und aktive Zivilgesellschaft gebraucht." +Nach einem Jahr Krieg spürt Olena Schewtschenko deutlich die Belastungen ihrer Arbeit: "Es gibt so viele Probleme, dass es schwer ist, sie alle zu benennen. Der Verlust von Freunden, Verwandten,die getötet wurden. Verlust von Häusern und Mangel an Ressourcen, um zu überleben und unsere Arbeit fortzusetzen. Angst vor Besetzung und Folter durch Russen aufgrund des LGBTQI+-Status." +Trotzdem gibt ihr die Solidarität der Bevölkerung Hoffnung: "Unsere Zivilgesellschaft ist unsere wichtigste Kraft. Ich würde sagen, sie ist das, was unsere Gesellschaft in die Zukunft treibt." + +Titelbild: Sergei Supinsky/AFP via Getty Images diff --git a/fluter/zu-viel-eigentum-verstopft-spirituell.txt b/fluter/zu-viel-eigentum-verstopft-spirituell.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..891df33a5a9216eee878281ea97b857ea326a4d5 --- /dev/null +++ b/fluter/zu-viel-eigentum-verstopft-spirituell.txt @@ -0,0 +1,7 @@ +Geld spielt eher nach außen eine Rolle. Intern gibt es keinen Geldverkehr. Das ist eine große Erleichterung, denn ich muss mir um Geld wenig Gedanken mehr machen. Mein Leben besteht aus Beziehungen zu anderen Menschen, und nicht aus Konsum. Ich habe trotzdem neben dem Gemeinschaftskonto noch ein eigenes Konto. Andere Kommunardinnen haben aber auch das aufgegeben. +So ähnlich. In der Verwaltung gibt es eine Schublade, aus der man sich bedient. Allerdings werden alle Ausgaben eingetragen, mit Zweck und Summe. Größere Ausgaben von über 150 werden auch öffentlich am Schwarzen Brett angekündigt. Für die Einnahmen der Betriebe, die zur Kommune gehören, gibt es aber auch noch einen Tresor. +Die Lebensqualität hier entsteht durch positive Beziehungen, nicht durch Besitz oder Eigentum. Besitz ist aber trotzdem wichtig – ich habe hier mehr, als ich brauche oder nutzen kann. Ich bin auch schon eine Sammlerin, ich neige dazu, Dinge anzuhäufen. +Niederkaufungen allein ist eher unbedeutend. Wir sind zwar in interessierten Kreisen sehr bekannt, aber die meisten können sich dann doch nicht entscheiden, auch so zu leben. Am ehesten sehe ich in Netzwerken zwischen vielen Gruppen und sozialen Bewegungen gesellschaftliches Veränderungspotenzial. Die Kommune Niederkaufungen kann nur ein Beispiel dafür sein, wie es unter günstigen Bedingungen möglich ist, anders zu leben als die Mehrheit. +Die Kiste mit meinen Liebesbriefen und mein Tagebuch. Die meisten anderen Sachen würde ich schon ausleihen. +Das Konsumverhalten hier ist einfach anders, es ist weniger Kompensation. Trotzdem kaufe ich mir manchmal eine neue Jeans und natürlich gehen wir auch mal ins Kino, tanzen oder ein Eis essen. Aber Konsum ist keine Ersatzbefriedigung. +Das stimmt. Juristisch. Moralisch. Eigentum ist auch eine Verantwortung zu spenden, zum Feiern, Schenken und sich um andere zu kümmern. Zu viel angehäuftes Eigentum verstopft spirituell. Wenn man hingegen Reichtum teilt, bringt das Freude. diff --git a/fluter/zugang-zum-studium-berichte.txt b/fluter/zugang-zum-studium-berichte.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..172d858c63510e00f1506be9e1ba75146e652056 --- /dev/null +++ b/fluter/zugang-zum-studium-berichte.txt @@ -0,0 +1,26 @@ +Janna Voigt, 25, war überrascht, überhaupt die Realschule geschafft zu haben. Heute studiert sie im Master Soziale Arbeit in Emden. +Ich glaube, dass unser Bildungssystem durchlässiger werden muss. Soziale Unterschiede haben einen viel zu großen Einfluss auf die Bildungschancen, gerade vermeintlich bildungsferne Schichten werden schlecht aufgeklärt. Auf einer Infoveranstaltung habe ich zum Beispiel mal junge Menschen ängstlich fragen gehört, ob ein Studium tatsächlich 1.000 Euro im Monat kosten würde. +Die Sache ist: Die Frage hätte gut von mir sein können.Wenn mich in der Schule jemand gefragt hätte, was ein Campus ist oder eine Immatrikulation, ich hätte googeln müssen.Ich war auf einer Realschule, hatte eher mäßige Noten und dachte immer, dass Abitur und Studium nur was für Hyperintelligente sind – zu denen ich dann wohl niemals gehören würde. Deshalb war ich baff, dass ich den erweiterten Realschulabschluss geschafft habe und überhaupt die Möglichkeit hatte, ein Gymnasium zu besuchen. Ich ging eigentlich nur hin, um Zeit zu überbrücken, und kam mir meist vollkommen fehl am Platz vor. Es schien, als seien die "normalen Gymnasiasten" in einer anderen Welt aufgewachsen: Aliens mit Superhirnen, tollen Pausenbroten und eigenen Laptops. +Mein Glück waren die Lehrer und Lehrerinnen an meinem Gymnasium. Sie haben mir gezeigt, dass ich was kann und dass es sich lohnt, über ein Studium nachzudenken. Meine Eltern haben kein Abitur und konnten mir nicht viel über das Studieren erzählen. Ohne meine Lehrer stünde ich heute ohne Abitur und Studienplatz da. Ich hatte Glück. + + +Basel Bubo, 25, ist ursprünglich aus Syrien, seit fünf Jahren in Deutschland und studiert Bauingenieurwesen an der FH Erfurt. +Ich bin 2015 allein nach Deutschland gekommen. Von Anfang an wollte ich Bauingenieur werden. Das war mein festes Ziel, aber überhaupt nicht einfach. Die größte Herausforderung war die Sprache. Ich habe an einem Institut Deutsch gelernt, später an der Uni. Der Kurs hat mir sehr gefallen: Ich saß zum ersten Mal in der Bibliothek und habe andere Studierende kennengelernt. +Um mich fürs Studium bewerben zu können, musste ich mein syrisches Abitur anerkennen lassen. Das hat Monate gedauert, also habe ich die Bauingenieurskurse erst mal als Gasthörer besucht. Das war wichtig: Ich bekam einen Eindruck vom Studieren und habe Professoren kennengelernt, musste aber keine Prüfungen schreiben. Als ich mich dann fürs Studium beworben habe, hatte ich erst das Level B1 in Deutsch. Ich wurde trotzdem zugelassen – unter der Voraussetzung, bis Semesterbeginn die C1-Prüfung zu schaffen. +Das hat zum Glück geklappt. In den ersten Vorlesungen habe ich trotzdem nur zehn Prozent verstanden. So viele Wörter, die ich nicht kannte. In der Vorlesung war es ganz anders als in den Deutschkursen. Zu Kumpels habe ich damals gesagt: "Vielleicht suche ich mir lieber einen Job bei Zalando." Ein Scherz war das nicht: Ich habe wirklich nicht daran geglaubt, dass ich den Vorlesungen irgendwann folgen kann. Erst später wurde mir klar, dass das nicht nur an der Sprache lag: Viele Muttersprachler fanden die Kurse auch schwierig. +Inzwischen bin ich im vierten Semester. Ich verstehe fast alles, was in den Vorlesungen gesagt wird, habe die meisten Prüfungen geschafft und ganz gute Noten. Seit diesem Semester arbeite ich nebenher in einem Ingenieurbüro. + + + +Dominik Pertl, 23, studiert International Business an der ESB Reutlingen – nachdem er erst mal eine Ausbildung gemacht hat. +In der Grundschule war ich ein guter Schüler, aber am Gymnasium habe ich früh gemerkt: Ohne Erfolge macht das Lernen keinen Spaß. Zur siebten Klasse musste ich auf eine Realschule wechseln. An der war ich überraschenderweise kaum besser als am Gymnasium. +Nach der Schule habe ich deshalb eine Ausbildung begonnen als Assistent für Hotelmanagement. Ein Einserschüler war ich da erst mal auch nicht. Dafür konnte ich in Spanien und England arbeiten und die Sprachen lernen. Erst da wurde mir klar, wie toll Bildung sein kann und dass ich mich nicht langfristig in der Hotellerie sehe. +Im letzten Ausbildungsjahr wurde ich deshalb schlagartig besser. Ich beschloss, mein Abitur nachzuholen. Das war eine harte Zeit. Von den 20 Leuten, die mit mir an der Beruflichen Oberschule angefangen haben, haben sieben ihr Abitur geschafft. +Sicher kann man mit Nachhilfe oder Unterstützung der Eltern viel machen. Aber wenn ich heute darüber nachdenke, wird mir klar, wie riesig der Einfluss der Lehrer auf die eigene Bildungslaufbahn ist. Ich hatte erst in der Ausbildung Lehrer, die mich ernst genommen und mir mehr zugetraut haben. Während mir auf dem Gymnasium eher gesagt wurde, wie wenig ich dort hinpasse. Dabei denke ich heute nicht, dass ich damals zu schlecht fürs Abitur war. +An der Uni komme ich jetzt super zurecht. Auf der Oberschule war ich immer einer der Jüngsten, hier gehöre ich zu den Älteren. Ich bin unsicher, wie viel mir die Ausbildung wirklich gebracht hat. Manchmal denke ich, es war verlorene Zeit. Andererseits gehören in meinem Studiengang die Leute, die vorher schon eine  Ausbildung gemacht haben, zu den Besten. Ich glaube, das liegt einfach daran, dass wir motivierter sind. +Sophie L., 23, hat sich für den Master an der FU Berlin eingeklagt – und neben dem Studium weitere Jobs zu erledigen. + +Neben dem Studium pflege ich meine Mutter. Sie hat eine chronische Krankheit und muss gewickelt werden. Ich fahre regelmäßig ein bis zwei Stunden zu ihr.Das frisst Zeit und Energie. Es ist, als hätte ich ein kleines Kind zu versorgen.Dazu hatte ich zeitweise drei Jobs. Bei der Zulassung zum Master schien das aber alles unwichtig: Meine Bewerbung wurde abgelehnt, mein Schnitt von 1,8 reichte nicht. Ich war erst total geschockt und dann wütend, weil ich auf meine Noten reduziert wurde. Für die FU war ich ein NC (ein "Numerus clausus" bedeutet, dass die Anzahl der Studierenden für einen Studiengang begrenzt ist, Anm. d. Red.), nicht Sophie, die sich um ihre Mutter kümmert und arbeiten muss, um sich das Studium zu finanzieren. +Meine Eltern haben mir geraten, bei unserer Rechtsschutzversicherung nachzufragen, was sich gegen die Ablehnung machen lässt. So kam ich überhaupt erst auf die Idee, mich einzuklagen. Unsere Versicherung wollte nicht zahlen, aber ich habe es trotzdem gemacht. Das Verfahren endete mit einem Vergleich: Ich bekam meinen Studienplatz, musste aber die Kosten tragen. Die 3.000 Euro hätte ich nie zusammenbekommen, aber glücklicherweise haben meine Eltern das übernommen. Ich hätte auf einem Verfahren bestehen können, aber als der Vergleich bei mir ankam, hatte das Semester schon angefangen, und ich wollte nicht noch mehr Zeit verlieren. +Richtig wohl fühle ich mich mit der Klage nicht. Ich habe bis heute das Gefühl, jemandem den Studienplatz geklaut zu haben. Ein großes Problem sehe ich in den Zulassungsverfahren.Die könnten viel differenzierter entscheiden als nur nach NC.Das ist natürlich mehr Aufwand, aber andere Unis schaffen es ja auch. + diff --git a/fluter/zugestaendnisse-von-firmen-an-china.txt b/fluter/zugestaendnisse-von-firmen-an-china.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..a81d084072f1c6116057a3fb329b35711999b42c --- /dev/null +++ b/fluter/zugestaendnisse-von-firmen-an-china.txt @@ -0,0 +1,12 @@ +Die australische Fluggesellschaft Qantas Airways hatte, wie viele andere Airlines, auf ihrer Website ein Auswahlmenü mit China und Taiwan als zwei getrennten Zielen, zu denen man Flüge buchen konnte. Sehr zum Missfallen der chinesischen Regierung: Ende April schickte die Luftfahrtaufsicht der Volksrepublik einer Reihe von Airlines einen Brief, in dem sie mit ernsten Konsequenzen drohte, falls die Unternehmen nicht bis spätestens Ende Mai auf ihren Buchungsseiten und in ihren Prospekten Taiwan, Hongkong und Macau als Teile der Volksrepublik China ausweisen. +Hongkong und Macau, ehemalige britische beziehungsweise japanische/portugiesische Kolonien – ja, es ist kompliziert! –, gehören heute zu China, haben aber weitreichende Autonomie. Die amerikanische Regierung reagierte empört und sprach von "Orwell'schem Nonsens",mit dem China versuche, seine politischen Ansichten auch bei amerikanischen Bürgern und Unternehmen durchzusetzen. +Trotzdem fügten sich die Firmen, unter ihnen United Airlines, Air Canada, British Airways und die Deutsche Lufthansa. Qantas schaffte es nicht pünktlich. Die Website zu ändern sei kompliziert, erklärte das Unternehmen, aber man werde den Wünschen der chinesischen Behörden natürlich nachkommen. Die gewährten Qantas einen Aufschub. Weniger begeistert war die damalige Außenministerin Australiens, Julie Bishop. Private Unternehmen sollten ihre Geschäfte frei von politischem Druck ausüben können, sagte sie. + +Die amerikanische Hotelkette Marriott International wollte eigentlich nur die Zufriedenheit der Kundschaft erheben – und beging aus chinesischer Sicht den gleichen Fehler wie mehr als ein Dutzend Airlines. In dem Online-Fragebogen konnten die Hotelgäste bei der Angabe ihres Herkunftslandes unter anderem "Tibet" auswählen. Prompt sperrten die chinesischen Behörden im Januar für eine Woche die Internetseite von Marriott. Seit 1950 steht Tibet faktisch unter chinesischer Kontrolle und ist nur formal eine autonome Region. Nach einem erfolglosen Aufstand der Bevölkerung floh der Dalai-Lama, das geistliche und weltliche Oberhaupt der Tibeter, 1959 nach Indien, wo er bis heute einer Exilregierung vorsteht. +Auf Twitter gratulierte die Unabhängigkeitsbewegung Friends of Tibet dem Unternehmen Marriott dazu, dass es die Himalaja-Region als eigenes Land gelistet hatte – und der Social-Media-Manager von Marriott wiederum gab dem Tweet vom Firmenaccount ein Like, was chinesische Twitter-Nutzer aufbrachte. #BoycottMarriott lautet das Hashtag, unter dem sich der Protest formierte.Keinen Tag später twitterte die Hotelkette, die über 300 Hotels in China unterhält, die Entschuldigung: Man unterstütze keine Separatisten, die die territoriale Integrität Chinas infrage stellten. Dem zuständigen Mitarbeiter wurde kurzerhand gekündigt. + +Einmal reichte ein scheinbar harmloses Zitat, um für Unmut zu sorgen: "Schau dir eine Situation von allen Blickwinkeln aus an, und du wirst offener werden", postete der Stuttgarter Autobauer Daimler Anfang des Jahres auf seinem Instagram-Kanal auf Englisch, weil der Kanal weltweit fürs Marketing genutzt wird. Dazu ein Foto eines weißen Mercedes am Strand. Das Problem: Die weisen Worte stammen vom Dalai-Lama. Auf die Proteste aus China reagierte Daimler nach Meinung vieler Kritiker zu unterwürfig: Auf dem chinesischen Twitter-Pendant Weibo drückte Daimler "tiefstes Bedauern" aus, sprach sogar von einem "extremen" Fehltritt. +Und natürlich löschte man auch sogleich das Foto – weltweit. Dabei dürfte die chinesische Bevölkerung selbst nicht viel von alldem mitbekommen haben: Instagram ist in der Volksrepublik gesperrt. + +Gesperrt ist in China bislang auch die weltweit größte Suchmaschine: Google. Das könnte sich ändern. Medienberichten zufolge arbeitet das Unternehmen inzwischen an einer Google-Variante für den chinesischen Markt, Projektname "Dragonfly" (Libelle). Dabei sollen Suchanfragen und Websites, die den chinesischen Behörden unlieb sind, direkt gesperrt werden. Über Menschenrechte, Demokratie oder friedliche Revolution erführen die Nutzer in China also nichts, wenn sie danach zu googeln versuchten. Im Dezember 2017 soll sich der CEO von Google, Sundar Pichai, mit einem ranghohen Funktionär der Kommunistischen Partei in China in dieser Sache getroffen haben, eine Smartphone-App wurde angeblich bereits den Behörden vorgeführt. Was an den Plänen dran ist, lässt sich nicht sagen: Offiziell bestätigt hat Google diese Berichte nicht. Menschenrechtsgruppen sind jedenfalls alarmiert: "Dass die größte Suchmaschine der Welt der Zensur folgt, ist ein Sieg für die chinesische Regierung – es sendet das Signal, dass sich niemand mehr die Mühe macht, gegen die Zensur zu kämpfen", sagte ein Vertreter von Amnesty International der Website The Intercept, die zuerst über das Thema berichtet hatte. Auch einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Google sind offenbar beunruhigt über das Geheimprojekt ihres Arbeitgebers. In einem Brief an die Konzernleitung erbaten sie mehr Informationen. Sollten die Berichte stimmen, werfe das "dringende moralische und ethische Fragen auf". 2010 sah die Lage noch anders aus: Damals hatte sich Google aus China zurückgezogen, weil die Firma ihre Suchergebnisse nicht länger zensieren wollte. + diff --git a/fluter/zukunft-der-volksparteien-pro-contra.txt b/fluter/zukunft-der-volksparteien-pro-contra.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d050f287d0aa3b93629e9766396b71395cce5505 --- /dev/null +++ b/fluter/zukunft-der-volksparteien-pro-contra.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +Der Idealtyp dieses Musters ist der Kurzzeitpolitiker, der auf Sicht regiert, auf Meinungsforscher hört und eine Politik der kleinen Schritte betreibt. Darüber, wohin diese führen könnten, lässt er seine Wähler lieber im Unklaren, weil er keine Vision von der Zukunft hat. Nur ein Teil der Wahrheit, so ist er überzeugt, würde sie bereits in Unruhe versetzen. Zusammengehalten wird das Modell der Lieferdemokratie durch eine Vorstellung von der Gesellschaft als Summe von Minderheiten. Jede gesellschaftliche Gruppe hat dementsprechend bestimmte legitime Ansprüche und Anrechte. +International sind längst ein neues Modell und ein neuer Typ Politiker im Trend. Den Anfang machte der 46-jährige Justin Trudeau als neuer Premier in Kanada. Auf ihn folgten 2017 derneu gewählte französische Präsident Emmanuel Macron(40) und der neue österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz (32). Diese neue Politikergeneration verbindet nicht nur ihre Vorliebe für eng geschnittene Anzüge. Mit Ideologien, traditionellen Seilschaften und Bünden haben sie wenig zu tun. +Am meisten riskiert hat der neue französische Präsident, er hat auch am meisten gewonnen. Macrons Projekt heißt "Emanzipation": Jeder soll seine Position verbessern und seinen eigenen engen Rahmen verlassen können. Macron war der erste Politiker, der in Europa zeigte, wie Verdruss und Nationalismus, die im neuen Rechtspopulismus sichtbar werden, beizukommen ist. Nicht durch einen Wettbewerb an Ignoranz oder Überbietung, sondern durch Auseinandersetzung mit ihnen. +Statt des alten Rechts-Links-Gegensatzes geht es in Zukunft um eine dreidimensionale Politik: Es geht nicht mehr um Freiheit oder Sicherheit, Staat oder Markt, Weltoffenheit oder Geschlossenheit. Gesellschaftliche Herausforderungen und Probleme werden in Zukunft nicht über Gegner, sondern über Lösungen definiert. +Drei Gebote sind für die politische Auseinandersetzung wichtiger denn je: Gelassenheit, Tonalität und Zuversicht. Politische Gelassenheit meint eine Abrüstung der ideologischen Anfeindungen, die heute die politischen Debatten beherrschen, und eine Haltung, sich nicht irremachen zu lassen. Nicht der Populismus ist gefährlich, sondern die Angst vor ihm. Die neue politische Tonalität ist eine moderate und moderierende. Es geht um eine Sprache der emotionalen Zuversicht bei gleichzeitiger Härte in der Sache. +Die Volksparteien haben nur als Bewegungsparteien eine Zukunft. "Bewegung" heißt: Sie wollen nicht nur mit ihren Mitgliedern, sondern mit möglichst vielen Bürgern Politik unternehmen und eine positive Vision von der Zukunft entwickeln. Davon sind sie im Moment jedoch sehr weit entfernt. +Die Volksparteien altern schneller und sind homogener als der Rest der Bevölkerung. In einer zunehmend heterogenen und vielfältigen Gesellschaft müssen Zusammenhalt und Integration anders hergestellt werden als durch zwei große Parteien. Die Bürgerinnen und Bürger sind längst weiter und können sich bunte Bündnisse vorstellen. Nicht "Einheit in Vielfalt", sondern "Einheit durch Vielfalt" ist das Motto der Zukunft. Die Volkspartei ist tot. Es lebe die Bewegungspartei! + +Daniel Dettling ist Jurist und Verwaltungswissenschaftler. Als Politikberater hilft er Ministerien und Unternehmen sich für die Zukunft zu wappnen. Er ist Gründer des Thinktanks re:publik, Institut für Zukunftspolitik. + +Collagen: Renke Brandt +Nur mit Bewegungs- und Netzwerkparteien, wie Daniel Dettling sie vorschlägt, wird es keine politische Willensbildung geben, die mehrheitsfähig ist. Ohne breit mobilisierende Organisationen werden die BürgerInnen nicht besser vertreten, als sie es bisher sind. Wir brauchen starke Volksparteien: Sie stabilisieren die Demokratie. +Volksparteien sind in der Lage, politische Konflikte und Debatten innerhalb ihrer Strukturen zu kanalisieren. Sie haben die Möglichkeit, ihre zahlreichen Mitglieder bei einem Thema zu vereinen und starke innerparteiliche Bündnisse zu schaffen, noch bevor mit anderen Parteien darüber diskutiert wird. In einer zunehmend polarisierten Gesellschaft, in der politische Diskussionen schnell in moralische "Empörungsbattles" umkippen, sind Volksparteien der Schlüssel zu einer sachlichen Fachdebatte. +Sie sind traditionell gut mit der Zivilgesellschaft verbunden gewesen – so beispielsweise die SPD mit denGewerkschaften. Das hat es ihnen in der Vergangenheit erlaubt, die Interessen und Bedürfnisse von verschiedenen Bevölkerungsgruppen politisch zu vertreten. Und dabei schaffen sie es, ganz unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Interessen zusammenzubringen. +Volksparteien sind keine "single issue parties", die nur für ein Thema stehen, sondern sind thematisch breit aufgestellt und haben in ihren Reihen zahlreiche ExpertInnen, die sich in ihren Themen gut auskennen. Diese fachliche Expertise aus den Volksparteien ist besonders wichtig, wenn es ums Regieren geht. +Außerdem verankern Volksparteien die Demokratie auf lokaler Ebene. Ohne die Infrastruktur von Volksparteien wäre die politische Teilhabe vieler Bevölkerungsgruppen nicht möglich. Denn sie tragen wesentlich dazu bei, dass auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene eine konstruktive Debattenkultur herrschen kann. +Die Volksparteien verlieren momentan an Rückhalt. Man kann ihnen ihre Überalterung vorwerfen. Oder eine Politik, von der manchmal nur ihre Klientel und weniger die Allgemeinheit profitiert, mangelnde Öffnung für jüngere WählerInnen oder ihre wenig fortschrittlichen Programme, die nicht die Zukunft, sondern Besitzstandswahrung im Auge haben. Es sind Schwächen, die die Parteien aber selbst angehen können – und müssen! +Volksparteien müssen es wieder schaffen, einen größeren Teil der Bevölkerung auch tatsächlich politisch zu repräsentieren, um sich weiterhin "Volkspartei" nennen zu können. Es braucht Strategien, um die WählerInnen, die sie an die kleineren Parteien verloren haben, zurückzugewinnen. +Dafür könnten sie: + +Um wieder einflussreicher zu werden, müssen die großen Parteien von kleineren, neueren Parteien lernen und über Deutschlands Grenzen hinausschauen: Bei der Mobilisierung, internen Organisation und Öffentlichkeitsarbeit können Volksparteien viel von den neuen Parteien"En Marche" in Frankreich, "Podemos" in Spanien oder "Alternativet" in Dänemark lernen. Ein Blick ins Ausland reicht, um zu sehen, was geschieht, wenn Parteireformen ausbleiben: In Frankreich wurden sowohl die Konservativen als auch die Sozialistenvon neuen Parteien überholt. In Italien,Schwedenoder den Niederlanden ringen die Volksparteien um ihre Existenz – insbesondere im sozialdemokratischen Spektrum. +Wichtig ist, dass es nicht nur "kosmetische" Veränderungen gibt, sondern dass die WählerInnen diesen Wandel tatsächlich spüren. In der Geschichte mussten sich die Volksparteien immer wieder neu erfinden. Sie können es, wenn sie wollen. Erste Zeichen solcher Reformen zeichnen sich ab: Innerhalb der SPD gibt es Erneuerungsprozesse wie SPD++ oder das Debattencamp. Die CDU richtet sich momentan mit einer neuen Vorsitzenden und einem 33-jährigen Generalsekretär auf die "Post-Merkel-Ära" ein. Wenn diese Reformversuche ernst genommen und durchgesetzt werden, dann haben die Volksparteien einen wichtigen Beitrag für die Zukunft der Demokratie geleistet. Wenn nicht, dann werden sie weiter an Macht und Legitimität verlieren. + +Sophie Pornschlegel ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet beim Thinktank Das Progressive Zentrum. Hier beschäftigt sie sich vor allem mit dem Thema"Zukunft der Demokratie" diff --git a/fluter/zukunft-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt b/fluter/zukunft-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..03314d7bc1087ae7bb35603fd52a9054e1e35ddd --- /dev/null +++ b/fluter/zukunft-die-es-nicht-ins-heft-geschafft-hat.txt @@ -0,0 +1,2 @@ +"Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen" – diesen Rat gab Altbundeskanzler Helmut Schmidt einst im Wahlkampf 1980 seinem Parteikollegen Willy Brandt, und bis heute wird er gern damit zitiert. Wir hätten ja gern mal gewusst, was an Visionen so schlimm ist, dass sie Schmidt, der heute Mitherausgeber der Wochenzeitung "Die Zeit" ist, für behandlungswürdig hält. Aber dann wollten wir doch keine große Sache daraus machen. Das wäre dann doch zu viel der Ehre gewesen. +In der Zukunft werden die Menschen bestimmt unseren Müll ausgraben, um herauszufinden wie wir gelebt haben. Warum nicht schon mal anfangen damit, dachte sich der Archäologe William Rathje von der University of Arizona. Im Jahr 1987 wurde er zum Pionier einer wissenschaftlichen Disziplin, die sich "Garbology" nennt. Rathje war überzeugt: "Was Menschen besaßen und wegwarfen, sagt mehr über sie aus, als sie selber jemals erzählen  könnten." Gemeinsam mit seinen Studenten durchwühlte er tonnenweiße stinkende amerikanische Abfälle und schrieb ein Buch mit dem Titel "Rubbish!". Danach war es ziemlich lange still um sein Forschungsgebiet. Als wir die einzige uns bekannte Garbologin in Berlin anriefen, um ein Interview mit ihr zu vereinbaren, waren wir mehr als enttäuscht. Sie erzählte von Büchern und noch mehr Büchern. Zum Beispiel einem über den Hausmüll Frankreichs im 17. Jahrhundert. Als wir sie fragten, wie oft sie denn selber auf Müllkippen anzutreffen ist, lachte sie und sagte so was wie: "Gute Idee eigentlich! Daran habe ich ja noch gar nie gedacht." Da merkten wir: Irgendwie ist an diesem Thema was faul. Zukunft, fanden wir, hat die Garbologie jedenfalls nicht. diff --git a/fluter/zukunft-eu-f%C3%B6deral-streitgespraech.txt b/fluter/zukunft-eu-f%C3%B6deral-streitgespraech.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..89747a328657792f900c433089737dbf614047d3 --- /dev/null +++ b/fluter/zukunft-eu-f%C3%B6deral-streitgespraech.txt @@ -0,0 +1,30 @@ +Die Diskussionen über ein föderales Europa hat das nicht beendet: Sollten die Nationalstaaten viel allein entscheiden – oder verlangen gemeinsame Herausforderungen wieKlimawandeloder Migration gar so etwas wie die "Vereinigten Staaten von Europa"? Wir haben die Politikwissenschaftler*innen Sandra Seubert und Francis Cheneval gefragt – die diese Fragen unterschiedlich sehen. + +fluter.de: Frau Seubert, Herr Cheneval, bevor wir über die Zukunft sprechen: Wie würden Sie denn das aktuelle System der EU beschreiben? +Francis Cheneval: Die EU ist ein föderales System, in dem die Nationalstaaten über Verträge viele Kompetenzen an die EU abgegeben haben, stark eingebunden und besonders ökonomisch ineinander verkrallt sind. Die EU ist quasi eine höhere Zivilisationsstufe der internationalen Beziehungen, mit sehr viel engerer Zusammenarbeit und Rechtssicherheit. +Sandra Seubert: Gleichzeitig hat die EU in einigen wesentlichen Bereichen keine föderale Struktur. Es gibt viele Möglichkeiten, sich aus der gemeinsamen Sache herauszuhalten – es haben ja beispielsweise auch nur 19 Staaten den Euro. Und es gibt grundsätzlich das Recht zum EU-Austritt. Das steht in einer gewissen Spannung. +Cheneval: Da stellt sich mir die Frage: Muss denn die EU "zu Ende" geführt werden – hin zu einem europäischen Bundesstaat, aus dem keiner mehr austreten kann? Auch so eine Zwangsunion kann auseinanderbrechen. Der EU das Austrittsrecht zu nehmen wäre, wie bei einer Ehe das Scheidungsrecht abzuschaffen. +Seubert: Die Option zum Austritt ist meiner Meinung nach aber immer eine Scheinsouveränität. Mit dem eropäischen Binnenmarkt und der gemeinsamen Währung wurden die Nationalstaaten immer abhängiger voneinander – ohne dass diese Abhängigkeit jemals wirklich demokratisch begründet wurde. Wir haben also durch ökonomische Integration einen europäischen Kapitalismus entstehen lassen,ohne dass eine europäische Demokratie mitgewachsen wäre. Diese Demokratisierung müssen wir jetzt nachholen. +Herr Cheneval, sehen Sie dieses Demokratiedefizit auch? +Cheneval: Die EU einen Kapitalismus ohne Demokratie zu nennen ist wirklich ein starkes Stück. Es gibt kein institutionelles Demokratiedefizit, höchstens eine ungenügende Identifikation mit der EU. +Seubert: Dieser Diskurs über die Identifikation endet meist in: "Wir haben die nicht, deshalb können wir nicht …" Dabei geraten doch die gemeinsamen Interessen aus dem Blick: Die EU baut kontinuierlich nationale Schranken ab, um den Markt anzukurbeln. So geschehen etwa beim Euro oder bei der sogenannten Freizügigkeit, die EU-Bürger*innen erlaubt, innerhalb der EU leben und arbeiten zu können, wo sie wollen. Wenn der europäische Markt dann mal reguliert werden soll, ist es aber sehr viel schwieriger, in Brüssel die Mehrheiten zu bilden, die Veränderungen brauchen. Und für die Sozialpolitik ist ohnehin nach wie vor jeder Staat weitgehend selbst zuständig. +Cheneval: Die Staaten sind wirtschaftlich stark in die EU eingebunden. Und wegen dieser ökonomischen Verpflichtungen muss jetzt unbedingt Demokratie nachwachsen? +Seubert: Ja! Denn der Euro und die Freizügigkeit sind doch total beliebt. Das Problem ist, dass die nationalen Regierungschef*innen und Minister*innen jeder Veränderung zustimmen müssen. Die werden aber nicht mit einer europäischen Agenda gewählt, sondern sind von ihrer nationalen Wiederwahl abhängig. +Sandra Seubert ist Professorin an der Goethe-Universität Frankfurt. Sie erforscht unter anderem, wie Demokratie über nationale Grenzen hinweg wirkt +Francis Cheneval ist Professor an der Uni Zürich. Er beschäftigt sich mit Demokratietheorien und den Problemen, die durch die Kooperation verschiedener Länder in der EU auftreten +Es gibt also zu viele nationale Interessen im europäischen Projekt. Wie löst man das Problem? +Seubert: Europaweite Listen und Parteien und die Stärkung des Europaparlaments sind ganz wichtig. Dann kann auch die europäische Identität wachsen, die uns gerade fehlt. +Cheneval: Europaweite Listen sind eine sehr elitäre Idee. Die Abgeordneten sind national doch viel enger verbunden mit ihren Wählern als mit potenziellen Wählern in ganz Europa. Außerdem sind europaweite Wahlkämpfe enorm teuer. +Seubert: Ich denke, dass das Europäische Parlament eigene Steuern erheben können sollte, um mit dem eingenommenen Geld Politik im europäischen Sinne machen zu können. Zum Beispiel mit einer europäischen Arbeitslosenversicherung oder in Sachen Klimaschutz. Solche europäischen Gemeinschaftsanliegen gibt es immer noch viel zu wenig. Deshalb profitieren manche Länder auch immer noch stärker von der EU als andere. +Zum Beispiel? +Seubert: Durch die Bewegungsfreiheit wandern Arbeitskräfte logischerweise dahin, wo sie mehr verdienen. Davon profitieren Länder wie Deutschland enorm. Was diese Abwanderung in den Herkunftsländern anrichtet, interessiert uns aber nicht. Umverteilen, das machen wir weitgehend national. +Warum gibt es denn keine gemeinsame Sozialpolitik? +Seubert: Aktuell reicht das Veto eines einzigen Mitgliedstaats, um das zu verhindern. Ein Konvent, in dem Vertreter aller Mitgliedstaaten diskutieren, könnte aber solche Strukturen schaffen. Und eine Verfassung erarbeiten für das Europa, das wir wollen. +Cheneval: Ein Konvent sollte eher die Sachzwänge abbauen, die der EU-Binnenmarkt geschaffen hat. Damit hätten die Mitgliedstaaten auch mehr Freiheiten, ihre Sozialpolitik zu gestalten. +Am Wochenende hat die "Konferenz zur Zukunft Europas" begonnen: Rund ein Jahr diskutieren Bürger*innen online über die politischen Prioritäten und die Struktur der EU. Was erwarten Sie von dem Projekt? +Seubert: Im schlechtesten Fall eine Schaufensterveranstaltung, bei der Bürger*innenbeteiligung nur simuliert wird. Dabei ist der Reformbedarf groß, und wir müssen über Punkte reden, an denen die EU-Bürger*innen zu Recht handlungsfähige Institutionen erwarten: Klimaschutz, Sozialstaatliches, Migration … +Zeigen das Scheitern in der gemeinsamenFlüchtlingspolitik, der Brexit oderrechtsnationale Bewegungen, dass eine föderale EU utopisch ist? Das scheint mir der Grundkonflikt zwischen Ihren Positionen: Braucht es erst eine föderale EU, um gemeinsam inhaltliche Lösungen zu finden – oder erst gemeinsame inhaltliche Positionen? +Seubert: DasScheitern des Dublin-Verfahrens und einer europäischen Migrationspolitikzeigt, dass man von vornherein eine funktionierende Struktur braucht, die die Länder dazu bringt, gemeinsam Probleme zu lösen. Wir brauchen eine EU, die klare Kompetenzen hat und weniger nationalstaatlich funktioniert. Das wird natürlich schwierig, die Fliehkräfte sind groß. Aber es ist noch kein Problem gelöst, wenn wir denen einfach nachgeben. +Cheneval: Ich denke, es zeigt, dass ein föderales Ethos notwendig ist, sagen wir eine Art gesamteuropäisches Verantwortungsgefühl. Ist das vorhanden, stärken wir Europa mit Konsens und nicht mit Zwang. + +Collage: Renke Brandt diff --git a/fluter/zukunft-ist-fuer-alle-da.txt b/fluter/zukunft-ist-fuer-alle-da.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..d9084c71103b6be93f629159ac33d61683898a79 --- /dev/null +++ b/fluter/zukunft-ist-fuer-alle-da.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Das darf man von einer Partei und ihrem Kandidaten, die vom Wähler abgewatscht worden sind, erwarten. Insofern geht der Satz okay. Ebenso darf man aber erwarten, dass er nicht als Ablenkung von dem eigentlich fälligen, aufrichtigen Eingeständnis einer Wahlniederlage angeführt wird. Dann handelt es sich in der Tat um leeres Verbalgebimmel. +War das nicht Demokratie? Insofern ist gegen so eine Feststellung nichts einzuwenden. Wird diese Selbstverständlichkeit aber im Kontext von jahrzehntelang gärenden Großkonflikten (Nahost) oder extrem verhärteten Fronten (Stuttgart 21) angeführt, dann hat das zuweilen den Geschmack von Ratlosigkeit. +Durch die Blume gesagt: Es gab den Mega-Zoff. Zum Beispiel in den Parteigremien, in denen ein niederschmetterndes Wahlergebnis intensiv diskutiert wurde (siehe Punkt 2). Wirkt als Aussage etwas gestanzt, aber solange nichts von den besprochenen Inhalten verheimlicht wird, ist es als zivilisatorischer Gewinn zu sehen, wenn sich in der Öffentlichkeit nicht mit Schmutz beworfen wird. +Dass sich die politische Klasse von der Lebenswelt der Bevölkerung entfremdet hat, ist ein weit verbreiteter Vorwurf. Und das hartnäckig. Das pastorale Geschwurbel vom Abholen der Menschen ist die rhetorische Überkompensation dessen. Bei der Gelegenheit mal eine bescheidene Frage: Wohin soll es denn überhaupt gehen? +Sogenannter Pleonasmus – im Umgangssprachlichen sagt man dazu: Doppelt gemoppelt hält besser. Rhetorische Figur, die Entschiedenheit zeigen soll. In der Vergangenheit hatten wir auch schon "durchregieren" statt regieren und "machen, machen, machen" statt machen. Es sei nur noch mal daran erinnert: Action speaks louder than words. +Talkshow-Evergreen. Kommt zum Einsatz, wenn die Frage auf keinen Fall beantwortet werden soll. Jeder versierte Talkshowgast weiß: Die Übervölkerung der Talkshows hat den Vorteil, dass jeder nur eine kurze Redezeit hat. Ehe der Moderator noch mal nachhakt, erteilt er lieber dem nächsten Gast das Wort. +Und deswegen muss man es auch gar nicht erst probieren. Beliebter Abwimmler mit leicht vergrätztem Unterton. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung. +Wie jeder beliebige Schüler, der das aber nicht extra betont. Umgekehrt wäre es schon eher eine Nachricht. diff --git a/fluter/zum-mitnehmen-0.txt b/fluter/zum-mitnehmen-0.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..abf036bd08f6e89e61d08ab52aede134e31aaefa --- /dev/null +++ b/fluter/zum-mitnehmen-0.txt @@ -0,0 +1,24 @@ +"Schon meine Großeltern und meine Eltern hatten hier einen Stand, an dem sie Blumen und Kränze verkauften. 1942 ist er abgebrannt, wir haben ihn wieder aufgebaut. 1949, als ich 14 Jahre alt war, starb meine Mutter. Deswegen musste ich mitanpacken. Markt bedeutet: Aufstehen um fünf Uhr, bei jedem Wetter, und um sechs Uhr morgens hier sein. Ich habe mich daran gewöhnt. Inzwischen arbeite ich drei Tage in der Woche, bis vor wenigen Jahren hatte ich nur sonntags frei. Ich habe am Stand meiner Eltern gearbeitet, 1960 bin ich an den Gemüsestand meines Mannes gewechselt. Kennengelernt und verliebt haben wir uns auf dem Markt. Wir haben fast nur Stammkunden: vom Angestellten über Millionäre bis zu so manchem Münchner Lokalpromi. Die Gespräche gehen über kleine Nettigkeiten hinaus, eine Bindung, die ins Private reicht, baut man aber trotzdem kaum auf. Das hat auch damit zu tun, dass die Leute hastig sind, was aber kein Phänomen heutiger Tage ist. Der Markt ist eben ein Ort, an dem man im Vorbeigehen einkauft. Früher ging es manchmal noch enger und hektischer zu: Da führte eine Straße mitten durch den Viktualienmarkt, direkt an unserem Stand vorbei – wir hatten dadurch weniger Platz für unsere Auslagen. Das Angebot richtete sich damals viel stärker nach der Jahreszeit. 1960 gab es im Winter keine Kräuter außer Schnittlauch, Petersilie und Suppenkraut. Basilikum hätten Sie da vergeblich gesucht, in Öl eingelegte Antipasti waren undenkbar. Heute kauft vor allem auf dem Markt ein, wer ausgefallene Zutaten braucht. Im Moment ist die asiatische Küche gefragt. Daher haben wir etwa Koriander oder Ingwer. Als ich jung war, bauten viele Händler die Lebensmittel selbst an, die sie verkauften, für die konnten sie dann auch die Preise bestimmen. Man brauchte kaum Verpackungsmaterial, die Kunden brachten Körbe und Gläser mit. Ich habe nie bereut, dass ich auf dem Markt gelandet bin. Klar, als Kind hatte ich andere Träume: Kindergärtnerin wäre ich gern geworden. Nach dem Tod der Mutter blieb mir aber gar keine andere Wahl als mitzuhelfen. Den Stand meiner Eltern haben wir verkauft, als mein Vater sich zur Ruhe setzte. Heute werden dort Würstel angeboten. Der Viktualienmarkt hat mein Leben geprägt. Wenn mein Mann und ich uns eines Tages zur Ruhe setzen, führt unser Sohn den Stand weiter." +Jens Zeiger, 28, Energieelektroniker, Corning Cable Systems, Neustadt bei Coburg. +"Als ich hier vor 13 Jahren meine Ausbildung begonnen habe, war ich mir sicher, in dieser Firma alt werden zu können. Meine Freunde haben gesagt: Respekt, Siemens, das ist was Bodenständiges. Damals gehörten wir ja noch zu Siemens, was Sichereres gibt es gar nicht, dachte ich. 1999 wurde unsere Kabelproduktion ausgegliedert, 2000 dann an die amerikanische Firma Corning Systems verkauft. Die Amerikaner kamen und haben uns erzählt, wie toll unser Standort ist. Bis wir letztes Jahr alle in die Kantine kommen mussten, wo man uns sagte, dass die Fertigung nach Polen verlagert wird. Aus Kostengründen. Ich habe eine riesige Wut auf die Leute, die diese Entscheidung getroffen haben. Die haben keine Ahnung. Hier werden seit 1937 Kabel gefertigt, wir machen unsere Arbeit gut, es gibt keinen Grund, das Werk zu verlagern. Ich glaube, das ist eine politische Entscheidung. Es ist schon auffällig, dass viele amerikanische Firmen nach Beginn des Irakkrieges nach Polen gingen. Ins Neue Europa, das treu an Amerikas Seite stand. Dafür gibt es dann auch noch EU-Fördermittel. Aber egal, wie ich es drehe: Ende September ist mein Arbeitsplatz weg. Für ein Jahr komme ich in einer Auffanggesellschaft unter, bei achtzig Prozent meines Gehalts, dann bin ich arbeitslos. Mit zwei kleinen Kindern, dreieinhalb Jahre und sechs Monate alt, und einem Haufen Schulden auf meinem Haus, das gerade fertig ist. Hier in der Region sieht es nicht gerade rosig aus mit Arbeitsplätzen. Sicher: Ich hätte erst mal nach Polen mitgehen können. Aber erstens gebe ich mein Haus hier nicht auf, das sehe ich nicht ein. Ich will den Zwängen nicht folgen, die uns die Wirtschaft aufdrücken will: Mobilität, Flexibilität und so. Meine Familie wohnt hier und bleibt hier. Fertig. Zweitens werde ich nicht meinen polnischen Nachfolger anlernen. Dafür wurden hohe Sonderzahlungen geboten, aber ich mache das nicht. Das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, so viel können die nicht zahlen. Ich will meinen Kindern nicht sagen, ich hätte auch noch dazu beigetragen, dass mein Job jetzt in Polen getan wird. +Die Maschinen, die ich bediene, kenne ich in- und auswendig, die meisten spreche ich mit Spitznamen an. Das ist mein Arbeitsplatz, meiner! Den hier abbauen und in Polen aufbauen zu müssen, das ist so zynisch, das grenzt für mich an seelische Grausamkeit. Für mich ist die Globalisierung eine moderne Form der Sklaverei. Die großen Konzerne wissen nicht mehr, was soziale Verantwortung bedeutet. Eineinhalb Jahre hab ich noch ein Einkommen, und unser Betriebsrat hat uns ziemlich gute Abfindungen erkämpft. Aber es wird trotzdem ernst. Ich spüre die Angst schon im Nacken. Ich will nur meinen Kopf über Wasser halten können und eine ruhigere Zukunft. Mit nicht zu viel und nicht zu wenig zum Leben." +Thomas Stracke, 42, Berlin, Unternehmer. +Viel Geld brauchte Thomas Stracke nicht. 5500 Euro waren es, damit wollte er die zweite Auflage seiner Berliner Tüte finanzieren. So nennt der 42-Jährige die Papiertüten, die er in seinem Blütenverlag mit Literatur unbekannter Autoren bedruckt und über Buchhandlungen verkauft. Zu einer Bank konnte er mit der Idee nicht gehen. "Für den Berater hätte sich das Gespräch nicht mal bei einer Summe von 30 000 Euro gelohnt", sagt er. Also nahm er bei einem Mikrokredit-Institut einen Mikrokredit mit zehn Prozent Zinsen auf. Ein stolzer Satz. Für Stracke stimmte die Gegenleistung trotzdem. "Mir war es wichtig, dass der Kredit dynamisch gestaltet ist." Das heißt: Wann er seine Schulden zurückzahlte, bestimmte er selbst. Ein Anruf, schon ließen sich die Überweisungen ein paar Tage vorziehen oder hinauszögern. Je nach Einkommen eben. So flexibel arbeiten Banken nicht. Mikrokredite setzen genau darauf. Ursprünglich wurden sie in den Siebzigern als Instrument der Entwicklungshilfe erfunden. Man wollte die für Banken wenig lukrativen Kleinunternehmer unterstützen. Seit einigen Jahren wird das Modell auch in Deutschland angeboten. Stracke hält es für ideal. Zwar musste der ehemalige Philosophiestudent lernen, wie man einen Businessplan erstellt. Und um sich über Wasser zu halten, baut er nebenbei Möbel. Sein Verlag aber, den er 2004 gegründet hat, trägt sich inzwischen. Und da er einen neuen Computer braucht, überlegt Stracke gerade, einen zweiten Mikrokredit aufzunehmen. "Das ist das günstigste Geld, das ich bekommen kann", sagt er. Trotz der hohen Zinsen. +Felix, 26, war nach seiner Ausbildung zum Schreiner arbeitslos, dann bekam er kurz Hartz IV. Jetzt studiert er in Marburg Wirtschaftswissenschaften. Seit zwei Jahren gehört er zu den "Überflüssigen", einem Netzwerk, das im Oktober 2004 als Reaktion auf die Hartz-Gesetze entstand. +Ihr habt gegen Peter Hartz demonstriert und Bert Rürup eine Torte ins Gesicht geworfen. Was habt ihr gegen die beiden? +Beide stehen für ein soziales Entrechtungsprogramm: Hartz wegen der nach ihm benannten Arbeitsmarktreform und Rürup, weil er letztes Jahr gefordert hat, das Arbeitslosengeld II generell um dreißig Prozent zu kürzen. Das sollte den Anreiz für Arbeitslose erhöhen, für noch niedrigere Löhne zu arbeiten und so zu beweisen, dass sie "arbeitswillig" sind. +Was ist das "Entrechtungsprogramm"? +Der Kapitalismus steht dafür, Armut und Reichtum zu schaffen. Die Kluft zwischen Arm und Reich wurde in den letzten Jahren immer größer, dazu haben auch die Hartz-Gesetze beigetragen. Rechte, die zwischen abhängig Beschäftigten und Arbeitgebern ausgehandelt werden, werden mehr und mehr zurückgenommen, die Arbeitgeber immer stärker von ihren Pflichten entlastet. Wer nicht jeden Job annehmen will, dem droht sozialer Abstieg oder die Kürzung von Arbeitslosengeld II, Arbeitslose werden in Ein-Euro-Jobs gezwungen. Gegen diese Verarmung und Entrechtung wollen wir etwas unternehmen. +Wer sind die "Überflüssigen"? +Leute aus Sozialprotestinitiativen, aus politischen Künstlergruppen, Schüler, Studenten, Arbeitslose, Gewerkschaftsmitglieder, Putzkräfte, Verkäufer, eine Sekretärin. Ich komme aus der antirassistischen Bewegung. Was das Alter angeht, ist von 16 bis 65 alles vertreten, wir hatten schon Aktionen in ganz Deutschland, von Lübeck bis München. +Ihr tragt immer weiße Masken. Warum? +Am Menschen interessiert – wenn überhaupt – nur noch die reine Arbeitskraft. Die Person und das Gesicht dahinter spielen im Kapitalismus keine Rolle mehr – daher unsere Masken. Wir stehen für Menschen, die weltweit von Armut und Ausbeutung betroffen sind, für Flüchtlinge genauso wie für die allein- erziehende Mutter, die sich mit Niedriglohnjobs durchschlagen muss. +Wie verschafft ihr euch Gehör? +Vor allem mit Aktionen des zivilen Ungehorsams. Einer unserer Slogans heißt: "Alles für alle!" Deshalb waren wir im Berliner Nobelrestaurant "Borchardt". Da leisten sich Menschen für 150 Euro ein Mittagessen, so ein Betrag steht einem Hartz-IV-Empfänger nach dem Regelsatz für die Lebensmitteleinkäufe eines ganzen Monats zur Verfügung. Darauf wollten wir aufmerksam machen und haben gesagt: "Auch wir haben Hunger, auch wir wollen ans Buffet und lecker essen!" +Wie haben die Gäste reagiert? +Im Großen und Ganzen freundlich. Einige haben sich solidarisiert, manche haben aber auch gesagt, es gehöre sich nicht, von fremden Tellern zu essen. Nur die Geschäftsleitung war wenig erfreut und hat uns gebeten, das Restaurant zu verlassen. Wir wurden dann regelrecht aus dem Lokal gezerrt. +Wie wünscht ihr euch denn die Gesellschaft? +Das kann man nicht so genau sagen, das ist ein Prozess. Klar ist, wir wollen eine Welt, in der es keine Ausbeutung und Unterdrückung mehr gibt. Aber wir entwickeln kein Manifest für die befreite Gesellschaft. +Andreas Kratzer, 36, Bauer, Gablingen. Er hat 3000 Hühner, 15 Hektar Land und liefert Eier auf Onlinebestellung. Für seine kreativen Einfälle erhielt Kratzer 2003 den Innovationspreis der bayerischen Land- und Forstwirtschaft. +"Mein Vater ist aus der Not heraus aufs Huhn gekommen. Er hatte sieben Kühe und sieben Hektar Land. Es ging um die Existenz. Also schaffte mein Vater Hühner an, 300 Stück. Ein Bäcker im Ort sollte ihm die Eier abkaufen. Aber schon als mein Vater mit der zweiten Ladung kam, wollte der sie nicht mehr haben – weil die jungen Hühner nur so kleine Eier legten. Das gab sich mit der Zeit: Wenn Hühner älter werden, legen sie automatisch größere Eier. Was blieb, war das Absatzproblem. Eier muss man selbst vermarkten, eine garantierte Abnahme oder staatliche Subventionen gibt es nicht. Mein Vater lernte dann einen Eierhändler kennen, belieferte Kantinen und verkaufte die Eier parallel dazu in unserem Hofladen. +Den Laden gibt es heute noch. Aber mittlerweile habe ich nicht nur 3000 Hühner und 15 Hektar Land, sondern seit 1999 auch eine Website, die ich für Vermarktung und Verkauf nutze. Wöchentlich wird eishop.de von 500 verschiedenen Usern besucht. Als vor vier, fünf Jahren der erste Kunde Eier online bestellte, dachte ich: Hey, es funktioniert! Mittlerweile verschicke ich alle zwei Wochen einen Newsletter mit unseren Angeboten, aber auch mit Rezeptideen der Kunden. Die können auch "Eier-Abos" abschließen. Wir liefern im Großraum Augsburg vor die Haustüre, neben Eiern auch Teigwaren und Eierlikör. Damit sich die Fahrten lohnen, müssen wir in einem Gebiet so viele Kunden wie möglich gewinnen. Das geht nur mit Werbung: Also haben wir Eierschachteln mit Prospekten verteilt. Das Haustürgeschäft ist hart, aber im Schnitt gewinnen wir mit hundert solcher Schachteln dreißig neue Kunden. Eine weitere Idee setze ich gerade um, die "Ei-Points": Ein Kunde wirbt bei Bekannten und verteilt später die Bestellungen. Dafür bekommt er zehn Prozent vom Umsatz. Im Stall bin ich heute kaum noch, mehr im Büro. Vom Internetverkauf allein kann ich nicht leben. Aber er ist die Zukunft! In den vergangenen zehn Jahren musste bestimmt die Hälfte der kleinen Höfe in der Gegend aufgeben. Da stirbt eine Kultur aus. Deshalb will ich andere davon überzeugen, dass meine Vermarktungsideen auch in ihrer Region funktionieren. Viele Berufskollegen sind leider skeptisch. Ob ich selbst im Internet einkaufe? Kommt auf die Artikel an. Bestimmte Dinge muss man vorher sehen, fühlen und probieren." diff --git a/fluter/zum-mitnehmen.txt b/fluter/zum-mitnehmen.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..de2d25e68ccc50f36b5d95009926f694bc1bb064 --- /dev/null +++ b/fluter/zum-mitnehmen.txt @@ -0,0 +1 @@ +Tobias Moorstedt (32) hat im letzten fluter zum Thema "Medien" über Pro Publica geschrieben – eine gemeinnützige Presseagentur in New York. Das Heft mit dem Text könnt ihr immer noch bestellen. diff --git a/fluter/zurueck-aus-digitalien.txt b/fluter/zurueck-aus-digitalien.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..106fcf487eb2b0cf6942bef04f368fb5c536b1e8 --- /dev/null +++ b/fluter/zurueck-aus-digitalien.txt @@ -0,0 +1,13 @@ +Während Christian in verschiedenen Therapiesituationen gezeigt wird, erklärt der Leitende Psychologe Dr. Bernd Sobottka, wie und warum sich bei Patienten diese Abhängigkeit entwickelt. Oftmals seien Betroffene in einer "vulnerablen", also verletzlichen Phase und flüchteten "vor unangenehmen Ereignissen und Entwicklungsschritten". +Die AHG Klinik Schweriner See ist spezialisiert auf psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Suchtmedizin. Sie gehört zur Allgemeinen Hospitalgesellschaft AG, die insgesamt 45 Kliniken und Therapiezentren für suchtkranke Menschen betreibt. An den AHG Kliniken Schweriner See und Münchwies im Saarland wurde zwischen 2010 und 2012 eine Studie zum pathologischen PC-/Internet-Gebrauch durchgeführt. Danach sind zu 90 Prozent jüngere Männer betroffen, oft geht die Abhängigkeit mit depressiven Störungen einher. +Laut der Studie gibt es Hinweise auf ein Ansteigen der Problematik, genaue Zahlen darüber, wie viele Betroffene es in Deutschland gibt, liegen nicht vor. Einer umfangreichen Telefonbefragung für eine Studie des Bundesgesundheitsministeriums von 2011 zufolge könnten – geschätzt – zwischen einem und 1,5 Prozent der Bevölkerung betroffen sein. Eine ergänzende Studie der Universität Lübeck bestätigt diese Einschätzung. Die Zahlen sind jedoch nicht unumstritten und werden von manchen Experten als eher zu hoch eingeschätzt. Allein in den beiden AHG Kliniken Schweriner See und Münchwies wurden innerhalb von zehn Jahren mehr als 700 Patienten wegen Computer-/Internetsucht behandelt. Die AHG Klinik Schweriner See behandelt nach eigenen Angaben derzeit 60 bis 70 Patienten pro Jahr mit dem Krankheitsbild des pathologischen PC-/Internet-Gebrauchs. In der Regel sind diese Patienten zehn bis zwölf Wochen in der Klinik. + +Auch Hanns ist einer, der lange in der virtuellen Welt kleben blieb. Die Suchttherapie in der AHG Klinik Schweriner See hat ihm schließlich geholfen. Warum er den Kopf in den Computer steckte, wie abstumpfte zwischen Games, Serien und Pornos, und wie er wieder herausfand, schildert dieses Protokoll: +Ich spiele jetzt seit fast einem Jahr nicht mehr. Nach 12 Wochen stationärer Behandlung. Äußerlich war ich dort zwar gerade 28 Jahre alt geworden, aber im Kopf total stehen geblieben. Ich war völlig hilflos und hatte keinen Plan vom Leben – auch jetzt habe ich noch einiges nachzuholen. +Es fing alles mit meiner ersten Freundin an, ich war komplett überfordert mit der Situation und bekam zum ersten Mal mit, dass ich die Welt und meine Probleme ausblenden kann, wenn ich den Kopf in den Rechner stecke. Das war mit 14. Mein einziger Freund spielte auch am Computer, und es gab niemanden, mit dem ich reden konnte. Auch wenn meine Freundin zu mir kam, spielte ich immer nur; irgendwann machte sie Schluss. Es war ein Teufelskreis, der mir in meinem Suchtleben ständig begegnete. Immer wieder vergrub ich mich in der digitalen Welt, um dann noch stärker von der Last erdrückt zu werden. +Wir bauen gerade unsere Mediathek um. Dieses Video ist demnächst wieder hier verfügbar. Bis dahin findet ihr es auf unseremYoutube-Kanal. +Nach dem Abi verletzte ich mir die Bänder an meinem linken Knie, und damit war mein Traum, Pilot zu werden, vorbei. Alles, was ich mit meinem Leben machen wollte, war auf einmal weg. Ich ging dann nach Dresden zum Studieren. Sobald ich aus der Uni kam, fraß ich mich in den Rechner. Wieso, weiß ich nicht. Es lief einfach völlig aus dem Ruder. Klar hatte ich auch Freunde, aber vor allem lernte ich im Internet Leute kennen, die dieselben Interessen hatten – also Leute, die auch Spieler waren. Es war eine riesige LAN-Party. Man pushte sich gegenseitig, erzählte sich, was man gerade spielte, wie weit man war. +Ständig boostete man sein Ego, erlebte in kürzester Zeit wahnsinnige Abenteuer. Alles war ein irrer Adrenalinkick, manchmal saß ich noch nach einem Spiel da und zitterte. Ich bekam unglaublich viel Bestätigung, aber es war auch unglaublich schnell wieder vorbei, und deshalb brauchte ich ständig Nachschub. Ich habe alles genutzt, um in eine andere Welt zu fliehen: Animes, Mangas, Serien, Filme, viele Computerspiele – on- und offline – und Pornos. +Währenddessen igelte ich mich völlig ein, hauste in meiner Wohnung nur noch in einem Zimmer mit meinem Rechner und spielte so lange, bis ich nicht mehr konnte. Dann schlief ich 13 Stunden, stand auf und spielte weiter. Ich hatte gar keinen Biorhythmus mehr, aß aus Konserven, bestellte Pizza und spielte immer weiter. Zwischendrin hatte ich immer wieder depressive Phasen. +Es war eine Flucht vor den eigenen Gefühlen – Wut, Trauer, Ängsten. Irgendwann erreichte ich eine komplette Emotionslosigkeit, spürte nichts mehr und stumpfte total ab. 14 Jahre war ich abhängig von meinem PC, bis ich mich in eine Französin verliebte und plötzlich wieder Gefühle hatte – positive. Auf einmal wollte ich nicht mehr das Häufchen Elend vorm Rechner sein, das ich war. Ich bin zur lokalen Suchtberatungsstelle gegangen und habe gesagt, ich will etwas ändern. Allein da rauszukommen ist unheimlich schwer. Man braucht jemanden, der einen an die Hand nimmt. +Es ist nicht so, dass ich kein Smartphone habe, aber ich bin jetzt viel achtsamer, hinterfrage mich ständig, warum ich mir zum Beispiel ein Video auf Youtube anschaue oder im Internet surfe. Ich erlaube mir, mich gezielt im Netz aufzuhalten, aber ich darf nicht von Video zu Video springen, das wird immer kritisch für mich sein. Ein Smartphone kann eine Einstiegsdroge sein. Es ist wie bei einem Alkoholiker, du wirst dieses pathologische Verhalten nie wieder los. diff --git a/fluter/zusammenfassung-rechte-von-minderheiten.txt b/fluter/zusammenfassung-rechte-von-minderheiten.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b3e3b61ac70cf224516589fd4baf30b96e1ba248 --- /dev/null +++ b/fluter/zusammenfassung-rechte-von-minderheiten.txt @@ -0,0 +1,8 @@ +Um Respekt und Anerkennung wird seit jeher gerungen. Denn ohne eine zumindest rudimentäre Anerkennung des anderen ist menschliche Gesellschaft nicht möglich. Anerkennung ist die Voraussetzung für Respekt. Respekt wurzelt wortgeschichtlich im respectus, das als "Zurückblicken" schon die "Rücksicht" enthält und immer ein Innehalten ist. Und damit zwangsläufig ein zumindest zeitweiliges Absehen von eigenen Interessen. Davon redet der Philosoph Arthur Schopenhauer in seinem Gleichnis von den Stachelschweinen, die "an einem kalten Wintertage recht nah" zusammenrücken, um nicht zu erfrieren. Bei zu großer Nähe aber stören die Stacheln, bei zu großer Entfernung stört die Kälte, "so daß sie zwischen beiden Leiden" pendeln: "Die mittlere Entfernung, die sie endlich herausfinden, und bei welcher ein Beisammensein bestehen kann, ist die Höflichkeit und feine Sitte." Knapper drückt es in "Dirty Dancing" Johnny aus, während er Baby die ersten Schritte beibringt: "Das ist mein Tanzbereich. Und das ist dein Tanzbereich. Du kommst nicht in meinen, ich komme nicht in deinen." +In Europa haben sich viele Menschen mit der Frage befasst, wie dieser Tanz am besten zu organisieren ist. Zum Beispiel, wenn es um den Respekt vor dem Einzelnen und seinen Schutz vor der Willkür der Herrscher geht. Europa war früh ein Labor für den Ausgleich der Interessen. Hier betritt erstmals das moderne Bürgertum – mit der Renaissance sogar das "Individuum" – die Bühne der Geschichte. Der Philosoph Axel Honneth nennt sein Werk zur "Anerkennung" deshalb auch eine "europäische Ideengeschichte". Als deren Ursprung gilt die "Petition of Right", mit der das englische Parlament 1628 ein Ende königlicher Willkür forderte. Wirklich von Dauer und internationaler Wirkung war die "Bill of Rights", in der 1689 den Protestanten das Tragen von Waffen – und damit Wehrhaftigkeit gegenüber staatlichem Zugriff – zugestanden wurde. Gleichzeitig wurde das Parlament zum Gegenspieler des Königs, ohne dessen Zustimmung er u.a. keine Steuern mehr erheben konnte. +In den jungen USA nahm man sich das zum Vorbild und gestand 1789 den Bürgern grundsätzliche Rechte auf Meinungs-, Religions-, Presse- und Versammlungsfreiheit zu (Frauen und Sklaven allerdings nicht). Im selben Jahr schrieben sich nach der Revolution in Frankreich die "citoyens", die aufgeklärten und mitgestaltenden Bürger, das Recht auf Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung in die Verfassung. +Spätestens seit diesem Doppelschlag gegen die bis dahin Herrschenden ist die Verfassung einer Gesellschaft der verbindliche Vertrag, den sie mit sich selbst schließt – und ein Spiegel ihres Umgangs mit Minderheiten und anderen Schutz- befohlenen. Bestehen bleibt der geforderte Respekt vor jenen, die eine höhere Macht repräsentieren – den "Respektspersonen". Aber auch diese Macht ist nicht mehr allumfassend. Sie darf ihren Tanzbereich nicht mehr verlassen. +Die Geschichte der Verfassungen ist seitdem die einer permanenten Selbstbefragung und Verfeinerung. Mühsam erstritten wurden von den Sozialisten die Rechte der arbeitenden Bevölkerung, von den Suffragetten das Frauenwahlrecht, von der Bürgerrechtsbewegung die Gleichberechtigung der Schwarzen. Gesellschaft bedeutet, dass eine Vielzahl von Subjekten ständig aufs Neue ihre Rechte und Ansprüche verhandelt. Die einen im Sinne des Gemeinwesens, andere nur mit Blick auf die eigene Situation. Dieser Tanz wird kaum jemals ein Ende nehmen – mit allen Konflikten, die sich daraus ergeben. +Was ist mit dem Recht der Kinder auf Gewaltfreiheit, mit dem Recht des Flüchtenden auf Asyl? Wie steht es um das Recht homosexueller Paare auf Gleichberechtigung? Ist das einklagbar? Warum nicht? Die Ausdifferenzierung der Rechte in immer raffiniertere Verästelungen ist eine anstrengende Angelegenheit. Ohne Rückschläge und Widerstände ist sie nicht zu haben. Geht es etwa um die berüchtigten Unisex-Toiletten oder die Verwendung einer gegenderten Sprache, setzt bei einem Teil der Mehrheitsgesellschaft bisweilen Überdruss ein ("Jetzt ist aber mal gut!"). Was bedeutet, dass für eine Einfühlung in die betroffene Gruppe hier aktuell noch geworben werden muss. +Wirklich gefährlich wird es, wenn sich Herrschende an einen Rückbau rechtlicher Errungenschaften machen und Minoritäten – Migranten, Homosexuellen, religiösen Minderheiten – die Anerkennung verweigern und sie so der Diskriminierung preisgeben. Je geringer der Respekt, umso größer die Gefahr der Verrohung. Wer wissen will, wie hoch eine Gesellschaft moralisch wie zivilisatorisch ent- wickelt ist, der beobachte sie beim Tanzen. +Schließlich gilt noch immer, was nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formuliert worden ist: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." diff --git a/fluter/zusammenhang-koerper-und-geist-in-der-philosophie.txt b/fluter/zusammenhang-koerper-und-geist-in-der-philosophie.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..272daf8361efa31f229ffd6f9b166d4b2836100f --- /dev/null +++ b/fluter/zusammenhang-koerper-und-geist-in-der-philosophie.txt @@ -0,0 +1,6 @@ +Der Franzose René Descartes war notorischer Zweifler. Weil uns nicht nur die Sinne täuschen, sondern auch der Verstand, etwa wenn wir träumen, stellte Descartes alles infrage. Was blieb, war der Zweifel – und das Denken: "Ich denke, also bin ich." So sei das Denken auch ohne Körper möglich, weil die Welt in zwei voneinander unabhängige Substanzen zerfalle: die Seele als immaterielle Innenwelt freien Denkens ("res cogitans") sowie das Körperliche ("res extensa"), das als reine Materie Naturgesetzen folgt. Zum Leben brauche es die Seele entgegen antiker Auffassung aber nicht. Wahrnehmung und Bewegung sind mechanisch – womit (vernunftlose) Tiere zu "Maschinen" werden. Der Mensch aber ist ein Doppelwesen mit Körper und unsterblicher Seele. Ziel ist es, dem vernünftigen Geist die Leitung über den schwachen Körper zu übertragen. Doch wie wirken Geist und Körper überhaupt aufeinander? Weil sich Descartes diese Frage stellte, gilt er als Vater des "Leib-Seele-Problems" – das er aber nur unbefriedigend lösen konnte. Um die gegenseitige Beeinflussung von Körper und Geist zu begründen, behauptete er, die Seele sitze mitten im Hirn in der Zirbeldrüse. +Für den berühmten Kapitalismuskritiker Karl Marx hängt das Denken von der Ökonomie ab. "Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt." Im "dialektischen Materialismus" befinden sich Sein und Bewusstsein zwar in einer Art Wechselwirkung, doch letztlich hängen soziale wie individuelle Glaubenssätze vor allem von ökonomischen, historischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten ab. Besitz- und Machtverhältnisse formen also maßgeblich unsere Schönheitsideale ebenso wie Vorstellungen von Gerechtigkeit oder Freiheit. Weil dies im Kapitalismus oft dem Erhalt von Machtstrukturen statt dem Wohle der Menschen dient, ist bei Marx auch von "falschem Bewusstsein" die Rede. Doch die Welt ist nicht determiniert: Eine Veränderung der Verhältnisse ist möglich. +1979 sorgte der US-amerikanische Neurophysiologe Benjamin Libet mit einem Experiment für Aufsehen. Probanden sollten zu einem frei gewählten Zeitpunkt ihre Hand heben. Die Messung der Hirnaktivität zeigte, dass der unbewusste neuronale Impuls zur Bewegung vor der bewussten Entscheidung vorlag. Sind der menschliche Geist und das Bewusstsein also materialistisch auf Nervenaktivitäten reduzierbar? Dies würde unseren freien Willen und auch die auf der Schuldfrage basierende Rechtsprechung ad absurdum führen. Andere Wissenschaftler sind zurückhaltender, denn das Experiment hat eine Schwachstelle: Die Probanden wussten bereits, welche Handlung sie ausführen sollten, eine aktive Entscheidung war nicht mehr nötig. Bei einem anderen Experiment hat vor Kurzem der Forscher John-Dylan Haynes gezeigt, dass unser Bewusstsein ein Veto gegen unbewusste Entscheidungen einlegen kann. Die Debatte jedenfalls dauert bis heute an, besonders Philosophen widersprechen den Neurowissenschaftlern. Sie bezweifeln, dass sich komplexe Vernunftentscheidungen genauso wie das einfache Heben des Armes erklären lassen. Woran uns die Hirnforscher in jedem Fall erinnern, ist der Einfluss des Körpers auf unseren Geist. +Der französische Philosoph Michel Foucault sieht den Körper durch gesellschaftliche Machtstrukturen bestimmt – und durch die Herrschenden diszipliniert. Die Kirche predigt Enthaltsamkeit und Treue und macht die Sexualität des Menschen zum Gegenstand religiöser Gesetze und Diskussionen. Im Mittelalter sowie im Absolutismus wurden unter Folter Geständnisse erpresst und die körperliche Marter zur weitverbreiteten Strafe. Die Vernichtung des Körpers eines Straffälligen war auch eine Diszplinierungsmaßnahme für das Volk. Im 18. und 19. Jahrhundert verschwand die offensichtliche Brutalität zunehmend aus der Disziplinierung, der Körper wird nun laut Foucault eher subtil in öffentlichen Institutionen gefügig gemacht, in Gefängnissen, aber auch etwa in Schulen, Waisenhäusern, Kliniken und im Militär. Machtstrukturen werden so von den Einzelnen verinnerlicht. Ziel ist gleichsam ihre Unterwerfung und die Erhöhung der ökonomischen Nützlichkeit. "Der menschliche Körper geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt. […] Die Disziplin fabriziert auf diese Weise unterworfene und geübte Körper, fügsame und gelehrige Körper." Für Foucault ist der Körper die Fläche, auf der sich die Macht einschreibt. +Für Gayatri Spivak, eine Mitbegründerin der postkolonialen Theorie, die in den heutigen Machtverhältnissen eine Fortschreibung kolonialer Herrschaftsstrukturen sieht und deren Überwindung anstrebt, ist besonders der weibliche Körper in Ländern des globalen Südens Schauplatz patriarchaler Übermacht und Leidtragender weltweiter Ungleichheit. Auf den Rücken der Arbeiterinnen in den Billiglohnländern realisieren transnationale Konzerne ihre Gewinne. So werden Frauen im Kontext eines ungebremsten Kapitalismus zum Objekt der Ausbeutung, ohne Möglichkeiten der politischen Teilhabe oder der Selbstrepräsentation – da, wenn überhaupt, andere über sie sprechen. Dies ist nach Spivak auch als Kritik an der hegemonialen Tradition vieler vermeintlicher Befreiungsdiskurse westlicher Intellektueller zu verstehen. +Der zeitgenössischen Philosophin Judith Butler zufolge wird auch die körperliche Wirklichkeit davon geprägt, wie wir über etwas reden. Sobald die Hebamme sagt: "Das ist ein Junge", folgen viele angeblich typisch männliche Zuschreibungen. Bereits in den 1970ern griffen Feministinnen die aus der Psychoanalyse und der Soziologie stammende Unterscheidung zwischen biologischem (sex) und sozialem Geschlecht (gender) auf, um auf die Unterdrückung der Frau hinzuweisen sowie darauf, dass Geschlechterrollen sozial konstruiert sind. Butler, selbst Feministin, lehnt den an Descartes anknüpfenden Dualismus zwischen angeblich unveränderlicher Natur (sex) und Kultur (gender) – also letztlich zwischen Körper und Geist – ab. Dies halte die Trennung zwischen "Mann" und "Frau" und damit verbundene Machtverhältnisse aufrecht. Für sie geht es eher darum, strikte Konstrukte aufzubrechen – also auch, unsere Körper neu zu denken. diff --git a/fluter/zusammensetzung-bundestag.txt b/fluter/zusammensetzung-bundestag.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e12aa669fd2e69bc3bdc700af1399f2ec4325193 --- /dev/null +++ b/fluter/zusammensetzung-bundestag.txt @@ -0,0 +1,3 @@ +Bei der anstehenden Bundestagswahlsorgt die Zweitstimme für eine Verhältniswahl: Sie entscheidet über die Sitzverteilung der Parteien im Parlament. Erhält eine Partei mehr als fünf Prozent aller Zweitstimmen, darf sie Abgeordnete nach Berlin entsenden. +Parteien und Länder haben also bereits eine Art Quote. Aber reicht das, um die Bevölkerung adäquat abzubilden? Befürworterinnen und Befürworter von Quotierungen versprechen sich von einem vielfältigen Parlament nachhaltigere und umsichtigere Entscheidungen. Viele von ihnen fordern weitere Quoten, beispielsweisefür Geschlechter, Migrationsgeschichte oder Religionen, damit sichergestellt sei, dass sich alle Menschen im Land wirklich repräsentiert fühlen. +Dafür muss das Parlament kein exaktes Abbild der Bevölkerung sein, argumentieren Gegnerinnen und Gegner solcher Regelungen. Zu viele Quoten könnten sogardas Grundgesetzeinschränken: Das garantiert den Wählenden freie Wahlen und das Recht, sich wählen lassen zu dürfen – und den antretenden Parteien Autonomie (aufzustellen, wen sie wollen) und Chancengleichheit. diff --git a/fluter/zwei-jahre-hanau-newroz-duman-interview.txt b/fluter/zwei-jahre-hanau-newroz-duman-interview.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..694c367e260e34a645ecdf77493cbf2d2702708b --- /dev/null +++ b/fluter/zwei-jahre-hanau-newroz-duman-interview.txt @@ -0,0 +1,17 @@ +Welche Fragen sind aktuell in der Aufarbeitung noch offen? +Der Untersuchungsausschuss hat ja erst im vergangenen Dezember angefangen öffentlich zu tagen. Die Angehörigen haben ihre Aussagen gemacht und ihre Fragen gestellt. Nun ist die Politik an der Reihe. Die vollständige Aufarbeitung des Anschlags ist ihre Pflicht. Das wäre auch eine Chance, um endlich all die offenen Fragen zu beantworten.Da geht es etwa um Anzeigen des Täters mit Bezug zu Verschwörungsideologien vor der Tatsowie dessen Waffenerlaubnis, die Thematik um den Notausgang(Anm. d. Red.: In der Tatnacht war der Notausgang in der Arena Bar, einem der Tatorte, versperrt. Überlebende und Hinterbliebene stellten deshalb eine Anzeige gegen Unbekannt wegen fahrlässiger Tötung, die Ermittlungen wurden aber eingestellt), der Umgang mit den Angehörigen oder rechtswidrige Obduktionen. All diese Fragen stehen weiterhin im Raum und sind nicht beantwortet. +Wie läuft die Zusammenarbeit mit verantwortlichen Stellen – zum Beispiel dem Innenministerium und der Polizei vor Ort – heute? +Eine solche Zusammenarbeit gibt es nicht mehr, weil sie nicht funktioniert hat. Das ist auch einer der zentralen Kritikpunkte an die hessische Landesregierung. Der Innenminister hat uns zu keinem Zeitpunkt ein Gespräch angeboten. Versagen und Fehler wurden nicht nur relativiert, sondern auch vertuscht. Erst nachdem medial auf die ganzen Skandale aufmerksam gemacht wurde, musste er teilweise zurückrudern. Konkret ist es aber immer noch so: Sowohl das Innenministerium als auch die Polizei sehen sich nicht als Ansprechpartner, sobald es um Anliegen und Fragen der Angehörigen geht. Eine Kommunikation findet nicht statt. Sie haben sich meiner Meinung nach komplett aus der Verantwortung gezogen und behindern eher die Aufklärung, anstatt zu dieser beizutragen. Ein Totalversagen. + +Behörden und Politik hätten die Opfer und Hinterbliebenen nach dem Anschlag alleine gelassen – und sie zu Bittstellern gemacht, findet Newroz Duman von der "Initiative 19. Februar" + + +Der "hessische Opferfonds"besteht seit Ende 2021. In der Regel umfasst er eine einmalige Unterstützung von 10.000 Euro. Bei schweren Körper- und Gesundheitsschäden mit langfristigen oder dauerhaften Folgen auch bis zu 30.000 Euro, in besonderen Härtefällen, etwa nach Todesfällen durch Terroranschläge oder Attentaten, bis zu 100.000 Euro. Das Geld kann an Personen ausgezahlt werden, die seit dem 1. Januar 2019 Opfer einer schweren Gewalttat oder eines Terroranschlages in Hessen geworden sind. Der Fonds bezieht sich dabei nicht explizit auf rassistische oder rechtsextremistische Gewalt. Die Einrichtung des Fonds wurde nach dem Anschlag in Hanau beschlossen, der Fonds nach der Amokfahrt in Volksmarsen und dem Mord an CDU-Politiker Walter Lübcke erweitert. +Wie sähe Ihrer Meinung nach eine angemessene Verantwortungsübernahme von Hessen und dem Bund aus? +Nach solch einem rechtsterroristischen Anschlag muss der Fokus vor allem auf der Aufarbeitung liegen. Sowohl die finanzielle als auch die psychologische und soziale Unterstützung der Opfer war auf Landesebene keine Selbstverständlichkeit. Wir haben ein Jahr lang für den Opferfonds gekämpft, damit dieser überhaupt erst auf die Beine gestellt wurde. Die Betroffenen des Hanauer Anschlags werden weiterhin zu Bittstellern gemacht. Auf Bundesebene müssen endlich Waffengesetze verändert werden, damit Täter wie jener aus Hanau nicht so einfach an Mordinstrumente kommen. Außerdem muss das Opferentschädigungsgesetz vereinfacht werden. Die Anträge auf Opferhilfe zu stellen ist sehr zermürbend für die Hinterbliebenen. Die Gelder müssten als Soforthilfen ausgezahlt werden und sich realitätsnah am Alltag der Opfer und Hinterbliebenen orientieren. Beispielsweise müssten Therapiekosten übernommen werden, damit die Hinterbliebenen und Opfer schnell an Plätze kommen. Außerdem brauchen die Opfer auch langfristige Unterstützung, und diese fehlt weiterhin. +Gehen die Betroffenen heute anders mit rassistischen und rechtsextremen Äußerungen um? +Natürlich spielt das eine größere Rolle als zuvor. Viele der Betroffenen kennen Rassismus aus dem Alltag. Seit dem Anschlag in Hanau werden Rechtsextremismus und institutioneller Rassismus auf einer ganz anderen Ebene diskutiert. Sie wurden in den Fokus gerückt. Wir hatten hier in Hanau einen rechtsextremen Täter, doch man gewinnt den Eindruck, dass sein ideologischer Hintergrund weiterhin nicht ernst genommen wird. Genau wie die Perspektive der Opfer, sobald sie versuchen, diese Weltanschauung und diesen expliziten Rassismus in den Vordergrund zu rücken. Die"Bildungsinitiative Ferhat Unvar"wurde von Serpil Temiz Unvar unter anderem auch deshalb ins Leben gerufen, weil ihr Sohn Ferhat, der bei dem Anschlag getötet wurde, bereits in der Schulzeit Erfahrungen mit Rassismus machen musste. +Ganz allgemein – was wünschen Sie sich in Zukunft für die Debatte um rechtsextreme Anschläge und deren Aufarbeitung? +Diskussionen über Rassismus und rechtsextreme Anschläge dürfen nicht im luftleeren Raum stattfinden. Das gesamte gesellschaftliche Klima, die Medien und die Politik spielen hierbei eine Rolle. All diese Akteure haben die Verantwortung, sich damit auseinanderzusetzen, um gewisse Strukturen zu verändern. Der erste große Schritt wäre, diese Verantwortung zu akzeptieren und sich dieser anzunehmen. Es muss eingesehen werden, dass der Hanauer Anschlag keine Einzeltat war, sondern dass System und gewisse Strukturen in unserer Gesellschaft eine Rolle spielten und dass so letzten Endes aus Worten Schüsse wurden. Der Anschlag war das Resultat eines hetzerischen Zusammenspiels, und damit muss man sich gewissenhaft auseinandersetzen. Alle Bereiche der Gesellschaft müssen dies einsehen und die Erinnerung an den Anschlag hochhalten. Andernfalls kann keine Veränderung stattfinden. + +Titelbild: Fabian Ritter diff --git a/fluter/zweistaatenloesung-israel-palaestina.txt b/fluter/zweistaatenloesung-israel-palaestina.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..b0e33851cd617e25532d6855b212216bfe1beebd --- /dev/null +++ b/fluter/zweistaatenloesung-israel-palaestina.txt @@ -0,0 +1,21 @@ + +Die Nakba +Am 14. Mai 1948 erklärte Israel seine Unabhängigkeit, Ägypten, Jordanien, Libanon, Irak und Syrien erklärten daraufhin Israel den Krieg. Dieser Krieg wird auf israelischer Seite als Unabhängigkeitskrieg bezeichnet, auf arabischer Seite werden die Geschehnisse, auch die Flucht und Vertreibung eines Großteils der palästinensischen Einwohnerinnen und Einwohner, als "Nakba", die Katastrophe, erinnert. (Redaktion) +In den vergangenen Jahrzehnten wurde unter der Vermittlung internationaler Verbündeter Israels, vor allem durch die USA, mehrmals versucht, einen Kompromiss zu erlangen. Beide Seiten sollten die Existenz der anderen Gruppe und ihren Anspruch auf einen eigenen Staat anerkennen. +Offene Streitpunkte waren und sind heute immer noch: die israelischen Siedlungen im besetzten Westjordanland und in Ostjerusalem, der Anspruch beider Seiten auf Jerusalem als Hauptstadt und die Frage des Rückkehrrechts der Nachfahren der durch die Nakba vertriebenen Palästinenser. +Außerdem stellt die Frage, wer die Palästinenser politisch überhaupt vertritt, ein weiteres grundlegendes Problem für die Zweistaatenlösung dar. +Die Hamas als Terrororganisationkann kein Verhandlungspartner sein. Mahmud Abbas, der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, wird von vielen Palästinenser nicht als geeignete Vertretung angesehen. +Wichtigster Streitpunkt ist die Frage der Kontrolle des für Juden und Muslime heiligen Tempelbergs, im Arabischen Haram al-Scharif genannt. Verwaltet wird das Gelände von der jordanischen Waqf-Behörde, seit Israel im Sechstagekrieg 1967 Ostjerusalem und den Ostteil der Altstadt erobert hat. Nicht-Muslime dürfen den Tempelberg nur zu bestimmten Uhrzeiten betreten. Der Zutritt zur Al-Aqsa-Moschee ist nur für Muslime erlaubt. Jüdisch-religiöse Extremisten rütteln seit Jahrzehnten an diesem Status quo und fordern, dass Juden sich frei auf dem Tempelberg bewegen dürfen. + + +Die größten Fortschritte in Richtung Zweistaatenlösung machten die von den USA vermittelten Osloer Friedensverhandlungen von 1993 bis 2000, benannt nach der norwegischen Hauptstadt, in der die ersten Vorgespräche stattfanden. Im ersten Osloer Abkommen aus dem September 1993 einigten sich beide Seiten auf die friedliche Koexistenz und gegenseitige Anerkennung. Das war die Basis, um die Eckpunkte für einen Prozess zur Zweistaatenlösung festzulegen. Ein Ziel war dabei, dass die Palästinenser die Kontrolle über die von Israel besetzten palästinensischen Gebiete, also das Westjordanland und den Gazastreifen, erlangen und Israel sich aus beiden Gebieten zurückzieht. +Jitzhak Rabin setzte sich als israelischer Ministerpräsident für die Koexistenz von Israelis und Palästinensern ein. Unter Vermittlung des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton verhandelte er mit Jassir Arafat, dem damaligen Chef der PLO, über eine Zweistaatenlösung. +1994 erhielten Rabin, Arafat und Israels damaliger Außenminister Schimon Peres gemeinsam den Friedensnobelpreis. Rabin und Arafat unterzeichneten im September 1995 das zweite Osloer Abkommen, das den gestaffelten Rückzug der israelischen Streitkräfte aus den palästinensischen Gebieten festhielt und das Westjordanland in drei Zonen aufteilte. + + +Mit seiner Friedenspolitik aber zog Rabin auch den Hass der radikalen Siedlerbewegung und extremistischer nationalreligiöser Gruppen in Israel auf sich. Nach einer Rede in Tel Aviv am 4. November 1995 wurde Rabin von dem rechtsextremen Studenten Jigal Amir erschossen. Der Mord gilt als schwerster Schlag für die israelische Friedensbewegung. +In den folgenden Jahren bemühte sich die Clinton-Regierung weiter um eine Zweistaatenlösung. Im Juli 2000 trafen sich Arafat und Ehud Barak, mittlerweile Ministerpräsident in Israel, zum Gipfeltreffen in Camp David. Dort war 1979 das Friedensabkommen zwischen Israel und Ägypten unterschrieben worden. Zu einem "Camp David II", also einem Friedensabkommen zwischen Israelis und Palästinensern, kam es aber nicht. Im September 2000 brach die zweite Intifada und damit eine mehrere Jahre anhaltende Welle palästinensischer Terroranschläge in Israel aus, offiziell ausgelöst durch einen Besuch des damaligen Oppositionsführers Ariel Scharon auf dem Tempelberg − für die Palästinenser eine Provokation. +Bereits vordem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktoberhielten viele Beobachtende die Osloer Abkommen für gescheitert. Sowohl unter jungen Israelis wie unter jungen Palästinensern ließ sich eine wachsende Radikalisierung beobachten, wobei beide Seiten den exklusiven Anspruch auf das Gebiet teilen. +Angesichtdes aktuellen Kriegs in Gazawirkt die Aussicht auf eine friedliche Lösung so fern wie seit Jahrzehnten nicht. + +Titelbild: David Levene / eyevine / laif diff --git a/fluter/zwischen-uns-der-fluss-film-rezension.txt b/fluter/zwischen-uns-der-fluss-film-rezension.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..cc247aa6b2c22745ac64f6b5801e0d3566d2815d --- /dev/null +++ b/fluter/zwischen-uns-der-fluss-film-rezension.txt @@ -0,0 +1,12 @@ + +"Zwischen uns der Fluss" ist ein langsamer, aber nicht langweiliger Film. Der Fokus der Erzählung liegt eindeutig auf Alice: Über sie erfahren wir viel mehr Details als über Cam. Der Film beginnt sehr ruhig – alleine schon, weil Cam nicht spricht. Alles wirkt kühl, die Sonne scheint nicht. Alice und Cam essen ein Eis, aber es ist immer Pulli-Wetter. Je besser es Cam geht, desto freundlicher wird das Wetter. Plötzlich kommt dann doch noch die Sonne raus, ein Käfer krabbelt über die Hände der beiden, die Freundinnen geworden sind: Die dunkle Zeit scheint vorbei. +Der titelgebende Fluss, die Elbe, ist für Alice Lebensthema. Doch die Elbe teilt auch die Welten von Alice und Cam: Alice lebt in einer Villa auf einem Berg. Der ist so steil, dass die zwei jungen Frauen ihr Fahrrad schieben müssen, Cam ist völlig außer Atem, als sie oben ankommt. Auf der anderen Seite des Flusses lebt Cam, die aus Berlin zum Studieren nach Dresden gezogen ist, in einem mit dem Nötigsten eingerichteten Plattenbau. Das Klingelschild, vor dem Alice einmal steht, ist riesig: 21 Stockwerke mit jeweils acht Wohnungen. +"Zwischen uns der Fluss" ist – trotz ein paar Ungereimtheiten im Drehbuch und allzu schnellen Entwicklungen – ein sehenswertes Drama. Dass Cam die Klinik verlassen möchte und bei Alice einzieht, wirkt etwas unvermittelt. Doch die sich umkehrende Dynamik der ungleichen Freundinnen überzeugt, weil sie psychologisch realistisch wirkt: Ab einem bestimmten Punkt merkt Cam, dass Alice zwar fürsorglich ist, es ihr aber mindestens genauso sehr um sich geht. Das ist eine notwendige Emanzipierung von Cam gegenüber ihrer "Retterin" und aus ihrer Opferrolle heraus. Alice dagegen entwickelt sich kaum weiter, was sie aber erst versteht, als Cam ihr das an den Kopf wirft. + +"Eigentlich bist du eine arrogante, verwöhnte junge Frau, die sich scheinbar alles leisten kann, sogar Menschen zu hassen", sagt Cam einmal ganz ruhig zu Alice. Wahrscheinlich war davor nie jemand so ehrlich zu ihr. +"Zwischen uns der Fluss" entstand laut Filmverleih als eine "Gruppenarbeit". Am Drehbuch schrieben beispielsweise neben Regisseur Michael Klier und der Autorin Karin Åström die zwei Hauptdarstellerinnen mit. Das merkt man, denn die jungen Frauenfiguren wirken in ihren Konflikten, Gedanken und Handlungen authentisch. +Laut Verleih spielen in der gesamten Filmgeschichte nur vier Kinospielfilme in Sachsens Landeshauptstadt Dresden. Schade eigentlich! + +"Zwischen uns der Fluss" läuft ab dem 11. April im Kino. + +Fotos: Michael Klier Film / Peter Zach diff --git a/fluter/zwischenmenschlichkeit-braucht-langsamkeit.txt b/fluter/zwischenmenschlichkeit-braucht-langsamkeit.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..e69de29bb2d1d6434b8b29ae775ad8c2e48c5391 diff --git a/fluter/zypern-teilung-protokolle.txt b/fluter/zypern-teilung-protokolle.txt new file mode 100644 index 0000000000000000000000000000000000000000..c91f6b957f291e746576eeb11e6312e3e06f8c46 --- /dev/null +++ b/fluter/zypern-teilung-protokolle.txt @@ -0,0 +1,29 @@ +Um dieses Ziel zu erreichen, griff ab 1955 der radikale Teil dieser Bewegung zu Gewalt, die sich zunächst gegen die Briten, aber auch gegen die türkischsprachige Minderheit auf der Insel richtete. Auf türkischer Seite wurde der Ruf nach "Taksim", einer Teilung der Insel, immer lauter, und immer mehr Menschen griffen zu den Waffen. Die Auseinandersetzungen kamen 1960 mit der Unabhängigkeit Zyperns kurz zur Ruhe. Doch diese währte nicht lange. 1963 versuchte die griechisch-zypriotische Führung die verfassungsmäßigen Rechte der türkischen Zyprer:innen einzuschränken. Die USA und die UNO konnten eine Eskalation verhindern, dennoch kam es zur Bildung türkisch-zyprischer Enklaven, die den Grundstein für den späteren Teilungsprozess legten. Im Zuge der UN-Friedensmission wurde die Hauptstadt Nikosia geteilt. +Als in Griechenland Ende der 1960er-Jahre das Militär die Macht an sich riss, hatten immer mehr griechische Zyprer:innen Angst vor einer Diktatur und entfernten sich von ihrem Wunsch nach "Enosis" mit dem griechischen Festland. Doch radikale Kräfte hielten weiter an dem Plan fest und putschten 1974 mithilfe der griechischen Militärjunta gegen die zyprische Regierung. Daraufhin intervenierte die Türkei militärisch und eroberte den Nordteil der Insel. Die Türkei begründete diesen Schritt damit, die türkischsprachige Bevölkerung Zyperns vor der Gewalt nationalistischer griechischer Zyprer:innen schützen zu wollen. Als Folge des nun einsetzenden Krieges kam es zur Flucht und Vertreibung Tausender Menschen. Etwa 170.000 bis 200.000 griechische Zyprer:innen flüchteten von Nord nach Süd, etwa 60.000 türkische Zyprer:innen von Süd nach Nord. Die Teilung der Insel wurde so auch demografisch besiegelt. +Die Republik Zypern umfasst völkerrechtlich die gesamte Insel, der zyprische Staat kann aber im Norden seine Rechte und damit auch das EU-Recht nicht ausüben. +Bis heute wird die Insel von einer von den Vereinten Nationen bewachten Pufferzone getrennt, von der sogenannten "Grünen Linie". Die Republik Zypern im Süden hat eine mehrheitlich griechisch und christlich geprägte Bevölkerung. Die Bevölkerung in der international nur von der Türkei anerkannten "Türkischen Republik Nordzypern" (TRNC) ist muslimisch geprägt. Dieser Teil wird militärisch wie wirtschaftlich von Ankara unterstützt. +Die Grüne Linie führt auch mitten durch die Hauptstadt Nikosia. 2003 öffnete dort der erste von mehreren Checkpoints, an denen die Menschen von beiden Seiten dieGrenzeseitdem passieren können. Im Zuge der Beitrittsverhandlungen Zyperns zur Europäischen Union wurde der vom damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan maßgeblich vorangetriebene Annan-Plan, der eine Wiedervereinigung der Insel vorsah, vorgelegt und zur Abstimmung gestellt. Die Bevölkerung im Norden stimmte 2004 mehrheitlich dafür, die im Süden jedoch dagegen. Alle weiteren Versuche, zwischen beiden Seiten zu vermitteln, sind bislang gescheitert. + +"In der Schule haben sie uns eigentlich nur Schlechtes über die andere Seite erzählt. Aber wer ein bisschen Verstand hat, weiß, dass es dort auch gute Menschen gibt. Und über die sozialen Medien lernen wir auch immer mehr andere Perspektiven kennen. Wenn Leute ganz aus dem Süden zu Besuch nach Nikosia kommen, sind sie meist irritiert, wenn aus den Lautsprechern der Moscheen der nördlichen Seite der Gebetsruf zu uns rüberschallt. Wir hören ihn jeden Tag, für uns ist das normal. Von der Bar, in der ich arbeite, kann ich direkt auf die Grüne Linie schauen. Oft haben wir Gäste aus dem Norden. Ich war bisher zwei-, dreimal da. Nach ein paar Metern hat mein Handy kein Netz mehr – denn unsere SIM-Karten funktionieren dort nicht. " +Mary, 24 + +"Ab 18 Jahren müssen alle Männer Militärdienst leisten, der 14 Monate lang dauert. Ich fand meinen Dienst gut, denn er hat mich viel über mich selbst gelehrt und wie ich im Notfall überleben kann. Stationiert war ich entlang der Pufferzone. An manchen Stellen trennen die Seiten nur wenige Meter, so wie hier in Nikosia. Dann sieht man die Wachposten und Soldaten im Norden. Dort, wo ich war, waren es etwa zehn Kilometer. Die Kriegsgefahr ist immer da, vor allem jetzt mache ich mir Sorgen:Israel und der Gaza-Kriegsind direkt nebenan, und auch der Iran mischt mit. Sollte es hier auf Zypern erneut zu einem Krieg kommen, würde ich nicht weglaufen, sondern mein Land verteidigen." +Sotiris, 21 + +"Ich sage mir immer: Ich werde die andere Seite erst besuchen, wenn es ein vereintes und freies Zypern gibt. Im Moment würde es mich nur traurig machen, dorthin zu reisen. Eigentlich komme ich aus Paphos, aus einer Stadt im Süden, bin aber für mein Pharmaziestudium nach Nikosia gezogen. Seither ist mir die Teilung der Insel noch bewusster geworden. Die Menschen hier auf Zypern wollen den Konflikt lösen. Das Problem ist die Türkei, nicht die griechischen und türkischen Zyprer:innen. 1974 ist die Türkei einmarschiert und hat Teile der Insel besetzt. Immer mehr türkische Staatsbürger:innen sind in der Folge in den Norden unserer Insel gezogen. Sobald die Türkei ihre Truppen abzieht, wird sich die Situation entspannen. Da bin ich mir sicher." +George, 24 + +"Als die Grenze 2003 geöffnet wurde, habe ich mit meiner Familie die andere Seite besucht. Meine Großeltern und meine Mutter stammen aus dem besetzten Norden der Insel. Ich erinnere mich daran, wie meine Großmutter geweint hat, als wir vor ihrem alten Haus standen. Die jetzigen Bewohner haben kurz aus dem Fenster geschaut. Aber die Tür aufgemacht oder mit uns gesprochen haben sie nicht. Seither war ich nie wieder im Norden, ich habe auch keine türkisch-zyprischen Freunde. Das ist keine bewusste Entscheidung, ich begegne ihnen einfach nicht im Alltag." +Katerina, 29 + + + + +"Meine Eltern kommen aus dem Irak. Ich bin in Dubai geboren und habe später mit meiner Familie viele Jahre in der Türkei gelebt. Bevor ich nach Nordzypern zum Studieren gereist bin, war ich ein bisschen deprimiert. Denn ich hatte viel Schlechtes gehört. Aber ich mag es hier sehr – nachts kann ich als Frau zum Beispiel allein die Straßen langlaufen, ohne dass mich jemand schief anschaut oder mir etwas passiert. Viele junge Menschen aus afrikanischen und arabischen Ländern studieren in Nordzypern, weil das Bildungsniveau besser und der Abschluss vergleichsweise günstig ist. In den Süden der Insel und damit in die EU können wir mit unseren Studierenden-Visa allerdings nicht reisen." +Fatma, 22 + +"In meinem Unternehmen arbeiten 70 Angestellte. Wenn ich bestimmte Materialien brauche, ist es meist einfacher und schneller, sie zu den Häfen im Süden liefern zu lassen, wo ich sie dann abhole. Manchmal überquere ich die Grüne Linie auch, um zu shoppen. Aber Freunde habe ich dort nicht. Wir Menschen hier auf der Insel sind uns sehr ähnlich, und doch sind wir verschieden – etwa wenn es um Sprache und Religion geht. Ein vereintes Zypern wird es meiner Meinung nach nie geben. Natürlich möchte ich in Frieden leben, es muss aber ein gerechter Frieden für alle sein. Ich wünsche mir, dass die internationale Gemeinschaft die Türkische Republik Nordzypern anerkennt und dass wir türkischen Zyprer:innen unabhängiger von der Türkei werden. Nur wer sich und seine Identität anerkennt, kann von anderen anerkannt werden." +Kutay, 25 + +"Ich liebe Techno. Zum ersten Mal auf der anderen Seite war ich, um in einem Club zu feiern. Ich war ganz schön nervös und hatte Angst, wie die Leute auf mich reagieren würden, wenn sie herausfinden, dass ich aus dem Norden bin. Meine Mutter hatte mir immer eingebläut, dass die Menschen im Süden nicht gut zu uns sind und sie mich umbringen würden, sollte es einen neuen Krieg geben. Aber zu meiner Überraschung waren alle total lieb und haben mich offen aufgenommen. Dafür war ich ihnen so dankbar. Mittlerweile bin ich regelmäßig da. Als Teil eines Kollektivs organisiere ich gemeinsam mit anderen Partys auf beiden Seiten der Grünen Linie." +Çisil, 21